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Full text of "Allgemeines staatsrecht"

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Book _i2ÖJl!o_ 


BLUNTSCHLTS 

ALLGEMEINES 

STATSRECHT. 

ERSTER  BAND. 


ALLGEMEINES 


STATSEECHT. 


VON 


BLUNTSCHLL 


V   1   E  K  T  E     A   D   F  LAG  E. 


ERSTER  BAND. 


MÜNCHEN. 
L IT ERARISCH- ARTISTISCHE   ANSTALT 

DER  J.  Cr.  COTTA'SCTIEN  BUCHHANDLUNG. 

1868. 


6-dksri 


V 


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Inhalt. 

•  y  - 

Einleitung. 

Seite 

Statsrecht  und  Politik 1 

Der  Gegensatz  des  Statsrechts  und  des  Privatrechts    .  3 

Fernere  Abgrenzung  des  statsrechtlichcn  Gebietes  .     .  7 

Allgemeines  und  besonderes  Statsrecht 10 

Quellen  des  Statsrechtes. 

A.  Das  Gesetz 12 

B.  Statlicher  Vertrag     ...          14 

C.  Herkommen  und  Gewohnheit IG 

D.  Die  Wissenschaft 18 

Rechtsordnung  und  thatsächliche  Ordnung  (Besitz)      .  22 

Methoden  der  Behandlung 28 

Erstes  Buch. 

Der  Begriff  des  Stats. 

Cap.       I.     Historischer  Statsbegritf 36 

Cap.     II.     Die  menschliche  Statsidee.    Das  Weltreich 43 

Cap.   III.     Entwicklungsgeschichte  der  Statsidee. 

I.  Die  antike  Welt 54 

Cap.   IV.          II.  Das  Mittelalter 59 

Cap.     V.         III.  Die  moderne  Staatsidee 64 

Zweites  Buch. 

Volk  und  Land. 
Cap.  I.  I.  Die   Menschheit,    die  Menschenrassen   uud  die 

Völkerfamilien       77 


Cap. 

I. 

Cap. 

II. 

Cap. 

III. 

Cap. 

IV. 

Cap. 

V. 

Cap. 

VI. 

Cap. 

VII. 

Cap. 

VIII. 

Cap. 

IX. 

Cap. 

X. 

VI  Inhalt. 

Mli 

Cap.          II.         II.  Die  Nation  und  das  Volk 83 

Gap.        III.                       Nationale  Rechte 8G 

Cap.        IV.                       Volkstümlichkeit  der  Verfassung     ...  91 

Cap.  V.        III.  Die  Stamme 

Cap.        VI.        IV.  Weitere  Unterschiede.     Die  Kasten     ....  96 

Cap.       VII.         V.  Die  Stände 102 

Cap.     VIII.                   1)  Der  Klerus 106 

2)  Der  Adel 113 

Cap.        IX.                        A.  Der  römische  Adel US 

Cap.          X.                         B.  ©6r  französische  Adel 117 

aap.      äXU  t  '                 C.  Der  englische  Adel 128 

Cap.      XII.                       D.  Der  deutsche  Adel     .     .     .     .     .     .     .  L37 

Cap.     XIII.                   3)  Die  Freien  und  das  Bürgerthum        .     .     .  1  i  7 
Cap.     XIV.          ^^         £kw   dritte  Stand  in  unserer  Zeit.     Die 

^W             gebildeten  Mittelclassen  l'.i, 

Cap.      XV.                 4)  Die  hörigen  Leute  und  der  Bauerstand     .  160 
Cap.     XVI.                             Der  sogenannte  vierte  Stand.    Die  Volks- 

classen       165 

Cap.    XVII.                  5)  Die  Sclaven |  ;.; 

Cap.  XVIII.        VI.  Die  Classen 180 

Cap.     XIX.       VII.  Verhältnisz  des  States  zur  Familie. 

1)  Gcschlechtcrstat    Patriarchalische  Ehe 

Cap.       XX.                   2)  Die  Frauen |')i, 

Cap.     XXL     VIII.  Verhältnisz  des  States  tu  den  Individuen. 

1)  Volksgeno.-^en  und  Fremde 200 

Cap.    XXII.  2)  Die  Statsbürger  im  engem   Sinne      .     . 

Cap.  XXIII.    Das  Land 216 

Cap.  XXIV.    Von  der  Gebietshoheit.  (Sogenanntes  Statseigenthum  i  219 

Cap.    XXV.    Einthcilung  des  Landes 

Cap.  XXVI.    Verhältnisz  dea  Stats  zum  Privateigentum»   ... 

Drittes  Buch. 

Von  der  Entstehung   und  dem  Untergang  def  statos. 

Cap.         I.     Einleitung 

Cap.      II.    Ursprüngliche  Entstehnngsformen       ...         ...     239 

Cap.      III.     Abgeleitete  Entstehungs  formen        

Cap.      IV.     Untergang  der  Stuten 

Cap.       V.     Speculativc  Theorien. 

I.  Der  sogenannte  Natuntand 259 

Cap.      VI.        II.  Der  Stat  als  göttliche   Institution     ...... 

Cap.    VII.     III.  Die  Theorie  der  Gewalt 

Cap,  VIII.     IV.  Die  Vertragstheorie . 

Cap.      IX.       V.  Der  organische  Statstrieh 


Inhalt. 


VII 


(Jap. 

I 

Cup. 

II. 

Cap. 

III. 

Cap. 

IV. 

Cap. 

V. 

Cap. 

VI, 

Cap. 

VII. 

Cap. 

VIII. 

Cap. 

IX. 

(Jap. 

X. 

Cap.  M. 

Cap.  XII. 

Cap.  XIII. 

Gap,  \iv. 


Caj>. 


\\. 


Cap.  \  V  I 

Cap.  XVII. 

Cap.  XVIII. 

Cap.  XIX. 

Cap.  XX. 

Cap.  XXL 


Cap.  XXII. 
Cap.  XXTTI. 
Cap.  XXIV. 


Viertes  Buch. 

Die  Statsformen. 

Seilt 

Die  Einteilung  des  Aristoteles        .......  278 

Der  sogonannte  gemischte  Stat 281 

Neuere  Fortbildung  der  Theorie      .  285 

Das  Princip  der  vier  Grundformen            28^ 

Das  Princip  der  vier  Nebenformen 291 

I.  Die  Ideokratie.     (Theokratie) 291 

II.  Demokratische  Statsformen. 

A.  Die  unmittelbare  (antike)  Demokratie        .     .  307 
Beurtheiluug  der  unmittelbaren  Demokratie  .  313 

B.  Die  repräsentative  (moderne)  Demokratie       .  319 
Betrachtungen    Abel   die    Ueprä^ntativdonio- 
kratie 326 

III.  Die  Aristokratie. 

A.  Hellenisohe  Form.    Sparta      •    33? 

B.  Die  römische  Aristokratie   . 

Bemerkungen  über  die  Aristokratie      .    .     •    ■     346 

IV.  Monarohische  Statsformen.     Die  Hauptarten  der 
Monarchie 

A.  Hellenisches  und  altgermanisohes  Ciesehlechts- 
königthum 359 

B.  Altrömisohes  Volkskönigthum 365 

C.  Das  römische  Kaiserthum .  3i" 

D.  Fränkisches  Königthum    .  176 

B.  Die  Lehensmonarohie  383 

F.  Die  neuere  absolute  Monarchie  .     .     392 

G.  Die  constitutionelle  Monarchie. 

1)  Die  Entstellung  und  Verbr<  i  an     der  oon- 
stitutionellcn  Monarchie 100 

2)  Falsche  Vorstellungen    von    der    eonstitu- 
tionellen  Monarehie .     436 

3)  Das  monarchische   Princip   und    der   Be- 
griff der  constitutionellen  Monarchie  .     .     440 

Zusammengesetzte  Statsformen    ........    449 


Fünftes  Buch. 

Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 
Die  Sonderung  der  Gewalten. 


Cap.    I. 

I.  Antike  Zustände 454 

Cap.  II.     II,  Das  moderne  Princip  der  Sonderung  der  Gewalten     .     457 


VIII  Inhalt. 

Cap.     III.    Die  Entwicklungsgeschichte  der  Reprasentatirrerfasenng, 

I.  Die    fränkischen    Reichstage     und     das     englische 

Parlament 

Cap.      IV.       II.  Ständische  Entwicklung  in  andern  Staten   .     . 
Cap.      V.   Der  Unterschied  der  ständischen  and  der  repräsentativen 

Verfassung 

Cap.     VI.    Die  Zusammensetzung  des  gesetzgebenden  Körpers  . 

Cap.    VII.    Von  der  Bildung  der  Volkskammer 

Cap.  VIII.    Von  der  Bildung  des  Senats  oder  des  Oberhauses  '»U 

Cap.     IX.    Befugnisse. 

A.  Des  gesummten  GesetEgebungskSrpers 


Cap.      X.      B.  Befugnisse  aller  einmeinen  Bestandteile   ... 
Cap.     XI.       C.  Besondere  Befugnisse. 

I.  Des  Königs 

Cap.    XII.  II.  Der  beiden  Hinsei       ...  

Cap.  XIII.    Von  den  Gesetzen. 

I.  Arten  der  Gesetze 

Cap.  XIV.       II.  Form  der  Erzeugung  der  G 
Cap.    XV.    Grenzen  der  Giltigkeit  der  Gtesetsc 


(Einlfttmuj. 


Erstes  Capitel. 

Stntsrechi  and  Politik. 

Die  alten  Griechen  nannten  die  ganze  Wissenschaft  vom 
State  (noiiteCa)  Politik.  Wir  Neoern  dagegen  betrachten 
Statsrecht  and  Politik  als  zwei  verschiedene  Wissen- 
schaften. 

Wie  erklärt  es  Bich,  dasz  was  in  dem  wirklichen  Stat 
verbunden  erscheint,  ?on  der  Wissenschaft  getrennt  wird? 
Statsrecht  und  Politik  sind  beide  Statsl ehren ,  aber  jede  von 
beiden  betrachtel  den  stat  von  einem  andern  Standpunkte  aus 
und  nach  anderer  Richtung,  l'm  den  Stat  grundlicher  zu 
erkennen,  zerlegt  die  Wissenschaft  den  Stat  in  die  beiden 
Hauptseiteil  sein«-.-  Daseins  und  Lebens.  Sie  untersucht  die 
Theile,  damit  sie  das  Ganze  vollständiger  begreife.  Dem  wissen- 
schaftlichen Interesse  entspricht  das  practische.  Die  Klarheit, 
»las  .Masz  und  die  Stärke  des  Rechts  haben  gewonnen,  seitdem 
man  dieses  schärfer  abgesondert  hat  von  der  Politik;  und  der 
Reichthum  der  Politik  entwickelt  sich  erst  in  voller  Freiheit, 
wenn  sie  in  ihrer  Eigentümlichkeit  geschaut  und  erwogen  wird. 

Die  Wissenschaft  des  Statsrechts  betrachtet  den  Stat  in 
seinem  geregelten  Bestand,  in  seiner  richtigen  Ordnung.  Sie 
stellt  die  Organisation  des  States  dar  und  die  dauerhaften 
Grundbedingungen  seines  Lebens,   die  Regeln  seiner  Existenz, 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     1.  \ 


Erstes  Capitel.     Statsrecht  und  Politik. 

die  Notwendigkeit  seiner  Verhältnisse.  Der  Stat,  wie  er 
ist,  in  seinen  geordneten  Verhältnissen,  das  ist  das  Stats- 
recht. 

Die  Wissenschaft  der  Politik  aber  betrachtet  den  Stat  in 
seinem  Leben,  in  seiner  Entwicklung,  sie  weist  auf  die  Ziele 
hin,  nach  denen  das  öffentliche  Streben  sich  bewegt  und  lehrt 
die  Wege  kennen,  welche  zu  diesen  Zielen  führen,  sie  erwägt 
die  Mittel,  mit  welchen  die  begehrten  Zwecke  zu  erlangen  sind, 
sie  beobachtet  die  Wirkungen  auch  des  Rechts  auf  die  Ge- 
sammtzustände  und  überlegt,  wie  die  schädlichen  Wirkungen 
zu  vermeiden,  wie  die  Mängel  der  bestehenden  Einrichtungen 
zu  heben  sind.  Das  Statsleben,  das  öffentliche  Le- 
ben im  weitem  Sinn,  das  ist  die  Politik. 

Das  Recht  verhält  sich  also  zur  Politik  wie  die  Ordnung 
zur  Freiheit,  wie  die  ruhige  Bestimmtheit  der  Verhältnisse  zu 
der  mannigfaltigen  Bewegung  in  denselben,  wie  der  Körper 
zu  den  Handlungen  desselben  und  zu  dem  Geist,  der  sich 
mannigfaltig  ausspricht. 

Sowohl  in  dem  Recht  als  in  der  Politik  ist  ein  sitt- 
licher Gehalt,  Der  Stat  ist  ein  sittliches  Wesen  und  er  hat 
sittliche  Lebensaufgaben.  Aber  Recht  und  Politik  werden 
nicht  von  dem  Sittengesetz  allein  und  nicht  vollständig  von 
dem  Sittengesetz  bestimmt.  Sie  sind  als  Wissenschaften  nicht 
einzelne  Capitel  der  Sittenlehre.  Vielmehr  haben  sie  ihre 
Grundlage  im  Stat  und  ihre  Bestimmung  für  den  Stat.  Sie 
sind  Statswissenschaften. 

Man  darf  Statsrecht  und  Politik  nicht  absolut  von  ein- 
ander trennen.  Der  wirkliche  Stat  lebt:  d.  h.  er  ist  Ver- 
bindung von  Recht  und  Politik.  Auch  das  Recht  ist 
nicht  absolut  ruhend,  nicht  unveränderlich,  und  die  Bewegung 
der  Politik  will  wieder  zur  Ruhe  kommen.  Es  gibt  nicht 
blosz  ein  Rechtssystem,  sondern  auch  eine  Rechtsgeschichte; 
und  es  gibt  eine  Politik  der  Gesetzgebung.  Zwischen  beiden 
Seiten  ist   eine   Wechselwirkung   wahrzunehmen,    wie   überall, 


Zweites  Capitel.     Der  Gegensatz  des  Stats-  und  des  Privatrechts.    3 

wo  organische  Wesen  erscheinen.  Damit  wird  jener  Unter- 
schied nicht  beseitigt,  sondern  besser  erklärt.  Die  Rechts- 
geschichte  unterscheidet  sich  gerade  dadurch  von  der  poli- 
tischen Geschichte,  dasz  jene  sich  darauf  beschränkt,  den 
Entwicklungsgang  der  normalen,  fest  gewordenen  Existenz  des 
States  nachzuweisen  und  die  Entstehung  und  Veränderung  der 
dauernd  gewordenen  Institutionen  und  Gesetze  darzustellen, 
diese  aber  den  Hauptnachdruck  auf  die  wechselnden  Schicksale 
und  Erlebnisse  des  Volkes,  die  Motive  und  Handlungsweise 
der  politischen  Personen,  die  Thaten  und  Leiden  beider  legt, 
und  so  das  reich  bewegte  Leben  schildert.  Der  oberste  und 
reinste  Ausdruck  des  Statsrechts  ist  das  Gesetz  (die  Ver- 
fassung), die  klarste  und  lebendigste  Aeuszerung  der  Politik 
ist  die  practische  Leitung  des  States  selbst  (die  Kegierung). 
Die  Politik  ist  daher  mehr  noch  Kunst  als  Wissenschaft.  Das 
Recht  ist  eine  Voraussetzung  der  Politik,  eine  Grundbedingung 
ihrer  Freiheit,  freilich  nicht  die  einzige.  Die  Politik  soll 
sich  mit  Beachtung  der  rechtlichen  Schranken  entfalten.  So 
übernimmt  sie  die  Sorge  für  die  wechselnden  Bedürfnisse  des 
Lebens.  Das  Recht  hinwieder  bedarf  der  Politik,  um  vor  Er- 
starrung gesichert  zu  bleiben  und  mit  der  Entwicklung  des 
Lebens  Schritt  zu  halten.  Ohne  den  belebenden  Hauch  der 
Politik  würde  der  Rechtskörper  zum  Leichnam  werden,  ohne 
die  Grundlagen  und  die  Schranken  des  Rechtes  würde  die 
Politik  in  ungezügelter  Selbstsucht  und  in  verderblicher  Zer- 
störungswuth  untergehen. 


Zweites  Capitel. 

Der  Gegensatz  des  Statsrechts  und  des  Privatrechts. 

Es  ist  das  Verdienst  der  Römer,  zuerst  den  Unterschied 
erkannt  zu  haben  zwischen  dem  öffentlichen  Recht,  das,  wie 

1* 


4    Zweites  Capitel.     Der  Gegensatz  des  Stats-  und  des  Privatrecl 

sie  sagten,  dem  römischen  State  dient,  und  dem  Privat  recht, 
welches  den  einzelnen  Individuen  dient.1  Die  Hellenen  hatten 
noch  beides  verbunden.  Auch  den  Germanen  war  der  wich- 
tige Unterschied  nicht  klar  geworden,  und  als  sie  im  Mittel- 
alter zur  Herrschaft  gelangten,  begünstigten  sie  wieder  die 
Mischung  der  beiden  Rechtskörper.  Das  öffentliche  Recht  des 
Mittelalters  wird  groszentheils  privatrechtlich  behandelt;  so- 
gar die  Landesherrschaft  wird  wie  Privateigenthum  und  die 
öffentlichen  Aemter  werden  wie  Familiengüter  betrachtet.  Das 
Privatrecht  hinwieder  wird  zu  öffentlichem  Rechte  gesteigert: 
mit  dem  Grundbesitz  wird  die  Gerichtsbarkeit  verbunden,  an 
den  Lehenbesitz  lehnt  sich  die  ritterliche  Kriegspflieht  an. 

Es  ist  eines  der  charakteristischen  Kennzeichen  der  mo- 
dernen Rechtsbildung,  <la<z  sie  wieder  jenen  Unterschied 
erkannt  hat,  und  in  Folge  dessen  die  beiden  Gebiete  sondert. 
Wir  sind  vorzüglich  seit  einem  Jahrhundert  in  einem  unauf- 
haltsam fortschreitenden  Scheidungsprocesse  begriffen 
des  öffentlichen  Rechts  von  der  froheren  Mischung  mit  dem 
Privatrecht.  Dieser  Scheidungsnroce-s.  «1er  Bich  in  allen  euro- 
päischen Staten  zeigt,  ist  noch  nicht  völlig,  aber  gröszten- 
theils  zum  Abschlusz  gekommen.  Das  öffentliche  und  das 
Privatrecht  gewinnen  dabei.  Jenr>  wird  energischer  und  gref 
artiger,  indem  es  sich  nicht  mehr  ron  «1er  Selbstsucht  der 
Individuen  und  Familien  behindern  und  verderben,  sondern 
durchaus  von  dem  öffentlichen  Geist  des  Ganzen  erfüllen  UM 
und  demselben  dient,  und  das  Privatrecht  wird  freier,  indem 
es  von  der  statlichen  Gebundenheit  sich  losmacht. 

Das  Statsrecht  geht  grundsätzlich  vom  State,  das  Privat- 
recht von  den  einzelnen  Individuen,  den  Privatperso- 
nen aus.     Jenes  behandelt   die   rechtlichen  Verhältnisse  des. 
States,  dieses  die  Rechte  der  Privaten. 

1  Vgl.  L.  1.  2.  §.  D.  de  Justitia  et  Iure  {Ulpianus~):  „Publicum  jus 
est  quod  ad  statura  rei  Romanae  spectat,  privatum  quod  ad  singulorura 
utilitatem.     Sunt  enim  quaedam  publice  utilia,  quaedam  privatim. u 


Zweites  Capitel.     Der  Gegensatz  des  Stats-  und  des  Privatrechts.         5 

Allerdings  gibt  es  auch  Uebergänge  aus  dem  einen  Ge- 
biete in  das  andere.  So  gehören  die  E echte  des  Fiscus  dem 
Privatrechte  an,  weil  der  Stat,  insofern  er  ein  ausschlieszliches 
Vermögen  hat,  einer  Privatperson  gleich  und  als  Fiscus  selber 
eine  Privatperson  ist.  So  haben  die  politischen  Rechte  der 
einzelnen  Menschen  (z.  B.  das  Petitionsrecht,  die  Preszfreiheit) 
ihren  Platz  nicht  im  Privat-,  sondern  im  Statsrecht,  weil  die- 
selben auf  dem  Verhältnisse  der  Individuen  zum  State  be- 
ruhen, somit  der  öffentliche,  »tätliche  Gesichtspunkt  in  ihnen 
vorherrscht. 

Das  Statsrecht  wird  daher  auch  seinem  Inhalte  nach  von 
dem  State  bestimmt,  und  ist  der  Willkür  der  Privatpersonen 
entrückt.  Das  Privatrecht  dagegen  erhält  seinen  Inhalt  grösz- 
tentheils  im  allgemeines  von  der  Natur  und  den  Zuständen 
der  Privatpersonen  und  im  besondern  von  ihrem  AVillen. 
In  dem  Statsrecht  herrscht  derGeisl  <h's  Ganzen,  im  Privat- 
recht waltet  der  Geist  der  Einzelnen.  Den  Individuen  steht 
es  demnach  nicht  zu,  durch  Verträge  öffentliches  Kecht  abzu- 
ändern oder  aufzuheben,  während  sie  in  der  Kegel  das  Privat- 
recht unter  sich  durch  Vertrag«  beliebig  gestalten  können; 
und  je  mehr  bei  einzelnen  Kegeln  des  Privatrechts  öffentliche 
Statsinteressen  betheiligt  sind,  desto  weniger  dürfen  Privat- 
verträge willkürlich  auch  von  jenen  abweichen.2 

Für  das  Statsrecht  gilt  es  ferner  als  Kegel:  Oeffent- 
liches  Kecht  ist  zugleich  öffentliche  Pflicht.  Der 
Berechtigte  ist  verpflichtet  sein  Kecht  auszuüben.  Der  Kegent 
ist  nicht  blosz  berechtigt,  er  ist  gleichmäszig  auch  verpflichtet 
zu  regieren,  ebenso  der  Kichter  zu  richten.  Im  Privatrecht 
hingegen  gilt  die  entgegengesetzte  Kegel.  Es  steht  in  der 
Willkür  des   Berechtigten,    ob    er   sein  Kecht   ausüben  wolle 

2  Vgl.  L.  38.  D.  de  Pactis  (Papinianus):  „Jus  publicum  privatorum 
pactis  mutari  non  potest."  Code  Civil.  6.:  „On  ne  peut  deroger  par  des 
Conventions  particulieres,  aux  loix  qui  Interessent  Tordre  public  et  les 
bonnes  moeurs," 


6     Zweites  Capitel.     Der  Gegensatz  des  Stats-  und  des  Privatrechts. 

oder  nicht.3  Der  Grund  dieses  Unterschiedes  ist  wieder  darin 
zu  finden,  dasz  das  Privatrecht  dem  Einzelnen  zugehört  und 
meistens  nur  für  diesen  besteht,  das  öffentliche  Recht  aber 
dem  Ganzen  zukommt  und  im  Interesse  der  Gesammtheit  be- 
steht. Der  Stat  selbst  kann  daher  wohl  sein  Recht  aufgeben 
oder  auf  die  Ausübung  desselben  verzichten,  nicht  aber  dürfen 
das  die  einzelnen  Organe  und  Glieder  des  States. 

Beide  Kegeln  haben  übrigens  zahlreiche  Ausnahmen,  die 
sich  aus  dem  Princip  jener  von  selbst  ergeben.  Einige  Bei- 
spiele mögen  diesz  klar  machen: 

1)  Der  einzelne  Statsbärger  kann  beliebig  von  seinem 
Rechte  zu  Petitionen,  oder  von  seinem  Kechte  an  politischen 
Vereinen  Theil  zu  nehmen,  Gebrauch  machen  oder  nicht.  Es 
sind  diesz  eben  öffentliche  Rechte,  die  dem  Einzelnen  ein- 
geräumt sind,  mehr  im  Interesse  Beiner  individuellen  Freiheit 
als  des  Statswohls. 

2)  Ob  der  Einzelne  auch  Bein  Wahlrecht  als  Wähler  aus- 
zuüben habe,  hängt  schon  nicht  mehr  ohne  weiteres  FOU  seiner 
Willkür  ab.  Ist  das  Wahlrecht  auf  grosze  Massen  von  Indi- 
viduen vertheilt,  oder  tritt  nach  der  besonder!]  Bedeutung  des 
Wahlrechts  die  Rücksicht  auf  die  Befugnisz  der  Wähler  in 
den  Vordergrund,  die  auf  das  Bedürfnis*  des  States  zurück, 
so  kann  wohl  die  Benutzung  desselben  der  Willkür  des  ein- 
zelnen Wählers  anheimfallen:  im  entgegengesetzten  Falle  wird 
auch  hier  eine  Xöthigung  öfter  eintreten  und  sich  rechtfertigen. 

3)  Auch  im  Privatrecht  ist  die  Ausübung  der  Yormund- 
schaftsrechte  Pflicht  des  Berechtigten,  weil  dieselben  nicht 
oder  nicht  ausschlieszlich  allein  zu  Gunsten  des  Vormundes, 
sondern  auch  im  Interesse  des  Bevormundeten  bestehen. 

Die  Verbindung  von  Recht  und  Pflicht  in  derselben  IVr- 
son  ist  nicht  etwa  ein  Mangel  des  öffentlichen  Rechts,  sondern 

3  c.  un.  C.  ut  nemo  invitus  (Imp.  Diodetianus):  „Invitus  agere  rel 
aecusare  nemo  cogitur."  Privatreclitliches  Sprichwort:  „Iure  suo  uti 
nemo  cogitur," 


Drittes  Capitel.     Fernere  Abgrenzung  des  statsrechtl.  Gebiets.        7 

der  Vorzug  desselben.  Der  edlere  sittliche  Charakter  des 
öffentlichen  wird  darin  offenbar  im  Gegensatze  zu  dem  egoisti- 
schen Zuge  des  Vermögensrechts.  Je  höher  die  Kegierungs- 
rechte  sind,  um  so  unauflöslicher  sind  daher  die  Pflichten  zu 
ihrer  Ausübung  damit  verbunden.  Es  ist  eine  Entwürdigung 
des  Statsrechts,  wenn  das  Kecht  des  Landesfürsten  wie  ein 
Eigentimm  betrachtet  wird,  das  er  nach  Willkür  ausüben  oder 
ruhen  lassen  könne:  und  man  darf  nie  vergessen,  dasz  kein 
Kronrecht  dem  Fürsten  für  sich  zugehört,  sondern  alle  Kron- 
rechte zugleich  Kronpflichten  sind;  Pflichten  gegen  den 
Stat  (das  Volk). 

Der  Gegensatz  des  öffentlichen  und  des  Privatrechts  (jus 
publicum  et  privatum)  ist  erschöpfend  und  es  gibt  wohl  Ueber- 
gangsinstitute ,  die  ans  dein  einen  Gebiete  in  das  andere  füh- 
ren; wie  z.  13.  die  Gemeinde  und  die  höheren  Formen  der 
Genossen-  und  Körperschaften.  Aber  es  gibt  kein  drittes 
selbständiges  Gebiet  zwischen  jenen  beiden.  Was  man  Gesell- 
schaftsrecht heiszt,  ist  entweder  Privatrecht  oder  öffentliches 
Recht,  oder  aus  beiden  gemischt.4 


Drittes  Capitel. 

Fernere  Abgrenzung  des  statsrechtlichen  Gebiets. 

1.  Das  Völkerrecht  greift  über  die  Grenzen  des  ein- 
zelnen States  hinaus,  indem  es  die  verschiedenen  Staten,  die 
neben    einander    bestehen,    durch   eine    gemeinsame    Ordnung 

4  Eine  abweichende  Meinung  hat  Bob.  v.  Muhl  ausgeführt  (Geschichte 
und  Literatur  der  Statswissenschaften  Bd.  I).  Vgl.  Bluntschli  über  die 
neuen  Begründungen  der  Gesellschaft  und  des  Gesellschaftsrechts  in  der 
kritischen  Ueberschau  der  deutschen  Gesetzgebung  und  Rechtswissen- 
schaft. Bd.  III.  und  H.  v.  Treitschke«  Die  Gesellschaftswissenschaft,  ein 
kritischer  Versuch.    Leipzig  1859. 


3       Drittes  Capitel.     Fernere  Abgrenzung  des  statsreehtl.  liebiet*. 

verbindet.  Es  ist  keineswegs  eine  eigentümliche  Ausdehnung 
und  Anwendung  des  Privatrechts  auf  die  mehreren  Statsindivi- 
duen;  seine  Einrichtungen  und  Rechtsnormen  haben  vielmehr 
eine  öffentlich-rechtliche  Natur  in  eminentem  Sinne,  indem  sie 
der  umfassendsten  Gemeinschaft  angehören.  Es  beruht  auf 
der  Einheit  des  Menschengeschlecktes,  welches  in  ver- 
schiedene Völker  getheilt  erscheint.  Ware  die  Menschheit  für 
die  gemeinsamen  menschlichen  Dinge  prganisirt  zu  einem  wohl- 
geordneten Ganzen  mit  einer  ihr  eigenen  Gesetzgebung  und 
Eechtspflege ,  so  würde  das  Völkerrecht  in  der  höheren  Form 
eines  Weltrechts  erscheinen.  Der  Mangel  jener  Organisation 
ist  die  Schwäche  des  Völkerrechts. 

Einstweilen  wird  diese  »vollkommene  Weltordnnng ,  die 
wir  Völkerrecht  heiszen,  ron  der  vollkommeneren  Statsordnung 
geschieden.   Die  Wissenschaft  tsrechte  betrachtet  daher 

den  Stat  als  eine  öffentliche  Person  für  Bich  und  überläszt  die 
Darstellung  der  Verhältnisse  mehrerer  Staten  zu  einander  der 
besonderen  Wissenschaft  des  Völkerrechts. 

2.  Eine  andere  Ausscheidung  des  Stoffes  bezieht  Bich  auf 
das  Kirchen  rec  h  t. 

In  dem  ganzen  Alterthum   war  der  G  '/  ron  Stai 

und  Kirche  zwar  wohl  schon  im  Keime  vorhanden  und  sicht- 
bar, aber  nicht  zu  klarn-  Sondern  ebildet  Den  Römern 
noch  galt  das  jus  Bacnim  als  ein  Bestandteil  des  jus  pu- 
blicum. 

Erst  seitdem  das  Christenthum  in  die  Well  gekommen, 
ist  die  Kirche  als  die  religiöse  Gemeinschaft  der  Mem 
dem  State  als  der  politischen  Gemeinschaft  selbständig  mr 
Seite  getreten.  Und  wie  die  Kirche  eine  eigene  [dee  und 
einen  nicht  auf  Btatlichem  Boden  gepflanzten,  nicht  im  Stats- 
gebiet  grosz  gewachsenen  Leib  und  ein  besonderes  Dasein  hat. 
so  erfordert  auch  das  (christliche)  Kirchenrechi  eine  von  dem 
neuern  Statsrechte  getrennte  Behandlung.  Es  beruht  wesent- 
lich auf  der  Autonomie  der  Kirche,  nicht   auf  Statsgesetxe& 


Drittes  Capitel.     Fernere  Abgrenzung  des  statsrechtl.  Gebiets.       9 

Sein  Inhalt  hat  einen  andern  Grundcharakter,  als  alles  andere 
Eecht.  Es  steht  den  höhern  religiösen  und  sittlichen  Grund- 
sätzen näher,  mit  denen  es  verbunden  und  gemischt  erscheint, 
und  es  entbehrt  mehr  des  äuszeren  Zwangs  als  das  weltliche 
Recht,  dessen  Schutz  es  in  manchen  Fällen  anzurufen  genöthigt 
ist,  wenn  die  eigenen  Nothigungsmittel  nicht  ausreichen.  Wird 
ah  er  nicht  das  Recht  der  Kirche  von  dein  ihr  zugehörigen 
eigenen  Standpunkte  ans.  Bondem  wird  nur  das  Verhält- 
nisz  des  Staics  zur  Kirche  und  den  kirchlichen  In- 
stitutionen von  dein  Standpunkte  des  States  aus 
betrachtet,  so  gehört  diese  Betrachtung  allerdings  vollständig 
in  das  Gebiet  des  Statsrechtes. 

3.  Der  Civilprocesz  ferner  groszentheils  und  das  ganze 
Strafrecht,  den  Strafprocesz  inbegriffen,  werden  mit 
Grund  auch  zum  öffentlichen  Rechte  gerechnet.  In  dem  Pro- 
cesz  gewähr!  der  Stat  als  solcher  den  Privatpersonen  seinen 
Rechtsschutz  gegen  Verletzung  und  Beeinträchtigung  ihrer 
Rechtssphäre,  und  in  dem  Strafrechte  in  seiner  neuern  Ent- 
wicklung äuszert  sich  wieder  die  Gerechtigkeit  des  States, 
welche  nicht  blosz  den  Verletzten  schützt  und  die  Verletzung 
aufhebt,  sondern  öberdem  den  verbrecherischen  Angriff  auf  die 
gemeinsame  Rechtsordnung  bestraft. 

Dessenungeachtet  aber  werden  der  Civilprocesz  und  das 
Strafrecht  aus  dem  eigentlichen  Statsrechte  hinwieder  ausge- 
schieden und  besser  als  besondere  Disciplirien  behandelt,  theils 
um  ihrer  enge]]  Beziehung  willen  auch  zu  dem  Privatrechte, 
mit  welchem  sie  innerlich  verwoben  sind  und  dessen  Sicher- 
heit der  Civilprocesz  ganz,  das  Strafrecht  zu  groszem  Theile 
dient,  theils  weil  sie  an  sich  umfangreich  und  wichtig  genug 
sind,  um  eine  besondere  Behandlung  zu  erlangen. 


10  Viertes  Capitel.     Allgemeines  und  besonderes  Statsrecht. 

Viertes  Capitel. 

Allgemeines  und  besonderes  Statsreoht. 

Das  besondere  Staatsrecht  setzt  einen  einzelnen,  bestimm- 
ten Stat  voraus,  dem  es  angehört.  So  ist  von  dem  besondern 
Statsrechte  der  römischen  Bepublik,  oder  des  englischen  States 
oder  des  deutschen  Reiches  die  Bede. 

Das  all  gerne  i  n  e  Statsreclit  dagegen  beruht  auf  uni- 
verseller Auffassung  nicht  eines  einzelnen,  sondern  des 
States.  Das  besondere  Statsrechl  geht  somit  von  einem  be- 
stimmten Volke  aus,  das  allgemeine  sieht  voraus  auf  die 
menschliche  Natur  und  geht  ?on  der  Menschheit  aus.1 

Man  faszt  das  allgemeine  Statsrechl  Behr  oft  als  das 
Product  idealer  Speculation  auf  und  versucht  dasselbe  aus 
einer  speculativen  Weltanschauung  durch  einfache  Logische 
Schluszfolgerung  herzuleiten.  Ea  Bind  bo  mancherlei  Systeme 
entstanden  eines  sogenannten  philosophischen  oder  natür- 
lichen Statsrechtes,  welches  Bodann  dem  sogenannten  posi- 
tiven und  historischen  S  hte  entgi  etzt  wurde. 

Ich  verstehe  den  Gegensatz  anders.  Der  Stat  musz  bo- 
wohl  philosophisch  begriffen  als  historisch  erkannt  werden: 
und  das  allgemeine  Statsreoht  kann  bo  wenig  als  das  beson- 
dere dieser  zweiseitigen  Arbeit  entbehren. 

Das  besondere  Statsreoht  Betzl  das  allgemeine  voraus, 
wie  die  besondere  Volksart  die  gemeinsame  Menschennatur 
voraussetzt,  Die  Wissenschaft  des  allgemeinen  Statsrechtes 
stellt  die  Grundbegriffe  dar,    welche  in  den  besonderen  S1 

*  Derselbe  Gedanke  ]i«uri  der  r  B  m  i  -  c  heu  Anschauungsweise  zu 
Grunde.  L  9.  (Gaju<)  1>.  de  Justiti*  e(  iure!  „Oames  populi,  qui  legi- 
bus et  moribus  reguntur,  partim  suo  proprio  partim  oommtmi  ommuM 
hominum  jure  utuntur.  Nam  <|",,,1  quisque  populus  ipse  sibi  jus  oonsti- 
tuit,  id  ipsius  proprium  «ivitati-  est,  rocaturque  jus  <;,■,!<■.  quod  rero 
naturalis  ratio  inter  omnes  hominea  constituit,  i<l  apud  omnei  peraeque 
custoditur,  rocaturque  jus  gentium,  quasi  quo  jure  omnes  gen tes  utuntur." 


Viertes  Capitel.     Allgemeines  und  besonderes  Statsrecht.  H 

rechten  zu  mannigfaltiger  Erscheinung  kommen.  Die  Ge- 
schichte, die  es  beachtet,  ist  die  Weltgeschichte,  nicht 
die  enge  Landesgeschichte,  welche  das  besondere  Stats- 
recht erklärt.  Tn  der  Weltgeschichte  linden  wir  die  Probe 
der  philosophischen  Gedanken;  und  in  ihr  entdecken  wir  eine 
Fülle  positiven  Gehaltes,  welche  bo  oft  der  blosz  speculativen 
Betrachtung  fehlt.  Die  Weltgeschichte  zeigt  uns  die  verschie- 
denen Entwicklungsstufen,  welche  die  Menschheit  seit  ihrer 
Kindheit  durchlebt  hat .  und  auf  jede]-  linden  wir  eigentüm- 
liche Anschauungen  vom  State  und  verschiedene  Statenbildungen, 
Sic  [ehrt  uns  das  Verhältnis  verstehen,  in  welchem  die  man- 
cherlei Nationen  an  der  gemeinsamen  Anfgabe  der  Menschheit 
Theil  genommen  haben. 

Aber  nicht  alle  Perioden  der  Weltgeschichte  und  nicht 
alle  Völker  haben  dieselbe  Bedeutung  für  unsere  Wissenschaft. 
Das  allgemeine  Statsrecht  der  Gegenwart  zu  erkennen,  ist 
vornehmlich  ihre  Aufgabe.  Die  antiken  und  mittelalterlichen 
Statenbildungen  kommen  nur  als  Vorstufen  in  Betraoht  und 
um  durch  den  Gegensatz  gegen  den  beut  igen  Stat  diesen  besser 
in's  Licht  zu  setzen.  Den  Werth  der  verschiedenen  Völker 
für  das  allgemeine  Statsrecht  bestimmen  wir  je  nach  ihrem 
Antheil  an  den  Fortschritten  der  politischen  Civilisation,  d.  h. 
eines  menschlich  geordneten  und  menschlich  freien  Gemein- 
wesens. Die  arische  Völkerfamilie  (Tndo-Germanen)  ist  vor- 
zugsweise für  den  Stat,  wie  die  sein  Mische  für  die  Iveligion 
welthistorisch  bestimmend  geworden:  aber  erst  in  Europa 
haben  es  auch  die  arischen  Völker  zu  einer  bewuszteren  und 
edleren  Statenbildung  gebracht.  Sind  unter  ihnen  hinwieder 
im  Alterthum  die  Hellenen  und  die  Körner,  im  Mittelalter 
die  Germanen  voran  gegangen,  so  beruht  unsere  heutige 
Statscultur  vornehmlich  auf  der  Mischung  der  helleno- 
romanischen  und  germanischen  Elemente  uud  haben  die  Eng- 
länder, in  denen  diese  Mischung  auch  in  der  Volksrasse  am 
stärksten    vollzogen    worden    ist    und   nächst  ihnen   wohl   die 


12       Fünftes  Capitel.     Die  Quellen  des  Statsreehts.     Das  Gesetz. 

Franzosen  bisher  den  bedeutendsten  Antheil  daran.  Das 
amerikanische  Statsleben  ist  von  dem  europäischen  ab- 
geleitet, aber  hat  besonders  in  Nordamerika  doch  eigenthüm- 
liche  Fortschritte  gemacht. 

Die  Wissenschaft  des  allgemeinen  Statsrechts.  wie  wir 
dieselbe  verstehen,  soll  also  das  gemeinsame  s  tat  liehe 
Bewusztsein  der  heutigen  civilisirten  Menschheit  und  die 
Grundbegriffe  und  wesentlich  gemeinsamen  Ein- 
richtungen darstellen,  welche  in  den  besonderen  State*  zu 
mannigfaltiger  Erscheinung  kommen.  Auch  das  allgemeine 
Statsrecht  ist  keine  blosse  Lehre,  es  h;it  eine  positive  Wirk- 
samkeit, aber  diese  Geltung  ist  nicht  eine  unmittelbare,  da 
es  keinen  allgemeinen  Stat   gibl .  n  eine  durch  die  be- 

sonderen Staten  vermittelte.  Ba  bat  nicht  blosz  eine  ideale, 
es  hat  auch  eine  reale  Wahrheil .  Ais/  als  die  Mensch- 

heit und  die  Weltgeschichte  keine  bloszeo  Gedankendinge, 
sondern  reale  Wahrheiten  sind. 

Anmerkung.     I'  bei  Aristoteles  (Rbetor.  I.  10.13.) 

zwischen   vöuog  CJiof  (besonderes  Eteebt)    und  w6fios  xoivos  (gemeines 
Recht)  hat  doch  nooh  einen  andern  sinn.     Unter  jenem  versteht  er  <la- 
Recht,  welches  ein  bestimmter  Btai  ffii  siofa  hervorgebracht  hat,    sei  ea 
nun  geschrieben  oder  nicht,  anter  dir». 'in  das  ron  Natur  gerechte  |  j 
xqlvov  dixcaov)  ohne  Rüoksiohl  auf  statliohe  Gtemeinsohaft. 


Fünftes  Capitel. 

Die  Quellt  n  des  Bi 

\.    Dai 

Die  höchste  und  Btatlichste  Form,  in  welcher  das  Rechl 
erkennbar  und  klar  zu  Tage  tritt,  isi  das  Gesetz.  In  dem 
Gesetze  findet  das  Hecht  seinen  bewnsztesten  und  reinsten 
Ausdruck.     In   dem  Gesetze  sprich!    sien    der  Sta1    selbst    in 

seiner  Gesamratheit  aus,  und  setzt  das  Recht  fest.     Er  rüstet 


Fünftes  Capitel.     Die  Quellen  des  Statsrechts.     Das  Gesetz.        13 

in  dem  Gesetz  und  durch  dasselbe  seinen  Bechtsausspruch  mit 
der  obersten  Autorität  und  der  höchsten  Macht  aus.  Das 
Gesetz  ist  das  volle  Wort  des  Hechtes. 

Das  eigentliche  Gesetz  ist  daher  nur  das  von  dem  State 
selbst  erlassene.  Aber  in  analoger  Weise  kann  auch  von  Ge- 
setzen die  Rede  sein,  welche  engere  und  kleinere  Gemein- 
schaften und  Organismen  innerhalb  des  States  Kraft  ihrer 
Autonomie  für  ihre  besondem  Kreise  ertheilen  und  mit 
ihrer  beschränkten  Autorität  ausrüsten:  so  die  Familien- 
und  Hau sge setze  der  Dynastien,  die  Statuten  und  Ord- 
nungen der  Städte  und  Gemeinden.  Auch  das  Gebiet  der 
statlichen  Verordnungen  las/t  sich  hier  anführen. 

Daß  Verhältnis/  der  Gesetzgebung  zum  Statsrecht  ist 
übrigens  dem  Verhültnisz  derselben  zum  Privatrecht  nicht 
völlig  gleich.  Der  Sial  als  Gesetzgeber  hat  mit  Bezug  auf 
jenes  viel  freiere  Hand  als  mit  Rücksicht  auf  dieses;  denn 
indem  er  statsreehtliehe  Einrichtungen  und  Rechtsverhältnisse 
festsetzt,  handelt  er  in  seiner  eigenen  Sache,  wenn  er 
dagegen  privatrechtliche  Gesetze  erläszt,  so  ordnet  er  nicht 
seine  eigenen,  sondern  die  Verhältnisse  der  Privatpersonen, 
die  weder  sein  Werk,  noch  völlig  von  ihm  abhängig  sind. 
So  wenig  die  Individuen  erst  durch  den  Stat  zu  Individuen 
werden,  so  wenig  wird  das  Recht  der  Individuen  erst  durch 
den  Stat  zum  Recht.  Dasselbe  kann  zwar  seine  höchste  Aus- 
bildung und  seinen  kräftigsten  Schutz  erst  in  dem  State  und 
durch  den  Stat  empfangen,  aber  es  wurzelt  nicht  in  diesem, 
und  die  Aufgabe  des  States  ist  hier  vornehmlich,  dem  Privat- 
rechte, wie  es  aus  den  natürlichen  Zuständen  und  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  der  Einzelnen  hervorgegangen  ist, 
zur  Anerkennung  zu  verhelfen,  nicht  aber  dasselbe  willkürlich 
zu  bestimmen. 

Die  wichtigen  practischen  Folgen  dieses  Gegensatzes  wer- 
den später  näher  dargelegt  werden. 


14  Sechstes  Capitel.     Statlicher  Vertrag. 

Sechstes  Capitel. 

B.  Statlicher  Vertrag. 

Auch  durch  Vertrag  wird  öfter  bestehendes  Statsrecht 
anerkannt,  näher  normirt  oder  abgeändert.  Sowohl  die  eigent- 
lichen Statsver träge,  welche  zwischen  verschiedenen  Ste- 
ten abgeschlossen  werden  und  insofern  eine  völkerrechtliche 
Begründung  haben,  als  die  Verträge  zwischen  verschiede- 
nen politischen  Körperschaften  oder  Gliedern  Eines 
States,  wie  die  alten  Richtungen  der  römischen  Patricier 
und  der  Plebes,  oder  im  Mittelalter  die  Verträge  zwischen 
den  verschiedenen  Ständen  des  Landes  mit  den  Fürsten  kom- 
men hier  in  Betracht. 

Verwandt  sind  die  Stats vertrage  mit  den  Gesetzen  insofern, 
als  sie  wie  diese  den  Keehtsgedanken  in  bestimmten  Worten 
und  zugleich  mit  Öffentlicher  Autorität  aussprechen.  Aber  da- 
durch unterscheidet  sich  die  Fertragsform  ?on  der  Gesetxes- 
form,  dasz  in  dieser  die  Einheit  des  States  sich  ftuszert,  in 
jener  eine  Mehrheit  von  zunächst  selbständigen  politischen 
Körpern  durch  Uebereinkunfl  den  gemeinsamen  Willen  fest- 
stellt. Innerhalb  eines  States  Isl  daher  die  Form  des  Ge- 
setzes jedenfalls  die  höhere,  eben  weil  in  ihr  der  Stet  als  ein 
in  sich  harmonisches  nnd  einheitliches  Wesen  seine  Gesinnung 
kundgibt.  Wo  aber  mehrere  Staten  zugleich  betheiligt  sind, 
da  ist  die  Form  des  Vertrages  anrermeidlich ,  weil  es  für 
diese  Mehrheit  von  unabhängigen  Staten  an  einem  gemein- 
samen Organe  der  Gesetzgebung  fehlt. 

Auch  da  wo  innerhalb  eines  States  die  Gesetzgebung 
nicht  etwa  einem  Fürsten  oder  einem  Käthe  ausschlieszlich 
zusteht,  sondern  auf  einem  Zusammenwirken  verschiedener 
Glieder  eines  zusammengesetzten  gesetzgebenden  Körpers  be- 
ruht, wie  z.  B.  in  England  auf  der  Uebereinstimmung  des 
Königs,  des  Ober-  und  des  Unterhauses,    tritt  doch  nach  der 


Sechstes  Capitel.     Statlicher  Vertrag.  15 

ausgebildeteren  Verfassung  die  Idee  des  Vertrages  ganz 
zurück,  und  würde  man  dieses  Zusammenwirken  nur  sehr  un- 
eigentlich als  Uebereinkunft  bezeichnen.  Das  von  dem  Parla- 
mente beschlossene  Gesetz  ist  nicht  ein  Vertrag  verschiedener 
politischer  Mächte,  die  jede  in  sich  selbständig  und  berechtigt 
wäre,  für  sich  einen  rechtsverbindlichen  Willen  zu  äuszern. 
Die  einzelnen  Bestandteile  des  Parlamentes  haben,  getrennt 
von  den  andern  Gliedern  desselben,  keine  rechtbildende  Auto- 
rität noch  Gewalt.  Nur  in  ihrer  Verbindung  zur  Einheit,  nur 
als  ein  untrennbarer,  einheitlicher  Statskörper  haben  sie  das 
Recht  der  Gesetzgebung,  und  das  Gesetz  ist  auch  hier  der 
reine  und  einfache  Ausdruck  dieser  Einheit. 

Das  Unvollkommene  der  Vertragsform  für  die  Erzeugung 
des  Statsrechts  in  einem  State  liegt  darin,  dasz  nach  ihr  die 
Einheit  des  Stats  aufgehoben,  und  der  Stut  selbst  gewisser- 
maszen  aufgelöst  wird  in  seine  Bestandteile ,  dasz  der  Form 
nach  das  Recht  des  Stats  gebunden  wird  an  den  AVillen  der 
einzelnen  losgerissenen  Theile,  mit  Einem  Wort,  dasz  im 
Princip  das  Ganze  den  Theilen  untergeordnet  wird. 
Die  Geschichte  aller  germanischen  S  taten  gibt  uns  zahlreiche 
Belege  an  die  Hand,  welche  diese  Unvollkommenheit  —  die 
Unbehülflichkeit  und  Schwerfälligkeit  in  der  Bewegung  sowohl 
als  die  mangelhafte  Berücksichtigung  der  öffentlichen  Inter- 
essen und  der  gemeinsamen  Statswohlfahrt  —  die  mit  der 
Vertragsform  unvermeidlich  verbunden  ist,  in's  rechte  Licht 
stellt ;  zugleich  zeigt  sie  uns,  wie  die  höhere  Entwicklung  des 
States  überall  die  frühere  Vertragsform  durch  die  Gesetzes- 
form theils  verdrängt,  theils  in  engere  Schranken  verwiesen  hat. 

Anmerkung.  Die  Ewigkeit  der  Statsverträge  ist  nicht  min- 
der im  Widerspruch  mit  der  Veränderlichkeit  aller  menschlichen  Dinge, 
und  so  auch  des  States,  als  die  Ewigkeit  der  Gesetze.  So  weit  das 
Recht  die  obersten  und  festen  Principien  der  göttlichen  Weltordnung  in 
einfacher  und  reiner  Form  ausspricht,  so  weit  kann  sein  Inhalt  als  ewig 
gelten,  gleich  jener.  Aber  sowie  das  Recht  die  wechselnden  und  der 
Umgestaltung    ausgesetzten   menschlichen  Verhältnisse  ordnet,    so  ist  es 


\Q  Siebentes  Capitel.     Herkommen  und  Gewohnheit. 

genöthigt  diesen  Wechsel  und  diese  Umwandlung  zu  berücksichtigen  und 
unterliegt  so  selber  den  Naturgesetzen  der  Veränderung.  Die  Form  der 
Aussprache  durch  Gesetz  oder  Vertrag  kann  das  nicht  ändern. 


Siebentes  Capitel. 

C.     Herkommen  und  Gewohnln  i'. 

In  den  politischen  Acten  und  Uebungen  BOwobJ  der  State- 
gewalt als  des  Y  äuszeri  Bich  das  vorhandene  Rechts- 
bewusztsein  vielfältig,  auch  ohne  dasz  es  in  der  Form  des 
Gesetzes  ausgesprochen  wird.  Hai  der  darin  kundgegebene 
Geist  eine  bestimmte  feste  I  rtenz  erlangt,  ist  er  durch 
das  Herkommen  gewissermatten  geheiligt,  durch  offene  Uebung 
bekräftigt,  so  ist  ihm  so  das  Gepräge  der  Rechtmässig- 
keit aufgedrückt,  es  hat  Bich  als  nationales  Rech!  ma- 
nifestirt. 

in  dem   Statsrechte  der  Römer  beruhten  die  wichti 
Institutionen  und  RechtsgrundsätM   nicht  auf  einem  geschrie« 
benen  Gesetze   noch    aul    \  •  a  ►ndern  auf  Bolcher  dem 

Bechtsgefühle  und  den  Rechtsanschaoungen  des  Volkes  ent- 
sprechender guter  Gewohnheit,  Das  Statsrechi  des  Mittel- 
alters ist  vorzugsweise  auf  Herkommen  und  Uebung  gegründet. 
Auch  das  englische  Statsrechi  isi  zumTheil  auf  diesem  Boden 
erwachsen,  und  ähnliche  Bestandteile  des  öffentlichen  Rechtes 
finden  wir  allerwä 

Das  Gewohnheitsrecht  aber  Bteht,  obwohl  es  eine  reich- 
haltige und  lebendige  Rechtsquelle  Ist,  dem  urkundlichen  Ge- 
setzesrechl  an  Klarheit  und  Schärfe  des  Ausdrucks  regelnd 
nach.  Das  unbewuszte  Gefühl  des  Nothwendigen  gibt  sieh  in 
der  Gewohnheit  kund,  der  bewuszte  Wille  <\r<  Richtigen  aberf 
vorzugsweise  in  dem  Gesetz.  Auf  der  andern  Seite  ist  das 
Gewohnheitsrecht  aber  weniger  Btarr  als  das  Gesetz,  und  lehnt 


Siebentes  Capitel.     Herkommen  und  Gewohnheit.  17 

sich  leichter  an  die  bestehenden  Verhältnisse  und  deren  stille 
Umgestaltung  an. 

Die  sogenannte  Natur  der  Sache,  insofern  sie  als 
Recht  bildend  angesehen  wird,  ist  nichts  anderes  als  die 
Macht  der  vorhandenen  realen  Verhältnisse  (physischer  und 
psychischer),  verbunden  mit  dem  Gefühle  des  Volks,  dasz  die- 
selben als  sittlich-normal  anerkannt  werden  müssen,  und 
somit  rechtlichen  Einfluss,  rechtliche  Geltung  haben.  Die 
Natur  der  Sache  wirkt  von  Anfang  an,  die  Gewohnheit  da- 
gegen wirkt  erst  in  beharrlicher  Folge. 

Das  Recht  komnri  nichl  von  auszen  her  als  ein  Fremdes 
an  die  hinge  heran,  es  wird  anch  nicht  von  den  Dingen  ab- 
gelöst und  gleichsam  ausgestoszen.  In  Wahrheil  ist  (las  Recht 
eine  bestimmte  Form  und  Richtung  der  Existenz  Belbst.  Der 
Stat,  wie  er  Ist,   ist  das  Stil  -recht. 

Anmerkungen  I.  Dai  Qewohnheitareoht  wurde  von  jeher 
überall  anerkannt.     Cicero  de  [nvent.  II.  22.     „  Consuetudinis  autem  jus 

putatur  id,  quod  voluntate  omnium  sine  lege  vetustas  comprobavit." 
—  Praefatio  legis  Baiuwartorumi  „Longa  consuetudo  pro  lege  habetur. 
Lex  est  oonstitutio  scripta,  mos  est  retuatate  probata  oonauetudo,  siye 
lex  Hon  Bcripta."  Schwabenspiegel  U):  BSwa  guot  gewanheii  ist, 
diu  is  roltt.  Guotiu  gewanheit  nnde  rehtiu  gewanheii  daz  ist  din  wider 
geistlich  reht  nih(  eniat  nnde  wider  gotes  hulde  noch  wider  raanliohen 
6ren,  noch  wider  menschliches  gewizen  noch  wider  menschlichen  triuwen 
noch  wider  die  selikeit  der  seien.  Guot  gewanheii  is<  als  guot  als  ge- 
schriben  reht.41  Puchta  Qewohnheitareoht  II.  v:  ..Auch  für  das  Yolk, 
aus  dessen  Rechtsansichtcn  sie  hervorgeht,  dient  die  Uebung  gleichsam 
als  der  Spiegel,  in  welchem  ea  sein  eigenes  Selbst  erkennt." 

2.  Nach  Montesquieu  Esprit  des  Lois  J.  L,2.  ist  das  Recht  im  wei- 
testen Sinn  nichts  anderes  als  die  von  der  Natur  der  Dinge  abgeleite- 
ten nothwendigen  Y er h alt nissc.  „Les  lois  Bont  les  rapjpoHs  neces- 
saires  qui  derivent  de  la  nature  des  choses,  et  dang  ce  senstousles  etres 
ont  leur  lois."  Das  Recht  setzt  allerdings  die  ursprüngliche  Schöpfung, 
d.  h.  das  Dasein  verschiedener  Existenzen  voraus,  deren  naturgemäsze 
Verhältnisse  es  erkennt  und  aufrecht  erhält,  deren  Ordnung  es  ist. 
Wenn  Schmidthenner  XII  Bücher  vom  State  I.  8.241  sagt:  Montes- 
quieu hätte  wohl  besser  geschrieben  rqui  constituent"  la  nature  des 
choses,  so  kehrt  er  den  wirklichen  Gedanken  des  französischen  Rechts- 
Bluntschli,  allgemeines  Stutsrecht.    I.  2 


lg  Achtes  Capitel.     Die  Wissenschaft. 

gelehrten  um.  Thiers  {de  la  propriete  Ch.  2.)  drückt  die  Meinung 
Montesquieu's  nur  in  einer  andern  Fassung  aus.  indem  er  denselben  ver- 
bessern will,  wenn  er  sagt:    ^Les  lois  sont  la  permonence  des  olioi 


Achtes  Capitel. 

D.    Die  Wissenschaft, 

Die  Bestimmung  der  Rechtswissenschaft  ist  zunächst  kei- 
neswegs die,  neues  Recht  herroi  zu  bilden,  Bondern  vielmehr 
die,  das  bereits  vorhandene  Recht  iu  erkennen.  In- 
sofern geholt  dieselbe  ihrer  wesentlichen  Thätigkeit  nach  nicht 
zu  den  Rechtsquellen,  sondern  Bie  begnügt  sich,  aus  dea  bis- 
her genannten  Rechtsquellei  /u  schöpfen, 

Auszerdem  hat  aber  die  Wissenschaft  auch  eine  pro- 
ductive  Bedeutung,  um  deren  willen  sie  allerdings  selber 
auch  zu  einer  Rechtsquelle  wird,  und  /war  in  zwiefacher 
Beziehung. 

Fürs  erste  verhall  neb  die  Wissenschaft  mit  Bezug  auf 
die  übrigen  Rechtsquellen  nicht  blosi  receptiv.  Sie  sammelt 
nicht  blosz  den  Rechtsstoff,  sie  verarbeitet  denselben,  und 
eben  durch  diese  Verarbeitung  erweitert  Bie  zuweilen  das 
vorhandene  Recht  Sie  rieht  i.  B.  ans  den  Gesetzen  Folgerungen, 
an  welche  der  Gesetzgeber  Belber  vielleicht  nicht  -dacht  hat, 
und  die  dennoch  nicht  bloss  Logisch  consequenl  Bind,  Bondern 
zugleich  zu  drin  ganzen  Rechtssystem  passen,  und  sowohl 
innerlich  begründet  sein  als  zu  der  äussern  Rechtsordnung 
gehören  können.  Oder  Bie  bringl  nicht  blosz  einzelne  Rechts- 
vorschriften des  Gewohnheitsrechts  zu  höherer  Klarheit,  Bon- 
dern wirkt  auch  hier  ergänzend  ein,  indem  sie  die  Ueberg 
von  diesem  zu  dem  geschriebenen  Rechte  vermittelt. 

Wichtiger  noch  ist  eine  zweite  schöpferische  Thätigkeil  der 
Wissenschaft,  ivelche  sich  aus  der  Natur  der  Rechtsideen 
erklärt.     Die  Rechtsideen   ah   Bolche  nehmlicfa  sind  keine.— 


Achtes  Capitol.     Die  Wissenschaft.  19 

wegs  wirkliches  Hecht;  ihre  Erkenntnisz  an  und  für  sich 
ist  daher  zunächst  nur  eine  freie  Thätigkeit  der  Wissenschaft, 
ohne  unmittelbaren  Einrlusz  auf  die  Rechtsordnung.  Zu  Recht 
aber  werden  die  Rechtsideen,  wenn  sie  gewissermaszen  Leib 
gewinnen,  d.  h.  wenn  sie  in  dem  State  als  feste  Re- 
geln anerkannt  werden  und  positive  Geltung  erlangen. 
Aus  bloszen  philosophischen  Gedanken  oder  moralischen  Vor- 
schriften werden  sie  dadurch  in  Hechtssätze  umgewandelt, 
dasz  sie  von  dem  Volksbewusztsein  als  bestimmend  und  ver- 
bindend aufgenommen  und  im  State  gehandhabl  werden.  Diese 
Erweiterung  des  bestehenden  Rechtes  wird  sehr  oft  statt  durch 
die  Gesetzgebung  durch  die  Wissenschaft  vermittelt, 
und  insofern  reihi  sich  diese  den  übrigen  Rechtsquellen  an,, 

Die  Wissenschaft  Ut  hier  nur  niebt  mit  der  Gelehrsam- 
keil zu  verwechseln,  noch  darf  man  die  wissenschaftliche 
Thätigkeil  auf  schriftstellerische  Abhandlungen  beschränken. 
Der  Statsmann,  welcher  in  einer  öffentlichen  Debatte  durch 
seine  Rede  das  Princip  rar  Klarheil  bringt,  und  das  allge- 
mein.' Citlicil  luv  dessen  Anerkennung  bestimmt;  der  Feld- 
herr, welcher  in  einem  Tagesbefehl  die  Grundsätze  kundgibt, 
für  welche  er  mit  -einer  Armee  einzustehen  sich  für  ver- 
pflichtet hält,  und  dadurch  die  Zweifel  löst  und  die  Gemüther 
zur  Huldigung  lenkt;  der  Richter,  welcher  durch  die  Entschei- 
dungsgründe -eines  Ortheils  den  streit  über  das  Princip  in 
einer  Weise  hebt,  welche  allgemeine  Billigung  rindet;  der 
Journalist,  der  durch  seinen  leitenden  Artikel  der  öffentlichen 
Meinung  die  Richtung  gibt,  und  den  Stat  bestimmt,  einen 
Satz  als  Hecht  gelten  zu  lassen .  der  bisher  noch  nicht  zur 
Klarheit  erhoben,  noch  nicht  in  die  Rechtspraxis  eingetreten 
war,  sie  alle  vergröszern  auf  wissenschaftlichem  Wege  das 
vorhandene  Capital  des  bestehenden  Rechts.  Ganz  vorzugs- 
weise aber  geziemt  diese  wissenschaftliche  Thätigkeit  den 
Statsmännern,  und  von  jeher  haben  sich  auch  wahre  Stats- 
männer    dadurch   ausgezeichnet,    dasz   sie   —   nicht   immer  in 

2* 


20  Achtes  Capitel.     Die  Wissenschaft. 

der  Form  der  Gesetzgebung  und  nicht  immer  unter  dem  Siegel 
der  obrigkeitlichen  Autorität,  sondern  oft  in  der  freien  Form 
wissenschaftlicher  Aeuszerung  das  Recht  ihres  Volkes  be- 
reichert haben. 

Das  wissenschaftliche  Recht  ist  mit  dem  Gewohn- 
heitsrechte verwandt.  Wie  dieses  unterscheidet  es  sich  von 
dem  Gesetzes-  und  dem  Vertragsrechte  durch  den  Mangel 
einer  äuszernForm,  welche  als  solche  ><li<»n  mit  der  höchsten 
staatlichen  Autorität  ausgerüstet  i>t.  Wie  dieses  hat  es  nicht 
einen  ofriciellen  Charakter,  Bändern  beruht  auf  freien  Aensze- 
rungen  des  Volksleben-.  Es  i-t  daher  auch  wie  dieses 
beweglicher,  veränderlicher,  dem  Zweifel  ausgesetzter,  aber 
auch  wie  dieses  iebensfrisch.  Es  unterscheidet  sich  aber  von 
dem  Gewohnheitsrecht  hinwieder  darin,  dasz  dieses  vornehm- 
lich auf  dem  Recht  sgeffrfele  des  V-dks  beruht,  welches 
sich  in  Sitten  und  Hebungen,  in  ein/. dum  Handlungen  und 
Symbolen  kundgibt,  jenes  aber  in  dem  durch  geistige  Er- 
leuchtung erweckten  Reehtsbewusztseins  des  Volkes 
seinen  Grund  hat.  [nsofern  verhalt  ßich  das  Gewohnheitsrecht 
zu  dem  wissenschaftlichen  Rechte  wieder  ähnlich  wie  m  dem 
Gesetzesrechte. 

Der  Streit  aber  die  I  Gültigkeit  des  sogenannten  Natur- 
oder Vernunftrechtes  läszt  sieh  ron  da  ans  Leicht  ent- 
scheiden. So  lange  dasselbe  nur  da-  Erzeugnisz  individuel- 
ler Speculation  ist.  wir  /..  B.  dir  Platonische  Republik 
mit  ihren  Wächtern,  so  lange  hat  dasselbe  sicherlich  keinerlei 
Anspruch  auf  wirkliche  Geltung.  Auch  der  Nachweis,  dan 
einzelne  abstracte  Meinungen,  die  als  naturrechtliche  begründet 
werden,  zweckmäszig  Beien,  i>t  noch  Dicht  genügend,  im 
deren  Kechtmäszigkei  t  herzustellen.  Di«'  Theorie  ihr 
sich  allein  schafft  überall  noch  kein  Recht.  Wenn  aber  die 
Empfänglichkeit  des  Volkes  dir  Anerkennung  naturrecht- 
licher Sätze  zugleich  vorhanden  ist,  und  wenn  der  Rechts» 
gedanke  zugleich  von  dem  Bewusztsein  des  Volkes  aufgenommen 


Achtes  Capitel.     Die  Wissenschaft.  21 

und  durch  dieses  mit  verbindlicher  Kraft  ausgerüstet  wird, 
dann  ist  derselbe  zu  Recht  geworden,  und  es  ist  nicht  zu 
läugnen,  dasz  das  Kecht  erzeugen  de  Moment  allerdings  in 
der  Wissenschaft  lag,  welches  durch  die  Reception  des 
Volksbewusztseins  fruchtbar  wurde. 

Selbst  in  dem  römischen  Privatrechte  ist  ein  bedeutender 
Theil  auf  solchem  wissenschaftlichen  Wege  entstanden,  ein- 
zelne wichtige  Lehren  sogar  geradezu  aus  naturrechtlichen 
Gedanken,  welche  zur  Geltung  gelangten.  Die  ganze  Lehre 
von  der  Fahrlässigkeit  (culpa)  z.  B.  verdankt  ihre  Entstehung 
dieser  Thätigkeit  der  Wissenschaft,  welche  aus  der  Beobach- 
tung der  gemeinsamen  menschlichen  Natur  ihre  Sätze  schöpfte, 
und  deren  Anerkennung  durchsetzte.  Im  Statsrecht  ist  diese 
Form  der  Rechtsbildung  um  so  beachtenswerter,  je  leichter 
der  Natur  des  States  gem&sz  das  Bewusztsein  von  sittlicher 
Nothwendigkeil  und  von  der  Angemessenheit  im  State  in  das 
Bewusztsein,  dasz  das  auch  Recht  Bei,  überzugehen  pflegt,  und 
je  mehr  es  in  der  Bestimmung  des  States  liegt,  der  erkann- 
fi'ii  Rechtsidee  äuszere  Geltung  zu  verschaffen.  Grosze  Stats- 
männer  lassen  sich  daher,  so  weit  ihnen  die  Verhältnisse 
freien  Spielraum  gestatten,  regelmäszig  durch  ihren  Glauben 
oder  ihr  Wissen  von  dem  natürlichen  Kecht e  bestimmen. 

Anmerkungen.  1.  Von  dem  natürlichen  Rechte  sagt  Paulus  in 
dem  Römerbricfo  II,  i:>  — 1.">:  ,.l>«-  ( i.-ct/.c-  Werk  sei  in  den  Herzen 
der  Heiden  geschrieben,  und  werde  von  ihrem  Gewissen  bezeugt."  Und 
Melanchthon  ( Philos.  mor.)  nennt  das  positive  Recht  die  nähere  Be- 
stimmung (determinatio)  des  natürlichen  Rechtes.  Diese  Bestimmung 
des  natürlichen  Statsrechtes  kann  geschehen  durch  Gesetze,  durch  Stats- 
verträge,  durch  die  Gewohnheit,  durch  die  Wissenschaft. 

2.  Den  Moment  der  Rechtserzeugung  zu  erkennen  und  die  mancherlei 
zusammenwirkenden  Ursachen  derselben  zu  beurtheilen,  ist  freilich  in 
einzelnen  Fällen  sehr  schwierig.  Es  ist  damit  ähnlich  wie  mit  der  natür- 
lichen Erzeugung.  Aber  wenn  einmal  das  Recht  als  positive  Frucht  des 
statlichen  Lebens  zu  Tage  gefördert  ist,  so  läszt  es  sich  doch  jeder  Zeit 
erkennen,  insofern  man  nur  mit  klaren  Augen  sieht  und  mit  unbefange- 
nem Sinne  erwägt. 


22     Neuntes  Capitel.    Bechtsordnung  u.  thatsächl.  Ordnung  (Besitz!. 

Neuntes  Capitel 

Rechtsordnung  und  tratsächliche  Ordnung  (Besitz). 

Aehnlich  wie  wir  im  Privatrecht  Eigentliuni  und  Besitz 
zu  unterscheiden  gewohnt  sind,  läszt  sich  auch  von  stattlichem 
Besitz  reden  im  Gegensatz  zum  »tätlichen  Kecht  und  kommt 
der  allgemeinere  Unterschied  der  that sächlichen  und  der 
rechtlichen  Ordnung  in  Betracht  Her  Gegensatz  einer 
Kegierung  de  facto  und  de  jure  ist  der  wichtigste  aber 
nicht  der  einzige  Fall  dieses  Unterschieds,  in  welchem  zu- 
gleich die  Analogie  des  privatrechtlichen  Besitzes  und  Eigen- 
thums  besonders  deutlich  hervortritt,  aber  mehr  nicht  als  die 
Analogie,  denn  immer  mnsa  man  sich  bewuszt  bleiben,  dasz 
die  Kegierung  kein  Eigenthum  einer  Person  und  kein  Besitz 
von  Sachen  ist. 

In  zwei  Richtungen  findet  der  Btatliche  Besitz  auch  eine 
statsreehtliehc  Beachtung,  Fürs  erst»',  indem  der  thatsäch- 
liche  Bestand  (Status,  quo  res  Bunt),  abgesehen  von  Beiner 
rechtlichen  Begründung,  einen  Anspruch  gewährt  auf  provi- 
sorischen Rechtsschutz  gegen  unbefugte  und  gewaltsame 
Störung.  Auch  hier  darf  man  im  Grundgedanken  an  die  Ana- 
logie des  [nterdictenschutzes  zu  Gunsten  des  Sachenbesitzes 
erinnern,  aber  muss  man  sich  vor  der  unzulässigen  Anwendung 
der  privatrechtlichen  Doctrin  hüthen. 

Sodann  geht  der  fchatsächliche  Zustand  anter  gewisse!] 
Voraussetzungen  in  Folge  der  Zeit  in  den  entsprechenden 
Rechtszustand  über,  ähnlich  wie  der  Sachenbesitz  durch  Ver- 
jährung gesichert  und  zu  Eigenthum  wird.  Insofern  läszt 
sich  wohl  von  einer  Btatsrechtlichen  Verjährung1  reden, 

1  Der  Ausdruck  Verjährung  bedeutet  in  der  deutschen  Sprach« 
nicht  eine  bestimmte  gesetzliche  Institution,  sondern  überhaupt  das 
allmähliche  Wach  stimm  eines  befestigten  Rechtsaastandes  aus  der  Fort- 
dauer der  thatsächlichen  Zustände,  welche  von  derZeil  geheilig!  werden. 

Wenn  &,  Brie  in  seiner  trefflichen  Schrift:   Die  Legitimation  einer  usur- 


Neuntes  Capitel.    Rechtsordnung  u.  thatsäehl.  Ordnung  (Besitz).    23 

die  freilich  wieder  von  anderer  Art  und  Wirkung  ist  als  die 
privatrechtliche  Verjährung. 

Der  Besitz  hat  für  das  öffentliche  Recht  eine  gröszere 
Bedeutung  noch  als  für  das  Privatrecht.  Er  geht  weit  leichter 
in  jenem  als  in  diesem  in  wirkliches  Recht  über,  und  wirkt 
dort  in  höherem  Masze  Recht  bildend  als  hier.  Dieser 
Unterschied  beruht  keineswegs  blosz  auf  dem  äuszerlichen 
Nothstande,  dasz  es  im  State  häufig  an  einer  höhern  Gewalt 
fehlt,  welche  die  unberechtigte  auf  öffentliche  Verhältnisse 
sich  erstreckende  Besitzergreifung  verhindert  oder  aufhebt, 
während  der  in  seinem  Privatrechte  beeinträchtigte  und  aus 
seinem  Besitze  ohne  Recht  verdrängte  Inhaber  regelmäszig  bei 
den  Gerichten  Schutz  findet  gegen  die  ihm  angethane  Ver- 
letzung, sondern  es  findet  derselbe  seine  innere  Begründung 
in  der  verschiedenen  Natur  des  Stats-  und  des  Privatrechts. 

Zwar  genügt  die  blosze  faetische  Ausübung  eines  Rechtes 
für  sich  allein  dort  so  wenig  als  hier  dazu,  um  dem  Ausüben- 
den das  ausgeübte  Recht  zuzuerkennen.  Der  blosze  fae- 
tische Zustand  ist  auch  im  Statsreehte  nicht  ohne  weiteres 
als  Recht  aufzufassen.  Es  musz  auch  für  das  Statsrecht, 
damit  es  aus  dem  Besitze  hervorgehe,  ein  geistig- sitt- 
liches Rechtselement  hinzutreten.  Aber  während  im 
Privatrechte,  abgesehen  von  der  Besitzergreifung  herrenloser 
Sachen,  die  dann  auch  sofortiges  Eigenthum  bewirkt,  das  In- 

pirten  Statsgewult,  den  Ausdruck  für  diese  statsrechtliche  Wandlung 
nicht  billigt,  so  denkt  er  zu  sehr  an  die  privatreclitliche  Verjährung. 
"Wird  für  diese  bona  fides  gefordert  bei  dem  Besitzerwerb,  so  paszt  die- 
ses Erfordernisz,  insofern  es  Nichtwissen  des  Eigenthums  eines  Andern 
bedeutet,  schon  deszhalb  nicht  in's  Statsrecht,  weil  es  sich  liier  nicht 
um  persönliche  Rechte  handelt,  sondern  um  öffentliche  Rechtszustände. 
Eine  bona  fides  in  ganz  anderm  Sinn,  nämlich  der  Glaube  an  das 
Bedürfnisz  oder  die  Notwendigkeit  der  Aenderung  wird  aber  meistens 
bei  denen  vorhanden  sein,  welche  die  Umgestaltung  durchsetzen.  Aber 
selbst  wenn  dieser  Glaube  anfänglich  nicht  da  wäre,  so  kann  er  später 
sich  bilden  und  das  ist  für  die  öffentlich-rechtliche  Verjährung  aus- 
reichend. 


24    Neuntes  CapiteL    Rechtsordnung  u.  thatsächl.  Ordnung  ( Besitz). 

divicluum,  welches  an  einer  ihm  bisher  fremden  Sache  eigen- 
mächtig Besitz  ergreift,  jederzeit  einem  andern  berechtigten 
Individuum  gegenüber  tritt,  und  so  in  den  besondern  Kreis 
von  Rechten  dieses  Andern  übergreift,  der  als  Privatperson 
neben  ihm  auf  gleicher  Linie  steht,  so  äussert  sieh  dagegen 
in  der  verschiedenen  offenen  Besitzesergreifung  öffentlicher  Rechte 
sehr  häufig  die  Macht  der  —  wen  auch  neuen  —  natür- 
lichen Verhältnisse  im  State,  und  in  dem  Mangel  eines 
Widerspruchs  zu  gleich  e  i  n  e  G  e  w  B  hm  n  g  und  A  n  e  r  ken- 
nung von  Seite  des  States,  in  dessen  eigenem  Körper  die 
Veränderung  vor  Bich  gegangen  ist  In  der  gesicherten  Fort- 
dauer der  tatsächlichen  Zustande  offenbart  rieh  die  fortwir- 
kende Notwendigkeit  der  öffentlichen  Verhalt* 
nisse,  and  diese  ist  öffentliches  Recht 

Diese  Rechtsansicht  wird  noch  klarer  werden,  wenn  wir 
die  beiden  extremen  Meinungen,  die  ibr  \<>n  i  gesetzten 

Seiten  her  entgegentreten,  mit  ibr  vergleichen  und  an  ihr 
prüfen. 

I.  Die  Theorie  der  »genannten  faits  aecomplis.  si»> 
schmiegt  sich  bequem  an  jede  factische  Veränderung  an.  Sie 
erklärt  jede  ftuszerlich  erscheinende  Mach!  ,il-  Recht.  Sir  weis/, 
von  keinem  andern  Recht,  als  dem  des  momentanen  Sieges, 
von  keinem  Unrecht  als  dem  «In-  Niederlage.  Jede  Empörung 
ist  in  ihren  Augen  strafbar,  wenn  sie  miszglfickt,  und  voll- 
ber echtigt ,  wenn  sie  gelingt.  Jede  Usurpation  wird  von  ihr 
verdammt,  wenn  sie  im  Versuch  erstirbt,  und  Boforl  anerkannt, 
wenn  sie  Erfolg  hat  Die  äussere  weh -rinde  Erschei- 
nung ist  ihr  einziger  bfaszstab  auch  für  das  Recht.  Sie 
folgt  allen  Wogen  des  Geschickes  mit  niederträchtiger  GefQg- 
samkeit,  und  wechseK  ihre  Farbe  und  ihre  Meinung  mii  jeder 
neuen  Bewegung,  die  sie  verspürt  Sie  gibt  vor,  den  bestehen- 
den Zustand  zu  schützen,  und  untergr&bl  ihn:  sie  rflhml  sich, 
die  lebendige  Portbildung  der  Dinge  zu  berücksichtigen,  und 
huldigt  doch   immer  nur  der  jeweiligen  Gegenwart.     Sir.  hui 


Neuntes  Capitel.    Rechtsordnung  u  thatsächl.  Ordnung  (Besitz).    25 

keinen  Glauben  an  den  sittlichen  Gehalt  und  keine  Einsicht 
in  die  geistige  Natur  des  Kechts. 

Zum  Unglück  für  die  allgemeine  Rechtssicherheit  ist  seit 
der  französischen  Revolution  diese  charakterlose  Doctrin  der 
fait.s  accomplis  auf  dem  europäischen  Continent  häufig  practisch 
geworden,  und  sie  hat  oft  bei  den  entgegengesetzten  Parteien 
Beifall  gefunden. 

Wohl  verdient  die  ^tatsächliche  Umwandlung  der  Dinge 
auch  die  Beachtung  des  Rechts,  aber  der  Grundfehler  jener 
Lehre  liegt  in  der  Einseitigkeit,  womit  sie  auf  die  äuszere 
Erscheinung  allen  Nachdruck  legt,  und  das  ganze  sittliche 
und  geistige  Elemenl  des  Rechts  übersieh!  und  misz- 
achtet.  Nur  wo  das  Rechtsbewusztsein  des  Volkes  die 
Veränderung  [rntheiszt,  wo  jenes  sich  in  den  neuen  Lebens- 
erscheinungen offenbart,  nur  da  kann  Bich  auf  solchem  Wege 
neues  wirkliches  Rechl  entwickeln.  Die  Erkenntnisz,  ob  dieses 
Rechtsbewusztsein  da  Bei  oder  nicht,  ist  freilich  In  manchen 
Fällen  Bchwierig,  aber  die-«'  Schwierigkeit  heb!  die  hohe  Be- 
deutung  <\r>  zu  erkennenden  Momentes  selber  nicht  auf.  Als 
Anhaltspunkte  für  diese  Erkenntnisz  und  demnach  als  Beding- 
ungen der  statsrechtlichen  Verjährung  dienen  folgende 
Bücksichten . 

a)  So  lange  in  dem  State  noch  offener  Kampf  ge- 
führt wird  um  die  Aenderung,  so  lange  ist  jedenfalls  das 
Bewusztsein  von  der  Etechtmäszigkeil  <\ii^  neuen  Zustandes  noch 
nicht  durchgedrungen,  wenn  schon  die  Partei,  welche  für  den- 
selben streitet,  die  mächtigere  ist. 

b)  Ist  innerhalb  des  States  zwar  die  Aenderung  für  den 
Augenblick  siegreich  durchgefochten,  aber  sind  die  Verhält- 
nisse und  Stimmungen  von  der  Art,  dasz  die  Erneuerung 
des  Kampfes  noch  in  drohender  Aussicht  steht,  so  ist  auch 
in  diesem  Falle  der  Besitz  noch  nicht  zu  festem  Recht  ge- 
worden. 

c)  Yon    besonderer  Bedeutung   ist   entweder    die    still- 


26    Neuntes  Capitel.    Rechtsordnung  u.  thaisftchi  Ordnung  (Besitz). 

schweigende  Zulassung  oder  gar  die  ausdrückliche 
Anerkennung  des  veränderten  Zustande-  von  Seite  der  Or- 
gane des  States,  welche  das  Kecht  und  die  Pflicht  haben,  ober 
diese  Zustände  und  deren  Ordnung  zu  wachen,  besonder«  aber 
von  Seite  der  obersten  Statsgewalten,  oder  von  Seite  dea  Volks, 
welches  durch  die  Aenderung  betroffen  wird. 

d)  Endlich  ist  entscheidend  die  v  8  Ik  erreohtl  iche  A  n- 
erkennung  der  Mächte,  welche  berufen  sind,  den  allge- 
meinen Frieden  und  die  gemeinsame  Weltordnung  zu  schützen. 

Wenn  diese  Voraussetzungen  alle  vorhanden  sind,  so  Ist 
die  neue  Rechtsbildung  vollzogen  and  die  anfängliche  Usur- 
pation ist  von  der  Zeit  geheiligt  zu  wirklichem  &echt 
geworden. 

II.  Die  legitimistische  Theorie  stellt  sieb  an.  als 
vertrete  sie  vorzuglich  das  geistig-sittliche  Klemmt  im  Recht, 
im  Gegensatze  zu  den  thats&chlichen  Erscheinungen,  das  feste 
Kecht  im  Gegensatze  zu  den  unstäten  Schwankungen  der 
äuszeren  Ereignisse.  Und  in  der  Thal  liat  sie  der  Lehre  von 
den  faits  aecomplis  gegenüber  ein  gewisses  Verdienst.  Aber 
in  ihrer  nur  entgegengesetzten  Einseitigkeil  gerfttb  sie  nicht 
minder  als  diese  in  Widerspruch  mit  dem  Wesen  des  Rechts. 

Verstellt  man  unter  der  Legitimität,  wie  das  Wort  w 
zuläszt,  die  Rechtmässigkeit  der  wirklichen  Verhalt» 
dann  verdient  sie  unsere  volle  Verehrung.  Wird  aber  unter 
Legitimität  die  blosse  hergebrachte  Rechtsform  verstan- 
den, auch  nachdem  der  Geist  aus  Ihr  gewichen  ist,  oder  die 
blosze  vor  Zeiten  erschienene  Rechtsidee,  welche  von  der 
Kealität  abgelöst  die  Möglichkeil  der  Verwirklichung  verloren 
hat,  dann  ist  sie  eine  leere  Formel  ohne  [nhalt,   eine  Phrase 

ohne  Wahrheit.     Die  legitimistische  Tl rie  \  erfallt  in  diesen 

Fehler:  und  es  kommt  ihr  nicht  ra,  rieh  als  Verfechter  des 
geistlich -sittlichen  Principe  /n  gebahren;  denn  der  Geist  Ist 
lebendig  und  sie  will  den  fcodten  Buchstaben  erhalten.  Sie 
meint  das  Leben  fortzusetzen,  indem  sie  die  Mumie  aufbewahrt, 


Neuntes  Capitel.    Rechtsordnung  u.  thatsächl.  Ordnung  (Besitz ).    27 

Die  Entwicklung  der  Geschichte,  das  lebendige  Wort  des 
Kechts,  das  sich  in  der  wachsenden  und  sinkenden  Macht  der 
Verhältnisse  und  in  dem  Schicksal  der  Völker  kund  gibt, 
bleibt  ihr  unverständlich.  Den  Blick  ausschließlich  der  Ver- 
gangenheit zuwendend,  sieht  sie  nicht  das  Walten  der  Alles 
wandelnden  Zeit,  Beschränkten  Sinnes  ist  sie  gebannt  in  die 
urkundliche  Formel  des  alten  Gesetzes.  Ladern  sie  die  natür- 
liche Macht  der  Verhältnisse  zu  gering  schätzt,  artet  sie  leicht 
aus  in  ohnmächtige  Rechthaberei,  und  indem  sie  sich  Ton  dem 
Leben  abschlieszt  und  sich  dem  Leben  entfremdet,  erstarrt  sie 
selbst  zu  leeren  Sätzen.  Sie  darf  sich  nicht  beklagen,  dasz 
die  Weltgeschichte,  unbekümmert  um  ihre  fruchtlosen  Proteste 
über  sie  wegschreitet.  Von  ihr  gill  das  Wort  Christi :  .Lasset 
die  Todten  ihre  Todten  begraben.4 

Es  gibt  keinen  einzigen  Stat,  der  mit  dies*']-  legitimistischen 
Ansicht  bestehen  könnte.  Die  ganze Weltordnung  /.engl  wider 
sie  und  das  Gericht  der  Weltgeschichte  ha!  sie  längst  ver- 
worfen. Und  trotzdem  hal  man  in  unserm  Jahrhundert  die 
Verwegenheit  gehabt,  das  Gespenst  dieser  leblosen  Legitimität 
neuerdings  zu  beschwören,  damit  die  Geister  zu  verwirren  und 
die  Praxis  zu  eiteln  und  schädlichen  Handlungen  zu  verführen. 

Anmerkungen.    1.   Niebuhr  Geschichte  der  Revolution  I.  8. 212: 

„Uniäugbar  gilt  für  das  Statsreclit  eine  Verjährung  der  Usurpation,  wie 
im  Privatreeht  Verjährung  des  Besitzes." 

2.  Ein  wichtiges  und  vollbewusztes  Zeugnisz  gegen  die  falsche  Le- 
gitimität haben  der  Papst  Zacharias  und  die  fränkische  Nation 
um  die  Mitte  des  achten  Jahrhunderts  vor  der  Welt  abgelegt,  jener  in- 
dem er  es  für  Recht  erklärt  hat,  dasz  der  den  Namen  des  Königs  er- 
halte, welcher  die  Pflichten  und  die  festbegründete  Macht  des  Königs 
selbständig  übe,  diese  indem  sie  diesem  Ausspruch  gemäsz  die  herzog- 
liche Dynastie  der  Karolinger  zur  königlichen  erhoben  und  den  Mero- 
wingern,  die  seit  langer  Zeit  nur  noch  den  Schein,  nicht  mehr  die 
Wahrheit  des  Königthums  besaszen,  den  königlichen  Titel  entzogen  hat. 

3.  Kaiser  Joseph  II.  von  Oesterreich  vindicirt  in  seinem  berühm- 
ten naiven  Briefe  an  König  Friedrich  II.  von  Preuszen  die  legiti- 
mistische  Ansicht  für  die  Könige  in  einem  Sinne,  welcher  sich  dem 
System  der  faits  aecomplis  sehr  nähert:    „Euer  Majestät  ist  Monarch,  und 


2g  Zehntes  Capitel.     Methoden  der  Behandlung. 

in  dieser  Eigenschaft  sind  Ihr  die  Rechte  des  Künigthums  nicht  un- 
bekannt. Mein  Unternehmen  gegen  die  Osmanen  ist  oichts  ander« 
ein  legitimer  Versuch,  Provinzen  wieder  in  Besitz  zu  nehmen,  welche 
im  Laufe  der  Zeiten  und  in  Folge  unglücklicher  Ereignisse  von  meiner 
Krone  losgerissen  worden  sind.  Die  Türken,  und  ich  denke  Bie  lind 
nicht  die  Einzigen,  haben  die  ßtatsmarime  zu  gelegener  Zeit  wie- 
der zu  nehmen,  was  sie  in  unglücklichen  Zeiten  verloren." 

4.  Der  engere  Begriff  der  Legitimität,  der  zur  Zeit  der  Restaura- 
tion von  1814  durch  den  Fürsten  TalFeyrand  in  Umlauf  gesetzt  werden 
ist,  bedeutet  vorzugsweise  das  fürstlichi  Gtblütsrechi  der  alten  Dynastien 
im  Gegensatz  zu  revolutionärer  Entsetzung  oder  asurpatorischen  Ver- 
drängung derselben,  und  i>t  bus  religiösen,  familienrechtlichen  und  patri- 
monialen  Elementen  gemischt.  Der  ganze  Begriff  gehört  daher  eher 
dem  mittelalterlichen  ah  dem  modernen  Btatsrecht  an.  VgL  den  Artikel 
Legitimität  im  deutschen  Btatswörterbuch, 


Zehntes  Capitel. 

\\>  tbodt  n  d<  r  Behandlung, 

Die  vrissenschaftliche  Lahr«  des  Statsrechts  kann  in  »tr- 
schiedener  Weise  behandell  werden.  Insbesondere  ktssen  sich 
zwei  innerlich  begründete  Arten  nn<l  ebenso  zwei  krankhafte 
Abarten  der  Behandlung  unterscheiden.  Wir  können  als  jene 
Arten  die  philosophische  und  die  historische  Methode 
der  Behandlung  bezeichnen.  Die  Abarten  entstehen  ans  dar 
extremen  üebertreibung  je  der  einen  vorherrschenden  Seite 
jener  erstem  Methoden;  ans  der  philosophischen  ist  bo  die 
blosz  abstract-ideologische,  ans  der  historischen  die  ein- 
seiti g-o in  i»  i  rische  wie  ans  -lern  Urbild  das  Zerrbild  durch 
Verderbnis/  hervorgegangen. 

Der  Gegensatz  der  Methoden  Bchlieszl  Bich  an  theils  an 
die  Eigenschaften  dee  Rechtes  Belbst,  theilfl  an  die  Verschie- 
denheil der  geistigen  Anlagen  «lerer,  welche  in  dieser  Wissen- 
schaft gearbeitet  haben. 

Alles  Recht  nämlich  bat    eine   ideale  Seite,   einen  ajft- 


Zehnte3  Capitel.     Methoden  der  Behandlung.  29 

liehen  und  geistigen  Gehalt  in  sich,  aber  als  Recht  ruht  es 
zugleich  auf  einem  realen  Boden,  und  hat  auch  eine  leib- 
liche Gestalt  und  Geltung.  Die  letztere  Seite  im  Recht 
ist  von  der  abstracten  Ideologie  verkannt  und  übersehen 
worden.  Sie  pHegt  sich  ein  abgezogenes  Statsprincip  auszu- 
denken, und  daraus  eine  Reihe  Logischer  Folgerungen  zu  ziehen, 
ohne  Rücksicht  auf  den  wirklichen  Stat  und  dessen  reale  Ver- 
hältnisse. Selbst  Pia  ton  ist  in  seiner  Republik  in  diesen 
Fehler  verfallen  und  dabei-  zu  Sätzen  gekommen,  welche  der 
Natur  und  den  Bedürfnissen  der  Menschen  geradezu  wider- 
sprechen. Indessen  war  Piaton  doch  durch  den  Reichthum  seines 
Geistes  und  seinen  Sinn  füi-  die  Schönheit  der  Form  vor  der 
armseligen  Lehre  ausgedörrter  Formeln  bewahrt  geblieben, 
welche  im-  in  den  Statsrechtslehren  der  Neuern  so  häufig  be- 
gegnen. Der  Stat  als  ein  sittlich  organisches  Wesen  ist  nicht 
ein  Producl  der  bloszeu  kalten  Logik,  und  das  Recht  des 
States  Lsi  uichl  eine  Sammlung  speculativer  Sätze. 

Diese  Methode  führt,  wenn  sie  als  wissenschaftliche  Unter- 
suchung betrieben  wird,  Leichi  zu  anfruchtbaren  Resultaten; 
wenn  sie  aber  in  die  Praxis  übertritt,  zu  der  gefährlichsten 
Geltendmachung  fixer  tdeen  und  zur  Auflösung  and  Zerstörung 
<h'^  bestehenden  Rechts.  In  Zeiten  der  Revolution,  wo  die 
Losgebundenen  Leidenschaften  Bich  um  so  lieber  solcher  ab- 
stracten Lehren  bemächtigen,  je  mehr  sie  mit  deren  Hülfe 
die  Schranken  (\r^  Gesetzes  zu  durchbrechen  Hoffnung  haben, 
erhalten  derlei  ideologische  Sätze  leicht  eine  ungeheure  Macht, 
und  werfen,  unfähig  einen  neuen  Organismus  hervorzubringen, 
mit  dämonischer  Gewalt  Alles  vor  sich  nieder.  Die  franzö- 
sische Revolution  in  ihren  leidenschaftlichen  Phasen  hat  der 
Welt  entsetzliche  Belege  für  die  Wahrheit  dieser  Beobachtung 
vor  die  Augen  geführt:  und  Napoleon  hatte  nicht  Unrecht  zu 
sagen:  „Die  Metaph ysiker,  die  Ideologen  haben  Frank- 
reich zu  Grunde  gerichtet."  Die  ideologische  Auffassung  der 
„ Freiheit  und  Gleichheit"    hat  Frankreich  mit  Buinen  gefüllt 


30  Zehntes  Capitel.     Methoden  der  Behandlung. 

und  mit  Blut  getränkt,  die  doctrinäre  Ausbeutung  des 
,  monarchischen  Princips-  hat  die  politische  Freiheit  Deutsch- 
lands niedergedrückt  und  seine  Machtentwicklung  gehemmt, 
und  die  abstracte  Durchführung  des  Nationalitätengrundsatzes 
hat  den  Frieden  von  ganz  Europa  bedroht.  Die  fruchtbarsten 
und  wahrsten  Ideen  werden  verderblich,  wenn  sie  ideologisch 
erfaszt  und  dann  mit  dem  Fanatismus  der  Bornirtheit  verwirk- 
licht werden. 

Der  entgegengesetzten  Einseitigkeit  macht  rieb  die  blosz 
empirische  Methode  schuldig,  indem  rie  sieb  blosi  an  die 
vorhandene  äuszerliche  Form,  an  den  Buchstabe!  des  Gesetzes 
oder  an  die  thatsächlichen  Erscheinungen  hält  Diese  Methode, 
welche  in  der  Wissenschaft  höchstens  durch  ihre  Sammerwerke 
einen  Werth  hat,  in  denen  de  grossen  Stoff  anhäuft,  findet  in 
dem  Statsleben  häufig,  zumal  unter  bureaukratiscb  gebildeten 
Beamten,  zahlreichen  Anhang.  Sie  gefährdet  dann  /.war  selten 
unmittelbar  die  ganze  Statsordnung,  wie  die  Ideologischen 
Gegenfüszler.  aber  sie  setzt  rieb  wie  ein  Rost  an  das  blank** 
Schwert  der  Gerechtigkeit  an,  umstrick!  die  Öffentliche  Wohlfahrt 
mit  Hemmnissen  aller  Art.  verursacht  eine  Menge  kleiner  Schä- 
den, entnervt  die  sittliche  Kraft  und  schwächt  die  Gesundheit 
des  States  dergestalt,  dasa  am  ihretwillen  in  kritischen  Zeiten 
seine  Bettung  überaus  erschwert,  zuweilen  unmöglich  gemacht 
wird.  Führt  die  blosz  ideologische  Methode,  wenn  sie  prac- 
tisch  wird,  den  Stat  eher  in  fieberhafte  Stimmungen  und  Krisen 
hinein,  so  hat  diese  blosz  empirische  Methode  unter  derselben 
Voraussetzung  eher  chronische  üebel  zur  Folge. 

Die  historische  Methode  unterscheidet  rieb  ron  der 
letztern  vorteilhaft  dadurch,  dasz  sie  nicht  blosz  «las  gerade 
vorhandene  Gesetz  oder  die  vorhandenen  Thatsachen  gedanken- 
los und  knechtisch  verehrt,  sondernden  innern  Zusammen- 
hang zwischen  Vergangenheil  und  Gegenwart,  die  orga- 
nische Entwicklung  d»>>  Volkslebens  und  die  in  der 
Geschichte    offenbar  gewordene    sittliche    Idee    geistig 


Zehntes  Capitel.     Methoden  der   Behandlung.  31 

durchdringt  und  beleuchtet.  Sie  geht  zwar  auch  zu- 
nächst von  der  realen  Erscheinung  aus,  aber  sie  faszt  diese  als 
eine  lebendige  auf,  nicht  als  eine  todte. 

Verwandt  mit  ihr  ist  die  wahrhaft  philosophische 
Methode,  welche  nicht  blosz  abstract specuiirt,  sondern  concret 
denkt  und  eben  darum  Idee  und  Realität  verbindet.  Wäh- 
rend jene  ihrer  Betrachtung  die  geschichtliche  Erscheinung  und 
Entwicklung  zu  Grunde  legt,  geht  diese  zunächst  von  der  Er- 
kenntnisz  der  menschlichen  Seele  aus,  und  betrachtet  von  da 
aus  die  in  der  Geschichte  geoffenbarten  Aeuszerungen  des 
menschlichen  Geistes. 

Nur  wenigen  Individuen  war  es  vergönnt,  diese  beiderlei 
Betrachtungsweisen  zugleich  in  sich  zu  vereinigen.  Die  mei- 
sten, die  Bich  auf  einen  böhera  wissenschaftlichen  Standpunkt 
erhoben  haben,  wurden  durch  ihre  natürlichen  Anlagen  ent- 
weder der  einen  oder  der  andern  Richtung  vorzugsweise  zu- 
geleitet. Unter  jenen  Erstem  verdient  Aristoteles  voraus 
unsere  Bewunderung,  dessen  Statslehre,  obwohl  in  jener  jugend- 
lichen Periode  der  Geschichte  der  Menschheit  geschrieben, 
welche  der  reiferen  Statenbildung  vorausging,  dennoch  auf 
Jahrtausende  nach  ihm  eine  der  reinsten  Quellen  statlicher 
Weisheit  geblieben  ist.  Der  Kölner  Cicero  ahmte  zwar  in 
der  Form  der  Begründung  und  Darstellung  die  philosophische 
Weise  der  darin  reicher  begabten  Griechen  nach,  den  besten 
Theil  des  Inhaltes  aber  schöpfte  er  mit  Becht  aus  der  Fülle 
practisch-römiseher  Politik.  Unter  den  Neuern  sind  der  Fran- 
zose Bodin,  der  Italiener  Yico  und  der  Engländer  Baco  de 
Verulam  als  frühe  Repräsentanten  der  philosophisch-histo- 
rischen Methode  zu  nennen.  Cicero  ähnlich  an  hinreiszender, 
schwunghafter  Beredsamkeit  hat  der  Engländer  Burke  die 
Lehren  der  englischen  Statswissenschaft  ebenso  aus  der  Ge- 
schichte und  dem  Leben  seines  Volkes  gegriffen  und  in  geist- 
reicher und  philosophischer  Form  verherrlicht.  Der  Italiener 
Macchiavelli,  der  in  seinen  Werken  die  reiche  und  schwere 


32  Zehntes  Capitel.     Methoden  der  Behandlung. 

Lebenserfahrung  eines  tiefen  und  klugen  Menschenkenners  nie- 
dergelegt hat,  und  der  Franzose  Montesquieu,  welcher  mit 
freiem  und  heiterm  Blicke  die  Welt  anschaut  und  reich  ist 
an  feinen  Bemerkungen  und  treffenden  Beobachtungen,  wech- 
seln in  ihren  Schriften  in  der  Methode;  doch  ist  jener  mehr 
der  historischen,  dieser  mehr  der  philosophischen  ergeben. 
Der  welsche  Schweizer  Rousseau  und  dw  Engländer  1  >  *  *  1 1 — 
tham  dagegen  halten  sich ,  gleich  den  meisten  Deutschen, 
mehr  an  die  philosophische  Methode,  verfallen  alter  häufiger 
als  ihr  grösseres  Vorbild  Piaton  in  die  einseitigen  Yerirr- 
ungen  der  bloszen  Ideologie. 

Es  ist  somit  klar :  die  beiden  Methoden,  die  historische 
und  die  philosophische]  bestreiten  Bich  nicht  Sie  ergänzen 
sich  vielmehr  und  corrigiren  aich.  Der  Isi  sicherlich  ein  bor- 
nirter  Historiker,  der  meint,  mit  ihm  Bei  die  Geschichte  ab- 
geschlossen, and  es  werde  kein  neues  Etechi  mehr  geboren, 
und  der  ein  eitler  und  thönchter  Philosoph,  der  meint,  er  sei 
der  Anfang  und  das  Ende  aller  Wahrheit  Der  echte  Histo- 
riker ist  als  solcher  genöthigi  den  Werth  auch  der  Philosophie 
anzuerkennen,  und  der  wahre  Philosoph  isi  ebenso  darauf  hin- 
gewiesen auch  die  Geschichte  zu  Käthe  zu  ziehen. 

Wohl  aber  hat  jede  der  beiden  Methoden  ihre  eigentüm- 
lichen Vorzüge  und  hinwieder  ihr«'  besondern  Schwachen  und 
Gefahren.  Der  Hauptvorzug  <\rv  historischen  isi  der  Reich- 
tlium  und  die  Positivit&t  ihrer  Resultate;  denn  die  Oe- 
schichte  ist  voll  lebendiger  Mannichfaltigkeil  und  zugleich 
durch  und  durch  positiv.  Was  der  fruchtbarste  Denker  in 
seinem  Kopfe  auszudenken  vermag,  wird  dock  immer,  ver- 
glichen mit  den  in  der  Geschichte  der  Menschheit  geoffen- 
barten Gedanken,  nur  ein  ärmliches  Stückwerk  sein,  und  ge- 
wöhnlich nur  eine  unsichere  und  nebelhafte  Gestali  erlangen. 
Aber  daneben  besteht  allerdings  die  Gefahr,  dasz  man,  den  histo- 
rischen Bahnen  folgend,  leicht  aber  der  reichen  Mannichfaltigkeil 
der  Einheit  vergiszt  und  die  Einheit  verliert,  das/  man  von  der 


Zehntes  Capitel.     Methoden  der  Behandlung.  33 

Schwere  des  Stoffes  niedergedrückt,  und  von  der  Massenhaf- 
tigkeit  der  geschichtlichen  Erfahrungen  überwältigt  wird,  dasz 
man  insbesondere,  von  der  Vergangenheit  angezogen  und  ge- 
fesselt, den  frischen  Blick  in  das  Leben  der  Gegenwart  und 
nach  der  Zukunft  hin  verliert.  Freilich  sind  das  keineswegs 
nothwendige  Folgen  der  historischen  Methode,  aber  die  Ge- 
schichte selber  zeigt  uns,  wie  häufig  Männer,  die  sich  ihr  lei- 
denschaftlich hingegeben  haben,  auf  derlei  Abwege  sich  verirren. 
Die  Vorzüge  der  philosophischen  Methode  dagegen  sind: 
Keinheit,  Harmonie  und  Einheit  des  Systems,  vollere 
Befriedigung  des  allgemeinen  menschlichen  Strehens  nach  Ver- 
vollkommnung, Idealität.  Ihre  Resultate  haben  einen  vor- 
zugsweise menschlichen  Charakter,  ein  vorzugsweise  ideales 
(iepräge.  Und  wieder  dmin-n  ihr  eigentümliche  Gefahren, 
insbesondere  dasz  die  Philosophen  in  dem  Streben  nach  dem 
Einen  ofl  als  einlach  gedachten  Ziele  die  innere  Mannich- 
faltigkeil  der  Natur  und  den  reichen  [nhall  des  realen  Daseins 
übersehen,  dasz  sie,  dem  raschen  Fluge  der  freien  Gedanken  fol- 
gend, nicht  selten  statt  wirkliche  Gesetze  zu  entdecken,  leere  For- 
meln ohne  Gehalt,  Blasen  ohne  Kein  finden,  und  dem  Spiele  mit 
diesen  verfallen,  dasz  sie,  die  natürliche  Entwicklung  verken- 
nend, unreife  Früchte  pflücken,  wurzellose  Bäume  in  die  Erde 
stecken  und  in  ideologisehen  Irrwahn  versinken.  Nur  wenige» 
philosophischen  Geistern  ist  es  geglückt,  sich  reu  diesen  Ver- 
i rrnngen  frei  zu  erhalten. 

Anmerkung.  Diese  und  verwandte  Gedanken  habe  ich  1811  in 
der  Schrift:  „Die  neueren  Rechtsschulen  der  deutschen  Juristen"  in 
ihrer  Beziehung  auf  die  deutsche  "Wissenschaft  näher  ausgeführt.  Zweite 
Auflage,  Zürich,  1862.  Weit  früher  aber  hat  der  englische  Kanzler 
Bacon  die  Gebrechen  der  naturrechtlichen  und  der  positiven  Juris- 
prudenz seiner  Zeit  gerügt  und  von  der  Verbindung  der  Geschichte  mit 
der  Philosophie  die  nüthige  Reform  der  Rechtswissenschaft  erwartet. 


Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht. 


OhTtes  önd?. 

Der  Begriff  des   Stats. 


Erstes  Capitel. 

•    Historischer  Btatsl  egriff. 

Wenn  wir  die  grosse  Ajizahl  von  Staten  überblicken,  welche 
nns  die  Geschieht.-  ror  die  Augen  führt,  so  werden  wir 
einzelne  gemeinsame  Merkmale  aller  Staten  sofort  gewahr, 
andere  aber  stellen  Bich  erst  bei  näherer  Prüfung  heraas. 

lß  Vorerst  \>i  es  klar,  dasa  in  jedem  State  eine  Mi 
von  Menschen  verbunden  ist,  v"  sehr  verschieden  auch 
die  Volkszalil  der  einzelnen  State*  Bein  kann,  indem  die  einen 
nur  wenige  Tausend«',  andere  dagegen  viele  Millionen  Menschen 
umfassen,  so  steht  doch  das  fest,  dasz  von  Stai  ersl  dann  die 
Kede  ist,  wenn  der  Kreis  einer  bloszen  Fiitn  il  Ie  über- 
schritten ist,  und  sich  eine  Menge  von  Menschen  (beziehungs- 
weise von  Familien,  Männer,  Weiber  und  Kinder)  vereinig! 
finden.  Eine  Familie,  ein  Gesehlechl  wie  das  Baus  des  .indi- 
schen Erzvaters  Jakob  kann  der  Kern  werden,  um  den  m.1i 
mit  der  Zeit  eine  grössere  Menge  Menschen  ansammelt,  aber, 
erst  wenn  das  geschehen  ist,  erst  wenn  die  einzelne  Familie 
sich  in  eine  fteihe  von  Familien  aufgelöst  hat,  und  die  Ver- 
wandtschaft   zur   Völkerschaft    erweitert    ist,    isi    sine 


Erstes  Capitel.     Historischer  Statsbegriff.  35 

wirkliche  Statenbildung  möglich.  Die  Horde  ist  noch  nicht 
Völkerschaft.     Ohne  Völkerschaft  kein  Stat. 

Eine  Normalzahl  für  die  Grösze  des  Volks  im  Stat  gibt 
es  nicht,  am  wenigsten  eine  so  geringe,  wie  Kousseau  ge- 
meint hat,  von  nur  10,000  Mann.  Im  Mittelalter  konnten 
wohl  so  kleine  Staten  sicher  und  würdig  bestehen.  Die  neuere 
Zeit  treibt  zu  gröszerer  Statenbildung  an,  theils  weil  die  poli- 
tischen Aufgaben  des  modernen  Stats  einer  reicheren  Fülle 
von  Volkskräften  bedürfen,  theils  weil  die  gesteigerte  Macht 
der  Groststaten  für  die  Unabhängigkeit  und  Freiheit  der  Klein- 
staten  leicht   gefährlich  und  bedrohlich  wird. 

2.  Sodann  zeigt  sich  eine  dauernde  Beziehung  des 
Volkes  zum  Boden  als  nothwendig  für  die  Portdauer  des 
Stats.  Der  Stat  verlangt  ein  Statsgebiet,  zum  Volke  gehört 
das  Land. 

Nomadenvölker,  obwohl  Häuptlinge  an  ihrer  Spitze 
stehen,  und  obwohl  sie  unter  sich  das  Etechl  handhaben,  be- 
wegen sieli  doch  nur  in  dein  Vorhole  des  States.  Erst  die 
feste  Niederlassung  derselben  bedingt  das  Statwerden.  Moses 
hat  das  jüdische  Volk  zum  Stat  erzogen,  aber  Josua  erst  hat 
den  jüdischen  Stat  in  Palästina  gegründet.  Als  in  den  Zeiten 
der  groszen  Völkerwanderung  die  Völker  ihre  Wohnsitze  ver- 
lieszen  und  neue  zu  erobern  unternahmen,  befanden  sie  sich 
in  einem  unsicheren  Cebergangszustande.  Der  frühere  Stat, 
den  sie  gebildet  hatten,  bestand  nicht  mehr,  der  neue  noch 
nicht.  Der  persönliche  Verband  dauerte  noch  eine  Weile  fort, 
der  Zusammenhang  mit  dem  Lande  war  gelöst.  Nur  wrenn  es 
ihnen  gelang,  von  neuem  festen  Boden  zu  gewinnen,  so  glückte 
es  ihnen  eben  deszhalb,  einen  neuen  Stat  herzustellen;  die 
Völker  aber,  welchen  das  nicht  gelang,  gingen  unter.  So  ret- 
teten die  Athener  unter  Themistokles  auf  ihren  Schiffen  den 
Stat  Athen,  weil  sie  nach  dem  Siege  die  Stadt  wieder  ein- 
nahmen; aber  die  Cimbern  und  Teutonen  gingen  unter,  weil 
sie  die  alte  Heimat  verlassen  hatten  und  keine  neue  erwarben. 

3* 


35  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  State. 

Sogar  der  römische  Stat  wäre  untergegangen,  wenn  sich  die 
Kömer  nach  dem  Brande  der  Stadt  nach  Veji  übergesiedelt 
'hätten. 

3.  In  dem  State  stellt  sich  die  Einheit  des  Ganzen, 
die  Zusammengehörigkeit  des  Volkes  dar.  Im  Innern 
sind  zwar  verschiedene  Gliederungen  möglich  mit  groszer  und 
eigentümlicher  Selbständigkeit,  wie  in  Koni  der  Populus 
der  Patricier  und  daneben  die  Plebes,  wie  im  altern  ger- 
manischen Mittelalter  die  Volks verf aas u n  g  neben  der  L e - 
hens Verfassung.  Der  Stat  kann  auch  aus  mehreren  Theileo 
zusammengesetzt  sein,  die  in  sieh  Belber  wieder  Staten  bilden, 
wie  in  den  Staten b finden  dar  alten  Hellenen  und  der 
Eidgenossen,  und  in  den  Du  id  esst  a  t  en  Nordamerikas 
und  der  Schweiz.  Aber  wenn  die  Gemeinschaft  nicht, 
es  in  ihrem  innern  Organismus,  einen  einheitlichen  Zusammen- 
hang besitzt,  sei  es  im  Verhältnis!  zu  den  auswärtigen  Staten 
sich  als  ein  zusammengehöriges  Ganzes  darstellt,  in  ist  kein 
Stat  da. 

3.  In  allen  staten  tritt  der  Gegensatz  zwisehen  Begie- 
renden und  Regierten,  oder  am  uns  eines  alten,  zuweilen 
miszverstandenen  und  auch  wohl  tniszbrauchten  ausdrucke  /u 
bedienen,  der  aber  an  und  Für  sich  weder  gehässig  noch  un- 
frei ist,  zwischen  Obri-k  ei  t  und  ('  nt  e  r  t  hauen  ,  zwar  in 
den  mannichfaltigsten  Formen,  aber  immerhin  als  nothwendig 
hervor.  Selbst  in  der  ausgebildetsten  Demokratie,  in  welcher 
dieser  Gegensatz  zu  verschwinden  scheint,  ist  derselbe  den- 
noch vorhanden.  Die  Volksgemeinde  der  athenischen  Borger 
war  die  Obrigkeit,  und  die  einzelnen  Athener  waren  im  \n- 
hältnisz  zu  jener  Unterthanen. 

Wo  es  keine  Obrigkeit  mehr  gibt,  «reiche  die  Autorität 
besitzt,  wo  die  Regierten  den  politischen  Gehorsam  gekfindigi 
haben,  und  Jeder  thut  wozu  ihn  die  Lust  treibt,  wo  Anar- 
chie ist,  da  hat  der  Stat  aufgehört.  Die  Anarchie  kann  aber, 
wie  alle  Negation,  so  wenig  dauern,   dasz  sieh  aus  ihr  sofort 


Erstes  Capitel.     Historischer  Statsbegriff.  37 

wieder,  wenn  auch  in  roher  und  oft  grausamer  despotischer 
Form,  unter  jedem  lebendigen  Volke  eine  Art  von  neuer 
Obrigkeit  aufwirft,  welche  sich  Gehorsam  erzwingt,  und  so 
jenen  unentbehrlichen  Gegensatz  herstellt.  Die  Communisten 
verneinen  zwar  denselben  in  ihren  Theorien,  aber  damit  ver- 
neinen sie  den  Stat  selbst.  Auch  ist  es  ihnen  noch  unter 
keinem  Volke  gelungen,  mit  Vernichtung  des  States  ihren 
blosz  gesellschaftlichen  Verband  einzuführen,  und  würde 
es  ihnen  je  gelingen,  vorübergehend  die  Massen  für  sich  und 
ihre  Plane  einzunehmen,  so  wäre,  nach  dem  Vorbilde  der 
religiösen  Communisten  des  XVI.  Jahrhunderts,  der  Wieder- 
täufer, und  nach  der  innern  Consequenz  der  Dinge,  mit  Sicher- 
heit darauf  zu  rechnen,  dasz  auch  sie  wieder  eine  Herrschaft, 
und  zwar  die  härteste-,  die  es  je  gegeben,  aufrichten  würden. 

Bei  den  Slawischen  Völkern  finden  wir  die  alte  Idee, 
•las/  nur  die  Einstimmigkeil  aller  Gemeindeglieder  den 
Gemeinwillen  hervorbringe  und  nicht  dir  Mehrheit  noch  eine 
höhere  Stimme  entscheide.  Das  kann  aber  höchstens  als  Ge- 
meindeprineip  und  auch  nur  bei  einer  Nation  gelten,  in  der 
sich  Alle  leicht  und  rasch  zusammen  schlieszen,  nicht  aber  als 
Statsprincip,  denn  der  Stat  musz  den  Widerspruch  Einzelner 
unvermeidlich  überwältigen. 

5.  Eine  gründliche  Prüfung  der  statliehen  Erscheinungen 
läszt  uns  ferner  in  demselben  ein  organisches  Wesen  er- 
kennen, und  in  der  That  ist  mit  dieser  Einsicht  in  die  orga- 
nische Natur  des  States  sehr  viel  gewonnen  auch  für  die 
practische  Behandlung  der  statliehen  Fragen. 

In  jedem  State  nämlich  werden  wir  für  die  verschiedenen 
öffentlichen  Thätigkeiten  auch  verschiedene  Würden,  Aemter, 
Behörden,  Versammlungen  gewahr,  welche  eigens  geartet  und 
bestimmt  sind,  um  als  Organe  des  States  zur  Erfüllung  jener 
Thätigkeiten  zu  dienen.  Das  Individuum,  welches  in  das  öffent- 
liche Amt  eintritt,  hört  insofern  auf  eine  blosze  Privat- 
person zu  sein,  die  zunächst  für  sich  lebt,    es  wird,  so  weit 


3g  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

das  Amt  solches  erheischt,  zur  öffentlichen  Person.  Das 
Amt  selbst,  welches  von  ihm  bekleidet  wird,  verhält  sich  zu 
dem  State  als  einem  Ganzen  genau  so,  wie  das  Glied  zum 
Körper.  Es  ist  nicht  etwa  nur  wie  ein  Theil  einer  Maschine, 
es  hat  nicht  etwa  blosz  mechanische  Thätigkeiten  auszuüben, 
die  sich  immer  gleich  bleiben,  wie  die  Bäder  uud  die  Spindeln 
einer  Fabrik,  sondern  seine  Functionen  haben  einen  geistigen 
Charakter  und  ändern  sich  im  Einzelnen  je  nach  den  Be- 
dürfnissen des  öffentlichen  Lebens,  zu  deren  Befrie- 
digung sie  bestimmt  sind.  Dem  Leben  dienend  sind  sie  in 
sich  selber  lebendig.  Wo  daher  das  Leben  in  dem  Amte  er- 
stirbt, wo  dieses  in  einen  gedankenlosen  Formalismus  versinkt 
und  sich  der  Natur  einer  Maschine  annähert,  welche  ohne  Un- 
terscheidung,  ohne  Berücksichtigung  der  eigenthümliehen  und 
wandelbaren  Verhältnisse,  die  vorliegen,  nach  festen  äuszern 
Gesetzen  in  regelmäsziger  mechanischer  Bewegung  fortarbeitet, 
da  ist  das  Amt  selbst  dem  Verderben  verfallen,  und  der  in 
eine  Maschine  verkommene  Stat  geht  sicher  eben  deszhalb  zu 
Grunde. 

Nicht  allein  der  Mensch ,  welcher  in  dem  Amte  wirkt, 
das  Amt  selbst  hat  in  sich  eine  psychische  Bedeutung,  es 
lebt  in  ihm  ein  seelisches  Princip.  Es  gibt  einen  Cha- 
rakter, einen  Geist  des  Amtes,  der  hinwieder  auf  die 
Person,  welche,  wie  in  dem  Körper  das  Individuum,  in  dem 
Amte  waltet,  einen  Einflusz  übt.  In  dem  römischen  Consu- 
late  lag  eine  würdevolle  Hoheit  und  Machtfülle,  welche  auch 
einen  nicht  bedeutenden  Mann,  der  zum  Consul  erwählt  wor- 
den war,  emporhob,  und  seine  natürlichen  Kräfte  steigerte. 
Das  Kichteramt  ist  ein  so  heiliges,  der  Gerechtigkeit  ge- 
weihtes, dasz  diese  erhabenen  Eigenschaften  auch  die  Seele 
eines  schwächeren  Mannes,  welcher  zum  Richter  bestellt  wird, 
erfüllen  und  in  ihm  den  Muth,  für  das  Recht  einzustehen, 
wecken  können.  Der  Geist  des  Amtes  vermag  zwar  nicht  die 
Natur  des  Beamten  umzuändern,   er  ist  nicht  mächtig  genug 


Erstes  Capitel.     Historischer  Statsbegriff.  39 

diesen  so  zu  durchdringen,  dasz  jederzeit  die  persönliche  Er- 
füllung des  Amtes  der  Bedeutung  desselben  vollkommen  ent- 
spricht; aber  der  Beamte  verspürt  doch  jederzeit  eine  psy- 
chische Einwirkung  des  Amtes  auf  seinen  individuellen 
Geist  und  sein  Gemüth,  und  wenn  er  einen  offenen  Sinn  hat, 
kann  es  ihm  nicht  entgehen ,  dasz  in  dem  Amte  selbst  eine 
Seele  lebt,  welche  zwar  nun  mit  seiner  Individualität  in  eine 
enge  Beziehung  und  in  unmittelbare  Verbindung  getreten  ist, 
aber  immerhin  von  jener  verschieden  ist  und  seine  Per- 
sönlichkeit überdauert. 

Wie  aber  die  sämmtlichen  öffentlichen  Aemter  und  Wür- 
den zum  State  gehören  als  dessen  Glieder,  so  ist  dieser  selbst 
wieder  ein  organisches  Ganzes,  welches  als  Einheit  die 
Mannichfaltigkeit  jener  zusammenhält  und  zu  innerer  Harmonie 
vereinigt.  Das  Ganze  und  seine  Theile ,  der  Stat  und  seine 
Aemter  haben  daher  auch  als  organische  Bildungen  eine  Ent- 
wicklungsgeschichte. Es  verhält  sich  damit  im  Wesent- 
lichen nicht  anders  als  mit  allen  übrigen  organischen  Wesen 
auf  der  Erde.  Sie  alle  laufen  innere  Umgestaltungen  und 
verschiedene  Phasen  des  jugendlich-frischen  Wachsthums ,  der 
Reife  und  des  alternden  Hinwelkens  durch.  Die  Geschichte 
der  Staten  und  der  einzelnen  statlichen  Institutionen,  welche 
länger  dauern  als  das  Einzelleben  des  Menschen ,  und  deren 
Entwicklung  oft  durch  mehrere  Jahrhunderte  hindurch  geht, 
läszt  darüber  keinen  Zweifel  übrig. 

Allerdings  besteht  aber  neben  dieser  Verwandtschaft  mit 
der  Entwicklung  der  organischen  Wesen,  welche  wir  in  der 
Schöpfung  Gottes  in  der  Natur  erkennen,  auch  ein  beachtens- 
werther  Gegensatz.  Während  nämlich  das  Leben  der  Pflanze, 
des  Thieres  und  des  Menschen  in  regelmäszigen  Perioden  und 
Stufen  auf-  und  hinwieder  absteigt,  so  ist  der  Entwicklungs- 
gang der  Staten  und  der  statlichen  Institutionen  nicht  immer 
ebenso  regelmäszig.  Die  Einwirkungen  der  menschlichen  Frei- 
heit   oder    äuszerer   Schicksale   bringen  öfter  bedeutende   Ab- 


40  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

weichungen  hervor,  und  unterbrechen  bald  oder  fördern  plötz- 
lich die  normale  Stufenfolge  oder  wandeln  sie  zuweilen  um,  je 
nachdem  grosze  und  gewaltige  Männer  oder  wilde  Leiden- 
schaften auch  des  Volkes  in  dieselben  eingreifen.  Diese  Ab- 
weichungen sind  zwar  weder  so  zahlreich  noch  gewöhnlich  so 
grosz,  dasz  die  Regel  selbst  um  derselben  willen  bedeutungs- 
los würde.  Im  Gegentheil  sie  sind  viel  seltener,  und  meistens 
auch  geringfügiger,  als  die  wähnen,  welche  sich  in  ihren  Mein- 
ungen von  den  unmittelbaren  Eindrücken  der  jeweiligen  Gegen- 
wart bestimmen  lassen.  Aber  sie  sind  doch  wichtig  genug, 
um  den  Beweis  zu  führen,  dasz  der  Gedanke  einer  bloszen 
Naturwüchsigkeit  des  States  einseitig  und  unbefriedigend 
sei,  und  um  der  freien  individuellen  That  auch  in 
dieser  Hinsicht  ihr  Recht  widerfahren  zu  lassen. 

6.  Indem  die  Geschichte  uns  Aufschlusz  gibt  über  die 
organische  Natur  des  States,  läszt  sie  uns  zugleich  erkennen, 
dasz  der  Stat  nicht  mit  den  niedern  Organismen  der  Pflanzen 
und  der  Thiere  auf  Einer  Stufe  stehe,  sondern  von  höherer  Art 
sei.  Sie  stellt  ihn  als  einen  sittlich -geistigen  Organis- 
mus dar,  als  einen  groszen  Körper,  der  fähig  ist  die  Gefühle 
und  Gedanken  der  Völker  in  sich  aufzunehmen  und  als  Gesetz 
auszusprechen,  als  That  zu  verwirklichen.  Sie  berichtet  uns 
von  moralischen  Eigenschaften,  von  dem  Charakter  der 
einzelnen  Staten.  Sie  schreibt  dem  State  eine  Persönlich- 
keit zu,  die  mit  Geist  und  Körper  begabt  ihren  eigenen 
Willen  hat  und  kundgibt. 

Der  Ruhm  und  die  Ehre  des  States  haben  von  jeher  auch 
das  Herz  seiner  Söhne  gehoben  und  zu  Opfern  begeistert.  Für 
die  Freiheit  und  Selbständigkeit,  für  das  Recht  des  States 
haben  in  allen  Zeiten  und  unter  allen  Völkern  je  die  Edelsten 
und  Besten  ihr  Gut  und  Blut  eingesetzt.  Das  Ansehen  und 
die  Macht  des  States  zu  erweitern,  die  Wohlfahrt  und  das 
Glück  desselben  zu  fördern,  ist  überall  als  eine  der  ehren- 
vollsten   Aufgaben    der    begabten   Männer   angesehen   worden. 


Erstes  Capitel.     Historischer  Statsbegriff.  41 

An  den  Freuden  und  Leiden  des  States  haben  jederzeit  alle 
Bürger  desselben  Antheil  genommen.  Die  ganze  grosze  Idee 
des  Vaterlandes  und  die  Liebe  zum  Vaterlande  wäre  undenk- 
bar, wenn  dem  State  nicht  diese  hohe  sittlich-persönliche  Natur 
zukäme. 

Die  Anerkennung  der  Persönlichkeit  des  States  ist 
denn  auch  für  das  Statsrecht  nicht  weniger  unerläszlich  als 
für  das  Völkerrecht. 

Person  im  rechtlichen  Sinn  ist  ein  Wesen,  dem  wir  einen 
Eechtswillen  zuschreiben,  welches  Kechte  erwerben,  schaffen, 
haben  kann.  Auf  dem  Gebiete  des  öffentlichen  Rechts  ist 
dieser  Begriff  ebenso  bedeutsam,  wie  auf  dem  Gebiete  des 
Privatrechts.  Doch  ist  der  Stat  die  öffentlich-rechtliche 
Person  im  höchsten  Sinne.  Die  ganze  Statsverfassung  ist 
dazu  eingerichtet,  dasz  die  Person  des  Stats  ihren  Stats- 
willen,  der  verschieden  ist  von  dem  Individualwillen 
aller  Einzelnen  und  etwas  anderes  ist  als  die  Summe  der 
Einzelwillen,  einheitlich  gestalten  und  bethätigen  kann. 

Fassen  wir  das  Resultat  dieser  historischen  Betrachtung 
zusammen,  so  läszt  sich  der  Begriff  des  States  so  bestimmen: 
Der  Stat  ist  eine  Gesammtheit  von  Menschen,  in  der  Form 
von  Regierung  und  Regierten  auf  einem  bestimmten  Gebiete 
verbunden  zu  einer  sittlich- organischen  Persönlichkeit.  Oder 
kürzer  ausgedrückt:  Der  Stat  ist  die  politisch  organi- 
sirte  Volksperson  eines  bestimmten  Landes. 

Anmerkung.  Es  ist  nicht  ohne  Interesse  nachzusehen,  wie  die 
verschiedenen  Völker  den  Stat  benannt  haben.  Die  Griechen  noch 
bezeichneten  Stadt  und  Stat  mit  dem  nämlichen  Wort  (n6Xtg~)1  zum 
Zeichen,  dasz  ihr  Begriff  vom  Stat  auf  die  Stadt  gegründet  und  durch 
den  städtischen  Gesichtskreis  auch  beschränkt  war.  Auch  der  römische 
Ausdruck  civitas  weist  noch  auf  die  Bürgerschaft  einer  Stadt  hin, 
als  den  Kern  des  States,  aber  ist  persönlicher  gehalten  als  das  griechi- 
sche "Wort,  und  eher  geeignet,  gröszere  Yolksmassen  in  sich  aufzu- 
nehmen. Auch  spricht  es  für  die  hohe  sittliche  Bedeutung  des  States, 
dasz  der  Ausdruck  Civilisation   von   dem  Namen  des  Stats  abgeleitet 


42  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

ist,  und  practisch  mit  der  Ausbreitung  und  Verwirklichung  des  States 
zusammenfällt. 

In  gewissem  Betracht  steht  der  andere  römische  Name  res  publica 
noch  höher,  insofern  nämlich  als  demselben  die  Beziehung  nicht  blosz 
auf  eine  (städtische)  Bürgerschaft,  sondern  ein  Volk  zu  Grunde  liegt 
(res  populi),  und  die  Rücksicht  auf  Volks  Wohlfahrt  darin  enthalten  ist. 
Im  Sinne  der  Alten  schlieszt  der  Ausdruck  Republik  die  Monarchie  nicht 
aus,  paszt  aber  nicht  auf  despotisch  geartete  Staten. 

In  den  modernen  Sprachen  hat  nicht  blosz  unter  den  Romanen,  son- 
dern eben  so  unter  den  Germanen  der  Ausdruck  Stat  (stato,  etat,  State) 
überhand  genommen.  An  sich  völlig  indifferent  (er  bezeichnet  ursprüng- 
lich jeden  Zustand,  und  offenbar  ergänzte  man  anfänglich  Status  rei 
publicae,  um  eine  nähere  Beziehung  zu  dem  State  zu  erlangen)  ist  die- 
ser Ausdruck  mit  der  Zeit  zu  der  allgemeinsten  und  durch  keinerlei 
Nebenbegriffe  beschränkten,  noch  durch  schillernden  Doppelsinn  zweifel- 
haften Bezeichnung  des  States  geworden.  Obwohl  darin  das  Feste,  was 
steht,  hervorgehoben  ist,  so  ist  doch  auch  dieser  Zusammenhang  in  Ver- 
gessenheit gerathen,  und  bezeichnet  das  Wort  nicht  etwa  die  bestehende 
Statsordnung  und  Statsverfassung  (jtoXneia))  sondern  den  Stat,  welcher 
auch  eine  völlige  Umgestaltung  der  Regierungsform  überleben  kann. 

Alle  andern  modernen  Ausdrücke  haben  nur  eine  beschränkte  Gel- 
tung; so  das  stolze  Wort  Reich,  welches  nur  auf  grosze  Staten  paszt, 
die  überdem  monarchisch  organisirt,  auch  wohl  aus  mehreren  beziehungs- 
weise wieder  selbständigen  Ländern  zusammengesetzt  sind,  ähnlich  dem 
romanischen  Worte  Imperium,  empire,  in  welchem  zugleich  auf  die  kai- 
serliche Herrschaft  angespielt  wird.  Enger  ist  der  Sinn  des  Wortes 
Land,  welches  zunächst  das  äuszere,  und  zwar  ein  zusammenhängendes 
Statsgebiet,  dann  aber  auch  den  auf  diesem  Gebiete  ruhenden  Stat  be- 
zeichnet. Es  bildet  übrigens  dieser  Ausdruck  den  natürlichen  Gegensatz 
zu  der  griechischen  nöXig ,  indem  er  auf  die  Landschaft  zunächst  den 
Stat  gründet,  wie  dieses  ihn  aus  der  Stadt  erwachsen  läszt.  Noch  enger 
—  um  der  Beziehung  auf  das  Individuum  willen  —  aber  zugleich  durch 
die  persönliche  Hinweisung  auf  den  Zusammenhang  und  die  Vererbung 
der  Blutsverwandtschaft  im  Lande  gehobener  und  vergeistigter  ist  das 
schöne  Wort  Vaterland,  in  welchem  die  ganze  volle  Liebe  und  Pietät 
des  einzelnen  Statsbürgers  zu  dem  groszen  und  lebendigen  Ganzen,  dem 
er  mit  seinem  Leibe  angehört,  mit  dessen  Dasein  auch  sein  Dasein  ver- 
wachsen ist,  dem  sich  zu  opfern  die  höchste  Ehre  des  Mannes  ist,  sich 
so  verständlich  und  gemüthlich  ausprägt. 1 

1  Euripides  in  den  Phönicierinnen: 

Zum  Vaterland  fühlt  Jeder  sich  gezogen. 
Wer  anders  redet,  Mutter,  spielt  mit  Worten, 
Und  nach  der  Heimat  stehen  die  Gedanken. 


Zweites  Capitel.     Die  menschliche  Statsidee.    Das  Weltreich.      43 

Zweites  Capitel. 

Die  menschliche  Statsidee.     Das  Weltreich. 

Genügt  der  Statsbegriff,  wie  ihn  die  historische  Betrach- 
tung der  verschiedenen  Staten  nachzuweisen  vermag,  dem 
menschlichen  Geiste?  Die  historische  Schule  fühlt  sich  wohl 
befriedigt  in  der  Annahme,  dasz  der  Stat  der  Körper  sei  der 
V  o  1  k  s  g  e  m  e  i  n  s  c  h  a  f t.  Sie  leitet  ihn  her  aus  der  Natur  und 
dem  Bedürfnisse  der  Nation,  und  beschränkt  ihn  auf  die  Nation. 

Die  philosophische  Erkenntnisz  aber  kann  sich  mit  dieser 
Antwort  nicht  so  leicht  zufrieden  geben.  Indem  sie  den  tie- 
fem Grund  der  Staten  aufsucht,  findet  sie  in  der  mensch- 
lichen Natur  die  Anlage  und  das  Bedürfnisz  zum  Stat. 
Aristoteles  schon  hat  die  fruchtbare  Wahrheit  ausgesprochen. 
„Der  Mensch  ist  ein  von  Natur  statliches  Wesen" 
((pvöEi  noXiTixdv  £wov).  Nicht  die  nationale  Eigentümlich- 
keit macht  ihn  zum  State  fähig  und  des  States  bedürftig, 
sondern  die  gemeinsame  menschliche  Natur.  Indem  wir  ferner 
den  Organismus  der  verschiedenen  Staten  untersuchen,  machen 
wir  die  Entdeckung,  dasz  die  wesentlichen  Organe  sich  bei  sehr 
verschiedenen  Völkern  in  derselben  Weise  wieder  finden.  Ein  ge- 
meinsamer, menschlicher  Charakter  ist  überall  zu  erkennen,  dem 
gegenüber  die  besonderen  nationalen  Formen  nur  wie  Variationen 
erscheinen  über  dasselbe  Thema.  Der  Begriff  des  Volkes  selbst 
endlich  ist  kein  für  sich  bestehender  abgeschlossener,  er  weist 
mit  innerer  Notwendigkeit  auf  die  höhere  Einheit  der  Mensch- 
heit hin,  deren  Glieder  die  Völker  sind.  Wie  könnte  sich 
daher  auf  das  Volk  der  Stat  begründen  lassen,  ohne  Bücksicht 
auf  die  höhere  Gesammtheit,  der  das  Volk  untergeordnet  ist? 
Und  wenn  die  Menschheit  in  Wahrheit  ein  Ganzes  ist,  wenn 
sie  von  einem  gemeinsamen  Geiste  beseelt  ist,  wie  sollte  sie 
nicht  nach  Verleiblichung  ihres  eigenen  Wesens  streben,  d.  h. 
zum  State  zu  werden  suchen? 


44  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

Die  national  beschränkten  Staten  haben  daher  nur  eine 
relative  Wahrheit  und  Geltung.  Der  Denker  kann  in  ihnen 
noch  nicht  die  Erfüllung  der  höchsten  Statsidee  erkennen.  Ihm 
ist  der  Stat  ein  menschlicher  Organismus,  eine  menschliche 
Person.  Ist  er  aber  das,  so  musz  der  menschliche  Geist,  der 
in  ihm  lebt,  auch  einen  menschlichen  Körper  haben,  denn 
Geist  und  Körper  gehören  zusammen  und  bilden  vereint  die 
Person:  und  in  einem  nicht  -  menschlich  organisirten  Körper 
kann  der  Menschengeist  nicht  wahrhaft  leben.  Der  Stats- 
körper  musz  daher  dem  menschlichen  Körper  nachge- 
bildet sein.  Der  vollkommene  Stat  ist  also  der  körper- 
lich sichtbaren  Menschheit  gleich.  Der  Weltstat 
oder  das  Weltreich  ist  das  Ideal  der  fortschreitenden 
Menschheit. 

Der  einzelne  Mensch  als  Individuum,  und  die  Menschheit 
als  Ganzes,  das  sind  die  ursprünglichen  und  bleibenden  Gegen- 
sätze der  Schöpfung.  Darauf  beruht  im  letzten  Grunde  der 
Unterschied  des  Privatrechts  und  des  Statsrechts.  Das  ge- 
meinsame Bewusztsein  der  Menschheit  ist  freilich  noch  in 
träumerischem  Zustande  befangen  und  vielfältig  verwirrt.  Es 
ist  noch  nicht  zu  voller  Klarheit  erwacht,  und  nicht  zur  Ein- 
heit des  Willens  vorgeschritten.  Die  Menschheit  hat  daher 
ihr  organisches  Dasein  auch  noch  nicht  ausbilden  können.  Erst 
die  späteren  Jahrhunderte  werden  das  Weltreich  sich  verwirk- 
lichen sehen.  Aber  die  Sehnsucht  nach  einer  solchen  organi- 
sirten Lebensgemeinschaft  aller  Völker  ist  schon  in  der  bis- 
herigen Weltgeschichte  von  Zeit  zu  Zeit  offenbar  geworden, 
und  die  civilisirte  europäische  Menschheit  faszt  bereits  das  hohe 
Ziel  fester  ins  Auge. 

Es  ist  wahr,  dasz  alle  geschichtlichen  Versuche,  den 
Weltstat  zu  verwirklichen,  am  Ende  verunglückt  sind.  Aber 
daraus  folgt  für  den  Stat  so  wenig  die  Unerreichbarkeit  dieses 
Ziels,  als  für  die  christliche  Kirche,  welche  ebenso  die  Hoff- 
nung in   sich  trägt,    dereinst   die  ganze  Menschheit  zu  um- 


Zweites  Capitel.     Die  menschliche  Statsidee.    Das  Weltreich.      45 

fassen,  aus  der  bisherigen  Nichterfüllung  auf  die  Unmöglich- 
keit der  Erfüllung  geschlossen  werden  kann.  Wie  die  christ- 
liche Kirche  den  Glauben  nicht  aufgeben  kann,  eine  allge- 
meine zu  werden,  so  kann  die  humane  Politik  das  Streben 
nicht  aufgeben,  die  ganze  Menschheit  zu  organisiren.  Der  Idee 
der  universellen  Kirche  entspricht  in  der  Politik  die  Idee  des 
universellen  Weltreichs. 

Die  Geschichte  selbst,  wenn  wir  sie  nur  freien  Blickes 
zu  würdigen  wissen,  weist  deutlich  genug  auf  den  Weg  hin, 
welcher  zu  diesem  Ziele  führt  und  warnt  zugleich  vor  den 
Irrgängen,  in  welche  auch  das  politische  Genie  gerathen  ist, 
als  es  in  kühnem  Eifer  den  Weltstat  zu  früh  zu  verwirklichen 
versucht  hat. 

Seitdem  in  Europa  zuerst  ein  menschliches  Bewusztsein 
vom  State  erwacht  ist,  hat  jede  Periode  den  Versuch  in  ihrer 
Weise  gewagt. 

Zuerst  Alexander  der  Grosze.  In  dem  hundertpaa- 
rigen  Ehefest  zu  Susa  gab  Alexander  der  Welt l  ein  Bild  seiner 
Idee.  Er  wollte  den  männlichen  Geist  der  Hellenen  mit  der 
weiblichen  Sinnigkeit  der  Asiaten  vermählen.  Der  Occident 
und  der  Orient  sollten  sich  verbinden  und  vermischen  und  aus 
der  Mischung  beider  „wie  in  einem  Becher  der  Liebe"  die 
neue  Menschheit  hervorgehen,  die  Ein  groszes  göttlich-mensch- 
liches Eeich  erfülle  und  in  demselben  ihre  Befriedigung  finde. 
Die  Cultur  der  folgenden  Jahrhunderte  wurde  allerdings  durch 
Alexander  in  solcher  Weise  bestimmt:  und  der  griechische 
Saame  der  Bildung  gedieh  zu  üppigem  Wachsthum  in  dem 
eröffneten  Boden  Asiens.  Aber  es  ist  nicht  blosz  dem  ver- 
hängniszvollen  Schicksal  zuzuschreiben,  welches  den  Gründer 
des  neuen  Weltstates  in  der  Blüthe  der  Jahre  wegraffte,  be- 
vor er  noch  die  einheitlichen  Institutionen  befestigt  und  für 
die  Nachfolge   in   der  Herrschaft  gesorgt   hatte,   dasz   dieser 

1    „Rex  terrarum   omnium   ac   mundi."     Justin.   XII,    16.     Laurent 
hist.  du  Droit  des  Gens  II.  5.  262. 


46  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

erste  geniale  Versuch,  ein  Weltreich  herzustellen,  keinen  Be- 
stand gehabt  hat  und  hoffnungslos  mit  dem  Tode  Alexanders 
gescheitert  ist.  Die  Mischung  der  Gegensätze  war  zugleich 
eine  Trübung  der  Wahrheit,  die  leitende  Idee  selbst  war 
unklar. 

Die  politischen  Ideen  wurden  durch  die  Mischung  ver- 
wirrt. Die  freie  menschliche  Ansicht  der  Hellenen  vom  State 
liesz  sich  nicht  mit  der  religiösen  Betrachtung  der  Perser 
von  dem  göttlichen  Königthum  vereinigen.  Die  makedonische 
Monarchie  konnte  nicht  zugleich  asiatische  Theokratie  sein. 
Die  Orientalen  glaubten  willig,  dasz  Alexander  der  Sohn  des 
höchsten  Gottes  sei,  die  Europäer  wurden  von  der  Zumuthung 
angewidert,  dem  menschlichen  Herrscher  göttliche  Ehre  zu 
erweisen. 

Und  die  Völker  wurden  verwirrt.  Die  hellenische  Wissen- 
schaft und  Cultur  befreite  wohl  die  orientalische  Welt  aus 
den  strengen  Banden  der  religiös -politischen  Beschränkung, 
aber  ihre  Wirkung  war  mehr  Auflösung  der  alten,  nicht 
Schöpfung  einer  neuen  Welt.  Die  Vergöttlichung  des  Men- 
schen verdrängte  die  Ehrfurcht  vor  den  alten  Göttern:  und 
die  liederlich  gewordene  Cultur  der  Europäer  half  mit,  den 
Orient  vollends  zu  entnerven. 

Einen  dauerhafteren  und  nachhaltigeren  Erfolg  hat  der 
Versuch  der  Köm  er  gehabt,  die  Weltherrschaft  zu  er- 
obern. Das  römische  Keich  war  ein  Weltreich.  Das  ganze 
römische  Volk  fühlte  sich  berufen,  seine  Statsidee  über  die 
Erde  zu  verbreiten,  und  alle  Völker  der  römischen  Hoheit  zu 
unterwerfen.  Die  männliche  Kraft  und  die  eherne  Gewalt  des 
römischen  Charakters  überwand  die  zahlreichen  Nationen,  die 
sich  ihrem  Siegeszug  über  den  Erdkreis  entgegenzusetzen 
wagten:  und  schon  war  der  römische  Stat  mit  seinen  Rechts- 
institutionen  von  Granit  in  drei  Welttheilen  auf  festen  Grund- 
lagen aufgebaut.  Der  gröszte  Kömer  Julius  Cäsar  hat  der 
Nachwelt  die  Kaiseridee   als  Erbgut   hinterlassen    und   in   ihr 


Zweites  Capitel.     Die  menschliche  Statsidee.     Das  Weltreich.      47 

eine  Autorität  begründet,  welche  über  die  nationalen  Schranken 
hinaus  die  Welt  umspannt. 

Aber  auch  das  Streben  der  Kömer  ist  von  der  Welt- 
geschichte gerichtet.  Es  war  nicht,  wie  das  Alexanders  auf 
die  Mischung  der  Völker,  sondern  auf  die  höhere 
Natur  Eines  Volkes  gegründet,  welches  der  Menschheit 
seinen  Volkscharakter  einprägen,  die  Welt  romanisiren  wollte. 
Das  war  sein  inneres  Gebrechen.  Keine  Nation  ist  grosz  ge- 
nug, um  die  Menschheit  zu  umfassen,  und  die  andern  Na- 
tionen in  ihren  Armen  zu  erdrücken.  An  dem  Widerstand 
der  jugendlich-frischen  germanischen  Nation  ist  der  römische 
Weltstat  gescheitert.  Er  vermochte  die  Deutschen  nicht  zu 
bezwingen,  und  ist  nach  Jahrhunderte  langen  Kämpfen  ihrem 
Andrang  erlegen. 

Die  Idee  des  Weltstates  hat  seither  nie  mehr  so  glänzend 
geleuchtet  an  dem  politischen  Horizont,  aber  sie  ist  doch  nie 
mehr  untergegangen.  Das  romanisch -germanische  Mittelalter 
hat  sie  wieder  in  seiner  Weise  zu  verwirklichen  versucht,  zu- 
erst in  der  fränkischen  Monarchie,  dann  in  dem  rö- 
misch-deutschen Kaiserthum.  In  bescheideneren  Ver- 
hältnissen freilich,  aber  nicht  ohne  in  der  Erkenntnisz  der 
Wahrheit  wichtige  Fortschritte  gemacht  zu  haben.  Es  sollte 
nicht  mehr  Ein  übermächtiges  absolutes  Reich  hergestellt  wer- 
den, welches  alle  Seiten  des  gemeinsamen  Lebens  gleichmäszig 
beherrsche.  Der  grosze  für  die  Menschheit  so  folgenreiche 
Gegensatz  von  Stat  und  Kirche  war  inzwischen  durch  das 
Christenthum  offenbar  geworden.  Der  Stat  verzichtete  darauf, 
auch  die  Gewissen  durch  seine  Gesetze  zu  beherrschen.  Er 
erkannte  an,  dasz  es  neben  ihm  auch  eine  religiöse  Gemein- 
schaft gebe,  welche  ein  eigenes  Lebensprincip  und  ebenfalls 
einen  sichtbaren  Körper  habe,  verschieden  von  seiner  Existenz 
und  wesentlich  selbständig.  Damit  aber  war  eine  Schranke 
gezogen,  welche  ihn  hinderte,  allmächtige  Herrschaft  zu  üben. 
Er  war  genöthigt,  das  religiöse  Leben  der  Leitung  der  Kirche 


48  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

zu  tiberlassen.  Er  gelangte  über  sein  Verhältnisz  zur  Kirche 
zwar  nicht  zu  voller  Klarheit,  aber  die  Freiheit  des  religiösen 
Glaubens  und  die  Verehrung  Gottes  war  vor  seiner  Willkür 
gerettet,  die  Autorität  des  Christenthums  war  nicht  von  ihm 
abhängig. 

Sodann  sollte  das  christliche  Weltreich  nicht  mehr  die 
verschiedenen  Völker  verschlingen  und  vernichten,  sondern 
allen  Völkern  Frieden  und  Eecht  gewähren.  Der  mittelalter- 
liche römische  Kaiser  galt  nicht  als  absoluter  Herr  über  alle 
Völker,  sondern  als  gerechter  Schirmer  ihres  Kechts 
und  ihrer  Freiheit.  Die  Kaiseridee,  für  welche  sich  ein 
Statsmann  wie  Friedrich  IL2  und  ein  Denker  wie  Dante3 
begeistert  hatte,  war  so  gereinigt.  Das  mittelalterliche  Keich 
umfaszte  eine  grosze  Anzahl  wesentlich  selbständiger  Staten, 
welche  zu  einer  Gesammtordnung  zwar  verbunden  und  formell 
dem  Kaiser  untergeordnet,  aber  in  allen  wesentlichen  Bezie- 
hungen unabhängig  waren  und  für  sich  lebten  nach  eigenem 
Willen.  Die  Mannichfaltigkeit  auch  des  Volks-  und  Stammes- 
lebens wurde  im  Mittelalter  mit  Vorliebe  geschützt  und  ge- 
pflegt. Aber  was  an  sich  ein  Fortschritt  war  in  der  Entwick- 
lung des  Weltstates,  führte,  weil  zu  einseitig  verfolgt,  zu 
dessen  Auflösung.  Der  Trieb  zur  Sonderung  wurde  stärker 
als  der  Drang  nach  Einheit.  Die  Spaltung  der  Nationalitäten, 
der  Gegensatz  der  Sprachen,  hat  Frankreich  und  Deutschland 
getrennt,  und  die  fränkische  Weltmonarchie  in  zwei  Theile 
zerrissen.  Der  Erhebung  der  Fürsten  und  Landesherrn  ver- 
mochte das  karg  ausgestattete  deutsche  König-  und  römische 
Kaiserthum  nicht  zu  begegnen.    Die  deutsche  Centralinstitution 

2  Friderici  Constit.  Kegni  Siculi  I.  30.:  „Oportet  Caesarera  fore 
justitiae  patrem  et  filium,  dominum  et  ministrum;  patrem  et  dominum 
in  edendo  justitiam  et  editam  conservando:  sie  et  in  venerando  justi- 
tiam  sit  filius  et  in  ipsius  copiam  ministrando  minister." 

3  Seine  Schrift  de  monarchia  verherrlicht  das  Kaiserthum;  und  in 
seiner  göttlichen  Komödie  verehrt  er  in  dem  Kaiser  die  Spitze  der  gött- 
lichen Weltordnung.  Vgl.  Wegele  Dante's  Leben  und  Werke.  Jenal852. 


Zweites  Capitel.     Die  menschliche  Statsidee.     Das  "Weltreich.      49 

hatte  keine  centrale  Unterlage,  daher  erhielt  die  Peripherie 
die  Oberhand,  und  das  Reich  ging  aus  den  Fugen.  Wieder 
siüd  die  Versuche  verunglückt,  aber  wieder  haben  sie  den 
nachfolgenden  Geschlechtern  beachtenswerthe  Lehren  hinter- 
lassen. 

In  unserem  Jahrhundert  hat  der  Kaiser  Napoleon  I. 
den  Gedanken,  der  eine  Zeit  lang  im  Dunkel  geblieben,  wie- 
der zu  beleben  unternommen.  Er  vermied  den  Fehler  des 
Mittelalters  und  sorgte  voraus  für  eine  starke,  durchgreifende 
Centralgewalt ;  aber  er  bewahrte  die  wahren  Fortschritte  des 
Mittelalters  nicht  mit  der  nöthigen  Sorgfalt.  Er  achtete  die 
fremden  Nationalitäten  zu  wenig,  und  trat  insofern  wieder  auf 
die  Bahn  zurück,  welche  die  Kömer  zuvor  begangen  hatten, 
wenn  auch  gemäszigter  als  sie  vorschreitend.  Er  wollte 
Europa  zu  einem  groszen  völkerrechtlichen  Gesammt- 
stat  organisiren,  welcher  sich  nach  Einzelstaten  gliedere.  Das 
Kaiserthum  sollte  der  französischen  Nation  angehören,  und 
diese  in  der  groszen  Völkerfamilie  die  Stellung  des  Hauptes 
einnehmen.  In  einem  Menschenalter  hoffte  er  zu  erreichen, 
wozu  die  Römer  Jahrhunderte  gebraucht  hatten.  Er  ver- 
mochte aber  seine  Plane  nicht  durchzuführen.  Zwar  scheiterten 
dieselben  dieszmal  nicht  an  dem  Widerstand  der  deutschen 
Nation.  Obwohl  dieselbe  unwillig  die  französische  Oberhoheit 
trug,  schien  sie  sich  doch,  an  dem  alten  eigenen  Reiche  ver- 
zweifelnd, und  unzufrieden  mit  den  vaterländischen  Zuständen, 
der  Napoleonischen  Gestaltung  zu  fügen.  Nur  die  beiden 
groszen  deutschen  Staten,  das  aufstrebende  Preuszen  und  das 
länder-  und  völkerreiche  Oesterreich,  jenes  für  seine  Existenz 
besorgt,  dieses  sich  selbst  als  kaiserlichen  Stat  fühlend,  suchten 
in  wiederholten  Kriegen  die  französische  ITebermacht  zu  be- 
kämpfen; aber  auch  sie  wurden  von  dem  überlegenen  Stats- 
manne  und  Feldherrn  besiegt.  Aber  über  den  Widerstand 
Englands,  in  dem  ,ein  groszes  historisches  Nationalgefühl  mit 
germanischen  Freiheitsideen  sich  verbunden  hatte,  wurde  Napo- 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  4 


50  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

leon  nicht  Herr,  und  die  noch  halbbarbarischen  Bussen  wichen 
besiegt  in  ihre  Steppen  zurück,  aber  unterwarfen  sich  nicht. 
Und  die  Franzosen  hielten  im  Unglück  nicht  aus,  als"  sich  das 
verbundene  Europa  wider  sie  wandte.""  Der  Napoleonische  Ge- 
danke kam  doch  aus  ähnlichen  Gründen  nicht  zur  Erfüllung, 
wie  zuvor  der  römische.  Die  übrigen  Völker  fühlten  sich  be- 
droht von  der  Universalmonarchie,  nicht  gesichert  und  befrie- 
digt von  der  neuen  Weltordnung:  und  das  französische  Volk 
war  nicht  mächtig  genug,  jene  sich  dauernd  unterzuordnen. 

Inzwischen  arbeitet  die  unbesiegbare  Zeit  selbst  unablässig 
fort,  die  Völker  einander  näher  zu  bringen,  und  das  allge- 
meine Bewusztsein  der  menschlichen  Gemeinschaft  zu  wecken. 
Das  ist  aber  die  natürliche  Vorbereitung  einer  gemeinsamen 
Weltordnung.  Es  ist  nicht  zufällig,  dasz  die  modernen  Ent- 
deckungen und  die  zahlreichen  neuen  Verbindungsmittel  durch- 
weg diesem  Ziele  dienen,  dasz  die  gesammte  Wissenschaft  der 
neueren  Zeit  diesem  Impulse  folgt  und  voraus  der  Menschheit 
—  erst  in  untergeordneter  Beziehung  den  einzelnen  Nationen 
angehört,  dasz  eine  Menge  Hindernisse  und  Schranken,  die 
zwischen  den  Völkern  lagen,  wegfallen.  Heute  schon  verspürt 
die  gesammte  europäische  Menschheit  jede  Störung,  die  einem 
einzelnen  State  widerfährt,  als  ein  Uebel,  an  dem  sie  mitzu- 
leiden hat,  und  was  an  den  äuszersten  Grenzen  des  europäischen 
Körpers  begegnet,  findet  sofort  allgemeines  Interesse  auch  in 
dem  Innern  desselben.  Der  europäische  Geist  wendet  bereits 
seine  Blicke  auf  den  Erdkreis  und  die  arische  Kasse  fühlt  sich 
berufen,  die  Welt  zu  ordnen. 

Wir  sind  noch  nicht  so  weit.  Es  fehlt  aber  gegenwärtig 
schon  weniger  an  dem  Willen  und  an  der  Macht  als  an  der 
geistigen  Keife.  Die  Glieder  der  europäischen  Völkerfamilie 
kennen  ihre  Ueberlegenheit  über  die  andern  Völker  gut  genug, 
aber  sie  sind  unter  sich  und  über  sich  selbst  noch  nicht"  in's 
Klare  gekommen.  Ein  endlicher  Erfolg  ist  erst  möglich,  wenn 
das   lichtende    Wort   der   Erkenntnis/    darüber   und   über   das 


Zweites  Capitel.     Die  menschliche  Statsidee.    Das  Weltreich.      51 

Wesen  der  Menschheit  ausgesprochen  sein  wird,  und  die  Völ- 
ker bereit  sind,  es  zu  hören. 

Bis  dahin  wird  das  Weltreich  eine  Idee  sein,  welcher 
Viele  nachstreben,  welche  keiner  zu  erfüllen  im  Stande  ist. 
Aber  als  Idee  der  Zukunft  darf  die  Wissenschaft  des  allge- 
meinen Statsrechtes  sie  nicht  übersehen.  Erst  in  dem  Welt- 
reiche wird  der  wahre  Stat  offenbar,  in  ihm  auch  das 
Völkerrecht  seine  Vollendung  und  in  höherer  Gestalt  ein 
gesichertes  Dasein  finden.  Zu  dem  Weltreich  verhalten  sich 
die  Einzelstaten,  wie  sich  die  Völker  zur  Menschheit 
verhalten.  Die  Einzelstaten  sind  Glieder  des  Weltreiches  und 
erlangen  in  ihm  ihre  Ergänzung  und  ihre  volle  Befriedigung, 
wie  die  Glieder  im  Körper.  Das  Weltreich  hat  nicht  die 
Aufgabe,  die  Einzelstaten  aufzulösen  und  die  Völker  zu  unter- 
drücken, sondern  den  Frieden  jener  und  die  Freiheit  dieser 
besser  zu  schützen. 

Der  höchste  zur  Zeit  noch  nicht  realisirte  Statsbegriff  ist 
also:  Der  Stat  ist  die  organisirte  Menschheit,  aber 
die  Menschheit  in  ihrer  männlichen  Erscheinung,  nicht  in 
der  weiblichen  Gestaltung.     Der  Stat  ist  der  Mann. 

Anmerkungen.  1.  Der  Stat  ist  männlich,  die  Kirche  weib- 
lich. Daher  läszt  sich  in  prägnantem  Sinne  vom  State  sagen:  IJetat 
c'est  Vhomme.  Näher  ausgeführt  habe  ich  das  in  meinen  psychologischen 
Studien  über  Stat  und  Kirche.     Erste  und  zweite  Studie. 

2.  Einer  der  geistreichsten  und  wahrheitsliebendsten  Männer,  der 
Waadtländer  Yinet  (l'individualisme  et  le  socialisme),  erhob  das  Be- 
denken gegen  die  Idee  des  humanen  States,  dasz  durch  denselben  alles 
menschliche  Leben  absorbirt,  die  individuelle  Freiheit  im  Princip  auf- 
gehoben, und  über  die  Gewissen  der  Einzelnen  wie  über  die  Wissen- 
schaft eine  ungebührliche  weltliche  Herrschaft  geübt  würde.  Dieser 
Einwurf  nöthigt  in  der  That  zu  einer  genauem  Begrenzung  jener  Idee. 

Vorerst  ist  anzuerkennen,  dasz  der  Stat  nicht  die  einzige  humane 
Gemeinschaft,  nicht  die  einzige  leibliche  Darstellung  der  Menschheit  ist. 
Die  Kirche  ist  in  ihrer  irdisch -sichtbaren  Erscheinung  auch  eine  Ge- 
meinschaft, auch  ein  Leib  der  Menschheit.  Damit  ist  aber  zugleich  an- 
erkannt,   dasz   die   politische   Herrschaft    des    States   nicht  das  religiöse 

4* 


52  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  State. 

Leben  der  Menschen  bestimmt,  und  dasz  die  Freiheit  der  Gewissen  und 
der  Glaube  des  Individuums  nicht  durch  den  Stat  gefährdet  wird. 

Sodann  folgt  aus  der  menschlichen  Natur  des  States  keineswegs, 
dasz  der  Stat  eine  vollkommene  Herrschaft  über  das  Individuum 
habe.  In  jedem  einzelnen  Menschen  können  wir  vielmehr  zwei  Naturen 
unterscheiden,  die  individuelle  und  die  gemeinsam-menschl  iche. 
Das  Individuum  mit  seinem  Leben  gehört  nicht  ausschlieszlich,  nicht 
ganz  weder  der  Gemeinschaft  mit  andern  Individuen  noch  der  Erde  an, 
somit  auch  nicht  dem  State,  als  einer  irdischen  Lebensgemeinschaft.  Der 
Stat  beruht  auf  der  menschlichen  Natur  nicht  insofern  als  sie  sich  in 
Millionen  von  Individuen  mannichfaltig  offenbart,  sondern  insofern  als 
sie  die  gemeinsame  Natur  der  Menschheit  in  Einem  Wesen  erscheint, 
und  die  Autorität  des  States  erstreckt  sich  daher  nicht  weiter,  als 
die  Interessen  der  Gemeinschaft  und  das  Nebeneinander- 
bestehen und  Zusammenleben  der  Menschen  es  erfordert.  Der 
Stat  hat  selbst,  wenn  er  in  das  freie  individuelle  Gebiet  miszbräuchlich 
übergreift,  die  Macht  nicht,  seine  Herrschaft  aucli  hier  durchzusetzen; 
denn  den  Geist  des  Individuums  vermag  er  nicht  zu  fesseln,  und  die 
Seele  des  Individuum-   kann   er  nicht  tödten, 

3.  Neuestens  hat  sieh  auch  Laurent  gegen  die  Idee  des  Weltstats 
erklärt  (histoire  du  Droit  des  Gens  I.  S.  30  f.).  Seine  Gründe  sind  fol- 
gende : 

a)  Der  Weltstat  wäre  Uniyersalmonarohie  und  diese  unverträg- 
lich mit  der  Souveränetät  der  Btaten, 

b)  Die  Individuen  als  natürliche  und  die  "Völker  als  künstliche  Per- 
sonen  sind  verschieden.  Jene  sind  in  -ich  mangelhaft  und  werden  von 
bösen  Leidenschaften  bewegt,  diese  Bind  vollkommene  und  moralisohe 
"Wesen.  Das  Nebeneinanderbestehen  jener  erfordert  daher  die  fort- 
dauernde Wirksamkeit  der  Btatsgewalt,  das  Nebeneinander  dieser  nicht 
oder  nur  ausnahmsweise. 

c)  Das  Individuum  ist  schwach  und  muss  sieb  der  Statsgewalt  unter- 
werfen; die  Staten  aber  sind  stark  und  werden  -ich  daher  nicht  unter 
eine  höhere  Gewalt  beugen  lassen. 

d)  Wäre  der  Weltstat  so  mächtig,  um  auch  die  Staten  wider  ihren 
Willen  zu  beugen,  so  würde  diese  Uebermaoht  das  Reohl  und  die  Frei- 
heit unterdrücken,  denn  wo  Widerstand  anmöglich  ist,  da  kann  die 
Freiheit  nicht  bestehen. 

e)  DerVolksstat  ist  nöthig  für  die  Entwicklung  der  Individuen,  aber 
er  genügt  auch  dafür.  Die  Förderung  der  Individuen  bedarf  des  WVH- 
states  nicht,  und  für  die  Entwicklung  der  Nationen  wäre  er  gefährlich. 

Auch  diese  Gründe  meines  verehrten  Freundes  haben  mich  nicht 
überzeugt.     D&gegen  ist  zu  erinnern: 

Zu  a)  Man  kann  sich  das  Weltreich  mit  monarchischer  Spitze 
(Kaiserthum) ,    aber  auch   in   republikanischer  Form    denken,    sei    es  ah 


Zweites  Capitel.     Die  menschliche  Statsidee.     Das  Weltreich.      53 

Directorium  (Pentarchie)  oder  als  ConfÖderation  sämmtlicher  Staten. 
Keinenfalls  aber  braucht  man  sich  eine  absolute  Macht  der  Weltregie- 
rung zu  denken;  und  der  Fortbestand  der  Yolksstaten  macht  geradezu 
eine  Ausscheidung  der  Competenzen  zwischen  ihnen  und  dem  Weltreich 
nothwendig.  Es  ist  kein  Grund  den  Bereich  des  letztern  über  die  ge- 
meinsamen Weltangelegenheiten  auszudehnen,  wie  insbesondere 
die  Erhaltung  des  Weltfriedens  und  den  Schutz  des  Weltverkehrs,  über- 
haupt des  Gebietes,  da3  wir  heute  Völkerrecht  heiszen.  Die  Form  des 
Bundesstates,  in  welchem  für  die  gemeinsamen  Bundesangelegenheiten 
eine  gemeinsame  Gesetzgebung,  Regierung,  Rechtspflege  bestellt,  und 
für  die  besonderen  Landesangelegenheiten  ebenso  die  Souveränetät  des 
Einzelstates  anerkannt  bleibt,  kann  hier  als  Yorbild  dienen. 

Zu  b)  Die  Yölker  haben  ihre  Mängel  und  ihre  Leidenschaften  ähn- 
lich den  Individuen,  und  gäbe  es  kein  Völkerrecht,  so  würden  die 
schwachen  und  hülflosen  Völker  die  bequeme  Beute  der  starken  und 
herrschsüchtigen  Völker.  Derselbe  Grund ,  auf  dem  das  Völkerrecht 
ruht,  ist  auch  die  Grundlage  des  Weltreichs. 

Zu  c)  Die  Stärke  der  Volks.staten  —  auch  dem  Weltreich  gegen- 
über —  ist  die  beste  Garantie  dafür,  dasz  jene  niclit  durch  dieses  unter- 
drückt werden;  aber  so  stark  ist  auch  der  gröszte  Volksstat  nicht,  um 
für  sich  allein,  wenn  er  im  Unrecht  ist,  den  Kampf  mit  der  Welt  auf- 
zunehmen. Nur  wenn  Gruppen  von  Staten  oder  Parteien  einander  feind- 
lich entgegen  treten,  wird  dann  noch  ein  Krieg  möglich  sein.  In  allen 
andern  Fällen  wird  sich  derselbe  in  Execution  der  Weltrechtspflege  ver- 
wandeln. Da  wir  durch  die  beszte  Statseinrichtung  doch  nicht  völlig 
gegen  den  Bürgerkrieg  gesichert  sind,  so  werden  wir  auch  zufrieden 
sein  müssen,  wenn  die  stärkere  Ordnung  des  Völkerrechts  den  Staten- 
krieg  seltener  macht.  Die  Vervollkommnung  des  Rechtes  nähert  sich 
im  beszten  Falle  dem  Ideal;  sie  erreicht  es  nie. 

Zu  d)  Das  Weltreich  ist  im  Vcrhältnisz  zu  den  Volksstaten  unter 
allen  Umständen  weniger  übermächtig,  als  der  Volksstat  im  Verhältnisz 
zu  den  Bürgern ;  dennoch  wird  die  Freiheit  der  Bürger  nicht  bedroht, 
sondern  geschützt  durch  die  Statsordnung. 

Zu  e)  Nicht  alle  individuellen  Bedürfnisse  werden  durch  den  Stat 
befriedigt;  es  gibt  auch  kosmopolitische  Interessen,  sowohl  geistige 
als  materielle  (Weltwissenschaft,  Weltliteratur ,  Welthandel),  die  eine 
volle  Befriedigung  nur  in  dem  Weltreich  finden  können  ;  wie  wenig  aber 
heute  noch  die  Rechte  ganzer  Völker  gesichert  sind,  beweiszt  die  euro- 
päische und  amerikanische  Völkergeschichte. 

Laurent  gründet  das  Völkerrecht  auf  die  Einheit  des  Menschen- 
geschlechts, und  ein  anderer  Grund  ist  nirgends  zu  finden.  Aber 
wenn  er  diese  Einheit  nur  als  eine  innere  erkennt,  so  fordern  meines 
Erachtens  Logik  und  Psychologie  zugleich,  dasz  die  innere  Kraft  sich 
auch  äuszerlich  darstelle.     Wenn  die  Menschheit  innerlich  Ein  Wesen 


54  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

ist,  so  musz  sie  sich  auch  in  ihrer  vollen  EntwickluDg  als  Eine  Person 
offenbaren.     Die  Organisation  der  Menschheit  aber  ist  der  Weltstat. 

Ich  weisz,  dasz  die  Meisten  der  Mitlebenden  diese  Idee  für  einen 
Traum  halten;  aber  das  darf  mich  nicht  abhalten,  meine  Ueberzeugung 
auszusprechen  und  zu  begründen.  Die  späteren  Geschlechter,  vielleicht 
erst  nach  Jahrhunderten,  werden  über  die  Streitfrage  endgültig  ent- 
scheiden. 


Drittes  Capitel. 

Entwicklungsgeschichte  der  Statsidee. 
I.     Die  antike  Welt. 

A.   Die  hellenische  Statsidee. 

Die  eigentliche  Statswissenschaft  beginnt  zuerst  unter  den 
Hellenen.  In  Hellas  gelangte  das  menschliche  Selbstbewuszt- 
sein  wie  zu  künstlerischer  so  auch  zu  politischer  Entfaltung. 

So  klein  das  Gebiet  der  hellenischen  Staten  und  so  be- 
schränkt ihre  Macht  noch  war,  so  breit  und  umfassend  war 
die  Grundlage,  auf  der  sich  der  hellenische  Statsgedanke 
erhob,  und  so  hoch  und  edel  ist  die  Statsidee,  welche  die 
griechischen  Denker  aussprechen.  Sie  gründen  den  Stat  auf 
die  Menschennatur,  und  sind  der  Meinung,  nur  im  State  könne 
der  Mensch  seine  Vollkommenheit  erreichen  und  die  wahre 
Befriedigung  linden.  Der  Stat  ist  ihnen  die  sittliche  Welt- 
ordnung, in  welcher  die  Menschennatur  ihre  Bestimmung 
erfüllt. 

Piaton  (Kep.V.)  spricht  das  grosze  Wort  aus:  „Je  mehr 
sich  der  Stat  in  seiner  Organisation  dem  Menschen  nähert, 
desto  besser  ist  es.  Leidet  ein  Theil  des  Statskörpers ,  oder 
befindet  er  sich  wohl,  so  wird  der  ganze  Statskörper  diese 
Empfindung  als  die  seinige  ansehen,  und  mitleiden  oder  sich 
dessen  erfreuen."  Er  hat  somit  die  organische  und  zwar  die 
menschlich-organische  Natur  des  States  bereits  erkannt,  obwohl 


Drittes  Cap.    Entwicklungsgesch.  der  Statsidee.    I.  Die  antike  Welt.     55 

diesen  fruchtbaren  Gedanken  noch  nicht  in  seinen  Consequenzen 
verfolgt. 

Aristoteles,  für  dessen  Statslehre  unsere  Bewunderung 
steigt  je  näher  wir  die  Arbeiten  seiner  Nachfolger  betrachten, 
erklärt  den  Stat  als  die  Gemeinschaft  von  Geschlechtern  und 
Ortschaften  (Volk  und  Land)  zu  einem  vollkommenen  und  in 
sich  befriedigenden  Leben. 1  Er  nennt  auch  den  Menschen  ein 
von  Natur  politisches  Wesen,  und  den  Stat  somit  ein  Product 
der  menschlichen  Natur.  Der  Stat,  sagt  er,  zunächst  zur 
Sicherheit  des  gemeinsamen  Lebens  gegründet,  wird  im  Ver- 
folg zur  Wohlfahrt  des  gemeinen  Lebens.2 

Es  begegnen  sich  in  dieser  Statsidee  und  mischen  sich 
alle  gemeinsamen  Bestrebungen  der  Hellenen  in  Religion  und 
in  Recht,  in  Sitte  und  Geselligkeit,  in  Kunst  und  Wissen- 
schaft, in  Eigenthum  und  Wirthschaft,  in  Handel  und  Hand- 
werk. Nur  im  Stat  wird  der  einzelne  Mensch  als  ein  Rechts- 
wesen anerkannt,  ohne  die  Hülfe  des  Stats  findet  er  weder 
Sicherheit  noch  Freiheit.  Der  Barbare  ist  ein  natürlicher 
Feind,  und  die  unterworfenen  Feinde  werden  Sclaven,  die  aus- 
geschlossen sind  von  der  Statsgemeinschaft  und  deszhalb  ver- 
stoszen  sind  in  einen  herabgewürdigten,  nicht  mehr  menschen- 
würdigen Zustand. 

Der  hellenische  Stat,  wie  der  antike  überhaupt,  ist  über- 
mächtig, weil  er  als  allmächtig  gilt.  Er  ist  Alles  in  Allem : 
der  Bürger  ist  nur  Etwas,  weil  er  ein  Glied  des  States  ist. 
Seine  ganze  Existenz  ist  vom  Stat  abhängig,  dem  Stat  unter- 
than.  Wenn  die  Athener  auch  die  Geistesfreiheit  besaszen 
und  übten,  so  war  das  nur,  weil  der  Athenische  Stat  die  Frei- 
heit überhaupt  hoch  schätzte,  nicht  weil  er  die  Menschenrechte 
anerkannte.     Derselbe   freieste  Stat   liesz   Sokrates   hinrichten, 

1  Aristot.  Polit.  III.  5-,  14.  „nöltg  de  rj  yevüv  xal  xcofiMov  xotvcovlcc 
Cooyg  Telsiag  xdcl  ctvTäQxovg."     Vgl.  III.   1.  8- 

2  Aristot.   Polit.  I.  1.,  8.  9.    V  nöXtg  —  yivo^hvij  {xev  ovv  tov  Cqv 
'dvsxevj  ovgcc  de  tov  ev   Cv^' 


55  Erstes  Buch.     Der  Begriff  de*  Etata. 

und  glaubte  dabei  sein  Recht  zu  üben.  Die  Selbständigkeit 
der  Familie,  die  elterliche  Erziehung,  sogar  die  ehelich«  Treue 
sind  in  keiner  Weise  sicher  vor  den  Uebergriffen  des  Stats; 
noch  weniger  ist  es  natürlich  das  Privatvermögen  der  Bürger. 
In  alle  Dinge  mischt  Bich  der  Stat,  er  weisz  von  keinen  sitt- 
lichen und  von  keinen  rechtlichen  Schranken  Beiner  Macht 
Er  verfügt  über  die  Körper  und  BOgar  aber  die  Talente  Beiner 
Bürger.  Er  nöthigt  zu  den  Aemtern  wie  zum  Kriegsdienst. 
Das  Individuum  soll  erst  im  State  unter-  und  aufgehen,  dann 
erst  kann  es  durch  den  Stat  wieder  zu  freie«  und  edlem 
Leben  gewissermaszen  aeu  geboren  werden.  Die  absolute  Ge- 
walt des  States  wird  abgesehen  Ton  der  Maoni  der  alten  Sitte 
fast  nur  dadurch  gemässigt,  theilfi  'las/  die  Bürger  Belbsl 
einen  Antheil  an  ihrer  Ausübung  haben,  und  ans  Besorgnisz, 
die  Despotie  des  Demos  könnte  auch  ihnen  Bch&dlicfa  werden, 
die  äuszersten  Consequenzen  des  statlichen  Communismnfl  ver- 
meiden, theils  dasz  in  den  kleinen  Verhältnissen  die  Leiden- 
schaften nur  Mittel  finden,  Aber  die  Bie  verfügen 
können,  und  genöthigi  Bind,  auch  die  Nachbarn  zu  berücksich- 
tigen. Die  hellenischen  Staten  Bind  doch  nur  ans  Bruch- 
stücken der  hellenischen  Nation,  ans  Stämmen  und  Stammes- 
bheilen  gebildet  Sie  erheben  sich  nur  wenig  über  blosze 
Stadt  gerne  i  n '1  eu.  Die  hohe  [dee  gewinn!  daher  nur  eine 
niedere  Gestalt;  obwohl  auf  die  Menschheit  bezogen,  kann  sie 
nur  in  dem  engen  Umkreis  eines  Oebirgsthals  oder  eines 
Küstensaumes  /u  kindlicher  Erscheinung  an. 

Die  Oeberspannung  der  Statsidee  zur  Allmacht  und  die 
Ohnmacht  in  der  realen  Gestaltung  Bind  also  dicht  beisammen; 
es  sind  das  die  beiden  Hauptmängel  des  im  übrigen  höchst 
würdigen  und  in  anderer  Hinsieht  menschlich  -  wahren  und 
fruchtbaren  hellenischen  Statsbegriffs. 

B.    Die  römische  Statsidee. 

Die  Römer  waren  das  genialste  Rechts-  und  Stats- 
volk  des  classischen  Alterthums ;  und  sie  waren  das  mehr  noch 


Drittem  Cap.    Entwicklungsgesch.  der  Statsidee.    I.  Die  antike  Welt.     57 

durch  ihren  Charakter  als  ihren  Geist.  Sie  übten  daher  auch 
eine  gröszere  Wirkung  auf  die  Welt  aus  als  die  Hellenen. 

Zunächst  freilich  ist  die  römische  Statsidee  mit  der  grie- 
chischen  nahe  verwandt.  Cicero  hat  in  seinen  Werken  über 
den  Stat  beständig  die  Athenischen  Vorbilder  vor  Augen;  und 
wenn  die  römischen  Juristen  das  Hecht  und  den  Stat  im  all- 
gemeinen erklären,  so  folgen  sie  den  griechischen  Philo- 
sophen nach. 

So  erklärt  Cicero  den  Stat  für  die  höchste  Schöpfung  der 
menschlichen  Kraft  (virtus)  und  erhebt  es  preisend,  ,,dasz  in 
Nichts  mehr  der  Mensch  Bich  dem  Willen  der  Götter  nähere, 
als  in  der  Begründung  und  Erhaltung  der  Staten."3  Auch 
er  rergleicht  gelegentlich  den  Stat  mit  «lein  Menschen  und 
das  Statshaupt  mit    dem  Geiste,  der  den  Leib  beherrsche.4 

Aber  in  einigen  wesentlichen  Beziehungen  unterscheidet 
sich  doch  der  römische  Statsbegriff  von  der  hellenischen  Idee: 

1)  Ind. 'in  die  Römer  zuerst  das  Recht  von  der  Moral 
ausscheiden  und  in  bestimmter  Form  darstellen,  prägen  sie 
die  Rechtsnatur  des  States  viel  entschiedener  aus.  Sic  be- 
schränken dadurch  den  Stat  und  sie  befestigen  und  bekräftigen 
ihn.  Kr  ist  ihnen  nicht  mehr  die  gesammte  ethische  Welt- 
ordnung,  sondern  zunächst  die  gemeinsame  Rechtsord- 
nung. Die  Römer  überlassen  sehr  Vieles  der  freien  Sitte,  der 
Keligiosität  der  Menschen.  Die  römische  Familie  ist  freier 
dem  State  gegenüber;  das  Privatvermögen  und  «las  Privatrecht 
überhaupt  wird  besser  geschützt,  auch  gegen  die  Willkür  der 
öffentlichen  Gewalten.  Zwar  ist  auch  ihnen  das  Statswohl  das 
oberste  Gesetz.  Vom  State  aus  ordnen  sie  auch  die  Götter- 
verehrung.    Niemand  kann  dem  State  widerstehen,  wenn  dieser 

3  Cicero  de  Rep.  I.  7. :  „Xeque  est  ulla  res,  in  qua  propius  ad  Deo- 
rum  numen  virtus  accedat  humana,  quam  civitates  aut  condere  novas 
aut  conservare  jam  conditas.a 

4  Cicero  de  Rep.  III.  25  :  „Sic  regum,  sie  imperatorum,  sie  magi- 
stratuum,  sie  patrura,  sie  populorum  imperia  ciyibus  soeiisque  praesunt, 
ut  corporibus  animus.* 


58  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  State. 

seinen  Willen  ausspricht.  Aber  der  römische  Stat  beschränkt 
sich  selber;  er  bestimmt  selber  die  Grenzen  seines  Macht- 
bereichs und  seiner  Einwirkung. 

2)  Ferner  erkennen  die  Kölner  den  Volksbegriff  und 
bringen  die  Stats Verfassung  in  einen  organischen  Zusammen- 
hang mit  dem  Volk.  Sie  erklären  den  Stat  als  „die  Gestal- 
tung des  Volks"  und  bezeichnen  den  Willen  des  Volks  als  die 
Quelle  alles  Kechts. 5  Der  römische  Stat  ist  doch  nicht  eine 
blosze  Gemeinde,  er  erhebt  sich  zum  Volks  stat  (res  publica). 

3)  Der  Römerstat  ist  überdem  darauf  angelegt,  sich  zum 
Weltstat  zu  erweitern«  Durch  die  ganze  römische  Ge- 
schichte geht  dieser  Zug  zur  Weltherrschaft:  An  den  natio- 
nalen Kern  des  jus  civile  Bchlosz  sich  die  menschlichere  Bil- 
dung des  jus  gentium  an.  Die  ewige  Stadt,  die  Qrbs  winde 
zur  Hauptstadt  des  Orbis,  das  Imperium  der  römischen  Magi- 
strate zum  Imperium  mundi,  «1er  römische  Senat  zum  Senat 
aller  Nationen  und  ihrer  Könige.  In  der  Majestät  des  Kaiser- 
tums gipfelte  die  Majestät  des  römischen  Volks.  Die  Ge- 
schichte Borna  wurde  nach  dem  stolzen  Ausdrucke  von  Plorus 
zur  Geschichte  <\r\-  Menschheit  Dieses  Streben  gab  der 
römischen  Statsidee  einen  kühnen  Schwung,  dem  die  grie- 
chischen Staten  nicht  zu  folgen  vermochten,  und  eine  Grösze, 
vor  der  sich  diese  beugen  muszten.  Es  war  <\a>  nicht  ein 
eitles  Spiel  der  Phantasie,  Bonden  eine  Leibhafte  Wirklichkeit, 
welche  die  antike  Welt  beherrschte,  gegen  die  im  Occidenl 
nur  noch  die  Germanen,  im  Orient  die  Perser  anzukämpfen 
den  Muth  und  die  Kraft  hatten. 

5  Cicero  de  Rep.  I.  2."».:    „Est  igitur,  inqnit  (Soipio)  Aärioanus, 
publica  res  populi;   popohu  autem   dod   omnia   Dominum  ooetafl  quoquo 
modo  congregatus,   Bed   coetua   mtütitadinia  juris  conaensu   <t    utilitatis 
communione  sociatu<.u    I.  26.:   „Civitaa  est  constitutio  populi."     Gßjus 

Inst.  I.  §.  1.:    „Nam   quod   quisque   populus   ipsc    sibi   jus    constituit,    id 
ipsius  proprium  civitatis  est,  vocaturque  jus  civile. a 


Viertes  Cup.     Entwicklungsgesch.  der  Statsidee.    II.  Das  Mittelalter.     59 

Viertes  Capitel. 

II.    Das  Mittelalter. 

Die  beiden  neuen  Mächte,  welche  den  römischen  Weltstat 
theils  umgebildet,  theils  zerstört  haben,  sind  das  Christen- 
tlium  und  die  Germanen. 

A.     Das  Christentum. 

Im  Widerspruch  mit  der  Autorität  sowohl  des  jüdischen 
States  als  des  römischen  Kaiserreichs  breitete  die  christliche 
Religion  ihre  Macht  über  die  Gemüther  aus.  Ihr  Stifter  war 
kein  Fürst  dieser  Welt.  Der  alte  Stat  verfolgte  ihn  und  seine 
Jünger  bis  zum  Tode.  Die  ersten  Christen  waren,  wenn  nicht 
geradezu  atatsfeindlich  gesinnt,  doch  für  andere  Dinge  als  für 
die  Statsordnung  und  die  Statsinteressen  begeistert.  Als  die 
christliche  Weli  ihren  Frieden  schlosz  mit  dem  antiken  helle- 
nisch-römischen Stat,  war  doch  bereits  die  religiöse  Gemein- 
schaft als  Kirche  ihrer  geistigen  Eigentümlichkeit  bewuszt, 
sie  fühlte  sich  nicht  als  eine  blosze  Statsanstalt.  Die  antike 
Statsidee  mnszte  sieh  gefallen  lassen,  dasz  das  ganze  religiöse 
Gern  einleben  zwar  nicht  ganz  der  stat  liehen  Sorge  und  dem 
statlichen  lanllnsx  entzogen,  aber  wesentlich  von  dem  State 
unabhängig  erklärt  werde.  Die  Zweiheit  von  Stat  und  Kirche, 
die  nun  sichtbar  im  Groszen  hervortrat,  ward  zu  einer  wesent- 
lichen Beschränkung  des  Stats.  Der  Stat  war  nur  noch  die 
Gemeinschaft  des  Rechts  und  der  Politik,  nicht  mehr  zu- 
gleich die  Gemeinschaft  der  Religion  und  des 
Cultus. 

Als  im  Verfolg  die  Kirche  in  dem  Papste  ein  sichtbares 
von  dem  Kaiser  unabhängig  gewordenes  Haupt  und  in  Rom 
ihre  Hauptstadt  erhalten  hatte,  erneuerte  sie  den  alt-römischen 
Gedanken  der  Weltherrschaft  in  geistlicher  Gestalt.  Wenn  es 
ihr  selbst  auf  der  Höhe  ihres  mittelalterlichen  Ansehens  nicht 
ganz  gelang,    den  Stat  zu  einer  bloszen  Kirchenanstalt  zu  er- 


60  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

niedrigen  und  das  Eine  römisch  -  geistliche  Weltreich  aufzu- 
richten, so  wurde  doch  die  Statsidee  auf  lange  Zeit  durch 
ihre  glänzendere  Erscheinung  weit  überstrahlt.  Sie  konnte  sich 
selber  mit  der  Sonne ,  und  den  Stat  mit  dem  Monde  ver- 
gleichen; hinter  dem  „geistigen"  Eeiche  muszte  das  leibliche 
bescheiden  zurückstehen.  '  Aber  die  Zweiheit  von  Stat  und 
Kirche  blieb  anerkannt,  und  damit  war  in  der  Hauptsache 
die  Selbständigkeit  des  Stats  gerettet.  Auch  das  Schwert 
des  Kaisers  wird,  wie  das  des  Papstes  von  Gott  abgeleitet, 
als  dem  höchsten  und  wahren  Herrn  der  Welt. 2 

So  weit  die  kirchliche  Lehre  einwirkte ,  war  freilich  nun 
die  Statsidee  wieder,  wie  früher  im  Orient,  religiös  begründet, 
die  Statsgewalt  war  ein  Gotteslehen,  aber  gleichzeitig  ward 
die  geistige  Bedeutung  des  Stats  übersehen  und  verkannt, 
und  da  alles  Geistesleben  von  der  Kirche  geleitet  werden 
sollte,  der  blosz  leiblich  geachtete  Stat  in  eine  untergeordnete 
Stellung  nieder  gedrückt.  Der  Trost  gegen  diese  Uebel,  wel- 
cher in  der  Erhebung  der  Statsidee  über  die  enge  Nationalität 
lag,  war  doch  unzureichend.  Weniger  die  Menschheit,  als  die 
Christenheit  sollte  er  in  äuszerlichen  Dingen  ordnen  und 
leiten.  Das  römische  Eeich  ward  so  gut  es  ging ,  in  mittel- 
alterlichen Formen  erneuert,  aber  die  angesehenere  Darstellung 
desselben  war  die  römische  Kirche,  die  mindere  das  heilige 
römische  Keich  deutscher  Nation. 

B.  Die  Germanen. 

Das  alt  -  römische  Weltreich  konnte  sich  auf  die  Dauer 
nicht  mehr  behaupten  gegen  die  germanischen  Völker.  Bald 
mit  Gewalt  entrissen  diese  kriegerischen  Völkerschaften  eine 
Provinz  nach  der  andern  der  römischen  Herrschaft,  bald  wur- 

1  Darüber  mehr  im  IX.  Buche. 

2  Rincmari  de  Ordine  Palatii  5:  „Duo  sunt,  quibus  principaliter  — 
mundus  hie  regitur:  auetoritas  Sacra  Pontificum  et  Regalis  potestas."  — 
Sachsensp.  1. 1.:  „Tvei  svert  lit  got  in  ertrike  to  bescermene  de  kristen- 
heit.    Deme  pavese  is  gesät  dat  geistlike,  deme  kaisere  dat  wertlike." 


Viertes  Cap.     Entwicklungsgesetz  der  Statsidee.    II.  Das  Mittelalter.     61 

den  die  germanischen  Fürsten  mit  ihren  Volksheeren  von  den 
romanischen  Provincialen  oder  den  Kaisern  selber  zum  Schutz 
herbeigerufen  und  übernahmen  dann  in  friedlicher  Weise  die 
Landeshoheit.  Während  des  Mittelalters  herrschten  überall  in 
dem  Abendlande  die  Germanen.  Sie  kamen  unter  die  christ- 
liche Erziehung  der  römischen  Kirche  und  gerietheii  unter  den 
nachwirkenden  Einflusz  der  römischen  Cultur.  Aber  sie  be- 
haupteten sich  auf  den  Thronen  der  Fürsten  und  in  den  Burgen 
der  Aristokratie.  Das  Scepter  und  das  Schwert  waren  vor- 
nämlich in  ihren  Händen. 

Die  Germanen  sind  nicht  in  dem  eminenten  Sinne  eine 
statliche  Nation,  wie  die  Römer.  Nur  widerwillig  ordnen  sie 
sich  dem  groszen  Ganzen  unter.  Ihr  starkes,  trotziges  und 
eigenwilliges  Selbstgefühl  tritt  dem  Gesammtbewusztsein  hin- 
dernd in  den  Weg  und  lähmt  dessen  Macht.  Sie  bedurften 
daher  erst  der  romanischen  Erziehung  für  denStat.  Aber  trotz 
alle  dem  hat  die  weltgeschichtliche  Entwicklung  des  States 
ihnen  sehr  viel  zu  verdanken.  Die  Germanen  voraus  haben 
den  Absolutismus  des  Römerstates  gebrochen  und  sie  haben 
die  spätere  Statenbildung  mit  dem  Geiste  der  persönlichen, 
genossenschaftlichen  und  ständischen  Freiheit  er- 
füllt. Montesquieu  hat  ein  wahres  Wort  gesprochen,  dasz  in 
den  deutschen  Wäldern  unter  den  alten  noch  uneivilisirten 
Germanen  die  Keime  der  spätem  parlamentarischen  Verfassung 
zu  finden  seien.  In  den  uralten  Formen  des  Zusammenwirkens 
der  germanischen  Volkskönige,  mit  den  Gaufürsten  und  den 
andern  Häuptlingen  einerseits,  und  mit  der  groszen  Gemeinde 
der  freien  Männer  andrerseits ,  wie  Tacitus  uns  das  schildert, 
erkennen  wir  deutlich  die  noch  rohen  Anfänge  des  freien  Re- 
präsentativstates,  den  die  spätem  Jahrhunderte  hervorgebracht 
haben.  Der  Germane  leitet  das  Recht  nicht  ab,  wenigstens 
zunächst  nicht  ab  von  dem  Willen  des  Volks.  Er  nimmt  für 
sich  ein  angeborenes  Recht  in  Anspruch,  welches  der  Stat 
wohl  zu  schützen  berufen  ist,  aber  nicht  schafft:  und  er  ver- 


62  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

ficht  sein  natürliches  Eecht  wider  alle  Welt,  selbst  gegen  die 
Obrigkeit.  Den  antiken  Gedanken,  dasz  der  Stat  alles  in  allein 
sei,  verwirft  er  mit  Eifer.  Das  ganze  Verhältnisz  wird  um- 
gedreht. Dem  Germanen  ist  die  individuelle  Freiheit 
das  Höchste ;  dann  erst  hinterdrein  läszt  er  sich  herbei,  einen 
Theil  derselben  dem  State  zu  opfern ,  um  das  Uebrige  desto 
sicherer  zu  wahren. 

Eine  nothwendige  Folge  dieses  Charakters  ist  es,  dasz  die 
germanische  Statsidee  viel  entschiedener  als  die  römische  die 
Selbständigkeit  des  Privatrechts  achten  musz.  Die 
Freiheit  der  Person,  der  Familie,  der  genossenschaftlichen  Ver- 
bände ist  damit  gesicherter  und  ausgedehnter  als  in  dem  alten 
Kömerreich.  Das  Statsrecht  musz  sich  die  Beschränkung  auch 
durch  das  Privatrecht  gefallen  lassen. 

Eine  zweite  öffentlich-rechtliche  Folge  ist,  dasz  die  ger- 
manischen Völker  überhaupt  keine  absolute  Statsgewalt, 
auch  nicht  in  den  gemeinsamen  Angelegenheiten  kennen  und 
dulden.  Der  römische  Begriff  des  imperium  ist  ihnen  fremd. 
Sie  wollen  mitrathen  und  mitstimmen,  wenn  sie  gehorchen 
sollen.  Ihre  Stände  sind  eine  politische  Macht,  mit  welcher 
die  Königsmacht  sich  vereinbaren  musz,  um  Gesetze  zu  geben. 
Der  Gedanke  des  Stats  als  einer  Gesammtperson  liegt  ihnen 
noch  fern  und  ist  ihnen  meist  unverständlich.  Sie  lösen  den 
Stat  eher  auf  in  leibhafte  Personen  oder  Gruppen  von  Personen : 
sie  begreifen  ihn  zunächst  in  dem  Könige  oder  andern  Fürsten, 
welche  das  Gericht  und  die  Volksversammlung  leiten,  in  den 
Vorständen  der  Gaue  und  Zenten,  in  der  Volksgemeinde.  Je 
durch  die  einen  Personen  werden  die  andern  theils  verstärkt, 
theils  beschränkt.  So  wird  die  ganze  Einrichtung  des  Gemein- 
wesens auch  in  ihren  Theilen  von  dem  Geiste  der  Freiheit 
erfüllt.  Die  Einheit  ist  verhältniszmäszig  schwach,  aber  die 
relative  Selbständigkeit  der  Glieder  stark. 

Diese  Aenderungen  der  Statsidee,  in  denen  wir  erhebliche 
Fortschritte  erkennen,  zeigten  sich  übrigens  mehr  in  der  Praxis 


Viertes  Cap.     Entwicklungsgesch.  der  Statsidee.    IL  Das  Mittelalter.     63 

als  in  der  Theorie.  Eine  germanische  Statslelire  gab  es  über- 
haupt nicht.  Die  Wissenschaft  ward  im  Mittelalter  zuerst  von 
der  Kirche  beherrscht,  später  durch  die  Ueb erlief erung  der 
römischen  Jurisprudenz  und  der  griechischen  Philosophie  be- 
stimmt. Schon  in  den  alten  Volks gesetzen  finden  sich  der- 
artige Reminiscenzen.  In  dem  westgothischen  Gesetze  z.  B. 
wird  nach  dem  Vorbild  der  classischen  Literatur  der  Stats- 
körper  mit  dem  Menschen,  der  König  mit  dem  Haupt,  das 
Volk  mit  den  Gliedern  des  Leibes  verglichen.  '*  Aber  das  war 
nur  ein  erborgter  Schmuck  der  Rede,  ohne  tiefere  Bedeutung. 
Der  mittelalterliche  Stat  war  damit  gar  nicht  bezeichnet. 

In  einigen  andern  Beziehungen  hatte  die  Statsidee  auch 
Rückschritte  gemacht ,  und  nicht  blosz ,  weil  der  kirchliche 
Glaube  sie  entwürdigte. 

Man  konnte  auch  den  mittelalterlichen  Stat  einen  Rechts- 
stat  nennen;  aber  in  einem  andern  als  in  dem  Sinne  der 
Römer.  Er  war  nicht  die  reine  Ordnung  des  öffentlichen 
Rechts.  Vielmehr  wurden  alle  seine  Institutionen  mit  privat- 
rechtlichen Elementen  versetzt  und  gemischt.  Wie  ein 
Familiengut,  wie  ein  Stammeseigenthum  wurde  die  Landes- 
herrschaft betrachtet,  und  die  öffentlichen  Pflichten  wurden  wie 
Reallasten  behandelt.  Das  ganze  Lehens  recht  und  alle  Er- 
scheinungen des  Patrimonialstates  leiden  an  dieser  Misch- 
ung. Das  Statsrecht  der  Römer  war  nur  eine  Grundlage,  von 
der  aus  die  öffentliche  Wohlfahrt  erstrebt  wurde.  Das  mittel- 
alterliche Recht  schien  auch  das  wesentliche  Ziel  des  mittel- 
alterlichen States  zu  sein.  Die  Volkswohlfahrt  wurde  darob 
vernachlässigt. 

Der  Gedanke   des   Volksstats  war   nicht  mehr  lebendig. 

3  Lex  Wisigothor.  IL  1.  §.  4.  „Bene  Deus  conditor  rerum  disponens 
humani  corporis  formam,  in  sublime  caput  erexit,  atque  ex  illo  cunctas 
membrorum  fibras  exoriri  decrevit.  Hinc  est  et  peritorum  medicorum 
praecipua  cura,  ut  ante  capiti  quam  membris  incipiant  adhibere  medelam. 
Sicque  in  Statu  et  negotiis  plebium  ordinatio  dirigenda,  ut  dum  Salus 
competens  prospicitur  Kegum,  fida  valentibus  teneatur  salvatio  populorum." 


64  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

Die  Spaltung  und  Zerbröckelung  der  Volks-  und  Statseinheit 
durch  das  Lehenswesen,  durch  den  Gegensatz  der  Territorien, 
der  Stände,  der  Dynastien  hatte  ihn  zerstört,  und  was  endlich 
von  dem  alten  römischen  Weltstat  noch  übrig  geblieben  -war, 
das  war  mehr  eine  ideale  völkerrechtliche  als  eine  stats- 
rechtliche  Verbindung  der  abendländischen  Christenländer, 
welche  mehr  noch  durch  die  Autorität  des  Papstes  und  den 
römischen  Klerus  als  durch  das  Kaiserthum  zusammengehalten 
wurden. 

Im  Groszen  und  Ganzen  waren  die  Saaten  zu  einer  freieren 
und  richtigeren  Statsentwicklung  ausgestreut  worden,  aber  die 
Statsidee  selbst  hatte  im  Mittelalter  viel  von  der  römischen 
Klarheit  und  Energie  verloren. 


Fünftes  Capitel. 

III.     Die  moderne  Statsidee. 

In  unkritischer  naiver  Weise  hatte  das  Mittelalter  unver- 
einbare Dinge  durcheinander  gemischt.  Als  diese  Weltperiode 
ihrer  Neige  zuging,  entstand  eine  allgemeine  Gährung  dieser 
mancherlei  Elemente ,  und  die  Auflösung  der  mittelalterlichen 
Einheit  hatte  auch  die  Scheidung  jener  Mischung  zur  Folge. 
Es  bereitete  sich  der  moderne  Stat  vor. 

Man  kann  diese  Entwicklung  in  dem  Einen  Satz  zusammen- 
fassen: der  Stat  wird  seiner  Natur  und  seiner  Aufgabe  klarer 
und  vollständiger  bewuszt. 

In  Folge  dieses  steigenden  Selbstbewusztseins  des  States 
lehnt  er  vorerst  jede  Ueberordnung  und  Vormundschaft  der 
Kirche  ab.  Er  hört  auf,  wesentlich  Religionsgemein- 
schaft zu  sein  und  wird  nun  entschiedener  als  je  in  einer 
früheren  Weltperiode  zur  Rechts-  und  politischen  Ge- 
meinschaft.    Er  erkennt  die  Zweiheit  von  Stat  und  Kirche 


Fünftes  Cap.  Entwicklungsgesch.  d.  Statsidee.  III.  Die  mod.  Statsidee.     65 

an,  aber  er  nimmt  seine  statliche  Selbständigkeit  und  Hoheit 
voll  in  Anspruch  und  weisz  sich  unabhängig  auch  von  der 
Autorität  der  religiösen  Offenbarung  und  der  kirchlichen 
Lehre. 

Was  noch  theokratisches  in  der  mittelalterlichen  Stats- 
ordnung  war,  wird  nun  allmäblig  ausgestoszen,  und  die  Völker 
lernen  den  Stat  menschlich  begründen,  undmenschlich 
beschränken.  Wiederum  wird  wie  im  Alterthum  die  Einheit 
des  Stats  und  die  Machtfülle  der  Statsgewalt  gefordert. 
Die  Spaltung  des  Lehenswesens  wird  nicht  mehr  geduldet  und 
die  ständische  Absonderung  durchbrochen.  Das  allgemeine 
Recht  breitet  sich  aus  über  alles  Volk.  Es  geht  nun  die 
Scheidung  des  öffentlichen  und  des  Privatrechts  vor 
sich.  Das  öffentliche  Recht  wird  wieder  öffentliche  Pflicht; 
mit  individueller  Freiheit  wird  das  Privatrecht  ausgeübt. 

In  gewissem  Sinne  kommt  die  antike  Statsidee  wieder  zu 
Ehren;  aber  die  Zwischenzeit  des  Mittelalters  geht  doch  auch 
nicht  verloren.  Wenn  auch  in  den  letzten  Zeiten  des  unter- 
gehenden Mittelalters  bis  ins  achtzehnte  Jahrhundert  hinein 
es  den  Anschein  hat,  als  werde  der  Absolutismus  der  altrömi- 
schen Kaiser  in  dem  absoluten  Königthum  der  europäischen 
Staten  erneuert,  so  erinnern  sich  doch  die  Völker  wieder 
an  die  natürliche  Freiheit.  Die  grosze  Wahrheit,  dasz  die 
Menschen  nicht  blosz  für  den  Stat  geschaffen  sind,  wirkt  fort 
und  wird  tiefer  erkannt.  Das  natürliche  Recht  der  Personen 
und  die  persönliche  Freiheit  wird  auch  gegen  den  Stat  be- 
hauptet. Das  gesammte  Privatrecht  bleibt  so  als  eine  in  sich 
selbständige  Rechtsordnung  anerkannt,  durch  welche 
wieder  die  Statsgewalt  beschränkt  wird.  Auch  der  Kampf  für 
die  politische  Volksfreiheit  wird  wider  den  Absolutismus 
der  Regierungen  aufgenommen.  Der  Stat  wird  wiederum  ein 
Volksstat,  aber  nun  in  edleren  Culturformen,  als  im  Alter- 
thum. Die  ständische  Verfassung  des  Mittelalters  dient  zur 
Vorstufe   des  modernen  Repräsentativstats,   in   welchem 

Bliints  chli  ,  allgemeines  Statsreclit.     I.  5 


QQ  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

sich  das  ganze  Volk  wie  in  einem  veredelten  Auszüge  dar- 
stellt. ' 

An  dieser  Umgestaltung  der  Statsidee  und  der  wirklichen 
Staten  hat  auch  die  Statswissenschaft2  einen  sehr  be- 
deutenden Antheil.  Oft  ging  die  moderne  Statstheorie  der 
modernen  Statspraxis  voraus ,  regelmäszig  begleitete  sie  die 
Wandlungen  dieser,  zuweilen  folgte  sie  ihr  nach. 

Es  sind  hauptsächlich  folgende  Phasen  der  Entwicklung 
in  der  Wissenschaft  hervorzuheben : 

1.  Der  Statsbegriff  von  Bodin  und  fiugo  Grotius  ist 
mit  dem  römischen,  wie  ihn  Cicero  ausgesprochen  hat,  noch 
nahe  verwandt.  Bodin  sieht  in  dem  Stat  „eine  Kechtsordnung 
einer  Mehrzahl  von  Familien  und  ihrer  gemeinsamen  Güter  in 
Form  der  souveränen  Gewalt.3  Ihm  ist  der  Stat  vornämlich 
auf  die  Familie,  das  Gemeingut  und  die  Souveränetät  gegrün- 
det und  er  tadelt  es  an  dem  antiken  Statsgedanken ,  dasz  auf 
das  Glück  und  Wohlergehen  zu  viel  gesehen  werde.  Bei  Hugo 
Grotius  rinden  wir  die  Sonderung  der  kirchlichen  von  der 
statlichen  Gemeinschaft  ausgesprochen  und  eine  nachdrückliche 
Betonung  der  Freiheit.  Der  Stat  ist  nach  ihm  ,,die  vollkom- 
mene Vereinigung  freier  Menschen,  verbunden  zum  Genüsse 
der  Eechte  und  zum  Zwecke  gemeiner  Wohlfahrt."  4  Es  ver- 
steht sich,  dasz  er  den  Stat  auf  die  menschliche  Natur  gründet, 
aber  er  denkt  dabei  weniger  an  Familien  oder  ganze  Nationen, 
als  vornämlich  an  einzelne  Individuen  und  sein  Satz:  „hominis 

1  Vgl.  Bluntschli  Artikel:  mittelalterliche  und  moderne  Statsidee 
im  Deutschen  Statswörterbueh.     Bd.  VI. 

2  Näher  dargestellt  ist  diese  Entwicklung  der  Statswissenschaft  in 
dem  Werke :  Bluntschli  Geschichte  der  allgemeinen  Statsrechte  und  der 
Politik.     München  1864. 

3  De  la  Republique.  I.  1.  „Republique  est  un  droit  gouvernement 
de  plusieurs  mesnages  et  de  ce  qui  leur  est  commun  avec  puissance 
souveraine.u 

4  Hugo  Grotius  de  J.  B.  I.  I.  §.  14.  „Est  civitas  coetus  perfectua 
liberorum  hominum,  juris  fruendi  et  communis  ntilitatis  causa  sociatus." 
I.  3.  §.7.  Prolegom.  §.16.     Vgl.  Leo,  Weltgeschichte  IV.  S.  I  Ü). 


Fünftes  Cap.  Entwickhmgsgesch.  d.  Statsidee.   III.  Die  mod.  Statsidee.     67 

proprium  sociale"  ist  keine  glückliche  Uebertragung  des  Ari- 
stotelischen 6  av&QooTtog  £wov  TioXtTLxov.  Aber  sie  ist  charak- 
teristisch dafür,  dasz  der  moderne  Geist  nicht  wie  der  antike 
erst  den  Stat,  und  dann  das  Individuum  sondern  vorerst  an 
die  Einzelnen  und  dann  an  ihre  Verbindung  denkt.  Die  Per- 
sönlichkeit des  States  war  ihm  nicht  unbekannt,  aber  sie  be- 
herrscht nicht  seine  Statslehre  und  indem  er  auf  den  Consens 
der  Menschen  als  die  Hauptquelle  auch  des  öffentlichen  Eechts 
hinweist,  gibt  er  den  Anstosz  zu  der  späteren  Vertragstheorie. 
2.  Von  dieser  Grundlage  aus  bildete  sich  nun  die  mo- 
derne speculative  und  n a tu r rechtliche  Statslehre  weiter 
aus,  und  zwar  selbständig,  auch  von  der  antiken  scharf  ge- 
trennt. Die  Gegensätze  der  philosophischen  Schulen  und  der 
politischen  Parteien  brachten  freilich  auch  hier  eine  grosze 
und  lebhafte  Meinungsverschiedenheit  hervor;  und  fast  niemals 
stimmte  der  eine  mit  dem  andern  völlig  zusammen.  Aber  bis 
in  unser  Jahrhundert  hinein  herrschte  in  den  vielerlei  Dar- 
stellungen des  Naturrechts  und  des  allgemeinen  Statsbegriffs 
der  Grundgedanke  vor,  dasz  der  Stat  wesentlich  eine  Gesell- 
schaft von  Einzelnen  und  daher  ein  freies  Werk  der  in- 
dividuellen Willkür  sei.  Der  absolutistische  Hobbes,5  der 
die  Statsgewalt  des  Monarchen  zu  dem  Alles  verschlingenden 
Leviathan  macht,  ist  darin  mit  dem  radicalen  Kousseau6 
einig,  dessen  Volkssouveränetät  den  Fortbestand  der  ganzen 
Statsordnung  jeden  Augenblick  in  Frage  stellt.    Der  geistreiche 

5  Hobbes  de  Cive  S.  87.  „Civitas  ergo  est  persona  una(?),  cujus 
voluntas  ex  pactis  planum  hominum  pro  voluntate  habenda  est  ipsorum 
hominum;  ut  singulorum  viribus  et  facultatibus  uti  possit  ad  pacem  et 
defensionem  communem. u 

6  Rousseau,  Contract  Social,  c.  6.:  „Eine  Form  der  gesellschaft- 
lichen Verbindung  (Association  )  zu  finden,  welche  mit  aller  gemeinsamer 
Kraft  die  Person  und  das  Vermögen  jedes  einzelnen  Gesellschafters  ver- 
theidige  und  schirme,  und  durch  welche  jeder  Einzelne  sich  mit  allen 
vereinigend  doch  nur  sich  selber  gehorche  und  eben  so  frei  bleibe  als 
zuvor?  das  ist  das  tiefe  Problem,  das  in  dem  Gesellschaftsvertrag  seine 
Lösung  findet. " 

5* 


(3g  Erstes  Buch,     Der  Begriff  des  Stats. 

Samuel  Puffendorf7  bezeichnet  zwar  den  Stat  als  eine 
,, sittliche  Person,"  aber  der  Statswille  ist  auch  für  ihn  nur 
aus  den  Individualwillen  Aller  zusammengesetzt  und  er  bildet 
die  Theorie  des  Gesellschaftsvertrags,  aus  dem  der  Stat  erklärt 
wird,  mit  Vorliebe  aus.  John  Locke  vertheidigt  ebenso  die 
Vertragslehre  mit  Eifer  gegen  die  Angriffe  der  Frömmler  und 
sieht  in  ihr  eine  Garantie  der  englischen  Bürger  fr  eiheit.  Auch 
Kant  kommt  nicht  darüber  hinaus,  obwohl  er  schon  den Fusz 
erhebt,  um  über  die  Schranken  der  Vertragslehre  wegzukom- 
men;8 und  selbst  Fichte  in  seinen  früheren  Schriften  ist 
noch  in  jener  Ansicht  befangen. 

Der  Stat  der  ganzen  naturrechtlichen  Philosophie  ist  wesent- 
lich Vertrags-  und  Gesellschaftsstat.  Hatten  die  alten 
Philosophen  über  dem  Einen  Stat  die  Reckte  der  Individuen 
nicht  hinreichend  gewürdigt,  so  begingen  die  neuern  Philosophen 
nun  den  entgegengesetzten  Fehler,  indem  sie  über  der  Rücksicht 
auf  die  Einzelmenschen   die  Bedeutung  des  States  verkannten. 

3.  Offenbar  war  es  zunächst  eine  Verengung  dieses  State- 
begriffs, wenn  Kant  und  Wilhelm  von  Humboldt  den 
Stat  für  einen  Recht ss tat  in  dem  Sinne  erklärten,  dasz  seine 
einzige  Aufgabe  die  Gewährung  der  Recktssickerkeit  für  Jeder- 
mann sei.  Zwar  durckbrack  Fichte  diese  engen  Grenzen, 
indem  er  den  Stat  zugleich  als  Wirthschaftstat  sckilderte 
und  ikm  hier  eine  übermächtige  Gewalt  einräumte  und  gegen 
das  Ende  seines  Lebens  von  der  nationalen  Erhebung  für  deutsche 
Freiheit  begeistert,   dem  Stat  noch  kökere  geistige  Lebens- 


7  De  jure  Naturali  et  gentium  VII.  2.  13.  „Unde  civitatis  liaec 
commodissima  videtur  definitio,  quod  sit  persona  moralis  composita,  cujus 
voluntas  ex  plurium  pactis  implicita  et  unita  pro  voluntatc  omnium  habe- 
tur, ut  singulorum  viribus  et  facultatibus  ad  pacem  et  securitatcm  com- 
munem  uti  possit. 

s  Werke  VII.  197:  „Verbindung  Vieler  zu  irgend  einem  Zwecke  ist 
in  allen  Gesellschaftsverträgen  anzutreffen;  aber  Verbindung  derselben, 
die  an  sich  selbst  Zweck  ist,  ist  nur  in  einer  Gesellschaft,  BOferne  sie 
oin  gemeinsames  Wesen  ausmacht,  anzutreffen." 


Fünftes  Cap.  Entwicklungsgesch.  d.  Statsidee.  III.  Die  mod.  Statsidee.     69 

aufgaben  zuwies.  Aber  die  meisten  deutschen  Philosophen  und 
Juristen  der  nächsten  Generation  hielten  sich  doch  in  der 
Theorie  an  den  kantischen  Begriff. 

Wir  begreifen  es ,  dasz  der  Gedanke  bei  Vielen  Beifall 
fand,  welche  gegen  die  Yielregiererei  der  Zeit  und  gegen  die 
Polizei-  und  Militärwillkür  Schutz  suchten.  Aber  wenn  man 
oft  den  „Rechtsstat"  dem  ,, Polizeistat"  entgegengesetzt 
und  es  als  die  Aufgabe  der  neuen  Zeit  bezeichnet  hat,  diesen 
durch  jenen  zu  verdrängen  und  zu  ersetzen,  so  war  man  dabei 
der  reichen  Natur  des  Stats  nicht  klar  bewuszt.  Der  Stat 
darf  eben  so  wenig  zum  bloszen  Rechtsstat  werden,  als  er  ein 
bloszer  Polizeistat  sein  darf.  Die  Aasbildung  des  „Rechtsstats" 
einseitig  verfolgt,  würde  zuletzt  den  Stat  zu  einer  bloszen  An- 
stalt für  Rechtspflege  verkrüppeln,  in  welcher  die  gesetzgebende 
Gewalt  das  Recht  im  allgemeinen  festsetzen,  das  Gericht  das- 
selbe im  einzelnen  Falle  zur  Anerkennung  bringen  und  schützen 
würde,  und  der  Regierung  fast  keine  andere  Thätigkeit  als 
die  eines  Gerichtsdieners  oder  der  Gendarmerie  übrig  bliebe. 
Die  nationalen  Interessen  der  Wirtschaft,"  der  Bildung,  der 
Machtentfaltung  würden  verkümmern  und  von  einer  groszen 
Politik  könnte  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Umgekehrt  würde 
eine  einseitige  Ausbildung  des  „Polizeistates"  am  Ende  jede 
individuelle  Rechtssicherheit  und  Freiheit  der  ausschlieszlichen 
Rücksicht  auf  das ,  was  dem  Ganzen  nützlich  scheint ,  zum 
Opfer  bringen  und  eine  unerträgliche  Bevormundung  freier 
Männer  herbeiführen. 

Versteht  man  daher  unter  Rechtsstat 

1)  den  Gedanken,  dasz  der  Stat  nur  eine  Anstalt  sei,  um 
die  Rechte  der  Individuen  zu  schützen,  so  wird  offenbar  das 
ganze  Statsrecht  zu  einem  bloszen  Mittel  für  das  Privatrecht, 
und  der  Stat  zum  bloszen  Diener  der  Privatpersonen  erniedrigt. 

Versteht  man  ferner  unter  ,, Rechtsstat" 

2)  die  Meinung,  dasz  der  Stat  die  Rechte  der  Ge- 
meinschaft  zu   ordnen  und  zugleich  für  Anerkennung  der 


70  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

individuellen  Kechte  zu  sorgen  habe,  so  ist  das  zwar 
ganz  richtig,  aber  durchaus  ungenügend,  indem  gerade  die 
fruchtbarste  Thätigkeit  des  Statsmannes,  die  Sorge  für  die 
materielle  Wohlfahrt  und  für  die  geistige  Erhebung  des  Volks, 
übersehen  wird ; 

3)  oder  dasz  der  Stat  zwar  wohl  dem  Inhalte  nach  auch 
die  öffentliche  Wohlfahrt  befördern,  aber  der  Form  nach  doch 
nur  insofern  Zwang  üben  dürfe,  als  eine  rechtliche  Notwendig- 
keit diesen  begründe,  so  ist  gegen  diesen  Gedanken  zwar 
schwerlich  etwas  einzuwenden,  aber  zugleich  wiederum  klar, 
dasz  damit  nur  eine  Seite  der  statlichen  Thätigkeit  näher  be- 
stimmt, die  Aeuszerung  der  statlichen  Sorge  aber,  z.  B.  für 
Nahrungs-,  Verkehrs-  und  Culturbedürfnisse,  welche  sich  inner- 
halb jener  rechtlichen  Schranken  frei  bewegt  und  keines- 
wegs der  Form  des  Zwanges  bedarf,  nicht  begriffen  wird. 

Versteht  man  unter  dem  Wort  Kechtsstat 

4)  die  Verneinung  der  religiösen  Begründung  des  Stats 
und  die  Behauptung  seiner  menschlichen  Grundlage  und  Be- 
schränkung, oder  • 

5)  die  Bekämpfung  jeder  absoluten  Statsgewalt  und 
auch  des  Patrimonial stats,  der  sich  mit  der  Polizeiwill- 
kür ganz  trefflich  abzufinden  gewuszt  hat,  und  die  Behaupt- 
ung, dasz  den  Statsbürgern  ein  Antheil  gebühre  an  den  öffent- 
lichen Bechten; 

so  werden  zwar  damit  charakteristische  Merkmale  des 
modernen  Stats  gemeint,  aber  der  Ausdruck  ist  sehr  unglück- 
lich gewählt,  um  diese  Gedanken  anzudeuten.  Besser  wird  er 
Verfassungsstat  genannt. 

Wie  es  zwei  Seiten  gibt  des  statlichen  Wesens,  Ruhe  und 
Bewegung,  Bestand  und  Entwicklung,  Körper  und  Geist,  und 
wie  es  diesem  innern  organisch  verbundenen  Gegensatz  ent- 
sprechend zwei  Statswissenschaften  gibt,  Statsrecht  und  Politik, 
so  gibt  es  auch  zwei  grosze  Statsprincipien,  welche 
wie  zwei  leuchtende  Gestirne   das  Leben  des  States   erhellen 


Fünftes  Cap.  Entwicklungsgesetz  d.  Statsidee.  III.  Die  mod.  Statsidee.     71 

und  befruchten,  welche  beide  die  Form  und  den  Inhalt  des 
States  bedingen:  die  Gerechtigkeit  (justitia)  und  die  öffent- 
liche Wohlfahrt  (salus  publica).  Statsmänner  werden  vor- 
zugsweise die  letztere,  Juristen  eher  die  erste  vor  Augen  haben. 
Die  Idee  des  Kechts  bestimmt  vorzugsweise  das  Statsrecht. 
Die  Idee  der  Wohlfahrt  leitet  vornämlich  die  Politik. 

Die  Sorge  der  Kegierung  wird  sich  mehr  noch  auf  die 
öffentliche  Wohlfahrt,  obwohl  innerhalb  der  Schranken  des 
Rechtes  beziehen,  wie  denn  auch  die  statlich  fortgeschrittenen 
Körner  gerade  den  höchsten  Magistraten  die  Sorge  für  die 
öffentliche  Wohlfahrt  als  ihre  oberste  Pflicht  ans  Herz  gelegt 
haben;9  die  Thätigkeit  der  Gerichte  wird  sich  auf  die  Auf- 
rechthaltung der  Rechtsordnung  beschränken.  Der  Stat  selbst 
aber  bedarf  zu  seiner  Existenz  und  zu  seinem  Gedeihen  der 
steten  Rücksicht  sowohl  auf  die  öffentliche  Wohlfahrt  als  auf 
das  Recht.  Gerade  der  moderne  Stat  aber  achtet  in  höherem 
Masze,  als  der  mittelalterliche  auf  die  Bedürfnisse  des  ge- 
meinen Wohles,  und  kann  daher  weniger  als  der  letztere  zu 
einem  bloszen  „Rechtsstate"  werden. 

4.  Ein  Verdienst  der  historischen  Schule  ist  es,  den 
organischen  Charakter  des  States  von  neuem  ins  Bewuszt- 
sein  gebracht  zu  haben.  Einzelne  grosze  Statsmänner  hatten 
zwar  ein  lebendiges  Verständnisz  des  organischen  States  be- 
wahrt. Friedrich  der  Grosze  von  Preuszen  z.  B.  sprach 
in  seinem  Antimacchiavell  (c.  9.)  es  deutlich  aus:  „Wie  die 
Menschen  geboren  werden,  dann  eine  Zeit  lang  leben,  endlich 
aus  Krankheit  oder  Alter  sterben ,  so  bilden  sich  auch  die 
Staten,  gedeihen  einige  Jahrhunderte  und  gehen  endlich  wieder 
unter.'1  Aber  die  Wissenschaft  hatte  diese  Einsicht  so  sehr 
vernachläszigt ,  dasz  die  Erneuerung  derselben  von  Seite  der 
historischen  Schule  wie  eine  neue  Entdeckung  wirkte,  und  die 
Fortbildung  der  Wissenschaft  doch  nun  eine  ganz  andere  und 

9  Cicero,  de  Legibus  III.  c.  3.  von  den  Consuln:   „Ollis  Salus  Populi 
Suprema  Lex  Esto.w 


72  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

fruchtbarere  Kichtung  nahm.  Indessen  war  die  historische 
Schule  geneigt,  den  Begriff  des  States  zu  sehr  als  einen  blosz 
nationalen  aufzufassen,  und  die  höhere  menschliche  Be- 
deutung desselben  zu  übersehen,  oder  geradezu  zu  bestreiten. 
So  erklärte  Savigny  den  Stat  als  „die  leibliche  Gestalt  der 
geistigen  Volksgemeinschaft,"  als  „die  organische  Erscheinung 
des  Volks."10  Der  geniale  Engländer  Edm.  Burke  aber 
brachte  den  historischen  Stat,  indem  er  die  revolutionäre  Theorie 
bekämpfte,  wieder  in  den  Lichtkreis  der  göttlichen  Weltord- 
nung in  jener  berühmten  Stelle  seiner  Betrachtungen  über  die 
französische  Bevolution:  „Der  Stat  ist  nicht  eine  Genossenschaft 
in  Dingen,  welche  nur  dem  rohen  leiblichen  Dasein  einer  kurze 
Zeit  währenden  und  vergänglichen  Natur  frohnden.  Er  ist 
eine  Genossenschaft  in  aller  Wissenschaft ,  in  aller  Kunst ,  in 
jeder  Tugend  und  in  jeder  Vollkommenheit.  Da  eine  derartige 
Genossenschaft  ihr  Ziel  nicht  in  einigen  Generationen  erreichen 
kann,  so  wird  sie  zu  einer  Genossenschaft,  welche  nicht  allein 
die  Lebenden  verbindet,  sondern  auch  die,  welche  bereits  ge- 
storben sind  und  die,  welche  noch  geboren  werden.  Jeder  be- 
sondere Statsvertrag  ist  nur  eine  Klausel  in  dem  grossen  Ur- 
vertrage  der  ewigen  Weltordnung,  welcher  die  niedem  Wesen 
mit  den  höhern  verkettet,  die  sichtbare  und  die  unsichtbare 
Welt  verbindet  und  zu  einem  festen  Rechtsverhftltnisz  zu- 
sammenstimmt, das  durch  den  unverletzbaren  Eid  geheiligt 
wird,  welcher  alle  physischen  und  moralischen  Naturen  jede 
an  ihrem  angewiesenen  Platze  festhält."11 

10  Savigny,  Syst.  des  röm.  Rechts.    I.    S.  22. 

11  Edm.  Burke,  Reflect.  on  the  revol.  in  Franco.  Vgl.  auch  Leo, 
Weltgeschichte  VI.  S.  759,  der  die  Gedanken  Burke's  weiter  ausführt. 
Jene  glänzende  Aeuszerung  des  Statsmannes  erinnert  an  die  nicht  min- 
der erhebenden  Worte  Shakespeare's  Troilus  und  Cress.  III.  3.: 

„Ein  tief  Geheimnisz  wohnt  (dem  die  Geschichte 
Stets  fremd  geblieben)  in  des  States  Seele: 
Desz  Wirksamkeit  so  göttlicher  Natur, 
Dasz  Sprache  nicht  noch  Feder  sie  kann  deuten/ 
Vgl.  auch  Shakespeare's  König  Heinrich  V.  —  1.  2.: 


Fünftes  Cap.  Entwicklungsgesch.  d.  Statsidee.  III.  Die  mod.  Statsidee.    73 

Vor  einer  so  hohen  geistigen  Erfassung  des  States  konnte 
die  mittelalterliche  Lehre,  dasz  der  Stat  zur  Kirche  sich  ver- 
halte wie  der  Leib  zum  Geiste,  unmöglich  bestehen. 

Die  historische  Schule  nahm  aber  den  Stat  an  wie  er  ge- 
worden war;  und  der  auf  die  Vergangenheit  gewendete  Blick 
wurde  von  den  Bildern  des  untergegangenen  Lebens  so  mächtig 
angezogen,  dasz  viele  Anhänger  dieser  Richtung  darüber  das 
Verständnisz  der  Gegenwart  und  die  Neigung  an  der  Vervoll- 
kommnung der  öffentlichen  Zustände  mitzuwirken  einbüszten. 
Konnte  man  einem  groszen  Theil  der  naturrech tlichen  Schule 
vorwerfen,  dasz  ihre  Statsidee  ein  Spielball  der  individuellen  Will- 
kür sei,  so  war  auch  die  historische  Schule  nicht  von  dem  Vorwurf 
freizusprechen,  dasz  ihr  Statsbegriff  noch  festgebunden  sei  an  die 
herkömmlichen  Autoritäten  und  an  die  überlieferten  Vorurtheile. 

5.  Die  neuere  Philosophie  hat  wiederholt  Versuche  ge- 
macht, die  Statsidee  tiefer  zu  fassen. 

Unter  den  Deutschen  hat  Hegel  insbesondere  zwar  die 
sittliche  Bedeutung  des  States  wiederum  kräftig  betont  und 
den  Stat  im  Gegensatze  zu  den  jämmerlichen  Vorstellungen, 
das?  er  ein  notwendiges  Uebel  sei,  als  die  höchste  und 
herrlichste  Verwirklichung  der  l\echtsidee  gepriesen.  Aber 
sein  Stat  ist  doch  nur  eine  logische  Abstraction,  ohne  wirk- 
liches Leben  und  ohne  Körper,  ein  dialektisches  Gedankenspiel, 
eine  Eedefigur,  kein  Wesen. 12 

Exeter:  „Dein  Regiment,  zwar  hoch  und  tief  und  tiefer 

Verthcilt  an  Glieder,  hält  den  Einklang  doch 
Und  stimmt  zu  einem  vollen  reinen  Schlusz, 
So  wie  Musik." 
Canterbury:   „Sehr  wahr!    Drum  theilt  der  Himmel 

Der  Menschen  Stand  in  mancherlei  Beruf, 
Und  setzt  Bestrebung  in  beständ'gen  Gang, 
Dem  als  zum  Ziel  Gehorsam  ist  gestellt." 
12  Hegel,  Rechtsphilosophie  §.  57:    „Der  Stat  ist  die  Wirklichkeit 
der  sittlichen  Idee,  der  sittliche  Geist  als  der  offenbare,  sich  selbst  deut- 
liche substantielle  Wille,    der    sich   denkt  und  weisz,  und  das   was   er 
weisz  und  insofern  er  es  weisz,  vollführt."     Vgl.  Werke  IX.  §.44. 


74  Erstes  Buch.    Der  Begriff  des  Stats. 

6.  Fr.  J.  Stahl  hat  die  geschichtlichen  Neigungen  in 
die  Eechtsphilosophie  übertragen,  aber  zugleich  die  religiös- 
politische Speculation  erneuert.  In  vielen  Beziehungen  hat 
Stahl  durch  seine  dialektische  und  kritische  Gewandtheit  neue 
Gesichtspunkte  zu  finden,  und  durch  den  Scharfblick,  mit  dem 
er  manche  dunkle  Stelle  beleuchtete,  die  Statswissenschaft  sehr 
gefördert;  in  anderer  Hinsicht  aber  hat  sein  Mangel  an  gründ- 
licher historischer  Bildung  und  seine  diensteifrige  Sophistik, 
welche  den  romantischen  Liebhabereien  groszer  und  kleiner 
Herren  moderne  Formeln  zur  Verfügung  stellte,  auch  in  der 
Wissenschaft  groszen  Schaden  angerichtet.  Stahl  bezeichnet 
den  Stat  als  ein  , , sittlich-int eile ctuelle s  Reich,"  als  ,,die  Einig- 
ung der  Menge  zu  Einer  geordneten  Gemeinexistenz,  die  Auf- 
richtung einer  sittlichen  Autorität  und  Macht  mit  ihrer  Er- 
habenheit und  Majestät  und  der  Hingebung  der  Unterthanen." 
Seine  Statsidee  ist  lebendiger  als  die  Hegels,  er  erkennt  auch 
an,  dasz  die  Herrschaft  des  States  „beschränkt  sei  auf  den 
Gemeinzustand"  und  hütet  sich  so  vor  der  Ueberspannung  des 
antiken  Stats.  Aber  durch  seine  ganze  Statslehre  geht  wie 
ein  rother  Faden  ein  Zug  der  alttestamentlichen  Theokratie 
durch,  welcher  dieselbe  für  die  moderne  europäische  Welt  doch 
ungenieszbar  macht.  Die  göttliche  —  oder  übermenschlich 
gedachte  —  Majestät  der  Statsgewalt  kann  mit  der  menschlich 
bürgerlichen  Freiheit  keinen  Frieden  schlieszen. 

7.  Noch  immer  ist  das  Yerständnisz  des  organischen, 
oder  höher  ausgedrückt  des  psychologisch-mensch- 
lichen Wesens  des  States  gering  und  nur  Wenige  wagen 
es,  die  notwendigen  Folgen  dieser  Grundgedanken  wissen- 
schaftlich anzuerkennen.  Uniäugbar  aber  hat  die  Wissen- 
schaft der  neuern  Zeit  in  dieser  Richtung  manche  Fortschritte 
gemacht. 

Fr.  Schmitthenne r  erklärt  den  Stat  als  einen  ethischen 
Organismus,  bestimmt  die  öffentlichen  Angelegenheiten  des 
äuszern  Lebens,  des  Rechtes,  der  Wohlfahrt  und  der  Bildung 


Fünftes  Cap.  Entwicklungsgesch,  d.  Statsidee.  III.  Die  mod.  Statsidee.    75 

zu  vertreten.  Er  war  einer  der  ersten,  welche  der  neuen 
Kichtung  der  Wissenschaft  Bahn  gebrochen  haben. 

Einen  merkwürdigen  Versuch  hat  Vollgraff  gemacht, 
die  Statslehre  auf  die  Psychologie  der  Völker  zu  gründen.  13 
Das  Werk  gibt  sich  selbst  als  „ersten  Versuch"  und  ist  als 
solcher  ehrenwerth.  Aber  dasselbe  ist  doch  nicht  geeignet, 
die  psychologische  Methode  zu  Ehren  zu  bringen.  Weder  be- 
friedigt die  Darstellung  der  menschlichen  Seelenkräfte,  noch 
die  Schätzung  der  verschiedenen  Temperamente;  und  der  an- 
gesammelte ansehnliche  Stoff  von  historischen  Notizen  und 
mannigfaltigen  Beobachtungen  und  Reisebemerkungen  ist  zu 
wenig  kritisch  verarbeitet  und  gar  zu  sehr  mit  bloszen  Phan- 
tasiebildern gemischt,  so  dasz  auch  das  Gefühl  der  realen 
Sicherheit  nicht  aufkommt. 

Ahrens,14  dem  Philosophen  Krause  folgend,  hat  es 
unternommen,  eine  „organische  Statslehre"  zu  schreiben. 
Aber  er  versteht  unter  dem  Organismus  des  Stats  nicht  so 
wohl  ein  lebendiges  persönliches  Gemeinwesen,  als  vielmehr 
eine  organische  Einrichtung  für  Rechtsgemeinschaft. 

Waitz  ,5  endlich  sagt  vom  Stat:  „Der  Stat  ist  nichts 
willkürlich  Gemachtes,  nicht  durch  Vertrag  der  Menschen,  nicht 
durch  Gewalt  eines  oder  einiger  Einzelnen  entstanden.  Der 
Stat  erwächst  organisch  als  ein  Organismus,  aber  nicht  nach 
den  Gesetzen  und  für  die  Zwecke  des  Naturlebens,  sondern  er 
ruht  auf  den  höheren  sittlichen  Anlagen  der  Menschen,  in  ihren 
wahren  sittlichen  Ideen;  es  ist  kein  natürlicher,  ein  ethischer 
Organismus.  Der  Stat  ist  die  Organisation  des  Volks."  Der  Stat 
ist  aber  nicht  die  Verwirklichung  des  sittlichen  Lebens  überhaupt. 

13  Erster  Versuch  einer  wissenschaftlichen  Begründung,  sowohl  der 
allgemeinen  Ethnologie  durch  die  Anthropologie  wie  auch  der  Stats-  und 
Rechtsphilosophie  durch  die  Ethnologie  oder  Nationalität  der  Völker. 
III  Theile.    1851—1853. 

14  H.  Ahrens,  die  organische  Statslehre.    Bd.  I.     Wien  1850. 

15  Politik.  1862.  I.  1. 


76  Erstes  Buch.     Der  Begriff  des  Stats. 

Die  sittlichen  Anlagen  der  Menschen  und  die  sittlichen  Ideen 
bestimmen  ebenso  das  Privat-  wie  das  Statsleben,  die  Kirche 
wie  den  Stat,  die  Familie  und  die  Gesellschaft.  Nur  wenn 
die  menschliche  Gesammt-Natur  der  Völker  und  der 
Menschheit  psychologisch  verstanden  wird,  ist  eine  unter- 
scheidende und  erklärende  Grundlage  gewonnen  für  den  Stats- 
Begriff. 

Anmerkung.  In  meinen  „Psychologischen  Studien  über 
Stat  und  Kirche,"  Zürich  1844,  ist  der  erste  Versuch  gemacht,  den  Stat 
aus  der  Psychologie  Fr.  Rohmers  zu  erklären.  Ich  setzte  dabei  irriger 
Weise  einiges  Verständnisz  für  diese  in  der  „Lehre  von  den  Parteien" 
zu  Tag  getretene  Wissenschaft  voraus,  machte  aber  die  Erfahrung,  dasz 
nicht  allein  jenes  nicht  vorhanden,  sondern  dasz  jedes  psychologische 
Denken  über  den  Stat  der  heutigen  Schulbildung  abhanden  gekommen 
sei  und  fremdartig  erscheine.  Die  Studien  wurden  von  den  Mitlebenden 
wie  eine  „unbegreifliche  Narrheit  eines  sonst  doch  verständigen  Mannes" 
verworfen.  Die  Früchte  jener  Studien  aber,  wie  sie  später  in  diesem 
Werke  herangereift  sind,  werden  ziemlich  allgemein  mit  Gunst  und  Dank 
angenommen.  Inzwischen  ist  die  Zeit  näher  gerückt,  in  der  auch  der 
Weg,  den  jene  Studien  eingeschlagen  haben,  nicht  mehr  als  abenteuer- 
lich erscheinen  und  die  organisch-psychologische  Erkenntnisz  des  Stats 
mit  Vorliebe  gepflegt  werden  wird.  Dann  wird  auch  der  Werth  oder 
Unwerth  jener  „Studien"  richtig  beurtheilt  werden  können. 


Mtittz  Itatij* 

Volk    und    Land 


Erstes  Capitel. 

I.    Die  Menschheit,  die  Menschenrassen  und  die  Völkerfamilien. 

Die  Menschheit  hat  ihre  Gesammtorganisation  in  dem 
Weltreiche  noch  nicht  gefunden.  Vorerst  kennt  die  Geschichte 
nur  einzelne  Eeiche  und  Staten,  welche  auf  Bruchtheile  der 
Menschheit  beschränkt  sind.  Das  allgemeine  Statsrecht  unserer 
Zeit  musz  daher  voraus  jene  Theile  beachten,  und  das  Ver- 
hältnisz  der  Völker  zur  Menschheit  und  zum  State  bestimmen. 

Der  Glaube  an  die  Einheit  des  Menschengeschlechts  ist 
dem  gereinigten  religiösen  Gefühl  unentbehrlich.  Das  Christen- 
thum  hat  alle  Menschen  zur  Kindschaft  Gottes  berufen.  Der 
civilisirte  Stat  setzt  diese  Einheit  ebenfalls  voraus  und  achtet 
auch  in  den  niedern  Kassen  und  Stämmen  doch  die  gemein- 
same Menschennatur.  Für  den  Stat  und  das  Statsrecht  aber 
ist  neben  jener  Einheit  der  Menschheit  die  Verschieden- 
heit der  Rassen  von  höchster  Bedeutung;  denn  im  State 
erscheinen  die  Menschen  geordnet  und  Ordnung  ist  nicht  denk« 
bar,  ohne  Unterscheidung. 

Die  Wissenschaft  hat  bis  jetzt  den  Schleier,  welcher  den 
geheimniszvollen  Ursprung  der  verschiedenen  Hauptrassen 


78  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

der  Menschheit  deckt,  nicht  zu  heben  vermocht.  Beruhen  die 
Eassen  auf  verschiedenen  Schöpfungsacten  und  sind  die  einen 
Eassen  früher  die  andern  später  erschaffen  worden?  Oder 
haben  sich  die  verschiedenen  Eassen  aus  der  ursprünglichen 
Einen  Urrasse  losgetrennt  und  kraft  welcher  Naturgewalten? 
Wir  wissen  es  noch  nicht.  Die  Verschiedenheit  der  Haupt- 
rassen  aber  sowohl  in  ihrem  Körperbau  und  in  ihrer  Farbe, 
als  in  ihrer  geistigen  Anlage  ist  schon  da  in  den  ersten  An- 
fängen der  bekannten  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit 
und  sie  ist  bis  auf  heute  wesentlich  dieselbe  geblieben.  Es 
hat  sich  wohl  keine  derselben  ganz  rein  erhalten  und  mancherlei 
Mischungen  der  Geschichte  haben  grosze  Bestandteile  der 
Urrassen  zum  Theil  losgerissen  von  der  Gemeinschaft  mit 
den  übrigen  Massen,  zum  Theil  zu  neuen  Völkern  umgewan- 
delt. Aber  immerfort  sind  die  Gegensätze  der  weiszen,  der 
schwarzen,  der  gelben  und  wohl  auch  der  rothen  Eassen 
erkennbar  und  wirksam  und  mehr  noch  in  der  Entwicklungs- 
geschichte als  in  ihren  zuweilen  trügerischen  Farben.  Es  gibt 
wohl  manche  selbst  sehr  geistreiche  Männer,  welche  die  geistige 
Ungleichheit  dieser  Eassen  in  der  Theorie  läugnen,  aber  schwer- 
lich einen,  der  dieselbe  im  praktischen  Leben  und  Verkehr 
nicht  fortwährend  beachtet.  Die  ganze  Weltgeschichte  zeugt 
von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  für  die  verschiedene  Begab- 
ung der  Eassen,  und  selbst  für  die  ungleiche  Fähigkeit  der 
einzelnen  Völker,  die  aus  ihnen  erwachsen  sind. 

1.  Es  ist  wahrscheinlich,  dasz  die  schwarze  äthiopi- 
sche Easse,  die  Nachtvölker,  wie  Carus  sie  nennt,  in  der 
Vorzeit  nicht  blosz  Afrika,  den  vornehmlich  für  sie  bestimmten 
Welttheil,  sondern  ebenso  die  südlichen  Länder  von  Asien  über- 
deckt und  sogar  in  den  südlichen  Ausläufern  des  europäischen 
Festlandes  Wohnsitze  gehabt  habe.  Ueber  das  hohe  Alter 
dieser  vielleicht  erstgebornen  Easse  kann  kein  Zweifel  sein. 
Aber  nie  und  nirgends  hat  es  diese  Easse  von  sich  aus  zu 
einer  auch  nur   einigermaszen  civilisirten  Eechts-  und  Staten- 


Erstes  Cap.  Die  Menschheit,  die  Menschenrassen  u.  die  Völkerfamilien.    79 

bildung  gebracht.  Sie  hat  keine  wahre  Geschichte.  In  jedem 
Zusammentreffen  mit  Individuen  oder  Stämmen  der  weiszen 
Kasse  ist  sie  sofort  unter  deren  Herrschaft  gerathen.  So  aus- 
schweifend ihre  Phantasie  und  so  reizbar  ihre  Sinnlichkeit  ist, 
so  mangelhaft  ist  ihr  Verstand  ausgestattet  und  so  schwach 
ihr  Wille.  Von  Natur  kindisch  ist  sie  auf  die  Erziehung  und 
Beherrschung  durch  höhere  Völker  angewiesen. 

2.  Einen  ältlichen  Ausdruck  dagegen  hat  die  röthliche 
Easse  der  Amerikanischen  Stämme,  der  Indianer.  Für 
den  Stat  haben  aber  auch  sie  nur  eine  geringe  Begabung. 
Zwar  gab  es  in  Amerika,  vor  der  Colonisation  durch  die  Euro- 
päer, gröszere  Staten,  mit  einer  ansehnlichen  und  ehrwürdigen 
Civilisation.  Aber  es  scheint,  dasz  die  theokratischen  Reiche 
von  Peru  und  Mexiko  nicht  das  Werk  der  einheimischen 
Easse,  sondern  von  Einwanderern  aus  Ost-  und  Südasien  ge- 
gründet waren.  Die  Bezeichnung  der  Inkas  in  Peru,  oder 
„weiszer  Sonnenkinder"  weist  unverkennbar  auf  arischen  Ur- 
sprung hin. 

Wo  die  Indianer  sich  selbst  überlassen  blieben,  da  ver- 
wilderten sie  wieder  als  Jäger  und  zerfielen  sie  in  kleine 
Gruppen.  Ihre  Stammesrepubliken  haben  keinen  festen  Boden 
und  keine  gesicherten  Institutionen.  Die  einzelnen  Männer 
leben  wohl  in  eigenwilliger  und  trotziger  Freiheit,  aber  der 
Verband  des  Ganzen  ist  roh  und  ungefüge.  Dem  Fortschritte 
der  weiszen  Colonisation  vermögen  sie  keinen  Widerstand  zu 
leisten.     Sie  werden  verdrängt  und  aufgezehrt. 

3.  Bedeutender  für  die  statliche  Entwicklung  ist  die  so- 
genannte gelbliche  Easse,  deren  Heimat  Asien  geblieben 
ist,  mit  ihren  beiden  Hauptstämmen,  dem  bräunlicheren 
Typus  derMalajen  und  dem  helleren  der  finisch-mon- 
golischen  Völker.  Besonders  die  letztere  Völkerfamilie  hat 
viele  grosze  Fürsten,  Heerführer  und  Statsmänner  hervor- 
gebracht. Ein  Theil  freilich  dieser  Stämme  blieb  fortwährend 
und   bis   auf  den  heutigen  Tag   in  nomadischem  Zustand, 


80  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

als  Hirten,  Jäger  und  Käuber,  vorzüglich  in  Mittelasien.  Aber 
andere  Völker  von  dieser  Kasse  haben  grosze  Keiche  gegründet. 
Sie  sind  durchweg  roher  im  Westen  geblieben  und  humaner 
im  Osten  geworden.  Die  ganze  Easse  steht  der  kaukasischen 
näher  als  die  der  Neger  und  der  Indianer,  und  hat  sich  früh- 
zeitig, zumal  in  den  oberen  Classen,  mit  Weiszen  gemischt. 
Zu  einer  höheren  Civilisation  als  die  Hunnen  und  die  Tür- 
ken haben  es  die  Culturvölker  von  China  und  Japan  ge- 
bracht. Sogar  eine  feine  Statsphilosophie  ist  ihr  Werk:  und 
die  Ideale  der  Humanität  im  Gegensatz  zur  Barbarei  und  des 
persönlichen  Verdienstes  im  Gegensatz  zu  dem  Bang  der  Ge- 
burt sind  bei  ihnen  früher  noch  zur  Geltung  gelangt  als  unter 
den  arischen  Europäern.  Für  die  Landwirthschaft,  die  Gewerbe, 
für  die  Schulen  und  die  Polizei  haben  sie  Bedeutendes  ge- 
leistet. Aber  ihre  Kechtsideen  blieben  gemischt  mit  den 
moralischen  Vorschriften  und  sind  gebunden  durch  die  Rück- 
sichten auf  das  Familienleben  und  die  Zucht  der  Unmündigen. 
Ihr  Regiment  hat  einen  wohlwollenden,  aber  oft  auch  einen 
despotischen  Charakter.  Das  Ehrgefühl  ist  unempfindlich  und 
die  Volksfreiheit  bei  ihnen  nicht  entwickelt. 

4,  Ueber  alle  diese  Rassen  erhebt  sich  aber  die  weisze 
Rasse  der  sogenannten  kaukasischen  oder  iranischen  Völker, 
die  Carus  im  Gegensatze  zu  den  Nacht-  und  Dämmerungs- 
(Morgen-  und  Abend-) Völkern  als  Tagvölker  bezeichnet,  die 
Kinder  der  Sonne  und  des  Himmels,  wie  das  Alterthuin  sie 
benannt  hat.  Sie  sind  vorzugsweise  die  historischen  Völker. 
Sie  bestimmen  die  Geschicke  der  Welt.  Alle  höheren  Reli- 
gionen, welche  den  Menschen  mit  Gott  verbinden ,  sind  zuerst 
durch  Männer  von  ihrem  Stamme  geoffenbart  worden,  fast  alle 
Philosophie  ist  aus  den  Arbeiten  ihres  Geistes  hervorgegangen. 
Im  Zusammenstosz  mit  den  andern  Rassen  sind  diese  zuletzt 
immer  von  ihnen  besiegt  und  ihnen  unterthan  worden.  Alle 
höhere  Statenbildung  gehört  ihrem  Impuls  an  und  ist  ihr 
Werk.    Die  höchste  Civilisation  und  die  Verallkommnuilg  der 


Erstes  Cap.  Die  Menschheit,  die  Menschenrassen  u.  die  Völkerfamilien.    8l 

geistigen  Zustände  der  Menschen  verdanken  wir  —  nächst 
Gott  —  ihrem  Verstände  und  der  Energie  ihres  Willens. 

Diese  Tagvölker  theilen  sich  aber  in  zwei  grosze  Völker- 
familien,  die  Semitischen  und  die  Arischen  (indo- ger- 
manischen) Völker.  Die  Semiten  haben  vorzugsweise  eine 
religiöse  Mission  für  die  Welt.  Das  Judenthum,  das  Christen- 
thum  und  der  Islam,  alle  diese  Religionen  sind  zuerst  unter 
Semitischen  Völkern  im  Orient  verkündet  worden.  Für  den 
Stat  aber  sind  sie  weniger  begabt.  Dagegen  nimmt  für  die 
politische  Geschichte  und  die  Rechtsbildung  hinwieder  die 
arische  Völkerfamilie,  deren  Sprache  auch  die  formen-  und 
gedankenreichste  ist,  den  obersten  Rang  ein,  und  diese  hat 
voraus  in  Europa  ihre  wahre  Heimat  gefunden  und  da  ihren 
männlichen  Statsgeist  zur  Reife  entfaltet.  Darauf  ist  das  Recht 
dieser  europäisch -arischen  Völker  begründet,  die  übrigen 
Völker  der  Erde  mit  ihren  Ideen  und  ihren  Institutionen 
politisch  zu  leiten  und  so  die  Organisirung  der  Menschheit  zu 
vollziehen. 

Wir  betrachten  so  die  Verschiedenheit  der  Menschenrassen 
als  ein  Werk  der  schöpferisch  erregten  Natur,  nicht  als  ein 
Werk  unserer  menschlichen  Geschichte,  und  erkennen  in  ihnen 
natürliche  Varietäten  der  Menschheit.  Dagegen  die 
Völker,  in  welche  die  Rassen  sich  theilen,  oder  welche  aus 
der  Mischung  verschiedener  Rassen  entstanden  sind,  sind  offen- 
bar das  Erzeugnisz  unserer  Geschichte.  Die  Völker  sind 
historische  Glieder  der  Menschheit  und  ihrer  Rassen. 
Zwar  kennen  wir  auch  Ur Völker,  d.  h.  die  uns  schon  in  den 
ersten  Zeiten  begegnen,  über  welche  uns  historische  Kunde  zu- 
gekommen ist,  oder  deren  Ursprung  sich  in  ein  dunkles  Alter- 
thum  verliert.  Aber  wir  kennen  eine  sehr  grosze  Zahl  Völker, 
deren  Entstehung  in  den  Bereich  unserer  historischen  Kennt- 
nisz  fällt  und  haben  Gründe  genug  für  die  Annahme,  dasz 
auch  jene  Urvölker  in  ähnlicher  Weise  entstanden  seien.  Die 
Geschichte   durch   ihre  Trennungen  und  Vermischungen,    wie 

B  1  u  u  t  s  c  h  1  i ,  allgemeines  Statsrecht.     I.  Q 


82  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

durch  ihre  Wandlungen  und  Entwicklungen  hat  im  Laufe  der 
Zeit  die  Völker  gesondert  und  neue  Völker  hervorgebracht, 
Die  Eigenthümlichkeit  der  Völker  zeigt  sich  daher  weniger 
noch  in  ihrer  physischen  Erscheinung  als  in  ihrem  Geist  und 
in  ihrem  Charakter  d.  h.  in  der  Sprache  und  im  Eecht. 

Anmerkungen.  1.  Prichard  hat  in  seinem  "Werke:  Natur- 
geschichte des  Menschengeschlechtes  (in  deutscher  Uebersetzuug  von 
E.Wagner,  Leipzig  1840,  4  Thle.)  vorzüglich  die  physiologischen  und 
sprachlichen  Unterschiede  und  Verwandtschaften  der  wesentlichen  Rassen 
behandelt;  A.  de  Gobineau  dagegen  in  seinem  Essai  sur  l'inegalite 
des  races  humaines,  Paris  1852 — 55,  mehr  die  politischen  Gegensätze 
darzustellen  gesucht.  So  anregend  und  interessant  diese  Untersuchungen 
sind,  so  ist  in  beiderlei  Hinsicht  noch  sehr  viel  zu  thun,  um  sichere 
wissenschaftliche  Resultate  zu  erreichen.  Das  neueste  und  vielseitige 
Werk  ist  von  Tb.  Waitz,  Anthropologie  der  Naturvölker. 

2.  Man  hat  die  Bedeutung  der  Rasse  für  Recht  und  Stat  lange  in 
der  Wissenschaft  übersehen  und  miszachtet.  Das  Werk  von  Gobineau 
sucht  diesem  Mangel  abzuhelfen,  verirrt  sich  aber  nicht  selten  in  den 
entgegengesetzten  Fehler,  Alles  aus  der  Anlage  der  Rasse  erklären  zu 
wollen.  Er  faszt  die  Rasse  überdem  zu  sehr  als  Geburtsrasse  auf 
und  betont  die  Einwirkung  der  Abstammung  und  des  Geblüts  zu  aus- 
schlieszlich.  Es  gibt  aber  nicht  blosz  eine  angeborene  Rasse  — 
allerdings  die  ursprüngliche  und  natürliche  Bedeutung  der  Rasse  —  es 
gibt  auch  eine  anerzogene  Rasse,  die  wir  sowohl  in  den  Familien 
als  in  den  Völkern  deutlich  wahrnehmen,  und  die  obwohl  secundär  und 
in  höherm  Grade  von  menschlicher  Freiheit  bestimmt,  doch  einen  ge- 
waltigen Einflusz  auf  die  Rechtsbildung  übt.  Man  denke  nur  an  die 
römische  Kirche  in  dem  modernen  Europa,  um  sich  die  Macht  der  aner- 
zogenen Rasse  zu  vergegenwärtigen.  Von  der  Rasse  ist  das  Indi- 
viduum zu  unterscheiden,  und  die  individuelle  Einwirkung  nicht  minder 
zu  beachten.  Die  Weltgeschichte  ist  fast  mehr  noch  von  den  Individuen 
als  von  den  Rassen  bestimmt  worden.  Die  wichtigen  Aufschlüsse, 
welche  über  diese  Gegensätze  in  Fried r.  Rohmers  Lehre  von  den 
politischen  Parteien  (dargestellt  durch  Theodor  R  ohmer,  Zürich  1844) 
gegeben  werden,  sind  noch  nicht  so  beachtet  und  gewürdigt  worden, 
wie  das  Werk  es  verdient. 


Zweites  Capitel.     Die  Nation  und  das  Volk.  83 

Zweites  Capitel. 

IT.     Die  Nation  und  das  Yolk. 

Eine  willkürlich  zusammen  gerottete  oder  geworbene  Menge 
Menschen  bildet  noch  keine  Nation.  Auch  auf  dem  Wege  der 
Uebereinkunft  einer  Anzahl  Individuen  ist  so  wenig  je  ein 
Volk  entstanden,  als  ein  Stat. 

Die  Familienverbindung  ferner  für  sich  allein  er- 
zeugt weder  eine  Nation  noch  ein  Volk,  und  der  Satz  Schleier- 
machers: 1  „Wenn  eine  Masse  von  Familien  unter  sich  ver- 
bunden und  von  andern  ausgeschlossen  ist  durch  Connubium, 
so  stellt  sich  die  Volkseinheit  dar,"  wird  in  zwiefacher  Be- 
ziehung durch  die  Geschichte  widerlegt.  Die  römischen  Patri- 
cier  waren  unter  sich  durch  Connubium  verbunden,  die  Plebejer 
ebenso.  Aber  weder  jene  noch  diese  waren  für  sich  allein  das 
römische  Yolk;  und  beide  waren  in  älterer  Zeit  nicht  durch 
Connubium  mit  einander  verbunden,  und  doch  bestand  das 
römische  Volk  aus  ihrer  Vereinigung.  Die  germanischen  Völker 
waren  aus  Ständen  verbunden,  von  welchen  jeder  nur  in  seinem 
Innern  unter  seines  Gleichen  die  Ehegenossenschaft  zuliesz. 
In  neuerer  Zeit  endlich  besteht  überall  Ehegenossenschaft  und 
Familienverbindung  auch  unter  verschiedenen  Nationen,  ohne 
dasz  daraus  eine  neue  Nation  entsteht. 

Die  Entstehung  einer  Nation  setzt  eine  neue  Spaltung 
innerhalb  der  bisherigen  Kassen  oder  einer  alten  gröszeren 
Nation  voraus  und  eine  Abzweigung  des  Theiles,  der  für  sich 
eine  eigentümliche  Bedeutung  gewinnt  oder  durch  Mischung 
mit  andern  Bestandtheilen  von  andern  Kassen  oder  Nationen 
eine  neue  Gestalt  annimmt.  Auf  die  Bildung  einer  Nation  hat 
aber  der  Geist  den  mächtigsten  Einflusz.  Im  alten  Orient  und 
theilweise  wieder  im  Mittelalter  war  es  zuweilen  der  Geist  der 
Religion,  der  die  Glaubensgenossen  zu  einer  neuen  Nation 

1  Ethik.  §.  2G7. 

6* 


g4  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

verband  und  von  den  Andersgläubigen  trennte.  Stärker  aber 
noch  und  durchgreifender  trennt  und  verbindet  die  Nationen 
der  Geist  der  Sprache.  Die  Sprachgemeinschaft  ist  das 
sicherste  Zeichen  der  nationalen  Gemeinschaft.  Sie  bedeutet 
Einheit  der  Geistescultur.  Erst  in  zweiter  Linie  schlieszt  sich 
die  Gemeinschaft  der  Sitte  und  des  Kechts  an.  Aber  nur  all- 
mählich wächst  die  Nation  zu  einer  solchen  Einheit  zusammen, 
welche  sich  über  die  Individuen  und  über  die  Familien  erhebt 
und  Alle  verbindet.  Dann  tritt  auch  die  besondere  Art  sicht- 
bar hervor  in  der  Physionomie  der  Nation,  in  der  Haltung, 
Kleidung,  Wohnung  derselben,  in  hundert  kleinen  Zügen,  die 
leicht  zu  erkennen,  schwer  zu  beschreiben  sind.  Erst  wenn 
die  Nation  ihre  Eigenart  schon  durch  mehrere  Generationen 
hindurch  fortgepflanzt  hat,  zeigt  sich  so  die  nationale  Kasse 
mit  ihren  Vorzügen  und  ihren  Schwächen ,  im  Geist  und 
Charakter  wie  in  den  Körpereigenschaften. 

Die  Nation  ist  ein  Cultur begriff.  Das  Volk  aber  ist 
ein  statsrechtlicher  Begriff.  Erst  im  State  und  durch 
den  Stat  wird  die  Nation  zum  Volk.  Die  S tat s gern e in- 
Schaft  bildet  die  Volkseinheit. 

Auch  das  Volk  im  eigentlichen  Sinne  —  die  Ausdrücke 
Nation  und  Volk  werden  nicht  immer  auseinander  gehalten  — 
bedarf,  damit  es  zu  einer  wahren  Einheit  wird,  eines  dauernden 
Zusammenseins  und  Zusammenlebens.  Dann  bildet  sich  ein 
bestimmter  Volksgeist  aus  und  ein  bestimmter  Volks- 
charakter, die  verschieden  sind  von  dem  individuellen 
Geist  und  Charakter  und  fortgepflanzt  werden  in  der  Masse 
der  Volksgenossen.  Es  gibt  daher  auch  eine  Volksrasse, 
wie  es  eine  nationale  Kasse  gibt  und  beide  treffen  nicht  immer 
zusammen. 

Die  Nation  kann  nur  im  natürlichen,  nicht  im  juristischen 
Sinne  eine  Person  genannt  werden,  weil  sie  in  der  Sprache 
die  Einheit  ihres  Geistes  äuszert.  Aber  ihre  Gemeinschaft  ist 
nicht  zu  einem  Kechtswesen  abgeschlossen.    Sie  ist  keine  stats- 


Zweites  Capitel.     Die  Nation  und  das  Volk.  85 

rechtliche  Person.  Das  Volk  dagegen,  welches  im  State  einen 
Gesammtkörper  gefunden  hat,  ist  zugleich  eine  Kechtsperson 
geworden. 

Auch  die  Völker  sind  organische  Wesen;  und  desz- 
halb  stehen  sie  unter  den  Naturgesetzen  alles  organischen 
Lebens.  In  der  Entwicklungsgeschichte  der  Völker  lassen  sich 
dieselben  Altersperioden  unterscheiden,  wie  in  dem  Leben  der 
Individuen.  Die  natürlichen  Kräfte  und  Anlagen  eines  Volkes, 
seine  Vorstellungen ,  seine  Bedürfnisse  sind  anders  in  der  Zeit 
seiner  Kindheit,  und  anders  in  der  Zeit  seines  Alters.  Wie 
für  den  einzelnen  Menschen ,  so  ist  auch  für  das  Volk  die 
mittlere  Periode  seines  Lebens  regelmäszig  die  Zeit  der  höch- 
sten Entwicklung  seines  Geistes  und  seiner  Macht.  Nur  sind 
diese  Perioden  bei  den  Völkern  nach  Jahrhunderten  zu  be- 
messen, während  sie  bei  den  Individuen  nach  Jahrzehnten  sich 
unterscheiden.  Unsterblichkeit  aber  scheint  auch  den  Völkern 
nicht  verliehen  zu  sein. 

Anmerkungen.  1.  Es  ist  ein  Verdienst  Savigny's,  die  Bedeu- 
tung des  Volkes  als  eines  organischen  Wesens  und  den  Einflusz  seiner 
Lebensalter  auf  die  Rechtsbildung  in  Deutschland  wieder  nachdrucksam 
hervorgehoben  zu  haben. 

2.  Ich  habe  früher,  dem  französischen  Sprach  gebrauche  folgend, 
das  Naturvolk  „Volk"  (peuple)  und  das  Statsvolk  „Nation"  genannt. 
Die  Etymologie  begründet  aber  den  umgekehrten  Sprachgebrauch,  indem 
natio  von  nasci  auf  die  Geburt  und  die  Rasse,  Volk  (populus,  nohig)  auf 
die  Stadt  und  den  Stat  hindeutet,  und  das  deutsche  Sprachgefühl  folgt 
dieser  Deutung.  Demgemäsz  waren  die  Deutschen  im  Mittelalter  zu- 
gleich eine  Nation  und  ein  Volk,  in  den  letzten  Jahrhunderten  nur  eine 
Nation,  kein  Volk  mehr,  und  sind  heute  wieder  auf  gutem  Wege  auch 
ein  Volk  zu  werden.  Die  Schweizer,  obwohl  aus  verschiedenen  Nationa- 
litäten zusammengesetzt,  sind  ein  Volk. 


g(3  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

Drittes  Capitel. 

Nationale  Rechte. 

Es  ist  ein  Fortschritt  der  Civilisation,  dasz  wir  anfangen, 
von  nationalen  Kechten  zu  sprechen  und  Achtung  für  dieselben 
zu  fordern.  Da  die  Nationen  Theile  der  Menschheit  und  das 
Product  eines  groszen  welthistorischen  Entwicklungsprocesses 
sind  ,  so  sollen  sie  auch  in  ihrem  Bestände  beachtet  und  ge- 
schützt werden.  Das  erste  und  natürlichste  Grundrecht  ist 
allezeit  die  menschliche  Existenz.  Welche  menschliche  Existenz 
aber  hätte  ein  besseres  Recht  von  Natur  als  die  des  nationalen 
Gemeingeistes?  Sie  ist  ja  zugleich  die  Unterlage  auch  der 
individuellen  Existenz  und  eine  Grundbedingung  der  Entwick- 
lung der  Menschheit. 

Aber  nur  allmählich  wird  es  gelingen,  dieses  zunächst 
blosz  sittliche  Gebot  in  die  entsprechende  Eechtsformel  zu 
fassen.  Die  Hauptbedeutung  des  Nationalitätsprincips 
liegt  vorerst  noch  in  der  Politik,  nicht  im  Statsrecht. 

Als  nationale  Rechtsgrundsätze  aber  lassen  sich  folgende 
anführen,  die  daher  von  den  Genossen  derselben  Nation  geltend 
gemacht  werden  dürfen: 

1.   Das  Recht  auf  die  nationale  Sprache. 

Die  Sprache  ist  das  eigenste  Gut  jeder  Nation,  in  der 
Sprache  vorzüglich  gibt  sich  die  Eigenart  derselben  kund,  sie 
ist  das  stärkste  Band,  welches  die  Genossen  der  Nation  zu 
einer  Culturgemeinschaft  verbindet. 

Daher  darf  der  Stat  nicht  der  Nation  ihre  Sprache  ver- 
bieten ,  noch  die  Ausbildung  derselben  und  ihre  Litteratur 
untersagen.  Es  ist  im  Gegentheil  Statspliicht,  die  Cultur  der 
Sprache  frei  gewähren  zu  lassen  und  so  weit  die  allgemeinen 
Bildungsinteressen  nicht  dadurch  verletzt  werden,  wohlwollend 
zu   fördern. l     Die  Unterdrückung  der  einheimischen  Sprachen 

1  Oesterreich.   Statsverfassung  v.  1849,  §.  5:   „Alle  Volksstämme 


Drittes  Capitel.     Nationale  Rechte.'  87 

der  Provinzialen  durch  die  Eömer  war  ein  furchtbarer  Misz- 
brauch  der  Statsgewalt,  und  das  Verbot  der  wendischen  Volks- 
sprache in  dem  Gebiete  des  deutschen  Ordens  unter  Androh- 
ung der  Todesstrafe  war  eine  widerrechtliche  Barbarei. 

Aus  diesem  Princip  folgt  aber  nicht,  dasz  es  in  den  Stats- 
angelegenheiten  nicht  eine  bevorzugte  Statssprache  geben 
dürfe  mit  Ausschlusz  aller  übrigen  Volkssprachen.  So  weit 
es  sich  nicht  um  das  blosze  Nationalleben,  sondern  um  das 
Statsleben  handelt,  da  kann  das  Interesse  des  gesammten  Stats- 
volkes  die  Einheit  der  Sprache  erfordern.  So  wird  im  eng- 
lischen Parlamente  mit  Eecht  nur  englisch,  nicht  auch  irisch 
noch  gälisch  gesprochen,  in  den  französischen  Centralbehörden 
nur  französisch,  nicht  auch  deutsch  noch  keltisch.  Sorgfältiger 
aber  achtet  die  Schweiz  die  verschiedenen  Nationalitäten ,  aus 
denen  sie  zusammengesetzt  ist,  indem  sie  die  deutsche  mit 
der  französischen  Statssprache  verbindet,  und  nach  Bedürfnisz 
auch  die  italienische  respectirt. 

Ebenso  wenig  ist  der  Stat  gehindert,  dafür  zu  sorgen, 
dasz  in  den  Schulen  die  höhere  Cultursprache  gepflegt  und  die 
Kinder  einer  noch  ungebildeten  Nation  an  der  Errungenschaft 
und  Erbschaft  einer  veredelten  Litteratur  einen  Antheil  erhal- 
ten. Dagegen  wird  es  von  einer  civilisirten  Nation  als  ein 
bitteres  Unrecht  empfunden,  wenn  ihre  Sprache  aus  der  Schule 
und  der  Kirche  zu  Gunsten  einer  fremden  Sprache  verdrängt  wird. 

2.  Die  Nation  hat  ferner  ein  Eecht,  ihre  nationale 
Sitte  zu  üben,  so  weit  dieselbe  nicht  dem  höhern  mensch- 
lichen Sittengesetze  widerstreitet,  oder  die  Eechte  des  States 
verletzt.  Die  herrschenden  Engländer  sind  berechtigt,  nicht 
länger  zu  dulden,  dasz  die  indischen  Frauen  zur  Todtenfeier 
ihrer  Männer  sich  ebenfalls  dem  Tode  opfern:  die  Untersagung 
aber  unschädlicher  Volksspiele  ist  eine  nicht  zu  rechtfertigende 
Anmaszung  des  States.  \ 

sind  gleichberechtigt  (?)  und  jeder  Yolksstamm  hat   ein   unverletzliches 
Recht  auf  Wahrung  und  Pflege  seiner  Nationalität  und  Sprache." 


gg  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

3.  Auf  dem  Gebiete  der  eigentlichen  Bechtsinsti- 
tutionen  ist  die  Berechtigung  der  bloszen  Nation  auf  stat- 
liche  Anerkennung  und  Schutz  geringer,  weil  hier  theils  die 
Einheit  und  Harmonie  des  States,  theils  die  Interessen  des 
statlichen  Culturvolkes  einen  naturgemäszen  höhern  Einflusz 
äuszern.  Eine  die  Gesammtbevölkerung  umfassende,  und  die 
einzelnen  Volksrechte  umbildende  oder  aufhebende  Gesetzgebung 
ist  ein  Bedürfnisz  d§s  entwickelten  States.  Man  darf  es  den 
Kömern  nicht  verargen,  dasz  sie  das  römische  Becht  überall 
in  ihrem  Beiche  einzuführen  suchten.  Bücksichtsloses  Unmasz 
aber  verdient  Tadel.  Einen  der  ärgsten  Misz griffe  der  Art 
hat  das  englische  Parlament  begangen,  als  es  1773  in  Bengalen 
die  Formen  des  englischen  Gerichtsverfahrens  und  des  eng- 
lischen Bechts  den  dafür  unreifen  Indiern  aufnöthigen  wollte. 
In  den  deutschen  Staten  aber  verfuhr  man  gleichzeitig  in  der 
Aufrechthaltung  eines  wahren  Wustes  von  hergebrachten  Statu- 
tarrechten  für  kleine  Yolksparcellen  überängstlich,  und  in  der 
Einführung  eines  fremden  gemeinen  Bechtes  für  die  Nation 
über  die  Maszen  kühn  und  eingreifend. 

Mit  Bezug  auf  die  Fortbildung  des  Bechts  gewinnt  daher 
das  Volk  die  Oberhand  über  die  Nation  und  vor  der  Einheit 
des  Gesetzes  und  der  Bechtspflege  müssen  sich  die  nationalen 
Verschiedenheiten  beugen,  die  Bechtsgleichheit  der  Statsbürger 
erhält  den  Vorzug  vor  der  Mannigfaltigkeit  der  nationalen 
Uebungen.  Es  ist  den  Kömern  doch  sehr  viel  leichter  gewor- 
den, die  unterthänigen  Nationen  im  Becht  zu  romanisiren  als 
in  der  Sprache  zu  latinisiren,  und  wir  nehmen  keinen  Anstosz 
daran,  dasz  die  Franzosen  ihren  Code  Napoleon  auch  auf  das 
deutsche  Elsasz  und  auf  die  alt-gallische  Bretagne  anwenden. 
Wir  tadeln  es  nicht,  wenn  die  englische  Gesetzgebung  auch 
das  Becht  der  Iren  und  der  Walliser  gleichmäszig  ordnet. 
Aber  wir  erinnern  uns  doch  auch,  dasz  der  Versuch  der  Römer, 
die  noch  rohen  Germanen  der  römischen  Rechtspflege  zu  unter- 
werfen,  den   groszen    germanischen  Freiheitskampf  entzündet 


Drittes  Capitel.     Nationale  Rechte.  89 

hat  und  es  während  Jahrhunderten  ein  Princip  der  germani- 
schen Rechtsüberzeugung  war ,  man  müsse  jede  Nation  bei 
ihrem  Rechte  lassen  und  jeden  nach  seinem  angebornen  (d.  h. 
nationalen)  Rechte  schützen.  Die  altrömische  Maxime  einseitig 
durchgeführt,  hätte  alle  nationale  Freiheit  mit  dem  nationalen 
Recht  zerstört,  die  alt-germanische  Weise  zähe  bewahrt,  hätte 
alle  höhere  Stats-  und  Rechtscultur  unmöglich  gemacht.  Es 
war  ein  Glück  für  die  Freiheit  der  Nationen  und  für  die  fort- 
schreitende Civilisation ,  dasz  Römer  und  Germanen  feindlich 
aufeinander  trafen  und  keines  der  beiden  Principien  zu  alleiniger 
Herrschaft  gelangte. 

4.  Wird  eine  Nation  in  ihrer  sittlichen  und  geistigen 
Existenz  von  der  Statsgewalt  angegriffen,  so  sind  ihre  Ge- 
nossen zum  zähesten  Widerstand  dagegen  veranlaszt. 
Es  gibt  keine  gerechtere  Ursache  zur  Auflehnung  wider  die 
Tyrannei,  als  die  Verteidigung  der  Nationalität. 2  Die  Le- 
galität kann  dabei  Schaden  leiden,  das  Recht  wird  nicht  verletzt. 

5.  Zwischen  der  Nation  und  dem  Volk  besteht  eine  natür- 
liche Wechselwirkung.  Politisch  begabte  Nationen  können  zu 
voller  Entfaltung  ihrer  Natur  gelangen,  wenn  sie  Völker 
werden,  und  Völker,  die  aus  mancherlei  nationalen  Elementen 
gemischt  sind,  haben  hinwieder  das  Streben,  zu  besondern 
Nationen  zu  werden.  Die  Politik  beachtet  diese  Wand- 
lungen und  sucht  sie  zu  fördern  oder  zu  hindern.  Aber  auch 
die  tiefsten  Rechtsfragen  werden  hier  angeregt. 

Versuchen  wir's,  einige  Rechtssätze  auszusprechen: 
a)  Nicht  jede  Nation  ist  berechtigt,   sich  als  Volk  zu 
constituiren.    Sie  ist  es  nicht,  wenn  sie  nicht  die  geistige  und 

2  Niebuhr  (Preussens  Recht  gegen  den  Sächsischen  Hof):  „Die  Ge- 
meinschaft der  Nationalität  ist  höher  als  die  Statsverhältnisse,  welche 
die  verschiedenen  Yölker  eines  Stammes  vereinigen  oder  trennen.  Durch 
Grammatik,  Sprache,  Sitten,  Tradition  und  Literatur  entsteht  eine  Ver- 
brüderung zwischen  ihnen,  die  sie  von  fremden  Stämmen  scheidet,  und 
die  Absonderung,  die  sich  mit  dem  Auslande  gegen  den  eignen  Stamm 
verbindet,  zur  Ruchlosigkeit  macht." 


90  Zweites  Buch,     Volk  und  Land. 

sittliche  Fähigkeit  hat,  sich  selbst  zu  regieren.  Nicht  alle 
Nationen  sind  von  Natur  Statsvölker.  Den  einen  fehlt  es  an 
einer  ihnen  eigenthümlichen  Statsidee,  den  andern  an  der  Kraft, 
dieselbe  selbständig  zu  verwirklichen.  Ohne  Fähigkeit  aber 
kein  Eecht.  Solche  Nationen  sind  daher  von  Gott  und  der 
Geschichte  darauf  angewiesen,  sich  der  Leitung  oder  Erziehung- 
begabterer  und  kräftigerer  Völker  unterzuordnen. 

b)  Jede  Nation,  welche  eine  eigenthümliche  Stats- 
idee  und  zugleich  die  Kraft  und  das  Bedürfnisz  hat, 
dieselbe  zu  verwirklichen,  ist  berechtigt,  einen  nationalen  Stat 
zu  bilden;  aber  sie  ist  bei  diesem  Streben  verpflichtet,  die 
historische  Rechtsordnung  insoweit  zu  respectiren,  als  dieselbe 
nicht  ihre  naturgemäsze  Entwicklung  widerrechtlich   hindert. 

c)  Die  Herstellung  eines  nationalen  States  erfordert  keines- 
wegs die  Vereinigung  aller  nationalen  Bestandtheile  zu  Einem 
Statsganzen,  sondern  nur  ein  so  starkes  Zusammenwirken  natio- 
naler Elemente ,  clasz  das  der  Nation  eigene  Statenbild  zu 
sicherer  und  ausreichender  Erscheinung  gelangt. 

d)  Eine  Nation,  die  Volk  geworden  oder  im  Begriff  ist, 
Volk  zu  werden ,  ist  wohl  berechtigt ,  die  zerstreuten  Glieder, 
deren  sie  zu  ihrem  Körper  bedarf,  an  sich  zu  ziehen,  aber 
nicht  berechtigt,  solche  nationale  Bestandtheile,  die  in  einem 
andern  Statsverbancle  ihre  Befriedigung  finden,  gegen  ihren  Wil- 
len aus  demselben  loszureiszen,  wenn  sie  ihrer  entbehren  kann. 

e)  Die  höchste  Statenbildung  beschränkt  sich  nicht  auf  eine 
einzelne  Nationalität,  sondern  verbindet  verschiedene  nationale 
Elemente  zu  einer  gemeinsamen  menschlichen  Ordnung. 

f)  Wenn  ein  Stat  aus  verschiedenen  Nationalitäten  besteht, 
die  zusammen  Ein  Volk  bilden,  so  dürfen  die  politischen  Rechte 
nicht  nach  Nationalitäten  vertheilt  werden,  sondern  es  ist  die 
politische  Gemeinschaft  und  Gleichberechtigung  ohne  Unter- 
schied der  Nationalitäten  zu  bewahren.  3 

3  Eötvös,  Die  Nationalitätsfrage.     Wien  1865. 


Viertes  Capitel     Volkstümlichkeit  der  Verfassung.  91 

Ueber  jene  Fähigkeit  und  Würdigkeit  entscheidet  freilich 
bei  dem  unvollkommenen  Zustande  des  Völkerrechts  kein  mensch- 
liches, sondern  nur  das  Gottesgericht,  welches  in  der  Welt- 
geschichte sich  offenbart.  Nur  in  groszen  Kämpfen  durch  seine 
Leiden  und  seine  Thaten  bewährt  das  Volk  gewöhnlich  seine 
Berechtigung. 


Viertes  Capitel. 

Volkstümlichkeit  der  Verfassung. 

Höher  berechtigt  im  State  als  das  blosze  Naturvolk  (die 
Nation)  ist  das  Statsvolk.  Es  ist  die  lebendige  Gesammt- 
individualität,  welche  in  dem  Statskörper  wohnt. 

Es  ist  keineswegs  nothwendig,  dasz  das  Statsvolk  nur  aus 
Einem  Naturvolke  bestehe:  und  sogar  zuträglich,  dasz  es 
verschiedene  nationale  Bestandtheile  in  sich  habe. 
Diese  Vereinigung  zweier  oder  mehrerer  Nationalitäten  in  Einem 
Volke  kann  dazu  dienen,  dasz  die  Mängel  derselben  ergänzt 
und  die  Vorzüge  derselben  gesteigert  werden.  Zugleich  dient 
diese  Mischung  dazu,  das  Bewusztsein  wach  zu  erhalten,  dasz 
die  Bestimmung  des  States  nicht  eine  blosz  volksmäszige,  son- 
dern eine  menschliche  sei. 

Dagegen  ist  es  der  Einheit  des  States  allerdings  sehr 
förderlich,  wenn  das  Statsvolk  wesentlich  auf  eine  bestimmte 
Hauptnation  sich  stützen  kann  und  die  übrigen  Volks- 
elemente nur  in  einem  numerisch  untergeordneten  Ver- 
hältnisse zu  demselben  stehen,  wie  die  Deutschen  in  Frankreich 
und  Kuszland,  die  slavischen  Stämme  in  Preuszen,  die  Juden 
in  Deutschland,  die  Franzosen  in  Nordamerika.  Viel  schwieriger 
ist  die  Einheit  des  Statsvolkes  zu  begründen  und  zu  bewahren, 
wenn  dieselbe  aus  mehreren  Nationen  besteht,  welche  an  Macht 
und  Bedeutung  mit  einander  wetteifern.   Diese  Schwierig- 


92  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

keit  hatte  England  zu  überwinden,  indem  es  erst  die  Sachsen 
und  die  Normannen,  dann  die  Engländer  und  Schotten,  zuletzt 
diese  zusammen  und  die  Iren  einigte,  und  ihr  zu  erliegen  ist 
für  0 esterreich  eine  noch  nicht  überwundene  Gefahr. 

Soll  der  Stat  als  Leib  des  Volks  seine  Bestimmung  er- 
füllen, so  ist  es  klar,  dasz  seine  Einrichtungen  und  Gesetze 
auf  die  Eigenschaften  und  die  Bedürfnisse  desselben  Eücksicht 
nehmen,  mit  einem  Worte,  dasz  der  Stat  volksthümlich 
sein  musz.  Eine  Statsverfassung ,  welche  zu  dem  Charakter 
des  Volks  nicht  paszt,  seine  Eigenthümlichkeit  nicht  beachtet, 
seinem  Geiste  und  seiner  Sinnesweise  nicht  gemäsz  ist,  ist  ein 
unnatürlicher  und  ein  untauglicher  Körper.  Wird 
dieselbe  durch  fremde  Gewalt  einer  Nation  aufgedrungen,  oder 
wie  wir  das  auch  schon  in  Zeiten  groszer  politischen  Fieber 
gesehen  haben,  von  dem  miszleiteten  und  kranken  Volke  selbst 
gewählt,  so  stürzt  sie  immer  wieder  zusammen,  sobald  jene 
Gewalt  nachläszt,  oder  das  Volk  seine  Besonnenheit  wieder 
findet.  In  beiden  Fällen  ist  aber  das  Gebrechen  in  dem  stat- 
lichen  Organismus  so  grosz,  dasz  dasselbe  auch  den  Untergang 
des  Volkes  zur  Folge  haben  kann  und  jedenfalls  seine  volle 
Gesundheit  auf  lange  Zeit  hin  verhindert. 

Jede  grosze  Nation,  die  geeignet  ist  zum  Statsvolk  zu 
werden,  hat  auch  eine  eigenthümliche  politische  Lebensansicht, 
und  eine  besondere  statliche  Mission.  Das  Volk  erfüllt 
diese  Bestimmung,  indem  es  dem  State  dasGepräge  seines 
Wesens  verleiht.  Das  ist  das  natürliche  ^Recht  des  Volkes 
auf  eine  volksthümliche  Verfassung.  Die  Verschieden- 
heit der  Völker  entspricht  so  der  Verschiedenheit  der  Nationen, 
und  die  Mannichfaltigkeit  der  statlichen  Formen  beurkundet 
die  Mannichfaltigkeit,  welche  Gott  in  die  Natur  der  Nationen 
gelegt  hat. 

Die  Eigenthümlichkeit  des  Volkes  spiegelt  sich  aber  nicht 
etwa  ein  für  allemal  in  dem  State  ab.  Das  Volk  durchlebt 
verschiedene  Phasen   seiner  Entwicklung,  und  es  ändern  sich, 


Viertes  Capitel.     Volks thümlichkeit  der  Verfassung.  93 

obwohl  es  wesentlich  dasselbe  bleibt,  doch  seine  Bedürfnisse 
und  seine  Ansichten,  je  nach  der  Lebensperiode,  in  welcher  es 
gerade  steht.  Der  nationale  und  volksthümliche  Stat  begleitet 
das  Volk  auch  in  dieser  Entwicklung,  und  macht  auch  in 
seinem  Organismus  ähnliche  Wandlungen  und  Umge- 
staltungen durch,  ohne  deszhalb  völlig  ein  anderer 
zu  werden.  Wie  sehr  verschieden  war  die  äuszere  Erschein- 
ung des  römischen  States  in  den  verschiedenen  Perioden  seiner 
Geschichte,  und  dennoch  wie  klar  stellt  sich  fortwährend  der 
national-römische  Charakter  derselben  dar.  Die  königliche,  die 
republikanische,  die  kaiserliche  Statsform  entsprechen  den  ver- 
schiedenen Lebensaltern  des  römischen  Volks ,  in  allen  aber 
wird  das  specifisch-römische  Gepräge  sichtbar.  Die  englische 
Monarchie  unter  den  Tudors  unterscheidet  sich  von  der  eng- 
lischen Monarchie  unter  dem  Hause  Hannover,  wie  sich  die 
Entwicklungsstufen  des  englischen  Volkes  im  XVI.  und  XVIII. 
Jahrhundert  unterscheiden.  Das  ist  das  natürliche  Kecht  des 
Volkes  auf  zeitgemäsze  Umbildung  seiner  Verfassung. 

Fassen  wir  das  Gesagte  in  Einem  Satze  zusammen:  Die 
naturgemäsze  Statsform  entspricht  jeder  Zeit  der 
Eigenthümlichkeit  und  der  Entwicklungsperiode 
des  Volkes,  welches  in  dem  State  lebt. 

Anmerkungen.  1.  Cato  bei  Cicero  de  Republ.  11.21.  „Nee  tem- 
poris  unius  nee  hominis  est  constitutio  reipublicae." 

2.  Friedrich  der  Grosze  von  Preuszen  (im  Antimacchiav.  12.) : 
„Die  Charaktere  der  Individuen  sind  verschieden,  und  die  Natur  hat 
dieselbe  Verschiedenheit  in  den  Charakteren  (dans  les  temperaments) 
der  Staten  hervorgebracht.  Ich  verstehe  unter  Charakter  eines  States 
seine  Lage,  seine  Ausdehnung,  die  Zahl  und  den  eigenthümlichen  Geist 
seiner  Völker,  seinen  Handel,  seine  Gewohnheiten,  seine  Gesetze,  seine 
Stärke,  seine  Mängel,  seine  Reichthümer ,  seine  Hülfs quellen." 

3.  De  Maistre  (1796):  „Eine  Verfassung,  welche  für  alle  Nationen 
gemacht  ist,  taugt  für  gar  keine;  sie  ist  eine  leere  Abstraction,  ein 
"Werk  der  Schule,  nur  geeignet,  den  Geist  an  idealen  Voraussetzungen 
zu  üben,  und  für  den  reinen  Menschen  in  den  eingebildeten  Bäumen 
bestimmt,  wo  er  allein  zu  finden  ist"  (qu'il  faut  adresser  ä  l'homme 
dans  les  espaces  imaginaires  oü  il  habite). 


94  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

4.  Napoleon  an  die  Schweizer  (1803):  „Eine Regierungsform,  die 
nicht  das  Resultat  einer  langen  Reihe  Ton  Begebenheiten,  Unglücks- 
fällen, Anstrengungen  und  Unternehmungen  eines  Yolkes  ist,  kann  nie- 
mals Wurzel  fassen." 

5.  Sismondi,  Studien  über  die  Verfassung  freier  Völker:  „Die 
Verfassung  nicht  minder  als  die  Gesetze  beruhen  auf  den  Gewohnheiten 
einer  Nation,  ihren  Neigungen,  Erinnerungen,  auf  den  Bedürfnissen  ihrer 
Vorstellungsweise.  Es  ist  ein  unverkennbares  Zeichen  eines  äuszerst 
oberflächlichen  und  zugleich  falschen  Geistes,  wenn  er  versucht  wird, 
eine  neue  Verfassung  einem  Volke  nicht  nach  seinem  eigentümlichen 
Geiste  und  seiner  eigenen  Geschichte,  sondern  nach  einigen  allgemeinen 
Sätzen  zu  geben,  welche  man  mit  dem  Namen  von  Principien  fälschlich 
ehrt.  Die  letzten  fünfzig  Jahre,  welche  so  viele  anspruchsvolle  Ver- 
fassungen haben  entstehen  sehen,  und  in  welchen  so  viele  Verfassungen 
blosz  entlehnt  worden,  können  auch  dafür  Zeugnisz  geben,  dasz  von  all 
diesen  auch  nicht  eine  den  Erwartungen  ihres  Urhebers  oder  den  Hoff- 
nungen derer,  welche  sie  angenommen,  entsprochen  habe." 

6.  L.  Ranke  (Zeitschr.  I.  91.)'  „Unsre  Lehre  ist,  dasz  ein  jedes 
Volk  seine  eigene  Politik  habe.  "Was  will  sie  doch  sagen,  die  National- 
unabhängigkeit, von  der  alle  Gemüther  durchdrungen  sind?  Kann  sie 
allein  bedeuten,  dasz  kein  fremder  Intendant  in  unsern  Städten  sitze, 
und  keine  fremde  Truppe  unser  Land  durchziehe?  Heiszt  es  nicht  viel- 
mehr, dasz  wir  unsere  geistigen  Eigenschaften,  ohne  von  Anderen  ab- 
zuhängen, zu  dem  Grade  von  Vollkommenheit  bringen,  deren  sie  in  sich 
selber  fähig  sind?" 


Fünftes  Capitel. 

III.    Die  Stämme. 

Wie  die  Eassen  der  Menschheit  in  verschiedene  Nationen 
zerfallen,  so  theilen  sich  die  Nationen  in  Stämme.  Die  Ver- 
wandtschaft der  Nationen  wird  zwar  dem  schärferen  Forscher 
auch  in  der  Sprache,  in  den  Sitten,  im  Eechte  sichtbar.  Aber 
die  Nationen  selbst,  die  zu  derselben  Menschenrasse  gehören, 
verstehen  sich  nicht  mehr,  sie  sind  einander  fremd  geworden. 
Dagegen  die  verschiedenen  Stämme  Einer  Nation  fühlen 
sich  durch  die  gemeinsame  Sprache  und  Sitte  zu  einer  Wesens- 
gemeinschaft verbunden.   Dem  Bewusztsein  der  gleichen  Na- 


Fünftes  Capitel.     Die  Stämme.  95 

tionalität  tritt  zwar  in  den  Stämmen  auch  die  Besonder- 
heit und  Verschiedenheit  der  Stämme  entgegen  und 
scheidet  wieder,  was  in  weiterem  Kreise  zusammen  gehört. 
Aber  die  nationale  Sprache ,  welcher  das  Ohr  aller  Stämme 
sich  öffnet,  hält  das  Gefühl  der  Volkseinheit  und  der  Ver- 
wandtschaft wach.  In  den  Dialekten  zeigt  sich  beides,  die 
Volkseinheit  und  die  Stammesverschiedenheit.  Sie  verhalten 
sich  zur  Sprache,  wie  die  partikulären  Stammesrechte  zum  ge- 
meinen Volksrecht. 

Die  Stämme  sind,  wie  die  Nationen  selbst,  ein  Erzeugnisz 
der  Geschichte,  welche  die  inneren  Gegensätze  auch  massen- 
haft zur  Entwicklung  und  Erscheinung  treibt.  Sie  sind  aber 
nur  Fractionen  der  Nationen,  d.  h.  sie  haben  keinen 
eigenen  selbständigen  National typus,  sondern  sind  nur  ein  eigen- 
thümlich  betonter  und  gefärbter  Ausdruck  des  gemeinsamen 
Nationalgeistes.  In  dieser  Weise  pflanzen  sie  sich  fort  und 
erhalten  sowohl  ihr  besonderes  Dasein  als  die  innern  Gegen- 
sätze ,  welche  auf  die  Natur  der  Nation  einwirken.  Der 
Mannichfaltigkeit  und  dem  Eeichthum  des  nationalen  Lebens 
ist  die  Besonderheit  der  Stämme  günstig,  der  Einheit  eines 
gröszeren  nationalen  Stateß  aber  ist  sie  oft  zum  Hindernisz  ge- 
worden. Rom  ist  durch  die  innern  Kämpfe  seiner  Parteien, 
welche  ursprünglich  sich  an  Stammesunterschiede  anlehnten, 
stark  und  mächtig  geworden;  die  Hellenen  haben  es  wegen 
der  schroffen  Gegensätze  der  Stämme  nie  zu  einem  festen  Ge- 
sammtstat  bringen  können.  Auch  in  der  neueren  Statenbild- 
ung  Europas  hat  der  Gegensatz  der  Stämme  stark  gewirkt. 
Der  mittelalterliche  Zug  zur  Besonderheit  fand  darin  eine  reich- 
liche Nahrung,  der  moderne  Zug  zur  Einheit  ein  starkes  Hemm- 
nisz.  Italien  und  Deutschland  haben  das  erfahren.  Freilich 
wurden  in  beiden  Ländern  die  alten  Stämme  früher  zerrissen, 
dort  vornehmlich  durch  die  selbständige  Ausbildung  der  Städte, 
hier  vorzüglich  durch  die  Sonderung  der  landesherrlichen  Ter- 
ritorien.   Aber  fortwährend  war  doch  ein  Stammesparticularis- 


96  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

mus  in  der  städtischen  Eigenart  wirksam  und  wenn  auch  seit 
der  Zerschlagung  der  älteren  Staimnesherzogthiimer  die  gröszern 
Territorien  aus  Bruchstücken  von  mehreren  Stämmen  gemischt 
wurden,  so  hatte  doch  die  Eifersucht  und  Feindschaft  der 
Stämme  einen  erheblichen  Antheil  an  dem  Verfall  des  deutschen 
Reichs  und  die  Gegner  der  deutschen  Einheit  klammern  heute 
noch  an  die  Stammesvorurtheile  an,  um  die  nationale  Entwick- 
lung zu  erschweren,  wenn  es  auch  nicht  mehr  angeht,  sie  zu 
verhindern. 

In  dem  Stamme  ist.  wie  die  Geschichte  lehrt,  auch  ein 
Ansatz  zu  einer  neuen  Volksbildung  zu  erkennen.  In- 
dem sich  der  Stamm  abschlieszt  und  trennt  von  dem  Volke, 
dem  er  von  Xatur  angehört,  kann  er  mit  der  Zeit  zu  einem 
neuen  Volke  werden,  leichter  aber  zu  einem  neuen  freilich 
meistens  kleinen  Statsvolke ,  seltener  zu  einer  neuen  Nation. 
Die  letztere  Bildung  gelingt  ihm  nur,  wenn  er  sieh  misch! 
und  in  Folge  der  Mischung  auch  die  Sprache  verändert,  wie 
es  dem  germanischen  Stamme  der  Longobarden  in  Italien  ge- 
schehen ist,  oder  wenn  er  mit  der  Zeit  seinen  Dialekt  zu  einer 
besondern  Sprache  ausbildet,  wie  die  Holländer  es  gethan  haben. 


Sechstes  Capitel. 

IV.    Weitere  Unterschiede.     Die  Kasten. 

Innerhalb  der  Nationen,  Völker  und  Stamme,  welche  alle 
räumlich  gesondert  erscheinen,  zeigen  sich  weitere,  aber  räum- 
lich verbundene  Unterschiede,  welche  wieder  eine  stand- 
rechtliche Bedeutung  haben;  verschiedene  feste  Schichten  in 
dem  Bau  der  Gesellschaft  oder  verschiedene  Richtungen  des 
Gesammtlebens  oder  verschiedene  Stufen  der  politischen  Be- 
deutung und  Bildung,  d.  h.  Kasten  oder  Stände  oder 
Classen. 


Sechsteg  Capitel.     Weitere  Unterschiede.     Die  Kasten.  97 

Die  Kastenordnung  hat  ihre  wichtigste  Anwendung 
in  Indien  gefunden,  ist  aber  auch  in  Aegypten  und  Persien 
von  Einflusz  geworden.  Sie  gehört  vorzugsweise  dem  alt- 
asiatisch-arischen Wesen  an.  In  Europa  ist  sie  niemals  hei- 
misch geworden.  Aber  in  Amerika  hat  sie  in  dem  Gegensatze 
der  weiszen  und  der  farbigen  Kassen  eine  neue  Anwendung 
gefunden.  Die  St  an  de  Ordnung  zeigt  sich  unter  sehr  vielen 
alten  und  neuen  Völkern,  ihre  reichste  Ausbildung  aber  hat 
sie  während  des  Mittelalters  in  Europa  unter  den  germanischen 
Völkern  erhalten.  Die  C 1  a  s  s  e  n  0  r  d  n  u  n  g  endlich  setzt  einen 
rational  eingerichteten  Stat  voraus,  wie  in  Asien  China,  und 
in  Europa  Athen  oder  Rom  und  manche  moderne  Staten. 

Die  Kasten  werden  betrachtet  als  ein  Werk  der  Natur, 
oder  als  eine  unveränderliche  Schöpfung  Gottes,  die  Stände 
erscheinen  als  ein  Erzeugnisz  der  Völkerge schichte  und 
des  Lebensberufs,  die  Classen  endlich  sind  eine  Institution 
des  Stats.  In  den  Kasten  offenbart  sich  die  Autorität  des 
Glaubens,  in  den  Ständen  die  Macht  des  socialen  Lebens, 
der  wirtschaftlichen  und  Culturverhältnisse,  in  den  Classen 
die  organisatorische  Stats politik.  Die  Kasten  sind  not- 
wendig erblich  und  unveränderlich,  den  festen,  über 
einander  gelagerten  Schichten  des  Gesteins  vergleichbar.  Die 
Stände  haben  ein  Wachsthum,  wie  die  Pflanzen,  und  eine  or- 
ganische Entwicklung,  wie  die  Nationen  und  die  Staten.  Das 
Erbrecht  wird  bei  ihnen  durch  die  freie  Wahl  des  Berufs 
geändert  oder  verdrängt.  Die  älteren  Stände  sind  noch  als 
Erbstände  den  Kasten  verwandt,  die  Stände  der  entwickelteren 
Civilisation  nähern  sich  als  freie  Berufsstände  den  Classen  an. 
Die  Classen  sind  je  nach  den  verschiedenen  Zwecken  des  Stats 
veränderlich  wie  künstlerische  Zeichnungen. 

Die  indische  Kastenordnung,  die  wir  als  Typus 
der  Kasteneinrichtung  überhaupt  betrachten  können,  wird  in 
dem  Gesetzbuche  Manu's  als  eine  Schöpfung  Brahma's  dar- 
gestellt.    Dieser  Glaube,  den  Plato  seinem  idealen  Stat  durch 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  7 


98  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

künstliche  Mittel  einzupflanzen  gewünscht  hat,  ist  bei  den  In- 
diern  zu  voller  Wirksamkeit  gelangt. 

Die  oberste  Kaste  der  Brahmanen,  in  welcher  das 
arische  Blut  am  reinsten,  obwohl  auch  da  nicht  völlig  unver- 
mischt  mit  andern  Bestandtheilen  erhalten  blieb,  ging  nach 
dem  indischen  Mythus  aus  dem  Munde  Gottes  hervor.  Sie 
sind  daher  auch  gleichsam  das  lebendige  Wort  Gottes,  der 
reinste  und  vollste  Ausdruck  des  göttlichen  Wesens.  Ihnen 
gebührt  die  Pflege  der  Wissenschaft  und  der  Eeligion.  Ihrer 
Kunde  und  Sorge  ist  vornehmlich  das  Kecht  anvertraut.  Der 
geringste  Brahmane  ist  als  solcher  höher  zu  achten  als  der 
König.  Sie  sind  vorzugsweise  von  göttlicher  Natur,  und  wenn 
ihnen  auch  nicht  untersagt  ist,  sich  mit  weltlichen  Aemtern 
zu  befassen  und  in  irdische  Geschäfte  sich  zu  mischen,  so 
erhöht  doch  die  Enthaltsamkeit  von  jedem  materiellen  Genusz 
ihre  Reinheit. 1  Wer  einen  Brahmanen  mit  einem  Grashalm 
schlägt,  verfällt  der  Yerdammnisz  der  Hölle. 

Die  zweite  Kaste,  die  Kshat^as,  aus  denen  der  König 
hervorgeht,  sind  von  dem  Arme  Gottes  geschaffen.  In  Ihnen 
ist  die  Kraft  und  die  äuszere  Macht  verleiblicht.  Sie  sind 
die  geborne  Krieger-  und  Adelskaste.  Handel  zu  treiben  sind 
sie  zwar  nicht  verhindert,  aber  die  Waffenübung  ist  doch  ihrer 
würdiger. 

Die  dritte  Kaste,  die  Visas  oder  Vais}^as,  sind  aus  den 
Schenkeln  Gottes  geboren.  Ihnen  kommen  die  edlern  bürger- 
lichen Gewerbe  zu.  Sie  sind  berufen,  Viehzucht,  Ackerbau 
und  Handel  zu  betreiben. 

Die  vierte  dunkelste  Kaste  endlich,  die  Sudras,  stam- 
men aus  den  Füszen  Gottes.  Sie  sind  die  dienende  Bevöl- 
kerung. Den  materiellen  Bedürfnissen  des  Lebens  geweiht, 
sind  sie  nicht  würdig  die  heiligen  Bücher  zu  lesen. 

1  Gesetze  Manu 's  II.  162.  (herausg.  v.  A,  Loiseleur  Deslongschamp3. 
Paris  1833):  „Ein  Brahmane  soll  weltliche  Ehre  wie  Gift  scheuen  und 
sich  nach  Verachtung  der  Menschen  sehnen  wie  nach  Ambrosia." 


Sechstes  Capitel.    Weitere  Unterschiede.     Die  Kasten.  99 

Die  höhere  Ehe  setzt  Ebenbürtigkeit  der  Ehegatten  vor- 
aus; indessen  kann  ein  Mann  von  höherer  Kaste  wohl  eine 
Frau  aus  einer  niedern  heirathen,  nicht  aber  umgekehrt  die 
höhere  Frau  den  niedrigeren  Mann.  Aus  den  zahlreichen 
Miszheirathen  sind  denn  aber  im  Laufe  der  Zeit  arge  Misz- 
stände  und  neue  wieder  erbliche  Miszkasten  der  Verworfenen 
und  Ausgestoszenen  erwachsen.  Der  Uebergang  eines  Indivi- 
duums aus  einer  Kaste  in  die  andere  ist  nur  in  äuszerst  sel- 
tenen Fällen  möglich,  die  starre  Abgeschlossenheit  durchaus 
die  Kegel.  Sogar  nach  dem  Tode  wirkt  die  Kastenordnung 
fort.  Sie  beherrscht  ebenso  das  zukünftige  Leben  wie  die 
Gegenwart,  und  nur  mit  viel  tausendjähriger  Anstrengung 
kann  es  in  seltensten  Fällen  sogar  einem  Kshatrij^a  gelingen, 
bis  auf  die  göttlichste  Stufe  des  Brahmanenthums  sich  empor- 
zuschwingen. Jeder  Fehltritt  aber  stürzt  leicht  aus  der  Höhe 
in  die  Tiefe  und  dann  ist  die  Wiedererhebung  unsäglich  schwer. 

Wir  wissen  nun,  dasz  jener  Glaube  der  Indier  auf  Irr- 
thum  beruht  und  dasz  diese  Kastenbildung  groszentheils  ein 
Werk  menschlicher  Geschichte  ist.  In  den  Veden  noch  ist 
die  Erinnerung  an  eine  ältere  Periode  erhalten,  in  der  es  wohl 
arische  Stände,  aber  noch  nicht  indische  Kasten  gegeben  hatte. 
Nur  der  Gegensatz  der  drei  oberen  Kasten,  die  sämmtlich 
Arier  heiszen,  zu  den  Sudras  läszt  sich  auf  einen  ursprüng- 
lichen Kassengegensatz  zweier  Völkermassen  zurück  führen, 
indem  die  weiszen  Arier  als  Sieger  das  Land  der  dunkelfarbigen 
Sudras  eingenommen  und  sich  da  als  Herren  derselben  nieder- 
gelassen haben,  ähnlich  wie  die  weiszen  europäischen  Colonisten 
unter  der  rothen  Urbevölkerung  in  Amerika.  Der  alte  Name 
der  Kaste  „Varna"  bedeutet  Farbe  und  beurkundet  so  den 
ursprünglichen  Gegensatz  der  Weiszen  und  der  Farbigen.  Je 
höher  die  Kaste,  desto  reiner  erscheint  die  weisze  Kasse,  je 
tiefer,  desto  mehr  ist  sie  gemischt  mit  dem  Blut  der  ursprüng- 
lich schwarzen  Kasse.2   Die  beiden  obern  Kasten  erheben  sich 

8  Vgl.  über  die   Geschichte   und  das  "Wesen  der  indischen  Kasten 

LofC  7* 


100  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

über  die  dritte,  wie  die  Aristokratie  bei  fast  allen  arischen 
Völkern  über  den  Demos.  Die  zuletzt  entstandene  Erhebung 
der  Brahmanen  endlich  über  die  Eitter-  und  Adelskaste,  und 
sogar  über  die  Könige  erklärt  sich  meines  Erachtens  nur  aus 
der  neuen  pantheistischen  Brahmareligion,  welche  die  alte  Ke- 
ligion  der  mancherlei  Naturgötter  geistig  überwand,  aus  dem 
gesteigerten  Gottesbewusztsein  der  brahmanischen  Priester, 
Weisen  und  Heiligen,  und  aus  der  Energie  und  Hingebung, 
mit  welcher  sie  ihrem  göttlichen  Beruf  in  allen  Gefahren  treu 
blieben  und  den  Königen  die  irdische  Herrlichkeit  willig  über- 
lieszen. 3 

Die  Kastenordnung  ist  also  nur  nach  und  nach  aus  ge- 
schichtlichen Kämpfen  und  Erlebnissen  entstanden.  Aber  dann 
bekam  sie  den  festen  Ausdruck  der  unveränderlichen  Noth- 
wendigkeit  und  die  religiöse  Weihe  der  Heiligkeit.  Sie  wurde 
so  sorgfältig  durch  die  ganze  Erziehung  der  heranwachsenden 
Jugend,  durch  die  festbestimmten  religiösen  Pflichten,  durch 
alle  Einrichtungen  des  privaten  wie  des  öffentlichen  Lebens 
gepflegt,  dasz  Niemand  mehr  eine  Abweichung  für  möglich 
hielt  und  die  starre  Ordnung  durch  die  Jahrhunderte  von  Ge- 
schlecht zu  Geschlecht  überliefert  wurde. 

Die  Kastenordnung  ist  nicht  eine  Einrichtung  des  Stats, 
nicht  ein  Bestandteil  der  Statsverfassung.  Vielmehr  ist  der 
Stat  in  die  Kastenordnung  eingefügt  und  derselben 
untergeordnet.  Sie  ist  eine  allgemeine,  alle  Verhältnisse 
beherrschende,  in  Ewigkeit  wirkende  Weltordnung.  Um 
deszwillen  ist  die  höhere  Statenbildung  so  lange  unmöglich, 
als  der  Stat  der  Kastenordnung  zu  dienen  gezwungen  ist.  Er 
kann  sich  nicht  frei  dem  eigenen  Lebensprincip  gemäsz  ent- 

Lassen  Indische  Alterthumskunde  I.  S.  801  ff.,  Gobineau  de  Tinegalite 
des  races  humaines  II.  S.  135,  Benfey  Act.  Indien  in  dem  "Wörterbuch 
yon  Guttrie  u.  Grey,  M.  Duncker  Geschichte  d.  Alterthums  II.  S.  12  f. 
3  Ich  habe  diese  Ansicht  näher  begründet  in  der  Schrift:  Die  Alt- 
asiatischen Gottes-  und  Weltideen,  S.  29  f. 


Sechstes  Capitel.     Weitere  Unterschiede.     Die  Kasten.  101 

wickeln.  Wie  soll  sich  die  politische  Idee  verwirklichen,  wenn 
ihr  starre,  unveränderliche  Massen,  die  ein  höheres  Gesetz 
scheidet  und  gefangen  hält,  widerstreben.  Was  hat  die  Stats- 
autorität  zu  bedeuten,  und  wie  können  die  statlichen  Nöthigungs- 
mittel  wirken,  wenn  ihnen  der  Glaube  der  Eegierten  entgegen 
steht,  dasz  der  Gehorsam  gegen  die  Statsgewalt  auf  Tausende 
von  Jahren  Unglück  und  Leiden  über  den  Folgsamen  bringt? 

Wohl  gebührt  dem  Erbrecht  im  State  eine  hohe  Be- 
deutung. Es  bewahrt  den  innern  Zusammenhang  zwischen 
der  Vergangenheit  und  der  Zukunft,  es  befestigt  die  Stätig- 
keit  —  gleichsam  den  Knochenbau  —  des  über  das  Leben 
der  einzelnen  Menschen  hinausreichenden  Statskörpers.  Aber 
wo  es  absolut  und  ausschlieszlich  das  öffentliche  Recht  be- 
herrscht, da  werden  die  beszten  Kräfte  gebunden  und  gelähmt. 
Der  Stat  wird  zuletzt  zur  Mumie,  welche  die  Züge  des  ver- 
gangenen Lebens  künstlich  zu  erhalten  sucht,  aber  nicht  den 
Ausdruck  des  Todes  verbergen  kann. 

Die  Kastenordnung  verhärtet  und  potenzirt  die  Unter- 
schiede unter  den  Volksschichten.  Eher  noch  können  sich 
in  ihr  die  oberen  aristokratischen  K  sten  befriedigt  fühlen, 
welche  sie  mit  erblichen  Vorrechten  reichlich  ausstattet.  Um 
so  härter  drückt  sie  die  mittleren  und  untersten  Schichten. 
Sie  brandmarkt  die  Zurücksetzung  und  Erniedrigung  derselben 
mit  dem  Mal  der  Verachtung  und  läszt  dem  Einzelnen  keine 
Hoffnung,  aus  den  Banden  frei  zu  werden,  in  denen  sie  ihn 
gefangen  hält.  Sie  steigert  die  Autorität  der  obern  und  sie 
zerstört  die  Freiheit  der  untern  Classen.  Eine  relative  Voll- 
kommenheit der  einzelnen  Berufszweige,  selbst  eine  bewun- 
dernswürdige Geistesthätigkeit  der  obersten  Kreise  ist  mit  ihr 
wohl  verträglich.  Aber  indem  sie  die  Blutsüberlieferung  und 
die  rassenmäszige  Tradition  zum  obersten  Gesetze  macht,  ver- 
neint sie  alle  individuelle  Freiheit,  welche  über  die  ererbten 
Schranken  hinausstrebt.  Sie  hat  religiöse  Einsiedler,  grosze 
Philosophen,  ausgezeichnete  Dichter,  tapfere  und  groszherzige 


\02  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

Helden,  treffliche  Väter  und  Söhne,  geschickte  Arbeiter  her- 
vorgebracht, aber  niemals  grosze  Statsmänner,  und  nirgends 
hat  sie  freie  Völker  geduldet. 

Alle  ihre  Institutionen  sind  auf  die  Erhaltung  der 
Lebensordnung  berechnet,  keine  haben  den  Fortschritt  des 
Lebens  zum  Zwecke.  Die  Euhe  ist  ihr  Ideal,  die  Bewegung 
ihre  Gefahr.  Das  Leben  in  ihr  ist  nur  Wiederholung,  nichts 
Neues,  ein  Kad,  das  sich  ewig  in  gleicher  Weise  und  an  der- 
selben Stelle  um  dieselbe  Achse  dreht.  Das  Leben  selbst  hat 
so  wenig  Werth;  und  wir  begreifen  es,  wie  zuletzt  die  bud- 
dhistische Sehnsucht  nach  der  Endigung  dieses  ewigen  Einer- 
leis, die  Lehre  von  der  Selbstauflösung  in  das  Nichts,  als  der 
wahren  Befreiung  aufkommen  und  zahlreiche  Anhänger  finden 
konnte.  Die  indische  Civilisation  ist  die  Blüthe  und  die  Frucht 
der  indischen  Kastenordnung.  Aber  so  fest  diese  begründet 
war,  sie  vermochte  jene  Civilisation  doch  nicht  auf  die  Dauer 
vor  dem  innern  Verfall  zu  bewahren,  und  die  indische  Selb- 
ständigkeit nicht  vor  feindlicher  Eroberung  und  Unterwerfung 
zu  schützen. 

Der  heutige  indische  Stat  erträgt  die  noch  vorhandenen 
Beste  der  Kastenordnung  nur  wie  ein  ererbtes  Leiden ;  er  setzt 
dieselbe  nicht  mehr  als  die  wahre  Weltordnung  voraus  und 
erbaut,  von  dem  englischen  Geiste  bestimmt,  seine  Einrich- 
tungen auf  ein  anderes  Fundament. 


Siebentes  Capitel. 

V.    Die  Stände. 

Ueberall  unter  den  europäischen  Völkern  finden  wir  statt 
der  Kasten  Stände.  Wie  jene  sind  auch  diese  eine  organische 
Gliederung  und  Ordnung  der  verschiedenen  Bestandtheile  eines 
Volkes.     Aber  die  Stände  unterscheiden   sich  von  den  Kasten 


Siebentes  Capitel.     Die  Stände.  103 

dadurch,  dasz  sie  sich  der  Bewegung  der  Geschichte  hingeben 
und  eine  Entwicklung  haben.  In  Europa  vorzüglich  sinj  die 
Kasten  zu  Ständen  geworden  und  haben  eine  reiche  Geschichte 
und  mannichfaltige  Gestaltungen  und  Umwandlungen  erlebt. 

Die  älteste  Form  der  Stände  erinnert  noch  sehr  an  die 
Kasten.  In  der  ersten  Zeit  waren  die  Stände  noch  regelmäszig 
Erbstände,  und  die  Eigenschaften,  welche  den  Ständen  zu- 
geschrieben wurden,  deuten  auf  eine  innere  Verwandtschaft  mit 
dem  indischen  Kastensysteme.  Selbst  die  mythischen  Vorstell- 
ungen von  der  göttlichen  Erzeugung  der  Stände  sind  ganz 
ähnlich.  Nach  der  Edda  erzeugte  der  Gott  Rigr  auf  seinen 
Wanderungen  zuerst  den  Thräl,  den  Stammvater  der  dienen- 
den Bevölkerung,  dann  in  besserem  Hause  den  Freien  Karl, 
den  Stammvater  der  freien  Bauern,  zuletzt  den  Edeln  Jarl, 
den  er  die  Spiesze  werfen  und  die  Lanzen  schwingen  lehrte 
und  dem  er  das  heilige  Geheimnisz  der  Runen  vertraute.  Auch 
diese  Stände  waren  in  Farbe  und  Körperbau  verschieden,  am 
glänzendsten  weisz,  mit  hellem  Haar  und  leuchtenden  Wangen 
die  Edeln,  von  häszlichem  Gesicht  und  knotigen  Gelenken  die 
Knechte. 

1.  Mit  der  Kaste  der  Brahmanen  läszt  sich  der  gallische 
Stand  der  Druiden,  welchen  ebenfalls  das  Priesterthum,  die 
Wissenschaft  und  die  Rechtskunde  zukommt,  vergleichen, !  ob- 
wohl auch  sie,  mehr  aber  noch  die  vorchristlichen  Priester  der 
Germanen  —  ihr  Name  Godi  ist  ebenso  von  Gott  abgeleitet, 
wie  die  Bezeichnung  der  Brahmanen  von  Brahma  —  mit  dem 
nationalen  Geschlechtsadel  näher  verwandt  bleiben»  Eine  gröszere 
Aehnlichkeit  mit  der  Brahmanenkaste  hat  die  mittelalterliche 
Erhebung  eines  besondern  christlichen  Priesterstandes, 
des  Klerus. 

1  Caesar  de  Bello  Gall.  VI,  13:  „Uli  rebus  divinis  intersunt,  sacri- 
ficia  publica  ac  privata  procurant,  religiones  interpretantur.  Ad  hos 
magnus  adolescentium  numerus  disciplinae  causa  concurrit,  magnoque  ii 
sunt  a*pud  eos  honore.  Nam  fere  de  omnibus  controversiis  publicis  pri- 
vatisque  constituunt." 


104  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

2.  Der  alte  Adel  aber,  den  wir  in  der  frühesten  Geschichte 
überall  in  Europa  finden,  ist  durchgehends  Erbadel  und  hat 
gewöhnlich  die  wichtigsten  Functionen  der  beiden  obersten 
Kasten  in  sich  vereinigt.  Die  Erblichkeit  des  Uradels  wird 
gewöhnlich  schon  durch  die  Sprache  bezeugt.  Die  griechischen 
Eupatriden  und  die  römischen  Patricier  sind  schon  um 
ihrer  Abstammung  willen  von  edeln  Vätern  so  benannt,  die 
germanischen  Adalinge  haben  ihren  Namen  von  dem  Ge- 
schlechte (adal) ,  von  dem  sie  ihr  Blut  erbten. 2  Auch  die 
Lucumonen  der  Etrurier  und  die  gallischen  Eitter  waren 
Erbadel.  Die  obersten  Adelsgeschlechter,  die  fürstlichen  Fami- 
lien suchte  die  alte  Sage  überdem  mit  besonderer  Vorliebe  von 
unmittelbarer  Erzeugung  der  Götter  oder  der  Heroen  abzuleiten 
und  durch  die  Annahme  göttlichen  Blutes  zu  ehren.  Diesem 
Uradel  kommt  gewöhnlich  das  Priesterthum  und  die  Wissen- 
schaft von  den  göttlichen  Dingen,  ihm  auch  die  Kunde  und 
Pflege  des  Eechtes  zu.  Die  höhern  obrigkeitlichen  Aemter 
werden  aus  ihm  vorzugsweise  bestellt:  und  in  der  Kriegsver- 
fassung nehmen  die  Edeln  durchweg  einen  hohen  Kang  ein. 
Dagegen  sind  ihnen  die  bürgerlichen  Gewerbe  meistens  ver- 
schlossen. Gewöhnlich  haben  sie  hörige  Leute  in  ihrem  Schutze 
und  in  ihrem  Dienste,  und  sind  auch  im  Privatrecht  durch 
ihre  Gutsherrschaft  ausgezeichnet.  Sie  lieben  es  auf  Bergen 
zu   wohnen,   und  suchen  auch  in  den  Städten  die  Höhen  aus. 

Diese  charakteristischen  Züge  finden  sich  mit  geringen 
Abweichungen  in  der  historischen  Jugendzeit  der  europäischen 
Völker  wieder.  Je  weiter  wir  in  die  Vorzeit  hinauf  steigen, 
desto  ähnlicher  erscheint  diese  religiös-politische  Institution. 

3.  Die  Gemeinfreien  bilden  bei  Griechen,  Römern  und 
Germanen  den  eigentlichen  Kern  des  Demos  und  des  Volkes. 
Ihnen  gebührt  das  Volks-  und  Landrecht  in  vollem  Masze. 
Auf  ihnen  vornehmlich  beruht  die  Kraft  des  States.   Der  Adel 

2  Sehr  gut  darüber  Schmitt  henner  Statsrecht.   S.  31.  u.  103. 


Siebentes  CapiteL     Die  Stände.  105 

hebt  sich  über  sie  empor,  aber  nicht  wie  die  höhere  indische 
Kaste  über  die  niedere  als  ein  grundverschiedenes  Wesen,  son- 
dern als  ein  wesentlich  in  demselben  Volksrechte  wurzelnder 
und  mit  den  Freien  verbundener,  wenn  auch  hervorragender 
und  ausgezeichneter  Stand. 

Die  Gemeinfreien  sind  in  der  ältesten  Zeit  regelmäszig 
Grundeigentümer  und  Ackerbauer.  Als  solche  zeigen  sich 
die  Geomoren  in  der  athenischen  Verfassung  zu  Theseus 
Zeit,  die  gewöhnlichen  Spart iaten,  die  römischen  Plebejer, 
die  Freien  aller  germanischen  Stämme,  bei  denen  freie  Ge- 
burt und  freies  Gut  einer  besondern  Achtung  in  dem  Rechts- 
organismus  genieszen.  Auch  mit  dem  Handel,  obwohl  anfangs 
weniger  gerne,  beschäftigen  sich  die  Freien.  Ihre  Lebensweise 
ist  somit  der  der  Visas  wohl  zu  vergleichen.  Aber  durch  die 
Waffenfähigkeit  —  sie  voraus  bilden  die  Massen  des  Fuszvolks 
—  werden  sie  in  öffentlicher  Ehre  höher  als  diese  gehoben, 
und  in  der  Gemeinde  üben  sie  auch  je  nach  der  besondern 
Verfassung  politische  Eechte  aus. 

Als  Freie  sind  sie  zwar  der  Obrigkeit  unterthan,  aber 
nicht  einem  besondern  Herrn  zugehörig.  Schutzherrschaft 
kommt  ihnen  anfangs  wohl  nicht  zu,  aber  Eigene  können  sie 
besitzen.  Auch  ihr  Stand  ist  ein  Erbstand.  In  der  Eegel  wird 
man  als  Freier  (ingenuus)  geboren. 

4.  Endlich  werden  wir  mancherlei  Spuren  eines  freilich 
schon  in  diesen  ersten  Zeiten  offenbar  in  der  Auflösung  be- 
griffenen und  daher  etwas  räthselhaften  Standes  von  hörigen 
Leuten  gewahr,  welchem  wie  den  indischen  Sudras  die  niedern 
Handthierungen  des  Lebens  zukommen.  Zuweilen  besteht  er 
ebenfalls  aus  unterworfenen  Landbewohnern,  aber  durchweg  nur 
von  derselben  Rasse ,  wie  die  Sieger ,  zuweilen  kommen  die 
armen  Leute  durch  spätem  Herrendruck  und  wirtschaftliche 
Verschuldung  in  die  dauernde  Abhängigkeit.  Dahin  gehören 
die  Pelaten  und  Theten  in  Griechenland,  die  dienten 
der  Römer,  der  Gallier,  der  Britten,  dieLiten  der  Germanen. 


106  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Sie  haben  einen  Mund-  und  Schutzherrn,  bei  den  Griechen 
Prostates,  bei  den  Eömern  P a t r o n u s  genannt.  Sie  gehören 
zum  Volke  und  sind  nicht  den  Eigenen  gleich  zu  stellen ;  aber 
ihre  Freiheit,  ihre  Kechte,  der  Werth,  der  ihnen  beigemessen 
wird,  sind  geringer  als  die  des  ächten  Freien.  Von  ihnen 
werden  auch  vornehmlich  die  Handwerke  betrieben.  Frei- 
gelassene Knechte  gelangen  meist  in  ihren  Stand. 

Die  Geschichte  dieser  Stände  ist  mit  der  Geschichte  der 
einzelnen  Staten  aufs  engste  verwoben:  die  Veränderungen  und 
Umwälzungen  in  den  Verfassungen  sind  sehr  häufig  nur  die 
Wirkung  und  der  Ausdruck  der  vorher  oft  wenig  bemerkten 
innern  Umgestaltung  der  ständischen  Verhältnisse  und  Begriffe. 
Aber  fast  überall  haben  sich  die  Erbstände  später  in  Berufs- 
stände verwandelt.  Einige  der  politisch  wichtigsten  und 
interessantesten  Momente  sind  im  einzelnen  hervorzuheben. 


Achtes  Capitel. 

I.    Der  Klerus. 

Unter  den  mittelalterlichen  Ständen  nahm  der  Klerus 
die  oberste  Stellung  ein.  Nach  der  strengen  kirchlichen  Lehre 
freilich  war  der  Klerus  überhaupt  kein  Volksstand.  Er  war 
ein  ordo  ecclesiasticus,  nicht  ein  ordo  civilis.  Der  Stat  wurde 
als  eine  blosze  Laienordnung  betrachtet ?  über  welche  die 
Gott  geweihte  Priesterschaft  erhaben  war.  Nicht  wie  die 
Brahmanen  beriefen  sich  die  christlichen  Priester  auf  ihre  be- 
sondere göttliche  Abstammung,  denn  sie  pflanzten  nicht  durch 
die  Ehe  ihren  Stand  fort,  wohl  aber  auf  eine  göttliche  In- 
stitution. Sie  sind  von  dem  heiligen  Geist  erfüllt  und  durch 
die  Weihen  der  Kirche  geheiligt.  Der  niedrigste  und  sogar 
der  verdorbenste  Kleriker  steht  dennoch  in  Folge  seines  Standes 
hoch   über   dem  vornehmsten  und  selbst  dem  tugendhaftesten 


Achtes  Capitel.     Der  Klerus.  107 

Laien,  wie  das  Gold  über  dem  Eisen,  wie  der  Geist  über 
dem  Leib. 

Die  Ideale  des  Klerus  waren  den  Idealen  des  Brahmanen- 
thums  nahe  verwandt.  Nur  verzichtete  der  christliche  Klerus 
nicht  auf  die  Herrschaft  im  State,  wie  die  Brahmanen  es  ge- 
than  hatten,  und  war  weniger  als  diese  geneigt,  sich  der  Stats- 
ordnung  zu  fügen.  Nach  der  consequenten  Lehre  der  mittel- 
alterlichen Kirche  haben  die  Statsge  setze  für  die  Geistlich- 
keit keine  verbindliche  Kraft ;  es  hängt  von  ihrer  Prüfung  und 
ihrem  Urtheil  ab,  zu  bestimmen,  ob  und  in  welchem  Umfang 
sie  denselben  willfährig  gehorche.  Sobald  die  behaupteten 
geistlichen  Vorzugsrechte  oder  die  Interessen  der  Kirche  ge- 
fährdet erschienen,  so  verweigerte  der  Klerus  jede  Folge,  ge- 
stützt auf  das  Bibelwort,  dasz  man  „Gott  mehr  als  den  Men- 
schen gehorchen  müsse",  und  auf  seine  geistliche  Erhabenheit, 
dagegen  verlangte  er  von  der  weltlichen  Obrigkeit ,  dasz  sie 
ohne  Widerrede  den  Kirchengesetzen  folge  und  mit  ihrer  Macht 
dieselben  durchführe. 

Auch  der  weltlichen  Gerichtsbarkeit  entzog  sich 
der  christliche  Klerus ,  sowohl  in  bürgerlichen  Streitigkeiten 
als  im  Strafrecht.  Die  klerikalen  Ansprüche  ertragen  nicht  die 
Ueberordnung  der  weltlichen  Kichter,  ,,der  Schafe  über  die 
Hirten".  Zum  Kriegsdienste  waren  die  Geistlichen  nicht  pflich- 
tig,  weil  zu  ihrem  religiösen  Beruf  die  eisernen  Waffen  nicht 
paszten.  Aber  auch  die  Steuerpflicht  lehnten  sie  von  sich  ab. 
Bei  jeder  Gelegenheit  beriefen  sie  sich  auf  ihre  Immunitäten, 
um  jede  statliche  Last  von  sich  abzuwälzen.  Als  römische 
Geistlichkeit  verachteten  sie  die  nationale  Beschränktheit.  Ihr 
Bürgerrecht  gehörte  keinem  besonderen  Volke,  keinem  bestimm- 
ten Lande  an,  es  bestand  für  sie  nur  der  universelle  Verband 
mit  der  Christenheit  und  mit  Kom,  der  Hauptstadt  der  Welt, 
dem  Sitz  der  Papste.  Das  kanonische  Kecht  war  das 
Gesetz  ihres  Lebens,  nur  der  Gerichtsbarkeit  der  Kirche 
mit  ihren  milden  Censuren  wollten  sie  Kechenschaft  schulden. 


108  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

Indessen  diese  Ausscheidung  des  Klerus  aus  dem  Stats- 
verband  war  nicht  einmal  in  der  Zeit  seiner  höchsten  Macht 
durchzuführen.  Theils  standen  ihr  geschichtliche  Hindernisse 
im  Wege,  theils  waren  damit  die  Interessen  selbst  der  Geist- 
lichen nicht  völlig  zu  vereinigen. 

Geschichtlich  war  die  christliche  Kirche  mit  ihrem  Klerus 
innerhalb  des  alten,  alle  Verhältnisse  gemeinsam  beherr- 
schenden römischen  "Weltreichs  entstanden  und  grosz  ge- 
worden, und  die  römischen  Statsgewalten  verzichteten  nicht 
auf  ihre  Autorität.  Sie  verlangten  von  allen  Bewohnern  des 
heiligen  Keichs  Gehorsam  gegen  die  Gesetze,  die  kaiserliche 
Eegierung  und  die  kaiserlichen  Gerichte.  Die  Kleriker  konnten 
sich  höchstens  von  den  Kaisern  einzelne  Privilegien  erwerben. 
Ihre  Unterthänigkeit  war  zweifellos. 

Auch  die  fränkische  Monarchie  hielt  noch  fest  an  der 
Unterordnung  der  Bischöfe  und  Priester  unter  die  Hoheit  des 
Königs,  die  Eeichsgesetze  und  die  Keichsgerichte ,  obwohl  die 
Statsmacht  beschränkter  und  die  Selbständigkeit  der  Kirche 
gröszer  geworden  war.  Nur  ganz  allmählich  breiteten  sich 
unter  den  germanischen  Fürsten  die  kirchlichen  Immunitäten 
aus,  anfangs  eher  aus  frommer  Gunst  und  Gnade  der  Könige, 
als  kraft  des  anerkannten  Kirchenrechts,  das  nun  anfing,  die 
eigene  Autorität  in  stolzem  Aufschwung  zu  erheben.  Nur 
Schritt  vor  Schritt  und  nicht  ohne  Widerspruch  und  Wider- 
stand wurden  die  kirchlichen  Bechte  erweitert,  nicht  allent- 
halben in  gleicher  Ausdehnung. 

Aber  auch  die  Interessen  verbanden  den  Klerus  aufs  engste 
mit  der  Laienordnung  und  dem  Stat.  Das  Oberhaupt  der 
Kirche  selbst,  der  römische  Papst,  erwarb  während  des 
Mittelalters  eine  statliche  Herrschaft  über  das  sogenannte  Patri- 
monium Petri.  Es  entstand  zum  Theil  durch  königliche  Ver- 
leihung zum  Theil  durch  Vergabung  anderer  Fürsten,  theil- 
weise  sogar  durch  Eroberung  ein  von  Geistlichen  regierter 
Kirchenstat.     Die   höchste   geistliche  Autorität   war   daher   in 


Achtes  Capitel.     Der  Klerus.  109 

Eom  und  dem  römischen  Gebiet  mit  der  weltlichen  Souverä- 
netät  verbunden.  Die  Päpste  waren  nicht  blosz  als  oberste 
Bischöfe  berufen,  die  Interessen  der  Kirche  auch  dem  Kaiser 
und  den  Staten  gegenüber  zu  vertreten,  sondern  zugleich  als 
vornehmste  italiänische  Fürsten  in  die  Interessen  der  italiäni- 
schen  Politik  tief  verflochten.  Es  war  das  freilich,  nach  dem 
Urtheile  Machiovellis,  das  Unglück  Italiens.  Nicht  mächtig 
genug,  Italien  unter  ihrer  Statshoheit  zu  einigen,  waren  sie  stark 
genug,  die  Spaltungen  der  Parteien  zu  unterhalten.  Sie  ver- 
mochten nicht,  Italien  vor  dem  Einbruch  feindlicher  Heere  zu 
schützen,  aber  sie  waren  immer  bereit,  fremde  Mächte  zu  ihrem 
Schutze  herbei  zu  rufen,  wenn  ihre  Politik  dieser  Hilfe  be- 
durfte. Sie  erhoben  Kom  wieder  zur  vornehmsten  Stadt  der 
Christenheit  und  schmückten  Eom  mit  Kirchen  und  Kunst- 
werken, aber  die  begabten  Kömer  blieben  unter  ihrer  kirch- 
lichen Regierung  und  Zucht  in  weltlichen  Tugenden  und  Vor- 
zügen hinter  den  Bürgern  der  italiänischen  Kepubliken  zurück. 
Der  Kirchenstat  ward  nicht  zum  Vorbilde,  sondern  zum  Zerr- 
bilde der  civilisirten  Statenbildung.  Die  moderne  Welt  weisz 
nun,  dasz  das  geistliche  Kegiment  untauglich  ist  für  die  ge- 
sunde Statsleitung  und  die  Kömer  selber  hoffen  nur  von  der 
Säcularisation  des  Kirchenstats  Verbesserung  ihrer  politisch 
verkommenen  Zustände. 

Nächst  Italien  hat  Deutschland  voraus  die  politische 
Macht  der  geistlichen  Fürsten  erhoben.  Schon  in  der  fränki- 
schen Monarchie  nahmen  die  Bischöfe  eine  hervorragende 
Stellung  ein  auf  den  fränkischen  Reichstagen,  bald  in  Gemein- 
schaft mit  den  weltlichen  Groszen,  insbesondere  den  Gaugrafen, 
als  Versammlung  der  Majores  oder  Senior  es,  bald  ohne 
diese  in  kirchlichen  Versammlungen. 

Die  Mischung  mit  weltlicher  Macht  und  Würde  trat  aber 
nirgends  entschiedener  zu  Tage,  als  in  der  Verfassung  des 
deutschen  Keichs.  Da  finden  wir  unter  den  sieben  Kur- 
fürsten drei  geistliche,   die  Erzbischöfe   von  Mainz,   Cöln 


110  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

und  Trier,  und  bei  den  Königswahlen  geht  der  Kurfürst  von 
Mainz  als  Erzkanzler  für  Deutschland  voraus  mit  seiner  Stimme. 
In  dem  Kurcollegium  nehmen  sie  die  ersten  Plätze  ein.  Zu- 
gleich sind  sie  Landesfürsten  und  ihre  Länder  als  Kurländer 
erlangen  am  frühesten  beinahe  souveräne  Selbständigkeit. 

Daneben  gibt  es  eine  grosze  Anzahl  von  Erzbischöfen, 
Bischöfen  und  Aebten,  welche  in  einem  bestimmten  Ge- 
biete die  Kechte  der  Landeshoheit  erworben  haben  und  auf  den 
Keichstagen  Sitz  und  Stimme  haben,  entweder  als  wirkliche 
Keichsfürsten  eine  Virilstimme,  wie  z.  B.  die  Erzbischöfe 
von  Bremen,  Magdeburg  und  Salzburg,  die  Bischöfe  von  Würz- 
burg, Augsburg,  Basel  u.  s.  f.  oder  doch  an  einer  Curiatstimme 
einen  Antheil  haben,  indem  sie  auf  den  sogenannten  Prälaten- 
bänken, die  hinwieder  den  Grafenbänken  entsprechen,  zu- 
sammensitzen. In  der  Heerschildsordnung  der  Kechtsbücher 
nehmen  die  geistlichen  Fürsten  den  nächsten  Kang  nach  dem 
Könige  ein,  dem  der  erste  Heerschild  zukommt.  Die  welt- 
lichen Fürsten,  obwohl  in  der  Keichsverfassung  jenen  wesent- 
lich gleichgestellt,  haben  erst  den  dritten  Heerschild,  weil  sie 
unbedenklich  Vasallen  jener  werden,  aber  es  nicht  schicklich 
wäre,  dasz  der  geistliche  Fürst  zum  Vasallen  des  weltlichen 
Fürsten  würde.  Vergeblich  wurde  in  dem  groszen  Investitur- 
Streit  zwischen  den  Päpsten  und  den  sächsischen  Kaisern  der 
Vorschlag  gemacht,  die  Kirchenfürsten  sollten  auf  das  welt- 
liche Fürstenthum  verzichten  und  nur  der  Kirche  ihr  Leben 
widmen.  Die  deutschen  geistlichen  Fürsten  wiesen  diese  Zu- 
muthung  selbst  des  Papstes  mit  Unwillen  zurück.  Damit  aber 
war  auch  in  Deutschland  die  Verbindung  der  geistlichen 
Aemter  mit  den  statlichen  Aemtern  und  politischen  Interessen 
gegeben.  Es  war  unmöglich,  den  herrschenden  Klerus  auszer- 
halb  des  States  zu  stellen,  wenn  er  im  State  weltliche  Herr- 
schaft üben  wollte. 

Wie  in  der  Eeichsverfassung  so  war  es  auch  in  der  Landes- 
verfassung.    Auch   da  bildeten   die   dem   Lande   angehörigen 


Achtes  Capitel,     Der  Klerus.  111 

Prälaten  (Bischöfe,  Aebte,  Stiftspröpste,  geistliche  Ordens- 
meister) einen  besonderen  zu  den  Landtagen  berechtigten  Stand, 
sei  es  indem  sie  eine  eigene  Prälatencurie  besetzten  oder  ge- 
meinsam mit  dem  Adel  (Herren  und  Kitterschaft)  tagten,  und 
besaszen  auf  ihren  Grundherrschaften  eine  mehr  oder  weniger 
ausgedehnte  Gerichtsbarkeit.  Die  grundherrliche  Stellung  war 
regelmäszig  die  Grundlage  ihrer  landständischen  Kechte.  Wenn 
sie  daher  auch  ihre  persönliche  Freiheit  von  Kriegspflicht  und 
Steuer  behaupten  konnten,  für  ihre  Ministerialen  und  bäuer- 
lichen Hintersassen,  welche  durchweg  Laien  waren,  konnten  sie 
doch  nicht  dieselben  Ansprüche  erheben.  Das  Land  bedurfte 
ihrer  Steuern,  und  der  Landesfürst  als  Lehensherr  verlangte 
auch  von  ihnen  die  Stellung  von  reisigen  Keitern. 

Ein  Vorzug  der  geistlichen  Aristokratie  vor  der  weltlichen 
war  es,  dasz  sie  nicht  an  das  ererbte  Geblüt  gebunden  war, 
sondern  auf  individueller  Bildung  und  Wahl  beruhte.  Der 
Sohn  eines  Handwerkers  konnte  Papst,  der  Sohn  eines  Bauern 
Erzbischof  werden. ' 

Mit  der  Zeit  aber  wurde  der  klerikale  Vorrang  und  die 
aristokratische  Macht  der  geistlichen  Fürsten  und  Prälaten  er- 
schüttert und  zu  Fall  gebracht.  Einen  furchtbaren  Stosz  erlitt 
die  verweltlichte  Kirche  durch  die  deutsche  Kirchenreformation 
des  sechszehnten  Jahrhunderts.  Soweit  der  Protestantismus 
sich  ausbreitete,  wurden  die  geistlichen  Fürstenthümer  säcula- 
risirt,  die  bischöflichen  Aemter  beseitigt,  die  Klöster  aufge- 
hoben, die  geistlichen  Orden  aufgelöst.  Vor  der  Eeformation 
saszen  auf  den  deutschen  Keichstagen  drei  geistliche  Kurfürsten, 
drei  andere  Erzbischöfe  und  einunddreiszig  Bischöfe.  Nach  dem 
westphälischen  Frieden   ist  dre  Zahl  vermindert  auf  drei  Kur- 

1  Papst  Gregor  VII.,  selber  der  Sohn  eines  Zimmermanns,  hat  das 
Princip  klar  ausgesprochen:  „Rom  ist  grosz  geworden  unter  den  Heiden 
und  unter  den  Christen,  quod  non  tarn  generis  aut  patriae  nobilitatem, 
quam  animi  ex  corporis  virtutes  perpendendas  adjudicaverit. "  Ygl, 
Laurent  £tud.  sur  l'hist.  VII.  S.  335. 


112  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

fürsten,  einen  Erzbischof  (Salzburg)  und  zwanzig  Bischöfe.  Es 
gibt  nur  noch  eine  schwäbische  und  eine  rheinische  Prälaten- 
bank. Der  ganze  Norden  und  ein  guter  Theil  des  Südens  hat 
sich  der  geistlichen  Herrschaft  entwunden. 

Die  Säcularisation  war  aber  auch  in  den  katholisch  ge- 
bliebenen Ländern  nur  vertagt,  nicht  beseitigt,  Den  zweiten 
Stosz  der  Revolutionskämpfe  zu  Anfang  unsers  Jahrhunderts 
hielt  die  geistliche  Herrschaft  nirgends  in  Deutschland  aus. 
Auch  die  linksrheinischen  Kurfürsten  wurden  von  dem  Sturme 
weggeblasen  und  ihre  Länder  dem  französischen  State  ein- 
verleibt. Die  Länder  der  übrigen  geistlichen  Fürsten  wurden 
zur  Entschädigung  verwendet  für  weltliche  Dynastien  und  mit 
deren  Ländern  verbunden.  Mit  dem  Untergang  des  Eeichs  ver- 
loren die  geistlichen  Herren  ihre  reichsständische  Stellung  und 
die  Prälaten  konnten  nur  in  einzelnen  Ländern  eine  unsichere 
Stellung  in  den  verkommenen  Landständen  behaupten.  Die 
bischöfliche  Würde  wurde  nun  seit  vielen  Jahrhunderten  zuerst 
wieder  ein  rein -kirchlich  es  Amt,  ohne  statliche  Macht. 
Die  grundherrliche  Gerichtsbarkeit  ging  rasch  ebenso  ihrem 
Untergang  zu,  wie  vorher  die  geistliche  Landeshoheit. 

Aber  indem  der  katholische  Klerus  so  seine  weltliche 
Hoheit  und  Macht  einbüszte,  konnte  er  nicht  etwa  nun  das 
Ideal  des  Mittelalters  realisiren.  Das  Selbstgefühl  des  modernen 
Stats  duldete  keine  Ueberordnung  mehr  der  Geistlichen  über 
die  Laien,  und  verlangte  nun  umgekehrt  Gehorsam  gegen  die 
Gesetze,  und  die  verfassungsmäszigen  Statsgewalten  von  Jeder- 
mann. Die  Zeit  der  kirchlichen  Immunitäten  und  des  kirch- 
lichen Sonderrechts  war  ebenfalls  vorüber.  Das  gleiche  Landes- 
recht erstreckte  sich  ohne  Unterschied  über  Geistliche  und 
Laien.     Sie  alle  wurden  derselben  Gerichtsbarkeit  unterworfen. 

Eine  ähnliche  Entwicklung  nahm  der  Klerus  in  England 
und  in  Frankreich.  In  diesen  Ländern  hatte  die  Geistlich- 
keit niemals  eine  in  dem  Grade  landesherrliche  Stellung  er- 
worben ,  wie  in  Deutschland.     Das  weltliche  Statsgefühl  war 


Neuntes  Capitel.     Der  Adel.     A.    Der  römische  Adel.  H3 

auch  der  Geistlichkeit  gegenüber  in  dem  englischen  Parlamente 
und  in  dem  französischen  Königthum  stärker  vertreten.  Aber 
eine  reichsständische  Stellung  hatte  der  Klerus  in  beiden  Län- 
dern ;  in  England  saszen  die  Bischöfe  mit  den  weltlichen  Lords 
zusammen  im  Oberhaus ;  in  Frankreich  bildete  der  Klerus  einen 
besondern,  den  ersten  Reichsstand.  Dort  wirkte  die  Reforma- 
tion, hier  die  Revolution  entscheidend  auf  die  Rechte  des 
Klerus  ein.  Die  mittelalterlichen  Immunitäten  verschwanden 
vor  der  gemeinen  und  gleichen  Rechtspflicht.  Als  die  von 
Ludwig  XYI.  berufenen  Etats  generaux  1789  in  Paris  zu- 
sammentraten, da  gab  der  Klerus  seine  Sonderstellung  freiwillig 
auf  und  trat  noch  vor  dem  Adel  in  die  allgemeine  National- 
versammlung ein,  welche  nur  ein  freies  Bürgerthum,  aber  nicht 
mehr  die  mittelalterlichen  Stände  repräsentirte. 

Damit  aber  war  der  mittelalterliche  Stand  des 
Klerus  überall  aufgelöst.  Die  grosze  Scheidung  des 
Klerus  und  der  Laien  hatte  ihre  Wirksamkeit  verloren.  Der 
Stat  erkannte  sie  für  seine  Rechtsordnung  nicht  mehr  an.  Die 
Masse  der  Geistlichen  ging  in  die  groszen  Bürgerclassen 
über,  die  wenigen  hohen  Würdenträger  der  Kirche  vermischten 
sich  mit  der  weltlichen  Aristokratie. 


Neuntes  Capitel. 

II.    Der  Adel. 
A.    Der  römische  Adel. 

In  Griechenland  verlor  der  Adel  frühe  seine  politische 
Bedeutung.  In  den  kleinen  Statsverhältnissen,  die  sich  selten 
über  die  Interessen  einer  Stadt  und  ihrer  Umgebung  erstreck- 
ten, fand  er  nicht  Raum  genug  um  seine  Wurzeln  auszubreiten. 
Die  feine  Bildung,  die  den  Bürgern  gemeinsam  war,  und  die 
reiche  Blüthe  des  individuellen  Geistes  in  Kunst  und  Wissen- 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.    I.  8 


1X4  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

schaft,  wodurch  sich. die  Hellenen  auszeichneten,  gaben  ihnen 
wohl  das  Gefühl  einer  adeligen  Nation  im  Verhältnis^  zu  den 
Barbaren,  lieszen  aber  einen  höher  berechtigten  Geschlechts- 
adel in  ihrer  Mitte  nicht  bestehen.  Nicht  allein  in  den  Demo- 
kratien, sondern  selbst  in  den  griechischen  Oligarchien  büszten 
die  edeln  Geschlechter  ihre  hergebrachten  Hechte  ein,  bevor 
dieselben  zur  vollen  Blüthe  gelangten.  Aber  viel  groszartiger 
und  dauernder  ist  die  Geschichte  des  römischen  Adels.  Der 
aristokratische  Charakter  ist  den  Kömern  von  Anfang  an  tief 
eingeprägt,  und  so  lange  es  eine  römische  Macht  gab,  erhielt 
er  sich,  obwohl  er  in  verschiedenen  Zeiten  verschiedene  For- 
men annahm. 

Die  Bedeutung  des  alten  erblichen  Patriciates  war  voraus 
eine  politische.  Schon  seine  Entstehung  wird  an  die  poli- 
tische Institution  des  Senats  angeknüpft,  die  patricii  gelten  als 
die  Nachkommen  der  ersten  patres.  l  Die  Jahrhunderte  lang 
fortgesetzten  Kämpfe  der  Patricier  mit  der  Plebes  bezogen 
sich  wieder  vornehmlich  auf  politische  Kechte.  In  dem  Privat- 
rechte dagegen  war  der  Gegensatz  der  beiden  Stände  wenig 
erheblich.  Schritt  für  Schritt  muszte  die  durch  stäte  frische 
Zuflüsse  anwachsende  Plebes  mit  den  alten  Geschlechtern  um 
Gewährung  höherer  politischer  Kechte  ringen.  Nachdem  das 
Königthum  durch  eine  aristokratische  Revolution  beseitigt  wor- 
den war,  hatte  die  zu  groszem  Theile  aus  besiegten  Stämmen 
nach  Kom  verpflanzte  Plebes  ihren  natürlichen  Schutzherrn 
verloren.  Das  herrschende  Patriciat  aber  war  nicht  geneigt, 
sich  mit  den  Plebejern  in  die  Herrschaft  der  Kepublik  zu 
theilen.  Nur  wenn  durch  ernste  Kämpfe  die  Macht  und  der 
feste  Entschlusz  auch  der  Plebes  bewährt  worden  war,  und 
nur  so   weit  die  dringenden  Bedürfnisse  des  States  ein  Nach- 

1  Vgl.  Rubino,  Untersuchungen  über  röm.  Statsverfassung  S. "185. 
Die  ersten  Senatoren  werden  freilich  selber  schon  Fürsten  genannt. 
Cicero  de  Rep.  II.  8.  „In  regium  consilium  delegerat  principes,  qui 
appellati  sunt  patres," 


Neuntes  Capitel.     Der  Adel.     A.   Der  römische  Adel.  H5 

geben  erforderten,  lieszen  sich  die  Patricier  bestimmen,  die 
reife  Frucht  der  Zeit  den  Plebejern  zuzugestehen.  Eines  nach 
dem  andern  erlangten  endlich  diese,  eine  eigene  Organisation 
in  den  Tributcomitien  und  besondere  Vertreter  in  den  Tri- 
bunen, die  Aufnahme  vornehmer  Plebejer  in  den  Senat,  die 
Befähigung  dann  auch  zu  den  Statswürden,  die  Theilnahme  an 
der  obersten  Gewalt  der  Magistrate  (die  consularische  Gewalt 
311,  das  Consulat  384,  die  anfangs  den  Patriciern  vorbehaltene 
Prätur,  bald  nachher  die  Censur  412)  und  mittelbar  so  auch 
einen  freiem  Zutritt  in  den  Senat.  Zu  Anfang  des  fünften 
Jahrhunderts  der  Stadt  war  die  politische  Gleichberechtigung 
der  Patricier  und  Plebejer  zwar  nicht  in  Form  eines  abstracten 
Grundrechtes,  wohl  aber  in  den  wichtigsten  Einrichtungen  des 
States  anerkannt.  Am  längsten  hatte  das  patricische  Vorrecht 
sich  mit  Bezug  auf  die  Priesterwürden  erhalten;  indem  die 
Traditionen  des  heiligen  Hechts  und  der  religiösen  Wissen- 
schaft durch  Jahrhunderte  sorgfältig  in  dem  engen  Kreise 
des  Erbadels  bewahrt  und  gepflegt  worden  waren;  bis  in  der 
Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  auch  in  die  Collegien  der  Pon- 
tifices  und  Augurn  Abkömmlinge  von  plebejischen  Vorfahren 
Zutritt  erhielten.  Nur  einige  wenige  Priesterämter  verblieben 
—  gleichsam  zur  Erinnerung  an  den  alten  Glauben  und  das 
ursprüngliche  Statsrecht  —  den  Patriciern  ausschlieszlich. 

Die  römische  Aristokratie  war  aber  weder  während 
dieser  Kämpfe  noch  in  Folge  derselben  untergegangen:  sie 
hatte  nur  eine  andere  Gestalt  angenommen.  DasPrincip  eines 
Vorrechtes  der  Geburt,  welches  indessen  auch  vordem  schon 
durch  die  Volkswahlen  sehr  ermäszigt  worden,  war  nunmehr 
durchbrochen  und  groszentheils  aufgehoben.  Nicht  das  Blut 
gab  mehr  einen  ausschlieszlichen  Anspruch  auf  politische  Würde 
und  Macht,  sondern  umgekehrt  wem  es  gelang,  das  Vertrauen 
des  Volkes  zu  erwerben  und  zu  den  hohen  Aemtern  der  Ke- 
publik  aufzusteigen,  der  gelangte  eben  dadurch  in  die  hohe 
römische  Aristokratie  hinein,   auch  wenn  plebejisches  Blut  in 

8* 


116  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

seinen  Adern  flosz.    Der  Erbadel  hatte  sich  so  umgewandelt 
in  einen  Adel  der  Statswürden. 

Es  gab  in  Kom  auch  in  den  letzten  Jahrhunderten  der 
Bepublik  und  in  der  Kaiserzeit  einen  hohen  Keichsadel  von 
politischer  Natur,  die  senatorischen  Familien.  Die  alten 
patricischen  Geschlechter,  welche  indessen  zur  Zeit  von  August 
bis  auf  50  Familien  ausgestorben  waren  und  nur  sehr  selten 
einen  Zuwachs  erhielten  —  die  kaiserlichen  Familien  waren 
von  Eechts  wegen  immer  patricisch  —  mochten  f actisch,  wenn 
auch  nicht  mehr  rechtlich,  noch  den  Kern  derselben  bilden, 
indem  der  alte  Glanz  des  Namens,  die  herkömmliche  Vertraut- 
heit mit  den  Statsgeschäften ,  häufig  auch  groszes  Vermögen 
und  ihre  persönlichen  Verbindungen  ihnen  das  Ansehen  ver- 
liehen, welchem  sie  die  Aufnahme  in  den  Senat  verdankten. 
Aber  auszer  ihnen  wurde  die  hohe  Aristokratie  stets  erneuert 
und  erfrischt  durch  hervorragende  Männer,  welche  als  Kriegs- 
führer, Statsmänner,  Eedner,  Rechtsgelehrte  oder  in  anderer 
Weise  sich  auszeichneten,  und  denen  in  den  Zeiten  der  Be- 
publik öffentliche  Aemter,  welche  die  Aufnahme  in  die  Listen 
der  Senatoren  begründeten,  übertragen,  oder  die  später  von  den 
Kaisern  in  den  Senat  berufen  wurden.  Das  politische  Ver- 
dienst und  die  nationale  Auszeichnung  waren  somit 
zum  Princip  des  spätem  römischen  Adels  erhoben  worden,  in 
welchem  selbst  in  den  Zeiten  der  Entartung  und  des  Verfalls  noch 
immer  ein  Rest  der  alten  Freiheit  und  Würde  erhalten  blieb. 

Die  berühmte  Rede  vonMäcenas  über  den  Principat  ist 
ein  vortrefflicher  Ausdruck  der  Grundgedanken,  welche  römische 
Statsmänner  von  der  Aristokratie  in  der  Kaiserzeit  hatten.  Der 
Freund  des  Kaisers  gibt  demselben  den  Bath,  den  Senat,  in 
den  die  Wirren  der  Bürgerkriege  viele  untaugliche  Männer 
hineingebracht,  zu  reinigen  und  durch  neue  sorgfältige  Er- 
nennungen zu  ergänzen.  Er  empfiehlt,  keinen  Senator  um  seiner 
Armuth  willen  auszustoszen,  sondern  eher  unvermögliche,  aber 
taugliche   Männer  mit   dem   nöthigen   Vermögen   auszustatten. 


Zehntes  Capitel.     Der  Adel.     B.   Der  französische  Adel.        H7 

Bei  der  Auswahl  der  neuen  Senatoren  möge  der  Kaiser  nicht 
blosz  auf  Italien,  sondern  ebenso  auf  die  Bundesgenossen  und 
selbst  die  Provincialen  Bücksicht  nehmen,  und  je  die  Ersten 
aus  allen  Völkern  des  Weltreiches,  die  durch  Ge- 
schlecht, Tugend  oder  Beichthum  als  die  Führer  des  Volkes 
gelten,  um  sich  her  versammeln,  und  ihnen  die  Theilnahme  an 
der  Sorge  für  den  Stat  und  an  der  Weltherrschaft  eröffnen. 
Je  mehr  angesehene  Männer  so  in  Kom  zum  Senate  versam- 
melt werden,  desto  besser  werde  für  das  Bedürfnisz  des  States 
und  die  Treue  der  Provinzen  gesorgt  sein. 

Als  eine  niedere  Aristokratie  bezeichnet  er  die  vornehm- 
lich durch  Eeichthum  ausgezeichnete  Kitterschaft,  welche 
in  ähnlicher  Weise  aus  den  angesehenen  Männern  von  zweitem 
Bange  zu  bilden  sei.  Damit  auch  die  Söhne  der  Senatoren 
fähig  werden,  den  Bang  der  Väter  später  einzunehmen,  fordert 
er  eine  ihres  Standes  würdige  Erziehung  in  den  Wissenschaften 
und  den  Waffen.2 


Zehntes  Capitel. 

B.    Der  französische  Adel. 

Die  Geschichte  des  französischen  Adels  ist  sehr  wechsel- 
reich. Wir  können  folgende  Perioden  unterscheiden,  von  denen 
jede  ihren  besondern  Charakter  hat. 

1.  Der  Merowingischen  Zeit  (481  bis  752)  gehört 
die  Begründung  des  französischen  Adels  an.  Auffallender 
Weise  sind  die  Spuren  eines  alten  fränkischen  Geschlechts- 
adels nur  unsicher.  Dagegen  bildete  sich  damals  ein  persön- 
licher Treuadel  aus,  welcher  seine  Entstehung  vorzugsweise 
dem  Verhältnisse  zu  dem  Könige  zu  verdanken  hatte.  Es 
mochten  zwar   die  alten  Adelsgeschlechter  auch  hier  vorzugs- 

2  Dio  Cass.  52. 


Hg  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

weise  bedacht  worden  sein.  Aber  auszer  ihnen  wurden  auch 
andere  freie  Franken  und  Germanen  von  dem  Könige  unter 
die  A  n  t  r  u  s t  i  o  n  e  n  aufgenommen ,  und  selbst  Komanen  er- 
hielten als  »Gäste  des  Königs"  (convivae  regis)  ähnlichen 
Kang.  Es  sind  sogar  die  Beispiele  nicht  ganz  selten,  dasz 
Personen  von  ganz  niederer  Geburt,  vormalige  Sklaven  und 
Hörige,  zu  den  höchsten  Aemtern  im  Keiche  und  daher  unter 
die  Magnaten  emporstiegen. 

Dieser  Adel  war  somit  aus  sehr  gemischten  Bestandtheilen 
erwachsen.  Er  war  mindestens  in  seiner  Mehrheit,  wie  Schaff- 
ner 1  näher  nachgewiesen  hat,  kein  Erb-  sondern  ein  persön- 
licher Dienstadel,  dem  Könige  durch  den  Eid  der  Treue 
verbunden.  Das  erhöhte  Wergeid,  dessen  er  genosz,  war  ein 
Zeichen  und  eine  Folge  der  höheren  Werthschätzung,  die  man 
seinen  Gliedern  beilegte.  Im  übrigen  hatte  er  wenig  privat- 
rechtliche Vorzüge.  Politisch  aber  war  er  ausgezeichnet  theils 
durch  die  Verbindung  der  Eigenschaft  eines  Antrustio  mit  den 
hohen  Eeichsämtern,  Hofstellen  und  kirchlichen  Würden,  theils 
durch  die  Theilnahme  an  dem  Käthe  des  Königs  und  die  her- 
vorragende Stellung  auf  den  Nationalversammlungen  und  Keichs- 
tagen.  Komanische  und  germanische  Elemente  sind  in  dieser 
Adelsinstitution  ebenso  gemischt,  wie  in  den  Personen,  welche 
zu  diesem  Adel  gerechnet  wurden. 

Indessen  war  der  germanische  Charakter  doch  überwiegend, 
und  kam  immer  mehr  zur  Herrschaft.  Diesem  Charakter  ge- 
hört einerseits  die  persönliche  Treuverbindung  mit  dem  Könige 
(trustis  dominica)  an,  welche  sich  durch  die  Familiensitte  und 
dem  Familieninteresse  gemäsz  fortpflanzte,  und  sich  weiter  auf 
die  Vasallen  anderer  Herren  (Seniores)  verzweigte,  andrerseits 
die  Ausstattung  der  Magnaten  mit  königlichen  Beneficien,  mei- 
stens in  Grundstücken  bestehend,  welche  der  König  ihnen  ver- 
lieh. In  diesen  beiden  Beziehungen  vornehmlich  wurzelt  das 
spätere  Lehenswesen. 

1  Geschichte  der  Kechtsverfassung  Frankreichs  I.  S.  217  fg. 


Zehntes  Capitel.     Der  Adel.     B.  Der  französische  Adel.        \\Q 

2.  Die  Periode  der  Karolinger  (752—987). 

Der  Wechsel  der  königlichen  Dynastie  war  groszentheils 
das  Werk  einer  Adelsrevolution.  Die  karolingischen  Haus- 
meier wuszten  sich  als  Stellvertreter  des  Königs  und  Herzoge 
an  die  Spitze  des  mächtigen  und  kriegerischen  Adels  zu- setzen. 
Als  Führer  desselben  begünstigten  sie  das  Streben  der  Edeln, 
sich  in  ihrem  Grundbesitze  zu  befestigen.  Mit  ihrer  Hülfe 
verdrängten*  sie  dann  die  entarteten  Scheinkönige. 

Diese  Bewegung  hatte,  worauf  Guizot2  aufmerksam  ge- 
macht, vornehmlich  in  dem  nördlichen  Theile  von  Frankreich, 
in  welchem  die  Germanen  vorherrschten,  und  welcher  eben 
deszhalb  im  Gegensatze  zu  dem  „romanischen  Frankreich"  des 
Südens  „deutsches  Frankreich"  (Francia  Teutonica)  genannt 
wurde,  in  Austrasien  nachhaltige  Unterstützung  gefunden.  Neu- 
strien,  wo  auch  der  Adel  stärker  mit  Komanen  gemischt  war, 
wurde  von  dem  Impulse  fortgerissen.  Aus  diesem  Grunde  er- 
hielt der  französische  Adel  nun  ein  bestimmtes  germanisches 
Gepräge. 

Der  Amts-  und  Dienstadel  wurde  mehr  und  mehr  Lehens- 
adel der  Barone,  Senior  es  und  Vasallen,  von  denen 
jeder  in  seinem  Kreise  sich  als  selbständigen  Herrn  fühlen 
lernte.  Die  Zeit  der  Karolinger  ist  die  Zeit  des  Ueberganges 
aus  der  königlichen  Beamtenhierarchie  in  die  selbst- 
herrliche Herrschaft  der  Seigneurs,  und  auch  die 
Erblichkeit  des  Adels  kam  allmählich  wieder  auf,  in  Ver- 
bindung mit  der  zugestandenen  Erblichkeit  der  Beneficien. 

3.  Die  höchste  Ausbildung  und  Macht  erlangte  und  besasz 
der  neue  Lehensadel  in  der  dritten  Periode  der  Kapetinger 
(987  bis  auf  Ludwig  den  Heiligen  1226). 

Karl  der  Grosze  hatte  noch  die  Einheit  des  States  auf- 
recht zu  halten  und  die  königliche  Macht  zu  stärken  gewuszt. 
Aber    unter   seinen  Nachfolgern  zerfiel    die    fränkische   Welt- 

2  Essais  sur  l'histoire  France.    S.  52  ff. 


120  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

monarchie  in  mehrere  von  einander  unabhängige  Staten,  und 
in  dem  französischen  Reiche  selbst  nahm  die  Selbständigkeit 
der  Aemter  und  der  Lehen  fortwährend  zu.  Schon  Karl  der 
Kahle  war  genöthigt3  die  Erblichkeit  der  Grafenämter 
und  der  Reichslehen  für  die  Söhne  der  Vasallen  anzuer- 
kennen, und  den  nämlichen  Grundsatz  auch  auf  die  Söhne  der 
Aftervasallen  auszudehnen.  In  kurzem  wurde  auch  den  Seiten- 
verwandten ein  Erbrecht  in  die  Lehen  zugestanden. 

Nur  in  der  Kirche  erhielt  sich  das  Princip  des  indi- 
viduellen Amtsadels,  im  State  verwandelte  sich  derselbe 
in  einen  feudalen  Erbadel.  Ueber  ganz  Frankreich  breitete 
sich  so  in  mannichfaltigen  Abstufungen  und  Formen  die  Herr- 
schaft erblicher  Seigneurs  aus.  Ein  Theil  derselben  besasz  die 
volle  obrigkeitliche  Gewalt  in  allen  wesentlichen  Beziehungen 
zu  eigenem  Rechte,  und  erkannte  nur  eine  sehr  beschränkte 
oberlehensherrliche  Gewalt  des  Königs  über  sich  an.  Diese 
Seigneurs  können  als  der  hohe  Adel  bezeichnet  werden.  Zu 
ihnen  gehören  die  Herzoge ,  die  Grafen ,  die  Vicomtes ,  die 
Barone:  die  meisten  unter  ihnen  waren  Kronvasallen,  einige 
auch  Vasallen  der  Herzoge  und  Grafen,  nur  sehr  wenige  Al- 
lodialherren  ihres  Gebietes.  Die  hohe  Gerichtsbarkeit  gehörte 
ihnen  zu,  sie  standen  an  der  Spitze  der  Militärverfassung,  die 
nun  ganz  ihres  früheren  volksmäszigen  Charakters  entkleidet 
zu  Lehen-  und  Ritterdienst  geworden  war.  Was  sie  hinwieder 
dem  Könige  zu  Kriegsdiensten  zu  leisten  hatten,  war  genau 
begränzt .  und  normirt.  Der  König  durfte  nur  mit  ihrer  Zu- 
stimmung Gesetze  erlassen,  nur  so  weit  sie  es  verstatteten, 
Steuern  erheben.  In  derselben  Weise  erlieszen  sie  in  ihrem 
Gebiete  Landesordnungen,  und  verlegten  Steuern  mit  Zustimm- 
ung und  Einwilligung  ihrer  Vasallen.  Wer  in  ihrer  Herrschaft 
wohnte ,  muszte  ihnen  Treue  (fi des) ,  die  Vasallen  überdem 
Hulde   (homagium)   schwören   (foy   et  hommage) ;  er  war  ihr 

3  Capit.  Caroli  V.  a.  877.  P.  III.  542.  c.  3. 


Zehntes  Capitel.     Der  Adel.     B.   Der  französische  Adel.        121 

Unter than.  Die  politische  Statshoheit  war  so  zerklüftet  in 
eine  grosze  Anzahl  mit  privatrechtlichen  Elementen  versetzter, 
nur  sehr  lose  verbundener  Erbherrschaften.  Der  hohe  Adel 
war  nicht  mehr  ein  hervorragender  Stand  des  Volkes,  noch 
war  sein  Wesen  in  der  Treue  und  den  Diensten  zu  erkennen, 
die  er  dem  Könige  schuldete.  Seine  Hauptbedeutung  war  viel- 
mehr die,  dasz  er  zu  beschränkten  gröszeren  und  kleinen  Lehens- 
fürsten und  Landesherrn  aufgestiegen  war.  Er  hatte  dieSou- 
veränetät  erlangt.4 

Dieselben  Erscheinungen  wiederholten  sich  in  den  untern 
Stufen  des  nie  dem  Adels.  Dieser  war  vorzüglich  aus  zwei 
Wurzeln  erwachsen,  einmal  aus  dem  ritterlichen  Berufe,  so- 
dann aus  dem  Hofdienste.  Anfänglich  war  es  der  Beruf,  wel- 
cher die  Ehre  derer  hob,  die  sich  ihm  weihten,  und  als  Bitter 
oder  Dienstleute  einem  Herrn  zu  besonderer  Treue  verbunden 
wurden.  Waren  die  erstem  groszentheils  Freie ,  so  fanden 
sich  dagegen  unter  den  Ministerialen  auch  viele  ursprünglich 
hörige  Leute. 

Aber  auch  dieser  Berufsadel  wurde  mit  der  Zeit  zu  einem 
erblichen  Lehensadel.  Die  Ritter  bekamen  Lehengüter, 
die  sich  in  ihrem  Geschlechte  vererbten,  die  Dienstleute  wur- 
den mit  Hoflehen  ausgestattet.  Als  begüterte  Männer 
(riches  oms)  unterschieden  sie  sich  von  der  Rotüre,  als  Vasal- 
len standen  sie  ihren  Seigneurs  nahe.  Wie  diese  von  alters- 
her.  Tafelgenossen  des  Königs  (convivae  regis)  waren,  so  galt 
es  im  Mittelalter  als  ein  Grundsatz  des  Feudalrechts:  die 
Ritter  sind  Tafelgenossen  der  Herren. 5  Ihre  Kriegs-  und  Hof- 
dienste waren  mit  den  Gütern  verbunden,  wie  die  Hoheitsrechte 
der  Seigneurs   mit  den   Grundherrschaften.     Auch   ihnen  kam 

4  Es  ist  das  der  alte  Sprachgebrauch.  Beaumanoir  XXXIV.  41: 
„Qascuns  barons  est  souverains  en  sa  baronnie.  Yoirs  est  que  li  rois 
est  souvrains  par  desor  tous. " 

5  Loysel,  Inst.  Coutum.  I.  1.  14:  „Nul  ne  doit  seoir  a  la  table  du 
Baron  s'il  n'est  Chevalier." 


122  Zweites  Buch,     Volk  und  Land. 

eine  —  zwar  beschränktere  —  Grundherrlichkeit  zu,  sie  waren 
gewöhnlich  hinwieder  niedere  Gerichtsherren  über  die  Unter- 
thanen  ihres  Lehensherrn,  welche  durch  sie  mit  demselben  ver- 
mittelt wurden.  Ihr  Stand  schlosz  sich  mehr  und  mehr  ab. 
Und  war  derselbe  ursprünglich  eine  Folge  des  Berufes ,  so 
wurde  nun  die  ritterbürtige  Herkunft  und  die  standesmäszige 
Erziehung  die  regelmäszige  Voraussetzung  auch  der  Ritter- 
schaft. Mit  Rücksicht  auf  ihr  Geschlecht  wurden  die  neuen 
Adeligen  nun  gentils  hommes  genannt.  Die  Abstammung  allein 
freilich  machte  den  Sohn  nicht  zum  Ritter,6  aber  wer  nicht 
von  einem  rittermäszigen  Vater  stammte  —  auf  die  Mutter 
wurde  nicht  gesehen  —  konnte  in  der  Regel  auch  nicht  Ritter 
werden.  Nur  dem  Könige  blieb  es  vorbehalten,  in  den  Adel- 
stand zu  erheben. 7  Indessen  war  die  Verbindung  dieses  Adels 
mit  dem  Besitze  eines  Lehens  früher  so  enge,  dasz  der  Rotu- 
rier ,  welcher  ein  Lehensgut  erkaufte  und  darauf  lebte ,  um 
seines  Gutes  willen  zum  franc-homme  wurde,  und  sein  Enkel, 
der  ihm  in  demselben  nachfolgte,  in  jeder  Beziehung  zu  den 
gentils-hommes  gehörte. 8  Daneben  freilich  entstand  dann  ein 
freies  Ritterthum  ohne  Lehensbesitz,  das  durch  Geburt, 
Erziehung  und  Beruf  der  ritterlichen  Ehre  theilhaftig  wurde. 
Auch  unter  diesem  niedern  Adel  gab  es  mancherlei  Ab- 
stufungen, von  den  vavasseurs  oder  bas  sires  aufwärts  zu  den 
Vigiäers  (vicarii),  die  besonders  im  Süden  häufig  waren,  und 
öfters  eine  mittlere  Gerichtsbarkeit  besaszen,  den  Chatelains, 
von  denen  einzelne  den  Baronen  nahe  kamen,  und  den  Yicom- 
tes,  von  denen  ein  Theil  zu  den  Baronen  gehörte,  ein  anderer 
Theil  aber  im  Lehensdienste  einzelner  Grafen  eine  untergeord- 
nete Stellung  hatten. 


6  Das  französische  Rechtssprüchwort :    „Nul  ne  nait  Chevalier"    bei 
Loysel,  Inst.  Coutum.  I.  1. 

7  Loysel,  Inst.  Coutum.  I.  1.  12.:  „Nul  ne  peut  anoblir  que  leRoy," 
13.:    „Le  moyen  d'etre  anobli  sans  Lettres,  est  d'etre  fait  Chevalier." 

s   Schaffner  a.  a.  0.  IL  S.  160. 


Zehntes  Capitel.     Der  Adel.     B.   Der  französische  Adel.        123 

Die  Mannichfaltigkeit  der  verschiedenen  Rangstufen  und 
Rechte  ist  zwar  überaus  grosz  und  im  Einzelnen  verwirrend. 
Aber  der  Grundcharakter  ist  überall  der  des  Lehenswesens. 

4.  In  der  vierten  Periode,  von  Ludwig  dem  Heiligen  (1226) 
bis  zur  französischen  Revolution  (1789)  sehen  wir  eine  totale 
Umgestaltung  des  Adels  sich  vollziehen. 

In  der  ersten  Zeit  war  es  ein  Kampf  des  Königthums  mit 
dem  Adel  um  die  Herrschaft.  Die  Könige  vertraten  in  dem- 
selben die  mit  neuer  Stärke  erwachende  Nationaleinheit  und 
das  wieder  belebte  Statsbewusztsein.  In  diesem  Kampfe  kamen 
die  Juristen,  welche  die  Grundsätze  des  römischenRechts 
verfochten  und  neuerdings  zur  Anwendung  brachten,  den  Königen 
zu  Hülfe.  In  dem  königlichen  Gerichtshofe,  dem  Parlament, 
erhielten  ihre  Lehren  ein  mächtiges  Organ.  Das  Volk,  vor- 
nehmlich die  Einwohner  der  Städte,  obwohl  nur  selten  ein- 
greifend, unterstützte  dieselben  mittelbar. 

Ein  neues  königliches  Beamtensystem,  unabhängig 
von  dem  Lehens  verband,  wurde  nach  und  nach  eingeführt.  B  e- 
soldete  königliche  Truppen  dienten  ohne  Beschränkung 
und  Vorbehalt  der  königlichen  Macht.  Die  groszen  Herzog- 
thümer  und  Grafschaften  wurden  eine  nach  der  andern,  bald 
durch  die  Erbfolge,  bald  durch  Vertrag,  oft  durch  kriegerische 
Gewalt  mit  der  Krone  vereinigt,  und  so  die  entäuszerten 
Hoheitsrechte  wieder  concentrirt. ,  So  wurde  die  selbstän- 
dige Herrschaft  des  Adels  gebrochen.  Durch  Lud- 
wig XL  (1461  — 1493)  wurde  dieser  Sieg  der  königlichen 
Souveränetät  über  die  der  Seigneurs  vollendet. 

Der  Adel  hatte  nur  Bruchstücke  seiner  früheren  Landes- 
hoheit in  die  folgenden  Jahrhunderte  hinüber  gerettet.  Nur 
als  Gouverneure  in  einzelnen  Provinzen,  nicht  mehr  als 
Landesherren  vermochten  sich  die  Groszen  zu  halten.  Der 
Adel  war  nun  zu  einem  bevorzugten  Stande  von  Unterthanen 
geworden.  Die  Auszeichnungen,  deren  er  theilhaft  war,  nahmen 
mehr  und  mehr  den  Charakter  von  Privilegien  an,  die  viel- 


124  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

fältig  mit  den  neuen  Begriffen  und  Meinungen  in  Confüct  ge- 
riethen  und  gehässig  wurden.  9>  Wohl  gab  es  auch  später  noch 
Kämpfe  zwischen  dem  Könige  und  dem  Adel,  aber  sie  waren 
von  ganz  anderer  Art  als  vordem.  Es  waren  das  nun  Kämpfe 
der  politischen  und  religiösen,  häufig  auch  bloszer  Hof- 
parteien, an  deren  Spitze  gewöhnlich  Adeligestanden.  Woll- 
ten Adelige  zu  Einflusz  und  Macht  gelangen,  so  war  das  da- 
mals nur  im  Dienste  des  Königs  möglich.  Die  Theil- 
nahme  des  Adels  an  dem  National rathe  war,  weil  dieser 
selbst  nicht  zu  fester  und  regelmäsziger  Gestaltung  kam,  nicht 
erheblich.  Der  alte  Lehensadel  wurde  so  in  einen  bloszen 
Hofadel  verwandelt.  Sein  Wesen  bestand  eher  in  äuszer- 
lichem  Eang  und  Ehren,  als  in  politischen  Rechten. 

Am  höchsten  standen  die  Pairs  de  France,  anfänglich 
XII,  sechs  geistliche  Herren,  sechs  weltliche  Kronvasallen  und 
später  durch  die  königlichen  Prinzen  und  eine  Anzahl  anderer 
weltlicher  Groszen  vermehrt.  Die  Pairschaft  war  erblich. 
Freier  Zutritt  zu  dem  Könige  und  zu  dem  Parlament  in  Paris, 
von  dem  sie  allein  zur  Verantwortung  gezogen  werden  durften, 
zeichnete  sie  aus.  Bei  der  Krönung  der  Könige  trugen  sie 
die  Insignien  der  königlichen  Gewalt. 

Auf  die  Pairs  folgten  in  der  Rangordnung  die  Herzoge, 
die  Marquis,  die  Grafen,  die  Fürsten,  Barone,  Yi- 
comtes,  Chatelains.   Titel  und  Wappen  waren  die  äuszern 


9  Tocquevüle  (l'ancien  regime)  hat  ausgeführt,  wie  sehr  die  Auf- 
hebung der  politischen  Rechte  des  Adels  und  daneben  die  Fortdauer  der 
ökonomischen  Vorrechte  desselben  zusammenwirkten,  um  den  allgemeinen 
Volkshasz  gegen  den  Adel  zu  reizen.  So  lange  die  Herren  und  Ritter 
noch  die  Gerichtsbarkeit  zu  besorgen  hatten  und  für  die  öffentlichen 
Bedürfnisse  besonders  thätig  waren,  begriff  man  ihre  Befreiung  von  den 
Statssteuern  und  ihre  Bezüge  von  Grund-  und  Personalgefällen.  Aber 
seitdem  die  königliche  Beamtung  die  ganze  öffentliche  Verwaltung  und 
die  Rechtspflege  übernommen  hatte,  und  der  Adel  ebenso  gehorchen 
muszte,  wie  die  Bürger  und  die  Bauern,  erschienen  den  Leuten  jene 
ökonomischen  Rechte  desselben  als  ungerechte  Privilegien. 


Zehntes  Capitel.     Der  Adel.     B.   Der  französische  Adel.        125 

Kennzeichen  des  Banges.  Dann  folgte  der  niedere  Adel 
der  Ecuyers  und  der  einfachen  Gentilshommes. 

In  dem  alten  Adel  war  die  Geburt  zunächst  entschei- 
dend, die  Verbindung  mit  Grundherrschaft  aber  daneben 
von  Einflusz.  Dem  alten  Adel  trat  nun  aber  ein  neuer  an 
die  Seite,  der  vornehmlich  von  königlicher  Verleihung 
abgeleitet  wurde.  Dahin  gehörte  voraus  der  Adel,  der  mit 
der  Ernennung  zu  höhern  Civil-  und  Militärämtern  ver- 
bunden war,  vorzüglich  der  Parlamentsadel  der  Eäthe  an 
den  souveränen  Gerichtshöfen  (noblesse  de  robe).  Diese  Stellen 
waren  nun  nicht  mehr  wie  in  der  Lehensverfassung  an  den 
Boden  geknüpft ,  noch  erbliche  Eamilienrechte ,  und  es  erhielt 
daher  dieser  Adel  fortwährend  neue  individuelle  Zuflüsse.  Ihm 
verwandt  war  der  Adel  der  Doctoren  der  Eechte  (milites 
litterati,  legales),  der  einzige,  der  nicht  von  der  königlichen 
Gunst  ertheilt  wurde,  sondern  auf  wissenschaftlicher  Auszeich- 
nung beruhte. 

Einen  schlimmeren  Bestandtheil  erhielt  der  Adel  in  der 
groszen  Zahl  derer,  welche  durch  Adelsbriefe,  häufig  blosz 
um  der  Taxe  willen,  welche  dafür  bezahlt  werden  muszte, 
nicht  selten  auch  zur  Belohnung  für  Dienste,  die  nicht  immer 
ehrenvoll  waren,  in  den  erblichen  Adelsstand  erhoben  wurden10 
(noblesse  par  lettres). 

5.  Die  kurze  aber  gewaltig  eingreifende  Zeit  der  fran- 
zösischen Kevolution  (1789  bis  1799)  zerstörte  das  ganze  In- 
stitut des  Adels.  Sie  begann  mit  der  Fusion  der  früher 
getrennten  Stände  in  einer  allgemeinen  Nationalversammlung. 
Dann  hob  sie  den  Adel  auf  als  eine  dem  demokratischen 
Princip  der  Gleichheit  (Egalite)  widersprechende  Auszeichnung.11 

10  Vgl.  über  diesen  Abschnitt  Schaffner  a.  a.  0.  Bd.  IL 

11  Gesetz  v.  25.  Juni  1790.  Art.  1.  „La  noblesse  hereditaire  est  pour 
toujours  abolie;  en  consequence  les  titres  de  prince,  de  duc,  de  comte 
etc.  —  ne  seront  pris  par  qui  que  ce  soit,  ni  donnes  ä  personne. a  Ver- 
fassung v.  Sept.  1791.    „La  Constitution   garantit  comme  droits  naturels 


126  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Endlich  suchte  sie  die  Adeligen  mit  Hülfe  der  gleichmachen- 
den Guillotine  auszurotten. 

6.  Als  die  Leidenschaften  der  Eevolution  sich  in  dem 
Blute  der  hervorragenden  Männer  gesättigt  und  ihre  Gleich- 
heitstheorie die  scharfe  Schneide  an  dem  Widerstände  der 
realen  Verhältnisse  abgestumpft  hatte,  wurden  auch  in  Frank- 
reich verschiedene  Versuche  gemacht,  den  Adel  in  neuer  Ge- 
stalt auf  der  mit  Trümmern  bedeckten  Ebene  herzustellen. 
Aber  keiner  derselben  gelangte  zu  festem  Bestand. 

Am  interessantesten  ist  der  Versuch  Napoleons,  welcher 
in  der  Aristokratie  eine  unentbehrliche  Stütze  und  zugleich  eine 
Schranke  der  Monarchie  erkannte.  In  dem  Orden  der  Ehren- 
legion schuf  er  gewissermaszen  einen  modernen  Kitter- 
adel, der  jedem  höhern  Verdienste  um  den  Stat  im  weitesten 
Sinne  zugänglich,  seinem  Wesen  nach  aber  nur  eine  indivi- 
duelle Ehrenauszeichnung  war.  Er  hatte  überdem  vor, 
eine  höhere  erbliche  Aristokratie  zu  gründen,  in  welcher 
die  übrig  gebliebenen  Familien  des  alten  historischen  Adels 
mit  den  Nachkommen  der  neuen  französischen  Marschälle, 
Statsminister  und  anderer  hohen  Reichsbeamten  und  Würde- 
träger vereinigt  worden  wären.  Man  sieht,  Napoleon  dachte 
daran,  die  Institutionen  der  ersten  römischen  Kaiserzeit  mit 
den  Ueberlieferungen  der  französischen  Geschichte  zu  combi- 
niren.  Indessen  hatte  er  kaum  durch  das  Statut  vom  1.  März 
1808  die  ersten  Anfänge  zu  dieser  Erneuerung  des  Adels  ge- 
legt, als  sein  eigener  Sturz  die  Fortbildung  unterbrach.12 

et  civils  1)  que  tous  les  citoyens  sont  admissibles  aux  places  et  emploi9, 
sans  autre  distinction  que  celle  des  vertus  et  des  talens;  2)  que  toutes 
les  contributions  seront  reparties  entre  tous  les  citoyens  egalement,  en 
Proportion  de  leurs  facultas." 

Y.  1795.  Art.  3.  „L'egalite  n'admet  aucune  distinction  de  naissance, 
aucune  heredite  de  pouvoirs." 

12  Napoleon  im  Mem.  de  St.  Hei.  bei  Las  Cavas  V.  36  ff.:  „Die 
Aristokratie  ist  die  Stütze  und  der  Moderator  der  Monarchie,  sie  hebt 
diese  empor  und  leistet  ihr  Widerstand.     Der  Stat   ohne  Aristokratie  ist 


Zehntes  Capitel.     Der  Adel.     B.   Der  französische  Adel.        127 

Ludwig  XVIII.  (1815)  schlosz  sich  in  seiner  Pairie 
näher  an  das  Vorbild  der  englischen  Einrichtungen  an.  Aber 
es  gelang  ihm  nicht,  einen  politischen  Pairsadel  zu  be- 
festigen. Die  Bestandteile  der  alten  Pairie  waren  durch  die 
Kevolution  zu  sehr  zerstört ;  der  Geist  der  Nation  war  so  ganz 
für  die  Principien  der  Eechtsgleichheit  und  der  freien  Bewe- 
gung auch  des  Eigenthums  eingenommen,  dasz  ihm  jede  Er- 
neuerung des  Adels  wie  ein  räuberischer  Eingriff  in  die  Volks- 
rechte erschien;  ein  groszer  Theil  des  alten  Adels  hatte  die 
Waffen  gegen  das  Vaterland  getragen  und  die  erneuerten  An- 
sprüche desselben  wurden  auf  die  Besiegung  Frankreichs  durch 
die  fremden  Heere  gestützt.13  Der  alte  Hasz  fand  immer 
wieder  neue  Nahrung  und  nirgends  wurden  grosze  neue  Ver- 
dienste der  Aristokratie  um  das  Volkswohl  sichtbar,  welche 
mit  einer  neuen  politischen  Erhebung  derselben  versöhnt  hätte. 

Die  Julirevolution  von  1830  hob  mit  den  Majoraten  die 
erbliche  Pairie  wieder  auf,  und  die  Februarstürme  von  1848 
stürzteo  auch  die  darauf  folgende  persönliche  und  lebens- 

ein  Schiff  ohne  Steuer  (?),  ein  Luftballon,  von  den  Winden  geschaukelt. 
Das  Heilsame  der  Aristokratie  aber,  ihr  Zauber  liegt  in  ihrem  Alter,  in 
der  Zeit;  und  gerade  das  ist  das  Einzige,  was  ich  nicht  schaffen  kann. 
Die  vernünftige  Demokratie  begnügt  sich,  für  alle  die  Gleichheit  des 
Strebens  und  die  Erreichbarkeit  des  Zieles  zu  erhalten  (ätousl'ega- 
lite  pour  pretendre  et  obtenir).  Es  kam  nun  darauf  an,  die  Trümmer 
der  Aristokratie  mit  den  Formen  und  Intentionen  der  Demokratie  zu 
versöhnen.  Voraus  galt  es,  die  groszen  alten  Namen  unserer  Geschichte 
zu  sammeln.  —  Ich  hatte  in  meiner  Mappe  einen  Entwurf.  Jeder  Nach- 
komme eines  gewesenen  Marschalls  oder  Ministers  wäre  zu  seiner  Zeit 
fähig  gewesen,  indem  er  die  erforderliche  Ausstattung  nachgewiesen, 
sich  zum  Herzog  erklären  zu  lassen.  Jeder  Sohn  eines  Generals  oder 
Statthalters  einer  Provinz  hätte  sich  jeder  Zeit  als  Graf  können  aner- 
kennen lassen  und  so  weiter.  Diese  Einrichtung  hätte  die  einen  geför- 
dert, die  Hoffnungen  der  andern  aufrecht  erhalten,  den  Wetteifer  aller 
angeregt,  und  den  Stolz  niemandes  verletzt."  Vgl.  auch  V.  161  und 
Thiers  hist.  du  Consul.  VIII,  S.  116. 

13  In  den  hundert  Tagen  verfügte  daher  wieder  ein  kaiserliches 
Decret  vom  13.  März  1815:  „La  noblesse  est  abolie.  Les  titras  feodaux 
3ont  supprimes." 


128  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

längliche,  von  dem  Könige  geschaffene  Pairie.  Neuerdings 
sprach  sich  die  Kepublik  gegen  alle  Adelstitel  und  Adelsrechte 
aus. 14  Eine  Eeorganisation  hat  der  französische  Adel  noch 
nicht  wieder  erlebt.  Keime  einer  solchen  aber  werden  in  der 
senatorischen  Stellung  sichtbar. 

Seitdem  ist  der  französische  Adel  nur  insofern  wieder 
hergestellt  worden,  als  die  alten  Titel  von  neuem  gestattet15 
und  gegen  Miszbrauch  gesichert  worden  sind.  Er  hat  also 
gegenwärtig  nur  die  Bedeutung  eines  Titularadels  ohne 
eigenthümliche  Rechte,  und  es  ist  das  um  so  ungenügender, 
als  die  groszen  Titel  beständig  daran  erinnern,  dasz  der  Inhalt 
derselben  verschwunden  und  die  leere  Schale  noch  geblieben  ist. 


Eilftes  Capitel. 

C.   Der  englische  Adel. 

In  den  neuern  europäischen  Staaten  hat  sich  fast  nur  in 
England  der  Adel  auch  in  die  Gegenwart  als  ein  gesichertes 
und  groszartiges  nationales  Institut  hinüber  gerettet.  Ver- 
schiedene Gründe  wirkten  zusammen,  um  dieses  Resultat  her- 
vorzubringen. Die  Darstellung  derselben  dient  zugleich  dazu, 
die  Natur  dieser  englischen  Aristokratie   ins  Licht  zu  setzen. 

1.  Der  englische  Adel  des  Mittelalters  hatte  wie  der 
französische  zwei  verschiedene  nationale  Bestandteile  in  sich, 
einen  angel-sächsischen  und  einen  normannischen,  aber 
das  Verhältnisz  dieser  beiden  Theile  war  ein  ganz  anderes 
als  das  der  vornehmen  Franken  und  Romanen  in  dem 
französischen  Adel.    Die  Normannen  behaupteten  zwar  in  den 

14  Franz  ös.  Verf.  v.  1848.  Art.  10:  „Sont  abolis  ä  toujours  tout 
titre  nobiliaire,  toute  distinction  de  naissance,  de  classe  ou  de  caste." 

15  Decret  vom  24.  Jan.  1852.  Gesetz  vom  28.  Mai  1858  und  Decret 
vom  8.  Jan.  1859,  durch  welches  eine  eigene  Behörde  zur  Controle  über 
die  Adelstitel  eingesetzt  ward. 


Eilftes  Capitel.     Der  Adel.     C.  Der  englische  Adel.  129 

ersten  Jahrhunderten  nach  der  Eroberung  des  Herzogs  Wilhelm 
von  der  Normandie  (1066)  ein  factisches  Uebergewicht  über 
die  Sachsen,  aber  diese  waren  doch  mit  jenen  viel  näher  ver- 
wandt. Die  Eorls  waren  ein  ursprünglicher  Nationaladel  der 
Sachsen,  der  vor  den  gemeinfreien  C eorls  von  altersher 
hervorragte.  Der  sächsische  Adelige  hatte  die  nämliche  Er- 
ziehung, Lebensweise,  Denkart  wie  der  Normanne:  und  auch 
den  neuen  Königen  gegenüber  hielten  sie  an  ihrem  alten  von 
denselben  anerkannten  Eechte  fest.  Gerade  die  factische  Zurück- 
setzung aber  der  Sachsen  stählte  ihren  Freiheitssinn,  und  hatte 
vorzugsweise  die  Wirkung,  dasz  dieselben  um  so  eifersüchtiger 
und  kräftiger  ihr  Kecht  zu  wahren  suchten,  und  dem  gesamm- 
ten  Adel  jenen  Geist  politischer  Freiheit  einpflanzten, 
durch  den  England  grosz  geworden  ist. 

2.  Auf  der  andern  Seite  hatte  die  Eroberung  die  grosze 
Wirkung,  dasz  die  königliche  Gewalt,  auf  welcher  die 
Einheit  und  die  Sicherheit  des  States  vorzüglich  beruhte,  nicht 
wie  in  Frankreich  durch  den  Adel  verdrängt  wurde,  und  nicht 
ebenso  eine  in  einzelne  Herrschaften  zersplitterte  Souveränetät 
der  groszen  Vasallen  entstand. 

Das  Lehenswesen  fand  freilich,  wie  damals  allenthalben, 
auch  in  England  Eingang,  aber  es  bildete  sich  doch  in  anderer 
Weise  aus.  Es  ist  zwar  die  früher  ziemlich  verbreitete  Mei- 
nung, dasz  durch  die  Normannen  das  Lehenssystem  in  Eng- 
land zuerst  eingeführt  worden  sei,  in  Folge  neuerer  Unter- 
suchungen als  unrichtig  erwiesen:  auch  die  alten  sächsischen 
Thane  hatten  groszentheils  Lehenbesitz,  und  waren  von  die- 
sem den  Königen  zu  besonderer  Treue  und  Kriegsdienst  ver- 
pflichtet. Aber  wahr  ist  es,  dasz  die  normannische  Herrschaft 
bei  weitem  mehr  dem  ganzen  State  einen  lehenartigen  Charakter 
und  lehensmäszige  Formen  gab.  Das  Lehenswesen  war  zur 
Zeit  der  Eroberung  in  der  Normandie  ausgebildeter  als  in 
England:  und  die  Sieger  trugen  die  heimischen  Vorstellungen 
hinüber  in  das  neuerworbene  Land. 

Bluntscbli,  aHaeraeines  Statsreeht.     I.  9 


130  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Im  Princip  —  das  Verstänclnisz  der  Neuerung  wurde  erst 
später  allgemein,  als  weitere  Consequenzen  derselben  zur  Sprache 
kamen  —  wurden  sogar  alle  Privatgüter  in  England  durch 
ein  Gesetz  Wilhelms  I.  als  Lehensboden  erklärt  uud  das 
Obereigenthum  des  Königs  darüber  behauptet.  Auch  die 
bisherigen  Allodialgüter  wurden  so  in  den  Lehensnexus  herein- 
gezogen, und  die  bisherigen  blosz  lebenslänglichen  Beneficien 
hinwieder  zu  erblichen  Lehen  erhoben.  Alle  freien  Männer 
im  Eeiche  muszten  überdem  dem  Kpnige  den  Eid  der  Lehens- 
treue schwören  und  sich  zu  Kriegsdienst  verpflichten;1  und 
es  ging  dieser  Eid  dem  Treuschwur  der  freien  Insassen  an 
ihren  unmittelbaren  Lehensherm  vor.  lieber  60,000  Kitter- 
lehne gab  es  unter  der  Kegierung  Wilhelms  L,  die  alle  un- 
mittelbar oder  zum  gröszern  Theile  mittelbar  dem  Könige  als 
oberstem  Lehens-  und  Kriegsherrn  verbunden  waren.  Man 
sieht,  die  Zügel  der  Lehensherrschaft  wurden  von  dem  Könige 
selbst  in  die  Hand  genommen  und  straffer  angezogen,  als  da- 
mals in  Frankreich,  dessen  König  über  den  Herzog  von  der 
Normandie,  welcher  als  solcher  selbst  ein  französischer  Vasall 
war,  nur  eine  geringe,  mehr  formelle  als  reale  Souveränetät 
besasz.  Der  normannische  und  sächsische  Adel  blieb  somit, 
wenn  er  auch  nach  der  Weise  des  Mittelalters  Kechte  der 
Gerichtsbarkeit  und  Polizei gewalt  über  seine  Hintersassen  be- 

x  Stat.  Wilh.  c.  52:  „Statuimus,  ut  omnes  liberi  homines  foedere 
et  sacramento  affirment,  quod  intra  et  extra  regnum  Angliae  "Wilhelmo 
suo  domino  fideles  esse  velint,  terrae  et  lionores  illius  fidelitate  ubique 
servare  cum  eo,  et  contra  inimicos  ei  alienigenas  defendere."  c.  58: 
„Statuimus  etiam,  ut  omnes  barones  et  milites  et  servientes  et  universi 
liberi  homines  totius  regni  nostri  praedicti  habeant  et  teneant  se  semper 
bene  in  armis  et  in  equis,  ut  decet  et  oportet;  et  quod  sint  semper 
prompti  et  bene  parati  ad  servitium  suum  integrum  nobis  explendum  et 
peragendum,  cum  semper  opus  fuerit,  secundum  quod  nobis  de  feodis 
debent  et  tenementis  de  jure  facere,  et  sicut  illis  statuimus  per  com- 
mune concilium  totius  regni  praedicti,  et  Ulis  dedimus  et  concessimus 
in  feodo,  jure  haereditario.  Vgl.  JReeves  History  of  the  Englisli  Law  I. 
S.  34  ff.,  Phillipps  engl.  Reichs-  u.  Rechtsgesch.  II.  S.  42,  Gneist  das 
heutige  engl.  Verfassungs-  und  Verwaltungsrecht  I.  u.  III. 


Eilftes  Capitel.     Der  Adel.     C.    Der  englische  Adel.  131 

sasz  und  ausübte,  doch  in  einem  wirklichen  Unterthanen- 
verhältnisz  zu  dem  Könige,  und  die  Einheit  des  States 
wurde  den  Baronen  nicht  hingeopfert. 

3.  Wenn  so  der  englische  Adel  auf  der  einen  Seite  gerin- 
gere Herrschaftsrechte  hatte,  so  waren  auf  der  andern  Seite 
seine  politisch-nationalen  Rechte  um  so  bedeutender; 
und  hierauf  vornehmlich  beruht  die  Grösze  und  die  bleibende 
Wichtigkeit  des  englischen  Adels. 

Diese  politisch-nationalen  Rechte  machten  sich  auf  den 
groszen  Reichstagen  geltend,  die  man  frühe  schon  mit  dem 
bescheidenen  Namen  des  Parlaments  bezeichnet  hat.  Das 
alte  sächsische  Witenagemot  lebte  in  neuer  veredelter  Ge- 
stalt als  Parlament  wieder  auf,  und  in  ihm  einten  nach  und 
nach  die  nämlichen  Interessen  und  Schicksale  auch  die  beiden 
Stämme.  Die  einen  älteren  Versammlungen  der  groszen  Vasallen 
mochten  wohl  meistens  nur  den  Zweck  haben,  den  Glanz  und 
die  Würde  der  Krone  an  den  heiligen  Festen  zu  Ostern, 
Pfingsten  und  Weihnachten  zu  verherrlichen.  Die  andern  aber 
erhielten  allmählich  eine  grosze  politische  Bedeutung,  und  es 
wurden,  anfangs  ohne  feste  Normen  und  scharfe  Competenz- 
ausscheidung,  auf  ihnen  je  die  wichtigsten  Angelegenheiten 
des  States  behandelt  und  entschieden.  Während  des  XIII. 
Jahrhunderts  erhielten  dieselben  eine  regelmäszigere  Gestaltung. 
Die  Magna  Charta  von  1215,  welche  dem  Könige  Johann 
ohne  Land  von  dem  siegreichen  Adel,  der  für  die  Behauptung 
seiner  Rechte  die  Waffen  ergriffen  hatte,  in  dem  Friedens- 
schlüsse abgenöthigt  wurde,  setzte  urkundlich  fest,  dasz  „die 
Erzbischöfe,  Bischöfe,  Aebte,  und  die  Grafen  und  groszen 
Barone  persönlich  durch  königliche  Briefe  (singillatim  per 
litteras  nostras),  die  übrigen  unmittelbaren  Vasallen  des  Königs 
aber  insgösammt  durch  die  königlichen  Beamten  (in  generali 
per  vicecomites  et  ballivos  nostros)  zu  dem  Parlamente  (com- 
mune consilium  regni)  eingeladen"  werden  sollen,  und  dasz 
nur  mit  ihrer  Zustimmung  neue  Steuern  erhoben  werden  dürfen. 

9* 


m 


^32  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Aus  den  ersteren,  welche  vorzugsweise  als  geborene  Käthe 
des  Königs  und  Träger  der  obersten  Hof-  und  Reichsämter 
die  öffentlichen  Angelegenheiten  im  Lande  verwalteten,  bildete 
sich  im  Verfolge  der  Zeit  das  Oberhaus;  die  letztern  wurden 
zu  einem  Bestandteile  des  spätem  Unterhauses.  Beide 
Classen  hatten  anfangs  ein  persönliches  Recht  der  Reichsstand- 
schaft. Die  erstere  behielt  es  bei.  Für  die  letztere  aber  wurde 
es,  in  Verbindung  mit  andern  Rittern  des  Landes  Aftervasallen 
der  groszen  Kronvasallen  und  den  Bewohnern  der  Städte  und 
Burgen,  später  zu  einem  politischen  Rep  r  äse  ntations  rechte. 
Nur  die  erstem,  die  Lords,  galten  fortan  als  hoher  Adel. 
Dem  niederen  Adel  der  Gentvy  trat  die  begüterte  Bür- 
gerschaft zur  Seite. 

In  der  vollendeten  Verfassung  des  Parlaments,  welche  in 
der  Hauptsache  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIII.  und  der 
ersten  Hälfte  des  XIV.  Jahrhunderts  zu  Stande  kam,2  fand 
der  Adel  seine  natürliche  Stellung  im  State.  In  den  Zeiten 
Heinrichs  III.  gewann  es  den  Anschein,  dasz  die  Barone,  unter 
der  Anführung  des  Grafen  von  Leicester,  die  Monarchie  selbst 
in  ihrer  Existenz  gefährden  und  die  Regierung  des  States  in 
ihre  Hand  nehmen  möchten.  Dieser  Uebergriff  war  aber  doch 
nur  vorübergehend,  und  sehr  bald  setzte  sich  von  neuem  das 
Princip  fest,  dasz  der  Aristokratie  wohl  ein  bestimmter 
Einflusz  auf  die  politischen  Angelegenheiten  der 
Nation  und  insbesondere  die  Mitwirkung  in  der  Gesetz- 
gebung gebühre,  nicht  aber  die  Ausübung  der  eigent- 
lichen Herrschaft,  nicht  die  Statsr egierung.  Aber 
auch  den  untern  Ständen  gegenüber  fand  der  Adel  die  nöthige 
Schranke  seiner  politischen  Macht  in  der  Ergänzung  des  Par- 
laments durch  die  Repräsentanten  der  Städte  und  Burgen  und 
dadurch,  dasz  die  englischen  Ritter  von  den  Freisassen  (libere 
tenentes)  zum  Parlament  gewählt,  nicht  wie  auf  dem  Conti- 
nent  nur  von  dem  eigenen  Stande  bezeichnet  wurden. 

*  Vgl.  unten  Buch  V.  Cap.  3, 


Eilites  Capitel.     Der  Adel.     C.    Der  englische  Adel.  133 

%  Die  eigentliche  nobility  bestand  lediglich  aus  den  Lords, 
und  ward  nie  wie  in  Frankreich  und  Deutschland  zu  einem 
landesherrlichen  Dynastenadel,  sondern  nur  zu  einem  reichs- 
ständischen  Adel,  welcher  in  Unterordnung  unter  den  König 
und  das  Gesetz  in  der  Kriegsordnung  und  im  Gericht,  sowie 
über  seine  Aftervasallen  hoheitliche  Eechte  ausübte. 

Die  Bitters chaft,  d.  h.  die  Classe  der  Freien,  welche 
im  Besitz  von  Bittergütern  war,  sei  es  Lehen  des  Königs,  sei 
es  Lehen  anderer  Groszen,  nahm  ebenfalls  als  erste  Classe  der 
Grafschaftsmiliz,  in  Verbindung  mit  andern  Classen  und  vor- 
züglich als  Träger  des  Friedensrichteramtes,  mit  der  Polizei- 
gewalt und  der  Verwaltung  der  Bechtspflege  betraut,  eine  sehr 
einfluszreiche  Stellung  ein.  Aus  ihr  wurden  die  Abgeordneten 
der  Grafschaft  zum  Parlament  gewählt.  Durch  die  Verbin- 
dung ihrer  Jüngern  Söhne  mit  den  hochbürgerlichen  Classen 
und  ihre  parlamentarische  Gemeinschaft  mit  den  Vertretern 
der  Städte,  den  ,, Honoratioren",  bildete  sich  im  Gegensatze  zu 
der  continentalen  Abschlieszung  des  niedern  Adels  der  seinem 
Wesen  nach  eher  moderne  als  mittelalterliche  Begriff  der 
Gentry  aus,  welche  alle  die  Personen  als  Gentlemen  zu- 
sammenfaszt,  die  sich  durch  Geburt  oder  Aemter,  oder  durch 
ihre  Bildung  und  Vermögen  als  Honoratioren  über  die  untern 
Massen  erheben.  Die  Gentry  ist  nicht  wie  der  Stand  der 
Gentilshommes  in  Frankreich  ein  fest  geschlossener  Adelsstand, 
sondern  eine  flüssige  Aristokratie,  welche  täglich  neue  Zuflüsse 
in  sich  aufnimmt  und  gelegentlich  auch  unwürdige  Glieder 
wieder  auswirft.3 

4.    Ein  fernerer  Charakterzug  des  englischen  Adels,  durch 

3  Blackstone,  Comment.  1.12,  führt  eine  Stelle  von  Thom.  Smith 
billigend  an,  in  welcher  als  Gentlemen  alle  die  erklärt  werden,  welche 
Universitätsstndien  gemacht  haben,  liberale  Berufsweisen  betreiben,  in 
Musze  leben  können  ohne  Handarbeit,  und  im  Stande  sind,  sich  als 
Gentlemen  zu  benehmen  und  zu  leben.  Ygl.  Gneis t  Gesch.  des  engl. 
Verfassungs-  und  Verwaltungsrechts  III.  S.  334  f.,  Tocqueville  Oeuvres 
VIII.  S.  328. 


|34  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

den  er  sich  sehr  zu  seinem  Euhrne  von  dem  französischen  und 
zum  Theil  auch  von  dem  deutschen  Adel  unterscheidet,  ver- 
dient besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Schon  in  der  Zeit, 
als  die  Barone  die  einzige  politische  Macht  im  State  waren, 
hatten  sie  nicht  blosz  sich  und  ihre  eigenen  Rechte  im  Auge. 
Sie  fühlten  sich  frühzeitig  als  eine  nationale  Körper- 
schaft, welche  den  Beruf  habe,  auch  im  allgemein  öffent- 
lichen Interesse  die  Rechte  des  Volkes  zu  schirmen  und 
für  seine  Freiheit  zu  sorgen.  Die  Magna  Charta  enthält  zahl- 
reiche und  höchst  wichtige  Bestimmungen  der  Art.  Die  poli- 
tische Freiheit  der  Engländer  ist  zu  einem  guten  Theile 
ein  Werk  der  Aristokratie.  Nachdem  diese  aber  einmal  fest 
begründet  war,  da  wurde  die  hohe  Aristokratie  mehr  und 
mehr  zu  einem  festen  Damme,  welcher  den  Stat  vor  der  Ueber- 
fluthung  der  demokratischen  Ströme  sicherte,  und  wie  sie  vor- 
her die  Yolksfreiheit  begründet  hatte,  übernahm  sie  nun  die 
minder  populäre  aber  nicht  minder  heilsame  Aufgabe  für  die 
Aufrechter}) altnng  des  Thrones  und  der  festen  Statsord- 
nung  einzustehen.  In  der  Mitte  stehend  zwischen  König  und 
der  Menge  des  Volkes,  und  weder  so  mächtig,  dasz  sie  für 
sich  allein  zu  herrschen  vermochte,  noch  so  abhängig  in  ihrer 
Existenz,  dnsz  sie  allen  Strömungen  von  unten  oder  jedem 
Ansinnen  von  oben  folgen  müszte,  bewahrt  sie  die  Freiheit 
und  die  Rechte  beider  vor  dem  Uebergriff  je  des  andern  und 
vor  dem  Miszbrauch  beider.  Der  englische  Adel  ist  auch 
fortwährend  thätig  geblieben  in  den  öffentlichen  Geschäf- 
ten, und  wenn  es  sich  um  Uebung  öffentlicher  Pflich- 
ten handelte,  so  stand  er  allezeit  in  erster  Keine.  Schon  die 
Erziehung  desselben  wird  von  dem  Geiste  politischer  Freiheit 
durchdrungen,  und  ist  auf  persönliche  Selbständigkeit  gerichtet. 
Die  politischen  Parteien,  die  Betheiligung  an  der  Polizeiver- 
waltung der  Friedensrichter,  die  Mitwirkung  bei  den  Wahlen, 
die  Theilnahme  an  den  Grafschaftsverbänden  und  an  den  Ge~ 
schwornengerichten ,    die    Uebung     zu     allen     gemeinnützigen 


Eilftes  Capitel.     Der  Adel.     C.    Der  englische  Adel.  135 

Zwecken  in  Vereine  zusammen  zu  treten ,  die  freiwillige  Selbst- 
besteuerung für  solche  Zwecke,  welche  zu  der  Tragung  der 
Stats-  und  Gemeindesteuern  hinzutritt,  das  Alles  erhält  die 
Aristokratie  im  Zusammenhang  mit  dem  Volksleben  und  übt 
sie  in  den  Pflichten  der  Selbstverwaltung  und  der  patriotischen 
Thätigkeit.  Niemand  kann  ihr  vorwerfen,  dasz  sie  eine  Schma- 
rotzerpflanze sei ,  welche  die  Volkssäfte  gierig  aufsauge  und 
die  Fruchtbarkeit  des  Stammes  und  seiner  Zweige  ver- 
mindere. 4 

5.  Das  Princip  des  Erbrechtes  ist  für  die  englischen 
Lords  zur  statsrechtlichen  Regel  erhoben  worden,  aber  weder 
in  so  absoluter  Form  noch  so  ausschlieszlich  als  auf  dem 
Continent. 

In  der  ersten  Zeit  stand  das  Erbrecht  und  die  Pairschaft 
in  enger  Beziehung  zu  dem  Grundbesitz  oder  den  Aemtern; 
die  Paine  selber  hatte  damals  einen  territorialen  Charakter. 
Später  aber  wurde  dieser  Zusammenhang  aufgelöst,  und  die 
Pairie  ging  als  persönliche  Würde  durch  das  Erbrecht 
über.  Von  dieser  frühern  Verbindung  mit  einem  bestimmten 
Land,  oder  Schlosz  oder  Amte  her  erhielt  sich  aber  der  wich- 
tige erb  rechtliche  Grundsatz,  dasz  nur  Einer  der  Söhne  oder 
Anverwandten  des  verstorbenen  Lords  an  dessen  Stelle  ins 
Parlament  trete.  Nur  der  älteste  Sohn  wurde  nach  den  Grund- 
sätzen der  Erstgeburt  wieder  Lord,  die  später  geborenen  er- 
hielten mindern  Eang  und  waren  von  den  Rechten  des  hohen 
Adels  ausgeschlossen.  Nicht  blosz  die  jüngeren  Söhne  des 
Lords  sind  vor  dem  Gesetze  blosze  Esquires,  sondern  selbst 
der  älteste  wird,  so  lange  der  Vater  lebt,  nur  von  der  Höf- 
lichkeit der  Gesellschaft,  nicht  von  dem  Rechte  Lord  genannt. 
Auf  diese  Weise  blieb  einerseits  das  Ansehen  und  der  Reich- 
thum  der  groszen  Familien  fortdauernd  in  Einem  Familien- 
haupte concentrirt,  und  gab  es  andererseits  Uebergänge  zu  den 

4  Vgl.  die  ausführliche  Darstellung  in  dem  angef.  Werk  von  Oneist 
und  die  Charakteristik  von  Tocqiievüle  Oeuvres  Bd.  VIII. 


|36  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

übrigen    Ständen,    welche    den   Unterschied    des    Blutes    mil- 
derten. 5 

6.  Ebenso  wurde  die  Familiengenossenschaft  auch 
der'Pairs  nicht  auf  das  adelige  Blut  beschränkt.  Auch  die 
bürgerlich  geborne  Frau,  welche  zur  Gemalin  eines  Lords  er- 
hoben wird,  wird  um  deszwillen  ohne  Bedenken  zur  Lady: 
ein  Grundsatz  des  natürlichen  Familienrechts,  dessen  Beachtung 
die  Ehre  des  hohen  Adels  keineswegs  verdunkelt,  sondern  im 
Gegentheil  vor  gerechten  Angriffen  bei  weitem  mehr  gesichert 
hat  als  das  kastenartige  Princip  der  Ebenbürtigkeit,  an  wel- 
ches der  deutsche  hohe  Adel  so  ängstlich  sich  anklammert. 

7.  Endlich  wurde  der  Stand  der  Pairs  von  Zeit  zu  Zeit 
durch  neue  Pair sernennungen  ergänzt  und  erfrischt.  Das 
Kecht,  Pairs  zu  ernennen,  wurde  dem  Könige  vorbehalten. 
Er  galt  als  ,,die  Quelle  aller  politischen  Ehren."  6  Ihm  allein 
kam  es  daher  zu,  neue  Glieder  des  Adels,  sei  es  mit  dem 
Titel  eines  Herzogs,  Marquis,  Grafen  (earl),  Vizgrafen 
(viscount)  oder  dem  einfacheren  eines  Barons  zu  schaffen  und 
ihnen  Pairsrechte  zu  verleihen.  Aber  es  lag  in  der  Natur  der 
Dinge,  dasz  zu  der  politisch-nationalen  Würde  nur  Männer 
erhoben  werden  konnten,  welche  durch  ihre  Verdienste  beson- 
ders als  Feldherrn  oder  Statsmänner  sich  ausgezeichnet  hatten, 
und  zugleich  ein  so  bedeutendes  Vermögen  besaszen  oder  er- 
hielten, dass  sie  im  Stande  waren,,  den  Ansprüchen  des  hohen 
Standes  zu  genügen.  Die  englische  Aristokratie  erhielt  auf 
diese  Weise  einen  stäten  Zuflusz  von  wahrhaft  aristokratischen 


5  Macaulatj,  Hist.  of  England  I.  S.  37:  „Die  englische  Aristokratie 
hatte  in  keiner  Weise  den  gehässigen  Charakter  einer  Kaste.  Sie  nahm 
fortwährend  neue  Mitglieder  aus  dem  Yolke  in  sich  auf,  und  gab  ohne 
Unterbruch  wieder  Mitglieder  ab,  die  sich  mit  dem  Yolke  mischten.  Der 
Freisasse  war  picht  geneigt  über  die  Würden  zu  murren,  zu  denen  seine 
eigenen  Kinder  aufsteigen  konnten.  Der  Magnat  war  nicht  geneigt,  eine 
Classe  mit  Verachtung  zu  behandeln,  in  welche  seine  Kinder  herabsteigen 
muszten." 

6  Blackstone,  Commentar.  on  the  Laws  of  England.    I.  12. 


Zwölftes  Capitel.    Der  Adel.     D.    Der  deutsche  Adel.  137 

Kräften,  und  wurde  vor  der  Gefahr  in  Abgeschlossenheit  und 
Unbeweglichkeit  zu  versumpfen  und  zu  faulen,  glücklich  be- 
wahrt. Den  kräftigsten  und  begabtesten  Männern  des  Volkes 
aber  war  die  ermuthigende  Aussicht  eröffnet,  dasz  sie  durch 
ihre  Verdienste  um  den  Stat  sich  und  ihrer  Familie  den  dau- 
ernden Zutritt  zu  den  sonnigen  Höhen  des  Statslebens  zu  er- 
werben vermögen.  Vom  Jahr  1700  bis  1800  sind  so  34  Her- 
zöge, 29  Marquis,  109  Grafen,  85  Viscounts,  248  Barone  neu 
creirt  worden.  Die  Zahl  der  ebenfalls  ernannten  Baronets 
beträgt  in  dieser  Periode  mehr  als  500.  Heute  noch  treten, 
auch  ohne  Adelstitel,  reiche  Bürger,  welche  grosze  Güter  auf 
dem  Lande  kaufen,  in  die  Londgentry  über.7 

Wenn  man  sich  den  Gesammteindruck  dieser  Eigenschaften 
der  englischen  Aristokratie  vergegenwärtigt,  so  ist  es  nicht 
mehr  räthselhaft,  weszhalb  der  englische  Adel  allein  seine 
Existenz  bis  auf  unsere  Tage  unangefochten  bewahrt  hat  und 
fortwährend  in  der  Verfassung  eine  fruchtbare  und  glänzende 
Stellung  einnimmt,  während  auf  dem  Continente  der  Adel 
überall  entweder  gänzlich  untergegangen  ist  oder  doch  nur  ein 
sehr  bestrittenes  und  verkümmertes  Dasein  hat. 


Zwölftes  Capitel. 

D.    Der  deutsche  Adel. 

Die  Geschichte  des  deutschen  Adels  weist  bei  allen  Stäm- 
men auf  eine  Anzahl  vornehmer  Geschlechter  hin,  welche 
durch  Kriegsruhm,  Keichthum  und  Führerschaft  über  die 
übrigen  Freien  emporragen  und  thatsächlich  eine  fürstliche 
Stellung  behaupten.  Dieser  uralte  oft  nur  aus  wenigen  Fami- 
lien bestehende  Stammesadel  ist  die  Grundlage  geworden  für 

7  Gneist,  III.  S.  383.     Tocqueville,  VIII.  319. 


138  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

den  mittelalterlichen  Dynasten-  und  Herrenadel.  Erst  während 
des  Mittelalters  aber  sind  dazu  noch  andere  Classen  eines 
ritterschaftlichen  niederen  Adels  hinzugekommen. 

I.    Hoher  Adel.    Herrenadel.    Standesherren. 

Die  Ausbildung  dieses  höchsten  weltlichen  Standes  geschah 
im  Mittelalter  im  Anschlusz  an  die  deutsche  Eeichsverfassung. 
Die  Familien,  deren  Häupter  zu  höchster  Selbständigkeit  und 
Selbstherrlichkeit  im  Eeiche  emporgestiegen  waren,  galten  als 
hoch  fr  ei  ( sendbar  frei ,  semperfrei).  Bis  gegen  Ende  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  wurden  nur  die  Glieder  dieser  Fami- 
lien als  wirklicher  Keichsadel  (nobiles)  bezeichnet.  Aber  nur 
die  Häupter  der  Familien,  welche  im  Besitz  der  reichsfürst- 
lichen oder  gräflichen  Stellung  waren,  oder  reichsfreie  Herr- 
schaften inne  hatten,  galten  als  eigentliche  Herren.  In  den 
andern  Gliedern  der  Familien  war  der  Stand  ein  ruhender,  sie 
waren  nur  Genossen  der  Fürsten  und  Herren  und  nicht 
selber  Fürsten  und  Herren. 

Diese  reichsständische  Erhebung  gründete  sich 

a)  auf  das  Fürstenamt,  d.  h.  ursprünglich  auf  die  her- 
zogliche Kriegsgewalt,  welche  mit  der  Fahne  verliehen  wurde. 
Neben  und  theilweise  vor  den  weltlichen  Fürsten  (Herzogen. 
Mark-  und  Pfalzgrafen)  stehen  die  geistlichen,  mit  dem 
Scepter  beliehenen  Keichsfürsten.  Das  weltliche  Fürstenamt 
war  erblich  geworden  und  wurde  in  der  Kegel  nur  den  Ab- 
kommen aus  hohem  Adel  verliehen.  Das  geistliche  Fürsten- 
amt war  nicht  ausschlieszlich  diesem  Stande  vorbehalten :  öfter 
wurden  auch  Geistliche  von  blosz  ritterschaftlicher  Abkunft 
oder  bürgerliche  Gelehrte  dazu  erwählt,  in  seltenen  Fällen  so- 
gar Bauernsöhne  auf  den  bischöflichen  Stuhl  erhoben. 

b)  auf  das  Grafenamt,  das  ebenso  zu  einem  erblichen 
Landgrafenthum  und  zu  erblicher  Landesherrschaft  befestigt 
wurde.  Nach  dem  Sturze  der  mächtigen  Stammesherzoge  und 
der  Vertheilung  der  herzoglichen  Gebiete  unter  mehrere  Fürsten 
bekamen   diese   gräflichen  Dynastien  höheres  Ansehen.      Der 


Zwölftes  Capitel.     Der  Adel.     D.    Der  deutsche  Adel.  139 

Form  nach  beruhte  die  Grafenwürde  auf  der  Verleihung  des 
Königsbanns  durch  den  König,  dem  Wesen  nach  war  sie  erb- 
liche Landesherrschaft. 

c)  Daneben  gab  es  eine  Anzahl  von  groszen  Aliodial- 
herrschaften,  deren  Herrn  wieder  durch  Immunitäten  und 
Verleihung  von  Hoheitsrechten  eine  den  Grafen  ähnliche  Hoheit 
und  Gerichtsmacht  erlangt  hatten,  die  sogenannten  freien 
Herrn  (Barone). 

Die  Familien  des  alten  Stammesadels,  die  nicht  eine  der- 
artige Reichsstellung  erwarben,  konnten  sich  auf  die  Dauer 
nicht  als  Glieder  des  hohen  Reichsadels  behaupten,  sondern 
verschwanden  unter  den  übrigen  Classen,  vorzüglich  des  ritter- 
schaftlichen Adels. 

Dieser  Reichsadel  ist  in  seinen  Häuptern  hauptsächlich 
durch  zwei  politische  Rechte  ausgezeichnet,  1)  durch  die 
Landeshoheit,  2)  durch  die  Reichsstandschaft.  Er 
ist  also  ein  herrschender  Stand  im  höchsten  Sinn  des 
Worts,  in  den  eigenen  Ländern  alleinherrschend,  im  Reiche 
mitherrschend. 

Dieser  Zug  nach  Herrschaft  ist  charakteristisch  für  den 
deutschen  hohen  Adel.  Die  Geschichte  des  deutschen  Reiches 
zeigt  die  unglücklichen  Wirkungen  dieses  mächtigen  Triebes, 
welcher  die  angesehensten  Geschlechter  verführte,  die  Hoheit 
des  Kaiserthums  den  Anmaszungen  des  römischen  Papstthums 
Preis  zu  geben,  das  deutsche  Königthum  vollständig  zu  ent- 
kräften und  lahm  zu  legen,  die  nationale  Einheit  gänzlich  auf- 
zulösen und  deutsches  Gebiet  den  Fremden  dienstbar  zu  machen. 
Diese  schwere  Verschuldung  gegen  das  Gesammtvaterland  und 
die  Weltgeschichte  wird  nicht  aufgewogen  durch  die  Blüthe 
der  Höfe  und  der  fürstlichen  Residenzen  und  nicht  gut  ge- 
macht durch  die  veredelnden  Werke  der  Cultur,  welche  unter 
dem  Schutz  und  mit  der  Förderung  der  Dynasten  glücklich 
gediehen. 

Die  Landeshoheit  wurde  mit  der  Zeit  zu  einer  scheinbaren 


140  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Souveränetät  gesteigert,  ohne  innere  Kraft  und  ohne 
Sicherheit  für  die  Zukunft.  Nur  einige  der  gröszten  fürstlichen 
Territorien  waren  fähig,  eine  relative  s tatliche  Existenz 
zu  behaupten,  die  meisten  waren  auch  dazu  zu  schwach  an 
Mitteln  und  zu  beschränkt  an  Geist.  Die  Reichsstandschaft 
aber  wurde  selten  so  geübt,  dass  die  Interessen  der  deutschen 
Nation  gefördert,  die  öffentlichen  Rechte  ausgebildet,  und  die 
Volksfreiheit  befestigt  wurde,  sondern  vielmehr  in  der  Rich- 
tung ausgebeutet,  die  besondere  Landesherrschaft  der  Reichs- 
stände zu  erweitern  und  die  nationalen  Pflichten  abzulehnen. 
In  diesem  Stande  war  auch  die  Neigung  sich  familien- 
artig abzuschlieszen  besonders  stark  vertreten.  Es  zeigt 
sich  das  in  dem  strengen  Erfordernisz  der  Ebenbürtigkeit, 
in  der  Verwerfung  der  sogenannten  Miszheirath  und  in  der 
Ausbreitung  des  gleichen  Standesrechts  auf  sämmtliche  Kinder. 
Nur  die  ebenbürtige  Ehe  zwischen  Genossen  von  beiderseitiger 
Abstammung  aus  hochfreien  Familien  galt  als  völlig  untadel- 
haft.  Die  Ehe  eines  Hochfreien  selbst  mit  einer  Mittelfreien 
wurde  in  vielen  dynastischen  Familien  schon  als  Miszheirath 
betrachtet,  welche  die  Ebenburt  der  Kinder  und  die  fürstliche 
Erbfolge  der  Söhne  gefährde,  /war  konnte  noch  der  König 
durch  persönliche  Standeserhebung  der  Frau  diesen  Mangel 
heben  oder  die  Familie  konnte  kraft  ihrer  Autonomie  auch 
freieren  Grundsätzen  über  Ehegenossenschaft  huldigen  oder  im 
einzelnen  Fall  ihre  Zustimmung  zur  Vollwirkung  einer  an  sich 
ungleichen  Ehe  ertheilen.  Keine  deutsche  Dynastie  hat  sich 
ganz  rein  erhalten  können  nach  den  strengen  Grundsätzen  der 
Ebenburt.  Aber  in  sehr  vielen  Fällen  wurden  von  Anfang 
morganatische  Ehen  geschlossen,  mit  der  ausdrücklichen 
Bestimmung,  dasz  die  Kinder  dem  fürstlichen  Stande  des 
Vaters  nicht  folgen.  Und  in  vielen  andern  Fällen  wirkte  die 
unzweifelhafte  Miszheirath,  besonders  mit  einer  Frau  von  nie- 
derer Herkunft  aus  kleinbürgerlichem  oder  bäuerlichem  oder 
gar   aus  hörigem  Stamm   ebenso   und  es  konnten   in    solchen 


Zwölftes  Capitel.     Der  Adel.     D.    Der  deutsche  Adel.  141 

Fällen  nach  den  späteren  Wahlcapitulationen  selbst  die  Könige 
einen  solchen  Flecken  nicht  reinigen.  Zur  Zeit  der  Bechts- 
spiegel  noch  wurden  Fürsten,  Grafen  und  Freiherrn  nur  die 
wirklichen  Träger  des  Fürsten-  und  Grafenamts  und  die  Be- 
sitzer einer  Freiherrschaft  genannt. 1  Aber  später  kam  der 
verwirrende  Sprachgebrauch  auf,  dasz  auch  alle  Söhne  der 
Fürsten  und  Grafen,  unbekümmert  darum,  ob  sie  ein  Fürsten- 
thum  oder  eine  Grafschaft  hatten,  den  Titel  des  Vaters  an- 
nahmen und  weiter  verpflanzten.  Diese  Vervielfältigung  der 
Titel  ohne  inneren  Gehalt,  scheinbar  zur  Ehre  der  Familien 
durchgeführt,  diente  dazu,  deren  Ansehen  im  Volk  zu  unter- 
graben und  dieselben  den  gröszeren  Landesherren  gegenüber 
zu  schwächen.  Das  Princip  einer  unbesch rankten  erb- 
lichen Ausbreitung  ward  daher  dem  hohen  Adel  selbst, 
der  es  in  Anspruch  nahm,  verderblich.  Ebenso  diente  der 
festgehaltene  Grundsatz  der  Ebenbürtigkeit  dazu,  die  Quellen 
seiner  eigenen  Erfrischung  zu  verstopfen  und  ihn  von  der  Zu- 
neigung des  Volkes  abzuschlieszen. 

Mit  der  Auflösung  des  deutschen  lieiches  muszte  auch 
dieser  hohe  Adel  der  Deutschen  untergehen.  Die  Säculari- 
sation  (1803)  beseitigte  die  geistlichen  Fürsten,  deren  Länder 
unter  die  weltlichen  Fürsten  vertheilt  wurden,  gänzlich.  Ihr 
folgte  die  sogenannte  Mediatisirung  einer  groszen  Anzahl 
bisher  selbständiger  kleiner  Keichsfürsten  und  Herren,  welche 
nur  den  gröszeren  Landesfürsten  unterthänig  gemacht  wurden 
und  von  ihrer  früheren  Landesherrschaft  nur  noch  eine  mitt- 
lere und  niedere  Gerichtsbarkeit  in  verkümmerter  und  hin- 
fälliger Gestalt  beibehielten.  Wie  ihre  Landeshoheit  so  zerstört 
war,  so  war  auch  mit  dem  Erlöschen  der  Eeichstage  ihre 
Keichsstandschaft  nach  und  nach  erloschen.  Sie  erhielten  dafür 
in  dem  neuen  Kechte   der  Landstandschaft  —    vorzüglich 

1  Sachsensp.  III.  58.  §.  2.  „It  n'is  nen  vanlen,  dar  die  man  af 
möge  des  rikes  vorste  wesen,  he  ne  vntva't  van  deme  koninge." 
Ssp.  I.  3,  §.  2.     Schwabensp.  5. 


142  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

in  den  Ersten  Kammern  —  einen  theüweisen  Ersatz.  Die 
fürstlichen  Titel  waren  geblieben,  die  fürstlichen  Kechte  waren 
untergegangen.  Nur  eine  kleinere  Zahl  der  früheren  Fürsten, 
meistens  die  gröszeren,  erwarb  eine  souveräne  Stellung  als 
selbständige  Landesfürsten  ihrer  Staten  und  als  Glieder  des 
deutschen  Bundes. 

IL  Eitterschaftlicher  Adel.    Niederer  Adel. 

In  der  Mitte  zwischen  dem  alten  Dynastenadel  und  den 
einfachen  Freien  standen  die  aus  den  letzteren  erhobe- 
nen Mittelfreien,  wie  sie  der  Schwabenspiegel  nennt.  Im 
Süden  von  Deutschland  läszt  sich  dieser  Stand  bis  in  die  Zeit 
der  fränkischen  Monarchie  hinauf  verfolgen.  Erst  seit  dem 
vierzehnten  Jahrhundert  aber  kam  der  Sprachgebrauch  auf, 
diese  Mittelfreien  ebenfalls  Edelleute  zu  nennen,  dadurch 
dem  Adel  als  niederen  Adel  näher  zu  bringen  und  gleich- 
zeitig schärfer  von  den  einfachen  Freien  zu  trennen. 

Die  Hauptbestandtheile  dieses  Standes  waren: 

a)  Die  schöffenbar  Freien,  ursprünglich  mit  gröszern 
Gütern  (drei  Hüben  oder  mehr)2  ausgestattet,  und  als  die 
angeseheneren  und  reicheren  Freien  zu  dem  Schöffenamte  be- 
rufen, welches  wie  alle  Aemter  im  Mittelalter  mit  der  Zeit 
erblich  ward.  Sie  konnten  auch  ihr  Eigen  länger  als  die 
Masse  der  freien  Bauern  frei  von  Lasten  und  im  Zusammen- 
hange mit  den  Grafen din gen ,  im  Gegensatze  zu  den  Vogtei- 
gerichten erhalten.  In  den  spätem  Jahrhunderten  gingen  die 
schöffenbar  Freien  gewöhnlich  in  dem  Kitter-  und  Grundherren- 
stande auf. 

b)  Die  Vasallen  des  Adels,  seitdem  das  Kitterwesen 
aufgekommen,  Ritter  mit  Ritterlehen. :i 

c)  Zu   diesen  kamen   dann  später   auch  manche  Ritter 

2  Sachsensp.  III.  81.  §•  1.    I.  2. 

3  Sachsensp.  I.  3.  §.2.  „de  scepenbare  lüde  unde  der  vrienher- 
ren  man  (haben)  den  veften  (Heerschild). u  Schwabens  p,  5.  „mitel 
vrien,  daz  sin  die  ander  vrien  man  sint." 


Zwölftes  Capitel.     Der  Adel.     D.    Der  deutsche  Adel.  143 

ohne  Ritterlehen,  groszentheils  zwar  Abkömmlinge  der 
Vasallen,  die  eine  rittermäszige  Erziehung  genossen  hatten  und 
in  die  Eitterschaft  aufgenommen  wurden,  in  der  Folge  aber 
auch  andere  Kriegsmänner,  welche  von  dem  Kaiser  oder  be- 
rechtigten Stellvertretern  desselben  zu  Rittern  erhoben  wurden. 

d)  Die  zahlreichen  Dienstleute,  Ministerialen 
(Edelknechte),  noch  im  XIII.  Jahrhunderte  sehr  scharf  von 
den  ritterbürtigen  Männern  geschieden,  ihrer  Abstammung  nach 
groszentheils  Hörige  und  Halbfreie,  durch  Hofämter  und  Hof- 
dienst, groszen  Grundbesitz  und  vornehme  Lebensart  empor- 
gehoben, anfangs  nicht  des  Lehensrechts,  nur  des  Dienst-  und 
Hofrechtes  theilhaftig,  allmählich  den  Rittern  zur  Seite  tretend 
und  mit  ihnen  in  einen  Stand  zusammenschmelzend. 

e)  In  manchen  Reichsstädten,  seltener  in  Landstädten,  die 
Geschlechter,  Patricier,  ursprünglich  meist  von  schöffen- 
bar freier  oder  rittermäsziger  Abstammung,  durch  den  Antheil 
an  der  städtischen  Obrigkeit  ausgezeichnet. 

Auch  unter  diesen  Classen  des  sogenannten  niedern  Adels 
verdrängte  das  überhandnehmende  Princip  der  persönlichen 
Erblichkeit  mehr  und  mehr  die  Rücksichten  auf  Grund- 
besitz, ritterliche  Lebensart,  Hofdienst,  und  erzeugte  eine  grosze 
Anzahl  von  Edelleuten,  die  keine  andere  edle  Eigenschaft  be- 
saszen  als  den  Nachweis  eines  alten  Stammbaums.  Auch  die 
Abschlieszung  dieses  Standes  von  den  freien  Bürgern  und 
Bauern  wurde  immer  schroffer,  und  zwar  gerade  in  den  Zeiten, 
als  die  innere  Bedeutung  des  Gegensatzes  abstarb.  Im  Zu- 
sammenhange damit  erhielt  die  Sucht  nach  vornehmen  Titeln 
reichliche  Befriedigung,  und  auch  aus  diesem  Stande  gingen 
ganze  Schaaren  von  Freiherren  und  sogar  Grafen  und  Fürsten 
hervor,  theils  durch  Verleihung,  theils  geradezu  durch  An- 
maszung  solcher  Titel,  denen  im  übrigen  keine  Realität  mehr 
entsprach,  die  keine  Freiherrschaft,  keine  Grafschaft,  kein 
Fürstenthum  hatten. 

Ein  so  ausgebildeter  Adel  der  Militär-  und  Civilämter 


144  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

wie  in  Frankreich  kam  in  Deutschland  nicht  auf.  Höchstens 
bildete  der  gelehrte  Adel  der  Doctores  juris  eine  individuelle 
Ergänzung  des  im  übrigen  erblichen  Standes.  Um  so  eifriger 
dagegen  wurde  der  Briefadel  zur  Erweiterung  des  ohnehin 
übermäszigen  Titula radeis  den  Franzosen  nachgeahmt. 

Dieser  niedere  Adel  hatte  weder  auf  Landeshoheit  noch 
auf  Keichsstandschaft  Anspruch.  Nur  die  Keichsritter- 
schaft  erlangte  eine  der  Landeshoheit  ähnliche  Selbständigkeit 
in  ihren  durch  das  Eeich  zerstreuten  Gebieten.  Dagegen  war 
er  des  Lehensrechts  theilhaft  und  hatte  häufig  gewisse 
Vorrechte  auf  Stiftungen  und  Pfründen.  Auch  besasz 
ein  Theil  seiner  Glieder,  jedoch  nur  in  Verbindung  mit  be- 
stimmten Herrschaften  und  Gütern,  erbliche  Vogt  ei-  und 
Grundherrschaft  und  übte  die  damit  verbundene  Gerichts- 
barkeit aus,  im  Zusammenhang  mit  der  mittelalterlichen 
Ausbreitung  des  Lehenssystems.  Endlich  besasz  er  innerhalb 
der  einzelnen  Territorien  das  Kecht  der  Landstandschaft, 
und  umgab  regelmäszig   die  Landesherren  als  Hofadel. 

Wo  möglich  noch  tiefer  zerrüttet  als  die  Keichsinstitution 
des  hohen  Adels  ist  die  politische  Institution  des  sogenannten 
niedern  Adels  in  Deutschland.  Die  Auflösung  des  Lehens- 
verbandes, der  Untergang  der  feudalen  Statseinrichtungen ,  die 
Umgestaltung  der  Armeen,  die  Ausbildung  eines  individuellen 
Beamtenstandes,  die  Erhebung  bürgerlicher  Geschlechter  und 
Personen,  die  Fortbildung  der  Kepräsentativverfassung  haben 
die  Grundlagen  zerstört,  auf  welchen  dieser  Stand  erwachsen 
ist.  Die  vielfältigen  Neuerungen  unserer  Zeit  haben  sowohl 
von  oben  als  von  unten  her  die  besonderen  Adelsrechte  eines 
nach  dem  andern,  zuweilen  auch  alle  zumal  aufgelöst  und  auf- 
gehoben. Auch  in  Deutschland,  wie  zuvor  in  Frankreich,  hat 
der  dritte  Stand  von  den  Vorrechten  des  Adels  nichts  mehr 
wissen  wollen  und  die  ganze  Existenz  desselben  bestritten. 
Durch  die  unbegrenzte  Ausbreitung  des  adeligen  Geschlechtes 
auf  alle    folgenden   Generationen    geriethen   die  äuszeren  An- 


Zwölftes  Capitel.     Der  Adel.     D.    Der  deutsche  Adel.  145 

spräche  des  Adels  mit  ihrer  realen  Begründung  in  schreienden 
Widerspruch  und  wurden  die  Miszverhältnisse  besonders  im 
Vergleich  mit  dem  höheren  Bärgerstand  gesteigert  und  die 
Verwirrung  ärger. 

Nur  eine  Keform  von  Grund  aus,  nicht  die  starre  Be- 
wahrung der  gegenwärtigen  Kuinen  einer  vormals  groszartigen 
Institution,  und  noch  weniger  die  Begünstigung  der  Miszbräuche 
und  hochmüthigen  Prätensionen  kann  hier  helfen.  Wir  be- 
dürfen eine  Beform,  welche  die  Kitterschaft  in  Harmonie  bringt 
mit  den  modernen  Lebens-  und  Verfassungsverhältnissen,  welche 
zwar  die  zahlreichen  gesunden  Elemente  des  bisherigen  niedern 
Adels  vor  dem  Untergang  rettet  und  schützend  erhält,  aber 
alle  andern  Bestandtheile  desselben,  die  in  sich  selber  keine 
Kraft,  keine  Auszeichnung  haben,  schonungslos  beseitigt,  eine 
Erneuerung,  welche  jenen  wahrhaften,  mit  aristokratischen 
Eigenschaften  noch  ausgestatteten  alten,  meist  begüterten 
Bitteradel  ergänzt  und  verstärkt  durch  die  übrigen  in  der 
Nation  vorhandenen  aristokratischen  Qualitäten  auch 
von  neuem  Datum.  Nur  eine  Neugestaltung  des  wahrhaft  aus- 
gezeichneten Adels,  welche  zugleich  die  Schranken  entfernt, 
die  der  Kastengeist  auf  dem  Continent  errichtet  hat  und  den 
Adel  auch  in  lebendigem  Zusammenhang  mit  dem  versöhnten 
Volke  erhält,  könnte  wieder  zur  Unterlage  dienen,  für  die 
höhere  politische  Stellung  des  Adels  und  die  Ausbildung 
der  aristokratischen  Theile  der  Nation. 

Die  Erblichkeit  wird  indessen  in  einem  so  gereinigten 
aristokratischen  Mittelstande  schwerlich  allein  Geltung  haben 
noch  schrankenlos  sich  ausdehnen  dürfen.  Denn  es  gibt  in 
Wahrheit  auch  einen  Individualadel  neben  dem  (erblichen) 
Kasseadel,  und  auch  eine  edle  Rasse  kann  in  folgenden 
Generationen  und  getrennt  von  ihren  socialen  Grundlagen  ihren 
Adel  verlieren. 

Für  diese  Reformen  des  deutschen  Adels  ist  indessen  noch 
keine  Aussicht  vorhanden.    Die  Jahre,  welche  derselben  günstig 

Bl  untsc  hü  j  allgemeines  Statarecht.    I.  10 


146  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

waren  (1852  bis  1859),  wurden  nicht  benutzt.  Ein  paar  ver- 
unglückte Versuche  bewiesen  nur  die  geringe  Autorität  der 
Keformfreunde  unter  ihren  Standesgenossen  und  den  Wider- 
willen der  Mehrzahl  gegen  jede  aufrichtige  und  wirksame 
Beform.  Ein  groszer  Theil  des  deutschen  Adels  hat  sich  den 
Ideen  der  neuen  Zeit  eher  feindlich  als  freundlich  gezeigt  und 
lange  noch  in  romantischen  Gefühlen  für  mittelalterliche  Zu- 
stände geschwärmt  oder  dem  landesherrlichen  Absolutismus 
willfährig  als  Stütze  gedient.  Deszhalb  ist  er  nicht  wie  der 
englische  Adel  volksthümlich  geblieben,  sondern  dem  franzö- 
sischen Legitimistenadel  ähnlich  dem  Volke  verdächtig  ge- 
worden, ungeachtet  in  allen  groszen  Entwicklungsmomenten 
immer  noch  die  besten  Männer  und  Führer  von  adelicher  Her- 
kunft waren.  Bei  solcher  Stimmung  ist  an  keine  Reform  von 
Innen  heraus  zu  denken,  und  von  Auszen  her  durch  blosze 
Gesetze  und   Statuten   kann  dieselbe  nicht  vollzogen  werden. 

Anmerkungen.  1.  Riehl  hat  in  seinem  Buch  „die  bürgerliche 
Gesellschaft"  (1854)  die  sociale  Bedeutung  „der  deutschen  Aristokratie" 
in  lebhaften  Bildern  gezeichnet.  Der  Adel  hat  gegenwärtig  nur  noch 
eine  sociale  Geltung,  die  auch  für  sich  einen  "Werth  hat,  aber  ohne 
politische  Organisation  weder  auf  die  Dauer  zu  erhalten  ist,  noch  zur 
rechten  Wirksamkeit  gelangen  kann.  Die  Stände  sind  als  sociale  Ge- 
meinschaften nur  eine  Unterlage  der  organischen  und  dann  erst 
wirklichen  politischen  Stände. 

2.  Di.e  Ansichten,  welche  ich  im  Deutschen  Statswürterbuch  I.  5. 
30  ff.  und  S.  58  ff.  ausgesprochen  habe,  heben  vornehmlich  den  Unter- 
schied hervor  zwischen  ruhendem  (passivem)  und  wirklichem  (activem) 
Adel  und  gründen  darauf  Vorschläge  der  Reform.  Jener  schon  durch 
die  Geburt  verliehen,  hat  nur  die  Möglichkeit  in  sich,  wirklich  zu  wer- 
den, aber  gibt  keinerlei  Vorzüge ;  dieser  setzt  auch  die  persönliche  Aus- 
zeichnung voraus,  durch  die  jene  Möglichkeit  erfüllt  wird.  Ich  habe 
seitdem  die  wenig  tröstliche  Entdeckung  gemacht,  dasz  schon  Justus 
Moser  auf  denselben  Gedanken  vor  zwei  Menschenaltern  gekommen 
(Patriot.  Phantasien,  IV.  248)  und  dasz  derselbe  in  der  ganzen  langen 
Zwischenzeit  gänzlich  miszachtet  geblieben  war.  Bluntschli  Geschichte 
der  Statswissenschaft  S.  423. 


Dreizehntes  Capitei.    Die  Freien  und  der  Bürgerstand.  147 


Dreizehntes  Capitei. 

III.    Die  Freien  und  der  Bürgerstand. 

Waren  die  einfachen  Freien  ursprünglich  fast  überall  vor- 
zugsweise freie  Grundeigenthümer  und  Landbauern,  so  änderte 
sich  das  später  meistentheils.  Die  antike  Statenbildung  ist 
regelmäszig  von  den  Städten  ausgegangen;  ein  groszer  und 
der  politisch  einfluszreichste  Theil  der  Freien  lebte  in  den 
Städten,  und  wendete  sich  städtischer  Berufs-  und  Lebensweise 
zu.  In  dem  Bürgerrechte  fand  die  blosze  ständische  Frei- 
heit einen  höhern  politischen  Ausdruck. 

I.  Bei  den  Griechen  erlangte  der  freie  Bürgerstand,  vor- 
züglich zu  Athen,  die  höchste  Ausbildung  und  Macht.  Es 
gelang  ihm  hier,  auf  der  einen  Seite  die  patronymischen  Ge- 
schlechter zu  sich  hernieder  zu  ziehen,  und  auf  der  andern 
Seite  die  dienenden  Classen  —  mit  Ausschlusz  der  Sclaven- 
bevölkerung  —  zu  sich  zu  erheben.  Alle  Statsgewalt  wurde 
von  dem  Bürgerthume  allein,  in  welchem  völlige  Eechts- 
gleichheit  als  Grundrecht  galt,  in  Anspruch  genommen.  In 
ihm  fand  die  Athenische  Demokratie  ihre  natürliche  Grundlage. 

IL  In  Born  errang  die  Plebes  zwar  eine  eigenthüm- 
liche  politische  Gestaltung  in  den  Tributcomitien  und  in  den 
Volkstribunen  auch  besondere  Organe  theils  ihrer  Meinung  und 
ihres  Willens,  theils  ihrer  Vertretung  und  ihres  Schutzes. 
Ferner  sog  sie  den  Stand  der  dienten,  welcher  vordem  eine 
eigene  Stellung  gehabt  hatte,  in  sich  auf,  und  erkämpfte  selbst 
die  Fähigkeit  für  ihre  Genossen,  zu  den  höchsten  Magistraturen 
des  States  aufzusteigen.  Es  waren  ihr  fast  keine  politischen 
Kechte  mehr  verschlossen,  und  der  alte  Gegensatz  des  popidus 
und  der  plebes  verlor  seinen  Sinn. 

Dennoch  unterscheiden  sich  die  Schicksale  der  römischen 
Plebes  darin  sehr  von  denen  der  Athenischen  Bürgerfreiheit} 
dasz  in  Born  die  neue  Aristokratie  der  Optimaten   emporragte 

10* 


148  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

und  die  reale  Statsmacht  vorzugsweise  in  ihren  Händen  be- 
hielt. Die  grosze  Masse  der  römischen  Bürger  blieb  zwar  im 
Besitze  des  vollen  Privatrechtes,  und  übte  in  ihrer  Gesammt- 
heit  die  Kechte  der  Gesetzgebung  und  der  Wahlen  für  die 
Statsämter  aus.  Ihre  Mitglieder  waren  auch  fähig,  zu  den 
öffentlichen  Würden  gewählt  zu  werden.  Die  spätere  Plebes 
war  in  der  politischen  Rechtsfähigkeit  keineswegs  zurückgesetzt; 
aber  die  Natur  der  römischen  Zustände  und  Einrichtungen 
brachte  es  doch  mit  sich,  dasz  die  Magistraturen  und  der 
Senat  gewöhnlich  in  der  weit  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Aristokratie  zukamen. 

So  lange  die  Republik  dauerte,  waren  die  Plebejer  der 
Hauptbestandtheil  der  römischen  Bürgerschaft,  und  zugleich 
die  Quelle  und  Stütze  der  demokratischen  Richtung,  die  auch 
im  römischen  State  später  überhand  nahm.  Als  aber  die  La- 
tiner und  die  italischen  Bundesgenossen,  und  unter  den  Kaisern 
sogar  alle  freien  Provincialen  zu  römischen  Bürgern  erklärt 
wurden,  verlor  das  Bürgerrecht  seinen  specifischen  Charakter, 
und  es  entstand  ein  allgemeines,  die  gesammte  freie 
Bevölkerung  des  Reiches  umfassendes  Statsbürger- 
thum,  dessen  politische  Rechte,  soweit  nicht  Einzelne  durch 
Aemter  und  Würden  eine  höhere  Stellung  erhielten,  von  der 
übermäszigen  Gewalt  des  Kaisers  groszentheils  aufgezehrt  wurden. 

III.  Das  Mittelalter  war  dem  Stande  der  Gemeinfreien 
nicht  günstig.  Fast  überall  in  Europa  erlagen  die  freien 
Grundeigenthümer  des  Landes  der  um  sich  greifenden  Herr- 
schaft des  Lehensadels  und  der  Vogteiherren.  Die  Gesetz- 
gebung Karls  des  Groszen  vermochte,  obwohl  sie,  von  einem 
starken  Könige  gehandhabt,  die  schlimmsten  Bedrückungen 
hemmte,  doch  den  Fortgang  des  Uebels  nicht  aufzuhalten. 
Ein  sehr  groszer  Theil  der  bäuerlichen  Bevölkerung  in  der 
fränkischen  Monarchie,  welcher  durch  freie  Geburt  den  echten 
germanischen  Volksstämmen  angehörte,  gerieth,  weil  er  auf 
königlichen  oder  Kirchengütern,  oder  in  den  Grundherrschaften 


Dreizehntes  Capitel.     Die  Freien  und  der  Bürgerstand.         149 

des  Adels  sich  niederliesz  und  Boden  bebaute,  der  nicht  in 
seinem  Eigentimm  war,  oder  weil  er  sein  Eigentimm  aus 
frommen  Motiven  oder  auch  aus  Noth  an  die  Kirchen  und 
Klöster  vergabt,  und  nur  als  Zinsgut  zurück  empfangen  hatte, 
in  die  Höfhörigkeit,  kam  so  den  auch  persönlich  hörigen  Bauern 
näher  und  büszte  mancherlei  politische  Freiheitsrechte  ein. 
Und  später  konnten  auch  die  kleinern  Güter,  welche  im  Eigen- 
thum  ihrer  freien  Bebauer  geblieben  waren,  sich  doch  der 
Vogteigerichtsbarkeit  und  der  Lasten  nicht  erwehren,  welche 
die  herrschende  Aristokratie  denselben  auferlegte.  Die  ver- 
änderte Organisation  der  Heere,  erst  auf  den  Kitter-  und 
Lehendienst  basirt,  später  auf  Soldtruppen,  hatte  zur  Folge, 
dasz  auch  die  freien  Bauern  die  Kriegstüchtigkeit  und  Krieger- 
ehre verloren.  Sie  wurden  mit  Steuern  in  den  mannichfaltig- 
sten  Formen  und  aus  mancherlei  Vorwänden  oft  willkürlich 
belegt;  und  auch  in  den  Gerichten,  mehr  aber  noch  in  den 
politischen  Körperschaften  des  Landes  verloren  sie  den  Besitz 
und  die  Stimme,  welche  die  alt-germanische  Verfassung  ihnen 
gewährt  hatte.  Auch  die  freien  Grundeigentümer  wurden 
als  Vogteileute  nach  und  nach  den  hörigen  Bauern  gleich- 
gestellt, und  beide  Bestandtheile  —  ohne  dasz  auf  die  ursprüng- 
liche Freiheit  oder  selbst  das  Eigenthum  ein  besonderer  Nach- 
druck gelegt  ward  —  unter  dem  gemeinsamen  Namen  der 
Bauerschaft  zusammen gefaszt.  Der  alte  Erbstand  wurde 
somit  in  einen  Berufsstand  umgewandelt,  und  die  politi- 
schen Kechte  des  Bauernstandes  meistens  sehr  verkürzt.  Nur 
ein  Theil  der  freien  Bauern,  meistens  die  gröszeren  Grund- 
eigenthümer,  stieg  unter  die  neu  erstandene  Classe  der  Kitter- 
schaft empor. 

Ausnahmsweise  nur,  unter  günstigen  Verhältnissen,  gelang 
es  einzelnen  Gemeinden  von  Freien  sowohl  ihr  freies  Eigen 
als  ihre  höhere  politische  Berechtigung  vor  den  drohenden 
Gefahren  des  Mittelalters  in  die  neuere  Zeit  hinüber  zu  er- 
halten.    Eines   der  merkwürdigsten  Beispiele  der  Art  ist  die 


150  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Schwyzer  Markgenossenschaft,  welche  den  Impuls  gegeben  hat 
zu  der  nach  ihr  benannten  schweizerischen  Freiheit. 

IY.  Während  so  auf  dem  Lande  die  alte  Freiheit  ge- 
wöhnlich niedergedrückt  wurde  und  unterging,  so  wurden  im 
Gegensatze  während  des  Mittelalters  die  Städte  zum  Sitz 
einer  neuen  Bürgerfreiheit. 

Die  Geschichte  der  Städte  ist  für  die  Entwicklung  des 
Begriffs  der  modernen  Freiheit  und  des  Bürgerthums  von  ent- 
scheidendem Einflüsse  geworden.  Beide  Begriffe  waren  früher 
städtische,  bevor  sie  zu  allgemeinen  Statsbegriffen  ge- 
worden sind.  Es  bedurfte  jahrhundertelanger  Kämpfe  und 
Umwandlungen,  bis  das  städtische  Bürgert  hu  m  zu  voller 
Ausbildung  gelangte,  und  wieder  nach  Jahrhunderten  wurde 
es  zum  Statsbürgerthum  erweitert. 

Die  Mannichfaltigkeit  und  Gesondertheit  des  aus  romani- 
schen und  mehr  noch  aus  germanischen  Wurzeln  erwachsenen 
Ständelebens,  welches  das  Mittelalter  vornehmlich  charakterisirt, 
spiegelte  sich  anfangs  auch  in  den  Städten  wieder.  Sie  zeigte 
sich  gerade  in  den  Städten,  welche  eine  gröszere  Bevölkerung 
auf  engem  Kaume  zusammenfaszten,  ursprünglich  in  ihrer  bun- 
testen Gestalt.  Da  fanden  sich,  von  denselben  Graben  und 
Mauern  umschlossen,  oft  beisammen: 

1)  geistliche  Fürsten  mit  ihrem  Hofstate  und  be- 
sondern Hoheitsrechten,  Bischöfe,  Aebte; 

2)  die  niedere  Geistlichkeit  in  mannichfaltigen  Ab- 
stufungen und  Gliederungen; 

3)  weltliche  Grosze  von  hohem  Adel,  z.  B.  könig- 
liche Grafen  oder  sonst  hohe  Barone,  in  Italien  Capitanei, 
welche  meistens,  insofern  sie  nicht  Burgen  daselbst  besaszen, 
nur  vorübergehend  in  den  Städten  lebten  und  ihren  eigent- 
lichen Stammsitz  auf  dem  Lande  hatten; 

4)  ritterliche  Familien,  häufig  auch  mit  Lehens- 
besitz auf  dem  Lande  ausgestattet; 

5)  Ministerialen  der  geistlichen  und  weltlichen  Herren ; 


Dreizehntes  Capite).     Die  Freien  und  der  Bürgerstand.  151 

6)  Mittelfreie,  in  den  romanischen  Städten  von  Italien 
und  Frankreich  häufig  die  Nachkommen  der  römischen  Decu- 
rionenfamilien,  welche  in  der  Stadt  Grundeigentum  besaszen, 
oder  germanische  Freie,  die  sich  in  der  Stadt  auf  eigenem 
Boden  niedergelassen  hatten  und  durch  Vermögen  und  poli- 
tische Stellung  ausgezeichnet  waren; 

7)  einfache  Gemeinfreie,  aber  noch  mit  Grund- 
eigentum in  der  Stadt; 

8)  persönliche  Freie,  die  .aber  auf  Herrengütern  in 
der  Stadt  wohnten  und  um  deszwillen  dem  Hofrechte,  z.  B. 
einer  Abtei  unterworfen  waren; 

9)  eine  Menge  höriger  Leute  verschiedener  Herren, 
und  in  den  mannichfaltigsten  Verhältnissen,  die  einen  selb- 
ständig lebend,  als  Handwerker, 

10)  die  andern  in  Familienabhängigkeit,  als  Dienstboten, 
Gesellen  u.  s.  f. 

Die  Verbindung  aller  dieser  Bruchstücke  der  mittelalter- 
lichen Stände  in  Einer  Stadt  muszte  mit  der  Zeit  die  Son- 
derung derselben  auflösen  und  eine  neue  Mischung  hervorbringen. 
Gemeinsames  Leben,  gemeinsame  Interessen  und  Schicksale, 
oft  auch  die  Kämpfe  der  Parteien  brachten  die  einen  Bestand- 
teile den  anderen  näher,  oder  bewirkten  neue  Gegensätze, 
welche  nicht  von  der  Geburt  bestimmt  waren.  Die  Stadt- 
verfassung brachte  neue  Genossenschaften  und  Käthe  hervor, 
in  welchen  die  verschiedenen  Stände  zu  einer  neuen  Einheit 
verschmolzen  wurden.  Der  Gang  dieser  Umgestaltung  war, 
obwohl  in  den  verschiedenen  Städten  die  Verschiedenheit  der 
Nationalität,  der  Zeiten  und  der  localen  Einflüsse  auch  ihre 
Einwirkung  übte,  doch  im  Groszen  überall  der  nämliche.  Es 
kommen  hiebei  vorzüglich  folgende  Momente  in  Betracht: 

1.  Den  eigentlichen  Kern  der  alten  städtischen  Bür- 
gerschaft bildeten  zuerst  die  vornehmen  Geschlechter 
der  Bitter,  Ministerialen  und  Mittelfreien,  welche  in  den  Kä- 
then (als  Consules)  nach  Selbständigkeit  strebten  und  die 


252  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

Herrschaft  der  alten  Stadtherren  beschränkten.  Dann  erwei- 
terte sich  dieser  Kern  durch  die  Verbindung  mit  den  gemein- 
freien Elementen  und  es  traten'  neue  Gegensätze  zu  Tage 
zwischen  den  alten  aristokratischen  Geschlechtern  und  den 
jungen  aufstrebenden  Genossenschaften  freier  Bürger.  So  hatte 
sich  zu  Mailand  schon  um  die  Mitte  des  eilften  Jahrhunderts 
die  ,,Mottau  als  politische  Genossenschaft  gebildet  aus  Dok- 
toren der  Hechte,  Aerzten,  Banquiers,  Groszhändlern  und  ein- 
zelnen ritterbürtigen  Leuten,  Junkern,  welche  die  ritterliche 
Lebensweise  nicht  fortsetzten,  später  der  ,,popolo  grasso," 
Populäres  genannt  und  trat  den  adelichen  Capitanei  und  Val- 
vassores  (Baronen  und  Bittern)  entgegen,  dann  auch  im  zwölf- 
ten Jahrhundert  in  dem  Groszen  Käthe  (consilium  generale),1 
als  einem  städtischen  Gesammtrathe ,  zur  Seite. 

Die  Erzeugung  einer  städtischen  Obrigkeit  in  den 
Consuln  war  der  erste  entscheidende  Schritt  zur  Einigung 
der  höhern  Stände  in  der  Stadt,  die  Bildung  von  Groszen 
Käthen  und  die  Berufung  von  Gemeinden  gewöhnlich  ein 
zweiter  und  dritter.  Zuletzt  kamen  die  Zünfte,  und  so  um- 
fing von  Zeit  zu  Zeit  ein  weiterer  Kreis  der  Bürgerschaft  die 
altern  engern  Genossenschaften. 

Diese  Entwicklung  zeigt  sich  zuerst  in  der  Lombardei, 
wo  die  germanische  Neigung  zu  genossenschaftlicher  Bildung 
und  freier  Selbständigkeit  mit  alt -romanischen  Erinnerungen 
sich  verband.  Von  da  aus  ging  die  Bewegung  auf  die  Städte 
im  südlichen  Frankreich  über,  zum  Theil  noch  während 
des  zwölften,  zum  Theil  erst  im  dreizehnten  Jahrhunderte. 
Ihren  Ausgang  und  Anhalt  fand  sie  vornehmlich  in  den  Besten 
der  alten  freien,  in  Frankreich  übrigens  mehr  als  in  der  Lom- 
bardei herabgekommenen  Municipalbürgerschaft,  die  sich 
durch  gewählte  Prudhommes  vertreten  liesz. 

1  Savigny,  Geschichte  des  römischen  Rechts  im  Mittelalter  Bd.  II. 
S.  108  ff.  Leo,  Geschichte  von  Italien  I.  S.  399.  Hegel,  Städtererf. 
in  Italien. 


Dreizehntes  Capitel.     Die  Freien  und  der  Bürgerstand.         153 

2.  Eine  entschiedener  demokratische  Richtung  und  cor- 
porative  Gestalt  hatten  die  eidlichen  Conföderationen 
der  Bürger  in  den  Commnnen,  welche  um  dieselbe  Zeit 
im  Norden  von  Frankreich  mit  ihren  Stadtherren  oft  blutige 
Kämpfe  bestanden.  In  ihnen  zeigen  sich  schon  neue  Elemente 
des  Bürgerthums,  voraus  die  Aufnahme  in  die  Gildgenosse  n- 
schaft  (gildonia,  conjuratio,  fraternitas) , 2  welche  allein  zum 
Bürger  der  Commune  machte,  und  mit  eidlicher  Verpflichtung 
auf  ihre  Statuten  verbunden  war.  Die  bürgerliche  Freiheit 
und  das  bürgerliche  Kecht  wurde  somit  theils  von  der  bloszen 
Fortpflanzung  der  freien  Kasse,  theils  von  dem  Zusammenhang 
mit  dem  Grundbesitz  abgelöst,  und  der  Nachdruck  auf  die 
corporative  Verbindung  gelegt.  Sowohl  das  Lehensprincip 
als  das  Princip  des  alt -germanischen  Ständerechtes  wurden 
durchbrochen  und  ein  neues  persönliches  Princip  erzeugt. 

Ferner  war  die  Verfassung  der  Commune  der  Ausbrei- 
tung der  Freiheit  und  des  Bürgerrechtes  auch  über  die  tiefer 
stehenden  Schichten  der  städtischen  Bevölkerung  günstig. 
Auch  die  Menge  der  Handwerker,  welche  sich  von  der  Hörig- 
keit losgemacht  hatten,  fand  Aufnahme  in  der  Genossenschaft, 
und  es  wurde  der  Grundsatz  ein-  und  durchgeführt,  dasz  der 
Hörige,  welcher  Jahr  und  Tag  in  der  Stadt  unangesprochen  und 
uu verfolgt  von  seinem  Herrn  gewohnt  habe,  zum  Freien  ge- 
worden sei.  Hunderte  von  Stadtrechten3  in  ganz  Europa  bezeu- 
gen den'wichtigen  Satz:  „Die  Luft  der  Stadt  macht  frei." 

Die  Uebertreibungen  und  Ausschweifungen  der  Demokratie 
in  den  Communen  führten  freilich  öfter  wieder  zu  Reactionen. 
Die  Könige,  welche  geholfen  hatten,  dieselben  von  der  Herr- 
schaft der  Seigneurs  zu  befreien,  bekamen  dann  Veranlassung, 
die  Zügel   des  Regiments  selbst  durch   ihre  Beamten  in  die 

2  Vgl,  Thierry,  Lettre  XIV.  sur  l'histoire  de  France,  und  S  chäffner, 
Rechtsgeschichte  IL  S.  554  ff. 

3  Für  Deutschland  sind  in  den  "Werken  von  Graupp  und  Greng- 
ler,  Deutsche  Stadtrechte  des  Mittelalters,   zahlreiche  Belege  zu  rinden. 


154  Zweites  Buch,     Yolk  und  Land. 

Hand  zu  nehmen  und  straffer  anzuziehen.  In  ähnlicher  Weise 
ging  auch  die  Selbstregierung  der  lombardischen  Städte  zu 
Anfang  des  XIY.  Jahrhunderts  meistens  unter,  und  die  Gewalt 
fiel  einzelnen  Fürsten  zu,  nachdem  im  XIII.  Jahrhundert  die 
neue  groszentheils  aus  -den  niedern  Elementen  der  Stadtbewoh- 
ner gebildete  Bürgerschaft  des  Popolo  unter  ihren  demokra- 
tischen Hauptleuten  (Capitani)  mit  dem  städtischen  Adel  den 
Kampf  um  die  Herrschaft  begonnen  und  denselben  häufig 
unterworfen  oder  verdrängt  hatte. 

Auszer  den  Städten  mit  Consulat-  und  mit  Communal- 
verfassung  gab  es  damals  freilich  noch  viele  Städte  in  Frank- 
reich ,  die  in  gröszerer  Abhängigkeit  von  ihren  Herren  ge- 
blieben waren  und  von  Vögten  (prevöts,  Prevotalstädte)  oft 
sehr  willkürlich  regiert  wurden.  Auch  in  diesen  Städten  wur- 
den indessen  die  Lasten  der  Hörigkeit  aufgehoben  oder  sehr 
gemildert,  und  bildete  sich  der  Begriff  der  Bourgeoisie  als 
eines  freien  Standes  aus,  dessen  man  durch  Niederlassung 
in  der  Stadt,  auch  wohl  durch  königliche  Verleihung  des  Bür- 
gerrechts theilhaft  werde.4 

3.  Die  verschiedenen  Bedeutungen  des  Wortes  Bürger 
bezeichnen  auch  in  Deutschland  verschiedene  Stufen  der 
Entwicklung. 

Im  dreizehnten  Jahrhundert  pflegte  man  noch  ähnlich  wie 
früher  in  Italien  und  Frankreich  die  Eitter  und  die  Bur- 
ger (milites  et  burgenses)  zu  unterscheiden,  und  unter  diesen 
die  zu  der  städtischen  Genossenschaft  gehörigen  und  raths- 
fähigen,  aber  nicht  als  Kitter  lebenden  Freien  zu  verstehen. 
Die  freien  Häuserbesitzer  in  der  Stadt  waren  der  Grundstock 
dieser  Bürgerschaft,  welche  in  Verbindung  mit  den  ritterbür- 
tigen  Geschlechtern  gewöhnlich  die  Schöffen-  und  die  Kaths- 
stellen  der  Stadt  inne  hatten.  Dann  wurden  auch  wohl,  beide 
Bestandtheile  (die  Ministerialen  überdem  den  Kittern  beigesellt) 

*  Schaffner  a.  e.  O.  S.  590, 


Dreizehntes  Capitel.     Die  Freien  und  der  Bürgerstand.  155 

in  ihrer  Vereinigung  als  die  vollberechtigten  Bürger  der 
Stadt,  oder  als  die  Geschlechter  bezeichnet  und  den  Hand- 
werkern und  übrigen  Einsassen  der  Stadt  entgegengesetzt, 

Seit  der  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts  scheinen  die 
Kaufleute  in  den  deutschen  Städten,  insofern  sie  persönlich 
frei  waren,  auch  abgesehen  von  dem  Grundbesitz,  der  Bürger- 
schaft beigezählt  worden  zu  sein,  und  ebenfalls  Vertretung  in 
dem  Käthe  der  Stadt  erlangt  zu  haben.  —  Dadurch  wurde 
der  Begriff  der  Bürgerschaft  von  dem  Zusammenhang  mit  dem 
Boden  theilweise  abgelöst,  und  dem  Berufe  und  der  persön- 
lichen Verbindung  mehr  Bedeutung  als  früherhin  zuge- 
standen. 

Die  nämliche  Richtung  wurde  sehr  verstärkt,  als  in  der 
ersten  Hälfte  des  XIV.  Jahrhunderts  gewöhnlich  auch  die 
Handwerker,  in  ihren  Zünften,  als  ein  neuer  Bestandtheil 
der  Bürgerschaft  einverleibt  wurden.  Das  Wort  Bürger  hatte 
somit  einen  umfassenderen  Sinn  gewonnen.  Es  bezeichnete 
von  da  an  regelmäszig  alle  Genossen  des  städtischen  Lebens 
und  der  städtischen  Corporationen.  Die  Hörigkeit  war,  so 
weit  das  Städtebürgerthum  reichte,  aufgelöst,  die  Unterschiede 
der  Geburt  wesentlich  modificirt  und  gemildert,  das  Lehens- 
recht durch  das  gemeinsame  und  persönliche  Stadtrecht  ver- 
drängt, und  alle  Bürger  als  solche  in  eine  unmittelbare  Be- 
ziehung zu  der  Stadt  gesetzt  worden,  zu  welcher  sie  gehörten. 

Dieses  bald  mit  mehr  bald  mit  weniger  Rechten  der 
Selbstverwaltung  und  Selbstregierung  ausgestattete,  aber  immer- 
hin persönlich-freie  Stadtbürgerthum  war  indessen  auf 
den  Umkreis  der  städtischen  Interessen  beschränkt.  Im  ein- 
zelnen war  daher  auch  je  nach  der  sonstigen  Bedeutung  und 
Geschichte  der  Städte  die  bunteste  Mannichfaltigkeit  denkbar. 
Aber  es  kamen  die  Bürgerschaften  nun  als  ein  besonderer 
Theil  der  Bevölkerung  des  Reiches  in  Verbindung,  und  es 
bildete  sich  der  gemeine  Begriff  des  Bürgerstandes  aus, 
welcher  —    obwohl    die   Familien-  und  Erbverhältnisse   fort- 


156  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

während  ihren  natürlichen  Einflusz  behielten  —  doch  wie  der 
Bauernstand  nicht  länger  an  das  Erbrecht  gekettet  blieb,  sondern 
seinem  Grundcharakter  nach  auf  städtischem  Leben  beruhte. 

4.  Diese  neue  Entwickelung  fand  endlich  im  State  ihren 
Ausdruck  in  der  Organisation  der  gesetzgebenden  Körper.  Seit 
der  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts  erlangten  in  England  die 
Bürgerschaften  der  Städte  eine  ursprünglich  von  der  Bitter- 
schaft getrennte,  dann  mit  dieser  verbundene  Vertretung  im 
Nationalparlament. 5  Aus  den  Kepräsentanten  der  Bürgerschaft 
bestand  in  Frankreich  der  früher  schon  von  Zeit  zu  Zeit 
einzeln,  seit  dem  Anfang  des  XIV.  Jahrhunderts  zu  den  all- 
gemeinen Ständeversammlungen  (etats  generaux)  berufene  dritte 
Stand  (tiers  etat)  des  Keiches.  Auch  die  Bänke  der  Städte 
auf  den  deutschen  Keichsta gen  seit  der  Erhebung  Budolfs 
von  Habsburg  zum  Könige  waren  wenigstens  theilweise  eine 
Stellvertretung  des  deutschen  Bürgerstandes,  und  auf  den 
deutschen  Landtagen  erhielten  die  Städte  neben  dem  Adel 
und  der  Geistlichkeit  als  eine  ständische  Genossenschaft  Sitz 
und  Stimme. 

Endlich  wurden  die  neuen  Kechtsgedanken ,  die  sich  in 
dem  Städtebürgerthum  ausgeprägt  fanden,  auf  die  weiten 
Kreise  der  Gesammtbevölkerung  des  States  übergetragen,  und 
aus  dem  Stadtbürgerthum  wurde  die  Institution  des  modernen 
Statsbürgerthums  geboren. 


Vierzehntes  Capitel. 

Der  dritte  Stand  in  unserer  Zeit.     Die  gebildeten  Mittelclassen. 

Der  Abt  Sieyes,  dessen  berühmte  Schrift  über  den 
dritten  Stand  zu  einer  Leuchte  und  zu  einer  Brandfackel  für 
die  erste  französische  Kevolution  geworden  ist,  hat  bekanntlich 

5   Ueber   diese  Entwicklung  wird   unten   Buch  V  näher   gesprochen 
werden. 


Vierzehntes  Capitel.     Der  dritte  Stand  in  unserer  Zeit.  157 

die  beiden  Fragen  aufgeworfen:  Was  ist  der  dritte  Stand?  und: 
Was  ist  der  dritte  Stand  bisher  in  dem  politischen  Organis- 
mus gewesen?  und  die  erste  mit:  Alles,  die  letzte  mit: 
Nichts  beantwortet.  Die  Antwort  auf  die  erste  Frage  — 
so  outrirt  als  die  auf  die  zweite  —  hebt,  indem  sie  die  An- 
sprüche des  dritten  Standes  steigert,  den  Begriff  des  dritten 
Standes  geradezu  auf.  Wenn  der  dritte  Stand  wirklich  im 
State  Alles  ist,  so  kann  es  auszer  ihm  weder  einen  ersten  und 
zweiten,  noch  einen  vierten  Stand  geben.  Er  ist  dann  selber 
kein  Stand  mehr,  er  ist  das  gesammte  Volk. 

In  der  ersten  französischen  Revolution  verlangte  denn 
auch  der  dritte  Stand  wirklich,  dasz  die  beiden  ersten  Stände 
Frankreichs,  Geistlichkeit  und  Adel,  sich  mit  ihm  in  Einer 
Nationalversammlung  vereinigen. !)  Als  das  durchgesetzt  war, 
löste  er  jene  Stände  in  sich  auf,  und  schlug  als  das  Eine  und 
gleiche  stän delose  Volk  die  ganze  bisherige  Statsordnung 
in  Stück.  Aber  damals  schon  reagirten  trotz  der  gleichmachen- 
den Theorie  die  natürlichen  Gegensätze  in  dem  Volke.  Der 
Geistlichkeit  und  dem  Adel  half  es  nicht,  dasz  die  Theorie 
sie  in  den  dritten  Stand  aufgenommen  hatte.  Sie  wurden 
dennoch  in  ihrer  Eigenschaft  als  Geistlichkeit  und  Adel,  als 
Pfaffen  und  „Aristokraten"  zu  zwei  mit  blutiger  Gewalt  ver- 
folgten Ständen,  sie  wurden  die  Schlachtopfer  der  Revolution. 
In  der  chaotischen  Masse  aber,  welche  die  Herrschaft  übte, 
gährten  bisher  unbeachtete  ständische  Gegensätze.  Da  schon 
gab  der  vierte  Stand  in  den  wichtigsten  Krisen  den  Aus- 
schlag, und  unter  der  rothen  Herrschaft  des  Conventes,  welcher 
vornehmlich  aus  den  Führern  des  fieberisch  erhitzten  vierten 
Standes  gebildet  war,  erbleichte  in  der  Gironde  der  bürger- 
liche Glanz  des  dritten  Standes. 

1  Schon  durch  die  "Wahl  zu  den  Etats  generaux  von  1789  war  eine 
Ausdehnung  des  Begriffs  practisch  geworden.  Im  Mittelalter  war  der 
tiers  etat  auf  die  Stadtbürgerschaften  beschränkt,  1789  aber  wählten  die 
Bauern  mit  den  Städtern.     Tocquevüle  Oeuvres  VIII.  S.  139. 


158  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Eben  indem  die  französische  Bevolution  die  Wahrheit 
der  obigen  Sätze  von  Sieyes  an  den  Tag  legen  wollte,  stellte 
sich  das  Ungenügende  nnd  falsche  derselben  heraus. 2  Der 
dritte  Stand  der  Gebildeten  hatte  sich  als  Stellvertreter  des 
Volkes  benommen,  und  sich  selbst  mit  dem  Volke  identificirt. 
Nun  muszte  er  erfahren,  dasz  es  auszer  ihm  noch  grosze  Volks- 
massen gebe,  die  sich  mit  der  allgemeinen  Fusion  unter  seiner 
Leitung  nicht  befriedigt  fühlen. 

Der  erste  Stand,  die  Geistlichkeit  hat  in  unserer  Zeit 
meistens  aufgehört  im  State  als  ein  besonderer  politischer 
Stand  zu  gelten.  Die  Schicksale  und  die  Existenz  des  zweiten 
Standes,  des  Adels ,  sind  in  unsrer  Zeit  vielfach  ungewisz  ge- 
worden. Aber  der  Gegensatz  zwischen  dem  dritten  und  dem 
vierten  Stand  hat  sich  in  dem  neuesten  politischen  Erdbeben, 
das  Europa  zum  Wanken  gebracht,  deutlicher  als  je  gezeigt. 
Er  darf  daher  in  dem  Statsrechte  und  in  der  Politik  nicht 
vernachlässigt  werden. 

In  unserer  Zeit  beruhen  die  Stände  mehr  auf  der  Lebens- 
weise und  dem  Berufe,  als  auf  der  Geburt.  Es  musz  daher 
der  dritte  Stand  auch  in  diesem  Sinne  erklärt  werden.  Er 
steht  in  der  Mitte  zwischen  der  Aristokratie  und  dem  so- 
genannten vierten  Stande.  Er  ist  daher  seinem  Wesen  nach 
ein  Mittelstand.  Er  unterscheidet  sich  von  dem  ersteren 
durch  den  Mangel  der  besonderen  aristokratischen  Auszeich- 
nung, und  von  dem  letztern  dadurch,  dasz  er  nicht  von  seiner 
Hände  Arbeit  lebt,  sondern  einen  liberalen  Beruf  betreibt,  oder 
mindestens  in  vorzüglichem  Masze  auf  die  Thätigkeit  des 
Kopfes  angewiesen  ist.     Er  ist  das,   was   wir  in  Deutschland 


2  In  Robespierre  ist  der  neidische  Hasz  gegen  alle  höher n 
Stände  und  zugleich  die  abgöttische  Verehrung  des  sogenannten  „Volks" 
personificirt.  In  seiner  Erklärung  der  Rechte  iät  der  Satz  enthalten: 
„Toute  Institution  qui  ne  suppose  le  Peuple  bon  et  le  magistrat  corrup- 
tille,  est  vicieuse."  Vgl.  L.  Stein,  Geschichte  der  socialen  Bewegung 
in  Frankreich.    I.    S.  145. 


Vierzehntes  Capitel.     Der  dritte  Stand  in  unserer  Zeit.  159 

den  höhern  Bürgerstand  und  was  die  Engländer,  freilich 
in  etwas  engerem  Sinne,  Gentlemen  zu  nennen  pflegen. 
Wir  rechnen  dahin  folgende  Classen  der  Bevölkerung: 

1)  Die  Beamten  (die  Officiere  inbegriffen),  im  Gegen- 
satze zu  den  niedern  Stufen  der  Angestellten,  und  zu  den 
höhern,  die  Eitterschaft  begründenden  Stufen. 

2)  Die  Geistlichen  und  die  Lehrer  in  der  Eegel. 

3)  Die  Notare,  Advocaten,  Aerzte,  Apotheker, 
Privatgelehrte,  Schriftsteller. 

4)  Die  Künstler,  Ingenieure  und  höhern  Tech- 
niker. 

5)  Die  Groszhändler  und  Fabrikanten. 

6)  Höhere  (künstlerische)  Handwerker. 

7)  Die  Capitalisten  (Rentiers). 

8)  Die  groszen  Gutsbesitzer,  die  nicht  zu  Rittern 
erhoben  sind. 

Eine  höhere  Erziehung  und  Bildung  ist  für  die  Bestimm- 
ung dieses  Standes  ein  wesentliches  Moment,  und  eine  behag- 
lichere Stellung  im  Leben,  welche  auch  für  öffentliche  Ge- 
schäfte Musze  gewährt,  eine  gewöhnliche  Eigenschaft  desselben, 
Die  Wählbarkeit  zu  Statsämtern  setzt  regelmäszig  jene  Bil- 
dung voraus,  und  die  erhöhte  Fähigkeit  der  Mitglieder  dieses 
Standes,  an  den  Verhandlungen  repräsentativer  Körper  Theil 
zu  nehmen,  begründet  meistens,  wenn  nicht  durch  besondere 
Gesetze  Vorsorge  getroffen  wird,  ein  Uebergewicht  derselben 
in  den  Nationalversammlungen  und   gesetzgebenden  Kammern. 

In  dem  jetzigen  Statsleben  ist  dieser  Stand  meistens  der 
einfluszreichste  und  in  dem  gewöhnlichen  Gang  des  öffentlichen 
Lebens  geht  er  voran.  Die  öffentliche  Meinung  ist  regelmäszig 
die  Meinung  dieses  Standes.  Er  läszt  sich  auch,  obwohl  nun 
Bildung,  Vermögen  und  Beruf  entscheiden  und  die  Ab- 
stammung von  Eltern  desselben  Standes  nicht  mehr  als  not- 
wendiges Erfordernisz  gilt,  füglich  mit  dem  alten  Stande  der 
Voll  freien  oder  der  mittelalterlichen  Mittel  freien    ver- 


160  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

gleichen.  Wie  dieser  im  alten  State  die  Grundlage  des  politisch 
berechtigten  Volkes  gewesen  war,  so  wird  der  dritte  Stand 
vorzüglich  bei  der  heutigen  Organisation  des  Stats  beachtet. 
In  ihm  ist  das  vielgeschäftige  Leben  und  die  fortschreitende 
Bewegung  repräsentirt. 

Wie  aber  ist  das  Verhältnisz  dieses  dritten  Standes  zu 
dem  niedern  Adel  zu  bestimmen?  Der  niedere  Adel  unserer 
Tage  ist  groszen  Theils  in  der  höheren  Bürgerschaft  aufge- 
gangen und  mit  ihr  in  Lebensweise,  Sitte,  Beruf,  Denkungsart 
Eins  geworden.  Es  hat  sich  so  aus  beiden  Elementen  ein 
neuer  höherer  Mittelstand  oder  genauer  eine  Mittel- 
classe  gebildet,  wie  im  Mittelalter  der  Bürger-  und  der 
Bauernstand  auch  aus  ursprünglich  verschiedenen  Ständen  zu- 
sammen gewachsen  sind.  Auch  in  dieser  Beziehung  ist  der 
englische  Stat  der  heutigen  Entwickelung  des  Continents  vor- 
angegangen, indem  schon  im  XIV.  Jahrhunderte  jene  Ver- 
bindung der  Kitterschaft  und  der  Städterepräsen- 
tation im  Unterhaus  vollzogen  ward,  welche  eine  der  festesten 
Stützen  politischer  Freiheit  in  Verbindung  mit  edler  Sitte  .ge- 
worden ist. 


I 


Fünfzehntes  Capitel. 

IV.    Die  hörigen  Leute  und  der  Bauernstand. 

Wenn  das  Mittelalter  dem  Fortbestande  der  alten  Gemein- 
freiheit nicht  günstig  war,  so  beförderte  es  auf  der  andern 
Seite  die  Erhebung  und  Befreiung  der  hörigen  Leute.  Eben 
indem  es  jene  niederdrückte,  hob  es  diese  empor,  und  so 
näherten  und  mischten  sich  beide  Stände  auf  derselben  Stufe. 

Ein  immerhin  kleiner  Theil  der  hörigen  Leute  wurde  so- 
gar über  die  Freien  in  den  Stand  des  niedern  Adels  hiriauf- 
gerückt,  die  Ministerialen,  welche  durch  Hof  dienst  den 
Dynasten  persönlich  nahe  traten,   und  durch  höfische  Bildung 


Fünfzehntes  Cap.     Die  hörigen  Leute  und  der  Bauernstand,     \Q\ 

und  Sitten  ausgezeichnet  waren,  mit  reicherem  Grundbesitz 
ausgestattet  und  mit  der  Zeit  den  ritterlichen  Vasallen  an  die 
Seite  gestellt  wurden. 

Ein  anderer  und  zahlreicher  Theil  liesz  sich  in  den 
Städten  nieder  und  gelangte  hier,  indem  er  städtische  Ge- 
werbe trieb  und  auf  diese  Weise  auch  zu  Vermögen  kam,  zu- 
gleich zu  persönlicher  und  bürgerlicher  Freiheit.  Den  italiäni- 
schen  Städten  gebührt  der  Euhm,  zuerst  im  Groszen  die  volle 
Befreiung  der  Hörigen  ihres  Gebiets  durchgeführt  zu  haben. 
Die  Stadt  Bologna,  die  allezeit  für  die  Freiheit  gekämpft  hat, 
faszte  im  Jahr  1256  auf  Antrag  ihres  Podesta  Accursius  de 
Sorrecina  den  hochherzigen  Beschlusz,  alle  Hörigen  ihres  Ge- 
biets freizukaufen  und  zu  erklären,  dasz  es  in  Zukunft  keine 
Unfreiheit  mehr  geben  dürfe.  * 

Auch  der  Beruf  der  Handwerker,  früherhin  besonders 
in  dem  germanischen  Europa  gering  geschätzt  und  vorzugs- 
weise den  hörigen  Leuten  überlassen,  wurde  durch  das  ent- 
wickeltere städtische  Leben  gehoben.  Die  Innungen,  zuerst 
wohl  in  Italien,  wo  auch  sonst  ein  freies  Bürgerthum  zu 
früher  Blüthe  gekommen,  als  sclwlae  eingeführt,  dann  in 
Frankreich  unter  Einwirkung  der  germanischen  Neigung  zu 
corporativer  Gestaltung  in  Form  von  ministeria  (mestiers)  und 
Gheuden  nachgebildet,  zuletzt  auch  nach  Deutschland  ver- 
pflanzt, stärkten  das  Becht  der  Corporationsgenossen  und  die 
Ehre  der  Meister.  Sorgfältigere  Erziehung  und  stufenweise 
Ausbildung  der  Handwerker,  erhöhte  Kunstfertigkeit,  gröszerer 
Vermögenserwerb,  die  neue  Waffenfähigkeit  im  Dienste  der 
Stadt  unter  eigener  Innungs-  oder  Zunftfahne,  die  dauernde 
Verbindung  mit  den  Interessen  und  dem  Gedeihen  der  Stadt, 
alles  diesz  weckte  das  Selbstgefühl  und  die  natürlichen  An- 
sprüche der  Handwerker ;  und  wenn  noch  manche  von  hörigem 
Stamme  waren,  so  erkauften  sie  nun  die  volle  Befreiung  oder 

1   Laurent  a.  a.  0.  VII.   5.    663.     Florenz  folgte  dem  schönen  Bei- 
spiele 1288. 

Bluntschli,    allgemeines  Statsrecht.     I.  11 


1(32  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

erlangten  dieselbe  durch  massenhafte  Erhebung.  Das  eigent- 
liche Bürgerrecht  der  Staclt  konnte  ihnen  nicht  entzogen 
bleiben. 

Mit  gröszeren  Schwierigkeiten  war  auf  dem  Lande  der 
Weg  verlegt,  auf  welchem  die  hörigen  Leute  zur  Freiheit 
aufstiegen.  In  manchen  Gegenden  galt  sogar  der  entgegen- 
gesetzte Grundsatz:  die  Luft  macht  hörig.  Aber  wenn 
auch  die  hörigen  Bauern  nur  ausnahmsweise  zu  voller  persön- 
licher und  politischer  Freiheit  gelangten,  so  erreichten  sie  doch, 
freilich  langsamen  Schrittes,  in  der  Eegel  eine  zwar  mit  man- 
cherlei Lasten  beschwerte  und  politisch  zurückgesetzte,  aber 
durch  festen  Rechtsschutz  gesicherte  und  in  ihrem  Inhalt  im- 
merhin erweiterte  persönliche  Freiheit.  Mit  den  ursprünglich 
freien  Bauern  wurden  sie  zu  einem  gleichberechtigten  Berufs- 
stande. 

Im  einzelnen  sind  die  Verhältnisse  äuszerst  mannichfaltig, 
und  auch  die  Uebergangsstufen  aus  der  Eigenschaft  zur  Frei- 
heit zahlreich.  Wie  die  Aufhebung  der  Sclaverei  zu  groszem 
Theile  den  Einwirkungen  der  Kirche  zu  verdanken  ist,  so  ist 
auch  die  Erhebung  der  hörigen  Leute  von  jeher  voraus  durch 
die  Kirche  begünstigt  worden.  In  der  That,  wo  Kirchen  und 
Klöster  Grundherrlichkeit  besaszen,  gingen  sie  meistens  voran 
in  Ertheilung  bestimmter  Rechte  und  Gewährung  wichtiger 
Freiheiten  für  ihre  Hörigen,  und  zuerst  wurden  die  Gottes- 
hausleute den  freien  Bauern  angenähert.  Dann  folgten  auch 
die  Könige  dem  Beispiele.  Schon  die  Karolinger  handelten 
in  dieser  Richtung  zu  Gunsten  der  Fiscalineh,  und  Ludwig  der 
Heilige 2  erklärte,  als  er  den  Serfs  auf  den  königlichen  Domänen 

2  Ordonn.  I.  583:  „Comme  selonc  le  droit  de  nature  chacun  doit 
naistre  franc  et  par  aucuns  usages  —  moult  de  personnes  de  nostre 
commun  peuple  soient  encheües  en  Heu  de  servitudes:  —  Nous  conside- 
rants  que  Nostre  Royaume  est  dit  et  nomme  le  Royaume  de  Francs,  et 
voullant  que  la  cliose  en  verite  soit  accordant  au  nom  —  ordenons,  que 
generaument  par  tout  nostre  Royaume  de  tant  comme  il  peut  appartenir 
ä  nous  —  telles  servitudes  soient  ramenees  ä  franchises  —    ä  bonnes  et 


Fünfzehntes  Cap.     Die  hörigen  Leute  und  der  Bauernstand.     163 

die  Freiheit  schenkte  (1315),  seinen  Beruf  als  König  des 
,, Frankenreiches"  zu  erfüllen. 

Der  nämliche  Geist  des  Mittelalters,  welcher  die  Hoheits- 
rechte zu  Gunsten  der  groszen  Barone  als  erbliche  Lehen  an 
den  Boden  knüpfte,  und  welcher  den  Vasallen  ihren  Lehens- 
herren gegenüber  gesicherte  und  dauerhafte  Rechte  an  den 
Beneficien  verlieh,  stärkte  und  befestigte  auch  die  Rechte  der 
hofhörigen  Bauern  an  den  verliehenen  Gütern,  und  bildete  das 
hofrechtliche  Erbe  und  eine  eigenthümliche  patrimoniale  Ge- 
richtsverfassung aus,  an  welcher  auch  die  Bauern  unter  Lei- 
tung ihrer  Maires  oder  Meyer  (villici  majores)  Theil  hatten. 
Gedrückter  war  wohl  die  Lage  der  französischen  Serfs  und 
Vilains,  als  die  der  deutschen  Hofleute  und  Grundholden, 
wie  schon  die  Sprache  den  Gegensatz  andeutet,  aber  immerhin 
ähnlich,  und  später  als  in  Frankreich  ging  in  Deutschland  die 
Entwicklung  zu  höherer  Freiheit  vor  sich.  Doch  standen  auch 
in  Frankreich  die  Coutumiers  und  Roturiers,  unter  denen 
die  Ostes  (H  o  s  p  i  t  e  s)  als  höhere  Olassen  berechtigter  Bauern 
den  Gemeinfreien  ganz  nahe. 

Diese  bäuerliche  Halbfreiheit  bezog  sich  übrigens  ge- 
meiniglich nur  auf  das  Privatrecht  und  auf  die  Gemeinde- 
und  Gerichtsverfassung. 

Mit  den  freien  Bauern,  die  unter  die  erbliche  Vogtei- 
herrschaft  gerathen  waren,  und  deren  Güter  nun  auch  man- 
cherlei ewige  Lasten  zu  Gunsten  der  ,, Herrn"  zu  tragen  hatten, 
schmolzen  sie  zu  dem-  Einen  sogenannten  Bauernstande 
zusammen. 

Zu  einem  politischen  Stande  im  vollen  Sinn  wurde 
der  Bauernstand   nur  ausnahmsweise  in  wenig  Ländern,  nur 

convenables  eonditions  —  de  tant  comme  il  peut  toucher  nous."  Vgl. 
Schaffner,  franz.  R.  G.  I.  523.  Schon  vorher  hatte  der  Graf  von  Ya- 
lois,  Bruder  des  Königs  Philipps  des  Schönen,  die  Hörigen  seiner  Graf- 
schaft im  Namen  der  natürlichen  Menschenfreiheit  für  frei  erklärt. 
Laurent  a.  a.  0.  YI.  G62. 

11* 


164  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

da,  wo  er,  wie  in  dem  skandinavischen  Norden  die  alte  Ge- 
rn ein  fr  eiheit  und  die  alte  Verfassung  glücklieh  behauptet  hatte 
oder  im  Tyrol  von  den  Landesfiirsten  zu  den  Landtagen  zu- 
gezogen ward,  oder  wo  er,  wie  in  der  Schweiz,  freie  Bauern- 
republiken gründete.  In  den  meisten  Ländern  ward  *er  nur 
als  ein  unterthäniger  Stand  behandelt,  dem  keine  politische 
und  insbesondere  keine  repräsentative  Eechte  gebühren,  der 
aber  von  der  Natur  bestimmt  sei,  vornehmlich  die  öffentlichen 
Lasten  zu  tragen.  Er  war  wesentlich  ein  wirth schaft- 
lich er,  nicht  wie  die  Bürgerschaft  der  Städte  ein  Cultur- 
stand. 

Vergeblich  machten  die  deutschen  Bauern  in  dem  groszen 
Bauernkrieg  des  XVI.  Jahrhunderts  eine  gewaltsame  Anstren- 
gung, die  Herrschaft  zu  brechen,  die  schwer  auf  ihnen  drückte. 
Wenn  man  heute  die  bekannten  XII  Artikel  liest,  welche  die 
Bauern  damals  verlangten,  und  sich  erinnert,  dasz  dieses  Ver- 
langen die  heftigste  Entrüstung  der  damaligen  Gebildeten  so 
gut  wie  der  herrschenden  Aristokratie  über  die  unerhörte  An- 
maszung  der  Bauern  zur  Folge  hatte,  so  bemerkt  man  nicht 
ohne  Befriedigung  den  mächtigen  Fortschritt  der  Zeiten,  in- 
dem die  Bauern  in  unserm  Jahrhundert  überall  mehr  ohne 
Streit  als  Menschen-  und  Bürgerrechte  erhalten  haben,  als  sie 
damals  zu  fordern  gewagt  hatten. 

Nur  allmählich  fing  man  an,  sich  an  den  Gedanken  zu 
gewöhnen,  dasz  die  Bauern  doch  nicht  eine  blosz  unterwürfige 
Menschenmasse  bilden,  aus  der  man  nach  Willkür  Soldaten 
rekrutiren  und  der  man  beliebig  Steuern  abverlangen  dürfe. 
Die  englische  Verfassung,  welche  den  Yeomen  (den  probi  et 
legales  homines),  wenn  sie  ein  gewisses  nicht  hohes  Masz  von 
Einkünften  von  ihren  Gütern  zogen,  das  Kecht  gab,  an  den 
Grafschaftswahlen  für  das  Unterhaus  Theil  zu  nehmen,  zeich- 
nete sich  in  der  Beachtung  solcher  Volksfreiheit  wiederum' aus. 

Erst  die  neue  Zeit  aber  machte  die  Segnung  der  vollen 
persönlichen  Freiheit  und  damit  zugleich  der  Fähigkeit  zu  den 


Sechzehntes  Cap.     Der  sog.  vierte  Stand.     Die  Volksclassen.     X65 

politischen  Rechten  allgemein  für  alle  Classen  der  Bevölkerung. 
Die  Philosophie  des  XVIII.  Jahrhunderts  hat  zu  diesem  groszen 
Fortschritte  den  geistigen  Anstosz  gegeben,  indem  sie  den 
Gedanken  der  natürlichen  Menschenrechte  zu  Ehren  gebracht  hat. 
In  Deutschland  ging  König  Friedrich  I.  von  Preuszen 
voran,  indem  er  auf  den  königlichen  Domänen  die  Eigenschaft 
aufhob  1702;  Friedrich  IL  begünstigte  und.  erweiterte  die 
Befreiung  auch  der  übrigen  Eigenen  durch  seine  Gesetze,  und 
Kaiser  Joseph  IL  folgte  dem  Beispiel  für  Deutschösterreich 
1782,  ebenso  Karl  Friedrich  von  Baden  1783.  Die  meisten 
andern  deutschen  Staten  blieben  indessen  noch  zurück.  Erst 
die  enthusiastische  Erklärung  vom  4.  August  1789  und  die 
Verkündung  der  Menschenrechte  durch  die  französische  Na- 
tionalversammlung wirkten  entscheidend  auf  das  civilisirte 
Europa.  Die  Befreiung  auch  der  hörigen  und  eigenen  Clas- 
sen wurde  nun  als  eine  allgemeine  Pflicht  und  als  eine  un- 
widerstehliche Forderung  der  neuen  Zeit  anerkannt,  und  in  der 
ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  in  dem  abendländischen 
Europa,  in  der  zweiteu  Hälfte  nun  auch  in  Osteuropa  voll- 
zogen. Gleichzeitig  oder  bald  nachher  wurde  denn  auch  das 
Statsbürgerrecht  auf  die  Bauern  wie  auf  die  Städtebürger 
ausgebreitet. 


Sechzehntes  Capitel, 

Der  sogenannte  vierte  Stand.     Die  Yolksclassen. 

Die  Rechte  der  untern  Yolksclassen  sind  niemals  in  der 
Weltgeschichte  so  willig  und  voll  anerkannt  worden,  wie  gegen- 
wärtig. Es  gibt  kein  charakteristischeres  Kennzeichen  und 
keine  rühmlichere  Erscheinung  der  modernen  Weltepoche,  als 
eben  diese  Befreiung  und  Berechtigung  der  groszen  arbeiten- 
den Massen. 


I 


1(36  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

Aber  diese  Umgestaltung,  welche  von  dem  Principe  der 
individuellen  Freiheit  Aller  ausging,  setzte  die  Zerstörung  und 
Auflösung  der  alten  genossenschaftlichen  Verbände  voraus,  oder 
setzte  dieselbe  durch.  Die  Individuen  regten  sich  nun,  ver- 
einzelt, nach  Willkür.  An  der  Stelle  festgeordneter  und  ge- 
schlossener Körperschaften  erschienen  nun  zufällig  zusammen- 
getriebene Massen;  statt  der  organisirten  Glieder  des  Volks- 
körpers leicht  bewegliche  atomistische  Haufen.  Diese  Des- 
organisation hatte  vorzüglich  die  Gassen  des  vierten  Standes 
betroffen.  Darin  lag  offenbar  eine  grosze  Gefahr  der  neuen 
Zeit.  Die  unorganisirten  Massen  fühlten  sich  leicht  unzufrieden, 
und  waren  dann  ebenso  leicht  von  den  Stürmen  der  Volks- 
leidenschaft aufzuregen. 

In  einer  in  den  frühern  Perioden  der  Weltgeschichte  un- 
erhörten Weise  haben  gerade  die  untern  Schichten  dieses 
Standes  in  neuester  Zeit  in  das  Schicksal  der  europäischen 
Staten  eingegriffen.  Sie  haben  im  Februar  1848  zum  Er- 
staunen von  Frankreich  und  der  Welt  zu  Paris  den  Julithron 
umgeworfen  und  die  Kepublik  eingeführt.  Und  wenige  Monate 
nachher  bedrohten  sie  die  ganze  sociale  Existenz  der  bürger- 
lichen Gesellschaft,  und  konnten  nur  durch  die  blutige  Juli- 
schlacht in  Paris  nach  langem  wüthendem  Widerstand  für 
den  Augenblick  überwältigt  werden.  Der  europäische  Stat, 
die  Kirche,  unsere  ganze  Cultur  und  Civilisation,  alle  unsere 
geistigen  und  moralischen  Erbgüter,  waren  zugleich  mit  der 
Sicherheit  und  den  Früchten  des  Eigenthums  dem  Untergange 
ausgesetzt.  Wo  wäre  die  Zuversicht,  worauf  könnte  sich  das 
Vertrauen  gründen,  dasz  diese  unermeszliche  Gefahr  nicht 
schreckhafter  wiederkehren  werde,  dasz  sie  wirklich  überwun- 
den sei? 

Die  Gefahr  liegt  keineswegs  in  der  Existenz  des  vierten 
Standes.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  dasz  derselbe  seiner 
Natur  nach  revolutionär  und  unstatlich  sei.  Im  normalen  und 
gesunden  Zustande  ist  derselbe  vielmehr  eine  sichere  Unterlage 


Sechzehntes  Cap.     Der  sog.  vierte  Stand.     Die  Yolksclassen.     J67 

für  die  Statsordnung  und  Volkswohlfahrt.  Aus  ihm  sind  fort- 
während für  den  Stat  frische  Kräfte  herbeizuziehen,  die 
modernen  Heere  gehen  grösztentheils  aus  ihm  hervor.  Während 
in  dem  dritten  Stande  nicht  selten  durch  Verbildung  und 
Ueberbildung  die  männlichen  Eigenschaften  des  Muthes  und 
der  Thatkraft  aufgezehrt  worden  sind,  und  an  die  Stelle  der 
politischen  Tugend  und  Aufopferung  das  blosze  furchtsame 
und  grundsatzlose  Interesse  getreten  ist,  so  ist  dagegen  in  dem 
vierten  Stande  häufig  mehr  Sitteneinfalt,  Lebensfrische  und 
ein  Schatz  unverdorbener  Naturkräfte  zu  finden.  Das  Volk 
besteht  zwar  nicht  aus  dem  vierten  Stande  allein;  aber  an 
Zahl  und  an  Gewicht  ist  er  der  bedeutendste  Bestandtheil  des 
Volkes  und  wird  daher  zuweilen  auch  das  Volk  im  engeren 
Sinne  genannt.  Die  Monarchie  insbesondere  findet,  wie  die 
Spitze  der  Pyramide  in  dem  Boden  derselben,  ihre  sicherste 
und  festeste  Stütze  in  dem  vierten  Stande,  wenn  sie  es  ver- 
steht ,  sich  mit  demselben  in  organischen  Rapport  zu  setzen, 1 
was  grosze  Monarchen  meistens  verstanden  haben. 

Ein  Ueberblick  über  die  verschiedenen  Classen  des  vier- 
ten Standes  zeigt,  wie  bedeutend  er  ist.  Wir  können  dazu 
rechnen : 

1)  voraus  den  gesammten  Bauernstand,  zunächst 
die  Bauern  selbst  und  ihre  Knechte,  den  zahlreichsten  und 
kräftigsten  Bestandtheil  des  vierten  Standes,  bedeutend  genug, 
um  für  sich  selber  wieder  als  besonderer  Stand  Geltung  zu 
finden;  aber  auch  die  Hirten,  Fischer,  Schiffer,  Bergknappen, 
und  überhaupt  die  arbeitenden  Classen,  deren  Beruf  mit  dem 
Naturleben  in  fortwährendem  Zusammenhang  bleibt. 


1  Mitten  in  der  gröszten  Gefahr  des  Jahres  1848  wurde  dieser  be- 
ruhigende Gedanke  von  Fr.  Rehmer  in  der  Schrift:  „Der  vierte  Stand 
und  die  Monarchie"  ausgesprochen,  ein  Gedanke,  der  einige  Jahre  später 
in  der  Erhebung  Ludwig  Napoleons  zum  Kaiser  der  Franzosen  eine 
höchst  merkwürdige  —  wenn  auch  nicht  reine  organische  —  Verwirk- 
lichung erhalten  hat. 


158  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

2)  Sodann  den  niedern  Bürgerstand,  wohne  er  nun 
in  der  Stadt  oder  auf  dem  Lande,  zunächst  die  kleinen 
Handwerksmeister  sammt  Gesellen  und  die  Krämer, 
dann  auch  die  übrigen  industriellen  untern  Berufsclassen,  z.  B. 
die  Weber  und  Schnitzer  umfassend. 

3)  Die  untern  Angestellten  und  Diener  des  Stats 
und  der  höheren  liberalen  Berufsformen ,  im  Heere  von  den 
Unteroff] eieren  an  abwärts,  in  den  Bureau's  die  Schreiber  und 
Kopisten  u.  s.  f. 

4)  Das  sogenannte  Proletariat  der  Dienstboten,  Fabrik- 
Tagelöhner  u.  s.  f. 

Allen  Classen  gemeinsam  ist  die  Eigenschaft,  dasz  sie 
auf  einen  wesentlich  materiellen  Lebensberuf  angewiesen 
und  durch  denselben  in  Anspruch  genommen  sind.  Sie  sind 
alle  leiblicher  Arbeit  zugewendet.  Eine  absolute  Scheidung 
zwischen  Kopfarbeit  und  Handarbeit  ist  freilich  undenk- 
bar ;  denn  regelmäszig  bedarf  es  auch  zu  dieser  der  Thätigkeit 
des  Kopfes  und  häufig  zu  jener  der  Mitwirkung  der  Hand. 
Aber  der  Gegensatz  zwischen  beiden  hat  dennoch  einen  guten 
Sinn  und  ist  auch  von  jeher  von  den  Völkern  wohl  begriffen 
worden.  Wo  die  Thätigkeit  des  Kopfes,  die  Speculation  in- 
begriffen, überwiegt,  ist  feinere  Geistesbildung  Erfordernisz, 
und  die  Art  des  Berufes  und  der  Lebensweise  gehoben.  Wo 
die  materielle  Arbeit  des  übrigen  Körpers  überwiegt,  da  ist 
jenes  Masz  von  Geistesbildung  entbehrlich,  und  das  ganze 
Leben  bewegt  sich  in  schlichteren  und  einfacheren  Formen. 

Gemeinsam  dem  vierten  Stande  ist  überdem,  sowohl  dasz 
er  die  not h wendige  Unterlage  aller  Staten,  wie  über- 
haupt des  gesammten  Volkslebens  bildet,  als  dasz  er  in  sich 
selbst  nicht  die  Fähigkeit  hat,  den  Stat  zu  regieren.  Er 
bedarf  dazu  immer  der  Führer  und  der  Stellvertreter.  In  der 
Kegel  ist  die  dienende  und  passive  Seite  des  öffentlichen  Da- 
seins in  ihm  dargestellt ;  aber  aufgeregt  und  in  der  Leiden- 
schaft erhebt   er    sich  und  durchbricht   mit  -unwiderstehlicher 


Sechzehntes  Cap.     Der  sog.  vierte  Stand.     Die  Yolksclassen.     1(39 

Kraft  die  Schranken  der  äuszern  Ordnung  und  setzt  gewaltsam 
seinen  Willen  durch.  Er  ist  stark  genug,  auch  die  Herrschaft 
im  State  zu  wechseln ,  und  neue  Verfassungen  zu  erzwingen. 
Er  wirft  Throne  um  und  gibt  neuen  Männern  oder  Dynastien 
die  Gewalt  in  die  Hand.  Aber  er  kann  nicht  selber  regieren: 
und  wo  er  es  eine  Weile  lang  versucht,  hat  der  Stat  das  An- 
sehen eines  Menschen,  der  auf  dem  Kopfe  steht  und  die  Beine 
in  die  Höhe  streckt. 

Seitdem  es  eine  menschliche  Geschichte  gibt,  ist  der 
vierte  Stand  noch  niemals  zu  einer  so  groszen  Bedeutung  für 
das  Statsleben  gelangt,  wie  unter  den  europäischen  Völkern 
unserer  Zeit.  Zum  erstenmal  in  der  Geschichte  sind  selbst 
die  dienenden  Classen  im  engeren  Sinne  zu  dem  Bange  von 
Freien  erhoben  worden:  und  auch  die  untersten  Schichten 
fühlen  sich  betheiligt  bei  der  Wohlfahrt  des  States  und  machen 
Anspruch  auf  politische  Kechte.  Der  heutige  Statsmann  wird 
von  der  Macht  der  Verhältnisse  genöthigt,  ganz  besonders  den 
Zuständen  des  vierten  Standes  seine  Aufmerksamkeit  und 
Sorge  zuzuwenden.  Es  ist  nicht  mehr  genügend,  die  öffent- 
liche Meinung  der  Gebildeten  zu  hören  und  zu  erwägen. 
Mehr  als  zuvor  wirken  nun  die  Massen  mit  ihren  Instincten 
und  ihren  Neigungen  und  Leidenschaften.  Der  moderne  Stat 
—  freilich  zunächst  nur  unter  den  Völkern  von  europäischer 
und  daher  wesentlich  arischer  Basse  —  ist  auch  in  dieser 
Beziehung  allgemeiner  menschlich  geworden. 

Der  vierte  Stand  ist  aber  so  grosz,  clasz  er  selber  wieder 
ganze  Stände  umfaszt,  und  beachtenswerthe  Abstufungen  be- 
greift. Die  gesundesten  und  krankhaftesten  Elemente  in  dem 
ganzen  heutigen  Volkskörper  sind  dicht  neben  einander  in  dem 
vierten  Stande.  Die  Bettung  und  Erhaltung  des  States  ist 
ohne  die  Hülfe  jener  unmöglich ,  die  Existenz  desselben  von 
diesen  fortwährend  bedroht.  Die  gesundesten  Bestandtheile 
sind  auf  dem  Land  in  dem  Bauernst ande  zu  finden,  obwohl 
auch  sie,    ohne  eine    neue    geistig-sittliche  Belebung    die    in 


170  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

ihren  Fundamenten  schwankende  Statsordmmg  auf  die  Dauer 
nicht  zu  erhalten  vermögen.  Ihnen  zunächst  stellen  die  Klein- 
bürger. Beide  sind  noch  in  den  Gemeinden  organisirt. 
Aber  für  die  massenhaften  in  den  Städten  angehäuften  Bürger 
ist  die  Gemeindeorganisation  nicht  mehr  genügend,  und  die 
übrigen  genossenschaftlichen  Verbindungen  sind  der  Auflösung 
verfallen.  Die  organische  Beziehung  der  Meister  unter  sich 
und  zu  den  Gesellen  ist  überall  durchbrochen .  und  was  natur- 
gemäsz  zusammen  gehört,  aus  einander  gerissen.  Der  Mangel 
an  statsrechtlicher  Organisation  ist  aber  für  die  Existenz  der 
Stände  verderblich.  Der  unorganisirte  Stand  ist  nur  die  An- 
lage zum  Stand:  der  wirkliche  Stand  hat  einen  Körper. 
Die  Gemeinschaft  der  Bildung,  der  Interessen,  dos  Geistes 
unter  den  verschiedenen  Berufsclassen  wird  durch  die  Des- 
organisation zwar  nicht  völlig  aufgehoben,  aber  in  einen  Zustand 
der  Unruhe  und  der  Gährung  zurück  versetzt,  und  der  schranken- 
und  ziellose  Krieg  Aller  gegen  Alle  eröffnet.  Vergeblich 
schreitet  dann  die  Polizei  ein.  Sie  vermag  das  Uebel  nur  in 
einzelnen  Ausbrüchen  zu  hemmen  oder  zu  unterdrücken,  und 
häufig  vermehrt  sie  es  noch,  indem  sie  da,  wo  Sorge  und 
Heilung  Bedürfnisz  ist.  Btatt  dieser  Miszhandlung  und  Plage 
zum  Gefolge  hat.  Wie  kann  man  sich  wundern,  wenn  gerade 
in  den  untern  Schichten  des  vierten  Standes  auch  die  Saat 
atheistischer  Vorstellungen  und  communistischer  Lehren  einen 
fruchtbaren  Boden  gefunden  hat,  und  fast  überall  in  den  groszen 
Städten  und  theilweise  sogar  auf  dem  Land  das  Unkraut  üppig 
aufgewuchert  ist,  welches  die  edleren  Pflanzungen  der  Ver- 
gangenheit zu  ersticken  droht? 

Das  Proletariat  bildet  die  unterste  Stute  innerhalb  des 
vierten  Standes.  Es  ist  aber  weder  dem  vierten  Stande  gleich 
zu  stellen,  noch  ist  es  überhaupt  ein  Stand.  Da  ist  es  um- 
gekehrt nicht  die  Aufgabe  des  Statsmannes,  das  Proletariat  zu 
organisiren  und  zum  Stand  zu  erheben,  sondern  vielmehr  die. 
es  möglichst  in  den  übrigen  Ständen   oder  Classen   unter  zu- 


Sechzehntes  Cap.     Der  sog.  vierte  Stand.     Die  Volksclassen.     171 

bringen,  und  so  sein  besonderes  Wachsthum  zu  hemmen. 
Das  Proletariat  besteht  zumeist  aus  den  Abfällen  der  andern 
Stände.  Die  vermögenslosen  und  vereinzelten  Theile 
der  Bevölkerung,  die  sich  deszhalb  auch  der  ständischen  Glie- 
derung entziehen,  heiszen  wir  das  Proletariat. 

Es  ist  eine  falsche  und  für  den  Stat  überaus  gefährliche 
Vorstellung,  die  Bewohner  lediglich  mathematisch  nach  dem 
Vermögen  in  Besitzende  undNichtbesitzende  zu  trennen 
und  die  letzteren  gar  als  Proletariat  zusammen  zu  fassen  und 
den  ersteren  feindlich  entgegen  zu  stellen.  Würde  diese  unorga- 
nische Meinung,  der  viel  zu  viel  Vorschub  geleistet  worden 
ist,  allgemein  durchdringen  und  leitend  werden,  so  müszte 
unsere  ganze  Civilisation  von  einer  neuen  Barbarei  überrluthet 
und  zertreten  werden,  denn  das  wäre  die  practische  Consequenz 
jener  gedankenlosen  Lehre.  Die  grosze  Mehrzahl  der  nicht- 
besitzenden Bevölkerung  ist  aber  glücklicher  Weise  mit  den 
übrigen  Ständen  noch  organisch  verbunden  und  wird 
durch  diese  Verbindung  befriedigt.  Die  besitzlosen 
Kinder  sind  keine  Proletarier,  weil  sie  in  der  Familie  ihrer 
Eltern  Pflege,  Erziehung,  Unterhalt  finden.  Sie  theilen  den 
Stand  der  Eltern,  und  selbst  über  die  armen  Waisen  ergänzt 
und  ersetzt  der  Organismus  der  Gemeinde  die  Familie.  Die 
grosze  Zahl  der  besitzlosen  Bauernknechte  und  Mägde 
sind  wieder  keine  proletarische  Bevölkerung,  weil  sie  nicht 
vereinzelt  in  der  AVeit  stehen,  sondern  auf  dem  Hofe  und  in 
der  Familie  des  Bauern  eine  Heimat  und  gesicherten  Theil  an 
dem  ständischen  Leben  finden.  Als  das  Handwerk  besser  or- 
ganisirt  war,  als  heut  zu  Tage,  waren  auch  die  Gesellen 
Familienglieder  der  Meister,  und  selbst  in  der  jetzigen  Auf- 
lösung ist  in  ihnen  noch  das  Gefühl  des  Handwerkstandes 
lebendig  und  hebt  sie  hoch  empor  über  das  Proletariat.  Auch 
die  Dienstboten  erhalten  in  der  Verbindung  mit  der  Dienst- 
herrschaft eine  beruhigte  Existenz  und  haben  Theil  als  Gefolge 
ihrer   Herrn  an  den    ständischen  Verhältnissen   dieser.     Den 


172  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Soldaten  endlich  gibt  die  Einreibung  in  den  Körper  der 
Armee  Sold  und  Ehre.  Der  Mangel  einer  Organisation  der 
Fabrikarbeiter  aber  ist  eine  der  krankhaftesten  Seiten  un- 
serer heutigen  Stände  und  deszhalb  ist  in  dieser  Classe  die 
Masse  des  Proletariats  so  unverhältniszmäszig  und  drohend  an- 
gewachsen. 

Die  wahre  Kunst  des  Statsmannes  ist  also  zu  bewirken, 
dasz  so  wenig  als  möglich  Abfälle  der  organisirten  Stände  in 
das  nothwendig  unorganisirte  atomistische  Proletariat  versinken 
und  dahin  zu  arbeiten,  dasz  aus  diesen  so  viel  Individuen  als 
möglieh  in  die  organisirten  Stände  aufsteigen  und  da  auch 
den  relativen  Besitz  des  gesicherten  Lebensunterhaltes  erwer- 
ben. Das  so  verminderte  Proletariat  bedarf  dann  nicht  einer 
selbständigen  Organisation,  zu  dem  es  keine  Fälligkeit  hat, 
sondern  des  Patronates,  welches  sieh  Beiner  Interessen  an- 
nimmt und  für  dasselbe  spricht  nnd  handelt. 

Dem  vierten  Stande  gebrichi  es,  «ras  die  Statsverfassung 
betrifft,  durchweg  an  der  Fähigkeit,  die  eigentlichen  Stats- 
ämter  zu  verwalten.  Di«'  oberu  Classen  desselben  aber 
besitzen  regelmäszig  die  Fähigkeit,  Gemeindeämter  zu  be- 
kleiden, und  dürfen  daher  von  diesen  nicht  ausgeschlossen 
werden. 

An  der  Volksvertretung  gebührt  dem  vierten  Stande 
neben  dem  dritten  ein  Antheil,  und  der  Stat  Unit  wohl,  näher 
dafür  zu  sorgen,  dasz  dieser  Antheil,  der  bei  völlig  gleicher 
Behandlung  leicht  ?on  dein  gebildeten  und  in  freierer  Musze 
lebenden  dritten  Stande  ihm  factisen  ganz  entzogen  wird,  ge- 
sichert bleibe.  Indessen  da  die  Glieder  dieses  Standes  oft 
weder  Musze  haben,  noch  hinreichende  Gewandtheit,  in  Person 
ihre  Interessen  zu  vertreten,  wird  immerhin  die  Wählbar- 
keit auch  für  diesen  Antheil  nicht  ganz  auf  den  Stand  be- 
schränkt werden  dürfen.  Das  Stimmrecht  endlich  gebührt 
diesem  Stande  nach  Verhältnis  seiner  groszen  Bedeutung: 
unrichtig  aber  ist  es,  alle    Individuen  desselben,   deren  gesell- 


Siebzehntes  Capitel.     Die  Sclaven.  173 

schaftliche  Bedeutung  und  Fähigkeit  so   sehr  verschieden  ist, 
auf  gleiche  Linie  zu  stellen.2 

Das  eigentliche  Proletariat  insbesondere  bedarf  in  seinem 
wirklichen  Interesse  weit  eher  der  Patrone  (Schutzherren, 
Mundherren)  als  der  Kepräsentanten,  die  es  doch  nicht 
in  seiner  Mitte  finden  kann.  Je  höher  dann  durch  Ansehen 
und  Einflusz  der  Patron  gestellt  wäre,  um  so  wirksamer  wür- 
den die  Interessen  des  Proletariats  gewahrt  werden. 

Anmerkung.  Zu  den  glänzendsten  Partien  des  Riehl'schen  Buches 
über  „die  bürgerliche  Gesellschaft"  gehört  die  Charakterisirung  des  deut- 
schen Bauernstandes.  Aber  wenn  Riehl  das  Proletariat  als  Stand  auf- 
faszt  und  den  vierten  Stand  nennt,  so  halte  ich  das  für  einen  Irrthum, 
vor  dem  ihn  die  Conscquenz  seiner  eigenen  Beobachtungen  und  Bemer- 
kungen hätte  bewahren  sollen,  und  der  in  der  zweiten  Auflage  nur  ge- 
mildert aber  nicht  gehohen  worden  i>t.  In  Fragen  von  so  ungeheurer 
poetischer  Wichtigkeit  darf  dem  freilich  schon  lange  verbreiteten  Irr- 
thum keine  Concession  gemacht  werden. 


Siebzehntes  Capitel. 

V.    Die  Sclaven. 

Der  Sclave  kommt  ursprünglich  als  ein  Fremder  in  die 
Familie  und  in  das  Volk  hinein,  deren  Gewalt  er  unterworfen 
wird.  So  verbreitet  das  Institut  der  Sclaverei  im  Alterthum 
war,  so  weisz  ich  doch  von  keinem  Volke,  welches  dieselbe 
als  einen  nationalen  Stand  betrachtet  hätte.  Schon  das 
ist  uns  ein  Zeugnisz,  dasz  die  Sclaverei  nicht  ein  Bedürfnisz 
der  menschlichen  Natur  sei. 

Aristoteles  (Polit.  I.  2.)  hat  zwar  mit  vielem  Aufwand 
von  Scharfsinn  zu  beweisen  versucht,  dasz  die  einen  von  Natur 
Herren  und  die  andern  von  Natur  Sclaven  seien.  Aber  soweit 
seine  Beweisführung  Wahrheit  enthält,  ist  sie  blosz  geeignet, 

2  Siehe  unten  Buch  V.  Cap.  5  und  6. 


174  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

die  Notwendigkeit  dienender  Classen  der  Bevölkerung  zu 
begründen,  nicht  aber  das  Bedürfnisz  der  rechtlosen  Sclaverei. 
Allerdings  bedarf  der  höher  begabte  Mensch,  soll  er  seine 
Bestimmung  erfüllen  können,  auch  beseelte  Werkzeuge,  wie 
Aristoteles  sie  nennt,  zu  seinem  Dienste,  und  allerdings  gibt 
es  Menschen,  welche  von  der  Natur  selbst  vorzugsweise  auf 
körperliche  Thätigkeit  angewiesen  sind  und  ebenso  sehr  der 
Leitung  und  des  Befehles  eines  Herrn  bedürfen,  um  ihren 
Beruf  richtig  auszuüben,  als  dieser  ihrer  Dienstleistung.  Aber 
daraus  folgt  doch  nur,  dasz  Herrschaft  und  Dienstboten, 
Meister  und  Gesellen,  Bauer  und  Knechte,  Fabrikherr  und 
Fabrikarbeiter  einander  gegenseitig  bedürfen,  keineswegs  aber, 
dasz  das  Unterordnungsverhältnisz  des  dienenden  Theiles  zum 
herrschenden  dem  der  Hausthiere  zum  Eigentliümer  gleich  zu 
achten  sei;  es  folgt  nicht  daraus,  dasz  die  Arbeiter  alle  indi- 
viduelle Freiheit  und  die  menschliche  Persönlichkeit  aufgeben 
und  zu  bloszen  Sachen  und  AVerk zeugen  eines  bestimm- 
ten Herrn,  d.  h.  eben  zu  Sclaven  werden  müssen.  Der  Mensch 
ist  von  Natur  Person,  daher  kann  er  nicht  Sache,  d.  h.  nicht 
Sclave  sein. 

Die  römischen  Juristen,  welche  in  ihrer  Rechtstheorie 
den  absoluten  Eigenthumsbegriff  mit  einer  auch  im  Alterthum 
auffallenden  Härte  auf  die  Sclaven  anwendeten,  und  dieselben 
durchweg  als  rechtlose  Wesen,  als  blosze  Sachen  darstellten, 
waren  sich  doch  bewuszt,  dasz  die  Sclaverei  wider  die  Natur 
und  nur  durch  den  gemeinen  Gebrauch  der  Völker  eingeführt 
worden  ist. 1  Sie  erklärten  daher  die  Freilassung  als  Wieder- 
herstellung des  natürlichen  Hechtes.2    Die  römische  Juris- 

1  Florcntinus  L.  4.  §.1.  de  Statu  hominum:  ,,  Servitus  est  constitutio 
juris  gentium,  qua  quis  dominio  alieno  contra  naturam  subjicitur.u  $.'3. 
J.  de  jure  person. 

2  Ulpianus  L.  4.  de  Just,  et  Jure.  („Manumissio)  a  jure  gentium 
originem  sumsit,  utpote  quum  jure  naturali  omnes  lihcri  )ius<<r<ntttr, 
nee  esset  nota  manumissio,  quum  servitus  esset  incognita;  sed  posteaquam 
jure  gentium  servitus  invasit,  secutum  est  beneficium  manumissionis." 


Siebzehntes  Capitel.     Die  Sclaven.  175 

prudeuz  wuszte  das,  und  hielt  dennoch  mit  starrer  Consequenz 
über  ein  Jahrtausend  an  dem  gewaltsam  eingeführten  Eigen- 
thum  über  die  Sclaven  fest.  Die  kaiserlichen  Verordnungen, 
dasz  es  den  Herren  nicht  mehr  gestattet  sei,  ohne  Masz  und 
ohne  Grund  wider  ihre  Sclaven  zu  wüthen, 3  schützten  vor  den 
Excessen  roher  Grausamkeit,  etwa  so  wie  neuere  Gesetze  gegen 
die  Thierquälerei  gegeben  sind,  sie  änderten  aber  nichts  an 
dem  Grundbegriffe:  und  nach  wie  vor  war  der  Sclave  nicht 
nur  eigentlmmslos,  sondern  es  waren  ihm  selbst  die  Kechte 
der  Ehe  und  der  Blutsverwandtschaft  versagt. 

Ebenso  war  es  dem  deutschen  Bechtsbewusztsein  klar, 
dasz,  wie  der  Verfasser  des  Sachsenspiegels4  sich  energisch 
ausdrückt,  alle  Eigenschaft  von  Zwang,  Gefangennehmung  und 
unrechtmäsziger  Gewalt  ihren  Anfang  genommen,  und  dasz 
man  später  das  für  Recht  ausgegeben  hahe,  was  nur  eine  alte 
aber  ungerechte  Gewohnheit  sei.  Auch  erkannten  die  ger- 
manischen Völker  von  jeher  eine  relative  Berechtigung 
der  Eigenen5  an.  Die  Vermögens-  und  Familienrechte  der- 
selben waren  zwar  unvollkommen  und  hatten  in  der  altern 
Zeit  einen  sehr  ungenügenden  Schutz,  es  kam  anfangs  wesent- 
lich nur  auf  den  guten  Willen  des  Herrn  an,  ob  er  dieselben 
achte  oder  nicht ;  aber  der  Keim  der  spätem  allmählichen  und 
stufenweise  eintretenden  Befreiung  der  Eigenen  war  in  den 
germanischen  Rechten  nicht  ebenso  zerstört,  wie  in  dem  römi- 

3  Gajus  L.  1.  §.  2.  de  bis  qui  sui  vel  alieni. 

4  Sachsenspiegel  III.  §.3:  „An  minen  sinnen  ne  kan  ik  is  nicht 
upgenemen  na  der  warheit,  dat  ieman  des  anderen  sole  sin,  ok  ne 
hebbe  wir's  nen  Urkunde.  §.  G.  Na  rechter  warheit  so  hevet  egenscap 
begin  von  gedvange  unde  von  vengnisse  vnde  von  unrechter  walt,  die 
man  von  aldere  in  unrechte  wonheit  getogen  hevet  unde  nu  vore  recht 
heben  wil." 

6  Die  Gleichstellung  der  Eigenen  mit  Hausthieren,  die  auch  in  deut- 
schen Rechtsquellen  gelegentlich  gefunden  wird,  bezeichnet  durchaus 
nicht  das  Wesen  des  altern  Verhältnisses,  das  Tacitus  mit  scharfem 
Kennerblick  mehr  dem  römischen  Colonat  als  der  römischen  Servitus 
verglichen  hat. 


176  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

sehen.  Die  Persönlichkeit  des  deutschen  Sclaven  war  nie  ganz 
verloren  gegangen,  und  deszhalb  war  auch  die  Perfectibi- 
lität  seiner  Zustände  nicht  ausgeschlossen. 

Die  Aufhebung  der  Sclaverei  in  dem  abendländischen 
Europa  ist  schon  während  des  Mittelalters  dadurch  groszen- 
theils  vollzogen  worden,  dasz  dieselbe  in  die  mildere  Form 
der  Hörigkeit  überging.  Ihre  letzten  Eeste  aber  sind  mit 
der  endlichen  Beseitigung  auch  der  Hörigkeit  erst  gegen  Ende 
des  XVIII.  und  in  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts 
weggeräumt  worden. 

Diese  frühere  allmähliche  und  die  neue  durchgreifende 
Befreiung  darf  zum  Theil  als  eine  heranreifende  Frucht  des 
Christenthums  erklärt  werden,  dessen  religiöse  Ideen  das  posi- 
tive Sclavenrecht  zwar  nicht  gewaltsam  durchbrachen,  aber 
geistig  auflösten.  Mit  dem  Glauben,  dasz  die  Menschen  alle 
Kinder  Gottes  und  unter  sich  Brüder  seien,  war  das  Eigen- 
thum  eines  Menschen  über  einen  andern  nicht  verträglich. 
Mehr  aber  noch  ist  sie  dem  germanischen  Eechts-  und  Freiheits- 
gefühl und  dem  fortschreitenden  Geiste  der  Humanität  zu 
verdanken. 6 

Eine  eigentümliche  Geschichte  hatte  die  russische 
Leibeigenschaft.  Es  gab  in  Euszland  von  Alters  her  eine  per- 
sönliche Knechtschaft,  aber  noch  im  XVI.  Jahrhunderte  war 
die  Masse  der  Bauern  frei.  In  den  weiten  Bäumen  bedurften 
die  Grandherrn  zahlreicher  Arbeiter,  und  da  die  Bauern  noch 
den  freien  Zug  hatten  und  der  alte  nomadische  Wandertrieb 
zu  stätem  Wechsel  der  Wohnsitze  anreizte,  so  lag  es  im 
Interesse  der  Herrn,  die  Bauern  durch  mancherlei  Vergünsti- 
gung auf  ihren  Gütern  festzuhalten.  Die  bäuerliche  Eigen- 
schaft entstand  erst,  seitdem  der  Stat  aus  Gründen  der  Finanzen 
und  des  Militärsystems  die  Bauern  immer  fester  an  die  Scholle 
band  und  der  Willkür  der  Herrn  überlieferte.  Das  sieben- 
zehnte Jahrhundert  hat  sich  auch  in  andern  europäischen  Län- 

6  Vgl.  unten  S.  160. 


Siebenzehntes  Capitel.     Die  Sclaven.  177 

dem  der  bäuerlichen  Freiheit  ungünstig  erwiesen,  aber  wohl 
nirgends  ungünstiger  als  in  Kuszland.  Knechte  und  Bauern 
wurden  zu  gemeinsamer  Eigenschaft  verbunden.  Der  Herr 
erhielt  eine  fast  unbeschränkte  Verfügung  über  ihre  Personen 
und  ihre  Habe.  Aber  auch  in  Euszland  brachte  die  neue  Zeit 
erst  Erleichterung  der  Lasten,  und  in  unsern  Tagen  Befreiung 
für  die  Bauern.  Das  Emancipationswerk ,  welches  der  Kaiser 
Alexander  IL  trotz  des  Sträubens  vieler  Adelicher  durchführte, 
(Gesetz  vom  19.  Febr.  1861),  hat  auch  da  eine  neue  Periode 
privatrechtlicher  Freiheit  eingeleitet. 7 

So  wurde  Europa  allmählich  gereinigt  von  dem  uralten 
Fluch  der  Sclaverei.  Aber  in  der  neuen  Welt  hatte  dieselbe 
einen  neuen  Boden  und  eine  in  mancher  Hinsicht  noch  schlim- 
mere Anwendung  gefunden.  Wie  furchtbar  sich  dieser  Frevel 
an  dem  Geiste  der  Humanität  gerächt  hat,  das  hat  der  nord- 
amerikanische Bürgerkrieg  gezeigt  (1861 — 1865). 

Die  Negersclaverei  ist  zwar  insofern  weniger  verwerflich, 
als  die  antike  Sclaverei  der  europäischen  Völker,  als  dort  die 
Herrschaft  der  weiszen  Herrn  nicht  über  ihres  gleichen,  wie 
hier,  sondern  über  eine  von  Natur  untergeordnete  schwarze 
Kasse  geübt  wird.  Aber  diese  Anlehnung  an  die  natürliche 
Ordnung  begünstigt  auch  die  leidenschaftliche  und  hoch- 
müthige  Ueberhebung  der  Weiszen,  die  weniger  geneigt  sind 
und  weniger  genöthigt  werden,  in  den  Schwarzen  die  gemein- 
same menschliche  Natur  zu  ehren  und  die  Grausamkeit  der 
Miszhandlung  wird  heftiger  und  häufiger,  als  sie  im  Alter- 
thum  gewesen  war.  Die  bittere  Ironie,  mit  welcher  Montes- 
quieu (Esprit  des  Lois  XV.  5.)  die  übermüthige  Verachtung 
der  Schwarzen  von  Seite  ihrer  weiszen  Herrn  geiszelt,  wenn 
er  sagt:  „Man  kann  sich  nicht  vorstellen,  dasz  Gott,  der  doch 
ein  höchst  weises  Wesen  ist,  eine  Seele  und  vorzüglich  eine 

1   Vgl.   den  Art.   Leibeigenschaft   (russische)   von   Tschitscherin    im 
Deutschen  Statswörterbuch. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsreekt.    I.  12 


178  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

gute  Seele  in  einen  ganz  schwarzen  Körper  versetzt  habe"  — 
diese  Ironie  schlägt  nicht  in  den  Wind. 

Die  amerikanische  Sclaverei  war  daher  auch  viel  härter 
als  je  die  europäische  Eigenschaft  gewesen  war.  Die  Schonung 
und  Sorge,  welche  den  farbigen  Sclaven  von  ihren  Herrn  that- 
sächlich  zu  Theil  ward,  hatte  keinen  andern  Charakter  als 
die  wirthschaftliche  Schonung  und  Pflege,  welche  der  Bauer 
seinem  Ackervieh  zuwendet.  Die  moralische  und  rechtliche 
Erniedrigung,  die  sich  in  der  Bestreitung  jeder  Menschenwürde, 
in  der  Miszachtung  der  Ehe  und  der  Familie,  in  dem  Mangel 
der  religiösen  und  sittlichen  Erziehung,  in  der  Verweigerung 
jedes  Kechtsschutzes  überhaupt,  und  in  dem  ungehemmten 
Handel  mit  Sclaven  und  nicht  selten  in  empörender  Grausam- 
keit zeigte,  drückte  dieselben  ganz  auf  die  Stufe  der  Haus- 
siere herab  und  verletzte  so  die  göttliche  und  menschliche 
Ordnung  aufs  tiefste. 

Es  war  ein  Unglück  für  Amerika,  dasz  der  Antrag 
Jeffersons,  der  Unabhängigkeitserklärung  vom  4.  Juli  1776, 
welche  auch  die  Freiheit  als  ein  unveräuszerliches  Menschen- 
recht  verkündigt,  die  Beschwerde  über  die  Zulassung  und  Be- 
günstigung der  Negersclaverei  von  Seite  der  königlichen  Ke- 
gierung  beizufügen,  in  der  Minderheit  geblieben  war.  Die 
anfängliche  Absicht,  allmählich  und  stufenweise  die  Sclaverei 
zu  beseitigen,  fand  eine  weniger  nachhaltige  Unterstützung  als 
das  Streben  der  Sclavenhalter ,  ihren  Besitz  zu  schützen  und 
zu  erweitern.  Kaum  konnte  das  Gleichgewicht  der  sclavenfreien 
Staten  mit  den  sclavenhaltenden  in  der  Bundesregierung  behauptet 
werden.  Seit  einem  Jahrhundert  war  die  Masse  der  Sclavenbevöl- 
kerung  von  einigen  Hunderttausenden  zu  mehreren  Millionen  an- 
gewachsen. Die  rasch  entwickelte  Cultur  der  Baumwolle  und 
des  Zuckerrohrs  wirkte  nach  dieser  Seite  hin  sehr  verderblich. 

Inzwischen  fing  man  an,  die  Aufhebung  der  Sclaverei 
von  Europa  auch  nach  Amerika  überzupflanzen.  England 
ging  hier  und  mit  groszen  Mitteln  voran.     Mögen  dabei  auch 


Siebenzehntes  Capitel.     Die  Sclaven.  179 

unreine  Motive,  wie  es  in  menschlichen  Dingen  nie  anders  ist, 
mitlaufen,  das  Ziel  dieses  Strebens  ist  dennoch  ein  heiliges 
und  gerechtes  und  der  Mann,  der  zuerst  der  Sclavenbefreiung 
sein  Leben  widmete  und  mit  erfolgreicher  Energie  in  und  auszer 
dem  Parlament  diese  Sache  betrieb,  William  Wilberforce, 
war  auch  von  der  Keinheit  dieses  Zieles  erfüllt.  Die  Auf- 
hebung der  Sclaverei  in  den  englischen  Colonien,  die  Ent- 
schädigung der  sogenannten  Eigenthümer,  und  die  völkerrecht- 
lichen Verträge  zur  Unterdrückung  des  Seehandels  mit  Neger- 
sclaven  sind  doch  trotz  aller  Miszgriffe  im  Einzelnen  grosze 
Verdienste  um  die  Menschheit. 

Der  Sieg  der  Union  über  die  sclavenhaltenden  Staten  des 
Südbundes  hat  die  Abschaffung  der  Negersclaverei  zunächst 
für  Nordamerika  entschieden.  Die  Union  duldet  keine  Sclaverei 
mehr  in  dem  Bereich  ihrer  Statsmacht.  (Verfassungsgesetz 
vom  1.  Febr.  1865,  proclamirfc  18.  Dec.  1865).  Damit  ist 
die  Frage  mittelbar  für  ganz  Amerika  entschieden.  Es  werden 
sich  die  Staten  in  Südamerika  nicht  lange  mehr  der  Aner- 
kennung desselben  Princips  entziehen  können. 

Freilich  ist  damit  die  schwierige  Frage  der  politischen 
Stellung  und  Kechte  der  Neger  noch  nicht  erledigt.  Es  ist 
nur  die  privatrechtliche  Freiheit  und  Berechtigung  auch  der 
dunkel-farbigen  Kasse  anerkannt.  Ob  die  Neigung,  den  Negern 
auch  die  vollen  politischen  Rechte  einzuräumen,  die  gegen- 
wärtig im  Norden  Amerikas  vorrherrscht,  nachhaltig  sei,  ist 
zweifelhaft.  Politisches  Recht  setzt  politische  Fähigkeit  voraus. 
Dasz  aber  die  repräsentative  Demokratie,  die  bisher  nur  den 
politisch  gebildetesten  Nationen  geglückt  ist,  die  naturgemäsze 
Statsform  sei  für  die  Neger,  wo  sie  massenhaft  beisammen 
sind,  und  dasz  diese  fähig  seien,  die  demokratische  Verfassung, 
welche  eine  seltene  männliche  Selbstbeherrschung  und  Selbst- 
tätigkeit erfordert,  würdig  zu  erfüllen  und  tapfer  zu  behaupten, 
das  wird  kaum  ein  Kenner  der  menschlichen  Natur  und  der 
Statengeschichte  zu  behaupten  wagen. 

12* 


180  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Immerhin  lassen  sich  folgende  allgemeine  Sätze  als  an- 
erkannte Folgerung  des  humanen  Statsprincips  aussprechen: 

1)  Der  Stat  ist  berechtigt  und  verpflichtet,  wo  sich  auf 
seinem  Gebiete  noch  Ueberreste  von  persönlicher  Sclaverei 
vorfinden,  dieselben  zu  beseitigen.  Indern  er  das  thut,  hebt 
er  nur  altes  Unrecht  auf. 

2)  Der  Stat  darf  keine  neue  Begründung  der  Sclaverei 
dulden,  auch  dann  nicht,  wenn  einer  sich  freiwillig  zum  Sclaven 
ergeben  möchte. 

3)  Der  Stat  verweigert  mit  Eecht  dem  fremden  Herrn 
seinen  Rechtsschutz ,  wenn  dieser  innerhalb  des  Statsgebietes 
Eigenthum  an  seinen  Sclaven  verfolgen  will.9 

4)  Die  Sclaven,  welche  den  Boden  freier  Länder  betreten, 
werden  ipso  facto  frei,  und  können  den  Schutz  der  Gerichte 
für  ihre  Freiheit  anrufen. 


Achtzehntes  Capitel. 

VII.    Die  Classcn. 

Die  mittelalterlichen  Stände  sind  überall  in  der  Auflösung 
begriffen.  Der  Klerus,  der  vormals  die  erste  Stelle  einnahm, 
weil  er  eine  höhere  fast  göttliche  Würde   in  Anspruch   nahm, 

8  Für  England  vgl.  Blackstone  Comment.  I.  14.  Urtlieil  des 
Gerichtsh.  v.  "Westminster-Hall  v.  1771.  (Wheaton  histoire  du  D.  d.  G-. 
II.  353.)  Das  englische  Gesetz  vom  28.  August  1833  regulirt  die  Frei- 
lassung in  den  englischen  Colonien  und  erklärt  jeden  Sclaven,  der  mit 
Zustimmung  seines  Herrn  nach  Groszbritannien  oder  Irland  komme,  für 
frei.  In  Frankreich  schon  in  den  Inst  it.  Coutum.  von  Loysel  aus 
d.  XVI.  Jahrh.  der  Satz :  „Toutes  personnes  sont  franclies  en  ceRoi'aume: 
et  si-tost  qu'un  Esclave  a  atteint  les  Marclies  d'icelui,  se  faisant  baptizer, 
est  affranchi."  Französisches  Gesetz  v.  1791,  28.  Sept.  Verfassung 
von  1848.  6.  „L'esclavage  ne  peut  exister  sur  aucune  terre  frangaise." 
Art.  add.  au  traite  de  paix  de  Paris  1814.  „Sa  Majeste  Träs-Chretfenne 
et  Sa  Majeste  Britannique  s'engage  —  pour  faire  prononcer  par  toutes 
les  puissances  de  la  chretiente  l'abolition  de  la  traite  des  noirs." 


Achtzehntes  Capitel.     Die  Classen.  181 

hat  diesen  Vorrang  vor  den  Laien  verloren  und  überhaupt  auf- 
gehört, ein  besondrer  politischer  Stand  zu  sein.  Die  moderne 
Verfassung  bringt  die  höheren  geistliehen  Würdeträger,  die 
Prälaten  in  der  Aristokratie,  die  übrige  Geistlichkeit  in  der 
höhern  Bürgerschaft  unter.  Wie  sehr  die  mittelalterliche  In- 
stitution des  Adels,  sowohl  des  höhern  als  des  niedern,  zer- 
rüttet und  wie  wenig  sie  geeignet  ist,  eine  selbständige  höhere 
Statsstellung  als  ständisches  Recht  zu  behaupten,  hat  die  Be- 
trachtung der  neuern  Geschichte  deutlich  genug  gezeigt.  Aber 
auch  der  alte  Bürgerstand  hält  nicht  mehr  in  der  frühern 
ständischen  Weise  zusammen.  Die  gebildeten  Classen  haben 
in  dem  modernen  Repräsentativstat  eine  andere  Bedeutung ,  als 
die  mittelalterliche  Bürgerschaft.  Nicht  einmal  der  ruhigste  und 
die  alten  Sitten  und  Anschauungen  gewohnheitsmäszig  fest- 
haltende Bauernstand  kann  sich  der  Bewegung  der  Zeit  und 
den  neuen  Bildungsmomenten  in  ihr  entziehen,  und  die  In- 
dustrie hat  sich  auch  auf  der  Landschaft  eingebürgert  und  das 
blosze  Bauernwesen  durchbrochen. 

Bisher  sind  auch  alle  Versuche,  die  mittelalterlichen 
Stände  zu  reformiren  und  dann  den  Stat  darauf  zu  stützen, 
völlig  verunglückt.  Der  Instinct  der  Völker  ist  entschieden 
misztrauisch  gegen  denselben  geblieben.  Die  Völker  fühlen 
sich  dem  Ständestat  des  Mittelalters  entwachsen  und 
sie  wollen  keine  —  auch  nicht  eine  revidirte  und  reformirte  — 
Wiederherstellung  desselben. 

Dennoch  begreift  man,  dasz  die  blosze  Fusion  aller  Stände 
ebenso  wenig  ausreicht,  und  dasz  die  unläugbar  vorhandenen 
massenhaften  Gegensätze  in  der  Bevölkerung  auch  ein  stats- 
rechtliches  Gewicht  haben.  Will  man  dieselben  Terfassungs- 
mäszig  ordnen,  so  bleibt  daher  kein  anderer  Weg  mehr  übrig, 
als  die  Eintheilung  nach  Classen,  statt  nach  Ständen.  Was 
wir  in  der  neuen  Sprache  noch  Stände  heissen,  das  sind  oft 
nicht  wirkliche  Stände,  sondern  Classen. 

Die  Classen  unterscheiden  sich  von  den  Ständen  dadurch, 


182  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

dasz  jene  vom  State  aus  und  für  den  Stat  geordnet  sind, 
während  die  Grundlage  dieser  zunächst  auszerhalb  des  States 
ruht.  Die  Classen  setzen  die  Einheit  des  Volkes  voraus,  die 
Stände  ignoriren  die  Volkseinheit.  Die  Classen  sind  eine 
nationale  und  statsrechtliche  Institution  zu  politischen 
Zwecken,  die  Stände  sind  voraus  eino  particuläre  und  privat- 
rechtliche Gruppirung,  deren  Zwecke  nicht  ausschlieszlich  und 
nicht  vorzüglich  eine  politische  Bedeutung  haben.  Der  Klerus 
lebt  voraus  der  Kirche,  nicht  dem  Stat;  der  Adel  denkt  vor- 
erst an  sich  und  seine  besonderen  socialen  Interessen,  der 
Bürger  lebt  dem  Gewerbe,  der  Bauer  der  Landwirtschaft. 
Der  Stat  kommt  nur  mittelbar  in  Betracht.  In  den  Ständen 
zeigt  sich  die  natürliche  Verbindung  gleichartiger  Cultur  und 
Wirthschaft,  und  deszhalb  sondern  sich  die  einen  Berufskreise 
von  den  andern.  Die  Eücksichten  auf  den  Stat  üben  darauf 
keinen  Einflusz.  Die  Classen  dagegen  sind  ein  rationelles 
Product  der  organisatorischen  Statsweisheit.  Die  Stände  sind 
naturwüchsig,  die  Classen  eine  Culturerscheinung.  Daher 
finden  wir  das  Classensystem  nur  bei  civilisirten  Völkern  mit 
einem  ausgebildeten  statlichen  Bewusztsein.  So  bei  den  Hellenen, 
wie  besonders  zu  Athen  nach  der  Solonischen  Verfassung,  in 
Rom  nach  der  Servianischen  Verfassung,  der  wir  den  Ausdruck 
Classen  entlehnen,  so  auch  in  unsern  modernen  Staten  Europas. 
Nichts  hindert,  bei  der  Classeneintheilung  auch  die  vor- 
handenen Stände  zu  berücksichtigen,  aber  es  ist  weder  nöthig 
noch  wünschenswerth,  dasz  Classen  und  Stände  zusammen  treffen. 
Wenn  sie  zusammen  fallen,  so  ist  die  ständische  Ordnung  zur 
Statsordnung  erhoben,  wie  wir  das  zum  Theil  im  Mittelalter 
finden.  Damit  ist  aber  auch  die  ständische  Gebundenheit  und  die 
Spaltung  des  Stats  unvermeidlich  mitbegründet.  Die  ständischen 
Interessen  und  die  ständischen  Vorurtheile  bekommen,  weil  sie 
zugleich  politische  Macht  erhalten,  allzu  leicht  das  Ueber- 
gewicht  über  die  allgemeinen  Volksinteressen  und  die  bessere 
Volkseinsicht.     Wenn    dagegen    einzelne    Classen   die    Stände 


Achtzehntes  Capitel.     Die  Classen.  133 

durchschneiden  und  Bruchtheile  aus  verschiedenen  Ständen 
zusammen  fassen,  so  ist  das  eine  schätzbare  Garantie  der 
nationalen  Gemeinschaft  und  des  höheren  politischen  Lebens, 
welches  eine  vielseitigere  Anregung  empfängt. 

Sehr  oft  sind  die  Classen  je  nach  der  Grösze  des  Ver- 
mögens unterschieden  worden.  Es  ist  das  die  Censusver- 
fassung.  Dadurch  wird  aber  das  Yermögen  zu  der  wichtig- 
sten politischen  Potenz  erklärt  und  der  Werth  der  Bürger  für 
den  Stat  nach  der  Zahl  der  Geldstücke  abgestuft,  über  welche 
sie  verfügen,  was  doch  selten  der  Wahrheit  entspricht.  Auch 
dieses  Eintheilungsprincip  ist  doch  wieder  in  erster  Linie 
wirthschaftlich  und  privatrechtlich,  und  nur  in  zweiter  Linie 
mittelbar  statsrechtlich  und  politisch.  Daher  ist  eine  orga- 
nische Eintheilung,  welche  vorzugsweise  die  Fähigkeit 
und  Tauglichkeit  für  den  Stat,  soweit  dieselbe  überhaupt  in 
verschiedenen  Abstufungen  sichtbar  wird,  beachtet,  jenem  blos 
mathematischen  Princip  vorzuziehen.  Das  aber  richtig  zu  er- 
kennen und  zu  bestimmen,  ist  eine  schwere  Aufgabe  für  den 
Statsmann. 

Im  Groszen  lassen  sich  für  den  modernen  Stat  haupt- 
sächlich folgende  vier  Classen  des  Volks  unterscheiden: 

1)  Die  regierende  Classe:  Fürsten  und  Beamte,  mit 
obrigkeitlicher  Gewalt.  Ihre  Stellung  überragt  alle  anderen 
Classen  durch  die  Statsmacht,  die  in  ihren  Händen  ist.  Sie 
stehen  an  der  Spitze  des  Stats. 

2)  Die  aristokratische  Classe,  die  als  solche  nicht 
mehr  regiert,  aber  zwischen  der  regierenden  Classe  und  den 
Volksclassen  eine  selbständige  und  ausgezeichnete 
politische  Stellung  einnimmt. 

3)  Der  sogenannte  dritte  Stand,  d.  h.  die  Classe  des  ge- 
bildeten und  freien  Statsbürgerthums ,  ohne  Rücksicht  auf 
Stadt  und  Land:  die  eigentlichen  Mittelclassen. 

4)  Die  groszen  Volksclassen,  die  auch  unter  dem 
Namen  des  vierten  Standes  zusammengefaszt  werden,   sowohl 


184  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

die  Kleinbürger  in  den  Städten  als  die  Bauern  begreifend  und 
die  übrigen  Massen  der  Arbeiter,  soweit  sie  nicht  schon  in  den 
andern  Schichten  eingereiht  sind?  in  weiteren  Kreisen  umfassend. 
Die  erste  Classe  ist  die  Krone,  die  letzte  ist  die  Wurzel 
und  der  Stamm  des  States.  Die  Volksclassen  sind  die  Basis, 
die  regierende  Classe  ist  das  Haupt  des  Stats.  Auf  dem  ge- 
sunden Kapport  dieser  beiden  Classen  beruht  vornehmlich  die 
Energie  und  die  solide  Kraft  des  Volksstats.  Die  beiden 
mittleren  Classen  ergänzen,  controliren  und  beschränken  die 
Thätigkeit  der  ersten  Classe  bald  mehr  in  aristokratischer, 
bald  mehr  in  repräsentativ-demokratischer  Weise,  und  sie  sind 
durch  ihre  höhere  Bildung  und  ihre  günstigere  sociale  Lebens- 
stellung auch  vorzüglich  befähigt,  und  durch  ihr  gehobenes 
Eechtsbewusztsein  und  Freiheitsgefühl  veranlaszt,  darüber  zu 
wachen,  dasz  die  Bedingungen  der  allgemeinen  Volkswohlfahrt 
und  die  Interessen  der  ganzen  Nation  wohl  gewahrt  und  be- 
achtet werden.  Sie  sind  die  natürlichen  Patrone,  Führer  und 
Vertreter  der  letzten  und  gröszten  Classe. 


Neunzehntes  CapiteL 

VIII.    Verhältnisz  des  States  zur  Familie. 
1.    Geschlechterstat.  Patriarchie.  Ehe. 

Sehr  oft  schon  wurde  in  alter  und  in  neuer  Zeit  der 
Satz  ausgesprochen:  „Die  Familie  ist  das  Urbild  des  Sta- 
tes.    Der  Stat  ist  die  erweiterte  grosze  Familie."1    Man  ver- 

1  Cicero  de  Officiis  I.  17.:  „Prima  societas  in  ipso  conjugio  est,  pro- 
xima  in  liberis,  deinde  una  domus,  communia  omnia.  Id  autem  est  prin- 
cipium  urbis  et  quasi  seminarium  reipublicae."  Aber  sogar  Rousseau 
im  Contrat  Social,  zu  dessen  Grundansichten  über  den  Stat  es  freilich 
gar  nicht  paszt:  „Die  Familie  ist  das  erste  Vorbild  der  politischen  Ge- 
sellschaft.'4 


Neunzehntes  Cap.  Verhältnis  d.  States  etc.   1.  Geschlechterstat  etc.     185 

glich  dann  das  Statsoberhaupt  mit  dem  Vater,   das  Volk   mit 
den  Kindern. 

Indessen  jener  Satz  und  diese  Vergleichung  sind  nur  in 
beschränktem  Sinne  wahr.  Sie  gelten  nur  mit  Bezug  auf  die 
patriarchalische  Statsform,  nicht  aber  für  den  höheren 
nationalen  und  menschlichen  Stat.  Es  ist  daher  nöthig,  die 
durchgreifenden  Gegensätze  zwischen  Familie  und  Stat  zu 
bezeichnen : 

1)  Die  Familie  beruht  auf  der  Ehe  und  ehelicher 
Kinderzeugung.  Die  Familienglieder  sind  entweder  als 
Ehegatten  oder  durch  gemeinsames  Blut  verbunden.  Diese 
Grundbegriffe  des  Familienrechts  sind  aber  keineswegs  Grund- 
begriffe des  Statsrechtes.  Die  Statsgenossen  sind  als  solche 
weder  durch  die  Ehe  noch  durch  das  Blut  mit  einander  ver- 
bunden. Sie  haben  nicht  einmal  nothwendig  Ehegemeinschaft 
unter  sich,  noch  weniger  gemeinsame  Abstammung.  Die  Grund- 
rechte der  Familie  sind  daher  auch  von  dem  State  unab- 
hängig. 2 

2)  Der  Stat  beruht  auf  der  Organisation  des  Volks 
und  ihrer  Beziehung  zum  Land.  Diese  statlichen  Begriffe 
sind  hinwieder  keine  Begriffe  des  Familienrechtes.  Das  Volk 
besteht  eben  so  sehr  und  noch  mehr  aus  Individuen,  Ständen, 
Classen,  als  aus  Familien,  und  die  Beziehungen  des  States 
zu  jenen  werden  nur  ausnahmsweise  durch  die  Familie  ver- 
mittelt, gewöhnlich  nur  insofern  die  Kücksicht  auf  das  Fami- 
lienleben, wie  bei  der  Vormundschaft,  solches  erheischt.  Die 
Familie  endlich  hat  als  solche  gar  keine  Beziehung  zu  dem 
Boden. 

3)  Die  Art  und  der  Charakter  des  Organismus  ist 
verschieden  in  dem  Stat  und  der  Familie.  Als  Haupt  der 
Familie  erscheint  der  Vater,  der  für  sein  eigen  Fleisch  und 
Blut  sorgt,  wenn  er  über  die  Kinder  Gewalt  übt ;  er  der  reife 

2  Pomponius  L.  8.  de  Reg.  Jur. :    „Jura  sanguinis  nullo  jure  civilk 
dirimi  possunt/' 


186  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Mann  über  die  unmündige  Nachkommenschaft.  Das  Wesen 
seiner  Leitung  ist  Vormundschaft.  Der  Fürst  dagegen 
erscheint  als  Haupt  des  Volkes,  dessen  Gassen  selbständige 
Interessen  haben,  dessen  Familien  von  der  fürstlichen  Dynastie 
getrennt  sind  und  dessen  Individuen  weder  von  ihm  ihr  Dasein 
ableiten  noch  als  unreife  und  unmündige  Wesen  ihm  unter- 
geordnet sind.  Das  Princip  des  States  ist  die  politische 
Kegierung. 

Die  Familie  ist  somit  nicht  das  Urbild  des  States,  son- 
dern höchstens  einer  bestimmten,  der  Familie  ausnahms- 
weisenachgebildeten (der patriarchalischen 3)  Statsform.  Das 
Familienrecht  ist  daher  auch  ein  Theil  des  Privat-,  nicht  des 
öffentlichen  Hechtes. 

Aber  allerdings  sind  die  Anfänge  der  Statenbildung,  sogar 
der  arischen  Völker  an  die  Familien  und  die  Geschlechter  ge- 
bunden. In  dem  Familien-  und  Geschlechtsverband  fanden 
die  ersten  väterlichen  Führer,  Kichter,  Obrigkeit  noch  die  un- 
entbehrliche Stütze  ihrer  Autorität.  Nur  allmählich  konnte 
der  Stat  aus  diesen  Verbänden  zu  einer  politischen  Ordnung 
herauswachsen. 

Die  Geschlecht  er  Verfassung  diente  zur  Brücke  aus 
dem  bloszen  Familienverband  in  den  Stat.  Als  dieser  einmal 
gesichert  war,  wurde  dann  jene  Brücke  abgetragen  und  weg- 
geräumt. Bei  den  meisten  alten  Nationen  rinden  sich  anfäng- 
lich Geschlechter  mit  politischer  Bedeutung,  die  später  ver- 
schwinden. Die  alt  -  mosaische  Verfassung  kennt  sie  so  gut 
wie  die  alt-hellenische  oder  alt-römische  Verfassung.  Wie  bei 
den  alt-arabischen  Stämmen  die  Geschlechter  ihre  Häuptlinge 


3  Gobineau,  sur  l'in6galite  des  races  humaines  II.  8.  270 s  führt 
an,  dasz  die  arischen  Völker  von  jeher  die  patriarchalische  Vorstellung, 
welche  die  väterliche  Gewalt  als  Vorbild  der  obrigkeitlichen  Macht  be- 
trachtet, nur  mit  groszer  Vorsicht  und  unter  wichtigen  Beschränkungen 
zugelassen  haben,  während  dieselbe  der  in  den  Hauptbestandteilen  gel- 
ben Rasse  der  Chinesen  dauernd  genüge. 


Neunzehntes  Cap.  Yerhältnisz  d.  States  etc.   1.  Geschlechterstat  etc.     187 

wie  Väter  ehren,  so  zeigen  sich  die  ähnlichen  Verbände  der 
Klans  bei  den  alten  Schotten.  Die  alten  Germanischen  Dörfer- 
namen weisen  ebenso  auf  die  Ansiedlung  und  den  Gemeinde- 
verband der  Geschlechter  hin,  wie  die  alte  Slavische  Bauern- 
gemeinde einen  familienartigen  Charakter  hat. 

Der  Geschlechtsverband  unterscheidet  sich  von  dem  Fa- 
milienverband durch  die  Ausdehnung  über  den  Kreis  Einer 
Sippschaft  hinaus,  indem  das  Geschlecht  auch  mehrere  Fami- 
lien und  Sippschaften  zusammenfaszt,  aber  es  bleibt  mit  diesem 
insofern  verwandt,  als  er  seine  Ordnung  nach  Art  der  Fami- 
lienordnung gestaltet.  Die  Geschlechtshäuptlinge  sind  meistens 
hierin  durch  ihre  erhöhte  Familienstellung  bezeichnet.  Indessen 
zwingt  das  Bedürfniss  nach  Einheit  dazu,  um  Ein  Familien- 
haupt als  Geschlechtshaupt  zu  ehren,  und  es  kommt  wohl  vor, 
dasz  sogar  die  Wahl  oder  vielmehr  die  Kur  das  Erbrecht  er- 
gänzt oder  ersetzt. 

Der  eigentliche  familienartige  Stat  aber  ist  die  Patri- 
archie.  Am  zähesten  hält  das  Chinesische  Keich  „der 
Mitte"  (d.  h.  der  Vollkommenheit)  seit  Jahrtausenden  an  der 
Fiction  fest,  dasz  das  Statshaupt  der  Vater  der  Nation  sei. 
Die  ersten  Gründer  und  Bildner  auch  dieses  States  waren,  wie 
Gobineau  es  wahrscheinlich  gemacht  hat,  von  arischem  Ge- 
schlecht. Ihnen  schreibt  er  auch  die  erste  Mittheilung  der 
patriarchalischen  Idee  zu.  Aber  die  ungeheure  Masse  der 
Bevölkerung,  welche  nach  und  nach  in  dem  groszen  Keiche  zu 
Einer  Familie  vereinigt  wurden,  ist  von  malayischem  Stamme, 
in  welchem  die  Elemente  der  gelben  Kasse  überwiegend,  wenn 
gleich  durch  die  Beimischung  mit  schwarzen  einigermaszen 
getrübt  sind:  und  diese  Bevölkerung,  von  Natur  zu  ruhigem 
materiellem  Lebensgenusz  geneigt,  fügt  sich  willig  dem  väter- 
lichen Absolutismus  ihrer  Beherrscher  und  verehrt  in  der 
überlieferten  Statsordnung  die  heilige  Civilisation.  Der  trotzige 
Freiheitssinn,  wie  er  allen  arischen  Völkern  eingepflanzt  ist, 
regt   sie    nicht   auf  und   nach    höheren  Ideen  sehnt   sie   sich 


188  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

nicht.  Die  Autorität  des  Kaisers  ist  zwar  in  der  Theorie  ab- 
solut, in  der  Realität  aber  wird  sie  durch  den  ruheliebenden 
Geist  sämnitlicher  Yolksclassen ,  durch  die  gelehrte  Schulbil- 
dung der  Mandarinen,  und  vor  allem  durch  die  Macht  des 
hergebrachten  Familienbrauches  vielfältig  beschränkt.  „Der 
Sohn  des  Himmels  vermag  Alles,  unter  der  Bedingung,  dasz 
er  nur  das  Bekannte  und  Herkömmliche  wolle/*  (Gobineau.) 
Eine  männlich-politische  Entwicklung  aber  ist  in  dem  väter- 
lichen State  unmöglich.  Die  Menschen  worden  von  ihm  in 
dem  Zustand  der  Kindheit  zurück  gehalten .  in  welchem  die 
Statsform  selbst  verharrt. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  die  nach  dem  Einflüsse  des 
Familienlebens  auf  die  Stats Wohlfahrt.  Dieser  meistens 
mittelbare  aber  tief  greifende  Einflusz  kann  nicht  leicht  zu  hoch 
angeschlagen  werden.  Daher  hat  der  Stat  nicht  allein,  wie 
in  dem  übrigen  Privatrecht,  die  Pflicht .  das  Familienrecht  zu 
schützen  und  zu  erhalten,  sondern  er  hat  zugleich  ein  hohes 
Interesse,  so  viel  bei  ihm  steht,  die  Gesundheit  des  Familien- 
lebens zu  fordern  und  zu  erhalten.  Es  ist  zwar  seine  Macht 
hier  eine  geringe  —  eben  weil  die  Familie  keine  Statsinsti- 
tution  ist  —  meistens  auch  nur  eine  mittelbar  wirkende:  in 
einigen  Beziehungen  aber  kann  und  darf  der  Stat  wohl  die 
individuelle   Willkür  beschränken: 

I.  Mit  Bezug  auf  die  Ehe: 

1.  Die  politisch  höher  gebildeten  Völker  legen  alle  einen 
entschiedenen  Werth  auf  die  Monogamie.  Mehrere  Männer 
verwirren  sogar  die  Abstammung,  mehrere  Frauen  bringen 
Zwietracht  in  die  Familie.  Die  volle  Einheit  der  Ehe  ist  nur 
gedenkbar  in  der  Einigung  eines  Mannes  und  einer  Frau. 
Die  Zweiheit  der  Geschlechter,  in  welche  die  Menschheit  ge- 
theilt  ist,  wird  in  der  Monogamie  zur  Einheit  verbunden. 
Eine  Mehrheit  von  Ehegenossen  entspricht  daher  weder  der 
Natur,  noch  der  sittlichen  Idee.    Daher  soll  der  Stat  sie  nicht 


Neunzehntes  Cap.  Verhältnis  d.  States  etc.    J.  Geschlechterstat  etc.     189 

dulden.  Als  die  gallischen  Bischöfe  gegen  die  Doppelehen 
der  Merowingischen  Könige  eiferten,  und  nicht  nachlieszen, 
bis  dieselben  auf  das  alte  Privilegium  germanischer  Fürsten, 
mehrere  Frauen  zu  halten,  verzichteten,  vertheidigten  sie 
nicht  blosz  ein  christliches,  sondern  zugleich  ein  s  tatlich  es 
Princip. 

2.  Eine  würdige  Auffassung  des  rechtlichen  Ver- 
hältnisses der  Ehegatten  ist  nicht  minder  wichtig. 

In  dieser  Hinsicht  blieb  das  römische  Kecht  hinter  der 
römischen  Idee  von  der  Ehe  zurück.  Während  die  Körner  die 
Ehe  als  eine  innige  und  alle  Verhältnisse  umfassende  Lebens- 
gemeinschaft von  Mann  und  Frau  auffaszten,4  behandelte  ihr 
älteres  Kecht  die  Frau  ähnlich  einer  Tochter,  und  räumte  dem 
Manne  eine  absolute  Herrschaft  über  sie  ein,  wie  dem  Vater 
über  die  Kinder  und  dem  Herrn  über  die  Sclaven,  und  löste 
das  spätere  Kecht  die  Gemeinschaft  auf  in  ein  lockeres  Neben- 
einandersein der  beiden  von  einander  ganz  unabhängigen  Per- 
sonen. Das  Ueberhandnehmen  der  sogenannten  freien  Ehe 
ging  mit  der  zunehmenden  Sittenverderbnisz  in  den  letzten 
Zeiten  der  römischen  Republik  Arm  in  Arm,  und  bereitete 
den  Untergang  dieser  vor. 

Das  deutsche  Kecht  dagegen  sowohl  in  seiner  altern  Ge- 
stalt, wornach  Frau  und  Mann  zwar  ihr  eigenes  Vermögen 
beibehalten,  aber  dessen  ungeachtet  die  eheliche  Gemeinschaft 
und  Einigung  in  der  ehelichen  Vormundschaft  des  Mannes 
ihren  rechtlichen  Ausdruck  findet,  als  in  der  neueren  Form 
der  Gütergemeinschaft,  ist  in  Uebereinstimmung  mit  der  Idee, 
welche  wir  am  schönsten  in  den  uralten,  und  schon  in  den 
heiligen  Büchern   der   Juden   enthaltenen  zwei  Sätzen  ausge- 

4  Modestinus  L.  1.  de  Ritu  nuptiarum:  „Nuptiae  sunt  conjunctio 
maris  et  feminae,  et  consortium  omnis  vitae,  divini  et  humani  juris  com- 
municatio,"  und  Justin,  Inst.  I.  9.  §.  1.  Nuptiae  sive  matrimonium  est 
yiri  et  mulieris  conjunctio,  individuam  vitae  consuetudinem  continens." 


190  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

sprochen  finden:    „Mann  und  Weib  sind  nur  ein  Leib,"5  und: 
„Der  Mann  ist  das  Haupt  der  Ehe".6 

3.  Selbst  die  Form  der  Eingehung  der  Ehe  ist  nicht 
gleichgültig.  Eine  Form,  welche  geeignet  ist  die  Innigkeit 
und  Heiligkeit  des  ehelichen  Verhältnisses  darzustellen  und 
zum  Bewusztsein  zu  bringen,  ist  an  sich  einer  andern  vorzu- 
ziehen, welche  die  Ehe  lediglich  als  ein  willkürliches  Product 
einer  bloszen  Uebereinkunft  bezeichnet.  Der  alt  -  römische 
Grundsatz  ,,consensus  facit  nuptias"  hat  daher  seine  bedenk- 
liche Seite,  insofern  er  zu  der  Vorstellung  verleitet,  dasz  die 
Ehe  ein  blosz  conventionelles  Verhältnisz  sei,  und  man 
kann  es  nicht  tadeln,  wenn  die  Sitte  mancher  Nationen  eine 
religiöse  Feier  verlangt  und  die  Uebung  christlicher  Völker 
auf  die  kirchliche  Trauung  einen  Werth  legt.  Aber  wichtiger 
noch  ist  die  Rechtssicherheit  der  Familie,  welche  sich 
mit  der  heimlichen  Ehe  nicht  verträgt,  und  nur  durch  die 
öffentliche,  urkundlich  beglaubigte  Form  befriedigt 
wird.  Diese  Interessen  des  Rechts  werden  durch  die  soge- 
nannte Civilform  vollständig  gewahrt.  Wäre  nicht  die 
kirchliche  Form  der  Trauung  von  der  Geistlichkeit  miszbraucht 
worden,    um    die    vom    State    anerkannte   Freiheit    der   Ehe- 

5  Moses  I.  2.,  24.  und  Paulus  an  die  Epheser  Y.  31.:  „Um  desz- 
willen  wird  ein  Mensch  verlassen  Yater  und  Mutter,  und  seinem  Weibe 
anhangen,  und  werden  zwei  Ein  Fleisch  sein."  Tacitus  von  den  ger- 
manischen Frauen  (Germ.  19.):  „Sic  unum  accipiunt  maritum,  quo  modo 
unum  corpus,  unamque  vitam."  Schwabenspiegel  (WackG.):  „Wan 
die  (ein  man  unde  sin  wip)  reht  unde  redelichen  zer  e  chomen  sint,  da 
ist  niht  zweiunge  an,  sie  sint  wan  ein  lip." 

6  Moses  I.  3,  IG.  Zum  "Weibe  sprach  er:  „Dein  "Wille  soll  deinem 
Manne  unterworfen  sein,  und  er  soll  dein  Herr  sein."  Paulus  an  die 
Eph.  5,  22.:  „Die  Weiber  seien  unterthan  ihren  Männern."  Sachsen- 
spiegel 1.45.  §.1:  „AI  ne  si  en  man  sime  wive  nicht  evenburdich,  he 
is  doch  ire  vormünde,  unde  se  is  sin  genotinne,  unde  trit  in  sin  recht, 
swenne  se  in  sin  bedde  gat."  Code  Napoleon  213.:  „Le  mari  doit  pro- 
tection k  sa  femme,  la  femme  obeissance  h  son  mari."  Oesterr.  Gesetz- 
buchArt.  91:  „Der  Mann  ist  das  Haupt  der  Familie."  Züricherisches 
Gesetzbuch  §.  127:    „Der  Ehemann  ist  das  Haupt  der  Ehe." 


Neunzehntes  Cap.  Verhältnisz  d.  States  etc.   1.  Geschlechterstat  etc.     191 

schlieszung  zu  beeinträchtigen  und  die  Gesetzgebung  von  den 
Ansichten  der  Kirche  in  ungebührlicher  Weise  abhängig  zu 
machen,  so  hätte  sich  auch  der  moderne  Stat  eher  bei  der 
kirchlichen  Form  beruhigen  können.  Aber  jene  Miszbräuche 
und  die  Gegensätze  der  religiösen  Meinungen  innerhalb  der 
heutigen  Bevölkerung  haben  das  Bedürfnisz  einer  rein  bürger- 
lichen Form  hervorgerufen. 

4.  Eine  Beförderung  der  Ehen  und  der  Kinderzeugung 
von  Stats  wegen  ist  in  groszem  Maszstab  durch  den  Kaiser 
Augustus  versucht  worden.  Das  Bedürfnisz  zu  derartigen  Ge- 
setzen setzt  indessen  jeder  Zeit  kranke  Zustände  einer  Nation 
voraus,  in  denen  der  natürliche  Trieb  der  Individuen,  sich  zu 
verbinden,  entweder  ausschweift  oder  gehemmt  ist.  Dieses 
Uebel  ist  besonders  dem  Leben  in  groszen  Städten  eigen. 
Die  zahlreicheren  Gelegenheiten,  geschlechtliche  Bedürfnisse 
auch  auszer  der  Ehe  zu  befriedigen,  befördern  den  Hang  zu 
einem  ungebundenen  und  liederlichen  Leben,  und  die  erhöhte 
Schwierigkeit,  die  gesteigerten  Ansprüche  einer  städtischen 
Familie  auf  Lebensgenusz  zu  erfüllen,  ist  ein  bedeutendes  Hin- 
dernisz  der  Heirathen  gerade  unter  den  höhern  Classen  der 
Gesellschaft.  In  Eom  kam  die  übermäszige  Testirfreiheit  der 
römischen  Bürger  als  ein  Motiv  der  Ehelosigkeit  hinzu,  indem 
unverheirathete  Keiche  sicher  waren,  in  ihren  alten  Tagen  von 
erbsüchtigen  Verwandten  und  Freunden  mit  dienstgefälliger  Zu- 
vorkommenheit gepflegt  und  geschmeichelt  zu  werden.  Augustus 
konnte  mitBecht  sagen:  ,, Die  Stadt  besteht  nicht  aus  Häusern, 
Säulenhallen  und  leeren  Märkten,  sondern  die  Menschen  bilden 
die  Stadt.  Würde  die  Ehelosigkeit  unter  den  Bürgern  Korns 
um  sich  greifen,  so  würde  am  Ende  Eom  den  Griechen  oder 
gar  den  Barbaren  anheimfallen." 

Die  Mittel  des  States  zu  diesem  Zwecke  sind  freilich  be- 
schränkt, und  selbst  in  der  Beschränkung  werden  sie,  wie 
solches  auch  den  Gesetzen  Augusts  widerfahren  ist,  dem  Volke 
so  wenig  munden,  als  eine  bittere  Arznei  dem  kranken  Körper. 


192  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Ein  elirecter  Zwang  zur  Ehe  ist  nicht  zulässig,  weil  die  Ehe 
ihrem  Wesen  nach  die  eheliche  Gesinnung  und  den  freien 
Willen  der  Individuen  voraussetzt.  Selbst  in  dem  Falle,  wo 
die  Statsinteressen  die  Ehe  des  Statsoberhauptes  dringend 
wünschbar  machen,  ist  doch  eine  Nöthigung  desselben  zur 
Eingehung  einer  Ehe  ein  so  tiefer  Eingriff  in  die  menschliche 
Freiheit,  dasz  vor  diesen  natürlichen  Schranken  des  indivi- 
duellen Eechtes  auch  der  Wille  des  States  zurücktreten  musz. 
Die  jungfräuliche  Königin  Elisabeth  von  England  hat  diese 
persönliche  Freiheit  auch  des  Monarchen,  dessen  Leben  mehr 
als  ein  anderes  mit  der  Wohlfahrt  des  States  verwachsen  ist, 
siegreich  gegen  die  andringenden  Statsrücksichten  behauptet. 

Der  Stat  kann  somit  nur  mittelbar  den  Zweck  fördern, 
indem  er  mit  der  Ehe  äuszere  Vortheile  verbindet,  und  die 
Ehe-  und  Kinderlosigkeit  mit  äuszern  Nachtheilen,  nicht  aber 
wie  ein  Vergehen  mit  eigentlicher  Strafe  bedroht.  Diesen 
Weg  hat  denn  auch  die  römische  Gesetzgebung  eingeschlagen. 

5.  Häufiger  finden  sich  in  den  neuern  Staten  umgekehrt 
gesetzliche  Beschränkungen  der  Ehe  aus  Gründen  der 
öffentlichen  Wohlfahrt.  Dieselben  setzen  ebenfalls  krankhafte 
Zustände  voraus,  insbesondere  das  sociale  Uebel  eigenthums- 
oder  erwerbsloser  Classen  der  Bevölkerung.  Da  können  es 
die  Interessen  der  Gemeinschaft  nöthig  machen,  dasz  von 
denen,  welche  durch  die  Ehe  neue  Familien  begründen  wollen, 
Garantien  dafür  verlangt  werden,  dasz  sie  im  Stande  seien, 
ohne  Belästigung  der  Gemeinden  oder  des  States,  der  Familie 
die  erforderliche  Nahrung  und  den  nöthigen  Unterhalt  zu  ver- 
schaffen. Ein  weiteres  Verbot  der  Ehe  dagegen,  insbesondere 
der  Vorbehalt  einer  willkürlichen  Genehmigung  der  Gemein- 
den, ist  ein  nicht  zu  rechtfertigender  Eingriff  in  das  natür- 
liche Kecht  des  Individuums. 

6.  Mit  Becht  enthält  sich  der  Stat  einläszlicher  Vorschrif- 
ten über  das  geschlechtliche  Verhältnisz  der  Ehegatten. 7 

7  In  den  Gesetzen  Manu's  (111.46)  kommen  darüber  folgende  Be- 


Neunzehntes  Cap.  Verhältnisz  d.  States  etc.   1.  Geschlechterstat  etc.     193 

Sie  gehören  vorzugsweise  dem  individuellen  Leben  und  der 
Sitte  an.  Wohl  aber  ist  er  befugt  und  veranlaszt,  offenbare, 
über  den  Kreis  des  engen  Familienkreises  hinaus  wirkende 
Immoralität  und  den  Bruch  der  ehelichen  Treue  auf  Klage 
des  verletzten  Ehegatten  mit  Strafe  zu  bedrohen,  und  so  durch 
seine  Gesetzgebung  die  gute  Sitte  und  die  Keinheit  der  Ehe 
zu  stützen. 

Die  Weibergemeinschaft,  wie  sie  Plato  für  die  Wächter 
seines  idealen  States  vorgeschlagen  hat,  ist  eine  Entwürdigung 
der  Ehe  und  Zerstörung  der  Familie.  Die  Preisgebung  der 
Frauen,  wie  sie  unter  Umständen  von  den  Spartanern  begün- 
stigt worden,  ist  eine  Barbarei.  Die  Emancipation  des  Flei- 
sches aber,  wie  sie  die  radical-socialistische  Schule  in  unsern 
Tagen  als  einen  neuen  Fortschritt  der  individuellen  Freiheit, 
über  seinen  Körper  nach  Lust  zu  verfügen,  auch  für  die  beiden 
Ehegatten  in  Anspruch  nimmt,  ist  die  Erniedrigung  der  sitt- 
lichen Freiheit  des  Menschen  auf  die  Stufe  der  sinnlichen 
Freiheit  der  Hunde. 

7.  Endlich  ist  der  Sorge  des  States  für  die  Fortdauer 
der  Ehe  und  der  Behinderung  leichtfertiger  Scheidung  zu 
erwähnen. 

Schon  in  der  vorchristlichen  Periode  wird  die  Auflösung 
der  Ehe  nicht  überall  der  Willkür  der  einzelnen  Ehegatten 
überlassen.  Manche  Rechte  gestatteten  es  zwar  dem  Manne, 
seine  Frau  zu  entlassen,  nicht  aber  der  Frau,  sich  von  dem 
Manne  loszusagen.  Auch  für  den  ersten  Fall  war  die  Yer- 
stoszung  der  Frau  öfter  an  bestimmte  wichtige  Ursachen  ge- 
bunden,  oder  zog,   wie   in  den  altern  germanischen  Rechten, 

Stimmungen  vor:  „16  Tage  und  16  Nächte  von  der  Erscheinung  der  Re- 
geln an  sind  die  natürliche  Zeit  der  Frauen.  An  den  4  ersten  Nächten 
und  ebenso  an  den  Uten  und  13ten  dürfen  sie  nicht  heimgesucht  werden. 
Die  übrigen  10  dagegen  sind  erlaubt,  und  unter  diesen  die  geraden  der 
Erzeugung  von  Söhnen,  die  ungeraden  der  von  Töchtern  günstig."  Auch 
die  jüdische  Gesetzgebung  und  späterhin  das  canonische  Recht 
haben  darüber  Bestimmungen. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  13 


194  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

wenn  sie  ohne  zureichende  Gründe  geschah,  bedeutende  Nach- 
theüe  auch  für  den  Mann  nach  sich.  In  diesen  beschränkenden 
Bestimmungen  des  Eechts,  welche  überdem  durch  die  Sitte 
verstärkt  waren,  äuszert  sich  die  Ehrfurcht  des  States  vor  dem 
Princip  der  Ehe  als  einer  das  ganze  Leben  erfüllenden  Ge- 
meinschaft. Es  war  daher  schon  eine  Auflösung  der  älteren 
sittlichen  Ordnung,  wenn  das  spätere  römische  Recht,  die  in 
Athen  herrschende  Ansicht  adoptirend,  für  die  sogenannte 
freie  Ehe  den  Ehegatten  das  Kecht  der  einseitigen  freien 
Kündigung  einräumte.  Die  Aufnahme  dieses  Grundsatzes  war 
zu  groszem  Theile  eine  Folge  des  in  Eom  überhand  nehmen- 
den Sittenverderbnisses ,  und  ward  hinwieder  eine  Quelle  der 
Entartung. 

Das  Christenthum  hat  in  dieser  Präge  ein  neues  und 
vollkommneres  Eecht  eingeleitet.  Christus  selbst  sprach  sich 
im  Gegensatze  zu  dem  mosaischen  Eechte  so  nachdrücklich 
gegen  die  Scheidung  aus,8  dasz  seine  Worte  nicht  ohne  Wir- 
kung auf  die  spätere  Eechtsbildung  in  den  christlichen  Staten 
sein  konnten,  obwohl  er  auch  hier  nicht  unmittelbar  das  be- 
stehende Eecht  änderte  noch  ein  neues  schuf,  sondern  nur  auf 
den  Geist  und  die  moralische  Gesinnung  wirkte.  Die  katho- 
lische Kirche  aber  bildete  nachher  ein  strenges  System  des 
Eherechts  aus  und  gelangte,  ungeachtet  Christus  selbst  die 
Scheidung  aus  dem  Grunde  des  Ehebruchs  ausgenommen  und 
anerkannt  hatte,  im  Verfolge  der  Zeit  dazu,  die  volle  Schei- 
dung überall  zu  untersagen  und  nur  eine  äuszerliche  Tren- 
nung (die  separatio  a  toro  et  mensa),  aber  auch  diese  nur 
aus  wichtigen  und  seltenen  Gründen  zu  gestatten.  Sie  setzte 
ihre  Ansicht  in  den  christlichen  Staten  des  Mittelalters  in 
der  Weise  durch,  dasz  sie  die  Frage  der  ehelichen  Trennung 
und  Scheidung  der  Einwirkung  des  States  ganz  zu  entziehen 
und  ausschlieszlich  vor  die  kirchliche  Gerichtsbarkeit 
zu  bringen  wusste. 

s  Matth.  5,32.  19,8.     Marc.  10,  11  und   12.     Luc.  IG,  J8. 


Neunzehntes  Cap.  Verhältnisz  d.  States  etc.  1.  Gesclilecliterstat  etc.     195 

In  den  letztern  Jahrhunderten  hat  indessen  der  Stat  auch 
diese  Seite  der  Rechtsverhältnisse  mit  Recht  wieder  seiner 
Gesetzgebung  und  seiner  Rechtspflege  unterworfen,  und  die 
protestantische  Kirche  erklärte  von  ihrem  kirchlichen  Stand- 
punkte aus  die  Ehescheidung  wegen  Ehebruchs,  öfter  auch  aus 
Gründen,  welche  diesem  an  Bedeutung  gleich  kommen,  als 
zulässig.  In  einzelnen  Ländern  hat  sogar  die  Gesetzgebung 
und  die  Praxis,  modernen  philosophischen  Lehren  zugethan, 
wieder  durch  leichte  Zulassung  der  Scheidung  die  Ehe  gelockert. 

Regelmäszig  geblieben  aber  und  allgemein  anerkannt  sind 
zwei  Grundsätze:  a)  dasz  die  Scheidung  nicht  weder  der  Will- 
kür der  einzelnen  Ehegatten  noch  selbst  der  auflösenden 
Willensübereinstimmung  beider  anheim  gegeben  werden  darf, 
sondern  nur  unter  gerichtlicher  MitwirkuDg  und  mit  gericht- 
licher Erlaubnisz  zuläszig  ist; 

b)  dasz  diese  Erlaubnisz  bedeutende  Gründe  voraussetze. 
Die  Kirche  kann  hier  in  höherem  Masze  das  Princip  der  Un- 
auflösbarkeit, welches  durch  die  Idee  der  Ehe  gefordert  wird, 
vertreten,  insofern  sie  moralisch  und  geistig  einwirkt 
und  zu  dem  Gewissen  spricht,  während  der  Stat,  wenn  es  sich 
um  äuszeres  Zwangsrecht  handelt,  genöfchigt  ist,  auch  im 
Gegensatze  zu  der  Reinheit  der  Idee  die  Unvollkommenheit 
der  realen  Zustände  zu  beachten,  und  daher  Ehen,  die  inner- 
lich doch  gebrochen  und  zerstört  sind,  auch  von 
Rechtswegen  äuszerlich  zu  lösen.  Nur  thut  der  Stat 
wohl  daran,  soweit  die  Sitten  und  Lebensverhältnisse  des 
Volkes  und  die  individuelle  Entwicklung  es  gestatten,  die 
Regel  der  Unauflösbarkeit  möglichst  festzuhalten  und  die 
Ausnahmen  der  Scheidung  einer  ernsten  Controle  zu  unter- 
werfen. 


13 


196  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Zwanzigstes  Capitel. 

2.  Die  Frauen. 

Der  Stat  ist  seinem  Wesen  nach  von  so  entschieden 
männlichem  Charakter,  dasz  die  Frauen  nur  einen  mittelbaren 
Antheil  an  ihm  haben  können.  Die  Bestimmung  der  Frau 
weist  sie  nicht  auf  das  öffentliche  Leben  der  Politik  hin,  und 
ihre  natürlichen  Eigenschaften  befähigen  sie  nicht,  weder  im 
Frieden  noch  im  Krieg,,  für  die  schweren  Aufgaben  des  States. 
Wohl  umfaszt  der  Stat  mit  seiner  Sorge  und  seiner  Herrschaft 
auch  die  weibliche  Hälfte  der  Bevölkerung  und  schirmt  auch 
deren  Rechte;  aber  das  Weib  ist  ausgeschlossen  von  der 
unmittelbaren  Theilnahme  an  der  öffentlichen  politischen 
Thätigkeit  der  Männer,  von  den  Aemtern,  aus  den  Käthen, 
aus  den  Gemeinden. 

Diese  Begel  ist  allen  Völkern  und  allen  Ständen  gemein- 
sam. Einzelne  Philosophen  zwar  haben  die  politische  Gleich- 
stellung der  Frauen  mit  den  Männern  beantragt,1  die  Völker  aber 
und  die  Frauen  selbst  haben  von  jeher  erkannt,  dasz  Statsgeschäfte 
nicht  Sache  der  Frauen  seien,  und  dasz  nicht  minder  die 
Frauen  an  den  Vorzügen  und  Reizen  ihrer  Weiblichkeit  als 
der  Stat  an  seiner  Würde,  Sicherheit  und  Wohlfahrt  einbüszen 
müszten,  wenn  jene  sich  unmittelbar  an  den  politischen  Kämpfen 
betheiligten. 

Merkwürdigerweise  haben  manche  Völker  eine  wichtige 
Ausnahme  von  jener  Regel  zugelassen  und  gerade  die  oberste 
Statsgewalt,  das  Königthum  auch  den  Frauen  eröffnet.  Den 
Griechen  und  Römern  freilich  war  auch  diese  Annahme  durch- 
aus fremd.  Als  ein  römischer  Kaiser,  der  weibische  Helioga- 
balus,  seine  Mutter  in  den  Senat  eingeführt  und  so  die  römi- 
schen Sitten  heftig  verletzt  hatte,  wurde  nach  seiner  und  ihrer 

1  In  neuerer  Zeit  hat  sich  J.  Mi  11  als  Vertreter  dieser  Meinung 
hervorgethan  in  der  Schrift:  Repräsentativregierung.  Vgl.  auch  Labou- 
laye  hist.  de  TAmerique  Bd.  III. 


Zwanzigstes  Capitel.  Verhältnisz  d.  States  etc.   2,  Die  Frauen.     197 

Ermordung  ein  Senatusconsult  beschlossen,  dasz  dessen  Haupt 
den  unterirdischen  Göttern  geweiht  sei,  welcher  je  es  wieder 
wagen  sollte,  eine  Frau  in  den  Senat  zu  bringen.  Auch  die 
meisten  germanischen  Völker  gehorchten  nur  Männern  als  ihren 
Königen. 

Aber  schon  Aristoteles  (Pol.  III.  6,  16)  berichtet  uns, 
dasz  viele  fremde  Staten  unter  Frauenherrschaft  stehen,  und 
Tacitus  (Agricola,  16)  erwähnt  es  als  eine  Eigenthümlichkeit 
der  Britten,  dasz  sie  auch  dem  weiblichen  Geschlechte  Herr- 
schaft verstatten.  Von  den  Longobarden  wissen  wir,  dasz  die 
Folge  in  das  Königthum  öfter  durch  erbberechtigte  Frauen 
vermittelt  worden  ist.  In  dem  spätem  europäischen  Stats- 
recht  ist  häufig  den  Frauen  ein  Recht  auf  den  Thron  eröffnet 
worden,  und  wir  haben  in  den  letzten  Jahrhunderten  nicht 
blosz  in  England,  sondern  auch  in  Oesterreich,  Euszland, 
Spanien,  Portugal  und  anderwärts  unter  verschiedenen  Begie- 
rungssystemen Frauen  als  Regenten  gesehen. 

Woher  diese  sonderbare  Ausnahme?  Wenn  den  Frauen 
politische  Rechte  überhaupt  nicht  zukommen,  wie  können  sie 
denn  an  dem  höchsten  politischen  Rechte  Theil  haben?  Sollte 
es  nicht  natürlicher  sein,  dasz  eine  Frau  ein  untergeordnetes 
Statsamt  verwalte,  oder  in  dem  Rathe  ihre  Meinung  äuszere, 
als  dasz  sie  Oberhaupt  des  States  werde?  Diese  Ausnahme 
last  sich  nur  daraus  erklären,  dasz  die  Würde  und  Macht  des 
Statsoberhauptes  als  ein  politisches  Familiengut  betrachtet  und 
behandelt  und  der  Frau  die  nämlichen  Rechte  auf  die  Thron- 
folge wie  auf  die  Beerbung  der  väterlichen  Liegenschaften  zu- 
gestanden wurden.  Das  Land  wurde  wie  ein  Gut  (Allod  oder 
Lehensgut)  angesehen,  und  das  privatrechtliche  Erbsystem  auch 
für  die  statsrechtliche  Folge  festgehalten.  Auf  solche  Weise 
ist  die  Fähigkeit  königlicher  Frauen  zur  Thronfolge  schon  im 
Alterthum  begründet  und  in  der  neuern  Zeit  ausgedehnt  wor- 
den; und  es  haben  manche  neuere  Staten,  welche  im  übrigen 
zwischen  Stats-  und  Privatrecht  schärfer  gesondert  haben  und 


198  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

der  mittelalterlichen  Vorstellung  des  Lehens-  oder  des  Patri- 
monialstates  entwachsen  sind,  dennoch  diesen  Eest  der  frühe- 
ren Anschauungsweise  beibehalten,  und  auf  die  Blutsverbin- 
dung  in  der  königlichen  Familie  ein  gröszeres  Gewicht  gelegt, 
als  auf  die  Natur  des  States  und  die  Bestimmung  der  Frau.2 

Sind  auch  die  Frauen  von  einer  regelmäszigen  unmittel- 
baren Theilnahme  an  den  Statsgeschäften  ausgeschlossen,  so 
ist  dagegen  ihre  mittelbare  Einwirkung  auf  die  Wohlfahrt 
des  States  nicht  gering  zu  achten.  Aber  auch  da  artet  der 
Einüusz  der  Frauen  auf  das  Statswohl  leicht  aus,  wenn  der- 
selbe von  politischen  Motiven  geleitet  wird.  Kein  und 
heilsam  erweist  er  sich  fast  nur,  wenn  religiöse  oder  mo- 
ralische Gründe  die  Handlungen  der  Frauen  bestimmen. 
Die  berühmten  politischen  Frauen  haben  meistens  den  Staten 
und  den  Ihrigen  Schaden  gebracht.  Die  weibliche  Klugheit 
und  List  in  kleinen  Dingen  wird  auf  politischem  Gebiete  zu 
gefährlicher  Intrigue.  Und  wenn  einmal  die  politischen  Leiden- 
schaften des  Hasses,  der  Kache,  des  Ehrgeizes  in  der  Brust 
des  Weibes  eingekehrt  sind,  werden  sie  leicht  zu  maszloser 
Gier  entzündet  und  theilen  sich  so  den  Männern  mit.  Es  gilt 
das  nicht  blosz  von  den  Maitressen  der  Fürsten,  es  gilt  das 
auch  von  manchen  Ehefrauen  und  Müttern,  die  sich  in  der 
Geschichte  einen  Namen  erworben  haben.  Die  römische  Ge- 
schichte ist  nicht  arm  an  Beispielen  dafür,  und  die  französische 
Kevolution  kennt  solche  nicht  minder  als  das  Hofleben  der 
französischen  Könige. 

Auf  der  andern  Seite  ist  der  Segen  grosz,  den  Frauen  in 
stiller,  von  der  Geschichte  nur  selten  berichteter  Wirksamkeit 
auch  politischen  Männern  bereitet  haben.    Wie  viele  haben  in 

2  Vgl.  die  Untersuchungen  von  Laboulaye:  Recherches  sur  la 
condition  civile  et  politique  des  femmes,  Paris  1843.  Beachtenswerth 
aber  bleibt  es,  dasz  manche  Frauenregierungen  gut  ausgefallen  sind, 
zum  Theil  deszhalb,  weil  die  Kaiserinnen  und  Königinnen  sich  lieber 
von  bedeutenden  Statsmännern  leiten  lie.szen,  als  viele  männliche  Herrscher. 


Zwanzigstes  Capitel.  Yerhältnisz  d.  States  etc.  2.  Die  Frauen.      199 

dem  häuslichen  Kreise  wieder  den  Frieden  gefunden,  der  sie 
für  die  Kämpfe  und  Leiden  des  bewegten  äuszern  Lebens  ent- 
schädigte und  von  neuem  zu  ihrer  Pflicht  stärkte.  Wie  oft 
haben  die  Frauen  die  Rohheit  und  Wildheit  der  Männer  er- 
mäszigt  und  diese  vor  Ausschweifung  bewahrt!  wie  oft  die- 
selben durch  ihre  kluge  Vorsicht  von  Miszgriffen  zurückgehalten, 
oder  durch  ihr  lebhaftes  Gefühl  für  Sitte  und  Moral  an  Fehl- 
tritten gehindert,  wie  oft  auch  in  der  Noth  gerettet. 

Vorzüglich  in  den  Leiden  des  Gemeinwesens,  im  Unglück 
und  bei  Gefahren  des  States  zeigt  sich  der  Einfmsz  der  Frauen 
besonders  wohlthätig.  Im  Dulden  stärker  als  der  Mann  hilft 
die  Frau  ihm  das  unvermeidliche  Uebel  ertragen,  ohne  sich 
von  demselben  clemüthigen  zu  lassen;  ihr  bereiter  Opfermuth 
regt  auch  in  ihm  den  Muth  auf,  dem  Vaterlande  seine  Kräfte 
willig  zu  opfern,  und  ihre  Verehrung  der  männlichen  Tapfer- 
keit, die  ihr  selber  versagt  ist,  treibt  den  Mann,  dieser  Ehre 
würdig  zu  handeln  und  zu  wagen. 

Es  ist  daher  ein  schöner  Zug  des  Statsrechtes  besonders 
unter  den  germanischen  Völkern,  dasz  die  Frau  auch  als  Ge- 
nossin der  politischen  Ehre  und  Würde  ihres  Mannes  be- 
trachtet wird.  Es  liegt  darin  die  Anerkennung  der  wahren 
mittelbaren  Beziehung  des  Weibes  zu  dem  Organismus  des 
States ,  und  ein  würdiger  Ersatz  für  die  den  Frauen  versagte 
Theilnahme  an  den  eigentlichen  politischen  Rechten. 

Anmerkung.  Eine  Reihe  feiner  Beobachtungen  hat  Riehl  in 
seiner  social -politischen  Studie  „Die  Frauen"  (Deutsche  Yierteljahrs- 
schrift  1852)  und  später  in  seinem  Buch:  „Die  Familie"  mitgetheilt,  und 
mit  Recht  auf  die  ständischen  Unterschiede  in  dem  Greschlechtsverhält- 
nisz  aufmerksam  gemacht.  VDie  Bäuerin  ist  in  Lebensart  und  Sitte  dem 
Bauern  näher  und  gleicher,  als  die  gebildete  Städterin  des  höhern  Bürger- 
standes ihrem  Gatten;  aber  jene  ist  einem  stengeren  Hausregiment  unter- 
worfen als  diese,  die  sich  freier  und  selbständiger  in  ihrer  Sphäre  be- 
wegt. "Wenn  aber  Riehl  der  Frau  auch  einen  politischen  Parteicharakter, 
den  „conservativen"  beilegt,  und  sie  eine  Aristokratin  von  Natur 
nennt,  so  habe  ich  dagegen  einzuwenden,  dass  alle  politischen  Parteien 
dem  Leben  der  Männer,   keine   anders   als   mittelbar    dem   der   Frauen 


200  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

angehören,  mittelbar  aber  die  Frauen  wieder  bei  allen  Parteien  be- 
theiligt sind.  AYill  man  aber  einzelne  Parteien,  wie  das  in  der  Parteien- 
lehre Fr.  R  ohmers  unwiderleglich  erwiesen  worden  ist,  als  vorzugs- 
weise männlich  unterscheiden,  und  diesen  dann  die  andern  als 
unmännlich  (relativ  weiblich)  entgegensetzen,  so  ist  es  klar,  dasz  die 
liberale  und  die  conservative  männlich  und  nur  die  extremen 
Parteien,  die  radicale  und  absolutistische,  unmännlich  sind. 


Einundzwanzigstes  Capitel. 

IX.    Yerhältnisz  des  Stats  zu  den  Individuen. 
1.  Volksgenossen  und  Fremde. 

Endlich  stehen  auch  die  Individuen  in  einem  unmittel- 
baren Yerhältnisz  zu  dem  State,  nicht  blosz  als  Glieder 
der  Familien,  Stände,  Rassen.  In  der  modernen  Statslehre 
und  Statsverfassung  ist  diese  Beziehung  ebenso  nachdrücklich 
hervorgehoben  und  zuweilen  ausschlieszlich  beachtet,  als  die 
mittelbaren  Beziehungen  in  Familie  und  Ständen  gewöhnlich 
vernachlässigt  sind. 

Es  kommen  hier  folgende  Gegensätze  in  Betracht: 

1)  der  der  Einheimischen,  der  Volksgenossen  oder 
Stats  an  gehörigen  und  der  Fremden; 

2)  der  der  Statsbür  gc  r  und  der  übrigen  Volks- 
genossen. 

Die  verschiedenen  Abstufungen  innerhalb  des  Stats- 
bürgerthums  können  erst  bei  der  nähern  Betrachtung  der 
Verfassung  zur  Sprache  kommen. 

Der  erste  Gegensatz  beruht  vornehmlich  auf  dem  Unter- 
schied der  Volksrassen  und  ist  zunächst  ein  persönliche-r. 
Erst  in  zweiter  Linie  kommt  auch  die  Beziehung  zu  einem 
Ort  als  der  Heimat  in  Betracht.     Entscheidend  ist  die  Ver- 


Einundzwanzigstes  Cap.  Verhältnisz  d.  Stuts  etc.  1.  Volksgenossen  etc.  201 

» 

bindung  des  Individuums  mit  dem  Volk,  von  secundärem  Ein- 
flusz  der  Zusammenhang  mit  dem  Land. 

Die  Meinung  der  alten  Völker,  dasz  den  Fremden  kein 
Kecht  zu  halten  sei,  die  Fremden  also  relativ  rechtlose1  Wesen 
seien,  so  lange  sie  nicht  in  einen  besondern  Schutz  aufgenom- 
men und  von  demselben  gedeckt  werden,  obwohl  von  Hellenen 
und  Kömern  behauptet,  darf  wohl  als  ein  Stück  Barbarei  be- 
zeichnet werden,  welches  die  antike  Kultur  entstellt.  Humaner 
war  der  Grundsatz  der  Germanen:  ,, Jeder  nach  seinem  an- 
geborenen Volksrecht."  Die  neuere  Rechtsbildung  erkennt  auch 
in  dem  Fremden  den  berechtigten  Menschen  und  gewährt  dem- 
selben ihren  Schutz-. 

1.  Die  Frage  aber,  wer  als  Einheimischer  anzusehen  sei 
und  wie  die  Volks  genossen  seh  aft  erworben  werde,  hat 
verschiedene  Antworten  erfahren.  Die  Rücksichten  auf  die 
Abstammung  und  auf  die  Heimat  lassen  verschiedene  Com- 
binationen   zu.     Wir   können   folgende  Systeme   unterscheiden: 

a)  Das  System  des  Geburtsorts.  Es  entspricht  vor- 
züglich der  Anschauung  des  spätem  Mittelalters.  Seine  Regel 
ist:  Die  Geburt  im  Lande  begründet  die  Eigenschaft  des 
Indigenats.  Es  ist  das  heute  noch  die  Regel  des  englischen 
Rechts,  welches  zwischen  natwdl-born  subjeeis  und  aliens 
unterscheidet.  Als  in  England  geboren  wird  aber  auch  an- 
gesehen, wer  auf  einem  englischen  Schiffe  oder  in  einer  eng- 
lischen Gesandtschaftswohnung  im  Auslande  geboren  ward.  In 
neuerer  Zeit  ist  aber  auch  in  England  die  Strenge  dieses  ört- 
lichen Princips  dadurch  ermäszigt  worden,  dasz  die  Kinder  von 
Engländern,  obwohl  im  Ausland  geboren,  dennoch  das  eng- 
lische Bürgerrecht   erhalten.     Ueberdem  ist  die  Naturali- 

1  Diese  Ansicht,  wie  wir  sie  bei  den  Römern  finden,  ist  zwar  nicht 
Gleichstellung  der  Fremden  mit  den  Sclaven,  aber  Schutzlosigkeit  des 
Fremdenrechtes  im  römischen  Stat.  Vgl.  Ihering,  Geist  des  römischen 
Rechts  I.  S.  219  ff.  hostis  bedeutet  ursprünglich  den  Gast,  den  Fremden 
und  den  Feind. 


202  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

sation  bedeutend  erleichtert  worden.2     Auf  ähnlichen  Grund- 
sätzen ruht  das  nordamerikanische  Recht.3 

b)  Das  System  des  Wohnorts.  Das  Territorialsystem 
kommt  noch  in  einer  andern  Form  zur  Anwendung,  welche 
eher  den  neueren  Ansichten  zusagt,  indem  der  Nachdruck  nicht 
auf  den  zufälligen  Ort  der  Geburt,  sondern  auf  den  dauernden 
Wohnort  der  Eltern,  und  in  der  Folge  auf  den  eigenen 
Wohnort  gelegt  wird.  Daneben  sind  immer  noch  bedeutende 
Unterschiede  möglich  in  der  Gestattung  oder  Erschwerung  der 
Ansiedlung.  In  diesem  Sinne  wird  Statsangehörigkeit  zum 
Theil  in  Oester reich  und  in  einzelnen  deutschen  Staten 
verstanden.4  Auch  da  wird  aber  die  Wirkung  des  Wohnorts 
ergänzt  durch  die  Formen  einer  persönlichen  Ertheilung  des 
Heimatsrechts. 

c)  Eiue  eigenthümliche  Zwischenstufe  nimmt  das  schweize- 
rische System  des  Gemeinde  Verbands  ein,  welches  die 
Grundlage  bildet  des  Cantonsbürgerrechts  (Landrechts) 
und  des  allgemeinen  Schweizerbürgerrechts.  Das  Ge- 
meindebürgerrecht  ist  darin  weder  von  der  Geburt  noch  von 
dem  Wohnort  in  einer  Gemeinde  abhängig,  sondern  wird  durch 
die  Abstammung  von  Eltern  bestimmt,  welche  Gemeinde- 
bürger  sind  und  bleiben,  auch  wenn  sie  ausserhalb  ihrer 
Heimatsgemeinde  in  einer  sogenannten  Niederlassungsgemeinde 

2  Blackstone  Comm.  I.  10.  Art.  7  u.  8  Victoria  c.  55. 

3  Jetzt  noch  begründet  die  Geburt  in  dem  Gebiete  der  Vereinigten 
Staten  nordamerikanisches  Bürgerrecht.  Aber  die  Kinder  der  Nord- 
amerikaner, die  im  Ausland  geboren  sind,  haben  ebenfalls  das  Bürger- 
recht durch  Abstammung  erworben.  Die  Niederlassung  Fremder 
in  den  Vereinigten  Staten  endlich  ist  die  Grundbedingung  einer  sehr 
zahlreichen  Naturalisation.  Vgl.  Story  Comm.  zur  Bundes verf.  I.  8.  und 
Rüttimann  Nordam.  Bundesstatsrecht  I.  S.  89. 

4  Oesterreich.  Gesetzbuch  §.  29.  „Fremde  erwerben  die  öster- 
reichische Statsbürgerschaft  durch  Eintretung  in  den  öffentlichen  Dienst, 
durch  Antretung  eines  Gewerbes,  dessen  Betreibung  die  ordentliche  An- 
sässigkeit im  Lande  noth wendig  macht,  durch  einen  in  diesen  Staten 
vollendeten  zehnjährigen  ununterbrochenen  "Wohnsitz," 


Einundzwanzigstes  Cap.  Yerhälfcnisz  d. States  etc.  1.  Volksgenossen  etc.  203 

wohnen.5  Es  erinnert  an  das  alt -römische  Mimicipalrecht, 
welches  ebenfalls  durch  die  origo  aus  einem  bestimmten  Muni- 
cipium  begründet  war. 

d)  Das  ständische  und  Rassens^ystem,  vorzüglich 
in  den  altern  germanischen  Volksrechten  entwickelt,  hat  sich 
in  der  spanischen  Verfassung  erhalten,  indem  nur  die 
Abkunft  von  weiszen  spanischen  Eltern  das  spanische  Volks- 
recht begründet,  die  Abkömmlinge  der  Neger  dagegen  und 
auch  die  Mischlinge  von  weiszen  und  farbigen  Eltern  als 
Fremde  gelten.6 

e)  Das  nationale  System  des  persönlichen  Volks- 
verbands hat  in  neuerer  Zeit  eine  allgemeine  Anerkennung 
erhalten,  und  sein  Einflusz  wird  nun  auch  in  den  Staten  ver- 
spürt, deren  Recht  auf  einer  andern  Grundlage  ruht.  Nach 
diesem  System  kommt  es  nicht  hauptsächlich  auf  den  Ort  der 
Geburt  an,  auch  nicht  auf  den  Wohnort,  sondern  vorerst  auf 
die  Abstammung  von  Volksgenossen  und  sodann  auf 
die  ebenfalls  persönliche,  nicht  örtliche  Aufnahme  in 
den  Volksverband.  Daneben  kommt  auch  eine  ergänzende  Rück- 
sicht auf  den  Geburts-  oder  Wohnort  vor. 

Im  Allgemeinen  folgen  das  französische7  und  das 
preuszische8  Recht  diesem  System.  Der  modernen  Stats- 
anschauung,   welche    in   dem    persönlichen  Volksverband    den 

5  Bluntschli  Schweiz.  Bundesrecht  I.  S.  529.  und  im  Einzelnen 
Bluntschli  Stats-  u.  Rechtsgesch.  v.  Zürich  IL  S.  14  ff.  Cherbuliez 
de  la  Democratie  en  Suisse  I.  S.  187  f.    Blumer  Bundesstatsrecht  I.  249f. 

«  Span.  Verf.  v.  1812.    Art.  18.  19.  f. 

7  Code  civil  10:  „Tout  enfant  ne  d'un  Francais  en  pays  etranger 
est  Fran^ais."  Consularverfassung  von  1799.  Art.  3:  „Un  etranger 
devient  citoyen  Francais,  lorsqu'apres  avoir  atteint  l'äge  de  21  ans  accomplis 
et  avoir  declare  Fintention  de  se  fixer  en  France,  il  y  a  reside  pendant 
dix  annees  consecutives." 

8  Gesetz  vom  31.  Dec.  1842.  Das  preuszische  Bürgerrecht  wird 
vorerst  durch  Abs  tammung  begründet,  indem  jedes  eheliche  Kind  eines 
Preuszen  durch  die  Geburt  preuszischer  Statsbürger  wird,  auch  wenn  es 
im  Auslande  geboren  ist.  Bei  der  Naturalisation  aber  wird  vorzüglich 
auf  den  Wohnsitz  geachtet,     v.  Rönne  Statsr.  I.  §.  87, 


204  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

lebendigen  Kern  des  Statsbegriffes  erkennt,  entspricht  dieses 
System  am  beszten. 

Uebrigens  nähern  die  Systeme  sich  einander  in  neuerer 
Zeit,  indem  jedes  seine  Lücken  durch  Grundsätze  aus  dem  an- 
dern zu  ergänzen  sucht.  Abstammung  und  Geburtsort,  Wohn- 
ort und  Naturalisation,  Heirath  und  Legitimation  werden  so 
mit  einander  verbunden,  und  wenn  einer  dieser  Ursachen  nicht 
eine  directe  Wirkung  des  Bürgerrechts  zugeschrieben  wird,  so 
wird  sie  doch  durchweg  indirect,  als  Voraussetzung  besonders 
der  Naturalisation  berücksichtigt. 

2.  Dem  Erwerb  der  Yolksgenossenschaft  entspricht  der 
Verlust  derselben.  Da  dieselbe  in  dem  modernen  State  als 
ein  persönliches  Recht  betrachtet  wird,  so  wird  sie  durch 
den  Aufenthalt,  selbst  durch  die  dauernde  Niederlassung  in 
einem  fremden  Lande  nicht  sofort  aufgehoben.  Vielmehr  ist 
als  die  Auflösungsform,  welche  mit  der  Natur  dieses  "Rechts 
am  besten  harmonirt,  die  Verzichtleistung  von  Seite  des 
berechtigten  Individuums,  verbunden  mit  der  Entlassung 
von  Seite  des  States  anzusehen,  indem  in  ihr  sich  die  wechsel- 
seitige Lösung  des  persönlichen  Verbandes  darstellt.  Die 
meisten  neuern  Staten  halten  es  aber  ihrer  nicht  für  würdig, 
ein  Individuum,  welches  sich  aus  dem  Statsverbande  lossagen 
will,  zurückzuhalten,  und  haben  so  im  Interesse  der  individuellen 
Freiheit  das  Princip  freier  Verzichtleistung  anerkannt. 
In  vielen  Fällen  wird  geradezu  aus  der  Handlungsweise  des 
Individuums  auf  Verzichtleistung  geschlossen,  auch  wenn  keine 
ausdrückliche  Erklärung  desselben  vorliegt.  Ganz  besonders 
gilt  das  von  der  Auswanderung,  in  welcher  sich  die  Ab- 
sicht zu  erkennen  gibt,  nicht  wieder  zurückzukehren.9 

9  Code  civil  17:  „La  qualite  de  Francais  se  perdra  par  tout  etablis- 
sement  fait  en  pays  etranger,  sans  esprit  de  retour.  Les  etablissements 
de  commerce  ne  pourront  jamais  etre  consideres  comrae  ayant  ete  faits 
sans  esprit  de  retour."  Bayer.  Edict  von  1818-  §.  6:  „Das  Indigcnat 
geht  verloren  durch  Auswanderung."  Oesterr.  Verf.  von  1849.  §.  25: 
„Die   Freiheit    der   Auswanderung    ist    von   Stats   wegen    nur   durch   die 


Einundzwanzigstes  Cap.  Verhältnisz  d.  Stats  etc.   1.  Volksgenossen  etc.  205 

Nur  das  englische  StatsrecM,  obwohl  es  vielleicht  zu- 
erst unter  den  neuern  Hechten  das  Hecht  der  freien  Auswan- 
derung (des  freien  Zugs)  anerkannt  hat,  scheint  den  mittel- 
alterlichen Gesichtspunkt,  dasz  der  Unterthan  sich  von  der 
Lehenstreue  gegen  den  Fürsten  nicht  ohne  dessen  Zustimmung 
losmachen  könne,  länger  festgehalten  zu  haben,  so  dasz  auch 
die  Auswanderung  nicht  die  Auflösung  des  englischen  Unter- 
thanenverbandes  nach  sich  zieht. lü 

Als  Auswanderung  behandelt  das  französische  Hecht 
auch  jede  Naturalisation  in  einem  fremden  Lande  und  den 
Eintritt  in  auswärtige  Statsdienste  ohne  Bewilligung  der  fran- 
zösischen Statsregierung ; n  eine  Ausdehnung,  welche  unter 
Umständen  weiter  reicht,  als  die  wirkliche  Verzichtleistung, 
denn  es  kann  wohl  vorkommen,  dasz  ein  Individuum  in  einen 
andern  Statsverband  eintritt,  ohne  deszhalb  seine  bisherige 
Stats  Verbindung  aufgeben  zu  wollen.  Indessen  sorgt  in  sol- 
chen Fällen  das  französische  Recht  dafür,  dasz  dem  nach 
Frankreich  zurückkehrenden  Individuum  die  Erneuerung  des 
französischen  Indigenats  leicht  wird. l2 

Die  Vereinigung  zweier  Heimatsrechte  in  Einer  Person 
ist  nicht  unmöglich,1,3   und   theilweise   durch   die   Cultur- 

Wehrpflicht  begränzt  "  Ebenso  Preusz.  Verf.  von  1850.  §.  11:  „Die 
Freiheit  der  Auswanderung  kann  von  Stats  wegen  nur  in  Bezug  auf  die 
Wehrpflicht  beschränkt  werden."  Das  Preusz.  Landrecht  II.  17. 
§.  127  u.  ff.  war  noch  strenger. 

10  Magna  Charta  v.  1215:  „Liceat  unicuiqui  exire  de  regno  iiostro 
et  redire  salvo  et  secure  per  terram  et  per  aquam  salva  fide  nostra, 
nisi  tempore  guerre  per  quod  breve  Jempus  propter  communem  utilitatem 
regni."     Blackstone,  Coram.  I.  10. 

"  Code  Civ.  17, 

18  Code  C,  18.  „Le  Francais  qui  aura  perdu  sa  qualite  de  Francais, 
pourra  toujours  la  recouvrer  en  rentrant  en  France  avec  l'autorisation 
du  Roi  et  en  declarant  qu'il  veut  s'y  fixer,  et  qu'il  renonce  ä  toute  di- 
stinction   contraire   ä  la  loi  frangaise." 

13  Es  kommt  sogar  vor,  dasz  eine  Person,  gleichzeitig  in  zwei  Staten 
an  der  Landesrepräsentation  Theil  nimmt.  Manche  Standesherrn  sind 
gleichzeitig  Mitglieder   der    ersten   Kammern   in   zwei    und   drei   Staten, 


206  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Verhältnisse  der  Gegenwart  veranlaszt.  Wenn  daraus  ein 
wirklicher  Conflict  widerstreitender  Pflichten  sich  ergibt  — 
ein  immerhin  seltener  Fall  —  so  kann  die  Lösung  desselben 
wohl  schwierig  werden.  Nicht  immer  hilft  der  Satz  aus,  dasz 
der  ältere  Statsverband  dem  neueren  vorgehe:  insbesondere 
dann  nicht,  wenn  das  ältere  Heimatsrecht  ein  ruhendes,  und 
das  neuere  ein  wirksames  (actuelles)  ist,  wenn  also  der 
Doppelbürger  wohl  in  der  neuen  Heimat  wohnt,  aber  nicht 
mehr  in  der  alten.  In  diesen  Fällen  wird  z.  B.  die  Militär- 
pflicht in  der  letzteren  geleistet  werden  müssen.14  Deszhalb 
kommt  auch  zunächst  dem  State,  welcher  einem  Ausländer 
die  Naturalisation  ertheilt,  oder  ihm  eine  Beamtung  überträgt, 
die  Befugnisz  zu,  entweder  die  vorherige  Entlassung  aus  dem 
frühern  Statsverbande  zu  verlangen,  oder  den  Vorbehalt  der 
Fortdauer  desselben  zuzugestehen.  '* 

3.  Die  Wirkungen  der  Volksgenossenschaft  beziehen 
sich  tlieils  auf  das  Gebiet  des  Privatrechts,  theila  auf  das 
Gebiet  des  Oeffentlichen.  In  dem  Privatrechte  war  früherhin 
der  Gegensatz  einsehen  Einheimischen  und  Fremd«  viel  be- 
deutender als  gegenwärtig.  Die  moderne  Zeit  ist  geneigt,  die 
beiden  Gebiete  schärfer  zu  sondern  und  daher  auch  in  dem 
Privatrechte  dem  seiner  Natur  nach   politischen  Statsverbande 

in  denen  allen  sie  begütert,  und  denen  allen  Sie  durch  den  Eid  der  Treue 
verbunden  sind.  Ist  es  ja  nicht  einmal  undenkbar,  dasz  Jemand  zwei 
verschiedene  Wohnorte  (Domioile)  /..  r>.  eines  in  der  Stadt  und  einei 
auf  dem  Lande,  oder  eines  als  Kaufmann  (Firma)  und  ein  anderes  als 
Privatmann  hat!  Wenn  Bar  (da-  internationale  Privat-  und  Strafrecht 
S.  8ä)  alle  diese  Möglichkeiten  bestreitet,  80  überzeugt  ein  Blick  in  die 
wirklichen  Verhältnisse,  dass  diese  mannigfaltiger  Bind,  als  die  enge 
Theorie.  Die  Freiheit  der  Auswanderung  Ifird  dadurch  nicht  beschränkt, 
wohl  aber  die  Freiheit  bewahrt,  sein  angeborenes  Vaterland  zu  behalten 
und  damit  eine  neue  Statsgenossensdialt   zu   verbinden. 

14  BlackatO)ie  a.  a.  0.  Die  eigene  Lebenserfahrung  hat  mich  ge- 
lehrt, dasz  in  diesen  Dingen  die  actuelle   Heimat  entscheide, 

15  Bayer.  Edict.  §.  G.  Dagegen  Schweizer.  Bundcsverf.  von 
1848.  43:  „Ausländern  darf  kein  Kanton  das  Bürgerrecht  erthcilen, 
wenn  sie  nicht  aus  dem  frühem  Statsverband  entlassen  werden." 


Einundzwanzigstes  Cap.  Yerhältnisz  d.  States  etc.  I.Volksgenossen  etc.  207 

keine  besondere  Bedeutung  beizulegen.  Regel  ist  daher  nun- 
mehr, dasz  Einheimische  und  Fremde  in  privatrechtlicher 
Hinsicht  gleich  behandelt,  und  diese  wie  jene  zunächst 
des  vollen  Privat  rechts  fähig  erachtet  werden.16 

Nur  ausnahmsweise  hat  sich  noch  der  früher  allgemein 
angenommene  Grundsatz  erhalten,  dasz  Fremde  kein  Grund- 
eigenthum  in  dem  Lande  erwerben  können.17  Häufiger  sind 
dieselben  in  der  Ausübung  gewisser  Gewerbe,  namentlich  in 
der  s elb ständig en  B et r e ibun g  von  Handwerken,  auch 
etwa  von  Kramladen  beschränkt. 18  Das  Fremdlings- 
recht  (jus  albinagii)  dagegen,  welches  dem  Landesherrn  die 
Verlassenschaft  des  Fremden  preisgab  und  der  Abschosz 
(gabella  hereditaria),  welcher  von  Verlassenschaf ten,  die  ins 
Ausland  kamen,  erhoben  wurde,  sind  nun  fast  überall  als 
unpassende  l\este  einer  untergegangenen  Zeit  weggeräumt  und 
die  Freizügigkeit  auch  insofern  zur  Kegel  erhoben  worden.19 

In  dem  öffentlichen  Rechte  aber  ist  der  Gegensatz  zwi- 
schen Einheimischen  und  Fremden  noch  vollwirksam.  Nur 
den  erstem,  nicht  ebenso  den  letztern  stehen  von  Rechtes  wegen, 
und  ohne  dasz  es  einer  besondern  Zusicherung  bedarf,  zu: 

,c  Preusz.  Landr.  Ein],  §.  38:  „Auch  Unterthanen  fremder  Staten, 
welche  in  hiesigen  Landen  leben  oder  Geschäfte  treiben,  müssen  nach 
obigen  Bestimmungen  beurtheilt  werden."  Oesterr.  Ges.  §.  33.  „Den 
Fremden  kommen  überhaupt  gleiche  bürgerliche  Rechte  und  Verbind- 
lichkeiten mit  den  Eingebornen  zu,  wenn  nicht  zu  dem  Genüsse  dieser 
Rechte  ausdrücklich  die  Eigenschaft  eines  Statsbürgers  erfordert  wird." 
Code  Civil.  13. 

17  Für  England  vgl.  Blacks  tone  I.  10.  Auch  in  einigen  demokra- 
tischen Schweizerkantonen  gilt  das  Verbot  noch. 

18  Wo  die  Zunftverfassung  sich  erhalten,  versteht  sich  diese  Be- 
schränkung gewöhnlich  von  selbst.  Aber  auch  wo  jene  aufgelöst  wor- 
den, ist  dennoch  häufig  nur  den  Inländern  gestattet,  solche  Gewerbe  zu 
betreiben.  Die  französ.  Verf.  von  1848.  A.  13:  „garantit  aux  citoyens 
la  liberte  du  travail  et  de  Pindustrie."  Die  französische  Praxis  begün- 
stigt aber  in  dieser  Hinsicht  die  Gewerbefreiheit  auch  der  Ausländer. 

19  Schweizer.  Bundesverf.  §.  52:  „Gegen  die  auswärtigen  Staten 
besteht  Freizügigkeit  unter  Vorbehalt  des  Gegenrechtes."  Deutsche 
Bundesakte  v.  1815.   18.     Deutscher  Bundesbeschlusz  v.  1817. 


208  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

a)  das  Recht  zu  ständigem  Aufenthalt  und  Wohn- 
sitz in  dem  Statsgebiete ,  -ü  in  Folge  dessen  der  Einheimische 
auch  nicht  an  einen  fremden  Stat  ausgeliefert  noch  ohne 
höhere  Statsgiünde  verbannt  werden  darf; 

b)  das  Recht  auf  Stat  »schütz,  auch  wenn  er  aus  zer- 
halb des  eigenen  Stalsgebietes  sieh  aufhält: 

c)  die  Vorbedingung  zur  Ausübung  politischer 
Stimmrechte  und  zum  Erwerb  des  eigentlichen  Stats- 
bürgerrechts ;  -1 

d)  ebenso  die  Vorbedingung  zur  Fähigkeit,  ein  öffent- 
liches Amt  im  State  zu  bekleiden.21 

e)  Zuweilen  ist  auch  die  Ausübung  allgemeiner  poli- 
tischer Rechte,  wie  2.  B.  des  Vereinsrechtes,  oder  des  Peti- 
tionsrechtes,  oder  der  freien  Presse  an  die  Eigenschaft  des 
Einheimischen  geknüpft. M 

Daraus  folgt  nun  freilich  nicht ,  dasz  den  Fremden  die 
Betheiligung  bei  politischen  Vereinen,  Petitionen,  der  Presse 
untersagt  sei.  sondern  nur,  dasz  dieselben  kein  in  ihrer 
Person  begründetes  Recht  darauf  haben,  somit  diese  Theil- 
nahme  von  der  Duldung  dea  States  abhängig  sei,  in  dem 
sie  wohnen  ohne  ihm  anzugehören. 

?0  Schweizer.    Bund.    $    57-     „Dem    Bunde   steht   das    Recht    in, 
Fremde,  welche  die  innere  oder  äussere  Sicherheit  der  Eidgen 
gefährden,  au-  dem  schweizerischen  Gebiete  wegzuweisen14. 

21  Bayer.  Edict  v.  1818.  $.  7:  „Das  [ndigenat  ist  die  wesentliche 
Bedingung,  ohne  welche  man  zu  Kronoberhofamtern,  eu  Civilstatsdiensten, 
zu  obersten  MilitSreteUen  und  zu  Blirohenamtern  oder  Pfründen  nicht 
gelangen  kann,  und  ohne  welche  man  das  bayerische  Statsbürgerrecht 
nicht  ausüben  kann."  Fr  am  ÖS.  Verfassung  von  L848.  LOj  -Tous  les 
citoyens  .--ont  egalement  admissiblei  a  tous  tes  emplou  publios."  Vgl. 
Oesterr.  Verf.    von   \S'\{3.    §  27.    u.  28.     Preu^z.   Verf.   von  L850.  §.  4. 

81  Franz.  Verf.  von  1848.  A.  8:  nLes  citoyens  ont  le  droit  de 
s'associer  de  s'assembler  paisiblemcnt  et  Bans  armes,  de  petitionner,  da 
manifester  leurs  pensees  par  la  voie  de  le  presse  ou  autrement."  Preusz. 
Verf.  von  1850.  Art.  27.  29.  30.  32,  welche  die*e  Rechte  „allen 
Preuszen"  zugestehen. 


Zweiundzwanzigstes  Cap.  Verhältnisz  d.  States  etc.  2.  Statsbürger  etc.  209 

Zweiundzwanzigstes  Capitel, 

2.   Die  Statsbürger  im  engeren  Sinne. 

Aus  der  Masse  der  Volks-  und  Landesangehörigen  erhebt 
sich  die  höhere  Stufe  der  Statsbürger  im  eigentlichen  Sinne. 
Die  Statsbürger  als  solche  haben  Theil  an  den  politischen 
Rechten,  und  insbesondere  in  der  Repräsentativverfassung  an 
dem  Stimmrechte  für  die  Wahlen  der  Volksvertreter.  Das 
Statsbürgerrecht  in  diesem  Sinne  setzt  die  Volksgenossenschaft 
als  Grundbedingung  voraus,  verbindet  aber  mit  derselben  über- 
dem  die  politische  Vollberechtigung  im  State,  und  in 
ihm  vorzüglich  erhält  die  politische  Beziehung  der  Individuen 
zum  State  ihren  vollen  Ausdruck. 

In  dem  griechischen  und  in  dem  römischen  Stat  des  Alter- 
thums  war  diese  Eigenschaft  mit  dem  Bürgerthum  der  regie- 
renden Stadt,  in  dem  altern  Mittelalter  mit  dem  Stande  der 
Vollfreiheit  verbunden.  In  dem  modernen  State  hat  dieselbe 
einen  weitern  Umfang  gewonnen  und  sich  in  manchen  Ländern 
der  Volksgenossenschaft  an  Ausdehnung  sehr  angenähert. 

Als  allgemein  anerkannte  Beschränkungen  des  neuern  Stats- 
rechts  sind  anerkannt: 

1.  Ausschlieszung  des  weiblichen  Geschlechts.  Die 
Politik  ist  Sache  des  Mannes,  die  politischen  Rechte  stehen 
daher  auch  nur  den  Männern  zu.     Vgl.  oben  Capitel  XX. 

2.  Ausschlieszung  der  Minderjährigen.  Die  selb- 
ständige Ausübung  der  politischen  Rechte  erfordert  eine  gewisse 
geistige  Reife.  Weil  es  ihnen  daran  gebricht,  sind  die  Un- 
mündigen und  die  Minderjährigen  ausgeschlossen. 

In  einzelnen  neuern  Staten  wird  die  politische  Voll- 
jährigkeit von  der  privatrechtlichen  unterschieden.  Eher 
läszt  es  sich  rechtfertigen,  wenn  jene  nach  dieser,  als  wenn 
umgekehrt  diese  nach  jener  eintritt;  denn  leichter  ist  es  in 
den  Geschäften  des  täglichen  Lebens  zu  einem  klaren  Urtheile 
zu  gelangen,  als  da,  wo  es  sich  um  politische  Interessen  und 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.    I.  14 


210  Zweites  Buch.     Volk  und  Land» 

auch  —  wie  bei  Wahlen  —  um  Beurtheilung  politischer  Per- 
sonen handelt.  In  Frankreich,  in  England,  in  Nord- 
amerika beginnt  die  politische  und  bürgerliche  Volljährigkeit 
zugleich  mit  der  Vollendung  des  einundzwanzigsten  Alters- 
jahres,1 in  einigen  deutschen  Staten,  wie  in  Bayern  ebenso;2 
in  Preuszen  und  im  norddeutschen  Bunde  dagegen  be- 
ginnt das  politische  Stimmrecht  mit  dem  zurückgelegten  fünf- 
undzwanzigsten,3 in  0  est  er  reich  mit  dem  vollendeten  sechs- 
undzwanzigsten Altersjahre.4  In  der  Schweiz  lassen  einzelne 
Kantone  das  Alter  der  politischen  Volljährigkeit  sogar  früher 
eintreten,  nun  fast  durchweg  mit  der  Vollendung  von  zwanzig 
Jahren,  als  dem  Alter  der  bürgerlichen  Majorennität. 5 

3.  Ausschlieszung  der  Personen,  deren  bürgerliche 
Ehren fähigkeit  vermindert  oder  aufgehoben  worden  ist: 
z.  B.  der  Sträflinge,  der  erklärten  Verschwender,  der  Falliten 
und  der  Personen,  welche  der  öffentlichen  Armenunterstützung 
anheimfallen. 

In  vielen  Staten  treten  überdem  noch  folgende  Erforder- 
nisse hinzu: 

4.  Ein  gewisses  Masz  von  Selbständigkeit  der  äusze- 
ren  Existenz  des  Statsangehörigen.  Die  Art,  diese  Selbständig- 
keit zu  bestimmen,  ist  freilich  sehr  verschieden  in  den  ver- 
schiedenen Staten. 

Im  Geiste  des  altern  germanischen  Rechts  wird  dieselbe 
vorzüglich  in  dem  Grundbesitze  oder  der  Haushäblich- 
keit  („wer  einen  eigenen  Rauch  führt"),  im  Sinne  des  neuern 
germanischen  Rechts  mehr  in  der  selbständigen  Betreibung 
irgend  eines  Berufes  auf  eigene  Rechnung  und  in  der  Auf- 
nahme   in    den   Verband    der   activen    Gemeindebürger 

1  Franz.  Const.  v.  1848.  A.  15.     Blankst.,  Comm.  I.  17. 

2  Bayerisches  Landrecht.  I.  7.  36.  Edict  üb.  d.  Indig.  §.  8. 

3  Verf.  v.  1850.  A.  70.     Wahlgesetz  v.  15.  Oct.  1866.   Art.  2. 
*  Oesterr.  Gesetzb.  §.  21.     Verf.  v.  1849.  §.  43. 

5  Z.B.  Zürich,  wo  die  bürgerliche  Volljährigkeit  erst  mit  vierund- 
zwanzig Jahren  erreicht  wird. 


Zweiundzwanzigstes  Cap.  Verhältnisz  d.  States  etc.  2.  Statsbürger  etc.  211 

erkannt.  Die  erstere  Auffassung  hat  sich  zum  Theil  bis  auf 
die  neueste  Zeit  in  England  und  in  einzelnen  nordamerika- 
nischen Staten  erhalten,  die  letztere  ist  in  die  neueren  Stats- 
verfassungen  deutscher  Staten  übergegangen.6  Es  bleiben 
somit  diejenigen  Personen  ausgeschlossen,  welche  als  Bediente 
oder  Knechte  sich  einer  Herrschaft  verdungen  haben,  öfter 
auch  die  Fabrikarbeiter,  wenigstens  der  unteren  Gassen,  und 
die  gröszere  Zahl  der  Handwerksgesellen. 

Dagegen  haben  andere  Staten  in  neuerer  Zeit,  dem  Kufe 
nach  dem  allgemeinen  Stimmrecht  folgend,  dieses  Erfordernisz 
entweder  in  laxerem  Sinne  behandelt  oder  ganz  aufgegeben. 
Dahin  gehören  die  neueren  Schweizer  Verfassungen  seit  1830. 
die  Verfassung  der  französischen  Kepublik  von  1848  und 
des  französischen  Kaiserreichs,  und  die  Verfassung  des 
norddeutschen  Bundes  von  1867.  Auch  die  Vereinigten 
Staten  von  Nordamerika  streben  gegenwärtig  dieselbe  Aus- 
dehnung des  Stimmrechts  auf  Jedermann  an.  Sie  entspricht 
offenbar  der  demokratischen  Neigung  unseres  Zeitalters. 

5.  Das  Statsbürgerrecht  wird  üb  er  dem  in  einzelnen  Staten 
von  einem  bestimmten  Masze  des  Vermögens  abhängig  ge- 
macht. Bei  der  Vertheilung  der  Stimmrechte  kann 
das  Vermögen  gar  wohl  als  ein  wichtiger  Factor  in  Betracht 
gezogen  werden;  aber  es  widerspricht  der  Statsidee,  dasz  ein 
Mann,  welcher  moralisch  und  geistig  in  jeder  Weise  befähigt 
und  berufen  ist,  an  dem  politischen  Leben  des  Volks  Theil 
zu  nehmen,  und  welcher  auch  als  Privatmann  völlig  unabhängig 
zu  handeln  gewohnt  ist,  blosz  darum  von  dem  Statsbürger- 
rechte  ganz  ausgeschlossen  bleiben  soll,  weil  er  kein  oder  nicht 

6  Nach  der  bayerischen  Verfassung  von  1818  wird  zum  Stats- 
bürgerrecht auszer  dem  Indigenat  „Ansässigkeit  im  Königreiche,  ent- 
weder durch  den  Besitz  besteuerter  Gründe,  Renten  oder  Rechte,  oder 
durch  Ausübung  besteuerter  Gewerbe,  oder  durch  den  Eintritt  in  ein 
öffentliches  Amt"  erfordert.  Die  österr.  Verf.  von  1848  §.  43  und  die 
preuszische  A.  70  erkennen  die  Selbständigkeit  in  dem  Gemeinde- 
verband. 

14* 


212  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

das  geforderte  Vermögen  besitzt.  Wird  dabei  nicht  blosz  das 
Grund-  oder  überhaupt  das  Kapitalvermögen,  sondern  auch  das 
Einkommen  und  der  Erwerb  in  Anschlag  gebracht,  und  das 
Masz  so  niedrig  angesetzt  als  dasselbe  für  eine  ganz  bescheidene 
Existenz  eines  Menschen  unentbehrlich  ist,  dann  freilich  ist 
gegen  dieses  Eequisit  nicht  viel  zu  haben.  Dann  fällt  es  dem 
Effecte  nach  so  ziemlich  mit  dem  vorher  erörterten  der  Selb- 
ständigkeit zusammen.  Es  wird  dann  diese  nach  dem  Ver- 
mögen beurtheilt.  Die  Bestimmung  mancher  Verfassungen, 
wie  z.  B.  der  nordamerikanischen,  der  bayerischen 
yon  1848,  theilweise  auch  der  österreichischen  und  der 
preuszischen,  welche  das  politische  Stimmrecht  von  der 
Bezahlung  direkter  Statssteuern  abhängig  machen,  hat  eine 
ähnliche  Bedeutung. 

6.  In  den  christlichen  Staten  wurde  bis  auf  die  neueste 
Zeit  herab  auch  das  Bekenntnisz  der  christlichen  Ee- 
ligion  gefordert.  Anhänger  einer  andern,  wenn  auch  gedul- 
deten Eeligion,  z.  B.  Juden  oder  Muhammedaner,  waren  somit 
von  dem  Statsbürgerrechte  ausgeschlossen.  Während  des 
ganzen  Mittelalters  waren  Eeligion  und  Eecht,  Kirche  und 
Stat  in  der  engsten  Verbindung  und  Wechselwirkung.  Wer 
von  der  religiösen  Gemeinschaft  ausgeschlossen  war,  wurde  es 
auch  von  der  politischen.  Der  „Ungläubige"  konnte  im  gün- 
stigsten Falle  auf  Duldung,  und  selbst  auf  diese  nur  aus- 
nahmsweise hoffen;  an  politische  Gleichberechtigung  mit  den 
„Gläubigen"  war  nicht  zu  denken. 

Selbst  innerhalb  der  christlichen  Eeligion  wurde,  als 
die  Confessionen  sich  schieden,  auf  die  bestimmte  Con- 
fession  auch  in  dem  Statsrechte  grosser  Werth  gelegt.  In 
vorzugsweise  katholischen  Ländern  wurde  nur  den  Katholiken, 
in  protestantischen  nur  den  Protestanten  das  volle  Statsbürger- 
recht  zuerkannt.  Auch  der  westphälische  Frieden  sicherte  für 
Deutschland  nur  die  privatrechtliche,  keineswegs  die  politische 


Zweiundzwanzigstes  Cap.  Yerhältnisz  d.  States  etc.  2.  Statsbürger  etc.  213 

Rechtsgleichheit  der  Katholiken  und  der  Protestanten.7  Erst 
die  deutsche  Bundesacte  von  1815  stellte  die  anerkannten 
christlichen  Eeligionsparteien  der  Katholiken,  Lutheraner  und 
Reformirten  auch  in  dieser  Beziehung  in  Deutschland  gleich, 
liesz  es  aber  noch  ungewisz,  ob  auch  die  Anhänger  von  an- 
dern Secten  der  nämlichen  Rechte  theilhaftig  seien."8 

Die  neuere  Rechtsentwicklung  in  manchen  Staten  hat  nun 
eine  entschiedene  Tendenz,  die  Ausübung  der  politischen  Rechte 
unabhängig  zu  erklären  von  irgend  einem  religiösen 
Bekenntnisz.  Es  wäre  irrig,  diese  Tendenz  als  die  Frucht 
des  religiösen  Indifferentismus  zu  erklären,  obwohl  nicht  zu 
läugnen  ist,  dasz  auch  dieser  seinen  Antheil  an  der  neuen 
Gestaltung  hat.  Als  zuerst  der  nord amerikanische  Con- 
gresz  1791  untersagte,  „ein  Gesetz  zu  geben,  wodurch  eine 
Religion  zur  herrschenden  erklärt  werde,"  war  die  Meinung 
keineswegs  die,  dasz  es  für  die  Wohlfahrt  des  States  gleich- 
gültig sei,  ob  seine  Bürger  von  der  Wahrheit  und  Kraft  der 
christlichen  Religion  beseelt  seien  oder  nicht,  noch  die,  den 
Stat  an  der  Ausübung  seiner  Pflicht,  die  Anstalten  der  christ- 
lichen Religion  zu  schützen  und  zu  fördern,  irgend  zu  be- 
hindern. 9 

Das  neuere  Princip  erhält  vielmehr  seine  tiefere  Begrün- 
dung in  der  Anerkennung  der  Idee,  dasz  der  religiöse  Glaube 
und  das  religiöse  Bekenntnisz  ihrem  Wesen  nach  von  statlichem 

7  Instrum.  Pae.  Osn.  Y.  §.  35:  „Sive  autem  Catholici  sive  Augustanae 
confessionis  fuerint  subditi,  nullibi  ob  religionem  despicatui  habeantur 
nee  a  mercatorum ,  opificum  aut  tribuum  communione,  haereditatibtis, 
legatis,  hospitalibus,  leprosoriis,  eleemosynis,  aliisve  juribus  aut  com- 
mereiis,  multo  minus  publicis  coemiteriis ,  lionoreve  sepulturae  arceantur 
—  sed  in  his  et  similibus  pari  cum  coneivibus  jure  habeantur,  aequali 
justitia  protectioneque  tuti." 

s  Deutsche  Bundesakte  A.  16:  „Die  Verschiedenheit  der  christlichen 
Religionsparteien  kann  in  den  Ländern  des  deutschen  Bundes  keinen 
Unterschied  in  dem  Genusz  der  bürgerlichen  und  politischen  Rechte 
begründen."     Ygl.  Kl  üb  er  Acten  des  Wiener  Congr.  II.  S.  439. 

*  Ygl.  Story  a.  a.  0.  P.  III.  St.  44. 


214  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

Zwange  frei  sein  und  der  Mahnung  des  Gewissens  allein  an- 
heim  gegeben  werden  müssen,  dasz  daher  auch  keine  politi- 
schen Nachtheile,  keine  Rechtsverminderung  die  Abweichung 
von  dem  christlichen  Glauben  bedrohen  dürfe.  Dazu  kam  die 
Neigung  der  Nordamerikaner,  die  beiden  Gebiete  des  statlichen 
und  des  kirchlichen  Lebens  scharf  von  einander  auszuscheiden, 
und  auf  dem  einen  den  Stat,  auf  dem  andern  die  Kirche  mög- 
lichst frei  gewähren  zu  lassen.  In  diesem  Sinne  wurden  die 
politischen  Rechte  Keinem  versagt,  der,  wenn  auch  einer 
andern  Religion  zugethan,  doch  fähig  schien,  die  politischen 
Pflichten  auszuüben. 

Als  dagegen  die  französische  Revolution  ähnliche 
Grundsätze  adoptirte,  war  nicht  lediglich  die  Sorge  für  die 
Gewissensfreiheit  das  bestimmende  Motiv,  vielmehr  hatte,  wie 
die  auch  an  religiösen  Verfolgungen  reiche  Geschichte  jener 
Zeit  beweist,  auch  der  aus  der  früheren  Frivolität  zu  wildem 
Hasse  des  Christenthums  fortgeschrittene  Geist  der  Verneinung 
einen  Antheil  daran. lu 

Auch  in  Deutschland  ist  das  nämliche  Princip,  nun 
schärfer  noch  ausgesprochen  seit  der  Bewegung  vom  Jahr 
1848,  anerkannt  worden.  Die  österreichischen  Grund- 
rechte von  1849.  §.  1.  sowohl  als  die  preuszische  Ver- 
fassung von  1850  stimmen  darin  mit  dem  Frankfurter  und 
dem  Berliner  Entwurf  der  Reichsverfassung  überein,  dasz 
„der  Genusz  der  bürgerlichen  und  der  statsbürgerlichen  Rechte 
von  dem  Religionsbekenntnisse  unabhängig  sein"  soll.  Vor- 
sichtig aber  fügen  dieselben  hinzu,  dasz  „den  statsbürgerlichen 
Pflichten  durch  das  Religionsbekenntnis/,  kein  Abbruch  ge- 
schehen" dürfe. 

10  Das  neue  Princip  war  schon  in  dem  ersten  Artikel  der  Erklärung 
der  Menschenrechte  von  1791  ausgesprochen:  „Les  hommes  naissent  et 
demeurent  libres  et  egaux  en  droits.  Les  distinctions  sociales  ne  peuvent 
etre  fondees  quo  sur  l'utilite'  commune."  Von  den  späteren  Verfassungen 
hat  keine  die  Eigenschaften  des  „citoyen"  an  ein  Glaubensbekenntniss 
geknüpft. 


Zweiutidzwaazigstes  Cap.  Yerhältnisz  d.  States  etc.  2.  Statsbürger  etc.  215 

In  Folge  dieser  neuerlich  anerkannten  Grundsätze  ist  denn 
auch  die  Stellung  der  Juden  in  diesen  Ländern  eine  von 
Grund  aus  andere  geworden.  Waren  dieselben  früher  von  dem 
Genüsse  des  Statsbürgerrechtes  in  Deutschland  meistens  ganz 
ausgeschlossen,  so  darf  nun  von  der  jüdischen  Eeligion  her 
kein  Grund  mehr  genommen  werden,  denselben  jenes  Recht  zu 
versagen. 

Ob  das  neue  Princip  übrigens  in  seinen  Consequenzen 
mit  dem  europäischen  Systeme,  welches  noch  immer  wenn  auch 
weniger  als  früher  die  enge  und  beschränkende  Verbindung 
von  Stat  und  Kirche  aufrecht  erhält,  im  Gegensatze  zu  dem 
nordamerikanischen  Systeme  völliger  Trennung,  in  volle 
Harmonie  zu  bringen  sei,  und  in  welcher  Weise,  wird  erst  die 
Zukunft  lehren. 

Zu  allgemeiner  Geltung  ist  dasselbe  noch  nicht  gelangt. 
In  den  südlichen  romanischen  Staten  im  Kirchenstat, 
in  Spanien  und  Portugal  wie  in  dem  südlichen  Ame- 
rika ist  dasselbe  nicht  anerkannt,  auch  in  Norwegen  und 
Ruszland  nicht.  In  der  Schweiz  hat  erst  das  Verfassungs- 
gesetz von  1866  die  politischen  Rechte  für  unabhängig  erklärt 
von  der  christlichen  Confession  und  selbst  in  England  hat 
das  moderne  Princip  —  obwohl  die  frühere  Zurücksetzung  der 
Dissenters  und  der  Katholiken  in  diesem  Jahrhunderte  eben- 
falls aufgehoben  worden  ist  —  nur  unter  bedeutenden  Ein- 
schränkungen eine  unvollständige  Autorität  erlangt. 

Der  moderne  Stat  hat  jedenfalls,  seiner  menschlichen  und 
nationalen  Begründung  getreu,  die  entschiedene  Tendenz,  die 
Anhänger  verschiedener  Glaubensbekenntnisse  durch  seine 
gemeinsamen  Institutionen  zu  einigen  und  allmählich  die  mittel- 
alterliche Verflechtung  des  öffentlichen  Rechts  mit  bestimmten 
religiösen  Bedingungen  oder  kirchlichen  Vorschriften  aufzulösen. 


216  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Dreiundzwanzigstes  Capitel 

Das  Land. 

1.  Das  Volk  ist  die  persönliche  Grundlage  des  States. 
Das  Land  ist  die  dingliche  Beziehung  desselben.  Erst  wenn 
das  Volk  ein  Land  erworben  hat,  wenn  ein  Statsgebiet  hinzu- 
gekommen ist,  hat  der  Stat  die  erforderliche  Festigkeit  erlangt. 

Schon  die  Ausdehnung,  der  äuszere  Umfang  des 
Statsgebietes  ist  für  die  Existenz  und  die  Entwicklung  des 
States  von  groszer  Wichtigkeit.  Die  hellenische  Verfassung, 
die  aus  dem  Leben  der  Städte  erwachsen  ist,  läszt  sich  in 
einem  groszen  Lande  nicht  durchführen.  Die  groszen  Formen 
der  modernen  Bepräsentativmonarchie  werden  auf  einem  engen 
Gebiete  zur  Karikatur. 

Der  Theil  der  Erdoberfläche,  welcher  von  dem  Volke  be- 
setzt und  von  dem  State  beherrscht  wird,  heiszt  Land  oder 
Statsgebiet.  Die  Grösze  desselben  wird  ähnlich  wie  die  Bil- 
dung des  Volks  durch  geschichtlicheVorgänge  bestimmt. 
Ein  Stat  erweitert  sein  Gebiet,  wenn  er  über  unwirthliche 
Strecken,  die  noch  nicht  einem  State  angehören,  seine  Cultur 
und  Herrschaft  erstreckt,  oder  wenn  er  durch  Verträge  oder 
in  Folge  freiwilligen  Anschlusses  fremde  Gebiete  erwirbt,  oder 
auch  im  Krieg  durch  Eroberung.  Die  letztere  Form  des  Er- 
werbs, früher  vorzugsweise  geachtet,  musz  doch  von  einer  civi- 
lisirten  Weltordnung  als  ein  Act  der  Gewalt,  wenn  nicht 
ausnahmsweise  darin  eine  gewaltsame  Eechtsentwicklung  zu 
erkennen  ist,  verworfen  werden. 

Die  Geschichte  kennt  keinen  ewigen  unveränderlichen 
Umfang  der  Statsgebiete.  Auch  der  Baum,  den  die  Staten 
einnehmen,  ist  abhängig  von  dem  Wachsthum  oder  der  Ab- 
nahme der  Volkskräfte  in  ihm.  Aber  das  Statsgebiet  hat 
doch  einen  dauernden  Charakter  und  seine  Grenzen  sind  nicht 
wie  die  Volkszahl  einer  unaufhörlichen  Wandlung  unterworfen. 
Nur  von  Zeit  zu  Zeit  in  Folge   groszer  Ereignisse  wird   der 


Dreiundzwanzigstes  Capitel.    Das  Land.  217 

Gebietsumfang  geändert.  In  der  Eegel  bleibt  er  in  feste 
Grenzen  eingeschlossen. 

Die  Grenzen  scheiden  entweder  das  eigene  Statsgebiet  von 
dem  fremden  ab,  oder  sie  scheiden  das  Statsgebiet  von  den 
Theilen  der  Erdoberfläche  ab,  welche  keinem  State  angehören. 
Im  erstem  Fall  denkt  man  sich  die  Grenze  als  eine  feste 
Linie  und  bezeichnet  sie  so  gut  es  geht  mit  Grenzmarken, 
Pfählen,  Steinen,  Gräben,  Wällen  u.  s.  f.  Im  letztern  Fall 
bedarf  es  einer  solchen  scharfen  Linie  nicht,  und  es  kann 
auch  je  nach  Umständen  ohne  Verwicklung  mit  andern  Staten 
die  Grenze  vorgeschoben  oder  zurückgezogen  werden. 

Zu  der  ersten  Classe  sind  zu  rechnen: 

a)  Strom-  und  Fluszgrenzen,  obwohl  dieselben  nicht 
in  dem  Masze  fest  und  unbeweglich  sind,  wie  die  Landgrenzen. 
Zuweilen  wird  die  Mitte  des  Flusses,  zuweilen  der  Thal- 
weg  desselben,  d.  h.  die  durch  die  Strömung  bestimmte 
Fahrbahn,  als  die  eigentliche  Grenze  der  beiderseitigen  Stats- 
hoheit  betrachtet,  aber  weil  die  Mitte  oder  der  Thalweg  vor- 
züglich benutzt  wird,  mit  Kücksicht  auf  Schifffahrt  und  Ver- 
kehr, die  Benutzung  des  Flusses  zugleich  als  eine  gemein- 
schaftliche behandelt.1  Sowohl  die  Mitte  des  Flusses  als 
der  Thalweg  sind  aber  öfteren  Aenderungen  unterworfen,  in 
Folge  der  An-  und  Abspülung  der  Ufer  und  in  Folge  ver- 
änderten Wasserlaufs. 

b)  Die  Gebirgs grenzen.  Die  Gebirgszüge  trennen 
gewöhnlich  Stämme  und  Cultur  von  einander.  Die  Bewohner 
sehen  nicht  hinüber  und  gelangen  nur  mit  Anstrengung,  ge- 
wöhnlich nur  auf  einzelnen  Bergwegen  zu  einander.  Kegel- 
mäszig  wird  dann  der  oberste  Grat  des  Gebirges,  welcher 
auch  die  Gewässer  scheidet,  als  die  natürliche  Grenzlinie  an- 
gesehen. 

Zu  der  zweiten  Classe  gehören: 

1  Das  gilt  z.  B.  von  dem  Rhein  als  Grenze  zwischen  Deutschland  und 
Frankreich.    Vgl.  Kl  üb  er,  öffentl.  K  des  deutschen  Bundes  §§.88—90. 


218  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

a)  die  Meere,  seltener  grosze  Seen,  die  von  Natur  der 
Sonderherrschaft  einzelner  Staten  entzogen  sind,  und  der  ge- 
meinsamen freien  Benützung  aller  Welt  offen  stehen. 

b)  Die  Wüsten  und  unwirthliche  Steppen,  zuweilen 
auch  Wälder  und  wildes  Gebirge.  Die  fortschreitende 
Cultur  und  die  allmählige  Aneignung  auch  dieser  Gebiete 
durch  den  Stat  macht  aber  solche  Natur  grenzen  seltener. 

Die  nähere  Bestimmung  der  Grenzverhältnisse  ist  dem 
Völkerrechte  vorbehalten. 

2.  In  ähnlicher  Weise,  wie  der  Charakter  und  der  Bil- 
dungsgrad des  Volkes,  übt  auch  die  Natur  des  Landes  einen 
groszen  Einflusz  aus  auf  die  Statenbildung  in  demselben.  Ob- 
wohl aus  der  Erde  geboren  ist  der  Mensch  doch  nur  uneigent- 
lich ein  „Landeskind"  zu  nennen.  Als  ein  geisterfülltes  und 
freies  Wesen  vermag  er  den  äuszeren  Einwirkungen  des  Landes 
auch  Widerstand  zu  leisten.  Aber  er  wird  überall  von  der 
Macht  der  Natur  umschlossen,  und  kann  sich  den  Einflüssen 
nicht  völlig  entziehen,  welche  der  besondere  Charakter  und 
die  Gestaltung  seines  Wohnortes  auf  seinen  Geist  und  Körper 
täglich  ergieszt.  Kann  schon  das  Individuum  diese  Eindrücke 
nicht  alle  zurückstoszen  und  abweisen,  so  wird  das  Volk,  wel- 
ches länger  lebt  und  Jahrhunderte  hindurch  den  nämlichen 
Einwirkungen  der  Landesnatur  ausgesetzt  ist,  noch  mehr  davon 
betroffen,  und  am  Ende  wird  in  anderem  Land  auch  das 
Volk  ein  anderes.  Es  ist  aber  eher  Aufgabe  der  Politik 
als  des  Statsrechts,  den  Einflusz  der  Landesnatur  je  nach 
Klima,  Bodenform  und  Bodenart,  Fruchtbarkeit  u.  s.  f.  auf 
das  Statsleben  zu  würdigen. 

Wie  aber  die  Menschheit,  nicht  das  Volk  die  wahre  Unter- 
lage des  vollkommenen  States  ist,  so  ist  auch  die  Erde,  nicht 
das  Land  das  vollkommene  Statsgebiet,  die  Erde,  welche 
die  Mannichfaltigkeit  aller  Länder  in  das  richtige  Verhältnisz 
bringt  und  harmonisch  einigt,  welche  alle  Gegensätze  nicht  als 
Mängel,    sondern    als  Ergänzung   und  Keichthum    empfindet. 


Vierundzwanzigstes  Capitel.     Von  der  Gebietshoheit.  219 

Für  die  heutige  Statenbildung  aber,  welche  dem  höchsten  Ziele 
noch  ferne  steht,  folgt  daraus  der  auch  practisch  längst  be- 
währte Satz:  am  günstigsten  auch  für  den  Einzelstat  ist  ein 
mannichfaltig  geartetes  Land,  mit  Bergen  und  Thälern, 
Flüssen,  Seen,  Meeresküsten  und  Ebenen:  nicht  gerade  der 
erhöhten  Fruchtbarkeit  wegen,  denn  diese  Hebungen  und  Senk- 
ungen des  Bodens  machen  einen  Theil  des  Bodens  unfähig  für 
die  Cultur;  sondern  weil  sie  die  ebenfalls  mannich faltigen 
Anlagen  der  Bewohner  allseitig  anregen  und  die  mensch- 
lichen Kräfte  steigern.  Am  ungünstigsten  dagegen  sind  grosze 
unwirthliche  Steppen  des  Binnenlandes.  Diese  sind  daher  auch 
der  uralte  Boden,  auf  dem  die  unstatlichen  Nomadenvölker 
noch  ihr  Wesen  treiben. 


Vierundzwanzigstes  Capitel. 

Von  der  Gebietshoheit.     (Sogenanntes  Statseigenthuni.) 

Man  nennt  das  Hoheitsrecht  des  States  über  das 
ganze  Statsgebiet  oft  Statseigenthum.  Diese  Be- 
zeichnung hatte  in  dem  mittelalterlichen  Lehensstat  wie  in  den 
absoluten  Staten  der  asiatischen  Yorzeit  eine  relative  Wahr- 
heit. Zu  dem  modernen  Statsbegriffe  aber  paszt  dieselbe  in 
keiner  Beziehung. 

Das  „Eigenthum"  ist  ein  privatrechtlicher,  nicht  ein  po- 
litischer Begriff.  So  lange  daher  der  Stat  oder  dessen  Ober- 
haupt, wie  in  dem  alt-jüdischen  State  Gott,  wie  die  ägyptischen 
Pharaone  als  alleinige  Eigenthümer  des  Bodens  betrachtet 
wurden,  an  dem  den  einzelnen  Privaten  kein  Eigenthum,  son- 
dern nur  ein  vorübergehendes  Gebrauchs-  und  Nutzungsrecht 
zugestanden  war,  oder  so  lange  wie  in  dem  römischen  Keiche 
wenigstens  der  Boden  der  unterworfenen  Provinzen  als  in  dem 


220  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

formellen  Eigenthum  des  römischen  Volkes  oder  Kaisers  stehend 
angesehen  wurde,  und  den  Provincialen  nur  ein  minderes,  ob- 
wohl reales  Eigenthum  (in  bonis)  an  ihren  Grundstücken  zukam, 
oder  so  lange  wie  in  einzelnen  mittelalterlichen  Staten,  z.  B. 
in  England  nach  der  Eroberung  der  Normannen,  der  König 
als  Obereigenthümer  und  Lehensherr  des  ganzen  Landes  galt 
und  die  Unterthanen  nur  einen  lehensmäszig  abgeleiteten 
Grundbesitz  hatten,  so  lange  bildete  die  Vereinigung  und  Ver- 
mischung von  privatrechtlichem  Eigenthum  und  statlicher  Hoheit 
die  natürliche  Unterlage  für  den  Begriff  des  Statseigenthums. 
Seitdem  aber  die  Ausscheidung  des  Privatrechtes  und  des 
Statsrechtes  vollzogen  ist,  ist  derselbe  durchaus  unhaltbar  ge- 
worden. 

Das  Hoheitsrecht  des  States  über  das  Gebiet,  die 
Gebietshoheit  (imperium),  ist  somit  von  dem  Eigenthum 
(dominium)  des  States  wohl  zu  unterscheiden.  Das  letztere 
hat  einen  privatrechtlichen  Inhalt,  ungeachtet  der  Stat  das 
Kechtssubject  ist,  das  erstere  dagegen  hat  einen  wesentlich 
politischen  Charakter,  und  kann  seiner  Natur  nach  nur  dem 
State  (beziehungsweise  dem  Statsoberhaupte)  zustehen.1 

Die  Gebietshoheit  hat  vorerst  den  positiven  Inhalt, 
dasz  dem  State  vollkommene  statliche  Herrschaft  über 
das  ganze  Gebiet  zusteht.  Soweit  dasselbe  sich  erstreckt,  ist 
somit  der  Stat  berechtigt,  seiner  Gesetzgebung  Anerkennung 
zu  verschaffen,  seine  Kegierungsbeschlüsse  durchzuführen,  seine 
Gerichtsbarkeit  zu  üben.  Der  Stat  hat  nicht  blosz  Gewalt  über 
die  Personen,  er  hat  sie  auch  über  das  Land  und  über  die 
Sachen  darin. 

Diese  Herrschaft  ist  aber  statlich,   nicht  privatrechtlich. 

1  Die  Alten  haben  diese  Unterscheidung  wohl  erkannt.  Hugo  Grotius, 
de  jure  belli  ac  pac.  II.  3.  führt  eine  Stelle  von  Seneca  an,  de  benef. 
VII.  4:  „Ad  reges  potestas  omnium  pertinet,  ad  singulos  proprietas ;" 
und  von  Bio  Chrysost.  Orat.:  „Das  Land  gehört  dem  Stat  (v  x°>VC(  i^s 
noXstos);  aber  nichts  desto  minder  ist  jeder  Einzelne  vollkommener  Herr 
seiner  erworbenen  Güter. u 


Vierundzwanzigstes  Capitel.     Von  der  Gebietshoheit.  221 

Demgemäsz  ist  es  ein  Irrthum ,  der  aus  jener  falschen  Vor- 
stellung von  Statseigenthum  entsprungen  ist,  wenn  ein  natür- 
liches Eigenthum  des  States  an  herrenlosen  Sachen  be- 
hauptet wird,  die  in  seinem  Gebiete  vorhanden  sind  oder  wenn 
die  Fremden  von  der  Occupation  solcher  Sachen  aus- 
geschlossen sind  und  diese  ausschlieszlich  dem  State  selbst 
oder  seinen  Angehörigen  vorbehalten  wird.  Die  Occupation 
ist  eine  privatrechtliche  Erwerbsform,  nicht  ein  Ausflusz  einer 
statlichen  Hoheit,  und  der  Umstand,  dasz  es  Sachen  gibt,  welche 
nicht  in  privatrechtlichem  Besitze  oder  Eigenthum  und  doch 
derselben  fähig  sind,  ist  wieder  nur  ein  privatrechtliches, 
nicht  ein  statsrechtliches  Verhältnisz. 

Dem  römischen  Eechte  ist  denn  auch  jene  irrthümliche 
Ansicht  fremd.  An  den  eigentlichen  res  nullius  hatte  der 
Stat  gerade  so  wenig  Eechte  als  jede  andere  Privatperson. 
Wer  immer,  ob  Fremder,  ob  römischer  Bürger,  dieselben 
occupirte,  wurde  durch  die  Occupation  Eigenthümer.2  In  dem 
Mittelalter  dagegen  war  allerdings  die  Vorstellung  der  lehens- 
herrlichen  Oberhoheit  und  die  des  Patrimonialstates  einer  Aus- 
dehnung der  Statsherrschaft  auch  auf  Gegenstände  des  Privat- 
rechtes günstig:  und  in  manchen  neuern  Kechten  hat  sich 
diese  frühere  Anschauung  groszentheils  noch  erhalten. 

Dahin  gehören: 

1.  Das  preuszische  Landrecht,  welches  mit  Bezug 
auf  gewisse  Arten  von  Sachen,  insbesondere  auf  Liegenschaften, 
Erbschaften,  nutzbare  Landthiere,  auf  welche  noch  kein  In- 
dividuum ein  besonderes  Kecht  erlangt  hat,  oder  die  von  ihrem 

2  Gajus,  in  L.  3  pr.  de  Adquir.  rer.  dominio:.  „Quod  enim  nullius 
est,  id  ratione  naturali  occupanti  conceditur."  Vgl.  L.  1.  pr.  eod. 
Klüber,  öffentl.  Recht  des  deutschen  Bundes,  §.  337.  hat  die  Theorie 
aufgestellt,  dasz  die  sogenannten  adespota,  d.  h.  herrenlose  Sachen, 
innerhalb  des  Statsgebiets  nicht  von  Fremden  occupirt  werden  können. 
"Warum  aber  sollte  der  Vogel,  der  einem  Fremden  ins  Zimmer  fliegt  und 
von  diesem  gefangen  wird,  demselben  weniger  gehören  als  einem  Ein- 
heimischen? 


222  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

frühern  Eigenthümer  verlassen  worden,  dem  State  ein  Vorzugs  - 
recht  zur  Occupation  zuschreibt,  in  Folge  dessen  ein  Anderer 
dieselben  nicht  ohne  Einwilligung  des  States  in  Besitz  nehmen 
darf.  An  andern  herrenlosen  Sachen  dagegen  erkennt  auch 
das  preuszische  Landrecht  die  Occupationsfreiheit  an.3 

2.  Das  englische  Kecht  hält  auch  hierin  die  mittel- 
alterliche Vorstellung  noch  strenger  fest,  indem  es  in  der  Regel 
dem  Könige  das  Eigenthum  an  herrenlosen  Sachen  zuschreibt.4 
Nur  ausnahmsweise  erkennt  dasselbe  an  einzelnen  beweg- 
lichen Sachen  ein  freies  Occupationsrecht  an.5 

3.  Das  französische  Eecht  ist  dem  englischen  ähnlich. 
Es  stellt  ganz  allgemein  das  Princip  auf:  „Die  herrenlosen 
Sachen  gehören  dem  State."6 

4.  Das  österreichische  Gesetz  nähert  sich  dagegen  der 
richtigen  römischen  Ansicht.  Es  erkennt  die  umgekehrte  Regel 
an,  dasz  die  herrenlosen  Sachen  (dort  „freistehende  Sachen" 
genannt)  der  freien  „Zueignung"  anheimfallen.7 

Wo  nun  aber  in  den  neuern  Rechten  ein  so  ausgedehntes 
Recht  des  States  noch  vorkommt,  da  ist  dasselbe  doch  nicht 
mehr  als  eine  Folge  der  Gebietshoheit,  sondern  als  eine  An- 
wendung des  aus  statlichen  Rücksichten  und  privatrechtlichen 
Elementen  gemischten  Rechtes  der  Regalität   zu  behandeln. 

Der  negative  Inhalt  der  Gebietshoheit  besteht  in  dem 
Rechte  des  States,  jeden  andern  Stat  oder  überhaupt  jede  andere 
Macht  von  jeder  statlichen  Herrschaft  innerhalb  seines  Gebietes 
und  von  jedem  Uebergriff  in  dasselbe  abzuhalten.  Es  ist  eine 
einfache   Folge    dieses   Grundsatzes,    wenn   der   moderne   Stat 

3  Preusz.  Ldr..II.  16.  §.  1.  ff. 

*  Blackst.  I.  8-  führt  eine  Stelle  von  Bracton  an:  „Haec  quae 
nullius  in  bonis  sunt  et  olim  fuerunt  inventoris  de  jure  naturali,  jara 
efficiuntur  principis  de  jure  gentium." 

*  Blackst.  II.  16.  26. 

6  Code  Civ.  §.  713:    „Les  biens  qui  n'ont  pas  de  maftre  apparfcien- 
nent  a  l'ßtat.     Vgl.  §§.  539.  723.  768. 
'  §.  381  ff. 


Vierundzwanzigstes  Capitel.     Von  der  Gebietshoheit.  223 

nicht  zugibt,  dasz  in  seinem  Lande  ein  fremder  Stat  Gerichts- 
barkeit oder  Polizeigewalt  übe,  nnd  wenn  er  auch  eine  privat- 
rechtliche Begründung  solcher  fremden  Herrschaft  nicht  an- 
erkennt. 

Die  Veräuszerung  endlich  des  Statsgebietes  oder  eines 
Theiles  desselben  in  den  Formen  und  nach  den  Begriffen  des 
Privatrechtes,  wie  dieselbe  im  Mittelalter  ganz  allgemein  von 
den  Landesherren  geübt  wurde,  welche  ihre  Herrschaften  wie 
ihre  Grundstücke  verkauften,  verpfändeten,  oft  auch  vertheilten,8 
ist  hinwieder  mit  dem  öffentlichen  Charakter  der  Gebietshoheit 
nicht  mehr  vereinbar.  Nach  dem  modernen  Statsrechte  ist 
vielmehr  der  Grundsatz  der  Unveräuszerlichkeit  und 
Untheilbarkeit  des  Statsgebietes  als  Kegel9  fest  zu  halten. 
Ausnahmsweise  aber  ist  eine  Veräuszerung  nur  zulässig  in 
öffentlich  rechtlicher  Form,  auf  Grundlage  eines  Ge- 
setzes oder  in  Folge  von  völkerrechtlichen  Verträgen, 
wohin  denn  auch  die  Friedensschlüsse  gehören.10 

Hugo  Grotius  fordert  überdem  nach  natürlichem  Eechte, 
wenn  ein  Theil  des  Statsgebietes  veräuszert  werden  soll,  nicht 
blosz  die  Zustimmung  des  ganzen  Statskörpers ,  sondern 
auch  die  der  Einwohner  dieses  Gebietstheiles:  ein 
gerechtes  Erfordernisz ,  da  es  sich  um  die  ganze  statliche 
Existenz  derselben  handelt  und  sie  durch  die  Gesetzgebung  des 
ganzen  States  unmöglich  in  einem  Momente  genügend  vertreten 
werden,  in  welchem  diese  zur  Auflösung  der  Gemeinschaft 
geneigt  ist.    Aber  die  Noth  der  Umstände  wird  in  den  meisten 

8  Aehnliches  kommt  auch  im  Alterthum,  aber  nur  bei  solchen  Staten 
vor,  deren  Fürst  eine  absolute  Gewalt  über  Land  und  Leute  hatte. 
Vgl.  die  Beispiele  bei  Hugo  Grot.  I.  3,  12. 

9  Franz.  Verf.  v.  1791.  IL  §.  11.  „Le  royaume  est  un  et  indivi- 
sible."  Belege  von  deutschen  Einzelstaten  bei  Zachariä,  Deutsches 
Stats-  und  Bundesr.  L  §.  83. 

10  Preuszische  Verf.  von  1850.  Art.  2.  „Die  Grenzen  dieses  Stats- 
gebiets  können  nur  durch  ein  Gesetz  verändert    wedren." 


224  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Fällen  der  Art  stärker   sein,  als  jener  Grundsatz   des  natür- 
lichen Kechts.11  # 

Beschränkungen  der  Gebietshoheit  zu  Gunsten  anderer 
Staten  (statsrechtliche  Dienstbarkeiten)  können  vor- 
kommen, und  zwar  analog  den  Servituten  des  Privatrechtes. 
Nur  bedürfen  auch  diese  Beschränkungen,  damit  das  Statsrecht 
sie  anerkenne,  einer  statsrechtlichen  oder  völkerrechtlichen  Be- 
gründung im  einzelnen  Fall  und  eines  statsrechtlichen 
Inhalts.  Z.  B.  durch  Statsvertrag  wird  dem  benachbarten 
State  die  freie  Benutzung  einer  Militärstrasze  über  das  Stats- 
gebiet  zugesichert;  oder  eine  Stadt  wird  mit  Eücksicht  auf 
die  Begehren  des  Nachbarstates  als  Freihafen  erklärt;  oder 
die  Ausübung  des  Postregals  wird  an  eine  fremde  Postver- 
waltung überlassen.  In  höherem  Masze  aber,  als  im  Privat- 
rechte zweifelhafte  Fälle  zu  Gunsten  der  Freiheit  des  Eigen- 
thums  interpretirt  werden  und  die  Ausdehnung  der  Servituten 
möglichst  beschränkt  wird,  musz  im  Statsrechte  die  Freiheit 
der  Gebietshoheit  gegenüber  derartigen  Beschränkungen  ge- 
wahrt werden;  denn  die  Harmonie  und  Einheit  des  Stats- 
organismus,  sowie  das  Bedürfnisz  freier  Umgestaltung  der 
statlichen  Einrichtungen,  je  nach  den  Erfordernissen  der  öffent- 
lichen Wohlfahrt,  werden  durch  dauernde  Beschränkungen  und 
Hemmungen  von  auszen  sehr  leicht  in  einer  unerträglichen 
Weise  gestört  und  verletzt.12 

Anmerkungen.  1.  Die  Umwandlung  des  Titels  der  französischen 
Könige  aus  Boi  de  France  in  Moi  des  Francais  in  Folge  der  Revolution 
war  ein  Protest  gegen  die  frühere  Vorstellung,  dasz  Frankreich  ein 
Patrimonium    regis    sei.      Insofern    bezeichnet    sie   einen   Fortschritt    des 

11  Hugo  Grot.  II.  6.  §.  4  ff.  Vgl.  Wiener  Schluszakte  von 
1828,  Art.  6.  „Eine  freiwillige  Abtretung  auf  einem  Bundesgebiete 
haftender  Souveränitäts- Rechte  kann  ohne  Zustimmung  (der  Gesammt- 
heit)  nur  zu  Gunsten  eines  Mit  verbündeten  geschehen." 

12  Schmitthenner,  Statsrecht  S.  409:  „Blosz  privates  Eigenthum 
eines  fremden  States  oder  Souveräns  in  dem  Gebiete  des  States  schlieszt 
keine  Beschränkung  der  Landesgewalt  ein." 


Fünfundzwanzigstes  Capitel,     Eintheilung  des  Landes.  225 

statlichen  Geistes.  Aber  sobald  man  die  Gebietshoheit  in  ihrer  wahren 
Bedeutung  erfaszt  hat,  so  ist  kein  Grund  mehr,  die  Benennung  der  Könige 
von  dem  Lande  oder  Reiche  her  für  bedenklicher  zu  halten  als  die  von 
dem  Volke  her.  Zu  weit  aber  geht  Stahl,  wenn  er  (Statslehre  IL 
S.  38)  der  letzteren  Bezeichnung  vorwirft,  sie  rufe  ein  „Bild  der  Bar- 
barei" hervor.  Die  römischen  Kaiser  und  die  deutschen  Kaiser  haben 
bekanntlich  den  Namen  des  Yolks  dem  des  Landes  in  ihren  Titeln  vor- 
gezogen. Wer  wollte  sie  deszhalb  der  Barbarei  bezichtigen  ?  Die  Be- 
nennung vomYolke  her  ist  sogar  edler  als  die  vom  Lande  her,  weil  das 
Volk  über  dem  Lande  ist. 

2.  Blosze  Grenzberichtigungen  fallen  nicht  unter  den  Begriff 
der  Veräu3zerung  des  Statsgebietes.  Es  wird  durch  dieselben  nicht  ein 
Theil  des  Statsgebietes  entfremdet,  sondern  der  Umfang  des  wirklichen 
Statsgebietes  näher  bestimmt.  Wenn  aber  zum  Behuf  der  Arrondirung 
eines  States  ganze,  zumal  bewohnte  Gebietsstrecken,  welche  unzweifel- 
haft bisher  demselben  zugehörten,  abgetrennt  und  umgetauscht  werden, 
so  ist  das  allerdings  nicht  mehr  eine  blosze  Grenzberichtigung. 


Fünfundzwanzigstes  Capitel. 

Eintheilung  des  Landes. 

Das  Statsgebiet  ist  gewöhnlich  so  umfassend,  dasz  es 
regelmäszig  zum  Behuf  der  politischen  Beherrschung  in  ver- 
schiedene Abtheilungen  getheilt  werden  musz.  Es  lassen  sich 
hier  vier  Hauptarten  unterscheiden: 

1.  Die  Provinzen. 

Die  Provinzen  des  römischen  Eeiches  waren  ursprünglich 
selbständige  Statsgebiete,  welche  aber  der  Herrschaft  des  römi- 
schen States  unterworfen  worden  waren.  Auch  die  neuern  Provin- 
zen erklären  sich  häufig  aus  früherer  Besonderheit  der  später 
zu  einem  gröszeren  Ganzen  vereinigten  Länder.  Zuweilen  sind 
aber  neue  Provinzen  erst  von  dem  State  geschaffen  worden, 
dem  sie  angehören,  und  oft  sind,  wie  im  deutschen  Eeich,  aus 
den  Provinzen  (Herzogthümern)  neue  Länder  geworden. 

Das  Charakteristische  dieser  obersten  Stufe  der  statlichen 
Eintheilung  liegt   immerhin   in  der  relativen  statlichen 

Bluntschli,   allgemeines  Statsrecht.  ■  I.  1  5 


226  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Besonderheit  dieser  Theile.  In  Folge  derselben  haben  sie 
eine  zwar  der  Gesammtre gierung  untergeordnete,  aber  immer- 
hin mit  Kücksicht  auf  die  eigenthümliche  Bedeutung  der  Pro- 
vinz mit  ausgedehnteren  Vollmachten  ausgerüstete  relativ  selb- 
ständige Provinzialregierung.  Ueberdem  haben  dieselben 
in  der  Repräsentativ-Verfassung  zuweilen  selbst  eine  —  freilich 
auf  die  besondern  Interessen  der  Provinz  beschränkte  —  be- 
sondere  Provinzialgesetzgebung,    Provinzialstände. 

Der  moderne  Einheitsstat  ist  dieser  Eintheilung  nicht 
günstig.  In  Frankreich,  in  Spanien  und  in  England,  nun  auch 
in  Preuszen  ist  die  gesetzgeberische  Besonderheit  der  Provinzen 
aufgelöst,  in  Oesterreich  in  den  sogenannten  Kronländern 
vornehmlich  auf  die  Interessen  der  Cultur  und  Wirthschaft  be- 
schränkt worden.  So  grosz  aber  das  Interesse  des  States  an 
voller  und  durchgreifender  Einheit  im  Organismus  ist,  so  zer- 
stört doch  eine  gänzliche  Beseitigung  der  provinziellen  Freiheit 
viele  natürliche  Eigenthümlichkeiten  und  Bedürfnisse,  und  leicht 
verletzt  eine  übertriebene  Uniformität  gesunde  und  fruchtbare 
Theile  des  Volkslebens.  Die  germanischen  Völker  bedürfen 
mehr  als  die  romanischen  zu  ihrer  Befriedigung  auch  der  pro- 
vinziellen Selbständigkeit. 

2.  Die  Kreise. 

Die  Kreise  sind  noch  gröszere  Statsbezirke ;  aber  sie  haben 
doch  nur  die  Bedeutung  von  bloszen  Theilen  des  Stats- 
gebietes.  Sie  haben  nicht  wie  die  Provinzen  einen  Anspruch 
darauf,  zugleich  besondere  Länder  zu  sein.  In  der  alten 
fränkischen  und  deutschen  Reichsverfassung  hatten  die  Herzog- 
thümer  und  Fürstentümer  den  Charakter  von  Provinzen, 
die  Gaue  den  von  Kreisen.  Eben  dahin  sind  die  englischen 
und  nordamerikanischen  Grafschaften,  die  französischen 
Departemente,  die  deutschen  Kreise  und  die  preuszi sehen 
Regierungsbezirke  zu  rechnen. 

Der  wahre  Grund  dieser  Eintheilung  liegt  nicht  in  der 
Eigenthümlichkeit  eines  Landes  oder  eines  Volksstammes,  son- 


Fünfundz  wanzigstes  Capitel.    Eintheilung  de3  Landes.         227 

dern  in  dem  politischen  Bedürfnisse  der  Statsverwaltung 
selbst,  ihre  Thätigkeit  stufenweise  zu  gliedern.  Sie  ist  daher 
vorzugsweise  das  Product  des  Statsorganismus,  obwohl  im  Ein- 
zelnen auch  auf  die  historische  Verbindung  der  Bevölkerung 
eines  Kreises  und  auf  die  natürlichen  Verkehrsbeziehungen  der- 
selben Kücksicht  zu  nehmen  ist.  Lassen  sich  die  Provinzen 
mit  verschiedenen  Häusern  vergleichen,  die  zu  einem  Schlosse 
gehören,  so  sind  die  Kreise  eher  den  verschiedenen  Stockwerken 
eines  Hauses  vergleichbar. 

Den  Kreisen  kommt  gewöhnlich  eine  besondere  Concen- 
tration  der  Verwaltung  und  der  obern  Gerichtsbarkeit 
zu.  Ueberdem  zeigt  sich  in  den  modernen  Staten  die  Neigung, 
die  besonderen  Interessen  des  Kreises  in  demselben  eigen- 
artig zu  pflegen,  die  Interessengemeinschaft  der  Be- 
völkerung zu  organisiren,  und  je  nach  Bedürfnisz  gemeinnütz- 
liche Kreisanstalten  (Straszen,  Magazine,  Krankenhäuser, 
Schulen,  Armenhäuser,  Correctionshäuser)  zu  gründen.  Es 
eröffnet  sich  hier  ein  fruchtbares  Feld  für  die  Selbstverwaltung 
oder  die  Kepräsentativ-Verwaltung  des  Kreises.1 

3.  Die  Bezirke. 

Sie  bilden  regelmäszig  Unterabtheilungen  der  Kreise,  und 
haben  dann  eine  besondere  der  Kreisregierung  untergeordnete 
Verwaltung  und  eine  mittlere  Gerichtsbarkeit.  Auch 
diese  Bezirke  können  als  Körperschaften  anerkannt  sein  und 
ein  eigenes  Vermögen  und  besondere  Bezirksanstalten  haben.2 

Die  alten  Centenen(Huntari)  der  germanischen  Ver- 
fassung, die  Landgerichte  und  Oberamteien  in  Deutsch- 
land, die  Cantone  in  Frankreich  und  die  Kreise  inPreuszen 
nehmen  diese  Stellung  ein. 

x  Vgl.  Vivien  £tud.  ordin.  IL  Cap.  VI. 

2  Vivien  a.  a.  0.  IL  Cap.  3.  Die  französischen  Cantone  haben 
ihre  Hauptbedeutung  auf  dem  Lande,  indem  sie  mehrere  Gemeinden  ver- 
einigen und  dadurch  stärken.  In  den  Städten  fällt  Gemeinde  und  Canton 
zusammen.  Die  arrondissements,  welche  die  Cantone  zusammenfassen, 
haben  nie  eine  rechte  Bedeutung  erlangt. 

15* 


228  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Blosze  Wahlkreise  zum  Behuf e  der  Volksrepräsentation 
gehören  nicht  hieher,  da  sie  nur  für  einen  vorübergehenden 
politischen  Zweck  geschaffen,  nicht  ein  organisches  Glied  im 
Statskörper  sind.  Der  Mangel  an  bleibenden  gemeinsamen 
Institutionen  spricht  übrigens  gegen  die  Zweckmäszigkeit  sol- 
cher unorganischer  Kreise. 

4.  Die  Gemeinden,  sowohl  die  Stadt-  als  die  Land- 
gemeinden mit  ihrem  Bann. 

Sie  siud  die  unterste  Stufe  der  Eintheilung  des  Stats- 
gebietes,  haben  aber  eine  höchst  lebensvolle  Bedeutung,  welche 
eine  gewisse  Analogie  mit  dem  Statsgebiete  selbst  gewährt. 
Wie  das  politisch-organisirte  Volk  zum  Land,  so  verhält  sich 
die  persönliche  (corporative)  Gemeinde  zum  Gemeindebezirk 
(Gemeindebann).  Sie  erfüllt  es  mit  ihrem  gemeinsamen  Leben. 
Freilich  ist  dieses  selbst  nicht  wie  dort  ein  höheres  politisches, 
sondern  zunächst  ein  den  gemeinen  Cultur-  und  Wirthschafts- 
interessen  zugewendetes.  Gröszere  Städte  bilden  zugleich  Be- 
zirke (Cantone),  die  gröszten  Hauptstädte  haben  zugleich  die 
Bedeutung  der  Kreise  (Departements). 

Veränderungen  in  der  politischen  Eintheilung  des  Stats- 
gebietes  sind  Sache  des  Gesetzes.  Der  Stat  hat  in  allen 
Stufen  der  Abtheilung  auch  seine  Gesammtinter essen  und  die 
Harmonie  seines  Organismus  zu  wahren.  Je  höher  aber  die 
Stufe,  um  so  entscheidender  wirken  die  öffentlichen  Interessen, 
um  so  freiere  Hand  hat  der  Stat  in  der  Bestimmung  der 
Grenzen.  Die  tiefste  Stufe  dagegen,  die  Gemeinde,  steht  ihrem 
Zwecke  nach  in  so  vielfältigen  und  engen  Beziehungen  zu  den 
bestehenden  Gemeindecorporationen ,  dasz  hier  der  Wille  auch 
dieser  vorzüglich  in  Betracht  kommt.  Die  Hauptrücksichten, 
welche  der  Stat  bei  seinen  Anordnungen  zu  nehmen  hat,  sind 
a)  die  politische  Zweckmäszigkeit  der  Eintheilung;  b)  die 
natürlichen  Verbindungen  und  Gegensätze,  z.B.  zusammen- 
gehörige Fluszgebiete  oder  Thäler;  c)  die  historischen  Be- 
ziehungen der  Bevölkerung;    d)  ihre  Verkehrsbeziehung, 


Sechsundzwanzigstes  Capitel.  Verhältnisz  d.  Stats  z.  Privateigenthum.  229 

z.  B.  zu  einer  Stadt  als  Centralpunkt.  Untergeordnet  dagegen 
sind  die  blosz  mathematischen  Bücksichten,  die  sich  ab- 
zählen oder  mit  dem  Zirkel  bemessen  lassen. 


Seclisundzwaiizigstes  Capitel. 

Yerhältnisz  des  Stats  zum  Privateigenthum. 

Das  Privateigenthum,  d.  h.  die  Herrschaft  des  In- 
dividuums über  die  Sachen,  ist  so  alt  als  der  Mensch.  Als 
die  ersten  Menschen  die  Früchte  pflückten,  welche  die  Bäume 
ihnen  zur  Nahrung  darboten,  übten  sie  mit  Bewusztsein  Herr- 
schaft aus,  d.  h.  sie  nahmen  dieselben  zu  Eigenthum.  Und 
als  sie  sich  eine  Höhle  wählten,  und  ein  festes,  wenn  auch 
vorübergehendes  Lager  bereiteten,  ergriffen  sie  auch  daran 
Eigenthum.  Als  sie  ihre  Blösze  mit  Zweigen  bedeckten  und 
ein  Thierfell  um  ihren  Leib  warfen,  hatten  sie  wieder  Eigen- 
thum erworben. 

Das  Eigenthum  ist  nicht  erst  durch  den  Stat  er- 
zeugt worden.  Es  ist  in  seiner  ersten,  freilich  unvollkomme- 
nen und  noch  wenig  gesicherten  Gestalt  das  Werk  des  indi- 
viduellen Lebens,  gewissermaszen  die  Erweiterung  des 
leiblichen  Daseins  der  Individuen.  Das  Individuum 
ergreift  Besitz  von  den  Dingen  um  es  her,  die  in  den  Be- 
reich seiner  Herrschaft  fallen,  es  macht  sich  dieselben  dienst- 
bar und  nutzbar,  es  eignet  sich  dieselben  an.  Indem  zum 
Besitz  das  Bewusztsein  der  berechtigten  Herrschaft  der  Person 
über  die  Sache  hinzutritt,  ist  das  Eigenthum  vollendet. 
Auch  der  Nomade,  der  keiner  festen  Statsverbindung  angehört, 
hat  dennoch  Eigenthum  an  seinen  Kleidern,  seinen  Waffen, 
seinen  Heer  den,  seinen  Geräthschaften.  Auch  jener  schiff- 
brüchige Robinson  auf  dem  einsamen  Eilande  erweiterte  sein 
Eigenthum, 


230  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

Der  Communismus,  welcher  die  Kechtmäszigkeit  des 
Privateigentums  läugnet,  und  das  Eigenthum  als  „Diebstahl" ! 
an  der  Gesamnitheit  erklärt,  ist  somit  im  Widerspruch  mil- 
der individuellen  Natur  des  Menschen,  wie  Gott  ihn  geschaffen, 
der  dem  Menschen  „Herrschaft  verliehen  hat  über  die  Fische 
im  Meer  und  über  die  Yögel  unter  dem  Himmel  und  über 
das  Yieh  und  über  die  ganze  Erde"  (1.  Mose  1,  26).  Er  ist 
ebenso  im  Widerspruch  mit  der  ganzen  Geschichte  der  Mensch- 
heit, welche  unter  allen  Völkern  und  in  allen  Zeiten  das 
Eigenthum  anerkennt,  und  in  ihrer  Entwicklung  unverkennbar 
bemüht  ist,  das  Eigenthum  möglichst  vollkommen  auszubilden. 

Die  Aufhebung  des  Eigentimms  im  Sinne  der  Commu- 
nisten  würde  den  Untergang  jeglicher  individuellen  Freiheit, 
die  Zerstörung  der  Cultur,  die  Auflösung  der  Familie,  mit 
Einem  Worte  eine  Barbarei  zur  Folge  haben,  wie  sie  selbst 
in  den  rohesten  Zuständen  der  menschlichen  Gesellschaft  nie 
da  gewesen  ist. 2 

Scheinbar  gemäszigter  und  humaner  ist  die  Lehre  der 
Socialisten,  aber  ebenso  verkehrt  und  minder  noch  conse- 
quent.  Als  Vertreter  dieser  Ansicht  mag  Fröbel  gelten, 
welcher  das  Eigenthum  nur  als  „Lehen  der  Statsgesellschaft 
in  der  Hand  seines  Besitzers"  gelten  lassen  will  und  das 
Recht  der  Individuen  nur  als  „eine  Folge  eines  Gesammt- 
willens  anerkennt  von  Vielen,  die  eine  souveräne  Gesellschaft 
bilden."3  Diese  Lehre  miszkennt  die  individuelle  Natur  und 
Freiheit  des  Menschen  nicht  minder  als  der  Communismus; 
und  indem  sie  blosz  von  abgeleitetem  und  vorübergehendem 
Besitze  weisz,  bietet  sie  uns  das  übertriebene  Zerrbild  des 
mittelalterlichen   Lehenswesens    als   Ersatz    an    für   das   freie 


1  Proudhon,  „La  propriete  c'est  le  vol.u 

2  Vgl.  Thiers  De  la  propriete  Liv.  IL,  der  vortrefflich  in  der  Kritik 
der  communistischen  und  socialistischen  Systeme,  aber  nicht  glücklich  in 
der  philosophischen  Herleitung  des  Eigenthumsbegriffes  (aus  der  Arbeit)  ist. 

3  Fröbel,  sociale  Politik  II.    S.  392  u.  400. 


Sechsundzwanzigstes  Capitel.  Yerhältnisz  d.  Stats  z,  Privateigenthum.    231 

Eigenthum,  welches  eine  höhere  Gesittung  glücklich  errungen 
hat.  Es  ist  das  die  nämliche,  nur  mit  demokratischen  Phra- 
sen umhängte  Theorie  der  Knechtschaft,  welche  in  den  dun- 
kelsten Zeiten  der  Geschichte  eine  niederträchtige  Schmeichelei 
willkürlichen  Despoten  gelehrt  hatte. 

Dem  State  kommt  somit  keineswegs  absolute  Verfügung 
zu  über  das  Privateigenthum.  Vielmehr  liegt  dieses  als  Privat- 
recht zunächst  auszerhalb  der  Sphäre  des  Statsrechtes.  Der 
Stat  schafft  das  Eigenthum  nicht  und  erhält  es  nicht,  er  darf 
es  daher  auch  nicht  nehmen.  Er  schützt  es,  wie  er  überhaupt 
alle  individuellen  Kechte  schützt.  Die  beiden  Hauptgrundsätze 
über  das  Verhältnisz  des  States  zum  Privateigenthum  sind 
demnach : 

1.  Der  Stat  gewährleistet  dieFreiheit  und  Sicher- 
heit des  Eigenthums.4 

2.  Dem  State  kommt  keine  willkürliche  Dispo- 
sition zu  über  das  Eigenthum. 

Die  Freiheit  des  Privateigenthums  erleidet  aber  einige 
Beschränkungen  unter  Voraussetzungen,  welche  zugleich 
das  Kecht  des  States  erweitern: 

1.  Aus  der  Natur  der  Sachen  selbst  ergeben  sich 
solche. 

Gewisse  Sachen  nämlich  sind  um  ihrer  natürlichen  Be- 
schaffenheit willen  dem  ausschlieszlichen  Privatbesitz  und 
Privateigenthum  entrückt  und  dem  gemeinen  öffentlichen  Ge- 
brauche hingegeben.  Oeff entliche  Sachen  (res  publicae). 
So  die  öffentlichen  Flüsse,  Seehäfen,  Straszen.* 

*  Eine  Reihe  von  Verfassungen  sprechen  diesen  Satz  ausdrücklich 
aus.  Schon  die  Magna  Charta  König  Heinrichs  III.  von  England  von 
1225  enthält  mehrere  Einzelbestimmungen  der  Art.  Auch  die  republi- 
kanische Verfassung  von  Frankreich  von  1848.  A.  11.  enthält  wie  die 
Charte  von  1814  (8)  den  Satz:  „Toutes  les  proprietes  sont  inviolables;  " 
ebenso  die  preuszische  Verfassung  von  1850.  Art.  9:  „Das  Eigenthum 
ist  unverletzlich." 

5  Marcianus  in  L.  4.  §.  1.  de  div.  Rer.:    „Flumina  paene  omnia  et 


232  Zweites  Buch.     Yolk  und  Land. 

Andere  Sachen  sind  zwar  ihrer  Natur  nach  fähig  des 
Privateigentums ,  aber  im  Sinne  des  modernen  Eechtes,  weil 
sie  immerhin  eine  nähere  Beziehung  auf  die  allgemeine  Wohl- 
fahrt haben,  oder  weil  ihre  Ausbeutung  eine  über  die  Schran- 
ken des  gewöhnlichen  und  theilbaren  Privateigenthuins  hinaus- 
reichende umfassende  Wirthschaft  erfordert,  dem  höheren  Eechte 
des  States  unterworfen.  Dahin  gehören  insbesondere  Berg- 
werke, Salinen  und  ähnliche  Regale. 

2.  In  Folge  der  (politischen)  Oberherrschaft  des  States 
über  Land  und  Leute,  und  aus  seiner  Verpflichtung,  auch 
das  Nebeneinanderbestehen  und  das  Nacheinander- 
bestehen  der  Individuen  zu  schützen.  Dahin  gehören  die 
Besteuerung  und  die  sämmtlichen  polizeilichen  Be- 
schränkungen des  Privateigenthums. 

3.  In  Folge  des  Rechtes  der  Enteignung  (expropriatio). 
Gewöhnlich  nimmt   man  an,    das  Recht  der  Enteignung 

sei  von  den  Römern  nicht  anerkannt,  vielmehr  die  Freiheit 
des  Eigenthums  auch  dann  unbedingt  geschützt  worden,  wenn 
der  Stat  der  Abtretung  im  Interesse  allgemein  nützlicher  Un- 
ternehmungen bedurft  habe.  Indessen  steht  nur  so  viel  fest, 
dasz  die  Römer  kein  allgemeines  Abtretungsrecht  zuge- 
lassen haben.  Ihre  groszen  Canäle,  ihre  in  gerader  Richtung 
durchgeführten    Heerstraszen ,   ihre    Wasserleitungen   und   Be- 

portus  publica  sunt."  Ulpianus  in  L.  1.  §.  3,  eod.  „Publicum  flumen 
esse  Cassius  definit,  quod  inrenne  sit.a  Enger  ist  der  Begriff  des  öffent- 
lichen Flusses  nach  dem  Code  Napöl.  §.  538:  „Les  chemins,  routes  et 
rues  h  la  charge  de  l'J^tat,  les  fleuves  et  rivieres  navigablcs  ou  flottablcs, 
les  rivages,  lais  et  relais  de  la  mer,  les  ports ,  les  havres,  les  rades ,  et 
generalement  toutes  les  portions  du  territoire  frangais  qui  ne  sont  pas 
susceptibles  d'une  propriete  privee,  sont  consideres  comme  des  depen- 
dances  du  domaine  public."  Der  Sachsenspiegel  II.  28.  §.4  scheint 
ebenfalls  nur  stromartige  Flüsse  für  öffentliche  zu  halten:  „Svelk  water 
strames  vlüt,  dat  is  gemene  to  varene  unde  to  vischene  inne.w  Das 
preuszische  Landrecht  II.  15.  §.  38,42.  beschränkt  den  Begriff  sogar 
auf  „schiffbare14  Flüsse  und  weisz  auch  von  flöszbaren  Privatflüssen. 
Aehnlich  das  österr.  Ges.  §.407. 


Sechsundzwanzigstes  Capitel.  Verhältnisz  d.  Stats  z.  Privateigenthum.   233 

festigungswerke  aber  wären  unerklärbar,  hätte  nicht  der  Stat 
im  einzelnen  Falle  die  Macht  besessen,  die  Grundeigentümer 
zur  Abtretung  zu  nöthigen.  Wahrscheinlich  verfuhren  die 
Kömer,  wenn  solche  Bedürfnisse  vorlagen,  ähnlich,  wie  bis  auf 
die  neueste  Zeit  die  Engländer,  d.  h.  sie  erlieszen  ein  Spe- 
cialgesetz für  den  besondern  Fall.  Auch  gegenwärtig  noch 
bedarf  es,  wie  in  frühern  Zeiten,  in  England  einer  Parla- 
mentsacte,  wenn  die  Eigenthümer  zum  Bedarf  einer  öffent- 
lichen Unternehmung  angehalten  werden  sollen,  ihr  Eigenthum 
abzutreten. 6 

Auf  dem  Continente  dagegen  ist  das  Eecht  der  Enteig- 
nung gewöhnlich  in  neuerer  Zeit  allgemein  anerkannt  und 
regulirt  worden.  Viele  neuere  Verfassungen  enthalten  das 
Princip,  dasz  der  Stat  berechtigt  sei,  aus  Gründen  der  öffent- 
lichen Wohlfahrt  und  gegen  volle  Entschädigung  die  Abtre- 
tung des  Eigenthums  zu  erzwingen.7 

Dieses  Princip  wird  vollständig  durch  die  Erwägung  ge- 
rechtfertigt, dasz  im  Conflicte  bloszer  individueller  Privatrechte 
und  allgemeiner  öffentlicher  Rechte   den  letztern   der  Vorzug, 

6  Vgl.  Blacks  tone,  I.  1.  und  eine  Reihe  neuerer  Gesetze  über 
Canäle  und  Eisenbahnen.  Beispiele  in  dem  „Neuesten  Expropriations- 
codex".    Nürnberg  1837. 

7  Bayerisches  Landrecht  von  1756  IV.  3.  §.  2.  Preuszisches 
Landrecht  I.  2.  §.  4.  7.  Code  Nap.  §.  545:  „Nul  ne  peut  etre  con- 
traint de  ceder  sa  propriete,  si  se  n'est  pour  cause  d'utilite  publique, 
et  moyennant  une  juste  et  prealable  indemnite."  Oesterr.  Gesetzb. 
§.  365.:  „Wenn  es  das  allgemeine  Beste  erheischt,  musz  ein  Mitglied  des 
States  gegen  eine  angemessene  Schadloshaltung  selbst  das  vollständige 
Eigenthum  einer  Sache  abtreten."  Verfassung  von  Frankreich  v.  1848. 
§.  11.  gleichlautend  mit  der  Charte  von  1814.  §.  9.  und  dem  Code;  von 
Belgien  1831.  §.  11,  von  Neapel  1848.  §.26.  ebenso  Oesterr.  Verf. 
von  1849.  §.  29,  ähnlich  der  obigen  Bestimmung  des  Gesetzbuchs. 
Preuszische  Verfassung  von  1850.  A.  9:  „Das  Eigenthum  ist  unver- 
letzlich. Es  kann  nur  aus  Gründen  des  öffentlichen  Wohles  gegen  vor- 
gängige, in  dringenden  Fällen  wenigstens  vorläufig  fest- 
zustellende Entschädigung  nach  Maszgabe  des  Gesetzes  entzogen  oder 
beschränkt  werden," 


234  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

aber  nicht  in  weiterem  Umfange  gebührt,  als  die  Lösung  des 
Conflictes  es  erheischt.  Das  öffentliche  Interesse  wird  durch 
das  Kecht  des  States  auf  Abtretung,  das  individuelle  Inter- 
esse durch  das  Eecht  des  Privaten  auf  volle  Entschädigung 
gewahrt. 

Die  Ermittlung  des  öffentlichen  Interesses  im  einzelnen 
Falle,  d.  h.  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  ein  öffent- 
liches Bedürfnisz  die  Abtretung  erheische,  gehört 
ihrer  Natur  nach  dem  öffentlichen  Kechte  an,  und  ist 
somit  nicht  von  den  Civilgerichten  zu  entscheiden,  sondern  von 
den  Organen  der  eigentlichen  Statsgewalt,  sei  es  nun,  dasz  der 
Gesetzgeber  selbst,  wie  in  England  und  Nordamerika,  das  Un- 
ternehmen für  nöthig  erklärt,  oder  dasz  die  Verwaltungsbehörden, 
wie  in  Deutschland  gewöhnlich,  diese  Competenz  haben.  Die 
letztere  Yerfahrungsweise  ist  im  Princip  richtiger ;  denn  Sache 
der  Eegierung  ist  es,  im  einzelnen  Falle  das  anzuordnen,  was 
das  öffentliche  Wohl  erfordert,  und  in  höherem  Masze  kommt 
auch  die  Fähigkeit  ihr  zu,  die  Zweckmäszigkeit  der  Mittel  zu 
beurtheilen.  Nur  allerdings  müssen  die  Formen  des  Verfahrens 
Garantien  dafür  bieten,  dasz  nicht  blosze  Willkür  und  Laune 
einen  Eingriff  in  das  Privatrecht  veranlassen.8 

Das  Kecht  auf  Zwangsabtretung  gebührt  zunächst  nur  dem 
State,  und  für  den  engern  1\reis  der  öffentlichen  Gemeinde- 
interessen der  Gemeinde,  nicht  aber  Privatpersonen.  In- 
dessen kann  der  Stat,  sowie  er  die  Ausführung  einzelner  Unter- 
nehmungen in  öffentlichem  Interesse  an  Privatpersonen  über- 
läszt,  diesen  —  einzelnen  Individuen  oder  Gesellschaften  — 
ausnahmsweise  auch  die  Befugnisz  einräumen,  für  diesen  beson- 
deren Zweck  die  Abtretung  zu  verlangen.  Selbst  in  England 
und  Nordamerika  ist  diese  Uebertragung  des  Kechts  auf  Ab- 
tretung  häufig  von   dem    gesetzgebenden    Körper    an    Actien- 

8  Bayerisches  Gesetz  v.  1837.  Vgl.  Treichler,  über  die  Zwangs- 
abtretung in  der  Zeitschrift  für  deutsches  Recht  von  Beseler,  Rey- 
scher  und  Wilda.     Bd    XII.  H.  1. 


Sechsundzwanzigstes  Capitel.  Verhältnisz  d.  Stats  z.  Privateigen thum.    235 

gesellschaften,  z.  B.  für  Erbauung  von  Eisenbahnen,  zugestan- 
den worden. 

Viele  Gesetzgebungen  beschränken  die  Abtretungspflicht 
theils  auf  Liegenschaften,  theils  auf  bestimmte  einzeln  be- 
nannte Zwecke.  Das  Princip  in  seiner  Eeinheit  aber  wider- 
streitet diesen  Beschränkungen,  indem  ganz  die  nämlichen 
Gründe,  welche  diese  engere  Anwendung  rechtfertigen,  auch 
auf  fahrendes  Gut  oder  andere  Vermögensrechte  und  auf 
Zwecke  passen,  welche  erst  nach  der  gesetzlichen  Aufzählung 
durch  neue  Erfindungen  und  erweiterte  Culturbedürfnisse  sich 
ergeben. 

Die  Frage  dagegen,  wie  hoch  die  Entschädigung  zu  be- 
stimmen sei,  welche  dem  Abtretungspflichtigen  zukomme,  ist 
von  durchaus  privatrechtlicher  Natur,  somit  auch,  wenn 
sie  nicht  durch  freien  Vertrag  zur  Erledigung  gelangt,  auf  dem 
Wege  des  Civilprocesses  zum  Entscheide  zu  bringen.  Der 
Stat  ist  immerhin  zu  voller  Entschädigung  verpflichtet.  Dem 
Privaten  darf  kein  Schaden  zugemuthet  werden,  welcher  ihn 
allein  betrifft.  Demgemäsz  ist  nicht  blosz  der  gemeine 
Verkaufswerth,  sondern  es  ist  auch  der  besondere 
Mehrwerth,  welchen  die  Sache  für  den  zur  Abtretung  ge- 
zwungenen Eigenthümer  hat,  diesem  zu  ersetzen,  nicht  blosz 
das  unmittelbare,  sondern  auch  das  mittelbare  Interesse.  Da- 
gegen ein  blosz  eingebildeter  Mehrwerth,  der  über  den 
wirklichen  hinaus  reicht,  also  insbesondere  auch  der  blosze 
Affectionswerth,  den  der  Eigenthümer  der  Sache  beilegt  oder 
beizulegen  vorgibt,  braucht  nicht  vergütet  zu  werden. 

Einzelne  Kechte  lassen  bei  Berechnung  zwar  nicht  des 
unmittelbaren  Schadens,  der  jedenfalls  vergütet  werden  musz, 
wohl  aber  des  mittelbaren  Schadens,  den  der  Eigenthümer  er- 
leidet, als  Gegenwerth  den  mittelbaren  Vortheil,  den  er  aus 
dem  unternehmen  gewinnt,    in  Abzug  bringen.9    Andere  da- 

9  Franz  ös.  Gesetz  von  1841.   Art.  51.   Zürcher  Gesetz  von  1838. 
§,  7.:    „Bei  Berechnung   des   mittelbaren  Schadens   für   das   übrige   Yer- 


236  Zweites  Buch.     Volk  und  Land. 

gegen  lassen  keinerlei  Compensation  der  Vortheile  zu,  welche 
aus  dem  Unternehmen  dem  Abtretungspflichtigen  erwachsen.10 
In  der  Beschränkung,  wie  sie  das  Zürchergesetz  formulirt.  ist 
die  erstere  Meinung  doch  wohl  die  richtigere,  weil  sie  den 
wirklichen  Werth-  und  Sehadensverhältnissen  genauer  entspricht. 

mögen  des  Betheiligten  ist  der  allfällige  Vortheü,  welcher  demselben  auf 
der  Unternehmung  erwächst,  in  billige  Berücksichtigung  zu  ziehen." 
Z.  B  Ein  Garten  wird  durch  die  Strasze  durchschnitten.  Die  eine  zu- 
rückbleibende Seite  verliert  als  Garten  an  Werth,  aber  gewinnt  als  Bau- 
platz mehr  an  AVerth,  als  sie  in  ersterer  Eigenschaft  verloren  hat.  Hier 
wäre  es  unbillig,  müszte  der  Stat  auch  jenen  Verlust  ersetzen. 
10  Bayer.  Ges.  v.  1837.  6. 


Dritte  $itdj- 

Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des 

States. 


Erstes  Capitel. 

Einleitung. 

Die  Wissenschaft  der  Geschichte  hat  die  Erzeugung  des 
ersten  States  noch  nicht  beobachtet  und  uns  keinen  Bericht 
darüber  hinterlassen.  Sie  ist  erst  zu  einigem  Bewusztsein 
gelaugt,  als  es  schon  mancherlei  Staten  auf  der  Erde  gab. 
Selbst  die  uralten  heiligen  Bücher  der  Juden,  welche  uns  über 
die  erste  Entstehung  des  jüdischen  States  ein  Zeugnisz  geben, 
setzen  doch  den  altern  ägyptischen  voraus,  ohne  uns  von  dessen 
Geburt  zu  berichten.  Und  dem  ägyptischen  Stat  hat  vielleicht 
der  indische  als  Vorbild  gedient,  dessen  erste  Pflanzung  auch 
die  heiligen  Schriften  der  Indier  nicht  beleuchten. 

Wohl  aber  hat  die  Geschichte  seither  den  Anfang  und  das 
Ende  sehr  vieler  Staten  beobachtet,  und  ertheilt  uns  so  einen 
viel  reichhaltigeren  Aufschlusz  über  die  Gründung  und  den 
Untergang  der  Staten,  als  die  blosze  Speculation,  die  man 
gewöhnlich  allein  zu  Rathe  zieht.  Die  Staten  des  Alterthums 
sind  in  Europa  alle,  in  Asien  fast  alle  schon  seit  Jahrhunderten 
verstorben;  die  Geburt  der  meisten  gegenwärtig  bestehenden 


238    Drittes  Buch.    Yon  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

Staten  fällt  in  eine  historisch  bekannte  Zeit.  Manche  dersel- 
ben sind  noch  von  sehr  jungem  Alter.  Die  Vorbedingungen 
ihrer  Entstehung,  und  die  Momente,  durch  deren  Einwirkung 
sie  geworden,  sind  unserm  Blicke  keineswegs  verborgen,  wenn 
uns  schon,  wie  in  aller  geistigen  und  physischen  Schöpfung, 
die  schöpferische  Kraft  selbst  wie  durch  ein  göttliches  Geheim- 
nisz  verhüllt  bleibt. 

Die  Art  des  Ursprungs  eines  States  ist  aber  nicht  blosz 
ein  Phänomen  von  groszem  psychologischem  und  historischem 
Interesse.  Sie  übt  auch  einen  fortwährenden  Einflusz  aus  auf 
das  ganze  übrige  Leben  des  States,  und  bestimmt  groszen- 
theils  auch  sein  Verhältnisz  zu  andern  Staten. ■ 

Daher  hat  es  für  das  Statsrecht  noch  mehr  Interesse, 
die  verschiedenen  Entstehungsformen  der  Staten  zu  betrachten, 
als  für  das  Privatrecht  die  mancherlei  Formen  des  Eigen- 
thumserwerbs,  obwohl  die  Neuem  die  erstere  Lehre  fast  ganz 
vernachlässigt,  die  letztere  aber  fortwährend  sorgfältig  behan- 
delt haben.  Wir  können  auch  dort  ursprüngliche  (origi- 
näre) Entstehungsformen  von  abgeleiteten  (derivativen) 
unterscheiden;  je  nachdem  die  Statenbildung  in  dem  Volke 
selbst,  welches  zum  State  geeinigt  und  erhoben  wird,  ihren 
Ursprung  nimmt,  im  Gegensatze  zu  den  neuen  Staten,  welche 
ihre  Existenz  von  einem  anderen  State  ableiten. 

Immerhin  aber  darf  die  neue  Statenbildung,  von 
welcher  hier  allein  die  Kede  ist,  nicht  verwechselt  werden  mit 
bloszen  Verfassungsänderungen  eines  States,  ein  Unter- 
schied auf  den  schon  Bodin2  mit  Recht  aufmerksam  gemacht 

1  Tocqueville,  de  la  democratie  en  Amerique.  I.  S.  46:  „Les  peupleg 
3e  ressentent  toujours  de  leur  origine.  Les  circonstances  qui  ont  accom- 
pagne  leur  naissance  et  servi  a  leur  developpement  influent  sur  tout  le 
reste  de  leur  carriere.41 

2  Bodinus,  De  Republica.  IY.  c.  1.  Die  letztern  nennt  er  „conver- 
siones."  „Conversionem  civitatis  appello,  cum  Status  ipsius  convertitur 
ac  omnino  mutatur;  id  autem  fit,  cum  imperium  populäre  ad  unum  aut 
paucorum  potestas  ad  omnes  cives  defertur  contraque." 


Zweites  Capitel.     Ursprüngliche  Entstehungsformen.  239 

hat.  Durch  die  Umgestaltung  des  alt-römischen  Königthums 
in  die  Kepublik  kam  nicht  ein  neuer  Stat  ins  Dasein,  so  wenig 
als  durch  die  Abschaffung  der  republikanischen  Statsform  und 
die  Einführung  des  Kaiserthums.  Diese  Wandlungen  in  der 
Begierungsform  bezeichnen  verschiedene  Lebensperioden  und 
Zustände  desselben  States,  sie  sind  nicht  die  Anfänge  ver- 
schiedener Staten. 


Zweites  Capitel. 

Ursprüngliche  Entstehungsformen. 

I.  Die  originärste  Statenbildung  unter  all  den 
mannichfaltigen  Entstehungsformen  ist  in  der  Sage  von  der 
Gründung  Borns  dargestellt.  Alles  ist  hier  neu,  sowohl  das 
Volk,  welches  sich  aus  mancherlei  Bruchstücken  verschiedener 
Volksstämme  um  gemeinsame  Häuptlinge  her  einigt  und  zum 
römischen  Volke  wird,  als  das  unwirthliche  und  herrenlose 
Land,  welches  in  Besitz  genommen  und  zu  dem  Boden  der 
ewigen  Stadt  bestimmt  wird.  In  dieser  Sage  liegt  der  Ge- 
danke einer  von  Grund  aus  neuen  Schöpfung.  Die  Orga- 
nisation der  Menschenmenge  zu  einem  statlichen  Volke  geht 
der  Festsetzung  auf  einem  Statsgebiete  nicht  eine  Weile  vor- 
her, die  Beziehung  auf  die  Stadt  ist  ebenfalls  ursprünglich. 
Beide  Momente  treffen  so  in  Eins  zusammen,  und  die  neue 
Statengründung  wird  sofort  durch  die  erbetene  Gutheiszung 
der  Götter  geheiligt,  und  durch  das  von  dem  neuen  Könige 
dem  geordneten  Volke  gegebene  und  von  diesem  gebilligte 
Gesetz  statsrechtlich  befestigt.  Der  schöpferische  Geist  des 
Königs  und  der  statliche  Wille  des  Volks  begegnen  sich  in  dem 
Statsgesetz  als  in  einem  einheitlichen  Constituirungsact,1 

1  Leo,  Weltgesch.  1.393.  bezeichnet  den  „Vertrag"  als  das  charak- 
teristische Moment   der  Gründung  Roms,   und   in  der  That   erinnert  die 


240    Drittes  Buch.  Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

und  der  Stat  ist  da  als  das  freie  Werk  des  bewuszten 
Volkswillens. 

Ob  diese  Form  eines  schöpferischen  Statsactes,  wie 
wir  sie  nennen  können,  jemals  wirklich  vorgekommen  sei,  mag 
immerhin  bezweifelt  werden.  Jedenfalls  entspricht  sie  der 
'Statsidee,  welche  gewissermaszen  in  ihr  vollendet,  wie  die 
Athene  aus  dem  Haupte  des  Zeus,  in  das  Leben  übertritt,  am 
vollkommensten. 

IL  Das  Land  ist  vorher  da,  aber  in  dem  Lande  gelangt 
später  erst  das  Volk  zu  dem  Bewusztsein  einer  statlichen 
Zusammengehörigkeit.  Hier  liegt  das  statenbildende  Moment 
in  der  Volksorganisation.  Auch  dafür  finden  wir  in  der 
alten  Sage  ein  berühmtes  Vorbild.  Die  Athener  gelten  als 
Kinder  des  attischen  Landes  (Autochthonen),  welches  sie  Jahr- 
hunderte lang  bebauten,  bevor  der  Stat  Athen  gegründet 
wurde.  Mag  man  nun  die  Entstehung  dieses  States  von  Kekrops 
herleiten,  der  zuerst  unter  den  noch  rohen  Landeseingebornen 
die  Verehrung  der  Götter,  ein  gesittetes  Familienrecht ,  den 
Ackerbau  und  die  Pflanzung  des  Oelbaums  eingeführt,  das  ge- 
sammte  Volk  in  kastenartige  Stämme  geordnet  und  Kegierung 
und  Gericht  eingesetzt  habe,  oder  mag  man  dieselbe  erst  dem 
Könige  Theseus  zuschreiben,  welcher  die  zerstreuten  Gemeinden 
des  Landes  zu  einem  einheitlichen  Gemeinwesen  verbunden  und 
die  Leitung  desselben  in  Athen  concentrirt  habe : 2  unter  beiden 
Voraussetzungen  liegt  in  der  Organisation  des  Volks,  welchem 
das  Land  gehörte,  die  Verwirklichung  des  States. 

alte  Form  der  römischen  Gesetzgebung  an  die  gewöhnliche  Form  der 
obligatorischen  Verträge ,  an  die  stipulatio.  Dessen  ungeachtet  ist  da3 
römische  Gesetz,  wenn  man  auf  das  Wesen  sieht,  kein  Vertrag  zweier 
selbständigen  Personen,  sondern  ein  einheitlicher  Akt  des  römischen 
Volks. 

2  Die  Athener  nannten  diese  Concentration  der  Gemeinden  zum 
State  ^vvoUitt,  Vgl.  darüber  die  lehrreiche  Abhandlung  von  "W.  Vi  seh  er: 
Ueber  die  Bildung  von  Staten  und  Bünden  im  alten  Griechenland.  Basel 
1849. 


Zweites  Capitel.     Ursprüngliche  Entstehungsformen.  241 

Eine  historisch  genau  beobachtete 3  Anwendung  dieser 
Statenbildung  durch  Volksorganisation  in  einem  bestimmten 
Lande  ist  die  Gründung  der  Bepublik  Island  im  Jahr  930 
n.  Ch.  Zuvor  gab  es  nur  vereinzelte  Niederlassungen  der  zahl- 
reichen Häuptlinge  (Goden)  auf  der  Insel,  unverbundene  Herr- 
schaften selbständiger  Godorde  mit  ihren  Tempeln  und  Ding- 
stätten. Damals  aber  wurde  auf  den  Antrag  Ulfljots  mit  Zu- 
stimmung der  Goden  ein  für  die  ganze  Bevölkerung  der  Insel 
gemeinsames  Allding  beschlossen  und  so  für  die  Gesetzgebung 
und  Kechtspflege  ein  Gesammtorgan  geschaffen,  dem  alle  Godorde 
untergeordnet  waren.  Damit  aber  hatte  sich  die  Bevölkerung 
der  Insel  zu  einem  statlichen  Volke  constituirt. 

Auch  die  Gründung  des  States  Kalifornien,  die  vor 
den  Augen  der  mit  uns  Lebenden  vollzogen  worden  ist,  er- 
scheint als  freie  Constituirung  eines  neuen  Volkes  auf  einem 
den  vereinigten  Staten  von  Nordamerika  zugehörigen  Gebiete. 
Der  Hunger  nach  Gold  hatte  aus  aller  Welt  eine  unverbun- 
dene Menge  verschiedener  Individuen  zusammen  getrieben,  und 
diese  wählten  am  1.  September  1849  Abgeordnete  zu  einem 
Verfassungsrathe  und  schon  am  13.  October  lag  die  Ver- 
fassungsurkunde des  neuen  States  dem  neuen  Volke  zur  Ge- 
nehmigung vor.  Es  ist  schwerlich  ein  Beispiel  in  der  Ge- 
schichte zu  finden,  welches  leichter  für  die  Möglichkeit  einer 
Statenbildung  durch  freie  Uebereinkunft  der  betheiligten  Indi- 
viduen gedeutet  werden  kann,  als  dieses:  und  dennoch  kann 
es  einer  genaueren  Betrachtung  dieses  Falles  nicht  verborgen 
bleiben,  dasz  auch  da  nicht  der  Vertrag  aller  Individuen4, 
sondern  der  Beschlusz  und  Wille  der  Mehrheit  den  Entscheid 
gab  und  dasz   die  Einheit  der  Gemeinschaft  als  noth- 

3  Vgl.  Maurer  Beiträge  zur  Rechtsgesch,  des  germ.  Norden.  1852. 
Heft  1. 

4  R.  v.  Mohl  hat  in  der  Zeitschr.  v.  Mittermai  er  für  ausländ. 
Rechtswiss.  XXVII»  5.  294.  dieses  Beispiel  näher  ausgeführt  und  für  die 
Theorie  des  Contrat  social  benutzt. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I,  Iß 


242    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

wendig  vorausgesetzt  wurde.  Nicht  der  Einzelwille  der  Indi- 
viduen, der  Gesammtwille  der  ganzen  Bevölkerung  schuf  die 
Verfassung. 

III.  Weit  häufiger  kommt  es  vor,  dasz  die  Bildung  eines 
Volkes  vorhergeht,  und  die  Besitznahme  des  Landes 
als  des  zweiten  zum  Dasein  eines  States  unentbehrlichen  Ele- 
mentes nachfolgt.  Wir  können  diese  Form  die  Landnahme 
heiszen. 

Sie  kann  zunächst  als  Eroberung  eines  bewohnten  Lan- 
des sich  darstellen.  Diese  Form  von  Statenbildung  ist  sehr 
häufig  zur  Anwendung  gekommen.  Die  erste  jüdische,  ein 
bedeutender  Theil  der  griechischen  (der  dorischen)  und 
die  ganze  Statenbildung  der  germanischen  Völker  auf 
römischem  Provincialboden  und  in  slavischen  Ländern  tragen 
diesen  Charakter.  In  ihr  stellt  sich  die  kriegerische 
Ueber macht  eines  Volkes  über  die  Einwohner  des  eroberten 
Landes  dar,  und  wie  der  Krieg  nach  der  einen  Seite  hin  zer- 
störend wirkt,  so  offenbart  sich  auf  der  andern  Seite  in  ihm  eine 
positive  gewissermaszen  Staten  zeugende  Kraft.  Die  statlichen 
Eigenschaften  der  Unterordnung  und  männlichen  Herrschaft 
werden  im  Kriege  gesteigert,  und  so  das  siegreiche  Volk  zur 
Gründung  eines  neuen  States  in  dem  unterworfenen  Lande  vor- 
züglich befähigt. 

Die  so  entstandenen  Staten  haben  in  den  ersten  Zeiten 
ihres  Daseins,  abgesehen  von  den  äuszern  Verhältnissen,  grosze 
innere  Schwierigkeiten  zu  überwinden.  Auch  wenn  der  Kampf 
der  Waffen  nicht  erneuert  wird,  so  beginnt  doch  gewöhnlich 
ein  innerer  Geistes-  und  Culturkampf  zwischen  dem  erobernden 
und  dem  unterworfenen  Volke,  und  dauert  fort  bis  die  völlige 
politische  Einheit  der  gemischten  Nation  vollzogen  ist.  Um 
vor  dieser  Gefahr  sein  neu  organisirtes  Volk  zu  bewahren, 
hatte  Moses  den  Juden  zur  Pflicht  gemacht,  dasz  sie  die  Ein- 
wohner des  heiligen  Landes,  das  ihnen  Jehovah  verleihen 
werde,  mit  Feuer  und  Schwert  vertilgen  sollen.    Dieser  Gefahr 


Zweites  Capitel.     Ursprüngliche  Entstehungsformen.  243 

sind  auch  manche  siegreiche  Völker  erlegen,  indem  die  höhere 
Cultur  der  Besiegten  dieselben  in  kurzem  wieder  unterwarf. 

Von  jeher  ist  die  Eroberung,  obwohl  in  Form  der  Gewalt 
auftretend,  als  eine  Quelle  des  statlichen  Eechtes  unter  allen 
Völkern  angesehen  worden,  und  das  Wort  Alexanders  des 
Groszen,5  dasz  der  Sieger  das  Gesetz  gebe,  der  Besiegte  es 
annehme,  gilt  noch  in  unsern  Tagen.  Selbst  Christus  hat  das 
Becht  der  Eroberung  in  jenem  berühmten  Worte:  ,, Gebet  dem 
(römischen)  Kaiser  was  des  Kaisers  ist"  und  mehr  noch  durch 
sein  Leben  und  sein  Leiden  anerkannt. 

Gewisz  ist  der  Bechtszustand  noch  ein  unvollkommener, 
in  welchem  die  äuszere  Gewalt  einen  so  übermächtigen  Ein- 
flusz  übt  auf  die  Begründang  neuen  und  die  Zerstörung  alten 
Bechtes.  Aber  so  roh  auch  die  Form  der  Eroberung  ist,  es 
liegt  in  ihr  doch  ein  geistiger  Gehalt  verborgen,  welcher  jene 
rechtliche  Bedeutung  erklärt.  Die  alten,  in  vorzüglichem  Sinne 
die  germanischen  Völker  betrachteten  den  Krieg  als  einen 
groszen  Völkerprocesz,  und  den  Sieg,  welcher  von  den  Göttern 
verliehen  werde,  als  ein  Gottesurtheil  zu  Gunsten  des  Siegers.6 
In  der  Eroberung  also  stellte  sich  nicht  die  blosze  physische 
Uebermacht  dar,  sondern  sie  galt  auch  als  eine  Beurkundung 
der  moralischen  Uebermacht,  welche  zur  Herrschaft  im 
State  berechtigt.  Daran  kann  auch  das  moderne  Statsbewuszt- 
sein  anknüpfen,  welches  den  Stat  menschlich  begreifen  will. 
Zwar  wird  es  sich  weigern,  jeden  Sieg  für  eine  Bewährung 
des  Bechts  und  jede  Niederlage  als  ein  Zeichen   des  Unrechts 

5  Curtius  Eufus,  Tita  Alex.  lib.  4.  Ygl.  Hugo  G-rot.  De  jure  b. 
a.  p.  III.  c.  8.  §.  1.  führt  auch  ein  Wort  des  germanischen  Königs  Ario- 
vist  zu  Cäsar  an:  „Es  sei  das  Recht  des  Krieges,  dasz  die  Sieger,  wie 
sie  wollten,  über  die  Besiegten  gebieten."  [Cäsar  de  B.  G.  1.  36.)  Vgl. 
oben  Cap.  9  der  Einleitung. 

6  Bluntschli  Studien,  S.  202:  „Der  Krieg  ist  nur  die  bisherige 
und  noch  rohe  Form  der  Völkerrechtspflege.  Das  Bewusztsein  aber,  dasz 
das  nur  der  Anfang  sei  zu  einem  gerechteren  und  menschlicheren  Ver- 
fahren, fängt  an  zu  erwachen." 

16* 


•>44    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  defl  States. 

anzuerkennen;  es  wird  auch  nicht  die  Ueberlegenheit  der 
Kriegswaffen  als  einen  Rechtsgrund  betrachten.  Aber  es  wird 
das  Resultat  der  groszen  geschichtlichen  Entwick- 
lung, die  von  Zeit  zu  Zeit  wieder  die  streitenden  Kräfte  der 
Nationen  zur  Ruhe  bringt,  als  eine  natur-  und  zeitgemäsze 
Erledigung  des  Volks-  und  Statsprocesses  betrachten  und  ihr, 
da  auch  die  sittlichen  und  rechtbildenden  Momente  darin  wir- 
ken, die  Bedeutung  eines  weltgeschichtlichen  Urtheila 
zuschreiben:  ,.Die  Weltgeschichte  ist  das  Weltgericht.4'  Die 
nachfolgende  Anerkennung  des  neuen  Rechtszttstandes  als 
eines  notwendigen  durch  die  Bevölkerung  heilt  die  rechtlichen 
Mängel  der  anfänglichen  Besitznahme. 

Eine  andere  friedlichere  Form  solcher  Landnahme  ist  die 
Ansiedlung  vmi  politischen  Genossenschaften  in  einem  un- 
bewohnten Land  oder  in  einem  wenig  rultiviilen  Lande  in  der 
Absicht,  da  einen  neuen  Stat  zu  gründen.  Manche  Colonien 
der  Europäer  in  fremden  Welttheilen  haben  diesen  Charakter. 
Nur  wenn  die  Colonisation  ron  dem  Mutterstate  geleitel  wird, 
gehört  sie  zu  den  abgeleiteten  Entstehungsformen  (Cap.  III.  l.c 
wenn  die  bereits  als  Körperschaft  geordneten  Colonisten,  wie 
jene  Pilger  nach  Neu-England,  aus  eigener  Kraft  und  mit 
eigener  Gefahr  neue  Gemeinwesen  auf  Boden  begründen,  der 
bisher  noch  keinem  State  zugehört,  so  \>\  das  wesentlich  ur- 
sprüngliche Statenbildung,  Bleiben  die  barbarischen  Orbewohner 
auf  dem  Gebiete  des  neuen  Colonistenstats  zurück,  - 
die  Schwierigkeit,  das  Verhältnis!  der  beiderlei  Bevölkerungen  zu 
ordnen,  fast  ebenso  gross,  wie  in  dem  eroberten  Lande.  Die 
Ueberlegenheit  eines  Cultunrblks  über  die  Barbaren  führt  aber 
durchweg  zur  Serrschafl  jener  über  diese. 

IV.  Die  Verbündung  mehrerer  Staten  n  einem  neuen 
Ganzen,  Conföderation.  Hier  i>t  es  nichi  etwa  der  Ver- 
trag der  Individuen,  sondern  von  Staten,  welcher  die  Gründung 
eines  neuen,  des  Gesammtstates  einleitet.  Dieser  komm! 
aber  erst   durch  die  wirkliche  Organisation   der  Gemein- 


Zweites  Capitel.     Ursprüngliche  Entstehungsformen.  245 

schaft  zu  Stande.  Von  der  Art  waren  die  griechischen 
Conföderationen  der  böo tischen  Orte,  der  verunglückte  Ver- 
such des  Epaminondas,  die  Arkader  zu  einigen,  die  Sym- 
machie,  über  die  Sparta  Hegemonie  übte,  der  ätolische 
und  der  achäisclie  Bundesstat.  Von  der  Art  in  Italien  die 
Bünde  der  Samniter,  im  spätem  Mittelalter  die  Bünde  der 
deutschen  Hansestädte,  der  schweizerischen  Eid- 
genossen, der  niederländischen  Staten. 

Diese  Form  erzeugt  zunächst  immer  zusammengesetzte, 
nicht  einfache  Staten,  indem  sie  die  verbündeten  Staten  nicht 
aufhebt,  sondern  zu  einer  neuen  Siatsgenosscnschaft  vereinigt. 
Indem  sie  anfänglich  auf  Statsvertrag  beruht,  mehr  als  auf 
Statsgesetz,  so  öberlieferl  sie  auch  den  folgenden  Geschlech- 
tern den  Gegensatz  mehrerer  in  wesentlichen  Dingen  selbstän- 
diger, in  andern  nichi  minder  wesentlichen  aber  iron  der  Ge- 
sammtheil  abhängiger  Staten,  und  mit  diesem  Gegensatze  eine 

Wechselwirkung,  häufig  auch  einen  Kampf  des  particulä- 
ren  and  des  allgemeinen  Statsgeistes  als  Erbtheil  ihrer  Weise. 

Auf  diesem  Gegensatze  beruhen  die  beiden  Hauptformen 
der  Btatlichen  Verbündung:  der  Statenbund  und  der  Bundes- 
stat. Beide  sind  zusammengesetzte  Statskörper,  und  insofern 
von  bloszen  Allianzen,  die  keinen  neuen  Stat  bilden,  verschie- 
den. Nur  die  erste  aber  hält  den  Charakter  der  Conföde- 
ration  fest,    die   letztere   macht   den  Fortschritt  zur  Union. 

1.  Der  Statenbund,  indem  er  mehrere  Staten  zu  einer 
St;iisgenossenschaft  verbindet,  die  wenigstens  nach  auszen  als 
Gesammtstat  als  eine  völkerrechtliche  Statsperson  erscheint, 
organisirt  sich  doch  nicht  als  einen  von  den  Einzelstaten  ver- 
schiedenen CentraJstat,  sondern  überläszt  die  Leitung  des  Ge- 
sammtstates  entweder  einem  Einzelstate  als  Hegemon  oder 
Vorort,  oder  der  Versammlung  von  Gesandten  und 
Stellvertretern  aller  verbundenen  Einzelstaten. 

Von  jener  Art  waren  die  griechischen  Statenbünde  unter 
der  Hegemonie  von  Sparta  und  Athen,  von  dieser  die  schwei- 


246     Dnücs  })uch.    Von  der  Entstehung  und  d<  m  l 

zerische  Eidgenossenschaft  bis    l-iv  und   der  deutsche  Bund 
von  1815. 

2.  In  dem  Bu  ndi  nicht  bloss 
vollständigoi-  rn  voraus  einen  selb- 
ständig organisirten  k,  Centralstai,  Die 
Bundesgewalt  ist  nicht  einem  der  Einz  Ls  .  noch 
der  VersammJ  r  Einzelstaten  anheii  3  indem 
sie  hat  ihre  eigenen  i  oder  nationalen  0 
hervorgebracht,  w<  u  der  Gesammi  ren,  Der 
achäische  Bund  mit  \  Bammlnng 
als  g  endem  Kör  gen  als  dein 
Bundeshaupte,  dem  B  dem  Bundesgerichte  war 
ein  Bolcher  Bnn  l<  Bstai  Zuerst  la  eine 
moderne  in  den  \  \  .  aber  erat 
in  der  DnionsverJ  1787  ausgebildet  und  dann  ?on 
der  Schweii  in  d  »bildet 
worden.  Beide  \  mehr  auf  einem 
eigentiicl 

Existenz  eines  Qesa  m  mt?<  Lkec  tu  b  mm  t  b  I 

voraus .   deren   einheitli  et  schafft, 
und  von  der  Min 

fordert.     Dadurch    *  ird   die    Voi  n   ?on 

Staten  überschritten  and  die  höhen  D  d  ion  betr 

Beide  Formen  der  Eusamn  Bind 

eher  für  Republiken  als  I            archien  .    wovon  man 

sich  Leicht  Q]                  mn  man  der  nordame- 

rikaniseben  and  der  sang  mit  den 

Kämpfen  ober  die  d<  icht. 

Die  Verfassung  des  norddeutschen  Bundes  ?on  L867 
einigt    /war  ^tatsächlich    and   rechtlich  die   verschiedenen   in 

Deutschland  wirk                       m  Machte  und  Kräfte  im  na- 

7    V  •     ii    M  . *  1  i  imi. 

und  Btory'i  Comm. ;  EHnntiohli,  Gesch.  d.  sei 

Wait/    i 


Zweites  Capitel.     Ursprüngliche  Entstehungsformen.  247 

tionalem  Zusammenwirken,  aber  sie  maclit  der  principiellen 
Betrachtung  den  Eindruck  eines  Schmetterlings,  der  noch  einen 
Theil  seiner  Puppe  und  selbst  die  liette  seines  frühem  Raupen- 
zustands  mitschleppt.  Ihre  Entstehungsform  weist  einerseits 
auf  den  freien  Vertrag  aller  Einzelnstaten  (Fürsten  und  Kam- 
mern) hin,  die  Verfassung  ist  aber  ihrem  Inhalte  nach  durch 
den  leitenden  Willen  der  preuszischen  Regierung  in  Verbin- 
dung- mit  den  Arbeiten  des  einheitlichen  Reichstags  zu  Stande 
gekommen.  Wie  hier  Vertrag  und  Gesetz  sich  seltsam  ver- 
binden, so  erinnert  die  Vertretung  der  verbündeten  Regierun- 
gen in  dem  Bundesrathe  noch  ganz  an  den  früheren  staten- 
bündlichen  deul  chen  Bundestag  und  hai  selbsl  der  Ausdruck 
des  „Bundespräsidiums'4,  welches  der  königlichen  Krone 
Preuszen  zustellt,  noch  dasselbe  statenbundliche  Gepräge.  Aber 
wenn  daneben  die  wirkliche  Machtstellung  dieses  Bundesprä- 
sidiums    und    die    verfassungsmäszigen    B<  d<  sselben 

—  insbesondere  auch  als  Bundesfeldherrn  —  erwogen  werden,  so 
tritt  aus  der  Verhüllung  d.is  den  (sc  In-  Reichsoberhaupt-— 
wenn  auch  noch  nicht  mit  dem  allein  würdigen  Kaisernamen  — 
in  deutlichen  umrissen  hervor.  Die  Institution  des  Reiche- 
rt einheitlicher  gedacht  and  durchgeführt  als  selbst 
der  nordamerikanische  i  und  die  schweizerische  Bundes- 

sammlung. Die  Verfassung  führt  offenbar  aus  dem  frühem 
kenbund  durch  bundesstatliche  Zwischenstufen  in  die  Stats- 
form  eines  monarchischen  Reiches  hinüber,  welches  seinen 
Gliedern  noch  einige  Selbständigkeit  und  Selbstverwaltung  in 
inneren  Dingen  verstattet,  aber  die  äuszere  Politik  einheitlich 
geleitet  sehen  will. 

V.  Verwandt  mit  der  Verbündung  ist  die  Einigung 
zweier  oder  mehrerer  Staten  unter  Einem  gemeinsamen 
Herrscher,  oder  zu  einem  einzigen  neuen  State,  vor- 
zugsweise Union  genannt.  Auch  hierlassen  sich  verschiedene 
Stufen  und  Arten  der  Einigung  unterscheiden.  In  jeder  Weise 
unvollkommen  ist  dieselbe: 


248    Drittes  Buch.   Yon  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

1.  In  Gestalt  einer  bloszen  Personalunion.  Diese  kann 
sogar  blosz  vorübergehend  eintreten,  wenn  die  Thronfolge- 
ordnungen zweier  verschiedener  Staten  zufällig  dieselbe  Person 
zu  beiden  Kronen  berufen,  somit  wieder  aufhören,  wenn  später 
die  Succession  wieder  zwei  verschiedene  Personen  trifft.  Von 
der  Art  war  die  Verbindung  des  deutschen  Eeiches  und  von 
Spanien  unter  Karl  V.,  von  Polen  und  Sachsen  unter  August, 
von  England  und  Hannover  unter  dem  Könige  Georg  IV.,  von 
Schleswig-Holstein  und  Dänemark  nach  dem  Vertrage  von 
1620.  Diese  Form  der  Union,  die  loseste  von  allen,  erzeugt 
auch  nicht  einen  neuen  Vereinsstat,  sondern  beschränkt  sich 
darauf,  zwei  selbständige  Staten  in  eine  blosz  äuszerliche  Be- 
ziehung zu  dem  nämlichen  Fürsten  als  Statsoberhaupt  zu 
bringen. 

Auszer  ihr  kommt  aber  auch  eine  dauernde  Personal- 
union vor,  indem  die  Kronen  zweier  Staten  derselben  Dynastie 
und  nach  dem  nämlichen  Successionsgesetze  zugehören.  Bei- 
spiele dieser  Art  sind  die  pragmatische  Sanction  von  1713 
für  die  unter  dem  österreichischen  Scepter  vereinigten  Staten, 
welcher  1722  auch  der  ungarische  Keichstag  für  das  König- 
reich Ungarn  beitrat,  die  Erwerbung  des  Fürstenthums  Neu- 
chatel  von  Seite  der  Krone  Preuszens  von  1707,  die  Verbin- 
dung von  Norwegen  und  Schweden  seit  1814,  die  Ueberein- 
kunft  zwischen  dem  Königreich  Ungarn  und  dem  Kaiserlichen 
Oesterreich  von  1867. 

Eine  solche  dauerhafte  Vereinigung  kann  zwar  einen  neuen 
Gesammtstat  begründen;  aber  die  Einheit  ist  doch  eine  sehr 
unvollständige  und  fast  nur  unter  der  Voraussetzung  von  ent- 
scheidender practischer  Geltung,  wenn  eine  absolute  Macht  in 
der  Person  des  Herrschers  wirklich  concentrirt  ist.  Unter 
jeder  anderen  Voraussetzung  wird  der  unversöhnte  innere 
Widerspruch  zweier  verschiedener  Staten  mit  abweichenden 
Interessen  und  Stimmungen  und  eines  gemeinsamen  Fürsten 
sich  fühlbar  machen  und  es  kann  in  Folge  desselben  sogar  die 


Zweites  Capitel.     Ursprüngliche  Entstehungsformen.  249 

unsinnige  Forderung  an  den  Fürsten  gerichtet  werden,  dasz 
er  in  seiner  Eigenschaft  als  Oberhaupt  eines  States  Feindschaft 
übe  wider  den  andern  Stat,  an  dessen  Spitze  er  nicht  minder 
steht.  Mit  der  Kepräsentativverfassung  ist  daher  diese  Form 
der  Personalunion  nicht  wohl  zu  vereinigen. 

2.  Eine  höhere  Einigung  liegt  in  der  sogenannten  Real- 
union.  In  ihr  ist  nicht  blosz  die  Person  des  Herrschers  ge- 
einigt, sondern  die  oberste  Statsleitung  selbst  in  Ge- 
setzgebung und  Eegierung. 8  Zwar  verträgt  sie  sich 
mit  einer  relativen  Selbständigkeit  der  unirten  Staten,  denen 
innerhalb  gewisser  Schranken  eine  particuläre  Gesetzgebung 
und  Regierung  vergönnt  werden  mag,  aber  der  Gesammtstat 
ist  in  ihr  doch  einheitlich  organisirt,  und  die  höchsten  ge- 
meinsamen Statsinteressen  sind  in  den  einheitlichen  Organen 
concentrirt.  Die  Vereinigung  Norwegens  mit  dem  Königreich 
Dänemark  durch  das  Reichsgesetz  von  1536,  die  Einigung  von 
Castilien  und  Aragon,  wenn  auch  nicht  sofort  von  Anfang  an, 
1474,  so  doch  unter  den  österreichischen  Fürsten,  ganz  vor- 
züglich aber  die  österreichische  Monarchie  nach  dem  Grund- 
gesetze von  1849  und  der  Februarverfassung  von  1861  sind 
Beispiele  solcher  Realunion. 

3.  Die  volle  Union  endlich  löst  die  Besonderheit  der 
unirten  Staten  auf,  und  bildet  nicht  einen  aus  mehreren  Staten 
zusammengesetzten,  sondern  einen  einfachen  Stat. 

Die  Vereinigung  der  beiden  ursprünglich  durch  blosze 
Personalunion  verbundenen  Königreiche  England  und  Schott- 
land zu  dem  Gesammtkönigreich  Groszbritannien  vom  Jahr 
1707,  und  die  spätere  Union  zwischen  Groszbritannien  und 
Irland  von  1800  haben  diesen  Charakter  einer  vollen  Union, 


8  Anders  versteht  Pözl  den  Unterschied  der  Personal-  und  der 
Realunion  (Deutsches  Statswörterbuch ,  Art.  Union),  jene  ist  ihm  die 
zufällige,  diese  die  grundgesetzliche  Einigung  der  Statsgewalt 
über  zwei  oder  mehrere  Staten  in  Einer  Person.  Die  Verbindung  von 
Schweden  und  Norwegen  erscheint  ihm  dann  bereits  als  Realunion. 


250    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

indem  die  particularen  Parlamente  aufgehoben  und  für  das 
ganze  Keich  ein  gemeinsames  einheitliches  Parlament  angeord- 
net wurde.  Die  Einverleibung  der  Hohenzollerischen  Filrsten- 
thümer  in  Preuszen  im  Jahr  1849,  die  Annexion  der  italieni- 
schen Herzogthümer  und  des  Königreichs  Neapel  mit  Piemont 
zu  dem  neuen  Königreich  Italien  im  Jahr  1800  und  1861  und 
vorzüglich  die  Umwandlung  des  Königreichs  Hannover  und  der 
Fürstenthi'imer  Kurhessen.  Nassau,  Schleswig  und  Holstein  und 
der  freien  Stadt  Frankfurt  in  preuszische  Provinzen  sind  neuere 
Beispiele  solcher  vollen  Union. 

Das  ältere  Statsrecht  war  geneigt  diese  Verbindung  und 
Wandlung  ausschliesslich  aus  dem  dynastischen  Standpuncte 
und  nicht  anders  zu  beurtheilen,  als  ob  es  sich  um  die  Zu- 
sammenlegung oder  den  Erwerb  von  mehreren  Grundstücken 
durch  dieselbe  Privatperson  handelte.  Es  wurden  daher  wie 
die  privatrechtlichen  Formen  der  Veräuszerung  unter  Leben- 
den.  so  auch  von  Todes  at,  Erbvertrag)  aner- 
kannt; wie  irenn  Voll  und  Land  eine  Verlassenschaft  wären, 
über  die  ein  einzelner  Mensch  nach  seinem  Belieben  zu  ver- 
fügen hätte.  Das  neuere  hl  mus«  diese  dem  modernen 
Statsbegriff  widerstreitende  Ansicht  verwerfen,  und  daran  fest 
hallen,  dasz  solche  Veränderungen  wesentlich  die  öffentliche 
Verfassung  des  Volts  betreffen  und  daher  nicht  ohne  Zu- 
stimmung der  Volksvertretung  geordnel  werden  dürfen. 

VI.  Den  Ge;.'  der  Verbindung  bilde!  die  Theilung 

und  Zertrennung  eines  grösseren  States  in  zwei  oder  meh- 
rere neuere  Staten. 

Diese  Erscheinung  wird  sich  besonders  da  ergeben,  wo 
verschiedene,  zumal  auch  dem  Gebiete  nach  getrennte  Völker 
zu  einem  State  verbunden  waren,  ohne  innerlich  eins  zu  wer- 
den. Wenn  die  Macht  der  Concentration ,  welch«'  sie  bisher 
zusammenhielt,  nachläszt,  so  treiben  die  natürlichen  Öegen- 
auseinander;  und  es  geht  der  grosze  Scheidungsprooesz 
vor  sich,   welcher   das  bisherige  Ganze   in   eine  Anzahl   neuer 


Zweites  Capitel.     Ursprüngliche  Entstellungsformen.  251 

selbständiger  Staten  auflöst.  So  ging  die  grosze  durch  Alexanders 
Genie  einen  Augenblick  zusammengeschmiedete  Weltmonarchie 
nach  seinem  Tode  sofort  auseinander.  Ebenso  wurde  im  IX. 
Jahrhundert  die  fränkische  Monarchie  nach  den  Nationalitäten, 
freilich  nicht  ohne  wesentliche  Mitwirkung  der  dynastischen 
Gegensätze  gespalten.  Auch  der  Zerfall  des  napoleonischen 
Kaiserreiches  mit  seinen  Schöpfungen  abhängiger  Lehenskönig- 
reiche in  diesem  Jahrhundert  läszt  sich  grosxcntheils  so  er- 
klären. Die  Trennung  von  Belgien  und  Holland  im  Jahr 
1830  hat  diesen  Charakter. 

Während  des  Mittelalters  gab  es  aber  noch  eine  andere 
Theilung  eines  Statsganzen  wie  einer  Erbschaft  unter  mehrere 
Erben,  so  unter  mehrere  Söhne  des  verstorbenen  Staatsober- 
hauptes und  es  dauerte  lauge,  bis  diese  privatrechtliche  mit 
dem  Hecht  eines  zusammengehörigen  Volkes  und  der  Wohl- 
fahrt eines  States  durchaus  unvereinbare  Behandlung  durch  das 
politische  Princip  der  Untheilbarkeit  in  Europa  verdrängt 
wurde. 

Vll.  Eine  ähnliche  Form  ist  die  Lossagung  eines  Theiles 
des  States  und  Constituirung  dieses  Theiles  zu  einem  selb- 
ständigen State. 

In  der  Eegel  ist  der  Theil  als  solcher  nicht  berechtigt, 
sich  wider  das  Ganze  zu  empören  und  sich  von  demselben 
gewaltsam  loszureiszen.  Die  Geschichte  hat  uns  von  .vielen 
ungerechtfertigten  und  unheilvollen  Lostrennungsversuchen  der 
Art  warnende  Berichte  überliefert.  Aber  sie  weisz  auch  von 
andern  Lossagungen,  welche  volle  Anerkennung  errungen  haben, 
und  deren  innere  Berechtigung  nicht  zu  bezweifeln  ist.  Er- 
innern wir  uns  an  die  Lossagung  der  niederländischen  Gene- 
ralstaten von  Spanien  von  1579,  an  die  Unabhängigkeits- 
erklärung der  nordamerikanischen  Freistaten  von  1776,  an  die 
Befreiung  Griechenlands  von  türkischer  Herrschaft  in  unsern 
Tagen.  Jene  Eegel  bedarf  somit  einer  Beschränkung,  die  wohl 
so  zu  fassen  ist:  Zur  Lossagung  ist  der  Theil  ausnahmsweise 


252    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

berechtigt,  wenn  seine  dauernden  und  wichtigen  Interessen  von 
dem  Statsganzen,  dem  er  angehört,  nicht  geschützt  noch  be- 
friedigt werden,  und  er  zugleich  befähigt  ist,  für  sich  selber 
zu  sorgen  und  seine  selbständige  Stellung  zu  behaupten.  Nur 
wirkliche  Noth  und  ein  unerträglich  gewordenes  LeMen  gibt 
somit  gegründete  Veranlassung  zu  der  Lossagung,  und  nur  die 
moralische  Kraft,  welche  sich  in  dem  Kampfe  um  Selbstän- 
digkeit siegreich  bewährt  und  alle  Schwierigkeiten  überwindet, 
gewährt  einen  Anspruch  auf  Anerkennung  derselben.  Unter 
diesen  beiden  Voraussetzungen  wird  dieselbe  denn  auch  von 
dem  groszen  Gerichte  ausgesprochen,  welches  durch  die  Welt- 
geschichte spricht.9 

9  Die  Unabhängigkeitserklärung  von  Amerika  nimmt  c.->  mit  dem 
Princip  etwas  leichter  und  bekennt  die  naturrechtliche  Lehre  ihrer  Zeit, 
indem  sie  folgende  Sätze  ausspricht:  »"Wir  halten  folgende  Wahrheiten 
für  klar,  dasz  alle  Menschen  gleich  geboren,  dasz  sie  von  dem  Schöpfer 
mit  gewissen  unveräuszerlichen  R<  gabt  Bind,  und  dasz  zu  diesem 

Leben  Freiheil  nnd  das  Streben  nach  (Glückseligkeit  gehöre,  dasz,  um 
diese  Rechte  zu  sichern,  Regierungen  unter  den  Menschen  eingt 
sind,  welche  ihre  gerechte  Gewalt  Ton  der  Zustimmung  der  Begierten 
ableiten,  dasz  wenn  immer  eine  Statsform  diesen  Endzwecken  verderb- 
lich wird,  es  ein  Recht  de<  Volkes  ist,  dieselbe  ZO  ändern  oder  abzu- 
schaffen und  eine  neue  Statsform  einzurichten,  indem  e^  dieselbe  auf 
solche  Principien  begründet,  und  deren  Gewalten  in  Boloher  Weise  orga- 
nisirt,  wie  es  ihm  zu*  seiner  Sicherheit  und  zu  Beinern  Glücke  am  zweck- 
dienlichsten scheint.  Die  Klugheit  gebietet  allerdings,  Beit  langem  be- 
stehende Verfassungen  nicht  am  leichter  und  vorübergehender  Orsaohen 
willen  zu  ändern,  und  demgemäß  hat  alle  Erfahrung  gezeigt,  dasz  die 
Menschen  geneigter  sind  die  Leiden  zu  ertragen,  so  lange  sie  erträglich 
Bind,  als  sich  durch  Vernichtung  der  Formen,  an  welche  Bie  Bioh  einmal 
gewöhnt,  selbst  Recht  zu  verschaffen.  Wenn  aber  eine  lange  Reihe 
von  Miszbräuchen  und  unrechtmässigen  Kingriffen,  welche  unwandelbar 
das  nämliche  Ziel  verfolgen,  die  Absicht  beweist,  das  Volk  dem  abflO- 
lutcn  Despotismus  zu  unterwerfen,  so  hat  dieses  das  Recht  und  die 
Pflicht,  eine  solche  Regierung  auszustoßen  und  neue  Garantien  für  seine 
künftige  Sicherheit  anzuordnen  u 


Drittes  Capitel.     Abgeleitete  Entstehungsformell.  253 

Drittes  Capitel. 

Abgeleitete  Entstehungsformen. 

T.  Colonisation. 

Die  Colonisation,  wie  sie  von  den  hellenischen  Staten 
geübt  wurde,  und  die  Küsten  des  Mittelmeeres  in  Kleinasien, 
Italien,  Sicilien,  auf  den  Inseln  des  Archipels  mit  neuen 
Städten  und  Staten  bevölkerte,  war  in  der  That  bewuszte 
neue  Statenbildung.  Die  Pflanzstadt  ging  aus  der  Mutterstadt 
hervor,  wie  der  Sohn,  der  aus  der  Familie  des  Vaters  aus- 
tritt, um  ein  eigenes  Hauswesen  zu  gründen.  Sie  wurde  sofort 
zum  selbständigen  neuen  State,  unabhängig  von  der  Mutter- 
stadt, aber  mit  ihr  durch  ihre  Abstammung,  Sitten,  Hecht, 
Keligion  verbunden.  Aus  dem  Prytaneum  der  Mutterstadt 
nahm  die  Tochterstadt  das  heilige  Feuer  mit,  und  die  väter- 
lichen Götter  zogen  mit  in  den  neuen  Wohnsitz  hinüber. '  Die 
Hellenen  vermochten  nicht  ein  groszes  Keich  zu  gründen  und 
zusammen  zu  halten,  aber  durch  ihre  zerstreute  Städtecolonien 
hellenisirten  sie  den  Orient.  - 

Anders  die  römischen  Colon ien.  Sie  waren  bestimmt, 
die  römische  Herrschaft  in  weiteren  Kreisen  zu  sichern  und 
zu  befestigen,  und  blieben  dalier  in  einem  strengen  Abhängig- 
keitsverhältnisz  zu  der  Hauptstadt.  Hier  ist  somit  nicht  von 
neuer  Statenbildung,  sondern  nur  von  Ausdehnung  des  besteh- 
enden Einen  States  die  Rede. 

Wieder  von  anderer  Art  ist  die  moderne  Colonisation. 
Sehen  wir  auf  den  Ursprung  der  modernen,  besonders  in  Ame- 
rika von  den  europäischen  Staten  aus  gestifteten  Colonien,  so 
handelte  es  sich  dabei  in  der  Kegel  nicht  um  Gründung  neuer 

1  Vgl.  Herrmann,  griechische  Statsalterthümer  Cap.  IV.  Die  altere 
phönicische  Colonisation  ist  weniger  von  Anfang  an  neue  Statsgrün- 
dung,  ist  aber  gewöhnlich  in  kurzer  Zeit  zu  dieser  geworden. 

2  Vgl.  die  Ausführung  von  Laurent  II.  S.  310. 


254    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States 

Staten,  sondern  mehr  um  Ausbreitung  der  Herrschaft  und 
Cultur  des  europäischen  Vaterlandes,  oder  um  Erwerb  einer 
neuen  ökonomischen  Existenz,  zuweilen  auch  um  Sicherung 
der  Uebersiedler  vor  Verfolgung  in  ihrer  Heimat.  Im  Süden 
war  die  Abhängigkeit  der  Colonien  von  den  romanischen  Staten 
Europas  gröszer  als  im  Norden,  wo  der  germanische  Corpora- 
tionstrieb  und  das  germanische  Freiheitsgefühl  wenigstens 
einer  relativen  Selbständigkeit  der  Colonien  günstig  waren, 
diese  theilweise  sogar  hervorgerufen  hatten. 

Sieht  man  aber  auf  die  spätere  Entwicklung  und  Ge- 
schichte dieser  Colonien,  so  sind  sie  meistens  zu  einem  selb- 
ständigen Dasein  erwachsen,  und  haben  sich  dann  als  neue 
Staten  losgemacht  und  abgesondert  von  jener  europäischen 
Herrschaft.  Diese  Colonisation  ist  daher  eher  der  Geburt 
eines  Kindes  zu  vergleichen,  welches  die  väterliche  Familie 
als  ein  abhängiges  Glied  derselben  erweitert,  dann  aber,  nach- 
dem es  zu  körperlicher  und  geistiger  Reife  herangediehen,  sich 
absondert  und  eine  neue  eigene  Familie  begründet. 

II.  Eine  fernere  abgeleitete  Statenbildung  kam  in  dem 
Mittelalter  öfter  vor  in  Gestalt  der  Verleihung  von  Ho- 
he itsr  echten  an  einzelne  Bestandtheile  des  States.  Eine 
ganze  Reihe  besonders  deutscher  Gebiete,  Fürstenthümer,  Herr- 
schaften, Reichsstädte  wurden  zu  selbständigen  Staten,  indem 
sie  einzelne  Hoheitsrechte  von  dem  Könige  erlangten,  und 
diesen  Erwerb  zu  vermehren  wuszten,  bis  zuletzt  dem  Könige 
nur  ein  idealer  Schein  von  Oberhoheit  zunickblieb,  alle  reale 
Statsgewalt  aber  an  sie  entäuszert  war.  So  strebten  die  früheren 
Theile  eines  Statsganzen  im  Laufe  der  Jahrhunderte  zu  selb- 
ständigen Staten  auf.  Die  äuszere  Form  solcher  Verleihung 
war  häufig  wieder  die  eines  privatrechtlichen  Erwerbes  durch 
Kauf  oder  Verpfändung,  und  ist  insofern  ungeeignet  für  das 
moderne  Statsleben.  Das  war  aber  selbst  im  Mittelalter  nicht 
wesentlich,  und  es  läszt  sich  auch  in  unserer  Zeit  -die  prakti- 
sche Möglichkeit   gar  wohl  denken,    dasz  ein  Stat  mit  klarem 


Viertes  Capitel.     Untergang  der  Staten.  255 

Bewusztsein  einen  Tlieil  seines  Gebietes  zur  Selbständigkeit 
heranziehe  und  denselben  mit  statlichen  Hoheitsrechten  aus- 
statte. In  dieser  Weise  verfährt  England  in  unsrer  Zeit  gegen 
Canada  nnd  andere  englische  Nebenländer. 

III.  Endlich  kommt  vor  die  Institution  eines  neuen 
States  durch  einen  fremden  Herrscher,  insbesondere 
durch  einen  Eroberer,  dessen  Machtsprüche  alte  Staten  um  ihr 
Leben  bringen  und  neue  Staten  hervorrufen.  Europa  hat  in 
den  Jahren  der  napoleonischen  Herrschaft  gesehen,  wie  eine 
Keine  von  Staten  ausgelöscht,  und  andere  hinwieder  nach  dem 
Willen  des  französischen  Kaisers  neu  errichtet  wurden.  Europa 
hat  aber  auch  erlebt,  dasz  diese  willkürlichen  Schöpfungen 
momentaner  Uebermacht  zu  keinem  innerlich  kräftigen  Leben 
gelangten,  und  kaum  ins  Dasein  gerufen  wieder  abstarben  oder 
getödtet  wurden.  Es  ist  das  ein  beredter  Beweis,  dasz  unter 
allen  Formen  der  Statenbildung  diese  die  unvollkommenste 
ist,  und  am  wenigsten  Gewähr  darbietet  für  die  Fortdauer 
solcher  Staten. 


Viertes  Capitel. 

Untergang  der  Staten. 

Die  Erde  ist  mit  den  Trümmern  untergegangener  Staten 
überdeckt;  die  Erfahrungen  der  bisherigen  Weltgeschichte 
zeugen  gegen  die  Unsterblichkeit  der  Staten.  Die  Veranlas- 
sungen und  die  Formen  des  Untergangs  sind  wohl  unter  sich 
verschieden,  wie  die  Todesfälle  der  einzelnen  Menschen.  Aber 
daraus,  dasz  alle  Staten  untergehen,  dürfen  wir  wohl  auf  eine 
gemeinsame  Ursache  ihrer  Sterblichkeit  schlieszen. 
Diese  Ursache  kann  nicht  in  der  Immoralität  der  Völker  lie- 
gen, denn  die  Immoralität  ist  nicht  nothwendig  und  nicht 
gleichmäszig  vorhanden;    und  die  Geschichte   lehrt  uns,   dasz 


256    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

auch  demoralisirte  Völker  sehr  lange  leben  können,  wie  un- 
moralische Menschen  doch  zuweilen  ein  hohes  Alter  erreichen. 
Auch  nicht  in  schlechter  Regierung;  mancher  Stat  hat  schon 
mehrere  Generationen  schlechter  Regenten  tiberdauert.  Aber 
auch  nicht,  wie  neuerlich  Gobineau  behauptet  hat,  in  der 
Mischung  und  Entartung  der  Volksrassen ;  manche  Staten  sind 
gerade  durch  die  Mischung  der  Rassen  grosz  und  mächtig  ge- 
worden und  haben  fortgedauert,  obwohl  die  Volksrassen  wesent- 
lich verändert  worden;  ich  erinnere  an  Rom,  an  England,  an 
Nordamerika.  Die  wahre  Ursache  liegt  in  dem  groszen  Gesetz 
alles  irdisch-organischen  Lebens,  dasz  es  durch  die 
Geschichte  entwickelt  und  aufgezehrt  werde.  Das 
Leben  der  Völker  und  der  Staten  entfaltet  sich,  und  indem 
es  allmählich,  was  in  ihm  liegt,  offenbart,  erfüllt  es  seine 
Bestimmung  und  stirbt  ab,  von  der  unermüdlich  fortschreiten- 
den Zeit,  mit  der  es  nicht  mehr  Schritt  halten  kann,  überholt 
und  zurückgelassen. 

So  scheinen  auch  die  beschränkten  Einzelstaten  von  der 
fortschreitenden  Menschheit,  die  in  ihnen  keine  volle  Befrie- 
digung findet,  verschlungen  zu  werden.  Kommt  dereinst  auf 
der  breiten  Unterlage  der  Menschheit  das  Weltreich  zur  Er- 
scheinung, dann  dürfen  wir  hoffen,  dasz  dieser  Stat  so  lange 
dauern  und  nicht  früher  untergehen  werde,  als  die  Menschheit 
selbst. 

Die  besonderen  Formen  des  Statenuntergangs 
aber  entsprechen  groszentheils  den  Formen  der  Statenbildung, 
und  nicht  selten  werden  alte  Staten  zerstört,  wenn  neue  be- 
gründet werden.  An  den  Tod  des  einen  States  schlieszt  oft 
die  Geburt  des  andern  sich  unmittelbar  an. 

I.  Den  Gegensatz  zu  der  Organisation  des  Volkes  bildet 
die  Desorganisation  oder  Auflösung  des  Volkes.  Eine 
eigentümliche  Art  der  Desorganisation  ist  die  Anarchie. 
Wenn  die  Ueber-  und  Unterordnung  in  dem  Volke  nicht  mehr 
geachtet  wird,  und  Niemand  mehr   eine  obrigkeitliche  Gewalt 


Viertes  Capitel.     Untergang  der  Staten.  257 

anerkennt,  wenn  jeder  Einzelne  nur  seinen  Lüsten  den  losen 
Lauf  läszt,  und  keiner  mehr  sich  um  das  Ganze  kümmert, 
noch  der  Gemeinschaft  Opfer  bringt,  so  wird  der  Stat  selbst 
negirt,  und  das  organisirte  Volk  ist  in  diesem  Falle  zur  chao- 
tischen Masse  herabgesunken.  Die  Anarchie  hebt  somit  im 
Princip  den  Stat,  nicht  etwa  nur  die  bisherige  Statsform  auf. 
Allein  eine  so  entschiedene  und  so  andauernde  Anarchie,  die 
dann  freilich  immer  der  Tod  des  States  ist,  findet  sich  doch 
in  der  Geschichte  der  Völker  höchst  selten.  Weit  häufiger 
sind  die  anarchischen  Zustände  blosz  vorübergehend  und 
momentane  Fieberkrisen,  welche  zwar  das  Leben  des 
States  bedrohen,  aber  oft  nur  eine  andere  Gestaltung  der 
Stats Verfassung  vorbereiten.  Gerade  in  den  Zeiten  heftiger 
Erschütterungen  der  Revolution  offenbart  sich  die  entschieden 
statliche  Natur  der  arischen  Völkerstämme  in  höchst  merk- 
würdiger Weise.  Selbst  in  dem  Augenblick,  wo  sie  die  stat- 
liche Ordnung  mit  wüthendem  Hasse  stürzen,  unterwerfen  sie 
sich  doch  den  notwendigen  Formen  des  statlichen  Daseins : 
und  während  sie  in  der  Verwirrung  der  Ideen  für  Anarchie 
schwärmen,  gehorchen  sie  blindlings  je  den  wildesten  und 
strengsten  Führern.  Dicht  hinter  dem  Triumphzng  der  entfessel- 
ten und  freiheitstrunkenen  Massen  erscheinen  die  kalten,  eher- 
nen Züge  der  Dictatoren,  und  in  den  Trümmern  der  zerstörten 
Statsordnung  macht  sich  sofort  wieder  das  Volk  eine  neue, 
wenn  auch  vielleicht  schlechtere  statliche  Wohnung  zurecht. 
Auch  die  Völker  der  groszen  arischen  Familie  sind  nicht  un- 
sterblich, aber  so  lange  ihr  Leben  dauert,  können  sie  der  stat- 
lichen Form  ihres  Daseins  so  wenig  entbehren,  als  der  Fisch 
des  Wassers,  oder  der  Vogel  der  Luft.  Es  gibt  kein  einziges 
Beispiel  in  der  Geschichte,  dasz  ein  arisches  Volk  sich  dauernd 
losgemacht  hätte  von  dem  State,  oder  dasz  ein  solches  auch 
nur  in  den  Zustand  der  Nomaden  zurückgesunken  wäre.  Im 
sechzehnten  Jahrhundert  haben  die  Wiedertäufer  die  Idee  des 
States  vollständig  verworfen,  ähnlich  wie  in  unsern  Tagen  die 

B 1  u  n  t  s  c  h  1  i ,  allgemeines  Statsrecht.     I.  17 


258    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  de3  States. 

Communisten.  Aber  als  ihnen  die  Gelegenheit  geboten  ward, 
einen  Versuch  zur  Einführung  ihrer  unstatlichen  Gemeinschaft 
zu  machen,  haben  sie  doch  wieder  —  obwohl  in  karikirter 
Form  —  einen  Stat  eingerichtet. 

IL  Die  Auswanderung  eines  Volkes  aus  dem  Lande 
seiner  Väter,  wie  die  Helvetier  zu  Cäsars  Zeit  sie  unternommen, 
oder  die  Vertreibung  eines  Volkes  aus  seiner  Heimath, 
wie  sie  während  der  groszen  Völkerwanderungen  in  Europa  oft 
erzwungen  worden,  zerstört  den  bisherigen  Stat  jedenfalls ;  und 
es  ist  gewöhnlich  unsicher,  ob  es  dem  weiterziehenden  Volke 
gelinge,  eine  neue  feste  Herrschaft  über  ein  anderes  Land  zu 
erwerben,  und  so  einen  neuen  Stat  zu  gründen. 

III.  Die  Eroberung  eines  Landes  und  die  Unter- 
werfung eines  bisher  selbständigen  Volkes  durch  eine  fremde 
Macht  ist  öfter  noch  Zerstörung  alter  als  Gründung  neuer 
Staten,  indem  sie  meistens  eine  blosze  Erweiterung  des  sieg- 
reichen States  zur  Folge  hat.  In  dieser  Weise  hat  einst  Rom 
eine  Reihe  von  Staten  verschlungen,  und  über  deren  Bevölke- 
rung und  Gebiet  seine  Herrschaft  ausgebreitet.  Die  Ergebung 
(deditio)  des  schwächern  Volkes  hat  zwar  den  Schein  der 
Freiwilligkeit,  ist  aber  regelmäszig  doch  das  Werk  der  Noth 
und  äuszern  Zwanges,  und  fällt  dann  mit  der  Unterwerfung 
zusammen. 

IV.  Die  volle  Union  ferner  zieht  den  Untergang  der 
unirten  Staten  nach  sich.  Da  in  ihr  aber  zugleich  der  Anfang 
eines  neuen  gröszeren  States  liegt,  dessen  Volk  aus  den  Völ- 
kern der  aufgelösten  Staten  besteht,  so  ist  hier  eher  eine 
freiwillige  Entäuszerung  der  bisherigen  «tätlichen  Son- 
derexistenz denkbar. 

V.  Den  Gegensatz  zu  dem  Aufgehen  der  kleineren  Staten 
in  dem  gröszeren  Gesammtstat  bildet  die  Th eilung  eines 
Reiches  in  mehrere  Staten  oder  die  Vertheilung  eines 
States  unter  mehrere  fremde  Staaten.  Die  erstere  .kann  ohne 
äuszern  Zwang   auf  organische  Weise   vor  sich  gehen,    indem 


Fünftes  Capitel.     Speculative  Theorien.     I.   Der  sog.  Nafurstand.      259 

die  verschiedenen  Bestandteile  eines  States  ihre  Besonderheit 
schärfer  ausprägen  und  sich  dann  ablösen,  die  letztere  aber  ist 
gewöhnlich  das  Werk  fremder  Uebermacht.  Die  beiden  Thei- 
lungen  Polens  (1772  und  1793)  sind  entsetzliche  Beispiele 
solcher  widerrechtlichen  Gewalt  in  einer  Periode,  die  auf  ihre 
Aufklärung  und  Humanität  eitel  war. 

VI.  Wie  durch  Verleihung  von  Hoheitsrechten  an  einzelne 
Gebietstheile  neue  Staten  sich  bilden,  so  können  auch  durch 
Entzug  oder  Abtretung  von  Hoheitsrechten  bisher  selb- 
ständige Staten  allmählich  ihre  statliche  Existenz  einbüszen. 
Für  jene  Form  der  Statenbildung  ist  die  Geschichte  des 
deutschen  Keiches,  für  diese  Art  des  Statenuntergangs 
ist  die  Geschichte  Frankreichs  besonders  lehrreich.  Die 
Centralisation  von  Frankreich,  vorzüglich  seit  Ludwig  XL,  bat 
so  eine  Masse  von  . Souveränen  Seigneurien,u  in  welche  das 
Land  zerklüftet  war,  nach  und  nach  beseitigt.  Aber  auch 
Deutschland  hat  durch  die  zahlreichen  Mediatisir ungen 
seit  der  Revolution  diese  zweite  Richtung  der  Auflösung  klei- 
ner Staten  eingeschlagen. 


Fünftes  Capitel 

Speculative  Theorien.     I.   Der  sogenannte  Naturstand. 

Die  philosophische  Speculation  liebt  es,  einen  Urzustand 
zu  erdenken,  in  welchem  die  Menschen  noch  ohne  Stat  lebten, 
und  von  da  aus  den  Weg  zu  suchen,  welchen  die  Menschheit 
habe  gehen  müssen,  um  zu  dem  State  zu  gelangen.  Die 
Phantasie  des  Volkes  hat  diesen  Urzustand  oft  mit  heitern 
Bildern  von  Unschuld  und  reichen  Naturgenüssen  geschmückt, 
und  eine  goldene  Zeit  des  Paradieses  erträumt,  in  welcher  es 
noch  kein  Uebel  und  kein  Unrecht  gegeben,  und  alle  in  un- 
beschränkter Freiheit  und  Glückseligkeit  sich   des  friedlichen 

17* 


260    Drittes  Buch.   Von  der  Entstellung  und  dem  Untergang  des  States. 

Daseins  erfreut  haben.  In  dieser  Vorzeit  gab  es  nach  jenen 
Vorstellungen  noch  kein  Eigenthum,  da  der  üeberflusz  der 
Natur  jedem  in  Fülle  darbot,  wornach  sein  unverkünstelter 
und  unverdorbener  Sinn  verlangen  mochte;  damals  noch  keine 
Unterschiede  der  Stände  noch  selbst  der  Berufsarten,  jeder 
war  dem  andern  gleich;  damals  auch  weder  Obrigkeit  noch 
Unterthanen,  keine  Beamte,  keine  Kichter,  keine  Heere,  keine 
Steuern. l 

Einem  solchen  Ideale  gegenüber  muszte  der  spätere  stat- 
liche  Zustand  der  Menschen  als  Entartung  und  Verfall  erschei- 
nen. Erst  als  vorher  unbekannte  Plagen  die  Menschen  trafen, 
erst  als  die  Leidenschaften  in  ihrer  Brust  erwachten  und  neue 
Gefahren  hervorriefen,  erst  als  die  Schuld  den  Seelenfrieden 
störte,  da  bedurfte  es  einer  Macht,  welche  die  Bösen  schreckte 
und  strafte,  und  den  vielfach  verkümmerten  Genusz  aller 
sicherte.     So   dachte    man    sich    den   Stat,    wenn    auch   nicht 

1  Shakespeare  schildert  diesen  Naturzustand  mit  glänzender  Ironie 

im  Sturm: 
Gonzalo:    „Hätt1  ich,  mein  Fürst,  die  Pflanzung  dieser  Insel, 
Ich  wirkte  im  gemeinen  Wesen  Alles 
Durchs  Gegentheil,  denn  keine  Art  von  Handel 
Erlaubt'  ich,  keinen  Namen  eines  Amts: 
Gelahrtheit  sollte  man  nicht  kennen;  Reichtimm, 
Dienst,  Armuth  gäb's  nicht;  von  Vertrag  und  Erbschaft, 
Verzäunung,  Landmark,  Feld-  und  Weinbau  nichts; 
Auch  kein  Gebrauch  von  Korn,  Wein,  Oel,  Metall, 
Kein  Handwerk,  alle  Männer  müssig,  alle; 
Die  Weiber  auch,  doch  völlig  rein  und  schuldlos, 
Kein  Regiment. 

In  der  gemeinsamen  Natur  sollt'  Alles 

Frucht  bringen,  ohne  Mühe  und  Schweisz;  Verrath,  Betrug, 
Schwert,  Speer,  Geschütz,  Notwendigkeit  der  Waffen 
Gäb's  nicht  bei  mir;  es  schaffte  die  Natur 
Von  freien  Stücken  alle  Hüll'  und  Fülle, 
Mein  schuldlos  Volk  zu  nähren. 

Sebastian:  Keine  Heirathen  zwischen  seinen  Unterthanen? 

Antonio:      Nichts  dergleichen,  Freund,  alles  los  und 
Huren  und  Taugenichtse. u 


Fünftes  Capitel.      Speculative  Theorien.     I.   Der  sog.  Naturstand.      261 

immer  als  ein  nothwendiges  Uebel,  doch  als  eine  Noth- 
und Zwangs  an  stalt,  um  gröszern  Uebeln  zu  entgehen. 

Im  Gegensatze  zu  dieser  kindlich  heitern  Vorstellung  von 
dem  Paradiese  dachten  sich  andere  und  zuweilen  gries gräm- 
liche Philosophen  den  Zustand  des  ersten ,  noch  unstatlichen, 
Menschen  viel  schlimmer.  Ihre  ängstliche  Phantasie  malte 
statt  des  göttlichen  Friedens  einen  unablässigen  Hader  und 
Krieg  aus  aller  gegen  alle :  und  wenn  auch  ihnen  der  Stat  als 
ein  Uebel  erschien,  so  war  dieses  Uebel  doch  erträglicher  und 
geringer  als  der  ursprüngliche  Naturstand,  in  welchem  die 
Menschen  dem  Wilde  des  Waldes  glichen.  Dieser  philoso- 
phische Gedanke  fand  in  der  theologischen  Spekulation,  welche 
den  Stat  die  Ordnung  nicht  des  Paradieses,  sondern  der  „ge- 
fallenen Menschheit"  nannte,  eine  willkommene  Bekräftigung. 

Die  beiderlei  Vorstellungen  übersehen  die  stat  liehe 
Natur  des  Menschen.  Sie  haben  beide  keine  Ahnung  von 
der  Wahrheit,2  die  Aristoteles  so  schön  ausgesprochen,  dasz 
der  Mensch  ein  „statliches  Wesen"  sei.  Mag  man  sich 
immer  einen  Zustand  der  Menschen  vorstellen,  welcher  der 
Entstehung  des  States  vorausging,  dieser  Zustand  konnte  un- 
möglich den  höhern  Bedürfnissen  derselben  genügen,3  und  es 
war  ein  unermeszlicher  Fortschritt  in  der  Entwicklungsgeschichte 
der  Menschheit,  als  der  von  Anfang  an  ihr  eingepflanzte  Keim 
zur  Statenbildung  sich  entfaltete  und  zur  Erscheinung  kam. 

2  Auch  Rousseau  (diso,  sur  l'inegalite  des  conditions  parmi  les 
hommes)  meinte:  „Der  Mensch  im  Naturzustand  habe  einen  Widerwillen 
(repugnait)  gegen  die  Gesellschaft."  Aber  Mirabeau  entgegnete  ihm 
vortrefflich  (essai  sur  le  despotisme)  mit  den  Worten:  „Non  seulement 
l'homme  semble  fait  pour  la  societe,  mais  on  peut  dire  qu'il  n'est  vrai- 
ment  homme  c'est  ä  dire  un  etre  reflechissant  et  capable  de  vertu,  que 
lorsqu'elle  commence  ä  s'organiser.  Les  hommes  n'ont  rien  voulu  ni  du 
sacrifier  en  se  reunissant  en  societe;  ils  ont  voulu  et  du  etendre  leurs 
jouissances  et  Vusage  de  la  Übet  le  par  les  secours  et  la  garantie  reeiproques. " 

3  Auch  Plato  de  Republ.  IL  369  leitet  die  Entstehung  des  States 
davon  her,  dasz  der  einzelne  Mensch  sich  selber  nicht  genüge,  sondern 
von  Natur  der  Gemeinschaft  bedürfe. 


262    Drittes  Buch.   Yon  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

Sechstes  Capitel. 

II.    Der  Stat  als  göttliche  Institution. 

In  dem  Altertlium  sowohl  als  während  des  Mittelalters 
war  der  Glaube  an  die  göttliche  Institution  des  States  viel 
verbreiteter  und  intensiver  als  in  unserer  Zeit,  Auch  damals 
aber  war  in  ganz  verschiedenem  Sinne  von  einer  göttlichen 
Begründung  des  States  die  Rede. 

1.  Nach  der  einen  Vorstellung  war  der  Stat  das  un- 
mittelbare Werk  Gottes,  die  directe  Offenbarung  der 
göttlichen  Herrschaft  auf  Erden. 

Diese  Vorstellung  lag  der  jüdischen  Theokratie  zu  Grunde, 
und  die  volle  Consequenz  derselben  führt  jederzeit  zu  der 
theokratischen  Statsform,  zu  welcher  sie  allein  paszt. 
Wenn  Gott  den  Stat  unmittelbar  geschaffen  hat,  so  ist  es 
natürlich,  dasz  er  denselben  unmittelbar  erhalte  und  regiere. 

2.  Nach  der  andern  Vorstellung  dagegen  ist  der  Stat 
nur  mittelbar  von  Gott  gegründet,  und  wird  auch  nur  mittel- 
bar von  Gott  geleitet. i 

Diese  Ansicht  wurde  auch  von  den  Griechen  und  Römern 
getheilt,  deren  Statsformen  keineswegs  theokratisch  waren, 
sondern  durch  und  durch  einen  menschlichen  Charakter  hatten. 
Kein  Statsgeschäft  von  irgend  welcher  Bedeutung  wurde  im 
Alterthum  unternommen,  ohne  dasz  Gebet  und  Opfer  vorher- 
gegangen waren  und  in  dem  Statsrechte  der  Römer  nahm  die 
Sorge  der  Auspicien,  durch  welche  der  Wille  der  Götter  er- 
forscht wurde,  eine  sehr  wichtige  Stellung  ein.  Sie  verbanden 
mit  dem  Bewusztsein  menschlicher  Freiheit  und  Selbstbestim- 

1  In  diepem  Sinne  nun  nennt  Niebuhr  (Gesch.  d.  Zeit  der  Revol. 
I.  214.)  den  Stat  „eine  von  Gott  geordnete  Institution,  die  zum  "Wesen 
des  Menschen  nothwendig  gehört,  wie  die  Ehe  und  das  väterliche  Ver- 
hältnisz.  Diese  Institution  kann  sich  aber  auf  dieser  Erde  nicht  voll- 
kommen darstellen.  Was  wir  in  der  Wirklichkeit  vom  State  sehen,  ist 
nur  ein   Schatten  der  göttlichen  Idee  des  States.'4 


Sechstes  Capitel.     II.    Der  Stat  als  göttliche  Institution.        263 

mung  den  Glauben  an  eine  göttliche  Leitung  der  menschlichen 
Dinge;  und  wenn  sie  schon  in  dem  Schicksal  des  einzelnen 
Individuums  die  Macht  der  Götter  erfuhren,  so  schien  es  ihnen 
noch  klarer,  dasz  das  Schicksal  jener  groszen  sittlichen  Lebens- 
gemeinschaft,  die  wir  Stat  nennen,  nicht  losgerissen  sei  von 
dem  Willen  und  dem  Walten  der  Gottheit.2  Hatten  sie  etwa 
hierin  Unrecht? 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dasz  das  Christenthum  den  N 
Stat  nicht  au  sz  er  halb  der  göttlichen  Weltordnung  und 
Weltregierung  zu  denken  vermag,  und  es  ist  für  die  christ- 
liche Auflassung  bezeichnend,  dasz  der  Apostel  Paulus  zu 
einer  Zeit,  als  der  Kaiser  Nero  von  Statswegen  die  Christen 
verfolgte,  jenes  berühmte  Wort  an  die  christlich  gesinnten 
Römer  richtete:  ..Jedermann  sei  unterthan  der  Obrigkeit,  die 
Gewalt  über  ihn  hat;  denn  es  ist  keine  Obrigkeit,  ohne  von 
Gott:  wo  aber  Obrigkeit  ist,  die  ist  von  Gott  verordnet." 
(Römerbrief  13,  1.)  Daher  kann  es  uns  auch  nicht  befrem- 
den, wenn  während  des  ganzen  Mittelalters  in  allen  christlichen 
Staten  die  obrigkeitliche  Gewalt  von  Gott,  die  höchste  des 
Kaisers  ohne  Vermittlung  durch  eine  Zwischenperson  von 
Gott  abgeleitet3  wurde. 

2  Plutarch  sagt  darüber  in  einer  von  Hai ler  (Restaur.  I.  S.427) 
citirten  Stelle  sehr  schön:  „Meines  Erachtens  könnte  eine  Stadt  leichter 
ohne  einen  Boden  gegründet  werden,  als  ein  Stat  sich  bilden  oder  be- 
stehen ohne  Glauben  an  Gott."  Auch  in  neuerer  Zeit  hat  "VVa  shington, 
in  seiner  Inaugurationsrede  an  den  Congresz  im  Jahre  1789,  diesen 
Glauben  bezeugt:  „Ich  werde  es  nicht  vernachläszigen,  in  diesem  ersten 
offiziellen  Acte,  aus  ganzer  Seele  mein  Flehen  an  das  göttliche  Wesen 
zu  richten,  welches  alles  nach  seinem  Willen  ordnet,  welches  die  Rath- 
sehläge  der  Nationen  leitet  und  die  Schwachen  aufrecht  hält.  Möge 
sein  Segen  über  der  Regierung  der  Vereinigten  Staten  walten,  die  sie 
unter  sich  eingerichtet  haben  zu  ihrer  Wohlfahrt.  Kein  Volk  hat  je 
zahlreichere  und  offenbarere  Gunstbezeugungen  der  Vorsehung  erhalten. 
Ihre  göttliche  Hand  hat  alle  Bestrebungen  mit  ihrem  Segen  begleitet, 
welche  unsere  Unabhängigkeit  gesichert  haben." 

3  Das  ist  auch  der  Sinn  der  Constitutio  Ludovici  Bavarici  v.  J. 
1338:    „üeclaramus  quod  imperialis  dignitas  et  potestas  est  immediaU  a 


264    Drittes  Buch.   Yon  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

Aber  so  würdig  auch  diese  Ansicht  die  Entstehung  und 
das  Schicksal  des  States  an  die  göttliche  Weltherrschaft  an- 
knüpft, und  so  hoch  ihre  sittliche  Bedeutung  immerhin  anzu- 
schlagen ist,  so  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  dasz  die- 
selbe ihrem  Wesen  nach  religiös,  nicht  politisch  ist,  und 
dazs  sie  gerade  darum,  wenn  sie  zum  politischen  Stats- 
princip  erhoben  und  als  Kechtssatz  gehandhabt  wird, 
leicht  Irrthümer  und  Miszbräuche  veranlaszt  und  beschönigt. 
Heben  wir  einzelne  hervor: 

1.  Gott  hat  zwar  den  Menschen  als  ein  statliches  Wesen 
erschauen,  aber  zugleich  hat  er  ihm  die  Freiheit  verliehen, 
die  eingepflanzte  Idee  des  States  durch  eigene  Thätigkeit  und 
zunächst  nach  seinem  Urtheil  und  in  den  ihm  geeignet  schei- 
nenden Formen  zu  verwirklichen.  Es  ist  schon  ein  grobes 
Miszverständnisz,  wenn  einzelne  Statsformen,  z.  B.  die  repu- 
blikanische, deszhalb  verworfen  werden,  weil  Gott  als  Monarch 
die  Welt  regiere. 

2.  Die  obrigkeitliche  Gewalt  ist  zwar  in  ihrer  Idee  und 
Erscheinung  von  Gott  abhängig,  aber  nicht  in  dem  Sinne,  dasz 
etwa  Gott  einzelne  bevorzugte  Menschen  über  die  Beschränkt- 
heit der  menschlichen  Natur  emporhöbe,  sich  selber  näher 
setzte  und  gewissermaszen  zu  Halbgöttern  für  die  Erde  be- 
stellte, noch  in  dem  Sinne,  dasz  Gott  die  menschlichen  Re- 
genten zu  seinen  persönlichen  und  mit  ihm,  so  weit  ihre 
statliche  Herrschaft  reicht,  identischen  Stellvertretern 
ernennte  und  mit  seiner  Macht  und  seiner  Autorität  ausrüstete.4 


solo  Deo  (d.  h.  nicht  mediatc  durch  den  Papst)  —  statim  ex  sola  electione 
(durch  die  Kurfürsten)  est  Rcx  vorus  et  imperator  Romanorum  censendus.u 
Die  Augsburgische  Confession  vom  Jalir  1530  Art.  16  lehrt:  „dasz 
alle  Obrigkeit  in  der  Welt  und  geordnete  Regiment  und  Gesetze,  gute 
Ordnung  von  Gott  geschaffen  und  eingesetzt  sind.a  Sie  leitet  also  die 
gesummte  Rechtsordnung  von  dem  Willen  Gottes  ab. 

4  Vgl.  Stahl,  Statslehre  II.  §.  48.  „Nach  der  theokr.itischen  Auf- 
fassung des  Mittelalters  ist  die  Stellung  der  berufenen  Häupter  der 
Christenheit  die  Guttes  selbst.    Die  Herrscher  (Papst,  Kaiser  und  Könige) 


Sechstes  Capitel.     IL   Der  Stat  als  göttliche  Institution.        265 

Derlei  theokratische  Vorstellungen  widerstreiten  der  mensch- 
lichen Natur  derer,  welchen  die  Regierung  des  States  anver- 
traut ist.  Die  hochmüthige  Rede  Ludwigs  XIV.:  „Wir 
Fürsten  sind  die  lebenden  Bilder  dessen,  der  allheilig  und  all- 
mächtig ist,"5  klingt  im  Verhältnisz  zu  Gott  wie  Blasphemie 
und  ist  im  Verhältnisz  zu  seinen  Unterthanen  —  Menschen 
wie  er  —  ein  unwürdiger  Hohn. 

3.  Manche  fassen  die  obrigkeitliche  Gewalt  selbst,  unter- 
schieden von  den  Personen,  welche  dieselbe  verwalten,  als  eine 
politisch  -  göttliche  und  „übermenschliche"  auf. 
Stahl  z.  B. 6  sagt:  „Die  Gewalt  des  States  ist  von  Gott  nicht 
blosz  in  dem  Sinne,  wie  alle  Rechte  von  Gott  sind,  Eigen- 
thum,  Ehe,  väterliche  Gewalt,  sondern  in  dem  ganz  specifischen 
Sinne,  dasz  es  das  Werk  Gottes  ist,  das  er  versieht.  Er 
herrscht  nicht  blosz  kraft  Gottes  Ermächtigung,  wie  auch  der 
Vater  über  seine  Kinder,  sondern  er  herrscht nn  Gottes  Namen. 
Darum  ist  auch  der  Stat  mit  der  Majestät  umkleidet." 

Das  ist  aber  wieder  eine  objective  Theokratie,  welche 
practisch  zu  der  auch  von  Stahl  verworfenen  persönlichen 
Stellvertretung  Gottes  führen,  und  allen  mit  dieser  verbunde- 
nen Anmaszungen  und  Miszbräuchen  von  neuem  freien  Einzug 
gestatten  würde.  Christus  selbst  hat  durch  sein  groszes  Wort: 
„Gebet  Gott  was  Gott,  und  dem  Kaiser  was  dem  Kaiser  ge- 
bührt", viel  schärfer  und  entschiedener  auf  die  menschliche 
Natur  des  States  hingewiesen  und  jede  Identificirung 
statlicher  Gewalt  mit  specifisch-göttlicher  Herr- 
ais die  Repräsentanten  Gottes  haben  in  Person  die  Fülle  alles  Ansehens 
lediglich  in  sich." 

5  Oeuvres  de  Louis  XIV.  II.  S.  317,  wo  noch  folgende  erläuternde 
Stelle  vorkommt:  „Der,  der  den  Menschen  Könige  gegeben,  hat  gewollt, 
dasz  man  sie  ehre  als  seine  Stellvertreter,  indem  er  nur  sich  das  Recht 
vorbehielt,  ihr  Thun  und  Lassen  zu  prüfen.  Sein  "Wille  (?)  ist,  dasz  wer 
als  Unterthan  geboren  ist,  ohne  weiteres  gehorche." 

6  Statslehre  II.  §.43.  Vgl.  dagegen  Macaulay  in  der  unten  B.  IV. 
Cap.  22.  I.  mitgetheilten  Stelle. 


266     Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

schaft  verworfen.  Die  weltliche  Statslehre  thut  daher  wohl 
daran,  die  Existenz  und  die  Einrichtungen  des  States  von  dem 
menschlichen  Standpunkte  zu  betrachten  und  menschlich  zu 
nehmen. 

4.  Nicht  selten  wurde  die  Unveränderlichkeit  der  besteh- 
enden Statsverfassungen  und  insbesondere  auch  die  Unverän- 
derlichkeit der  Person  des  Regenten  oder  seiner  Dynastie  mit 
dem  Princip  verfochten,  dasz  die  obrigkeitliche  Gewalt  von 
Gott  geordnet  sei.  Allein  dasz  die  Unveränderlichkeit  der 
äuszern  Formen  und  der  persönlichen  Beziehungen  nicht  zu 
den  nothwendigen  Eigenschaften  der  göttlichen  Weltordnung 
und  Weltleitung  gehöre,  beweist  die  ganze  Weltgeschichte, 
und  Paulus  hat  gerade  durch  seine  Mahnung,  der  jeweilig 
bestehenden  Obrigkeit  Gehorsam  zu  leisten,  die  Wandel- 
barkeit auch  der  statlichen  Ordnung  und  Regierung  mittel- 
bar anerkannt.  AVohl  mochte  im  XVII.  Jahrhundert  jene 
Vorschrift  in  der  Seele  vieler  frommen  Engländer  ernste  Be- 
denken darüber  erregen,  ob  der  Widerstand  gegen  die  tyranni- 
schen Gebote  Jakobs  II.  erlaubt  sei,  und  Gewissensscrupel 
hervorrufen,  ob  die  Entsetzung  des  Königs  zu  rechtfertigen 
sei.  Aber  nachdem  Wilhelm  von  Oranien  von  der  Nation  und 
von  dem  Parlamente  als  König  anerkannt  war,  konnte  auch 
der  in  religiöser  Hinsicht  ängstlichste  und  gewissenhafteste 
Tory  unbedenklich  in  diesem  die  „von  Gott  geordnete  Obrig- 
keit" verehren. 

5.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Frage  der  Verant- 
wortlichkeit. Dasz  die  Statsmänner,  welchen  viel  anvertraut 
ist,  und  dasz  die  Fürsten,  welchen  Macht  verliehen  ist,  Gott 
verantwortlich  seien  für  das  was  sie  thun  oder  unterlassen, 
das  allerdings  folgt  aus  dem  obigen  Princip,  aber  die  Beant- 
wortung der  ferneren  Streitfrage,  ob  und  wie  dieselben  auch 
einem  menschlichen  Richter  verantwortlich  seien,  läszt 
sich  nicht  schon  von  da  aus  entscheiden.  Nicht  weil  die 
oberste  obrigkeitliche  Macht  im  State  speeifisch  göttlich,  son- 


Siebentes  CapiteL     III.   Theorie  der  Gewalt.  267 

dern  weil  sie  die  oberste  ist,  wird  für  sie  Unverantwortlich^ 
keit  vor  mensclüiclien  Kichtera  in  Anspruch  genommen. 

Ebensowenig  darf  der  Statsmann,  im  Glauben,  dasz  Gott 
die  Schicksale  der  Völker  und  Staten  bestimme,  und  lenke, 
und  im  Vertrauen,  dasz  Gott  wohl  regiere,  gewissermaszen 
Gott  versuchen  und  die  Verantwortlichkeit  von  sich  ab  auf 
diesen  wälzen.  Vielmehr  wird  er  von  der  eigenen  Verant- 
wortlichkeit nur  dann  frei,  wenn  er  die  ihm  gewordene  Auf- 
gabe, so  weit  seine  Kräfte  reichen,    gewissenhaft  erfüllt  hat.7 


Siebentes  CapiteL 

III.     Die  Theorie  der  Gewalt. 

„Der  Stat  ist  das  Werk  gewaltsamer  Unterwerfung.  Er 
beruht  auf  dem  Eechte  des  Stärkern."  So  versichern  uns 
einzelne  Philosophen,  öfter  aber  noch  einzelne  gewaltsame 
Machthaber. * 

Diese  Lehre  ist  dem  Despotismus  günstig,  denn  sie  recht- 
fertigt jede  Gewaltthat,  in  zweiter  Linie  aber  dient  sie  auch 
der  Eevolution,  sobald  sich  diese  stark  genug  fühlt,  offene 
Gewalt  zu  üben.  Gewöhnlich  wird  sie  eben  da  als  Waffe  her- 
beigeholt, wo  die  Schranken  des  wahren  Kechtes  überschritten 
werden  und  die  rohe  Uebermacht  waltet.  Sie  ist  ein  Sophis- 
mus,  nur   für  Mächtige  verlockend,    den   Schwachen   leichter 

7  Lamartine,  Revolut.  de  1848.  I.  S.  47  spricht  diesen  Gedanken 
schön  aus,  indem  er  von  sich  berichtet:  „II  tentait  Dieu  et  le  peuple, 
Lamartine  se  reprocha  depuis  severement  cette  faute.  C'est  un  tort 
grave  de  renvoyer  ä  Dieu  ce  que  Dieu  a  laisse  a  l'homme  d'Etat,  la 
responsabilite;  il  y  avait  lä  un  defi  ä  la  Providence." 

1  Plutarch  (Leben  des  Camillus.  17.)  legt  diese  Theorie  dem  Gallier 
König  Brennus  in  den  Mund:  „Das  älteste  aller  Gesetze,  welches  von 
Gott  an  bis  auf  die  Thiere  hinabreicht,  gibt  dem  Stärkern  die  Herrschaft 
über  die  Güter  des  Schwächern." 


268    Drittes  Buch.   Yon  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

vernichtend  als  täuschend,  eher  zur  Selbsttäuschung  als  zur 
Täuschung  anderer  geschickt. 

Man  hat  gesagt,  die  Geschichte  erweise  die  Wahrheit 
jenes  Satzes,  und  allerdings  zeigt  in  der  Geschichte  die  Ge- 
walt sich  öfter  wirksam  bei  der  Begründung  von  Staten  als 
der  Vertrag;  aber  nur  äuszerst  selten  hat  die  rohe  Gewalt 
für  sich  allein,  nach  eigener  Willkür,  Staten  geschaffen,  nie- 
mals dauernde  und  grosze  Staten.  In  der  Kegel,  wenn  auch 
gewaltsame  Ereignisse,  voraus  der  Krieg,  ihren  Antheil  hatten 
an  der  Gründung  neuer  Staten,  war  die  Gewalt  doch  nur  die 
Dienerin  wirklicher  Rechtsansprüche.  Sie  war  nicht 
die  Quelle  des  Rechts,  sondern  durchbrach  nur  den  Wider- 
stand, der  den  Abfiusz  der  Quelle  hinderte.  Sie  schuf  nicht 
das  Recht,  sondern  unterstützte  es  und  erzwang  ihm  die  An- 
erkennung. Wo  die  Gewalt  in  der  Geschichte  für  sich  selbst 
in  ihrer  barbarischen  Rohheit  auftritt,  da  ist  sie  regelmäszig 
nicht  von  schöpferischer  Wirkung,  sondern  ein  Instrument  der 
Zerstörung  und  des  Todes. 

Diese  Lehre  ist  im  schneidensten  Widerspruche  mit  dem 
Begriffe  der  organischen  Freiheit.  Sie  kennt  nur  Herren 
und  Knechte;  unter  Freien  (liberi)  versteht  sie  höchstens 
Freigelassene  (libertini).  Sie  widerspricht  eben  so  schroff  der 
Idee  des  Rechts,  denn  dieses  ist  offenbar  von  geistig- sitt- 
lichem Gehalt,  während  sie  die  brutale  Uebermacht  der  phy- 
sischen Gewalt  auf  den  Thron  erhebt.  Berufen  dem  Rechte 
zu  dienen,  ist  die  Gewalt,  welche  selber  Recht  sein  will,  Em- 
pörung wider  das  Recht.2 

Indessen  ist  auch  in  den  Irrthümern  dieser  Lehre  ein 
Rest  von  Wahrheit  verborgen.     Sie  hebt  ein  für  den  Stat  un- 

*  Schmitthenner,  Statswis£enschaft.  I.  S.  13,  citirt  eine  schöne 
hieher  gehörige  Aeuszeruiig  von  J.  J.  Rousseau  (Contr.  Soc.  I.  3.): 
„Der  Stärkste  ist  niemals  stark  genug,  um  seine  Herrschaft  zu  behaup- 
ten, wenn  er  nicht  seine  Uebermacht  in  Recht,  und  den  Gehorsam  der 
Unterworfenen  in  Pflicht  umzuwandeln  versteht"  (s'il  ne  transforme 
sa  force  en  droit  et  l'obeissance  en  clevoir). 


Achtes  Capitel.     IV.   Die  Vertragstlieorie.  269 

entbehrliches  Moment,  das  der  Macht,  hervor,  und  hat  inso- 
fern namentlich  der  entgegengesetzten  Theorie  gegenüber, 
welche  den  Stat  auf  die  Willkür  der  Individuen  basirt,  und 
in  ihren  Consequenzen  zu  einer  ohnmächtigen  Statsgewalt  führt, 
eine  gewisse  Berechtigung.  Sie  legt  den  Nachdruck  auf  die 
Realität  der  Erscheinung  und  die  vorhandenen  Machtverhält- 
nisse, und  warnt  so  vor  den  eiteln  Versuchen,  die  Träume 
bloszer  Speculation  und  die  Wünsche  abstracter  Doctrinen  da 
zu  verwirklichen,  wo  die  natürlichen  Verhältnisse  und  Kräfte 
widerstreiten. 

Ohne  Macht  kann  weder  ein  Stat  entstehen,  noch  sich 
behaupten.  Der  Stat  bedarf  der  Macht  nach  innen  sowohl  als 
nach  anszen;  wo  die  Machtverhältnisse  fest  und  dauernd  ge- 
werden sind,  da  sucht  und  erlangt  gewöhnlich  auch  die  Macht 
die  Verbindung  mit  dem  Hecht,  d.  h.  die  Anerkennung,  Rei- 
nigung und  Heiligung  durch  das  Recht.  Denn  ohne  das  Recht 
ist  die  Macht  des  Stärkern  von  thierischer  Natur,  sie  ist  der 
Wolf,  der  das  Lamm  zerreiszt.  Mit  dem  Rechte  vereinigt 
aber  ist  sie  der  sittlichen  Natur  des  Menschen  würdig  ge- 
worden. 


Achtes  Capitel. 

IY.    Die  Yertragstlieorie. 

Vorzüglich  seit  Rousseau  hat  die  Lehre,  dasz  „der 
Stat  ein  freies  Werk  des  Vertrages,  der  Ueberejnkunft 
seiner  Bürger"  sei,  eine  grosze  Verbreitung  und  Popularität 
genossen.  Sie  schmeichelte  der  Selbstgefälligkeit  der  Indivi- 
duen, von  denen  sich  jeder  Einzelne  nach  ihr  als  Statengründer 
denken  konnte,  und  schien  ihre  Lüsternheit  zu  befriedigen,  in- 
dem sie  jeden  beliebigen  Inhalt  aufzunehmen  verhiesz.  Diese 
Theorie  hat  vorzüglich  in  den  Zeiten  der  französischen  Revo- 


270    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

lution  eine  furchtbare  Autorität  erlangt.  Mit  ihrer  Hülfe  vor- 
nehmlich wurde  die  alte  Statsform  niedergerissen  und  wurden 
mannichf altige  aber  verunglückte  Versuche  unternommen,  über 
dem  Schutthaufen  ein  neues  allen  zusagendes  Statsgebäude 
aufzurichten.  Aber  wenn  sie  auch  vorzugsweise  als  die  Lieb- 
lingstheorie der  Revolution  Geltung  gefunden  hat,  so  hat  sie 
doch  öfter  schon  auch  dazu  dienen  müssen,  die  Kechtmäszig- 
keit  absoluter  Herrschaft  vertheidigen  zu  helfen.  Es  verhält 
sich  mit  ihr  umgekehrt  wie   mit  der  Lehre  von  der  Gewalt. 

Wie  diese  vorzugsweise  den  Despotismus  roher  Ueber- 
macht  begünstigt,  ausnahmsweise  aber  auch  die  gewaltsamen 
Vorgänge  der  Empörung  deckt,  so  ist  die  Vertragstheorie 
voraus  der  Anarchie  günstig,  schützt  aber  ausnahmsweise  auch 
die  Unterdrückung  verhaszter  Minderheiten  durch  willkürliche 
Mehrheiten  oder  die  Tyrannei  des  Siegers  über  die  Besiegten, 
welche  sich  ihm  ergeben  haben. 

Diese  Theorie  erhebt  den  Anspruch  auf  allgemeine  Gül- 
tigkeit. Nach  derselben  beruht  die  Entstellung  aller  Staten 
und  in  gewissem  Betracht  auch  die  Fortdauer  aller  Staten 
auf  Vertrag.  Die  Geschichte  aber,  welche  uns  so  reiche  Auf- 
schlüsse über  die  Statenbüdung  eröffnet,  weisz  auch  nicht  ein 
einziges  Beispiel,  in  welchem  wirklich  durch  Verabredung  und 
Vertrag  der  Individuen  ein  Stat  ,,contrahirta  worden  wäre. 
Wohl  kennt  sie  einzelne  Fälle  von  V  e  r  t  r  ä  g  en  z  w  e  i  e  r  oder 
mehrerer  Staten,  durch  welche  ein  neuer  Stat  gegründet 
wurde,  auch  einige  Fälle,  in  denen  Fürsten  und  Häuptlinge 
sich  mit  einzelnen  Classen  oder  Ständen  des  Volks  vertrags- 
mäszig  zu  neuen  Statsformen  vereinbarten,  aber  sie  kennt 
keinen  Fall,  in  welchem  ein  Stat  wie  eine  Handelsgesellschaft 
oder  eine  „Brandkasse"  durch  Beine  „gleichen"  Bürger  errich- 
tet worden  wäre.  Eben  so  wTenig  unterstützt  die  Geschichte 
die  Meinung,  dasz  auch  die  Fortsetzung  der  Staten  aus  einer 
steten  Vertragserneuerung  der  Individuen  abzuleiten  sei.  Viel- 
mehr zeigt  sie  uns.  dasz  «las  Individuum  Schon  als  Glied  des 


Achtes  Capitel.     IV.   Die  Vertragstheorie.  271 

States  geboren  und  erzogen  wird,  und  mit  seiner  Erzeugung, 
Geburt  und  Erziehung  auch  das  bestimmte  Gepräge  des  Volks 
und  des  Vaterlandes  empfängt,  dem  es  zugehört,  bevor  es  im 
Stande  ist,  einen  eigenen  selbständigen  Willen  zu  haben  und 
zu  äuszern. 

Das  Zeugnisz  der  Geschichte  steht  somit  jener  Theorie 
schroff  entgegen,  es  verwirft  dieselbe  unzweideutig.  Selbst  in 
den  Zeiten,  als  die  Lehre  vom  Gesellschaftsvertrag  die  zahl- 
reichsten Anhänger  hatte  und  am  wirksamsten  war,  konnte 
sie  doch  niemals  die  entgegenstehende  Realität  der  Natur 
überwältigen.  Das  Volk  wurde  zwar  in  lauter  „freie  und 
gleiche  Bürger"  aufgelöst,  aber  die  Minderheiten  auch  in  den 
Urversammlimgen  „vertrugen"  sich  nicht  mit  den  Mehrheiten, 
welche  ihren  Willen  als  den  übergeordneten  und  allein  gel- 
tenden durchsetzten.  Die  „constituirende"  Versammlung  wurde 
zwar  als  ein  Auszug  und  als  eine  Stellvertretung  der  sämmt- 
lichen  Bürger  angesehen,  und  ihr  die  Aufgabe  gestellt,  sich 
über  eine  Verfassung  zu  vereinbaren;  aber  auch  in  ihr  über- 
wog die  einheitliche  Form  des  Beschlusses  durchweg 
über  die  vielheitliche  des  Vertrages.  Man  „fingirte"  einen 
Vertrag,  wo  kein  wirklicher  zu  erkennen  war,  und  täuschte 
sich  und  andere  mit  der  fingirten  Freiwilligkeit  der  Einzelnen, 
da  wo  die  Mehrheit  als  Organ  der  Gesammtheit  eine  häufig 
unerträgliche  reale  Herrschaft '  übte. 

Wie  die  Unwahrheit  der  Theorie  durch  die  Geschichte 
nachgewiesen  wird,  so  hält  dieselbe  auch  der  Kritik  der  Ver- 
nunft nicht  Stand.  Sie  geht  aus  von  der  Freiheit  und  von 
der  Gleichheit  der  Individuen,  die  den  Vertrag  abschlieszen. 
Aber  politische  Freiheit,  die  hier  vorausgesetzt  wird,  ist 
nur  im  State,  nicht  auszerhalb  desselben  denkbar.  Der  Mensch 
hat  wohl  die  Anlage  zu  dieser  Freiheit  schon  in  sich,  wie  den 

1  Rousseau  (C.  5.)  schon  fingirt  eine  ursprünglich  e  Ein- 
stimmigkeit, durch  welche  das  Gesetz  der  spätem  Mehrheit  ange- 
ordnet worden,  aber  die  Fiction  deckt  den  Widerspruch  nicht. 


272    Drittes  Buch.    Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

Trieb  und  das  Bedürfnisz  des  States;  die  Wirklichkeit  dieser 
Freiheit  dagegen  kann  erst  in  der  organischen  Gemeinschaft 
des  States  zu  Tage  treten.  Wären  die  Individuen  ferner  nur 
gleich,  so  könnte  nie  ein  Stat  entstehen,2  denn  dieser  setzt 
die  (politische)  Ungleichheit  —  ohne  welche  es  weder 
Eegierende  noch  Regierte  geben  kann  —  als  nothwendige 
Grundlage  voraus. 

Noch  mehr.  Der  Grundirrthum  jener  Anschauung  ist 
der,  dasz  sie  sich  die  Individuen  als  Contrahenten  vorstellt. 
Wenn  die  Individuen  Verträge  schlieszen,  so  entsteht  Privat- 
recht, nie  aber  Statsrecht.  Das  was  dem  Individuum  als 
solchem  zugehört,  ist  sein  individuelles  Vermögen,  sein  Privat- 
gut. Darüber  kann  er  verfügen,  der  eine  wie  der  andere  dar- 
über auch  Verträge  schlieszen.  Einen  politischen  Inhalt 
aber  können  die  Verträge  nur  haben ,  wenn  schon  eine  Ge- 
meinschaft da  ist,  welche  über  den  Individuen  steht, 
denn  dieser  Inhalt  ist  nicht  Privatgut  der  Individuen,  sondern 
öffentliches  Gut  der  Geineinschaft. 

Durch  Vertrag  von  Individuen  kann  somit  weder  ein  Volk 
noch  ein  Stat  entstehen.  Wie  viele  Einzelwillen  auch  ange- 
häuft werden,  es  entstellt  kein  Gesammtwille  daraus; 
wenn  noch  so  viel  Privatrecht  abgetreten  wird,  es  entsteht 
kein  Statsrecht  daraus. 

Für  die  Politik  ist  übrigens  jene  Lehre  im  höchsten 
Grade  gefährlich.  Indem  sie  den  Stat  und  dessen  Rechts- 
ordnung zu  dem  Producte  individueller  Willkür  stempelt,  und 
je  nach  dem  Willen  der  gerade  lebenden  Individuen  für  ver- 
änderlich erklärt,  liebt  sie  den  Begriff  des  Statsrechts  auf, 
reizt  die  Bürger  zu  statswidriger  Willkür ,  und  gibt  den  Stat 
der  äuszersten  Unsicherheit  und  Verwirrung  preis.  Viel  eher 
ist  sie  daher  eine  Theorie  der  Anarchie  als  eine  Stats- 
lehre  zu  nennen. 

2  Aristoteles,  Polit.  II.  1,  4:  „ov  yug  yLvercu  nofag  c£  o(wotW  'di€Qov 
yuQ  av/ujuu/üc  (Bundesgenossenschaft)  x«i  nöXig  (Stat).u 


Achtes  Capitel.    IY.   Die  Vertragstheorie.  273 

Auch  sie  enthält  indessen  ein  Stück  Wahrheit  verhüllt, 
wie  denn  überhaupt  der  Irrthum  der  täuschendste  und  gefähr- 
lichste ist,  in  welchem  eine  allgemein  faszliche  Wahrheit  durch- 
schimmert. Im  Gegensatze  nämlich  zu  der  Theorie,  welche 
in  dem  State  ein  bloszes  Naturproduct  sieht,  hebt  sie  die 
Wahrheit  hervor,  dasz  der  menschliche  Wille  auch  be- 
stimmend auf  die  Gestaltung  des  States  einwirken  kann  und 
darf,  und  im  Widerspruch  zu  einer  gedankenlosen  Empirie 
vindicirt  sie  der  menschlichen  Freiheit  und  dem  Be- 
wusztsein  von  der  Vernünftigkeit  des  States  ihr  Kecht. 

Anmerkungen.  1.  Der  berühmte  Satz  des  Aristoteles  (Polit. 
I.  1,  11.),  dasz  der  Stat  früher  sei  als  die  einzelnen  Bürger,  wie  das 
Ganze  früher  als  der  Theil,  widerlegt  in  der  That  den  Gedanken,  dasz 
von  den  Individuen  der  Stat  erfunden  und  gemacht  werden  könne,  hin- 
reichend. Das  politische  Individuum,  der  Bürger,  ist  nur  ein  Glied  in 
dem  Statskörper,  das  für  sich  allein  und  losgerissen  von  dem  Zusammen- 
hang mit  dem  State  als  solches  keine  Existenz  hat. 

2.  Der  Irrthum,  den  Stat  auf  den  individuellen  Willen  zu  begrün- 
den, steht  in  Verbindung  mit  dem  noch  mehr  verbreiteten,  und  auch 
von  Männern,  welche  diese  Vertragstheorie  verachten,  oft  getheilten  Irr- 
thum, dasz  das  Recht  überhaupt  das  Erzeugnisz  des  freien  Wil- 
lens sei.  Allerdings  ist  dem  freien  Willen  des  Menschen  die  Macht 
gegeben,  in  manchen  Beziehungen  Recht  zu  gestalten,  abzuändern,  um- 
zuwandeln; aber  der  gröszte  Theil  des  Rechts  war  von  jeher  durch  die 
Existenz  dej  Weltordnung  und  die  Natur  der  Menschen  und  Verhält- 
nisse gegeben,  und  von  dem  Willen  der  Menschen  durchaus  unab- 
hängig. Das  meiste  Recht  wird  nicht  erdacht,  sondern  gefunden  und 
erkannt,  „geschöpft,"  nicht  geschaffen;  und  mehr  noch  als  das : 
„Wir  wollen"  der  menschlichen  Subjecte  ist  das:  „Ihr  sollt"  von 
entscheidendem  Einflusz  geworden  auf  die  Rechtsbildung.  Auch  Hegel, 
indem  er  das  Recht  zwar  nicht  aus  dem  „particularen  Einzel  willefi," 
sondern  aus  dem  „wahren,"  dem  „an  und  für  sich  seienden"  Willen 
hervorgehen  läszt,  hat  die  Natur  des  Rechtes  nicht  wahrhaft  begriffen, 
obwohl  er  die  Unrichtigkeit  der  Vertragstheorie  vollkommen  eingesehen 
hat.     Vgl.  Rechtsphilosophie  §.  259. 

3.  Ein  Schweizer,  der  Genfer  Bürger  J.  J.  Rousseau,  hatte  der 
Vertragstheorie  mit  den  glänzenden  Waffen  seiner  beredten  Dialektik 
vorzüglich  den  Sieg  in  der  öffentlichen  Meinung  verschafft.  Ein  anderer 
Schweizer,  der  Bernerische  Patricier  Ludwig  von  Haller,  griff  die 
ganze   naturrechtliche   Lehre    seiner  Zeit   mit   groszer  Energie  an  und 

Blunts  ohli ,  allgemeines  Statsrecht.    I.  18 


2  74     Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

überwand  die  Vertragstheorie  durch  seine  gründliche  Bekämpfung  voll- 
ständig. Weniger  glücklich  war  er  in  der  positiven  Begründung  der 
Statswissenschaft,  die  er  „Restauration"  nannte.  Es  geschieht  ihm  frei- 
lich Unrecht,  wenn  man  seine  Lehre  mit  der  Theorie  der  Gewaltherr- 
schaft identificirt  und  ihn  für  einen  Vertheidiger  von  jeglichem  Despotis- 
mus erklärt.  Aber  er  ist  der  Lehrer  der  Reaction,  wie  Rousseau  der 
Lehrer  der  Revolution. 

Haller  gründet  den  Stat  auf  das  „Naturgesetz,  dasz  der  Mäch- 
tigere herrsche,"  und  erkennt  in  der  Ueberlegenheit  des  einen 
und  in  dem  Bedürfnisz  des  andern  den  Grund  aller  Herrschaft  und 
aller  Abhängigkeit.  Er  nennt  dasselbe  eine  ewige,  unabänderliche  Ord- 
nung Gottes.  Schon  diese  Hinweisung  zeigt,  dasz  ihm  Macht  nicht 
gleichbedeutend  mit  Gewalt  ist,  und  er  führt  den  Gegensatz  näher  aus.  — 
„Jene  wird  beschränkt  durch  die  Pflicht.  Durch  das  moralische  Pflicht- 
gesetz, welches  Gott  in  die  Herzen  der  Menschen  geschrieben,  welches 
sich  in  dem  Gewissen  der  Kinder  schon  kund  gibt,  und  in  allen  Zeiten 
unter  allen  Völkern  offenbar  wurde:  „Meide  Böses  und  thue  Gutes," 
und:  „Beleidige  niemand  und  lasz  jedem  das  Seine;"  durch  das  Gesetz 
der  „Gerechtigkeit"  und  das  Gesetz  der  „Liebe"  wird  dafür  gesorgt, 
dasz  die  Macht  (potentia)  nicht  in  schädliche  Gewalt  (vis)  ausarte. 
Diese  beiden  Gesetze  sind  von  Gott  dem  Menschen  eingepflanzt,  sie  sind 
diesem  anerboren.  Sie  sind  allgemein  und  nothwendig,  ewig  und  unab- 
änderlich. Sie  sind  jedem  verständlich,  und  die  obersten  und  höchsten, 
denen  alle  andern  menschlichen  Gesetze  sich  unterordnen  müssen,  von 
denen  niemand  zu  dispensiren  befugt  ist.  Sie  sind  auch  die  mildesten 
und  freundlichsten,  ihr  Joch  ist  sanft  und  ihre  Last  ist  leicht.  Nicht 
der  allgemeine  Volkswille,  nicht  das  allgemeine  "Wohl,  auch  nicht  die 
Furcht  vor  menschlicher  Gewalt,  sondern  einzig  der  göttliche  Wille  ist 
der  Grund  dieses  Pflichtgesetzes.  Es  gilt  dalier  auch  für  die  Mächtigen. 
Jede  Uebertretung  derselben  ist  ein  unerlaubter  Miszbrauch  der  Gewalt 
von  dem  gemeinsten  Hausvater  bis  zu  dem  gröszten  Potentaten  hinauf, 
eine  Ungerechtigkeit  oder  eine  Lieblosigkeit.  Die  Gerechtigkeit  darf 
man  fordern  von  dem  Starken  wie  von  dem  Schwachen,  sobald  man  sie 
selbst  beobachtet,  Liebe  und  "Wohlwollen  von  dem  bessern  Theil  des 
menschlichen  Herzens  erwarten.  Gegen  den  möglichen  Miszbrauch  der 
höchsten  Gewalt  gibt  es  keine  Hülfe  durch  menschliche  Einrichtungen. 
Es  gibt  über  die  höchste  Gewalt  keinen  menschlichen  Richter.  „Es 
gibt  nirgends  Hülfe  als  bei  Gott."  „Der  Glaube  an  Gott,"  wie  Plutarch 
sagt,  „ist  das  Band  und  der  Kitt  aller  menschlichen  Gesellschaft  und 
die  Stütze  der  Gerechtigkeit."  Die  Religion  allein  vermag  die  Macht  in 
ihren  Schranken  zu  halten  und  die  Schwachen  zu  stärken." 

Wir  haben  die  Grundzüge  der  Haller'schen  Doctrin  mit  ihren  eige- 
nen Worten  wiedergegeben.  Dabei  fällt  es  freilich  auf,  dasz  er  das 
Recht  und    den   Stat  nicht  aus  der  Gerechtigkeit,    sondern  aus  der 


Neuntes  Capitel.     V.   Der  organische  Statstrieb.  275 

Macht  ableitet,  und  jene  nur  als  die  Schranke  dieser  erfaszt.  Die 
Macht  gibt  nach  ihm  Recht  und  nur  die  Macht  gibt  Recht;  je  gröszer 
die  Macht,  desto  höher  das  Recht,  während  in  Wahrheit  die  Macht  für 
sich  allein  nur  ein  thatsächliches ,  nicht  ein  Rechtsverhältnisz  bildet. 
Dieser  Zug  geht  aber  durch  das  ganze  System  durch.  Die  Ehrfurcht 
vor  der  realen  Macht,  wie  sie  sich  in  den  natürlichen  Verhältnissen 
äuszerlich  sichtbar  darstellt,  wie  sie  historisch  geworden  ist,  verschlieszt 
ihm  öfter  die  Einsicht  in  den  ideal-sittlichen  Charakter  des  Recht3  und 
in  das  Werden  desselben;  die  Neigung,  die  höchste  Macht  und  das 
höchste  Recht  der  Obrigkeit  vor  jeder  Beeinträchtigung  zu  sichern,  wird 
in  ihm  zuweilen  bis  zum  Hohn  und  Hasz  gegen  jeden  Versuch  gestei- 
gert, die  Rechte  der  Unterthanen  vor  Miszbrauch  der  obrigkeitlichen 
Gewalt  zu  sichern  und  die  Ausübung  dieser  zu  beschränken,  als  ob  es 
ein  Frevel  wäre,  das  göttliche  Pflichtgesetz  auch  durch  menschliche  Ein- 
richtungen vor  menschlichen  Verletzungen  zu  bewahren.  Er  ist  daher 
auch  ein  erklärter  Gegner  des  ganzen  constitutionellcn  Systems  und 
bildet  die  mittelalterliche  Vorstellung,  dasz  die  statliche  Herrschaft  dem 
Eigenthum  gleich  sei,  in  schroffer  Weise  aus. 


Neuntes  Capitel. 

V.    Der  organische  Statstrieb. 

Es  genügt  nicht,  die  gewöhnlichen  speculativen  Theorien 
zu  verwerfen.  Das  Bedürfnisz,  die  Eine  Ursache  der  Staten- 
bildung  im  Gegensatz  zu  den  mannichfaltigen  Formen  der 
Erscheinung  zu  erkennen,  bleibt  unbefriedigt. 

Indem  wir  auf  die  menschliche  Natur  zurückgehen, 
finden  wir  in  ihr  die  gemeinsame  Ursache  aller  Statenbildung. 
Die  Menschennatur  hat  neben  der  individuellen  Mannigfaltig- 
keit auch  die  Gemeinschaft  und  Einheit  als  Anlage  in 
sich:  und  indem  diese  Anlage  entwickelt  wird  und  zunächst 
die  Nationen  als  Völker  sich  in  ihrer  innern  Gemeinschaft 
und  Einheit  erfahren  und  demgemäsz  äuszerlich  gestalten, 
bringt  der  innere  Statstrieb  die  äuszere  Organisation  des 
Gesammtdaseins  in  Form  männlicher  Selbstbeherrschung,  d.  h. 
in  Form  des  States  hervor. 

18* 


276    Drittes  Buch.   Von  der  Entstehung  und  dem  Untergang  des  States. 

Alle  die  historischen  Formen  der  Entstehung  von  Staten, 
welche  die  Geschichte  zeigt,  erklären  sich  aus  dem  Einen 
Statstrieb.  In  den  Mächtigen  steigert  er  sich  leidenschaftlich 
bis  zur  Herrschsucht,  in  den  Schwachen  bis  zur  knechtischen 
Unterwürfigkeit.  In  den  Freien  aber  ist  er  durch  den  Ver- 
stand erleuchtet  und  durch  das  sittliche  Selbstgefühl,  welches 
mit  dem  ebenfalls  sittlichen  Gesammtgefühl  in  Harmonie  ist, 
würdig  erfüllt.  Xur  der  freie  Stat  ist  wahrer  Stat,  weil  nur  in  ihm 
der  Statstrieb  allgemein  und  weil  er  überall  gesund  und  kräftig  ist. 

Was  Wahres  in  den  falschen  speculativen  Theorie!  ent- 
halten war,  finden  wir  in  dieser  Auffassung,  welche  die  Alten 
schon  ausgesprochen  hatten,1  wieder,  ohne  die  entstellenden 
Irrthümer  jener  Theorien.  Mittelbar  erscheint  dann  der 
Stat  auch  als  etwas  Göttliches,  indem  Gott  den  Statstrieb 
in  die  menschliche  Natur  gelegt  und  insofern  die  Verwirk- 
lichung des  Stats  gewollt  hat.  Das  gesunde  religiöse  Gefühl 
wird  daher  nicht  verletzt,  wenn  gleich  der  Stat  in  erster  Linie 
als  eine  Aufgabe  und  ein  Werk  der  Menschen  erklärt  wird. 
Auch  was  von  realer  Mach  t  fülle  zur  Statenbildung  unent- 
behrlich ist,  wird  in  seiner  Bedeutung  anerkannt,  denn  die 
wesentliche  Macht  ist  die  in  der  gemeinsamen,  der  Staten- 
bildung zugewendeten  Menschennatur  ruhende  Volkskraft.  End- 
lich wird  auch  dem  geistig- sittlichen  Momente  des  Willens 
sein  Recht  zugestanden.  Nur  haben  wir  hier  nicht  zersplitterte 
und  zerfahrene  Einzelwillen,  sondern  den  70n  Natur  gemein- 
samen und  einheitlichen  Volks-  oder  Stats  willen. 

Der  Anlage  nach  ist  der  Gesainmfwille  in  den  Nationen 
ebenso  rassemäszig  vorhanden  wie  der  gemeinsame  Einigungs- 
und Organisationstrieb,  den  wir  Statstrieb  heisren.  Dieser 
Gesammtwille  in  der  Oifenbarung  wird  zum  Statswillen,  wah- 
rend der  rein  individuelle  Wille  selbst  dann  individuell  bleibt, 

1  Siehe  oben  S.  273.  Vgl.  auch  Cicero  de  Republ.  I.  25.  „Ejus 
(populi)  prima  causa  co<"undi  est  non  tarn  imbccillitu«,  quam  naturalis 
qunedam  liominum  quasi  congregatio." 


Neuntes    Capitel.     V.   Der  organische  Statstrieb.  277 

wenn  zwei  Individuen  mit  einander  einen  Vertrag  abschlieszen. 
Der  richtige  Ausdruck  des  Gesammtwillens  ist  nicht  der  Ver- 
trag, sondern  wenn  es  sich  um  dauernde  Ordnungen  handelt, 
das  Einheitliche  Gesetz,  wie  der  Befehl,  wenn  es  sich  um  po- 
lizeiliche Functionen,  das  Urtheil,  wenn  es  sich  um  Verwal- 
tung der  Gerechtigkeit  handelt.  Der  Stat  hat  die  Organe  in 
sich,  welche  dem  Gesammtwillen  dienen,  sich  zu  sammeln, 
seiner  bewuszt  zu  werden,  sich  zu  äuszern. 

Der  Stat  ist  daher  nicht  eine  Ordnung  nur  zur  Zähmung 
der  schlechten  Leidenschaften,  nicht  ein  notwendiges  Uebel, 
sondern  ein  noth wendiges  Gut.  Die  Völker  als  Gesammt- 
wesen  und  die  Menschheit  als  Gesammtwesen  können  nicht 
anders  zur  Darstellung  ihrer  innem  Gemeinschaft  und  Einheit, 
nicht  anders  zu  ihrer  Selbstbestimmung  als  grosze  Ganze  ge- 
langen, als  indem  sie  ihre  Statsanlage  zum  State  verwirkli- 
chen. Der  Stat  ist  die  Erfüllung  der  Gesammtordnung  und 
die  Organisation  zur  Vervollkommnung  des  Gesammtlebens  in 
allen  öffentlichen  Dingen. 

So  verstanden  ist  der  Stat  zwar  wohl  zunächst  eine  ir- 
disch-menschliche Gestaltung.  Aber  nichts  hindert  uns, 
dem  religiösen  Ideal  einer  unsichtbaren  Kirche,  welche  die 
Gemeinschaft  der  religiös  verbundenen  Geister  bedeutet,  auch 
das  politische  Ideal  eines  unsichtbaren  States,  welcher 
die  Gemeinschaft  der  politisch  geeinigten  Geisterwelt  bedeutet, 
an  die  Seite  zu  stellen.  Wie  die  Theologen  von  einer  voll- 
kommneren  Kirche  im  Himmel  sprechen,  so  können  auch  die 
Männer  des  States  den  irdischen  Stat  nur  als  eine  Vorstufe 
des  himmlischen  States  betrachten. 

Der  wirkliche  Stat  aber  ist  wie  die  wirkliche  Kirche  nur 
die  wir  hier  erkennen,  in  denen  wir  leben  und  arbeiten.  Nur 
mit  diesem  wirklichen  State  hat  es  die  Wissenschaft  des  Stats- 
rechts  zu  thun,  und  dieser  Stat  wird  vollständig  aus  der 
menschlichen  Natur  erklärt  und  begriffen. 


Die    Statsformen. 


Erstes  Capitel. 

Die  Eintheilung  des  Aristoteles. 

Vor  mehr  als  zweitausend  Jahren  hat  Aristoteles  eine 
Eintheilung  der  Statsformen  begründet,  welche  noch  gegen- 
wärtig als  die  herrschende  Ansieht  zu  betrachten  ist.  Bei 
dieser  Eintheilung  ist  Aristoteles  von  der  obrigkeitlichen  Ge- 
walt, oder  genauer  von  der  obersten  Regierungsgewalt  im 
State  ausgegangen.  In  jedem  State  gibt  es  ein  höchstes, 
in  gewissem  Sinne  ein  herrschendes  Organ,1  in  welchem 
die  oberste  obrigkeitliche  Macht  concentrirt  erscheint,  welchem 
gegenüber  alle  andern  einzelnen  Organe  eine  untergeordnete 
Stellung  und  Bedeutung  haben.  Die  Art,  wie  dieses  herr- 
schende Organ  in  einem  State  bestellt  wird,  prägt  demselben 
daher  auch  einen  eigentümlichen  Stempel  auf,  und  es  ist 
ganz  natürlich  und  schicklich,  nach  ihr  die  verschiedenen  Ar- 
ten der  Statsformen  zu  bestimmen. 

Als  recht m äs z ige  Statsformen  bezeichnet  er  alle  die, 
welche  die  Wohlfahrt  der  Gemeinschaft  bezwecken,, als  Aus- 

1  Aristot.,  Pol.  in.  4,  1. 


Erstes  Capitel.     Die  Eintheilung  des  Aristoteles.  279 

artungen  (naQHxßdaetg)  dagegen  die,  welche  nur  das  Wohl 
der  Kegierenden  bezwecken.2 

Von  diesen  Gedanken  aus  findet  er  nun  drei  richtige 
Grundformen  des  States,  denen  hinwieder  drei  Abarten  zur 
Seite  stehen.  „Die  oberste  Kegierungsgewalt,"  sagt  er,  ,, steht 
nothwendig  entweder  Einem,  oder  Wenigen  (einer  Minderheit), 
oder  der  Mehrheit  zu."  Daraus  ergeben  sich  folgende  rich- 
tige Arten: 

1.  Das  Königthum  (ßamZeia),  wie  Aristoteles  sie  nannte, 
oder  die  Monarchie,  wie  wir  sie  zu  nennen  pflegen,  als 
die  Herrschaft  des  Einen. 

2.  Die  Aristokratie,  als  die  Herrschaft  der  ausge- 
zeichneten Minderheit. 

3.  Die  Herrschaft  der  Mehrheit,  der  Menge  hiesz  er 
Politie. 3  Weil  zu  seiner  Zeit  die  Demokratie  der  griechischen 
Städte,  Athens  voraus,  entartet  war,  so  vermied  er  es,  den 
Namen  Demokratie  für  die  gute  Art  der  Mehrheitsherrschaft 
zu  gebrauchen,  und  zog  es  vor,  die  Abart  derselben  so  zu  be- 
zeichnen. Später  ist  aber  der  Name  Demokratie  wieder 
der  gewöhnliche  für  diese  dritte  Statsform  geworden,  und  da- 
her wollen  auch  wir  diesen  Sprachgebrauch  beibehalten. 

Die  drei  Abarten  sind  nach  Aristoteles: 

1.  Die  Tyrannis  oder  Despotie  als  die  Alleinherr- 
schaft, welche  vornehmlich  den  Vortheil  des  Alleinherrschers 
bezweckt. 

2.  Die  Oligarchie,  als  die  Herrschaft  der  Keichen,  zu 
ihrem  Vortheil. 

3.  Die  Demokratie,4  wie  sie  Aristoteles,   die  Ochlo- 


3  Ebend.  III.  5,  1.  2. 

4  Ebend.  I.  5,  4.  5.  Cicero  de  Republ.  I.  2G.  drückt  den  Aristo- 
telischen Gedanken  so  aus:  „Quum  penes  unum  est  oraniura  summa 
rerum,  regem  illum  unum  vocamus,  et  regnum  ejus  reipublicae  statum. 
Quum  autem  est  penes  delectos,  tum  illa  civitas  optimatium  arbitrio  regi 
dicitur.     Illa  autem  est  civitas  populär  is,  in  qua  in  populo  sunt  omnia; 


280  Viertes  Buch.     Die  Statsformeu. 

kratie,    wie  wir  sie  nennen,   als   die  Willkürherrschaft  der 
armen  (wir  können  hinzusetzen  und  der  rohen)  Menge. 

Es  scheint,  als  habe  Aristoteles  bei  dieser  Eintheilung 
den  Hauptnachdruck  auf  die  Zahl  der  Personen  gelegt,  welche 
an  jener  herrschenden  Gewalt  Antheil  haben,  etwa  wie  nach 
dem  Linne'sehen  Systeme  die  Zahl  der  Staubfaden  die  Arten 
der  Pflanzen  bestimmt.  In  dir  That,  das  wäre  ein  AYider- 
spruch  gegen  sein  eigenes  Grundprincip ;  denn  dieses  ist  die 
Qualität,  nicht  die  Quantität  des  herrschenden  Organs. 
Aristoteles  hat  aber  selbst  Bchon*  die  Gefahr  solchen  Inrthnms 
erkannt,  und  daher  darauf  aufmerksam  gemacht,  dasz  die  Ver- 
schiedenheit der  Zahl  mit  einer  Verschiedenheit  des  Charak- 
ters des  Herrschenden  in  einem  natürlichen  Zusammenhange 
stehe,  und  im  letzten  Grunde  immerhin  mehr  auf  diesen  als 
auf  jenen  zu  sehen  sei.  Aber  er  hal  die  Principien  der  Qua- 
lität noch  nicht  bestimmt  genug  ausgesprochen. 

In  einer  andern  Beziehung  aber  bedarf  die  Aristotelische 
Eintheilung  einer  Verbesserung.  Sie  ist  nämlich  un voll- 
ständig, indem  es  eine  Anzahl  Staten  in  der  Geschieht« 
geben  hat,  welche  sich  unter  kein«'  jener  drei  Grundformen 
einreihen  lassen.  Nadi  allm  dreien  gehört  die  oberste  Ifaohl 
im  Staic  Menschen  in,  sei  es  einem  Individuum,  oder  den 
Ausgezeichneten,  oder  dem  Volke,  Nun  aber  haben  wir  Staten 
gesehen,  in  denen  keine  menschliche  Obrigkeil  anerkannt,  s«>n- 
dern  Bei  es  Gott,  oder  ein  Gott,  oder  ein  anderer  aber* 
menschlicher  Geist,  oder  eine  Idee,  als  der  wahre  und 
eigentliche  Herrscher  verehr!  wurde.  Die  Menschen,  welche 
die  Herrschaft  verwalteten,  -allm  dann  nicht  alfi  Inhaber  der- 

and  lü-zt  die  drei  Ausartungen  F.  i.">  entstehen,  «renn  „<'\  rege  dominus, 
ex  optimatibus  /'actio,  ex  populo  turha  ei  COnfustO*  werde. 

5  Aristot.,  Polit.  I.  5,  7.  Ich  hatte  dafl  früher,  durch  die  Dar- 
stellungen manober  Neuem  rerleitet,  in  meinen  „Studien"  übersehen 
und  dalier  dem  groszen  Statslehrer  einen  ungerechten  Vorwurf  gemacht, 
Sparta  war  MonarelnC ,  obwohl  zwei  Könige  zumal  regierten.  Venedig 
war  Aristokratie,  obwohl  Ein  Doge  an  der  Spitze  des  States  stand. 


Zweites  Capitel.     Der  sogenannte  gemiscLte  Stat.  281 

selben,  sondern  nur  als  Diener  und  Verwalter  eines  Herrschers, 
welcher  unsichtbar  über  den  Kegierten  throne,  frei  von  den 
Schwächen  ihrer  menschlichen  Natur. 

Wir  können  diese  vierte  Gattung  von  Statsformen,  wenn 
sie  zur  Wohlfahrt  der  Kegierten  dienen,  unter  dem  gemein- 
samen Namen  der  Ideokratie  (Theokratie)  zusammen- 
fassen, und  die  Abart  derselben  Idolokratie  nennen. 

Anmerkung.  Schleiermacher  hat  ausgeführt,6  dasz  die  antiken 
Formen  der  Monarchie,  Aristokratie,  Demokratie  „durchgängig  in  ein- 
ander übergehen,"  so  dasz  auch  in  der  Demokratie  die  Volksleiter  als 
eine  Aristokratie  und  zuweilen  einzelne  wie  z.B.  Perikles  wie  Monarchen 
erscheinen.  Dasselbe  läszt  sich  in  umgekehrter  Richtung  von  der  Mon- 
archie  behaupten,  und  auch  Mirabeau7  hat  Recht,  wenn  er  sagt:  „In 
gewissem  Sinne  Bind  die  Republiken  monarchisch,  und  in  gewissem  Sinn 
die  Monarchien  hinwieder  Republiken. a  Dessen  ungeachtet  i.*t  jene  Unter- 
scheidung der  Statsformen  keineswegs  müszig,  und  bleibt  es  wahr,  dasz 
die  Art  des  Btatsoberhauptes  der  ganzen  Statsverfassung  ein  specifisches 
Geprftge  verleiht,  und  dasz  mit  ihr  die  wichtigsten  politischen  Principien 
in  engster  Beziehung  stehen. 


Zweites  Capitel. 

Der  sogenannte  gemischte  Stat. 

Schon  im  Alterthum  hat  man  den  Versuch  gemacht,  den 
drei  Aristotelischen  Arten  des  Stats  eine  vierte  beizuordnen, 
welche  man  die  gemischte  genannt  hat.  Cicero  insbeson- 
dere glaubt  in  dem  römischen  State  das  Vorbild  für  diese 
vierte,  aus  Monarchie,  Aristokratie  und  Demokratie  gemischte 
Statsform  gefunden  zu  haben,  und  erklärt  diese  für  die  beste 
unter  den  vieren.1 

6  Abhandlungen   der  Berl.  Akademie   der  Wissensch.    1814.     Ueber 
die  Begriffe  der  verschiedenen  Statsformen. 

7  Rede  von  1790  in  seinen  Oeuvres  VIII.  139. 

1    Cicero   de  Republ.   I.   29:    „Quartuni   quoddam   genus   reipublicae 


282  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Versteht  man  unter  dem  gemischten  State  nur  eine  Er- 
mäszigurjg  oder  Beschränkung  der  Monarchie,  oder  Aristokratie, 
oder  Demokratie  durch  andere  statliche  Fotenzen,  z.  B.  die 
Beschränkung  der  Monarchie  durch  Beiordnung  eines  aristokra- 
tischen Senates  oder  Oberhauses  und  einer  demokratischen 
Volksversammlung  oder  Volksvertretung,  so  ist  es  wahr,  dasz 
so  mannichfaltig  gegliederte  Statsverfassungen  besser  sind  als 
solche,  in  welchen  die  Herrschaft  eines  oder  einiger  oder  der 
Menge  einseitig  und  schrankenlos  waltet.  Aber  dann  ist  durch 
solche  Mischung  keine  neue  Gattung  von  Staten  entstanden ; 
denn  immerhin  ist  die  oberste  Regierungsmacht  in  der  Hand 
des  Monarchen  oder  der  Aristokratie  oder  des  Volkes  concentrirt. 

Versteht  man  dagegen  die  Mischung  so,  dasz  die  oberste 
Regierungsgewalt  selbst  get heilt  sei  zwischen  dem  Monar- 
chen, der  Aristokratie  und  dem  Volk,  so  dasz  zwei  oder  meh- 
rere oberste  Gewalten  neben  einander  bestehen,  jede  von  der 
andern  unabhängig,  jede  in  einem  gewissen  Kreise  als  die 
oberste  anerkannt,  dann  hat  Tacitus  Recht,  welcher  den  Ge- 
danken des  gemischten  States  verwirft,  und  behauptet,  ein  so 
gemischter  Stat  komme  in  Wirklichkeit  nicht  vor  oder  sei 
mindestens  nicht  von  Dauer.  ■ 

Neuere  haben  zwar  gemeint,  England  sei  ein  solcher  Stat, 
in  welchem  die  Herrschaft  unter  drei  oberste  Mächte  getheilt 
sei,  den  König,  das  Oberhaus  und  das  Unterhaus,  und  eben 
darauf  beruhe  die  Vollkommenheit  der  englischen  Verfassung, 
dasz   sie  das  Ideal    dieser    vierten    gemischten   Statsform    rer- 

maxime  probandum  esse  censeo,  quod  B54  i-x  hil,  quie  prima  dixi,  mo- 
deratum  et  permixtum  tribus,"  und  I.  45:  „IMaeet  enim,  esse  quiddam 
in  republica  praestans  et  regale ,  esse  aliud  auetoritati  prinoipum  parti- 
tum  ac  tributum,  esse  quasdam  res  servatas  judicio  volimtatiqtie  multi- 
tudinis." 

2  Tacitus  Annal.  IV.  33:  „Cunctas  nationes  et  urbes  populus  aut 
]>rii>tores  aut  singuli  regunt:  delecta  ex  hil  et  consociata  reipublicae 
forma  laudari  facilius  quam  evenirc;  vel  si  evenit,  haud  diutuma  csso 
potest.44 


Zweites  Capitel.     Der  sogenannte  gemischte  Stat.  283 

wirklicht  habe.  Allein  die  englische  Verfassung  ist  nicht  aus 
einer  Theilung  der  obersten  Regierungsgewalt  entstanden. 
Vielmehr  ist  die  Monarchie,  welche  dem  State  in  alter  Zeit 
seine  specifische  Form  gegeben,  nur  nach  und  nach  durch  eine 
mächtige  Aristokratie,  und  später  durch  den  Hinzutritt  demo- 
kratischer Elemente  vielfach  beschränkt  und  ermäszigt  worden. 
Die  äuszere  Form  des  States  ist  fortwährend  monarchisch  ge- 
blieben, und  es  wird  die  ganze  oberste  Kegierungsmacht  (die 
Kegierungsgewalt)  nicht  nur,  sondern  auch  die  oberste  Stelle 
in  dem  zusammengesetzten  Körper  des  gesetzgebenden  Parla- 
ments von  dem  englischen  Statsrecht  dem  Könige  allein  zu- 
getheilt. 3 

Uebrigens  wird  gewöhnlich  übersehen,  dasz  das  Princip 
der  Aristotelischen  Eintheilnng  nicht  auf  der  Art  und  Zu- 
sammensetzung der  gesetzgebenden  Gewalt  beruht;  denn 
in  dieser,  wo  sie  ausgebildet  ist,  stellt  sich  regelmäszig  der 
ganze  Stat  mit  all'  seinen  Hauptbestandteilen  dar.  Sondern 
sie  beruht  auf  dem  Gegensatze  der  Regierung  und  der  Re- 
gierten,  und  der  Frage,  wem  die  oberste  Kegierungsgewalt 
zustehe?  Diese  aber  läszt  sich  nicht  theilen  etwa  zwischen 
dem  König  und  den  Ministern.  Eine  solche  Dyarchie  oder 
Triarchie  widerspricht  dem  Wesen  des  States,  welcher  als 
ein  lebendiger  Organismus  der  Einheit  bedarf.  In  allen 
lebendigen  Wesen  finden  wir  zwar  eine  Mannichfaltigkeit  der 
Kräfte  und  Organe,  aber  zugleich  eine  Einheit  in  dieser 
Mannichfaltigkeit,  eine  Ueber-  und  Unterordnung  der  Organe, 
ein  oberstes  Organ,  in  welchem  die  einheitliche  Leitung  con- 
centrirt  ist.  Kopf  und  Leib  haben  kein  getrenntes  Leben, 
jeder  für  sich,  und  sind  sich  auch  nicht  gleichgestellt.  So 
ist  auch  im  State   ein  oberstes  Organ  die  nothwendige  Bedin- 


3  Eine  ganz  andere  Frage  ist  es,  ob  nicht  der  politische  Geist  in 
der  englischen  Verfassung  eher  ein  aristokratischer  als  ein  monarchischer 
geworden  sei.    Vgl.  Blackstone  I.  2. 


284  Vierleb  Buch.     Die  Statsformen. 

gung  seines  Lebens,  und  dieses  kann  nicht  gespalten  sein, 
wenn  der  Stat  selbst  beisammen  bleiben  soll. 

Es  gibt  somit  keine  neue  Gestaltung  von  Staten,   welche 
wir  als   die   gemischten  bezeichnen  könnten:   vielmehr  Boweit 

die  Mischung  möglich  ist,  findet  sie  hinreichende  Berücksich- 
tigung bei  Behandlung  der  früher  genannten  reinen  Statsformen. 

Anmerkung.  In  unsern  Tagen  ist  viel  von  „demokratischer 
Monarchie"  die  Rede  gewesen  und  diese  als  die  Aufgabe  der  Zeit  be- 
zeichnet worden.  Soll  damit  der  Gedanke  ausgedrückt  werden,  da-/  die 
heutige  Monarchie  sich  vorzugsweise  auf  die  groszen  Volksmassen  (den 
Demos)  stützen  und  mit  diesen  in  nahem  Rapport  bleiben  müsse,  so  ist 
das  wahr,  aber  es  wird  damit  nicht  eine  gemischte,  sondern  eine  reine 
Monarchie  bezeichnet.  Versteht  man  aber  darunter  eine  Monarchie, 
durch  demokratische  Institutionen  beschränkt  and  srmäMrigt,  oder  etwa 
wie  im  Jahr  1830  die  Juliverfassung  Frankreichs  eine  Monarchie  „von 
republikanischen  Institutionen  umgeben, *  so  bat  der  Ausdruck  noch  einen 
Sinn,  obwohl  such  in  diesem  Falle  —  wie  die  Geschichte  lehrt  —  die 
Gefahr  nahe  genug  liegt,   dual  die  Prinorpien  der  beiderlei  Institutionen 

in  Kampf  gerathen   und   die  Monarchie   durch   die   aufstrebende  Demokratie 

oder  Republik  gestürzt  werde.  Versteht  man  endlich  unter  jenem  Aus- 
druck eine  Mischung  oder  Theilung  der  obersten  Regierungsgeiralt  selbst, 
die  zur  Hallte  monarchisch  1  rar  Hälfte  demokratisch  sein  müsse,  so  hat 
der  Ausdruck  keinen  vernünftigen  sinn  und  könnte  ein  bo  eingerichteter 
Stat  unmöglich  bestehen.  Die  französische  Constituante  von  1789  hatte 
mitBousseau  an  eine  derartige  Theilung  der  obersten  Statsmaeht  In  zwei 
gleiche  Gewalten  geglaubt,  deren  eine  dem  Volke,  die  andere  dato  Kö- 
nige zukomme.  Aber  der  innert»  Widerspruch  und  die  rnhaltbarkeit  der 
Verfassung  offenbarte  sich,  sobald  Bie  in  die  Wirklichkeit  übertreten 
wollte.  Pinheiro-Ferreira  (Prinoipea  du  droit  public,  §.475)  erklärt  die 
demokratische  Monarchie  als  diejenige,  in  welcher  ea  keine  Privilegien 
gebe,  dehnt  aber  den  Begriff  der  Pririlegien  auf  jede  Anerkennung  etaei 
Aristokratie  aus,  versteht  somit  unter  jener  eine  Monarchie,  in  «reicher 
es  nur  demokratische,  keine  aristokratischen  Organismen  gibt,  ahn  in 
gewissem  Sinne  einen  unvollständigen  Stat,  in  welchem  die  aristokrati- 
schen Elemente  nicht  berücksichtigt  oder  unterdrückt  -ind.  Vgl.  unten 
Buch  V.  Cap.20. 


Drittes  Capitel.     Neuere  Fortbildung  der  Theorie.  285 

Drittes  Capitel. 

Neuere  Fortbildung  der  Theorie. 

1.  Montesquieu  hat  sich  im  Wesentlichen  an  die  Ein- 
teilung des  Aristoteles  gehalten,  aber  insofern  einen  wissen- 
schaftlichen Fortschritt  gemacht,  als  er  für  die  drei  Formen 
der  Monarchie,  Aristokratie  und  Demokratie  —  abgesehen  von 
der  Zahl  der  Regierenden  —  drei  geistige  oder  moralische 
Lebensprincipien  aufsuchte.  Ob  er  sie  gefunden  —  die  Tu- 
gend erhob  er  zum  Princip  der  Demokratie,  die  Mäszigung 
zu  dem  der  Aristokratie,  die  Ehre  zu  dem  der  Monarchie, 
und  die  Furcht  zu  dem  der  Despotie  —  ist  freilich  eine  an- 
dere Frage.  Auszerdem  aber  fügte  er  den  drei  Arten  als 
vierte  die  Despotie  hinzu,  die  Aristoteles  besser  als  Ausartung 
bezeichnet  und  den  richtigen  Statsforinen  entgegengesetzt  hatte. 

2.  Sehr  beachtenswert!]  ist  der  Versuch  Schleierma- 
chers,1  die  mancherlei  Staten  zu  ordnen,  indem  er  verschie- 
dene Entwicklungsstufen  des  statlichen  Bewusztseins  unter- 
schied. Der  Stat  entsteht,  wenn  in  der  Völkerschaft  das 
Bewusztsein  erwacht  des  nothwendigen  „Gegensatzes  von  Re- 
gierung und  Unterthan."  Die  erste  Stufe  ist  die,  wo  dieses 
Bewusztsein  in  einer  kleinen  Völkerschaft  hervortritt,  gewöhn- 
lich so,  dasz  ,,die  ganze  zum  Statswcsen  reife  Masse  gleich- 
förmig" ergriffen  wird.  Dann  wird  jener  Gegensatz  in  Allen 
sich  entwickeln.  Sie  werden  sich  vereinigen,  um  die  Obrig- 
keit darzustellen  und  sich  wieder  trennen,  um  sich  als  Unter- 
thanen  zu  zeigen.  Das  ist  die  Demokratie,  in  welcher  der 
Gegensatz  zwischen  Gemeingeist  und  Privatinteresse  nur  schwach 
auseinander  tritt.  Oder  es  kann  die  zum  Statwerden  reife 
Masse  von  dem  statbildenden  Anstosz  ungleichförmig  berührt 
werden,  das  politische  Bewusztsein  kann  sich  zuerst  in  einem 

1   Schleier  mach  er:    TJeber  die  Begriffe   der   verschiedenen  Stats- 
formen, in  den  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  y.  1814. 


286  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

oder  in  mehrern  entwickeln,  und  so  eine  Ungleichheit  ent- 
stehen, welche  zur  Monarchie  oder  Aristokratie  führt. 
Die  drei  Formen  wechseln  leicht  auf  dieser  Entwicklungsstufe 
des  noch  kleinen  States  und  sind  auch  unter  sich  noch  ähn- 
lich. Die  natürliche  Hinneigung  auf  dieser  Stufe  ist  aber 
immer  zur  Demokratie,  indem  auch  in  jenen  Fällen  einer 
oder  mehrere  der  Masse  nur  vorausgeeilt  sind  in  dem  politi- 
schen Bewusztsein. 

Die  zweite  Stufe  umfaszt  mehrere  Völkerschaften.  Sie 
ist  eine  Mittelstufe  zu  der  höhern  dritten,  in  welcher  das 
Bewusztsein  der  Einheit  der  Nation  seinen  vollen  Ausdruck 
findet.  Auf  ihr  übt  eine  höhere  Völkerschaft  die  Herrschaft 
aus  über  die  übrigen  regierten  Stämme.  Diese  Mittelform  des 
States  wird  daher  wesentlich  aristokratisch  sein,  wie  die 
Form  der  niederen  Ordnung  wesentlich  demokratisch.  Demo- 
kratisch kann  derselbe  nicht  sein,  weil  die  Mehrheit  der  Stämme 
dem  herrschenden  unterworfen,  somit  nicht  gleich  ist,  Die 
äuszere  Form  der  Monarchie  kann  er  wohl  annehmen,  aber 
der  König  wird  dann  zu  dem  herrschenden  Stamme  gehören, 
und  insofern  nur  ein  aristokratischer  König  sein. 

Erst  auf  der  obersten  Stufe  spricht  sich  die  Einheit  eines 
ganzen  groszen  Volkes  in  den  Formen  des  States  rein  und 
klar  aus.  Die  demokratische  Natur  der  ersten  Stufe  konnte 
weder  den  statliehen  Gegensatz  zu  voller  Entfaltung  bringen, 
noch  den  Umfang  eines  groszen  Volkes  erreichen.  In  der 
Aristokratie  der  zweiten  Stufe  hatte  der  herrsehende  Stamm 
noch  immer  sein  Privatinteresse:  and  die  Einheit  des  Volkes 
war  nicht  das  Lebensprincip  des  State.  Auf  dieser  dritten 
Stufe  erst  kommt  die  echte  .Monarchie  zur  Vollendung,  in 
welcher  der  Monarch  ohne  alle  Vermischung  mit  Privatinter- 
essen die  Einheit  des  States  und  der  Regierung  in  voller  Kraft 
und  Macht  darstellt. 

Die  drei  bekannten  Formen  des  States  erhalten  somit 
durch    Schleiermachers  Darstellung   eine   geistige   Begründung 


Viertes  Capitel.     Das  Princip  der  vier  Grundformen.  287 

und  eine  Beziehung  auf  die  Entwicklungsstufen  der  politischen 
Idee,  und  werden  so  geordnet,  dasz  die  Demokratie  als  die 
niedrigste  Stufe,  die  Monarchie  als  die  höchste  erscheint. 
Immerhin  ist  durch  diese  Erörterung,  wenn  auch  nicht  ein 
neues  Princip  der  Eintheilung  eingeführt,  so  doch  eine  höhere 
Einsicht  in  den  Geist  der  verschiedenen  Statenbildungen  ge- 
wonnen worden. 

Die  Entwicklungsstufen  der  Geschichte  aber  entsprechen 
der  logischen  Entwicklungsstufe,  wie  sie  Schleiermacher  auf- 
faszt  keineswegs. 


Viertes  Capitel. 

Das  Princip  der  vier  Grundformen. 

Der  specifische  Unterschied  der  verschiedenen  Statsformen 
ist,  wie  Aristoteles  erkannt  hat,  in  der  verschiedenen  Art  zu 
finden,  wie  der  Gegensatz  der  Regierung  und  der  Regierten 
aufgefaszt  wird,  insbesondere  in  der  Qualität  (nicht  Quantität) 
des  Herrschers. 

I.  Die  erste  Form  war  die  der  Ideokratie,  deren  höch- 
ster Typus  die  Theokratie  ist.  Das  Volk  dachte  sich  den 
Herrscher  als  ein  ihm  in  jeder  Weise,  schon  von  Natur  über- 
geordnetes, als  ein  übermenschliches  Wesen,  Gott  selbst 
wurde  als  der  wahre  Regent  des  States  verehrt. 

II.  Den  schroffsten  Gegensatz  zu  der  Ideokratie,  in  wel- 
cher das  Volk  einer  fremden,  auszer  ihm  und  über  ihm 
stehenden  Macht  unterworfen  ist,  bildet  die  Statsform,  in  der 
das  Volk  sich  selbst  beherrscht,  d.  h.  in  seiner  Gesammt- 
heit  als  Regierung,  in  seiner  Auflösung  in  einzelne  Bürger  als 
Regierte  erscheint:  die  Demokratie,  Volksherrschaft. 

III.  Die  statliche  Unterscheidung  zwischen  Regierung  und 
Regierten  hält  sich  zwar  innerhalb  des  Volkes,  und  ist  mensch- 


288  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

lieh,  aber  so  geordnet,  dasz  eine  höhere  Classe  oder  ein 
höherer  Stamm  des  Volkes  als  Eegierung,  die  übrigen  Classen 
und  Stämme  dagegen  als  Regierte  sich  darstellen.  Die  letztern 
sind  dann  nur  Regierte,  nicht  auch  Regierung,  die  erstem 
zwar  vorerst  Regierung,  aber  daneben  doch  in  ihren  einzelnen 
Gliedern  wieder  Regierte:  Aristokratie. 

IV.  Der  Gegensatz  von  Regierung  und  Regierten  ist  voll- 
kommen, aber  menschlich  so  entfaltet,  dasz  die  Regierung  in 
einem  Individuum  concentrirt  ist,  welches  nur  Regent,  nicht 
zugleich  Regierter  ist,  welches  somit  dem  State  ganz  und  gar 
angehört  und  gewissermaszen  die  Einheit  der  Volksgemein- 
schaft personificirt :  Monarchie. 

Für  jede  der  vier  Grundformen  gibt  es  einen  Urtypus, 
welcher  in  ihr  sich  spiegelt: 

Die  Theokratie  bildet  die  Herrschaft  Gottes  über 
die  AVeit,  aber  noch  als  eine  unvermittelte,  gewissermaszen 
rohe  und  despotische  nach. 

Die  Monarchie  verherrlicht  die  Einheit  der  Mensch- 
heit in  ,,dem  Mensehen41  als  Individuum,  welches  als 
Herrscher  im  State  die  Gesammtheit  darstellt,  oder  die  Ein- 
heit des  Volks   in  der  Personifieation    des  Volksfürst  en, 

Die  Demokratie  drückt  die  Idee  der  Gemeinschaft  des 
Volks  oder  aller  Individuen  aus  und  stellt  die  Gemeinde 
im  State  dar. 

Die  Aristokratie  verkörpert  den  Gegensatz  der  edleren 
und  gemeinen  Bestandteile  des  Volks,  und  gibt  jenen 
die  Herrschaft  über  diese.  Wie  der  Demokratie  die  Gemeinde, 
so  schwebt  ihr  der  Adel  der  höbe  reu  Rasse  als  Typus  vor. 

In  gewissem  Sinn  stehen  Theokratie  und  Monarchie 
auf  der  einen,  Aristokratie  und  Demokratie  auf  der 
andern  Seite  sich  gegenüber.  In  den  beiden  ersten  nämlich 
ist  die  Regierung  in  höchster  Machtfülle  und  Majestät  so  con- 
centrirt, dasz  der  Regent  nicht  zugleich  Regierter  ist,  dasz  er 
nur  das  Statsinteresse ,  nicht  zugleich  Privatinteressen  vertritt, 


Viertes  Capitel.     Das  Princip  der  vier  Grundformen.  280 

In  der  Theokratie  aber  ist  diese  Erhabenheit  der  Statsherr- 
schaft  göttlich  nnd  daher  absolut,  in  der  Monarchie  mensch- 
lich und  daher  relativ  dargestellt.  Die  beiden  letztern 
Grundformen  auf  der  andern  Seite,  welche  daher  auch  mit 
dem  gemeinsamen  Namen  der  Republik  zusammengefaszt 
werden,  haben  das  Gemeinsame,  dasz  in  ihnen  der  Gegensatz 
der  Regierung  und  Regierten  nicht  so  scharf  hervortritt,  son- 
dern eine  gewisse  Mischung  voraussetzt,  so  dasz  die  nämlichen 
Menschen  sich  bald  als  Obrigkeit,  bald  als  Unterthanen  be- 
trachten und  äuszern,  und  zugleich  öffentliche  und  Privat- 
interessen haben.  In  der  Demokratie  verbreitet  sich  diese 
Mischung  über  das  ganze  Volk,  in  der  Aristokratie  dagegen 
ist  sie  auf  die  herrschende  Classe  des  Volkes  beschränkt, 
welche  zwar  den  übrigen  Bestandteilen  des  Volkes  nur  als 
Herrscher  gegenübertritt,  unter  sich  selber  aber  gewöhnlich 
demokratisch  organisirt  und  so  Herrscher  und  Unterthan  zu- 
gleich ist.  Insofern  erscheint  die  Aristokratie  allerdings  als 
eine  Zwischen-  und  Mittelstufe  zwischen  der  Demokratie  und 
der  Monarchie. 

In  einer  andern  Beziehung  aber  gehören  hinwieder  Mon- 
archie und  Aristokratie  zusammen  und  sind  der  Theo- 
kratie und  Demokratie  gegenüber  zu  stellen.  In  den 
erstem  ist  der  Gegensatz  zwischen  Regierung  und  Regierten 
menschlich  so  organisirt,  dasz  sich  die  Regenten  als  solche 
selbständig  fühlen  und  wissen,  und  ebenso  von  dem 
Volke  geachtet  werden,  dasz  sie  in  eigenem  Namen  und 
zu  selbständigem  Rechte  die  Herrschaft  üben,  vollkom- 
mener freilich  in  der  Monarchie  als  in  der  Aristokratie.  In 
den  beiden  letzteren  dagegen  bedarf  der  als  Herrscher  gedachte 
Gott  immer,  das  als  Herrscher  gedachte  Volk  doch  in  der 
Regel  einer  Stellvertretung  und  Vermittlung  durch 
Priester  oder  Beamte,  welche  persönlich  zu  den  Regierten 
gehören,  aber  nun  als  Diener  Gottes  oder  des  Volks  in 
deren  Auftrag  und  Namen    für  den   Herrscher  handeln. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  19 


290  Viertes  Buch.     Die  Statsfornien. 

Diese  können  nicht  sich  selber  als  Regenten  betrachten,  aber 
sie  verwalten  gleichsam  die  Regentschaft  für  den  eigentlichen 
Regenten,  der  nicht  persönlich  handeln  kann.  Sie  sind  ge- 
nöthigt,  sich  beständig  an  eine  andere  Macht  anzulehnen,  und 
in  dieser  Hinweisung  auf  die  höhere  Macht,  welche  auch  sie 
beherrscht,  die  Autorität  zu  rochen,  welche  ihnen  selber  abgeht. 

Anmerkungen.  1.  Kntsprechend  dem  Unterschied  der  vier  Stats- 
formen lassen  sieh  die  Staten  aucli  nach  ihrem  politischen  Charak- 
ter, abgesehen  ron  der  Form,  unterscheiden,  Es  gibt  theokrati- 
sirende  Staten  dem  Geiste  nacli.  wenn  gleich  nieht  ein  Gott,  sondern 
vielleicht  ein  Kirchenfürst,  oder  eine  priesterliche  Aristokratie,  oder  ein 
religiös  bestimmter  Demo-  darin  das  Regiment  Hat.  Ebenso  gibt  es 
aristokratisirende  Staten,  die  keine  Aristokratien  sind,  demokra- 
ti.sirende  Staten,  die  keine  Demokratien,  und  sogar  \on  monarchi- 
schem Geist  erfüllte  Staten,  die  keine  Monarchien  -ind.  Diese  Ein* 
theilung  der  Staten  gehört  aber  nicht  ins  Btatsreoht,  sondern  in  die 
Politik. 

2«  Ebenso  sieht  die  Rohmerische  Eintheilung  der  staten  (F. Böh- 
mer! Lehre  von  den  polit.  Parteien  J.  219  ff.)  naon  den  rier  Altersstufen 
der  Mensches  Eunieasl  Dicht  auf  die  Btatsform,  Mindern  auf  den  politi- 
schen Geist,  der  in  dem  Biete  lebt.  Bis  i-t  daher  nicht  eine  -tat-- 
rechtliche,  sondern  eine  politische  Classification,  and  von  ansrer 
cbigen  Eintheilung  gans  r<  d,  aber  nicht  derselben  widersprechend. 

Sie  erkennt 

den  radiealen  Btatsgeist  in  dem  [dolitat, 

-      liberalen  „  „        „      Individual-t.it, 

„     oont  erratiren  „        „      „     Ka--c-t.it, 

bielutistischen       »       »      «     Formenstal 

laue  Monarchie   /.  B,  kann  möglicher  Weise  alle  diese  Phasen  das 

politischen  Geistes   der   Reihe    nach   durchmachen,     Wenn    K.  v.  Mohl 

(8tatswissenschaft  I.  E  einwendet,    ein    Volk    sei   nicht  jung  nnd 

nicht  alt,   weil   in  jedem  Volk  Kinder  und  Kreise   sugleieh   beisammen 

Wien,  >u  beruht  diese  Einwendung  auf  einem  Hissverstandniss  dar  Lehre, 

die   er  bestreitet     Bohon   *  1  i •■   Alten  haben  gewuszt,   und   v.  Barignj 

hat  ei  der  deutschen  Juristenwelt  klar  gemacht,  dass  auch  die  Volker 

ganische  Gtosammtwesen   ihre  Altersstufen   durchleben,    analog  der 

Jugend    Ond    «lein    Alter   der    Indi\idueii.      Au-/er   die. er    Folge   der  Zeiten. 

h  in  jeder  Volksgeschichte  wiederholt,  kommt  aber  der  angeborene 
Volkscharakter   in    Betracht.      Wie    es    ein/eine    Menschen    gibt,   «leren 

Wesen    kindlich    oder    auch    kindisch    i-t    und    bleibt,     und    die   leibst    im 

reiten    und    hohen    Alter    diesen    Orundsug     ihrer    Natur    nie    verlHugnen, 

und    hinwieder    andere,    die    schon    in    früher   Jugend    einen    ältlichen 


Fünftes  Capitel.     Das  Princip  der  vier  Nebenformen.  291 

Charakter  haben,  so  gibt  es  auch  kindliche  und  ältliche  Völker  von 
Natur.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  das  in  den  grossen  Rassen.  Die 
Negervölker  sind  mehrtausendjährige  Kinder,  die  rothen  Indianer  zeigen 
ebenso  während  mehreren  Jahrhunderten  beharrlich  ein  ältliches  Wesen. 
In  Europa,  dem  Welttheil  der  vorzugsweise  männlichen  Völker,  erscheint 
doch  die  Natur  der  Spanier  —  abgesehen  von  der  Lebenspeiiode,  in  der 
sie  sich  befinden  —  eher  dem  altern,  die  der  deutschen  dem  jugend- 
lichen Geiste  zu  entsprechen.  Wie  die  Völker,  sei  es  von  Natur  und 
daher  beständig,  sei  es  auf  der  Altersstufe,  auf  welcher  sie  gerade  sich 
befinden,  und  daher  periodisch  jung  oder  alt  sind,  so  erfüllen  sie  mit 
diesem  Geiste  auch  den  Stat ,  in  dem  sie  leben.  Die  männliche  Form 
der  constitutionellen  Monarchie  wird  daher  auf  Haiti,  weil  ein  kindisches 
Volk  in  ihr  lebt,  zu  einem  bübischen  Possenspiel. 


Fünftes  Capitel. 

Das  Princip  der  vier  Nebenformen. 

Die  Art  des  Statshauptes  ist  zwar  entscheidend  für  die 
ganze  Gestalt  des  Statskörpers.  Aber  in  zweiter  Linie  kommt  doch 
auch  das  Recht  der  Regierten  in  Betracht,  und  bestimmt 
secundär  den  rechtlichen  Charakter  der  Statsverfassnng.  Die 
Aristotelische  Eintheilnng  der  Statftformen  enthält,  wenn  man 
so  die  Gegenseite  in  dem  (Jrgegensatze  aller  Statenbildung 
berücksichtigt,  die  nöthige  Ergänzung. 

War  auf  Seite  der  Regierung  das  oberste  —  herrschende 
Organ,  entscheidend,  so  ist  auf  Seite  der  Regierten,  die  wir 
als  Gesammtheit  im  engeren  Sinne  wieder  das  Volk,  oder  noch 
eher  das  Land  heiszen,  die  Controle  der  Regierung  und 
die  Theilnahine  an  der  Gesetzgebung  entscheidend. 

Indem  wir  nach  diesem  Merkmal  die  verschiedenen  Stats- 
formen  classificiren ,  erhalten  wir  folgende  drei  (beziehungs- 
weise vier)  Nebenformen. 

I.  Die  Regierten  werden  insgesammt  als  eine  blozse 
passive  Masse  behandelt,  welche  der  Regierungsmacht  un- 
bedingt unterthan  und  zu  absolutem  Gehorsam  verbunden  ist. 

19* 


292  Viertes  Buch.     Die  Statäformen. 

Sie  bat  weder  ein  Recht  der  Controle  noch  einen  Antheil  an 
der  Gesetzgebung.  Es  sind  das  die  absolut  regierten  Staten, 
die  wir  daher  unfreie  Stats formen  (unfreie  Völker)  heiszen. 
Sie  sind  nicht  nur  dann  unfrei,  wenn  sie  der  Willkür  und  den 
Launen  eines  Desputen  angehören  (Despotien),  sondern  auch 
dann  politisch  unfrei,  wann  der  Herrscher  selber  ein 
Rechtsgesetz  anerkennt  und  sowohl  das  Privatreeht  als  die 
Privatfreiheit  geachtet  wird  (Absolution). 

II.  Ein  Theil  der  Begierten,  die  obern  (Massen  der- 
selben, haben  das  Recht  der  Controle  und  der  Theilnahme  an 
den  Öffentlichen  Angelegenheiten  und  l»  e  b  c  h  r  a  n  k  e  n  dadurch 
die  Begiemngsgewali  Aber  die  übrige  Ifasse,  insbesondere 
die  untern  V  <>]  k  >  el  assen  sind  noch  in  dem  politisch  un- 
freien Zustande  und  haben  keine  politischen  Rechte.  AVir 
heiszen  diese  staten  halbfreie  Statsformen.  Die  mittelalter- 
lichen Lehens-  und  Standestaten  Bind  ?on  dieser  Art. 

III.  Alle  Vdkaolassen  haben  politische  Rechte.  Das 
ganze  Land  (Volk)  übt  ein«-  Controle  der  Regierung  und 
eine  Mitwirkung  ans  bei  der  Gesetzgebung.  Wir  heisien  di 
Staten  freie  Statsformen,  oder  auck  Republiken  im  weite- 
sten Sinn  des  Worts.  Wir  können  lie  auch  Volksstafcei 
heiszen. 

Diese   Coiitr.de  und  Theilnahme   wird   wieder  entweder 

A)  unniitteliiar  durch  die  Versammlung  der  Bürger 
geübt,  wie  vorzugsweise  im  AJterthum  (antike  Republi- 
ken) oder 

B)  mittelbar  durch  Ausschüsse  und  Stellvertreter!  wie 
in  der  neuem  Zeit  (moderne  ReprasentatiYstaten.) 

Wenden  wir  diese  neue  secund&re  Qnterscheidung  auf 
die  alte  Eintheilung  der  Grundformen  an,  bo  ergeben  tich  fol- 
gende Resultate: 

I.  Die  Theokratie  ueigi  sich  principieU  zu  der  Gasse 
der  unfreien  Staten.  Aber  sie  ist  nichl  aothwendig  Despotie, 
indem  aneh  der  herrschende  Gott,  oder  die  von  ihm  inspirirte 


Fünftes  Capitel.     Das  Princip  der  vier  Nebenformen.  293 

Priesterschaft  ein  Gesetz  des  Gemeinwesens  anerkennen  und 
respectiren  kann.  Sie  kann  daher  sich  der  zweiten  und  der 
dritten  Classe  insofern  annähern,  als  die  Ausübung  der  gött- 
lichen Herrschaft  an  die  Mitwirkung  aristokratischer  Classen 
oder  selbst  einer  Volksversammlung  gebunden  wird.  Die 
jüdische  Theokratie  war  in  diesem  Sinne  republikanisch. 

II.  Die  Aristokratie  gravitirt  zur  zweiten  Classe  der 
halb  freien  Staten,  kann  aber  auch  als  unfreier  Stat  vor- 
kommen, wenn  der  Demos  politisch  rechtlos  ist  oder  sie  kann 
sich  in  die  dritte  Classe  der  freien  Volksstaten  erheben,  wenn 
sie  dem  Demos  wie  in  Kom  eine  wahre  Volksvertretung  ver- 
stattet. 

III.  Die  Demokratie  hat  einen  innern  Zug  zur  dritten 
Classe  der  freien  Staten;  sie  kann  aber  zur  Despotie  werden 
gegenüber  der  Minderheil  oder  doch  zur  Absolutio  gegenüber 
den  einzelnen  Bürgern;  und  sie  kann  im  Verhältnisz  zu  einer 
unterwürfigen  Classe  (Sclaven  und  Heloten  im  Alterthum, 
Farbige  in  Amerika)  als  halbfreier  Stat  sich  zeigen. 

IV.  Die  Monarchie,  welche  überhaupt  in  den  mannich- 
faltigsten  Formen  erscheint,  nimmt  alle  drei  Classen  in  zahl- 
reichen Anwendungen  in  sich  auf.  Die  Despotien  des  Orients 
und  die  absoluten  Monarchien  arich  des  Occidents  sind  offenbar 
unfreie  Staten;  das  Künigthum  und  das  Fürstenthum  des 
Mittelalters,  welches  durch  den  Klerus  und  die  Laienaristo- 
kratie beschränkt  war.  waren  halbfreie  Monarchien.  Das  rö- 
mische Königthum  nach  der  servianischen  Verfassung  und  das 
alte  fränkische  oder  das  norwegische  Königthum,  welches  der 
Volksversammlung  einen  gewissen  Antheil  an  der  Statsleitung 
zugestanden  hatte,  mögen  als  Beispiele  der  unmittelbaren 
Volksbetheiligung  auch  in  freien  Monarchien  gelten.  Die  con- 
stitutionelle  Monarchie  der  neuern  Zeit  endlich  ist  die  höchste 
bisherige  Ausbildung  der  Monarchie  zu  einem  freien  State 
mit  Repräsentativverfassung. 

Wird    die  aristotelische  Eintheilung,    die  mit  E echt  von 


294  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Oben  her  ausgeht,  so  von  Unten  her  ergänzt,  so  fallen  auch 
die  wichtigsten  Bedenken  gegen  dieselbe  hinweg,  insbeson- 
dere die  Einwendung,  dasz  sie  nicht  genug  unterscheide  und 
weder  die  Verwandtschaft,  z.  B.  der  heutigen  Bepräsentativ- 
demokratie  mit  der  eonstitutionellen  Monarchie  noch  die  we- 
sentliche Verschiedenheit  z.  B.  der  al »sohlten  und  der  ständisch 
beschränkten  Monarchie  zu  erklären  im  Stande  sei. 


Sechstes  Capitel. 

I.    Die  Ideokrntie  i  Theokrntie  ). 

Die  Form  der  Theokratie  gehört  yonngsweise  der  Kind- 
heit des  Menschengeschlechtes  zu.  In  Asien  und  Nordafrika 
ist  der  Sitz  der  ersten  tätlichen  Kntwicklung ,  und  zuerst 
zeigen  sich  da  theokratische  Staten. 

in  dm  erstes  Zeiten,  als  die  noch  jnnge  Menschheit  sich 

auf  der  Erde  EUrechtzufiltden  suchte,  war  offenbar  das  Gefühl 
der  Abh&ngigkeil  \<-n  lt< »t 1 1  i*-li «-n  \\Y>rn  und  unverstandenen 
Naturkraftei  oocfa  äusserst  lebhaft,  und  die  Einwirkung  Qottes 

oder  der  Natur  auf  das  Leben,  gewissrrmaszen  auf  die  Er- 
ziehung der  Menschen  anmittelbarer  und  mächtiger  als  spater. 
Gott  und  die  GMtter  verkehrten  Dach  allen  alten  Sagen  und 
Mythen  persönlich  mit  dm  Menschen,  und  was  Pia  ton  uns 
von  den  Grzustft&dan  selbst  der  hellenischen  Völker  erzählt, 
dasz  Kronos,  die  Sehwache  und  Unfähigkeit  der  Menschen  in 
jener  Zeit  bedenkend,  ihnen  ..zu  Königen  und  Fürsten  über 
die  Staten  nicht  Menschen,  sondern  Dämonen,  Wesen  von 
göttlicherem  und  höherem  Geschieht»'  gesetst"  habe,  stimmt 
mit  «lein  Glauben  aller  arten  Volker  rosammen.  riaton  selbst 
war  dieser  theokratis»  hen  Auffassung  persönlich  zugcthan,  und 
schlug  in  seiner  Lehre  vom  Btat  kflnstliche  TauschungBrnittel 
vor,  um  den  damals  entwickelteren  Menschen   von  neuem  den 


Sechstes  Capitel.     I.    Die  Ideokratie  (Theokratie).  295 

Glauben  beizubringen,  dasz  nicht  Menschen,  sondern  Gott  selber 
die  Herrschaft  im  State  führe. 

Wurde  so  Gott  oder  wurden  Götter  und  Dämonen1  als 
die  wahren  Oberhäupter  des  States  verehrt,  so  war  mit  diesem 
Glauben  der  überwiegende  Einflusz  der  Priester  unzertrenn- 
lich verbunden,  denn  diese  waren  die  auserwählten  Sterblichen, 
welche  vorzugsweise  dem  Dienste  der  Götter  geweiht  waren, 
ihren  Willen  vernahmen,  und  ihre  Sprache  verstanden.  Unter 
diesen  Völkern  haben  daher  auch  die  Priester  den  obersten 
Hang.  In  den  einen  verwalten  die  Priester  geradezu  das  Ke- 
giment,  im  Namen  Gottes  oder  der  Götter,  in  den  andern 
stehen  zwar  Könige  an  der  Spitze  der  Regierung,  aber  auch 
sie  regieren  nicht  in  eigenem  Namen,  sondern  als  Stellver- 
treter und  Organe  der  Götter,  und  sind  entweder  zugleich 
Oberpriester  oder  weiden  durch  den  Einflusz  der  Priester  ge- 
leitet und  beschränkt.  Die  erstem  können  wir  nach  Leo's 
Vorgang  reine  die  letztem  gebrochene  Priesterstaten 
nennen.  In  diesen  ist  der  üebergang  von  der  Form  der  Theo- 
kratie  in  die  der  Monarchie  ersichtlich. 

Ein  solcher  Priesterstat  war  der  Stat  der  Aethiopen 
in  Meroe.  Der  Vorstand  des  States  gehört  der  Priesterkaste 
an.  Die  Priester  bezeichnen  aus  ihrer  Mitte  einige  der  Besten, 
aus  welchen  in  feierlicher  Procession  der  Gott  einen  erwählt. 
Ist  der  Ausspruch  des  Gottes  gethan,  so  beugt  das  Volk  vor 
dem  Erwählten  Gottes  seine  Kniee,  und  verehrt  in  ihm  den 
Stellvertreter  Gottes.  Seine  Macht  aber  ist  in  jeder  Weise 
beschränkt  durch  die  göttlichen  Gesetze,  und  die  fortdauernde 
Offenbarung  des   göttlichen  Willens   in   den   Orakeln,    welche 

1  Von  einem  merkwürdigen  dämonokra tischen  State  unserer 
Zeit  berichtet  der  berühmte  Entdecker  der  Alterthümer  von  Niniveh, 
A.  H.  Layard  (Niniveh  und  seine  TJeberreste  S.  144  ff.).  In  den  Ge- 
birgen Mesopotamiens  wohnen  die  Jezidi,  welche  unter  einem  geist- 
lichen Oberhaupte  stehen,  dem  groszen  Scheikh,  und  dem  Satan  eine 
besondere  Verehrung  widmen,  von  dem  sie  glauben,  er  werde  später 
wieder  zu  einem  hohen  Range    in  der  himmlischen  Hierarchie  gelangen. 


296  Viertes  Buch.     Die  Statsfornien. 

die  Priester  vermitteln.  Ein  strenges  Ceremoniel  ordnet  jeden 
seiner  Schritte,  und  der  freien  menschlichen  Entschlieszung  ist 
kein  Spielraum  vergönnt.  Ueberall  begleiten  ihn  die  Priester 
und  wirken  mit,  und  selbst  seine  Existenz  ist  völlig  unsicher. 
Wenn  er  dem  Gotte  miszfallt,  so  offenbart  dieser  den  Priestern 
seine  Ungnade.  Die  Priester  theilen  ihm  durch  eine  Bot- 
schaft den  zürnenden  Willen  des  Gottes  mit,  und  es  bleibt 
ihm  nichts  anderes  übrig,  als  durch  freiwilligen  Tod  den  gött- 
lichen Zorn  zu  sühnen.2 

In  gebrochener  Form  sehen  wir  diesen  Priesterstat  in 
Aegypten.  Ursprünglich  herrschten  auch  da  nach  der  Volks- 
sage während  vieler  Jahrhunderte  die  Gtöttei  selbst.  Später 
jedoch  regierten  menschliche  Könige,  aber  als  Göttersöhne  und 
selber  wie  Götter  verehrt  und  durch  das  heilige  Gesetz,  eine 
strenge  Etikette,  und  den  Einflusz  der  obersten  Priesterkaste 
beschränkt.  Die  göttlichen  Vorschriften  waren  so  genau  im 
einzelnen  bestimmt,  das/,  dem  Könige  nicht  einmal  die  Aus- 
wahl der  Speisen,  die  er  essen  wollte,  freigegeben,  sondern 
auch  seine  frugalen  Mahlzeiten  ein-  für  allemal  festgesetzt 
waren.'1  Bei  seinem  Leben  freilich  fragten  die  Priester  nicht 
mehr  im  Namen  der  Götter  Gericht  über  ihn  zu  halten,  aber 
wenn  er  starb,  s<>  wurde  ein  grosses  und  Öffentliches  Todteii- 
gericht  über  ihn  von  den  Priestern  angeordnet.  Die  Ehre 
seines  Namens  bei  der  Nachwelt  und  die  Aufnahme  der  abge- 
schiedenen Seele  in  der  Unterwelt  und  seine  Wiedergeburt 
wurde  durch  ihr  Urtheil  bestimmt,  unter  einem  Volke,  wel- 
ches an  die  Fortdauer  der  Seele  nach  dem  irdischen  Tode 
glaubte,  mit  anszerster  Sorgfalt  sogar  den  Leichnam  vor  der 
Verwesung  zu  retten  suchte  und  seinen  Todten  reich  ge- 
schmückte und  an  alle  Erfordernisse  des  Lebens  erinnernde 
Wohnungen  erbaute,  hingen  von  diesem  ernsten  Todtengericht 

"  Diodorus  Sic.  U\<t.  III.  5.  8.     Vgl.  Lco's  Wcltgesrli.  I.  B.  79L 
3  Diodorus  Sic.  Hilt.  I.  71,  72.     Vgl.    Duncker   Gesch.   d.   Alter- 
tliums  I3d.  I. 


Sechstes  Capitel.     I.    Die  Ideokratie  (Theokratie).  297 

die  Hoffnungen  und  Befürchtungen  auch  der  Lebenden  ab,  und 
es  war  dasselbe  daher  in  der  Hand  der  Priester  eine  furcht- 
bare Macht. 

Verwandt  und  groszentheils  ideokratisch  war  auch  der 
altindische  Stat.  Der  König  steht  nach  der  Ordnung  der 
Kasten  unter  den  Brahmanen;  der  Brahmane  verschmäht  es, 
ihm  seine  Tochter  zur  Frau  zu  geben,  sie  würde  durch  die 
ungleiche  Ehe  entwürdigt.  Aber  die  Würde  des  Königs  wird  doch 
wieder  so  hochgehalten,  dasz  ihr  eine  besondere  Göttlichkeit 
inwohnt.  Sein  Leib  wird,  nach  den  Gesetzen  Manu's,  aus  Be- 
standteilen gebildet,  welche  in  den  acht  göttlichen  Wächtern 
der  Welt  ihren  Ursprung  haben,  daher  ist  er  rein  und  heilig. 
„Wie  die  Sonne  blendet  er  die  Augen  und  Herzen,  und  Nie- 
mand auf  Erden  vermag  ihm  ins  Antlitz  zu  sehen.  Gott  hat 
ihn  geschaffen  zur  Erhaltung  aller  Wesen.  Keiner  darf  ihn, 
selbst  wenn  er  noch  ein  Kind  ist,  verachten,  indem  er  zu  sich 
sagt:  er  ist  ein  einfacher  Sterblicher,  denn  eine  grosze  gött- 
liche Kraft  wohnet  in  ihm."4 

Auch  der  indische  König  ist  von  Priestern  umgeben. 
Er  bedarf  der  Weihe,  wenn  er  die  Kegierung  antritt.  Seine 
sieben  oder  acht  Minister,  welche  er  einzeln  und  vereint  in 
allen  Geschäften  vernimmt,  bevor  er  den  Entscheid  faszt,  sind 
meistens  Brahmanen.  Jedenfalls  aber  musz  er  in  allen  wich- 
tigen Dingen  vorerst  einen  brahmanischen  Gewissensrath  zu 
Käthe  ziehen.  Auch  ihm  ist  ein  strenges  Ceremoniel  vorge- 
schrieben, und  die  Gesetze  Manu's  mahnen  ihn  in  ernster 
Sprache  an  seine  —  wenn  auch  nicht  näher  geordnete  —  Ver- 
antwortlichkeit: „Der  unsinnige  Monarch,  welcher  seine  Unter- 
thanen  durch  Ungerechtigkeit  bedrückt,  wird  in  kurzem  seines 
Königthums  und  seines  Lebens  beraubt  werden,  er  und  seine 
ganze  Familie." s 

*  Manava  —  Dharma  —  Sastra.    Lois  de  Manou,    par  Loiseleur. 
Paris  1833.    V.  96,  97.    VII.  3—8. 
s  Ebend.  VII.  54  ff.   111. 


298  Viertes  Buch.     Die  Srai>l'ui nun. 

Immerhin  hat  der  indische  in  höherem  Grade  arische  Siat 
übrigens  ein  helleres,  freieres  Ansehen,  und  ist  in  ihm  die 
königliche  Würde  und  Macht  mehr  und  stattlicher  ausgebildet, 
als  in  den  finsteren  Priesterstaten  von  Meroß  und  Aegypten. 
In  allen  aber  finden  wir  ein  schroffes  und  starres  Kanton- 
System;  grosze  Vorrechte  der  Priesterkaste,  die  in  sich  alles 
geistige  Leben  der  Nation  vereinigte  und  abschlosz,  und  zu- 
gleich reichlich  mit  den  Gütern  der  Erde  ausgestattet  war :  — 
in  Aegypten  gehörte  der  dritte  Theil  des  Bodens  ihnen  zu;G 
das  indische  Gesetz  lagt:  „Ein  König  darf,  selbst  wenn  er 
vor  Mangel  stürbe,  nie  von  eilen   in  den   heiligen   Schriften 

nen  Brahmanen  eine  Steuer  nehmen  und  niemals  dulden, 
dasz  in  seinen  Staten  ein  solcher  Brahmane  Hunger  leide."7  — 
Ferner  eine  gedrückt»1  Lage  und  verachtete  Zustünde  der  untern 
Volkscla.-M'ii.  welche  auch  für  Einzelne  nicht  durch  die  Hoff- 
nung des  Emporsteigens  erhellt  wurden.  Die  ägyptischen 
Bauern   sind  durchweg  nur  Hörige,    welche    die    den   Priestern 

«•der  dem  König ler  den  Kriegern  zugehörigen  Güter  be- 
bauen. Die  Hirten  und  die  Handwerker  sind  erblich  an  ihr 
Geschäft  gebunden,  willkürlicher  Schätzung  unterworfen,   und 

ohne  allen  activen  Antheil  an  den  Statsinstitutionen.  /ahl- 
reiche Frohnden  aller  Art  Bind  in  diesen  Landern  verhieltet. 
Noch  viele  Jahrhunderte  hinab  hat  ein  the<>kr;iti><her 
Charakter  des  States  in  Asien  sich  erhalten,  und  auch  später 
noch  ist  derselbe  in  dem  o  r  i  e  n  t  a  1  i  s  c  h  e  n  H  e  r  r  s  c  h  e  r  t  h  u  m 
fortwährend  sichtbar.  Die  Macht  der  Priesterschaft  freilich 
über  die  immer  entschiedener  weitlichen  Herrscher  ist  durch 
die    steigende    Macht    dieser,    wie    BC    in    den    gröszeril    durch 

Eroberung   entstandenen    und    durch    Kriegsheer«   rasaanmefir 

gehaltenen  Reichen  sich  entwickelte,  mehr  in  den  Hintergrund 
gewiesen  und  verdunkelt  «forden.  Aber  die  Herrscher  lelhei 
winden  wie  Götter  verehrt.    DieStatsfonn  blieb  bheojcratisch, 

*  Diodor.  Sic.  I.   73. 

7  Lois  dfl   Manou.    VII.    L33, 


Sechstes  Capitel.     I.    Die  Ideukratie  (Theokratie).  299 

nur  trat  sie  in  eine  neue  Wandelung  ein.  Zuerst  war  der 
Gott  in  Person  der  Herrscher,  seine  Werkzeuge  die  Könige 
und  die  Priester;  dann  stellte  sich  die  Herrschaft  mehr  und 
mehr  äuszerlich  als  eine  Priesterherrschaft  dar,  mit  einem 
anfangs  priesterlichen,  dann  kriegerischen  Könige  an  der  Spitze ; 
endlich  wurde  der  König  selbst  zum  Gott  erhoben,  und  es 
entstand  der  übermenschliche  „Despotenstat".  Es  gilt  das 
namentlich  von  dem  spätem  Perser  reiche  und  selbst  von 
den  neuern  Staten  der  mohammedanischen  Sultane,  und 
den  chinesischen  Kaisern. 

Der  König  von  Iran  Guschtasb  (1300—1350  v.  Ch.), 
unter  welchem  Zarathustra  (Zoroaster,  Serduscht) 
als  Prophet  auftrat,  nannte  sich  selbst  einen  ,,Priesterkönigu, 
und  in  den  heiligen  Büchern  (dem  Send-Avesta)  wird  der 
Perserkönig  nicht  zu  der  Kaste  der  Krieger,  wie  in  Indien, 
sondern  zu  der  der  Priester  (der  „Rechtskundigen  und  Gottes- 
gelehrten4') gerechnet.8  Das  ganze  Statssystem  ist  zugleich 
Religionssystem,  Kecht  und  Moral  unausgcschieden,  der  Zu- 
sammenhang der  unsichtbaren  Welt,  der  guten  und  bösen  Geister 
mit  der  sichtbaren  Welt  der  Menschen  in  allen  Dingen  fort- 
während anerkannt.  Aber  seitdem  die  Könige  von  unpriester- 
lichem  persischem  Geschlechte  die  Herrschaft  erlangten,  nahm 
der  persische  Stat  mehr  die  Natur  eines  solchen  Despoten- 
reiches an,  und  der  Einfiusz  der  Magier,  so  grosz  er  in  man- 
chen Dingen  blieb,  ward,  verglichen  mit  den  altern  Zeiten, 
um  vieles  geringer.  Allmächtig  wie  der  Gott,  dessen  Gnade 
ihn  erhoben  hat,  waltet  in  seinem  Reiche  der  Perserkönig  im 
Princip,  und  sein  Hof  ist  das  Abbild  des  himmlischen  Hof- 
states  des  guten  Weltgeistes  Ahuramasda.  Die  Ehren,  die  ihm 
erwiesen  werden,  gleichen  den  Ehren  der  Gottheit.  Vor  seinem 
goldnen  Throne,  der  hoch  emporragt,  und  auf  dem  er  in  reich- 
stem   Schmucke  mit    der   Tiara  auf  dem   Haupte    sitzt,    den 

8  Vuller's  Fragmente  über  die  Religion  des  Zoroaster.  Bonn  1831. 
S.  33-  69.     Vgl.  Spiegel  Avesta.    Leipzig  1852—63.    III  Bde. 


300  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

goldenen  Stab  in  der  Hand,  das  Schwert  zur  Seite,  im  Purpur- 
mantel, ,, strahlend  wie  die  Sonne  an  dem  glänzenden  Firma- 
ment," werfen  sich  selbst  die  fremden  Gesandten  nieder  in 
den  Staub,  wie  Sclaven  vor  dem  Herrn  oder  Betend« 
dem  Gott.  Wie  diesem  die  Opfer,  so  werden  ihm  die  Gaben 
derer  dargereicht,  welche  seinem  Throne  nahen.  Und  wenn 
er  stirbt ,  so  bezieht  er  den  herrlichen  Todtenpalast  in  Per- 
sepolis,  dort  das  Leben  der  Seligen  fortsetzend.  Ein  feierliches 
Ceremoniel  mit  seinen  manniehfaltigen  Symbolen  umgibt  ihn,9 
ihn  zu  ehren.  In  der  Wirklichkeit  freilich  ist  gerade  dieses 
auch  ihn  beengende  und  wie  mit  einem  goldenen  Netze  um- 
spinnende Ceremoniel  die  unauflösliche  Schranke  und  1 
seines  Willens,  und  spottet  der  fingirten  Allmacht,  die  ihm  in 
der  Idee  zugeschrieben  wird. 

Ein  Fortschritt  aber  liegt  unverkennbar  in  dieser  Wande- 
lung aus  dem  eigentlichen  Priester-  in  das  Despotenreich  des 
Orients.  Das  starre  Walten  einer  für  göttlich  gehaltenen 
Offenbarung  in  dem  Gang  und  den  Formen  der  Gestirne  nach 
welcher  die  Priester  auch  den  StaJ  leiteten,  und  die  Gleich- 
mäszigkeit  und  (Jirrer&nderlichkeil  des  ganzen  ein-  für  allemal 
durch  göttliche  Gesetze  normirtal  Ststslebenfl  waren  durch- 
brochen; und  wenn  auch  in  der  trüben  Form  der  Despotie, 
äuszerte  sich  nun  ein  freier  menschlicher  Wille  in  den  Stats- 
angelegenheiten,  und  konnte  Rücksicht  nehmen  auf  die  natür- 
lichen Veränderungen  in  den  Zuständen  der  politischen  Welt, 
und  auf  die  mancherlei  neuen  Bedürfnisse  der  Völker.  In 
dem  persischen  Reiche  wurde  denn  auch  die  Eisdecke  des 
Kastenwesens  frühzeitig  aufgelfl 

Der  merkwürdigste  Stat  dieser  Gattung  im  Altertlrom  war 
die  T h co k ratio  der  Juden  nach  der  Mosaischen  Gesetzgebung. 
Die  Reinheit  der  Mosaischen  Religion,   der   lebendige  Glaube 

1    Eine    vortreffliche    kurze    Dnrtellunp    rlir*er    St;it«form    bei     Lee 
Weltgesch.   I.  8.  120 f.     Duncker  Goch.  d.   Alt.  II.  B.1 


Sechstes  Capitel.     I.    Die  Ideokratie  (Theokratie).  301 

an  einen  Gott,  den  Schöpfer  und  Erhalter  der  Welt,  ist  die 
feste  Grundlage,  auf  welcher  der  jüdische  Stat  erbaut  ist. 

Gott  selbst,  Jahve  oder  Jehova,  wird  als  König  der 
Juden  gedacht.  Er  ist  der  unsterbliche  Herr  des  sterblichen, 
aber  auserwählten  Volkes.  Er  gibt  das  Gesetz,  er  regiert  das 
Volk.  Die  ganze  umfassende  Gesetzgebung,  welche  wir  von 
Moses  her  benennen,  erscheint  als  Offenbarung  Gottes,  mit 
welchem  Moses  in  der  Einsamkeit  der  Berghöhe  gesprochen, 
dessen  Willen  er  mit  Furcht  und  Zittern  vernommen,  und 
getreu  dem  Befehle  des  Herrn  dem  Volke  verkündet  hat. 
Blitz  und  Donner  haben  die  Gegenwart  Gottes  auf  dem  Berge 
Sinai  allem  Volke  bezeugt. 

Das  ganze  Volk  aber  wurde  durch  diese  göttliche  Herr- 
schaft gehoben.  In  Aegypten  noch  war  es  verachtet,  und  jeder 
Aegvpti.T  aus  einer  der  hohem  Kasten  betrachtete  die  Juden 
als  Verworfene,  deren  Umgang  verunreinige.  Nun  erhielten 
sie  das  erhabene  Gefühl,  das  bevorzugte  Volk  des  höchsten 
Gottes  zu  sein.  Obwohl  auch  sie  in  erbliche  Stämme  einge- 
teilt winden,  und  auch  unter  ihnen  ein  gesonderter  Priester- 
stamm (der  Stamm  Levi)  geordnet  ward,  so  waren  doch  alle 
Stämme  Nachkommen  der  Erzväter  Abraham,  Isak  und  Jakob, 
und  galt  hinwieder  das  ganze  Volk  als  ein  „Priestervolku. 
Die  schroffe  reberordnung  der  Kasten  ist  somit  hier  von 
Grund  aus  aufgegeben,  und  die  Brüderlichkeit  der  Stämme 
zum  Princip  erhoben. 

Das  göttliche  Gesetz  wird  in  einer  mit  Gold  überzogenen 
Lade  verwahrt,  über  welcher  der  goldene  Thron  der  Gnade 
sich  erhebt,  von  zwei  Cherubim  bewacht,  und  als  Sitz  der 
göttlichen  Offenbarung  verehrt.  In  der  Stiftshütte,  gewisser- 
maszen  der  göttlichen  Kesidenz,  die  von  den  Priestern  bewahrt 
wird,  ist  die  Lade  und  der  Thron  in  dem  Allerheiligsten  hinter 
einem  Vorhang  verborgen.  Dort  empfängt  der  Hohepriester 
die  Gebote  Jehovahs  und  verkündet  sie.  Der  Hohepriester, 
aus  dem  Geschlechte  Aarons,  des  Bruders  von  Moses,  stammend, 


302  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

ist  das  regelmäszige  Organ  des  göttlichen  Willens,  und  der 
Vertreter  des  Volkes  vor  dem  Herrn.  Ausnahmsweise,  in 
kritischen  Zeiten,  erweckt  Jehovah  einzelne  erleuchtete  Indivi- 
duen, die  als  Propheten  die  rniszkannte  göttliche  Autorität 
herstellen,  das  Gewissen  des  Könige  und  des  Volkes  wach- 
rufen, den  Abfall  von  Gott  züchtigen,  zur  Bekehrung  mahnen 
und  das  künftige  Schicksal  des  Volkes  enthüllen.  Auch  die 
Richter,  welche  an  der  Spitze  der  verschiedenen  Stämme  das 
Recht  verwalten  und  handhaben,  tlmn  es  im  Namen  Jehoflhn, 
,,denn  das  Gericht  ist  Gottes/'  Daher  sollen  sie  „keine  Person 
im  Gericht  ansehen,  sondern  den  Kleinen  hören  wie  den 
Groszen,  und  sich  vor  Niemand  BChenen."  Ist  ihnen  aber  eine 
Sache  zu  schwer,  so  sollen  sie  sich  an  den  Ort  der  Stiftshütte 
wenden,  und  dort  vernehmen,  wie  durch  den  Mund  der  Priester 
Gutt  die  Sache  entscheidet.  Den  Spruch  sollen  sie  erfüllen, 
oder  des  Todes  sterben. 1" 

\Vie  das  Volk  der  strengen  aber  Begensreichen  Herrschaft 
Jehovahs  unterthan  ist,  SO  ist  auch  der  ganze  Boden  des  ge- 
lobten Landes  in  Jehoyahs  Eigenthnm.  Unter  die  Familien 
wird  er  nur  zu  Leben  vertheilt,  nicht  zu  freiem  verfügbaren 
Eigenthum.  Von  allen  fruchten  des  Bodens  und  von  allen 
Früchten  der  Thiere  man  daher  zur  Anerkennung  des 
liehen  Obereigenthums  der  Zehnte  an  die  Stiftshfitte  zum 
Unterhalte  der  Priester  gegeben  werden.  Jedes  siebente  Jahr 
ist  ein  Feierjahr,  auch  für  das  Land,  welches  dann  nicht  be- 
baut wird,  wie  der  siebente  Wochentag  ein  Kühe-  und  Feier- 
tag für  den  Menschen  ist,  und  nach  .siebenmal  sieben  .Jahren 
in  dem  Jubeljahr  wird  die  Vertheilung  des  Bodens  wieder 
neu  bereinigt,  so  dasz  verarmte  Familien  ihren  Lehensboden 
zurück  erhalten,  reich  gewordene  ihren  Deberflusz  an  (intern 
wieder  herausgeben  müssen.  Unter  den  Juden  selbst  darf  es 
keine  Leibeigenschaft    geben;    das   Jubeljahr    macht   auch    die 

i°  V.  Mose,  1,   17.  und  17,  8  ff.     JTgL  Duncker  a.  a.  O.  I.  S.  780 j 
Bluntächli   Altasiatische  Gottes-   und    Weltideen,   Nr.    IV. 


Sechstes  Capitel.     I.    Die  Ideokratie  (Theokratie).  303 

frei,  die  sich  selber  in  die  Knechtschaft  eines  andern  begeben 
haben;  nur  Fremde  können  zu  Sclaven  erkauft  und  besessen 
werden.11 

Als  die  Juden  später  einen  König  begehrten,  „damit  sie 
auch  seien  wie  alle  andern  Völker,"  willfahrte  Jehovah  ihrer 
Bitte  durch  den  Mund  des  obersten  Richter,  des  alten  Samuel, 
aber  tröstete  diesen  mit  den  Worten:  „Gehorche  der  Stimme 
des  Volks  in  allem,  das  sie  zu  dir  gesagt  haben;  denn  sie 
haben  nicht  dich,  sondern  mich  verworfen,  dasz  ich 
nicht  soll  König  über  sie  sein/*12  So  ging  die  Form 
der  reinen  Theokratie  in  die  einer  Monarchie  über, 
welche  indessen  immer  noch  durch  theokratische  Institutionen 
und  durch  die  ganze  durch  und  durcli  religiöse  Natur  und 
Mission  des  jüdischen  Volkes  beschränkt  und  modificirt  blieb. 

In  Europa  sind  nur  schwache  und  vereinzelte  Nachklänge 
der  Theokratie  zu  erkennen.  Wenn  der  römische  Kaiser  Ca- 
ligula  mit  goldenein  Bart  und  Blitz  wie  Jupiter  sich  öffent- 
lich zeigte,  oder  Heliogabal  sich  als  Opferpriester  der  herr- 
schenden Sonne  gerirte,  oder  nach  der  schweizerischen  Sage 
der  Vogt  Geszler  von  den  freien  Männern  des  Gebirgs  for- 
derte, dasz  sie  dem  Hute  des  Kaisers  ihre  Verehrung  beweisen, 
so  waren  das  nur  karikirte  Nachbildungen  einer  untergegange- 
nen Statsform,  die  keinen  Anspruch  hatten  auf  Bestand.  Wohl 
aber  ist  im  römischen  Reiche  in  der  Sitte,  sogar  den  lebenden 
Kaisern  Statuen  und  Tempel  zu  errichten  und  die  gestorbenen 
als  Divi  zu  verehren  sowie  in  dem  spätem  Ceremoniel  der 
byzantinischen  Kaiser  noch  ein  theokratisches  Element  sicht- 
bar geworden. 

Im  Mittelalter  bekamen  besonders  durch  den  Einflusz  der 
Geistlichkeit,  welche  von  jeher  ihre  Vorliebe  für  die  theokra- 
tischen  Lehren  kund  gegeben  hat,  auch  die  christlichen  Stats- 
einrichtungen  in  manchen  Beziehungen  eine  theokratische  Fär- 

11  III.  Mose,  C.  25.     V.  Mose,  C.  4  und  5. 

12  I.  Samuel.  8,  7  ff. 


304  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

bung.  Wir  werden  dergleichen  zwar  mehr  in  den  geistlichen 
als  in  den  weltlichen  Fürstentümern  gewahr;  aber 
auch  die  letztern  hielten  sich  nicht  rein  davon.  Sogar  der 
Kaiser  hat  zugleich  priesterliche  Weihen  empfangen  müssen. 
Aber  so  sehr  das  Mittelalter  es  liebte,  alles  Recht  und  alle 
Gewalt  von  Gott  abzuleiten,  so  betrachtete  es  doch  die  Ge- 
walthaber als  Menschen,  und  sorgte  reichlich  für  menschliche 
Beschränkungen  ihrer  Macht. 

Nur  die  Verfassung  der  christlichen  Kirche,  die  Hierarchie 
des  Klerus  folgte  ganz  dem  theokratisehen  Zug.  Die  welt- 
lichen Fürsten  und  ( »brigkeiten  wurden  doch  auch  von  der 
katholischen  Kirche  oft  an  ihren  menschlichen  Ursprung 
erinnert.  Der  Grundcharakter  der  mittelalterlichen  Statsformen 
in  Europa  ist  eher  Aristokratie  und  Monarchie  als  Theokratie. 

Dagegen  können  die  ebenfalls  im  Mittelalter  entstandenen 
mohammedanischen  Staten  eher  als  theok ratisch  be- 
zeichnet werden.  Zwar  glaubt  auch  die  mohammedanische 
Welt  nicht  nit-hr,    wie  die  ahm  Juden,   an  eine  unmittelbare 

und  refelmiaxigt  Qottesregienmg.    Die  mosaische  Theokratie 

ward  von  Mohammed  nicht  wiederhergestellt  Aber  der  Koran 
lehrt,  dasi  Gotl  die  Herrsohafl  gebe  wem  er  will,  und  be- 
trachtet den  mensehliehrn  Pursten  an  der  Spitze  des  Btati 
als  den  Statthalter  und  Lehensträger  (Jottes.  In  dem 
Khalifat  oder  der  idealsten  Darstellung  des  mohammeda- 
nischen Btatensystcms  einigen  sich  die  Eigenschaften  deeOtar- 
priesters  und  des  Oberköniga,  Der  Khalif  ist  Papsi  nnd  Kaiser 
zugleich.  Religion  nnd  Sacht,  Theologie  nnd  Jnrisprndens 
werden  nicht    gentlgend    unterschieden.     Die   Glottesgelehrten 

sind  auch  Beohtsgelehrte.  Der  Islam  vrrlrägf  sieh  weit  eher 
mit  der  Theokratie  all  das  Ohrisionthlim.11 

Die  moderne  Zaü   endlich   bat   ein-'  offenbare  Abneigung 

ts  (Jeher  eilige  uidere  Iheokratiiirendt  stüt'-n  vgl.  Blüntiohli, 
Artikel  Meokreiie  im  deutseken  Stettwerterbuek,  Bd.Vj  ▼.  Hohl,  Kn- 
eyolopftdie  dei  Btetnrimntek.  §.  11, 


Sechstes  Capitel.     I.    Die  Ideokratie  (Theokratie).  305 

gegen  die  theokratische  Statsform  und  gegen  Alles,  was  an 
dieselbe  erinnert.  Ihr  Streben  ist  vielmehr  der  humanen 
Statsordnung  zugewendet.  Die  Beseitigung  aller  priesterlichen 
Fürstenthümer,  mit  einziger  Ausnahme  der  päpstlichen  Landes- 
herrschaft im  Kirchenstat,  ist  ein  beredtes  Zeugnisz  dieser 
Zeitrichtung,14  welcher  auch  jene  Ausnahme  nicht  lange  mehr 
wird  widerstehen  können. 

Die  theokratischen  Staten  zeigen  folgende  gemeinsame 
Charakterziige: 

1.  Religion  im«!  Recht,  kirchliche  und  statliche  Institu- 
tionen und  Maximen  Bind  in  ihnen  gemischt  und  zwar  in  dem 
Verhältnis/,  «las/  die  religiösen  Elemente  das  Uebergewicht 
haben  über  die  politischen.  Di»-  Aussieht  auf  das  Leben  nach 
dem  Tode  beherrscht  das  ir.lis.-li.>  Leben  so  sehr,  dasz  dieses 
sich  nicht  in  Freiheit  zu  entfalten  getränt. 

2.  Das  Princip  der  Autorität  ist  zu  übermensch- 
licher Erhabenheil  gesteigert.  Alles  bürgerliche  und  öffent- 
liche Leben  ist  davon  abhängig.  Sie  ist  ihrer  Natur  nach 
absolut,  Die  Qnterthanen  stehen  mit  dem  Statshaupte  nicht 
in  einem  menschlichen  Verhältnis/ ,  nicht  als  Söhne  desselben 
Vaterlandes,  oder  Genossen  desselben  Geschlechts  und  Volks. 
Der  Herrscher  erheb!  sich  ober  sie  in  eine  unerreichbare  Höhe 
und  wird  zum  allmächtigen  Herrn. 

3.  Soweit  diese  göttliche  Autorität  als  abgeschlossene 
Offenbarung  einer  göttlichen  Gesetzgebung  sich  vor 
Zeiten  kund  gegeben  hat,  wie  bei  den  Juden  in  dem  Mosaischen 
Gesetz,  wie  bei  den  Mohammedanern  in  dem  Koran,  begründet 
sie  eine  feste,  aber  auch  unveränderliche  Ordnung. 

Soweit   sie   dagegen   in   den    wechselnden   Schicksalen 

14  Selbst  die  Verfassung  von  Montenegro,  die  vor  wenigen  Jahren 
noch  in  dem  Yladika  ein  kriegerisch -priesterliches  Oberhaupt  an  der 
Spitze  hatte,  ist  seither  durch  die  Trennung  der  priesterlichen  Würde 
und  der  Regierungshoheit  den  übrigen  europäischen  Staten  näher  ge- 
treten. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  20 


306  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

des  Völkerlebens  über  die  Bedürfnisse  des  Augenblicks  ent- 
scheiden ,  wenn  sie  neue  Gebote  oder  Verbote  geben  soll,  so 
gibt  es  nur  zwei  Wege,  auf  denen  die  Stellvertreter  der  gött- 
lichen Herrschaft  diesen  AVillen  erfahren  können.  Entweder 
es  bestehen  äuszere  Einrichtungen,  die  dazu  dienen,  den 
Willen  Gottes  zu  erkunden;  oder  man  vertraut  der  inner n 
Inspiration.  Wie  man  die  erstere  auch  ausdenke,  ob  man 
nach  Art  der  Chaldäer  in  den  Sternen  lese,  oder  mit  den 
Juden  auf  den  zündenden  Blick  der  Sonne  warte,  ob  man  in 
der  Weise  der  römischen  Auguren  und  Harnspices  den  Fing 
der  Vögel  deute  und  die  Eingeweide  der  Opferthiere  prüfe, 
oder  wie  die  Hellenen  die  Orakel  befrage  oder  wie  die  Ger- 
manen  die  Loose  schüttle  und  werfe,  diese  Mittel  führen 
unfehlbar  anf  die  Irrwege  des  Aberglaubens  und  des  Trugs. 
Der  zweite  Weg  aber  der  innen  Inspiration  ist  um  so  mehr 
der  Selbsttäuschung  ausgesetzt .  je  weniger  der  Menseh  die 
eigenen  Geisteekräfte  anstrengt,  die  Gott  ihm  zur  Thätigkeit 
gegeben  hat,  je  passiver  er  sich  verhält  und  je  Leidenschaft- 
licher er  sich  der  erwarteten  göttlichen  Strömung  hingibt 
Die  unentbehrlichen  menschlichen  Organe  der  Btatliohen 

Willensbildung  sowohl  für  die  Gesetlgebung  als  für  die 
Kegierung  sind  also  in  der  Theckratie  sehr  unvollkommen 
ausgebildet  und  durchaus  unsicher. 

4.  Uebermacht  des  Priest  er  t  hu  ms ,  das  rieh  Gott 
näher  glaubt,  Bbei  die  weltlichen  A.emter.  Wenn  die  Priester 
die  obrigkeitlichen  Rechte  unmittelbar  ausüben,  so  erschein 
der  theokratische  Stat  als  offenbarer  Priesterstat;  wenn  es 
neben  ihm  eine  weltliche  Obrigkeii  gibt,  so  macht  sich  die 
priesterliche  Uebermacht  gewöhnlich  im  Verborgenen  geltend 
und  es  ist  der  Stat  ein  latenter  Priesterstat. 

Da  aber  in  allem  Priesterthumc  etwas  Weibliches  ist,  so 
werden  in  dem  Priesterstat  die  weihlichen  Eigenschaften  den 
männlichen  übergeordnet.  Das  männliche  Selbstgefühl  und  die 
menschliche  Freiheit    können   nicht  zur  Entwicklung  gelangen. 


Siebentes  Cap.  II.  Demokrat.  Statsformen.  A.  Die  unmittelb.  Demokr.    307 

Die  Zurücksetzung  der  Laien  und  die  Hemmung  ihres  Geistes 
sind  von  der  Priesterherrschaft  unzertrennlich. 

5.  Grausamkeit  der  Strafrechtspflege  und  Härte  der 
Strafen.1,11  In  der  menschlichen  Gerechtigkeit  wird  der  Zorn 
Gottes  dargestellt;  die  freie  Regung  des  individuellen  Geistes 
wird  als  Gottlosigkeit  verurtheilt,  auch  ein  geringes  Vergehen 
wie  eine  Beleidigung  der  göttlichen  Majestät  schwer  geahndet. 

6.  Die  ganze  Erziehung  der  Jugend  und  des  Volks 
bleibt  in  den  Händen  der  Priesterschaft.  Die  Schule  und  die 
Bildung  sind  völlig  dienstbar  der  kirchlichen  Leitung  und  den 
kirchlichen  Zwecken.  Alle  Wissenschaften,  Künste,  Fertig- 
keiten werden  nur  insofern  geschätzt  und  gepflegt,  als  sie  zu 
religiösen  Zwecken  nützlich  sind;  im  übrigen  aber  mit  Misz- 
trauen  betrachtet  und  vernachlässigt,  und  wenn  eine  Gefahr 
für  die  hergebrachte  religiöse  Autorität  daraus  zu  erwachsen 
scheint,  unterdrückt  und  verfolgt. 

Wissenschaft  und  Kunst  haben  keinen  Werth  für  sich, 
sondern  nur  für  die  Religion,  sie  sind  nicht  freie  Schöpfungen 
des  Menschengeistes,  sondern  Sclavinnen  der  Kirche. 


Siebentes  Capitel. 

II.    Demokratische  Statsformen. 
A.    Die  unmittelbare  (antike)  Demokratie. 

Die  Art,  wie  im  Alterthum  die  Demokratie  verstanden 
wurde,  und  wie  sie  in  der  neuern  Zeit  aufgefaszt  wird,  ist 
sehr  verschieden.  Die  alten  Demokraten  gingen  von  dem 
State  aus,  und  suchten  die  Freiheit  Aller  in  der  politisch- 
gleichen Herrschaft  Aller.  Die  neuern  Demokraten  gehen 
von   der  individuellen  Freiheit  der  Einzelnen  aus,    und 

15  Gute  Bemerkung  darüber  bei  Duncker  a.  a.  0.  II.  S.  619. 

20* 


308  Viertes  Buch.     Die  Starsfurraen. 

suchen  möglichst  wenig  davon  abzugeben  an  »las  Ganze,  mög- 
lichst wenig  zu  gehorchen.  Die  alte  Demokratie  ferner  war 
durchweg  eine  unmittelbare  Demokratie,  wenn  auch  bald  in 
absoluter  Form,  bald  ermäßigt:  die  neuere  dagegen  ist  regel- 
mäszig  eine  repräsentative  Demokratie.  Es  ist  einleuch- 
tend, dasz  die  erstere  nur  in  einem  kleinen  Statsgebiete  möglich, 
diese  aber  auch  in  einem  grösseren  Volke  und  Lande  anwend- 
bar ist. 

Die  Griechen  vorzüglich,  in  eine  grosie  Zahl  kleiner 
Staten  zersplittert,  Backten  und  fanden  in  der  demokratischen 
Statsform  die  Befriedigung  ihrer  politischer]  Aiischauungsv 
Es  ist  nicht  zu  l&ugnen,  Belbst  die  alten  königlichen  Staten 
und  die  sogenannten  Aristokratien  der  Griechen  haben,  wenn 
man  sie  mit  der  modernen  Monarchie  oder  mit  der  römischen 
Ari.-tokratie  vergleicht,  ein  demokratisches  Etwas  an  sich,  wo- 
durch sie  sich  von  diesen  unterscheiden.  Auch  i-t  es  beach- 
tenswerth,  dasz  die  gröszten  Denker  unter  den  hellenischen 
Philosophen,  obwohl  sie  die  athenische  absolute  Demokratie 
keine-  instig  1».  nrtheflteu .  '    doch   das    Ideal   eine: 

mftssigten  Demokratie  festhielten  und  vorzugsweise  diese  Stats- 
form Pell  t  ie  nannten. 

Für    die   EÜnsichl    in    die   Natnr    der    Demokratie    ist    kein 
Stat  lehrreicher  als  der  athenische.    In  <\w  Verfassung  Athens 

erlangte    dieselbe    ihren    dbnsequente8ten    Ausdruck.      In    einem 

Umfang  wie  nie  seither  wieder,  ttbte  da-  Volk  dort  seihst  die 
Barschaft   ans.     Fast    alle    wichtigeren   Statsangelegenheiten 

wurden  in  der  V  o  1  k  .- \  e  r-a  m  m  lu  n  g  {ixxX^aia)  verhandelt, 
und   diese   trat   BO   häutig,   beinahe  Wöchentlich  einmal,  auf  dem 

Markte  öffentlich  zusammen,  wie  es  nur  erklärbar  wird,  wenn 
man  bedenkt,  dasz  die  gewöhnlichen  Bernfsgeschäfte  und  Ar- 

beiten  vorzüglich  von  den  zahlreichen  Sclaveii.  nicht  VOD  den 
freien  Bürgern  betrieben   wurden. 

1  Darin  stimmen  Xenophon,  Platoa  und  A  i  i  - 1  (i  t  <■  I  e  -  IMMBH 


Siebentes  Cap.  IL  Demokrat.  Statsformen.  A.  Die  unmittelb.  Demokr.    309 

In  der  Volksversammlung  hatte  der  vielköpfige  Demos 
eine  sichtbare  Darstellung  gefunden.  Sie  war  die  Vereinigung 
aller  ehrbaren  athenischen  Bürger,  welche  schon  nach  Voll- 
endung des  zwanzigsten  Altersjahres  daselbst  Zutritt  und 
Stimmrecht  erhielten.  In  ihr  fühlten  sich  die  Athener  als 
die  Herren  des  Stats,  jeder  einzelne  als  ein  Theil  des  Sou- 
veräns. Das  charakteristische  Merkmal  der  demokratischen 
Verfassung,  dasz  die  Mehrheit  herrsche,  und  jeder  Bürger 
Antheil  an  der  obrigkeitlichen  Macht  habe,  war  hier  völlig 
ausgebildet.  Jedem  stand  es  frei,  das  Wort  zu  ergreifen  und 
zu  dem  Volke  zu  sprechen.  Zu  Solons  Zeit  noch  gab  das  er- 
fahrene Alter  einen  Vorzug,  aber  diese,  wie  die  übrigen  Be- 
schränkungen der  demokratischen  Gleichheit  wurden  bald 
lästig  befunden  und  verworfen.  Dem  Sprachtalent  wurde  freier 
Spielraum  eröffnet,  und  die  Gewalt  der  Rede  elektrisirte  und 
lenkte  die  Menge  schrankenlos.  Ein  Glück  war  es,  wenn 
grosze  Statsminner  wie  Perikles,  als  Redner  ihr  Urtheil 
bestimmten:  aber  häufiger  noch  bemächtigten  sich  schlaue  und 
ehrgeizige  Demagogen  der  Gemüther,  und  indem  sie  es  ver- 
standen die  Leidenschaften  der  Versammlung  zu  erregen  und 
ihrer  Selbstsucht  zu  schmeicheln,  regierten  sie  die  Masse 
wechselseitig.  Von  dieser  groszen  Wirkung  der  Rede  haben 
wir  in  dem  modernen  Stat  keine  völlig  entsprechende  Anschau- 
ung mehr.  Sie  ergriff  die  Zuhörer  massenhafter  und  stärker 
als  die  Presse  die  zerstreuten  Leser.  Der  Eindruck  war  un- 
mittelbarer und  lebendiger.  Die  Stimme  des  Redners,  der 
Glanz  der  Augen,  die  Gebärden  desselben  erhöhten  die  Be- 
deutung und  den  Nachdruck  seiner  Worte,  und  die  erregte 
Stimmung  der  lauschenden  und  ihrer  Macht  bewuszten  Menge 
gab  der  Verhandlung  einen  gewaltigeren  Schwung.  Auch  die 
mündlichen  Verhandlungen  und  Reden  in  unsern  Parlamenten 
haben  nicht  denselben  Grad  von  Einflusz,  theils  weil  die  Ver- 
sammlungen selbst  viel  kleiner  und  gewählter,  theils  weil  sie 
beschränkter  in  ihrer  politischen  Macht  sind. 


310  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Die  Befugnisse  dieser  Versammlungen  waren  sehr  aus- 
gedehnt. Sie  umfaszten  das  ganze  Statsleben.  Selon  hatte 
dieselben  noch  beschränkt  auf  die  Wahlen  der  Magistrate, 
die  Controle  der  Regierung,  und  die  Berathung  über  die  Ge- 
setze. Aber  im  Gefühl  seiner  Uebermacht  übersehritt  der  von 
den  Rednern  geführte  Demos  die  Schranken  der  Solonischen 
Verfassung.  Die  Volksbeschlüsse  (tfrqpigfjiaTa)  wurden 
entscheidend,  und  der  Demos  beschlosz,  wie  ein  absoluter 
Despot,  was  ihm  gefiel  auch  wider  die  Gesetze.2 

Die  eigentliche  Gesetzgebung  stand  zwar  nicht  der  Volks- 
versammlung selbst,  sondern  den  Nomotheten  zu;  aber  auf 
die  Entscheidung  dieser  hatte  die  Verhandlung  und  Stimmung 
jener  einen  meistens  überwältigenden  Einrlusz  und  die  Nomo- 
theten waren  selber  nur  ein  zahlreicher,  im  einzelnen  Falle 
gewählter  Ausschusz  der  Volksversammlung.  Dagegen  ent- 
schied die  Volksversammlung  Belbst  die  wichtigsten  Kegierungs- 
geschäfte.  Sie  selber  hörte  die  Gesandten  anderer  Staten  an, 
ernannte  Gesandte,  berieth  und  bestimmte  die  Instructionen 
derselben.  Sie  beschL»>z  Krieg  "der  Frieden,  erwählte  die 
Feldherren,  regelte  den  Sold  and  BOgar  die  Art  der  Kriegs- 
führung.  Das  Schicksal  der  eroberten  Städte  und  Lander 
wurde  von  ihr  normirt.  Sie  verfügte  aber  die  Aufnahme  und 
Anerkennung  neuer  Götter,  über  die  religiösen  Feste,  über 
neue  Priesterthümer.  Sie  erth  eilte  Bürgerrechte  und  Privile- 
gien. Ueber  den  Zustand  der  Finanzen,  die  Kinnahmen  und 
Ausgaben  der  Republik  muszte  ihr  in  jeder  Prytanie  (zu  35 
oder  36  Tagen  um)  KechensebalL  abgelegt  werden.  Von  ihr 
wurden  die  Steuern  auferlegt,  die  Schirmgelder  der  Metöken 
bestimmt,  das  Münzwesen  geordnet,  zu  freiwilligen  Beiträgen 
aufgefordert.  Die  Bauten  der  Tempel  und  öffentlichen  Ge- 
bäude, der  Straszen,  Mauern  u.  s.  f.,  sowie  die  wiehtigen  Aus- 
gaben  für   den    Schiffsbau   bedurften   ihrer   Genehmigung   und 

■  Vgl.  Aristot.  Pol.  IV.    i,    i   u.  (i. 


Siebentes  Cap.  II.  Demokrat.  Statsformen.  A.  Die  unmittelb.  Demokr.    31 1 

die  wesentlichen  Aufträge  dafür  gab  sie  selber,  Sie  verwen- 
dete die  Statsgelder  auch  zum  Privatvergnügen  der  einzelnen 
Bürger,  indem  sie  diesen  den  Besuch  der  Theater  bezahlen 
liesz.  Die  regelmäszige  Strafgerichtsbarkeit  war  der  Volks- 
versammlung zwar  entzogen,  aber  in  auszerordentlichen  Fällen, 
insbesondere  wo  das  Gesetz  ein  Verbrechen  nicht  vorgesehen 
hatte,  oder  erschwerende  Umstände  auszergewöhnliche  Masz- 
regeln  zu  rechtfertigen  schienen,  wurden  auch  Criminalklagen 
vor  derselben  verhandelt  und  von  ihr  die  Strafe  bestimmt,  oft 
auch  das  Schuldig  ausgesprochen.  •  Die  Entartung,  welche 
rasch  auf  die  Blüthezeit  der  Demokratie  folgte,  begünstigte 
die  Miszbräuche  dieser  Volksjustiz. 

In  der  Volksversammlung  hatte  die  Mehrheit  der  an- 
wesenden Bürger  den  Entscheid.  Aber  selbst  in  Athen,  wo 
die  geistige  Bildung  auch  der  untern  Schichten  der  freien 
Bürger  höher  stand,  als  seither  in  irgend  einem  Lande,  unter 
einem  Volke,  welches  die  Tragödien  von  Aeschylos  und  Sophokles 
zu  würdigen  wuszte,  vor  welchem  die  Reden  des  Demosthenes 
gehalten  wurden,  selbst  in  Athen,  wo  durch  Handel  und  Herr- 
schaft sich  grosze  Keichthümer  aufhäuften  und  reichlicher 
Verdienst  jede  Arbeit  lohnte,  war  die  Mehrheit  unfähig,  den 
Verlockungen  der  Demagogen  zu  widerstehen,  und  ungeneigt, 
eine  gerechte  Herrschaft  zu  üben.  Die  Minderheit  der  edleren 
und  der  reicheren  Bürger  wurde  auch  von  dieser  Mehrheit 
gedrückt  und  miszhandelt,  und  Xenophon  konnte  es,  im 
Hinblick  auf  seine  Vaterstadt  Athen,  als  eine  nothwendige 
Consequenz  der  Demokratie  erklären,  „dasz  in  ihr  das  Loos 
der  Schlechten  besser  sei  als  das  der  Guten."3 


3  Xenophon  über  den  Stat  der  Athener.  I.  1.  Ebenda  (II.  19-) 
versichert  er,  „das  Yolk  der  Athener  wisse  recht  wohl  zu  unterscheiden 
zwischen  guten  und  schlechten  Bürgern.  Aber  es  ziehe  die  Schlechten 
vor,  die  ihm  zu  Willen  seien,  und  hasse  die  Guten;  denn  es  sei  über- 
zeugt, dasz  die  Tugend  Einzelner  nicht  zum  Wohl  der  Menge,  sondern 
zu  ihrem  Schaden  in  der  Welt  sei,    und  ihnen  liege  nichts  daran,   dasz 


312  Viertes  Buch.     Die  Statsformcn. 

Die  Allmacht  der  Volksversammlung  sollte  freilich  nach 
der  Solonischen  Verfassung  durch  den  Eath  zum  Theil  be- 
schränkt, zum  Theil  geleitet  werden.  Den  Eath  selber  hatte 
Solon  auf  die  aristokratische  Ordnung  des  Volkes  nach  den 
vier  Stämmen  basirt,  und  indem  er  die  Bürger  je  nach  ihrem 
Vermögen  in  vier  Classen  theilte,  und  den  oberen  und  reicheren 
Classen  schwerere  Pflichten  und  höhere  Eechte  im  State  an- 
wies, auch  dem  Vermögen  und  der  Bildung  im  Bathe  das 
Uebergewicht  übef  die  niedere  Menge  zu  sichern  gesucht. 
Allein  auch  den  Eath  nahm  seit  Klisthenes  (510  v.  Chr.)  die 
Menge  ganz  und  gar  für  sich  in  Anspruch.  Der  Eath  der 
500  war  selber  eine  kleine  Volksversammlung,  ohne  Bücksicht 
auf  Vermögen  und  Bildung  aus  der  gleichen  Menge  der  Bürger 
hervorgegangen,  nicht  einmal  durch  die  Wahl  auserlesen,  son- 
dern durch  das  Loos  zusammengewürfelt,  und  ebenso  durch 
das  Loos  in  zehn  Bureaux  (Prytanien)  von  je  50  Eäthen  ver- 
theilt,  welche  alle  36  Tage  in  der  Leitung  der  Geschäfte 
wechselten.  Von  einer  selbständigen  Autorität  eines  derartigen 
Eathes  der  Menge  gegenüber,  aus  welcher  er  wie  der  auf  die 
Höhe  getriebene  Schaum  des  Champagners  wechselnd  empor- 
stieg, und  in  welcher  er  wieder  nach  kurzer  Frist  sich  auf- 
löste, konnte  keine  Bede  mehr  sein.  Er  diente  blosz  dazu,  die 
äuszere  Besorgung  und  Einleitung .  der  Geschäfte  der  Menge 
zu  erleichtern,  und  die  Selbstregierung  dieser  möglich  zu 
machen. 

Die  Archonten,  in  älterer  Zeit  hohe  Magistrate ,  ur- 
sprünglich Eupatriden,  nach  der  Solonischen  Verfassung  aus 
der  Classe  der  Beichsten  (der  Pentakosiomedimnen)  gewählt, 
wurden,  als  einmal  die  Demokratie  zu  freier  Entfaltung  ge- 
langt war,  durch  das  Loos  bestellt,  zu  welchem  jeder  Bürger 
nun,  ohne  dasz  ferner  auf  Geburt  oder  Vermögen  oder  Bil- 
dung geachtet  wurde,  zugelassen  wurde,  und  sanken  herab  zu 

der  Stat  wohlgeordnet  sei,  sondern  daran  nur,  dasz  die  Menge  frei  und 
Herrscher  sei/  (I.  8.) 


Achtes  Capitel.    Beurtheilung  der  unmittelbaren  Demokratie.    313 

bloszen  Dienern  des  Demos  und  machtlosen  Vorsitzern  der 
zahlreichen  Gerichtshöfe.  Diese  selber  waren  wieder  ganz  de- 
mokratisch bestellt,  und  wiederum  eine  Art  von  Volksversamm- 
lung. Nicht  weniger  als  6000  Geschworne  nahmen  an  den 
Gerichtsverhandlungen  Theil,  und  je  nach  der  Wichtigkeit  der 
Processe  urtheilten  Hunderte  oder  Tausende  von  Geschworenen. 
Die  Sucht  der  Massen,  an  dem  Solde  und  an  der  Autorität 
der  Richter  Theil  zu  nehmen ,  von  Aristophanes  in  den 
Wespen  gegeiszelt,  ward  zu  einer  chronischen  Krankheit  Athens, 
und  auf  diesem  Boden  ging  das  schändliche  Gewerbe  der  Syko- 
phanten  wuchernd  auf.  Derlei  Volksgerichte  betrachteten  sich 
mehr  als  Beschützer  und  Förderer  der  Volksherrschaft,  und 
kümmerten  sich  mehr  um  politische  Parteikämpfe  und  Partei- 
interessen, als  um  die  Handhabung  des  unparteiischen  Rechts. 
Sie  wurden  so  zum  Tummelplatze  der  öffentlichen  und  Privat- 
leidenschaften;  die  Bestechlichkeit  der  Sykophanten  und  der 
Richter  selbst  nahm  überhand,  und  in  Form  Rechtens  wurde 
die  äuszerste  Willkür  und  Despotie  der  Menge  geübt.4 


Achtes  Capitel. 

Beurtheilung  der  unmittelbaren  Demokratie. 

In  der  begabten  Natur  der  Athener  und  in  der  glänzen- 
den Geschichte  ihrer  Stadt  spiegeln  sich  die  Eigentümlich- 
keiten, die  Vorzüge  und  Gebrechen  der  unmittelbaren  Demo- 
kratie für  alle  Zeiten  ab. 

Die  Demokratie  liebt  die  Freiheit  mehr  als  die  Auto- 
rität. Die  Freiheitsliebe  der  Athener  hat  vornehmlich  die 
reiche  Entfaltung  der  ewig-jungen  und  ewig-schönen  Werke  in 
Kunst  und  Wissenschaft  hervorgebracht,  welche  die  Bewunde- 

4    Ueber  die  Verfassung  Athens  ist   vorzüglich  das  treffliche   Buch 
von  K.  Fr.  Herrmann,  Griech.  Statsalterthümer,  zu  vergleichen. 


314  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

rang  der  Nachwelt  erhält  und  verdient.  Aber  die  demokra- 
tische Freiheit  Aller  wird  zugleich  als  Herrschaft  der 
Mehrheit  verstanden.  Die  Bürgerschaft  will  in  Per- 
son, d.  h.  durch  grosze  Volksversammlungen  den  Stat  re- 
gieren. Diese  hinwieder  sind  nur  möglich  in  kleinen  Staten, 
und  bei  einem  Volke,  welches  Musze  hat  sich  mit  Stats- 
geschäften  regelmäszig  zu  befassen,  also  nur  unter  der  Vor- 
aussetzung, dasz  entweder  die  Lebensverhältnisse  des  Volkes 
äuszerst  einfach  und  die  Statsgeschäfte  gering  sind,  wie  der- 
gleichen etwa  in  den  Gemeinden  abgeschlossener  Bergthäler 
vorkommt,  oder  dasz  die  Masse  der  täglichen  Arbeit  von  Per- 
sonen besorgt  wird,  welche  nicht  zur  Bürgerschaft  gehören. 
Bei  einem  gebildeten  Volke  ist  daher  die  reine  Demokratie 
Aller  immer  eine  Unwahrheit,  indem  ihre  Existenz  eine  die- 
nende, unfreie  Bevölkerung  voraussetzt. 

In  dies<'n  giooen  ^olksrersaminlangen  aber  entwickelt 
sich  leicht  ein  Gefühl  von  unbeschrankter  Macht,  welches 
hinwieder  das  Volk  zu  Miszgriffen  jeder  Art  verleitet,  und 
leichi  launische  Willkür  an  die  Stelle  des  Rechtes  setzt.  Der 
Einzelne  für  sich  ein  ehrbarer  und  besonnener  Mann,  wird  in 
der  Versammlung  als  unbemerktes  Glied  einer  zahlreichen 
und  imposanten  Menge  von  dem  öeiste  und  den  Leidenschaften 
der  Masse  ergriffen ,  und  zu  Willensfinszerungen  fortgerissen, 
die  er  kurz  vorher  noch  des  bestimmtesten  verworfen  bat.  Ist 
einmal  durch  die  Redner,  welche,  um  Eindruck  zu  machen, 
genöthigt  sind  auch  die  Saiten  der  Volksleidenschaften  anzu- 
spielen, die  Stimmung  der  Menge  wie  eis  brausender  Strom 
in  Bewegung  gesetzt,  so  hält  selbst  die  Scham  das  Volk  nicht 
zurück,  alle  widerstrebenden  Schranken  zu  durchbrechen  und 
maszlos  zu  fiberflnthen. ' 

1  Edm.  Burke  spricht  das  schön  am:  .,  W<>  die  Autorität  de*  Vol- 
kes absolut  und  unbeschränkt  ist,  da  hat  das  Volk  auch  ein  Oaendliofa 
gröszeres,  weil  ein  besser  gegründetes  Verträum  auf  seine  Macht.  Es 
M   -<'ll>st,  bei  groszen   Maszregeln,  sein  eigene-    'Werkzeug,  während  der 


Achtes  Capitel.     Beurtheilung  der  unmittelbaren  Demokratie.     315 

Soll  die  reine  Demokratie  daher  eine  gute  Verfassung 
sein,  so  musz  die  Bürgerschaft  in  ihrer  Mehrheit  politisch 
fähig  und  tüchtig,  d.  h.  die  Einsicht  der  Menge  musz 
ausgezeichnet  und  ihr  Charakter  vortrefflich  sein.  Es  ist  aber 
immerhin  eine  sehr  bedenkliche  Erfahrung  für  diese  Statsform, 
dasz  selbst  in  Athen,  unter  einem  geistig  so  hochgebildeten 
Volke,  dessen  Charakter  sich  vorzüglich  im  Unglück  und  in 
der  Gefahr  grosz  zeigte,  somit  eine  ausgezeichnete  Anlage 
hatte,  die  reine  Demokratie  sich  nur  während  ganz  kurzer  Zeit 
vor  der  Entartung  und  dem  Verfall  bewahrte.  Ja  selbst  in 
der  Periode  ihrer  höchsten  Blüthe  und  Herrlichkeit  beruhte 
ihre  Grösze  vornehmlich  darauf,  dasz  das  Volk  nicht  seinen 
Willen  selber  bestimmte,  sondern  der  Autorität  und  Leitung 
eines  groszen  Statsmannes  völlig  vertraute,  dasz  Einer  die 
Menge  factisch  beherrschte.  Thukydides*  sagt  von  den  Zeiten 
des  Perikles:  „Den  Werten  nach  war  Athen  eine  Demokratie, 
in  der  Wirklichkeit  aber  war  der  Stat  unter  der  Herrschaft 
des  Ersten  Mannes." 

Die  Tugend  der  Menge,  wenn  sie  den  berauschenden 
Wein  der  Macht  getrunken,  hält  nicht  Stand.  So  lange  noch 
die  religiöse  Scheu  vor  der  Gerechtigkeit  Gottes  lebendig  ist 
in  ihrem  Herzen,  so  lange  noch  die  Sitte  und  das  Gesetz  sie 
in  Schranken  hält,  und  die  Achtung  vor  der  überlegenen 
Autorität  der  Besten  waltet,  so  lange  allerdings  kann  auch  die 
demokratische  Form  der  Herrschaft  bestehen,  und  es  ist  nicht 
zu  verkennen,   dasz   dann  auch  die  Masse   der  Individuen  des 

Fürst  ohne  die  Hülfe  Anderer  nichts  thun  kann.  Es  ist  dem  Gegen- 
stande seiner  Herrschaft  näher.  Daher  steht  es  weniger  unter  der  Ver- 
antwortlichkeit jener  groszen  controlirenden  Macht  auf  Erden,  dem  Ur- 
theil  des  guten  Rufes  und  der  Ehre.  Die  Furcht  vor  der  Schande,  an 
welcher  jedes  Individuum,  wenn  es  sich  um  öffentliche  Dinge  handelt, 
Theil  hat,  ist  für  das  Yolk  nur  gering,  indem  die  Selbständigkeit  der 
öffentlichen  Meinung  in  einem  umgekehrten  Yerhältnisz  zu  der  Zahl 
derer  steht,  welche  die  Macht  miszbrauchen.  Eine  vollendete  Demokratie 
ist  daher  das  schamloseste  Ding  auf  der  Welt," 
*  Thid-ydiä,  IL  65. 


316  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

demokratischen  Volkes  durch  die  Beschäftigung  mit  den  Öffent- 
lichen Angelegenheiten  gehoben  wird,  und  sich  vor  den  bür- 
gern anderer  Staten  durch  eine  reichere  und  selbstbewusztere 
Entwicklung  ihrer  Anlagen  auszeichnet.  Jeder  Einzelne  musz. 
weil  er  Theil  an  der  gemeinsamen  Herrschaft  hat,  seine  Blicke 
über  die  enge  Gränze  seines  Bernfes  hinaus  richten,  er  wird 
vertrauter  mit  den  groszen  Gesetzen  der  Geschichte,  und  dem 
Gesammtleben  der  Völker.  Seine  politischen  Fähigkeiten 
werden  ausgebildeter,  seine  Kräfte  gesteigert,  und  im  Verkehr 
mit  denselben  Clanen  anders  regierter  Völker  zeiizt  er  sich  in 
manchen  Dingen  diesen  überlegen.  Aber  bald  Lftszt  jene  Sehen 
und  Achtung  nach,  und  es  nimmt  EUgleidh,  da  die  wohlthätige 
Zweiheit  der  andern  Statsf«  rmen,  der  Kegent  und  die  Regier- 
ten, hier  fehlt,  das  Gefühl  einer  äusxerlich  Dicht  beschränkten 
Macht  und  der  Miszoraucfa  derselben  überhand.  Dann  kommen 
die  schlechten  Eigenschaften  in  der  Blasse  zu  Eügelloser  Bnt- 
faltung,  und  gerade  die  bessere  und  edlere  Minderheit,  deren 
Dasein  schon  die  niedrige  Menge  wie  »'inen  Vorwurf  empfindet, 
und  wie  einen  Protest  gegen  ihre  Berrsehafl  betrachtet,  wird 
nun  beneidet,  gehassi  und  unterdrückt.  Qebermnth,  Launen- 
haftigkeit, Maszlosigkeit,  die  Bucht  zu  häufiger  und  eitler 
Neuerung,  Willkür,  Rohhtit  wuchern  in  dem  Demos  empor, 
und  je  weniger  er  in  Wahrheit  rieb  selbst  beherrscht,  desto 
drückender  wird  seine  Herrschaft  über  andere.  Bfl  bilden  sieh 
Parteien,  in  irelcheo  der  Haa  gegen  einander  starker  ist 
die  Liebe  zu  dem  gemeinsamen  Vaterlande,  and  welche  dieses 
zerfleischen,  indem  sie  einander  auf  Tod  und  Lehen  bekämpfen. 
Der  Stat  verfällt  in  wechselnde  Schwankungen  v<dler  Unsicher- 
heit und  Gefahr,  und  geht  in  dem  [Jebermasz  der  Beweglich- 
keit /.n  Grunde.  So  war  die  Blüthezeil  der  athenischen  De- 
mokratie zwar  überaus  glänzend,  aber  stdir  kurz,  und  ein  langer 
Verfall,  von  dem  sich  der  Stat  nicht  wieder  erholte,  folgte 
ihr  auf  dem  Fusze  nach.1* 

3  Die  Qlansptriode  beginnt  mit  Disthenei  Mit  r.  (In  .  welcher  /u- 


Achtes  Capitel.     ßeurtheilung  der  unmittelbaren  Demokratie.     317 

Eine  charakteristische  Eigenschaft  jeder  Demokratie  ist 
die  Vorliebe  für  das  Princip  der  Gleichheit,  In  Athen 
wurde  die  politische  Gleichheit  der  Bürger  in  ihrer  Einseitig- 
keit so  consequent  ausgebildet,  wie  in  den  neueren  Demokratien 
nirgends  mehr.  Wo  es  irgend  möglich  schien,  handelte  die 
Masse  der  gleichen  Bürger  selbst,  denn  die  Kepräsentation 
durch  einzelne  Auserwählte  begründet  schon  einen  Vorzug  und 
Vorrang  dieser.  Wo  aber  dennoch  einzelne  Beamte  oder  Käthe 
bestellt  werden  muszten,  da  zogen  die  Athener  in  der  Kegel 
der  unterscheidenden  und  die  für  besser  geachteten  Männer 
aussondernden  Wahl  das  blinde  Loos  vor,  welches  unbeküm- 
mert um  die  höhere  Einsicht  und  Tugend  Einzelner  in  die 
gleiche  Masse  greift  und  bald  diesen  bald  jenen  hervorzieht; 
und  damit  nicht  etwa  der  Vorzug  des  Amtes,  wenn  es  an- 
daure,  doch  wieder  die  Beamten  über  die  Menge  erliebe, 
begegneten  ßie  «lieser  Gefahr  durch  häufigen  Wechsel  der  ge- 
loosten  Würdeträger.  '  Schon  die  Existenz  von  Beamten,  die 
Gehorsam  fordern,  ist  dem  demokratischen  Grundsatze  der 
Gleichheit  aller  Bürger  zuwider;  erscheint  dieselbe  unentbehr- 
lich und  unvermeidlich,  30  soll  daher  diese  Art  der  Ungleich- 
heit durch  das  Loos  und  den  Wechsel  gemildert  werden.  Die 
Gleichheit  nämlich,  auf  welcher  die  Demokratie  beruht,  ist 
die  Gleichheit  der  Zahl.  Ihr  Ausdruck  ist  nicht:  ,, Jedem 
nach  seinen  Verhältnissen, u  sondern:  ,, Einer  wie 
der  andere."5 

Eine  andere  Consequenz  dieser  demokratischen  Rechts- 
gleichheit ist  der  Ostracismus,  bei  den  Griechen  in  offener, 
theilweise  sogar  ehrenvoller  Form  ausgebildet,  in  den  neuern 
Demokratien   nicht  formel  anerkannt,   aber  von   Zeit  zu  Zeit 

erst  die  reine  Demokratie  einführte,  und  endigt  schon  mit  dem  Tode 
des  Perikles  428,  hat  also  nur  etwa  82  Jahre  gedauert. 

*  Ygl.  Aristot.  Pol.  VI.  1,  8. 

5  Aristoteles  bezeichnet  den  Gegensatz  Pol.  V.  1,  7.  und  VI.  1,  6. 
vTo  taov  x«r'  ccqtd-fxov  clXXu  {uy  xr«'   u^iccv.* 


318  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

thatsächlich ,  und  dann  zuweilen  auch  in  schmählicher  Weise 
geübt.  Jede  Verfassung  musz,  wenn  sie  bestehen  soll,  die 
mit  ihrem  Bestand  unverträglichen  Elemente  ausstoszen  können. 
Insofern  ist  die  reine  Demokratie  nicht  zu  tadeln,  wenn  sie 
einzelne  Bürger,  welche  durch  ihre  persönliche  Ueberlegenheit 
die  allgemeine  Gleichheit  gefährden,  verbannt,  wie  die  Athener 
ihre  ersten  Männer  und  Wohlthäter  verwiesen  haben.  Aber 
es  ist  ein  bedenkliches  Zeugnisz  für  den  Werth  der  demokra- 
tischen Statsform,  dasz  sie  eher  noch  die  Schlechtigkeit  der 
Massen,  als  die  hervorragende  Grösse  einzelner  Individuen 
erträgt. 

Fassen  wir  das  Resultat  dieser  Untersuchung  zusammen. 
Die  unmittelbare  Demokratie ,  wie  sie  vorzuglich  in  den  grie- 
chischen Staten  erschienen  ist,  ist  eine  zunächst  nur  für  kleine, 
und  vorzüglich  für  einfache  und  gleichmäszig  in  alter  frommer 
Sitte  verharrende,  Ackerbau  oder  Viehzucht  treibende  Völker- 
schaften geeignete.'1  für  höhere  Culturvölker  und  reichere 
Lebensverhältnisse  aber  momentan  zwar  anregende,  aber  in 
kurzem  verderbliche  und  ungenügende  Statsform.  Unter  der 
erstem  VoTMssetznng  erseheini  sie  sowohl  natürlicher  als  ge- 
mflszigter,  unter  der  letzteren  dagegen  zur  Cebertreibnng  und 
Schrankenlosigkeit  geneigt  Die  Freiheit,  welche  sie  ver- 
Bpricht,  wird  dann  leicht  zu  ungerechter  Bedrückung  gerade 
der  edleren  Elemente,  und  zu  roher  Herrschsucht  und  Zügel- 
losigkeit  der  Menge,  und  die  Gleichheit,  auf  welcher  sie  be- 
ruht, ist,  sobald  das  entwickeltere  Leben  seine  GtegensÜM  und 
Unterschiede  hervorgebracht  hat,  eine  augenfällige  Lüge  und 
das  entschiedenste  Unrecht. 7 

6  Aristoteles  Pol.  VI.  2,  I  ff.  führt  diesen  Gedanken,  welcher  in 
Griechenland  eichon  und  spStei  in  der  Schweiz  durch  die  Erfahrung 
bewährt  wurde,  näher  aus. 

7  Sehr  wahr  sagt  Cicero  de  Rep.  [.26:  vQuuni  omni«  per  popuhui 
geruntur  quamvis  justum  atque  moderatum,  tarnen  ar/fiinhilitas  eil  iwiqua, 
quum  kabeai  miUo$  grodus  dignitatü 


Neuntes  Capitel.     B.  Die  repräsentative  (modernej  Demokratie.     319 

Neuntes  Capitel. 

B.    Die  repräsentative  (moderne)  Demokratie. 

Die  unmittelbare  Demokratie  hat  sich  nur  ganz 
ausnahmsweise  auch  in  der  modernen  Welt  erhalten,  unter 
besonders  günstigen  Verhältnissen,  und  überdem  in  Vergleich 
mit  der  athenischen  Form  sehr  gemäszigt  und  gemildert;  so 
vorzüglich  in  den  Bergkantonen  der  Schweiz,  wo  noch  alljähr- 
lich die  Landsgemeinde  aller  freien  Männer  zusammentritt, 
und  die  obersten  Aemter  und  Worden  der  schlichten  Kepublik 
gewöhnlich  aus  den  angesehensten  Familien  des  Landes,  durch 
jubelndes  Handmehr  besetzt,  und  die  Gesetze  sanctionirt,  die 
vor.  den  Käthen  vorbereitet  sind.  Diese  einfachen  von  der 
Strömung  des  europäischen  Lebens  bis  auf  unsere  Zeit  wenig 
berührten  Demokratien  sind  in  der  Tliat  durch  ihr  mehr  als 
fünf  hundertjähriges  Alter,  durch  eine  an  männlichen  Zügen 
reiche,  nur  selten  durch  Gewalttaten  befleckte  Geschichte  und 
durch  die  Bewahrung  schlichter  Sitten  und  eines  friedlichen 
und  glücklichen  Daseins  ehrwürdig.  Aber  selbst  da  ist  in 
neuerer  Zeit  die  Richtung,  diese  Demokratie  in  eine  reprä- 
sentative umzuwandeln,  eingesehlagen  worden,  und  die  De- 
mokratien der  übrigen  schweizerischen  Kantone,  wie 
die  der  Vereinigten  Staten  von  Nordamerika  haben 
alle  einen  repräsentativen  Charakter.  Wo  heut  zu  Tage  de- 
mokratische Parteien  sich  regen,  streben  sie  fast  überall  der 
repräsentativen  Form  der  Demokratie  als  ihrem  Ideale  nach. 
Auch  das  demokratisch  bewegte  Frankreich  der  Jahre  1793 
und  1848  hatte  diese  Verfassung  gewählt.  Man  darf  daher 
wohl  die  repräsentative  Demokratie  für  die  moderne 
Form  dieser  Art  des  States  erklären. 

1.  Die  moderne  Demokratie  hat  durchweg  eine  breitere 
Grundlage  als  die  antike,  gerade  deszhalb  aber  auch  meh- 
rere Stufen   der  Ausübung  politischer  Rechte.     Der  vierte 


320  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Stand  war  im  Alterthum  gewöhnlich  eine  Sclavenbevölkerung, 
in  neuerer  Zeit  aber  wird  auch  er  zu  dem  demokratischen 
Volke  gerechnet.  Aus  gleichem  Grunde  kann  auch  unmöglich 
jeder  für  gleich  fähig  angesehen  werden,  die  Statsgeschäfte 
zu  besorgen;  und  wenn  auch  allen  Bürgern  aller  Classen 
in  der  repräsentativen  Demokratie  der  Zutritt  zu  den  Würden 
und  Aemtern  des  States  eröffnet  wird,  so  ist  doch  das  Loos 
als  ein  Mittel  die  Einzelnen  zu  Würdeträgern  und  Beamten 
zu  bezeichnen,  überall  verworfen,  und  die  aristokratische 
Form  der  Wahl  allgemein  eingeführt  worden.  Ich  sage, 
nach  dem  Vorbild  der  Alten,  mit  Absicht:  die  ,, aristokratische" 
Form  der  Wahl,  denn  sie  setzt  die  Unterscheidung  und  den 
Vorzug  der  Bessern  und  Fähigem  vor  der  Menge,  d.  h.  die 
Ungleichheit  voraus.  Es  ist  somit  die  repräsentative  Demo- 
kratie immer  ermäszigt  durch  das  aristokratische  Element 
einer  auserwählten  Minderheit,  durch  eine  Wahlari- 
stokratie,1 welche  zwar  das  Volk  als  das  höhere  und  herr- 
schende anerkennt,  aber  in  der  Regel  doch  in  dessen  Namen 
über  die  Menge  die  Herrschaft  ausübt. 

Eine  andere  Aristokratie  dagegen,  als  diese  durch  wech- 
selnde Wahlen  aus  dem  gleichberechtigten  Volke  hervorgezo- 
gene Minderheit,  wird  in  keinem  dieser  Staten  mehr  anerkannt. 
Die  Patriciate  in  den  schweizerischen  Kantonen  Bern, 
Freiburg,  Solothurn  und  Luzern,  welche  in  den  letzten 
Jahrhunderten  einen  abgeschlossenen  und  erblichen  Herrscher- 
stand  bildeten,  sind  seit  der  helvetischen  Revolution  von  1798 
ihrer  Vorrechte  entkleidet  und  aufgelöst  worden.  Den  Stadt- 
bürgern, welche  in  andern  Kantonen,  in  Zürich,  Basel, 
Schaffhausen  früherhin  ebenso  als  abgeschlossene  Corpora- 
tion die  souverainen  Rechte  der  Städte  über  die  groszentheils 
erkauften  Herrschaften  und  Municipalstädte  der  Landschaften 
ausübten,  sind  von  dem  nämlichen  Zeitpunkte  an  die  Land- 

1  Vgl.  K.  S.  Zachariä  XL  Bücher  vom  State.   Buch  18.   Abth.  2. 


Neuntes  Capitel.    B.    Die  repräsentative  (moderne)  Demokratie.    321 

bürger  als  gleichberechtigte  Statsbürger  zur  Seite  getreten. 
Diese  beiderlei  Evolutionen  waren  durch  veränderte  Verhält- 
nisse nicht  minder  als  durch  veränderte  Eechtsbegriffe  gerecht- 
fertigt. 2 

In  Nordamerika  hatten  schon  die  ersten  europäischen 
Pflanzungen  einen  demokratischen  Charakter.  Die  wenigen 
vereinzelten  Individuen,  welche  zum  englischen  Adel  gehörten, 
kamen  nicht  in  Betracht  neben  der  Masse  der  bürgerlichen 
und  bäuerlichen  Einwanderer,  welche  sich  in  den  weiten  Län- 
dern niederlieszen  und  Eigenthum  erwarben.  Eine  demokra- 
tische Gemeinde  Verfassung  und  Gemeindefreiheit  war  die  Grund- 
lage der  politischen  Institutionen  der  neuen  Staten.  Nur  in 
den  südlichen  Colonien  ward  durch  die  Einführung  der  Neger 
ein  Gegensatz  der  Bässen  begründet,  diese  aber  als  Sclaven 
von  allen  politischen  Rechten  ausgeschlossen.  Die  Gegensätze 
des  Reichthums  und  der  Armuth,  der  Bildung  und  der  Un- 
bildung wurden  in  der  Folge  freilich  auch  sichtbar,  aber  sie 
wurden  durch  häufigen  Wechsel  in  den  Familien  und  Personen 
durcheinander  gewürfelt.  Die  Gleichheit  der  Verhältnisse 
blieb  bisher  ein  vorherrschender  Charakterzug  des  Volks.  In- 
dessen legten  die  reinsten  Republikaner  wie  Washington  fort- 
während einen  hohen  Werth  auf  die  Eigenschaften  eines  Gent- 
leman, wenn  es  sich  um  Besetzung  der  Aemter  handelte,  und 
nahmen  so  factische  Rücksicht  auf  die  natürlichen  aristokra- 
tischen Elemente  der  modernen  Welt.3 

In  dem  demokratischen  Frankreich  hatten  sowohl  die 
von  Alters  her  überlieferten,  als  die  neu  entstandenen  aristo- 
kratischen Bestandteile  und  Bildungen  der  Nation  dem  Hasse 
der  Revolution  und  der  in  den  Sitten  weniger  als  in  den  Be- 

2  Mediationsacte  Ton  1803.  XX.  3:  „II  n'y  a  plus  en  Suisse  ni 
pays  sujets,  ni  Privileges  de  lieux,  de  naissance,  de  personnes  ou  de 
familles."  Bluntschli  schweizerisches  Bundesrecht  I.  S.  474.  Bundes- 
verf.  von  1848.  §.  4, 

3  Tocquevüle  de  la  democratie  en  Amerique.  Tom.  I. 
Bluntschli,   allgemeines  Statsrecht.    I.  21 


322  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

griffen  des   französischen  Volkes  allgewaltigen   Gleichkeitsidee 
weichen  müssen. 

2.  Einzelne  wichtige  Dinge  werden  indessen  anch  in  der 
repräsentativen  Demokratie  gewöhnlich  nicht  an  die  Kepräsen- 
tanten  des  Volkes  übertragen,  sondern  bleiben  der  unmittel- 
baren Thätigkeit  der  Bürgerschaft  selbst  vorbehal- 
ten.    Dahin  gehören: 

1)  die  Abstimmung  über  Verfassungsgesetze.  In 
der  Schweiz  ist  der  Grundsatz,  dasz  Verfassungsgesetze  der 
Zustimmung  der  Mehrheit  aller  Bürger  bedürfen,  seit  dem 
Jahr  1830  ziemlich  allgemein  anerkannt,  wobei  übrigens  nach 
der  richtigen  Hechnung  die  Bürger,  welche  sich  der  Abstim- 
mung enthalten,  nicht  gezählt  werden.4  In  den  nor  damer  i- 
kanischen  Republiken  dagegen  kommt  anstatt  der  Abstim- 
mung durch  die  ganze  Bürgerschaft,  auch  die  Abstimmung 
durch  eine  zu  diesem  Behuf  gewählte,  zahlreiche  Repräsen- 
tation derselben  (Convent,  Verfassungsrath)  vor; 

2)  zuweilen  auch  die  Abstimmung  über  andere  Gesetze, 
entweder  in  der  positiven  Form  der  Sanction,  so  dasz 
dieselben  erst  durch  die  Annahme  von  Seite  der  Bürgerschaft 
Gültigkeit  erlangen,  oder  in  der  negativen  Form  des  Veto, 
so  dasz  der  Bürgerschaft  die  Befugnisz  zusteht,  den  von  dem 
repräsentativen  Körper  beschlossenen  Gesetzen  durch  ihre  Ein- 
sprache die  Gültigkeit  zu  versagen.  Wo  die  letztere  Form 
gilt,  da  werden  nur  die  verneinenden  Bürger  gezählt,  und  ist 
das  Gesetz  verworfen,  wenn  ihre  Zahl  die  Hälfte  der  Gesannnt- 
bürgerschaft  übersteigt.     Nach   der  ersteren  Form  werden  nur 

4  Verfassung  von  Zürich  §.  93:  „Wird  der  Vorschlag  (einer  Ver- 
fassungsänderung nach  wiederholter  Berathung  durch  den  groszeo  Ruth) 
angenommen,  so  ist  das  dieszfällige  Gesetz  noch  der  gesummten  Bürger- 
schaft des  Kantons  zur  Annahme  oder  Verwerfung  vorzulegen.1*  Seh  wo  lli  r. 
Bundesverf.  von  1848.  Art.  6:  „Der  Bund  übernimmt  die  Gewährleistung 
(der  Kantonalverfassungen),  insofern  sie  —  c)  vom  Volke  angenommen 
worden  sind  und  revidirt  werden  können,  wenn  die  absolute  Mehrheit 
der  Bürger  es  verlangt." 


Neuntes  Capitel.     B.  Die  repräsentative  (moderne)  Demokratie.    323 

die  abstimmenden  Bärger  gerechnet,  und  die  Mehrheit  derselben 
bestimmt  die  Annahme  oder  die  Verwerfung.  Beide  Institute 
sind  der  reinen  Demokratie  entlehnt.  Beide  haben  daher  auch 
für  die  den  Massen  weniger  verständlichen  Bedürfnisse  einer 
höhern  Cultur  ihre  Gefahren,  und  geben  leicht  zu  Agitationen 
der  Menge  Veranlassung.  Sie  werden  in  einzelnen  Kepräsen- 
tativdemokratien  der  Schweiz  geübt. 

3)  Die  Wahlen  der  Mitglieder  des  gesetzgebenden 
Körpers.  Meistens  ist  bei  diesen  Wahlen  das  mathematische 
Princip  gleicher  Wahlkreise  und  der  bloszen  Kopfzahl  der 
Wahlart  zu  Grunde  gelegt,  seltener  organische  Gliederungen, 
wie  z.  B.  die  Gemeinden.  Die  Vertretung  wird  daher  gewöhn- 
lich unvollständig  und  allzusehr  von  bloszen  Parteirichtungen 
bestimmt.  Es  ist  das  indessen  ein  Fehler,  welcher  mit  der 
repräsentativen  Demokratie  keineswegs  nothwendig  verbunden 
ist,  noch  bei  ihr  allein  vorkommt.  Die  Wahl  der  Kammern 
in  der  neuen  constitutionellen  Monarchie  leidet  häufig  an  dem- 
selben Uebel. 

3.  Die  regelmäszige  Ausübung  der  höchsten 
Statsgewalt  wird  gewöhnlich  den  groszen  Kepräsenta- 
ti  wer  Sammlungen  zugeschrieben,  welche  so  als  die  vor- 
züglichste und  umfassendste  Stellvertretung  des  souveränen 
Volkes  gewählt  sind. 

Im  Mittelalter  waren  die  groszen  Käthe  in  den 
schweizerischen  Städtekantonen,  und  die  Landräthe  in 
den  Ländern  nur  eine  Erweiterung  der  eigentlichen 
Käthe,  in  welchen  die  Obrigkeit  der  Stadt  oder  des  Lan- 
des concentrirt  war,  eine  Erweiterung  durch  Ausschüsse  der 
Bürger  und  Landleute  für  die  wichtigeren  Angelegenheiten, 
in  den  Städten  namentlich  auch  für  die  Gesetzgebung.  In  der 
neuern  Zeit  aber  sind  die  groszen  Käthe  von  den  Kegierungen 
getrennt,  über  diese  gestellt,  und  zu  dem  beauftragten  Träger 
der   Souveränetät  erhoben  worden.5      Eine    ähnliche    Stellung 

5  Zürcherverfassung  von  1831.  §.38:  „Die  Ausübung  der  hoch - 

21* 


324  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

nimmt  in  der  schweizerischen  Bundesverfassung  die  aus  zwei 
Räthen  bestehende  Bundesversammlung  ein,  der  Bundes- 
regierung gegenüber. 6 

In  Nordamerika  besteht  der  Nationalcongresz 
und  der  gesetzgebende  Körper  der  Eiuzelstaten  aus  zwei 
Kammern,  die  noch  schärfer  von  der  Regierung  getrennt  sind, 
und  in  ihrer  Vereinigung  in  der  Regel  wieder  die  gesetz- 
gebende Gewalt  ausüben. 

4.  An  der  eigentlichen  Regierung  nimmt  das  Volk 
selbst  da  nicht  mehr  unmittelbaren  Antheil  in  neuerer  Zeit, 
wo  sich  für  die  Gesetzgebung  die  reine  Demokratie  erhalten 
hat.  Dieselbe  wird  in  allen  neuern  Demokratien  nicht  von 
dem  Volke  selbst,  sondern  im  Namen  des  Volkes,  und 
somit  durch  beauftragte  Stellvertreter  des  Volkes  ver- 
waltet. In  den  einen  Ländern  hat  sich  indessen  das  Volk  doch 
die  Wahl  des  Hauptes  der  Regierung  selber  vorbehalten.  In 
den  nordamerikanischen  Freistaten  werden  die  Statthalter  ge- 
wöhnlich von  der  gesammten  Bürgerschaft  gewählt,  ebenso  die 
Statsräthe  von  Genf. 7  In  andern  dagegen  ist  die  Wahl  dem 
gesetzgebenden  Körper  übertragen,  der  somit  auch  darin  das 
Volk  repräsentirt,  dasz  er  die  obersten  Aemter  bestellt.  Dem 
letztern  System  huldigen  die  meisten  schweizerischen  Republiken, 
deren  grosze  Räthe  die  Regierung  und  das  oberste  Gericht 
bestellen,  und  einige  Einzelstaten  Nordamerika^.  Nach  dem 
ersteren  System  ist  die  Regierungsgewalt  offenbar  selbständiger 

sten  Gewalt  nach  Vorschrift  der  Verfassung  ist  einem  öroszen  Rathe 
übertragen.  Ihm  steht  die  Gesetzgebung  und  die  Oberaufsicht  über  die 
Landesverwaltung  zu.  Er  ist  Stellvertreter  des  Cantons  nach  auszen." 
Cherbuliez,  de  la  demoeratie  en  Suisse.  II.  S.  35  ff. 

6  Bundesverfassung  von  1848.  §.  60:  „Die  oberste  Gewalt  des 
Bundes  wird  durch  die  Bundesversammlung  ausgeübt,  welche  aus  zwei 
Abtheilungen  besteht:  a)  aus  dem  Nationalrath,  b)  aus  dem  Ständcrath." 

7  Ebenso  war  es  nach  der  französischen  Verfassung  von  1848.  Art. 43: 
„Le  peuple  frangais  delegue  le  pouvoir  executif  u  un  citoyen  qui  reeoit 
le  titre  de  president  de  la  Republique."  Tocquevüle  de  la  demoeratie 
en  Amerique.    Tom.  I. 


Neuntes  Capitel.     B.   Die  repräsentative  (moderne)  Demokratie.    325 

und  mächtiger,  zumal  im  Verhältnisz  zu  dem  gesetzgebenden 
Körper,  weil  die  Vertreter  derselben  nicht  minder  als  dieser, 
in  gewisser  Beziehung  sogar  in  höherem  Masze  das  persönliche 
Vertrauen  des  Volkes  für  sich  haben;  nach  dem  letztern  da- 
gegen ist  die  Eegierung  abhängiger  von  dem  gesetzgebenden 
Körper,  dem  sie  ihr  Dasein  zu  verdanken  hat.  Es  läszt  sich 
daher  auch  eher  nach  jenem  als  nach  diesem  eine  wechsel- 
seitige Beschränkung  je  der  einen  Repräsentation  des  Volkes 
durch  die  andere  ausbilden. 

5.  Die  Rechts pflege  wird  zwar  wieder  im  Namen  des 
Volkes  gehandhabt,  die  Richter  aber,  für  welche  besondere 
wissenschaftliche  Eigenschaften  erfordert  werden,  werden  in 
der  Regel  nicht  von  dem  Volke  selbst,  sondern  entweder  wie 
in  Nordamerika  und  in  dem  demokratischen  Frankreich  von 
der  Regierung  oder  wie  in  der  Schweiz  von  den  groszen  Käthen 
bezeichnet.  Einen  unmittelbaren  Theil  an  der  Verwaltung 
der  Rechtspflege  nimmt  das  Volk  in  der  Geschw ornen Ver- 
fassung,  indem  die  Geschwornen  aus  der  Masse  der  Bürger 
durch  wechselndes  Loos  bestellt  werden. 

6.  Von  besonderer  Bedeutung  ist  in  allen  repräsentativen 
Demokratien  die  Gemein  de  Verfassung.  Sie  bildet  den 
soliden  Unterbau  der  ganzen  Statsordnung.  In  den  Gemeinden 
werden  die  Bürger  zur  Theilnahme  an  den  öffentlichen  Ange- 
legenheiten, zur  Selbstverwaltung  und  zu  bürgerlicher  Freiheit 
erzogen.  Da  wird  es  auch  —  wenigstens  in  kleineren  und 
vorzüglich  in  den  Landgemeinden  noch  möglich,  dasz  die  Bür- 
ger zur  Gemeindeversammlung  zusammen  treten.  In  den 
gröszern  vorzüglich  den  Stadtgemeinden  tritt  auch  da  eine 
Repräsentation  der  Bürgerschaft  an  die  Stelle  der  Gemeinde- 
versammlung. Sowohl  die  schweizerischen  als  die  nordameri- 
kanischen Republiken  beruhen  geschichtlich  auf  einer  freien 
Gemeindeverfassung;  und  wenn  das  in  Frankreich  anders  ist, 
so  ist  das  zugleich  ein  Zeichen,  dasz  der  französische  Stat 
wenig  Anlage  zur  Republik  hat. 


326  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Abgesehen  also  von  der  immerhin  beschränkten  unmittel- 
baren Ausübung  der  Volks  herrschaft  ist  in  der  repräsentativen 
Demokratie  die  Kegel  die,  dasz  das  Volk  nur  durch  seine 
Beamten  regieren  und  durch  seine  Stellvertreter 
die  Gesetze  geben  und  die  Controle  über  die  Verwaltung 
des  States  besorgen  läszt.  Insofern  nähert  sich  diese  mo- 
derne Statsform  schon  bedeutend  den  Staten  an,  in  welchen 
der  Gegensatz  des  Regenten  und  der  Regierten  ausgebildet 
erscheint. 


Zehntes  Capitel. 

Betrachtungen  über  die  Repräsentativdemokratie. 

Montesquieu  hat  bekanntlich  die  Tugend  für  das  Princip 
der  Demokratie  erklärt.  Die  Tugend  aber  setzt  als  politisches 
Princip  moralische  Würdigung  der  Herrschenden  und 
nicht  die  Gleichheit  Aller  voraus,  und  jene  finden  wir  keines- 
wegs in  der  reinen  Demokratie  anerkannt.  Nur  das  ist  wahr: 
ein  gewisses  Masz  von  Tugend  der  Volksmasse  ist  ein  unent- 
behrliches practisches  Erfordernisz  einer  guten  Demokratie, 
dessen  Mangel  sofort  den  Verfall  dieser  Statsform  nach  sich 
zieht.  Eher  läszt  sich  behaupten,  dasz  die  Tugend  in  der 
Repräsentativdemokratie  zum  politischen  Princip 
erhoben  worden  sei,  denn  in  der  That  in  dem  Princip  der 
auserwählten  Repräsentation  liegt  nicht  allein  eine  Ermäszi- 
gung,  sondern  zugleich  eine  Veredlung  der  Demokratie, 
durch  welche  diese  die  Vorzüge  auch  der  aristokratischen  Form 
sich  anzueignen  sucht. 

Das  Princip  deselben  ist:  Die  Besten  des  Volkes 
sollen  in  dessen  Namen  und  Auftrag  regieren.  Die 
grosze  Schwierigkeit  aber  liegt  darin,  die  Wahl  so  zu  orga- 
nisiren,  dasz  wirklich  die  Besten  an  Gesinnung  und  Einsicht 
zu  Repräsentanten  der  Volksherrschaft  gewählt  werden. 


Zehntes  Capitel.     Betrachtungen  über  die  Repräsentativdemokratie.    327 

Man  ist  in  unserer  Zeit  geneigt,  diese  "Wahlen  einfach 
nach  Maszgabe  der  Kopfzahl  der  Wahlen  zu  vertheilen. 
Diese  Neigung  entspricht  dem  demokratischen  Zuge  der  Zeit; 
denn  in  der  That  die  Demokratie  legt  auf  die  Gleichheit 
Aller  einen  entscheidenden  Werth  und  gelangt  daher  in  ihren 
Einrichtungen  leicht  zu  mathematischen  Normen.  Sie  zählt 
die  gleichen  Bürger,  und  nach  ihrer  Zahl  sucht  sie  ihnen 
gleiche  Eechte  beizulegen. 

Indessen  paszt  dieses  System  der  Kopfzahl  offenbar  besser 
zu  der  unmittelbaren  Demokratie,  welche  auch  die  Ausübung 
der  Herrschaft  gleichmäszig  über  die  ganze  Bürgerschaft  ver- 
breitet, als  zu  der  Kepräsentativdemokratie,  welche  unter  den 
Bürgern  nach  ihrer  höheren  oder  geringeren  Würdigkeit  unter- 
scheidet und  nur  den  Bessern  die  Verwaltung  der  öffentlichen 
Angelegenheiten  anvertraut.  Die  letztere  Statsform  nimmt  auf 
die  Qualität  der  Gewählten  Kücksicht,  und  eben  darum  ist 
es  für  sie  nicht  ebenso  natürlich,  bei  der  Yertheilung  der 
Wahlkreise  nur  die  Quantität  in  Anschlag  zu  bringen.  Ueber- 
dem  werden  die  Gebrechen  dieses  Princips  in  der  repräsen- 
tativen Demokratie  bedeutend  gesteigert.  Wenn  in  der  un- 
mittelbaren Demokratie  die  gesammte  Bürgerschaft  an  einem 
Orte  beisammen  ist,  so  ist  diese  Versammlung  doch  in  Wahrheit 
nicht  eine  blosze  Summe  von  einzelnen  gleichen  Individuen, 
sondern  es  macht  sich  in  der  Masse  die  Autorität  der  ange- 
sehensten Männer  geltend;  die  Magistrate,  die  Kedner,  die 
über  das  Niveau  emporragen,  üben  einen  Einflusz  aus,  und  es 
kann  sich  eher  auch  in  der  Mehrheit  eine  Meinung  bilden, 
welche  dem  Volke  als  einem  Ganzen  nach  seiner  wahren  Natur 
entspricht.  In  der  repräsentativen  Demokratie  dagegen  ist  das 
Volk  nicht  so  vereinigt,  sondern  die  Bürgerschaft  wird  in  so 
und  so  nele  Parcellen  zertheilt,  welche  der  Kopfzahl  nach 
zwar  einander  gleich  sind,  wenn  aber  auf  ihre  Eigenschaften 
gesehen  wird,  in  einem  sehr  verschiedenen  Verhältnisz 
zu  der  Gesammtheit  stehen,  mithin  sehr  ungleiche  Theile 


328  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

des  Volkes  sind.  Wer  wollte  den  Wahlkreis  von  Paris,  in 
welchem  die  reichsten  und  gebildetsten  Theile  der  Bevölkerung, 
dann  die  zahlreichen  Schichten  der  einfachen  Bürger  (Krämer, 
Handwerker),  ferner  der  Arbeiter  und  endlich  auch  eine  Masse 
von  Pöbel,  wie  er  sonst  in  Frankreich  nirgends  mehr  sichtbar 
ist,  auf  unnatürliche  Weise  gemischt  sind,  ohne  sich  zu  einigen, 
und  die  ländlichen  Wahlkreise  der  Bretagne  oder  die  Fabrik- 
bezirke  der  Elsasz  wirklich  für  gleich  halten?  Die  Verschieden- 
artigkeit  der  Wahlkreise  aber  erfordert  logisch  schon  eine  ver- 
schiedene Werthung  ihres  Stimmrechtes ;  und  nur  diejenige 
Anordnung  und  Yertheilung  der  Wahlen  bürgt  für  eine  richtige 
Repräsentation  des  Volkes  selbst,  welche  jedem  der  verschie- 
denen Bestandteile  und  Interessen  in  dem  Volke 
eine  seinen  Verhältnissen  zum  (ranzen  gemäsze  Ver- 
tretung sichert.  Die  Rücksicht  auf  die  Zahl  hat  allerdings 
auch  einen  Werth,  aber  sie  allein  genügt  nicht ;  vielmehr  müssen 
die  übrigen  Eigenschaften,  —  wenn  die  Aufgabe  ist,  je  die 
Besten  zu  Repräsentanten  der  Gesammtheit  zu  erheben,  —  des 
Vermögens,  der  Bildung,  der  Berufs-  und  Lebensweise  ebenfalls 
berücksichtigt  werden;  und  am  besten  ist  es.  wenn  das  in  An- 
lehnung an  organische  Eintheilungen  des  Volkes  selbst,  im  Gegen- 
satze zu  willkürlieh  zusammengewürfelten  Massen  geschieht 

Wir  können  daher  für  die  Repräsentativdemokratie  fol- 
gende zwei  Grundsätze  aussprechen : 

1.  Da  wo  in  ihr  die  Gesammtheit  der  Bürger  selber  han- 
delt, bei  Abstimmungen,  welche  durch  »las  ganze  Volk  hin- 
durch gehen,  genügt  die  einfache  Zählung  der  abstimmenden 
Bürger,  wie  bei  der  unmittelbaren  Demokratie. 

2.  Wo  dagegen  nicht  die  Gesammtheit  handelt,  sondern 
nur  Theile  derselben  die  Bessern  zu  Repräsentanten  für  das 
Ganze  erheben  sollen,  da  genügt  das  Princip  der  Kopfzahl 
nicht,  sondern  es  sind  die  Theile  mit  Berücksichtigung  auch 
der  Qualität  so  zu  bilden,  dasz  möglichste  Garantie*  für  die 
Auswahl   der  Besten   und  in  richtiger  Proportion  der  in  dem 


Zehntes  Capitel.    Betrachtungen  über  die  Repräsentativdemokratie.    329 

Volke  vorhandenen  geistigen,  sittlichen  und  materiellen  Lebens- 
elemente gegeben  ist. 

Das  Eigentümliche  der  Repräsentativdemokratie  besteht 
darin,  dasz  die  Herrschaft  im  State  der  Mehrheit  zu 
eigenem  Kecht  zugeschrieben,  die  Ausübung  dieser  Herr- 
schaft aber  einer  Minderheit  anvertraut  wird.  Um  es  mög- 
lich zu  machen,  dasz  die  Minderheit  wirklich  im  Sinne  der 
Mehrheit  regiere,  behält  sich  diese  den  Entscheid  über  die 
Personen,  die  in  ihrem  Namen  handeln  sollen,  vor,  und  wer- 
den die  Wahlen  der  Repräsentanten  nach  kurzen  Zeiträumen 
erneuert. 

Es  wird  von  der  Verfassung  anerkannt,  dasz  die  Mehrheit 
der  Bürger  die  Musze  und  die  Fähigkeit  nicht  habe,  die 
Selbstregierung,  die  sie  als  ihr  natürliches  Recht  in  Anspruch 
nimmt,  auch  tatsächlich  auszuüben.  Aber  es  wird  der  Mehr- 
heit so  viel  Interesse  an  dem  Stat  und  so  viel  Einsicht  zuge- 
schrieben, dasz  sie  sich  bei  den  Wahlen  betheilige  und  die 
tüchtigsten  Männer  für  die  Repräsentation  zu  finden  wisse. 

Die  Verfassung  ermäszigt  —  verglichen  mit  der  unmittel- 
baren Demokratie  —  ihre  Anforderungen  an  die  Bürgerschaft, 
aber  sie  steigert  ihre  Ansprüche  an  die  Repräsentanten.  Sie 
stützt  sich  noch  auf  das  Selbstgefühl  der  freien  und  wesent- 
lich gleichen  Bürger,  aber  sie  vertraut  zugleich ,  dasz  diese 
sich  bescheiden  werden,  die  Bessern  aus  ihrer  Mitte  zu  wäh- 
len, und  dasz  Alle  sich  willig  von  den  gewählten  Repräsen- 
tanten regieren  lassen  werden ,  freilich  nur  so  lange ,  als  die- 
selben das  Vertrauen  der  Mehrheit  der  Wähler  behalten. 

Durch  die  öfteren  Wahlen  werden  die  Regierenden  ab- 
hängig gemacht  von  den  Regierten  und  dennoch  sollen  in- 
zwischen diese  jenen  Gehorsam  leisten.  Die  Autorität  der 
Regierung  ist  daher  verhältniszmäszig  schwach,  die  Freiheit 
der  Regierten  besser  bedacht.  Die  obersten  Magistrate  werden 
weniger  als  Häupter  der  Republik  geehrt,  als  vielmehr  als 
Diener   der  Menge  betrachtet  und  behandelt.     Obwohl  nach 


330  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

dem  Ausdruck  von  Guizot,  jeder  Stat  nur  von  oben  herab  und 
nicht  von  unten  herauf  regiert  werden  kann,  so  will  doch  diese 
Statsform  möglichst  den  Schein  wahren,  als  ob  in  ihr  von 
unten  aufwärts  regiert  werde.  Die  Regierung  bekommt  daher 
leicht  das  Gepräge  einer  bloszen  Verwaltung  und  der  Stat 
das  Gepräge  einer  ausgedehnten  Wirth schaff,  einer  groszen 
Gemeinde. 

Am  wenigsten  zeigt  sich  übrigens  diese  Schwäche  der 
Autorität  in  dem  gesetzgebenden  Körper,  vielmehr  liegt  da 
die  entgegengesetzte  Versuchung  nahe,  dasz  sich  die  Volks- 
vertretung mit  dem  Volke  selbst  identificire  und  sich  von 
dem  Wahne  der  Omnipotenz  berauschen  lasse.  Aber  nur  sehr 
schwer  gelingt  es  der  Regierung  in  der  Repräsentativdemo- 
kratie  eine  starke  Autorität  zu  bethätigen.  Der  öftere  "Wech- 
sel der  Wahlen  macht  ihre  Stellung  unsicher  und  von  der 
veränderlichen  Volksstimmung  abhängig.  Sie  ist  nur  mächtig, 
wenn  sie  von  dem  Beifall  der  Mehrheit  getragen  wird  und 
ohnmächtig,  wenn  s;e  diese  gegen  ihre  Neigung  leiten  und 
bestimmen  will.  Weit  aussehende  Pläne  kann  sie  nur  dann 
verfolgen,  wenn  dieselben  den  Tnstincten  oder  Gewohnheiten 
des  Volks  entspringen  und  darin  die  Bürgschaft  ihrer  Dauer  liegt. 

Die  Regierungsorgane  erscheinen  durchweg  in  bescheide- 
ner, bürgerlicher  Gestalt.  Der  Glanz  der  Majestät  oder  der 
höheren  Dignität,  mit  dem  sich  die  Monarchie  und  die  Ari- 
stokratie umgibt,  ist  der  Repräsentativdemokratie  fremd  und 
zuwider.  Die  höfische  Diplomatie  mit  ihrer  Kunst  und  Formen 
gedeiht  nicht  auf  diesem  Naturboden.  Auch  da  zieht  sie  die 
einfachere  Vertretung  durch  Geschäftsträger  und  Consuln  vor. 
Ein  groszes  stehendes  Heer  ist  mit  ihr  geradezu  unverträglich. 
Es  wäre  eine  stete  Bedrohung  ihrer  Sicherheit  und  ihrer  Frei- 
heit. Dagegen  bedarf  sie  einer  breiten  und  tüchtigen  Volks- 
und Landwehr.  Weniger  ausgebildet  ist  in  ihr  die  Concen- 
tration  aller  Kräfte  als  die  Selbstbestimmung  und  freie' Bewe- 
gung aller  Theile. 


Zehntes  Capitel.    Betrachtungen  über  die  Repräsentativdemokratie.    331 

Alle  Anstalten,  welche  der  groszen  Menge  dienen,  sind 
in  ihr  durchweg  gut,  oft  vortrefflich  bestellt.  Wir  finden 
in  den  Demokratien  meistens  zahlreiche  gemeinnützige  und 
wohlthätige  Anstalten,  gute  Straszen  und  Verkehrsmittel,  zahl- 
reiche Volksschulen ,  muntere  Volksfeste  u.  s.  f. ,  und  dabei 
weniger  bureaukratische  Plage  als  anderwärts. 

Dagegen  bedarf  es  gröszerer  Anstrengung,  als  in  andern 
Verfassungen,  damit  der  Stat  auch  für  die  höheren  Bedürfnisse 
der  Kunst  und  der  Wissenschaft  sorge.  Es  ist  ein  Zeichen 
einer  hohen  Civilisationsstufe ,  auf  die  ein  Volk  sich  empor- 
gearbeitet hat,  wenn  es  durch  die  Befriedigung  auch  dieser 
Dinge,  die  dem  allgemeinen  Verständnisz  ferner  stehen,  sich 
selber  ehrt;  und  nur  die  gebildete  Einsicht  weisz  den  Werth 
zu  schätzen,  welchen  die  Pflege  dieser  geistigen  Güter  auch 
für  die  allgemeine  Volkswohlfahrt  hat. 

Das  Bewusztsein  männlicher  Freiheit,  welches  die  ganze 
Verfassung  hervorgebracht  und  darin  einen  Ausdruck  gefunden 
hat,  hebt  die  zahlreichen  Mittelclassen,  auf  die  sie  vornehm- 
lich gestützt  ist,  empor,  steigert  durch  mittelbare  oder  un- 
mittelbare Uebung  in  Statssachen  die  geistige  Entwicklung 
und  kräftigt  den  Charakter  der  Bürger.  Die  allgemeine  Vater- 
landsliebe hat  hier  eine  breite  Unterlage  und  einen  weiten 
Spielraum;  und  in  Krisen  zeigt  sich  die  freie  Bürgerschaft 
auch  zu  groszen  Opfern  bereit.  Weniger  bietet  die  Verfassung 
den  aristokratischen  Naturen  Gelegenheit  zu  freier  Entfaltung, 
und  diesen  gegenüber  verhält  sich  das  Volk  oft  misztrauisch 
oder  feindlich.  Aber  auch  solche  Naturen  können  unter  der 
Voraussetzung  Achtung  ihrer  Persönlichkeit  erwerben,  dasz  sie 
ihrerseits  nicht  durch  hochmüthige  Anmaszung  das  Gefühl  der 
Kechtsgleichheit  verletzen  und  in  gemeinnütziger  Hingabe  für 
das  gemeine  Beszte  mit  den  Beszten  der  Demokraten  wetteifern. 

Anmerkung.  Robert  v.  Mohl  hat  gegen  die  obige  Behauptung, 
dasz  für  die  repräsentative  Demokratie  das  Princip  der  Volkszahl  keine 
absolute  Geltung  verdiene,  eingewendet  (Encyclop.  S.  346.):    »So  richtig 


332  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

im  Allgemeinen  die  Ansicht  ist,  dasz  die  Befugnisz,  an  einer  statlichen 
Wahl  Antheil  zu  nehmen,  nicht  vom  Standpunkt  des  persönlichen  Rechtes 
aufgefaszt,  sondern  als  ein  Auftrag  oder  als  ein  Amt  betrachtet  werden 
musz,  so  verhält  sich  diesz  doch  ganz  anders  in  der  Yolksherrschaft 
durch  Vertretung.  In  der  Volksherrschaft  geht  man  überhaupt  von  dem 
angeborenen  Rechte  des  Einzelnen,  an  der  Regierung  Theil  zu  nehmen, 
aus."  Ich  gebe  zu,  die  moderne  demokratische  Lehre,  wie  sie  von  Rous- 
seau hauptsächlich  vertraten  wird,  sieht  das  Yerhältnisz  so  an.  Gerade 
deszhalb  ist  sie  aber  noch  in  der  Mischung  des  Privatrechts  und  des 
öffentlichen  Rechts  befangen  und  ihr  Gesellschaftsstat  ist  nichts  an- 
deres als  der  auf  den  Kopf  gestellte  Patrimoni aistat.  Indem  man 
sich  der  Einheit  des  Volks  im  Gegensatz  zu  der  Summe  der  Bürger 
bewuszt  wird,  kann  sich  auch  der  Irrthum  jener  Theorie  nicht  mehr 
verbergen.  Kein  Wähler  hat  von  der  Natur  sein  Wahlrecht  erworben, 
sondern  Jeder  hat  es  von  dem  State  empfangen.  Alle  Wahlorganisation 
ist  Statseinrichtung  zu  öffentlichen  Zwecken. 


Eilftes  Capitel. 

III.    Die  Aristokratie. 
A.    Hellenische  Form.     Sparta. 

Wie  Athen  im  Alterthum  als  der  höchste  Ausdruck  der 
Demokratie,  so  galt  Sparta  bei  den  Hellenen  als  die  aus- 
geprägteste Erscheinung  der  Aristokratie.  Im  all- 
gemeinen hatte  der  hellenische  Volkscharakter  eher  eine  Nei- 
gung zur  demokratischen  als  zur  aristokratischen  Statsform; 
nur  im  Verhältnisz  zu  den  Barbaren  des  Auslandes  liebten 
die  Hellenen  es,  sich  als  geborne  Aristokraten  zu  betrachten. 
Der  dorische  Volksstamm '  aber,  zu  welchem  die  Spartiaten  ge- 
hörten, zog  auch  für  seine  innern  Statseinrichtungen  aristo- 
kratische Formen  und  Tendenzen  vor. 

Alle  Aristokratie  setzt  in  ihrem  idealen  Princip  Herr- 
schaft der  edleren  Bestand theile  des  Volkes  über  die 
untergeordnete  Menge  voraus.  Die  Art  aber  wie  diese*  edleren 
Bestandteile  gemessen  und  emporgehoben  werden,  ist  in  den 


Eilftes  Capitel.     III.   Die  Aristokratie.     A.  Hellen.  Form.    Sparta.     333 

verschiedenen  Staten  dieses  Charakters  verschieden.  In  Sparta 
war  der  Stamm  der  Spartiaten,  welche  das  Land  mit  den 
Waffen  erobert  hatten,  der  herrschende.  Ihre  Unterthanen 
waren  die  alten  besiegten  Einwohner  des  Landes,  die  Perioiken, 
Lakedämonier.  Die  Geburt  bezeichnet  somit  schon  den  herr- 
schenden und  den  unterthänigen  Stamm.  Die  ersten  Eroberer 
des  Landes  setzten  so  die  Herrschaft,  welche  sie  durch  die 
Ueberlegenheit  ihrer  Waffen  erworben  hatten,  fort,  indem  sie 
dieselbe  durch  alle  folgenden  Generationen  auf  ihre  Nach- 
kommen vererbten.  Das  politische  Erbrecht,  ein  charak- 
teristischer Zug  aller  alten  Aristokratien,  hatte  in  diesem 
Streben  der  Erhaltung  einen  natürlichen  Ursprung,  und  war 
zu  einem  Grundprincip  des  ganzen  States  geworden. 

Diese  erbliche  Herrschaft  der  Spartiaten  als  des  edleren 
Stammes  wurde  nicht  durch  Uebergänge  gemildert.  Die  Aus- 
scheidung der  Spartiaten  und  der  Metoiken  blieb  schroff  und 
starr,  in  der  That  kastenartig  ohne  Ehegenossenschaft.  Nur 
ganz  ausnahmsweise  und  äuszerst  selten  wurde  etwa  Einer  von 
diesen  in  das  volle  Bürgerrecht  jener  aufgenommen.  Der 
herrschende  Stamm  wurde  somit  nicht  erfrischt  durch  neue 
Familien,  und  der  unterthänige  nicht  durch  die  Aussicht  ge- 
tröstet, dasz  die  besten  seiner  Söhne  durch  ihr  Verdienst 
hinaufsteigen  können  zu  den  Leitern  des  States.  Diese  Aus- 
schlieszlichkeit  erscheint  um  so  befremdender  und  drückender, 
je  weniger  ängstlich  in  anderer  Beziehung  die  Spartiaten  die 
Reinheit  des  Blutes  wahrten;  lieszen  sie  es  doch  von  Stats- 
wegen  geschehen,  dasz  spartanische  Frauen,  deren  Männer  im 
Kriege  gefallen  waren,  der  Umarmung  von  Heloten  preisgege- 
ben wurden,  um  spartanische  Kinder  zu  empfangen. 

Desto  sorgfältiger  aber  wurde  die  Erziehung  geordnet. 
Der  Vorzug  der  Geburt  sollte  durch  die  Erziehung  ergänzt, 
und  durch  beide  die  Ueberlegenheit  der  Spartiaten  erhalten 
werden.  Die  Sorge  des  States  für  eine  politisch-kriegerische 
Erziehung  der  Jugend  war  so  umfassend  und  eingreifend,  dasz 


334  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

um  ihretwillen  selbst  der  Zusammenhang  und  die  Freiheit  der 
Privatfamilien  aufgelöst  und  geopfert  wurde.  Das  individuelle 
Leben  wurde  nirgends  in  dem  Masze  dem  Statsleben  unter- 
worfen, und  die  Allmacht  des  States  nirgends  weiter  getrieben 
als  in  Sparta :  als  wäre  wirklich  der  Mensch  nur  für  den  Stat 
in  der  Welt. 

Unter  sich  waren  die  Spartiaten  wieder  zunächst  gleich- 
berechtigt, und  so  sehr  war  innerhalb  der  Aristokratie  die 
demokratische  Gleichheit  anerkannt,  dasz  sogar  gleiches 
Vermögen  aller  spartanischen  Familien  ein  Grundzug  der 
lykurgischen  Verfassung  war.  Jede  Familie  hatte  ein  gleiches 
Loos  (xXfjQog)  an  dem  zum  Privatbesitze  vertheilten  Boden 
des  Landes  erhalten,  und  die  Loose  sollten  nicht  veräuszert 
werden  dürfen.  Damit  aber  das  bewegliche  Vermögen  nicht 
sich  bei  Einzelnen  ansammle  und  auf  diese  Weise  der  Unter- 
schied der  Reichen  und  der  Armen  entstehe,  wurde  sogar  jeder 
Gebrauch  von  Silber  nr.d  Gold  verboten.  Die  Heloten,  welche 
die  Landgüter  der  Spartiaten  bebauten,  waren  nicht  imEigen- 
thum  der  einzelnen  Herren,  sondern  wie  die  Güter  selbst  in 
dem  Eigenthum  des  States:  und  der  Zins  an  Früchten,  den 
sie  entrichteten,  war  gesetzlieh  und  gleichmäszig  für  die  Her- 
ren und  hinwieder  für  die  Frauen  des  Hauses  bestimmt.  Selbst 
die  Mahlzeiten,  allen  Männern  gemeinsam,  welche  in  vielen 
Tischgenossenschaften  beisammen  lauen,  waren  für  alle  gleich- 
artig bestimmt  und  zugemessen.  Die  Gleichheit  des  Le- 
bens war  somit  unter  den  aristokratischen  Spartiaten  sehr 
viel  ausgebildeter  und  fester  begründet  als  bei  den  demokra- 
tischen Athenern. 

Dessen  ungeachtet  übte  der  Stamm  der  Spartiaten  seine 
Herrschaft  nicht  in  demokratischer  Form  aus.  Es  wäre  das 
im  Widerspruch  gewesen  mit  dem  Charakter  des  States  und 
des  Volks.  Wohl  gab  es  auch  zu  Sparta  eine  Volksversamm- 
lung (txxAqcna);  aber  die  reale  Macht  war  nicht  bei  dieser, 
sondern    bei   der  Gerousie.     Diese  behandelte  und  entschied 


Eilftes  Capitel.     III.  Die  Aristokratie.     A.  Hellen.  Form.    Sparta.      335 

die  Statsgeschäfte  in  der  Regel,  und  unterwarf  nur  in  einigen 
Hauptfällen  ihre  Entscheidungen  noch  der  einfachen  Genehmi- 
gung oder  Verwerfung  der  Volksgemeinde,  in  welcher  nur  die 
Könige,  die  Geronten  und  Ephoren ,  nicht  jeder  reden,  und 
nur  Männer  von  gereifter  Lebenserfahrung  (von  mindestens 
30  Jahren),  nicht  junge  Leute  stimmen  durften. 

Bei  der  Bestellung  des  Senats,  der  Gerousie,  wurden 
wieder  folgende  aristokratische  Rücksichten  beachtet: 

1)  Auf  das  Geschlecht.  Die  9000  spartiatischen  Kle- 
ren  und  vollberechtigten  Hausväter  waren  in  30  Oben  ge- 
theilt,  welche  füglich  mit  den  römischen  Curien  verglichen 
werden  können.  Aus  jeder  Obe  wurde  Einer  zum  Geron  er- 
hoben. Die  beiden  Könige  gehörten  den  zwei  königlichen 
Oben  an,  die  28  übrigen  Geronten,  welche  mit  jenen  zusammen 
den  Senat  bildeten,  waren  gewissermafzen  ihre  Pairs,  die 
Fürsten.1  Diese  Rücksicht  wirkte  negativ  gegen  die  Ueber- 
macht  blosz  einzelner  Geschlechter,  positiv  für  die  Würde  und 
Stellvertretung  der  verschiedenen  Familien. 

2)  Auf  das  Alter.  Dem  hohen  Alter  widmeten  die 
Spartiaten  die  gröszte  Ehrfurcht.  Sie  verehrten  in  ihm  die 
Grundbedingung  der  höchsten  Lebensweisheit.  Die  Geronten 
—  auszer  den  Königen  —  muszten  wenigstens  60  Jahre  zu- 
rückgelegt haben.  Immerhin  scheint  diese  Kücksicht  über- 
trieben in  der  Verfassung;  denn  auch  die  Schwäche  ist  ein 
gewöhnlicher  Begleiter  des  Alters,  und  der  Stat  bedarf  zu 
seiner  Leitung  nicht  blosz  der  Erfahrung  der  Greise,  sondern 
vornehmlich  auch  der  vollen  produetiven  Kraft  und  Geistes- 
frische der  Männer. 

3)  Auf  die  Wahl,  welche  nach  vorheriger  Bewerbung 
der  Candidaten  durch  die  Volksversammlung,  durch  die  Stärke 
des  Beifallsrufes  vorgenommen  wurde.  In  der  Bewerbung  um 
diese  hohe  Würde   sprach   sich  die  Ueberzeugung   der  Greise 

1  Homer  noch  nennt  die  Rätlie  des  Königs  ^ßaoLXees." 


336  Viertes  Buch.     Die  Statsforrnen. 

aus,  dein  State  noch  gute  Dienste  leisten  zu  können,  und  der 
Wille  derselben,  ihr  noch  übriges  Leben  dem  State  zu  weihen, 
in  dem  Beifall  der  Versammlung  aber  das  Vertrauen  des 
Volkes.  • 

4)  Auf  die  Dauer  des  Amtes,  welches  auf  Lebenszeit 
verliehen  wurde,  somit  vor  den  Schwankungen  der  Volksgunst 
gesichert,  aber  auch  der  Gefahr  einer  bis  zur  Ausschwächung 
festgehaltenen  Stabilität  ausgesetzt  war. 

Ermäszigt  war  diese  Aristokratie  theils  durch  das  König- 
thum,  welches  aus  derselben  emporragte  und  in  höherer 
Weise  die  Einheit  und  Würde  des  Stats  darstellte,  theils  durch 
das  demokratische  Amt  der  Ep hören,  welche  als  wechselnde 
Organe  des  Volkes  die  Amtstätigkeit  der  Könige  und  des 
Senates  controlirten  und  eine  ausgedehnte  Gerichtsbarkeit  auch 
in  Statssachen  ausübten. 

Die  Verfassung  von  Sparta  macht  den  Eindruck  eines 
Kunstwerks,  welches,  der  Platonischen  Republik  ähnlich,  durch 
edle  Formen  den  Sinn  für  äuszere  Schönheit  und  Harmonie 
erfreut,  aber  um  seiner  innern  Unnatur  willen  befremdet,  und 
daher  eher  zurückschreckt  als  anzieht.  Indem  man  sie  betrach- 
tet, wird  man  eher  um  Bewunderung  ihrer  Architektur  als 
mit  der  Neigung  erfüllt,  darin  zu  wohnen  und  zu  leben.  Hat 
man  den  Athenern  mit  Grund  vorgeworfen ,  sie  ziehen  die 
Herrschaft  der  Menge  einem  wohlgeordneten  Stat  vor,  so  kann 
man  den  Spartiaten  den  Vorwurf  machen,  sie  opfern  der  Stats- 
ordnung  die  menschliche  Freiheit  auf.  Ibre  Weise  ist  vor- 
nehmer als  die  der  Athener,  aber  weniger  heiter  und  behag- 
lich; bei  ihnen  ist  mehr  ruhiges  Ebenmasz  politischer  Tüch- 
tigkeit, bei  den  Athenern  sind  glänzendere  Lichter  und  dunklere 
Schatten  zu  finden.  Die  Stätigkeit  der  einen  und  die  Beweg- 
lichkeit der  andern  sind  beide  einseitig  übertrieben. 

An  Dauerhaftigkeit  übertraf  die  spartanische  Verfassung 
die  Athens  bei  weitem.  Solon  hatte  noch  bei  seinen  Lebzeiten 
den   Untergang    seiner    mit    aristokratischen    Elementen    der 


Eilftes  Capitel.    III.  Die  Aristokratie.    A.  Hellenische  Form.    337 

Geschlechter  und  des  Keichthums  bedeutend  gemischten  Demo- 
kratie in  der  Tyrannis  erfahren,  ohne  den  Sieg  dieser  behin- 
dern zu  können,  und  als  später  nach  der  Ermordung  der  Ty- 
rannen die  reine  Demokratie  eingeführt  wurde,  versank  sie 
schon  in  dem  ersten  Jahrhundert  ihres  Bestandes  in  den  offen- 
kundigsten Verfall.  Die  Verfassung  Lykurgs  dagegen  erhielt 
fünf  Jahrhunderte  lang  die  Grösze  Sparta1  s  aufrecht,  und  obwohl 
sie  den  Verfall  derselben  nicht  abzuwenden  vermochte,  so  musz 
doch  zugestanden  werden,  fürs  erste  dasz  die  Abweichung  von 
den  Verfassungsgrundsätzen  Lykurgs,  insbesondere  der  seinen 
Gesetzen  zuwider  eingeschmuggelte  Reichthum  Einzelner,  die 
im  Zusammenhang  damit  eingedrungene  Bestechlichkeit  Vieler 
und  die  spätere  Demagogie  der  Ephoren,  nicht  aber  die  Fest- 
haltung derselben  die  Entartung  und  den  Untergang  Sparta's 
herbeigeführt  habe2;  fürs  zweite,  dasz  die  bewahrende  Kraft 
dieser  Verfassung  um  so  höher  geschätzt  werden  musz,  je  mehr 
sie  auf  der  einen  Seite  mit  der  menschlichen  Natur  selbst, 
auf  der  andern  mit  der  Macht  der  Weltverhältnisse  in  Wi- 
derspruch und  Kampf  gerieth.  Einen  Theil  dieser  unerschütter- 
lichen Haltbarkeit  mochte  sie  aus  dem  ideokratischen  Glauben 
des  Volkes  geschöpft  haben,  dasz  sein  Gesetzgeber  der  Liebling 
des  Zeus  und  selbst  ein  gott-menschliches  Wesen  sei. 

Indessen  wird  der  ähnlichen  Verfassung  von  Kreta  und 
der  ebenfalls  aristokratischen  Verfassung  von  Karthago  nicht 
mindere  Dauerhaftigkeit  nachgerühmt,  und  es  ist  immerhin 
eine  durch  die  Geschichte  erwiesene  Thatsache,  dasz  die  Aristo- 
kratien, welche  die  Stätigkeit  der  Statsordnung  zu  dem 
Hauptprincip  ihres  Daseins  erhoben  haben,  auch  sich  und  den 
Stat  weit  länger  zu  conserviren  verstehen,  als  die  Demokratien 
die  Herrschaft  des  Demos. 

2  Laurent  (II,  290.)  macht  darauf  aufmerksam,  dasz  die  Unver- 
änderlichkeit  der  Verfassung  eine  Ursache  der  Entvölkerung  Sparta's 
geworden  sei. 


Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  22 


338  Viertes  Buch.     Die  Staataformen. 

Zwölftes  Capitel. 

B.     Die  römische  Aristokratie. 

Die  römische  Republik  war  ihrem  Grundcharakter 
nach  ebenfalls  eine  Aristokratie,  aber  von  höherer  Art  als  die 
spartanische.  Die  Römer  unterschieden  scharf  zwischen  dem 
Rechte  des  States  in  öffentlichen  Dingen  und  der  Freiheit  der 
Individuen  und  Familien.  Obwohl  sie  voraus  für  die  Herr- 
lichkeit und  Macht  des  States  den  offensten  Sinn  und  die 
groszartigste  Hingebung  hatten,  so  vermaszen  sie  sich  doch 
nicht,  das  individuelle  Leben  gewaltsam  mit  der  Statsscheere 
zuzustutzen.  Sodann  hielten  sie  sich  frei  von  jener  künstlichen 
und  beschränkten  Abschlieszung  gegen  alles  Fremde,  welche 
zwar  die  nationale  Tugend  der  Spartiaten  für  einige  Zeit  reiner 
erhielt,  aber  dieselben  auch  unfähig  machte,  die  hervorragende 
Stellung  in  der  äuszern  Welt  zu  behaupten,  zu  welcher  sie 
durch  das  Geschick  berufen  wurden.  Endlich  waren  die  Römer 
von  Anfang  an  frei  von  jener  Starrheit  der  ständischen  Gegen- 
sätze, wie  wir  sie  in  Sparta  gefunden.  Die  in  dem  römischen 
Volke  vorhandenen  Gegensätze  standen  nicht  unbeweglich  ein- 
ander lähmend  entgegen,  sondern  brachten  gerade  durch  ihre 
Reibungen  und  Wechselwirkungen  eine  höhere  Entwicklung 
des  politischen  Lebens  hervor.  Der  römische  Stat  ist  nicht 
minder  ein  Kunstwerk  als  der  spartanische,  aber  einerseits 
der  menschlichen  Natur  und  den  allgemeinen  Weltzuständen 
gemäszer,  und  andererseits  durch  Reich thum  der  Bildungen 
und  Groszartigkeit  der  Verhältnisse  vor  dem  letztern  ausge- 
zeichnet. Der  römische  Stat  macht  in  hohem  Masze  einen 
organischen  Eindruck. 

Betrachten  wir  die  römische  Republik  in  ihren  Hauptzügen, 
so  finden  wir  überall,  wenn  schon  durch  monarchische  und  de- 
mokratische Einrichtungen  ermäszigt,  den  aristokratischen  Cha- 
rakter hervorragend.  Es  zeigt  sich  diesz  1)  in  dem  Verhältnisz 


Zwölftes  Capitel.    III.  Die  Aristokratie.    B.  Komische  Aristokratie.    339 

der  Stände;  2)  in  der  Institution  der  Volksversammlungen; 
3)  in  dem  Senate;  4)  in  den  Magistraturen. 

1.  Yerhältnisz  der  Stände.  Schon  in  der  ältesten 
Zeit  mochte  der  Umstand  der  Starrheit  sowohl  als  der  Des- 
potie des  Patriciats  entgegen  wirken,  dasz  die  römischen  Pa- 
tricier  nicht  wie  die  Spartiaten  von  Einem  Volks  stamm  ihren 
Ursprung  herleiteten,  sondern  wie  der  englische  Adel  aus 
sächsischem  und  normannischem  Geblüte,  so  von  latinischem 
und  sabinischem,  th  eil  weise  auch  et  ruskischem  Ursprung 
war.  Auch  später  besasz  zwar  das  Patriciat  noch  lange  als 
der  herrschende  Stamm  fast  alle  politische  Gewalt  im  State, 
aber  theils  wurde  diese  ermäszigt  durch  die  Organisation  der 
Plebes  mit  eigenen  plebejischen  Magistraten,  theils  wurde  das- 
selbe genöthigt,  der  aufstrebenden  neuen  Aristokratie  der  Ple- 
bejer einen  wachsenden  Antheil  an  der  Leitung  des  States  zu 
verstatten.  Endlich  entstand  aus  der  Verbindung  und  Mischung 
der  alten  und  der  neuen  Aristokratie  der  keineswegs  abge- 
schlossene, aber  für  den  römischen  Stat  so  sehr  bedeutende 
Stand  der  Optimaten. ' 

Die  Tradition  der  Statsleitung  und  die  Kunde  der  Stats- 
geschäfte  war,  so  lange  die  römische  Kepublik  bestand,  vor- 
nehmlich in  der  Aristokratie.  Sie  zeichnete  sich  aus  durch 
Geburt,  Erziehung,  Reichthurn,  religiöse  und  politische  Kennt- 
nisse, Macht.  Aber  sie  zog  fortwährend  neue  Kräfte  aus  der 
Plebes  herbei.  Sie  stieg  empor  auf  die  obersten  Höhen  des 
damaligen  Lebens,  den  Königen  gleich,  und  über  diesen,  aber 
sie  blieb  zugleich  in  voller  Gemeinschaft  mit  dem  Volke,  aus 
welchem  sie  hervorragte. 

Auch  die  politische  Erziehung  der  Römer  war  sorgfältig ; 
aber  sie  war  Angelegenheit  der  Familien,  nicht  wie  in  Sparta 
des  States.  Daher  denn  auch  die  Mannichfaltigkeit  und  die 
erbliche  Entschiedenheit  der  politischen  Richtungen,  während 
zu  Sparta    innerhalb   der  Aristokratie  auch  hierin  Gleichheit 

1  Vgl.  oben  Buch  II.  Cap.  10. 

22* 


340  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

bestand.  Die  meisten  vornehmen  römischen  Familien  waren 
und  blieben  conservativ  gesinnt;  aber  einzelne,  wie  z.  B.  die 
patricischen  Yalerier  und  die  plebejischen  Publilier  und  Si- 
cinier  haben  vorzugsweise  in  liberaler  Richtung  gehandelt;  die 
Claudier  dagegen  mit  seltenen  Ausnahmen  sind  den  englischen 
Tories  zu  vergleichen. 

2.  Die  Volksversammlungen.  Von  den  drei  Arten 
der  römischen  Comitien  waren  nur  die  jüngsten,  die  Tribut- 
comitien,  demokratisch  organisirt.  Ihrer  ursprünglichen  Be- 
stimmung nach  sollten  sie  indessen  nur  als  Organ  für  die 
Stimmung  und  Meinung  des  untergeordneten  Standes  der  Ple- 
bejer und  als  Schranke  der  patricischen  üebermacht  dienen, 
nicht  aber  an  der  eigentlichen  Leitung  des  States  Theil  halten. 
Später  wurden  sie  allerdings  nicht  blosz  zu  einem  einzelnen 
Factor  der  gesetzgebenden  Macht,  sondern  erlangten  für  sicli 
allein  die  volle  gesetzgebende  Gewalt.  Aber  selbst  in  den 
letzten  Jahrhunderten  der  Republik,  während  welcher  die  alte 
Aristokratie  in  Verfall  gerieth  und  die  Monarchie  vorbereitet 
wurde,  übten  die  demokratischen  Tributcomitien  doch  mir  in 
seltenen  Ausnahmsfällen,  von  ehrgeizigen  Tribunen  geleitet, 
eine  durchgreifende  oberste  Macht  aus.  In  der  Regel  hemmten 
die  Tribunen  selbst  schon,  die  allein  Vorschläge  machen  durften, 
und  von  denen  je  einer  den  andern  controlirte  und  hindern 
konnte,  und  überdera  die  Rücksicht  auf  die  mächtige  Autorität 
des  Senats  jede  Ausschreitung  der  Demokratie,  und  es  waren 
daher  gewöhnlich  auch  diese  Comitien  nur  ein  Ferment  und 
eine  Schranke  der  äuszerst  zähen  und  meistens  übermächtigen 
Aristokratie. 

Die  Curiatcomitien  dagegen,  in  den  ersten  Jahrhun- 
derten der  Republik  noch  eine  bedeutende  Macht,  in  den  letzten 
Zeiten  derselben  freilich  nur  eine  formelle  Scheinmacht,  waren' 
durchaus  aristokratisch.  Sie  waren  vornehmlich  die  Versamm- 
lung der  alten,  nach  Geschlechtern  und  Curien  geordneten  Ge- 
burtsaristokratie der  Patricier,  der  Senat  selbst  anfänglich  ge- 


Zwölftes  Capitel.    III.  Die  Aristokratie.    B.  Römische  Aristokratie.    341 

wissermaszen  nur  der  Ausschusz  ihrer  Geschlechtshäuptlinge. 
Selbst  wenn  man  annimmt,  dasz  die  Plebejer  Zutritt  zu  den- 
selben gehabt  haben,  so  waren  diese  doch  offenbar  in  unterge- 
ordneter Stellung  anwesend. 

Die  wichtigste  Volksversammlung  endlich,  der  sogenannte 
comitiahis  maximiis  der  Centurien,  in  welcher  die  ganze 
Nation  zusammentrat,  war  so  organisirt,  dasz  in  ihr  die  höhern 
Classen  der  Gesellschaft  das  entschiedenste  Ueberge wicht  hatten. 
Die  Censusverfassung  legte  den  gröszten  Nachdruck: 

a)  auf  das  Vermögen.  Schon  die  erste  Classe  der 
Höchstbesteuerten  mit  ihren  80  Centurien  für  sich  allein,  wenn 
sie  einig  war  und  die  18  Rittercenturien  mit  ihr  stimmten, 
besasz  die  Mehrheit  aller  Stimmen,  so  dasz  ihr  gegenüber  die 
vier  andern  Classen  und  die  Masse  der  Proletarier  und  Kopf- 
steuerpfiiehtigen  zusammen,  obwohl  an  Volkszahl  jener  vielfach 
überlegen,  dennoch  in  der  Minderheit  blieben.  Aber  auch  in 
den  andern  vier  Classen  hatten  je  die  Reicheren  in  demselben 
Verhältnisz  wie  mehr  Vermögen  so  auch  mehr  Stimmrecht; 
4  Personen  der  zweiten  Classe  so  viel  als  6  der  dritten,  12 
der  vierten  und  24  der  fünften.  Die  gewisz  damals  auch  sehr 
zahlreichen  Proletarier  waren  wie  die  noch  zahlreicheren  Ca- 
pitc  Censi  nur  in  je  eine  Centurie  von  195  zusammengedrängt, 
hatten  somit  einen  sehr  geringen  EinÜusz  in  einer  Versamm- 
lung, in  welcher  die  Aristokratie  des  Reichthums  so  viel  galt. 

b)  Auch  die  Geburt  und  edler  Lebensberuf  kamen 
in  Betracht,  indem  nach  diesen  Rücksichten  die  ersten  18 
Rittercenturien  gebildet  und  als  die  Edelsten  an  die  Spitze  der 
Versammlung  gestellt  wurden. 

c)  Sodann  war  den  Aeltern  hinwieder  ein  erhöhtes 
Stimmrecht  eingeräumt  als  den  Jüngern,  indem  die  Centurien 
der  erstem,  den  Gesetzen  der  Sterblichkeit  gemäsz,  höchstens 
halb  so  zahlreich  besetzt  waren  als  die  Centurien  der  letztern, 
und  doch  nicht  minder  als  diese  gezählt  wurden. 

d)  Endlich   war,   abgesehen   von  den  Classen,  die  ganze 


342  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

äuszere  Erscheinung  und  Haltung  dieser  Versammlung  durch- 
aus nicht  demokratisch.  Die  sorgfältige  Beachtung  der  Au- 
spicien,  die  feste,  militärische  Ordnung  des  groszen  Körpers, 
der  Vorsitz  der  hohen  Magistrate,  die  Einrichtung,  dasz  nicht 
Jedem  verstattet  war  zu  reden,  auch  keine  regelmäszigenEedner 
anerkannt  waren,  sondern  je  nach  Bedilrfnisz  der  Sache  die 
zugleich  mit  der  Ausführung  und  der  eigentlichen  Statsre- 
gierung  betrauten  Magistrate  allein  zum  Volke  sprechen  und 
mit  dem  Volke  verhandeln  durften:  das  alles  verlieh  dieser 
höchsten  Versammlung  einen  würdigen  und  maszhaltenden  Cha- 
rakter, und  wir  begreifen  es,  dasz  ein  Römer  mit  einer  ge- 
wissen vornehmen  Verachtung  auf  die  chaotische  Weise  und 
das  turbulente  Treiben  der  griechischen  Ekklesien  herabsehen 
konnte. 2 

Die  eigentlichenGesetze  aber  bedurften  der  Zustimmung 
dieser  Comitien,  und  die  für  das  ganze  römische  Statsleben 
entscheidenden  Wahlen  der  höhern  Magistrate  waren  der  so 
aristokratisch  geordneten  Nation  vorbehalten. 

3.  Der  römische  Senat  ferner  war  durch  seine  Bildung 
und  seine  Befugnisse  ein  erhabenes  Institut  des  Stats.  An- 
fänglich aus  den  Häuptlingen  der  patricischen  Geschlechter, 
den  Fürsten  (principes)  bestehend  und  vornehmlich  die  Ge- 
burtsaristokratie darstellend,  wurde  er  später  eine  Versamm- 
lung der  durch  die  obrigkeitlichen  Aemter  erprobten  römischen 

2  Cicero  pro  Flacco.  c.  7:  „Nullam  1111  nostri  sapientissimi  et  sanc- 
tissimi  viri  vim  concionis  esse  voluerunt;  quae  scisceret  plebes  aut  quae 
populus  juberet,  summota  concionc,  diatributis  partibus,  tributim  et  cen- 
turiatim  descriptis  ordinibus ,  classibus,  aetatibus,  auditis  auctoribus,  re 
raultos  dies  promulgata  et  cognita,  juberi  vetarique  voluerunt.  Graeco- 
rura  autem  totae  res  publicae  sedentis  concionis  temeritate  administrantttr. 
Itaque  ut  hanc  Graeciam,  quae  jamdiu  suis  consiliis  perculsa  et  efflicta 
est,  omittara:  illa  vetus,  quae  quondam  opibus  imperio  gloria  floruit,  hoc 
uno  raalo  concidit,  libertate  immoderata  ac  licentia  concionum.  Quum  in 
theatro  imperiti  homines,  rerum  omnium  rüdes  ignarique  consederant, 
tum  bella  inutilia  suscipiebant;  tum  seditiosos  homines  rei  publicae  prae- 
ficiebant;  tum  optime  meritos  cives  e  civitate  ejiciebant." 


Zwölftes  Capitel.    III.  Die  Aristokratie.    B.  Römische  Aristokratie.    343 

Statsmänner.  Eben  in  der  Geschichte  des  Senates  zeigt  sich 
die  Urnwandlung  des  patrici sehen  Adels,  der  auch  später 
noch  immer  als  die  Quelle  der  Auspicien  verehrt  wurde  und 
die  heilige  Ueberlieferung  der  Vorzeit  bewahrte,  in  den  neuen 
römischen  Amtsadel.  Man  darf  die  hohen  Magistrate  der 
römischen  Eepublik  wohl  Königen  vergleichen,  und  eben  aus 
den  gewesenen  Magistraten  bestand  der  Senat,  den  die  Alten 
selbst  „eine  Versammlung  von  Königen"  nannten;  so  hoch 
stand  diese  politische  Aristokratie.  Den  Censoren  als  Wäch- 
tern der  guten  Sitten  war  die  ehrenvolle  Aufgabe  anvertraut, 
die  Listen  der  Senatsmitglieder  aus  den  gewesenen  Magistraten 
zu  verfassen  und  unwürdige  Individuen  von  dem  Senate  aus- 
zuschlieszen.  In  der  Versammlung  saszen  und  stimmten  die 
Senatoren  nach  den  Abstufungen  des  Banges,  den  sie  vordem 
als  Magistrate  des  römischen  Volkes,  als  gewesene  Consuln, 
Censoren,  Prätoren,  Aedilen,  Quästoren  eingenommen  hatten. 
Auch  die  Verhandlung  bewegte  sich  in  den  strengen  Formen 
römischer  Autorität.  Mit  Opfer  und  Gebet  wurde  sie  eröffnet, 
von  den  regierenden  Magistraten,  welche  die  Anträge  machten 
und  zur  Abstimmung  brachten,  geleitet,  und  durch  den  Ein- 
spruch bald  der  Volkstribunen,  bald  der  eigentlichen  Magistrate 
gegen  Ausschweifung  und  Uebergriffe  gehemmt. 

Alle  grozsen  Staatsangelegenheiten  wurden  in  dem  Senate 
entweder  vorbereitet  oder  entschieden.  Die  Sorge  für  die  re- 
ligiöse Verehrung  der  Götter,  und  deren  Feste  und  Opfer  war 
vorzüglich  bei  dem  Senate.  Er  leitete  die  Unterhandlungen 
mit  den  fremden  Staten  und  deren  Gesandten,  und  hatte  die 
ganze  groszartige  Diplomatie  des  römischen  States  in  seiner 
Hand.  Die  erfolgreiche  Begutachtung  der  Gesetze  und  Zu- 
stimmung zu  den  Gesetzen  kam  ihm  zu  und  war  in  der  Begel 
maszgebend.  Seine  eigenen  Beschlüsse  (Senatus-Consulta)  hatten 
überdem  in  der  Verwaltungssphäre  eine  gesetzähnliche  Autorität. 
Die  Finanzgewalt  stand  bei  ihm.  Er  decretirte  die  Steuern, 
und  bestimmte  die  Ausgaben  und  Verwendungen.    Er  verfügte 


344  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

aber  die  Aushebung  von  Truppen  und  vertheilte  die  Heere 
unter  die  Magistrate.  Er  ertheilte  den  Proconsuln  und  Pro- 
prätoren die  zur  Regierung  der  Provinzen  erforderlichen  Voll- 
machten und  Instructionen,  und  controlirte  die  gesammte  Ver- 
waltung derselben.  In  schweren  Krisen  des  States  ertheilte  er 
denConsuln  jene  unbegränzte  Machtfülle,  welche  nöthig  schien, 
die  Rejublik  vor  Schaden  zu  bewahren. 

4.  Die  Magistrate.  Man  kann  darüber  Zweifel  haben, 
ob  die  römischen  Magistraturen  eher  eine  königliche  oder  eine 
aristokratische  Institution  gewesen  seien.  Dasz  aber  ihr  Cha- 
rakter kein  demokratischer  gewesen,  das  ist  augenfällig  genug. 
Schon  die  vornehme  Form  der  äuszern  Erscheinung  dieser  Ma- 
gistrate, ihre  mit  Purpur  geschmückte  Toga,  der  curulische 
Stuhl  auf  erhöhtem  Boden,  die  Umgebung  derselben  mit  einem 
freiwilligen  Stab  angesehener  Gehülfen  und  Freunde,  der  Vor- 
tritt der  Lictoren,  die  Verbindung  mit  den  Göttern,  die  bei 
ihrer  Ernennung  in  Form  der  Auspicien  sich  äuszern  muszte 
und  die  nun  auch  durch  die  von  den  Magistraten  vorgenom- 
menen Auspicien  unterhalten  wurde,  läszt  in  dieser  Beziehung 
keinen  Zweifel  zurück.  Die  ausgedehnte  und  innerlich  absolute 
Machtfülle,  welche  in  dem  Imperium  als  Kern  desselben  lag, 
war  wesentlich  königlich,3  und  die  republikanische  Seite  der- 
selben war  nur  in  der  kurzen  Dauer,  für  welche  diese  Macht 
einzelnen  Römern  verliehen  ward,  und  in  der  Vertheilung  der- 
selben unter  zwei  oder  mehrere  Magistrate  von  gleichem  Rang 
zu  erkennen.  Ein  dem  römischen  Statsrecht  eigenthümlicher 
und  sehr  beachtenswerther  offenbar  aristokratischer  Grundsatz 
ist  es,  dasz  jeder  Magistrat  berechtigt  ist,  jede  Amtshandlung 
eines  ihm  gleich  oder  niedriger  stehenden  Magistrates  durch 
sein  Veto  zu  hemmen:4   ein  Grundsatz,    welcher   die  in  dem 

3  Cicero  de  Legibus  III.  3:  „Regio  imperio  duo  sunto.u  Liv.  IV.  3. 
Polyb.  VI,  1 1.  §.7:  »luv  vnünav  i^ovaiuu,  xekeiuyg  tuo  v u q -/ixdv  dcpaivei'* 
tlvta  x«i  ßaaiktx  6 */." 

4  Daher  die  Formel  bei  Cicero  de  Legib.  III.  3:  „ni  par  majorve 
potestas   prohibessit.a     Es    ist   das     nämliche   Princip,   welches   auch   im 


Zwölftes  Capitel.    III.  Die  Aristokratie.    B.  Römische  Aristokratie.    345 

imperium  liegende  Allgewalt  sehr  bedeutend  ermäszigte,  ohne 
sie,  da  wo  ihre  volle  Wirkung  für  den  Stat  nöthig  oder  nütz- 
lich schien,  zu  schwächen. 

Freilich  wurden  diese  Magistrate  nun  von  dem  ganzen 
Volke  gewählt,  aber  die  Wahl  der  höheren  A ernte r  war  den 
Centuriatcomitien  vorbehalten,  in  denen  die  Aristokratie  des 
Reichthums  das  üebergewicht  besasz,  und  die  hinwieder  von 
Magistraten  geleitet  und  durch  die  Auspicien  beschränkt  wur- 
den. Ueberdem  war  der  Weg  zu  diesen  Würden  in  der  Eegel 
nur  denen  offen,  welche  selbst  zu  der  nationalen  Aristokratie 
gehörten,  sei  es  weil  sie  von  angesehenem  Geschlechte  waren, 
in  Folge  dessen  einen  glänzenden  Namen  trugen  und  eine  zahl- 
reiche Clientel  und  auch  bei  dem  Volke  ein  günstiges  Vor- 
urtheil  für  sich  hatten ,  sei  es  weil  sie  grosze  Reichthümer 
besaszen  und  das  Volk  durch  öffentliche  auf  ihre  Kosten  aus- 
geführte Spiele  zu  gewinnen  wuszten,  sei  es  endlich,  weil  sie 
durch  einleuchtende  Verdienste  im  Kriege  oder  als  grosze 
Redner  über  die  Menge  emporgestiegen  waren  und  einen  volks- 
tümlichen Ruf  und  Autorität  erlangt  hatten.  Seitdem  auch 
den  Plebejern  die  höhern  Magistraturen  zugänglich  geworden, 
waren  dieselben  freilich  nicht  mehr  auf  den  bloszen  Geburts- 
adel eingeschränkt,  aber,  wenn  wir  von  einzelnen  ziemlich 
seltenen  Ausnahmen  absehen,  war  es  doch  in  der  Regel  nur 
den  Gliedern  jener  groszen  politischen  und  socialen  Aristokratie, 
in  welche  das  Patriciat  sich  umgewandelt  und  ausgebildet  hatte, 
vergönnt,  an  der  Regierung  des  States  unmittelbaren  Theil  zu 
nehmen;  und  diese  Magistrate  bilden  hinwieder  den  Senat. 

Erwägt  man  alle  diese  Verhältnisse,  so  wird  man  die 
Wahrheit  der  Behauptung  zugestehen  müssen,  dasz  die  römi- 
sche Republik,  obwohl  monarchische  Ueberlieferungen  und 
demokratische  Elemente  auf  die  Verfassung  einwirkten,  den- 
noch   wesentlich   eine    Aristokratie    war,   und   zwar    keine 

römischen  Privatrecht  unter  den  Miteigentümern  gilt:  „Neganti  major 
potestas."     Vgl.    Gellius  Noctes  Atticae  XIII.  12.  15. 


346  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Geschlechts-  oder  Staudesaristokratie,  wie  das  Mittelalter  sie 
in  zahlreichen  Formen  hervorgebracht  hat,  sondern  die  grosz- 
artigste  und  herrlichste  Volksar istokratie  der  Welt- 
geschichte. 


Dreizehntes  Capitel. 

Bemerkungen  über  die  Aristokratie. 

Montesquieu  hat  die  Mäszigung  (moderation)  als  Prin- 
cip  der  Aristokratie  erklärt,  und  allerdings  bedarf  die  Aristo- 
kratie der  Mäszigung  im  Interesse  ihrer  Sicherheit,  und  wird 
auf  die  Mäszigung  hingewiesen  durch  die  Betrachtung,  dasz 
sie  an  Zahl  und  physischer  Kraft  von  der  Menge,  über  welche 
sie  die  Herrschaft  übt,  übertroffen  wird.  Wird  die  Demo- 
kratie im  Gefühl  ihrer  äuszerlich  unbeschränkten  Macht  leicht 
zu  einem  unmäszigen  Gebrauch  derselben  verführt,  so  kann 
die  Aristokratie  im  Gegentheil  der  Sorge  nicht  leicht  los  wer- 
den, dasz  die  gereizte  Menge  ihr  Widerstand  leiste  und  sich 
wider  sie  auflehne :  und  diese  Rücksicht  bestimmt  sie  in  der 
Regel,  ihr  statliches  Uebergewicht  nicht  allzudrückend  werden 
zu  lassen.  Sie  weisz  es,  dass  die  Erhaltung  ihres  Ansehens 
groszentheils  darauf  beruht,  dasz  sie  Masz  hält  und  ihre  Po- 
litik ist  gewöhnlich  conservativ. 

Aber  das  innerste  geistige  Princip  der  Aristokratie  wird 
damit  doch  nicht  bezeichnet.  Vielmehr  läszt  sich  als  solches 
eher  die  moralische  und  geistige  Auszeichnung  der 
herrschenden  Classe  von  der  regierten  Menge  angeben.  Die 
Aristokratie  ist  nur  insofern  Wahrheit,  als  wirklich  in  ihr  die 
Besten  (oi  uqlgtoi)  regieren.  *  Artet  die  herrschende  Classe 
aus,  gehen  die    vorzüglichen  Eigenschaften,   durch    welche   sie 

1  Viel  richtiger  als  Montesquieu,  welcher  die  Tugend  afl$  Princip 
der  Demokratie  erklärt,  hat  Aristoteles  gesagt  (Polit.  IV.  6,  4.):  „Der 
Charakter  der  Aristokratie  ist  Tugend,  der  der  Demokratie  Freiheit. tt 


Dreizehntes  Capitel.     Bemerkungen  über  die  Aristokratie.       347 

sich  emporgehoben,  unter,  verdirbt  ihr  Charakter,  wird  ihr 
Geist  schwach  und  eitel,  so  geht  die  Aristokratie  unaufhaltsam 
unter,  weil  die  belebende  Seele  ihres  Wesens  abstirbt.  Aber 
ebenso  geht  sie  zu  Grunde,  wenn  zwar  in  ihr  die  hervorragen- 
den Eigenschaften  noch  fortdauern;  aber  in  den  regierten 
Classen  ähnliche  Auszeichnung  aufblüht  und  die  hergebrachte 
Aristokratie  es  versäumt  und  verschmäht,  diese  in  sich  aufzu- 
nehmen und  dadurch  ihre  Kräfte  zu  ergänzen  und  zu  steigern. 
Das  vorzüglich  hat  die  römische  Aristokratie  so  grosz  gemacht, 
das  auch  den  Einflusz  und  das  Ansehen  der  englischen 
erhalten,  dasz  sie  so  in  lebendigem  Zusammenhang  mit  dem 
übrigen  Volksleben  verblieben  sind  und  fortwährend  neue 
Säfte  aus  diesem  aufgezogen  haben. 

In  der  Abgeschlossenheit  liegt  ein  Hauptgebrechen 
vieler  Aristokratien.  Im  Bestreben,  die  auf  Vorzüge  gegrün- 
deten Vorrechte  zu  befestigen,  haben  sie  oft  die  Rücksicht 
auf  die  Vorzüge  selbst  auszer  Acht  gesetzt,  und  die  Vorrechte 
äuszerlich  gewiszermaszen  mit  Wällen  und  Gräben  zu  sichern 
und  erbrechtlich  fortzusetzen  gesucht.  In  kleinen  Verhält- 
nissen liesz  sich  so  eine  Zeit  lang  die  Herrschaft  behaupten, 
gröszern  Verhältnissen  aber  war  die  so  beschränkte  Aristo- 
kratie nicht  mehr  gewachsen.  Sparta  und  Venedig  wurden 
schwach,  als  sie  grosze  Eroberungen  gemacht  hatten.  Sowohl 
die  Spartiaten  als  die  Altbürger  von  Venedig,  die  Nobili, 
waren  für  sich  allein  nicht  zahlreich  und  nicht  stark  genug, 
weite  Länder  zu  behaupten,  und  das  übrige  niedergehaltene 
Volk  war  ohne  politisches  Leben  und  Kraft  geblieben  und 
konnte  keine  hinreichende  Beihilfe  gewähren.2  Auch  die 
Bern  er  Aristokratie  ist  weniger  durch  innere  Entartung  des 
Patriciates  als  vielmehr  daran  zu  Grunde  gegangen,  dasz  sie 
sich  nicht  aus  den  ausgezeichneten  Männern  der  Hauptstadt 
und  des  Landes  zu  ergänzen  verstand. 

2  Sehr  gute  Bemerkungen  darüber  hat  MachiavelH  zu  Livius  I,  6, 
gemacht. 


348  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Alle  Aristokratie  beruht  auf  ausgezeichneter  Qualität. 
Welche  Art  der  Qualität  nun  bei  einer  Nation  vorzüglich  ge- 
achtet werde  und  Macht  habe,  das  hängt  von  dem  eigenthüni- 
lichen  Charakter  und  von  den  jeweiligen  Zuständen  der  Nation 
ab.  Wenn  der  Vorzug  des  Geschlechts  (der  Kasse)  ent- 
scheidet, so  nennen  wir  sie  Geschlechter-  oder  Adels- 
aristokratie. In  ihr  wirkt  das  Familienrecht  und  das 
ständische  Hecht  auf  die  Ausbildung  der  öffentlichen  Ver- 
fassung mächtig  ein.  Viele  mittelalterliche  Aristokratien  hatten 
diesen  Charakter.  Der  Vorzug  der  B  i  1  d  u  n  g  und  Erzieh- 
ung kann  zur  Priester-  oder  Gelehrtenaristokratie 
führen.  Wird  das  höhere  Alter  als  Hauptbedingung  der  Re- 
gierungsfähigkeit betrachtet,  so  bildet  sich  eine  Aristokratie 
der  Aldermänner  und  des  Senats.  Gilt  die  kriegerische 
Auszeichnung  als  entscheidend,  so  entsteht  die  Aristokratie 
des  Ritterthums.  Wird  auf  den  Reichthum  das  Schwer- 
gewicht gelegt,  so  ergibt  sich,  je  nachdem  der  Grundbesitz 
allein  oder  auch  das  bewegliehe  Vermögen  beachtet  wird,  eine 
grundherr liehe  oder  eine  Capitalistenarietokratie, 
die  Plutokratie,  nach  Cicero's  EJrthei]  die  hftszlfchste  aller 
Statsformen.3  Die  Aristokratie  der  Optimal  en  hat  vorzugs- 
weise einen  Parteicharakter,  indem  sich  in  ihr  eine  Anzahl 
von  Familien  und  Personen  geeinigt  haben.  Die  Aristokratie 
der  Aemter  und  Würden  kann  vorzugsweise  als  eine  po- 
litisch motivirte  angesehen  werden,  am  ehesten  dann,  wenn  sie 
noch  als  Wahlarist  okratie  erscheint,  weniger  wenn  rie,  wie 
das  im  Mittelalter  gewöhnlich  geschehen  ist,  allmählich  zur 
Erbaristokratie  und  in  Folge  dessen  wieder  zur  Geschlechter- 
oder Adelsaristokratie  wird. 

Oft,  wird  zugleich  auf  verschiedene  vorzügliche  Eigen- 
schaften gesehen  und  diese  combinirte  Aristokratie  ist  sicherer 

J  Cicero  de  Rep.  I.  34:  „nee  ulla  deformior  species  c^t  civitatis  quam 
illa  in  qua  opulenttisimi  optimi  putaniar."  Herrschaft  der  haute  ftnasoc 
(Bankiers).     Vgl  darüber  Leo.  Naturlelire  d.  Statt.     8.  89  ff. 


Dreizehntes  Capitel.     Bemerkungen  über  die  Aristokratie.       349 

und  besser  als  die  einseitig  auf  Einen  Vorzug  gegründete 
Herrschaft,  welche  alle  andern  von  Natur  aristokratischen 
Classen  oder  Personen  zu  natürlichen  Gegnern  hat. 

Die  Aristokratie  liebt  es  ihre  Vorzüge  glänzen  zu  lassen. 
Indem  sie  daher  mit  Vorliebe  die  äuszere  Hoheit  und  Würde 
des  States  zu  zeigen  pflegt,  veredelt  sie  die  statlichen  Formen 
und  verstärkt  sie  die  öffentliche  Autorität.  Sie  kann  eher 
noch  der  Liebe  des  regierten  Volkes,  aber  nie  der  Achtung 
desselben  entbehren.  Daher  sucht  sie  durch  die  äuszere  feier- 
liche Erscheinung  zu  imponiren,  und  ihr  Selbstgefühl,  ihr  Stolz 
prägt  sich  dem  State  ein.  Es  ist  das  ein  unverkennbarer 
Vorzug  der  aristokratischen  vor  der  demokratischen  Statsform, 
welche  leicht  auch  ihre  Obrigkeit  und  selbst  den  Stat  in  die 
Niederung  des  gemeinen  Lebens  herabzieht. 

Aber  an  den  Vorzug  schlieszt  sich  die  Gefahr  ganz  nahe 
an,  dasz  die  herrschenden  Classen  sich  selbst  überheben,  und 
die  regierten  Classen  weder  hinreichend  achten,  noch  ihnen 
eine  genügende  Sorge  zuwenden.  Daher  begegnen  wir  nicht 
selten  in  der  Geschichte  der  Aristokratien  einer  kalten,  mit 
Geringschätzung  begleiteten  und  dadurch  um  so  verletzenderen 
Härte  und  selbst  Grausamkeiten  gegen  die  niedern  Schichten 
der  Bevölkerung.  Das  Verfahren  der  Spartiaten  gegen  die 
Heloten,  die  Bedrückung  der  plebejischen  Schuldner 
durch  die  Patricier,  die  Miszhandlung  der  irischen 
Pächter  durch  die  englischen  Grund h er ren,  die  Aus- 
beutung und  die  despotische  Unterdrückung  der  Hindus  in 
Indien,  der  Neger  auf  Jamaica  durch  die  englischen  Statt- 
halter4 sind  beredte  Zeugnisse  für  diesen  Charakterzug. 

Ist  eine  übermäszige  Beweglichkeit  und  Veränderlichkeit 
gewöhnlich  mit  der  gebildeten  Demokratie  verbunden,  so  ist 
umgekehrt  eine  übertriebene  Zähigkeit  und  Unveränder- 
lichkeit  der  herkömmlichen  Verhältnisse  eine  häufige  Eigen- 
schaft der  Aristokratie.     Die  Demokratie,   im  Vorgefühl  ihrer 

*  Vgl.  Tocqueville  über  die  englische  Aristokratie.  Oeuvre  tom.  VIII. 


350  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Macht,  vergiszt  leicht,  indem  sie  diese  schrankenlos  ausübt,  die 
Bedingungen  ihrer  Erhaltung.  Die  Aristokratie  dagegen,  voller 
Sorgen  für  ihre  unverkümmerte  Erhaltung,  geräth  nicht  selten 
in  den  Trrthurn :  indem  sie  sich  starr  an  das  Alte  anklammere 
und  jede  Neuerung  abwehre,  werde  sie  ihre  Herrschaft  am 
besten  sichern.  In  der  That  versteht  sie  es  meistens  besser 
als  die  Demokratie ,  sich  selber  zu  conserviren,  und 
durchweg  haben  die  Aristokratien  einen  längeren  Bestand 
gehabt  als  die  Demokratien.  Sie  vermeidet  die  Statsexperi- 
mente,  sie  hat  Scheu  vor  raschen  Sprüngen ;  in  gemessenem 
Gang  schreitet  sie  bedachtsam  vorwärts,  und  entwickelt  nur 
wenn  wirkliche  Gefahr  droht,  dann  zuweilen  die  Monarchie 
vorübergehend  nachbildend,  eine  durchgreifende  Energie.  Aber 
was  im  richtigen  Masse  wieder  eine  gute  Eigenschaft  jener 
Statsform  ist,  und  aus  dem  natürlichen  Instinct  der  Selbst- 
erhaltung entspringt,  das  wird,  im  Unmasz  geübt,  zu  einem 
tödtlichen  Fehler. 

Diese  Neigung  und  Fälligkeit  der  Erhaltung  offenbart  sich 
auch  in  der  natürlichen  Tendenz  der  Aristokratie,  die  Erb- 
lichkeit zu  einem  Grundprincip  der  Statseinrichtungen  zu 
machen.  Diese  Tendenz  wird  besonders  in  der  Geschichte  des 
Mittelalters  anschaulich,  welches  überall  in  Europa  einen 
aristokratischen  Charakter  zeigt.  Selbst  das  deutsche  Kaiser- 
reich war,  ungeachtet  das  Kaiserthum  ursprünglich  von  der 
Idee  der  Monarchie  vollständig  erfüllt  und  durchdrungen  war. 
jedenfalls  seit  dem  Untergänge  der  Hobenstaufen  dem  Wesen 
nach   zu    einer   Aristokratie   geworden.5     Nur    das  Kaiser- 

5  Das  hat  schon  der  Franzose  Bodin  wohl  gewuszt.  Seither  haben 
es  sogar  deutsche  Rechtshistoriker  zuweilen  wieder  vergessen.  Bodin 
schreibt  (de  Rep.  lib.  II.):  „Et  quoniam  plerique  Imperium  Germanorum 
monarchiam  esse  et  sentiunt  et  afFirmant,  eripiendus  est  hie  error.  — 
Neminem  autem  esse  arbitror,  qui  cum  animadverterit,  trecentos  oirotter 
Principes  Germanorum  ac  legato.s  civitatum  ad  conventus  eoire,  qui  ea, 
quae  diximus,  jura  majestatis  habeant,  aristoeratiam  esse  dubitet.  Lege? 
enim  tum   [mperatori,  tum  singulis  Principibus  ac  civitatibus,  cum  etiam 


Dreizehntes  Capitel.     Bemerkungen  über  die  Aristokratie.       351 

thum  selbst  war  nicht  erheblich  geworden,  sondern  wurde 
durch  Wahl  der  erblichen  Kurfürsten  besetzt.  Die  Ehren, 
welche  dasselbe  umgaben,  waren  glänzend,  aber  die  Macht 
gering.  In  allen  wichtigen  Dingen  kann  der  Kaiser  nur  in 
Verbindung  mit  den  Kurfürsten  einen  Entscheid  fassen.  Die 
Gesetze  bereitet  das  Kur  fürst  encolle  gium  vor,  und  hat 
auf  dem  Keichstage  selbst  die  erste  Stimme.  Die  zweite  steht 
den  übrigen  Fürsten  und  Herren  zu,  welche  alle  wieder  die 
ursprünglichen  Statsämter  in  erbliche  Landesherrschaften  um- 
zuwandeln gewuszt  haben.  Ist  die  Vereinbarung  auch  mit 
dieser  regierenden  Aristokratie,  dem  Keichsfürstenrath, 
gelungen,  so  wird  noch  das  reichsstädtische  Collegium 
um  seine  Zustimmung  befragt;  aber  da  zu  der  Zeit  auch  in 
den  Reichsstädten  gewöhnlich  eine  patricische  Aristokratie  das 
Regiment  besitzt,  so  ist  selbst  hier  wieder  die  Vertretung  auf 
den  Reichstagen  groszentheils  aristokratisch.  Die  Reichs- 
regierung steht  dem  Kaiser  und  dem  Kurfürsten  gemeinsam 
zu,  nicht  jenem  allein,  und  an  eine  unmittelbare  Einwirkung 
und  Beherrschung  der  Reichsgewalt  den  Personen  und  Zustän- 
den gegenüber  ist  nicht  mehr  zu  denken.  Diese  war  in  jeder  Weise 

de  bello  ac  pace  decornendi,  vcctigalia  ac  tributa  imporandi,  deniqueju- 
dices  Imperialis  Curiae  dandi  jus  habenr.  —  Sceptra  quidera,  regale  so- 
lium,  pretiosissimae  vestes,  coronae,  antecessio,  subsequentibus  Christianae 
regibus,  imaginem  regiae  majestatis,  habent,  rem  non  habent.  Et  certe 
tanta  est  imperii  germanici  majcstas,  tantus  splendor,  ut  Imperator  suo 
quodam  modo  jure  Omnibus  ornamentis  ac  honoribus  cumulari  mereatur: 
sed  ea  est  Aristocratiae  bene  constitutae  ratio,  ut  quo  plus  honoris  eo 
minus  imperii  tribuatur;  et  qui  plus  imperio  possunt,  minus  honoris 
adipiscantur,  ut  omnium  optime  Veneti  in  republica  constituenda  decre- 
verunt.  Quae  cum  ita  sint,  quis  dubitet,  rempublicam  Germanorum  Ari- 
stocratiam  esse?"  Philipp  Chemnitz  (dissert.  de  ratione  status  in 
imperio  nostra  Romano  germ.  1640.)  hat  auf  den  Gedanken,  dasz  Deutsch- 
land eine  Aristokratie  sei,  seine  Reformplane  gegründet.  Ygl.  Perthes 
das  deutsche  Statsleben  vor  der  Revolution.  J845.  §.  246.  Puffendorf 
(Montezambano)  hat  das  Reich  ein  zwischen  Monarchie  und  Aristokratie 
schwankendes  Monstrum  genannt,  aber  ebenfalls  die  überwiegende  Ten- 
denz zur  Aristokratie  anerkannt. 


352  Viertes  Buch.     Die  Statäformen. 

unterbrochen  durch  die  Landesherrschaft  der  erblichen  Reichs- 
aristokratie,  unterbrochen  und  gelähmt  bei  weitem  mehr  als 
vermittelt. 

In  allen  politischen  und  rechtlichen  Verhältnissen  zeigt 
sich  diese  aristokratische  Neigung  des  Mittelalters  zu  erblicher 
Befestigung  derselben.  Die  Lehen,  die  Reichswürden  und 
Aemter,  die  Gerichtsbarkeit  in  .allen  Stufen,  Grafschaften, 
Vogteien,  Grundherrschaften,  selbst  die  Stühle  der  urtheilen- 
den  Schöffen,  die  Ritterschaft,  der  Hofdienst  der  Ministerialen, 
die  Patriciate  in  den  Städten ,  die  Meyer-  und  Kellerämter  in 
den  Dörfern,  der  hofrechtliche  Besitz  der  hörigen  Bauern, 
Alles  wurde  während  des  Mittelalters  erblich. 

Im  Gegensatze  zu  dieser  Richtung  des  Mittelalters  äuszert 
dagegen  die  neuere  Zeit  vielfältig  ihre  Abneigung  gegen 
das  politische  Princip  der  Erblichkeit.  In  beiden  sich  wider- 
streitenden Tendenzen  liegt  ein  Element  der  Wahrheit,  und 
eines  des  Irrthums  und  der  Uebertreibung.  Die  neuere  Zeit 
hat  Recht,  wenn  sie  gegen  die  Hemmnisse  ankämpft,  welche 
eine  verhärtete  und  beschränkte  Erblichkeit  der  Verhältnisse 
der  Entwicklung  de*  Lebens  und  der  Befriedigung  der  moder- 
nen Bedürfnisse  entgegengesetzt;  de  hat  Recht,  wenn  sie  für 
die  individuelle  Tüchtigkeit  Anerkennung  verlangt;  Recht, 
wenn  sie  nicht  mehr  zugibt,  dasz  die  politischen  Aemter, 
welche  persönliche  Fähigkeit  und  zugleich  Unterordnung  unter 
das  Ganze  voraussetzen,  nach  den  Grundsätzen  des  Erbrechts 
besetzt  und  zu  Eigenthum  einzelner  Familien  gemacht  werden. 
Aber  sie  hat  Unrecht,  den  Zusammenhang  zwischen  der  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart,  den  das  Erbrecht  festhält,  aufzu- 
lösen und  in  Zustände  und  Verhältnisse,  welchen  die  fortge- 
setzte Stätigkeit  der  Ueberlieferung  natürlich  ist,  welche  eben 
durch  ihren  gesicherten  Fortbestand  der  Statsordnung  selbst 
als  feste  Säulen  dienen,  und  welche  auch  grosze  moralische 
Interessen  und  Kräfte  fortpflanzen  und  in  die  Zukunft  hin- 
überleiten,   eine   lockere   und    häufigem     Wechsel    ausgesetzte 


Dreizehntes  Capitel.     Bemerkungen  über  die  Aristokratie.       353 

Beweglichkeit  einzuführen.  Indem  sie  das  thut,  baut  sie  statt  auf 
Felsen  auf  Sand  und  verfehlt  sich  wider  die  organische  Natur 
sowohl  der  Nation  als  des  States,  deren  Leben  nicht  mit  den 
einzelnen  Generationen  wechselt,  sondern  während  Jahrhun- 
derten sich  durch  eine  Keine  von  Generationen  fortsetzt/ 

6  In  dem  aristokratischen  England  wird  diese  Bedeutung  des  politi- 
schen Erbrechts  auch  in  unserer  Zeit  noch  verstanden.  Sehr  schön 
äuszert  sich  darüber  Edm.  Burke  in  seinen  Betrachtungen  über  die 
französische  Revolution:  „Sie  werden  bemerken,  was  die  übereinstim- 
mende Politik  unserer  Verfassung  von  der  Magna  Charta  bis  zur  Erklä- 
rung  der  Rechte  gewesen  ist,  unsere  Freiheit  als  eine  fideicommissa- 
rische  Erbschaft  (an  entailed  inheritance)  zu  begehren  und  in  An- 
spruch zu  nehmen,  die  uns  von  unsern  Voreltern  überliefert  worden, 
und  die  wir  unsern  Nachkommen  zurücklassen  sollen.  Wir  haben  eine 
erbliche  Krone,  eine  erbliche  Pairie  und  ein  Haus  der  Gemeinen  und 
ein  Volk,  deren  Privilegien,  Gerechtsame  und  Freiheiten  von  einer  langen 
Ahnenreihe  herstammen.  Der  Geist  der  Neuerung  ist  gemeiniglich  das 
Geschöpf  der  Selbstsucht  und  beschränkter  Ansichten.  Ein  Volk, 
welches  nicht  zurückblickt  auf  seine  Vorfahren,  wird  auch  nicht  für  seine 
Nachkommen  sorgen.  Das  Volk  von  England  aber  weisz  sehr  wohl,  dasz  die 
Idee  der  Erblichkeit  ein  sicheres  Princip  der  Erhaltung  und  ein 
sicheres  Princip  der  U  eberliefcrung  erzeugt,  ohne  irgend  ein  Princip 
der  Vervollkommnung  auszuschlieszen.  Es  läszt  den  Erwerb 
frei,  aber  es  sichert  das  Erworbene.  —  Unser  politisches  System 
steht  in  Verbindung  und  Harmonie  mit  der  gesammten  Weltordtmng  und 
mit  den  Bedingungen  der  Existenz  eines  fortdauernden  Körpers,  welcher 
aus  vergänglichen  und  wechselnden  Theilen  gebildet  ist.  Nach  der  An- 
ordnung einer  bewundernswürdigen  Weisheit  ist  unsere  Verfassung  als 
ein  Ganzes,  indem  sie  die  grosze  und  geheimniszvolle  Verbindung  des 
Menschengeschlechtes  nachbildet,  zu  keiner  Zeit  alt  oder  jung  (?),  son- 
dern unveränderlich  fortdauernd  schreitet  sie  fort  durch  den  mannich- 
faltigen  und  im  einzelnen  unablässigen  Wechsel  der  Abnahme  und  des 
Untergangs,  der  Erneuerung  und  des  Aufschwungs.  Indem  wir  so  die 
Weise  der  Natur  in  der  Leitung  des  States  bewahren,  werden  wir  in 
unsern  Verbesserungen  niemals  ganz  neu  sein,  und  in  dem  was  wir  er- 
halten, nie  ganz  alt.  Indem  wir  so  der  Erblichkeit  anhängen,  haben 
wir  unserer  Statsordnung  das  Bild  einer  Bluts-  und  Familienverbindung 
aufgeprägt,  verknüpfen  wir  unsere  Landesverfassung  mit  unsern  theuer- 
sten  häuslichen  Banden,  nehmen  wir  die  Fundamentalgesetze  auf  in  das 
Heiligthum  unserer  Familienliebe,  umfassen  wir  unzertrennlich  und  mit 
der  Wärme  der  verschlungenen  und  wechselseitig  wiederstrahlenden  Zu- 
neigungen unsern  Stat,  unsern  Herd,  unsere  Gräber  und  unsere  Altäre." 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  23 


354  Viertes  Buch.     Die  Stitsformen. 

Da  die  Aristokratie  vorzugsweise  die  Macht  der  äuszern 
Ordnung  aufrecht  erhält,  und  von  dieser  ihre  Erhaltung  er- 
wartet, so  ist  sie  in  besonderem  Masze  auch  eine  Pflegerin 
des  Eechts,  dessen  formellen  Bestand  sie  sorgfältig  vor  Er- 
schütterung bewahrt.  Man  hat  es  daher  mit  Grund  ihr  nach- 
gerühmt, dasz  sie,  wenn  sie  nicht  in  ihrer  Existenz  bedroht 
scheine,  und  deszhalb  ihre  Leidenschaften  gereizt  werden,  ge- 
rechter sowohl  im  Verhältnisz  zu  den  Unterthanen  als  zu  ihren 
eigenen  Gliedern  zu  handeln  pflege  als  die  Demokratie.  Es 
ist  kaum  zufällig,  dasz  die  welthistorische  Ausbildung  der 
Rechtswissenschaft  vorzüglich  in  dem  eminent  aristokratischen 
Volke  der  Römer  vor  sich  ging.  Anerkannt  auch  ist  die  zwar 
strenge  aber  unparteiische  Rechtspflege  der  Venetianer,  das 
gute  Recht,  welches  die  Berner  gehandhabt,  das  starke  Rechts- 
Gefühl  der  aristokratischen  Engländer,  und  während  des  Mittel- 
alters nahm  selbst  die  Politik  die  äuszere  Gestalt  des  Rechts- 
urtheils  und  seiner  Vollstreckung  an. 

Die  neuere  Zeit  ist  der  Aristokratie  als  Statsform  so  sehr 
ungünstig,  das/  sich  keine  einzige  Aristokratie  bis  in  die  Mitte 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  hat  behaupten  können.  Die  alt- 
römische Aristokratie  ist  zuvor  durch  die  aufstrebende  Demo- 
kratie gebrochen,  und  dann  erst  durch  «las  Kaiserthum  erdrückt 
worden.  Die  italienischen  and  die  deutschen  Aristokratien  des 
Mittelalters  sind  vorerst  durch  die  wachsende  Macht  der  Fürsten 
überholt  und  gedemüthigt  worden,  und  dann  erst  der  Feind- 
schaft der  bürgerlichen  ('lassen  erlegen. 

In  dem  modernen  Stat  nehmen  daher  die  aristokratischen 
Classen  nur  noch  als  ein  ausgezeichneter  Bestandtheil  des  Volks 
eine  mittlere,  aber  nirgends  mehr  eine  souveräne  Stellung 
ein.  Sie  sind  überall  entweder  der  Monarchie  oder  der  De- 
mokratie untergeordnet.  Sie  können  jene  unterstützen  oder  er- 
mäszigen  und  diese  veredeln  oder  beschränken,  aber  sie  können 
nicht  mehr  die  Statsregierung  von  Rechtswegen  in  Anspruch 
nehmen. 


Vierzehntes  Capitel.  IV.  Monarch.  Sfcat3forraen.  Hauptarten  ders.  355 

Vierzehntes  Capitel. 

IV.     Monarchische  Statsformen. 
Die  Hauptarten  der  Monarchie. 

Die  monarchische  Statsform  hat  die  allgemeinste  Aner- 
kennung unter  den  verschiedensten  Völkern  der  Erde  erlangt. 
Wir  finden  sie  in  allen  Welttheilen,  in  Asien  und  in  Europa 
fast  überall  und  schon  in  den  Anfängen  unserer  Geschichte 
wie  in  der  Gegenwart.  Aber  unter  sich  sind  die  Monarchien 
sowohl  in  der  Idee  als  in  der  Form  ihres  Daseins  so  sehr  ver- 
schieden und  mannichfaltig,  dasz  es  schwer  wird,  die  Haupt- 
arten derselben  näher  zu  bestimmen. 

I.  Den  Uebergang  von  der  Theokratie  zur  humanen  Mo- 
narchie bildet  die  Despotie,  wie  sie  in  Asien  vorzüglich 
Macht  und  Geltung  erlangt  hat.  Das  charakteristische  Kenn- 
zeichen der  Despotie  ist,  dasz  sie  alles  Kecht  in  dem  Mo- 
narchen dergestalt  einigt,  dasz  auszer  ihm  und  ihm  gegen- 
über Niemand  festes  Recht  hat.  Er  allein  ist  der  Berechtigte, 
alle  andern  sind  vor  ihm  rechtlose  Wesen,  Sclaven.  Er  kann 
wohl  von  dem  religiösen  oder  moralischen  Pflichtgefühl  be- 
schränkt sein  und  anerkennen,  dasz  er  Gott  für  die  Ausübung 
seiner  Allgewalt  verantwortlich  sei,  aber  er  ist  nicht  beschränkt 
durch  die  Rechte  seiner  Unterthanen.  Vor  ihm  gibt  es  kein 
anderes  Recht,  als  was  er  an  Willkür  und  Gnade  zuläszt. 

Diese  Despotie  musz ,  um  sich  selbst  auch  nur  einiger- 
maszen  zu  erklären,  auf  die  göttliche  Allmacht  sich  berufen. 
Der  Despote  musz  als  Stellvertreter  Gottes  und  als  Inhaber 
der  göttlichen  und  deszhalb  unbegränzten  Gewalt  verehrt  werden. 
Darin  liegt  die  nähere  Beziehung  zur  Theokratie,  an  deren 
Gebrechen  auch  die  Despotie  leidet,  auch  wenn  sie  im  übrigen 
zugesteht,  dasz  der  Despot  ein  Mensch  sei.  Die  muhammeda- 
nischen  Staten  des  Mittelalters  haben  alle  einen  solchen  Zug 
zur  Despotie:  und  erst  in  unserer  Zeit  fangen  sie  an,  sich  der 
europäisch-humanen  Monarchie  entschiedener  anzunähern. 

23* 


356  Viertes  Buch.     Die  Statsforraen. 

IL  Wir  können  die  Despotie  als  eine  barbarische  Form 
der  Monarchie  bezeichnen.  Die  höheren  arischen  Völker 
haben  sie  schon  in  der  Vorzeit  als  ihrer  unwürdig  verworfen. 
Sie  haben  alle  auszer  den  Rechten  der  Fürsten  und  Könige 
auch  Eechte  der  Stände  und  der  Privatpersonen  behauptet  und 
sich  als  Freie,  nicht  als  Sclaven  gefühlt.  Wo  die  Uebermacht 
des  Monarchen  unter  ihnen  zuweilen  der  Despotie  ähnlich  über- 
spannt wurde,  da  empfanden  die  arischen  Völker  das  immer 
als  ein  Unrecht,  und  bei  günstiger  Gelegenheit  traten  sie 
ihm  entgegen  und  nöthigten  ihn,  auch  die  Rechte  der  Unter- 
thanen  anzuerkennen.  Die  civilis irte  Monarchie  ist  daher 
immer  eine  durch  die  gemeinsame  Rechtsordnung  be- 
dingte und  beschränkte.  Die  Stellung  des  Monarchen 
wird  dadurch  nicht  erniedrigt,  sondern  erhöht,  und  seine  Macht 
nicht  geschwächt,  sondern  verstärkt,  denn  es  ist  edler,  einem 
freien  Volke,  als  einer  knechtischen  Menge  vorzustehen  und 
die  politischen  Kräfte  jener  zusammenzufassen  und  zu  leiten, 
als  den  stumpfen  Gehorsam  dieser  zu  lenken.  Je  mehr  in 
einem  State  die  Einheit  und  Energie  des  Ganzen  mit  der  freie- 
sten  Entfaltung  aller  Glieder  verbunden  erscheint,  um  so  voll- 
kommener ist  der  Stat  organisirt.  Das  aber  ist  nie  in  der 
Despotie,    sondern   nur  in  der   civilisirten  Monarchie  möglich. 

Der  menschliche  Geist  hat  in  den  verschiedenen  Zeitaltern 
und  unter  den  verschiedenen  Völkern  mancherlei  Versuche  ge- 
macht, um  die  richtige  Form  der  rechtlichen  Bestimmung  und 
Beschränkung  zu  finden. 

Eine  der  ältesten  Formen  ist  das  Geschlechtskönig- 
thum,  die  Patriarchie.  Der  König  wird  wie  der  Häupt- 
ling aus  dem  vornehmsten  Geschlecht,  als  der  Aelteste  und 
der  Vater  des  Stammes  verehrt.  Die  Institution  erscheint  da 
noch  gebunden  an  den  Verband  der  Familienart,  und  beschränkt 
durch  den  Familiengeist.  In  dem  Vizpati  der  indischen  Stämme 
wie  in  dem  Kuning  der  deutschen  Völkerschaften  wird  diese 
kindlich-naive  Anschauung  sichtbar. 


Vierzehntes  Capitel.  IV.  Monarch,  Statsformen.  Hauptarten  ders.    357 

Ebenso  gebunden  an  privatrechtliche  Zustände  und  In- 
stitutionen ist  die  Form  des  patrimonialen  Fürstenthums, 
welches  vorzüglich  im  Mittelalter  Anerkennung  fand,  sei  es 
in  der  Form  des  Lehenstats,  sei  es  in  der  Form  der  ein- 
fachen Landesherrschaft  (dominium  terrae).  Auch  da 
wirken  gewöhnlich  Familienrecht  und  dynastische  Vorstellungen 
ein;  es  kommt  aber  hinzu  die  Verwechslung  des  Stats  mit 
einer  im  Eigenthum  befindlichen  Grundherrschaft.  Das  Amt 
wird  einem  Vermögensrechte  ähnlich  betrachtet  und  behandelt. 

Wir  können  diese  beiden  Formen,  in  denen  das  Statsbe- 
wusztsein  noch  nicht  durchgebrochen  ist,  als  unreife  Ent- 
wicklungsphasen bezeichnen. 

III.  Ist  zwar  das  Statsbewusztsein  th eilweise  geweckt 
worden,  aber  noch  in  einer  einseitigen  Richtung  auf  eine  ein- 
zelne öffentliche  Function  als  Hauptfunction  des  Fürstenthums 
befangen,  so  entstehen  die  einseitigen  Formen  entweder  des 
Kriegsfürst  enthums  (Herzogthum,  Imperatoren- 
stat),  wenn  die  kriegerische  Obergewalt  bestimmend  wirkt, 
oder  der  Gerichtsherrschaft,  wenn  das  Richteramt  als 
Herrschaft  angesehen  wird.  Das  erstere  wird  durchweg  ge- 
waltiger und  energischer  erscheinen,  die  letztere  beschränkter 
und  gemäszigter. 

IV.  Wenn  das  Statsbewusztsein  in  dem  Fürsten  über- 
reizt und  übermächtig  wird,  so  dasz  er  sich  selbst  für 
den  allmächtigen  Herrn  und  Inhaber  aller  öffentlichen  Gewalt 
hält,  so  kommt  zwar  die  vielseitige  und  öffentliche  Bedeutung 
der  Monarchie  als  einer  entscheidenden  Centralgewalt  zur  Er- 
scheinung, aber  die  Bevölkerung  wird  in  politischer  Unfreiheit 
niedergehalten.  Es  entsteht  die  absolute  Monarchie,  welche 
als  civilisirte  Statsform  der  barbarischen  Despotie  entspricht, 
aber  sich  dadurch  von  ihr  unterscheidet,  dasz  der  civilisirte 
Monarch  doch  eine  Rechtsordnung  als  nothwendig  aner- 
kennt, und  sich  selbst  verpflichtet,  derselben  gemäsz  —we- 
nigstens in  der  Regel  —  zu  regieren.    Ausgedehnter  erscheint 


358  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

diese  absolute  Gewalt  in  dem  antiken  römischen  Stat,  be- 
schränkter in  der  neueren  Absolutie,  die  durch  das  Christen- 
thum  und  die  freiheitliche  Entwicklung  auch  des  Mittelalters 
beschränkt  wird. 

V.  Edler  entwickelt  und  in  sich  gehaltener  sind  die  For- 
men der  beschränkten  Monarchie,  welche  die  einheitliche 
Machtfülle  der  statlichen  Centralgewalt  in  sich  aufnehmen, 
aber  zugleich  damit  die  Freiheit  der  Volksclassen  und  der  ein- 
zelnen Bürger  zu  verbinden  unternehmen. 

Dahin  gehört  sowohl  die  mittelalterliche  Form  einer  aristo- 
kratisch und  ständisch  beschränkten,  als  die  moderne 
Form  der  repräsentativen  und  constitutione llen  Mo- 
narchie. 

Einige  der  wichtigsten  Erscheinungen  dieser  verschiedenen 
Arten  verdienen  eine  besondere  Betrachtung,  wie  dieselbe  den 
folgenden  Capiteln  vorbehalten  wird. 

VI.  An  dieser  Stelle  musz  aber  noch  ein  anderer  Gegen- 
satz innerhalb  der  civilisirten  Monarchie  erwähnt  werden,  der 
Unterschied  nämlich  des  Kon  igt  hu  ms  und  des  Kaiser- 
thums.  Er  wiederholt  sich  auf  allen  Entwicklungsstufen  der 
Monarchie,  roher  in  der  alt-asiatischen  Despotie,  edler  in  der 
europäischen  Statenbildung. 

Die  Idee  des  Königthums  gehört  dem  Volke,  die  Idee 
des  Kaiserthums  der  Menschheit  an.  Das  Königthum  ist  die 
höchste  obrigkeitliche  Institution  des  Volksstates,  des  Ein- 
zelstates,  das  Kaiserthum  ist  die  Krone  des  Weltreiches. 
Ueber  den  Königen  erhebt  sich  die  Würde  des  Kaisers,  wie 
.die  Macht  der  Menschheit  über  der  der  Völker.  So  oft  im 
Orient  ein  groszes  Reich  gegründet  ward,  finden  wir  solche 
Könige  der  Könige.  Der  grosze  Cäsar  griff  den  Gedanken 
der  römischen  Weltherrschaft  persönlich  auf,  und  ihm  zu  Ehren 
hat  die-  Weltgeschichte  diese  vornehmste  Statsidee  mit  seinem 
Namen  benannt.  Die  volle  Verwirklichung  derselben  wird  aber 
erst  dannzumal  möglich  werden,  wenn  die  Welt  zu  einer  uni- 


Fünfzehntes    Capitel.     A.  Hellen,  u.  altgerm.  Geschlechtskönigthum.  359 

verseilen  Organisation  der  Menschheit  fortgeschritten  sein  wird. 
Bis  dahin  sehen  wir  in  der  bisherigen  Geschichte  nur  be- 
schränkte und  mangelhafte  Versuche,  das  Kaiserthum  herzu- 
stellen. * 


Fünfzehntes  Capitel. 

A.  Hellenisches  und  altgermanisches  Geschlechtskönigthum. 

In  den  ersten  Zeiten  der  hellenischen  und  germa- 
nischen Geschichte  finden  wir  unter  beiderlei  Völkern  Könige 
an  der  Spitze  der  Stämme  und  Staten;  und  es  zeigt  die  Art, 
wie  diese  Institution  von  diesen  Völkern  aufgefaszt  und  be- 
handelt wird,  eine  aufTallende  Uebereinstimmung,  während  da- 
gegen das  in  der  Mitte  liegende  alt-römische  Königthum 
in  wesentlichen  Beziehungen  sich  davon  unterscheidet. 

Das  Königthum  der  Hellenen  und  der  Germanen  bildet 
den  Uebergang  aus  der  noch  ideokratischen  Form  der  orien- 
talischen Alleinherrschaft  in  eine  menschlich-politische 
Institution.  Die  Könige  leiten  zwar  ihr  Geschlecht  gewöhn- 
lich von  den  Göttern  her,  die  hellenischen  meistens  von  Zeus, 
die  germanischen  von  Wodan  (Odin),  und  der  Volksglaube 
verehrt  in  den  Königen  die  Ueberlieferung  des  göttlichen  Blutes ; 
aber  obwohl  so  der  Ursprung  der  Könige  angeknüpft  wird  an 
die  Herrschaft  der  Götter  über  die  Welt,  werden  sie  doch  auf 
der  andern  Seite  als  Menschen  anerkannt  und  vielfach  auch 
menschlich  beschränkt. i     Die  königlichen  Heroen  und  Helden 

5  Ygl.  über  die  Idee  und  die  Geschichte  des  „Kaiserthums"  den  be- 
züglichen Artikel  im  deutschen  Statswörterbuch. 

1  Daher  der  Ausdruck :  „Ex  de Jios  ßaaiXies. u  AioysveZq  jLoxqecpElg 
bei  Homer,  H.  IL  204  ff. 

„Nimmer  Gedeihn  bringt  Vielherrschaft,  nur  Einer  sei  Herrscher, 
Einer  nur  Fürst,  dem  schenkte  der  Sohn  des  verborgenen  Kronos 
Scepter  zugleich  und  Gesetze,  damit  er  gebiete  den  Andern." 
Vgl.  Herrmann  griech.  Statsalterth.  §.  55.     Sophokles  Philokt.  137. 


360  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

sind  Göttersöhne  und  Verwandte  der  Götter,  aber  sie  sind  zu- 
gleich wirkliche  Menschen  in  ihren  und  des  Volkes  Augen. 

Daher  sind  die  Ehrenrechte  der  Könige  höher  und  aus- 
gedehnter als  ihre  Macht.  Sie  vertreten  das  gesammte  Volk 
den  Göttern  gegenüber  und  vermitteln  durch  Opfer  und  Gebet, 
soweit  nicht  besondere  Priester  diese  Pflicht  üben,  zwischen 
beiden,2  weszhalb  denn  auch  zu  Athen  nach  der  Abschaffung 
des  Königthunis  der  opfernde  Archon  noch  den  Namen  des 
Königs  beibehielt. 

An  Werth  wird  ihre  Person  weit  hoher  geschätzt  als  die 
der  übrigen  Volksgenossen.  Pas  Wergeid  der  germanischen 
Könige  übertrifft  das  der  Edeln  gewöhnlich  mehrfach.  Sie 
ragen   daher  auch   durch   ihren  Beichtham    vor   Allen  hervor. 

„Hoch  ragt  vor  andern  Künsten  ja 
Bines  Königs  Kun-r. 

Der  klug  waltend  Zeus1  göttliches  Scepter  lenkt." 
Vgl.  den  Preh  des    Königthnms  in   dem    Indischen    Epoa    Bami 
Holtzma  im  Ten.    I  J  (2: 

t  Wie  für  den  Leib  das  A  nge  sfe  ts, 
Nach  allen  Seiten  sorglich  blickt, 
So  für  das  Reich  der   Männerf&rst 
Der  Tugend  Wuriel   und  des  Kechts. 
In  blinde  Finsternias  verhüllt, 
AVüst   und   verworren   ist   die    Welt, 
Wenn  nicht  der  König  Ordnung  hält, 
Und  zeigt,  was  recht  und  unrecht  sei.u 
Nach  Jornandes  c.    li    stammen  die  Ämaler  aus  dem  Geschlechte 
der  Äsen.      Von    Ilengi-M   und    Rorsa   ist   68  bekannt,  dasz  sie   von  Wo- 
dan stammen.    Es  i*t  aioher,   dasz    viele  anfängliche  Gesohleohtshäupter 
erst  später  auf  europäischem  Boden  an  Königen  geworden  sind  (Sybel, 
Entstehung    des     deutschen    KÖnigthums),    und    dasz     man    sich     dieMI 
Ursprungs  wohl  erinnerte.     Aber  die  Idee  und  selber  die  Institution  des 
Königthums  haben  die  arischen    Völker  ans   Asien  mitgebracht. 

2  Aristot.  Pol.  III.  9,  7\  In  den  skandinaTischeii  Ländern  tritt  diese 
Eigenschaft  auch  der  germani^lu  n  Könige  deutlicher  hervor,  als  in  der 
uns  bekannten  deutschen  Geschichte.  Vgl.  Grimm,  Rechtsalt.  S.  243. 
Der  christlich  gesinnte  norwegische  König  Ilakon  wurde  von  den  noch 
heidnischen  Bauern  gezwungen,  an  dein  Ding  Dach  dem  alten  Herkommen 
zu  opfern,  die  Weihebecher  zu  trinken  nnd  Pferdefleisch  zu  essen.  Konr. 
Maurer,  die  Bekehrung  des  norweg.  Stammes  zum  Christentum.  I.S.  ICD  ff". 


Fünfzehntes  Capitel.     A.  Hellen,  u.  altgerm.  Geschlechtskönigtlium.  351 

Ihnen  gehört  ein  groszer  Theil  des  Landes  als  Domäne  zu 
Eigenthum  zu,  und  bei  Eroberungen  erhalten  sie  ausgedehnte 
Güter  zum  voraus.3  Ihre  Wohnung,  der  Palast  war  höher, 
weiter,  schöner  und  reicher  geschmückt  als  die  übrigen  Häuser.4 
Ihre  Schätze,  Horte,  sind  reich  mit  Kleinodien  und  Schmuck 
ausgerüstet. 

Durch  Insignien  sind  sie  als  Könige  bezeichnet.  Die 
griechischen  tragen  das  Scepter,  zum  Zeichen  der  Gerichts- 
hoheit undMacht:  ebenso  die  deutschen  den  Stab.5  Sie  sitzen 
auf  einem  erhöhten  Throne,  dem  Königs  stuhl  (Hochsitz).6 
Den  deutschen  Königen  wird  überdem  das  Banner  vorge- 
tragen als  Zeichen  ihrer  Kriegsgewalt.  Bei  den  Griechen  ver- 
künden Herolde  ihr  Erscheinen  und  gebieten  Schweigen,  ähn- 
lich den  deutschen  Fronboten  in  den  Gerichten.  Die  fränki- 
schen Könige  tragen  wallendes  langes  Haar  zum  Schmuck. 
Die  Kleidung  des  Königs  ist  glänzender,  vornehmer  als  die 
gewöhnliche.  Die  altindischen  Könige  und  ebenso  die  alt- 
chinesischen Fürsten  erscheinen  in  gelbem  (golddurchwirkten) 
Talar,  mit  gelbem  Sonnenschirm. 7 

3  Tacitus,  Germ.  14:  „Materia  munificentiae  per  bella  et  raptus.u 
c.  2G:  „Agro-s  inter  se  secundum  dignationem  partiuntur."  Diese  aus- 
gedehnte Grundherrlichkeit  der  Könige  und  Fürsten  ist ,  trotz  der  zahl- 
reichen Entäuszerungen  aller  Art,  noch  durch  das  ganze  Mittelalter 
hinab  in  Deutschland  sichtbar. 

4  Homer's  Odyss.  IV.    [$: 

„Wie  der  Sonne  Glanz  umherstrahlt  oder  des  Mondes, 
Strahlte  der  hohe  Palast  des  gottbeseligten  Herrschers." 
Vgl.  Odyss.  VI.  301  ff.     Aehnlich   die  „Hallen"  der   deutschen  Fürsten. 

5  Homer's  II.  IL  100  ff. 

„Da  erhub  sich  der  Held  Agamemnon, 
Haltend  den  Königsstab,  den  mit  Kunst  Hefästos  gebildet, 
Diesen  gab  Hefästos  dem  waltenden  Zeus  Kronion. 
Aber  ihn  liesz  Thyestes  dem  Held  Agamemnon  zum  Erbtheil, 
Viel  Eilande  damit  und  Argos  Reich  zu  beherrschen." 
Vgl.  Grimm.  R.  A.  S.  241. 
c  Grimm.  R.  A.  S.  242. 

'  Grimm.  S.  239.  Thierry  Merowing.  II.  82.  (Rama  von  Holtz^ 
mann)  v.  782  ff. 


362  Viertes  Buch.     Die  Statsf'ormen. 

Die  Existenz  königlicher  Geschlechter  und  die  Verbindung 
dieser  mit  den  Göttern  weist  unverkennbar  auf  alte  Erb li ch- 
keit  des  Königtimms  hin.  Indessen  bestimmte  das  Erbrecht 
nicht  nach  festen  Eegeln  die  Nachfolge.  Vielmehr  wird  bei 
den  Hellenen  zugleich  auf  persönliche  Tüchtigkeit  ge- 
sehen. So  werden  daher  sowohl  Weiher  als  Kinder  meistens 
ausgeschlossen  von  der  Thronfolge,  und  in  Folge  der  Aner- 
kennung, welche  den  Edeln  und  dem  Volke  vorbehalten  bleibt, 
und  der  Einwirkung  solcher  individuellen  Rücksichten  nicht 
ganz  selten  Abweichungen  von  dem  Erbrechte  durchgesetzt.9 
Ebenso  ist  bei  den  Deutschen  die  Beachtimg  des  Erbrechts 
mit  der  Kur  der  Fürsten  und  der  Zustimmung  des  Volkes 
verbunden,  wenn  schon  in  gewöhnlichen  Fällen  das  Erbrecht 
entscheidet,  und  eher  noch  als  bei  den  Hellenen  auch  Kinder 
zu  Königen  erhoben  werden.  Nichts  hinderte  die  freie  Volks- 
genossen.M/liiit't .  auch  einen  ferneren  Sippen  des  verstorbenen 
Königs  dem  näheren   vorzuziehen,   wenn  jener  tüchtiger  BChien.9 

Die  statliche  Haehl  dieser  Könige  «rar  zwar  intensiv, 
aber  immerhin  sehr  beschränkt  Sie  äussert  sich  hauptsächlich 

in  folgenden  Momenten: 

1)  Der  König  hat  den  Vorsitz  und  die  Leitung  so- 
wohl des.  Käthe-   der  Fürsten  als   der  Versammlung  des 

1  Wir  erinnern  an  die  Geschieht*'  de>  Oedipns.  Auch  bei  den  In- 
diern  älml.  Verbindung  d,  Erbrechte  (nach  Erstgeburt)  mit  Katli  und 
Wahl   des  Fürsten.      Rama   i  v.    llolt/maniO,    f.   22    ff« 

9  Tacitus  Germ,  i  :  .Ke^x  r.r  nnhilitate.  sumurU.*  I>i''  Rücksicht 
auf  das   Geschlecht  liegt1    lobon    in    dem     Namen    der    deutschen   Könige, 

Chuning  und  Kun-ing  von  ohun  oder  ohuni,  Gesohlecht.  Büdebert  II. 
wurde  als  fünfjähriger  Knabe  tum  Eftnigc  von  A.ustrasien  ausgerufen. 
Thierry  Mercw.  II.  63.     Beispiele  ron  Abweichungen  von  dem  Erbrecht 

finden  lieh  öfter  in  der  Geschiente  der  Westgothen  und  der  Lougobarden. 
F.  Dahn  (Die  Könige  der  Germanen  I.  8.  H2)  betont  die  Erblichkeit 
entschiedener;    Thudichum    (Der   altdeutsche   ßtat    8.    60,  i    mehr   die 

Volkswahl;  aber  beide  erkennen  die  Verbindung  hei. ler  (Jrsaebei  an. 
Eine  ähnliche  Verbindung  vop  Erbrecht  (der  Erstgeburt)  mit  dem 
Rath  und  der  Wahl  der  Groszen ,  wie  bei  den  alten  Germanen,  findet 
Sich  bei  den  alten  Indiern.     Rama   |  v.   Holtzmannj  v.  22  ff. 


Fünfzehntes  Capitel.     A.  Hellen,  u.  altgerm.  Geschlechtskönigthum.  363 

Volkes.10  Er  hat  in  beiden  eine  hohe  Autorität,  aber,  wie 
Tacitus  das  sehr  wahr  bezeichnet,  eher  eine  moralische  Au- 
torität der  Empfehlung  als  eine  rechtliche  des  Gebots.11 

2)  Er  ist  der  oberste  Eicht  er  und  hat  als  solcher  — 
nicht  etwa  das  Urtheil  zu  finden,  wohl  aber  das  Kecht  zu 
schützen  und  zu  handhaben. ,2  Auch  hier  übt  er  keine  will- 
kürliche Gewalt,  weder  in  Form  noch  Inhalt.  Tn  beiden  Be- 
ziehungen wird  er  durch  das  Urtheil  beschränkt  und  bestimmt. 

3)  Er  ist  ferner  Haupt  der  Kriegsordnung  und  in  der 
Kegel  Heerführer. I3  Im  Kriege  erweitert  sich  dann  seine 
Macht.14  Zuweilen  sehen  sich  die  deutschen  Stämme  indessen 
genöthigt,  eben  weil  sie  noch  mehr  als  die  Hellenen  an  dem 
Erbrechte  halten,  statt  unmündiger  Könige  Herzoge  im  be- 
sondern Falle  mit  der  wirklichen  Kriegsführung  zu  betrauen. 
Auch  in  solchen  Fällen  aber  gilt  doch  der  König  als  Ober- 
haupt des  Heerbanns. 

Die  eigentliche  Regierun  gsma cht  dagegen  ist  bei  den 
Hellenen  und  den  Germanen  in  den  ersten  Zeiten  noch  sehr 
unentwickelt.  Der  Keim  derselben  liegt  noch  verhüllt  in  den 
vorhin  genannten  Eigenschaften  des  Königs. 

Diese  Könige  sind  endlich  mit  ihrer  ganzen  Existenz  und 
ihren  Hechten  umschlossen  von  dem  göttlichen  und  dem  mensch- 
lichen Recht.  Die  Griechen  machen  auf  den  Unterschied  zwischen 

lQDießovXy  der  icvaxie g  oder  /inatXse ?,  auch  yEQovreg  um  den  König 
her  bei  den  Hellenen  entspricht  dem  concilium  prineipum,  welches  nach 
Tacitus  den  deutschen  Königen  zur  Seite  steht. 

11  Tacit.  Germ.  II:  „auetoritas  suadendi  potius  quam  jubendi." 

12  Homer  nennt  die  Könige  daher  „dixuanoKovs*  und  &siuioionöXovg 
Ueber  die  deutschen  vgl.  Tacit.  Germ.  9.  J2.  Auch  der  indische  Königs- 
name rag  stammt  von  rag  richten,  wie  rex  von  regere.  Die  Idee  der 
Rechtsordnung  ist  daher  schon  in  dem  alt-arischen  Königsnamen  aus- 
gesprochen. Lassen  Ind.  Alterth.  I.  S.  808.  „Die  Bürde  der  Gerech- 
tigkeit ruht  auf  der  Königswürde."     Rama  17. 

13  Aristotel.  Pol.  III.  9,  7:  vKvqlol  cT  ijouv  rrjg  xe  /.(na  nöXe^xov 
r/yepoviccg."  Bei  manchen  deutschen  Völkerschaften  hat  der  glückliche 
Herzog  eine  königliche  Dynastie  gegründet. 

n  Vgl.  Caesar  de  B.  G.  VI.  23. 


364  Vierte*  Buch.     Die  Statsformen. 

der  orientalischen  Despotie  und  diesem  Königtlmm  aufmerksam, 
und  heben  mit  Nachdruck  hervor,  dasz  das  Wesen  des  letztern 
in  der  Beachtung  der  göttlichen  Ordnung,  der  vaterländischen 
Gesetze  und  Gewohnheiten  bestehe.1'1  Der  König  steht  somit 
nicht  über,  sondern  in  der  Rechtsordnung,  nicht  auszer  dem 
Volke,  sondern  an  der  Spitze  desselben.  Noch  mehr  beschränkt 
durch  das  Recht  des  ganzen  Volkes  und  der  übrigen  Glieder 
desselben  sind  die  deutschen  Könige.16 

Eine  Eigentümlichkeit  des  deutsehen  Königthums  aber, 
wodurch  die  geringe  Macht  desselben  in  gewissen  Kreisen  sehr 
verstärkt  wird,  ist  die  Beziehung  desselben  zu  dem  auser- 
wählten und  eng  verbundenen  Gefolge.  Durch  das  kriegerische 
und  zu  persönlicher  Treue  und  Ergebenheit  eidlich  verpflichtete 
Gefolge  erlangen  die  deutschen  Könige  eine  ihnen  ausschliesslich 

,s  Dioaya  von  Halicarnasa  V.  ?4:  „Urspr&nglioh  hatten  alle  grie- 
chischen Städte  Konige,  aber  Dicht  in  der  despotischen  Art  der  Bar- 
baren, sondern  nach  den  Gesetzen  und  den  vaterländischen  Gewohn- 
heiten.8 Aristo'.  Pol,  in.  :»,  ;  und  III.  10,  I.  Vgl.  Herr  mann  n.  a.  (). 
Sophokles  Oed,  <L  König  \  35  '  tf'.,  wo  der  Chor  auf  das  göttliche  Recht 
hinweiat: 

„Ach  würd'  ich  theilhaft  des   I 

Rein  EU  wahren  fromme  Scheu  hei  jedem    Wort  und  jeder  Handlung. 

Treu  den  Urgesetzen, 

Welche  beschwingt  hoch  in  des  Aethen 

EGmmlischem  Geiste  stammen  ans  dem  Bchoosze 

Des  Va  teri  ol y  mpoa ,  nicht 

Aus  sterblicher  Männer  Erafl 

Geboren;  nimmer  hüllt  sie  die  Zeit,  traun,  in  Vergessenheit; 

Es  belebt  machtvoll  sie  ein   Gott,   der  nie  altert." 
Und  noch  energischer  Antigene   iv.    iMi   zum    König   Kreon: 
„Auch    nie   SO   mächtig  aclift'    ich,   was   ]>u   hcfahht. 

Um  über  angeschriebenes,  festes,  gSt'tliohei 

Gesetz  liinaus  zu  schreiten,  eine  Bterbliche. 

Für  diesem  wollt'  ich  nicht  dereinst,  ans  banger  Beben 

Vor  Menschendünken  mir  der  Götter  Btrafgerioht 

Zuziehen/     Vgl.  Oed.  Col.  v.    L371. 
16  Tacitus,  Germ.  7:  „nee  regibua  infinite  ac  libera  potestis»"  c  11: 
„penes  plebem  arbitrium*     Sie  „walten"    ihrer    Völker,    sie  „herrschen" 
nieht.     Sc  h  m  i  t  thenner,  Statsr.  S.    [Q, 


Sechzehntes  Capitel.     B.   Altrömisches  Volkskönigthum.  365 

dienende  Haus-  und  Kriegsmacht,  als  deren  freie  „Herren" 
sie  gelten,  und  deren  Ehre  darauf  gerichtet  ist,  die  Ehre,  Au- 
torität und  Macht  des  Königs  gegen  seine  Feinde  und  Wider- 
sacher zu  verfechten.  In  dieser  Eigentümlichkeit  liegt  der 
Keim  zu  der  groszen  mittelalterlichen  Schöpfung  der  Lehens- 
verfassung, welche  die  Nationalverfassung  später  vielfach  durch- 
brochen,   überwuchert  und  groszentheils  auch  umgestaltet  hat. 


Sechzehntes    Capitel. 

B.   AUi'ümiselies    Volksköni»tluun. 

In  einigen  Beziehungen  erscheint  das  alte  Königthum  der 
Römer  dem  der  Hellenen  und  Germanen  nahe  verwandt:  in 
andern  aber  unterscheidet  es  sich  von  diesem  so  bedeutend, 
dasz  wir  in  ilim  wohl  eine  neue  Art  der  Alleinherrschaft,  und 
zwar  eine  höhere  Entwicklungsstufe  derselben  erkennen  dürfen. 
Schon  bei  Bestellung  der  römischen  Könige  finden  wir  den 
wichtigen  doppelten  Unterschied,  dasz  die  Rücksicht  auf  das 
Erbrecht  bedeutend  zurücktritt  hinter  das  Element  der  Er- 
nennung oder  Wahl,  und  dasz  nicht  ebenso  der  Volksglaube 
die  römischen  Könige  von  göttlicher  Herkunft  stammen 
läszt,  wie  die  griechischen  und  germanischen. 

Zwar  haben  die  Heroen,  denen  Rom  seine  Gründung  ver- 
dankt, noch  Götterblut  in  ihren  Adern,  und  Romulus  wird 
nach  seinem  Tode  selbst  zu  den  Göttern  erhoben.  Aber  nach 
ihm  äuszern  die  Götter  ihre  Mitwirkung  nur,  wie  in  allen 
andern  wichtigen  Statsangelegenheiten,  durch  die  Zeichen, 
welche  bei  den  Auspicien  beobachtet  werden,  durch  die  un- 
sichtbare Stimmung  der  Seelen  und  durch  die  unabwendbare 
Macht  des  Schicksals.  Der  Charakter  des  römischen  König- 
tums ist  demnach  rein  menschlich  geartet,  obwohl  auch 
in  ihm  die  Verbindung  mit  göttlicher  Einwirkung  auf  das 
Geschick  des  States  noch  festgehalten  wird.    Die  Einsicht  und 


366  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

der  Wille  der  Individuen  wirkt  hier  stärker  ein,  und  die 
Rücksicht  auf  das  Blut  und  die  Familie  tritt  mehr  in  den 
Hintergrund. 1 

Der  römische  König  wird  von  dem  Vorgänger  oder  dem 
Interrex  unter  Mitwirkung  des  Senats  und  mit  Zustimmung 
der  Götter  ernannt  oder  auf  Lebenszeit  gewählt,  nicht  eine 
königliche  Erbdynastie  anerkannt.  Es  kommt  daher  mehr  auf 
die  Individualität  desselben,  als  auf  den  Stamm  an.  Dem 
gewählten  Könige  wird  nach  einem  von  ihm  selber  vorge- 
schlagenen Gesetz  der  Curien  mit  den  Auspicien  von  dem 
Interrex  die  königliche  Gewalt  übertragen, 2  ganz  so  wie  später 
den  Magistraten  der  Eepublik  ihr  imperium.  So  ist  das  römische 
Königthum  von  Anfang  an  auch  eine  individuelle  Ma- 
gistratur. 

Schon  diese  Unterschiede  bedingen  eine  andere  Auffassung 
der  königlichen  Institution.  Ein  anderer  nicht  minder  ge- 
wichtiger liegt  in  der  Art  und  dem  Charakter  der  könig- 
lichen Gewalt  selbst.  In  manchen  Dingen  zwar  sind  die 
Hechte  des  Hex  ähnlich  denen  der  andern  antiken  Könige. 
Auch  er  ist  Opferpriester  für  das  Volk,  auch  er  versammelt 
und  leitet  sowohl  den  Senat,  als  die  verschiedenen  Comitien 
des  Volks.  Eben  so  ist  er  in  der  Regel  der  oberste  Richter, 
ungeachtet  es  von  seinen  Strafen  unter  gewissen  Voraussetz- 
ungen noch  eine  Berufung  an  das  Volk  gibt.  Er  steht  ferner 
von  Rechtes  wegen  an  der  Spitze  der  Kriegsverfassung,  und 
ist  der  natürliche  Heerführer.  Endlich  besitzt  auch  er  Reich- 
thum  an  Gütern  und  Einkünften.  * 

1  Ganz  analog  ist  selbst  das  römische  Erbrecht  in  der  Regel  nicht 
auf  den  Zusammenhang  des  Blutes  und  der  Familie  gegründet,  sondern 
in  erster  Linie  auf  den  individuellen  AVillen  des  Erblassers,  der  seinen 
Nachfolger  frei  ernennt. 

2  Es  ist  das  die  sog.  lex  regia,  welche  zur  Kaiserzeit  erneuert  ward. 
Ulpianus  in  pr.  L.  1.  de  con3tit.  Princip.    Cicero   de  lege  agrar.  II.  11. 

3  Vgl.  Niebuhr,  röm.  Gesch.  I.  (356).  Rubino,  Untersuch,  über 
röm.  Verf.  1.  Abschn.  2. 


Sechzehntes  Capitel.     B.   Altrömisches  Volkskönigthum.        367 

Aber  ungeachtet  der  römische  König  kein  Abkömmling 
der  Götter  und  nur  auf  Lebenszeit  gewählt  ist,  so  ist  seine 
Macht  doch  sehr  viel  intensiver  und  voller  als  die  der  grie- 
chischen Könige.  Darin  offenbart  sich  schon  von  Anfang  an 
der  vorzugsweise  statliche  Sinn  der  Kömer,  dasz  sie  ihre 
obersten  Magistrate  mit  einer  Fülle  von  Macht,  und  insbe- 
sondere mit  der  Gewalt  ausstatten,  für  die  öffentliche  Wohl- 
fahrt energisch  zu  sorgen.  Das  specifisch-rö mische  Imperium 
ist  es  vorzüglich,  was  diesz  Königthum  vor  jenen  andern  In- 
stitutionen so  sehr  auszeichnet. 

Die  äuszere  Erscheinung  des  Königs  ist  nicht  minder  voll 
Glanz  und  Ehre,  als  die  der  andern,  aber  in  ihr  schon  offen- 
bart sich  ihre  gröszere  Macht.  Die  Kuthenbündel  und  Beile, 
welche  die  zwölf  Lictoren  ihnen  vortragen,  sind  nicht  blosze 
Zeichen,  sondern  Werkzeuge  der  strengen  Strafgewalt,  welche 
den  Ungehorsam  an  Leib  und  Leben  heimsucht.  Das  römische 
Imperium  und  die  Beile  der  Lictoren  gehören  im  Leben  und 
in  der  Idee  der  Römer  zusammen.4 

In  Folge  des  höchsten  Imperium,  welches  der  König  von 
Rechtes  wegen  mit  den  Auspicien  überliefert  erhalten  hat,  ist 
er  voraus  berechtigt ,  die  erforderlichen  Statsordnungen  und 
Rechtsgrundsätze  festzustellen.  Man  darf  nicht  vergessen,  dasz 
der  römische  Stat  von  dem  Könige  gegründet  worden  war, 
und  dasz  die  Gewalt  des  ursprünglichen  Gründers  auf  dem 
Wege  der  Tradition  auf  dessen  Nachfolger  überging.  Die 
eigentlichen  Gesetze  bedurften  freilich  der  Zustimmung  des 
Senats,  und  wohl  auch  —  sicher  seit  dem  Könige  Servius 
Tullius, 5  des  Geheiszes   der  Volksversammlung  (populi  jussu), 

*  Cicero  pro  Flacco.  8.:  Opifices  et  tabernarios  atque  illam  omnem 
faecem  civitatum,  quid  est  negotii  concitare  in  eum  praesertim  qui  nuper 
summo  cum  imperio  fuerit ,  sumrao  autem  amore  esse  propter  nomen 
ipsum  imperii  non  potuerit.  Mirandura  vero  est  horniges  eos,  quibus  odio 
sunt nostrae  secures  etc.  34.  „non  Imperium  non  secures. u  Vgl.  Liv.  XXIV.  9. 

5  Tacit.  Ann.  III.  26.  :  „Praecipuus  Servius  Tullius  sanctor  legum 
fuit,  quis  etiam  reges    obtemperarent."    Pomp.  L.    2.  §.   I.  de  Orig.  Jur. 


368  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

aber  für  diese  war  der  Wille  des  Königs  selbst  unentbehrlich 
und  gewöhnlich  auch  maszgebend.  Denn  nur  er  konnte  das 
Gesetz  in  Antrag  bringen,  und  gegen  seinen  Willen  kein  Vor- 
schlag in  Berathung  oder  zur  Abstimmung  kommen. 6  Auszer 
den  Gesetzen  konnte  aber  der  König  unzweifelhaft  durch  sein 
Edict,  ohne  Berathung  und  Zustimmung  irgend  einer  be- 
schränkenden Versammlung,  das  Beeilt  näher  bestimmen, 
welches  er  schützen  und  handhaben  werde.  Machte  er  auch 
selten  davon  Gebrauch,  so  wurde  es  von  jeher  doch  als  ein 
Recht  der  römischen  Magistrate  betrachtet,  das  Gewohnheits- 
recht und  neue  Rechtsansichten  in  solcher  Weise  zur  Aner- 
kennung zu  bringen,  und  in  den  von  ihnen  bestimmten  Formen 
fortzubilden.  Dieses  jus  edicendi  ist  von  den  Königen  auf  die 
Magistrate  der  Republik  übergegangen,  nicht  für  diese  neu 
begründet  worden. 

So  war  auch  die  Autorität  der  römischen  Könige  in  Hand- 
habung der  Rechtspflege  viel  gröszer,  als  die  der  germa- 
nischen Fürsten.  Wie  diese  saszen  auch  jene  öffentlich  und 
anfangs  persönlich  zu  Gericht,  aber  der  Rex  war  nicht  be- 
schränkt durch  das  Urtheil  der  Beisitzer.  Er  leitete  nicht 
blosz  den  Gang  des  Processes,  er  setzte  selber  den  Rechts- 
satz fest  (jus  dicit),  welcher  zur  Anwendung  kommen  sollte. 
Er  urtheilte  wohl  auch  in  der  altern  Zeit  häufig  selbst.  Die 
ganze  Privatrechtspflege  und  die  Strafrechtspflege  gröszern- 
theils  hingen  durchaus  von  ihm  ab.7 

schon  von  Romulus:  „Leges  curiatas  ad  populura  tulit."  Vgl.  Liv.  I.  8. 
Bion.  Hai.  IV.  3G. 

6  Rubino  a.  a.  0.  S.  18  ff.  hat  das  altrömiäche  Statsrecht  in  vielen 
Beziehungen  wieder  zur  Anerkennung  gebracht,  aber  geht  wohl  zu  weit, 
wenn  er  den  Königen  in  älterer  Zeit  für  sich  allein  alle  Gesetzge- 
bungsgewalt zuschreibt.  Der  bescheidenere  Ausdruck  rogare  legem  wird 
zwar  von  den  Königen  nicht  gebraucht,  sondern  die  vornehmeren  Be- 
zeichnungen constituere,  instituere,  dare  jus;  aber  damit  wird  weder  die 
Bedeutung  des  Senates,  noch  die  des  Volkes  verneint. 

7  Cicero  de  Rep.  V.  2.:  „Omnia  conficiebantur  judieiis  regüs.a  11.31. 
Zonaras,  annal.  VII.   13. 


Sechzehntes  Capitel.     B.    Altrömisches  Volkskönigthum.        369 

Wie  ausgedehnt  ferner  war  die  Heeresgewalt  des  rö- 
mischen Königs!  Keine  Schranke  hemmte  im  Felde  das  ab- 
solute Kecht  desselben  über  Leben  und  Tod  aller  Kriegs- 
Pflichtigen  von  den  obersten  Führern  bis  hinab  zu  den  nie- 
drigsten Kriegern.  Noch  aus  den  Zeiten  der  römischen  Re- 
publik,  in  welchen  die  überlieferte  königliche  Gewalt  so  man- 
cherlei Beschränkungen  erlitten  hatte,  kennen  wir  eine  ziem- 
liche Anzahl  von  Beispielen,  in  welchen  nicht  blosz  Dictatoren, 
deren  vollere  Macht  eben  die  alte  ungeschmälerte  königliche 
war,  sondern  auch  Consuln  trotz  den  Bitten  oft  des  ganzen 
Heeres  angesehene  Kriegsobersten  hinrichten,  oder  in  ganzen 
Heeresabtheilungen  je  den   zehnten  Mann  enthaupten  lieszen.8 

Die  übrigen  Statsämter  und  priesterlichen  Wür- 
den leiten  groszentheils  ihr  Dasein  und  ihre  Befugnisse  von 
dem  Könige  ab.  Der  tribunm  Gelerum  als  Anführer  der  Rei- 
terei, der  praefectus  urbi,  welcher  in  der  Stadt  als  Stellver- 
treter der  Könige  waltet,  werden  von  ihm  ernannt.  Die  Au- 
gurn,  die  Pontifices  haben  ihre  Wissenschaft  der  Weis- 
sagung und  des  heiligen  Hechts  von  dem  Könige  empfangen. 9 

In  dem  Imperium  liegt  endlich  als  innerster  Kern  des- 
selben eine  mächtige  Eegierungsge  walt ,  welche  überall, 
wo  das  Bedürfnisz  des  States  und  die  Umstände  es  im  ein- 
zelnen Falle  verlangen,  ein-  und  durchgreift,  und  im  Interesse 
der  öffentlichen  Wohlfahrt  das  Notlüge  gebietet  und  anordnet. 
Diese  Gewalt  —  bei  den  hellenischen  Königen  nur  in  sehr  ge- 
ringem Umfange,  bei  den  germanischen  fast  gar  nicht  bekannt 
—  nimmt  in  dem  römischen  Statsrechte  von  Anfang  an  eine 
wichtige  Stellung  ein,  und  wie  die  Römer  in  ihrer  Familie 
und  als  Eigenthümer  die  absolute  Herrschaft  lieben ,  so  ist 
auch  ihr  statliches  Imperium  absolut.  Ihre  Könige  sind  daher 
nicht  blosz  Richter  im  Frieden,  sie  sind,  wie  schon  der  Name 
zeigt,  ganz  vorzugsweise  Regenten. 

s  Livius  II.  59.  VIII.  7.  IX.  16.     Brisson  de  formuL  p.  455  ff. 
9  Rubin o  a.  a.  0.  S.  114  und  298. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  24 


370  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Nur  so  erklärt  sich,  wie  die  ganze  Politik  des  römischen 
States  in  der  königlichen  Periode  von  dem  individuellen  Willen 
und  der  Thatkraft  der  Könige  bestimmt,  wie  alle  Einricht- 
ungen auf  die  Könige  zurückgeführt  werden.  Nur  von  da  aus 
wird  es  verständlich,  wie  schon  zu  dieser  Zeit  riesenhafte  und 
gemeinnützliche  Bauwerke  in  Korn  von  den  Königen  ange- 
ordnet und  durchgeführt  werden.  Sie  haben  die  Sorge  für  die 
Lebensmittel  und  für  eine  gute  Bewirtschaftung  des  Bodens, 
sie  wachen  über  die  guten  Sitten  der  Bürger  und  üben  die 
polizeiliche  Gewalt  in  ausgedehntem  Masze  aus.  Alle  Gewalt 
überhaupt,  welche  später  unter  die  Consuln,  die  Prätoren,  die 
Censoren,  die  Aedilen  vertheilt  ward,  ist  ursprünglich  in  der 
Einen  Hand  des  römischen  Königs  verbunden. 10 

Mit  Einem  Worte:  Der  römische  Stat  zuerst  führt  die 
Monarchie  in  Form  einer  mensch  lieh- nationalen  Tndi- 
vidualherrschaft  mit  voller  Concentration  aller 
statlichen  Macht  und  mit  einer  Fülle  sogar  abso- 
luter Regierungsgewalt  in  die  Geschichte  ein. 


Siebenzehntes  Capitel. 

C.  Das  römische  Kaiserthum. 

Das  römische  Kaiserthum,  welches  von  C.  Julius  Cä- 
sar eingeleitet  und  vouAugustus  eingeführt  worden  ist,  und 
auf  die  ganze  spätere  Entwicklung  des  mittelalterlichen  und 
modernen  Statsrechts  einen  groszen  Einflusz  geübt  hat,  beruht 
keineswegs  blosz,  wie  das  Neuere  hier  und  da  behauptet,  auf 
einer  Anhäufung  republikanischer  Aemter  und  Würden,  son- 
dern ist  in  der  That  eine  Erneuerung  der  monarchischen  Ge- 
walt, welche    die  Kindheit  des  römischen  States    geleitet  hat, 

10  Rubino   S.  136. 


Siebenzehntes  Capitel.     C.  Römisches  Kaiserthum.  371 

eine  Erneuerung  freilich  in  viel  groszartigeren  Verhältnissen 
und  der  seitherigen  Umbildung  des  States  gemäsz. 

Allerdings  lieszen  sich  die  Kaiser  Gewalten  übertragen, 
welche  vorher  einzelnen  republikanischen  Magistraturen  zuge- 
hört hatten:  die  tribunicische  Gewalt,  in  Folge  welcher 
sie  auf  persönliche  Unverletzlichkeit,  auf  ein  weit  wirkendes 
Eecht  der  Intercession  und  der  Verneinung,  und  auf  die  Idee, 
Schirmer  des  niedern  Volks  und  seiner  Rechte  zu  sein,  einen 
erhöhten  Anspruch  bekamen ;  die  censorische  Gewalt,  welche 
ihnen  die  Aufsicht  über  die  Sitten  und  die  Befugnisz  verlieh, 
die  Listen  des  Senats  und  der  Ritter  nach  ihrem  Ermessen  zu 
bereinigen;  die  Würde  des  pontifex  maximtts,  und  damit  die 
Befugnisz  über  wichtige  Fragen  des  geistlichen  Rechts  zu  ent- 
scheiden. Von  Zeit  zu  Zeit  nahmen  sie  auch  persönlich  die 
Würde  eines  Consuls  an.  Aber  in  der  Hauptsache,  in  Idee 
und  Macht,  bestand  die  Statsveränderung  nicht  in  solcher 
Cumulation  von  Magistraturen,  sondern  in  der  neuen  Begründ- 
ung einer  einheitlichen  Centralmacht,  einer  wahren 
Monarchie.  Republikanische  Formen  verdeckten  einem  Theil 
der  Bevölkerung  anfänglich  den  Uebergang  in  die  Monarchie; 
in  den  Augen  der  Kundigen  aber  war  diese  schon  unter  Au- 
gustus  vollständig  eingeführt.  Das  monarchische  Princip  wurde 
schon  bei  der  Erhebung  des  Kaisers  Tiberius  sehr  scharf  im 
Senate  ausgesprochen:  „Nicht  darum  kann  es  sich  nunmehr 
handeln,  zu  trennen  was  unzertrennlich  verbunden  ist,  sondern 
um  Anerkennung  des  Grundsatzes,  dasz  derStat  Ein  groszer 
Leib  ist,  und  durch  Einen  Geist  regiert  werden  musz.1 

Der  Name  Princeps  (Senatus)  freilich  war  bescheiden, 
die  Macht  des  Kaisers  dagegen  so  unermeszlich ,  dasz  nur 
wenige  Individuen  den  Genusz  derselben  zu  ertragen  vermochten, 
die  meisten  durch  das  Uebermasz  geistig  oder  moralisch  ruinirt 

1  Tacitus  Ann.  I.  12;  I.  1.  von  Augustus:  „  Cunda  discordiis  civili- 
bus  fessa  nomine  Principis  sub  Imperium  accepit."  Vgl.  die  Verhand- 
lungen von  Mäcenas  und  Agrippa  mit  Augustus  bei  Dio  Cassius  52. 

24* 


372  Viertes  Buch.     Die  Statsforinen. 

wurden.  Die  Gewalt  und  die  Würde  war  nicht  erblich, 
dem  Kaiser  nicht  anerboren,  sondern  dieser  wurde  gewählt, 
anfänglich  dem  Scheine  nach  nur  auf  zehn  Jahre,  in  Wahrheit 
aber  auf  Lebenszeit.  Sie  hatte  einen  menschlichen,  nicht  einen 
göttlichen  Ursprung,  und  erkannte  die  Hoheit  des  Volkes  an. 
Durch  ein  Volksgesetz  wurde  ihm  die  Gewalt  von  demVolke 
übertragen.2  Allein  auf  das  Blut  und  die  Familienver- 
bindung wurde  dennoch  bei  der  Anerkennung  der  Kaiser  zwar 
nicht  principiell,  aber  factisch  in  den  meisten  Fällen  Bücksicht 
genommen,  und  der  anerkannte  Kaiser  empfing  jeder  Zeit  die 
kaiserliche  Gewalt,  welche  an  Umfang  der  Gewalt  des  römischen 
Volkes  selbst  zur  Zeit  der  Kepublik  gleichgeachtet  wurde,  zu 
persönlichem,  vollem  Rechte.  Auch  das  Volk  konnte 
dieselbe  später  nicht  mehr  beschränken  noch  entziehen.  Sie 
war  durch  die  Ueberlieferung  gesichert. 

In  ihr  war  —  abgesehen  von  den  obigen  Magistraturen, 
die  regelmäszig  mit  der  kaiserlichen  verbunden  waren,  und 
diese  sehr  verstärkten  —  enthalten: 

1.  Die  Disposition  und  der  Befehl  über  die  gesammte 
Kriegsmacht  des  States,  zu  Rom  über  die  Garde  der  Prä- 
torianer.  Die  Einführung  stehender  Heere,  für  die  spätere 
Grösze  des  Reiches  ein  Bedürfnisz,  sicherte  zugleich  die  Existenz 
des  Kaiserthums,  und  diente  dazu,  demselben  überall  Gehorsam 
zu  erzwingen.  3  In  dieser  Eigenschaft  nahmen  die  Kaiser  den 
Titel  der  „Imperatoren"  an ,  welcher  vordem  eine  andere 
Bedeutung  gehabt  hatte 

2.  Die  unbeschränkte  Regierung  über  eine  Anzahl 
und  gerade   die  wichtigsten   und   reichsten  Provinzen.     Von 

2  Ulpianus  in  L.  1.  pr.  de  constitut.  princip. :  „Quod  principi  placuit, 
legis  habet  vigorem,  utpote ,  cum  lege  regia,  quae  de  imperio  ejus  lata 
est,  populus  ei  et  in  eum  omne  suum  Imperium  et  potestatem  conferat. 
Gaj.  I.  5.   §.  6.  J.  de  jure  nat. 

3  Mäcenas  empfahl  daher  auch  dem  Kaiser  Augustus , eindringlich, 
ein  stehendes  Heer  ^aiQcatoiiag  cc&auäiovg)  zu  bilden,  dagegen  die  Masse 
der  Bevölkerung  den  friedlichen  Gewerben  zu  überlassen.  Dio  Gass.  a.a.O. 


Siebenzehntes  Capitel.     C.   Römisches   Kaiserthum.  373 

daher  zogen  die  Kaiser  unermeszliche  Keichthümer  und  Kräfte 
aller  krt  an  sich.  Im  übrigen  hatten  die  Provinzialen  durch 
die  Statsveränderung  bedeutend  gewonnen.  Ihre  Groszen  wurden 
von  dem  Kaiser  in  den  Senat  berufen  und  mit  Aemtern  be- 
traut, die  Volksniasse  wurde  durch  die  kaiserlichen  Legati 
weniger  bedrückt  und  ausgesogen,  als  früher  durch  die  Pro- 
consuln  und  Proprätoren  der  Republik,  welche  sich  abwechselnd 
in  den  Provinzen  zu  bereichern  pflegten.  Das  dauernde  In- 
teresse der  Kaiser  gebot  theils  gröszere  Schonung  theils  eine 
geregelte  Verwaltung  der  Provinzen. 

3.  Die  Entscheidung  über  die  auswärtige  Politik, 
das  Recht  über  Krieg  und  Frieden,  und  das  Recht  Bündnisse 
abzuschlieszen. 4 

4.  Die  Macht,  den  Senat  zu  versammeln,  Anträge  an 
denselben  zur  Berathung  zu  bringen,  den  Senatsbeschlüssen 
gesetzliche  Geltung  zu  verleihen. 5  Wie  fügsam  der  Senat  sich 
den  Kaisern  gegenüber  erwies,  wie  abhängig  derselbe  auch 
von  diesen  war,  ist  bekannt  genug. 

5.  Die  entscheidende  Stimme  bei  allen  Besetzungen 
der  Magistraturen  und  wichtigeren  Statsämter, 
indem  sowohl  der  Senat,  als  die  —  damals  nur  noch  dem  for- 
mellen Scheine  nach  erhaltene  —  Volksversammlung,  die  von 
dem  Kaiser  empfohlenen  Bewerber  zu  berücksichtigen,  so- 
gar durch  das  Gesetz  verpflichtet  ward. 6 

6.  Die  unbeschränkte  allgemeine  Vollmacht,  alles  zu 

4  Lex  de  Imp.  Vespasiani:  „foedusque  cum  quibus  volet  facere  liceat." 

5  Ebenda:  „utique  ei  senatum  habere,  relationem  facere,  remittere 
senatus  consulta  per  relationem  discessionemque  facere  liceat  —  utique 
cum  exvoluntate  auctoritateve  jussu  mandatuve  ejus  praesente  eo  senatus 
habebitur  omnium  rerum  jus  perinde  habeatur  servetur  ac  si  e  lege  Se- 
natus edictus  esset  habereturque. 

6  Ebenda:  „utique  quos  magistratum  potestatem  imperium  curationem 
cujus  rei  petentes  senatui  populoque  Romano  commendaverit  quibusque 
suffragationem  suam  dederit,  promiserit ,  eorum  comitis  quibusque  extra 
ordinem  ratio  habeatur." 


374  Yiertes  Buch.     Die  Statsformen. 

thun,  was  ihm  zur  Wohlfahrt  und  Ehre  des  States  zweck- 
dienlich erschiene.  Das  ist  der  innerste  Kern  der  Kaiserge- 
walt, die  überall,  wo  das  Statswohl  es  erfordert,  mit  Macht 
eingreift,  und  das  öffentliche  Bedürfnisz  befriedigt.7  Eine 
Folge  dieser  auszerordentlichen  Vollmacht  ist  es,  dasz  die 
kaiserlichen  Edicte  allein  nicht  blosz ,  sondern  sogar  die  De- 
crete  und  Rescripte  die  volle  Autorität  von  Gesetzen  haben, 
dasz  somit  auch  die  gesammte  Gesetzgebungsgewalt  von  dem 
Kaiser  allein  in  weitestem  Umfange   ausgeübt  werden  kann.8 

Damit  aber  jedes  Bedenken  über  die  Anwendung  dieser 
absoluten  Macht  zum  Schweigen  gebracht,  und  jeder  Wider- 
stand gegen  dieselbe  erfolglos  werde,  bestimmt  das  Kaiserge- 
setz ausdrücklich:  dasz  wenn  einer  um  dieses  Gesetzes  willen 
gegen  Volksgesetze,  Plebiscite  oder  Senatsordnungen  handle, 
oder  was  dieselben  vorschreiben,  nicht  befolge,  ihm  das  nicht 
zum  Schaden  gereichen  solle,  und  er  deszhalb  nicht  zu  ge- 
richtlicher Rechenschaft  gezogen  werden  dürfe.  Die  Un Verant- 
wortlichkeit des  Kaisers  verstand  sich  von  selbst;  sie  wurde 
aber  auch  auf  alle  ausgedehnt,  welche  im  Auftrag  und  Dienst 
des  Kaisers  nach  seinem  Willen  handelten,  somit  das  Gegen- 
theil  der  heutigen  Ministerverantwortlichkeit  festgesetzt.9 

In  der  That  war  diese  Kaisermacht  auf  dem  Gebiete  des 
öffentlichen  Rechtes  ganz  ähnlich  wie  das  Eigenthum  des 
römischen  Sachen-  und  die  väterliche  Gewalt  des  Familien- 
rechts.    Sie    war    unbeschränkte    Herrschergewalt, ,0 

7  Ebenda:  „utique  quaecumque  ex  usu  reipublicae  majestate  divinarum 
huma'rum  publicarum  privatarumque  rerura  esse  censebit  ei  agere  facere 
jus  potestasque  sit." 

8  Savigny,  System  des  röm.  Rechts.  I.  S.   121  ff. 

9  Lex  de  Imp.  Vesp.:  „Si  quis  hujusce  legis  ergo  adversus  leges  ro- 
gationes  plebisve  scita  senatusve  consulta  fecit  fecerit  sive  quod  eum  ex 
lege  etc.  facere  oportebit  non  fecerit  hujusve  legis  ergo  id  ei  ne  fraudi 
esto  neve  quit  ob  eam  rem  populo  dare  debeto  neue  cui  de  ea  re  actio 
neve  judicatio  esto  neve  quis  de  ea  re  apud  .  .  agi  sinito." 

,0  Den  Namen  dominus  freilich,  der  im  Gegensatze  an  die  servi  erin- 
nerte, verbaten  sich  die  ersten  Kaiser  noch  als  unwürdig  (Sueton.  Octav. 


Siebenzehntes  Capitel.     C.   Römisches  Kaiserthum.  375 

vor  der  sich  Alles  beugen  muszte.  Sie  war  die  Concentration 
der  römischen  Weltherrschaft,  das  imperium  nrundi  in 
Einem  Individuum.  Das  ideale  Motiv,  welchem  freilich 
die  Kealität  nur  selten  entsprach,  war  die  öffentliche  Wohl- 
fahrt, Salus  publica,  das  grosze  Statsprincip  der  Kömer, 
welches  sie  in  den  Statsangelegenheiten  wenigstens  in  späterer 
Zeit  mehr  anriefen  als  das  Eecht,  Jus,  so  sehr  sie  im  Pri- 
vatrecht gerade  dieses  zu  Ehren  brachten  und  ausbildeten. 

Die  römische  Kaisergeschichte,  wie  sie  diese  absolute 
Statsform  im  groszartigsten  Maszstabe  zur  Erscheinung  gebracht, 
hat  zugleich  der  Nachwelt  die  Warnung  hinterlassen,  dasz  ein 
solches  Uebermasz  von  Macht  weder  zum  Besten  dessen  dient, 
der  sie  besitzt,  noch  der  Nation,  für  welche  sie  geübt  werden  soll. n 

In  der  Zeit  des  untergehenden  und  innerlich  verdorbenen 
Weltreiches  mochte  übrigens  dieselbe  nöthig  und  in  dem  Schick- 
sale hinreichend  begründet  sein.  Die  römische  Aristokratie 
war  theils  entartet,  theils  nicht  stark  genug,  den  unermesz- 
lichen  Statskörper  zu  leiten.  Von  Zeit  zu  Zeit  noch  ohn- 
mächtige Versuche  wagend ,  ihre  frühere  Herrschaft  herzu- 
stellen, ergab  sie  sich  doch  in  der  Eegel  der  zwingenden  Ge- 
walt der  neuen  Verhältnisse. 12  Die  Masse  des  Volkes ,  ohne 
Anspruch  auf  Herrschaft,  der  Waffen  entwöhnt,  den  Werken 
und  Genüssen  des  Friedens  ergeben,  zog  sogar  die  Herrschaft 
des  Einen  Kaisers  dem  Kegimente  des  Senates  vor,  und  freute 

53  :  vdomini  appellationera  ut  maledictum  et  opprobrium  semper  exhor- 
ruit"  Tiber.  27.  Tac.  Ann.  IY.  37.38.).  Spätere  Kriecherei  aber  führte 
den  Titel  dennoch  ein. 

11  Man  vergleiche  nur  die  folgenden  Worte  des  Kaisers  Tiberius, 
welche  ursprünglich  vielleicht  aufrichtig  gemeint  waren,  mit  seinen  Tha- 
ten.  Sueton.  Tiber.  29:  „Dixi  et  nunc  et  saepe  alias,  P.  C,  bonum  et 
salutarera  Principem,  quem  vos  tanta  et  tarn  libera  potestate  exstruxistis, 
senatui  servire  debere  et  universis  civibus  saepe  et  plerumque  etiam 
singulis:  neque  id  dixisse  me  poenitet." 

12  Wie  wenig  damals  die  frühere  republikanische  Verfassung  bei  den 
untern  Volksclassen  zu  Rom  populär  war,  zeigen  die  Vorgänge  bei  der 
Erhebung  des  Kaisers  Claudius. 


376  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

sich  trotz  der  eigenen  politischen  Ohmnacht  über  die  De- 
inüthigung  des  Adels.  Der  alte  Römercharakter,  früher  noch 
als  der  Eömergeist,  war  schwach  und  krank  geworden,  und  es 
büszten  die  Kömer  den  unersättlichen  Trieb  nach  Herrschaft, 
der  sie  von  Eroberung  zu  Eroberung  geführt  hatte,  nun  mit 
der  eigenen  gemeinsamen  Knechtschaft. 


Achtzehntes  Capitel. 

I).  Fränkisches  Königthuin. 

Auf  römischem  Boden  erhob  sich  das  grosze  Reich  der 
deutschen  Franken.  Die  fränkische  Monarchie,  aus  römischen 
und  deutschen  Elementen  gemischt,  bildet  denn  auch  den 
Uebergang  aus  der  antiken  in  die  mittelalterliche  Weltordnung. 
Viel  mächtiger  als  ein  alt-germanischer  König  ist  der  fränki- 
sche König,  doch  weder  so  absolul  noch  so  übermächtig  als 
der  römische  Kaiser.  Die  tdeen  des  germanischen  Rechts 
und  der  germanischen  Freiheit  nahen  sich  gewisser- 
maszen  vermählt  mit  den  Gedanken  der  römischen  Stats- 
hoheit  und  Macht,  and  aus  dieser  Verbindung  ist  die  mo- 
narchische Institution  hervorgegangen,  wie  wir  sie  in  der  Zeit 
Karls  des  Groszen  in  voller  Kraft  entfaltet  sehen, 

Eine  Reihe  von  Gründen  wirkten  zusammen,  um  die  ein- 
heitliche Macht  der  karolingischen  Könige  zu  stärken:  vorerst 
die  merkwürdige  Folge  individuell  ausgezeichnete!  und  glück- 
licher Herrscher,  sodann  die  wachsende  Ausdehnung  eines 
groszen  Reiches,  für  welches  ein  umfassendes  und  starkes  po- 
litisches Regiment  Bedürfnisz  ward,  die  Notwendigkeit  einer 
stets  verfügbaren  groszen  Kriegsmacht,  und  die  Siege,  welche 
durch  sie  erfochten  wurden,  die  Verbindung  mit  des  romani- 
schen Unterthanen,  die  seit  Jahrhunderten  in  der  CMtur  des 
römischen  States  erzogen  und  an  die  Vorstellungen  und  durch- 
greifenden Einrichtungen  des  römischen  States  gewöhnt  waren. 


Achtzehntes  Capitel.     D.  Fränkisches  Königthum.  377 

In  einer  Beziehung  freilich  machte  die  Institution  der 
Monarchie  eher  einen  Rückschritt.  Das  Princip  der  Erblich- 
keit nämlich  der  königlichen  Würde,  neben  welcher  die  frühere 
Kur  zu  einer  ziemlich  bedeutungslosen  Formalität  zusammen- 
schrumpfte, wurde  allzusehr  nach  der  Weise  der  privatrecht- 
lichen Erbfolge  ausgeübt,  und  zum  Nachtheil  des  States  und 
der  Nation  das  Gesammtreich  unter  mehrere  Söhne  des  ver- 
storbenen Königs  so  vertheilt,  wie  die  liegenden  Güter,  die 
ein  Privatmann  hinterlassen  hatte.1  Damit  war  aber  der  poli- 
tische und  st ats rechtliche  Charakter  der  Thronfolge, 
welcher  die  fortdauernde  Einheit  des  States  erhält,  gänzlich 
verkannt,  und  wurde  dem  privatrechtlichen  Princip,  dasz  die 
Herrschaft  im  State  wie  ein  Vermögen  des  Individuums  und 
der  Familie  sei,  d.  h.  dem  sogenannten  Patrimonial  princip 
in  dieser  Hinsicht  gehuldigt.* 

Als  hauptsächliche  Veränderungen  in  den  Machtverhält- 
nissen sind  folgende  zu  erwähnen: 

1.  Gesetzgebung.  Diese  wurde  überhaupt  wichtiger 
und  fruchtbarer  in  dem  fränkischen  Reiche,  als  vordem  in 
dem  engen  Lebenskreise  einer  einzelnen  germanischen  Völ- 
kerschaft ,  und  die  Könige  erlangten  auch  dort  einen  viel 
gröszern  Einflusz  auf  dieselbe ,  als  sie  vormals  gehabt  hatten. 
Der    römische   Grundsatz,   dasz  jede    beliebige    Willens- 

1  Karl  der  örosze  freilich  suchte  diesen  Uebeln  einigermassen  zu  be- 
gegnen durch  das  Reichsgesetz  von  SOG.  „Placuit  inter  praedictos  filios 
nostros  statuere  atque  praecipere,  propter  pacem  quam  inter  eos  perma- 
nere  desideramus,  ut  nullus  eorum  fratris  sui  terminos  vel  regni  limites 
invadere  praesumat  — ;  sed  adjuvet  unusquisque  illorum  fratrem  suum, 
ut  auxüium  Uli  ferat  contra  inimicos  ejus  juxta  rationem  et  possibili- 
titera,  sive  infra  patriam  sive  contra  exteras  nationes."  In  derselben 
wird  auch  der  Wahl  des  Volkes  noch  Erwähnung  gethan,  c.  5.  Vgl. 
Eichhorn,  Deutsche  Stats-  und  Rechtsgesch.  I.  §.  139  u.  159.  Gruizot, 
Essais  sur  l'hist.  de  France.     S.  206  ff. 

2  Demgemäsz  wurde  die  Thronfolge  wie  das  Erbrecht  in  die  „terra 
Salica"  behandelt.  Vgl.  Z  öpfl,  Deutsche  Stats-  u.  Rechtsgesch,  II.  §.33. 
3te  Aufl.  S.  403.     Waitz,  Deutsche  Verf.-Gesch.  II. 


378  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

äuszerung  des  Kaisers  in  Kecktssachen  Gesetzeskraft 
habe,  konnte  natürlich  unter  dem  germanischen  Volke  der 
Franken  weder  Billigung  noch  Geltung  finden;  aber  die  in 
den  meisten  Fällen  maszgebende  Vorbereitung  der  Gesetzes- 
entwürfe wurde  nun  gewöhnlich  in  dem  königlichen  Cabinette 
mit  Hülfe  der  königlichen  Räthe  vorgenommen,  und  die  Ge- 
setze selbst  im  Namen  des  Königs  erlassen,  dessen  Sanction 
erst  den  Entwürfen  Gesetzeskraft  verlieh. 

Von  gröszter  Bedeutung  aber  war  es,  dasz  die  Berath- 
ung,  beziehungsweise  die  Zustimmung  der  auf  den  Reichs- 
tagen versammelten  geistlichen  und  weltlichen  Groszen  der 
Aristokratie  *  in  der  Sitte  und  in  dem  Rechte  als  unent- 
behrlich betrachtet  wurde  für  die  Gesetzgebung.  Die  Billig- 
ung durch  das  Volk  selbst  hatte  dagegen  nur  noch  eine  un- 
tergeordnete Bedeutung,  und  galt  in  den  meisten  Fällen,  ins- 
besondere wenn  es  sich  um  statliche  oder  kirchliche  Organi- 
sation handelte,  nicht  mehr  als  aöthig.  Nur  wenn  das  eigent- 

3  Hincmar  de  online  palat.  29.  von  <lrm  Reichstag  im  Mai:  „In  quo 
placito  gencralitas  universorwn  majorum  tarn  clcricorum  quam  laieorum 
conveniebat.     Seniores.  proptet    consilium  ordinandwn:   minores  propter 

idem  suvcipiendum  et  interdum  pariter  tractandum ,  et  non  ex  potcsrate 
sed  ex  proprio  mentia  intellectu  vel  sententia  confirmandum."     Und  von 

dem  Reichstag  im  Herbst:  „Aliud  placitum,  cum  senioribiw  tantum  et 
praecipuis  consiliariis  habebatur,  in  quo  jam  futüri  anni  Status  fcractari 
ineipiebatur."  Dalier  denn  auch  die  Formeln  in  manchen  Capitularion : 
„per  consütum  Sacerdotura  et  Optimatum  meorum  ordinavimus"  (Gap. 
Karlomanni  a.  742):  „CWn  eonseiMU  Epi8COporum  sive  Comitum  et  Opti- 
matum Francorum"  (Cap.  Pippini  a.  744):  „Hortatu  oinniuiu  fidelium 
nostrorum  et  maxime  Episcoporum  ac  rHiquoruni  Sacerdotum  consultu" 
(Cap.  Caroli  M.  a.  709).  Der  Vergleich  unter  den  Söhnen  Ludwigs  des 
Frommen  vom  Jahre  851  enthält  die  ausdrückliche  Bestimmung  ('.  (i. : 
,,Et  illorum,  scilicet  veraciter  nobis  fidelium,  connnuni  consilio,  secundum 
Dei  voluntatem  et  commune  salvamentum  ad  restitutionem  sanctae  Eccle- 
siae  et  statum  regni,  et  ad  honorem  rcgium  atque  pacem  populi  com- 
missi nobis  pertinenti,  adsensum  praebebimus\  in  hoc  ut  illi  —  sie  sint 
nobis  fideles  et  obedientes,  ac  veri  adjutores  atque  cooperatores,  sicut  per 
rectum  unusquisque  in  suo  ordine  et  statu  suo  Principi  et  suo  Seniori 
esse  debet." 


Achtzehntes  Capitel.     D.  Fränkisches  Königthum.  379 

liehe  Volksrecht  verändert  werden  sollte,  dann  wurde  auch  die 
Gutheiszung  des  Volkes  selbst  noch  erfordert.4 

In  jener  Mitwirkung  der  Optimaten  ist  der  erste  Ansatz 
der  ständischen  Kepräsentation  zu  erkennen,  welche  in 
den  spätem  Jahrhunderten  eine  so  groszartige  Ausbildung  er- 
langt und   den  repräsentativen  Stat  hervorgebracht  hat. 

2.  Ee gierung.  Die  Grösze  des  States  und  die  damalige 
Umgestaltung  der  öffentlichen  Zustände  machten  eine  Regier- 
ungsgewalt,  wie  sie  dem  altern  germanischen  Leben  unbekannt 
gewesen,  zum  unabweisbaren  Volksbedürfnisz.  Der  Idee  für 
die  Handhabung  des  Friedens  und  die  Aufrechthaltung  des 
Kechts  zu  sorgen,  gesellte  sich  die  Rücksicht  auf  die  öffent- 
liche Wohlfahrt  bei.  Indessen  war  den  germanischen  Vor- 
stellungen das  römische  Imperium  ein  zu  fremder  und  uner- 
träglicher Begriff,  als  dasz  derselbe  hätte  adoptirt  werden 
können.  Vielmehr  erhob  sich  die  neue  Regierungsmacht  im 
Geiste  der  einheimischen  Mundschaft  (mundiburdium,  mun- 
dium,  auch  sermo,  verbum  Regis).  Diese  königliche  Mund- 
schaft verhält  sich  auf  dem  Gebiete  des  Statsrechts  zu  dem 
römischen  Imperium  gerade  so ,  wie  die  Vormundschaft  des 
deutschen  Ehemanns  und  Vaters  zu  der  römischen  potestas  im 
Familienrecht.  Sie  ist  nicht  eine  absolute  Herrschergewalt, 
sondern  der  Schutz  der  Rechte  des  Volks  und  der  Unter- 
thanen  und  die  Sorge  für  deren  Wohl  sind  die  Ideen,  welche 
sie  beleben.5  Die  Vorstellung  der  Pflicht  wird  mit  der  des 
Rechts  unauflösbar  verbunden,  und  schrankenlose  Willkür- 
gewalt nicht   gestattet.     Der  neue  Gedanke   ist   freilich  noch 

4  Capitul  Caroli  M.  III.  a.  803.  c.  19:  „ut  populus  interrogetur 
de  capitulis  quae  in  lege  noviter  addita  sunt.  Est  postquam  omnes  con- 
senserint  subscriptiones  et  manufirmationes  suas  in  ipsis  capitulis  faciant." 

5  Du  Gange  s.  v.  mundiburdis  et  mundiburdium.  Vgl.  cap.  Caroli 
M.  a.  802.  c.  40.  Hincmar  de  Ordine  Pal.  6:  „Et  Rex  in  semetipso  no- 
minis  sui  dignitatem  custodire  debet.  Nomen  enim  regis  intellectualiter 
hoc  retinet,  ut  subjeetis  omnibus  rectoris  officium  procuret." 


380  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

nicht  nach  allen  Seiten  klar  geworden,  aber  der  Kern  des- 
selben ist  gesund  und  einer  wahrhaft  statlichen  Entwicklung  fähig. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  darf  und  soll  der  König 
auch  gebieten.  Das  Gebot  äuszerte  sich  in  der  Form  des 
sogenannten  Bannes.  Der  König  hatte  sowohl  den  Heer- 
bann als  den  Gerichtsbann.  In  Folge  des  ersten  verfügte 
er  über  die  ganze  Kriegsmacht  des  Eeiches,  freilich  auch  hier 
durch  das  Herkommen  beschränkt  und  nach  bestimmten  Ver- 
hältnissen der  Kriegsdienstpflicht.  Indessen  riefen  starke  Kö- 
nige, wie  insbesondere  Karl  der  Grosze,  nicht  blosz  das  lehens- 
pflichtige  Gefolge,  sondern  ganze  Abtheilungen  des  Heerbannes 
auch  zu  Angriffskriegen  auf,  und  bedrohten  jeden  Säumigen 
mit  dem  schweren  Königsbann  von  60  Schillingen  Busze. 6 

In  dem  Gerichtswesen,  woran  sich  noch  immer  die  Lan- 
desverwaltung anlehnte,  übt  der  König  den  Gerichtsbann 
aus,  freilich  selten  mehr  in  Person,  in  der  Kegel  durch  die 
Gaugrafen,  deren  Gerichtsbarkeit  aber  von  ihm  abgeleitet 
ward.  Die  erstarkende  Statsordnung  beschränkte  nun  die  früher 
in  viel  weiterem  Umfange  geübte  Selbsthülfe  und  Bache  in 
privatrechtlichen  Streitigkeiten  wie  in  Straffällen,  und  über  das 
ganze  Land  breitete  sich  der  sogenannte  Königsfrieden 
unter  dem  Schutze  des  Königsbannes  aus  und  ersetzte  den 
vormals  leichter  zu  störenden  gemeinen  Frieden. 

Auch  die  Einkünfte  der  königlichen  Kammer  und 
der  Fiscus  des  Königs,  worüber  dieser  nach  eigenem  Er- 
messen frei  verfügte,  hatten  bedeutend  zugenommen.  Die 
Eroberung  römischer  Provinzen  und  die  Aufhebung  der  alten 
König-  und  Herzogthümer  hatten  die  Domänen  der  Könige 
sehr  bereichert.  Ueberall  im  Keiche  gab  es  ansehnliche  kö- 
nigliche Villen,  von  deren  Pfalzen  hinwieder  viele  zinsbare 
Güter  abhingen.     Die  Grund-  and  Kopfsteuern  der  Provincialen 

*  Vgl.  Zöpfl.  D.  St.  u.  R.  G.  II.  §.  36.  Cap.  2.  Caroli  M  a.  812» 
§.  1  :  „Quicumque  homo  über  in  hostem  bannitus  fuerit  et  venisse  con- 
temserit,  plenum  heribannum  i.  e.  GO  solidos  persolvat." 


Achtzehntes  Capitel.     D.  Fränkisches  Königthura.  381 

wurden  beibehalten,  die  römischen  Zölle  theil weise  sogar  aus- 
gedehnt, den  besiegten  Stämmen  Tribute  auferlegt  und  reich- 
lichere Friedensgelder  und  Buszen  erhoben.7 

3.  Ein  von  dem  Könige  abhängiges  Beamtensystem 
diente  nun  dazu,  die  königliche  Macht  nach  allen  Sichtungen 
und  auf  allen  Stufen  der  Statsordnung  auf  Volk  und  Land 
einwirken  zu  lassen.  Die  obersten  Eeichsämter  wurden  nach 
dem  Vorbilde  des  byzantinischen  Kaiserhofes  an  dem  Hofe  des 
Königs  concentrirt.  Dahin  gehören  der  Pfalz  graf  (comes 
palatii),  welcher  an  des  Königs  Statt  das  oberste  Richteramt 
verwaltet,  der  C aplan  (apocrisiarius ,  referendarius),  welcher 
an  der  Spitze  der  Hofgeistlichkeit  steht  und  in  kirchlichen 
Dingen  referirt,  und  der  Kanzler  (cancellarius) ,  welcher  der 
königlichen  Kanzlei  vorsteht  und  daher  auch  die  diplomatische 
Correspondenz  leitet.  Dahin  auch  die  eigentlichen  Hofämter 
des  Kämmerers,  der  den  königlichen  Schmuck,  den  Hof- 
stat der  Königin ,  und  die  Ehrengaben  des  Hofes  besorgt,  des 
Seneschals,  welcher  die  Aufsicht  hat  über  alle  Ministeria- 
len, das  Gesinde  und  die  ganze  Oekonomie  des  Hofes,  des 
Kellners  (buticularius),  welcher  die  Naturalgefälle  bezieht, 
und  auch  für  die  königliche  Tafel  den  Wein  besorgt,  und  des 
Marschais  (marescalcus ,  eigentlich  „Eoszknecht"),  welcher 
die  königlichen  Stallungen  unter  sich  hat,  des  Hausmeisters 
(mansionarius) ,  welcher  dafür  sorgt,  dasz  der  König,  wo  ei- 
sernen wechselnden  Hof  aufschlagen  will,  eine  würdige  Auf- 
nahme und  Wohnung  finde,  der  vier  obersten  Jägermeister 
(venatores  principales)  und  des  Falkners  (falconarius).8 

Die  königlichen  Sendboten  (missi  dominici),  die 
jährlich  mit  besonderer  Vollmacht  nach  der  freien  und  wech- 
selnden Ernennung  des  Königs  die  einzelnen  Länder  des  weiten 
Reichs  bereisten,   waren  hier    seine    Stellvertreter.     Sie  waren 

7Ygl.  Zöpfl  a.a.O.  §.  40.     Waitz,  Deutsche  Verf.-Geschichte  IL 
498  ff. 

8  Vgl.  darüber  Hincmar    IG — 24.  - 


382  Yiertes  Buch.     Die  Statsformen. 

seine  Augen,  durch  deren  Hülfe  er  Einsicht  erlangte  in  die 
öffentlichen  Zustände,  in  den  Stat  und  in  die  Kirche,  seine 
Ohren,  mit  denen  er  die  Beschwerden  und  Wünsche  der  Bevölker- 
ung vernahm,  zuweilen  auch  seine  Arme,  durch  die  er  dem 
Gesetze  Gehorsam  verschaffte  und  der  öffentlichen  Ordnung 
Schutz  verlieh.9 

Die  Gaugrafen,  welche  in  den  Gauen  die  hohe,  und 
die  Zentgrafen,  welche  in  den  Zenten  die  mittlere  Ge- 
richtsbarkeit ausübten,  leiteten  nun  ihre  Eichte  rgewalt  von 
dem  Könige  ab ,  als  dem  obersten  Richter  auf  Erden,  die 
ersten  unmittelbar,  die  letztern  mittelbar,  ebenso  ihre  mili- 
tärische Gewalt:  und  obwohl  allerdings  schon  unter  den 
Nachkommen  Karls  des  Groszen  die  Neigung  zur  Erblichkeit 
der  Grafenämter  theilweise  zu  einem  Rechte  auf  Erblichkeit 
erwachsen  war,  so  galt  in  der  noch  frischen  Periode  der  aus- 
gebildeten fränkischen  Monarchie  die  Würde  der  Grafen  als 
ein  wahres  Reichsamt,  auf  dessen  Besetzung  dem  Könige 
ein  entscheidender  Einflusz  zukam,  noch  nicht  als  eine  feste 
Erbherrschaft. 

Als  das  Institut  der  Sendboten  auszer  Uebung  kam,  die 
Herzogthümer  hergestellt  wurden  und  die  Reichsämter  zu  Fa- 
milienrechten wurden,  da  war  es  auch  um  die  Macht  des  neuen 
romano-germanischen  Königthums  geschehen,  und  die  Aristo- 
kratie der  zahlreichen  Fürsten  und  Herren  trat  an  seine  Stelle. 

4.  Endlich  ist  noch  die  enge  Beziehung  des  fränkischen 
Königthums  sowie  der  weströmischen  Kaiserwürde,  welche 
durch  Carl  den  Groszen  mit  demselben  verbunden  wurde,  zu 
der  Ausbreitung  des  Christenthums  und  zu  der  christ- 
lichen Kirche  als  eine  hervorragende  Eigenschaft  zu  erwähnen. 

Der  Stat  war  ein  christlicher  geworden  und  das  Ko- 
ni gthum   hatte    durch   Priesterhand   die   göttliche*Weihe 

9  Capit.  Caroli  M.  a    802.  I.  et  Tl.  et  a.    StO.     Guizot,   Essais  sur 
l'hist.  de  France,  p.  191  ff. 


Achtzehntes  Capitel.     E.  Die  Lehensmonarchie.  383 

empfangen,  und  war  so  geheiligt  worden.10  Der  König 
fühlte  sich  verpflichtet,  für  die  Erhaltung  und  Ausbreitung  des 
reinen  christlichen  Glaubens  in  seinem  Eeiche  zu  sorgen,  und 
als  Kaiser,  soweit  seine  Macht  reichte,  das  Heidenthum  zu 
vertilgen  und  die  Ketzerei  auszurotten:  eine  Verpflichtung, 
welche  Karl  der  Grosze  in  groszartigem  Umfange  mit  Strenge 
vollzog.11  Die  Christenheit  selbst  galt  als  ein  zusammenge- 
höriger Körper  mit  zwei  Ordnungen ,  der  priester liehen 
und  der  königlichen,  der  kirchlichen  und  der  stat- 
lichen.12  Obwohl  aber  der  König  nur  das  Haupt  der  letztern 
war,  so  handhabte  er  doch  auch  dem  Klerus  gegenüber  die 
einmal  erkannte  christliche  Ordnung.  Er  berief  Synoden,  be- 
aufsichtigte die  Bischöfe  und  die  Klöster,  und  erliesz  eine 
Reihe  von  Gesetzen  und  Verordnungen  von  kirchlichem  Inhalt. 
Ebenso  wirkte  der  Geist  der  Hierarchie  hinwieder  auf  die  Ge- 
staltung der  politischen  Einrichtungen  und  auf  die  Rechts- 
grundsätze der  weltlichen  Ordnung  bedeutend  ein.i;{ 


Neunzehntes  Capitel. 

E.  Die  Lehensmonarohie. 

Die  fränkische  Monarchie  hatte  zwar  in  ihrer  organischen 
Anlage    alle   Bedingungen    einer    wahren  Monarchie    in   sich, 

10  Hinemar  a.  a.  0.  5.  ,,Principes  sacerdotum  Sacra  unetione 
reges  in  regnum  sacrabant." 

11  Schon  bevor  er  die  Kaiserwürde  erhielt,  führte  Karl  der  Grosze 
den  Titel:  „devotus  sanetae  Bei  ecclesiae  defensor  humilisque  adjutor." 

12  Die  angebliche  Aeuszerung  des  Papstes  Gelasius  an  den  Kaiser 
Anastasius:  „Duae  sunt  Imperatrices  augustae ,  quibus  principaliter 
mundus  hie  regitur,  auetoritas  sacrata  Pontificum  et  regalis  potestas"  ist 
auch  in  die  fränkischen  Reichsgesetze  (Cap.  V.  319.)  aufgenommen.  Ygl. 
Hinemar  a.  a.  0.  c.  5. 

13  Ygl.  Eichhorn  a.  a.  O.  §.  158. 


384  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

und  insofern  ist  sie  der  Anfang  einer  neuen,  der  modernen 
Statsentwicklung.  Allein  die  widerstrebenden  Kräfte  und  Lei- 
denschaften waren  damals  in  der  Nation  noch  so  mächtig,  und 
die  alten  einer  jeden  starken  Statsgewalt  abgeneigten  Gewohn- 
heiten des  Adels  und  der  freien  Germanen  noch  so  fest,  dasz 
es  nur  ausnahmsweise  einzelnen  groszen  Kegenten  gelang,  den 
öffentlichen  Charakter  des  neuen  Königthums  und  die  darin 
liegende  Statsmacht  groszartig  zu  entfalten.  Saszen  schwache 
Individuen  auf  dem  Throne,  so  wurde  sofort  die  Ohnmacht 
derselben  spürbar  und  auf  allen  Seiten  zeigten  sieh  die  Ten- 
denzen zur  Auflösung  der  Statseinheit,  zur  Beschränkung  und 
Nichtachtung  der  Centralgewalt ,  zu  selbständig  particularer 
Herrschaft  in  kleinen  Kreisen. 

Die  Abschwächung  und  das  Erlöschen  der  Karolinger  be- 
zeichnet zugleich  die  Verdunkelung  der  königlichen  Macht  und 
das  Wach  stimm  der  in  den  einzelnen  Stämmen,  Ländern  und 
Gebietsteilen  sich  erhebenden  Fürsten-  und  Herrenge- 
walt. An  die  Stelle  der  früheren  roimuio-germanischen  Welt- 
monarchie trat  mm  das  Lehenskönigthum.  In  ihm  er- 
langte der  Charakter  des  Mittelalters  in  Vorzügen  und  .Man- 
geln einen  angemessenen  politischen  Ausdruck. 

Die  hervorragenden  Eigenschaften  der  Feudalmonar- 
chie sind: 

1.  Alles  bisherige  Königthum  beruhte  auf  den  Volks- 
stämmen oder  ganzen  Nationen  oder  einem  zur  Einheit  ver- 
bundenen Volke.  Man  darf  dasselbe  wohl  eine  volksthüm- 
liehe  oder  nationale  Institution  nennen.  Das  feudale 
Königthum  dagegen  steht  zwar  auch  in  Beziehung  zu  einem 
bestimmten  Volke,  an  dessen  Spitze  der  König  ist,  aber  es 
wurzelt,  wenn  man  auf  das  Wesen  sieht,  vornehmlich  auf  der 
engen  persönlichen  Treu  verb  indung  zwischen  dem 
Könige  als  dem  obersten  Lehensherrn  und  seinen  Va- 
sallen, welche  von  ihm  Macht,  Ehre,  Vermögen  ableiten.  Die 
übrige  Masse  des  Volkes,  soweit  sie  nicht  in  den  Lehensnexus 


Neunzehntes  Capitel.     E.  Die  Lehensmonarchie.  335 

steht,  kommt  daher  nur  in  untergeordneter  Weise,  nur  mittel- 
bar in  Betracht.  Dieses  Königtimm  ist  somit  nicht  eine  na- 
tionale Institution  im  eigentlichen  Sinne,  sondern  vielmehr 
eine  eigenthümliche  St  an  des  Institution.  Nicht  das  Yolk, 
sondern  die  Gefolgschaft  ist  die  ursprüngliche  Grundlage 
desselben. 

2.  Die  persönliche  Treue,  von  dem  Glänze  und  der 
Kraft  der  Ehre  beleuchtet  und  gestärkt,  wurde  nunmehr  zu 
dem  wichtigsten  Statsbegriff  erhoben.1  Alle  Vasallen  muszten 
daher  persönlich  dem  Herrn,  indem  sie  das  Lehen  von  ihm  — 
in  der  Kegel  knieend  —  empfingen,  den  Eid  der  Treue  und 
Hui  de2  schwören.  Am  ausgebildetsten  sind,  wie  überhaupt 
das  Lehenssystem,  so  auch  diese  Schwurverhältnisse  in  dem 
Saxo-Normanni sehen  Rechte  des  englischen  König- 
reichs bestimmt.  Die  eigentlichen  Lehensvasallen  schwören 
dem  Könige,  ihrem  Lehensherrn,  knieend  den  Mann  schafts- 
ei d;<  (homagium,  liomage)  und  stehend  auf  das  Evangelium 
den  Treueid   (fidelitas,    foy,   feaute). 4     Bischöfe   und  Aebte 

1  Tacitus  schon  weist  in  der  Schilderung  des  germanischen  Gefolges 
auf  diese  moralischen  Eigenschaften  als  die  Seele  des  Institutes  hin  c.  13 
und  li:  „Magna  et  com i tum  aemulatio,  quibus  primus  apud  prineipem 
suum  locus;  et  prineipum,  cui  plurimi  et  accerrimi  comites.  Haec  dignitas, 
hae  vires,  magno  aemper  electorum  juvenum  globo  circumdari,  in  pace 
decus,  in  hello  praesidium  —  Cum  ventum  in  aciem,  turpe  prineipi 
virtute  vinci ,  turpe  comitatui,  virtutem  prineipis  non  adaequare.  Jam 
vero  infame  in  oninem  vi  tarn  ac  probrosum,  superstitem  prineipi  suo  ex 
acie  recessisse.  Blum  defendere,  tueri,  sua  quoque  fortia  facta  gloriae 
ejus  assignare,  praeeipuum  sacramentum  est.  Principes  pro  victoria 
pugnant,  comites  pro  principe." 

2  Im  französischen  Recht:  „foi  et  homage." 

3  Die  Formel  desselben  zeigt,  dasz  die  Treue  auch  hier  der  Haupt- 
inhalt ist:  „Devenio  liomo  vester  de  tenemento,  quod  de  vobis  teneo  et 
Fidem  vobis  portdbo  de  vita  et  membris  et  terreno  honore  contra  omnes 
gentes."  Bracton.  II.  25.  §.  8.  „Jeo  deveigne  vostre  hörne  —  de  vie  et 
de  membre,  et  de  terrene  honor  et  a  vous  serra  foyalt  et  loyall,  et  foy  ä 
vous  portera  des  tenemens,  que  jeo  claime  de  tener  de  vous."  Ygl.  Du 
Cange  s.  v.  homagium. 

4  Die   Formel   bei   Bracton    a.  a.  0.     „Hoc    audis,    Domine,  quod 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  25 


386  Viertes  Buch.     Die  Statsformon. 

schwören  ausnahmsweise  nur  den  letztern.  Jener  ist  enger  als 
dieser  und  notwendiger  an  den  Lehensbesitz  geknüpft.  Die 
Treue  ist  allgemeiner  und  es  kann  daher  auch  auszerhalb  des 
Lebensverhältnisses  von  den  übrigen  ünterthanen  der  Eid  der 
Treue  gefordert  werden,  wie  das  schon  in  der  Karolingischen 
Zeit  —  freilich  auch  unter  dem  Einflüsse  von  Feudalbegriffen  — 
geschehen  ist.5 

Diese  Treue  ist  gegenseitig.  Auch  der  Herr  ist  dem 
Vasallen  zur  Treue  verpflichtet,  nur  die  Ehrerbietung ,  die 
der  Mann  dem  Herrn  schuldet,  hat  dieser  nicht  ebenso  zu 
erwiedern.6 

fidem  vobis  portabo  de  vita  et  membris,  corpore  et  catallis  (mit  Leib 
und  Gut)  et  terreno  honore,  sie  me  Deus  adjuvet  et  haec  saneta  Dei 
evangelia."  Vgl.  Du  Cange  v.  fidelitas.  Das  longobardische  Lehens- 
reebt  und  ebenso  das  deutsche  unterscheidet  nicht  so  scharf.  Lib.  II 
Feud.  d.  Y.  findet  sich  die  Formel:  „Ego  juro  ad  haec  saneto  dei  evan- 
gelia, quod  a  modo  in  antea  fidelis  huic,  sicut  debet  esse  vasallus  domino, 
nee  id,  quod  mihi  sub  nomine  fidelitatis  commiserit  dominus,  pandam 
alii  ad  ejus  detrimentum,  me  scientc."  Und  tit-  VI.  wird  dem,  der 
Treue  schwört,  eingeschärft,  dasz  er  sechs  Rücksichten  stäts  vor  Augen 
habe:  „incolume,  tutura,  honeshim,  utile,  facile,  possibile."  Eine  deutsche 
Formel  im  sächs.  Lehnr.  Art.  3.  „dat  he  ime  so  trüwe  unde  also 
holt  sie,  alse  durch  recht  die  man  sime  herren  solo,  di  wile  dat  he  sin 
man  wesen  wille  unde  sin  gut  hebben  wille."     Vgl.  Ilomeyerlll.  323. 

5  Capit.  III.  Carol.  M.  a.  812  u.  13:  „Ut  missi  nostri  poputum 
nostrum  iterum  nobis  fidelitatem  promittcre  faciant  seeundum  consuetu- 
dinem  jamdudum  ordinatam."  Eine  Formel  in  den  Capit.  Caroli  Calvi 
a.  854  c.  13:  „Ego  ill.  Carolo  ab  ista  die  inante  fidelis  ero  seeundum 
meum  savirum  (savoir  Wissen),  sicut  Francus  homo  perrectum  esse  debet 
suo  Regi.     Sic  me  Deus  adjuvet  et  istae  Reliquiae." 

6  II.  Feud.  C:  „Dominus  quoque  in  bis  omnibus  vicem  fideli  suo 
reddere  debet;  quod  si  non  fecerit,  merito  censebitur  mnlcfidus."  Auch 
in  England  Rechtsregel:  „Quantum  homo  debet  domino  ex  homagio, 
tantum  illi  debet  dominus  ex  domininio,  praeter  solam  reverentiam." 
Jieeves  hist.  of  Engl.  law.  I.  p.  12(3.  Ässises  de  Jerusalem  Haute 
Cour  322  (Kausler  S.  372) :  „Lassise  et  la  lei  de  Jerusalem  juge  et  dit 
que  autant  doit  li  rois  de  fei  a  3on  home  lige,  come  lome  lige  doit  a  luy,  et 
auis  est  tenus  li  rois  de  guarentir  et  de  sauver  et  de  desfendre  des 
homes  liges  vers  toutes  gens  qui  tort  lor  vorreent  faire  com  ses  homes 
liges  sont  tenus  a   luy  de   guarentir   le   et   de   sauver   vers    toutes    gens. 


Neunzehntes  Capitel.     E.  Die  Lehensmonarchie.  387 

3.  Das  Streben  der  Lehensmonarchie,  alle  Unterthanen  in  ein 
Vasallenverhältnisz  hinein  zu  ziehen,  hat  auch  eine  dingliche 
Beziehung  auf  den  Boden.  In  diesem  Sinne  suchten  die  ersten 
englischen  Könige  von  normannischem  Geschlechte  ein  Ob  er- 
eigen t  hu  m  des  Königs  über  das  ganze  Land  zur  Anerken- 
nung zu  bringen,  in  Folge  dessen  nicht  blosz  die  hergebrachten 
oder  neu  verliehenen  Lehengüter,  sondern  auch  die  freien  Eigen- 
güter in  dem  Rechtssystem  als  von  dem  Könige  abgeleitet 
erklärt  wurden.  Das  Volksrecht  des  freien  Eigenthums  am 
Boden  wurde  so  in  das  Lehensrecht  des  abhängigen  Grund- 
besitzes (tenure)  umgewandelt.7  Das  aber  ist  ein  allge- 
meiner Charakterzug  der  Feudalmonarchie,  welcher  in  der 
englischen  Rechtsgeschichte  besonders  klar  erscheint.8 

4.  Ganz  parallel  dieser  stufenweisen  Ableitung  des  Grund- 
besitzes von  dem  Obereigenthum  des  Königs  geht  in  dem 
Lehenssystem  die  stufenweise  Ableitung  jeder  stat- 
lichen  Gewalt  von  der  königlichen  Gewalt.  Der  König 
selbst  hat  seine  Macht  in  einheitlicher  Fülle  von  Gott  zu  Lehen 
empfangen. 9     Wie  die  Planeten   ihr  Licht  von  der  Sonne  be- 

Et  por  ce  ne  peut  il  mie  mettre  la  main   sur  son  home  lige  sans  esgart 
de  ces  pers." 

7  Wilhelm  I.  führte  erst  den  Treueid  nach  Art  des  Vasalleneides 
ein.  Vgl.  oben  B.  II.  Cap.  12.  Dann  erliesz  er  ein  Gesetz,  durch  wel- 
ches alle  Grafen,  Barone,  Ritter,  Edelknechte  und  alle  Freien  verpflichtet 
wurden,  stäts  (wie  Vasallen)  zum  Kriege  gerüstet  zu  seyn,  mit  Waffen 
und  Pferden,  und  diese  Verpflichtung  wurde  auf  die  „feoda  et  tenemenda"' 
begründet,  welche  sie  haben.  So  ward  die  Fiction  des  Lehenssystems  ein- 
geführt, dasz  der  König  der  ursprüngliche  Herr  und  Eigenthümer  alles 
englischen  Bodens  sei,  und  niemand  Güter  habe,  die  nicht  unmittelbar 
oder  mittelbar  von  ihm  hergeleitet  seien.  Gegen  die  Folgen  dieses  Sy- 
stems wurde  denn  freilich  später  ernste  Einsprache  erhoben.  Vgl.  Black- 
stone Comm.  IL  eh.  4.  Revees  a.  a.  0.  S.  6.  ff. 

8  In  Frankreich  war  das  verwandte  Princip:  „ Nulle  terre  sans 
seigneurs""  bereits  im  13ten  Jahrhundert  entschieden.  Vgl.  Loysel  II, 
2,  i.  Weder  in  Italien  dagegen  noch  in  Deutschland  kam  das 
Lehenssystem  zu  so  ausgedehnter  Verbreitung. 

9  Nach  dem  Sachsenspiegel  I.  1.  ist  es  zunächst  der  Kaiser, 
dem  Gott  das  weltliche  Schwert    verleiht ;    woraus   denn   folgt ,    dasz   die 

25* 


38g  Yiertes  Buch.     Die  Statsformon. 

kommen,  so  erhalten  die  niederen  Herren  sodann  ihre  Herr- 
schaft von  dem  obersten  Lehensherrn,  dem  Könige.10  Sie  er- 
halten die  Gewalt  aber  nicht  etwa  als  blosze  öffentliche  Be- 
amte des  States,  als  Organe  der  Regierung,  sondern  je  für 
ihre  besonderen  und  abgegränzten  Kreise  zu  eigenem  Recht 
und  Genusz,  wie  sie  die  Lehensgfiter  zu  eigener  Verfügung 
und  Fruchtgenusz  empfangen.  Die  Mischung  politischer  Be- 
fugnisse mit  privatrechtlicher  Selbständigkeit,  und 
sogar  die  erbliche  Verbindung  der  verschiedenen  Stufen  der 
Statsgewalt  mit  bestimmten  Familien  und  festem  Grundbesitz 
sind  charakteristische  Eigenschaften  des  Lehenssystems.  Der 
König  kann  daher  weder  sich  weigern,  dem  erbberechtigten 
Vasallen  die  Herrschaft  zu  verleihen,  noch  darf  er  in  die  Sphäre 
der  verliehenen  Herrschaft  eingreifen,  und.  sei  es  bestimmend, 
sei  es  beschränkend,  einwirken.  Jeder  Kreis  der  Gewalt  ist 
in  sich  abgeschlossen  und  Wesentlich  selbständig. 

Die  Einheit  der  Statsgewall  isl  daher  in  dem  Lehensstate 
fast  nur  eine  formelle.  Sobald  es  darauf  ankommt,  durchzu- 
greifen, so  erheben  sich  oft  unflbersteigliche  Schwierigkeiten. 
Die  besondere  Macht  der  groszen  und  kleinen  Vasallen  setzt 
sich  wider  die  allgemeine  Statsmacht,  und  statt  diese  zu  ver- 
mitteln, tritt  sie  ihr  entgegen  und  hemmt  ihre  Wirkungen. 
Das  nationale  Lehen  wird  s«>  gespaltenin  eine Mannichfaltigkeii 
particulärer  Gestaltungen,  die  Eine  Statsmacht  aufgelöst  in 
eine  Vielheit  beschränkter  Herrlichkeiten.    Dem  individuellen 

Könige  ihre  Macht  durcii  die  Vermittlung  des  Kaisers  empfangen.  Diese 
Theorie  kam  indessen  nicht  zu  voller  praotisoher  Geltung;  nnd  die  Könige 
obwohl  sie  die  höhere  Wind.-  des  Kaisers  respectirten,  leiteten  doehihre 
Macht  unmittelbar  von  (J<.it  ah.  Altes  französisches  Rechtsspruch  wort: 
„Le  Roi  ne  tient  que  de  Dieu  et  de  l'£pee.M     Loysel   I.  2. 

10  Sachsenspiegel  III.  58:  »Des  rikes  forsten  ne  solcn  neuen 
leien  to  herren  hebben,  wen  den  koning.  It  n'is  nen  vunlen,  dar  dir 
man  af  möge  des  rike3  vorste  wesen,  he  nc  vn  i  \-;i*i  vo  D  d  ein  e  ko  n  inge.* 
III.  Hj.  §.  r>.  Koninges  bau  ne  mul  niemaii  lien  wren  die  koning  lelre. 
Die  koning  ne  mach  mit  rechto  nicht  weigeren  den  bau  to  liene,  deine 
it  gerichte  gelegen  is. 


Neunzehntes  Capitel.     E.   Die  Lehensmonarchie.  389 

Willen  und  der  individuellen  Neigung,  besonders  der  Magnaten 
des  Landes,  wird  ein  freier  Spielraum  auf  dem  politischen  Ge- 
biete eröffnet,  und  ein  bunter  Keichthum  der  Formen  und  Ein- 
richtungen entfaltet;  aber  der  Zusammenhang  des  Ganzen  ist 
überall  durchbrochen,  und  der  Stat  selbst  gebunden.  Die  Aristo- 
kratie  nur  ist  stark  und  frei,  das  Königthuni  zwar 
an  Ehren  reich,  an  Macht  aber  arm  und  das  Volk  in 
der  naturgemäszen  Entwicklung  seiner  Kräfte  auf  allen 
Seiten  gehemmt.  Je  ferner  die  Volksclassen  von  dem  Centrum 
dieses  States,  von  dem  obersten  Lehensherrn  stehen,  desto 
drückender  wird  für  sie  das  Gewicht  der  in  der  Mitte  lie- 
genden Herrschaftsrechte,  und  desto  lästiger  auch  die  Willkür 
der  kleinen  Herren. 

Die  beiden  Hauptbestandtheile  der  germanischen  obrig- 
keitlichen Gewalt,  der  Heerbann  und  der  Gerichtsbann, 
wurden  so  unter  die  zahlreichen  Herren  und  Vasallen  vertheilt. 
Die  eigentliche  R e  g  i  e  r  u  n  g  s  g  e  w  a  1 1  aber  wurde  in  Vergleich 
mit  den  Grundsätzen  der  fränkischen  Monarchie  wieder  ver- 
mindert und  mehr  als  früher  beschränkt.  Die  ganze  Ver- 
fassung war  wesentlich  eine  aristokratische  geworden,  ob- 
wohl sie  mit  einer  monarchischen  Krone  geschmückt  war.  Die 
französischen  Könige  aus  dem  Cäpetingischen  Geschlechte  ragten 
nur  wenig  über  die  Seigneurs  hervor;11  auch  die  deutschen 
Könige  waren  im  Innern  des  deutschen  Reiches  vielfach  ge- 
lähmt durch  die  Macht  der  Fürsten.  Nur  ausnahmsweise,  wo 
besonders  günstige  oder  drängende  Verhältnisse  eine  Abweich- 
ung veranlaszten ,  konnte  sich  eine  stärkere  Centralmacht  der 
Könige  erhalten ;  wie  in  England  nach  dem  Siege  der  Nor- 
mannen, wo  das  Interesse  der  Sicherheit  den  normannischen 
Adel  nöthigte,   sich   enger  an  den  König   anzuschlieszen,   und 

11  Schon  Hugo  Capet  schrieb  an  den  Erzbischof  von  Sens:  „regali 
potentia  in  nullo  abuti  volentes ,  omnia  negotia  reiinihlicae  in  consulta- 
tione  et  sententia  fidelium  nostrorum  disponimus."  Mirabeau,  Essai  sur 
le  despot.     Oeuvres  IL  S.  390. 


390  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

das  Bedürfnisz  der  neu  begründeten  Dynastie,  sich  zu  erhalten, 
eine  energischere  Entfaltung  der  königlichen  Macht  erforderte. 

5.  Guizot  hat  die  Frage  aufgeworfen,12  woher  es  komme, 
dasz  die  feudale  Statsordnung  nicht  erst  in  den  Zeiten  ihres 
Verfalls,  sondern  selbst  in  der  Periode  ihrer  höchsten  Blüthe 
fortwährend  von  der  Abneigung  des  Volkes  begleitet  worden 
sei.  Den  Hauptgrund  für  diese  Erscheinung  stellt  er  so  dar: 
„Der  Feudalismus  war  eine  Verbündung  kleiner  Herren,  kleiner 
Despoten,  die  unter  sich  ungleich  und  durch  mancherlei  Rechte 
und  Pflichten  verknüpft,  jeder  auf  seinen  eigenen  Gütern  über 
ihre  persönlichen  und  unmittelbaren  Unterthanen  eine  willkür- 
liche und  absolute  Gewalt  besaszen.  —  Von  allen  Tyranneien  aber 
ist  die  die  schlimmste,  welche  ihre  Unterthanen  bequem  über- 
zählt und  von  ihrem  Wohnsitz  aus  die  Gränzen  ihres  Gebiets 
überblickt.  Die  Launen  menschlicher  Willkür  entfalten  sich 
dann  in  unerträglicher  Sonderbarkeit  und  mit  unwidersteh- 
lichem Nachdruck.  Die  Ungleichheit  des  Standes  macht  sich 
dann  auch  in  schroffster  Weise  fühlbar.  Reichthum,  Macht, 
Unabhängigkeit,  alle  Vorzüge  und  Rechte  werden  jeden  Au- 
genblick dem  Elend,  der  Schwäche,  der  Knechtschaft  gegen- 
über gestellt.  —  In  diesem  System  war  der  Despotismus  so 
grosz  als  in  der  reinen  Monarchie,  waren  die  Privilegien  nicht 
geringer  als  in  der  engsten  Aristokratie,  und  beide  stellten 
sich  in  der  beleidigendsten  und  rohesten  Form  dar.  Der  Des- 
potismus war  nicht  gemildert  durch  die  Entfernung  und  die 
Erhabenheit  des  Thrones,  die  Privilegien  waren  nicht  ver- 
schleiert unter  der  Majestät  einer  groszen  Körperschaft.  Beide 
gehörten  einem  Individuum,  das  immer  gegenwärtig  und  immer 
allein,  nur  ein  Nachbar  seiner  Unterthanen  war." 

In  dieser  Schilderung  ist  eine  Wahrheit.  Aber  in  vollem 
Umfang  gilt  sie  doch  nur  von  Frankreich,  nicht  von  allen 
mittelalterlichen  Lehensstaten.    Das  Lehenssystem  War  keines- 

12  Guizot:  „Du  caractere  politique  du  regime  feodal"  in  den  Essais 
sur  l'hist.  de  France.  Y. 


Neunzehntes  Capitel.     E.  Die  Lehensmonarchie.  39 \ 

wegs  überall  verhaszt,  wo  es  bestand,  und  die  Anhänglichkeit 
auch  der  Bauern  an  ihre  Herren  durchaus  nicht  selten.  Auch 
ist  es  nicht  eine  Eigenschaft  dieses  Systems,  dasz  dem  Herrn 
über  seine  Unterthanen  eine  „willkürliche  und  absolute  Gewalt'4 
zustehe,  sondern  wo  dieselbe  behauptet  und  geübt  wurde  — 
und  das  mag  nicht  blosz  in  Frankreich  sehr  häufig,  sondern 
auch  anderwärts  nur  zu  oft  vorgekommen  sein  — ,  geschah  das 
im  Widerspruch  mit  dem  System,  welches  von  oben  bis  unten 
lauter  abgeleitete  und  in  sich  selbständige  Kreise  von  Eechten 
aufstellte.  Auch  die  hörigen  Leute  hatten  ihr  festes  erbliches 
Eecht;  die  Lasten  derselben  durften  nicht  nach  Belieben  des 
Herrn  vermehrt  oder  beschwert,  über  ihre  Person  nicht  anders 
als  nach  dem  Herkommen  und  der  guten  Gewohnheit  der  Höfe 
disponirt  werden.  Das  Ho  fr  echt  in  den  untersten  Kreisen 
war  eben  so  genau  abgegränzt  und  wurde  ganz  analog  ge- 
sch atzt,  wie  das  Lehensrecht  in  den  höhern. 13 

Aber  auch  abgesehen  von  den  zahlreichen  Ueberschrei- 
tungen  der  Herrenrechte,  lag  allerdings  in  der  Nähe  und 
Kleinheit  der  Herrschaften  und  in  der  groszen  Schwie- 
rigkeit, fast  Unmöglichkeit  für  die  Unterthanen,  sich  dem 
nahen  und  jede  freiere  —  nicht  schon  durch  das  Her- 
kommen geheiligte  —  Bewegung  hemmenden  Drucke 
derselben  zu  entziehen,  eine  der  schlimmen  und  ge- 
hässigen Eigenschaften  des  Feudalismus. 

6.  Der  Lehensstat  kann  vorzugsweise  einEechsstat  ge- 
nannt werden.  Das  Statsprincip  der  öffentlichen  Wohlfahrt  ist 
verdunkelt,  die  Abgränzung  der  mancherlei  politischen  Eechte 
aber  genau  bestimmt,  diese  selbst  sind  ähnlich  wie  Privat- 
rechte dem  Willen  des  Berechtigten  und  sogar  dem  gewöhn- 
lichen Eechtsverkehr  des  Kaufes,  Tausches,  der  Vergabung, 
Verehrung  u.  s.  f.  preisgegeben.  Der  Schutz  dieser  Eechte  wird 

13  Das  bezeugen  die  Coutumes  und  Weisthümer  auf  jeder  Seite.  In 
manchen  derselben  werden  sogar  Spuren  eines  bäuerlichen  Trotzes  der 
Hofleute  gegen  den  Grundherrn  sichtbar. 


392  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

groszentkeils  in  Form  des  gerichtlichen  Processes  gehandhabt, 
oder  gar  der  erlaubten  Selbsthülfe  in  den  Fehden  überlassen. 
Auf  der  einen  Seite  eine  starre  festgegliederte  Rechts- 
ordnung, welche  wohl  den  Individuen,  nicht  aber  der 
Gesammtheit,  wohl  den  einzelnen  Corporationen  und  Stiftungen, 
aber  nicht  der  Nation  und  ihren  Kräften  Freiheit  gewährt, 
auf  der  andern  ein  fortgesetzter  innerer  Krieg,  und 
eine  immer  wiederkehrende  Anarchie,  das  sind  die 
beiden  entgegengesetzten  Erscheinungen,  welche  wie  die  beiden 
Gesichter  des  Januskopfs  mit  dem  mittelalterlichen  Lehensstate 
verwachsen  sind. 


Zwanzigstes  Capitel 

1'.    l>ic  neuere  Absolute  Monarchie. 

Aus  dem  mittelalterlichen  Lehenastat  ging  die  moderne 
Repräeentativmonarchie  nicht  anmittelbar  hervor  als  die 
statliche  Ordnung  der  neuen  Zeit.  Im  Kampfe  mit  dem  Le- 
henswesen erstarkte  vorerst  eine  neue  abso  lute  Mo n a r c li i e. 
Die'  sämmtlichen  germano-romanischen  und  die  germanischen 
Völker  Europa's  muszten  erst  das  letztere  Statssystem  wieder 
erfahren,   bevor  es  zu  der  Bildung   der  neuen  Statsfonn  kam. 

Am  frühesten  zeigt  sich  diese  Entwicklung  und  am  hef- 
tigsten tritt  der  Absolutismus  hervor  in  Prankreich  und  in 
Spanien.  Je  stärker  die  germanischen  Elemente  in  der  Nation 
waren,  desto  weniger  konnte  es  den  Königen  gelingen,  eine 
den  germanischen  Rechtsbegriffen  völlig  fremde  und  zuwider- 
laufende absolute  Gewalt  zum  geltenden  Statsprincip  zu  er- 
heben. Dagegen  waren  dieser  die  römischen  Traditionen,  die 
nun  in  Wissenschaft  und  Leben  wieder  wach  wurden,  durch- 
aus günstig. 

Schon  seit  dem  zwölften  Jahrhunderte,  als  noch  die  Seig* 


Zwanzigstes  Capitel.     F.  Die  neuere   absolute  Monarchie.       393 

neurs  des  üppigen  Machtgenusses  sich  erfreuten,  arbeiteten  die 
französischen  Legisten  (so  wurden  die  römischen  Rechts- 
gelehrten genannt)  mit  Kühnheit  und  Einigkeit  daran,  die 
französische  Monarchie  auf  die  alten  Grundlagen  des  römischen 
Kaiserreichs  zurückzuführen.  Sie  gründeten  eine  theoretische 
und  practische  Schule  des  Regiments,  deren  oberster  Grund- 
satz die  Einheit,  die  Untheilbarkeit  und  die  absolute 
Statsgewalt  des  Königthums  war,  welche  sie  unter  dem 
Ausdruck  der  souveränen  Gewalt  zusammenfaszten.  Von 
da  aus  behandelten  sie  die  Herrschaften  und  Gerichtsbar- 
keiten der  Groszen  und  ihrer  Vasallen  wie  Anmaszungen  und 
Miszbräuche,  die  zu  Gunsten  des  Königs  und  des  Volks  auf- 
zuheben, oder  mindestens  so  sehr  als  möglich  zu  beschränken 
seien.  Sie  stellten  die  französischen  Könige  als  Nachfolger 
der  römischen  Imperatoren  dar,  und  indem  sie  die  römische 
Gesetzgebung  als  die  wahre  priesen,  behandelten  sie  die  feu- 
dalen Rechtsgewohnheiten  mit  Geringschätzung. *  Es  dauerte 
freilich  noch  Jahrhunderte,  bis  diese  Theorien  in  die  Praxis 
eindrangen  und  die  Herrschaft  der  Seigneurs  wirklich  gebrochen 
wurde.  Aber  der  innere  Kampf  hörte  nicht  mehr  auf,  bis  der 
ganze  reich  gestaltete  Lehensstat  von  Grund  aus  zusammen- 
stürzte, dann  aber  auch  in  seinen  Sturz  die  inzwischen  mächtig 
gewordene  absolute  Monarchie  mit  verwickelt  wurde. 

Der  Satz  des  römischen  Kaiserrechts :  „Quod  principi  pla- 
mi%  legis  habet  rigor  cm"  wurde  wieder  aus  dem  Alterthum 
hervorgeholt   und   als  nothwendiges   Statsprincip   verkündigt.2 

1  Thierry,  temps  Merowing.  I.  S.  16. 

2  JBeaumanoir  II.  57.:  „  Ce  qui  li  plest  ä  fere,  doit  estre  tenu  por 
ä  loi;  fügt  aber  beschränkend  hinzu:  ,.pourvu  qu'il  ne  soit  pas  fet 
contre  Dieu,  ne  contre  bonnes  meurs,  car  sHl  le  feroit,  ne  le  devroient 
pas  si  souget  soufrir."  Ygl.  Laferriere  in  d.  Revue  critique  de  Legisl. 
par  Woloivslci  IV.  p.  125.  Die  italischen  Glossatoren  haben  ebenso  noch 
eine  gewisse  Scheu  vor  dem  Princip  und  suchen  es  durch  die  Rücksicht 
auf  das  bestehende  göttliche  und  menschliche  Recht  zu  beschränken. 
Sogar  im  Jahre  1688,  noch  unter  Ludwig  XIV.  dem  mächtigen  Lieb- 
haber der  absoluten  Königsgewalt  erklärte  der  für  Statsrecht  angestellte 


394  Yiertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Er  ging  in  das  französische  Bechtssprichwort  über:  „Qui  reut 
Je  roi,  si  veut  Ja  loi.u  War  einmal  das  Becht  der  Gesetz- 
gebung in  dem  Könige  concentrirt,  uud  wurde  dasselbe  diesem 
in  unbeschränkter  Weise  eingeräumt,  so  konnten  von  da  aus 
die  Hemmnisse,  welche  das  Lehenswesen  der  vollen  Entwick- 
lung der  Statsgewalt,  des  nationalen  Geistes  und  der  öffent- 
lichen Wohlfahrt  entgegensetzte,  entfernt  werden.  Die  von  der 
neuen  Eechtsgelehrsamkeit  geleitete  Praxis  der  Gerichte,  be- 
sonders der  königlichen  Parlamente,  half  im  einzelnen  kräftig 
mit,  dieser  Richtung  den  Sieg  zu  bereiten.  Die  öffentliche 
Meinung,  zunächst  in  den  Städten,  in  welchen  die  römische 
Cultur  einen  uralten  Wohnsitz  hatte  und  welche  von  den  Ein- 
flüssen des  Lehensrechtes  freier  geblieben  waren,  war  der  ver- 
änderten Eechtsansicht  günstig.  Sie  haszte  die  kleinen  Herren 
viel  mehr ,  als  sie  den  nationalen  König  fürchtete ;  und  die 
Fortschritte  der  städtischen  Gewerbe  in  Handel  und  Handwerk 
schienen  durch  die  Demüthigung  und  Schwächung  der  Lehens- 
herren nur  gefördert  zu  werden.  Auch  die  Bauern  konnten 
eher  gewinnen  als  verlieren,  wenn  die  Macht  des  Königs  über 
ihre  Bedränger  zunahm. 

Seit  Ludwig  XI.3  (1461—1483)  war  das  Uebergewicht 

Professor  Delaunay  den  Satz  in  nicht  absolutistischem  Sinne:  „que  Ja 
loy  est  la  volonte  du  Roy  et  non  pas  que  la  volonte  du  Roy  soit  loy.tt 
Aber  es  fanden  sich  zu  allen  Zeiten  dienstbare  Parteimänner,  welche 
über  alle  mittelalterlichen  Schranken  des  römischen  Principe  hinweg- 
setzten und  eifrig  für  die  absolute  Gewalt  des   Monarchen  kämpften. 

3  Er  verbot  1463  dem  Herzog  von  Bretagne  den  Ausdruck:  „par 
la  grace  de  Dieu"  für  sich  anzusprechen.  Vor  Karl  VII.  bedienten 
sich  die  Seigneurs  gewöhnlich  dieser  Berufung  in  ihren  Titeln.  Schaffner, 
französ.  Rechtsg.  II.  S.  27^.  (Ursprünglich  hatte  übrigens  der  Ausdruck 
„von  Gottes  Gnaden"  den  demüthigen  Sinn,  an  die  Barmherzigkeit  und 
Gnade  Gottes  zu  erinnern,  von  dem  alle  Hoheit  und  alles  Recht  ausgehe. 
Erst  später  war  derselbe  zur  Bezeichnung  der  souveränen  Unabhängig- 
keit geworden.)  In  dem  durch  die  Schweizer  auf  Anstiften  des  Königs 
vollzogenen  Untergang  des  Herzogs  Karl  des  Kühnen  von  Burgund  wurdo 
nun  das  Haupt  der  hohen  Lehensaristokratie  erschlagen ,  und  damit  war 
der  Sieg  des  Königthums  in  Frankreich  entschieden. 


Zwanzigstes  Capitel.     F.  Die   neuere   absolute  Monarchie.       395 

der  königlichen  Gewalt  über  die  Lehensherrschaft  in  Frank- 
reich, seit  Philipp  IL  (1556 — 1598)  in  Spanien  entschieden. 
In  Frankreich  kamen  freilich  von  Zeit  zu  Zeit  Eeactionen  da- 
gegen vor;  in  Spanien  blieb  der  Absolutismus  sicherer,  und 
hatte  einen  finsterern  und  grausameren  Charakter.  Es  erregt 
ein  Grauen,  wenn  man  sich  daran  erinnert,  dasz  Philipp  IL 
das  ganze  Volk  der  Niederländer,  über  welches  ihm  nur  be- 
schränkte Herrschaftsrechte  zustanden,  als  Verbrecher  zu  ver- 
urtheilen  wagte.  Erst  unter  Ludwig  XIV.  hatte  in  Frank- 
reich die  absolute  Gewalt  des  Königthums  ihren  Höhepunkt 
erstiegen,  von  wo  aus  sie  jählings  dem  Abgrunde  der  Revo- 
lution entgegenstürzte.  Sein  Beispiel  ahmten  dann  die  deut- 
schen Dynastien  nach,  die  groszen  und  die  kleinen.4  Es 
wurde  wieder  erlebt,  dasz  ein  christlich-europäischer  Monarch 
ein  ganzes  Volk,  dessen  Oberhaupt  zu  sein  er  sich  überdem 
nur  angemaszt  hatte,  dasz  Joseph  I.  von  Oesterreich  die 
Bayern  zum  Tode  verurtheilte ,  und  sich  dabei  gar  auf  gött- 
liches Recht  berief.* 

Den  politischen    Grundgedanken    dieses    neuen   Abso- 
lutismus hat  Ludwig  XIV.   mit  einer  staunenswerthen  Nai- 


4  Friedrich  II.  von  Preuszen  im  Antimach.  10:  „II  n'y  a  pas 
jusqu'au  Cadet  du  Cadet  d'une  Ligne  appanagee,  qui  ne  s'imagine  d'etre 
quelque  chose  de  semblable  ä  Louis  XIV.  II  bätit  son  Versailles,  il  a 
ses  maftresses,  il  entretient  ses  armees.  Ils  s'abiment  pour  l'honneur 
de  leur  Maison  et  il  prennent  par  vanite  le  cherain  de  la  misere  et  de 
l'höpital." 

5  Hormayr  Lebensbilder  I.  S. 256.  Patent  Joseph's  I.  von  Oester- 
reich vom  20.  Dec.  1705:  „Alle  Bayern  seyen  der  beleidigten  Majestät 
Josephs  I.  als  des  ihnen  von  Gott  dem  Allmächtigen  vorgesetzten  allei- 
nigen rechtmäszigen  Landesherrn  schuldig,  und  daher  ohne  weiters  mit 
dem  Strange  vom  Leben  zum  Tode  zu  richten!  Nur  aus  aller- 
höchster Clemenz  (?)  und  landesväterlicher  Müdigkeit  (?)  werde  verordnet, 
dasz  allezeit  15  zu  15  um's  Leben  spielen  und  jener,  auf  den  das 
wenigste  Loos  fällt,  im  Angesicht  aller  aufgehenkt  werden  solle."  Man 
traut  seinen  Augen  nicht,  wenn  man  solchen  Wahnsinn  ,  der  sich  selbst 
als  Recht  und  Gnade  verkündet,  noch  im  XVIII.  Jahrhundert,  unmittel» 
bar  vor  dem  Zeitalter  der  -„philosophischen  Aufklärung"  begegnet, 


396  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

vetät  in  dem  bekannten  Satze  ausgesprochen:  „L'etat  eist  moi." 
(„Der  Stat  bin  ich.")  Der  König  betrachtete  sich  nicht  mehr 
als  das  Oberhaupt  des  States,  welches  selber  nur  ein  —  wenn 
anch  das  oberste  und  mächtigste  —  Glied  des  gesammten 
Statskörpers  ist,  sondern  er  iclentificirte  seine  Person  und  den 
Stat  vollständig,  so  dasz  es  auszer  ihm  keine  andern  berech- 
tigten Statsglieder  mehr  gab.  Es  gab  keine  ßtatswohifahrt 
auszer  seiner  persönlichen  Wohlfahrt,  kein  Statsrecht  auszer 
seinem  individuellen  Kecht.  Er  war  Alles  in  Allem,  auszer 
ihm  war  Nichts. 

Diese  völlige  Verwechslung  des  Königthums  mit  dem 
State  —  wohl  zu  unterscheiden  von  der  Personifikation  der 
statlichen  Majestät  in  dem  Könige  —  war  um  so  bedenk- 
licher, als  während  des  XVII.  und  XVIII.  Jahrhunderts,  als 
dieselbe  Mode  geworden,  zugleich  die  Theorie  von  der  Stats- 
allmacht  aufkam.  Während  des  Mittelalters  war  der  Stat 
durch  eine  unendliche  Menge  fesler  und  abgeschlossener  Rechts- 
kreise zerklüftet  und  jeder  durchgreifenden  Macht  beraubt 
worden.  Nun  machte  die  Theorie  den  Sprung  in  das  Gfegen- 
theil,  und  liesz  gar  keine  selbständige,  der  Willkür  und  der 
Einwirkung  des  States  entzogene  Bechtssphäre  mehr  gelten. 
Selbst  das  Privatrecht  wurde  als  ein  Product  des  States  aul- 
gefaszt,  und  dem  Belieben  der  Statsgewali  preisgegeben. 

Die  Stats-  und  Rechtswissenschaft  jener  Zeiten  hat 
an  dem  Schaden,  den  diese  Theorien  gestiftet,  einen  grossen 
Antheil.  Die  einen  billigten  und  unterstützten  die  unnatürliche 
Anmaszung  der  absoluten  Könige  mit  Scheingründen,  die  an- 
dern traten  derselben  nicht  entgegen,  wie  die  Pflicht  gebot. 
Aber  nicht  minder  schwer  haben  sieh  die  damaligen  Theo- 
logen (bald  jesuitische,  bald  hochkirchliche  oder  orthodox- 
lutherische  Hoftheologen)  versündig  ,  welche  die  christliche 
Idee  der  Göttlichkeit  der  obrigkeitlichen  Gewalt  dahin  ent- 
stellten, dasz  sie  in  gewissem  Sinne  die  Könige  als  unmittel- 
bare und   vollkommene  ^Repräsentanten   und  Inhaber   der  gött- 


Zwanzigstes  Capitel.     F.   Die  neuere  absolute  Monarchie.        397 

liehen  Weltregierung  auf  Erden,  als  irdische  Götter  ausgaben. 
Weil  Gott  unumschränkter  Herr  der  Welt  ist,  die  er  ge- 
schaffen hat,  und  die  er  mit  seinem  Geiste  erfüllt  und  erhält, 
so  sollten  die  Könige  auch  unumschränkte  Herren  der  Völker 
sein,  die  sie  nicht  geschaffen  haben,  und  die  sie  nicht  zu  er- 
füllen noch  zu  erhalten  vermögen.  Es  kam,  wie  in  den  Zeiten 
der  römischen  Imperatoren,  wieder  dahin,  dasz  die  Könige  es 
liebten,  sich  auch  mit  der  Gottheit  zu  identificiren.  Man 
weisz  wie  gern  Ludwig  XIV.  den  Jupiter  gespielt  hat,  was 
freilich  in  heidnischer  Form  eher  anging  als  in  christlicher. 

Unmittelbar  neben  dieser  Allmacht  des  Absolutismus,  welche 
nun  durch  die  Theorie  dem  Monarchen  zugesprochen,  und  auch 
in  wichtigen  Beziehungen  practisch  geübt  wurde,  offenbarte 
sich  freilich  von  Zeit  zu  Zeit  die  völlige  Ohnmacht  der 
absoluten  Könige.  Efl  geschah  nicht  selten,  dasz  Fürsten, 
welchen  Schmeichelei  und  knechtischer  Sinn  eine  schrankenlose 
Gewalt  beimaszen,  selber  zu  willenlosen  Dienern  des  Ehrgeizes 
ihrer  Günstlinge  oder  der  Herrschsucht  und  Ausschweifung  ihrer 
Maitressen  erniedrigt  wurden.  Alles  hing  ja  von  der  Persön- 
lichkeit des  Monarchen  ab.  War  er  ein  hervorragendes  Indi- 
viduum ,  welches  die  dilatorische  Gewalt  mit  Energie  und 
Geist  zu  handhaben  verstand,  wie  Ludwig  XIV.  selbst,  bevor 
das  Alter  und  der  Genusz  seine  Kräfte  aufgezehrt  hatten,  so 
mochte  er  wenigstens  den  Schein  der  Allmacht  erhalten.  Auf 
die  Dauer  konnte  aber  selbst  ein  solcher  Mann  nicht  auf 
so   schwindl icher   Höhe    feststehen. 6     War   er    eine    schwache 

6  Lord  Chatliam  (Brougham,  Statsraänner  I.  S.  29)  in  einer  Par- 
lamentsrcde :  „Absolute  Gewalt  richtet  den  zu  Grunde,  der  sie  besitzt, 
und  ich  weisz,  dasz  wo  Gesetzlichkeit  aufhört,  Tyrannei  beginnt."  Gui- 
zot,  Essais  S.  245:  „c'est  le  vice  de  la  monarchie  pure  (?)  d'elever  le 
pouvoir  si  haut  que  la  tete  tourne  ä  celui  qui  le  possede  et  que  ceux 
qui  le  subissent  osent  ä  peine  le  regarder.  Le  souverain  s'y  croit  un 
dieu,  le  peuple  y  tornbe  dans  l'idolätrie.  On  peut  ecrire  alors  les  devoirs 
des  rois  et  les  droits  des  sujets;  on  peut  merae  les  precher  sans  cesse; 
mais  les  situations  ont  plus  de  force    que  les  paroles,    et    quand  l'inega- 


398  Yieites  Buch.     Die  Statsformen. 

Natur  wie  Karl  IL  vou  England,  F  er  d  in  an  d  VII.  von  Spanien, 
oder  Ludwig  XV.  von  Frankreich,  so  schwelgten  andere  in 
der  Willkür,  die  dem  Könige  allein  vorbehalten,  seinen  Händen 
aber  entwunden  war.  Die  Völker  aber  versanken  überall  in 
namenloses  Elend.  Wer  die  Wirkungen  der  Absolutie  in  dem 
civilisirten  Europa  kennen  lernen  will,  der  studire  die  spanischen 
oder  italischen  oder  österreichischen  Geisteszustände  von  1540 
bis  1740. 7 

Uebrigens  standen  dieser  Anmaszuug  auf  dem  alten  Boden 
der  europäischen  Verhältnisse  so  viele  Ueberlieferungen  wider- 
strebender Rechtsansichten  und  so  bedeutende  und  feste  Insti- 
tutionen entgegen,  dasz  es  doch  nirgends  zu  einer  vollständigen 
und  bleibenden  Geltung  eines  Statsprincips  kam,  welches  den 
asiatischen  Despotien  gemäsz,  dem  europäischen  Leben  aber 
fremd  war.  Als  in  England  die  restaurirte  Dynastie  der  Stuarts 
auf  ähnliche  Abwege  gerieth,  und  Jakob  II.  versuchte,  die 
uralten  und  verbrieften  Hechte  des  Parlaments  und  die  neuere 
Gestaltung  der  kirchlichen  Verhältnisse  nach  Willkür  >.u  ver- 
letzen, als  er  das  Beispiel  Ludwigs  XIV.  eigensinnig  nach- 
ahmte, und  selbst  den  gesetzlichen  Widerstand  der  loyalen 
Freunde  des  Thrones  und  der  Verfassung  mit  Verachtung  be- 
handelte, da  büszte  er  die  verwirkte  Herrschaft  ein,  und  die 
Vereinigung  Wilhelms  von  Oranien,  des  gröszten  Statsmannes 
und  Fürsten  dieser  Zeit,  mit  dem  englischen  Volk  hatte  die 
feste  Begründung  des  modernen  Keprasentativsystems 
zur  Folge. 

Die  zweimalige  und  entscheidende  Niederlage  der  ab- 
soluten Monarchie  in  England  hat  zwar  nicht  sofort  den 
Untergang  dieses  Verfassungssvstems  in  Europa  nach  sich  ge- 
llte est  immense,  les  uns  oublient  aisement  leurs  devoirs,  les  autres  leura 
droits." 

7  Laurent,  ßtudes  sur  Thist.  XI.  136.  „Si  la  revolution  avait  bo- 
soin  d'une  justification,  eile  la  trouverais  dans  Tincompatibilite  nidicale 
de  la  monarchie  absolue  avec  le  droit  et  par  suite  avec  les  interÄta  de 
rbumanite." 


Zwanzigstes  Capitel.     F.  Die   neuere  absolute  Monarchie.      399 

zogen.  Aber  die  Zuversicht  in  dasselbe  ward  erschüttert  und 
allmählich  reifte  diese  Statsform  auch  auf  dem  Continent  dem 
sicheren  Untergange  zu.  Ihr  Princip  wurde  von  der  freieren 
Philosophie  des  achtzehnten  Jahrhunderts  verworfen.  Diese 
Philosophie  bestieg  mit  Friedrich  IL  den  Thron  eines  auf- 
strebenden States  und  verkündete  nun  laut  vom  Throne  den 
entgegengesetzten  Satz:  der  König  ist  nicht  der  Eigenthümer 
des  Landes,  noch  der  Herr  des  Volkes,  nicht  der  Stat,  son- 
dern der  „oberste  Diener  des  Stats."  Das  Princip  der 
absoluten  Monarchie  war  schon  von  der  französischen  Revo- 
lution  überwunden.  Dem  Sturme  der  Revolution  vermochte  sie 
nicht  mehr  zu  widerstehen.  Trotz  mancherlei  Schwankungen 
erlag  sie  schlieszlich  in  allen  Staten  des  civilisirten  Europas 
dem  freieren  Volksbewusztsein. 

Nur  in  dem  europäischen  Orient,  in  Ruszland8  hat  die 
absolute  Monarchie  gegenwärtig  nocli  Bestand.  Da  sagt  die 
religiöse  Begründung  der  nationalen  Denkweise  eher  zu  als  im 
Occident,  und  für  das  unermeszliche  Reich,  dessen  Cultur  noch 
zurück  und  unter  Nationen,  deren  Bildung  noch  auf  einer 
tiefen  Stufe  ist,  bedarf  es  einer  gewaltigeren  Centralmacht. 
Die  gröszten  Reformen,  wie  voraus  die  heutige  Befreiung  des 
Bauernstandes  von  der  Leibeigenschaft,  sind  da  noch  kaum 
anders  als  durch  den  allein  entscheidenden  Willen  des  Kaisers 
durchzuführen.  Die  Aristokratie  würde  dieselben  schwerlich 
fördern,  ein  gebildetes  und  freies  Bürgerthum  existirt  nicht 
als  eine  sociale  oder  politische  Macht.  Der  unteren  Masse 
aber  fehlt  es  zwar  nicht  an  der  Fähigkeit,  in  der  Gemeinde 
und  in  Einungen  der  Berufsgenossen    sich  selber    zu   helfen, 

8  Die  in  Ruszland  geltenden  Grundgesetze  nennen  den  „Kaiser  aller 
Reuszen"  einen  „selbstherrlichen  und  absoluten  Souverän,"  und  stützen 
seine  absolute  Macht  ausdrücklich  auf  göttliches  Gebot:  „Gott  selber 
befiehlt,  sich  seiner  höchsten  Autorität  zu  unterwerfen,  nicht  allein  aus 
Furcht  vor  Strafe,  sondern  aus  religiöser  Pflicht."  Die  Gesetzgebung 
gebührt  ausschlieszlich  dem  Kaiser,  der  übrigens  regelmäszig  den  Stats- 
rath  vernimmt.     Foelix,  Revue  Etrangere  III.  S.  700. 


400  Viertes  Buch.     Die  Statsfermen. 

wohl  aber  an  der  Fähigkeit,  an  der  Bestimmung  der  Politik 
und  an  der  Gesetzgebung  einen  erheblichen  Antheil  zu  neh- 
men.    Sie  wirkt  wie  die  Materie  durch  ihre  Schwere. 


Einundzwanzigstes  Capitel. 

Gr.  Die  constitutionelle  Monarchie. 
1.  Die  Entstehung-  und  Verbreitung  der  eonstitutioncllen  Monarchie. 

Die  constitutionelle  Monarchie  ist  zwar  die  Frucht  der 
neuen  Zeit.  Aber  der  Keim,  dessen  Wachsthum  vorhergehen 
muszte,  bevor  diese  Frucht  reifen  konnte,  ist,  wie  Montes- 
quieu richtig  bemerkt  hat,  schon  „in  den  Wäldern  der  ger- 
manischen Yorzeitu  zu  finden.  Der  erste  grosse,  aber  noch 
unreife  Versuch  zu  der  Statenbildung,  welche  wir  nunmehr  als 
die  constitutionelle  bezeichnen,  wurde  in  den  Reichen  gemacht, 
die  auf  römischem  Boden  von  germanischen  Fürsten  gegründet 
wurden,  als  zuerst  römische  Statsideen  sich  mit  germanischen 
Rechten  vermählten. 

Dann  folgte  die  Lehensmonarchie,  und  mit  ihr  die  reiche 
Blüthe  der  germanischen  Aristokratie.  Die  Einheit  des  States 
aber  ging  verloren.  Die  Wohlfahrt  des  Volkes  verkümmerte, 
das  Königüram  war  voller  Glanz  und  Ehre,  aber  ohne  Maclit. 
Und  wieder  erhob  sich  der  nationale  Zug  nach  Einheit,  wieder 
wurde  der  germanische  Lehensstat  durch  römische  Statsprin- 
cipien  beleuchtet  und  befruchtet.  Auch  die  Völker  regten 
sich  wieder;  aber  voraus  langten  die  Fürsten  nach  dem  eiser- 
nen Scepter  der  absoluten  Gewalt.  Die  Kämpfe  der  Stände 
begannen,  unter  einander  und  mit  den  Fürsten.  Als  das  Mittel- 
alter wich,  da  fing  die  moderne  Statsverfassung  an  zu  zeitigen. 
Im  Groszen  ist  sie  das  Ziel  einer  mehr  als  tausendjährigen  Ge- 
schichte, die  Vollendung  des  romano-germanischen 
Statslebens,  d.  h.  der  eigentlichen  europäischen  Stats- 
c  u  1 1  u  r. 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.     401 

I.  Zuerst  kam  diese  Statsform  in  England  zur  Aus- 
bildung. Langsam  reifte  sie  heran  in  der  groszen  Geschichte 
dieses  Inselreiches,  langsam,  aber  in  stäter  und  sicherer 
Entwicklung.  In  keinem  europäischen  Lande  hatte  das  König- 
thum  während  des  Mittelalters  seine  centrale  Macht  so  unver- 
sehrt erhalten  wie  in  England,  in  keinem  aber  auch  wurden 
die  Eechte  und  die  Freiheiten  des  Adels  und  des  Volkes  so 
männlich  verfcheidigfc  und  so  fest  begründet,  wie  dort. 

•  Auch  die  englische  Nation  ist  von  den  erschütternden 
Fiebern  der  Revolution  nicht  verschont  geblieben.  Zwei  grosze 
Revolutionen  drohten  dem  ganzen  englischen  Statsgebäude  den 
Untergang.  Die  erste,  um  die  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts, 
war  der  Versuch  der  Aristokratie,  die  Statsregierung  dem 
Könige  wegzunehmen  und  in  ihre  Gewalt  zu  bringen.  Das  war 
der  Sinn  der  „Provisionen"  von  Oxfort  von  1258,  welche 
dem  besiegten  Könige  Heinrich  III.  von  dem  Grafen  Lei- 
cester  aufgenöthigt  wurden.1  In  der  zweiten  groszen  Revo- 
lution, welche  aus  dem  Kampfe  Karls  I.  mit  dem  langen 
Parlament  in  der  Mitte  des  XVII.  Jahrhunderts  hervorbrach, 
ward  für  einige  Zeit  das  Königthum  sammt  der  Aristokratie 
von  der  fanatisirten  Volkspartei  der  demokratischen  Puri- 
taner beseitigt  (1649). 

Aber  beidemale  dauerte  die  Krankheit  nicht  so  lange, 
dasz  sie  den  Statskörper  auf  die  Dauer  schwächte.  Sie  war 
auch,  obwohl  äuszerlich  in  heftigen  Symptomen  sich  offen- 
barend, innerlich  nicht  so  mächtig,  um  dem  Leben  der  Nation 
eine  fremde  Richtung  zu  geben.  Beidemale  erholte  sich  Eng- 
land rasch  von  der  Erschütterung  und  der  historische  Zu- 
sammenhang mit  der  Vergangenheit  ging  nicht  verloren,  die 
Entwicklung  der  Nation  blieb  eine  organische  und  nor- 
male. Sie  machte  sogar  beidemale  die  entschiedensten  Fort- 
schritte.   Von  der  ersten  aristokratischen  Revolution  datirt  die 

1  Guizot,  Essai  u.  s.  f.  S.  311  ff. 

Bluntschli,    allgemeines  Statsrecht.     I.  26 


402  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Berufung  der  Abgeordneten  der  Städte  zum  Parlament 
(zuerst  1264),  die  Anlage  des  spätem  Unterhauses.  Die 
zweite  fand  ihren  definitiven  Abschlusz  in  der  Begründung  des 
modernen  Königthums  im  Jahr  1689.  Von  da  an  kommt 
die  eigentliche  constitutionelle  Monarchie  als  eine  na- 
tionale Institution  zur  Erscheinung.2 

Die  constitutionelle  Monarchie  nimmt  gewissermaszen  alle 
andern  St ats  formen  in  sich  auf.  Sie  gewährt  die  gröszte 
Mannichfaltigkeit,  ohne  die  Harmonie  und  Einheit  des  Ganzen 

2  Der  grosze  Geschichtsschreiber  der  neuen  englischen  Geschichte 
Macaulay  (Engl.  Gesch.  IL  8.  607)  chavaktorisirt  den  Uebergang  aus 
der  mittelalterlichen  Yorstcllungsweise  in  die  moderne  so:  ,,  Lange  Zeit 
hatte  leider  die  Kirche  die  Nation  gelehrt,  dasz  die  Erbmonarchie  allein 
unter  unsern  Institutionen  göttlich  und  unverletzlich  Bei,  dasz  das  Recht 
des  Hauses  der  Gemeinen  auf  einen  Antheil  an  der  gesetzgebenden  Ge- 
walt ein  blosz  menschliches  Recht  sei,  dasz  aber  das  Hecht  des 
Königs  auf  den  Gehorsam  seines  Volkes  von  oben  stamme;  dasz  die 
Magna  Charta  ein  Gesetz  Bei,  was  von  denen,  die  <•-  gemacht  hatten, 
wieder  aufgehoben  werden  möge,  dasz  aber  die  Regel,  welehe  die  Prin- 
zen von  königlichem  Grehlfit  nach  der  Erbfolgeordnung  zum  Throne  be- 
rufe, himmlischen  Ursprungs  und  dasz  jeder  mit  dieser  Regel  nicht  über- 
einstimmende Act  des  Parlamentes  nichtig  sei.  Es  ist  augenscheinlich, 
dasz  in  einer  Gosoll>ehalt,  in  welcher  Milche  Wahnbegriffe  vorwalten, 
verfassung3mäszige  Freiheit  immer  unsicher  Bein  muss.  Eine  Macht, 
welche  blosz  als  eine  menschliche  Ordnung  betrachtet  wird,  kann 
kein  wirksamer  Zügel  einer  Macht  sein,  die  als  Ordnung  Gottes  be- 
trachtet wird.  Die  Hoffnung  ist  eitel,  dasz  Gesetze,  wie  trefflich  sie 
auch  sein  mögen,  fortwährend  einen  König  Bügeln  werden,  der  nach 
seiner  eigenen  Meinung  und  nach  der  eines  groszen  Theiles  -eines  Volks 
eine  Autorität  von  unendlich  höherer  Natur  hat  als  die  Autorität,  welche 
diesen  Gesetzen  zusteht.  Das  Cönigthum  dieser  geheimniszvollen  Attri- 
bute zu  entkleiden  und  den  Gtrmndsata  testzustellen,  dasz  die  Könige 
nach  einem  in  keiner  Weise  andern  Rechte  regierten,  als  nach 
welchem  Freisassen  die  Ritter  der  Grafschaft  erwählten  oder  Richter 
Habeas  corpus  Befehle  ertheilten,  war  für  die  Sicherheit  unserer  Frei- 
heiten unbedingt  nothwendig.  —  Dieses  Ziel  wurde  erreicht  durch  den 
Beschlusz,  welcher  den  Thron  für  erledigt  erklärte  und  Wilhelm 
und  Marie  einlud,  ihn  einzunehmen."  Eine  gute  und  /.wichen  Radi- 
caliamus  und  Liberalismus  wohl  unterscheidende  Darstellung  gibt  A.  Zim- 
mermann in  seiner  kurzen  historischen  Entwicklung  des  Parlamen- 
tär. Regmrungssystems  in  England.    Berlin   L849. 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung    der   constit.  Monarchie.  403 

zu  opfern.  Sie  gibt  der  Aristokratie  freien  Raum  zurüebung 
ihrer  Kräfte  und  zur  Aeuszerung  ihrer  Gesinnung  auf  natio- 
nalem Felde.  Sie  legt  auch  der  demokratischen  Richtung 
des  Volkslebens  keine  Fesseln  an,  sondern  verstattet  ihr  freie 
Bewegung.  Ja  selbst  einideokratisches  Element  findet  sich 
in  ihr  anerkannt  in  der  Verehrung  der  Gesetze.  Alle  diese 
verschiedenen  Richtungen  sind  aber  durch  die  Monarchie, 
als  das  lebendige  Haupt  der  gesammten  Statsordnung,  in  dem 
rechten  Verhältnisz  gehalten  und  zur  Einheit  verbunden. 

Audi  die  englische  constitutionelle  Monarchie  der  neuern 
Zeit  hat  übrigens  ihre  Entwicklungsstufen.  Schon  der  Zeit  des 
Königs  Wilhelm  von  Oranien  gehören  folgende  Hauptmomente  an : 

1)  Die  principielle  Verwerfung  de>;  absoluten  König- 
tums als  einer  verfassungswidrigen  Anmaszung,  welche  nicht 
zu  dulden  und  gegen  welche  der  Widerstand  berechtigt  sei. 

2)  Die  Anerkennung,  dasz  das  königliche  Recht  ebenso 
ein  menschliches  und  durch  die  verfassungsmäszige 
Ordnung  begrenztes  Recht :{  sei,  wie  das  Recht  der  Lords  und 
und  der  Gemeinen  im  Parlament  und  wie  die  gesetzlichen 
Freiheiten  der  einzelnen  Engländer,  im  Gegensatz  zu  den 
mystischen  Vorstellungen  der  orthodoxen  Theologen,  welche  in 
dem  Königsrechte  etwas  specifisch  göttliches  verehrten,  die  man 
—  abgesehen  von  ihrer  religiösen  Rechtfertigung  —  nicht  mehr 
als  Statsprincip  gelten  liesz. 

3)  Die  urkundliche  Aussprache  und  Sicherung  der  par- 
lamentarischen Rechte  und  der  Volksfreiheiten  in  der  soge- 
nannten Declaration  of  Rigths  von  1689  und  die  Verbindung 
dieser  Erklärung  mit  der  Ordnung  der  Thronfolge,  so  dasz 
das  Königthum  nicht  mehr  losgetrennt  von  jenen  Rechten  und 

3  Akte  vom  Jahre  1701:  „Da  die  Gesetze  von  England  das  Geburts- 
recht des  englischen  Volkes  sind  und  alle  Könige  und  Königinnen,  welche 
den  Thron  dieses  Reiches  besteigen  werden,  die  Regierung  dieses  Reiches 
in  Uebereinstimmung  mit  den  genannten  Gesetzen  zu  verwalten  verpflichtet 
sind  und  alle  ihre  Beamten  und  Minister  ihnen  denselben  Gesetzen  ge- 
mäsz  zu  dienen  schuldig  sind,  so  u.  s.  f." 

26* 


404  Yiertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Freiheiten,    sondern   nur  im  Zusammenhange   damit    zu   den- 
ken war. 

4)  DieUnverantwortlichkeit  der  Könige  wurde  zwar 
als  verfassungsmäszige  Eegel  beibehalten,  aber  durch  den 
vollzogenen  Bruch  der  stuartischen  Legitimität  unverkennbar 
die  Zulässigkeit  der  Ausnahme  behauptet,  wenn  es 
zwischen  dem  Könige  und  der  Nation  zu  einem  unversöhnlichen 
Widerstreite  komme. 

5)  Die  ausgebildete  auch  p  o  1  i  t  i  s  c  h  e  V  e  r  a  n  t  w  o  r  t .  1  i  c  h- 
keit  der  Minister  gegenüber  den  Häusern  des  Parlaments,  so 
dasz  dem  Unterhause  die  Klage,  dem  Oberhaus  das  Gericht  zusteht. 

6)  Die  Mitwirkung  des  Parlaments  an  der  Gesetz- 
gebung. 

7)  SeinRecht  der  Steuerbewilligung  und  seine  Theil- 
nahme  an  der  Ordnung  des  8 tats haushält 8. 

8)  Seine  Controleder  gesammten  Regierungsweise  und 
Staatsverwaltung. 

9)  Die  volle  Unabli  ängigkeit  und  die  ausgedehnte  Be- 
fugnisz  der  richterlichen  Autorität,  gestützt  auf  die  Theilnahme 
der  Geschwornen  aus  dem  Volk. 

10)  Die  Freiheit  der  Presse  und  der  politischen 
Versammlungen  und  die  daherige  Kritik  und  Controle  der 
öffentlichen  Meinung. 

Den  Königen  aus  dem  Hause  Hannover  würfe  es  freilich 
sehr  schwer,  diese  Grundsätze  sammt  ihren  Consequeneen  zu 
verstehen.  Aber  die  Macht  der  Verhältnisse  nöthigte  auch  die 
widerstrebenden  Neigungen  der  Dynastie  und  des  Hofes  zur 
Anerkennung  der  freien  Verfassung.  Don  Einflusz  des  Prinzen 
Albert  von  Koburg  ist  es  vorzüglich  zu  verdanken,  dasz  auch 
die  Gesinnung  der  gegenwärtigen  Königsfamilie  rückhaltslos 
verfassungsmäszig  geworden  ist  und  das  Königthum  bat  an 
Ansehen  und  Macht  nicht  eingebüszt,  seitdem)  es  die  Vorur- 
theileder  dynastischen  Tradition  abgestreift  hat  und  zum  wahren 
Volkskönigthum  geworden  ist. 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.    405 

Der  englische  König  ist  sich  bewuszt,  dasz  er  nicht  seinen 
Eigenwillen,  sondern  den  Statswillen  darstelle  und  vollziehe. 
Daher  haben  die  Minister  und  da  die  englischen  Minister  vor- 
zugsweise in  dem  Vertrauen  des  Parlaments  —  hauptsächlich 
des  Unterhauses  —  ihre  Stärke  finden,  auch  die  Volksvertretung 
einen  gröszeren  Einflusz  auf  die  Kegierung  als  in  den  conti- 
nentalen  Staten.  Insofern  kann  man  das  englische  Königthum 
ein  parlamentarisches  und  republikanisches  nennen. 
Aber  die  Ehrfurcht  vor  der  Monarchie  ist  doch  kaum  in  einem 
andern  Lande  stärker  als  in  England.  So  mächtig  die  aristo- 
kratischen Elemente  und  das  Parlament  in  England  sind,  die 
englische  Verfassungsform  ist  doch  eine  Monarchie  geblieben.4 

IL  Den  zweiten  welthistorischen  Versuch,  die  constitu- 
tionelle  Monarchie  einzuführen,  machte  die  französische 
Nation.     Die  Verfassung   von   1791    sollte  nach  der  Meinung 

4  Schon  Edm.  Burkc  bemerkt  (Aus  seinen  Schriften,  München 
1850):  „Auf  dem  festen  Lande  hat  man  gemeiniglich  von  der  Stellung 
eines  Königs  von  Groszbritannien  einen  irrigen  Begriff.  Er  ist  ein  wirk- 
licher König,  nicht  ein  vollziehender  Beamter.  "Wenn  er  sich  um  Kleinig- 
keiten nicht  bekümmert,  noch  zur  Aufmerksamkeit  auf  geringfügige 
Zänkereien  sich  herabläszt,  so  ist  es  kaum  zweifelhaft,  ob  er  nicht  eine 
wirklichere,  stärkere  und  ausgedehntere  Macht  besitze  als  der  König  von 
Frankreich  vor  der  Revolution  besasz."  Als  Sir  Robert  Peel  in  neuerer 
Zeit  aus  politischen  Gründen  von  der  Königin  Victoria  verlangte,  dasz 
sie  einige  Hofdamen  entferne  und  andere  an  deren  Stelle  treten  lasse, 
drang  die  Zumuthung  allerdings  selbst  in  den  Kreis  des  persönlichen  und 
Familienlebens  der  Königin  ein,  beweist  aber  gerade  für  die  Wichtigkeit 
auch  der  persönlichen  Beziehungen  und  Gesellschaft  der  englischen 
Monarchin  für  die  englische  Politik.  Aber  wahr  ist  es  doch,  dasz  die 
englische  Statsverfassung,  wenn  man  auf  die  entscheidende  Macht  sieht, 
in  neuerer  Zeit  zur  Parlaments-  und  Ministerregierung  geworden 
ist.  Robert  Peel  selbst  sprach  im  Parlament  (Rede  vom  11» Mai  1835) 
die  wichtigen  Sätze  aus:  „Die  Prärogative  der  Krone,  die  Autorität  der 
Lords,  sind  allerdings  der  Constitution  nach  mächtig  genug,  gelegentlich 
die  Eingriffe  des  Hauses  der  Gemeinen  zu  überwachen,  aber  sie  dürfen 
sich  heut  zu  Tage  nicht  auf  diese  als  unübersteigliche  Bollwerke  ver- 
lassen. Die  Regierung  des  Landes  musz  hauptsächlich  mit  dem  guten 
Willen  und  durch  die  unmittelbare  Thätigkeit  des  Hauses  der  Gemeinen 
geführt  werden." 


406  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

ihrer  Urheber  als  ein  vollkommenes  Meisterwerk  aus  dem  mo- 
dernen Statsprincip  unmittelbar  geboren  werden,  mit  logischer 
Notwendigkeit.  Aber  die  Statsprincipien  selbst  der  National- 
versammlung waren  vielmehr  republikanisch-demokratisch,  als 
monarchisch.  Die  Eousseau'sche  Theorie  von  der  Volkssou- 
veränetät  und  den  zwei  Gewalten,  und  das  Vorbild  der  nord- 
amefikanischen  Constitution,  welche  eine  Constitution  eile 
Demokratie  mit  drei  unabhängigen,  aber  durch  die  Einheit 
des  souveränen  Volkes  zusammen  gehaltenen  Gewalten  ins  Da- 
sein gerufen  hatte,  übten  auf  die  Geister  der  Franzosen  einen 
stärkeren  Einflusz  aus  als  die  englische  Verfassung.  Der  Grund- 
charakter der  neuen  Verfassung  von  1701  war  demokratisch. 
Das  Königthum  in  ihr  war  eine  Inconsequenz  des  Systems,  ein 
zurückgebliebener  Rest  der  Vergangenheit,  mit  welcher  die 
Revolution  im  übrigen  von  Grund  aus  gebrochen  hatte. 

Dann  richtete  Napoleon  die  monarchische  Gewalt  wieder 
auf,  indem  er  die  Nation  aus  dem  Schlamme  errettete,  in  den 
sie  versunken  war.  Er  concentrirte  die  gesammte  Statsgewalt 
wieder  in  seiner  starken  Hand.  Aber  um  eine  modern  fran- 
zösische constitutionelle  Monarchie  zu  gründen,  dazu  war  in 
den  ersten  Zeiten  nach  der  Revolution  und  inmitten  des  euro- 
päischen Krieges  das  Bedürfnisz  der  Nation  nach  einer  Dic- 
tatur  zu  stark  und  er  selbst  von  Natur  ein  zu  gewaltiger 
Herrscher.  Einzelne  Anfänge  dazu  freilich  liesz  er  zu.  Er  er- 
kannte in  dem  französischen  Volke  die  Quelle  seiner  Macht  an 
und  eröffnete  allen  Franzosen  die  freie  Bahn  zur  Erhebung 
und  zum  Ansehen.  Er  versuchte  in  dem  Senat  auch  eine  Aristo- 
kratie wieder  zu  schaffen,  welche  nach  seinem  Ausdruck  „die 
Souveränetät  erhält,  während  die  Demokratie  zur  Souverä- 
netät  erhebt." *  Hätte  seine  Dynastie  ruhig  fortregiert,  so 
hätte   sich   vielleicht   mit   der  Zeit  aus  diesen  Anfängen  eine 

5  Las  Cases  Mem.  III.  S.  32.  Vgl.  oben  Buch  II,  Cap.  JJ.  Diebeste 
Zeichnung  des  reinen  Urbildes  des  Napoleonischen  States,  hinter  welchem 
die  Wirklichkeit  freilich  weit  zurückgeblieben  ist,  hat  sein  Neffe  und 
Erbe  im  Jahre  J 83 9  in  der  Schrift  „Idees  Niipoleoniennes"  entworfen. 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarcliie.    407 

nationale  constitutionelle  Monarchie  herausbilden  können.  Aber 
in  den  Zeiten  seiner  Macht  schienen  ihm  die  politischen  Rechte 
der  übrigen  Körperschaften  als  Schranken  seines  absoluten 
Willens  unbequem.  Und  als  er  vom  Throne  stürzte,  wurden 
seine  Institutionen  in  seinen  Euin  verwickelt. 

Die  Charte  Ludwigs  XVIII.  vom  4.  Juni  1814  war  ihrem 
Wesen  nach  ein  Vergleich  zwischen  der  alten  königlichen 
Dynastie,  welche  aus  der  Verbannung  zurückkehrte,  und  dem 
französischen  Volke,  welches  die  Zeiten  der  Revolution  und  der 
Napoleonischen  Herrschaft  durchlebt  hatte,  ein  Vergleich  zwischen 
den  Rechtsansprüchen  des  früher  absoluten  Königthums  und 
den  neuen  politischen  Gewalten,  zwischen  der  Legitimität  und 
dem  Besitzstand  aus  der  Revolution.  In  ihrer  Form  aber  war 
sie  die  freie  Gabe  des  Königs,  ein  Ausflusz  seiner  alleini- 
gen Autorität/1  Auch  abgesehen  von  diesem  Widerspruch 
zwischen  Form  und  Inhalt,  litt  diese  Verfassung  noch  an  an- 
dern Widersprüchen.  Aber  immerhin  war  sie  besser  als  die 
vorausgegangenen  Versuche,  die  constitutionelle  Monarchie  in 
Frankreich  zu  verwirklichen. 

Offenbar  waren  die  Grundformen  der  englischen  Verfas- 
sung nachgebildet,  aber  sie  waren  mit  einem  andern  Geiste 
erfüllt.  Die  Gewalt  war  dem  Könige  von  Frankreich  in 
gröszerem  Masze  zugestanden  als  in  England,  oder  vielmehr, 
da  die  Charte  in  ihrer  Theorie  von  dem  absoluten  Königthum 
ausgeht, 7  minder  beschränkt  worden  als  dort ;  aber  die  Sicher- 
heit des  französischen  Königthums  war  sehr  viel  geringer  als 
in  England,  nicht  blosz  weil  der  Charakter  der  Franzosen  von 
jeher  beweglicher  und  zu  Veränderungen  leichter  erregbar  ist 
als  der  englische,  sondern  weil  die  Revolution  die  französische 


6  Einleitungs worte:  „Nous  avons  volontairement  et  par  le  libre  exer- 
cice  de  notre  autorite  royale  accorde  et  accordons,  fait  concession  et 
octroi  ä  nos  Sujets  —  de  la  Charte  constitutionelle  qui  suit." 

7  Einleitung:  „Bien  que  l'autorite  toute  entiere  residat  en  France 
dans  la  personne  du  Roi," 


408  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Aristokratie  vernichtet,  und  das  ganze  Volk  in  demokratischen 
Begriffen  und  Tendenzen  eingeschult  hatte. 

DiePairie,  welche  nächst  dem  Könige  einen  Antheil  an 
der  Gesetzgebung  erhielt  und  den  obersten  Gerichtshof  über 
schwere  Statsverbrechen  bildete,  sollte  eine  „wahrhaft  nationale 
Einrichtung  sein  und  alle  Erinnerungen  der  Vergangenheit  mit 
allen  Hoffnungen  der  Zukunft,  die  alte  und  die  neue  Zeit 
verbinden."  Aber  in  der  Wirklichkeit  wurden  die  neuen  Gröszen 
der  Napoleonischen  Zeit  zu  sehr  zurückgesetzt  und  die  alte, 
theilweise  verkommene  Aristokratie  zu  freigebig  bedacht,  als 
dasz  diese  erbliche  Pairschaft  als  eine  „wahrhaft  nationale  In- 
stitution" hätte  Anerkennung  finden  und  Bestand  haben  können. 
Dem  englischen  Oberhaus  stand  sie  weit  nach.  Die  Depu- 
tirtenkammer  endlich  sollte  „jene  alten  Versammlungen  des 
März-  und  Maifeldes  sowie  die  Kammer  des  dritten  Standes" 
ersetzen.  Sie  war  aber  auf  rein  plutokratischen  Fundamenten  er- 
richtet, und  ward  vorzüglich  zu  Gunsten  der  Beamten  aus- 
gebeutet. Die  Masse  der  städtischen  Bürgerschaft,  welche  sich 
als  berechtigt  fühlte,  wohlhabend  und  civilisirt  war  und  in  der 
Revolutionsperiode  eine  bedeutende  Rolle  gespielt  hatte,  hatte 
weder  Wahlrechte  noch  Wählbarkeit.  Die  ganze  bäuerliche  Be- 
völkerung, welche  durch  die  Revolution  freies  Eigenthum  ge- 
wonnen und  ebenfalls  politische  Hechte  erworben  hatte,  war 
nicht  minder  ausgeschlossen.  Auf  die  niedern  Volksschichten 
war  keine  Rücksicht  genommen.  Der  Demos  war  somit  gar 
nicht  vertreten,  und  doch  war  er  in  Frankreich  zu  einer  groszen 
politischen  Macht  geworden.  Er  konnte  unmöglich  eine 
Verfassung  lieb  gewinnen  und  sie  stützen,  welche  ihn  überall 
ausschlosz. 

Die  Revolution  hatte  zwei  Richtungen  vorzüglich  verstärkt, 
die  zum  Theil  wider  einander  laufen,  die  der  Centralisation 
und  die  der  demokratischen  Ausbreitung.  Jene  führte, 
zum  Extrem  getrieben,  zur  absoluten  Monarchie  zurück,  diese 
im  Extrem  zu  revolutionärer  Anarchie.  Die  Charte  suchte  sich 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.    409 

der  ersten  ganz  zu  bemächtigen  und  damit  die  letztere  ab- 
zuhalten. s 

Den  ersten  groszen  Stosz  des  demokratischen  Volkes,  welches 
durch  Karl  X,  absolutistisch  und  durch  seine  eigene  Presse 
revolutionär  gereizt  worden  war,  hielt  die  Charte  noch  aus. 
„Die  Charte  soll  eine  Wahrheit  sein"  war  der  Wahlspruch 
Louis  Philipps  und  der  Julirevolution  von  1830.  Indessen 
wurde  die  erbliche  Pairie  aufgehoben,  und  nur  eine  persönliche 
auf  Lebenszeit  dauerte  fort.  Die  Grundlage  der  Deputirten- 
kammer  wurde  um  etwas  erweitert,  aber  noch  behielt  sie  ihren 
plutokratischen  Charakter  bei. 

Da  folgte  im  Februar  1848  der  zweite  Stosz  einer  vul- 
kanischen Gewalt,  die  Niemand  ermessen,  Niemand  in  solcher 
Heftigkeit  erwartet  hatte,  und  die  ganze  Verfassung,  obwohl 
sie  besser  war  als  die,  welche  ihr  folgte,  und  was  sehr  wichtig 
ist,  obwohl  die  erforderlichen  Mittel  der  Verbesserung  in  ihr 
lagen,  wurde  in  einem  Tage  der  Ueberraschung  und  Verblüffung 
der  Mehrheit  von  einer  verwegenen  Minderheit  umgestürzt. 
Nochmals  versuchte  der  Demos  selber  die  Herrschaft  in  Frank- 
reich auszuüben. 

Die  repräsentative  Demokratie  der  ersten  Revolution  wurde 
erneuert.  In  der  Nationalversammlung,  die  durch  leidenschaft- 
liche Parteien  zerklüftet  in  endlosen  Debatten  ihre  Kräfte  er- 
folglos verpuffte,  war  die  oberste  Autorität  und  die  Stellung 
des  Präsidenten  vielfach  gelähmt  und  beschränkt.  Aber  der 
Instinct  des  Volkes  wendete  sich  wiederum  der  Monarchie  zu, 
und  wieder  ward  ein  Napoleon  zum  Ueberwinder  und  Erben 
der  Demokratie,  indem  er  persönlich  die  Gewalt  ergriff  und 
sich  dabei  zugleich  auf  die  Zustimmung  der  groszen  Mehrheit 
aller  Bürger  stützte. 

&  Tocqueville  bezeichnet  die  beiden  Tendenzen  scharf  in  seinem 
Buche  über  die  Demokratie  Amerika's  I,  S.  158:  „La  revolution  s'est 
prononcee  en  meme  temps  contre  la  royaute  et  contre  les  institutions 
provinciales  —  eile  a  ete  tout  ä  la  fois  republicaine  et  centralisante  :  un 
fait,  dont  les  amis  du  pouvoir  absolu  se  sont  empares   avec  grand  soin,^ 


410  Viertes  Buch.      Die  Statsformen. 

Die  Verfassung  des  neuen  Kaiserreichs  vom  IG.  Jenner 
und  2.  December  1852  erinnert  mehr  an  die  römische  als  an 
die  englische  Statsform  ;  wie  denn  überhaupt  die  Napoleon ischen 
Statsideen  einen  entschieden  romanischen  Charakter  haben  und 
daher  auch  den  romanischen  Elementen  im  französischen  Geist 
vorzüglich  einleuchten.  Der  Hoheit  und  Macht  des  franzö- 
sischen Volks  wird  als  der  Quelle  aller  Statsgewalt 
volle  Huldigung  dargebracht,  indem  die  Verfassung  der  Ab- 
stimmung des  Volkes  unterworfen,  von  seinem  Vertrauen  der 
gesetzgebende  Körper  abhängig  gemacht,  und  selbst  die  kaiser- 
liche Gewalt  von  seinem  Willen  abgeleitet  wird.9  Dem  fran- 
zösischen Volk  bleibt  auch  der  Kaiser  verantwortlich.  Die  Zu- 
neigung der  Massen  zu  dem  Grundsatz  demokratischer  Gleich- 
heit wird  in  dem  allgemeinen  Stimmrecht  rücksichtslos  ge- 
achtet, Auf  so  breiter  Unterlage  erhebt  sich  dann  die  kaiser- 
liche Machtfülle  in  dem  Glänze  der  Majestät.  Die  Initiative  der 
Gesetzgebung,  die  ganze  Leitung  der  Politik,  die  Diplomatie, 
die  Armee  sind  in  seiner  Band,  «las  ganze  Beamtenheer  ist  ganz 
von  ihm  abhängig.  Selbst  die  Mitglieder  des  Statsraths  kann 
der  Kaiser  beliebig  entlassen.  Es  gibt  nur  zwei  grosze  poli- 
tische Kräfte  in  dieser  Verfassung:  die  Volksmehrheit  und 
der  Kaiser.  Was  in  der  Mitte  ist  zwischen  beiden,  ist  sehr 
abhängig  und  hat  nur  geringe  Selbständigkeit.  Die  Minister 
sind  nur  dem  Statshaupte  verantwortlich;  der  Antheil  des  ge- 
setzgebenden Körpers  an  der  Gesetzgebung  hat  eher  einen  ne- 
gativen als  einen  positiven  Charakter;  er  kann  ein  schädliches 
oder  ungerechtes  Gesetz  verhindern,  nicht  verbessern.  Er  hat 
keine  Initiative  und  nur  in  den  Commissionen  die  Möglichkeit 
mit  dem  Statsrathe  über  Aenderung  zu  verhandeln.  Der  Senat 
ist  zwar  seiner  Bestimmung  nach  eine  die  Volksfreiheiten  schütz- 
ende und  die  Verfassung  wahrende,  ausnahmsweise  auch  zu 
Reformen  den  Anstosz  gebende,  ihrer  Natur  nach  eme  aristo- 

9  Titel :    ,,par  la    grace    de  Dieu    et  la  volonte   nationale   Empereur 
des  Francaie." 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.    411 

kratische  Macht,  aber  die  Senatoren  sind  durch  die  Wahl 
des  Kaisers  auf  ihre  hohe  Stellung  gerufen  und  durch  die 
französischen  Parteiverhältnisse  wie  durch  ihre  socialen  Be- 
ziehungen an  die  Macht  des  Kaisers,  als  an  ihren  Grund  und 
ihre  Stütze  angewiesen.  Die  Harmonie  der  Massen  und  des 
Kaisers  wird  daher  mit  groszer  Sorgfalt  vor  jeder  Dissonanz 
zu  bewahren  gesucht,  und  daher  auch  der  Opposition  in  den 
Behörden  und  in  der  Presse  nur  ein  sehr  beschränkter  Spiel- 
raum verstattet.  Erst  die  Zukunft  kann  die  Frage  beantworten, 
ob  diese  Verfassung,  mit  welcher  die  Grösze  und  die  Macht 
der  französischen  Nation  sich  in  Europa  wieder  erhoben 
hat,  auch  in  den  Zeiten  des  Friedens  einer  freien  Entwicklung 
fähig  sei,  zu  welcher  die  Keime  in  sie  gelegt  sind,  und  ob 
sie,  wie  sie  den  Massen  vorläufig  genügt,  auch  die  mittleren 
und  höheren  Classen  der  gebildeten  Bevölkerung  dauernd  zu 
versöhnen  vermöge.  Die  neuesten  Schritte  zu  einer  An- 
näherung an  das  constitutionelle  Verfahren  anderer  Staten  sind 
noch  klein  und  unsicher  prüfend,  ob  die  Eisdecke  tragfähig  sei.10 
III.  Komanische  Länder.  Die  Umgestaltungen,  welche 
der  französische  Stat  seit  der  Kevolution  erlebte,  hatten  auch 
auszerhalb  Frankreichs  die  wichtigsten  Veränderungen  zur 
Folge.  Vorerst  in  den  romanischen  Ländern.  Nach  Art  der 
französischen  Kepublik  wurden  in  Italien  ähnliche  Kepubliken 
unter  dem  erobernden  Schutz  der  französischen  Waffeu  ge- 
gründet ;  später  von  Napoleon  neue  abhängige  Monarchien  nach 
dem  Vorbilde  des  französischen  Keiches  in  Italien  und  Spanien 
eingeführt.  Es  schien,  als  ob  die  moderne  Gestaltung  Europa's 
von  Paris  aus  ins  Dasein  gerufen  werden  solle.  Indessen  zog 
auch  hier  der  Untergang  der  Napoleonischen  Weltherrschaft 
den  Fall  dieser  ephemeren  Statenbildung  nach  sich. 

10  In  den  Reveries  politiques  des  Prinzen  Louis  Napoleon,  die  schon 
im  Jahre  1832  geschrieben  wurden,  findet  sich  ein  Entwurf  einer  fran- 
zösischen Verfassung,  welcher  sich  zu  der  gegenwärtigen  Verfassung, 
wie  die  Blüthe  der  Jugendideale  zu  der  reifen  Frucht  des  Mannesalters 
verhält.    Kaiserliches  Decret  vom  19.  Jan.  1867. 


412  Viertes  Buch.     Die  Statsfornien. 

Wichtiger,  wenn  auch  zunächst  wieder  nur  von  momen- 
tanem Erfolge,  waren  für  die  Ausbildung  des  constitutionellen 
Systems  die  beiden  Verfassungen,  welche  im  Jahre  1812  in 
Sicilien  und   in    Spanien  verfaszt   und   nroclamirt  wurden. 

1.  Die  Verfassung  Siciliens  —  vorzüglich  das  Werk  des 
Lord  Bentinck,  eines  englischen  Statsmannes  —  war  ganz 
nach  englischem  Muster  gewissermaßen  zugeschnitten,  so  je- 
doch, dasz  die  Erinnerung  an  die  alten  aristokratischen  Stande 
aus  der  Normannenzeit  benutzt  wurde  und  dasz  die  neueren 
Theorien  von  der  Trennung  der  Gewalten  in  ausgedehnterem 
Masze  als  in  England  Anerkennung  fanden.  Die  gesetzgebende 
Gewalt  wurde  zunächst  dem  Parlamente  zugeschrieben,  unter 
diesem  aber  nicht  mehr,  wie  in  dem  englischen  Statsrechte, 
König,  Ober-  und  Unterhaus  in  ihrer  Vereinigung,  sondern  nur 
die  beiden  Kammern  verstanden.  Von  diesem  Begriffe  aus  ist 
es  denn  freilich  auffallend,  dasz  die  Beschlösse  des  Parlaments 
der  »Bestätigung  des  Königs,"  als  einer  ausser  ihm  stehen- 
den (lewalt  bedürfen.11  Die  Pairskammer  besteht  aus  den 
Baronen  und  den  Prälaten  Siciliens.  Die  weltlichen  Pairs 
haben  ein  erbliches  Recht  auf  die  Pairie.  Per  König  kann 
aber  neue  Pairs  aus  den  Edelleuten  ernennen,  welche  ein  reines 
Einkommen  von  6000  Unzen  genieszen.  Das  Unterhaus  besteht 
aus  gewählten  Volksvertretern,  ßtimmrechl  und  Wählbarkeit 
erfordern  einen  nicht  hohen  CenSUS. 

Die  vollziehende  Gewalt  wird  dem  Könige  zuge- 
schrieben, seine  Minister  und  geheimen  Käthe  aber  dem  Par- 
lamente für  die  Ausübung  dieser  Gewalt  verantwortlich  erklärt. 

In  allen  wichtigen  Angelegenheiten  ist  der  König  verpflichtet, 
das  Gutachten  seines  geheimen  Rathes  einzuholen;  in  manchen 
Fällen,  z.  B.  wenn   er   Truppen   nach   Sicilien   bringen    oder 

Ausländern  Militärstellen  geben,  oder  neue  Aemter    errichten. 

11  Artikel  1,  2  und  I  i.  Die  Verfassung  i^t  in  deutsolier  Ueberietisng 

abgedruckt  in  dem  Portlolio  von    1848. 


Einimdzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  co-nstit.  Monarchie.    413 

oder  für  den  Stat  geleistete  Dienste  Pensionen  bewilligen  will, 
bedarf  er  sogar  der  Zustimmung  des  Parlaments. 

Die  richterliche  Gewalt  wird  zwar  „im  Namen  des 
Königs  verwaltet,"  aber  als  Kecht  „einzig  und  allein  den 
vom  Gesetze  bestimmten  Beamten"  zugesprochen.  Den  ein- 
zelnen Sicilianern  wird  ein  ausgedehntes  Kecht  des  "Widerstan- 
des gegen  jeden  vom  Gesetz  nicht  autorisirten  Zwang  zuerkannt, 
die  Censur  als  Regel  — mit  Ausnahme  theologischer  Schriften  — 
aufgehoben,  die  Feudalrechte  beseitigt  u.  s.  f. 

Man  sieht,  diese  Verfassung  war  eine  Nachbildung  der 
englischen  Formen,  mit  Beimischung  der  Theorien,  welche  in 
der  französischen  Verfassung  von  1 7 '. M  verkündet  worden  waren. 
Auch  in  ihr  war  «las  republikanische  Element  überwie- 
gend, und  der  Widerspruch  mit  der  monarchischen  Tradition 
trat  um  so  schroffer  hervor,  als  weder  der  absolutistisch  ge- 
sinnte Hof  des  Bourbonischen  Königs  sich  mit  der  Verfassung 
vcrl  ragen  mochte  und  in  den  Volksparteien  klerikale  und  ja- 
kobinische Tendenzen  stark  vertreten  waren  und  mit  der  Leiden- 
schaft des  südlichen  Blutes  sich  heftig  bekämpften.  Der  in 
Neapel  restaurirte  König  fühlte  sieh  nun  stark  genug,  die  be- 
schworene Verfassung  zu  beseitigen  (Dez.  181  6)  und  die  abso- 
lute Regierung  herzustellen.  Aber  dieser  erste  Versuch,  die 
englischen  Statsformen  mit  den  Theorien  der  französischen 
Revolution  zu  verbinden  und  daraus  ein  neues  constitutionelles 
Statsrecht  für  Europa  hervorzubringen,  blieb  auch  für  die  spätem 
ähnlichen  Versuche  ein  Vorbild. 

2.  Die  sehr  ausführliche  Verfassung  vom  19.  März  1812, 
welche  die  Regentschaft  und  die  spanischen  Cortes 
während  der  Gefangenschaft  des  Königs  und  während  ein  groszer 
Theil  von  Spanien  in  der  Gewalt  der  Franzosen  war,  der 
spanischen  Nation  gegeben  hatten,  und  welche  von  den  ver- 
bündeten Engländern  anerkannt  ward,  geht  groszentheils  von 
ähnlichen  Theorien  über  den  constitutionellen  Stat  und  die 
Trennung  der  drei  Gewalten  aus.     Die  französische  Verfassung 


414  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

von  1791  diente  den  Cortes  als  Muster.  Indessen  sind,  ob- 
wohl das  Princip  der  Volkssouveränetät  (Art.  3)  proclamirt  ist, 
die  Bechte  des  Königs  in  weitem  Umfange  anerkannt.  Die 
gesetzgebende  Gewalt  wird  „den  Cortes  mit  dem  Könige  vereint" 
(Art.  15)  und  ebenso  diesem  die  . Aufsicht  über  die  Justiz" 
(Art.  171)  zugeschrieben.  Indessen  kann  er  durch  wiederholte 
Abstimmung  der  Cortes  zur  Sanction  der  Gesetze  genöthigt 
werden  (Art.  149).  Darin  aber  unterscheidet  sich  diese  Ver- 
fassung sehr  von  der  englischen  Form,  dasz  sie  eine  aristo- 
kratische Pairskammer  als  Mittelmacht  nicht  kennt,  sondern 
dem  Könige  die  Eine  Versammlung  der  Cortes,  als  der  ge- 
wählten Volksvertreter  gegenüber  stellt.12 

Die  Willkür,  mit  welcher  der  befreite  König  diese  Ver- 
fassung aufhob  (4.  Mai  1814)  und  die  Häupter  der  Cortes 
verfolgte,  und  die  alten  und  neuen  Erfahrungen,  welche  die 
Nation  über  die  absolute  Kegierungsweise  der  Bourbonischen 
Dynastie  machte,  hatten  die  Folge,  «las/  die  Verfassung  tob  1812 
trotz  ihrer  Mängel  und  ungeachtet  man  sich  anfanglich  wenig 
um  dieselbe  bekümmert  hatte,  nach  ihrer  Beseitigung  populär 
ward,  und  wiederholte  Versuche  (1820,  L836)  gemacht  wurden, 
dieselbe  mit  Gewalt  einzuführen.  Auch  das  Estatuto  Real 
von  1834,  welches  Spanien  nun  doch  eine  Repräsentatiwer- 
fassung  verlieh,  befriedigte  nicht  mehr.  Die  Königin-Regentin 
wurde  1886  genöthigt,  die  Verfassung  von  1812  anzuerkennen, 
und  im  Jahr  18:»7  kam  unter  dem  Einflnsz  der  Frogressisten 
die  neue  constitutionelle  Verfassung  für  Spanien,  auf  Grundlage  der 
ersteren  und  mit  theilweiser  Benutzung  des  Estatuto  Keal  von  1834 
zur  feierlichen  Beschwörung.  In  dieser  modificirten  Verfassung  ist 
denn  die  Sanction  der  Gesetze  durch  den  König  wieder  ohne  Be- 
schränkung anerkannt,  und  das  Zweikammersj  stein  (ein  Senat  und 

12  Die  Verfassung  ist  in  deutscher  üeberaetzung  abgedruckt  bei 
Pölitz  II,  S.  203  ff.,  und  bei  Schubert,  Verf.  II.  S.  ii  ff.  Vgl.  be- 
sonders die  ausgezeichnete  Darstellung  von  Baumgarten  in  Ucrvinus 
Geschichte  des  XIX.  Jahrhunderts,  Bd.  I.V. 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstellung  der  constit.  Monarchie.    415 

eine  Deputirtenkammer)  eingeführt  worden.13  Noch  mehr  näherte 
sich  die  unter  dem  Einflüsse  der  Moderados  revidirte  Verfassung 
vom  23.  Mai  1845  der  französischen  Charte  von  1830  an.14 

Aber  auch  dadurch  sind  die  Verfassungskämpfe  nicht 
zum  Abschlusz  gelangt.  Das  Land  schwankte  wieder  zwischen 
klerikaler  Reaction  und  radicalem  Aufstande  hin  und  her,  und 
hat  noch  keineswegs  sein  Gleichgewicht  gefunden,  denn  die 
heutige  von  Hof  und  Klerus  begünstigte  Militärdictatur  ver- 
spricht keinen  Bestand. 

3.  Eine  Nachahmung  der  spanischen  Verfassung  von  1812 
war  die  Verfassung  für  Portugal  von  1822,  die  indessen 
wieder  nicht  zu  unbestrittener  Geltung  gelangte.  Im  Jahr 
1826  gab  der  König  Don  Pedro  dem  Lande  eine  neue  Ver- 
fassung, in  welcher  das  monarchische  Princip  besser  gewahrt 
wurde  als  in  jener  ersteren,  und  welche  nach  Analogie  der 
englischen  Verfassung  und  der  französischen  Charte  eine  Pairs- 
kammer  mit  erblichen  und  lebenslänglichen  Pairs  der  Depu- 
tirtenkammer beiordnete.  Diese  Verfassung  spricht  nun  von 
vier  Gewalten:  1)  der  gesetzgebenden,  welche  den  Cortes  unter 
der  Sanction  des  Königes,  2)  der  vermitteln  den  (moderador), 
welche  dem  Könige  „als  höchstem  Oberhaupte  der  Nation  zur 
Handhabung  des  Gleichgewichts  und  der  Harmonie  der  andern 
politischen  Gewalten, u  3)  der  vollziehenden,  welche  dem  Kö- 
nige in  Verbindung  mit  den  Ministem,  und  4)  der  richter- 
lichen, welche  unabhängigen  Gerichten  zusteht.15 

Auch  nach  der  Besiegung  der  absolutistischen  Partei  Don 
Miguels,  welche  von  keiner  der  beiden  Verfassungen  etwas 
wissen  wollte,  stritten  sich  zwei  andere  Parteien  mit  wechseln- 
dem Glücke  um  die  Herrschaft ;  die  eine  demokratische,  welche 
sich  an  die  Verfassung  von  1822,  die  andere,  der  Chartisten, 

13  Bülau,  Europ.  Yerf.  seit  1828,  S    221. 
«*  Schubert,  Verf.  II,  S.  105  ff.  und  S.  116  ff. 
15  Art.  11,  13,  71,  75,  1J8  der  Verf.  von  1826.     Beide  Verfassungen 
bei  Pölitz  II,  S.  299  ff.,   die  letztere   bei  Schubert,  Verf.  II,  S.  148. 


416  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

welche  sich  an  die  Charte  von  1826  hielt.  Im  Jahre  1838 
kam  es  zu  einer  Kevision  der  letzteren,  durch  welche  die  erb- 
lichen Senatorwürden  in  periodisch  gewählte  umgewandelt,  und 
die  Institution  des  Statsraths  aus  der  Verfassung  gestrichen 
wurde.16  Die  Masse  des  Volkes  nimmt  indessen  noch  immer 
wenig  Antheil  an  diesen  Verfassungen.  Indessen  haben  sich 
die  Portugiesischen  Statszustände,  unter  dem  Einflüsse  der  K  o- 
burgischen  neuen  Dynastie  friedlicher  und  günstiger  ent- 
wickelt als  die  Spanischen. 

4.  Auch  auf  dem  gröszeren  amerikanischen  Tochterstat 
Portugals,  auf  das  unabhängig  gewordene  Kaiserthum  Brasilien 
wurde  die  Verfassung  der  constitutionellen  Monarchie  über- 
getragen und  erlebte  dort  ähnliche  Schwankimgen  und  Kämpfe, 
machte  alter  auch  ähnliche  Portschritte  wie  in  Europa. 

5.  Italien  rang  sich  allmählich  aus  dem  unwürdigen 
Druck  des  absoluten  Furstenthums  los.  Mochte  noch  die  Ver- 
fassung dfr  Napoleonischen  Königreiche  Italien  und  Ne- 
apel als  eine  beschränkte  Autokratie  angesehen  werden,  so 
wurde  doch  der  Bpäter  restaurirte  Absolutismus  der  bourboni- 
schen  und  habsburgischen  Pursten  überall  nur  ungern  ertragen. 
Geheime  Verschwörungen  und  offene  Aufstände  kämpften  mit 
grausamen  Beactionen.  Nur  mit  fremder  Waffengewalt  konnte 
man  das  Streben  der  Völker  unterdrüeken.  Als  der  König  von 
Neapel  L820  sieh  bequemt  hatte,  seinem  Lande  die  spanische 
Verfassung  von  1812  zu  gewähren,  stellten  österreichische 
Truppen  die  alte  Willkürherrschaft  wieder  her.  Auch  die  Be- 
wegungen der  Dreiszigerjahre  hatten  keinen  gröszero  Krfolg. 
Immer  wieder  gelang  es  der  massiven  Gewalt  Oesterreichs,  an 
welcher  die  Dynastien  sich  anlehnten,  jeden  Versuch  n  ver- 
eiteln, welcher  die  Constitutionen«  Monarchie  einfuhren  wollte. 

Erst   in    den    Vierzigerjahren   erwies    sich    der    Geis!    der 
Keform  stärker  in  Italien,  nachdem  er  rieb  mit  dem  Geiste  der 
nationalen  Befreiung  von  der  Fremdherrschaft  verbündet  hatte. 
'*■•  Bftl  Schubert,  WH',  ll,  s.  i  ;.:. 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.    417 

Schon  im  Jahre  1847  war  ganz  Italien  in  einer  mächtigen 
Aufregung  begriffen,  welche  damals  auch  von  dem  neuen  Papste 
Pius  IX.  gebilligt  schien;  und  noch  bevor  in  Paris  die  Revo- 
lution ausbrach,  sahen  sich  der  König  Ferdinand  II.  von  Neapel 
und  der  König  Karl  Albert  von  Piemont  veranlaszt,  die 
constitutionelle  Regierungsform  einzuführen.  Aber  ungeachtet 
der  erstere  „in  dem  ehrfurchtgebietenden  Namen  des  drei- 
einigen Gottes"  bezeugte  mit  Aufrichtigkeit  und  Redlichkeit 
diese  neue  Bahn  der  politischen  Ordnung  zu  betreten,17  so  be- 
eilte er  sich  doch,  sobald  er  es  ungefährlich  konnte,  die  Ver- 
fassung wieder  zu  brechen.  Die  Folge  der  wiederholten  Treu- 
brüche war,  dasz  im  Jahre  1860,  als  der  Sohn  Ferdinands 
Franz  II.  in  neuer  Noth  sich  entschlosz,  die  constitutionelle 
Monarchie  einzuführen,  Niemand  mehr  Beinern Gelöbnisa  glaubte 
und  die  Dynastie  vertrieben  ward. 

Eine  andere  Wendung  nahmen  die  Dinge  in  Piemont. 
Nachdem  einmal  der  König  am  6.  Febr.  1848  sich  für  die 
Einführung  des  repräsentativen  Systems  nach  dem  Vorbilde  der 
französischen  Charte  von  1830  erklärt  hatte,18  blieb  das  sa- 
voyische  Königshaus  dieser  Verfassung  vom  4.  März  1848  mit 
einer  seltenen  Entschiedenheit  treu.  Zwar  glückte  es  Karl  Albert 
noch  nicht,  ein  erweitertes  italienisches  Reich  unter  seinem 
Scepter  zu  einigen.  Die  Siege  ßadetzky's  warfen  seinen  natio- 
nalen Ehrgeiz  zurück  und  bewährten  vielleicht  Italien  vor  dem 
Ueberfluten  einer  unreifen  Demokratie.  Aber  auch  in  jener 
Zeit,  wo  die  Keaction  in  Italien  ihre  Triumphe  feierte,  blieb 
der  neue  König  Victor  Emmanuel  doch  der  Verfassung 
treu.  —  Die  wunderbaren  Erfolge,  welche  er  in  den  Jahren 
1859  und  18G0  errang,  verdankte  er  zu  gutem  Theile  dem 
Glauben  der  italienischen  Völker  an  seine  ehrliche  constitutio- 
nelle  und    nationale   Gesinnung,    welche    ihn    bestimmte,   die 

17  Verkündigung  vom  8.  Februar  1848  in  dem  Portfolio  I,  S.  64. 
1S  Worte   der  Verfassungsurkunde,   abgedruckt  Portfolio  I,  S.  53  ff. 
Itlunts  chli  ,  allgemeines  Statsroc-ht.    I.  27 


418  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Leitung  einem  groszen  Statsmanne  als  Minister,  dem  edlen 
Cavour  zu  übertragen.  Mit  Hülfe  Frankreichs  wurde  Oester- 
reich  aus  der  Lombardei  verdrängt  und  der  neue  nationale  Stat 
breitete  sich  über  alle  Fürstenthümer  von  Mittelitalien,  durch 
den  kühnen  Feldzug  Garibaldis  auch  über  Neapel  und  Sicilien 
aus.  Die  Hülfe  Preuszens  verschaffte  dem  Reiche  auch  das 
Königreich  Venedig  1866.  Nur  der  Kirchenstat,  ist  bis  jetzt 
noch  durch  den  Einflusz  der  fremden  Mächte,  obwohl  enger  begrenzt, 
von  der  Verbindung  mit  dem  Königreich  Italien  abgehalten 
worden.  So  weit  Italien  gegenwärtig  den  Italienern  gehört, 
das  neue  Königreich  Italien  hält  an  der  constitutionellen  Mo- 
narchie fest,  und  sogar  die  republikanisch  gesinnten  Parteien 
bequemen  sich  nach  dem  Beispiel  Garibaldis  diese  Statsform 
als  die  für  Italien  zur  Zeit  nothwendige  anzuerkennen. 

6.  Den  Uebergang  von  den  romanischen  zu  den  germa- 
nischen Staten  bildet  Belgien,  dessen  Verfassung  vom  Jahr 
1831  wieder  der  französischen  von  183<>  nachgebildet  ist,  in 
einzelnen  wichtigen  Beziehungen  aber  der  bürgerlich-demokra- 
tischen Anschauung  näher  stellt  als  diese.  Dahin  gehört  der 
Satz,  dasz  „alle  Gewalten  von  der  Nation  ausgehen"  (Art.  25), 
wobei  freilich  zu  beachten  ist,  dasz  Belgien  keine  monarchische 
Dynastie  mehr  hatte,  sondern  eine  solche  ersl  berufen  muszte, 
die  Verneinung  jedes  Standeunterschiedes  (Art.  0),  das  ausge- 
dehnte Stimmrecht  für  die  Kammern  u.  s.  f.  Das  Zweikammer- 
system ist  zwar  beibehalten,  die  erste  Kammer  aber  oder  „der 
Senat"  wird  auf  Zeit  gewählt,  und  zwar  von  den  näm- 
lichen Wählern,  welche  die  Deputirton  bestellen  (der  Entwurf 
hatte  noch  dem  König  die  Ernennung  der  Senatoren  v<n  be- 
halten), und  nur  die  Erfordernisse  des  Alters  und  l»Vi<  hthnnis 
für  die  Senatoren  werden  höher  angesetzt.  Das  Land  hat  in- 
zwischen, von  einem  statsmännischen  Könige,  Leopold  von 
Koburg,  weise  regiert,  die  Erschütterung  der  europaischen  Re- 
volution von  1848  nur  wenig  verspürt  und  seine  Wohlfahrt 
hat    seither   glücklich   zugenommen,   obwohl  auch    in  Belgien 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.   Monarchie.    419 

der  Kampf  der  ultramontanen  und  liberalen  Partei  leiden- 
schaftlich fortgeführt  wird. ,9 

IV.  Germanische  Staten  auszer  Deutschland. 

1.  Eine  eigenthümliche  Entwicklung  hat  das  constitutionelle 
System  in  dem  scandinavischen  Norden  erfahren.  Zunächst  in 
Schweden,  dessen  Reichsstände  seit  dem  XVI.  Jahrhundert 
aus  vier  Ständen  bestand,  welche  vier  gesonderte  Standes- 
stimmen hatten:  nämlich:  die  Ritterschaft  und  der  Adel, 
die  Geistlichkeit,  die  Bürgerschaft  und  die  Bauer- 
schaft. Oefter  hatten  sich  die  Könige  auf  die  beiden  letz- 
teren Stände  vorzüglich  gegen  die  grosze  Macht  des  Adels 
stützen  müssen,  der  auszerhalb  der  Reichsstände  in  dem  aus- 
schlieszlich  aus  ihm  bestellten  Reichsrat  he  (Statsrath  und 
Ministerien)  das  wichtigste  Organ  seines  Einflusses  besass.  Erst 
Gustav  111.  brach  dieses  Uebergcwicht  der  Aristokratie,  welche 
die  Existenz  der  Krone  und  die  Sicherheit  des  Landes  bedroht 
hatte,  und  eröffnete  auch  (1789)  nicht  adeligen  Personen  den 
Zutritt  zu  den  oberen  Reichsämtern,  nur  die  „höchsten  und 
vornehmsten  Aemter  des  Reiches  und  Hofes"  noch  ausgenommen. 

Die  Verfassung  Schwedens  vom  7.  Juni  1809 2,)  ist  eine 
Fortbildung  der  früheren  Verfassung  von  1772. 8I  Mit  be- 
sonderer Ausführlichkeit  und  Sorgfalt,  und  mehr  als  in  den 
übrigen  Constitutionen  der  neueren  Zeit  sind  in  derselben  der 
königliche  Statsrath  und  die  vier  Statssecretäre  be- 
handelt. Die  Ernennung  auch  zu  diesen  Stellen  ist  nicht  mehr 
auf  den  Kreis  des  Adels  eingeschränkt.  Die  Reichsstände,  ohne 
deren  Mitwirkung  und  Zustimmung  der  König  weder  die  Ver- 
fassung ändern,  noch  Gesetze  geben,  noch  neue  Steuern  er- 
heben darf,  war  noch  vor  kurzem  in  vier  Stände  getheilt.  Die 
Mehrheit  dreier  Stände  war  in  der  Regel  für  den  vierten  bindend, 

19  Lehrreich  ist  die  Geschichte  der  Gründung  der  constit.  Monarchie 
in  Belgien  von  Theodor  Juste.  1850.  2  Bde. 

20  Schubert,  Verf.  II,  S.  368. 
"  Schubert,  Verf.  II,  S.  349. 

27* 


420  Yiertes  Buch.     Die  Statsformen. 

bei  Verfassungsgesetzen  aber  Einigkeit  aller  vier  Stände  und 
des  Königs  erforderlich. 

Diese  Verfassung  schlosz  sich  in  manchen  Beziehungen 
noch  näher  an  die  auch  in  Deutschland  im  Mittelalter  bestan- 
denen Grundlagen  der  ständischen  Verfassungen  an.  Die  Schwier- 
igkeit aber,  bei  dieser  Viergliederung  der  Stände  einen  einheit- 
lichen National  willen  zu  Stande  zu  bringen,  war  wohl  eine 
Hauptursache,  weszhalb  dieselbe  auszerhalb  Schwedens  wenig 
Beachtung  und  keine  Nachbildung  fand,  obwohl  sie  in  andern 
Beziehungen  mancherlei  Vorzüge  vor  vielen  andern  modernen 
Systemen  besitzt,  im  Jahr  1865  kam  endlich  auch  in  Schwe- 
den das  Zweikammersytem  im  Gegensatz  zu  dem  Vierstände- 
system zur  Geltung,  nach  Analogie  der  andern  constitutio- 
nellen  Staten. 

2.  Weit  demokratischer  ist  die  Verfassung  Norwegens 
vom  4.  November  1814.  Der  König  von  Schweden,  welcher 
durch  die  Friedensschlüsse  auch  zum  Könige  7on  Norwegen 
bezeichnet  worden,  war  durch  die  Verhältnisse  genöthigt,  die 
Verfassung  im  wesentlichen  bo  anzuerkennen,  wie  dieselbe  im 
Frühjahr  des  nämlichen  Jahres  con  dem  norwegischen  Reichs- 
tag zur  Sicherung  der  Selbständigkeit  des  Landes  und  der 
Freiheit  seiner  Bürger  festgesetzt  worden  war.  Die  Gesetz- 
gebung wird  hier  „ dem  Volke"  zugeschrieben  und  durch  das 
„Storthing"  ausgeübt  (Art.  49).  Dem  Könige  Bteht  ewar 
das  Recht  der  Sanction  zu.  aber  wenn  ein  nicht  genehmigtes 
Gesetz  zum  drittenmale  von  demSfcorthing  gutgeheiszen  wird, 
darf  er  die  Sanction  nicht  mehr  verweigern.  Das  ganze  Stort- 
hing  wird  durch  Wahl  der  norwegischen  Bürger  (meistens 
Grundbesitzer)  gebildet,  theilt  sich  dann  aber  in  zwei  Kammern 
d;is  sogenannte  „Lagthing"  und  dftS  „Odel  sth  ing."  Die 
ausübende  Gewalt  gehört  dem  Könige,  unter  der  Verantwort- 
lichkeit seines  Rathes.  Vergeblich  waren  die  seitherigen  Ver- 
suche, die  königliche  Macht  zu  erweitern,  und  eine  politische 
Aristokratie    einzuführen.     Die  Demokratie    der    freien   Hauern 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.   421 

und  der  Bürger  widersetzte  zieh  beiden  Tendenzen  beharrlich, 
und  die  Eifersucht  der  Norweger  auf  ihre  Unabhängigkeit  von 
Schweden  stärkte  diesen  Widerstand. 22 

3.  Die  dänische  Eevolution  von  1660  war  gegen  den 
Adel  gerichtet  und  hatte  mit  Hülfe  des  Bürgerthums  die  ab- 
solute Monarchie  eingeführt.  In  unserm  Jahrhundert  wurde 
auch  in  Dänemark  die  Wandlung  in  die  constitutionelle  Mo- 
narchie vollzogen,  zuerst  in  der  noch  unzureichenden  Form  von 
Provinzialständen  (Gesetz  vom  28.  Mai  1831),  dann  in  dem 
Grundgesetz  vom  5.  Juni  1849  in  demokratischer  Kichtung. 
Die  Verfassungsstreitigkeiten  der  Dänen  mit  den  Deutschen 
beziehen  sich  weniger  auf  den  Gegensatz  der  Verfassungsform 
als  auf  den  Gegensatz  der  Nationalitäten.  Indessen  auch  da 
kam  es  im  Juni  1866  zu  einer  Verfassangsrevision,  welche  von 
dem  König  mit  dem  Keichsrath  (Landsthing  und  Volksthing) 
vereinbart  wurde. 

4.  In  dem  neugestifteten  Königreiche  der  Niederlande, 
welches  nach  der  Auflösung  des  Napoleonischen  Kaiserreichs 
an  die  Stelle  der  alten  Eepublik  der  Vereinigten  Staten  und 
des  späteren  Napoleonischen  Königreichs  Holland  getreten  war, 
wurde  die  constitutionelle  Monarchie  ebenfalls  eingeführt  (Ver- 
fassung vom  28.  März  1814  und  nach  der  Vereinigung  mit 
Belgien  vom  24.  August  1815).  Die  neue  Verfassung  vom 
14.  Oct.  1848  war  ein  Fortschritt  in  derselben  Richtung  und 
der  constitutionelle  Geist  ist  neuerdings  auch  in  Holland  erstarkt. 

V.  Deutsche  Staten. 

1.  Als  der  geistige  Vater  der  modernen  constitutionellen 
Monarchie  für  den  Continent  verdient  der  König  von  Preuszen 
Friedrich  der  Grosze  geehrt  zu  werden.  Hätten  die  Völker 
ihn  besser  verstanden  und  die  Fürsten  ihm  mehr  gefolgt,  so 
hätte  sich  der  Uebergang  aus  der  absoluten  in  die  constitutio- 
nelle  Statsform   leichter  vollzogen.     Niemand  hat  energischer 

22  Schubert,    Verf.  II,   S.    404   ff.     Vgl.    den   Art.    Norwegen    im 
deutschen  Stats Wörterbuch. 


422  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

als  er  den  Satz  bekämpft,  dasz  der  König  der  Herr  des  States 
sei,  niemand  bestimmter  ausgesprochen,  dasz  das  Königthum 
ein  Statsamt  und  der  König  der  oberste  Diener  des  States  sei. 
Wenn  er  dessen  ungeachtet  weder  die  alte  ständische  Verfass- 
ung erneuerte,  noch  eine  neue  repräsentative  schuf,  sondern  die 
ererbte  absolute  Gewalt  fortsetzte,  so  erklärt  sich  das  genügend 
daraus,  dasz  sein  Volk  politisch  noch  sehr  unreif  und  er  per- 
sönlich demselben  allzusehr  überlegen  war.  Aber  indem  er 
durch  seine  Gesetzgebung  »las  Volk  erzog,  beschränkte  er 
zugleich  die  königliche  Willkür,  und  bereitete  eine  geordnete 
Freiheit  vor. 

Die  französische  Revolution  lenkte  eher  von  dem  Wege 
ab,  auf  den  der  grosze  König  gewiesen  hatte,  indem  sie  die 
Fürsten  mit  Furcht  und  Hasz  erfüllte  und  in  den  Völkern  zu 
radkaler  Uebertreibung  reizte. 

2.  Die  Verfassungen,  welche  in  der  Rheinbundsperiode  zu 
Stande  kamen,  hauptsächlich  auf  den  Antrieb  des  L'rotectors 
des  Rheinbundes,  Napoleon  L,  konnten  insofern  als  eine 
Uebergangsstufe  zu  der  constitutionelleu  Monarchie  dienen,  als 
sie  mit  den  Resten  der  alten  Landstände  aufräumten,  in  Einer 
Urkunde  die  Grundgesetze  zusammen  foszten  und  eine  Art  von 
Repräsentation  —  freilich  eine  kummerliche  und  ohnmächtige  — 
des  Grundbesitzes,  der  Industrie  und  der  höheren  Bildung 
versprachen. 

3.  Als  der  grosse  Befreiungskampf,  zu  dem  sich  die  Nation 
opfermuthig  erhoben  hatte,  die  Fremdherrschaft  brach,  war  ein 
günstiger  Moment  da,  um  die  moderne  StatßOrdnung  in  na- 
tionalem und  freiem  Geiflte  durchzuführen.  Die  wenigen  groszen 
Statsmänner,  die  Deutschland  hatte,  stein,  Humboldt,  anfangs 
auch  Hardenberg  wollten  es.  Der  König  Friedrich  Wilhelm  HL 
von  Preuszen  hatte  seine  Geneigtheit  dazu  öffentlich  ausge- 
sprochen. Aber  durchweg  war  die  absolutistische  Gesinnung 
der  deutschen  Dynastien,  der  Fornehmen  Kreise  der  Gesell- 
schaft, des  Beamtentums  so  übermächtig,  die  antirevolutionäre 


Einundzwanzigster  Capitel.     1.  Entstellung  der  constit.  Monarchie.  423 

Stimmung  so  misztrauisch  gegen  alle  modernen  Tdeen,  und  so 
befangen  in  romantischen  Phantasien,  und  die  politische  Bild- 
ung des  Volkes  so  unreif,  dasz  in  dem  deutschen  Bunde 
und  in  den  souveränen  (groszen  und  mittleren  und  kleinen) 
Monarchien,  die  sich  in  die  Beherrschung  der  deutschen  Nation 
getheilt  hatten,  ein  nur  wenig  von  landständischen  Erinnerungen 
beschränkter  Absolutismus  herrschend  wurde. 

Nur  ausnahmsweise  versuchte  man's,  in  einigen  Staten, 
eine  Art  constitutioneller  Monarchie,  in  Nachahmung  der  fran- 
zösischen Charte,  aber  durch  landständische  Ueberlieferung  mo- 
dificirt,  einzurichten.  Das  Herzogthum  Nassau  ging  voraus 
aber  ohne^  nachhaltige  Kraft  (Verf.  vom  2.  Septbr.  1814). 
Dann  folgte  Luxemburg  (Verf.  vom  24.  August  1815) 
und  vorzüglich  das  Groszherzogthum  Sachsen  -  Weimar- 
Kisenach  (5.  Mai  1816),  dessen  Fürst,  Karl  August  — 
eine  seltene  Erscheinung  —  persönlich  der  freieren  Verfassung 
zugethan  war. 

Wichtiger  war  es,  dasz  die  süddeutschen  Mittelstaten, 
die  Königreiche  Bayern  (Verf.  vom  26.  Mai  1818),  Würt- 
temberg (25.  Sept.  1819),  wo  der  Widerstand  der  alten  Land- 
stände vorerst  durch  die  weitsichtigere  Regierung  zu  über- 
winden war,  und  das  Groszherzogthum  Baden  (22.  August 
1818)  nun  zu  der  constitutionellen  Monarchie  übergingen  und 
gerade  in  dieser  Wandlung  eine  Stärkung  erkannten  gegenüber 
dem  Drucke  der  deutschen  absolut  regierten  Groszstaten. 

Es  folgte  dann  das  Königreich  Hannover  (17.  Decbr. 
1819),  das  Groszherzogthum  Hessen  (17.  Decbr.  1820)  und 
Sachsen-Meiningen  (23.  August  1829). 

In  allen  diesen  Verfassungen  ist  die  Monarchie  mit  einer 
reichen  Fülle  von  Hechten  ausgestattet.  Auf  der  conserva- 
tiven  Natur  des  deutschen  Volkscharakters  konnte  sie  sicherer 
ruhen  als  in  Frankreich,  und  wenn  sie  nur  einigermaszen  ver- 
stand, die  Zeitideen  zu  erfassen  und  in  liberaler  Richtung  vor- 


424  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

zugehen,  so  wurde  ihr  die  Leitung  der  öffentlichen  Dinge  ver- 
trauensvoller überlassen,  als  irgend  anderwärts. 

Bei  der  Bildung  der  Kammern  ahmte  man  das  englische 
und  das  französische  Vorbild  nach.  Aber  die  Ersten  Kammern 
wurden  vorzugsweise  auf  den  Grundadel  gebaut,  dessen  An- 
sprüche und  Ansichten  groszentheils  einer  untergegangenen 
Weltordnung  angehörten,  auch  wohl  mit  abhängigen  Dienern 
der  Höfe  ergänzt,  so  dasz  sie  deszhalb  nicht  zu  rechtem  An- 
seilen und  gedeihlicher  Wirksamkeit  gelangen  konnten.  Die 
Zweiten  Kammern  wurden  dagegen  weniger  plutokratisch  be- 
setzt, als  in  Frankreich.  Weil  sie  sich  meistens  an  die  von 
Alters  hergebrachten  Stände  anschlössen,  so  hat  man  diese 
Verfassung  auch  oft  mit  Emphase  als  eine  ..ständische  und 
keine  repräsentative"  bezeichnet.  Aber  mit  Unrecht :  denn  nicht 
das  ist  der  Charakter  der  Repräsentativverfassung  im 
Gegensatze  zu  der  mittelalterlichen  Bt indischen,  dasz  in 
jener  die  verschiedenen  Stände  des  Volkes  nicht  berücksichtigt 
werden  dürfen,  sondern  dasz  die  Stellvertretung  in  jener,  auch 
wenn  sie  nach  Ständen  oder  Classen  gegliedert  ist,  dennoch 
vornehmlich  eine  nationale  sei.  und  die  Einheit  des  Volkes 
und  des  States,  nicht  die  Gespaltenheil  derselben  in  die 
Sonderinteressen  der  Stände  darstelle.  Dieses  Princip  ist  aber 
z.  B.  in  der  bayerischen  Verfassung  von  1818  ausdrücklich 
anerkannt,  indem  die  Abgeordneten  schwören  müssen:  „mü- 
des ganzen  Landes  allgemeines  Wohl  und  Beste  ohne  Rück- 
sicht auf  besondere  Stände  oder  Classen  nach  Deberzeugung  zu 
berathen." 

Die  Entwicklung  der  constitutionellen  Monarchie  wurde 
noch  während  Jahrzehnten  hauptsächlich  durch  die  beiden 
deutschen  Groszstaten  gehemmt,  deren  Regierungen  sich  gegen 
diese  Statsform  entschieden  misztrauiscb  und  abgeneigt  \  er- 
hielten. In  Preuszen  verliefen  die  Reformbestrebungen  Im  Sund. 
Anstatt  der  verheiszenen  Repräsentation  <l*  Volks  kam  es  zu- 
letzt (1823)  nur  zu  berathenden  Provincialständen.    Die  öster- 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.    425 

reichische  Kegierung  glaubte  die  Einheit  des  zusammengesetzten 
Statswesens  nur  durch  die  absolute  Gewalt  erhalten  zu  können. 
Fast  die  ganze  Wirksamkeit  des  deutschen  Bundes  war  darauf 
gerichtet,  das  sogenannte  „monarchische  Princip"  möglichst 
absolut  zu  bewahren  und  die  Völker  polizeilich  zu  bevormunden. 

4.  Die  französische  Julirevolution  von  1830  hatte  auch  in 
Deutschland  neue  Bewegungen  zur  Folge,  und  wieder  wurden 
eine  Reihe  deutscher  Staten,  mittlere  und  kleinere  bestimmt, 
das  constitutionelle  System  einzuführen.  Das  Kurfürstenthum 
Hessen  erhielt  am  5.  Januar  1830  eine  Verfassung,  welche 
die  Volksfreiheiten  gegen  die  fürstliche  Willkür  zu  schützen 
bedacht  war,  das  Königreich  Sachsen  bekam  eine  der  bayeri- 
schen nachgebildete  Verfassung  (vom  4.  September  1831),  das 
Königreich  Hannover  erhielt  ('20.  September  1833)  ein  neues 
constitutionelles  Statsgrandgesetz,  welches  jedoch  von  dem 
nächstfolgenden  Könige  Ernst  August  nicht  anerkannt  wurde, 
und  erst  1840   in  modificirter  Gestalt   wieder   ins  Leben   trat. 

Es  erweiterte  sich  so,  wenn  auch  von  den  Regierungen 
zuweilen  eher  dem  Scheine  nach  als  in  Wahrheit  geachtet, 
durch  die  ausgebildete  Schreiberei  der  Bureaukratie  vielfach 
verdorben,  durch  die  Parteien  innerhalb  und  auszerhalb  der 
Ständeversammlungen  nicht  selten  miszbraucht  und  entstellt, 
das  constitutionelle  S tatsrecht  doch  fortwährend  auch 
in  Deutschland,  während  die  beiden  deutschen  Groszmächte 
sich  noch  immer  demselben  abgeneigt  zeigten. 

5.  Endlich  erliesz  der  König  Friedrich  Wilhelm  IV. 
von  Preuszen  das  Patent  vom  3.  Februar  1847,  durch  welches 
auf  der  Unterlage  der  Provincialstände  ein  „vereinigter 
Landtag"  für  Preuszen  gebildet,  und  demselben  der  Beirath 
für  die  Landesgesetzgebung,  ein  Zustimmungsrecht  für  neue 
Steuern,  und  ein  Petitionsrecht  in  innern  Angelegenheiten  zu- 
gesichert wurde.  Dadurch  trat  Preuszen  aus  der  Classe  der 
absoluten  in  die  der  beschränkten  Monarchie  über,  und  näherte 
sich  den  deutschen  Repräseutativstaten  bedeutend.     Der  Anfang 


426  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

einer  modernen  Statsentwicklung  war  gegeben,  und  es  war  so- 
gar ein  Vorzug  dieser  Verfassung,  dass  sie  an  die  bestehen- 
den Verhältnisse  anknüpfte  und  nicht  blos  die  bisher  übliche 
Form  der  constitutionellen  Monarchie  nachahmte.  Freilich  waren 
die  Eechte  des  Landtags  nur  kümmerlich  und  ungenügend  be- 
dacht.  Aber  die  Möglichkeit  der  Fortbildung  war  gegeben, 
und  die  Mängel  der  Verfassung  hätten  sich  auf  organische 
Weise  im  Zusammenhang  mit  der  politischen  Erziehung  auch 
des  Volkes  nach  und  nach  heben  lassen.  Leider  trat  die  Re- 
gierung auch  den  gerechten  Wünschen  des  Landtags  in  einer 
Weise  entgegen,  welche  ihr  das  Vertrauen  auch  der  gemäszigten 
Parteien  entzog.  Und  als  das  politische  Erdbeben  von  1848 
Europa  erschütterte,  stürzte  der  neue  Bau  haltlos  zusammen. 
Preuszen  erhielt  darauf  am  5.  October  1818  eine  Verfassung, 
welche  zu  groszem  Theile  das  Werk  der  demokratischen ,  von 
den  Wogen  der  Revolution  getragenen  Partei  war.  Nur  mit 
Hülfe   eines   von    dem   Könige  octrovirten    Wahlgesetzes  vom 

30.  Mai  1840  gelang  es,   die  revidirte  Verfassung  vom 

31.  Januar  1850  im  Kinverständnisz  der  drei  Factoren  durch- 
zusetzen. Seither  sind  noch  einige  wesentliche  Veränderungen 
hinzugekommen,  vorzüglich  zur  Verstärkung  der  Autorität. 
Trotz  wesentlicher  Mängel  dieser  Verfassung  war  nun  für  das 
constitutionelle  Leben  von  Preuszen  eine  neue  staatsrechtliche** 
Grundlage  gewonnen. 

Die  wechselnden  Ereignisse  der  folgenden  Jahre  zeigten 
freilich,  dasz  mit  der  Form  der  Verfassung  noch  nicht  sofort 
der  Geist  derselben  allgemeine  Anerkennung  fand.  Das  aristo- 
kratische Herrenhaus,  dessen  Zusammensetzung  den  frühern 
Vertretern  des  Absolutismus  und  dei  ritterschaftlichen  Romantik 
allzu  freigebig  Vorschub  geleistet  hatte,  bequemte  sieh  nur 
widerwillig;  dem  an  Selbstherrlichkeit  gewöhnten  Königthum 
fiel  es  schwer,  sich  in  die  veränderte  Lage  zu  füi^Qß  und  sich 

23  Die  Urkunde   bei   Zachariü,    die    deutschen    Verfa^sungsgcsctze 
der  Gegenwart,  S.  74   (f. 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstellung  der  constit.  Monarchie.    427 

von  dein  modernen  Geiste  des  Volkskönigthums  erfüllen  zu 
lassen ;  die  Volksvertretung  endlich  konnte  sich  auch  nur  all- 
mählich der  Gränzen  ihrer  Macht  und  der  groszen  Unterschiede 
bewuszt  werden  zwischen  dem  englischen  Parlamentarimus 
und  der  preuszischen  Statsregierung.  Aber  während  der  zähen 
und  erbitterten  Kämpfe  zwischen  Reform  und  Reaction,  Auto- 
rität und  Volksfreiheit  trieb  die  neue  Verfassung  doch  tiefere 
Wurzeln,  und  nach  und  nach  fanden  sich  alle  Gegensätze  in 
der  Pflicht  gegen  den  wachsenden  deutschen  Stat  zusammen. 
Im  Feuer  des  deutschen  Krieges  von  1866  wurden  die  harten 
Widersprüche  geschmolzen  und  die  Einigung  vollzogen. 

Auch  Oester reich  wurde  von  der  Revolution  des  Jahres 

1848  unvorbereitet  überfallen.  Die  einzelnen  Völker,  welche 
bisher  durch  die  liabsburgische  Dynastie  zusammengehalten 
waren,  versuchten  sich  loszureiszen,  und  in  dem  Centrum  der 
Monarchie,  in  Wien,  regierte  eine  Weile  die  unerfahrene  schwär- 
merische Jugend.  Nur  in  der  Armee,  sonst  nirgends  mehr 
war  Einheit,  in  ihr  auch  der  letzte  Halt  der  Monarchie.  Die 
Siege  der  Armee  aber  verschafften  den  österreichischen  Stats- 
männern  wieder  die  Möglichkeit,  die  Zügel  der  Regierung  zu 
ergreifen,  und  im  Gedränge  der  innern  und  äuszern  Gefahren 
unternahmen  sie  den  Aufbau  eines  neuen  enger  verbundenen 
Gesammtstates.    Durch  die  octroyirte  Verfassung  vom  4.  März 

1849  wurde  ein  erster  Versuch  gewagt  einer  Organisation  des 
Reiches  nach  den  Grundsätzen  der  constitutionellen  Monarchie. 
Aber  die  Schwierigkeiten,  so  verschiedene  Völker,  die  über- 
dem  noch  auf  verschiedenen  Culturstufen  stehen,  in  Einer 
Reichs  Versammlung  zu  einigen ,  schienen  damals  so  unüber- 
windlich, und  das  Bedürfnisz  nach  einer  einheitlichen  und  dic- 
tatorischen  Regierungsgewalt  nach  der  überwältigten  Auflehn- 
ung Ungarns  so  stark,  dasz  es  nicht  zur  Ausführung  jener 
Verfassung  kam.  Hatten  zuvor  die  verschiedenen  österreichi- 
schen Staten  ihre  Einheit  wesentlich  in  der  herrschenden  Dy- 
nastie gefunden,   so    sollte  auch  für  die  nächste  Zeit  die  ein- 


428  Viertes  Buch.     Die  Statsformeu. 

heitliche  Statsmacht  über  das  ganze  geeinigte  Reich  aussdiliesz- 
lich  der  Person  des  Kaisers  anvertraut  bleiben.  Durch  das 
kaiserliche  Patent  vom  20.  August  1851  wurde  bestimmt,  dasz 
die  Minister  nur  dem  Throne  verantwortlich  seien,  durch  das 
Cabinetsschreiben  vom  20.  August  1851  der  Eeichsrath  in 
einen  Kath  der  Krone  umgewandelt,  und  durch  das  Patent 
vom  31.  December  1851  wurden  die  constitutionelle  Verfassung 
und  die  Grundrechte  von  1849  aufgehoben.  In  dem  Cabinets- 
schreiben endlich  vom  31.  December  1851  wurden  in  den 
Kronländern  berathende  Ausschüsse  des  grundbesitzenden  Erb- 
adels, der  übrigen  Grundbesitzer  und  der  Industriellen  in  Aus- 
sicht gestellt,21  aber  in  Wahrheit  das  System  der  absoluten 
Monarchie  wiederhergestellt.  Mit  Hülfe  eines  maschinenartig 
zu  bewegenden  Beamtensystems  übte  dieselbe  die  Begierungs- 
gewalt aus  und  stützte  sich  dabei  in  geistiger  Hinsicht  auf 
das  Wohlwollen  des  katholischen  Klerus  und  in  materieller  auf 
die  starke  Armee. 

Seit  dem  Jahre  1858  hatte  die  absolutistische  Politik  in 
Preuszen,  Bayern,  Baden,  Württemberg,  Kurhessen  u.s.f.  eine 
Keine  von  Niederlagen  erlitten  und  Oesterreich  erfuhr  es  in 
dem  Italienischen  Kriege  708  1859,  dasz  die  drei  einzigen 
Stützen  der  absoluten  Politik,  die  Bureaukratie,  <li'1  Armee  und 
der  Klerus  in  der  Krisis  ohnmächtig  werden.  Wiederum  sah 
die  kaiserliche  Regierung  die  einzig-mögliche  Rettung  aus  ihrer 
Finanznoth  und  aus  ihrer  ionischen  Verkommenheit  in  der 
Gewährung  der  Repräsentativverfassung  und  der  Umwandlung 
der  absoluten  in  die  constitutionelle  Monarchie.  Das  kaiser- 
liche Diplom  vom  20.  October  1800  verkündete  diesen  Ent- 
schlusz  und  das  Grundgesetz  vom  26.  Februar  1861  suchte 
denselben  auszuführen. 

Die  Machtstellung  der  Oesterreichischen  Monarchie  sollte 
nach  der  Erklärung  der  Diplome  ihre  Ausgleichung  finden  mil 
, dem  geschichtlichen  Rechtsbewusztsein  ihrer  verschiedenen  Kö- 

*  ZachariS,  a.   Verf.  6.  62  ff 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.    429 

nigreiche  und  Länder."  Die  „historischen  Völkerindividuen" 
sollten  ihre  Landtage  haben  mit  beschränkter  Autonomie  und 
hinwieder  in  dem  gemeinsamen  Reichstag  zusammenwirken 
bei  der  Gesetzgebung  des  Reichs  und  der  Controle  der  Reichs- 
regierung. Die  Verfassung  selbst  unterschied  hinwieder  einen 
Weitem  Reichstag  für  die  Gesammtmonarchie  und  einen 
Engern  Reichstag,  vorzüglich  für  die  westlichen  Länder. 
Indessen  auch  diese  Verfassung  gelangte  nur  zu  einem  Ver- 
suche des  Lebens,  nicht  zu  wirklichem  Leben,  da  sich  die 
Ungarn  weigerten,  den  Reichstag  zu  beschicken. 

Wiederum  wurde  die  Wirksamkeit  des  Reichstages  am 
20.  Sept.  1865  durch  eine  einseitige  Kaiserliche  Erklärung 
sistirt  und  von  neuem  die  Reichsregierung  ohne  Controle  des 
Reichstages  geführt.  Erst  das  neue  Kriegsunglück  des  Stats 
brachte  im  Jahre  1800  wieder  einen  Umschwung  zu  Stande. 
Nach  der  Niederlage  von  Königsgrätz  und  dem  Frieden  mit 
Preuszen  von  Prag  wurde  ernstlicher  wie  bisher  von  der  Kai- 
serlichen Regierung  mit  den  Ungarn  unterhandelt,  die  nicht 
gesonnen  waren,  ihre  alt-hergebrachten  verfassungsmäszigen  Rechte 
aufzugeben  und  gegen  eine  octroyirte  Verfassung  des  Kaiser- 
tums auszutauschen.  Erst  als  ihnen  die  Rechtscontinuität 
nicht  blosz  der  Ungarischen  Verfassung,  sondern  ebenso  der 
Ungarischen  Gesetze  von  1848  und  die  furtdauernde  Selbständigkeit 
des  Königreiches  wieder  zugestanden  ward,  mit  Kraftloserklär- 
ung aller  inzwischen  versuchten  Eingriffe,  liesz  sie  sich  herbei, 
ihren  Frieden  mit  der  Krone  zu  machen.  Damit  aber  war 
wieder  der  Dualismus  des  Reichs  hergestellt.  Dem  Ungari- 
schen Reichstage  und  Ministerium  trat  nun  wieder  ein  öster- 
reichischer Reichstag  und  ein  österreichisches  Ministerium  für 
die  Länder  dieszseits  der  Leitha  an  die  Seite.  Auch  für  sie 
muszte  die  sistirte  Verfassung,  soweit  sie  noch  anwendbar 
war,  hergestellt  werden.  Die  beiden  Reichstage  suchten  dann 
nach  einer  ausgleichenden  Delegirtenversammlung ,  welche  in 
Verbindung    mit   den   beiden    gemeinsamen  Ministern   für   das 


430  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Auswärtige  und  die  Finanzen  eine  Einigung  in  der  Politik  der 
gesammten  Monarchie  herzustellen,  die  Aufgabe  erhielt.  Ob  diese 
vermittelnde  Einrichtung  gelingen  werde,  ob  nicht,  das  mag 
immer  noch  zweifelhaft  sein ;  aber  das  ist  sicher,  dasz  weder  Un- 
garn, noch  Deutsche  und  Böhmen  geneigt  sind ,  sich  die  absolute 
Monarchie  länger  gefallen  zu  lassen,  und  dasz  alle  diese  Nationen, 
wenn  auch  in  verschiedenen  Formen  eine  constitutionelle  Mo- 
narchie mit  Einflusz  und  Controle  der  Volksvertretung  ent- 
schieden verlangen. 

7.  Der  Versuch,  die  repräsentative  Verfassungsform,  wel- 
che seit  der  Eevolution  von  18-18  in  allen  deutschen  Ländern 
als  die  noch  einzig  mögliche  Form  der  Monarchie  proclamirt 
worden  war,  auch  auf  den  deutschen  Bund  als  einen  Gesammt- 
stat  überzutragen,  führte  zu  der  deutschen  Reichsverfassung 
vom  28.  März  1849,  welche  zunächst  ganz  Deutschland  auszer 
Oesterreich  unter  einem  Deutschen  mit  der  Preuszischen 
Königskrone  verbundenen  Erbkaiserthum  ,  zusammen  faszte, 
den  Einzelstaten  eine  Repräsentation  in  einem  Statenhaus  ein- 
räumte und  dem  deutschen  Volk  eine  Vertretung  in  einem 
Volkshause  zusicherte.  Indessen  diese  Verfassung  gelangte 
nicht  zur  Wirksamkeit.  Oesterreich  verwarf  diese  Lösung  der 
deutschen  Frage  und  bereitete  sich  zur  Bekämpfung  derselben 
vor;  der  König  von  Preuszen  nahm  die  Kaiserkrone  nicht  aus 
den  Händen  der  Nationalversammlung;  auch  Bayern  weigerte 
seinen  Beitritt.  Die  deutsche  Nation  war  nicht  entschlossen 
genug,  für  die  Verfassung  einzustehen.  Die  dynastischen  und 
particularistischen  Kräfte  waren  stärker  als  das  nationale  Be- 
wusztsein.  Auch  alle  spätem  Versuche  besonders  Preuszens 
einen  engern  Bund  als  constitutionelle  Monarchie  zu  gestalten, 
scheiterten  an  dem  Widerstand  jener  Kräfte.  Erst  der  deutsche 
Krieg  von  1866  überwand  die  zähen  Hindernisse,  welche 
Oesterreich  und  die  Dynastieen  erhoben  hatten.  Die  Verfassung 
des  norddeutschen  Bundes  vom  16.  April  1867  ist  insofern 
als  deutsche  constitutionelle  Monarchie  zu  betrachten,   als  dii 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit    Monarchie.    431 

Hauptleitung  der  gemeinsamen  Bundespolitik  dem  Könige  von 
Preuszen  als  erblichem  Bundespräsidium  und  gebornem 
Bundesfeldherrn  zukommt,  der  Bundeskanzler  von  ihm 
ernannt  wird  und  dem  Reichstag  verantwortlich  ist,  die  Mit- 
wirkung des  Bundesraths  die  Betheiligung  der  Einzelstaten  an 
der  Gesammtleitung  sichert,  und  der  Reichstag  als  Vertretung 
des  deutschen  Volkes  Antheil  an  der  Gesetzgebung  und  eine  Con- 
trole  der  Regierung  und  Verwaltung  hat. 


Fassen  wir  die  Resultate  zusammen: 

In  West-Europa  hat  das  System  der  repräsentativen 
oder  der  Constitution  eilen  Monarchie  das  entschiedenste 
Uebergewicht  erlangt.  Fast  in  allen  Staten  der  civilisirten 
europäischen  Völker  werden  nicht  blosz  das  Privatrecht  der 
Bürger,  sondern  auch  politische  Rechte  der  Volksmenge  und 
ihrer  Classen  anerkannt  und  Stellvertreter  derselben  zur  Mit- 
wirkung bei  der  Gesetzgebung  zugezogen.  Die  europäische 
Monarchie  ist  nicht  mehr  eine  unbeschränkte  und  absolute 
Gewalt,  sondern  eine  durch  das  Recht  auch  der  Unter- 
thanen  beschränkte  oberste  Rechtsmacht. 

Aber  im  Uebrigen  sind  die  Verfassungsformen  noch  sehr 
verschieden. 

In  England  ist  das  Königthum  von  einer  mächtigen 
Aristokratie  umgeben,  und  die  thatsächliche  Leitung  mehr 
von  den  Mehrheiten  der  Parlamentshäuser  und  den  ihnen  ver- 
antwortlichen Ministern  als  von  dem  individuellen  Willen  des 
Königs  abhängig.  Auf  dem  Continente  dagegen  gibt  es 
nirgends  mehr  eine  so  angesehene  Aristokratie.  Vielmehr 
kommt  da  neben  dem  monarchischen  das  demokratische 
Element  vorzüglich  in  Betracht ;  das  aristokratische  hat  da  nur 
eine  ermäszigende  und  vermittelnde  Bedeutung.  Die  continen- 
talen  Verfassungskämpfe  sind  Strebungen  dieser  mächtigen  Ele- 


432  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

mente,  das  richtige  Verkältnisz  zu  einander  und  zum  Ganzen 
zu  finden.  Die  ausschlieszliche  Geltung-  des  einen  und  die 
völlige  Unterdrückung  des  andern  wurde  oft  versucht,  aber  im- 
mer wieder  erhob  sich  das  entgegengesetzte  Element  von  mo- 
mentanem Fall.  Die  constitationelle  Monarchie  des  Continents 
strebt  offenbar  eine  organische  Gestaltung  an,  welche  allen 
Theilen  des  Gesammtkmmers  ihr  Recht  gebe,  der  Monarchie 
die  Fülle  der  Macht  und  Hoheit,  den  aristokratisch«  Ele- 
menten Würde  und  Autorität,  dem  Demos  Frieden  und  Freiheit. 
Ueberall  auf  dem  Continent.  vorzüglich  aber  in  Frank- 
reich und  in  Deutschland  i>t  die  Monarchie  nicht  blosz 
der  äuszern  Form  nach,  sondern  der  ganzen  Anlage  des  Ver- 
fazsungskörpers  nach  die  active  Hauptmacht.  Sie  wird  nur 
dann  gehemmt  durch  die  unberechenbare,  aber  in  der  Kegel 
ruhende  Macht  der  öffentlichen  Meinung,  wenn  sie  in  Wi- 
derspruch tritt  mit  den  Instineten  der  Nation  und  mit  der  Ström- 
ung der  Weltgeschichte.  In  Harmonie  mit  denselben  aber  ist 
sie  viel  starker  als  die  Aristokratie,  «reiche  entweder  wie  in 
Deutseliland  ihr  gegen  gewisse  Vortheile  zu  dienen  bereit  ist, 
oder  wie  La  Frankreich  in  Ohnmacht  murrt,  und  selbst  als  die 
Vertretung  des  ganzen  (Ihrigen  Volks,  welche  nur  die  Re- 
gierung controliren,  aber  Dicht  selber  regieren  will.  In  Frank- 
reich aber  stützt  sieh  die  Monarchie  mehr  auf  die  Zustimmung 
der  grossen  Volksmassen,  in  Deutschland  mehr  thetls  auf  die 
Staatsmittel  des  Beamtentums,  welches  hinwieder  die  Monarchie 
am  meisten  besehrankt,  fcheils  auf  die  Armee.  Zu  einer  be- 
friedigenden Organisation  des  Dem«.,  ist  es  aber  imeh  nirgends 
gekommen,  obwohl  Anlange  dazu  allenthalben  vorhanden  sind. 
Erst  wenn  diese  gelungen  Bein  wird,  und  erst  wenn  auch  die 
Dynastien  die  mittelalterliehen  Vorurtheile  abgestreift  und  (Um 
modernen  Statsgeist  völlig  aufgenommen  haben  werden,  ist  <\w 
vieljährige  Widerstreit  zur  Versöhnung  und  die  organisch  be- 
schränkte moderne  Monarchie,  welche  die  Einheit  des  Ganzen 
mit  der  .Freiheit  aller  Theile  verbinden    und  den  romanischen 


Einundzwanzigstes  Capitel.     1.  Entstehung  der  constit.  Monarchie.  433 

Statsgeist  mit  dem  germanischeu  Freiheitsgefühl  zur  Harmonie 
zusammenstimmen  will,  zu  sicherem  Dasein  gelangt. 

Anmerkung.  In  einer  Schrift,  welche  in  den  höchsten  Kreisen 
der  Gesellschaft  vielfältig  mit  Beifall  aufgenommen  worden  ist,  unter 
den  gebildeten  Mittelklassen  aber  allgemeine  Miszbilligung  erfahren  hat: 
„Die  Vortrefflichkeit  der  constitutionellen  Monarchie  für  England  und  die 
Unbrauchbarkeit  der  constitutionellen  Monarchie  für  die  Länder  des  eu- 
ropäischen Continentes;  Hannover  1852"  —  hat  sich  Gustav  Zimmer- 
mann, der  seither  in  Hannover  zu  einer  für  den  Fürsten  und  das  Volk 
beklagenswerthen  Wirksamkeit  gelangt  ist,  über  das  auf  dem  Titel  aus- 
gesprochene Thema  näher  erklärt.  Ich  betrachte  diese  Schrift  als  ein 
absolutistisches  Gegenstück  einer  fruchtbareren  radicalen  Litteratur  über 
die  constitutionelle  Monarchie.  Wie  diese  sehr  häufig,  so  hat  auch  Gust. 
Zimmermann  seinen  Begriff  der  constitutionellen  Monarchie  lediglich  von 
den  äuszern  Formen  und  Maximen  der  englischen  Verfassung  abgezogen. 
Wenn  er  dann  behauptet,  dasz  dieser  abgezogene  Begriff  auf  dem  Con- 
tinent  nicht  anwendbar  sei,  weil  in  England  seine  innern  Widersprüche 
und  Mängel  durch  den  historischen  Zusammenhalt  und  die  Interessen  der 
herrschenden  Aristokratie  vermittelt  und  verbessert,  hier  aber  durch  die 
demokratische  Erfülluni;-  gesteigert  werden,  so  hat  er  darin  nicht  Un- 
recht. Aber  der  parlamentarische  Constitutionalismus  in  England  darf 
nicht  mit  der  Idee  der  constitutionellen  Monarchie  verwechselt  werden. 
Jener  ist  der  erste  groszartige  und  trotz  der  logischen  Fehler  glückliche 
Versuch  ihrer  Verwirklichung,  nicht  ihre  Vollendung.  Man  kann  die 
Unanwendbarkeit  des  englischen  Parlamentarismus  auf  den  Continent 
zugeben  und  doch  für  diesen  die  Brauchbarkeit  der  constitutionellen 
Monarchie,  d.  h.  der  Monarchie  fordern,  welche  anerkennt,  dasz  ihre 
politischen  Rechte,  wie  die  der  regierten  Volksclassen  verfassungsmäszig 
bestimmt  und  beschränkt  seien,  und  dasz  insbesondere  für  die  Gesetz- 
gebung alle  Theile  des  Volkskörpers  zusammen  wirken  müssen.  Die  or- 
ganische Monarchie  ist  noth wendig  zugleich  eine  constitutionelle,  denn 
der  Organismus  ist  selbst  die  Constitution.  Dasz  trotz  allem  Scharfblick 
im  Einzelnen  Gustav  Zimmermann  im  Ganzen  kein  Verständnisz  hat  für 
das  moderne  Statsbewusztsein,  ergibt  sich  aus  seiner  beharrlichen  Be- 
zeichnung der  obrigkeitlichen  Statsgewalt  als  „Eigenthum"  der  Fürsten. 
Indem  er  diesen  mittelalterlichen  Standpunkt  wählt,  geräth  er  mit  der 
gesammten  Bewegung  der  neuen  Zeit  in  den  feindseligsten  Gegensatz; 
er  kann  so  an  einer  kleinen  Stelle  die  Strömung  eine  Weile  stauen,  aber 
er  wird  von  den  höher  gehenden  Wogen  in  Kurzem  sammt  dem  morschen 
Gezimmer,  das  er  sich  in  den  Strom  hineinbaut,  weggerissen  und  ver- 
schlungen werden.  (Ich  lasse  diese  zuerst  1857  geschriebene  Stelle 
wörtlich  stehen.  Sie  hat  1866  ihre  Erfüllung  erlebt.)  Wenn  über  irgend 
etwas  unsere  Zeit  klar  und  entschieden  ist,   so  ist  es  darüber,  dasz  die 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  28 


434  Viertes  Buch.     Die  Statsforrnen. 

Statsgewalt  öffentliches  Recht  und  öffentliche  Pflicht  ist,  d.h. 
dem  gemeinsamen  politischen  Dasein  und  Leben  des  ganzen  Yolkes  zu- 
gehört, und  dasz  sie  daher  kein  Eigenthum  eines  Individuums  für  sich, 
d.  h.  kein  Privatrecht  sein  kann. 


Zweiundz  wanzigst  es  Capitel. 

2.   Falsche  Vorstellungen  von  der  constitutionellen  Monarchie. 

Die  civilisirten  Staten  Europa's  haben  sich  fast  alle  dem 
System  der  c on  s t i tu t i o n  e  1 1  e n  M o n a r c h  i e  zugewendet,  und 
in  ihr  den  Äbschlusz  der  Gegensätze,  welche  das  Mittelalter 
hinterlassen  hat,  der  Zerbröckelung  und  Erstarrung  des  States 
einerseits  und  der  absoluten  Monarchie  andererseits,  in  ihr  auch 
eine  Versöhnung  der  verschiedenen  politischen  Strömungen  und 
Richtungen  der  Zeit,  insbesondere  der  Demokratie  und  der 
Monarchie  zu  finden  gehofft.  Die  Erörterung  der  Grundlagen 
dieses  Systems  hat  demnach  ein  unmittelbar  practisches  Interesse. 

Beseitigen  wir  zu  diesem  Behuf  vorerst  einige  Trrthümer 
und  Miszverständnisse  dieses  Systems: 

1.  Die  französische  Revolution  hat  in  den  ersten  Jahren 
den  Gedanken  Rousseau's  verwirklichen  wollen,  dasz  es  im 
State  zwei  Gewalten  gebe,  die  des  Willens,  die  gesetz- 
gebende, und  die  der  physischen  Kraft,  welche  den 
Willen  vollziehe.  „Das  Volk  will,  der  König  führt  aus," 
das  hielt  man  damals  in  Frankreich  für  das  Wesen  der  con- 
stitutionellen Monarchie. 1 

1  Rousseau,  Contr.  Soc.  III,  1:  „Toute  action  libre  a  deux  causes, 
qui  concourent  a  la  produire,  l'une  morale,  savoir  la  volonte  qui  dc'tcr- 
mine  l'acte,  l'autre  physiquc,  savoir  la  puissance  qui  l'execute.  —  Le 
corps  politique  a  les  mcmcs  mobiles,  on  y  distingue  de  morae  la  force 
et  la  volonte;  celle-ci  sous  le  nom  de  puissance  legislative;  l'autre  sous 
le  nom  de  puissance  executive."  Mirabeau,  Kode  vom  1.  Sept.  1789: 
„Deux  pouvoirs  sont  necessaires  a  l'existence  et  aux  fonetions  du  corps 
politique;   celui  de   vouloir  et  celui   d'agir.     Pur   le   premier  la   societe 


Zweiundzwanzigstes  Capitel.     2.  Falsche  Vorstellungen  etc.      435 

Dieser  Gedanke  setzt  das  Volk  dem  Könige  gegenüber, 
und  indem  er  diesen  zum  bloszen  Diener  eines  ihm  fremden 
und  ohne  seine  Mitwirkung  entstandenen  Volkswillens  macht, 
hebt  er  den  Begriff  der  Monarchie  auf.  Der  Fall  des  Königs 
Ludwigs  XVI.  und  die  Proclamation  der  jakobinischen  Kepu- 
blik  war  freilich  die  Folge  der  historischen  Ereignisse ,  aber 
zugleich  auch  eine  natürliche  Consequenz  dieses  Verfassungs- 
princips. 

Denkt  man  sich  aber  den  König  nicht  als  untergeordnet 
der  gesetzgebenden  Gewalt,  von  der  er  ausgeschlossen 
wird,  sondern  als  dieser  gleichgestellt,  so  ist  die  not- 
wendige Einheit  im  Statsorganismus  aufgegeben,  und  wir  haben 
ein  Monstrum  mit  zwei  Köpfen,  eine  unhaltbare  D}^archie,2 
welche  entweder  den  Stat  zerreiszt,  oder,  sei  es  dem  monarchi- 
schen, sei  es  dem  republikanischen  Princip,  wieder  weichen  musz. 

etablit  les  regles  qui  doivent  la  conduire  au  but  qu'elle  se  propose,  et 
qui  est  incontestablement  le  bien  de  tous.  Par  le  second  ces  regles 
s'executent,  et  la  force  publique  sert  ä  faire  triompher  la  societe  des 
obstacles  que  cette  execution  pourrait  rencontrer  dans  l'opposition  de3 
volontes  individuelles.  Chez  une  grande  nation  ces  deuxpouvoirs  ne  peuvent 
etre  exerces  par  elle-mcme;  de  lä  la  necessite  des  representants  du  peuple 
pour  l'exercice  de  la  faculte  de  vouloir,  ou  de  la  puissance  legislative; 
de  lä  encore  la  necessite  d'une  autre  espece  de  representants  pour  l'exer- 
cice de  la  faculte  d'agir  ou  de  la  puissance  executive."  Thiers,  bist,  de 
la  revol.  franc.  I,  S.  97:  „Za  nation  veut ,  le  roi  fait^  les  esprits  ne 
sortaient  pas  de  ces  elemens  simples ,  et  ils  croyaient  vouloir  la  monar- 
chie,  parce  qu'ils  laissaient  un  roi  comrae  executeur  des  volontes  natio- 
nales. La  monarchie  reelle,  teile  qu'elle  existe  meme  dans  les  Zitats 
libres,  est  la  domination  dyun  seul,  ä  laquelle  ont  inet  des  bornes  au 
moyen  du  concours  national.  —  Mais  des  l'instant  que  la  nation  peut 
ordonner  tout  ce  qu'elle  veut,  sans  que  le  roi  puisse  s'y  opposer,  par 
le  veto,  le  roi  n'est  plus  qu'un  magistrat.  C'est  alors  la  republique  avec 
un  seul  consul  au  Heu  de  plusieurs.  Le  gouvernement  de  Pologne  quoi- 
qu'il  y  eut  un  roi,  ne  fut  jamais  (?)  nomme  une  monarchie." 

2  Die  Spaltung,  welche  in  dieser  Dyarchie  unvermittelt  vorliegt,  ist 
denn  auch  in  Frankreich  von  der  demokratisch-republikanischen  Partei 
wohl  begriffen  worden,  und  sie  hat  dieselbe  benutzt,  um  das  Königtimm 
gänzlich  zu  beseitigen. 

28* 


436  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

2.  Im  Gegensatze  zu  dieser  Verkehrtheit  hat  Sieyes  in 
seiner  Verfassung  dem  Statsoberhaupt  umgekehrt  eine  ruhende 
Stellung  zuweisen  wollen,  und  darin  die  moderne  Entwicklung 
des  constitutionellen  Systems  gesehen.  Dieser  Doctrin  aber 
hatNapoleon,  der,  wenn  je  einer  ein  geborner  Monarch  war. 
durch  sein  berühmtes  Wort:  „Wie  haben  Sie  sich  einbilden 
können,  dasz  ein  Mann  von  einigem  Talant  und  einigem  Ehr- 
gefühl sich  zur  Rolle  eines  Mastschweins  hergebe,  das  mit  ein 
paar  Millionen  gefüttert  wird?"  —  ein  unauslöschliches  Brand- 
mal aufgedrückt.3 

3.  Häufiger  noch  wird  als  das  Wesen  dieser  Statsform 
der  Satz  behauptet:  „Der  König  hat  /war  das  Recht  der 
Herrschaft  und  der  Regierung,  aber  die  Ausübung  dieses 
Rechts  steht  nicht  ihm,  sondern  den  Ministern  zu/*  Faetisch 
mag  diesz  Verhältnis/  in  manchen  Ländern  zu  gewissen  Zeiten 
so  bestanden  haben  und  noch  bestehen.  Als  Statsprincip  und 
als  Statsform  anerkannt  aber  würde  es  Verzichtleistang  auf 
die  Monarchie  und  Einführung  der  Republik  sein.  Denn  wenn 
die  Ausübung  eines  [(echtes  dem  auf  die  Dauer  entzogen 
wird,  dem  man  das  Hecht  zuschreibt.  so  hat  dieser  den  re- 
alen Inhalt  des  Rechtes  verloren,  und  es  kann  nicht  fehlen, 
dasz  dem,  welcher  das  Recht  der  Ausübung  erworben  hat, 
auch  die  bei  jenem  zurückgebliebene  lere  Schale  und  der  Name 
des  Rechtes  nachfolgt.  Als  die  Ausübung  des  Ghrundeigen- 
thums  im  Mittelalter  dauernd  auf  die  Vasallen  und  die  hof- 
hörigen  Bauern  übergegangen  war,  wurde  auch  das  EHgenthum 
selbst  anfänglich  als  nutzbares  Eigenthum  von  diesen  erworben, 
und  der  formelle  Schein  und  Name  des  Obereigenthumfl  ging 
im  Verfolg  der  Zeit  für  den  vormaligen  Herrn  anabwendbar 
verloren.  Als  die  karolingischen  Hausmeyer  die  königliche 
Macht  der  Merowinger  erworben  hatten,  blieb  auch  der  Name 
des  Königthums  nicht  bei  diesen.  Ist  einmal  die  wirkliche 
Regierungsmacht  von  dem  Könige  abgelöst  und  den  Ministern 

1  Las  Costa  Mim.  IV. 


Zweiundzwanzigstes  Capitel.     2.  Falsche  Vorstellungen  etc.     437 

zu  Kecht  übergeben,  so  ist  es  eine  republikanische  Be- 
hörde, welcher  das  Regiment  in  Wahrheit  zukommt,  und  das 
Königthum  ist  zur  leeren  Form  geworden.4  Das  blosze 
Symbol  an  der  Spitze  des  States,  statt  einer  lebendigen  und 
thatkräftigen  Individualität,  könnte  höchstens  als  Ideokratie, 
nicht  als  Monarchie  gelten. 

4.  Es  ist  daher  auch  ein  absurder  Satz,  dasz  es  in  der 
constitutionellen  Monarchie  „gleichgültig"  sei,  wer  König  sei, 
ob  eine  ausgezeichnete  Persönlichkeit  oder  eine  unbedeutende, 
ob  ein  verständiger  oder  ein  beschränkter  Kopf,  ein  edler  Cha- 
nikter  oder  ein  Bösewicht.  Die  Constitutionen -monarchische 
Statsform  hat  die  Tendenz,  dafür  zu  sorgen,  dasz  der  König 
zwar  so  wenig  Uebels  als  möglich  thun,  aber  dasz  er  auch  so 
viel  Gutes  thun  könne  als  möglich.  Nur  in  diesem  Sinne  be- 
schränkt sie  ihn.  Sie  weisz,  dasz  er  ein  Mensch  ist,  und  dasz 
Uebermacht  selbst  die  Bessern  verdirbt.  Aber  sie  will  ihn 
nicht  zur  Puppe  machen  in  der  Hand  der  Minister.  Sie  will 
nicht  in  ihm,  der  die  oberste  und  herrlichste  Stellung  im  State 
hat,  die  Würde  des  Menschen  vernichten,  indem  sie  seine 
menschlichen  Eigenschaften  negirt.  Sie  will  nicht  ihm,  der 
das  höchste  politische  Recht  hat,  das  geringste  Masz  von  poli- 
tischer Freiheit  zuerkennen.  Wie  wäre  Liebe,  Ehrfurcht,  Treue 
gegen  den  Monarchen  denkbar,  wenn  es  gleichgültig  wäre,  ob 
er  derselben  persönlich  würdig,  ob  er  auch  nur  fähig  sei,  die 
Hingebung  und  Verehrung  des  Volkes  zu  verstehen  und  zu  er- 
wiedern?  Die  Consequenz  jenes  falschen  Princips  müszte  zu 
der  Behauptung  führen:  je  der  blödsinnigste  und  schwächste 
Fürst,   der  am  wenigsten  eigene  Einsicht  und  eigenen  Willen 


4  Unter  jener  Voraussetzung  hatte  die  radical-deraokratisclie  Partei 
zu  Frankfurt  im  Jahr  1848  Recht  gehabt,  in  ihrem  Programm  das„con- 
stitutionelle  Königthum"  als  eine  „Sinecure,"  als  einen  „abgetragenen 
Hut"  zu  erklären,  nur  bestimmt:  „einen  Premierminister  zu  ernennen" 
(der  dann  regelmäszig  auch  aufgedrungen  würde),  und  „für  die  Erzeug- 
ung eines  Nachfolgers"  zu  sorgen. 


438  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

hat,  wäre  der  constitutionellste  Monarch.5  Und  eine  solche 
Statsform  sollte  die  Erfüllung  der  Sehnsucht  sein,  welche  die 
Völker  haben  nach  einer  wohlorganisirten  und  geistig  gehobenen 
Statsordnung  ? 

Man  hat  sich  öfter  auf  die  englische  Verfassung  berufen, 
um  diese  unsinnige  Vorstellung  zu  rertheidigen.  Allein  auch 
in  England  ist  die  Persönlichkeit  des  Monarchen  nichts  woni- 
ger als  gleichgültig. 6 

5.  Auch  den  berühmten  Satz  von  Thiers:  wLe  roiregne 
mais  ü  ne  gouverne  pas*  (der  König  herrscht  aber  er  regiert 
nicht)  können  wir  nicht  als  eine  richtige  Bezeichnung  des 
constitutionell-monarchischen  Principe  gelten  lassen.  Ist  es 
doch  dem  gewandten  Minister  selber  nicht  gelungen,  denselben 
dem  Könige  Ludwig  Philipp  gegenüber  practisch  durch- 
zuführen! Und  sicherlich  nicht  daran  ist  der  König  gescheitert, 
dasz  er  nicht  blosz  herrschen,  sondern  auch  regieren 
wollte.  Sein  Nachfolger  der  Kaiser  Napoleon  hat  gerade  da- 
durch den  Beifall  der  Massen  erworben,  dasz  er  selber  die 
Regierang  ausübte. 

Durch  den  Ausdruck  herrschen  waren  mehr  die  for- 
mellen Hoheits-  und  Majestätsrechte  des  Königs,  durch  das 
Wort  regieren  die  praefcisch-reale  Oberleitung  der  »tätlichen 
Politik  bezeichnet.  Beiderlei  Rechte  gehören  dem  Statsober- 
haupte   zu,    und    dieses   insbesondere   von   der    Ausübung   der 

5  Auch  Segel,  Eteohtsphil.  X-  280   geht  zu  weit,    «renn   er  meist: 

„der  Monarch  habe  nur  Ja  zu  sogen,  und  den  Tunkt  auf  uns  I  zu  86*161)  " 
Er  hat  nicht  blosz  Ja,  sondern  auch  Nein  EU  legen,  und  nicht  blosz  den 
ff  orm eilen  Entscheid11  in  geben,  sondern  auch  das  reell  entscheidende 
Wort.  Er  hat  nicht  blosz  zu  entscheiden,  er  hat  auch  anmregen  und 
einzugreifen,  wo  es  noth  fchnt.  .1.  11.  Fichte,  Beitrag  zur  Statf- 
lehre:  „Der  leerköpfigste  Regent  wäre  dann  der  idealste." 

Wer  darüber  zweifelt,  der  lese  Broughams  Stahmänner,  und  er 
wird  sich  überzeugen,  dasz  auch  in  England  eine  nensohlichrpersönliehe 
Wechselwirkung  zwischen  der  Individualität  des  Monarchen  und  -einer 
Minister  besteht,  und  es  ganz  irrig  ist  zu  meinen,  es  komme  dort  auf 
den  Willen  des  ersteren  nichts  an.     Vgl.  oben  Cap.    21,   Aum.   .). 


Zweiundzwanzigstes  Capitel.     2.  Falsche  Vorstellungen  etc.     439 

wichtigeren,  letzteren  aussclilieszen  (eine  blosz  formelle  Be- 
theiligung ist  Ausscklicszung  von  dem  wesentlichen  Antheil) 
ist  wieder  Zerstörung  des  Kerns  der  königlichen  Gewalt.  vRex 
est  qui  regit." 

Nicht  zu  verwechseln  mit  dem  regieren  (gouverner) 
das  blosze  verwalten  (administriren).  Sich  mit  diesem 
kleinen  Geschäftsdetail  fortwährend  abzugeben,  kann  allerdings 
dem  Könige  weder  zugemuthet  werden,  noch  ist  es  für  die 
Leitung  des  States  irgend  ersprieszlich,  wenn  er  sich  damit  in 
der  Kegel  befaszt. 

6.  Andere  haben,  von  der  Idee  der  Volkssouveränetät  aus, 
das  Wesen  der  constitutionellen  Monarchie  darein  gesetzt,  dasz 
der  Monarch  „nach  dem  AVillen  und  dem  Sinne  der  Volks- 
mehrheit regiere."  Diese  Meinung  gibt  offenbar  die  Exi- 
stenz der  Monarchie  preis,  undläszt  sich  von  demokratischen 
Ideen  bestimmen.  Denn  die  Demokratie  ist  die  Herrschaft 
der  Volksmehrheit.  Die  Monarchie  aber  hat  einen  ihrer  wich- 
tigsten Vorzüge  gerade  darin,  dasz  sie  berufen  ist,  auch  die 
Minderheit  in  ihrer  Freiheit  und  in  ihrem  Kechte  vor  den 
Anmaszungen  der  Mehrheit  zu  schützen.  Wäre  der  Monarch 
nur  ein  Beauftragter  und  Diener  der  Mehrheit,  und  würde  so- 
mit dieser  die  Herrschaft  im  State  zukommen,  so  wäre  das 
nicht  Monarchie  mehr,  sondern  Demokratie,  eine  Demokratie 
freilich  mit  einem  Scheinmonarchen  an  der  Spitze,  welcher 
ohne  innere  selbständige  Macht  so  lang  ein  bloszes  Scheinleben 
fortführen  könnte,  als  jene  es  bequemer  fände,  ihre  wahre  Ge- 
walt zu  verbergen.7 

7  Gerade  diesen  Versuch  hat  die  französische  Nationalversammlung 
von  1789  gemacht.  Thiers  sagt  von  ihr  sehr  gut  (revol.  franc.  II, 
S.  198):  „Elle  etait  democratique  par  ses  idees  et  monarchique  par  ses 
sentiments."  Die  Ereignisse  haben  die  Unhaltbarkeit  eines  derartigen 
Zustandes  dargelegt.  In  Frankreich  hob  die  mächtige  Demokratie  das 
ohnmächtige  Königthum  auf  (1793). 


440  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Dreiundzwanzigstes  Capitel 

3.    Das  monarchische  Priucip  und    der  Begriff  der  constitutionellen  Monarchie. 

Die  constitutionelle  Monarchie  will  eine  wahre,  keine 
Scheinmonarchie  sein. 

Was  ist  nun  das  Wesen  der  Monarchie?  Ohne  Zweifel 
die  Personification  der  Statshoheit  nnd  der  Statsgewalt 
in  einem  Individuum.  Ton  der  Theokratie  unterscheidet 
sie  sich  auch  dann,  wenn  der  als  Herrscher  gedachte  Gott  sich 
durch  einen  Fürsten  vertreten  läszt,  indem  sie  dem  Monarchen 
selber  das  Eecht  der  Herrschaft  zuschreibt,  von  den  Republiken, 
welche  einen  Dogen  oder  Präsidenten  an  der  Spitze  haben,  aber 
dadurch,  dasz  die  republikanischen  Statshäupter  genöthigt  sind, 
sei  es  die  aristokratische  Minderheit,  sei  es  die  demokratische 
Mehrheit  als  den  eigentlichen  Herrscher  zu  betrachten,  dessen 
Vertreter  und  Diener  sie  sind,  der  Monarch  aber  nicht  Unter- 
than  dieser  Mächte,  sondern  immer  selbständiger  Inhaber  der 
Eegierungsgewalt  ist.  Die  Statsautorität  erhält  in  der  Mo- 
narchie im  Gegensatz  zu  dem  Collectivausdruck  der  Republik 
einen  höchsten  individuellen  Ausdruck.  Der  Monarch  ist  die 
Statsperson  im  eminenten  Sinne. 

In  jener  Begriffsbestimmung  sind  zwei  Seiten  zu  unter- 
scheiden, die  beide  vorhanden  sein  müssen,  wenn  noch  von 
Monarchie  die  Rede  sein  soll. 

I.  Die  persönliche  Erhebung  des  Statshaupts,  als  in- 
dividuellen Repräsentanten  und  Organ  der  obrigkeitlichen 
Gewalt. 

II.  Die  inhaltliche  Concentration  der  obersten  Stats- 
hoheit und  der  vollkommenen  Statsgewalt  in  ihm.  Die  beiden 
Pole  der  fürstlichen  Thätigkeit  sind  die  Initiative  und  die 
Sanction. 

L  Mit  dem  ersten  Princip  ist  wohl  verträglich: 


Dreiundzwanzigstes  Capitcl.     Das  monarchische  Princip  etc.     441 

1)  Die  Beschränkung  des  Monarehen  durch  die  Ee- 
präsentation  der  übrigen  Bestandteile  des  Volks  in  der 
Gesetzgebung,  und 

2)  die  Gebundenheit  des  Monarchen  an  die  Mitwirk- 
ung der  Minister  in  der  regelmäszigen  Ausübung  der  Ke- 
gierungsrechte  und  Pflichten.  Denn  wenn  auch  die  andern 
Glieder  des  Yolkskörpers  noch  so  hoch  stehen,  so  überragt 
er  sie  doch  noch,  als  der  Höhere ;  und  wenn  die  Verfassung 
auch  dafür  sorgt,  dasz  sein  individueller  Wille  wahrer  Stats- 
wille  und  nicht  selbstsüchtiger  Eigenwille  sei,  so  wird  dadurch 
nur  seine  Aufgabe  erleichtert  und  seine  Statsautorität  vor 
Miszgriffen  und  Fall  bewahrt. 

Aber  es  verträgt  sich  damit  nicht: 

1)  die  Vorstellung,  dasz  der  Monarch  ein  bloszes  Idol, 
eine  blosze  Form,  nicht  ein  lebendiges  Wesen  sei; 

2)  die  Einrichtung,  dasz  der  Monarch  der  Volksreprä- 
sentation oder  den  Ministern  untergeordnet  sei  und  von 
ihnen  gezwungen  werden  dürfe,  einen  Willen  zu  äuszern, 
den  er  nicht  hat,  und  zu  handeln,  wie  er  nicht  will. 

Da  die  oberste  Gewalt  seiner  Person  zusteht,  so  gebührt 
ihm  auch  die  Freiheit  und  das  Kecht  der  Persönlichkeit. l 
Seine  Person  gehört  zwar  auch  nicht  in  allen  Beziehungen  und 
nicht  ganz,  aber  sie  gehört  doch  vorzugsweise  und  mehr  dem 
State  an,  als  jede  andere  Person.  Er  ist  auch  ein  Gatte, 
Vater,  ein  Genosse  einer  Kirche,  vielleicht  ein  Gelehrter  oder 
Dichter.  Aber  in  allen  öffentlichen  Dingen  soll  sich  der 
Statswille  in  ihm  zum  individuellen  Willen  erheben  und  po- 
tenziren.  Der  monarchische  Stat  legt  auf  die  individuelle  Sorge 
und   die   individuelle   Energie    des    Monarchen   einen    groszen 


1  ßuizot  Mem.  II,  237.  „Dieu  seul  est  souverain  et  personne  ici- 
bas  n'est  Dieu,  pas  plus  les  peuples  que  les  rois.  Et  la  volonte  des  peuples 
ne  suffit  pas  ä  faire  des  rois;  il  faut  que  celui  qui  devient  roi  porte  en 
lui-meme  et  apporte  en  dot,  au  pays  qui  l'epouse,  quelques-uns  des  ca- 
racteres  naturels  et  independants  de  la  royaute." 


442  Viertes  Buch.     Die  Statsfornien. 

Werth,  und  es  wäre  ungereimt,  dem  Monarchen  das  höchste 
Recht  im  State  zuzusprechen  und  zugleich  ihn  um  deszwillen 
unter  die  Vormundschaft  anderer  zu  setzen.  Nicht  die  Kam- 
mern schaffen  das  Gesetz,  sondern,  indem  er  seine  Sanction 
frei  ertheilt,  begründet  e  r  das  statliche  Ansehen  des  Gesetzes. 
Nicht  die  Minister  fügen  seinen  Regierungsbeschliissen  ihre 
Autorität  bei,  sondern  er  verleiht  denselben  seine  Autori- 
tät, und  die  Minister  dienen  ihm  nur  als  Organe,  wenn 
auch  als  unentbehrliche  Organe  seines  Willens. 

So  weit  der  König  durch  die  Verfassung  nicht  beschränkt 
und  nicht  gebunden  ist  an  die  nothwendige  Zustimmung  oder 
Mitwirkung  anderer  Glieder  des  Statsorganismus ,  so  weit  ist 
er  auch  völlig  frei,  seinen  eigenen  persönlichen  Willen 
auszusprechen  und  demgemäsz  zu  handeln. 

Die  Eigenthümlichkeit  der  constitutionellen  im  Gegensatz 
zu  andern  Monarchien  besteht  darin,  dasz  der  Monarch  für 
sich  allein  weder  Gesetze  geben  noch  in  der  Regel  Regier- 
ungsliamllungen  aasüben  darf,  sondern  in  der  ersteren  Bezieh- 
ung die  M  i  t  w  i  r  k  u  n  g  und  Z  ust.i  m  m  u  n  g  der  Kammer n, 
in  der  letzteren  die  Mitwirkung  der  Minister  erfordert 
wird.  Sie  besteht  aber  nicht  darin,  dasz  der  Schwerpunkt  der 
Statsregierung   in  den  Kammern  oder   in  den  Ministern  liegt. 

Würde  die  Kammermajorität  und  der  Ministerrath  in  allen 
Fällen  mit  formeller  Notwendigkeit  die  Handlungen  des  Fürsten 
bestimmen,  so  wäre  eine  solche  eigentliche  Parlaments-  und 
Ministerregierung2  allerdings  im  Widerspruch  mit  dem 
monarchischen  Princip.  Der  constitutionelle  Monarch  wird  sich 
thatsächlich  meistens  durch  das  schwere  Gewiclit  jener  Ab- 
stimmungen und  Anträge  bestimmen  lassen,  weil  er  darin  den 
vorbereiteten  Statswillen  erkennt,  aber  er  wird  sicli  die 
freie  Prüfung  aus  dem  Standpunkt  des  Statswohls  vorbehalten 
müssen,  wenn  er  seine  monarchische  Pflicht  üben  soll. 

!   Von  der  Parlaments-  und  der  Ministerregierung  wird    in    den  I>ü- 
chern  Y,  YI  und  YII  noch  näher  die  Kode  sein. 


Dreiundzwanzigstes  Capitel.     Das  monarchische  Princip  etc.     443 

Innerhalb  jener  Schranken  bewegt  sich  auch  der  consti- 
tutionelle  Monarch  mit  voller  Freiheit.  Es  ist  abgeschmackt, 
ihn  verhindern  zu  wollen,  dasz  er  seine  eigene  Meinung 
ausspreche.  Jeder  tüchtige  Mann  hat  ein  Bedürfnisz,  seine 
wirkliche  Gesinnung  zu  äuszern. 3  Politische  Rücksichten  mögen 
den  Monarchen  oft  zurückhalten,  dieselbe  ganz  und  laut  zu 
offenbaren,  aber  Niemandem  steht  das  Recht  zu,  ihm  die  freie 
Rede  zu  versagen  oder  gar  ihn  zu  falscher  Rede  zu 
nöthigen.4 

Dem  Monarchen  kommt  es  ferner  zu,  mit  eigenen  Augen 
zu  sehen  und  mit  eigenen  Ohren  zu  hören,  selber  zu  prüfen, 
wie  es  steht  in  seinem  Lande,  unmittelbar  sich  von  den  Be- 
dürfnissen des  Volks  zu  unterrichten ,  die  Erscheinungen  des 
öffentlichen  Lebens  zu  beobachten ,  und  wo  das  Interesse  und 
die  Wohlfahrt  des  Ganzen  es  erfordert,  anregend  einzu- 
greifen, Aufträge  zur  Bearbeitung  der  nöthigen  Ge- 
setze oder  zur  Einleitung  der  erforderlichen  Masz- 
regeln  zu  geben.  Das  ist  es,  wodurch  von  jeher  grosze  Mo- 
narchen sich  ausgezeichnet  haben.  Das  ist  die  wahre  Acti- 
vität    des  Monarchen. f)     Auch    die   constitutionelle  Statsform 


3  Guizot  Mem.  XII,  184.  „Un  tröne  n'est  pas  un  fauteuil  vide, 
auquel  on  a  mis  une  clef  pour  que  nul  ne  puisse  etre  tentc  de  s'y  asseoir. 
Une  personne  intelligente  et  libre,  qui  a  ses  idees,  ses  sentiments,  ses 
desirs,  ses  volontes  comme  tous  les  etres  reels  et  vivants,  siege  dans  ce 
fauteuil.  Le  devoir  de  cette  personne,  car  il  y  des  devoirs  pour  tous, 
egalement  sacres  pour  tous,  son  devoir,  dis-je,  et  la  necessite  de  sa  Si- 
tuation, c'est  de  ne  gouverner  que  d'accord  avec  les  grands  pouvoirs 
publics  institues  pa^la  Charte,  avec  leur  aveu,  leur  adhesion,  leur  appui.u 

4  Beachtenswerthe  Bemerkungen  darüber  finden  sich  bei  Stahl: 
Das  monarchische  Princip,  S.  9.  Luther  in  den  Tischreden:  „Es  ist 
nichts  löblicheres  und  lieblicheres  an  einem  Fürsten,  denn  dasz  er  frei 
redet,  was  seine  Meinung  sei,  und  hat  er  Die  lieb,  so  deszgleichen  thun 
und  ungescheut  sagen,  wie  ihnen  ums  Herz  ist."  Wie  könnte  er  die 
freie  Rede  Anderer  achten  und  lieben,  wäre  er  selber  in  der  freien  Rede 
gehemmt  ? 

5  Friedrich  der  Grosze  von  Preuszen  im  Essai  sur  les  formes 
de  gouvernement:  „Le  souverain  represente  PEtat:  lui  et  ses  peupies  ne 


444  Viertes  Bück     Die  Statsformer). 

bietet  einer  bedeutenden  Individualität  in  diesen  Beziehungen  noch 
immer  freien  Spielraum.     Sie  darf  denselben  nicht  verschlieszen. 

TL  Das  zweite  Princip  ist:  Dem  Monarchen  steht  die 
oberste  Statshoheit  und  die  vollkommene  Statsmacht 
zu.  Auch  das  englische  Statsrecht,  welches  die  Rechte  des 
Königthums  in  einem  Masze  beschränkt,  wie  es  die  meisten 
Monarchien  des  Continents  noch  nicht  ertragen,  erkennt  das 
Princip  dennoch  an.     Darin  liegt: 

1.  Die  Monarchie  ist  nicht  ein  Aggregat  von  einzelnen 
Hoheitsrechten,  sondern  die  Einheit  und  Fül  le  aller  Ho  hei  ts- 
rechte.,j  Die  absolute  Monarchie  ontrirt  diesen  Gedanken  dahin, 
dasz  sie  andern  politischen  Körperschaften  und  Organen  weder 
selbständige,  der  Willkür  des  Monarchen  entzogene  Rechte, 
noch  eine  nothwendige  Betheiligung  bei  der  Ausübung  der 
Rechte  des  Monarchen  zugesteht,  und  das/  sie  mich  von  be- 
rechtigten Freiheiten  der  Individuen  und  Volksclassen  nichts 
wissen  will.  Alles  Etechi  nimmt  sie  für  Bich  in  Anspruch, 
den  Andern  vergönnt  sie  höchstens  Gnaden.1 

forment  qu'un  corps,  qui  ne  peut  6tre  heureux  qu'autanl  la  oonoorde  lea 
unit.  Le  prince  est  &  la  Boci6t6  qu*il  gouverne  (•<•  que  la  r <* t « *  est  au  corps: 
il  doit  roir,  penser  <'t  agir  poar  toute  la  oommunaute',  atiu  d<*  In i  pro- 
curer  tous  les  avantages  dont  eile  e*st  Busoeptible.  Bi  l'ou  reut  que  le 
gouverncinciit  monarehique  L'emporte  sur  lc  republioain;  t'arrel  dl  iou- 
v.Taiii  est  prononce:  il  doit  etre  actif  er  integre  et  rassembler  totri 
forces  poar  fburnir  la  carriere  qui  lui  est  ouverte.  Le  Bourerain  est  at- 
taohc'  pai  dei  liens  indissolubles  au  oorpe  d'Etat;  par  oonseqnent  il  rw- 
sent  per  ripereuseion  toua  tes  naui  qui  affiigenl  sea  sujets,  etfosoctftl 
souflre  Sgalement  des  ntalbeurt  qui  fcouehent  son  Bourerain." 

6  Der  Artikel  b"t  der  Wiener  Schluszaote  ron  L820  drückt  «las  mo- 
narchische Princip  in  den  ersten  Batie  nicht  unrichtig  aus.  umfasst  aber 
üe  absolute,  die  Bt&ndiBOhe  um]  die  constitutionelle  Monarchie,  und  i>t 
in  dem  zweiten  Satze  der  Entwicklung  der  eoustitutionellea  Statsfonn 
ungünstig:  „Die  gesammte  Statsgewalt  musa  in  dem  Oberhaupt  des 
Btata  rereinigt  bleiben,  und  der  Bourerain  kann  durch  eine  landstftn- 
disohe  Verfassung  nur  in  der  Ausübung  bestimmter  Eleohte*an  die. Mit- 
wirkung der  Stände  gebunden  werden."  Die  seitherige  Ausbreitung 
der  eonstitutionellen  Monarchie  liat  nunmehr  diesen   Artikel  antiquirt. 

'  Wie  wenig  jene    absolute  Auffassung   aus   dem    Begriffe    der   Mo- 


Dreiundzwanzigstes  Capitel.     Da3  monarchische  Princip  etc.    445 

Die  constitutionelle  Monarchie  dagegen  ist  auch  hierin 
eine  beschränkte  und  erkennt  die  Kechte  jener  Körper- 
schaften und  die  Freiheit  der  Unterthanen  an. 

2.  An  der  Gesetzgebung  vorerst  hat  der  Monarch 
nicht  blosz  einen  Antheil,  sondern  den  dem  Inhalt  nach  in 
der  Kegel,  der  Form  nach  immer  entscheidenden  Antheil.  Ihm 
stellt  die  Initiative  und  die  Sanction  der  Gesetze  zu,  und 
in  seinem  Namen  werden  sie  verkündet. 

Wird  dieser  Grundsatz  in  einer  constitutionellen  Monarchie 
verneint,  so  wird  auf*  diesem  Gebiete  das  monarchische  Prin- 
cip durch  die  Einwirkung  republicanischer  Ideen  in  Wahrheit 
beeinträchtigt;  denn  dann  ist  die  oberste  Statsmacht  nicht 
mehr  bei  dem  Monarchen,  sondern  bei  den  —  für  sich  allein 
betrachtet  —  offenbar  republicanischen  Kammern,  und  er  ist, 
soweit  die  Gesetzgebung  reicht,  der  l'nterthan   der  Kammern. 

Die  Rechte  der  Kammern  können  folglich  nachdem  System 
der  Monarchie  nur  concurrirende,  nicht  a  us  seh  lies  z- 
liehe  sein. 

narcliie  folgt,  mag  die  Aeuszerung  eines  ziemlich  absoluten  Fürsten, 
Friedrichs   des  Grossen  bezeugen.     Er  schreibt   in    dem   Antiniacchia- 

vel  1.:  „Le  Souverain  bien  loin  d'etre  le  Maftre  absolu  des  peuples  qui  soiit 
sous  sa  domination,  n'en  est  que  le  premier  Magistrat,"  (Anderwärts 
braucht  er  die  Ausdrücke  „le  premier  serviteur"  —  oder  „domestique  de 
PEtat.")  Die  Art,  wie  Mirabeau  dagegen  (Essai  sur  le  despotisme, 
Oeuvres  II,  S.  297)  die  Fürsten  anredet:  „Vous  etes  les  salaries  de  vos 
sujets,  et  vous  devez  subir  les  conditions  auxquelles  vous  est  aecorde  ce 
salaire  sous  peine  de  le  perdre"  überschreitet  die  Gränzen  der  Monarchie 
und  setzt  eine  republicanische  Volksherrschaft  voraus.  Noch  bestimmter 
sprach  sich  der  preuszische  König  Friedrich  über  die  wahre  Stellung  der 
Monarchen  in  der  ersten  Audienz  aus,  welche  er  seinen  Ministern  er- 
theilte  am  1.  Juni  1741.  (Ranke  Preusz.  Gesch.  I,  S.  48) :  „Ich  denke, 
dasz  das  Interesse  des  Landes  auch  mein  eigenes  ist,  dasz  ich  kein 
Interesse  haben  kann,  welches  nicht  zugleich  das  des  Landes  wäre.  Sollten 
sich  beide  nicht  miteinander  vertragen,  so  soll  der  Vortheil  des 
Landes  den  Vorzug  haben."  Und  Washington  schrieb  am  18.  Juni 
1788  an  Lafayette:  „Ich  verwundere  mich  höchlich,  dasz  es  auch  nur 
einen  Monarchen  gibt,  der  nicht  erkennt,  wie  sein  Ruhm  und  sein  Glück 
von  dem  Gedeihen  und  der  Wohlfahrt  des  Volkes  abhängig    sind." 


446  Yiertes  Buch.     Die  Statsforinen. 

3.  Alle  St atsre gierung  ist  in  dem  Monarehen  con- 
centrirt,  steht  ihm  zu  selbständigem  Rechte  zu,  und 
wird  in  seinem  Namen  ausgeübt. 

In  der  constitutionellen  Monarchie  dürfen  die  Minister 
oder  andere  Kegienmgsbeamtete  nicht  in  ihrem  Namen  regie- 
ren; aber  auch  der  Fürst  kann  nicht  ohne  die  Mitwirkung 
der  Minister,  sondern  nur  im  Einverständnis!  mit  ihnen 
regieren.  Alle  ihre  Gewalt  erscheint  als  ein  Ausflusz  der 
königlichen  Gewalt,  ihr  Regierongsrecht  wird  aus  der  Fülle 
der  königlichen  Macht  abgeleitet,  und  zwar  nicht  im  Sinne 
der  mittelalterlichen  Lehensmonarchie,  so  das/  ihnen  diese  ab- 
geleiteten Rechte  für  siel]  zu  ihrem  eigenen  Rechte  und 
eigener  Nutzung  verliehen  wären,  sondern  so  dasi  die  orga- 
nische Einheit  des  States  gewahrt  bleibt.  Auch  im  Ver- 
hältnis/ zu  den  Ministen)  hat  der  König  Initiative  undSanc- 
tion;  die  erstere  können  und  Bollen  auch  die  Minister  üben 
als  leitende  ßtatsmänner,  diese  Bteht  dem  König  allein,  den 
Ministern  nur  das  Stecht  der  freien  Zustimmung  zu  den  Be- 
fehlen des  Königs  KU.8 

Das  im  Mittelalter  erkannte  Prinrip,  dasi  alle  Regierungs- 
autorität  und  Gewalt  v.m  oben  her  komme  und  stufenweise 
nach  unten  verliehen,  oichi  aber  umgekehrt  von  unten  nach 
oben  aufgetragen  werde,  und  dasi  alle  obrigkeitliche  Macht 
\<i)i)  Centrum  zur  Peripherie  und  nichl  yon  dieser  zu 
jenem  den  Weg  nehme  und  wirke,  ist  in  der  constitutionellen 
Monarchie  der  neuen  Zeil  in  Aberkennung  geblieben.  Aber 
die  mittelalterliche  Zersplitterung  dieser  Gewalt  in  selbständige 
Theilgewalten  ist  nun  aufgegeben  worden. 

8  L.  Stein,  Verwaltnngslehre  I.  S.  86  f.  unterscheide!  ein  per- 
sönliches VoUzienungsrecat  des  Btatsheupts  poa  da  Begierange- 
gewalt des  Statshaupta  und  verlang!  für  jenes  Onabhangigkeil  sowohl 
von  der  VolksTertreiung  als  von  den  Ministern.  Diese  Theorie  eröffne! 
dem  Absolutismus  der  Fürsten  eine  bequeme  Binterthfire  aber  gefährdet 
und  untergräbt  die  ganze  verfassungsmäßige  Statsordnung, 


Dreiundzwanzigstes  Capitel.     Das  monarchische  Princip  etc.     447 

4.  Alle  einzelnen  Statsorgane  sind  dem  Monarchen 
untergeordnet,  und  zwar  nicht  blosz  die,  welche  in  ihrem 
Wirkungskreise  von  seinem  Willen  völlig  abhängig  sind,  son- 
dern auch  die,  an  deren  Zustimmung  er  selber  gebunden  ist, 
um  einen  statlichen  Willen  zu  äuszern,  wie  die  Minister  und 
die,  denen  ein  von  der  Einwirkung  des  Statsoberhauptes  unab- 
hängiger Wirkungskreis  angewiesen  ist,  wie  die  Kichter,  ja 
selbst  die  gesetzgebenden  Kammern,  welche  als  selbständige 
Mächte  im  State  sich  mit  ihm  zur  Gesetzgebung  einigen.  Wie 
das  Haupt  allen  andern  Gliedern  des  Körpers  und  dem  Leibe 
übergeordnet  ist,  so  hat  der  Monarch  in  dem  Statskörper  die 
höchste  Stelle. 

Man  darf  den  Begriff  der  constitutionellen  Monar- 
chie nicht  aus  der  englischen  Verfassung  allein  ableiten.  Je 
nach  der  Art  und  der  Geschichte  eines  Volkes  bekommt  die- 
selbe Grundform  einen  modificirten  Ausdruck.  Da  sie  ihrer 
Natur  nach  relativ  und  nicht  absolut  ist,  so  hat  sie  aucli  die 
Fähigkeit,  sich  den  verschiedenen  Verhältnissen  und  Bedürf- 
nissen anzuschmiegen. 

Als  nothwendige  Merkmale  aller  constitutionellen  Monar- 
chie sind  folgende  Eigenschaften  hervorzuheben: 

1)  Sie  ist  eine  ve  rfassungs  m  äszige  Würde  und  Macht. 
Der  constitutionelle  Fürst  steht  nicht  aus zer,  noch  über, 
sondern  in  der  Verfassung.  Die  Rücksicht  auf  die  verfassungs- 
mäszige  Rechtsordnimg,  welche  auch  den  Monarchen  bedingt, 
hat  dieser  Form  den  Namen  gegeben.  Ob  die  Verfassung  in 
Einer  Urkunde  dargestellt  werde  oder  nicht,  ist  zwar  nicht 
gleichgültig,  aber  für  den  Begriff  nicht  wesentlich. 

In  England,  dem  Mutterlande  der  constitutionellen  Mo- 
narchie, gibt  es  wohl  einzelne  Verfassungsgesetze  und 
urkundliche  Erklärungen  über  die  anerkannten  Volksfreiheiten, 
aber  nicht  eine  systematische  Beurkundung  der  ge- 
sammten  Statsorclnung,  wie  die  neuere  Zeit  sie  liebt,  und  vor- 
zugsweise Constitution  zu  nennen  pflegt.  Jene  sind  je  nach 


448  Viertes  Buch.     Die  Statsfornien. 

den  politischen  Kämpfen  der  Zeit  und  den  besondern  Anforde- 
rungen des  in  bestimmten  Richtungen  erregten  politischen  Lebens 
des  englischen  Volks  im  Lauf  der  Geschichte  allmählich  ent- 
standen. Diese  Constitutionen  werden  gewöhnlich  auf  einmal 
und  unter  dem  Einflusz  einer  allgemeinen  Statstheorie  als  ein 
zusammenhängendes  und  umfassendes  Gesetzeswerk  bearbeitet. 
In  beiden  Formen  ist  die  constitutionelle  Monarchie  möglich. 
Aber  sie  setzt  auf  urkundliche  Bestätigung,  aufVerbrief- 
ung  der  politischen  Rechte,  obwohl  die  Natur  dieser  nicht 
von  der  Form  der  Bezeugung  und  Zusicherung  abhängt,  einen 
entschiedenen  Werth,  ohne  darum  das  ungeschriebene  Recht 
zu  bestreiten.  Es  ist  dieser  Zug  dem  modernen  Leben  in  der 
That  gemäsz,  dessen  Rechtsbewusztsein  nicht  mehr  so  unmit- 
telbar mit  der  Gewohnheit  verwachsen  ist,  sondern  um  sich 
sicher  zu  fühlen  und  zur  Klarheit  zu  gelangen,  derFixirung 
durch  die  Schrift  bedarf.9 

2)  Der  constitutionelle  Monarch  ist  ebenso  verpflichtet, 
wie  die  Bestimmungen  der  Verfassung,  so  auch  die  Gesetze 
des  States  zu  beachten.  Er  darf  nur  rerfassuigs»  und  ge- 
setzmäszigen  Gehorsam  erwarten  und  fordern. 

3)  Die  gesetzgebende  Gewalt  kommt  ihm  nur  in 
Verbindung  mit  den  Kammern  (der  übrigen  Repräsentation  des 
Volkes)  zu.  Er  bedarf,  um  ein  Gesetz  zu  geben,  i lirer  Zu- 
stimmung, nicht  blosz  ihres  Beirathes. 

4)  Die  Ordnung  des  Statshaushalts  und  die  Bewilligung 
der  Statssteuern  isi  ebenso  an  die  Mitwirkung  und  Zu- 
stimmung der  repräsentativen  Körper  gebunden. 

5)  Zu  der  Leitung  der  Regierung  und  der  Verwal- 
tung bedarf  der  constitutionelle  Fürst  der  Mitwirkung  der 

■  Allerdings  gibt  es  auch  „papierene  Constitutionen,"  wie  Fried- 
rich Wilhelm  IV.  in  einer  Thronrede  sie  genannt  hat,  welche,  weil 
Bie  <'in  blosses  theoretische» Machwerk  ohne  Wurzeln  in  der  Nation  >ind, 
leicht  zerrissen  werden;  aber  die  schriftliche  I'x-m-kundung  einer  Ver- 
fassung macht  diese  nicht  zur  papierenen,  sondern  stärkt  und  Bioheft 
ihren   Inhalt. 


Vierundzwanzig3tes  Capitel.     Zusammengesetzte  Statsformen.    449 

Minister.  Damit  seine  Verordnungen,  Befehle  und  Dekrete 
für  dritte  Personen  rechtswirksam  werden,  ist  die  Contra- 
signatur eines  Ministers  als  Ergänzung  seiner  Unterschrift 
unerläszlich. 

6)  Die  Verantwortlichkeit  der  Minister  und  aller 
andern  Regierungsbeamten  ist  unentbehrlich  für  die  Wirksam- 
keit der  Verfassung. 

7)  Die  Selbständigkeit  der  Rechtspflege  und  die 
Ausschlieszung  aller  Cabinetsjustiz  als  eine  notwen- 
dige Beschränkung  der  Regierungsgewalt  und  eine  der  wich- 
tigsten Garantien  für  das  Recht  der  Bürger. 

8)  Die  Anerkennung,  dasz  auch  den  verschiedenen 
Volksclassen  und  den  einzelnen  Bürgern  nicht  blosz  Privat- 
rechte, sondern  öffentliche  Rechte  zustehen,  die  nicht 
minder  unverletzlich  sind,  als  das  Recht  des  Monarchen. 

Die  constitutionelle  Monarchie  läszt  sich  nur  als  Volks- 
fürstenthum  eines  freien  Volkes  verstehen.10 


Vierundzwanzigstes  Capitel. 

Zusammengesetzte  Statsformen. 

Die  ganze  bisherige  Darstellung  der  verschiedenen  Stats- 
formen hatte  nur  die  einfachen  Staten  vor  Augen.  Es  gibt 
aber  auch  zusammengesetzte,  d.  h.  solche  Staten,  deren 
Theile  in  sich  wieder  als  Staten  oder  wenigstens  staten- 
ähnlich  geordnet  sind.  In  ihnen  wiederholen  sich  die  Gegen- 
sätze der  geschilderten  Grundformen,  und  insofern  haben  sie 
nichts  Besonderes.  Der  Gesammtstat  und  die  Einzelstaten; 
der  Hauptstat  und  die  Nebenstaten  köunen  z.  B.  monarchisch 
oder  repräsentativ-demokratisch  organisirt  sein. 

10  Vgl.  den  Artikel  Monarchie  im  Deutschen  StatswÖrterbuch. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.    I.  29 


450  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

Nicht  immer  haben  aber  die  Einzelstaten  und  der  Ge- 
sammtstat  dieselbe  Verfassun^rform.  Der  deutsche  Bund  von 
1815  blieb  eine  Oligarchie  von  souveränen  Fürsten,  ohne  Volks- 
vertretung, während  in  den  Einzelstaten  die  constitntionelle 
Monarchie  eingeführt  würden.  Einzelne  Cantone  der  Bdiweil 
sind  noch  absolute  Demokratien,  während  der  Qeeammtstat  re- 
präsentativ-demokratisch ist  Die  englische  Verfassung  ist 
constitutionel-moiiarohisch,  aber  englische  Nebenländer  in  Asien 
werden  noch  als  Ahsolutien  verwaltet,  andere  halbsouveräne 
Staten  sind  Republiken  unter  brittischer  Schutshoheit. 

Sind  die   Nationalitäten,   die  Civilisationsstufen  und  die 
historischen  Bedingungen  Behr  verschieden,   bo  wird  sich  auch 
eine  Verschiedenheit   der  Verfassungsform   rechtfertigen;   sind 
sie  gleichartig  --  wie   im  Deutschen  Hund  —  so  wird  oft 
Verschiedenheit  als  Unnatur  und  Disharmonie  empfunden, 

Zu  allen  lusammei  d  Statswesen  kommt  aber  noth- 

wendig  ein  neuer  Qegensati  hinzu,  nämlich  d  utver» 

hältnii  Binen  Oesammt-  oder  Hauptstates  zu  der  Selb- 

ständigkeit der  Einzel-  oder  Nebenstaten. 

Mit  Bücksicht  darauf  Kassen  sich  folgende  Hauptverhält- 
oisse  unterscheiden : 

I.  Ein  herrschender  Hauptstal  mit  gani  unter- 
t  hau  [gen  Nebenll  ädern. 

Von  der  An  Bind  fiele  Besitzungen  der  europäischen 
»fachte  vorzüglich  in  Asien  and  in  Afrika.  Nur  der  Haupt- 
Btat  ls1  als  freier  Stal  organisirt,  die  Nebenländer  sind  unfreie 
und  Qberdem  der  Fremdherrschaft  unterworfene  Staten.  Die 
Gegensätze   der   Staten    sind    hier  I    Bchroff  und    der 

mögliche  Conflici  zwischen  ihnen  wird  durch  dir  Energie  der 
Herrschaft  des  einen  States  über  den  andern  zu  lösen  versucht1 

Ii.  Kin  oberherrl  ich  er  Hauptstai  gegenüber  \  asa  I  len- 
Btaten   oder  ein    Bchutzherrlicher   Stal    gegenüber   den 

■Ygl.dk  vortrefüiohe   tasfllliruBg  bei  Hill,    Betrachtungen    Bbet 
die  Repriientativ?erfai8UDg  (übersetzt  rou   Wille!  Zürich   I 


Vierundzwanzigstos  Capitel.     Zusammengesetzte  Statsformen.    451 

schutzbediirftigen  Neben  staten.  Hier  ist  eine  relative  Selb- 
ständigkeit der  Vasallen-  oder  Schutzstaten  auch  dem  Ober- 
oder Schutzherrn  gegenüber  wohl  möglich.  Das  römische  Reich 
deutscher  Nation  ist  ein  mittelalterliches,  das  osmanische  Reich 
heute  noch  ein  Beispiel  eines  aus  Vasallenstaten  zusammenge- 
setzten Statskörpers.  Der  modernen  Statenbildung  entspricht 
aber  noch  eher  die  schutzherrliche  als  die  Lebensform,  obwohl 
auch  sie  nur  unter  der  Voraussetzung  sehr  ungleichartiger  Kräfte 
einen  Sinn  hai  and  einem  freien  Volke  niemals  zusagen  wird. 
Die  Napoleonische  Protection  des  Rheinbunds,  die  englische 
über  die  Jonischen  Ins. -In,  die  europäische  über  die  Moldau 
und   Wallachei  mögen  als  Beispiele  erwähnt  werden. 

III.  VenviiinK  damil  aber  ermä8zig1  und  veredell  durch 
die  Rücksichten  der  Pietät  i>t  das  Verhältnisz  des  biutter- 
ts  /u  den  ooch  oichl  ganz  Belbstmächtigen ,  aber  bereits 
zu  einer  Btatenartigen  Organisation  erwachsenen  Colonial- 
ländern.  In  den  äuszern  Beziehungen  vorzüglich  wird  die 
Colonie,  auch  wenn  sie  im  Innern  wesentlich  selbständig  ge- 
worden  isl,  doch  länger  des  Schutzes  des  Mutterstates  bedürfen, 
und  insofern  eine  relative  Qeberordiiung  desselben  an- 
erkennen. 

I\.  her  Statenbund  und  die  Personalunion1  setzen 
die  volle  Hoheit  and  Selbständigkeil  der  verbundenen  Staten 
als  Regel  voraus,  aber  beschränken  dieselbe  ausnahmsweise, 
Boweü  «las  gemeinsame  Schicksal  der  Verbindung  es  nüthig  er- 
scheinen läszt.  Die  Binzelstaten  sind  liier  wohl  als  Staten  or- 
ganisirt,  aber  nicht  ihre  Verbindung.  Diese  erscheint  nur  als 
eine  unentwickelte  Statengemeinschaffc,  die  nur  in  einzelnen 
Beziehungen  —  vorzüglich  nach  Auszen  —  wie  eine  Statsper- 
sönlichkeit  auftritt.  Sie  ist  eher  ein  Statenconglomerat,  als 
ein  wahrer  Stat.  Es  fehlen  ihr  die  nöthigen  Organe  für  die 
Gesetzgebung,  Regierung,  Rechtspflege.   Sie  schwankt  zwischen 

2  Vgl.  oben  S.  245  und  248. 

29* 


452  Viertes  Buch.     Die  Statsformen. 

einer  dauernden  völkerrechtlichen  Allianz  und  einer  stats- 
rechtlichen  Gestaltung.  Deszhalb  ist  sie  nur  eine  unvoll- 
kommene Uebergangsform. 

Es  gibt  in  dieser  Form  vielleicht  eine  gemeinsame  Nation, 
aber  kein  wirkliches  Gesammtvolk:  und  die  Entwicklung  des 
Gesammtlebens  und  der  Gesammtmacht  ist  sehr  erschwert, 
weniger  noch  in  der  Personalunion,  welche  in  dem  gemein- 
samen Monarchen  ein  einheitliches  Haupt  besitzt  und  nur  in 
allen  andern  Beziehungen  die  Spaltung  zeigt,  als  in  dem  Sta- 
tenbunde,  wo  es  an  jedem  einheitlichen  Organe  fehlt.  Zum 
Handeln  ist  dieselbe  ganz  untauglich.  Der  deutsche  Bund  war 
das  beredteste  Beispiel  dieser  Verbindungsform  in  unserer  Zeit 
und  ihrer  Schwächen. 

V.  Der  Bundesstat,  das  Bundesreich  und  dieKeal- 
union1  sind  darin  verwandt,  dasz  in  beiden  Verbindungen  der 
Gesammtstat  als  ein  wirklicher  Stat  organisirt  ist,  und 
ebenso  die  verbundenen  Einzelstaten.  In  dem  Bundesstate 
sind  die  letztern  noch  selbständiger,  als  in  der  Kealunion,  weil 
Bie  dort  eine  ihnen  ausschlieszlich  angehörige  Regierung  haben, 
hier  aber  das  Haupt  des  Gesammtstats  zugleich  der  Landes- 
fürst in  den  Kronländern  ist.  Man  Bprichi  daher  nicht  leicht 
von  der  Souveränetät  der  realunirten  Kronländer,  aber  unbe- 
denklich von  der  Souveränetät  der  Einzelstaten  (Particular- 
staten,  Cantone)  in  dem   llundesstat. 

Es  gibt  in  dem  Bundesstate  und  dem  Bundesreiche  ein 
organisirtes  Gesammtvolk  und  organisirte  Theilvölker: 
(Amerikaner  und  New-Yorker  oder  Pennsylvanier ;  Schweizervolk 
und  Berner,  Zürcher,  Genfervolk;  deutsches  Volk  undPreuszen, 
Sachsen  u.  s.  f.)  und  der  Gesammtstat  ist  eben  so  frei  in 
seinen  Bewegungen  und  zwar  ebenso  ausgestattet  mit  Organen 
wie    ein  Einheitsstat.     Die   Einzelstaten   aber   sind  keine  Va- 

3  Oben  S.  246  und  249. 


Vierundzwanzigstes  Capitel.     Zusammengesetzte  Statsformen.    453 

sallen   des  Gesammtstates ,   sondern  innerhalb   ihres  Bereiches 
wieder  selbständig  wie  Einheitsstaten. 4 

Die  Möglichkeit  eines  solchen  Nebeneinanderseins  zweier 
Staten  auf  demselben  Gebiete  wird  dadurch  hergestellt,  dasz 
einerseits  die  Competenzen  der  beiderlei  Staten  scharf  aus- 
geschieden werden  und  für  friedliche  Erledigung  allfälliger 
Conflicte  gesorgt  ist,  und  dasz  andererseits  die  beiderlei 
Behörden  und  Repräsentativkörper  möglichst  von  einander 
getrennt  und  wechselseitig  unabhängig  erhalten  werden. 
Am  vollständigsten  ist  diese  Scheidung  auch  der  Personen 
(Aemter)  in  dem  nordamerikanischen  Bundesstate  durchgeführt 
worden,  die  Ausscheidung  der  Competenzen  aber  auch  in 
der  schweizerischen  Bundesverfassung  mit  besonderer  Sorgfalt 
geregelt  worden.'  In  dem  deutschen  Bundesreiche  sind  die 
Organe  der  Bundesregierung  noch  mit  den  Organen  der  einzel- 
statlichen  Regierungen  eng  verbunden,  so  jedoch,  dasz  in  dem 
König  von  Preuszen  die  Eigenschaft  des  Einen  Bundeshaupts 
sichtbar  wird,  und  dasz  der  Reichstag  von  den  Kammern  der 
Einzelstaten  ganz  getrennt  ist.  Die  Competenzen  des  Reiches 
aber  sind  scharf  geschieden  von  dem  der  Einzelstaten.  Ge- 
wöhnlich wird  der  Bereich  des  Gesammtstates  vorzugsweise 
die  äuszeren  Angelegenheiten  in  der  Regel,  und  nur  gewisse 
gemeinsame  innere  Dinge  als  Ausnahme  umfassen,  und  umge- 
kehrt die  Selbständigkeit  der  Einzelstaten  sich  in  der  Regel 
in  den  innern,  ausnahmsweise  in  den  auswärtigen  Verhält- 
nissen bewähren. 

4  G.  Waitz,  Grundzüge  der  Politik.  Kiel  1862.  S.  44  f.:  „Beide, 
die  Bundesgewalt  und  die  Gewalt  der  Einzelstaten  müssen  in  ihrer 
Sphäre  selbständig  (souverain)  sein;  diese  darf  ihre  Gewalt  nicht  von 
jener  empfangen,  jene  nicht  auf  Uebertragung  dieser  beruhen."  S.  153: 
„Wesen  des  Bundesstats." 

5  Ygl.  Rüttimann  über  die  für  Realisirung  des  Bundesrechts  zu 
Gebote  stehenden  Organe  und  Zwangsmittel  der  schweizerischen  Eidge- 
nossenschaft.    Zürich  1862. 


fünftes  thirij. 

Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Erstes  Capitel. 

Die  Sonderung  der  Gewalten. 
i.  Antike  Zust&nde. 

In  der  Bildung  des  gesetzgebenden  Körpers  hai  der  mo- 
derne Btai  eine  viel  höhere  Stufe  der  Verrollkommnunj 
reicht  ak  der  antike.  Den  Grundgedanken;  dasz  bei  der  Ge- 
setzgebung das  ganze  \  olk  betheiligl  sei  und  dasz  in  «lern  ge- 
setzgebenden Körper  das  Voll  Bich  darstelle,  hai  zwar 
das  Alteiilnmi  Beben  zum  Bewnsztsein  gebracht.  A.ber  dieses 
machte  vorerst  noch  den  Versuch,  das  Volk  selbe!  als  Btirger- 
scliiit't  eu  versammeln  und  bo  zu  unmittelbarer  politischer 
Erscheinung  und  Thätigkeii  zu  bringen. 

Verhältniszmäszig  noch  in  roher  Form  waren  die  Volks- 
versammlungen der  Griechen.  Auf  der  Pnyi  «Hier  in  «lern 
Theater  zu  Aihen  kam  eine  irirre  Menge  von  Bürgern  zu- 
Bammen,  welche  nach  Köpfen  gezähl!  worden,  und  von  denea 
jeder  reden  durfte.  Die  alten  römischen  Comitien  dag« 
waren  schon  organisch  nach  Körperschaften  und  Classen  ge- 
gliedert und  geordnet,  und  bewegten  Bich  nur  unter  der  strengen 
Leitung  der  hoben  Magistrate. ' 

1  Aus  diesem  Grunde  hielten  die  Römer  auch  die  Centuriatoomitien 
für  höhei  ah  die  Tributcomitien.     Cicero  de  Legibut  III.  19 :  „Desoriptai 


Erstes  Capitel.  Die  Sonderung  der  Gewalten.   1.  Antike  Zustände.     455 

Diese  Einrichtung  aber  leidet  immerhin  an  wesentlichen 
Gebrechen,  welche  erst  der  modernen  Repräsentativver- 
fassung zu  verbessern  gelungen  ist: 

1.  Ein  unmittelbarer  Zusammentritt  der  ganzen  Bürger- 
schaft ist  in  jedem  State,  dessen  Gebiet  die  Grenzen  eines 
bloszen  Gemeinde-  oder  Stadt wesens  überschreitet,  unmöglich. 
Die  Volksversammlung  des  gröszern  States  wird  daher,  wie 
das  zu  Rom  in  den  letzten  Jahrhunderten  der  Republik  ge- 
schehen ist,  zur  Unwahrheit,  und  es  erhält  das  Volk,  be- 
ziehungsweise der  Pöbel  der  Hauptstadt  und  ihrer  Umgebung 
ein  unverhältniszmäsziges  Uebergcwicht. 

2.  Eine  so  grosze  und  immerhin  sehr  gemischte  Versamm- 
lung ist  überdem  ein  sehr  unbeholfener  Körper,  höchstens 
geeignet,  die  allgemeine  Stimmung  kundzugeben,  einer  vorge- 
schlagenen bekannten  Richtung  seinen  Beilall  zu  äuszern  oder 
dieselbe  durch  sein  .Misz  fallen  zu  hemmen,  aber  durchaus  un- 
fähig, ein»'  gründliche  Berathung  über  Gesetzentwürfe  zu 
pflegen  und  die  schwierigeres  und  verwickeiteren  Probleme  der 
Politik  zu  lösen. 

Nur  in  ganz  kleineu  Staten  und  unter  der  Voraussetzung 
sehr  einfacher  Lebensverhältnisse  kann  demnach  die  Gesetz- 
gebung einer  Volksversammlung  aberlassen  werden. 

Die  objective,  nach  der  innem  Natur  der  statlichen 
Functionen  vollzogene  S  0  n  d  e  r  u  n  g  der  Gewalten  ferner  ge- 
hört wieder  erst  der  neueren  Statenbildung  an.  Die  Unter- 
scheidung derselben  freilich  rindet  sich  auch  im  Alterthum, 
nicht  aber  ebenso  die  Vertheilung  unter  die  Organe  des  Stats. 

Aristoteles2  spricht  von  drei  verschiedenen  Functionen, 
die  sich  in  allen  Verfassungen  finden:  1)  die  berathende 
über  die  gemeinen  Angelegenheiten ;  2)  die  der  Obrigkeiten 
(äQx*0,  ima"   3)   die   richterliche.     Man   sieht,  seine  Ein- 

populus  censu,    ordinibus,    aetatibus  plus   adliibet   ad  suffragium   consilii, 
quam  fuse  in  tribus  convocatus.  u 

2  Aristoteles,  Polit.  IV.  11,1.  Herrmann  griech.  Statsalterth.  §.53. 


456    Fünftes  Bucb.     Der   gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

theilung  ist  ähnlich  der  modernen  Ausscheidung  der  Gewalten. 
Nur  braucht  er  den  Ausdruck  „berathende"  Function  statt  der 
„gesetzgebenden"  Gewalt,  wohl  im  Hinblick  darauf,  dasz  die 
Gesetzgebung  in  Griechenland  erst  später  von  den  Volksver- 
sammlungen geübt  und  selbst  da  gewöhnlich  nur  mittelbar 
geübt  wurde,  dagegen  die  Art  und  der  Ausgang  der  Berath- 
ung  in  der  Volksversammlung  auf  die  wichtigsten  Dinge  masz- 
gebend  wirkte.  Was  man  in  neuerer  Zeit  „vollziehende"  Ge- 
walt zu  nennen  pflegt,  bezeichnet  er  richtiger  durch  die  Hin- 
weisung auf  die  Thätigkeit  der  obrigkeitlichen  Aemter. 

Aber  die  Volksversammlung  zu  Athen  übte  zugleich  die 
höchste  berathende  Function  aus,  faszte  eine  Menge  von  Be- 
schlüssen in  einzelnen  wichtigen  Fällen,  die  ihrer  Natur  nach 
der  Kegierungsthätigkeit  angehören,  und  brachte  selbst  richter- 
liche Functionen  an  sich.  Die  Archonten  regierten,  admini- 
strirten  und  leiteten  zugleich  das  Gericht. 

Der  römische  Stat  ist  reicher  an  ausgebildeten  und  mit 
einem  bedeutenden  Machtkreise  ausgerüsteten  Organen.  In  ihm 
ist  auch  die  auf  die  Gesetzgebung  bezügliche  Thätigkeit  der 
Volksversammlung  bereits  schärfer  gesondert  von  den 
Functionen  der  Magistrate.  Diese  aber  verbinden  ganz  regel- 
mäszig  regierende  und  richterliche  Befugnisse.  Wer  das 
imperüim  hat,  der  hat  auch  für  den  Umfang  desselben  die 
jurisdicto.3  Zudem  hat  er  priesterliche  Functionen  (die 
Auspicien).  Und  endlieh  übt  er  durch  seine  Edicte  Be- 
fugnisse aus,  welche  in  solcher  Ausdehnung  als  gesetzgeberische 
bezeichnet  werden  müssen. 

In  dem  spätem  römischen  Kaiserreiche  kam  eine  neue 
Ausscheidung  auf.  Die  byzantinischen  Kaiser  freilich  behielten 

3  Cicero  de  Legibus  III,  3  :  „  Omnes  magistratus  ausjnciumjudiciumque 
babento."  Ulpianus  in  L.  2.  D.  de  in  jus  vocando  :  „Magistratus,  qui  Im- 
perium habent,  qui  coercere  ali quem  possunt,  et  jubere  in  carcerem  duci." 
Ulpianus  L.  I.  pr.  D.  si  quis  jus  dicenti:  „Omnibus  magistratibus  .  .  . 
secundum  jus  potestatis  suae  concessum  est  jurisdictionem  suam  defen- 
dere  poenali  judicio." 


Zweites  Capitel.  Das  moderne  Princip  der  Sonderung  der  Gewalten.  457 

alle  statliche  Gewalt  über  das  ganze  Keich  in  ihrer  Hand  ver- 
einigt; aber  in  den  untergeordneten  Stufen  der  Provincialre- 
gierung  und  Beamtungen  wurden  die  Ci  vi  Ist  eilen  von  den 
Militärstellen  sorgfältig  getrennt.  Diese  Trennung,  welche 
früherhin  die  Kücksicht  auf  die  Unterthanen,  auf  welchen  das 
Uebermasz  der  in  den  Magistraturen  vereinigten  Befugnisse 
schwer  gelegen,  nicht  bewirkt  hatte,  ward  nun  um  der  Sicher- 
heit des  Thrones  willen  durchgeführt.  In  der  That  lag  hierin 
ein  Fortschritt  der  statlichen  Cultur  und  der  bürgerlichen 
Freiheit,  welcher  auch  in  dem  modernen  State  Anerkennung  fand. 
Im  Mittelalter  traf  die  Aeuszerung  der  Statsgewalt  auf 
allen  Seiten  auf  Schranken,  die  ihr  entgegen  standen.  Aber 
innerlich  waren  in  ihr  die  verschiedensten  Befugnisse  geeinigt. 
Nicht  allein  der  König,  auch  jeder  Graf  hatte  zugleich  Civil- 
und  Militärgewalt,  administrative  und  richterliche  Befugnisse, 
und  auf  den  Dingen  (Gerichtsversammlungen)  wurde  zugleich 
der  allgemeine  Kechtssatz  als  Gesetz  gewiesen  und  der  ein- 
zelne Streitfall  beurtheilt. 


Zweites  Capitel. 

IL  Das  moderne  Princip  der  Sonderung  der  Gewalten. 

In  der  Ausscheidung  der  verschiedenen  Functionen 
des  States  und  in  der  Zuweisung  derselben  an  verschiedene 
Organe  desselben  erkennen  wir  eine  höhere  Stufe  der  stat- 
lichen Ausbildung,  welche  erst  die  reifere  Menschheit  erstiegen 
hat.  In  dem  organischen  Körper,  wie  Gott  denselben  ge- 
schaffen, sind  ebenso  die  verschiedenen  Thätigkeiten  verschie- 
denen Gliedern  zugetheilt.  Das  Auge  sieht,  das  Ohr  hört,  der 
Mund  spricht,  die  Hand  greift  und  wirkt.  Ebenso  soll  es  in 
dem  Statskörper  sein  und  auch  da  jedes  Organ  bestimmte 
Functionen  haben,  für  welche  es  gebildet  und  bestimmt  ist. 


458     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Der  beliebte  Ausdruck  freilich :  ,,T  r  e  p  nu  n  g  der  Gewalten" 
miszleitet  zu  falschen  Anwendungen  eines  richtigen  Principe. 
Die  vollständige  , .Trennung"  der  Gewalten  wäre  Auflösung  der 
Statseinheit  und  Zerre  iszung  des  Statskörpers.  Wie  in  dem 
natürlichen  Körper  alle  einzelnen  Glieder  unter  sich  wieder 
verbunden  sind,  so  musz  auch  im  State  der  Zusammen- 
hang der  verschiedenen  Organe  nicht  minder  Borgsam  gewahrt 
bleiben.  Der  Stat  fordert  die  S onderung  and  die  Verbind- 
ung, aber  erträgt  nicht  die  Trennung  der  (Gewalten. 

Die  gangbarste  Unterscheidung  der  Statsgewalten  —  die 
Franzosen  haben  den  bessern  Ausdruck  pouvoir  —  ist  seit 
Monte  so,  d  i  eu  die  dreifache: 

1)  gesetzgebende  Gewalt  (pouvoir  legisktif), 

2)  vollziehende  Gewalt   (pouvoir  exäcutif), 

3)  richterliche  Gewalt   (pouvoir  judiciaire). 

Audi  die  Engländer  haben  dieselbe  für  ihre  Theorie  des 
Statsreehts  angenommen,  und  eine  ganze  Reihe  moderner  Ver- 
fassungen hat  dieselbe  nach  dem  Vorgange  der  nordameri- 
k  n  ii  isch  eii  Preistaten  Banctionirt  Den  genannten  drei  Ge- 
walten haben  einige,  wohl  innftchsi  im  Interesse  der  Statseinheii 

4)  eine  vermittelnde  Gewalt  (pouvoir  modlncteur, 
royal)  hinzugefügt,  und  ea  ist  dieser  Gedanke  Benjamin 
Constants  auch  in  die  portugiesische  Verfassung  Don  Pedro'a 
Abergegangen.    Andere  haben  der  vollziehenden  Gewalt  ferner 

5)  die   verwaltende   (pouvoir  ;nl  m  in  ist  rat  ih, 

6)  die  an  fse  he o  «I e  i potestas  inspectrva)  und 

7)  die  repräsentative  (pouvoir  reprlsentatif)  beige- 
ordnet. 

Bevor  wir  diese  Bintheilung  näher  prüfen,  [gj  eine  Irrige 
Vorstellung,  welche  häufig  auf  die  Behandlung  dieser  IV 
grossen  Einflnsz  geübt  hat,  zu  entfernen,  die  Vorstellung 
nämlich  von  der  Gleichstellung  der  verschiedenen  Ge- 
willten. Dieselbe  widerspricht  der  organischen  Natur  des 
States.     In  dem  organischen  Körper   hat  jedes  Glied  die  ihm 


Zweites   Capitel.  Das  moderne  Princip  der  Sonderung  der  Gewalten.  459 

eigenthüinliche,  aber  keines  mit  dem  andern  gleiche  Stellung. 
Vielmehr  ist  das  eine  dem  andern  über-  oder  unter-  oder  zu- 
geordnet. Nur  so  wird  Zusammenhang  und  Einheit  des 
Ganzen  erhalten.  Dasselbe  gilt  vom  Stat.  Würden  die  obersten 
Gewalten  in  diesem  wirklich  —  nicht  blosz  der  äuszern  Form 
uii'l  dem  Scheine  nach  wie  in  Nordamerika  —  sich  gleichge- 
stellt, so  müszte  solche  Spaltung  und  Gleichstellung  der  höchsten 
Stiiismacht  den  Stat  selbst  in  ihren  Consequenzen  in  Stücke 
reiszen.  „Man  kann  den  Kopf  nicht  von  dem  Leibe  trennen 
urnl  diesem  gleichstellen,  ohne  das  Leben  des  Menschen  zu 
tödten."  ! 

Käst  kindisch  isl  die  Vorstellung  von  dem  Verhältnis/  der 
Statsgewalten  zu  nennen,  «reiche  in  der  gesetzgebenden  Gewalt 
lediglieh  die  Bestimmung  der  Regel,  in  der  richterlichen  die 
Subsumtion  des  einzelnen  Falles  unter  die  Regel,  in  der 
vollziehenden  endlich  die  V o  1 1  s  1  rec  k  u  n  g  dieses  Urtheils  sieht, 
und  so  den  Statsorganismus  wie  einen  bloszen  logischen  Syl- 
logismus betrachtet.2  Alle  Functionen  der  verschiedenen  Ge- 
walten wären  so  in  jedem  »gerichtlichen  Ürtheile  vereinigt, 
welches  von  allgemeinen  Principien  ausgeht,  diese  auf  die  vor- 
gelegte Streitfrage  anwendet,  und  endlich  in  Folge  dessen  das 
Erkenntnisz  zum  Schlusz  bringt.  Die  Regierung  aber  hätte 
kaum  eine  andere  Aufgabe,  als  die  des  Frohnboten  oder  der 
Gendarmerie,  welche  das  Qrtheil  der  Gerichte  vollzieht. 

Voraus  ist  es  nöthig,  die  gesetzgebende  Gewalt  auf 
der   einen   Seite  allen  übrigen  Statsgewalten  auf  der  andern 


1  Meine  Studien,  S.   J46. 

2  Montesquieu  XT,  ß  hat  sich  das  Verhältnis  doch  anders  ge- 
dacht. Er  nennt  auch  die  richterliche  Gewalt  eine  ,,puissance  executrice 
des  choses,  qui  dependent  da  droit  civil"  und  unterscheidet  sie  so  ob- 
jeetiv  von  der  eigentlichen  „puissance  executrice  des  choses,  qui  de- 
pendent da  droit  des  gens."  Nach  ihm  aber  haben  andere,  unter  ihnen 
auch  Kant  (Rechtslehre,  §.  45)  und  Spittler  (Vorlesungen  über  Politik, 
§.  15),  jene  wunderliche  Meinung  angenommen.  Vgl.  dagegen  Stahl, 
Lehre  vom  Stat  II,  §.  57. 


460     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

gegenüber  zu  stellen.  Alle  andern  Functionen  gehören  ein- 
zelnen Organen  des  Statskörpers  zu,  die  Gesetzgebung  allein 
dem  ganzen  Statskörper  selbst.  Die  gesetzgebende  Gewalt 
bestimmt  die  Stats-  und  Rechtsordnung  selbst,  und  ist 
ihr  höchster,  das  ganze  Volk  umfassender  Ausdruck.  Alle  an- 
dern Gewalten  dagegen  üben  ihre  Functionen  innerhalb  der 
bestehenden  Stats-  und  Rechtsordnung  in  einzelnen  concreten 
und  wechselnden  Fällen  aus.  Die  Gesetzgebung  ordnet  die 
dauernden  Verhältnisse  der  Gesam in  t li e i  t.  Die  übrigen  Ge- 
walten äussern  ihre  Thätigkeit  regelmäszig  nur  in  einzel  n  e q, 
nicht  das  ganze  Volk  betreffenden  Richtungen.  Erst  wenn 
die  Befugnisse  des  gesetzgebenden  Körpers  bestimmt  sind, 
kann  die  Frage  der  Eintheilung  der  übrigen  Gewalten  zur 
Lösung  kommen. 

Die  gesetzgebende  Gewalt  hat  demnach  keineswegs  blosz 
allgemeine  Rech  tsregeln,  die  Gesetze  im  engern  Sinne 
festzustellen,  obwohl  diese  Thätigkeil  vorzugsweise  ihr  zugehört. 
Auch  die  Begründung  und  Aenderung  Btatlicher  Insti- 
tutionen, die  Ausbildung  des  Statsorganismus  in  seinen 
Gliedern  and  Verhältnissen  Btehl  ihr  zu.  Und  wenn  sie  in  den 
Steuergesetzen  allgemeine  Ökonomische  Anordnungen 
trifft,  und  Anforderungen,  nicht  Rechtsregeln,  bewilligt, 
wenn  sie  sieh  Rechenschaft  geben  Iftszl  ober  die  Zustände 
des  Landes  und  den  Statshaushalt ,  so  sind  auch  diese  Func- 
tionen durch  die  Rucksichl  auf  die  gesammte  Statsordnung 
gerechtfertigt,  obwohl  dieselben  keine  eigentliche  Gesetze 
betreffen. 

Da  das  Ganze  mehr  ist  als  irgend  ein  Theil  oder  Glied 
desselben,  so  versteht  sich,  das/  die  gesetzgebende  Gewalt 
allen  andern  Einzeige  walten  übergeordnet  ist. 

Diese  lassen  sich  für  den  modernen  Stat  füglich  in  vier 
Gruppen  theilen  von  wesentlich  verschiedenem  Charakter.  Die 
beiden     wichtigsten     und    vorzugsweise    obrigkeitlichen     sind: 


Zweites  Capitel.  Das  moderne  Princip  der  Sonderung  der  Gewalten.  461 

I.  die  Regierungsgewalt,  das  Regiment;  IL  die  rich- 
terliche Gewalt,  das  Gericht. 

I.  Die  Regierungs  gewalt.  Durchaus  verfehlt  ist  die 
leider  sehr  verbreitete  Bezeichnung  dafür:  vollziehende 
Gewalt,  denn  sie  ist  die  unversiegliche  Quelle  einer  Menge 
von  Irrthümern  und  Miszverständnissen  der  Theorie  und  von 
Fehlern  der  Praxis.  Durch  dieselbe  wird  weder  ihr  inneres 
Wesen  noch  ihre  Beziehung  zu  der  Gesetzgebung  und  dem 
Gerichte,  worauf  sie  doch  vornehmlich  Rücksicht  zu  nehmen 
scheint,  richtig  ausgedrückt. 

Man  kann  den  eigenen  Entschlusz  und  man  kann  den 
Befehl  oder  Auftrag  eines  Andern  vollziehen.  Immer 
aber  ist  das  Vollziehen  nur  das  S ecun d  ä  r e.  Das  P r im är e 
liegt  in  dem  Entschlusz  oder  Auftrag.  Die  Functionen  der 
Regierung  sind  aber  ihrer  Natur  nach  primär.  Sie  faszt  Ent- 
schlüsse und  erläszt  Beschlüsse,  sie  spricht  ihren  Willen  aus, 
sie  gebietet  oder  verbietet,  und  in  den  meisten  Fällen  bedarf 
es  gar  nicht  des  executiven  Zwanges,  um  ihren  Befehlen  Folge 
zu  verschaffen.  Es  genügt  regelmässig  der  blosze  Ausspruch 
derselben,  damit  sie  Gehorsam  finden  und  zur  That  werden. 
Wo  es  aber  der  Nüthigung  bedarf,  da  ist  die  Execution  zwar 
allerdings  Sache  und  in  der  Macht  der  Regierungsgewalt,  wird 
aber,  eben  als  das  Secundäre,  meistens  nur  von  untergeord- 
neten Behörden  und  Dienern  derselben  besorgt. 

Aber  auch  wenn  man  an  den  Willen  Anderer  denkt,  ist 
die  Bezeichnung  der  vollziehenden  Gewalt  unrichtig.  Es  ist 
nicht  wahr,  dasz  dieselbe  jederzeit  im  einzelnen  vollziehe, 
was  die  gesetzgebende  Gewalt  im  allgemeinen  festge- 
stellt hat.  Ein  Gesetz  läszt  sich  in  der  Regel  gar  nicht 
vollziehen,  sondern  nur  beachten  und  anwenden,  es  wäre  denn, 
dasz  man  etwa  die  Verkündigung  des  Gesetzes  schon  für  die 
Vollziehung  desselben  hielte.  Die  Regeln,  welche  der  Gesetz- 
geber sanctionirt,  die  Grundsätze,  die  er  ausspricht,  werden 
von  der  Regierung  als  rechtliche  Normen  und  Schranken  ihres 


462     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und   da9  Gesetz. 

Verfahrens  beachtet,  aber  innerhalb  dieser  Schranken  faszt  sie 
selber  mit  Freiheit  die  ihr  heilsam  und  zweckmässig  scheinen- 
den Beschlüsse.  Von  sich  aus.  nicht  um  ein  Gesetz  zu  voll- 
ziehen, unter-  und  verhandelt  sie  mit  andern  Staten,  gibt  Auf- 
träge an  ihre  Unterbeamten,  aber  dieses  oder  jenes  zu  berichten, 
trifft  die  erforderlichen  M;i>/.regeln  zum  Schutz  der  Ordnung. 
oder  lüs/.t  d.i>  rar  allgemeinen  Wohlfahrt  Geeignete  vorkehren, 
ernennt  Beamte,  verfügt  aber  das  Heer.  Noch  weniger  als 
der  Gesetzgebung  gegenüber  paszt  die  Bezeichnung  der  voll- 
ziehenden Gewalt  dem  Gerichte  gegenüber.  Die  Vollziehung 
des  Drtheila  ist  ihrem  Wesen  nach  eine  Sandlung  der  rich- 
terlichen Gewalt  >tdiist .  denn  diese  besteht  in  der  Hand- 
habung <\r>  Rechts  und  in  der  Herstellung  der  gestörten  Rechts* 
ordnung  und  nur  soweit  die  richterliche  Gewalt  nicht  hinreicht, 
bedarf  sie  der  Beihülfe  der  stärkeren  Etegierungsmacht.  Das 
Verh&ltni82  dieser  so  jener  ist  nicht  das  des  Dieners,  der  i\m 
\\  illen  des  Herrn  vollstreckt. 

Das  Wesen  der  Regierungsgewalt  liegt  -"mit  nicht  Inder 
Vollziehung,  Bondern  in  der  Macht,  im  einzelnen  das 
Rechte  nnd  Gemeinnfitzlicbe  zu  befehlen  und  an/n- 

urdiifii,    und    in     der   Maeln,    das    Land     und    das   V  0  1  k 

vor  einzelnen  Gefahren  nnd  Angriffen  zn  Bchützen 
und  dasselbe  in  vertreten,  und  vor  gemeinen  [Jebeln 
zu  bewahren,  sie  besteht  vornehmlich  in  dem  was  die 
Griechen  dQxW  die  Römer  als  impet  tum,  das  deutsche  Mittel- 
alter als  Mundschaft  und  Vogtei  bezeichnet  haben.  Von 
allen  Btatiichen  Einzelgewalten  ist  sie  offenbar  die  am  meisten 
obrigkeitliche,  die  vorzugsweise  herrschende,  dem- 
nach ohne  Zweifel  die  oberste.  Sie  verhält  sich  zn  den 
.indem  Emzelgewalfcen  wie  «las  Haupt  zn  den  Gliedern  des  Leibes. 
Di«-  Bogenannte  Repräsentativgewalt  aber  ist  in  ihr  inbegriffen, 

3  Ari*totele8.  Pol. IV.,  12,3:  „to  yaq  fauätttty  <  <>{i/.<mF nur  iany* 
Er  erkennt  in  den  in   dem  Befehle   die  Haupt  igenschafl   d«r   obi 
lieben  Qewalt. 


Zweites  Capitel.  Das  moderne  Princip  der  Sonderung  der  Gewalten.  463 

Bezieht  sich  diese  Gewalt  auf  die  Leitung  des  States 
im  Groszen  und  Ganzen,  so  heiszen  wir  sie  politische  Re- 
gierung (gouvernement  politique) ,  bezieht  sie  sich  auf  das 
Kleine  und  Einzelne,  so  heiszen  wir  sie  Verwaltung  (Ad- 
ministration). 

IL  Die  richterliche  Gewalt  wird  sein*  häufig  als  ur- 
th  eilen  de  Gewalt  aufgefaszt,  eine  Verwechslung,  welche  der 
französische  Ausdruck  pouvoir  judicaire  begünstigt.  Das  Wesen 
der  richterlichen  Gewalt  liegt  aber  nicht  im  Urtheilen,  sondern 
im  Richten,  oder  wie  die  Römer  das  gesagt  haben:  nicht 
in  judicio,  sondern  in  jure.  Das  ürtheilen  in  dem  Sinne,  das 
Recht  im  einzelnen  Falle  zu  erkennen  und  auszusprechen,  ist 
gar  nicht  nothwendig  eine  obrigkeitliche  Function,  noch  die 
Ausübung  einer  Btatlichen  Gewalt  oder  .Macht.  Zu  Rom 
waren  es  gewöhnlich  Privatpersonen,  welche  als  ürtheiler  (ju- 
dices)  das  Rechl  aussprachen;  im  deutschen  .Mittelalter  hatten 
die  Schöffen,  nicht  die  Richter,  in  neuere*  Zeit  haben  oft  die 
Geschworenen  aus  dem  Volke,  nicht  die  Magistrate  zu  ürthei- 
len. Das  Sichten  dagegen,  d.  h.  die  Gewährung  des  Rechts- 
schutzes, und  die  Handhabung  des  Rechts  gegen  die  Störungen 
und  Verletzungen  der  Rechte  der  [ndividuen  und  der  gemeinen 
Rechtsordnung  ist  von  jeher  als  eine  obrigkeitliche  Tliätig- 
keit  angesehen,  und  daher  überall  richterlichen  Magistraten 
und  Beamteten  als  eine  statliche  Gewalt  zugetheilt  worden. 

Sie  unterscheidet  sich  von  der  Regierungsgewalt  wesentlich 
dadurch,  das/  sie  nicht  wie  diese  Herrschaft  übt,  sondern 
lediglich  das  erkannte  und  anerkannte  Recht  schirmt 
und  anwendet.  Sind  die  Functionen  des  Regiments  denen 
der  geistigen  Kräfte  im  Menschen  vergleichbar,  so  sind  die 
Functionen  des  Gerichts  von  wesentlich  moralischer  Natur. 

Eben  deszhalb  aber  ist  es  ein  groszer  Fortschritt  in  der 
richtigen  Anordnung  des  Statsorganismus,  dasz  in  dem  mo- 
dernen State  die  Ausscheidung  der  richterlichen  Organe 
und  Befugnisse  von  denen  der  Regierung  vollzogen  worden  ist, 


464    Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

im  Gegensatz  zu  dem  gesammten  Alterthum  und  dem  Mittel- 
alter, welches  immer  die  Regierungs-  und  die  richterliche 
Gewalt  von  den  nämlichen  Magistraten  ausüben  liesz.  Die 
Keinheit  des  Rechts  und  die  wahre  Freiheit  der  Bürger  haben 
durch  dieselbe  gewonnen,  und  die  Macht  der  Regierung  ver- 
liert nicht,  wenn  sie  vor  Miszbrauch  und  Uebergriffen  in  die 
Sphäre  der  Rechtspflege  bewahrt  wird.4  Wie  verschieden  die 
beiderlei  Gewalten  sind,  zeigt  sich  in  der  Erfahrung  des  Le- 
bens auch  darin,  dasz  nur  selten  ausgezeichnete  Stats- 
männer  und  Regierungsbeamtete  auch  gute  Richter, 
und  umgekehrt  selten  tüchtige  Richter  auch  gute  Regierungs- 
beamte waren. 

Das  Gericht  als  die  weniger  obrigkeitliche  Gewalt  steht 
mit  dem  Regiment  nicht  auf  einer  Linie,  sondern  ist,  obwohl 
in  der  Hauptsache  von  diesem  unabhängig,  doch  demselben 
untergeordnet,  ähnlich  wie  das  Herz  dem  Kopf. 

In  gewissem  Betracht  scheinen  durch  die  Anerkennung 
dieses  Gegensatzes  die  statlichen  Einzelgewalten  erschöpft  zu 
sein,  und  es  wird  begreiflich,  wenn  die  neuern  Verfassungen 
gewöhnlich  nicht  darüber  hinausgehen.  Eine  nähere  Prüfung 
aber  läszt  uns  noch  zwei  andere  Gruppen  von  einzelnen  Orga- 
nen und  Functionen  des  States  erkennen,   die  zwar  beide  den 

4  In  diesem  Sinne  darf  man  wohl  an  die  Worte  Washington^ 
erinnern,  in  seiner  bewundernswürdigen  Abschiedsadresse  vom  Jahre  J  796  : 
„Es  ist  wichtig,  dasz  die  Männer,  welche  in  einem  freien  Lande  an  der 
öffentlichen  Gewalt  Theil  haben,  sich  innerhalb  der  verfassungsmäszigen 
Gränzen  halten  und  nicht  die  einen  in  die  Befugnisse  der  andern  über- 
greifen. Dieser  Geist  der  Uebergriffe  strebt  darnach ,  alle  Macht  aus- 
schliesslich in  sich  zu  vereinigen,  und  folglich  den  Despotismus  einzu- 
führen, in  welchem  State  immer  er  sich  zeigt.  Es  genügt  zu  wissen, 
wie  sehr  die  Liebe  zur  Macht  und  die  Neigung,  dieselbe  zu  miszbrauchen, 
dem  menschlichen  Herzen  natürlich  sind,  um  diese  Wahrheiten  zu  fühlen. 
Daher  die  Notwendigkeit,  die  öffentlichen  Gewalten  durch  ihre  Theilung 
und  Vertheilung  unter  mehrere  Inhaber,  welche  dieses  öffentliche  Gut  vor 
den  Eingriffen  Anderer  schützen,  ins  Gleichgewicht  zu  bringen.  Es  ist 
nicht  minder  nothwendig,  die  Gewalten  in  ihren  Schranken  zu 
halten,  als  dieselben  einzusetzen." 


Zweites  Capitel.  Das  moderne  Princip  der  Sonderung  der  Gewalten,      465 

höchsten  des  Kegiments  nicht  blosz  untergeordnet,  sondern 
geradezu  von  ihr  abhängig  sind,  die  aber  beide  einen  be- 
sonderen Charakter  haben,  und  sich  von  dem  des  eigentlichen 
Regiments  darin  unterscheiden,  dasz  der  herrschende  und  obrig- 
keitliche Charakter,  welcher  das  Wesen  desselben  ausmacht, 
hier  wiederum  zurücktritt.     Es  sind  das 

III.  die  Aufsicht  und  Pflege  der  geistigen  Cul- 
turverhältnisse,  die  Statscultur,  und 

IV.  die  Verwaltung  und  Pflege  der  materiellen 
Kräfte  und  Zustände,  die  Stats  w  i rtlisch  aft. 

In  diesen  beiden  Gruppen  handelt  es  sich  nicht  um  das 
Regieren.  Die  groszen  Factoren  der  menschlichen  Cultur,  die 
Religion,  die  Wissenschaft,  die  Kunst  gehören  überall  nicht 
dem  Statsorganismus  an,  und  können  nicht  von  dem  State 
aus  bestimmt  und  erfüllt  werden.  Das  Verhältnisz  der  Stats- 
gewalt  auch  zu  den  äuszerlichen  Anstalten  der  Religion,  der 
Wissenschaft  und  Kunst,  zu  der  Kirche  und  Schule,  ist  dem- 
nach grundverschieden  von  dem  Verhältnisz  der  Regierung 
zu  den  Regierten  in  der  Sphäre  des  eigentlichen  Regiments. 
Der  Stat  hat  auch  hier  die  gemeine  Wohlfahrt  zu  fördern  und 
gemeinen  Schaden  abzuwenden,  aber  er  ist  sich  bewuszt  und 
wird  fortwährend  daran  erinnert,  dass  das  Wesen  dieser  Dinge 
nicht  seiner  Herrschaft  unterworfen  sei.  Seine  Functionen  sind 
daher  hier  nicht  maszgebend,  nicht  Gebote  noch  Verbote,  son- 
dern wesentlich  nur  Aufsicht  und  Pflege. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  vierten  Gruppe  der 
Wirthschaft.  Das  charakteristische  Moment  in  der  Ver- 
waltung der  Einkünfte  und  Ausgaben  des  States,  der  Finanzen, 
in  der  Unterstützung  des  bürgerlichen  Verkehrs  und  der  öko- 
nomischen Wohlfahrt  der  Bürger,  in  der  Leitung  der  öffent- 
lichen Arbeiten,  in  der  Beaufsichtigung  der  Gemeinden  ist 
nicht  Imperium  noch  Vogtei  im  strengen  Sinne,  sondern  wie 
für  die  Culturbeziehungen  geistige  Sorge  so  hier  auf  das  Ma- 
terielle   gerichtete  Pflege.      Der    specitisch    obrigkeitliche 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  30 


466    Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Charakter  kommt  hier  fast  gar  nicht,  der  weniger  auf  die 
statliche  Macht  und  das  Kecht  als  auf  technische  Kenntnisz 
und  Erfahrung  begründete  Charakter  der  wirthschaftlichen  Ver- 
waltung überwiegend  zur  Sprache.  In  keiner  andern  Gruppe 
nähern  sich  denn  auch  die  Statsorgane  so  sehr  dem  Privat- 
leben, als  in  dieser;  das  Statsvermögen  selbst  erscheint  ge- 
radezu im  Verkehr  einer  Privatperson  gleich.  Unter  allen 
nimmt  sie  daher  die  unterste  Stufe  ein,  eine  Stellung,  welche 
mit  ihrer  Unentbehrlichkeit  und  ihrer  groszen  Ausdehnung  bis 
in  die  Bewegungen  des  täglichen  Lebens  und  Verkehrs  hinein 
keineswegs  im  Widerspruch  ist.  Sie  ist  die  breite  Unterlage, 
auf  welcher  der  Stat  ruht,  wie  das  Regiment  seine  höchste 
Spitze  ist. 

Die  Erkenntnisz  dieses  Gegensatzes  in  den  öffentlichen 
Functionen  reift  erst  in  unserer  Zeit  allmählich  heran.  Noch 
leiden  wir  an  den  Uebeln  einer  Vermischung  der  gebietenden 
und  der  pflegenden  Thätigkeit.  Noch  wird  gelegentlich  be- 
fohlen oder  verboten,  wo  nur  verwaltet  werden  sollte,  zuweilen 
auch  scheue  Pflege  geübt,  wo  die  obrigkeitliche  Energie  durch- 
greifen sollte.  Aber  es  ist  dock  schon  besser  geworden,  als 
es  vor  100  Jahren  gewesen  ist;  und  viele  Institutionen  der 
Pflege  sind  bereits  gesondert  von  dem  eigentlichen  Regiment 
und  werden  ohne  Gewaltübung  in  dem  wohlthätigen  Geiste 
wissenschaftlicher  und  technischer  Sorge  verwaltet,  der  den 
Cultur-  und  Wirthschaftsbedürfnissen  des  Volkes  Befriedigung 
verschafft  und  die  Freiheit  Aller  respectirt. 


Drittes  Capitel. 

Die  Entwicklungsgeschichte  der  Repräsentativverfassung. 
I.  Die  fränkischen  Reichstage  und    II.  das  englische  Parlament. 

Der    menschliche  Geist   arbeitete    mehr    als    zweitausend 
Jahre  daran,  bis  es  ihm  gelang,  von  den  noch  rohen  Formen 


Drittes  Capitel.  Entwicklungsgeschichte  der  Repräsentativverfassung.  467 

der  antiken  Volksversammlungen  zu  der  vollkommeneren  Ge- 
staltung des  repräsentativen  Körpers  durchzudringen,  und  noch 
jetzt  ist  die  VollenduDg  dieser  Arbeit  im  einzelnen  nicht  erreicht. 

I.  Die  alten  Eeichstage  der  fränkischen  Monarchie 
stehen  in  manchen  wichtigen  Beziehungen  wieder  zurück  hinter 
den  römischen  Centuriatcomitien.  Weder  die  Ordnung  der 
verschiedenen  Classen  und  Stände,  welche  daran  Theil  haben, 
ist  so  fest  gesichert,  noch  die  Berathung  und  Abstimmung  so 
ausgebildet,  als  bei  den  Römern.  Und  in  der  Hauptsache  war 
es  doch  nur  die  Aristokratie  der  geistlichen  und  weltlichen 
Herren,  auf  deren  Mitwirkung  es  wirklich  ankam.  Das  übrige 
Volk  wurde  nur  selten  um  seine  Zustimmung  befragt.  In  der 
Regel  wurde  ihm  das  Gesetz  nur  verkündet. ' 

Aber  in  einer  und  zwar  in  einer  sehr  erheblichen  Rück- 
sicht lag  in  der  fränkischen  Einrichtimg  ein  groszer  Fort- 
schritt. Die  antiken  Volksversammlungen  bestanden  aus  den 
Bürgern  einer  Stadt,  die  als  Centrum  des  States  betrachtet 
wurde.  Diese  Reichstage  aber  ruhten  auf  einem  über  ein 
weites  Land  verbreiteten  herrschenden  Volke,  und  es  wurden 
auf  ihnen  vornehmlich  die  Häuptlinge  dieses  Volkes,  welche 
hinwieder  einen  Anhang  unter  demselben  und  Macht  über  ein- 
zelne Gegenden  besaszen,  zusammenberufen.  Auf  den  groszen 
Reichstagen  des  Frühjahrs  verstärkten  die  Gefolge,  welche  mit 
den  Herren  hergezogen  waren,  und  die  anwesende  Menge  der 
einfachen  freien  Kriegsmänner  das  Ansehen  und  die  Autorität 
der  Groszen.  In  der  Aristokratie  erblickte  das  Volk  auch 
seine  Führer  und  Vertreter. 

Um  den  König  her  und  mit  seinen  Räthen  zur  Berathung 
und  Verhandlung  trat  so  das  Oberhaus  der  Herren  (seniores) 
zusammen ;  in  einem  weiteren  Kreise  wurde  zuweilen  auch  die 
niedere  Aristokratie  der  Mindern  (minores)  über  ihre  Zu- 
stimmung vernommen,  meistens  aber  muszte  sich  diese  noch 
begnügen  anzuhören,  was  der  König  mit  den  Herren  beschlossen. 

1  Ygl.  oben  Buch  IV,  C.  17  die  Stellen. 

30* 


468     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Erst  in  drittem  Kreise  vernahm  das  Volk  der  anwesenden 
Freien  die  Beschlüsse  seiner  Häupter. 

Ob  auf  die  Form  dieser  Reichstage  und  das  Vortreten  der 
Aristokratie  auf  denselben  die  alten  gallischen  Landtage2 
und  die  frühere  hohe  Stellung  der  keltischen  Druiden  und 
Ritter  auf  diesen  einen  Einflusz  gehabt  habe,  ist  schwer 
zu  bestimmen.  In  der  Hauptsache  ist  wohl  die  Einrichtung 
germanisch.  Allenthalben  in  den  deutschen  Ländern  sehen  wir 
in  diesen  und  den  folgenden  Jahrhunderten  das  Ansehen  der 
Aristokratie  —  die  schon  in  der  ursprünglichen  germanischen 
Verfassung,  wie  Tacitus  uns  berichtet,  eine  sehr  hervorragende 
Stellung  inne  gehabt  —  im  Wachsthume  begriffen. 

IL  Frühzeitig  gelangte  das  Repräsentativsystem  aber  zu 
einer  vollkommenem  Gestaltung  in  England.  Es  läszt  sich 
daher  schicklich  die  Darstellung  der  höheren  Entwicklungs- 
stufen an  die  Geschichte  des  englischen  Parlaments  an- 
lehnen. 

Das  angelsächsische  Witenagemot  war  unter  den  nor- 
mannischen Königen  —  welche  in  der  Normandie  ebenfalls 
ihre  aristokratischen  Hoftage  zu  halten  gewohnt,  und  oft  dazu 
genöthigt  gewesen  waren  —  bis  zu  Anfang  des  XHL  Jahr- 
hunderts in  die  höhere  Form  eines  mit  groszen  politischen 
Rechten  ausgestatteten  „Groszen  Raths"   der  Nation  umge- 

2  Die  alljährlichen  Versammlungen  zu  Arles,  welche  in  der  ersten 
Hälfte  des  V.  Jahrhunderts  dem  südlichen  Gallien  von  der  römischen 
Regierung  wieder  verstattet  wurden,  und  auf  welchen  die  hohen  welt- 
lichen und  geistlichen  Beamten  und  Würdeträger  (die  honorati) 
und  die  groszen  Gutsherren  (possessores)  sich  einfanden,  sind  um  so 
merkwürdiger,  als  sich  auf  denselben  bereits  die  Richter  aus  entlegenen 
Gegenden,  die  verhindert  waren,  persönlich  zu  erscheinen,  durch  Ab- 
geordnete (legati)  vertreten  hissen  durften.  Const.  Honorii  et  Theo- 
dosii  a.  413:  „Illustris  magnificentia  tua  id  per  septem  provincias  in  per- 
petuum  faciet  custodiri,  ut  ab  Idibus  Augusti  in  Idus  Septembris  in  Are- 
latensi  urbi  noverint  honorati,  possessores  vel  jndices  singularum  provin- 
ciarum  annis  singulis  concilium  esse  servandum."  Der  Präfecf  leitet  die 
Versammlung,  welche  über  die  Interessen  der  Provinzen  und  8tädte  be- 
rathschlngt. 


Drittes  Capitel.  Entwicklungsgeschichte  der  Repräsentativverfassung.  469 

bildet  worden.  Dieser  grosze  Kath  beruhte  aber  damals  noch 
ganz  auf  dem  Lehenssystem.  Die  Heerschau  der  Yasallen  und 
Hoffeste  waren  damit  verbunden.  Nach  der  Magna  Charta  Jo- 
hanns II.  von  1215  waren  zu  demselben  berechtigt  und  ver- 
pflichtet, alle  unmittelbaren  Yasallen  des  Königs. 
Die  Groszeii:  Erzbischöfe,  Bischöfe,  Aebte,  Grafen,  und  die 
groszen  Barone  sollte  der  König  durch  persönliche  Briefe 
einzeln  einladen,  die  übrigen  königlichen  Yasallen  dagegen 
insgesammt  durch  seine  Yizgrafen  und  Vögte.3 

Während  des  XIII.  Jahrhunderts  wurde  das  Parlament  in 
Folge  der  Kämpfe  des  Adels  mit  König  Heinrich  III.  be- 
deutend erweitert,  auch  von  dem  engen  Zusammenhang  mit 
der  Lehensverfassung  abgelöst,  und  so  zu  einer  wahrhaft  na- 
tionalen Institution  erhoben.  Die  Hauptmomente  für  die  Aus- 
bildung des  englischen  Parlaments  sind: 

1.  Auszer  den  geistlichen  Fürsten  wurde  auch  —  ins- 
besondere wenn  kirchliche  Verhältnisse  auf  dem  Parlament  zur 
Verhandlung  kamen  —  dem  nie  dem  Klerus  eine  Vertret- 
ung gestattet,  und  zwar  so,  dasz  derselbe  in  jedem  Decanat 
oder  Archidiaconat  zwei  bevollmächtigte  Vertreter  er- 
wählen und  zum  Parlament  abordnen  durfte.4  Die  Geistlich- 
keit war  somit  als  Stand  vertreten,  und  kam  anfangs  auch 
öfter   als   ein   für   sich   bestehender  Theil    des  Parlaments  ge- 

3  Magna  Charta  Joh.  II.:  „Et  ad  habendum  commune  consüium  regni 
de  auxilio  assidendo  —  submoneri  faciemus  Archiepiscopos,  Episcopos, 
Abbates,  Comites  et  majores  barones  singillatim  per  litteras  nostras.  Et 
preterea  faciemus  submoneri  in  generali  pervicecomites  et  ballivos  nostros 
omnes  illos,  qui  de  nobis  tenent  in  capite." 

4  Der  alte  Modus  tenendi  parliamentum,  abgedruckt  bei  Unger, 
Geschichte  der  Landstände  I,  S.  289  aus  d' Acherg  spicileg.  III,  S.  394, 
ist  freilich  lange  nicht  so  alt,  als  er  sich  selber  ausgibt,  auch  sicher 
nicht  aus  dem  XII.  Jahrhundert,  wie  manche  meinen,  aber  wahrschein- 
lich doch  aus  dem  Ende  des  XIII.  Jahrhunderts,  und  immerhin  als  Dar- 
stellung des  alten  Parlaments  höchst  interessant.  Das  erste  Capitel  han- 
delt von  den  geistlichen  Mitgliedern.  Ygl.  auch  das  Einberufungsschreiben 
Eduard  I.,  von  J295  bei  Guizot,  Essai  u.  s.  f.,  S.  332. 


470     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

trennt  von  den  andern  zusammen.  Später  aber  wurde  es  feste 
Sitte,  dasz  die  geistlichen  Herren  mit  den  weltlichen 
Herren  zusammen  Ein  Haus  der  Lords  bildeten,  und  es 
kam  auch  die  Abzahlung  der  Stimmen  in  diesem  Hause  ohne 
Rücksicht  auf  die  Verschiedenheit  des  Standes  und  der  Per- 
sonen auf.8 

2.  Anfänglich  waren  die  Grafen  und  groszen  Barone  mit 
den  übrigen  Reichsrittern  in  Einer  Versammlung.  Indessen 
mochten  schon  in  älterer  Zeit  die  persönlich  geladenen 
Herren  (die  majores,  barones,  primae  diguitatis)  als  die  mäch- 
tigeren und  vornehmeren  Baronie  —  der  Modus  tenendi  pädia* 
mentum  fordert  von  einer  groszen  Baronie  mindestens  dreizehn 
Rittergüter  —  in  derselben  eine  höhere  Autorität  besessen 
haben ,  und  auch  wohl  oft  allein  befragt  worden  sein.  Das 
Privy  Council  bildet  den  Kern  dieser  höheren  Aristokratie, 
in  welchem  die  Träger  der  obersten  Reichsämter  am  Hofe  und 
in  Kirche,  Heer,  Gericht  and  Finanz  znsammengefaszt  wurde/' 
Während  des  XIII.  Jahrhunderte  tritt  die  Unterscheidung  der 
hohen  Aristokratie  und  der  Ritterschaft  immer  bestimmter 
hervor. 

3.  Damit  stand  die  Erweiterung  der  Ritterschaft 
in  Verbindung.  In  den  Grafschaften  gab  es  neben  den  unmit- 
telbaren Vasallen  des  Königs  noch  viele  andere,  oft  noch  reichere 
Vasallen  der  Fürsten,  Grafen  und  Herren,  welche  mit  den 
Reichsrittern  an  demRathe  und  der  Verwaltung  der  Grafschaft 
Theil  hatten.  Man  fing  nun  an  nicht  mehr  wie  früher  die  un- 
mittelbaren mindern  Vasallen  in  Masse  zum  Parlament  EU 
rufen,  sondern,  da  ohnehin  nicht  alle  kamen,  noch  die  An- 
wesenheit einer  so  groszen  Zahl  wünschenswerth  schien,  eine 
geordnete  Abordnung  der  Ritterschaft  zu  veranstalten. 
Aus  jeder  Grafschaft  sollten  zwei  Ritter  für  sieb  und  für  die 
übrigen  erscheinen.    Von  da  an  war  es  nun  natürlich',  dasz  an 

1  Ygl.  darüber  Blnckstonc,  I.  2,  2. 
«  Gneis  t,  Engl.  Verf.  II,  914. 


Drittes  Capitel.  Entwicklungsgeschichte  der  Repräsentativverfassung.  471 

den  Grafschaftswahlen  auch  die  andern  bei  den  Steuern  und 
übrigen  Landesinteressen  nicht  minder  betheiligten  freien 
Lehens  träger  Theil  nahmen  und  erhielten.  Durch  diese 
Veränderung,  welche  seit  der  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts 
aufkam,  wurde  eine  auf  Wahl  beruhende  Bepräsentation 
der  angesehenen  freien  Grundbesitzer  zu  einem  eigen- 
thümlichen  Bestandteile  des  Parlaments  erhoben.7  Der  Cha- 
rakter einer  Vertretung  des  freien  Grundbesitzes  er- 
hielt sich  in  der  Folge  nicht  blosz,  sondern  wurde  durch  die 
Zulassung  aller  Freisaszen  zum  Stimmrecht,  welche  von  Frei- 
gütern ein  regelmäsziges  jährliches  Einkommen  haben,  anfangs 
von  40  Schillingen,  später  von  40  Pfund,  seit  der  Eoformacte 
von  1832  selbst  der  Besitzer  von  Frei-  oder  Meyergütern  mit 
einem  Einkommen  von  10  Pfund  und  der  gröszern  Zeitpächter 
bedeutend  erweitert. 8 

4.  Ein  ganz  neues  Element  kam  nun  durch  die  Ver- 
tretung der  Städte  und  der  Burgen  hinzu.  Zuerst  berief 
der  Graf  Simon  von  Mo nt fort  im  Namen  des  gefangenen 
König  Heinrichs  III.  im  Jahr  1260  Abgeordnete  einer  Anzahl 
von  Städten  und  Burgen  zum  Parlament,  in  ihnen  eine  Ver- 
stärkung suchend  seiner  Macht. 9  Früher  war  wohl  etwa  von 
den  Königen  mit  einzelnen  Städten  unterhandelt  worden,  wenn 
von  denselben  Beisteuern  verlangt  wurden.  Für  London  war 
diesz  in  der  Magna  Charta  von  1215  ausdrücklich  vorgesehen. 
Aber  nun  zuerst  wurde  eine  Versammlung  der  Abgeord- 
neten des  Bürger  Standes  veranstaltet.  Unter  Eduard  I. 
(1271—1307)  befestigte  sich  die  Einrichtung. 

7  Ausschreiben  Heinrichs  III.  von  1254.  Die  Sheriffs  sollen  er- 
wählen lassen  in  jeder  Grafschaft:  „duos  legaliores  et  discretiores  milites, 
vice  omnium  et  singulorum."  Modus  ten.  pari.  c.  4:  „eligi  facerent  qui- 
libet  de  suo  comitatu  per  ipsum  comitatum  duos  milites  idoneos  et  ho- 
nestos  et  peritos." 

8  Blacks  tone  I.  2,  5.  R.  Pauli,  Bilder  aus  Altengland.  1861. 
S.  79. 

9  Ausschreiben  von  1264:  „quod  mittant  duos  de  discretioribus ,  le- 
galioribus  et  probioribus  tarn  civibus  quam  burgensibus  suis." 


472     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

In  den  ersten  Zeiten  wurden  die  Abgeordneten  der  fünf 
Seehäfen  —  anfangs  Barone,  nicht  Bürger  —  sodann  der 
Städte  (cives),  endlich  der  Burgen  (burgenses)  unterschieden. 
Den  untersten  Kang  nahmen  die  Burgleute  ein,  der  Reichthum 
und  das  Ansehen  der  Städte  gab  den  Städtern  einen  höhern 
Werth. lu  Später  vereinigten  sie  sich  zu  Einem  —  dem  dritten 
oder  Bürgerstande,  dessen  Bedeutung  fortwährend  zunahm, 
und  der  ganzen  Haltung  des  Parlaments  einen  neuen  Charakter 
gab.  Der  alten  mächtigen  Erbaristokratie  waren  so  zwei  neue 
durch  demokratische  Wahl  bezeichnete  Bestandteile  —  ein 
ritterschaftliches  und  ein  repräsentativ -bürgerliches  zur  Seite 
getreten. 

5.  Diese  neue  Phase  der  Entwicklung  erlangte  durch  die 
Bildung  des  Unterhauses  eine  feste  Gestalt.  Eine  Zeitlang 
schwankte  die  Stellung  der  Bitterschaft  zwischen  dem  Anschlusz 
an  die  Barone,  besonderen  Versammlungen  und  der  Vereinig- 
ung mit  den  Bürgern.  Während  der  Regierang  Eduards  111. 
(1327  —  lo77)  wurde  dk  letztere  zu  bleibender  Kegel,  und 
dein  Hause  der  Herrn  (Lords)  reihte  sich  nun  die  Versamm- 
lung der  Gemeinen  (Commoners)  als  Unterhaus  an:  ,,les 
communaltes  des  ditz  Countetz,  Cites,  Burghs  et  antra  lieux 
du  roiaume,"  wie  es  in  einem  Statut  von  1335  heiszt.  Es 
scheint,  dasz  die  Vertretung  der  niederen  Geistlichkeit  später 
auszer  Hebung  kam.  Dagegen  wurden  seit  1299  auch  Abge- 
ordnete der  Universitäten  Oxford  und  Cambridge  herbeigezogen. 

Diese  Theilung  des  Parlaments,  an  dessen  Spitze  der  Konig 
stand,  in  zwei  Häuser,  welche  in  gewissem  Sinne  die  hoch- 
aristokratischen  und  die  allgemeinen  niederaristokratischen  und 
demokratischen  Interessen  vertraten,  und  insbesondere  die  Ver- 
bindung der  Kitterschaft  und  der  Bürger,  von  Land  und  Stadt 
—  beiderlei  Abgeordnete  hatten  ihre  Vollmacht  den  Volks- 
wahlen zu  verdanken  —  zeichnet  die  englische  Einrichtung 
aus,  und  wurde  das  Vorbild   des   spätem  Zweikammersystems. 

10  Genaue  Bestimmungen  darüber  in  dem  Modus  ten.  purl. 


rittes  Capitel.  Entwicklungsgeschichte  der  Repräsentativverfassung.  473 

6.  Es  dauerte  eine  Weile,  bis  das  Princip  der  S  tatsei n- 
heit,  im  Gegensatze  zu  der  Sonderstellung  und  den  Son- 
de rinteressen  der  einzelnen  Stände,  das  ganze  Parlament 
durchdrang.  Indessen  auch  dieser  grosze  Fortschritt  wurde  in 
England  schon  zu  Ende  des  XIII.  Jahrhunderts  gemacht.  Schon 
der  modus  tenendi  parliamentum  spricht  den  Gedanken  be- 
stimmt aus,  und  obwohl  damals  noch  sechs  Stufen  des  Parla- 
ments (König,  geistliche  Herren  und  Abgeordnete  des  niedern 
Klerus,  weltliche  Herren,  Ritter,  Städter  und  Burgleute)  unter- 
schieden wurden,  berichtet  derselbe  doch  von  einer  eigenthüm- 
lichen  Manier  zur  Einheit  zu  gelangen.  In  schwierigen  Fällen 
nämlich,  wo  die  Meinungen  auseinandergehen,  können  mit  Be- 
willigung des  Parlaments  die  drei  Hofbeamten  einen  Ausschusz 
von  XXV  erwählen  aus  allen  Ständen,  nämlich  a)  2  Bischöfe 
und  3  Abgeordnete  des  Klerus,  b)  2  Grafen  und  3  Barone, 
c)  5  Grafschaftsritter,  d)  5  Städtebürger,  e)  5  Burgmänner. 
Diese  XXV  können  sich  selbst  durch  Wahl  auf  XII,  diese 
hinwieder  auf  VI,  und  die  auf  III  vermindern,  mit  des  Königs 
Erlaubnisz  können  sogar  die  III  auf  Einen  abstellen,  und  was 
so  in  dem  Falle  der  Ausschusz  verordnet,  das  gilt  wie  wenn 
das  ganze  Parlament  es  verordnet  hätte.11 

7.  Das  Haus  der  Lords  erhielt  noch  mehr  den  Charak- 
ter einer  persönlichen  hohen  Aristokratie,  seitdem  die 
Stellen  der  Lords  abgelöst  wurden  von  dem  Zusammenhang 
mit  bestimmten  Herrschaften,  und  lediglich  nach  der  Familien- 
erbfolge übergingen,  während  auf  dem  Continent  die  Würde 
eines  parlamentarischen  Standesherrn  durch  den  engen  Verband 
mit  eigener  Herrschaft  desselben  alterirt  wurde.  Durch  die 
Reformation  und  Aufhebung  der  Klöster  im  XVI.  Jahrhunderte 
verminderte  sich  die  Zahl  der  geistlichen  Herren  bedeutend. 
Die  weltlichen  dagegen  wurden  von  Zeit  zu  Zeit  durch  könig- 
liche Ernennungen  erfrischt  und  für  Rechtssachen  regelmäszig 
durch  den  Zuzug  der  Xn  Ober  rieht  er  vermehrt. 

11  Mod.  ten.  pari.  c.  9. 


474     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Nachdem  Schottland  (1707)  und  Irland  (1800)  mit  Eng- 
land vereinigt  wurden,  kamen  16  von  dem  schottischen 
Adel  erwählte  Pairs  und  4  Geistliche,  und  28  weltliche  irische 
hinzu. 

Die  grosze  Mehrheit  des  Hauses  (über  vier  Fünftheile) 
besteht  somit  aus  Erbadel,  aber  er  wird  ergänzt  durch  geist- 
lichen und  weltlichen  Amtsadel  und  durch  gewählte  Pairs. 
Dieser  Adel  ist  nicht  mehr  wie  vordem  ein  Prälaten-  und  krie- 
gerischer Herrenstand,  sondern  die  erbliche  vornehmste  Classe 
der  Gentry. 

7.  Das  Ansehen  und  die  Macht  des  Unterhauses  stieg 
besonders  seit  der  Reformation  und  besonders  seit  den  groszen 
Eevolutionsstürmen  des  XVII.  Jahrhunderts,  und  den  Kämpfen 
mit  den  Königen  aus  dem  Hause  Stuart  um  bürgerliche  Freiheit. 
Allmählich  ging  der  Schwerpunkt  von  dem  Ober-  auf  das  Unter- 
haus über.  Die  heftigen  confessionellen  Streitigkeiten  des 
XVI.  und  XVII.  Jahrhunderte  aber  hatten  eine  Beschränkung 
der  Theilnahme  an  dem  Parlament  auf  die  Anhänger  der  pro- 
testantischen Confession  cur  Folge.  Brat  im  Jahre  1829  wurden 
auch  die  römisch-katholischen  ünterthanen  —  die  Priester  aus- 
genommen —  wieder  für  berechtigt  erklärt,  als  Pairs  oder  als 
Gemeine  in  das  Parlament  aufgenommen  zu  werden. M 

Von  hoher  Bedeutung  aber  für  die  Zusammensetzung  des 
Unterhauses  war  die  Eteformacte  von  1832. ,a  Seitdem  die 
Städte  und  Burgen  zuerst  bezeichnet  worden  waren,  welche 
Vertreter  in  das  Parlament  zu  senden  hätten,  hatten  sich  die 
Verhältnisse  sehr  rerändert.  Eine  grosze  Zahl  insbesondere 
von  Burgflecken  war  gesunken,  und  in  völlige  Abhängigkeit 
von  der  hohen  Aristokratie  gerathen,  die  ohnehin  in  dem  Ober- 
hause hinreichend  bedachl  war.  Einzelne  Städte  hatten  umge- 
kehrt gegen  früher  an  Bevölkerung  und  Reichthum  sehr  zu- 

12  Die  Acte  ist  im  Original  und  in  deutscher  Ucbersctzung  abge- 
druckt bei  Schubert,  Verfassungsurkunden,  I.  Bd.,  S.   L93« 

13  Ebenda,  8.  224. 


Viertes  Capitel.    III.  Ständische  Entwicklung  in  andern  Staten.  475 

genommen,  andere  waren  neu  entstanden  und  zu  groszem  An- 
sehen gelangt,  ohne  eine  Vertretung  im  Parlament  zu  haben. 
Einige  Grafschaften  waren  im  Verhältnisz  zu  andern  viel  be- 
deutender geworden.  Die  Eeformbill  hatte  nun  die  Absicht, 
die  ^Repräsentation  im  Unterhause  den  veränderten  Verhält- 
nissen anzupassen,  und  zugleich  das  Stimmrecht  der  Wähler 
in  den  Grafschaften,  Städten  und  Burgflecken  angemessen  aus- 
zudehnen. ll 


Viertes  Capitel. 

III.  Ständische  Entwicklung  in  andern  Staten. 

Auf  dem   europäischen   Continent  zeigen  sich   ganz   ähn- 
liche Bestrebungen  und  Versuche  zur  Ausbildung  eines  stän- 

14  Folgender  Ueberblick  über  die  Bildung  des  englischen  Parlaments 
nach  der  Reformbill  in  unserer  Zeit  mag  hier  beigefügt  werden: 

I.   Oberhaus:  II.   Unterhaus: 

Prinzen  vom  königlichen  A.  England: 

Geblüte  3  ^  ^on  (len  ^  Grafschaften  143 

2.  Von  Städten  u.  Burgflecken  324 
Herzöge 2G  3>  yon  Universitäten  .     .     . 4__ 

Marquesses 31  (33)*  471 

«     „  B.  Wales: 

Grafen 147 -(16«  liVonl2  Grafschaften.     .     15 

Viscounts 26  (32)  2.  Von  Burgen 14 

Barone 132  (147)  29 

C.  Schottland: 
Erzbischöfe     )  der  engl.      3  L  yon  80  Grafschaften  .     .     30 


Bischöfe  j    Kirche     27  2.  Von  Städten  und  Burgen     23 

Schott,   gewählte  Peers     16  53 

D.  Irland: 
Irländische  repräsentir.  lt  Von  39  Grafschaften    .     .     64 

Peers 28  2.  Von  Städten  und  Flecken     39 

Mitglieder  439  3.  Universität  Dublin       .     .       2 

TÖ5 
658 

*  Die  schottischen  und  irischen  sind  hier  mitgezählt. 


476     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

diseh-repräsentativen  Systems  wie  in  England.  Aber  überall 
wurde  vornehmlich  seit  der  Einführung  stehender  Heere  und 
in  Folge  der  groszen  und  zahlreichen  Kriege,  welche  Europa 
zerfleischten,  der  Zusammenhang  der  Entwicklung  unterbrochen, 
bevor  dieselbe  zu  einer  nationalen  Gestalt  durchgedrungen  war. 

1.  Am  frühesten  und  zugleich  in  grosser  Ausdehnung 
finden  wir  eine  Erweiterung  der  standischen  Theilnahme  in  der 
pyrenäischen  Halbinsel.  Das  Königreich  Aragonien  war  in 
der  That  eine  Republik  mit  einem  Könige  an  der  Spitze. 
Nicht  blosz  der  Adel,  der  meistens  von  germanischem  Ge- 
blüte  das  Land  den  Saracenen  mit  dem  Schwerte  wieder  ent- 
rissen hatte,  und  die  Geistlickei  t,  deren  Einflusz  durch  die 
Kämpfe  der  Christen  mit  den  Muselmännern  an  Bedeutung 
steigen  muszte,  sondern  schon  zu  Anfang  des  XII.  Jahrhun- 
derts scheinen  auch  die  Städte,  in  denen  die  romanisch- 
christliche  Bevölkerung  das  Uebergewieht  hatte,  in  der  Ver- 
sammlung der  Cortes  vertreten  zu  sein.  Die  Macht  der  Cortes 
gilt  höher  als  die  des  Königs.  Berühmt  ist  die  alt-herge- 
brachte Huldigungsfunncl  der  Stände  \<m  Aragon,  welche  das 
bezeugt:  „Wir  die  wir  so  fiel  gelten  als  ihr,  und  die  wir 
mehr  vermögen  als  ihr,  wir  erheben  euch  zu  unserni  König, 
Herr,  unter  der  Bedingung,  dasz  ihr  unsere  Rechte  wahret, 
wo  nicht,  nicht."1  Ein  einziges  Mitglied  der  Stände,  welches 
die  Einstimmigkeit  verhinderte,  war  schon  mächtig  genug,  die 
Durchsetzung  der  königlichen  Vorschläge  zu  hemmen,  Zwischen 
den  Fürsten  und  den  Cortes  richtete,  wenn  es  zum  Streite  kam, 
der  von  dem  Könige  unabhängige  und  nur  den  vereinigten 
übrigen  Statsgewalten  hinwieder  verantwortliche  Q-roszrichtei, 
Justitia.  Die  Statseinheit  aber  war  durch  diese  innern  Gegen- 
sätze zerspalten. 

In   Castilien   erschienen   schon    1169   städtische   Abge- 

1  Nos  que  valemos  tantöt  como  vos,  y  que  podemoa  Dias  que  vos, 
03  azemos  nuestro  Rey,  senor,  con  tal  que  guardeis  nuestros  fueros ;  bi 
no,  no. 


Viertes  Capitel.    III.  Ständische  Entwicklung  in  andern  Staten.  477 

ordnete  auf  den  Cortes  von  Burgos,  im  Jahre  1188  finden  wir 
47  Städte,  1315  90  Städte  repräsentirt.  Das  XY.  Jahrhundert 
war  auch  in  Castilien  das  Zeitalter  der  ständischen  Macht.  Die 
städtischen  Procuradores  hatten  sogar  das  Uebergewicht  erlangt 
über  Klerus  und  Adel.  Dann  aber  brachte  die  Eifersucht  der 
angesehensten  Städte,  Burgos  und  Toledo  und  die  Kämpfe  der 
Geschlechter  unter  sich  und  mit  der  gemeinen  Bürgerschaft 
die  Gesammtmacht  der  Städte  ins  Schwanken  und  an  den 
inneren  Zwiespalt  scheiterte  die  Erhebung  der  Städte  gegen 
Karl  V.  (1520.) 

Gegen  Ende  des  XVI.  Jahrhunderts  unternahm  es  Phi- 
lip]) IL  von  Spanien,  die  Macht  der  Cortes  zu  brechen,  und 
obwohl  auch  er  noch  die  Formen  schonte,  verfiel  doch  die 
mittelalterliche  Selbständigkeit  der  Stände,  und  die  absolute 
Monarchie  errichtete  auf  den  Ruinen  der  bürgerlichen  Freiheit 
und  des  bürgerlichen  Wohlstandes  ihren  Thron,  dessen  Um- 
sturz unser  Jahrhundert  gesehen  hat.2 

In  Portugal  nahmen  an  dem  Reichstage,  welchen  der 
auf  dem  Schlachtfelde  zum  König  von  Portugal  erhobene  und 
von  dem  Papste  bestätigte  Alfonso  I.  im  Jahr  1143  zu  La- 
mego  versammelt  hatte  und  welcher  für  das  neue  Königreich 
Grundgesetze  gab,  neben  Erzbischöfen  und  Bischöfen  und  an- 
dern Edeln  auch  „Procuratoren"  für  eine  Reihe  von  portu- 
giesischen Städten  Antheil.:<  Der  König  liesz  sich  nochmals 
von  dem  Reichstage  als  König  bestätigen.  Als  das  geschehen 
war,  sprach  er,  das  blosze  Schwert  in  der  Hand:  ,,Mit  diesem 
Schwerte  habe  ich  euch  befreit  und  eure  Feinde  geschlagen, 
und  ihr  habt  mich  zu  eurem  Könige  und  Genossen  gemacht. 
Da  ihr  aber  mich  dazu  gemacht  habt,  so  laszt  uns  nun  Gesetze 

2  Ygl.  Ranke:  Fürsten  und  Völker  von  Südeuropa  I,  S.  252  ff. 

3  Leges  Lamecenses,  abgedruckt  bei  Schubert,  Verf.  II,  S.  127: 
„procurantes  bonani  prolem  per  suas  civifcates,  per  Colimbriam,  per  Vi- 
ramanes,  per  Lamecum"  u.  s.  f. 


478     Fünftes  Buch.    Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

geben,  durch  welche  unser  Land  in  Frieden  sei."  Sie  alle  sagten : 
„Wir  wollen  es,  Herr  König."  Da  rief  der  König  alsbald  die 
Bischöfe,  die  Männer  von  Adel  und  die  Procuratoren  (die  Vertreter 
der  Städte)  auf,  und  sie  sprachen  unter  einander :  „Laszt  uns  vor- 
erst Gesetze  machen  über  die  Erbfolge  im  Königreich,"  und 
sie  machten  die  nachfolgenden.  Mehrere  Jahrhunderte  lang 
erhielt  sich  in  Portugal  eine  freie  Verfassung,  bis  auch  ihr  erst  die 
erhöhte  kriegerische  Macht  und  der  Reichthum  der  Könige  ge- 
fährlich und  sodann  ihre  Herrschsucht  verderblich  wurde. 
Doch  wurde  sie  gleichzeitig  mit  der  Erhebung  des  Hauses 
Braganza  auf  den  Thron  (1641)  im  wesentlichen  erneuert, 
und  es  nahmen  „die  drei  Stände,  das  heiszt  der  Klerus, 
der  Adel  und  das  Volk  des  Königreichs"  das  Recht  in 
Anspruch  ,, einem  t3rrannischen  König  den  Gehorsam  zu  ver- 
weigern, einen  neuen  König  anzuerkennen  und  mit  diesem  die 
rechtmäszige  Thronfolge  zu  bestimmen."  Das  achtzehnte  Jahr- 
hundert liesz  aber  auch  hier  das  ständische  System  untergehen. 
Schon  1643  war  ein  „Ausschusz  der  drei  Stände"  (Junta  dos 
tres  Estados)  errichtet  worden,  mit  welchem  die  Regierung 
lieber  verkehrte  als  mit  den  Ständen  selbst.  Die  Cortes  wur- 
den in  der  zweiten  Hälfte  des  XVII.  Jahrhunderts  nur  selten, 
im  XVIII.  Jahrhunderte  gar  nicht  mehr  berufen.  Erst  unsere 
Zeit  hat  die  Wiederbelebung  dieses  Instituts  in  neuer  Form 
und  mit  mancherlei  Schwankungen  erfahren.4 

2.  In  dem  mittlem  Europa  kommt,  wie  in  England,  eine 
Vertretung  der  Städte,  beziehungsweise  des  Bürgerstan- 
des erst  während  des  XIII.  Jahrhunderts  in  Aufnahme.  Zwar 
berichtet  uns  eine  alte  normannische  Chronik,  dasz  Wilhelm 
der  Eroberer,  als  er  für  seine  Ansprüche  auf  England  sich 
zum  Kriege  vorbereitete,  auch  die  „Notabein  der  normanni- 
schen Städte"  (gens  notables  des  bonnes  villes  de  Northmandie) 
neben  den  „Baronen"   zu   einem'  Reichstage   berufen   und  mit 

*  Vgl.  Schubert.  Verfassungen  II,  S.  136  ff. 


Viertes  Capitel.    III.  Ständische  Entwicklung  in  andern  Staten.  479 

demselben  Gesetze  und  Verordnungen  gemacht  habe.5  Allein 
dieser  Bericht  ist  offenbar  durch  die  Anschauungsweise  einer 
spätem  Zeit  entstellt  worden  und  die  altern  Erzählungen  re- 
den nur  von  dem  Adel. 

Vor  dem  XIII.  Jahrhundert  sind  die  Bürger  der  Städte 
noch  unter  der  Menge  des  „Umstand  es"  verborgen,  noch 
ein  nicht  ausgeschiedener  Theil  der  ungeordneten  Volks- 
menge, oder  wenn  etwa  auch  die  Städte  berücksichtigt  wur- 
den, so  wurden  dieselben  noch  durch  ihre  Stadtherren  und 
Vögte,  wie  audere  Herrschaften  vertreten.6 

Dagegen  wurden  von  den  französischen  Königen  in 
den  Jahren  1227,  1240,  1245,  1256  u.s.  f.  Bürger  der  „guten 
Städte"  zur  Berathung  wichtiger  Dinge  und  in  der  Absicht, 
die  Unterstützung  der  Städte  zu  gewinnen,  zugezogen.  Unter 
Philipp  dem  Schönen  wurden  zuerst  1302  7  die  drei  Stände 
(Geistlichkeit,  Adel,  Bürger)  zu  einem  allgemeinen 
Keichstage  zusammenberufen,  da  der  König  in  seinen  Streitig- 
keiten mit  dem  Papste  Bonifacius  VIII.  der  Zustimmung  und 
Hülfe  der  Nation  sich  versichern  wollte:  und  unter  Ludwig  X. 
(1314—1316)  galt  es  bereits  als  eiu  fester  Eechtssatz,  dasz 
ohne  die  Zustimmung  der  drei  Stände  keine  Steuern  erhoben 
werden  dürfen.  Ja  in  der  Mitte  des  XIV.  Jahrhunderts  hatten 
die  Stände  sogar  die  Regierung  in  ihre  Gewalt  gebracht 
und  unter  den  Ständen  der  dritte  das  Uebergewicht  erlangt, 
bis  die  demokratische  Bewegung  zum  äuszersten  fortschreitend 
die  Gewalt  in  die  Arme  des  Pöbels  verlegte  und  dann  in  dem 

5  Abgedrukt  bei  Bouquet,  Scriptores  rer.  Gall.  XIII,  S.  221.  Ygl. 
Unger,  Gesch.  der  Landstände  I,  S.  226,  277. 

6  Es  gilt  das  auch  von  den  Hof  tagen  der  mächtigeren  deutschen 
Fürsten,  welche  aus  den  früheren  Landtagen  der  Stämme,  den  placita 
provincialia  durch  Einwirkung  des  Lehens wesens  entstanden  waren,  auf 
welchen  nach  dem  Schwabenspiegel  (Wackernagel,  c.  118)  die  Für- 
sten, Grafen,  Freien  (Herren)  und  Dienstleute  erscheinen  müssen, 
„die  bürge  und  stete  (Burgen  und  Städte)  in  ir  lande  hant." 

7  Auch  in  der  Bretagne  erscheint  der  dritte  Stand  zuerst  im 
Jahr  1309  auf  dem  Landtage  zu  Ploermel.     Schaffner  II,  S.  171. 


480     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

eigenen  Uebermasz  unterging.  Die  Eeaction  erhöhte  die  kö- 
nigliche Macht,  und  eine  Zeitlang  (1383 — 1412)  vermied  man 
die  Keichsstände  zu  berufen.  Doch  kamen  dieselben  seit  der 
Eeform  von  1413  wieder  öfter  zusammen  und  auch  im  XVI.  Jahr- 
hundert noch;  obwohl  seit  Ludwig  XI.  das  Sj^stem  der  ab- 
soluten Monarchie  in  Frankreich  wuchernd  um  sich  griff,  fin- 
den sich  einzelne  Versammlungen  der  Generalstände  (etats 
generaux),  z.  B.  1560,  1576,  1588,  1593.  Seit  Ludwig  XIV. 
(1643 — 1715)  scheinen  dieselben  in  völliger  Vergessenheit  be- 
graben, bis  zu  Ende  des  XVIII.  Jahrhunderts  der  Sturm  der 
Revolution  sie  wieder  an  das  Tageslicht  brachte.8 

Diese  Stände  galten  zunächst  als  Vertreter  ihrer  beson- 
deren corporativen  Interessen.  Jeder  Stand  stimmte  für 
sich,  und  die  einzelnen  Abgeordneten  der  Städte  erhielten  so- 
gar Instructionen  von  ihren  Auftraggebern.  Zu  voller  nationaler 
Ausbildung  gelangte  das  Institut  nicht,  so  wenig  als  zu  einem 
dauernden  und  wohlgeregelten  Leben. 

3.  Ebenso  geht  die  Ausbildung  der  landständischen 
Verfassung  in  den  deutschen  Territorien  während  des  XIII. 
und  vorzüglich  im  XIV.  Jahrhunderte  vor  sich.0  Die  Ver- 
tretung der  Städte  auf  den  deutschen  Eeichstagen 
fängt  seit  dem  Könige  Rudolph  von  Habsburg  (1272— 1291) 
an,  regelmäszig  zu  werden.  Aber  so  wenig  das  Collegium  der 
Kurfürsten  oder  das  der  Fürsten  und  Herren  zu  einem  Ober- 
haus wurde,  so  wenig  wurden  die  Bänke  der  Städte  zu  einem 
Unterhaus.  Der  Gesichtspunkt,  dnsz  dort  und  hier  in  der 
Hauptsache  selbständige  Fürstenthüm  er  und  Eepubli- 
ken  durch  ihre  Häupter,  nicht  aber  die  verschiedenen  Be- 
standteile des  Volkes  vertreten  seien,  und  dasz  die  Landes- 
und Stadtherrn  auf  den  Eeichstagen  voraus  ihre  Selbständigkeit 

8  Schaffner,  franz.  Rechtsgesch.  II,  S.  27G  ff.     Rathqry ,  histoire 
des  etats  generaux.     Paris    1845. 

9  Vgl.  den  Artikel  Landstände  von  K.  Maurer  im  Deutsehen  Stats- 
wörterbuch. 


Viertes  Capitel.     III.  Ständische  Entwicklung  in  andern  Staten.    481 

gegen  den  Kaiser  und  ihre  Herrschaft  über  die  Territorien  zu 
wahren  berufen  seien ,  war  vorherrschend  und  hinderte  eine 
nationale  parlamentarische  Entwicklung. 

Innerhalb  der  einzelnen  deutschen  Länder  aber  kam  es 
fast  überall  zu  einer  landständischen  Verfassung.  An  diesen 
Landständen  hatten  wieder  die  drei  Stände  Theil,  die  an- 
fangs als  gesonderte  Stände  berufen  wurden,  im  Verfolg  aber 
zu  Einer  gemeinsamen  Landschaft,  zu  dem  eigentlichen 
Landtag  verbunden  wurden: 

a)  Die  Prälaten  im  Lande,  Bischöfe  und  Aebte,  welche 
früher  wohl  versucht  hatten  sich  von  den  Hoftagen  der  Lan- 
desfürsten zurückzuziehen,  und  ihre  Immunitätsrechte  zu  eige- 
ner voller  Herrschaft  auszudehnen,  fanden  es  seit  der  Mitte 
des  XIV.  Jahrhunderts  gewöhnlich  in  ihrem  Interesse,  als 
erster  Stand  an  den  Versammlungen  der  Landstände  Theil  zu 
nehmen. lü 

b)  Der  Adel.  In  manchen  gröszern  Ländern,  vorzüglich 
in  Oester  reich,  Böhmen,  Kursachsen  wurde  der  H  e  r  r  e  n- 
stand  der  Fürsten,  Grafen  und  Herren  unterschieden  von  der 
mittelfreien  Ritterschaft,  in  Sachsen  sogar  äh  nlich  wie  in  Eng- 
land die  meisten  reichsunmittelbaren  weltlichen  Herren  mit  den 
Prälaten  und  die  Ritter  mit  den  Abgeordneten  der  Städte  ver- 
bunden. In  vielen  andern  Ländern  aber  wurden  die  gewöhn- 
lich wenig  zahlreichen  Glieder  des  hohen  Adels  mit  der  übrigen 
im  Lande  begüterten  Ritterschaft  oder  Mannschaft, 
unter  welcher  auch  die  Dienstleute,  insofern  sie  Lehens- 
güter besaszen,  begriffen  wurden,  zu  einem  Stande  verbunden.11 
So  in  Bayern,  Schlesien,  Braunschweig,  Branden- 
burg, Thüringen,  Pommern  u.  s.  f.  Diese  Ritterschaft 
war  übrigens  ein  sehr  zahlreicher  Körper,  indem  dieselbe  ge- 
wöhnlich nicht  blosz  Ausschüsse  der  Ritter,  sondern  alle  mit 
Rittergütern  versehenen  Vasallen  des  Landes  und  die  begüter- 

10  Unger,  Geschichte  der  Landst.  I,  S.  210.  II,  S.  34  ff. 
"  Unger,  II.  S.  44  und  66. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.    I.  31 


482      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

ten  Ministerialien  umfaszte.  Im  Tyrol  hatten  sogar  alle  Mit- 
glieder des  Adels  im  weiteren  Sinne  ein  Kecht  auf  persönliche 
Landstandschaft,  auch  wenn  sie  keine  Grundherrschaft  besaszen. 

c)  Die  Städte  erwarben  gewöhnlich  während  des  XIV.  Jahr- 
hunderts landständische  Kechte.  Nur  in  wenigen  deutschen 
Ländern  reichen  die  Anfänge  dieser  Erscheinung  noch  in  das 
XIII.  Jahrhundert  hinauf.  Dahin  gehört  voraus  Böhmen, 
dessen  Cultur  überhaupt  eine  Zeitlang  der  im  eigentlichen 
Deutschland  vorhergeht,  wo  schon  im  Jahre  1281  die  Städte 
an  dem  Landtage  theilnehmen,  obwohl  sie  auch  später  noch 
über  die  Anerkennung  dieses  Rechtes  Streit  mit  dem  Adel 
führen.  In  Bayern  kommen  die  Vertreter  der  Städte  im 
Jahr  1307  mit  den  Prälaten  und  den  Rittern  zusammen,  um 
der  Münzverschlechterung  zu  steuern  und  für  die  erforderliche 
Geldhülfe  zu  sorgen, ,2  und  werden  die  Städte  und  Märkte  in 
den  Zeiten  König  Ludwigs  1315  den  „Landsherren  und 
Dienstleuten"  zur  Seite  gestellt:15  sie  erscheinen  als  eine 
kräftige  Stütze  der  Fürsten  auch  dem  Adel  gegenüber.  In 
Brandenburg  sehen  wir  die  Städte  seit  1308  als  eine  po- 
litische Macht  im  State  geeinigt,  und  mit  den  Fürsten  ver- 
handeln.14  In  dem  Fürstenthum  Lüneburg  wird  schon  1356 
ein  herzoglicher  Rath  aus  Prälaten ,  Ritterschaft  und  Städten 
bestellt,  dessen  Dasein  die  Existenz  gemeinsamer  Landstände 
voraussetzt.15  Die  Vertretung  der  Städte  auf  den  Landtagen 
wird  so  zur  Regel.  Aber  gewöhnlich  werden  ihre  Abgeord- 
neten nicht  von  der  Bürgerschaft  gewählt,  sondern  noch  von 
den  Räthen  der  Städte  bezeichnet  und  ermächtigt,  oder  es 
nehmen  von  Amtswegen  die  Bürgermeister  an  dem  Landtage  Theil. 

Auch   für   Deutschland   war    dieses  Element   von   groszer 
Wichtigkeit.     Die  Einheit   des  States  und  die  Interessen   der 

18  Rudhart,  Geschichte  der  Landstände  in  Bayern  I,  S.bb. 
»  Rudhart.  Ebend.  S.  73,  79. 

14  TJnger,  II,  S.  87  ff. 

15  Eichhorn,  deutsche  Rechtsgeschichte  §.  423  Anm. 


Viertes  Capitel.    III.  Ständische  Entwicklung  in  andern  Staten.  483 

öffentlichen  Cultur  fanden  in  ihm  einen  vorzüglichen  Anhalts- 
punkt; sie  waren  im  Ganzen  sowohl  der  Entwicklung  der  fürst- 
lichen Regierungsgewalt  als  der  bürgerlichen  Freiheit  günstig. 
Die  Ausschlieszung  der  Städte  von  den  polnischen  Reichs- 
tagen,  die  ganz  untergeordnete  Stellung  derselben  auf  den  Un- 
gar i  sehen  ist  eine  Hauptursache  des  anarchischen  Wesens 
und  der  geringen  Wirksamkeit  beider  für  die  Zwecke  höherer 
Gesittung. 

d)  Nur  selten  erscheint  auch  ein  vierter,  der  Bauern- 
stand auf  den  deutschen  Landtagen  vertreten.  Als  Kegel  er- 
hielt sich  vielmehr,  dasz  was  die  Prälaten  und  die  Ritterschaft 
für  ihre  Bauern  gutheiszen,  auch  die  übrigen  dem  Landesherrn 
ausschlieszlich  unterthänigen  Bauern  im  Lande  sich  gefallen 
lassen  müssen.  Eine  Ausnahme  machen  die  friesischen 
Landtage,  auf  welchen  auch  die  von  den  Bauern  erwählten 
Richter  und  Vorsteher  der  Gemeinden  mit  den  Häuptlingen 
und  Adeligen  zusammentreten  und  die  Wohlfahrt  des  Landes 
berathen.  Im  Erzbisthum  Bremen  hatten  die  eingesessenen 
Bauern  der  freien  Marschgemeinden  ebenfalls  Ansprüche  auf 
einen  Antheil  an  den  Landesversammlungen.  In  W  ü  r  1 1  e  m  b  e  r  g 
sind  Städte  und  Bauerschaften  verbunden.  Im  Tyrol  kommen 
seit  1418  auszer  den  Rittern  und  Städten  auch  Vertreter  der 
,,Thäler  und  Gerichte"  vor,  welche  die  Gesinnung  und  Interessen 
der  Bauern  repräsentiren. 16 

Die  landständische  Macht  hatte  im  XV.  Jahrhundert  ihren 
Höhepunkt  erreicht,  aber  zugleich  eine  den  Bedürfnissen  des 
States  und  der  Einheit  der  obrigkeitlichen  Gewalt  groszentheils 
widersprechende  Richtung  eingeschlagen,  und  diese  Fehler  gaben 
den  absolutistischen  Gelüsten  der  letzten  Jahrhunderte  Vor- 
wände genug  an  die  Hand,  um  das  Institut  zu  untergraben 
und  zu  beseitigen.  Die  Theorien  der  Romanisten,  die  in 
den  Räthen  der  Fürsten  zu  practischem  Ansehen  gelangt 
waren,    und    die    neuen,    von    den    Fürsten     ausschlieszlich 

16  Unger  II,  S.  104  ff. 

31* 


484    Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

abhängigen,  stehenden  Heere  förderten  ihre  Abschwächung  und 
ihren  Untergang.  Die  Keiclisgesetzgebung  verhinderte  neue 
Bündnisse,  Einigungen  und  den  bewaffneten  Widerstand  der 
Stände,  beschränkte  ihr  Recht  der  Steuerverweigerung,  und 
stärkte  die  Landeshoheit.  Der  dreiszigj ährige  Krieg  vollendete 
den  Verfall  der  landständischen  Institution.  In  manchen  deutschen 
Ländern  wurden  die  Landtage  von  den  Fürsten,  welche  auch 
darin  den  Absolutismus  Ludwigs  XVI.  nachahmten,  nicht  mehr 
berufen;  in  andern  wurde  ihre  Thätigkeit  zu  einer  bloszen 
Formalität  herabgedrückt.  Das  Scheinleben  solcher  Landstände 
im  XVIII.  Jahrhundert  hat  Karl  v.  Moser  mit  bittrer  Laune 
vortrefflich  gezeichnet.17  Nur  ausnahmsweise,  wie  besonders 
in  Württemberg,  bewahrten  sie  noch  einige  Bedeutung.  Mit 
der  Auflösung  des  deutschen  Reiches  gehen  sie  in  der  alten 
Gestalt  unter,  um  bald  nachher  in  moderner  Form  neu  zu 
erstehen. 


Fünftes  Capitel. 

Der  Unterschied  der  ständischen  und  der  repräsentativen  Verfassung. 

Die  mittelalterlich-ständische  Verfassung  ist  in 
den  letzten  absolutistischen  Zeiten  des  Mittelalters  seit  der 
Mitte  des  XVI.  Jahrhunderts  mit  den  übrigen  mittelalterlichen 
Institutionen  unaufhaltsam  abgestorben  und  zuletzt  unterge- 
gangen. Der  Aufschwung  eines  neuen  Weltalters  hat  nun  das 
Repräsentativprincipan  ihre  Stelle  gesetzt.  Beide  Systeme 
sind  darin  ähnlich  und  nahe  verwandt,  dasz  sie  dem  Abso- 
lutismus der  obrigkeitlichen  Gewalt  widerstreben  und  die  poli- 
tischen B,echte  der  Unterthanen  gewährleisten.  Das  ständische 

17  Herr  und  Diener,  S.  101.  Vgl.  E  ichhorn,  Deutsche  Rechtsgesch. 
§.  546  ff.     Zachariae,  Deutsches  Statsrecht  I,  5. 


Fünftes  Capitel.  Unterschied  der  stand,  und  repräsent.  Verfassung.     485 


System  ist  überdem  eine  Vorstufe  des  repräsentativen;  es  ver- 
hält sich  zu  diesem,  wie  der  politische  Geist  des  Mittelalters 
zu  dem  der  neuen  Zeit.  Da  aber  jene  Verwandtschaft  und 
dieser  Zusammenhang  leicht  zu  einer  höchst  gefährlichen  Ver- 
wechslung beider  Gedanken  verleiten,  so  wird  es  um  so  nöthiger, 
die  principiellen  Gegensätze  um  so  schärfer  ins  Auge  zu  fassen. 
Wir  wollen  dieselben  durch  Gegenüberstellung  veranschaulichen. 


Ständisches  Princip. 

1.  Ging  von  der  Besonderheit 
der  Stände  aus.  (Es  wurden  daher 
im  Mittelalter  nur  die  mächtigeren 
Stände  und  anfänglich  bald  diese 
bald  jene  allein  zugezogen,  die  übri- 
gen nicht  berücksichtigt.) 

2.  Sogar  Individuen,  wie  mäch- 
tige Familienhäupter  oder  "Würde- 
träger  (Fürsten  und  Herrn)  konnten 
für  sich  Stände  sein,  ebenso  Ge- 
nossenschaften und  Einungen 
(universitates). 

3.  Die  Abgeordneten  der  Städte 
und  Corporationen  bekamen  von 
ihren  Wählern  Instructionen 
und  Aufträge  mit  auf  den  Weg, 
durch  welche  sie  angewiesen  waren, 
in  bestimmter  Richtung  zu  stimmen 
und  zu  handeln.  (Als  die  Deputa- 
ten zur  französischen  Nationalver- 
sammlung die  widerspruchsvollen 
Hefte  (cahiers)  ihrer  Instructionen 
wegwarfen,  war  der  Bruch  mit  dem 
ständischen  System  vollzogen.) 


4.  Jeder  Stand  stimmte  indi- 
viduell und  konnte  seine  Stimme 
auch  wohl  einem  persönlichen 
Stellvertreter  übertragen.  (Das 
„liberum  veto,"  das  im  XVII.  Jahr- 
hundert den  einzelnen  Mitgliedern 
des  Polnischen  Reichstages  zugestan- 


Repräs  entatives   Princip. 

1.  Geht  von  der  Einheit  des 
ganzen  Volkes  aus.  (Das  Streben 
der  Zeit  geht  daher  dahin,  alle  Volks- 
classen  in  Einer  Gesammtvertretung 
zusammen  zu  fassen.) 

2.  Auch  wer  als  Familienhaupt 
oder  Würdeträger  persönlich  zur 
Repräsentation  berufen  ist,  hat 
doch  dieses  Recht  nicht  für  sich, 
sondern  nur  als  ein  Glied  des 
Gesammtkörpers. 

3.  Die  Berathung  und  Abstimmung 
in  dem  repräsentativen  Körper  darf 
nicht  durch  Vorschriften  der  Wähler 
beschränkt  werden.  In  diesem  soll 
sich  erst  die  Meinung  und  der 
Wille  des  Volks  mit  innerer 
Freiheit  ausbilden;  und  sowohl 
die  persönlich-freie  Meinungsäuszer- 
ung  der  Abgeordneten  als  die  Be- 
rechtigung und  Pflicht  jedes  Ein- 
zelnen, sich  durch  die  Berathung 
aufklären  und  bestimmen  zu  lassen, 
werden  als  Garantien  betrachtet  ei- 
ner wahrhaften  Abstimmung. 

4.  Die  Abstimmung  in  den  Kam- 
mern wird  durch  die  Mehrheit 
der  Ve  rs  ammlung  vollzogen,  und 
eine  Stellvertretung  ist  nur  in- 
sofern zuläszig,  als  sie  vom  Ganzen 
aus  angeordnet  ist. 


486     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 


Ständisches  Princip. 
den  wurde,  ist  die  äuszerste  Conse- 
quenz  dieser  Richtung.) 

5.  Die  Abgeordneten  der  Stände 
waren  ihren  Auftraggebern  ver- 
antwortlich und  wurden  auch 
von  ihnen  mit  Diäten  bezahlt. 

6.  Die  Stände  hatten  in  erster 
Linie  ihre  ständischen  Sonderin- 
teressen, erst  in  zweiter  die  ge- 
meinsame Wohlfahrt  vor  Augen. 


7.  Die  Stände  bewilligten  die 
neuen  Steuern,  deren  Bedürf- 
nisz  sie  anerkannten,  für  sich» 
und  nur  einzelne  Steuern;  sie 
verbanden  damit  auch  häufig  Be- 
dingungen von  politischem  In- 
halt, z.  B.  dasz  das  Land  weder 
verpfändet,  noch  ver&uszert,  noch 
vertheilt,  dasz  ihre  Zustimmung  zu 
Kriegen  und  Friedens  vertragen  ein- 
geholt werde  und  dergleichen,  be- 
zogen die  Steuern  oft  selber  von 
ihren  Angehörigen  und  verwal- 
teten sogar  zuweilen  die  aus  den 
erhobenen  Steuern  gefüllte  Landes- 
kasse selber.1 

8.  Die  Stände  hielten  an  dem 
Vertrags  princip  mit  den  Für- 
sten fest.  Die  Huldigung,  welche 
sie  den  Landesherren  leisteten,   war 


Repräsentatives  Princip. 


5.  Die  Abgeordneten  des  Volks 
sind  nur  dem  State  verantwort- 
lich und  empfangen  die  erforder- 
lichen Diäten  aus  der  S  t  a  t  s  - 
kasse. 

6.  Die  repräsentativen  Kammern 
sind  verpflichtet,  voraus  die  Volks- 
und  S  t  a  t  s  w  o  h  1  f  a  h  r  t  zu  bedenken, 
und  dürfen  erst  unter  der  Voraus- 
setzung dieser  die  besondere  Wohl- 
fahrt einzelner  Klassen  beachten. 

7.  Die  modernen  Kammern  be- 
trachten den  Einen  Stats haus- 
hält in  seinem  Zusammenhang  in 
sämmtlichen  Einnahmen  und  Aus- 
gaben, helfen  den  Voranschlag 
feststellen,  und  nehmen  Theil  an 
der  Steuergesetzgebung,  über 
dürfen  ihre  Bewilligung  nicht  ein- 
seitig an  Bedingungen  knüpfen,  noch 

;  besorgen     sie    den    Bezug    und    die 
Verwendung  der  Steuern  selber. 


8.  Im  neuern  State  herrseht  das 
Princip  der  einheitlichen  Ge- 
setzgebung, au  welcher  die  Kam- 
mern einen  Antheil  haben,   und  die 


1  Auf  dem  Rittertage  zu  Bohnaitpaoh  im  Jahre  1302  erklären  die 
Herzoge  von  Oberbayern  dem  Adel  und  der  Ritterschaft,  das«  wenn 
sie  wider  den  Willen  eine  gemeine  Steuer  fordern  sollen,  sie  wider 
ihre  Treue  an  demselben  handeln,  und  die  Stande  berechtigt  seien,  die 
Steuer  zu  weigern.  —  Im  Jahre  1363  versprach  der  Herzog,  ,das  Land 
Oberbayern  sollte  ungetheilt  und  unzerbrochen  beisammen  bleiben.  Im 
Jahr  1393  versprachen  die  Herzoge  von  Niederbayern,  keinen  Krieg 
ohne  Rath  der  Stände  anzufangen. 


Fünftes  Capitel.    Unterschied  der  stand,  und  repräsent.  Verfassung.   437 


Ständisches  Princip. 
eine    bedingte.2      Ihre    besondern 
Rechte  und  Freiheiten3  lieszen 
sie  sich  vertragsmäszigzu  sichern 
und  erneuern. 

9.  Wie  unabhängige  Mächte  ver- 
handelten und  stritten  die  Stän- 
de mit  den  Fürsten,  und  es  kam  zu- 
weilen zu  Kriegen4  unter  ihnen, wie 
zwischen  selbständigen  Staten.  Jeder 
Thcil  warb,  besoldete  und  verfügte 
selbständig  über  seine  Truppen. 

10.  Die  mittelalterlichen  Stünde 
beschäftigten  sich  nur  in  unterge- 
ordneter Weise  mit  der  Gesetzge- 
bung, erweiterten  aber  ihren  Ein- 
flusz  zuweilen  zur  Mitregierung 
des  States,  indem  sie  dem  Fürsten 
Rätlie5  beiordneten,  an  deren  Zu- 
stimmung  er   gebunden  war  und  in 


Repräsentatives  Princip. 
allgemeine  öffentliche  Frei- 
heit, wie  die  besondern  Eechte  ein- 
zelner Classen  werden  nur  durch 
das  gemeinsame  Statsgesetz  ge- 
währleistet. 

9.  Der  moderne  Stat  läszt  eine 
solche  Zweiung  und  Spaltung  des 
Organismus  nicht  zu,  sondern  be- 
währt die  Einheit  des  States  und 
der  Statsregierung  unter  allen  Um- 
ständen, und  will  nun  Ein  Kriegs- 
haupt und  Ein  Heer. 

10.  Der  moderne  Stat  verlegt 
die  ganze  Regierungsthätigkeit 

|  auszer  die  Kammern  und  ge- 
j  stattet  diesen  wohl  eine  controlirende 
1  Meinungsäuszerung,  aber  nicht  Mit- 
|  regierung.  Dagegen  weist  er  dem 
repräsentativen  Körper  die  G e setz- 
ig ebung  als   seine  wichtigste  Thä- 


2  Die  Markgrafen  von  Brandenburg  sicherten  ihren  Ständen  1282 
zu,  dasz  wenn  sie,  die  Fürsten,  ihre  Versprechen  nicht  erfüllen  sollten, 
die  Vasallen  sich  von  ihnen  abwenden  dürfen,  bis  jene  erfüllt  seien. 
Und  die  pommerschen  Herzoge  gestatteten  unter  einer  ähnlichen  Voraus- 
setzung ihren  Ständen  1348,  einen  andern  Fürsten  zu  wählen,  „welcher 
sie  in  ihren  Rechten  und  Freiheiten  regieren  wolle."  Unger  II,  S.  254  ff. 
In  dem  Herzogthum  Braunsch  weig-Lünebu  rg  wurde  im  Jahr  1392 
ein  Gericht,  die  „Säte,"  aus  8  Rittern  und  8  Rathmännern  geordnet,  an 
welches  Beschwerden  der  Stände  gegen  die  Fürsten  gebracht  werden 
konnten,  und  welches  befugt  war,  die  landesherrlichen  Einkünfte  so 
lange  einzuziehen,  bis  gegründeten  Beschwerden  abgeholfen  ward.  Unger 
II,  S.  264. 

3  Zahlreiche  Beispiele  siehe  in  den  altbayerischen  landständischen 
Freiheitsbriefen,  herausgegeben  von  Gustav  Freiherr  von  Lerche nfeld 
München  1853.  Vorausgeschickt  ist  eine  aus  Urkunden  geschöpfte  wissen- 
schaftliche Einleitung  von  Dr.  Rockinge r. 

4  In  Oesterreich,  Bayern,  Brandenburg,  Württemberg,  überall  kamen 
solche  vor,  bis  der  ewige  Landfrieden  von  1495  und  die  veränderte  Lehre 
der  römischen  Rechtsgelehrten  diese  Fehden  hemmten.  Vgl.  Rudhart 
Gesch.  der  Landstände  in  Bayern  I,  S.  62,  82  etc. 

5  Dahin  gehören  der  Rath  der  XII.  und  der  der  XXV.,  welche  den 
niederbayerischen    Herzogen    1324    und    1341    beigegeben    wurden, 


488     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 


Ständisches  Princip. 

wichtigen    Fällen     sich     selber 
Mitentscheid  vorbehielten. 


den 


11.  Aus  den  Ständen  gingen  oft 
bleibende  Ausschüsse  hervor, 
anfänglich  zur  Controle6  der  Regie- 
rung; sie  wurden  aber  nicht  selten 
von  den  fürstlichen  Käthen  benutzt, 
um  die  unbequeme  Versammlung 
der  Stände  selbst  entbehrlich  zu 
machen  und  den  Untergang  des  In- 
stitutes herbeizuführen. 

12.  Die  Rechte  und  Pflichten  der 
mittelalterlichen  Stände  waren  halb 
privatrechtlich  halb  st  a  ts- 
recht 1  i  c  h. 


Repräsentatives  Princip. 

tigkeit  zu.  (Die  englische  Par- 
lamentsregierung, obwohl  erst  in 
späterer  Zeit  ausgebildet,  hat  in 
dieser  Hinsicht  doch  einen  mittel- 
alterlichen Zug.) 

11.  Der  moderne  Stat  weisz  in 
der  Regel  nur  von  der  Versamm- 
lung d  e  s  r  e  p  r  ä  s  e  n  t  a  t  i  v  e  n  K  ö  r- 
pers  selbst  und  will  die  Regie- 
rung durch  Ausschüsse  desselben 
weder  hemmen  noch  bedienen  lassen. 


12.  Die  Rechte  und  Pflichten  des 

repräsentativen  Körpers    und   seiner 
\  Mitglieder  sind    rein  statsrecht- 
lich. 


Die  stats rechtliche  Repräsentation  ist  von  der  pri- 
vatrechtlichen Stellvertretung  völlig  verschieden.  Daher 
dürfen  die  Grundsätze,  die  von  dieser  gelten,  nicht  auf  jene 
angewendet  werden. 

Die  privatrechtliche  Stellvertretung  setzt  entweder  die 
Handlungsunfähigkeit  des  Vertretenen  (z.  B.  Kinder,  Wahn- 
sinnige) oder  doch  das  Bedürfnisz  desselben  voraus,  sich  durch 
ein  anderes  handlungsfähiges  Individuum  vertreten  zu  lassen 
(z.  B.  Abwesenheit,  Handelsinteressen).  Der  privatrechtliche 
Vertreter  ist  entweder  durch  die  Rechtsnothwendigkeit  be- 
zeichnet und  ermächtigt,  wie  insbesondere  der  geborene  oder 
gesetzte  Vormund,  oder  er  hat  dazu  den  besonderen  Auftrag 
des  Vertretenen  erhalten  (Mandat).  Als  Hauptperson  gilt  immer 

dieXIIRäthe,  welche  1355  dem  Herzog  Ludwig  von  Br  auns  ch  weig  zur 
Seite  traten,  die  Räthe  von  Tyrol  im  Jahr  1363,  die  württembergi- 
schen  Räthe  von  1419,  1457,  1498  u.  s.  f.  Im  Jahre  1535  übernahmen 
die  Stände  von  Braun  sc hweig-Lüneburg  sogar  die  Regierung  selbst. 
Unger   II,  S.  280  ff. 

6  So  die  ober  bayerischen   Ausschüsse   der    Ritterschaft   und  der 
Städte  im  Jahre  1430. 


Fünftes  Capitel,  Unterschied  der  stand,  und  repräsent.  Verfassung.   489 

der  Vertretene,  nur  seine  Stelle  vertritt  und  statt  seiner,  für 
ihn  handelt  der  Vertreter.  Der  Mandatar  ist  daher  abhängig  von 
dem  Mandanten,  gebunden  an  dessen  Vollmacht  und  Instruc- 
tion, ihm  zur  Rechenschaft  verpflichtet.  So  weit  die  Vollmacht 
reicht,  wird  nicht  der  Vertreter,  sondern  der  Vertretene  durch 
die  Handlungen  jenes  verbunden. 

In  allen  diesen  Hauptbeziehungen  hat  die  statsrechtliche 
Repräsentation  einen  ganz  andern  Charakter.  Hier  wird  keine 
Handlungsunfähigkeit  der  Wähler  vorausgesetzt  und  die  Re- 
präsentation beruht  weder  auf  dem  persönlichen  Bedürfnisz 
noch  auf  der  Willkür  der  Vertretenen,  sondern  ist  von  Stats 
wegen  angeordnet.  Die  Repräsentirten  sind  nicht  die  Haupt- 
personen und  der  Repräsentant  nicht  ihr  persönlicher  Stellver- 
treter, nicht  ihr  Beauftragter,  sondern  er  verwaltet  ein  Volks- 
amt und  übt  eine  Statsp flicht  aus.  Seine  Vertretung  ist 
Landes-  und  Volksvertretung  nicht  individuelle  Ver- 
tretung. Es  besteht  zwischen  ihm  und  den  Wählern  wohl  ein 
Vertrauens-  aber  keineswegs  das  Rechtsverhältnisz 
des  Mandats.  Die  Wahl  ist  nur  ein  Mittel,  um  die  richtige 
Volksvertretung  zu  erzielen.  Wahl  ist  nicht  Vollmacht 
und  nicht  Auftrag.  Der  Gewählte  ist  daher  nicht  an 
die  Instruction  der  Wähler  gebunden  und  denselben 
nicht  zur  Rechenschaft  verpflichtet.  Er  kann  nicht 
beliebig  von  denselben  abberufen,  ihm  nicht  willkürlich  der 
Auftrag  gekündigt  werden.  Seine  Abstimmungen  binden  weder 
ihn  selber  persönlich,  noch  seine  Wähler.  Sie  wirken 
verbindlich  nur,  in  wiefern  das  Gesetz  durch  dieselbe  zu 
Stande  kommt;  und  dieses  verpflichtet  Alle  ganz  gleich- 
mäszig,  die  welche  dafür,  und  die  welche  dagegen  gestimmt 
haben,  die  Repräsentanten,  ihre  Wähler  und  alle  übrigen 
Statsgenossen. 


490      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Sechstes  Capitel. 

Die  Zusammensetzung  des  gesetzgebenden  Körpers. 

Das  Princip  der  modernen  Statsordnung  ist:  Der  ge- 
setzgebende Körper  stellt  das  ganze  geordnete  Volk 
dar.  Er  ist  der  verhältniszmäszige  Auszug  des  gesammten 
Volksorganismus.  Von  diesem  Princip  aus  lassen  sich  eine 
Reihe  wichtiger  Fragen  leicht  beantworten. 

1.  Die  Frage,  ob  dem  Regenten  ein  Antheil  an  der  ge- 
setzgebenden Gewalt  zukomme,  welche  erst  in  der  neuesten 
Zeit  ein  practisches  Interesse  gewonnen  hat  —  im  Alterthum 
und  im  Mittelalter  verstand  sich  die  Bejahung  von  selbst  — 
erscheint  von  dem  Standpunkte  des  organischen  States  aus 
kaum  möglich.  Die  Zweifel  sind  erst  entstanden,  seitdem  man 
angefangen  hat,  ohne  Rücksicht  auf  den  inneren,  lebendigen 
Zusammenhang  des  Statskörpers  die  gesetzgebende  und  die 
vollziehende  Gewalt  als  zwei  gleiche  und  getrennte  Gewalten 
einander  gegenüber  zu  stellen,  und  jene  von  unten  herauf, 
diese  von  oben  herab  zu  construiren. 

Soll  der  gesetzgebende  Körper  das  ganze  geordnete  Volk 
darstellen,  so  musz  in  ihm  das  Oberhaupt  des  States,  der 
Regent,  die  nämliche  Stellung  haben,  welche  dem  Haupte 
in  dem  Körper,  dem  Regenten  in  dem  Volk  gebührt, 
d.h.  die  oberste  und  entscheidende.  Das  englische  Stats- 
recht  ist  sich  dieses  Satzes  wohl  bewuszt.  Schon  der  alte  Modus 
tenendi  parliamentum  enthält  das  alte  Rechtssprichwort:  ,,Rex 
est  caput,  principium  et  finis  parliamenti." l  Auch  die  meisten 
neueren  Verfassungen,  welche  auf  dem  System  der  constitutio- 
nellen  Monarchie  beruhen,  schreiben  die  gesetzgebende  Gewalt 
dem  Könige  und  den  Kammern  zu.2 

1  Mod.  ten.  pari.  cap.  12.     Blackstone  I,  2,  2. 

2  So  die  französische    von  1814,    §.    15,  und    1830,  §.  13:    „Die 
gesetzgebende  Gewalt  wird  gemeinschaftlich  von  dem  Könige,  der  Kammer 


Sechstes  Capitel.     Zusammensetzung  des  gesetzgebenden  Körpers.   491 

In  den  neuern  republikanischen  Staten  dagegen  ist 
die  gesetzgebende  Gewalt  gewöhnlich  ausschlieszlich  den  groszen 
repräsentativen  Versammlungen  zugewiesen,  und  ist  der  Re- 
gierung wenigstens  der  Form  nach  kein  Antheil  daran  einge- 
räumt. Auszer  jener  falschen  Vorstellung  von  der  Theilung 
der  Gewalten  hat  auf  diese  Eigenthümlichkeit  wohl  theils  die 
demokratische  Vorliebe  für  grosze  Versammlungen,  theils  die 
Besorgnisz,  dasz  die  Macht  der  Regierung  zu  grosz  werden 
möchte,  eingewirkt.  Factisch  aber  ist  den  Regierungen  doch 
auch  hier  oft  ein  bedeutender  Einflusz  auf  die  Gesetzgebung 
erhalten  worden,  in  der  Schweiz  mehr  in  der  Form  der  Initia- 
tive, in  Nordamerika  mehr  in  der  des  Veto.3 

2.  Die  Vertretung  des  Volks  soll  eine  vollständige 
sein,  und  alle  Bestandteile  der  Nation,  auch  die  untern 
Schichten  der  Bevölkerung  umfassen.    Auch  in  ihnen  wird  das 


der  Pairs  und  der  Kammer  der  Deputirten  ausgeübt."  V.  1852  §.  11. 
Die  niederländische  von  1815,  §.  105;  die  bayerische  von  1818, 
§.  1;  die  portugiesische  von  1826,  §§.  13,  58,  74;  die  belgische 
von  1831,  §.  26;  die  spanische  von  1837,  §§.  12  und  46;  die  nea- 
politanische von  1848,  §.  4  ;  die  sardinische  von  1848;  die  preuszi- 
sche  von  1850,  §.  62;  die  norddeutsche  Bundesvers.  v.  1867,  §.  5. 
3  Bundesverfassung  für  Nordamerika  von  1787,  Art.  I,  1:  „Die 
gesammte  gesetzgebende  Gewalt  soll  einem  Congresz  der  Vereinigten 
Staten  anvertraut  sein,  der  aus  einem  Senate  und  aus  einem  Haus  der 
Repräsentanten  bestehen  soll."  Art.  I,  7:  „Jede  Bill  soll  dem  Präsiden- 
ten der  Yereinigten  Staten  vorgelegt  werden,  ehe  sie  Gesetzeskraft  er- 
langt." Ebenso  in  den  Verfassungen  der  Einzelstaten  Nordamerika' s.  In 
der  Schweiz  (z.  B.  Verfassung  von  Zürich,  §§.  38  und  57)  üben  die 
Groszen  Räthe  gewöhnlich  die  gesetzgebende  Gewalt  ausschlieszlich  aus, 
aber  die  Regierungen  entwerfen  und  begutachten  in  der  Regel  die  Ge- 
setze. Schweizerische  Bundesverfassung  von  1848,  §§.  74  und  90. 
Französische  Verfassung  von  1848,  §§.  20  und  58.  In  dem  König- 
reiche Norwegen  ist  die  demokratische  Ansicht  in  die  Verfassung  auf- 
genommen, §.  49 ,  aber  der  Regierung  doch  die  Initiative  und  das  Veto 
zugestanden,  §.  76.  Die  deutsche  Reichsverfassung  von  1849  (§•  101) 
hatte  dem  „Kaiser"  nur  ein  beschränktes  Zustimmungsrecht  eingeräumt? 
und  war  dadurch  allerdings  in  "Widerspruch  gekommen  mit  dem  Princip 
der  Monarchie. 


492     Fünftes  Buch,     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Statsbürgerthum  geehrt.  Das  ist  der  Wahrheitskern, 
welcher  dem  modernen  Verlangen  des  allgemeinen  Stimm- 
rechts zu  Grunde  liegt.4  Das  allgemeine  Stimmrecht  selbst 
aber  kann  höchstens  eine  arithmetische  Vollständigkeit, 
nicht  eine  organische,  zu  Stande  bringen,  und  selbst  die  Voll- 
ständigkeit der  Zahl  ist  unsicher  und  täuschend.  Die  Min- 
derheiten werden  durch  dasselbe  oft  gar  nicht,  oft  nicht  in 
richtigem  Verhältnisse  berücksichtigt.  In  Zeiten  der  Partei- 
kämpfe, in  welchen  es  mehr  auf  die  Stimmung  als  auf 
die  Interessen  der  Wähler  ankommt,  kann  die  schwächere 
Partei  vielleicht  einen  Drittheil  des  gesammten  Volkes  be- 
tragen, und  in  dem  repräsentativen,  von  lauter  Majoritäten  der 
Wahlkreise  erwählten  Körper  fast  gar  nicht  oder  doch  nur  zu 
einem  Zehntheil  vertreten  sein. 

Ueberdem  nimmt  diese  Wahlform  keine  Bücksicht  auf 
die  or  ganis  chen  Verhältnisse  des  Volks.  Sie  gewährt  keinerlei 
Bürgschaft,  dasz  die  verschiedenen  Bestandteile  und  Interessen 
eine  ihrer  Bedeutung  für  die  National  Wohlfahrt  gemäsze  Ver- 
tretung erlangen;  denn  weder  jene  noch  diese  werden  durch 
die  blosze,  alle  Bürger  gleich  rechnende  Zahl  der  Wähler  be- 
stimmt. Weder  die  politische  Einsicht  noch  die  Tüchtigkeit 
der  Gesinnung  werden  durch  dieselbe  hinreichend  beachtet. 
Vielmehr  gibt  das  allgemeine  Stimmrecht,  wenn  es  zugleich 
als  ein  gleiches  Stimmrecht  Aller  verstanden  wird,  und 
schrankenlos  waltet,  der  rohen  und  unerfahrenen,  aber  zahl- 
reicheren Menge   die  Macht  über  die  gebildeten  Classen   der 

4  Lamartine  sagt  von  den  Franzosen,  sie  haben  im  Jahr  1848  das 
allgemeine  Stimmrecht  „wie  einen  unter  den  Trümmern  des  Throns  ge- 
fundenen Adelsbrief  des  Volks"  mit  Liebe  und  Stolz  ergriffen.  Diesz 
Gefühl  ist  begreiflich ,'  wenn  man  der  vorangegangenen  plutokratischen 
Ausschlieszung  gedenkt.  Sie  haben  aber  in  dem  Siegesrausche  die  na- 
türlichen Unterschiede  unter  den  Einwohnern  und  Bürgern  übersehen, 
und  das  allgemeine  Stimmrecht  als  ein  gleiches  verstanden.  'Socialisten 
und  Communisten  haben  darauf  die  ausschweifenden  Ansprüche  „der 
rothen  Republik,"  aber  auch  Louis  Napoleon  auf  das  allgemeine  Stimm- 
recht der  ordnungsbedürftigen  Massen  das  moderne  Kaiserthum  gegründet. 


Sechstes  Capitel.     Zusammensetzung  des  gesetzgebenden  Körpers.  493 

Gesellschaft,  und  bedroht  so  durch  seine  Quantität  die  bessere 
Qualität.  Die  blosze  Zahl  setzt  die  Söhne  über  den  Vater,  die 
Gesellen  über  den  Meister,  die  Diener  über  den  Herrn,  die 
Jungen  über  die  Alten,  die  Vermögenslosen  über  die  Wohl- 
habenden, die  Unwissenden  über  die  Weisen,  und  indem  sie 
den  Massen  schmeichelt,  betrügt  sie  dieselben  zugleich.5  Es 
ist  das  Princip  der  absoluten  Demokratie,  die  „ungerechte  Ver- 
tretung der  Mehrheit  allein,  statt  der  gerechten  Vertretung 
Aller.'1 6 

Trotz  alledem  hat  das  allgemeine  und  gleiche  Stimmrecht 
in  dem  gegenwärtigen  Zeitalter  die  gröszten  Fortschritte  ge- 
macht. Es  ist  in  Frankreich,  der  Schweiz,  in  Italien,  im  nord- 
deutschen Bunde,  allmählich  auch  in  den  Vereinigten  Staten 
von  Nordamerika  eingeführt  worden.  Das  englische  Wahlsystem 
nähert  sich  demselben  mehr  und  mehr  an.  Offenbar  entspricht 
es  den  demokratischen  Neigungen  des  Zeitgeistes,  dem  Princip 
der  Rechts  gleichheit  und  der  möglichst  allgemeinen 
Betheiligung  aller  Männer  an  dem  öffentlichen  Leben. 
Es  wirkt  erhebend  auf  die  groszen  Volksclassen,  erfüllt  sie  mit 
politischem  Selbstgefühl  und  bringt  sie  dem  State  näher. 
Offenbar  geht  es  parallel  mit  der  allgemeinen  Volksbildung 
und  der  allgemeinen  Wehrpflicht. 

5  Gute  Bemerkungen  über  das  allgemeine  Stimmrecht  bei  Sismondi, 
Etudes  sur  les  constitutions  des  peuples  libres  I,  S.  48  ff.  und  S.  141: 
„In  dem  heutzutage  beliebten  System  überläszt  man  dem  Zufall  die  Ver- 
teidigung aller  dieser  Interessen  (der  Religion,  der  Wissenschaft,  des 
Ackerbaues,  des  Handels,  der  Fabrikation,  des  Handwerks) ;  man  nimmt 
an,  es  werde  sich  unter  den  Abgeordneten  der  Provinzen  etwa  einer 
finden,  welcher  die  Vertretung  je  eines  dieser  nicht  berücksichtigten  In- 
teressen übernehme.  Aber  diese  Annahme  ist  vorerst  unbegründet,  und 
mehrere  Interessen  werden  nie  vertreten  sein.  Und  selbst  wenn  sie  es 
sind,  so  geschieht  das  häufig  durch  Männer,  die  nicht  im  Hinblick  auf  ihre 
Einsicht  in  solche  Fragen  gewählt  wurden,  die  keine  gründliche  Kennt- 
nisz  davon  haben,  die  nicht  von  den  Interessen  ihrer  Berufsclassen 
durchdrungen,  die  nicht  geübt  sind,  dieselben  zu%  vertheidigen." 

6  Ausdruck  von  J.  St.  Mill,  Betrachtungen  über  die  Repräsentativ- 
verfassung (übersetzt  von  Wille)  S.  85. 


494     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

3.  Die  Vertretung  soll  in  richtigen  Proportionen  be- 
stellt sein.  Mirabeau  bat  dieses  Prineip  noch  am  30.  Januar 
1789  sehr  scharf  ausgesprochen,  ungeachtet  die  französische 
Nationalversammlung  mit  dem  Beispiel  der  völligen  Miszacht- 
ung  derselben  vorangegangen  ist:  „Die  Stände  sind  für  die 
Nation,  was  eine  Karte  für  die  äuszere  Erscheinung  des  Landes. 
In  ihren  Theilen  und  im  Ganzen  soll  das  Bild  jederzeit  die 
nämlichen  Verhältnisse  zeigen  wie  das  Original.1'  In  der  That, 
wie  die  Karte  Berge  und  Thäler,  Seen  und  Flüsse,  Wälder 
und  Fluren,  Städte  und  Dörfer  darstellt,  so  soll  auch  der  ge- 
setzgebende Körper  alle  Bestandteile  des  Volks  und  diese  als 
Ganzes  gleichsam  im  Auszuge,  und  je  nach  den  wirklichen 
Verhältnissen  wieder  bilden.  Die  edleren  Theile  dürfen 
nicht  von  den  massenhafteren  erdrückt,  aber  auch  diese  nicht 
ausgeschlossen  werden.  Der  Werth  eines  jeden  Bestandtheils 
wird  bestimmt  durch  seine  Bedeutung  in  dem  Ganzen  und  für 
das  Ganze.  Die  Verhältnisse  sind  organische,  der  Maszstab 
ist  ein  nationaler. 

4.  Von  jenem  Grundprincip  aus  ist  auch  die  Frage,  ob 
eine  oder  zwei  Kammern?  zu  lösen.  Mehrere  Kammern,  wie 
bis  vor  kurzem  in  Schweden,  wie  früher  auch  in  Frankreich 
und  auf  dem  deutschen  Reichstage,  spalten  den  Körper  der 
Repräsentation  zu  sehr,  und  machen  seine  Bewegung  schwer- 
fällig. In  neuerer  Zeit  kommt  daher  gewöhnlich  nur  in  Frage: 
eine  oder  zwei  Kammern? 

Die  meisten  romanischen  und  germanischen  Staten,  und 
fast  alle,  welche  dem  System  der  constitutionellen  Monarchie 
huldigen,  haben  sich  für  das  Zweikammersystem  als  die 
Regel  entschieden.  Nur  ausnahmsweise,  in  Zeiten  der  revo- 
lutionären Entzündung,  als  es  galt,  die  ganze  Gewalt  der  Re- 
volution in  Einem  Centrum  zu  sammeln,  und  von  da  aus  mit 
ungestümer  Energie  zu  ergieszen,  haben  die  demokratisch  er- 
regten Völker  die  Vereinigung  der  Gesammtrepräsentation  in 
Einem  Hause  vorgezogen ;  so  in  England  selbst,  nach  der  Hin- 


Sechstes  Capitel.     Zusammensetzung  des  gesetzgebenden  Körpers.  495 

richtung  des  Königs  Karl  I.,  1649,  in  Frankreich  von  1789 
bis  1795  und  wieder  1848,  in  Spanien  1810,  in  Deutschland 
1848.  Das  System  einer  einzigen  repräsentativen  Kammer  hat 
fast  nur  in  den  schweizerischen  Cantonen  und  in  einer  Anzahl 
kleiner  deutschen  Staten,  unter  kleinen  Völkerschaften,  in  denen 
die  socialen  Gegensätze  nicht  massenhaft  erscheinen,7  Aner- 
kennung gefunden. 

Eine  Kammer  scheint  einfacher  und  der  Einheit  des 
Volkes  entsprechender.  Zwar  stellt  auch  sie  für  sich  allein 
nicht  das  ganze  Volk  dar,  denn  zu  diesem  gehört  nothwendig 
auch  das  Haupt,  der  Regent.  Aber  sie  stellt  doch  das  übrige 
Volk  auszer  dem  Haupte,  gleichsam  den  Leib  des  Körpers 
dar,  und  auch  der  erscheint  als  Einheit. 

Jene  grosze  historische  Erfahrung  gebietet  indessen  Vor- 
sicht, zumal  wenn  man  erwägt,  dasz  schon  in  den  Zeiten  der 
ursprünglichen  naturwüchsigen  Gestaltung  des  germanischen 
Stateniebens  die  Theilung  der  Volksgemeinde  in  die  Fürsten 
und  das  übrige  Volk  nicht  minder  sichtbar  wird,  als  später  in 
den  Zeiten  der  principiel  bewuszten  Statsordnung,  vorerst  der 
Engländer,  dann  der  Nordamerikaner,  das  Zweikammersystem 
entschieden  herrschend  geworden  ist. 

Die  Vorzüge  des  letzteren  sind  einleuchtend: 

a)  Es  ist  klar,  dasz  vier  Augen  mehr  und  besser  sehen 
als  zwei,  besonders  wenn  sie  den  nämlichen  Gegenstand  von 
einem  verschiedenen  Standpunkte  aus  betrachten.  Eine  wieder- 
holte Berathung  und  Prüfung  der  Gesetzesentwürfe  durch  zwei 
Kammern,  die  auf  verschiedenen  Boden  stehen,  kann  demnach 
nur  wohlthätig  wirken. 

b)  Da  der  gesetzgebende  Körper  die  dauerhaften  Verhält- 
nisse der  Nation  zu  ordnen,   nicht  momentane  Bedürfnisse  zu 

7  Man  hat  berechnet,  dasz  das  System  der  zwei  Kammern  in  Europa 
eine  Bevölkerung  von  ungefähr  173  Millionen,  das  Einer  Kammer  nur 
eine  solche  von  nahezu  9  Millionen  umfaszt.  Dabei  ist  indessen  die 
Schweiz  als  Gesammtstat  in  die  erste  Classe  gerechnet. 


496     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

besorgen  hat  —  letzteres  ist  die  Aufgabe  der  Kegierung  — 
so  sind  für  ihn  rasche  Entschlüsse  weder  nöthig  noch  wünsch- 
enswerth,  und  wieder  bewahrt  das  Zweikammersystem  vor 
Uebereilungen  und  Miszgriffen  der  einen  Kammer,  gewährt 
Schutz  gegen  die  leidenschaftlichen  Stimmungen,  welche  die- 
selbe leicht  momentan  erfüllen  und  fortreiszen,  und  hemmt 
die  in  groszen  Versammlungen  so  gefährliche  Neigung,  ihre 
Macht  ungebührlich  auszudehnen  und  despotisch  zu  gebrauchen. 8 

c)  Insbesondere  ist  die  Existenz  eines  Senates  oder  einer 
Pairskammer  neben  der  eigentlichen  Volkskammer  eine  wich- 
tige Schranke  gegen  die  demokratische  Beweglichkeit  dieser, 
bewahrt  dieselbe  vor  dem  Miszbrauche  ihrer  Macht  und  vor 
Entartung,  und  ist  eine  starke  Stütze  der  Freiheit  und  des 
Kechtes  auch  der  Minderheit,  wenn  beide  von  der  Mehrheit 
bedroht  sind. 

d)  Für  die  constitutionelle  Monarchie  kommt  überdem 
vorzüglich  noch  in  Betracht,  dasz  der  Monarch  der  Eiuen 
Volkskammer  gegenüber  leicht  in  den  Kampf  der  Parteien  und 
mit  der  Kammer  verwickelt  und  zum  Hammer  oder  zumAmbosz 
zu  werden  genöthigt  wird,  dagegen  bei  zwei  Kammern  dem 
unmittelbaren  Parteikampfe  entzogen  und  gleich  der  Zunge  in 
der  Wage  zum  Regulator  zwischen  beiden  wird.  Die  Einheit 
des  States,  die  Sicherheit  und  Würde  der  Monarchie,  und  die 
ruhige  Haltung  und  Ordnung  des  gesetzgebenden  Körpers  sind 
dabei  gleichmäszig  interessirt. 

8  Mit  Recht  haben  amerikanische  Politiker  (vgl.  Story1  s  Comment 
on  the  constit.  of  the  United  States  B.  III,  St.  VIII,  §.  82,  bei  Buszl, 
S.  222  ff.)  darauf  aufmerksam  gemacht,  dasz  auch  in  der  Demokratie 
gewöhnlich  nur  einzelne  wenige  Individuen  die  Versammlung  leiten,  und 
dasz  diese  nur  zu  geneigt  seien,  oft  in  ihrem  individuellen  Interesse  oder 
nach  ihrer  Leidenschaft  mit  Hilfe  der  von  ihnen  abhängigen  Mehrheit 
die  Minderheit  und  ihre  Gegner  zu  bedrücken,  zu  verfolgen,  und  bis 
zur  Verzweiflung  zu  bedrängen.  Auch  dagegen  schützt  nurN  ein  mode- 
rirender  und  auf  seine  Selbständigkeit  eifersüchtiger  Senat  oder  Ober- 
haus. Eine  vortreffliche  Vertheidigung  des  Zweikammersystems  findet 
sich  bei  E.  Laboulaye,  J&tats-Units.  t.  III.  c.  12. 


Sechstes  Capitel.     Zusammensetzung  des  gesetzgebenden  Körpers.  497 

Für  den  Statsmann  sind  diese  Vorzüge  entscheidend.  Die 
Theorie  verlangt  noch  eine  tiefere  principielle  Begründung.  In 
allen  Völkern  von  höherer  Art  ist  ein  innerer  Gegensatz 
zwischen  dem  Demos  und  der  Aristokratie  vorhanden, 
welcher  mit  dem  Gegensatze  der  Quantität  und  Qualität 
in  der  Natur  zusammenhängt.  Im  Mittelalter  war  das  reprä- 
sentative Gewicht  bei  der  Aristokratie,  in  der  neuern  Zeit  ist 
es  vornehmlich  bei  der  sogenannten  Volkskammer,  welche  zwar 
nicht  die  Menge  selber,  aber  aus  ihr  hervorgegangen  ist  und 
auf  ihr  beruht.  Wäre  sie  allein  in  der  Repräsentation  be- 
dacht, so  wäre  diese  offenbar  unvollständig.  Es  wären  in  ihr 
nur  die  Eigenschaften  und  Interessen  der  Massen,  wenn  auch 
in  einem  höhern  Ausdruck,  vertreten.  Die  ausgezeichnete  Qua- 
lität dagegen ,  welche  ihrer  Natur  nach  nicht  der  Menge  an- 
gehört, sondern  jederzeit  nur  in  einer  Minderheit  sich  findet, 
die  aber  für  die  Gesundheit  und  Wohlfahrt  des  States  und  der 
Nation  von  gröszter  Bedeutung  ist,  und  eine  naturgemäsze  Er- 
gänzung und  Schranke  der  Massen  bildet,  wäre  nicht  berück- 
sichtigt, und  hätte  keine  ihrem  wirklichen  Verhältnisse  zum 
Ganzen  angemessene  Vertretung.  Diese  kann  sie  genügend  nur 
in  einer  besondern  Kammer  finden.  Und  nur  so  werden  wirklich 
die  groszen  politisch  wichtigen  Seiten  und  Gruppen  in  dem 
Volksorganismus  gehörig  beachtet  und  anerkannt,  wenn  dem 
Haupte  des  States  eine  Repräsentation  des  Volks  (als  Demos), 
und  der  ausgezeichneten  Minderheit  (als  Aristokratie)  zur 
Seite  treten,  wenn  die  Volkskammer  von  dem  dritten  und 
vierten  Stande,  der  Senat  oder  das  Oberhaus  von  dem  zweiten 
Stande  besetzt  werden. 

5.  In  den  meisten  Verfassungen  des  Continents  ist  die 
englische  Einrichtung,  wornach  jede  der  beiden  Kammern  nicht 
blos  für  sich  berathet  und  abstimmt,  sondern  auch  durch 
ihren  Widerspruch  die  Beschlüsse  je  der  andern  Kammern 
unwirksam  macht,  nachgebildet  worden.  Die  erste  Be- 
stimmung sichert  die  Vielseitigkeit  und  Freiheit  der  Berath- 

Bluntschli,    allgemeines  Statsreeht.     I.  32 


498     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

ung,  aber  die  zweite  gefährdet  augenscheinlich  die  Handlungs- 
fähigkeit des  Parlaments,  und  steht  im  Widerspruch  mit  der 
Einheit  des  States,  der  nicht  durch  das  Widerstreben  der 
Theile  gelähmt  werden  darf. 

In  England  wird  der  organische  Fehler  der  Verfassung 
durch  den  politischen  Geist  des  Parlaments  verbessert.  Es  ist 
dort  wohl  formell  möglich,  aber  thatsächlich  unerhört,  dasz 
der  Zwiespalt  der  beiden  Häuser  auf  die  Dauer  nöthige  Re- 
formen verhindere.  Das  Oberhaus  setzt  wohl  gelegentlich  einen 
Aufschub  und  einzelne  Modifikationen  gegenüber  dem  Unter- 
hause durch,  aber  es  hütet  sich  wohl,  den  wiederholten  und 
von  der  Nation  gebilligten  Anforderungen  des  Unterhauses  ein 
beharrliches  Veto  entgegen  zu  setzen.  In  vielen  Staten  des 
Continents  aber  ist  der  politische  Gegensatz  der  ersten  und 
der  zweiten  Kammer  viel  schroffer  und  hartnäckiger,  und  da 
kann  aus  dem  Mangel  der  Verfassung,  welche  kein  Mittel 
kennt,  um  die  unerläszliche  Einheit  in  dem  Statskörper  her- 
zustellen, für  das  Statsleben  die  gröszte  Gefahr  entspringen. 
Die  beiden  Kammern,  deren  eine  vorwärts  und  die  andere  rück- 
wärts strebt,  gleichen  dann  eher  zwei  Pferden  an  Einem  Wagen, 
deren  eines  vorn  und  das  andere  hinten  angespannt  ist,  als 
einem  organischen  Körper. 

Das  aber  widerspricht  geradezu  dem  Wesen  des  modernen 
Stats,  der  auf  die  Einheit  und  Entschluszfähigkeit  des  Stats- 
willens  den  gröszten  Werth  legt  und  keine  Zerreiszung  des 
Ganzen  in  die  Theile  verstattet. 

Nur  sehr  wenige  Verfassungen  ermäszigen  und  vermeiden 
diesen  Fehler,  indem  sie  dafür  sorgen,  dasz  eine  Einigung 
unter  den  beiden  Kammern  schlieszlich  hergestellt  werde.9 

9  Verf.  des  Königreichs  Sachsen  v.  1831,  §.131:  „Können  sich  beide 
Kammern  in  Folge  der  ersten  Berathung  über  den  betreffenden  Gegen- 
stand nicht  vereinigen,  so  haben  sie  —  eine  gemeinsame  Deputation  zu 
ernennen,  welche  unter  den  beiden  Vorstünden  der  Kammern  über  die 
Vereinigung  der  getheilten  Meinungen  zu  berathschlagen  hat."  §.  92: 
„Bleiben   auch   dann   noch   die  Curiatstimmen   beider  Kammern  getheilt, 


Siebentes  Capitel.     Ton  der  Bildung  der  Volkskammer.        499 

Siebentes  Capitel. 

Yon  der  Bildung  der  Volkskammer. 

Die  Volkskammer  soll  aus  dem  allgemeinen  Volke  her- 
vorgehen und  dessen  Meinung  und  Interessen  vertreten.  Dem 
Princip  der  Kepräsentation  gemäsz  ist  sie  ein  mit  Bücksicht 
auf  Tauglichkeit  und  Fähigkeit  ihrer  Mitglieder  gemachter 
Auszug  und  erhöhter  Ausdruck  des  Volkes  als  Demos.  Sie  ist 
gewissermaszen  die  statliche  Qualität  der  volksinäszi- 
gen  Quantität.  Es  ist  daher  naturgemäsz,  dasz  sie  aus 
der  gesammten  Menge  der  Statsbürger  in  der  Eegel  durch 
Wahl1  bezeichnet  wird.  In  gewissem  Sinne  ist  sie  eine  An- 
wendung des  politischen  Princips  der  repräsentativen  De- 
mokratie, und  in  neuerer  Zeit  hat  sie  auch  mehr  und  mehr 
in  den  meisten  Staten  diesen  Charakter  angenommen.2 

so  ist  zu  der  Verwerfung  des  Gesetzesvorschlags  erforderlich,  dasz  in 
einer  der  beiden  Kammern  wenigstens  zwei  Drittheile  der  Anwesenden 
für  die  Verwerfung  gestimmt  haben."  Schweizer.  Bundesverf.  §.  80:  „Jeder 
Rath  verhandelt  abgesondert.  Bei  Wahlen,  bei  Ausübung  des  Begnadi- 
gungsrechtes und  für  Entscheidung  von  Competenzstreitigkeiten  vereinigen 
sich  jedoch  beide  Räthe  unter  der  Leitung  des  Präsidenten  des  National- 
rathes  zu  einer  gemeinschaftlichen  Verhandlung,  so  dasz  die  absolute 
Mehrheit  der  stimmenden  Mitglieder  beider  Räthe  entscheidet." 

1  Allerdings  ist  die  Wahl  kein  absolutes  Erfordernisz.  Edm.  Burke 
1792:  „Wo  zwischen  denen,  in  deren  Namen  gehandelt  wird,  und  denen, 
welche  in  derselben  Namen  handeln,  eine  Gemeinschaft  der  Interessen, 
eine  Verwandtschaft  der  Ansichten  und  Wünsche  stattfindet,  daist  wirk- 
liche, obgleich  nicht  förmliche  Stellvertretung.  In  manchen 
Fällen  ist  diese  wirkliche  Stellvertretung  besser  als  die  förmliche,  in 
welcher  die  Vertreter  von  denen,  an  deren  Statt  zu  handeln  haben, 
erwählt  sind.  Das  Volk  kann  sich  in  seiner  Wahl  täuschen,  selten  täuscht  die 
Gemeinschaft  der  Gesinnungen  und  der  Interessen.  Allein  jene  wirkliche 
Stellvertretung  hat  keine  lange  noch  sichere  Dauer,  wo  sie  nicht,  wenig- 
stens zum  Theil,  auf  die  förmliche  gestützt  ist." 

2  Vgl.  oben  Bach  IV,  Cap.  10.  S.  326  ff.  Edm.  Burke  spricht 
sich  „über  die  Ursachen  der  gegenwärtigen  Unzufriedenheit"  in  einer 
Stelle,  von  der  Brougham  gesagt  hat,  sie  sollte  mit  feurigen  Buch- 
staben in  das  Portal  des  Hauses  der  Gemeinen  eingegraben  werden,    so 

32* 


500     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Gewöhnlich  werden  die  stimmberechtigten  Statsbürger  in 
eine  Anzahl  von  Wahlkreisen  vertheilt,  ohne  Kücksicht  auf 
ihre  besonderen  Eigenschaften,  und  jedem  Wahlkreise  nach  der 
Kopfzahl  seiner  Glieder  oder  der  Bevölkerung,  die  er  uni- 
schlieszt,  eine  Anzahl  Eepräsentanten  zugetheilt.  Die  Mehr- 
heit wählt,  und  die  Minderheit  wird  dann  nicht  weiter  be- 
rücksichtigt. 

Diese  Einrichtung  empfiehlt  sich  meistens  durch  die  All- 
gemeinverständlichkeit    einfacher    arithmetischer    Verhältnisse 

aus:  „Ein  volksmäsziger  Ursprung  kann  nicht  die  charakteristische  Aus- 
zeichnung einer  volksmäszigen  Repräsentation  sein.  Diese  Eigenschaft 
kommt  gleichmäszig  allen  Gliedern  des  Statskörpers  zu  und  in  allen 
Formen.  Sie  alle  -ind  bevollmächtigt  für  das  Volk;  denn  keine  Macht 
ist  lediglich  zu  Gunsten  ihres  Inhabers  gegeben,  und  obwohl  die  Obrig- 
keit sicherlich  eine  Institution  von  göttlicher  Autorität  ist,  so  sind  doch 
die  Formen  und  die  Personen,  welche  sie  verwalten,  alle  ursprünglich 
aus  dem  Volke  hervorgegangen.  Die  Tugend,  der  Geist,  das  Wesen  des 
Hauses  der  Gemeinen  besteht  darin,  dasz  es  das  ausdrucksvolle  Bild  des 
Nationalgefühls  ist.  E3  wurde  nicht  eingerichtet,  um  eine  Aufsicht  zu 
«ein  über  das  Volk.  Es  wurde  bezeichnet  als  eine  Aufsicht  für  das 
Volk.  Andere  Einrichtungen  sind  entstanden  zu  dem  Zwecke,  die  Aus- 
schweifungen des  Volkes  zu  hemmen.  Das  Haus  der  Gemeinen,  wie  es 
niemals  bestimmt  war,  um  den  Frieden  und  die  äuszere  Ordnung  auf- 
recht zu  halten,  ist  für  diesen  Dienst  völlig  ungeeignet,  da  es  keine 
stärkere  "Waffe  hat  als  seinen  Stab,  und  keine  bessern  Officiere  als  seine 
unbewaffneten  Pedelle,  welcher  es  aus  eigener  Machtvollkommenheit  be- 
fehlen kann.  Ein  wachsames  und  eifersüchtiges  Auge  über  die  vollzie- 
hende und  die  richterliche  Beamtung,  eine  ängstliche  Sorge  für  das  öffent- 
liche Geld,  ein  offener  Sinn,  der  an  Gefälligkeit  gränzt,  für  öffentliche 
Beschwerden,  das  scheinen  die  wahren  Eigenschaften  eines  Hauses 
der  Gemeinen  zu  sein.  Aber  ein  Haus  der  Gemeinen ,  welches  Beifalls- 
adressen erlässt,  und  ein  Volk,  das  Bittschriften  macht;  ein  Haus  der 
Gemeinen,  welches  voll  Vertrauen  ist,  wenn  die  Nation  in  Verzweiflung 
gestürzt  ist;  in  der  vollkommensten  Harmonie  mit  den  Ministern,  welche 
das  Volk  mit  äuszerstem  Abscheu  betrachtet;  welches  in  allen  Streitig- 
keiten zwischen  Volk  und  Regierung  zum  voraus  gegen  das  Volk  ein- 
genommen ist,  welches  dessen  Unordnungen  bestraft,  aber  sich  wei- 
gert, die  Anreizungen  zu  denselben  zu  untersuchen,  das  ist  ein  unnatür- 
licher und  monströser  Zustand  der  Dinge  in  unserer  Verfassung.  Eine 
solche  Versammlung  mag  ein  groszer,  weiser,  ehrfurchtwürdiger  Senat 
sein,  aber  sie  ist  in  keiner  Weise  ein  volksmäsziges  Haus  der  Gemeinen.44 


Siebentes  Capitel.     Von  der  Bildung  der  Volkskammer.        501 

und  durch  die  demokratische  Betonung  der  Gleichheit  Aller. 
Vor  einer  organischen  Erkenntnisz  des  States  erscheint  sie  als 
roh  und  ungenügend.  Weder  die  Vollständigkeit  noch  die 
Wahrheit  der  Volksrepräsentation  finden  in  ihr  ausreichende 
Garantien.  Es  ist  nur  zufällig,  wenn  die  verschiedenartigen 
Interessen  des  Handels,  der  Fabrication,  der  Handwerke,  der 
Landwirtschaft,  wenn  ferner  die  Interessen  der  Bildung  und 
Wissenschaft,  wenn  die  Kenntnisz  des  Rechts  hinreichende 
Vertretung  erhalten;  die  Wahlart  selber  weisz  von  alle  dem 
nichts.  Sie  hat  wenig  Gewähr  in  sich,  dasz  wirklich  die  tugend- 
haftesten und  einsichtsvollsten  Männer  gewählt  werden.  Nur 
allzu  oft  waren  und  sind  diese  Wahlen  ein  Spiel  der  Parteien 
und  ihrer  Leidenschaften.  Anstatt  einer  Vertretung  der  Volks- 
interessen gingen  und  gehen  aus  ihnen  zuweilen  Versamm- 
lungen hervor,  in  welchen  die  politischen  Leidenschaften  und 
Vorurtheile  vornehmlich  repräsentirt  sind,  und  die  wirklichen 
und  dauernden  Interessen  des  Volks  den  wechselnden  Stimm- 
ungen der  Parteien  unbedenklich  hingeopfert  werden. 

Der  sehr  beachtenswerte  Reformvorschlag  des  Engländers 
T  h o  m  a  s  H  ar  e , ;*  die  gesammte  Bürgerschaft  als  Einen  Wahl- 
kreis zu  behandeln  und  die  Wahlen  lediglich  von  einer  be- 
stimmten Anzahl  Stimmen  abhängig  zu  machen,  die  sich  auf 
Eine  Person  vereinigen,  würde  manche  Uebelstände  der  gegen- 
wärtigen Einrichtung  beseitigen  und  sowohl  den  Minderheiten 
als  den  verschiedenen  Interessen  Gelegenheit  verschaffen,  sich 
repräsentiren  zu  lassen.  Aber  derselbe  ist  noch  nirgends  ver- 
wirklicht und  gehört  gegenwärtig  noch  der  Politik,  nicht  dem 
Statsrecht  an. 

Eine  Repräsentation  nach  Classen,  welche  unter  sich 
eine  Gemeinschaft   der  Anschauung  und   der  Interessen  haben, 


3  On  the  Election  of  Repres.  1859.     Vgl.  Mill,  Repräsent.  Regierung 
und  Bluntschli  Artikel  Wahlrecht  im  Deutschen  Statswörterbuch. 


502     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

ist  wiederholt  versucht  worden.4  Sie  hat  mancherlei  Vorzüge 
vor  der  Wahl  der  gemischten  Menge.  Es  ist  auch  ein  Irr- 
thum,  dasz  eine  derartige  Classenver tretung  dem  mittel- 
alterlichen ständischen  System,  nicht  dem  modernen  Reprä- 
sentativsystem angehöre.  Sie  entspricht  vielmehr  der  Grund- 
idee der  Volksrepräsentation ,  welche  ein  wahres  Bild  des 
Volkes  sein  soll ,  durchaus ,  und  ist  erst  deren  wirkliche  Er- 
füllung. Damit  das  ganze  sichtbar  werde,  müssen  die  Theile 
in  ihm,  freilich  nicht  als  für  sich  bestehende  kleinere  Ganze, 
sondern  als  Theile  vorhanden  sein.  Damit  die  Landkarte  gut 
sei,  müssen  in  ihr  nicht  blosz  Zahlen  und  gerade  Linien,  son- 
dern die  Berge,  Thäler  und  Seen,  Städte  und  Dörfer  im  Lande 
sichtbar  werden.  Besteht  das  Volk  aus  Ständen  und  Classen, 
so  musz  auch  das  Bild  des  Volkes  diese  Bestandteile  wieder 
zeigen.  Aber  im  Ganzen  verhält  sich  unsere  Zeit  doch  noch 
gegen  eine  solche  p]inrichtung  misztrauisch,  theils  weil  sie  noch 

4  Sismoiidi,  Etadeal,  S.  HO,  sag!  übe*  die  Verfassung  der  Republik 
Florenz  im  Jahr  L266:  »Die  Republik  vertheilte  die  ganze  Bevölker- 
ung in  L2  Corporationen,  die  „Künste"  (les  arts  i  genannt  und  unter- 
schied wieder  zwischen  höheren  und  niederen  Künsten,  den  erstcren 
einige  Vorzugsrechte  vor  den  letztern  einräumend,  aber  allen  abwech- 
selnd verstattend  ein  Mitglied  für  die  oberste  Magistratur  zu  ernennen. 
Jede  dieser  Corporationen  hatte  ihr  Versammlungshaus,  wo  sie  ilire 
Vorsteher  und  Repräsentanten  erwählte:  jede  war  berufen,  sich  selber 
zu  -tudiren,  ihre  Interessen  kennen  zu  lernen  und  dieselben  ihrem  Prior 
einem  der  sechs  Mitglieder  der  obersten  Behörde  zu  empfehlen,  welche 
wie  in  einem  Ruthenbünde]  die  Einsicht  aller  zusammenfaszte.  Jede 
hatte  eine  militärische  Organisation,  ein  Banner  und  das  Bewusztein, 
dasz  sie  der  Unterdrückung  Widerstand  leisten  könnte.  So  lieszen  die 
Gelehrsamkeit,  die  Bildung,  das  behagliche  Capital,  der  Handel,  wie  die 
mühevollen  Handwerke  ihre  Stimmen,  jedes  besonders  vernehmen;  alle 
Interessen  waren  berathen  und  der  Entscheid  hing  mehr  von  der  Weis- 
heit als  von  der  Zahl  ab.  Jeder  Florentiner,  auch  der  arme  und  un- 
wissende fühlte,  dasz  er  etwas  galt  in  seiner  Vaterstadt  und  hatte  Theil 
an  den  politischen  Rechten  und  an  der  Souveränetät  als  ein  Olicd  seiner 
Innung,  und  doch  war  die  Souveränetät  nicht  an  die  Mehrheit  über- 
lassen, welche  in  all  unsern  Staten  nothwendig  arm,  unwissend  und  zu 
gesundem  politischem  Urtheil  unfähig  ist. u 


Siebentes  Capitel.     Von  der  Bildung  der  Volkskammer.         503 

nicht  klar  geworden  ist  über  die  Art  der  Class  eneintheilung 
und  besorgt,  die  mittelalterlichen  Stände  möchten  unter  dem 
neuen  Namen  wieder  restaurirt  werden,  theils  weil  sie  für  die 
Einheit  des  Volksbewusztseins  und  für  die  wahre  Rechtsgleich- 
heit  Schaden  fürchtet. 

Besser  als  blosze  mathematisch  bestimmte  Wahlkreise 
sind  immerhin  solche,  die  sich  an  organische  Theile  des  Landes, 
insbesondere  an  die  Gemeinden  anschlieszen.  In  ihnen  wird 
doch  eine  gewisse  Uebereinstimmung  der  Lebensart  und  Gleich- 
artigkeit der  Interessen  offenbar.  Aber  für  gröszere  Staten  ist 
der  Geist  und  Gesichtskreis  der  einzelnen  Gemeinden  zu  be- 
schränkt und  zu  klein,  um  ausschlieszlich  auf  ihn  die  Landes- 
repräsentation zu  begründen. 

2.  Der  Gegensatz  der  unmittelbaren  und  der  mittel- 
baren Wahlen  (par  degre),  jene  durch  die  Urwähler,  diese 
durch  gewählte  Wahlmänner  vollzogen,  ist  ferner  zu  be- 
rücksichtigen.    Vorzüge  der  directen  Wahlform  sind: 

a)  Wähler  und  Gewählte  stehen  in  einem  directen  Rapport 
des  Vertrauens,  während  bei  der  indirecten  Wahlart  es  leicht 
vorkommt,  dasz  der  Gewählte  zwar  das  Vertrauen  der  Wahl- 
männer, nicht  aber  das  der  Urwähler  besitzt. 

b)  Die  Aufmerksamkeit  und  das  Interesse  der  Wähler  bei 
der  Wahl  ist  erhöht  und  gröszer,  als  wenn  beide  durch  eine 
Zwischenstufe  gebrochen  werden. 

Auf  der  andern  Seite  aber  sprechen  für  die  mittel- 
baren Wahlen  unter  Umständen  folgende  Gründe: 

a)  Wenn  die  Wahlkreise  sehr  ausgedehnt  sind,  so  gelingt 
es  nicht  leicht,  die  Urwähler  an  einem  Ort  zu  versammeln. 
Bleibt  aber  die  Masse  getheilt  und  zerstreut,  so  ist  es  sehr 
schwierig,  ein  Wahlresultat  zu  erhalten.  In  solchen  Fällen 
dient  die  Wahl  durch  Wahlmänner  als  ein  Auskunftsmittel. 

b)  Wenn  ferner  das  Stimmrecht  allzu  tief  niedersteigt, 
und  zu  grosze  Massen  umfaszt,  so  liegt  in  der  Bezeichnung 
von  Wahlmännern    eine  Sichtung    der  Massen   und   die  Her- 


504     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Stellung  eines  fälligeren  und  besseren  Wahlkörpers.  Wird  nicht 
auf  solche  organische  Weise  dafür  gesorgt,  so  geschieht  es 
leicht,  dasz  sich  die  Clubbs  der  Vermittlung  und  Leitung  der 
Menge  bemächtigen,  sich  selber  zu  einem  Wahlausschusz  con- 
stituiren  und  so  auf  unorganischem  Wege  die  Aufgabe  der 
Wahlmänner  übernehmen. 

Am  nächsten  steht  übrigens  der  directen  Wahl  die  Wahl 
durch  eine  sehr  grosze  Anzahl  von  Wahlmännern ,  z.  B.  so, 
dasz  je  auf  zehn  Urwähler  ein  Wahlmann  ernannt  wird. 

In  England,  in  Nordamerika,  nun  auch  in  Frank- 
reich, im  norddeutschen  Bund,  in  Belgien  und  in  den 
meisten  Schweizerkantonen  ist  »las  System  der  directen, 
in  Spanien,  Preuszen,  Bayern  und  in  den  meisten 
deutschen  Staten  das  der  indirecten  Wahlen  eingeführt. 

3.  Besondere  Eigenschaften  der  Wähler. 

Da  in  dem  Volkshause  die  Menge  des  Volkes  zur  Ver- 
tretung gelangt,  so  ist  die  Ausbreitung  des  Stimmrechtes  auf 
die  Gesammtheit  der  Statsbürger  (vgl.  oben  Buch  11 
Cap.  22)  als  Kegel  anzuerkennen.  Diese  Kegel  erleidet  in- 
dessen mit  Rücksicht  auf  die  Bestimmung  des  repräsentativen 
Körpers  Modifikationen,  indem  verschiedene  Rücksichten  noch 
in  Betracht  kommen: 

a)  In  der  römischen  Censusverfassung  wurde  den  altern 
Wählern  ein  grösseres  Stimmrecht  zugewiesen  als  den  jun- 
gem, und  so  der  Erfahrenheil  der  immerhin  an  Zahl  von  den 
Jüngern  übertroft'enen  Alten  im  Interesse  der  Statswolilfalirf 
gebührende  Rechnung  getragen,  ohne  jene  auszuschlieszen.  Die 
modernen  Verfassungen*  vernachlässigen  diese  Bücksicht  auf 
das  Alter  zu  sehr,  und  geben  daher  oft  der  reizbaren  und 
beweglichen  Jugend  einen  unverh&ltniszmäszigen  Einfiusz. 

b)  Häufiger  wird  auf  das  Vermögen  geachtet.  Das 
Vermögen  kommt  nicht  blosz  insofern  in  Betracht,  .um  die 
Eigenschaft  eines  selbständigen  Statsbürgers  zu  ermitteln,  son- 

5  Napoleon  I.    beachtete    in    seinen  Verfassungen    dieses  Moment. 


Siebentes  Capitel.     Von  der  Bildung  der  Volkskammer.         505 

dem  auch  abgesehen  davon  verdient  es  eine  besondere  Berück- 
sichtigung, weil  es  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  States 
ist,  das  Vermögen  seiner  Angehörigen  zu  schützen  und  das 
Gesammtvermögen  der  Nation  zu  pflegen.  Es  darf  daher  wohl 
bei  der  Vertretung  berücksichtigt  werden,  aber  nicht  auschliesz- 
lich,  denn  die  persönliche  Arbeitskraft  der  Massen  ist 
kein  geringerer  Factor  der  Volkskraft. 

Burke*  hat  den  Satz  ausgesprochen:  ,,Eine  gehörige 
Repräsentation  eines  States  erfordert,  dasz  sowohl  dessen  Fähig- 
keit als  dessen  Eigenthum  repräsentirt  sei.  Aber  da  die  Fähig- 
keit ein  lebenskräftiges  und  thätiges  Princip,  und  das  Eigen- 
thum träge,  schwerfällig  und  furchtsam  ist,  so  kann  es  nie 
vor  einer  Invasion  der  Fähigkeit  sicher  sein,  wenn  es  nicht  in 
der  Repräsentation  sehr  bedeutend  vorherrscht." 

Die  Römer  haben  in  ihrem  Census  diesem  Gedanken 
groszes  Gewicht  beigelegt,  und  den  vermöglicheren  Classen 
eine  weit  stärkere  Vertretung  eingeräumt,  als  den  unvermög- 
lichen.  Eine  Nachbildung  dieser  Organisation  rindet  sich  in 
der  preuszischen  Verfassung  von  1850,  welche  die  Ur- 
wähler je  nach  dem  Betrage  ihrer  Steuern  in  drei  der  Zahl 
nach  sehr  verschiedene  Classen  theilt,  so  dasz  die  wohlhabensten 
Statsbürger,  welche  zusammen  ein  Drittheil  der  Steuer  in 
der  Gemeinde  oder  dem  Wahlbezirk  entrichten,  auch  einen 
Drittheil  der  Wahlmänner,  sodann  die  mittleren  Bürger,  welche 
zusammen  den  zweiten  Drittheil  bezahlen,  einen  zweiten  Dritt- 
theil  der  Wahlmänner,  und  die  minder  begüterten,  die  in 
weit  gröszerer  Anzahl  den  letzten  Drittheil  entrichten,  auch 
nur   den   dritten  Theil   der   Wahlmänner  bezeichnen.7 

In  dieser  Einrichtung,  obwohl  sie  von  Mängeln  nicht  frei 
und  der  Ausbildung  bedürftig  ist,  liegt  immerhin  ein  Fort- 
schritt gegenüber  der  gewöhnlichen  Behandlung,  welche  nur 
zwei  Classen  kennt,  deren   eine  ganz   ausgeschlossen  wird  von 

6  Barke,  Reflections  on  the  French  Revol. 

7  Preusz.  Verf.  §.  71. 


506     Fünftes  Buch      Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

jedem    Stimmrecht ,    und    deren    andere   gleiches    Stimmrecht 
besitzt. 

In  England8  wird  seit  der  Keformbill  von  1832  als 
Eigenschaft  der  Wähler  in  den  verschiedenen  Weltkörper- 
schaften erfordert: 

a)  in  den  Grafschaften  auszer  den  alt  berechtigtenVierzig- 
Schilling-Freisassen  (Freeholders)  Grundbesitz  (nicht  ge- 
rade Grundeigenthum,  auch  langer  Pachtbesitz)  mit  einem  jähr- 
lichen Beinertrage  von  mindestens   10  Pfd.  Sterling, 

b)  in  den  Städten  und  Wahlflecken  eigener  oder  miethe- 
weiser  Besitz  eines  Hauses,  Magazins  oder  Ladens  von  dem 
jährlichen  Werthe  von  10  Pfd. 

In  England  kommen  in  Folge  der  Keform  auf  eine  Be- 
völkerung von  fast  14  Millionen  nahe  an  800,000  Wähler 
wovon  die  gröszere  Hälfte  (etwas  über  450,000)  auf  die  Graf- 
schaften vertheilt  ist.  In  Irland  dagegen  ist  das  Verhältnisz 
der  Gesammtbevölkerung  von  etwas  über  8  Millionen  zu  den 
Wählern,  ungefähr  150,000,  bedeutend  gröszer.  Die  Wähler- 
zahl von  ganz  Groszbritanien  mit  einer  Bevölkerung  von 
26  Millionen  beträgt  etwas  über  eine  Million.  Gegenwärtig 
arbeitet  das  Parlament  an  einem  neuen  Reformgesetz,  welches 
den  Kreis  der  Wähler  noch  erheblich  erweitern  soll. 

In  Frankreich  war  in  der  Verfassung  von  1814  ge- 
radezu Rei  cht  hu  in,  nicht  bloszes  Vermögen  der  Wähler  ge- 
fordert worden.  Nur  wer  300  Fr.  directe  Steuer  bezahlte, 
war  Wähler.9  Das  Gesetz  von  1831  hat  diese  Forderung  auf 
200  Fr.  vermindert,  und  die  Zahl  der  Wähler  von  80,000  auf 

8  Vgl.  die  nähern  Angaben  bei  Schubert,  Vorfassungsurkunden  I, 
S.  255  ff.  und  Müh  ry  in  Mittermai  er  8  Zeitschr.  XX  VIII,  S.  28  ff. 
II.  Cox,  Statseinrichtungen  Englands,  übersetzt  von  Kühne,  Berlin 
1867.  §.  90. 

9  Gesetz  vom  5.  Febr.  1817.  Die  Verfassung  hatte  an  ,  mittelbare 
Wahlen  gedacht,  das  Gesetz  machte  daraus  unmittelbare  Urwähler.  Ihre 
Zahl  wurde  auf  90,000  berechnet.  Gervinus,  Gesch.  des  XIV.  Jahrh. 
II,  S.  257. 


Siebentes  Capitel.     Von  der  Bildung  der  Volkskammer.         507 

174,000  gegenüber  einer  Bevölkerung  von  mehr  als  30  Mil- 
lionen gesteigert,  dadurch  aber  den  Charakter  einer  pluto- 
kratischen  Eepräsentation  nur  gemildert,  nicht  verändert.  Die 
Verfassung  von  1848  hat  den  gefährlichen  Sprung  aus  der 
Plutokratie  in  die  Demokratie  gewagt  und  jedes  Kequisit  eines 
Census  aufgehoben  (Art.  25).  Zuletzt  ist  auf  dieser  breiten 
Basis  das  Kaiserthum  aufgerichtet  worden. 

Die  österreichische  Verfassung  von  1849  (§.  44)  hatte 
eine  directe  Steuer  von  mindestens  5  Gulden  auf  dem  Lande 
und  in  kleineren  Städten,  und  von  10  Gulden  bis  20  Gulden 
in  gröszeren  Städten  gefordert. 

Nach  der  Verfassung  vom  26.  Febr.  1861  werden  die 
Abgeordneten  des  Reichstags  von  den  Landtagen  der  Kron- 
länder gewählt.  Die  Vertretung  in  den  einzelnen  Ländern  aber 
ist  meistens  nach  Classen  geordnet,  so  dasz  a)  die  hohen 
kirchlichen  Würdenträger  (Bischöfe),  b)  die  Groszgrunclbesitzer, 
c)  die  Städte  und  Industrialorte  und  die  Handels-  und  Ge- 
werbekammern, d)  die  übrigen  Landgemeinden  vertreten  werden. 
Die  Wahlen  der  Groszgrundbesitzer  und  der  Städte  sind  direct, 
die  Wahlen  in  den  Landgemeinden  indirect;  aber  die  untern 
Classen,  die  keine  oder  eine  ganz  geringe  Steuer  bezahlen, 
sind  von  dem  Wahlrecht  ausgeschlossen. 

Die  Verfassung  des  norddeutschen  Bundes  von  1867 
sieht  von  jeder  Berücksichtigung  des  Vermögens  ab  und  er- 
kennt das  allgemeine  Stimmrecht  an. 

4.  Die  Frage,  ob  die  Wahlen  geheim  oder  offen,  ob 
sie  schriftlich  oder  mündlich  oder  durch  Handaufheben 
vor  sich  gehen  sollen,  war  bekanntlich  schon  bei  den  Alten 
sehr  bestritten.  Die  Erörterung  der  römischen  Statsmänner 
bei  Cicero  (de  Legibus  III.  15 — 17)  über  dieselbe  hat  auch 
für  unsere  Zeit  groszes  Interesse. 

Gewöhnlich  ist  mit  der  geheimen  auch  die  schriftliche, 
mit  der  offenen  die  mündliche  Abstimmung  oder  die  durch 
Handmehr    verbunden,    aber    nicht    immer.     Männlich   freier 


508     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

ist  die  offene  und  mündliche,  sorgfältiger  und  vorsichtiger  die 
geheime  und  schriftliche.  Bei  jener  Wahlform  erlangen  leicht 
die  angesehensten  Männer  der  Gemeinde,  zuweilen  auch  die 
Demagogen  gröszeren  Einflusz,  bei  dieser  getrauen  sich  die 
kleinen  Leute  eher  ihre  eigene,  zuweilen  aber  auch  die  von 
den  Clubbs  ihnen  vorgeschriebene  Meinung  zu  befolgen.  Wo 
das  übrige  politische  Leben  sich  in  öffentlichen  Formen  be- 
wegt, paszt  das  Geheimnisz  auch  da  nicht. 

In  England  und  Nordamerika  geschehen  die  Wahlen 
öffentlich  und  mündlieh.  In  Frankreich  ist  die  geheime 
Abstimmung  sogar  in  der  Verfassung  von  1848  (§,  26)  er- 
halten worden.  In  einzelnen  deutschen  Staten  ist  ein  ge- 
mischtes System  der  Schriftlichkeit  verbunden  mit  Er- 
öffnung der  Abstimmung  vor  dem  Wahlbureau,  aber  Ge- 
heimnisz vor  dem  übrigen  Publicum  angenommen  worden, 
so  in  Bayern.  Im  norddeutschen  Bund  ist  die  Wahl  ge- 
heim und  schriftlich.  In  der  Schweiz  kommen  offene  und 
geheime  AVahlen  oft  neben  einander  vor,  jene  eher  bei  vor- 
übergehenden Ernennungen,  diese  bei  den  wichtigeren  und 
dauernden. 

.">.  Die  Erfordernisse  der  Wählbarkeit  wurden  in  den 
früheren  Verfassungen  gewöhnlich  strenger  bestimmt,  als  die 
des  Stimmrechts.  Bis  1858  ward  in  England  (Gesetz  von 
1837)  für  die  Mitglieder  des  Unterhauses,  wenn  sie  als  Ritter 
in  den  Grafschaften  erwählt  werden,  ein  reines  Einkommen 
v<>n  600  Pfd.  St.,  für  die  Repräsentanten  derStädte  Hnd  Wahl- 
flecken ein  solches  von  300  Pfd.  gefordert.  Durch  «las  (Jesetz 
von  1858  sind  alle  Vermögenserfordernisse  abgeschafft  worden. 
Die  französische  Charte  von  1814  (S- 38)  forderte  einAlter 
von  40  Jahren  und  Bezahlung  einer  directen  Steuer  von  min- 
destens 1000  Fr.  Die  kaiserliche  Verfassung  kennt  diese 
Beschränkung  der  Wählbarkeit  nicht  mehr.  Die  b olgische 
Verfassung  von  1831  (§.  47)  fordert  dagegen  nur  ein  Alter 
von  25  Jahren,  und  ein  Steuerminimum  von  20  bis  100  Gulden. 


Siebentes  Capitel.     Von  der  Bildung  der  Volkskammer.        509 

Darin  liegt  der  Uebergang  zu  dem  neueren  System,  welches 
gewöhnlich  die  nämlichen  oder  sogar  geringere  Erfordernisse 
für  den  Gewählten  wie  für  die  Wähler  verlangt,  in  Anbetracht, 
dasz  die  Wahl  selbst  denselben  hinreichend  qualificire,  somit 
es  keiner  weitern  Qualificirung  bedürfe.  So  z.  B.  in  Bayern 
(Gesetz  vom  4.  Juni  1848)  und  in  Preuszen,  wo  nur  ein 
Alter  von  30  Jahren,  aber  keine  Steuerzahlung,  also  in  dieser 
Beziehung  weniger  als  für  das  Stimmrecht  erfordert  wird  (§.  74). 
Sowohl  die  englische  als  die  Verfassung  des  deutschen 
Nordbunds  gestatten  den  Abgeordneten  keine  Entschädigung  für 
ihre  Dienste  anzunehmen,  was  einem  nicht  unbedeutenden  Census 
ähnlich  wirkt. 

6.  Die  Wahl  von  Ersatzmännern,  nur  in  wenig  Län- 
dern üblich,  seitdem  die  fr  an z ö  s  i seh e  Nationalversammlung 
von  1781)  diese  Institution  ins  Leben  gerufen  hat,  ist  in  keiner 
Beziehung  zu  empfehlen.  Da  die  Ersatzmänner  in  der  Kegel 
doch  nicht  berufen  werden,  so  widmen  die  Wähler  ihrer  Wahl 
nur  geringe  Sorgfalt,  und  nehmen  oft,  nur  um  ihr  Geschäft 
schneller  zu  endigen,  den  nächsten  besten.  Ueberdem  wird  dem 
Gewählten  der  Bücktritt  bequemer  gemacht,  und  für  diesen 
Fall  die  allein  Vertrauen  genieszende  Neuwahl  verhindert. 

7.  Beachtenswert  ist  die  englische,  auf  dem  Continent 
hier  und  da,  z.  B.  in  Griechenland  (§.64),  Bayern  (Ge- 
setz vom  4.  Juni  1848  §.  29),  Preuszen  (§.78)  im  nord- 
deutschen Bund  (§.  21)  nachgebildete  Sitte,  dasz  der  De- 
putirte,  der  ein  Kronamt  erhält,  sich  einer  neuen  Wahl  unter- 
werfe, und  so  den  Wählern  Gelegenheit  gebe,  ihr  Zutrauen 
entweder  klar  zu  erneuern  oder  auf  einen  andern  hinzuwenden. 

Viel  weiter  war  die  französische  Verfassung  von  1848 
gegangen,  welche  alle  besoldeten  Beamten  geradezu  von 
der  Nationalversammlung  ausschlosz  (§.  28).  Die  Napoleonische 
Verfassung  von  1852  (§.44)  schlieszt  nur  die  Minister  aus. 
Die  amerikanische  Unionsverfassung  (1.  2.  §.  2)  und  ebenso 
die  schweizerische  Bundesverfassung  ($.  66)   schlieszt  die 


510        Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und   das  Gesetz. 

Bundesbeamten  aus,  nicht  aber  die  Beamten  der  Einzelstaten. 
Die  norddeutsche  Bundesverfassung  schlieszt  nur  die  Mit- 
glieder des  Bundesrates  aus  (§.  9). 

Die  Ausschliessung  der  Beamten  aus  der  Volkskammer 
entzieht  dieser  die  geschäftskundigsten  Mitglieder  und  schwächt 
in  Folge  dessen  die  Einsicht  und  die  Autorität  der  Kammer: 
wenn  aber  der  Beamtenstand  überwiegt,  so  wird  die  Oontrok 
der  Kammer  gegenüber  der  Regierung  leicht  zu  einem  bloszen 
Scheine  verflüchtigt  und  die  Kammer  verliert  das  Vertrauen 
der  öffentlichen  Meinung.  Da-  rechte  Masz  zu  treffen  ist  voraus 
eine  Aufgabe  der  Wähler. 

Uebrigens  sind  nicht  alle  ('lassen  der  Beamten  in  diesen 
Beziehungen  gleich  zn  achten.  Die  welche  nur  ein  Ptflege- 
amt  verwalten,  wie  /.  B.  Statsärzte,  Professoren,  stehen  den 
Privaten  wesentlich  gleich;  die  Richter  sind  durch  ihr»'  an- 
abhängige Stellung  gesichert;  am  schwierigsten  ist  die  Stellung 
eigentlicher  Regiernngsbeainten.  Würde  die  Opposition 
vornehmlich  von  ihnen  geleitet,  so  würde  dir  Ginbeil  und  Au- 
torität des  Regiernngskörpers  geaehädigl .  wollte  sich  die  Re- 
gierung vornehmlich  auf  ihren  Einflusz  in  der  Kammer  stützen, 
so  wäre  die  Selbständigkeil  der  Kammer  gefährdet.  In  Zeiten 
des  heftigen  Kampfes  ilmn  die  Wähler  daher  wohl,  in  der 
Regel  auszer  den  verantwortlichen  Ministern  keine  Kegiomngs- 
beamten  zu  wühlen. 

8.  Häufig  finden  wir  bestimmte  Perioden  festgesetzt, 
nach  deren  Ablaut'  das  Volkshaus  einer  neuen  Wahl  unter- 
werten  Wird,  sei  es  dasz  diese  eine  <;  esu  ni  mt-  «»der  nur  eine 
partielle  Erneuerung  Ist.  Das  englische  Unterhaus 
hat  seit  Georg  I.  eine  siebenjährige,  früher  nur  eine  dreijährige, 
Amtsdauer,  das  nordamerikanische  (1.  2.)  Haus  der  Re- 
präsentanten eine  zweijährige,  in  den  Emzelstaten  meistens  nur 
eine  einjährige,  die  preus zische  zweite  Kammer  *^§.  73)  und 
dei  norddenf  sehe  Bund  (§.  21)  eine  dreijährige,  die  bel- 
gische Kammer  (§.  51)  der  Repräsentanten  eine  vierjährige, 


Siebentes  Capitel.     Von    der  Bildung  der  Volkskammer.        511 

die  bayerische  zweite  Kammer  und  der  französische  Ge- 
setzgebungskörper (§.  38)  eine  sechsjährige  (§.  13). 

Die  Gesammterneuerung  ist  zur  Kegel  geworden.  Wo  nur 
Eine  Kammer,  ist  dieselbe  aber  gefährlich,  weil  sie  die  Tra- 
dition der  Statspraxis  plötzlich  unterbricht,  und  oft  ganz  schroffe 
Sprünge  macht  aus  einem  politischen  System  in  ein  anderes. 

9.  In  der  constitutionellen  Monarchie  ist  überdem 
die  Auflösung  der  Volkskammer  zum  Behuf  neuer  Volks- 
wahlen ein  wichtiges  Recht  des  Monarchen,  und  ein  geeignetes 
Mittel  die  Volksstimmung  zu  prüfen,  zuweilen  auch  die  Har- 
monie der  verschiedenen  Theile  des  Gesetzgebungskörpers  unter- 
einander und  mit  der  Regierung  herzustellen. lü 

In  den  repräsentativen  Demokratien  dagegen 
(Nordamerika,  Schweiz),  wird  ein  solches  Recht  der  Re- 
gierung nicht  verstattet,  nicht  weil  dasselbe  als  eine  Be- 
schränkung der  Volksrechte  angesehen  wird,  diese  werden  im 
Gegentheil  durch  die  Auflösung  eher  erweitert,  sondern  um  der 
Eifersucht  willen  auf  die  Macht  der  Regierung,  und  aus  ängst- 
licher Sorge  für  das  höhere  Ansehen  der  Repräsentation. 

10.  Die  Abberufung  einzelner  Deputirter  durch  ihre 
Wähler  aus  dem  Grunde  des  verwirkten  Vertrauens  ist  durch- 
aus unorganisch,  und  für  die  wahre  Stellung  eines  Volksreprä- 
sentanten gefährlich,  indem  derselbe  berufen  ist,  nach  freier 
Ueberzeugung ,  wie  sich  dieselbe  in  der  Kammer  bildet,  zu 
stimmen,  und  sich  als  Repräsentanten  des  ganzen  Volkes,  nicht 
als  Mandatar  seiner  Wähler  zu  benehmen. 

10  Für  England  Blackst.  I.  2,  7.  Belgien,  Verf.  §.71.  Bayern, 
§.23.  Preuszen,  §.  51.  Frankreich  von  1852,  §.46.  Norddeutscher 
Bund  S.  25. 


512     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Korper  und  das  Gesetz. 

Achtes  Capitel. 

Von  der  Bildung  des  Senats  oder  des  Oberhauses. 

Der  Senat  oder  das  Oberhaus  darf  nicht  eine  Wiederholung 
des  Volkshauses  sein,  noch  auf  dem  nämlichen  Princip  wie 
dieses  beruhen.  Der  Statsorganismus  darf  nicht  zwei  Organe 
haben,  welche  beide  dasselbe  thun.  Die  erste  Kammer  musz 
vielmehr,  wenn  sie  eine  Wahrheit  sein  soll,  ein  eigenthüm- 
liches  politisches  Princip  für  sich  und  eine  besondere  Aufgabe 
zu  erfüllen  haben. 

Ihre  natürliche  Bestimmung  ist  es,  die  aristokrati- 
schen Elemente  im  State  zu  vertreten,  wie  die  der  Volks- 
kammern, den  Demos  zu  repräsentiren.  Sie  ist  eine  Mittel- 
macht zwischen  dem  Statsoberhaupt  und  der  Volksmehrheit, 
welche  ihre  Stärke  nicht  von  dieser  ableitet,  sondern  in  sich 
selber  und  in  den  ausgezeichneten  Eigenschaften  hat,  auf  wel- 
chen sie  beruht  Ihr  liegt  die  Qualität  ganz  und  gar,  nicht 
die  Quantität  zu  Grunde.  Die  Auszeichnung,  die  au  und 
für   sich  schon    eine  politische  Macht  ist  ,    ist    ihre   Unterlage. 

•  hört  in  dieselbe  daher  nur  die  wirkliche  Aristo- 
kratie, welche  im  Lande  ist,  aber  auch  alle  wahre  Aristo- 
kratie, die  sieh  darin  findet. 

1.  Die  Einrichtung  in  Norwegen,  nach  welcher  das 
Grosz-Ding  der  Yolksivpräsentanten  aus  seiner  Mitte  einen 
Viertheil  der  Mitglieder  erwählt,  und  diese  zum  Lag-Ding, 
den  Ueberrest  als  Odels-Ding  constituirt  (Verf.  §.  74  (T.)i 
zeigt  das  Bedürfnisz  zweier  Kammern,  aber  gewährt  demselben 
keine  Befriedigung.  Wie  soll  ein  Viertheil  einer  gleichartigen 
Versammlung  den  drei  Viertheilen  als  besondere  Kammer  gegen- 
über, und  nötigenfalls  auch  entgegentreten  können?  Können 
aber  die  beiden  Abtheilungen  sich  nicht  verständigen,  so  treten  sie 
zusammen  und  dann  entscheidet  die  Mehrheit  voirzwei  Drit- 
tneilen. 

Auch  der  belgische  Senat,  welcher    von  den    nämlichen 


Achtes  Capitel.     Von   der  Bildung  des  Senats   oder  Oberhauses.    513 

Wählern  bestellt  wird,  wie  die  Kammer  der  Volksrepräsen- 
tanten, hat  mit  dieser  die  Unterlage  gemein,  unterscheidet  sich 
aber  insofern  von  dieser,  als  seine  Mitglieder  ein  höheres  Alter, 
40  Jahre,  und  ein  groszes  Vermögen,  mit  einem  Steuerbetrag 
von  G-.  1000,  haben  müssen,  und  nicht  blosz  auf  4,  sondern 
auf  8  Jahre  gewählt  werden  (§.  55,  56).  Aehnliche  Einricht- 
ungen, meistens  mit  noch  weiter  gehender  Abschwächung  der 
Unterschiede  zwischen  Kepräsentanten  und  Senatoren,  kommen 
in  denEinzelstaten  Nordamerika' s  vor.  Sie  bleiben  alle 
hinter  dem  obigen  Princip  zurück,  dem  sie  sich  von  demokra- 
tischem Boden  her  nur  schüchtern  und  auf  Umwegen  annähern. 

2.  Durchaus  eigentümlich  und  nur  in  Bundeskörpern  oder 
zusammengesetzten  Keichen  denkbar,  ist  der  Senat  der  nord- 
amerikanischen und  der  Ständerath  der  schweizer- 
ischen Bundesverfassung  von  1848  organisirt.  In  ihnen 
sind  die  Einzelstaten  als  politische  Mächte,  nicht  eine  aus- 
gezeichnete Minderheit  der  Nation  vertreten.  In  jenen  beiden 
Häusern  wird  somit  nicht  das  Volkshaus  durch  ein  aristokra- 
tisches Haus,  sondern  es  wird  die  gemeinsame  Nationalreprä- 
sentation durch  die  Versammlung  der  verbündeten  Statsindivi- 
dualitäten  ergänzt  und  besckränkt.  In  beiden  Bundesverfass- 
ungen sind  die  Stateu  gleichmäszig  je  durch  zwei  Mitglieder 
vertreten.  Der  Bundesrath  im  norddeutschen  Bund  ist 
eher  eine  Art  Bundesregierung,  nicht  ein  Statenhaus,  aber  dient 
doch  einiger  Maszen  anstatt  eines  Statenhauses. 

3.  Die  Qualitäten,  welche  bei  der  Bildung  des  Ober- 
hauses in  Betracht  kommen,  sind  verschieden,  je  nach  der  Art 
der  Nation  und  den  Zeiten.  Wie  immer  sie  aber  bestimmt 
werden,  die  Repräsentanten  derselben  müssen  vorzugsweise  p  o- 
litisch  gebildet  und  durchdrungen  sein  von  dem  Pflicht- 
gefühl gegen  den  Stat  und  das  Volk.1  Die  wichtigsten  Mo- 
mente scheinen  folgende  zu  sein : 

1  Vgl.  darüber  besondei'3   die  Ausführung   yon  Gneis t,   Engl.  Ver- 
fassungsrecht. 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.    I.  33 


514      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

a)  Wo  es,  wie  in  England,  eine  mächtige  und  gesicherte 
Erbaristokratie  gibt,  verdient  dieselbe  voraus  Berücksichtig- 
ung. Sie  bildet  den  Kern  des  englischen  Oberhauses,  und 
verleiht  demselben  vorzüglich  ein  historisches  Ansehen  und 
eine    feste   Haltung  in    dem  Wechsel   der  Lebensströmungen. 

Ohne  Vermögen  und  ohne  Erfrischung  aus  dem  Volke, 
dem  sie  nicht  als  geschlossene  Kaste  entgegensteht,  sondern 
mit  dem  sie  verbunden  und  verwachsen  sein  musz,  wie  die 
Berge  mit  den  Ebenen,  kann  dieselbe  am  wenigsten  in  unsern 
Tagen  bestehen.  In  Deutschland  sind  zwar  noch  brauch- 
bare Elemente  einer  solchen  Aristokratie  vorhanden,  aber  nur 
eine  gründliche  Adelsform2  hätte  dieselbe  in  ihrer  Keinheit 
und  Stärke  herstellen,  und  für  den  Stat  gewinnen  können. 
Diese  Reform  ist  aber  zur  rechten  Zeit  nicht  vollzogen  worden. 

b)  Die  Erbaristokratie  ist  gewöhnlich  auch  Grundaristo- 
kratie. In  neuerer  Zeit  wird  zuweilen  von  jener  abgesehen 
und  der  Nachdruck  auf  diese  gelegt,  zuweilen  letztere  zu  einer 
bloszen  Vermögensaristokratie  erweitert.'5  Vieles  hängt  hier 
von  der  Natur  des  Landes  und  des  Lebens  ab.  In  Handeis- 
staten genieszt  das  bewegliche  Vermögen  nicht  geringeres  An- 
sehen als  der  Grundbesitz.  In  Ackerbaustaten  hat  dieser  den 
entschiedenen  Vorzug.  Für  die  conservative  Bedeutung  des 
Senats  ist  jedenfalls  groszes  Gr  undeigenthu  m  und  vor- 
züglich   erbliches    eine   der   sichersten   Grundlagen.4     Ein 

*  Vgl.  darüber  Stahl's  Rede  zu  Berlin  vom  22.  Nov.  1849,  und 
meine  Rede  zu  München  vom  5.  Juli  1850,  vorzüglich  aber  den  Artikel 
Adel  im  deutschen  Statswörterbueli. 

3  Der  Entwurf  der  belgischen  Verfassung  hatte  für  die  Senatoren 
eine  Grundsteuer  von  10Q0  fl.  gefordert,  die  Verfassung  selbst  begnügt 
sich  aber  mit  einer  Vermögenssteuer  von  diesem  Betrag  (§.  56).  In 
Portugal  (Verf.  von  1838)  wird  ein  Einkommen  aus  Grundbesitz  von 
2600  Milreis,  und  aus  Geschäften  von  4000  Milreis  gefordert. 

4  E.  Burke,  Betrachtungen  über  die  franz.  Revolution.:  „Das  cha- 
rakteristische Wesen  des  Eigenthum3,  welches  auf  der  Verbindung  der 
Principien  seines  Erwerbs  und  seiner  Erhaltung  beruht,  ist  die  Ungleich- 
heit.    Die  groszen  Vermögensmassen,  welche  den  Neid  erregen  und  die 


Achtes  Capitel.    Von  der  Bildung  des  Senats  oder  Oberhauses.     515 

Erbrecht,  welches  einen  Gütercomplex  der  Familie  bewahrt, 
und  stets  in  Einer  Hand  concentrirt,  wie  das  englische  Kecht 
der  Erstgeburt  oder  das  deutsche  Institut  der  Familienstift- 
ungen, begründet  und  erhält  eine  erbliche  Pairie,  stärkt 
ihre  Macht  und  befestigt  ihre  Würde. 

Der  grosze  Grundbesitz  wirkt  aber  auch  ohne  diese  erb- 
rechtliche Geschlossenheit  als  freies  Eigenthum,  welches 
der  heutigen  Wirthschaft  besser  zusagt,  in  derselben  Weise. 
Daher  begründen  manche  neuere  Verfassungen  die  Vertretung 
im  Oberhaus  einfach  auf  den  groszen  Grundbesitz  überhaupt. 
Die  Unterscheidung  zwischen  adelichen  und  bürgerlichen  Ritter- 
gutsbesitzern hat  heut  zu  Tage  keinen  Sinn  mehr,  und  ist 
daher  mit  Recht  auch  in  den  österreichischen  Landesverfass- 
ungen seit  1861  aufgegeben  worden. 

Gröszere  Bedenken  hat 

c)  die  Vertretung  des  Reichthums  überhaupt,  auch  des 
beweglichen  Vermögens.  Der  Reichthum  für  sich  allein, 
wenn  er  nicht  durch  Verdienste  um  die  Nationalinteressen  ge- 
adelt wird,  ist  keine  aristokratische  Eigenschaft.  Er  ist  dann 
nur  durch  die  Quantität  hervorragend,  nicht  durch  die  Quali- 
tät ausgezeichnet ,  und  es  kann  sich  auf  ihn  geradezu  die 
wucherliche  Aussaugung  der  nationalen  Kräfte  gründen  oder 
doch  ein   spieszbürgerliches   Brozenthum    sich   damit  spreizen. 

Raubsucht  reizen,  müssen  daher  auszerhalb  der  Möglichkeit  der  Gefahr 
gesetzt  werden.  Dann  bilden  sie  einen  natürlichen  Wall  um  die  kleineren 
Vermögen  in  allen  Stufen.  Die  nämliche  Vermögensmasse,  welche  durch 
den  Lauf  der  Dinge  unter  die  Menge  vertheilt  wird,  hat  nicht  dieselbe 
Wirkung.  Ihre  Widerstandskraft  wird  geschwächt,  indem  sie  ausge- 
breitet wird.  Die  Macht,  unser  Vermögen  in  unsern  Familien  fortzu- 
setzen, ist  eines  der  gewichtigsten  und  bedeutendsten  Verhältnisse  für 
die  Familie,  und  trägt  in  vorzüglicher  Weise  zu  der  Fortpflanzung  des 
States  selbst  bei.  Die  Besitzer  des  Famlienreichthums  und  die  Inhaber 
der  ausgezeichneten  Lebensstellung,  welches  erbliches  Gut  gewährt,  sind 
die  natürlichen  Wächter  für  jene  Fortpflanzung.  Unser  Oberhaus  be- 
ruht auf  diesem  Princip.  Es  ist  ganz  auf  erbliches  Vermögen  und  erb- 
liche Auszeichnung  gegründet." 

33* 


51G      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Aber  die  Geschichte  Venedigs  und  der  deutschen  Hanse- 
städte beweist,  dasz  es  auch  eine  auf  grosze  Kaufmannschaft 
gegründete  Aristokratie  gibt:  und  in  den  modernen  Verhält- 
nissen finden  wir  oft  grosze  Kaufleute,  Fabrikanten  und 
Banquiers,  welche  sich  auszeichnen  nicht  blosz  durch  die 
Vermögensmacht,  die  ihnen  zur  Verfügung  ist,  sondern  ebenso 
durch  einen  weitsichtigen  politischen  Blick  und  eine  opferbe- 
reite Volks-  und  Vaterlandsliebe.  Die  Berücksichtigung  dieses 
Elements  neben  dem  groszen  Grundbesitz  dient  daher  in  unsrer 
Zeit  zu  einer  zeitgemäszen  Ergänzung  und  Correctur. 

d)  Die  Aristokratie  der  statlichen  Würden  und 
Aemter  war  vorzugsweise  in  dem  Senate  der  römischen 
Republik  vertreten,  der  in  manchen  Beziehungen  auch  die 
Bedeutung  eines  Oberhauses  hatte.  In  England  waren  an- 
fänglich die  meisten  Lords  zugleich  öffentliche  Beamte  und  ist 
die  Zuziehung  der  XII  Oberrichter  in  das  Oberhaus  mit 
berathender  Stimme  von  der  Art.  Die  obersten  Richter 
verdienen  vorzugsweise,  um  ihrer  Rechtskunde  und  der  be- 
währten Hebung  in  dem  Schlitze  der  Rechtsordnung  willen, 
bei  der  Bildung  des  Oberhauses  berücksichtigt  zu  werden.  In 
Spanien  wurden  durch  die  Verfassungsänderung  von  1845 
vorzugsweise  die  Präsidenten  und  Mitglieder  der  Codes,  mit 
unabhängiger  Vermögensfftelhing,  und  ebenso  die  hohen  Beamten 
und  Würdeträger  des  Reichs,  Minister,  Statsräthe,  Gesandte, 
Präsidenten  und  Beisitzer  der  obersten  Gerichtshöfe  neben  den 
Granden  und  reichen  Adeligen  für  fähig  erklärt,  in  den  Senat 
ernannt  zu  werden.  Die  Napoleonischc  Verfassung  von 
1852  (§.  20)  erklärt  die  Marschälle  und  Admiralr  des  Reichs 
neben  den  Kardinälen  zu  Senatoren. 

e)  Oefter  wird  in  den  ersten  Kammern  der  hohen  Geist- 
lichkeit, insbesondere  den  Bischöfen  eine  Stellung  ange- 
wiesen, mit  Recht,  insofern  die  hohen  Würdeträger  der  Kirche 
eine  grosze  psychische  Macht  im  State  vertreten  ,  und  ge- 
wöhnlich  mit  groszer   Autorität  aucli    vor  dem    Volke    ausge- 


Achtes  Capitel.  Von  der  Bildung  des  Senats  oder  Oberhauses.   517 

rüstet  sind.  Das  englische  Oberhaus  ist  auch  der  Sitz  der 
englischen  Bischöfe,  freilich  nur  einseitig  der  anglicanischen, 
nicht  auch  der  katholischen  Kirche.  Ebenso  gibt  die  öster- 
reichische Verfassung  von  1861  den  Erzbischöfen  und  den 
Bischöfen,  welchen  fürstlicher  Bang  zukommt,  Sitz  und  Stimme 
im  Herrenhause,  mehrere  andere  deutsche  Verfassungen 
neben  den  katholischen  Bischöfen  auch  einem  Repräsentanten 
der  protestantischen  Kirchenleitung. 

f)  Auch  die  Wissenschaft  ist  eine  geistig  ausgezeich- 
nete Macht,  und  hat,  insofern  sie  eine  statliche  Bedeutung  inne 
hat,  wie  in  den  Akademien  und  auf  den  Universitäten,  ein 
natürliches  Recht  auf  einen  Sitz  inmitten  der  Aristokratie  der 
Nation. 

g)  Endlich  ist  die  Erhebung  in  das  Oberhaus  ein  würdiger 
Preis  für  Männer,  die  sich  um  den  Stat  und  die  Nation  grosze 
Verdienste  erworben  haben,  und  zugleich  gewinnt  dasselbe  durch 
die  Aufnahme  einer  individuellen  Verdienstaristo- 
kratie an  geistigen  und  moralischen  Kräften  sowohl,  als  an 
Autorität  vor  der  Nation. 

4.  Weniger  wichtig,  als  dasz  die  rechten  Qualitäten  er- 
kannt und  berücksichtigt  werden,  sind  die  Formen,  wie  die 
Mitglieder  des  Hauses  bezeichnet  werden: 

a)  Die  Wahl,  für  das  Unterhaus  Regel,  ist  hier  minder 
anwendbar,  indem  die  aristokratische  Qualität  nicht  aus  der 
Quantität  hervorgeht,  sondern  in  sich  selber  ihre  Stärke  hat. 
Auch  darin  entsprechen  die  belgische  und  die  portugie- 
sische (seit  1838)  Verfassung,  welche  den  Senat  nur  durch 
Wahl  bestellen,  der  Idee   nicht. 

Nur  wo  die  Wähler  selbst  schon  durch  aristokratische 
Eigenschaften  ausgezeichnet  sind,  wie  z.  B.  die  groszen  Grund- 
besitzer, die  Groszindustriellen  oder  die  Corporationen  der 
Universitäten,  ist  die  Wahl  einer  Vertretung  im  Oberhause 
begründet. 

b)  das  Erbrecht  setzt  das  Dasein  einer  erblichen  Ari- 


518     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

stokratie  in   der  Nation  voraus,  wie  in  England  die  Lords,  in 
Deutschland  mindestens  die  Prinzen  und  die  Standesherren. 

c)  Die  königliche  Ernennung  ist  in  England  zur 
Ergänzung  der  erblichen  Pairie,*  und  in  dem  franzö- 
sischen System  von  1830  und  von  1852  als  allgemeine  Regel6 
der  Begründung  und  Erhaltung  einer  lebenslänglichen  Pairie 
anerkannt,  Die  p reuszi sehe  Verordnung  vom  12.  Octbr.  1854 
beschränkt  das  königliche  Ernennungsrecht  durch  Präsentationen 
der  aristokratischen  Verbände  und  der  grösseren  Städte.  Das 
österreichische  Grundgesetz  von  1861  weist  auf  die 
Verdienste  um  Stat  oder  Kirche,  Wissenschaft  oder  Kunst  hin, 
welche  der  Kaiser  durch  Ernennung  ehrt.  Der  König  ist  vor- 
zugsweise berufen,  die  national -ausgezeichneten  Eigenschaften 
zu  erkennen  und  zu  ehren.  Insofern  ist  er  ganz  geeignet,  ein- 
zelne Individuen  unter  die  Volksaristokratie,  sei  es  als  Erb- 
pairs,  sei  es  als  lebenslängliche  Pairs,  aufzunehmen.  Aber  es 
darf  nicht  das  ganze  Oberhaus  von  der  königlichen  Macht 
und  Gnade  abhängig  sein,  soll  dasselbe  seine  vermittelnde  Be- 
deutung für  den  König  und  das  Volk  erfüllen. 

d)  Die  Cooptati«>n  *h>*  Hauses  selbst  wurde  in  den 
aristokratischen  Senaten  der  mittelalterlichen  Etaichsat&dtt  viel- 
fach geübt,  und  auch  in  den  Xapoleonischen  Verfassungen  von 
1799  und  1802  zugelassen. 

e)  Verbindung  mit  gewissen  Würden  oder  Folgen 
der  Bekleidung  bestimmter  Aemter.  Das  alt-römische Sjatem 
vornehmlich  hielt  sich  an  diese  Form.  In  Preuszen  berech- 
tigten die  vier  groszen  Landesämter  zum  Sitz  im  Herrenhause. 

Passend  können  auch  verschiedene  Formen  mit  einander 
verbunden  und  neben  einander  gebraucht  werden,  um  das  Ober- 
haus würdig  zu  erfüllen. 

1  Dieselbe  wird  übrigens  oft  geübt.  Man  rechnet  667  Pairien,  die 
von  1700  bis  1820  creirt  worden  sind.  Th.  Ersk.  May,  Verfassnngs- 
gesch.  Englands,  übersetzt  von  Oppenheim  I,  S.    194, 

6  Ebenso  in  Spanien  seit  1845. 


Neuntes  Capitel.  Befugnisse.  A.  Des  ges.  Ge.-,etzgebungskörpers.    519 

5.  Dem  Charakter  der  Institution  entspricht  die  gröszere 
Dauerhaftigkeit  der  Senatoren-  oder  Pairswürden. 

Auch  wo  die  Senatoren  in  der  Regel  gewählt  werden, 
wie  in  den  nordamerikanischen  Einzelstaten  und  in  Belgien, 
werden  dieselben  doch,  verglichen  mit  den  Abgeordneten  der 
Volkskammer,  gewöhnlich  auf  eine  doppelte  oder  dreifache 
Amtsdauer  gewählt-;  dort  z.  B.  auf  2  oder  3  Jahre,  hier  auf 
8  Jahre. 

Das  Grundprincip  der  Institution  erheischt  strenge  ge- 
nommen so  lange  Dauer,  als  die  Qualität  vorhanden 
ist,  worauf  die  Stelle  sich  gründet.  Um  neben  der  Regel  der 
Dauerhaftigkeit  auf  Lebenszeit  auch  die  Möglichkeit  ausnahms- 
weiser  Entartung  zu  berücksichtigen,  hat  bei  den  Römern 
das  Censoramt  vortrefflich  gedient.  Die  Erneuerung  der 
Senatslisten  war  zugleich  Reinigung  derselben.  Sie  dient 
dazu,  die  Institution  vor  Altersschwäche  zu  bewahren  und  die 
Harmonie  mit  der  Volksvertretung  herzustellen. 


Neuntes  Capitel. 

Befugnisse. 
A.    Des  gesammtcn  Gesetzgebungskörpers. 

Der  Gesetzgebungskörper  stellt  die  ganze  Nation  in  Haupt 
und  Gliedern  gleichsam  in  verkürztem  Maszstabe  und  im  Aus- 
zuge dar.  Seine  Macht  ist  daher  eine  innerlich  vollkommene, 
nationale,  deszhalb  aber  nicht  eine  „absolute,"  noch  „des- 
potische." Blacks  tone  freilich  schreibt  dem  englischen  Par- 
lament auch  eine  solche  zu,  und  spricht  von  politischer  „All- 
macht" (omnipotence)  desselben;  und  manche  neuere  Publi- 
cisten  stimmen  ihm  hierin  bei,  indem  sie  eine  absolute  Stats- 


520     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

macht  für  unentbehrlich  oder  für  unvermeidlich,  und  immerhin 
für  ein  geringeres  Uebel  halten,  wenn  sie  dem  genannten  ge- 
setzgebenden Körper,  als  wenn  sie  nur  einem  Individuum  zu- 
geschrieben wird. 

Aber  der  moderne  Stat  kennt  keine  absolute  Macht, 
weil  er  menschlich  ist  und  dem  Menschen  in  seiner  Beziehung 
zum  Menschen  eine  solche  weder  vergönnt  ist  noch  zusagt. 
Auch  die  höchste  Statsmacht  des  Parlaments  hat  in  dem  na- 
türlichen Verhältnisse,  in  welchem  es  zu  dem  englischen  Volke 
steht,  und  in  der  Existenz  anderer  Gewalten  im  State,  ferner 
in  der  politischen  Bestimmung  der  es  dient,  endlich  in  den 
verfassungsmäszigen  Formen  seiner  Verhandlungen  und  Be- 
schluszfassung  vielerlei  sittliche  und  rechtliche  Schranken,  welche 
sie  vor  Willkür  und  Miszbrauch  bewahren.  Die  letzteren  for- 
mellen Beschränkungen  werden  gewöhnlich  anerkannt,  aber 
mindestens  für  die  Gesetzgebung  selbst  wird  Allmacht  des  Parla- 
ments verlangt.  In  der  Segel  gibt  es  in  dem  Statsorganismus 
keinen  Körper  und  kein  Organ,  welche  demselben  übergeordnet 
oder  auch  nur,  soweit  seine  Bestimmung  reicht,  gleichgeordnet 
wären,  und  die  Kegel  musz  das  Siatsrecht  anerkennen,  dasz 
seine  gesetzgeberische  Autorität  die  höchste,  und  dasz  sie 
für  alle  andern  Glieder  und  Angehörigen  des  States  eine  ver- 
pflichtende ist,  der  sie  sich  auf  ordentlichem  Wege  nicht 
entziehen  können.  Aber  wenn  das  Parlament  sein  Verhältnis* 
zu  der  Nation  grob  miszachten  und  wirklich  eine  offenbar  des- 
potische Gewalt  wider  das  wahre  Recht  ausüben  sollte,  so 
würde  das  Uebermasz  des  Miszbrauchs  seiner  Macht  den  auszer- 
ordentlichen  Widerstand  einer  freien  Nation  hervorrufen,  und 
es  bald  klar  werden,  dasz  jene  „Allmacht"  eine  Fiction  sei, 
die  nicht  Stand  hält.  Man  denke  sich ,  dasz  ein  corrumpirtes 
Ober-  und  Unterhaus  von  einem  despotisch  gesinnten  Könige 
bestimmt  würde,  die  Parlamentsverfassung  in  England  aufzu- 
heben, und  diesem  allein  alle  gesetzgebende  Gewalt  zu  über- 
tragen.    So   lange   das  englische  Volk  noch  nicht  völlig  ent- 


Neuntes  Capitel.  Befugnisse.  A.  Des  ges.  Gesetzgebungskörpers-  521 

artet  und  verdorben  ist,  würde  es  sich  eine  solche  Parlaments- 
acte  sicher  nicht  gefallen  lassen. 1 

In  folgenden  Richtungen  äuszert  sich  die  Thätigkeit  des 
gesetzgebenden  Körpers  hauptsächlich : 

1.  Ihm  steht  es  zu,  die  dauernde  Ordnung  des 
States  selbst  festzustellen,  die  Verfassung  der  Nation 
auszubilden,  zu  verbessern,  umzuändern,  bleibende  Institu- 
tionen zu  begründen  oder  aufzuheben,  mit  einem  Worte,  ihm 
gebührt  voraus  die  organische  Gesetzgebung. 

Diese  Befugnisz  ist  in  den  meisten  neueren  Verfassungen 
anerkannt.  In  Nordamerika  aber  concurrirt  mit  dem  Congresz, 
wenn  es  sich  um  Zusätze  zu  der  Bundesverfassung  oder  Ab- 
änderung derselben  handelt,  ein  auszerordentlich  gewählter 
Convent.  In  einzelnen  schweizerischen  Republiken  ist  die  Ab- 
änderung der  Verfassung  geradezu  dem  gewöhnlichen  groszen 
Rathe,  der  sonst  die  gesetzgebende  Gewalt  ausübt,  entzogen, 
und  einem  eigens  für  diesen  Zweck  zu  ernennenden  Verfassungs- 
rathe  vorbehalten.  Erhöhte  Vorsicht  und  strengere  Erforder- 
nisse für  diese  wichtigste  Function  der  Gesetzgebung  haben 
guten  Grund,  aber  die  Begründung  besonderer  Organe  für  die- 
selbe neben  dem  gesetzgebenden  Körper  macht  einen  unorga- 
nischen Eindruck  und  bringt  leicht  Störung  und  Verwirrung  in 
die  bestehende  Statsordnung. 

2.  Er  übt  auch  in  allen  übrigen  Beziehungen  das  Recht 

1  Mit  dieser  letzteren  Auffassung  stimmen  auch  die  englischen  Com- 
mentatoren  ßlackstone's  zu  I.  2,  3  überein  Sie  verweisen  einmal  auf 
das  „angeborene  Volksrecht,"  und  anderseits  darauf,  dasz  die  Macht  des 
Parlaments  ihrem  Wesen  nach  eine  „anvertraute,"  nicht  eine  ursprüng- 
liche sei.  Eine  ganz  entgegengesetzte  und  auch  in  unsern  Tagen  noch 
wahrnehmbare  Gefahr  ist  die  der  Ohnmacht  des  Gesetzes,  die  der  sky- 
thische  Fürst  Anacharsis  schon  in  einem  Gespräche  mit  Solon  (Plu- 
tarch,  Solon  5)  scharf  genug  bezeichnet  hat:  „Die  geschriebenen  Gesetze 
gleichen  Spinngeweben,  welche  die  Schwachen  und  Kleinen  ,  die  hinein- 
gerathen,  festhalten,  aber  von  den  Eeichen  und  Mächtigen  zerrissen 
werden." 


522     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

der  Gesetzgebung  in  vollem  Umfange  aus,  und  ordnet  so- 
wohl das  öffentliche  als  das  Privatrecht. 

Er  allein  spricht  das  Gesetz  (loi)  aus.  Die  Kegierung 
dagegen  unter  Umständen  auch  andere  Verwaltungsbehörden 
erläszt  die  Verordnung  (ordonnance,  decret).  Auf  diesem 
organischen  Gegensatz  der  Autoritäten  beruht  zunächst  der 
Unterschied  zwischen  Gesetz  und  Verordnung.  Jenes  ist  der 
Willensausdruck  des  Gesetzgebers,  diese  der  Verwaltung. 
In  der  Kegel  kann  daher  das  Gesetz  nur  durch  die  Ueber- 
einstimmung  aller  Factoren  der  gesetzgebenden  Gewalt  (König 
und  Kammern,  Congresz  u.  s.  f.)  zu  Stande  kommen.2  In  der 
Verordnung  dagegen  spricht  sich  die  Autorität  der  Regierung 
oder  einer  andern  Behörde  aus. 

Offenbar  ist  die  Autorität  des  Gesetzes  die  höhere,  weil  sich 
in  ihm  der  Wille  der  Gesammtrepräsentation  des  ganzen 
Stats  ausspricht,  die  der  Verordnung  die  mindere,  weil  sie  nur  auf 
der  Autorität  eines  einzelnen  Gliedes  der  Staatsgewalt,  wenn 
auch  vielleicht  der  obrigkeitlichen  Gewalt  beruht. 

Dem  Inhalte  nach  treffen  die  beiden  Gebiete  keineswegs 
zusammen.  Vielmehr  dürfen  eine  Reihe  der  wichtigsten  Ver- 
hältnisse nach  den  meisten  Verfassungen  nur  durch  die  Ge- 
setzgebung nicht  durch  die  Verordnung  geregelt  werden. 
Dahin  gehören  zumeist: 

a)  die  wichtigeren  s tatlichen  Institutionen  und  die 
Grundrechte, 

b)  das  gesammte  Privatrecht  und  die  Civilprocesz- 
Ordnung, 

c)  das  Straf  recht  und  die  Ordnung  des  Strafver- 
fahrens, 

1  In  mehreren  deutschen  Staten  steht  dorn  König  auch  da?  Recht 
zu,  in  dringlichen  Fällen  sogenannte  p  ro  visoris cli  e  Gesetze  zu  erlassen, 
die  aber  nur  insofern  ihre  Rechtsgültigkeit  behaupten  können,  als  die 
beiden  Kammern  in  nächster  Versammlung  zustimmen  und  hinfällig 
werden,  wenn  eine  derselben  die  Zustimmung  verweigert.  Vgl.  v.  Rönne 
in  Aegidis  Zeitschr.  f.  D.  Statsrecht.     Bd.  I.  H.    3. 


Neuntes  Capitel.  Befugnisse.  A.  Des  ges.  Gesetzgebungskörpers.  523 

d)  alle  Auflagen  von  Steuern  und  die  Feststellung  des 
Statshaushalts, 

e)  die   Grundbestimmungen  über  die  Militärpflicht. 
Ueberdem  musz,  soweit  die  Gesetzgebung  die  Verhältnisse 

ordnet,  die  Verordnung  das  beachten  und  wird  demgemäsz  der 
Bereich  der  Verordnung  eingeschränkt. 

Die  Gesetze  selber  machen  unter  Umständen  weitere  Ver- 
ordnungen nöthig,  theiis  zum  Behuf  des  Vollzugs  (Voll- 
zugsverordnungen)', theils  zur  E  r  g ä n zu  ng  der  Lücken  der 
Gesetze,  besonders  in  den  Verhältnissen,  die  einem  öftern 
Wechsel  unterworfen  sind. 

Daneben  bezieht  sich  eine  dritte  und  die  zahlreichste  Classe 
der  Verordnungen  auf  einzelne  statliche  Kichtungen, 
—  z.  B.  die  Finanzverwaltung,  polizeiliche  Beziehungen,  Vor- 
schriften für  die  Heeresordnung  —  und  nicht  auf  die  Verhält- 
nisse der  gesammten  Nation,  welche  vorzugsweise  durch  das 
Gesetz  geordnet  werden.3 

Nicht  unpassend  werden  die  allgemeinen  Verordnungen, 
welche  in  näherer  Beziehung  zu  der  Gesetzgebung  stehen,  nach 
manchen  Verfassungen  der  regelmäszigen  Controle  des  gesetz- 
gebenden Körpers  unterworfen. 

Die  Ausbildung  dieses  Gegensatzes  gehört  erst  der  neuern 
Zeit  an:  und  auch  nun  sind  die  einen  Völker  eifriger  als 
die  anderen,  den  Bereich  der  Gesetzgebung  auszudehnen  und 
den  der  Verordnungen  einzuschränken.  Die  Besorgnisz  vor 
der  Willkür  der  Kegierungsgewalt  ist  die  eine,  das  Interesse 
der  öffentlichen  Wohlfahrt,  dasz  die  Wirksamkeit  der  Regierung 
nicht  gelähmt  und  der  gesetzgebende  Körper  nicht  zu  einem 
regierenden  und  verwaltenden  verdorben  werde,  die  entgegen- 
gesetzte Rücksicht,  welche  bei  der  Bestimmung  der  Gränzen 
zwischen  beiden  vorzüglich  in  Betracht  kommen.    In  England 

3  Vgl.  die  Ausführung  bei  Stein  Verwaltungslehre.  Stuttg.  1865. 
Bd.  I.  S.  62  f.,  welcher  übrigens  den  Gegensatz  meines  Erachtens  zu 
formel  faszt,   und  daher  das  Gebiet   der   Verordnung   zu  weit  ausdehnt. 


524     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

wird  die  Gesetzgebung  durch  ein  üebermasz  von  Einzelheiten 
beladen  und  verwirrt;  in  Frankreich  pflegt  das  Gesetz  nur  die 
allgemeinen  Grundsätze  festzustellen  und  alles  Detail  den  Or- 
donnanzen und  Decreten  zu  überlassen. 

In  den  früheren  Jahrhunderten  des  Mittelalters  wurde  der' 
Nachdruck  eher  auf  den  Gegensatz  zwischen  hergebrachtem 
Kecht  und  Neuerungen  gelegt.  Nur  die  letztern  bedurften 
in  der  Regel  der  Zustimmung  der  Sünde. l 

3.  Dem  Gesetzgeber  kommt  in  den  meisten  neuern  Stuten 
auch  das  ausschlieszliche  Recht  zu,  Steuern  und  Abgaben 
zu  bewilligen,  oft  auch  der  Entscheid  über  die  Verwendbar- 
keit der  öffentlichen  Einnahmen  zu  bestimmten 
Statswerken,  und  die  Erlaubnis/,  zur  Benutzung  des 
Laudescredits,  sei  es  durch  Aufnahme  von  Darlehen,  sei 
es  in  anderer  Form. 

Diese  practisch  «richtige  Seite  der  Thätigkeit  des  gesetz- 
gebenden Körpers  war  den  römischen  Comitien  fremd  ge- 
blieben und  vornehmlich  den  Magistraten  und  der  Autorität 
des  Senates  überlassen  worden.  Die  germanischen  Völker  aber 
haben  von  jeher  auf  die  Rechte  »1er  Repräsentation  in  dieser 
Beziehung   den   gröszten    Werth    gelegt.     Anfänglich    war  die 

4  Einige  Bauptstellen  mögen  die  Verbreitung  dieser  a.uffassung  be- 
urkunden, ai  für  die  fr&nkisohe  Monarchie  Capit.  Garoli  M.  a.  803, 
c  1;<:  „l'i  populus  interrogetur  de  oapitulis,  quae  in  lege  noviter  addita 
sunt:  ei  postquam  omnes  oonsenserini,  snbsoriptioues  —  faciant.  Ed. 
Oaroii  Cakri  a  864,  o.  6:  »Lei  consentn  populi  St  et  constitutione  Re- 
gig.- in  Für  die  deutschen  Linder  Reichsgeseti  ron  1231:  „Saper 
qua  re  reqnisitd  oonsensn  prinoipum  i'uit  taliter  diffinitum,  oft  neque 
principe*  neque  cUii  quilibet  constitutione*  v<I  nova  jura  facere  possint, 
ni-'i  meliomm  et  majorani  terre  consensm  primitaa  uabeatur,B  Vgl. 
Ungcr,  Geschichte  der  Landstände  II,  S.  188  ff.  c)  Für  England 
Fleta  über  das  sächsische  Witenagemot,  das  berufen  sei,  „novis  injurUi 
emersis  nova  constituere  remedia.*  d)  Für  Frankreich.  Alte  Cou- 
turae  von  Anjou,  eitirt  von  Schaffner,  braus.  Reohtsgeso)*  II,  170: 
Ne  le  Roy  sans  assentement  e  Barons  ue  peul  mettrt  o&uitwM  en  leurs 
terres  —  ne  ils  la  pevent  auxi  mettre  cn  la  leur  sans  lassentement  de 
leurs  Valvasseuri  ne  de  la  greignour  partie  du  peuple.a 


Neuntes  Capitel.  Befugnisse.  A.  Des  ges.  Gesetzgebungskörpers.   525 

Zustimmung  der  Staude  auch  hier  nur  für  die  Auflage  neuer 
Steuern  und  Lasten 5  gefordert  worden.  Später  erst  ent- 
wickelte sich  das  Steuerbewilligungsrecht  der  Landesvertretung 
zu  einem  Antheil  an  der  Normirung  des  gesammten  Stats- 
haushalts. 6 

4.   Die  Abschlieszung  von  Stats vertragen   mit   frem- 

6  Englische  Magna  Charta  von  1215:  „Nulluni  scutagium  (lehens- 
reclitliche  Kriegssteuer)  vel  auxilium  ponatur  in  regno  nostro,  nisi  per 
commune  consilium  legni  nostri,  nisi  ad  corpus  nostrum  redimendum  et 
primogenitum  filium  nostrum  militcm  faciendum,  et  ad  filiam  nostram 
primo^enitam  semel  maritandam."  Freiheitsbrief  König  Eduards  I. 
von  England  von  1297:  „avuus  dites  graunto  pur  nos  heyrs  que  mes 
teles  aydes  mises  ne  prises  uc  trerroms  a  coustume  par  nule  chose  que 
soit  fayte"  (die  zuletzt  B<  zogenen  auszerordentliohen  Steuern  sollen  nicht 
in  Gewohnheitsabgaben  umgewandelt  werden  dürfen):  wenn  Bedürfnisse 
zu  solchen  wiederkehren,  so  verspricht  der  König  nur  „par  comraun 
assent  de  tout  le  Roiaume"  Steuern  zu  erheben  „da  commun  profist  de 
meismes  te  Roiaume,  sauve  /-■>■  ancienes  aydes  eprises  dues  e  acoustu>iiees.it 
Die  alte  Chronik  der  Normandie  über  die  Zeit  Wilhelms  des  Eroberers  : 
„En  ce  fait  avez  be-oing  de  l'ayde  et  du  conseil  de  vos  amis ;  si  le  faites 
tous  a>sembler  et  lenr  remonstrez  vostre  fait,  et  les  re({uerez  de  ce  qui 
vous  e»t  necessairej  et  be3oigniez  par  leur  conscil;  car  raison  est,  que 
qui  paie  Vescot (Schoosz),  quHl  so/t  ä  V'asseoir."  Sachsenspiegel  III, 
Dl,  §.  3:  „He  ne  mut  ok  neu  gebot,  noch  hei  berge,  noch  beedc  de- 
nest,  noch  recht  uppe't  bind  äetten,  is  ne  willekore  dat  land." 
Das  Sprichwort  der  deutschen  Stände: 

..  Wo   Wir  nicht  niitrathen, 
Wir  auch  nicht  mitthaten" 
hat  einen  ähnlichen  Sinn. 

6  Nordamerikanischc  Bundesverfassung  von  17871,  8:  „Der  Con- 
gresz  hat  das  Recht,  Taxen,  Abgaben,  Auflagen  und  Accisen  aufzulegen 
und  zu  erheben,  Geld  zu  borgen  auf  den  Credit  der  Yereinigten  Staten, 
Geld  zu  münzen4'  u.  s.  w.  Bayerische  Verfassung  von  1818  VII, 
§.  3:  „Der  König  erholt  die  Zustimmung  der  Stände  zur  Erhebung  aller 
directen  Steuern,  sowie  zur  Erhebung  neuer  indirecten  Auflagen  oder  zu 
der  Erhöhung  oder  Veränderung  der  bestehenden."  §.  4:  „Den  Ständen 
wird  daher  nach  ihrer  Eröffnung  die  genaue  Uebersicht  des  Statsbedürf- 
nisses  sowie  der  gesammten  Statseinnahmen  (Budget)  vorgelegt  werden." 
Preuszische  Verfassung  von  1850  I,  §.  99:  „Alle  Einnahmen  und  Aus- 
gaben des  Stats  müssen  für  jedes  Jahr  zum  voraus  veranschlagt  und  auf 
den  Statshaushalt-Etat  gebracht  werden.  Letzterer  wird  jährlich  durch 
ein  Gesetz  festgestellt." 


526     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

den  Staten  ist  in  den  neueren  Verfassungen  gewöhnlich  der 
Competenz  des  gesetzgebenden  Körpers  entzogen  und  der  der 
Regierung  zugetheilt.  Obwohl  durch  dieselben  allerdings 
oft  dauernde  Verhältnisse  der  ganzen  Nation  geregelt  werden, 
so  hat  doch  hier  vorzüglich  die  Rücksicht  überwogen,  dasz  die 
Statsinteressen  im  Verhältnis  zu  fremden  Staten  besser  durch  eine 
concentrirte  und  im  Stillen  ihre  Beschlüsse  fassende  und  ihre  Maß- 
regeln treffende  Macht  geordnet  werden,  dasz  dagegen  die  öffent- 
liche Verhandlung  in  dem  gesetzgebenden  Körper  leicht  die  Schwie- 
rigkeiten der  Regelung  vergrßszern  und  demso  handelnden  State 
neue  Verlegenheiten,  Gefahren  und  Nachtlieile  bereiten  könnte.7 
Im  Altertlium  dagegen  ist  die  entgegengesetzte  An- 
sicht, dasz  die  Statsverträge  zu  ihrer  unbezweifelten  Gül- 
tigkeit auch  der  Zustimmung  des  Volks  bedürfen,  vorherrschend,8 
und  im  Mittelalter  wurde  auch  oft  der  Kath  oder  die  Ein- 
willigung der  Stände  nftthig  erfunden.9 

7  Für  England  Klacks  t  I.  7,  2.  Seilet  in  der  nur  da  nie  r  i  k  a- 
nisohen  BundeSYerfassung  ist  das  Recht  Btatsrertr&ge  ia  loUiesuea 
dem  Präsidenten  vorbehalten,  and  derselbe  nur  an  die  „Zustimmung 
des  Senates,1'  nicht  anefa  der  Reprisentanten  gebunden.  H,  2  Was- 
hington in  Beiner  Botschaft  ron  30.  Mir/  1796:  »Die  Verhandlungen 
mit  auswärtigen  Hftohten  erfordern  Disoretion,  ihr  Erfolg  hängt  fast 
immer  von  dem  Gteheimnisi  ab.  Selbst  wenn  dieselben  in  einem  End- 
resultate gebracht  sind,  wäre  die  sofortige  Enthüllung  der  lCissregelo, 
Begehren  und  Zugeständnisse,  welche  vorgeschlagen  oder  erwartet  werden, 
unpolitisch,  und  könnte  einen  verderblichen  Einflusz  auf  die  künftigen 
Verhandlungen  haben  oder  eine  nnrersQgliche  Dmstimmung  bei  den 
Mächten  hervorrufen." 

8  In  Athen  wmd. Mi  sogar  die  fremden  Qesaadteu  von  der  Volksrer- 
lasnmluag  angehört  In  Rom  kam  dal  Prinoip,  dasz  die  Comitien  zu- 
stimmen müssen,  erst  seit  den  Kriegen  mit  den  Bamnitem  auf.  Hatte 
das  Volk  nicht  zugestimmt,  so  konnte  es  lieh  duroh  Deberliereruag  der 
abschließenden  Magistrate  an  (\<'\\  Feind  ron  leinen  Verpflichtungen  be- 
freien. Vgl.  die  ausführliche  Untersuchung  Rubino'fl  (roa.  Verf.  und 
Gesch.)  I,  S.  274  ff.,  280. 

J  Ungar,  Gesch.  der  Landst.  I,  96  ff.,  II,  332  ff.  So  für  Bayern 
die  Primogeniturordnung  v.  1506:  „Wir  —  als  regierende  Fürsten  -ollen 
und  mögen  kriegen,  wie  wir  uns  und  eine  gemeine  Landschaft  dessen 
miteinander  vertragen." 


Zehnte?  Capitel     B.  Befugnisse  aller  einzelnen  Bestandteile.    527 

Unter  den  neuern  Verfassungen  hatte  ausnahmsweise  die 
französische  von  1848  dem  Präsidenten  zwar  die  Unter- 
handlung und  Genehmigung  der  Verträge  auch  überlassen, 
aber  die  vorherige  Billigung  der  Nationalversammlung  für  ein 
notwendiges  Erfordernisz  der  Gültigkeit  derselben  erklärt 
(Art.  52),  und  haben  die  schweizerischen  Verfassungen 
durchweg  die  Genehmigung  der  Verträge  den  repräsentativen 
Körpern  vorbehalten.  (Bundesverf.  Art.  73.  5.)  Insofern  die 
Ausführung  von  Statsverträgen  aber  die  Rechtssphäre  auch  der 
einzelnen  Einwohner  betrifft,  oder  in  die  Gesetzgebung  ein- 
greifen, bedürfen  sie  der  Mitwirkung  des  Gesetzgebers. lu 


Zehntes  Capitel. 

li.    Befugnisse  aller  einzelnen  Bestandtlifile. 

1.  Das  Recht,  einen  in  die  Competenz  des  Gesetzgebungs- 
körpers gehörigen  Gegenstand  in  Anregung  zu  bringen,  steht 
regelmäszig  allen  Theilen  des  Körpers  zu.  Sie  kann  eine  Bitte 
sein  (Petition),  zur  Vorbereitung  eines  Gesetzesantrages,  wie 
nur  diese  gewöhnlich  den  deutschen  Kammern  vor  1848  dem 
Statsoberhaupte  gegenüber  zukam,1    oder  eine  Empfehlung, 

10  Belgische  Verf.  §.  G8.  Die  Handelsverträge,  sowie  diejenigen 
Verträge,  welche  den  Stat  belasten  oder  einzelne  Belgier  verpflichten, 
haben  nur  Kraft,  wenn  sie  die  Zustimmung  der  Kammern  erhalten. 
Griechische  Verf.  §.  25:  „Immerhin  sind  Handelsverträge  oder  alle 
andern  Verträge,  welche  Bestimmungen  enthalten,  die  der  Sanction  eines 
Gesetzes  bedürfen  oder  die  Griechen  persönlich  verpflichten,  nur  aus- 
führbar, insofern  sie  die  Zustimmung  der  Deputirtenkammer  und  des 
Senates  erlangen."  Norddeutsche  Bundesverf.  11:  „Insoweit  die 
Verträge  mit  fremden  Staten  sich  auf  solche  Gegenstände  beziehen, 
welche  nach  Art.  4  in  den  Bereich  der  Bundesgesetzgebung  gehören,  ist 
zu  ihrem  Abschlusz  die  Zustimmung  des  Bundesrates  und  zu  ihrer 
Gültigkeit  die  Genehmigung  des  Reichstages  erforderlich." 

1  Vgl.  schon  die  französische  Verfassung  von  1814.  Art.  19—21. 


528     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

wie  sie  in  England  durch  die  Botschaft  des  Königs  an  die 
beiden  Häuser  und  in  Amerika  durch  die  Botschaft  des  Prä- 
sidenten an  den  Congresz  geschieht,  einen  Gegenstand  in  Be- 
rathung  zu  ziehen,  oder  ein  Auftrag,  beziehungsweise  Befehl 
zur  Berichterstattung  und  Antragstellung,  wie  die  Häuser 
Nordamerika^  den  Commissionen,  und  die  groszen  Käthe  der 
Schweiz  den  Regierungen  zu  ertheilen  pflegen.  Endlich  kann 
die  Anregung  mit 

ii.  der  Einbringung  eines  Gesetzesantrages  selbst,  mit 
der  Proposition,  oder  der  Ausübung  der  sogenannten  Ini- 
tiative im  engern  Sinne  zusammenfalle]]. 

Naturgemäsz  and  nach  der  Auffassung  der  meisten  Staten 

ist  es  vorzugsweise  die  Aufgabe  des  Statshauptes,  und 
seiner  Regierung,  die  nöthigen  Gesetzesanträge  dem  Gesetz- 
gebungskörper vorzulegen.  In  Bona  war  dies/  Sache  der  Ma- 
gistrate, später  der  Kaiser,  im  Mittelalter  überall  der  Könige 
und  Forsten.  Aueh  in  unsern  Tagen  isl  es  die  Regel  geblieben, 
dau  die  Entwürfe  von  der  Regierung  ausgehen;  sogar  in 
den  schweizerischen  Bepubliken,  deren  neuen'  Statstheorie  (seit 
1830)  dieselbe  nichl  mehr  als  einen  Bestandteil  des  Gk 
gebung8körpers  anerkennt.  Die  Napoleonische  Verfassung  ron 
1852  (§.  8)  spricht  dem  Kaiser  allein  die  [nitiative  der  Gesetze  ru. 

Eine  Bonderbare  Ausnahme  mach!  das  englische  Stats- 
recht,  welches  dem  Könige  allein  unter  den  drei  Theilen  des 
Parlaments  die  Initiative  rersagt,  angeblich  zur  Ehre  des 
Königs,  damit  nichl  Bein  Vorschlag  der  Bekämpfung  ausgesetzt 
werde.-  In  Wirklichkeit  indessen  werden  auch  in  England  fast 
alle  Gesetzesentwürfe  rorersi  ron  den  Ministem  bearbeitet  und 

*  Der  Modus  ten.  pari,  läset  das  Parlament  noch  durch  den  König 
in  Person  halten  und  die  Vorschläge  durch  den  kSnigl.  Kanzler  machen. 
Die  spätere  Auffassung  BOhlosz  Bioh  formell  wohl  daran  an,  daft  die  Bills 
anfänglich  in  Form  von  Petitionen  an  den  König  rerfasst  and  ent 
seit  Heinrich  VI.  (1313—1422)  in  Form  von  Parlainentsacten  aufge- 
zeichnet wurden. 


Zehntes  Capitel.    B.   Befugnisse  aller  einzelnen    Bestandtheile.   529 

nur,  wenn  sie  der  Unterstützung  der  Regierung  sicher  sind, 
auf  dem  Wege  der  Motion  durch  ein  Parlamentsmitglied  ein- 
gebracht. :i 

In  der  neueren  constitutionellen  Monarchie  kann  der  Ge- 
setzesantrag nun  gewöhnlich  auch  in  jeder  Kammer  seinen 
Anfang  nehmen.4  Da  die  Kammer  in  ihrer  Gesammtheit  erst 
durch  die  Berathung  einen  gemeinsamen  Beschlusz  hervor- 
bringt, so  wird  der  Weg,  auf  welchem  sie  von  diesem  Rechte 
Gebrauch  machen  kann,  gewöhnlich  durch  ein  einzelnes 
Mitglied  eröffnet  werden  müssen,   welches  erst  einen  indi- 

3  Die  englische  Praxis  entspricht  dem  richtigen  Princip,  welches  die 
englische  Theorie  verläugnet  hat,  viel  genauer  als  die  Praxis  mancher 
constitutionellen  Staten  des  Continents,  welche  die  richtige  Theorie  sanc- 
tionirt  haben.  Vgl.  Sismondi ,  Etudes  I,  S.  lfji:  „Ohne  Zweifel  haben 
in  England  alle  Mitglieder  der  beiden  Häuser  die  Initiative  und  be- 
trachten dieselbe  als  ein  werthvolles  Vorrecht;  aber  sie  ist  in  ihren 
Händen  nur  ein  Mittel,  die  Einsicht  des  Parlamente  auf  Alles  auszu- 
dehnen und  die  Mitglieder  der  Regierung  zu  nöthigen,  das  Ihrige  zu 
thun.  In  Wahrheit  werden  alle  Gesetze  von  einem  Mitglied  der  Re- 
gierung vorbereitet  und  vorgelegt  und  von  der  Autorität  des  Ministeriums 
gehalten.  Wenn  es  zufällig  begegnen  würde,  dasz  ein  von  der  Oppo- 
sition vorgeschlagenes  Gesetz  durchginge,  so  würde  das  Ministerium  sich 
zurückziehen,  aber  die  Opposition  ist  ihrerseits  zu  weise,  um  sich  mit 
dem  Detail  einer  Maszregel  zu  befassen,  die  sie  nicht  zu  vollziehen  hätte. 
Wenn  sie  ihre  Macht  fühlt  und  der  Majorität  in  einer  Frage  versichert 
ist,  so  begnügt  sie  sich,  eine  „Resolution"  durchzusetzen.  Diese  ist  nur 
ein  Princip,  welches  sie  annimmt  oder  ausspricht;  die  Sorge,  dasselbe 
in  ein  Gesetz  umzuwandeln,  überläszt  sie  dem  gegenwärtigen  oder  künf- 
tigen Ministerium."  Die  Vorlagen  der  Statsregierung  werden  sogar  an  be- 
stimmten Tagen  vorzugsweise  eingebracht.  E.  May.  Engl.  Pari.  S.  222. 
In  Schweden  hatten  die  Stände  schon  nach  der  Verfassung  von  1722, 
§.  72  das  Recht,  durch  eine  gemeinsame  Botschaft  dem  Könige  einen 
neuen  in  ihrer  Mitte  entstandenen  Gesetzesentwurf  zur  Genehmigung 
vorzulegen.     Vgl.  Verf.  von  1809,  §.  81,  87. 

4  Französische  Verfassung  von  1830,  Art.  15:  „La  proposition 
des  lois  appartient  au  roi  ä  la  chambre  des  pairs  et  ä  la  chambre  des 
deputes."  Belgische  Verfassung  §.  27.  Griechische  von  1844, 
§.  IG.  Bayerisches  Gesetz  vom  4.  Junius  1848.  Preuszische  Ver- 
fassung §.  64.  Oesterreichische  von  186J,  §.  12.  Deutsche  Bun- 
desv.  §.  23. 

Bluntschli,    allgemeines  Statsrecht.     I.  34 


530     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Ge>etz. 

vi  du  eil  en  Anzug  (Motion)  stellt.  Das  Recht  der  Initia- 
tive der  Kammer  schlieszt  daher  das  Recht  ihrer  Mitglieder 
zu  Motionen  in  sich.  Damit  aber  dieses  nicht  in  einer  für  die 
Kammer  selbst  oder  das  Land  schädlichen  Weise  ausgeübt 
werde,  ist  eine  wirksame  Controle  der  Kammer  selbst  unent- 
behrlich und  um  so  eher  zu  rechtfertigen,  als  die  Antrag- 
stellung von  Gesetzen  ihrem  Wesen  nach  keine  blosz  persön- 
liche, sondern  eine  s  tat  liehe  Function  ist,  und  nicht  den 
Mitgliedern  der  Kammer  als  Individuen.  Bondern  der  Kammer 
als  einem  politischen  Körper  zukommt.  Die  Mittel,  deren  Mch 
die  Kammer  zu  diesem  Zwecke  bedient,  sind: 

a)  die  Erlaubnis/,  oder  Verweigerung  der  Einbrin- 
gung selbst;  in  der  Regel  wird  jene,  wenn  nicht  klare  und 
gewichtige  Gründe,  z.  B.  die  Besorgnisz  vor  schädlichem  Scandal, 
dagegen  sprechen,  ertheilt  werden.     In  England  erste  Lesung, 

b)  Die  Erklärung  aber  die  Erheblichkeit  de>  <- 
Standes  nach  angehörten  Vortrag  d<->  ICotionsstellers,  in  Eng- 
land in  Form  der  Zulassung  zu  zweiter  Lesung. 

c)  Die  Vorberathung  und  Prüfung  durch  Com- 
missionen  der  Kammer  oder  die  öeberweisung  dazu  an  die 
Regierung,  bevor  näher  in  den  Vorschlag  eingetreten  wird. 

Der  Napoleo nischen  Verfassung  von  1852  eigen- 
tümlich ist  die  Bestimmung,  dasz  der  Gesetzgebungskörper 
nur  die  Geseteesentwürfe  der  Regierung  beratheii  and  darüber 
abstimmen,  und  nur  durch  seine  Prüfungsausschüsse  den  Stats- 
rath  veranlassen  darf,  Verbesserungsanträge  seinerseits  gut  zu 
hoisxea  und  unter  dieser  Voraussetzung  dem  Gesetzgebungs- 
k<»rper  vorzulegen  (§.   89,  40  . 

3.  Das  Recht«  Prüfungen  [Enquites)  anzuordnen,  um 
die  allgemeinen  Zustände  und  Bedürfnisse  näher  zu  erkunden, 
und  daraufhin  gesetzgeberische  oder  andere  in  die  Competeal 
des  Gesetzgebungskörpers  gehörige  bfaszregeln  einzuleiten« 

Wahrend  die  Kammern  auf  dem  Contineni  vornehmlich 
nur  amtliche  Wege  benutzen,  um  zu  dieser  Einheit  zu  gelangen. 


Zehntes  Capitel.    B.  Befugnisse  aller  einzelnen  Bestandteile.   531 

wird  dieses  Recht  in  England  schon  seit  langem  in  viel  freierer 
und  gründlicherer  Weise  mit  weit  gröszerem  Erfolge  von  den 
Parlamentshäusern  so  geübt,  dasz  ihre  Commissionen  vorzüglich 
auch  von  kundigen  Privatpersonen  (Sachverständigen  und  Zeugen) 
theils  mündliche,  theils  schriftliche  Aufschlüsse  begehren  und 
auch  freiwillig  angebotene  empfangen. 

4.  Das  Recht,  Petitionen,  Beschwerden,  An- 
sprachen (Adressen),  welche  auf  ihre  Functionen  Bezug  haben, 
in  Empfang  zu  nehmen,  und  zu  der  Ausübung  ihrer  Compe- 
tenz  zu  benutzen,  nötigenfalls  auch  darüber  Beschlüsse  zu 
fassen. 

5.  Das  Recht,  ihre  Meinung,  Gesinnung,  Wünsche, 
H o f f n unge n  und  Besorgnisse  für  das  Land  in  un ver- 
bindlicher  Weise  auszusprechen. 

Das  Statsoberhaupt  pflegt  dasselbe  regelinäszig  bei  Ge- 
legenheit der  Eröffnung  der  Kammern  in  der  Form  der  soge- 
nannten Thronrede  auszuüben.  Diese  ist  von  Rechts  wegen 
der  Ausdruck  der  Meinung  des  Königs  in  der  constitutionellon 
Monarchie  und  nicht  etwa  der  König  das  blosze  Sprachrohr 
seiner  Minister.*  Aber  die  Minister  sind  verpflichtet,  dieselbe 
zu  vertreten,  wie  jeden  andern  Statsact  des  Königs,  und  es 
wird  die  Uebereinstimmung  der  Minister  mit  dem  Inhalt  und 
der  Form  der  königlichen  Rede  vorausgesetzt.  Daher  wird  die 
Thronrede  auch  von  dem  Könige  mit  den  Ministern  vorberathen. 

Die  Antwortsadressen  der  Kammern  an  den  König 
sind  ebenso  der  Meinungsausdruck  der  ersteren,  und  im  In- 
teresse der  Monarchie  nicht  minder  als  der  Kammern  liegt 
es,  dasz  dieser  Ausdruck  ein  völlig  freier  der  einzelnen  Kam- 
mern sei.  Die  Uebereinstimmung  beider  Kammern  darf  hier 
nicht  gefordert  werden,  da  es  sich  nicht  um  eine  verpflichtete 
Willensäuszerung  handelt.  Dieselbe  verstärkt  natürlich  das 
Gewicht  ihrer  moralischen  Autorität,  aber  ist  keineswegs  als 
der  Ausdruck  des  gesammten  Volkes  zu  betrachten,  denn  von 

5  Vgl.  oben  Buch  IV,  Cap.  23,  S.  44  i  ff. 

34* 


532     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das   Gesetz. 

diesem  läszt   sich  das  Haupt  nicht  trennen,  und  das  Volk  hat 
seine  Meinung  nicht  völlig  den  Kammern  übertragen. 

Dagegen  steht  es  den  einzelnen  oder  beiden  Kammern 
nicht  zu,  Proclamationen  an  das  Volk  zu  erlassen.  Diese 
enthalten  nicht  blosz  eine  freie  Meinungsäuszerung,  sondern  sie 
sind  mit  statlicher  Autorität  ausgerüstet,  und  eine  solche  steht 
nur  dem  ganzen  gesetzgebenden  Körper,  oder  den  Organen  der 
Regierung  zu. 


Eilftes  Capitel. 

C.   Besondere  Befugnisse. 
I.  Des  Königs. 

Dem  Könige  als  dem  Haupt  des  gesetzgebenden  Körpers 
kommen  regelmäszig    folgende  Befugnisse   ausschließlich1    zu: 

1.  Die  Einberufung  der  Kammern  und  die  Ver- 
sammlung des  gesetzgebenden  Körpers. 

Er  allein  ist  fortwährend  wach  und  thätig;  ihm  als  dem 
Haupt  gebührt  es  öberdem,  die  zerstreuten  Glieder,  wenn  das 
Bedürfnisz  es  erfordert,  um  sich  zu  versammeln.  Auch  in  re- 
publikanischen Stuten  ist  diese  Einwirkung  auf  den  gesetz- 
gebenden Körper  in  der  Regel  der  Regierung  belassen  worden, 
obwohl  im  Widerspruch  mit  der  sonst  häufig  gebildeten  Theorie 
von  der  „vollziehenden  Gewalt"  und  mit  der  Ausschlieszung 
der  Regierung  von  dem  Antheil  an  der  ..gesetzgebenden  Gewalt."2 

1  Das  englische  Statsrecht  nennt  diejenigen  Rechte,  welche  dem 
Könige  allein,  nicht  auszer  ihm  auch  noch  anders  Behörden  oder 
Privaten  zukommen,  des  Könige  „Prärogative.1*  Die  Adoption  dieser 
Bezeichnung  ist  indessen  nicht  zu  empfehlen,  indem  das  königliche 
Recht  durch  dieselbe  den  Schein  des  Vorrechtes  erhält. 

?  In  Nordamerika  übt  der  Präsident  dieses  Recht  wenigstens  in 
außerordentlichen  Fällen  (Verf.  TT,  3),  in  der  Schweiz  üben  es  die  Re- 
gierungen gewöhnlich  aus,  obwohl  nach  nähern   gesetzlichen  Vorschriften. 


Eilftes  Capitel.     C.    Besondere  Befugnisse.     I.  Des  Königs.     533 

Eine  regelmäszi  ge  und  in  kurzen  Zeiträumen  wieder- 
kehrende Versammlung  des  repräsentativen  Körpers,  im 
Gegensatze  zu  willkürlicher  Berufung  oder  Nichtberufung  durch 
die  Regierung,  ist  indessen  ein  nothwendiges  Erfordernisz  seines 
Lebens  und  seiner  Gesundheit.  Der  Mangel  einer  solchen  Ein- 
richtung hat  auf  dem  Continent  sehr  vieles  zu  dem  Untergang 
der  ständischen  Verfassung,  der  Ueberwucherung  des  Absolu- 
tismus und  den  Erschütterungen  der  Revolution  beigetragen. 
In  England  wurde  schon  unter  Eduard  III.  die  jährliche 
Versammlung  des  Parlaments  gesetzlich  vorgeschrieben:3  und 
obwohl  auch  in  der  englischen  Geschichte  einzelne  Unterbrech- 
ungen vorkommen,  und  durch  ein  späteres  Gesetz  sogar  nur 
zu  drei  Jahren  eine  Sitzung  gefordert  wird,  so  ist  doch  die 
jährliche  Versammlung  Regel  geblieben.  In  neuerer  Zeit 
ebenso  sind  jährliche  Versammlungen  in  den  meisten  Verfass- 
ungen zur  Vorschrift  gemacht.  4 

2.  Die  Schliessung  (Prorogation)  und  die  Auflösung 
(dissolution)  der  Kammern.  Die  Vertagung  im  engern  Sinn 
(ajoitrncmenl),  cl.  h.  die  Verschiebung  einer  Versammlung 
innerhalb  der  nämlichen  Sitzungsperiode  von  einem  Tag  auf 
einen  andern  steht  oft  nicht  blosz  dem  König,  sondern  auch 
den  einzelnen  Kammern  selber  zu.  Die  Schlieszung  beendigt 
eine  Sitzungsperiode,  die  Auflösung  hebt  die  Kammern  selbst 
auf.  Mit  jener  werden  gewöhnlich  die  Bescheide  des  Königs 

3  In  Bayern  bat  die  Landschaft  schon  1458,  dasz  alljährlich  ein 
Landtag  gehalten  werde.  Der  Herzog  behielt  sich  aber  vor,  „unsere 
Landschaft  zu  fordern,  so  oft  uns  Noth  sein  bedünken  wird."  Rudhart 
Gesch.  der  Landstände  in  Bayern  I,  S.  220. 

4  Nordamerika  (I,  4),  G  riech  enland  (§.  30),  Preuszen  (§.  76), 
Oesterreich  (§.  9).  In  Frankreich  war  die  „Nationalversammlung" 
sogar  permanent  (§.  32);  die  jährliche  Versammlung  des  Senats 
und  des  Gesetzgebungskörpers  ist  auch  nach  der  napoleonischen  Ver- 
fassung nothwendig  (§.  11,  23,  43).  In  der  Schweiz  ist  meistens  über- 
dem  der  Grundsatz  anerkannt,  dasz  eine  bestimmte  Anzahl  von  Mit- 
gliedern des  Repräsentativkörpers  die  Besammlung  fordern  könne.  Viele 
deutsche  Verfassungen  haben  noch  mehrjährige  Sitzungsperioden. 


534     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Korper  und  das  Gesetz. 

über  die  vorberathenen  Gesetzesentwürfe  und  Wünsche  der 
Kammern  veibunden.  Diese  macht  neue  Wahlen  nothwendig.  • 
Mit  der  Auflösung  der  zweiten  Kammer  ist  die  Schlieszung 
auch  der  ersten  Kammer  nothwendig  verbunden. fi 

3.  Die  Sanctionder  Gesetze  und  der  letzte  Entscheid 
in  allen  dem  gesammten  Körper    zustehenden  Angelegenheiten. 

Man  hat  sich  in  neuerer  Zeit  gewöhnt,  die  Sanction  des 
Königs  das  Veto  desselben  zu  nennen.  Dieser  Sprachgebrauch, 
von  dem  negativen  Eechte  der  römischen  Volkstribunen  ent- 
lehnt, ist  durchaus  verwerflich,  wie  schon  die  Hinweisung  auf 
seinen  Ursprung  zeigt.  Die  Sanction  der  Gesetze  ist  ein 
wesentlich  positives  Recht  des  Königs.  Sie  ist  die  Erfüllung 
und  Vollendung,  der  oberste  Ausdruck  der  gesetzgebenden  Ge- 
walt, und  keineswegs  ihre  Beschränkung.  Sie  ist  auch  nicht 
Vollzug  des  Gesetzes, 7  sondern  Anna  h  m  e  desselben.  Vorher 
war  es  kein  Gesetz.     Erst  durch  sie  wird  es  dazu. 

Es  gilt  das  auch  von  dem  englisches  Statsrecht  unzweifel- 
haft, angeachtet  die  englische  Theorie  von  einem  absoluten 
Veto  spricht,  wie  schon  die  Sanctionsformel:  ,,Le  roy  le  veut" 
und  die  Verweigerungsformel:  .,Lc  roy s'&visera"  beweist.  Auch 
ist  der  richtige  Ausdruck  in  manche  neuere  Verfassungen  über- 
gegangen. 8 

In  den  republikanischen  Staten  der  neueren  Zeit  ist 
dagegen  zuweilen  der  Regierung  nur  ein  Veto,  und  zwar 
regelmäszig  ein  beschränktes  (sog.  suspensives  Veto) 
eingeräumt,  durch  welches  sie  die  Gültigkeit  des  Gesetzes 
beanstanden  und  einstweilen   hemmen  darf.     So  ist  in  Nord- 

5  Blackstone  I.  2,  7. 

6  Streit  darüber  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Kammer  in  Preu- 
szen.     Vgl.  Gneist's  Gutachten  über  die  Frage. 

7  Von  manchen  Publici.sten  wird  sie  irrigerweise  so  dargostellt. 

s  Blacks  tone  I.  2,  6.  Französisch  e  Verfassung  von  1814  §.22. 
und  J 830,  §.  18:  „Le  roi  seul  sanetionne  et  promulgue  les  lois"  und  von 
1852  §.  10;  „II  (l'empereur)  sanetionne  et  promulgue  les  lois  et  les  se- 
natum consultes."  Belgische  §.  69.  Griechische  §.  29.  Nieder- 
ländische §.  118.     Preus zische  §.  62.  Oesterreichische  §.    12, 


Zwölftes  Capitel.  C.  Besondere  Befugnisse.   II.  Der  beiden  Häuser.    535 

amerika,  wo  der  Präsident  durch  Nichtbilligung  einer  Bill 
eine  neue  Prüfung  der  Kammern  veranlaszt  und  die  Wirksam- 
keit des  Gesetzes  hindert,  wenn  diese  nicht  zum  zweitenmal 
und  nun  mit  einer  Mehrheit  von  zwei  Drittheilen  der  Stimmen 
dasselbe  beschlieszen.9  Die  schweizerischen  Verfassungen 
kennen  selbst  ein  Veto  der  Kegierung  nicht. 


Zwölftes  Capitel. 

II.  Der  beiden  Häuser. 

1.  Den  beiden  Häusern  kommt  zwar  nicht  das  Kecht  der 
Mitwirkung  bei  der  Statsregierung  und  Verwaltung  zu, 
wohl  aber  ein  Kecht  der  umfassenden  Controle.  Es  ist  das 
eine  der  wichtigsten  Unterscheidungen  des  constitutionellen 
Statsrechts.  Die  repräsentativen  Versammlungen  wären  unge- 
schickte Organe  zur  eigentlichen  Regierung  und  Verwaltung, 
welche  eine  concentrirte  und  fortgesetzte  Thätigkeit  erfordert. 
Aber  sie  sind  passende  Organe,  um  eine  Meinung  darüber  zu 
äuszern,  ob  den  Gesetzen  gemäszund  ob  gut  regiert  und  ver- 
waltet werde.  Die  constitutionelle  Monarchie  schlieszt  die  Re- 
gierung der  Massen  aus,  aber  sie  erkennt  an,  dasz  alle  Volks- 
classen  einen  Anspruch  darauf  haben,  gut  regiert  zu  werden  und 
sorgt   daher  für  die  erforderlichen  Garantien. 

Die  Kammern  sind  daher  nicht  berechtigt,  Befehle  in 
einzelnen  Fällen  an  Regierungsbeamte,  auch  nicht  an  die  Mi- 
nister zu  erlassen,  und  thun  überhaupt  wohl,  sich  nicht  über- 
geschäftig in  die  Detailfragen  der  Verwaltung  einzumischen. 

9  Vgl.  oben  Cap.  6,  S.  490.  Bundesverfassung  I,  7.  Die  norwe- 
gische Verfassung  (J.  72—82)  schwankt  zwischen  der  Idee  einer  Sanc- 
tion  des  Königs  und  dem  Begriff  eines  bloszen  beschränkten  Veto  des- 
selben. 


536     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper   und  das  Gesetz. 

Aber  es  kommt  den  Kammern  allerdings  zu 

a)  zu  prüfen,  ob  in  der  Verwaltung  des  Statshaushalts 
die  gesetzlichen  Voranschläge  und  Bewilligungen  eingehalten 
oder  überschritten  worden  sind  und  im  letztern  Fall  entweder 
die  Verwaltung  nachträglich  gutznheiszen  und  zu  entlasten  oder 
aber  den  betreffenden  Minister  zur  Verantwortung  zu  ziehen 
und  zum  Ersatz  anzuhalten; 

b)  ein  Verfassung^-  oder  ges  etzwidriges  Verfahren 
überhaupt  zu  tadeln,  auf  Verbesserung  zu  dringen; 

c)  auf  öffentliche  Bedürfnisse  und  Uebelstände  die 
Statsregierung  aufmerksam  zu  machen  und  die  Befriedigung 
jener,  die  Abstellung  dieser  zu  empfehlen : 

d)  auch  über  die  hohe  und  insbesondere  die  auswärt- 
ige Politik  eine  Meinung  zu  äuszern  und  Kath  zu  geben. 
Die  Regierung  ist  freilich  an  diesen  Kath  nicht  gebunden,  aber 
da  die  Kammern,  wenn  sie  ihre  Meinung  ernstlich  geltend 
machen  wollen,  den  Ministern  ihr  Vertrauen  entziehen  und  die- 
selben in  der  Verfügung  über  die  Volkskräfte  beschränken 
können,  so  bleibt  den  Ministern  doch  nichts  anderes  übrig, 
als  entweder  sich  mit  den  Kammern  zu  verständigen  oder  die- 
selben aufzulösen  und  an  die  Wähler  zu  appelliren.  In  England 
sind  diese  Grundsätze  alt  hergebracht.  Auf  dem  europäischen 
Continent  kommen  sie  nur  allmählich  zur  Geltung.1 

2.  Es  ist  eine  alt  englische  Einrichtung,  dasz  alle  Steuer- 
bewilligungen in  dem  Unterhause  zuerst  behandelt 
werden  müssen ,  und  das  Haus  der  Lords  in  solchen  Fällen 
nur  zustimmen  oder  verwerfen,  nicht  aber  verändern  darf. 
Diese  Einrichtung  erklärt  sich  historisch  daraus,  dasz  die  Ab- 
geordneten der  Städte  und  Grafschaften  ursprünglich  meist  nur 
deszhalb  berufen  wurden,    um   von   ihnen  Steuerbewilligungei 


1   St.  Mill,  Repräsenfcutivverfassung,  S.  58.     Ersk.   M;iv,   Englisoh« 
Ycrfassungsgesch.  I.  S.  381. 


Zwölftes  Capitel.     C.  Besondere  Befugnisse.  II.  Der  beiden  Häuser.  537 

zu  erlangen.2  In  der  Folge  konnte  dafür  angeführt  werden, 
dasz  die  Steuern  vornehmlich  auf  der  Menge  des  Volkes  lasten, 
und  von  der  Aristokratie  minder  empfunden  werden.  Dann 
wurde  dieselbe  auch  in  andern  Staten  nachgebildet.3 

Die  Ausdehnung  des  Rechtes  der  Steuerbewilligung, 
^welches  den  Kammern  zusteht,  ist  schwierig  zu  bestimmen. 
In  England  hat  sich  das  mittelalterliche  Princip  freier  Steuer- 
verweigerung  in  weitestem  Umfang  in  der  Theorie  erhalten; 
an  eine  practische  Ausübung  derselben  aber  ist  dort  viel  we- 
niger als  irgend  anderswo  zu  denken,  indem  die  Mitglieder 
der  beiden  Häuser  bei  dem  ungestörten  Fortgang  des  Stats- 
lebens  voraus  interessirt  sind. 

Auf  der  einen  Seite  ist  anzuerkennen: 

a)  Dasz  die  Vorstellung  des  Mittelalters,  wornach  es  keine 
Steuerpflicht  der  Unterthanen,  sondern  nur  eine  freiwil- 
lige Uebernahme  der  Steuern  durch  dieselben  oder  ihre 
Vertreter  gibt,  mit  dem  modernen  Statsprincip  unverträglich 
ist,  nach  welchem  das  Ganze  über  die  Kräfte  der  Statsbürger, 
soweit  das  Bedürfniss  desselben  es  erfordert,  verfügen  darf. 

b)  Dasz  eine  Verweigerung  aller  Steuern  oder  auch 
nur  eines  erheblichen  Theils  derselben  bei  der  modernen 
Entwicklung  des  States  einer  völligen  Lähmung  des 
Statskörpers  gleich  kommt,  und  wenn  sie  auch  nur 
eine  kurze  Frist  anhält,  den  Untergang  der  Statsordnung  nach 
sich  zieht.  Ein  Recht,  den  Stat  zu  lähmen  und  zu  tödten, 
kann  aber    einem  einzelnen  Gliede  des  Statskörpers  nicht  im 

2  Lord  Chat h  am:  „Die  Besteurung  bildet  keinen  Theil  der  Befug- 
nisse der  Statsregierung  oder  der  Gesetzgebung.  Steuern  sind  eine  frei- 
willige Gabe  und  Zubilligung  der  Gemeinen  allein."  Ersk.  May,  Engl. 
Verfassungsgesch.  I,  394. 

3  Nordamerikanische  Bundesverfassung  I,  7,  aber  ohne  den 
Senat  in  der  Abänderung  zu  beschränken.  Ygl.  Laboulaye,  hist.  des 
ßtats  Unis  IL  S.  262.  Ebenso  die  französische  von  1814,  §.  17. 
Bayerische  §.  18.  Badische  §.  60.  Portugiesische  von  1826, 
§.  35.     Spanische  von  1837,  §•  37. 


538      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das-  Gesetz. 

Ernste  zugestanden   noch  als  ein  Begriff  des   Statsreehts   ver- 
theidigt  werden. 

c)  Dasz  das  Unterhaus,  wenn  es  die  Macht ,  die  Steuern 
zu  bewilligen  und  zu  versagen,  völlig  rücksichtslos  und  unbe- 
schränkt ausüben  darf,  eben  damit  auch  die  Macht  besitzt, 
alle  andern  Gewalten  im  Stat  sich  unterzuordnen 
und  so  die  ganze  Verfassung  umzustürzen:  denn  unter  dieser 
Voraussetzung  bliebe  der  andern  Macht,  und  insbesondere  dem 
Könige  keine  andere  Wahl,  als  entweder  den  AVillen  des  Volks- 
hauses zu  thun  und  damit  die  Fortdauer  des  Statshaushalts 
zu  erlangen,  oder  mit  dann  ungesetzlicher  Gewalt  das  Unter- 
haus zu  bezwingen  und  dadurch  jenes  absolute  Recht  der 
Steuerverweigerung  aufzuheben. 

Als  die  preuszische  Nationalversammlung  im  Jahr  1848 
einen  solchen  Versach  wagte,  durch  die  Steuerverweigerung 
ihrer  Politik  den  Sieg  zu  verschaffen,  empörte  sich  die  öffent- 
liche Meinung  gerade  des  vornehmlich  von  den  Steuern  be- 
troffenen Theiles  der  Bevölkerung,  geschreckl  durch  die  uner- 
meszliche  Statsgefahr  wider  diesen  Versoch. 

Auf  der  andern  Seite    steht  es  ebenso  f< 

a)  dasz  das  verrasflnmgsm&szige  Rechl  der  Steuerbe- 
willigung  nur  dann  einen  Sinn  hat,  wenn  damit  die  Mög- 
lichkeil des  Abschlags,  d.  h.  das  Recht  der  Steuer  verwei- 
geru  n  g  verbunden  wird ; 

b)  dasz  ohne  dieses  zweiseitige  Rechl  die  Controle, 
welche  den  Kammern  gegenüber  der  öffentlichen  Verwaltung 
zukommt,  u  n  w  i  r  k  s  a  m  würde ; 

c)  dasz  auch  andere  Machtbefugnisse,  einseifig  und  rück- 
sichtslos auf  die  Spitze  getrieben,  wie  z.  B.  die  Kriegs  lie- 
he it  des  Fürsten,  das  öffentliche  Hecht  und  die  Freiheit  eben- 
so gefährden  würden. 

Man  hat  in  der  Absicht,  den  Widerstreit  zu  lösen,  in 
neuerer   Zeit    verschiedene  Vorschläge    gemacht,    welche     (ÜB 


Zwölftes Capitel.     C.  Besondere  Befugnisse.    IL  Der  beiden  Häuser.  539 

Steuerbewilligungs-    und    das    Steuerverweigemogsrecht    be- 
schränken : 

a)  indem  unterschieden  wird  zwischen  einem  unbeweg- 
lichen und  einem  beweglichen  Budget,  und  nur  dieses 
verweigert  werden  darf;  allein  auch  das  letztere  beruht  auf 
einem  Bedürfnisz  des  States,  und  das  erstere  ist  doch  nicht 
unveränderlich,  somit  ebenfalls  der  Einwirkung  der  Kammern 
nicht  völlig  entzogen; 

b)  indem  der  Grundsatz  angenommen  wird:  Steuern, 
„ welche  zur  Führung  der  Regierung  nöthig"  seien,4  dürfen 
nicht  verweigert  werden;  aber  die  Frage:  was  nöthig  sei,  ist 
dem  Streit  ausgesetzt,  und  dieser  fordert  eine  Erledigung,  wie 
sie  in  zusammengesetzten  State n  durch  ein  höheres  Tribunal 
zwar  gegeben  werden  kann,  in  einem  einheitlichen  State  kaum 
zu  organisiren  ist,  ohne  die  Einheit  des  States  und  die  Attri- 
bute seiner  Gewalten  zu  stören; 

c)  indem  die  alten  Steuern  fortdauern,  die  Verweigerung 
nur  die  neuen  betrifft.6 

Die  einfachste  Lösung  ist  wohl  die,  wenn  keine  äuszer- 
liche  Beschränkung  eingeführt,  wohl  aber  die  der  inneren 
Bestimmung  des  Steuerbewilligungsrechtes  selbst  innewoh- 
nende beachtet  wird.  Diese  Bestimmung  aber  ist  keine  andere, 
als  für  den  Statshaushalt  zu  sorgen,  dem  hinwieder  die 
Existenz  und  Wohlfahrt  des  Stats  in  seiner  verfassungsmäszigen 
Gestaltung  zu  Grunde  liegt,  nicht  aber  die,  als  ein  Hebel  für  die 
politische  Macht  der  Kammern  zu  dienen,  und  deren  Uebergriffe 
zu  unterstützen.  Demgemäsz  hat  die  Kammer  volle  Freiheit,  die 
Steuern  zu  bewilligen  oder  zu  versagen,  beides  aber  nicht  aus 
fremdartigen,  sondern  vornehmlich  aus  Motiven  der  Statsöko- 
nomie :  folglich  je  nachdem  sie  eine  Ausgabe  für  gerechtfer- 
tigt oder  überflüssig  hält,  je  nachdem  die  Art  der  Steuerer- 

4  Deutscher  Bundesbeschlusz  von  1831  III.  und  von  1836. 

5  Preuszische  Verfassung,  §.  109.  Vgl.  auch  die  bayerische 
Verfassung  VII,  §.  b. 


540    Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

hebimg  ihr  gerecht  und  zweckmäszig  erscheint  oder  nicht. 
Eine  Verweigerung  der  Steuern  im  allgemeinen  ist  daher  im- 
mer ein  Miszbraueh  und  ein  Unrecht,  denn  nie  läszt  sich  diese 
aus  Gründen  des  Staatshaushaltes,  der  gesicherter  Einnahmen 
bedarf,  rechtfertigen.6 

Wohl  aber  läszt  sich  eine  Steuerverweigerung  im  einzel- 
nen und  ebenso  die  Ermächtigung  zu  gewissen  Ausgaben  dann 
vollständig  rechtfertigen,  wenn  die  Kammer  ernstlich  besorgt, 
dasz  jene  Steuer  zu  verwerflichen  Zwecken  miszbraucht  würde, 
oder  diese  Verwendung  ungeeignet  wäre.  Diese  Besorgnisz 
wird  natürlich  eher  entstehen  und  schwerer  ins  Gewicht  fallen. 
wenn  sie  überhaupt  kein  Vertrauen  hat  zu  der  Politik  der  Mi- 
nister. Man  darf  es  daher  nicht  tadeln,  wenn  die  Kammern, 
gegenüber  einem  unpopulären  Ministerium  sich  eher  karg  als 
freigebig  erweisen,  wenn  gleich  darin  unter  Umstände«  eine 
mittelbare  Nöthigung  der  Minister  zum  Rücktritt  liegen  mag. 

3.  Mit  dem  Rechte  der  Steuerbewilligung  ist  gewöhnlich 
auch  das  Recht  der  Zustimmung  zur  Aufnahme  von  Dar- 
lehen für  den  Stat  und  zum  Verkauf  und  zur  Verpfandung 
der  Domänen  verbunden-7 

4.  Ebenso  hängt  mit  beiden  zusammen  und  ist  vorzugs- 
weise die  Form  des  modernen,  den  ganzen  Stat  umfassenden 
Haushaltes:  die  Bewilligung  des  Voranschlags  (Budget) 
aller  jährlichen  Einnahmen  und  Ausgaben  des  States,  und  die 
Vorlage  der  Statsr echnung  an  die  Kammer  zur  Prüfung 
und  Gutheissung.8 

Auch    in   den    Budgetberatliungen  nimmt   das    Volkshaus 

6  Das  ist  denn  auch  der  wahre  Sinn  der  öfter  vorkommenden  Vcr- 
fassungsbestimmung :  „Die  Stünde  dürfen  die  Bewilligung  der  Steuern 
mit  keiner  Bedingung  verbinden."     Bayern  VII.  g.  !». 

7  Bayerische  Verfassung  VII,  §.  11—18.  Die  Stünde  sind  bei 
der  8chuldentilgung3commissioD  sogar  durch  Commissäre  betheiligt.  Preu- 
Bzisohe  Verfassung,  §.   103. 

1  Bayerische  Verfassung  VII,  §.  4,  10.  Belgische  §.  115,116. 
Preuszische  §.  99.  104.     Oesterreichiscbe  §.   LO. 


Zwölftes  Capitel.  C.  Besondere  Befugnisse.  IL  Der  beiden  Häuser.   541 

gewöhnlich  eine  hervorragende  Stellung  ein,  indem  dieselben 
nach  englischem  Vorbild  da  beginnen  müssen,  und  in  den 
meisten  Monarchien  das  Oberhaus  nur  das  Recht  hat,  die  Ge- 
sammtanträge  anzunehmen  oder  zu  verwerfen,  nicht  aber  im 
Einzelnen  Verbesserungen  zu  machen;  in  den  Republiken  tritt 
der  Unterschied  zwischen  den  beiden  Häusern  weniger  stark 
hervor. 

Dieses  Uebergewicht  des  Volkshauses  darf  jedoch  nicht 
dahin  überspannt  werden,  dasz  die  höhere  Autorität  des  Ge- 
setzes beeinträchtigt  wird.  So  weit  durch  Gesetze  oder 
durch  zu  Recht  bestehende  Verträge  und  dauernde 
Anordnungen  die  Einnahmen  und  Ausgaben  festgestellt 
sind,  ist  diese  Feststellung  auch  in  dem  Budget8  zu  beachten. 
Es  darf  nicht,  was  die  sammtlichen  Factoren  der  Gesetz- 
gebung gemeinsam  geordnet  haben,  durch  eine  Verfügung  eines 
einzelnen  Factors  willkürlich  geändert  werden.  Nur  innerhalb 
der  Rechtsordnung,  die  bona  fide  anzuerkennen  ist,  haben 
die  Bewilligungen  vorzüglich  der  Ausgaben  einen  freien  Spiel- 
raum. Der  gröszte  Theil  des  Budgets  hat  demgemäsz  einen 
nothwendigen  und  dauernden  Rechtscharakter.9 

5.  Als  letztes  Mittel,  um  ihrer  Controle  Nachdruck  zu 
geben,  ist  den  Kammern  das  Recht  verliehen,  die  Minister  zu 
persönlicher  Verantwortung  zu  ziehen,  und  einen  Statsprocesz 
gegen  dieselben  einzuleiten. 

In  England  hat  sich  dieser  Procesz  dergestalt  entwickelt, 
dasz  die  Anklage  der  Minister  ausschlieszlich  von  dem 
Unterhause  ausgeht.10  Man  nimmt  an,  dasz  hierin  das 
Unterhaus  vorzugsweise  das  durch  ein  verwerfliches  und  schäd- 
liches Regierungsverfahren  beleidigte  und  verletzte  Volk  reprä- 
sentire.  Dasselbe  System  ging  auch  in  die  Verfassung  Nord- 

9  Tgl.  R.  Grneist:  Budget  und  Gesetz  nach  dem  constitutionellen 
Statsrecht  Englands  mit  Rücksicht  auf  die  deutsche  Reichsverfassung. 
Berlin  1867. 

10  Vgl.  Acte  über  die  Thronfolge  von  1801. 


542       Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

amerika's  (I.  2.)  über,  in  der  weiteren  Ausdehnung  jedoch 
dasz  dem  Hause  der  Repräsentanten  das  Recht  der  Anklage 
gegen  ,, untreue  Statsbeamte"  überhaupt,  den  Präsidenten  in- 
begriffen, zugesprochen  wurde;  es  wurde  sodann  in  die  Ver- 
fassungen des  Continents  vielfach  verpflanzt. 1 1  Einzelne  deutsche 
Verfassungen  erschweren  die  Anklage  der  Minister  durch  das 
Erfordernisz  der  Vereinigung  bei  der  Kammern,  oder  gestatten 
zwar  die  Klage  jeder  von  beiden  Kammern,  aber  stumpfen 
die  politische  Schneide  der  Klage,  indem  sie  dieselbe  in  ein 
Verfahren  vor  einem  auszerhalb  der  Kammern  stehenden  Stats- 
gerichtshof  verweisen. '  * 

6.  Nach  englischem Statsrechte  geziemt  es  dem  Ober- 
hause allein,  über  die  Statsanklagen  des  Unterhauses  zu 
richten.  Die  Klage  im  Interesse  der  öffentlichen  Wohlfahrt 
wird  als  Volkssache,  die  würdige  und  gerechte  Beurtheilung 
als  der  Beruf  der  Aristokratie  betrachtet.1'*  Auch  die  Nord- 
amerikaner haben  die  Beurtheilung  der  Statsanklagen  dem 
Senate  zugetheilt,  obwohl  ihr  gewählter  Senat  weniger  un- 
abhängig ist  als  das  englische  erbliche  Oberhaus,  und  obwohl 
sie  sonst  mehr  als  alle  andern  Völker  auf  eine  scharfe  Aus- 
scheidung der  verschiedenen  Statsgewalten  groszen  Werth  legen. 
Der  ursprüngliche  Verfassungsentwurf  hatte  die  Beurtheilung 
dem  obersten  Gerichtshöfe  zugesprochen.  Aber  nach  gründ- 
licher Erörterung  erhielt  das  englische  System  den  Vorzug, 
hauptsächlich  aus  folgenden  Gründen  der  Politik  und  der  Ge- 
rechtigkeit : 

a)  Die  Wichtigkeit  und  Schwierigkeit  solcher  Klagen 
haben  bewirkt,  dasz  das  Volkshaus  ausschlieszlich  für  berufen 
erklärt  wurde,  dieselben  zu  erheben.  Der  groszen  und  mächtigen 


11  Französische  von  1814,  §.  55.     Belgische  §.  90. 

12  Bayerische  Verfassung  X,  §.  6.  Bayerisches  Gesetz  vom 
4.  Junius  1848  und  vom  30.  März  1850.  Preuszische  §.  61.  Vgl. 
unten  Buch  VII,  Cap.  5. 

13  Blackstone  IV.  19,  1. 


Zwölftes  Capifcel.  C.  Besondere  Befugnisse.    II.  Der  beiden  Häuser.   543 

Autorität  des  Klägers  gegenüber  erscheint  aber  ein  gewöhn- 
licher Gerichtshof  zu  schwach,  und  nur  die  Unabhängigkeit 
und  das  Ansehen  einer  andern  nicht  minder  hohen  Macht  kann 
hier  das  erforderliche,  für  die  gerichtliche  Würde  und  das 
öffentliche  Vertrauen  unentbehrliche   Gleichgewicht   herstellen. 

b)  Diese  Klagen  beziehen  sich  auf  politische  Verhält- 
nisse, deren  richtige  Würdigung  eine  Menge  von  Kenntnissen 
und  Erwägungen  voraussetzt,  wie  sie  von  Statsmännern  wohl, 
nicht  ebenso  von  bloszen  Rechtsgelehrten  erwartet  werden  dürfen. 

c)  Das  politische  Miszverhalten  ist  so  mannichfaltig,  dasz 
hier  genaue  Vorschriften  des  positiven  Rechtes,  die  sonst  den 
Richter  binden,  nicht  möglich  sind,  und  das  ganze  Verfahren 
dem  freieren  Ermessen  des  Gerichtes  überlassen  werden  musz. 
Diese  Eigenthümlichkeit  einerseits  und  die  Gefahr  andererseits, 
dasz  gerade  bei  solchen  Processen  die  Leidenschaften  der  Par- 
teien in  ungewöhnlichem  Grade  aufgeregt  werden,  machen  es 
doppelt  wünschenswerth,  dasz  eine  zahlreiche  und  durch 
ihre  hohe  und  unabhängige  Lebensstellung  ausgezeichnete  Ver- 
sammlung den  Entscheid  habe.14 

Darin  aber  unterscheidet  sich  das  englische  von  dem 
nordamerikanischen  System,  dasz  nach  jenem  das  Ober- 
haus jede  Strafe  aussprechen  darf,  und  kein  zweites  gewöhn- 
liches Proceszverfahren  mehr  möglich  ist,  während  nach  diesem 
der  Senat  nur  die  politische  Strafe  der  Entfernung  vom 
Amte  und  der  Unfähigkeitserklärung  zu  weiterer  Be- 
trauung mit  öffentlichen  Aemtern  verhängt,  und  der  Ueber- 
führte  mit  Bezug  auf  die  gewöhnliche  Criminalstrafe  wegen 
eines  Verbrechens  noch  der  Beurtheilung  der  Geschworenen 
nach  dem  Gesetz  anheimfällt. 15 

Auch  die  französische  Charte  von  1814  (§.  33)  erhob 
die  Pairskammer  zu   einem  Gericht  über  die  Verbrechen   des 

14  Vgl.  denFederalis  t  und  die  näheren  Ausführungen  inStory's 
Comm.  III,  10,  §.  102. 

15  Bundes  ver  f.  I,  3. 


544     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Hochverraths  und  der  Gefährdung  der  Staatssicherheit,  und 
zwar  nicht  blosz  wenn  die  Deputirtenkainmer  Kläger,  noch 
wenn  die  Minister  oder  andere  Beamte  Beklagte  waren.  Diese 
Einrichtung  wurde  denn  auch  in  manchen  romanischen  Ver- 
fassungen wieder  nachgeahmt. 16 

In  den  deutschen  Verfassungen  sind  der  ersten  Kammer 
auch  bei  politischen  Vergehen  gewöhnlich  keine  richterlichen 
Befugnisse  zugestanden,  sondern  die  Beurtheilung  solcher  Klagen 
wird  an  Gerichtshöfe  verwiesen.17  Wir  werden  unten  bei  Be- 
trachtung der  Ministerverantwortlichkeit  darauf  zurückkommen. 

7.  Jedes  Haus  übt  bei  sich  Haus  recht  und  sorgt 
selbständig  für  die  Handhabung  der  innern  Ordnung.  Zu 
diesem  Behuf  kommt  dem  Präsidenten  und  der  Versammlung 
eine  Disciplinargewalt  zu,  welche  in  England  sehr  aus- 
gedehnt, auf  dem  Continent  gewöhnlich  beschränkt  ist. 

8.  Gesetze,  welche  sich  auf  die  Zusammensetzung 
und  die  Rechte  des  Oberhauses  beziehen,  müssen  in  Eng- 
land zuerst  im  Oberhause  eingebracht,  und  dürfen  im  Unter- 
hause nur  angenommen  oder  verworfen,  nicht  aber  amendirt 
werden. 1S 

9.  Eine  eigenthüm liehe  Stellung  und  Aufgabe  hat 
der   Senat   in  der   neuen   Napoleonischen  Verfassung.     Er  hat 

a)  das  Hecht,  die  Promulgation  eines  Gesetzes  durch 
seine  Opposition  (Veto)  aus  dem  Grunde  zu  behindern, 
dasz  dasselbe  der  Verfassung  oder  der  Religion  oder  der  Moral, 
oder  der  Cultusfreiheit  oder  der  individuellen  Freiheit,  oder  der 
Gleichheit  der  Bürger  vor  dem  Gesetz  oder  der  Unverletzlich- 
keit des  Eigenthums  und  dem  Grundsatz  der  Unentfernbarkeit 

16  Portugal  von  1826,  §.40.  Neapel  von  1818,  §.  48.  Griechen- 
land. §.  84. 

,7  Bayern  X,  §.  7.  Belgien,  §.  90.  Niederlande,  §.  177, 
179.     Preuszen,  §.  95. 

18  Blacks  tone  I,  2.  4.  Vgl.  Mühry  in  Mittermaier's  Zeitschrift 
XXIV,  S.  309. 


Dreizehntes  Capitel.  Von  den  Gesetzen.   I.  Arten  der  Gesetze.   545 

des  Kichterstandes  widerspreche;    oder   die  Verteidigung  des 
Landes  beeinträchtige  (§.  26); 

b)  die  Befugnisz,  durch  Senatus  consulte  die  Lücken 
der  Verfassung  zu  ergänzen  (§.  27); 

c)  die  C  a  s  s  a  t  i  o  n  aller  verfassungswidrigen  Acten  (§.  28) ; 

d)  die  Anregung  zu  neuen  Gesetzen  und  Verfassungs- 
änderungen. 


Dreizehntes  Capitel. 

Von  den  Gesetzen, 
J.  Alten  der  Gesetze. 

Die  Römer  verstanden  anfänglich  unter  Lex  jede  Rechts- 
verbindlichkeit, welche  auferlegt  worden.  Publica  lex 
war  dann  die  dem  Volke  selbst  auferlegte  und  von  ihm  gut- 
geheiszene  Rechtsverbindlichkeit.  Das  Volk  nimmt  das  Gesetz 
auf  sich ,  und  wird  durch  dasselbe  gebunden.  Der  Magistrat 
fordert  das  Volk  zur  Uebernahme  der  Verbindlichkeit  auf. ' 
Das  römische  Gesetz  war  daher  ursprünglich  weniger  eine  Vor- 
schrift, welche  das  Volk  erliesz,  als  eine  Verpflichtung,  welcher 
sich  das  Volk  unterzog.  Später  aber  nannten  auch  die  Römer 
vorzugsweise  die  allgemeinen  von  der  Volksversammlung  fest- 
gesetzten Rechtsregeln  und  Ordnungen  Gesetze.2 

In  der  neueren  Rechtssprache  wird  der  Ausdruck  Gesetz 
in  verschiedenem  Sinne  gebraucht: 

a)  Um  überhaupt  jede  allgemeine  Rechtsbestim- 
mung, Rechtsregel,    oder  jede  dauernde   Rechtsord- 

1  Populus  legem  accipit,  tenetur  lege,  magistratus  fert  legem.  Vgl. 
Rubino,  Untersuchungen  I,   S.  352  ff. 

2  Atejus  Capito  bei  Gellius  Noctes  Atticae  X,  20:  „Lex  est  generale 
jussum  populi  aut  plebis  rogante  magistratu."  Gajus,  Inst.  I,  §.  3:  „Lex 
est,  quod  populus  jubet  atque  constituit.'" 

Bluntschli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  35 


546     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Korper  und  das  Gesetz. 

nung,  Institution  zu  bezeichnen,  somit  auch  die  des  Ge- 
wohnheits-  oder  des  wissenschaftlichen  Rechts,  und  selbst  die 
Statuten  von  Privatvereinen. 

b)  In  etwas  beschränkterem  Sinne  jede  von  einer  öffent- 
lichen Autorität  im  State  ausgesprochene  Eechtsregel  oder 
Rechtsordnung,  nach  welchem  Sprach  gebrauche  auch  dieEdicte 
der  römischen  Magistrate,  die  Decrete  und  Rescripte  der  Kaiser, 
die  Statuten  der  Räthe  in  den  Städten  und  die  Weisthümer 
und  Offnungen  des  Mittelalters,  und  in  neuerer  Zeit  die  Re- 
gierungsverordnungen Gesetze  heiszen. 

c)  Im  eigentlichen  Sinne  versteht  mau  unter  Gesetz  nur 
die  von  der  obersten  gesetzgebenden  Gewalt,  dem  Gesetz- 
gebungskörper,  mit  höchster  statlicher  Autorität  ausge- 
rüstete dauernde  Rechts  re  gel  und  Rechts  Institution,  im 
Gegensatze  zu  allen  andern  Rechtsansprüchen  und  Anordnungen, 
sowohl  durch  andere  Organe  des  States  als  zu  den  Beschlüssen 
des  Gesetzgebers  selbst,  in  einzelnen  Fällen  eines  momentanen 
Bedürfnisses. 

Mit  Rücksicht  auf  ihren  Inhal f  werden  unterschieden: 

a)  Verfassung s-  und  Grundgesetze,  durch  welche 
die  Grundeinrichtungen  des  States,  zuweilen  auch  die  Grund- 
rechte seiner  Bürger  uml  Einwohner  normirt  werden. 

b)  Organische  Gesetze,  welche  innerhalb  der  Grund- 
gesetze die  Verfassung  im  einzelnen  weiter  ausbauen  und 
ausbilden. 

Insofern  beide  auf  der  organ i sirenden  Tliätigkeit  des 
Gesetzgebers  beruhen,  (das  gilt  von  den  Grundrechten  nicht) 
begründen  dieselben  n  o  t  li  w  e  n  d  i  g  e  s ,  bindendes  Recht, 
und  sie  haben  durchweg  einen  eminent  politischen  Cha- 
rakter, gehören  daher  vorzugsweise  dem  jus  publicum  an.  Neue 
Verfassungs-  und  Grundgesetze  aber  bedürfen  um  ihrer  Wich- 
tigkeit willen  in  manchen  Staten  einer  strengeren  Form  und 
erhöhter  Erfordernisse  als  die  gewöhnlichen  organischen  besetze.3 

3  Schweiz.     Bundesverfassung    von    1843,    Art.    Mi.  „Die  revidirto 


Dreizehntes  Capitel.  Von  den  Gesetzen.    I.  Arten  der  Gesetze.   547 

c)  Regierun gs-  (Verwaltung^-)  Gesetze  und  poli- 
tische Gesetze  im  engeren  Sinne,  sowohl  zur  Normirung  der 
Regierungsweise  als  der  politischen  Rechte  der  Bürger  im 
einzelnen.  Dieselben  sind  nicht  immer  von  bindender  Natur, 
wohl  aber  meistens  von  bestimmendem  und  näher  begränzendem 
Inhalt,  sowohl  für  die  Thätigkeit  der  öffentlichen  Gewalten, 
als  für  die  Ausübung  der  Freiheitsrechte. 

ä)  Finanz-Gesetze  zur  Normirung  des  Statshaushalts. 
Sie  enthalten  ebenfalls  öffentliches  Recht  (jus  publicum), 
sind  aber  oft  nicht  von  bindendem  Charakter ,  sondern  ent- 
halten nur  eine  Ermächtigung  der  Regierung,  z.  B.  den 
Credit  des  States  zu  benutzen  und  Steuern  zu  erheben. 

e)  Straf-  und  Polizei gesetze,  in  der  Regel  Ver- 
bote und  Strafandrohung  enthaltend,  und  daher  wieder 
von  zwingendem  Charakter,  gewöhnlich  aber  dem  richterlichen 
Ermessen  einen  freien  Spielraum  zur  Entscheidung  offenlassend, 
je  nach  den  besonderen  Verhältnissen  einzelner  Uebertretungen 
jener  Verbote. 

/)  Privat  rechtliche  Gesetze  zur  Regulierung  und 
Sicherstellung  der  privatrechtlichen  Verhältnisse.  Nur  aus- 
nahmsweise, und  zwar  wenn  öffentliche  Tuteressen  bestimmend 
einwirken,  sind  dieselben  bindend.  Tn  der  Regel  haben  sie 
nur  einen  erklärenden  Charakter,  mit  Vorbehalt  der  indi- 
viduellen Willensbestimmung  der  einzelnen  Privatpersonen, 
welche  im  Privatvertrag  ihr  eigenes  Gesetz  machen,  und  be- 
stimmen nur,  was  als  regelmäszige  Rechtsmeinung 
der  Parteien  betrachtet  und  gehalten  werden  soll,  wenn  diese 
nichts  Abweichendes  festsetzen.4 

Eine  besondere  Berücksichtigung  erfordern  noch  diejenigen 
Ausnahmsgesetze,  welche  wir  Privilegien  zu  nennen  pflegen. 

Bundesverfassung  tritt  in  Kraft,  wenn  sie  von  der  Mehrheit  der  stimm- 
enden Schweizerbürger  und  von  der  Mehrheit  der  Cantone  angenommen 
worden  ist." 

4  Vgl.  Savigny,  System  des  röm.  Rechts  I,  S.  58. 

35* 


548      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Man  hat  diesem  Ausdrucke  zuweilen  eine  ganz  ungebührliche 
Ausdehnung  gegeben,  und  dadurch  die  Abneigung,  welche 
unser  nach  Gleichheit  des  Eechtes  strebendes  Zeitalter  gegen 
die  Privilegien  nährt,  auch  auf  Institutionen  hingelenkt,  welche 
durchaus  nicht  den  Charakter  von  Privilegien  an  sich  tragen. 
Man  hat  z.  B.  alle  königlichen  Rechte  Privilegien  genannt, 
weil  sie  der  einzigen  Person  des  Königs  zustehen.  Nach  diesem 
falschen  Sprachgebrauch  würde  und  müszte  fast  das  ganze 
Y erfassungsrecht  des  States  als  eine  Anhäufung  von  Privi- 
legien betrachtet  werden,  denn  jedem  einzelnen  Organe  kommen 
besondere  und  aussehlieszliehe  Rechte  zu,  während  dasselbe 
gerade  vorzugsweise  von  dem  Geiste  des  Ganzen  erfüllt  und 
seinem  Wesen  nach  also  von  normaler  Natur  ist. 

Die  Privilegien  sind  immer  Ausnahmsgesetze  und 
zwar : 

a)  Entweder  individuelle  Ausnahmen  von  der  regel- 
mäßigen Rechtsordnung  und  dem  gemeinen  Rechte,  Als  stats- 
rechtliche  Privilegien  von  dieser  Art  sind  z.  13.  der  Ostra- 
eismus  der  Athener  und  die  Verbannung  der  Bourbohen  aus  Frank- 
reich, zu  erwähnen,*  als  privatrechtliche  die  G-ewerbsmoaopole. 

b)  Oder  Ausnahmsregeln,  welche  eine  gewöhnlich 
durch  äuszere  Motive  des  Nutzens  und  der  Zweckmäszigkeit 
gerechtfertigte  oder  entschuldigte  Abweichung  von  dem 
unter  gleichen  Verhältnissen  Bonsl  gleichartigen  gemeinen 
Rechte  und  somit  anomales  Rech.4  (jus  singulare,  im  Gegen- 
satz zum  jus  commune)  enthalten.6  Die  Majestätsrechte  des 
Königs,  die  Pairschafi  der  englischen  Lords,  die  Qnabsetzbar- 
keit  der  Richter  sind  normale  Rechte,  die  Immunitäten  der 
Geistlichkeit,   der   besondere   Gerichtestand  der  Adeligen,    die 

Römische  XII  Tafelgesetze   l\.     „Privilegia  ne  inroganto." 
f>  Paulus   in  L.   in.  I).  de  Legibus  i  I,  :'»):   „Jus  singulare  est,  quod 
contra  tetwrem   rationis  propter   quandara    utilitatera   introductum   est4u 
Julianas  in  L.   15.  eod.:  „Quod  rero  contra  rationem  juris  est,  nun  eit 
producendum  al  consoquentiai."     Vgl.  Savigny,  System  I,  6i. 


Vierzehntes  Capitel.     Form  und  Erzeugung  der  Gesetze.        549 

Ausschlieszung  der  Juden  von  allen  öffentlichen  Stellen  und 
Aemtern,  die  ausgedehntere  Testirbefugnisz  der  Soldaten  da- 
gegen sind  Privilegien  in  diesem  Sinne.  Oft  begegnet  es,  dasz 
was  ursprünglich  normales  Kecht  war,  im  Verfolg  der  Zeit 
unter  veränderten  Umständen  zu  grundlosem  Privilegium  wird, 
und  gerade  diese  Privilegien  sind  es,  die  den  meisten  Hasz 
auf  sich  gezogen  haben.  In  früheren  Zeiten  z.  B.  konnte  die 
Steuerfreiheit  der  Kitter,  die  mit  Leib  und  Leben  dem  State 
dienten,  als  durchaus  normales  Kecht  betrachtet  werden,  im 
siebenzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderte  aber  war  die 
Steuerfreiheit  des  Adels  ein  bloszes  Privilegium  geworden. 


Vierzehntes  Capitel, 

II.  Form  der  Erzeugung  der  Gesetze. 

Es  lassen  sich  vier  Momente  unterscheiden:  1)  die  Bil- 
dung des  Gesetzesvorschlags,  2)  die  Berathung  über 
denselben,  3)  die  Annahme  und  4)  die  Verkündigung 
des  Gesetzes. ■ 

1 .  Der  Gesetzesvorschlag  bildet  die  Grundlage  der 
weiteren  Berathung  und  enthält  das  ganze  künftige  Gesetz  in 
sich.  Eine  sorgfältige  und  gute  Fassung  des  Vorschlags  ist 
daher  in  der  Regel  entscheidend  für  alles  Uebrige.  Ein  in  der 
Anlage  oder  ersten  Ausarbeitung  miszrathener  Vorschlag  wird 
durch  die  Berathung  schwerlich  gut  gemacht,  so  wenig  als 
ein  schlechtes  Gedicht  durch  die  Kritik.  Ein  gutes  Gesetz  ist 
ein  Kunstwerk,  und  wer  den  Vorschlag  zu  machen  hat,  soll 
ein  Meister  sein. 

1  Tgl.  für  England  Ersk.  May.  Das  engl.  Parlament  und  seine 
Verfassung,  übers,  von  Oppenheim.  Leipzig  1860  und  für  die  Ver- 
einigten Staten  von  Amerika:  L.  S.  Cushing  law  and  Practice  of 
legislative  Assemblies   in   the    United   States    of  America.     Boston  1856. 


550     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Im  Alterthum  wurde  der  Vorschlag  gewöhnlich  indivi- 
duell behandelt;  zu  Athen  konnte  jeder  Bürger,  zu  Rom 
nur  ein  Magistrat  ihn  stellen.  Immer  aber  war  die  Vorbe- 
rathung  und  Begutachtung  dort  des  Eathes,  hier  des  Senates 
nöthig.  In  unserer  Zeit  werden  die  Vorschläge  meistens  von 
der,  R  e  g  i  e  r  u  n  g ,  seltener  von  Mitgliedern  der  gesetzgebenden 
Versammlung  eingebracht,  setzen  aber  auch  im  ersteren  Falle 
die  individuelle  Arbeit  eines  Kedactors  voraus,  wenn  sie  in 
Form  und  Inhalt  wohlgerathen  ausfallen  sollen. 

2.  Ist  der  Vorschlag  (Entwurf)  eröffnet,  so  unterliegt  er 
nun  der  Berathung,  und  diese  ist  entweder  Vor  berat  h- 
ung  oder  eigentliche  Berathung. 

Die  Vorberathung  hinwieder  kann  in  formloser 
Weise  vor  sich  gehen.  Bei  den  Römern  dienten  die  Con- 
cionen  dazu,  welche  den  Comitien  vorhergingen  und  darauf 
vorbereiteten.  In  neuerer  Zeit  geschieht  dieselbe  hauptsäch- 
lich durch  die  öffentliche  Discussion  in  der  Presse,  kann 
aber  gar  wohl  auch  durcli  Privatarbeiten  and  Eingaben  anderer 
Art  gefördert  werden.  Soll  diese  Vorberathung  benutzt  werden 

—  und  gewisz  ist  es  jederzeit  wichtig,  dasz  die  öffentliche 
Meinung  Gelegenheit  erhalte,  sich  in  freier  Weise  zu  äuszern, 

—  so  ist  erforderlich,  dasz  der  Entwurf  des  Gesetzes  vor  der 
Hauptberathung  in  den  Kammern  öffentlich  bekannt  gemacht 
werde. 

Wichtiger  noch  ist  die  geordnete  Vorberathung 
durch  die  Kammern  seilet.  Zu  diesem  Behuf  bedarf  es  der 
Ausschüsse,  C o m m i s  s i o n e n. 

Sehr  ausgebildet  ist  das  englische  System  der  Com- 
missionen,  ihrer  Prüfungen  und  Berichte.  In  wich- 
tigen Fällen  verwandelt  sich  das  ganze  Haus  in  eine  Com- 
mission  und  der  Sprecher  verläszt  seinen  Sitz,  in  andern 
Fällen  werden  je  im  einzelnen  Fall  besondere  Ausschüsse  ge- 
wählt und  dabei  die  löbliche  Sitte  beachtet,  die  verschiedenen 
Parteien   in   den   Ausschüssen   vertreten   zu   lassen.     Berühmt 


Vierzehntes   Capitel.     IL  Form  und  Erzeugung   der  Gesetze.   551 

und  mit  Eecht  sind  die  englischen  Prüfungen,  um  ihrer 
Gründlichkeit,  ihres  Reichthums  und  ihrer  lebendigen  Anschau- 
ung willen.  Es  werden  nicht  allein  amtliche,  sondern  auch 
Privatberichte  von  kundigen  Männern  eingezogen,  und  mehr 
noch  mündlich  durch  persönliche  Einvernahmen  und  Gespräche 
als  schriftlich  verkehrt.  Dann  erst  wird  dieser  umfassende 
Stoff  in  dem  Berichte  verarbeitet  und  die  Anträge  der  Com- 
mission  darauf  gestützt. 

Verschieden  ist  sowohl  die  französische  und  preus- 
sische  Methode,  das  ganze  Haus  in  eine  Anzahl  Bureaus 
durch  das  Loos  zu  vertheilen,  und  von  den  Bureaus  die  Aus- 
schüsse bestellen  zu  lassen,  als  die  bayerische,  ständige 
Ausschüsse  durch  die  Kammer  zu  erwählen. 

Der  Wechsel  der  verschiedenen  Formen  je  nach  der  ver- 
schiedenen Art  der  Fälle  ist  wohl  das  beste  System.  —  Unter 
allen  Umständen  aber  ist  darauf  der  gröszte  Werth  zu  legen, 
einerseits,  dasz  in  die  Ausschüsse  je  die  sachkundigsten  und 
urtheilfähigsten  Mitglieder  von  verschiedenen  Parteien 
und  Richtungen  bezeichnet  werden,  andererseits,  dasz  die  Aus- 
schüsse ihre  Untersuchung  und  Nachfragen  nicht  auf  bureau- 
kratische  Wege  beschränken  müssen,  sondern  in  der  Einver- 
nahme sachkundiger  Personen  frei  verfahren  dürfen. 

Für  die  Hauptberathung  innerhalb  der  Kammern 
selbst  sind  folgende  Momente  zu  beachten: 

a)  Die  Redefreiheit  der  einzelnen  Mitglieder.  Dieselbe 
darf  nicht  beschränkt  werden 

a)  durch  Instructionen  der  Wähler,  denn  wieBurke 
zu  seinen  Wählern  sprach:  „Das  Parlament  ist  nicht  ein 
Gesandtencongresz  für  unter  sich  abweichende  und  feind- 
liche Interessen,  welche  Jeder  als  ein  Agent  und  Anwalt 
gegen  andere  Agenten  und  Anwälte  aufrecht  erhalten 
musz,  sondern  das  Parlament  ist  eine  berathschlagende 
Versammlung  Eines  Volkes  mit  Einem  Interesse,  dem  der 
Gesammtheit,  wo   weder  örtliche.  Absichten  noch  Vorur- 


552     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

theile,  sondern  das  von  der  allgemeinen  Vernunft  der  Ge- 
sammtheit  anerkannte  Gemeinwohl  leiten  soll."2 

Die  Zulassung  der  Abstimmung  durch  bevollmächtigte 
Stellvertreter  von  Seite  der  Lords  im  englischen  Oberhaus 
(vote  by  proxy)  ist  ein  in  das  moderne  Kepräsentativsystem 
nicht  passender  Rest  des  früheren  ständischen  Wesens.3 

ß)  Eben  so  wenig  darf  sie  durch  vorherige  Ab- 
stimmungen in  den  Parteiclubbs  der  Kammermit- 
glieder gebunden  werden.  Diese  mögen  zai  besserer  Vor- 
bereitung auf  die  Berathungen  sich  verbinden,  aber  über 
dem  Parteiinteresse  steht  die  allgemeine  Wohlfahrt,  und 
diese   versagt  jeden  Versuch  eines   derartigen   Zwangen  ' 

2  Burke,  Rede  von  1774,  Vgl.  "Washington^  Brief  vom  15.  Nov. 
1786:  „In  nationalen  Angelegenheiten  mag  man  wohl  die  Gefühle  des 
Bezirks,  aber  nicht  den  Willen  des  Bezirk-;  aussprechen,  und  man  nm>7 
den  Abgeordneten  die  Befugnisz  lassen  ,  je  nach  den  Umständen  und  je 
nach  vorgelegten  Aufklärungen  zu  artheilen. "  Franz 5 8.  Verfassung 
1848,  >;•  3  i :  „Lea  membres  de  L'Assemblee  nationale  sont  les  represen- 
tants,  non  du  Appartement  qui  les  nomine,   mais   de   la  France  entiere." 

„II-  nc  peurent  recevoir  de  mandat  imperatif."  Bayerische 
Verf.  ^.  25,  Eidesformel:  „Ich  schwöre  —  in  der  Btänderersammlung 
nur  des  ganzen  Lande«  allgemeines  Wohl  und  Beste,  ohne  Rücksicht  auf 
besondere  Stände  oder  (Jlassen,  nach  meiner  innern  Ueberzeuguns  zu 
berathen."  Preuszische  Verf.  §.  83:  „Die  Mitglieder  heider  Kammern 
sind  Vertreter  des  ganzen  Volkes.  Sie  stimmen  nach  ihrer  freien  Ueber- 
zeugung  und  sind  an  Aufträge   und    Instructionen   nicht  gebunden/ 

3  Blacks  tone  I.  !.  i.  Bayerisch«  Verf.  g.  17:  .Kein  Mitglied 
der  ersten  und  zweiten  Kammer  darf  sich  in  der  Sitzung  durch  einen 
Bevollmächtigten  vertreten  lassen. tt 

♦  Ansprache  des  Münchener  Constitutionen -monarchischen  Vereins 
vom  17-Mai  1849:  „Nimmermehr  darf  die  blosze  Partei,  beisse  sie  Rechte 
oder  Linke,  die  Stimme  eines  Volks  abgeordneten  zum  voraus  für  -ich 
gefangen  nehmen,  ihn  zum  bloszen  Parteiabgeordneten  erniedrigen,  seine 
Ohren  den  Gründen  seiner  Gegner  verschlieszen,  über  seine  freie  Stimme 
nach  ihrem  Belieben  verfügen,  die  freie  Berathung  in  der  Kammer,  die 
alle  Parteien  in  sich  vereinigt,  stören,  die  AVirkung  der  allseitigen  Er- 
örterung der  Volksinteressen  hemmen,  die  Freiheit  der  gemeinsamen 
Verhandlung  und  Abstimmung  fesseln  und  die  Thätigkeit  des  Ganzen 
unterbrechen.  * 


Vierzehntes  Capitel.     II.  Form  und  Erzeugung  der  Gesetze.    553 

y)   Sie  darf  auch   nicht  bedroht  werden  durch  die  Ge- 
fahr von  Verfolgungen.     Es  ist  ein  allgemein  aner- 
kannter Satz   des   modernen   Statsrechtes ,   hervorgebracht 
durch   das   hohe   Nationalinteresse   der  parlamentarischen 
Eedefreiheit,  dasz  kein  Mitglied  des  gesetzgebenden  Kör- 
pers   für    seine   in    demselben    geäuszerten   individuellen 
Meinungen   oder    für   seine    Abstimmung   gerichtlich  ver- 
folgt noch  überhaupt  auszerhalb  des  gesetzgebenden  Kör- 
pers selbst  zur  Kechenschaft  gezogen  werden  dürfe.5 
Dagegen   ist  es  die  Sorge  des  Präsidenten  und  der 
Kammer  selbst,  die  Debatten  in  gemessenen  Schranken  der 
Ordnung   und    des    Anstands    zu    halten,    Ungebühr  zu  rügen 
(Ordnungruf,  Entziehung  des  Worts)   und  grobe  Verletzungen 
ernster,  nötigenfalls  wie  in  England  mit  Verhaftung  oder  in 
Deutschland  mit   Ausstoszung   aus   der  Kammer  zu  bestrafen. 
Die    Würde   und   die   Autorität   sowohl    als  die   Art  und  die 
Grösze   ihrer  Aufgabe  erfordern  eine  unnachsichtige  Handhab- 
ung   solcher  Ordnung  und  einen  entschiedenen  Nachdruck  auf 
Bewahrung   des   guten  Tones    und   des  parlamentarischen  An- 
standes. 6 

5  Englische  Bill  of  rights  von  1G8CJ.  Blacks  tone  I.  2,  3.  Story 
Coram.  III,  St.  12,  §.  124  und  St.  10,  §.  100.  Bayerische  VII,  §.  27. 
Belgische  §.  44.  Griechische  §.  55.  Preuszische  §.  84.  Das 
Princip  ist  auch  in  die  s  ch  weizeris  chen  Verfassungen  übergegangen. 

6  Sismonäi,  ßtudes  sur  les  const.  des  peuples  libres  I,  145:  „Jeder 
Tumult,  jede  Gewaltsamkeit  der  Sprache,  jede  Reizung  zum  Zorne  und 
zu  den  Leidenschaften  des  Hasses,  sind  nicht  blosz  Beleidigungen  der 
nationalen  Würde,  sie  sind  auch  Angriffe  auf  die  Freiheit,  auf  jene 
Souveränetät  der  nationalen  Vernunft,  welche  das  schönste  Vorzugsrecht 
der  freien  Völker  ist.  In  Frankreich  haben  die  Stürme  der  Volksleiden- 
schaften den  Geist  der  Repräsentation  getödtet  und  kaum  dessen  Form 
stehen  lassen.  "Wie  kann  die  öffentliche  Achtung  vor  einer  Kammer  be- 
stehen, die  immer  ungeduldig,  immer  leidenschaftlich  aufgeregt  erscheint, 
wenn  sie  nicht  aufmerksam  ist?  Kann  die  Nation  sich  vorstellen,  dasz 
diese  Versammlung  ihre  Einsichten  widerstrahlt  und  ihren  Geist  zu- 
sammenfaszt?  —  Das  Schicksal  der  Freiheit,  der  endliche  Sieg  der  Sache 
der  Menschheit  ist  gefährdet  durch  diese  verderbliche  Manier,  welche  in 


554     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

b)  Das  Kecht  Verbesserungs antrage  (amendements) 
zur  Sprache  zu  bringen  wird  nun  gewöhnlich  nach  dem  Vor- 
gang der  Engländer  den  Mitgliedern  der  Versammlung  zuge- 
standen, auf  dem  Continent  aber  weit  unmäsziger  geübt  als  in 
England.7  Unbedenklich  mag  es  von  den  Ausschüssen  und  in 
den  Ausschüssen  in  weitem  Umfange  geübt  werden.  Für  die 
Hauptberathung  der  Versammlung  aber  gibt  es  der  Gründe 
genug,  um  ähnlich  wie  die  Motionen  so  auch  die  Verbesserungs- 
anträge der  Mitglieder  innerhalb  gewisser  Schranken  zu  weisen, 
welche  die  Versammlung  vor  Ueberraschung  schützen  und  vor 
Miszgriffen  bewahren  sollen,  und  dafür  sorgen,  dasz  nicht  die 
Harmonie  und  die  Absicht  des  Gesetzes  Schaden  leiden. 

c)  Die  Notwendigkeit  wiederholter  Berathung,  bevor 

neuerer  Zeit  sicli  über  alle  repräsentativen  Riithe  verbreitet,  durch  diese 
Beifallsbezeugungen ,  welche  denen  zu  Theil  werden,  die  sich  in  dem 
Ausdrucke  der  Leidenschaft  oder  in  dem  Talente  beiszenden  Spottes  aus- 
zeichnen, durch  diese  Sucht  zu  glänzen,  welche  den  Ton  der  Wahrheit 
und  die  Gedanken  der  Weisheit  für  einen  Triumph  der  Tribüne  hergibt. 
Und  doch  ist  es  nur  der  Triumph  eines  Tages,  dem  bald  die Miszbilligung 
folgt,  welche  der  ganze  Körper  auf  Bich  zieht,  und  der  Miszoredit  selbst 
der  Institutionen  der  Freiheit.  E>  isi  Zeil  auch  für  England,  auf  seine 
alten  parlamentarischen  Gewohnheiten  und  auf  sein  altes  Gefühl  für 
Schicklichkeit  zurückzugehen,  und  es  tat  Zeh  für  alle  Andern  freien 
Staten,  von  England  zu  lernen,  dasz  die  repräsentativen  Formen  ihren 
Nutzen  verlieren  und  in  Verachtung  fallen,  wenn  sie  nicht  durch  die 
"Würde,  durch  die  Urbanität  und  die  Leidenschaftslosigkeit  der  Verhand- 
lung gehoben  werden. u  Feine  Bemerkungen  über  die  „Taktik  der  ge- 
setzgebenden Versammlungen"  hat  der  Engländer  Bcntham  mit  Bei- 
hülfe des  Genfers  Dumont  unter  diesem  Titel  herausgegeben. 

7  Sismondi,  (Etudcs  I,  164):  „Die  Mitglieder  der  beiden  Häuser 
haben  das  ausgedehnteste  Recht  der  Amendements,  aber  sie  haben  zu 
viel  Weisheit,  um  sich  der  Redaction  des  Gesetzes  zu  bemächtigen;  sie 
überlassen  alle  Ehre  und  alle  Mühe  derselben  den  Urhebern  der  Bill, 
und  ermüden  die  Versammlung  nicht  durch  eine  unendliche  Reihe  von 
Abstimmungen  im  Einzelnen.  Die  Opposition  concentrirt  ihren  Angriff 
in  einen  einzigen  Yerbesscrungsantrag,  der  ihr  ganzes  System  darlegt, 
und  darüber  verlangt  sie  die  Meinung  des  Hauses,  the  sense  of  the 
House.  Geht  der  Antrag  durch ,  so  läszt  das  Ministerium  die  Bill  fallen 
oder  zieht  sich  auch  wohl  selber  zurück," 


Vierzehntes  Capitel.     II.  Form  und  Erzeugung  der  Gesetze.     555 

es  zur  endlichen  Abstimmung  kommt,  sichert  die  Reife  der 
Meinungs-  und  Willenserzeugung.  In  England  wird  drei- 
malige Lesung  des  Gesetzesentwurfs  erfordert,  je  nach 
Zwischenräumen.  Die  erste  Lesung  bedeutet  nur,  das  Haus 
bekannt  machen  mit  der  Vorlage  und  es  auffordern,  dieselbe 
in  Berathung  zu  nehmen.  Sie  wird  nur  versagt,  wenn  das 
Haus  von  Anfang  an  entschlossen  ist,  die  Frage  nicht  zu  er- 
örtern oder  das  Princip  des  Vorschlags  zu  verwerfen.  Wicht- 
iger ist  die  zweite  Lesung.  Diese  wird  schon  öfters  verweigert. 
Wird  sie  bewilligt,  so  ist  das  regelmäszig  die  Einleitung  zu 
einer  allgemeinen  Comite-Berathung,  welche  das  Detail  fest- 
stellt. Erst  wenn  die  ganze  Arbeit  reif  ist,  kommt  es  zu  der 
dritten  entscheidenden  Lesung,  bei  welcher  nur  noch  Redac- 
tionsverbesserungen  zuläszig  sind.8 

Auf  dem  Continente  ist  die  einmalige  Lesung  meistens 
als  Regel  anerkannt.  Da  indessen  gewöhnlich  auch  da  Aus- 
schuszberathungen  der  Hauptverhandlung  vorangehen  und  der 
Entwurf  schon  früher  eingebracht  war,  so  ersetzt  diese  ein- 
malige Lesung  die  englischen  zweite  und  dritte.  Nur  aus- 
nahmsweise z.  B.  für  Verfassungsgesetze  schreiben  einzelne 
Verfassungen,  z.  B.  die  preuszische,  eine  wiederholte 
Abstimmung  vor,  seltener,  wie  z.  B.  in  Zürich  für  alle 
Gesetze. 

d)  Eigenthümlich  war  die  Methode  der  Athener  zur 
Verfechtung  des  alten  Gesetzes  gegenüber  von  neuen  Ent- 
würfen, besondere  Anwälte  von  Statswegen  zu  bestellen.  In 
einem  Zeitalter  der  Neuerung  wie  das  unsrige  wäre  solche 
Vorsicht  kaum  überflüssig,  und  würde  zu  gründlicher  Betracht- 
ung und  Vergleichung  der  hergebrachten  Ordnung  mit  der 
neuen  mancherlei  oft  übersehenen  Stoff  herbeischaffen. 

3.  Ueber  die  Annahme  des  Gesetzes  wird  durch  die 
Abstimmung  entschieden.     Auch   sie  soll   eine  freie  sein. 

8    Oppenheim,    Artikel    Parlam.    Geschäftsordnung    im    deutschen 
Statswörterbuch.     Haym,  Preuszische  Jahrb.  von  1859,  Heft  2. 


556     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Was  die  Mehrheit  nach  gepflogener  Berathung  beschlieszt,  das 
gilt  als  Meinung  und  Wille  der  ganzen  Kammer.  Die  Ab- 
stimmung kann  öffentlich  geschehen  durch  Handaufheben  oder 
Aufstehen.  Jenes  macht  weniger  Geräusch  und  befördert  die 
Freiheit,  indem  es  ihr  nicht,  wie  die  Nöthigung  zum  Auf- 
stehen, die  Bequemlichkeit  des  Sitzenbleibens  als  Schwerge- 
wicht anhängt.  Seltener  und  nur  aus  be sondern  Gründen  ist 
eine  geheime  Abstimmung  durch  Kugeln  oder  Stimmtäfelchen 
anwendbar.  Die  Stellvertreter  des  Volkes  dürfen  das  Licht 
nicht  scheuen,  und  sollen  vor  seinem  Angesichte  ihre  Ueber- 
zeugung  kundgeben.  Eine  Abstimmung  aber  mit  Namensaufruf 
rechtfertigt  sich  nur  in  besonders  wichtigen  Fällen.  Häutig 
angewendet  dient  sie  der  Verschleppung,  der  Intrigue  und  dem 
Parteispiele. 

Was  die  Abstimmung  durch  die  Kammern,  ist  die  Sanc- 
tion  des  Hauptes.  Sie  erst  ertheüt  dem  zur  Bill  gewordenen 
Vorschlag  Gesetzeskraft. 

L  Durch  die  Sanction  des  Gesetzes  ist  der  eigentliche 
Act  der  Gesetzgebung  vollendet.  Die  Verkündigung,  Pro- 
mulgation, Publication  derselben  aber  wird  regelmässig 
als  ein  Act  der  Kegierun--  behandelt,  indem  durch  dieselbe 
das  Volk  mit  dem  Inhalte  des  G<  in  offizieller  Form  be- 

kannt gemacht  und  dessen  Beachtung  gesichert  wird.''  Die 
Gültigkeit  des  Gesetzes  tritt  mit  der  Sanction  ein.  und  die 
Verkündigung  ist  eine  nothwendige  Folg«',  nichl  der  Grund 
jener.  Die  Rechtsverbindlichkeit  des  Gesetzes  aber  für 
die  Statsangehörigen  wird  in  manchen  Staten  erst  von  der 
öffentlichen  Verkündigung  an  gerechnet.  ,"  die  nun  meistens 
durch  die  Presse  vollzogen  wird. 

Es  gilt  das  auch  in  den  schweizerischen  Republiken,  wo 
der  Regierung  nicht  einmal  ein  Veto,  noch  weniger  die  Sanction  zustellt. 
In  Frankreich:  ,,Le  president  de  la  Repnblique  ]>romulgue  leg  lois  au 
nom  du  peuple  francais."     Verf.  von  1848,  §.  56-  -59. 

10  Cude  Civil  Napolfon,  §.   1.  Oesterroich  :  Gteeetsbuoh  §.  2.   Die 
Engländer  nehmen  an,  durch  die  Erklärung  der  königlichen  Sanction  im 


Fünfzehntes    Capitel.     Grenzen  der  Gültigkeit  der  Gesetze.     557 

Fünfzehntes  Capitel. 

Grenzen  der  Gültigkeit  der  Gesetze. 

Die  Macht  des  Gesetzgebers  ist  die  höchste  im  State, 
wenn  auch  nicht  eine  absolute ; l  ihn  in  der  Ausübung  der- 
selben durch  statliche  Anordnungen  zu  beschränken,  ist  daher 
schwer.  Wenn  der  Gesetzgeber  die  moralischen  Bestimmungen 
und  Schranken,  welche  die  groszen  Zwecke  des  States,  Ge- 
rechtigkeit und  allgemeine  Wohlfahrt,  ihm  setzen,  nicht  be- 
achtet, so  wird  es  nicht  leicht  gelingen,  ihn  durch  äuszerliche 
Rechtsmittel  auf  der  richtigen  Bahn  zu  erhalten. 

Einige  Rücksichten  der  Rechtsordnung  dienen  indessen 
auch  als  Schranken  dei   gesetzgeberischen   Willkür. 

1 .  Die  f  0  r  m  e  1 1  e  P  r  ü  l'u  n  g ,  ob  wirklich  ein  auf  ver- 
fassungsmäßigem Wege  entstandenes  Gesetz  vorhanden  sei, 
steht  auch  den  ü  br  ig en  S  t  a  t  s  g  e  w alten,  wenn  sie  das  Ge- 
setz anwenden  oder  beachten  sollen,  unbedenklich  zu.  AVürden 
in  der  constitutionellen  Monarchie  die  beiden  Kammern  ein 
Gesetz  verkünden  lassen,  das  der  König  nicht  sanetionirt  hat, 
so  würden  die  Regierung  und  die  Gerichte  mit  Recht  dessen 
Anerkennung  verweigern ,  und  würde  der  König  ein  Gesetz 
proclamiren,  das  nicht  die  Zustimmung  der  Kammern  erlangt 
hat,  wo  diese  unentbehrlich  ist,  so  würde  auch  einem  solchen 
angeblichen  Gesetze  der   Gehorsam  versagt  werden  dürfen. 2 

Parlament  werde  das  Gesetz  für  Jedermann  verbindlich,  denn  was  im 
Parlament  öffentlich  geschehe,  sei  .ledermann  bekannt.  Blacks  tone  I, 
2,  6.  Ebenso  die  Nordamerikaner.  R.  v.  Mohl,  Statsrecht,  Völker 
und  Politik  IL  S.  602. 

1  Siehe  oben  Cap.  8. 

2  Puchta,  Pandekten,  §.  15.  Beseler,  deutsches  Privatrecht  1,71. 
Die  Frage  ist  neuerdings  in  Deutschland  streitig  geworden.  Vgl.  Seuf- 
fert  im  Archiv  für  Entscheidungen  der  obersten  Gerichtshöfe  IV,  Nr.  250, 
und  V oller t  in  Mohl's  Zeitschrift  für  Statswissenschaft  X,  S.  328  ff. 
Bei  Erörterung  der  Frage  stellt  man  sich  oft  einseitig  auf  den  Stand- 
punkt   des    Gerichts,  vor   dem   über    die  formelle   Gültigkeit    und  An- 


558     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  da3  Gesetz. 

Die  Prüfung  der  übrigen  Statsgewalten  erstreckt  sich  aber 
nicht  auf  die  Art  der  Zusammensetzung  einer  Kammer  noch 
auf  ihre  Beschluszfähigkeit  im  einzelnen  Fall.  Der  Entscheid 
z.  ß.  über  die  Gültigkeit  einzelner  Wahlen  von  Abgeordneten, 
über  Erfordernisz  einer  bestimmten  Zahl  von  anwesenden  Mit- 
gliedern u.  s.  f.  ist  ganz  der  Kammer  selbst  anvertraut,  und 
ihr  Verfahren  unterliegt  nicht  der  Controle  der  Verwaltungs- 
oder Gerichtsbehörden. 

2.  Gröszere  Bedenken  hat  die  Xirhtanerkennuug  eines 
Gesetzes,  weil  der  Inhalt  desselben  verfassungswidrig  sei. 

Es  versteht  sich,  dasz  der  gesetzgebende  Körper 
selbst,  auch  wenn  er  eine  Verletzung  der  Verfassung  oder 
sonst  ein  Unrecht  begangen  hat,  nicht  innerhalb  des  States, 
dessen  Gesammtheit  er  repräsentirt,  zur  Verantwortung  und 
Strafe  gezogen  noch  Oberhaupt  verklagt  werden  kann.  Selbst 
in  denjenigen  S taten,  in  welchen  das  Statsoberhaupt  verant- 
wortlich ist  für  Beine  Regierung,  hat  man  doch  nie  an  die 
Möglichkeit  gedacht,  auch  den  gesetzgebenden  Körper  für  ver- 
antwortlich zu  erklären.  Alle  andern  Behörden  und  Beamt- 
ongen  im  stufe  sind  nur  einzeln.'  Organe  in  dem  Statskörper. 
Er  allein  stellt  als  Gesetzgeber  den  ganzen  Körper  >ell>sf  dar. 
Wie  könnte  dalier  der  Theil  zu  Gericht  sitzen  über  das  Ganze, 
das  Glied  über  den  Körper?3 

wendbarkeit  einet  Gesetzes  nuf  eine  bestimmte  Prooeszsaohe  gestritten 
wird.  \)a<  Grerieht  prüft  hier  die  Präge,  ob  eine  GesetsesautoritAt  da 
sei,  wie  es  prüft,  ob  die  A atorUat  des  Gewohnheitsrechtes  oder  der 
Jurisprndeni  rar  Anwendung  komme,  in'"  Präge  [gl  aber  für  die  V.-r- 
waltung  suefa  zu  erwägen,  denn  euch  sie  bat  in  ihrem  Bereich  jene 
Autoritäten  zu  beaebten  und  daher  vorerst  in  erkennen,  Deberdem  darf 
man  nicht  übersehen,  dasz  im  leisten  Grande  die  Präge  eine  stati- 
rechtliche  und  dabei  die  h0ob9te  itatsreehtliohe Autorität  des  gesetz- 
gebenden Körpers  für  die  «künftige  Anerkennung  oder  Nichtanerkennung 
früherer  zweifelhafter  (resetze  mailgebend  i-t. 

3  E*  gilt  das  auch  in  den  republikanischen  Btaten  nicht  minder  all 
in  dem  monarobisoben.  Story,  Comra.  in,  st.  .;>.  Die  Luzerner  Oe- 
ricbte  des  Jahres   1850  haben  diesem  Prinoip  entgegen  die  Verurtheilung 


Fünfzehntes  Capitel.     Grenzen  der  Gültigkeit  der  Gesetze.      559 

In  den  meisten  neuern  Staten  wird  aber  auch  kein  Rechts- 
mittel verstattet  gegen  die  Gültigkeit  und  Anwendbar- 
keit eines  Gesetzes  aus  dem  Grunde,  dasz  sein  Inhalt  im 
Widerspruch  mit  der  Verfassung  stehe.  Die  Autorität 
des  gesetzgebenden  Körpers  gilt,  so  weit  seine  Functionen 
reichen,  als  die  höchste  und  als  eine  unbestreitbare.  Die 
Gerichte  sind  daher  nicht  ermächtigt,  den  Inhalt  eines  Ge- 
setzes anzugreifen,  und  durch  ihre  Autorität  für  ungültig  zu 
erklären.  Ungeachtet  sie  sich  nur  über  die  Anwendung  im 
einzelnen  Falle  aussprechen,  nicht  über  das  Princip  in  seiner 
Allgemeinheit,  so  sind  sie  doch  auch  in  den  ihnen  zur  Beur- 
theilung  vorgelegten  einzelnen  Fällen  gehalten,  sich  der 
höheren  Autorität  des  Gesetzgebers  unterzuordnen.4 

Diesen  letzteren  Grundsätzen ,  welche  sowohl  in  F  n  g- 
1  a n  d  als  auf  dem  e u  r o  p  ä  i  s c  h  e  n  Continente  allgemein 
gelten,  und  in  der  Harmonie  und  Einheit  des  Statsorganismus 
und  seiner  Thätigkeit  ihre  tiefere  Begründung  suchen,  hat  das 
nordamerikanische  Statsrecht  ein  anderes  System  entgegen- 
gesetzt. Nach  demselben  nämlich  sind  die  Gerichte  befugt 
und  verpflichtet,  einem  Gesetze,  welches  nach  ihrer  Ueberzeug- 
ung  der  Verfassung  widerspricht,  als  einem  ungültigen  die 
Anerkennung  zu  versagen  und  die  Vollziehung  desselben  zu 
hemmen.5  Die  amerikanischen  Statsmänner  sehen  darin  „den 
Ruhm  ihrer  Verfassung,   dasz  es   sogar  für  die  Versehen  der 


der  Mitglieder  eine'  gewaltsam  aufgelösten  Groszen  Käthes  wegen  eines 
von  diesem  gutgeheiszenen  Statsvertrags  ausgesprochen,  ungeachtet  sie 
vorher  durch  die  Rechtsgutachten  der  Juristenfacultäten  von  München 
und  Zürich  über  die  Rechtswidrigkeit  eines  solchen  Verfahrens  unter- 
lichtet  worden  waren,  und  obwohl  gerade  die  Luzerner  Gesetzgebung 
mit  vozüglicher  Klarheit  die  Unzuläszigkeit  desselben  ausspricht. 

4  Vgl.  oben  S.  460. 

5  Bundesverfassung  III,  2:  „Die  richterliche  Gewalt  erstreckt  sich 
über  alle  Fälle  des  Gesetzes  und  der  Billigkeit  (in  law  and  equity)  die 
sich  gegen  diese  Verfassung^  die  Gesetze  der  Vereinigten 
Staten  und  gegen  Statsverträge  ereignen." 


560    Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Legislatur  selbst  ein  Heilmittel  gebe."6  Der  „Föderalist"  führt 
dafür  folgende  Hauptgründe  an:  .Die  Gewalt  des  Volkes  stellt 
über  der  gesetzgebenden  und  der  richterlichen  Gewalt,  und 
die  Constitution  musz  dem  Statute,  die  Absicht  des  Volkes 
der  Absicht  seines  Agenten  vorgezogen  werden.  Wo  daher 
der  Wille  der  Legislatur,  den  sie  in  ihren  Statuten  erklärt. 
dem  von  dem  Volk  in  der  Constitution  erklärten  entgegen- 
steht, da  müssen  die  Richter  sich  mehr  durch  den  letztem 
als  durch  den  erstem  leiten  lassen.  Sie  müssen  ihre  Ent- 
scheidungen eher  naeh  den  Grundgesetzen  als  nach  jenen 
regeln,  welche  nicht  fundamental  sind.  Wie  die  Gerichte  bei 
der  Bestimmung  zwischen  zwei  sieb  widersprechenden  Ge- 
setzen, dem  später  erlassenen  den  Vorzug  geben,  s.»  geben  sie 
hier  bei  der  Bestimmung  zwischen  zwei  sich  widersprechenden 
Acten  einer  höhern  und  einer  untergeordneten  Behörde,  einer 
ursprünglichen  und  einer  abgeleiteten  Gewalt,  dem  Ausspruche 
der  hohem  Behörde  den  Vorzug.  .Man  kann  niohi  erwiedern, 
dasi  die  Gerichtshöfe  unter  dem  Vorwand  eines  Widerstreits 
ihre  Willkür  den  constitutioneUen  Absichten  der  Legislatui 
unterstellen  möchten,    hie  Gerichte  müssen  den  Sinn  des 

sei/es    erklären,    und    wenn    sie    geneigl    sein    würden,    ihren 

Willen  statt  ihres  Drtheile  geltend  zu  machen,  so  würde 
die  Folge  überhaupt  auch  in  allen  andern  Fällen  der  richter- 
lichen Thätigkeii  die  Setzung  ihrer  Willkür  an  die  Stelle  des 
Willen.^  des  Gesetzsebers  sein."  Der  oberste  Gerichtshof  seihst 
sprach  sieb  darüber  unter  anderm  bo  aus:  „Jene,  welche  den 
Grundsatz  bestreiten,  dasz  die  Constitution  in  den  Gerichts- 
höfen als  oberstes  Gesetz  betrachte!  werden  müsse,  werden  zu 
der  Nothwendigkeil  geführt,  zu  behaupten,  das/  die  (Jeriehts- 
höfe  ihre  Augen  über  die  Verfassung  schlieszen,  und  blosz 
das  Gesetz,  ansehen  dürfen.  Diese  Lehre  würde  erklären,  das/ 
ein  Act,  welcher  nach  den  Grundsätzen  und  der  Theorie  un- 
serer   Etegierungsweise    völlig   ungültig    ist.    dennoch    in    der 

'    Worte  des   Repräsentanten  Boudinot. 


Fünfzehntes  Capitel.     Grenzen  der  Gültigkeit  der  Gesetze.      5ßl 

Praxis  vollkommen  verbindlich  sei.  Sie  würde  erklären,  dasz 
wenn  die  Legislatur  thun  wird,  was  ausdrücklich  verboten 
ist,  ein  solcher  Act,  ungeachtet  des  ausdrücklichen  Verbots, 
in  der  Wirklichkeit  gültig  sei.  Sie  würde  der  Legislatur  eine 
practische  und  reelle  Allmacht  in  dem  nämlichen  Athemzug 
geben ,  welcher  erklärt ,  sie  in  enge  Grenzen  einzuschränken. 
Sie  zieht  Schranken  und  erklärt  zugleich,  dasz  diese  Schranken 
nach  Willkür  übertreten  werden  dürfen." 

Es  läszt  sich  nicht  verkennen,  dasz  in  diesem  Eaisonne- 
ment  eine  gewisse  Wahrheit  liegt,  und  dieser  Versuch,  die 
moralischen  und  ideellen  Schranken  der  Legislatur  durch 
äuszerliche  Stützen  zu  befestigen,  verdient  immerhin  die  Be- 
achtung der  Statsmänner.  Auch  ist  die  Gefahr,  dasz  die 
richterliche  Gewalt  ihrerseits  die  gesetzgeberische  usurpiren 
möchte,  in  der  That  gering ;  denn  sicher  erfordert  es  jeder- 
zeit groszen  und  seltenen  Muth  der  Richter,  um  im  einzelnen 
Falle  dem  ausgesprochenen  Willen  der  obersten  Statsmacht 
entgegenzutreten  und  das  Keclit  der  Verfassung  gegen  jene 
und  gegen  die  Kegierung  zu  schirmen.  Würde  es  sich  auch 
nur  darum  handeln ,  ein  „  Versehen "  des  Gesetzgebers  zu 
verbessern,  würde  die  gerichtliche  Erklärung  der  Verfas- 
sungswidrigkeit eines  Gesetzes  keine  andere  Folge  haben,  als 
die,  den  Gesetzgeber  zu  nochmaliger  Prüfung  zu  veranlassen, 
so  könnte  man  ohne  grosze  Bedenken  jener  amerikanischen 
Auffassung  zustimmen. 

Wenn  man  aber  in  Erwägung  zieht,  dasz  der  Gesetzgeber 
in  der  Regel  von  der  Verfassungsmäszigkeit  des  Gesetzes 
überzeugt  ist  und  dieselbe  will,  und  dasz  dennoch  sehr  leicht 
sich  verschiedene  Meinungen  darüber  bilden,  so  dasz,  wenn 
sein  Ausspruch  Gegenstand  des  Streites  werden  kann,  das  Ge- 
richt vielleicht  eine  andere  Ansicht  darüber  hat,  als  der  Ge- 
setzgeber; wenn  man  bedenkt,  dasz  in  diesem  Falle  doch  die 
höhere  Autorität  des  Gesetzgebers  zwar  nicht  im  Princip, 
aber  im  Erfolg  der  niedriger  gestellten   der  Gerichte  weichen 

Itluntächli,  allgemeines  Statsrecht.     I.  36 


5ß2      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

und  der  Repräsentant  der  gesarnmten  Nation  im  Conflicte  mit 
einem  einzelnen  Organe  des  Statskörpers  hinter  dasselbe  zu- 
rückstehen niüszte;  wenn  man  die  Störung  und  den  Zwiespalt, 
welche  auf  solche  Weise  in  den  einheitlichen  Gang  des  Stats- 
lebens  gebracht  wird,  überlegt  und  sich  erinnert,  dasz  die 
Gerichte  ihrer  jetzigen  Beschaffenheit  nach  vorzugsweise  zur 
Erkenn tnisz  privatrechtlicher  Normen  und  Rechtsverhältnisse 
berufen  und  vorzugsweise  geneigt  sind,  auf  formell  -  logische 
Momente  den  Nachdruck  zu  legen,  während  es  sich  hier  ge- 
rade häufig  um  die  wichtigsten  statsrechtlichen  Interessen  und 
die  allgemeine  Wohlfahrt  handelt,  die  zu  erkennen  und  n 
fördern  Aufgabe  des  Gesetzgebers  ist:  so  wird  man  dennoch 
dem  europäischen  System  den  Vorzug  geben,  obwohl  dasselbe 
nicht  vor  allen  Uebeln  schützt  und  an  der  UnvollkommenhiMt 
der  menschlichen  Zustände  auch  seinen  Antheil  hat.  Auch 
gegen  ungerechte  Urtheile  der  obersten  Gerichte  gibt  es  in 
der  Regel  keine  Inneren  HülfsmitteL  Der  gesetzgebende 
Körper  aber  trägt  in  seiner  Bildung  die  wichtigsten  Garan- 
tien, dasz  er  nicht  seine  Befugnisse  in  verfassungswidrigem 
Geiste  ausübe.7 

7  Die  nordamerikanisehe  Ansicht  hat  auch  in  Europa  zwei  bedeu- 
tende Vertreter  gefunden,  in  dem  Belgier  Verhaegen,  des  lois  consti- 
tutionelles,    Bruxeft  und  in  unserem  Robert  v.  Molil,   Stats- 

reelit,  Völkerrecht  und  Politik  I,  s.  66  ff.,  und  in  dem  deutsehen  Btats- 
wörterbuch,  An.  Gesetz.  Auch  er  unterscheidet  Verfassung,  Gesetz  und 
Verordnung,  so  das/  den  Gerichten  zustehe,  die  Verfassungsmisiigkeit 
der  Besetze  Bowohi  in  Form  als  in  Inhalt,  wie  die  Gesetzm&szigkeit  der 
Verordnung  zu  prüfen.  Das  praotiscb  «richtigste  Motiv,  welches  mich 
einstweilen  noch  bestimmt,  die  europäische  Praxis  rorzuziehen,  hat  übri- 
geD9  HohJ  miszyerstanden.  .Nicht  weil  ich  ein  blindes  Vertrauen  haha, 
dasz  die  Kammern  allezeit  von  einem  lebendigen  Gefühl  ihrer  Pflichten 
gegen    die   Verfassung    geleitet    werden    und    desihalb    keine    materielle 

Verfassungswidrigkeit  begehen  werden,  habe  ich  die-e  Meinung  rerthei- 

digt;  sondern  weil  ich  unsern  fast  nur  oifilistisoh  und  criminalistisch 
gebildeten  und  an  blosze  formell-logische  Operationen  gewohnten 
Berichten  weniger  ein  richtiges  Urthcil  über  die  Verfassungsmäszigkeit 
eines Gesetzaa  zutraue  als  den  großen  repräsentativen  Körpern,  d.h.  weil 


Fünfzehntes  Capitel.     Grenzen  der  Gültigkeit  der  Gesetze.      563 

In  neuester  Zeit  hat  Napoleon  III.  durch  seine  Verfassung 
vom  14.  Januar  1852  eine  neue  Form  der  Garantie  gegen 
einen  verfassungs-  und  rechtswidrigen  Inhalt  der  Gesetze  ein- 
geführt, indem  er  dem  Senate  die  Pflicht  einschärfte  und 
das  Recht  gab,  Einsprache  zu  machen  gegen  Gesetze  mit 
solchem  Inhalt.  Da  aber  diese  Prüfung  vor,  nicht  nach  der 
Promulgation  der  Gesetze  geübt  wird,  so  wirkt  diese  Form 
doch  nicht  stärker,  als  die  in  dem  Zweikammersystem  eben- 
falls gegebene,  der  nöthigen  Zustimmung  beider  Häuser. 

3.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Beachtung  der  na- 
türlichen Eechtsordnung  überhaupt.  Sie  ist  die  Pflicht 
des  Gesetzgebers,  denn  das  Gesetz  ist  seinem  Wesen  nach  der 
Ausdruck  und  die  Offenbarung  des  natürlichen  Eechtes  und 
nicht  ein  willkürliches  Froduct.  Aber  wenn  er  dieser  Pflicht 
nicht  eingedenk  oder  über  ihre  Ausdehnung  und  Anwendung 

die  politischen  Garantien  für  den  verfassungs-  und  rechtmäszigen 
Inhalt  der  Gesetze  gröszer  sind  in  dem  Parlament  als  in  einem  gewöhn- 
lichen Gerichtshof.  Die  Fälle,  wo  das  Statshaupt  mit  Zustimmung  der 
Kammern  eine  offenbar  verfassungswidrige  Bestimmung  in  ein  Gesetz 
aufnimmt,  sind  gewisz  äuszerst  selten.  Aber  die  Fälle,  in  denen  gesetz- 
liche Bestimmungen  einen  allgemeinen  Grundsatz  der  Verfassung  im 
einzelnen  beschränken  und  in  der  Anwendung  modificiren,  sind  sehr 
häufig,  und  da  kann  immer  und  leicht  gestritten  werden,  ob  der  Inhalt 
des  Gesetzes  verfassungsmäszig  oder  verfaszungswidrig  sei.  Die  blosz 
logische  Schluszfolgerung  aus  einem  abstracten  Verfassung.ssatz  wird  da 
leicht  zu  dem  verneinenden  Resultate  der  Verfassungswidrigkeit  führen, 
während  die  politische  Erwägung  aller  Verhältnisse,  die  neben  und 
auszer  dem  Wortlaute  des  Verfassungsparagraphen  wirken,  den  Gesetz- 
geber von  der  Rechtmäszigkeit  seiner  Anordnung  überzeugt.  "Würde  es 
gelingen,  einen  statswissensc haftlich  durchgebildeten  Statsgerichts- 
hof  oder  Senat  herzustellen,  dem  mit  politischem  Vertrauen  eine  nega- 
tive Controle  auch  des  Gesetzgebungskörper3  anvertraut  werden  könnte, 
so  würde  mein  Hauptbedenken  beschwichtigt  sein.  Der  Grundgedanke 
des  französischen  Senats  entspricht  dieser  Forderung,  aber  seine  Aus- 
führung gewährt  nicht  die  nöthige  Sicherheit  für  eine  selbständige  Con- 
trole der  verfassungsmäszigen  Rechte  und  Freiheiten.  Die  nordamerika- 
nische Praxis  selber  hat  übrigens  bei  den  Reconstructionsgesetzen  von 
1866.  67  gezeigt,  dasz  auch  in  Amerika  die  Autorität  der  Gerichte  im 
Kampfe  mit  der  des  Congresses  weichen  musz. 

36* 


564     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

im  Irrthum  ein  Gesetz  erläszt,  welches  mit  der  natürlichen 
Rechtsordnung  im  Widerspruche  steht,  so  gibt  es  auch  hier 
kein  legales  Statsmittel,  um  diesen  Fehler  zu  verbessern,  als 
die  Befugnisz  des  Gesetzgebers  selbst,  durch  Revision  des  Ge- 
setzes die  Harmonie  herzustellen.  Den  Gerichten  darf  wieder 
das  Recht  nicht  zugestanden  werden,  die  höhere  Autorität  des 
Gesetzgebers  durch  ihre  eigene  unwirksam  ^u  machen.  Auch 
das  ungerechte  Gesetz  ist,  so  lange  es  in  äuszerer  Kraft  be- 
steht, von  den  untergeordneten  Organen  des  States  als  ein 
gültiges  zu  handhaben. 

4.  Ebenso  ist  es  eine  Verpflichtung  des  Gesetzgebers, 
die  wohlerworbenen  Rechte  Dritter  (jura  quaesita)  zu 
achten  und  nicht  zu  kränken. 

Der  Begriff  der  wohlerworbenen  Rechte  setzt  voraus,  dasz 
dieselben  bestimmten  Personen,  sei  es  einzelnen  Men- 
schen oder  Genossenschaften  und  juristischen  Personen,  zu 
eigenem  und  selbständigem  Rechte  zustehen.  In 
diese  Rechtssphäre  des  Individuums  darf  der  Gesetzgeber 
regelmäszig  nicht  eingreifen.  Indessen  musz  hier  unterschie- 
den werden: 

a)  Erworbene  rein  politische  Rechte.  Diese  kommen 
zwar  auch  bestimmten  Personen  zu,  z.  B.  Hoheitsrechte  den 
Fürsten,  Thronfolgerechte  ihren  Agnaten,  Gerichtsbarkeit  den 
Gutsherren,  Pairsrechte  den  Lords,  Amtsrechte  den  Beamten, 
aber  sie  kommen  denselben  nicht  für  sie  allein,  sondern 
als  statliche  Rechte  im  Zusammenhang  mit  dem  ganzen  Stat 
voraus  für  diesen  zu.  Ihre  ganze  Existenz  ist  von  der  Stats- 
existenz  abhängig.  Auszerhalb  des  Stats  haben  sie  keinen 
Sinn  und  keine  Geltung,  im  Widerspruch  mit  dem  Dasein  und 
der  Gesundheit  des  Stats  keine  innere  Berechtigung.  Es  än- 
dert nichts  an  diesem  Grundverhältnisz,  dasz  solche  Rechte 
zuweilen  ähnlich  wie  Privatrechte  erkauft  worden  sind.  Im 
Mittelalter  ist  das  häufig  geschehen;  aber  im  Mittelalter 
waren  Privat-  und  öffentliches  Recht  vielfältig  auch  sonst  ver- 


Fünfzehntes  Capitel.     Grenzen  der  Gültigkeit  des  Gesetzes.    565 

mischt.  In  unserer  Zeit  müssen  wir  schärfer  trennen  und 
können  dem  öffentlichen  Kechte,  auch  wo  es  früher  auf  Privat- 
wegen erworben  worden  ist,  darum  doch  nicht  mehr  einen 
privatrechtlichen  Charakter  zugestehen.  Daher  hat  aber  hier 
der  gesetzgebende  Körper  die  Macht,  auch  solche  Kechte  aus 
Gründen  der  natürlichen  Statsordnung  und  in  verfassungs- 
mäsziger  Form,  sei  es  aufzuheben,  sei  es  abzuändern: 
und  wenn  er  auch  hier  Entschädigungen  eintreten  läszt,  so 
mögen  ihn  dazu  Gründe  der  Klugheit  und  billiger  Schonung 
bestimmen,  eine  Verpflichtung  dazu  aber  lastet  nicht  auf 
ihm. 8 

b)  Nur  wo  mit  öffentlichen  Rechten  der  Art  Vortheile 
und  Genüsse  verbunden  sind,  welche  wesentlich  dem  Indivi- 
duum als  solchem  zu  gute  kommen,  z.  B.  ein  mit  der 
Würde  verbundener  Rang  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft, 
Ansprüche  der  Prinzen  auf  Apanagen,  der  Bürger  einer  Stadt 
auf  Benutzung  von  Kunst-  und  Wohlthätigkeitsanstalten ,  das 
Recht  einzelner  Familien  auf  die  Ausbeutung  von  Regalien, 
z.B.  der  Posten,  wo  somit  das  öffentliche  Recht  einen  erheb- 


8  Für  Deutschland  ist  in  dieser  Beziehung  der  Reichsdeputations- 
hauptschlusz  vom  25.  Febr.  1803  von  Interesse.  Robert  Peel,  Rede 
vom  5.  Mai  1829:  „Ich  gebe  die  volle  Kraft  des  Einwandes  zu,  welcher 
gegen  den  Theil  der  vorgeschlagenen  Maszregel  geltend  gemacht  wird, 
gegen  den  Theil,  durch  welchen  den  Freisassen  das  bestehende  Recht 
der  Abstimmung  entzogen  wird.  Es  ist  ohne  Zweifel  ein  rechtsgültig 
verliehenes  Recht,  aber  es  ist  ein  Recht,  welches  seinem  Charakter  nach 
von  den  Eigentumsrechten  und  von  andern  Privatrechten  verschieden 
ist.  Es  ist  ein  öffentliches  Recht,  das  für  öffentliche  Zwecke  gegeben 
ist,  das  man  ohne  Zweifel  mit  groszer  Yorsicht  und  Rückhaltung  ver- 
ändern musz,  das  wir  aber  verändern  dürfen,  wenn  das  öffentliche  Inter- 
esse offenbare  Opfer  verlangt."  Viel  zu  enge  ist  in  dieser  —  wie  in 
andern  Beziehungen  die  Auffassung  von  Radowitz  in  den  Gesprächen 
über  Kirche  und  Stat,  S.  243:  „Das  Gesetz  hat  ursprünglich  nur  den 
Beruf,  die  Lücken  des  Gewohnheitsrechtes  zu  ergänzen,  die  Widersprüche 
zu  lösen,  das  Ganze  übersichtlich  zusammen  zu  fassen.  Geht  ein  Gesetz 
über  diese  Aufgabe  hinaus,  ändert  und  verletzt  es  wohlerworbene  Rechte, 
so  ist  es  ein  ungerechtes,  gleichviel,  von  wem  es  ausgegangen." 


566     Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

liehen  Beisatz  von  individuellem  und  insofern  im  letzten  Grunde 
von  Privatrecht  in  sich  hat,  das  erworbene  Recht  ein 
solches  in  engerem  Sinne  geworden  ist,  da  wird,  so 
weit  dieser  Beisatz  reicht,  die  Befugnisz  des  Gesetzgebers  be- 
schränkt durch  die  Pflicht  desselben,  diese  individuelle  Seite 
unverletzt  zu  erhalten,  oder  wenn  im  Conflicte  mit  der  öffent- 
lichen Wohlfahrt  eine  Veränderung  und  Aufhebung  unver- 
meidlich wird,  die  zu  Verlust  kommende  Person  dafür  zu 
entschädigen. 9 

c)  Am  wichtigsten  ist  dieser  Begriff  auf  dem  Gebiete 
des  Privatrechts.  Die  Privatrechte  gehören  ihrer  Natur 
nach  den  Privatpersonen  an  und  nicht  dem  State,  den  Indivi- 
duen und  nicht  dem  Volk.  Der  Gesetzgeber,  welcher  das 
Volk  darstellt,  würde  demnach  in  ein  ihm  fremdes  Gebiet 
übergreifen,  und  fremde  Rechte  verletzen,  wollte  er  den  Pri- 
vaten ihre  erworbenen  Rechte  entziehen  oder  beeinträchtigen, 
Rechte,  die  zu  schützen  gerade  sine  Hauptaufgabe  des  States 
ist.  Allerdings  in  io  ireil  der  einzelne  mit  seiner  Rechts- 
sphäre sich  der  öesammtheü  unterordnen  muss,  so  dasi  diese 
bestehen  und  ihre  Aufsähe  erfüllen  kann,  s<»  weit  i.-t  der  Ge- 
Betzgebei  berechtigt,  avefa  die  bestehendes  PriYatrechte  zu  be- 
schränken, /..  1).  durch  ein  Bangesetz  im  Interesse  der  öffent- 
lichen Sicherheil  and  des  Öffentlichen  Anstandes  die  Baufrei- 
heit zu  beschränken,  durch  ein  Gesetz  die  Nachbarverhältnisse 
zu  regnliren  oder  Gewerbebeschränkungen  anzulegen.  Aber  Je 
mehr  ein."  Privatberechtigung  den  Charakter  der  Selbstän- 
digkeit und  Besonderheit  an  si<  h  trägt,  desto  weniger 
darf  <ler  stat  in  dieselbe  eingreifen,  und  «renn  er  durch  die 
höheren  Interessen  der  allgemeinen  Wohlfahrt  dazu  genöthigl 

wird,  sm  niusz  sich   der  Gesetzgeber  stets  daran  erinnern,  dasz 

9  V^l.  auch  Stahl,  Btatilehre  II,  B.  I75ft  Ptf  du  mitteklterliehe 
Recht  lind  ili<-  meiste«  MTenftüeheii  Rechte  .ii^  Boiehe  erworbene  im 
engeren  Sinne  n  betrachten.     In   den   m  3tate  dagegen  i 

Gebiet  derselben  sehr  beschränkt  worden. 


Fünfzehntes  Capitel.     Grenzen  der  Gültigkeit  der  Gesetze.     567 

das  Sonderrecht  des  Individuums  wohl  dem  Rechte  des  ge- 
sammten  States  im  Conflicte  weichen  musz,  aber  nur  gegen 
volle  Entschädigung  des  Individuums  durch  den  Stat,  der  jenes 
Opfer  fordert.10 

Das  Recht  der  Privatpersonen  auf  Entschädigung,  in- 
sofern sie  genöthigt  werden,  ihre  erworbenen  Rechte  abzu- 
treten oder  aus  Rücksichten  der  öffentlichen  Wohlfahrt  aufzu- 
geben, versteht  sich  zunächst  von  selbst.  Es  gründet  sich 
nicht  erst  auf  die  Bestimmung  und  Normirung,  es  ist  nicht 
das  Product  des  Gesetzes.  Daher  können  die  Privatpersonen 
auch  in  solchen  Fällen  den  Schutz  der  Gerichte  für  dieses 
wie  für  ihr  anderes  Privatrecht  anrufen.  Nur  wenn  das  Ge- 
setz die  Entschädigung  ausdrücklich  versagt  oder  ungenügend 
bestimmt,  dann  freilich  wird  der  Richter  auch  in  solchen 
Fällen   dem   ungerechten  Gesetze   nicht  widerstehen   dürfen. n 

Die  überwiegende  Macht   des  States  in  auszerordentlichen 


10  "Vgl.  preuszisches  Landrecht,  Einleitung,  §.74:  „Privilegia, 
auch  solche,  die  durch  einen  lästigen  Vertrag  erworben  worden,  kann 
der  Stat,  jedoch  nur  aus  überwiegenden  Gründen  des  geraeinen  Wohls 
und  nur  gegen  hinlängliche  Entschädigung  des  Privilegirten,  wieder  auf- 
heben." §.  75:  „Die  Entschädigung  selbst  kann  nicht  anders  als  durch 
Vertrag  oder  rechtliches  Erkcnntnisz  festgesetzt  werden." 

11  Eine  Reihe  neuerer  Schriftsteller  gestatten  die  Entschädigungs- 
klage nur,  wenn  die  Aufhebung  des  Privatrechtes  durch  einen  Regie- 
rungsact,  nicht  auch  wenn  sie  durch  einen  legislativen  Act  geschehen 
ist,  auszer  wenn  das  Gesetz  selbst  die  Entschädigung  vorschreibe,  z.  B. 
Stahl,  Statslehre  II,  S.  469.  Zöpfl,  Statsrccht,  §.196.  B eseler,  D. 
Privatrecht I,  S.  72.  Verfassung  von  Hannover  von  1833,  §.37:  „Ist 
die  Verletzung  (wohlerworbener  Rechte)  durch  einen  Statsvertrag  oder 
durch  ein  verfassungsmäszig  erlassenes  Gesetz  bewirkt,  so  kann  die- 
selbe nicht  zum  Gegenstand  eines  Rechtsanspruches  gegen  den  Stat  oder 
gegen  Verwaltungsbehörden  gemacht  werden."  Vgl.  Kl  üb  er,  Oeff. 
R.  d.  D.  Bundes,  §.551  und  552.  Faszt  man  den  ganzen  Satz,  wie  es 
}ni  Texte  geschehen  ist,  so  ist  nicht  abzusehen,  wie  dadurch  die  natür- 
liche Unterordnung  des  Richters  unter  den  Gesetzgeber  verkehrt,  noch 
wie  dem  Gesetzgeber  irgend  Gewalt  angethan  würde.  Vielmehr  ist  der- 
selbe nur  einfache  Anerkennung  des  Privatrechtes,  soweit  der  Gesetz- 
geber demselben  nicht  ausdrücklich  den  Statsschutz  entzogen  hat. 


568      Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

Collisionsfällen  zwischen  der  öffentlichen  Wohlfahrt  und  dem 
individuellen  Recht  durchzugreifen  und  dieses  zu  beugen,  wird 
die  „potestas  eminens-  die  gesetzgeberische  Ausnahms- 
gewalt des  States  genannt.  Ein  gewissenhafter  Gebrauch 
derselben  in  ernster  und  dringender  Gefahr  des  States  kann 
zu  dessen  Rettung  unentbehrlich  sein,  eine  leichtsinnige  und 
willkürliche  Anwendung  aber  ist  ein  moralisches  Verderben 
des  States  selbst. 

5.  Wenn  sich  das  bestehende  Recht  auf  einen  Sta ts- 
vertrag mit  andern  State n  gründet,  so  ist  dasselbe  gegen 
eine  Verletzung  von  Seite  der  Landesgesetzgebung  unter  den 
Schutz  des  Völkerrechtes  gestellt,  und  wird  durch  dieses 
die  Macht  des  Gesetzgebers  beschränkt.  Der  so  berechtigte 
Unterthan  darf  zwar  in  einem  solchen  Falle,  ohne  die  Treue 
und  die  Unterthanenprlicht  zu  verletzen,  den  fremdes  Stat,  der 
sein  Recht  garantirt,  um  völkerrechtliche  Hülfe  und  Beistand 
anrufen,  denn  indem  er  das  tliut,  beruft  er  sich  auf  ein  Recht 
und  macht  von  einem  Rechtsmittel  Gebrauch,  welches  der 
Stat,  dem  er  angehört,  selber  durch  den  eingegangenen  Stats- 
vertrag  auf  eine  für  ihn  verbindliche  Weise  anerkannt  hat  '■ 
Aber  vom  Standpunkt«'  der  politischen  Selbständigkeit  des 
Vaterlandes  aus  hat  die  Anrufung  einer  fremden  Hülfe  ge- 
wöhnlich grosze  Bedenken. 

Ein  Vertrag  dagegen  zwischen  einzelnen  Gliedern  des 
States  vermag  diesen  Schulz  nicht  zu  gewähren. 

Das  nordamerikanische  Statsrecht  kennt  auch  in  den 
Fällen  einen  gerichtliehen  Schutz  gegen  Kechtsverletzungen 
von  Seite  des  Congresses,  in  welchen  State  vertrage ,  die  von 
den  vereinigten  Staten  eingegangen  oder  garantirt  sind ,  zur 
Anwendung  gelangen.  ,3 

6.  In   zusammengesetzten    Staten   läszt   sich    eher 

12  Beispiele  der  Art  sind  die  Reohtt  der  S  tan  des  I)  er  reu  in 
Deutschland. 

11  ßundesverfMdsung  III,    l.     Story   III,   St.  3g,  gt22fc 


Fünfzehntes  Capitel.     Grenzen  der  Gültigkeit  der  Gesetze.     569 

dafür  sorgen,  dasz  die  gesetzgebende  Gewalt  der  Einzel- 
staten auch  durch  die  äuszere  Rechtsordnung  in  Schranken 
gehalten  werde,  indem  die  Bundes-  oder  R eich s Verfassung 
höhere  Organe  für  Aufrechthaltung  des  Rechts  in  dem  ganzen 
Umfange  des  Bundes  oder  Reiches  besitzt,  welche  insofern 
auch  den  obersten  Gewalten  der  Einzelnen  übergeordnet  sind. 

Eine  derartige  Bedeutung  hatte  das  Reichskammer- 
gericht in  der  Verfassung  des  spätem  deutschen  Reiches. 
Der  oberste  Gerichtshof  Nordamerika 's  hat  hier  eine  aus- 
gedehnte Competenz.  Aber  merkwürdig  ist  es,  dasz  die  Nord- 
amerikaner, welche  sonst  die  richterliche  Gewalt  selbst  über 
Gebühr  ausdehnen,  sie  in  Fällen  hemmen,  wo  dieselbe  überall 
sonst  waltet  und  practisch  völlig  unentbehrlich  ist,  nämlich  wo 
Rechtsansprüche  von  Privaten,  /..  B.  Gläubigern,  gegen  die  Ver- 
einigten Staten  selbst  oder  gegen  Einzelstaten  gestellt,  somit 
Staten  eingeklagt  werden.  Ihre  Verfassung  von  1787  scheint 
freilich  das  Gegentheil  zu  bestimmen;  aber  die  Theorie 
mancher  Statsmänner,  welche  meinten,  dasz  souveräne  Staten 
keiner  Klage  unterworfen  werden  dürfen  (schon  die  Kömer 
haben  den  Stat,  wenn  er  als  Schuldner  oder  Gläubiger  er- 
scheint, der  Souveränetät  entkleidet  und  als  Fiscus  den  Pri- 
vatpersonen gleich  gestellt),  und  ein  Amendement  zu  der 
Verfassung  von  1705  führten  diese  durch  keine  wahren  Rechts- 
gründe  zu  vertheidigende  Beschränkung  ein,  welche  die  Stats- 
gläubiger  lediglich  auf  den  Rechtssinn  ihres  Schuldners  ver- 
weist.14 In  der  Schweiz  hat  die  Bundesversammlung 
das  Recht,  im  Interesse  der  Bundesverfassung  und  der  Bundes- 
gesetze wie  zur  Garantie  der  Cantonalverfassungen  auch  gegen 
gesetzgeberische  Uebergrifte  der  Cantone  einzuschreiten  oder 
solche  statsrechtliche  Fragen  dem  Bundesgerichte  zur  Beur- 
theilung  zu  überweisen.15 

Die  Ausbildung  des  Völkerrechts   könnte  in   der  Zu- 

14  Story  a.a.O.,  §.235,  237.     Schubert,    Verfassungsurkunden  I, 
S.  321. 

15  Bundesverfassung,  §.  74,  und  105,  106. 

Bluntschli,    allgemeines  Statsrecht.     I.  37 


570    Fünftes  Buch.     Der  gesetzgebende  Körper  und  das  Gesetz. 

kimft  auch  hier  Eechtshülfe  schaffen,  und  die  allerdings  fühl- 
baren Mängel  verbessern,  welche  der  schrankenlosen  Gewalt 
des  gesetzgebenden  Körpers  auf  dem  Fusze  folgen. 

7.  Endlich  ist  noch  der  Satz  zu  erwähnen,  dasz  die 
Gesetze  keine  rückwirkende  Kraft  haben  noch  haben 
dürfen. 

Dasz  auch  das  Gesetz  nicht  das  Unmögliche  möglich  und 
das  Geschehene  nicht  ungeschehen  machen,  und  dasz  dasselbe 
somit  nicht  in  die  Vergangenheit  zurückgreifen  und  diese  um- 
gestalten könne,  bedarf  keiner  Erörterung.  Wenn  in  der 
Rechtssprüche  von  einer  rückwirkenden  Kraft  der  Gesetze  die 
Hede  ist,  und  diese  nicht  zugelassen  wird,  so  hat  das  den 
Sinn,  dasz  Handlungen  oder  Rechtsgeschäfte,  welche  in  eine 
frühere  Zeit  fallen,  aber  später  zur  Beurtheilung  kommen,  m 
der  Kegel  nicht  nach  einem  inzwischen  und  nach  ihrer  Voll- 
endung entstandenen  Gesetze  zu  Im- in  essen  seien,  und  das 
spätere  Gesetz  in  der  Kegel  auch  die  bereits  erworbenen 
Rechte  nicht  ändere. ,fi  Hat  alter  das  Gesetz  einen  blosz 
interpretativen,  nicht  einen  Heuernden  Charakter  und 
sprechen  keine  Grunde  fflr  eine  zeitliche  Beschränkung  dieser 
Interpretation  auf  die  Zeil  des  Gesetzes  selbst,  so  kann  es 
unbedenklich  auch  zur  Erklärung  früherer  Rechtsgeschäfte  be- 
nutzt werden. 

Jener  Satz  enthält  demnach  zunächst  eine  Rege]  der 
Gesetzesauslegung,  welche  allerdings  sich  an  eine  natür- 
liche Beschränkung  der  Gesetzgebung  anschlieszt.  Ausnahmen 
kommen  vor,    wenn  entweder   das  Gesetl    seihst    aus  der  ihm 

,f'  c.  ].  C.  [TheodoriuA  et  Vdlentinianus)  de  Legibus:  „Leges  et 
oonstitutiones  futuris  certum  es!  dare  formam  negotiis,  doh  ad  facta  prae- 
terita  revocari.  nir-i  nominatim  et  de  praeterito  tempore  et  adhuc  pen- 
dentibus  nego-tiis  cautum  sit."  Code  Civil)  §.2:  „La  l<>i  no  dispose  (juc 
pour  l'avenir;  ello  n'a  point  d'effeot  retroaotiü."  Oesterreich.  Gteseti, 
§.  5:  „Gesetze  wirken  nicht  zurück;  sie  Italien  daher  auf  vorange- 
gangene Handlungen  und  auf  vorher  erworbene  Rechte  keinen  Eünfluai." 
Preuszisches  Landreoht,  Einl.,  g.  14 ff.     Bayer.  Landr.   I.    I     ' 


angewiesenen  Bahn  heraustritt,  und  bereits  begründete  Rechts- 
verhältnisse ausdrücklich  abändert,  oder  wenn  durch  Anwen- 
dung des  Gesetzes  auf  die  Beurtheilung  früherer  Handlungen 
oder  Rechtsgeschäfte  keine  wohlerworbenen  Rechte  gekränkt, 
vielmehr  die  Anwendnng  zu  Gunsten  des  Handelnden  oder  im 
Interesse  des  Rechtsgeschäftes  ausfällt,  z.  B.  bei  Strafgesetzen, 
welche  für  einzelne  Verbrechen  mildere  Strafen  anordnen, 
oder  bei  Gesetzen,  welche  einzelne  früher  für  strafbar  erklärte 
Handlungen  erlauben,  oder  bei  solchen,  welche  geringere  Er- 
fordernisse für  die  Gültigkeit  gewisser  Rechtsgeschäfte,  z.  B. 
leichtere  Formen  des  Testaments,  einführen,  Hier  hilft,  wie 
die  Köiner  das  nennen,  eine  wohlwollende  Auslegung  (benigna 
interpretatio)  über  dir   logische  Strenge  des  Princips  hinüber. 


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