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Book _i2ÖJl!o_
BLUNTSCHLTS
ALLGEMEINES
STATSRECHT.
ERSTER BAND.
ALLGEMEINES
STATSEECHT.
VON
BLUNTSCHLL
V 1 E K T E A D F LAG E.
ERSTER BAND.
MÜNCHEN.
L IT ERARISCH- ARTISTISCHE ANSTALT
DER J. Cr. COTTA'SCTIEN BUCHHANDLUNG.
1868.
6-dksri
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Inhalt.
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Einleitung.
Seite
Statsrecht und Politik 1
Der Gegensatz des Statsrechts und des Privatrechts . 3
Fernere Abgrenzung des statsrechtlichcn Gebietes . . 7
Allgemeines und besonderes Statsrecht 10
Quellen des Statsrechtes.
A. Das Gesetz 12
B. Statlicher Vertrag ... 14
C. Herkommen und Gewohnheit IG
D. Die Wissenschaft 18
Rechtsordnung und thatsächliche Ordnung (Besitz) . 22
Methoden der Behandlung 28
Erstes Buch.
Der Begriff des Stats.
Cap. I. Historischer Statsbegritf 36
Cap. II. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich 43
Cap. III. Entwicklungsgeschichte der Statsidee.
I. Die antike Welt 54
Cap. IV. II. Das Mittelalter 59
Cap. V. III. Die moderne Staatsidee 64
Zweites Buch.
Volk und Land.
Cap. I. I. Die Menschheit, die Menschenrassen uud die
Völkerfamilien 77
Cap.
I.
Cap.
II.
Cap.
III.
Cap.
IV.
Cap.
V.
Cap.
VI.
Cap.
VII.
Cap.
VIII.
Cap.
IX.
Cap.
X.
VI Inhalt.
Mli
Cap. II. II. Die Nation und das Volk 83
Gap. III. Nationale Rechte 8G
Cap. IV. Volkstümlichkeit der Verfassung ... 91
Cap. V. III. Die Stamme
Cap. VI. IV. Weitere Unterschiede. Die Kasten .... 96
Cap. VII. V. Die Stände 102
Cap. VIII. 1) Der Klerus 106
2) Der Adel 113
Cap. IX. A. Der römische Adel US
Cap. X. B. ©6r französische Adel 117
aap. äXU t ' C. Der englische Adel 128
Cap. XII. D. Der deutsche Adel . . . . . . . L37
Cap. XIII. 3) Die Freien und das Bürgerthum . . . 1 i 7
Cap. XIV. ^^ £kw dritte Stand in unserer Zeit. Die
^W gebildeten Mittelclassen l'.i,
Cap. XV. 4) Die hörigen Leute und der Bauerstand . 160
Cap. XVI. Der sogenannte vierte Stand. Die Volks-
classen 165
Cap. XVII. 5) Die Sclaven | ;.;
Cap. XVIII. VI. Die Classen 180
Cap. XIX. VII. Verhältnisz des States zur Familie.
1) Gcschlechtcrstat Patriarchalische Ehe
Cap. XX. 2) Die Frauen |')i,
Cap. XXL VIII. Verhältnisz des States tu den Individuen.
1) Volksgeno.-^en und Fremde 200
Cap. XXII. 2) Die Statsbürger im engem Sinne . .
Cap. XXIII. Das Land 216
Cap. XXIV. Von der Gebietshoheit. (Sogenanntes Statseigenthum i 219
Cap. XXV. Einthcilung des Landes
Cap. XXVI. Verhältnisz dea Stats zum Privateigentum» ...
Drittes Buch.
Von der Entstehung und dem Untergang def statos.
Cap. I. Einleitung
Cap. II. Ursprüngliche Entstehnngsformen ... ... 239
Cap. III. Abgeleitete Entstehungs formen
Cap. IV. Untergang der Stuten
Cap. V. Speculativc Theorien.
I. Der sogenannte Natuntand 259
Cap. VI. II. Der Stat als göttliche Institution ......
Cap. VII. III. Die Theorie der Gewalt
Cap, VIII. IV. Die Vertragstheorie .
Cap. IX. V. Der organische Statstrieh
Inhalt.
VII
(Jap.
I
Cup.
II.
Cap.
III.
Cap.
IV.
Cap.
V.
Cap.
VI,
Cap.
VII.
Cap.
VIII.
Cap.
IX.
(Jap.
X.
Cap. M.
Cap. XII.
Cap. XIII.
Gap, \iv.
Caj>.
\\.
Cap. \ V I
Cap. XVII.
Cap. XVIII.
Cap. XIX.
Cap. XX.
Cap. XXL
Cap. XXII.
Cap. XXTTI.
Cap. XXIV.
Viertes Buch.
Die Statsformen.
Seilt
Die Einteilung des Aristoteles ....... 278
Der sogonannte gemischte Stat 281
Neuere Fortbildung der Theorie . 285
Das Princip der vier Grundformen 28^
Das Princip der vier Nebenformen 291
I. Die Ideokratie. (Theokratie) 291
II. Demokratische Statsformen.
A. Die unmittelbare (antike) Demokratie . . 307
Beurtheiluug der unmittelbaren Demokratie . 313
B. Die repräsentative (moderne) Demokratie . 319
Betrachtungen Abel die Ueprä^ntativdonio-
kratie 326
III. Die Aristokratie.
A. Hellenisohe Form. Sparta • 33?
B. Die römische Aristokratie .
Bemerkungen über die Aristokratie . . • ■ 346
IV. Monarohische Statsformen. Die Hauptarten der
Monarchie
A. Hellenisches und altgermanisohes Ciesehlechts-
königthum 359
B. Altrömisohes Volkskönigthum 365
C. Das römische Kaiserthum . 3i"
D. Fränkisches Königthum . 176
B. Die Lehensmonarohie 383
F. Die neuere absolute Monarchie . . 392
G. Die constitutionelle Monarchie.
1) Die Entstellung und Verbr< i an der oon-
stitutionellcn Monarchie 100
2) Falsche Vorstellungen von der eonstitu-
tionellen Monarehie . 436
3) Das monarchische Princip und der Be-
griff der constitutionellen Monarchie . . 440
Zusammengesetzte Statsformen ........ 449
Fünftes Buch.
Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Die Sonderung der Gewalten.
Cap. I.
I. Antike Zustände 454
Cap. II. II, Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten . 457
VIII Inhalt.
Cap. III. Die Entwicklungsgeschichte der Reprasentatirrerfasenng,
I. Die fränkischen Reichstage und das englische
Parlament
Cap. IV. II. Ständische Entwicklung in andern Staten . .
Cap. V. Der Unterschied der ständischen and der repräsentativen
Verfassung
Cap. VI. Die Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers .
Cap. VII. Von der Bildung der Volkskammer
Cap. VIII. Von der Bildung des Senats oder des Oberhauses '»U
Cap. IX. Befugnisse.
A. Des gesummten GesetEgebungskSrpers
Cap. X. B. Befugnisse aller einmeinen Bestandteile ...
Cap. XI. C. Besondere Befugnisse.
I. Des Königs
Cap. XII. II. Der beiden Hinsei ...
Cap. XIII. Von den Gesetzen.
I. Arten der Gesetze
Cap. XIV. II. Form der Erzeugung der G
Cap. XV. Grenzen der Giltigkeit der Gtesetsc
(Einlfttmuj.
Erstes Capitel.
Stntsrechi and Politik.
Die alten Griechen nannten die ganze Wissenschaft vom
State (noiiteCa) Politik. Wir Neoern dagegen betrachten
Statsrecht and Politik als zwei verschiedene Wissen-
schaften.
Wie erklärt es Bich, dasz was in dem wirklichen Stat
verbunden erscheint, ?on der Wissenschaft getrennt wird?
Statsrecht und Politik sind beide Statsl ehren , aber jede von
beiden betrachtel den stat von einem andern Standpunkte aus
und nach anderer Richtung, l'm den Stat grundlicher zu
erkennen, zerlegt die Wissenschaft den Stat in die beiden
Hauptseiteil sein«-.- Daseins und Lebens. Sie untersucht die
Theile, damit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissen-
schaftlichen Interesse entspricht das practische. Die Klarheit,
»las .Masz und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem
man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der
Reichthum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit,
wenn sie in ihrer Eigentümlichkeit geschaut und erwogen wird.
Die Wissenschaft des Statsrechts betrachtet den Stat in
seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie
stellt die Organisation des States dar und die dauerhaften
Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz,
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. 1. \
Erstes Capitel. Statsrecht und Politik.
die Notwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Stat, wie er
ist, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Stats-
recht.
Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Stat in
seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele
hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt
die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie erwägt
die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu erlangen sind,
sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts auf die Ge-
sammtzustände und überlegt, wie die schädlichen Wirkungen
zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden Einrichtungen
zu heben sind. Das Statsleben, das öffentliche Le-
ben im weitem Sinn, das ist die Politik.
Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung
zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu
der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper
zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich
mannigfaltig ausspricht.
Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sitt-
licher Gehalt, Der Stat ist ein sittliches Wesen und er hat
sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden
nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von
dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht
einzelne Capitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre
Grundlage im Stat und ihre Bestimmung für den Stat. Sie
sind Statswissenschaften.
Man darf Statsrecht und Politik nicht absolut von ein-
ander trennen. Der wirkliche Stat lebt: d. h. er ist Ver-
bindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist
nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung
der Politik will wieder zur Ruhe kommen. Es gibt nicht
blosz ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte;
und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden
Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall,
Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrechts. 3
wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unter-
schied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechts-
geschichte unterscheidet sich gerade dadurch von der poli-
tischen Geschichte, dasz jene sich darauf beschränkt, den
Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des
States nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der
dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen,
diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale
und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise
der politischen Personen, die Thaten und Leiden beider legt,
und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und
reinste Ausdruck des Statsrechts ist das Gesetz (die Ver-
fassung), die klarste und lebendigste Aeuszerung der Politik
ist die practische Leitung des States selbst (die Kegierung).
Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das
Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung
ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll
sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So
übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des
Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Er-
starrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des
Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der
Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne
die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die
Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zer-
störungswuth untergehen.
Zweites Capitel.
Der Gegensatz des Statsrechts und des Privatrechts.
Es ist das Verdienst der Römer, zuerst den Unterschied
erkannt zu haben zwischen dem öffentlichen Recht, das, wie
1*
4 Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrecl
sie sagten, dem römischen State dient, und dem Privat recht,
welches den einzelnen Individuen dient.1 Die Hellenen hatten
noch beides verbunden. Auch den Germanen war der wich-
tige Unterschied nicht klar geworden, und als sie im Mittel-
alter zur Herrschaft gelangten, begünstigten sie wieder die
Mischung der beiden Rechtskörper. Das öffentliche Recht des
Mittelalters wird groszentheils privatrechtlich behandelt; so-
gar die Landesherrschaft wird wie Privateigenthum und die
öffentlichen Aemter werden wie Familiengüter betrachtet. Das
Privatrecht hinwieder wird zu öffentlichem Rechte gesteigert:
mit dem Grundbesitz wird die Gerichtsbarkeit verbunden, an
den Lehenbesitz lehnt sich die ritterliche Kriegspflieht an.
Es ist eines der charakteristischen Kennzeichen der mo-
dernen Rechtsbildung, <la<z sie wieder jenen Unterschied
erkannt hat, und in Folge dessen die beiden Gebiete sondert.
Wir sind vorzüglich seit einem Jahrhundert in einem unauf-
haltsam fortschreitenden Scheidungsprocesse begriffen
des öffentlichen Rechts von der froheren Mischung mit dem
Privatrecht. Dieser Scheidungsnroce-s. «1er Bich in allen euro-
päischen Staten zeigt, ist noch nicht völlig, aber gröszten-
theils zum Abschlusz gekommen. Das öffentliche und das
Privatrecht gewinnen dabei. Jenr> wird energischer und gref
artiger, indem es sich nicht mehr ron «1er Selbstsucht der
Individuen und Familien behindern und verderben, sondern
durchaus von dem öffentlichen Geist des Ganzen erfüllen UM
und demselben dient, und das Privatrecht wird freier, indem
es von der statlichen Gebundenheit sich losmacht.
Das Statsrecht geht grundsätzlich vom State, das Privat-
recht von den einzelnen Individuen, den Privatperso-
nen aus. Jenes behandelt die rechtlichen Verhältnisse des.
States, dieses die Rechte der Privaten.
1 Vgl. L. 1. 2. §. D. de Justitia et Iure {Ulpianus~): „Publicum jus
est quod ad statura rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorura
utilitatem. Sunt enim quaedam publice utilia, quaedam privatim. u
Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrechts. 5
Allerdings gibt es auch Uebergänge aus dem einen Ge-
biete in das andere. So gehören die E echte des Fiscus dem
Privatrechte an, weil der Stat, insofern er ein ausschlieszliches
Vermögen hat, einer Privatperson gleich und als Fiscus selber
eine Privatperson ist. So haben die politischen Rechte der
einzelnen Menschen (z. B. das Petitionsrecht, die Preszfreiheit)
ihren Platz nicht im Privat-, sondern im Statsrecht, weil die-
selben auf dem Verhältnisse der Individuen zum State be-
ruhen, somit der öffentliche, »tätliche Gesichtspunkt in ihnen
vorherrscht.
Das Statsrecht wird daher auch seinem Inhalte nach von
dem State bestimmt, und ist der Willkür der Privatpersonen
entrückt. Das Privatrecht dagegen erhält seinen Inhalt grösz-
tentheils im allgemeines von der Natur und den Zuständen
der Privatpersonen und im besondern von ihrem AVillen.
In dem Statsrecht herrscht derGeisl <h's Ganzen, im Privat-
recht waltet der Geist der Einzelnen. Den Individuen steht
es demnach nicht zu, durch Verträge öffentliches Kecht abzu-
ändern oder aufzuheben, während sie in der Kegel das Privat-
recht unter sich durch Vertrag« beliebig gestalten können;
und je mehr bei einzelnen Kegeln des Privatrechts öffentliche
Statsinteressen betheiligt sind, desto weniger dürfen Privat-
verträge willkürlich auch von jenen abweichen.2
Für das Statsrecht gilt es ferner als Kegel: Oeffent-
liches Kecht ist zugleich öffentliche Pflicht. Der
Berechtigte ist verpflichtet sein Kecht auszuüben. Der Kegent
ist nicht blosz berechtigt, er ist gleichmäszig auch verpflichtet
zu regieren, ebenso der Kichter zu richten. Im Privatrecht
hingegen gilt die entgegengesetzte Kegel. Es steht in der
Willkür des Berechtigten, ob er sein Kecht ausüben wolle
2 Vgl. L. 38. D. de Pactis (Papinianus): „Jus publicum privatorum
pactis mutari non potest." Code Civil. 6.: „On ne peut deroger par des
Conventions particulieres, aux loix qui Interessent Tordre public et les
bonnes moeurs,"
6 Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrechts.
oder nicht.3 Der Grund dieses Unterschiedes ist wieder darin
zu finden, dasz das Privatrecht dem Einzelnen zugehört und
meistens nur für diesen besteht, das öffentliche Recht aber
dem Ganzen zukommt und im Interesse der Gesammtheit be-
steht. Der Stat selbst kann daher wohl sein Recht aufgeben
oder auf die Ausübung desselben verzichten, nicht aber dürfen
das die einzelnen Organe und Glieder des States.
Beide Kegeln haben übrigens zahlreiche Ausnahmen, die
sich aus dem Princip jener von selbst ergeben. Einige Bei-
spiele mögen diesz klar machen:
1) Der einzelne Statsbärger kann beliebig von seinem
Rechte zu Petitionen, oder von seinem Kechte an politischen
Vereinen Theil zu nehmen, Gebrauch machen oder nicht. Es
sind diesz eben öffentliche Rechte, die dem Einzelnen ein-
geräumt sind, mehr im Interesse Beiner individuellen Freiheit
als des Statswohls.
2) Ob der Einzelne auch Bein Wahlrecht als Wähler aus-
zuüben habe, hängt schon nicht mehr ohne weiteres FOU seiner
Willkür ab. Ist das Wahlrecht auf grosze Massen von Indi-
viduen vertheilt, oder tritt nach der besonder!] Bedeutung des
Wahlrechts die Rücksicht auf die Befugnisz der Wähler in
den Vordergrund, die auf das Bedürfnis* des States zurück,
so kann wohl die Benutzung desselben der Willkür des ein-
zelnen Wählers anheimfallen: im entgegengesetzten Falle wird
auch hier eine Xöthigung öfter eintreten und sich rechtfertigen.
3) Auch im Privatrecht ist die Ausübung der Yormund-
schaftsrechte Pflicht des Berechtigten, weil dieselben nicht
oder nicht ausschlieszlich allein zu Gunsten des Vormundes,
sondern auch im Interesse des Bevormundeten bestehen.
Die Verbindung von Recht und Pflicht in derselben IVr-
son ist nicht etwa ein Mangel des öffentlichen Rechts, sondern
3 c. un. C. ut nemo invitus (Imp. Diodetianus): „Invitus agere rel
aecusare nemo cogitur." Privatreclitliches Sprichwort: „Iure suo uti
nemo cogitur,"
Drittes Capitel. Fernere Abgrenzung des statsrechtl. Gebiets. 7
der Vorzug desselben. Der edlere sittliche Charakter des
öffentlichen wird darin offenbar im Gegensatze zu dem egoisti-
schen Zuge des Vermögensrechts. Je höher die Kegierungs-
rechte sind, um so unauflöslicher sind daher die Pflichten zu
ihrer Ausübung damit verbunden. Es ist eine Entwürdigung
des Statsrechts, wenn das Kecht des Landesfürsten wie ein
Eigentimm betrachtet wird, das er nach Willkür ausüben oder
ruhen lassen könne: und man darf nie vergessen, dasz kein
Kronrecht dem Fürsten für sich zugehört, sondern alle Kron-
rechte zugleich Kronpflichten sind; Pflichten gegen den
Stat (das Volk).
Der Gegensatz des öffentlichen und des Privatrechts (jus
publicum et privatum) ist erschöpfend und es gibt wohl Ueber-
gangsinstitute , die ans dein einen Gebiete in das andere füh-
ren; wie z. 13. die Gemeinde und die höheren Formen der
Genossen- und Körperschaften. Aber es gibt kein drittes
selbständiges Gebiet zwischen jenen beiden. Was man Gesell-
schaftsrecht heiszt, ist entweder Privatrecht oder öffentliches
Recht, oder aus beiden gemischt.4
Drittes Capitel.
Fernere Abgrenzung des statsrechtlichen Gebiets.
1. Das Völkerrecht greift über die Grenzen des ein-
zelnen States hinaus, indem es die verschiedenen Staten, die
neben einander bestehen, durch eine gemeinsame Ordnung
4 Eine abweichende Meinung hat Bob. v. Muhl ausgeführt (Geschichte
und Literatur der Statswissenschaften Bd. I). Vgl. Bluntschli über die
neuen Begründungen der Gesellschaft und des Gesellschaftsrechts in der
kritischen Ueberschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissen-
schaft. Bd. III. und H. v. Treitschke« Die Gesellschaftswissenschaft, ein
kritischer Versuch. Leipzig 1859.
3 Drittes Capitel. Fernere Abgrenzung des statsreehtl. liebiet*.
verbindet. Es ist keineswegs eine eigentümliche Ausdehnung
und Anwendung des Privatrechts auf die mehreren Statsindivi-
duen; seine Einrichtungen und Rechtsnormen haben vielmehr
eine öffentlich-rechtliche Natur in eminentem Sinne, indem sie
der umfassendsten Gemeinschaft angehören. Es beruht auf
der Einheit des Menschengeschlecktes, welches in ver-
schiedene Völker getheilt erscheint. Ware die Menschheit für
die gemeinsamen menschlichen Dinge prganisirt zu einem wohl-
geordneten Ganzen mit einer ihr eigenen Gesetzgebung und
Eechtspflege , so würde das Völkerrecht in der höheren Form
eines Weltrechts erscheinen. Der Mangel jener Organisation
ist die Schwäche des Völkerrechts.
Einstweilen wird diese »vollkommene Weltordnnng , die
wir Völkerrecht heiszen, ron der vollkommeneren Statsordnung
geschieden. Die Wissenschaft tsrechte betrachtet daher
den Stat als eine öffentliche Person für Bich und überläszt die
Darstellung der Verhältnisse mehrerer Staten zu einander der
besonderen Wissenschaft des Völkerrechts.
2. Eine andere Ausscheidung des Stoffes bezieht Bich auf
das Kirchen rec h t.
In dem ganzen Alterthum war der G '/ ron Stai
und Kirche zwar wohl schon im Keime vorhanden und sicht-
bar, aber nicht zu klarn- Sondern ebildet Den Römern
noch galt das jus Bacnim als ein Bestandteil des jus pu-
blicum.
Erst seitdem das Christenthum in die Well gekommen,
ist die Kirche als die religiöse Gemeinschaft der Mem
dem State als der politischen Gemeinschaft selbständig mr
Seite getreten. Und wie die Kirche eine eigene [dee und
einen nicht auf Btatlichem Boden gepflanzten, nicht im Stats-
gebiet grosz gewachsenen Leib und ein besonderes Dasein hat.
so erfordert auch das (christliche) Kirchenrechi eine von dem
neuern Statsrechte getrennte Behandlung. Es beruht wesent-
lich auf der Autonomie der Kirche, nicht auf Statsgesetxe&
Drittes Capitel. Fernere Abgrenzung des statsrechtl. Gebiets. 9
Sein Inhalt hat einen andern Grundcharakter, als alles andere
Eecht. Es steht den höhern religiösen und sittlichen Grund-
sätzen näher, mit denen es verbunden und gemischt erscheint,
und es entbehrt mehr des äuszeren Zwangs als das weltliche
Recht, dessen Schutz es in manchen Fällen anzurufen genöthigt
ist, wenn die eigenen Nothigungsmittel nicht ausreichen. Wird
ah er nicht das Recht der Kirche von dein ihr zugehörigen
eigenen Standpunkte ans. Bondem wird nur das Verhält-
nisz des Staics zur Kirche und den kirchlichen In-
stitutionen von dein Standpunkte des States aus
betrachtet, so gehört diese Betrachtung allerdings vollständig
in das Gebiet des Statsrechtes.
3. Der Civilprocesz ferner groszentheils und das ganze
Strafrecht, den Strafprocesz inbegriffen, werden mit
Grund auch zum öffentlichen Rechte gerechnet. In dem Pro-
cesz gewähr! der Stat als solcher den Privatpersonen seinen
Rechtsschutz gegen Verletzung und Beeinträchtigung ihrer
Rechtssphäre, und in dem Strafrechte in seiner neuern Ent-
wicklung äuszert sich wieder die Gerechtigkeit des States,
welche nicht blosz den Verletzten schützt und die Verletzung
aufhebt, sondern öberdem den verbrecherischen Angriff auf die
gemeinsame Rechtsordnung bestraft.
Dessenungeachtet aber werden der Civilprocesz und das
Strafrecht aus dem eigentlichen Statsrechte hinwieder ausge-
schieden und besser als besondere Disciplirien behandelt, theils
um ihrer enge]] Beziehung willen auch zu dem Privatrechte,
mit welchem sie innerlich verwoben sind und dessen Sicher-
heit der Civilprocesz ganz, das Strafrecht zu groszem Theile
dient, theils weil sie an sich umfangreich und wichtig genug
sind, um eine besondere Behandlung zu erlangen.
10 Viertes Capitel. Allgemeines und besonderes Statsrecht.
Viertes Capitel.
Allgemeines und besonderes Statsreoht.
Das besondere Staatsrecht setzt einen einzelnen, bestimm-
ten Stat voraus, dem es angehört. So ist von dem besondern
Statsrechte der römischen Bepublik, oder des englischen States
oder des deutschen Reiches die Bede.
Das all gerne i n e Statsreclit dagegen beruht auf uni-
verseller Auffassung nicht eines einzelnen, sondern des
States. Das besondere Statsrechl geht somit von einem be-
stimmten Volke aus, das allgemeine sieht voraus auf die
menschliche Natur und geht ?on der Menschheit aus.1
Man faszt das allgemeine Statsrechl Behr oft als das
Product idealer Speculation auf und versucht dasselbe aus
einer speculativen Weltanschauung durch einfache Logische
Schluszfolgerung herzuleiten. Ea Bind bo mancherlei Systeme
entstanden eines sogenannten philosophischen oder natür-
lichen Statsrechtes, welches Bodann dem sogenannten posi-
tiven und historischen S hte entgi etzt wurde.
Ich verstehe den Gegensatz anders. Der Stat musz bo-
wohl philosophisch begriffen als historisch erkannt werden:
und das allgemeine Statsreoht kann bo wenig als das beson-
dere dieser zweiseitigen Arbeit entbehren.
Das besondere Statsreoht Betzl das allgemeine voraus,
wie die besondere Volksart die gemeinsame Menschennatur
voraussetzt, Die Wissenschaft des allgemeinen Statsrechtes
stellt die Grundbegriffe dar, welche in den besonderen S1
* Derselbe Gedanke ]i«uri der r B m i - c heu Anschauungsweise zu
Grunde. L 9. (Gaju<) 1>. de Justiti* e( iure! „Oames populi, qui legi-
bus et moribus reguntur, partim suo proprio partim oommtmi ommuM
hominum jure utuntur. Nam <|",,,1 quisque populus ipse sibi jus oonsti-
tuit, id ipsius proprium «ivitati- est, rocaturque jus <;,■,!<■. quod rero
naturalis ratio inter omnes hominea constituit, i<l apud omnei peraeque
custoditur, rocaturque jus gentium, quasi quo jure omnes gen tes utuntur."
Viertes Capitel. Allgemeines und besonderes Statsrecht. H
rechten zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Die Ge-
schichte, die es beachtet, ist die Weltgeschichte, nicht
die enge Landesgeschichte, welche das besondere Stats-
recht erklärt. Tn der Weltgeschichte linden wir die Probe
der philosophischen Gedanken; und in ihr entdecken wir eine
Fülle positiven Gehaltes, welche bo oft der blosz speculativen
Betrachtung fehlt. Die Weltgeschichte zeigt uns die verschie-
denen Entwicklungsstufen, welche die Menschheit seit ihrer
Kindheit durchlebt hat . und auf jede]- linden wir eigentüm-
liche Anschauungen vom State und verschiedene Statenbildungen,
Sic [ehrt uns das Verhältnis verstehen, in welchem die man-
cherlei Nationen an der gemeinsamen Anfgabe der Menschheit
Theil genommen haben.
Aber nicht alle Perioden der Weltgeschichte und nicht
alle Völker haben dieselbe Bedeutung für unsere Wissenschaft.
Das allgemeine Statsrecht der Gegenwart zu erkennen, ist
vornehmlich ihre Aufgabe. Die antiken und mittelalterlichen
Statenbildungen kommen nur als Vorstufen in Betraoht und
um durch den Gegensatz gegen den beut igen Stat diesen besser
in's Licht zu setzen. Den Werth der verschiedenen Völker
für das allgemeine Statsrecht bestimmen wir je nach ihrem
Antheil an den Fortschritten der politischen Civilisation, d. h.
eines menschlich geordneten und menschlich freien Gemein-
wesens. Die arische Völkerfamilie (Tndo-Germanen) ist vor-
zugsweise für den Stat, wie die sein Mische für die Iveligion
welthistorisch bestimmend geworden: aber erst in Europa
haben es auch die arischen Völker zu einer bewuszteren und
edleren Statenbildung gebracht. Sind unter ihnen hinwieder
im Alterthum die Hellenen und die Körner, im Mittelalter
die Germanen voran gegangen, so beruht unsere heutige
Statscultur vornehmlich auf der Mischung der helleno-
romanischen und germanischen Elemente uud haben die Eng-
länder, in denen diese Mischung auch in der Volksrasse am
stärksten vollzogen worden ist und nächst ihnen wohl die
12 Fünftes Capitel. Die Quellen des Statsreehts. Das Gesetz.
Franzosen bisher den bedeutendsten Antheil daran. Das
amerikanische Statsleben ist von dem europäischen ab-
geleitet, aber hat besonders in Nordamerika doch eigenthüm-
liche Fortschritte gemacht.
Die Wissenschaft des allgemeinen Statsrechts. wie wir
dieselbe verstehen, soll also das gemeinsame s tat liehe
Bewusztsein der heutigen civilisirten Menschheit und die
Grundbegriffe und wesentlich gemeinsamen Ein-
richtungen darstellen, welche in den besonderen State* zu
mannigfaltiger Erscheinung kommen. Auch das allgemeine
Statsrecht ist keine blosse Lehre, es h;it eine positive Wirk-
samkeit, aber diese Geltung ist nicht eine unmittelbare, da
es keinen allgemeinen Stat gibl . n eine durch die be-
sonderen Staten vermittelte. Ba bat nicht blosz eine ideale,
es hat auch eine reale Wahrheil . Ais/ als die Mensch-
heit und die Weltgeschichte keine bloszeo Gedankendinge,
sondern reale Wahrheiten sind.
Anmerkung. I' bei Aristoteles (Rbetor. I. 10.13.)
zwischen vöuog CJiof (besonderes Eteebt) und w6fios xoivos (gemeines
Recht) hat doch nooh einen andern sinn. Unter jenem versteht er <la-
Recht, welches ein bestimmter Btai ffii siofa hervorgebracht hat, sei ea
nun geschrieben oder nicht, anter dir». 'in das ron Natur gerechte | j
xqlvov dixcaov) ohne Rüoksiohl auf statliohe Gtemeinsohaft.
Fünftes Capitel.
Die Quellt n des Bi
\. Dai
Die höchste und Btatlichste Form, in welcher das Rechl
erkennbar und klar zu Tage tritt, isi das Gesetz. In dem
Gesetze findet das Hecht seinen bewnsztesten und reinsten
Ausdruck. In dem Gesetze sprich! sien der Sta1 selbst in
seiner Gesamratheit aus, und setzt das Recht fest. Er rüstet
Fünftes Capitel. Die Quellen des Statsrechts. Das Gesetz. 13
in dem Gesetz und durch dasselbe seinen Bechtsausspruch mit
der obersten Autorität und der höchsten Macht aus. Das
Gesetz ist das volle Wort des Hechtes.
Das eigentliche Gesetz ist daher nur das von dem State
selbst erlassene. Aber in analoger Weise kann auch von Ge-
setzen die Rede sein, welche engere und kleinere Gemein-
schaften und Organismen innerhalb des States Kraft ihrer
Autonomie für ihre besondem Kreise ertheilen und mit
ihrer beschränkten Autorität ausrüsten: so die Familien-
und Hau sge setze der Dynastien, die Statuten und Ord-
nungen der Städte und Gemeinden. Auch das Gebiet der
statlichen Verordnungen las/t sich hier anführen.
Daß Verhältnis/ der Gesetzgebung zum Statsrecht ist
übrigens dem Verhültnisz derselben zum Privatrecht nicht
völlig gleich. Der Sial als Gesetzgeber hat mit Bezug auf
jenes viel freiere Hand als mit Rücksicht auf dieses; denn
indem er statsreehtliehe Einrichtungen und Rechtsverhältnisse
festsetzt, handelt er in seiner eigenen Sache, wenn er
dagegen privatrechtliche Gesetze erläszt, so ordnet er nicht
seine eigenen, sondern die Verhältnisse der Privatpersonen,
die weder sein Werk, noch völlig von ihm abhängig sind.
So wenig die Individuen erst durch den Stat zu Individuen
werden, so wenig wird das Recht der Individuen erst durch
den Stat zum Recht. Dasselbe kann zwar seine höchste Aus-
bildung und seinen kräftigsten Schutz erst in dem State und
durch den Stat empfangen, aber es wurzelt nicht in diesem,
und die Aufgabe des States ist hier vornehmlich, dem Privat-
rechte, wie es aus den natürlichen Zuständen und der ge-
schichtlichen Entwicklung der Einzelnen hervorgegangen ist,
zur Anerkennung zu verhelfen, nicht aber dasselbe willkürlich
zu bestimmen.
Die wichtigen practischen Folgen dieses Gegensatzes wer-
den später näher dargelegt werden.
14 Sechstes Capitel. Statlicher Vertrag.
Sechstes Capitel.
B. Statlicher Vertrag.
Auch durch Vertrag wird öfter bestehendes Statsrecht
anerkannt, näher normirt oder abgeändert. Sowohl die eigent-
lichen Statsver träge, welche zwischen verschiedenen Ste-
ten abgeschlossen werden und insofern eine völkerrechtliche
Begründung haben, als die Verträge zwischen verschiede-
nen politischen Körperschaften oder Gliedern Eines
States, wie die alten Richtungen der römischen Patricier
und der Plebes, oder im Mittelalter die Verträge zwischen
den verschiedenen Ständen des Landes mit den Fürsten kom-
men hier in Betracht.
Verwandt sind die Stats vertrage mit den Gesetzen insofern,
als sie wie diese den Keehtsgedanken in bestimmten Worten
und zugleich mit Öffentlicher Autorität aussprechen. Aber da-
durch unterscheidet sich die Fertragsform ?on der Gesetxes-
form, dasz in dieser die Einheit des States sich ftuszert, in
jener eine Mehrheit von zunächst selbständigen politischen
Körpern durch Uebereinkunfl den gemeinsamen Willen fest-
stellt. Innerhalb eines States Isl daher die Form des Ge-
setzes jedenfalls die höhere, eben weil in ihr der Stet als ein
in sich harmonisches nnd einheitliches Wesen seine Gesinnung
kundgibt. Wo aber mehrere Staten zugleich betheiligt sind,
da ist die Form des Vertrages anrermeidlich , weil es für
diese Mehrheit von unabhängigen Staten an einem gemein-
samen Organe der Gesetzgebung fehlt.
Auch da wo innerhalb eines States die Gesetzgebung
nicht etwa einem Fürsten oder einem Käthe ausschlieszlich
zusteht, sondern auf einem Zusammenwirken verschiedener
Glieder eines zusammengesetzten gesetzgebenden Körpers be-
ruht, wie z. B. in England auf der Uebereinstimmung des
Königs, des Ober- und des Unterhauses, tritt doch nach der
Sechstes Capitel. Statlicher Vertrag. 15
ausgebildeteren Verfassung die Idee des Vertrages ganz
zurück, und würde man dieses Zusammenwirken nur sehr un-
eigentlich als Uebereinkunft bezeichnen. Das von dem Parla-
mente beschlossene Gesetz ist nicht ein Vertrag verschiedener
politischer Mächte, die jede in sich selbständig und berechtigt
wäre, für sich einen rechtsverbindlichen Willen zu äuszern.
Die einzelnen Bestandteile des Parlamentes haben, getrennt
von den andern Gliedern desselben, keine rechtbildende Auto-
rität noch Gewalt. Nur in ihrer Verbindung zur Einheit, nur
als ein untrennbarer, einheitlicher Statskörper haben sie das
Recht der Gesetzgebung, und das Gesetz ist auch hier der
reine und einfache Ausdruck dieser Einheit.
Das Unvollkommene der Vertragsform für die Erzeugung
des Statsrechts in einem State liegt darin, dasz nach ihr die
Einheit des Stats aufgehoben, und der Stut selbst gewisser-
maszen aufgelöst wird in seine Bestandteile , dasz der Form
nach das Recht des Stats gebunden wird an den AVillen der
einzelnen losgerissenen Theile, mit Einem Wort, dasz im
Princip das Ganze den Theilen untergeordnet wird.
Die Geschichte aller germanischen S taten gibt uns zahlreiche
Belege an die Hand, welche diese Unvollkommenheit — die
Unbehülflichkeit und Schwerfälligkeit in der Bewegung sowohl
als die mangelhafte Berücksichtigung der öffentlichen Inter-
essen und der gemeinsamen Statswohlfahrt — die mit der
Vertragsform unvermeidlich verbunden ist, in's rechte Licht
stellt ; zugleich zeigt sie uns, wie die höhere Entwicklung des
States überall die frühere Vertragsform durch die Gesetzes-
form theils verdrängt, theils in engere Schranken verwiesen hat.
Anmerkung. Die Ewigkeit der Statsverträge ist nicht min-
der im Widerspruch mit der Veränderlichkeit aller menschlichen Dinge,
und so auch des States, als die Ewigkeit der Gesetze. So weit das
Recht die obersten und festen Principien der göttlichen Weltordnung in
einfacher und reiner Form ausspricht, so weit kann sein Inhalt als ewig
gelten, gleich jener. Aber sowie das Recht die wechselnden und der
Umgestaltung ausgesetzten menschlichen Verhältnisse ordnet, so ist es
\Q Siebentes Capitel. Herkommen und Gewohnheit.
genöthigt diesen Wechsel und diese Umwandlung zu berücksichtigen und
unterliegt so selber den Naturgesetzen der Veränderung. Die Form der
Aussprache durch Gesetz oder Vertrag kann das nicht ändern.
Siebentes Capitel.
C. Herkommen und Gewohnln i'.
In den politischen Acten und Uebungen BOwobJ der State-
gewalt als des Y äuszeri Bich das vorhandene Rechts-
bewusztsein vielfältig, auch ohne dasz es in der Form des
Gesetzes ausgesprochen wird. Hai der darin kundgegebene
Geist eine bestimmte feste I rtenz erlangt, ist er durch
das Herkommen gewissermatten geheiligt, durch offene Uebung
bekräftigt, so ist ihm so das Gepräge der Rechtmässig-
keit aufgedrückt, es hat Bich als nationales Rech! ma-
nifestirt.
in dem Statsrechte der Römer beruhten die wichti
Institutionen und RechtsgrundsätM nicht auf einem geschrie«
benen Gesetze noch aul \ • a ►ndern auf Bolcher dem
Bechtsgefühle und den Rechtsanschaoungen des Volkes ent-
sprechender guter Gewohnheit, Das Statsrechi des Mittel-
alters ist vorzugsweise auf Herkommen und Uebung gegründet.
Auch das englische Statsrechi isi zumTheil auf diesem Boden
erwachsen, und ähnliche Bestandteile des öffentlichen Rechtes
finden wir allerwä
Das Gewohnheitsrecht aber Bteht, obwohl es eine reich-
haltige und lebendige Rechtsquelle Ist, dem urkundlichen Ge-
setzesrechl an Klarheit und Schärfe des Ausdrucks regelnd
nach. Das unbewuszte Gefühl des Nothwendigen gibt sieh in
der Gewohnheit kund, der bewuszte Wille <\r< Richtigen aberf
vorzugsweise in dem Gesetz. Auf der andern Seite ist das
Gewohnheitsrecht aber weniger Btarr als das Gesetz, und lehnt
Siebentes Capitel. Herkommen und Gewohnheit. 17
sich leichter an die bestehenden Verhältnisse und deren stille
Umgestaltung an.
Die sogenannte Natur der Sache, insofern sie als
Recht bildend angesehen wird, ist nichts anderes als die
Macht der vorhandenen realen Verhältnisse (physischer und
psychischer), verbunden mit dem Gefühle des Volks, dasz die-
selben als sittlich-normal anerkannt werden müssen, und
somit rechtlichen Einfluss, rechtliche Geltung haben. Die
Natur der Sache wirkt von Anfang an, die Gewohnheit da-
gegen wirkt erst in beharrlicher Folge.
Das Recht komnri nichl von auszen her als ein Fremdes
an die hinge heran, es wird anch nicht von den Dingen ab-
gelöst und gleichsam ausgestoszen. In Wahrheil ist (las Recht
eine bestimmte Form und Richtung der Existenz Belbst. Der
Stat, wie er Ist, ist das Stil -recht.
Anmerkungen I. Dai Qewohnheitareoht wurde von jeher
überall anerkannt. Cicero de [nvent. II. 22. „ Consuetudinis autem jus
putatur id, quod voluntate omnium sine lege vetustas comprobavit."
— Praefatio legis Baiuwartorumi „Longa consuetudo pro lege habetur.
Lex est oonstitutio scripta, mos est retuatate probata oonauetudo, siye
lex Hon Bcripta." Schwabenspiegel U): BSwa guot gewanheii ist,
diu is roltt. Guotiu gewanheit nnde rehtiu gewanheii daz ist din wider
geistlich reht nih( eniat nnde wider gotes hulde noch wider raanliohen
6ren, noch wider menschliches gewizen noch wider menschlichen triuwen
noch wider die selikeit der seien. Guot gewanheii is< als guot als ge-
schriben reht.41 Puchta Qewohnheitareoht II. v: ..Auch für das Yolk,
aus dessen Rechtsansichtcn sie hervorgeht, dient die Uebung gleichsam
als der Spiegel, in welchem ea sein eigenes Selbst erkennt."
2. Nach Montesquieu Esprit des Lois J. L,2. ist das Recht im wei-
testen Sinn nichts anderes als die von der Natur der Dinge abgeleite-
ten nothwendigen Y er h alt nissc. „Les lois Bont les rapjpoHs neces-
saires qui derivent de la nature des choses, et dang ce senstousles etres
ont leur lois." Das Recht setzt allerdings die ursprüngliche Schöpfung,
d. h. das Dasein verschiedener Existenzen voraus, deren naturgemäsze
Verhältnisse es erkennt und aufrecht erhält, deren Ordnung es ist.
Wenn Schmidthenner XII Bücher vom State I. 8.241 sagt: Montes-
quieu hätte wohl besser geschrieben rqui constituent" la nature des
choses, so kehrt er den wirklichen Gedanken des französischen Rechts-
Bluntschli, allgemeines Stutsrecht. I. 2
lg Achtes Capitel. Die Wissenschaft.
gelehrten um. Thiers {de la propriete Ch. 2.) drückt die Meinung
Montesquieu's nur in einer andern Fassung aus. indem er denselben ver-
bessern will, wenn er sagt: ^Les lois sont la permonence des olioi
Achtes Capitel.
D. Die Wissenschaft,
Die Bestimmung der Rechtswissenschaft ist zunächst kei-
neswegs die, neues Recht herroi zu bilden, Bondern vielmehr
die, das bereits vorhandene Recht iu erkennen. In-
sofern geholt dieselbe ihrer wesentlichen Thätigkeit nach nicht
zu den Rechtsquellen, sondern Bie begnügt sich, aus dea bis-
her genannten Rechtsquellei /u schöpfen,
Auszerdem hat aber die Wissenschaft auch eine pro-
ductive Bedeutung, um deren willen sie allerdings selber
auch zu einer Rechtsquelle wird, und /war in zwiefacher
Beziehung.
Fürs erste verhall neb die Wissenschaft mit Bezug auf
die übrigen Rechtsquellen nicht blosi receptiv. Sie sammelt
nicht blosz den Rechtsstoff, sie verarbeitet denselben, und
eben durch diese Verarbeitung erweitert Bie zuweilen das
vorhandene Recht Sie rieht i. B. ans den Gesetzen Folgerungen,
an welche der Gesetzgeber Belber vielleicht nicht -dacht hat,
und die dennoch nicht bloss Logisch consequenl Bind, Bondern
zugleich zu drin ganzen Rechtssystem passen, und sowohl
innerlich begründet sein als zu der äussern Rechtsordnung
gehören können. Oder Bie bringl nicht blosz einzelne Rechts-
vorschriften des Gewohnheitsrechts zu höherer Klarheit, Bon-
dern wirkt auch hier ergänzend ein, indem sie die Ueberg
von diesem zu dem geschriebenen Rechte vermittelt.
Wichtiger noch ist eine zweite schöpferische Thätigkeil der
Wissenschaft, ivelche sich aus der Natur der Rechtsideen
erklärt. Die Rechtsideen ah Bolche nehmlicfa sind keine.—
Achtes Capitol. Die Wissenschaft. 19
wegs wirkliches Hecht; ihre Erkenntnisz an und für sich
ist daher zunächst nur eine freie Thätigkeit der Wissenschaft,
ohne unmittelbaren Einrlusz auf die Rechtsordnung. Zu Recht
aber werden die Rechtsideen, wenn sie gewissermaszen Leib
gewinnen, d. h. wenn sie in dem State als feste Re-
geln anerkannt werden und positive Geltung erlangen.
Aus bloszen philosophischen Gedanken oder moralischen Vor-
schriften werden sie dadurch in Hechtssätze umgewandelt,
dasz sie von dem Volksbewusztsein als bestimmend und ver-
bindend aufgenommen und im State gehandhabl werden. Diese
Erweiterung des bestehenden Rechtes wird sehr oft statt durch
die Gesetzgebung durch die Wissenschaft vermittelt,
und insofern reihi sich diese den übrigen Rechtsquellen an,,
Die Wissenschaft Ut hier nur niebt mit der Gelehrsam-
keil zu verwechseln, noch darf man die wissenschaftliche
Thätigkeil auf schriftstellerische Abhandlungen beschränken.
Der Statsmann, welcher in einer öffentlichen Debatte durch
seine Rede das Princip rar Klarheil bringt, und das allge-
mein.' Citlicil luv dessen Anerkennung bestimmt; der Feld-
herr, welcher in einem Tagesbefehl die Grundsätze kundgibt,
für welche er mit -einer Armee einzustehen sich für ver-
pflichtet hält, und dadurch die Zweifel löst und die Gemüther
zur Huldigung lenkt; der Richter, welcher durch die Entschei-
dungsgründe -eines Ortheils den streit über das Princip in
einer Weise hebt, welche allgemeine Billigung rindet; der
Journalist, der durch seinen leitenden Artikel der öffentlichen
Meinung die Richtung gibt, und den Stat bestimmt, einen
Satz als Hecht gelten zu lassen . der bisher noch nicht zur
Klarheit erhoben, noch nicht in die Rechtspraxis eingetreten
war, sie alle vergröszern auf wissenschaftlichem Wege das
vorhandene Capital des bestehenden Rechts. Ganz vorzugs-
weise aber geziemt diese wissenschaftliche Thätigkeit den
Statsmännern, und von jeher haben sich auch wahre Stats-
männer dadurch ausgezeichnet, dasz sie — nicht immer in
2*
20 Achtes Capitel. Die Wissenschaft.
der Form der Gesetzgebung und nicht immer unter dem Siegel
der obrigkeitlichen Autorität, sondern oft in der freien Form
wissenschaftlicher Aeuszerung das Recht ihres Volkes be-
reichert haben.
Das wissenschaftliche Recht ist mit dem Gewohn-
heitsrechte verwandt. Wie dieses unterscheidet es sich von
dem Gesetzes- und dem Vertragsrechte durch den Mangel
einer äuszernForm, welche als solche ><li<»n mit der höchsten
staatlichen Autorität ausgerüstet i>t. Wie dieses hat es nicht
einen ofriciellen Charakter, Bändern beruht auf freien Aensze-
rungen des Volksleben-. Es i-t daher auch wie dieses
beweglicher, veränderlicher, dem Zweifel ausgesetzter, aber
auch wie dieses iebensfrisch. Es unterscheidet sich aber von
dem Gewohnheitsrecht hinwieder darin, dasz dieses vornehm-
lich auf dem Recht sgeffrfele des V-dks beruht, welches
sich in Sitten und Hebungen, in ein/. dum Handlungen und
Symbolen kundgibt, jenes aber in dem durch geistige Er-
leuchtung erweckten Reehtsbewusztseins des Volkes
seinen Grund hat. [nsofern verhalt ßich das Gewohnheitsrecht
zu dem wissenschaftlichen Rechte wieder ähnlich wie m dem
Gesetzesrechte.
Der Streit aber die I Gültigkeit des sogenannten Natur-
oder Vernunftrechtes läszt sieh ron da ans Leicht ent-
scheiden. So lange dasselbe nur da- Erzeugnisz individuel-
ler Speculation ist. wir /.. B. dir Platonische Republik
mit ihren Wächtern, so lange hat dasselbe sicherlich keinerlei
Anspruch auf wirkliche Geltung. Auch der Nachweis, dan
einzelne abstracte Meinungen, die als naturrechtliche begründet
werden, zweckmäszig Beien, i>t noch Dicht genügend, im
deren Kechtmäszigkei t herzustellen. Di«' Theorie ihr
sich allein schafft überall noch kein Recht. Wenn aber die
Empfänglichkeit des Volkes dir Anerkennung naturrecht-
licher Sätze zugleich vorhanden ist, und wenn der Rechts»
gedanke zugleich von dem Bewusztsein des Volkes aufgenommen
Achtes Capitel. Die Wissenschaft. 21
und durch dieses mit verbindlicher Kraft ausgerüstet wird,
dann ist derselbe zu Recht geworden, und es ist nicht zu
läugnen, dasz das Kecht erzeugen de Moment allerdings in
der Wissenschaft lag, welches durch die Reception des
Volksbewusztseins fruchtbar wurde.
Selbst in dem römischen Privatrechte ist ein bedeutender
Theil auf solchem wissenschaftlichen Wege entstanden, ein-
zelne wichtige Lehren sogar geradezu aus naturrechtlichen
Gedanken, welche zur Geltung gelangten. Die ganze Lehre
von der Fahrlässigkeit (culpa) z. B. verdankt ihre Entstehung
dieser Thätigkeit der Wissenschaft, welche aus der Beobach-
tung der gemeinsamen menschlichen Natur ihre Sätze schöpfte,
und deren Anerkennung durchsetzte. Im Statsrecht ist diese
Form der Rechtsbildung um so beachtenswerter, je leichter
der Natur des States gem&sz das Bewusztsein von sittlicher
Nothwendigkeil und von der Angemessenheit im State in das
Bewusztsein, dasz das auch Recht Bei, überzugehen pflegt, und
je mehr es in der Bestimmung des States liegt, der erkann-
fi'ii Rechtsidee äuszere Geltung zu verschaffen. Grosze Stats-
männer lassen sich daher, so weit ihnen die Verhältnisse
freien Spielraum gestatten, regelmäszig durch ihren Glauben
oder ihr Wissen von dem natürlichen Kecht e bestimmen.
Anmerkungen. 1. Von dem natürlichen Rechte sagt Paulus in
dem Römerbricfo II, i:> — 1.">: ,.l>«- ( i.-ct/.c- Werk sei in den Herzen
der Heiden geschrieben, und werde von ihrem Gewissen bezeugt." Und
Melanchthon ( Philos. mor.) nennt das positive Recht die nähere Be-
stimmung (determinatio) des natürlichen Rechtes. Diese Bestimmung
des natürlichen Statsrechtes kann geschehen durch Gesetze, durch Stats-
verträge, durch die Gewohnheit, durch die Wissenschaft.
2. Den Moment der Rechtserzeugung zu erkennen und die mancherlei
zusammenwirkenden Ursachen derselben zu beurtheilen, ist freilich in
einzelnen Fällen sehr schwierig. Es ist damit ähnlich wie mit der natür-
lichen Erzeugung. Aber wenn einmal das Recht als positive Frucht des
statlichen Lebens zu Tage gefördert ist, so läszt es sich doch jeder Zeit
erkennen, insofern man nur mit klaren Augen sieht und mit unbefange-
nem Sinne erwägt.
22 Neuntes Capitel. Bechtsordnung u. thatsächl. Ordnung (Besitz!.
Neuntes Capitel
Rechtsordnung und tratsächliche Ordnung (Besitz).
Aehnlich wie wir im Privatrecht Eigentliuni und Besitz
zu unterscheiden gewohnt sind, läszt sich auch von stattlichem
Besitz reden im Gegensatz zum »tätlichen Kecht und kommt
der allgemeinere Unterschied der that sächlichen und der
rechtlichen Ordnung in Betracht Her Gegensatz einer
Kegierung de facto und de jure ist der wichtigste aber
nicht der einzige Fall dieses Unterschieds, in welchem zu-
gleich die Analogie des privatrechtlichen Besitzes und Eigen-
thums besonders deutlich hervortritt, aber mehr nicht als die
Analogie, denn immer mnsa man sich bewuszt bleiben, dasz
die Kegierung kein Eigenthum einer Person und kein Besitz
von Sachen ist.
In zwei Richtungen findet der Btatliche Besitz auch eine
statsreehtliehc Beachtung, Fürs erst»', indem der thatsäch-
liche Bestand (Status, quo res Bunt), abgesehen von Beiner
rechtlichen Begründung, einen Anspruch gewährt auf provi-
sorischen Rechtsschutz gegen unbefugte und gewaltsame
Störung. Auch hier darf man im Grundgedanken an die Ana-
logie des [nterdictenschutzes zu Gunsten des Sachenbesitzes
erinnern, aber muss man sich vor der unzulässigen Anwendung
der privatrechtlichen Doctrin hüthen.
Sodann geht der fchatsächliche Zustand anter gewisse!]
Voraussetzungen in Folge der Zeit in den entsprechenden
Rechtszustand über, ähnlich wie der Sachenbesitz durch Ver-
jährung gesichert und zu Eigenthum wird. Insofern läszt
sich wohl von einer Btatsrechtlichen Verjährung1 reden,
1 Der Ausdruck Verjährung bedeutet in der deutschen Sprach«
nicht eine bestimmte gesetzliche Institution, sondern überhaupt das
allmähliche Wach stimm eines befestigten Rechtsaastandes aus der Fort-
dauer der thatsächlichen Zustände, welche von derZeil geheilig! werden.
Wenn &, Brie in seiner trefflichen Schrift: Die Legitimation einer usur-
Neuntes Capitel. Rechtsordnung u. thatsäehl. Ordnung (Besitz). 23
die freilich wieder von anderer Art und Wirkung ist als die
privatrechtliche Verjährung.
Der Besitz hat für das öffentliche Recht eine gröszere
Bedeutung noch als für das Privatrecht. Er geht weit leichter
in jenem als in diesem in wirkliches Recht über, und wirkt
dort in höherem Masze Recht bildend als hier. Dieser
Unterschied beruht keineswegs blosz auf dem äuszerlichen
Nothstande, dasz es im State häufig an einer höhern Gewalt
fehlt, welche die unberechtigte auf öffentliche Verhältnisse
sich erstreckende Besitzergreifung verhindert oder aufhebt,
während der in seinem Privatrechte beeinträchtigte und aus
seinem Besitze ohne Recht verdrängte Inhaber regelmäszig bei
den Gerichten Schutz findet gegen die ihm angethane Ver-
letzung, sondern es findet derselbe seine innere Begründung
in der verschiedenen Natur des Stats- und des Privatrechts.
Zwar genügt die blosze faetische Ausübung eines Rechtes
für sich allein dort so wenig als hier dazu, um dem Ausüben-
den das ausgeübte Recht zuzuerkennen. Der blosze fae-
tische Zustand ist auch im Statsreehte nicht ohne weiteres
als Recht aufzufassen. Es musz auch für das Statsrecht,
damit es aus dem Besitze hervorgehe, ein geistig- sitt-
liches Rechtselement hinzutreten. Aber während im
Privatrechte, abgesehen von der Besitzergreifung herrenloser
Sachen, die dann auch sofortiges Eigenthum bewirkt, das In-
pirten Statsgewult, den Ausdruck für diese statsrechtliche Wandlung
nicht billigt, so denkt er zu sehr an die privatreclitliche Verjährung.
"Wird für diese bona fides gefordert bei dem Besitzerwerb, so paszt die-
ses Erfordernisz, insofern es Nichtwissen des Eigenthums eines Andern
bedeutet, schon deszhalb nicht in's Statsrecht, weil es sich liier nicht
um persönliche Rechte handelt, sondern um öffentliche Rechtszustände.
Eine bona fides in ganz anderm Sinn, nämlich der Glaube an das
Bedürfnisz oder die Notwendigkeit der Aenderung wird aber meistens
bei denen vorhanden sein, welche die Umgestaltung durchsetzen. Aber
selbst wenn dieser Glaube anfänglich nicht da wäre, so kann er später
sich bilden und das ist für die öffentlich-rechtliche Verjährung aus-
reichend.
24 Neuntes CapiteL Rechtsordnung u. thatsächl. Ordnung ( Besitz).
divicluum, welches an einer ihm bisher fremden Sache eigen-
mächtig Besitz ergreift, jederzeit einem andern berechtigten
Individuum gegenüber tritt, und so in den besondern Kreis
von Rechten dieses Andern übergreift, der als Privatperson
neben ihm auf gleicher Linie steht, so äussert sieh dagegen
in der verschiedenen offenen Besitzesergreifung öffentlicher Rechte
sehr häufig die Macht der — wen auch neuen — natür-
lichen Verhältnisse im State, und in dem Mangel eines
Widerspruchs zu gleich e i n e G e w B hm n g und A n e r ken-
nung von Seite des States, in dessen eigenem Körper die
Veränderung vor Bich gegangen ist In der gesicherten Fort-
dauer der tatsächlichen Zustande offenbart rieh die fortwir-
kende Notwendigkeit der öffentlichen Verhalt*
nisse, and diese ist öffentliches Recht
Diese Rechtsansicht wird noch klarer werden, wenn wir
die beiden extremen Meinungen, die ibr \<>n i gesetzten
Seiten her entgegentreten, mit ibr vergleichen und an ihr
prüfen.
I. Die Theorie der »genannten faits aecomplis. si»>
schmiegt sich bequem an jede factische Veränderung an. Sie
erklärt jede ftuszerlich erscheinende Mach! ,il- Recht. Sir weis/,
von keinem andern Recht, als dem des momentanen Sieges,
von keinem Unrecht als dem «In- Niederlage. Jede Empörung
ist in ihren Augen strafbar, wenn sie miszglfickt, und voll-
ber echtigt , wenn sie gelingt. Jede Usurpation wird von ihr
verdammt, wenn sie im Versuch erstirbt, und Boforl anerkannt,
wenn sie Erfolg hat Die äussere weh -rinde Erschei-
nung ist ihr einziger bfaszstab auch für das Recht. Sie
folgt allen Wogen des Geschickes mit niederträchtiger GefQg-
samkeit, und wechseK ihre Farbe und ihre Meinung mii jeder
neuen Bewegung, die sie verspürt Sie gibt vor, den bestehen-
den Zustand zu schützen, und untergr&bl ihn: sie rflhml sich,
die lebendige Portbildung der Dinge zu berücksichtigen, und
huldigt doch immer nur der jeweiligen Gegenwart. Sir. hui
Neuntes Capitel. Rechtsordnung u thatsächl. Ordnung (Besitz). 25
keinen Glauben an den sittlichen Gehalt und keine Einsicht
in die geistige Natur des Kechts.
Zum Unglück für die allgemeine Rechtssicherheit ist seit
der französischen Revolution diese charakterlose Doctrin der
fait.s accomplis auf dem europäischen Continent häufig practisch
geworden, und sie hat oft bei den entgegengesetzten Parteien
Beifall gefunden.
Wohl verdient die ^tatsächliche Umwandlung der Dinge
auch die Beachtung des Rechts, aber der Grundfehler jener
Lehre liegt in der Einseitigkeit, womit sie auf die äuszere
Erscheinung allen Nachdruck legt, und das ganze sittliche
und geistige Elemenl des Rechts übersieh! und misz-
achtet. Nur wo das Rechtsbewusztsein des Volkes die
Veränderung [rntheiszt, wo jenes sich in den neuen Lebens-
erscheinungen offenbart, nur da kann Bich auf solchem Wege
neues wirkliches Rechl entwickeln. Die Erkenntnisz, ob dieses
Rechtsbewusztsein da Bei oder nicht, ist freilich In manchen
Fällen Bchwierig, aber die-«' Schwierigkeit heb! die hohe Be-
deutung <\r> zu erkennenden Momentes selber nicht auf. Als
Anhaltspunkte für diese Erkenntnisz und demnach als Beding-
ungen der statsrechtlichen Verjährung dienen folgende
Bücksichten .
a) So lange in dem State noch offener Kampf ge-
führt wird um die Aenderung, so lange ist jedenfalls das
Bewusztsein von der Etechtmäszigkeil <\ii^ neuen Zustandes noch
nicht durchgedrungen, wenn schon die Partei, welche für den-
selben streitet, die mächtigere ist.
b) Ist innerhalb des States zwar die Aenderung für den
Augenblick siegreich durchgefochten, aber sind die Verhält-
nisse und Stimmungen von der Art, dasz die Erneuerung
des Kampfes noch in drohender Aussicht steht, so ist auch
in diesem Falle der Besitz noch nicht zu festem Recht ge-
worden.
c) Yon besonderer Bedeutung ist entweder die still-
26 Neuntes Capitel. Rechtsordnung u. thaisftchi Ordnung (Besitz).
schweigende Zulassung oder gar die ausdrückliche
Anerkennung des veränderten Zustande- von Seite der Or-
gane des States, welche das Kecht und die Pflicht haben, ober
diese Zustände und deren Ordnung zu wachen, besonder« aber
von Seite der obersten Statsgewalten, oder von Seite dea Volks,
welches durch die Aenderung betroffen wird.
d) Endlich ist entscheidend die v 8 Ik erreohtl iche A n-
erkennung der Mächte, welche berufen sind, den allge-
meinen Frieden und die gemeinsame Weltordnung zu schützen.
Wenn diese Voraussetzungen alle vorhanden sind, so Ist
die neue Rechtsbildung vollzogen and die anfängliche Usur-
pation ist von der Zeit geheiligt zu wirklichem &echt
geworden.
II. Die legitimistische Theorie stellt sieb an. als
vertrete sie vorzuglich das geistig-sittliche Klemmt im Recht,
im Gegensatze zu den thats&chlichen Erscheinungen, das feste
Kecht im Gegensatze zu den unstäten Schwankungen der
äuszeren Ereignisse. Und in der Thal liat sie der Lehre von
den faits aecomplis gegenüber ein gewisses Verdienst. Aber
in ihrer nur entgegengesetzten Einseitigkeil gerfttb sie nicht
minder als diese in Widerspruch mit dem Wesen des Rechts.
Verstellt man unter der Legitimität, wie das Wort w
zuläszt, die Rechtmässigkeit der wirklichen Verhalt»
dann verdient sie unsere volle Verehrung. Wird aber unter
Legitimität die blosse hergebrachte Rechtsform verstan-
den, auch nachdem der Geist aus Ihr gewichen ist, oder die
blosze vor Zeiten erschienene Rechtsidee, welche von der
Kealität abgelöst die Möglichkeil der Verwirklichung verloren
hat, dann ist sie eine leere Formel ohne [nhalt, eine Phrase
ohne Wahrheit. Die legitimistische Tl rie \ erfallt in diesen
Fehler: und es kommt ihr nicht ra, rieh als Verfechter des
geistlich -sittlichen Principe /n gebahren; denn der Geist Ist
lebendig und sie will den fcodten Buchstaben erhalten. Sie
meint das Leben fortzusetzen, indem sie die Mumie aufbewahrt,
Neuntes Capitel. Rechtsordnung u. thatsächl. Ordnung (Besitz ). 27
Die Entwicklung der Geschichte, das lebendige Wort des
Kechts, das sich in der wachsenden und sinkenden Macht der
Verhältnisse und in dem Schicksal der Völker kund gibt,
bleibt ihr unverständlich. Den Blick ausschließlich der Ver-
gangenheit zuwendend, sieht sie nicht das Walten der Alles
wandelnden Zeit, Beschränkten Sinnes ist sie gebannt in die
urkundliche Formel des alten Gesetzes. Ladern sie die natür-
liche Macht der Verhältnisse zu gering schätzt, artet sie leicht
aus in ohnmächtige Rechthaberei, und indem sie sich Ton dem
Leben abschlieszt und sich dem Leben entfremdet, erstarrt sie
selbst zu leeren Sätzen. Sie darf sich nicht beklagen, dasz
die Weltgeschichte, unbekümmert um ihre fruchtlosen Proteste
über sie wegschreitet. Von ihr gill das Wort Christi : .Lasset
die Todten ihre Todten begraben.4
Es gibt keinen einzigen Stat, der mit dies*']- legitimistischen
Ansicht bestehen könnte. Die ganze Weltordnung /.engl wider
sie und das Gericht der Weltgeschichte ha! sie längst ver-
worfen. Und trotzdem hal man in unserm Jahrhundert die
Verwegenheit gehabt, das Gespenst dieser leblosen Legitimität
neuerdings zu beschwören, damit die Geister zu verwirren und
die Praxis zu eiteln und schädlichen Handlungen zu verführen.
Anmerkungen. 1. Niebuhr Geschichte der Revolution I. 8. 212:
„Uniäugbar gilt für das Statsreclit eine Verjährung der Usurpation, wie
im Privatreeht Verjährung des Besitzes."
2. Ein wichtiges und vollbewusztes Zeugnisz gegen die falsche Le-
gitimität haben der Papst Zacharias und die fränkische Nation
um die Mitte des achten Jahrhunderts vor der Welt abgelegt, jener in-
dem er es für Recht erklärt hat, dasz der den Namen des Königs er-
halte, welcher die Pflichten und die festbegründete Macht des Königs
selbständig übe, diese indem sie diesem Ausspruch gemäsz die herzog-
liche Dynastie der Karolinger zur königlichen erhoben und den Mero-
wingern, die seit langer Zeit nur noch den Schein, nicht mehr die
Wahrheit des Königthums besaszen, den königlichen Titel entzogen hat.
3. Kaiser Joseph II. von Oesterreich vindicirt in seinem berühm-
ten naiven Briefe an König Friedrich II. von Preuszen die legiti-
mistische Ansicht für die Könige in einem Sinne, welcher sich dem
System der faits aecomplis sehr nähert: „Euer Majestät ist Monarch, und
2g Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung.
in dieser Eigenschaft sind Ihr die Rechte des Künigthums nicht un-
bekannt. Mein Unternehmen gegen die Osmanen ist oichts ander«
ein legitimer Versuch, Provinzen wieder in Besitz zu nehmen, welche
im Laufe der Zeiten und in Folge unglücklicher Ereignisse von meiner
Krone losgerissen worden sind. Die Türken, und ich denke Bie lind
nicht die Einzigen, haben die ßtatsmarime zu gelegener Zeit wie-
der zu nehmen, was sie in unglücklichen Zeiten verloren."
4. Der engere Begriff der Legitimität, der zur Zeit der Restaura-
tion von 1814 durch den Fürsten TalFeyrand in Umlauf gesetzt werden
ist, bedeutet vorzugsweise das fürstlichi Gtblütsrechi der alten Dynastien
im Gegensatz zu revolutionärer Entsetzung oder asurpatorischen Ver-
drängung derselben, und i>t bus religiösen, familienrechtlichen und patri-
monialen Elementen gemischt. Der ganze Begriff gehört daher eher
dem mittelalterlichen ah dem modernen Btatsrecht an. VgL den Artikel
Legitimität im deutschen Btatswörterbuch,
Zehntes Capitel.
\\> tbodt n d< r Behandlung,
Die vrissenschaftliche Lahr« des Statsrechts kann in »tr-
schiedener Weise behandell werden. Insbesondere ktssen sich
zwei innerlich begründete Arten nn<l ebenso zwei krankhafte
Abarten der Behandlung unterscheiden. Wir können als jene
Arten die philosophische und die historische Methode
der Behandlung bezeichnen. Die Abarten entstehen ans dar
extremen üebertreibung je der einen vorherrschenden Seite
jener erstem Methoden; ans der philosophischen ist bo die
blosz abstract-ideologische, ans der historischen die ein-
seiti g-o in i» i rische wie ans -lern Urbild das Zerrbild durch
Verderbnis/ hervorgegangen.
Der Gegensatz der Methoden Bchlieszl Bich an theils an
die Eigenschaften dee Rechtes Belbst, theilfl an die Verschie-
denheil der geistigen Anlagen «lerer, welche in dieser Wissen-
schaft gearbeitet haben.
Alles Recht nämlich bat eine ideale Seite, einen ajft-
Zehnte3 Capitel. Methoden der Behandlung. 29
liehen und geistigen Gehalt in sich, aber als Recht ruht es
zugleich auf einem realen Boden, und hat auch eine leib-
liche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite im Recht
ist von der abstracten Ideologie verkannt und übersehen
worden. Sie pHegt sich ein abgezogenes Statsprincip auszu-
denken, und daraus eine Reihe Logischer Folgerungen zu ziehen,
ohne Rücksicht auf den wirklichen Stat und dessen reale Ver-
hältnisse. Selbst Pia ton ist in seiner Republik in diesen
Fehler verfallen und dabei- zu Sätzen gekommen, welche der
Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu wider-
sprechen. Indessen war Piaton doch durch den Reichthum seines
Geistes und seinen Sinn füi- die Schönheit der Form vor der
armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben,
welche im- in den Statsrechtslehren der Neuern so häufig be-
gegnen. Der Stat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht
ein Producl der bloszeu kalten Logik, und das Recht des
States Lsi uichl eine Sammlung speculativer Sätze.
Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Unter-
suchung betrieben wird, Leichi zu anfruchtbaren Resultaten;
wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten
Geltendmachung fixer tdeen und zur Auflösung and Zerstörung
<h'^ bestehenden Rechts. In Zeiten der Revolution, wo die
Losgebundenen Leidenschaften Bich um so lieber solcher ab-
stracten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hülfe
die Schranken (\r^ Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben,
erhalten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht,
und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen,
mit dämonischer Gewalt Alles vor sich nieder. Die franzö-
sische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der
Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung
vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu
sagen: „Die Metaph ysiker, die Ideologen haben Frank-
reich zu Grunde gerichtet." Die ideologische Auffassung der
„ Freiheit und Gleichheit" hat Frankreich mit Buinen gefüllt
30 Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung.
und mit Blut getränkt, die doctrinäre Ausbeutung des
, monarchischen Princips- hat die politische Freiheit Deutsch-
lands niedergedrückt und seine Machtentwicklung gehemmt,
und die abstracte Durchführung des Nationalitätengrundsatzes
hat den Frieden von ganz Europa bedroht. Die fruchtbarsten
und wahrsten Ideen werden verderblich, wenn sie ideologisch
erfaszt und dann mit dem Fanatismus der Bornirtheit verwirk-
licht werden.
Der entgegengesetzten Einseitigkeit macht rieb die blosz
empirische Methode schuldig, indem rie sieb blosi an die
vorhandene äuszerliche Form, an den Buchstabe! des Gesetzes
oder an die thatsächlichen Erscheinungen hält Diese Methode,
welche in der Wissenschaft höchstens durch ihre Sammerwerke
einen Werth hat, in denen de grossen Stoff anhäuft, findet in
dem Statsleben häufig, zumal unter bureaukratiscb gebildeten
Beamten, zahlreichen Anhang. Sie gefährdet dann /.war selten
unmittelbar die ganze Statsordnung, wie die Ideologischen
Gegenfüszler. aber sie setzt rieb wie ein Rost an das blank**
Schwert der Gerechtigkeit an, umstrick! die Öffentliche Wohlfahrt
mit Hemmnissen aller Art. verursacht eine Menge kleiner Schä-
den, entnervt die sittliche Kraft und schwächt die Gesundheit
des States dergestalt, dasa am ihretwillen in kritischen Zeiten
seine Bettung überaus erschwert, zuweilen unmöglich gemacht
wird. Führt die blosz ideologische Methode, wenn sie prac-
tisch wird, den Stat eher in fieberhafte Stimmungen und Krisen
hinein, so hat diese blosz empirische Methode unter derselben
Voraussetzung eher chronische üebel zur Folge.
Die historische Methode unterscheidet rieb ron der
letztern vorteilhaft dadurch, dasz sie nicht blosz «las gerade
vorhandene Gesetz oder die vorhandenen Thatsachen gedanken-
los und knechtisch verehrt, sondernden innern Zusammen-
hang zwischen Vergangenheil und Gegenwart, die orga-
nische Entwicklung d»>> Volkslebens und die in der
Geschichte offenbar gewordene sittliche Idee geistig
Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung. 31
durchdringt und beleuchtet. Sie geht zwar auch zu-
nächst von der realen Erscheinung aus, aber sie faszt diese als
eine lebendige auf, nicht als eine todte.
Verwandt mit ihr ist die wahrhaft philosophische
Methode, welche nicht blosz abstract specuiirt, sondern concret
denkt und eben darum Idee und Realität verbindet. Wäh-
rend jene ihrer Betrachtung die geschichtliche Erscheinung und
Entwicklung zu Grunde legt, geht diese zunächst von der Er-
kenntnisz der menschlichen Seele aus, und betrachtet von da
aus die in der Geschichte geoffenbarten Aeuszerungen des
menschlichen Geistes.
Nur wenigen Individuen war es vergönnt, diese beiderlei
Betrachtungsweisen zugleich in sich zu vereinigen. Die mei-
sten, die Bich auf einen böhera wissenschaftlichen Standpunkt
erhoben haben, wurden durch ihre natürlichen Anlagen ent-
weder der einen oder der andern Richtung vorzugsweise zu-
geleitet. Unter jenen Erstem verdient Aristoteles voraus
unsere Bewunderung, dessen Statslehre, obwohl in jener jugend-
lichen Periode der Geschichte der Menschheit geschrieben,
welche der reiferen Statenbildung vorausging, dennoch auf
Jahrtausende nach ihm eine der reinsten Quellen statlicher
Weisheit geblieben ist. Der Kölner Cicero ahmte zwar in
der Form der Begründung und Darstellung die philosophische
Weise der darin reicher begabten Griechen nach, den besten
Theil des Inhaltes aber schöpfte er mit Becht aus der Fülle
practisch-römiseher Politik. Unter den Neuern sind der Fran-
zose Bodin, der Italiener Yico und der Engländer Baco de
Verulam als frühe Repräsentanten der philosophisch-histo-
rischen Methode zu nennen. Cicero ähnlich an hinreiszender,
schwunghafter Beredsamkeit hat der Engländer Burke die
Lehren der englischen Statswissenschaft ebenso aus der Ge-
schichte und dem Leben seines Volkes gegriffen und in geist-
reicher und philosophischer Form verherrlicht. Der Italiener
Macchiavelli, der in seinen Werken die reiche und schwere
32 Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung.
Lebenserfahrung eines tiefen und klugen Menschenkenners nie-
dergelegt hat, und der Franzose Montesquieu, welcher mit
freiem und heiterm Blicke die Welt anschaut und reich ist
an feinen Bemerkungen und treffenden Beobachtungen, wech-
seln in ihren Schriften in der Methode; doch ist jener mehr
der historischen, dieser mehr der philosophischen ergeben.
Der welsche Schweizer Rousseau und dw Engländer 1 > * * 1 1 —
tham dagegen halten sich , gleich den meisten Deutschen,
mehr an die philosophische Methode, verfallen alter häufiger
als ihr grösseres Vorbild Piaton in die einseitigen Yerirr-
ungen der bloszen Ideologie.
Es ist somit klar : die beiden Methoden, die historische
und die philosophische] bestreiten Bich nicht Sie ergänzen
sich vielmehr und corrigiren aich. Der Isi sicherlich ein bor-
nirter Historiker, der meint, mit ihm Bei die Geschichte ab-
geschlossen, and es werde kein neues Etechi mehr geboren,
und der ein eitler und thönchter Philosoph, der meint, er sei
der Anfang und das Ende aller Wahrheit Der echte Histo-
riker ist als solcher genöthigi den Werth auch der Philosophie
anzuerkennen, und der wahre Philosoph isi ebenso darauf hin-
gewiesen auch die Geschichte zu Käthe zu ziehen.
Wohl aber hat jede der beiden Methoden ihre eigentüm-
lichen Vorzüge und hinwieder ihr«' besondern Schwachen und
Gefahren. Der Hauptvorzug <\rv historischen isi der Reich-
tlium und die Positivit&t ihrer Resultate; denn die Oe-
schichte ist voll lebendiger Mannichfaltigkeil und zugleich
durch und durch positiv. Was der fruchtbarste Denker in
seinem Kopfe auszudenken vermag, wird dock immer, ver-
glichen mit den in der Geschichte der Menschheit geoffen-
barten Gedanken, nur ein ärmliches Stückwerk sein, und ge-
wöhnlich nur eine unsichere und nebelhafte Gestali erlangen.
Aber daneben besteht allerdings die Gefahr, dasz man, den histo-
rischen Bahnen folgend, leicht aber der reichen Mannichfaltigkeil
der Einheit vergiszt und die Einheit verliert, das/ man von der
Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung. 33
Schwere des Stoffes niedergedrückt, und von der Massenhaf-
tigkeit der geschichtlichen Erfahrungen überwältigt wird, dasz
man insbesondere, von der Vergangenheit angezogen und ge-
fesselt, den frischen Blick in das Leben der Gegenwart und
nach der Zukunft hin verliert. Freilich sind das keineswegs
nothwendige Folgen der historischen Methode, aber die Ge-
schichte selber zeigt uns, wie häufig Männer, die sich ihr lei-
denschaftlich hingegeben haben, auf derlei Abwege sich verirren.
Die Vorzüge der philosophischen Methode dagegen sind:
Keinheit, Harmonie und Einheit des Systems, vollere
Befriedigung des allgemeinen menschlichen Strehens nach Ver-
vollkommnung, Idealität. Ihre Resultate haben einen vor-
zugsweise menschlichen Charakter, ein vorzugsweise ideales
(iepräge. Und wieder dmin-n ihr eigentümliche Gefahren,
insbesondere dasz die Philosophen in dem Streben nach dem
Einen ofl als einlach gedachten Ziele die innere Mannich-
faltigkeil der Natur und den reichen [nhall des realen Daseins
übersehen, dasz sie, dem raschen Fluge der freien Gedanken fol-
gend, nicht selten statt wirkliche Gesetze zu entdecken, leere For-
meln ohne Gehalt, Blasen ohne Kein finden, und dem Spiele mit
diesen verfallen, dasz sie, die natürliche Entwicklung verken-
nend, unreife Früchte pflücken, wurzellose Bäume in die Erde
stecken und in ideologisehen Irrwahn versinken. Nur wenige»
philosophischen Geistern ist es geglückt, sich reu diesen Ver-
i rrnngen frei zu erhalten.
Anmerkung. Diese und verwandte Gedanken habe ich 1811 in
der Schrift: „Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen" in
ihrer Beziehung auf die deutsche "Wissenschaft näher ausgeführt. Zweite
Auflage, Zürich, 1862. Weit früher aber hat der englische Kanzler
Bacon die Gebrechen der naturrechtlichen und der positiven Juris-
prudenz seiner Zeit gerügt und von der Verbindung der Geschichte mit
der Philosophie die nüthige Reform der Rechtswissenschaft erwartet.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht.
OhTtes önd?.
Der Begriff des Stats.
Erstes Capitel.
• Historischer Btatsl egriff.
Wenn wir die grosse Ajizahl von Staten überblicken, welche
nns die Geschieht.- ror die Augen führt, so werden wir
einzelne gemeinsame Merkmale aller Staten sofort gewahr,
andere aber stellen Bich erst bei näherer Prüfung heraas.
lß Vorerst \>i es klar, dasa in jedem State eine Mi
von Menschen verbunden ist, v" sehr verschieden auch
die Volkszalil der einzelnen State* Bein kann, indem die einen
nur wenige Tausend«', andere dagegen viele Millionen Menschen
umfassen, so steht doch das fest, dasz von Stai ersl dann die
Kede ist, wenn der Kreis einer bloszen Fiitn il Ie über-
schritten ist, und sich eine Menge von Menschen (beziehungs-
weise von Familien, Männer, Weiber und Kinder) vereinig!
finden. Eine Familie, ein Gesehlechl wie das Baus des .indi-
schen Erzvaters Jakob kann der Kern werden, um den m.1i
mit der Zeit eine grössere Menge Menschen ansammelt, aber,
erst wenn das geschehen ist, erst wenn die einzelne Familie
sich in eine fteihe von Familien aufgelöst hat, und die Ver-
wandtschaft zur Völkerschaft erweitert ist, isi sine
Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 35
wirkliche Statenbildung möglich. Die Horde ist noch nicht
Völkerschaft. Ohne Völkerschaft kein Stat.
Eine Normalzahl für die Grösze des Volks im Stat gibt
es nicht, am wenigsten eine so geringe, wie Kousseau ge-
meint hat, von nur 10,000 Mann. Im Mittelalter konnten
wohl so kleine Staten sicher und würdig bestehen. Die neuere
Zeit treibt zu gröszerer Statenbildung an, theils weil die poli-
tischen Aufgaben des modernen Stats einer reicheren Fülle
von Volkskräften bedürfen, theils weil die gesteigerte Macht
der Groststaten für die Unabhängigkeit und Freiheit der Klein-
staten leicht gefährlich und bedrohlich wird.
2. Sodann zeigt sich eine dauernde Beziehung des
Volkes zum Boden als nothwendig für die Portdauer des
Stats. Der Stat verlangt ein Statsgebiet, zum Volke gehört
das Land.
Nomadenvölker, obwohl Häuptlinge an ihrer Spitze
stehen, und obwohl sie unter sich das Etechl handhaben, be-
wegen sieli doch nur in dein Vorhole des States. Erst die
feste Niederlassung derselben bedingt das Statwerden. Moses
hat das jüdische Volk zum Stat erzogen, aber Josua erst hat
den jüdischen Stat in Palästina gegründet. Als in den Zeiten
der groszen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze ver-
lieszen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich
in einem unsicheren Cebergangszustande. Der frühere Stat,
den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch
nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort,
der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wrenn es
ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte
es ihnen eben deszhalb, einen neuen Stat herzustellen; die
Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So ret-
teten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen den
Stat Athen, weil sie nach dem Siege die Stadt wieder ein-
nahmen; aber die Cimbern und Teutonen gingen unter, weil
sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue erwarben.
3*
35 Erstes Buch. Der Begriff des State.
Sogar der römische Stat wäre untergegangen, wenn sich die
Kömer nach dem Brande der Stadt nach Veji übergesiedelt
'hätten.
3. In dem State stellt sich die Einheit des Ganzen,
die Zusammengehörigkeit des Volkes dar. Im Innern
sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit groszer und
eigentümlicher Selbständigkeit, wie in Koni der Populus
der Patricier und daneben die Plebes, wie im altern ger-
manischen Mittelalter die Volks verf aas u n g neben der L e -
hens Verfassung. Der Stat kann auch aus mehreren Theileo
zusammengesetzt sein, die in sieh Belber wieder Staten bilden,
wie in den Staten b finden dar alten Hellenen und der
Eidgenossen, und in den Du id esst a t en Nordamerikas
und der Schweiz. Aber wenn die Gemeinschaft nicht,
es in ihrem innern Organismus, einen einheitlichen Zusammen-
hang besitzt, sei es im Verhältnis! zu den auswärtigen Staten
sich als ein zusammengehöriges Ganzes darstellt, in ist kein
Stat da.
3. In allen staten tritt der Gegensatz zwisehen Begie-
renden und Regierten, oder am uns eines alten, zuweilen
miszverstandenen und auch wohl tniszbrauchten ausdrucke /u
bedienen, der aber an und Für sich weder gehässig noch un-
frei ist, zwischen Obri-k ei t und (' nt e r t hauen , zwar in
den mannichfaltigsten Formen, aber immerhin als nothwendig
hervor. Selbst in der ausgebildetsten Demokratie, in welcher
dieser Gegensatz zu verschwinden scheint, ist derselbe den-
noch vorhanden. Die Volksgemeinde der athenischen Borger
war die Obrigkeit, und die einzelnen Athener waren im \n-
hältnisz zu jener Unterthanen.
Wo es keine Obrigkeit mehr gibt, «reiche die Autorität
besitzt, wo die Regierten den politischen Gehorsam gekfindigi
haben, und Jeder thut wozu ihn die Lust treibt, wo Anar-
chie ist, da hat der Stat aufgehört. Die Anarchie kann aber,
wie alle Negation, so wenig dauern, dasz sieh aus ihr sofort
Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 37
wieder, wenn auch in roher und oft grausamer despotischer
Form, unter jedem lebendigen Volke eine Art von neuer
Obrigkeit aufwirft, welche sich Gehorsam erzwingt, und so
jenen unentbehrlichen Gegensatz herstellt. Die Communisten
verneinen zwar denselben in ihren Theorien, aber damit ver-
neinen sie den Stat selbst. Auch ist es ihnen noch unter
keinem Volke gelungen, mit Vernichtung des States ihren
blosz gesellschaftlichen Verband einzuführen, und würde
es ihnen je gelingen, vorübergehend die Massen für sich und
ihre Plane einzunehmen, so wäre, nach dem Vorbilde der
religiösen Communisten des XVI. Jahrhunderts, der Wieder-
täufer, und nach der innern Consequenz der Dinge, mit Sicher-
heit darauf zu rechnen, dasz auch sie wieder eine Herrschaft,
und zwar die härteste-, die es je gegeben, aufrichten würden.
Bei den Slawischen Völkern finden wir die alte Idee,
•las/ nur die Einstimmigkeil aller Gemeindeglieder den
Gemeinwillen hervorbringe und nicht dir Mehrheit noch eine
höhere Stimme entscheide. Das kann aber höchstens als Ge-
meindeprineip und auch nur bei einer Nation gelten, in der
sich Alle leicht und rasch zusammen schlieszen, nicht aber als
Statsprincip, denn der Stat musz den Widerspruch Einzelner
unvermeidlich überwältigen.
5. Eine gründliche Prüfung der statliehen Erscheinungen
läszt uns ferner in demselben ein organisches Wesen er-
kennen, und in der That ist mit dieser Einsicht in die orga-
nische Natur des States sehr viel gewonnen auch für die
practische Behandlung der statliehen Fragen.
In jedem State nämlich werden wir für die verschiedenen
öffentlichen Thätigkeiten auch verschiedene Würden, Aemter,
Behörden, Versammlungen gewahr, welche eigens geartet und
bestimmt sind, um als Organe des States zur Erfüllung jener
Thätigkeiten zu dienen. Das Individuum, welches in das öffent-
liche Amt eintritt, hört insofern auf eine blosze Privat-
person zu sein, die zunächst für sich lebt, es wird, so weit
3g Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
das Amt solches erheischt, zur öffentlichen Person. Das
Amt selbst, welches von ihm bekleidet wird, verhält sich zu
dem State als einem Ganzen genau so, wie das Glied zum
Körper. Es ist nicht etwa nur wie ein Theil einer Maschine,
es hat nicht etwa blosz mechanische Thätigkeiten auszuüben,
die sich immer gleich bleiben, wie die Bäder uud die Spindeln
einer Fabrik, sondern seine Functionen haben einen geistigen
Charakter und ändern sich im Einzelnen je nach den Be-
dürfnissen des öffentlichen Lebens, zu deren Befrie-
digung sie bestimmt sind. Dem Leben dienend sind sie in
sich selber lebendig. Wo daher das Leben in dem Amte er-
stirbt, wo dieses in einen gedankenlosen Formalismus versinkt
und sich der Natur einer Maschine annähert, welche ohne Un-
terscheidung, ohne Berücksichtigung der eigenthümliehen und
wandelbaren Verhältnisse, die vorliegen, nach festen äuszern
Gesetzen in regelmäsziger mechanischer Bewegung fortarbeitet,
da ist das Amt selbst dem Verderben verfallen, und der in
eine Maschine verkommene Stat geht sicher eben deszhalb zu
Grunde.
Nicht allein der Mensch , welcher in dem Amte wirkt,
das Amt selbst hat in sich eine psychische Bedeutung, es
lebt in ihm ein seelisches Princip. Es gibt einen Cha-
rakter, einen Geist des Amtes, der hinwieder auf die
Person, welche, wie in dem Körper das Individuum, in dem
Amte waltet, einen Einflusz übt. In dem römischen Consu-
late lag eine würdevolle Hoheit und Machtfülle, welche auch
einen nicht bedeutenden Mann, der zum Consul erwählt wor-
den war, emporhob, und seine natürlichen Kräfte steigerte.
Das Kichteramt ist ein so heiliges, der Gerechtigkeit ge-
weihtes, dasz diese erhabenen Eigenschaften auch die Seele
eines schwächeren Mannes, welcher zum Richter bestellt wird,
erfüllen und in ihm den Muth, für das Recht einzustehen,
wecken können. Der Geist des Amtes vermag zwar nicht die
Natur des Beamten umzuändern, er ist nicht mächtig genug
Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 39
diesen so zu durchdringen, dasz jederzeit die persönliche Er-
füllung des Amtes der Bedeutung desselben vollkommen ent-
spricht; aber der Beamte verspürt doch jederzeit eine psy-
chische Einwirkung des Amtes auf seinen individuellen
Geist und sein Gemüth, und wenn er einen offenen Sinn hat,
kann es ihm nicht entgehen , dasz in dem Amte selbst eine
Seele lebt, welche zwar nun mit seiner Individualität in eine
enge Beziehung und in unmittelbare Verbindung getreten ist,
aber immerhin von jener verschieden ist und seine Per-
sönlichkeit überdauert.
Wie aber die sämmtlichen öffentlichen Aemter und Wür-
den zum State gehören als dessen Glieder, so ist dieser selbst
wieder ein organisches Ganzes, welches als Einheit die
Mannichfaltigkeit jener zusammenhält und zu innerer Harmonie
vereinigt. Das Ganze und seine Theile , der Stat und seine
Aemter haben daher auch als organische Bildungen eine Ent-
wicklungsgeschichte. Es verhält sich damit im Wesent-
lichen nicht anders als mit allen übrigen organischen Wesen
auf der Erde. Sie alle laufen innere Umgestaltungen und
verschiedene Phasen des jugendlich-frischen Wachsthums , der
Reife und des alternden Hinwelkens durch. Die Geschichte
der Staten und der einzelnen statlichen Institutionen, welche
länger dauern als das Einzelleben des Menschen , und deren
Entwicklung oft durch mehrere Jahrhunderte hindurch geht,
läszt darüber keinen Zweifel übrig.
Allerdings besteht aber neben dieser Verwandtschaft mit
der Entwicklung der organischen Wesen, welche wir in der
Schöpfung Gottes in der Natur erkennen, auch ein beachtens-
werther Gegensatz. Während nämlich das Leben der Pflanze,
des Thieres und des Menschen in regelmäszigen Perioden und
Stufen auf- und hinwieder absteigt, so ist der Entwicklungs-
gang der Staten und der statlichen Institutionen nicht immer
ebenso regelmäszig. Die Einwirkungen der menschlichen Frei-
heit oder äuszerer Schicksale bringen öfter bedeutende Ab-
40 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
weichungen hervor, und unterbrechen bald oder fördern plötz-
lich die normale Stufenfolge oder wandeln sie zuweilen um, je
nachdem grosze und gewaltige Männer oder wilde Leiden-
schaften auch des Volkes in dieselben eingreifen. Diese Ab-
weichungen sind zwar weder so zahlreich noch gewöhnlich so
grosz, dasz die Regel selbst um derselben willen bedeutungs-
los würde. Im Gegentheil sie sind viel seltener, und meistens
auch geringfügiger, als die wähnen, welche sich in ihren Mein-
ungen von den unmittelbaren Eindrücken der jeweiligen Gegen-
wart bestimmen lassen. Aber sie sind doch wichtig genug,
um den Beweis zu führen, dasz der Gedanke einer bloszen
Naturwüchsigkeit des States einseitig und unbefriedigend
sei, und um der freien individuellen That auch in
dieser Hinsicht ihr Recht widerfahren zu lassen.
6. Indem die Geschichte uns Aufschlusz gibt über die
organische Natur des States, läszt sie uns zugleich erkennen,
dasz der Stat nicht mit den niedern Organismen der Pflanzen
und der Thiere auf Einer Stufe stehe, sondern von höherer Art
sei. Sie stellt ihn als einen sittlich -geistigen Organis-
mus dar, als einen groszen Körper, der fähig ist die Gefühle
und Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und als Gesetz
auszusprechen, als That zu verwirklichen. Sie berichtet uns
von moralischen Eigenschaften, von dem Charakter der
einzelnen Staten. Sie schreibt dem State eine Persönlich-
keit zu, die mit Geist und Körper begabt ihren eigenen
Willen hat und kundgibt.
Der Ruhm und die Ehre des States haben von jeher auch
das Herz seiner Söhne gehoben und zu Opfern begeistert. Für
die Freiheit und Selbständigkeit, für das Recht des States
haben in allen Zeiten und unter allen Völkern je die Edelsten
und Besten ihr Gut und Blut eingesetzt. Das Ansehen und
die Macht des States zu erweitern, die Wohlfahrt und das
Glück desselben zu fördern, ist überall als eine der ehren-
vollsten Aufgaben der begabten Männer angesehen worden.
Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 41
An den Freuden und Leiden des States haben jederzeit alle
Bürger desselben Antheil genommen. Die ganze grosze Idee
des Vaterlandes und die Liebe zum Vaterlande wäre undenk-
bar, wenn dem State nicht diese hohe sittlich-persönliche Natur
zukäme.
Die Anerkennung der Persönlichkeit des States ist
denn auch für das Statsrecht nicht weniger unerläszlich als
für das Völkerrecht.
Person im rechtlichen Sinn ist ein Wesen, dem wir einen
Eechtswillen zuschreiben, welches Kechte erwerben, schaffen,
haben kann. Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts ist
dieser Begriff ebenso bedeutsam, wie auf dem Gebiete des
Privatrechts. Doch ist der Stat die öffentlich-rechtliche
Person im höchsten Sinne. Die ganze Statsverfassung ist
dazu eingerichtet, dasz die Person des Stats ihren Stats-
willen, der verschieden ist von dem Individualwillen
aller Einzelnen und etwas anderes ist als die Summe der
Einzelwillen, einheitlich gestalten und bethätigen kann.
Fassen wir das Resultat dieser historischen Betrachtung
zusammen, so läszt sich der Begriff des States so bestimmen:
Der Stat ist eine Gesammtheit von Menschen, in der Form
von Regierung und Regierten auf einem bestimmten Gebiete
verbunden zu einer sittlich- organischen Persönlichkeit. Oder
kürzer ausgedrückt: Der Stat ist die politisch organi-
sirte Volksperson eines bestimmten Landes.
Anmerkung. Es ist nicht ohne Interesse nachzusehen, wie die
verschiedenen Völker den Stat benannt haben. Die Griechen noch
bezeichneten Stadt und Stat mit dem nämlichen Wort (n6Xtg~)1 zum
Zeichen, dasz ihr Begriff vom Stat auf die Stadt gegründet und durch
den städtischen Gesichtskreis auch beschränkt war. Auch der römische
Ausdruck civitas weist noch auf die Bürgerschaft einer Stadt hin,
als den Kern des States, aber ist persönlicher gehalten als das griechi-
sche "Wort, und eher geeignet, gröszere Yolksmassen in sich aufzu-
nehmen. Auch spricht es für die hohe sittliche Bedeutung des States,
dasz der Ausdruck Civilisation von dem Namen des Stats abgeleitet
42 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
ist, und practisch mit der Ausbreitung und Verwirklichung des States
zusammenfällt.
In gewissem Betracht steht der andere römische Name res publica
noch höher, insofern nämlich als demselben die Beziehung nicht blosz
auf eine (städtische) Bürgerschaft, sondern ein Volk zu Grunde liegt
(res populi), und die Rücksicht auf Volks Wohlfahrt darin enthalten ist.
Im Sinne der Alten schlieszt der Ausdruck Republik die Monarchie nicht
aus, paszt aber nicht auf despotisch geartete Staten.
In den modernen Sprachen hat nicht blosz unter den Romanen, son-
dern eben so unter den Germanen der Ausdruck Stat (stato, etat, State)
überhand genommen. An sich völlig indifferent (er bezeichnet ursprüng-
lich jeden Zustand, und offenbar ergänzte man anfänglich Status rei
publicae, um eine nähere Beziehung zu dem State zu erlangen) ist die-
ser Ausdruck mit der Zeit zu der allgemeinsten und durch keinerlei
Nebenbegriffe beschränkten, noch durch schillernden Doppelsinn zweifel-
haften Bezeichnung des States geworden. Obwohl darin das Feste, was
steht, hervorgehoben ist, so ist doch auch dieser Zusammenhang in Ver-
gessenheit gerathen, und bezeichnet das Wort nicht etwa die bestehende
Statsordnung und Statsverfassung (jtoXneia)) sondern den Stat, welcher
auch eine völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann.
Alle andern modernen Ausdrücke haben nur eine beschränkte Gel-
tung; so das stolze Wort Reich, welches nur auf grosze Staten paszt,
die überdem monarchisch organisirt, auch wohl aus mehreren beziehungs-
weise wieder selbständigen Ländern zusammengesetzt sind, ähnlich dem
romanischen Worte Imperium, empire, in welchem zugleich auf die kai-
serliche Herrschaft angespielt wird. Enger ist der Sinn des Wortes
Land, welches zunächst das äuszere, und zwar ein zusammenhängendes
Statsgebiet, dann aber auch den auf diesem Gebiete ruhenden Stat be-
zeichnet. Es bildet übrigens dieser Ausdruck den natürlichen Gegensatz
zu der griechischen nöXig , indem er auf die Landschaft zunächst den
Stat gründet, wie dieses ihn aus der Stadt erwachsen läszt. Noch enger
— um der Beziehung auf das Individuum willen — aber zugleich durch
die persönliche Hinweisung auf den Zusammenhang und die Vererbung
der Blutsverwandtschaft im Lande gehobener und vergeistigter ist das
schöne Wort Vaterland, in welchem die ganze volle Liebe und Pietät
des einzelnen Statsbürgers zu dem groszen und lebendigen Ganzen, dem
er mit seinem Leibe angehört, mit dessen Dasein auch sein Dasein ver-
wachsen ist, dem sich zu opfern die höchste Ehre des Mannes ist, sich
so verständlich und gemüthlich ausprägt. 1
1 Euripides in den Phönicierinnen:
Zum Vaterland fühlt Jeder sich gezogen.
Wer anders redet, Mutter, spielt mit Worten,
Und nach der Heimat stehen die Gedanken.
Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 43
Zweites Capitel.
Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
Genügt der Statsbegriff, wie ihn die historische Betrach-
tung der verschiedenen Staten nachzuweisen vermag, dem
menschlichen Geiste? Die historische Schule fühlt sich wohl
befriedigt in der Annahme, dasz der Stat der Körper sei der
V o 1 k s g e m e i n s c h a f t. Sie leitet ihn her aus der Natur und
dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die Nation.
Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser
Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tie-
fem Grund der Staten aufsucht, findet sie in der mensch-
lichen Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat.
Aristoteles schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen.
„Der Mensch ist ein von Natur statliches Wesen"
((pvöEi noXiTixdv £wov). Nicht die nationale Eigentümlich-
keit macht ihn zum State fähig und des States bedürftig,
sondern die gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner
den Organismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen
wir die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr
verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein ge-
meinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen, dem
gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie Variationen
erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des Volkes selbst
endlich ist kein für sich bestehender abgeschlossener, er weist
mit innerer Notwendigkeit auf die höhere Einheit der Mensch-
heit hin, deren Glieder die Völker sind. Wie könnte sich
daher auf das Volk der Stat begründen lassen, ohne Bücksicht
auf die höhere Gesammtheit, der das Volk untergeordnet ist?
Und wenn die Menschheit in Wahrheit ein Ganzes ist, wenn
sie von einem gemeinsamen Geiste beseelt ist, wie sollte sie
nicht nach Verleiblichung ihres eigenen Wesens streben, d. h.
zum State zu werden suchen?
44 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
Die national beschränkten Staten haben daher nur eine
relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen
noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm
ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche
Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der
in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn
Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die
Person: und in einem nicht - menschlich organisirten Körper
kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der Stats-
körper musz daher dem menschlichen Körper nachge-
bildet sein. Der vollkommene Stat ist also der körper-
lich sichtbaren Menschheit gleich. Der Weltstat
oder das Weltreich ist das Ideal der fortschreitenden
Menschheit.
Der einzelne Mensch als Individuum, und die Menschheit
als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden Gegen-
sätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde der
Unterschied des Privatrechts und des Statsrechts. Das ge-
meinsame Bewusztsein der Menschheit ist freilich noch in
träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es
ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Ein-
heit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher
ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst
die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirk-
lichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organi-
sirten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bis-
herigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden,
und die civilisirte europäische Menschheit faszt bereits das hohe
Ziel fester ins Auge.
Es ist wahr, dasz alle geschichtlichen Versuche, den
Weltstat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber
daraus folgt für den Stat so wenig die Unerreichbarkeit dieses
Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoff-
nung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu um-
Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 45
fassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglich-
keit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christ-
liche Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine allge-
meine zu werden, so kann die humane Politik das Streben
nicht aufgeben, die ganze Menschheit zu organisiren. Der Idee
der universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des
universellen Weltreichs.
Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes
zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin,
welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den
Irrgängen, in welche auch das politische Genie gerathen ist,
als es in kühnem Eifer den Weltstat zu früh zu verwirklichen
versucht hat.
Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusztsein
vom State erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer
Weise gewagt.
Zuerst Alexander der Grosze. In dem hundertpaa-
rigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt l ein Bild seiner
Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der
weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Occident
und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und aus
der Mischung beider „wie in einem Becher der Liebe" die
neue Menschheit hervorgehen, die Ein groszes göttlich-mensch-
liches Eeich erfülle und in demselben ihre Befriedigung finde.
Die Cultur der folgenden Jahrhunderte wurde allerdings durch
Alexander in solcher Weise bestimmt: und der griechische
Saame der Bildung gedieh zu üppigem Wachsthum in dem
eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht blosz dem ver-
hängniszvollen Schicksal zuzuschreiben, welches den Gründer
des neuen Weltstates in der Blüthe der Jahre wegraffte, be-
vor er noch die einheitlichen Institutionen befestigt und für
die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte, dasz dieser
1 „Rex terrarum omnium ac mundi." Justin. XII, 16. Laurent
hist. du Droit des Gens II. 5. 262.
46 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen, keinen Be-
stand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode Alexanders
gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war zugleich
eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst war
unklar.
Die politischen Ideen wurden durch die Mischung ver-
wirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom State
liesz sich nicht mit der religiösen Betrachtung der Perser
von dem göttlichen Königthum vereinigen. Die makedonische
Monarchie konnte nicht zugleich asiatische Theokratie sein.
Die Orientalen glaubten willig, dasz Alexander der Sohn des
höchsten Gottes sei, die Europäer wurden von der Zumuthung
angewidert, dem menschlichen Herrscher göttliche Ehre zu
erweisen.
Und die Völker wurden verwirrt. Die hellenische Wissen-
schaft und Cultur befreite wohl die orientalische Welt aus
den strengen Banden der religiös -politischen Beschränkung,
aber ihre Wirkung war mehr Auflösung der alten, nicht
Schöpfung einer neuen Welt. Die Vergöttlichung des Men-
schen verdrängte die Ehrfurcht vor den alten Göttern: und
die liederlich gewordene Cultur der Europäer half mit, den
Orient vollends zu entnerven.
Einen dauerhafteren und nachhaltigeren Erfolg hat der
Versuch der Köm er gehabt, die Weltherrschaft zu er-
obern. Das römische Keich war ein Weltreich. Das ganze
römische Volk fühlte sich berufen, seine Statsidee über die
Erde zu verbreiten, und alle Völker der römischen Hoheit zu
unterwerfen. Die männliche Kraft und die eherne Gewalt des
römischen Charakters überwand die zahlreichen Nationen, die
sich ihrem Siegeszug über den Erdkreis entgegenzusetzen
wagten: und schon war der römische Stat mit seinen Rechts-
institutionen von Granit in drei Welttheilen auf festen Grund-
lagen aufgebaut. Der gröszte Kömer Julius Cäsar hat der
Nachwelt die Kaiseridee als Erbgut hinterlassen und in ihr
Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 47
eine Autorität begründet, welche über die nationalen Schranken
hinaus die Welt umspannt.
Aber auch das Streben der Kömer ist von der Welt-
geschichte gerichtet. Es war nicht, wie das Alexanders auf
die Mischung der Völker, sondern auf die höhere
Natur Eines Volkes gegründet, welches der Menschheit
seinen Volkscharakter einprägen, die Welt romanisiren wollte.
Das war sein inneres Gebrechen. Keine Nation ist grosz ge-
nug, um die Menschheit zu umfassen, und die andern Na-
tionen in ihren Armen zu erdrücken. An dem Widerstand
der jugendlich-frischen germanischen Nation ist der römische
Weltstat gescheitert. Er vermochte die Deutschen nicht zu
bezwingen, und ist nach Jahrhunderte langen Kämpfen ihrem
Andrang erlegen.
Die Idee des Weltstates hat seither nie mehr so glänzend
geleuchtet an dem politischen Horizont, aber sie ist doch nie
mehr untergegangen. Das romanisch -germanische Mittelalter
hat sie wieder in seiner Weise zu verwirklichen versucht, zu-
erst in der fränkischen Monarchie, dann in dem rö-
misch-deutschen Kaiserthum. In bescheideneren Ver-
hältnissen freilich, aber nicht ohne in der Erkenntnisz der
Wahrheit wichtige Fortschritte gemacht zu haben. Es sollte
nicht mehr Ein übermächtiges absolutes Reich hergestellt wer-
den, welches alle Seiten des gemeinsamen Lebens gleichmäszig
beherrsche. Der grosze für die Menschheit so folgenreiche
Gegensatz von Stat und Kirche war inzwischen durch das
Christenthum offenbar geworden. Der Stat verzichtete darauf,
auch die Gewissen durch seine Gesetze zu beherrschen. Er
erkannte an, dasz es neben ihm auch eine religiöse Gemein-
schaft gebe, welche ein eigenes Lebensprincip und ebenfalls
einen sichtbaren Körper habe, verschieden von seiner Existenz
und wesentlich selbständig. Damit aber war eine Schranke
gezogen, welche ihn hinderte, allmächtige Herrschaft zu üben.
Er war genöthigt, das religiöse Leben der Leitung der Kirche
48 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
zu tiberlassen. Er gelangte über sein Verhältnisz zur Kirche
zwar nicht zu voller Klarheit, aber die Freiheit des religiösen
Glaubens und die Verehrung Gottes war vor seiner Willkür
gerettet, die Autorität des Christenthums war nicht von ihm
abhängig.
Sodann sollte das christliche Weltreich nicht mehr die
verschiedenen Völker verschlingen und vernichten, sondern
allen Völkern Frieden und Eecht gewähren. Der mittelalter-
liche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle
Völker, sondern als gerechter Schirmer ihres Kechts
und ihrer Freiheit. Die Kaiseridee, für welche sich ein
Statsmann wie Friedrich IL2 und ein Denker wie Dante3
begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Keich
umfaszte eine grosze Anzahl wesentlich selbständiger Staten,
welche zu einer Gesammtordnung zwar verbunden und formell
dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Bezie-
hungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem
Willen. Die Mannichfaltigkeit auch des Volks- und Stammes-
lebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und ge-
pflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwick-
lung des Weltstates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu
dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker
als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten,
der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland
getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Theile
zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn ver-
mochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische
Kaiserthum nicht zu begegnen. Die deutsche Centralinstitution
2 Friderici Constit. Kegni Siculi I. 30.: „Oportet Caesarera fore
justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum
in edendo justitiam et editam conservando: sie et in venerando justi-
tiam sit filius et in ipsius copiam ministrando minister."
3 Seine Schrift de monarchia verherrlicht das Kaiserthum; und in
seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der gött-
lichen Weltordnung. Vgl. Wegele Dante's Leben und Werke. Jenal852.
Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das "Weltreich. 49
hatte keine centrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie
die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder
siüd die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den
nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerthe Lehren hinter-
lassen.
In unserem Jahrhundert hat der Kaiser Napoleon I.
den Gedanken, der eine Zeit lang im Dunkel geblieben, wie-
der zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler des
Mittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende
Centralgewalt ; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des
Mittelalters nicht mit der nöthigen Sorgfalt. Er achtete die
fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf
die Bahn zurück, welche die Kömer zuvor begangen hatten,
wenn auch gemäszigter als sie vorschreitend. Er wollte
Europa zu einem groszen völkerrechtlichen Gesammt-
stat organisiren, welcher sich nach Einzelstaten gliedere. Das
Kaiserthum sollte der französischen Nation angehören, und
diese in der groszen Völkerfamilie die Stellung des Hauptes
einnehmen. In einem Menschenalter hoffte er zu erreichen,
wozu die Römer Jahrhunderte gebraucht hatten. Er ver-
mochte aber seine Plane nicht durchzuführen. Zwar scheiterten
dieselben dieszmal nicht an dem Widerstand der deutschen
Nation. Obwohl dieselbe unwillig die französische Oberhoheit
trug, schien sie sich doch, an dem alten eigenen Reiche ver-
zweifelnd, und unzufrieden mit den vaterländischen Zuständen,
der Napoleonischen Gestaltung zu fügen. Nur die beiden
groszen deutschen Staten, das aufstrebende Preuszen und das
länder- und völkerreiche Oesterreich, jenes für seine Existenz
besorgt, dieses sich selbst als kaiserlichen Stat fühlend, suchten
in wiederholten Kriegen die französische ITebermacht zu be-
kämpfen; aber auch sie wurden von dem überlegenen Stats-
manne und Feldherrn besiegt. Aber über den Widerstand
Englands, in dem ,ein groszes historisches Nationalgefühl mit
germanischen Freiheitsideen sich verbunden hatte, wurde Napo-
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 4
50 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
leon nicht Herr, und die noch halbbarbarischen Bussen wichen
besiegt in ihre Steppen zurück, aber unterwarfen sich nicht.
Und die Franzosen hielten im Unglück nicht aus, als" sich das
verbundene Europa wider sie wandte."" Der Napoleonische Ge-
danke kam doch aus ähnlichen Gründen nicht zur Erfüllung,
wie zuvor der römische. Die übrigen Völker fühlten sich be-
droht von der Universalmonarchie, nicht gesichert und befrie-
digt von der neuen Weltordnung: und das französische Volk
war nicht mächtig genug, jene sich dauernd unterzuordnen.
Inzwischen arbeitet die unbesiegbare Zeit selbst unablässig
fort, die Völker einander näher zu bringen, und das allge-
meine Bewusztsein der menschlichen Gemeinschaft zu wecken.
Das ist aber die natürliche Vorbereitung einer gemeinsamen
Weltordnung. Es ist nicht zufällig, dasz die modernen Ent-
deckungen und die zahlreichen neuen Verbindungsmittel durch-
weg diesem Ziele dienen, dasz die gesammte Wissenschaft der
neueren Zeit diesem Impulse folgt und voraus der Menschheit
— erst in untergeordneter Beziehung den einzelnen Nationen
angehört, dasz eine Menge Hindernisse und Schranken, die
zwischen den Völkern lagen, wegfallen. Heute schon verspürt
die gesammte europäische Menschheit jede Störung, die einem
einzelnen State widerfährt, als ein Uebel, an dem sie mitzu-
leiden hat, und was an den äuszersten Grenzen des europäischen
Körpers begegnet, findet sofort allgemeines Interesse auch in
dem Innern desselben. Der europäische Geist wendet bereits
seine Blicke auf den Erdkreis und die arische Kasse fühlt sich
berufen, die Welt zu ordnen.
Wir sind noch nicht so weit. Es fehlt aber gegenwärtig
schon weniger an dem Willen und an der Macht als an der
geistigen Keife. Die Glieder der europäischen Völkerfamilie
kennen ihre Ueberlegenheit über die andern Völker gut genug,
aber sie sind unter sich und über sich selbst noch nicht" in's
Klare gekommen. Ein endlicher Erfolg ist erst möglich, wenn
das lichtende Wort der Erkenntnis/ darüber und über das
Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 51
Wesen der Menschheit ausgesprochen sein wird, und die Völ-
ker bereit sind, es zu hören.
Bis dahin wird das Weltreich eine Idee sein, welcher
Viele nachstreben, welche keiner zu erfüllen im Stande ist.
Aber als Idee der Zukunft darf die Wissenschaft des allge-
meinen Statsrechtes sie nicht übersehen. Erst in dem Welt-
reiche wird der wahre Stat offenbar, in ihm auch das
Völkerrecht seine Vollendung und in höherer Gestalt ein
gesichertes Dasein finden. Zu dem Weltreich verhalten sich
die Einzelstaten, wie sich die Völker zur Menschheit
verhalten. Die Einzelstaten sind Glieder des Weltreiches und
erlangen in ihm ihre Ergänzung und ihre volle Befriedigung,
wie die Glieder im Körper. Das Weltreich hat nicht die
Aufgabe, die Einzelstaten aufzulösen und die Völker zu unter-
drücken, sondern den Frieden jener und die Freiheit dieser
besser zu schützen.
Der höchste zur Zeit noch nicht realisirte Statsbegriff ist
also: Der Stat ist die organisirte Menschheit, aber
die Menschheit in ihrer männlichen Erscheinung, nicht in
der weiblichen Gestaltung. Der Stat ist der Mann.
Anmerkungen. 1. Der Stat ist männlich, die Kirche weib-
lich. Daher läszt sich in prägnantem Sinne vom State sagen: IJetat
c'est Vhomme. Näher ausgeführt habe ich das in meinen psychologischen
Studien über Stat und Kirche. Erste und zweite Studie.
2. Einer der geistreichsten und wahrheitsliebendsten Männer, der
Waadtländer Yinet (l'individualisme et le socialisme), erhob das Be-
denken gegen die Idee des humanen States, dasz durch denselben alles
menschliche Leben absorbirt, die individuelle Freiheit im Princip auf-
gehoben, und über die Gewissen der Einzelnen wie über die Wissen-
schaft eine ungebührliche weltliche Herrschaft geübt würde. Dieser
Einwurf nöthigt in der That zu einer genauem Begrenzung jener Idee.
Vorerst ist anzuerkennen, dasz der Stat nicht die einzige humane
Gemeinschaft, nicht die einzige leibliche Darstellung der Menschheit ist.
Die Kirche ist in ihrer irdisch -sichtbaren Erscheinung auch eine Ge-
meinschaft, auch ein Leib der Menschheit. Damit ist aber zugleich an-
erkannt, dasz die politische Herrschaft des States nicht das religiöse
4*
52 Erstes Buch. Der Begriff des State.
Leben der Menschen bestimmt, und dasz die Freiheit der Gewissen und
der Glaube des Individuums nicht durch den Stat gefährdet wird.
Sodann folgt aus der menschlichen Natur des States keineswegs,
dasz der Stat eine vollkommene Herrschaft über das Individuum
habe. In jedem einzelnen Menschen können wir vielmehr zwei Naturen
unterscheiden, die individuelle und die gemeinsam-menschl iche.
Das Individuum mit seinem Leben gehört nicht ausschlieszlich, nicht
ganz weder der Gemeinschaft mit andern Individuen noch der Erde an,
somit auch nicht dem State, als einer irdischen Lebensgemeinschaft. Der
Stat beruht auf der menschlichen Natur nicht insofern als sie sich in
Millionen von Individuen mannichfaltig offenbart, sondern insofern als
sie die gemeinsame Natur der Menschheit in Einem Wesen erscheint,
und die Autorität des States erstreckt sich daher nicht weiter, als
die Interessen der Gemeinschaft und das Nebeneinander-
bestehen und Zusammenleben der Menschen es erfordert. Der
Stat hat selbst, wenn er in das freie individuelle Gebiet miszbräuchlich
übergreift, die Macht nicht, seine Herrschaft aucli hier durchzusetzen;
denn den Geist des Individuums vermag er nicht zu fesseln, und die
Seele des Individuum- kann er nicht tödten,
3. Neuestens hat sieh auch Laurent gegen die Idee des Weltstats
erklärt (histoire du Droit des Gens I. S. 30 f.). Seine Gründe sind fol-
gende :
a) Der Weltstat wäre Uniyersalmonarohie und diese unverträg-
lich mit der Souveränetät der Btaten,
b) Die Individuen als natürliche und die "Völker als künstliche Per-
sonen sind verschieden. Jene sind in -ich mangelhaft und werden von
bösen Leidenschaften bewegt, diese Bind vollkommene und moralisohe
"Wesen. Das Nebeneinanderbestehen jener erfordert daher die fort-
dauernde Wirksamkeit der Btatsgewalt, das Nebeneinander dieser nicht
oder nur ausnahmsweise.
c) Das Individuum ist schwach und muss sieb der Statsgewalt unter-
werfen; die Staten aber sind stark und werden -ich daher nicht unter
eine höhere Gewalt beugen lassen.
d) Wäre der Weltstat so mächtig, um auch die Staten wider ihren
Willen zu beugen, so würde diese Uebermaoht das Reohl und die Frei-
heit unterdrücken, denn wo Widerstand anmöglich ist, da kann die
Freiheit nicht bestehen.
e) DerVolksstat ist nöthig für die Entwicklung der Individuen, aber
er genügt auch dafür. Die Förderung der Individuen bedarf des WVH-
states nicht, und für die Entwicklung der Nationen wäre er gefährlich.
Auch diese Gründe meines verehrten Freundes haben mich nicht
überzeugt. D&gegen ist zu erinnern:
Zu a) Man kann sich das Weltreich mit monarchischer Spitze
(Kaiserthum) , aber auch in republikanischer Form denken, sei es ah
Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 53
Directorium (Pentarchie) oder als ConfÖderation sämmtlicher Staten.
Keinenfalls aber braucht man sich eine absolute Macht der Weltregie-
rung zu denken; und der Fortbestand der Yolksstaten macht geradezu
eine Ausscheidung der Competenzen zwischen ihnen und dem Weltreich
nothwendig. Es ist kein Grund den Bereich des letztern über die ge-
meinsamen Weltangelegenheiten auszudehnen, wie insbesondere
die Erhaltung des Weltfriedens und den Schutz des Weltverkehrs, über-
haupt des Gebietes, da3 wir heute Völkerrecht heiszen. Die Form des
Bundesstates, in welchem für die gemeinsamen Bundesangelegenheiten
eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung, Rechtspflege bestellt, und
für die besonderen Landesangelegenheiten ebenso die Souveränetät des
Einzelstates anerkannt bleibt, kann hier als Yorbild dienen.
Zu b) Die Yölker haben ihre Mängel und ihre Leidenschaften ähn-
lich den Individuen, und gäbe es kein Völkerrecht, so würden die
schwachen und hülflosen Völker die bequeme Beute der starken und
herrschsüchtigen Völker. Derselbe Grund , auf dem das Völkerrecht
ruht, ist auch die Grundlage des Weltreichs.
Zu c) Die Stärke der Volks.staten — auch dem Weltreich gegen-
über — ist die beste Garantie dafür, dasz jene niclit durch dieses unter-
drückt werden; aber so stark ist auch der gröszte Volksstat nicht, um
für sich allein, wenn er im Unrecht ist, den Kampf mit der Welt auf-
zunehmen. Nur wenn Gruppen von Staten oder Parteien einander feind-
lich entgegen treten, wird dann noch ein Krieg möglich sein. In allen
andern Fällen wird sich derselbe in Execution der Weltrechtspflege ver-
wandeln. Da wir durch die beszte Statseinrichtung doch nicht völlig
gegen den Bürgerkrieg gesichert sind, so werden wir auch zufrieden
sein müssen, wenn die stärkere Ordnung des Völkerrechts den Staten-
krieg seltener macht. Die Vervollkommnung des Rechtes nähert sich
im beszten Falle dem Ideal; sie erreicht es nie.
Zu d) Das Weltreich ist im Vcrhältnisz zu den Volksstaten unter
allen Umständen weniger übermächtig, als der Volksstat im Verhältnisz
zu den Bürgern ; dennoch wird die Freiheit der Bürger nicht bedroht,
sondern geschützt durch die Statsordnung.
Zu e) Nicht alle individuellen Bedürfnisse werden durch den Stat
befriedigt; es gibt auch kosmopolitische Interessen, sowohl geistige
als materielle (Weltwissenschaft, Weltliteratur , Welthandel), die eine
volle Befriedigung nur in dem Weltreich finden können ; wie wenig aber
heute noch die Rechte ganzer Völker gesichert sind, beweiszt die euro-
päische und amerikanische Völkergeschichte.
Laurent gründet das Völkerrecht auf die Einheit des Menschen-
geschlechts, und ein anderer Grund ist nirgends zu finden. Aber
wenn er diese Einheit nur als eine innere erkennt, so fordern meines
Erachtens Logik und Psychologie zugleich, dasz die innere Kraft sich
auch äuszerlich darstelle. Wenn die Menschheit innerlich Ein Wesen
54 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
ist, so musz sie sich auch in ihrer vollen EntwickluDg als Eine Person
offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstat.
Ich weisz, dasz die Meisten der Mitlebenden diese Idee für einen
Traum halten; aber das darf mich nicht abhalten, meine Ueberzeugung
auszusprechen und zu begründen. Die späteren Geschlechter, vielleicht
erst nach Jahrhunderten, werden über die Streitfrage endgültig ent-
scheiden.
Drittes Capitel.
Entwicklungsgeschichte der Statsidee.
I. Die antike Welt.
A. Die hellenische Statsidee.
Die eigentliche Statswissenschaft beginnt zuerst unter den
Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewuszt-
sein wie zu künstlerischer so auch zu politischer Entfaltung.
So klein das Gebiet der hellenischen Staten und so be-
schränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war
die Grundlage, auf der sich der hellenische Statsgedanke
erhob, und so hoch und edel ist die Statsidee, welche die
griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Stat auf
die Menschennatur, und sind der Meinung, nur im State könne
der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die wahre
Befriedigung linden. Der Stat ist ihnen die sittliche Welt-
ordnung, in welcher die Menschennatur ihre Bestimmung
erfüllt.
Piaton (Kep.V.) spricht das grosze Wort aus: „Je mehr
sich der Stat in seiner Organisation dem Menschen nähert,
desto besser ist es. Leidet ein Theil des Statskörpers , oder
befindet er sich wohl, so wird der ganze Statskörper diese
Empfindung als die seinige ansehen, und mitleiden oder sich
dessen erfreuen." Er hat somit die organische und zwar die
menschlich-organische Natur des States bereits erkannt, obwohl
Drittes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. I. Die antike Welt. 55
diesen fruchtbaren Gedanken noch nicht in seinen Consequenzen
verfolgt.
Aristoteles, für dessen Statslehre unsere Bewunderung
steigt je näher wir die Arbeiten seiner Nachfolger betrachten,
erklärt den Stat als die Gemeinschaft von Geschlechtern und
Ortschaften (Volk und Land) zu einem vollkommenen und in
sich befriedigenden Leben. 1 Er nennt auch den Menschen ein
von Natur politisches Wesen, und den Stat somit ein Product
der menschlichen Natur. Der Stat, sagt er, zunächst zur
Sicherheit des gemeinsamen Lebens gegründet, wird im Ver-
folg zur Wohlfahrt des gemeinen Lebens.2
Es begegnen sich in dieser Statsidee und mischen sich
alle gemeinsamen Bestrebungen der Hellenen in Religion und
in Recht, in Sitte und Geselligkeit, in Kunst und Wissen-
schaft, in Eigenthum und Wirthschaft, in Handel und Hand-
werk. Nur im Stat wird der einzelne Mensch als ein Rechts-
wesen anerkannt, ohne die Hülfe des Stats findet er weder
Sicherheit noch Freiheit. Der Barbare ist ein natürlicher
Feind, und die unterworfenen Feinde werden Sclaven, die aus-
geschlossen sind von der Statsgemeinschaft und deszhalb ver-
stoszen sind in einen herabgewürdigten, nicht mehr menschen-
würdigen Zustand.
Der hellenische Stat, wie der antike überhaupt, ist über-
mächtig, weil er als allmächtig gilt. Er ist Alles in Allem :
der Bürger ist nur Etwas, weil er ein Glied des States ist.
Seine ganze Existenz ist vom Stat abhängig, dem Stat unter-
than. Wenn die Athener auch die Geistesfreiheit besaszen
und übten, so war das nur, weil der Athenische Stat die Frei-
heit überhaupt hoch schätzte, nicht weil er die Menschenrechte
anerkannte. Derselbe freieste Stat liesz Sokrates hinrichten,
1 Aristot. Polit. III. 5-, 14. „nöltg de rj yevüv xal xcofiMov xotvcovlcc
Cooyg Telsiag xdcl ctvTäQxovg." Vgl. III. 1. 8-
2 Aristot. Polit. I. 1., 8. 9. V nöXtg — yivo^hvij {xev ovv tov Cqv
'dvsxevj ovgcc de tov ev Cv^'
55 Erstes Buch. Der Begriff de* Etata.
und glaubte dabei sein Recht zu üben. Die Selbständigkeit
der Familie, die elterliche Erziehung, sogar die ehelich« Treue
sind in keiner Weise sicher vor den Uebergriffen des Stats;
noch weniger ist es natürlich das Privatvermögen der Bürger.
In alle Dinge mischt Bich der Stat, er weisz von keinen sitt-
lichen und von keinen rechtlichen Schranken Beiner Macht
Er verfügt über die Körper und BOgar aber die Talente Beiner
Bürger. Er nöthigt zu den Aemtern wie zum Kriegsdienst.
Das Individuum soll erst im State unter- und aufgehen, dann
erst kann es durch den Stat wieder zu freie« und edlem
Leben gewissermaszen aeu geboren werden. Die absolute Ge-
walt des States wird abgesehen Ton der Maoni der alten Sitte
fast nur dadurch gemässigt, theilfi 'las/ die Bürger Belbsl
einen Antheil an ihrer Ausübung haben, und ans Besorgnisz,
die Despotie des Demos könnte auch ihnen Bch&dlicfa werden,
die äuszersten Consequenzen des statlichen Communismnfl ver-
meiden, theils dasz in den kleinen Verhältnissen die Leiden-
schaften nur Mittel finden, Aber die Bie verfügen
können, und genöthigi Bind, auch die Nachbarn zu berücksich-
tigen. Die hellenischen Staten Bind doch nur ans Bruch-
stücken der hellenischen Nation, ans Stämmen und Stammes-
bheilen gebildet Sie erheben sich nur wenig über blosze
Stadt gerne i n '1 eu. Die hohe [dee gewinn! daher nur eine
niedere Gestalt; obwohl auf die Menschheit bezogen, kann sie
nur in dem engen Umkreis eines Oebirgsthals oder eines
Küstensaumes /u kindlicher Erscheinung an.
Die Oeberspannung der Statsidee zur Allmacht und die
Ohnmacht in der realen Gestaltung Bind also dicht beisammen;
es sind das die beiden Hauptmängel des im übrigen höchst
würdigen und in anderer Hinsieht menschlich - wahren und
fruchtbaren hellenischen Statsbegriffs.
B. Die römische Statsidee.
Die Römer waren das genialste Rechts- und Stats-
volk des classischen Alterthums ; und sie waren das mehr noch
Drittem Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. I. Die antike Welt. 57
durch ihren Charakter als ihren Geist. Sie übten daher auch
eine gröszere Wirkung auf die Welt aus als die Hellenen.
Zunächst freilich ist die römische Statsidee mit der grie-
chischen nahe verwandt. Cicero hat in seinen Werken über
den Stat beständig die Athenischen Vorbilder vor Augen; und
wenn die römischen Juristen das Hecht und den Stat im all-
gemeinen erklären, so folgen sie den griechischen Philo-
sophen nach.
So erklärt Cicero den Stat für die höchste Schöpfung der
menschlichen Kraft (virtus) und erhebt es preisend, ,,dasz in
Nichts mehr der Mensch Bich dem Willen der Götter nähere,
als in der Begründung und Erhaltung der Staten."3 Auch
er rergleicht gelegentlich den Stat mit «lein Menschen und
das Statshaupt mit dem Geiste, der den Leib beherrsche.4
Aber in einigen wesentlichen Beziehungen unterscheidet
sich doch der römische Statsbegriff von der hellenischen Idee:
1) Ind. 'in die Römer zuerst das Recht von der Moral
ausscheiden und in bestimmter Form darstellen, prägen sie
die Rechtsnatur des States viel entschiedener aus. Sic be-
schränken dadurch den Stat und sie befestigen und bekräftigen
ihn. Kr ist ihnen nicht mehr die gesammte ethische Welt-
ordnung, sondern zunächst die gemeinsame Rechtsord-
nung. Die Römer überlassen sehr Vieles der freien Sitte, der
Keligiosität der Menschen. Die römische Familie ist freier
dem State gegenüber; das Privatvermögen und «las Privatrecht
überhaupt wird besser geschützt, auch gegen die Willkür der
öffentlichen Gewalten. Zwar ist auch ihnen das Statswohl das
oberste Gesetz. Vom State aus ordnen sie auch die Götter-
verehrung. Niemand kann dem State widerstehen, wenn dieser
3 Cicero de Rep. I. 7. : „Xeque est ulla res, in qua propius ad Deo-
rum numen virtus accedat humana, quam civitates aut condere novas
aut conservare jam conditas.a
4 Cicero de Rep. III. 25 : „Sic regum, sie imperatorum, sie magi-
stratuum, sie patrura, sie populorum imperia ciyibus soeiisque praesunt,
ut corporibus animus.*
58 Erstes Buch. Der Begriff des State.
seinen Willen ausspricht. Aber der römische Stat beschränkt
sich selber; er bestimmt selber die Grenzen seines Macht-
bereichs und seiner Einwirkung.
2) Ferner erkennen die Kölner den Volksbegriff und
bringen die Stats Verfassung in einen organischen Zusammen-
hang mit dem Volk. Sie erklären den Stat als „die Gestal-
tung des Volks" und bezeichnen den Willen des Volks als die
Quelle alles Kechts. 5 Der römische Stat ist doch nicht eine
blosze Gemeinde, er erhebt sich zum Volks stat (res publica).
3) Der Römerstat ist überdem darauf angelegt, sich zum
Weltstat zu erweitern« Durch die ganze römische Ge-
schichte geht dieser Zug zur Weltherrschaft: An den natio-
nalen Kern des jus civile Bchlosz sich die menschlichere Bil-
dung des jus gentium an. Die ewige Stadt, die Qrbs winde
zur Hauptstadt des Orbis, das Imperium der römischen Magi-
strate zum Imperium mundi, «1er römische Senat zum Senat
aller Nationen und ihrer Könige. In der Majestät des Kaiser-
tums gipfelte die Majestät des römischen Volks. Die Ge-
schichte Borna wurde nach dem stolzen Ausdrucke von Plorus
zur Geschichte <\r\- Menschheit Dieses Streben gab der
römischen Statsidee einen kühnen Schwung, dem die grie-
chischen Staten nicht zu folgen vermochten, und eine Grösze,
vor der sich diese beugen muszten. Es war <\a> nicht ein
eitles Spiel der Phantasie, Bonden eine Leibhafte Wirklichkeit,
welche die antike Welt beherrschte, gegen die im Occidenl
nur noch die Germanen, im Orient die Perser anzukämpfen
den Muth und die Kraft hatten.
5 Cicero de Rep. I. 2."».: „Est igitur, inqnit (Soipio) Aärioanus,
publica res populi; popohu autem dod omnia Dominum ooetafl quoquo
modo congregatus, Bed coetua mtütitadinia juris conaensu <t utilitatis
communione sociatu<.u I. 26.: „Civitaa est constitutio populi." Gßjus
Inst. I. §. 1.: „Nam quod quisque populus ipsc sibi jus constituit, id
ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus civile. a
Viertes Cup. Entwicklungsgesch. der Statsidee. II. Das Mittelalter. 59
Viertes Capitel.
II. Das Mittelalter.
Die beiden neuen Mächte, welche den römischen Weltstat
theils umgebildet, theils zerstört haben, sind das Christen-
tlium und die Germanen.
A. Das Christentum.
Im Widerspruch mit der Autorität sowohl des jüdischen
States als des römischen Kaiserreichs breitete die christliche
Religion ihre Macht über die Gemüther aus. Ihr Stifter war
kein Fürst dieser Welt. Der alte Stat verfolgte ihn und seine
Jünger bis zum Tode. Die ersten Christen waren, wenn nicht
geradezu atatsfeindlich gesinnt, doch für andere Dinge als für
die Statsordnung und die Statsinteressen begeistert. Als die
christliche Weli ihren Frieden schlosz mit dem antiken helle-
nisch-römischen Stat, war doch bereits die religiöse Gemein-
schaft als Kirche ihrer geistigen Eigentümlichkeit bewuszt,
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike
Statsidee mnszte sieh gefallen lassen, dasz das ganze religiöse
Gern einleben zwar nicht ganz der stat liehen Sorge und dem
statlichen lanllnsx entzogen, aber wesentlich von dem State
unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche,
die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent-
lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die
Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu-
gleich die Gemeinschaft der Religion und des
Cultus.
Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares
von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom
ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen
Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es
ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht
ganz gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu er-
60 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
niedrigen und das Eine römisch - geistliche Weltreich aufzu-
richten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch
ihre glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich
selber mit der Sonne , und den Stat mit dem Monde ver-
gleichen; hinter dem „geistigen" Eeiche muszte das leibliche
bescheiden zurückstehen. ' Aber die Zweiheit von Stat und
Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Hauptsache
die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert
des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet,
als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2
So weit die kirchliche Lehre einwirkte , war freilich nun
die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet,
die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward
die geistige Bedeutung des Stats übersehen und verkannt,
und da alles Geistesleben von der Kirche geleitet werden
sollte, der blosz leiblich geachtete Stat in eine untergeordnete
Stellung nieder gedrückt. Der Trost gegen diese Uebel, wel-
cher in der Erhebung der Statsidee über die enge Nationalität
lag, war doch unzureichend. Weniger die Menschheit, als die
Christenheit sollte er in äuszerlichen Dingen ordnen und
leiten. Das römische Eeich ward so gut es ging , in mittel-
alterlichen Formen erneuert, aber die angesehenere Darstellung
desselben war die römische Kirche, die mindere das heilige
römische Keich deutscher Nation.
B. Die Germanen.
Das alt - römische Weltreich konnte sich auf die Dauer
nicht mehr behaupten gegen die germanischen Völker. Bald
mit Gewalt entrissen diese kriegerischen Völkerschaften eine
Provinz nach der andern der römischen Herrschaft, bald wur-
1 Darüber mehr im IX. Buche.
2 Rincmari de Ordine Palatii 5: „Duo sunt, quibus principaliter —
mundus hie regitur: auetoritas Sacra Pontificum et Regalis potestas." —
Sachsensp. 1. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen-
heit. Deme pavese is gesät dat geistlike, deme kaisere dat wertlike."
Viertes Cap. Entwicklungsgesetz der Statsidee. II. Das Mittelalter. 61
den die germanischen Fürsten mit ihren Volksheeren von den
romanischen Provincialen oder den Kaisern selber zum Schutz
herbeigerufen und übernahmen dann in friedlicher Weise die
Landeshoheit. Während des Mittelalters herrschten überall in
dem Abendlande die Germanen. Sie kamen unter die christ-
liche Erziehung der römischen Kirche und gerietheii unter den
nachwirkenden Einflusz der römischen Cultur. Aber sie be-
haupteten sich auf den Thronen der Fürsten und in den Burgen
der Aristokratie. Das Scepter und das Schwert waren vor-
nämlich in ihren Händen.
Die Germanen sind nicht in dem eminenten Sinne eine
statliche Nation, wie die Römer. Nur widerwillig ordnen sie
sich dem groszen Ganzen unter. Ihr starkes, trotziges und
eigenwilliges Selbstgefühl tritt dem Gesammtbewusztsein hin-
dernd in den Weg und lähmt dessen Macht. Sie bedurften
daher erst der romanischen Erziehung für denStat. Aber trotz
alle dem hat die weltgeschichtliche Entwicklung des States
ihnen sehr viel zu verdanken. Die Germanen voraus haben
den Absolutismus des Römerstates gebrochen und sie haben
die spätere Statenbildung mit dem Geiste der persönlichen,
genossenschaftlichen und ständischen Freiheit er-
füllt. Montesquieu hat ein wahres Wort gesprochen, dasz in
den deutschen Wäldern unter den alten noch uneivilisirten
Germanen die Keime der spätem parlamentarischen Verfassung
zu finden seien. In den uralten Formen des Zusammenwirkens
der germanischen Volkskönige, mit den Gaufürsten und den
andern Häuptlingen einerseits, und mit der groszen Gemeinde
der freien Männer andrerseits , wie Tacitus uns das schildert,
erkennen wir deutlich die noch rohen Anfänge des freien Re-
präsentativstates, den die spätem Jahrhunderte hervorgebracht
haben. Der Germane leitet das Recht nicht ab, wenigstens
zunächst nicht ab von dem Willen des Volks. Er nimmt für
sich ein angeborenes Recht in Anspruch, welches der Stat
wohl zu schützen berufen ist, aber nicht schafft: und er ver-
62 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
ficht sein natürliches Eecht wider alle Welt, selbst gegen die
Obrigkeit. Den antiken Gedanken, dasz der Stat alles in allein
sei, verwirft er mit Eifer. Das ganze Verhältnisz wird um-
gedreht. Dem Germanen ist die individuelle Freiheit
das Höchste ; dann erst hinterdrein läszt er sich herbei, einen
Theil derselben dem State zu opfern , um das Uebrige desto
sicherer zu wahren.
Eine nothwendige Folge dieses Charakters ist es, dasz die
germanische Statsidee viel entschiedener als die römische die
Selbständigkeit des Privatrechts achten musz. Die
Freiheit der Person, der Familie, der genossenschaftlichen Ver-
bände ist damit gesicherter und ausgedehnter als in dem alten
Kömerreich. Das Statsrecht musz sich die Beschränkung auch
durch das Privatrecht gefallen lassen.
Eine zweite öffentlich-rechtliche Folge ist, dasz die ger-
manischen Völker überhaupt keine absolute Statsgewalt,
auch nicht in den gemeinsamen Angelegenheiten kennen und
dulden. Der römische Begriff des imperium ist ihnen fremd.
Sie wollen mitrathen und mitstimmen, wenn sie gehorchen
sollen. Ihre Stände sind eine politische Macht, mit welcher
die Königsmacht sich vereinbaren musz, um Gesetze zu geben.
Der Gedanke des Stats als einer Gesammtperson liegt ihnen
noch fern und ist ihnen meist unverständlich. Sie lösen den
Stat eher auf in leibhafte Personen oder Gruppen von Personen :
sie begreifen ihn zunächst in dem Könige oder andern Fürsten,
welche das Gericht und die Volksversammlung leiten, in den
Vorständen der Gaue und Zenten, in der Volksgemeinde. Je
durch die einen Personen werden die andern theils verstärkt,
theils beschränkt. So wird die ganze Einrichtung des Gemein-
wesens auch in ihren Theilen von dem Geiste der Freiheit
erfüllt. Die Einheit ist verhältniszmäszig schwach, aber die
relative Selbständigkeit der Glieder stark.
Diese Aenderungen der Statsidee, in denen wir erhebliche
Fortschritte erkennen, zeigten sich übrigens mehr in der Praxis
Viertes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. IL Das Mittelalter. 63
als in der Theorie. Eine germanische Statslelire gab es über-
haupt nicht. Die Wissenschaft ward im Mittelalter zuerst von
der Kirche beherrscht, später durch die Ueb erlief erung der
römischen Jurisprudenz und der griechischen Philosophie be-
stimmt. Schon in den alten Volks gesetzen finden sich der-
artige Reminiscenzen. In dem westgothischen Gesetze z. B.
wird nach dem Vorbild der classischen Literatur der Stats-
körper mit dem Menschen, der König mit dem Haupt, das
Volk mit den Gliedern des Leibes verglichen. '* Aber das war
nur ein erborgter Schmuck der Rede, ohne tiefere Bedeutung.
Der mittelalterliche Stat war damit gar nicht bezeichnet.
In einigen andern Beziehungen hatte die Statsidee auch
Rückschritte gemacht , und nicht blosz , weil der kirchliche
Glaube sie entwürdigte.
Man konnte auch den mittelalterlichen Stat einen Rechts-
stat nennen; aber in einem andern als in dem Sinne der
Römer. Er war nicht die reine Ordnung des öffentlichen
Rechts. Vielmehr wurden alle seine Institutionen mit privat-
rechtlichen Elementen versetzt und gemischt. Wie ein
Familiengut, wie ein Stammeseigenthum wurde die Landes-
herrschaft betrachtet, und die öffentlichen Pflichten wurden wie
Reallasten behandelt. Das ganze Lehens recht und alle Er-
scheinungen des Patrimonialstates leiden an dieser Misch-
ung. Das Statsrecht der Römer war nur eine Grundlage, von
der aus die öffentliche Wohlfahrt erstrebt wurde. Das mittel-
alterliche Recht schien auch das wesentliche Ziel des mittel-
alterlichen States zu sein. Die Volkswohlfahrt wurde darob
vernachlässigt.
Der Gedanke des Volksstats war nicht mehr lebendig.
3 Lex Wisigothor. IL 1. §. 4. „Bene Deus conditor rerum disponens
humani corporis formam, in sublime caput erexit, atque ex illo cunctas
membrorum fibras exoriri decrevit. Hinc est et peritorum medicorum
praecipua cura, ut ante capiti quam membris incipiant adhibere medelam.
Sicque in Statu et negotiis plebium ordinatio dirigenda, ut dum Salus
competens prospicitur Kegum, fida valentibus teneatur salvatio populorum."
64 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
Die Spaltung und Zerbröckelung der Volks- und Statseinheit
durch das Lehenswesen, durch den Gegensatz der Territorien,
der Stände, der Dynastien hatte ihn zerstört, und was endlich
von dem alten römischen Weltstat noch übrig geblieben -war,
das war mehr eine ideale völkerrechtliche als eine stats-
rechtliche Verbindung der abendländischen Christenländer,
welche mehr noch durch die Autorität des Papstes und den
römischen Klerus als durch das Kaiserthum zusammengehalten
wurden.
Im Groszen und Ganzen waren die Saaten zu einer freieren
und richtigeren Statsentwicklung ausgestreut worden, aber die
Statsidee selbst hatte im Mittelalter viel von der römischen
Klarheit und Energie verloren.
Fünftes Capitel.
III. Die moderne Statsidee.
In unkritischer naiver Weise hatte das Mittelalter unver-
einbare Dinge durcheinander gemischt. Als diese Weltperiode
ihrer Neige zuging, entstand eine allgemeine Gährung dieser
mancherlei Elemente , und die Auflösung der mittelalterlichen
Einheit hatte auch die Scheidung jener Mischung zur Folge.
Es bereitete sich der moderne Stat vor.
Man kann diese Entwicklung in dem Einen Satz zusammen-
fassen: der Stat wird seiner Natur und seiner Aufgabe klarer
und vollständiger bewuszt.
In Folge dieses steigenden Selbstbewusztseins des States
lehnt er vorerst jede Ueberordnung und Vormundschaft der
Kirche ab. Er hört auf, wesentlich Religionsgemein-
schaft zu sein und wird nun entschiedener als je in einer
früheren Weltperiode zur Rechts- und politischen Ge-
meinschaft. Er erkennt die Zweiheit von Stat und Kirche
Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 65
an, aber er nimmt seine statliche Selbständigkeit und Hoheit
voll in Anspruch und weisz sich unabhängig auch von der
Autorität der religiösen Offenbarung und der kirchlichen
Lehre.
Was noch theokratisches in der mittelalterlichen Stats-
ordnung war, wird nun allmäblig ausgestoszen, und die Völker
lernen den Stat menschlich begründen, undmenschlich
beschränken. Wiederum wird wie im Alterthum die Einheit
des Stats und die Machtfülle der Statsgewalt gefordert.
Die Spaltung des Lehenswesens wird nicht mehr geduldet und
die ständische Absonderung durchbrochen. Das allgemeine
Recht breitet sich aus über alles Volk. Es geht nun die
Scheidung des öffentlichen und des Privatrechts vor
sich. Das öffentliche Recht wird wieder öffentliche Pflicht;
mit individueller Freiheit wird das Privatrecht ausgeübt.
In gewissem Sinne kommt die antike Statsidee wieder zu
Ehren; aber die Zwischenzeit des Mittelalters geht doch auch
nicht verloren. Wenn auch in den letzten Zeiten des unter-
gehenden Mittelalters bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein
es den Anschein hat, als werde der Absolutismus der altrömi-
schen Kaiser in dem absoluten Königthum der europäischen
Staten erneuert, so erinnern sich doch die Völker wieder
an die natürliche Freiheit. Die grosze Wahrheit, dasz die
Menschen nicht blosz für den Stat geschaffen sind, wirkt fort
und wird tiefer erkannt. Das natürliche Recht der Personen
und die persönliche Freiheit wird auch gegen den Stat be-
hauptet. Das gesammte Privatrecht bleibt so als eine in sich
selbständige Rechtsordnung anerkannt, durch welche
wieder die Statsgewalt beschränkt wird. Auch der Kampf für
die politische Volksfreiheit wird wider den Absolutismus
der Regierungen aufgenommen. Der Stat wird wiederum ein
Volksstat, aber nun in edleren Culturformen, als im Alter-
thum. Die ständische Verfassung des Mittelalters dient zur
Vorstufe des modernen Repräsentativstats, in welchem
Bliints chli , allgemeines Statsreclit. I. 5
QQ Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
sich das ganze Volk wie in einem veredelten Auszüge dar-
stellt. '
An dieser Umgestaltung der Statsidee und der wirklichen
Staten hat auch die Statswissenschaft2 einen sehr be-
deutenden Antheil. Oft ging die moderne Statstheorie der
modernen Statspraxis voraus , regelmäszig begleitete sie die
Wandlungen dieser, zuweilen folgte sie ihr nach.
Es sind hauptsächlich folgende Phasen der Entwicklung
in der Wissenschaft hervorzuheben :
1. Der Statsbegriff von Bodin und fiugo Grotius ist
mit dem römischen, wie ihn Cicero ausgesprochen hat, noch
nahe verwandt. Bodin sieht in dem Stat „eine Kechtsordnung
einer Mehrzahl von Familien und ihrer gemeinsamen Güter in
Form der souveränen Gewalt.3 Ihm ist der Stat vornämlich
auf die Familie, das Gemeingut und die Souveränetät gegrün-
det und er tadelt es an dem antiken Statsgedanken , dasz auf
das Glück und Wohlergehen zu viel gesehen werde. Bei Hugo
Grotius rinden wir die Sonderung der kirchlichen von der
statlichen Gemeinschaft ausgesprochen und eine nachdrückliche
Betonung der Freiheit. Der Stat ist nach ihm ,,die vollkom-
mene Vereinigung freier Menschen, verbunden zum Genüsse
der Eechte und zum Zwecke gemeiner Wohlfahrt." 4 Es ver-
steht sich, dasz er den Stat auf die menschliche Natur gründet,
aber er denkt dabei weniger an Familien oder ganze Nationen,
als vornämlich an einzelne Individuen und sein Satz: „hominis
1 Vgl. Bluntschli Artikel: mittelalterliche und moderne Statsidee
im Deutschen Statswörterbueh. Bd. VI.
2 Näher dargestellt ist diese Entwicklung der Statswissenschaft in
dem Werke : Bluntschli Geschichte der allgemeinen Statsrechte und der
Politik. München 1864.
3 De la Republique. I. 1. „Republique est un droit gouvernement
de plusieurs mesnages et de ce qui leur est commun avec puissance
souveraine.u
4 Hugo Grotius de J. B. I. I. §. 14. „Est civitas coetus perfectua
liberorum hominum, juris fruendi et communis ntilitatis causa sociatus."
I. 3. §.7. Prolegom. §.16. Vgl. Leo, Weltgeschichte IV. S. I Ü).
Fünftes Cap. Entwickhmgsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 67
proprium sociale" ist keine glückliche Uebertragung des Ari-
stotelischen 6 av&QooTtog £wov TioXtTLxov. Aber sie ist charak-
teristisch dafür, dasz der moderne Geist nicht wie der antike
erst den Stat, und dann das Individuum sondern vorerst an
die Einzelnen und dann an ihre Verbindung denkt. Die Per-
sönlichkeit des States war ihm nicht unbekannt, aber sie be-
herrscht nicht seine Statslehre und indem er auf den Consens
der Menschen als die Hauptquelle auch des öffentlichen Eechts
hinweist, gibt er den Anstosz zu der späteren Vertragstheorie.
2. Von dieser Grundlage aus bildete sich nun die mo-
derne speculative und n a tu r rechtliche Statslehre weiter
aus, und zwar selbständig, auch von der antiken scharf ge-
trennt. Die Gegensätze der philosophischen Schulen und der
politischen Parteien brachten freilich auch hier eine grosze
und lebhafte Meinungsverschiedenheit hervor; und fast niemals
stimmte der eine mit dem andern völlig zusammen. Aber bis
in unser Jahrhundert hinein herrschte in den vielerlei Dar-
stellungen des Naturrechts und des allgemeinen Statsbegriffs
der Grundgedanke vor, dasz der Stat wesentlich eine Gesell-
schaft von Einzelnen und daher ein freies Werk der in-
dividuellen Willkür sei. Der absolutistische Hobbes,5 der
die Statsgewalt des Monarchen zu dem Alles verschlingenden
Leviathan macht, ist darin mit dem radicalen Kousseau6
einig, dessen Volkssouveränetät den Fortbestand der ganzen
Statsordnung jeden Augenblick in Frage stellt. Der geistreiche
5 Hobbes de Cive S. 87. „Civitas ergo est persona una(?), cujus
voluntas ex pactis planum hominum pro voluntate habenda est ipsorum
hominum; ut singulorum viribus et facultatibus uti possit ad pacem et
defensionem communem. u
6 Rousseau, Contract Social, c. 6.: „Eine Form der gesellschaft-
lichen Verbindung (Association ) zu finden, welche mit aller gemeinsamer
Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Gesellschafters ver-
theidige und schirme, und durch welche jeder Einzelne sich mit allen
vereinigend doch nur sich selber gehorche und eben so frei bleibe als
zuvor? das ist das tiefe Problem, das in dem Gesellschaftsvertrag seine
Lösung findet. "
5*
(3g Erstes Buch, Der Begriff des Stats.
Samuel Puffendorf7 bezeichnet zwar den Stat als eine
,, sittliche Person," aber der Statswille ist auch für ihn nur
aus den Individualwillen Aller zusammengesetzt und er bildet
die Theorie des Gesellschaftsvertrags, aus dem der Stat erklärt
wird, mit Vorliebe aus. John Locke vertheidigt ebenso die
Vertragslehre mit Eifer gegen die Angriffe der Frömmler und
sieht in ihr eine Garantie der englischen Bürger fr eiheit. Auch
Kant kommt nicht darüber hinaus, obwohl er schon den Fusz
erhebt, um über die Schranken der Vertragslehre wegzukom-
men;8 und selbst Fichte in seinen früheren Schriften ist
noch in jener Ansicht befangen.
Der Stat der ganzen naturrechtlichen Philosophie ist wesent-
lich Vertrags- und Gesellschaftsstat. Hatten die alten
Philosophen über dem Einen Stat die Reckte der Individuen
nicht hinreichend gewürdigt, so begingen die neuern Philosophen
nun den entgegengesetzten Fehler, indem sie über der Rücksicht
auf die Einzelmenschen die Bedeutung des States verkannten.
3. Offenbar war es zunächst eine Verengung dieses State-
begriffs, wenn Kant und Wilhelm von Humboldt den
Stat für einen Recht ss tat in dem Sinne erklärten, dasz seine
einzige Aufgabe die Gewährung der Recktssickerkeit für Jeder-
mann sei. Zwar durckbrack Fichte diese engen Grenzen,
indem er den Stat zugleich als Wirthschaftstat sckilderte
und ikm hier eine übermächtige Gewalt einräumte und gegen
das Ende seines Lebens von der nationalen Erhebung für deutsche
Freiheit begeistert, dem Stat noch kökere geistige Lebens-
7 De jure Naturali et gentium VII. 2. 13. „Unde civitatis liaec
commodissima videtur definitio, quod sit persona moralis composita, cujus
voluntas ex plurium pactis implicita et unita pro voluntatc omnium habe-
tur, ut singulorum viribus et facultatibus ad pacem et securitatcm com-
munem uti possit.
s Werke VII. 197: „Verbindung Vieler zu irgend einem Zwecke ist
in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben,
die an sich selbst Zweck ist, ist nur in einer Gesellschaft, BOferne sie
oin gemeinsames Wesen ausmacht, anzutreffen."
Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 69
aufgaben zuwies. Aber die meisten deutschen Philosophen und
Juristen der nächsten Generation hielten sich doch in der
Theorie an den kantischen Begriff.
Wir begreifen es , dasz der Gedanke bei Vielen Beifall
fand, welche gegen die Yielregiererei der Zeit und gegen die
Polizei- und Militärwillkür Schutz suchten. Aber wenn man
oft den „Rechtsstat" dem ,, Polizeistat" entgegengesetzt
und es als die Aufgabe der neuen Zeit bezeichnet hat, diesen
durch jenen zu verdrängen und zu ersetzen, so war man dabei
der reichen Natur des Stats nicht klar bewuszt. Der Stat
darf eben so wenig zum bloszen Rechtsstat werden, als er ein
bloszer Polizeistat sein darf. Die Aasbildung des „Rechtsstats"
einseitig verfolgt, würde zuletzt den Stat zu einer bloszen An-
stalt für Rechtspflege verkrüppeln, in welcher die gesetzgebende
Gewalt das Recht im allgemeinen festsetzen, das Gericht das-
selbe im einzelnen Falle zur Anerkennung bringen und schützen
würde, und der Regierung fast keine andere Thätigkeit als
die eines Gerichtsdieners oder der Gendarmerie übrig bliebe.
Die nationalen Interessen der Wirtschaft," der Bildung, der
Machtentfaltung würden verkümmern und von einer groszen
Politik könnte nicht mehr die Rede sein. Umgekehrt würde
eine einseitige Ausbildung des „Polizeistates" am Ende jede
individuelle Rechtssicherheit und Freiheit der ausschlieszlichen
Rücksicht auf das , was dem Ganzen nützlich scheint , zum
Opfer bringen und eine unerträgliche Bevormundung freier
Männer herbeiführen.
Versteht man daher unter Rechtsstat
1) den Gedanken, dasz der Stat nur eine Anstalt sei, um
die Rechte der Individuen zu schützen, so wird offenbar das
ganze Statsrecht zu einem bloszen Mittel für das Privatrecht,
und der Stat zum bloszen Diener der Privatpersonen erniedrigt.
Versteht man ferner unter ,, Rechtsstat"
2) die Meinung, dasz der Stat die Rechte der Ge-
meinschaft zu ordnen und zugleich für Anerkennung der
70 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
individuellen Kechte zu sorgen habe, so ist das zwar
ganz richtig, aber durchaus ungenügend, indem gerade die
fruchtbarste Thätigkeit des Statsmannes, die Sorge für die
materielle Wohlfahrt und für die geistige Erhebung des Volks,
übersehen wird ;
3) oder dasz der Stat zwar wohl dem Inhalte nach auch
die öffentliche Wohlfahrt befördern, aber der Form nach doch
nur insofern Zwang üben dürfe, als eine rechtliche Notwendig-
keit diesen begründe, so ist gegen diesen Gedanken zwar
schwerlich etwas einzuwenden, aber zugleich wiederum klar,
dasz damit nur eine Seite der statlichen Thätigkeit näher be-
stimmt, die Aeuszerung der statlichen Sorge aber, z. B. für
Nahrungs-, Verkehrs- und Culturbedürfnisse, welche sich inner-
halb jener rechtlichen Schranken frei bewegt und keines-
wegs der Form des Zwanges bedarf, nicht begriffen wird.
Versteht man unter dem Wort Kechtsstat
4) die Verneinung der religiösen Begründung des Stats
und die Behauptung seiner menschlichen Grundlage und Be-
schränkung, oder •
5) die Bekämpfung jeder absoluten Statsgewalt und
auch des Patrimonial stats, der sich mit der Polizeiwill-
kür ganz trefflich abzufinden gewuszt hat, und die Behaupt-
ung, dasz den Statsbürgern ein Antheil gebühre an den öffent-
lichen Bechten;
so werden zwar damit charakteristische Merkmale des
modernen Stats gemeint, aber der Ausdruck ist sehr unglück-
lich gewählt, um diese Gedanken anzudeuten. Besser wird er
Verfassungsstat genannt.
Wie es zwei Seiten gibt des statlichen Wesens, Ruhe und
Bewegung, Bestand und Entwicklung, Körper und Geist, und
wie es diesem innern organisch verbundenen Gegensatz ent-
sprechend zwei Statswissenschaften gibt, Statsrecht und Politik,
so gibt es auch zwei grosze Statsprincipien, welche
wie zwei leuchtende Gestirne das Leben des States erhellen
Fünftes Cap. Entwicklungsgesetz d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 71
und befruchten, welche beide die Form und den Inhalt des
States bedingen: die Gerechtigkeit (justitia) und die öffent-
liche Wohlfahrt (salus publica). Statsmänner werden vor-
zugsweise die letztere, Juristen eher die erste vor Augen haben.
Die Idee des Kechts bestimmt vorzugsweise das Statsrecht.
Die Idee der Wohlfahrt leitet vornämlich die Politik.
Die Sorge der Kegierung wird sich mehr noch auf die
öffentliche Wohlfahrt, obwohl innerhalb der Schranken des
Rechtes beziehen, wie denn auch die statlich fortgeschrittenen
Körner gerade den höchsten Magistraten die Sorge für die
öffentliche Wohlfahrt als ihre oberste Pflicht ans Herz gelegt
haben;9 die Thätigkeit der Gerichte wird sich auf die Auf-
rechthaltung der Rechtsordnung beschränken. Der Stat selbst
aber bedarf zu seiner Existenz und zu seinem Gedeihen der
steten Rücksicht sowohl auf die öffentliche Wohlfahrt als auf
das Recht. Gerade der moderne Stat aber achtet in höherem
Masze, als der mittelalterliche auf die Bedürfnisse des ge-
meinen Wohles, und kann daher weniger als der letztere zu
einem bloszen „Rechtsstate" werden.
4. Ein Verdienst der historischen Schule ist es, den
organischen Charakter des States von neuem ins Bewuszt-
sein gebracht zu haben. Einzelne grosze Statsmänner hatten
zwar ein lebendiges Verständnisz des organischen States be-
wahrt. Friedrich der Grosze von Preuszen z. B. sprach
in seinem Antimacchiavell (c. 9.) es deutlich aus: „Wie die
Menschen geboren werden, dann eine Zeit lang leben, endlich
aus Krankheit oder Alter sterben , so bilden sich auch die
Staten, gedeihen einige Jahrhunderte und gehen endlich wieder
unter.'1 Aber die Wissenschaft hatte diese Einsicht so sehr
vernachläszigt , dasz die Erneuerung derselben von Seite der
historischen Schule wie eine neue Entdeckung wirkte, und die
Fortbildung der Wissenschaft doch nun eine ganz andere und
9 Cicero, de Legibus III. c. 3. von den Consuln: „Ollis Salus Populi
Suprema Lex Esto.w
72 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
fruchtbarere Kichtung nahm. Indessen war die historische
Schule geneigt, den Begriff des States zu sehr als einen blosz
nationalen aufzufassen, und die höhere menschliche Be-
deutung desselben zu übersehen, oder geradezu zu bestreiten.
So erklärte Savigny den Stat als „die leibliche Gestalt der
geistigen Volksgemeinschaft," als „die organische Erscheinung
des Volks."10 Der geniale Engländer Edm. Burke aber
brachte den historischen Stat, indem er die revolutionäre Theorie
bekämpfte, wieder in den Lichtkreis der göttlichen Weltord-
nung in jener berühmten Stelle seiner Betrachtungen über die
französische Bevolution: „Der Stat ist nicht eine Genossenschaft
in Dingen, welche nur dem rohen leiblichen Dasein einer kurze
Zeit währenden und vergänglichen Natur frohnden. Er ist
eine Genossenschaft in aller Wissenschaft , in aller Kunst , in
jeder Tugend und in jeder Vollkommenheit. Da eine derartige
Genossenschaft ihr Ziel nicht in einigen Generationen erreichen
kann, so wird sie zu einer Genossenschaft, welche nicht allein
die Lebenden verbindet, sondern auch die, welche bereits ge-
storben sind und die, welche noch geboren werden. Jeder be-
sondere Statsvertrag ist nur eine Klausel in dem grossen Ur-
vertrage der ewigen Weltordnung, welcher die niedem Wesen
mit den höhern verkettet, die sichtbare und die unsichtbare
Welt verbindet und zu einem festen Rechtsverhftltnisz zu-
sammenstimmt, das durch den unverletzbaren Eid geheiligt
wird, welcher alle physischen und moralischen Naturen jede
an ihrem angewiesenen Platze festhält."11
10 Savigny, Syst. des röm. Rechts. I. S. 22.
11 Edm. Burke, Reflect. on the revol. in Franco. Vgl. auch Leo,
Weltgeschichte VI. S. 759, der die Gedanken Burke's weiter ausführt.
Jene glänzende Aeuszerung des Statsmannes erinnert an die nicht min-
der erhebenden Worte Shakespeare's Troilus und Cress. III. 3.:
„Ein tief Geheimnisz wohnt (dem die Geschichte
Stets fremd geblieben) in des States Seele:
Desz Wirksamkeit so göttlicher Natur,
Dasz Sprache nicht noch Feder sie kann deuten/
Vgl. auch Shakespeare's König Heinrich V. — 1. 2.:
Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 73
Vor einer so hohen geistigen Erfassung des States konnte
die mittelalterliche Lehre, dasz der Stat zur Kirche sich ver-
halte wie der Leib zum Geiste, unmöglich bestehen.
Die historische Schule nahm aber den Stat an wie er ge-
worden war; und der auf die Vergangenheit gewendete Blick
wurde von den Bildern des untergegangenen Lebens so mächtig
angezogen, dasz viele Anhänger dieser Richtung darüber das
Verständnisz der Gegenwart und die Neigung an der Vervoll-
kommnung der öffentlichen Zustände mitzuwirken einbüszten.
Konnte man einem groszen Theil der naturrech tlichen Schule
vorwerfen, dasz ihre Statsidee ein Spielball der individuellen Will-
kür sei, so war auch die historische Schule nicht von dem Vorwurf
freizusprechen, dasz ihr Statsbegriff noch festgebunden sei an die
herkömmlichen Autoritäten und an die überlieferten Vorurtheile.
5. Die neuere Philosophie hat wiederholt Versuche ge-
macht, die Statsidee tiefer zu fassen.
Unter den Deutschen hat Hegel insbesondere zwar die
sittliche Bedeutung des States wiederum kräftig betont und
den Stat im Gegensatze zu den jämmerlichen Vorstellungen,
das? er ein notwendiges Uebel sei, als die höchste und
herrlichste Verwirklichung der l\echtsidee gepriesen. Aber
sein Stat ist doch nur eine logische Abstraction, ohne wirk-
liches Leben und ohne Körper, ein dialektisches Gedankenspiel,
eine Eedefigur, kein Wesen. 12
Exeter: „Dein Regiment, zwar hoch und tief und tiefer
Verthcilt an Glieder, hält den Einklang doch
Und stimmt zu einem vollen reinen Schlusz,
So wie Musik."
Canterbury: „Sehr wahr! Drum theilt der Himmel
Der Menschen Stand in mancherlei Beruf,
Und setzt Bestrebung in beständ'gen Gang,
Dem als zum Ziel Gehorsam ist gestellt."
12 Hegel, Rechtsphilosophie §. 57: „Der Stat ist die Wirklichkeit
der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deut-
liche substantielle Wille, der sich denkt und weisz, und das was er
weisz und insofern er es weisz, vollführt." Vgl. Werke IX. §.44.
74 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
6. Fr. J. Stahl hat die geschichtlichen Neigungen in
die Eechtsphilosophie übertragen, aber zugleich die religiös-
politische Speculation erneuert. In vielen Beziehungen hat
Stahl durch seine dialektische und kritische Gewandtheit neue
Gesichtspunkte zu finden, und durch den Scharfblick, mit dem
er manche dunkle Stelle beleuchtete, die Statswissenschaft sehr
gefördert; in anderer Hinsicht aber hat sein Mangel an gründ-
licher historischer Bildung und seine diensteifrige Sophistik,
welche den romantischen Liebhabereien groszer und kleiner
Herren moderne Formeln zur Verfügung stellte, auch in der
Wissenschaft groszen Schaden angerichtet. Stahl bezeichnet
den Stat als ein , , sittlich-int eile ctuelle s Reich," als ,,die Einig-
ung der Menge zu Einer geordneten Gemeinexistenz, die Auf-
richtung einer sittlichen Autorität und Macht mit ihrer Er-
habenheit und Majestät und der Hingebung der Unterthanen."
Seine Statsidee ist lebendiger als die Hegels, er erkennt auch
an, dasz die Herrschaft des States „beschränkt sei auf den
Gemeinzustand" und hütet sich so vor der Ueberspannung des
antiken Stats. Aber durch seine ganze Statslehre geht wie
ein rother Faden ein Zug der alttestamentlichen Theokratie
durch, welcher dieselbe für die moderne europäische Welt doch
ungenieszbar macht. Die göttliche — oder übermenschlich
gedachte — Majestät der Statsgewalt kann mit der menschlich
bürgerlichen Freiheit keinen Frieden schlieszen.
7. Noch immer ist das Yerständnisz des organischen,
oder höher ausgedrückt des psychologisch-mensch-
lichen Wesens des States gering und nur Wenige wagen
es, die notwendigen Folgen dieser Grundgedanken wissen-
schaftlich anzuerkennen. Uniäugbar aber hat die Wissen-
schaft der neuern Zeit in dieser Richtung manche Fortschritte
gemacht.
Fr. Schmitthenne r erklärt den Stat als einen ethischen
Organismus, bestimmt die öffentlichen Angelegenheiten des
äuszern Lebens, des Rechtes, der Wohlfahrt und der Bildung
Fünftes Cap. Entwicklungsgesch, d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 75
zu vertreten. Er war einer der ersten, welche der neuen
Kichtung der Wissenschaft Bahn gebrochen haben.
Einen merkwürdigen Versuch hat Vollgraff gemacht,
die Statslehre auf die Psychologie der Völker zu gründen. 13
Das Werk gibt sich selbst als „ersten Versuch" und ist als
solcher ehrenwerth. Aber dasselbe ist doch nicht geeignet,
die psychologische Methode zu Ehren zu bringen. Weder be-
friedigt die Darstellung der menschlichen Seelenkräfte, noch
die Schätzung der verschiedenen Temperamente; und der an-
gesammelte ansehnliche Stoff von historischen Notizen und
mannigfaltigen Beobachtungen und Reisebemerkungen ist zu
wenig kritisch verarbeitet und gar zu sehr mit bloszen Phan-
tasiebildern gemischt, so dasz auch das Gefühl der realen
Sicherheit nicht aufkommt.
Ahrens,14 dem Philosophen Krause folgend, hat es
unternommen, eine „organische Statslehre" zu schreiben.
Aber er versteht unter dem Organismus des Stats nicht so
wohl ein lebendiges persönliches Gemeinwesen, als vielmehr
eine organische Einrichtung für Rechtsgemeinschaft.
Waitz ,5 endlich sagt vom Stat: „Der Stat ist nichts
willkürlich Gemachtes, nicht durch Vertrag der Menschen, nicht
durch Gewalt eines oder einiger Einzelnen entstanden. Der
Stat erwächst organisch als ein Organismus, aber nicht nach
den Gesetzen und für die Zwecke des Naturlebens, sondern er
ruht auf den höheren sittlichen Anlagen der Menschen, in ihren
wahren sittlichen Ideen; es ist kein natürlicher, ein ethischer
Organismus. Der Stat ist die Organisation des Volks." Der Stat
ist aber nicht die Verwirklichung des sittlichen Lebens überhaupt.
13 Erster Versuch einer wissenschaftlichen Begründung, sowohl der
allgemeinen Ethnologie durch die Anthropologie wie auch der Stats- und
Rechtsphilosophie durch die Ethnologie oder Nationalität der Völker.
III Theile. 1851—1853.
14 H. Ahrens, die organische Statslehre. Bd. I. Wien 1850.
15 Politik. 1862. I. 1.
76 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.
Die sittlichen Anlagen der Menschen und die sittlichen Ideen
bestimmen ebenso das Privat- wie das Statsleben, die Kirche
wie den Stat, die Familie und die Gesellschaft. Nur wenn
die menschliche Gesammt-Natur der Völker und der
Menschheit psychologisch verstanden wird, ist eine unter-
scheidende und erklärende Grundlage gewonnen für den Stats-
Begriff.
Anmerkung. In meinen „Psychologischen Studien über
Stat und Kirche," Zürich 1844, ist der erste Versuch gemacht, den Stat
aus der Psychologie Fr. Rohmers zu erklären. Ich setzte dabei irriger
Weise einiges Verständnisz für diese in der „Lehre von den Parteien"
zu Tag getretene Wissenschaft voraus, machte aber die Erfahrung, dasz
nicht allein jenes nicht vorhanden, sondern dasz jedes psychologische
Denken über den Stat der heutigen Schulbildung abhanden gekommen
sei und fremdartig erscheine. Die Studien wurden von den Mitlebenden
wie eine „unbegreifliche Narrheit eines sonst doch verständigen Mannes"
verworfen. Die Früchte jener Studien aber, wie sie später in diesem
Werke herangereift sind, werden ziemlich allgemein mit Gunst und Dank
angenommen. Inzwischen ist die Zeit näher gerückt, in der auch der
Weg, den jene Studien eingeschlagen haben, nicht mehr als abenteuer-
lich erscheinen und die organisch-psychologische Erkenntnisz des Stats
mit Vorliebe gepflegt werden wird. Dann wird auch der Werth oder
Unwerth jener „Studien" richtig beurtheilt werden können.
Mtittz Itatij*
Volk und Land
Erstes Capitel.
I. Die Menschheit, die Menschenrassen und die Völkerfamilien.
Die Menschheit hat ihre Gesammtorganisation in dem
Weltreiche noch nicht gefunden. Vorerst kennt die Geschichte
nur einzelne Eeiche und Staten, welche auf Bruchtheile der
Menschheit beschränkt sind. Das allgemeine Statsrecht unserer
Zeit musz daher voraus jene Theile beachten, und das Ver-
hältnisz der Völker zur Menschheit und zum State bestimmen.
Der Glaube an die Einheit des Menschengeschlechts ist
dem gereinigten religiösen Gefühl unentbehrlich. Das Christen-
thum hat alle Menschen zur Kindschaft Gottes berufen. Der
civilisirte Stat setzt diese Einheit ebenfalls voraus und achtet
auch in den niedern Kassen und Stämmen doch die gemein-
same Menschennatur. Für den Stat und das Statsrecht aber
ist neben jener Einheit der Menschheit die Verschieden-
heit der Rassen von höchster Bedeutung; denn im State
erscheinen die Menschen geordnet und Ordnung ist nicht denk«
bar, ohne Unterscheidung.
Die Wissenschaft hat bis jetzt den Schleier, welcher den
geheimniszvollen Ursprung der verschiedenen Hauptrassen
78 Zweites Buch. Volk und Land.
der Menschheit deckt, nicht zu heben vermocht. Beruhen die
Eassen auf verschiedenen Schöpfungsacten und sind die einen
Eassen früher die andern später erschaffen worden? Oder
haben sich die verschiedenen Eassen aus der ursprünglichen
Einen Urrasse losgetrennt und kraft welcher Naturgewalten?
Wir wissen es noch nicht. Die Verschiedenheit der Haupt-
rassen aber sowohl in ihrem Körperbau und in ihrer Farbe,
als in ihrer geistigen Anlage ist schon da in den ersten An-
fängen der bekannten Entwicklungsgeschichte der Menschheit
und sie ist bis auf heute wesentlich dieselbe geblieben. Es
hat sich wohl keine derselben ganz rein erhalten und mancherlei
Mischungen der Geschichte haben grosze Bestandteile der
Urrassen zum Theil losgerissen von der Gemeinschaft mit
den übrigen Massen, zum Theil zu neuen Völkern umgewan-
delt. Aber immerfort sind die Gegensätze der weiszen, der
schwarzen, der gelben und wohl auch der rothen Eassen
erkennbar und wirksam und mehr noch in der Entwicklungs-
geschichte als in ihren zuweilen trügerischen Farben. Es gibt
wohl manche selbst sehr geistreiche Männer, welche die geistige
Ungleichheit dieser Eassen in der Theorie läugnen, aber schwer-
lich einen, der dieselbe im praktischen Leben und Verkehr
nicht fortwährend beachtet. Die ganze Weltgeschichte zeugt
von Jahrhundert zu Jahrhundert für die verschiedene Begab-
ung der Eassen, und selbst für die ungleiche Fähigkeit der
einzelnen Völker, die aus ihnen erwachsen sind.
1. Es ist wahrscheinlich, dasz die schwarze äthiopi-
sche Easse, die Nachtvölker, wie Carus sie nennt, in der
Vorzeit nicht blosz Afrika, den vornehmlich für sie bestimmten
Welttheil, sondern ebenso die südlichen Länder von Asien über-
deckt und sogar in den südlichen Ausläufern des europäischen
Festlandes Wohnsitze gehabt habe. Ueber das hohe Alter
dieser vielleicht erstgebornen Easse kann kein Zweifel sein.
Aber nie und nirgends hat es diese Easse von sich aus zu
einer auch nur einigermaszen civilisirten Eechts- und Staten-
Erstes Cap. Die Menschheit, die Menschenrassen u. die Völkerfamilien. 79
bildung gebracht. Sie hat keine wahre Geschichte. In jedem
Zusammentreffen mit Individuen oder Stämmen der weiszen
Kasse ist sie sofort unter deren Herrschaft gerathen. So aus-
schweifend ihre Phantasie und so reizbar ihre Sinnlichkeit ist,
so mangelhaft ist ihr Verstand ausgestattet und so schwach
ihr Wille. Von Natur kindisch ist sie auf die Erziehung und
Beherrschung durch höhere Völker angewiesen.
2. Einen ältlichen Ausdruck dagegen hat die röthliche
Easse der Amerikanischen Stämme, der Indianer. Für
den Stat haben aber auch sie nur eine geringe Begabung.
Zwar gab es in Amerika, vor der Colonisation durch die Euro-
päer, gröszere Staten, mit einer ansehnlichen und ehrwürdigen
Civilisation. Aber es scheint, dasz die theokratischen Reiche
von Peru und Mexiko nicht das Werk der einheimischen
Easse, sondern von Einwanderern aus Ost- und Südasien ge-
gründet waren. Die Bezeichnung der Inkas in Peru, oder
„weiszer Sonnenkinder" weist unverkennbar auf arischen Ur-
sprung hin.
Wo die Indianer sich selbst überlassen blieben, da ver-
wilderten sie wieder als Jäger und zerfielen sie in kleine
Gruppen. Ihre Stammesrepubliken haben keinen festen Boden
und keine gesicherten Institutionen. Die einzelnen Männer
leben wohl in eigenwilliger und trotziger Freiheit, aber der
Verband des Ganzen ist roh und ungefüge. Dem Fortschritte
der weiszen Colonisation vermögen sie keinen Widerstand zu
leisten. Sie werden verdrängt und aufgezehrt.
3. Bedeutender für die statliche Entwicklung ist die so-
genannte gelbliche Easse, deren Heimat Asien geblieben
ist, mit ihren beiden Hauptstämmen, dem bräunlicheren
Typus derMalajen und dem helleren der finisch-mon-
golischen Völker. Besonders die letztere Völkerfamilie hat
viele grosze Fürsten, Heerführer und Statsmänner hervor-
gebracht. Ein Theil freilich dieser Stämme blieb fortwährend
und bis auf den heutigen Tag in nomadischem Zustand,
80 Zweites Buch. Volk und Land.
als Hirten, Jäger und Käuber, vorzüglich in Mittelasien. Aber
andere Völker von dieser Kasse haben grosze Keiche gegründet.
Sie sind durchweg roher im Westen geblieben und humaner
im Osten geworden. Die ganze Easse steht der kaukasischen
näher als die der Neger und der Indianer, und hat sich früh-
zeitig, zumal in den oberen Classen, mit Weiszen gemischt.
Zu einer höheren Civilisation als die Hunnen und die Tür-
ken haben es die Culturvölker von China und Japan ge-
bracht. Sogar eine feine Statsphilosophie ist ihr Werk: und
die Ideale der Humanität im Gegensatz zur Barbarei und des
persönlichen Verdienstes im Gegensatz zu dem Bang der Ge-
burt sind bei ihnen früher noch zur Geltung gelangt als unter
den arischen Europäern. Für die Landwirthschaft, die Gewerbe,
für die Schulen und die Polizei haben sie Bedeutendes ge-
leistet. Aber ihre Kechtsideen blieben gemischt mit den
moralischen Vorschriften und sind gebunden durch die Rück-
sichten auf das Familienleben und die Zucht der Unmündigen.
Ihr Regiment hat einen wohlwollenden, aber oft auch einen
despotischen Charakter. Das Ehrgefühl ist unempfindlich und
die Volksfreiheit bei ihnen nicht entwickelt.
4, Ueber alle diese Rassen erhebt sich aber die weisze
Rasse der sogenannten kaukasischen oder iranischen Völker,
die Carus im Gegensatze zu den Nacht- und Dämmerungs-
(Morgen- und Abend-) Völkern als Tagvölker bezeichnet, die
Kinder der Sonne und des Himmels, wie das Alterthuin sie
benannt hat. Sie sind vorzugsweise die historischen Völker.
Sie bestimmen die Geschicke der Welt. Alle höheren Reli-
gionen, welche den Menschen mit Gott verbinden , sind zuerst
durch Männer von ihrem Stamme geoffenbart worden, fast alle
Philosophie ist aus den Arbeiten ihres Geistes hervorgegangen.
Im Zusammenstosz mit den andern Rassen sind diese zuletzt
immer von ihnen besiegt und ihnen unterthan worden. Alle
höhere Statenbildung gehört ihrem Impuls an und ist ihr
Werk. Die höchste Civilisation und die Verallkommnuilg der
Erstes Cap. Die Menschheit, die Menschenrassen u. die Völkerfamilien. 8l
geistigen Zustände der Menschen verdanken wir — nächst
Gott — ihrem Verstände und der Energie ihres Willens.
Diese Tagvölker theilen sich aber in zwei grosze Völker-
familien, die Semitischen und die Arischen (indo- ger-
manischen) Völker. Die Semiten haben vorzugsweise eine
religiöse Mission für die Welt. Das Judenthum, das Christen-
thum und der Islam, alle diese Religionen sind zuerst unter
Semitischen Völkern im Orient verkündet worden. Für den
Stat aber sind sie weniger begabt. Dagegen nimmt für die
politische Geschichte und die Rechtsbildung hinwieder die
arische Völkerfamilie, deren Sprache auch die formen- und
gedankenreichste ist, den obersten Rang ein, und diese hat
voraus in Europa ihre wahre Heimat gefunden und da ihren
männlichen Statsgeist zur Reife entfaltet. Darauf ist das Recht
dieser europäisch -arischen Völker begründet, die übrigen
Völker der Erde mit ihren Ideen und ihren Institutionen
politisch zu leiten und so die Organisirung der Menschheit zu
vollziehen.
Wir betrachten so die Verschiedenheit der Menschenrassen
als ein Werk der schöpferisch erregten Natur, nicht als ein
Werk unserer menschlichen Geschichte, und erkennen in ihnen
natürliche Varietäten der Menschheit. Dagegen die
Völker, in welche die Rassen sich theilen, oder welche aus
der Mischung verschiedener Rassen entstanden sind, sind offen-
bar das Erzeugnisz unserer Geschichte. Die Völker sind
historische Glieder der Menschheit und ihrer Rassen.
Zwar kennen wir auch Ur Völker, d. h. die uns schon in den
ersten Zeiten begegnen, über welche uns historische Kunde zu-
gekommen ist, oder deren Ursprung sich in ein dunkles Alter-
thum verliert. Aber wir kennen eine sehr grosze Zahl Völker,
deren Entstehung in den Bereich unserer historischen Kennt-
nisz fällt und haben Gründe genug für die Annahme, dasz
auch jene Urvölker in ähnlicher Weise entstanden seien. Die
Geschichte durch ihre Trennungen und Vermischungen, wie
B 1 u u t s c h 1 i , allgemeines Statsrecht. I. Q
82 Zweites Buch. Volk und Land.
durch ihre Wandlungen und Entwicklungen hat im Laufe der
Zeit die Völker gesondert und neue Völker hervorgebracht,
Die Eigenthümlichkeit der Völker zeigt sich daher weniger
noch in ihrer physischen Erscheinung als in ihrem Geist und
in ihrem Charakter d. h. in der Sprache und im Eecht.
Anmerkungen. 1. Prichard hat in seinem "Werke: Natur-
geschichte des Menschengeschlechtes (in deutscher Uebersetzuug von
E.Wagner, Leipzig 1840, 4 Thle.) vorzüglich die physiologischen und
sprachlichen Unterschiede und Verwandtschaften der wesentlichen Rassen
behandelt; A. de Gobineau dagegen in seinem Essai sur l'inegalite
des races humaines, Paris 1852 — 55, mehr die politischen Gegensätze
darzustellen gesucht. So anregend und interessant diese Untersuchungen
sind, so ist in beiderlei Hinsicht noch sehr viel zu thun, um sichere
wissenschaftliche Resultate zu erreichen. Das neueste und vielseitige
Werk ist von Tb. Waitz, Anthropologie der Naturvölker.
2. Man hat die Bedeutung der Rasse für Recht und Stat lange in
der Wissenschaft übersehen und miszachtet. Das Werk von Gobineau
sucht diesem Mangel abzuhelfen, verirrt sich aber nicht selten in den
entgegengesetzten Fehler, Alles aus der Anlage der Rasse erklären zu
wollen. Er faszt die Rasse überdem zu sehr als Geburtsrasse auf
und betont die Einwirkung der Abstammung und des Geblüts zu aus-
schlieszlich. Es gibt aber nicht blosz eine angeborene Rasse —
allerdings die ursprüngliche und natürliche Bedeutung der Rasse — es
gibt auch eine anerzogene Rasse, die wir sowohl in den Familien
als in den Völkern deutlich wahrnehmen, und die obwohl secundär und
in höherm Grade von menschlicher Freiheit bestimmt, doch einen ge-
waltigen Einflusz auf die Rechtsbildung übt. Man denke nur an die
römische Kirche in dem modernen Europa, um sich die Macht der aner-
zogenen Rasse zu vergegenwärtigen. Von der Rasse ist das Indi-
viduum zu unterscheiden, und die individuelle Einwirkung nicht minder
zu beachten. Die Weltgeschichte ist fast mehr noch von den Individuen
als von den Rassen bestimmt worden. Die wichtigen Aufschlüsse,
welche über diese Gegensätze in Fried r. Rohmers Lehre von den
politischen Parteien (dargestellt durch Theodor R ohmer, Zürich 1844)
gegeben werden, sind noch nicht so beachtet und gewürdigt worden,
wie das Werk es verdient.
Zweites Capitel. Die Nation und das Volk. 83
Zweites Capitel.
IT. Die Nation und das Yolk.
Eine willkürlich zusammen gerottete oder geworbene Menge
Menschen bildet noch keine Nation. Auch auf dem Wege der
Uebereinkunft einer Anzahl Individuen ist so wenig je ein
Volk entstanden, als ein Stat.
Die Familienverbindung ferner für sich allein er-
zeugt weder eine Nation noch ein Volk, und der Satz Schleier-
machers: 1 „Wenn eine Masse von Familien unter sich ver-
bunden und von andern ausgeschlossen ist durch Connubium,
so stellt sich die Volkseinheit dar," wird in zwiefacher Be-
ziehung durch die Geschichte widerlegt. Die römischen Patri-
cier waren unter sich durch Connubium verbunden, die Plebejer
ebenso. Aber weder jene noch diese waren für sich allein das
römische Yolk; und beide waren in älterer Zeit nicht durch
Connubium mit einander verbunden, und doch bestand das
römische Volk aus ihrer Vereinigung. Die germanischen Völker
waren aus Ständen verbunden, von welchen jeder nur in seinem
Innern unter seines Gleichen die Ehegenossenschaft zuliesz.
In neuerer Zeit endlich besteht überall Ehegenossenschaft und
Familienverbindung auch unter verschiedenen Nationen, ohne
dasz daraus eine neue Nation entsteht.
Die Entstehung einer Nation setzt eine neue Spaltung
innerhalb der bisherigen Kassen oder einer alten gröszeren
Nation voraus und eine Abzweigung des Theiles, der für sich
eine eigentümliche Bedeutung gewinnt oder durch Mischung
mit andern Bestandtheilen von andern Kassen oder Nationen
eine neue Gestalt annimmt. Auf die Bildung einer Nation hat
aber der Geist den mächtigsten Einflusz. Im alten Orient und
theilweise wieder im Mittelalter war es zuweilen der Geist der
Religion, der die Glaubensgenossen zu einer neuen Nation
1 Ethik. §. 2G7.
6*
g4 Zweites Buch. Volk und Land.
verband und von den Andersgläubigen trennte. Stärker aber
noch und durchgreifender trennt und verbindet die Nationen
der Geist der Sprache. Die Sprachgemeinschaft ist das
sicherste Zeichen der nationalen Gemeinschaft. Sie bedeutet
Einheit der Geistescultur. Erst in zweiter Linie schlieszt sich
die Gemeinschaft der Sitte und des Kechts an. Aber nur all-
mählich wächst die Nation zu einer solchen Einheit zusammen,
welche sich über die Individuen und über die Familien erhebt
und Alle verbindet. Dann tritt auch die besondere Art sicht-
bar hervor in der Physionomie der Nation, in der Haltung,
Kleidung, Wohnung derselben, in hundert kleinen Zügen, die
leicht zu erkennen, schwer zu beschreiben sind. Erst wenn
die Nation ihre Eigenart schon durch mehrere Generationen
hindurch fortgepflanzt hat, zeigt sich so die nationale Kasse
mit ihren Vorzügen und ihren Schwächen , im Geist und
Charakter wie in den Körpereigenschaften.
Die Nation ist ein Cultur begriff. Das Volk aber ist
ein statsrechtlicher Begriff. Erst im State und durch
den Stat wird die Nation zum Volk. Die S tat s gern e in-
Schaft bildet die Volkseinheit.
Auch das Volk im eigentlichen Sinne — die Ausdrücke
Nation und Volk werden nicht immer auseinander gehalten —
bedarf, damit es zu einer wahren Einheit wird, eines dauernden
Zusammenseins und Zusammenlebens. Dann bildet sich ein
bestimmter Volksgeist aus und ein bestimmter Volks-
charakter, die verschieden sind von dem individuellen
Geist und Charakter und fortgepflanzt werden in der Masse
der Volksgenossen. Es gibt daher auch eine Volksrasse,
wie es eine nationale Kasse gibt und beide treffen nicht immer
zusammen.
Die Nation kann nur im natürlichen, nicht im juristischen
Sinne eine Person genannt werden, weil sie in der Sprache
die Einheit ihres Geistes äuszert. Aber ihre Gemeinschaft ist
nicht zu einem Kechtswesen abgeschlossen. Sie ist keine stats-
Zweites Capitel. Die Nation und das Volk. 85
rechtliche Person. Das Volk dagegen, welches im State einen
Gesammtkörper gefunden hat, ist zugleich eine Kechtsperson
geworden.
Auch die Völker sind organische Wesen; und desz-
halb stehen sie unter den Naturgesetzen alles organischen
Lebens. In der Entwicklungsgeschichte der Völker lassen sich
dieselben Altersperioden unterscheiden, wie in dem Leben der
Individuen. Die natürlichen Kräfte und Anlagen eines Volkes,
seine Vorstellungen , seine Bedürfnisse sind anders in der Zeit
seiner Kindheit, und anders in der Zeit seines Alters. Wie
für den einzelnen Menschen , so ist auch für das Volk die
mittlere Periode seines Lebens regelmäszig die Zeit der höch-
sten Entwicklung seines Geistes und seiner Macht. Nur sind
diese Perioden bei den Völkern nach Jahrhunderten zu be-
messen, während sie bei den Individuen nach Jahrzehnten sich
unterscheiden. Unsterblichkeit aber scheint auch den Völkern
nicht verliehen zu sein.
Anmerkungen. 1. Es ist ein Verdienst Savigny's, die Bedeu-
tung des Volkes als eines organischen Wesens und den Einflusz seiner
Lebensalter auf die Rechtsbildung in Deutschland wieder nachdrucksam
hervorgehoben zu haben.
2. Ich habe früher, dem französischen Sprach gebrauche folgend,
das Naturvolk „Volk" (peuple) und das Statsvolk „Nation" genannt.
Die Etymologie begründet aber den umgekehrten Sprachgebrauch, indem
natio von nasci auf die Geburt und die Rasse, Volk (populus, nohig) auf
die Stadt und den Stat hindeutet, und das deutsche Sprachgefühl folgt
dieser Deutung. Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zu-
gleich eine Nation und ein Volk, in den letzten Jahrhunderten nur eine
Nation, kein Volk mehr, und sind heute wieder auf gutem Wege auch
ein Volk zu werden. Die Schweizer, obwohl aus verschiedenen Nationa-
litäten zusammengesetzt, sind ein Volk.
g(3 Zweites Buch. Yolk und Land.
Drittes Capitel.
Nationale Rechte.
Es ist ein Fortschritt der Civilisation, dasz wir anfangen,
von nationalen Kechten zu sprechen und Achtung für dieselben
zu fordern. Da die Nationen Theile der Menschheit und das
Product eines groszen welthistorischen Entwicklungsprocesses
sind , so sollen sie auch in ihrem Bestände beachtet und ge-
schützt werden. Das erste und natürlichste Grundrecht ist
allezeit die menschliche Existenz. Welche menschliche Existenz
aber hätte ein besseres Recht von Natur als die des nationalen
Gemeingeistes? Sie ist ja zugleich die Unterlage auch der
individuellen Existenz und eine Grundbedingung der Entwick-
lung der Menschheit.
Aber nur allmählich wird es gelingen, dieses zunächst
blosz sittliche Gebot in die entsprechende Eechtsformel zu
fassen. Die Hauptbedeutung des Nationalitätsprincips
liegt vorerst noch in der Politik, nicht im Statsrecht.
Als nationale Rechtsgrundsätze aber lassen sich folgende
anführen, die daher von den Genossen derselben Nation geltend
gemacht werden dürfen:
1. Das Recht auf die nationale Sprache.
Die Sprache ist das eigenste Gut jeder Nation, in der
Sprache vorzüglich gibt sich die Eigenart derselben kund, sie
ist das stärkste Band, welches die Genossen der Nation zu
einer Culturgemeinschaft verbindet.
Daher darf der Stat nicht der Nation ihre Sprache ver-
bieten , noch die Ausbildung derselben und ihre Litteratur
untersagen. Es ist im Gegentheil Statspliicht, die Cultur der
Sprache frei gewähren zu lassen und so weit die allgemeinen
Bildungsinteressen nicht dadurch verletzt werden, wohlwollend
zu fördern. l Die Unterdrückung der einheimischen Sprachen
1 Oesterreich. Statsverfassung v. 1849, §. 5: „Alle Volksstämme
Drittes Capitel. Nationale Rechte.' 87
der Provinzialen durch die Eömer war ein furchtbarer Misz-
brauch der Statsgewalt, und das Verbot der wendischen Volks-
sprache in dem Gebiete des deutschen Ordens unter Androh-
ung der Todesstrafe war eine widerrechtliche Barbarei.
Aus diesem Princip folgt aber nicht, dasz es in den Stats-
angelegenheiten nicht eine bevorzugte Statssprache geben
dürfe mit Ausschlusz aller übrigen Volkssprachen. So weit
es sich nicht um das blosze Nationalleben, sondern um das
Statsleben handelt, da kann das Interesse des gesammten Stats-
volkes die Einheit der Sprache erfordern. So wird im eng-
lischen Parlamente mit Eecht nur englisch, nicht auch irisch
noch gälisch gesprochen, in den französischen Centralbehörden
nur französisch, nicht auch deutsch noch keltisch. Sorgfältiger
aber achtet die Schweiz die verschiedenen Nationalitäten , aus
denen sie zusammengesetzt ist, indem sie die deutsche mit
der französischen Statssprache verbindet, und nach Bedürfnisz
auch die italienische respectirt.
Ebenso wenig ist der Stat gehindert, dafür zu sorgen,
dasz in den Schulen die höhere Cultursprache gepflegt und die
Kinder einer noch ungebildeten Nation an der Errungenschaft
und Erbschaft einer veredelten Litteratur einen Antheil erhal-
ten. Dagegen wird es von einer civilisirten Nation als ein
bitteres Unrecht empfunden, wenn ihre Sprache aus der Schule
und der Kirche zu Gunsten einer fremden Sprache verdrängt wird.
2. Die Nation hat ferner ein Eecht, ihre nationale
Sitte zu üben, so weit dieselbe nicht dem höhern mensch-
lichen Sittengesetze widerstreitet, oder die Eechte des States
verletzt. Die herrschenden Engländer sind berechtigt, nicht
länger zu dulden, dasz die indischen Frauen zur Todtenfeier
ihrer Männer sich ebenfalls dem Tode opfern: die Untersagung
aber unschädlicher Volksspiele ist eine nicht zu rechtfertigende
Anmaszung des States. \
sind gleichberechtigt (?) und jeder Yolksstamm hat ein unverletzliches
Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache."
gg Zweites Buch. Volk und Land.
3. Auf dem Gebiete der eigentlichen Bechtsinsti-
tutionen ist die Berechtigung der bloszen Nation auf stat-
liche Anerkennung und Schutz geringer, weil hier theils die
Einheit und Harmonie des States, theils die Interessen des
statlichen Culturvolkes einen naturgemäszen höhern Einflusz
äuszern. Eine die Gesammtbevölkerung umfassende, und die
einzelnen Volksrechte umbildende oder aufhebende Gesetzgebung
ist ein Bedürfnisz d§s entwickelten States. Man darf es den
Kömern nicht verargen, dasz sie das römische Becht überall
in ihrem Beiche einzuführen suchten. Bücksichtsloses Unmasz
aber verdient Tadel. Einen der ärgsten Misz griffe der Art
hat das englische Parlament begangen, als es 1773 in Bengalen
die Formen des englischen Gerichtsverfahrens und des eng-
lischen Bechts den dafür unreifen Indiern aufnöthigen wollte.
In den deutschen Staten aber verfuhr man gleichzeitig in der
Aufrechthaltung eines wahren Wustes von hergebrachten Statu-
tarrechten für kleine Yolksparcellen überängstlich, und in der
Einführung eines fremden gemeinen Bechtes für die Nation
über die Maszen kühn und eingreifend.
Mit Bezug auf die Fortbildung des Bechts gewinnt daher
das Volk die Oberhand über die Nation und vor der Einheit
des Gesetzes und der Bechtspflege müssen sich die nationalen
Verschiedenheiten beugen, die Bechtsgleichheit der Statsbürger
erhält den Vorzug vor der Mannigfaltigkeit der nationalen
Uebungen. Es ist den Kömern doch sehr viel leichter gewor-
den, die unterthänigen Nationen im Becht zu romanisiren als
in der Sprache zu latinisiren, und wir nehmen keinen Anstosz
daran, dasz die Franzosen ihren Code Napoleon auch auf das
deutsche Elsasz und auf die alt-gallische Bretagne anwenden.
Wir tadeln es nicht, wenn die englische Gesetzgebung auch
das Becht der Iren und der Walliser gleichmäszig ordnet.
Aber wir erinnern uns doch auch, dasz der Versuch der Römer,
die noch rohen Germanen der römischen Rechtspflege zu unter-
werfen, den groszen germanischen Freiheitskampf entzündet
Drittes Capitel. Nationale Rechte. 89
hat und es während Jahrhunderten ein Princip der germani-
schen Rechtsüberzeugung war , man müsse jede Nation bei
ihrem Rechte lassen und jeden nach seinem angebornen (d. h.
nationalen) Rechte schützen. Die altrömische Maxime einseitig
durchgeführt, hätte alle nationale Freiheit mit dem nationalen
Recht zerstört, die alt-germanische Weise zähe bewahrt, hätte
alle höhere Stats- und Rechtscultur unmöglich gemacht. Es
war ein Glück für die Freiheit der Nationen und für die fort-
schreitende Civilisation , dasz Römer und Germanen feindlich
aufeinander trafen und keines der beiden Principien zu alleiniger
Herrschaft gelangte.
4. Wird eine Nation in ihrer sittlichen und geistigen
Existenz von der Statsgewalt angegriffen, so sind ihre Ge-
nossen zum zähesten Widerstand dagegen veranlaszt.
Es gibt keine gerechtere Ursache zur Auflehnung wider die
Tyrannei, als die Verteidigung der Nationalität. 2 Die Le-
galität kann dabei Schaden leiden, das Recht wird nicht verletzt.
5. Zwischen der Nation und dem Volk besteht eine natür-
liche Wechselwirkung. Politisch begabte Nationen können zu
voller Entfaltung ihrer Natur gelangen, wenn sie Völker
werden, und Völker, die aus mancherlei nationalen Elementen
gemischt sind, haben hinwieder das Streben, zu besondern
Nationen zu werden. Die Politik beachtet diese Wand-
lungen und sucht sie zu fördern oder zu hindern. Aber auch
die tiefsten Rechtsfragen werden hier angeregt.
Versuchen wir's, einige Rechtssätze auszusprechen:
a) Nicht jede Nation ist berechtigt, sich als Volk zu
constituiren. Sie ist es nicht, wenn sie nicht die geistige und
2 Niebuhr (Preussens Recht gegen den Sächsischen Hof): „Die Ge-
meinschaft der Nationalität ist höher als die Statsverhältnisse, welche
die verschiedenen Yölker eines Stammes vereinigen oder trennen. Durch
Grammatik, Sprache, Sitten, Tradition und Literatur entsteht eine Ver-
brüderung zwischen ihnen, die sie von fremden Stämmen scheidet, und
die Absonderung, die sich mit dem Auslande gegen den eignen Stamm
verbindet, zur Ruchlosigkeit macht."
90 Zweites Buch, Volk und Land.
sittliche Fähigkeit hat, sich selbst zu regieren. Nicht alle
Nationen sind von Natur Statsvölker. Den einen fehlt es an
einer ihnen eigenthümlichen Statsidee, den andern an der Kraft,
dieselbe selbständig zu verwirklichen. Ohne Fähigkeit aber
kein Eecht. Solche Nationen sind daher von Gott und der
Geschichte darauf angewiesen, sich der Leitung oder Erziehung-
begabterer und kräftigerer Völker unterzuordnen.
b) Jede Nation, welche eine eigenthümliche Stats-
idee und zugleich die Kraft und das Bedürfnisz hat,
dieselbe zu verwirklichen, ist berechtigt, einen nationalen Stat
zu bilden; aber sie ist bei diesem Streben verpflichtet, die
historische Rechtsordnung insoweit zu respectiren, als dieselbe
nicht ihre naturgemäsze Entwicklung widerrechtlich hindert.
c) Die Herstellung eines nationalen States erfordert keines-
wegs die Vereinigung aller nationalen Bestandtheile zu Einem
Statsganzen, sondern nur ein so starkes Zusammenwirken natio-
naler Elemente , clasz das der Nation eigene Statenbild zu
sicherer und ausreichender Erscheinung gelangt.
d) Eine Nation, die Volk geworden oder im Begriff ist,
Volk zu werden , ist wohl berechtigt , die zerstreuten Glieder,
deren sie zu ihrem Körper bedarf, an sich zu ziehen, aber
nicht berechtigt, solche nationale Bestandtheile, die in einem
andern Statsverbancle ihre Befriedigung finden, gegen ihren Wil-
len aus demselben loszureiszen, wenn sie ihrer entbehren kann.
e) Die höchste Statenbildung beschränkt sich nicht auf eine
einzelne Nationalität, sondern verbindet verschiedene nationale
Elemente zu einer gemeinsamen menschlichen Ordnung.
f) Wenn ein Stat aus verschiedenen Nationalitäten besteht,
die zusammen Ein Volk bilden, so dürfen die politischen Rechte
nicht nach Nationalitäten vertheilt werden, sondern es ist die
politische Gemeinschaft und Gleichberechtigung ohne Unter-
schied der Nationalitäten zu bewahren. 3
3 Eötvös, Die Nationalitätsfrage. Wien 1865.
Viertes Capitel Volkstümlichkeit der Verfassung. 91
Ueber jene Fähigkeit und Würdigkeit entscheidet freilich
bei dem unvollkommenen Zustande des Völkerrechts kein mensch-
liches, sondern nur das Gottesgericht, welches in der Welt-
geschichte sich offenbart. Nur in groszen Kämpfen durch seine
Leiden und seine Thaten bewährt das Volk gewöhnlich seine
Berechtigung.
Viertes Capitel.
Volkstümlichkeit der Verfassung.
Höher berechtigt im State als das blosze Naturvolk (die
Nation) ist das Statsvolk. Es ist die lebendige Gesammt-
individualität, welche in dem Statskörper wohnt.
Es ist keineswegs nothwendig, dasz das Statsvolk nur aus
Einem Naturvolke bestehe: und sogar zuträglich, dasz es
verschiedene nationale Bestandtheile in sich habe.
Diese Vereinigung zweier oder mehrerer Nationalitäten in Einem
Volke kann dazu dienen, dasz die Mängel derselben ergänzt
und die Vorzüge derselben gesteigert werden. Zugleich dient
diese Mischung dazu, das Bewusztsein wach zu erhalten, dasz
die Bestimmung des States nicht eine blosz volksmäszige, son-
dern eine menschliche sei.
Dagegen ist es der Einheit des States allerdings sehr
förderlich, wenn das Statsvolk wesentlich auf eine bestimmte
Hauptnation sich stützen kann und die übrigen Volks-
elemente nur in einem numerisch untergeordneten Ver-
hältnisse zu demselben stehen, wie die Deutschen in Frankreich
und Kuszland, die slavischen Stämme in Preuszen, die Juden
in Deutschland, die Franzosen in Nordamerika. Viel schwieriger
ist die Einheit des Statsvolkes zu begründen und zu bewahren,
wenn dieselbe aus mehreren Nationen besteht, welche an Macht
und Bedeutung mit einander wetteifern. Diese Schwierig-
92 Zweites Buch. Volk und Land.
keit hatte England zu überwinden, indem es erst die Sachsen
und die Normannen, dann die Engländer und Schotten, zuletzt
diese zusammen und die Iren einigte, und ihr zu erliegen ist
für 0 esterreich eine noch nicht überwundene Gefahr.
Soll der Stat als Leib des Volks seine Bestimmung er-
füllen, so ist es klar, dasz seine Einrichtungen und Gesetze
auf die Eigenschaften und die Bedürfnisse desselben Eücksicht
nehmen, mit einem Worte, dasz der Stat volksthümlich
sein musz. Eine Statsverfassung , welche zu dem Charakter
des Volks nicht paszt, seine Eigenthümlichkeit nicht beachtet,
seinem Geiste und seiner Sinnesweise nicht gemäsz ist, ist ein
unnatürlicher und ein untauglicher Körper. Wird
dieselbe durch fremde Gewalt einer Nation aufgedrungen, oder
wie wir das auch schon in Zeiten groszer politischen Fieber
gesehen haben, von dem miszleiteten und kranken Volke selbst
gewählt, so stürzt sie immer wieder zusammen, sobald jene
Gewalt nachläszt, oder das Volk seine Besonnenheit wieder
findet. In beiden Fällen ist aber das Gebrechen in dem stat-
lichen Organismus so grosz, dasz dasselbe auch den Untergang
des Volkes zur Folge haben kann und jedenfalls seine volle
Gesundheit auf lange Zeit hin verhindert.
Jede grosze Nation, die geeignet ist zum Statsvolk zu
werden, hat auch eine eigenthümliche politische Lebensansicht,
und eine besondere statliche Mission. Das Volk erfüllt
diese Bestimmung, indem es dem State dasGepräge seines
Wesens verleiht. Das ist das natürliche ^Recht des Volkes
auf eine volksthümliche Verfassung. Die Verschieden-
heit der Völker entspricht so der Verschiedenheit der Nationen,
und die Mannichfaltigkeit der statlichen Formen beurkundet
die Mannichfaltigkeit, welche Gott in die Natur der Nationen
gelegt hat.
Die Eigenthümlichkeit des Volkes spiegelt sich aber nicht
etwa ein für allemal in dem State ab. Das Volk durchlebt
verschiedene Phasen seiner Entwicklung, und es ändern sich,
Viertes Capitel. Volks thümlichkeit der Verfassung. 93
obwohl es wesentlich dasselbe bleibt, doch seine Bedürfnisse
und seine Ansichten, je nach der Lebensperiode, in welcher es
gerade steht. Der nationale und volksthümliche Stat begleitet
das Volk auch in dieser Entwicklung, und macht auch in
seinem Organismus ähnliche Wandlungen und Umge-
staltungen durch, ohne deszhalb völlig ein anderer
zu werden. Wie sehr verschieden war die äuszere Erschein-
ung des römischen States in den verschiedenen Perioden seiner
Geschichte, und dennoch wie klar stellt sich fortwährend der
national-römische Charakter derselben dar. Die königliche, die
republikanische, die kaiserliche Statsform entsprechen den ver-
schiedenen Lebensaltern des römischen Volks , in allen aber
wird das specifisch-römische Gepräge sichtbar. Die englische
Monarchie unter den Tudors unterscheidet sich von der eng-
lischen Monarchie unter dem Hause Hannover, wie sich die
Entwicklungsstufen des englischen Volkes im XVI. und XVIII.
Jahrhundert unterscheiden. Das ist das natürliche Kecht des
Volkes auf zeitgemäsze Umbildung seiner Verfassung.
Fassen wir das Gesagte in Einem Satze zusammen: Die
naturgemäsze Statsform entspricht jeder Zeit der
Eigenthümlichkeit und der Entwicklungsperiode
des Volkes, welches in dem State lebt.
Anmerkungen. 1. Cato bei Cicero de Republ. 11.21. „Nee tem-
poris unius nee hominis est constitutio reipublicae."
2. Friedrich der Grosze von Preuszen (im Antimacchiav. 12.) :
„Die Charaktere der Individuen sind verschieden, und die Natur hat
dieselbe Verschiedenheit in den Charakteren (dans les temperaments)
der Staten hervorgebracht. Ich verstehe unter Charakter eines States
seine Lage, seine Ausdehnung, die Zahl und den eigenthümlichen Geist
seiner Völker, seinen Handel, seine Gewohnheiten, seine Gesetze, seine
Stärke, seine Mängel, seine Reichthümer , seine Hülfs quellen."
3. De Maistre (1796): „Eine Verfassung, welche für alle Nationen
gemacht ist, taugt für gar keine; sie ist eine leere Abstraction, ein
"Werk der Schule, nur geeignet, den Geist an idealen Voraussetzungen
zu üben, und für den reinen Menschen in den eingebildeten Bäumen
bestimmt, wo er allein zu finden ist" (qu'il faut adresser ä l'homme
dans les espaces imaginaires oü il habite).
94 Zweites Buch. Volk und Land.
4. Napoleon an die Schweizer (1803): „Eine Regierungsform, die
nicht das Resultat einer langen Reihe Ton Begebenheiten, Unglücks-
fällen, Anstrengungen und Unternehmungen eines Yolkes ist, kann nie-
mals Wurzel fassen."
5. Sismondi, Studien über die Verfassung freier Völker: „Die
Verfassung nicht minder als die Gesetze beruhen auf den Gewohnheiten
einer Nation, ihren Neigungen, Erinnerungen, auf den Bedürfnissen ihrer
Vorstellungsweise. Es ist ein unverkennbares Zeichen eines äuszerst
oberflächlichen und zugleich falschen Geistes, wenn er versucht wird,
eine neue Verfassung einem Volke nicht nach seinem eigentümlichen
Geiste und seiner eigenen Geschichte, sondern nach einigen allgemeinen
Sätzen zu geben, welche man mit dem Namen von Principien fälschlich
ehrt. Die letzten fünfzig Jahre, welche so viele anspruchsvolle Ver-
fassungen haben entstehen sehen, und in welchen so viele Verfassungen
blosz entlehnt worden, können auch dafür Zeugnisz geben, dasz von all
diesen auch nicht eine den Erwartungen ihres Urhebers oder den Hoff-
nungen derer, welche sie angenommen, entsprochen habe."
6. L. Ranke (Zeitschr. I. 91.)' „Unsre Lehre ist, dasz ein jedes
Volk seine eigene Politik habe. "Was will sie doch sagen, die National-
unabhängigkeit, von der alle Gemüther durchdrungen sind? Kann sie
allein bedeuten, dasz kein fremder Intendant in unsern Städten sitze,
und keine fremde Truppe unser Land durchziehe? Heiszt es nicht viel-
mehr, dasz wir unsere geistigen Eigenschaften, ohne von Anderen ab-
zuhängen, zu dem Grade von Vollkommenheit bringen, deren sie in sich
selber fähig sind?"
Fünftes Capitel.
III. Die Stämme.
Wie die Eassen der Menschheit in verschiedene Nationen
zerfallen, so theilen sich die Nationen in Stämme. Die Ver-
wandtschaft der Nationen wird zwar dem schärferen Forscher
auch in der Sprache, in den Sitten, im Eechte sichtbar. Aber
die Nationen selbst, die zu derselben Menschenrasse gehören,
verstehen sich nicht mehr, sie sind einander fremd geworden.
Dagegen die verschiedenen Stämme Einer Nation fühlen
sich durch die gemeinsame Sprache und Sitte zu einer Wesens-
gemeinschaft verbunden. Dem Bewusztsein der gleichen Na-
Fünftes Capitel. Die Stämme. 95
tionalität tritt zwar in den Stämmen auch die Besonder-
heit und Verschiedenheit der Stämme entgegen und
scheidet wieder, was in weiterem Kreise zusammen gehört.
Aber die nationale Sprache , welcher das Ohr aller Stämme
sich öffnet, hält das Gefühl der Volkseinheit und der Ver-
wandtschaft wach. In den Dialekten zeigt sich beides, die
Volkseinheit und die Stammesverschiedenheit. Sie verhalten
sich zur Sprache, wie die partikulären Stammesrechte zum ge-
meinen Volksrecht.
Die Stämme sind, wie die Nationen selbst, ein Erzeugnisz
der Geschichte, welche die inneren Gegensätze auch massen-
haft zur Entwicklung und Erscheinung treibt. Sie sind aber
nur Fractionen der Nationen, d. h. sie haben keinen
eigenen selbständigen National typus, sondern sind nur ein eigen-
thümlich betonter und gefärbter Ausdruck des gemeinsamen
Nationalgeistes. In dieser Weise pflanzen sie sich fort und
erhalten sowohl ihr besonderes Dasein als die innern Gegen-
sätze , welche auf die Natur der Nation einwirken. Der
Mannichfaltigkeit und dem Eeichthum des nationalen Lebens
ist die Besonderheit der Stämme günstig, der Einheit eines
gröszeren nationalen Stateß aber ist sie oft zum Hindernisz ge-
worden. Rom ist durch die innern Kämpfe seiner Parteien,
welche ursprünglich sich an Stammesunterschiede anlehnten,
stark und mächtig geworden; die Hellenen haben es wegen
der schroffen Gegensätze der Stämme nie zu einem festen Ge-
sammtstat bringen können. Auch in der neueren Statenbild-
ung Europas hat der Gegensatz der Stämme stark gewirkt.
Der mittelalterliche Zug zur Besonderheit fand darin eine reich-
liche Nahrung, der moderne Zug zur Einheit ein starkes Hemm-
nisz. Italien und Deutschland haben das erfahren. Freilich
wurden in beiden Ländern die alten Stämme früher zerrissen,
dort vornehmlich durch die selbständige Ausbildung der Städte,
hier vorzüglich durch die Sonderung der landesherrlichen Ter-
ritorien. Aber fortwährend war doch ein Stammesparticularis-
96 Zweites Buch. Volk und Land.
mus in der städtischen Eigenart wirksam und wenn auch seit
der Zerschlagung der älteren Staimnesherzogthiimer die gröszern
Territorien aus Bruchstücken von mehreren Stämmen gemischt
wurden, so hatte doch die Eifersucht und Feindschaft der
Stämme einen erheblichen Antheil an dem Verfall des deutschen
Reichs und die Gegner der deutschen Einheit klammern heute
noch an die Stammesvorurtheile an, um die nationale Entwick-
lung zu erschweren, wenn es auch nicht mehr angeht, sie zu
verhindern.
In dem Stamme ist. wie die Geschichte lehrt, auch ein
Ansatz zu einer neuen Volksbildung zu erkennen. In-
dem sich der Stamm abschlieszt und trennt von dem Volke,
dem er von Xatur angehört, kann er mit der Zeit zu einem
neuen Volke werden, leichter aber zu einem neuen freilich
meistens kleinen Statsvolke , seltener zu einer neuen Nation.
Die letztere Bildung gelingt ihm nur, wenn er sieh misch!
und in Folge der Mischung auch die Sprache verändert, wie
es dem germanischen Stamme der Longobarden in Italien ge-
schehen ist, oder wenn er mit der Zeit seinen Dialekt zu einer
besondern Sprache ausbildet, wie die Holländer es gethan haben.
Sechstes Capitel.
IV. Weitere Unterschiede. Die Kasten.
Innerhalb der Nationen, Völker und Stamme, welche alle
räumlich gesondert erscheinen, zeigen sich weitere, aber räum-
lich verbundene Unterschiede, welche wieder eine stand-
rechtliche Bedeutung haben; verschiedene feste Schichten in
dem Bau der Gesellschaft oder verschiedene Richtungen des
Gesammtlebens oder verschiedene Stufen der politischen Be-
deutung und Bildung, d. h. Kasten oder Stände oder
Classen.
Sechsteg Capitel. Weitere Unterschiede. Die Kasten. 97
Die Kastenordnung hat ihre wichtigste Anwendung
in Indien gefunden, ist aber auch in Aegypten und Persien
von Einflusz geworden. Sie gehört vorzugsweise dem alt-
asiatisch-arischen Wesen an. In Europa ist sie niemals hei-
misch geworden. Aber in Amerika hat sie in dem Gegensatze
der weiszen und der farbigen Kassen eine neue Anwendung
gefunden. Die St an de Ordnung zeigt sich unter sehr vielen
alten und neuen Völkern, ihre reichste Ausbildung aber hat
sie während des Mittelalters in Europa unter den germanischen
Völkern erhalten. Die C 1 a s s e n 0 r d n u n g endlich setzt einen
rational eingerichteten Stat voraus, wie in Asien China, und
in Europa Athen oder Rom und manche moderne Staten.
Die Kasten werden betrachtet als ein Werk der Natur,
oder als eine unveränderliche Schöpfung Gottes, die Stände
erscheinen als ein Erzeugnisz der Völkerge schichte und
des Lebensberufs, die Classen endlich sind eine Institution
des Stats. In den Kasten offenbart sich die Autorität des
Glaubens, in den Ständen die Macht des socialen Lebens,
der wirtschaftlichen und Culturverhältnisse, in den Classen
die organisatorische Stats politik. Die Kasten sind not-
wendig erblich und unveränderlich, den festen, über
einander gelagerten Schichten des Gesteins vergleichbar. Die
Stände haben ein Wachsthum, wie die Pflanzen, und eine or-
ganische Entwicklung, wie die Nationen und die Staten. Das
Erbrecht wird bei ihnen durch die freie Wahl des Berufs
geändert oder verdrängt. Die älteren Stände sind noch als
Erbstände den Kasten verwandt, die Stände der entwickelteren
Civilisation nähern sich als freie Berufsstände den Classen an.
Die Classen sind je nach den verschiedenen Zwecken des Stats
veränderlich wie künstlerische Zeichnungen.
Die indische Kastenordnung, die wir als Typus
der Kasteneinrichtung überhaupt betrachten können, wird in
dem Gesetzbuche Manu's als eine Schöpfung Brahma's dar-
gestellt. Dieser Glaube, den Plato seinem idealen Stat durch
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 7
98 Zweites Buch. Volk und Land.
künstliche Mittel einzupflanzen gewünscht hat, ist bei den In-
diern zu voller Wirksamkeit gelangt.
Die oberste Kaste der Brahmanen, in welcher das
arische Blut am reinsten, obwohl auch da nicht völlig unver-
mischt mit andern Bestandtheilen erhalten blieb, ging nach
dem indischen Mythus aus dem Munde Gottes hervor. Sie
sind daher auch gleichsam das lebendige Wort Gottes, der
reinste und vollste Ausdruck des göttlichen Wesens. Ihnen
gebührt die Pflege der Wissenschaft und der Eeligion. Ihrer
Kunde und Sorge ist vornehmlich das Kecht anvertraut. Der
geringste Brahmane ist als solcher höher zu achten als der
König. Sie sind vorzugsweise von göttlicher Natur, und wenn
ihnen auch nicht untersagt ist, sich mit weltlichen Aemtern
zu befassen und in irdische Geschäfte sich zu mischen, so
erhöht doch die Enthaltsamkeit von jedem materiellen Genusz
ihre Reinheit. 1 Wer einen Brahmanen mit einem Grashalm
schlägt, verfällt der Yerdammnisz der Hölle.
Die zweite Kaste, die Kshat^as, aus denen der König
hervorgeht, sind von dem Arme Gottes geschaffen. In Ihnen
ist die Kraft und die äuszere Macht verleiblicht. Sie sind
die geborne Krieger- und Adelskaste. Handel zu treiben sind
sie zwar nicht verhindert, aber die Waffenübung ist doch ihrer
würdiger.
Die dritte Kaste, die Visas oder Vais}^as, sind aus den
Schenkeln Gottes geboren. Ihnen kommen die edlern bürger-
lichen Gewerbe zu. Sie sind berufen, Viehzucht, Ackerbau
und Handel zu betreiben.
Die vierte dunkelste Kaste endlich, die Sudras, stam-
men aus den Füszen Gottes. Sie sind die dienende Bevöl-
kerung. Den materiellen Bedürfnissen des Lebens geweiht,
sind sie nicht würdig die heiligen Bücher zu lesen.
1 Gesetze Manu 's II. 162. (herausg. v. A, Loiseleur Deslongschamp3.
Paris 1833): „Ein Brahmane soll weltliche Ehre wie Gift scheuen und
sich nach Verachtung der Menschen sehnen wie nach Ambrosia."
Sechstes Capitel. Weitere Unterschiede. Die Kasten. 99
Die höhere Ehe setzt Ebenbürtigkeit der Ehegatten vor-
aus; indessen kann ein Mann von höherer Kaste wohl eine
Frau aus einer niedern heirathen, nicht aber umgekehrt die
höhere Frau den niedrigeren Mann. Aus den zahlreichen
Miszheirathen sind denn aber im Laufe der Zeit arge Misz-
stände und neue wieder erbliche Miszkasten der Verworfenen
und Ausgestoszenen erwachsen. Der Uebergang eines Indivi-
duums aus einer Kaste in die andere ist nur in äuszerst sel-
tenen Fällen möglich, die starre Abgeschlossenheit durchaus
die Kegel. Sogar nach dem Tode wirkt die Kastenordnung
fort. Sie beherrscht ebenso das zukünftige Leben wie die
Gegenwart, und nur mit viel tausendjähriger Anstrengung
kann es in seltensten Fällen sogar einem Kshatrij^a gelingen,
bis auf die göttlichste Stufe des Brahmanenthums sich empor-
zuschwingen. Jeder Fehltritt aber stürzt leicht aus der Höhe
in die Tiefe und dann ist die Wiedererhebung unsäglich schwer.
Wir wissen nun, dasz jener Glaube der Indier auf Irr-
thum beruht und dasz diese Kastenbildung groszentheils ein
Werk menschlicher Geschichte ist. In den Veden noch ist
die Erinnerung an eine ältere Periode erhalten, in der es wohl
arische Stände, aber noch nicht indische Kasten gegeben hatte.
Nur der Gegensatz der drei oberen Kasten, die sämmtlich
Arier heiszen, zu den Sudras läszt sich auf einen ursprüng-
lichen Kassengegensatz zweier Völkermassen zurück führen,
indem die weiszen Arier als Sieger das Land der dunkelfarbigen
Sudras eingenommen und sich da als Herren derselben nieder-
gelassen haben, ähnlich wie die weiszen europäischen Colonisten
unter der rothen Urbevölkerung in Amerika. Der alte Name
der Kaste „Varna" bedeutet Farbe und beurkundet so den
ursprünglichen Gegensatz der Weiszen und der Farbigen. Je
höher die Kaste, desto reiner erscheint die weisze Kasse, je
tiefer, desto mehr ist sie gemischt mit dem Blut der ursprüng-
lich schwarzen Kasse.2 Die beiden obern Kasten erheben sich
8 Vgl. über die Geschichte und das "Wesen der indischen Kasten
LofC 7*
100 Zweites Buch. Volk und Land.
über die dritte, wie die Aristokratie bei fast allen arischen
Völkern über den Demos. Die zuletzt entstandene Erhebung
der Brahmanen endlich über die Eitter- und Adelskaste, und
sogar über die Könige erklärt sich meines Erachtens nur aus
der neuen pantheistischen Brahmareligion, welche die alte Ke-
ligion der mancherlei Naturgötter geistig überwand, aus dem
gesteigerten Gottesbewusztsein der brahmanischen Priester,
Weisen und Heiligen, und aus der Energie und Hingebung,
mit welcher sie ihrem göttlichen Beruf in allen Gefahren treu
blieben und den Königen die irdische Herrlichkeit willig über-
lieszen. 3
Die Kastenordnung ist also nur nach und nach aus ge-
schichtlichen Kämpfen und Erlebnissen entstanden. Aber dann
bekam sie den festen Ausdruck der unveränderlichen Noth-
wendigkeit und die religiöse Weihe der Heiligkeit. Sie wurde
so sorgfältig durch die ganze Erziehung der heranwachsenden
Jugend, durch die festbestimmten religiösen Pflichten, durch
alle Einrichtungen des privaten wie des öffentlichen Lebens
gepflegt, dasz Niemand mehr eine Abweichung für möglich
hielt und die starre Ordnung durch die Jahrhunderte von Ge-
schlecht zu Geschlecht überliefert wurde.
Die Kastenordnung ist nicht eine Einrichtung des Stats,
nicht ein Bestandteil der Statsverfassung. Vielmehr ist der
Stat in die Kastenordnung eingefügt und derselben
untergeordnet. Sie ist eine allgemeine, alle Verhältnisse
beherrschende, in Ewigkeit wirkende Weltordnung. Um
deszwillen ist die höhere Statenbildung so lange unmöglich,
als der Stat der Kastenordnung zu dienen gezwungen ist. Er
kann sich nicht frei dem eigenen Lebensprincip gemäsz ent-
Lassen Indische Alterthumskunde I. S. 801 ff., Gobineau de Tinegalite
des races humaines II. S. 135, Benfey Act. Indien in dem "Wörterbuch
yon Guttrie u. Grey, M. Duncker Geschichte d. Alterthums II. S. 12 f.
3 Ich habe diese Ansicht näher begründet in der Schrift: Die Alt-
asiatischen Gottes- und Weltideen, S. 29 f.
Sechstes Capitel. Weitere Unterschiede. Die Kasten. 101
wickeln. Wie soll sich die politische Idee verwirklichen, wenn
ihr starre, unveränderliche Massen, die ein höheres Gesetz
scheidet und gefangen hält, widerstreben. Was hat die Stats-
autorität zu bedeuten, und wie können die statlichen Nöthigungs-
mittel wirken, wenn ihnen der Glaube der Eegierten entgegen
steht, dasz der Gehorsam gegen die Statsgewalt auf Tausende
von Jahren Unglück und Leiden über den Folgsamen bringt?
Wohl gebührt dem Erbrecht im State eine hohe Be-
deutung. Es bewahrt den innern Zusammenhang zwischen
der Vergangenheit und der Zukunft, es befestigt die Stätig-
keit — gleichsam den Knochenbau — des über das Leben
der einzelnen Menschen hinausreichenden Statskörpers. Aber
wo es absolut und ausschlieszlich das öffentliche Recht be-
herrscht, da werden die beszten Kräfte gebunden und gelähmt.
Der Stat wird zuletzt zur Mumie, welche die Züge des ver-
gangenen Lebens künstlich zu erhalten sucht, aber nicht den
Ausdruck des Todes verbergen kann.
Die Kastenordnung verhärtet und potenzirt die Unter-
schiede unter den Volksschichten. Eher noch können sich
in ihr die oberen aristokratischen K sten befriedigt fühlen,
welche sie mit erblichen Vorrechten reichlich ausstattet. Um
so härter drückt sie die mittleren und untersten Schichten.
Sie brandmarkt die Zurücksetzung und Erniedrigung derselben
mit dem Mal der Verachtung und läszt dem Einzelnen keine
Hoffnung, aus den Banden frei zu werden, in denen sie ihn
gefangen hält. Sie steigert die Autorität der obern und sie
zerstört die Freiheit der untern Classen. Eine relative Voll-
kommenheit der einzelnen Berufszweige, selbst eine bewun-
dernswürdige Geistesthätigkeit der obersten Kreise ist mit ihr
wohl verträglich. Aber indem sie die Blutsüberlieferung und
die rassenmäszige Tradition zum obersten Gesetze macht, ver-
neint sie alle individuelle Freiheit, welche über die ererbten
Schranken hinausstrebt. Sie hat religiöse Einsiedler, grosze
Philosophen, ausgezeichnete Dichter, tapfere und groszherzige
\02 Zweites Buch. Yolk und Land.
Helden, treffliche Väter und Söhne, geschickte Arbeiter her-
vorgebracht, aber niemals grosze Statsmänner, und nirgends
hat sie freie Völker geduldet.
Alle ihre Institutionen sind auf die Erhaltung der
Lebensordnung berechnet, keine haben den Fortschritt des
Lebens zum Zwecke. Die Euhe ist ihr Ideal, die Bewegung
ihre Gefahr. Das Leben in ihr ist nur Wiederholung, nichts
Neues, ein Kad, das sich ewig in gleicher Weise und an der-
selben Stelle um dieselbe Achse dreht. Das Leben selbst hat
so wenig Werth; und wir begreifen es, wie zuletzt die bud-
dhistische Sehnsucht nach der Endigung dieses ewigen Einer-
leis, die Lehre von der Selbstauflösung in das Nichts, als der
wahren Befreiung aufkommen und zahlreiche Anhänger finden
konnte. Die indische Civilisation ist die Blüthe und die Frucht
der indischen Kastenordnung. Aber so fest diese begründet
war, sie vermochte jene Civilisation doch nicht auf die Dauer
vor dem innern Verfall zu bewahren, und die indische Selb-
ständigkeit nicht vor feindlicher Eroberung und Unterwerfung
zu schützen.
Der heutige indische Stat erträgt die noch vorhandenen
Beste der Kastenordnung nur wie ein ererbtes Leiden ; er setzt
dieselbe nicht mehr als die wahre Weltordnung voraus und
erbaut, von dem englischen Geiste bestimmt, seine Einrich-
tungen auf ein anderes Fundament.
Siebentes Capitel.
V. Die Stände.
Ueberall unter den europäischen Völkern finden wir statt
der Kasten Stände. Wie jene sind auch diese eine organische
Gliederung und Ordnung der verschiedenen Bestandtheile eines
Volkes. Aber die Stände unterscheiden sich von den Kasten
Siebentes Capitel. Die Stände. 103
dadurch, dasz sie sich der Bewegung der Geschichte hingeben
und eine Entwicklung haben. In Europa vorzüglich sinj die
Kasten zu Ständen geworden und haben eine reiche Geschichte
und mannichfaltige Gestaltungen und Umwandlungen erlebt.
Die älteste Form der Stände erinnert noch sehr an die
Kasten. In der ersten Zeit waren die Stände noch regelmäszig
Erbstände, und die Eigenschaften, welche den Ständen zu-
geschrieben wurden, deuten auf eine innere Verwandtschaft mit
dem indischen Kastensysteme. Selbst die mythischen Vorstell-
ungen von der göttlichen Erzeugung der Stände sind ganz
ähnlich. Nach der Edda erzeugte der Gott Rigr auf seinen
Wanderungen zuerst den Thräl, den Stammvater der dienen-
den Bevölkerung, dann in besserem Hause den Freien Karl,
den Stammvater der freien Bauern, zuletzt den Edeln Jarl,
den er die Spiesze werfen und die Lanzen schwingen lehrte
und dem er das heilige Geheimnisz der Runen vertraute. Auch
diese Stände waren in Farbe und Körperbau verschieden, am
glänzendsten weisz, mit hellem Haar und leuchtenden Wangen
die Edeln, von häszlichem Gesicht und knotigen Gelenken die
Knechte.
1. Mit der Kaste der Brahmanen läszt sich der gallische
Stand der Druiden, welchen ebenfalls das Priesterthum, die
Wissenschaft und die Rechtskunde zukommt, vergleichen, ! ob-
wohl auch sie, mehr aber noch die vorchristlichen Priester der
Germanen — ihr Name Godi ist ebenso von Gott abgeleitet,
wie die Bezeichnung der Brahmanen von Brahma — mit dem
nationalen Geschlechtsadel näher verwandt bleiben» Eine gröszere
Aehnlichkeit mit der Brahmanenkaste hat die mittelalterliche
Erhebung eines besondern christlichen Priesterstandes,
des Klerus.
1 Caesar de Bello Gall. VI, 13: „Uli rebus divinis intersunt, sacri-
ficia publica ac privata procurant, religiones interpretantur. Ad hos
magnus adolescentium numerus disciplinae causa concurrit, magnoque ii
sunt a*pud eos honore. Nam fere de omnibus controversiis publicis pri-
vatisque constituunt."
104 Zweites Buch. Yolk und Land.
2. Der alte Adel aber, den wir in der frühesten Geschichte
überall in Europa finden, ist durchgehends Erbadel und hat
gewöhnlich die wichtigsten Functionen der beiden obersten
Kasten in sich vereinigt. Die Erblichkeit des Uradels wird
gewöhnlich schon durch die Sprache bezeugt. Die griechischen
Eupatriden und die römischen Patricier sind schon um
ihrer Abstammung willen von edeln Vätern so benannt, die
germanischen Adalinge haben ihren Namen von dem Ge-
schlechte (adal) , von dem sie ihr Blut erbten. 2 Auch die
Lucumonen der Etrurier und die gallischen Eitter waren
Erbadel. Die obersten Adelsgeschlechter, die fürstlichen Fami-
lien suchte die alte Sage überdem mit besonderer Vorliebe von
unmittelbarer Erzeugung der Götter oder der Heroen abzuleiten
und durch die Annahme göttlichen Blutes zu ehren. Diesem
Uradel kommt gewöhnlich das Priesterthum und die Wissen-
schaft von den göttlichen Dingen, ihm auch die Kunde und
Pflege des Eechtes zu. Die höhern obrigkeitlichen Aemter
werden aus ihm vorzugsweise bestellt: und in der Kriegsver-
fassung nehmen die Edeln durchweg einen hohen Kang ein.
Dagegen sind ihnen die bürgerlichen Gewerbe meistens ver-
schlossen. Gewöhnlich haben sie hörige Leute in ihrem Schutze
und in ihrem Dienste, und sind auch im Privatrecht durch
ihre Gutsherrschaft ausgezeichnet. Sie lieben es auf Bergen
zu wohnen, und suchen auch in den Städten die Höhen aus.
Diese charakteristischen Züge finden sich mit geringen
Abweichungen in der historischen Jugendzeit der europäischen
Völker wieder. Je weiter wir in die Vorzeit hinauf steigen,
desto ähnlicher erscheint diese religiös-politische Institution.
3. Die Gemeinfreien bilden bei Griechen, Römern und
Germanen den eigentlichen Kern des Demos und des Volkes.
Ihnen gebührt das Volks- und Landrecht in vollem Masze.
Auf ihnen vornehmlich beruht die Kraft des States. Der Adel
2 Sehr gut darüber Schmitt henner Statsrecht. S. 31. u. 103.
Siebentes CapiteL Die Stände. 105
hebt sich über sie empor, aber nicht wie die höhere indische
Kaste über die niedere als ein grundverschiedenes Wesen, son-
dern als ein wesentlich in demselben Volksrechte wurzelnder
und mit den Freien verbundener, wenn auch hervorragender
und ausgezeichneter Stand.
Die Gemeinfreien sind in der ältesten Zeit regelmäszig
Grundeigentümer und Ackerbauer. Als solche zeigen sich
die Geomoren in der athenischen Verfassung zu Theseus
Zeit, die gewöhnlichen Spart iaten, die römischen Plebejer,
die Freien aller germanischen Stämme, bei denen freie Ge-
burt und freies Gut einer besondern Achtung in dem Rechts-
organismus genieszen. Auch mit dem Handel, obwohl anfangs
weniger gerne, beschäftigen sich die Freien. Ihre Lebensweise
ist somit der der Visas wohl zu vergleichen. Aber durch die
Waffenfähigkeit — sie voraus bilden die Massen des Fuszvolks
— werden sie in öffentlicher Ehre höher als diese gehoben,
und in der Gemeinde üben sie auch je nach der besondern
Verfassung politische Eechte aus.
Als Freie sind sie zwar der Obrigkeit unterthan, aber
nicht einem besondern Herrn zugehörig. Schutzherrschaft
kommt ihnen anfangs wohl nicht zu, aber Eigene können sie
besitzen. Auch ihr Stand ist ein Erbstand. In der Eegel wird
man als Freier (ingenuus) geboren.
4. Endlich werden wir mancherlei Spuren eines freilich
schon in diesen ersten Zeiten offenbar in der Auflösung be-
griffenen und daher etwas räthselhaften Standes von hörigen
Leuten gewahr, welchem wie den indischen Sudras die niedern
Handthierungen des Lebens zukommen. Zuweilen besteht er
ebenfalls aus unterworfenen Landbewohnern, aber durchweg nur
von derselben Rasse , wie die Sieger , zuweilen kommen die
armen Leute durch spätem Herrendruck und wirtschaftliche
Verschuldung in die dauernde Abhängigkeit. Dahin gehören
die Pelaten und Theten in Griechenland, die dienten
der Römer, der Gallier, der Britten, dieLiten der Germanen.
106 Zweites Buch. Volk und Land.
Sie haben einen Mund- und Schutzherrn, bei den Griechen
Prostates, bei den Eömern P a t r o n u s genannt. Sie gehören
zum Volke und sind nicht den Eigenen gleich zu stellen ; aber
ihre Freiheit, ihre Kechte, der Werth, der ihnen beigemessen
wird, sind geringer als die des ächten Freien. Von ihnen
werden auch vornehmlich die Handwerke betrieben. Frei-
gelassene Knechte gelangen meist in ihren Stand.
Die Geschichte dieser Stände ist mit der Geschichte der
einzelnen Staten aufs engste verwoben: die Veränderungen und
Umwälzungen in den Verfassungen sind sehr häufig nur die
Wirkung und der Ausdruck der vorher oft wenig bemerkten
innern Umgestaltung der ständischen Verhältnisse und Begriffe.
Aber fast überall haben sich die Erbstände später in Berufs-
stände verwandelt. Einige der politisch wichtigsten und
interessantesten Momente sind im einzelnen hervorzuheben.
Achtes Capitel.
I. Der Klerus.
Unter den mittelalterlichen Ständen nahm der Klerus
die oberste Stellung ein. Nach der strengen kirchlichen Lehre
freilich war der Klerus überhaupt kein Volksstand. Er war
ein ordo ecclesiasticus, nicht ein ordo civilis. Der Stat wurde
als eine blosze Laienordnung betrachtet ? über welche die
Gott geweihte Priesterschaft erhaben war. Nicht wie die
Brahmanen beriefen sich die christlichen Priester auf ihre be-
sondere göttliche Abstammung, denn sie pflanzten nicht durch
die Ehe ihren Stand fort, wohl aber auf eine göttliche In-
stitution. Sie sind von dem heiligen Geist erfüllt und durch
die Weihen der Kirche geheiligt. Der niedrigste und sogar
der verdorbenste Kleriker steht dennoch in Folge seines Standes
hoch über dem vornehmsten und selbst dem tugendhaftesten
Achtes Capitel. Der Klerus. 107
Laien, wie das Gold über dem Eisen, wie der Geist über
dem Leib.
Die Ideale des Klerus waren den Idealen des Brahmanen-
thums nahe verwandt. Nur verzichtete der christliche Klerus
nicht auf die Herrschaft im State, wie die Brahmanen es ge-
than hatten, und war weniger als diese geneigt, sich der Stats-
ordnung zu fügen. Nach der consequenten Lehre der mittel-
alterlichen Kirche haben die Statsge setze für die Geistlich-
keit keine verbindliche Kraft ; es hängt von ihrer Prüfung und
ihrem Urtheil ab, zu bestimmen, ob und in welchem Umfang
sie denselben willfährig gehorche. Sobald die behaupteten
geistlichen Vorzugsrechte oder die Interessen der Kirche ge-
fährdet erschienen, so verweigerte der Klerus jede Folge, ge-
stützt auf das Bibelwort, dasz man „Gott mehr als den Men-
schen gehorchen müsse", und auf seine geistliche Erhabenheit,
dagegen verlangte er von der weltlichen Obrigkeit , dasz sie
ohne Widerrede den Kirchengesetzen folge und mit ihrer Macht
dieselben durchführe.
Auch der weltlichen Gerichtsbarkeit entzog sich
der christliche Klerus , sowohl in bürgerlichen Streitigkeiten
als im Strafrecht. Die klerikalen Ansprüche ertragen nicht die
Ueberordnung der weltlichen Kichter, ,,der Schafe über die
Hirten". Zum Kriegsdienste waren die Geistlichen nicht pflich-
tig, weil zu ihrem religiösen Beruf die eisernen Waffen nicht
paszten. Aber auch die Steuerpflicht lehnten sie von sich ab.
Bei jeder Gelegenheit beriefen sie sich auf ihre Immunitäten,
um jede statliche Last von sich abzuwälzen. Als römische
Geistlichkeit verachteten sie die nationale Beschränktheit. Ihr
Bürgerrecht gehörte keinem besonderen Volke, keinem bestimm-
ten Lande an, es bestand für sie nur der universelle Verband
mit der Christenheit und mit Kom, der Hauptstadt der Welt,
dem Sitz der Papste. Das kanonische Kecht war das
Gesetz ihres Lebens, nur der Gerichtsbarkeit der Kirche
mit ihren milden Censuren wollten sie Kechenschaft schulden.
108 Zweites Buch. Yolk und Land.
Indessen diese Ausscheidung des Klerus aus dem Stats-
verband war nicht einmal in der Zeit seiner höchsten Macht
durchzuführen. Theils standen ihr geschichtliche Hindernisse
im Wege, theils waren damit die Interessen selbst der Geist-
lichen nicht völlig zu vereinigen.
Geschichtlich war die christliche Kirche mit ihrem Klerus
innerhalb des alten, alle Verhältnisse gemeinsam beherr-
schenden römischen "Weltreichs entstanden und grosz ge-
worden, und die römischen Statsgewalten verzichteten nicht
auf ihre Autorität. Sie verlangten von allen Bewohnern des
heiligen Keichs Gehorsam gegen die Gesetze, die kaiserliche
Eegierung und die kaiserlichen Gerichte. Die Kleriker konnten
sich höchstens von den Kaisern einzelne Privilegien erwerben.
Ihre Unterthänigkeit war zweifellos.
Auch die fränkische Monarchie hielt noch fest an der
Unterordnung der Bischöfe und Priester unter die Hoheit des
Königs, die Eeichsgesetze und die Keichsgerichte , obwohl die
Statsmacht beschränkter und die Selbständigkeit der Kirche
gröszer geworden war. Nur ganz allmählich breiteten sich
unter den germanischen Fürsten die kirchlichen Immunitäten
aus, anfangs eher aus frommer Gunst und Gnade der Könige,
als kraft des anerkannten Kirchenrechts, das nun anfing, die
eigene Autorität in stolzem Aufschwung zu erheben. Nur
Schritt vor Schritt und nicht ohne Widerspruch und Wider-
stand wurden die kirchlichen Bechte erweitert, nicht allent-
halben in gleicher Ausdehnung.
Aber auch die Interessen verbanden den Klerus aufs engste
mit der Laienordnung und dem Stat. Das Oberhaupt der
Kirche selbst, der römische Papst, erwarb während des
Mittelalters eine statliche Herrschaft über das sogenannte Patri-
monium Petri. Es entstand zum Theil durch königliche Ver-
leihung zum Theil durch Vergabung anderer Fürsten, theil-
weise sogar durch Eroberung ein von Geistlichen regierter
Kirchenstat. Die höchste geistliche Autorität war daher in
Achtes Capitel. Der Klerus. 109
Eom und dem römischen Gebiet mit der weltlichen Souverä-
netät verbunden. Die Päpste waren nicht blosz als oberste
Bischöfe berufen, die Interessen der Kirche auch dem Kaiser
und den Staten gegenüber zu vertreten, sondern zugleich als
vornehmste italiänische Fürsten in die Interessen der italiäni-
schen Politik tief verflochten. Es war das freilich, nach dem
Urtheile Machiovellis, das Unglück Italiens. Nicht mächtig
genug, Italien unter ihrer Statshoheit zu einigen, waren sie stark
genug, die Spaltungen der Parteien zu unterhalten. Sie ver-
mochten nicht, Italien vor dem Einbruch feindlicher Heere zu
schützen, aber sie waren immer bereit, fremde Mächte zu ihrem
Schutze herbei zu rufen, wenn ihre Politik dieser Hilfe be-
durfte. Sie erhoben Kom wieder zur vornehmsten Stadt der
Christenheit und schmückten Eom mit Kirchen und Kunst-
werken, aber die begabten Kömer blieben unter ihrer kirch-
lichen Regierung und Zucht in weltlichen Tugenden und Vor-
zügen hinter den Bürgern der italiänischen Kepubliken zurück.
Der Kirchenstat ward nicht zum Vorbilde, sondern zum Zerr-
bilde der civilisirten Statenbildung. Die moderne Welt weisz
nun, dasz das geistliche Kegiment untauglich ist für die ge-
sunde Statsleitung und die Kömer selber hoffen nur von der
Säcularisation des Kirchenstats Verbesserung ihrer politisch
verkommenen Zustände.
Nächst Italien hat Deutschland voraus die politische
Macht der geistlichen Fürsten erhoben. Schon in der fränki-
schen Monarchie nahmen die Bischöfe eine hervorragende
Stellung ein auf den fränkischen Reichstagen, bald in Gemein-
schaft mit den weltlichen Groszen, insbesondere den Gaugrafen,
als Versammlung der Majores oder Senior es, bald ohne
diese in kirchlichen Versammlungen.
Die Mischung mit weltlicher Macht und Würde trat aber
nirgends entschiedener zu Tage, als in der Verfassung des
deutschen Keichs. Da finden wir unter den sieben Kur-
fürsten drei geistliche, die Erzbischöfe von Mainz, Cöln
110 Zweites Buch. Volk und Land.
und Trier, und bei den Königswahlen geht der Kurfürst von
Mainz als Erzkanzler für Deutschland voraus mit seiner Stimme.
In dem Kurcollegium nehmen sie die ersten Plätze ein. Zu-
gleich sind sie Landesfürsten und ihre Länder als Kurländer
erlangen am frühesten beinahe souveräne Selbständigkeit.
Daneben gibt es eine grosze Anzahl von Erzbischöfen,
Bischöfen und Aebten, welche in einem bestimmten Ge-
biete die Kechte der Landeshoheit erworben haben und auf den
Keichstagen Sitz und Stimme haben, entweder als wirkliche
Keichsfürsten eine Virilstimme, wie z. B. die Erzbischöfe
von Bremen, Magdeburg und Salzburg, die Bischöfe von Würz-
burg, Augsburg, Basel u. s. f. oder doch an einer Curiatstimme
einen Antheil haben, indem sie auf den sogenannten Prälaten-
bänken, die hinwieder den Grafenbänken entsprechen, zu-
sammensitzen. In der Heerschildsordnung der Kechtsbücher
nehmen die geistlichen Fürsten den nächsten Kang nach dem
Könige ein, dem der erste Heerschild zukommt. Die welt-
lichen Fürsten, obwohl in der Keichsverfassung jenen wesent-
lich gleichgestellt, haben erst den dritten Heerschild, weil sie
unbedenklich Vasallen jener werden, aber es nicht schicklich
wäre, dasz der geistliche Fürst zum Vasallen des weltlichen
Fürsten würde. Vergeblich wurde in dem groszen Investitur-
Streit zwischen den Päpsten und den sächsischen Kaisern der
Vorschlag gemacht, die Kirchenfürsten sollten auf das welt-
liche Fürstenthum verzichten und nur der Kirche ihr Leben
widmen. Die deutschen geistlichen Fürsten wiesen diese Zu-
muthung selbst des Papstes mit Unwillen zurück. Damit aber
war auch in Deutschland die Verbindung der geistlichen
Aemter mit den statlichen Aemtern und politischen Interessen
gegeben. Es war unmöglich, den herrschenden Klerus auszer-
halb des States zu stellen, wenn er im State weltliche Herr-
schaft üben wollte.
Wie in der Eeichsverfassung so war es auch in der Landes-
verfassung. Auch da bildeten die dem Lande angehörigen
Achtes Capitel, Der Klerus. 111
Prälaten (Bischöfe, Aebte, Stiftspröpste, geistliche Ordens-
meister) einen besonderen zu den Landtagen berechtigten Stand,
sei es indem sie eine eigene Prälatencurie besetzten oder ge-
meinsam mit dem Adel (Herren und Kitterschaft) tagten, und
besaszen auf ihren Grundherrschaften eine mehr oder weniger
ausgedehnte Gerichtsbarkeit. Die grundherrliche Stellung war
regelmäszig die Grundlage ihrer landständischen Kechte. Wenn
sie daher auch ihre persönliche Freiheit von Kriegspflicht und
Steuer behaupten konnten, für ihre Ministerialen und bäuer-
lichen Hintersassen, welche durchweg Laien waren, konnten sie
doch nicht dieselben Ansprüche erheben. Das Land bedurfte
ihrer Steuern, und der Landesfürst als Lehensherr verlangte
auch von ihnen die Stellung von reisigen Keitern.
Ein Vorzug der geistlichen Aristokratie vor der weltlichen
war es, dasz sie nicht an das ererbte Geblüt gebunden war,
sondern auf individueller Bildung und Wahl beruhte. Der
Sohn eines Handwerkers konnte Papst, der Sohn eines Bauern
Erzbischof werden. '
Mit der Zeit aber wurde der klerikale Vorrang und die
aristokratische Macht der geistlichen Fürsten und Prälaten er-
schüttert und zu Fall gebracht. Einen furchtbaren Stosz erlitt
die verweltlichte Kirche durch die deutsche Kirchenreformation
des sechszehnten Jahrhunderts. Soweit der Protestantismus
sich ausbreitete, wurden die geistlichen Fürstenthümer säcula-
risirt, die bischöflichen Aemter beseitigt, die Klöster aufge-
hoben, die geistlichen Orden aufgelöst. Vor der Eeformation
saszen auf den deutschen Keichstagen drei geistliche Kurfürsten,
drei andere Erzbischöfe und einunddreiszig Bischöfe. Nach dem
westphälischen Frieden ist dre Zahl vermindert auf drei Kur-
1 Papst Gregor VII., selber der Sohn eines Zimmermanns, hat das
Princip klar ausgesprochen: „Rom ist grosz geworden unter den Heiden
und unter den Christen, quod non tarn generis aut patriae nobilitatem,
quam animi ex corporis virtutes perpendendas adjudicaverit. " Ygl,
Laurent £tud. sur l'hist. VII. S. 335.
112 Zweites Buch. Volk und Land.
fürsten, einen Erzbischof (Salzburg) und zwanzig Bischöfe. Es
gibt nur noch eine schwäbische und eine rheinische Prälaten-
bank. Der ganze Norden und ein guter Theil des Südens hat
sich der geistlichen Herrschaft entwunden.
Die Säcularisation war aber auch in den katholisch ge-
bliebenen Ländern nur vertagt, nicht beseitigt, Den zweiten
Stosz der Revolutionskämpfe zu Anfang unsers Jahrhunderts
hielt die geistliche Herrschaft nirgends in Deutschland aus.
Auch die linksrheinischen Kurfürsten wurden von dem Sturme
weggeblasen und ihre Länder dem französischen State ein-
verleibt. Die Länder der übrigen geistlichen Fürsten wurden
zur Entschädigung verwendet für weltliche Dynastien und mit
deren Ländern verbunden. Mit dem Untergang des Eeichs ver-
loren die geistlichen Herren ihre reichsständische Stellung und
die Prälaten konnten nur in einzelnen Ländern eine unsichere
Stellung in den verkommenen Landständen behaupten. Die
bischöfliche Würde wurde nun seit vielen Jahrhunderten zuerst
wieder ein rein -kirchlich es Amt, ohne statliche Macht.
Die grundherrliche Gerichtsbarkeit ging rasch ebenso ihrem
Untergang zu, wie vorher die geistliche Landeshoheit.
Aber indem der katholische Klerus so seine weltliche
Hoheit und Macht einbüszte, konnte er nicht etwa nun das
Ideal des Mittelalters realisiren. Das Selbstgefühl des modernen
Stats duldete keine Ueberordnung mehr der Geistlichen über
die Laien, und verlangte nun umgekehrt Gehorsam gegen die
Gesetze, und die verfassungsmäszigen Statsgewalten von Jeder-
mann. Die Zeit der kirchlichen Immunitäten und des kirch-
lichen Sonderrechts war ebenfalls vorüber. Das gleiche Landes-
recht erstreckte sich ohne Unterschied über Geistliche und
Laien. Sie alle wurden derselben Gerichtsbarkeit unterworfen.
Eine ähnliche Entwicklung nahm der Klerus in England
und in Frankreich. In diesen Ländern hatte die Geistlich-
keit niemals eine in dem Grade landesherrliche Stellung er-
worben , wie in Deutschland. Das weltliche Statsgefühl war
Neuntes Capitel. Der Adel. A. Der römische Adel. H3
auch der Geistlichkeit gegenüber in dem englischen Parlamente
und in dem französischen Königthum stärker vertreten. Aber
eine reichsständische Stellung hatte der Klerus in beiden Län-
dern ; in England saszen die Bischöfe mit den weltlichen Lords
zusammen im Oberhaus ; in Frankreich bildete der Klerus einen
besondern, den ersten Reichsstand. Dort wirkte die Reforma-
tion, hier die Revolution entscheidend auf die Rechte des
Klerus ein. Die mittelalterlichen Immunitäten verschwanden
vor der gemeinen und gleichen Rechtspflicht. Als die von
Ludwig XYI. berufenen Etats generaux 1789 in Paris zu-
sammentraten, da gab der Klerus seine Sonderstellung freiwillig
auf und trat noch vor dem Adel in die allgemeine National-
versammlung ein, welche nur ein freies Bürgerthum, aber nicht
mehr die mittelalterlichen Stände repräsentirte.
Damit aber war der mittelalterliche Stand des
Klerus überall aufgelöst. Die grosze Scheidung des
Klerus und der Laien hatte ihre Wirksamkeit verloren. Der
Stat erkannte sie für seine Rechtsordnung nicht mehr an. Die
Masse der Geistlichen ging in die groszen Bürgerclassen
über, die wenigen hohen Würdenträger der Kirche vermischten
sich mit der weltlichen Aristokratie.
Neuntes Capitel.
II. Der Adel.
A. Der römische Adel.
In Griechenland verlor der Adel frühe seine politische
Bedeutung. In den kleinen Statsverhältnissen, die sich selten
über die Interessen einer Stadt und ihrer Umgebung erstreck-
ten, fand er nicht Raum genug um seine Wurzeln auszubreiten.
Die feine Bildung, die den Bürgern gemeinsam war, und die
reiche Blüthe des individuellen Geistes in Kunst und Wissen-
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 8
1X4 Zweites Buch. Volk und Land.
schaft, wodurch sich. die Hellenen auszeichneten, gaben ihnen
wohl das Gefühl einer adeligen Nation im Verhältnis^ zu den
Barbaren, lieszen aber einen höher berechtigten Geschlechts-
adel in ihrer Mitte nicht bestehen. Nicht allein in den Demo-
kratien, sondern selbst in den griechischen Oligarchien büszten
die edeln Geschlechter ihre hergebrachten Hechte ein, bevor
dieselben zur vollen Blüthe gelangten. Aber viel groszartiger
und dauernder ist die Geschichte des römischen Adels. Der
aristokratische Charakter ist den Kömern von Anfang an tief
eingeprägt, und so lange es eine römische Macht gab, erhielt
er sich, obwohl er in verschiedenen Zeiten verschiedene For-
men annahm.
Die Bedeutung des alten erblichen Patriciates war voraus
eine politische. Schon seine Entstehung wird an die poli-
tische Institution des Senats angeknüpft, die patricii gelten als
die Nachkommen der ersten patres. l Die Jahrhunderte lang
fortgesetzten Kämpfe der Patricier mit der Plebes bezogen
sich wieder vornehmlich auf politische Kechte. In dem Privat-
rechte dagegen war der Gegensatz der beiden Stände wenig
erheblich. Schritt für Schritt muszte die durch stäte frische
Zuflüsse anwachsende Plebes mit den alten Geschlechtern um
Gewährung höherer politischer Kechte ringen. Nachdem das
Königthum durch eine aristokratische Revolution beseitigt wor-
den war, hatte die zu groszem Theile aus besiegten Stämmen
nach Kom verpflanzte Plebes ihren natürlichen Schutzherrn
verloren. Das herrschende Patriciat aber war nicht geneigt,
sich mit den Plebejern in die Herrschaft der Kepublik zu
theilen. Nur wenn durch ernste Kämpfe die Macht und der
feste Entschlusz auch der Plebes bewährt worden war, und
nur so weit die dringenden Bedürfnisse des States ein Nach-
1 Vgl. Rubino, Untersuchungen über röm. Statsverfassung S. "185.
Die ersten Senatoren werden freilich selber schon Fürsten genannt.
Cicero de Rep. II. 8. „In regium consilium delegerat principes, qui
appellati sunt patres,"
Neuntes Capitel. Der Adel. A. Der römische Adel. H5
geben erforderten, lieszen sich die Patricier bestimmen, die
reife Frucht der Zeit den Plebejern zuzugestehen. Eines nach
dem andern erlangten endlich diese, eine eigene Organisation
in den Tributcomitien und besondere Vertreter in den Tri-
bunen, die Aufnahme vornehmer Plebejer in den Senat, die
Befähigung dann auch zu den Statswürden, die Theilnahme an
der obersten Gewalt der Magistrate (die consularische Gewalt
311, das Consulat 384, die anfangs den Patriciern vorbehaltene
Prätur, bald nachher die Censur 412) und mittelbar so auch
einen freiem Zutritt in den Senat. Zu Anfang des fünften
Jahrhunderts der Stadt war die politische Gleichberechtigung
der Patricier und Plebejer zwar nicht in Form eines abstracten
Grundrechtes, wohl aber in den wichtigsten Einrichtungen des
States anerkannt. Am längsten hatte das patricische Vorrecht
sich mit Bezug auf die Priesterwürden erhalten; indem die
Traditionen des heiligen Hechts und der religiösen Wissen-
schaft durch Jahrhunderte sorgfältig in dem engen Kreise
des Erbadels bewahrt und gepflegt worden waren; bis in der
Mitte des fünften Jahrhunderts auch in die Collegien der Pon-
tifices und Augurn Abkömmlinge von plebejischen Vorfahren
Zutritt erhielten. Nur einige wenige Priesterämter verblieben
— gleichsam zur Erinnerung an den alten Glauben und das
ursprüngliche Statsrecht — den Patriciern ausschlieszlich.
Die römische Aristokratie war aber weder während
dieser Kämpfe noch in Folge derselben untergegangen: sie
hatte nur eine andere Gestalt angenommen. DasPrincip eines
Vorrechtes der Geburt, welches indessen auch vordem schon
durch die Volkswahlen sehr ermäszigt worden, war nunmehr
durchbrochen und groszentheils aufgehoben. Nicht das Blut
gab mehr einen ausschlieszlichen Anspruch auf politische Würde
und Macht, sondern umgekehrt wem es gelang, das Vertrauen
des Volkes zu erwerben und zu den hohen Aemtern der Ke-
publik aufzusteigen, der gelangte eben dadurch in die hohe
römische Aristokratie hinein, auch wenn plebejisches Blut in
8*
116 Zweites Buch. Yolk und Land.
seinen Adern flosz. Der Erbadel hatte sich so umgewandelt
in einen Adel der Statswürden.
Es gab in Kom auch in den letzten Jahrhunderten der
Bepublik und in der Kaiserzeit einen hohen Keichsadel von
politischer Natur, die senatorischen Familien. Die alten
patricischen Geschlechter, welche indessen zur Zeit von August
bis auf 50 Familien ausgestorben waren und nur sehr selten
einen Zuwachs erhielten — die kaiserlichen Familien waren
von Eechts wegen immer patricisch — mochten f actisch, wenn
auch nicht mehr rechtlich, noch den Kern derselben bilden,
indem der alte Glanz des Namens, die herkömmliche Vertraut-
heit mit den Statsgeschäften , häufig auch groszes Vermögen
und ihre persönlichen Verbindungen ihnen das Ansehen ver-
liehen, welchem sie die Aufnahme in den Senat verdankten.
Aber auszer ihnen wurde die hohe Aristokratie stets erneuert
und erfrischt durch hervorragende Männer, welche als Kriegs-
führer, Statsmänner, Eedner, Rechtsgelehrte oder in anderer
Weise sich auszeichneten, und denen in den Zeiten der Be-
publik öffentliche Aemter, welche die Aufnahme in die Listen
der Senatoren begründeten, übertragen, oder die später von den
Kaisern in den Senat berufen wurden. Das politische Ver-
dienst und die nationale Auszeichnung waren somit
zum Princip des spätem römischen Adels erhoben worden, in
welchem selbst in den Zeiten der Entartung und des Verfalls noch
immer ein Rest der alten Freiheit und Würde erhalten blieb.
Die berühmte Rede vonMäcenas über den Principat ist
ein vortrefflicher Ausdruck der Grundgedanken, welche römische
Statsmänner von der Aristokratie in der Kaiserzeit hatten. Der
Freund des Kaisers gibt demselben den Bath, den Senat, in
den die Wirren der Bürgerkriege viele untaugliche Männer
hineingebracht, zu reinigen und durch neue sorgfältige Er-
nennungen zu ergänzen. Er empfiehlt, keinen Senator um seiner
Armuth willen auszustoszen, sondern eher unvermögliche, aber
taugliche Männer mit dem nöthigen Vermögen auszustatten.
Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. H7
Bei der Auswahl der neuen Senatoren möge der Kaiser nicht
blosz auf Italien, sondern ebenso auf die Bundesgenossen und
selbst die Provincialen Bücksicht nehmen, und je die Ersten
aus allen Völkern des Weltreiches, die durch Ge-
schlecht, Tugend oder Beichthum als die Führer des Volkes
gelten, um sich her versammeln, und ihnen die Theilnahme an
der Sorge für den Stat und an der Weltherrschaft eröffnen.
Je mehr angesehene Männer so in Kom zum Senate versam-
melt werden, desto besser werde für das Bedürfnisz des States
und die Treue der Provinzen gesorgt sein.
Als eine niedere Aristokratie bezeichnet er die vornehm-
lich durch Eeichthum ausgezeichnete Kitterschaft, welche
in ähnlicher Weise aus den angesehenen Männern von zweitem
Bange zu bilden sei. Damit auch die Söhne der Senatoren
fähig werden, den Bang der Väter später einzunehmen, fordert
er eine ihres Standes würdige Erziehung in den Wissenschaften
und den Waffen.2
Zehntes Capitel.
B. Der französische Adel.
Die Geschichte des französischen Adels ist sehr wechsel-
reich. Wir können folgende Perioden unterscheiden, von denen
jede ihren besondern Charakter hat.
1. Der Merowingischen Zeit (481 bis 752) gehört
die Begründung des französischen Adels an. Auffallender
Weise sind die Spuren eines alten fränkischen Geschlechts-
adels nur unsicher. Dagegen bildete sich damals ein persön-
licher Treuadel aus, welcher seine Entstehung vorzugsweise
dem Verhältnisse zu dem Könige zu verdanken hatte. Es
mochten zwar die alten Adelsgeschlechter auch hier vorzugs-
2 Dio Cass. 52.
Hg Zweites Buch. Volk und Land.
weise bedacht worden sein. Aber auszer ihnen wurden auch
andere freie Franken und Germanen von dem Könige unter
die A n t r u s t i o n e n aufgenommen , und selbst Komanen er-
hielten als »Gäste des Königs" (convivae regis) ähnlichen
Kang. Es sind sogar die Beispiele nicht ganz selten, dasz
Personen von ganz niederer Geburt, vormalige Sklaven und
Hörige, zu den höchsten Aemtern im Keiche und daher unter
die Magnaten emporstiegen.
Dieser Adel war somit aus sehr gemischten Bestandtheilen
erwachsen. Er war mindestens in seiner Mehrheit, wie Schaff-
ner 1 näher nachgewiesen hat, kein Erb- sondern ein persön-
licher Dienstadel, dem Könige durch den Eid der Treue
verbunden. Das erhöhte Wergeid, dessen er genosz, war ein
Zeichen und eine Folge der höheren Werthschätzung, die man
seinen Gliedern beilegte. Im übrigen hatte er wenig privat-
rechtliche Vorzüge. Politisch aber war er ausgezeichnet theils
durch die Verbindung der Eigenschaft eines Antrustio mit den
hohen Eeichsämtern, Hofstellen und kirchlichen Würden, theils
durch die Theilnahme an dem Käthe des Königs und die her-
vorragende Stellung auf den Nationalversammlungen und Keichs-
tagen. Komanische und germanische Elemente sind in dieser
Adelsinstitution ebenso gemischt, wie in den Personen, welche
zu diesem Adel gerechnet wurden.
Indessen war der germanische Charakter doch überwiegend,
und kam immer mehr zur Herrschaft. Diesem Charakter ge-
hört einerseits die persönliche Treuverbindung mit dem Könige
(trustis dominica) an, welche sich durch die Familiensitte und
dem Familieninteresse gemäsz fortpflanzte, und sich weiter auf
die Vasallen anderer Herren (Seniores) verzweigte, andrerseits
die Ausstattung der Magnaten mit königlichen Beneficien, mei-
stens in Grundstücken bestehend, welche der König ihnen ver-
lieh. In diesen beiden Beziehungen vornehmlich wurzelt das
spätere Lehenswesen.
1 Geschichte der Kechtsverfassung Frankreichs I. S. 217 fg.
Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. \\Q
2. Die Periode der Karolinger (752—987).
Der Wechsel der königlichen Dynastie war groszentheils
das Werk einer Adelsrevolution. Die karolingischen Haus-
meier wuszten sich als Stellvertreter des Königs und Herzoge
an die Spitze des mächtigen und kriegerischen Adels zu- setzen.
Als Führer desselben begünstigten sie das Streben der Edeln,
sich in ihrem Grundbesitze zu befestigen. Mit ihrer Hülfe
verdrängten* sie dann die entarteten Scheinkönige.
Diese Bewegung hatte, worauf Guizot2 aufmerksam ge-
macht, vornehmlich in dem nördlichen Theile von Frankreich,
in welchem die Germanen vorherrschten, und welcher eben
deszhalb im Gegensatze zu dem „romanischen Frankreich" des
Südens „deutsches Frankreich" (Francia Teutonica) genannt
wurde, in Austrasien nachhaltige Unterstützung gefunden. Neu-
strien, wo auch der Adel stärker mit Komanen gemischt war,
wurde von dem Impulse fortgerissen. Aus diesem Grunde er-
hielt der französische Adel nun ein bestimmtes germanisches
Gepräge.
Der Amts- und Dienstadel wurde mehr und mehr Lehens-
adel der Barone, Senior es und Vasallen, von denen
jeder in seinem Kreise sich als selbständigen Herrn fühlen
lernte. Die Zeit der Karolinger ist die Zeit des Ueberganges
aus der königlichen Beamtenhierarchie in die selbst-
herrliche Herrschaft der Seigneurs, und auch die
Erblichkeit des Adels kam allmählich wieder auf, in Ver-
bindung mit der zugestandenen Erblichkeit der Beneficien.
3. Die höchste Ausbildung und Macht erlangte und besasz
der neue Lehensadel in der dritten Periode der Kapetinger
(987 bis auf Ludwig den Heiligen 1226).
Karl der Grosze hatte noch die Einheit des States auf-
recht zu halten und die königliche Macht zu stärken gewuszt.
Aber unter seinen Nachfolgern zerfiel die fränkische Welt-
2 Essais sur l'histoire France. S. 52 ff.
120 Zweites Buch. Volk und Land.
monarchie in mehrere von einander unabhängige Staten, und
in dem französischen Reiche selbst nahm die Selbständigkeit
der Aemter und der Lehen fortwährend zu. Schon Karl der
Kahle war genöthigt3 die Erblichkeit der Grafenämter
und der Reichslehen für die Söhne der Vasallen anzuer-
kennen, und den nämlichen Grundsatz auch auf die Söhne der
Aftervasallen auszudehnen. In kurzem wurde auch den Seiten-
verwandten ein Erbrecht in die Lehen zugestanden.
Nur in der Kirche erhielt sich das Princip des indi-
viduellen Amtsadels, im State verwandelte sich derselbe
in einen feudalen Erbadel. Ueber ganz Frankreich breitete
sich so in mannichfaltigen Abstufungen und Formen die Herr-
schaft erblicher Seigneurs aus. Ein Theil derselben besasz die
volle obrigkeitliche Gewalt in allen wesentlichen Beziehungen
zu eigenem Rechte, und erkannte nur eine sehr beschränkte
oberlehensherrliche Gewalt des Königs über sich an. Diese
Seigneurs können als der hohe Adel bezeichnet werden. Zu
ihnen gehören die Herzoge , die Grafen , die Vicomtes , die
Barone: die meisten unter ihnen waren Kronvasallen, einige
auch Vasallen der Herzoge und Grafen, nur sehr wenige Al-
lodialherren ihres Gebietes. Die hohe Gerichtsbarkeit gehörte
ihnen zu, sie standen an der Spitze der Militärverfassung, die
nun ganz ihres früheren volksmäszigen Charakters entkleidet
zu Lehen- und Ritterdienst geworden war. Was sie hinwieder
dem Könige zu Kriegsdiensten zu leisten hatten, war genau
begränzt . und normirt. Der König durfte nur mit ihrer Zu-
stimmung Gesetze erlassen, nur so weit sie es verstatteten,
Steuern erheben. In derselben Weise erlieszen sie in ihrem
Gebiete Landesordnungen, und verlegten Steuern mit Zustimm-
ung und Einwilligung ihrer Vasallen. Wer in ihrer Herrschaft
wohnte , muszte ihnen Treue (fi des) , die Vasallen überdem
Hulde (homagium) schwören (foy et hommage) ; er war ihr
3 Capit. Caroli V. a. 877. P. III. 542. c. 3.
Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 121
Unter than. Die politische Statshoheit war so zerklüftet in
eine grosze Anzahl mit privatrechtlichen Elementen versetzter,
nur sehr lose verbundener Erbherrschaften. Der hohe Adel
war nicht mehr ein hervorragender Stand des Volkes, noch
war sein Wesen in der Treue und den Diensten zu erkennen,
die er dem Könige schuldete. Seine Hauptbedeutung war viel-
mehr die, dasz er zu beschränkten gröszeren und kleinen Lehens-
fürsten und Landesherrn aufgestiegen war. Er hatte dieSou-
veränetät erlangt.4
Dieselben Erscheinungen wiederholten sich in den untern
Stufen des nie dem Adels. Dieser war vorzüglich aus zwei
Wurzeln erwachsen, einmal aus dem ritterlichen Berufe, so-
dann aus dem Hofdienste. Anfänglich war es der Beruf, wel-
cher die Ehre derer hob, die sich ihm weihten, und als Bitter
oder Dienstleute einem Herrn zu besonderer Treue verbunden
wurden. Waren die erstem groszentheils Freie , so fanden
sich dagegen unter den Ministerialen auch viele ursprünglich
hörige Leute.
Aber auch dieser Berufsadel wurde mit der Zeit zu einem
erblichen Lehensadel. Die Ritter bekamen Lehengüter,
die sich in ihrem Geschlechte vererbten, die Dienstleute wur-
den mit Hoflehen ausgestattet. Als begüterte Männer
(riches oms) unterschieden sie sich von der Rotüre, als Vasal-
len standen sie ihren Seigneurs nahe. Wie diese von alters-
her. Tafelgenossen des Königs (convivae regis) waren, so galt
es im Mittelalter als ein Grundsatz des Feudalrechts: die
Ritter sind Tafelgenossen der Herren. 5 Ihre Kriegs- und Hof-
dienste waren mit den Gütern verbunden, wie die Hoheitsrechte
der Seigneurs mit den Grundherrschaften. Auch ihnen kam
4 Es ist das der alte Sprachgebrauch. Beaumanoir XXXIV. 41:
„Qascuns barons est souverains en sa baronnie. Yoirs est que li rois
est souvrains par desor tous. "
5 Loysel, Inst. Coutum. I. 1. 14: „Nul ne doit seoir a la table du
Baron s'il n'est Chevalier."
122 Zweites Buch, Volk und Land.
eine — zwar beschränktere — Grundherrlichkeit zu, sie waren
gewöhnlich hinwieder niedere Gerichtsherren über die Unter-
thanen ihres Lehensherrn, welche durch sie mit demselben ver-
mittelt wurden. Ihr Stand schlosz sich mehr und mehr ab.
Und war derselbe ursprünglich eine Folge des Berufes , so
wurde nun die ritterbürtige Herkunft und die standesmäszige
Erziehung die regelmäszige Voraussetzung auch der Ritter-
schaft. Mit Rücksicht auf ihr Geschlecht wurden die neuen
Adeligen nun gentils hommes genannt. Die Abstammung allein
freilich machte den Sohn nicht zum Ritter,6 aber wer nicht
von einem rittermäszigen Vater stammte — auf die Mutter
wurde nicht gesehen — konnte in der Regel auch nicht Ritter
werden. Nur dem Könige blieb es vorbehalten, in den Adel-
stand zu erheben. 7 Indessen war die Verbindung dieses Adels
mit dem Besitze eines Lehens früher so enge, dasz der Rotu-
rier , welcher ein Lehensgut erkaufte und darauf lebte , um
seines Gutes willen zum franc-homme wurde, und sein Enkel,
der ihm in demselben nachfolgte, in jeder Beziehung zu den
gentils-hommes gehörte. 8 Daneben freilich entstand dann ein
freies Ritterthum ohne Lehensbesitz, das durch Geburt,
Erziehung und Beruf der ritterlichen Ehre theilhaftig wurde.
Auch unter diesem niedern Adel gab es mancherlei Ab-
stufungen, von den vavasseurs oder bas sires aufwärts zu den
Vigiäers (vicarii), die besonders im Süden häufig waren, und
öfters eine mittlere Gerichtsbarkeit besaszen, den Chatelains,
von denen einzelne den Baronen nahe kamen, und den Yicom-
tes, von denen ein Theil zu den Baronen gehörte, ein anderer
Theil aber im Lehensdienste einzelner Grafen eine untergeord-
nete Stellung hatten.
6 Das französische Rechtssprüchwort : „Nul ne nait Chevalier" bei
Loysel, Inst. Coutum. I. 1.
7 Loysel, Inst. Coutum. I. 1. 12.: „Nul ne peut anoblir que leRoy,"
13.: „Le moyen d'etre anobli sans Lettres, est d'etre fait Chevalier."
s Schaffner a. a. 0. IL S. 160.
Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 123
Die Mannichfaltigkeit der verschiedenen Rangstufen und
Rechte ist zwar überaus grosz und im Einzelnen verwirrend.
Aber der Grundcharakter ist überall der des Lehenswesens.
4. In der vierten Periode, von Ludwig dem Heiligen (1226)
bis zur französischen Revolution (1789) sehen wir eine totale
Umgestaltung des Adels sich vollziehen.
In der ersten Zeit war es ein Kampf des Königthums mit
dem Adel um die Herrschaft. Die Könige vertraten in dem-
selben die mit neuer Stärke erwachende Nationaleinheit und
das wieder belebte Statsbewusztsein. In diesem Kampfe kamen
die Juristen, welche die Grundsätze des römischenRechts
verfochten und neuerdings zur Anwendung brachten, den Königen
zu Hülfe. In dem königlichen Gerichtshofe, dem Parlament,
erhielten ihre Lehren ein mächtiges Organ. Das Volk, vor-
nehmlich die Einwohner der Städte, obwohl nur selten ein-
greifend, unterstützte dieselben mittelbar.
Ein neues königliches Beamtensystem, unabhängig
von dem Lehens verband, wurde nach und nach eingeführt. B e-
soldete königliche Truppen dienten ohne Beschränkung
und Vorbehalt der königlichen Macht. Die groszen Herzog-
thümer und Grafschaften wurden eine nach der andern, bald
durch die Erbfolge, bald durch Vertrag, oft durch kriegerische
Gewalt mit der Krone vereinigt, und so die entäuszerten
Hoheitsrechte wieder concentrirt. , So wurde die selbstän-
dige Herrschaft des Adels gebrochen. Durch Lud-
wig XL (1461 — 1493) wurde dieser Sieg der königlichen
Souveränetät über die der Seigneurs vollendet.
Der Adel hatte nur Bruchstücke seiner früheren Landes-
hoheit in die folgenden Jahrhunderte hinüber gerettet. Nur
als Gouverneure in einzelnen Provinzen, nicht mehr als
Landesherren vermochten sich die Groszen zu halten. Der
Adel war nun zu einem bevorzugten Stande von Unterthanen
geworden. Die Auszeichnungen, deren er theilhaft war, nahmen
mehr und mehr den Charakter von Privilegien an, die viel-
124 Zweites Buch. Yolk und Land.
fältig mit den neuen Begriffen und Meinungen in Confüct ge-
riethen und gehässig wurden. 9> Wohl gab es auch später noch
Kämpfe zwischen dem Könige und dem Adel, aber sie waren
von ganz anderer Art als vordem. Es waren das nun Kämpfe
der politischen und religiösen, häufig auch bloszer Hof-
parteien, an deren Spitze gewöhnlich Adeligestanden. Woll-
ten Adelige zu Einflusz und Macht gelangen, so war das da-
mals nur im Dienste des Königs möglich. Die Theil-
nahme des Adels an dem National rathe war, weil dieser
selbst nicht zu fester und regelmäsziger Gestaltung kam, nicht
erheblich. Der alte Lehensadel wurde so in einen bloszen
Hofadel verwandelt. Sein Wesen bestand eher in äuszer-
lichem Eang und Ehren, als in politischen Rechten.
Am höchsten standen die Pairs de France, anfänglich
XII, sechs geistliche Herren, sechs weltliche Kronvasallen und
später durch die königlichen Prinzen und eine Anzahl anderer
weltlicher Groszen vermehrt. Die Pairschaft war erblich.
Freier Zutritt zu dem Könige und zu dem Parlament in Paris,
von dem sie allein zur Verantwortung gezogen werden durften,
zeichnete sie aus. Bei der Krönung der Könige trugen sie
die Insignien der königlichen Gewalt.
Auf die Pairs folgten in der Rangordnung die Herzoge,
die Marquis, die Grafen, die Fürsten, Barone, Yi-
comtes, Chatelains. Titel und Wappen waren die äuszern
9 Tocquevüle (l'ancien regime) hat ausgeführt, wie sehr die Auf-
hebung der politischen Rechte des Adels und daneben die Fortdauer der
ökonomischen Vorrechte desselben zusammenwirkten, um den allgemeinen
Volkshasz gegen den Adel zu reizen. So lange die Herren und Ritter
noch die Gerichtsbarkeit zu besorgen hatten und für die öffentlichen
Bedürfnisse besonders thätig waren, begriff man ihre Befreiung von den
Statssteuern und ihre Bezüge von Grund- und Personalgefällen. Aber
seitdem die königliche Beamtung die ganze öffentliche Verwaltung und
die Rechtspflege übernommen hatte, und der Adel ebenso gehorchen
muszte, wie die Bürger und die Bauern, erschienen den Leuten jene
ökonomischen Rechte desselben als ungerechte Privilegien.
Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 125
Kennzeichen des Banges. Dann folgte der niedere Adel
der Ecuyers und der einfachen Gentilshommes.
In dem alten Adel war die Geburt zunächst entschei-
dend, die Verbindung mit Grundherrschaft aber daneben
von Einflusz. Dem alten Adel trat nun aber ein neuer an
die Seite, der vornehmlich von königlicher Verleihung
abgeleitet wurde. Dahin gehörte voraus der Adel, der mit
der Ernennung zu höhern Civil- und Militärämtern ver-
bunden war, vorzüglich der Parlamentsadel der Eäthe an
den souveränen Gerichtshöfen (noblesse de robe). Diese Stellen
waren nun nicht mehr wie in der Lehensverfassung an den
Boden geknüpft , noch erbliche Eamilienrechte , und es erhielt
daher dieser Adel fortwährend neue individuelle Zuflüsse. Ihm
verwandt war der Adel der Doctoren der Eechte (milites
litterati, legales), der einzige, der nicht von der königlichen
Gunst ertheilt wurde, sondern auf wissenschaftlicher Auszeich-
nung beruhte.
Einen schlimmeren Bestandtheil erhielt der Adel in der
groszen Zahl derer, welche durch Adelsbriefe, häufig blosz
um der Taxe willen, welche dafür bezahlt werden muszte,
nicht selten auch zur Belohnung für Dienste, die nicht immer
ehrenvoll waren, in den erblichen Adelsstand erhoben wurden10
(noblesse par lettres).
5. Die kurze aber gewaltig eingreifende Zeit der fran-
zösischen Kevolution (1789 bis 1799) zerstörte das ganze In-
stitut des Adels. Sie begann mit der Fusion der früher
getrennten Stände in einer allgemeinen Nationalversammlung.
Dann hob sie den Adel auf als eine dem demokratischen
Princip der Gleichheit (Egalite) widersprechende Auszeichnung.11
10 Vgl. über diesen Abschnitt Schaffner a. a. 0. Bd. IL
11 Gesetz v. 25. Juni 1790. Art. 1. „La noblesse hereditaire est pour
toujours abolie; en consequence les titres de prince, de duc, de comte
etc. — ne seront pris par qui que ce soit, ni donnes ä personne. a Ver-
fassung v. Sept. 1791. „La Constitution garantit comme droits naturels
126 Zweites Buch. Volk und Land.
Endlich suchte sie die Adeligen mit Hülfe der gleichmachen-
den Guillotine auszurotten.
6. Als die Leidenschaften der Eevolution sich in dem
Blute der hervorragenden Männer gesättigt und ihre Gleich-
heitstheorie die scharfe Schneide an dem Widerstände der
realen Verhältnisse abgestumpft hatte, wurden auch in Frank-
reich verschiedene Versuche gemacht, den Adel in neuer Ge-
stalt auf der mit Trümmern bedeckten Ebene herzustellen.
Aber keiner derselben gelangte zu festem Bestand.
Am interessantesten ist der Versuch Napoleons, welcher
in der Aristokratie eine unentbehrliche Stütze und zugleich eine
Schranke der Monarchie erkannte. In dem Orden der Ehren-
legion schuf er gewissermaszen einen modernen Kitter-
adel, der jedem höhern Verdienste um den Stat im weitesten
Sinne zugänglich, seinem Wesen nach aber nur eine indivi-
duelle Ehrenauszeichnung war. Er hatte überdem vor,
eine höhere erbliche Aristokratie zu gründen, in welcher
die übrig gebliebenen Familien des alten historischen Adels
mit den Nachkommen der neuen französischen Marschälle,
Statsminister und anderer hohen Reichsbeamten und Würde-
träger vereinigt worden wären. Man sieht, Napoleon dachte
daran, die Institutionen der ersten römischen Kaiserzeit mit
den Ueberlieferungen der französischen Geschichte zu combi-
niren. Indessen hatte er kaum durch das Statut vom 1. März
1808 die ersten Anfänge zu dieser Erneuerung des Adels ge-
legt, als sein eigener Sturz die Fortbildung unterbrach.12
et civils 1) que tous les citoyens sont admissibles aux places et emploi9,
sans autre distinction que celle des vertus et des talens; 2) que toutes
les contributions seront reparties entre tous les citoyens egalement, en
Proportion de leurs facultas."
Y. 1795. Art. 3. „L'egalite n'admet aucune distinction de naissance,
aucune heredite de pouvoirs."
12 Napoleon im Mem. de St. Hei. bei Las Cavas V. 36 ff.: „Die
Aristokratie ist die Stütze und der Moderator der Monarchie, sie hebt
diese empor und leistet ihr Widerstand. Der Stat ohne Aristokratie ist
Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 127
Ludwig XVIII. (1815) schlosz sich in seiner Pairie
näher an das Vorbild der englischen Einrichtungen an. Aber
es gelang ihm nicht, einen politischen Pairsadel zu be-
festigen. Die Bestandteile der alten Pairie waren durch die
Kevolution zu sehr zerstört ; der Geist der Nation war so ganz
für die Principien der Eechtsgleichheit und der freien Bewe-
gung auch des Eigenthums eingenommen, dasz ihm jede Er-
neuerung des Adels wie ein räuberischer Eingriff in die Volks-
rechte erschien; ein groszer Theil des alten Adels hatte die
Waffen gegen das Vaterland getragen und die erneuerten An-
sprüche desselben wurden auf die Besiegung Frankreichs durch
die fremden Heere gestützt.13 Der alte Hasz fand immer
wieder neue Nahrung und nirgends wurden grosze neue Ver-
dienste der Aristokratie um das Volkswohl sichtbar, welche
mit einer neuen politischen Erhebung derselben versöhnt hätte.
Die Julirevolution von 1830 hob mit den Majoraten die
erbliche Pairie wieder auf, und die Februarstürme von 1848
stürzteo auch die darauf folgende persönliche und lebens-
ein Schiff ohne Steuer (?), ein Luftballon, von den Winden geschaukelt.
Das Heilsame der Aristokratie aber, ihr Zauber liegt in ihrem Alter, in
der Zeit; und gerade das ist das Einzige, was ich nicht schaffen kann.
Die vernünftige Demokratie begnügt sich, für alle die Gleichheit des
Strebens und die Erreichbarkeit des Zieles zu erhalten (ätousl'ega-
lite pour pretendre et obtenir). Es kam nun darauf an, die Trümmer
der Aristokratie mit den Formen und Intentionen der Demokratie zu
versöhnen. Voraus galt es, die groszen alten Namen unserer Geschichte
zu sammeln. — Ich hatte in meiner Mappe einen Entwurf. Jeder Nach-
komme eines gewesenen Marschalls oder Ministers wäre zu seiner Zeit
fähig gewesen, indem er die erforderliche Ausstattung nachgewiesen,
sich zum Herzog erklären zu lassen. Jeder Sohn eines Generals oder
Statthalters einer Provinz hätte sich jeder Zeit als Graf können aner-
kennen lassen und so weiter. Diese Einrichtung hätte die einen geför-
dert, die Hoffnungen der andern aufrecht erhalten, den Wetteifer aller
angeregt, und den Stolz niemandes verletzt." Vgl. auch V. 161 und
Thiers hist. du Consul. VIII, S. 116.
13 In den hundert Tagen verfügte daher wieder ein kaiserliches
Decret vom 13. März 1815: „La noblesse est abolie. Les titras feodaux
3ont supprimes."
128 Zweites Buch. Volk und Land.
längliche, von dem Könige geschaffene Pairie. Neuerdings
sprach sich die Kepublik gegen alle Adelstitel und Adelsrechte
aus. 14 Eine Eeorganisation hat der französische Adel noch
nicht wieder erlebt. Keime einer solchen aber werden in der
senatorischen Stellung sichtbar.
Seitdem ist der französische Adel nur insofern wieder
hergestellt worden, als die alten Titel von neuem gestattet15
und gegen Miszbrauch gesichert worden sind. Er hat also
gegenwärtig nur die Bedeutung eines Titularadels ohne
eigenthümliche Rechte, und es ist das um so ungenügender,
als die groszen Titel beständig daran erinnern, dasz der Inhalt
derselben verschwunden und die leere Schale noch geblieben ist.
Eilftes Capitel.
C. Der englische Adel.
In den neuern europäischen Staaten hat sich fast nur in
England der Adel auch in die Gegenwart als ein gesichertes
und groszartiges nationales Institut hinüber gerettet. Ver-
schiedene Gründe wirkten zusammen, um dieses Resultat her-
vorzubringen. Die Darstellung derselben dient zugleich dazu,
die Natur dieser englischen Aristokratie ins Licht zu setzen.
1. Der englische Adel des Mittelalters hatte wie der
französische zwei verschiedene nationale Bestandteile in sich,
einen angel-sächsischen und einen normannischen, aber
das Verhältnisz dieser beiden Theile war ein ganz anderes
als das der vornehmen Franken und Romanen in dem
französischen Adel. Die Normannen behaupteten zwar in den
14 Franz ös. Verf. v. 1848. Art. 10: „Sont abolis ä toujours tout
titre nobiliaire, toute distinction de naissance, de classe ou de caste."
15 Decret vom 24. Jan. 1852. Gesetz vom 28. Mai 1858 und Decret
vom 8. Jan. 1859, durch welches eine eigene Behörde zur Controle über
die Adelstitel eingesetzt ward.
Eilftes Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 129
ersten Jahrhunderten nach der Eroberung des Herzogs Wilhelm
von der Normandie (1066) ein factisches Uebergewicht über
die Sachsen, aber diese waren doch mit jenen viel näher ver-
wandt. Die Eorls waren ein ursprünglicher Nationaladel der
Sachsen, der vor den gemeinfreien C eorls von altersher
hervorragte. Der sächsische Adelige hatte die nämliche Er-
ziehung, Lebensweise, Denkart wie der Normanne: und auch
den neuen Königen gegenüber hielten sie an ihrem alten von
denselben anerkannten Eechte fest. Gerade die factische Zurück-
setzung aber der Sachsen stählte ihren Freiheitssinn, und hatte
vorzugsweise die Wirkung, dasz dieselben um so eifersüchtiger
und kräftiger ihr Kecht zu wahren suchten, und dem gesamm-
ten Adel jenen Geist politischer Freiheit einpflanzten,
durch den England grosz geworden ist.
2. Auf der andern Seite hatte die Eroberung die grosze
Wirkung, dasz die königliche Gewalt, auf welcher die
Einheit und die Sicherheit des States vorzüglich beruhte, nicht
wie in Frankreich durch den Adel verdrängt wurde, und nicht
ebenso eine in einzelne Herrschaften zersplitterte Souveränetät
der groszen Vasallen entstand.
Das Lehenswesen fand freilich, wie damals allenthalben,
auch in England Eingang, aber es bildete sich doch in anderer
Weise aus. Es ist zwar die früher ziemlich verbreitete Mei-
nung, dasz durch die Normannen das Lehenssystem in Eng-
land zuerst eingeführt worden sei, in Folge neuerer Unter-
suchungen als unrichtig erwiesen: auch die alten sächsischen
Thane hatten groszentheils Lehenbesitz, und waren von die-
sem den Königen zu besonderer Treue und Kriegsdienst ver-
pflichtet. Aber wahr ist es, dasz die normannische Herrschaft
bei weitem mehr dem ganzen State einen lehenartigen Charakter
und lehensmäszige Formen gab. Das Lehenswesen war zur
Zeit der Eroberung in der Normandie ausgebildeter als in
England: und die Sieger trugen die heimischen Vorstellungen
hinüber in das neuerworbene Land.
Bluntscbli, aHaeraeines Statsreeht. I. 9
130 Zweites Buch. Volk und Land.
Im Princip — das Verstänclnisz der Neuerung wurde erst
später allgemein, als weitere Consequenzen derselben zur Sprache
kamen — wurden sogar alle Privatgüter in England durch
ein Gesetz Wilhelms I. als Lehensboden erklärt uud das
Obereigenthum des Königs darüber behauptet. Auch die
bisherigen Allodialgüter wurden so in den Lehensnexus herein-
gezogen, und die bisherigen blosz lebenslänglichen Beneficien
hinwieder zu erblichen Lehen erhoben. Alle freien Männer
im Eeiche muszten überdem dem Kpnige den Eid der Lehens-
treue schwören und sich zu Kriegsdienst verpflichten;1 und
es ging dieser Eid dem Treuschwur der freien Insassen an
ihren unmittelbaren Lehensherm vor. lieber 60,000 Kitter-
lehne gab es unter der Kegierung Wilhelms L, die alle un-
mittelbar oder zum gröszern Theile mittelbar dem Könige als
oberstem Lehens- und Kriegsherrn verbunden waren. Man
sieht, die Zügel der Lehensherrschaft wurden von dem Könige
selbst in die Hand genommen und straffer angezogen, als da-
mals in Frankreich, dessen König über den Herzog von der
Normandie, welcher als solcher selbst ein französischer Vasall
war, nur eine geringe, mehr formelle als reale Souveränetät
besasz. Der normannische und sächsische Adel blieb somit,
wenn er auch nach der Weise des Mittelalters Kechte der
Gerichtsbarkeit und Polizei gewalt über seine Hintersassen be-
x Stat. Wilh. c. 52: „Statuimus, ut omnes liberi homines foedere
et sacramento affirment, quod intra et extra regnum Angliae "Wilhelmo
suo domino fideles esse velint, terrae et lionores illius fidelitate ubique
servare cum eo, et contra inimicos ei alienigenas defendere." c. 58:
„Statuimus etiam, ut omnes barones et milites et servientes et universi
liberi homines totius regni nostri praedicti habeant et teneant se semper
bene in armis et in equis, ut decet et oportet; et quod sint semper
prompti et bene parati ad servitium suum integrum nobis explendum et
peragendum, cum semper opus fuerit, secundum quod nobis de feodis
debent et tenementis de jure facere, et sicut illis statuimus per com-
mune concilium totius regni praedicti, et Ulis dedimus et concessimus
in feodo, jure haereditario. Vgl. JReeves History of the Englisli Law I.
S. 34 ff., Phillipps engl. Reichs- u. Rechtsgesch. II. S. 42, Gneist das
heutige engl. Verfassungs- und Verwaltungsrecht I. u. III.
Eilftes Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 131
sasz und ausübte, doch in einem wirklichen Unterthanen-
verhältnisz zu dem Könige, und die Einheit des States
wurde den Baronen nicht hingeopfert.
3. Wenn so der englische Adel auf der einen Seite gerin-
gere Herrschaftsrechte hatte, so waren auf der andern Seite
seine politisch-nationalen Rechte um so bedeutender;
und hierauf vornehmlich beruht die Grösze und die bleibende
Wichtigkeit des englischen Adels.
Diese politisch-nationalen Rechte machten sich auf den
groszen Reichstagen geltend, die man frühe schon mit dem
bescheidenen Namen des Parlaments bezeichnet hat. Das
alte sächsische Witenagemot lebte in neuer veredelter Ge-
stalt als Parlament wieder auf, und in ihm einten nach und
nach die nämlichen Interessen und Schicksale auch die beiden
Stämme. Die einen älteren Versammlungen der groszen Vasallen
mochten wohl meistens nur den Zweck haben, den Glanz und
die Würde der Krone an den heiligen Festen zu Ostern,
Pfingsten und Weihnachten zu verherrlichen. Die andern aber
erhielten allmählich eine grosze politische Bedeutung, und es
wurden, anfangs ohne feste Normen und scharfe Competenz-
ausscheidung, auf ihnen je die wichtigsten Angelegenheiten
des States behandelt und entschieden. Während des XIII.
Jahrhunderts erhielten dieselben eine regelmäszigere Gestaltung.
Die Magna Charta von 1215, welche dem Könige Johann
ohne Land von dem siegreichen Adel, der für die Behauptung
seiner Rechte die Waffen ergriffen hatte, in dem Friedens-
schlüsse abgenöthigt wurde, setzte urkundlich fest, dasz „die
Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, und die Grafen und groszen
Barone persönlich durch königliche Briefe (singillatim per
litteras nostras), die übrigen unmittelbaren Vasallen des Königs
aber insgösammt durch die königlichen Beamten (in generali
per vicecomites et ballivos nostros) zu dem Parlamente (com-
mune consilium regni) eingeladen" werden sollen, und dasz
nur mit ihrer Zustimmung neue Steuern erhoben werden dürfen.
9*
m
^32 Zweites Buch. Volk und Land.
Aus den ersteren, welche vorzugsweise als geborene Käthe
des Königs und Träger der obersten Hof- und Reichsämter
die öffentlichen Angelegenheiten im Lande verwalteten, bildete
sich im Verfolge der Zeit das Oberhaus; die letztern wurden
zu einem Bestandteile des spätem Unterhauses. Beide
Classen hatten anfangs ein persönliches Recht der Reichsstand-
schaft. Die erstere behielt es bei. Für die letztere aber wurde
es, in Verbindung mit andern Rittern des Landes Aftervasallen
der groszen Kronvasallen und den Bewohnern der Städte und
Burgen, später zu einem politischen Rep r äse ntations rechte.
Nur die erstem, die Lords, galten fortan als hoher Adel.
Dem niederen Adel der Gentvy trat die begüterte Bür-
gerschaft zur Seite.
In der vollendeten Verfassung des Parlaments, welche in
der Hauptsache in der zweiten Hälfte des XIII. und der
ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts zu Stande kam,2 fand
der Adel seine natürliche Stellung im State. In den Zeiten
Heinrichs III. gewann es den Anschein, dasz die Barone, unter
der Anführung des Grafen von Leicester, die Monarchie selbst
in ihrer Existenz gefährden und die Regierung des States in
ihre Hand nehmen möchten. Dieser Uebergriff war aber doch
nur vorübergehend, und sehr bald setzte sich von neuem das
Princip fest, dasz der Aristokratie wohl ein bestimmter
Einflusz auf die politischen Angelegenheiten der
Nation und insbesondere die Mitwirkung in der Gesetz-
gebung gebühre, nicht aber die Ausübung der eigent-
lichen Herrschaft, nicht die Statsr egierung. Aber
auch den untern Ständen gegenüber fand der Adel die nöthige
Schranke seiner politischen Macht in der Ergänzung des Par-
laments durch die Repräsentanten der Städte und Burgen und
dadurch, dasz die englischen Ritter von den Freisassen (libere
tenentes) zum Parlament gewählt, nicht wie auf dem Conti-
nent nur von dem eigenen Stande bezeichnet wurden.
* Vgl. unten Buch V. Cap. 3,
Eilites Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 133
% Die eigentliche nobility bestand lediglich aus den Lords,
und ward nie wie in Frankreich und Deutschland zu einem
landesherrlichen Dynastenadel, sondern nur zu einem reichs-
ständischen Adel, welcher in Unterordnung unter den König
und das Gesetz in der Kriegsordnung und im Gericht, sowie
über seine Aftervasallen hoheitliche Eechte ausübte.
Die Bitters chaft, d. h. die Classe der Freien, welche
im Besitz von Bittergütern war, sei es Lehen des Königs, sei
es Lehen anderer Groszen, nahm ebenfalls als erste Classe der
Grafschaftsmiliz, in Verbindung mit andern Classen und vor-
züglich als Träger des Friedensrichteramtes, mit der Polizei-
gewalt und der Verwaltung der Bechtspflege betraut, eine sehr
einfluszreiche Stellung ein. Aus ihr wurden die Abgeordneten
der Grafschaft zum Parlament gewählt. Durch die Verbin-
dung ihrer Jüngern Söhne mit den hochbürgerlichen Classen
und ihre parlamentarische Gemeinschaft mit den Vertretern
der Städte, den ,, Honoratioren", bildete sich im Gegensatze zu
der continentalen Abschlieszung des niedern Adels der seinem
Wesen nach eher moderne als mittelalterliche Begriff der
Gentry aus, welche alle die Personen als Gentlemen zu-
sammenfaszt, die sich durch Geburt oder Aemter, oder durch
ihre Bildung und Vermögen als Honoratioren über die untern
Massen erheben. Die Gentry ist nicht wie der Stand der
Gentilshommes in Frankreich ein fest geschlossener Adelsstand,
sondern eine flüssige Aristokratie, welche täglich neue Zuflüsse
in sich aufnimmt und gelegentlich auch unwürdige Glieder
wieder auswirft.3
4. Ein fernerer Charakterzug des englischen Adels, durch
3 Blackstone, Comment. 1.12, führt eine Stelle von Thom. Smith
billigend an, in welcher als Gentlemen alle die erklärt werden, welche
Universitätsstndien gemacht haben, liberale Berufsweisen betreiben, in
Musze leben können ohne Handarbeit, und im Stande sind, sich als
Gentlemen zu benehmen und zu leben. Ygl. Gneis t Gesch. des engl.
Verfassungs- und Verwaltungsrechts III. S. 334 f., Tocqueville Oeuvres
VIII. S. 328.
|34 Zweites Buch. Volk und Land.
den er sich sehr zu seinem Euhrne von dem französischen und
zum Theil auch von dem deutschen Adel unterscheidet, ver-
dient besonders hervorgehoben zu werden. Schon in der Zeit,
als die Barone die einzige politische Macht im State waren,
hatten sie nicht blosz sich und ihre eigenen Rechte im Auge.
Sie fühlten sich frühzeitig als eine nationale Körper-
schaft, welche den Beruf habe, auch im allgemein öffent-
lichen Interesse die Rechte des Volkes zu schirmen und
für seine Freiheit zu sorgen. Die Magna Charta enthält zahl-
reiche und höchst wichtige Bestimmungen der Art. Die poli-
tische Freiheit der Engländer ist zu einem guten Theile
ein Werk der Aristokratie. Nachdem diese aber einmal fest
begründet war, da wurde die hohe Aristokratie mehr und
mehr zu einem festen Damme, welcher den Stat vor der Ueber-
fluthung der demokratischen Ströme sicherte, und wie sie vor-
her die Yolksfreiheit begründet hatte, übernahm sie nun die
minder populäre aber nicht minder heilsame Aufgabe für die
Aufrechter}) altnng des Thrones und der festen Statsord-
nung einzustehen. In der Mitte stehend zwischen König und
der Menge des Volkes, und weder so mächtig, dasz sie für
sich allein zu herrschen vermochte, noch so abhängig in ihrer
Existenz, dnsz sie allen Strömungen von unten oder jedem
Ansinnen von oben folgen müszte, bewahrt sie die Freiheit
und die Rechte beider vor dem Uebergriff je des andern und
vor dem Miszbrauch beider. Der englische Adel ist auch
fortwährend thätig geblieben in den öffentlichen Geschäf-
ten, und wenn es sich um Uebung öffentlicher Pflich-
ten handelte, so stand er allezeit in erster Keine. Schon die
Erziehung desselben wird von dem Geiste politischer Freiheit
durchdrungen, und ist auf persönliche Selbständigkeit gerichtet.
Die politischen Parteien, die Betheiligung an der Polizeiver-
waltung der Friedensrichter, die Mitwirkung bei den Wahlen,
die Theilnahme an den Grafschaftsverbänden und an den Ge~
schwornengerichten , die Uebung zu allen gemeinnützigen
Eilftes Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 135
Zwecken in Vereine zusammen zu treten , die freiwillige Selbst-
besteuerung für solche Zwecke, welche zu der Tragung der
Stats- und Gemeindesteuern hinzutritt, das Alles erhält die
Aristokratie im Zusammenhang mit dem Volksleben und übt
sie in den Pflichten der Selbstverwaltung und der patriotischen
Thätigkeit. Niemand kann ihr vorwerfen, dasz sie eine Schma-
rotzerpflanze sei , welche die Volkssäfte gierig aufsauge und
die Fruchtbarkeit des Stammes und seiner Zweige ver-
mindere. 4
5. Das Princip des Erbrechtes ist für die englischen
Lords zur statsrechtlichen Regel erhoben worden, aber weder
in so absoluter Form noch so ausschlieszlich als auf dem
Continent.
In der ersten Zeit stand das Erbrecht und die Pairschaft
in enger Beziehung zu dem Grundbesitz oder den Aemtern;
die Paine selber hatte damals einen territorialen Charakter.
Später aber wurde dieser Zusammenhang aufgelöst, und die
Pairie ging als persönliche Würde durch das Erbrecht
über. Von dieser frühern Verbindung mit einem bestimmten
Land, oder Schlosz oder Amte her erhielt sich aber der wich-
tige erb rechtliche Grundsatz, dasz nur Einer der Söhne oder
Anverwandten des verstorbenen Lords an dessen Stelle ins
Parlament trete. Nur der älteste Sohn wurde nach den Grund-
sätzen der Erstgeburt wieder Lord, die später geborenen er-
hielten mindern Eang und waren von den Rechten des hohen
Adels ausgeschlossen. Nicht blosz die jüngeren Söhne des
Lords sind vor dem Gesetze blosze Esquires, sondern selbst
der älteste wird, so lange der Vater lebt, nur von der Höf-
lichkeit der Gesellschaft, nicht von dem Rechte Lord genannt.
Auf diese Weise blieb einerseits das Ansehen und der Reich-
thum der groszen Familien fortdauernd in Einem Familien-
haupte concentrirt, und gab es andererseits Uebergänge zu den
4 Vgl. die ausführliche Darstellung in dem angef. Werk von Oneist
und die Charakteristik von Tocqiievüle Oeuvres Bd. VIII.
|36 Zweites Buch. Volk und Land.
übrigen Ständen, welche den Unterschied des Blutes mil-
derten. 5
6. Ebenso wurde die Familiengenossenschaft auch
der'Pairs nicht auf das adelige Blut beschränkt. Auch die
bürgerlich geborne Frau, welche zur Gemalin eines Lords er-
hoben wird, wird um deszwillen ohne Bedenken zur Lady:
ein Grundsatz des natürlichen Familienrechts, dessen Beachtung
die Ehre des hohen Adels keineswegs verdunkelt, sondern im
Gegentheil vor gerechten Angriffen bei weitem mehr gesichert
hat als das kastenartige Princip der Ebenbürtigkeit, an wel-
ches der deutsche hohe Adel so ängstlich sich anklammert.
7. Endlich wurde der Stand der Pairs von Zeit zu Zeit
durch neue Pair sernennungen ergänzt und erfrischt. Das
Kecht, Pairs zu ernennen, wurde dem Könige vorbehalten.
Er galt als ,,die Quelle aller politischen Ehren." 6 Ihm allein
kam es daher zu, neue Glieder des Adels, sei es mit dem
Titel eines Herzogs, Marquis, Grafen (earl), Vizgrafen
(viscount) oder dem einfacheren eines Barons zu schaffen und
ihnen Pairsrechte zu verleihen. Aber es lag in der Natur der
Dinge, dasz zu der politisch-nationalen Würde nur Männer
erhoben werden konnten, welche durch ihre Verdienste beson-
ders als Feldherrn oder Statsmänner sich ausgezeichnet hatten,
und zugleich ein so bedeutendes Vermögen besaszen oder er-
hielten, dass sie im Stande waren,, den Ansprüchen des hohen
Standes zu genügen. Die englische Aristokratie erhielt auf
diese Weise einen stäten Zuflusz von wahrhaft aristokratischen
5 Macaulatj, Hist. of England I. S. 37: „Die englische Aristokratie
hatte in keiner Weise den gehässigen Charakter einer Kaste. Sie nahm
fortwährend neue Mitglieder aus dem Yolke in sich auf, und gab ohne
Unterbruch wieder Mitglieder ab, die sich mit dem Yolke mischten. Der
Freisasse war picht geneigt über die Würden zu murren, zu denen seine
eigenen Kinder aufsteigen konnten. Der Magnat war nicht geneigt, eine
Classe mit Verachtung zu behandeln, in welche seine Kinder herabsteigen
muszten."
6 Blackstone, Commentar. on the Laws of England. I. 12.
Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 137
Kräften, und wurde vor der Gefahr in Abgeschlossenheit und
Unbeweglichkeit zu versumpfen und zu faulen, glücklich be-
wahrt. Den kräftigsten und begabtesten Männern des Volkes
aber war die ermuthigende Aussicht eröffnet, dasz sie durch
ihre Verdienste um den Stat sich und ihrer Familie den dau-
ernden Zutritt zu den sonnigen Höhen des Statslebens zu er-
werben vermögen. Vom Jahr 1700 bis 1800 sind so 34 Her-
zöge, 29 Marquis, 109 Grafen, 85 Viscounts, 248 Barone neu
creirt worden. Die Zahl der ebenfalls ernannten Baronets
beträgt in dieser Periode mehr als 500. Heute noch treten,
auch ohne Adelstitel, reiche Bürger, welche grosze Güter auf
dem Lande kaufen, in die Londgentry über.7
Wenn man sich den Gesammteindruck dieser Eigenschaften
der englischen Aristokratie vergegenwärtigt, so ist es nicht
mehr räthselhaft, weszhalb der englische Adel allein seine
Existenz bis auf unsere Tage unangefochten bewahrt hat und
fortwährend in der Verfassung eine fruchtbare und glänzende
Stellung einnimmt, während auf dem Continente der Adel
überall entweder gänzlich untergegangen ist oder doch nur ein
sehr bestrittenes und verkümmertes Dasein hat.
Zwölftes Capitel.
D. Der deutsche Adel.
Die Geschichte des deutschen Adels weist bei allen Stäm-
men auf eine Anzahl vornehmer Geschlechter hin, welche
durch Kriegsruhm, Keichthum und Führerschaft über die
übrigen Freien emporragen und thatsächlich eine fürstliche
Stellung behaupten. Dieser uralte oft nur aus wenigen Fami-
lien bestehende Stammesadel ist die Grundlage geworden für
7 Gneist, III. S. 383. Tocqueville, VIII. 319.
138 Zweites Buch. Volk und Land.
den mittelalterlichen Dynasten- und Herrenadel. Erst während
des Mittelalters aber sind dazu noch andere Classen eines
ritterschaftlichen niederen Adels hinzugekommen.
I. Hoher Adel. Herrenadel. Standesherren.
Die Ausbildung dieses höchsten weltlichen Standes geschah
im Mittelalter im Anschlusz an die deutsche Eeichsverfassung.
Die Familien, deren Häupter zu höchster Selbständigkeit und
Selbstherrlichkeit im Eeiche emporgestiegen waren, galten als
hoch fr ei ( sendbar frei , semperfrei). Bis gegen Ende des
dreizehnten Jahrhunderts wurden nur die Glieder dieser Fami-
lien als wirklicher Keichsadel (nobiles) bezeichnet. Aber nur
die Häupter der Familien, welche im Besitz der reichsfürst-
lichen oder gräflichen Stellung waren, oder reichsfreie Herr-
schaften inne hatten, galten als eigentliche Herren. In den
andern Gliedern der Familien war der Stand ein ruhender, sie
waren nur Genossen der Fürsten und Herren und nicht
selber Fürsten und Herren.
Diese reichsständische Erhebung gründete sich
a) auf das Fürstenamt, d. h. ursprünglich auf die her-
zogliche Kriegsgewalt, welche mit der Fahne verliehen wurde.
Neben und theilweise vor den weltlichen Fürsten (Herzogen.
Mark- und Pfalzgrafen) stehen die geistlichen, mit dem
Scepter beliehenen Keichsfürsten. Das weltliche Fürstenamt
war erblich geworden und wurde in der Kegel nur den Ab-
kommen aus hohem Adel verliehen. Das geistliche Fürsten-
amt war nicht ausschlieszlich diesem Stande vorbehalten : öfter
wurden auch Geistliche von blosz ritterschaftlicher Abkunft
oder bürgerliche Gelehrte dazu erwählt, in seltenen Fällen so-
gar Bauernsöhne auf den bischöflichen Stuhl erhoben.
b) auf das Grafenamt, das ebenso zu einem erblichen
Landgrafenthum und zu erblicher Landesherrschaft befestigt
wurde. Nach dem Sturze der mächtigen Stammesherzoge und
der Vertheilung der herzoglichen Gebiete unter mehrere Fürsten
bekamen diese gräflichen Dynastien höheres Ansehen. Der
Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 139
Form nach beruhte die Grafenwürde auf der Verleihung des
Königsbanns durch den König, dem Wesen nach war sie erb-
liche Landesherrschaft.
c) Daneben gab es eine Anzahl von groszen Aliodial-
herrschaften, deren Herrn wieder durch Immunitäten und
Verleihung von Hoheitsrechten eine den Grafen ähnliche Hoheit
und Gerichtsmacht erlangt hatten, die sogenannten freien
Herrn (Barone).
Die Familien des alten Stammesadels, die nicht eine der-
artige Reichsstellung erwarben, konnten sich auf die Dauer
nicht als Glieder des hohen Reichsadels behaupten, sondern
verschwanden unter den übrigen Classen, vorzüglich des ritter-
schaftlichen Adels.
Dieser Reichsadel ist in seinen Häuptern hauptsächlich
durch zwei politische Rechte ausgezeichnet, 1) durch die
Landeshoheit, 2) durch die Reichsstandschaft. Er
ist also ein herrschender Stand im höchsten Sinn des
Worts, in den eigenen Ländern alleinherrschend, im Reiche
mitherrschend.
Dieser Zug nach Herrschaft ist charakteristisch für den
deutschen hohen Adel. Die Geschichte des deutschen Reiches
zeigt die unglücklichen Wirkungen dieses mächtigen Triebes,
welcher die angesehensten Geschlechter verführte, die Hoheit
des Kaiserthums den Anmaszungen des römischen Papstthums
Preis zu geben, das deutsche Königthum vollständig zu ent-
kräften und lahm zu legen, die nationale Einheit gänzlich auf-
zulösen und deutsches Gebiet den Fremden dienstbar zu machen.
Diese schwere Verschuldung gegen das Gesammtvaterland und
die Weltgeschichte wird nicht aufgewogen durch die Blüthe
der Höfe und der fürstlichen Residenzen und nicht gut ge-
macht durch die veredelnden Werke der Cultur, welche unter
dem Schutz und mit der Förderung der Dynasten glücklich
gediehen.
Die Landeshoheit wurde mit der Zeit zu einer scheinbaren
140 Zweites Buch. Volk und Land.
Souveränetät gesteigert, ohne innere Kraft und ohne
Sicherheit für die Zukunft. Nur einige der gröszten fürstlichen
Territorien waren fähig, eine relative s tatliche Existenz
zu behaupten, die meisten waren auch dazu zu schwach an
Mitteln und zu beschränkt an Geist. Die Reichsstandschaft
aber wurde selten so geübt, dass die Interessen der deutschen
Nation gefördert, die öffentlichen Rechte ausgebildet, und die
Volksfreiheit befestigt wurde, sondern vielmehr in der Rich-
tung ausgebeutet, die besondere Landesherrschaft der Reichs-
stände zu erweitern und die nationalen Pflichten abzulehnen.
In diesem Stande war auch die Neigung sich familien-
artig abzuschlieszen besonders stark vertreten. Es zeigt
sich das in dem strengen Erfordernisz der Ebenbürtigkeit,
in der Verwerfung der sogenannten Miszheirath und in der
Ausbreitung des gleichen Standesrechts auf sämmtliche Kinder.
Nur die ebenbürtige Ehe zwischen Genossen von beiderseitiger
Abstammung aus hochfreien Familien galt als völlig untadel-
haft. Die Ehe eines Hochfreien selbst mit einer Mittelfreien
wurde in vielen dynastischen Familien schon als Miszheirath
betrachtet, welche die Ebenburt der Kinder und die fürstliche
Erbfolge der Söhne gefährde, /war konnte noch der König
durch persönliche Standeserhebung der Frau diesen Mangel
heben oder die Familie konnte kraft ihrer Autonomie auch
freieren Grundsätzen über Ehegenossenschaft huldigen oder im
einzelnen Fall ihre Zustimmung zur Vollwirkung einer an sich
ungleichen Ehe ertheilen. Keine deutsche Dynastie hat sich
ganz rein erhalten können nach den strengen Grundsätzen der
Ebenburt. Aber in sehr vielen Fällen wurden von Anfang
morganatische Ehen geschlossen, mit der ausdrücklichen
Bestimmung, dasz die Kinder dem fürstlichen Stande des
Vaters nicht folgen. Und in vielen andern Fällen wirkte die
unzweifelhafte Miszheirath, besonders mit einer Frau von nie-
derer Herkunft aus kleinbürgerlichem oder bäuerlichem oder
gar aus hörigem Stamm ebenso und es konnten in solchen
Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 141
Fällen nach den späteren Wahlcapitulationen selbst die Könige
einen solchen Flecken nicht reinigen. Zur Zeit der Bechts-
spiegel noch wurden Fürsten, Grafen und Freiherrn nur die
wirklichen Träger des Fürsten- und Grafenamts und die Be-
sitzer einer Freiherrschaft genannt. 1 Aber später kam der
verwirrende Sprachgebrauch auf, dasz auch alle Söhne der
Fürsten und Grafen, unbekümmert darum, ob sie ein Fürsten-
thum oder eine Grafschaft hatten, den Titel des Vaters an-
nahmen und weiter verpflanzten. Diese Vervielfältigung der
Titel ohne inneren Gehalt, scheinbar zur Ehre der Familien
durchgeführt, diente dazu, deren Ansehen im Volk zu unter-
graben und dieselben den gröszeren Landesherren gegenüber
zu schwächen. Das Princip einer unbesch rankten erb-
lichen Ausbreitung ward daher dem hohen Adel selbst,
der es in Anspruch nahm, verderblich. Ebenso diente der
festgehaltene Grundsatz der Ebenbürtigkeit dazu, die Quellen
seiner eigenen Erfrischung zu verstopfen und ihn von der Zu-
neigung des Volkes abzuschlieszen.
Mit der Auflösung des deutschen lieiches muszte auch
dieser hohe Adel der Deutschen untergehen. Die Säculari-
sation (1803) beseitigte die geistlichen Fürsten, deren Länder
unter die weltlichen Fürsten vertheilt wurden, gänzlich. Ihr
folgte die sogenannte Mediatisirung einer groszen Anzahl
bisher selbständiger kleiner Keichsfürsten und Herren, welche
nur den gröszeren Landesfürsten unterthänig gemacht wurden
und von ihrer früheren Landesherrschaft nur noch eine mitt-
lere und niedere Gerichtsbarkeit in verkümmerter und hin-
fälliger Gestalt beibehielten. Wie ihre Landeshoheit so zerstört
war, so war auch mit dem Erlöschen der Eeichstage ihre
Keichsstandschaft nach und nach erloschen. Sie erhielten dafür
in dem neuen Kechte der Landstandschaft — vorzüglich
1 Sachsensp. III. 58. §. 2. „It n'is nen vanlen, dar die man af
möge des rikes vorste wesen, he ne vntva't van deme koninge."
Ssp. I. 3, §. 2. Schwabensp. 5.
142 Zweites Buch. Volk und Land.
in den Ersten Kammern — einen theüweisen Ersatz. Die
fürstlichen Titel waren geblieben, die fürstlichen Kechte waren
untergegangen. Nur eine kleinere Zahl der früheren Fürsten,
meistens die gröszeren, erwarb eine souveräne Stellung als
selbständige Landesfürsten ihrer Staten und als Glieder des
deutschen Bundes.
IL Eitterschaftlicher Adel. Niederer Adel.
In der Mitte zwischen dem alten Dynastenadel und den
einfachen Freien standen die aus den letzteren erhobe-
nen Mittelfreien, wie sie der Schwabenspiegel nennt. Im
Süden von Deutschland läszt sich dieser Stand bis in die Zeit
der fränkischen Monarchie hinauf verfolgen. Erst seit dem
vierzehnten Jahrhundert aber kam der Sprachgebrauch auf,
diese Mittelfreien ebenfalls Edelleute zu nennen, dadurch
dem Adel als niederen Adel näher zu bringen und gleich-
zeitig schärfer von den einfachen Freien zu trennen.
Die Hauptbestandtheile dieses Standes waren:
a) Die schöffenbar Freien, ursprünglich mit gröszern
Gütern (drei Hüben oder mehr)2 ausgestattet, und als die
angeseheneren und reicheren Freien zu dem Schöffenamte be-
rufen, welches wie alle Aemter im Mittelalter mit der Zeit
erblich ward. Sie konnten auch ihr Eigen länger als die
Masse der freien Bauern frei von Lasten und im Zusammen-
hange mit den Grafen din gen , im Gegensatze zu den Vogtei-
gerichten erhalten. In den spätem Jahrhunderten gingen die
schöffenbar Freien gewöhnlich in dem Kitter- und Grundherren-
stande auf.
b) Die Vasallen des Adels, seitdem das Kitterwesen
aufgekommen, Ritter mit Ritterlehen. :i
c) Zu diesen kamen dann später auch manche Ritter
2 Sachsensp. III. 81. §• 1. I. 2.
3 Sachsensp. I. 3. §.2. „de scepenbare lüde unde der vrienher-
ren man (haben) den veften (Heerschild). u Schwabens p, 5. „mitel
vrien, daz sin die ander vrien man sint."
Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 143
ohne Ritterlehen, groszentheils zwar Abkömmlinge der
Vasallen, die eine rittermäszige Erziehung genossen hatten und
in die Eitterschaft aufgenommen wurden, in der Folge aber
auch andere Kriegsmänner, welche von dem Kaiser oder be-
rechtigten Stellvertretern desselben zu Rittern erhoben wurden.
d) Die zahlreichen Dienstleute, Ministerialen
(Edelknechte), noch im XIII. Jahrhunderte sehr scharf von
den ritterbürtigen Männern geschieden, ihrer Abstammung nach
groszentheils Hörige und Halbfreie, durch Hofämter und Hof-
dienst, groszen Grundbesitz und vornehme Lebensart empor-
gehoben, anfangs nicht des Lehensrechts, nur des Dienst- und
Hofrechtes theilhaftig, allmählich den Rittern zur Seite tretend
und mit ihnen in einen Stand zusammenschmelzend.
e) In manchen Reichsstädten, seltener in Landstädten, die
Geschlechter, Patricier, ursprünglich meist von schöffen-
bar freier oder rittermäsziger Abstammung, durch den Antheil
an der städtischen Obrigkeit ausgezeichnet.
Auch unter diesen Classen des sogenannten niedern Adels
verdrängte das überhandnehmende Princip der persönlichen
Erblichkeit mehr und mehr die Rücksichten auf Grund-
besitz, ritterliche Lebensart, Hofdienst, und erzeugte eine grosze
Anzahl von Edelleuten, die keine andere edle Eigenschaft be-
saszen als den Nachweis eines alten Stammbaums. Auch die
Abschlieszung dieses Standes von den freien Bürgern und
Bauern wurde immer schroffer, und zwar gerade in den Zeiten,
als die innere Bedeutung des Gegensatzes abstarb. Im Zu-
sammenhange damit erhielt die Sucht nach vornehmen Titeln
reichliche Befriedigung, und auch aus diesem Stande gingen
ganze Schaaren von Freiherren und sogar Grafen und Fürsten
hervor, theils durch Verleihung, theils geradezu durch An-
maszung solcher Titel, denen im übrigen keine Realität mehr
entsprach, die keine Freiherrschaft, keine Grafschaft, kein
Fürstenthum hatten.
Ein so ausgebildeter Adel der Militär- und Civilämter
144 Zweites Buch. Volk und Land.
wie in Frankreich kam in Deutschland nicht auf. Höchstens
bildete der gelehrte Adel der Doctores juris eine individuelle
Ergänzung des im übrigen erblichen Standes. Um so eifriger
dagegen wurde der Briefadel zur Erweiterung des ohnehin
übermäszigen Titula radeis den Franzosen nachgeahmt.
Dieser niedere Adel hatte weder auf Landeshoheit noch
auf Keichsstandschaft Anspruch. Nur die Keichsritter-
schaft erlangte eine der Landeshoheit ähnliche Selbständigkeit
in ihren durch das Eeich zerstreuten Gebieten. Dagegen war
er des Lehensrechts theilhaft und hatte häufig gewisse
Vorrechte auf Stiftungen und Pfründen. Auch besasz
ein Theil seiner Glieder, jedoch nur in Verbindung mit be-
stimmten Herrschaften und Gütern, erbliche Vogt ei- und
Grundherrschaft und übte die damit verbundene Gerichts-
barkeit aus, im Zusammenhang mit der mittelalterlichen
Ausbreitung des Lehenssystems. Endlich besasz er innerhalb
der einzelnen Territorien das Kecht der Landstandschaft,
und umgab regelmäszig die Landesherren als Hofadel.
Wo möglich noch tiefer zerrüttet als die Keichsinstitution
des hohen Adels ist die politische Institution des sogenannten
niedern Adels in Deutschland. Die Auflösung des Lehens-
verbandes, der Untergang der feudalen Statseinrichtungen , die
Umgestaltung der Armeen, die Ausbildung eines individuellen
Beamtenstandes, die Erhebung bürgerlicher Geschlechter und
Personen, die Fortbildung der Kepräsentativverfassung haben
die Grundlagen zerstört, auf welchen dieser Stand erwachsen
ist. Die vielfältigen Neuerungen unserer Zeit haben sowohl
von oben als von unten her die besonderen Adelsrechte eines
nach dem andern, zuweilen auch alle zumal aufgelöst und auf-
gehoben. Auch in Deutschland, wie zuvor in Frankreich, hat
der dritte Stand von den Vorrechten des Adels nichts mehr
wissen wollen und die ganze Existenz desselben bestritten.
Durch die unbegrenzte Ausbreitung des adeligen Geschlechtes
auf alle folgenden Generationen geriethen die äuszeren An-
Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 145
spräche des Adels mit ihrer realen Begründung in schreienden
Widerspruch und wurden die Miszverhältnisse besonders im
Vergleich mit dem höheren Bärgerstand gesteigert und die
Verwirrung ärger.
Nur eine Keform von Grund aus, nicht die starre Be-
wahrung der gegenwärtigen Kuinen einer vormals groszartigen
Institution, und noch weniger die Begünstigung der Miszbräuche
und hochmüthigen Prätensionen kann hier helfen. Wir be-
dürfen eine Beform, welche die Kitterschaft in Harmonie bringt
mit den modernen Lebens- und Verfassungsverhältnissen, welche
zwar die zahlreichen gesunden Elemente des bisherigen niedern
Adels vor dem Untergang rettet und schützend erhält, aber
alle andern Bestandtheile desselben, die in sich selber keine
Kraft, keine Auszeichnung haben, schonungslos beseitigt, eine
Erneuerung, welche jenen wahrhaften, mit aristokratischen
Eigenschaften noch ausgestatteten alten, meist begüterten
Bitteradel ergänzt und verstärkt durch die übrigen in der
Nation vorhandenen aristokratischen Qualitäten auch
von neuem Datum. Nur eine Neugestaltung des wahrhaft aus-
gezeichneten Adels, welche zugleich die Schranken entfernt,
die der Kastengeist auf dem Continent errichtet hat und den
Adel auch in lebendigem Zusammenhang mit dem versöhnten
Volke erhält, könnte wieder zur Unterlage dienen, für die
höhere politische Stellung des Adels und die Ausbildung
der aristokratischen Theile der Nation.
Die Erblichkeit wird indessen in einem so gereinigten
aristokratischen Mittelstande schwerlich allein Geltung haben
noch schrankenlos sich ausdehnen dürfen. Denn es gibt in
Wahrheit auch einen Individualadel neben dem (erblichen)
Kasseadel, und auch eine edle Rasse kann in folgenden
Generationen und getrennt von ihren socialen Grundlagen ihren
Adel verlieren.
Für diese Reformen des deutschen Adels ist indessen noch
keine Aussicht vorhanden. Die Jahre, welche derselben günstig
Bl untsc hü j allgemeines Statarecht. I. 10
146 Zweites Buch. Volk und Land.
waren (1852 bis 1859), wurden nicht benutzt. Ein paar ver-
unglückte Versuche bewiesen nur die geringe Autorität der
Keformfreunde unter ihren Standesgenossen und den Wider-
willen der Mehrzahl gegen jede aufrichtige und wirksame
Beform. Ein groszer Theil des deutschen Adels hat sich den
Ideen der neuen Zeit eher feindlich als freundlich gezeigt und
lange noch in romantischen Gefühlen für mittelalterliche Zu-
stände geschwärmt oder dem landesherrlichen Absolutismus
willfährig als Stütze gedient. Deszhalb ist er nicht wie der
englische Adel volksthümlich geblieben, sondern dem franzö-
sischen Legitimistenadel ähnlich dem Volke verdächtig ge-
worden, ungeachtet in allen groszen Entwicklungsmomenten
immer noch die besten Männer und Führer von adelicher Her-
kunft waren. Bei solcher Stimmung ist an keine Reform von
Innen heraus zu denken, und von Auszen her durch blosze
Gesetze und Statuten kann dieselbe nicht vollzogen werden.
Anmerkungen. 1. Riehl hat in seinem Buch „die bürgerliche
Gesellschaft" (1854) die sociale Bedeutung „der deutschen Aristokratie"
in lebhaften Bildern gezeichnet. Der Adel hat gegenwärtig nur noch
eine sociale Geltung, die auch für sich einen "Werth hat, aber ohne
politische Organisation weder auf die Dauer zu erhalten ist, noch zur
rechten Wirksamkeit gelangen kann. Die Stände sind als sociale Ge-
meinschaften nur eine Unterlage der organischen und dann erst
wirklichen politischen Stände.
2. Di.e Ansichten, welche ich im Deutschen Statswürterbuch I. 5.
30 ff. und S. 58 ff. ausgesprochen habe, heben vornehmlich den Unter-
schied hervor zwischen ruhendem (passivem) und wirklichem (activem)
Adel und gründen darauf Vorschläge der Reform. Jener schon durch
die Geburt verliehen, hat nur die Möglichkeit in sich, wirklich zu wer-
den, aber gibt keinerlei Vorzüge ; dieser setzt auch die persönliche Aus-
zeichnung voraus, durch die jene Möglichkeit erfüllt wird. Ich habe
seitdem die wenig tröstliche Entdeckung gemacht, dasz schon Justus
Moser auf denselben Gedanken vor zwei Menschenaltern gekommen
(Patriot. Phantasien, IV. 248) und dasz derselbe in der ganzen langen
Zwischenzeit gänzlich miszachtet geblieben war. Bluntschli Geschichte
der Statswissenschaft S. 423.
Dreizehntes Capitei. Die Freien und der Bürgerstand. 147
Dreizehntes Capitei.
III. Die Freien und der Bürgerstand.
Waren die einfachen Freien ursprünglich fast überall vor-
zugsweise freie Grundeigenthümer und Landbauern, so änderte
sich das später meistentheils. Die antike Statenbildung ist
regelmäszig von den Städten ausgegangen; ein groszer und
der politisch einfluszreichste Theil der Freien lebte in den
Städten, und wendete sich städtischer Berufs- und Lebensweise
zu. In dem Bürgerrechte fand die blosze ständische Frei-
heit einen höhern politischen Ausdruck.
I. Bei den Griechen erlangte der freie Bürgerstand, vor-
züglich zu Athen, die höchste Ausbildung und Macht. Es
gelang ihm hier, auf der einen Seite die patronymischen Ge-
schlechter zu sich hernieder zu ziehen, und auf der andern
Seite die dienenden Classen — mit Ausschlusz der Sclaven-
bevölkerung — zu sich zu erheben. Alle Statsgewalt wurde
von dem Bürgerthume allein, in welchem völlige Eechts-
gleichheit als Grundrecht galt, in Anspruch genommen. In
ihm fand die Athenische Demokratie ihre natürliche Grundlage.
IL In Born errang die Plebes zwar eine eigenthüm-
liche politische Gestaltung in den Tributcomitien und in den
Volkstribunen auch besondere Organe theils ihrer Meinung und
ihres Willens, theils ihrer Vertretung und ihres Schutzes.
Ferner sog sie den Stand der dienten, welcher vordem eine
eigene Stellung gehabt hatte, in sich auf, und erkämpfte selbst
die Fähigkeit für ihre Genossen, zu den höchsten Magistraturen
des States aufzusteigen. Es waren ihr fast keine politischen
Kechte mehr verschlossen, und der alte Gegensatz des popidus
und der plebes verlor seinen Sinn.
Dennoch unterscheiden sich die Schicksale der römischen
Plebes darin sehr von denen der Athenischen Bürgerfreiheit}
dasz in Born die neue Aristokratie der Optimaten emporragte
10*
148 Zweites Buch. Volk und Land.
und die reale Statsmacht vorzugsweise in ihren Händen be-
hielt. Die grosze Masse der römischen Bürger blieb zwar im
Besitze des vollen Privatrechtes, und übte in ihrer Gesammt-
heit die Kechte der Gesetzgebung und der Wahlen für die
Statsämter aus. Ihre Mitglieder waren auch fähig, zu den
öffentlichen Würden gewählt zu werden. Die spätere Plebes
war in der politischen Rechtsfähigkeit keineswegs zurückgesetzt;
aber die Natur der römischen Zustände und Einrichtungen
brachte es doch mit sich, dasz die Magistraturen und der
Senat gewöhnlich in der weit überwiegenden Mehrzahl der
Aristokratie zukamen.
So lange die Republik dauerte, waren die Plebejer der
Hauptbestandtheil der römischen Bürgerschaft, und zugleich
die Quelle und Stütze der demokratischen Richtung, die auch
im römischen State später überhand nahm. Als aber die La-
tiner und die italischen Bundesgenossen, und unter den Kaisern
sogar alle freien Provincialen zu römischen Bürgern erklärt
wurden, verlor das Bürgerrecht seinen specifischen Charakter,
und es entstand ein allgemeines, die gesammte freie
Bevölkerung des Reiches umfassendes Statsbürger-
thum, dessen politische Rechte, soweit nicht Einzelne durch
Aemter und Würden eine höhere Stellung erhielten, von der
übermäszigen Gewalt des Kaisers groszentheils aufgezehrt wurden.
III. Das Mittelalter war dem Stande der Gemeinfreien
nicht günstig. Fast überall in Europa erlagen die freien
Grundeigenthümer des Landes der um sich greifenden Herr-
schaft des Lehensadels und der Vogteiherren. Die Gesetz-
gebung Karls des Groszen vermochte, obwohl sie, von einem
starken Könige gehandhabt, die schlimmsten Bedrückungen
hemmte, doch den Fortgang des Uebels nicht aufzuhalten.
Ein sehr groszer Theil der bäuerlichen Bevölkerung in der
fränkischen Monarchie, welcher durch freie Geburt den echten
germanischen Volksstämmen angehörte, gerieth, weil er auf
königlichen oder Kirchengütern, oder in den Grundherrschaften
Dreizehntes Capitel. Die Freien und der Bürgerstand. 149
des Adels sich niederliesz und Boden bebaute, der nicht in
seinem Eigentimm war, oder weil er sein Eigentimm aus
frommen Motiven oder auch aus Noth an die Kirchen und
Klöster vergabt, und nur als Zinsgut zurück empfangen hatte,
in die Höfhörigkeit, kam so den auch persönlich hörigen Bauern
näher und büszte mancherlei politische Freiheitsrechte ein.
Und später konnten auch die kleinern Güter, welche im Eigen-
thum ihrer freien Bebauer geblieben waren, sich doch der
Vogteigerichtsbarkeit und der Lasten nicht erwehren, welche
die herrschende Aristokratie denselben auferlegte. Die ver-
änderte Organisation der Heere, erst auf den Kitter- und
Lehendienst basirt, später auf Soldtruppen, hatte zur Folge,
dasz auch die freien Bauern die Kriegstüchtigkeit und Krieger-
ehre verloren. Sie wurden mit Steuern in den mannichfaltig-
sten Formen und aus mancherlei Vorwänden oft willkürlich
belegt; und auch in den Gerichten, mehr aber noch in den
politischen Körperschaften des Landes verloren sie den Besitz
und die Stimme, welche die alt-germanische Verfassung ihnen
gewährt hatte. Auch die freien Grundeigentümer wurden
als Vogteileute nach und nach den hörigen Bauern gleich-
gestellt, und beide Bestandtheile — ohne dasz auf die ursprüng-
liche Freiheit oder selbst das Eigenthum ein besonderer Nach-
druck gelegt ward — unter dem gemeinsamen Namen der
Bauerschaft zusammen gefaszt. Der alte Erbstand wurde
somit in einen Berufsstand umgewandelt, und die politi-
schen Kechte des Bauernstandes meistens sehr verkürzt. Nur
ein Theil der freien Bauern, meistens die gröszeren Grund-
eigenthümer, stieg unter die neu erstandene Classe der Kitter-
schaft empor.
Ausnahmsweise nur, unter günstigen Verhältnissen, gelang
es einzelnen Gemeinden von Freien sowohl ihr freies Eigen
als ihre höhere politische Berechtigung vor den drohenden
Gefahren des Mittelalters in die neuere Zeit hinüber zu er-
halten. Eines der merkwürdigsten Beispiele der Art ist die
150 Zweites Buch. Volk und Land.
Schwyzer Markgenossenschaft, welche den Impuls gegeben hat
zu der nach ihr benannten schweizerischen Freiheit.
IY. Während so auf dem Lande die alte Freiheit ge-
wöhnlich niedergedrückt wurde und unterging, so wurden im
Gegensatze während des Mittelalters die Städte zum Sitz
einer neuen Bürgerfreiheit.
Die Geschichte der Städte ist für die Entwicklung des
Begriffs der modernen Freiheit und des Bürgerthums von ent-
scheidendem Einflüsse geworden. Beide Begriffe waren früher
städtische, bevor sie zu allgemeinen Statsbegriffen ge-
worden sind. Es bedurfte jahrhundertelanger Kämpfe und
Umwandlungen, bis das städtische Bürgert hu m zu voller
Ausbildung gelangte, und wieder nach Jahrhunderten wurde
es zum Statsbürgerthum erweitert.
Die Mannichfaltigkeit und Gesondertheit des aus romani-
schen und mehr noch aus germanischen Wurzeln erwachsenen
Ständelebens, welches das Mittelalter vornehmlich charakterisirt,
spiegelte sich anfangs auch in den Städten wieder. Sie zeigte
sich gerade in den Städten, welche eine gröszere Bevölkerung
auf engem Kaume zusammenfaszten, ursprünglich in ihrer bun-
testen Gestalt. Da fanden sich, von denselben Graben und
Mauern umschlossen, oft beisammen:
1) geistliche Fürsten mit ihrem Hofstate und be-
sondern Hoheitsrechten, Bischöfe, Aebte;
2) die niedere Geistlichkeit in mannichfaltigen Ab-
stufungen und Gliederungen;
3) weltliche Grosze von hohem Adel, z. B. könig-
liche Grafen oder sonst hohe Barone, in Italien Capitanei,
welche meistens, insofern sie nicht Burgen daselbst besaszen,
nur vorübergehend in den Städten lebten und ihren eigent-
lichen Stammsitz auf dem Lande hatten;
4) ritterliche Familien, häufig auch mit Lehens-
besitz auf dem Lande ausgestattet;
5) Ministerialen der geistlichen und weltlichen Herren ;
Dreizehntes Capite). Die Freien und der Bürgerstand. 151
6) Mittelfreie, in den romanischen Städten von Italien
und Frankreich häufig die Nachkommen der römischen Decu-
rionenfamilien, welche in der Stadt Grundeigentum besaszen,
oder germanische Freie, die sich in der Stadt auf eigenem
Boden niedergelassen hatten und durch Vermögen und poli-
tische Stellung ausgezeichnet waren;
7) einfache Gemeinfreie, aber noch mit Grund-
eigentum in der Stadt;
8) persönliche Freie, die .aber auf Herrengütern in
der Stadt wohnten und um deszwillen dem Hofrechte, z. B.
einer Abtei unterworfen waren;
9) eine Menge höriger Leute verschiedener Herren,
und in den mannichfaltigsten Verhältnissen, die einen selb-
ständig lebend, als Handwerker,
10) die andern in Familienabhängigkeit, als Dienstboten,
Gesellen u. s. f.
Die Verbindung aller dieser Bruchstücke der mittelalter-
lichen Stände in Einer Stadt muszte mit der Zeit die Son-
derung derselben auflösen und eine neue Mischung hervorbringen.
Gemeinsames Leben, gemeinsame Interessen und Schicksale,
oft auch die Kämpfe der Parteien brachten die einen Bestand-
teile den anderen näher, oder bewirkten neue Gegensätze,
welche nicht von der Geburt bestimmt waren. Die Stadt-
verfassung brachte neue Genossenschaften und Käthe hervor,
in welchen die verschiedenen Stände zu einer neuen Einheit
verschmolzen wurden. Der Gang dieser Umgestaltung war,
obwohl in den verschiedenen Städten die Verschiedenheit der
Nationalität, der Zeiten und der localen Einflüsse auch ihre
Einwirkung übte, doch im Groszen überall der nämliche. Es
kommen hiebei vorzüglich folgende Momente in Betracht:
1. Den eigentlichen Kern der alten städtischen Bür-
gerschaft bildeten zuerst die vornehmen Geschlechter
der Bitter, Ministerialen und Mittelfreien, welche in den Kä-
then (als Consules) nach Selbständigkeit strebten und die
252 Zweites Buch. Yolk und Land.
Herrschaft der alten Stadtherren beschränkten. Dann erwei-
terte sich dieser Kern durch die Verbindung mit den gemein-
freien Elementen und es traten' neue Gegensätze zu Tage
zwischen den alten aristokratischen Geschlechtern und den
jungen aufstrebenden Genossenschaften freier Bürger. So hatte
sich zu Mailand schon um die Mitte des eilften Jahrhunderts
die ,,Mottau als politische Genossenschaft gebildet aus Dok-
toren der Hechte, Aerzten, Banquiers, Groszhändlern und ein-
zelnen ritterbürtigen Leuten, Junkern, welche die ritterliche
Lebensweise nicht fortsetzten, später der ,,popolo grasso,"
Populäres genannt und trat den adelichen Capitanei und Val-
vassores (Baronen und Bittern) entgegen, dann auch im zwölf-
ten Jahrhundert in dem Groszen Käthe (consilium generale),1
als einem städtischen Gesammtrathe , zur Seite.
Die Erzeugung einer städtischen Obrigkeit in den
Consuln war der erste entscheidende Schritt zur Einigung
der höhern Stände in der Stadt, die Bildung von Groszen
Käthen und die Berufung von Gemeinden gewöhnlich ein
zweiter und dritter. Zuletzt kamen die Zünfte, und so um-
fing von Zeit zu Zeit ein weiterer Kreis der Bürgerschaft die
altern engern Genossenschaften.
Diese Entwicklung zeigt sich zuerst in der Lombardei,
wo die germanische Neigung zu genossenschaftlicher Bildung
und freier Selbständigkeit mit alt -romanischen Erinnerungen
sich verband. Von da aus ging die Bewegung auf die Städte
im südlichen Frankreich über, zum Theil noch während
des zwölften, zum Theil erst im dreizehnten Jahrhunderte.
Ihren Ausgang und Anhalt fand sie vornehmlich in den Besten
der alten freien, in Frankreich übrigens mehr als in der Lom-
bardei herabgekommenen Municipalbürgerschaft, die sich
durch gewählte Prudhommes vertreten liesz.
1 Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter Bd. II.
S. 108 ff. Leo, Geschichte von Italien I. S. 399. Hegel, Städtererf.
in Italien.
Dreizehntes Capitel. Die Freien und der Bürgerstand. 153
2. Eine entschiedener demokratische Richtung und cor-
porative Gestalt hatten die eidlichen Conföderationen
der Bürger in den Commnnen, welche um dieselbe Zeit
im Norden von Frankreich mit ihren Stadtherren oft blutige
Kämpfe bestanden. In ihnen zeigen sich schon neue Elemente
des Bürgerthums, voraus die Aufnahme in die Gildgenosse n-
schaft (gildonia, conjuratio, fraternitas) , 2 welche allein zum
Bürger der Commune machte, und mit eidlicher Verpflichtung
auf ihre Statuten verbunden war. Die bürgerliche Freiheit
und das bürgerliche Kecht wurde somit theils von der bloszen
Fortpflanzung der freien Kasse, theils von dem Zusammenhang
mit dem Grundbesitz abgelöst, und der Nachdruck auf die
corporative Verbindung gelegt. Sowohl das Lehensprincip
als das Princip des alt -germanischen Ständerechtes wurden
durchbrochen und ein neues persönliches Princip erzeugt.
Ferner war die Verfassung der Commune der Ausbrei-
tung der Freiheit und des Bürgerrechtes auch über die tiefer
stehenden Schichten der städtischen Bevölkerung günstig.
Auch die Menge der Handwerker, welche sich von der Hörig-
keit losgemacht hatten, fand Aufnahme in der Genossenschaft,
und es wurde der Grundsatz ein- und durchgeführt, dasz der
Hörige, welcher Jahr und Tag in der Stadt unangesprochen und
uu verfolgt von seinem Herrn gewohnt habe, zum Freien ge-
worden sei. Hunderte von Stadtrechten3 in ganz Europa bezeu-
gen den'wichtigen Satz: „Die Luft der Stadt macht frei."
Die Uebertreibungen und Ausschweifungen der Demokratie
in den Communen führten freilich öfter wieder zu Reactionen.
Die Könige, welche geholfen hatten, dieselben von der Herr-
schaft der Seigneurs zu befreien, bekamen dann Veranlassung,
die Zügel des Regiments selbst durch ihre Beamten in die
2 Vgl, Thierry, Lettre XIV. sur l'histoire de France, und S chäffner,
Rechtsgeschichte IL S. 554 ff.
3 Für Deutschland sind in den "Werken von Graupp und Greng-
ler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters, zahlreiche Belege zu rinden.
154 Zweites Buch, Yolk und Land.
Hand zu nehmen und straffer anzuziehen. In ähnlicher Weise
ging auch die Selbstregierung der lombardischen Städte zu
Anfang des XIY. Jahrhunderts meistens unter, und die Gewalt
fiel einzelnen Fürsten zu, nachdem im XIII. Jahrhundert die
neue groszentheils aus -den niedern Elementen der Stadtbewoh-
ner gebildete Bürgerschaft des Popolo unter ihren demokra-
tischen Hauptleuten (Capitani) mit dem städtischen Adel den
Kampf um die Herrschaft begonnen und denselben häufig
unterworfen oder verdrängt hatte.
Auszer den Städten mit Consulat- und mit Communal-
verfassung gab es damals freilich noch viele Städte in Frank-
reich , die in gröszerer Abhängigkeit von ihren Herren ge-
blieben waren und von Vögten (prevöts, Prevotalstädte) oft
sehr willkürlich regiert wurden. Auch in diesen Städten wur-
den indessen die Lasten der Hörigkeit aufgehoben oder sehr
gemildert, und bildete sich der Begriff der Bourgeoisie als
eines freien Standes aus, dessen man durch Niederlassung
in der Stadt, auch wohl durch königliche Verleihung des Bür-
gerrechts theilhaft werde.4
3. Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Bürger
bezeichnen auch in Deutschland verschiedene Stufen der
Entwicklung.
Im dreizehnten Jahrhundert pflegte man noch ähnlich wie
früher in Italien und Frankreich die Eitter und die Bur-
ger (milites et burgenses) zu unterscheiden, und unter diesen
die zu der städtischen Genossenschaft gehörigen und raths-
fähigen, aber nicht als Kitter lebenden Freien zu verstehen.
Die freien Häuserbesitzer in der Stadt waren der Grundstock
dieser Bürgerschaft, welche in Verbindung mit den ritterbür-
tigen Geschlechtern gewöhnlich die Schöffen- und die Kaths-
stellen der Stadt inne hatten. Dann wurden auch wohl, beide
Bestandtheile (die Ministerialen überdem den Kittern beigesellt)
* Schaffner a. e. O. S. 590,
Dreizehntes Capitel. Die Freien und der Bürgerstand. 155
in ihrer Vereinigung als die vollberechtigten Bürger der
Stadt, oder als die Geschlechter bezeichnet und den Hand-
werkern und übrigen Einsassen der Stadt entgegengesetzt,
Seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts scheinen die
Kaufleute in den deutschen Städten, insofern sie persönlich
frei waren, auch abgesehen von dem Grundbesitz, der Bürger-
schaft beigezählt worden zu sein, und ebenfalls Vertretung in
dem Käthe der Stadt erlangt zu haben. — Dadurch wurde
der Begriff der Bürgerschaft von dem Zusammenhang mit dem
Boden theilweise abgelöst, und dem Berufe und der persön-
lichen Verbindung mehr Bedeutung als früherhin zuge-
standen.
Die nämliche Richtung wurde sehr verstärkt, als in der
ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts gewöhnlich auch die
Handwerker, in ihren Zünften, als ein neuer Bestandtheil
der Bürgerschaft einverleibt wurden. Das Wort Bürger hatte
somit einen umfassenderen Sinn gewonnen. Es bezeichnete
von da an regelmäszig alle Genossen des städtischen Lebens
und der städtischen Corporationen. Die Hörigkeit war, so
weit das Städtebürgerthum reichte, aufgelöst, die Unterschiede
der Geburt wesentlich modificirt und gemildert, das Lehens-
recht durch das gemeinsame und persönliche Stadtrecht ver-
drängt, und alle Bürger als solche in eine unmittelbare Be-
ziehung zu der Stadt gesetzt worden, zu welcher sie gehörten.
Dieses bald mit mehr bald mit weniger Rechten der
Selbstverwaltung und Selbstregierung ausgestattete, aber immer-
hin persönlich-freie Stadtbürgerthum war indessen auf
den Umkreis der städtischen Interessen beschränkt. Im ein-
zelnen war daher auch je nach der sonstigen Bedeutung und
Geschichte der Städte die bunteste Mannichfaltigkeit denkbar.
Aber es kamen die Bürgerschaften nun als ein besonderer
Theil der Bevölkerung des Reiches in Verbindung, und es
bildete sich der gemeine Begriff des Bürgerstandes aus,
welcher — obwohl die Familien- und Erbverhältnisse fort-
156 Zweites Buch. Volk und Land.
während ihren natürlichen Einflusz behielten — doch wie der
Bauernstand nicht länger an das Erbrecht gekettet blieb, sondern
seinem Grundcharakter nach auf städtischem Leben beruhte.
4. Diese neue Entwickelung fand endlich im State ihren
Ausdruck in der Organisation der gesetzgebenden Körper. Seit
der Mitte des XIII. Jahrhunderts erlangten in England die
Bürgerschaften der Städte eine ursprünglich von der Bitter-
schaft getrennte, dann mit dieser verbundene Vertretung im
Nationalparlament. 5 Aus den Kepräsentanten der Bürgerschaft
bestand in Frankreich der früher schon von Zeit zu Zeit
einzeln, seit dem Anfang des XIV. Jahrhunderts zu den all-
gemeinen Ständeversammlungen (etats generaux) berufene dritte
Stand (tiers etat) des Keiches. Auch die Bänke der Städte
auf den deutschen Keichsta gen seit der Erhebung Budolfs
von Habsburg zum Könige waren wenigstens theilweise eine
Stellvertretung des deutschen Bürgerstandes, und auf den
deutschen Landtagen erhielten die Städte neben dem Adel
und der Geistlichkeit als eine ständische Genossenschaft Sitz
und Stimme.
Endlich wurden die neuen Kechtsgedanken , die sich in
dem Städtebürgerthum ausgeprägt fanden, auf die weiten
Kreise der Gesammtbevölkerung des States übergetragen, und
aus dem Stadtbürgerthum wurde die Institution des modernen
Statsbürgerthums geboren.
Vierzehntes Capitel.
Der dritte Stand in unserer Zeit. Die gebildeten Mittelclassen.
Der Abt Sieyes, dessen berühmte Schrift über den
dritten Stand zu einer Leuchte und zu einer Brandfackel für
die erste französische Kevolution geworden ist, hat bekanntlich
5 Ueber diese Entwicklung wird unten Buch V näher gesprochen
werden.
Vierzehntes Capitel. Der dritte Stand in unserer Zeit. 157
die beiden Fragen aufgeworfen: Was ist der dritte Stand? und:
Was ist der dritte Stand bisher in dem politischen Organis-
mus gewesen? und die erste mit: Alles, die letzte mit:
Nichts beantwortet. Die Antwort auf die erste Frage —
so outrirt als die auf die zweite — hebt, indem sie die An-
sprüche des dritten Standes steigert, den Begriff des dritten
Standes geradezu auf. Wenn der dritte Stand wirklich im
State Alles ist, so kann es auszer ihm weder einen ersten und
zweiten, noch einen vierten Stand geben. Er ist dann selber
kein Stand mehr, er ist das gesammte Volk.
In der ersten französischen Revolution verlangte denn
auch der dritte Stand wirklich, dasz die beiden ersten Stände
Frankreichs, Geistlichkeit und Adel, sich mit ihm in Einer
Nationalversammlung vereinigen. !) Als das durchgesetzt war,
löste er jene Stände in sich auf, und schlug als das Eine und
gleiche stän delose Volk die ganze bisherige Statsordnung
in Stück. Aber damals schon reagirten trotz der gleichmachen-
den Theorie die natürlichen Gegensätze in dem Volke. Der
Geistlichkeit und dem Adel half es nicht, dasz die Theorie
sie in den dritten Stand aufgenommen hatte. Sie wurden
dennoch in ihrer Eigenschaft als Geistlichkeit und Adel, als
Pfaffen und „Aristokraten" zu zwei mit blutiger Gewalt ver-
folgten Ständen, sie wurden die Schlachtopfer der Revolution.
In der chaotischen Masse aber, welche die Herrschaft übte,
gährten bisher unbeachtete ständische Gegensätze. Da schon
gab der vierte Stand in den wichtigsten Krisen den Aus-
schlag, und unter der rothen Herrschaft des Conventes, welcher
vornehmlich aus den Führern des fieberisch erhitzten vierten
Standes gebildet war, erbleichte in der Gironde der bürger-
liche Glanz des dritten Standes.
1 Schon durch die "Wahl zu den Etats generaux von 1789 war eine
Ausdehnung des Begriffs practisch geworden. Im Mittelalter war der
tiers etat auf die Stadtbürgerschaften beschränkt, 1789 aber wählten die
Bauern mit den Städtern. Tocquevüle Oeuvres VIII. S. 139.
158 Zweites Buch. Volk und Land.
Eben indem die französische Bevolution die Wahrheit
der obigen Sätze von Sieyes an den Tag legen wollte, stellte
sich das Ungenügende nnd falsche derselben heraus. 2 Der
dritte Stand der Gebildeten hatte sich als Stellvertreter des
Volkes benommen, und sich selbst mit dem Volke identificirt.
Nun muszte er erfahren, dasz es auszer ihm noch grosze Volks-
massen gebe, die sich mit der allgemeinen Fusion unter seiner
Leitung nicht befriedigt fühlen.
Der erste Stand, die Geistlichkeit hat in unserer Zeit
meistens aufgehört im State als ein besonderer politischer
Stand zu gelten. Die Schicksale und die Existenz des zweiten
Standes, des Adels , sind in unsrer Zeit vielfach ungewisz ge-
worden. Aber der Gegensatz zwischen dem dritten und dem
vierten Stand hat sich in dem neuesten politischen Erdbeben,
das Europa zum Wanken gebracht, deutlicher als je gezeigt.
Er darf daher in dem Statsrechte und in der Politik nicht
vernachlässigt werden.
In unserer Zeit beruhen die Stände mehr auf der Lebens-
weise und dem Berufe, als auf der Geburt. Es musz daher
der dritte Stand auch in diesem Sinne erklärt werden. Er
steht in der Mitte zwischen der Aristokratie und dem so-
genannten vierten Stande. Er ist daher seinem Wesen nach
ein Mittelstand. Er unterscheidet sich von dem ersteren
durch den Mangel der besonderen aristokratischen Auszeich-
nung, und von dem letztern dadurch, dasz er nicht von seiner
Hände Arbeit lebt, sondern einen liberalen Beruf betreibt, oder
mindestens in vorzüglichem Masze auf die Thätigkeit des
Kopfes angewiesen ist. Er ist das, was wir in Deutschland
2 In Robespierre ist der neidische Hasz gegen alle höher n
Stände und zugleich die abgöttische Verehrung des sogenannten „Volks"
personificirt. In seiner Erklärung der Rechte iät der Satz enthalten:
„Toute Institution qui ne suppose le Peuple bon et le magistrat corrup-
tille, est vicieuse." Vgl. L. Stein, Geschichte der socialen Bewegung
in Frankreich. I. S. 145.
Vierzehntes Capitel. Der dritte Stand in unserer Zeit. 159
den höhern Bürgerstand und was die Engländer, freilich
in etwas engerem Sinne, Gentlemen zu nennen pflegen.
Wir rechnen dahin folgende Classen der Bevölkerung:
1) Die Beamten (die Officiere inbegriffen), im Gegen-
satze zu den niedern Stufen der Angestellten, und zu den
höhern, die Eitterschaft begründenden Stufen.
2) Die Geistlichen und die Lehrer in der Eegel.
3) Die Notare, Advocaten, Aerzte, Apotheker,
Privatgelehrte, Schriftsteller.
4) Die Künstler, Ingenieure und höhern Tech-
niker.
5) Die Groszhändler und Fabrikanten.
6) Höhere (künstlerische) Handwerker.
7) Die Capitalisten (Rentiers).
8) Die groszen Gutsbesitzer, die nicht zu Rittern
erhoben sind.
Eine höhere Erziehung und Bildung ist für die Bestimm-
ung dieses Standes ein wesentliches Moment, und eine behag-
lichere Stellung im Leben, welche auch für öffentliche Ge-
schäfte Musze gewährt, eine gewöhnliche Eigenschaft desselben,
Die Wählbarkeit zu Statsämtern setzt regelmäszig jene Bil-
dung voraus, und die erhöhte Fähigkeit der Mitglieder dieses
Standes, an den Verhandlungen repräsentativer Körper Theil
zu nehmen, begründet meistens, wenn nicht durch besondere
Gesetze Vorsorge getroffen wird, ein Uebergewicht derselben
in den Nationalversammlungen und gesetzgebenden Kammern.
In dem jetzigen Statsleben ist dieser Stand meistens der
einfluszreichste und in dem gewöhnlichen Gang des öffentlichen
Lebens geht er voran. Die öffentliche Meinung ist regelmäszig
die Meinung dieses Standes. Er läszt sich auch, obwohl nun
Bildung, Vermögen und Beruf entscheiden und die Ab-
stammung von Eltern desselben Standes nicht mehr als not-
wendiges Erfordernisz gilt, füglich mit dem alten Stande der
Voll freien oder der mittelalterlichen Mittel freien ver-
160 Zweites Buch. Volk und Land.
gleichen. Wie dieser im alten State die Grundlage des politisch
berechtigten Volkes gewesen war, so wird der dritte Stand
vorzüglich bei der heutigen Organisation des Stats beachtet.
In ihm ist das vielgeschäftige Leben und die fortschreitende
Bewegung repräsentirt.
Wie aber ist das Verhältnisz dieses dritten Standes zu
dem niedern Adel zu bestimmen? Der niedere Adel unserer
Tage ist groszen Theils in der höheren Bürgerschaft aufge-
gangen und mit ihr in Lebensweise, Sitte, Beruf, Denkungsart
Eins geworden. Es hat sich so aus beiden Elementen ein
neuer höherer Mittelstand oder genauer eine Mittel-
classe gebildet, wie im Mittelalter der Bürger- und der
Bauernstand auch aus ursprünglich verschiedenen Ständen zu-
sammen gewachsen sind. Auch in dieser Beziehung ist der
englische Stat der heutigen Entwickelung des Continents vor-
angegangen, indem schon im XIV. Jahrhunderte jene Ver-
bindung der Kitterschaft und der Städterepräsen-
tation im Unterhaus vollzogen ward, welche eine der festesten
Stützen politischer Freiheit in Verbindung mit edler Sitte .ge-
worden ist.
I
Fünfzehntes Capitel.
IV. Die hörigen Leute und der Bauernstand.
Wenn das Mittelalter dem Fortbestande der alten Gemein-
freiheit nicht günstig war, so beförderte es auf der andern
Seite die Erhebung und Befreiung der hörigen Leute. Eben
indem es jene niederdrückte, hob es diese empor, und so
näherten und mischten sich beide Stände auf derselben Stufe.
Ein immerhin kleiner Theil der hörigen Leute wurde so-
gar über die Freien in den Stand des niedern Adels hiriauf-
gerückt, die Ministerialen, welche durch Hof dienst den
Dynasten persönlich nahe traten, und durch höfische Bildung
Fünfzehntes Cap. Die hörigen Leute und der Bauernstand, \Q\
und Sitten ausgezeichnet waren, mit reicherem Grundbesitz
ausgestattet und mit der Zeit den ritterlichen Vasallen an die
Seite gestellt wurden.
Ein anderer und zahlreicher Theil liesz sich in den
Städten nieder und gelangte hier, indem er städtische Ge-
werbe trieb und auf diese Weise auch zu Vermögen kam, zu-
gleich zu persönlicher und bürgerlicher Freiheit. Den italiäni-
schen Städten gebührt der Euhm, zuerst im Groszen die volle
Befreiung der Hörigen ihres Gebiets durchgeführt zu haben.
Die Stadt Bologna, die allezeit für die Freiheit gekämpft hat,
faszte im Jahr 1256 auf Antrag ihres Podesta Accursius de
Sorrecina den hochherzigen Beschlusz, alle Hörigen ihres Ge-
biets freizukaufen und zu erklären, dasz es in Zukunft keine
Unfreiheit mehr geben dürfe. *
Auch der Beruf der Handwerker, früherhin besonders
in dem germanischen Europa gering geschätzt und vorzugs-
weise den hörigen Leuten überlassen, wurde durch das ent-
wickeltere städtische Leben gehoben. Die Innungen, zuerst
wohl in Italien, wo auch sonst ein freies Bürgerthum zu
früher Blüthe gekommen, als sclwlae eingeführt, dann in
Frankreich unter Einwirkung der germanischen Neigung zu
corporativer Gestaltung in Form von ministeria (mestiers) und
Gheuden nachgebildet, zuletzt auch nach Deutschland ver-
pflanzt, stärkten das Becht der Corporationsgenossen und die
Ehre der Meister. Sorgfältigere Erziehung und stufenweise
Ausbildung der Handwerker, erhöhte Kunstfertigkeit, gröszerer
Vermögenserwerb, die neue Waffenfähigkeit im Dienste der
Stadt unter eigener Innungs- oder Zunftfahne, die dauernde
Verbindung mit den Interessen und dem Gedeihen der Stadt,
alles diesz weckte das Selbstgefühl und die natürlichen An-
sprüche der Handwerker ; und wenn noch manche von hörigem
Stamme waren, so erkauften sie nun die volle Befreiung oder
1 Laurent a. a. 0. VII. 5. 663. Florenz folgte dem schönen Bei-
spiele 1288.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 11
1(32 Zweites Buch. Volk und Land.
erlangten dieselbe durch massenhafte Erhebung. Das eigent-
liche Bürgerrecht der Staclt konnte ihnen nicht entzogen
bleiben.
Mit gröszeren Schwierigkeiten war auf dem Lande der
Weg verlegt, auf welchem die hörigen Leute zur Freiheit
aufstiegen. In manchen Gegenden galt sogar der entgegen-
gesetzte Grundsatz: die Luft macht hörig. Aber wenn
auch die hörigen Bauern nur ausnahmsweise zu voller persön-
licher und politischer Freiheit gelangten, so erreichten sie doch,
freilich langsamen Schrittes, in der Eegel eine zwar mit man-
cherlei Lasten beschwerte und politisch zurückgesetzte, aber
durch festen Rechtsschutz gesicherte und in ihrem Inhalt im-
merhin erweiterte persönliche Freiheit. Mit den ursprünglich
freien Bauern wurden sie zu einem gleichberechtigten Berufs-
stande.
Im einzelnen sind die Verhältnisse äuszerst mannichfaltig,
und auch die Uebergangsstufen aus der Eigenschaft zur Frei-
heit zahlreich. Wie die Aufhebung der Sclaverei zu groszem
Theile den Einwirkungen der Kirche zu verdanken ist, so ist
auch die Erhebung der hörigen Leute von jeher voraus durch
die Kirche begünstigt worden. In der That, wo Kirchen und
Klöster Grundherrlichkeit besaszen, gingen sie meistens voran
in Ertheilung bestimmter Rechte und Gewährung wichtiger
Freiheiten für ihre Hörigen, und zuerst wurden die Gottes-
hausleute den freien Bauern angenähert. Dann folgten auch
die Könige dem Beispiele. Schon die Karolinger handelten
in dieser Richtung zu Gunsten der Fiscalineh, und Ludwig der
Heilige 2 erklärte, als er den Serfs auf den königlichen Domänen
2 Ordonn. I. 583: „Comme selonc le droit de nature chacun doit
naistre franc et par aucuns usages — moult de personnes de nostre
commun peuple soient encheües en Heu de servitudes: — Nous conside-
rants que Nostre Royaume est dit et nomme le Royaume de Francs, et
voullant que la cliose en verite soit accordant au nom — ordenons, que
generaument par tout nostre Royaume de tant comme il peut appartenir
ä nous — telles servitudes soient ramenees ä franchises — ä bonnes et
Fünfzehntes Cap. Die hörigen Leute und der Bauernstand. 163
die Freiheit schenkte (1315), seinen Beruf als König des
,, Frankenreiches" zu erfüllen.
Der nämliche Geist des Mittelalters, welcher die Hoheits-
rechte zu Gunsten der groszen Barone als erbliche Lehen an
den Boden knüpfte, und welcher den Vasallen ihren Lehens-
herren gegenüber gesicherte und dauerhafte Rechte an den
Beneficien verlieh, stärkte und befestigte auch die Rechte der
hofhörigen Bauern an den verliehenen Gütern, und bildete das
hofrechtliche Erbe und eine eigenthümliche patrimoniale Ge-
richtsverfassung aus, an welcher auch die Bauern unter Lei-
tung ihrer Maires oder Meyer (villici majores) Theil hatten.
Gedrückter war wohl die Lage der französischen Serfs und
Vilains, als die der deutschen Hofleute und Grundholden,
wie schon die Sprache den Gegensatz andeutet, aber immerhin
ähnlich, und später als in Frankreich ging in Deutschland die
Entwicklung zu höherer Freiheit vor sich. Doch standen auch
in Frankreich die Coutumiers und Roturiers, unter denen
die Ostes (H o s p i t e s) als höhere Olassen berechtigter Bauern
den Gemeinfreien ganz nahe.
Diese bäuerliche Halbfreiheit bezog sich übrigens ge-
meiniglich nur auf das Privatrecht und auf die Gemeinde-
und Gerichtsverfassung.
Mit den freien Bauern, die unter die erbliche Vogtei-
herrschaft gerathen waren, und deren Güter nun auch man-
cherlei ewige Lasten zu Gunsten der ,, Herrn" zu tragen hatten,
schmolzen sie zu dem- Einen sogenannten Bauernstande
zusammen.
Zu einem politischen Stande im vollen Sinn wurde
der Bauernstand nur ausnahmsweise in wenig Ländern, nur
convenables eonditions — de tant comme il peut toucher nous." Vgl.
Schaffner, franz. R. G. I. 523. Schon vorher hatte der Graf von Ya-
lois, Bruder des Königs Philipps des Schönen, die Hörigen seiner Graf-
schaft im Namen der natürlichen Menschenfreiheit für frei erklärt.
Laurent a. a. 0. YI. G62.
11*
164 Zweites Buch. Yolk und Land.
da, wo er, wie in dem skandinavischen Norden die alte Ge-
rn ein fr eiheit und die alte Verfassung glücklieh behauptet hatte
oder im Tyrol von den Landesfiirsten zu den Landtagen zu-
gezogen ward, oder wo er, wie in der Schweiz, freie Bauern-
republiken gründete. In den meisten Ländern ward *er nur
als ein unterthäniger Stand behandelt, dem keine politische
und insbesondere keine repräsentative Eechte gebühren, der
aber von der Natur bestimmt sei, vornehmlich die öffentlichen
Lasten zu tragen. Er war wesentlich ein wirth schaft-
lich er, nicht wie die Bürgerschaft der Städte ein Cultur-
stand.
Vergeblich machten die deutschen Bauern in dem groszen
Bauernkrieg des XVI. Jahrhunderts eine gewaltsame Anstren-
gung, die Herrschaft zu brechen, die schwer auf ihnen drückte.
Wenn man heute die bekannten XII Artikel liest, welche die
Bauern damals verlangten, und sich erinnert, dasz dieses Ver-
langen die heftigste Entrüstung der damaligen Gebildeten so
gut wie der herrschenden Aristokratie über die unerhörte An-
maszung der Bauern zur Folge hatte, so bemerkt man nicht
ohne Befriedigung den mächtigen Fortschritt der Zeiten, in-
dem die Bauern in unserm Jahrhundert überall mehr ohne
Streit als Menschen- und Bürgerrechte erhalten haben, als sie
damals zu fordern gewagt hatten.
Nur allmählich fing man an, sich an den Gedanken zu
gewöhnen, dasz die Bauern doch nicht eine blosz unterwürfige
Menschenmasse bilden, aus der man nach Willkür Soldaten
rekrutiren und der man beliebig Steuern abverlangen dürfe.
Die englische Verfassung, welche den Yeomen (den probi et
legales homines), wenn sie ein gewisses nicht hohes Masz von
Einkünften von ihren Gütern zogen, das Kecht gab, an den
Grafschaftswahlen für das Unterhaus Theil zu nehmen, zeich-
nete sich in der Beachtung solcher Volksfreiheit wiederum' aus.
Erst die neue Zeit aber machte die Segnung der vollen
persönlichen Freiheit und damit zugleich der Fähigkeit zu den
Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Volksclassen. X65
politischen Rechten allgemein für alle Classen der Bevölkerung.
Die Philosophie des XVIII. Jahrhunderts hat zu diesem groszen
Fortschritte den geistigen Anstosz gegeben, indem sie den
Gedanken der natürlichen Menschenrechte zu Ehren gebracht hat.
In Deutschland ging König Friedrich I. von Preuszen
voran, indem er auf den königlichen Domänen die Eigenschaft
aufhob 1702; Friedrich IL begünstigte und. erweiterte die
Befreiung auch der übrigen Eigenen durch seine Gesetze, und
Kaiser Joseph IL folgte dem Beispiel für Deutschösterreich
1782, ebenso Karl Friedrich von Baden 1783. Die meisten
andern deutschen Staten blieben indessen noch zurück. Erst
die enthusiastische Erklärung vom 4. August 1789 und die
Verkündung der Menschenrechte durch die französische Na-
tionalversammlung wirkten entscheidend auf das civilisirte
Europa. Die Befreiung auch der hörigen und eigenen Clas-
sen wurde nun als eine allgemeine Pflicht und als eine un-
widerstehliche Forderung der neuen Zeit anerkannt, und in der
ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in dem abendländischen
Europa, in der zweiteu Hälfte nun auch in Osteuropa voll-
zogen. Gleichzeitig oder bald nachher wurde denn auch das
Statsbürgerrecht auf die Bauern wie auf die Städtebürger
ausgebreitet.
Sechzehntes Capitel,
Der sogenannte vierte Stand. Die Yolksclassen.
Die Rechte der untern Yolksclassen sind niemals in der
Weltgeschichte so willig und voll anerkannt worden, wie gegen-
wärtig. Es gibt kein charakteristischeres Kennzeichen und
keine rühmlichere Erscheinung der modernen Weltepoche, als
eben diese Befreiung und Berechtigung der groszen arbeiten-
den Massen.
I
1(36 Zweites Buch. Yolk und Land.
Aber diese Umgestaltung, welche von dem Principe der
individuellen Freiheit Aller ausging, setzte die Zerstörung und
Auflösung der alten genossenschaftlichen Verbände voraus, oder
setzte dieselbe durch. Die Individuen regten sich nun, ver-
einzelt, nach Willkür. An der Stelle festgeordneter und ge-
schlossener Körperschaften erschienen nun zufällig zusammen-
getriebene Massen; statt der organisirten Glieder des Volks-
körpers leicht bewegliche atomistische Haufen. Diese Des-
organisation hatte vorzüglich die Gassen des vierten Standes
betroffen. Darin lag offenbar eine grosze Gefahr der neuen
Zeit. Die unorganisirten Massen fühlten sich leicht unzufrieden,
und waren dann ebenso leicht von den Stürmen der Volks-
leidenschaft aufzuregen.
In einer in den frühern Perioden der Weltgeschichte un-
erhörten Weise haben gerade die untern Schichten dieses
Standes in neuester Zeit in das Schicksal der europäischen
Staten eingegriffen. Sie haben im Februar 1848 zum Er-
staunen von Frankreich und der Welt zu Paris den Julithron
umgeworfen und die Kepublik eingeführt. Und wenige Monate
nachher bedrohten sie die ganze sociale Existenz der bürger-
lichen Gesellschaft, und konnten nur durch die blutige Juli-
schlacht in Paris nach langem wüthendem Widerstand für
den Augenblick überwältigt werden. Der europäische Stat,
die Kirche, unsere ganze Cultur und Civilisation, alle unsere
geistigen und moralischen Erbgüter, waren zugleich mit der
Sicherheit und den Früchten des Eigenthums dem Untergange
ausgesetzt. Wo wäre die Zuversicht, worauf könnte sich das
Vertrauen gründen, dasz diese unermeszliche Gefahr nicht
schreckhafter wiederkehren werde, dasz sie wirklich überwun-
den sei?
Die Gefahr liegt keineswegs in der Existenz des vierten
Standes. Man kann auch nicht sagen, dasz derselbe seiner
Natur nach revolutionär und unstatlich sei. Im normalen und
gesunden Zustande ist derselbe vielmehr eine sichere Unterlage
Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Yolksclassen. J67
für die Statsordnung und Volkswohlfahrt. Aus ihm sind fort-
während für den Stat frische Kräfte herbeizuziehen, die
modernen Heere gehen grösztentheils aus ihm hervor. Während
in dem dritten Stande nicht selten durch Verbildung und
Ueberbildung die männlichen Eigenschaften des Muthes und
der Thatkraft aufgezehrt worden sind, und an die Stelle der
politischen Tugend und Aufopferung das blosze furchtsame
und grundsatzlose Interesse getreten ist, so ist dagegen in dem
vierten Stande häufig mehr Sitteneinfalt, Lebensfrische und
ein Schatz unverdorbener Naturkräfte zu finden. Das Volk
besteht zwar nicht aus dem vierten Stande allein; aber an
Zahl und an Gewicht ist er der bedeutendste Bestandtheil des
Volkes und wird daher zuweilen auch das Volk im engeren
Sinne genannt. Die Monarchie insbesondere findet, wie die
Spitze der Pyramide in dem Boden derselben, ihre sicherste
und festeste Stütze in dem vierten Stande, wenn sie es ver-
steht , sich mit demselben in organischen Rapport zu setzen, 1
was grosze Monarchen meistens verstanden haben.
Ein Ueberblick über die verschiedenen Classen des vier-
ten Standes zeigt, wie bedeutend er ist. Wir können dazu
rechnen :
1) voraus den gesammten Bauernstand, zunächst
die Bauern selbst und ihre Knechte, den zahlreichsten und
kräftigsten Bestandtheil des vierten Standes, bedeutend genug,
um für sich selber wieder als besonderer Stand Geltung zu
finden; aber auch die Hirten, Fischer, Schiffer, Bergknappen,
und überhaupt die arbeitenden Classen, deren Beruf mit dem
Naturleben in fortwährendem Zusammenhang bleibt.
1 Mitten in der gröszten Gefahr des Jahres 1848 wurde dieser be-
ruhigende Gedanke von Fr. Rehmer in der Schrift: „Der vierte Stand
und die Monarchie" ausgesprochen, ein Gedanke, der einige Jahre später
in der Erhebung Ludwig Napoleons zum Kaiser der Franzosen eine
höchst merkwürdige — wenn auch nicht reine organische — Verwirk-
lichung erhalten hat.
158 Zweites Buch. Yolk und Land.
2) Sodann den niedern Bürgerstand, wohne er nun
in der Stadt oder auf dem Lande, zunächst die kleinen
Handwerksmeister sammt Gesellen und die Krämer,
dann auch die übrigen industriellen untern Berufsclassen, z. B.
die Weber und Schnitzer umfassend.
3) Die untern Angestellten und Diener des Stats
und der höheren liberalen Berufsformen , im Heere von den
Unteroff] eieren an abwärts, in den Bureau's die Schreiber und
Kopisten u. s. f.
4) Das sogenannte Proletariat der Dienstboten, Fabrik-
Tagelöhner u. s. f.
Allen Classen gemeinsam ist die Eigenschaft, dasz sie
auf einen wesentlich materiellen Lebensberuf angewiesen
und durch denselben in Anspruch genommen sind. Sie sind
alle leiblicher Arbeit zugewendet. Eine absolute Scheidung
zwischen Kopfarbeit und Handarbeit ist freilich undenk-
bar ; denn regelmäszig bedarf es auch zu dieser der Thätigkeit
des Kopfes und häufig zu jener der Mitwirkung der Hand.
Aber der Gegensatz zwischen beiden hat dennoch einen guten
Sinn und ist auch von jeher von den Völkern wohl begriffen
worden. Wo die Thätigkeit des Kopfes, die Speculation in-
begriffen, überwiegt, ist feinere Geistesbildung Erfordernisz,
und die Art des Berufes und der Lebensweise gehoben. Wo
die materielle Arbeit des übrigen Körpers überwiegt, da ist
jenes Masz von Geistesbildung entbehrlich, und das ganze
Leben bewegt sich in schlichteren und einfacheren Formen.
Gemeinsam dem vierten Stande ist überdem, sowohl dasz
er die not h wendige Unterlage aller Staten, wie über-
haupt des gesammten Volkslebens bildet, als dasz er in sich
selbst nicht die Fähigkeit hat, den Stat zu regieren. Er
bedarf dazu immer der Führer und der Stellvertreter. In der
Kegel ist die dienende und passive Seite des öffentlichen Da-
seins in ihm dargestellt ; aber aufgeregt und in der Leiden-
schaft erhebt er sich und durchbricht mit -unwiderstehlicher
Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Yolksclassen. 1(39
Kraft die Schranken der äuszern Ordnung und setzt gewaltsam
seinen Willen durch. Er ist stark genug, auch die Herrschaft
im State zu wechseln , und neue Verfassungen zu erzwingen.
Er wirft Throne um und gibt neuen Männern oder Dynastien
die Gewalt in die Hand. Aber er kann nicht selber regieren:
und wo er es eine Weile lang versucht, hat der Stat das An-
sehen eines Menschen, der auf dem Kopfe steht und die Beine
in die Höhe streckt.
Seitdem es eine menschliche Geschichte gibt, ist der
vierte Stand noch niemals zu einer so groszen Bedeutung für
das Statsleben gelangt, wie unter den europäischen Völkern
unserer Zeit. Zum erstenmal in der Geschichte sind selbst
die dienenden Classen im engeren Sinne zu dem Bange von
Freien erhoben worden: und auch die untersten Schichten
fühlen sich betheiligt bei der Wohlfahrt des States und machen
Anspruch auf politische Kechte. Der heutige Statsmann wird
von der Macht der Verhältnisse genöthigt, ganz besonders den
Zuständen des vierten Standes seine Aufmerksamkeit und
Sorge zuzuwenden. Es ist nicht mehr genügend, die öffent-
liche Meinung der Gebildeten zu hören und zu erwägen.
Mehr als zuvor wirken nun die Massen mit ihren Instincten
und ihren Neigungen und Leidenschaften. Der moderne Stat
— freilich zunächst nur unter den Völkern von europäischer
und daher wesentlich arischer Basse — ist auch in dieser
Beziehung allgemeiner menschlich geworden.
Der vierte Stand ist aber so grosz, clasz er selber wieder
ganze Stände umfaszt, und beachtenswerthe Abstufungen be-
greift. Die gesundesten und krankhaftesten Elemente in dem
ganzen heutigen Volkskörper sind dicht neben einander in dem
vierten Stande. Die Bettung und Erhaltung des States ist
ohne die Hülfe jener unmöglich , die Existenz desselben von
diesen fortwährend bedroht. Die gesundesten Bestandtheile
sind auf dem Land in dem Bauernst ande zu finden, obwohl
auch sie, ohne eine neue geistig-sittliche Belebung die in
170 Zweites Buch. Volk und Land.
ihren Fundamenten schwankende Statsordmmg auf die Dauer
nicht zu erhalten vermögen. Ihnen zunächst stellen die Klein-
bürger. Beide sind noch in den Gemeinden organisirt.
Aber für die massenhaften in den Städten angehäuften Bürger
ist die Gemeindeorganisation nicht mehr genügend, und die
übrigen genossenschaftlichen Verbindungen sind der Auflösung
verfallen. Die organische Beziehung der Meister unter sich
und zu den Gesellen ist überall durchbrochen . und was natur-
gemäsz zusammen gehört, aus einander gerissen. Der Mangel
an statsrechtlicher Organisation ist aber für die Existenz der
Stände verderblich. Der unorganisirte Stand ist nur die An-
lage zum Stand: der wirkliche Stand hat einen Körper.
Die Gemeinschaft der Bildung, der Interessen, dos Geistes
unter den verschiedenen Berufsclassen wird durch die Des-
organisation zwar nicht völlig aufgehoben, aber in einen Zustand
der Unruhe und der Gährung zurück versetzt, und der schranken-
und ziellose Krieg Aller gegen Alle eröffnet. Vergeblich
schreitet dann die Polizei ein. Sie vermag das Uebel nur in
einzelnen Ausbrüchen zu hemmen oder zu unterdrücken, und
häufig vermehrt sie es noch, indem sie da, wo Sorge und
Heilung Bedürfnisz ist. Btatt dieser Miszhandlung und Plage
zum Gefolge hat. Wie kann man sich wundern, wenn gerade
in den untern Schichten des vierten Standes auch die Saat
atheistischer Vorstellungen und communistischer Lehren einen
fruchtbaren Boden gefunden hat, und fast überall in den groszen
Städten und theilweise sogar auf dem Land das Unkraut üppig
aufgewuchert ist, welches die edleren Pflanzungen der Ver-
gangenheit zu ersticken droht?
Das Proletariat bildet die unterste Stute innerhalb des
vierten Standes. Es ist aber weder dem vierten Stande gleich
zu stellen, noch ist es überhaupt ein Stand. Da ist es um-
gekehrt nicht die Aufgabe des Statsmannes, das Proletariat zu
organisiren und zum Stand zu erheben, sondern vielmehr die.
es möglichst in den übrigen Ständen oder Classen unter zu-
Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Volksclassen. 171
bringen, und so sein besonderes Wachsthum zu hemmen.
Das Proletariat besteht zumeist aus den Abfällen der andern
Stände. Die vermögenslosen und vereinzelten Theile
der Bevölkerung, die sich deszhalb auch der ständischen Glie-
derung entziehen, heiszen wir das Proletariat.
Es ist eine falsche und für den Stat überaus gefährliche
Vorstellung, die Bewohner lediglich mathematisch nach dem
Vermögen in Besitzende undNichtbesitzende zu trennen
und die letzteren gar als Proletariat zusammen zu fassen und
den ersteren feindlich entgegen zu stellen. Würde diese unorga-
nische Meinung, der viel zu viel Vorschub geleistet worden
ist, allgemein durchdringen und leitend werden, so müszte
unsere ganze Civilisation von einer neuen Barbarei überrluthet
und zertreten werden, denn das wäre die practische Consequenz
jener gedankenlosen Lehre. Die grosze Mehrzahl der nicht-
besitzenden Bevölkerung ist aber glücklicher Weise mit den
übrigen Ständen noch organisch verbunden und wird
durch diese Verbindung befriedigt. Die besitzlosen
Kinder sind keine Proletarier, weil sie in der Familie ihrer
Eltern Pflege, Erziehung, Unterhalt finden. Sie theilen den
Stand der Eltern, und selbst über die armen Waisen ergänzt
und ersetzt der Organismus der Gemeinde die Familie. Die
grosze Zahl der besitzlosen Bauernknechte und Mägde
sind wieder keine proletarische Bevölkerung, weil sie nicht
vereinzelt in der AVeit stehen, sondern auf dem Hofe und in
der Familie des Bauern eine Heimat und gesicherten Theil an
dem ständischen Leben finden. Als das Handwerk besser or-
ganisirt war, als heut zu Tage, waren auch die Gesellen
Familienglieder der Meister, und selbst in der jetzigen Auf-
lösung ist in ihnen noch das Gefühl des Handwerkstandes
lebendig und hebt sie hoch empor über das Proletariat. Auch
die Dienstboten erhalten in der Verbindung mit der Dienst-
herrschaft eine beruhigte Existenz und haben Theil als Gefolge
ihrer Herrn an den ständischen Verhältnissen dieser. Den
172 Zweites Buch. Volk und Land.
Soldaten endlich gibt die Einreibung in den Körper der
Armee Sold und Ehre. Der Mangel einer Organisation der
Fabrikarbeiter aber ist eine der krankhaftesten Seiten un-
serer heutigen Stände und deszhalb ist in dieser Classe die
Masse des Proletariats so unverhältniszmäszig und drohend an-
gewachsen.
Die wahre Kunst des Statsmannes ist also zu bewirken,
dasz so wenig als möglich Abfälle der organisirten Stände in
das nothwendig unorganisirte atomistische Proletariat versinken
und dahin zu arbeiten, dasz aus diesen so viel Individuen als
möglieh in die organisirten Stände aufsteigen und da auch
den relativen Besitz des gesicherten Lebensunterhaltes erwer-
ben. Das so verminderte Proletariat bedarf dann nicht einer
selbständigen Organisation, zu dem es keine Fälligkeit hat,
sondern des Patronates, welches sieh Beiner Interessen an-
nimmt und für dasselbe spricht nnd handelt.
Dem vierten Stande gebrichi es, «ras die Statsverfassung
betrifft, durchweg an der Fähigkeit, die eigentlichen Stats-
ämter zu verwalten. Di«' oberu Classen desselben aber
besitzen regelmäszig die Fähigkeit, Gemeindeämter zu be-
kleiden, und dürfen daher von diesen nicht ausgeschlossen
werden.
An der Volksvertretung gebührt dem vierten Stande
neben dem dritten ein Antheil, und der Stat Unit wohl, näher
dafür zu sorgen, dasz dieser Antheil, der bei völlig gleicher
Behandlung leicht ?on dein gebildeten und in freierer Musze
lebenden dritten Stande ihm factisen ganz entzogen wird, ge-
sichert bleibe. Indessen da die Glieder dieses Standes oft
weder Musze haben, noch hinreichende Gewandtheit, in Person
ihre Interessen zu vertreten, wird immerhin die Wählbar-
keit auch für diesen Antheil nicht ganz auf den Stand be-
schränkt werden dürfen. Das Stimmrecht endlich gebührt
diesem Stande nach Verhältnis seiner groszen Bedeutung:
unrichtig aber ist es, alle Individuen desselben, deren gesell-
Siebzehntes Capitel. Die Sclaven. 173
schaftliche Bedeutung und Fähigkeit so sehr verschieden ist,
auf gleiche Linie zu stellen.2
Das eigentliche Proletariat insbesondere bedarf in seinem
wirklichen Interesse weit eher der Patrone (Schutzherren,
Mundherren) als der Kepräsentanten, die es doch nicht
in seiner Mitte finden kann. Je höher dann durch Ansehen
und Einflusz der Patron gestellt wäre, um so wirksamer wür-
den die Interessen des Proletariats gewahrt werden.
Anmerkung. Zu den glänzendsten Partien des Riehl'schen Buches
über „die bürgerliche Gesellschaft" gehört die Charakterisirung des deut-
schen Bauernstandes. Aber wenn Riehl das Proletariat als Stand auf-
faszt und den vierten Stand nennt, so halte ich das für einen Irrthum,
vor dem ihn die Conscquenz seiner eigenen Beobachtungen und Bemer-
kungen hätte bewahren sollen, und der in der zweiten Auflage nur ge-
mildert aber nicht gehohen worden i>t. In Fragen von so ungeheurer
poetischer Wichtigkeit darf dem freilich schon lange verbreiteten Irr-
thum keine Concession gemacht werden.
Siebzehntes Capitel.
V. Die Sclaven.
Der Sclave kommt ursprünglich als ein Fremder in die
Familie und in das Volk hinein, deren Gewalt er unterworfen
wird. So verbreitet das Institut der Sclaverei im Alterthum
war, so weisz ich doch von keinem Volke, welches dieselbe
als einen nationalen Stand betrachtet hätte. Schon das
ist uns ein Zeugnisz, dasz die Sclaverei nicht ein Bedürfnisz
der menschlichen Natur sei.
Aristoteles (Polit. I. 2.) hat zwar mit vielem Aufwand
von Scharfsinn zu beweisen versucht, dasz die einen von Natur
Herren und die andern von Natur Sclaven seien. Aber soweit
seine Beweisführung Wahrheit enthält, ist sie blosz geeignet,
2 Siehe unten Buch V. Cap. 5 und 6.
174 Zweites Buch. Volk und Land.
die Notwendigkeit dienender Classen der Bevölkerung zu
begründen, nicht aber das Bedürfnisz der rechtlosen Sclaverei.
Allerdings bedarf der höher begabte Mensch, soll er seine
Bestimmung erfüllen können, auch beseelte Werkzeuge, wie
Aristoteles sie nennt, zu seinem Dienste, und allerdings gibt
es Menschen, welche von der Natur selbst vorzugsweise auf
körperliche Thätigkeit angewiesen sind und ebenso sehr der
Leitung und des Befehles eines Herrn bedürfen, um ihren
Beruf richtig auszuüben, als dieser ihrer Dienstleistung. Aber
daraus folgt doch nur, dasz Herrschaft und Dienstboten,
Meister und Gesellen, Bauer und Knechte, Fabrikherr und
Fabrikarbeiter einander gegenseitig bedürfen, keineswegs aber,
dasz das Unterordnungsverhältnisz des dienenden Theiles zum
herrschenden dem der Hausthiere zum Eigentliümer gleich zu
achten sei; es folgt nicht daraus, dasz die Arbeiter alle indi-
viduelle Freiheit und die menschliche Persönlichkeit aufgeben
und zu bloszen Sachen und AVerk zeugen eines bestimm-
ten Herrn, d. h. eben zu Sclaven werden müssen. Der Mensch
ist von Natur Person, daher kann er nicht Sache, d. h. nicht
Sclave sein.
Die römischen Juristen, welche in ihrer Rechtstheorie
den absoluten Eigenthumsbegriff mit einer auch im Alterthum
auffallenden Härte auf die Sclaven anwendeten, und dieselben
durchweg als rechtlose Wesen, als blosze Sachen darstellten,
waren sich doch bewuszt, dasz die Sclaverei wider die Natur
und nur durch den gemeinen Gebrauch der Völker eingeführt
worden ist. 1 Sie erklärten daher die Freilassung als Wieder-
herstellung des natürlichen Hechtes.2 Die römische Juris-
1 Florcntinus L. 4. §.1. de Statu hominum: ,, Servitus est constitutio
juris gentium, qua quis dominio alieno contra naturam subjicitur.u $.'3.
J. de jure person.
2 Ulpianus L. 4. de Just, et Jure. („Manumissio) a jure gentium
originem sumsit, utpote quum jure naturali omnes lihcri )ius<<r<ntttr,
nee esset nota manumissio, quum servitus esset incognita; sed posteaquam
jure gentium servitus invasit, secutum est beneficium manumissionis."
Siebzehntes Capitel. Die Sclaven. 175
prudeuz wuszte das, und hielt dennoch mit starrer Consequenz
über ein Jahrtausend an dem gewaltsam eingeführten Eigen-
thum über die Sclaven fest. Die kaiserlichen Verordnungen,
dasz es den Herren nicht mehr gestattet sei, ohne Masz und
ohne Grund wider ihre Sclaven zu wüthen, 3 schützten vor den
Excessen roher Grausamkeit, etwa so wie neuere Gesetze gegen
die Thierquälerei gegeben sind, sie änderten aber nichts an
dem Grundbegriffe: und nach wie vor war der Sclave nicht
nur eigentlmmslos, sondern es waren ihm selbst die Kechte
der Ehe und der Blutsverwandtschaft versagt.
Ebenso war es dem deutschen Bechtsbewusztsein klar,
dasz, wie der Verfasser des Sachsenspiegels4 sich energisch
ausdrückt, alle Eigenschaft von Zwang, Gefangennehmung und
unrechtmäsziger Gewalt ihren Anfang genommen, und dasz
man später das für Recht ausgegeben hahe, was nur eine alte
aber ungerechte Gewohnheit sei. Auch erkannten die ger-
manischen Völker von jeher eine relative Berechtigung
der Eigenen5 an. Die Vermögens- und Familienrechte der-
selben waren zwar unvollkommen und hatten in der altern
Zeit einen sehr ungenügenden Schutz, es kam anfangs wesent-
lich nur auf den guten Willen des Herrn an, ob er dieselben
achte oder nicht ; aber der Keim der spätem allmählichen und
stufenweise eintretenden Befreiung der Eigenen war in den
germanischen Rechten nicht ebenso zerstört, wie in dem römi-
3 Gajus L. 1. §. 2. de bis qui sui vel alieni.
4 Sachsenspiegel III. §.3: „An minen sinnen ne kan ik is nicht
upgenemen na der warheit, dat ieman des anderen sole sin, ok ne
hebbe wir's nen Urkunde. §. G. Na rechter warheit so hevet egenscap
begin von gedvange unde von vengnisse vnde von unrechter walt, die
man von aldere in unrechte wonheit getogen hevet unde nu vore recht
heben wil."
6 Die Gleichstellung der Eigenen mit Hausthieren, die auch in deut-
schen Rechtsquellen gelegentlich gefunden wird, bezeichnet durchaus
nicht das Wesen des altern Verhältnisses, das Tacitus mit scharfem
Kennerblick mehr dem römischen Colonat als der römischen Servitus
verglichen hat.
176 Zweites Buch. Volk und Land.
sehen. Die Persönlichkeit des deutschen Sclaven war nie ganz
verloren gegangen, und deszhalb war auch die Perfectibi-
lität seiner Zustände nicht ausgeschlossen.
Die Aufhebung der Sclaverei in dem abendländischen
Europa ist schon während des Mittelalters dadurch groszen-
theils vollzogen worden, dasz dieselbe in die mildere Form
der Hörigkeit überging. Ihre letzten Eeste aber sind mit
der endlichen Beseitigung auch der Hörigkeit erst gegen Ende
des XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts
weggeräumt worden.
Diese frühere allmähliche und die neue durchgreifende
Befreiung darf zum Theil als eine heranreifende Frucht des
Christenthums erklärt werden, dessen religiöse Ideen das posi-
tive Sclavenrecht zwar nicht gewaltsam durchbrachen, aber
geistig auflösten. Mit dem Glauben, dasz die Menschen alle
Kinder Gottes und unter sich Brüder seien, war das Eigen-
thum eines Menschen über einen andern nicht verträglich.
Mehr aber noch ist sie dem germanischen Eechts- und Freiheits-
gefühl und dem fortschreitenden Geiste der Humanität zu
verdanken. 6
Eine eigentümliche Geschichte hatte die russische
Leibeigenschaft. Es gab in Euszland von Alters her eine per-
sönliche Knechtschaft, aber noch im XVI. Jahrhunderte war
die Masse der Bauern frei. In den weiten Bäumen bedurften
die Grandherrn zahlreicher Arbeiter, und da die Bauern noch
den freien Zug hatten und der alte nomadische Wandertrieb
zu stätem Wechsel der Wohnsitze anreizte, so lag es im
Interesse der Herrn, die Bauern durch mancherlei Vergünsti-
gung auf ihren Gütern festzuhalten. Die bäuerliche Eigen-
schaft entstand erst, seitdem der Stat aus Gründen der Finanzen
und des Militärsystems die Bauern immer fester an die Scholle
band und der Willkür der Herrn überlieferte. Das sieben-
zehnte Jahrhundert hat sich auch in andern europäischen Län-
6 Vgl. unten S. 160.
Siebenzehntes Capitel. Die Sclaven. 177
dem der bäuerlichen Freiheit ungünstig erwiesen, aber wohl
nirgends ungünstiger als in Kuszland. Knechte und Bauern
wurden zu gemeinsamer Eigenschaft verbunden. Der Herr
erhielt eine fast unbeschränkte Verfügung über ihre Personen
und ihre Habe. Aber auch in Euszland brachte die neue Zeit
erst Erleichterung der Lasten, und in unsern Tagen Befreiung
für die Bauern. Das Emancipationswerk , welches der Kaiser
Alexander IL trotz des Sträubens vieler Adelicher durchführte,
(Gesetz vom 19. Febr. 1861), hat auch da eine neue Periode
privatrechtlicher Freiheit eingeleitet. 7
So wurde Europa allmählich gereinigt von dem uralten
Fluch der Sclaverei. Aber in der neuen Welt hatte dieselbe
einen neuen Boden und eine in mancher Hinsicht noch schlim-
mere Anwendung gefunden. Wie furchtbar sich dieser Frevel
an dem Geiste der Humanität gerächt hat, das hat der nord-
amerikanische Bürgerkrieg gezeigt (1861 — 1865).
Die Negersclaverei ist zwar insofern weniger verwerflich,
als die antike Sclaverei der europäischen Völker, als dort die
Herrschaft der weiszen Herrn nicht über ihres gleichen, wie
hier, sondern über eine von Natur untergeordnete schwarze
Kasse geübt wird. Aber diese Anlehnung an die natürliche
Ordnung begünstigt auch die leidenschaftliche und hoch-
müthige Ueberhebung der Weiszen, die weniger geneigt sind
und weniger genöthigt werden, in den Schwarzen die gemein-
same menschliche Natur zu ehren und die Grausamkeit der
Miszhandlung wird heftiger und häufiger, als sie im Alter-
thum gewesen war. Die bittere Ironie, mit welcher Montes-
quieu (Esprit des Lois XV. 5.) die übermüthige Verachtung
der Schwarzen von Seite ihrer weiszen Herrn geiszelt, wenn
er sagt: „Man kann sich nicht vorstellen, dasz Gott, der doch
ein höchst weises Wesen ist, eine Seele und vorzüglich eine
1 Vgl. den Art. Leibeigenschaft (russische) von Tschitscherin im
Deutschen Statswörterbuch.
Bluntschli, allgemeines Statsreekt. I. 12
178 Zweites Buch. Yolk und Land.
gute Seele in einen ganz schwarzen Körper versetzt habe" —
diese Ironie schlägt nicht in den Wind.
Die amerikanische Sclaverei war daher auch viel härter
als je die europäische Eigenschaft gewesen war. Die Schonung
und Sorge, welche den farbigen Sclaven von ihren Herrn that-
sächlich zu Theil ward, hatte keinen andern Charakter als
die wirthschaftliche Schonung und Pflege, welche der Bauer
seinem Ackervieh zuwendet. Die moralische und rechtliche
Erniedrigung, die sich in der Bestreitung jeder Menschenwürde,
in der Miszachtung der Ehe und der Familie, in dem Mangel
der religiösen und sittlichen Erziehung, in der Verweigerung
jedes Kechtsschutzes überhaupt, und in dem ungehemmten
Handel mit Sclaven und nicht selten in empörender Grausam-
keit zeigte, drückte dieselben ganz auf die Stufe der Haus-
siere herab und verletzte so die göttliche und menschliche
Ordnung aufs tiefste.
Es war ein Unglück für Amerika, dasz der Antrag
Jeffersons, der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776,
welche auch die Freiheit als ein unveräuszerliches Menschen-
recht verkündigt, die Beschwerde über die Zulassung und Be-
günstigung der Negersclaverei von Seite der königlichen Ke-
gierung beizufügen, in der Minderheit geblieben war. Die
anfängliche Absicht, allmählich und stufenweise die Sclaverei
zu beseitigen, fand eine weniger nachhaltige Unterstützung als
das Streben der Sclavenhalter , ihren Besitz zu schützen und
zu erweitern. Kaum konnte das Gleichgewicht der sclavenfreien
Staten mit den sclavenhaltenden in der Bundesregierung behauptet
werden. Seit einem Jahrhundert war die Masse der Sclavenbevöl-
kerung von einigen Hunderttausenden zu mehreren Millionen an-
gewachsen. Die rasch entwickelte Cultur der Baumwolle und
des Zuckerrohrs wirkte nach dieser Seite hin sehr verderblich.
Inzwischen fing man an, die Aufhebung der Sclaverei
von Europa auch nach Amerika überzupflanzen. England
ging hier und mit groszen Mitteln voran. Mögen dabei auch
Siebenzehntes Capitel. Die Sclaven. 179
unreine Motive, wie es in menschlichen Dingen nie anders ist,
mitlaufen, das Ziel dieses Strebens ist dennoch ein heiliges
und gerechtes und der Mann, der zuerst der Sclavenbefreiung
sein Leben widmete und mit erfolgreicher Energie in und auszer
dem Parlament diese Sache betrieb, William Wilberforce,
war auch von der Keinheit dieses Zieles erfüllt. Die Auf-
hebung der Sclaverei in den englischen Colonien, die Ent-
schädigung der sogenannten Eigenthümer, und die völkerrecht-
lichen Verträge zur Unterdrückung des Seehandels mit Neger-
sclaven sind doch trotz aller Miszgriffe im Einzelnen grosze
Verdienste um die Menschheit.
Der Sieg der Union über die sclavenhaltenden Staten des
Südbundes hat die Abschaffung der Negersclaverei zunächst
für Nordamerika entschieden. Die Union duldet keine Sclaverei
mehr in dem Bereich ihrer Statsmacht. (Verfassungsgesetz
vom 1. Febr. 1865, proclamirfc 18. Dec. 1865). Damit ist
die Frage mittelbar für ganz Amerika entschieden. Es werden
sich die Staten in Südamerika nicht lange mehr der Aner-
kennung desselben Princips entziehen können.
Freilich ist damit die schwierige Frage der politischen
Stellung und Kechte der Neger noch nicht erledigt. Es ist
nur die privatrechtliche Freiheit und Berechtigung auch der
dunkel-farbigen Kasse anerkannt. Ob die Neigung, den Negern
auch die vollen politischen Rechte einzuräumen, die gegen-
wärtig im Norden Amerikas vorrherrscht, nachhaltig sei, ist
zweifelhaft. Politisches Recht setzt politische Fähigkeit voraus.
Dasz aber die repräsentative Demokratie, die bisher nur den
politisch gebildetesten Nationen geglückt ist, die naturgemäsze
Statsform sei für die Neger, wo sie massenhaft beisammen
sind, und dasz diese fähig seien, die demokratische Verfassung,
welche eine seltene männliche Selbstbeherrschung und Selbst-
tätigkeit erfordert, würdig zu erfüllen und tapfer zu behaupten,
das wird kaum ein Kenner der menschlichen Natur und der
Statengeschichte zu behaupten wagen.
12*
180 Zweites Buch. Volk und Land.
Immerhin lassen sich folgende allgemeine Sätze als an-
erkannte Folgerung des humanen Statsprincips aussprechen:
1) Der Stat ist berechtigt und verpflichtet, wo sich auf
seinem Gebiete noch Ueberreste von persönlicher Sclaverei
vorfinden, dieselben zu beseitigen. Indern er das thut, hebt
er nur altes Unrecht auf.
2) Der Stat darf keine neue Begründung der Sclaverei
dulden, auch dann nicht, wenn einer sich freiwillig zum Sclaven
ergeben möchte.
3) Der Stat verweigert mit Eecht dem fremden Herrn
seinen Rechtsschutz , wenn dieser innerhalb des Statsgebietes
Eigenthum an seinen Sclaven verfolgen will.9
4) Die Sclaven, welche den Boden freier Länder betreten,
werden ipso facto frei, und können den Schutz der Gerichte
für ihre Freiheit anrufen.
Achtzehntes Capitel.
VII. Die Classcn.
Die mittelalterlichen Stände sind überall in der Auflösung
begriffen. Der Klerus, der vormals die erste Stelle einnahm,
weil er eine höhere fast göttliche Würde in Anspruch nahm,
8 Für England vgl. Blackstone Comment. I. 14. Urtlieil des
Gerichtsh. v. "Westminster-Hall v. 1771. (Wheaton histoire du D. d. G-.
II. 353.) Das englische Gesetz vom 28. August 1833 regulirt die Frei-
lassung in den englischen Colonien und erklärt jeden Sclaven, der mit
Zustimmung seines Herrn nach Groszbritannien oder Irland komme, für
frei. In Frankreich schon in den Inst it. Coutum. von Loysel aus
d. XVI. Jahrh. der Satz : „Toutes personnes sont franclies en ceRoi'aume:
et si-tost qu'un Esclave a atteint les Marclies d'icelui, se faisant baptizer,
est affranchi." Französisches Gesetz v. 1791, 28. Sept. Verfassung
von 1848. 6. „L'esclavage ne peut exister sur aucune terre frangaise."
Art. add. au traite de paix de Paris 1814. „Sa Majeste Träs-Chretfenne
et Sa Majeste Britannique s'engage — pour faire prononcer par toutes
les puissances de la chretiente l'abolition de la traite des noirs."
Achtzehntes Capitel. Die Classen. 181
hat diesen Vorrang vor den Laien verloren und überhaupt auf-
gehört, ein besondrer politischer Stand zu sein. Die moderne
Verfassung bringt die höheren geistliehen Würdeträger, die
Prälaten in der Aristokratie, die übrige Geistlichkeit in der
höhern Bürgerschaft unter. Wie sehr die mittelalterliche In-
stitution des Adels, sowohl des höhern als des niedern, zer-
rüttet und wie wenig sie geeignet ist, eine selbständige höhere
Statsstellung als ständisches Recht zu behaupten, hat die Be-
trachtung der neuern Geschichte deutlich genug gezeigt. Aber
auch der alte Bürgerstand hält nicht mehr in der frühern
ständischen Weise zusammen. Die gebildeten Classen haben
in dem modernen Repräsentativstat eine andere Bedeutung , als
die mittelalterliche Bürgerschaft. Nicht einmal der ruhigste und
die alten Sitten und Anschauungen gewohnheitsmäszig fest-
haltende Bauernstand kann sich der Bewegung der Zeit und
den neuen Bildungsmomenten in ihr entziehen, und die In-
dustrie hat sich auch auf der Landschaft eingebürgert und das
blosze Bauernwesen durchbrochen.
Bisher sind auch alle Versuche, die mittelalterlichen
Stände zu reformiren und dann den Stat darauf zu stützen,
völlig verunglückt. Der Instinct der Völker ist entschieden
misztrauisch gegen denselben geblieben. Die Völker fühlen
sich dem Ständestat des Mittelalters entwachsen und
sie wollen keine — auch nicht eine revidirte und reformirte —
Wiederherstellung desselben.
Dennoch begreift man, dasz die blosze Fusion aller Stände
ebenso wenig ausreicht, und dasz die unläugbar vorhandenen
massenhaften Gegensätze in der Bevölkerung auch ein stats-
rechtliches Gewicht haben. Will man dieselben Terfassungs-
mäszig ordnen, so bleibt daher kein anderer Weg mehr übrig,
als die Eintheilung nach Classen, statt nach Ständen. Was
wir in der neuen Sprache noch Stände heissen, das sind oft
nicht wirkliche Stände, sondern Classen.
Die Classen unterscheiden sich von den Ständen dadurch,
182 Zweites Buch. Volk und Land.
dasz jene vom State aus und für den Stat geordnet sind,
während die Grundlage dieser zunächst auszerhalb des States
ruht. Die Classen setzen die Einheit des Volkes voraus, die
Stände ignoriren die Volkseinheit. Die Classen sind eine
nationale und statsrechtliche Institution zu politischen
Zwecken, die Stände sind voraus eino particuläre und privat-
rechtliche Gruppirung, deren Zwecke nicht ausschlieszlich und
nicht vorzüglich eine politische Bedeutung haben. Der Klerus
lebt voraus der Kirche, nicht dem Stat; der Adel denkt vor-
erst an sich und seine besonderen socialen Interessen, der
Bürger lebt dem Gewerbe, der Bauer der Landwirtschaft.
Der Stat kommt nur mittelbar in Betracht. In den Ständen
zeigt sich die natürliche Verbindung gleichartiger Cultur und
Wirthschaft, und deszhalb sondern sich die einen Berufskreise
von den andern. Die Eücksichten auf den Stat üben darauf
keinen Einflusz. Die Classen dagegen sind ein rationelles
Product der organisatorischen Statsweisheit. Die Stände sind
naturwüchsig, die Classen eine Culturerscheinung. Daher
finden wir das Classensystem nur bei civilisirten Völkern mit
einem ausgebildeten statlichen Bewusztsein. So bei den Hellenen,
wie besonders zu Athen nach der Solonischen Verfassung, in
Rom nach der Servianischen Verfassung, der wir den Ausdruck
Classen entlehnen, so auch in unsern modernen Staten Europas.
Nichts hindert, bei der Classeneintheilung auch die vor-
handenen Stände zu berücksichtigen, aber es ist weder nöthig
noch wünschenswerth, dasz Classen und Stände zusammen treffen.
Wenn sie zusammen fallen, so ist die ständische Ordnung zur
Statsordnung erhoben, wie wir das zum Theil im Mittelalter
finden. Damit ist aber auch die ständische Gebundenheit und die
Spaltung des Stats unvermeidlich mitbegründet. Die ständischen
Interessen und die ständischen Vorurtheile bekommen, weil sie
zugleich politische Macht erhalten, allzu leicht das Ueber-
gewicht über die allgemeinen Volksinteressen und die bessere
Volkseinsicht. Wenn dagegen einzelne Classen die Stände
Achtzehntes Capitel. Die Classen. 133
durchschneiden und Bruchtheile aus verschiedenen Ständen
zusammen fassen, so ist das eine schätzbare Garantie der
nationalen Gemeinschaft und des höheren politischen Lebens,
welches eine vielseitigere Anregung empfängt.
Sehr oft sind die Classen je nach der Grösze des Ver-
mögens unterschieden worden. Es ist das die Censusver-
fassung. Dadurch wird aber das Yermögen zu der wichtig-
sten politischen Potenz erklärt und der Werth der Bürger für
den Stat nach der Zahl der Geldstücke abgestuft, über welche
sie verfügen, was doch selten der Wahrheit entspricht. Auch
dieses Eintheilungsprincip ist doch wieder in erster Linie
wirthschaftlich und privatrechtlich, und nur in zweiter Linie
mittelbar statsrechtlich und politisch. Daher ist eine orga-
nische Eintheilung, welche vorzugsweise die Fähigkeit
und Tauglichkeit für den Stat, soweit dieselbe überhaupt in
verschiedenen Abstufungen sichtbar wird, beachtet, jenem blos
mathematischen Princip vorzuziehen. Das aber richtig zu er-
kennen und zu bestimmen, ist eine schwere Aufgabe für den
Statsmann.
Im Groszen lassen sich für den modernen Stat haupt-
sächlich folgende vier Classen des Volks unterscheiden:
1) Die regierende Classe: Fürsten und Beamte, mit
obrigkeitlicher Gewalt. Ihre Stellung überragt alle anderen
Classen durch die Statsmacht, die in ihren Händen ist. Sie
stehen an der Spitze des Stats.
2) Die aristokratische Classe, die als solche nicht
mehr regiert, aber zwischen der regierenden Classe und den
Volksclassen eine selbständige und ausgezeichnete
politische Stellung einnimmt.
3) Der sogenannte dritte Stand, d. h. die Classe des ge-
bildeten und freien Statsbürgerthums , ohne Rücksicht auf
Stadt und Land: die eigentlichen Mittelclassen.
4) Die groszen Volksclassen, die auch unter dem
Namen des vierten Standes zusammengefaszt werden, sowohl
184 Zweites Buch. Volk und Land.
die Kleinbürger in den Städten als die Bauern begreifend und
die übrigen Massen der Arbeiter, soweit sie nicht schon in den
andern Schichten eingereiht sind? in weiteren Kreisen umfassend.
Die erste Classe ist die Krone, die letzte ist die Wurzel
und der Stamm des States. Die Volksclassen sind die Basis,
die regierende Classe ist das Haupt des Stats. Auf dem ge-
sunden Kapport dieser beiden Classen beruht vornehmlich die
Energie und die solide Kraft des Volksstats. Die beiden
mittleren Classen ergänzen, controliren und beschränken die
Thätigkeit der ersten Classe bald mehr in aristokratischer,
bald mehr in repräsentativ-demokratischer Weise, und sie sind
durch ihre höhere Bildung und ihre günstigere sociale Lebens-
stellung auch vorzüglich befähigt, und durch ihr gehobenes
Eechtsbewusztsein und Freiheitsgefühl veranlaszt, darüber zu
wachen, dasz die Bedingungen der allgemeinen Volkswohlfahrt
und die Interessen der ganzen Nation wohl gewahrt und be-
achtet werden. Sie sind die natürlichen Patrone, Führer und
Vertreter der letzten und gröszten Classe.
Neunzehntes CapiteL
VIII. Verhältnisz des States zur Familie.
1. Geschlechterstat. Patriarchie. Ehe.
Sehr oft schon wurde in alter und in neuer Zeit der
Satz ausgesprochen: „Die Familie ist das Urbild des Sta-
tes. Der Stat ist die erweiterte grosze Familie."1 Man ver-
1 Cicero de Officiis I. 17.: „Prima societas in ipso conjugio est, pro-
xima in liberis, deinde una domus, communia omnia. Id autem est prin-
cipium urbis et quasi seminarium reipublicae." Aber sogar Rousseau
im Contrat Social, zu dessen Grundansichten über den Stat es freilich
gar nicht paszt: „Die Familie ist das erste Vorbild der politischen Ge-
sellschaft.'4
Neunzehntes Cap. Verhältnis d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 185
glich dann das Statsoberhaupt mit dem Vater, das Volk mit
den Kindern.
Indessen jener Satz und diese Vergleichung sind nur in
beschränktem Sinne wahr. Sie gelten nur mit Bezug auf die
patriarchalische Statsform, nicht aber für den höheren
nationalen und menschlichen Stat. Es ist daher nöthig, die
durchgreifenden Gegensätze zwischen Familie und Stat zu
bezeichnen :
1) Die Familie beruht auf der Ehe und ehelicher
Kinderzeugung. Die Familienglieder sind entweder als
Ehegatten oder durch gemeinsames Blut verbunden. Diese
Grundbegriffe des Familienrechts sind aber keineswegs Grund-
begriffe des Statsrechtes. Die Statsgenossen sind als solche
weder durch die Ehe noch durch das Blut mit einander ver-
bunden. Sie haben nicht einmal nothwendig Ehegemeinschaft
unter sich, noch weniger gemeinsame Abstammung. Die Grund-
rechte der Familie sind daher auch von dem State unab-
hängig. 2
2) Der Stat beruht auf der Organisation des Volks
und ihrer Beziehung zum Land. Diese statlichen Begriffe
sind hinwieder keine Begriffe des Familienrechtes. Das Volk
besteht eben so sehr und noch mehr aus Individuen, Ständen,
Classen, als aus Familien, und die Beziehungen des States
zu jenen werden nur ausnahmsweise durch die Familie ver-
mittelt, gewöhnlich nur insofern die Kücksicht auf das Fami-
lienleben, wie bei der Vormundschaft, solches erheischt. Die
Familie endlich hat als solche gar keine Beziehung zu dem
Boden.
3) Die Art und der Charakter des Organismus ist
verschieden in dem Stat und der Familie. Als Haupt der
Familie erscheint der Vater, der für sein eigen Fleisch und
Blut sorgt, wenn er über die Kinder Gewalt übt ; er der reife
2 Pomponius L. 8. de Reg. Jur. : „Jura sanguinis nullo jure civilk
dirimi possunt/'
186 Zweites Buch. Volk und Land.
Mann über die unmündige Nachkommenschaft. Das Wesen
seiner Leitung ist Vormundschaft. Der Fürst dagegen
erscheint als Haupt des Volkes, dessen Gassen selbständige
Interessen haben, dessen Familien von der fürstlichen Dynastie
getrennt sind und dessen Individuen weder von ihm ihr Dasein
ableiten noch als unreife und unmündige Wesen ihm unter-
geordnet sind. Das Princip des States ist die politische
Kegierung.
Die Familie ist somit nicht das Urbild des States, son-
dern höchstens einer bestimmten, der Familie ausnahms-
weisenachgebildeten (der patriarchalischen 3) Statsform. Das
Familienrecht ist daher auch ein Theil des Privat-, nicht des
öffentlichen Hechtes.
Aber allerdings sind die Anfänge der Statenbildung, sogar
der arischen Völker an die Familien und die Geschlechter ge-
bunden. In dem Familien- und Geschlechtsverband fanden
die ersten väterlichen Führer, Kichter, Obrigkeit noch die un-
entbehrliche Stütze ihrer Autorität. Nur allmählich konnte
der Stat aus diesen Verbänden zu einer politischen Ordnung
herauswachsen.
Die Geschlecht er Verfassung diente zur Brücke aus
dem bloszen Familienverband in den Stat. Als dieser einmal
gesichert war, wurde dann jene Brücke abgetragen und weg-
geräumt. Bei den meisten alten Nationen rinden sich anfäng-
lich Geschlechter mit politischer Bedeutung, die später ver-
schwinden. Die alt - mosaische Verfassung kennt sie so gut
wie die alt-hellenische oder alt-römische Verfassung. Wie bei
den alt-arabischen Stämmen die Geschlechter ihre Häuptlinge
3 Gobineau, sur l'in6galite des races humaines II. 8. 270 s führt
an, dasz die arischen Völker von jeher die patriarchalische Vorstellung,
welche die väterliche Gewalt als Vorbild der obrigkeitlichen Macht be-
trachtet, nur mit groszer Vorsicht und unter wichtigen Beschränkungen
zugelassen haben, während dieselbe der in den Hauptbestandteilen gel-
ben Rasse der Chinesen dauernd genüge.
Neunzehntes Cap. Yerhältnisz d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 187
wie Väter ehren, so zeigen sich die ähnlichen Verbände der
Klans bei den alten Schotten. Die alten Germanischen Dörfer-
namen weisen ebenso auf die Ansiedlung und den Gemeinde-
verband der Geschlechter hin, wie die alte Slavische Bauern-
gemeinde einen familienartigen Charakter hat.
Der Geschlechtsverband unterscheidet sich von dem Fa-
milienverband durch die Ausdehnung über den Kreis Einer
Sippschaft hinaus, indem das Geschlecht auch mehrere Fami-
lien und Sippschaften zusammenfaszt, aber es bleibt mit diesem
insofern verwandt, als er seine Ordnung nach Art der Fami-
lienordnung gestaltet. Die Geschlechtshäuptlinge sind meistens
hierin durch ihre erhöhte Familienstellung bezeichnet. Indessen
zwingt das Bedürfniss nach Einheit dazu, um Ein Familien-
haupt als Geschlechtshaupt zu ehren, und es kommt wohl vor,
dasz sogar die Wahl oder vielmehr die Kur das Erbrecht er-
gänzt oder ersetzt.
Der eigentliche familienartige Stat aber ist die Patri-
archie. Am zähesten hält das Chinesische Keich „der
Mitte" (d. h. der Vollkommenheit) seit Jahrtausenden an der
Fiction fest, dasz das Statshaupt der Vater der Nation sei.
Die ersten Gründer und Bildner auch dieses States waren, wie
Gobineau es wahrscheinlich gemacht hat, von arischem Ge-
schlecht. Ihnen schreibt er auch die erste Mittheilung der
patriarchalischen Idee zu. Aber die ungeheure Masse der
Bevölkerung, welche nach und nach in dem groszen Keiche zu
Einer Familie vereinigt wurden, ist von malayischem Stamme,
in welchem die Elemente der gelben Kasse überwiegend, wenn
gleich durch die Beimischung mit schwarzen einigermaszen
getrübt sind: und diese Bevölkerung, von Natur zu ruhigem
materiellem Lebensgenusz geneigt, fügt sich willig dem väter-
lichen Absolutismus ihrer Beherrscher und verehrt in der
überlieferten Statsordnung die heilige Civilisation. Der trotzige
Freiheitssinn, wie er allen arischen Völkern eingepflanzt ist,
regt sie nicht auf und nach höheren Ideen sehnt sie sich
188 Zweites Buch. Volk und Land.
nicht. Die Autorität des Kaisers ist zwar in der Theorie ab-
solut, in der Realität aber wird sie durch den ruheliebenden
Geist sämnitlicher Yolksclassen , durch die gelehrte Schulbil-
dung der Mandarinen, und vor allem durch die Macht des
hergebrachten Familienbrauches vielfältig beschränkt. „Der
Sohn des Himmels vermag Alles, unter der Bedingung, dasz
er nur das Bekannte und Herkömmliche wolle/* (Gobineau.)
Eine männlich-politische Entwicklung aber ist in dem väter-
lichen State unmöglich. Die Menschen worden von ihm in
dem Zustand der Kindheit zurück gehalten . in welchem die
Statsform selbst verharrt.
Eine ganz andere Frage ist die nach dem Einflüsse des
Familienlebens auf die Stats Wohlfahrt. Dieser meistens
mittelbare aber tief greifende Einflusz kann nicht leicht zu hoch
angeschlagen werden. Daher hat der Stat nicht allein, wie
in dem übrigen Privatrecht, die Pflicht . das Familienrecht zu
schützen und zu erhalten, sondern er hat zugleich ein hohes
Interesse, so viel bei ihm steht, die Gesundheit des Familien-
lebens zu fordern und zu erhalten. Es ist zwar seine Macht
hier eine geringe — eben weil die Familie keine Statsinsti-
tution ist — meistens auch nur eine mittelbar wirkende: in
einigen Beziehungen aber kann und darf der Stat wohl die
individuelle Willkür beschränken:
I. Mit Bezug auf die Ehe:
1. Die politisch höher gebildeten Völker legen alle einen
entschiedenen Werth auf die Monogamie. Mehrere Männer
verwirren sogar die Abstammung, mehrere Frauen bringen
Zwietracht in die Familie. Die volle Einheit der Ehe ist nur
gedenkbar in der Einigung eines Mannes und einer Frau.
Die Zweiheit der Geschlechter, in welche die Menschheit ge-
theilt ist, wird in der Monogamie zur Einheit verbunden.
Eine Mehrheit von Ehegenossen entspricht daher weder der
Natur, noch der sittlichen Idee. Daher soll der Stat sie nicht
Neunzehntes Cap. Verhältnis d. States etc. J. Geschlechterstat etc. 189
dulden. Als die gallischen Bischöfe gegen die Doppelehen
der Merowingischen Könige eiferten, und nicht nachlieszen,
bis dieselben auf das alte Privilegium germanischer Fürsten,
mehrere Frauen zu halten, verzichteten, vertheidigten sie
nicht blosz ein christliches, sondern zugleich ein s tatlich es
Princip.
2. Eine würdige Auffassung des rechtlichen Ver-
hältnisses der Ehegatten ist nicht minder wichtig.
In dieser Hinsicht blieb das römische Kecht hinter der
römischen Idee von der Ehe zurück. Während die Körner die
Ehe als eine innige und alle Verhältnisse umfassende Lebens-
gemeinschaft von Mann und Frau auffaszten,4 behandelte ihr
älteres Kecht die Frau ähnlich einer Tochter, und räumte dem
Manne eine absolute Herrschaft über sie ein, wie dem Vater
über die Kinder und dem Herrn über die Sclaven, und löste
das spätere Kecht die Gemeinschaft auf in ein lockeres Neben-
einandersein der beiden von einander ganz unabhängigen Per-
sonen. Das Ueberhandnehmen der sogenannten freien Ehe
ging mit der zunehmenden Sittenverderbnisz in den letzten
Zeiten der römischen Republik Arm in Arm, und bereitete
den Untergang dieser vor.
Das deutsche Kecht dagegen sowohl in seiner altern Ge-
stalt, wornach Frau und Mann zwar ihr eigenes Vermögen
beibehalten, aber dessen ungeachtet die eheliche Gemeinschaft
und Einigung in der ehelichen Vormundschaft des Mannes
ihren rechtlichen Ausdruck findet, als in der neueren Form
der Gütergemeinschaft, ist in Uebereinstimmung mit der Idee,
welche wir am schönsten in den uralten, und schon in den
heiligen Büchern der Juden enthaltenen zwei Sätzen ausge-
4 Modestinus L. 1. de Ritu nuptiarum: „Nuptiae sunt conjunctio
maris et feminae, et consortium omnis vitae, divini et humani juris com-
municatio," und Justin, Inst. I. 9. §. 1. Nuptiae sive matrimonium est
yiri et mulieris conjunctio, individuam vitae consuetudinem continens."
190 Zweites Buch. Volk und Land.
sprochen finden: „Mann und Weib sind nur ein Leib,"5 und:
„Der Mann ist das Haupt der Ehe".6
3. Selbst die Form der Eingehung der Ehe ist nicht
gleichgültig. Eine Form, welche geeignet ist die Innigkeit
und Heiligkeit des ehelichen Verhältnisses darzustellen und
zum Bewusztsein zu bringen, ist an sich einer andern vorzu-
ziehen, welche die Ehe lediglich als ein willkürliches Product
einer bloszen Uebereinkunft bezeichnet. Der alt - römische
Grundsatz ,,consensus facit nuptias" hat daher seine bedenk-
liche Seite, insofern er zu der Vorstellung verleitet, dasz die
Ehe ein blosz conventionelles Verhältnisz sei, und man
kann es nicht tadeln, wenn die Sitte mancher Nationen eine
religiöse Feier verlangt und die Uebung christlicher Völker
auf die kirchliche Trauung einen Werth legt. Aber wichtiger
noch ist die Rechtssicherheit der Familie, welche sich
mit der heimlichen Ehe nicht verträgt, und nur durch die
öffentliche, urkundlich beglaubigte Form befriedigt
wird. Diese Interessen des Rechts werden durch die soge-
nannte Civilform vollständig gewahrt. Wäre nicht die
kirchliche Form der Trauung von der Geistlichkeit miszbraucht
worden, um die vom State anerkannte Freiheit der Ehe-
5 Moses I. 2., 24. und Paulus an die Epheser Y. 31.: „Um desz-
willen wird ein Mensch verlassen Yater und Mutter, und seinem Weibe
anhangen, und werden zwei Ein Fleisch sein." Tacitus von den ger-
manischen Frauen (Germ. 19.): „Sic unum accipiunt maritum, quo modo
unum corpus, unamque vitam." Schwabenspiegel (WackG.): „Wan
die (ein man unde sin wip) reht unde redelichen zer e chomen sint, da
ist niht zweiunge an, sie sint wan ein lip."
6 Moses I. 3, IG. Zum "Weibe sprach er: „Dein "Wille soll deinem
Manne unterworfen sein, und er soll dein Herr sein." Paulus an die
Eph. 5, 22.: „Die Weiber seien unterthan ihren Männern." Sachsen-
spiegel 1.45. §.1: „AI ne si en man sime wive nicht evenburdich, he
is doch ire vormünde, unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht,
swenne se in sin bedde gat." Code Napoleon 213.: „Le mari doit pro-
tection k sa femme, la femme obeissance h son mari." Oesterr. Gesetz-
buchArt. 91: „Der Mann ist das Haupt der Familie." Züricherisches
Gesetzbuch §. 127: „Der Ehemann ist das Haupt der Ehe."
Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 191
schlieszung zu beeinträchtigen und die Gesetzgebung von den
Ansichten der Kirche in ungebührlicher Weise abhängig zu
machen, so hätte sich auch der moderne Stat eher bei der
kirchlichen Form beruhigen können. Aber jene Miszbräuche
und die Gegensätze der religiösen Meinungen innerhalb der
heutigen Bevölkerung haben das Bedürfnisz einer rein bürger-
lichen Form hervorgerufen.
4. Eine Beförderung der Ehen und der Kinderzeugung
von Stats wegen ist in groszem Maszstab durch den Kaiser
Augustus versucht worden. Das Bedürfnisz zu derartigen Ge-
setzen setzt indessen jeder Zeit kranke Zustände einer Nation
voraus, in denen der natürliche Trieb der Individuen, sich zu
verbinden, entweder ausschweift oder gehemmt ist. Dieses
Uebel ist besonders dem Leben in groszen Städten eigen.
Die zahlreicheren Gelegenheiten, geschlechtliche Bedürfnisse
auch auszer der Ehe zu befriedigen, befördern den Hang zu
einem ungebundenen und liederlichen Leben, und die erhöhte
Schwierigkeit, die gesteigerten Ansprüche einer städtischen
Familie auf Lebensgenusz zu erfüllen, ist ein bedeutendes Hin-
dernisz der Heirathen gerade unter den höhern Classen der
Gesellschaft. In Eom kam die übermäszige Testirfreiheit der
römischen Bürger als ein Motiv der Ehelosigkeit hinzu, indem
unverheirathete Keiche sicher waren, in ihren alten Tagen von
erbsüchtigen Verwandten und Freunden mit dienstgefälliger Zu-
vorkommenheit gepflegt und geschmeichelt zu werden. Augustus
konnte mitBecht sagen: ,, Die Stadt besteht nicht aus Häusern,
Säulenhallen und leeren Märkten, sondern die Menschen bilden
die Stadt. Würde die Ehelosigkeit unter den Bürgern Korns
um sich greifen, so würde am Ende Eom den Griechen oder
gar den Barbaren anheimfallen."
Die Mittel des States zu diesem Zwecke sind freilich be-
schränkt, und selbst in der Beschränkung werden sie, wie
solches auch den Gesetzen Augusts widerfahren ist, dem Volke
so wenig munden, als eine bittere Arznei dem kranken Körper.
192 Zweites Buch. Volk und Land.
Ein elirecter Zwang zur Ehe ist nicht zulässig, weil die Ehe
ihrem Wesen nach die eheliche Gesinnung und den freien
Willen der Individuen voraussetzt. Selbst in dem Falle, wo
die Statsinteressen die Ehe des Statsoberhauptes dringend
wünschbar machen, ist doch eine Nöthigung desselben zur
Eingehung einer Ehe ein so tiefer Eingriff in die menschliche
Freiheit, dasz vor diesen natürlichen Schranken des indivi-
duellen Eechtes auch der Wille des States zurücktreten musz.
Die jungfräuliche Königin Elisabeth von England hat diese
persönliche Freiheit auch des Monarchen, dessen Leben mehr
als ein anderes mit der Wohlfahrt des States verwachsen ist,
siegreich gegen die andringenden Statsrücksichten behauptet.
Der Stat kann somit nur mittelbar den Zweck fördern,
indem er mit der Ehe äuszere Vortheile verbindet, und die
Ehe- und Kinderlosigkeit mit äuszern Nachtheilen, nicht aber
wie ein Vergehen mit eigentlicher Strafe bedroht. Diesen
Weg hat denn auch die römische Gesetzgebung eingeschlagen.
5. Häufiger finden sich in den neuern Staten umgekehrt
gesetzliche Beschränkungen der Ehe aus Gründen der
öffentlichen Wohlfahrt. Dieselben setzen ebenfalls krankhafte
Zustände voraus, insbesondere das sociale Uebel eigenthums-
oder erwerbsloser Classen der Bevölkerung. Da können es
die Interessen der Gemeinschaft nöthig machen, dasz von
denen, welche durch die Ehe neue Familien begründen wollen,
Garantien dafür verlangt werden, dasz sie im Stande seien,
ohne Belästigung der Gemeinden oder des States, der Familie
die erforderliche Nahrung und den nöthigen Unterhalt zu ver-
schaffen. Ein weiteres Verbot der Ehe dagegen, insbesondere
der Vorbehalt einer willkürlichen Genehmigung der Gemein-
den, ist ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das natür-
liche Kecht des Individuums.
6. Mit Becht enthält sich der Stat einläszlicher Vorschrif-
ten über das geschlechtliche Verhältnisz der Ehegatten. 7
7 In den Gesetzen Manu's (111.46) kommen darüber folgende Be-
Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 193
Sie gehören vorzugsweise dem individuellen Leben und der
Sitte an. Wohl aber ist er befugt und veranlaszt, offenbare,
über den Kreis des engen Familienkreises hinaus wirkende
Immoralität und den Bruch der ehelichen Treue auf Klage
des verletzten Ehegatten mit Strafe zu bedrohen, und so durch
seine Gesetzgebung die gute Sitte und die Keinheit der Ehe
zu stützen.
Die Weibergemeinschaft, wie sie Plato für die Wächter
seines idealen States vorgeschlagen hat, ist eine Entwürdigung
der Ehe und Zerstörung der Familie. Die Preisgebung der
Frauen, wie sie unter Umständen von den Spartanern begün-
stigt worden, ist eine Barbarei. Die Emancipation des Flei-
sches aber, wie sie die radical-socialistische Schule in unsern
Tagen als einen neuen Fortschritt der individuellen Freiheit,
über seinen Körper nach Lust zu verfügen, auch für die beiden
Ehegatten in Anspruch nimmt, ist die Erniedrigung der sitt-
lichen Freiheit des Menschen auf die Stufe der sinnlichen
Freiheit der Hunde.
7. Endlich ist der Sorge des States für die Fortdauer
der Ehe und der Behinderung leichtfertiger Scheidung zu
erwähnen.
Schon in der vorchristlichen Periode wird die Auflösung
der Ehe nicht überall der Willkür der einzelnen Ehegatten
überlassen. Manche Rechte gestatteten es zwar dem Manne,
seine Frau zu entlassen, nicht aber der Frau, sich von dem
Manne loszusagen. Auch für den ersten Fall war die Yer-
stoszung der Frau öfter an bestimmte wichtige Ursachen ge-
bunden, oder zog, wie in den altern germanischen Rechten,
Stimmungen vor: „16 Tage und 16 Nächte von der Erscheinung der Re-
geln an sind die natürliche Zeit der Frauen. An den 4 ersten Nächten
und ebenso an den Uten und 13ten dürfen sie nicht heimgesucht werden.
Die übrigen 10 dagegen sind erlaubt, und unter diesen die geraden der
Erzeugung von Söhnen, die ungeraden der von Töchtern günstig." Auch
die jüdische Gesetzgebung und späterhin das canonische Recht
haben darüber Bestimmungen.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 13
194 Zweites Buch. Volk und Land.
wenn sie ohne zureichende Gründe geschah, bedeutende Nach-
theüe auch für den Mann nach sich. In diesen beschränkenden
Bestimmungen des Eechts, welche überdem durch die Sitte
verstärkt waren, äuszert sich die Ehrfurcht des States vor dem
Princip der Ehe als einer das ganze Leben erfüllenden Ge-
meinschaft. Es war daher schon eine Auflösung der älteren
sittlichen Ordnung, wenn das spätere römische Recht, die in
Athen herrschende Ansicht adoptirend, für die sogenannte
freie Ehe den Ehegatten das Kecht der einseitigen freien
Kündigung einräumte. Die Aufnahme dieses Grundsatzes war
zu groszem Theile eine Folge des in Eom überhand nehmen-
den Sittenverderbnisses , und ward hinwieder eine Quelle der
Entartung.
Das Christenthum hat in dieser Präge ein neues und
vollkommneres Eecht eingeleitet. Christus selbst sprach sich
im Gegensatze zu dem mosaischen Eechte so nachdrücklich
gegen die Scheidung aus,8 dasz seine Worte nicht ohne Wir-
kung auf die spätere Eechtsbildung in den christlichen Staten
sein konnten, obwohl er auch hier nicht unmittelbar das be-
stehende Eecht änderte noch ein neues schuf, sondern nur auf
den Geist und die moralische Gesinnung wirkte. Die katho-
lische Kirche aber bildete nachher ein strenges System des
Eherechts aus und gelangte, ungeachtet Christus selbst die
Scheidung aus dem Grunde des Ehebruchs ausgenommen und
anerkannt hatte, im Verfolge der Zeit dazu, die volle Schei-
dung überall zu untersagen und nur eine äuszerliche Tren-
nung (die separatio a toro et mensa), aber auch diese nur
aus wichtigen und seltenen Gründen zu gestatten. Sie setzte
ihre Ansicht in den christlichen Staten des Mittelalters in
der Weise durch, dasz sie die Frage der ehelichen Trennung
und Scheidung der Einwirkung des States ganz zu entziehen
und ausschlieszlich vor die kirchliche Gerichtsbarkeit
zu bringen wusste.
s Matth. 5,32. 19,8. Marc. 10, 11 und 12. Luc. IG, J8.
Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States etc. 1. Gesclilecliterstat etc. 195
In den letztern Jahrhunderten hat indessen der Stat auch
diese Seite der Rechtsverhältnisse mit Recht wieder seiner
Gesetzgebung und seiner Rechtspflege unterworfen, und die
protestantische Kirche erklärte von ihrem kirchlichen Stand-
punkte aus die Ehescheidung wegen Ehebruchs, öfter auch aus
Gründen, welche diesem an Bedeutung gleich kommen, als
zulässig. In einzelnen Ländern hat sogar die Gesetzgebung
und die Praxis, modernen philosophischen Lehren zugethan,
wieder durch leichte Zulassung der Scheidung die Ehe gelockert.
Regelmäszig geblieben aber und allgemein anerkannt sind
zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der Will-
kür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden
Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf,
sondern nur unter gerichtlicher MitwirkuDg und mit gericht-
licher Erlaubnisz zuläszig ist;
b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze.
Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un-
auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird,
vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt
und zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich
um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöfchigt ist, auch im
Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit
der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner-
lich doch gebrochen und zerstört sind, auch von
Rechtswegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat
wohl daran, soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des
Volkes und die individuelle Entwicklung es gestatten, die
Regel der Unauflösbarkeit möglichst festzuhalten und die
Ausnahmen der Scheidung einer ernsten Controle zu unter-
werfen.
13
196 Zweites Buch. Volk und Land.
Zwanzigstes Capitel.
2. Die Frauen.
Der Stat ist seinem Wesen nach von so entschieden
männlichem Charakter, dasz die Frauen nur einen mittelbaren
Antheil an ihm haben können. Die Bestimmung der Frau
weist sie nicht auf das öffentliche Leben der Politik hin, und
ihre natürlichen Eigenschaften befähigen sie nicht, weder im
Frieden noch im Krieg,, für die schweren Aufgaben des States.
Wohl umfaszt der Stat mit seiner Sorge und seiner Herrschaft
auch die weibliche Hälfte der Bevölkerung und schirmt auch
deren Rechte; aber das Weib ist ausgeschlossen von der
unmittelbaren Theilnahme an der öffentlichen politischen
Thätigkeit der Männer, von den Aemtern, aus den Käthen,
aus den Gemeinden.
Diese Begel ist allen Völkern und allen Ständen gemein-
sam. Einzelne Philosophen zwar haben die politische Gleich-
stellung der Frauen mit den Männern beantragt,1 die Völker aber
und die Frauen selbst haben von jeher erkannt, dasz Statsgeschäfte
nicht Sache der Frauen seien, und dasz nicht minder die
Frauen an den Vorzügen und Reizen ihrer Weiblichkeit als
der Stat an seiner Würde, Sicherheit und Wohlfahrt einbüszen
müszten, wenn jene sich unmittelbar an den politischen Kämpfen
betheiligten.
Merkwürdigerweise haben manche Völker eine wichtige
Ausnahme von jener Regel zugelassen und gerade die oberste
Statsgewalt, das Königthum auch den Frauen eröffnet. Den
Griechen und Römern freilich war auch diese Annahme durch-
aus fremd. Als ein römischer Kaiser, der weibische Helioga-
balus, seine Mutter in den Senat eingeführt und so die römi-
schen Sitten heftig verletzt hatte, wurde nach seiner und ihrer
1 In neuerer Zeit hat sich J. Mi 11 als Vertreter dieser Meinung
hervorgethan in der Schrift: Repräsentativregierung. Vgl. auch Labou-
laye hist. de TAmerique Bd. III.
Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. States etc. 2, Die Frauen. 197
Ermordung ein Senatusconsult beschlossen, dasz dessen Haupt
den unterirdischen Göttern geweiht sei, welcher je es wieder
wagen sollte, eine Frau in den Senat zu bringen. Auch die
meisten germanischen Völker gehorchten nur Männern als ihren
Königen.
Aber schon Aristoteles (Pol. III. 6, 16) berichtet uns,
dasz viele fremde Staten unter Frauenherrschaft stehen, und
Tacitus (Agricola, 16) erwähnt es als eine Eigenthümlichkeit
der Britten, dasz sie auch dem weiblichen Geschlechte Herr-
schaft verstatten. Von den Longobarden wissen wir, dasz die
Folge in das Königthum öfter durch erbberechtigte Frauen
vermittelt worden ist. In dem spätem europäischen Stats-
recht ist häufig den Frauen ein Recht auf den Thron eröffnet
worden, und wir haben in den letzten Jahrhunderten nicht
blosz in England, sondern auch in Oesterreich, Euszland,
Spanien, Portugal und anderwärts unter verschiedenen Begie-
rungssystemen Frauen als Regenten gesehen.
Woher diese sonderbare Ausnahme? Wenn den Frauen
politische Rechte überhaupt nicht zukommen, wie können sie
denn an dem höchsten politischen Rechte Theil haben? Sollte
es nicht natürlicher sein, dasz eine Frau ein untergeordnetes
Statsamt verwalte, oder in dem Rathe ihre Meinung äuszere,
als dasz sie Oberhaupt des States werde? Diese Ausnahme
last sich nur daraus erklären, dasz die Würde und Macht des
Statsoberhauptes als ein politisches Familiengut betrachtet und
behandelt und der Frau die nämlichen Rechte auf die Thron-
folge wie auf die Beerbung der väterlichen Liegenschaften zu-
gestanden wurden. Das Land wurde wie ein Gut (Allod oder
Lehensgut) angesehen, und das privatrechtliche Erbsystem auch
für die statsrechtliche Folge festgehalten. Auf solche Weise
ist die Fähigkeit königlicher Frauen zur Thronfolge schon im
Alterthum begründet und in der neuern Zeit ausgedehnt wor-
den; und es haben manche neuere Staten, welche im übrigen
zwischen Stats- und Privatrecht schärfer gesondert haben und
198 Zweites Buch. Volk und Land.
der mittelalterlichen Vorstellung des Lehens- oder des Patri-
monialstates entwachsen sind, dennoch diesen Eest der frühe-
ren Anschauungsweise beibehalten, und auf die Blutsverbin-
dung in der königlichen Familie ein gröszeres Gewicht gelegt,
als auf die Natur des States und die Bestimmung der Frau.2
Sind auch die Frauen von einer regelmäszigen unmittel-
baren Theilnahme an den Statsgeschäften ausgeschlossen, so
ist dagegen ihre mittelbare Einwirkung auf die Wohlfahrt
des States nicht gering zu achten. Aber auch da artet der
Einüusz der Frauen auf das Statswohl leicht aus, wenn der-
selbe von politischen Motiven geleitet wird. Kein und
heilsam erweist er sich fast nur, wenn religiöse oder mo-
ralische Gründe die Handlungen der Frauen bestimmen.
Die berühmten politischen Frauen haben meistens den Staten
und den Ihrigen Schaden gebracht. Die weibliche Klugheit
und List in kleinen Dingen wird auf politischem Gebiete zu
gefährlicher Intrigue. Und wenn einmal die politischen Leiden-
schaften des Hasses, der Kache, des Ehrgeizes in der Brust
des Weibes eingekehrt sind, werden sie leicht zu maszloser
Gier entzündet und theilen sich so den Männern mit. Es gilt
das nicht blosz von den Maitressen der Fürsten, es gilt das
auch von manchen Ehefrauen und Müttern, die sich in der
Geschichte einen Namen erworben haben. Die römische Ge-
schichte ist nicht arm an Beispielen dafür, und die französische
Kevolution kennt solche nicht minder als das Hofleben der
französischen Könige.
Auf der andern Seite ist der Segen grosz, den Frauen in
stiller, von der Geschichte nur selten berichteter Wirksamkeit
auch politischen Männern bereitet haben. Wie viele haben in
2 Vgl. die Untersuchungen von Laboulaye: Recherches sur la
condition civile et politique des femmes, Paris 1843. Beachtenswerth
aber bleibt es, dasz manche Frauenregierungen gut ausgefallen sind,
zum Theil deszhalb, weil die Kaiserinnen und Königinnen sich lieber
von bedeutenden Statsmännern leiten lie.szen, als viele männliche Herrscher.
Zwanzigstes Capitel. Yerhältnisz d. States etc. 2. Die Frauen. 199
dem häuslichen Kreise wieder den Frieden gefunden, der sie
für die Kämpfe und Leiden des bewegten äuszern Lebens ent-
schädigte und von neuem zu ihrer Pflicht stärkte. Wie oft
haben die Frauen die Rohheit und Wildheit der Männer er-
mäszigt und diese vor Ausschweifung bewahrt! wie oft die-
selben durch ihre kluge Vorsicht von Miszgriffen zurückgehalten,
oder durch ihr lebhaftes Gefühl für Sitte und Moral an Fehl-
tritten gehindert, wie oft auch in der Noth gerettet.
Vorzüglich in den Leiden des Gemeinwesens, im Unglück
und bei Gefahren des States zeigt sich der Einfmsz der Frauen
besonders wohlthätig. Im Dulden stärker als der Mann hilft
die Frau ihm das unvermeidliche Uebel ertragen, ohne sich
von demselben clemüthigen zu lassen; ihr bereiter Opfermuth
regt auch in ihm den Muth auf, dem Vaterlande seine Kräfte
willig zu opfern, und ihre Verehrung der männlichen Tapfer-
keit, die ihr selber versagt ist, treibt den Mann, dieser Ehre
würdig zu handeln und zu wagen.
Es ist daher ein schöner Zug des Statsrechtes besonders
unter den germanischen Völkern, dasz die Frau auch als Ge-
nossin der politischen Ehre und Würde ihres Mannes be-
trachtet wird. Es liegt darin die Anerkennung der wahren
mittelbaren Beziehung des Weibes zu dem Organismus des
States , und ein würdiger Ersatz für die den Frauen versagte
Theilnahme an den eigentlichen politischen Rechten.
Anmerkung. Eine Reihe feiner Beobachtungen hat Riehl in
seiner social -politischen Studie „Die Frauen" (Deutsche Yierteljahrs-
schrift 1852) und später in seinem Buch: „Die Familie" mitgetheilt, und
mit Recht auf die ständischen Unterschiede in dem Greschlechtsverhält-
nisz aufmerksam gemacht. VDie Bäuerin ist in Lebensart und Sitte dem
Bauern näher und gleicher, als die gebildete Städterin des höhern Bürger-
standes ihrem Gatten; aber jene ist einem stengeren Hausregiment unter-
worfen als diese, die sich freier und selbständiger in ihrer Sphäre be-
wegt. "Wenn aber Riehl der Frau auch einen politischen Parteicharakter,
den „conservativen" beilegt, und sie eine Aristokratin von Natur
nennt, so habe ich dagegen einzuwenden, dass alle politischen Parteien
dem Leben der Männer, keine anders als mittelbar dem der Frauen
200 Zweites Buch. Yolk und Land.
angehören, mittelbar aber die Frauen wieder bei allen Parteien be-
theiligt sind. AYill man aber einzelne Parteien, wie das in der Parteien-
lehre Fr. R ohmers unwiderleglich erwiesen worden ist, als vorzugs-
weise männlich unterscheiden, und diesen dann die andern als
unmännlich (relativ weiblich) entgegensetzen, so ist es klar, dasz die
liberale und die conservative männlich und nur die extremen
Parteien, die radicale und absolutistische, unmännlich sind.
Einundzwanzigstes Capitel.
IX. Yerhältnisz des Stats zu den Individuen.
1. Volksgenossen und Fremde.
Endlich stehen auch die Individuen in einem unmittel-
baren Yerhältnisz zu dem State, nicht blosz als Glieder
der Familien, Stände, Rassen. In der modernen Statslehre
und Statsverfassung ist diese Beziehung ebenso nachdrücklich
hervorgehoben und zuweilen ausschlieszlich beachtet, als die
mittelbaren Beziehungen in Familie und Ständen gewöhnlich
vernachlässigt sind.
Es kommen hier folgende Gegensätze in Betracht:
1) der der Einheimischen, der Volksgenossen oder
Stats an gehörigen und der Fremden;
2) der der Statsbür gc r und der übrigen Volks-
genossen.
Die verschiedenen Abstufungen innerhalb des Stats-
bürgerthums können erst bei der nähern Betrachtung der
Verfassung zur Sprache kommen.
Der erste Gegensatz beruht vornehmlich auf dem Unter-
schied der Volksrassen und ist zunächst ein persönliche-r.
Erst in zweiter Linie kommt auch die Beziehung zu einem
Ort als der Heimat in Betracht. Entscheidend ist die Ver-
Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. Stuts etc. 1. Volksgenossen etc. 201
»
bindung des Individuums mit dem Volk, von secundärem Ein-
flusz der Zusammenhang mit dem Land.
Die Meinung der alten Völker, dasz den Fremden kein
Kecht zu halten sei, die Fremden also relativ rechtlose1 Wesen
seien, so lange sie nicht in einen besondern Schutz aufgenom-
men und von demselben gedeckt werden, obwohl von Hellenen
und Kömern behauptet, darf wohl als ein Stück Barbarei be-
zeichnet werden, welches die antike Kultur entstellt. Humaner
war der Grundsatz der Germanen: ,, Jeder nach seinem an-
geborenen Volksrecht." Die neuere Rechtsbildung erkennt auch
in dem Fremden den berechtigten Menschen und gewährt dem-
selben ihren Schutz-.
1. Die Frage aber, wer als Einheimischer anzusehen sei
und wie die Volks genossen seh aft erworben werde, hat
verschiedene Antworten erfahren. Die Rücksichten auf die
Abstammung und auf die Heimat lassen verschiedene Com-
binationen zu. Wir können folgende Systeme unterscheiden:
a) Das System des Geburtsorts. Es entspricht vor-
züglich der Anschauung des spätem Mittelalters. Seine Regel
ist: Die Geburt im Lande begründet die Eigenschaft des
Indigenats. Es ist das heute noch die Regel des englischen
Rechts, welches zwischen natwdl-born subjeeis und aliens
unterscheidet. Als in England geboren wird aber auch an-
gesehen, wer auf einem englischen Schiffe oder in einer eng-
lischen Gesandtschaftswohnung im Auslande geboren ward. In
neuerer Zeit ist aber auch in England die Strenge dieses ört-
lichen Princips dadurch ermäszigt worden, dasz die Kinder von
Engländern, obwohl im Ausland geboren, dennoch das eng-
lische Bürgerrecht erhalten. Ueberdem ist die Naturali-
1 Diese Ansicht, wie wir sie bei den Römern finden, ist zwar nicht
Gleichstellung der Fremden mit den Sclaven, aber Schutzlosigkeit des
Fremdenrechtes im römischen Stat. Vgl. Ihering, Geist des römischen
Rechts I. S. 219 ff. hostis bedeutet ursprünglich den Gast, den Fremden
und den Feind.
202 Zweites Buch. Yolk und Land.
sation bedeutend erleichtert worden.2 Auf ähnlichen Grund-
sätzen ruht das nordamerikanische Recht.3
b) Das System des Wohnorts. Das Territorialsystem
kommt noch in einer andern Form zur Anwendung, welche
eher den neueren Ansichten zusagt, indem der Nachdruck nicht
auf den zufälligen Ort der Geburt, sondern auf den dauernden
Wohnort der Eltern, und in der Folge auf den eigenen
Wohnort gelegt wird. Daneben sind immer noch bedeutende
Unterschiede möglich in der Gestattung oder Erschwerung der
Ansiedlung. In diesem Sinne wird Statsangehörigkeit zum
Theil in Oester reich und in einzelnen deutschen Staten
verstanden.4 Auch da wird aber die Wirkung des Wohnorts
ergänzt durch die Formen einer persönlichen Ertheilung des
Heimatsrechts.
c) Eiue eigenthümliche Zwischenstufe nimmt das schweize-
rische System des Gemeinde Verbands ein, welches die
Grundlage bildet des Cantonsbürgerrechts (Landrechts)
und des allgemeinen Schweizerbürgerrechts. Das Ge-
meindebürgerrecht ist darin weder von der Geburt noch von
dem Wohnort in einer Gemeinde abhängig, sondern wird durch
die Abstammung von Eltern bestimmt, welche Gemeinde-
bürger sind und bleiben, auch wenn sie ausserhalb ihrer
Heimatsgemeinde in einer sogenannten Niederlassungsgemeinde
2 Blackstone Comm. I. 10. Art. 7 u. 8 Victoria c. 55.
3 Jetzt noch begründet die Geburt in dem Gebiete der Vereinigten
Staten nordamerikanisches Bürgerrecht. Aber die Kinder der Nord-
amerikaner, die im Ausland geboren sind, haben ebenfalls das Bürger-
recht durch Abstammung erworben. Die Niederlassung Fremder
in den Vereinigten Staten endlich ist die Grundbedingung einer sehr
zahlreichen Naturalisation. Vgl. Story Comm. zur Bundes verf. I. 8. und
Rüttimann Nordam. Bundesstatsrecht I. S. 89.
4 Oesterreich. Gesetzbuch §. 29. „Fremde erwerben die öster-
reichische Statsbürgerschaft durch Eintretung in den öffentlichen Dienst,
durch Antretung eines Gewerbes, dessen Betreibung die ordentliche An-
sässigkeit im Lande noth wendig macht, durch einen in diesen Staten
vollendeten zehnjährigen ununterbrochenen "Wohnsitz,"
Einundzwanzigstes Cap. Yerhälfcnisz d. States etc. 1. Volksgenossen etc. 203
wohnen.5 Es erinnert an das alt -römische Mimicipalrecht,
welches ebenfalls durch die origo aus einem bestimmten Muni-
cipium begründet war.
d) Das ständische und Rassens^ystem, vorzüglich
in den altern germanischen Volksrechten entwickelt, hat sich
in der spanischen Verfassung erhalten, indem nur die
Abkunft von weiszen spanischen Eltern das spanische Volks-
recht begründet, die Abkömmlinge der Neger dagegen und
auch die Mischlinge von weiszen und farbigen Eltern als
Fremde gelten.6
e) Das nationale System des persönlichen Volks-
verbands hat in neuerer Zeit eine allgemeine Anerkennung
erhalten, und sein Einflusz wird nun auch in den Staten ver-
spürt, deren Recht auf einer andern Grundlage ruht. Nach
diesem System kommt es nicht hauptsächlich auf den Ort der
Geburt an, auch nicht auf den Wohnort, sondern vorerst auf
die Abstammung von Volksgenossen und sodann auf
die ebenfalls persönliche, nicht örtliche Aufnahme in
den Volksverband. Daneben kommt auch eine ergänzende Rück-
sicht auf den Geburts- oder Wohnort vor.
Im Allgemeinen folgen das französische7 und das
preuszische8 Recht diesem System. Der modernen Stats-
anschauung, welche in dem persönlichen Volksverband den
5 Bluntschli Schweiz. Bundesrecht I. S. 529. und im Einzelnen
Bluntschli Stats- u. Rechtsgesch. v. Zürich IL S. 14 ff. Cherbuliez
de la Democratie en Suisse I. S. 187 f. Blumer Bundesstatsrecht I. 249f.
« Span. Verf. v. 1812. Art. 18. 19. f.
7 Code civil 10: „Tout enfant ne d'un Francais en pays etranger
est Fran^ais." Consularverfassung von 1799. Art. 3: „Un etranger
devient citoyen Francais, lorsqu'apres avoir atteint l'äge de 21 ans accomplis
et avoir declare Fintention de se fixer en France, il y a reside pendant
dix annees consecutives."
8 Gesetz vom 31. Dec. 1842. Das preuszische Bürgerrecht wird
vorerst durch Abs tammung begründet, indem jedes eheliche Kind eines
Preuszen durch die Geburt preuszischer Statsbürger wird, auch wenn es
im Auslande geboren ist. Bei der Naturalisation aber wird vorzüglich
auf den Wohnsitz geachtet, v. Rönne Statsr. I. §. 87,
204 Zweites Buch. Yolk und Land.
lebendigen Kern des Statsbegriffes erkennt, entspricht dieses
System am beszten.
Uebrigens nähern die Systeme sich einander in neuerer
Zeit, indem jedes seine Lücken durch Grundsätze aus dem an-
dern zu ergänzen sucht. Abstammung und Geburtsort, Wohn-
ort und Naturalisation, Heirath und Legitimation werden so
mit einander verbunden, und wenn einer dieser Ursachen nicht
eine directe Wirkung des Bürgerrechts zugeschrieben wird, so
wird sie doch durchweg indirect, als Voraussetzung besonders
der Naturalisation berücksichtigt.
2. Dem Erwerb der Yolksgenossenschaft entspricht der
Verlust derselben. Da dieselbe in dem modernen State als
ein persönliches Recht betrachtet wird, so wird sie durch
den Aufenthalt, selbst durch die dauernde Niederlassung in
einem fremden Lande nicht sofort aufgehoben. Vielmehr ist
als die Auflösungsform, welche mit der Natur dieses "Rechts
am besten harmonirt, die Verzichtleistung von Seite des
berechtigten Individuums, verbunden mit der Entlassung
von Seite des States anzusehen, indem in ihr sich die wechsel-
seitige Lösung des persönlichen Verbandes darstellt. Die
meisten neuern Staten halten es aber ihrer nicht für würdig,
ein Individuum, welches sich aus dem Statsverbande lossagen
will, zurückzuhalten, und haben so im Interesse der individuellen
Freiheit das Princip freier Verzichtleistung anerkannt.
In vielen Fällen wird geradezu aus der Handlungsweise des
Individuums auf Verzichtleistung geschlossen, auch wenn keine
ausdrückliche Erklärung desselben vorliegt. Ganz besonders
gilt das von der Auswanderung, in welcher sich die Ab-
sicht zu erkennen gibt, nicht wieder zurückzukehren.9
9 Code civil 17: „La qualite de Francais se perdra par tout etablis-
sement fait en pays etranger, sans esprit de retour. Les etablissements
de commerce ne pourront jamais etre consideres comrae ayant ete faits
sans esprit de retour." Bayer. Edict von 1818- §. 6: „Das Indigcnat
geht verloren durch Auswanderung." Oesterr. Verf. von 1849. §. 25:
„Die Freiheit der Auswanderung ist von Stats wegen nur durch die
Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. Stats etc. 1. Volksgenossen etc. 205
Nur das englische StatsrecM, obwohl es vielleicht zu-
erst unter den neuern Hechten das Hecht der freien Auswan-
derung (des freien Zugs) anerkannt hat, scheint den mittel-
alterlichen Gesichtspunkt, dasz der Unterthan sich von der
Lehenstreue gegen den Fürsten nicht ohne dessen Zustimmung
losmachen könne, länger festgehalten zu haben, so dasz auch
die Auswanderung nicht die Auflösung des englischen Unter-
thanenverbandes nach sich zieht. lü
Als Auswanderung behandelt das französische Hecht
auch jede Naturalisation in einem fremden Lande und den
Eintritt in auswärtige Statsdienste ohne Bewilligung der fran-
zösischen Statsregierung ; n eine Ausdehnung, welche unter
Umständen weiter reicht, als die wirkliche Verzichtleistung,
denn es kann wohl vorkommen, dasz ein Individuum in einen
andern Statsverband eintritt, ohne deszhalb seine bisherige
Stats Verbindung aufgeben zu wollen. Indessen sorgt in sol-
chen Fällen das französische Recht dafür, dasz dem nach
Frankreich zurückkehrenden Individuum die Erneuerung des
französischen Indigenats leicht wird. l2
Die Vereinigung zweier Heimatsrechte in Einer Person
ist nicht unmöglich,1,3 und theilweise durch die Cultur-
Wehrpflicht begränzt " Ebenso Preusz. Verf. von 1850. §. 11: „Die
Freiheit der Auswanderung kann von Stats wegen nur in Bezug auf die
Wehrpflicht beschränkt werden." Das Preusz. Landrecht II. 17.
§. 127 u. ff. war noch strenger.
10 Magna Charta v. 1215: „Liceat unicuiqui exire de regno iiostro
et redire salvo et secure per terram et per aquam salva fide nostra,
nisi tempore guerre per quod breve Jempus propter communem utilitatem
regni." Blackstone, Coram. I. 10.
" Code Civ. 17,
18 Code C, 18. „Le Francais qui aura perdu sa qualite de Francais,
pourra toujours la recouvrer en rentrant en France avec l'autorisation
du Roi et en declarant qu'il veut s'y fixer, et qu'il renonce ä toute di-
stinction contraire ä la loi frangaise."
13 Es kommt sogar vor, dasz eine Person, gleichzeitig in zwei Staten
an der Landesrepräsentation Theil nimmt. Manche Standesherrn sind
gleichzeitig Mitglieder der ersten Kammern in zwei und drei Staten,
206 Zweites Buch. Volk und Land.
Verhältnisse der Gegenwart veranlaszt. Wenn daraus ein
wirklicher Conflict widerstreitender Pflichten sich ergibt —
ein immerhin seltener Fall — so kann die Lösung desselben
wohl schwierig werden. Nicht immer hilft der Satz aus, dasz
der ältere Statsverband dem neueren vorgehe: insbesondere
dann nicht, wenn das ältere Heimatsrecht ein ruhendes, und
das neuere ein wirksames (actuelles) ist, wenn also der
Doppelbürger wohl in der neuen Heimat wohnt, aber nicht
mehr in der alten. In diesen Fällen wird z. B. die Militär-
pflicht in der letzteren geleistet werden müssen.14 Deszhalb
kommt auch zunächst dem State, welcher einem Ausländer
die Naturalisation ertheilt, oder ihm eine Beamtung überträgt,
die Befugnisz zu, entweder die vorherige Entlassung aus dem
frühern Statsverbande zu verlangen, oder den Vorbehalt der
Fortdauer desselben zuzugestehen. '*
3. Die Wirkungen der Volksgenossenschaft beziehen
sich tlieils auf das Gebiet des Privatrechts, theila auf das
Gebiet des Oeffentlichen. In dem Privatrechte war früherhin
der Gegensatz einsehen Einheimischen und Fremd« viel be-
deutender als gegenwärtig. Die moderne Zeit ist geneigt, die
beiden Gebiete schärfer zu sondern und daher auch in dem
Privatrechte dem seiner Natur nach politischen Statsverbande
in denen allen sie begütert, und denen allen Sie durch den Eid der Treue
verbunden sind. Ist es ja nicht einmal undenkbar, dasz Jemand zwei
verschiedene Wohnorte (Domioile) /.. r>. eines in der Stadt und einei
auf dem Lande, oder eines als Kaufmann (Firma) und ein anderes als
Privatmann hat! Wenn Bar (da- internationale Privat- und Strafrecht
S. 8ä) alle diese Möglichkeiten bestreitet, 80 überzeugt ein Blick in die
wirklichen Verhältnisse, dass diese mannigfaltiger Bind, als die enge
Theorie. Die Freiheit der Auswanderung Ifird dadurch nicht beschränkt,
wohl aber die Freiheit bewahrt, sein angeborenes Vaterland zu behalten
und damit eine neue Statsgenossensdialt zu verbinden.
14 BlackatO)ie a. a. 0. Die eigene Lebenserfahrung hat mich ge-
lehrt, dasz in diesen Dingen die actuelle Heimat entscheide,
15 Bayer. Edict. §. G. Dagegen Schweizer. Bundcsverf. von
1848. 43: „Ausländern darf kein Kanton das Bürgerrecht erthcilen,
wenn sie nicht aus dem frühem Statsverband entlassen werden."
Einundzwanzigstes Cap. Yerhältnisz d. States etc. I.Volksgenossen etc. 207
keine besondere Bedeutung beizulegen. Regel ist daher nun-
mehr, dasz Einheimische und Fremde in privatrechtlicher
Hinsicht gleich behandelt, und diese wie jene zunächst
des vollen Privat rechts fähig erachtet werden.16
Nur ausnahmsweise hat sich noch der früher allgemein
angenommene Grundsatz erhalten, dasz Fremde kein Grund-
eigenthum in dem Lande erwerben können.17 Häufiger sind
dieselben in der Ausübung gewisser Gewerbe, namentlich in
der s elb ständig en B et r e ibun g von Handwerken, auch
etwa von Kramladen beschränkt. 18 Das Fremdlings-
recht (jus albinagii) dagegen, welches dem Landesherrn die
Verlassenschaft des Fremden preisgab und der Abschosz
(gabella hereditaria), welcher von Verlassenschaf ten, die ins
Ausland kamen, erhoben wurde, sind nun fast überall als
unpassende l\este einer untergegangenen Zeit weggeräumt und
die Freizügigkeit auch insofern zur Kegel erhoben worden.19
In dem öffentlichen Rechte aber ist der Gegensatz zwi-
schen Einheimischen und Fremden noch vollwirksam. Nur
den erstem, nicht ebenso den letztern stehen von Rechtes wegen,
und ohne dasz es einer besondern Zusicherung bedarf, zu:
,c Preusz. Landr. Ein], §. 38: „Auch Unterthanen fremder Staten,
welche in hiesigen Landen leben oder Geschäfte treiben, müssen nach
obigen Bestimmungen beurtheilt werden." Oesterr. Ges. §. 33. „Den
Fremden kommen überhaupt gleiche bürgerliche Rechte und Verbind-
lichkeiten mit den Eingebornen zu, wenn nicht zu dem Genüsse dieser
Rechte ausdrücklich die Eigenschaft eines Statsbürgers erfordert wird."
Code Civil. 13.
17 Für England vgl. Blacks tone I. 10. Auch in einigen demokra-
tischen Schweizerkantonen gilt das Verbot noch.
18 Wo die Zunftverfassung sich erhalten, versteht sich diese Be-
schränkung gewöhnlich von selbst. Aber auch wo jene aufgelöst wor-
den, ist dennoch häufig nur den Inländern gestattet, solche Gewerbe zu
betreiben. Die französ. Verf. von 1848. A. 13: „garantit aux citoyens
la liberte du travail et de Pindustrie." Die französische Praxis begün-
stigt aber in dieser Hinsicht die Gewerbefreiheit auch der Ausländer.
19 Schweizer. Bundesverf. §. 52: „Gegen die auswärtigen Staten
besteht Freizügigkeit unter Vorbehalt des Gegenrechtes." Deutsche
Bundesakte v. 1815. 18. Deutscher Bundesbeschlusz v. 1817.
208 Zweites Buch. Volk und Land.
a) das Recht zu ständigem Aufenthalt und Wohn-
sitz in dem Statsgebiete , -ü in Folge dessen der Einheimische
auch nicht an einen fremden Stat ausgeliefert noch ohne
höhere Statsgiünde verbannt werden darf;
b) das Recht auf Stat »schütz, auch wenn er aus zer-
halb des eigenen Stalsgebietes sieh aufhält:
c) die Vorbedingung zur Ausübung politischer
Stimmrechte und zum Erwerb des eigentlichen Stats-
bürgerrechts ; -1
d) ebenso die Vorbedingung zur Fähigkeit, ein öffent-
liches Amt im State zu bekleiden.21
e) Zuweilen ist auch die Ausübung allgemeiner poli-
tischer Rechte, wie 2. B. des Vereinsrechtes, oder des Peti-
tionsrechtes, oder der freien Presse an die Eigenschaft des
Einheimischen geknüpft. M
Daraus folgt nun freilich nicht , dasz den Fremden die
Betheiligung bei politischen Vereinen, Petitionen, der Presse
untersagt sei. sondern nur, dasz dieselben kein in ihrer
Person begründetes Recht darauf haben, somit diese Theil-
nahme von der Duldung dea States abhängig sei, in dem
sie wohnen ohne ihm anzugehören.
?0 Schweizer. Bund. $ 57- „Dem Bunde steht das Recht in,
Fremde, welche die innere oder äussere Sicherheit der Eidgen
gefährden, au- dem schweizerischen Gebiete wegzuweisen14.
21 Bayer. Edict v. 1818. $. 7: „Das [ndigenat ist die wesentliche
Bedingung, ohne welche man zu Kronoberhofamtern, eu Civilstatsdiensten,
zu obersten MilitSreteUen und zu Blirohenamtern oder Pfründen nicht
gelangen kann, und ohne welche man das bayerische Statsbürgerrecht
nicht ausüben kann." Fr am ÖS. Verfassung von L848. LOj -Tous les
citoyens .--ont egalement admissiblei a tous tes emplou publios." Vgl.
Oesterr. Verf. von \S'\{3. § 27. u. 28. Preu^z. Verf. von L850. §. 4.
81 Franz. Verf. von 1848. A. 8: nLes citoyens ont le droit de
s'associer de s'assembler paisiblemcnt et Bans armes, de petitionner, da
manifester leurs pensees par la voie de le presse ou autrement." Preusz.
Verf. von 1850. Art. 27. 29. 30. 32, welche die*e Rechte „allen
Preuszen" zugestehen.
Zweiundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 209
Zweiundzwanzigstes Capitel,
2. Die Statsbürger im engeren Sinne.
Aus der Masse der Volks- und Landesangehörigen erhebt
sich die höhere Stufe der Statsbürger im eigentlichen Sinne.
Die Statsbürger als solche haben Theil an den politischen
Rechten, und insbesondere in der Repräsentativverfassung an
dem Stimmrechte für die Wahlen der Volksvertreter. Das
Statsbürgerrecht in diesem Sinne setzt die Volksgenossenschaft
als Grundbedingung voraus, verbindet aber mit derselben über-
dem die politische Vollberechtigung im State, und in
ihm vorzüglich erhält die politische Beziehung der Individuen
zum State ihren vollen Ausdruck.
In dem griechischen und in dem römischen Stat des Alter-
thums war diese Eigenschaft mit dem Bürgerthum der regie-
renden Stadt, in dem altern Mittelalter mit dem Stande der
Vollfreiheit verbunden. In dem modernen State hat dieselbe
einen weitern Umfang gewonnen und sich in manchen Ländern
der Volksgenossenschaft an Ausdehnung sehr angenähert.
Als allgemein anerkannte Beschränkungen des neuern Stats-
rechts sind anerkannt:
1. Ausschlieszung des weiblichen Geschlechts. Die
Politik ist Sache des Mannes, die politischen Rechte stehen
daher auch nur den Männern zu. Vgl. oben Capitel XX.
2. Ausschlieszung der Minderjährigen. Die selb-
ständige Ausübung der politischen Rechte erfordert eine gewisse
geistige Reife. Weil es ihnen daran gebricht, sind die Un-
mündigen und die Minderjährigen ausgeschlossen.
In einzelnen neuern Staten wird die politische Voll-
jährigkeit von der privatrechtlichen unterschieden. Eher
läszt es sich rechtfertigen, wenn jene nach dieser, als wenn
umgekehrt diese nach jener eintritt; denn leichter ist es in
den Geschäften des täglichen Lebens zu einem klaren Urtheile
zu gelangen, als da, wo es sich um politische Interessen und
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 14
210 Zweites Buch. Volk und Land»
auch — wie bei Wahlen — um Beurtheilung politischer Per-
sonen handelt. In Frankreich, in England, in Nord-
amerika beginnt die politische und bürgerliche Volljährigkeit
zugleich mit der Vollendung des einundzwanzigsten Alters-
jahres,1 in einigen deutschen Staten, wie in Bayern ebenso;2
in Preuszen und im norddeutschen Bunde dagegen be-
ginnt das politische Stimmrecht mit dem zurückgelegten fünf-
undzwanzigsten,3 in 0 est er reich mit dem vollendeten sechs-
undzwanzigsten Altersjahre.4 In der Schweiz lassen einzelne
Kantone das Alter der politischen Volljährigkeit sogar früher
eintreten, nun fast durchweg mit der Vollendung von zwanzig
Jahren, als dem Alter der bürgerlichen Majorennität. 5
3. Ausschlieszung der Personen, deren bürgerliche
Ehren fähigkeit vermindert oder aufgehoben worden ist:
z. B. der Sträflinge, der erklärten Verschwender, der Falliten
und der Personen, welche der öffentlichen Armenunterstützung
anheimfallen.
In vielen Staten treten überdem noch folgende Erforder-
nisse hinzu:
4. Ein gewisses Masz von Selbständigkeit der äusze-
ren Existenz des Statsangehörigen. Die Art, diese Selbständig-
keit zu bestimmen, ist freilich sehr verschieden in den ver-
schiedenen Staten.
Im Geiste des altern germanischen Rechts wird dieselbe
vorzüglich in dem Grundbesitze oder der Haushäblich-
keit („wer einen eigenen Rauch führt"), im Sinne des neuern
germanischen Rechts mehr in der selbständigen Betreibung
irgend eines Berufes auf eigene Rechnung und in der Auf-
nahme in den Verband der activen Gemeindebürger
1 Franz. Const. v. 1848. A. 15. Blankst., Comm. I. 17.
2 Bayerisches Landrecht. I. 7. 36. Edict üb. d. Indig. §. 8.
3 Verf. v. 1850. A. 70. Wahlgesetz v. 15. Oct. 1866. Art. 2.
* Oesterr. Gesetzb. §. 21. Verf. v. 1849. §. 43.
5 Z.B. Zürich, wo die bürgerliche Volljährigkeit erst mit vierund-
zwanzig Jahren erreicht wird.
Zweiundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 211
erkannt. Die erstere Auffassung hat sich zum Theil bis auf
die neueste Zeit in England und in einzelnen nordamerika-
nischen Staten erhalten, die letztere ist in die neueren Stats-
verfassungen deutscher Staten übergegangen.6 Es bleiben
somit diejenigen Personen ausgeschlossen, welche als Bediente
oder Knechte sich einer Herrschaft verdungen haben, öfter
auch die Fabrikarbeiter, wenigstens der unteren Gassen, und
die gröszere Zahl der Handwerksgesellen.
Dagegen haben andere Staten in neuerer Zeit, dem Kufe
nach dem allgemeinen Stimmrecht folgend, dieses Erfordernisz
entweder in laxerem Sinne behandelt oder ganz aufgegeben.
Dahin gehören die neueren Schweizer Verfassungen seit 1830.
die Verfassung der französischen Kepublik von 1848 und
des französischen Kaiserreichs, und die Verfassung des
norddeutschen Bundes von 1867. Auch die Vereinigten
Staten von Nordamerika streben gegenwärtig dieselbe Aus-
dehnung des Stimmrechts auf Jedermann an. Sie entspricht
offenbar der demokratischen Neigung unseres Zeitalters.
5. Das Statsbürgerrecht wird üb er dem in einzelnen Staten
von einem bestimmten Masze des Vermögens abhängig ge-
macht. Bei der Vertheilung der Stimmrechte kann
das Vermögen gar wohl als ein wichtiger Factor in Betracht
gezogen werden; aber es widerspricht der Statsidee, dasz ein
Mann, welcher moralisch und geistig in jeder Weise befähigt
und berufen ist, an dem politischen Leben des Volks Theil
zu nehmen, und welcher auch als Privatmann völlig unabhängig
zu handeln gewohnt ist, blosz darum von dem Statsbürger-
rechte ganz ausgeschlossen bleiben soll, weil er kein oder nicht
6 Nach der bayerischen Verfassung von 1818 wird zum Stats-
bürgerrecht auszer dem Indigenat „Ansässigkeit im Königreiche, ent-
weder durch den Besitz besteuerter Gründe, Renten oder Rechte, oder
durch Ausübung besteuerter Gewerbe, oder durch den Eintritt in ein
öffentliches Amt" erfordert. Die österr. Verf. von 1848 §. 43 und die
preuszische A. 70 erkennen die Selbständigkeit in dem Gemeinde-
verband.
14*
212 Zweites Buch. Volk und Land.
das geforderte Vermögen besitzt. Wird dabei nicht blosz das
Grund- oder überhaupt das Kapitalvermögen, sondern auch das
Einkommen und der Erwerb in Anschlag gebracht, und das
Masz so niedrig angesetzt als dasselbe für eine ganz bescheidene
Existenz eines Menschen unentbehrlich ist, dann freilich ist
gegen dieses Eequisit nicht viel zu haben. Dann fällt es dem
Effecte nach so ziemlich mit dem vorher erörterten der Selb-
ständigkeit zusammen. Es wird dann diese nach dem Ver-
mögen beurtheilt. Die Bestimmung mancher Verfassungen,
wie z. B. der nordamerikanischen, der bayerischen
yon 1848, theilweise auch der österreichischen und der
preuszischen, welche das politische Stimmrecht von der
Bezahlung direkter Statssteuern abhängig machen, hat eine
ähnliche Bedeutung.
6. In den christlichen Staten wurde bis auf die neueste
Zeit herab auch das Bekenntnisz der christlichen Ee-
ligion gefordert. Anhänger einer andern, wenn auch gedul-
deten Eeligion, z. B. Juden oder Muhammedaner, waren somit
von dem Statsbürgerrechte ausgeschlossen. Während des
ganzen Mittelalters waren Eeligion und Eecht, Kirche und
Stat in der engsten Verbindung und Wechselwirkung. Wer
von der religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen war, wurde es
auch von der politischen. Der „Ungläubige" konnte im gün-
stigsten Falle auf Duldung, und selbst auf diese nur aus-
nahmsweise hoffen; an politische Gleichberechtigung mit den
„Gläubigen" war nicht zu denken.
Selbst innerhalb der christlichen Eeligion wurde, als
die Confessionen sich schieden, auf die bestimmte Con-
fession auch in dem Statsrechte grosser Werth gelegt. In
vorzugsweise katholischen Ländern wurde nur den Katholiken,
in protestantischen nur den Protestanten das volle Statsbürger-
recht zuerkannt. Auch der westphälische Frieden sicherte für
Deutschland nur die privatrechtliche, keineswegs die politische
Zweiundzwanzigstes Cap. Yerhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 213
Rechtsgleichheit der Katholiken und der Protestanten.7 Erst
die deutsche Bundesacte von 1815 stellte die anerkannten
christlichen Eeligionsparteien der Katholiken, Lutheraner und
Reformirten auch in dieser Beziehung in Deutschland gleich,
liesz es aber noch ungewisz, ob auch die Anhänger von an-
dern Secten der nämlichen Rechte theilhaftig seien."8
Die neuere Rechtsentwicklung in manchen Staten hat nun
eine entschiedene Tendenz, die Ausübung der politischen Rechte
unabhängig zu erklären von irgend einem religiösen
Bekenntnisz. Es wäre irrig, diese Tendenz als die Frucht
des religiösen Indifferentismus zu erklären, obwohl nicht zu
läugnen ist, dasz auch dieser seinen Antheil an der neuen
Gestaltung hat. Als zuerst der nord amerikanische Con-
gresz 1791 untersagte, „ein Gesetz zu geben, wodurch eine
Religion zur herrschenden erklärt werde," war die Meinung
keineswegs die, dasz es für die Wohlfahrt des States gleich-
gültig sei, ob seine Bürger von der Wahrheit und Kraft der
christlichen Religion beseelt seien oder nicht, noch die, den
Stat an der Ausübung seiner Pflicht, die Anstalten der christ-
lichen Religion zu schützen und zu fördern, irgend zu be-
hindern. 9
Das neuere Princip erhält vielmehr seine tiefere Begrün-
dung in der Anerkennung der Idee, dasz der religiöse Glaube
und das religiöse Bekenntnisz ihrem Wesen nach von statlichem
7 Instrum. Pae. Osn. Y. §. 35: „Sive autem Catholici sive Augustanae
confessionis fuerint subditi, nullibi ob religionem despicatui habeantur
nee a mercatorum , opificum aut tribuum communione, haereditatibtis,
legatis, hospitalibus, leprosoriis, eleemosynis, aliisve juribus aut com-
mereiis, multo minus publicis coemiteriis , lionoreve sepulturae arceantur
— sed in his et similibus pari cum coneivibus jure habeantur, aequali
justitia protectioneque tuti."
s Deutsche Bundesakte A. 16: „Die Verschiedenheit der christlichen
Religionsparteien kann in den Ländern des deutschen Bundes keinen
Unterschied in dem Genusz der bürgerlichen und politischen Rechte
begründen." Ygl. Kl üb er Acten des Wiener Congr. II. S. 439.
* Ygl. Story a. a. 0. P. III. St. 44.
214 Zweites Buch. Yolk und Land.
Zwange frei sein und der Mahnung des Gewissens allein an-
heim gegeben werden müssen, dasz daher auch keine politi-
schen Nachtheile, keine Rechtsverminderung die Abweichung
von dem christlichen Glauben bedrohen dürfe. Dazu kam die
Neigung der Nordamerikaner, die beiden Gebiete des statlichen
und des kirchlichen Lebens scharf von einander auszuscheiden,
und auf dem einen den Stat, auf dem andern die Kirche mög-
lichst frei gewähren zu lassen. In diesem Sinne wurden die
politischen Rechte Keinem versagt, der, wenn auch einer
andern Religion zugethan, doch fähig schien, die politischen
Pflichten auszuüben.
Als dagegen die französische Revolution ähnliche
Grundsätze adoptirte, war nicht lediglich die Sorge für die
Gewissensfreiheit das bestimmende Motiv, vielmehr hatte, wie
die auch an religiösen Verfolgungen reiche Geschichte jener
Zeit beweist, auch der aus der früheren Frivolität zu wildem
Hasse des Christenthums fortgeschrittene Geist der Verneinung
einen Antheil daran. lu
Auch in Deutschland ist das nämliche Princip, nun
schärfer noch ausgesprochen seit der Bewegung vom Jahr
1848, anerkannt worden. Die österreichischen Grund-
rechte von 1849. §. 1. sowohl als die preuszische Ver-
fassung von 1850 stimmen darin mit dem Frankfurter und
dem Berliner Entwurf der Reichsverfassung überein, dasz
„der Genusz der bürgerlichen und der statsbürgerlichen Rechte
von dem Religionsbekenntnisse unabhängig sein" soll. Vor-
sichtig aber fügen dieselben hinzu, dasz „den statsbürgerlichen
Pflichten durch das Religionsbekenntnis/, kein Abbruch ge-
schehen" dürfe.
10 Das neue Princip war schon in dem ersten Artikel der Erklärung
der Menschenrechte von 1791 ausgesprochen: „Les hommes naissent et
demeurent libres et egaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent
etre fondees quo sur l'utilite' commune." Von den späteren Verfassungen
hat keine die Eigenschaften des „citoyen" an ein Glaubensbekenntniss
geknüpft.
Zweiutidzwaazigstes Cap. Yerhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 215
In Folge dieser neuerlich anerkannten Grundsätze ist denn
auch die Stellung der Juden in diesen Ländern eine von
Grund aus andere geworden. Waren dieselben früher von dem
Genüsse des Statsbürgerrechtes in Deutschland meistens ganz
ausgeschlossen, so darf nun von der jüdischen Eeligion her
kein Grund mehr genommen werden, denselben jenes Recht zu
versagen.
Ob das neue Princip übrigens in seinen Consequenzen
mit dem europäischen Systeme, welches noch immer wenn auch
weniger als früher die enge und beschränkende Verbindung
von Stat und Kirche aufrecht erhält, im Gegensatze zu dem
nordamerikanischen Systeme völliger Trennung, in volle
Harmonie zu bringen sei, und in welcher Weise, wird erst die
Zukunft lehren.
Zu allgemeiner Geltung ist dasselbe noch nicht gelangt.
In den südlichen romanischen Staten im Kirchenstat,
in Spanien und Portugal wie in dem südlichen Ame-
rika ist dasselbe nicht anerkannt, auch in Norwegen und
Ruszland nicht. In der Schweiz hat erst das Verfassungs-
gesetz von 1866 die politischen Rechte für unabhängig erklärt
von der christlichen Confession und selbst in England hat
das moderne Princip — obwohl die frühere Zurücksetzung der
Dissenters und der Katholiken in diesem Jahrhunderte eben-
falls aufgehoben worden ist — nur unter bedeutenden Ein-
schränkungen eine unvollständige Autorität erlangt.
Der moderne Stat hat jedenfalls, seiner menschlichen und
nationalen Begründung getreu, die entschiedene Tendenz, die
Anhänger verschiedener Glaubensbekenntnisse durch seine
gemeinsamen Institutionen zu einigen und allmählich die mittel-
alterliche Verflechtung des öffentlichen Rechts mit bestimmten
religiösen Bedingungen oder kirchlichen Vorschriften aufzulösen.
216 Zweites Buch. Volk und Land.
Dreiundzwanzigstes Capitel
Das Land.
1. Das Volk ist die persönliche Grundlage des States.
Das Land ist die dingliche Beziehung desselben. Erst wenn
das Volk ein Land erworben hat, wenn ein Statsgebiet hinzu-
gekommen ist, hat der Stat die erforderliche Festigkeit erlangt.
Schon die Ausdehnung, der äuszere Umfang des
Statsgebietes ist für die Existenz und die Entwicklung des
States von groszer Wichtigkeit. Die hellenische Verfassung,
die aus dem Leben der Städte erwachsen ist, läszt sich in
einem groszen Lande nicht durchführen. Die groszen Formen
der modernen Bepräsentativmonarchie werden auf einem engen
Gebiete zur Karikatur.
Der Theil der Erdoberfläche, welcher von dem Volke be-
setzt und von dem State beherrscht wird, heiszt Land oder
Statsgebiet. Die Grösze desselben wird ähnlich wie die Bil-
dung des Volks durch geschichtlicheVorgänge bestimmt.
Ein Stat erweitert sein Gebiet, wenn er über unwirthliche
Strecken, die noch nicht einem State angehören, seine Cultur
und Herrschaft erstreckt, oder wenn er durch Verträge oder
in Folge freiwilligen Anschlusses fremde Gebiete erwirbt, oder
auch im Krieg durch Eroberung. Die letztere Form des Er-
werbs, früher vorzugsweise geachtet, musz doch von einer civi-
lisirten Weltordnung als ein Act der Gewalt, wenn nicht
ausnahmsweise darin eine gewaltsame Eechtsentwicklung zu
erkennen ist, verworfen werden.
Die Geschichte kennt keinen ewigen unveränderlichen
Umfang der Statsgebiete. Auch der Baum, den die Staten
einnehmen, ist abhängig von dem Wachsthum oder der Ab-
nahme der Volkskräfte in ihm. Aber das Statsgebiet hat
doch einen dauernden Charakter und seine Grenzen sind nicht
wie die Volkszahl einer unaufhörlichen Wandlung unterworfen.
Nur von Zeit zu Zeit in Folge groszer Ereignisse wird der
Dreiundzwanzigstes Capitel. Das Land. 217
Gebietsumfang geändert. In der Eegel bleibt er in feste
Grenzen eingeschlossen.
Die Grenzen scheiden entweder das eigene Statsgebiet von
dem fremden ab, oder sie scheiden das Statsgebiet von den
Theilen der Erdoberfläche ab, welche keinem State angehören.
Im erstem Fall denkt man sich die Grenze als eine feste
Linie und bezeichnet sie so gut es geht mit Grenzmarken,
Pfählen, Steinen, Gräben, Wällen u. s. f. Im letztern Fall
bedarf es einer solchen scharfen Linie nicht, und es kann
auch je nach Umständen ohne Verwicklung mit andern Staten
die Grenze vorgeschoben oder zurückgezogen werden.
Zu der ersten Classe sind zu rechnen:
a) Strom- und Fluszgrenzen, obwohl dieselben nicht
in dem Masze fest und unbeweglich sind, wie die Landgrenzen.
Zuweilen wird die Mitte des Flusses, zuweilen der Thal-
weg desselben, d. h. die durch die Strömung bestimmte
Fahrbahn, als die eigentliche Grenze der beiderseitigen Stats-
hoheit betrachtet, aber weil die Mitte oder der Thalweg vor-
züglich benutzt wird, mit Kücksicht auf Schifffahrt und Ver-
kehr, die Benutzung des Flusses zugleich als eine gemein-
schaftliche behandelt.1 Sowohl die Mitte des Flusses als
der Thalweg sind aber öfteren Aenderungen unterworfen, in
Folge der An- und Abspülung der Ufer und in Folge ver-
änderten Wasserlaufs.
b) Die Gebirgs grenzen. Die Gebirgszüge trennen
gewöhnlich Stämme und Cultur von einander. Die Bewohner
sehen nicht hinüber und gelangen nur mit Anstrengung, ge-
wöhnlich nur auf einzelnen Bergwegen zu einander. Kegel-
mäszig wird dann der oberste Grat des Gebirges, welcher
auch die Gewässer scheidet, als die natürliche Grenzlinie an-
gesehen.
Zu der zweiten Classe gehören:
1 Das gilt z. B. von dem Rhein als Grenze zwischen Deutschland und
Frankreich. Vgl. Kl üb er, öffentl. K des deutschen Bundes §§.88—90.
218 Zweites Buch. Volk und Land.
a) die Meere, seltener grosze Seen, die von Natur der
Sonderherrschaft einzelner Staten entzogen sind, und der ge-
meinsamen freien Benützung aller Welt offen stehen.
b) Die Wüsten und unwirthliche Steppen, zuweilen
auch Wälder und wildes Gebirge. Die fortschreitende
Cultur und die allmählige Aneignung auch dieser Gebiete
durch den Stat macht aber solche Natur grenzen seltener.
Die nähere Bestimmung der Grenzverhältnisse ist dem
Völkerrechte vorbehalten.
2. In ähnlicher Weise, wie der Charakter und der Bil-
dungsgrad des Volkes, übt auch die Natur des Landes einen
groszen Einflusz aus auf die Statenbildung in demselben. Ob-
wohl aus der Erde geboren ist der Mensch doch nur uneigent-
lich ein „Landeskind" zu nennen. Als ein geisterfülltes und
freies Wesen vermag er den äuszeren Einwirkungen des Landes
auch Widerstand zu leisten. Aber er wird überall von der
Macht der Natur umschlossen, und kann sich den Einflüssen
nicht völlig entziehen, welche der besondere Charakter und
die Gestaltung seines Wohnortes auf seinen Geist und Körper
täglich ergieszt. Kann schon das Individuum diese Eindrücke
nicht alle zurückstoszen und abweisen, so wird das Volk, wel-
ches länger lebt und Jahrhunderte hindurch den nämlichen
Einwirkungen der Landesnatur ausgesetzt ist, noch mehr davon
betroffen, und am Ende wird in anderem Land auch das
Volk ein anderes. Es ist aber eher Aufgabe der Politik
als des Statsrechts, den Einflusz der Landesnatur je nach
Klima, Bodenform und Bodenart, Fruchtbarkeit u. s. f. auf
das Statsleben zu würdigen.
Wie aber die Menschheit, nicht das Volk die wahre Unter-
lage des vollkommenen States ist, so ist auch die Erde, nicht
das Land das vollkommene Statsgebiet, die Erde, welche
die Mannichfaltigkeit aller Länder in das richtige Verhältnisz
bringt und harmonisch einigt, welche alle Gegensätze nicht als
Mängel, sondern als Ergänzung und Keichthum empfindet.
Vierundzwanzigstes Capitel. Von der Gebietshoheit. 219
Für die heutige Statenbildung aber, welche dem höchsten Ziele
noch ferne steht, folgt daraus der auch practisch längst be-
währte Satz: am günstigsten auch für den Einzelstat ist ein
mannichfaltig geartetes Land, mit Bergen und Thälern,
Flüssen, Seen, Meeresküsten und Ebenen: nicht gerade der
erhöhten Fruchtbarkeit wegen, denn diese Hebungen und Senk-
ungen des Bodens machen einen Theil des Bodens unfähig für
die Cultur; sondern weil sie die ebenfalls mannich faltigen
Anlagen der Bewohner allseitig anregen und die mensch-
lichen Kräfte steigern. Am ungünstigsten dagegen sind grosze
unwirthliche Steppen des Binnenlandes. Diese sind daher auch
der uralte Boden, auf dem die unstatlichen Nomadenvölker
noch ihr Wesen treiben.
Vierundzwanzigstes Capitel.
Von der Gebietshoheit. (Sogenanntes Statseigenthuni.)
Man nennt das Hoheitsrecht des States über das
ganze Statsgebiet oft Statseigenthum. Diese Be-
zeichnung hatte in dem mittelalterlichen Lehensstat wie in den
absoluten Staten der asiatischen Yorzeit eine relative Wahr-
heit. Zu dem modernen Statsbegriffe aber paszt dieselbe in
keiner Beziehung.
Das „Eigenthum" ist ein privatrechtlicher, nicht ein po-
litischer Begriff. So lange daher der Stat oder dessen Ober-
haupt, wie in dem alt-jüdischen State Gott, wie die ägyptischen
Pharaone als alleinige Eigenthümer des Bodens betrachtet
wurden, an dem den einzelnen Privaten kein Eigenthum, son-
dern nur ein vorübergehendes Gebrauchs- und Nutzungsrecht
zugestanden war, oder so lange wie in dem römischen Keiche
wenigstens der Boden der unterworfenen Provinzen als in dem
220 Zweites Buch. Volk und Land.
formellen Eigenthum des römischen Volkes oder Kaisers stehend
angesehen wurde, und den Provincialen nur ein minderes, ob-
wohl reales Eigenthum (in bonis) an ihren Grundstücken zukam,
oder so lange wie in einzelnen mittelalterlichen Staten, z. B.
in England nach der Eroberung der Normannen, der König
als Obereigenthümer und Lehensherr des ganzen Landes galt
und die Unterthanen nur einen lehensmäszig abgeleiteten
Grundbesitz hatten, so lange bildete die Vereinigung und Ver-
mischung von privatrechtlichem Eigenthum und statlicher Hoheit
die natürliche Unterlage für den Begriff des Statseigenthums.
Seitdem aber die Ausscheidung des Privatrechtes und des
Statsrechtes vollzogen ist, ist derselbe durchaus unhaltbar ge-
worden.
Das Hoheitsrecht des States über das Gebiet, die
Gebietshoheit (imperium), ist somit von dem Eigenthum
(dominium) des States wohl zu unterscheiden. Das letztere
hat einen privatrechtlichen Inhalt, ungeachtet der Stat das
Kechtssubject ist, das erstere dagegen hat einen wesentlich
politischen Charakter, und kann seiner Natur nach nur dem
State (beziehungsweise dem Statsoberhaupte) zustehen.1
Die Gebietshoheit hat vorerst den positiven Inhalt,
dasz dem State vollkommene statliche Herrschaft über
das ganze Gebiet zusteht. Soweit dasselbe sich erstreckt, ist
somit der Stat berechtigt, seiner Gesetzgebung Anerkennung
zu verschaffen, seine Kegierungsbeschlüsse durchzuführen, seine
Gerichtsbarkeit zu üben. Der Stat hat nicht blosz Gewalt über
die Personen, er hat sie auch über das Land und über die
Sachen darin.
Diese Herrschaft ist aber statlich, nicht privatrechtlich.
1 Die Alten haben diese Unterscheidung wohl erkannt. Hugo Grotius,
de jure belli ac pac. II. 3. führt eine Stelle von Seneca an, de benef.
VII. 4: „Ad reges potestas omnium pertinet, ad singulos proprietas ;"
und von Bio Chrysost. Orat.: „Das Land gehört dem Stat (v x°>VC( i^s
noXstos); aber nichts desto minder ist jeder Einzelne vollkommener Herr
seiner erworbenen Güter. u
Vierundzwanzigstes Capitel. Von der Gebietshoheit. 221
Demgemäsz ist es ein Irrthum , der aus jener falschen Vor-
stellung von Statseigenthum entsprungen ist, wenn ein natür-
liches Eigenthum des States an herrenlosen Sachen be-
hauptet wird, die in seinem Gebiete vorhanden sind oder wenn
die Fremden von der Occupation solcher Sachen aus-
geschlossen sind und diese ausschlieszlich dem State selbst
oder seinen Angehörigen vorbehalten wird. Die Occupation
ist eine privatrechtliche Erwerbsform, nicht ein Ausflusz einer
statlichen Hoheit, und der Umstand, dasz es Sachen gibt, welche
nicht in privatrechtlichem Besitze oder Eigenthum und doch
derselben fähig sind, ist wieder nur ein privatrechtliches,
nicht ein statsrechtliches Verhältnisz.
Dem römischen Eechte ist denn auch jene irrthümliche
Ansicht fremd. An den eigentlichen res nullius hatte der
Stat gerade so wenig Eechte als jede andere Privatperson.
Wer immer, ob Fremder, ob römischer Bürger, dieselben
occupirte, wurde durch die Occupation Eigenthümer.2 In dem
Mittelalter dagegen war allerdings die Vorstellung der lehens-
herrlichen Oberhoheit und die des Patrimonialstates einer Aus-
dehnung der Statsherrschaft auch auf Gegenstände des Privat-
rechtes günstig: und in manchen neuern Kechten hat sich
diese frühere Anschauung groszentheils noch erhalten.
Dahin gehören:
1. Das preuszische Landrecht, welches mit Bezug
auf gewisse Arten von Sachen, insbesondere auf Liegenschaften,
Erbschaften, nutzbare Landthiere, auf welche noch kein In-
dividuum ein besonderes Kecht erlangt hat, oder die von ihrem
2 Gajus, in L. 3 pr. de Adquir. rer. dominio:. „Quod enim nullius
est, id ratione naturali occupanti conceditur." Vgl. L. 1. pr. eod.
Klüber, öffentl. Recht des deutschen Bundes, §. 337. hat die Theorie
aufgestellt, dasz die sogenannten adespota, d. h. herrenlose Sachen,
innerhalb des Statsgebiets nicht von Fremden occupirt werden können.
"Warum aber sollte der Vogel, der einem Fremden ins Zimmer fliegt und
von diesem gefangen wird, demselben weniger gehören als einem Ein-
heimischen?
222 Zweites Buch. Volk und Land.
frühern Eigenthümer verlassen worden, dem State ein Vorzugs -
recht zur Occupation zuschreibt, in Folge dessen ein Anderer
dieselben nicht ohne Einwilligung des States in Besitz nehmen
darf. An andern herrenlosen Sachen dagegen erkennt auch
das preuszische Landrecht die Occupationsfreiheit an.3
2. Das englische Kecht hält auch hierin die mittel-
alterliche Vorstellung noch strenger fest, indem es in der Regel
dem Könige das Eigenthum an herrenlosen Sachen zuschreibt.4
Nur ausnahmsweise erkennt dasselbe an einzelnen beweg-
lichen Sachen ein freies Occupationsrecht an.5
3. Das französische Eecht ist dem englischen ähnlich.
Es stellt ganz allgemein das Princip auf: „Die herrenlosen
Sachen gehören dem State."6
4. Das österreichische Gesetz nähert sich dagegen der
richtigen römischen Ansicht. Es erkennt die umgekehrte Regel
an, dasz die herrenlosen Sachen (dort „freistehende Sachen"
genannt) der freien „Zueignung" anheimfallen.7
Wo nun aber in den neuern Rechten ein so ausgedehntes
Recht des States noch vorkommt, da ist dasselbe doch nicht
mehr als eine Folge der Gebietshoheit, sondern als eine An-
wendung des aus statlichen Rücksichten und privatrechtlichen
Elementen gemischten Rechtes der Regalität zu behandeln.
Der negative Inhalt der Gebietshoheit besteht in dem
Rechte des States, jeden andern Stat oder überhaupt jede andere
Macht von jeder statlichen Herrschaft innerhalb seines Gebietes
und von jedem Uebergriff in dasselbe abzuhalten. Es ist eine
einfache Folge dieses Grundsatzes, wenn der moderne Stat
3 Preusz. Ldr..II. 16. §. 1. ff.
* Blackst. I. 8- führt eine Stelle von Bracton an: „Haec quae
nullius in bonis sunt et olim fuerunt inventoris de jure naturali, jara
efficiuntur principis de jure gentium."
* Blackst. II. 16. 26.
6 Code Civ. §. 713: „Les biens qui n'ont pas de maftre apparfcien-
nent a l'ßtat. Vgl. §§. 539. 723. 768.
' §. 381 ff.
Vierundzwanzigstes Capitel. Von der Gebietshoheit. 223
nicht zugibt, dasz in seinem Lande ein fremder Stat Gerichts-
barkeit oder Polizeigewalt übe, nnd wenn er auch eine privat-
rechtliche Begründung solcher fremden Herrschaft nicht an-
erkennt.
Die Veräuszerung endlich des Statsgebietes oder eines
Theiles desselben in den Formen und nach den Begriffen des
Privatrechtes, wie dieselbe im Mittelalter ganz allgemein von
den Landesherren geübt wurde, welche ihre Herrschaften wie
ihre Grundstücke verkauften, verpfändeten, oft auch vertheilten,8
ist hinwieder mit dem öffentlichen Charakter der Gebietshoheit
nicht mehr vereinbar. Nach dem modernen Statsrechte ist
vielmehr der Grundsatz der Unveräuszerlichkeit und
Untheilbarkeit des Statsgebietes als Kegel9 fest zu halten.
Ausnahmsweise aber ist eine Veräuszerung nur zulässig in
öffentlich rechtlicher Form, auf Grundlage eines Ge-
setzes oder in Folge von völkerrechtlichen Verträgen,
wohin denn auch die Friedensschlüsse gehören.10
Hugo Grotius fordert überdem nach natürlichem Eechte,
wenn ein Theil des Statsgebietes veräuszert werden soll, nicht
blosz die Zustimmung des ganzen Statskörpers , sondern
auch die der Einwohner dieses Gebietstheiles: ein
gerechtes Erfordernisz , da es sich um die ganze statliche
Existenz derselben handelt und sie durch die Gesetzgebung des
ganzen States unmöglich in einem Momente genügend vertreten
werden, in welchem diese zur Auflösung der Gemeinschaft
geneigt ist. Aber die Noth der Umstände wird in den meisten
8 Aehnliches kommt auch im Alterthum, aber nur bei solchen Staten
vor, deren Fürst eine absolute Gewalt über Land und Leute hatte.
Vgl. die Beispiele bei Hugo Grot. I. 3, 12.
9 Franz. Verf. v. 1791. IL §. 11. „Le royaume est un et indivi-
sible." Belege von deutschen Einzelstaten bei Zachariä, Deutsches
Stats- und Bundesr. L §. 83.
10 Preuszische Verf. von 1850. Art. 2. „Die Grenzen dieses Stats-
gebiets können nur durch ein Gesetz verändert wedren."
224 Zweites Buch. Volk und Land.
Fällen der Art stärker sein, als jener Grundsatz des natür-
lichen Kechts.11 #
Beschränkungen der Gebietshoheit zu Gunsten anderer
Staten (statsrechtliche Dienstbarkeiten) können vor-
kommen, und zwar analog den Servituten des Privatrechtes.
Nur bedürfen auch diese Beschränkungen, damit das Statsrecht
sie anerkenne, einer statsrechtlichen oder völkerrechtlichen Be-
gründung im einzelnen Fall und eines statsrechtlichen
Inhalts. Z. B. durch Statsvertrag wird dem benachbarten
State die freie Benutzung einer Militärstrasze über das Stats-
gebiet zugesichert; oder eine Stadt wird mit Eücksicht auf
die Begehren des Nachbarstates als Freihafen erklärt; oder
die Ausübung des Postregals wird an eine fremde Postver-
waltung überlassen. In höherem Masze aber, als im Privat-
rechte zweifelhafte Fälle zu Gunsten der Freiheit des Eigen-
thums interpretirt werden und die Ausdehnung der Servituten
möglichst beschränkt wird, musz im Statsrechte die Freiheit
der Gebietshoheit gegenüber derartigen Beschränkungen ge-
wahrt werden; denn die Harmonie und Einheit des Stats-
organismus, sowie das Bedürfnisz freier Umgestaltung der
statlichen Einrichtungen, je nach den Erfordernissen der öffent-
lichen Wohlfahrt, werden durch dauernde Beschränkungen und
Hemmungen von auszen sehr leicht in einer unerträglichen
Weise gestört und verletzt.12
Anmerkungen. 1. Die Umwandlung des Titels der französischen
Könige aus Boi de France in Moi des Francais in Folge der Revolution
war ein Protest gegen die frühere Vorstellung, dasz Frankreich ein
Patrimonium regis sei. Insofern bezeichnet sie einen Fortschritt des
11 Hugo Grot. II. 6. §. 4 ff. Vgl. Wiener Schluszakte von
1828, Art. 6. „Eine freiwillige Abtretung auf einem Bundesgebiete
haftender Souveränitäts- Rechte kann ohne Zustimmung (der Gesammt-
heit) nur zu Gunsten eines Mit verbündeten geschehen."
12 Schmitthenner, Statsrecht S. 409: „Blosz privates Eigenthum
eines fremden States oder Souveräns in dem Gebiete des States schlieszt
keine Beschränkung der Landesgewalt ein."
Fünfundzwanzigstes Capitel, Eintheilung des Landes. 225
statlichen Geistes. Aber sobald man die Gebietshoheit in ihrer wahren
Bedeutung erfaszt hat, so ist kein Grund mehr, die Benennung der Könige
von dem Lande oder Reiche her für bedenklicher zu halten als die von
dem Volke her. Zu weit aber geht Stahl, wenn er (Statslehre IL
S. 38) der letzteren Bezeichnung vorwirft, sie rufe ein „Bild der Bar-
barei" hervor. Die römischen Kaiser und die deutschen Kaiser haben
bekanntlich den Namen des Yolks dem des Landes in ihren Titeln vor-
gezogen. Wer wollte sie deszhalb der Barbarei bezichtigen ? Die Be-
nennung vomYolke her ist sogar edler als die vom Lande her, weil das
Volk über dem Lande ist.
2. Blosze Grenzberichtigungen fallen nicht unter den Begriff
der Veräu3zerung des Statsgebietes. Es wird durch dieselben nicht ein
Theil des Statsgebietes entfremdet, sondern der Umfang des wirklichen
Statsgebietes näher bestimmt. Wenn aber zum Behuf der Arrondirung
eines States ganze, zumal bewohnte Gebietsstrecken, welche unzweifel-
haft bisher demselben zugehörten, abgetrennt und umgetauscht werden,
so ist das allerdings nicht mehr eine blosze Grenzberichtigung.
Fünfundzwanzigstes Capitel.
Eintheilung des Landes.
Das Statsgebiet ist gewöhnlich so umfassend, dasz es
regelmäszig zum Behuf der politischen Beherrschung in ver-
schiedene Abtheilungen getheilt werden musz. Es lassen sich
hier vier Hauptarten unterscheiden:
1. Die Provinzen.
Die Provinzen des römischen Eeiches waren ursprünglich
selbständige Statsgebiete, welche aber der Herrschaft des römi-
schen States unterworfen worden waren. Auch die neuern Provin-
zen erklären sich häufig aus früherer Besonderheit der später
zu einem gröszeren Ganzen vereinigten Länder. Zuweilen sind
aber neue Provinzen erst von dem State geschaffen worden,
dem sie angehören, und oft sind, wie im deutschen Eeich, aus
den Provinzen (Herzogthümern) neue Länder geworden.
Das Charakteristische dieser obersten Stufe der statlichen
Eintheilung liegt immerhin in der relativen statlichen
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. ■ I. 1 5
226 Zweites Buch. Volk und Land.
Besonderheit dieser Theile. In Folge derselben haben sie
eine zwar der Gesammtre gierung untergeordnete, aber immer-
hin mit Kücksicht auf die eigenthümliche Bedeutung der Pro-
vinz mit ausgedehnteren Vollmachten ausgerüstete relativ selb-
ständige Provinzialregierung. Ueberdem haben dieselben
in der Repräsentativ-Verfassung zuweilen selbst eine — freilich
auf die besondern Interessen der Provinz beschränkte — be-
sondere Provinzialgesetzgebung, Provinzialstände.
Der moderne Einheitsstat ist dieser Eintheilung nicht
günstig. In Frankreich, in Spanien und in England, nun auch
in Preuszen ist die gesetzgeberische Besonderheit der Provinzen
aufgelöst, in Oesterreich in den sogenannten Kronländern
vornehmlich auf die Interessen der Cultur und Wirthschaft be-
schränkt worden. So grosz aber das Interesse des States an
voller und durchgreifender Einheit im Organismus ist, so zer-
stört doch eine gänzliche Beseitigung der provinziellen Freiheit
viele natürliche Eigenthümlichkeiten und Bedürfnisse, und leicht
verletzt eine übertriebene Uniformität gesunde und fruchtbare
Theile des Volkslebens. Die germanischen Völker bedürfen
mehr als die romanischen zu ihrer Befriedigung auch der pro-
vinziellen Selbständigkeit.
2. Die Kreise.
Die Kreise sind noch gröszere Statsbezirke ; aber sie haben
doch nur die Bedeutung von bloszen Theilen des Stats-
gebietes. Sie haben nicht wie die Provinzen einen Anspruch
darauf, zugleich besondere Länder zu sein. In der alten
fränkischen und deutschen Reichsverfassung hatten die Herzog-
thümer und Fürstentümer den Charakter von Provinzen,
die Gaue den von Kreisen. Eben dahin sind die englischen
und nordamerikanischen Grafschaften, die französischen
Departemente, die deutschen Kreise und die preuszi sehen
Regierungsbezirke zu rechnen.
Der wahre Grund dieser Eintheilung liegt nicht in der
Eigenthümlichkeit eines Landes oder eines Volksstammes, son-
Fünfundz wanzigstes Capitel. Eintheilung de3 Landes. 227
dern in dem politischen Bedürfnisse der Statsverwaltung
selbst, ihre Thätigkeit stufenweise zu gliedern. Sie ist daher
vorzugsweise das Product des Statsorganismus, obwohl im Ein-
zelnen auch auf die historische Verbindung der Bevölkerung
eines Kreises und auf die natürlichen Verkehrsbeziehungen der-
selben Kücksicht zu nehmen ist. Lassen sich die Provinzen
mit verschiedenen Häusern vergleichen, die zu einem Schlosse
gehören, so sind die Kreise eher den verschiedenen Stockwerken
eines Hauses vergleichbar.
Den Kreisen kommt gewöhnlich eine besondere Concen-
tration der Verwaltung und der obern Gerichtsbarkeit
zu. Ueberdem zeigt sich in den modernen Staten die Neigung,
die besonderen Interessen des Kreises in demselben eigen-
artig zu pflegen, die Interessengemeinschaft der Be-
völkerung zu organisiren, und je nach Bedürfnisz gemeinnütz-
liche Kreisanstalten (Straszen, Magazine, Krankenhäuser,
Schulen, Armenhäuser, Correctionshäuser) zu gründen. Es
eröffnet sich hier ein fruchtbares Feld für die Selbstverwaltung
oder die Kepräsentativ-Verwaltung des Kreises.1
3. Die Bezirke.
Sie bilden regelmäszig Unterabtheilungen der Kreise, und
haben dann eine besondere der Kreisregierung untergeordnete
Verwaltung und eine mittlere Gerichtsbarkeit. Auch
diese Bezirke können als Körperschaften anerkannt sein und
ein eigenes Vermögen und besondere Bezirksanstalten haben.2
Die alten Centenen(Huntari) der germanischen Ver-
fassung, die Landgerichte und Oberamteien in Deutsch-
land, die Cantone in Frankreich und die Kreise inPreuszen
nehmen diese Stellung ein.
x Vgl. Vivien £tud. ordin. IL Cap. VI.
2 Vivien a. a. 0. IL Cap. 3. Die französischen Cantone haben
ihre Hauptbedeutung auf dem Lande, indem sie mehrere Gemeinden ver-
einigen und dadurch stärken. In den Städten fällt Gemeinde und Canton
zusammen. Die arrondissements, welche die Cantone zusammenfassen,
haben nie eine rechte Bedeutung erlangt.
15*
228 Zweites Buch. Volk und Land.
Blosze Wahlkreise zum Behuf e der Volksrepräsentation
gehören nicht hieher, da sie nur für einen vorübergehenden
politischen Zweck geschaffen, nicht ein organisches Glied im
Statskörper sind. Der Mangel an bleibenden gemeinsamen
Institutionen spricht übrigens gegen die Zweckmäszigkeit sol-
cher unorganischer Kreise.
4. Die Gemeinden, sowohl die Stadt- als die Land-
gemeinden mit ihrem Bann.
Sie siud die unterste Stufe der Eintheilung des Stats-
gebietes, haben aber eine höchst lebensvolle Bedeutung, welche
eine gewisse Analogie mit dem Statsgebiete selbst gewährt.
Wie das politisch-organisirte Volk zum Land, so verhält sich
die persönliche (corporative) Gemeinde zum Gemeindebezirk
(Gemeindebann). Sie erfüllt es mit ihrem gemeinsamen Leben.
Freilich ist dieses selbst nicht wie dort ein höheres politisches,
sondern zunächst ein den gemeinen Cultur- und Wirthschafts-
interessen zugewendetes. Gröszere Städte bilden zugleich Be-
zirke (Cantone), die gröszten Hauptstädte haben zugleich die
Bedeutung der Kreise (Departements).
Veränderungen in der politischen Eintheilung des Stats-
gebietes sind Sache des Gesetzes. Der Stat hat in allen
Stufen der Abtheilung auch seine Gesammtinter essen und die
Harmonie seines Organismus zu wahren. Je höher aber die
Stufe, um so entscheidender wirken die öffentlichen Interessen,
um so freiere Hand hat der Stat in der Bestimmung der
Grenzen. Die tiefste Stufe dagegen, die Gemeinde, steht ihrem
Zwecke nach in so vielfältigen und engen Beziehungen zu den
bestehenden Gemeindecorporationen , dasz hier der Wille auch
dieser vorzüglich in Betracht kommt. Die Hauptrücksichten,
welche der Stat bei seinen Anordnungen zu nehmen hat, sind
a) die politische Zweckmäszigkeit der Eintheilung; b) die
natürlichen Verbindungen und Gegensätze, z.B. zusammen-
gehörige Fluszgebiete oder Thäler; c) die historischen Be-
ziehungen der Bevölkerung; d) ihre Verkehrsbeziehung,
Sechsundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. Stats z. Privateigenthum. 229
z. B. zu einer Stadt als Centralpunkt. Untergeordnet dagegen
sind die blosz mathematischen Bücksichten, die sich ab-
zählen oder mit dem Zirkel bemessen lassen.
Seclisundzwaiizigstes Capitel.
Yerhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
Das Privateigenthum, d. h. die Herrschaft des In-
dividuums über die Sachen, ist so alt als der Mensch. Als
die ersten Menschen die Früchte pflückten, welche die Bäume
ihnen zur Nahrung darboten, übten sie mit Bewusztsein Herr-
schaft aus, d. h. sie nahmen dieselben zu Eigenthum. Und
als sie sich eine Höhle wählten, und ein festes, wenn auch
vorübergehendes Lager bereiteten, ergriffen sie auch daran
Eigenthum. Als sie ihre Blösze mit Zweigen bedeckten und
ein Thierfell um ihren Leib warfen, hatten sie wieder Eigen-
thum erworben.
Das Eigenthum ist nicht erst durch den Stat er-
zeugt worden. Es ist in seiner ersten, freilich unvollkomme-
nen und noch wenig gesicherten Gestalt das Werk des indi-
viduellen Lebens, gewissermaszen die Erweiterung des
leiblichen Daseins der Individuen. Das Individuum
ergreift Besitz von den Dingen um es her, die in den Be-
reich seiner Herrschaft fallen, es macht sich dieselben dienst-
bar und nutzbar, es eignet sich dieselben an. Indem zum
Besitz das Bewusztsein der berechtigten Herrschaft der Person
über die Sache hinzutritt, ist das Eigenthum vollendet.
Auch der Nomade, der keiner festen Statsverbindung angehört,
hat dennoch Eigenthum an seinen Kleidern, seinen Waffen,
seinen Heer den, seinen Geräthschaften. Auch jener schiff-
brüchige Robinson auf dem einsamen Eilande erweiterte sein
Eigenthum,
230 Zweites Buch. Volk und Land.
Der Communismus, welcher die Kechtmäszigkeit des
Privateigentums läugnet, und das Eigenthum als „Diebstahl" !
an der Gesamnitheit erklärt, ist somit im Widerspruch mil-
der individuellen Natur des Menschen, wie Gott ihn geschaffen,
der dem Menschen „Herrschaft verliehen hat über die Fische
im Meer und über die Yögel unter dem Himmel und über
das Yieh und über die ganze Erde" (1. Mose 1, 26). Er ist
ebenso im Widerspruch mit der ganzen Geschichte der Mensch-
heit, welche unter allen Völkern und in allen Zeiten das
Eigenthum anerkennt, und in ihrer Entwicklung unverkennbar
bemüht ist, das Eigenthum möglichst vollkommen auszubilden.
Die Aufhebung des Eigentimms im Sinne der Commu-
nisten würde den Untergang jeglicher individuellen Freiheit,
die Zerstörung der Cultur, die Auflösung der Familie, mit
Einem Worte eine Barbarei zur Folge haben, wie sie selbst
in den rohesten Zuständen der menschlichen Gesellschaft nie
da gewesen ist. 2
Scheinbar gemäszigter und humaner ist die Lehre der
Socialisten, aber ebenso verkehrt und minder noch conse-
quent. Als Vertreter dieser Ansicht mag Fröbel gelten,
welcher das Eigenthum nur als „Lehen der Statsgesellschaft
in der Hand seines Besitzers" gelten lassen will und das
Recht der Individuen nur als „eine Folge eines Gesammt-
willens anerkennt von Vielen, die eine souveräne Gesellschaft
bilden."3 Diese Lehre miszkennt die individuelle Natur und
Freiheit des Menschen nicht minder als der Communismus;
und indem sie blosz von abgeleitetem und vorübergehendem
Besitze weisz, bietet sie uns das übertriebene Zerrbild des
mittelalterlichen Lehenswesens als Ersatz an für das freie
1 Proudhon, „La propriete c'est le vol.u
2 Vgl. Thiers De la propriete Liv. IL, der vortrefflich in der Kritik
der communistischen und socialistischen Systeme, aber nicht glücklich in
der philosophischen Herleitung des Eigenthumsbegriffes (aus der Arbeit) ist.
3 Fröbel, sociale Politik II. S. 392 u. 400.
Sechsundzwanzigstes Capitel. Yerhältnisz d. Stats z, Privateigenthum. 231
Eigenthum, welches eine höhere Gesittung glücklich errungen
hat. Es ist das die nämliche, nur mit demokratischen Phra-
sen umhängte Theorie der Knechtschaft, welche in den dun-
kelsten Zeiten der Geschichte eine niederträchtige Schmeichelei
willkürlichen Despoten gelehrt hatte.
Dem State kommt somit keineswegs absolute Verfügung
zu über das Privateigenthum. Vielmehr liegt dieses als Privat-
recht zunächst auszerhalb der Sphäre des Statsrechtes. Der
Stat schafft das Eigenthum nicht und erhält es nicht, er darf
es daher auch nicht nehmen. Er schützt es, wie er überhaupt
alle individuellen Kechte schützt. Die beiden Hauptgrundsätze
über das Verhältnisz des States zum Privateigenthum sind
demnach :
1. Der Stat gewährleistet dieFreiheit und Sicher-
heit des Eigenthums.4
2. Dem State kommt keine willkürliche Dispo-
sition zu über das Eigenthum.
Die Freiheit des Privateigenthums erleidet aber einige
Beschränkungen unter Voraussetzungen, welche zugleich
das Kecht des States erweitern:
1. Aus der Natur der Sachen selbst ergeben sich
solche.
Gewisse Sachen nämlich sind um ihrer natürlichen Be-
schaffenheit willen dem ausschlieszlichen Privatbesitz und
Privateigenthum entrückt und dem gemeinen öffentlichen Ge-
brauche hingegeben. Oeff entliche Sachen (res publicae).
So die öffentlichen Flüsse, Seehäfen, Straszen.*
* Eine Reihe von Verfassungen sprechen diesen Satz ausdrücklich
aus. Schon die Magna Charta König Heinrichs III. von England von
1225 enthält mehrere Einzelbestimmungen der Art. Auch die republi-
kanische Verfassung von Frankreich von 1848. A. 11. enthält wie die
Charte von 1814 (8) den Satz: „Toutes les proprietes sont inviolables; "
ebenso die preuszische Verfassung von 1850. Art. 9: „Das Eigenthum
ist unverletzlich."
5 Marcianus in L. 4. §. 1. de div. Rer.: „Flumina paene omnia et
232 Zweites Buch. Yolk und Land.
Andere Sachen sind zwar ihrer Natur nach fähig des
Privateigentums , aber im Sinne des modernen Eechtes, weil
sie immerhin eine nähere Beziehung auf die allgemeine Wohl-
fahrt haben, oder weil ihre Ausbeutung eine über die Schran-
ken des gewöhnlichen und theilbaren Privateigenthuins hinaus-
reichende umfassende Wirthschaft erfordert, dem höheren Eechte
des States unterworfen. Dahin gehören insbesondere Berg-
werke, Salinen und ähnliche Regale.
2. In Folge der (politischen) Oberherrschaft des States
über Land und Leute, und aus seiner Verpflichtung, auch
das Nebeneinanderbestehen und das Nacheinander-
bestehen der Individuen zu schützen. Dahin gehören die
Besteuerung und die sämmtlichen polizeilichen Be-
schränkungen des Privateigenthums.
3. In Folge des Rechtes der Enteignung (expropriatio).
Gewöhnlich nimmt man an, das Recht der Enteignung
sei von den Römern nicht anerkannt, vielmehr die Freiheit
des Eigenthums auch dann unbedingt geschützt worden, wenn
der Stat der Abtretung im Interesse allgemein nützlicher Un-
ternehmungen bedurft habe. Indessen steht nur so viel fest,
dasz die Römer kein allgemeines Abtretungsrecht zuge-
lassen haben. Ihre groszen Canäle, ihre in gerader Richtung
durchgeführten Heerstraszen , ihre Wasserleitungen und Be-
portus publica sunt." Ulpianus in L. 1. §. 3, eod. „Publicum flumen
esse Cassius definit, quod inrenne sit.a Enger ist der Begriff des öffent-
lichen Flusses nach dem Code Napöl. §. 538: „Les chemins, routes et
rues h la charge de l'J^tat, les fleuves et rivieres navigablcs ou flottablcs,
les rivages, lais et relais de la mer, les ports , les havres, les rades , et
generalement toutes les portions du territoire frangais qui ne sont pas
susceptibles d'une propriete privee, sont consideres comme des depen-
dances du domaine public." Der Sachsenspiegel II. 28. §.4 scheint
ebenfalls nur stromartige Flüsse für öffentliche zu halten: „Svelk water
strames vlüt, dat is gemene to varene unde to vischene inne.w Das
preuszische Landrecht II. 15. §. 38,42. beschränkt den Begriff sogar
auf „schiffbare14 Flüsse und weisz auch von flöszbaren Privatflüssen.
Aehnlich das österr. Ges. §.407.
Sechsundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. Stats z. Privateigenthum. 233
festigungswerke aber wären unerklärbar, hätte nicht der Stat
im einzelnen Falle die Macht besessen, die Grundeigentümer
zur Abtretung zu nöthigen. Wahrscheinlich verfuhren die
Kömer, wenn solche Bedürfnisse vorlagen, ähnlich, wie bis auf
die neueste Zeit die Engländer, d. h. sie erlieszen ein Spe-
cialgesetz für den besondern Fall. Auch gegenwärtig noch
bedarf es, wie in frühern Zeiten, in England einer Parla-
mentsacte, wenn die Eigenthümer zum Bedarf einer öffent-
lichen Unternehmung angehalten werden sollen, ihr Eigenthum
abzutreten. 6
Auf dem Continente dagegen ist das Eecht der Enteig-
nung gewöhnlich in neuerer Zeit allgemein anerkannt und
regulirt worden. Viele neuere Verfassungen enthalten das
Princip, dasz der Stat berechtigt sei, aus Gründen der öffent-
lichen Wohlfahrt und gegen volle Entschädigung die Abtre-
tung des Eigenthums zu erzwingen.7
Dieses Princip wird vollständig durch die Erwägung ge-
rechtfertigt, dasz im Conflicte bloszer individueller Privatrechte
und allgemeiner öffentlicher Rechte den letztern der Vorzug,
6 Vgl. Blacks tone, I. 1. und eine Reihe neuerer Gesetze über
Canäle und Eisenbahnen. Beispiele in dem „Neuesten Expropriations-
codex". Nürnberg 1837.
7 Bayerisches Landrecht von 1756 IV. 3. §. 2. Preuszisches
Landrecht I. 2. §. 4. 7. Code Nap. §. 545: „Nul ne peut etre con-
traint de ceder sa propriete, si se n'est pour cause d'utilite publique,
et moyennant une juste et prealable indemnite." Oesterr. Gesetzb.
§. 365.: „Wenn es das allgemeine Beste erheischt, musz ein Mitglied des
States gegen eine angemessene Schadloshaltung selbst das vollständige
Eigenthum einer Sache abtreten." Verfassung von Frankreich v. 1848.
§. 11. gleichlautend mit der Charte von 1814. §. 9. und dem Code; von
Belgien 1831. §. 11, von Neapel 1848. §.26. ebenso Oesterr. Verf.
von 1849. §. 29, ähnlich der obigen Bestimmung des Gesetzbuchs.
Preuszische Verfassung von 1850. A. 9: „Das Eigenthum ist unver-
letzlich. Es kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles gegen vor-
gängige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig fest-
zustellende Entschädigung nach Maszgabe des Gesetzes entzogen oder
beschränkt werden,"
234 Zweites Buch. Volk und Land.
aber nicht in weiterem Umfange gebührt, als die Lösung des
Conflictes es erheischt. Das öffentliche Interesse wird durch
das Kecht des States auf Abtretung, das individuelle Inter-
esse durch das Eecht des Privaten auf volle Entschädigung
gewahrt.
Die Ermittlung des öffentlichen Interesses im einzelnen
Falle, d. h. die Beantwortung der Frage, ob ein öffent-
liches Bedürfnisz die Abtretung erheische, gehört
ihrer Natur nach dem öffentlichen Kechte an, und ist
somit nicht von den Civilgerichten zu entscheiden, sondern von
den Organen der eigentlichen Statsgewalt, sei es nun, dasz der
Gesetzgeber selbst, wie in England und Nordamerika, das Un-
ternehmen für nöthig erklärt, oder dasz die Verwaltungsbehörden,
wie in Deutschland gewöhnlich, diese Competenz haben. Die
letztere Yerfahrungsweise ist im Princip richtiger ; denn Sache
der Eegierung ist es, im einzelnen Falle das anzuordnen, was
das öffentliche Wohl erfordert, und in höherem Masze kommt
auch die Fähigkeit ihr zu, die Zweckmäszigkeit der Mittel zu
beurtheilen. Nur allerdings müssen die Formen des Verfahrens
Garantien dafür bieten, dasz nicht blosze Willkür und Laune
einen Eingriff in das Privatrecht veranlassen.8
Das Kecht auf Zwangsabtretung gebührt zunächst nur dem
State, und für den engern 1\reis der öffentlichen Gemeinde-
interessen der Gemeinde, nicht aber Privatpersonen. In-
dessen kann der Stat, sowie er die Ausführung einzelner Unter-
nehmungen in öffentlichem Interesse an Privatpersonen über-
läszt, diesen — einzelnen Individuen oder Gesellschaften —
ausnahmsweise auch die Befugnisz einräumen, für diesen beson-
deren Zweck die Abtretung zu verlangen. Selbst in England
und Nordamerika ist diese Uebertragung des Kechts auf Ab-
tretung häufig von dem gesetzgebenden Körper an Actien-
8 Bayerisches Gesetz v. 1837. Vgl. Treichler, über die Zwangs-
abtretung in der Zeitschrift für deutsches Recht von Beseler, Rey-
scher und Wilda. Bd XII. H. 1.
Sechsundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. Stats z. Privateigen thum. 235
gesellschaften, z. B. für Erbauung von Eisenbahnen, zugestan-
den worden.
Viele Gesetzgebungen beschränken die Abtretungspflicht
theils auf Liegenschaften, theils auf bestimmte einzeln be-
nannte Zwecke. Das Princip in seiner Eeinheit aber wider-
streitet diesen Beschränkungen, indem ganz die nämlichen
Gründe, welche diese engere Anwendung rechtfertigen, auch
auf fahrendes Gut oder andere Vermögensrechte und auf
Zwecke passen, welche erst nach der gesetzlichen Aufzählung
durch neue Erfindungen und erweiterte Culturbedürfnisse sich
ergeben.
Die Frage dagegen, wie hoch die Entschädigung zu be-
stimmen sei, welche dem Abtretungspflichtigen zukomme, ist
von durchaus privatrechtlicher Natur, somit auch, wenn
sie nicht durch freien Vertrag zur Erledigung gelangt, auf dem
Wege des Civilprocesses zum Entscheide zu bringen. Der
Stat ist immerhin zu voller Entschädigung verpflichtet. Dem
Privaten darf kein Schaden zugemuthet werden, welcher ihn
allein betrifft. Demgemäsz ist nicht blosz der gemeine
Verkaufswerth, sondern es ist auch der besondere
Mehrwerth, welchen die Sache für den zur Abtretung ge-
zwungenen Eigenthümer hat, diesem zu ersetzen, nicht blosz
das unmittelbare, sondern auch das mittelbare Interesse. Da-
gegen ein blosz eingebildeter Mehrwerth, der über den
wirklichen hinaus reicht, also insbesondere auch der blosze
Affectionswerth, den der Eigenthümer der Sache beilegt oder
beizulegen vorgibt, braucht nicht vergütet zu werden.
Einzelne Kechte lassen bei Berechnung zwar nicht des
unmittelbaren Schadens, der jedenfalls vergütet werden musz,
wohl aber des mittelbaren Schadens, den der Eigenthümer er-
leidet, als Gegenwerth den mittelbaren Vortheil, den er aus
dem unternehmen gewinnt, in Abzug bringen.9 Andere da-
9 Franz ös. Gesetz von 1841. Art. 51. Zürcher Gesetz von 1838.
§, 7.: „Bei Berechnung des mittelbaren Schadens für das übrige Yer-
236 Zweites Buch. Volk und Land.
gegen lassen keinerlei Compensation der Vortheile zu, welche
aus dem Unternehmen dem Abtretungspflichtigen erwachsen.10
In der Beschränkung, wie sie das Zürchergesetz formulirt. ist
die erstere Meinung doch wohl die richtigere, weil sie den
wirklichen Werth- und Sehadensverhältnissen genauer entspricht.
mögen des Betheiligten ist der allfällige Vortheü, welcher demselben auf
der Unternehmung erwächst, in billige Berücksichtigung zu ziehen."
Z. B Ein Garten wird durch die Strasze durchschnitten. Die eine zu-
rückbleibende Seite verliert als Garten an Werth, aber gewinnt als Bau-
platz mehr an AVerth, als sie in ersterer Eigenschaft verloren hat. Hier
wäre es unbillig, müszte der Stat auch jenen Verlust ersetzen.
10 Bayer. Ges. v. 1837. 6.
Dritte $itdj-
Von der Entstehung und dem Untergang des
States.
Erstes Capitel.
Einleitung.
Die Wissenschaft der Geschichte hat die Erzeugung des
ersten States noch nicht beobachtet und uns keinen Bericht
darüber hinterlassen. Sie ist erst zu einigem Bewusztsein
gelaugt, als es schon mancherlei Staten auf der Erde gab.
Selbst die uralten heiligen Bücher der Juden, welche uns über
die erste Entstehung des jüdischen States ein Zeugnisz geben,
setzen doch den altern ägyptischen voraus, ohne uns von dessen
Geburt zu berichten. Und dem ägyptischen Stat hat vielleicht
der indische als Vorbild gedient, dessen erste Pflanzung auch
die heiligen Schriften der Indier nicht beleuchten.
Wohl aber hat die Geschichte seither den Anfang und das
Ende sehr vieler Staten beobachtet, und ertheilt uns so einen
viel reichhaltigeren Aufschlusz über die Gründung und den
Untergang der Staten, als die blosze Speculation, die man
gewöhnlich allein zu Rathe zieht. Die Staten des Alterthums
sind in Europa alle, in Asien fast alle schon seit Jahrhunderten
verstorben; die Geburt der meisten gegenwärtig bestehenden
238 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.
Staten fällt in eine historisch bekannte Zeit. Manche dersel-
ben sind noch von sehr jungem Alter. Die Vorbedingungen
ihrer Entstehung, und die Momente, durch deren Einwirkung
sie geworden, sind unserm Blicke keineswegs verborgen, wenn
uns schon, wie in aller geistigen und physischen Schöpfung,
die schöpferische Kraft selbst wie durch ein göttliches Geheim-
nisz verhüllt bleibt.
Die Art des Ursprungs eines States ist aber nicht blosz
ein Phänomen von groszem psychologischem und historischem
Interesse. Sie übt auch einen fortwährenden Einflusz aus auf
das ganze übrige Leben des States, und bestimmt groszen-
theils auch sein Verhältnisz zu andern Staten. ■
Daher hat es für das Statsrecht noch mehr Interesse,
die verschiedenen Entstehungsformen der Staten zu betrachten,
als für das Privatrecht die mancherlei Formen des Eigen-
thumserwerbs, obwohl die Neuem die erstere Lehre fast ganz
vernachlässigt, die letztere aber fortwährend sorgfältig behan-
delt haben. Wir können auch dort ursprüngliche (origi-
näre) Entstehungsformen von abgeleiteten (derivativen)
unterscheiden; je nachdem die Statenbildung in dem Volke
selbst, welches zum State geeinigt und erhoben wird, ihren
Ursprung nimmt, im Gegensatze zu den neuen Staten, welche
ihre Existenz von einem anderen State ableiten.
Immerhin aber darf die neue Statenbildung, von
welcher hier allein die Kede ist, nicht verwechselt werden mit
bloszen Verfassungsänderungen eines States, ein Unter-
schied auf den schon Bodin2 mit Recht aufmerksam gemacht
1 Tocqueville, de la democratie en Amerique. I. S. 46: „Les peupleg
3e ressentent toujours de leur origine. Les circonstances qui ont accom-
pagne leur naissance et servi a leur developpement influent sur tout le
reste de leur carriere.41
2 Bodinus, De Republica. IY. c. 1. Die letztern nennt er „conver-
siones." „Conversionem civitatis appello, cum Status ipsius convertitur
ac omnino mutatur; id autem fit, cum imperium populäre ad unum aut
paucorum potestas ad omnes cives defertur contraque."
Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 239
hat. Durch die Umgestaltung des alt-römischen Königthums
in die Kepublik kam nicht ein neuer Stat ins Dasein, so wenig
als durch die Abschaffung der republikanischen Statsform und
die Einführung des Kaiserthums. Diese Wandlungen in der
Begierungsform bezeichnen verschiedene Lebensperioden und
Zustände desselben States, sie sind nicht die Anfänge ver-
schiedener Staten.
Zweites Capitel.
Ursprüngliche Entstehungsformen.
I. Die originärste Statenbildung unter all den
mannichfaltigen Entstehungsformen ist in der Sage von der
Gründung Borns dargestellt. Alles ist hier neu, sowohl das
Volk, welches sich aus mancherlei Bruchstücken verschiedener
Volksstämme um gemeinsame Häuptlinge her einigt und zum
römischen Volke wird, als das unwirthliche und herrenlose
Land, welches in Besitz genommen und zu dem Boden der
ewigen Stadt bestimmt wird. In dieser Sage liegt der Ge-
danke einer von Grund aus neuen Schöpfung. Die Orga-
nisation der Menschenmenge zu einem statlichen Volke geht
der Festsetzung auf einem Statsgebiete nicht eine Weile vor-
her, die Beziehung auf die Stadt ist ebenfalls ursprünglich.
Beide Momente treffen so in Eins zusammen, und die neue
Statengründung wird sofort durch die erbetene Gutheiszung
der Götter geheiligt, und durch das von dem neuen Könige
dem geordneten Volke gegebene und von diesem gebilligte
Gesetz statsrechtlich befestigt. Der schöpferische Geist des
Königs und der statliche Wille des Volks begegnen sich in dem
Statsgesetz als in einem einheitlichen Constituirungsact,1
1 Leo, Weltgesch. 1.393. bezeichnet den „Vertrag" als das charak-
teristische Moment der Gründung Roms, und in der That erinnert die
240 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
und der Stat ist da als das freie Werk des bewuszten
Volkswillens.
Ob diese Form eines schöpferischen Statsactes, wie
wir sie nennen können, jemals wirklich vorgekommen sei, mag
immerhin bezweifelt werden. Jedenfalls entspricht sie der
'Statsidee, welche gewissermaszen in ihr vollendet, wie die
Athene aus dem Haupte des Zeus, in das Leben übertritt, am
vollkommensten.
IL Das Land ist vorher da, aber in dem Lande gelangt
später erst das Volk zu dem Bewusztsein einer statlichen
Zusammengehörigkeit. Hier liegt das statenbildende Moment
in der Volksorganisation. Auch dafür finden wir in der
alten Sage ein berühmtes Vorbild. Die Athener gelten als
Kinder des attischen Landes (Autochthonen), welches sie Jahr-
hunderte lang bebauten, bevor der Stat Athen gegründet
wurde. Mag man nun die Entstehung dieses States von Kekrops
herleiten, der zuerst unter den noch rohen Landeseingebornen
die Verehrung der Götter, ein gesittetes Familienrecht , den
Ackerbau und die Pflanzung des Oelbaums eingeführt, das ge-
sammte Volk in kastenartige Stämme geordnet und Kegierung
und Gericht eingesetzt habe, oder mag man dieselbe erst dem
Könige Theseus zuschreiben, welcher die zerstreuten Gemeinden
des Landes zu einem einheitlichen Gemeinwesen verbunden und
die Leitung desselben in Athen concentrirt habe : 2 unter beiden
Voraussetzungen liegt in der Organisation des Volks, welchem
das Land gehörte, die Verwirklichung des States.
alte Form der römischen Gesetzgebung an die gewöhnliche Form der
obligatorischen Verträge , an die stipulatio. Dessen ungeachtet ist da3
römische Gesetz, wenn man auf das Wesen sieht, kein Vertrag zweier
selbständigen Personen, sondern ein einheitlicher Akt des römischen
Volks.
2 Die Athener nannten diese Concentration der Gemeinden zum
State ^vvoUitt, Vgl. darüber die lehrreiche Abhandlung von "W. Vi seh er:
Ueber die Bildung von Staten und Bünden im alten Griechenland. Basel
1849.
Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 241
Eine historisch genau beobachtete 3 Anwendung dieser
Statenbildung durch Volksorganisation in einem bestimmten
Lande ist die Gründung der Bepublik Island im Jahr 930
n. Ch. Zuvor gab es nur vereinzelte Niederlassungen der zahl-
reichen Häuptlinge (Goden) auf der Insel, unverbundene Herr-
schaften selbständiger Godorde mit ihren Tempeln und Ding-
stätten. Damals aber wurde auf den Antrag Ulfljots mit Zu-
stimmung der Goden ein für die ganze Bevölkerung der Insel
gemeinsames Allding beschlossen und so für die Gesetzgebung
und Kechtspflege ein Gesammtorgan geschaffen, dem alle Godorde
untergeordnet waren. Damit aber hatte sich die Bevölkerung
der Insel zu einem statlichen Volke constituirt.
Auch die Gründung des States Kalifornien, die vor
den Augen der mit uns Lebenden vollzogen worden ist, er-
scheint als freie Constituirung eines neuen Volkes auf einem
den vereinigten Staten von Nordamerika zugehörigen Gebiete.
Der Hunger nach Gold hatte aus aller Welt eine unverbun-
dene Menge verschiedener Individuen zusammen getrieben, und
diese wählten am 1. September 1849 Abgeordnete zu einem
Verfassungsrathe und schon am 13. October lag die Ver-
fassungsurkunde des neuen States dem neuen Volke zur Ge-
nehmigung vor. Es ist schwerlich ein Beispiel in der Ge-
schichte zu finden, welches leichter für die Möglichkeit einer
Statenbildung durch freie Uebereinkunft der betheiligten Indi-
viduen gedeutet werden kann, als dieses: und dennoch kann
es einer genaueren Betrachtung dieses Falles nicht verborgen
bleiben, dasz auch da nicht der Vertrag aller Individuen4,
sondern der Beschlusz und Wille der Mehrheit den Entscheid
gab und dasz die Einheit der Gemeinschaft als noth-
3 Vgl. Maurer Beiträge zur Rechtsgesch, des germ. Norden. 1852.
Heft 1.
4 R. v. Mohl hat in der Zeitschr. v. Mittermai er für ausländ.
Rechtswiss. XXVII» 5. 294. dieses Beispiel näher ausgeführt und für die
Theorie des Contrat social benutzt.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I, Iß
242 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
wendig vorausgesetzt wurde. Nicht der Einzelwille der Indi-
viduen, der Gesammtwille der ganzen Bevölkerung schuf die
Verfassung.
III. Weit häufiger kommt es vor, dasz die Bildung eines
Volkes vorhergeht, und die Besitznahme des Landes
als des zweiten zum Dasein eines States unentbehrlichen Ele-
mentes nachfolgt. Wir können diese Form die Landnahme
heiszen.
Sie kann zunächst als Eroberung eines bewohnten Lan-
des sich darstellen. Diese Form von Statenbildung ist sehr
häufig zur Anwendung gekommen. Die erste jüdische, ein
bedeutender Theil der griechischen (der dorischen) und
die ganze Statenbildung der germanischen Völker auf
römischem Provincialboden und in slavischen Ländern tragen
diesen Charakter. In ihr stellt sich die kriegerische
Ueber macht eines Volkes über die Einwohner des eroberten
Landes dar, und wie der Krieg nach der einen Seite hin zer-
störend wirkt, so offenbart sich auf der andern Seite in ihm eine
positive gewissermaszen Staten zeugende Kraft. Die statlichen
Eigenschaften der Unterordnung und männlichen Herrschaft
werden im Kriege gesteigert, und so das siegreiche Volk zur
Gründung eines neuen States in dem unterworfenen Lande vor-
züglich befähigt.
Die so entstandenen Staten haben in den ersten Zeiten
ihres Daseins, abgesehen von den äuszern Verhältnissen, grosze
innere Schwierigkeiten zu überwinden. Auch wenn der Kampf
der Waffen nicht erneuert wird, so beginnt doch gewöhnlich
ein innerer Geistes- und Culturkampf zwischen dem erobernden
und dem unterworfenen Volke, und dauert fort bis die völlige
politische Einheit der gemischten Nation vollzogen ist. Um
vor dieser Gefahr sein neu organisirtes Volk zu bewahren,
hatte Moses den Juden zur Pflicht gemacht, dasz sie die Ein-
wohner des heiligen Landes, das ihnen Jehovah verleihen
werde, mit Feuer und Schwert vertilgen sollen. Dieser Gefahr
Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 243
sind auch manche siegreiche Völker erlegen, indem die höhere
Cultur der Besiegten dieselben in kurzem wieder unterwarf.
Von jeher ist die Eroberung, obwohl in Form der Gewalt
auftretend, als eine Quelle des statlichen Eechtes unter allen
Völkern angesehen worden, und das Wort Alexanders des
Groszen,5 dasz der Sieger das Gesetz gebe, der Besiegte es
annehme, gilt noch in unsern Tagen. Selbst Christus hat das
Becht der Eroberung in jenem berühmten Worte: ,, Gebet dem
(römischen) Kaiser was des Kaisers ist" und mehr noch durch
sein Leben und sein Leiden anerkannt.
Gewisz ist der Bechtszustand noch ein unvollkommener,
in welchem die äuszere Gewalt einen so übermächtigen Ein-
flusz übt auf die Begründang neuen und die Zerstörung alten
Bechtes. Aber so roh auch die Form der Eroberung ist, es
liegt in ihr doch ein geistiger Gehalt verborgen, welcher jene
rechtliche Bedeutung erklärt. Die alten, in vorzüglichem Sinne
die germanischen Völker betrachteten den Krieg als einen
groszen Völkerprocesz, und den Sieg, welcher von den Göttern
verliehen werde, als ein Gottesurtheil zu Gunsten des Siegers.6
In der Eroberung also stellte sich nicht die blosze physische
Uebermacht dar, sondern sie galt auch als eine Beurkundung
der moralischen Uebermacht, welche zur Herrschaft im
State berechtigt. Daran kann auch das moderne Statsbewuszt-
sein anknüpfen, welches den Stat menschlich begreifen will.
Zwar wird es sich weigern, jeden Sieg für eine Bewährung
des Bechts und jede Niederlage als ein Zeichen des Unrechts
5 Curtius Eufus, Tita Alex. lib. 4. Ygl. Hugo G-rot. De jure b.
a. p. III. c. 8. §. 1. führt auch ein Wort des germanischen Königs Ario-
vist zu Cäsar an: „Es sei das Recht des Krieges, dasz die Sieger, wie
sie wollten, über die Besiegten gebieten." [Cäsar de B. G. 1. 36.) Vgl.
oben Cap. 9 der Einleitung.
6 Bluntschli Studien, S. 202: „Der Krieg ist nur die bisherige
und noch rohe Form der Völkerrechtspflege. Das Bewusztsein aber, dasz
das nur der Anfang sei zu einem gerechteren und menschlicheren Ver-
fahren, fängt an zu erwachen."
16*
•>44 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang defl States.
anzuerkennen; es wird auch nicht die Ueberlegenheit der
Kriegswaffen als einen Rechtsgrund betrachten. Aber es wird
das Resultat der groszen geschichtlichen Entwick-
lung, die von Zeit zu Zeit wieder die streitenden Kräfte der
Nationen zur Ruhe bringt, als eine natur- und zeitgemäsze
Erledigung des Volks- und Statsprocesses betrachten und ihr,
da auch die sittlichen und rechtbildenden Momente darin wir-
ken, die Bedeutung eines weltgeschichtlichen Urtheila
zuschreiben: ,.Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.4' Die
nachfolgende Anerkennung des neuen Rechtszttstandes als
eines notwendigen durch die Bevölkerung heilt die rechtlichen
Mängel der anfänglichen Besitznahme.
Eine andere friedlichere Form solcher Landnahme ist die
Ansiedlung vmi politischen Genossenschaften in einem un-
bewohnten Land oder in einem wenig rultiviilen Lande in der
Absicht, da einen neuen Stat zu gründen. Manche Colonien
der Europäer in fremden Welttheilen haben diesen Charakter.
Nur wenn die Colonisation ron dem Mutterstate geleitel wird,
gehört sie zu den abgeleiteten Entstehungsformen (Cap. III. l.c
wenn die bereits als Körperschaft geordneten Colonisten, wie
jene Pilger nach Neu-England, aus eigener Kraft und mit
eigener Gefahr neue Gemeinwesen auf Boden begründen, der
bisher noch keinem State zugehört, so \>\ das wesentlich ur-
sprüngliche Statenbildung, Bleiben die barbarischen Orbewohner
auf dem Gebiete des neuen Colonistenstats zurück, -
die Schwierigkeit, das Verhältnis! der beiderlei Bevölkerungen zu
ordnen, fast ebenso gross, wie in dem eroberten Lande. Die
Ueberlegenheit eines Cultunrblks über die Barbaren führt aber
durchweg zur Serrschafl jener über diese.
IV. Die Verbündung mehrerer Staten n einem neuen
Ganzen, Conföderation. Hier i>t es nichi etwa der Ver-
trag der Individuen, sondern von Staten, welcher die Gründung
eines neuen, des Gesammtstates einleitet. Dieser komm!
aber erst durch die wirkliche Organisation der Gemein-
Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 245
schaft zu Stande. Von der Art waren die griechischen
Conföderationen der böo tischen Orte, der verunglückte Ver-
such des Epaminondas, die Arkader zu einigen, die Sym-
machie, über die Sparta Hegemonie übte, der ätolische
und der achäisclie Bundesstat. Von der Art in Italien die
Bünde der Samniter, im spätem Mittelalter die Bünde der
deutschen Hansestädte, der schweizerischen Eid-
genossen, der niederländischen Staten.
Diese Form erzeugt zunächst immer zusammengesetzte,
nicht einfache Staten, indem sie die verbündeten Staten nicht
aufhebt, sondern zu einer neuen Siatsgenosscnschaft vereinigt.
Indem sie anfänglich auf Statsvertrag beruht, mehr als auf
Statsgesetz, so öberlieferl sie auch den folgenden Geschlech-
tern den Gegensatz mehrerer in wesentlichen Dingen selbstän-
diger, in andern nichi minder wesentlichen aber iron der Ge-
sammtheil abhängiger Staten, und mit diesem Gegensatze eine
Wechselwirkung, häufig auch einen Kampf des particulä-
ren and des allgemeinen Statsgeistes als Erbtheil ihrer Weise.
Auf diesem Gegensatze beruhen die beiden Hauptformen
der Btatlichen Verbündung: der Statenbund und der Bundes-
stat. Beide sind zusammengesetzte Statskörper, und insofern
von bloszen Allianzen, die keinen neuen Stat bilden, verschie-
den. Nur die erste aber hält den Charakter der Conföde-
ration fest, die letztere macht den Fortschritt zur Union.
1. Der Statenbund, indem er mehrere Staten zu einer
St;iisgenossenschaft verbindet, die wenigstens nach auszen als
Gesammtstat als eine völkerrechtliche Statsperson erscheint,
organisirt sich doch nicht als einen von den Einzelstaten ver-
schiedenen CentraJstat, sondern überläszt die Leitung des Ge-
sammtstates entweder einem Einzelstate als Hegemon oder
Vorort, oder der Versammlung von Gesandten und
Stellvertretern aller verbundenen Einzelstaten.
Von jener Art waren die griechischen Statenbünde unter
der Hegemonie von Sparta und Athen, von dieser die schwei-
246 Dnücs })uch. Von der Entstehung und d< m l
zerische Eidgenossenschaft bis l-iv und der deutsche Bund
von 1815.
2. In dem Bu ndi nicht bloss
vollständigoi- rn voraus einen selb-
ständig organisirten k, Centralstai, Die
Bundesgewalt ist nicht einem der Einz Ls . noch
der VersammJ r Einzelstaten anheii 3 indem
sie hat ihre eigenen i oder nationalen 0
hervorgebracht, w< u der Gesammi ren, Der
achäische Bund mit \ Bammlnng
als g endem Kör gen als dein
Bundeshaupte, dem B dem Bundesgerichte war
ein Bolcher Bnn l< Bstai Zuerst la eine
moderne in den \ \ . aber erat
in der DnionsverJ 1787 ausgebildet und dann ?on
der Schweii in d »bildet
worden. Beide \ mehr auf einem
eigentiicl
Existenz eines Qesa m mt?< Lkec tu b mm t b I
voraus . deren einheitli et schafft,
und von der Min
fordert. Dadurch * ird die Voi n ?on
Staten überschritten and die höhen D d ion betr
Beide Formen der Eusamn Bind
eher für Republiken als I archien . wovon man
sich Leicht Q] mn man der nordame-
rikaniseben and der sang mit den
Kämpfen ober die d< icht.
Die Verfassung des norddeutschen Bundes ?on L867
einigt /war ^tatsächlich and rechtlich die verschiedenen in
Deutschland wirk m Machte und Kräfte im na-
7 V • ii M . * 1 i imi.
und Btory'i Comm. ; EHnntiohli, Gesch. d. sei
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Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 247
tionalem Zusammenwirken, aber sie maclit der principiellen
Betrachtung den Eindruck eines Schmetterlings, der noch einen
Theil seiner Puppe und selbst die liette seines frühem Raupen-
zustands mitschleppt. Ihre Entstehungsform weist einerseits
auf den freien Vertrag aller Einzelnstaten (Fürsten und Kam-
mern) hin, die Verfassung ist aber ihrem Inhalte nach durch
den leitenden Willen der preuszischen Regierung in Verbin-
dung- mit den Arbeiten des einheitlichen Reichstags zu Stande
gekommen. Wie hier Vertrag und Gesetz sich seltsam ver-
binden, so erinnert die Vertretung der verbündeten Regierun-
gen in dem Bundesrathe noch ganz an den früheren staten-
bündlichen deul chen Bundestag und hai selbsl der Ausdruck
des „Bundespräsidiums'4, welches der königlichen Krone
Preuszen zustellt, noch dasselbe statenbundliche Gepräge. Aber
wenn daneben die wirkliche Machtstellung dieses Bundesprä-
sidiums und die verfassungsmäszigen B< d< sselben
— insbesondere auch als Bundesfeldherrn — erwogen werden, so
tritt aus der Verhüllung d.is den (sc In- Reichsoberhaupt-—
wenn auch noch nicht mit dem allein würdigen Kaisernamen —
in deutlichen umrissen hervor. Die Institution des Reiche-
rt einheitlicher gedacht and durchgeführt als selbst
der nordamerikanische i und die schweizerische Bundes-
sammlung. Die Verfassung führt offenbar aus dem frühem
kenbund durch bundesstatliche Zwischenstufen in die Stats-
form eines monarchischen Reiches hinüber, welches seinen
Gliedern noch einige Selbständigkeit und Selbstverwaltung in
inneren Dingen verstattet, aber die äuszere Politik einheitlich
geleitet sehen will.
V. Verwandt mit der Verbündung ist die Einigung
zweier oder mehrerer Staten unter Einem gemeinsamen
Herrscher, oder zu einem einzigen neuen State, vor-
zugsweise Union genannt. Auch hierlassen sich verschiedene
Stufen und Arten der Einigung unterscheiden. In jeder Weise
unvollkommen ist dieselbe:
248 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.
1. In Gestalt einer bloszen Personalunion. Diese kann
sogar blosz vorübergehend eintreten, wenn die Thronfolge-
ordnungen zweier verschiedener Staten zufällig dieselbe Person
zu beiden Kronen berufen, somit wieder aufhören, wenn später
die Succession wieder zwei verschiedene Personen trifft. Von
der Art war die Verbindung des deutschen Eeiches und von
Spanien unter Karl V., von Polen und Sachsen unter August,
von England und Hannover unter dem Könige Georg IV., von
Schleswig-Holstein und Dänemark nach dem Vertrage von
1620. Diese Form der Union, die loseste von allen, erzeugt
auch nicht einen neuen Vereinsstat, sondern beschränkt sich
darauf, zwei selbständige Staten in eine blosz äuszerliche Be-
ziehung zu dem nämlichen Fürsten als Statsoberhaupt zu
bringen.
Auszer ihr kommt aber auch eine dauernde Personal-
union vor, indem die Kronen zweier Staten derselben Dynastie
und nach dem nämlichen Successionsgesetze zugehören. Bei-
spiele dieser Art sind die pragmatische Sanction von 1713
für die unter dem österreichischen Scepter vereinigten Staten,
welcher 1722 auch der ungarische Keichstag für das König-
reich Ungarn beitrat, die Erwerbung des Fürstenthums Neu-
chatel von Seite der Krone Preuszens von 1707, die Verbin-
dung von Norwegen und Schweden seit 1814, die Ueberein-
kunft zwischen dem Königreich Ungarn und dem Kaiserlichen
Oesterreich von 1867.
Eine solche dauerhafte Vereinigung kann zwar einen neuen
Gesammtstat begründen; aber die Einheit ist doch eine sehr
unvollständige und fast nur unter der Voraussetzung von ent-
scheidender practischer Geltung, wenn eine absolute Macht in
der Person des Herrschers wirklich concentrirt ist. Unter
jeder anderen Voraussetzung wird der unversöhnte innere
Widerspruch zweier verschiedener Staten mit abweichenden
Interessen und Stimmungen und eines gemeinsamen Fürsten
sich fühlbar machen und es kann in Folge desselben sogar die
Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 249
unsinnige Forderung an den Fürsten gerichtet werden, dasz
er in seiner Eigenschaft als Oberhaupt eines States Feindschaft
übe wider den andern Stat, an dessen Spitze er nicht minder
steht. Mit der Kepräsentativverfassung ist daher diese Form
der Personalunion nicht wohl zu vereinigen.
2. Eine höhere Einigung liegt in der sogenannten Real-
union. In ihr ist nicht blosz die Person des Herrschers ge-
einigt, sondern die oberste Statsleitung selbst in Ge-
setzgebung und Eegierung. 8 Zwar verträgt sie sich
mit einer relativen Selbständigkeit der unirten Staten, denen
innerhalb gewisser Schranken eine particuläre Gesetzgebung
und Regierung vergönnt werden mag, aber der Gesammtstat
ist in ihr doch einheitlich organisirt, und die höchsten ge-
meinsamen Statsinteressen sind in den einheitlichen Organen
concentrirt. Die Vereinigung Norwegens mit dem Königreich
Dänemark durch das Reichsgesetz von 1536, die Einigung von
Castilien und Aragon, wenn auch nicht sofort von Anfang an,
1474, so doch unter den österreichischen Fürsten, ganz vor-
züglich aber die österreichische Monarchie nach dem Grund-
gesetze von 1849 und der Februarverfassung von 1861 sind
Beispiele solcher Realunion.
3. Die volle Union endlich löst die Besonderheit der
unirten Staten auf, und bildet nicht einen aus mehreren Staten
zusammengesetzten, sondern einen einfachen Stat.
Die Vereinigung der beiden ursprünglich durch blosze
Personalunion verbundenen Königreiche England und Schott-
land zu dem Gesammtkönigreich Groszbritannien vom Jahr
1707, und die spätere Union zwischen Groszbritannien und
Irland von 1800 haben diesen Charakter einer vollen Union,
8 Anders versteht Pözl den Unterschied der Personal- und der
Realunion (Deutsches Statswörterbuch , Art. Union), jene ist ihm die
zufällige, diese die grundgesetzliche Einigung der Statsgewalt
über zwei oder mehrere Staten in Einer Person. Die Verbindung von
Schweden und Norwegen erscheint ihm dann bereits als Realunion.
250 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
indem die particularen Parlamente aufgehoben und für das
ganze Keich ein gemeinsames einheitliches Parlament angeord-
net wurde. Die Einverleibung der Hohenzollerischen Filrsten-
thümer in Preuszen im Jahr 1849, die Annexion der italieni-
schen Herzogthümer und des Königreichs Neapel mit Piemont
zu dem neuen Königreich Italien im Jahr 1800 und 1861 und
vorzüglich die Umwandlung des Königreichs Hannover und der
Fürstenthi'imer Kurhessen. Nassau, Schleswig und Holstein und
der freien Stadt Frankfurt in preuszische Provinzen sind neuere
Beispiele solcher vollen Union.
Das ältere Statsrecht war geneigt diese Verbindung und
Wandlung ausschliesslich aus dem dynastischen Standpuncte
und nicht anders zu beurtheilen, als ob es sich um die Zu-
sammenlegung oder den Erwerb von mehreren Grundstücken
durch dieselbe Privatperson handelte. Es wurden daher wie
die privatrechtlichen Formen der Veräuszerung unter Leben-
den. so auch von Todes at, Erbvertrag) aner-
kannt; wie irenn Voll und Land eine Verlassenschaft wären,
über die ein einzelner Mensch nach seinem Belieben zu ver-
fügen hätte. Das neuere hl mus« diese dem modernen
Statsbegriff widerstreitende Ansicht verwerfen, und daran fest
hallen, dasz solche Veränderungen wesentlich die öffentliche
Verfassung des Volts betreffen und daher nicht ohne Zu-
stimmung der Volksvertretung geordnel werden dürfen.
VI. Den Ge;.' der Verbindung bilde! die Theilung
und Zertrennung eines grösseren States in zwei oder meh-
rere neuere Staten.
Diese Erscheinung wird sich besonders da ergeben, wo
verschiedene, zumal auch dem Gebiete nach getrennte Völker
zu einem State verbunden waren, ohne innerlich eins zu wer-
den. Wenn die Macht der Concentration , welch«' sie bisher
zusammenhielt, nachläszt, so treiben die natürlichen Öegen-
auseinander; und es geht der grosze Scheidungsprooesz
vor sich, welcher das bisherige Ganze in eine Anzahl neuer
Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstellungsformen. 251
selbständiger Staten auflöst. So ging die grosze durch Alexanders
Genie einen Augenblick zusammengeschmiedete Weltmonarchie
nach seinem Tode sofort auseinander. Ebenso wurde im IX.
Jahrhundert die fränkische Monarchie nach den Nationalitäten,
freilich nicht ohne wesentliche Mitwirkung der dynastischen
Gegensätze gespalten. Auch der Zerfall des napoleonischen
Kaiserreiches mit seinen Schöpfungen abhängiger Lehenskönig-
reiche in diesem Jahrhundert läszt sich grosxcntheils so er-
klären. Die Trennung von Belgien und Holland im Jahr
1830 hat diesen Charakter.
Während des Mittelalters gab es aber noch eine andere
Theilung eines Statsganzen wie einer Erbschaft unter mehrere
Erben, so unter mehrere Söhne des verstorbenen Staatsober-
hauptes und es dauerte lauge, bis diese privatrechtliche mit
dem Hecht eines zusammengehörigen Volkes und der Wohl-
fahrt eines States durchaus unvereinbare Behandlung durch das
politische Princip der Untheilbarkeit in Europa verdrängt
wurde.
Vll. Eine ähnliche Form ist die Lossagung eines Theiles
des States und Constituirung dieses Theiles zu einem selb-
ständigen State.
In der Eegel ist der Theil als solcher nicht berechtigt,
sich wider das Ganze zu empören und sich von demselben
gewaltsam loszureiszen. Die Geschichte hat uns von .vielen
ungerechtfertigten und unheilvollen Lostrennungsversuchen der
Art warnende Berichte überliefert. Aber sie weisz auch von
andern Lossagungen, welche volle Anerkennung errungen haben,
und deren innere Berechtigung nicht zu bezweifeln ist. Er-
innern wir uns an die Lossagung der niederländischen Gene-
ralstaten von Spanien von 1579, an die Unabhängigkeits-
erklärung der nordamerikanischen Freistaten von 1776, an die
Befreiung Griechenlands von türkischer Herrschaft in unsern
Tagen. Jene Eegel bedarf somit einer Beschränkung, die wohl
so zu fassen ist: Zur Lossagung ist der Theil ausnahmsweise
252 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
berechtigt, wenn seine dauernden und wichtigen Interessen von
dem Statsganzen, dem er angehört, nicht geschützt noch be-
friedigt werden, und er zugleich befähigt ist, für sich selber
zu sorgen und seine selbständige Stellung zu behaupten. Nur
wirkliche Noth und ein unerträglich gewordenes LeMen gibt
somit gegründete Veranlassung zu der Lossagung, und nur die
moralische Kraft, welche sich in dem Kampfe um Selbstän-
digkeit siegreich bewährt und alle Schwierigkeiten überwindet,
gewährt einen Anspruch auf Anerkennung derselben. Unter
diesen beiden Voraussetzungen wird dieselbe denn auch von
dem groszen Gerichte ausgesprochen, welches durch die Welt-
geschichte spricht.9
9 Die Unabhängigkeitserklärung von Amerika nimmt c.-> mit dem
Princip etwas leichter und bekennt die naturrechtliche Lehre ihrer Zeit,
indem sie folgende Sätze ausspricht: »"Wir halten folgende Wahrheiten
für klar, dasz alle Menschen gleich geboren, dasz sie von dem Schöpfer
mit gewissen unveräuszerlichen R< gabt Bind, und dasz zu diesem
Leben Freiheil nnd das Streben nach (Glückseligkeit gehöre, dasz, um
diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingt
sind, welche ihre gerechte Gewalt Ton der Zustimmung der Begierten
ableiten, dasz wenn immer eine Statsform diesen Endzwecken verderb-
lich wird, es ein Recht de< Volkes ist, dieselbe ZO ändern oder abzu-
schaffen und eine neue Statsform einzurichten, indem e^ dieselbe auf
solche Principien begründet, und deren Gewalten in Boloher Weise orga-
nisirt, wie es ihm zu* seiner Sicherheit und zu Beinern Glücke am zweck-
dienlichsten scheint. Die Klugheit gebietet allerdings, Beit langem be-
stehende Verfassungen nicht am leichter und vorübergehender Orsaohen
willen zu ändern, und demgemäß hat alle Erfahrung gezeigt, dasz die
Menschen geneigter sind die Leiden zu ertragen, so lange sie erträglich
Bind, als sich durch Vernichtung der Formen, an welche Bie Bioh einmal
gewöhnt, selbst Recht zu verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe
von Miszbräuchen und unrechtmässigen Kingriffen, welche unwandelbar
das nämliche Ziel verfolgen, die Absicht beweist, das Volk dem abflO-
lutcn Despotismus zu unterwerfen, so hat dieses das Recht und die
Pflicht, eine solche Regierung auszustoßen und neue Garantien für seine
künftige Sicherheit anzuordnen u
Drittes Capitel. Abgeleitete Entstehungsformell. 253
Drittes Capitel.
Abgeleitete Entstehungsformen.
T. Colonisation.
Die Colonisation, wie sie von den hellenischen Staten
geübt wurde, und die Küsten des Mittelmeeres in Kleinasien,
Italien, Sicilien, auf den Inseln des Archipels mit neuen
Städten und Staten bevölkerte, war in der That bewuszte
neue Statenbildung. Die Pflanzstadt ging aus der Mutterstadt
hervor, wie der Sohn, der aus der Familie des Vaters aus-
tritt, um ein eigenes Hauswesen zu gründen. Sie wurde sofort
zum selbständigen neuen State, unabhängig von der Mutter-
stadt, aber mit ihr durch ihre Abstammung, Sitten, Hecht,
Keligion verbunden. Aus dem Prytaneum der Mutterstadt
nahm die Tochterstadt das heilige Feuer mit, und die väter-
lichen Götter zogen mit in den neuen Wohnsitz hinüber. ' Die
Hellenen vermochten nicht ein groszes Keich zu gründen und
zusammen zu halten, aber durch ihre zerstreute Städtecolonien
hellenisirten sie den Orient. -
Anders die römischen Colon ien. Sie waren bestimmt,
die römische Herrschaft in weiteren Kreisen zu sichern und
zu befestigen, und blieben dalier in einem strengen Abhängig-
keitsverhältnisz zu der Hauptstadt. Hier ist somit nicht von
neuer Statenbildung, sondern nur von Ausdehnung des besteh-
enden Einen States die Rede.
Wieder von anderer Art ist die moderne Colonisation.
Sehen wir auf den Ursprung der modernen, besonders in Ame-
rika von den europäischen Staten aus gestifteten Colonien, so
handelte es sich dabei in der Kegel nicht um Gründung neuer
1 Vgl. Herrmann, griechische Statsalterthümer Cap. IV. Die altere
phönicische Colonisation ist weniger von Anfang an neue Statsgrün-
dung, ist aber gewöhnlich in kurzer Zeit zu dieser geworden.
2 Vgl. die Ausführung von Laurent II. S. 310.
254 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States
Staten, sondern mehr um Ausbreitung der Herrschaft und
Cultur des europäischen Vaterlandes, oder um Erwerb einer
neuen ökonomischen Existenz, zuweilen auch um Sicherung
der Uebersiedler vor Verfolgung in ihrer Heimat. Im Süden
war die Abhängigkeit der Colonien von den romanischen Staten
Europas gröszer als im Norden, wo der germanische Corpora-
tionstrieb und das germanische Freiheitsgefühl wenigstens
einer relativen Selbständigkeit der Colonien günstig waren,
diese theilweise sogar hervorgerufen hatten.
Sieht man aber auf die spätere Entwicklung und Ge-
schichte dieser Colonien, so sind sie meistens zu einem selb-
ständigen Dasein erwachsen, und haben sich dann als neue
Staten losgemacht und abgesondert von jener europäischen
Herrschaft. Diese Colonisation ist daher eher der Geburt
eines Kindes zu vergleichen, welches die väterliche Familie
als ein abhängiges Glied derselben erweitert, dann aber, nach-
dem es zu körperlicher und geistiger Reife herangediehen, sich
absondert und eine neue eigene Familie begründet.
II. Eine fernere abgeleitete Statenbildung kam in dem
Mittelalter öfter vor in Gestalt der Verleihung von Ho-
he itsr echten an einzelne Bestandtheile des States. Eine
ganze Reihe besonders deutscher Gebiete, Fürstenthümer, Herr-
schaften, Reichsstädte wurden zu selbständigen Staten, indem
sie einzelne Hoheitsrechte von dem Könige erlangten, und
diesen Erwerb zu vermehren wuszten, bis zuletzt dem Könige
nur ein idealer Schein von Oberhoheit zunickblieb, alle reale
Statsgewalt aber an sie entäuszert war. So strebten die früheren
Theile eines Statsganzen im Laufe der Jahrhunderte zu selb-
ständigen Staten auf. Die äuszere Form solcher Verleihung
war häufig wieder die eines privatrechtlichen Erwerbes durch
Kauf oder Verpfändung, und ist insofern ungeeignet für das
moderne Statsleben. Das war aber selbst im Mittelalter nicht
wesentlich, und es läszt sich auch in unserer Zeit -die prakti-
sche Möglichkeit gar wohl denken, dasz ein Stat mit klarem
Viertes Capitel. Untergang der Staten. 255
Bewusztsein einen Tlieil seines Gebietes zur Selbständigkeit
heranziehe und denselben mit statlichen Hoheitsrechten aus-
statte. In dieser Weise verfährt England in unsrer Zeit gegen
Canada nnd andere englische Nebenländer.
III. Endlich kommt vor die Institution eines neuen
States durch einen fremden Herrscher, insbesondere
durch einen Eroberer, dessen Machtsprüche alte Staten um ihr
Leben bringen und neue Staten hervorrufen. Europa hat in
den Jahren der napoleonischen Herrschaft gesehen, wie eine
Keine von Staten ausgelöscht, und andere hinwieder nach dem
Willen des französischen Kaisers neu errichtet wurden. Europa
hat aber auch erlebt, dasz diese willkürlichen Schöpfungen
momentaner Uebermacht zu keinem innerlich kräftigen Leben
gelangten, und kaum ins Dasein gerufen wieder abstarben oder
getödtet wurden. Es ist das ein beredter Beweis, dasz unter
allen Formen der Statenbildung diese die unvollkommenste
ist, und am wenigsten Gewähr darbietet für die Fortdauer
solcher Staten.
Viertes Capitel.
Untergang der Staten.
Die Erde ist mit den Trümmern untergegangener Staten
überdeckt; die Erfahrungen der bisherigen Weltgeschichte
zeugen gegen die Unsterblichkeit der Staten. Die Veranlas-
sungen und die Formen des Untergangs sind wohl unter sich
verschieden, wie die Todesfälle der einzelnen Menschen. Aber
daraus, dasz alle Staten untergehen, dürfen wir wohl auf eine
gemeinsame Ursache ihrer Sterblichkeit schlieszen.
Diese Ursache kann nicht in der Immoralität der Völker lie-
gen, denn die Immoralität ist nicht nothwendig und nicht
gleichmäszig vorhanden; und die Geschichte lehrt uns, dasz
256 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
auch demoralisirte Völker sehr lange leben können, wie un-
moralische Menschen doch zuweilen ein hohes Alter erreichen.
Auch nicht in schlechter Regierung; mancher Stat hat schon
mehrere Generationen schlechter Regenten tiberdauert. Aber
auch nicht, wie neuerlich Gobineau behauptet hat, in der
Mischung und Entartung der Volksrassen ; manche Staten sind
gerade durch die Mischung der Rassen grosz und mächtig ge-
worden und haben fortgedauert, obwohl die Volksrassen wesent-
lich verändert worden; ich erinnere an Rom, an England, an
Nordamerika. Die wahre Ursache liegt in dem groszen Gesetz
alles irdisch-organischen Lebens, dasz es durch die
Geschichte entwickelt und aufgezehrt werde. Das
Leben der Völker und der Staten entfaltet sich, und indem
es allmählich, was in ihm liegt, offenbart, erfüllt es seine
Bestimmung und stirbt ab, von der unermüdlich fortschreiten-
den Zeit, mit der es nicht mehr Schritt halten kann, überholt
und zurückgelassen.
So scheinen auch die beschränkten Einzelstaten von der
fortschreitenden Menschheit, die in ihnen keine volle Befrie-
digung findet, verschlungen zu werden. Kommt dereinst auf
der breiten Unterlage der Menschheit das Weltreich zur Er-
scheinung, dann dürfen wir hoffen, dasz dieser Stat so lange
dauern und nicht früher untergehen werde, als die Menschheit
selbst.
Die besonderen Formen des Statenuntergangs
aber entsprechen groszentheils den Formen der Statenbildung,
und nicht selten werden alte Staten zerstört, wenn neue be-
gründet werden. An den Tod des einen States schlieszt oft
die Geburt des andern sich unmittelbar an.
I. Den Gegensatz zu der Organisation des Volkes bildet
die Desorganisation oder Auflösung des Volkes. Eine
eigentümliche Art der Desorganisation ist die Anarchie.
Wenn die Ueber- und Unterordnung in dem Volke nicht mehr
geachtet wird, und Niemand mehr eine obrigkeitliche Gewalt
Viertes Capitel. Untergang der Staten. 257
anerkennt, wenn jeder Einzelne nur seinen Lüsten den losen
Lauf läszt, und keiner mehr sich um das Ganze kümmert,
noch der Gemeinschaft Opfer bringt, so wird der Stat selbst
negirt, und das organisirte Volk ist in diesem Falle zur chao-
tischen Masse herabgesunken. Die Anarchie hebt somit im
Princip den Stat, nicht etwa nur die bisherige Statsform auf.
Allein eine so entschiedene und so andauernde Anarchie, die
dann freilich immer der Tod des States ist, findet sich doch
in der Geschichte der Völker höchst selten. Weit häufiger
sind die anarchischen Zustände blosz vorübergehend und
momentane Fieberkrisen, welche zwar das Leben des
States bedrohen, aber oft nur eine andere Gestaltung der
Stats Verfassung vorbereiten. Gerade in den Zeiten heftiger
Erschütterungen der Revolution offenbart sich die entschieden
statliche Natur der arischen Völkerstämme in höchst merk-
würdiger Weise. Selbst in dem Augenblick, wo sie die stat-
liche Ordnung mit wüthendem Hasse stürzen, unterwerfen sie
sich doch den notwendigen Formen des statlichen Daseins :
und während sie in der Verwirrung der Ideen für Anarchie
schwärmen, gehorchen sie blindlings je den wildesten und
strengsten Führern. Dicht hinter dem Triumphzng der entfessel-
ten und freiheitstrunkenen Massen erscheinen die kalten, eher-
nen Züge der Dictatoren, und in den Trümmern der zerstörten
Statsordnung macht sich sofort wieder das Volk eine neue,
wenn auch vielleicht schlechtere statliche Wohnung zurecht.
Auch die Völker der groszen arischen Familie sind nicht un-
sterblich, aber so lange ihr Leben dauert, können sie der stat-
lichen Form ihres Daseins so wenig entbehren, als der Fisch
des Wassers, oder der Vogel der Luft. Es gibt kein einziges
Beispiel in der Geschichte, dasz ein arisches Volk sich dauernd
losgemacht hätte von dem State, oder dasz ein solches auch
nur in den Zustand der Nomaden zurückgesunken wäre. Im
sechzehnten Jahrhundert haben die Wiedertäufer die Idee des
States vollständig verworfen, ähnlich wie in unsern Tagen die
B 1 u n t s c h 1 i , allgemeines Statsrecht. I. 17
258 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang de3 States.
Communisten. Aber als ihnen die Gelegenheit geboten ward,
einen Versuch zur Einführung ihrer unstatlichen Gemeinschaft
zu machen, haben sie doch wieder — obwohl in karikirter
Form — einen Stat eingerichtet.
IL Die Auswanderung eines Volkes aus dem Lande
seiner Väter, wie die Helvetier zu Cäsars Zeit sie unternommen,
oder die Vertreibung eines Volkes aus seiner Heimath,
wie sie während der groszen Völkerwanderungen in Europa oft
erzwungen worden, zerstört den bisherigen Stat jedenfalls ; und
es ist gewöhnlich unsicher, ob es dem weiterziehenden Volke
gelinge, eine neue feste Herrschaft über ein anderes Land zu
erwerben, und so einen neuen Stat zu gründen.
III. Die Eroberung eines Landes und die Unter-
werfung eines bisher selbständigen Volkes durch eine fremde
Macht ist öfter noch Zerstörung alter als Gründung neuer
Staten, indem sie meistens eine blosze Erweiterung des sieg-
reichen States zur Folge hat. In dieser Weise hat einst Rom
eine Reihe von Staten verschlungen, und über deren Bevölke-
rung und Gebiet seine Herrschaft ausgebreitet. Die Ergebung
(deditio) des schwächern Volkes hat zwar den Schein der
Freiwilligkeit, ist aber regelmäszig doch das Werk der Noth
und äuszern Zwanges, und fällt dann mit der Unterwerfung
zusammen.
IV. Die volle Union ferner zieht den Untergang der
unirten Staten nach sich. Da in ihr aber zugleich der Anfang
eines neuen gröszeren States liegt, dessen Volk aus den Völ-
kern der aufgelösten Staten besteht, so ist hier eher eine
freiwillige Entäuszerung der bisherigen «tätlichen Son-
derexistenz denkbar.
V. Den Gegensatz zu dem Aufgehen der kleineren Staten
in dem gröszeren Gesammtstat bildet die Th eilung eines
Reiches in mehrere Staten oder die Vertheilung eines
States unter mehrere fremde Staaten. Die erstere .kann ohne
äuszern Zwang auf organische Weise vor sich gehen, indem
Fünftes Capitel. Speculative Theorien. I. Der sog. Nafurstand. 259
die verschiedenen Bestandteile eines States ihre Besonderheit
schärfer ausprägen und sich dann ablösen, die letztere aber ist
gewöhnlich das Werk fremder Uebermacht. Die beiden Thei-
lungen Polens (1772 und 1793) sind entsetzliche Beispiele
solcher widerrechtlichen Gewalt in einer Periode, die auf ihre
Aufklärung und Humanität eitel war.
VI. Wie durch Verleihung von Hoheitsrechten an einzelne
Gebietstheile neue Staten sich bilden, so können auch durch
Entzug oder Abtretung von Hoheitsrechten bisher selb-
ständige Staten allmählich ihre statliche Existenz einbüszen.
Für jene Form der Statenbildung ist die Geschichte des
deutschen Keiches, für diese Art des Statenuntergangs
ist die Geschichte Frankreichs besonders lehrreich. Die
Centralisation von Frankreich, vorzüglich seit Ludwig XL, bat
so eine Masse von . Souveränen Seigneurien,u in welche das
Land zerklüftet war, nach und nach beseitigt. Aber auch
Deutschland hat durch die zahlreichen Mediatisir ungen
seit der Revolution diese zweite Richtung der Auflösung klei-
ner Staten eingeschlagen.
Fünftes Capitel
Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.
Die philosophische Speculation liebt es, einen Urzustand
zu erdenken, in welchem die Menschen noch ohne Stat lebten,
und von da aus den Weg zu suchen, welchen die Menschheit
habe gehen müssen, um zu dem State zu gelangen. Die
Phantasie des Volkes hat diesen Urzustand oft mit heitern
Bildern von Unschuld und reichen Naturgenüssen geschmückt,
und eine goldene Zeit des Paradieses erträumt, in welcher es
noch kein Uebel und kein Unrecht gegeben, und alle in un-
beschränkter Freiheit und Glückseligkeit sich des friedlichen
17*
260 Drittes Buch. Von der Entstellung und dem Untergang des States.
Daseins erfreut haben. In dieser Vorzeit gab es nach jenen
Vorstellungen noch kein Eigenthum, da der üeberflusz der
Natur jedem in Fülle darbot, wornach sein unverkünstelter
und unverdorbener Sinn verlangen mochte; damals noch keine
Unterschiede der Stände noch selbst der Berufsarten, jeder
war dem andern gleich; damals auch weder Obrigkeit noch
Unterthanen, keine Beamte, keine Kichter, keine Heere, keine
Steuern. l
Einem solchen Ideale gegenüber muszte der spätere stat-
liche Zustand der Menschen als Entartung und Verfall erschei-
nen. Erst als vorher unbekannte Plagen die Menschen trafen,
erst als die Leidenschaften in ihrer Brust erwachten und neue
Gefahren hervorriefen, erst als die Schuld den Seelenfrieden
störte, da bedurfte es einer Macht, welche die Bösen schreckte
und strafte, und den vielfach verkümmerten Genusz aller
sicherte. So dachte man sich den Stat, wenn auch nicht
1 Shakespeare schildert diesen Naturzustand mit glänzender Ironie
im Sturm:
Gonzalo: „Hätt1 ich, mein Fürst, die Pflanzung dieser Insel,
Ich wirkte im gemeinen Wesen Alles
Durchs Gegentheil, denn keine Art von Handel
Erlaubt' ich, keinen Namen eines Amts:
Gelahrtheit sollte man nicht kennen; Reichtimm,
Dienst, Armuth gäb's nicht; von Vertrag und Erbschaft,
Verzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts;
Auch kein Gebrauch von Korn, Wein, Oel, Metall,
Kein Handwerk, alle Männer müssig, alle;
Die Weiber auch, doch völlig rein und schuldlos,
Kein Regiment.
In der gemeinsamen Natur sollt' Alles
Frucht bringen, ohne Mühe und Schweisz; Verrath, Betrug,
Schwert, Speer, Geschütz, Notwendigkeit der Waffen
Gäb's nicht bei mir; es schaffte die Natur
Von freien Stücken alle Hüll' und Fülle,
Mein schuldlos Volk zu nähren.
Sebastian: Keine Heirathen zwischen seinen Unterthanen?
Antonio: Nichts dergleichen, Freund, alles los und
Huren und Taugenichtse. u
Fünftes Capitel. Speculative Theorien. I. Der sog. Naturstand. 261
immer als ein nothwendiges Uebel, doch als eine Noth-
und Zwangs an stalt, um gröszern Uebeln zu entgehen.
Im Gegensatze zu dieser kindlich heitern Vorstellung von
dem Paradiese dachten sich andere und zuweilen gries gräm-
liche Philosophen den Zustand des ersten , noch unstatlichen,
Menschen viel schlimmer. Ihre ängstliche Phantasie malte
statt des göttlichen Friedens einen unablässigen Hader und
Krieg aus aller gegen alle : und wenn auch ihnen der Stat als
ein Uebel erschien, so war dieses Uebel doch erträglicher und
geringer als der ursprüngliche Naturstand, in welchem die
Menschen dem Wilde des Waldes glichen. Dieser philoso-
phische Gedanke fand in der theologischen Spekulation, welche
den Stat die Ordnung nicht des Paradieses, sondern der „ge-
fallenen Menschheit" nannte, eine willkommene Bekräftigung.
Die beiderlei Vorstellungen übersehen die stat liehe
Natur des Menschen. Sie haben beide keine Ahnung von
der Wahrheit,2 die Aristoteles so schön ausgesprochen, dasz
der Mensch ein „statliches Wesen" sei. Mag man sich
immer einen Zustand der Menschen vorstellen, welcher der
Entstehung des States vorausging, dieser Zustand konnte un-
möglich den höhern Bedürfnissen derselben genügen,3 und es
war ein unermeszlicher Fortschritt in der Entwicklungsgeschichte
der Menschheit, als der von Anfang an ihr eingepflanzte Keim
zur Statenbildung sich entfaltete und zur Erscheinung kam.
2 Auch Rousseau (diso, sur l'inegalite des conditions parmi les
hommes) meinte: „Der Mensch im Naturzustand habe einen Widerwillen
(repugnait) gegen die Gesellschaft." Aber Mirabeau entgegnete ihm
vortrefflich (essai sur le despotisme) mit den Worten: „Non seulement
l'homme semble fait pour la societe, mais on peut dire qu'il n'est vrai-
ment homme c'est ä dire un etre reflechissant et capable de vertu, que
lorsqu'elle commence ä s'organiser. Les hommes n'ont rien voulu ni du
sacrifier en se reunissant en societe; ils ont voulu et du etendre leurs
jouissances et Vusage de la Übet le par les secours et la garantie reeiproques. "
3 Auch Plato de Republ. IL 369 leitet die Entstehung des States
davon her, dasz der einzelne Mensch sich selber nicht genüge, sondern
von Natur der Gemeinschaft bedürfe.
262 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.
Sechstes Capitel.
II. Der Stat als göttliche Institution.
In dem Altertlium sowohl als während des Mittelalters
war der Glaube an die göttliche Institution des States viel
verbreiteter und intensiver als in unserer Zeit, Auch damals
aber war in ganz verschiedenem Sinne von einer göttlichen
Begründung des States die Rede.
1. Nach der einen Vorstellung war der Stat das un-
mittelbare Werk Gottes, die directe Offenbarung der
göttlichen Herrschaft auf Erden.
Diese Vorstellung lag der jüdischen Theokratie zu Grunde,
und die volle Consequenz derselben führt jederzeit zu der
theokratischen Statsform, zu welcher sie allein paszt.
Wenn Gott den Stat unmittelbar geschaffen hat, so ist es
natürlich, dasz er denselben unmittelbar erhalte und regiere.
2. Nach der andern Vorstellung dagegen ist der Stat
nur mittelbar von Gott gegründet, und wird auch nur mittel-
bar von Gott geleitet. i
Diese Ansicht wurde auch von den Griechen und Römern
getheilt, deren Statsformen keineswegs theokratisch waren,
sondern durch und durch einen menschlichen Charakter hatten.
Kein Statsgeschäft von irgend welcher Bedeutung wurde im
Alterthum unternommen, ohne dasz Gebet und Opfer vorher-
gegangen waren und in dem Statsrechte der Römer nahm die
Sorge der Auspicien, durch welche der Wille der Götter er-
forscht wurde, eine sehr wichtige Stellung ein. Sie verbanden
mit dem Bewusztsein menschlicher Freiheit und Selbstbestim-
1 In diepem Sinne nun nennt Niebuhr (Gesch. d. Zeit der Revol.
I. 214.) den Stat „eine von Gott geordnete Institution, die zum "Wesen
des Menschen nothwendig gehört, wie die Ehe und das väterliche Ver-
hältnisz. Diese Institution kann sich aber auf dieser Erde nicht voll-
kommen darstellen. Was wir in der Wirklichkeit vom State sehen, ist
nur ein Schatten der göttlichen Idee des States.'4
Sechstes Capitel. II. Der Stat als göttliche Institution. 263
mung den Glauben an eine göttliche Leitung der menschlichen
Dinge; und wenn sie schon in dem Schicksal des einzelnen
Individuums die Macht der Götter erfuhren, so schien es ihnen
noch klarer, dasz das Schicksal jener groszen sittlichen Lebens-
gemeinschaft, die wir Stat nennen, nicht losgerissen sei von
dem Willen und dem Walten der Gottheit.2 Hatten sie etwa
hierin Unrecht?
Es versteht sich von selbst, dasz das Christenthum den N
Stat nicht au sz er halb der göttlichen Weltordnung und
Weltregierung zu denken vermag, und es ist für die christ-
liche Auflassung bezeichnend, dasz der Apostel Paulus zu
einer Zeit, als der Kaiser Nero von Statswegen die Christen
verfolgte, jenes berühmte Wort an die christlich gesinnten
Römer richtete: ..Jedermann sei unterthan der Obrigkeit, die
Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit, ohne von
Gott: wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet."
(Römerbrief 13, 1.) Daher kann es uns auch nicht befrem-
den, wenn während des ganzen Mittelalters in allen christlichen
Staten die obrigkeitliche Gewalt von Gott, die höchste des
Kaisers ohne Vermittlung durch eine Zwischenperson von
Gott abgeleitet3 wurde.
2 Plutarch sagt darüber in einer von Hai ler (Restaur. I. S.427)
citirten Stelle sehr schön: „Meines Erachtens könnte eine Stadt leichter
ohne einen Boden gegründet werden, als ein Stat sich bilden oder be-
stehen ohne Glauben an Gott." Auch in neuerer Zeit hat "VVa shington,
in seiner Inaugurationsrede an den Congresz im Jahre 1789, diesen
Glauben bezeugt: „Ich werde es nicht vernachläszigen, in diesem ersten
offiziellen Acte, aus ganzer Seele mein Flehen an das göttliche Wesen
zu richten, welches alles nach seinem Willen ordnet, welches die Rath-
sehläge der Nationen leitet und die Schwachen aufrecht hält. Möge
sein Segen über der Regierung der Vereinigten Staten walten, die sie
unter sich eingerichtet haben zu ihrer Wohlfahrt. Kein Volk hat je
zahlreichere und offenbarere Gunstbezeugungen der Vorsehung erhalten.
Ihre göttliche Hand hat alle Bestrebungen mit ihrem Segen begleitet,
welche unsere Unabhängigkeit gesichert haben."
3 Das ist auch der Sinn der Constitutio Ludovici Bavarici v. J.
1338: „üeclaramus quod imperialis dignitas et potestas est immediaU a
264 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.
Aber so würdig auch diese Ansicht die Entstehung und
das Schicksal des States an die göttliche Weltherrschaft an-
knüpft, und so hoch ihre sittliche Bedeutung immerhin anzu-
schlagen ist, so darf doch nicht übersehen werden, dasz die-
selbe ihrem Wesen nach religiös, nicht politisch ist, und
dazs sie gerade darum, wenn sie zum politischen Stats-
princip erhoben und als Kechtssatz gehandhabt wird,
leicht Irrthümer und Miszbräuche veranlaszt und beschönigt.
Heben wir einzelne hervor:
1. Gott hat zwar den Menschen als ein statliches Wesen
erschauen, aber zugleich hat er ihm die Freiheit verliehen,
die eingepflanzte Idee des States durch eigene Thätigkeit und
zunächst nach seinem Urtheil und in den ihm geeignet schei-
nenden Formen zu verwirklichen. Es ist schon ein grobes
Miszverständnisz, wenn einzelne Statsformen, z. B. die repu-
blikanische, deszhalb verworfen werden, weil Gott als Monarch
die Welt regiere.
2. Die obrigkeitliche Gewalt ist zwar in ihrer Idee und
Erscheinung von Gott abhängig, aber nicht in dem Sinne, dasz
etwa Gott einzelne bevorzugte Menschen über die Beschränkt-
heit der menschlichen Natur emporhöbe, sich selber näher
setzte und gewissermaszen zu Halbgöttern für die Erde be-
stellte, noch in dem Sinne, dasz Gott die menschlichen Re-
genten zu seinen persönlichen und mit ihm, so weit ihre
statliche Herrschaft reicht, identischen Stellvertretern
ernennte und mit seiner Macht und seiner Autorität ausrüstete.4
solo Deo (d. h. nicht mediatc durch den Papst) — statim ex sola electione
(durch die Kurfürsten) est Rcx vorus et imperator Romanorum censendus.u
Die Augsburgische Confession vom Jalir 1530 Art. 16 lehrt: „dasz
alle Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze, gute
Ordnung von Gott geschaffen und eingesetzt sind.a Sie leitet also die
gesummte Rechtsordnung von dem Willen Gottes ab.
4 Vgl. Stahl, Statslehre II. §. 48. „Nach der theokr.itischen Auf-
fassung des Mittelalters ist die Stellung der berufenen Häupter der
Christenheit die Guttes selbst. Die Herrscher (Papst, Kaiser und Könige)
Sechstes Capitel. IL Der Stat als göttliche Institution. 265
Derlei theokratische Vorstellungen widerstreiten der mensch-
lichen Natur derer, welchen die Regierung des States anver-
traut ist. Die hochmüthige Rede Ludwigs XIV.: „Wir
Fürsten sind die lebenden Bilder dessen, der allheilig und all-
mächtig ist,"5 klingt im Verhältnisz zu Gott wie Blasphemie
und ist im Verhältnisz zu seinen Unterthanen — Menschen
wie er — ein unwürdiger Hohn.
3. Manche fassen die obrigkeitliche Gewalt selbst, unter-
schieden von den Personen, welche dieselbe verwalten, als eine
politisch - göttliche und „übermenschliche" auf.
Stahl z. B. 6 sagt: „Die Gewalt des States ist von Gott nicht
blosz in dem Sinne, wie alle Rechte von Gott sind, Eigen-
thum, Ehe, väterliche Gewalt, sondern in dem ganz specifischen
Sinne, dasz es das Werk Gottes ist, das er versieht. Er
herrscht nicht blosz kraft Gottes Ermächtigung, wie auch der
Vater über seine Kinder, sondern er herrscht nn Gottes Namen.
Darum ist auch der Stat mit der Majestät umkleidet."
Das ist aber wieder eine objective Theokratie, welche
practisch zu der auch von Stahl verworfenen persönlichen
Stellvertretung Gottes führen, und allen mit dieser verbunde-
nen Anmaszungen und Miszbräuchen von neuem freien Einzug
gestatten würde. Christus selbst hat durch sein groszes Wort:
„Gebet Gott was Gott, und dem Kaiser was dem Kaiser ge-
bührt", viel schärfer und entschiedener auf die menschliche
Natur des States hingewiesen und jede Identificirung
statlicher Gewalt mit specifisch-göttlicher Herr-
ais die Repräsentanten Gottes haben in Person die Fülle alles Ansehens
lediglich in sich."
5 Oeuvres de Louis XIV. II. S. 317, wo noch folgende erläuternde
Stelle vorkommt: „Der, der den Menschen Könige gegeben, hat gewollt,
dasz man sie ehre als seine Stellvertreter, indem er nur sich das Recht
vorbehielt, ihr Thun und Lassen zu prüfen. Sein "Wille (?) ist, dasz wer
als Unterthan geboren ist, ohne weiteres gehorche."
6 Statslehre II. §.43. Vgl. dagegen Macaulay in der unten B. IV.
Cap. 22. I. mitgetheilten Stelle.
266 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
schaft verworfen. Die weltliche Statslehre thut daher wohl
daran, die Existenz und die Einrichtungen des States von dem
menschlichen Standpunkte zu betrachten und menschlich zu
nehmen.
4. Nicht selten wurde die Unveränderlichkeit der besteh-
enden Statsverfassungen und insbesondere auch die Unverän-
derlichkeit der Person des Regenten oder seiner Dynastie mit
dem Princip verfochten, dasz die obrigkeitliche Gewalt von
Gott geordnet sei. Allein dasz die Unveränderlichkeit der
äuszern Formen und der persönlichen Beziehungen nicht zu
den nothwendigen Eigenschaften der göttlichen Weltordnung
und Weltleitung gehöre, beweist die ganze Weltgeschichte,
und Paulus hat gerade durch seine Mahnung, der jeweilig
bestehenden Obrigkeit Gehorsam zu leisten, die Wandel-
barkeit auch der statlichen Ordnung und Regierung mittel-
bar anerkannt. AVohl mochte im XVII. Jahrhundert jene
Vorschrift in der Seele vieler frommen Engländer ernste Be-
denken darüber erregen, ob der Widerstand gegen die tyranni-
schen Gebote Jakobs II. erlaubt sei, und Gewissensscrupel
hervorrufen, ob die Entsetzung des Königs zu rechtfertigen
sei. Aber nachdem Wilhelm von Oranien von der Nation und
von dem Parlamente als König anerkannt war, konnte auch
der in religiöser Hinsicht ängstlichste und gewissenhafteste
Tory unbedenklich in diesem die „von Gott geordnete Obrig-
keit" verehren.
5. Aehnlich verhält es sich mit der Frage der Verant-
wortlichkeit. Dasz die Statsmänner, welchen viel anvertraut
ist, und dasz die Fürsten, welchen Macht verliehen ist, Gott
verantwortlich seien für das was sie thun oder unterlassen,
das allerdings folgt aus dem obigen Princip, aber die Beant-
wortung der ferneren Streitfrage, ob und wie dieselben auch
einem menschlichen Richter verantwortlich seien, läszt
sich nicht schon von da aus entscheiden. Nicht weil die
oberste obrigkeitliche Macht im State speeifisch göttlich, son-
Siebentes CapiteL III. Theorie der Gewalt. 267
dern weil sie die oberste ist, wird für sie Unverantwortlich^
keit vor mensclüiclien Kichtera in Anspruch genommen.
Ebensowenig darf der Statsmann, im Glauben, dasz Gott
die Schicksale der Völker und Staten bestimme, und lenke,
und im Vertrauen, dasz Gott wohl regiere, gewissermaszen
Gott versuchen und die Verantwortlichkeit von sich ab auf
diesen wälzen. Vielmehr wird er von der eigenen Verant-
wortlichkeit nur dann frei, wenn er die ihm gewordene Auf-
gabe, so weit seine Kräfte reichen, gewissenhaft erfüllt hat.7
Siebentes CapiteL
III. Die Theorie der Gewalt.
„Der Stat ist das Werk gewaltsamer Unterwerfung. Er
beruht auf dem Eechte des Stärkern." So versichern uns
einzelne Philosophen, öfter aber noch einzelne gewaltsame
Machthaber. *
Diese Lehre ist dem Despotismus günstig, denn sie recht-
fertigt jede Gewaltthat, in zweiter Linie aber dient sie auch
der Eevolution, sobald sich diese stark genug fühlt, offene
Gewalt zu üben. Gewöhnlich wird sie eben da als Waffe her-
beigeholt, wo die Schranken des wahren Kechtes überschritten
werden und die rohe Uebermacht waltet. Sie ist ein Sophis-
mus, nur für Mächtige verlockend, den Schwachen leichter
7 Lamartine, Revolut. de 1848. I. S. 47 spricht diesen Gedanken
schön aus, indem er von sich berichtet: „II tentait Dieu et le peuple,
Lamartine se reprocha depuis severement cette faute. C'est un tort
grave de renvoyer ä Dieu ce que Dieu a laisse a l'homme d'Etat, la
responsabilite; il y avait lä un defi ä la Providence."
1 Plutarch (Leben des Camillus. 17.) legt diese Theorie dem Gallier
König Brennus in den Mund: „Das älteste aller Gesetze, welches von
Gott an bis auf die Thiere hinabreicht, gibt dem Stärkern die Herrschaft
über die Güter des Schwächern."
268 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.
vernichtend als täuschend, eher zur Selbsttäuschung als zur
Täuschung anderer geschickt.
Man hat gesagt, die Geschichte erweise die Wahrheit
jenes Satzes, und allerdings zeigt in der Geschichte die Ge-
walt sich öfter wirksam bei der Begründung von Staten als
der Vertrag; aber nur äuszerst selten hat die rohe Gewalt
für sich allein, nach eigener Willkür, Staten geschaffen, nie-
mals dauernde und grosze Staten. In der Kegel, wenn auch
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten
an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die
Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht
die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider-
stand, der den Abfiusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht
das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An-
erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst
in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig
nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der
Zerstörung und des Todes.
Diese Lehre ist im schneidensten Widerspruche mit dem
Begriffe der organischen Freiheit. Sie kennt nur Herren
und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens
Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der
Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig- sitt-
lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy-
sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte
zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will, Em-
pörung wider das Recht.2
Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein
Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un-
* Schmitthenner, Statswis£enschaft. I. S. 13, citirt eine schöne
hieher gehörige Aeuszeruiig von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.):
„Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup-
ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der
Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht" (s'il ne transforme
sa force en droit et l'obeissance en clevoir).
Achtes Capitel. IV. Die Vertragstlieorie. 269
entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat inso-
fern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber,
welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und
in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt führt,
eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck auf die
Realität der Erscheinung und die vorhandenen Machtverhält-
nisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die Träume
bloszer Speculation und die Wünsche abstracter Doctrinen da
zu verwirklichen, wo die natürlichen Verhältnisse und Kräfte
widerstreiten.
Ohne Macht kann weder ein Stat entstehen, noch sich
behaupten. Der Stat bedarf der Macht nach innen sowohl als
nach anszen; wo die Machtverhältnisse fest und dauernd ge-
werden sind, da sucht und erlangt gewöhnlich auch die Macht
die Verbindung mit dem Hecht, d. h. die Anerkennung, Rei-
nigung und Heiligung durch das Recht. Denn ohne das Recht
ist die Macht des Stärkern von thierischer Natur, sie ist der
Wolf, der das Lamm zerreiszt. Mit dem Rechte vereinigt
aber ist sie der sittlichen Natur des Menschen würdig ge-
worden.
Achtes Capitel.
IY. Die Yertragstlieorie.
Vorzüglich seit Rousseau hat die Lehre, dasz „der
Stat ein freies Werk des Vertrages, der Ueberejnkunft
seiner Bürger" sei, eine grosze Verbreitung und Popularität
genossen. Sie schmeichelte der Selbstgefälligkeit der Indivi-
duen, von denen sich jeder Einzelne nach ihr als Statengründer
denken konnte, und schien ihre Lüsternheit zu befriedigen, in-
dem sie jeden beliebigen Inhalt aufzunehmen verhiesz. Diese
Theorie hat vorzüglich in den Zeiten der französischen Revo-
270 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
lution eine furchtbare Autorität erlangt. Mit ihrer Hülfe vor-
nehmlich wurde die alte Statsform niedergerissen und wurden
mannichf altige aber verunglückte Versuche unternommen, über
dem Schutthaufen ein neues allen zusagendes Statsgebäude
aufzurichten. Aber wenn sie auch vorzugsweise als die Lieb-
lingstheorie der Revolution Geltung gefunden hat, so hat sie
doch öfter schon auch dazu dienen müssen, die Kechtmäszig-
keit absoluter Herrschaft vertheidigen zu helfen. Es verhält
sich mit ihr umgekehrt wie mit der Lehre von der Gewalt.
Wie diese vorzugsweise den Despotismus roher Ueber-
macht begünstigt, ausnahmsweise aber auch die gewaltsamen
Vorgänge der Empörung deckt, so ist die Vertragstheorie
voraus der Anarchie günstig, schützt aber ausnahmsweise auch
die Unterdrückung verhaszter Minderheiten durch willkürliche
Mehrheiten oder die Tyrannei des Siegers über die Besiegten,
welche sich ihm ergeben haben.
Diese Theorie erhebt den Anspruch auf allgemeine Gül-
tigkeit. Nach derselben beruht die Entstellung aller Staten
und in gewissem Betracht auch die Fortdauer aller Staten
auf Vertrag. Die Geschichte aber, welche uns so reiche Auf-
schlüsse über die Statenbüdung eröffnet, weisz auch nicht ein
einziges Beispiel, in welchem wirklich durch Verabredung und
Vertrag der Individuen ein Stat ,,contrahirta worden wäre.
Wohl kennt sie einzelne Fälle von V e r t r ä g en z w e i e r oder
mehrerer Staten, durch welche ein neuer Stat gegründet
wurde, auch einige Fälle, in denen Fürsten und Häuptlinge
sich mit einzelnen Classen oder Ständen des Volks vertrags-
mäszig zu neuen Statsformen vereinbarten, aber sie kennt
keinen Fall, in welchem ein Stat wie eine Handelsgesellschaft
oder eine „Brandkasse" durch Beine „gleichen" Bürger errich-
tet worden wäre. Eben so wTenig unterstützt die Geschichte
die Meinung, dasz auch die Fortsetzung der Staten aus einer
steten Vertragserneuerung der Individuen abzuleiten sei. Viel-
mehr zeigt sie uns. dasz «las Individuum Schon als Glied des
Achtes Capitel. IV. Die Vertragstheorie. 271
States geboren und erzogen wird, und mit seiner Erzeugung,
Geburt und Erziehung auch das bestimmte Gepräge des Volks
und des Vaterlandes empfängt, dem es zugehört, bevor es im
Stande ist, einen eigenen selbständigen Willen zu haben und
zu äuszern.
Das Zeugnisz der Geschichte steht somit jener Theorie
schroff entgegen, es verwirft dieselbe unzweideutig. Selbst in
den Zeiten, als die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die zahl-
reichsten Anhänger hatte und am wirksamsten war, konnte
sie doch niemals die entgegenstehende Realität der Natur
überwältigen. Das Volk wurde zwar in lauter „freie und
gleiche Bürger" aufgelöst, aber die Minderheiten auch in den
Urversammlimgen „vertrugen" sich nicht mit den Mehrheiten,
welche ihren Willen als den übergeordneten und allein gel-
tenden durchsetzten. Die „constituirende" Versammlung wurde
zwar als ein Auszug und als eine Stellvertretung der sämmt-
lichen Bürger angesehen, und ihr die Aufgabe gestellt, sich
über eine Verfassung zu vereinbaren; aber auch in ihr über-
wog die einheitliche Form des Beschlusses durchweg
über die vielheitliche des Vertrages. Man „fingirte" einen
Vertrag, wo kein wirklicher zu erkennen war, und täuschte
sich und andere mit der fingirten Freiwilligkeit der Einzelnen,
da wo die Mehrheit als Organ der Gesammtheit eine häufig
unerträgliche reale Herrschaft ' übte.
Wie die Unwahrheit der Theorie durch die Geschichte
nachgewiesen wird, so hält dieselbe auch der Kritik der Ver-
nunft nicht Stand. Sie geht aus von der Freiheit und von
der Gleichheit der Individuen, die den Vertrag abschlieszen.
Aber politische Freiheit, die hier vorausgesetzt wird, ist
nur im State, nicht auszerhalb desselben denkbar. Der Mensch
hat wohl die Anlage zu dieser Freiheit schon in sich, wie den
1 Rousseau (C. 5.) schon fingirt eine ursprünglich e Ein-
stimmigkeit, durch welche das Gesetz der spätem Mehrheit ange-
ordnet worden, aber die Fiction deckt den Widerspruch nicht.
272 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
Trieb und das Bedürfnisz des States; die Wirklichkeit dieser
Freiheit dagegen kann erst in der organischen Gemeinschaft
des States zu Tage treten. Wären die Individuen ferner nur
gleich, so könnte nie ein Stat entstehen,2 denn dieser setzt
die (politische) Ungleichheit — ohne welche es weder
Eegierende noch Regierte geben kann — als nothwendige
Grundlage voraus.
Noch mehr. Der Grundirrthum jener Anschauung ist
der, dasz sie sich die Individuen als Contrahenten vorstellt.
Wenn die Individuen Verträge schlieszen, so entsteht Privat-
recht, nie aber Statsrecht. Das was dem Individuum als
solchem zugehört, ist sein individuelles Vermögen, sein Privat-
gut. Darüber kann er verfügen, der eine wie der andere dar-
über auch Verträge schlieszen. Einen politischen Inhalt
aber können die Verträge nur haben , wenn schon eine Ge-
meinschaft da ist, welche über den Individuen steht,
denn dieser Inhalt ist nicht Privatgut der Individuen, sondern
öffentliches Gut der Geineinschaft.
Durch Vertrag von Individuen kann somit weder ein Volk
noch ein Stat entstehen. Wie viele Einzelwillen auch ange-
häuft werden, es entstellt kein Gesammtwille daraus;
wenn noch so viel Privatrecht abgetreten wird, es entsteht
kein Statsrecht daraus.
Für die Politik ist übrigens jene Lehre im höchsten
Grade gefährlich. Indem sie den Stat und dessen Rechts-
ordnung zu dem Producte individueller Willkür stempelt, und
je nach dem Willen der gerade lebenden Individuen für ver-
änderlich erklärt, liebt sie den Begriff des Statsrechts auf,
reizt die Bürger zu statswidriger Willkür , und gibt den Stat
der äuszersten Unsicherheit und Verwirrung preis. Viel eher
ist sie daher eine Theorie der Anarchie als eine Stats-
lehre zu nennen.
2 Aristoteles, Polit. II. 1, 4: „ov yug yLvercu nofag c£ o(wotW 'di€Qov
yuQ av/ujuu/üc (Bundesgenossenschaft) x«i nöXig (Stat).u
Achtes Capitel. IY. Die Vertragstheorie. 273
Auch sie enthält indessen ein Stück Wahrheit verhüllt,
wie denn überhaupt der Irrthum der täuschendste und gefähr-
lichste ist, in welchem eine allgemein faszliche Wahrheit durch-
schimmert. Im Gegensatze nämlich zu der Theorie, welche
in dem State ein bloszes Naturproduct sieht, hebt sie die
Wahrheit hervor, dasz der menschliche Wille auch be-
stimmend auf die Gestaltung des States einwirken kann und
darf, und im Widerspruch zu einer gedankenlosen Empirie
vindicirt sie der menschlichen Freiheit und dem Be-
wusztsein von der Vernünftigkeit des States ihr Kecht.
Anmerkungen. 1. Der berühmte Satz des Aristoteles (Polit.
I. 1, 11.), dasz der Stat früher sei als die einzelnen Bürger, wie das
Ganze früher als der Theil, widerlegt in der That den Gedanken, dasz
von den Individuen der Stat erfunden und gemacht werden könne, hin-
reichend. Das politische Individuum, der Bürger, ist nur ein Glied in
dem Statskörper, das für sich allein und losgerissen von dem Zusammen-
hang mit dem State als solches keine Existenz hat.
2. Der Irrthum, den Stat auf den individuellen Willen zu begrün-
den, steht in Verbindung mit dem noch mehr verbreiteten, und auch
von Männern, welche diese Vertragstheorie verachten, oft getheilten Irr-
thum, dasz das Recht überhaupt das Erzeugnisz des freien Wil-
lens sei. Allerdings ist dem freien Willen des Menschen die Macht
gegeben, in manchen Beziehungen Recht zu gestalten, abzuändern, um-
zuwandeln; aber der gröszte Theil des Rechts war von jeher durch die
Existenz dej Weltordnung und die Natur der Menschen und Verhält-
nisse gegeben, und von dem Willen der Menschen durchaus unab-
hängig. Das meiste Recht wird nicht erdacht, sondern gefunden und
erkannt, „geschöpft," nicht geschaffen; und mehr noch als das :
„Wir wollen" der menschlichen Subjecte ist das: „Ihr sollt" von
entscheidendem Einflusz geworden auf die Rechtsbildung. Auch Hegel,
indem er das Recht zwar nicht aus dem „particularen Einzel willefi,"
sondern aus dem „wahren," dem „an und für sich seienden" Willen
hervorgehen läszt, hat die Natur des Rechtes nicht wahrhaft begriffen,
obwohl er die Unrichtigkeit der Vertragstheorie vollkommen eingesehen
hat. Vgl. Rechtsphilosophie §. 259.
3. Ein Schweizer, der Genfer Bürger J. J. Rousseau, hatte der
Vertragstheorie mit den glänzenden Waffen seiner beredten Dialektik
vorzüglich den Sieg in der öffentlichen Meinung verschafft. Ein anderer
Schweizer, der Bernerische Patricier Ludwig von Haller, griff die
ganze naturrechtliche Lehre seiner Zeit mit groszer Energie an und
Blunts ohli , allgemeines Statsrecht. I. 18
2 74 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
überwand die Vertragstheorie durch seine gründliche Bekämpfung voll-
ständig. Weniger glücklich war er in der positiven Begründung der
Statswissenschaft, die er „Restauration" nannte. Es geschieht ihm frei-
lich Unrecht, wenn man seine Lehre mit der Theorie der Gewaltherr-
schaft identificirt und ihn für einen Vertheidiger von jeglichem Despotis-
mus erklärt. Aber er ist der Lehrer der Reaction, wie Rousseau der
Lehrer der Revolution.
Haller gründet den Stat auf das „Naturgesetz, dasz der Mäch-
tigere herrsche," und erkennt in der Ueberlegenheit des einen
und in dem Bedürfnisz des andern den Grund aller Herrschaft und
aller Abhängigkeit. Er nennt dasselbe eine ewige, unabänderliche Ord-
nung Gottes. Schon diese Hinweisung zeigt, dasz ihm Macht nicht
gleichbedeutend mit Gewalt ist, und er führt den Gegensatz näher aus. —
„Jene wird beschränkt durch die Pflicht. Durch das moralische Pflicht-
gesetz, welches Gott in die Herzen der Menschen geschrieben, welches
sich in dem Gewissen der Kinder schon kund gibt, und in allen Zeiten
unter allen Völkern offenbar wurde: „Meide Böses und thue Gutes,"
und: „Beleidige niemand und lasz jedem das Seine;" durch das Gesetz
der „Gerechtigkeit" und das Gesetz der „Liebe" wird dafür gesorgt,
dasz die Macht (potentia) nicht in schädliche Gewalt (vis) ausarte.
Diese beiden Gesetze sind von Gott dem Menschen eingepflanzt, sie sind
diesem anerboren. Sie sind allgemein und nothwendig, ewig und unab-
änderlich. Sie sind jedem verständlich, und die obersten und höchsten,
denen alle andern menschlichen Gesetze sich unterordnen müssen, von
denen niemand zu dispensiren befugt ist. Sie sind auch die mildesten
und freundlichsten, ihr Joch ist sanft und ihre Last ist leicht. Nicht
der allgemeine Volkswille, nicht das allgemeine "Wohl, auch nicht die
Furcht vor menschlicher Gewalt, sondern einzig der göttliche Wille ist
der Grund dieses Pflichtgesetzes. Es gilt dalier auch für die Mächtigen.
Jede Uebertretung derselben ist ein unerlaubter Miszbrauch der Gewalt
von dem gemeinsten Hausvater bis zu dem gröszten Potentaten hinauf,
eine Ungerechtigkeit oder eine Lieblosigkeit. Die Gerechtigkeit darf
man fordern von dem Starken wie von dem Schwachen, sobald man sie
selbst beobachtet, Liebe und "Wohlwollen von dem bessern Theil des
menschlichen Herzens erwarten. Gegen den möglichen Miszbrauch der
höchsten Gewalt gibt es keine Hülfe durch menschliche Einrichtungen.
Es gibt über die höchste Gewalt keinen menschlichen Richter. „Es
gibt nirgends Hülfe als bei Gott." „Der Glaube an Gott," wie Plutarch
sagt, „ist das Band und der Kitt aller menschlichen Gesellschaft und
die Stütze der Gerechtigkeit." Die Religion allein vermag die Macht in
ihren Schranken zu halten und die Schwachen zu stärken."
Wir haben die Grundzüge der Haller'schen Doctrin mit ihren eige-
nen Worten wiedergegeben. Dabei fällt es freilich auf, dasz er das
Recht und den Stat nicht aus der Gerechtigkeit, sondern aus der
Neuntes Capitel. V. Der organische Statstrieb. 275
Macht ableitet, und jene nur als die Schranke dieser erfaszt. Die
Macht gibt nach ihm Recht und nur die Macht gibt Recht; je gröszer
die Macht, desto höher das Recht, während in Wahrheit die Macht für
sich allein nur ein thatsächliches , nicht ein Rechtsverhältnisz bildet.
Dieser Zug geht aber durch das ganze System durch. Die Ehrfurcht
vor der realen Macht, wie sie sich in den natürlichen Verhältnissen
äuszerlich sichtbar darstellt, wie sie historisch geworden ist, verschlieszt
ihm öfter die Einsicht in den ideal-sittlichen Charakter des Recht3 und
in das Werden desselben; die Neigung, die höchste Macht und das
höchste Recht der Obrigkeit vor jeder Beeinträchtigung zu sichern, wird
in ihm zuweilen bis zum Hohn und Hasz gegen jeden Versuch gestei-
gert, die Rechte der Unterthanen vor Miszbrauch der obrigkeitlichen
Gewalt zu sichern und die Ausübung dieser zu beschränken, als ob es
ein Frevel wäre, das göttliche Pflichtgesetz auch durch menschliche Ein-
richtungen vor menschlichen Verletzungen zu bewahren. Er ist daher
auch ein erklärter Gegner des ganzen constitutionellcn Systems und
bildet die mittelalterliche Vorstellung, dasz die statliche Herrschaft dem
Eigenthum gleich sei, in schroffer Weise aus.
Neuntes Capitel.
V. Der organische Statstrieb.
Es genügt nicht, die gewöhnlichen speculativen Theorien
zu verwerfen. Das Bedürfnisz, die Eine Ursache der Staten-
bildung im Gegensatz zu den mannichfaltigen Formen der
Erscheinung zu erkennen, bleibt unbefriedigt.
Indem wir auf die menschliche Natur zurückgehen,
finden wir in ihr die gemeinsame Ursache aller Statenbildung.
Die Menschennatur hat neben der individuellen Mannigfaltig-
keit auch die Gemeinschaft und Einheit als Anlage in
sich: und indem diese Anlage entwickelt wird und zunächst
die Nationen als Völker sich in ihrer innern Gemeinschaft
und Einheit erfahren und demgemäsz äuszerlich gestalten,
bringt der innere Statstrieb die äuszere Organisation des
Gesammtdaseins in Form männlicher Selbstbeherrschung, d. h.
in Form des States hervor.
18*
276 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
Alle die historischen Formen der Entstehung von Staten,
welche die Geschichte zeigt, erklären sich aus dem Einen
Statstrieb. In den Mächtigen steigert er sich leidenschaftlich
bis zur Herrschsucht, in den Schwachen bis zur knechtischen
Unterwürfigkeit. In den Freien aber ist er durch den Ver-
stand erleuchtet und durch das sittliche Selbstgefühl, welches
mit dem ebenfalls sittlichen Gesammtgefühl in Harmonie ist,
würdig erfüllt. Xur der freie Stat ist wahrer Stat, weil nur in ihm
der Statstrieb allgemein und weil er überall gesund und kräftig ist.
Was Wahres in den falschen speculativen Theorie! ent-
halten war, finden wir in dieser Auffassung, welche die Alten
schon ausgesprochen hatten,1 wieder, ohne die entstellenden
Irrthümer jener Theorien. Mittelbar erscheint dann der
Stat auch als etwas Göttliches, indem Gott den Statstrieb
in die menschliche Natur gelegt und insofern die Verwirk-
lichung des Stats gewollt hat. Das gesunde religiöse Gefühl
wird daher nicht verletzt, wenn gleich der Stat in erster Linie
als eine Aufgabe und ein Werk der Menschen erklärt wird.
Auch was von realer Mach t fülle zur Statenbildung unent-
behrlich ist, wird in seiner Bedeutung anerkannt, denn die
wesentliche Macht ist die in der gemeinsamen, der Staten-
bildung zugewendeten Menschennatur ruhende Volkskraft. End-
lich wird auch dem geistig- sittlichen Momente des Willens
sein Recht zugestanden. Nur haben wir hier nicht zersplitterte
und zerfahrene Einzelwillen, sondern den 70n Natur gemein-
samen und einheitlichen Volks- oder Stats willen.
Der Anlage nach ist der Gesainmfwille in den Nationen
ebenso rassemäszig vorhanden wie der gemeinsame Einigungs-
und Organisationstrieb, den wir Statstrieb heisren. Dieser
Gesammtwille in der Oifenbarung wird zum Statswillen, wah-
rend der rein individuelle Wille selbst dann individuell bleibt,
1 Siehe oben S. 273. Vgl. auch Cicero de Republ. I. 25. „Ejus
(populi) prima causa co<"undi est non tarn imbccillitu«, quam naturalis
qunedam liominum quasi congregatio."
Neuntes Capitel. V. Der organische Statstrieb. 277
wenn zwei Individuen mit einander einen Vertrag abschlieszen.
Der richtige Ausdruck des Gesammtwillens ist nicht der Ver-
trag, sondern wenn es sich um dauernde Ordnungen handelt,
das Einheitliche Gesetz, wie der Befehl, wenn es sich um po-
lizeiliche Functionen, das Urtheil, wenn es sich um Verwal-
tung der Gerechtigkeit handelt. Der Stat hat die Organe in
sich, welche dem Gesammtwillen dienen, sich zu sammeln,
seiner bewuszt zu werden, sich zu äuszern.
Der Stat ist daher nicht eine Ordnung nur zur Zähmung
der schlechten Leidenschaften, nicht ein notwendiges Uebel,
sondern ein noth wendiges Gut. Die Völker als Gesammt-
wesen und die Menschheit als Gesammtwesen können nicht
anders zur Darstellung ihrer innem Gemeinschaft und Einheit,
nicht anders zu ihrer Selbstbestimmung als grosze Ganze ge-
langen, als indem sie ihre Statsanlage zum State verwirkli-
chen. Der Stat ist die Erfüllung der Gesammtordnung und
die Organisation zur Vervollkommnung des Gesammtlebens in
allen öffentlichen Dingen.
So verstanden ist der Stat zwar wohl zunächst eine ir-
disch-menschliche Gestaltung. Aber nichts hindert uns,
dem religiösen Ideal einer unsichtbaren Kirche, welche die
Gemeinschaft der religiös verbundenen Geister bedeutet, auch
das politische Ideal eines unsichtbaren States, welcher
die Gemeinschaft der politisch geeinigten Geisterwelt bedeutet,
an die Seite zu stellen. Wie die Theologen von einer voll-
kommneren Kirche im Himmel sprechen, so können auch die
Männer des States den irdischen Stat nur als eine Vorstufe
des himmlischen States betrachten.
Der wirkliche Stat aber ist wie die wirkliche Kirche nur
die wir hier erkennen, in denen wir leben und arbeiten. Nur
mit diesem wirklichen State hat es die Wissenschaft des Stats-
rechts zu thun, und dieser Stat wird vollständig aus der
menschlichen Natur erklärt und begriffen.
Die Statsformen.
Erstes Capitel.
Die Eintheilung des Aristoteles.
Vor mehr als zweitausend Jahren hat Aristoteles eine
Eintheilung der Statsformen begründet, welche noch gegen-
wärtig als die herrschende Ansieht zu betrachten ist. Bei
dieser Eintheilung ist Aristoteles von der obrigkeitlichen Ge-
walt, oder genauer von der obersten Regierungsgewalt im
State ausgegangen. In jedem State gibt es ein höchstes,
in gewissem Sinne ein herrschendes Organ,1 in welchem
die oberste obrigkeitliche Macht concentrirt erscheint, welchem
gegenüber alle andern einzelnen Organe eine untergeordnete
Stellung und Bedeutung haben. Die Art, wie dieses herr-
schende Organ in einem State bestellt wird, prägt demselben
daher auch einen eigentümlichen Stempel auf, und es ist
ganz natürlich und schicklich, nach ihr die verschiedenen Ar-
ten der Statsformen zu bestimmen.
Als recht m äs z ige Statsformen bezeichnet er alle die,
welche die Wohlfahrt der Gemeinschaft bezwecken,, als Aus-
1 Aristot., Pol. in. 4, 1.
Erstes Capitel. Die Eintheilung des Aristoteles. 279
artungen (naQHxßdaetg) dagegen die, welche nur das Wohl
der Kegierenden bezwecken.2
Von diesen Gedanken aus findet er nun drei richtige
Grundformen des States, denen hinwieder drei Abarten zur
Seite stehen. „Die oberste Kegierungsgewalt," sagt er, ,, steht
nothwendig entweder Einem, oder Wenigen (einer Minderheit),
oder der Mehrheit zu." Daraus ergeben sich folgende rich-
tige Arten:
1. Das Königthum (ßamZeia), wie Aristoteles sie nannte,
oder die Monarchie, wie wir sie zu nennen pflegen, als
die Herrschaft des Einen.
2. Die Aristokratie, als die Herrschaft der ausge-
zeichneten Minderheit.
3. Die Herrschaft der Mehrheit, der Menge hiesz er
Politie. 3 Weil zu seiner Zeit die Demokratie der griechischen
Städte, Athens voraus, entartet war, so vermied er es, den
Namen Demokratie für die gute Art der Mehrheitsherrschaft
zu gebrauchen, und zog es vor, die Abart derselben so zu be-
zeichnen. Später ist aber der Name Demokratie wieder
der gewöhnliche für diese dritte Statsform geworden, und da-
her wollen auch wir diesen Sprachgebrauch beibehalten.
Die drei Abarten sind nach Aristoteles:
1. Die Tyrannis oder Despotie als die Alleinherr-
schaft, welche vornehmlich den Vortheil des Alleinherrschers
bezweckt.
2. Die Oligarchie, als die Herrschaft der Keichen, zu
ihrem Vortheil.
3. Die Demokratie,4 wie sie Aristoteles, die Ochlo-
3 Ebend. III. 5, 1. 2.
4 Ebend. I. 5, 4. 5. Cicero de Republ. I. 2G. drückt den Aristo-
telischen Gedanken so aus: „Quum penes unum est oraniura summa
rerum, regem illum unum vocamus, et regnum ejus reipublicae statum.
Quum autem est penes delectos, tum illa civitas optimatium arbitrio regi
dicitur. Illa autem est civitas populär is, in qua in populo sunt omnia;
280 Viertes Buch. Die Statsformeu.
kratie, wie wir sie nennen, als die Willkürherrschaft der
armen (wir können hinzusetzen und der rohen) Menge.
Es scheint, als habe Aristoteles bei dieser Eintheilung
den Hauptnachdruck auf die Zahl der Personen gelegt, welche
an jener herrschenden Gewalt Antheil haben, etwa wie nach
dem Linne'sehen Systeme die Zahl der Staubfaden die Arten
der Pflanzen bestimmt. In dir That, das wäre ein AYider-
spruch gegen sein eigenes Grundprincip ; denn dieses ist die
Qualität, nicht die Quantität des herrschenden Organs.
Aristoteles hat aber selbst Bchon* die Gefahr solchen Inrthnms
erkannt, und daher darauf aufmerksam gemacht, dasz die Ver-
schiedenheit der Zahl mit einer Verschiedenheit des Charak-
ters des Herrschenden in einem natürlichen Zusammenhange
stehe, und im letzten Grunde immerhin mehr auf diesen als
auf jenen zu sehen sei. Aber er hal die Principien der Qua-
lität noch nicht bestimmt genug ausgesprochen.
In einer andern Beziehung aber bedarf die Aristotelische
Eintheilung einer Verbesserung. Sie ist nämlich un voll-
ständig, indem es eine Anzahl Staten in der Geschieht«
geben hat, welche sich unter kein«' jener drei Grundformen
einreihen lassen. Nadi allm dreien gehört die oberste Ifaohl
im Staic Menschen in, sei es einem Individuum, oder den
Ausgezeichneten, oder dem Volke, Nun aber haben wir Staten
gesehen, in denen keine menschliche Obrigkeil anerkannt, s«>n-
dern Bei es Gott, oder ein Gott, oder ein anderer aber*
menschlicher Geist, oder eine Idee, als der wahre und
eigentliche Herrscher verehr! wurde. Die Menschen, welche
die Herrschaft verwalteten, -allm dann nicht alfi Inhaber der-
and lü-zt die drei Ausartungen F. i."> entstehen, «renn „<'\ rege dominus,
ex optimatibus /'actio, ex populo turha ei COnfustO* werde.
5 Aristot., Polit. I. 5, 7. Ich hatte dafl früher, durch die Dar-
stellungen manober Neuem rerleitet, in meinen „Studien" übersehen
und dalier dem groszen Statslehrer einen ungerechten Vorwurf gemacht,
Sparta war MonarelnC , obwohl zwei Könige zumal regierten. Venedig
war Aristokratie, obwohl Ein Doge an der Spitze des States stand.
Zweites Capitel. Der sogenannte gemiscLte Stat. 281
selben, sondern nur als Diener und Verwalter eines Herrschers,
welcher unsichtbar über den Kegierten throne, frei von den
Schwächen ihrer menschlichen Natur.
Wir können diese vierte Gattung von Statsformen, wenn
sie zur Wohlfahrt der Kegierten dienen, unter dem gemein-
samen Namen der Ideokratie (Theokratie) zusammen-
fassen, und die Abart derselben Idolokratie nennen.
Anmerkung. Schleiermacher hat ausgeführt,6 dasz die antiken
Formen der Monarchie, Aristokratie, Demokratie „durchgängig in ein-
ander übergehen," so dasz auch in der Demokratie die Volksleiter als
eine Aristokratie und zuweilen einzelne wie z.B. Perikles wie Monarchen
erscheinen. Dasselbe läszt sich in umgekehrter Richtung von der Mon-
archie behaupten, und auch Mirabeau7 hat Recht, wenn er sagt: „In
gewissem Sinne Bind die Republiken monarchisch, und in gewissem Sinn
die Monarchien hinwieder Republiken. a Dessen ungeachtet i.*t jene Unter-
scheidung der Statsformen keineswegs müszig, und bleibt es wahr, dasz
die Art des Btatsoberhauptes der ganzen Statsverfassung ein specifisches
Geprftge verleiht, und dasz mit ihr die wichtigsten politischen Principien
in engster Beziehung stehen.
Zweites Capitel.
Der sogenannte gemischte Stat.
Schon im Alterthum hat man den Versuch gemacht, den
drei Aristotelischen Arten des Stats eine vierte beizuordnen,
welche man die gemischte genannt hat. Cicero insbeson-
dere glaubt in dem römischen State das Vorbild für diese
vierte, aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie gemischte
Statsform gefunden zu haben, und erklärt diese für die beste
unter den vieren.1
6 Abhandlungen der Berl. Akademie der Wissensch. 1814. Ueber
die Begriffe der verschiedenen Statsformen.
7 Rede von 1790 in seinen Oeuvres VIII. 139.
1 Cicero de Republ. I. 29: „Quartuni quoddam genus reipublicae
282 Viertes Buch. Die Statsformen.
Versteht man unter dem gemischten State nur eine Er-
mäszigurjg oder Beschränkung der Monarchie, oder Aristokratie,
oder Demokratie durch andere statliche Fotenzen, z. B. die
Beschränkung der Monarchie durch Beiordnung eines aristokra-
tischen Senates oder Oberhauses und einer demokratischen
Volksversammlung oder Volksvertretung, so ist es wahr, dasz
so mannichfaltig gegliederte Statsverfassungen besser sind als
solche, in welchen die Herrschaft eines oder einiger oder der
Menge einseitig und schrankenlos waltet. Aber dann ist durch
solche Mischung keine neue Gattung von Staten entstanden ;
denn immerhin ist die oberste Regierungsmacht in der Hand
des Monarchen oder der Aristokratie oder des Volkes concentrirt.
Versteht man dagegen die Mischung so, dasz die oberste
Regierungsgewalt selbst get heilt sei zwischen dem Monar-
chen, der Aristokratie und dem Volk, so dasz zwei oder meh-
rere oberste Gewalten neben einander bestehen, jede von der
andern unabhängig, jede in einem gewissen Kreise als die
oberste anerkannt, dann hat Tacitus Recht, welcher den Ge-
danken des gemischten States verwirft, und behauptet, ein so
gemischter Stat komme in Wirklichkeit nicht vor oder sei
mindestens nicht von Dauer. ■
Neuere haben zwar gemeint, England sei ein solcher Stat,
in welchem die Herrschaft unter drei oberste Mächte getheilt
sei, den König, das Oberhaus und das Unterhaus, und eben
darauf beruhe die Vollkommenheit der englischen Verfassung,
dasz sie das Ideal dieser vierten gemischten Statsform rer-
maxime probandum esse censeo, quod B54 i-x hil, quie prima dixi, mo-
deratum et permixtum tribus," und I. 45: „IMaeet enim, esse quiddam
in republica praestans et regale , esse aliud auetoritati prinoipum parti-
tum ac tributum, esse quasdam res servatas judicio volimtatiqtie multi-
tudinis."
2 Tacitus Annal. IV. 33: „Cunctas nationes et urbes populus aut
]>rii>tores aut singuli regunt: delecta ex hil et consociata reipublicae
forma laudari facilius quam evenirc; vel si evenit, haud diutuma csso
potest.44
Zweites Capitel. Der sogenannte gemischte Stat. 283
wirklicht habe. Allein die englische Verfassung ist nicht aus
einer Theilung der obersten Regierungsgewalt entstanden.
Vielmehr ist die Monarchie, welche dem State in alter Zeit
seine specifische Form gegeben, nur nach und nach durch eine
mächtige Aristokratie, und später durch den Hinzutritt demo-
kratischer Elemente vielfach beschränkt und ermäszigt worden.
Die äuszere Form des States ist fortwährend monarchisch ge-
blieben, und es wird die ganze oberste Kegierungsmacht (die
Kegierungsgewalt) nicht nur, sondern auch die oberste Stelle
in dem zusammengesetzten Körper des gesetzgebenden Parla-
ments von dem englischen Statsrecht dem Könige allein zu-
getheilt. 3
Uebrigens wird gewöhnlich übersehen, dasz das Princip
der Aristotelischen Eintheilnng nicht auf der Art und Zu-
sammensetzung der gesetzgebenden Gewalt beruht; denn
in dieser, wo sie ausgebildet ist, stellt sich regelmäszig der
ganze Stat mit all' seinen Hauptbestandteilen dar. Sondern
sie beruht auf dem Gegensatze der Regierung und der Re-
gierten, und der Frage, wem die oberste Kegierungsgewalt
zustehe? Diese aber läszt sich nicht theilen etwa zwischen
dem König und den Ministern. Eine solche Dyarchie oder
Triarchie widerspricht dem Wesen des States, welcher als
ein lebendiger Organismus der Einheit bedarf. In allen
lebendigen Wesen finden wir zwar eine Mannichfaltigkeit der
Kräfte und Organe, aber zugleich eine Einheit in dieser
Mannichfaltigkeit, eine Ueber- und Unterordnung der Organe,
ein oberstes Organ, in welchem die einheitliche Leitung con-
centrirt ist. Kopf und Leib haben kein getrenntes Leben,
jeder für sich, und sind sich auch nicht gleichgestellt. So
ist auch im State ein oberstes Organ die nothwendige Bedin-
3 Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht der politische Geist in
der englischen Verfassung eher ein aristokratischer als ein monarchischer
geworden sei. Vgl. Blackstone I. 2.
284 Vierleb Buch. Die Statsformen.
gung seines Lebens, und dieses kann nicht gespalten sein,
wenn der Stat selbst beisammen bleiben soll.
Es gibt somit keine neue Gestaltung von Staten, welche
wir als die gemischten bezeichnen könnten: vielmehr Boweit
die Mischung möglich ist, findet sie hinreichende Berücksich-
tigung bei Behandlung der früher genannten reinen Statsformen.
Anmerkung. In unsern Tagen ist viel von „demokratischer
Monarchie" die Rede gewesen und diese als die Aufgabe der Zeit be-
zeichnet worden. Soll damit der Gedanke ausgedrückt werden, da-/ die
heutige Monarchie sich vorzugsweise auf die groszen Volksmassen (den
Demos) stützen und mit diesen in nahem Rapport bleiben müsse, so ist
das wahr, aber es wird damit nicht eine gemischte, sondern eine reine
Monarchie bezeichnet. Versteht man aber darunter eine Monarchie,
durch demokratische Institutionen beschränkt and srmäMrigt, oder etwa
wie im Jahr 1830 die Juliverfassung Frankreichs eine Monarchie „von
republikanischen Institutionen umgeben, * so bat der Ausdruck noch einen
Sinn, obwohl such in diesem Falle — wie die Geschichte lehrt — die
Gefahr nahe genug liegt, dual die Prinorpien der beiderlei Institutionen
in Kampf gerathen und die Monarchie durch die aufstrebende Demokratie
oder Republik gestürzt werde. Versteht man endlich unter jenem Aus-
druck eine Mischung oder Theilung der obersten Regierungsgeiralt selbst,
die zur Hallte monarchisch 1 rar Hälfte demokratisch sein müsse, so hat
der Ausdruck keinen vernünftigen sinn und könnte ein bo eingerichteter
Stat unmöglich bestehen. Die französische Constituante von 1789 hatte
mitBousseau an eine derartige Theilung der obersten Statsmaeht In zwei
gleiche Gewalten geglaubt, deren eine dem Volke, die andere dato Kö-
nige zukomme. Aber der innert» Widerspruch und die rnhaltbarkeit der
Verfassung offenbarte sich, sobald Bie in die Wirklichkeit übertreten
wollte. Pinheiro-Ferreira (Prinoipea du droit public, §.475) erklärt die
demokratische Monarchie als diejenige, in welcher ea keine Privilegien
gebe, dehnt aber den Begriff der Pririlegien auf jede Anerkennung etaei
Aristokratie aus, versteht somit unter jener eine Monarchie, in «reicher
es nur demokratische, keine aristokratischen Organismen gibt, ahn in
gewissem Sinne einen unvollständigen Stat, in welchem die aristokrati-
schen Elemente nicht berücksichtigt oder unterdrückt -ind. Vgl. unten
Buch V. Cap.20.
Drittes Capitel. Neuere Fortbildung der Theorie. 285
Drittes Capitel.
Neuere Fortbildung der Theorie.
1. Montesquieu hat sich im Wesentlichen an die Ein-
teilung des Aristoteles gehalten, aber insofern einen wissen-
schaftlichen Fortschritt gemacht, als er für die drei Formen
der Monarchie, Aristokratie und Demokratie — abgesehen von
der Zahl der Regierenden — drei geistige oder moralische
Lebensprincipien aufsuchte. Ob er sie gefunden — die Tu-
gend erhob er zum Princip der Demokratie, die Mäszigung
zu dem der Aristokratie, die Ehre zu dem der Monarchie,
und die Furcht zu dem der Despotie — ist freilich eine an-
dere Frage. Auszerdem aber fügte er den drei Arten als
vierte die Despotie hinzu, die Aristoteles besser als Ausartung
bezeichnet und den richtigen Statsforinen entgegengesetzt hatte.
2. Sehr beachtenswert!] ist der Versuch Schleierma-
chers,1 die mancherlei Staten zu ordnen, indem er verschie-
dene Entwicklungsstufen des statlichen Bewusztseins unter-
schied. Der Stat entsteht, wenn in der Völkerschaft das
Bewusztsein erwacht des nothwendigen „Gegensatzes von Re-
gierung und Unterthan." Die erste Stufe ist die, wo dieses
Bewusztsein in einer kleinen Völkerschaft hervortritt, gewöhn-
lich so, dasz ,,die ganze zum Statswcsen reife Masse gleich-
förmig" ergriffen wird. Dann wird jener Gegensatz in Allen
sich entwickeln. Sie werden sich vereinigen, um die Obrig-
keit darzustellen und sich wieder trennen, um sich als Unter-
thanen zu zeigen. Das ist die Demokratie, in welcher der
Gegensatz zwischen Gemeingeist und Privatinteresse nur schwach
auseinander tritt. Oder es kann die zum Statwerden reife
Masse von dem statbildenden Anstosz ungleichförmig berührt
werden, das politische Bewusztsein kann sich zuerst in einem
1 Schleier mach er: TJeber die Begriffe der verschiedenen Stats-
formen, in den Abhandlungen der Berliner Akademie y. 1814.
286 Viertes Buch. Die Statsformen.
oder in mehrern entwickeln, und so eine Ungleichheit ent-
stehen, welche zur Monarchie oder Aristokratie führt.
Die drei Formen wechseln leicht auf dieser Entwicklungsstufe
des noch kleinen States und sind auch unter sich noch ähn-
lich. Die natürliche Hinneigung auf dieser Stufe ist aber
immer zur Demokratie, indem auch in jenen Fällen einer
oder mehrere der Masse nur vorausgeeilt sind in dem politi-
schen Bewusztsein.
Die zweite Stufe umfaszt mehrere Völkerschaften. Sie
ist eine Mittelstufe zu der höhern dritten, in welcher das
Bewusztsein der Einheit der Nation seinen vollen Ausdruck
findet. Auf ihr übt eine höhere Völkerschaft die Herrschaft
aus über die übrigen regierten Stämme. Diese Mittelform des
States wird daher wesentlich aristokratisch sein, wie die
Form der niederen Ordnung wesentlich demokratisch. Demo-
kratisch kann derselbe nicht sein, weil die Mehrheit der Stämme
dem herrschenden unterworfen, somit nicht gleich ist, Die
äuszere Form der Monarchie kann er wohl annehmen, aber
der König wird dann zu dem herrschenden Stamme gehören,
und insofern nur ein aristokratischer König sein.
Erst auf der obersten Stufe spricht sich die Einheit eines
ganzen groszen Volkes in den Formen des States rein und
klar aus. Die demokratische Natur der ersten Stufe konnte
weder den statliehen Gegensatz zu voller Entfaltung bringen,
noch den Umfang eines groszen Volkes erreichen. In der
Aristokratie der zweiten Stufe hatte der herrsehende Stamm
noch immer sein Privatinteresse: and die Einheit des Volkes
war nicht das Lebensprincip des State. Auf dieser dritten
Stufe erst kommt die echte .Monarchie zur Vollendung, in
welcher der Monarch ohne alle Vermischung mit Privatinter-
essen die Einheit des States und der Regierung in voller Kraft
und Macht darstellt.
Die drei bekannten Formen des States erhalten somit
durch Schleiermachers Darstellung eine geistige Begründung
Viertes Capitel. Das Princip der vier Grundformen. 287
und eine Beziehung auf die Entwicklungsstufen der politischen
Idee, und werden so geordnet, dasz die Demokratie als die
niedrigste Stufe, die Monarchie als die höchste erscheint.
Immerhin ist durch diese Erörterung, wenn auch nicht ein
neues Princip der Eintheilung eingeführt, so doch eine höhere
Einsicht in den Geist der verschiedenen Statenbildungen ge-
wonnen worden.
Die Entwicklungsstufen der Geschichte aber entsprechen
der logischen Entwicklungsstufe, wie sie Schleiermacher auf-
faszt keineswegs.
Viertes Capitel.
Das Princip der vier Grundformen.
Der specifische Unterschied der verschiedenen Statsformen
ist, wie Aristoteles erkannt hat, in der verschiedenen Art zu
finden, wie der Gegensatz der Regierung und der Regierten
aufgefaszt wird, insbesondere in der Qualität (nicht Quantität)
des Herrschers.
I. Die erste Form war die der Ideokratie, deren höch-
ster Typus die Theokratie ist. Das Volk dachte sich den
Herrscher als ein ihm in jeder Weise, schon von Natur über-
geordnetes, als ein übermenschliches Wesen, Gott selbst
wurde als der wahre Regent des States verehrt.
II. Den schroffsten Gegensatz zu der Ideokratie, in wel-
cher das Volk einer fremden, auszer ihm und über ihm
stehenden Macht unterworfen ist, bildet die Statsform, in der
das Volk sich selbst beherrscht, d. h. in seiner Gesammt-
heit als Regierung, in seiner Auflösung in einzelne Bürger als
Regierte erscheint: die Demokratie, Volksherrschaft.
III. Die statliche Unterscheidung zwischen Regierung und
Regierten hält sich zwar innerhalb des Volkes, und ist mensch-
288 Viertes Buch. Die Statsformen.
lieh, aber so geordnet, dasz eine höhere Classe oder ein
höherer Stamm des Volkes als Eegierung, die übrigen Classen
und Stämme dagegen als Regierte sich darstellen. Die letztern
sind dann nur Regierte, nicht auch Regierung, die erstem
zwar vorerst Regierung, aber daneben doch in ihren einzelnen
Gliedern wieder Regierte: Aristokratie.
IV. Der Gegensatz von Regierung und Regierten ist voll-
kommen, aber menschlich so entfaltet, dasz die Regierung in
einem Individuum concentrirt ist, welches nur Regent, nicht
zugleich Regierter ist, welches somit dem State ganz und gar
angehört und gewissermaszen die Einheit der Volksgemein-
schaft personificirt : Monarchie.
Für jede der vier Grundformen gibt es einen Urtypus,
welcher in ihr sich spiegelt:
Die Theokratie bildet die Herrschaft Gottes über
die AVeit, aber noch als eine unvermittelte, gewissermaszen
rohe und despotische nach.
Die Monarchie verherrlicht die Einheit der Mensch-
heit in ,,dem Mensehen41 als Individuum, welches als
Herrscher im State die Gesammtheit darstellt, oder die Ein-
heit des Volks in der Personifieation des Volksfürst en,
Die Demokratie drückt die Idee der Gemeinschaft des
Volks oder aller Individuen aus und stellt die Gemeinde
im State dar.
Die Aristokratie verkörpert den Gegensatz der edleren
und gemeinen Bestandteile des Volks, und gibt jenen
die Herrschaft über diese. Wie der Demokratie die Gemeinde,
so schwebt ihr der Adel der höbe reu Rasse als Typus vor.
In gewissem Sinn stehen Theokratie und Monarchie
auf der einen, Aristokratie und Demokratie auf der
andern Seite sich gegenüber. In den beiden ersten nämlich
ist die Regierung in höchster Machtfülle und Majestät so con-
centrirt, dasz der Regent nicht zugleich Regierter ist, dasz er
nur das Statsinteresse , nicht zugleich Privatinteressen vertritt,
Viertes Capitel. Das Princip der vier Grundformen. 280
In der Theokratie aber ist diese Erhabenheit der Statsherr-
schaft göttlich nnd daher absolut, in der Monarchie mensch-
lich und daher relativ dargestellt. Die beiden letztern
Grundformen auf der andern Seite, welche daher auch mit
dem gemeinsamen Namen der Republik zusammengefaszt
werden, haben das Gemeinsame, dasz in ihnen der Gegensatz
der Regierung und Regierten nicht so scharf hervortritt, son-
dern eine gewisse Mischung voraussetzt, so dasz die nämlichen
Menschen sich bald als Obrigkeit, bald als Unterthanen be-
trachten und äuszern, und zugleich öffentliche und Privat-
interessen haben. In der Demokratie verbreitet sich diese
Mischung über das ganze Volk, in der Aristokratie dagegen
ist sie auf die herrschende Classe des Volkes beschränkt,
welche zwar den übrigen Bestandteilen des Volkes nur als
Herrscher gegenübertritt, unter sich selber aber gewöhnlich
demokratisch organisirt und so Herrscher und Unterthan zu-
gleich ist. Insofern erscheint die Aristokratie allerdings als
eine Zwischen- und Mittelstufe zwischen der Demokratie und
der Monarchie.
In einer andern Beziehung aber gehören hinwieder Mon-
archie und Aristokratie zusammen und sind der Theo-
kratie und Demokratie gegenüber zu stellen. In den
erstem ist der Gegensatz zwischen Regierung und Regierten
menschlich so organisirt, dasz sich die Regenten als solche
selbständig fühlen und wissen, und ebenso von dem
Volke geachtet werden, dasz sie in eigenem Namen und
zu selbständigem Rechte die Herrschaft üben, vollkom-
mener freilich in der Monarchie als in der Aristokratie. In
den beiden letzteren dagegen bedarf der als Herrscher gedachte
Gott immer, das als Herrscher gedachte Volk doch in der
Regel einer Stellvertretung und Vermittlung durch
Priester oder Beamte, welche persönlich zu den Regierten
gehören, aber nun als Diener Gottes oder des Volks in
deren Auftrag und Namen für den Herrscher handeln.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 19
290 Viertes Buch. Die Statsfornien.
Diese können nicht sich selber als Regenten betrachten, aber
sie verwalten gleichsam die Regentschaft für den eigentlichen
Regenten, der nicht persönlich handeln kann. Sie sind ge-
nöthigt, sich beständig an eine andere Macht anzulehnen, und
in dieser Hinweisung auf die höhere Macht, welche auch sie
beherrscht, die Autorität zu rochen, welche ihnen selber abgeht.
Anmerkungen. 1. Kntsprechend dem Unterschied der vier Stats-
formen lassen sieh die Staten aucli nach ihrem politischen Charak-
ter, abgesehen ron der Form, unterscheiden, Es gibt theokrati-
sirende Staten dem Geiste nacli. wenn gleich nieht ein Gott, sondern
vielleicht ein Kirchenfürst, oder eine priesterliche Aristokratie, oder ein
religiös bestimmter Demo- darin das Regiment Hat. Ebenso gibt es
aristokratisirende Staten, die keine Aristokratien sind, demokra-
ti.sirende Staten, die keine Demokratien, und sogar \on monarchi-
schem Geist erfüllte Staten, die keine Monarchien -ind. Diese Ein*
theilung der Staten gehört aber nicht ins Btatsreoht, sondern in die
Politik.
2« Ebenso sieht die Rohmerische Eintheilung der staten (F. Böh-
mer! Lehre von den polit. Parteien J. 219 ff.) naon den rier Altersstufen
der Mensches Eunieasl Dicht auf die Btatsform, Mindern auf den politi-
schen Geist, der in dem Biete lebt. Bis i-t daher nicht eine -tat--
rechtliche, sondern eine politische Classification, and von ansrer
cbigen Eintheilung gans r< d, aber nicht derselben widersprechend.
Sie erkennt
den radiealen Btatsgeist in dem [dolitat,
- liberalen „ „ „ Individual-t.it,
„ oont erratiren „ „ „ Ka--c-t.it,
bielutistischen » » « Formenstal
laue Monarchie /. B, kann möglicher Weise alle diese Phasen das
politischen Geistes der Reihe nach durchmachen, Wenn K. v. Mohl
(8tatswissenschaft I. E einwendet, ein Volk sei nicht jung nnd
nicht alt, weil in jedem Volk Kinder und Kreise sugleieh beisammen
Wien, >u beruht diese Einwendung auf einem Hissverstandniss dar Lehre,
die er bestreitet Bohon * 1 i •■ Alten haben gewuszt, und v. Barignj
hat ei der deutschen Juristenwelt klar gemacht, dass auch die Volker
ganische Gtosammtwesen ihre Altersstufen durchleben, analog der
Jugend Ond «lein Alter der Indi\idueii. Au-/er die. er Folge der Zeiten.
h in jeder Volksgeschichte wiederholt, kommt aber der angeborene
Volkscharakter in Betracht. Wie es ein/eine Menschen gibt, «leren
Wesen kindlich oder auch kindisch i-t und bleibt, und die leibst im
reiten und hohen Alter diesen Orundsug ihrer Natur nie verlHugnen,
und hinwieder andere, die schon in früher Jugend einen ältlichen
Fünftes Capitel. Das Princip der vier Nebenformen. 291
Charakter haben, so gibt es auch kindliche und ältliche Völker von
Natur. Am deutlichsten zeigt sich das in den grossen Rassen. Die
Negervölker sind mehrtausendjährige Kinder, die rothen Indianer zeigen
ebenso während mehreren Jahrhunderten beharrlich ein ältliches Wesen.
In Europa, dem Welttheil der vorzugsweise männlichen Völker, erscheint
doch die Natur der Spanier — abgesehen von der Lebenspeiiode, in der
sie sich befinden — eher dem altern, die der deutschen dem jugend-
lichen Geiste zu entsprechen. Wie die Völker, sei es von Natur und
daher beständig, sei es auf der Altersstufe, auf welcher sie gerade sich
befinden, und daher periodisch jung oder alt sind, so erfüllen sie mit
diesem Geiste auch den Stat , in dem sie leben. Die männliche Form
der constitutionellen Monarchie wird daher auf Haiti, weil ein kindisches
Volk in ihr lebt, zu einem bübischen Possenspiel.
Fünftes Capitel.
Das Princip der vier Nebenformen.
Die Art des Statshauptes ist zwar entscheidend für die
ganze Gestalt des Statskörpers. Aber in zweiter Linie kommt doch
auch das Recht der Regierten in Betracht, und bestimmt
secundär den rechtlichen Charakter der Statsverfassnng. Die
Aristotelische Eintheilnng der Statftformen enthält, wenn man
so die Gegenseite in dem (Jrgegensatze aller Statenbildung
berücksichtigt, die nöthige Ergänzung.
War auf Seite der Regierung das oberste — herrschende
Organ, entscheidend, so ist auf Seite der Regierten, die wir
als Gesammtheit im engeren Sinne wieder das Volk, oder noch
eher das Land heiszen, die Controle der Regierung und
die Theilnahine an der Gesetzgebung entscheidend.
Indem wir nach diesem Merkmal die verschiedenen Stats-
formen classificiren , erhalten wir folgende drei (beziehungs-
weise vier) Nebenformen.
I. Die Regierten werden insgesammt als eine blozse
passive Masse behandelt, welche der Regierungsmacht un-
bedingt unterthan und zu absolutem Gehorsam verbunden ist.
19*
292 Viertes Buch. Die Statäformen.
Sie bat weder ein Recht der Controle noch einen Antheil an
der Gesetzgebung. Es sind das die absolut regierten Staten,
die wir daher unfreie Stats formen (unfreie Völker) heiszen.
Sie sind nicht nur dann unfrei, wenn sie der Willkür und den
Launen eines Desputen angehören (Despotien), sondern auch
dann politisch unfrei, wann der Herrscher selber ein
Rechtsgesetz anerkennt und sowohl das Privatreeht als die
Privatfreiheit geachtet wird (Absolution).
II. Ein Theil der Begierten, die obern (Massen der-
selben, haben das Recht der Controle und der Theilnahme an
den Öffentlichen Angelegenheiten und l» e b c h r a n k e n dadurch
die Begiemngsgewali Aber die übrige Ifasse, insbesondere
die untern V <>] k > el assen sind noch in dem politisch un-
freien Zustande und haben keine politischen Rechte. AVir
heiszen diese staten halbfreie Statsformen. Die mittelalter-
lichen Lehens- und Standestaten Bind ?on dieser Art.
III. Alle Vdkaolassen haben politische Rechte. Das
ganze Land (Volk) übt ein«- Controle der Regierung und
eine Mitwirkung ans bei der Gesetzgebung. Wir heisien di
Staten freie Statsformen, oder auck Republiken im weite-
sten Sinn des Worts. Wir können lie auch Volksstafcei
heiszen.
Diese Coiitr.de und Theilnahme wird wieder entweder
A) unniitteliiar durch die Versammlung der Bürger
geübt, wie vorzugsweise im AJterthum (antike Republi-
ken) oder
B) mittelbar durch Ausschüsse und Stellvertreter! wie
in der neuem Zeit (moderne ReprasentatiYstaten.)
Wenden wir diese neue secund&re Qnterscheidung auf
die alte Eintheilung der Grundformen an, bo ergeben tich fol-
gende Resultate:
I. Die Theokratie ueigi sich principieU zu der Gasse
der unfreien Staten. Aber sie ist nichl aothwendig Despotie,
indem aneh der herrschende Gott, oder die von ihm inspirirte
Fünftes Capitel. Das Princip der vier Nebenformen. 293
Priesterschaft ein Gesetz des Gemeinwesens anerkennen und
respectiren kann. Sie kann daher sich der zweiten und der
dritten Classe insofern annähern, als die Ausübung der gött-
lichen Herrschaft an die Mitwirkung aristokratischer Classen
oder selbst einer Volksversammlung gebunden wird. Die
jüdische Theokratie war in diesem Sinne republikanisch.
II. Die Aristokratie gravitirt zur zweiten Classe der
halb freien Staten, kann aber auch als unfreier Stat vor-
kommen, wenn der Demos politisch rechtlos ist oder sie kann
sich in die dritte Classe der freien Volksstaten erheben, wenn
sie dem Demos wie in Kom eine wahre Volksvertretung ver-
stattet.
III. Die Demokratie hat einen innern Zug zur dritten
Classe der freien Staten; sie kann aber zur Despotie werden
gegenüber der Minderheil oder doch zur Absolutio gegenüber
den einzelnen Bürgern; und sie kann im Verhältnisz zu einer
unterwürfigen Classe (Sclaven und Heloten im Alterthum,
Farbige in Amerika) als halbfreier Stat sich zeigen.
IV. Die Monarchie, welche überhaupt in den mannich-
faltigsten Formen erscheint, nimmt alle drei Classen in zahl-
reichen Anwendungen in sich auf. Die Despotien des Orients
und die absoluten Monarchien arich des Occidents sind offenbar
unfreie Staten; das Künigthum und das Fürstenthum des
Mittelalters, welches durch den Klerus und die Laienaristo-
kratie beschränkt war. waren halbfreie Monarchien. Das rö-
mische Königthum nach der servianischen Verfassung und das
alte fränkische oder das norwegische Königthum, welches der
Volksversammlung einen gewissen Antheil an der Statsleitung
zugestanden hatte, mögen als Beispiele der unmittelbaren
Volksbetheiligung auch in freien Monarchien gelten. Die con-
stitutionelle Monarchie der neuern Zeit endlich ist die höchste
bisherige Ausbildung der Monarchie zu einem freien State
mit Repräsentativverfassung.
Wird die aristotelische Eintheilung, die mit E echt von
294 Viertes Buch. Die Statsformen.
Oben her ausgeht, so von Unten her ergänzt, so fallen auch
die wichtigsten Bedenken gegen dieselbe hinweg, insbeson-
dere die Einwendung, dasz sie nicht genug unterscheide und
weder die Verwandtschaft, z. B. der heutigen Bepräsentativ-
demokratie mit der eonstitutionellen Monarchie noch die we-
sentliche Verschiedenheit z. B. der al »sohlten und der ständisch
beschränkten Monarchie zu erklären im Stande sei.
Sechstes Capitel.
I. Die Ideokrntie i Theokrntie ).
Die Form der Theokratie gehört yonngsweise der Kind-
heit des Menschengeschlechtes zu. In Asien und Nordafrika
ist der Sitz der ersten tätlichen Kntwicklung , und zuerst
zeigen sich da theokratische Staten.
in dm erstes Zeiten, als die noch jnnge Menschheit sich
auf der Erde EUrechtzufiltden suchte, war offenbar das Gefühl
der Abh&ngigkeil \<-n lt< »t 1 1 i*-li «-n \\Y>rn und unverstandenen
Naturkraftei oocfa äusserst lebhaft, und die Einwirkung Qottes
oder der Natur auf das Leben, gewissrrmaszen auf die Er-
ziehung der Menschen anmittelbarer und mächtiger als spater.
Gott und die GMtter verkehrten Dach allen alten Sagen und
Mythen persönlich mit dm Menschen, und was Pia ton uns
von den Grzustft&dan selbst der hellenischen Völker erzählt,
dasz Kronos, die Sehwache und Unfähigkeit der Menschen in
jener Zeit bedenkend, ihnen ..zu Königen und Fürsten über
die Staten nicht Menschen, sondern Dämonen, Wesen von
göttlicherem und höherem Geschieht»' gesetst" habe, stimmt
mit «lein Glauben aller arten Volker rosammen. riaton selbst
war dieser theokratis» hen Auffassung persönlich zugcthan, und
schlug in seiner Lehre vom Btat kflnstliche TauschungBrnittel
vor, um den damals entwickelteren Menschen von neuem den
Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 295
Glauben beizubringen, dasz nicht Menschen, sondern Gott selber
die Herrschaft im State führe.
Wurde so Gott oder wurden Götter und Dämonen1 als
die wahren Oberhäupter des States verehrt, so war mit diesem
Glauben der überwiegende Einflusz der Priester unzertrenn-
lich verbunden, denn diese waren die auserwählten Sterblichen,
welche vorzugsweise dem Dienste der Götter geweiht waren,
ihren Willen vernahmen, und ihre Sprache verstanden. Unter
diesen Völkern haben daher auch die Priester den obersten
Hang. In den einen verwalten die Priester geradezu das Ke-
giment, im Namen Gottes oder der Götter, in den andern
stehen zwar Könige an der Spitze der Regierung, aber auch
sie regieren nicht in eigenem Namen, sondern als Stellver-
treter und Organe der Götter, und sind entweder zugleich
Oberpriester oder weiden durch den Einflusz der Priester ge-
leitet und beschränkt. Die erstem können wir nach Leo's
Vorgang reine die letztem gebrochene Priesterstaten
nennen. In diesen ist der üebergang von der Form der Theo-
kratie in die der Monarchie ersichtlich.
Ein solcher Priesterstat war der Stat der Aethiopen
in Meroe. Der Vorstand des States gehört der Priesterkaste
an. Die Priester bezeichnen aus ihrer Mitte einige der Besten,
aus welchen in feierlicher Procession der Gott einen erwählt.
Ist der Ausspruch des Gottes gethan, so beugt das Volk vor
dem Erwählten Gottes seine Kniee, und verehrt in ihm den
Stellvertreter Gottes. Seine Macht aber ist in jeder Weise
beschränkt durch die göttlichen Gesetze, und die fortdauernde
Offenbarung des göttlichen Willens in den Orakeln, welche
1 Von einem merkwürdigen dämonokra tischen State unserer
Zeit berichtet der berühmte Entdecker der Alterthümer von Niniveh,
A. H. Layard (Niniveh und seine TJeberreste S. 144 ff.). In den Ge-
birgen Mesopotamiens wohnen die Jezidi, welche unter einem geist-
lichen Oberhaupte stehen, dem groszen Scheikh, und dem Satan eine
besondere Verehrung widmen, von dem sie glauben, er werde später
wieder zu einem hohen Range in der himmlischen Hierarchie gelangen.
296 Viertes Buch. Die Statsfornien.
die Priester vermitteln. Ein strenges Ceremoniel ordnet jeden
seiner Schritte, und der freien menschlichen Entschlieszung ist
kein Spielraum vergönnt. Ueberall begleiten ihn die Priester
und wirken mit, und selbst seine Existenz ist völlig unsicher.
Wenn er dem Gotte miszfallt, so offenbart dieser den Priestern
seine Ungnade. Die Priester theilen ihm durch eine Bot-
schaft den zürnenden Willen des Gottes mit, und es bleibt
ihm nichts anderes übrig, als durch freiwilligen Tod den gött-
lichen Zorn zu sühnen.2
In gebrochener Form sehen wir diesen Priesterstat in
Aegypten. Ursprünglich herrschten auch da nach der Volks-
sage während vieler Jahrhunderte die Gtöttei selbst. Später
jedoch regierten menschliche Könige, aber als Göttersöhne und
selber wie Götter verehrt und durch das heilige Gesetz, eine
strenge Etikette, und den Einflusz der obersten Priesterkaste
beschränkt. Die göttlichen Vorschriften waren so genau im
einzelnen bestimmt, das/, dem Könige nicht einmal die Aus-
wahl der Speisen, die er essen wollte, freigegeben, sondern
auch seine frugalen Mahlzeiten ein- für allemal festgesetzt
waren.'1 Bei seinem Leben freilich fragten die Priester nicht
mehr im Namen der Götter Gericht über ihn zu halten, aber
wenn er starb, s<> wurde ein grosses und Öffentliches Todteii-
gericht über ihn von den Priestern angeordnet. Die Ehre
seines Namens bei der Nachwelt und die Aufnahme der abge-
schiedenen Seele in der Unterwelt und seine Wiedergeburt
wurde durch ihr Urtheil bestimmt, unter einem Volke, wel-
ches an die Fortdauer der Seele nach dem irdischen Tode
glaubte, mit anszerster Sorgfalt sogar den Leichnam vor der
Verwesung zu retten suchte und seinen Todten reich ge-
schmückte und an alle Erfordernisse des Lebens erinnernde
Wohnungen erbaute, hingen von diesem ernsten Todtengericht
" Diodorus Sic. U\<t. III. 5. 8. Vgl. Lco's Wcltgesrli. I. B. 79L
3 Diodorus Sic. Hilt. I. 71, 72. Vgl. Duncker Gesch. d. Alter-
tliums I3d. I.
Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 297
die Hoffnungen und Befürchtungen auch der Lebenden ab, und
es war dasselbe daher in der Hand der Priester eine furcht-
bare Macht.
Verwandt und groszentheils ideokratisch war auch der
altindische Stat. Der König steht nach der Ordnung der
Kasten unter den Brahmanen; der Brahmane verschmäht es,
ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sie würde durch die
ungleiche Ehe entwürdigt. Aber die Würde des Königs wird doch
wieder so hochgehalten, dasz ihr eine besondere Göttlichkeit
inwohnt. Sein Leib wird, nach den Gesetzen Manu's, aus Be-
standteilen gebildet, welche in den acht göttlichen Wächtern
der Welt ihren Ursprung haben, daher ist er rein und heilig.
„Wie die Sonne blendet er die Augen und Herzen, und Nie-
mand auf Erden vermag ihm ins Antlitz zu sehen. Gott hat
ihn geschaffen zur Erhaltung aller Wesen. Keiner darf ihn,
selbst wenn er noch ein Kind ist, verachten, indem er zu sich
sagt: er ist ein einfacher Sterblicher, denn eine grosze gött-
liche Kraft wohnet in ihm."4
Auch der indische König ist von Priestern umgeben.
Er bedarf der Weihe, wenn er die Kegierung antritt. Seine
sieben oder acht Minister, welche er einzeln und vereint in
allen Geschäften vernimmt, bevor er den Entscheid faszt, sind
meistens Brahmanen. Jedenfalls aber musz er in allen wich-
tigen Dingen vorerst einen brahmanischen Gewissensrath zu
Käthe ziehen. Auch ihm ist ein strenges Ceremoniel vorge-
schrieben, und die Gesetze Manu's mahnen ihn in ernster
Sprache an seine — wenn auch nicht näher geordnete — Ver-
antwortlichkeit: „Der unsinnige Monarch, welcher seine Unter-
thanen durch Ungerechtigkeit bedrückt, wird in kurzem seines
Königthums und seines Lebens beraubt werden, er und seine
ganze Familie." s
* Manava — Dharma — Sastra. Lois de Manou, par Loiseleur.
Paris 1833. V. 96, 97. VII. 3—8.
s Ebend. VII. 54 ff. 111.
298 Viertes Buch. Die Srai>l'ui nun.
Immerhin hat der indische in höherem Grade arische Siat
übrigens ein helleres, freieres Ansehen, und ist in ihm die
königliche Würde und Macht mehr und stattlicher ausgebildet,
als in den finsteren Priesterstaten von Meroß und Aegypten.
In allen aber finden wir ein schroffes und starres Kanton-
System; grosze Vorrechte der Priesterkaste, die in sich alles
geistige Leben der Nation vereinigte und abschlosz, und zu-
gleich reichlich mit den Gütern der Erde ausgestattet war : —
in Aegypten gehörte der dritte Theil des Bodens ihnen zu;G
das indische Gesetz lagt: „Ein König darf, selbst wenn er
vor Mangel stürbe, nie von eilen in den heiligen Schriften
nen Brahmanen eine Steuer nehmen und niemals dulden,
dasz in seinen Staten ein solcher Brahmane Hunger leide."7 —
Ferner eine gedrückt»1 Lage und verachtete Zustünde der untern
Volkscla.-M'ii. welche auch für Einzelne nicht durch die Hoff-
nung des Emporsteigens erhellt wurden. Die ägyptischen
Bauern sind durchweg nur Hörige, welche die den Priestern
«•der dem König ler den Kriegern zugehörigen Güter be-
bauen. Die Hirten und die Handwerker sind erblich an ihr
Geschäft gebunden, willkürlicher Schätzung unterworfen, und
ohne allen activen Antheil an den Statsinstitutionen. /ahl-
reiche Frohnden aller Art Bind in diesen Landern verhieltet.
Noch viele Jahrhunderte hinab hat ein the<>kr;iti><her
Charakter des States in Asien sich erhalten, und auch später
noch ist derselbe in dem o r i e n t a 1 i s c h e n H e r r s c h e r t h u m
fortwährend sichtbar. Die Macht der Priesterschaft freilich
über die immer entschiedener weitlichen Herrscher ist durch
die steigende Macht dieser, wie BC in den gröszeril durch
Eroberung entstandenen und durch Kriegsheer« rasaanmefir
gehaltenen Reichen sich entwickelte, mehr in den Hintergrund
gewiesen und verdunkelt «forden. Aber die Herrscher lelhei
winden wie Götter verehrt. DieStatsfonn blieb bheojcratisch,
* Diodor. Sic. I. 73.
7 Lois dfl Manou. VII. L33,
Sechstes Capitel. I. Die Ideukratie (Theokratie). 299
nur trat sie in eine neue Wandelung ein. Zuerst war der
Gott in Person der Herrscher, seine Werkzeuge die Könige
und die Priester; dann stellte sich die Herrschaft mehr und
mehr äuszerlich als eine Priesterherrschaft dar, mit einem
anfangs priesterlichen, dann kriegerischen Könige an der Spitze ;
endlich wurde der König selbst zum Gott erhoben, und es
entstand der übermenschliche „Despotenstat". Es gilt das
namentlich von dem spätem Perser reiche und selbst von
den neuern Staten der mohammedanischen Sultane, und
den chinesischen Kaisern.
Der König von Iran Guschtasb (1300—1350 v. Ch.),
unter welchem Zarathustra (Zoroaster, Serduscht)
als Prophet auftrat, nannte sich selbst einen ,,Priesterkönigu,
und in den heiligen Büchern (dem Send-Avesta) wird der
Perserkönig nicht zu der Kaste der Krieger, wie in Indien,
sondern zu der der Priester (der „Rechtskundigen und Gottes-
gelehrten4') gerechnet.8 Das ganze Statssystem ist zugleich
Religionssystem, Kecht und Moral unausgcschieden, der Zu-
sammenhang der unsichtbaren Welt, der guten und bösen Geister
mit der sichtbaren Welt der Menschen in allen Dingen fort-
während anerkannt. Aber seitdem die Könige von unpriester-
lichem persischem Geschlechte die Herrschaft erlangten, nahm
der persische Stat mehr die Natur eines solchen Despoten-
reiches an, und der Einfiusz der Magier, so grosz er in man-
chen Dingen blieb, ward, verglichen mit den altern Zeiten,
um vieles geringer. Allmächtig wie der Gott, dessen Gnade
ihn erhoben hat, waltet in seinem Reiche der Perserkönig im
Princip, und sein Hof ist das Abbild des himmlischen Hof-
states des guten Weltgeistes Ahuramasda. Die Ehren, die ihm
erwiesen werden, gleichen den Ehren der Gottheit. Vor seinem
goldnen Throne, der hoch emporragt, und auf dem er in reich-
stem Schmucke mit der Tiara auf dem Haupte sitzt, den
8 Vuller's Fragmente über die Religion des Zoroaster. Bonn 1831.
S. 33- 69. Vgl. Spiegel Avesta. Leipzig 1852—63. III Bde.
300 Viertes Buch. Die Statsformen.
goldenen Stab in der Hand, das Schwert zur Seite, im Purpur-
mantel, ,, strahlend wie die Sonne an dem glänzenden Firma-
ment," werfen sich selbst die fremden Gesandten nieder in
den Staub, wie Sclaven vor dem Herrn oder Betend«
dem Gott. Wie diesem die Opfer, so werden ihm die Gaben
derer dargereicht, welche seinem Throne nahen. Und wenn
er stirbt , so bezieht er den herrlichen Todtenpalast in Per-
sepolis, dort das Leben der Seligen fortsetzend. Ein feierliches
Ceremoniel mit seinen manniehfaltigen Symbolen umgibt ihn,9
ihn zu ehren. In der Wirklichkeit freilich ist gerade dieses
auch ihn beengende und wie mit einem goldenen Netze um-
spinnende Ceremoniel die unauflösliche Schranke und 1
seines Willens, und spottet der fingirten Allmacht, die ihm in
der Idee zugeschrieben wird.
Ein Fortschritt aber liegt unverkennbar in dieser Wande-
lung aus dem eigentlichen Priester- in das Despotenreich des
Orients. Das starre Walten einer für göttlich gehaltenen
Offenbarung in dem Gang und den Formen der Gestirne nach
welcher die Priester auch den StaJ leiteten, und die Gleich-
mäszigkeit und (Jirrer&nderlichkeil des ganzen ein- für allemal
durch göttliche Gesetze normirtal Ststslebenfl waren durch-
brochen; und wenn auch in der trüben Form der Despotie,
äuszerte sich nun ein freier menschlicher Wille in den Stats-
angelegenheiten, und konnte Rücksicht nehmen auf die natür-
lichen Veränderungen in den Zuständen der politischen Welt,
und auf die mancherlei neuen Bedürfnisse der Völker. In
dem persischen Reiche wurde denn auch die Eisdecke des
Kastenwesens frühzeitig aufgelfl
Der merkwürdigste Stat dieser Gattung im Altertlrom war
die T h co k ratio der Juden nach der Mosaischen Gesetzgebung.
Die Reinheit der Mosaischen Religion, der lebendige Glaube
1 Eine vortreffliche kurze Dnrtellunp rlir*er St;it«form bei Lee
Weltgesch. I. 8. 120 f. Duncker Goch. d. Alt. II. B.1
Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 301
an einen Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt, ist die
feste Grundlage, auf welcher der jüdische Stat erbaut ist.
Gott selbst, Jahve oder Jehova, wird als König der
Juden gedacht. Er ist der unsterbliche Herr des sterblichen,
aber auserwählten Volkes. Er gibt das Gesetz, er regiert das
Volk. Die ganze umfassende Gesetzgebung, welche wir von
Moses her benennen, erscheint als Offenbarung Gottes, mit
welchem Moses in der Einsamkeit der Berghöhe gesprochen,
dessen Willen er mit Furcht und Zittern vernommen, und
getreu dem Befehle des Herrn dem Volke verkündet hat.
Blitz und Donner haben die Gegenwart Gottes auf dem Berge
Sinai allem Volke bezeugt.
Das ganze Volk aber wurde durch diese göttliche Herr-
schaft gehoben. In Aegypten noch war es verachtet, und jeder
Aegvpti.T aus einer der hohem Kasten betrachtete die Juden
als Verworfene, deren Umgang verunreinige. Nun erhielten
sie das erhabene Gefühl, das bevorzugte Volk des höchsten
Gottes zu sein. Obwohl auch sie in erbliche Stämme einge-
teilt winden, und auch unter ihnen ein gesonderter Priester-
stamm (der Stamm Levi) geordnet ward, so waren doch alle
Stämme Nachkommen der Erzväter Abraham, Isak und Jakob,
und galt hinwieder das ganze Volk als ein „Priestervolku.
Die schroffe reberordnung der Kasten ist somit hier von
Grund aus aufgegeben, und die Brüderlichkeit der Stämme
zum Princip erhoben.
Das göttliche Gesetz wird in einer mit Gold überzogenen
Lade verwahrt, über welcher der goldene Thron der Gnade
sich erhebt, von zwei Cherubim bewacht, und als Sitz der
göttlichen Offenbarung verehrt. In der Stiftshütte, gewisser-
maszen der göttlichen Kesidenz, die von den Priestern bewahrt
wird, ist die Lade und der Thron in dem Allerheiligsten hinter
einem Vorhang verborgen. Dort empfängt der Hohepriester
die Gebote Jehovahs und verkündet sie. Der Hohepriester,
aus dem Geschlechte Aarons, des Bruders von Moses, stammend,
302 Viertes Buch. Die Statsformen.
ist das regelmäszige Organ des göttlichen Willens, und der
Vertreter des Volkes vor dem Herrn. Ausnahmsweise, in
kritischen Zeiten, erweckt Jehovah einzelne erleuchtete Indivi-
duen, die als Propheten die rniszkannte göttliche Autorität
herstellen, das Gewissen des Könige und des Volkes wach-
rufen, den Abfall von Gott züchtigen, zur Bekehrung mahnen
und das künftige Schicksal des Volkes enthüllen. Auch die
Richter, welche an der Spitze der verschiedenen Stämme das
Recht verwalten und handhaben, tlmn es im Namen Jehoflhn,
,,denn das Gericht ist Gottes/' Daher sollen sie „keine Person
im Gericht ansehen, sondern den Kleinen hören wie den
Groszen, und sich vor Niemand BChenen." Ist ihnen aber eine
Sache zu schwer, so sollen sie sich an den Ort der Stiftshütte
wenden, und dort vernehmen, wie durch den Mund der Priester
Gutt die Sache entscheidet. Den Spruch sollen sie erfüllen,
oder des Todes sterben. 1"
\Vie das Volk der strengen aber Begensreichen Herrschaft
Jehovahs unterthan ist, SO ist auch der ganze Boden des ge-
lobten Landes in Jehoyahs Eigenthnm. Unter die Familien
wird er nur zu Leben vertheilt, nicht zu freiem verfügbaren
Eigenthum. Von allen fruchten des Bodens und von allen
Früchten der Thiere man daher zur Anerkennung des
liehen Obereigenthums der Zehnte an die Stiftshfitte zum
Unterhalte der Priester gegeben werden. Jedes siebente Jahr
ist ein Feierjahr, auch für das Land, welches dann nicht be-
baut wird, wie der siebente Wochentag ein Kühe- und Feier-
tag für den Menschen ist, und nach .siebenmal sieben .Jahren
in dem Jubeljahr wird die Vertheilung des Bodens wieder
neu bereinigt, so dasz verarmte Familien ihren Lehensboden
zurück erhalten, reich gewordene ihren Deberflusz an (intern
wieder herausgeben müssen. Unter den Juden selbst darf es
keine Leibeigenschaft geben; das Jubeljahr macht auch die
i° V. Mose, 1, 17. und 17, 8 ff. JTgL Duncker a. a. O. I. S. 780 j
Bluntächli Altasiatische Gottes- und Weltideen, Nr. IV.
Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 303
frei, die sich selber in die Knechtschaft eines andern begeben
haben; nur Fremde können zu Sclaven erkauft und besessen
werden.11
Als die Juden später einen König begehrten, „damit sie
auch seien wie alle andern Völker," willfahrte Jehovah ihrer
Bitte durch den Mund des obersten Richter, des alten Samuel,
aber tröstete diesen mit den Worten: „Gehorche der Stimme
des Volks in allem, das sie zu dir gesagt haben; denn sie
haben nicht dich, sondern mich verworfen, dasz ich
nicht soll König über sie sein/*12 So ging die Form
der reinen Theokratie in die einer Monarchie über,
welche indessen immer noch durch theokratische Institutionen
und durch die ganze durch und durcli religiöse Natur und
Mission des jüdischen Volkes beschränkt und modificirt blieb.
In Europa sind nur schwache und vereinzelte Nachklänge
der Theokratie zu erkennen. Wenn der römische Kaiser Ca-
ligula mit goldenein Bart und Blitz wie Jupiter sich öffent-
lich zeigte, oder Heliogabal sich als Opferpriester der herr-
schenden Sonne gerirte, oder nach der schweizerischen Sage
der Vogt Geszler von den freien Männern des Gebirgs for-
derte, dasz sie dem Hute des Kaisers ihre Verehrung beweisen,
so waren das nur karikirte Nachbildungen einer untergegange-
nen Statsform, die keinen Anspruch hatten auf Bestand. Wohl
aber ist im römischen Reiche in der Sitte, sogar den lebenden
Kaisern Statuen und Tempel zu errichten und die gestorbenen
als Divi zu verehren sowie in dem spätem Ceremoniel der
byzantinischen Kaiser noch ein theokratisches Element sicht-
bar geworden.
Im Mittelalter bekamen besonders durch den Einflusz der
Geistlichkeit, welche von jeher ihre Vorliebe für die theokra-
tischen Lehren kund gegeben hat, auch die christlichen Stats-
einrichtungen in manchen Beziehungen eine theokratische Fär-
11 III. Mose, C. 25. V. Mose, C. 4 und 5.
12 I. Samuel. 8, 7 ff.
304 Viertes Buch. Die Statsformen.
bung. Wir werden dergleichen zwar mehr in den geistlichen
als in den weltlichen Fürstentümern gewahr; aber
auch die letztern hielten sich nicht rein davon. Sogar der
Kaiser hat zugleich priesterliche Weihen empfangen müssen.
Aber so sehr das Mittelalter es liebte, alles Recht und alle
Gewalt von Gott abzuleiten, so betrachtete es doch die Ge-
walthaber als Menschen, und sorgte reichlich für menschliche
Beschränkungen ihrer Macht.
Nur die Verfassung der christlichen Kirche, die Hierarchie
des Klerus folgte ganz dem theokratisehen Zug. Die welt-
lichen Fürsten und ( »brigkeiten wurden doch auch von der
katholischen Kirche oft an ihren menschlichen Ursprung
erinnert. Der Grundcharakter der mittelalterlichen Statsformen
in Europa ist eher Aristokratie und Monarchie als Theokratie.
Dagegen können die ebenfalls im Mittelalter entstandenen
mohammedanischen Staten eher als theok ratisch be-
zeichnet werden. Zwar glaubt auch die mohammedanische
Welt nicht nit-hr, wie die ahm Juden, an eine unmittelbare
und refelmiaxigt Qottesregienmg. Die mosaische Theokratie
ward von Mohammed nicht wiederhergestellt Aber der Koran
lehrt, dasi Gotl die Herrsohafl gebe wem er will, und be-
trachtet den mensehliehrn Pursten an der Spitze des Btati
als den Statthalter und Lehensträger (Jottes. In dem
Khalifat oder der idealsten Darstellung des mohammeda-
nischen Btatensystcms einigen sich die Eigenschaften deeOtar-
priesters und des Oberköniga, Der Khalif ist Papsi nnd Kaiser
zugleich. Religion nnd Sacht, Theologie nnd Jnrisprndens
werden nicht gentlgend unterschieden. Die Glottesgelehrten
sind auch Beohtsgelehrte. Der Islam vrrlrägf sieh weit eher
mit der Theokratie all das Ohrisionthlim.11
Die moderne Zaü endlich bat ein-' offenbare Abneigung
ts (Jeher eilige uidere Iheokratiiirendt stüt'-n vgl. Blüntiohli,
Artikel Meokreiie im deutseken Stettwerterbuek, Bd.Vj ▼. Hohl, Kn-
eyolopftdie dei Btetnrimntek. §. 11,
Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 305
gegen die theokratische Statsform und gegen Alles, was an
dieselbe erinnert. Ihr Streben ist vielmehr der humanen
Statsordnung zugewendet. Die Beseitigung aller priesterlichen
Fürstenthümer, mit einziger Ausnahme der päpstlichen Landes-
herrschaft im Kirchenstat, ist ein beredtes Zeugnisz dieser
Zeitrichtung,14 welcher auch jene Ausnahme nicht lange mehr
wird widerstehen können.
Die theokratischen Staten zeigen folgende gemeinsame
Charakterziige:
1. Religion im«! Recht, kirchliche und statliche Institu-
tionen und Maximen Bind in ihnen gemischt und zwar in dem
Verhältnis/, «las/ die religiösen Elemente das Uebergewicht
haben über die politischen. Di»- Aussieht auf das Leben nach
dem Tode beherrscht das ir.lis.-li.> Leben so sehr, dasz dieses
sich nicht in Freiheit zu entfalten getränt.
2. Das Princip der Autorität ist zu übermensch-
licher Erhabenheil gesteigert. Alles bürgerliche und öffent-
liche Leben ist davon abhängig. Sie ist ihrer Natur nach
absolut, Die Qnterthanen stehen mit dem Statshaupte nicht
in einem menschlichen Verhältnis/ , nicht als Söhne desselben
Vaterlandes, oder Genossen desselben Geschlechts und Volks.
Der Herrscher erheb! sich ober sie in eine unerreichbare Höhe
und wird zum allmächtigen Herrn.
3. Soweit diese göttliche Autorität als abgeschlossene
Offenbarung einer göttlichen Gesetzgebung sich vor
Zeiten kund gegeben hat, wie bei den Juden in dem Mosaischen
Gesetz, wie bei den Mohammedanern in dem Koran, begründet
sie eine feste, aber auch unveränderliche Ordnung.
Soweit sie dagegen in den wechselnden Schicksalen
14 Selbst die Verfassung von Montenegro, die vor wenigen Jahren
noch in dem Yladika ein kriegerisch -priesterliches Oberhaupt an der
Spitze hatte, ist seither durch die Trennung der priesterlichen Würde
und der Regierungshoheit den übrigen europäischen Staten näher ge-
treten.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 20
306 Viertes Buch. Die Statsformen.
des Völkerlebens über die Bedürfnisse des Augenblicks ent-
scheiden , wenn sie neue Gebote oder Verbote geben soll, so
gibt es nur zwei Wege, auf denen die Stellvertreter der gött-
lichen Herrschaft diesen AVillen erfahren können. Entweder
es bestehen äuszere Einrichtungen, die dazu dienen, den
Willen Gottes zu erkunden; oder man vertraut der inner n
Inspiration. Wie man die erstere auch ausdenke, ob man
nach Art der Chaldäer in den Sternen lese, oder mit den
Juden auf den zündenden Blick der Sonne warte, ob man in
der Weise der römischen Auguren und Harnspices den Fing
der Vögel deute und die Eingeweide der Opferthiere prüfe,
oder wie die Hellenen die Orakel befrage oder wie die Ger-
manen die Loose schüttle und werfe, diese Mittel führen
unfehlbar anf die Irrwege des Aberglaubens und des Trugs.
Der zweite Weg aber der innen Inspiration ist um so mehr
der Selbsttäuschung ausgesetzt . je weniger der Menseh die
eigenen Geisteekräfte anstrengt, die Gott ihm zur Thätigkeit
gegeben hat, je passiver er sich verhält und je Leidenschaft-
licher er sich der erwarteten göttlichen Strömung hingibt
Die unentbehrlichen menschlichen Organe der Btatliohen
Willensbildung sowohl für die Gesetlgebung als für die
Kegierung sind also in der Theckratie sehr unvollkommen
ausgebildet und durchaus unsicher.
4. Uebermacht des Priest er t hu ms , das rieh Gott
näher glaubt, Bbei die weltlichen A.emter. Wenn die Priester
die obrigkeitlichen Rechte unmittelbar ausüben, so erschein
der theokratische Stat als offenbarer Priesterstat; wenn es
neben ihm eine weltliche Obrigkeii gibt, so macht sich die
priesterliche Uebermacht gewöhnlich im Verborgenen geltend
und es ist der Stat ein latenter Priesterstat.
Da aber in allem Priesterthumc etwas Weibliches ist, so
werden in dem Priesterstat die weihlichen Eigenschaften den
männlichen übergeordnet. Das männliche Selbstgefühl und die
menschliche Freiheit können nicht zur Entwicklung gelangen.
Siebentes Cap. II. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. 307
Die Zurücksetzung der Laien und die Hemmung ihres Geistes
sind von der Priesterherrschaft unzertrennlich.
5. Grausamkeit der Strafrechtspflege und Härte der
Strafen.1,11 In der menschlichen Gerechtigkeit wird der Zorn
Gottes dargestellt; die freie Regung des individuellen Geistes
wird als Gottlosigkeit verurtheilt, auch ein geringes Vergehen
wie eine Beleidigung der göttlichen Majestät schwer geahndet.
6. Die ganze Erziehung der Jugend und des Volks
bleibt in den Händen der Priesterschaft. Die Schule und die
Bildung sind völlig dienstbar der kirchlichen Leitung und den
kirchlichen Zwecken. Alle Wissenschaften, Künste, Fertig-
keiten werden nur insofern geschätzt und gepflegt, als sie zu
religiösen Zwecken nützlich sind; im übrigen aber mit Misz-
trauen betrachtet und vernachlässigt, und wenn eine Gefahr
für die hergebrachte religiöse Autorität daraus zu erwachsen
scheint, unterdrückt und verfolgt.
Wissenschaft und Kunst haben keinen Werth für sich,
sondern nur für die Religion, sie sind nicht freie Schöpfungen
des Menschengeistes, sondern Sclavinnen der Kirche.
Siebentes Capitel.
II. Demokratische Statsformen.
A. Die unmittelbare (antike) Demokratie.
Die Art, wie im Alterthum die Demokratie verstanden
wurde, und wie sie in der neuern Zeit aufgefaszt wird, ist
sehr verschieden. Die alten Demokraten gingen von dem
State aus, und suchten die Freiheit Aller in der politisch-
gleichen Herrschaft Aller. Die neuern Demokraten gehen
von der individuellen Freiheit der Einzelnen aus, und
15 Gute Bemerkung darüber bei Duncker a. a. 0. II. S. 619.
20*
308 Viertes Buch. Die Starsfurraen.
suchen möglichst wenig davon abzugeben an »las Ganze, mög-
lichst wenig zu gehorchen. Die alte Demokratie ferner war
durchweg eine unmittelbare Demokratie, wenn auch bald in
absoluter Form, bald ermäßigt: die neuere dagegen ist regel-
mäszig eine repräsentative Demokratie. Es ist einleuch-
tend, dasz die erstere nur in einem kleinen Statsgebiete möglich,
diese aber auch in einem grösseren Volke und Lande anwend-
bar ist.
Die Griechen vorzüglich, in eine grosie Zahl kleiner
Staten zersplittert, Backten und fanden in der demokratischen
Statsform die Befriedigung ihrer politischer] Aiischauungsv
Es ist nicht zu l&ugnen, Belbst die alten königlichen Staten
und die sogenannten Aristokratien der Griechen haben, wenn
man sie mit der modernen Monarchie oder mit der römischen
Ari.-tokratie vergleicht, ein demokratisches Etwas an sich, wo-
durch sie sich von diesen unterscheiden. Auch i-t es beach-
tenswerth, dasz die gröszten Denker unter den hellenischen
Philosophen, obwohl sie die athenische absolute Demokratie
keine- instig 1». nrtheflteu . ' doch das Ideal eine:
mftssigten Demokratie festhielten und vorzugsweise diese Stats-
form Pell t ie nannten.
Für die EÜnsichl in die Natnr der Demokratie ist kein
Stat lehrreicher als der athenische. In <\w Verfassung Athens
erlangte dieselbe ihren dbnsequente8ten Ausdruck. In einem
Umfang wie nie seither wieder, ttbte da- Volk dort seihst die
Barschaft ans. Fast alle wichtigeren Statsangelegenheiten
wurden in der V o 1 k .- \ e r-a m m lu n g {ixxX^aia) verhandelt,
und diese trat BO häutig, beinahe Wöchentlich einmal, auf dem
Markte öffentlich zusammen, wie es nur erklärbar wird, wenn
man bedenkt, dasz die gewöhnlichen Bernfsgeschäfte und Ar-
beiten vorzüglich von den zahlreichen Sclaveii. nicht VOD den
freien Bürgern betrieben wurden.
1 Darin stimmen Xenophon, Platoa und A i i - 1 (i t <■ I e - IMMBH
Siebentes Cap. IL Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. 309
In der Volksversammlung hatte der vielköpfige Demos
eine sichtbare Darstellung gefunden. Sie war die Vereinigung
aller ehrbaren athenischen Bürger, welche schon nach Voll-
endung des zwanzigsten Altersjahres daselbst Zutritt und
Stimmrecht erhielten. In ihr fühlten sich die Athener als
die Herren des Stats, jeder einzelne als ein Theil des Sou-
veräns. Das charakteristische Merkmal der demokratischen
Verfassung, dasz die Mehrheit herrsche, und jeder Bürger
Antheil an der obrigkeitlichen Macht habe, war hier völlig
ausgebildet. Jedem stand es frei, das Wort zu ergreifen und
zu dem Volke zu sprechen. Zu Solons Zeit noch gab das er-
fahrene Alter einen Vorzug, aber diese, wie die übrigen Be-
schränkungen der demokratischen Gleichheit wurden bald
lästig befunden und verworfen. Dem Sprachtalent wurde freier
Spielraum eröffnet, und die Gewalt der Rede elektrisirte und
lenkte die Menge schrankenlos. Ein Glück war es, wenn
grosze Statsminner wie Perikles, als Redner ihr Urtheil
bestimmten: aber häufiger noch bemächtigten sich schlaue und
ehrgeizige Demagogen der Gemüther, und indem sie es ver-
standen die Leidenschaften der Versammlung zu erregen und
ihrer Selbstsucht zu schmeicheln, regierten sie die Masse
wechselseitig. Von dieser groszen Wirkung der Rede haben
wir in dem modernen Stat keine völlig entsprechende Anschau-
ung mehr. Sie ergriff die Zuhörer massenhafter und stärker
als die Presse die zerstreuten Leser. Der Eindruck war un-
mittelbarer und lebendiger. Die Stimme des Redners, der
Glanz der Augen, die Gebärden desselben erhöhten die Be-
deutung und den Nachdruck seiner Worte, und die erregte
Stimmung der lauschenden und ihrer Macht bewuszten Menge
gab der Verhandlung einen gewaltigeren Schwung. Auch die
mündlichen Verhandlungen und Reden in unsern Parlamenten
haben nicht denselben Grad von Einflusz, theils weil die Ver-
sammlungen selbst viel kleiner und gewählter, theils weil sie
beschränkter in ihrer politischen Macht sind.
310 Viertes Buch. Die Statsformen.
Die Befugnisse dieser Versammlungen waren sehr aus-
gedehnt. Sie umfaszten das ganze Statsleben. Selon hatte
dieselben noch beschränkt auf die Wahlen der Magistrate,
die Controle der Regierung, und die Berathung über die Ge-
setze. Aber im Gefühl seiner Uebermacht übersehritt der von
den Rednern geführte Demos die Schranken der Solonischen
Verfassung. Die Volksbeschlüsse (tfrqpigfjiaTa) wurden
entscheidend, und der Demos beschlosz, wie ein absoluter
Despot, was ihm gefiel auch wider die Gesetze.2
Die eigentliche Gesetzgebung stand zwar nicht der Volks-
versammlung selbst, sondern den Nomotheten zu; aber auf
die Entscheidung dieser hatte die Verhandlung und Stimmung
jener einen meistens überwältigenden Einrlusz und die Nomo-
theten waren selber nur ein zahlreicher, im einzelnen Falle
gewählter Ausschusz der Volksversammlung. Dagegen ent-
schied die Volksversammlung Belbst die wichtigsten Kegierungs-
geschäfte. Sie selber hörte die Gesandten anderer Staten an,
ernannte Gesandte, berieth und bestimmte die Instructionen
derselben. Sie beschL»>z Krieg "der Frieden, erwählte die
Feldherren, regelte den Sold and BOgar die Art der Kriegs-
führung. Das Schicksal der eroberten Städte und Lander
wurde von ihr normirt. Sie verfügte aber die Aufnahme und
Anerkennung neuer Götter, über die religiösen Feste, über
neue Priesterthümer. Sie erth eilte Bürgerrechte und Privile-
gien. Ueber den Zustand der Finanzen, die Kinnahmen und
Ausgaben der Republik muszte ihr in jeder Prytanie (zu 35
oder 36 Tagen um) KechensebalL abgelegt werden. Von ihr
wurden die Steuern auferlegt, die Schirmgelder der Metöken
bestimmt, das Münzwesen geordnet, zu freiwilligen Beiträgen
aufgefordert. Die Bauten der Tempel und öffentlichen Ge-
bäude, der Straszen, Mauern u. s. f., sowie die wiehtigen Aus-
gaben für den Schiffsbau bedurften ihrer Genehmigung und
■ Vgl. Aristot. Pol. IV. i, i u. (i.
Siebentes Cap. II. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. 31 1
die wesentlichen Aufträge dafür gab sie selber, Sie verwen-
dete die Statsgelder auch zum Privatvergnügen der einzelnen
Bürger, indem sie diesen den Besuch der Theater bezahlen
liesz. Die regelmäszige Strafgerichtsbarkeit war der Volks-
versammlung zwar entzogen, aber in auszerordentlichen Fällen,
insbesondere wo das Gesetz ein Verbrechen nicht vorgesehen
hatte, oder erschwerende Umstände auszergewöhnliche Masz-
regeln zu rechtfertigen schienen, wurden auch Criminalklagen
vor derselben verhandelt und von ihr die Strafe bestimmt, oft
auch das Schuldig ausgesprochen. • Die Entartung, welche
rasch auf die Blüthezeit der Demokratie folgte, begünstigte
die Miszbräuche dieser Volksjustiz.
In der Volksversammlung hatte die Mehrheit der an-
wesenden Bürger den Entscheid. Aber selbst in Athen, wo
die geistige Bildung auch der untern Schichten der freien
Bürger höher stand, als seither in irgend einem Lande, unter
einem Volke, welches die Tragödien von Aeschylos und Sophokles
zu würdigen wuszte, vor welchem die Reden des Demosthenes
gehalten wurden, selbst in Athen, wo durch Handel und Herr-
schaft sich grosze Keichthümer aufhäuften und reichlicher
Verdienst jede Arbeit lohnte, war die Mehrheit unfähig, den
Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und ungeneigt,
eine gerechte Herrschaft zu üben. Die Minderheit der edleren
und der reicheren Bürger wurde auch von dieser Mehrheit
gedrückt und miszhandelt, und Xenophon konnte es, im
Hinblick auf seine Vaterstadt Athen, als eine nothwendige
Consequenz der Demokratie erklären, „dasz in ihr das Loos
der Schlechten besser sei als das der Guten."3
3 Xenophon über den Stat der Athener. I. 1. Ebenda (II. 19-)
versichert er, „das Yolk der Athener wisse recht wohl zu unterscheiden
zwischen guten und schlechten Bürgern. Aber es ziehe die Schlechten
vor, die ihm zu Willen seien, und hasse die Guten; denn es sei über-
zeugt, dasz die Tugend Einzelner nicht zum Wohl der Menge, sondern
zu ihrem Schaden in der Welt sei, und ihnen liege nichts daran, dasz
312 Viertes Buch. Die Statsformcn.
Die Allmacht der Volksversammlung sollte freilich nach
der Solonischen Verfassung durch den Eath zum Theil be-
schränkt, zum Theil geleitet werden. Den Eath selber hatte
Solon auf die aristokratische Ordnung des Volkes nach den
vier Stämmen basirt, und indem er die Bürger je nach ihrem
Vermögen in vier Classen theilte, und den oberen und reicheren
Classen schwerere Pflichten und höhere Eechte im State an-
wies, auch dem Vermögen und der Bildung im Bathe das
Uebergewicht übef die niedere Menge zu sichern gesucht.
Allein auch den Eath nahm seit Klisthenes (510 v. Chr.) die
Menge ganz und gar für sich in Anspruch. Der Eath der
500 war selber eine kleine Volksversammlung, ohne Bücksicht
auf Vermögen und Bildung aus der gleichen Menge der Bürger
hervorgegangen, nicht einmal durch die Wahl auserlesen, son-
dern durch das Loos zusammengewürfelt, und ebenso durch
das Loos in zehn Bureaux (Prytanien) von je 50 Eäthen ver-
theilt, welche alle 36 Tage in der Leitung der Geschäfte
wechselten. Von einer selbständigen Autorität eines derartigen
Eathes der Menge gegenüber, aus welcher er wie der auf die
Höhe getriebene Schaum des Champagners wechselnd empor-
stieg, und in welcher er wieder nach kurzer Frist sich auf-
löste, konnte keine Bede mehr sein. Er diente blosz dazu, die
äuszere Besorgung und Einleitung . der Geschäfte der Menge
zu erleichtern, und die Selbstregierung dieser möglich zu
machen.
Die Archonten, in älterer Zeit hohe Magistrate , ur-
sprünglich Eupatriden, nach der Solonischen Verfassung aus
der Classe der Beichsten (der Pentakosiomedimnen) gewählt,
wurden, als einmal die Demokratie zu freier Entfaltung ge-
langt war, durch das Loos bestellt, zu welchem jeder Bürger
nun, ohne dasz ferner auf Geburt oder Vermögen oder Bil-
dung geachtet wurde, zugelassen wurde, und sanken herab zu
der Stat wohlgeordnet sei, sondern daran nur, dasz die Menge frei und
Herrscher sei/ (I. 8.)
Achtes Capitel. Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie. 313
bloszen Dienern des Demos und machtlosen Vorsitzern der
zahlreichen Gerichtshöfe. Diese selber waren wieder ganz de-
mokratisch bestellt, und wiederum eine Art von Volksversamm-
lung. Nicht weniger als 6000 Geschworne nahmen an den
Gerichtsverhandlungen Theil, und je nach der Wichtigkeit der
Processe urtheilten Hunderte oder Tausende von Geschworenen.
Die Sucht der Massen, an dem Solde und an der Autorität
der Richter Theil zu nehmen , von Aristophanes in den
Wespen gegeiszelt, ward zu einer chronischen Krankheit Athens,
und auf diesem Boden ging das schändliche Gewerbe der Syko-
phanten wuchernd auf. Derlei Volksgerichte betrachteten sich
mehr als Beschützer und Förderer der Volksherrschaft, und
kümmerten sich mehr um politische Parteikämpfe und Partei-
interessen, als um die Handhabung des unparteiischen Rechts.
Sie wurden so zum Tummelplatze der öffentlichen und Privat-
leidenschaften; die Bestechlichkeit der Sykophanten und der
Richter selbst nahm überhand, und in Form Rechtens wurde
die äuszerste Willkür und Despotie der Menge geübt.4
Achtes Capitel.
Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie.
In der begabten Natur der Athener und in der glänzen-
den Geschichte ihrer Stadt spiegeln sich die Eigentümlich-
keiten, die Vorzüge und Gebrechen der unmittelbaren Demo-
kratie für alle Zeiten ab.
Die Demokratie liebt die Freiheit mehr als die Auto-
rität. Die Freiheitsliebe der Athener hat vornehmlich die
reiche Entfaltung der ewig-jungen und ewig-schönen Werke in
Kunst und Wissenschaft hervorgebracht, welche die Bewunde-
4 Ueber die Verfassung Athens ist vorzüglich das treffliche Buch
von K. Fr. Herrmann, Griech. Statsalterthümer, zu vergleichen.
314 Viertes Buch. Die Statsformen.
rang der Nachwelt erhält und verdient. Aber die demokra-
tische Freiheit Aller wird zugleich als Herrschaft der
Mehrheit verstanden. Die Bürgerschaft will in Per-
son, d. h. durch grosze Volksversammlungen den Stat re-
gieren. Diese hinwieder sind nur möglich in kleinen Staten,
und bei einem Volke, welches Musze hat sich mit Stats-
geschäften regelmäszig zu befassen, also nur unter der Vor-
aussetzung, dasz entweder die Lebensverhältnisse des Volkes
äuszerst einfach und die Statsgeschäfte gering sind, wie der-
gleichen etwa in den Gemeinden abgeschlossener Bergthäler
vorkommt, oder dasz die Masse der täglichen Arbeit von Per-
sonen besorgt wird, welche nicht zur Bürgerschaft gehören.
Bei einem gebildeten Volke ist daher die reine Demokratie
Aller immer eine Unwahrheit, indem ihre Existenz eine die-
nende, unfreie Bevölkerung voraussetzt.
In dies<'n giooen ^olksrersaminlangen aber entwickelt
sich leicht ein Gefühl von unbeschrankter Macht, welches
hinwieder das Volk zu Miszgriffen jeder Art verleitet, und
leichi launische Willkür an die Stelle des Rechtes setzt. Der
Einzelne für sich ein ehrbarer und besonnener Mann, wird in
der Versammlung als unbemerktes Glied einer zahlreichen
und imposanten Menge von dem öeiste und den Leidenschaften
der Masse ergriffen , und zu Willensfinszerungen fortgerissen,
die er kurz vorher noch des bestimmtesten verworfen bat. Ist
einmal durch die Redner, welche, um Eindruck zu machen,
genöthigt sind auch die Saiten der Volksleidenschaften anzu-
spielen, die Stimmung der Menge wie eis brausender Strom
in Bewegung gesetzt, so hält selbst die Scham das Volk nicht
zurück, alle widerstrebenden Schranken zu durchbrechen und
maszlos zu fiberflnthen. '
1 Edm. Burke spricht das schön am: ., W<> die Autorität de* Vol-
kes absolut und unbeschränkt ist, da hat das Volk auch ein Oaendliofa
gröszeres, weil ein besser gegründetes Verträum auf seine Macht. Es
M -<'ll>st, bei groszen Maszregeln, sein eigene- 'Werkzeug, während der
Achtes Capitel. Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie. 315
Soll die reine Demokratie daher eine gute Verfassung
sein, so musz die Bürgerschaft in ihrer Mehrheit politisch
fähig und tüchtig, d. h. die Einsicht der Menge musz
ausgezeichnet und ihr Charakter vortrefflich sein. Es ist aber
immerhin eine sehr bedenkliche Erfahrung für diese Statsform,
dasz selbst in Athen, unter einem geistig so hochgebildeten
Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in
der Gefahr grosz zeigte, somit eine ausgezeichnete Anlage
hatte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer Zeit
vor der Entartung und dem Verfall bewahrte. Ja selbst in
der Periode ihrer höchsten Blüthe und Herrlichkeit beruhte
ihre Grösze vornehmlich darauf, dasz das Volk nicht seinen
Willen selber bestimmte, sondern der Autorität und Leitung
eines groszen Statsmannes völlig vertraute, dasz Einer die
Menge factisch beherrschte. Thukydides* sagt von den Zeiten
des Perikles: „Den Werten nach war Athen eine Demokratie,
in der Wirklichkeit aber war der Stat unter der Herrschaft
des Ersten Mannes."
Die Tugend der Menge, wenn sie den berauschenden
Wein der Macht getrunken, hält nicht Stand. So lange noch
die religiöse Scheu vor der Gerechtigkeit Gottes lebendig ist
in ihrem Herzen, so lange noch die Sitte und das Gesetz sie
in Schranken hält, und die Achtung vor der überlegenen
Autorität der Besten waltet, so lange allerdings kann auch die
demokratische Form der Herrschaft bestehen, und es ist nicht
zu verkennen, dasz dann auch die Masse der Individuen des
Fürst ohne die Hülfe Anderer nichts thun kann. Es ist dem Gegen-
stande seiner Herrschaft näher. Daher steht es weniger unter der Ver-
antwortlichkeit jener groszen controlirenden Macht auf Erden, dem Ur-
theil des guten Rufes und der Ehre. Die Furcht vor der Schande, an
welcher jedes Individuum, wenn es sich um öffentliche Dinge handelt,
Theil hat, ist für das Yolk nur gering, indem die Selbständigkeit der
öffentlichen Meinung in einem umgekehrten Yerhältnisz zu der Zahl
derer steht, welche die Macht miszbrauchen. Eine vollendete Demokratie
ist daher das schamloseste Ding auf der Welt,"
* Thid-ydiä, IL 65.
316 Viertes Buch. Die Statsformen.
demokratischen Volkes durch die Beschäftigung mit den Öffent-
lichen Angelegenheiten gehoben wird, und sich vor den bür-
gern anderer Staten durch eine reichere und selbstbewusztere
Entwicklung ihrer Anlagen auszeichnet. Jeder Einzelne musz.
weil er Theil an der gemeinsamen Herrschaft hat, seine Blicke
über die enge Gränze seines Bernfes hinaus richten, er wird
vertrauter mit den groszen Gesetzen der Geschichte, und dem
Gesammtleben der Völker. Seine politischen Fähigkeiten
werden ausgebildeter, seine Kräfte gesteigert, und im Verkehr
mit denselben Clanen anders regierter Völker zeiizt er sich in
manchen Dingen diesen überlegen. Aber bald Lftszt jene Sehen
und Achtung nach, und es nimmt EUgleidh, da die wohlthätige
Zweiheit der andern Statsf« rmen, der Kegent und die Regier-
ten, hier fehlt, das Gefühl einer äusxerlich Dicht beschränkten
Macht und der Miszoraucfa derselben überhand. Dann kommen
die schlechten Eigenschaften in der Blasse zu Eügelloser Bnt-
faltung, und gerade die bessere und edlere Minderheit, deren
Dasein schon die niedrige Menge wie »'inen Vorwurf empfindet,
und wie einen Protest gegen ihre Berrsehafl betrachtet, wird
nun beneidet, gehassi und unterdrückt. Qebermnth, Launen-
haftigkeit, Maszlosigkeit, die Bucht zu häufiger und eitler
Neuerung, Willkür, Rohhtit wuchern in dem Demos empor,
und je weniger er in Wahrheit rieb selbst beherrscht, desto
drückender wird seine Herrschaft über andere. Bfl bilden sieh
Parteien, in irelcheo der Haa gegen einander starker ist
die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, and welche dieses
zerfleischen, indem sie einander auf Tod und Lehen bekämpfen.
Der Stat verfällt in wechselnde Schwankungen v<dler Unsicher-
heit und Gefahr, und geht in dem [Jebermasz der Beweglich-
keit /.n Grunde. So war die Blüthezeil der athenischen De-
mokratie zwar überaus glänzend, aber stdir kurz, und ein langer
Verfall, von dem sich der Stat nicht wieder erholte, folgte
ihr auf dem Fusze nach.1*
3 Die Qlansptriode beginnt mit Disthenei Mit r. (In . welcher /u-
Achtes Capitel. ßeurtheilung der unmittelbaren Demokratie. 317
Eine charakteristische Eigenschaft jeder Demokratie ist
die Vorliebe für das Princip der Gleichheit, In Athen
wurde die politische Gleichheit der Bürger in ihrer Einseitig-
keit so consequent ausgebildet, wie in den neueren Demokratien
nirgends mehr. Wo es irgend möglich schien, handelte die
Masse der gleichen Bürger selbst, denn die Kepräsentation
durch einzelne Auserwählte begründet schon einen Vorzug und
Vorrang dieser. Wo aber dennoch einzelne Beamte oder Käthe
bestellt werden muszten, da zogen die Athener in der Kegel
der unterscheidenden und die für besser geachteten Männer
aussondernden Wahl das blinde Loos vor, welches unbeküm-
mert um die höhere Einsicht und Tugend Einzelner in die
gleiche Masse greift und bald diesen bald jenen hervorzieht;
und damit nicht etwa der Vorzug des Amtes, wenn es an-
daure, doch wieder die Beamten über die Menge erliebe,
begegneten ßie «lieser Gefahr durch häufigen Wechsel der ge-
loosten Würdeträger. ' Schon die Existenz von Beamten, die
Gehorsam fordern, ist dem demokratischen Grundsatze der
Gleichheit aller Bürger zuwider; erscheint dieselbe unentbehr-
lich und unvermeidlich, 30 soll daher diese Art der Ungleich-
heit durch das Loos und den Wechsel gemildert werden. Die
Gleichheit nämlich, auf welcher die Demokratie beruht, ist
die Gleichheit der Zahl. Ihr Ausdruck ist nicht: ,, Jedem
nach seinen Verhältnissen, u sondern: ,, Einer wie
der andere."5
Eine andere Consequenz dieser demokratischen Rechts-
gleichheit ist der Ostracismus, bei den Griechen in offener,
theilweise sogar ehrenvoller Form ausgebildet, in den neuern
Demokratien nicht formel anerkannt, aber von Zeit zu Zeit
erst die reine Demokratie einführte, und endigt schon mit dem Tode
des Perikles 428, hat also nur etwa 82 Jahre gedauert.
* Ygl. Aristot. Pol. VI. 1, 8.
5 Aristoteles bezeichnet den Gegensatz Pol. V. 1, 7. und VI. 1, 6.
vTo taov x«r' ccqtd-fxov clXXu {uy xr«' u^iccv.*
318 Viertes Buch. Die Statsformen.
thatsächlich , und dann zuweilen auch in schmählicher Weise
geübt. Jede Verfassung musz, wenn sie bestehen soll, die
mit ihrem Bestand unverträglichen Elemente ausstoszen können.
Insofern ist die reine Demokratie nicht zu tadeln, wenn sie
einzelne Bürger, welche durch ihre persönliche Ueberlegenheit
die allgemeine Gleichheit gefährden, verbannt, wie die Athener
ihre ersten Männer und Wohlthäter verwiesen haben. Aber
es ist ein bedenkliches Zeugnisz für den Werth der demokra-
tischen Statsform, dasz sie eher noch die Schlechtigkeit der
Massen, als die hervorragende Grösse einzelner Individuen
erträgt.
Fassen wir das Resultat dieser Untersuchung zusammen.
Die unmittelbare Demokratie , wie sie vorzuglich in den grie-
chischen Staten erschienen ist, ist eine zunächst nur für kleine,
und vorzüglich für einfache und gleichmäszig in alter frommer
Sitte verharrende, Ackerbau oder Viehzucht treibende Völker-
schaften geeignete.'1 für höhere Culturvölker und reichere
Lebensverhältnisse aber momentan zwar anregende, aber in
kurzem verderbliche und ungenügende Statsform. Unter der
erstem VoTMssetznng erseheini sie sowohl natürlicher als ge-
mflszigter, unter der letzteren dagegen zur Cebertreibnng und
Schrankenlosigkeit geneigt Die Freiheit, welche sie ver-
Bpricht, wird dann leicht zu ungerechter Bedrückung gerade
der edleren Elemente, und zu roher Herrschsucht und Zügel-
losigkeit der Menge, und die Gleichheit, auf welcher sie be-
ruht, ist, sobald das entwickeltere Leben seine GtegensÜM und
Unterschiede hervorgebracht hat, eine augenfällige Lüge und
das entschiedenste Unrecht. 7
6 Aristoteles Pol. VI. 2, I ff. führt diesen Gedanken, welcher in
Griechenland eichon und spStei in der Schweiz durch die Erfahrung
bewährt wurde, näher aus.
7 Sehr wahr sagt Cicero de Rep. [.26: vQuuni omni« per popuhui
geruntur quamvis justum atque moderatum, tarnen ar/fiinhilitas eil iwiqua,
quum kabeai miUo$ grodus dignitatü
Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (modernej Demokratie. 319
Neuntes Capitel.
B. Die repräsentative (moderne) Demokratie.
Die unmittelbare Demokratie hat sich nur ganz
ausnahmsweise auch in der modernen Welt erhalten, unter
besonders günstigen Verhältnissen, und überdem in Vergleich
mit der athenischen Form sehr gemäszigt und gemildert; so
vorzüglich in den Bergkantonen der Schweiz, wo noch alljähr-
lich die Landsgemeinde aller freien Männer zusammentritt,
und die obersten Aemter und Worden der schlichten Kepublik
gewöhnlich aus den angesehensten Familien des Landes, durch
jubelndes Handmehr besetzt, und die Gesetze sanctionirt, die
vor. den Käthen vorbereitet sind. Diese einfachen von der
Strömung des europäischen Lebens bis auf unsere Zeit wenig
berührten Demokratien sind in der Tliat durch ihr mehr als
fünf hundertjähriges Alter, durch eine an männlichen Zügen
reiche, nur selten durch Gewalttaten befleckte Geschichte und
durch die Bewahrung schlichter Sitten und eines friedlichen
und glücklichen Daseins ehrwürdig. Aber selbst da ist in
neuerer Zeit die Richtung, diese Demokratie in eine reprä-
sentative umzuwandeln, eingesehlagen worden, und die De-
mokratien der übrigen schweizerischen Kantone, wie
die der Vereinigten Staten von Nordamerika haben
alle einen repräsentativen Charakter. Wo heut zu Tage de-
mokratische Parteien sich regen, streben sie fast überall der
repräsentativen Form der Demokratie als ihrem Ideale nach.
Auch das demokratisch bewegte Frankreich der Jahre 1793
und 1848 hatte diese Verfassung gewählt. Man darf daher
wohl die repräsentative Demokratie für die moderne
Form dieser Art des States erklären.
1. Die moderne Demokratie hat durchweg eine breitere
Grundlage als die antike, gerade deszhalb aber auch meh-
rere Stufen der Ausübung politischer Rechte. Der vierte
320 Viertes Buch. Die Statsformen.
Stand war im Alterthum gewöhnlich eine Sclavenbevölkerung,
in neuerer Zeit aber wird auch er zu dem demokratischen
Volke gerechnet. Aus gleichem Grunde kann auch unmöglich
jeder für gleich fähig angesehen werden, die Statsgeschäfte
zu besorgen; und wenn auch allen Bürgern aller Classen
in der repräsentativen Demokratie der Zutritt zu den Würden
und Aemtern des States eröffnet wird, so ist doch das Loos
als ein Mittel die Einzelnen zu Würdeträgern und Beamten
zu bezeichnen, überall verworfen, und die aristokratische
Form der Wahl allgemein eingeführt worden. Ich sage,
nach dem Vorbild der Alten, mit Absicht: die ,, aristokratische"
Form der Wahl, denn sie setzt die Unterscheidung und den
Vorzug der Bessern und Fähigem vor der Menge, d. h. die
Ungleichheit voraus. Es ist somit die repräsentative Demo-
kratie immer ermäszigt durch das aristokratische Element
einer auserwählten Minderheit, durch eine Wahlari-
stokratie,1 welche zwar das Volk als das höhere und herr-
schende anerkennt, aber in der Regel doch in dessen Namen
über die Menge die Herrschaft ausübt.
Eine andere Aristokratie dagegen, als diese durch wech-
selnde Wahlen aus dem gleichberechtigten Volke hervorgezo-
gene Minderheit, wird in keinem dieser Staten mehr anerkannt.
Die Patriciate in den schweizerischen Kantonen Bern,
Freiburg, Solothurn und Luzern, welche in den letzten
Jahrhunderten einen abgeschlossenen und erblichen Herrscher-
stand bildeten, sind seit der helvetischen Revolution von 1798
ihrer Vorrechte entkleidet und aufgelöst worden. Den Stadt-
bürgern, welche in andern Kantonen, in Zürich, Basel,
Schaffhausen früherhin ebenso als abgeschlossene Corpora-
tion die souverainen Rechte der Städte über die groszentheils
erkauften Herrschaften und Municipalstädte der Landschaften
ausübten, sind von dem nämlichen Zeitpunkte an die Land-
1 Vgl. K. S. Zachariä XL Bücher vom State. Buch 18. Abth. 2.
Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (moderne) Demokratie. 321
bürger als gleichberechtigte Statsbürger zur Seite getreten.
Diese beiderlei Evolutionen waren durch veränderte Verhält-
nisse nicht minder als durch veränderte Eechtsbegriffe gerecht-
fertigt. 2
In Nordamerika hatten schon die ersten europäischen
Pflanzungen einen demokratischen Charakter. Die wenigen
vereinzelten Individuen, welche zum englischen Adel gehörten,
kamen nicht in Betracht neben der Masse der bürgerlichen
und bäuerlichen Einwanderer, welche sich in den weiten Län-
dern niederlieszen und Eigenthum erwarben. Eine demokra-
tische Gemeinde Verfassung und Gemeindefreiheit war die Grund-
lage der politischen Institutionen der neuen Staten. Nur in
den südlichen Colonien ward durch die Einführung der Neger
ein Gegensatz der Bässen begründet, diese aber als Sclaven
von allen politischen Rechten ausgeschlossen. Die Gegensätze
des Reichthums und der Armuth, der Bildung und der Un-
bildung wurden in der Folge freilich auch sichtbar, aber sie
wurden durch häufigen Wechsel in den Familien und Personen
durcheinander gewürfelt. Die Gleichheit der Verhältnisse
blieb bisher ein vorherrschender Charakterzug des Volks. In-
dessen legten die reinsten Republikaner wie Washington fort-
während einen hohen Werth auf die Eigenschaften eines Gent-
leman, wenn es sich um Besetzung der Aemter handelte, und
nahmen so factische Rücksicht auf die natürlichen aristokra-
tischen Elemente der modernen Welt.3
In dem demokratischen Frankreich hatten sowohl die
von Alters her überlieferten, als die neu entstandenen aristo-
kratischen Bestandteile und Bildungen der Nation dem Hasse
der Revolution und der in den Sitten weniger als in den Be-
2 Mediationsacte Ton 1803. XX. 3: „II n'y a plus en Suisse ni
pays sujets, ni Privileges de lieux, de naissance, de personnes ou de
familles." Bluntschli schweizerisches Bundesrecht I. S. 474. Bundes-
verf. von 1848. §. 4,
3 Tocquevüle de la democratie en Amerique. Tom. I.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 21
322 Viertes Buch. Die Statsformen.
griffen des französischen Volkes allgewaltigen Gleichkeitsidee
weichen müssen.
2. Einzelne wichtige Dinge werden indessen anch in der
repräsentativen Demokratie gewöhnlich nicht an die Kepräsen-
tanten des Volkes übertragen, sondern bleiben der unmittel-
baren Thätigkeit der Bürgerschaft selbst vorbehal-
ten. Dahin gehören:
1) die Abstimmung über Verfassungsgesetze. In
der Schweiz ist der Grundsatz, dasz Verfassungsgesetze der
Zustimmung der Mehrheit aller Bürger bedürfen, seit dem
Jahr 1830 ziemlich allgemein anerkannt, wobei übrigens nach
der richtigen Hechnung die Bürger, welche sich der Abstim-
mung enthalten, nicht gezählt werden.4 In den nor damer i-
kanischen Republiken dagegen kommt anstatt der Abstim-
mung durch die ganze Bürgerschaft, auch die Abstimmung
durch eine zu diesem Behuf gewählte, zahlreiche Repräsen-
tation derselben (Convent, Verfassungsrath) vor;
2) zuweilen auch die Abstimmung über andere Gesetze,
entweder in der positiven Form der Sanction, so dasz
dieselben erst durch die Annahme von Seite der Bürgerschaft
Gültigkeit erlangen, oder in der negativen Form des Veto,
so dasz der Bürgerschaft die Befugnisz zusteht, den von dem
repräsentativen Körper beschlossenen Gesetzen durch ihre Ein-
sprache die Gültigkeit zu versagen. Wo die letztere Form
gilt, da werden nur die verneinenden Bürger gezählt, und ist
das Gesetz verworfen, wenn ihre Zahl die Hälfte der Gesannnt-
bürgerschaft übersteigt. Nach der ersteren Form werden nur
4 Verfassung von Zürich §. 93: „Wird der Vorschlag (einer Ver-
fassungsänderung nach wiederholter Berathung durch den groszeo Ruth)
angenommen, so ist das dieszfällige Gesetz noch der gesummten Bürger-
schaft des Kantons zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen.1* Seh wo lli r.
Bundesverf. von 1848. Art. 6: „Der Bund übernimmt die Gewährleistung
(der Kantonalverfassungen), insofern sie — c) vom Volke angenommen
worden sind und revidirt werden können, wenn die absolute Mehrheit
der Bürger es verlangt."
Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (moderne) Demokratie. 323
die abstimmenden Bärger gerechnet, und die Mehrheit derselben
bestimmt die Annahme oder die Verwerfung. Beide Institute
sind der reinen Demokratie entlehnt. Beide haben daher auch
für die den Massen weniger verständlichen Bedürfnisse einer
höhern Cultur ihre Gefahren, und geben leicht zu Agitationen
der Menge Veranlassung. Sie werden in einzelnen Kepräsen-
tativdemokratien der Schweiz geübt.
3) Die Wahlen der Mitglieder des gesetzgebenden
Körpers. Meistens ist bei diesen Wahlen das mathematische
Princip gleicher Wahlkreise und der bloszen Kopfzahl der
Wahlart zu Grunde gelegt, seltener organische Gliederungen,
wie z. B. die Gemeinden. Die Vertretung wird daher gewöhn-
lich unvollständig und allzusehr von bloszen Parteirichtungen
bestimmt. Es ist das indessen ein Fehler, welcher mit der
repräsentativen Demokratie keineswegs nothwendig verbunden
ist, noch bei ihr allein vorkommt. Die Wahl der Kammern
in der neuen constitutionellen Monarchie leidet häufig an dem-
selben Uebel.
3. Die regelmäszige Ausübung der höchsten
Statsgewalt wird gewöhnlich den groszen Kepräsenta-
ti wer Sammlungen zugeschrieben, welche so als die vor-
züglichste und umfassendste Stellvertretung des souveränen
Volkes gewählt sind.
Im Mittelalter waren die groszen Käthe in den
schweizerischen Städtekantonen, und die Landräthe in
den Ländern nur eine Erweiterung der eigentlichen
Käthe, in welchen die Obrigkeit der Stadt oder des Lan-
des concentrirt war, eine Erweiterung durch Ausschüsse der
Bürger und Landleute für die wichtigeren Angelegenheiten,
in den Städten namentlich auch für die Gesetzgebung. In der
neuern Zeit aber sind die groszen Käthe von den Kegierungen
getrennt, über diese gestellt, und zu dem beauftragten Träger
der Souveränetät erhoben worden.5 Eine ähnliche Stellung
5 Zürcherverfassung von 1831. §.38: „Die Ausübung der hoch -
21*
324 Viertes Buch. Die Statsformen.
nimmt in der schweizerischen Bundesverfassung die aus zwei
Räthen bestehende Bundesversammlung ein, der Bundes-
regierung gegenüber. 6
In Nordamerika besteht der Nationalcongresz
und der gesetzgebende Körper der Eiuzelstaten aus zwei
Kammern, die noch schärfer von der Regierung getrennt sind,
und in ihrer Vereinigung in der Regel wieder die gesetz-
gebende Gewalt ausüben.
4. An der eigentlichen Regierung nimmt das Volk
selbst da nicht mehr unmittelbaren Antheil in neuerer Zeit,
wo sich für die Gesetzgebung die reine Demokratie erhalten
hat. Dieselbe wird in allen neuern Demokratien nicht von
dem Volke selbst, sondern im Namen des Volkes, und
somit durch beauftragte Stellvertreter des Volkes ver-
waltet. In den einen Ländern hat sich indessen das Volk doch
die Wahl des Hauptes der Regierung selber vorbehalten. In
den nordamerikanischen Freistaten werden die Statthalter ge-
wöhnlich von der gesammten Bürgerschaft gewählt, ebenso die
Statsräthe von Genf. 7 In andern dagegen ist die Wahl dem
gesetzgebenden Körper übertragen, der somit auch darin das
Volk repräsentirt, dasz er die obersten Aemter bestellt. Dem
letztern System huldigen die meisten schweizerischen Republiken,
deren grosze Räthe die Regierung und das oberste Gericht
bestellen, und einige Einzelstaten Nordamerika^. Nach dem
ersteren System ist die Regierungsgewalt offenbar selbständiger
sten Gewalt nach Vorschrift der Verfassung ist einem öroszen Rathe
übertragen. Ihm steht die Gesetzgebung und die Oberaufsicht über die
Landesverwaltung zu. Er ist Stellvertreter des Cantons nach auszen."
Cherbuliez, de la demoeratie en Suisse. II. S. 35 ff.
6 Bundesverfassung von 1848. §. 60: „Die oberste Gewalt des
Bundes wird durch die Bundesversammlung ausgeübt, welche aus zwei
Abtheilungen besteht: a) aus dem Nationalrath, b) aus dem Ständcrath."
7 Ebenso war es nach der französischen Verfassung von 1848. Art. 43:
„Le peuple frangais delegue le pouvoir executif u un citoyen qui reeoit
le titre de president de la Republique." Tocquevüle de la demoeratie
en Amerique. Tom. I.
Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (moderne) Demokratie. 325
und mächtiger, zumal im Verhältnisz zu dem gesetzgebenden
Körper, weil die Vertreter derselben nicht minder als dieser,
in gewisser Beziehung sogar in höherem Masze das persönliche
Vertrauen des Volkes für sich haben; nach dem letztern da-
gegen ist die Eegierung abhängiger von dem gesetzgebenden
Körper, dem sie ihr Dasein zu verdanken hat. Es läszt sich
daher auch eher nach jenem als nach diesem eine wechsel-
seitige Beschränkung je der einen Repräsentation des Volkes
durch die andere ausbilden.
5. Die Rechts pflege wird zwar wieder im Namen des
Volkes gehandhabt, die Richter aber, für welche besondere
wissenschaftliche Eigenschaften erfordert werden, werden in
der Regel nicht von dem Volke selbst, sondern entweder wie
in Nordamerika und in dem demokratischen Frankreich von
der Regierung oder wie in der Schweiz von den groszen Käthen
bezeichnet. Einen unmittelbaren Theil an der Verwaltung
der Rechtspflege nimmt das Volk in der Geschw ornen Ver-
fassung, indem die Geschwornen aus der Masse der Bürger
durch wechselndes Loos bestellt werden.
6. Von besonderer Bedeutung ist in allen repräsentativen
Demokratien die Gemein de Verfassung. Sie bildet den
soliden Unterbau der ganzen Statsordnung. In den Gemeinden
werden die Bürger zur Theilnahme an den öffentlichen Ange-
legenheiten, zur Selbstverwaltung und zu bürgerlicher Freiheit
erzogen. Da wird es auch — wenigstens in kleineren und
vorzüglich in den Landgemeinden noch möglich, dasz die Bür-
ger zur Gemeindeversammlung zusammen treten. In den
gröszern vorzüglich den Stadtgemeinden tritt auch da eine
Repräsentation der Bürgerschaft an die Stelle der Gemeinde-
versammlung. Sowohl die schweizerischen als die nordameri-
kanischen Republiken beruhen geschichtlich auf einer freien
Gemeindeverfassung; und wenn das in Frankreich anders ist,
so ist das zugleich ein Zeichen, dasz der französische Stat
wenig Anlage zur Republik hat.
326 Viertes Buch. Die Statsformen.
Abgesehen also von der immerhin beschränkten unmittel-
baren Ausübung der Volks herrschaft ist in der repräsentativen
Demokratie die Kegel die, dasz das Volk nur durch seine
Beamten regieren und durch seine Stellvertreter
die Gesetze geben und die Controle über die Verwaltung
des States besorgen läszt. Insofern nähert sich diese mo-
derne Statsform schon bedeutend den Staten an, in welchen
der Gegensatz des Regenten und der Regierten ausgebildet
erscheint.
Zehntes Capitel.
Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie.
Montesquieu hat bekanntlich die Tugend für das Princip
der Demokratie erklärt. Die Tugend aber setzt als politisches
Princip moralische Würdigung der Herrschenden und
nicht die Gleichheit Aller voraus, und jene finden wir keines-
wegs in der reinen Demokratie anerkannt. Nur das ist wahr:
ein gewisses Masz von Tugend der Volksmasse ist ein unent-
behrliches practisches Erfordernisz einer guten Demokratie,
dessen Mangel sofort den Verfall dieser Statsform nach sich
zieht. Eher läszt sich behaupten, dasz die Tugend in der
Repräsentativdemokratie zum politischen Princip
erhoben worden sei, denn in der That in dem Princip der
auserwählten Repräsentation liegt nicht allein eine Ermäszi-
gung, sondern zugleich eine Veredlung der Demokratie,
durch welche diese die Vorzüge auch der aristokratischen Form
sich anzueignen sucht.
Das Princip deselben ist: Die Besten des Volkes
sollen in dessen Namen und Auftrag regieren. Die
grosze Schwierigkeit aber liegt darin, die Wahl so zu orga-
nisiren, dasz wirklich die Besten an Gesinnung und Einsicht
zu Repräsentanten der Volksherrschaft gewählt werden.
Zehntes Capitel. Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie. 327
Man ist in unserer Zeit geneigt, diese "Wahlen einfach
nach Maszgabe der Kopfzahl der Wahlen zu vertheilen.
Diese Neigung entspricht dem demokratischen Zuge der Zeit;
denn in der That die Demokratie legt auf die Gleichheit
Aller einen entscheidenden Werth und gelangt daher in ihren
Einrichtungen leicht zu mathematischen Normen. Sie zählt
die gleichen Bürger, und nach ihrer Zahl sucht sie ihnen
gleiche Eechte beizulegen.
Indessen paszt dieses System der Kopfzahl offenbar besser
zu der unmittelbaren Demokratie, welche auch die Ausübung
der Herrschaft gleichmäszig über die ganze Bürgerschaft ver-
breitet, als zu der Kepräsentativdemokratie, welche unter den
Bürgern nach ihrer höheren oder geringeren Würdigkeit unter-
scheidet und nur den Bessern die Verwaltung der öffentlichen
Angelegenheiten anvertraut. Die letztere Statsform nimmt auf
die Qualität der Gewählten Kücksicht, und eben darum ist
es für sie nicht ebenso natürlich, bei der Yertheilung der
Wahlkreise nur die Quantität in Anschlag zu bringen. Ueber-
dem werden die Gebrechen dieses Princips in der repräsen-
tativen Demokratie bedeutend gesteigert. Wenn in der un-
mittelbaren Demokratie die gesammte Bürgerschaft an einem
Orte beisammen ist, so ist diese Versammlung doch in Wahrheit
nicht eine blosze Summe von einzelnen gleichen Individuen,
sondern es macht sich in der Masse die Autorität der ange-
sehensten Männer geltend; die Magistrate, die Kedner, die
über das Niveau emporragen, üben einen Einflusz aus, und es
kann sich eher auch in der Mehrheit eine Meinung bilden,
welche dem Volke als einem Ganzen nach seiner wahren Natur
entspricht. In der repräsentativen Demokratie dagegen ist das
Volk nicht so vereinigt, sondern die Bürgerschaft wird in so
und so nele Parcellen zertheilt, welche der Kopfzahl nach
zwar einander gleich sind, wenn aber auf ihre Eigenschaften
gesehen wird, in einem sehr verschiedenen Verhältnisz
zu der Gesammtheit stehen, mithin sehr ungleiche Theile
328 Viertes Buch. Die Statsformen.
des Volkes sind. Wer wollte den Wahlkreis von Paris, in
welchem die reichsten und gebildetsten Theile der Bevölkerung,
dann die zahlreichen Schichten der einfachen Bürger (Krämer,
Handwerker), ferner der Arbeiter und endlich auch eine Masse
von Pöbel, wie er sonst in Frankreich nirgends mehr sichtbar
ist, auf unnatürliche Weise gemischt sind, ohne sich zu einigen,
und die ländlichen Wahlkreise der Bretagne oder die Fabrik-
bezirke der Elsasz wirklich für gleich halten? Die Verschieden-
artigkeit der Wahlkreise aber erfordert logisch schon eine ver-
schiedene Werthung ihres Stimmrechtes ; und nur diejenige
Anordnung und Yertheilung der Wahlen bürgt für eine richtige
Repräsentation des Volkes selbst, welche jedem der verschie-
denen Bestandteile und Interessen in dem Volke
eine seinen Verhältnissen zum (ranzen gemäsze Ver-
tretung sichert. Die Rücksicht auf die Zahl hat allerdings
auch einen Werth, aber sie allein genügt nicht ; vielmehr müssen
die übrigen Eigenschaften, — wenn die Aufgabe ist, je die
Besten zu Repräsentanten der Gesammtheit zu erheben, — des
Vermögens, der Bildung, der Berufs- und Lebensweise ebenfalls
berücksichtigt werden; und am besten ist es. wenn das in An-
lehnung an organische Eintheilungen des Volkes selbst, im Gegen-
satze zu willkürlieh zusammengewürfelten Massen geschieht
Wir können daher für die Repräsentativdemokratie fol-
gende zwei Grundsätze aussprechen :
1. Da wo in ihr die Gesammtheit der Bürger selber han-
delt, bei Abstimmungen, welche durch »las ganze Volk hin-
durch gehen, genügt die einfache Zählung der abstimmenden
Bürger, wie bei der unmittelbaren Demokratie.
2. Wo dagegen nicht die Gesammtheit handelt, sondern
nur Theile derselben die Bessern zu Repräsentanten für das
Ganze erheben sollen, da genügt das Princip der Kopfzahl
nicht, sondern es sind die Theile mit Berücksichtigung auch
der Qualität so zu bilden, dasz möglichste Garantie* für die
Auswahl der Besten und in richtiger Proportion der in dem
Zehntes Capitel. Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie. 329
Volke vorhandenen geistigen, sittlichen und materiellen Lebens-
elemente gegeben ist.
Das Eigentümliche der Repräsentativdemokratie besteht
darin, dasz die Herrschaft im State der Mehrheit zu
eigenem Kecht zugeschrieben, die Ausübung dieser Herr-
schaft aber einer Minderheit anvertraut wird. Um es mög-
lich zu machen, dasz die Minderheit wirklich im Sinne der
Mehrheit regiere, behält sich diese den Entscheid über die
Personen, die in ihrem Namen handeln sollen, vor, und wer-
den die Wahlen der Repräsentanten nach kurzen Zeiträumen
erneuert.
Es wird von der Verfassung anerkannt, dasz die Mehrheit
der Bürger die Musze und die Fähigkeit nicht habe, die
Selbstregierung, die sie als ihr natürliches Recht in Anspruch
nimmt, auch tatsächlich auszuüben. Aber es wird der Mehr-
heit so viel Interesse an dem Stat und so viel Einsicht zuge-
schrieben, dasz sie sich bei den Wahlen betheilige und die
tüchtigsten Männer für die Repräsentation zu finden wisse.
Die Verfassung ermäszigt — verglichen mit der unmittel-
baren Demokratie — ihre Anforderungen an die Bürgerschaft,
aber sie steigert ihre Ansprüche an die Repräsentanten. Sie
stützt sich noch auf das Selbstgefühl der freien und wesent-
lich gleichen Bürger, aber sie vertraut zugleich , dasz diese
sich bescheiden werden, die Bessern aus ihrer Mitte zu wäh-
len, und dasz Alle sich willig von den gewählten Repräsen-
tanten regieren lassen werden , freilich nur so lange , als die-
selben das Vertrauen der Mehrheit der Wähler behalten.
Durch die öfteren Wahlen werden die Regierenden ab-
hängig gemacht von den Regierten und dennoch sollen in-
zwischen diese jenen Gehorsam leisten. Die Autorität der
Regierung ist daher verhältniszmäszig schwach, die Freiheit
der Regierten besser bedacht. Die obersten Magistrate werden
weniger als Häupter der Republik geehrt, als vielmehr als
Diener der Menge betrachtet und behandelt. Obwohl nach
330 Viertes Buch. Die Statsformen.
dem Ausdruck von Guizot, jeder Stat nur von oben herab und
nicht von unten herauf regiert werden kann, so will doch diese
Statsform möglichst den Schein wahren, als ob in ihr von
unten aufwärts regiert werde. Die Regierung bekommt daher
leicht das Gepräge einer bloszen Verwaltung und der Stat
das Gepräge einer ausgedehnten Wirth schaff, einer groszen
Gemeinde.
Am wenigsten zeigt sich übrigens diese Schwäche der
Autorität in dem gesetzgebenden Körper, vielmehr liegt da
die entgegengesetzte Versuchung nahe, dasz sich die Volks-
vertretung mit dem Volke selbst identificire und sich von
dem Wahne der Omnipotenz berauschen lasse. Aber nur sehr
schwer gelingt es der Regierung in der Repräsentativdemo-
kratie eine starke Autorität zu bethätigen. Der öftere "Wech-
sel der Wahlen macht ihre Stellung unsicher und von der
veränderlichen Volksstimmung abhängig. Sie ist nur mächtig,
wenn sie von dem Beifall der Mehrheit getragen wird und
ohnmächtig, wenn s;e diese gegen ihre Neigung leiten und
bestimmen will. Weit aussehende Pläne kann sie nur dann
verfolgen, wenn dieselben den Tnstincten oder Gewohnheiten
des Volks entspringen und darin die Bürgschaft ihrer Dauer liegt.
Die Regierungsorgane erscheinen durchweg in bescheide-
ner, bürgerlicher Gestalt. Der Glanz der Majestät oder der
höheren Dignität, mit dem sich die Monarchie und die Ari-
stokratie umgibt, ist der Repräsentativdemokratie fremd und
zuwider. Die höfische Diplomatie mit ihrer Kunst und Formen
gedeiht nicht auf diesem Naturboden. Auch da zieht sie die
einfachere Vertretung durch Geschäftsträger und Consuln vor.
Ein groszes stehendes Heer ist mit ihr geradezu unverträglich.
Es wäre eine stete Bedrohung ihrer Sicherheit und ihrer Frei-
heit. Dagegen bedarf sie einer breiten und tüchtigen Volks-
und Landwehr. Weniger ausgebildet ist in ihr die Concen-
tration aller Kräfte als die Selbstbestimmung und freie' Bewe-
gung aller Theile.
Zehntes Capitel. Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie. 331
Alle Anstalten, welche der groszen Menge dienen, sind
in ihr durchweg gut, oft vortrefflich bestellt. Wir finden
in den Demokratien meistens zahlreiche gemeinnützige und
wohlthätige Anstalten, gute Straszen und Verkehrsmittel, zahl-
reiche Volksschulen , muntere Volksfeste u. s. f. , und dabei
weniger bureaukratische Plage als anderwärts.
Dagegen bedarf es gröszerer Anstrengung, als in andern
Verfassungen, damit der Stat auch für die höheren Bedürfnisse
der Kunst und der Wissenschaft sorge. Es ist ein Zeichen
einer hohen Civilisationsstufe , auf die ein Volk sich empor-
gearbeitet hat, wenn es durch die Befriedigung auch dieser
Dinge, die dem allgemeinen Verständnisz ferner stehen, sich
selber ehrt; und nur die gebildete Einsicht weisz den Werth
zu schätzen, welchen die Pflege dieser geistigen Güter auch
für die allgemeine Volkswohlfahrt hat.
Das Bewusztsein männlicher Freiheit, welches die ganze
Verfassung hervorgebracht und darin einen Ausdruck gefunden
hat, hebt die zahlreichen Mittelclassen, auf die sie vornehm-
lich gestützt ist, empor, steigert durch mittelbare oder un-
mittelbare Uebung in Statssachen die geistige Entwicklung
und kräftigt den Charakter der Bürger. Die allgemeine Vater-
landsliebe hat hier eine breite Unterlage und einen weiten
Spielraum; und in Krisen zeigt sich die freie Bürgerschaft
auch zu groszen Opfern bereit. Weniger bietet die Verfassung
den aristokratischen Naturen Gelegenheit zu freier Entfaltung,
und diesen gegenüber verhält sich das Volk oft misztrauisch
oder feindlich. Aber auch solche Naturen können unter der
Voraussetzung Achtung ihrer Persönlichkeit erwerben, dasz sie
ihrerseits nicht durch hochmüthige Anmaszung das Gefühl der
Kechtsgleichheit verletzen und in gemeinnütziger Hingabe für
das gemeine Beszte mit den Beszten der Demokraten wetteifern.
Anmerkung. Robert v. Mohl hat gegen die obige Behauptung,
dasz für die repräsentative Demokratie das Princip der Volkszahl keine
absolute Geltung verdiene, eingewendet (Encyclop. S. 346.): »So richtig
332 Viertes Buch. Die Statsformen.
im Allgemeinen die Ansicht ist, dasz die Befugnisz, an einer statlichen
Wahl Antheil zu nehmen, nicht vom Standpunkt des persönlichen Rechtes
aufgefaszt, sondern als ein Auftrag oder als ein Amt betrachtet werden
musz, so verhält sich diesz doch ganz anders in der Yolksherrschaft
durch Vertretung. In der Volksherrschaft geht man überhaupt von dem
angeborenen Rechte des Einzelnen, an der Regierung Theil zu nehmen,
aus." Ich gebe zu, die moderne demokratische Lehre, wie sie von Rous-
seau hauptsächlich vertraten wird, sieht das Yerhältnisz so an. Gerade
deszhalb ist sie aber noch in der Mischung des Privatrechts und des
öffentlichen Rechts befangen und ihr Gesellschaftsstat ist nichts an-
deres als der auf den Kopf gestellte Patrimoni aistat. Indem man
sich der Einheit des Volks im Gegensatz zu der Summe der Bürger
bewuszt wird, kann sich auch der Irrthum jener Theorie nicht mehr
verbergen. Kein Wähler hat von der Natur sein Wahlrecht erworben,
sondern Jeder hat es von dem State empfangen. Alle Wahlorganisation
ist Statseinrichtung zu öffentlichen Zwecken.
Eilftes Capitel.
III. Die Aristokratie.
A. Hellenische Form. Sparta.
Wie Athen im Alterthum als der höchste Ausdruck der
Demokratie, so galt Sparta bei den Hellenen als die aus-
geprägteste Erscheinung der Aristokratie. Im all-
gemeinen hatte der hellenische Volkscharakter eher eine Nei-
gung zur demokratischen als zur aristokratischen Statsform;
nur im Verhältnisz zu den Barbaren des Auslandes liebten
die Hellenen es, sich als geborne Aristokraten zu betrachten.
Der dorische Volksstamm ' aber, zu welchem die Spartiaten ge-
hörten, zog auch für seine innern Statseinrichtungen aristo-
kratische Formen und Tendenzen vor.
Alle Aristokratie setzt in ihrem idealen Princip Herr-
schaft der edleren Bestand theile des Volkes über die
untergeordnete Menge voraus. Die Art aber wie diese* edleren
Bestandteile gemessen und emporgehoben werden, ist in den
Eilftes Capitel. III. Die Aristokratie. A. Hellen. Form. Sparta. 333
verschiedenen Staten dieses Charakters verschieden. In Sparta
war der Stamm der Spartiaten, welche das Land mit den
Waffen erobert hatten, der herrschende. Ihre Unterthanen
waren die alten besiegten Einwohner des Landes, die Perioiken,
Lakedämonier. Die Geburt bezeichnet somit schon den herr-
schenden und den unterthänigen Stamm. Die ersten Eroberer
des Landes setzten so die Herrschaft, welche sie durch die
Ueberlegenheit ihrer Waffen erworben hatten, fort, indem sie
dieselbe durch alle folgenden Generationen auf ihre Nach-
kommen vererbten. Das politische Erbrecht, ein charak-
teristischer Zug aller alten Aristokratien, hatte in diesem
Streben der Erhaltung einen natürlichen Ursprung, und war
zu einem Grundprincip des ganzen States geworden.
Diese erbliche Herrschaft der Spartiaten als des edleren
Stammes wurde nicht durch Uebergänge gemildert. Die Aus-
scheidung der Spartiaten und der Metoiken blieb schroff und
starr, in der That kastenartig ohne Ehegenossenschaft. Nur
ganz ausnahmsweise und äuszerst selten wurde etwa Einer von
diesen in das volle Bürgerrecht jener aufgenommen. Der
herrschende Stamm wurde somit nicht erfrischt durch neue
Familien, und der unterthänige nicht durch die Aussicht ge-
tröstet, dasz die besten seiner Söhne durch ihr Verdienst
hinaufsteigen können zu den Leitern des States. Diese Aus-
schlieszlichkeit erscheint um so befremdender und drückender,
je weniger ängstlich in anderer Beziehung die Spartiaten die
Reinheit des Blutes wahrten; lieszen sie es doch von Stats-
wegen geschehen, dasz spartanische Frauen, deren Männer im
Kriege gefallen waren, der Umarmung von Heloten preisgege-
ben wurden, um spartanische Kinder zu empfangen.
Desto sorgfältiger aber wurde die Erziehung geordnet.
Der Vorzug der Geburt sollte durch die Erziehung ergänzt,
und durch beide die Ueberlegenheit der Spartiaten erhalten
werden. Die Sorge des States für eine politisch-kriegerische
Erziehung der Jugend war so umfassend und eingreifend, dasz
334 Viertes Buch. Die Statsformen.
um ihretwillen selbst der Zusammenhang und die Freiheit der
Privatfamilien aufgelöst und geopfert wurde. Das individuelle
Leben wurde nirgends in dem Masze dem Statsleben unter-
worfen, und die Allmacht des States nirgends weiter getrieben
als in Sparta : als wäre wirklich der Mensch nur für den Stat
in der Welt.
Unter sich waren die Spartiaten wieder zunächst gleich-
berechtigt, und so sehr war innerhalb der Aristokratie die
demokratische Gleichheit anerkannt, dasz sogar gleiches
Vermögen aller spartanischen Familien ein Grundzug der
lykurgischen Verfassung war. Jede Familie hatte ein gleiches
Loos (xXfjQog) an dem zum Privatbesitze vertheilten Boden
des Landes erhalten, und die Loose sollten nicht veräuszert
werden dürfen. Damit aber das bewegliche Vermögen nicht
sich bei Einzelnen ansammle und auf diese Weise der Unter-
schied der Reichen und der Armen entstehe, wurde sogar jeder
Gebrauch von Silber nr.d Gold verboten. Die Heloten, welche
die Landgüter der Spartiaten bebauten, waren nicht imEigen-
thum der einzelnen Herren, sondern wie die Güter selbst in
dem Eigenthum des States: und der Zins an Früchten, den
sie entrichteten, war gesetzlieh und gleichmäszig für die Her-
ren und hinwieder für die Frauen des Hauses bestimmt. Selbst
die Mahlzeiten, allen Männern gemeinsam, welche in vielen
Tischgenossenschaften beisammen lauen, waren für alle gleich-
artig bestimmt und zugemessen. Die Gleichheit des Le-
bens war somit unter den aristokratischen Spartiaten sehr
viel ausgebildeter und fester begründet als bei den demokra-
tischen Athenern.
Dessen ungeachtet übte der Stamm der Spartiaten seine
Herrschaft nicht in demokratischer Form aus. Es wäre das
im Widerspruch gewesen mit dem Charakter des States und
des Volks. Wohl gab es auch zu Sparta eine Volksversamm-
lung (txxAqcna); aber die reale Macht war nicht bei dieser,
sondern bei der Gerousie. Diese behandelte und entschied
Eilftes Capitel. III. Die Aristokratie. A. Hellen. Form. Sparta. 335
die Statsgeschäfte in der Regel, und unterwarf nur in einigen
Hauptfällen ihre Entscheidungen noch der einfachen Genehmi-
gung oder Verwerfung der Volksgemeinde, in welcher nur die
Könige, die Geronten und Ephoren , nicht jeder reden, und
nur Männer von gereifter Lebenserfahrung (von mindestens
30 Jahren), nicht junge Leute stimmen durften.
Bei der Bestellung des Senats, der Gerousie, wurden
wieder folgende aristokratische Rücksichten beachtet:
1) Auf das Geschlecht. Die 9000 spartiatischen Kle-
ren und vollberechtigten Hausväter waren in 30 Oben ge-
theilt, welche füglich mit den römischen Curien verglichen
werden können. Aus jeder Obe wurde Einer zum Geron er-
hoben. Die beiden Könige gehörten den zwei königlichen
Oben an, die 28 übrigen Geronten, welche mit jenen zusammen
den Senat bildeten, waren gewissermafzen ihre Pairs, die
Fürsten.1 Diese Rücksicht wirkte negativ gegen die Ueber-
macht blosz einzelner Geschlechter, positiv für die Würde und
Stellvertretung der verschiedenen Familien.
2) Auf das Alter. Dem hohen Alter widmeten die
Spartiaten die gröszte Ehrfurcht. Sie verehrten in ihm die
Grundbedingung der höchsten Lebensweisheit. Die Geronten
— auszer den Königen — muszten wenigstens 60 Jahre zu-
rückgelegt haben. Immerhin scheint diese Kücksicht über-
trieben in der Verfassung; denn auch die Schwäche ist ein
gewöhnlicher Begleiter des Alters, und der Stat bedarf zu
seiner Leitung nicht blosz der Erfahrung der Greise, sondern
vornehmlich auch der vollen produetiven Kraft und Geistes-
frische der Männer.
3) Auf die Wahl, welche nach vorheriger Bewerbung
der Candidaten durch die Volksversammlung, durch die Stärke
des Beifallsrufes vorgenommen wurde. In der Bewerbung um
diese hohe Würde sprach sich die Ueberzeugung der Greise
1 Homer noch nennt die Rätlie des Königs ^ßaoLXees."
336 Viertes Buch. Die Statsforrnen.
aus, dein State noch gute Dienste leisten zu können, und der
Wille derselben, ihr noch übriges Leben dem State zu weihen,
in dem Beifall der Versammlung aber das Vertrauen des
Volkes. •
4) Auf die Dauer des Amtes, welches auf Lebenszeit
verliehen wurde, somit vor den Schwankungen der Volksgunst
gesichert, aber auch der Gefahr einer bis zur Ausschwächung
festgehaltenen Stabilität ausgesetzt war.
Ermäszigt war diese Aristokratie theils durch das König-
thum, welches aus derselben emporragte und in höherer
Weise die Einheit und Würde des Stats darstellte, theils durch
das demokratische Amt der Ep hören, welche als wechselnde
Organe des Volkes die Amtstätigkeit der Könige und des
Senates controlirten und eine ausgedehnte Gerichtsbarkeit auch
in Statssachen ausübten.
Die Verfassung von Sparta macht den Eindruck eines
Kunstwerks, welches, der Platonischen Republik ähnlich, durch
edle Formen den Sinn für äuszere Schönheit und Harmonie
erfreut, aber um seiner innern Unnatur willen befremdet, und
daher eher zurückschreckt als anzieht. Indem man sie betrach-
tet, wird man eher um Bewunderung ihrer Architektur als
mit der Neigung erfüllt, darin zu wohnen und zu leben. Hat
man den Athenern mit Grund vorgeworfen , sie ziehen die
Herrschaft der Menge einem wohlgeordneten Stat vor, so kann
man den Spartiaten den Vorwurf machen, sie opfern der Stats-
ordnung die menschliche Freiheit auf. Ibre Weise ist vor-
nehmer als die der Athener, aber weniger heiter und behag-
lich; bei ihnen ist mehr ruhiges Ebenmasz politischer Tüch-
tigkeit, bei den Athenern sind glänzendere Lichter und dunklere
Schatten zu finden. Die Stätigkeit der einen und die Beweg-
lichkeit der andern sind beide einseitig übertrieben.
An Dauerhaftigkeit übertraf die spartanische Verfassung
die Athens bei weitem. Solon hatte noch bei seinen Lebzeiten
den Untergang seiner mit aristokratischen Elementen der
Eilftes Capitel. III. Die Aristokratie. A. Hellenische Form. 337
Geschlechter und des Keichthums bedeutend gemischten Demo-
kratie in der Tyrannis erfahren, ohne den Sieg dieser behin-
dern zu können, und als später nach der Ermordung der Ty-
rannen die reine Demokratie eingeführt wurde, versank sie
schon in dem ersten Jahrhundert ihres Bestandes in den offen-
kundigsten Verfall. Die Verfassung Lykurgs dagegen erhielt
fünf Jahrhunderte lang die Grösze Sparta1 s aufrecht, und obwohl
sie den Verfall derselben nicht abzuwenden vermochte, so musz
doch zugestanden werden, fürs erste dasz die Abweichung von
den Verfassungsgrundsätzen Lykurgs, insbesondere der seinen
Gesetzen zuwider eingeschmuggelte Reichthum Einzelner, die
im Zusammenhang damit eingedrungene Bestechlichkeit Vieler
und die spätere Demagogie der Ephoren, nicht aber die Fest-
haltung derselben die Entartung und den Untergang Sparta's
herbeigeführt habe2; fürs zweite, dasz die bewahrende Kraft
dieser Verfassung um so höher geschätzt werden musz, je mehr
sie auf der einen Seite mit der menschlichen Natur selbst,
auf der andern mit der Macht der Weltverhältnisse in Wi-
derspruch und Kampf gerieth. Einen Theil dieser unerschütter-
lichen Haltbarkeit mochte sie aus dem ideokratischen Glauben
des Volkes geschöpft haben, dasz sein Gesetzgeber der Liebling
des Zeus und selbst ein gott-menschliches Wesen sei.
Indessen wird der ähnlichen Verfassung von Kreta und
der ebenfalls aristokratischen Verfassung von Karthago nicht
mindere Dauerhaftigkeit nachgerühmt, und es ist immerhin
eine durch die Geschichte erwiesene Thatsache, dasz die Aristo-
kratien, welche die Stätigkeit der Statsordnung zu dem
Hauptprincip ihres Daseins erhoben haben, auch sich und den
Stat weit länger zu conserviren verstehen, als die Demokratien
die Herrschaft des Demos.
2 Laurent (II, 290.) macht darauf aufmerksam, dasz die Unver-
änderlichkeit der Verfassung eine Ursache der Entvölkerung Sparta's
geworden sei.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 22
338 Viertes Buch. Die Staataformen.
Zwölftes Capitel.
B. Die römische Aristokratie.
Die römische Republik war ihrem Grundcharakter
nach ebenfalls eine Aristokratie, aber von höherer Art als die
spartanische. Die Römer unterschieden scharf zwischen dem
Rechte des States in öffentlichen Dingen und der Freiheit der
Individuen und Familien. Obwohl sie voraus für die Herr-
lichkeit und Macht des States den offensten Sinn und die
groszartigste Hingebung hatten, so vermaszen sie sich doch
nicht, das individuelle Leben gewaltsam mit der Statsscheere
zuzustutzen. Sodann hielten sie sich frei von jener künstlichen
und beschränkten Abschlieszung gegen alles Fremde, welche
zwar die nationale Tugend der Spartiaten für einige Zeit reiner
erhielt, aber dieselben auch unfähig machte, die hervorragende
Stellung in der äuszern Welt zu behaupten, zu welcher sie
durch das Geschick berufen wurden. Endlich waren die Römer
von Anfang an frei von jener Starrheit der ständischen Gegen-
sätze, wie wir sie in Sparta gefunden. Die in dem römischen
Volke vorhandenen Gegensätze standen nicht unbeweglich ein-
ander lähmend entgegen, sondern brachten gerade durch ihre
Reibungen und Wechselwirkungen eine höhere Entwicklung
des politischen Lebens hervor. Der römische Stat ist nicht
minder ein Kunstwerk als der spartanische, aber einerseits
der menschlichen Natur und den allgemeinen Weltzuständen
gemäszer, und andererseits durch Reich thum der Bildungen
und Groszartigkeit der Verhältnisse vor dem letztern ausge-
zeichnet. Der römische Stat macht in hohem Masze einen
organischen Eindruck.
Betrachten wir die römische Republik in ihren Hauptzügen,
so finden wir überall, wenn schon durch monarchische und de-
mokratische Einrichtungen ermäszigt, den aristokratischen Cha-
rakter hervorragend. Es zeigt sich diesz 1) in dem Verhältnisz
Zwölftes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Komische Aristokratie. 339
der Stände; 2) in der Institution der Volksversammlungen;
3) in dem Senate; 4) in den Magistraturen.
1. Yerhältnisz der Stände. Schon in der ältesten
Zeit mochte der Umstand der Starrheit sowohl als der Des-
potie des Patriciats entgegen wirken, dasz die römischen Pa-
tricier nicht wie die Spartiaten von Einem Volks stamm ihren
Ursprung herleiteten, sondern wie der englische Adel aus
sächsischem und normannischem Geblüte, so von latinischem
und sabinischem, th eil weise auch et ruskischem Ursprung
war. Auch später besasz zwar das Patriciat noch lange als
der herrschende Stamm fast alle politische Gewalt im State,
aber theils wurde diese ermäszigt durch die Organisation der
Plebes mit eigenen plebejischen Magistraten, theils wurde das-
selbe genöthigt, der aufstrebenden neuen Aristokratie der Ple-
bejer einen wachsenden Antheil an der Leitung des States zu
verstatten. Endlich entstand aus der Verbindung und Mischung
der alten und der neuen Aristokratie der keineswegs abge-
schlossene, aber für den römischen Stat so sehr bedeutende
Stand der Optimaten. '
Die Tradition der Statsleitung und die Kunde der Stats-
geschäfte war, so lange die römische Kepublik bestand, vor-
nehmlich in der Aristokratie. Sie zeichnete sich aus durch
Geburt, Erziehung, Reichthurn, religiöse und politische Kennt-
nisse, Macht. Aber sie zog fortwährend neue Kräfte aus der
Plebes herbei. Sie stieg empor auf die obersten Höhen des
damaligen Lebens, den Königen gleich, und über diesen, aber
sie blieb zugleich in voller Gemeinschaft mit dem Volke, aus
welchem sie hervorragte.
Auch die politische Erziehung der Römer war sorgfältig ;
aber sie war Angelegenheit der Familien, nicht wie in Sparta
des States. Daher denn auch die Mannichfaltigkeit und die
erbliche Entschiedenheit der politischen Richtungen, während
zu Sparta innerhalb der Aristokratie auch hierin Gleichheit
1 Vgl. oben Buch II. Cap. 10.
22*
340 Viertes Buch. Die Statsformen.
bestand. Die meisten vornehmen römischen Familien waren
und blieben conservativ gesinnt; aber einzelne, wie z. B. die
patricischen Yalerier und die plebejischen Publilier und Si-
cinier haben vorzugsweise in liberaler Richtung gehandelt; die
Claudier dagegen mit seltenen Ausnahmen sind den englischen
Tories zu vergleichen.
2. Die Volksversammlungen. Von den drei Arten
der römischen Comitien waren nur die jüngsten, die Tribut-
comitien, demokratisch organisirt. Ihrer ursprünglichen Be-
stimmung nach sollten sie indessen nur als Organ für die
Stimmung und Meinung des untergeordneten Standes der Ple-
bejer und als Schranke der patricischen üebermacht dienen,
nicht aber an der eigentlichen Leitung des States Theil halten.
Später wurden sie allerdings nicht blosz zu einem einzelnen
Factor der gesetzgebenden Macht, sondern erlangten für sicli
allein die volle gesetzgebende Gewalt. Aber selbst in den
letzten Jahrhunderten der Republik, während welcher die alte
Aristokratie in Verfall gerieth und die Monarchie vorbereitet
wurde, übten die demokratischen Tributcomitien doch mir in
seltenen Ausnahmsfällen, von ehrgeizigen Tribunen geleitet,
eine durchgreifende oberste Macht aus. In der Regel hemmten
die Tribunen selbst schon, die allein Vorschläge machen durften,
und von denen je einer den andern controlirte und hindern
konnte, und überdera die Rücksicht auf die mächtige Autorität
des Senats jede Ausschreitung der Demokratie, und es waren
daher gewöhnlich auch diese Comitien nur ein Ferment und
eine Schranke der äuszerst zähen und meistens übermächtigen
Aristokratie.
Die Curiatcomitien dagegen, in den ersten Jahrhun-
derten der Republik noch eine bedeutende Macht, in den letzten
Zeiten derselben freilich nur eine formelle Scheinmacht, waren'
durchaus aristokratisch. Sie waren vornehmlich die Versamm-
lung der alten, nach Geschlechtern und Curien geordneten Ge-
burtsaristokratie der Patricier, der Senat selbst anfänglich ge-
Zwölftes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Römische Aristokratie. 341
wissermaszen nur der Ausschusz ihrer Geschlechtshäuptlinge.
Selbst wenn man annimmt, dasz die Plebejer Zutritt zu den-
selben gehabt haben, so waren diese doch offenbar in unterge-
ordneter Stellung anwesend.
Die wichtigste Volksversammlung endlich, der sogenannte
comitiahis maximiis der Centurien, in welcher die ganze
Nation zusammentrat, war so organisirt, dasz in ihr die höhern
Classen der Gesellschaft das entschiedenste Ueberge wicht hatten.
Die Censusverfassung legte den gröszten Nachdruck:
a) auf das Vermögen. Schon die erste Classe der
Höchstbesteuerten mit ihren 80 Centurien für sich allein, wenn
sie einig war und die 18 Rittercenturien mit ihr stimmten,
besasz die Mehrheit aller Stimmen, so dasz ihr gegenüber die
vier andern Classen und die Masse der Proletarier und Kopf-
steuerpfiiehtigen zusammen, obwohl an Volkszahl jener vielfach
überlegen, dennoch in der Minderheit blieben. Aber auch in
den andern vier Classen hatten je die Reicheren in demselben
Verhältnisz wie mehr Vermögen so auch mehr Stimmrecht;
4 Personen der zweiten Classe so viel als 6 der dritten, 12
der vierten und 24 der fünften. Die gewisz damals auch sehr
zahlreichen Proletarier waren wie die noch zahlreicheren Ca-
pitc Censi nur in je eine Centurie von 195 zusammengedrängt,
hatten somit einen sehr geringen EinÜusz in einer Versamm-
lung, in welcher die Aristokratie des Reichthums so viel galt.
b) Auch die Geburt und edler Lebensberuf kamen
in Betracht, indem nach diesen Rücksichten die ersten 18
Rittercenturien gebildet und als die Edelsten an die Spitze der
Versammlung gestellt wurden.
c) Sodann war den Aeltern hinwieder ein erhöhtes
Stimmrecht eingeräumt als den Jüngern, indem die Centurien
der erstem, den Gesetzen der Sterblichkeit gemäsz, höchstens
halb so zahlreich besetzt waren als die Centurien der letztern,
und doch nicht minder als diese gezählt wurden.
d) Endlich war, abgesehen von den Classen, die ganze
342 Viertes Buch. Die Statsformen.
äuszere Erscheinung und Haltung dieser Versammlung durch-
aus nicht demokratisch. Die sorgfältige Beachtung der Au-
spicien, die feste, militärische Ordnung des groszen Körpers,
der Vorsitz der hohen Magistrate, die Einrichtung, dasz nicht
Jedem verstattet war zu reden, auch keine regelmäszigenEedner
anerkannt waren, sondern je nach Bedilrfnisz der Sache die
zugleich mit der Ausführung und der eigentlichen Statsre-
gierung betrauten Magistrate allein zum Volke sprechen und
mit dem Volke verhandeln durften: das alles verlieh dieser
höchsten Versammlung einen würdigen und maszhaltenden Cha-
rakter, und wir begreifen es, dasz ein Römer mit einer ge-
wissen vornehmen Verachtung auf die chaotische Weise und
das turbulente Treiben der griechischen Ekklesien herabsehen
konnte. 2
Die eigentlichenGesetze aber bedurften der Zustimmung
dieser Comitien, und die für das ganze römische Statsleben
entscheidenden Wahlen der höhern Magistrate waren der so
aristokratisch geordneten Nation vorbehalten.
3. Der römische Senat ferner war durch seine Bildung
und seine Befugnisse ein erhabenes Institut des Stats. An-
fänglich aus den Häuptlingen der patricischen Geschlechter,
den Fürsten (principes) bestehend und vornehmlich die Ge-
burtsaristokratie darstellend, wurde er später eine Versamm-
lung der durch die obrigkeitlichen Aemter erprobten römischen
2 Cicero pro Flacco. c. 7: „Nullam 1111 nostri sapientissimi et sanc-
tissimi viri vim concionis esse voluerunt; quae scisceret plebes aut quae
populus juberet, summota concionc, diatributis partibus, tributim et cen-
turiatim descriptis ordinibus , classibus, aetatibus, auditis auctoribus, re
raultos dies promulgata et cognita, juberi vetarique voluerunt. Graeco-
rura autem totae res publicae sedentis concionis temeritate administrantttr.
Itaque ut hanc Graeciam, quae jamdiu suis consiliis perculsa et efflicta
est, omittara: illa vetus, quae quondam opibus imperio gloria floruit, hoc
uno raalo concidit, libertate immoderata ac licentia concionum. Quum in
theatro imperiti homines, rerum omnium rüdes ignarique consederant,
tum bella inutilia suscipiebant; tum seditiosos homines rei publicae prae-
ficiebant; tum optime meritos cives e civitate ejiciebant."
Zwölftes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Römische Aristokratie. 343
Statsmänner. Eben in der Geschichte des Senates zeigt sich
die Urnwandlung des patrici sehen Adels, der auch später
noch immer als die Quelle der Auspicien verehrt wurde und
die heilige Ueberlieferung der Vorzeit bewahrte, in den neuen
römischen Amtsadel. Man darf die hohen Magistrate der
römischen Eepublik wohl Königen vergleichen, und eben aus
den gewesenen Magistraten bestand der Senat, den die Alten
selbst „eine Versammlung von Königen" nannten; so hoch
stand diese politische Aristokratie. Den Censoren als Wäch-
tern der guten Sitten war die ehrenvolle Aufgabe anvertraut,
die Listen der Senatsmitglieder aus den gewesenen Magistraten
zu verfassen und unwürdige Individuen von dem Senate aus-
zuschlieszen. In der Versammlung saszen und stimmten die
Senatoren nach den Abstufungen des Banges, den sie vordem
als Magistrate des römischen Volkes, als gewesene Consuln,
Censoren, Prätoren, Aedilen, Quästoren eingenommen hatten.
Auch die Verhandlung bewegte sich in den strengen Formen
römischer Autorität. Mit Opfer und Gebet wurde sie eröffnet,
von den regierenden Magistraten, welche die Anträge machten
und zur Abstimmung brachten, geleitet, und durch den Ein-
spruch bald der Volkstribunen, bald der eigentlichen Magistrate
gegen Ausschweifung und Uebergriffe gehemmt.
Alle grozsen Staatsangelegenheiten wurden in dem Senate
entweder vorbereitet oder entschieden. Die Sorge für die re-
ligiöse Verehrung der Götter, und deren Feste und Opfer war
vorzüglich bei dem Senate. Er leitete die Unterhandlungen
mit den fremden Staten und deren Gesandten, und hatte die
ganze groszartige Diplomatie des römischen States in seiner
Hand. Die erfolgreiche Begutachtung der Gesetze und Zu-
stimmung zu den Gesetzen kam ihm zu und war in der Begel
maszgebend. Seine eigenen Beschlüsse (Senatus-Consulta) hatten
überdem in der Verwaltungssphäre eine gesetzähnliche Autorität.
Die Finanzgewalt stand bei ihm. Er decretirte die Steuern,
und bestimmte die Ausgaben und Verwendungen. Er verfügte
344 Viertes Buch. Die Statsformen.
aber die Aushebung von Truppen und vertheilte die Heere
unter die Magistrate. Er ertheilte den Proconsuln und Pro-
prätoren die zur Regierung der Provinzen erforderlichen Voll-
machten und Instructionen, und controlirte die gesammte Ver-
waltung derselben. In schweren Krisen des States ertheilte er
denConsuln jene unbegränzte Machtfülle, welche nöthig schien,
die Rejublik vor Schaden zu bewahren.
4. Die Magistrate. Man kann darüber Zweifel haben,
ob die römischen Magistraturen eher eine königliche oder eine
aristokratische Institution gewesen seien. Dasz aber ihr Cha-
rakter kein demokratischer gewesen, das ist augenfällig genug.
Schon die vornehme Form der äuszern Erscheinung dieser Ma-
gistrate, ihre mit Purpur geschmückte Toga, der curulische
Stuhl auf erhöhtem Boden, die Umgebung derselben mit einem
freiwilligen Stab angesehener Gehülfen und Freunde, der Vor-
tritt der Lictoren, die Verbindung mit den Göttern, die bei
ihrer Ernennung in Form der Auspicien sich äuszern muszte
und die nun auch durch die von den Magistraten vorgenom-
menen Auspicien unterhalten wurde, läszt in dieser Beziehung
keinen Zweifel zurück. Die ausgedehnte und innerlich absolute
Machtfülle, welche in dem Imperium als Kern desselben lag,
war wesentlich königlich,3 und die republikanische Seite der-
selben war nur in der kurzen Dauer, für welche diese Macht
einzelnen Römern verliehen ward, und in der Vertheilung der-
selben unter zwei oder mehrere Magistrate von gleichem Rang
zu erkennen. Ein dem römischen Statsrecht eigenthümlicher
und sehr beachtenswerther offenbar aristokratischer Grundsatz
ist es, dasz jeder Magistrat berechtigt ist, jede Amtshandlung
eines ihm gleich oder niedriger stehenden Magistrates durch
sein Veto zu hemmen:4 ein Grundsatz, welcher die in dem
3 Cicero de Legibus III. 3: „Regio imperio duo sunto.u Liv. IV. 3.
Polyb. VI, 1 1. §.7: »luv vnünav i^ovaiuu, xekeiuyg tuo v u q -/ixdv dcpaivei'*
tlvta x«i ßaaiktx 6 */."
4 Daher die Formel bei Cicero de Legib. III. 3: „ni par majorve
potestas prohibessit.a Es ist das nämliche Princip, welches auch im
Zwölftes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Römische Aristokratie. 345
imperium liegende Allgewalt sehr bedeutend ermäszigte, ohne
sie, da wo ihre volle Wirkung für den Stat nöthig oder nütz-
lich schien, zu schwächen.
Freilich wurden diese Magistrate nun von dem ganzen
Volke gewählt, aber die Wahl der höheren A ernte r war den
Centuriatcomitien vorbehalten, in denen die Aristokratie des
Reichthums das üebergewicht besasz, und die hinwieder von
Magistraten geleitet und durch die Auspicien beschränkt wur-
den. Ueberdem war der Weg zu diesen Würden in der Eegel
nur denen offen, welche selbst zu der nationalen Aristokratie
gehörten, sei es weil sie von angesehenem Geschlechte waren,
in Folge dessen einen glänzenden Namen trugen und eine zahl-
reiche Clientel und auch bei dem Volke ein günstiges Vor-
urtheil für sich hatten , sei es weil sie grosze Reichthümer
besaszen und das Volk durch öffentliche auf ihre Kosten aus-
geführte Spiele zu gewinnen wuszten, sei es endlich, weil sie
durch einleuchtende Verdienste im Kriege oder als grosze
Redner über die Menge emporgestiegen waren und einen volks-
tümlichen Ruf und Autorität erlangt hatten. Seitdem auch
den Plebejern die höhern Magistraturen zugänglich geworden,
waren dieselben freilich nicht mehr auf den bloszen Geburts-
adel eingeschränkt, aber, wenn wir von einzelnen ziemlich
seltenen Ausnahmen absehen, war es doch in der Regel nur
den Gliedern jener groszen politischen und socialen Aristokratie,
in welche das Patriciat sich umgewandelt und ausgebildet hatte,
vergönnt, an der Regierung des States unmittelbaren Theil zu
nehmen; und diese Magistrate bilden hinwieder den Senat.
Erwägt man alle diese Verhältnisse, so wird man die
Wahrheit der Behauptung zugestehen müssen, dasz die römi-
sche Republik, obwohl monarchische Ueberlieferungen und
demokratische Elemente auf die Verfassung einwirkten, den-
noch wesentlich eine Aristokratie war, und zwar keine
römischen Privatrecht unter den Miteigentümern gilt: „Neganti major
potestas." Vgl. Gellius Noctes Atticae XIII. 12. 15.
346 Viertes Buch. Die Statsformen.
Geschlechts- oder Staudesaristokratie, wie das Mittelalter sie
in zahlreichen Formen hervorgebracht hat, sondern die grosz-
artigste und herrlichste Volksar istokratie der Welt-
geschichte.
Dreizehntes Capitel.
Bemerkungen über die Aristokratie.
Montesquieu hat die Mäszigung (moderation) als Prin-
cip der Aristokratie erklärt, und allerdings bedarf die Aristo-
kratie der Mäszigung im Interesse ihrer Sicherheit, und wird
auf die Mäszigung hingewiesen durch die Betrachtung, dasz
sie an Zahl und physischer Kraft von der Menge, über welche
sie die Herrschaft übt, übertroffen wird. Wird die Demo-
kratie im Gefühl ihrer äuszerlich unbeschränkten Macht leicht
zu einem unmäszigen Gebrauch derselben verführt, so kann
die Aristokratie im Gegentheil der Sorge nicht leicht los wer-
den, dasz die gereizte Menge ihr Widerstand leiste und sich
wider sie auflehne : und diese Rücksicht bestimmt sie in der
Regel, ihr statliches Uebergewicht nicht allzudrückend werden
zu lassen. Sie weisz es, dass die Erhaltung ihres Ansehens
groszentheils darauf beruht, dasz sie Masz hält und ihre Po-
litik ist gewöhnlich conservativ.
Aber das innerste geistige Princip der Aristokratie wird
damit doch nicht bezeichnet. Vielmehr läszt sich als solches
eher die moralische und geistige Auszeichnung der
herrschenden Classe von der regierten Menge angeben. Die
Aristokratie ist nur insofern Wahrheit, als wirklich in ihr die
Besten (oi uqlgtoi) regieren. * Artet die herrschende Classe
aus, gehen die vorzüglichen Eigenschaften, durch welche sie
1 Viel richtiger als Montesquieu, welcher die Tugend afl$ Princip
der Demokratie erklärt, hat Aristoteles gesagt (Polit. IV. 6, 4.): „Der
Charakter der Aristokratie ist Tugend, der der Demokratie Freiheit. tt
Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 347
sich emporgehoben, unter, verdirbt ihr Charakter, wird ihr
Geist schwach und eitel, so geht die Aristokratie unaufhaltsam
unter, weil die belebende Seele ihres Wesens abstirbt. Aber
ebenso geht sie zu Grunde, wenn zwar in ihr die hervorragen-
den Eigenschaften noch fortdauern; aber in den regierten
Classen ähnliche Auszeichnung aufblüht und die hergebrachte
Aristokratie es versäumt und verschmäht, diese in sich aufzu-
nehmen und dadurch ihre Kräfte zu ergänzen und zu steigern.
Das vorzüglich hat die römische Aristokratie so grosz gemacht,
das auch den Einflusz und das Ansehen der englischen
erhalten, dasz sie so in lebendigem Zusammenhang mit dem
übrigen Volksleben verblieben sind und fortwährend neue
Säfte aus diesem aufgezogen haben.
In der Abgeschlossenheit liegt ein Hauptgebrechen
vieler Aristokratien. Im Bestreben, die auf Vorzüge gegrün-
deten Vorrechte zu befestigen, haben sie oft die Rücksicht
auf die Vorzüge selbst auszer Acht gesetzt, und die Vorrechte
äuszerlich gewiszermaszen mit Wällen und Gräben zu sichern
und erbrechtlich fortzusetzen gesucht. In kleinen Verhält-
nissen liesz sich so eine Zeit lang die Herrschaft behaupten,
gröszern Verhältnissen aber war die so beschränkte Aristo-
kratie nicht mehr gewachsen. Sparta und Venedig wurden
schwach, als sie grosze Eroberungen gemacht hatten. Sowohl
die Spartiaten als die Altbürger von Venedig, die Nobili,
waren für sich allein nicht zahlreich und nicht stark genug,
weite Länder zu behaupten, und das übrige niedergehaltene
Volk war ohne politisches Leben und Kraft geblieben und
konnte keine hinreichende Beihilfe gewähren.2 Auch die
Bern er Aristokratie ist weniger durch innere Entartung des
Patriciates als vielmehr daran zu Grunde gegangen, dasz sie
sich nicht aus den ausgezeichneten Männern der Hauptstadt
und des Landes zu ergänzen verstand.
2 Sehr gute Bemerkungen darüber hat MachiavelH zu Livius I, 6,
gemacht.
348 Viertes Buch. Die Statsformen.
Alle Aristokratie beruht auf ausgezeichneter Qualität.
Welche Art der Qualität nun bei einer Nation vorzüglich ge-
achtet werde und Macht habe, das hängt von dem eigenthüni-
lichen Charakter und von den jeweiligen Zuständen der Nation
ab. Wenn der Vorzug des Geschlechts (der Kasse) ent-
scheidet, so nennen wir sie Geschlechter- oder Adels-
aristokratie. In ihr wirkt das Familienrecht und das
ständische Hecht auf die Ausbildung der öffentlichen Ver-
fassung mächtig ein. Viele mittelalterliche Aristokratien hatten
diesen Charakter. Der Vorzug der B i 1 d u n g und Erzieh-
ung kann zur Priester- oder Gelehrtenaristokratie
führen. Wird das höhere Alter als Hauptbedingung der Re-
gierungsfähigkeit betrachtet, so bildet sich eine Aristokratie
der Aldermänner und des Senats. Gilt die kriegerische
Auszeichnung als entscheidend, so entsteht die Aristokratie
des Ritterthums. Wird auf den Reichthum das Schwer-
gewicht gelegt, so ergibt sich, je nachdem der Grundbesitz
allein oder auch das bewegliehe Vermögen beachtet wird, eine
grundherr liehe oder eine Capitalistenarietokratie,
die Plutokratie, nach Cicero's EJrthei] die hftszlfchste aller
Statsformen.3 Die Aristokratie der Optimal en hat vorzugs-
weise einen Parteicharakter, indem sich in ihr eine Anzahl
von Familien und Personen geeinigt haben. Die Aristokratie
der Aemter und Würden kann vorzugsweise als eine po-
litisch motivirte angesehen werden, am ehesten dann, wenn sie
noch als Wahlarist okratie erscheint, weniger wenn rie, wie
das im Mittelalter gewöhnlich geschehen ist, allmählich zur
Erbaristokratie und in Folge dessen wieder zur Geschlechter-
oder Adelsaristokratie wird.
Oft, wird zugleich auf verschiedene vorzügliche Eigen-
schaften gesehen und diese combinirte Aristokratie ist sicherer
J Cicero de Rep. I. 34: „nee ulla deformior species c^t civitatis quam
illa in qua opulenttisimi optimi putaniar." Herrschaft der haute ftnasoc
(Bankiers). Vgl darüber Leo. Naturlelire d. Statt. 8. 89 ff.
Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 349
und besser als die einseitig auf Einen Vorzug gegründete
Herrschaft, welche alle andern von Natur aristokratischen
Classen oder Personen zu natürlichen Gegnern hat.
Die Aristokratie liebt es ihre Vorzüge glänzen zu lassen.
Indem sie daher mit Vorliebe die äuszere Hoheit und Würde
des States zu zeigen pflegt, veredelt sie die statlichen Formen
und verstärkt sie die öffentliche Autorität. Sie kann eher
noch der Liebe des regierten Volkes, aber nie der Achtung
desselben entbehren. Daher sucht sie durch die äuszere feier-
liche Erscheinung zu imponiren, und ihr Selbstgefühl, ihr Stolz
prägt sich dem State ein. Es ist das ein unverkennbarer
Vorzug der aristokratischen vor der demokratischen Statsform,
welche leicht auch ihre Obrigkeit und selbst den Stat in die
Niederung des gemeinen Lebens herabzieht.
Aber an den Vorzug schlieszt sich die Gefahr ganz nahe
an, dasz die herrschenden Classen sich selbst überheben, und
die regierten Classen weder hinreichend achten, noch ihnen
eine genügende Sorge zuwenden. Daher begegnen wir nicht
selten in der Geschichte der Aristokratien einer kalten, mit
Geringschätzung begleiteten und dadurch um so verletzenderen
Härte und selbst Grausamkeiten gegen die niedern Schichten
der Bevölkerung. Das Verfahren der Spartiaten gegen die
Heloten, die Bedrückung der plebejischen Schuldner
durch die Patricier, die Miszhandlung der irischen
Pächter durch die englischen Grund h er ren, die Aus-
beutung und die despotische Unterdrückung der Hindus in
Indien, der Neger auf Jamaica durch die englischen Statt-
halter4 sind beredte Zeugnisse für diesen Charakterzug.
Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit
gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist
umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder-
lichkeit der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen-
schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer
* Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvre tom. VIII.
350 Viertes Buch. Die Statsformen.
Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt, die
Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen, voller
Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth nicht selten
in den Trrthurn : indem sie sich starr an das Alte anklammere
und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre Herrschaft am
besten sichern. In der That versteht sie es meistens besser
als die Demokratie , sich selber zu conserviren, und
durchweg haben die Aristokratien einen längeren Bestand
gehabt als die Demokratien. Sie vermeidet die Statsexperi-
mente, sie hat Scheu vor raschen Sprüngen ; in gemessenem
Gang schreitet sie bedachtsam vorwärts, und entwickelt nur
wenn wirkliche Gefahr droht, dann zuweilen die Monarchie
vorübergehend nachbildend, eine durchgreifende Energie. Aber
was im richtigen Masse wieder eine gute Eigenschaft jener
Statsform ist, und aus dem natürlichen Instinct der Selbst-
erhaltung entspringt, das wird, im Unmasz geübt, zu einem
tödtlichen Fehler.
Diese Neigung und Fälligkeit der Erhaltung offenbart sich
auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die Erb-
lichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen zu
machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte des
Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa einen
aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche Kaiser-
reich war, ungeachtet das Kaiserthum ursprünglich von der
Idee der Monarchie vollständig erfüllt und durchdrungen war.
jedenfalls seit dem Untergänge der Hobenstaufen dem Wesen
nach zu einer Aristokratie geworden.5 Nur das Kaiser-
5 Das hat schon der Franzose Bodin wohl gewuszt. Seither haben
es sogar deutsche Rechtshistoriker zuweilen wieder vergessen. Bodin
schreibt (de Rep. lib. II.): „Et quoniam plerique Imperium Germanorum
monarchiam esse et sentiunt et afFirmant, eripiendus est hie error. —
Neminem autem esse arbitror, qui cum animadverterit, trecentos oirotter
Principes Germanorum ac legato.s civitatum ad conventus eoire, qui ea,
quae diximus, jura majestatis habeant, aristoeratiam esse dubitet. Lege?
enim tum [mperatori, tum singulis Principibus ac civitatibus, cum etiam
Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 351
thum selbst war nicht erheblich geworden, sondern wurde
durch Wahl der erblichen Kurfürsten besetzt. Die Ehren,
welche dasselbe umgaben, waren glänzend, aber die Macht
gering. In allen wichtigen Dingen kann der Kaiser nur in
Verbindung mit den Kurfürsten einen Entscheid fassen. Die
Gesetze bereitet das Kur fürst encolle gium vor, und hat
auf dem Keichstage selbst die erste Stimme. Die zweite steht
den übrigen Fürsten und Herren zu, welche alle wieder die
ursprünglichen Statsämter in erbliche Landesherrschaften um-
zuwandeln gewuszt haben. Ist die Vereinbarung auch mit
dieser regierenden Aristokratie, dem Keichsfürstenrath,
gelungen, so wird noch das reichsstädtische Collegium
um seine Zustimmung befragt; aber da zu der Zeit auch in
den Reichsstädten gewöhnlich eine patricische Aristokratie das
Regiment besitzt, so ist selbst hier wieder die Vertretung auf
den Reichstagen groszentheils aristokratisch. Die Reichs-
regierung steht dem Kaiser und dem Kurfürsten gemeinsam
zu, nicht jenem allein, und an eine unmittelbare Einwirkung
und Beherrschung der Reichsgewalt den Personen und Zustän-
den gegenüber ist nicht mehr zu denken. Diese war in jeder Weise
de bello ac pace decornendi, vcctigalia ac tributa imporandi, deniqueju-
dices Imperialis Curiae dandi jus habenr. — Sceptra quidera, regale so-
lium, pretiosissimae vestes, coronae, antecessio, subsequentibus Christianae
regibus, imaginem regiae majestatis, habent, rem non habent. Et certe
tanta est imperii germanici majcstas, tantus splendor, ut Imperator suo
quodam modo jure Omnibus ornamentis ac honoribus cumulari mereatur:
sed ea est Aristocratiae bene constitutae ratio, ut quo plus honoris eo
minus imperii tribuatur; et qui plus imperio possunt, minus honoris
adipiscantur, ut omnium optime Veneti in republica constituenda decre-
verunt. Quae cum ita sint, quis dubitet, rempublicam Germanorum Ari-
stocratiam esse?" Philipp Chemnitz (dissert. de ratione status in
imperio nostra Romano germ. 1640.) hat auf den Gedanken, dasz Deutsch-
land eine Aristokratie sei, seine Reformplane gegründet. Ygl. Perthes
das deutsche Statsleben vor der Revolution. J845. §. 246. Puffendorf
(Montezambano) hat das Reich ein zwischen Monarchie und Aristokratie
schwankendes Monstrum genannt, aber ebenfalls die überwiegende Ten-
denz zur Aristokratie anerkannt.
352 Viertes Buch. Die Statäformen.
unterbrochen durch die Landesherrschaft der erblichen Reichs-
aristokratie, unterbrochen und gelähmt bei weitem mehr als
vermittelt.
In allen politischen und rechtlichen Verhältnissen zeigt
sich diese aristokratische Neigung des Mittelalters zu erblicher
Befestigung derselben. Die Lehen, die Reichswürden und
Aemter, die Gerichtsbarkeit in .allen Stufen, Grafschaften,
Vogteien, Grundherrschaften, selbst die Stühle der urtheilen-
den Schöffen, die Ritterschaft, der Hofdienst der Ministerialen,
die Patriciate in den Städten , die Meyer- und Kellerämter in
den Dörfern, der hofrechtliche Besitz der hörigen Bauern,
Alles wurde während des Mittelalters erblich.
Im Gegensatze zu dieser Richtung des Mittelalters äuszert
dagegen die neuere Zeit vielfältig ihre Abneigung gegen
das politische Princip der Erblichkeit. In beiden sich wider-
streitenden Tendenzen liegt ein Element der Wahrheit, und
eines des Irrthums und der Uebertreibung. Die neuere Zeit
hat Recht, wenn sie gegen die Hemmnisse ankämpft, welche
eine verhärtete und beschränkte Erblichkeit der Verhältnisse
der Entwicklung de* Lebens und der Befriedigung der moder-
nen Bedürfnisse entgegengesetzt; de hat Recht, wenn sie für
die individuelle Tüchtigkeit Anerkennung verlangt; Recht,
wenn sie nicht mehr zugibt, dasz die politischen Aemter,
welche persönliche Fähigkeit und zugleich Unterordnung unter
das Ganze voraussetzen, nach den Grundsätzen des Erbrechts
besetzt und zu Eigenthum einzelner Familien gemacht werden.
Aber sie hat Unrecht, den Zusammenhang zwischen der Ver-
gangenheit und Gegenwart, den das Erbrecht festhält, aufzu-
lösen und in Zustände und Verhältnisse, welchen die fortge-
setzte Stätigkeit der Ueberlieferung natürlich ist, welche eben
durch ihren gesicherten Fortbestand der Statsordnung selbst
als feste Säulen dienen, und welche auch grosze moralische
Interessen und Kräfte fortpflanzen und in die Zukunft hin-
überleiten, eine lockere und häufigem Wechsel ausgesetzte
Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 353
Beweglichkeit einzuführen. Indem sie das thut, baut sie statt auf
Felsen auf Sand und verfehlt sich wider die organische Natur
sowohl der Nation als des States, deren Leben nicht mit den
einzelnen Generationen wechselt, sondern während Jahrhun-
derten sich durch eine Keine von Generationen fortsetzt/
6 In dem aristokratischen England wird diese Bedeutung des politi-
schen Erbrechts auch in unserer Zeit noch verstanden. Sehr schön
äuszert sich darüber Edm. Burke in seinen Betrachtungen über die
französische Revolution: „Sie werden bemerken, was die übereinstim-
mende Politik unserer Verfassung von der Magna Charta bis zur Erklä-
rung der Rechte gewesen ist, unsere Freiheit als eine fideicommissa-
rische Erbschaft (an entailed inheritance) zu begehren und in An-
spruch zu nehmen, die uns von unsern Voreltern überliefert worden,
und die wir unsern Nachkommen zurücklassen sollen. Wir haben eine
erbliche Krone, eine erbliche Pairie und ein Haus der Gemeinen und
ein Volk, deren Privilegien, Gerechtsame und Freiheiten von einer langen
Ahnenreihe herstammen. Der Geist der Neuerung ist gemeiniglich das
Geschöpf der Selbstsucht und beschränkter Ansichten. Ein Volk,
welches nicht zurückblickt auf seine Vorfahren, wird auch nicht für seine
Nachkommen sorgen. Das Volk von England aber weisz sehr wohl, dasz die
Idee der Erblichkeit ein sicheres Princip der Erhaltung und ein
sicheres Princip der U eberliefcrung erzeugt, ohne irgend ein Princip
der Vervollkommnung auszuschlieszen. Es läszt den Erwerb
frei, aber es sichert das Erworbene. — Unser politisches System
steht in Verbindung und Harmonie mit der gesammten Weltordtmng und
mit den Bedingungen der Existenz eines fortdauernden Körpers, welcher
aus vergänglichen und wechselnden Theilen gebildet ist. Nach der An-
ordnung einer bewundernswürdigen Weisheit ist unsere Verfassung als
ein Ganzes, indem sie die grosze und geheimniszvolle Verbindung des
Menschengeschlechtes nachbildet, zu keiner Zeit alt oder jung (?), son-
dern unveränderlich fortdauernd schreitet sie fort durch den mannich-
faltigen und im einzelnen unablässigen Wechsel der Abnahme und des
Untergangs, der Erneuerung und des Aufschwungs. Indem wir so die
Weise der Natur in der Leitung des States bewahren, werden wir in
unsern Verbesserungen niemals ganz neu sein, und in dem was wir er-
halten, nie ganz alt. Indem wir so der Erblichkeit anhängen, haben
wir unserer Statsordnung das Bild einer Bluts- und Familienverbindung
aufgeprägt, verknüpfen wir unsere Landesverfassung mit unsern theuer-
sten häuslichen Banden, nehmen wir die Fundamentalgesetze auf in das
Heiligthum unserer Familienliebe, umfassen wir unzertrennlich und mit
der Wärme der verschlungenen und wechselseitig wiederstrahlenden Zu-
neigungen unsern Stat, unsern Herd, unsere Gräber und unsere Altäre."
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 23
354 Viertes Buch. Die Stitsformen.
Da die Aristokratie vorzugsweise die Macht der äuszern
Ordnung aufrecht erhält, und von dieser ihre Erhaltung er-
wartet, so ist sie in besonderem Masze auch eine Pflegerin
des Eechts, dessen formellen Bestand sie sorgfältig vor Er-
schütterung bewahrt. Man hat es daher mit Grund ihr nach-
gerühmt, dasz sie, wenn sie nicht in ihrer Existenz bedroht
scheine, und deszhalb ihre Leidenschaften gereizt werden, ge-
rechter sowohl im Verhältnisz zu den Unterthanen als zu ihren
eigenen Gliedern zu handeln pflege als die Demokratie. Es
ist kaum zufällig, dasz die welthistorische Ausbildung der
Rechtswissenschaft vorzüglich in dem eminent aristokratischen
Volke der Römer vor sich ging. Anerkannt auch ist die zwar
strenge aber unparteiische Rechtspflege der Venetianer, das
gute Recht, welches die Berner gehandhabt, das starke Rechts-
Gefühl der aristokratischen Engländer, und während des Mittel-
alters nahm selbst die Politik die äuszere Gestalt des Rechts-
urtheils und seiner Vollstreckung an.
Die neuere Zeit ist der Aristokratie als Statsform so sehr
ungünstig, das/ sich keine einzige Aristokratie bis in die Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts hat behaupten können. Die alt-
römische Aristokratie ist zuvor durch die aufstrebende Demo-
kratie gebrochen, und dann erst durch «las Kaiserthum erdrückt
worden. Die italienischen and die deutschen Aristokratien des
Mittelalters sind vorerst durch die wachsende Macht der Fürsten
überholt und gedemüthigt worden, und dann erst der Feind-
schaft der bürgerlichen ('lassen erlegen.
In dem modernen Stat nehmen daher die aristokratischen
Classen nur noch als ein ausgezeichneter Bestandtheil des Volks
eine mittlere, aber nirgends mehr eine souveräne Stellung
ein. Sie sind überall entweder der Monarchie oder der De-
mokratie untergeordnet. Sie können jene unterstützen oder er-
mäszigen und diese veredeln oder beschränken, aber sie können
nicht mehr die Statsregierung von Rechtswegen in Anspruch
nehmen.
Vierzehntes Capitel. IV. Monarch. Sfcat3forraen. Hauptarten ders. 355
Vierzehntes Capitel.
IV. Monarchische Statsformen.
Die Hauptarten der Monarchie.
Die monarchische Statsform hat die allgemeinste Aner-
kennung unter den verschiedensten Völkern der Erde erlangt.
Wir finden sie in allen Welttheilen, in Asien und in Europa
fast überall und schon in den Anfängen unserer Geschichte
wie in der Gegenwart. Aber unter sich sind die Monarchien
sowohl in der Idee als in der Form ihres Daseins so sehr ver-
schieden und mannichfaltig, dasz es schwer wird, die Haupt-
arten derselben näher zu bestimmen.
I. Den Uebergang von der Theokratie zur humanen Mo-
narchie bildet die Despotie, wie sie in Asien vorzüglich
Macht und Geltung erlangt hat. Das charakteristische Kenn-
zeichen der Despotie ist, dasz sie alles Kecht in dem Mo-
narchen dergestalt einigt, dasz auszer ihm und ihm gegen-
über Niemand festes Recht hat. Er allein ist der Berechtigte,
alle andern sind vor ihm rechtlose Wesen, Sclaven. Er kann
wohl von dem religiösen oder moralischen Pflichtgefühl be-
schränkt sein und anerkennen, dasz er Gott für die Ausübung
seiner Allgewalt verantwortlich sei, aber er ist nicht beschränkt
durch die Rechte seiner Unterthanen. Vor ihm gibt es kein
anderes Recht, als was er an Willkür und Gnade zuläszt.
Diese Despotie musz , um sich selbst auch nur einiger-
maszen zu erklären, auf die göttliche Allmacht sich berufen.
Der Despote musz als Stellvertreter Gottes und als Inhaber
der göttlichen und deszhalb unbegränzten Gewalt verehrt werden.
Darin liegt die nähere Beziehung zur Theokratie, an deren
Gebrechen auch die Despotie leidet, auch wenn sie im übrigen
zugesteht, dasz der Despot ein Mensch sei. Die muhammeda-
nischen Staten des Mittelalters haben alle einen solchen Zug
zur Despotie: und erst in unserer Zeit fangen sie an, sich der
europäisch-humanen Monarchie entschiedener anzunähern.
23*
356 Viertes Buch. Die Statsforraen.
IL Wir können die Despotie als eine barbarische Form
der Monarchie bezeichnen. Die höheren arischen Völker
haben sie schon in der Vorzeit als ihrer unwürdig verworfen.
Sie haben alle auszer den Rechten der Fürsten und Könige
auch Eechte der Stände und der Privatpersonen behauptet und
sich als Freie, nicht als Sclaven gefühlt. Wo die Uebermacht
des Monarchen unter ihnen zuweilen der Despotie ähnlich über-
spannt wurde, da empfanden die arischen Völker das immer
als ein Unrecht, und bei günstiger Gelegenheit traten sie
ihm entgegen und nöthigten ihn, auch die Rechte der Unter-
thanen anzuerkennen. Die civilis irte Monarchie ist daher
immer eine durch die gemeinsame Rechtsordnung be-
dingte und beschränkte. Die Stellung des Monarchen
wird dadurch nicht erniedrigt, sondern erhöht, und seine Macht
nicht geschwächt, sondern verstärkt, denn es ist edler, einem
freien Volke, als einer knechtischen Menge vorzustehen und
die politischen Kräfte jener zusammenzufassen und zu leiten,
als den stumpfen Gehorsam dieser zu lenken. Je mehr in
einem State die Einheit und Energie des Ganzen mit der freie-
sten Entfaltung aller Glieder verbunden erscheint, um so voll-
kommener ist der Stat organisirt. Das aber ist nie in der
Despotie, sondern nur in der civilisirten Monarchie möglich.
Der menschliche Geist hat in den verschiedenen Zeitaltern
und unter den verschiedenen Völkern mancherlei Versuche ge-
macht, um die richtige Form der rechtlichen Bestimmung und
Beschränkung zu finden.
Eine der ältesten Formen ist das Geschlechtskönig-
thum, die Patriarchie. Der König wird wie der Häupt-
ling aus dem vornehmsten Geschlecht, als der Aelteste und
der Vater des Stammes verehrt. Die Institution erscheint da
noch gebunden an den Verband der Familienart, und beschränkt
durch den Familiengeist. In dem Vizpati der indischen Stämme
wie in dem Kuning der deutschen Völkerschaften wird diese
kindlich-naive Anschauung sichtbar.
Vierzehntes Capitel. IV. Monarch, Statsformen. Hauptarten ders. 357
Ebenso gebunden an privatrechtliche Zustände und In-
stitutionen ist die Form des patrimonialen Fürstenthums,
welches vorzüglich im Mittelalter Anerkennung fand, sei es
in der Form des Lehenstats, sei es in der Form der ein-
fachen Landesherrschaft (dominium terrae). Auch da
wirken gewöhnlich Familienrecht und dynastische Vorstellungen
ein; es kommt aber hinzu die Verwechslung des Stats mit
einer im Eigenthum befindlichen Grundherrschaft. Das Amt
wird einem Vermögensrechte ähnlich betrachtet und behandelt.
Wir können diese beiden Formen, in denen das Statsbe-
wusztsein noch nicht durchgebrochen ist, als unreife Ent-
wicklungsphasen bezeichnen.
III. Ist zwar das Statsbewusztsein th eilweise geweckt
worden, aber noch in einer einseitigen Richtung auf eine ein-
zelne öffentliche Function als Hauptfunction des Fürstenthums
befangen, so entstehen die einseitigen Formen entweder des
Kriegsfürst enthums (Herzogthum, Imperatoren-
stat), wenn die kriegerische Obergewalt bestimmend wirkt,
oder der Gerichtsherrschaft, wenn das Richteramt als
Herrschaft angesehen wird. Das erstere wird durchweg ge-
waltiger und energischer erscheinen, die letztere beschränkter
und gemäszigter.
IV. Wenn das Statsbewusztsein in dem Fürsten über-
reizt und übermächtig wird, so dasz er sich selbst für
den allmächtigen Herrn und Inhaber aller öffentlichen Gewalt
hält, so kommt zwar die vielseitige und öffentliche Bedeutung
der Monarchie als einer entscheidenden Centralgewalt zur Er-
scheinung, aber die Bevölkerung wird in politischer Unfreiheit
niedergehalten. Es entsteht die absolute Monarchie, welche
als civilisirte Statsform der barbarischen Despotie entspricht,
aber sich dadurch von ihr unterscheidet, dasz der civilisirte
Monarch doch eine Rechtsordnung als nothwendig aner-
kennt, und sich selbst verpflichtet, derselben gemäsz —we-
nigstens in der Regel — zu regieren. Ausgedehnter erscheint
358 Viertes Buch. Die Statsformen.
diese absolute Gewalt in dem antiken römischen Stat, be-
schränkter in der neueren Absolutie, die durch das Christen-
thum und die freiheitliche Entwicklung auch des Mittelalters
beschränkt wird.
V. Edler entwickelt und in sich gehaltener sind die For-
men der beschränkten Monarchie, welche die einheitliche
Machtfülle der statlichen Centralgewalt in sich aufnehmen,
aber zugleich damit die Freiheit der Volksclassen und der ein-
zelnen Bürger zu verbinden unternehmen.
Dahin gehört sowohl die mittelalterliche Form einer aristo-
kratisch und ständisch beschränkten, als die moderne
Form der repräsentativen und constitutione llen Mo-
narchie.
Einige der wichtigsten Erscheinungen dieser verschiedenen
Arten verdienen eine besondere Betrachtung, wie dieselbe den
folgenden Capiteln vorbehalten wird.
VI. An dieser Stelle musz aber noch ein anderer Gegen-
satz innerhalb der civilisirten Monarchie erwähnt werden, der
Unterschied nämlich des Kon igt hu ms und des Kaiser-
thums. Er wiederholt sich auf allen Entwicklungsstufen der
Monarchie, roher in der alt-asiatischen Despotie, edler in der
europäischen Statenbildung.
Die Idee des Königthums gehört dem Volke, die Idee
des Kaiserthums der Menschheit an. Das Königthum ist die
höchste obrigkeitliche Institution des Volksstates, des Ein-
zelstates, das Kaiserthum ist die Krone des Weltreiches.
Ueber den Königen erhebt sich die Würde des Kaisers, wie
.die Macht der Menschheit über der der Völker. So oft im
Orient ein groszes Reich gegründet ward, finden wir solche
Könige der Könige. Der grosze Cäsar griff den Gedanken
der römischen Weltherrschaft persönlich auf, und ihm zu Ehren
hat die- Weltgeschichte diese vornehmste Statsidee mit seinem
Namen benannt. Die volle Verwirklichung derselben wird aber
erst dannzumal möglich werden, wenn die Welt zu einer uni-
Fünfzehntes Capitel. A. Hellen, u. altgerm. Geschlechtskönigthum. 359
verseilen Organisation der Menschheit fortgeschritten sein wird.
Bis dahin sehen wir in der bisherigen Geschichte nur be-
schränkte und mangelhafte Versuche, das Kaiserthum herzu-
stellen. *
Fünfzehntes Capitel.
A. Hellenisches und altgermanisches Geschlechtskönigthum.
In den ersten Zeiten der hellenischen und germa-
nischen Geschichte finden wir unter beiderlei Völkern Könige
an der Spitze der Stämme und Staten; und es zeigt die Art,
wie diese Institution von diesen Völkern aufgefaszt und be-
handelt wird, eine aufTallende Uebereinstimmung, während da-
gegen das in der Mitte liegende alt-römische Königthum
in wesentlichen Beziehungen sich davon unterscheidet.
Das Königthum der Hellenen und der Germanen bildet
den Uebergang aus der noch ideokratischen Form der orien-
talischen Alleinherrschaft in eine menschlich-politische
Institution. Die Könige leiten zwar ihr Geschlecht gewöhn-
lich von den Göttern her, die hellenischen meistens von Zeus,
die germanischen von Wodan (Odin), und der Volksglaube
verehrt in den Königen die Ueberlieferung des göttlichen Blutes ;
aber obwohl so der Ursprung der Könige angeknüpft wird an
die Herrschaft der Götter über die Welt, werden sie doch auf
der andern Seite als Menschen anerkannt und vielfach auch
menschlich beschränkt. i Die königlichen Heroen und Helden
5 Ygl. über die Idee und die Geschichte des „Kaiserthums" den be-
züglichen Artikel im deutschen Statswörterbuch.
1 Daher der Ausdruck : „Ex de Jios ßaaiXies. u AioysveZq jLoxqecpElg
bei Homer, H. IL 204 ff.
„Nimmer Gedeihn bringt Vielherrschaft, nur Einer sei Herrscher,
Einer nur Fürst, dem schenkte der Sohn des verborgenen Kronos
Scepter zugleich und Gesetze, damit er gebiete den Andern."
Vgl. Herrmann griech. Statsalterth. §. 55. Sophokles Philokt. 137.
360 Viertes Buch. Die Statsformen.
sind Göttersöhne und Verwandte der Götter, aber sie sind zu-
gleich wirkliche Menschen in ihren und des Volkes Augen.
Daher sind die Ehrenrechte der Könige höher und aus-
gedehnter als ihre Macht. Sie vertreten das gesammte Volk
den Göttern gegenüber und vermitteln durch Opfer und Gebet,
soweit nicht besondere Priester diese Pflicht üben, zwischen
beiden,2 weszhalb denn auch zu Athen nach der Abschaffung
des Königthunis der opfernde Archon noch den Namen des
Königs beibehielt.
An Werth wird ihre Person weit hoher geschätzt als die
der übrigen Volksgenossen. Pas Wergeid der germanischen
Könige übertrifft das der Edeln gewöhnlich mehrfach. Sie
ragen daher auch durch ihren Beichtham vor Allen hervor.
„Hoch ragt vor andern Künsten ja
Bines Königs Kun-r.
Der klug waltend Zeus1 göttliches Scepter lenkt."
Vgl. den Preh des Königthnms in dem Indischen Epoa Bami
Holtzma im Ten. I J (2:
t Wie für den Leib das A nge sfe ts,
Nach allen Seiten sorglich blickt,
So für das Reich der Männerf&rst
Der Tugend Wuriel und des Kechts.
In blinde Finsternias verhüllt,
AVüst und verworren ist die Welt,
Wenn nicht der König Ordnung hält,
Und zeigt, was recht und unrecht sei.u
Nach Jornandes c. li stammen die Ämaler aus dem Geschlechte
der Äsen. Von Ilengi-M und Rorsa ist 68 bekannt, dasz sie von Wo-
dan stammen. Es i*t aioher, dasz viele anfängliche Gesohleohtshäupter
erst später auf europäischem Boden an Königen geworden sind (Sybel,
Entstehung des deutschen KÖnigthums), und dasz man sich dieMI
Ursprungs wohl erinnerte. Aber die Idee und selber die Institution des
Königthums haben die arischen Völker ans Asien mitgebracht.
2 Aristot. Pol. III. 9, 7\ In den skandinaTischeii Ländern tritt diese
Eigenschaft auch der germani^lu n Könige deutlicher hervor, als in der
uns bekannten deutschen Geschichte. Vgl. Grimm, Rechtsalt. S. 243.
Der christlich gesinnte norwegische König Ilakon wurde von den noch
heidnischen Bauern gezwungen, an dein Ding Dach dem alten Herkommen
zu opfern, die Weihebecher zu trinken nnd Pferdefleisch zu essen. Konr.
Maurer, die Bekehrung des norweg. Stammes zum Christentum. I.S. ICD ff".
Fünfzehntes Capitel. A. Hellen, u. altgerm. Geschlechtskönigtlium. 351
Ihnen gehört ein groszer Theil des Landes als Domäne zu
Eigenthum zu, und bei Eroberungen erhalten sie ausgedehnte
Güter zum voraus.3 Ihre Wohnung, der Palast war höher,
weiter, schöner und reicher geschmückt als die übrigen Häuser.4
Ihre Schätze, Horte, sind reich mit Kleinodien und Schmuck
ausgerüstet.
Durch Insignien sind sie als Könige bezeichnet. Die
griechischen tragen das Scepter, zum Zeichen der Gerichts-
hoheit undMacht: ebenso die deutschen den Stab.5 Sie sitzen
auf einem erhöhten Throne, dem Königs stuhl (Hochsitz).6
Den deutschen Königen wird überdem das Banner vorge-
tragen als Zeichen ihrer Kriegsgewalt. Bei den Griechen ver-
künden Herolde ihr Erscheinen und gebieten Schweigen, ähn-
lich den deutschen Fronboten in den Gerichten. Die fränki-
schen Könige tragen wallendes langes Haar zum Schmuck.
Die Kleidung des Königs ist glänzender, vornehmer als die
gewöhnliche. Die altindischen Könige und ebenso die alt-
chinesischen Fürsten erscheinen in gelbem (golddurchwirkten)
Talar, mit gelbem Sonnenschirm. 7
3 Tacitus, Germ. 14: „Materia munificentiae per bella et raptus.u
c. 2G: „Agro-s inter se secundum dignationem partiuntur." Diese aus-
gedehnte Grundherrlichkeit der Könige und Fürsten ist , trotz der zahl-
reichen Entäuszerungen aller Art, noch durch das ganze Mittelalter
hinab in Deutschland sichtbar.
4 Homer's Odyss. IV. [$:
„Wie der Sonne Glanz umherstrahlt oder des Mondes,
Strahlte der hohe Palast des gottbeseligten Herrschers."
Vgl. Odyss. VI. 301 ff. Aehnlich die „Hallen" der deutschen Fürsten.
5 Homer's II. IL 100 ff.
„Da erhub sich der Held Agamemnon,
Haltend den Königsstab, den mit Kunst Hefästos gebildet,
Diesen gab Hefästos dem waltenden Zeus Kronion.
Aber ihn liesz Thyestes dem Held Agamemnon zum Erbtheil,
Viel Eilande damit und Argos Reich zu beherrschen."
Vgl. Grimm. R. A. S. 241.
c Grimm. R. A. S. 242.
' Grimm. S. 239. Thierry Merowing. II. 82. (Rama von Holtz^
mann) v. 782 ff.
362 Viertes Buch. Die Statsf'ormen.
Die Existenz königlicher Geschlechter und die Verbindung
dieser mit den Göttern weist unverkennbar auf alte Erb li ch-
keit des Königtimms hin. Indessen bestimmte das Erbrecht
nicht nach festen Eegeln die Nachfolge. Vielmehr wird bei
den Hellenen zugleich auf persönliche Tüchtigkeit ge-
sehen. So werden daher sowohl Weiher als Kinder meistens
ausgeschlossen von der Thronfolge, und in Folge der Aner-
kennung, welche den Edeln und dem Volke vorbehalten bleibt,
und der Einwirkung solcher individuellen Rücksichten nicht
ganz selten Abweichungen von dem Erbrechte durchgesetzt.9
Ebenso ist bei den Deutschen die Beachtimg des Erbrechts
mit der Kur der Fürsten und der Zustimmung des Volkes
verbunden, wenn schon in gewöhnlichen Fällen das Erbrecht
entscheidet, und eher noch als bei den Hellenen auch Kinder
zu Königen erhoben werden. Nichts hinderte die freie Volks-
genossen.M/liiit't . auch einen ferneren Sippen des verstorbenen
Königs dem näheren vorzuziehen, wenn jener tüchtiger BChien.9
Die statliche Haehl dieser Könige «rar zwar intensiv,
aber immerhin sehr beschränkt Sie äussert sich hauptsächlich
in folgenden Momenten:
1) Der König hat den Vorsitz und die Leitung so-
wohl des. Käthe- der Fürsten als der Versammlung des
1 Wir erinnern an die Geschieht*' de> Oedipns. Auch bei den In-
diern älml. Verbindung d, Erbrechte (nach Erstgeburt) mit Katli und
Wahl des Fürsten. Rama i v. llolt/maniO, f. 22 ff«
9 Tacitus Germ, i : .Ke^x r.r nnhilitate. sumurU.* I>i'' Rücksicht
auf das Geschlecht liegt1 lobon in dem Namen der deutschen Könige,
Chuning und Kun-ing von ohun oder ohuni, Gesohlecht. Büdebert II.
wurde als fünfjähriger Knabe tum Eftnigc von A.ustrasien ausgerufen.
Thierry Mercw. II. 63. Beispiele ron Abweichungen von dem Erbrecht
finden lieh öfter in der Geschiente der Westgothen und der Lougobarden.
F. Dahn (Die Könige der Germanen I. 8. H2) betont die Erblichkeit
entschiedener; Thudichum (Der altdeutsche ßtat 8. 60, i mehr die
Volkswahl; aber beide erkennen die Verbindung hei. ler (Jrsaebei an.
Eine ähnliche Verbindung vop Erbrecht (der Erstgeburt) mit dem
Rath und der Wahl der Groszen , wie bei den alten Germanen, findet
Sich bei den alten Indiern. Rama | v. Holtzmannj v. 22 ff.
Fünfzehntes Capitel. A. Hellen, u. altgerm. Geschlechtskönigthum. 363
Volkes.10 Er hat in beiden eine hohe Autorität, aber, wie
Tacitus das sehr wahr bezeichnet, eher eine moralische Au-
torität der Empfehlung als eine rechtliche des Gebots.11
2) Er ist der oberste Eicht er und hat als solcher —
nicht etwa das Urtheil zu finden, wohl aber das Kecht zu
schützen und zu handhaben. ,2 Auch hier übt er keine will-
kürliche Gewalt, weder in Form noch Inhalt. Tn beiden Be-
ziehungen wird er durch das Urtheil beschränkt und bestimmt.
3) Er ist ferner Haupt der Kriegsordnung und in der
Kegel Heerführer. I3 Im Kriege erweitert sich dann seine
Macht.14 Zuweilen sehen sich die deutschen Stämme indessen
genöthigt, eben weil sie noch mehr als die Hellenen an dem
Erbrechte halten, statt unmündiger Könige Herzoge im be-
sondern Falle mit der wirklichen Kriegsführung zu betrauen.
Auch in solchen Fällen aber gilt doch der König als Ober-
haupt des Heerbanns.
Die eigentliche Regierun gsma cht dagegen ist bei den
Hellenen und den Germanen in den ersten Zeiten noch sehr
unentwickelt. Der Keim derselben liegt noch verhüllt in den
vorhin genannten Eigenschaften des Königs.
Diese Könige sind endlich mit ihrer ganzen Existenz und
ihren Hechten umschlossen von dem göttlichen und dem mensch-
lichen Recht. Die Griechen machen auf den Unterschied zwischen
lQDießovXy der icvaxie g oder /inatXse ?, auch yEQovreg um den König
her bei den Hellenen entspricht dem concilium prineipum, welches nach
Tacitus den deutschen Königen zur Seite steht.
11 Tacit. Germ. II: „auetoritas suadendi potius quam jubendi."
12 Homer nennt die Könige daher „dixuanoKovs* und &siuioionöXovg
Ueber die deutschen vgl. Tacit. Germ. 9. J2. Auch der indische Königs-
name rag stammt von rag richten, wie rex von regere. Die Idee der
Rechtsordnung ist daher schon in dem alt-arischen Königsnamen aus-
gesprochen. Lassen Ind. Alterth. I. S. 808. „Die Bürde der Gerech-
tigkeit ruht auf der Königswürde." Rama 17.
13 Aristotel. Pol. III. 9, 7: vKvqlol cT ijouv rrjg xe /.(na nöXe^xov
r/yepoviccg." Bei manchen deutschen Völkerschaften hat der glückliche
Herzog eine königliche Dynastie gegründet.
n Vgl. Caesar de B. G. VI. 23.
364 Vierte* Buch. Die Statsformen.
der orientalischen Despotie und diesem Königtlmm aufmerksam,
und heben mit Nachdruck hervor, dasz das Wesen des letztern
in der Beachtung der göttlichen Ordnung, der vaterländischen
Gesetze und Gewohnheiten bestehe.1'1 Der König steht somit
nicht über, sondern in der Rechtsordnung, nicht auszer dem
Volke, sondern an der Spitze desselben. Noch mehr beschränkt
durch das Recht des ganzen Volkes und der übrigen Glieder
desselben sind die deutschen Könige.16
Eine Eigentümlichkeit des deutsehen Königthums aber,
wodurch die geringe Macht desselben in gewissen Kreisen sehr
verstärkt wird, ist die Beziehung desselben zu dem auser-
wählten und eng verbundenen Gefolge. Durch das kriegerische
und zu persönlicher Treue und Ergebenheit eidlich verpflichtete
Gefolge erlangen die deutschen Könige eine ihnen ausschliesslich
,s Dioaya von Halicarnasa V. ?4: „Urspr&nglioh hatten alle grie-
chischen Städte Konige, aber Dicht in der despotischen Art der Bar-
baren, sondern nach den Gesetzen und den vaterländischen Gewohn-
heiten.8 Aristo'. Pol, in. :», ; und III. 10, I. Vgl. Herr mann n. a. ().
Sophokles Oed, <L König \ 35 ' tf'., wo der Chor auf das göttliche Recht
hinweiat:
„Ach würd' ich theilhaft des I
Rein EU wahren fromme Scheu hei jedem Wort und jeder Handlung.
Treu den Urgesetzen,
Welche beschwingt hoch in des Aethen
EGmmlischem Geiste stammen ans dem Bchoosze
Des Va teri ol y mpoa , nicht
Aus sterblicher Männer Erafl
Geboren; nimmer hüllt sie die Zeit, traun, in Vergessenheit;
Es belebt machtvoll sie ein Gott, der nie altert."
Und noch energischer Antigene iv. iMi zum König Kreon:
„Auch nie SO mächtig aclift' ich, was ]>u hcfahht.
Um über angeschriebenes, festes, gSt'tliohei
Gesetz liinaus zu schreiten, eine Bterbliche.
Für diesem wollt' ich nicht dereinst, ans banger Beben
Vor Menschendünken mir der Götter Btrafgerioht
Zuziehen/ Vgl. Oed. Col. v. L371.
16 Tacitus, Germ. 7: „nee regibua infinite ac libera potestis»" c 11:
„penes plebem arbitrium* Sie „walten" ihrer Völker, sie „herrschen"
nieht. Sc h m i t thenner, Statsr. S. [Q,
Sechzehntes Capitel. B. Altrömisches Volkskönigthum. 365
dienende Haus- und Kriegsmacht, als deren freie „Herren"
sie gelten, und deren Ehre darauf gerichtet ist, die Ehre, Au-
torität und Macht des Königs gegen seine Feinde und Wider-
sacher zu verfechten. In dieser Eigentümlichkeit liegt der
Keim zu der groszen mittelalterlichen Schöpfung der Lehens-
verfassung, welche die Nationalverfassung später vielfach durch-
brochen, überwuchert und groszentheils auch umgestaltet hat.
Sechzehntes Capitel.
B. AUi'ümiselies Volksköni»tluun.
In einigen Beziehungen erscheint das alte Königthum der
Römer dem der Hellenen und Germanen nahe verwandt: in
andern aber unterscheidet es sich von diesem so bedeutend,
dasz wir in ilim wohl eine neue Art der Alleinherrschaft, und
zwar eine höhere Entwicklungsstufe derselben erkennen dürfen.
Schon bei Bestellung der römischen Könige finden wir den
wichtigen doppelten Unterschied, dasz die Rücksicht auf das
Erbrecht bedeutend zurücktritt hinter das Element der Er-
nennung oder Wahl, und dasz nicht ebenso der Volksglaube
die römischen Könige von göttlicher Herkunft stammen
läszt, wie die griechischen und germanischen.
Zwar haben die Heroen, denen Rom seine Gründung ver-
dankt, noch Götterblut in ihren Adern, und Romulus wird
nach seinem Tode selbst zu den Göttern erhoben. Aber nach
ihm äuszern die Götter ihre Mitwirkung nur, wie in allen
andern wichtigen Statsangelegenheiten, durch die Zeichen,
welche bei den Auspicien beobachtet werden, durch die un-
sichtbare Stimmung der Seelen und durch die unabwendbare
Macht des Schicksals. Der Charakter des römischen König-
tums ist demnach rein menschlich geartet, obwohl auch
in ihm die Verbindung mit göttlicher Einwirkung auf das
Geschick des States noch festgehalten wird. Die Einsicht und
366 Viertes Buch. Die Statsformen.
der Wille der Individuen wirkt hier stärker ein, und die
Rücksicht auf das Blut und die Familie tritt mehr in den
Hintergrund. 1
Der römische König wird von dem Vorgänger oder dem
Interrex unter Mitwirkung des Senats und mit Zustimmung
der Götter ernannt oder auf Lebenszeit gewählt, nicht eine
königliche Erbdynastie anerkannt. Es kommt daher mehr auf
die Individualität desselben, als auf den Stamm an. Dem
gewählten Könige wird nach einem von ihm selber vorge-
schlagenen Gesetz der Curien mit den Auspicien von dem
Interrex die königliche Gewalt übertragen, 2 ganz so wie später
den Magistraten der Eepublik ihr imperium. So ist das römische
Königthum von Anfang an auch eine individuelle Ma-
gistratur.
Schon diese Unterschiede bedingen eine andere Auffassung
der königlichen Institution. Ein anderer nicht minder ge-
wichtiger liegt in der Art und dem Charakter der könig-
lichen Gewalt selbst. In manchen Dingen zwar sind die
Hechte des Hex ähnlich denen der andern antiken Könige.
Auch er ist Opferpriester für das Volk, auch er versammelt
und leitet sowohl den Senat, als die verschiedenen Comitien
des Volks. Eben so ist er in der Regel der oberste Richter,
ungeachtet es von seinen Strafen unter gewissen Voraussetz-
ungen noch eine Berufung an das Volk gibt. Er steht ferner
von Rechtes wegen an der Spitze der Kriegsverfassung, und
ist der natürliche Heerführer. Endlich besitzt auch er Reich-
thum an Gütern und Einkünften. *
1 Ganz analog ist selbst das römische Erbrecht in der Regel nicht
auf den Zusammenhang des Blutes und der Familie gegründet, sondern
in erster Linie auf den individuellen AVillen des Erblassers, der seinen
Nachfolger frei ernennt.
2 Es ist das die sog. lex regia, welche zur Kaiserzeit erneuert ward.
Ulpianus in pr. L. 1. de con3tit. Princip. Cicero de lege agrar. II. 11.
3 Vgl. Niebuhr, röm. Gesch. I. (356). Rubino, Untersuch, über
röm. Verf. 1. Abschn. 2.
Sechzehntes Capitel. B. Altrömisches Volkskönigthum. 367
Aber ungeachtet der römische König kein Abkömmling
der Götter und nur auf Lebenszeit gewählt ist, so ist seine
Macht doch sehr viel intensiver und voller als die der grie-
chischen Könige. Darin offenbart sich schon von Anfang an
der vorzugsweise statliche Sinn der Kömer, dasz sie ihre
obersten Magistrate mit einer Fülle von Macht, und insbe-
sondere mit der Gewalt ausstatten, für die öffentliche Wohl-
fahrt energisch zu sorgen. Das specifisch-rö mische Imperium
ist es vorzüglich, was diesz Königthum vor jenen andern In-
stitutionen so sehr auszeichnet.
Die äuszere Erscheinung des Königs ist nicht minder voll
Glanz und Ehre, als die der andern, aber in ihr schon offen-
bart sich ihre gröszere Macht. Die Kuthenbündel und Beile,
welche die zwölf Lictoren ihnen vortragen, sind nicht blosze
Zeichen, sondern Werkzeuge der strengen Strafgewalt, welche
den Ungehorsam an Leib und Leben heimsucht. Das römische
Imperium und die Beile der Lictoren gehören im Leben und
in der Idee der Römer zusammen.4
In Folge des höchsten Imperium, welches der König von
Rechtes wegen mit den Auspicien überliefert erhalten hat, ist
er voraus berechtigt , die erforderlichen Statsordnungen und
Rechtsgrundsätze festzustellen. Man darf nicht vergessen, dasz
der römische Stat von dem Könige gegründet worden war,
und dasz die Gewalt des ursprünglichen Gründers auf dem
Wege der Tradition auf dessen Nachfolger überging. Die
eigentlichen Gesetze bedurften freilich der Zustimmung des
Senats, und wohl auch — sicher seit dem Könige Servius
Tullius, 5 des Geheiszes der Volksversammlung (populi jussu),
* Cicero pro Flacco. 8.: Opifices et tabernarios atque illam omnem
faecem civitatum, quid est negotii concitare in eum praesertim qui nuper
summo cum imperio fuerit , sumrao autem amore esse propter nomen
ipsum imperii non potuerit. Mirandura vero est horniges eos, quibus odio
sunt nostrae secures etc. 34. „non Imperium non secures. u Vgl. Liv. XXIV. 9.
5 Tacit. Ann. III. 26. : „Praecipuus Servius Tullius sanctor legum
fuit, quis etiam reges obtemperarent." Pomp. L. 2. §. I. de Orig. Jur.
368 Viertes Buch. Die Statsformen.
aber für diese war der Wille des Königs selbst unentbehrlich
und gewöhnlich auch maszgebend. Denn nur er konnte das
Gesetz in Antrag bringen, und gegen seinen Willen kein Vor-
schlag in Berathung oder zur Abstimmung kommen. 6 Auszer
den Gesetzen konnte aber der König unzweifelhaft durch sein
Edict, ohne Berathung und Zustimmung irgend einer be-
schränkenden Versammlung, das Beeilt näher bestimmen,
welches er schützen und handhaben werde. Machte er auch
selten davon Gebrauch, so wurde es von jeher doch als ein
Recht der römischen Magistrate betrachtet, das Gewohnheits-
recht und neue Rechtsansichten in solcher Weise zur Aner-
kennung zu bringen, und in den von ihnen bestimmten Formen
fortzubilden. Dieses jus edicendi ist von den Königen auf die
Magistrate der Republik übergegangen, nicht für diese neu
begründet worden.
So war auch die Autorität der römischen Könige in Hand-
habung der Rechtspflege viel gröszer, als die der germa-
nischen Fürsten. Wie diese saszen auch jene öffentlich und
anfangs persönlich zu Gericht, aber der Rex war nicht be-
schränkt durch das Urtheil der Beisitzer. Er leitete nicht
blosz den Gang des Processes, er setzte selber den Rechts-
satz fest (jus dicit), welcher zur Anwendung kommen sollte.
Er urtheilte wohl auch in der altern Zeit häufig selbst. Die
ganze Privatrechtspflege und die Strafrechtspflege gröszern-
theils hingen durchaus von ihm ab.7
schon von Romulus: „Leges curiatas ad populura tulit." Vgl. Liv. I. 8.
Bion. Hai. IV. 3G.
6 Rubino a. a. 0. S. 18 ff. hat das altrömiäche Statsrecht in vielen
Beziehungen wieder zur Anerkennung gebracht, aber geht wohl zu weit,
wenn er den Königen in älterer Zeit für sich allein alle Gesetzge-
bungsgewalt zuschreibt. Der bescheidenere Ausdruck rogare legem wird
zwar von den Königen nicht gebraucht, sondern die vornehmeren Be-
zeichnungen constituere, instituere, dare jus; aber damit wird weder die
Bedeutung des Senates, noch die des Volkes verneint.
7 Cicero de Rep. V. 2.: „Omnia conficiebantur judieiis regüs.a 11.31.
Zonaras, annal. VII. 13.
Sechzehntes Capitel. B. Altrömisches Volkskönigthum. 369
Wie ausgedehnt ferner war die Heeresgewalt des rö-
mischen Königs! Keine Schranke hemmte im Felde das ab-
solute Kecht desselben über Leben und Tod aller Kriegs-
Pflichtigen von den obersten Führern bis hinab zu den nie-
drigsten Kriegern. Noch aus den Zeiten der römischen Re-
publik, in welchen die überlieferte königliche Gewalt so man-
cherlei Beschränkungen erlitten hatte, kennen wir eine ziem-
liche Anzahl von Beispielen, in welchen nicht blosz Dictatoren,
deren vollere Macht eben die alte ungeschmälerte königliche
war, sondern auch Consuln trotz den Bitten oft des ganzen
Heeres angesehene Kriegsobersten hinrichten, oder in ganzen
Heeresabtheilungen je den zehnten Mann enthaupten lieszen.8
Die übrigen Statsämter und priesterlichen Wür-
den leiten groszentheils ihr Dasein und ihre Befugnisse von
dem Könige ab. Der tribunm Gelerum als Anführer der Rei-
terei, der praefectus urbi, welcher in der Stadt als Stellver-
treter der Könige waltet, werden von ihm ernannt. Die Au-
gurn, die Pontifices haben ihre Wissenschaft der Weis-
sagung und des heiligen Hechts von dem Könige empfangen. 9
In dem Imperium liegt endlich als innerster Kern des-
selben eine mächtige Eegierungsge walt , welche überall,
wo das Bedürfnisz des States und die Umstände es im ein-
zelnen Falle verlangen, ein- und durchgreift, und im Interesse
der öffentlichen Wohlfahrt das Notlüge gebietet und anordnet.
Diese Gewalt — bei den hellenischen Königen nur in sehr ge-
ringem Umfange, bei den germanischen fast gar nicht bekannt
— nimmt in dem römischen Statsrechte von Anfang an eine
wichtige Stellung ein, und wie die Römer in ihrer Familie
und als Eigenthümer die absolute Herrschaft lieben , so ist
auch ihr statliches Imperium absolut. Ihre Könige sind daher
nicht blosz Richter im Frieden, sie sind, wie schon der Name
zeigt, ganz vorzugsweise Regenten.
s Livius II. 59. VIII. 7. IX. 16. Brisson de formuL p. 455 ff.
9 Rubin o a. a. 0. S. 114 und 298.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 24
370 Viertes Buch. Die Statsformen.
Nur so erklärt sich, wie die ganze Politik des römischen
States in der königlichen Periode von dem individuellen Willen
und der Thatkraft der Könige bestimmt, wie alle Einricht-
ungen auf die Könige zurückgeführt werden. Nur von da aus
wird es verständlich, wie schon zu dieser Zeit riesenhafte und
gemeinnützliche Bauwerke in Korn von den Königen ange-
ordnet und durchgeführt werden. Sie haben die Sorge für die
Lebensmittel und für eine gute Bewirtschaftung des Bodens,
sie wachen über die guten Sitten der Bürger und üben die
polizeiliche Gewalt in ausgedehntem Masze aus. Alle Gewalt
überhaupt, welche später unter die Consuln, die Prätoren, die
Censoren, die Aedilen vertheilt ward, ist ursprünglich in der
Einen Hand des römischen Königs verbunden. 10
Mit Einem Worte: Der römische Stat zuerst führt die
Monarchie in Form einer mensch lieh- nationalen Tndi-
vidualherrschaft mit voller Concentration aller
statlichen Macht und mit einer Fülle sogar abso-
luter Regierungsgewalt in die Geschichte ein.
Siebenzehntes Capitel.
C. Das römische Kaiserthum.
Das römische Kaiserthum, welches von C. Julius Cä-
sar eingeleitet und vouAugustus eingeführt worden ist, und
auf die ganze spätere Entwicklung des mittelalterlichen und
modernen Statsrechts einen groszen Einflusz geübt hat, beruht
keineswegs blosz, wie das Neuere hier und da behauptet, auf
einer Anhäufung republikanischer Aemter und Würden, son-
dern ist in der That eine Erneuerung der monarchischen Ge-
walt, welche die Kindheit des römischen States geleitet hat,
10 Rubino S. 136.
Siebenzehntes Capitel. C. Römisches Kaiserthum. 371
eine Erneuerung freilich in viel groszartigeren Verhältnissen
und der seitherigen Umbildung des States gemäsz.
Allerdings lieszen sich die Kaiser Gewalten übertragen,
welche vorher einzelnen republikanischen Magistraturen zuge-
hört hatten: die tribunicische Gewalt, in Folge welcher
sie auf persönliche Unverletzlichkeit, auf ein weit wirkendes
Eecht der Intercession und der Verneinung, und auf die Idee,
Schirmer des niedern Volks und seiner Rechte zu sein, einen
erhöhten Anspruch bekamen ; die censorische Gewalt, welche
ihnen die Aufsicht über die Sitten und die Befugnisz verlieh,
die Listen des Senats und der Ritter nach ihrem Ermessen zu
bereinigen; die Würde des pontifex maximtts, und damit die
Befugnisz über wichtige Fragen des geistlichen Rechts zu ent-
scheiden. Von Zeit zu Zeit nahmen sie auch persönlich die
Würde eines Consuls an. Aber in der Hauptsache, in Idee
und Macht, bestand die Statsveränderung nicht in solcher
Cumulation von Magistraturen, sondern in der neuen Begründ-
ung einer einheitlichen Centralmacht, einer wahren
Monarchie. Republikanische Formen verdeckten einem Theil
der Bevölkerung anfänglich den Uebergang in die Monarchie;
in den Augen der Kundigen aber war diese schon unter Au-
gustus vollständig eingeführt. Das monarchische Princip wurde
schon bei der Erhebung des Kaisers Tiberius sehr scharf im
Senate ausgesprochen: „Nicht darum kann es sich nunmehr
handeln, zu trennen was unzertrennlich verbunden ist, sondern
um Anerkennung des Grundsatzes, dasz derStat Ein groszer
Leib ist, und durch Einen Geist regiert werden musz.1
Der Name Princeps (Senatus) freilich war bescheiden,
die Macht des Kaisers dagegen so unermeszlich , dasz nur
wenige Individuen den Genusz derselben zu ertragen vermochten,
die meisten durch das Uebermasz geistig oder moralisch ruinirt
1 Tacitus Ann. I. 12; I. 1. von Augustus: „ Cunda discordiis civili-
bus fessa nomine Principis sub Imperium accepit." Vgl. die Verhand-
lungen von Mäcenas und Agrippa mit Augustus bei Dio Cassius 52.
24*
372 Viertes Buch. Die Statsforinen.
wurden. Die Gewalt und die Würde war nicht erblich,
dem Kaiser nicht anerboren, sondern dieser wurde gewählt,
anfänglich dem Scheine nach nur auf zehn Jahre, in Wahrheit
aber auf Lebenszeit. Sie hatte einen menschlichen, nicht einen
göttlichen Ursprung, und erkannte die Hoheit des Volkes an.
Durch ein Volksgesetz wurde ihm die Gewalt von demVolke
übertragen.2 Allein auf das Blut und die Familienver-
bindung wurde dennoch bei der Anerkennung der Kaiser zwar
nicht principiell, aber factisch in den meisten Fällen Bücksicht
genommen, und der anerkannte Kaiser empfing jeder Zeit die
kaiserliche Gewalt, welche an Umfang der Gewalt des römischen
Volkes selbst zur Zeit der Kepublik gleichgeachtet wurde, zu
persönlichem, vollem Rechte. Auch das Volk konnte
dieselbe später nicht mehr beschränken noch entziehen. Sie
war durch die Ueberlieferung gesichert.
In ihr war — abgesehen von den obigen Magistraturen,
die regelmäszig mit der kaiserlichen verbunden waren, und
diese sehr verstärkten — enthalten:
1. Die Disposition und der Befehl über die gesammte
Kriegsmacht des States, zu Rom über die Garde der Prä-
torianer. Die Einführung stehender Heere, für die spätere
Grösze des Reiches ein Bedürfnisz, sicherte zugleich die Existenz
des Kaiserthums, und diente dazu, demselben überall Gehorsam
zu erzwingen. 3 In dieser Eigenschaft nahmen die Kaiser den
Titel der „Imperatoren" an , welcher vordem eine andere
Bedeutung gehabt hatte
2. Die unbeschränkte Regierung über eine Anzahl
und gerade die wichtigsten und reichsten Provinzen. Von
2 Ulpianus in L. 1. pr. de constitut. princip. : „Quod principi placuit,
legis habet vigorem, utpote , cum lege regia, quae de imperio ejus lata
est, populus ei et in eum omne suum Imperium et potestatem conferat.
Gaj. I. 5. §. 6. J. de jure nat.
3 Mäcenas empfahl daher auch dem Kaiser Augustus , eindringlich,
ein stehendes Heer ^aiQcatoiiag cc&auäiovg) zu bilden, dagegen die Masse
der Bevölkerung den friedlichen Gewerben zu überlassen. Dio Gass. a.a.O.
Siebenzehntes Capitel. C. Römisches Kaiserthum. 373
daher zogen die Kaiser unermeszliche Keichthümer und Kräfte
aller krt an sich. Im übrigen hatten die Provinzialen durch
die Statsveränderung bedeutend gewonnen. Ihre Groszen wurden
von dem Kaiser in den Senat berufen und mit Aemtern be-
traut, die Volksniasse wurde durch die kaiserlichen Legati
weniger bedrückt und ausgesogen, als früher durch die Pro-
consuln und Proprätoren der Republik, welche sich abwechselnd
in den Provinzen zu bereichern pflegten. Das dauernde In-
teresse der Kaiser gebot theils gröszere Schonung theils eine
geregelte Verwaltung der Provinzen.
3. Die Entscheidung über die auswärtige Politik,
das Recht über Krieg und Frieden, und das Recht Bündnisse
abzuschlieszen. 4
4. Die Macht, den Senat zu versammeln, Anträge an
denselben zur Berathung zu bringen, den Senatsbeschlüssen
gesetzliche Geltung zu verleihen. 5 Wie fügsam der Senat sich
den Kaisern gegenüber erwies, wie abhängig derselbe auch
von diesen war, ist bekannt genug.
5. Die entscheidende Stimme bei allen Besetzungen
der Magistraturen und wichtigeren Statsämter,
indem sowohl der Senat, als die — damals nur noch dem for-
mellen Scheine nach erhaltene — Volksversammlung, die von
dem Kaiser empfohlenen Bewerber zu berücksichtigen, so-
gar durch das Gesetz verpflichtet ward. 6
6. Die unbeschränkte allgemeine Vollmacht, alles zu
4 Lex de Imp. Vespasiani: „foedusque cum quibus volet facere liceat."
5 Ebenda: „utique ei senatum habere, relationem facere, remittere
senatus consulta per relationem discessionemque facere liceat — utique
cum exvoluntate auctoritateve jussu mandatuve ejus praesente eo senatus
habebitur omnium rerum jus perinde habeatur servetur ac si e lege Se-
natus edictus esset habereturque.
6 Ebenda: „utique quos magistratum potestatem imperium curationem
cujus rei petentes senatui populoque Romano commendaverit quibusque
suffragationem suam dederit, promiserit , eorum comitis quibusque extra
ordinem ratio habeatur."
374 Yiertes Buch. Die Statsformen.
thun, was ihm zur Wohlfahrt und Ehre des States zweck-
dienlich erschiene. Das ist der innerste Kern der Kaiserge-
walt, die überall, wo das Statswohl es erfordert, mit Macht
eingreift, und das öffentliche Bedürfnisz befriedigt.7 Eine
Folge dieser auszerordentlichen Vollmacht ist es, dasz die
kaiserlichen Edicte allein nicht blosz , sondern sogar die De-
crete und Rescripte die volle Autorität von Gesetzen haben,
dasz somit auch die gesammte Gesetzgebungsgewalt von dem
Kaiser allein in weitestem Umfange ausgeübt werden kann.8
Damit aber jedes Bedenken über die Anwendung dieser
absoluten Macht zum Schweigen gebracht, und jeder Wider-
stand gegen dieselbe erfolglos werde, bestimmt das Kaiserge-
setz ausdrücklich: dasz wenn einer um dieses Gesetzes willen
gegen Volksgesetze, Plebiscite oder Senatsordnungen handle,
oder was dieselben vorschreiben, nicht befolge, ihm das nicht
zum Schaden gereichen solle, und er deszhalb nicht zu ge-
richtlicher Rechenschaft gezogen werden dürfe. Die Un Verant-
wortlichkeit des Kaisers verstand sich von selbst; sie wurde
aber auch auf alle ausgedehnt, welche im Auftrag und Dienst
des Kaisers nach seinem Willen handelten, somit das Gegen-
theil der heutigen Ministerverantwortlichkeit festgesetzt.9
In der That war diese Kaisermacht auf dem Gebiete des
öffentlichen Rechtes ganz ähnlich wie das Eigenthum des
römischen Sachen- und die väterliche Gewalt des Familien-
rechts. Sie war unbeschränkte Herrschergewalt, ,0
7 Ebenda: „utique quaecumque ex usu reipublicae majestate divinarum
huma'rum publicarum privatarumque rerura esse censebit ei agere facere
jus potestasque sit."
8 Savigny, System des röm. Rechts. I. S. 121 ff.
9 Lex de Imp. Vesp.: „Si quis hujusce legis ergo adversus leges ro-
gationes plebisve scita senatusve consulta fecit fecerit sive quod eum ex
lege etc. facere oportebit non fecerit hujusve legis ergo id ei ne fraudi
esto neve quit ob eam rem populo dare debeto neue cui de ea re actio
neve judicatio esto neve quis de ea re apud . . agi sinito."
,0 Den Namen dominus freilich, der im Gegensatze an die servi erin-
nerte, verbaten sich die ersten Kaiser noch als unwürdig (Sueton. Octav.
Siebenzehntes Capitel. C. Römisches Kaiserthum. 375
vor der sich Alles beugen muszte. Sie war die Concentration
der römischen Weltherrschaft, das imperium nrundi in
Einem Individuum. Das ideale Motiv, welchem freilich
die Kealität nur selten entsprach, war die öffentliche Wohl-
fahrt, Salus publica, das grosze Statsprincip der Kömer,
welches sie in den Statsangelegenheiten wenigstens in späterer
Zeit mehr anriefen als das Eecht, Jus, so sehr sie im Pri-
vatrecht gerade dieses zu Ehren brachten und ausbildeten.
Die römische Kaisergeschichte, wie sie diese absolute
Statsform im groszartigsten Maszstabe zur Erscheinung gebracht,
hat zugleich der Nachwelt die Warnung hinterlassen, dasz ein
solches Uebermasz von Macht weder zum Besten dessen dient,
der sie besitzt, noch der Nation, für welche sie geübt werden soll. n
In der Zeit des untergehenden und innerlich verdorbenen
Weltreiches mochte übrigens dieselbe nöthig und in dem Schick-
sale hinreichend begründet sein. Die römische Aristokratie
war theils entartet, theils nicht stark genug, den unermesz-
lichen Statskörper zu leiten. Von Zeit zu Zeit noch ohn-
mächtige Versuche wagend , ihre frühere Herrschaft herzu-
stellen, ergab sie sich doch in der Eegel der zwingenden Ge-
walt der neuen Verhältnisse. 12 Die Masse des Volkes , ohne
Anspruch auf Herrschaft, der Waffen entwöhnt, den Werken
und Genüssen des Friedens ergeben, zog sogar die Herrschaft
des Einen Kaisers dem Kegimente des Senates vor, und freute
53 : vdomini appellationera ut maledictum et opprobrium semper exhor-
ruit" Tiber. 27. Tac. Ann. IY. 37.38.). Spätere Kriecherei aber führte
den Titel dennoch ein.
11 Man vergleiche nur die folgenden Worte des Kaisers Tiberius,
welche ursprünglich vielleicht aufrichtig gemeint waren, mit seinen Tha-
ten. Sueton. Tiber. 29: „Dixi et nunc et saepe alias, P. C, bonum et
salutarera Principem, quem vos tanta et tarn libera potestate exstruxistis,
senatui servire debere et universis civibus saepe et plerumque etiam
singulis: neque id dixisse me poenitet."
12 Wie wenig damals die frühere republikanische Verfassung bei den
untern Volksclassen zu Rom populär war, zeigen die Vorgänge bei der
Erhebung des Kaisers Claudius.
376 Viertes Buch. Die Statsformen.
sich trotz der eigenen politischen Ohmnacht über die De-
inüthigung des Adels. Der alte Römercharakter, früher noch
als der Eömergeist, war schwach und krank geworden, und es
büszten die Kömer den unersättlichen Trieb nach Herrschaft,
der sie von Eroberung zu Eroberung geführt hatte, nun mit
der eigenen gemeinsamen Knechtschaft.
Achtzehntes Capitel.
I). Fränkisches Königthuin.
Auf römischem Boden erhob sich das grosze Reich der
deutschen Franken. Die fränkische Monarchie, aus römischen
und deutschen Elementen gemischt, bildet denn auch den
Uebergang aus der antiken in die mittelalterliche Weltordnung.
Viel mächtiger als ein alt-germanischer König ist der fränki-
sche König, doch weder so absolul noch so übermächtig als
der römische Kaiser. Die tdeen des germanischen Rechts
und der germanischen Freiheit nahen sich gewisser-
maszen vermählt mit den Gedanken der römischen Stats-
hoheit und Macht, and aus dieser Verbindung ist die mo-
narchische Institution hervorgegangen, wie wir sie in der Zeit
Karls des Groszen in voller Kraft entfaltet sehen,
Eine Reihe von Gründen wirkten zusammen, um die ein-
heitliche Macht der karolingischen Könige zu stärken: vorerst
die merkwürdige Folge individuell ausgezeichnete! und glück-
licher Herrscher, sodann die wachsende Ausdehnung eines
groszen Reiches, für welches ein umfassendes und starkes po-
litisches Regiment Bedürfnisz ward, die Notwendigkeit einer
stets verfügbaren groszen Kriegsmacht, und die Siege, welche
durch sie erfochten wurden, die Verbindung mit des romani-
schen Unterthanen, die seit Jahrhunderten in der CMtur des
römischen States erzogen und an die Vorstellungen und durch-
greifenden Einrichtungen des römischen States gewöhnt waren.
Achtzehntes Capitel. D. Fränkisches Königthum. 377
In einer Beziehung freilich machte die Institution der
Monarchie eher einen Rückschritt. Das Princip der Erblich-
keit nämlich der königlichen Würde, neben welcher die frühere
Kur zu einer ziemlich bedeutungslosen Formalität zusammen-
schrumpfte, wurde allzusehr nach der Weise der privatrecht-
lichen Erbfolge ausgeübt, und zum Nachtheil des States und
der Nation das Gesammtreich unter mehrere Söhne des ver-
storbenen Königs so vertheilt, wie die liegenden Güter, die
ein Privatmann hinterlassen hatte.1 Damit war aber der poli-
tische und st ats rechtliche Charakter der Thronfolge,
welcher die fortdauernde Einheit des States erhält, gänzlich
verkannt, und wurde dem privatrechtlichen Princip, dasz die
Herrschaft im State wie ein Vermögen des Individuums und
der Familie sei, d. h. dem sogenannten Patrimonial princip
in dieser Hinsicht gehuldigt.*
Als hauptsächliche Veränderungen in den Machtverhält-
nissen sind folgende zu erwähnen:
1. Gesetzgebung. Diese wurde überhaupt wichtiger
und fruchtbarer in dem fränkischen Reiche, als vordem in
dem engen Lebenskreise einer einzelnen germanischen Völ-
kerschaft , und die Könige erlangten auch dort einen viel
gröszern Einflusz auf dieselbe , als sie vormals gehabt hatten.
Der römische Grundsatz, dasz jede beliebige Willens-
1 Karl der örosze freilich suchte diesen Uebeln einigermassen zu be-
gegnen durch das Reichsgesetz von SOG. „Placuit inter praedictos filios
nostros statuere atque praecipere, propter pacem quam inter eos perma-
nere desideramus, ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites
invadere praesumat — ; sed adjuvet unusquisque illorum fratrem suum,
ut auxüium Uli ferat contra inimicos ejus juxta rationem et possibili-
titera, sive infra patriam sive contra exteras nationes." In derselben
wird auch der Wahl des Volkes noch Erwähnung gethan, c. 5. Vgl.
Eichhorn, Deutsche Stats- und Rechtsgesch. I. §. 139 u. 159. Gruizot,
Essais sur l'hist. de France. S. 206 ff.
2 Demgemäsz wurde die Thronfolge wie das Erbrecht in die „terra
Salica" behandelt. Vgl. Z öpfl, Deutsche Stats- u. Rechtsgesch, II. §.33.
3te Aufl. S. 403. Waitz, Deutsche Verf.-Gesch. II.
378 Viertes Buch. Die Statsformen.
äuszerung des Kaisers in Kecktssachen Gesetzeskraft
habe, konnte natürlich unter dem germanischen Volke der
Franken weder Billigung noch Geltung finden; aber die in
den meisten Fällen maszgebende Vorbereitung der Gesetzes-
entwürfe wurde nun gewöhnlich in dem königlichen Cabinette
mit Hülfe der königlichen Räthe vorgenommen, und die Ge-
setze selbst im Namen des Königs erlassen, dessen Sanction
erst den Entwürfen Gesetzeskraft verlieh.
Von gröszter Bedeutung aber war es, dasz die Berath-
ung, beziehungsweise die Zustimmung der auf den Reichs-
tagen versammelten geistlichen und weltlichen Groszen der
Aristokratie * in der Sitte und in dem Rechte als unent-
behrlich betrachtet wurde für die Gesetzgebung. Die Billig-
ung durch das Volk selbst hatte dagegen nur noch eine un-
tergeordnete Bedeutung, und galt in den meisten Fällen, ins-
besondere wenn es sich um statliche oder kirchliche Organi-
sation handelte, nicht mehr als aöthig. Nur wenn das eigent-
3 Hincmar de online palat. 29. von <lrm Reichstag im Mai: „In quo
placito gencralitas universorwn majorum tarn clcricorum quam laieorum
conveniebat. Seniores. proptet consilium ordinandwn: minores propter
idem suvcipiendum et interdum pariter tractandum , et non ex potcsrate
sed ex proprio mentia intellectu vel sententia confirmandum." Und von
dem Reichstag im Herbst: „Aliud placitum, cum senioribiw tantum et
praecipuis consiliariis habebatur, in quo jam futüri anni Status fcractari
ineipiebatur." Dalier denn auch die Formeln in manchen Capitularion :
„per consütum Sacerdotura et Optimatum meorum ordinavimus" (Gap.
Karlomanni a. 742): „CWn eonseiMU Epi8COporum sive Comitum et Opti-
matum Francorum" (Cap. Pippini a. 744): „Hortatu oinniuiu fidelium
nostrorum et maxime Episcoporum ac rHiquoruni Sacerdotum consultu"
(Cap. Caroli M. a. 709). Der Vergleich unter den Söhnen Ludwigs des
Frommen vom Jahre 851 enthält die ausdrückliche Bestimmung ('. (i. :
,,Et illorum, scilicet veraciter nobis fidelium, connnuni consilio, secundum
Dei voluntatem et commune salvamentum ad restitutionem sanctae Eccle-
siae et statum regni, et ad honorem rcgium atque pacem populi com-
missi nobis pertinenti, adsensum praebebimus\ in hoc ut illi — sie sint
nobis fideles et obedientes, ac veri adjutores atque cooperatores, sicut per
rectum unusquisque in suo ordine et statu suo Principi et suo Seniori
esse debet."
Achtzehntes Capitel. D. Fränkisches Königthum. 379
liehe Volksrecht verändert werden sollte, dann wurde auch die
Gutheiszung des Volkes selbst noch erfordert.4
In jener Mitwirkung der Optimaten ist der erste Ansatz
der ständischen Kepräsentation zu erkennen, welche in
den spätem Jahrhunderten eine so groszartige Ausbildung er-
langt und den repräsentativen Stat hervorgebracht hat.
2. Ee gierung. Die Grösze des States und die damalige
Umgestaltung der öffentlichen Zustände machten eine Regier-
ungsgewalt, wie sie dem altern germanischen Leben unbekannt
gewesen, zum unabweisbaren Volksbedürfnisz. Der Idee für
die Handhabung des Friedens und die Aufrechthaltung des
Kechts zu sorgen, gesellte sich die Rücksicht auf die öffent-
liche Wohlfahrt bei. Indessen war den germanischen Vor-
stellungen das römische Imperium ein zu fremder und uner-
träglicher Begriff, als dasz derselbe hätte adoptirt werden
können. Vielmehr erhob sich die neue Regierungsmacht im
Geiste der einheimischen Mundschaft (mundiburdium, mun-
dium, auch sermo, verbum Regis). Diese königliche Mund-
schaft verhält sich auf dem Gebiete des Statsrechts zu dem
römischen Imperium gerade so , wie die Vormundschaft des
deutschen Ehemanns und Vaters zu der römischen potestas im
Familienrecht. Sie ist nicht eine absolute Herrschergewalt,
sondern der Schutz der Rechte des Volks und der Unter-
thanen und die Sorge für deren Wohl sind die Ideen, welche
sie beleben.5 Die Vorstellung der Pflicht wird mit der des
Rechts unauflösbar verbunden, und schrankenlose Willkür-
gewalt nicht gestattet. Der neue Gedanke ist freilich noch
4 Capitul Caroli M. III. a. 803. c. 19: „ut populus interrogetur
de capitulis quae in lege noviter addita sunt. Est postquam omnes con-
senserint subscriptiones et manufirmationes suas in ipsis capitulis faciant."
5 Du Gange s. v. mundiburdis et mundiburdium. Vgl. cap. Caroli
M. a. 802. c. 40. Hincmar de Ordine Pal. 6: „Et Rex in semetipso no-
minis sui dignitatem custodire debet. Nomen enim regis intellectualiter
hoc retinet, ut subjeetis omnibus rectoris officium procuret."
380 Viertes Buch. Die Statsformen.
nicht nach allen Seiten klar geworden, aber der Kern des-
selben ist gesund und einer wahrhaft statlichen Entwicklung fähig.
Von diesem Standpunkte aus darf und soll der König
auch gebieten. Das Gebot äuszerte sich in der Form des
sogenannten Bannes. Der König hatte sowohl den Heer-
bann als den Gerichtsbann. In Folge des ersten verfügte
er über die ganze Kriegsmacht des Eeiches, freilich auch hier
durch das Herkommen beschränkt und nach bestimmten Ver-
hältnissen der Kriegsdienstpflicht. Indessen riefen starke Kö-
nige, wie insbesondere Karl der Grosze, nicht blosz das lehens-
pflichtige Gefolge, sondern ganze Abtheilungen des Heerbannes
auch zu Angriffskriegen auf, und bedrohten jeden Säumigen
mit dem schweren Königsbann von 60 Schillingen Busze. 6
In dem Gerichtswesen, woran sich noch immer die Lan-
desverwaltung anlehnte, übt der König den Gerichtsbann
aus, freilich selten mehr in Person, in der Kegel durch die
Gaugrafen, deren Gerichtsbarkeit aber von ihm abgeleitet
ward. Die erstarkende Statsordnung beschränkte nun die früher
in viel weiterem Umfange geübte Selbsthülfe und Bache in
privatrechtlichen Streitigkeiten wie in Straffällen, und über das
ganze Land breitete sich der sogenannte Königsfrieden
unter dem Schutze des Königsbannes aus und ersetzte den
vormals leichter zu störenden gemeinen Frieden.
Auch die Einkünfte der königlichen Kammer und
der Fiscus des Königs, worüber dieser nach eigenem Er-
messen frei verfügte, hatten bedeutend zugenommen. Die
Eroberung römischer Provinzen und die Aufhebung der alten
König- und Herzogthümer hatten die Domänen der Könige
sehr bereichert. Ueberall im Keiche gab es ansehnliche kö-
nigliche Villen, von deren Pfalzen hinwieder viele zinsbare
Güter abhingen. Die Grund- and Kopfsteuern der Provincialen
* Vgl. Zöpfl. D. St. u. R. G. II. §. 36. Cap. 2. Caroli M a. 812»
§. 1 : „Quicumque homo über in hostem bannitus fuerit et venisse con-
temserit, plenum heribannum i. e. GO solidos persolvat."
Achtzehntes Capitel. D. Fränkisches Königthura. 381
wurden beibehalten, die römischen Zölle theil weise sogar aus-
gedehnt, den besiegten Stämmen Tribute auferlegt und reich-
lichere Friedensgelder und Buszen erhoben.7
3. Ein von dem Könige abhängiges Beamtensystem
diente nun dazu, die königliche Macht nach allen Sichtungen
und auf allen Stufen der Statsordnung auf Volk und Land
einwirken zu lassen. Die obersten Eeichsämter wurden nach
dem Vorbilde des byzantinischen Kaiserhofes an dem Hofe des
Königs concentrirt. Dahin gehören der Pfalz graf (comes
palatii), welcher an des Königs Statt das oberste Richteramt
verwaltet, der C aplan (apocrisiarius , referendarius), welcher
an der Spitze der Hofgeistlichkeit steht und in kirchlichen
Dingen referirt, und der Kanzler (cancellarius) , welcher der
königlichen Kanzlei vorsteht und daher auch die diplomatische
Correspondenz leitet. Dahin auch die eigentlichen Hofämter
des Kämmerers, der den königlichen Schmuck, den Hof-
stat der Königin , und die Ehrengaben des Hofes besorgt, des
Seneschals, welcher die Aufsicht hat über alle Ministeria-
len, das Gesinde und die ganze Oekonomie des Hofes, des
Kellners (buticularius), welcher die Naturalgefälle bezieht,
und auch für die königliche Tafel den Wein besorgt, und des
Marschais (marescalcus , eigentlich „Eoszknecht"), welcher
die königlichen Stallungen unter sich hat, des Hausmeisters
(mansionarius) , welcher dafür sorgt, dasz der König, wo ei-
sernen wechselnden Hof aufschlagen will, eine würdige Auf-
nahme und Wohnung finde, der vier obersten Jägermeister
(venatores principales) und des Falkners (falconarius).8
Die königlichen Sendboten (missi dominici), die
jährlich mit besonderer Vollmacht nach der freien und wech-
selnden Ernennung des Königs die einzelnen Länder des weiten
Reichs bereisten, waren hier seine Stellvertreter. Sie waren
7Ygl. Zöpfl a.a.O. §. 40. Waitz, Deutsche Verf.-Geschichte IL
498 ff.
8 Vgl. darüber Hincmar IG — 24. -
382 Yiertes Buch. Die Statsformen.
seine Augen, durch deren Hülfe er Einsicht erlangte in die
öffentlichen Zustände, in den Stat und in die Kirche, seine
Ohren, mit denen er die Beschwerden und Wünsche der Bevölker-
ung vernahm, zuweilen auch seine Arme, durch die er dem
Gesetze Gehorsam verschaffte und der öffentlichen Ordnung
Schutz verlieh.9
Die Gaugrafen, welche in den Gauen die hohe, und
die Zentgrafen, welche in den Zenten die mittlere Ge-
richtsbarkeit ausübten, leiteten nun ihre Eichte rgewalt von
dem Könige ab , als dem obersten Richter auf Erden, die
ersten unmittelbar, die letztern mittelbar, ebenso ihre mili-
tärische Gewalt: und obwohl allerdings schon unter den
Nachkommen Karls des Groszen die Neigung zur Erblichkeit
der Grafenämter theilweise zu einem Rechte auf Erblichkeit
erwachsen war, so galt in der noch frischen Periode der aus-
gebildeten fränkischen Monarchie die Würde der Grafen als
ein wahres Reichsamt, auf dessen Besetzung dem Könige
ein entscheidender Einflusz zukam, noch nicht als eine feste
Erbherrschaft.
Als das Institut der Sendboten auszer Uebung kam, die
Herzogthümer hergestellt wurden und die Reichsämter zu Fa-
milienrechten wurden, da war es auch um die Macht des neuen
romano-germanischen Königthums geschehen, und die Aristo-
kratie der zahlreichen Fürsten und Herren trat an seine Stelle.
4. Endlich ist noch die enge Beziehung des fränkischen
Königthums sowie der weströmischen Kaiserwürde, welche
durch Carl den Groszen mit demselben verbunden wurde, zu
der Ausbreitung des Christenthums und zu der christ-
lichen Kirche als eine hervorragende Eigenschaft zu erwähnen.
Der Stat war ein christlicher geworden und das Ko-
ni gthum hatte durch Priesterhand die göttliche*Weihe
9 Capit. Caroli M. a 802. I. et Tl. et a. StO. Guizot, Essais sur
l'hist. de France, p. 191 ff.
Achtzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 383
empfangen, und war so geheiligt worden.10 Der König
fühlte sich verpflichtet, für die Erhaltung und Ausbreitung des
reinen christlichen Glaubens in seinem Eeiche zu sorgen, und
als Kaiser, soweit seine Macht reichte, das Heidenthum zu
vertilgen und die Ketzerei auszurotten: eine Verpflichtung,
welche Karl der Grosze in groszartigem Umfange mit Strenge
vollzog.11 Die Christenheit selbst galt als ein zusammenge-
höriger Körper mit zwei Ordnungen , der priester liehen
und der königlichen, der kirchlichen und der stat-
lichen.12 Obwohl aber der König nur das Haupt der letztern
war, so handhabte er doch auch dem Klerus gegenüber die
einmal erkannte christliche Ordnung. Er berief Synoden, be-
aufsichtigte die Bischöfe und die Klöster, und erliesz eine
Reihe von Gesetzen und Verordnungen von kirchlichem Inhalt.
Ebenso wirkte der Geist der Hierarchie hinwieder auf die Ge-
staltung der politischen Einrichtungen und auf die Rechts-
grundsätze der weltlichen Ordnung bedeutend ein.i;{
Neunzehntes Capitel.
E. Die Lehensmonarohie.
Die fränkische Monarchie hatte zwar in ihrer organischen
Anlage alle Bedingungen einer wahren Monarchie in sich,
10 Hinemar a. a. 0. 5. ,,Principes sacerdotum Sacra unetione
reges in regnum sacrabant."
11 Schon bevor er die Kaiserwürde erhielt, führte Karl der Grosze
den Titel: „devotus sanetae Bei ecclesiae defensor humilisque adjutor."
12 Die angebliche Aeuszerung des Papstes Gelasius an den Kaiser
Anastasius: „Duae sunt Imperatrices augustae , quibus principaliter
mundus hie regitur, auetoritas sacrata Pontificum et regalis potestas" ist
auch in die fränkischen Reichsgesetze (Cap. V. 319.) aufgenommen. Ygl.
Hinemar a. a. 0. c. 5.
13 Ygl. Eichhorn a. a. O. §. 158.
384 Viertes Buch. Die Statsformen.
und insofern ist sie der Anfang einer neuen, der modernen
Statsentwicklung. Allein die widerstrebenden Kräfte und Lei-
denschaften waren damals in der Nation noch so mächtig, und
die alten einer jeden starken Statsgewalt abgeneigten Gewohn-
heiten des Adels und der freien Germanen noch so fest, dasz
es nur ausnahmsweise einzelnen groszen Kegenten gelang, den
öffentlichen Charakter des neuen Königthums und die darin
liegende Statsmacht groszartig zu entfalten. Saszen schwache
Individuen auf dem Throne, so wurde sofort die Ohnmacht
derselben spürbar und auf allen Seiten zeigten sieh die Ten-
denzen zur Auflösung der Statseinheit, zur Beschränkung und
Nichtachtung der Centralgewalt , zu selbständig particularer
Herrschaft in kleinen Kreisen.
Die Abschwächung und das Erlöschen der Karolinger be-
zeichnet zugleich die Verdunkelung der königlichen Macht und
das Wach stimm der in den einzelnen Stämmen, Ländern und
Gebietsteilen sich erhebenden Fürsten- und Herrenge-
walt. An die Stelle der früheren roimuio-germanischen Welt-
monarchie trat mm das Lehenskönigthum. In ihm er-
langte der Charakter des Mittelalters in Vorzügen und .Man-
geln einen angemessenen politischen Ausdruck.
Die hervorragenden Eigenschaften der Feudalmonar-
chie sind:
1. Alles bisherige Königthum beruhte auf den Volks-
stämmen oder ganzen Nationen oder einem zur Einheit ver-
bundenen Volke. Man darf dasselbe wohl eine volksthüm-
liehe oder nationale Institution nennen. Das feudale
Königthum dagegen steht zwar auch in Beziehung zu einem
bestimmten Volke, an dessen Spitze der König ist, aber es
wurzelt, wenn man auf das Wesen sieht, vornehmlich auf der
engen persönlichen Treu verb indung zwischen dem
Könige als dem obersten Lehensherrn und seinen Va-
sallen, welche von ihm Macht, Ehre, Vermögen ableiten. Die
übrige Masse des Volkes, soweit sie nicht in den Lehensnexus
Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 335
steht, kommt daher nur in untergeordneter Weise, nur mittel-
bar in Betracht. Dieses Königtimm ist somit nicht eine na-
tionale Institution im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr
eine eigenthümliche St an des Institution. Nicht das Yolk,
sondern die Gefolgschaft ist die ursprüngliche Grundlage
desselben.
2. Die persönliche Treue, von dem Glänze und der
Kraft der Ehre beleuchtet und gestärkt, wurde nunmehr zu
dem wichtigsten Statsbegriff erhoben.1 Alle Vasallen muszten
daher persönlich dem Herrn, indem sie das Lehen von ihm —
in der Kegel knieend — empfingen, den Eid der Treue und
Hui de2 schwören. Am ausgebildetsten sind, wie überhaupt
das Lehenssystem, so auch diese Schwurverhältnisse in dem
Saxo-Normanni sehen Rechte des englischen König-
reichs bestimmt. Die eigentlichen Lehensvasallen schwören
dem Könige, ihrem Lehensherrn, knieend den Mann schafts-
ei d;< (homagium, liomage) und stehend auf das Evangelium
den Treueid (fidelitas, foy, feaute). 4 Bischöfe und Aebte
1 Tacitus schon weist in der Schilderung des germanischen Gefolges
auf diese moralischen Eigenschaften als die Seele des Institutes hin c. 13
und li: „Magna et com i tum aemulatio, quibus primus apud prineipem
suum locus; et prineipum, cui plurimi et accerrimi comites. Haec dignitas,
hae vires, magno aemper electorum juvenum globo circumdari, in pace
decus, in hello praesidium — Cum ventum in aciem, turpe prineipi
virtute vinci , turpe comitatui, virtutem prineipis non adaequare. Jam
vero infame in oninem vi tarn ac probrosum, superstitem prineipi suo ex
acie recessisse. Blum defendere, tueri, sua quoque fortia facta gloriae
ejus assignare, praeeipuum sacramentum est. Principes pro victoria
pugnant, comites pro principe."
2 Im französischen Recht: „foi et homage."
3 Die Formel desselben zeigt, dasz die Treue auch hier der Haupt-
inhalt ist: „Devenio liomo vester de tenemento, quod de vobis teneo et
Fidem vobis portdbo de vita et membris et terreno honore contra omnes
gentes." Bracton. II. 25. §. 8. „Jeo deveigne vostre hörne — de vie et
de membre, et de terrene honor et a vous serra foyalt et loyall, et foy ä
vous portera des tenemens, que jeo claime de tener de vous." Ygl. Du
Cange s. v. homagium.
4 Die Formel bei Bracton a. a. 0. „Hoc audis, Domine, quod
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 25
386 Viertes Buch. Die Statsformon.
schwören ausnahmsweise nur den letztern. Jener ist enger als
dieser und notwendiger an den Lehensbesitz geknüpft. Die
Treue ist allgemeiner und es kann daher auch auszerhalb des
Lebensverhältnisses von den übrigen ünterthanen der Eid der
Treue gefordert werden, wie das schon in der Karolingischen
Zeit — freilich auch unter dem Einflüsse von Feudalbegriffen —
geschehen ist.5
Diese Treue ist gegenseitig. Auch der Herr ist dem
Vasallen zur Treue verpflichtet, nur die Ehrerbietung , die
der Mann dem Herrn schuldet, hat dieser nicht ebenso zu
erwiedern.6
fidem vobis portabo de vita et membris, corpore et catallis (mit Leib
und Gut) et terreno honore, sie me Deus adjuvet et haec saneta Dei
evangelia." Vgl. Du Cange v. fidelitas. Das longobardische Lehens-
reebt und ebenso das deutsche unterscheidet nicht so scharf. Lib. II
Feud. d. Y. findet sich die Formel: „Ego juro ad haec saneto dei evan-
gelia, quod a modo in antea fidelis huic, sicut debet esse vasallus domino,
nee id, quod mihi sub nomine fidelitatis commiserit dominus, pandam
alii ad ejus detrimentum, me scientc." Und tit- VI. wird dem, der
Treue schwört, eingeschärft, dasz er sechs Rücksichten stäts vor Augen
habe: „incolume, tutura, honeshim, utile, facile, possibile." Eine deutsche
Formel im sächs. Lehnr. Art. 3. „dat he ime so trüwe unde also
holt sie, alse durch recht die man sime herren solo, di wile dat he sin
man wesen wille unde sin gut hebben wille." Vgl. Ilomeyerlll. 323.
5 Capit. III. Carol. M. a. 812 u. 13: „Ut missi nostri poputum
nostrum iterum nobis fidelitatem promittcre faciant seeundum consuetu-
dinem jamdudum ordinatam." Eine Formel in den Capit. Caroli Calvi
a. 854 c. 13: „Ego ill. Carolo ab ista die inante fidelis ero seeundum
meum savirum (savoir Wissen), sicut Francus homo perrectum esse debet
suo Regi. Sic me Deus adjuvet et istae Reliquiae."
6 II. Feud. C: „Dominus quoque in bis omnibus vicem fideli suo
reddere debet; quod si non fecerit, merito censebitur mnlcfidus." Auch
in England Rechtsregel: „Quantum homo debet domino ex homagio,
tantum illi debet dominus ex domininio, praeter solam reverentiam."
Jieeves hist. of Engl. law. I. p. 12(3. Ässises de Jerusalem Haute
Cour 322 (Kausler S. 372) : „Lassise et la lei de Jerusalem juge et dit
que autant doit li rois de fei a 3on home lige, come lome lige doit a luy, et
auis est tenus li rois de guarentir et de sauver et de desfendre des
homes liges vers toutes gens qui tort lor vorreent faire com ses homes
liges sont tenus a luy de guarentir le et de sauver vers toutes gens.
Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 387
3. Das Streben der Lehensmonarchie, alle Unterthanen in ein
Vasallenverhältnisz hinein zu ziehen, hat auch eine dingliche
Beziehung auf den Boden. In diesem Sinne suchten die ersten
englischen Könige von normannischem Geschlechte ein Ob er-
eigen t hu m des Königs über das ganze Land zur Anerken-
nung zu bringen, in Folge dessen nicht blosz die hergebrachten
oder neu verliehenen Lehengüter, sondern auch die freien Eigen-
güter in dem Rechtssystem als von dem Könige abgeleitet
erklärt wurden. Das Volksrecht des freien Eigenthums am
Boden wurde so in das Lehensrecht des abhängigen Grund-
besitzes (tenure) umgewandelt.7 Das aber ist ein allge-
meiner Charakterzug der Feudalmonarchie, welcher in der
englischen Rechtsgeschichte besonders klar erscheint.8
4. Ganz parallel dieser stufenweisen Ableitung des Grund-
besitzes von dem Obereigenthum des Königs geht in dem
Lehenssystem die stufenweise Ableitung jeder stat-
lichen Gewalt von der königlichen Gewalt. Der König
selbst hat seine Macht in einheitlicher Fülle von Gott zu Lehen
empfangen. 9 Wie die Planeten ihr Licht von der Sonne be-
Et por ce ne peut il mie mettre la main sur son home lige sans esgart
de ces pers."
7 Wilhelm I. führte erst den Treueid nach Art des Vasalleneides
ein. Vgl. oben B. II. Cap. 12. Dann erliesz er ein Gesetz, durch wel-
ches alle Grafen, Barone, Ritter, Edelknechte und alle Freien verpflichtet
wurden, stäts (wie Vasallen) zum Kriege gerüstet zu seyn, mit Waffen
und Pferden, und diese Verpflichtung wurde auf die „feoda et tenemenda"'
begründet, welche sie haben. So ward die Fiction des Lehenssystems ein-
geführt, dasz der König der ursprüngliche Herr und Eigenthümer alles
englischen Bodens sei, und niemand Güter habe, die nicht unmittelbar
oder mittelbar von ihm hergeleitet seien. Gegen die Folgen dieses Sy-
stems wurde denn freilich später ernste Einsprache erhoben. Vgl. Black-
stone Comm. IL eh. 4. Revees a. a. 0. S. 6. ff.
8 In Frankreich war das verwandte Princip: „ Nulle terre sans
seigneurs"" bereits im 13ten Jahrhundert entschieden. Vgl. Loysel II,
2, i. Weder in Italien dagegen noch in Deutschland kam das
Lehenssystem zu so ausgedehnter Verbreitung.
9 Nach dem Sachsenspiegel I. 1. ist es zunächst der Kaiser,
dem Gott das weltliche Schwert verleiht ; woraus denn folgt , dasz die
25*
38g Yiertes Buch. Die Statsformon.
kommen, so erhalten die niederen Herren sodann ihre Herr-
schaft von dem obersten Lehensherrn, dem Könige.10 Sie er-
halten die Gewalt aber nicht etwa als blosze öffentliche Be-
amte des States, als Organe der Regierung, sondern je für
ihre besonderen und abgegränzten Kreise zu eigenem Recht
und Genusz, wie sie die Lehensgfiter zu eigener Verfügung
und Fruchtgenusz empfangen. Die Mischung politischer Be-
fugnisse mit privatrechtlicher Selbständigkeit, und
sogar die erbliche Verbindung der verschiedenen Stufen der
Statsgewalt mit bestimmten Familien und festem Grundbesitz
sind charakteristische Eigenschaften des Lehenssystems. Der
König kann daher weder sich weigern, dem erbberechtigten
Vasallen die Herrschaft zu verleihen, noch darf er in die Sphäre
der verliehenen Herrschaft eingreifen, und. sei es bestimmend,
sei es beschränkend, einwirken. Jeder Kreis der Gewalt ist
in sich abgeschlossen und Wesentlich selbständig.
Die Einheit der Statsgewall isl daher in dem Lehensstate
fast nur eine formelle. Sobald es darauf ankommt, durchzu-
greifen, so erheben sich oft unflbersteigliche Schwierigkeiten.
Die besondere Macht der groszen und kleinen Vasallen setzt
sich wider die allgemeine Statsmacht, und statt diese zu ver-
mitteln, tritt sie ihr entgegen und hemmt ihre Wirkungen.
Das nationale Lehen wird s«> gespaltenin eine Mannichfaltigkeii
particulärer Gestaltungen, die Eine Statsmacht aufgelöst in
eine Vielheit beschränkter Herrlichkeiten. Dem individuellen
Könige ihre Macht durcii die Vermittlung des Kaisers empfangen. Diese
Theorie kam indessen nicht zu voller praotisoher Geltung; nnd die Könige
obwohl sie die höhere Wind.- des Kaisers respectirten, leiteten doehihre
Macht unmittelbar von (J<.it ah. Altes französisches Rechtsspruch wort:
„Le Roi ne tient que de Dieu et de l'£pee.M Loysel I. 2.
10 Sachsenspiegel III. 58: »Des rikes forsten ne solcn neuen
leien to herren hebben, wen den koning. It n'is nen vunlen, dar dir
man af möge des rike3 vorste wesen, he nc vn i \-;i*i vo D d ein e ko n inge.*
III. Hj. §. r>. Koninges bau ne mul niemaii lien wren die koning lelre.
Die koning ne mach mit rechto nicht weigeren den bau to liene, deine
it gerichte gelegen is.
Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 389
Willen und der individuellen Neigung, besonders der Magnaten
des Landes, wird ein freier Spielraum auf dem politischen Ge-
biete eröffnet, und ein bunter Keichthum der Formen und Ein-
richtungen entfaltet; aber der Zusammenhang des Ganzen ist
überall durchbrochen, und der Stat selbst gebunden. Die Aristo-
kratie nur ist stark und frei, das Königthuni zwar
an Ehren reich, an Macht aber arm und das Volk in
der naturgemäszen Entwicklung seiner Kräfte auf allen
Seiten gehemmt. Je ferner die Volksclassen von dem Centrum
dieses States, von dem obersten Lehensherrn stehen, desto
drückender wird für sie das Gewicht der in der Mitte lie-
genden Herrschaftsrechte, und desto lästiger auch die Willkür
der kleinen Herren.
Die beiden Hauptbestandtheile der germanischen obrig-
keitlichen Gewalt, der Heerbann und der Gerichtsbann,
wurden so unter die zahlreichen Herren und Vasallen vertheilt.
Die eigentliche R e g i e r u n g s g e w a 1 1 aber wurde in Vergleich
mit den Grundsätzen der fränkischen Monarchie wieder ver-
mindert und mehr als früher beschränkt. Die ganze Ver-
fassung war wesentlich eine aristokratische geworden, ob-
wohl sie mit einer monarchischen Krone geschmückt war. Die
französischen Könige aus dem Cäpetingischen Geschlechte ragten
nur wenig über die Seigneurs hervor;11 auch die deutschen
Könige waren im Innern des deutschen Reiches vielfach ge-
lähmt durch die Macht der Fürsten. Nur ausnahmsweise, wo
besonders günstige oder drängende Verhältnisse eine Abweich-
ung veranlaszten , konnte sich eine stärkere Centralmacht der
Könige erhalten ; wie in England nach dem Siege der Nor-
mannen, wo das Interesse der Sicherheit den normannischen
Adel nöthigte, sich enger an den König anzuschlieszen, und
11 Schon Hugo Capet schrieb an den Erzbischof von Sens: „regali
potentia in nullo abuti volentes , omnia negotia reiinihlicae in consulta-
tione et sententia fidelium nostrorum disponimus." Mirabeau, Essai sur
le despot. Oeuvres IL S. 390.
390 Viertes Buch. Die Statsformen.
das Bedürfnisz der neu begründeten Dynastie, sich zu erhalten,
eine energischere Entfaltung der königlichen Macht erforderte.
5. Guizot hat die Frage aufgeworfen,12 woher es komme,
dasz die feudale Statsordnung nicht erst in den Zeiten ihres
Verfalls, sondern selbst in der Periode ihrer höchsten Blüthe
fortwährend von der Abneigung des Volkes begleitet worden
sei. Den Hauptgrund für diese Erscheinung stellt er so dar:
„Der Feudalismus war eine Verbündung kleiner Herren, kleiner
Despoten, die unter sich ungleich und durch mancherlei Rechte
und Pflichten verknüpft, jeder auf seinen eigenen Gütern über
ihre persönlichen und unmittelbaren Unterthanen eine willkür-
liche und absolute Gewalt besaszen. — Von allen Tyranneien aber
ist die die schlimmste, welche ihre Unterthanen bequem über-
zählt und von ihrem Wohnsitz aus die Gränzen ihres Gebiets
überblickt. Die Launen menschlicher Willkür entfalten sich
dann in unerträglicher Sonderbarkeit und mit unwidersteh-
lichem Nachdruck. Die Ungleichheit des Standes macht sich
dann auch in schroffster Weise fühlbar. Reichthum, Macht,
Unabhängigkeit, alle Vorzüge und Rechte werden jeden Au-
genblick dem Elend, der Schwäche, der Knechtschaft gegen-
über gestellt. — In diesem System war der Despotismus so
grosz als in der reinen Monarchie, waren die Privilegien nicht
geringer als in der engsten Aristokratie, und beide stellten
sich in der beleidigendsten und rohesten Form dar. Der Des-
potismus war nicht gemildert durch die Entfernung und die
Erhabenheit des Thrones, die Privilegien waren nicht ver-
schleiert unter der Majestät einer groszen Körperschaft. Beide
gehörten einem Individuum, das immer gegenwärtig und immer
allein, nur ein Nachbar seiner Unterthanen war."
In dieser Schilderung ist eine Wahrheit. Aber in vollem
Umfang gilt sie doch nur von Frankreich, nicht von allen
mittelalterlichen Lehensstaten. Das Lehenssystem War keines-
12 Guizot: „Du caractere politique du regime feodal" in den Essais
sur l'hist. de France. Y.
Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 39 \
wegs überall verhaszt, wo es bestand, und die Anhänglichkeit
auch der Bauern an ihre Herren durchaus nicht selten. Auch
ist es nicht eine Eigenschaft dieses Systems, dasz dem Herrn
über seine Unterthanen eine „willkürliche und absolute Gewalt'4
zustehe, sondern wo dieselbe behauptet und geübt wurde —
und das mag nicht blosz in Frankreich sehr häufig, sondern
auch anderwärts nur zu oft vorgekommen sein — , geschah das
im Widerspruch mit dem System, welches von oben bis unten
lauter abgeleitete und in sich selbständige Kreise von Eechten
aufstellte. Auch die hörigen Leute hatten ihr festes erbliches
Eecht; die Lasten derselben durften nicht nach Belieben des
Herrn vermehrt oder beschwert, über ihre Person nicht anders
als nach dem Herkommen und der guten Gewohnheit der Höfe
disponirt werden. Das Ho fr echt in den untersten Kreisen
war eben so genau abgegränzt und wurde ganz analog ge-
sch atzt, wie das Lehensrecht in den höhern. 13
Aber auch abgesehen von den zahlreichen Ueberschrei-
tungen der Herrenrechte, lag allerdings in der Nähe und
Kleinheit der Herrschaften und in der groszen Schwie-
rigkeit, fast Unmöglichkeit für die Unterthanen, sich dem
nahen und jede freiere — nicht schon durch das Her-
kommen geheiligte — Bewegung hemmenden Drucke
derselben zu entziehen, eine der schlimmen und ge-
hässigen Eigenschaften des Feudalismus.
6. Der Lehensstat kann vorzugsweise einEechsstat ge-
nannt werden. Das Statsprincip der öffentlichen Wohlfahrt ist
verdunkelt, die Abgränzung der mancherlei politischen Eechte
aber genau bestimmt, diese selbst sind ähnlich wie Privat-
rechte dem Willen des Berechtigten und sogar dem gewöhn-
lichen Eechtsverkehr des Kaufes, Tausches, der Vergabung,
Verehrung u. s. f. preisgegeben. Der Schutz dieser Eechte wird
13 Das bezeugen die Coutumes und Weisthümer auf jeder Seite. In
manchen derselben werden sogar Spuren eines bäuerlichen Trotzes der
Hofleute gegen den Grundherrn sichtbar.
392 Viertes Buch. Die Statsformen.
groszentkeils in Form des gerichtlichen Processes gehandhabt,
oder gar der erlaubten Selbsthülfe in den Fehden überlassen.
Auf der einen Seite eine starre festgegliederte Rechts-
ordnung, welche wohl den Individuen, nicht aber der
Gesammtheit, wohl den einzelnen Corporationen und Stiftungen,
aber nicht der Nation und ihren Kräften Freiheit gewährt,
auf der andern ein fortgesetzter innerer Krieg, und
eine immer wiederkehrende Anarchie, das sind die
beiden entgegengesetzten Erscheinungen, welche wie die beiden
Gesichter des Januskopfs mit dem mittelalterlichen Lehensstate
verwachsen sind.
Zwanzigstes Capitel
1'. l>ic neuere Absolute Monarchie.
Aus dem mittelalterlichen Lehenastat ging die moderne
Repräeentativmonarchie nicht anmittelbar hervor als die
statliche Ordnung der neuen Zeit. Im Kampfe mit dem Le-
henswesen erstarkte vorerst eine neue abso lute Mo n a r c li i e.
Die' sämmtlichen germano-romanischen und die germanischen
Völker Europa's muszten erst das letztere Statssystem wieder
erfahren, bevor es zu der Bildung der neuen Statsfonn kam.
Am frühesten zeigt sich diese Entwicklung und am hef-
tigsten tritt der Absolutismus hervor in Prankreich und in
Spanien. Je stärker die germanischen Elemente in der Nation
waren, desto weniger konnte es den Königen gelingen, eine
den germanischen Rechtsbegriffen völlig fremde und zuwider-
laufende absolute Gewalt zum geltenden Statsprincip zu er-
heben. Dagegen waren dieser die römischen Traditionen, die
nun in Wissenschaft und Leben wieder wach wurden, durch-
aus günstig.
Schon seit dem zwölften Jahrhunderte, als noch die Seig*
Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 393
neurs des üppigen Machtgenusses sich erfreuten, arbeiteten die
französischen Legisten (so wurden die römischen Rechts-
gelehrten genannt) mit Kühnheit und Einigkeit daran, die
französische Monarchie auf die alten Grundlagen des römischen
Kaiserreichs zurückzuführen. Sie gründeten eine theoretische
und practische Schule des Regiments, deren oberster Grund-
satz die Einheit, die Untheilbarkeit und die absolute
Statsgewalt des Königthums war, welche sie unter dem
Ausdruck der souveränen Gewalt zusammenfaszten. Von
da aus behandelten sie die Herrschaften und Gerichtsbar-
keiten der Groszen und ihrer Vasallen wie Anmaszungen und
Miszbräuche, die zu Gunsten des Königs und des Volks auf-
zuheben, oder mindestens so sehr als möglich zu beschränken
seien. Sie stellten die französischen Könige als Nachfolger
der römischen Imperatoren dar, und indem sie die römische
Gesetzgebung als die wahre priesen, behandelten sie die feu-
dalen Rechtsgewohnheiten mit Geringschätzung. * Es dauerte
freilich noch Jahrhunderte, bis diese Theorien in die Praxis
eindrangen und die Herrschaft der Seigneurs wirklich gebrochen
wurde. Aber der innere Kampf hörte nicht mehr auf, bis der
ganze reich gestaltete Lehensstat von Grund aus zusammen-
stürzte, dann aber auch in seinen Sturz die inzwischen mächtig
gewordene absolute Monarchie mit verwickelt wurde.
Der Satz des römischen Kaiserrechts : „Quod principi pla-
mi% legis habet rigor cm" wurde wieder aus dem Alterthum
hervorgeholt und als nothwendiges Statsprincip verkündigt.2
1 Thierry, temps Merowing. I. S. 16.
2 JBeaumanoir II. 57.: „ Ce qui li plest ä fere, doit estre tenu por
ä loi; fügt aber beschränkend hinzu: ,.pourvu qu'il ne soit pas fet
contre Dieu, ne contre bonnes meurs, car sHl le feroit, ne le devroient
pas si souget soufrir." Ygl. Laferriere in d. Revue critique de Legisl.
par Woloivslci IV. p. 125. Die italischen Glossatoren haben ebenso noch
eine gewisse Scheu vor dem Princip und suchen es durch die Rücksicht
auf das bestehende göttliche und menschliche Recht zu beschränken.
Sogar im Jahre 1688, noch unter Ludwig XIV. dem mächtigen Lieb-
haber der absoluten Königsgewalt erklärte der für Statsrecht angestellte
394 Yiertes Buch. Die Statsformen.
Er ging in das französische Bechtssprichwort über: „Qui reut
Je roi, si veut Ja loi.u War einmal das Becht der Gesetz-
gebung in dem Könige concentrirt, uud wurde dasselbe diesem
in unbeschränkter Weise eingeräumt, so konnten von da aus
die Hemmnisse, welche das Lehenswesen der vollen Entwick-
lung der Statsgewalt, des nationalen Geistes und der öffent-
lichen Wohlfahrt entgegensetzte, entfernt werden. Die von der
neuen Eechtsgelehrsamkeit geleitete Praxis der Gerichte, be-
sonders der königlichen Parlamente, half im einzelnen kräftig
mit, dieser Richtung den Sieg zu bereiten. Die öffentliche
Meinung, zunächst in den Städten, in welchen die römische
Cultur einen uralten Wohnsitz hatte und welche von den Ein-
flüssen des Lehensrechtes freier geblieben waren, war der ver-
änderten Eechtsansicht günstig. Sie haszte die kleinen Herren
viel mehr , als sie den nationalen König fürchtete ; und die
Fortschritte der städtischen Gewerbe in Handel und Handwerk
schienen durch die Demüthigung und Schwächung der Lehens-
herren nur gefördert zu werden. Auch die Bauern konnten
eher gewinnen als verlieren, wenn die Macht des Königs über
ihre Bedränger zunahm.
Seit Ludwig XI.3 (1461—1483) war das Uebergewicht
Professor Delaunay den Satz in nicht absolutistischem Sinne: „que Ja
loy est la volonte du Roy et non pas que la volonte du Roy soit loy.tt
Aber es fanden sich zu allen Zeiten dienstbare Parteimänner, welche
über alle mittelalterlichen Schranken des römischen Principe hinweg-
setzten und eifrig für die absolute Gewalt des Monarchen kämpften.
3 Er verbot 1463 dem Herzog von Bretagne den Ausdruck: „par
la grace de Dieu" für sich anzusprechen. Vor Karl VII. bedienten
sich die Seigneurs gewöhnlich dieser Berufung in ihren Titeln. Schaffner,
französ. Rechtsg. II. S. 27^. (Ursprünglich hatte übrigens der Ausdruck
„von Gottes Gnaden" den demüthigen Sinn, an die Barmherzigkeit und
Gnade Gottes zu erinnern, von dem alle Hoheit und alles Recht ausgehe.
Erst später war derselbe zur Bezeichnung der souveränen Unabhängig-
keit geworden.) In dem durch die Schweizer auf Anstiften des Königs
vollzogenen Untergang des Herzogs Karl des Kühnen von Burgund wurdo
nun das Haupt der hohen Lehensaristokratie erschlagen , und damit war
der Sieg des Königthums in Frankreich entschieden.
Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 395
der königlichen Gewalt über die Lehensherrschaft in Frank-
reich, seit Philipp IL (1556 — 1598) in Spanien entschieden.
In Frankreich kamen freilich von Zeit zu Zeit Eeactionen da-
gegen vor; in Spanien blieb der Absolutismus sicherer, und
hatte einen finsterern und grausameren Charakter. Es erregt
ein Grauen, wenn man sich daran erinnert, dasz Philipp IL
das ganze Volk der Niederländer, über welches ihm nur be-
schränkte Herrschaftsrechte zustanden, als Verbrecher zu ver-
urtheilen wagte. Erst unter Ludwig XIV. hatte in Frank-
reich die absolute Gewalt des Königthums ihren Höhepunkt
erstiegen, von wo aus sie jählings dem Abgrunde der Revo-
lution entgegenstürzte. Sein Beispiel ahmten dann die deut-
schen Dynastien nach, die groszen und die kleinen.4 Es
wurde wieder erlebt, dasz ein christlich-europäischer Monarch
ein ganzes Volk, dessen Oberhaupt zu sein er sich überdem
nur angemaszt hatte, dasz Joseph I. von Oesterreich die
Bayern zum Tode verurtheilte , und sich dabei gar auf gött-
liches Recht berief.*
Den politischen Grundgedanken dieses neuen Abso-
lutismus hat Ludwig XIV. mit einer staunenswerthen Nai-
4 Friedrich II. von Preuszen im Antimach. 10: „II n'y a pas
jusqu'au Cadet du Cadet d'une Ligne appanagee, qui ne s'imagine d'etre
quelque chose de semblable ä Louis XIV. II bätit son Versailles, il a
ses maftresses, il entretient ses armees. Ils s'abiment pour l'honneur
de leur Maison et il prennent par vanite le cherain de la misere et de
l'höpital."
5 Hormayr Lebensbilder I. S. 256. Patent Joseph's I. von Oester-
reich vom 20. Dec. 1705: „Alle Bayern seyen der beleidigten Majestät
Josephs I. als des ihnen von Gott dem Allmächtigen vorgesetzten allei-
nigen rechtmäszigen Landesherrn schuldig, und daher ohne weiters mit
dem Strange vom Leben zum Tode zu richten! Nur aus aller-
höchster Clemenz (?) und landesväterlicher Müdigkeit (?) werde verordnet,
dasz allezeit 15 zu 15 um's Leben spielen und jener, auf den das
wenigste Loos fällt, im Angesicht aller aufgehenkt werden solle." Man
traut seinen Augen nicht, wenn man solchen Wahnsinn , der sich selbst
als Recht und Gnade verkündet, noch im XVIII. Jahrhundert, unmittel»
bar vor dem Zeitalter der -„philosophischen Aufklärung" begegnet,
396 Viertes Buch. Die Statsformen.
vetät in dem bekannten Satze ausgesprochen: „L'etat eist moi."
(„Der Stat bin ich.") Der König betrachtete sich nicht mehr
als das Oberhaupt des States, welches selber nur ein — wenn
anch das oberste und mächtigste — Glied des gesammten
Statskörpers ist, sondern er iclentificirte seine Person und den
Stat vollständig, so dasz es auszer ihm keine andern berech-
tigten Statsglieder mehr gab. Es gab keine ßtatswohifahrt
auszer seiner persönlichen Wohlfahrt, kein Statsrecht auszer
seinem individuellen Kecht. Er war Alles in Allem, auszer
ihm war Nichts.
Diese völlige Verwechslung des Königthums mit dem
State — wohl zu unterscheiden von der Personifikation der
statlichen Majestät in dem Könige — war um so bedenk-
licher, als während des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, als
dieselbe Mode geworden, zugleich die Theorie von der Stats-
allmacht aufkam. Während des Mittelalters war der Stat
durch eine unendliche Menge fesler und abgeschlossener Rechts-
kreise zerklüftet und jeder durchgreifenden Macht beraubt
worden. Nun machte die Theorie den Sprung in das Gfegen-
theil, und liesz gar keine selbständige, der Willkür und der
Einwirkung des States entzogene Bechtssphäre mehr gelten.
Selbst das Privatrecht wurde als ein Product des States aul-
gefaszt, und dem Belieben der Statsgewali preisgegeben.
Die Stats- und Rechtswissenschaft jener Zeiten hat
an dem Schaden, den diese Theorien gestiftet, einen grossen
Antheil. Die einen billigten und unterstützten die unnatürliche
Anmaszung der absoluten Könige mit Scheingründen, die an-
dern traten derselben nicht entgegen, wie die Pflicht gebot.
Aber nicht minder schwer haben sieh die damaligen Theo-
logen (bald jesuitische, bald hochkirchliche oder orthodox-
lutherische Hoftheologen) versündig , welche die christliche
Idee der Göttlichkeit der obrigkeitlichen Gewalt dahin ent-
stellten, dasz sie in gewissem Sinne die Könige als unmittel-
bare und vollkommene ^Repräsentanten und Inhaber der gött-
Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 397
liehen Weltregierung auf Erden, als irdische Götter ausgaben.
Weil Gott unumschränkter Herr der Welt ist, die er ge-
schaffen hat, und die er mit seinem Geiste erfüllt und erhält,
so sollten die Könige auch unumschränkte Herren der Völker
sein, die sie nicht geschaffen haben, und die sie nicht zu er-
füllen noch zu erhalten vermögen. Es kam, wie in den Zeiten
der römischen Imperatoren, wieder dahin, dasz die Könige es
liebten, sich auch mit der Gottheit zu identificiren. Man
weisz wie gern Ludwig XIV. den Jupiter gespielt hat, was
freilich in heidnischer Form eher anging als in christlicher.
Unmittelbar neben dieser Allmacht des Absolutismus, welche
nun durch die Theorie dem Monarchen zugesprochen, und auch
in wichtigen Beziehungen practisch geübt wurde, offenbarte
sich freilich von Zeit zu Zeit die völlige Ohnmacht der
absoluten Könige. Efl geschah nicht selten, dasz Fürsten,
welchen Schmeichelei und knechtischer Sinn eine schrankenlose
Gewalt beimaszen, selber zu willenlosen Dienern des Ehrgeizes
ihrer Günstlinge oder der Herrschsucht und Ausschweifung ihrer
Maitressen erniedrigt wurden. Alles hing ja von der Persön-
lichkeit des Monarchen ab. War er ein hervorragendes Indi-
viduum , welches die dilatorische Gewalt mit Energie und
Geist zu handhaben verstand, wie Ludwig XIV. selbst, bevor
das Alter und der Genusz seine Kräfte aufgezehrt hatten, so
mochte er wenigstens den Schein der Allmacht erhalten. Auf
die Dauer konnte aber selbst ein solcher Mann nicht auf
so schwindl icher Höhe feststehen. 6 War er eine schwache
6 Lord Chatliam (Brougham, Statsraänner I. S. 29) in einer Par-
lamentsrcde : „Absolute Gewalt richtet den zu Grunde, der sie besitzt,
und ich weisz, dasz wo Gesetzlichkeit aufhört, Tyrannei beginnt." Gui-
zot, Essais S. 245: „c'est le vice de la monarchie pure (?) d'elever le
pouvoir si haut que la tete tourne ä celui qui le possede et que ceux
qui le subissent osent ä peine le regarder. Le souverain s'y croit un
dieu, le peuple y tornbe dans l'idolätrie. On peut ecrire alors les devoirs
des rois et les droits des sujets; on peut merae les precher sans cesse;
mais les situations ont plus de force que les paroles, et quand l'inega-
398 Yieites Buch. Die Statsformen.
Natur wie Karl IL vou England, F er d in an d VII. von Spanien,
oder Ludwig XV. von Frankreich, so schwelgten andere in
der Willkür, die dem Könige allein vorbehalten, seinen Händen
aber entwunden war. Die Völker aber versanken überall in
namenloses Elend. Wer die Wirkungen der Absolutie in dem
civilisirten Europa kennen lernen will, der studire die spanischen
oder italischen oder österreichischen Geisteszustände von 1540
bis 1740. 7
Uebrigens standen dieser Anmaszuug auf dem alten Boden
der europäischen Verhältnisse so viele Ueberlieferungen wider-
strebender Rechtsansichten und so bedeutende und feste Insti-
tutionen entgegen, dasz es doch nirgends zu einer vollständigen
und bleibenden Geltung eines Statsprincips kam, welches den
asiatischen Despotien gemäsz, dem europäischen Leben aber
fremd war. Als in England die restaurirte Dynastie der Stuarts
auf ähnliche Abwege gerieth, und Jakob II. versuchte, die
uralten und verbrieften Hechte des Parlaments und die neuere
Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse nach Willkür >.u ver-
letzen, als er das Beispiel Ludwigs XIV. eigensinnig nach-
ahmte, und selbst den gesetzlichen Widerstand der loyalen
Freunde des Thrones und der Verfassung mit Verachtung be-
handelte, da büszte er die verwirkte Herrschaft ein, und die
Vereinigung Wilhelms von Oranien, des gröszten Statsmannes
und Fürsten dieser Zeit, mit dem englischen Volk hatte die
feste Begründung des modernen Keprasentativsystems
zur Folge.
Die zweimalige und entscheidende Niederlage der ab-
soluten Monarchie in England hat zwar nicht sofort den
Untergang dieses Verfassungssvstems in Europa nach sich ge-
llte est immense, les uns oublient aisement leurs devoirs, les autres leura
droits."
7 Laurent, ßtudes sur Thist. XI. 136. „Si la revolution avait bo-
soin d'une justification, eile la trouverais dans Tincompatibilite nidicale
de la monarchie absolue avec le droit et par suite avec les interÄta de
rbumanite."
Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 399
zogen. Aber die Zuversicht in dasselbe ward erschüttert und
allmählich reifte diese Statsform auch auf dem Continent dem
sicheren Untergange zu. Ihr Princip wurde von der freieren
Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts verworfen. Diese
Philosophie bestieg mit Friedrich IL den Thron eines auf-
strebenden States und verkündete nun laut vom Throne den
entgegengesetzten Satz: der König ist nicht der Eigenthümer
des Landes, noch der Herr des Volkes, nicht der Stat, son-
dern der „oberste Diener des Stats." Das Princip der
absoluten Monarchie war schon von der französischen Revo-
lution überwunden. Dem Sturme der Revolution vermochte sie
nicht mehr zu widerstehen. Trotz mancherlei Schwankungen
erlag sie schlieszlich in allen Staten des civilisirten Europas
dem freieren Volksbewusztsein.
Nur in dem europäischen Orient, in Ruszland8 hat die
absolute Monarchie gegenwärtig nocli Bestand. Da sagt die
religiöse Begründung der nationalen Denkweise eher zu als im
Occident, und für das unermeszliche Reich, dessen Cultur noch
zurück und unter Nationen, deren Bildung noch auf einer
tiefen Stufe ist, bedarf es einer gewaltigeren Centralmacht.
Die gröszten Reformen, wie voraus die heutige Befreiung des
Bauernstandes von der Leibeigenschaft, sind da noch kaum
anders als durch den allein entscheidenden Willen des Kaisers
durchzuführen. Die Aristokratie würde dieselben schwerlich
fördern, ein gebildetes und freies Bürgerthum existirt nicht
als eine sociale oder politische Macht. Der unteren Masse
aber fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit, in der Gemeinde
und in Einungen der Berufsgenossen sich selber zu helfen,
8 Die in Ruszland geltenden Grundgesetze nennen den „Kaiser aller
Reuszen" einen „selbstherrlichen und absoluten Souverän," und stützen
seine absolute Macht ausdrücklich auf göttliches Gebot: „Gott selber
befiehlt, sich seiner höchsten Autorität zu unterwerfen, nicht allein aus
Furcht vor Strafe, sondern aus religiöser Pflicht." Die Gesetzgebung
gebührt ausschlieszlich dem Kaiser, der übrigens regelmäszig den Stats-
rath vernimmt. Foelix, Revue Etrangere III. S. 700.
400 Viertes Buch. Die Statsfermen.
wohl aber an der Fähigkeit, an der Bestimmung der Politik
und an der Gesetzgebung einen erheblichen Antheil zu neh-
men. Sie wirkt wie die Materie durch ihre Schwere.
Einundzwanzigstes Capitel.
Gr. Die constitutionelle Monarchie.
1. Die Entstehung- und Verbreitung der eonstitutioncllen Monarchie.
Die constitutionelle Monarchie ist zwar die Frucht der
neuen Zeit. Aber der Keim, dessen Wachsthum vorhergehen
muszte, bevor diese Frucht reifen konnte, ist, wie Montes-
quieu richtig bemerkt hat, schon „in den Wäldern der ger-
manischen Yorzeitu zu finden. Der erste grosse, aber noch
unreife Versuch zu der Statenbildung, welche wir nunmehr als
die constitutionelle bezeichnen, wurde in den Reichen gemacht,
die auf römischem Boden von germanischen Fürsten gegründet
wurden, als zuerst römische Statsideen sich mit germanischen
Rechten vermählten.
Dann folgte die Lehensmonarchie, und mit ihr die reiche
Blüthe der germanischen Aristokratie. Die Einheit des States
aber ging verloren. Die Wohlfahrt des Volkes verkümmerte,
das Königüram war voller Glanz und Ehre, aber ohne Maclit.
Und wieder erhob sich der nationale Zug nach Einheit, wieder
wurde der germanische Lehensstat durch römische Statsprin-
cipien beleuchtet und befruchtet. Auch die Völker regten
sich wieder; aber voraus langten die Fürsten nach dem eiser-
nen Scepter der absoluten Gewalt. Die Kämpfe der Stände
begannen, unter einander und mit den Fürsten. Als das Mittel-
alter wich, da fing die moderne Statsverfassung an zu zeitigen.
Im Groszen ist sie das Ziel einer mehr als tausendjährigen Ge-
schichte, die Vollendung des romano-germanischen
Statslebens, d. h. der eigentlichen europäischen Stats-
c u 1 1 u r.
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 401
I. Zuerst kam diese Statsform in England zur Aus-
bildung. Langsam reifte sie heran in der groszen Geschichte
dieses Inselreiches, langsam, aber in stäter und sicherer
Entwicklung. In keinem europäischen Lande hatte das König-
thum während des Mittelalters seine centrale Macht so unver-
sehrt erhalten wie in England, in keinem aber auch wurden
die Eechte und die Freiheiten des Adels und des Volkes so
männlich verfcheidigfc und so fest begründet, wie dort.
• Auch die englische Nation ist von den erschütternden
Fiebern der Revolution nicht verschont geblieben. Zwei grosze
Revolutionen drohten dem ganzen englischen Statsgebäude den
Untergang. Die erste, um die Mitte des XIII. Jahrhunderts,
war der Versuch der Aristokratie, die Statsregierung dem
Könige wegzunehmen und in ihre Gewalt zu bringen. Das war
der Sinn der „Provisionen" von Oxfort von 1258, welche
dem besiegten Könige Heinrich III. von dem Grafen Lei-
cester aufgenöthigt wurden.1 In der zweiten groszen Revo-
lution, welche aus dem Kampfe Karls I. mit dem langen
Parlament in der Mitte des XVII. Jahrhunderts hervorbrach,
ward für einige Zeit das Königthum sammt der Aristokratie
von der fanatisirten Volkspartei der demokratischen Puri-
taner beseitigt (1649).
Aber beidemale dauerte die Krankheit nicht so lange,
dasz sie den Statskörper auf die Dauer schwächte. Sie war
auch, obwohl äuszerlich in heftigen Symptomen sich offen-
barend, innerlich nicht so mächtig, um dem Leben der Nation
eine fremde Richtung zu geben. Beidemale erholte sich Eng-
land rasch von der Erschütterung und der historische Zu-
sammenhang mit der Vergangenheit ging nicht verloren, die
Entwicklung der Nation blieb eine organische und nor-
male. Sie machte sogar beidemale die entschiedensten Fort-
schritte. Von der ersten aristokratischen Revolution datirt die
1 Guizot, Essai u. s. f. S. 311 ff.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 26
402 Viertes Buch. Die Statsformen.
Berufung der Abgeordneten der Städte zum Parlament
(zuerst 1264), die Anlage des spätem Unterhauses. Die
zweite fand ihren definitiven Abschlusz in der Begründung des
modernen Königthums im Jahr 1689. Von da an kommt
die eigentliche constitutionelle Monarchie als eine na-
tionale Institution zur Erscheinung.2
Die constitutionelle Monarchie nimmt gewissermaszen alle
andern St ats formen in sich auf. Sie gewährt die gröszte
Mannichfaltigkeit, ohne die Harmonie und Einheit des Ganzen
2 Der grosze Geschichtsschreiber der neuen englischen Geschichte
Macaulay (Engl. Gesch. IL 8. 607) chavaktorisirt den Uebergang aus
der mittelalterlichen Yorstcllungsweise in die moderne so: ,, Lange Zeit
hatte leider die Kirche die Nation gelehrt, dasz die Erbmonarchie allein
unter unsern Institutionen göttlich und unverletzlich Bei, dasz das Recht
des Hauses der Gemeinen auf einen Antheil an der gesetzgebenden Ge-
walt ein blosz menschliches Recht sei, dasz aber das Hecht des
Königs auf den Gehorsam seines Volkes von oben stamme; dasz die
Magna Charta ein Gesetz Bei, was von denen, die <•- gemacht hatten,
wieder aufgehoben werden möge, dasz aber die Regel, welehe die Prin-
zen von königlichem Grehlfit nach der Erbfolgeordnung zum Throne be-
rufe, himmlischen Ursprungs und dasz jeder mit dieser Regel nicht über-
einstimmende Act des Parlamentes nichtig sei. Es ist augenscheinlich,
dasz in einer Gosoll>ehalt, in welcher Milche Wahnbegriffe vorwalten,
verfassung3mäszige Freiheit immer unsicher Bein muss. Eine Macht,
welche blosz als eine menschliche Ordnung betrachtet wird, kann
kein wirksamer Zügel einer Macht sein, die als Ordnung Gottes be-
trachtet wird. Die Hoffnung ist eitel, dasz Gesetze, wie trefflich sie
auch sein mögen, fortwährend einen König Bügeln werden, der nach
seiner eigenen Meinung und nach der eines groszen Theiles -eines Volks
eine Autorität von unendlich höherer Natur hat als die Autorität, welche
diesen Gesetzen zusteht. Das Cönigthum dieser geheimniszvollen Attri-
bute zu entkleiden und den Gtrmndsata testzustellen, dasz die Könige
nach einem in keiner Weise andern Rechte regierten, als nach
welchem Freisassen die Ritter der Grafschaft erwählten oder Richter
Habeas corpus Befehle ertheilten, war für die Sicherheit unserer Frei-
heiten unbedingt nothwendig. — Dieses Ziel wurde erreicht durch den
Beschlusz, welcher den Thron für erledigt erklärte und Wilhelm
und Marie einlud, ihn einzunehmen." Eine gute und /.wichen Radi-
caliamus und Liberalismus wohl unterscheidende Darstellung gibt A. Zim-
mermann in seiner kurzen historischen Entwicklung des Parlamen-
tär. Regmrungssystems in England. Berlin L849.
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 403
zu opfern. Sie gibt der Aristokratie freien Raum zurüebung
ihrer Kräfte und zur Aeuszerung ihrer Gesinnung auf natio-
nalem Felde. Sie legt auch der demokratischen Richtung
des Volkslebens keine Fesseln an, sondern verstattet ihr freie
Bewegung. Ja selbst einideokratisches Element findet sich
in ihr anerkannt in der Verehrung der Gesetze. Alle diese
verschiedenen Richtungen sind aber durch die Monarchie,
als das lebendige Haupt der gesammten Statsordnung, in dem
rechten Verhältnisz gehalten und zur Einheit verbunden.
Audi die englische constitutionelle Monarchie der neuern
Zeit hat übrigens ihre Entwicklungsstufen. Schon der Zeit des
Königs Wilhelm von Oranien gehören folgende Hauptmomente an :
1) Die principielle Verwerfung de>; absoluten König-
tums als einer verfassungswidrigen Anmaszung, welche nicht
zu dulden und gegen welche der Widerstand berechtigt sei.
2) Die Anerkennung, dasz das königliche Recht ebenso
ein menschliches und durch die verfassungsmäszige
Ordnung begrenztes Recht :{ sei, wie das Recht der Lords und
und der Gemeinen im Parlament und wie die gesetzlichen
Freiheiten der einzelnen Engländer, im Gegensatz zu den
mystischen Vorstellungen der orthodoxen Theologen, welche in
dem Königsrechte etwas specifisch göttliches verehrten, die man
— abgesehen von ihrer religiösen Rechtfertigung — nicht mehr
als Statsprincip gelten liesz.
3) Die urkundliche Aussprache und Sicherung der par-
lamentarischen Rechte und der Volksfreiheiten in der soge-
nannten Declaration of Rigths von 1689 und die Verbindung
dieser Erklärung mit der Ordnung der Thronfolge, so dasz
das Königthum nicht mehr losgetrennt von jenen Rechten und
3 Akte vom Jahre 1701: „Da die Gesetze von England das Geburts-
recht des englischen Volkes sind und alle Könige und Königinnen, welche
den Thron dieses Reiches besteigen werden, die Regierung dieses Reiches
in Uebereinstimmung mit den genannten Gesetzen zu verwalten verpflichtet
sind und alle ihre Beamten und Minister ihnen denselben Gesetzen ge-
mäsz zu dienen schuldig sind, so u. s. f."
26*
404 Yiertes Buch. Die Statsformen.
Freiheiten, sondern nur im Zusammenhange damit zu den-
ken war.
4) DieUnverantwortlichkeit der Könige wurde zwar
als verfassungsmäszige Eegel beibehalten, aber durch den
vollzogenen Bruch der stuartischen Legitimität unverkennbar
die Zulässigkeit der Ausnahme behauptet, wenn es
zwischen dem Könige und der Nation zu einem unversöhnlichen
Widerstreite komme.
5) Die ausgebildete auch p o 1 i t i s c h e V e r a n t w o r t . 1 i c h-
keit der Minister gegenüber den Häusern des Parlaments, so
dasz dem Unterhause die Klage, dem Oberhaus das Gericht zusteht.
6) Die Mitwirkung des Parlaments an der Gesetz-
gebung.
7) SeinRecht der Steuerbewilligung und seine Theil-
nahme an der Ordnung des 8 tats haushält 8.
8) Seine Controleder gesammten Regierungsweise und
Staatsverwaltung.
9) Die volle Unabli ängigkeit und die ausgedehnte Be-
fugnisz der richterlichen Autorität, gestützt auf die Theilnahme
der Geschwornen aus dem Volk.
10) Die Freiheit der Presse und der politischen
Versammlungen und die daherige Kritik und Controle der
öffentlichen Meinung.
Den Königen aus dem Hause Hannover würfe es freilich
sehr schwer, diese Grundsätze sammt ihren Consequeneen zu
verstehen. Aber die Macht der Verhältnisse nöthigte auch die
widerstrebenden Neigungen der Dynastie und des Hofes zur
Anerkennung der freien Verfassung. Don Einflusz des Prinzen
Albert von Koburg ist es vorzüglich zu verdanken, dasz auch
die Gesinnung der gegenwärtigen Königsfamilie rückhaltslos
verfassungsmäszig geworden ist und das Königthum bat an
Ansehen und Macht nicht eingebüszt, seitdem) es die Vorur-
theileder dynastischen Tradition abgestreift hat und zum wahren
Volkskönigthum geworden ist.
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 405
Der englische König ist sich bewuszt, dasz er nicht seinen
Eigenwillen, sondern den Statswillen darstelle und vollziehe.
Daher haben die Minister und da die englischen Minister vor-
zugsweise in dem Vertrauen des Parlaments — hauptsächlich
des Unterhauses — ihre Stärke finden, auch die Volksvertretung
einen gröszeren Einflusz auf die Kegierung als in den conti-
nentalen Staten. Insofern kann man das englische Königthum
ein parlamentarisches und republikanisches nennen.
Aber die Ehrfurcht vor der Monarchie ist doch kaum in einem
andern Lande stärker als in England. So mächtig die aristo-
kratischen Elemente und das Parlament in England sind, die
englische Verfassungsform ist doch eine Monarchie geblieben.4
IL Den zweiten welthistorischen Versuch, die constitu-
tionelle Monarchie einzuführen, machte die französische
Nation. Die Verfassung von 1791 sollte nach der Meinung
4 Schon Edm. Burkc bemerkt (Aus seinen Schriften, München
1850): „Auf dem festen Lande hat man gemeiniglich von der Stellung
eines Königs von Groszbritannien einen irrigen Begriff. Er ist ein wirk-
licher König, nicht ein vollziehender Beamter. "Wenn er sich um Kleinig-
keiten nicht bekümmert, noch zur Aufmerksamkeit auf geringfügige
Zänkereien sich herabläszt, so ist es kaum zweifelhaft, ob er nicht eine
wirklichere, stärkere und ausgedehntere Macht besitze als der König von
Frankreich vor der Revolution besasz." Als Sir Robert Peel in neuerer
Zeit aus politischen Gründen von der Königin Victoria verlangte, dasz
sie einige Hofdamen entferne und andere an deren Stelle treten lasse,
drang die Zumuthung allerdings selbst in den Kreis des persönlichen und
Familienlebens der Königin ein, beweist aber gerade für die Wichtigkeit
auch der persönlichen Beziehungen und Gesellschaft der englischen
Monarchin für die englische Politik. Aber wahr ist es doch, dasz die
englische Statsverfassung, wenn man auf die entscheidende Macht sieht,
in neuerer Zeit zur Parlaments- und Ministerregierung geworden
ist. Robert Peel selbst sprach im Parlament (Rede vom 11» Mai 1835)
die wichtigen Sätze aus: „Die Prärogative der Krone, die Autorität der
Lords, sind allerdings der Constitution nach mächtig genug, gelegentlich
die Eingriffe des Hauses der Gemeinen zu überwachen, aber sie dürfen
sich heut zu Tage nicht auf diese als unübersteigliche Bollwerke ver-
lassen. Die Regierung des Landes musz hauptsächlich mit dem guten
Willen und durch die unmittelbare Thätigkeit des Hauses der Gemeinen
geführt werden."
406 Viertes Buch. Die Statsformen.
ihrer Urheber als ein vollkommenes Meisterwerk aus dem mo-
dernen Statsprincip unmittelbar geboren werden, mit logischer
Notwendigkeit. Aber die Statsprincipien selbst der National-
versammlung waren vielmehr republikanisch-demokratisch, als
monarchisch. Die Eousseau'sche Theorie von der Volkssou-
veränetät und den zwei Gewalten, und das Vorbild der nord-
amefikanischen Constitution, welche eine Constitution eile
Demokratie mit drei unabhängigen, aber durch die Einheit
des souveränen Volkes zusammen gehaltenen Gewalten ins Da-
sein gerufen hatte, übten auf die Geister der Franzosen einen
stärkeren Einflusz aus als die englische Verfassung. Der Grund-
charakter der neuen Verfassung von 1701 war demokratisch.
Das Königthum in ihr war eine Inconsequenz des Systems, ein
zurückgebliebener Rest der Vergangenheit, mit welcher die
Revolution im übrigen von Grund aus gebrochen hatte.
Dann richtete Napoleon die monarchische Gewalt wieder
auf, indem er die Nation aus dem Schlamme errettete, in den
sie versunken war. Er concentrirte die gesammte Statsgewalt
wieder in seiner starken Hand. Aber um eine modern fran-
zösische constitutionelle Monarchie zu gründen, dazu war in
den ersten Zeiten nach der Revolution und inmitten des euro-
päischen Krieges das Bedürfnisz der Nation nach einer Dic-
tatur zu stark und er selbst von Natur ein zu gewaltiger
Herrscher. Einzelne Anfänge dazu freilich liesz er zu. Er er-
kannte in dem französischen Volke die Quelle seiner Macht an
und eröffnete allen Franzosen die freie Bahn zur Erhebung
und zum Ansehen. Er versuchte in dem Senat auch eine Aristo-
kratie wieder zu schaffen, welche nach seinem Ausdruck „die
Souveränetät erhält, während die Demokratie zur Souverä-
netät erhebt." * Hätte seine Dynastie ruhig fortregiert, so
hätte sich vielleicht mit der Zeit aus diesen Anfängen eine
5 Las Cases Mem. III. S. 32. Vgl. oben Buch II, Cap. JJ. Diebeste
Zeichnung des reinen Urbildes des Napoleonischen States, hinter welchem
die Wirklichkeit freilich weit zurückgeblieben ist, hat sein Neffe und
Erbe im Jahre J 83 9 in der Schrift „Idees Niipoleoniennes" entworfen.
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarcliie. 407
nationale constitutionelle Monarchie herausbilden können. Aber
in den Zeiten seiner Macht schienen ihm die politischen Rechte
der übrigen Körperschaften als Schranken seines absoluten
Willens unbequem. Und als er vom Throne stürzte, wurden
seine Institutionen in seinen Euin verwickelt.
Die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814 war ihrem
Wesen nach ein Vergleich zwischen der alten königlichen
Dynastie, welche aus der Verbannung zurückkehrte, und dem
französischen Volke, welches die Zeiten der Revolution und der
Napoleonischen Herrschaft durchlebt hatte, ein Vergleich zwischen
den Rechtsansprüchen des früher absoluten Königthums und
den neuen politischen Gewalten, zwischen der Legitimität und
dem Besitzstand aus der Revolution. In ihrer Form aber war
sie die freie Gabe des Königs, ein Ausflusz seiner alleini-
gen Autorität/1 Auch abgesehen von diesem Widerspruch
zwischen Form und Inhalt, litt diese Verfassung noch an an-
dern Widersprüchen. Aber immerhin war sie besser als die
vorausgegangenen Versuche, die constitutionelle Monarchie in
Frankreich zu verwirklichen.
Offenbar waren die Grundformen der englischen Verfas-
sung nachgebildet, aber sie waren mit einem andern Geiste
erfüllt. Die Gewalt war dem Könige von Frankreich in
gröszerem Masze zugestanden als in England, oder vielmehr,
da die Charte in ihrer Theorie von dem absoluten Königthum
ausgeht, 7 minder beschränkt worden als dort ; aber die Sicher-
heit des französischen Königthums war sehr viel geringer als
in England, nicht blosz weil der Charakter der Franzosen von
jeher beweglicher und zu Veränderungen leichter erregbar ist
als der englische, sondern weil die Revolution die französische
6 Einleitungs worte: „Nous avons volontairement et par le libre exer-
cice de notre autorite royale accorde et accordons, fait concession et
octroi ä nos Sujets — de la Charte constitutionelle qui suit."
7 Einleitung: „Bien que l'autorite toute entiere residat en France
dans la personne du Roi,"
408 Viertes Buch. Die Statsformen.
Aristokratie vernichtet, und das ganze Volk in demokratischen
Begriffen und Tendenzen eingeschult hatte.
DiePairie, welche nächst dem Könige einen Antheil an
der Gesetzgebung erhielt und den obersten Gerichtshof über
schwere Statsverbrechen bildete, sollte eine „wahrhaft nationale
Einrichtung sein und alle Erinnerungen der Vergangenheit mit
allen Hoffnungen der Zukunft, die alte und die neue Zeit
verbinden." Aber in der Wirklichkeit wurden die neuen Gröszen
der Napoleonischen Zeit zu sehr zurückgesetzt und die alte,
theilweise verkommene Aristokratie zu freigebig bedacht, als
dasz diese erbliche Pairschaft als eine „wahrhaft nationale In-
stitution" hätte Anerkennung finden und Bestand haben können.
Dem englischen Oberhaus stand sie weit nach. Die Depu-
tirtenkammer endlich sollte „jene alten Versammlungen des
März- und Maifeldes sowie die Kammer des dritten Standes"
ersetzen. Sie war aber auf rein plutokratischen Fundamenten er-
richtet, und ward vorzüglich zu Gunsten der Beamten aus-
gebeutet. Die Masse der städtischen Bürgerschaft, welche sich
als berechtigt fühlte, wohlhabend und civilisirt war und in der
Revolutionsperiode eine bedeutende Rolle gespielt hatte, hatte
weder Wahlrechte noch Wählbarkeit. Die ganze bäuerliche Be-
völkerung, welche durch die Revolution freies Eigenthum ge-
wonnen und ebenfalls politische Hechte erworben hatte, war
nicht minder ausgeschlossen. Auf die niedern Volksschichten
war keine Rücksicht genommen. Der Demos war somit gar
nicht vertreten, und doch war er in Frankreich zu einer groszen
politischen Macht geworden. Er konnte unmöglich eine
Verfassung lieb gewinnen und sie stützen, welche ihn überall
ausschlosz.
Die Revolution hatte zwei Richtungen vorzüglich verstärkt,
die zum Theil wider einander laufen, die der Centralisation
und die der demokratischen Ausbreitung. Jene führte,
zum Extrem getrieben, zur absoluten Monarchie zurück, diese
im Extrem zu revolutionärer Anarchie. Die Charte suchte sich
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 409
der ersten ganz zu bemächtigen und damit die letztere ab-
zuhalten. s
Den ersten groszen Stosz des demokratischen Volkes, welches
durch Karl X, absolutistisch und durch seine eigene Presse
revolutionär gereizt worden war, hielt die Charte noch aus.
„Die Charte soll eine Wahrheit sein" war der Wahlspruch
Louis Philipps und der Julirevolution von 1830. Indessen
wurde die erbliche Pairie aufgehoben, und nur eine persönliche
auf Lebenszeit dauerte fort. Die Grundlage der Deputirten-
kammer wurde um etwas erweitert, aber noch behielt sie ihren
plutokratischen Charakter bei.
Da folgte im Februar 1848 der zweite Stosz einer vul-
kanischen Gewalt, die Niemand ermessen, Niemand in solcher
Heftigkeit erwartet hatte, und die ganze Verfassung, obwohl
sie besser war als die, welche ihr folgte, und was sehr wichtig
ist, obwohl die erforderlichen Mittel der Verbesserung in ihr
lagen, wurde in einem Tage der Ueberraschung und Verblüffung
der Mehrheit von einer verwegenen Minderheit umgestürzt.
Nochmals versuchte der Demos selber die Herrschaft in Frank-
reich auszuüben.
Die repräsentative Demokratie der ersten Revolution wurde
erneuert. In der Nationalversammlung, die durch leidenschaft-
liche Parteien zerklüftet in endlosen Debatten ihre Kräfte er-
folglos verpuffte, war die oberste Autorität und die Stellung
des Präsidenten vielfach gelähmt und beschränkt. Aber der
Instinct des Volkes wendete sich wiederum der Monarchie zu,
und wieder ward ein Napoleon zum Ueberwinder und Erben
der Demokratie, indem er persönlich die Gewalt ergriff und
sich dabei zugleich auf die Zustimmung der groszen Mehrheit
aller Bürger stützte.
& Tocqueville bezeichnet die beiden Tendenzen scharf in seinem
Buche über die Demokratie Amerika's I, S. 158: „La revolution s'est
prononcee en meme temps contre la royaute et contre les institutions
provinciales — eile a ete tout ä la fois republicaine et centralisante : un
fait, dont les amis du pouvoir absolu se sont empares avec grand soin,^
410 Viertes Buch. Die Statsformen.
Die Verfassung des neuen Kaiserreichs vom IG. Jenner
und 2. December 1852 erinnert mehr an die römische als an
die englische Statsform ; wie denn überhaupt die Napoleon ischen
Statsideen einen entschieden romanischen Charakter haben und
daher auch den romanischen Elementen im französischen Geist
vorzüglich einleuchten. Der Hoheit und Macht des franzö-
sischen Volks wird als der Quelle aller Statsgewalt
volle Huldigung dargebracht, indem die Verfassung der Ab-
stimmung des Volkes unterworfen, von seinem Vertrauen der
gesetzgebende Körper abhängig gemacht, und selbst die kaiser-
liche Gewalt von seinem Willen abgeleitet wird.9 Dem fran-
zösischen Volk bleibt auch der Kaiser verantwortlich. Die Zu-
neigung der Massen zu dem Grundsatz demokratischer Gleich-
heit wird in dem allgemeinen Stimmrecht rücksichtslos ge-
achtet, Auf so breiter Unterlage erhebt sich dann die kaiser-
liche Machtfülle in dem Glänze der Majestät. Die Initiative der
Gesetzgebung, die ganze Leitung der Politik, die Diplomatie,
die Armee sind in seiner Band, «las ganze Beamtenheer ist ganz
von ihm abhängig. Selbst die Mitglieder des Statsraths kann
der Kaiser beliebig entlassen. Es gibt nur zwei grosze poli-
tische Kräfte in dieser Verfassung: die Volksmehrheit und
der Kaiser. Was in der Mitte ist zwischen beiden, ist sehr
abhängig und hat nur geringe Selbständigkeit. Die Minister
sind nur dem Statshaupte verantwortlich; der Antheil des ge-
setzgebenden Körpers an der Gesetzgebung hat eher einen ne-
gativen als einen positiven Charakter; er kann ein schädliches
oder ungerechtes Gesetz verhindern, nicht verbessern. Er hat
keine Initiative und nur in den Commissionen die Möglichkeit
mit dem Statsrathe über Aenderung zu verhandeln. Der Senat
ist zwar seiner Bestimmung nach eine die Volksfreiheiten schütz-
ende und die Verfassung wahrende, ausnahmsweise auch zu
Reformen den Anstosz gebende, ihrer Natur nach eme aristo-
9 Titel : ,,par la grace de Dieu et la volonte nationale Empereur
des Francaie."
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 411
kratische Macht, aber die Senatoren sind durch die Wahl
des Kaisers auf ihre hohe Stellung gerufen und durch die
französischen Parteiverhältnisse wie durch ihre socialen Be-
ziehungen an die Macht des Kaisers, als an ihren Grund und
ihre Stütze angewiesen. Die Harmonie der Massen und des
Kaisers wird daher mit groszer Sorgfalt vor jeder Dissonanz
zu bewahren gesucht, und daher auch der Opposition in den
Behörden und in der Presse nur ein sehr beschränkter Spiel-
raum verstattet. Erst die Zukunft kann die Frage beantworten,
ob diese Verfassung, mit welcher die Grösze und die Macht
der französischen Nation sich in Europa wieder erhoben
hat, auch in den Zeiten des Friedens einer freien Entwicklung
fähig sei, zu welcher die Keime in sie gelegt sind, und ob
sie, wie sie den Massen vorläufig genügt, auch die mittleren
und höheren Classen der gebildeten Bevölkerung dauernd zu
versöhnen vermöge. Die neuesten Schritte zu einer An-
näherung an das constitutionelle Verfahren anderer Staten sind
noch klein und unsicher prüfend, ob die Eisdecke tragfähig sei.10
III. Komanische Länder. Die Umgestaltungen, welche
der französische Stat seit der Kevolution erlebte, hatten auch
auszerhalb Frankreichs die wichtigsten Veränderungen zur
Folge. Vorerst in den romanischen Ländern. Nach Art der
französischen Kepublik wurden in Italien ähnliche Kepubliken
unter dem erobernden Schutz der französischen Waffeu ge-
gründet ; später von Napoleon neue abhängige Monarchien nach
dem Vorbilde des französischen Keiches in Italien und Spanien
eingeführt. Es schien, als ob die moderne Gestaltung Europa's
von Paris aus ins Dasein gerufen werden solle. Indessen zog
auch hier der Untergang der Napoleonischen Weltherrschaft
den Fall dieser ephemeren Statenbildung nach sich.
10 In den Reveries politiques des Prinzen Louis Napoleon, die schon
im Jahre 1832 geschrieben wurden, findet sich ein Entwurf einer fran-
zösischen Verfassung, welcher sich zu der gegenwärtigen Verfassung,
wie die Blüthe der Jugendideale zu der reifen Frucht des Mannesalters
verhält. Kaiserliches Decret vom 19. Jan. 1867.
412 Viertes Buch. Die Statsfornien.
Wichtiger, wenn auch zunächst wieder nur von momen-
tanem Erfolge, waren für die Ausbildung des constitutionellen
Systems die beiden Verfassungen, welche im Jahre 1812 in
Sicilien und in Spanien verfaszt und nroclamirt wurden.
1. Die Verfassung Siciliens — vorzüglich das Werk des
Lord Bentinck, eines englischen Statsmannes — war ganz
nach englischem Muster gewissermaßen zugeschnitten, so je-
doch, dasz die Erinnerung an die alten aristokratischen Stande
aus der Normannenzeit benutzt wurde und dasz die neueren
Theorien von der Trennung der Gewalten in ausgedehnterem
Masze als in England Anerkennung fanden. Die gesetzgebende
Gewalt wurde zunächst dem Parlamente zugeschrieben, unter
diesem aber nicht mehr, wie in dem englischen Statsrechte,
König, Ober- und Unterhaus in ihrer Vereinigung, sondern nur
die beiden Kammern verstanden. Von diesem Begriffe aus ist
es denn freilich auffallend, dasz die Beschlösse des Parlaments
der »Bestätigung des Königs," als einer ausser ihm stehen-
den (lewalt bedürfen.11 Die Pairskammer besteht aus den
Baronen und den Prälaten Siciliens. Die weltlichen Pairs
haben ein erbliches Recht auf die Pairie. Per König kann
aber neue Pairs aus den Edelleuten ernennen, welche ein reines
Einkommen von 6000 Unzen genieszen. Das Unterhaus besteht
aus gewählten Volksvertretern, ßtimmrechl und Wählbarkeit
erfordern einen nicht hohen CenSUS.
Die vollziehende Gewalt wird dem Könige zuge-
schrieben, seine Minister und geheimen Käthe aber dem Par-
lamente für die Ausübung dieser Gewalt verantwortlich erklärt.
In allen wichtigen Angelegenheiten ist der König verpflichtet,
das Gutachten seines geheimen Rathes einzuholen; in manchen
Fällen, z. B. wenn er Truppen nach Sicilien bringen oder
Ausländern Militärstellen geben, oder neue Aemter errichten.
11 Artikel 1, 2 und I i. Die Verfassung i^t in deutsolier Ueberietisng
abgedruckt in dem Portlolio von 1848.
Einimdzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der co-nstit. Monarchie. 413
oder für den Stat geleistete Dienste Pensionen bewilligen will,
bedarf er sogar der Zustimmung des Parlaments.
Die richterliche Gewalt wird zwar „im Namen des
Königs verwaltet," aber als Kecht „einzig und allein den
vom Gesetze bestimmten Beamten" zugesprochen. Den ein-
zelnen Sicilianern wird ein ausgedehntes Kecht des "Widerstan-
des gegen jeden vom Gesetz nicht autorisirten Zwang zuerkannt,
die Censur als Regel — mit Ausnahme theologischer Schriften —
aufgehoben, die Feudalrechte beseitigt u. s. f.
Man sieht, diese Verfassung war eine Nachbildung der
englischen Formen, mit Beimischung der Theorien, welche in
der französischen Verfassung von 1 7 '. M verkündet worden waren.
Auch in ihr war «las republikanische Element überwie-
gend, und der Widerspruch mit der monarchischen Tradition
trat um so schroffer hervor, als weder der absolutistisch ge-
sinnte Hof des Bourbonischen Königs sich mit der Verfassung
vcrl ragen mochte und in den Volksparteien klerikale und ja-
kobinische Tendenzen stark vertreten waren und mit der Leiden-
schaft des südlichen Blutes sich heftig bekämpften. Der in
Neapel restaurirte König fühlte sieh nun stark genug, die be-
schworene Verfassung zu beseitigen (Dez. 181 6) und die abso-
lute Regierung herzustellen. Aber dieser erste Versuch, die
englischen Statsformen mit den Theorien der französischen
Revolution zu verbinden und daraus ein neues constitutionelles
Statsrecht für Europa hervorzubringen, blieb auch für die spätem
ähnlichen Versuche ein Vorbild.
2. Die sehr ausführliche Verfassung vom 19. März 1812,
welche die Regentschaft und die spanischen Cortes
während der Gefangenschaft des Königs und während ein groszer
Theil von Spanien in der Gewalt der Franzosen war, der
spanischen Nation gegeben hatten, und welche von den ver-
bündeten Engländern anerkannt ward, geht groszentheils von
ähnlichen Theorien über den constitutionellen Stat und die
Trennung der drei Gewalten aus. Die französische Verfassung
414 Viertes Buch. Die Statsformen.
von 1791 diente den Cortes als Muster. Indessen sind, ob-
wohl das Princip der Volkssouveränetät (Art. 3) proclamirt ist,
die Bechte des Königs in weitem Umfange anerkannt. Die
gesetzgebende Gewalt wird „den Cortes mit dem Könige vereint"
(Art. 15) und ebenso diesem die . Aufsicht über die Justiz"
(Art. 171) zugeschrieben. Indessen kann er durch wiederholte
Abstimmung der Cortes zur Sanction der Gesetze genöthigt
werden (Art. 149). Darin aber unterscheidet sich diese Ver-
fassung sehr von der englischen Form, dasz sie eine aristo-
kratische Pairskammer als Mittelmacht nicht kennt, sondern
dem Könige die Eine Versammlung der Cortes, als der ge-
wählten Volksvertreter gegenüber stellt.12
Die Willkür, mit welcher der befreite König diese Ver-
fassung aufhob (4. Mai 1814) und die Häupter der Cortes
verfolgte, und die alten und neuen Erfahrungen, welche die
Nation über die absolute Kegierungsweise der Bourbonischen
Dynastie machte, hatten die Folge, «las/ die Verfassung tob 1812
trotz ihrer Mängel und ungeachtet man sich anfanglich wenig
um dieselbe bekümmert hatte, nach ihrer Beseitigung populär
ward, und wiederholte Versuche (1820, L836) gemacht wurden,
dieselbe mit Gewalt einzuführen. Auch das Estatuto Real
von 1834, welches Spanien nun doch eine Repräsentatiwer-
fassung verlieh, befriedigte nicht mehr. Die Königin-Regentin
wurde 1886 genöthigt, die Verfassung von 1812 anzuerkennen,
und im Jahr 18:»7 kam unter dem Einflnsz der Frogressisten
die neue constitutionelle Verfassung für Spanien, auf Grundlage der
ersteren und mit theilweiser Benutzung des Estatuto Keal von 1834
zur feierlichen Beschwörung. In dieser modificirten Verfassung ist
denn die Sanction der Gesetze durch den König wieder ohne Be-
schränkung anerkannt, und das Zweikammersj stein (ein Senat und
12 Die Verfassung ist in deutscher üeberaetzung abgedruckt bei
Pölitz II, S. 203 ff., und bei Schubert, Verf. II. S. ii ff. Vgl. be-
sonders die ausgezeichnete Darstellung von Baumgarten in Ucrvinus
Geschichte des XIX. Jahrhunderts, Bd. I.V.
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstellung der constit. Monarchie. 415
eine Deputirtenkammer) eingeführt worden.13 Noch mehr näherte
sich die unter dem Einflüsse der Moderados revidirte Verfassung
vom 23. Mai 1845 der französischen Charte von 1830 an.14
Aber auch dadurch sind die Verfassungskämpfe nicht
zum Abschlusz gelangt. Das Land schwankte wieder zwischen
klerikaler Reaction und radicalem Aufstande hin und her, und
hat noch keineswegs sein Gleichgewicht gefunden, denn die
heutige von Hof und Klerus begünstigte Militärdictatur ver-
spricht keinen Bestand.
3. Eine Nachahmung der spanischen Verfassung von 1812
war die Verfassung für Portugal von 1822, die indessen
wieder nicht zu unbestrittener Geltung gelangte. Im Jahr
1826 gab der König Don Pedro dem Lande eine neue Ver-
fassung, in welcher das monarchische Princip besser gewahrt
wurde als in jener ersteren, und welche nach Analogie der
englischen Verfassung und der französischen Charte eine Pairs-
kammer mit erblichen und lebenslänglichen Pairs der Depu-
tirtenkammer beiordnete. Diese Verfassung spricht nun von
vier Gewalten: 1) der gesetzgebenden, welche den Cortes unter
der Sanction des Königes, 2) der vermitteln den (moderador),
welche dem Könige „als höchstem Oberhaupte der Nation zur
Handhabung des Gleichgewichts und der Harmonie der andern
politischen Gewalten, u 3) der vollziehenden, welche dem Kö-
nige in Verbindung mit den Ministem, und 4) der richter-
lichen, welche unabhängigen Gerichten zusteht.15
Auch nach der Besiegung der absolutistischen Partei Don
Miguels, welche von keiner der beiden Verfassungen etwas
wissen wollte, stritten sich zwei andere Parteien mit wechseln-
dem Glücke um die Herrschaft ; die eine demokratische, welche
sich an die Verfassung von 1822, die andere, der Chartisten,
13 Bülau, Europ. Yerf. seit 1828, S 221.
«* Schubert, Verf. II, S. 105 ff. und S. 116 ff.
15 Art. 11, 13, 71, 75, 1J8 der Verf. von 1826. Beide Verfassungen
bei Pölitz II, S. 299 ff., die letztere bei Schubert, Verf. II, S. 148.
416 Viertes Buch. Die Statsformen.
welche sich an die Charte von 1826 hielt. Im Jahre 1838
kam es zu einer Kevision der letzteren, durch welche die erb-
lichen Senatorwürden in periodisch gewählte umgewandelt, und
die Institution des Statsraths aus der Verfassung gestrichen
wurde.16 Die Masse des Volkes nimmt indessen noch immer
wenig Antheil an diesen Verfassungen. Indessen haben sich
die Portugiesischen Statszustände, unter dem Einflüsse der K o-
burgischen neuen Dynastie friedlicher und günstiger ent-
wickelt als die Spanischen.
4. Auch auf dem gröszeren amerikanischen Tochterstat
Portugals, auf das unabhängig gewordene Kaiserthum Brasilien
wurde die Verfassung der constitutionellen Monarchie über-
getragen und erlebte dort ähnliche Schwankimgen und Kämpfe,
machte alter auch ähnliche Portschritte wie in Europa.
5. Italien rang sich allmählich aus dem unwürdigen
Druck des absoluten Furstenthums los. Mochte noch die Ver-
fassung dfr Napoleonischen Königreiche Italien und Ne-
apel als eine beschränkte Autokratie angesehen werden, so
wurde doch der Bpäter restaurirte Absolutismus der bourboni-
schen und habsburgischen Pursten überall nur ungern ertragen.
Geheime Verschwörungen und offene Aufstände kämpften mit
grausamen Beactionen. Nur mit fremder Waffengewalt konnte
man das Streben der Völker unterdrüeken. Als der König von
Neapel L820 sieh bequemt hatte, seinem Lande die spanische
Verfassung von 1812 zu gewähren, stellten österreichische
Truppen die alte Willkürherrschaft wieder her. Auch die Be-
wegungen der Dreiszigerjahre hatten keinen gröszero Krfolg.
Immer wieder gelang es der massiven Gewalt Oesterreichs, an
welcher die Dynastien sich anlehnten, jeden Versuch n ver-
eiteln, welcher die Constitutionen« Monarchie einfuhren wollte.
Erst in den Vierzigerjahren erwies sich der Geis! der
Keform stärker in Italien, nachdem er rieb mit dem Geiste der
nationalen Befreiung von der Fremdherrschaft verbündet hatte.
'*■• Bftl Schubert, WH', ll, s. i ;.:.
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 417
Schon im Jahre 1847 war ganz Italien in einer mächtigen
Aufregung begriffen, welche damals auch von dem neuen Papste
Pius IX. gebilligt schien; und noch bevor in Paris die Revo-
lution ausbrach, sahen sich der König Ferdinand II. von Neapel
und der König Karl Albert von Piemont veranlaszt, die
constitutionelle Regierungsform einzuführen. Aber ungeachtet
der erstere „in dem ehrfurchtgebietenden Namen des drei-
einigen Gottes" bezeugte mit Aufrichtigkeit und Redlichkeit
diese neue Bahn der politischen Ordnung zu betreten,17 so be-
eilte er sich doch, sobald er es ungefährlich konnte, die Ver-
fassung wieder zu brechen. Die Folge der wiederholten Treu-
brüche war, dasz im Jahre 1860, als der Sohn Ferdinands
Franz II. in neuer Noth sich entschlosz, die constitutionelle
Monarchie einzuführen, Niemand mehr Beinern Gelöbnisa glaubte
und die Dynastie vertrieben ward.
Eine andere Wendung nahmen die Dinge in Piemont.
Nachdem einmal der König am 6. Febr. 1848 sich für die
Einführung des repräsentativen Systems nach dem Vorbilde der
französischen Charte von 1830 erklärt hatte,18 blieb das sa-
voyische Königshaus dieser Verfassung vom 4. März 1848 mit
einer seltenen Entschiedenheit treu. Zwar glückte es Karl Albert
noch nicht, ein erweitertes italienisches Reich unter seinem
Scepter zu einigen. Die Siege ßadetzky's warfen seinen natio-
nalen Ehrgeiz zurück und bewährten vielleicht Italien vor dem
Ueberfluten einer unreifen Demokratie. Aber auch in jener
Zeit, wo die Keaction in Italien ihre Triumphe feierte, blieb
der neue König Victor Emmanuel doch der Verfassung
treu. — Die wunderbaren Erfolge, welche er in den Jahren
1859 und 18G0 errang, verdankte er zu gutem Theile dem
Glauben der italienischen Völker an seine ehrliche constitutio-
nelle und nationale Gesinnung, welche ihn bestimmte, die
17 Verkündigung vom 8. Februar 1848 in dem Portfolio I, S. 64.
1S Worte der Verfassungsurkunde, abgedruckt Portfolio I, S. 53 ff.
Itlunts chli , allgemeines Statsroc-ht. I. 27
418 Viertes Buch. Die Statsformen.
Leitung einem groszen Statsmanne als Minister, dem edlen
Cavour zu übertragen. Mit Hülfe Frankreichs wurde Oester-
reich aus der Lombardei verdrängt und der neue nationale Stat
breitete sich über alle Fürstenthümer von Mittelitalien, durch
den kühnen Feldzug Garibaldis auch über Neapel und Sicilien
aus. Die Hülfe Preuszens verschaffte dem Reiche auch das
Königreich Venedig 1866. Nur der Kirchenstat, ist bis jetzt
noch durch den Einflusz der fremden Mächte, obwohl enger begrenzt,
von der Verbindung mit dem Königreich Italien abgehalten
worden. So weit Italien gegenwärtig den Italienern gehört,
das neue Königreich Italien hält an der constitutionellen Mo-
narchie fest, und sogar die republikanisch gesinnten Parteien
bequemen sich nach dem Beispiel Garibaldis diese Statsform
als die für Italien zur Zeit nothwendige anzuerkennen.
6. Den Uebergang von den romanischen zu den germa-
nischen Staten bildet Belgien, dessen Verfassung vom Jahr
1831 wieder der französischen von 183<> nachgebildet ist, in
einzelnen wichtigen Beziehungen aber der bürgerlich-demokra-
tischen Anschauung näher stellt als diese. Dahin gehört der
Satz, dasz „alle Gewalten von der Nation ausgehen" (Art. 25),
wobei freilich zu beachten ist, dasz Belgien keine monarchische
Dynastie mehr hatte, sondern eine solche ersl berufen muszte,
die Verneinung jedes Standeunterschiedes (Art. 0), das ausge-
dehnte Stimmrecht für die Kammern u. s. f. Das Zweikammer-
system ist zwar beibehalten, die erste Kammer aber oder „der
Senat" wird auf Zeit gewählt, und zwar von den näm-
lichen Wählern, welche die Deputirton bestellen (der Entwurf
hatte noch dem König die Ernennung der Senatoren v<n be-
halten), und nur die Erfordernisse des Alters und l»Vi< hthnnis
für die Senatoren werden höher angesetzt. Das Land hat in-
zwischen, von einem statsmännischen Könige, Leopold von
Koburg, weise regiert, die Erschütterung der europaischen Re-
volution von 1848 nur wenig verspürt und seine Wohlfahrt
hat seither glücklich zugenommen, obwohl auch in Belgien
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 419
der Kampf der ultramontanen und liberalen Partei leiden-
schaftlich fortgeführt wird. ,9
IV. Germanische Staten auszer Deutschland.
1. Eine eigenthümliche Entwicklung hat das constitutionelle
System in dem scandinavischen Norden erfahren. Zunächst in
Schweden, dessen Reichsstände seit dem XVI. Jahrhundert
aus vier Ständen bestand, welche vier gesonderte Standes-
stimmen hatten: nämlich: die Ritterschaft und der Adel,
die Geistlichkeit, die Bürgerschaft und die Bauer-
schaft. Oefter hatten sich die Könige auf die beiden letz-
teren Stände vorzüglich gegen die grosze Macht des Adels
stützen müssen, der auszerhalb der Reichsstände in dem aus-
schlieszlich aus ihm bestellten Reichsrat he (Statsrath und
Ministerien) das wichtigste Organ seines Einflusses besass. Erst
Gustav 111. brach dieses Uebergcwicht der Aristokratie, welche
die Existenz der Krone und die Sicherheit des Landes bedroht
hatte, und eröffnete auch (1789) nicht adeligen Personen den
Zutritt zu den oberen Reichsämtern, nur die „höchsten und
vornehmsten Aemter des Reiches und Hofes" noch ausgenommen.
Die Verfassung Schwedens vom 7. Juni 1809 2,) ist eine
Fortbildung der früheren Verfassung von 1772. 8I Mit be-
sonderer Ausführlichkeit und Sorgfalt, und mehr als in den
übrigen Constitutionen der neueren Zeit sind in derselben der
königliche Statsrath und die vier Statssecretäre be-
handelt. Die Ernennung auch zu diesen Stellen ist nicht mehr
auf den Kreis des Adels eingeschränkt. Die Reichsstände, ohne
deren Mitwirkung und Zustimmung der König weder die Ver-
fassung ändern, noch Gesetze geben, noch neue Steuern er-
heben darf, war noch vor kurzem in vier Stände getheilt. Die
Mehrheit dreier Stände war in der Regel für den vierten bindend,
19 Lehrreich ist die Geschichte der Gründung der constit. Monarchie
in Belgien von Theodor Juste. 1850. 2 Bde.
20 Schubert, Verf. II, S. 368.
" Schubert, Verf. II, S. 349.
27*
420 Yiertes Buch. Die Statsformen.
bei Verfassungsgesetzen aber Einigkeit aller vier Stände und
des Königs erforderlich.
Diese Verfassung schlosz sich in manchen Beziehungen
noch näher an die auch in Deutschland im Mittelalter bestan-
denen Grundlagen der ständischen Verfassungen an. Die Schwier-
igkeit aber, bei dieser Viergliederung der Stände einen einheit-
lichen National willen zu Stande zu bringen, war wohl eine
Hauptursache, weszhalb dieselbe auszerhalb Schwedens wenig
Beachtung und keine Nachbildung fand, obwohl sie in andern
Beziehungen mancherlei Vorzüge vor vielen andern modernen
Systemen besitzt, im Jahr 1865 kam endlich auch in Schwe-
den das Zweikammersytem im Gegensatz zu dem Vierstände-
system zur Geltung, nach Analogie der andern constitutio-
nellen Staten.
2. Weit demokratischer ist die Verfassung Norwegens
vom 4. November 1814. Der König von Schweden, welcher
durch die Friedensschlüsse auch zum Könige 7on Norwegen
bezeichnet worden, war durch die Verhältnisse genöthigt, die
Verfassung im wesentlichen bo anzuerkennen, wie dieselbe im
Frühjahr des nämlichen Jahres con dem norwegischen Reichs-
tag zur Sicherung der Selbständigkeit des Landes und der
Freiheit seiner Bürger festgesetzt worden war. Die Gesetz-
gebung wird hier „ dem Volke" zugeschrieben und durch das
„Storthing" ausgeübt (Art. 49). Dem Könige Bteht ewar
das Recht der Sanction zu. aber wenn ein nicht genehmigtes
Gesetz zum drittenmale von demSfcorthing gutgeheiszen wird,
darf er die Sanction nicht mehr verweigern. Das ganze Stort-
hing wird durch Wahl der norwegischen Bürger (meistens
Grundbesitzer) gebildet, theilt sich dann aber in zwei Kammern
d;is sogenannte „Lagthing" und dftS „Odel sth ing." Die
ausübende Gewalt gehört dem Könige, unter der Verantwort-
lichkeit seines Rathes. Vergeblich waren die seitherigen Ver-
suche, die königliche Macht zu erweitern, und eine politische
Aristokratie einzuführen. Die Demokratie der freien Hauern
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 421
und der Bürger widersetzte zieh beiden Tendenzen beharrlich,
und die Eifersucht der Norweger auf ihre Unabhängigkeit von
Schweden stärkte diesen Widerstand. 22
3. Die dänische Eevolution von 1660 war gegen den
Adel gerichtet und hatte mit Hülfe des Bürgerthums die ab-
solute Monarchie eingeführt. In unserm Jahrhundert wurde
auch in Dänemark die Wandlung in die constitutionelle Mo-
narchie vollzogen, zuerst in der noch unzureichenden Form von
Provinzialständen (Gesetz vom 28. Mai 1831), dann in dem
Grundgesetz vom 5. Juni 1849 in demokratischer Kichtung.
Die Verfassungsstreitigkeiten der Dänen mit den Deutschen
beziehen sich weniger auf den Gegensatz der Verfassungsform
als auf den Gegensatz der Nationalitäten. Indessen auch da
kam es im Juni 1866 zu einer Verfassangsrevision, welche von
dem König mit dem Keichsrath (Landsthing und Volksthing)
vereinbart wurde.
4. In dem neugestifteten Königreiche der Niederlande,
welches nach der Auflösung des Napoleonischen Kaiserreichs
an die Stelle der alten Eepublik der Vereinigten Staten und
des späteren Napoleonischen Königreichs Holland getreten war,
wurde die constitutionelle Monarchie ebenfalls eingeführt (Ver-
fassung vom 28. März 1814 und nach der Vereinigung mit
Belgien vom 24. August 1815). Die neue Verfassung vom
14. Oct. 1848 war ein Fortschritt in derselben Richtung und
der constitutionelle Geist ist neuerdings auch in Holland erstarkt.
V. Deutsche Staten.
1. Als der geistige Vater der modernen constitutionellen
Monarchie für den Continent verdient der König von Preuszen
Friedrich der Grosze geehrt zu werden. Hätten die Völker
ihn besser verstanden und die Fürsten ihm mehr gefolgt, so
hätte sich der Uebergang aus der absoluten in die constitutio-
nelle Statsform leichter vollzogen. Niemand hat energischer
22 Schubert, Verf. II, S. 404 ff. Vgl. den Art. Norwegen im
deutschen Stats Wörterbuch.
422 Viertes Buch. Die Statsformen.
als er den Satz bekämpft, dasz der König der Herr des States
sei, niemand bestimmter ausgesprochen, dasz das Königthum
ein Statsamt und der König der oberste Diener des States sei.
Wenn er dessen ungeachtet weder die alte ständische Verfass-
ung erneuerte, noch eine neue repräsentative schuf, sondern die
ererbte absolute Gewalt fortsetzte, so erklärt sich das genügend
daraus, dasz sein Volk politisch noch sehr unreif und er per-
sönlich demselben allzusehr überlegen war. Aber indem er
durch seine Gesetzgebung »las Volk erzog, beschränkte er
zugleich die königliche Willkür, und bereitete eine geordnete
Freiheit vor.
Die französische Revolution lenkte eher von dem Wege
ab, auf den der grosze König gewiesen hatte, indem sie die
Fürsten mit Furcht und Hasz erfüllte und in den Völkern zu
radkaler Uebertreibung reizte.
2. Die Verfassungen, welche in der Rheinbundsperiode zu
Stande kamen, hauptsächlich auf den Antrieb des L'rotectors
des Rheinbundes, Napoleon L, konnten insofern als eine
Uebergangsstufe zu der constitutionelleu Monarchie dienen, als
sie mit den Resten der alten Landstände aufräumten, in Einer
Urkunde die Grundgesetze zusammen foszten und eine Art von
Repräsentation — freilich eine kummerliche und ohnmächtige —
des Grundbesitzes, der Industrie und der höheren Bildung
versprachen.
3. Als der grosse Befreiungskampf, zu dem sich die Nation
opfermuthig erhoben hatte, die Fremdherrschaft brach, war ein
günstiger Moment da, um die moderne StatßOrdnung in na-
tionalem und freiem Geiflte durchzuführen. Die wenigen groszen
Statsmänner, die Deutschland hatte, stein, Humboldt, anfangs
auch Hardenberg wollten es. Der König Friedrich Wilhelm HL
von Preuszen hatte seine Geneigtheit dazu öffentlich ausge-
sprochen. Aber durchweg war die absolutistische Gesinnung
der deutschen Dynastien, der Fornehmen Kreise der Gesell-
schaft, des Beamtentums so übermächtig, die antirevolutionäre
Einundzwanzigster Capitel. 1. Entstellung der constit. Monarchie. 423
Stimmung so misztrauisch gegen alle modernen Tdeen, und so
befangen in romantischen Phantasien, und die politische Bild-
ung des Volkes so unreif, dasz in dem deutschen Bunde
und in den souveränen (groszen und mittleren und kleinen)
Monarchien, die sich in die Beherrschung der deutschen Nation
getheilt hatten, ein nur wenig von landständischen Erinnerungen
beschränkter Absolutismus herrschend wurde.
Nur ausnahmsweise versuchte man's, in einigen Staten,
eine Art constitutioneller Monarchie, in Nachahmung der fran-
zösischen Charte, aber durch landständische Ueberlieferung mo-
dificirt, einzurichten. Das Herzogthum Nassau ging voraus
aber ohne^ nachhaltige Kraft (Verf. vom 2. Septbr. 1814).
Dann folgte Luxemburg (Verf. vom 24. August 1815)
und vorzüglich das Groszherzogthum Sachsen - Weimar-
Kisenach (5. Mai 1816), dessen Fürst, Karl August —
eine seltene Erscheinung — persönlich der freieren Verfassung
zugethan war.
Wichtiger war es, dasz die süddeutschen Mittelstaten,
die Königreiche Bayern (Verf. vom 26. Mai 1818), Würt-
temberg (25. Sept. 1819), wo der Widerstand der alten Land-
stände vorerst durch die weitsichtigere Regierung zu über-
winden war, und das Groszherzogthum Baden (22. August
1818) nun zu der constitutionellen Monarchie übergingen und
gerade in dieser Wandlung eine Stärkung erkannten gegenüber
dem Drucke der deutschen absolut regierten Groszstaten.
Es folgte dann das Königreich Hannover (17. Decbr.
1819), das Groszherzogthum Hessen (17. Decbr. 1820) und
Sachsen-Meiningen (23. August 1829).
In allen diesen Verfassungen ist die Monarchie mit einer
reichen Fülle von Hechten ausgestattet. Auf der conserva-
tiven Natur des deutschen Volkscharakters konnte sie sicherer
ruhen als in Frankreich, und wenn sie nur einigermaszen ver-
stand, die Zeitideen zu erfassen und in liberaler Richtung vor-
424 Viertes Buch. Die Statsformen.
zugehen, so wurde ihr die Leitung der öffentlichen Dinge ver-
trauensvoller überlassen, als irgend anderwärts.
Bei der Bildung der Kammern ahmte man das englische
und das französische Vorbild nach. Aber die Ersten Kammern
wurden vorzugsweise auf den Grundadel gebaut, dessen An-
sprüche und Ansichten groszentheils einer untergegangenen
Weltordnung angehörten, auch wohl mit abhängigen Dienern
der Höfe ergänzt, so dasz sie deszhalb nicht zu rechtem An-
seilen und gedeihlicher Wirksamkeit gelangen konnten. Die
Zweiten Kammern wurden dagegen weniger plutokratisch be-
setzt, als in Frankreich. Weil sie sich meistens an die von
Alters hergebrachten Stände anschlössen, so hat man diese
Verfassung auch oft mit Emphase als eine ..ständische und
keine repräsentative" bezeichnet. Aber mit Unrecht : denn nicht
das ist der Charakter der Repräsentativverfassung im
Gegensatze zu der mittelalterlichen Bt indischen, dasz in
jener die verschiedenen Stände des Volkes nicht berücksichtigt
werden dürfen, sondern dasz die Stellvertretung in jener, auch
wenn sie nach Ständen oder Classen gegliedert ist, dennoch
vornehmlich eine nationale sei. und die Einheit des Volkes
und des States, nicht die Gespaltenheil derselben in die
Sonderinteressen der Stände darstelle. Dieses Princip ist aber
z. B. in der bayerischen Verfassung von 1818 ausdrücklich
anerkannt, indem die Abgeordneten schwören müssen: „mü-
des ganzen Landes allgemeines Wohl und Beste ohne Rück-
sicht auf besondere Stände oder Classen nach Deberzeugung zu
berathen."
Die Entwicklung der constitutionellen Monarchie wurde
noch während Jahrzehnten hauptsächlich durch die beiden
deutschen Groszstaten gehemmt, deren Regierungen sich gegen
diese Statsform entschieden misztrauiscb und abgeneigt \ er-
hielten. In Preuszen verliefen die Reformbestrebungen Im Sund.
Anstatt der verheiszenen Repräsentation <l* Volks kam es zu-
letzt (1823) nur zu berathenden Provincialständen. Die öster-
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 425
reichische Kegierung glaubte die Einheit des zusammengesetzten
Statswesens nur durch die absolute Gewalt erhalten zu können.
Fast die ganze Wirksamkeit des deutschen Bundes war darauf
gerichtet, das sogenannte „monarchische Princip" möglichst
absolut zu bewahren und die Völker polizeilich zu bevormunden.
4. Die französische Julirevolution von 1830 hatte auch in
Deutschland neue Bewegungen zur Folge, und wieder wurden
eine Reihe deutscher Staten, mittlere und kleinere bestimmt,
das constitutionelle System einzuführen. Das Kurfürstenthum
Hessen erhielt am 5. Januar 1830 eine Verfassung, welche
die Volksfreiheiten gegen die fürstliche Willkür zu schützen
bedacht war, das Königreich Sachsen bekam eine der bayeri-
schen nachgebildete Verfassung (vom 4. September 1831), das
Königreich Hannover erhielt ('20. September 1833) ein neues
constitutionelles Statsgrandgesetz, welches jedoch von dem
nächstfolgenden Könige Ernst August nicht anerkannt wurde,
und erst 1840 in modificirter Gestalt wieder ins Leben trat.
Es erweiterte sich so, wenn auch von den Regierungen
zuweilen eher dem Scheine nach als in Wahrheit geachtet,
durch die ausgebildete Schreiberei der Bureaukratie vielfach
verdorben, durch die Parteien innerhalb und auszerhalb der
Ständeversammlungen nicht selten miszbraucht und entstellt,
das constitutionelle S tatsrecht doch fortwährend auch
in Deutschland, während die beiden deutschen Groszmächte
sich noch immer demselben abgeneigt zeigten.
5. Endlich erliesz der König Friedrich Wilhelm IV.
von Preuszen das Patent vom 3. Februar 1847, durch welches
auf der Unterlage der Provincialstände ein „vereinigter
Landtag" für Preuszen gebildet, und demselben der Beirath
für die Landesgesetzgebung, ein Zustimmungsrecht für neue
Steuern, und ein Petitionsrecht in innern Angelegenheiten zu-
gesichert wurde. Dadurch trat Preuszen aus der Classe der
absoluten in die der beschränkten Monarchie über, und näherte
sich den deutschen Repräseutativstaten bedeutend. Der Anfang
426 Viertes Buch. Die Statsformen.
einer modernen Statsentwicklung war gegeben, und es war so-
gar ein Vorzug dieser Verfassung, dass sie an die bestehen-
den Verhältnisse anknüpfte und nicht blos die bisher übliche
Form der constitutionellen Monarchie nachahmte. Freilich waren
die Eechte des Landtags nur kümmerlich und ungenügend be-
dacht. Aber die Möglichkeit der Fortbildung war gegeben,
und die Mängel der Verfassung hätten sich auf organische
Weise im Zusammenhang mit der politischen Erziehung auch
des Volkes nach und nach heben lassen. Leider trat die Re-
gierung auch den gerechten Wünschen des Landtags in einer
Weise entgegen, welche ihr das Vertrauen auch der gemäszigten
Parteien entzog. Und als das politische Erdbeben von 1848
Europa erschütterte, stürzte der neue Bau haltlos zusammen.
Preuszen erhielt darauf am 5. October 1818 eine Verfassung,
welche zu groszem Theile das Werk der demokratischen , von
den Wogen der Revolution getragenen Partei war. Nur mit
Hülfe eines von dem Könige octrovirten Wahlgesetzes vom
30. Mai 1840 gelang es, die revidirte Verfassung vom
31. Januar 1850 im Kinverständnisz der drei Factoren durch-
zusetzen. Seither sind noch einige wesentliche Veränderungen
hinzugekommen, vorzüglich zur Verstärkung der Autorität.
Trotz wesentlicher Mängel dieser Verfassung war nun für das
constitutionelle Leben von Preuszen eine neue staatsrechtliche**
Grundlage gewonnen.
Die wechselnden Ereignisse der folgenden Jahre zeigten
freilich, dasz mit der Form der Verfassung noch nicht sofort
der Geist derselben allgemeine Anerkennung fand. Das aristo-
kratische Herrenhaus, dessen Zusammensetzung den frühern
Vertretern des Absolutismus und dei ritterschaftlichen Romantik
allzu freigebig Vorschub geleistet hatte, bequemte sieh nur
widerwillig; dem an Selbstherrlichkeit gewöhnten Königthum
fiel es schwer, sich in die veränderte Lage zu füi^Qß und sich
23 Die Urkunde bei Zachariü, die deutschen Verfa^sungsgcsctze
der Gegenwart, S. 74 (f.
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstellung der constit. Monarchie. 427
von dein modernen Geiste des Volkskönigthums erfüllen zu
lassen ; die Volksvertretung endlich konnte sich auch nur all-
mählich der Gränzen ihrer Macht und der groszen Unterschiede
bewuszt werden zwischen dem englischen Parlamentarimus
und der preuszischen Statsregierung. Aber während der zähen
und erbitterten Kämpfe zwischen Reform und Reaction, Auto-
rität und Volksfreiheit trieb die neue Verfassung doch tiefere
Wurzeln, und nach und nach fanden sich alle Gegensätze in
der Pflicht gegen den wachsenden deutschen Stat zusammen.
Im Feuer des deutschen Krieges von 1866 wurden die harten
Widersprüche geschmolzen und die Einigung vollzogen.
Auch Oester reich wurde von der Revolution des Jahres
1848 unvorbereitet überfallen. Die einzelnen Völker, welche
bisher durch die liabsburgische Dynastie zusammengehalten
waren, versuchten sich loszureiszen, und in dem Centrum der
Monarchie, in Wien, regierte eine Weile die unerfahrene schwär-
merische Jugend. Nur in der Armee, sonst nirgends mehr
war Einheit, in ihr auch der letzte Halt der Monarchie. Die
Siege der Armee aber verschafften den österreichischen Stats-
männern wieder die Möglichkeit, die Zügel der Regierung zu
ergreifen, und im Gedränge der innern und äuszern Gefahren
unternahmen sie den Aufbau eines neuen enger verbundenen
Gesammtstates. Durch die octroyirte Verfassung vom 4. März
1849 wurde ein erster Versuch gewagt einer Organisation des
Reiches nach den Grundsätzen der constitutionellen Monarchie.
Aber die Schwierigkeiten, so verschiedene Völker, die über-
dem noch auf verschiedenen Culturstufen stehen, in Einer
Reichs Versammlung zu einigen , schienen damals so unüber-
windlich, und das Bedürfnisz nach einer einheitlichen und dic-
tatorischen Regierungsgewalt nach der überwältigten Auflehn-
ung Ungarns so stark, dasz es nicht zur Ausführung jener
Verfassung kam. Hatten zuvor die verschiedenen österreichi-
schen Staten ihre Einheit wesentlich in der herrschenden Dy-
nastie gefunden, so sollte auch für die nächste Zeit die ein-
428 Viertes Buch. Die Statsformeu.
heitliche Statsmacht über das ganze geeinigte Reich aussdiliesz-
lich der Person des Kaisers anvertraut bleiben. Durch das
kaiserliche Patent vom 20. August 1851 wurde bestimmt, dasz
die Minister nur dem Throne verantwortlich seien, durch das
Cabinetsschreiben vom 20. August 1851 der Eeichsrath in
einen Kath der Krone umgewandelt, und durch das Patent
vom 31. December 1851 wurden die constitutionelle Verfassung
und die Grundrechte von 1849 aufgehoben. In dem Cabinets-
schreiben endlich vom 31. December 1851 wurden in den
Kronländern berathende Ausschüsse des grundbesitzenden Erb-
adels, der übrigen Grundbesitzer und der Industriellen in Aus-
sicht gestellt,21 aber in Wahrheit das System der absoluten
Monarchie wiederhergestellt. Mit Hülfe eines maschinenartig
zu bewegenden Beamtensystems übte dieselbe die Begierungs-
gewalt aus und stützte sich dabei in geistiger Hinsicht auf
das Wohlwollen des katholischen Klerus und in materieller auf
die starke Armee.
Seit dem Jahre 1858 hatte die absolutistische Politik in
Preuszen, Bayern, Baden, Württemberg, Kurhessen u.s.f. eine
Keine von Niederlagen erlitten und Oesterreich erfuhr es in
dem Italienischen Kriege 708 1859, dasz die drei einzigen
Stützen der absoluten Politik, die Bureaukratie, <li'1 Armee und
der Klerus in der Krisis ohnmächtig werden. Wiederum sah
die kaiserliche Regierung die einzig-mögliche Rettung aus ihrer
Finanznoth und aus ihrer ionischen Verkommenheit in der
Gewährung der Repräsentativverfassung und der Umwandlung
der absoluten in die constitutionelle Monarchie. Das kaiser-
liche Diplom vom 20. October 1800 verkündete diesen Ent-
schlusz und das Grundgesetz vom 26. Februar 1861 suchte
denselben auszuführen.
Die Machtstellung der Oesterreichischen Monarchie sollte
nach der Erklärung der Diplome ihre Ausgleichung finden mil
, dem geschichtlichen Rechtsbewusztsein ihrer verschiedenen Kö-
* ZachariS, a. Verf. 6. 62 ff
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 429
nigreiche und Länder." Die „historischen Völkerindividuen"
sollten ihre Landtage haben mit beschränkter Autonomie und
hinwieder in dem gemeinsamen Reichstag zusammenwirken
bei der Gesetzgebung des Reichs und der Controle der Reichs-
regierung. Die Verfassung selbst unterschied hinwieder einen
Weitem Reichstag für die Gesammtmonarchie und einen
Engern Reichstag, vorzüglich für die westlichen Länder.
Indessen auch diese Verfassung gelangte nur zu einem Ver-
suche des Lebens, nicht zu wirklichem Leben, da sich die
Ungarn weigerten, den Reichstag zu beschicken.
Wiederum wurde die Wirksamkeit des Reichstages am
20. Sept. 1865 durch eine einseitige Kaiserliche Erklärung
sistirt und von neuem die Reichsregierung ohne Controle des
Reichstages geführt. Erst das neue Kriegsunglück des Stats
brachte im Jahre 1800 wieder einen Umschwung zu Stande.
Nach der Niederlage von Königsgrätz und dem Frieden mit
Preuszen von Prag wurde ernstlicher wie bisher von der Kai-
serlichen Regierung mit den Ungarn unterhandelt, die nicht
gesonnen waren, ihre alt-hergebrachten verfassungsmäszigen Rechte
aufzugeben und gegen eine octroyirte Verfassung des Kaiser-
tums auszutauschen. Erst als ihnen die Rechtscontinuität
nicht blosz der Ungarischen Verfassung, sondern ebenso der
Ungarischen Gesetze von 1848 und die furtdauernde Selbständigkeit
des Königreiches wieder zugestanden ward, mit Kraftloserklär-
ung aller inzwischen versuchten Eingriffe, liesz sie sich herbei,
ihren Frieden mit der Krone zu machen. Damit aber war
wieder der Dualismus des Reichs hergestellt. Dem Ungari-
schen Reichstage und Ministerium trat nun wieder ein öster-
reichischer Reichstag und ein österreichisches Ministerium für
die Länder dieszseits der Leitha an die Seite. Auch für sie
muszte die sistirte Verfassung, soweit sie noch anwendbar
war, hergestellt werden. Die beiden Reichstage suchten dann
nach einer ausgleichenden Delegirtenversammlung , welche in
Verbindung mit den beiden gemeinsamen Ministern für das
430 Viertes Buch. Die Statsformen.
Auswärtige und die Finanzen eine Einigung in der Politik der
gesammten Monarchie herzustellen, die Aufgabe erhielt. Ob diese
vermittelnde Einrichtung gelingen werde, ob nicht, das mag
immer noch zweifelhaft sein ; aber das ist sicher, dasz weder Un-
garn, noch Deutsche und Böhmen geneigt sind , sich die absolute
Monarchie länger gefallen zu lassen, und dasz alle diese Nationen,
wenn auch in verschiedenen Formen eine constitutionelle Mo-
narchie mit Einflusz und Controle der Volksvertretung ent-
schieden verlangen.
7. Der Versuch, die repräsentative Verfassungsform, wel-
che seit der Eevolution von 18-18 in allen deutschen Ländern
als die noch einzig mögliche Form der Monarchie proclamirt
worden war, auch auf den deutschen Bund als einen Gesammt-
stat überzutragen, führte zu der deutschen Reichsverfassung
vom 28. März 1849, welche zunächst ganz Deutschland auszer
Oesterreich unter einem Deutschen mit der Preuszischen
Königskrone verbundenen Erbkaiserthum , zusammen faszte,
den Einzelstaten eine Repräsentation in einem Statenhaus ein-
räumte und dem deutschen Volk eine Vertretung in einem
Volkshause zusicherte. Indessen diese Verfassung gelangte
nicht zur Wirksamkeit. Oesterreich verwarf diese Lösung der
deutschen Frage und bereitete sich zur Bekämpfung derselben
vor; der König von Preuszen nahm die Kaiserkrone nicht aus
den Händen der Nationalversammlung; auch Bayern weigerte
seinen Beitritt. Die deutsche Nation war nicht entschlossen
genug, für die Verfassung einzustehen. Die dynastischen und
particularistischen Kräfte waren stärker als das nationale Be-
wusztsein. Auch alle spätem Versuche besonders Preuszens
einen engern Bund als constitutionelle Monarchie zu gestalten,
scheiterten an dem Widerstand jener Kräfte. Erst der deutsche
Krieg von 1866 überwand die zähen Hindernisse, welche
Oesterreich und die Dynastieen erhoben hatten. Die Verfassung
des norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 ist insofern
als deutsche constitutionelle Monarchie zu betrachten, als dii
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit Monarchie. 431
Hauptleitung der gemeinsamen Bundespolitik dem Könige von
Preuszen als erblichem Bundespräsidium und gebornem
Bundesfeldherrn zukommt, der Bundeskanzler von ihm
ernannt wird und dem Reichstag verantwortlich ist, die Mit-
wirkung des Bundesraths die Betheiligung der Einzelstaten an
der Gesammtleitung sichert, und der Reichstag als Vertretung
des deutschen Volkes Antheil an der Gesetzgebung und eine Con-
trole der Regierung und Verwaltung hat.
Fassen wir die Resultate zusammen:
In West-Europa hat das System der repräsentativen
oder der Constitution eilen Monarchie das entschiedenste
Uebergewicht erlangt. Fast in allen Staten der civilisirten
europäischen Völker werden nicht blosz das Privatrecht der
Bürger, sondern auch politische Rechte der Volksmenge und
ihrer Classen anerkannt und Stellvertreter derselben zur Mit-
wirkung bei der Gesetzgebung zugezogen. Die europäische
Monarchie ist nicht mehr eine unbeschränkte und absolute
Gewalt, sondern eine durch das Recht auch der Unter-
thanen beschränkte oberste Rechtsmacht.
Aber im Uebrigen sind die Verfassungsformen noch sehr
verschieden.
In England ist das Königthum von einer mächtigen
Aristokratie umgeben, und die thatsächliche Leitung mehr
von den Mehrheiten der Parlamentshäuser und den ihnen ver-
antwortlichen Ministern als von dem individuellen Willen des
Königs abhängig. Auf dem Continente dagegen gibt es
nirgends mehr eine so angesehene Aristokratie. Vielmehr
kommt da neben dem monarchischen das demokratische
Element vorzüglich in Betracht ; das aristokratische hat da nur
eine ermäszigende und vermittelnde Bedeutung. Die continen-
talen Verfassungskämpfe sind Strebungen dieser mächtigen Ele-
432 Viertes Buch. Die Statsformen.
mente, das richtige Verkältnisz zu einander und zum Ganzen
zu finden. Die ausschlieszliche Geltung- des einen und die
völlige Unterdrückung des andern wurde oft versucht, aber im-
mer wieder erhob sich das entgegengesetzte Element von mo-
mentanem Fall. Die constitationelle Monarchie des Continents
strebt offenbar eine organische Gestaltung an, welche allen
Theilen des Gesammtkmmers ihr Recht gebe, der Monarchie
die Fülle der Macht und Hoheit, den aristokratisch« Ele-
menten Würde und Autorität, dem Demos Frieden und Freiheit.
Ueberall auf dem Continent. vorzüglich aber in Frank-
reich und in Deutschland i>t die Monarchie nicht blosz
der äuszern Form nach, sondern der ganzen Anlage des Ver-
fazsungskörpers nach die active Hauptmacht. Sie wird nur
dann gehemmt durch die unberechenbare, aber in der Kegel
ruhende Macht der öffentlichen Meinung, wenn sie in Wi-
derspruch tritt mit den Instineten der Nation und mit der Ström-
ung der Weltgeschichte. In Harmonie mit denselben aber ist
sie viel starker als die Aristokratie, «reiche entweder wie in
Deutseliland ihr gegen gewisse Vortheile zu dienen bereit ist,
oder wie La Frankreich in Ohnmacht murrt, und selbst als die
Vertretung des ganzen (Ihrigen Volks, welche nur die Re-
gierung controliren, aber Dicht selber regieren will. In Frank-
reich aber stützt sieh die Monarchie mehr auf die Zustimmung
der grossen Volksmassen, in Deutschland mehr thetls auf die
Staatsmittel des Beamtentums, welches hinwieder die Monarchie
am meisten besehrankt, fcheils auf die Armee. Zu einer be-
friedigenden Organisation des Dem«., ist es aber imeh nirgends
gekommen, obwohl Anlange dazu allenthalben vorhanden sind.
Erst wenn diese gelungen Bein wird, und erst wenn auch die
Dynastien die mittelalterliehen Vorurtheile abgestreift und (Um
modernen Statsgeist völlig aufgenommen haben werden, ist <\w
vieljährige Widerstreit zur Versöhnung und die organisch be-
schränkte moderne Monarchie, welche die Einheit des Ganzen
mit der .Freiheit aller Theile verbinden und den romanischen
Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 433
Statsgeist mit dem germanischeu Freiheitsgefühl zur Harmonie
zusammenstimmen will, zu sicherem Dasein gelangt.
Anmerkung. In einer Schrift, welche in den höchsten Kreisen
der Gesellschaft vielfältig mit Beifall aufgenommen worden ist, unter
den gebildeten Mittelklassen aber allgemeine Miszbilligung erfahren hat:
„Die Vortrefflichkeit der constitutionellen Monarchie für England und die
Unbrauchbarkeit der constitutionellen Monarchie für die Länder des eu-
ropäischen Continentes; Hannover 1852" — hat sich Gustav Zimmer-
mann, der seither in Hannover zu einer für den Fürsten und das Volk
beklagenswerthen Wirksamkeit gelangt ist, über das auf dem Titel aus-
gesprochene Thema näher erklärt. Ich betrachte diese Schrift als ein
absolutistisches Gegenstück einer fruchtbareren radicalen Litteratur über
die constitutionelle Monarchie. Wie diese sehr häufig, so hat auch Gust.
Zimmermann seinen Begriff der constitutionellen Monarchie lediglich von
den äuszern Formen und Maximen der englischen Verfassung abgezogen.
Wenn er dann behauptet, dasz dieser abgezogene Begriff auf dem Con-
tinent nicht anwendbar sei, weil in England seine innern Widersprüche
und Mängel durch den historischen Zusammenhalt und die Interessen der
herrschenden Aristokratie vermittelt und verbessert, hier aber durch die
demokratische Erfülluni;- gesteigert werden, so hat er darin nicht Un-
recht. Aber der parlamentarische Constitutionalismus in England darf
nicht mit der Idee der constitutionellen Monarchie verwechselt werden.
Jener ist der erste groszartige und trotz der logischen Fehler glückliche
Versuch ihrer Verwirklichung, nicht ihre Vollendung. Man kann die
Unanwendbarkeit des englischen Parlamentarismus auf den Continent
zugeben und doch für diesen die Brauchbarkeit der constitutionellen
Monarchie, d. h. der Monarchie fordern, welche anerkennt, dasz ihre
politischen Rechte, wie die der regierten Volksclassen verfassungsmäszig
bestimmt und beschränkt seien, und dasz insbesondere für die Gesetz-
gebung alle Theile des Volkskörpers zusammen wirken müssen. Die or-
ganische Monarchie ist noth wendig zugleich eine constitutionelle, denn
der Organismus ist selbst die Constitution. Dasz trotz allem Scharfblick
im Einzelnen Gustav Zimmermann im Ganzen kein Verständnisz hat für
das moderne Statsbewusztsein, ergibt sich aus seiner beharrlichen Be-
zeichnung der obrigkeitlichen Statsgewalt als „Eigenthum" der Fürsten.
Indem er diesen mittelalterlichen Standpunkt wählt, geräth er mit der
gesammten Bewegung der neuen Zeit in den feindseligsten Gegensatz;
er kann so an einer kleinen Stelle die Strömung eine Weile stauen, aber
er wird von den höher gehenden Wogen in Kurzem sammt dem morschen
Gezimmer, das er sich in den Strom hineinbaut, weggerissen und ver-
schlungen werden. (Ich lasse diese zuerst 1857 geschriebene Stelle
wörtlich stehen. Sie hat 1866 ihre Erfüllung erlebt.) Wenn über irgend
etwas unsere Zeit klar und entschieden ist, so ist es darüber, dasz die
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 28
434 Viertes Buch. Die Statsforrnen.
Statsgewalt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht ist, d.h.
dem gemeinsamen politischen Dasein und Leben des ganzen Yolkes zu-
gehört, und dasz sie daher kein Eigenthum eines Individuums für sich,
d. h. kein Privatrecht sein kann.
Zweiundz wanzigst es Capitel.
2. Falsche Vorstellungen von der constitutionellen Monarchie.
Die civilisirten Staten Europa's haben sich fast alle dem
System der c on s t i tu t i o n e 1 1 e n M o n a r c h i e zugewendet, und
in ihr den Äbschlusz der Gegensätze, welche das Mittelalter
hinterlassen hat, der Zerbröckelung und Erstarrung des States
einerseits und der absoluten Monarchie andererseits, in ihr auch
eine Versöhnung der verschiedenen politischen Strömungen und
Richtungen der Zeit, insbesondere der Demokratie und der
Monarchie zu finden gehofft. Die Erörterung der Grundlagen
dieses Systems hat demnach ein unmittelbar practisches Interesse.
Beseitigen wir zu diesem Behuf vorerst einige Trrthümer
und Miszverständnisse dieses Systems:
1. Die französische Revolution hat in den ersten Jahren
den Gedanken Rousseau's verwirklichen wollen, dasz es im
State zwei Gewalten gebe, die des Willens, die gesetz-
gebende, und die der physischen Kraft, welche den
Willen vollziehe. „Das Volk will, der König führt aus,"
das hielt man damals in Frankreich für das Wesen der con-
stitutionellen Monarchie. 1
1 Rousseau, Contr. Soc. III, 1: „Toute action libre a deux causes,
qui concourent a la produire, l'une morale, savoir la volonte qui dc'tcr-
mine l'acte, l'autre physiquc, savoir la puissance qui l'execute. — Le
corps politique a les mcmcs mobiles, on y distingue de morae la force
et la volonte; celle-ci sous le nom de puissance legislative; l'autre sous
le nom de puissance executive." Mirabeau, Kode vom 1. Sept. 1789:
„Deux pouvoirs sont necessaires a l'existence et aux fonetions du corps
politique; celui de vouloir et celui d'agir. Pur le premier la societe
Zweiundzwanzigstes Capitel. 2. Falsche Vorstellungen etc. 435
Dieser Gedanke setzt das Volk dem Könige gegenüber,
und indem er diesen zum bloszen Diener eines ihm fremden
und ohne seine Mitwirkung entstandenen Volkswillens macht,
hebt er den Begriff der Monarchie auf. Der Fall des Königs
Ludwigs XVI. und die Proclamation der jakobinischen Kepu-
blik war freilich die Folge der historischen Ereignisse , aber
zugleich auch eine natürliche Consequenz dieses Verfassungs-
princips.
Denkt man sich aber den König nicht als untergeordnet
der gesetzgebenden Gewalt, von der er ausgeschlossen
wird, sondern als dieser gleichgestellt, so ist die not-
wendige Einheit im Statsorganismus aufgegeben, und wir haben
ein Monstrum mit zwei Köpfen, eine unhaltbare D}^archie,2
welche entweder den Stat zerreiszt, oder, sei es dem monarchi-
schen, sei es dem republikanischen Princip, wieder weichen musz.
etablit les regles qui doivent la conduire au but qu'elle se propose, et
qui est incontestablement le bien de tous. Par le second ces regles
s'executent, et la force publique sert ä faire triompher la societe des
obstacles que cette execution pourrait rencontrer dans l'opposition de3
volontes individuelles. Chez une grande nation ces deuxpouvoirs ne peuvent
etre exerces par elle-mcme; de lä la necessite des representants du peuple
pour l'exercice de la faculte de vouloir, ou de la puissance legislative;
de lä encore la necessite d'une autre espece de representants pour l'exer-
cice de la faculte d'agir ou de la puissance executive." Thiers, bist, de
la revol. franc. I, S. 97: „Za nation veut , le roi fait^ les esprits ne
sortaient pas de ces elemens simples , et ils croyaient vouloir la monar-
chie, parce qu'ils laissaient un roi comrae executeur des volontes natio-
nales. La monarchie reelle, teile qu'elle existe meme dans les Zitats
libres, est la domination dyun seul, ä laquelle ont inet des bornes au
moyen du concours national. — Mais des l'instant que la nation peut
ordonner tout ce qu'elle veut, sans que le roi puisse s'y opposer, par
le veto, le roi n'est plus qu'un magistrat. C'est alors la republique avec
un seul consul au Heu de plusieurs. Le gouvernement de Pologne quoi-
qu'il y eut un roi, ne fut jamais (?) nomme une monarchie."
2 Die Spaltung, welche in dieser Dyarchie unvermittelt vorliegt, ist
denn auch in Frankreich von der demokratisch-republikanischen Partei
wohl begriffen worden, und sie hat dieselbe benutzt, um das Königtimm
gänzlich zu beseitigen.
28*
436 Viertes Buch. Die Statsformen.
2. Im Gegensatze zu dieser Verkehrtheit hat Sieyes in
seiner Verfassung dem Statsoberhaupt umgekehrt eine ruhende
Stellung zuweisen wollen, und darin die moderne Entwicklung
des constitutionellen Systems gesehen. Dieser Doctrin aber
hatNapoleon, der, wenn je einer ein geborner Monarch war.
durch sein berühmtes Wort: „Wie haben Sie sich einbilden
können, dasz ein Mann von einigem Talant und einigem Ehr-
gefühl sich zur Rolle eines Mastschweins hergebe, das mit ein
paar Millionen gefüttert wird?" — ein unauslöschliches Brand-
mal aufgedrückt.3
3. Häufiger noch wird als das Wesen dieser Statsform
der Satz behauptet: „Der König hat /war das Recht der
Herrschaft und der Regierung, aber die Ausübung dieses
Rechts steht nicht ihm, sondern den Ministern zu/* Faetisch
mag diesz Verhältnis/ in manchen Ländern zu gewissen Zeiten
so bestanden haben und noch bestehen. Als Statsprincip und
als Statsform anerkannt aber würde es Verzichtleistang auf
die Monarchie und Einführung der Republik sein. Denn wenn
die Ausübung eines [(echtes dem auf die Dauer entzogen
wird, dem man das Hecht zuschreibt. so hat dieser den re-
alen Inhalt des Rechtes verloren, und es kann nicht fehlen,
dasz dem, welcher das Recht der Ausübung erworben hat,
auch die bei jenem zurückgebliebene lere Schale und der Name
des Rechtes nachfolgt. Als die Ausübung des Ghrundeigen-
thums im Mittelalter dauernd auf die Vasallen und die hof-
hörigen Bauern übergegangen war, wurde auch das EHgenthum
selbst anfänglich als nutzbares Eigenthum von diesen erworben,
und der formelle Schein und Name des Obereigenthumfl ging
im Verfolg der Zeit für den vormaligen Herrn anabwendbar
verloren. Als die karolingischen Hausmeyer die königliche
Macht der Merowinger erworben hatten, blieb auch der Name
des Königthums nicht bei diesen. Ist einmal die wirkliche
Regierungsmacht von dem Könige abgelöst und den Ministern
1 Las Costa Mim. IV.
Zweiundzwanzigstes Capitel. 2. Falsche Vorstellungen etc. 437
zu Kecht übergeben, so ist es eine republikanische Be-
hörde, welcher das Regiment in Wahrheit zukommt, und das
Königthum ist zur leeren Form geworden.4 Das blosze
Symbol an der Spitze des States, statt einer lebendigen und
thatkräftigen Individualität, könnte höchstens als Ideokratie,
nicht als Monarchie gelten.
4. Es ist daher auch ein absurder Satz, dasz es in der
constitutionellen Monarchie „gleichgültig" sei, wer König sei,
ob eine ausgezeichnete Persönlichkeit oder eine unbedeutende,
ob ein verständiger oder ein beschränkter Kopf, ein edler Cha-
nikter oder ein Bösewicht. Die Constitutionen -monarchische
Statsform hat die Tendenz, dafür zu sorgen, dasz der König
zwar so wenig Uebels als möglich thun, aber dasz er auch so
viel Gutes thun könne als möglich. Nur in diesem Sinne be-
schränkt sie ihn. Sie weisz, dasz er ein Mensch ist, und dasz
Uebermacht selbst die Bessern verdirbt. Aber sie will ihn
nicht zur Puppe machen in der Hand der Minister. Sie will
nicht in ihm, der die oberste und herrlichste Stellung im State
hat, die Würde des Menschen vernichten, indem sie seine
menschlichen Eigenschaften negirt. Sie will nicht ihm, der
das höchste politische Recht hat, das geringste Masz von poli-
tischer Freiheit zuerkennen. Wie wäre Liebe, Ehrfurcht, Treue
gegen den Monarchen denkbar, wenn es gleichgültig wäre, ob
er derselben persönlich würdig, ob er auch nur fähig sei, die
Hingebung und Verehrung des Volkes zu verstehen und zu er-
wiedern? Die Consequenz jenes falschen Princips müszte zu
der Behauptung führen: je der blödsinnigste und schwächste
Fürst, der am wenigsten eigene Einsicht und eigenen Willen
4 Unter jener Voraussetzung hatte die radical-deraokratisclie Partei
zu Frankfurt im Jahr 1848 Recht gehabt, in ihrem Programm das„con-
stitutionelle Königthum" als eine „Sinecure," als einen „abgetragenen
Hut" zu erklären, nur bestimmt: „einen Premierminister zu ernennen"
(der dann regelmäszig auch aufgedrungen würde), und „für die Erzeug-
ung eines Nachfolgers" zu sorgen.
438 Viertes Buch. Die Statsformen.
hat, wäre der constitutionellste Monarch.5 Und eine solche
Statsform sollte die Erfüllung der Sehnsucht sein, welche die
Völker haben nach einer wohlorganisirten und geistig gehobenen
Statsordnung ?
Man hat sich öfter auf die englische Verfassung berufen,
um diese unsinnige Vorstellung zu rertheidigen. Allein auch
in England ist die Persönlichkeit des Monarchen nichts woni-
ger als gleichgültig. 6
5. Auch den berühmten Satz von Thiers: wLe roiregne
mais ü ne gouverne pas* (der König herrscht aber er regiert
nicht) können wir nicht als eine richtige Bezeichnung des
constitutionell-monarchischen Principe gelten lassen. Ist es
doch dem gewandten Minister selber nicht gelungen, denselben
dem Könige Ludwig Philipp gegenüber practisch durch-
zuführen! Und sicherlich nicht daran ist der König gescheitert,
dasz er nicht blosz herrschen, sondern auch regieren
wollte. Sein Nachfolger der Kaiser Napoleon hat gerade da-
durch den Beifall der Massen erworben, dasz er selber die
Regierang ausübte.
Durch den Ausdruck herrschen waren mehr die for-
mellen Hoheits- und Majestätsrechte des Königs, durch das
Wort regieren die praefcisch-reale Oberleitung der »tätlichen
Politik bezeichnet. Beiderlei Rechte gehören dem Statsober-
haupte zu, und dieses insbesondere von der Ausübung der
5 Auch Segel, Eteohtsphil. X- 280 geht zu weit, «renn er meist:
„der Monarch habe nur Ja zu sogen, und den Tunkt auf uns I zu 86*161) "
Er hat nicht blosz Ja, sondern auch Nein EU legen, und nicht blosz den
ff orm eilen Entscheid11 in geben, sondern auch das reell entscheidende
Wort. Er hat nicht blosz zu entscheiden, er hat auch anmregen und
einzugreifen, wo es noth fchnt. .1. 11. Fichte, Beitrag zur Statf-
lehre: „Der leerköpfigste Regent wäre dann der idealste."
Wer darüber zweifelt, der lese Broughams Stahmänner, und er
wird sich überzeugen, dasz auch in England eine nensohlichrpersönliehe
Wechselwirkung zwischen der Individualität des Monarchen und -einer
Minister besteht, und es ganz irrig ist zu meinen, es komme dort auf
den Willen des ersteren nichts an. Vgl. oben Cap. 21, Aum. .).
Zweiundzwanzigstes Capitel. 2. Falsche Vorstellungen etc. 439
wichtigeren, letzteren aussclilieszen (eine blosz formelle Be-
theiligung ist Ausscklicszung von dem wesentlichen Antheil)
ist wieder Zerstörung des Kerns der königlichen Gewalt. vRex
est qui regit."
Nicht zu verwechseln mit dem regieren (gouverner)
das blosze verwalten (administriren). Sich mit diesem
kleinen Geschäftsdetail fortwährend abzugeben, kann allerdings
dem Könige weder zugemuthet werden, noch ist es für die
Leitung des States irgend ersprieszlich, wenn er sich damit in
der Kegel befaszt.
6. Andere haben, von der Idee der Volkssouveränetät aus,
das Wesen der constitutionellen Monarchie darein gesetzt, dasz
der Monarch „nach dem AVillen und dem Sinne der Volks-
mehrheit regiere." Diese Meinung gibt offenbar die Exi-
stenz der Monarchie preis, undläszt sich von demokratischen
Ideen bestimmen. Denn die Demokratie ist die Herrschaft
der Volksmehrheit. Die Monarchie aber hat einen ihrer wich-
tigsten Vorzüge gerade darin, dasz sie berufen ist, auch die
Minderheit in ihrer Freiheit und in ihrem Kechte vor den
Anmaszungen der Mehrheit zu schützen. Wäre der Monarch
nur ein Beauftragter und Diener der Mehrheit, und würde so-
mit dieser die Herrschaft im State zukommen, so wäre das
nicht Monarchie mehr, sondern Demokratie, eine Demokratie
freilich mit einem Scheinmonarchen an der Spitze, welcher
ohne innere selbständige Macht so lang ein bloszes Scheinleben
fortführen könnte, als jene es bequemer fände, ihre wahre Ge-
walt zu verbergen.7
7 Gerade diesen Versuch hat die französische Nationalversammlung
von 1789 gemacht. Thiers sagt von ihr sehr gut (revol. franc. II,
S. 198): „Elle etait democratique par ses idees et monarchique par ses
sentiments." Die Ereignisse haben die Unhaltbarkeit eines derartigen
Zustandes dargelegt. In Frankreich hob die mächtige Demokratie das
ohnmächtige Königthum auf (1793).
440 Viertes Buch. Die Statsformen.
Dreiundzwanzigstes Capitel
3. Das monarchische Priucip und der Begriff der constitutionellen Monarchie.
Die constitutionelle Monarchie will eine wahre, keine
Scheinmonarchie sein.
Was ist nun das Wesen der Monarchie? Ohne Zweifel
die Personification der Statshoheit nnd der Statsgewalt
in einem Individuum. Ton der Theokratie unterscheidet
sie sich auch dann, wenn der als Herrscher gedachte Gott sich
durch einen Fürsten vertreten läszt, indem sie dem Monarchen
selber das Eecht der Herrschaft zuschreibt, von den Republiken,
welche einen Dogen oder Präsidenten an der Spitze haben, aber
dadurch, dasz die republikanischen Statshäupter genöthigt sind,
sei es die aristokratische Minderheit, sei es die demokratische
Mehrheit als den eigentlichen Herrscher zu betrachten, dessen
Vertreter und Diener sie sind, der Monarch aber nicht Unter-
than dieser Mächte, sondern immer selbständiger Inhaber der
Eegierungsgewalt ist. Die Statsautorität erhält in der Mo-
narchie im Gegensatz zu dem Collectivausdruck der Republik
einen höchsten individuellen Ausdruck. Der Monarch ist die
Statsperson im eminenten Sinne.
In jener Begriffsbestimmung sind zwei Seiten zu unter-
scheiden, die beide vorhanden sein müssen, wenn noch von
Monarchie die Rede sein soll.
I. Die persönliche Erhebung des Statshaupts, als in-
dividuellen Repräsentanten und Organ der obrigkeitlichen
Gewalt.
II. Die inhaltliche Concentration der obersten Stats-
hoheit und der vollkommenen Statsgewalt in ihm. Die beiden
Pole der fürstlichen Thätigkeit sind die Initiative und die
Sanction.
L Mit dem ersten Princip ist wohl verträglich:
Dreiundzwanzigstes Capitcl. Das monarchische Princip etc. 441
1) Die Beschränkung des Monarehen durch die Ee-
präsentation der übrigen Bestandteile des Volks in der
Gesetzgebung, und
2) die Gebundenheit des Monarchen an die Mitwirk-
ung der Minister in der regelmäszigen Ausübung der Ke-
gierungsrechte und Pflichten. Denn wenn auch die andern
Glieder des Yolkskörpers noch so hoch stehen, so überragt
er sie doch noch, als der Höhere ; und wenn die Verfassung
auch dafür sorgt, dasz sein individueller Wille wahrer Stats-
wille und nicht selbstsüchtiger Eigenwille sei, so wird dadurch
nur seine Aufgabe erleichtert und seine Statsautorität vor
Miszgriffen und Fall bewahrt.
Aber es verträgt sich damit nicht:
1) die Vorstellung, dasz der Monarch ein bloszes Idol,
eine blosze Form, nicht ein lebendiges Wesen sei;
2) die Einrichtung, dasz der Monarch der Volksreprä-
sentation oder den Ministern untergeordnet sei und von
ihnen gezwungen werden dürfe, einen Willen zu äuszern,
den er nicht hat, und zu handeln, wie er nicht will.
Da die oberste Gewalt seiner Person zusteht, so gebührt
ihm auch die Freiheit und das Kecht der Persönlichkeit. l
Seine Person gehört zwar auch nicht in allen Beziehungen und
nicht ganz, aber sie gehört doch vorzugsweise und mehr dem
State an, als jede andere Person. Er ist auch ein Gatte,
Vater, ein Genosse einer Kirche, vielleicht ein Gelehrter oder
Dichter. Aber in allen öffentlichen Dingen soll sich der
Statswille in ihm zum individuellen Willen erheben und po-
tenziren. Der monarchische Stat legt auf die individuelle Sorge
und die individuelle Energie des Monarchen einen groszen
1 ßuizot Mem. II, 237. „Dieu seul est souverain et personne ici-
bas n'est Dieu, pas plus les peuples que les rois. Et la volonte des peuples
ne suffit pas ä faire des rois; il faut que celui qui devient roi porte en
lui-meme et apporte en dot, au pays qui l'epouse, quelques-uns des ca-
racteres naturels et independants de la royaute."
442 Viertes Buch. Die Statsfornien.
Werth, und es wäre ungereimt, dem Monarchen das höchste
Recht im State zuzusprechen und zugleich ihn um deszwillen
unter die Vormundschaft anderer zu setzen. Nicht die Kam-
mern schaffen das Gesetz, sondern, indem er seine Sanction
frei ertheilt, begründet e r das statliche Ansehen des Gesetzes.
Nicht die Minister fügen seinen Regierungsbeschliissen ihre
Autorität bei, sondern er verleiht denselben seine Autori-
tät, und die Minister dienen ihm nur als Organe, wenn
auch als unentbehrliche Organe seines Willens.
So weit der König durch die Verfassung nicht beschränkt
und nicht gebunden ist an die nothwendige Zustimmung oder
Mitwirkung anderer Glieder des Statsorganismus , so weit ist
er auch völlig frei, seinen eigenen persönlichen Willen
auszusprechen und demgemäsz zu handeln.
Die Eigenthümlichkeit der constitutionellen im Gegensatz
zu andern Monarchien besteht darin, dasz der Monarch für
sich allein weder Gesetze geben noch in der Regel Regier-
ungsliamllungen aasüben darf, sondern in der ersteren Bezieh-
ung die M i t w i r k u n g und Z ust.i m m u n g der Kammer n,
in der letzteren die Mitwirkung der Minister erfordert
wird. Sie besteht aber nicht darin, dasz der Schwerpunkt der
Statsregierung in den Kammern oder in den Ministern liegt.
Würde die Kammermajorität und der Ministerrath in allen
Fällen mit formeller Notwendigkeit die Handlungen des Fürsten
bestimmen, so wäre eine solche eigentliche Parlaments- und
Ministerregierung2 allerdings im Widerspruch mit dem
monarchischen Princip. Der constitutionelle Monarch wird sich
thatsächlich meistens durch das schwere Gewiclit jener Ab-
stimmungen und Anträge bestimmen lassen, weil er darin den
vorbereiteten Statswillen erkennt, aber er wird sicli die
freie Prüfung aus dem Standpunkt des Statswohls vorbehalten
müssen, wenn er seine monarchische Pflicht üben soll.
! Von der Parlaments- und der Ministerregierung wird in den I>ü-
chern Y, YI und YII noch näher die Kode sein.
Dreiundzwanzigstes Capitel. Das monarchische Princip etc. 443
Innerhalb jener Schranken bewegt sich auch der consti-
tutionelle Monarch mit voller Freiheit. Es ist abgeschmackt,
ihn verhindern zu wollen, dasz er seine eigene Meinung
ausspreche. Jeder tüchtige Mann hat ein Bedürfnisz, seine
wirkliche Gesinnung zu äuszern. 3 Politische Rücksichten mögen
den Monarchen oft zurückhalten, dieselbe ganz und laut zu
offenbaren, aber Niemandem steht das Recht zu, ihm die freie
Rede zu versagen oder gar ihn zu falscher Rede zu
nöthigen.4
Dem Monarchen kommt es ferner zu, mit eigenen Augen
zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, selber zu prüfen,
wie es steht in seinem Lande, unmittelbar sich von den Be-
dürfnissen des Volks zu unterrichten , die Erscheinungen des
öffentlichen Lebens zu beobachten , und wo das Interesse und
die Wohlfahrt des Ganzen es erfordert, anregend einzu-
greifen, Aufträge zur Bearbeitung der nöthigen Ge-
setze oder zur Einleitung der erforderlichen Masz-
regeln zu geben. Das ist es, wodurch von jeher grosze Mo-
narchen sich ausgezeichnet haben. Das ist die wahre Acti-
vität des Monarchen. f) Auch die constitutionelle Statsform
3 Guizot Mem. XII, 184. „Un tröne n'est pas un fauteuil vide,
auquel on a mis une clef pour que nul ne puisse etre tentc de s'y asseoir.
Une personne intelligente et libre, qui a ses idees, ses sentiments, ses
desirs, ses volontes comme tous les etres reels et vivants, siege dans ce
fauteuil. Le devoir de cette personne, car il y des devoirs pour tous,
egalement sacres pour tous, son devoir, dis-je, et la necessite de sa Si-
tuation, c'est de ne gouverner que d'accord avec les grands pouvoirs
publics institues pa^la Charte, avec leur aveu, leur adhesion, leur appui.u
4 Beachtenswerthe Bemerkungen darüber finden sich bei Stahl:
Das monarchische Princip, S. 9. Luther in den Tischreden: „Es ist
nichts löblicheres und lieblicheres an einem Fürsten, denn dasz er frei
redet, was seine Meinung sei, und hat er Die lieb, so deszgleichen thun
und ungescheut sagen, wie ihnen ums Herz ist." Wie könnte er die
freie Rede Anderer achten und lieben, wäre er selber in der freien Rede
gehemmt ?
5 Friedrich der Grosze von Preuszen im Essai sur les formes
de gouvernement: „Le souverain represente PEtat: lui et ses peupies ne
444 Viertes Bück Die Statsformer).
bietet einer bedeutenden Individualität in diesen Beziehungen noch
immer freien Spielraum. Sie darf denselben nicht verschlieszen.
TL Das zweite Princip ist: Dem Monarchen steht die
oberste Statshoheit und die vollkommene Statsmacht
zu. Auch das englische Statsrecht, welches die Rechte des
Königthums in einem Masze beschränkt, wie es die meisten
Monarchien des Continents noch nicht ertragen, erkennt das
Princip dennoch an. Darin liegt:
1. Die Monarchie ist nicht ein Aggregat von einzelnen
Hoheitsrechten, sondern die Einheit und Fül le aller Ho hei ts-
rechte.,j Die absolute Monarchie ontrirt diesen Gedanken dahin,
dasz sie andern politischen Körperschaften und Organen weder
selbständige, der Willkür des Monarchen entzogene Rechte,
noch eine nothwendige Betheiligung bei der Ausübung der
Rechte des Monarchen zugesteht, und das/ sie mich von be-
rechtigten Freiheiten der Individuen und Volksclassen nichts
wissen will. Alles Etechi nimmt sie für Bich in Anspruch,
den Andern vergönnt sie höchstens Gnaden.1
forment qu'un corps, qui ne peut 6tre heureux qu'autanl la oonoorde lea
unit. Le prince est & la Boci6t6 qu*il gouverne (•<• que la r <* t « * est au corps:
il doit roir, penser <'t agir poar toute la oommunaute', atiu d<* In i pro-
curer tous les avantages dont eile e*st Busoeptible. Bi l'ou reut que le
gouverncinciit monarehique L'emporte sur lc republioain; t'arrel dl iou-
v.Taiii est prononce: il doit etre actif er integre et rassembler totri
forces poar fburnir la carriere qui lui est ouverte. Le Bourerain est at-
taohc' pai dei liens indissolubles au oorpe d'Etat; par oonseqnent il rw-
sent per ripereuseion toua tes naui qui affiigenl sea sujets, etfosoctftl
souflre Sgalement des ntalbeurt qui fcouehent son Bourerain."
6 Der Artikel b"t der Wiener Schluszaote ron L820 drückt «las mo-
narchische Princip in den ersten Batie nicht unrichtig aus. umfasst aber
üe absolute, die Bt&ndiBOhe um] die constitutionelle Monarchie, und i>t
in dem zweiten Satze der Entwicklung der eoustitutionellea Statsfonn
ungünstig: „Die gesammte Statsgewalt musa in dem Oberhaupt des
Btata rereinigt bleiben, und der Bourerain kann durch eine landstftn-
disohe Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Eleohte*an die. Mit-
wirkung der Stände gebunden werden." Die seitherige Ausbreitung
der eonstitutionellen Monarchie liat nunmehr diesen Artikel antiquirt.
' Wie wenig jene absolute Auffassung aus dem Begriffe der Mo-
Dreiundzwanzigstes Capitel. Da3 monarchische Princip etc. 445
Die constitutionelle Monarchie dagegen ist auch hierin
eine beschränkte und erkennt die Kechte jener Körper-
schaften und die Freiheit der Unterthanen an.
2. An der Gesetzgebung vorerst hat der Monarch
nicht blosz einen Antheil, sondern den dem Inhalt nach in
der Kegel, der Form nach immer entscheidenden Antheil. Ihm
stellt die Initiative und die Sanction der Gesetze zu, und
in seinem Namen werden sie verkündet.
Wird dieser Grundsatz in einer constitutionellen Monarchie
verneint, so wird auf* diesem Gebiete das monarchische Prin-
cip durch die Einwirkung republicanischer Ideen in Wahrheit
beeinträchtigt; denn dann ist die oberste Statsmacht nicht
mehr bei dem Monarchen, sondern bei den — für sich allein
betrachtet — offenbar republicanischen Kammern, und er ist,
soweit die Gesetzgebung reicht, der l'nterthan der Kammern.
Die Rechte der Kammern können folglich nachdem System
der Monarchie nur concurrirende, nicht a us seh lies z-
liehe sein.
narcliie folgt, mag die Aeuszerung eines ziemlich absoluten Fürsten,
Friedrichs des Grossen bezeugen. Er schreibt in dem Antiniacchia-
vel 1.: „Le Souverain bien loin d'etre le Maftre absolu des peuples qui soiit
sous sa domination, n'en est que le premier Magistrat," (Anderwärts
braucht er die Ausdrücke „le premier serviteur" — oder „domestique de
PEtat.") Die Art, wie Mirabeau dagegen (Essai sur le despotisme,
Oeuvres II, S. 297) die Fürsten anredet: „Vous etes les salaries de vos
sujets, et vous devez subir les conditions auxquelles vous est aecorde ce
salaire sous peine de le perdre" überschreitet die Gränzen der Monarchie
und setzt eine republicanische Volksherrschaft voraus. Noch bestimmter
sprach sich der preuszische König Friedrich über die wahre Stellung der
Monarchen in der ersten Audienz aus, welche er seinen Ministern er-
theilte am 1. Juni 1741. (Ranke Preusz. Gesch. I, S. 48) : „Ich denke,
dasz das Interesse des Landes auch mein eigenes ist, dasz ich kein
Interesse haben kann, welches nicht zugleich das des Landes wäre. Sollten
sich beide nicht miteinander vertragen, so soll der Vortheil des
Landes den Vorzug haben." Und Washington schrieb am 18. Juni
1788 an Lafayette: „Ich verwundere mich höchlich, dasz es auch nur
einen Monarchen gibt, der nicht erkennt, wie sein Ruhm und sein Glück
von dem Gedeihen und der Wohlfahrt des Volkes abhängig sind."
446 Yiertes Buch. Die Statsforinen.
3. Alle St atsre gierung ist in dem Monarehen con-
centrirt, steht ihm zu selbständigem Rechte zu, und
wird in seinem Namen ausgeübt.
In der constitutionellen Monarchie dürfen die Minister
oder andere Kegienmgsbeamtete nicht in ihrem Namen regie-
ren; aber auch der Fürst kann nicht ohne die Mitwirkung
der Minister, sondern nur im Einverständnis! mit ihnen
regieren. Alle ihre Gewalt erscheint als ein Ausflusz der
königlichen Gewalt, ihr Regierongsrecht wird aus der Fülle
der königlichen Macht abgeleitet, und zwar nicht im Sinne
der mittelalterlichen Lehensmonarchie, so das/ ihnen diese ab-
geleiteten Rechte für siel] zu ihrem eigenen Rechte und
eigener Nutzung verliehen wären, sondern so dasi die orga-
nische Einheit des States gewahrt bleibt. Auch im Ver-
hältnis/ zu den Ministen) hat der König Initiative undSanc-
tion; die erstere können und Bollen auch die Minister üben
als leitende ßtatsmänner, diese Bteht dem König allein, den
Ministern nur das Stecht der freien Zustimmung zu den Be-
fehlen des Königs KU.8
Das im Mittelalter erkannte Prinrip, dasi alle Regierungs-
autorität und Gewalt v.m oben her komme und stufenweise
nach unten verliehen, oichi aber umgekehrt von unten nach
oben aufgetragen werde, und dasi alle obrigkeitliche Macht
\<i)i) Centrum zur Peripherie und nichl yon dieser zu
jenem den Weg nehme und wirke, ist in der constitutionellen
Monarchie der neuen Zeil in Aberkennung geblieben. Aber
die mittelalterliche Zersplitterung dieser Gewalt in selbständige
Theilgewalten ist nun aufgegeben worden.
8 L. Stein, Verwaltnngslehre I. S. 86 f. unterscheide! ein per-
sönliches VoUzienungsrecat des Btatsheupts poa da Begierange-
gewalt des Statshaupta und verlang! für jenes Onabhangigkeil sowohl
von der VolksTertreiung als von den Ministern. Diese Theorie eröffne!
dem Absolutismus der Fürsten eine bequeme Binterthfire aber gefährdet
und untergräbt die ganze verfassungsmäßige Statsordnung,
Dreiundzwanzigstes Capitel. Das monarchische Princip etc. 447
4. Alle einzelnen Statsorgane sind dem Monarchen
untergeordnet, und zwar nicht blosz die, welche in ihrem
Wirkungskreise von seinem Willen völlig abhängig sind, son-
dern auch die, an deren Zustimmung er selber gebunden ist,
um einen statlichen Willen zu äuszern, wie die Minister und
die, denen ein von der Einwirkung des Statsoberhauptes unab-
hängiger Wirkungskreis angewiesen ist, wie die Kichter, ja
selbst die gesetzgebenden Kammern, welche als selbständige
Mächte im State sich mit ihm zur Gesetzgebung einigen. Wie
das Haupt allen andern Gliedern des Körpers und dem Leibe
übergeordnet ist, so hat der Monarch in dem Statskörper die
höchste Stelle.
Man darf den Begriff der constitutionellen Monar-
chie nicht aus der englischen Verfassung allein ableiten. Je
nach der Art und der Geschichte eines Volkes bekommt die-
selbe Grundform einen modificirten Ausdruck. Da sie ihrer
Natur nach relativ und nicht absolut ist, so hat sie aucli die
Fähigkeit, sich den verschiedenen Verhältnissen und Bedürf-
nissen anzuschmiegen.
Als nothwendige Merkmale aller constitutionellen Monar-
chie sind folgende Eigenschaften hervorzuheben:
1) Sie ist eine ve rfassungs m äszige Würde und Macht.
Der constitutionelle Fürst steht nicht aus zer, noch über,
sondern in der Verfassung. Die Rücksicht auf die verfassungs-
mäszige Rechtsordnimg, welche auch den Monarchen bedingt,
hat dieser Form den Namen gegeben. Ob die Verfassung in
Einer Urkunde dargestellt werde oder nicht, ist zwar nicht
gleichgültig, aber für den Begriff nicht wesentlich.
In England, dem Mutterlande der constitutionellen Mo-
narchie, gibt es wohl einzelne Verfassungsgesetze und
urkundliche Erklärungen über die anerkannten Volksfreiheiten,
aber nicht eine systematische Beurkundung der ge-
sammten Statsorclnung, wie die neuere Zeit sie liebt, und vor-
zugsweise Constitution zu nennen pflegt. Jene sind je nach
448 Viertes Buch. Die Statsfornien.
den politischen Kämpfen der Zeit und den besondern Anforde-
rungen des in bestimmten Richtungen erregten politischen Lebens
des englischen Volks im Lauf der Geschichte allmählich ent-
standen. Diese Constitutionen werden gewöhnlich auf einmal
und unter dem Einflusz einer allgemeinen Statstheorie als ein
zusammenhängendes und umfassendes Gesetzeswerk bearbeitet.
In beiden Formen ist die constitutionelle Monarchie möglich.
Aber sie setzt auf urkundliche Bestätigung, aufVerbrief-
ung der politischen Rechte, obwohl die Natur dieser nicht
von der Form der Bezeugung und Zusicherung abhängt, einen
entschiedenen Werth, ohne darum das ungeschriebene Recht
zu bestreiten. Es ist dieser Zug dem modernen Leben in der
That gemäsz, dessen Rechtsbewusztsein nicht mehr so unmit-
telbar mit der Gewohnheit verwachsen ist, sondern um sich
sicher zu fühlen und zur Klarheit zu gelangen, derFixirung
durch die Schrift bedarf.9
2) Der constitutionelle Monarch ist ebenso verpflichtet,
wie die Bestimmungen der Verfassung, so auch die Gesetze
des States zu beachten. Er darf nur rerfassuigs» und ge-
setzmäszigen Gehorsam erwarten und fordern.
3) Die gesetzgebende Gewalt kommt ihm nur in
Verbindung mit den Kammern (der übrigen Repräsentation des
Volkes) zu. Er bedarf, um ein Gesetz zu geben, i lirer Zu-
stimmung, nicht blosz ihres Beirathes.
4) Die Ordnung des Statshaushalts und die Bewilligung
der Statssteuern isi ebenso an die Mitwirkung und Zu-
stimmung der repräsentativen Körper gebunden.
5) Zu der Leitung der Regierung und der Verwal-
tung bedarf der constitutionelle Fürst der Mitwirkung der
■ Allerdings gibt es auch „papierene Constitutionen," wie Fried-
rich Wilhelm IV. in einer Thronrede sie genannt hat, welche, weil
Bie <'in blosses theoretische» Machwerk ohne Wurzeln in der Nation >ind,
leicht zerrissen werden; aber die schriftliche I'x-m-kundung einer Ver-
fassung macht diese nicht zur papierenen, sondern stärkt und Bioheft
ihren Inhalt.
Vierundzwanzig3tes Capitel. Zusammengesetzte Statsformen. 449
Minister. Damit seine Verordnungen, Befehle und Dekrete
für dritte Personen rechtswirksam werden, ist die Contra-
signatur eines Ministers als Ergänzung seiner Unterschrift
unerläszlich.
6) Die Verantwortlichkeit der Minister und aller
andern Regierungsbeamten ist unentbehrlich für die Wirksam-
keit der Verfassung.
7) Die Selbständigkeit der Rechtspflege und die
Ausschlieszung aller Cabinetsjustiz als eine notwen-
dige Beschränkung der Regierungsgewalt und eine der wich-
tigsten Garantien für das Recht der Bürger.
8) Die Anerkennung, dasz auch den verschiedenen
Volksclassen und den einzelnen Bürgern nicht blosz Privat-
rechte, sondern öffentliche Rechte zustehen, die nicht
minder unverletzlich sind, als das Recht des Monarchen.
Die constitutionelle Monarchie läszt sich nur als Volks-
fürstenthum eines freien Volkes verstehen.10
Vierundzwanzigstes Capitel.
Zusammengesetzte Statsformen.
Die ganze bisherige Darstellung der verschiedenen Stats-
formen hatte nur die einfachen Staten vor Augen. Es gibt
aber auch zusammengesetzte, d. h. solche Staten, deren
Theile in sich wieder als Staten oder wenigstens staten-
ähnlich geordnet sind. In ihnen wiederholen sich die Gegen-
sätze der geschilderten Grundformen, und insofern haben sie
nichts Besonderes. Der Gesammtstat und die Einzelstaten;
der Hauptstat und die Nebenstaten köunen z. B. monarchisch
oder repräsentativ-demokratisch organisirt sein.
10 Vgl. den Artikel Monarchie im Deutschen StatswÖrterbuch.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 29
450 Viertes Buch. Die Statsformen.
Nicht immer haben aber die Einzelstaten und der Ge-
sammtstat dieselbe Verfassun^rform. Der deutsche Bund von
1815 blieb eine Oligarchie von souveränen Fürsten, ohne Volks-
vertretung, während in den Einzelstaten die constitntionelle
Monarchie eingeführt würden. Einzelne Cantone der Bdiweil
sind noch absolute Demokratien, während der Qeeammtstat re-
präsentativ-demokratisch ist Die englische Verfassung ist
constitutionel-moiiarohisch, aber englische Nebenländer in Asien
werden noch als Ahsolutien verwaltet, andere halbsouveräne
Staten sind Republiken unter brittischer Schutshoheit.
Sind die Nationalitäten, die Civilisationsstufen und die
historischen Bedingungen Behr verschieden, bo wird sich auch
eine Verschiedenheit der Verfassungsform rechtfertigen; sind
sie gleichartig -- wie im Deutschen Hund — so wird oft
Verschiedenheit als Unnatur und Disharmonie empfunden,
Zu allen lusammei d Statswesen kommt aber noth-
wendig ein neuer Qegensati hinzu, nämlich d utver»
hältnii Binen Oesammt- oder Hauptstates zu der Selb-
ständigkeit der Einzel- oder Nebenstaten.
Mit Bücksicht darauf Kassen sich folgende Hauptverhält-
oisse unterscheiden :
I. Ein herrschender Hauptstal mit gani unter-
t hau [gen Nebenll ädern.
Von der An Bind fiele Besitzungen der europäischen
»fachte vorzüglich in Asien and in Afrika. Nur der Haupt-
Btat ls1 als freier Stal organisirt, die Nebenländer sind unfreie
und Qberdem der Fremdherrschaft unterworfene Staten. Die
Gegensätze der Staten sind hier I Bchroff und der
mögliche Conflici zwischen ihnen wird durch dir Energie der
Herrschaft des einen States über den andern zu lösen versucht1
Ii. Kin oberherrl ich er Hauptstai gegenüber \ asa I len-
Btaten oder ein Bchutzherrlicher Stal gegenüber den
■Ygl.dk vortrefüiohe tasfllliruBg bei Hill, Betrachtungen Bbet
die Repriientativ?erfai8UDg (übersetzt rou Wille! Zürich I
Vierundzwanzigstos Capitel. Zusammengesetzte Statsformen. 451
schutzbediirftigen Neben staten. Hier ist eine relative Selb-
ständigkeit der Vasallen- oder Schutzstaten auch dem Ober-
oder Schutzherrn gegenüber wohl möglich. Das römische Reich
deutscher Nation ist ein mittelalterliches, das osmanische Reich
heute noch ein Beispiel eines aus Vasallenstaten zusammenge-
setzten Statskörpers. Der modernen Statenbildung entspricht
aber noch eher die schutzherrliche als die Lebensform, obwohl
auch sie nur unter der Voraussetzung sehr ungleichartiger Kräfte
einen Sinn hai and einem freien Volke niemals zusagen wird.
Die Napoleonische Protection des Rheinbunds, die englische
über die Jonischen Ins. -In, die europäische über die Moldau
und Wallachei mögen als Beispiele erwähnt werden.
III. VenviiinK damil aber ermä8zig1 und veredell durch
die Rücksichten der Pietät i>t das Verhältnisz des biutter-
ts /u den ooch oichl ganz Belbstmächtigen , aber bereits
zu einer Btatenartigen Organisation erwachsenen Colonial-
ländern. In den äuszern Beziehungen vorzüglich wird die
Colonie, auch wenn sie im Innern wesentlich selbständig ge-
worden isl, doch länger des Schutzes des Mutterstates bedürfen,
und insofern eine relative Qeberordiiung desselben an-
erkennen.
I\. her Statenbund und die Personalunion1 setzen
die volle Hoheit and Selbständigkeil der verbundenen Staten
als Regel voraus, aber beschränken dieselbe ausnahmsweise,
Boweü «las gemeinsame Schicksal der Verbindung es nüthig er-
scheinen läszt. Die Binzelstaten sind liier wohl als Staten or-
ganisirt, aber nicht ihre Verbindung. Diese erscheint nur als
eine unentwickelte Statengemeinschaffc, die nur in einzelnen
Beziehungen — vorzüglich nach Auszen — wie eine Statsper-
sönlichkeit auftritt. Sie ist eher ein Statenconglomerat, als
ein wahrer Stat. Es fehlen ihr die nöthigen Organe für die
Gesetzgebung, Regierung, Rechtspflege. Sie schwankt zwischen
2 Vgl. oben S. 245 und 248.
29*
452 Viertes Buch. Die Statsformen.
einer dauernden völkerrechtlichen Allianz und einer stats-
rechtlichen Gestaltung. Deszhalb ist sie nur eine unvoll-
kommene Uebergangsform.
Es gibt in dieser Form vielleicht eine gemeinsame Nation,
aber kein wirkliches Gesammtvolk: und die Entwicklung des
Gesammtlebens und der Gesammtmacht ist sehr erschwert,
weniger noch in der Personalunion, welche in dem gemein-
samen Monarchen ein einheitliches Haupt besitzt und nur in
allen andern Beziehungen die Spaltung zeigt, als in dem Sta-
tenbunde, wo es an jedem einheitlichen Organe fehlt. Zum
Handeln ist dieselbe ganz untauglich. Der deutsche Bund war
das beredteste Beispiel dieser Verbindungsform in unserer Zeit
und ihrer Schwächen.
V. Der Bundesstat, das Bundesreich und dieKeal-
union1 sind darin verwandt, dasz in beiden Verbindungen der
Gesammtstat als ein wirklicher Stat organisirt ist, und
ebenso die verbundenen Einzelstaten. In dem Bundesstate
sind die letztern noch selbständiger, als in der Kealunion, weil
Bie dort eine ihnen ausschlieszlich angehörige Regierung haben,
hier aber das Haupt des Gesammtstats zugleich der Landes-
fürst in den Kronländern ist. Man Bprichi daher nicht leicht
von der Souveränetät der realunirten Kronländer, aber unbe-
denklich von der Souveränetät der Einzelstaten (Particular-
staten, Cantone) in dem llundesstat.
Es gibt in dem Bundesstate und dem Bundesreiche ein
organisirtes Gesammtvolk und organisirte Theilvölker:
(Amerikaner und New-Yorker oder Pennsylvanier ; Schweizervolk
und Berner, Zürcher, Genfervolk; deutsches Volk undPreuszen,
Sachsen u. s. f.) und der Gesammtstat ist eben so frei in
seinen Bewegungen und zwar ebenso ausgestattet mit Organen
wie ein Einheitsstat. Die Einzelstaten aber sind keine Va-
3 Oben S. 246 und 249.
Vierundzwanzigstes Capitel. Zusammengesetzte Statsformen. 453
sallen des Gesammtstates , sondern innerhalb ihres Bereiches
wieder selbständig wie Einheitsstaten. 4
Die Möglichkeit eines solchen Nebeneinanderseins zweier
Staten auf demselben Gebiete wird dadurch hergestellt, dasz
einerseits die Competenzen der beiderlei Staten scharf aus-
geschieden werden und für friedliche Erledigung allfälliger
Conflicte gesorgt ist, und dasz andererseits die beiderlei
Behörden und Repräsentativkörper möglichst von einander
getrennt und wechselseitig unabhängig erhalten werden.
Am vollständigsten ist diese Scheidung auch der Personen
(Aemter) in dem nordamerikanischen Bundesstate durchgeführt
worden, die Ausscheidung der Competenzen aber auch in
der schweizerischen Bundesverfassung mit besonderer Sorgfalt
geregelt worden.' In dem deutschen Bundesreiche sind die
Organe der Bundesregierung noch mit den Organen der einzel-
statlichen Regierungen eng verbunden, so jedoch, dasz in dem
König von Preuszen die Eigenschaft des Einen Bundeshaupts
sichtbar wird, und dasz der Reichstag von den Kammern der
Einzelstaten ganz getrennt ist. Die Competenzen des Reiches
aber sind scharf geschieden von dem der Einzelstaten. Ge-
wöhnlich wird der Bereich des Gesammtstates vorzugsweise
die äuszeren Angelegenheiten in der Regel, und nur gewisse
gemeinsame innere Dinge als Ausnahme umfassen, und umge-
kehrt die Selbständigkeit der Einzelstaten sich in der Regel
in den innern, ausnahmsweise in den auswärtigen Verhält-
nissen bewähren.
4 G. Waitz, Grundzüge der Politik. Kiel 1862. S. 44 f.: „Beide,
die Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaten müssen in ihrer
Sphäre selbständig (souverain) sein; diese darf ihre Gewalt nicht von
jener empfangen, jene nicht auf Uebertragung dieser beruhen." S. 153:
„Wesen des Bundesstats."
5 Ygl. Rüttimann über die für Realisirung des Bundesrechts zu
Gebote stehenden Organe und Zwangsmittel der schweizerischen Eidge-
nossenschaft. Zürich 1862.
fünftes thirij.
Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Erstes Capitel.
Die Sonderung der Gewalten.
i. Antike Zust&nde.
In der Bildung des gesetzgebenden Körpers hai der mo-
derne Btai eine viel höhere Stufe der Verrollkommnunj
reicht ak der antike. Den Grundgedanken; dasz bei der Ge-
setzgebung das ganze \ olk betheiligl sei und dasz in «lern ge-
setzgebenden Körper das Voll Bich darstelle, hai zwar
das Alteiilnmi Beben zum Bewnsztsein gebracht. A.ber dieses
machte vorerst noch den Versuch, das Volk selbe! als Btirger-
scliiit't eu versammeln und bo zu unmittelbarer politischer
Erscheinung und Thätigkeii zu bringen.
Verhältniszmäszig noch in roher Form waren die Volks-
versammlungen der Griechen. Auf der Pnyi «Hier in «lern
Theater zu Aihen kam eine irirre Menge von Bürgern zu-
Bammen, welche nach Köpfen gezähl! worden, und von denea
jeder reden durfte. Die alten römischen Comitien dag«
waren schon organisch nach Körperschaften und Classen ge-
gliedert und geordnet, und bewegten Bich nur unter der strengen
Leitung der hoben Magistrate. '
1 Aus diesem Grunde hielten die Römer auch die Centuriatoomitien
für höhei ah die Tributcomitien. Cicero de Legibut III. 19 : „Desoriptai
Erstes Capitel. Die Sonderung der Gewalten. 1. Antike Zustände. 455
Diese Einrichtung aber leidet immerhin an wesentlichen
Gebrechen, welche erst der modernen Repräsentativver-
fassung zu verbessern gelungen ist:
1. Ein unmittelbarer Zusammentritt der ganzen Bürger-
schaft ist in jedem State, dessen Gebiet die Grenzen eines
bloszen Gemeinde- oder Stadt wesens überschreitet, unmöglich.
Die Volksversammlung des gröszern States wird daher, wie
das zu Rom in den letzten Jahrhunderten der Republik ge-
schehen ist, zur Unwahrheit, und es erhält das Volk, be-
ziehungsweise der Pöbel der Hauptstadt und ihrer Umgebung
ein unverhältniszmäsziges Uebergcwicht.
2. Eine so grosze und immerhin sehr gemischte Versamm-
lung ist überdem ein sehr unbeholfener Körper, höchstens
geeignet, die allgemeine Stimmung kundzugeben, einer vorge-
schlagenen bekannten Richtung seinen Beilall zu äuszern oder
dieselbe durch sein .Misz fallen zu hemmen, aber durchaus un-
fähig, ein»' gründliche Berathung über Gesetzentwürfe zu
pflegen und die schwierigeres und verwickeiteren Probleme der
Politik zu lösen.
Nur in ganz kleineu Staten und unter der Voraussetzung
sehr einfacher Lebensverhältnisse kann demnach die Gesetz-
gebung einer Volksversammlung aberlassen werden.
Die objective, nach der innem Natur der statlichen
Functionen vollzogene S 0 n d e r u n g der Gewalten ferner ge-
hört wieder erst der neueren Statenbildung an. Die Unter-
scheidung derselben freilich rindet sich auch im Alterthum,
nicht aber ebenso die Vertheilung unter die Organe des Stats.
Aristoteles2 spricht von drei verschiedenen Functionen,
die sich in allen Verfassungen finden: 1) die berathende
über die gemeinen Angelegenheiten ; 2) die der Obrigkeiten
(äQx*0, ima" 3) die richterliche. Man sieht, seine Ein-
populus censu, ordinibus, aetatibus plus adliibet ad suffragium consilii,
quam fuse in tribus convocatus. u
2 Aristoteles, Polit. IV. 11,1. Herrmann griech. Statsalterth. §.53.
456 Fünftes Bucb. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
theilung ist ähnlich der modernen Ausscheidung der Gewalten.
Nur braucht er den Ausdruck „berathende" Function statt der
„gesetzgebenden" Gewalt, wohl im Hinblick darauf, dasz die
Gesetzgebung in Griechenland erst später von den Volksver-
sammlungen geübt und selbst da gewöhnlich nur mittelbar
geübt wurde, dagegen die Art und der Ausgang der Berath-
ung in der Volksversammlung auf die wichtigsten Dinge masz-
gebend wirkte. Was man in neuerer Zeit „vollziehende" Ge-
walt zu nennen pflegt, bezeichnet er richtiger durch die Hin-
weisung auf die Thätigkeit der obrigkeitlichen Aemter.
Aber die Volksversammlung zu Athen übte zugleich die
höchste berathende Function aus, faszte eine Menge von Be-
schlüssen in einzelnen wichtigen Fällen, die ihrer Natur nach
der Kegierungsthätigkeit angehören, und brachte selbst richter-
liche Functionen an sich. Die Archonten regierten, admini-
strirten und leiteten zugleich das Gericht.
Der römische Stat ist reicher an ausgebildeten und mit
einem bedeutenden Machtkreise ausgerüsteten Organen. In ihm
ist auch die auf die Gesetzgebung bezügliche Thätigkeit der
Volksversammlung bereits schärfer gesondert von den
Functionen der Magistrate. Diese aber verbinden ganz regel-
mäszig regierende und richterliche Befugnisse. Wer das
imperüim hat, der hat auch für den Umfang desselben die
jurisdicto.3 Zudem hat er priesterliche Functionen (die
Auspicien). Und endlieh übt er durch seine Edicte Be-
fugnisse aus, welche in solcher Ausdehnung als gesetzgeberische
bezeichnet werden müssen.
In dem spätem römischen Kaiserreiche kam eine neue
Ausscheidung auf. Die byzantinischen Kaiser freilich behielten
3 Cicero de Legibus III, 3 : „ Omnes magistratus ausjnciumjudiciumque
babento." Ulpianus in L. 2. D. de in jus vocando : „Magistratus, qui Im-
perium habent, qui coercere ali quem possunt, et jubere in carcerem duci."
Ulpianus L. I. pr. D. si quis jus dicenti: „Omnibus magistratibus . . .
secundum jus potestatis suae concessum est jurisdictionem suam defen-
dere poenali judicio."
Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 457
alle statliche Gewalt über das ganze Keich in ihrer Hand ver-
einigt; aber in den untergeordneten Stufen der Provincialre-
gierung und Beamtungen wurden die Ci vi Ist eilen von den
Militärstellen sorgfältig getrennt. Diese Trennung, welche
früherhin die Kücksicht auf die Unterthanen, auf welchen das
Uebermasz der in den Magistraturen vereinigten Befugnisse
schwer gelegen, nicht bewirkt hatte, ward nun um der Sicher-
heit des Thrones willen durchgeführt. In der That lag hierin
ein Fortschritt der statlichen Cultur und der bürgerlichen
Freiheit, welcher auch in dem modernen State Anerkennung fand.
Im Mittelalter traf die Aeuszerung der Statsgewalt auf
allen Seiten auf Schranken, die ihr entgegen standen. Aber
innerlich waren in ihr die verschiedensten Befugnisse geeinigt.
Nicht allein der König, auch jeder Graf hatte zugleich Civil-
und Militärgewalt, administrative und richterliche Befugnisse,
und auf den Dingen (Gerichtsversammlungen) wurde zugleich
der allgemeine Kechtssatz als Gesetz gewiesen und der ein-
zelne Streitfall beurtheilt.
Zweites Capitel.
IL Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
In der Ausscheidung der verschiedenen Functionen
des States und in der Zuweisung derselben an verschiedene
Organe desselben erkennen wir eine höhere Stufe der stat-
lichen Ausbildung, welche erst die reifere Menschheit erstiegen
hat. In dem organischen Körper, wie Gott denselben ge-
schaffen, sind ebenso die verschiedenen Thätigkeiten verschie-
denen Gliedern zugetheilt. Das Auge sieht, das Ohr hört, der
Mund spricht, die Hand greift und wirkt. Ebenso soll es in
dem Statskörper sein und auch da jedes Organ bestimmte
Functionen haben, für welche es gebildet und bestimmt ist.
458 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Der beliebte Ausdruck freilich : ,,T r e p nu n g der Gewalten"
miszleitet zu falschen Anwendungen eines richtigen Principe.
Die vollständige , .Trennung" der Gewalten wäre Auflösung der
Statseinheit und Zerre iszung des Statskörpers. Wie in dem
natürlichen Körper alle einzelnen Glieder unter sich wieder
verbunden sind, so musz auch im State der Zusammen-
hang der verschiedenen Organe nicht minder Borgsam gewahrt
bleiben. Der Stat fordert die S onderung and die Verbind-
ung, aber erträgt nicht die Trennung der (Gewalten.
Die gangbarste Unterscheidung der Statsgewalten — die
Franzosen haben den bessern Ausdruck pouvoir — ist seit
Monte so, d i eu die dreifache:
1) gesetzgebende Gewalt (pouvoir legisktif),
2) vollziehende Gewalt (pouvoir exäcutif),
3) richterliche Gewalt (pouvoir judiciaire).
Audi die Engländer haben dieselbe für ihre Theorie des
Statsreehts angenommen, und eine ganze Reihe moderner Ver-
fassungen hat dieselbe nach dem Vorgange der nordameri-
k n ii isch eii Preistaten Banctionirt Den genannten drei Ge-
walten haben einige, wohl innftchsi im Interesse der Statseinheii
4) eine vermittelnde Gewalt (pouvoir modlncteur,
royal) hinzugefügt, und ea ist dieser Gedanke Benjamin
Constants auch in die portugiesische Verfassung Don Pedro'a
Abergegangen. Andere haben der vollziehenden Gewalt ferner
5) die verwaltende (pouvoir ;nl m in ist rat ih,
6) die an fse he o «I e i potestas inspectrva) und
7) die repräsentative (pouvoir reprlsentatif) beige-
ordnet.
Bevor wir diese Bintheilung näher prüfen, [gj eine Irrige
Vorstellung, welche häufig auf die Behandlung dieser IV
grossen Einflnsz geübt hat, zu entfernen, die Vorstellung
nämlich von der Gleichstellung der verschiedenen Ge-
willten. Dieselbe widerspricht der organischen Natur des
States. In dem organischen Körper hat jedes Glied die ihm
Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 459
eigenthüinliche, aber keines mit dem andern gleiche Stellung.
Vielmehr ist das eine dem andern über- oder unter- oder zu-
geordnet. Nur so wird Zusammenhang und Einheit des
Ganzen erhalten. Dasselbe gilt vom Stat. Würden die obersten
Gewalten in diesem wirklich — nicht blosz der äuszern Form
uii'l dem Scheine nach wie in Nordamerika — sich gleichge-
stellt, so müszte solche Spaltung und Gleichstellung der höchsten
Stiiismacht den Stat selbst in ihren Consequenzen in Stücke
reiszen. „Man kann den Kopf nicht von dem Leibe trennen
urnl diesem gleichstellen, ohne das Leben des Menschen zu
tödten." !
Käst kindisch isl die Vorstellung von dem Verhältnis/ der
Statsgewalten zu nennen, «reiche in der gesetzgebenden Gewalt
lediglieh die Bestimmung der Regel, in der richterlichen die
Subsumtion des einzelnen Falles unter die Regel, in der
vollziehenden endlich die V o 1 1 s 1 rec k u n g dieses Urtheils sieht,
und so den Statsorganismus wie einen bloszen logischen Syl-
logismus betrachtet.2 Alle Functionen der verschiedenen Ge-
walten wären so in jedem »gerichtlichen Ürtheile vereinigt,
welches von allgemeinen Principien ausgeht, diese auf die vor-
gelegte Streitfrage anwendet, und endlich in Folge dessen das
Erkenntnisz zum Schlusz bringt. Die Regierung aber hätte
kaum eine andere Aufgabe, als die des Frohnboten oder der
Gendarmerie, welche das Qrtheil der Gerichte vollzieht.
Voraus ist es nöthig, die gesetzgebende Gewalt auf
der einen Seite allen übrigen Statsgewalten auf der andern
1 Meine Studien, S. J46.
2 Montesquieu XT, ß hat sich das Verhältnis doch anders ge-
dacht. Er nennt auch die richterliche Gewalt eine ,,puissance executrice
des choses, qui dependent da droit civil" und unterscheidet sie so ob-
jeetiv von der eigentlichen „puissance executrice des choses, qui de-
pendent da droit des gens." Nach ihm aber haben andere, unter ihnen
auch Kant (Rechtslehre, §. 45) und Spittler (Vorlesungen über Politik,
§. 15), jene wunderliche Meinung angenommen. Vgl. dagegen Stahl,
Lehre vom Stat II, §. 57.
460 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
gegenüber zu stellen. Alle andern Functionen gehören ein-
zelnen Organen des Statskörpers zu, die Gesetzgebung allein
dem ganzen Statskörper selbst. Die gesetzgebende Gewalt
bestimmt die Stats- und Rechtsordnung selbst, und ist
ihr höchster, das ganze Volk umfassender Ausdruck. Alle an-
dern Gewalten dagegen üben ihre Functionen innerhalb der
bestehenden Stats- und Rechtsordnung in einzelnen concreten
und wechselnden Fällen aus. Die Gesetzgebung ordnet die
dauernden Verhältnisse der Gesam in t li e i t. Die übrigen Ge-
walten äussern ihre Thätigkeit regelmäszig nur in einzel n e q,
nicht das ganze Volk betreffenden Richtungen. Erst wenn
die Befugnisse des gesetzgebenden Körpers bestimmt sind,
kann die Frage der Eintheilung der übrigen Gewalten zur
Lösung kommen.
Die gesetzgebende Gewalt hat demnach keineswegs blosz
allgemeine Rech tsregeln, die Gesetze im engern Sinne
festzustellen, obwohl diese Thätigkeil vorzugsweise ihr zugehört.
Auch die Begründung und Aenderung Btatlicher Insti-
tutionen, die Ausbildung des Statsorganismus in seinen
Gliedern and Verhältnissen Btehl ihr zu. Und wenn sie in den
Steuergesetzen allgemeine Ökonomische Anordnungen
trifft, und Anforderungen, nicht Rechtsregeln, bewilligt,
wenn sie sieh Rechenschaft geben Iftszl ober die Zustände
des Landes und den Statshaushalt , so sind auch diese Func-
tionen durch die Rucksichl auf die gesammte Statsordnung
gerechtfertigt, obwohl dieselben keine eigentliche Gesetze
betreffen.
Da das Ganze mehr ist als irgend ein Theil oder Glied
desselben, so versteht sich, das/ die gesetzgebende Gewalt
allen andern Einzeige walten übergeordnet ist.
Diese lassen sich für den modernen Stat füglich in vier
Gruppen theilen von wesentlich verschiedenem Charakter. Die
beiden wichtigsten und vorzugsweise obrigkeitlichen sind:
Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 461
I. die Regierungsgewalt, das Regiment; IL die rich-
terliche Gewalt, das Gericht.
I. Die Regierungs gewalt. Durchaus verfehlt ist die
leider sehr verbreitete Bezeichnung dafür: vollziehende
Gewalt, denn sie ist die unversiegliche Quelle einer Menge
von Irrthümern und Miszverständnissen der Theorie und von
Fehlern der Praxis. Durch dieselbe wird weder ihr inneres
Wesen noch ihre Beziehung zu der Gesetzgebung und dem
Gerichte, worauf sie doch vornehmlich Rücksicht zu nehmen
scheint, richtig ausgedrückt.
Man kann den eigenen Entschlusz und man kann den
Befehl oder Auftrag eines Andern vollziehen. Immer
aber ist das Vollziehen nur das S ecun d ä r e. Das P r im är e
liegt in dem Entschlusz oder Auftrag. Die Functionen der
Regierung sind aber ihrer Natur nach primär. Sie faszt Ent-
schlüsse und erläszt Beschlüsse, sie spricht ihren Willen aus,
sie gebietet oder verbietet, und in den meisten Fällen bedarf
es gar nicht des executiven Zwanges, um ihren Befehlen Folge
zu verschaffen. Es genügt regelmässig der blosze Ausspruch
derselben, damit sie Gehorsam finden und zur That werden.
Wo es aber der Nüthigung bedarf, da ist die Execution zwar
allerdings Sache und in der Macht der Regierungsgewalt, wird
aber, eben als das Secundäre, meistens nur von untergeord-
neten Behörden und Dienern derselben besorgt.
Aber auch wenn man an den Willen Anderer denkt, ist
die Bezeichnung der vollziehenden Gewalt unrichtig. Es ist
nicht wahr, dasz dieselbe jederzeit im einzelnen vollziehe,
was die gesetzgebende Gewalt im allgemeinen festge-
stellt hat. Ein Gesetz läszt sich in der Regel gar nicht
vollziehen, sondern nur beachten und anwenden, es wäre denn,
dasz man etwa die Verkündigung des Gesetzes schon für die
Vollziehung desselben hielte. Die Regeln, welche der Gesetz-
geber sanctionirt, die Grundsätze, die er ausspricht, werden
von der Regierung als rechtliche Normen und Schranken ihres
462 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und da9 Gesetz.
Verfahrens beachtet, aber innerhalb dieser Schranken faszt sie
selber mit Freiheit die ihr heilsam und zweckmässig scheinen-
den Beschlüsse. Von sich aus. nicht um ein Gesetz zu voll-
ziehen, unter- und verhandelt sie mit andern Staten, gibt Auf-
träge an ihre Unterbeamten, aber dieses oder jenes zu berichten,
trifft die erforderlichen M;i>/.regeln zum Schutz der Ordnung.
oder lüs/.t d.i> rar allgemeinen Wohlfahrt Geeignete vorkehren,
ernennt Beamte, verfügt aber das Heer. Noch weniger als
der Gesetzgebung gegenüber paszt die Bezeichnung der voll-
ziehenden Gewalt dem Gerichte gegenüber. Die Vollziehung
des Drtheila ist ihrem Wesen nach eine Sandlung der rich-
terlichen Gewalt >tdiist . denn diese besteht in der Hand-
habung <\r> Rechts und in der Herstellung der gestörten Rechts*
ordnung und nur soweit die richterliche Gewalt nicht hinreicht,
bedarf sie der Beihülfe der stärkeren Etegierungsmacht. Das
Verh<ni82 dieser so jener ist nicht das des Dieners, der i\m
\\ illen des Herrn vollstreckt.
Das Wesen der Regierungsgewalt liegt -"mit nicht Inder
Vollziehung, Bondern in der Macht, im einzelnen das
Rechte nnd Gemeinnfitzlicbe zu befehlen und an/n-
urdiifii, und in der Maeln, das Land und das V 0 1 k
vor einzelnen Gefahren nnd Angriffen zn Bchützen
und dasselbe in vertreten, und vor gemeinen [Jebeln
zu bewahren, sie besteht vornehmlich in dem was die
Griechen dQxW die Römer als impet tum, das deutsche Mittel-
alter als Mundschaft und Vogtei bezeichnet haben. Von
allen Btatiichen Einzelgewalten ist sie offenbar die am meisten
obrigkeitliche, die vorzugsweise herrschende, dem-
nach ohne Zweifel die oberste. Sie verhält sich zn den
.indem Emzelgewalfcen wie «las Haupt zn den Gliedern des Leibes.
Di«- Bogenannte Repräsentativgewalt aber ist in ihr inbegriffen,
3 Ari*totele8. Pol. IV., 12,3: „to yaq fauätttty < <>{i/.<mF nur iany*
Er erkennt in den in dem Befehle die Haupt igenschafl d«r obi
lieben Qewalt.
Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 463
Bezieht sich diese Gewalt auf die Leitung des States
im Groszen und Ganzen, so heiszen wir sie politische Re-
gierung (gouvernement politique) , bezieht sie sich auf das
Kleine und Einzelne, so heiszen wir sie Verwaltung (Ad-
ministration).
IL Die richterliche Gewalt wird sein* häufig als ur-
th eilen de Gewalt aufgefaszt, eine Verwechslung, welche der
französische Ausdruck pouvoir judicaire begünstigt. Das Wesen
der richterlichen Gewalt liegt aber nicht im Urtheilen, sondern
im Richten, oder wie die Römer das gesagt haben: nicht
in judicio, sondern in jure. Das ürtheilen in dem Sinne, das
Recht im einzelnen Falle zu erkennen und auszusprechen, ist
gar nicht nothwendig eine obrigkeitliche Function, noch die
Ausübung einer Btatlichen Gewalt oder .Macht. Zu Rom
waren es gewöhnlich Privatpersonen, welche als ürtheiler (ju-
dices) das Rechl aussprachen; im deutschen .Mittelalter hatten
die Schöffen, nicht die Richter, in neuere* Zeit haben oft die
Geschworenen aus dem Volke, nicht die Magistrate zu ürthei-
len. Das Sichten dagegen, d. h. die Gewährung des Rechts-
schutzes, und die Handhabung des Rechts gegen die Störungen
und Verletzungen der Rechte der [ndividuen und der gemeinen
Rechtsordnung ist von jeher als eine obrigkeitliche Tliätig-
keit angesehen, und daher überall richterlichen Magistraten
und Beamteten als eine statliche Gewalt zugetheilt worden.
Sie unterscheidet sich von der Regierungsgewalt wesentlich
dadurch, das/ sie nicht wie diese Herrschaft übt, sondern
lediglich das erkannte und anerkannte Recht schirmt
und anwendet. Sind die Functionen des Regiments denen
der geistigen Kräfte im Menschen vergleichbar, so sind die
Functionen des Gerichts von wesentlich moralischer Natur.
Eben deszhalb aber ist es ein groszer Fortschritt in der
richtigen Anordnung des Statsorganismus, dasz in dem mo-
dernen State die Ausscheidung der richterlichen Organe
und Befugnisse von denen der Regierung vollzogen worden ist,
464 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
im Gegensatz zu dem gesammten Alterthum und dem Mittel-
alter, welches immer die Regierungs- und die richterliche
Gewalt von den nämlichen Magistraten ausüben liesz. Die
Keinheit des Rechts und die wahre Freiheit der Bürger haben
durch dieselbe gewonnen, und die Macht der Regierung ver-
liert nicht, wenn sie vor Miszbrauch und Uebergriffen in die
Sphäre der Rechtspflege bewahrt wird.4 Wie verschieden die
beiderlei Gewalten sind, zeigt sich in der Erfahrung des Le-
bens auch darin, dasz nur selten ausgezeichnete Stats-
männer und Regierungsbeamtete auch gute Richter,
und umgekehrt selten tüchtige Richter auch gute Regierungs-
beamte waren.
Das Gericht als die weniger obrigkeitliche Gewalt steht
mit dem Regiment nicht auf einer Linie, sondern ist, obwohl
in der Hauptsache von diesem unabhängig, doch demselben
untergeordnet, ähnlich wie das Herz dem Kopf.
In gewissem Betracht scheinen durch die Anerkennung
dieses Gegensatzes die statlichen Einzelgewalten erschöpft zu
sein, und es wird begreiflich, wenn die neuern Verfassungen
gewöhnlich nicht darüber hinausgehen. Eine nähere Prüfung
aber läszt uns noch zwei andere Gruppen von einzelnen Orga-
nen und Functionen des States erkennen, die zwar beide den
4 In diesem Sinne darf man wohl an die Worte Washington^
erinnern, in seiner bewundernswürdigen Abschiedsadresse vom Jahre J 796 :
„Es ist wichtig, dasz die Männer, welche in einem freien Lande an der
öffentlichen Gewalt Theil haben, sich innerhalb der verfassungsmäszigen
Gränzen halten und nicht die einen in die Befugnisse der andern über-
greifen. Dieser Geist der Uebergriffe strebt darnach , alle Macht aus-
schliesslich in sich zu vereinigen, und folglich den Despotismus einzu-
führen, in welchem State immer er sich zeigt. Es genügt zu wissen,
wie sehr die Liebe zur Macht und die Neigung, dieselbe zu miszbrauchen,
dem menschlichen Herzen natürlich sind, um diese Wahrheiten zu fühlen.
Daher die Notwendigkeit, die öffentlichen Gewalten durch ihre Theilung
und Vertheilung unter mehrere Inhaber, welche dieses öffentliche Gut vor
den Eingriffen Anderer schützen, ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist
nicht minder nothwendig, die Gewalten in ihren Schranken zu
halten, als dieselben einzusetzen."
Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten, 465
höchsten des Kegiments nicht blosz untergeordnet, sondern
geradezu von ihr abhängig sind, die aber beide einen be-
sonderen Charakter haben, und sich von dem des eigentlichen
Regiments darin unterscheiden, dasz der herrschende und obrig-
keitliche Charakter, welcher das Wesen desselben ausmacht,
hier wiederum zurücktritt. Es sind das
III. die Aufsicht und Pflege der geistigen Cul-
turverhältnisse, die Statscultur, und
IV. die Verwaltung und Pflege der materiellen
Kräfte und Zustände, die Stats w i rtlisch aft.
In diesen beiden Gruppen handelt es sich nicht um das
Regieren. Die groszen Factoren der menschlichen Cultur, die
Religion, die Wissenschaft, die Kunst gehören überall nicht
dem Statsorganismus an, und können nicht von dem State
aus bestimmt und erfüllt werden. Das Verhältnisz der Stats-
gewalt auch zu den äuszerlichen Anstalten der Religion, der
Wissenschaft und Kunst, zu der Kirche und Schule, ist dem-
nach grundverschieden von dem Verhältnisz der Regierung
zu den Regierten in der Sphäre des eigentlichen Regiments.
Der Stat hat auch hier die gemeine Wohlfahrt zu fördern und
gemeinen Schaden abzuwenden, aber er ist sich bewuszt und
wird fortwährend daran erinnert, dass das Wesen dieser Dinge
nicht seiner Herrschaft unterworfen sei. Seine Functionen sind
daher hier nicht maszgebend, nicht Gebote noch Verbote, son-
dern wesentlich nur Aufsicht und Pflege.
Aehnlich verhält es sich mit der vierten Gruppe der
Wirthschaft. Das charakteristische Moment in der Ver-
waltung der Einkünfte und Ausgaben des States, der Finanzen,
in der Unterstützung des bürgerlichen Verkehrs und der öko-
nomischen Wohlfahrt der Bürger, in der Leitung der öffent-
lichen Arbeiten, in der Beaufsichtigung der Gemeinden ist
nicht Imperium noch Vogtei im strengen Sinne, sondern wie
für die Culturbeziehungen geistige Sorge so hier auf das Ma-
terielle gerichtete Pflege. Der specitisch obrigkeitliche
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 30
466 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Charakter kommt hier fast gar nicht, der weniger auf die
statliche Macht und das Kecht als auf technische Kenntnisz
und Erfahrung begründete Charakter der wirthschaftlichen Ver-
waltung überwiegend zur Sprache. In keiner andern Gruppe
nähern sich denn auch die Statsorgane so sehr dem Privat-
leben, als in dieser; das Statsvermögen selbst erscheint ge-
radezu im Verkehr einer Privatperson gleich. Unter allen
nimmt sie daher die unterste Stufe ein, eine Stellung, welche
mit ihrer Unentbehrlichkeit und ihrer groszen Ausdehnung bis
in die Bewegungen des täglichen Lebens und Verkehrs hinein
keineswegs im Widerspruch ist. Sie ist die breite Unterlage,
auf welcher der Stat ruht, wie das Regiment seine höchste
Spitze ist.
Die Erkenntnisz dieses Gegensatzes in den öffentlichen
Functionen reift erst in unserer Zeit allmählich heran. Noch
leiden wir an den Uebeln einer Vermischung der gebietenden
und der pflegenden Thätigkeit. Noch wird gelegentlich be-
fohlen oder verboten, wo nur verwaltet werden sollte, zuweilen
auch scheue Pflege geübt, wo die obrigkeitliche Energie durch-
greifen sollte. Aber es ist dock schon besser geworden, als
es vor 100 Jahren gewesen ist; und viele Institutionen der
Pflege sind bereits gesondert von dem eigentlichen Regiment
und werden ohne Gewaltübung in dem wohlthätigen Geiste
wissenschaftlicher und technischer Sorge verwaltet, der den
Cultur- und Wirthschaftsbedürfnissen des Volkes Befriedigung
verschafft und die Freiheit Aller respectirt.
Drittes Capitel.
Die Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung.
I. Die fränkischen Reichstage und II. das englische Parlament.
Der menschliche Geist arbeitete mehr als zweitausend
Jahre daran, bis es ihm gelang, von den noch rohen Formen
Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 467
der antiken Volksversammlungen zu der vollkommeneren Ge-
staltung des repräsentativen Körpers durchzudringen, und noch
jetzt ist die VollenduDg dieser Arbeit im einzelnen nicht erreicht.
I. Die alten Eeichstage der fränkischen Monarchie
stehen in manchen wichtigen Beziehungen wieder zurück hinter
den römischen Centuriatcomitien. Weder die Ordnung der
verschiedenen Classen und Stände, welche daran Theil haben,
ist so fest gesichert, noch die Berathung und Abstimmung so
ausgebildet, als bei den Römern. Und in der Hauptsache war
es doch nur die Aristokratie der geistlichen und weltlichen
Herren, auf deren Mitwirkung es wirklich ankam. Das übrige
Volk wurde nur selten um seine Zustimmung befragt. In der
Regel wurde ihm das Gesetz nur verkündet. '
Aber in einer und zwar in einer sehr erheblichen Rück-
sicht lag in der fränkischen Einrichtimg ein groszer Fort-
schritt. Die antiken Volksversammlungen bestanden aus den
Bürgern einer Stadt, die als Centrum des States betrachtet
wurde. Diese Reichstage aber ruhten auf einem über ein
weites Land verbreiteten herrschenden Volke, und es wurden
auf ihnen vornehmlich die Häuptlinge dieses Volkes, welche
hinwieder einen Anhang unter demselben und Macht über ein-
zelne Gegenden besaszen, zusammenberufen. Auf den groszen
Reichstagen des Frühjahrs verstärkten die Gefolge, welche mit
den Herren hergezogen waren, und die anwesende Menge der
einfachen freien Kriegsmänner das Ansehen und die Autorität
der Groszen. In der Aristokratie erblickte das Volk auch
seine Führer und Vertreter.
Um den König her und mit seinen Räthen zur Berathung
und Verhandlung trat so das Oberhaus der Herren (seniores)
zusammen ; in einem weiteren Kreise wurde zuweilen auch die
niedere Aristokratie der Mindern (minores) über ihre Zu-
stimmung vernommen, meistens aber muszte sich diese noch
begnügen anzuhören, was der König mit den Herren beschlossen.
1 Ygl. oben Buch IV, C. 17 die Stellen.
30*
468 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Erst in drittem Kreise vernahm das Volk der anwesenden
Freien die Beschlüsse seiner Häupter.
Ob auf die Form dieser Reichstage und das Vortreten der
Aristokratie auf denselben die alten gallischen Landtage2
und die frühere hohe Stellung der keltischen Druiden und
Ritter auf diesen einen Einflusz gehabt habe, ist schwer
zu bestimmen. In der Hauptsache ist wohl die Einrichtung
germanisch. Allenthalben in den deutschen Ländern sehen wir
in diesen und den folgenden Jahrhunderten das Ansehen der
Aristokratie — die schon in der ursprünglichen germanischen
Verfassung, wie Tacitus uns berichtet, eine sehr hervorragende
Stellung inne gehabt — im Wachsthume begriffen.
IL Frühzeitig gelangte das Repräsentativsystem aber zu
einer vollkommenem Gestaltung in England. Es läszt sich
daher schicklich die Darstellung der höheren Entwicklungs-
stufen an die Geschichte des englischen Parlaments an-
lehnen.
Das angelsächsische Witenagemot war unter den nor-
mannischen Königen — welche in der Normandie ebenfalls
ihre aristokratischen Hoftage zu halten gewohnt, und oft dazu
genöthigt gewesen waren — bis zu Anfang des XHL Jahr-
hunderts in die höhere Form eines mit groszen politischen
Rechten ausgestatteten „Groszen Raths" der Nation umge-
2 Die alljährlichen Versammlungen zu Arles, welche in der ersten
Hälfte des V. Jahrhunderts dem südlichen Gallien von der römischen
Regierung wieder verstattet wurden, und auf welchen die hohen welt-
lichen und geistlichen Beamten und Würdeträger (die honorati)
und die groszen Gutsherren (possessores) sich einfanden, sind um so
merkwürdiger, als sich auf denselben bereits die Richter aus entlegenen
Gegenden, die verhindert waren, persönlich zu erscheinen, durch Ab-
geordnete (legati) vertreten hissen durften. Const. Honorii et Theo-
dosii a. 413: „Illustris magnificentia tua id per septem provincias in per-
petuum faciet custodiri, ut ab Idibus Augusti in Idus Septembris in Are-
latensi urbi noverint honorati, possessores vel jndices singularum provin-
ciarum annis singulis concilium esse servandum." Der Präfecf leitet die
Versammlung, welche über die Interessen der Provinzen und 8tädte be-
rathschlngt.
Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 469
bildet worden. Dieser grosze Kath beruhte aber damals noch
ganz auf dem Lehenssystem. Die Heerschau der Yasallen und
Hoffeste waren damit verbunden. Nach der Magna Charta Jo-
hanns II. von 1215 waren zu demselben berechtigt und ver-
pflichtet, alle unmittelbaren Yasallen des Königs.
Die Groszeii: Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, Grafen, und die
groszen Barone sollte der König durch persönliche Briefe
einzeln einladen, die übrigen königlichen Yasallen dagegen
insgesammt durch seine Yizgrafen und Vögte.3
Während des XIII. Jahrhunderts wurde das Parlament in
Folge der Kämpfe des Adels mit König Heinrich III. be-
deutend erweitert, auch von dem engen Zusammenhang mit
der Lehensverfassung abgelöst, und so zu einer wahrhaft na-
tionalen Institution erhoben. Die Hauptmomente für die Aus-
bildung des englischen Parlaments sind:
1. Auszer den geistlichen Fürsten wurde auch — ins-
besondere wenn kirchliche Verhältnisse auf dem Parlament zur
Verhandlung kamen — dem nie dem Klerus eine Vertret-
ung gestattet, und zwar so, dasz derselbe in jedem Decanat
oder Archidiaconat zwei bevollmächtigte Vertreter er-
wählen und zum Parlament abordnen durfte.4 Die Geistlich-
keit war somit als Stand vertreten, und kam anfangs auch
öfter als ein für sich bestehender Theil des Parlaments ge-
3 Magna Charta Joh. II.: „Et ad habendum commune consüium regni
de auxilio assidendo — submoneri faciemus Archiepiscopos, Episcopos,
Abbates, Comites et majores barones singillatim per litteras nostras. Et
preterea faciemus submoneri in generali pervicecomites et ballivos nostros
omnes illos, qui de nobis tenent in capite."
4 Der alte Modus tenendi parliamentum, abgedruckt bei Unger,
Geschichte der Landstände I, S. 289 aus d' Acherg spicileg. III, S. 394,
ist freilich lange nicht so alt, als er sich selber ausgibt, auch sicher
nicht aus dem XII. Jahrhundert, wie manche meinen, aber wahrschein-
lich doch aus dem Ende des XIII. Jahrhunderts, und immerhin als Dar-
stellung des alten Parlaments höchst interessant. Das erste Capitel han-
delt von den geistlichen Mitgliedern. Ygl. auch das Einberufungsschreiben
Eduard I., von J295 bei Guizot, Essai u. s. f., S. 332.
470 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
trennt von den andern zusammen. Später aber wurde es feste
Sitte, dasz die geistlichen Herren mit den weltlichen
Herren zusammen Ein Haus der Lords bildeten, und es
kam auch die Abzahlung der Stimmen in diesem Hause ohne
Rücksicht auf die Verschiedenheit des Standes und der Per-
sonen auf.8
2. Anfänglich waren die Grafen und groszen Barone mit
den übrigen Reichsrittern in Einer Versammlung. Indessen
mochten schon in älterer Zeit die persönlich geladenen
Herren (die majores, barones, primae diguitatis) als die mäch-
tigeren und vornehmeren Baronie — der Modus tenendi pädia*
mentum fordert von einer groszen Baronie mindestens dreizehn
Rittergüter — in derselben eine höhere Autorität besessen
haben , und auch wohl oft allein befragt worden sein. Das
Privy Council bildet den Kern dieser höheren Aristokratie,
in welchem die Träger der obersten Reichsämter am Hofe und
in Kirche, Heer, Gericht and Finanz znsammengefaszt wurde/'
Während des XIII. Jahrhunderte tritt die Unterscheidung der
hohen Aristokratie und der Ritterschaft immer bestimmter
hervor.
3. Damit stand die Erweiterung der Ritterschaft
in Verbindung. In den Grafschaften gab es neben den unmit-
telbaren Vasallen des Königs noch viele andere, oft noch reichere
Vasallen der Fürsten, Grafen und Herren, welche mit den
Reichsrittern an demRathe und der Verwaltung der Grafschaft
Theil hatten. Man fing nun an nicht mehr wie früher die un-
mittelbaren mindern Vasallen in Masse zum Parlament EU
rufen, sondern, da ohnehin nicht alle kamen, noch die An-
wesenheit einer so groszen Zahl wünschenswerth schien, eine
geordnete Abordnung der Ritterschaft zu veranstalten.
Aus jeder Grafschaft sollten zwei Ritter für sieb und für die
übrigen erscheinen. Von da an war es nun natürlich', dasz an
1 Ygl. darüber Blnckstonc, I. 2, 2.
« Gneis t, Engl. Verf. II, 914.
Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 471
den Grafschaftswahlen auch die andern bei den Steuern und
übrigen Landesinteressen nicht minder betheiligten freien
Lehens träger Theil nahmen und erhielten. Durch diese
Veränderung, welche seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts
aufkam, wurde eine auf Wahl beruhende Bepräsentation
der angesehenen freien Grundbesitzer zu einem eigen-
thümlichen Bestandteile des Parlaments erhoben.7 Der Cha-
rakter einer Vertretung des freien Grundbesitzes er-
hielt sich in der Folge nicht blosz, sondern wurde durch die
Zulassung aller Freisaszen zum Stimmrecht, welche von Frei-
gütern ein regelmäsziges jährliches Einkommen haben, anfangs
von 40 Schillingen, später von 40 Pfund, seit der Eoformacte
von 1832 selbst der Besitzer von Frei- oder Meyergütern mit
einem Einkommen von 10 Pfund und der gröszern Zeitpächter
bedeutend erweitert. 8
4. Ein ganz neues Element kam nun durch die Ver-
tretung der Städte und der Burgen hinzu. Zuerst berief
der Graf Simon von Mo nt fort im Namen des gefangenen
König Heinrichs III. im Jahr 1260 Abgeordnete einer Anzahl
von Städten und Burgen zum Parlament, in ihnen eine Ver-
stärkung suchend seiner Macht. 9 Früher war wohl etwa von
den Königen mit einzelnen Städten unterhandelt worden, wenn
von denselben Beisteuern verlangt wurden. Für London war
diesz in der Magna Charta von 1215 ausdrücklich vorgesehen.
Aber nun zuerst wurde eine Versammlung der Abgeord-
neten des Bürger Standes veranstaltet. Unter Eduard I.
(1271—1307) befestigte sich die Einrichtung.
7 Ausschreiben Heinrichs III. von 1254. Die Sheriffs sollen er-
wählen lassen in jeder Grafschaft: „duos legaliores et discretiores milites,
vice omnium et singulorum." Modus ten. pari. c. 4: „eligi facerent qui-
libet de suo comitatu per ipsum comitatum duos milites idoneos et ho-
nestos et peritos."
8 Blacks tone I. 2, 5. R. Pauli, Bilder aus Altengland. 1861.
S. 79.
9 Ausschreiben von 1264: „quod mittant duos de discretioribus , le-
galioribus et probioribus tarn civibus quam burgensibus suis."
472 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
In den ersten Zeiten wurden die Abgeordneten der fünf
Seehäfen — anfangs Barone, nicht Bürger — sodann der
Städte (cives), endlich der Burgen (burgenses) unterschieden.
Den untersten Kang nahmen die Burgleute ein, der Reichthum
und das Ansehen der Städte gab den Städtern einen höhern
Werth. lu Später vereinigten sie sich zu Einem — dem dritten
oder Bürgerstande, dessen Bedeutung fortwährend zunahm,
und der ganzen Haltung des Parlaments einen neuen Charakter
gab. Der alten mächtigen Erbaristokratie waren so zwei neue
durch demokratische Wahl bezeichnete Bestandteile — ein
ritterschaftliches und ein repräsentativ -bürgerliches zur Seite
getreten.
5. Diese neue Phase der Entwicklung erlangte durch die
Bildung des Unterhauses eine feste Gestalt. Eine Zeitlang
schwankte die Stellung der Bitterschaft zwischen dem Anschlusz
an die Barone, besonderen Versammlungen und der Vereinig-
ung mit den Bürgern. Während der Regierang Eduards 111.
(1327 — lo77) wurde dk letztere zu bleibender Kegel, und
dein Hause der Herrn (Lords) reihte sich nun die Versamm-
lung der Gemeinen (Commoners) als Unterhaus an: ,,les
communaltes des ditz Countetz, Cites, Burghs et antra lieux
du roiaume," wie es in einem Statut von 1335 heiszt. Es
scheint, dasz die Vertretung der niederen Geistlichkeit später
auszer Hebung kam. Dagegen wurden seit 1299 auch Abge-
ordnete der Universitäten Oxford und Cambridge herbeigezogen.
Diese Theilung des Parlaments, an dessen Spitze der Konig
stand, in zwei Häuser, welche in gewissem Sinne die hoch-
aristokratischen und die allgemeinen niederaristokratischen und
demokratischen Interessen vertraten, und insbesondere die Ver-
bindung der Kitterschaft und der Bürger, von Land und Stadt
— beiderlei Abgeordnete hatten ihre Vollmacht den Volks-
wahlen zu verdanken — zeichnet die englische Einrichtung
aus, und wurde das Vorbild des spätem Zweikammersystems.
10 Genaue Bestimmungen darüber in dem Modus ten. purl.
rittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 473
6. Es dauerte eine Weile, bis das Princip der S tatsei n-
heit, im Gegensatze zu der Sonderstellung und den Son-
de rinteressen der einzelnen Stände, das ganze Parlament
durchdrang. Indessen auch dieser grosze Fortschritt wurde in
England schon zu Ende des XIII. Jahrhunderts gemacht. Schon
der modus tenendi parliamentum spricht den Gedanken be-
stimmt aus, und obwohl damals noch sechs Stufen des Parla-
ments (König, geistliche Herren und Abgeordnete des niedern
Klerus, weltliche Herren, Ritter, Städter und Burgleute) unter-
schieden wurden, berichtet derselbe doch von einer eigenthüm-
lichen Manier zur Einheit zu gelangen. In schwierigen Fällen
nämlich, wo die Meinungen auseinandergehen, können mit Be-
willigung des Parlaments die drei Hofbeamten einen Ausschusz
von XXV erwählen aus allen Ständen, nämlich a) 2 Bischöfe
und 3 Abgeordnete des Klerus, b) 2 Grafen und 3 Barone,
c) 5 Grafschaftsritter, d) 5 Städtebürger, e) 5 Burgmänner.
Diese XXV können sich selbst durch Wahl auf XII, diese
hinwieder auf VI, und die auf III vermindern, mit des Königs
Erlaubnisz können sogar die III auf Einen abstellen, und was
so in dem Falle der Ausschusz verordnet, das gilt wie wenn
das ganze Parlament es verordnet hätte.11
7. Das Haus der Lords erhielt noch mehr den Charak-
ter einer persönlichen hohen Aristokratie, seitdem die
Stellen der Lords abgelöst wurden von dem Zusammenhang
mit bestimmten Herrschaften, und lediglich nach der Familien-
erbfolge übergingen, während auf dem Continent die Würde
eines parlamentarischen Standesherrn durch den engen Verband
mit eigener Herrschaft desselben alterirt wurde. Durch die
Reformation und Aufhebung der Klöster im XVI. Jahrhunderte
verminderte sich die Zahl der geistlichen Herren bedeutend.
Die weltlichen dagegen wurden von Zeit zu Zeit durch könig-
liche Ernennungen erfrischt und für Rechtssachen regelmäszig
durch den Zuzug der Xn Ober rieht er vermehrt.
11 Mod. ten. pari. c. 9.
474 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Nachdem Schottland (1707) und Irland (1800) mit Eng-
land vereinigt wurden, kamen 16 von dem schottischen
Adel erwählte Pairs und 4 Geistliche, und 28 weltliche irische
hinzu.
Die grosze Mehrheit des Hauses (über vier Fünftheile)
besteht somit aus Erbadel, aber er wird ergänzt durch geist-
lichen und weltlichen Amtsadel und durch gewählte Pairs.
Dieser Adel ist nicht mehr wie vordem ein Prälaten- und krie-
gerischer Herrenstand, sondern die erbliche vornehmste Classe
der Gentry.
7. Das Ansehen und die Macht des Unterhauses stieg
besonders seit der Reformation und besonders seit den groszen
Eevolutionsstürmen des XVII. Jahrhunderts, und den Kämpfen
mit den Königen aus dem Hause Stuart um bürgerliche Freiheit.
Allmählich ging der Schwerpunkt von dem Ober- auf das Unter-
haus über. Die heftigen confessionellen Streitigkeiten des
XVI. und XVII. Jahrhunderte aber hatten eine Beschränkung
der Theilnahme an dem Parlament auf die Anhänger der pro-
testantischen Confession cur Folge. Brat im Jahre 1829 wurden
auch die römisch-katholischen ünterthanen — die Priester aus-
genommen — wieder für berechtigt erklärt, als Pairs oder als
Gemeine in das Parlament aufgenommen zu werden. M
Von hoher Bedeutung aber für die Zusammensetzung des
Unterhauses war die Eteformacte von 1832. ,a Seitdem die
Städte und Burgen zuerst bezeichnet worden waren, welche
Vertreter in das Parlament zu senden hätten, hatten sich die
Verhältnisse sehr rerändert. Eine grosze Zahl insbesondere
von Burgflecken war gesunken, und in völlige Abhängigkeit
von der hohen Aristokratie gerathen, die ohnehin in dem Ober-
hause hinreichend bedachl war. Einzelne Städte hatten umge-
kehrt gegen früher an Bevölkerung und Reichthum sehr zu-
12 Die Acte ist im Original und in deutscher Ucbersctzung abge-
druckt bei Schubert, Verfassungsurkunden, I. Bd., S. L93«
13 Ebenda, 8. 224.
Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 475
genommen, andere waren neu entstanden und zu groszem An-
sehen gelangt, ohne eine Vertretung im Parlament zu haben.
Einige Grafschaften waren im Verhältnisz zu andern viel be-
deutender geworden. Die Eeformbill hatte nun die Absicht,
die ^Repräsentation im Unterhause den veränderten Verhält-
nissen anzupassen, und zugleich das Stimmrecht der Wähler
in den Grafschaften, Städten und Burgflecken angemessen aus-
zudehnen. ll
Viertes Capitel.
III. Ständische Entwicklung in andern Staten.
Auf dem europäischen Continent zeigen sich ganz ähn-
liche Bestrebungen und Versuche zur Ausbildung eines stän-
14 Folgender Ueberblick über die Bildung des englischen Parlaments
nach der Reformbill in unserer Zeit mag hier beigefügt werden:
I. Oberhaus: II. Unterhaus:
Prinzen vom königlichen A. England:
Geblüte 3 ^ ^on (len ^ Grafschaften 143
2. Von Städten u. Burgflecken 324
Herzöge 2G 3> yon Universitäten . . . 4__
Marquesses 31 (33)* 471
« „ B. Wales:
Grafen 147 -(16« liVonl2 Grafschaften. . 15
Viscounts 26 (32) 2. Von Burgen 14
Barone 132 (147) 29
C. Schottland:
Erzbischöfe ) der engl. 3 L yon 80 Grafschaften . . 30
Bischöfe j Kirche 27 2. Von Städten und Burgen 23
Schott, gewählte Peers 16 53
D. Irland:
Irländische repräsentir. lt Von 39 Grafschaften . . 64
Peers 28 2. Von Städten und Flecken 39
Mitglieder 439 3. Universität Dublin . . 2
TÖ5
658
* Die schottischen und irischen sind hier mitgezählt.
476 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
diseh-repräsentativen Systems wie in England. Aber überall
wurde vornehmlich seit der Einführung stehender Heere und
in Folge der groszen und zahlreichen Kriege, welche Europa
zerfleischten, der Zusammenhang der Entwicklung unterbrochen,
bevor dieselbe zu einer nationalen Gestalt durchgedrungen war.
1. Am frühesten und zugleich in grosser Ausdehnung
finden wir eine Erweiterung der standischen Theilnahme in der
pyrenäischen Halbinsel. Das Königreich Aragonien war in
der That eine Republik mit einem Könige an der Spitze.
Nicht blosz der Adel, der meistens von germanischem Ge-
blüte das Land den Saracenen mit dem Schwerte wieder ent-
rissen hatte, und die Geistlickei t, deren Einflusz durch die
Kämpfe der Christen mit den Muselmännern an Bedeutung
steigen muszte, sondern schon zu Anfang des XII. Jahrhun-
derts scheinen auch die Städte, in denen die romanisch-
christliche Bevölkerung das Uebergewieht hatte, in der Ver-
sammlung der Cortes vertreten zu sein. Die Macht der Cortes
gilt höher als die des Königs. Berühmt ist die alt-herge-
brachte Huldigungsfunncl der Stände \<m Aragon, welche das
bezeugt: „Wir die wir so fiel gelten als ihr, und die wir
mehr vermögen als ihr, wir erheben euch zu unserni König,
Herr, unter der Bedingung, dasz ihr unsere Rechte wahret,
wo nicht, nicht."1 Ein einziges Mitglied der Stände, welches
die Einstimmigkeit verhinderte, war schon mächtig genug, die
Durchsetzung der königlichen Vorschläge zu hemmen, Zwischen
den Fürsten und den Cortes richtete, wenn es zum Streite kam,
der von dem Könige unabhängige und nur den vereinigten
übrigen Statsgewalten hinwieder verantwortliche Q-roszrichtei,
Justitia. Die Statseinheit aber war durch diese innern Gegen-
sätze zerspalten.
In Castilien erschienen schon 1169 städtische Abge-
1 Nos que valemos tantöt como vos, y que podemoa Dias que vos,
03 azemos nuestro Rey, senor, con tal que guardeis nuestros fueros ; bi
no, no.
Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 477
ordnete auf den Cortes von Burgos, im Jahre 1188 finden wir
47 Städte, 1315 90 Städte repräsentirt. Das XY. Jahrhundert
war auch in Castilien das Zeitalter der ständischen Macht. Die
städtischen Procuradores hatten sogar das Uebergewicht erlangt
über Klerus und Adel. Dann aber brachte die Eifersucht der
angesehensten Städte, Burgos und Toledo und die Kämpfe der
Geschlechter unter sich und mit der gemeinen Bürgerschaft
die Gesammtmacht der Städte ins Schwanken und an den
inneren Zwiespalt scheiterte die Erhebung der Städte gegen
Karl V. (1520.)
Gegen Ende des XVI. Jahrhunderts unternahm es Phi-
lip]) IL von Spanien, die Macht der Cortes zu brechen, und
obwohl auch er noch die Formen schonte, verfiel doch die
mittelalterliche Selbständigkeit der Stände, und die absolute
Monarchie errichtete auf den Ruinen der bürgerlichen Freiheit
und des bürgerlichen Wohlstandes ihren Thron, dessen Um-
sturz unser Jahrhundert gesehen hat.2
In Portugal nahmen an dem Reichstage, welchen der
auf dem Schlachtfelde zum König von Portugal erhobene und
von dem Papste bestätigte Alfonso I. im Jahr 1143 zu La-
mego versammelt hatte und welcher für das neue Königreich
Grundgesetze gab, neben Erzbischöfen und Bischöfen und an-
dern Edeln auch „Procuratoren" für eine Reihe von portu-
giesischen Städten Antheil.:< Der König liesz sich nochmals
von dem Reichstage als König bestätigen. Als das geschehen
war, sprach er, das blosze Schwert in der Hand: ,,Mit diesem
Schwerte habe ich euch befreit und eure Feinde geschlagen,
und ihr habt mich zu eurem Könige und Genossen gemacht.
Da ihr aber mich dazu gemacht habt, so laszt uns nun Gesetze
2 Ygl. Ranke: Fürsten und Völker von Südeuropa I, S. 252 ff.
3 Leges Lamecenses, abgedruckt bei Schubert, Verf. II, S. 127:
„procurantes bonani prolem per suas civifcates, per Colimbriam, per Vi-
ramanes, per Lamecum" u. s. f.
478 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
geben, durch welche unser Land in Frieden sei." Sie alle sagten :
„Wir wollen es, Herr König." Da rief der König alsbald die
Bischöfe, die Männer von Adel und die Procuratoren (die Vertreter
der Städte) auf, und sie sprachen unter einander : „Laszt uns vor-
erst Gesetze machen über die Erbfolge im Königreich," und
sie machten die nachfolgenden. Mehrere Jahrhunderte lang
erhielt sich in Portugal eine freie Verfassung, bis auch ihr erst die
erhöhte kriegerische Macht und der Reichthum der Könige ge-
fährlich und sodann ihre Herrschsucht verderblich wurde.
Doch wurde sie gleichzeitig mit der Erhebung des Hauses
Braganza auf den Thron (1641) im wesentlichen erneuert,
und es nahmen „die drei Stände, das heiszt der Klerus,
der Adel und das Volk des Königreichs" das Recht in
Anspruch ,, einem t3rrannischen König den Gehorsam zu ver-
weigern, einen neuen König anzuerkennen und mit diesem die
rechtmäszige Thronfolge zu bestimmen." Das achtzehnte Jahr-
hundert liesz aber auch hier das ständische System untergehen.
Schon 1643 war ein „Ausschusz der drei Stände" (Junta dos
tres Estados) errichtet worden, mit welchem die Regierung
lieber verkehrte als mit den Ständen selbst. Die Cortes wur-
den in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts nur selten,
im XVIII. Jahrhunderte gar nicht mehr berufen. Erst unsere
Zeit hat die Wiederbelebung dieses Instituts in neuer Form
und mit mancherlei Schwankungen erfahren.4
2. In dem mittlem Europa kommt, wie in England, eine
Vertretung der Städte, beziehungsweise des Bürgerstan-
des erst während des XIII. Jahrhunderts in Aufnahme. Zwar
berichtet uns eine alte normannische Chronik, dasz Wilhelm
der Eroberer, als er für seine Ansprüche auf England sich
zum Kriege vorbereitete, auch die „Notabein der normanni-
schen Städte" (gens notables des bonnes villes de Northmandie)
neben den „Baronen" zu einem' Reichstage berufen und mit
* Vgl. Schubert. Verfassungen II, S. 136 ff.
Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 479
demselben Gesetze und Verordnungen gemacht habe.5 Allein
dieser Bericht ist offenbar durch die Anschauungsweise einer
spätem Zeit entstellt worden und die altern Erzählungen re-
den nur von dem Adel.
Vor dem XIII. Jahrhundert sind die Bürger der Städte
noch unter der Menge des „Umstand es" verborgen, noch
ein nicht ausgeschiedener Theil der ungeordneten Volks-
menge, oder wenn etwa auch die Städte berücksichtigt wur-
den, so wurden dieselben noch durch ihre Stadtherren und
Vögte, wie audere Herrschaften vertreten.6
Dagegen wurden von den französischen Königen in
den Jahren 1227, 1240, 1245, 1256 u.s. f. Bürger der „guten
Städte" zur Berathung wichtiger Dinge und in der Absicht,
die Unterstützung der Städte zu gewinnen, zugezogen. Unter
Philipp dem Schönen wurden zuerst 1302 7 die drei Stände
(Geistlichkeit, Adel, Bürger) zu einem allgemeinen
Keichstage zusammenberufen, da der König in seinen Streitig-
keiten mit dem Papste Bonifacius VIII. der Zustimmung und
Hülfe der Nation sich versichern wollte: und unter Ludwig X.
(1314—1316) galt es bereits als eiu fester Eechtssatz, dasz
ohne die Zustimmung der drei Stände keine Steuern erhoben
werden dürfen. Ja in der Mitte des XIV. Jahrhunderts hatten
die Stände sogar die Regierung in ihre Gewalt gebracht
und unter den Ständen der dritte das Uebergewicht erlangt,
bis die demokratische Bewegung zum äuszersten fortschreitend
die Gewalt in die Arme des Pöbels verlegte und dann in dem
5 Abgedrukt bei Bouquet, Scriptores rer. Gall. XIII, S. 221. Ygl.
Unger, Gesch. der Landstände I, S. 226, 277.
6 Es gilt das auch von den Hof tagen der mächtigeren deutschen
Fürsten, welche aus den früheren Landtagen der Stämme, den placita
provincialia durch Einwirkung des Lehens wesens entstanden waren, auf
welchen nach dem Schwabenspiegel (Wackernagel, c. 118) die Für-
sten, Grafen, Freien (Herren) und Dienstleute erscheinen müssen,
„die bürge und stete (Burgen und Städte) in ir lande hant."
7 Auch in der Bretagne erscheint der dritte Stand zuerst im
Jahr 1309 auf dem Landtage zu Ploermel. Schaffner II, S. 171.
480 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
eigenen Uebermasz unterging. Die Eeaction erhöhte die kö-
nigliche Macht, und eine Zeitlang (1383 — 1412) vermied man
die Keichsstände zu berufen. Doch kamen dieselben seit der
Eeform von 1413 wieder öfter zusammen und auch im XVI. Jahr-
hundert noch; obwohl seit Ludwig XI. das Sj^stem der ab-
soluten Monarchie in Frankreich wuchernd um sich griff, fin-
den sich einzelne Versammlungen der Generalstände (etats
generaux), z. B. 1560, 1576, 1588, 1593. Seit Ludwig XIV.
(1643 — 1715) scheinen dieselben in völliger Vergessenheit be-
graben, bis zu Ende des XVIII. Jahrhunderts der Sturm der
Revolution sie wieder an das Tageslicht brachte.8
Diese Stände galten zunächst als Vertreter ihrer beson-
deren corporativen Interessen. Jeder Stand stimmte für
sich, und die einzelnen Abgeordneten der Städte erhielten so-
gar Instructionen von ihren Auftraggebern. Zu voller nationaler
Ausbildung gelangte das Institut nicht, so wenig als zu einem
dauernden und wohlgeregelten Leben.
3. Ebenso geht die Ausbildung der landständischen
Verfassung in den deutschen Territorien während des XIII.
und vorzüglich im XIV. Jahrhunderte vor sich.0 Die Ver-
tretung der Städte auf den deutschen Eeichstagen
fängt seit dem Könige Rudolph von Habsburg (1272— 1291)
an, regelmäszig zu werden. Aber so wenig das Collegium der
Kurfürsten oder das der Fürsten und Herren zu einem Ober-
haus wurde, so wenig wurden die Bänke der Städte zu einem
Unterhaus. Der Gesichtspunkt, dnsz dort und hier in der
Hauptsache selbständige Fürstenthüm er und Eepubli-
ken durch ihre Häupter, nicht aber die verschiedenen Be-
standteile des Volkes vertreten seien, und dasz die Landes-
und Stadtherrn auf den Eeichstagen voraus ihre Selbständigkeit
8 Schaffner, franz. Rechtsgesch. II, S. 27G ff. Rathqry , histoire
des etats generaux. Paris 1845.
9 Vgl. den Artikel Landstände von K. Maurer im Deutsehen Stats-
wörterbuch.
Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 481
gegen den Kaiser und ihre Herrschaft über die Territorien zu
wahren berufen seien , war vorherrschend und hinderte eine
nationale parlamentarische Entwicklung.
Innerhalb der einzelnen deutschen Länder aber kam es
fast überall zu einer landständischen Verfassung. An diesen
Landständen hatten wieder die drei Stände Theil, die an-
fangs als gesonderte Stände berufen wurden, im Verfolg aber
zu Einer gemeinsamen Landschaft, zu dem eigentlichen
Landtag verbunden wurden:
a) Die Prälaten im Lande, Bischöfe und Aebte, welche
früher wohl versucht hatten sich von den Hoftagen der Lan-
desfürsten zurückzuziehen, und ihre Immunitätsrechte zu eige-
ner voller Herrschaft auszudehnen, fanden es seit der Mitte
des XIV. Jahrhunderts gewöhnlich in ihrem Interesse, als
erster Stand an den Versammlungen der Landstände Theil zu
nehmen. lü
b) Der Adel. In manchen gröszern Ländern, vorzüglich
in Oester reich, Böhmen, Kursachsen wurde der H e r r e n-
stand der Fürsten, Grafen und Herren unterschieden von der
mittelfreien Ritterschaft, in Sachsen sogar äh nlich wie in Eng-
land die meisten reichsunmittelbaren weltlichen Herren mit den
Prälaten und die Ritter mit den Abgeordneten der Städte ver-
bunden. In vielen andern Ländern aber wurden die gewöhn-
lich wenig zahlreichen Glieder des hohen Adels mit der übrigen
im Lande begüterten Ritterschaft oder Mannschaft,
unter welcher auch die Dienstleute, insofern sie Lehens-
güter besaszen, begriffen wurden, zu einem Stande verbunden.11
So in Bayern, Schlesien, Braunschweig, Branden-
burg, Thüringen, Pommern u. s. f. Diese Ritterschaft
war übrigens ein sehr zahlreicher Körper, indem dieselbe ge-
wöhnlich nicht blosz Ausschüsse der Ritter, sondern alle mit
Rittergütern versehenen Vasallen des Landes und die begüter-
10 Unger, Geschichte der Landst. I, S. 210. II, S. 34 ff.
" Unger, II. S. 44 und 66.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 31
482 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
ten Ministerialien umfaszte. Im Tyrol hatten sogar alle Mit-
glieder des Adels im weiteren Sinne ein Kecht auf persönliche
Landstandschaft, auch wenn sie keine Grundherrschaft besaszen.
c) Die Städte erwarben gewöhnlich während des XIV. Jahr-
hunderts landständische Kechte. Nur in wenigen deutschen
Ländern reichen die Anfänge dieser Erscheinung noch in das
XIII. Jahrhundert hinauf. Dahin gehört voraus Böhmen,
dessen Cultur überhaupt eine Zeitlang der im eigentlichen
Deutschland vorhergeht, wo schon im Jahre 1281 die Städte
an dem Landtage theilnehmen, obwohl sie auch später noch
über die Anerkennung dieses Rechtes Streit mit dem Adel
führen. In Bayern kommen die Vertreter der Städte im
Jahr 1307 mit den Prälaten und den Rittern zusammen, um
der Münzverschlechterung zu steuern und für die erforderliche
Geldhülfe zu sorgen, ,2 und werden die Städte und Märkte in
den Zeiten König Ludwigs 1315 den „Landsherren und
Dienstleuten" zur Seite gestellt:15 sie erscheinen als eine
kräftige Stütze der Fürsten auch dem Adel gegenüber. In
Brandenburg sehen wir die Städte seit 1308 als eine po-
litische Macht im State geeinigt, und mit den Fürsten ver-
handeln.14 In dem Fürstenthum Lüneburg wird schon 1356
ein herzoglicher Rath aus Prälaten , Ritterschaft und Städten
bestellt, dessen Dasein die Existenz gemeinsamer Landstände
voraussetzt.15 Die Vertretung der Städte auf den Landtagen
wird so zur Regel. Aber gewöhnlich werden ihre Abgeord-
neten nicht von der Bürgerschaft gewählt, sondern noch von
den Räthen der Städte bezeichnet und ermächtigt, oder es
nehmen von Amtswegen die Bürgermeister an dem Landtage Theil.
Auch für Deutschland war dieses Element von groszer
Wichtigkeit. Die Einheit des States und die Interessen der
18 Rudhart, Geschichte der Landstände in Bayern I, S.bb.
» Rudhart. Ebend. S. 73, 79.
14 TJnger, II, S. 87 ff.
15 Eichhorn, deutsche Rechtsgeschichte §. 423 Anm.
Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 483
öffentlichen Cultur fanden in ihm einen vorzüglichen Anhalts-
punkt; sie waren im Ganzen sowohl der Entwicklung der fürst-
lichen Regierungsgewalt als der bürgerlichen Freiheit günstig.
Die Ausschlieszung der Städte von den polnischen Reichs-
tagen, die ganz untergeordnete Stellung derselben auf den Un-
gar i sehen ist eine Hauptursache des anarchischen Wesens
und der geringen Wirksamkeit beider für die Zwecke höherer
Gesittung.
d) Nur selten erscheint auch ein vierter, der Bauern-
stand auf den deutschen Landtagen vertreten. Als Kegel er-
hielt sich vielmehr, dasz was die Prälaten und die Ritterschaft
für ihre Bauern gutheiszen, auch die übrigen dem Landesherrn
ausschlieszlich unterthänigen Bauern im Lande sich gefallen
lassen müssen. Eine Ausnahme machen die friesischen
Landtage, auf welchen auch die von den Bauern erwählten
Richter und Vorsteher der Gemeinden mit den Häuptlingen
und Adeligen zusammentreten und die Wohlfahrt des Landes
berathen. Im Erzbisthum Bremen hatten die eingesessenen
Bauern der freien Marschgemeinden ebenfalls Ansprüche auf
einen Antheil an den Landesversammlungen. In W ü r 1 1 e m b e r g
sind Städte und Bauerschaften verbunden. Im Tyrol kommen
seit 1418 auszer den Rittern und Städten auch Vertreter der
,,Thäler und Gerichte" vor, welche die Gesinnung und Interessen
der Bauern repräsentiren. 16
Die landständische Macht hatte im XV. Jahrhundert ihren
Höhepunkt erreicht, aber zugleich eine den Bedürfnissen des
States und der Einheit der obrigkeitlichen Gewalt groszentheils
widersprechende Richtung eingeschlagen, und diese Fehler gaben
den absolutistischen Gelüsten der letzten Jahrhunderte Vor-
wände genug an die Hand, um das Institut zu untergraben
und zu beseitigen. Die Theorien der Romanisten, die in
den Räthen der Fürsten zu practischem Ansehen gelangt
waren, und die neuen, von den Fürsten ausschlieszlich
16 Unger II, S. 104 ff.
31*
484 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
abhängigen, stehenden Heere förderten ihre Abschwächung und
ihren Untergang. Die Keiclisgesetzgebung verhinderte neue
Bündnisse, Einigungen und den bewaffneten Widerstand der
Stände, beschränkte ihr Recht der Steuerverweigerung, und
stärkte die Landeshoheit. Der dreiszigj ährige Krieg vollendete
den Verfall der landständischen Institution. In manchen deutschen
Ländern wurden die Landtage von den Fürsten, welche auch
darin den Absolutismus Ludwigs XVI. nachahmten, nicht mehr
berufen; in andern wurde ihre Thätigkeit zu einer bloszen
Formalität herabgedrückt. Das Scheinleben solcher Landstände
im XVIII. Jahrhundert hat Karl v. Moser mit bittrer Laune
vortrefflich gezeichnet.17 Nur ausnahmsweise, wie besonders
in Württemberg, bewahrten sie noch einige Bedeutung. Mit
der Auflösung des deutschen Reiches gehen sie in der alten
Gestalt unter, um bald nachher in moderner Form neu zu
erstehen.
Fünftes Capitel.
Der Unterschied der ständischen und der repräsentativen Verfassung.
Die mittelalterlich-ständische Verfassung ist in
den letzten absolutistischen Zeiten des Mittelalters seit der
Mitte des XVI. Jahrhunderts mit den übrigen mittelalterlichen
Institutionen unaufhaltsam abgestorben und zuletzt unterge-
gangen. Der Aufschwung eines neuen Weltalters hat nun das
Repräsentativprincipan ihre Stelle gesetzt. Beide Systeme
sind darin ähnlich und nahe verwandt, dasz sie dem Abso-
lutismus der obrigkeitlichen Gewalt widerstreben und die poli-
tischen B,echte der Unterthanen gewährleisten. Das ständische
17 Herr und Diener, S. 101. Vgl. E ichhorn, Deutsche Rechtsgesch.
§. 546 ff. Zachariae, Deutsches Statsrecht I, 5.
Fünftes Capitel. Unterschied der stand, und repräsent. Verfassung. 485
System ist überdem eine Vorstufe des repräsentativen; es ver-
hält sich zu diesem, wie der politische Geist des Mittelalters
zu dem der neuen Zeit. Da aber jene Verwandtschaft und
dieser Zusammenhang leicht zu einer höchst gefährlichen Ver-
wechslung beider Gedanken verleiten, so wird es um so nöthiger,
die principiellen Gegensätze um so schärfer ins Auge zu fassen.
Wir wollen dieselben durch Gegenüberstellung veranschaulichen.
Ständisches Princip.
1. Ging von der Besonderheit
der Stände aus. (Es wurden daher
im Mittelalter nur die mächtigeren
Stände und anfänglich bald diese
bald jene allein zugezogen, die übri-
gen nicht berücksichtigt.)
2. Sogar Individuen, wie mäch-
tige Familienhäupter oder "Würde-
träger (Fürsten und Herrn) konnten
für sich Stände sein, ebenso Ge-
nossenschaften und Einungen
(universitates).
3. Die Abgeordneten der Städte
und Corporationen bekamen von
ihren Wählern Instructionen
und Aufträge mit auf den Weg,
durch welche sie angewiesen waren,
in bestimmter Richtung zu stimmen
und zu handeln. (Als die Deputa-
ten zur französischen Nationalver-
sammlung die widerspruchsvollen
Hefte (cahiers) ihrer Instructionen
wegwarfen, war der Bruch mit dem
ständischen System vollzogen.)
4. Jeder Stand stimmte indi-
viduell und konnte seine Stimme
auch wohl einem persönlichen
Stellvertreter übertragen. (Das
„liberum veto," das im XVII. Jahr-
hundert den einzelnen Mitgliedern
des Polnischen Reichstages zugestan-
Repräs entatives Princip.
1. Geht von der Einheit des
ganzen Volkes aus. (Das Streben
der Zeit geht daher dahin, alle Volks-
classen in Einer Gesammtvertretung
zusammen zu fassen.)
2. Auch wer als Familienhaupt
oder Würdeträger persönlich zur
Repräsentation berufen ist, hat
doch dieses Recht nicht für sich,
sondern nur als ein Glied des
Gesammtkörpers.
3. Die Berathung und Abstimmung
in dem repräsentativen Körper darf
nicht durch Vorschriften der Wähler
beschränkt werden. In diesem soll
sich erst die Meinung und der
Wille des Volks mit innerer
Freiheit ausbilden; und sowohl
die persönlich-freie Meinungsäuszer-
ung der Abgeordneten als die Be-
rechtigung und Pflicht jedes Ein-
zelnen, sich durch die Berathung
aufklären und bestimmen zu lassen,
werden als Garantien betrachtet ei-
ner wahrhaften Abstimmung.
4. Die Abstimmung in den Kam-
mern wird durch die Mehrheit
der Ve rs ammlung vollzogen, und
eine Stellvertretung ist nur in-
sofern zuläszig, als sie vom Ganzen
aus angeordnet ist.
486 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Ständisches Princip.
den wurde, ist die äuszerste Conse-
quenz dieser Richtung.)
5. Die Abgeordneten der Stände
waren ihren Auftraggebern ver-
antwortlich und wurden auch
von ihnen mit Diäten bezahlt.
6. Die Stände hatten in erster
Linie ihre ständischen Sonderin-
teressen, erst in zweiter die ge-
meinsame Wohlfahrt vor Augen.
7. Die Stände bewilligten die
neuen Steuern, deren Bedürf-
nisz sie anerkannten, für sich»
und nur einzelne Steuern; sie
verbanden damit auch häufig Be-
dingungen von politischem In-
halt, z. B. dasz das Land weder
verpfändet, noch ver&uszert, noch
vertheilt, dasz ihre Zustimmung zu
Kriegen und Friedens vertragen ein-
geholt werde und dergleichen, be-
zogen die Steuern oft selber von
ihren Angehörigen und verwal-
teten sogar zuweilen die aus den
erhobenen Steuern gefüllte Landes-
kasse selber.1
8. Die Stände hielten an dem
Vertrags princip mit den Für-
sten fest. Die Huldigung, welche
sie den Landesherren leisteten, war
Repräsentatives Princip.
5. Die Abgeordneten des Volks
sind nur dem State verantwort-
lich und empfangen die erforder-
lichen Diäten aus der S t a t s -
kasse.
6. Die repräsentativen Kammern
sind verpflichtet, voraus die Volks-
und S t a t s w o h 1 f a h r t zu bedenken,
und dürfen erst unter der Voraus-
setzung dieser die besondere Wohl-
fahrt einzelner Klassen beachten.
7. Die modernen Kammern be-
trachten den Einen Stats haus-
hält in seinem Zusammenhang in
sämmtlichen Einnahmen und Aus-
gaben, helfen den Voranschlag
feststellen, und nehmen Theil an
der Steuergesetzgebung, über
dürfen ihre Bewilligung nicht ein-
seitig an Bedingungen knüpfen, noch
; besorgen sie den Bezug und die
Verwendung der Steuern selber.
8. Im neuern State herrseht das
Princip der einheitlichen Ge-
setzgebung, au welcher die Kam-
mern einen Antheil haben, und die
1 Auf dem Rittertage zu Bohnaitpaoh im Jahre 1302 erklären die
Herzoge von Oberbayern dem Adel und der Ritterschaft, das« wenn
sie wider den Willen eine gemeine Steuer fordern sollen, sie wider
ihre Treue an demselben handeln, und die Stande berechtigt seien, die
Steuer zu weigern. — Im Jahre 1363 versprach der Herzog, ,das Land
Oberbayern sollte ungetheilt und unzerbrochen beisammen bleiben. Im
Jahr 1393 versprachen die Herzoge von Niederbayern, keinen Krieg
ohne Rath der Stände anzufangen.
Fünftes Capitel. Unterschied der stand, und repräsent. Verfassung. 437
Ständisches Princip.
eine bedingte.2 Ihre besondern
Rechte und Freiheiten3 lieszen
sie sich vertragsmäszigzu sichern
und erneuern.
9. Wie unabhängige Mächte ver-
handelten und stritten die Stän-
de mit den Fürsten, und es kam zu-
weilen zu Kriegen4 unter ihnen, wie
zwischen selbständigen Staten. Jeder
Thcil warb, besoldete und verfügte
selbständig über seine Truppen.
10. Die mittelalterlichen Stünde
beschäftigten sich nur in unterge-
ordneter Weise mit der Gesetzge-
bung, erweiterten aber ihren Ein-
flusz zuweilen zur Mitregierung
des States, indem sie dem Fürsten
Rätlie5 beiordneten, an deren Zu-
stimmung er gebunden war und in
Repräsentatives Princip.
allgemeine öffentliche Frei-
heit, wie die besondern Eechte ein-
zelner Classen werden nur durch
das gemeinsame Statsgesetz ge-
währleistet.
9. Der moderne Stat läszt eine
solche Zweiung und Spaltung des
Organismus nicht zu, sondern be-
währt die Einheit des States und
der Statsregierung unter allen Um-
ständen, und will nun Ein Kriegs-
haupt und Ein Heer.
10. Der moderne Stat verlegt
die ganze Regierungsthätigkeit
| auszer die Kammern und ge-
j stattet diesen wohl eine controlirende
1 Meinungsäuszerung, aber nicht Mit-
| regierung. Dagegen weist er dem
repräsentativen Körper die G e setz-
ig ebung als seine wichtigste Thä-
2 Die Markgrafen von Brandenburg sicherten ihren Ständen 1282
zu, dasz wenn sie, die Fürsten, ihre Versprechen nicht erfüllen sollten,
die Vasallen sich von ihnen abwenden dürfen, bis jene erfüllt seien.
Und die pommerschen Herzoge gestatteten unter einer ähnlichen Voraus-
setzung ihren Ständen 1348, einen andern Fürsten zu wählen, „welcher
sie in ihren Rechten und Freiheiten regieren wolle." Unger II, S. 254 ff.
In dem Herzogthum Braunsch weig-Lünebu rg wurde im Jahr 1392
ein Gericht, die „Säte," aus 8 Rittern und 8 Rathmännern geordnet, an
welches Beschwerden der Stände gegen die Fürsten gebracht werden
konnten, und welches befugt war, die landesherrlichen Einkünfte so
lange einzuziehen, bis gegründeten Beschwerden abgeholfen ward. Unger
II, S. 264.
3 Zahlreiche Beispiele siehe in den altbayerischen landständischen
Freiheitsbriefen, herausgegeben von Gustav Freiherr von Lerche nfeld
München 1853. Vorausgeschickt ist eine aus Urkunden geschöpfte wissen-
schaftliche Einleitung von Dr. Rockinge r.
4 In Oesterreich, Bayern, Brandenburg, Württemberg, überall kamen
solche vor, bis der ewige Landfrieden von 1495 und die veränderte Lehre
der römischen Rechtsgelehrten diese Fehden hemmten. Vgl. Rudhart
Gesch. der Landstände in Bayern I, S. 62, 82 etc.
5 Dahin gehören der Rath der XII. und der der XXV., welche den
niederbayerischen Herzogen 1324 und 1341 beigegeben wurden,
488 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Ständisches Princip.
wichtigen Fällen sich selber
Mitentscheid vorbehielten.
den
11. Aus den Ständen gingen oft
bleibende Ausschüsse hervor,
anfänglich zur Controle6 der Regie-
rung; sie wurden aber nicht selten
von den fürstlichen Käthen benutzt,
um die unbequeme Versammlung
der Stände selbst entbehrlich zu
machen und den Untergang des In-
stitutes herbeizuführen.
12. Die Rechte und Pflichten der
mittelalterlichen Stände waren halb
privatrechtlich halb st a ts-
recht 1 i c h.
Repräsentatives Princip.
tigkeit zu. (Die englische Par-
lamentsregierung, obwohl erst in
späterer Zeit ausgebildet, hat in
dieser Hinsicht doch einen mittel-
alterlichen Zug.)
11. Der moderne Stat weisz in
der Regel nur von der Versamm-
lung d e s r e p r ä s e n t a t i v e n K ö r-
pers selbst und will die Regie-
rung durch Ausschüsse desselben
weder hemmen noch bedienen lassen.
12. Die Rechte und Pflichten des
repräsentativen Körpers und seiner
\ Mitglieder sind rein statsrecht-
lich.
Die stats rechtliche Repräsentation ist von der pri-
vatrechtlichen Stellvertretung völlig verschieden. Daher
dürfen die Grundsätze, die von dieser gelten, nicht auf jene
angewendet werden.
Die privatrechtliche Stellvertretung setzt entweder die
Handlungsunfähigkeit des Vertretenen (z. B. Kinder, Wahn-
sinnige) oder doch das Bedürfnisz desselben voraus, sich durch
ein anderes handlungsfähiges Individuum vertreten zu lassen
(z. B. Abwesenheit, Handelsinteressen). Der privatrechtliche
Vertreter ist entweder durch die Rechtsnothwendigkeit be-
zeichnet und ermächtigt, wie insbesondere der geborene oder
gesetzte Vormund, oder er hat dazu den besonderen Auftrag
des Vertretenen erhalten (Mandat). Als Hauptperson gilt immer
dieXIIRäthe, welche 1355 dem Herzog Ludwig von Br auns ch weig zur
Seite traten, die Räthe von Tyrol im Jahr 1363, die württembergi-
schen Räthe von 1419, 1457, 1498 u. s. f. Im Jahre 1535 übernahmen
die Stände von Braun sc hweig-Lüneburg sogar die Regierung selbst.
Unger II, S. 280 ff.
6 So die ober bayerischen Ausschüsse der Ritterschaft und der
Städte im Jahre 1430.
Fünftes Capitel, Unterschied der stand, und repräsent. Verfassung. 489
der Vertretene, nur seine Stelle vertritt und statt seiner, für
ihn handelt der Vertreter. Der Mandatar ist daher abhängig von
dem Mandanten, gebunden an dessen Vollmacht und Instruc-
tion, ihm zur Rechenschaft verpflichtet. So weit die Vollmacht
reicht, wird nicht der Vertreter, sondern der Vertretene durch
die Handlungen jenes verbunden.
In allen diesen Hauptbeziehungen hat die statsrechtliche
Repräsentation einen ganz andern Charakter. Hier wird keine
Handlungsunfähigkeit der Wähler vorausgesetzt und die Re-
präsentation beruht weder auf dem persönlichen Bedürfnisz
noch auf der Willkür der Vertretenen, sondern ist von Stats
wegen angeordnet. Die Repräsentirten sind nicht die Haupt-
personen und der Repräsentant nicht ihr persönlicher Stellver-
treter, nicht ihr Beauftragter, sondern er verwaltet ein Volks-
amt und übt eine Statsp flicht aus. Seine Vertretung ist
Landes- und Volksvertretung nicht individuelle Ver-
tretung. Es besteht zwischen ihm und den Wählern wohl ein
Vertrauens- aber keineswegs das Rechtsverhältnisz
des Mandats. Die Wahl ist nur ein Mittel, um die richtige
Volksvertretung zu erzielen. Wahl ist nicht Vollmacht
und nicht Auftrag. Der Gewählte ist daher nicht an
die Instruction der Wähler gebunden und denselben
nicht zur Rechenschaft verpflichtet. Er kann nicht
beliebig von denselben abberufen, ihm nicht willkürlich der
Auftrag gekündigt werden. Seine Abstimmungen binden weder
ihn selber persönlich, noch seine Wähler. Sie wirken
verbindlich nur, in wiefern das Gesetz durch dieselbe zu
Stande kommt; und dieses verpflichtet Alle ganz gleich-
mäszig, die welche dafür, und die welche dagegen gestimmt
haben, die Repräsentanten, ihre Wähler und alle übrigen
Statsgenossen.
490 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Sechstes Capitel.
Die Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers.
Das Princip der modernen Statsordnung ist: Der ge-
setzgebende Körper stellt das ganze geordnete Volk
dar. Er ist der verhältniszmäszige Auszug des gesammten
Volksorganismus. Von diesem Princip aus lassen sich eine
Reihe wichtiger Fragen leicht beantworten.
1. Die Frage, ob dem Regenten ein Antheil an der ge-
setzgebenden Gewalt zukomme, welche erst in der neuesten
Zeit ein practisches Interesse gewonnen hat — im Alterthum
und im Mittelalter verstand sich die Bejahung von selbst —
erscheint von dem Standpunkte des organischen States aus
kaum möglich. Die Zweifel sind erst entstanden, seitdem man
angefangen hat, ohne Rücksicht auf den inneren, lebendigen
Zusammenhang des Statskörpers die gesetzgebende und die
vollziehende Gewalt als zwei gleiche und getrennte Gewalten
einander gegenüber zu stellen, und jene von unten herauf,
diese von oben herab zu construiren.
Soll der gesetzgebende Körper das ganze geordnete Volk
darstellen, so musz in ihm das Oberhaupt des States, der
Regent, die nämliche Stellung haben, welche dem Haupte
in dem Körper, dem Regenten in dem Volk gebührt,
d.h. die oberste und entscheidende. Das englische Stats-
recht ist sich dieses Satzes wohl bewuszt. Schon der alte Modus
tenendi parliamentum enthält das alte Rechtssprichwort: ,,Rex
est caput, principium et finis parliamenti." l Auch die meisten
neueren Verfassungen, welche auf dem System der constitutio-
nellen Monarchie beruhen, schreiben die gesetzgebende Gewalt
dem Könige und den Kammern zu.2
1 Mod. ten. pari. cap. 12. Blackstone I, 2, 2.
2 So die französische von 1814, §. 15, und 1830, §. 13: „Die
gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich von dem Könige, der Kammer
Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 491
In den neuern republikanischen Staten dagegen ist
die gesetzgebende Gewalt gewöhnlich ausschlieszlich den groszen
repräsentativen Versammlungen zugewiesen, und ist der Re-
gierung wenigstens der Form nach kein Antheil daran einge-
räumt. Auszer jener falschen Vorstellung von der Theilung
der Gewalten hat auf diese Eigenthümlichkeit wohl theils die
demokratische Vorliebe für grosze Versammlungen, theils die
Besorgnisz, dasz die Macht der Regierung zu grosz werden
möchte, eingewirkt. Factisch aber ist den Regierungen doch
auch hier oft ein bedeutender Einflusz auf die Gesetzgebung
erhalten worden, in der Schweiz mehr in der Form der Initia-
tive, in Nordamerika mehr in der des Veto.3
2. Die Vertretung des Volks soll eine vollständige
sein, und alle Bestandteile der Nation, auch die untern
Schichten der Bevölkerung umfassen. Auch in ihnen wird das
der Pairs und der Kammer der Deputirten ausgeübt." V. 1852 §. 11.
Die niederländische von 1815, §. 105; die bayerische von 1818,
§. 1; die portugiesische von 1826, §§. 13, 58, 74; die belgische
von 1831, §. 26; die spanische von 1837, §§. 12 und 46; die nea-
politanische von 1848, §. 4 ; die sardinische von 1848; die preuszi-
sche von 1850, §. 62; die norddeutsche Bundesvers. v. 1867, §. 5.
3 Bundesverfassung für Nordamerika von 1787, Art. I, 1: „Die
gesammte gesetzgebende Gewalt soll einem Congresz der Vereinigten
Staten anvertraut sein, der aus einem Senate und aus einem Haus der
Repräsentanten bestehen soll." Art. I, 7: „Jede Bill soll dem Präsiden-
ten der Yereinigten Staten vorgelegt werden, ehe sie Gesetzeskraft er-
langt." Ebenso in den Verfassungen der Einzelstaten Nordamerika' s. In
der Schweiz (z. B. Verfassung von Zürich, §§. 38 und 57) üben die
Groszen Räthe gewöhnlich die gesetzgebende Gewalt ausschlieszlich aus,
aber die Regierungen entwerfen und begutachten in der Regel die Ge-
setze. Schweizerische Bundesverfassung von 1848, §§. 74 und 90.
Französische Verfassung von 1848, §§. 20 und 58. In dem König-
reiche Norwegen ist die demokratische Ansicht in die Verfassung auf-
genommen, §. 49 , aber der Regierung doch die Initiative und das Veto
zugestanden, §. 76. Die deutsche Reichsverfassung von 1849 (§• 101)
hatte dem „Kaiser" nur ein beschränktes Zustimmungsrecht eingeräumt?
und war dadurch allerdings in "Widerspruch gekommen mit dem Princip
der Monarchie.
492 Fünftes Buch, Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Statsbürgerthum geehrt. Das ist der Wahrheitskern,
welcher dem modernen Verlangen des allgemeinen Stimm-
rechts zu Grunde liegt.4 Das allgemeine Stimmrecht selbst
aber kann höchstens eine arithmetische Vollständigkeit,
nicht eine organische, zu Stande bringen, und selbst die Voll-
ständigkeit der Zahl ist unsicher und täuschend. Die Min-
derheiten werden durch dasselbe oft gar nicht, oft nicht in
richtigem Verhältnisse berücksichtigt. In Zeiten der Partei-
kämpfe, in welchen es mehr auf die Stimmung als auf
die Interessen der Wähler ankommt, kann die schwächere
Partei vielleicht einen Drittheil des gesammten Volkes be-
tragen, und in dem repräsentativen, von lauter Majoritäten der
Wahlkreise erwählten Körper fast gar nicht oder doch nur zu
einem Zehntheil vertreten sein.
Ueberdem nimmt diese Wahlform keine Bücksicht auf
die or ganis chen Verhältnisse des Volks. Sie gewährt keinerlei
Bürgschaft, dasz die verschiedenen Bestandteile und Interessen
eine ihrer Bedeutung für die National Wohlfahrt gemäsze Ver-
tretung erlangen; denn weder jene noch diese werden durch
die blosze, alle Bürger gleich rechnende Zahl der Wähler be-
stimmt. Weder die politische Einsicht noch die Tüchtigkeit
der Gesinnung werden durch dieselbe hinreichend beachtet.
Vielmehr gibt das allgemeine Stimmrecht, wenn es zugleich
als ein gleiches Stimmrecht Aller verstanden wird, und
schrankenlos waltet, der rohen und unerfahrenen, aber zahl-
reicheren Menge die Macht über die gebildeten Classen der
4 Lamartine sagt von den Franzosen, sie haben im Jahr 1848 das
allgemeine Stimmrecht „wie einen unter den Trümmern des Throns ge-
fundenen Adelsbrief des Volks" mit Liebe und Stolz ergriffen. Diesz
Gefühl ist begreiflich ,' wenn man der vorangegangenen plutokratischen
Ausschlieszung gedenkt. Sie haben aber in dem Siegesrausche die na-
türlichen Unterschiede unter den Einwohnern und Bürgern übersehen,
und das allgemeine Stimmrecht als ein gleiches verstanden. 'Socialisten
und Communisten haben darauf die ausschweifenden Ansprüche „der
rothen Republik," aber auch Louis Napoleon auf das allgemeine Stimm-
recht der ordnungsbedürftigen Massen das moderne Kaiserthum gegründet.
Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 493
Gesellschaft, und bedroht so durch seine Quantität die bessere
Qualität. Die blosze Zahl setzt die Söhne über den Vater, die
Gesellen über den Meister, die Diener über den Herrn, die
Jungen über die Alten, die Vermögenslosen über die Wohl-
habenden, die Unwissenden über die Weisen, und indem sie
den Massen schmeichelt, betrügt sie dieselben zugleich.5 Es
ist das Princip der absoluten Demokratie, die „ungerechte Ver-
tretung der Mehrheit allein, statt der gerechten Vertretung
Aller.'1 6
Trotz alledem hat das allgemeine und gleiche Stimmrecht
in dem gegenwärtigen Zeitalter die gröszten Fortschritte ge-
macht. Es ist in Frankreich, der Schweiz, in Italien, im nord-
deutschen Bunde, allmählich auch in den Vereinigten Staten
von Nordamerika eingeführt worden. Das englische Wahlsystem
nähert sich demselben mehr und mehr an. Offenbar entspricht
es den demokratischen Neigungen des Zeitgeistes, dem Princip
der Rechts gleichheit und der möglichst allgemeinen
Betheiligung aller Männer an dem öffentlichen Leben.
Es wirkt erhebend auf die groszen Volksclassen, erfüllt sie mit
politischem Selbstgefühl und bringt sie dem State näher.
Offenbar geht es parallel mit der allgemeinen Volksbildung
und der allgemeinen Wehrpflicht.
5 Gute Bemerkungen über das allgemeine Stimmrecht bei Sismondi,
Etudes sur les constitutions des peuples libres I, S. 48 ff. und S. 141:
„In dem heutzutage beliebten System überläszt man dem Zufall die Ver-
teidigung aller dieser Interessen (der Religion, der Wissenschaft, des
Ackerbaues, des Handels, der Fabrikation, des Handwerks) ; man nimmt
an, es werde sich unter den Abgeordneten der Provinzen etwa einer
finden, welcher die Vertretung je eines dieser nicht berücksichtigten In-
teressen übernehme. Aber diese Annahme ist vorerst unbegründet, und
mehrere Interessen werden nie vertreten sein. Und selbst wenn sie es
sind, so geschieht das häufig durch Männer, die nicht im Hinblick auf ihre
Einsicht in solche Fragen gewählt wurden, die keine gründliche Kennt-
nisz davon haben, die nicht von den Interessen ihrer Berufsclassen
durchdrungen, die nicht geübt sind, dieselben zu% vertheidigen."
6 Ausdruck von J. St. Mill, Betrachtungen über die Repräsentativ-
verfassung (übersetzt von Wille) S. 85.
494 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
3. Die Vertretung soll in richtigen Proportionen be-
stellt sein. Mirabeau bat dieses Prineip noch am 30. Januar
1789 sehr scharf ausgesprochen, ungeachtet die französische
Nationalversammlung mit dem Beispiel der völligen Miszacht-
ung derselben vorangegangen ist: „Die Stände sind für die
Nation, was eine Karte für die äuszere Erscheinung des Landes.
In ihren Theilen und im Ganzen soll das Bild jederzeit die
nämlichen Verhältnisse zeigen wie das Original.1' In der That,
wie die Karte Berge und Thäler, Seen und Flüsse, Wälder
und Fluren, Städte und Dörfer darstellt, so soll auch der ge-
setzgebende Körper alle Bestandteile des Volks und diese als
Ganzes gleichsam im Auszuge, und je nach den wirklichen
Verhältnissen wieder bilden. Die edleren Theile dürfen
nicht von den massenhafteren erdrückt, aber auch diese nicht
ausgeschlossen werden. Der Werth eines jeden Bestandtheils
wird bestimmt durch seine Bedeutung in dem Ganzen und für
das Ganze. Die Verhältnisse sind organische, der Maszstab
ist ein nationaler.
4. Von jenem Grundprincip aus ist auch die Frage, ob
eine oder zwei Kammern? zu lösen. Mehrere Kammern, wie
bis vor kurzem in Schweden, wie früher auch in Frankreich
und auf dem deutschen Reichstage, spalten den Körper der
Repräsentation zu sehr, und machen seine Bewegung schwer-
fällig. In neuerer Zeit kommt daher gewöhnlich nur in Frage:
eine oder zwei Kammern?
Die meisten romanischen und germanischen Staten, und
fast alle, welche dem System der constitutionellen Monarchie
huldigen, haben sich für das Zweikammersystem als die
Regel entschieden. Nur ausnahmsweise, in Zeiten der revo-
lutionären Entzündung, als es galt, die ganze Gewalt der Re-
volution in Einem Centrum zu sammeln, und von da aus mit
ungestümer Energie zu ergieszen, haben die demokratisch er-
regten Völker die Vereinigung der Gesammtrepräsentation in
Einem Hause vorgezogen ; so in England selbst, nach der Hin-
Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 495
richtung des Königs Karl I., 1649, in Frankreich von 1789
bis 1795 und wieder 1848, in Spanien 1810, in Deutschland
1848. Das System einer einzigen repräsentativen Kammer hat
fast nur in den schweizerischen Cantonen und in einer Anzahl
kleiner deutschen Staten, unter kleinen Völkerschaften, in denen
die socialen Gegensätze nicht massenhaft erscheinen,7 Aner-
kennung gefunden.
Eine Kammer scheint einfacher und der Einheit des
Volkes entsprechender. Zwar stellt auch sie für sich allein
nicht das ganze Volk dar, denn zu diesem gehört nothwendig
auch das Haupt, der Regent. Aber sie stellt doch das übrige
Volk auszer dem Haupte, gleichsam den Leib des Körpers
dar, und auch der erscheint als Einheit.
Jene grosze historische Erfahrung gebietet indessen Vor-
sicht, zumal wenn man erwägt, dasz schon in den Zeiten der
ursprünglichen naturwüchsigen Gestaltung des germanischen
Stateniebens die Theilung der Volksgemeinde in die Fürsten
und das übrige Volk nicht minder sichtbar wird, als später in
den Zeiten der principiel bewuszten Statsordnung, vorerst der
Engländer, dann der Nordamerikaner, das Zweikammersystem
entschieden herrschend geworden ist.
Die Vorzüge des letzteren sind einleuchtend:
a) Es ist klar, dasz vier Augen mehr und besser sehen
als zwei, besonders wenn sie den nämlichen Gegenstand von
einem verschiedenen Standpunkte aus betrachten. Eine wieder-
holte Berathung und Prüfung der Gesetzesentwürfe durch zwei
Kammern, die auf verschiedenen Boden stehen, kann demnach
nur wohlthätig wirken.
b) Da der gesetzgebende Körper die dauerhaften Verhält-
nisse der Nation zu ordnen, nicht momentane Bedürfnisse zu
7 Man hat berechnet, dasz das System der zwei Kammern in Europa
eine Bevölkerung von ungefähr 173 Millionen, das Einer Kammer nur
eine solche von nahezu 9 Millionen umfaszt. Dabei ist indessen die
Schweiz als Gesammtstat in die erste Classe gerechnet.
496 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
besorgen hat — letzteres ist die Aufgabe der Kegierung —
so sind für ihn rasche Entschlüsse weder nöthig noch wünsch-
enswerth, und wieder bewahrt das Zweikammersystem vor
Uebereilungen und Miszgriffen der einen Kammer, gewährt
Schutz gegen die leidenschaftlichen Stimmungen, welche die-
selbe leicht momentan erfüllen und fortreiszen, und hemmt
die in groszen Versammlungen so gefährliche Neigung, ihre
Macht ungebührlich auszudehnen und despotisch zu gebrauchen. 8
c) Insbesondere ist die Existenz eines Senates oder einer
Pairskammer neben der eigentlichen Volkskammer eine wich-
tige Schranke gegen die demokratische Beweglichkeit dieser,
bewahrt dieselbe vor dem Miszbrauche ihrer Macht und vor
Entartung, und ist eine starke Stütze der Freiheit und des
Kechtes auch der Minderheit, wenn beide von der Mehrheit
bedroht sind.
d) Für die constitutionelle Monarchie kommt überdem
vorzüglich noch in Betracht, dasz der Monarch der Eiuen
Volkskammer gegenüber leicht in den Kampf der Parteien und
mit der Kammer verwickelt und zum Hammer oder zumAmbosz
zu werden genöthigt wird, dagegen bei zwei Kammern dem
unmittelbaren Parteikampfe entzogen und gleich der Zunge in
der Wage zum Regulator zwischen beiden wird. Die Einheit
des States, die Sicherheit und Würde der Monarchie, und die
ruhige Haltung und Ordnung des gesetzgebenden Körpers sind
dabei gleichmäszig interessirt.
8 Mit Recht haben amerikanische Politiker (vgl. Story1 s Comment
on the constit. of the United States B. III, St. VIII, §. 82, bei Buszl,
S. 222 ff.) darauf aufmerksam gemacht, dasz auch in der Demokratie
gewöhnlich nur einzelne wenige Individuen die Versammlung leiten, und
dasz diese nur zu geneigt seien, oft in ihrem individuellen Interesse oder
nach ihrer Leidenschaft mit Hilfe der von ihnen abhängigen Mehrheit
die Minderheit und ihre Gegner zu bedrücken, zu verfolgen, und bis
zur Verzweiflung zu bedrängen. Auch dagegen schützt nurN ein mode-
rirender und auf seine Selbständigkeit eifersüchtiger Senat oder Ober-
haus. Eine vortreffliche Vertheidigung des Zweikammersystems findet
sich bei E. Laboulaye, J&tats-Units. t. III. c. 12.
Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 497
Für den Statsmann sind diese Vorzüge entscheidend. Die
Theorie verlangt noch eine tiefere principielle Begründung. In
allen Völkern von höherer Art ist ein innerer Gegensatz
zwischen dem Demos und der Aristokratie vorhanden,
welcher mit dem Gegensatze der Quantität und Qualität
in der Natur zusammenhängt. Im Mittelalter war das reprä-
sentative Gewicht bei der Aristokratie, in der neuern Zeit ist
es vornehmlich bei der sogenannten Volkskammer, welche zwar
nicht die Menge selber, aber aus ihr hervorgegangen ist und
auf ihr beruht. Wäre sie allein in der Repräsentation be-
dacht, so wäre diese offenbar unvollständig. Es wären in ihr
nur die Eigenschaften und Interessen der Massen, wenn auch
in einem höhern Ausdruck, vertreten. Die ausgezeichnete Qua-
lität dagegen , welche ihrer Natur nach nicht der Menge an-
gehört, sondern jederzeit nur in einer Minderheit sich findet,
die aber für die Gesundheit und Wohlfahrt des States und der
Nation von gröszter Bedeutung ist, und eine naturgemäsze Er-
gänzung und Schranke der Massen bildet, wäre nicht berück-
sichtigt, und hätte keine ihrem wirklichen Verhältnisse zum
Ganzen angemessene Vertretung. Diese kann sie genügend nur
in einer besondern Kammer finden. Und nur so werden wirklich
die groszen politisch wichtigen Seiten und Gruppen in dem
Volksorganismus gehörig beachtet und anerkannt, wenn dem
Haupte des States eine Repräsentation des Volks (als Demos),
und der ausgezeichneten Minderheit (als Aristokratie) zur
Seite treten, wenn die Volkskammer von dem dritten und
vierten Stande, der Senat oder das Oberhaus von dem zweiten
Stande besetzt werden.
5. In den meisten Verfassungen des Continents ist die
englische Einrichtung, wornach jede der beiden Kammern nicht
blos für sich berathet und abstimmt, sondern auch durch
ihren Widerspruch die Beschlüsse je der andern Kammern
unwirksam macht, nachgebildet worden. Die erste Be-
stimmung sichert die Vielseitigkeit und Freiheit der Berath-
Bluntschli, allgemeines Statsreeht. I. 32
498 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
ung, aber die zweite gefährdet augenscheinlich die Handlungs-
fähigkeit des Parlaments, und steht im Widerspruch mit der
Einheit des States, der nicht durch das Widerstreben der
Theile gelähmt werden darf.
In England wird der organische Fehler der Verfassung
durch den politischen Geist des Parlaments verbessert. Es ist
dort wohl formell möglich, aber thatsächlich unerhört, dasz
der Zwiespalt der beiden Häuser auf die Dauer nöthige Re-
formen verhindere. Das Oberhaus setzt wohl gelegentlich einen
Aufschub und einzelne Modifikationen gegenüber dem Unter-
hause durch, aber es hütet sich wohl, den wiederholten und
von der Nation gebilligten Anforderungen des Unterhauses ein
beharrliches Veto entgegen zu setzen. In vielen Staten des
Continents aber ist der politische Gegensatz der ersten und
der zweiten Kammer viel schroffer und hartnäckiger, und da
kann aus dem Mangel der Verfassung, welche kein Mittel
kennt, um die unerläszliche Einheit in dem Statskörper her-
zustellen, für das Statsleben die gröszte Gefahr entspringen.
Die beiden Kammern, deren eine vorwärts und die andere rück-
wärts strebt, gleichen dann eher zwei Pferden an Einem Wagen,
deren eines vorn und das andere hinten angespannt ist, als
einem organischen Körper.
Das aber widerspricht geradezu dem Wesen des modernen
Stats, der auf die Einheit und Entschluszfähigkeit des Stats-
willens den gröszten Werth legt und keine Zerreiszung des
Ganzen in die Theile verstattet.
Nur sehr wenige Verfassungen ermäszigen und vermeiden
diesen Fehler, indem sie dafür sorgen, dasz eine Einigung
unter den beiden Kammern schlieszlich hergestellt werde.9
9 Verf. des Königreichs Sachsen v. 1831, §.131: „Können sich beide
Kammern in Folge der ersten Berathung über den betreffenden Gegen-
stand nicht vereinigen, so haben sie — eine gemeinsame Deputation zu
ernennen, welche unter den beiden Vorstünden der Kammern über die
Vereinigung der getheilten Meinungen zu berathschlagen hat." §. 92:
„Bleiben auch dann noch die Curiatstimmen beider Kammern getheilt,
Siebentes Capitel. Ton der Bildung der Volkskammer. 499
Siebentes Capitel.
Yon der Bildung der Volkskammer.
Die Volkskammer soll aus dem allgemeinen Volke her-
vorgehen und dessen Meinung und Interessen vertreten. Dem
Princip der Kepräsentation gemäsz ist sie ein mit Bücksicht
auf Tauglichkeit und Fähigkeit ihrer Mitglieder gemachter
Auszug und erhöhter Ausdruck des Volkes als Demos. Sie ist
gewissermaszen die statliche Qualität der volksinäszi-
gen Quantität. Es ist daher naturgemäsz, dasz sie aus
der gesammten Menge der Statsbürger in der Eegel durch
Wahl1 bezeichnet wird. In gewissem Sinne ist sie eine An-
wendung des politischen Princips der repräsentativen De-
mokratie, und in neuerer Zeit hat sie auch mehr und mehr
in den meisten Staten diesen Charakter angenommen.2
so ist zu der Verwerfung des Gesetzesvorschlags erforderlich, dasz in
einer der beiden Kammern wenigstens zwei Drittheile der Anwesenden
für die Verwerfung gestimmt haben." Schweizer. Bundesverf. §. 80: „Jeder
Rath verhandelt abgesondert. Bei Wahlen, bei Ausübung des Begnadi-
gungsrechtes und für Entscheidung von Competenzstreitigkeiten vereinigen
sich jedoch beide Räthe unter der Leitung des Präsidenten des National-
rathes zu einer gemeinschaftlichen Verhandlung, so dasz die absolute
Mehrheit der stimmenden Mitglieder beider Räthe entscheidet."
1 Allerdings ist die Wahl kein absolutes Erfordernisz. Edm. Burke
1792: „Wo zwischen denen, in deren Namen gehandelt wird, und denen,
welche in derselben Namen handeln, eine Gemeinschaft der Interessen,
eine Verwandtschaft der Ansichten und Wünsche stattfindet, daist wirk-
liche, obgleich nicht förmliche Stellvertretung. In manchen
Fällen ist diese wirkliche Stellvertretung besser als die förmliche, in
welcher die Vertreter von denen, an deren Statt zu handeln haben,
erwählt sind. Das Volk kann sich in seiner Wahl täuschen, selten täuscht die
Gemeinschaft der Gesinnungen und der Interessen. Allein jene wirkliche
Stellvertretung hat keine lange noch sichere Dauer, wo sie nicht, wenig-
stens zum Theil, auf die förmliche gestützt ist."
2 Vgl. oben Bach IV, Cap. 10. S. 326 ff. Edm. Burke spricht
sich „über die Ursachen der gegenwärtigen Unzufriedenheit" in einer
Stelle, von der Brougham gesagt hat, sie sollte mit feurigen Buch-
staben in das Portal des Hauses der Gemeinen eingegraben werden, so
32*
500 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Gewöhnlich werden die stimmberechtigten Statsbürger in
eine Anzahl von Wahlkreisen vertheilt, ohne Kücksicht auf
ihre besonderen Eigenschaften, und jedem Wahlkreise nach der
Kopfzahl seiner Glieder oder der Bevölkerung, die er uni-
schlieszt, eine Anzahl Eepräsentanten zugetheilt. Die Mehr-
heit wählt, und die Minderheit wird dann nicht weiter be-
rücksichtigt.
Diese Einrichtung empfiehlt sich meistens durch die All-
gemeinverständlichkeit einfacher arithmetischer Verhältnisse
aus: „Ein volksmäsziger Ursprung kann nicht die charakteristische Aus-
zeichnung einer volksmäszigen Repräsentation sein. Diese Eigenschaft
kommt gleichmäszig allen Gliedern des Statskörpers zu und in allen
Formen. Sie alle -ind bevollmächtigt für das Volk; denn keine Macht
ist lediglich zu Gunsten ihres Inhabers gegeben, und obwohl die Obrig-
keit sicherlich eine Institution von göttlicher Autorität ist, so sind doch
die Formen und die Personen, welche sie verwalten, alle ursprünglich
aus dem Volke hervorgegangen. Die Tugend, der Geist, das Wesen des
Hauses der Gemeinen besteht darin, dasz es das ausdrucksvolle Bild des
Nationalgefühls ist. E3 wurde nicht eingerichtet, um eine Aufsicht zu
«ein über das Volk. Es wurde bezeichnet als eine Aufsicht für das
Volk. Andere Einrichtungen sind entstanden zu dem Zwecke, die Aus-
schweifungen des Volkes zu hemmen. Das Haus der Gemeinen, wie es
niemals bestimmt war, um den Frieden und die äuszere Ordnung auf-
recht zu halten, ist für diesen Dienst völlig ungeeignet, da es keine
stärkere "Waffe hat als seinen Stab, und keine bessern Officiere als seine
unbewaffneten Pedelle, welcher es aus eigener Machtvollkommenheit be-
fehlen kann. Ein wachsames und eifersüchtiges Auge über die vollzie-
hende und die richterliche Beamtung, eine ängstliche Sorge für das öffent-
liche Geld, ein offener Sinn, der an Gefälligkeit gränzt, für öffentliche
Beschwerden, das scheinen die wahren Eigenschaften eines Hauses
der Gemeinen zu sein. Aber ein Haus der Gemeinen , welches Beifalls-
adressen erlässt, und ein Volk, das Bittschriften macht; ein Haus der
Gemeinen, welches voll Vertrauen ist, wenn die Nation in Verzweiflung
gestürzt ist; in der vollkommensten Harmonie mit den Ministern, welche
das Volk mit äuszerstem Abscheu betrachtet; welches in allen Streitig-
keiten zwischen Volk und Regierung zum voraus gegen das Volk ein-
genommen ist, welches dessen Unordnungen bestraft, aber sich wei-
gert, die Anreizungen zu denselben zu untersuchen, das ist ein unnatür-
licher und monströser Zustand der Dinge in unserer Verfassung. Eine
solche Versammlung mag ein groszer, weiser, ehrfurchtwürdiger Senat
sein, aber sie ist in keiner Weise ein volksmäsziges Haus der Gemeinen.44
Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 501
und durch die demokratische Betonung der Gleichheit Aller.
Vor einer organischen Erkenntnisz des States erscheint sie als
roh und ungenügend. Weder die Vollständigkeit noch die
Wahrheit der Volksrepräsentation finden in ihr ausreichende
Garantien. Es ist nur zufällig, wenn die verschiedenartigen
Interessen des Handels, der Fabrication, der Handwerke, der
Landwirtschaft, wenn ferner die Interessen der Bildung und
Wissenschaft, wenn die Kenntnisz des Rechts hinreichende
Vertretung erhalten; die Wahlart selber weisz von alle dem
nichts. Sie hat wenig Gewähr in sich, dasz wirklich die tugend-
haftesten und einsichtsvollsten Männer gewählt werden. Nur
allzu oft waren und sind diese Wahlen ein Spiel der Parteien
und ihrer Leidenschaften. Anstatt einer Vertretung der Volks-
interessen gingen und gehen aus ihnen zuweilen Versamm-
lungen hervor, in welchen die politischen Leidenschaften und
Vorurtheile vornehmlich repräsentirt sind, und die wirklichen
und dauernden Interessen des Volks den wechselnden Stimm-
ungen der Parteien unbedenklich hingeopfert werden.
Der sehr beachtenswerte Reformvorschlag des Engländers
T h o m a s H ar e , ;* die gesammte Bürgerschaft als Einen Wahl-
kreis zu behandeln und die Wahlen lediglich von einer be-
stimmten Anzahl Stimmen abhängig zu machen, die sich auf
Eine Person vereinigen, würde manche Uebelstände der gegen-
wärtigen Einrichtung beseitigen und sowohl den Minderheiten
als den verschiedenen Interessen Gelegenheit verschaffen, sich
repräsentiren zu lassen. Aber derselbe ist noch nirgends ver-
wirklicht und gehört gegenwärtig noch der Politik, nicht dem
Statsrecht an.
Eine Repräsentation nach Classen, welche unter sich
eine Gemeinschaft der Anschauung und der Interessen haben,
3 On the Election of Repres. 1859. Vgl. Mill, Repräsent. Regierung
und Bluntschli Artikel Wahlrecht im Deutschen Statswörterbuch.
502 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
ist wiederholt versucht worden.4 Sie hat mancherlei Vorzüge
vor der Wahl der gemischten Menge. Es ist auch ein Irr-
thum, dasz eine derartige Classenver tretung dem mittel-
alterlichen ständischen System, nicht dem modernen Reprä-
sentativsystem angehöre. Sie entspricht vielmehr der Grund-
idee der Volksrepräsentation , welche ein wahres Bild des
Volkes sein soll , durchaus , und ist erst deren wirkliche Er-
füllung. Damit das ganze sichtbar werde, müssen die Theile
in ihm, freilich nicht als für sich bestehende kleinere Ganze,
sondern als Theile vorhanden sein. Damit die Landkarte gut
sei, müssen in ihr nicht blosz Zahlen und gerade Linien, son-
dern die Berge, Thäler und Seen, Städte und Dörfer im Lande
sichtbar werden. Besteht das Volk aus Ständen und Classen,
so musz auch das Bild des Volkes diese Bestandteile wieder
zeigen. Aber im Ganzen verhält sich unsere Zeit doch noch
gegen eine solche p]inrichtung misztrauisch, theils weil sie noch
4 Sismoiidi, Etadeal, S. HO, sag! übe* die Verfassung der Republik
Florenz im Jahr L266: »Die Republik vertheilte die ganze Bevölker-
ung in L2 Corporationen, die „Künste" (les arts i genannt und unter-
schied wieder zwischen höheren und niederen Künsten, den erstcren
einige Vorzugsrechte vor den letztern einräumend, aber allen abwech-
selnd verstattend ein Mitglied für die oberste Magistratur zu ernennen.
Jede dieser Corporationen hatte ihr Versammlungshaus, wo sie ilire
Vorsteher und Repräsentanten erwählte: jede war berufen, sich selber
zu -tudiren, ihre Interessen kennen zu lernen und dieselben ihrem Prior
einem der sechs Mitglieder der obersten Behörde zu empfehlen, welche
wie in einem Ruthenbünde] die Einsicht aller zusammenfaszte. Jede
hatte eine militärische Organisation, ein Banner und das Bewusztein,
dasz sie der Unterdrückung Widerstand leisten könnte. So lieszen die
Gelehrsamkeit, die Bildung, das behagliche Capital, der Handel, wie die
mühevollen Handwerke ihre Stimmen, jedes besonders vernehmen; alle
Interessen waren berathen und der Entscheid hing mehr von der Weis-
heit als von der Zahl ab. Jeder Florentiner, auch der arme und un-
wissende fühlte, dasz er etwas galt in seiner Vaterstadt und hatte Theil
an den politischen Rechten und an der Souveränetät als ein Olicd seiner
Innung, und doch war die Souveränetät nicht an die Mehrheit über-
lassen, welche in all unsern Staten nothwendig arm, unwissend und zu
gesundem politischem Urtheil unfähig ist. u
Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 503
nicht klar geworden ist über die Art der Class eneintheilung
und besorgt, die mittelalterlichen Stände möchten unter dem
neuen Namen wieder restaurirt werden, theils weil sie für die
Einheit des Volksbewusztseins und für die wahre Rechtsgleich-
heit Schaden fürchtet.
Besser als blosze mathematisch bestimmte Wahlkreise
sind immerhin solche, die sich an organische Theile des Landes,
insbesondere an die Gemeinden anschlieszen. In ihnen wird
doch eine gewisse Uebereinstimmung der Lebensart und Gleich-
artigkeit der Interessen offenbar. Aber für gröszere Staten ist
der Geist und Gesichtskreis der einzelnen Gemeinden zu be-
schränkt und zu klein, um ausschlieszlich auf ihn die Landes-
repräsentation zu begründen.
2. Der Gegensatz der unmittelbaren und der mittel-
baren Wahlen (par degre), jene durch die Urwähler, diese
durch gewählte Wahlmänner vollzogen, ist ferner zu be-
rücksichtigen. Vorzüge der directen Wahlform sind:
a) Wähler und Gewählte stehen in einem directen Rapport
des Vertrauens, während bei der indirecten Wahlart es leicht
vorkommt, dasz der Gewählte zwar das Vertrauen der Wahl-
männer, nicht aber das der Urwähler besitzt.
b) Die Aufmerksamkeit und das Interesse der Wähler bei
der Wahl ist erhöht und gröszer, als wenn beide durch eine
Zwischenstufe gebrochen werden.
Auf der andern Seite aber sprechen für die mittel-
baren Wahlen unter Umständen folgende Gründe:
a) Wenn die Wahlkreise sehr ausgedehnt sind, so gelingt
es nicht leicht, die Urwähler an einem Ort zu versammeln.
Bleibt aber die Masse getheilt und zerstreut, so ist es sehr
schwierig, ein Wahlresultat zu erhalten. In solchen Fällen
dient die Wahl durch Wahlmänner als ein Auskunftsmittel.
b) Wenn ferner das Stimmrecht allzu tief niedersteigt,
und zu grosze Massen umfaszt, so liegt in der Bezeichnung
von Wahlmännern eine Sichtung der Massen und die Her-
504 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Stellung eines fälligeren und besseren Wahlkörpers. Wird nicht
auf solche organische Weise dafür gesorgt, so geschieht es
leicht, dasz sich die Clubbs der Vermittlung und Leitung der
Menge bemächtigen, sich selber zu einem Wahlausschusz con-
stituiren und so auf unorganischem Wege die Aufgabe der
Wahlmänner übernehmen.
Am nächsten steht übrigens der directen Wahl die Wahl
durch eine sehr grosze Anzahl von Wahlmännern , z. B. so,
dasz je auf zehn Urwähler ein Wahlmann ernannt wird.
In England, in Nordamerika, nun auch in Frank-
reich, im norddeutschen Bund, in Belgien und in den
meisten Schweizerkantonen ist »las System der directen,
in Spanien, Preuszen, Bayern und in den meisten
deutschen Staten das der indirecten Wahlen eingeführt.
3. Besondere Eigenschaften der Wähler.
Da in dem Volkshause die Menge des Volkes zur Ver-
tretung gelangt, so ist die Ausbreitung des Stimmrechtes auf
die Gesammtheit der Statsbürger (vgl. oben Buch 11
Cap. 22) als Kegel anzuerkennen. Diese Kegel erleidet in-
dessen mit Rücksicht auf die Bestimmung des repräsentativen
Körpers Modifikationen, indem verschiedene Rücksichten noch
in Betracht kommen:
a) In der römischen Censusverfassung wurde den altern
Wählern ein grösseres Stimmrecht zugewiesen als den jun-
gem, und so der Erfahrenheil der immerhin an Zahl von den
Jüngern übertroft'enen Alten im Interesse der Statswolilfalirf
gebührende Rechnung getragen, ohne jene auszuschlieszen. Die
modernen Verfassungen* vernachlässigen diese Bücksicht auf
das Alter zu sehr, und geben daher oft der reizbaren und
beweglichen Jugend einen unverh<niszmäszigen Einfiusz.
b) Häufiger wird auf das Vermögen geachtet. Das
Vermögen kommt nicht blosz insofern in Betracht, .um die
Eigenschaft eines selbständigen Statsbürgers zu ermitteln, son-
5 Napoleon I. beachtete in seinen Verfassungen dieses Moment.
Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 505
dem auch abgesehen davon verdient es eine besondere Berück-
sichtigung, weil es eine der wichtigsten Aufgaben des States
ist, das Vermögen seiner Angehörigen zu schützen und das
Gesammtvermögen der Nation zu pflegen. Es darf daher wohl
bei der Vertretung berücksichtigt werden, aber nicht auschliesz-
lich, denn die persönliche Arbeitskraft der Massen ist
kein geringerer Factor der Volkskraft.
Burke* hat den Satz ausgesprochen: ,,Eine gehörige
Repräsentation eines States erfordert, dasz sowohl dessen Fähig-
keit als dessen Eigenthum repräsentirt sei. Aber da die Fähig-
keit ein lebenskräftiges und thätiges Princip, und das Eigen-
thum träge, schwerfällig und furchtsam ist, so kann es nie
vor einer Invasion der Fähigkeit sicher sein, wenn es nicht in
der Repräsentation sehr bedeutend vorherrscht."
Die Römer haben in ihrem Census diesem Gedanken
groszes Gewicht beigelegt, und den vermöglicheren Classen
eine weit stärkere Vertretung eingeräumt, als den unvermög-
lichen. Eine Nachbildung dieser Organisation rindet sich in
der preuszischen Verfassung von 1850, welche die Ur-
wähler je nach dem Betrage ihrer Steuern in drei der Zahl
nach sehr verschiedene Classen theilt, so dasz die wohlhabensten
Statsbürger, welche zusammen ein Drittheil der Steuer in
der Gemeinde oder dem Wahlbezirk entrichten, auch einen
Drittheil der Wahlmänner, sodann die mittleren Bürger, welche
zusammen den zweiten Drittheil bezahlen, einen zweiten Dritt-
theil der Wahlmänner, und die minder begüterten, die in
weit gröszerer Anzahl den letzten Drittheil entrichten, auch
nur den dritten Theil der Wahlmänner bezeichnen.7
In dieser Einrichtung, obwohl sie von Mängeln nicht frei
und der Ausbildung bedürftig ist, liegt immerhin ein Fort-
schritt gegenüber der gewöhnlichen Behandlung, welche nur
zwei Classen kennt, deren eine ganz ausgeschlossen wird von
6 Barke, Reflections on the French Revol.
7 Preusz. Verf. §. 71.
506 Fünftes Buch Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
jedem Stimmrecht , und deren andere gleiches Stimmrecht
besitzt.
In England8 wird seit der Keformbill von 1832 als
Eigenschaft der Wähler in den verschiedenen Weltkörper-
schaften erfordert:
a) in den Grafschaften auszer den alt berechtigtenVierzig-
Schilling-Freisassen (Freeholders) Grundbesitz (nicht ge-
rade Grundeigenthum, auch langer Pachtbesitz) mit einem jähr-
lichen Beinertrage von mindestens 10 Pfd. Sterling,
b) in den Städten und Wahlflecken eigener oder miethe-
weiser Besitz eines Hauses, Magazins oder Ladens von dem
jährlichen Werthe von 10 Pfd.
In England kommen in Folge der Keform auf eine Be-
völkerung von fast 14 Millionen nahe an 800,000 Wähler
wovon die gröszere Hälfte (etwas über 450,000) auf die Graf-
schaften vertheilt ist. In Irland dagegen ist das Verhältnisz
der Gesammtbevölkerung von etwas über 8 Millionen zu den
Wählern, ungefähr 150,000, bedeutend gröszer. Die Wähler-
zahl von ganz Groszbritanien mit einer Bevölkerung von
26 Millionen beträgt etwas über eine Million. Gegenwärtig
arbeitet das Parlament an einem neuen Reformgesetz, welches
den Kreis der Wähler noch erheblich erweitern soll.
In Frankreich war in der Verfassung von 1814 ge-
radezu Rei cht hu in, nicht bloszes Vermögen der Wähler ge-
fordert worden. Nur wer 300 Fr. directe Steuer bezahlte,
war Wähler.9 Das Gesetz von 1831 hat diese Forderung auf
200 Fr. vermindert, und die Zahl der Wähler von 80,000 auf
8 Vgl. die nähern Angaben bei Schubert, Vorfassungsurkunden I,
S. 255 ff. und Müh ry in Mittermai er 8 Zeitschr. XX VIII, S. 28 ff.
II. Cox, Statseinrichtungen Englands, übersetzt von Kühne, Berlin
1867. §. 90.
9 Gesetz vom 5. Febr. 1817. Die Verfassung hatte an , mittelbare
Wahlen gedacht, das Gesetz machte daraus unmittelbare Urwähler. Ihre
Zahl wurde auf 90,000 berechnet. Gervinus, Gesch. des XIV. Jahrh.
II, S. 257.
Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 507
174,000 gegenüber einer Bevölkerung von mehr als 30 Mil-
lionen gesteigert, dadurch aber den Charakter einer pluto-
kratischen Eepräsentation nur gemildert, nicht verändert. Die
Verfassung von 1848 hat den gefährlichen Sprung aus der
Plutokratie in die Demokratie gewagt und jedes Kequisit eines
Census aufgehoben (Art. 25). Zuletzt ist auf dieser breiten
Basis das Kaiserthum aufgerichtet worden.
Die österreichische Verfassung von 1849 (§. 44) hatte
eine directe Steuer von mindestens 5 Gulden auf dem Lande
und in kleineren Städten, und von 10 Gulden bis 20 Gulden
in gröszeren Städten gefordert.
Nach der Verfassung vom 26. Febr. 1861 werden die
Abgeordneten des Reichstags von den Landtagen der Kron-
länder gewählt. Die Vertretung in den einzelnen Ländern aber
ist meistens nach Classen geordnet, so dasz a) die hohen
kirchlichen Würdenträger (Bischöfe), b) die Groszgrunclbesitzer,
c) die Städte und Industrialorte und die Handels- und Ge-
werbekammern, d) die übrigen Landgemeinden vertreten werden.
Die Wahlen der Groszgrundbesitzer und der Städte sind direct,
die Wahlen in den Landgemeinden indirect; aber die untern
Classen, die keine oder eine ganz geringe Steuer bezahlen,
sind von dem Wahlrecht ausgeschlossen.
Die Verfassung des norddeutschen Bundes von 1867
sieht von jeder Berücksichtigung des Vermögens ab und er-
kennt das allgemeine Stimmrecht an.
4. Die Frage, ob die Wahlen geheim oder offen, ob
sie schriftlich oder mündlich oder durch Handaufheben
vor sich gehen sollen, war bekanntlich schon bei den Alten
sehr bestritten. Die Erörterung der römischen Statsmänner
bei Cicero (de Legibus III. 15 — 17) über dieselbe hat auch
für unsere Zeit groszes Interesse.
Gewöhnlich ist mit der geheimen auch die schriftliche,
mit der offenen die mündliche Abstimmung oder die durch
Handmehr verbunden, aber nicht immer. Männlich freier
508 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
ist die offene und mündliche, sorgfältiger und vorsichtiger die
geheime und schriftliche. Bei jener Wahlform erlangen leicht
die angesehensten Männer der Gemeinde, zuweilen auch die
Demagogen gröszeren Einflusz, bei dieser getrauen sich die
kleinen Leute eher ihre eigene, zuweilen aber auch die von
den Clubbs ihnen vorgeschriebene Meinung zu befolgen. Wo
das übrige politische Leben sich in öffentlichen Formen be-
wegt, paszt das Geheimnisz auch da nicht.
In England und Nordamerika geschehen die Wahlen
öffentlich und mündlieh. In Frankreich ist die geheime
Abstimmung sogar in der Verfassung von 1848 (§, 26) er-
halten worden. In einzelnen deutschen Staten ist ein ge-
mischtes System der Schriftlichkeit verbunden mit Er-
öffnung der Abstimmung vor dem Wahlbureau, aber Ge-
heimnisz vor dem übrigen Publicum angenommen worden,
so in Bayern. Im norddeutschen Bund ist die Wahl ge-
heim und schriftlich. In der Schweiz kommen offene und
geheime AVahlen oft neben einander vor, jene eher bei vor-
übergehenden Ernennungen, diese bei den wichtigeren und
dauernden.
.">. Die Erfordernisse der Wählbarkeit wurden in den
früheren Verfassungen gewöhnlich strenger bestimmt, als die
des Stimmrechts. Bis 1858 ward in England (Gesetz von
1837) für die Mitglieder des Unterhauses, wenn sie als Ritter
in den Grafschaften erwählt werden, ein reines Einkommen
v<>n 600 Pfd. St., für die Repräsentanten derStädte Hnd Wahl-
flecken ein solches von 300 Pfd. gefordert. Durch «las (Jesetz
von 1858 sind alle Vermögenserfordernisse abgeschafft worden.
Die französische Charte von 1814 (S- 38) forderte einAlter
von 40 Jahren und Bezahlung einer directen Steuer von min-
destens 1000 Fr. Die kaiserliche Verfassung kennt diese
Beschränkung der Wählbarkeit nicht mehr. Die b olgische
Verfassung von 1831 (§. 47) fordert dagegen nur ein Alter
von 25 Jahren, und ein Steuerminimum von 20 bis 100 Gulden.
Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 509
Darin liegt der Uebergang zu dem neueren System, welches
gewöhnlich die nämlichen oder sogar geringere Erfordernisse
für den Gewählten wie für die Wähler verlangt, in Anbetracht,
dasz die Wahl selbst denselben hinreichend qualificire, somit
es keiner weitern Qualificirung bedürfe. So z. B. in Bayern
(Gesetz vom 4. Juni 1848) und in Preuszen, wo nur ein
Alter von 30 Jahren, aber keine Steuerzahlung, also in dieser
Beziehung weniger als für das Stimmrecht erfordert wird (§. 74).
Sowohl die englische als die Verfassung des deutschen
Nordbunds gestatten den Abgeordneten keine Entschädigung für
ihre Dienste anzunehmen, was einem nicht unbedeutenden Census
ähnlich wirkt.
6. Die Wahl von Ersatzmännern, nur in wenig Län-
dern üblich, seitdem die fr an z ö s i seh e Nationalversammlung
von 1781) diese Institution ins Leben gerufen hat, ist in keiner
Beziehung zu empfehlen. Da die Ersatzmänner in der Kegel
doch nicht berufen werden, so widmen die Wähler ihrer Wahl
nur geringe Sorgfalt, und nehmen oft, nur um ihr Geschäft
schneller zu endigen, den nächsten besten. Ueberdem wird dem
Gewählten der Bücktritt bequemer gemacht, und für diesen
Fall die allein Vertrauen genieszende Neuwahl verhindert.
7. Beachtenswert ist die englische, auf dem Continent
hier und da, z. B. in Griechenland (§.64), Bayern (Ge-
setz vom 4. Juni 1848 §. 29), Preuszen (§.78) im nord-
deutschen Bund (§. 21) nachgebildete Sitte, dasz der De-
putirte, der ein Kronamt erhält, sich einer neuen Wahl unter-
werfe, und so den Wählern Gelegenheit gebe, ihr Zutrauen
entweder klar zu erneuern oder auf einen andern hinzuwenden.
Viel weiter war die französische Verfassung von 1848
gegangen, welche alle besoldeten Beamten geradezu von
der Nationalversammlung ausschlosz (§. 28). Die Napoleonische
Verfassung von 1852 (§.44) schlieszt nur die Minister aus.
Die amerikanische Unionsverfassung (1. 2. §. 2) und ebenso
die schweizerische Bundesverfassung ($. 66) schlieszt die
510 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Bundesbeamten aus, nicht aber die Beamten der Einzelstaten.
Die norddeutsche Bundesverfassung schlieszt nur die Mit-
glieder des Bundesrates aus (§. 9).
Die Ausschliessung der Beamten aus der Volkskammer
entzieht dieser die geschäftskundigsten Mitglieder und schwächt
in Folge dessen die Einsicht und die Autorität der Kammer:
wenn aber der Beamtenstand überwiegt, so wird die Oontrok
der Kammer gegenüber der Regierung leicht zu einem bloszen
Scheine verflüchtigt und die Kammer verliert das Vertrauen
der öffentlichen Meinung. Da- rechte Masz zu treffen ist voraus
eine Aufgabe der Wähler.
Uebrigens sind nicht alle ('lassen der Beamten in diesen
Beziehungen gleich zn achten. Die welche nur ein Ptflege-
amt verwalten, wie /. B. Statsärzte, Professoren, stehen den
Privaten wesentlich gleich; die Richter sind durch ihr»' an-
abhängige Stellung gesichert; am schwierigsten ist die Stellung
eigentlicher Regiernngsbeainten. Würde die Opposition
vornehmlich von ihnen geleitet, so würde dir Ginbeil und Au-
torität des Regiernngskörpers geaehädigl . wollte sich die Re-
gierung vornehmlich auf ihren Einflusz in der Kammer stützen,
so wäre die Selbständigkeil der Kammer gefährdet. In Zeiten
des heftigen Kampfes ilmn die Wähler daher wohl, in der
Regel auszer den verantwortlichen Ministern keine Kegiomngs-
beamten zu wühlen.
8. Häufig finden wir bestimmte Perioden festgesetzt,
nach deren Ablaut' das Volkshaus einer neuen Wahl unter-
werten Wird, sei es dasz diese eine <; esu ni mt- «»der nur eine
partielle Erneuerung Ist. Das englische Unterhaus
hat seit Georg I. eine siebenjährige, früher nur eine dreijährige,
Amtsdauer, das nordamerikanische (1. 2.) Haus der Re-
präsentanten eine zweijährige, in den Emzelstaten meistens nur
eine einjährige, die preus zische zweite Kammer *^§. 73) und
dei norddenf sehe Bund (§. 21) eine dreijährige, die bel-
gische Kammer (§. 51) der Repräsentanten eine vierjährige,
Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 511
die bayerische zweite Kammer und der französische Ge-
setzgebungskörper (§. 38) eine sechsjährige (§. 13).
Die Gesammterneuerung ist zur Kegel geworden. Wo nur
Eine Kammer, ist dieselbe aber gefährlich, weil sie die Tra-
dition der Statspraxis plötzlich unterbricht, und oft ganz schroffe
Sprünge macht aus einem politischen System in ein anderes.
9. In der constitutionellen Monarchie ist überdem
die Auflösung der Volkskammer zum Behuf neuer Volks-
wahlen ein wichtiges Recht des Monarchen, und ein geeignetes
Mittel die Volksstimmung zu prüfen, zuweilen auch die Har-
monie der verschiedenen Theile des Gesetzgebungskörpers unter-
einander und mit der Regierung herzustellen. lü
In den repräsentativen Demokratien dagegen
(Nordamerika, Schweiz), wird ein solches Recht der Re-
gierung nicht verstattet, nicht weil dasselbe als eine Be-
schränkung der Volksrechte angesehen wird, diese werden im
Gegentheil durch die Auflösung eher erweitert, sondern um der
Eifersucht willen auf die Macht der Regierung, und aus ängst-
licher Sorge für das höhere Ansehen der Repräsentation.
10. Die Abberufung einzelner Deputirter durch ihre
Wähler aus dem Grunde des verwirkten Vertrauens ist durch-
aus unorganisch, und für die wahre Stellung eines Volksreprä-
sentanten gefährlich, indem derselbe berufen ist, nach freier
Ueberzeugung , wie sich dieselbe in der Kammer bildet, zu
stimmen, und sich als Repräsentanten des ganzen Volkes, nicht
als Mandatar seiner Wähler zu benehmen.
10 Für England Blackst. I. 2, 7. Belgien, Verf. §.71. Bayern,
§.23. Preuszen, §. 51. Frankreich von 1852, §.46. Norddeutscher
Bund S. 25.
512 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Korper und das Gesetz.
Achtes Capitel.
Von der Bildung des Senats oder des Oberhauses.
Der Senat oder das Oberhaus darf nicht eine Wiederholung
des Volkshauses sein, noch auf dem nämlichen Princip wie
dieses beruhen. Der Statsorganismus darf nicht zwei Organe
haben, welche beide dasselbe thun. Die erste Kammer musz
vielmehr, wenn sie eine Wahrheit sein soll, ein eigenthüm-
liches politisches Princip für sich und eine besondere Aufgabe
zu erfüllen haben.
Ihre natürliche Bestimmung ist es, die aristokrati-
schen Elemente im State zu vertreten, wie die der Volks-
kammern, den Demos zu repräsentiren. Sie ist eine Mittel-
macht zwischen dem Statsoberhaupt und der Volksmehrheit,
welche ihre Stärke nicht von dieser ableitet, sondern in sich
selber und in den ausgezeichneten Eigenschaften hat, auf wel-
chen sie beruht Ihr liegt die Qualität ganz und gar, nicht
die Quantität zu Grunde. Die Auszeichnung, die au und
für sich schon eine politische Macht ist , ist ihre Unterlage.
• hört in dieselbe daher nur die wirkliche Aristo-
kratie, welche im Lande ist, aber auch alle wahre Aristo-
kratie, die sieh darin findet.
1. Die Einrichtung in Norwegen, nach welcher das
Grosz-Ding der Yolksivpräsentanten aus seiner Mitte einen
Viertheil der Mitglieder erwählt, und diese zum Lag-Ding,
den Ueberrest als Odels-Ding constituirt (Verf. §. 74 (T.)i
zeigt das Bedürfnisz zweier Kammern, aber gewährt demselben
keine Befriedigung. Wie soll ein Viertheil einer gleichartigen
Versammlung den drei Viertheilen als besondere Kammer gegen-
über, und nötigenfalls auch entgegentreten können? Können
aber die beiden Abtheilungen sich nicht verständigen, so treten sie
zusammen und dann entscheidet die Mehrheit voirzwei Drit-
tneilen.
Auch der belgische Senat, welcher von den nämlichen
Achtes Capitel. Von der Bildung des Senats oder Oberhauses. 513
Wählern bestellt wird, wie die Kammer der Volksrepräsen-
tanten, hat mit dieser die Unterlage gemein, unterscheidet sich
aber insofern von dieser, als seine Mitglieder ein höheres Alter,
40 Jahre, und ein groszes Vermögen, mit einem Steuerbetrag
von G-. 1000, haben müssen, und nicht blosz auf 4, sondern
auf 8 Jahre gewählt werden (§. 55, 56). Aehnliche Einricht-
ungen, meistens mit noch weiter gehender Abschwächung der
Unterschiede zwischen Kepräsentanten und Senatoren, kommen
in denEinzelstaten Nordamerika' s vor. Sie bleiben alle
hinter dem obigen Princip zurück, dem sie sich von demokra-
tischem Boden her nur schüchtern und auf Umwegen annähern.
2. Durchaus eigentümlich und nur in Bundeskörpern oder
zusammengesetzten Keichen denkbar, ist der Senat der nord-
amerikanischen und der Ständerath der schweizer-
ischen Bundesverfassung von 1848 organisirt. In ihnen
sind die Einzelstaten als politische Mächte, nicht eine aus-
gezeichnete Minderheit der Nation vertreten. In jenen beiden
Häusern wird somit nicht das Volkshaus durch ein aristokra-
tisches Haus, sondern es wird die gemeinsame Nationalreprä-
sentation durch die Versammlung der verbündeten Statsindivi-
dualitäten ergänzt und besckränkt. In beiden Bundesverfass-
ungen sind die Stateu gleichmäszig je durch zwei Mitglieder
vertreten. Der Bundesrath im norddeutschen Bund ist
eher eine Art Bundesregierung, nicht ein Statenhaus, aber dient
doch einiger Maszen anstatt eines Statenhauses.
3. Die Qualitäten, welche bei der Bildung des Ober-
hauses in Betracht kommen, sind verschieden, je nach der Art
der Nation und den Zeiten. Wie immer sie aber bestimmt
werden, die Repräsentanten derselben müssen vorzugsweise p o-
litisch gebildet und durchdrungen sein von dem Pflicht-
gefühl gegen den Stat und das Volk.1 Die wichtigsten Mo-
mente scheinen folgende zu sein :
1 Vgl. darüber besondei'3 die Ausführung yon Gneis t, Engl. Ver-
fassungsrecht.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 33
514 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
a) Wo es, wie in England, eine mächtige und gesicherte
Erbaristokratie gibt, verdient dieselbe voraus Berücksichtig-
ung. Sie bildet den Kern des englischen Oberhauses, und
verleiht demselben vorzüglich ein historisches Ansehen und
eine feste Haltung in dem Wechsel der Lebensströmungen.
Ohne Vermögen und ohne Erfrischung aus dem Volke,
dem sie nicht als geschlossene Kaste entgegensteht, sondern
mit dem sie verbunden und verwachsen sein musz, wie die
Berge mit den Ebenen, kann dieselbe am wenigsten in unsern
Tagen bestehen. In Deutschland sind zwar noch brauch-
bare Elemente einer solchen Aristokratie vorhanden, aber nur
eine gründliche Adelsform2 hätte dieselbe in ihrer Keinheit
und Stärke herstellen, und für den Stat gewinnen können.
Diese Reform ist aber zur rechten Zeit nicht vollzogen worden.
b) Die Erbaristokratie ist gewöhnlich auch Grundaristo-
kratie. In neuerer Zeit wird zuweilen von jener abgesehen
und der Nachdruck auf diese gelegt, zuweilen letztere zu einer
bloszen Vermögensaristokratie erweitert.'5 Vieles hängt hier
von der Natur des Landes und des Lebens ab. In Handeis-
staten genieszt das bewegliche Vermögen nicht geringeres An-
sehen als der Grundbesitz. In Ackerbaustaten hat dieser den
entschiedenen Vorzug. Für die conservative Bedeutung des
Senats ist jedenfalls groszes Gr undeigenthu m und vor-
züglich erbliches eine der sichersten Grundlagen.4 Ein
* Vgl. darüber Stahl's Rede zu Berlin vom 22. Nov. 1849, und
meine Rede zu München vom 5. Juli 1850, vorzüglich aber den Artikel
Adel im deutschen Statswörterbueli.
3 Der Entwurf der belgischen Verfassung hatte für die Senatoren
eine Grundsteuer von 10Q0 fl. gefordert, die Verfassung selbst begnügt
sich aber mit einer Vermögenssteuer von diesem Betrag (§. 56). In
Portugal (Verf. von 1838) wird ein Einkommen aus Grundbesitz von
2600 Milreis, und aus Geschäften von 4000 Milreis gefordert.
4 E. Burke, Betrachtungen über die franz. Revolution.: „Das cha-
rakteristische Wesen des Eigenthum3, welches auf der Verbindung der
Principien seines Erwerbs und seiner Erhaltung beruht, ist die Ungleich-
heit. Die groszen Vermögensmassen, welche den Neid erregen und die
Achtes Capitel. Von der Bildung des Senats oder Oberhauses. 515
Erbrecht, welches einen Gütercomplex der Familie bewahrt,
und stets in Einer Hand concentrirt, wie das englische Kecht
der Erstgeburt oder das deutsche Institut der Familienstift-
ungen, begründet und erhält eine erbliche Pairie, stärkt
ihre Macht und befestigt ihre Würde.
Der grosze Grundbesitz wirkt aber auch ohne diese erb-
rechtliche Geschlossenheit als freies Eigenthum, welches
der heutigen Wirthschaft besser zusagt, in derselben Weise.
Daher begründen manche neuere Verfassungen die Vertretung
im Oberhaus einfach auf den groszen Grundbesitz überhaupt.
Die Unterscheidung zwischen adelichen und bürgerlichen Ritter-
gutsbesitzern hat heut zu Tage keinen Sinn mehr, und ist
daher mit Recht auch in den österreichischen Landesverfass-
ungen seit 1861 aufgegeben worden.
Gröszere Bedenken hat
c) die Vertretung des Reichthums überhaupt, auch des
beweglichen Vermögens. Der Reichthum für sich allein,
wenn er nicht durch Verdienste um die Nationalinteressen ge-
adelt wird, ist keine aristokratische Eigenschaft. Er ist dann
nur durch die Quantität hervorragend, nicht durch die Quali-
tät ausgezeichnet , und es kann sich auf ihn geradezu die
wucherliche Aussaugung der nationalen Kräfte gründen oder
doch ein spieszbürgerliches Brozenthum sich damit spreizen.
Raubsucht reizen, müssen daher auszerhalb der Möglichkeit der Gefahr
gesetzt werden. Dann bilden sie einen natürlichen Wall um die kleineren
Vermögen in allen Stufen. Die nämliche Vermögensmasse, welche durch
den Lauf der Dinge unter die Menge vertheilt wird, hat nicht dieselbe
Wirkung. Ihre Widerstandskraft wird geschwächt, indem sie ausge-
breitet wird. Die Macht, unser Vermögen in unsern Familien fortzu-
setzen, ist eines der gewichtigsten und bedeutendsten Verhältnisse für
die Familie, und trägt in vorzüglicher Weise zu der Fortpflanzung des
States selbst bei. Die Besitzer des Famlienreichthums und die Inhaber
der ausgezeichneten Lebensstellung, welches erbliches Gut gewährt, sind
die natürlichen Wächter für jene Fortpflanzung. Unser Oberhaus be-
ruht auf diesem Princip. Es ist ganz auf erbliches Vermögen und erb-
liche Auszeichnung gegründet."
33*
51G Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Aber die Geschichte Venedigs und der deutschen Hanse-
städte beweist, dasz es auch eine auf grosze Kaufmannschaft
gegründete Aristokratie gibt: und in den modernen Verhält-
nissen finden wir oft grosze Kaufleute, Fabrikanten und
Banquiers, welche sich auszeichnen nicht blosz durch die
Vermögensmacht, die ihnen zur Verfügung ist, sondern ebenso
durch einen weitsichtigen politischen Blick und eine opferbe-
reite Volks- und Vaterlandsliebe. Die Berücksichtigung dieses
Elements neben dem groszen Grundbesitz dient daher in unsrer
Zeit zu einer zeitgemäszen Ergänzung und Correctur.
d) Die Aristokratie der statlichen Würden und
Aemter war vorzugsweise in dem Senate der römischen
Republik vertreten, der in manchen Beziehungen auch die
Bedeutung eines Oberhauses hatte. In England waren an-
fänglich die meisten Lords zugleich öffentliche Beamte und ist
die Zuziehung der XII Oberrichter in das Oberhaus mit
berathender Stimme von der Art. Die obersten Richter
verdienen vorzugsweise, um ihrer Rechtskunde und der be-
währten Hebung in dem Schlitze der Rechtsordnung willen,
bei der Bildung des Oberhauses berücksichtigt zu werden. In
Spanien wurden durch die Verfassungsänderung von 1845
vorzugsweise die Präsidenten und Mitglieder der Codes, mit
unabhängiger Vermögensfftelhing, und ebenso die hohen Beamten
und Würdeträger des Reichs, Minister, Statsräthe, Gesandte,
Präsidenten und Beisitzer der obersten Gerichtshöfe neben den
Granden und reichen Adeligen für fähig erklärt, in den Senat
ernannt zu werden. Die Napoleonischc Verfassung von
1852 (§. 20) erklärt die Marschälle und Admiralr des Reichs
neben den Kardinälen zu Senatoren.
e) Oefter wird in den ersten Kammern der hohen Geist-
lichkeit, insbesondere den Bischöfen eine Stellung ange-
wiesen, mit Recht, insofern die hohen Würdeträger der Kirche
eine grosze psychische Macht im State vertreten , und ge-
wöhnlich mit groszer Autorität aucli vor dem Volke ausge-
Achtes Capitel. Von der Bildung des Senats oder Oberhauses. 517
rüstet sind. Das englische Oberhaus ist auch der Sitz der
englischen Bischöfe, freilich nur einseitig der anglicanischen,
nicht auch der katholischen Kirche. Ebenso gibt die öster-
reichische Verfassung von 1861 den Erzbischöfen und den
Bischöfen, welchen fürstlicher Bang zukommt, Sitz und Stimme
im Herrenhause, mehrere andere deutsche Verfassungen
neben den katholischen Bischöfen auch einem Repräsentanten
der protestantischen Kirchenleitung.
f) Auch die Wissenschaft ist eine geistig ausgezeich-
nete Macht, und hat, insofern sie eine statliche Bedeutung inne
hat, wie in den Akademien und auf den Universitäten, ein
natürliches Recht auf einen Sitz inmitten der Aristokratie der
Nation.
g) Endlich ist die Erhebung in das Oberhaus ein würdiger
Preis für Männer, die sich um den Stat und die Nation grosze
Verdienste erworben haben, und zugleich gewinnt dasselbe durch
die Aufnahme einer individuellen Verdienstaristo-
kratie an geistigen und moralischen Kräften sowohl, als an
Autorität vor der Nation.
4. Weniger wichtig, als dasz die rechten Qualitäten er-
kannt und berücksichtigt werden, sind die Formen, wie die
Mitglieder des Hauses bezeichnet werden:
a) Die Wahl, für das Unterhaus Regel, ist hier minder
anwendbar, indem die aristokratische Qualität nicht aus der
Quantität hervorgeht, sondern in sich selber ihre Stärke hat.
Auch darin entsprechen die belgische und die portugie-
sische (seit 1838) Verfassung, welche den Senat nur durch
Wahl bestellen, der Idee nicht.
Nur wo die Wähler selbst schon durch aristokratische
Eigenschaften ausgezeichnet sind, wie z. B. die groszen Grund-
besitzer, die Groszindustriellen oder die Corporationen der
Universitäten, ist die Wahl einer Vertretung im Oberhause
begründet.
b) das Erbrecht setzt das Dasein einer erblichen Ari-
518 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
stokratie in der Nation voraus, wie in England die Lords, in
Deutschland mindestens die Prinzen und die Standesherren.
c) Die königliche Ernennung ist in England zur
Ergänzung der erblichen Pairie,* und in dem franzö-
sischen System von 1830 und von 1852 als allgemeine Regel6
der Begründung und Erhaltung einer lebenslänglichen Pairie
anerkannt, Die p reuszi sehe Verordnung vom 12. Octbr. 1854
beschränkt das königliche Ernennungsrecht durch Präsentationen
der aristokratischen Verbände und der grösseren Städte. Das
österreichische Grundgesetz von 1861 weist auf die
Verdienste um Stat oder Kirche, Wissenschaft oder Kunst hin,
welche der Kaiser durch Ernennung ehrt. Der König ist vor-
zugsweise berufen, die national -ausgezeichneten Eigenschaften
zu erkennen und zu ehren. Insofern ist er ganz geeignet, ein-
zelne Individuen unter die Volksaristokratie, sei es als Erb-
pairs, sei es als lebenslängliche Pairs, aufzunehmen. Aber es
darf nicht das ganze Oberhaus von der königlichen Macht
und Gnade abhängig sein, soll dasselbe seine vermittelnde Be-
deutung für den König und das Volk erfüllen.
d) Die Cooptati«>n *h>* Hauses selbst wurde in den
aristokratischen Senaten der mittelalterlichen Etaichsat&dtt viel-
fach geübt, und auch in den Xapoleonischen Verfassungen von
1799 und 1802 zugelassen.
e) Verbindung mit gewissen Würden oder Folgen
der Bekleidung bestimmter Aemter. Das alt-römische Sjatem
vornehmlich hielt sich an diese Form. In Preuszen berech-
tigten die vier groszen Landesämter zum Sitz im Herrenhause.
Passend können auch verschiedene Formen mit einander
verbunden und neben einander gebraucht werden, um das Ober-
haus würdig zu erfüllen.
1 Dieselbe wird übrigens oft geübt. Man rechnet 667 Pairien, die
von 1700 bis 1820 creirt worden sind. Th. Ersk. May, Verfassnngs-
gesch. Englands, übersetzt von Oppenheim I, S. 194,
6 Ebenso in Spanien seit 1845.
Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Ge.-,etzgebungskörpers. 519
5. Dem Charakter der Institution entspricht die gröszere
Dauerhaftigkeit der Senatoren- oder Pairswürden.
Auch wo die Senatoren in der Regel gewählt werden,
wie in den nordamerikanischen Einzelstaten und in Belgien,
werden dieselben doch, verglichen mit den Abgeordneten der
Volkskammer, gewöhnlich auf eine doppelte oder dreifache
Amtsdauer gewählt-; dort z. B. auf 2 oder 3 Jahre, hier auf
8 Jahre.
Das Grundprincip der Institution erheischt strenge ge-
nommen so lange Dauer, als die Qualität vorhanden
ist, worauf die Stelle sich gründet. Um neben der Regel der
Dauerhaftigkeit auf Lebenszeit auch die Möglichkeit ausnahms-
weiser Entartung zu berücksichtigen, hat bei den Römern
das Censoramt vortrefflich gedient. Die Erneuerung der
Senatslisten war zugleich Reinigung derselben. Sie dient
dazu, die Institution vor Altersschwäche zu bewahren und die
Harmonie mit der Volksvertretung herzustellen.
Neuntes Capitel.
Befugnisse.
A. Des gesammtcn Gesetzgebungskörpers.
Der Gesetzgebungskörper stellt die ganze Nation in Haupt
und Gliedern gleichsam in verkürztem Maszstabe und im Aus-
zuge dar. Seine Macht ist daher eine innerlich vollkommene,
nationale, deszhalb aber nicht eine „absolute," noch „des-
potische." Blacks tone freilich schreibt dem englischen Par-
lament auch eine solche zu, und spricht von politischer „All-
macht" (omnipotence) desselben; und manche neuere Publi-
cisten stimmen ihm hierin bei, indem sie eine absolute Stats-
520 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
macht für unentbehrlich oder für unvermeidlich, und immerhin
für ein geringeres Uebel halten, wenn sie dem genannten ge-
setzgebenden Körper, als wenn sie nur einem Individuum zu-
geschrieben wird.
Aber der moderne Stat kennt keine absolute Macht,
weil er menschlich ist und dem Menschen in seiner Beziehung
zum Menschen eine solche weder vergönnt ist noch zusagt.
Auch die höchste Statsmacht des Parlaments hat in dem na-
türlichen Verhältnisse, in welchem es zu dem englischen Volke
steht, und in der Existenz anderer Gewalten im State, ferner
in der politischen Bestimmung der es dient, endlich in den
verfassungsmäszigen Formen seiner Verhandlungen und Be-
schluszfassung vielerlei sittliche und rechtliche Schranken, welche
sie vor Willkür und Miszbrauch bewahren. Die letzteren for-
mellen Beschränkungen werden gewöhnlich anerkannt, aber
mindestens für die Gesetzgebung selbst wird Allmacht des Parla-
ments verlangt. In der Segel gibt es in dem Statsorganismus
keinen Körper und kein Organ, welche demselben übergeordnet
oder auch nur, soweit seine Bestimmung reicht, gleichgeordnet
wären, und die Kegel musz das Siatsrecht anerkennen, dasz
seine gesetzgeberische Autorität die höchste, und dasz sie
für alle andern Glieder und Angehörigen des States eine ver-
pflichtende ist, der sie sich auf ordentlichem Wege nicht
entziehen können. Aber wenn das Parlament sein Verhältnis*
zu der Nation grob miszachten und wirklich eine offenbar des-
potische Gewalt wider das wahre Recht ausüben sollte, so
würde das Uebermasz des Miszbrauchs seiner Macht den auszer-
ordentlichen Widerstand einer freien Nation hervorrufen, und
es bald klar werden, dasz jene „Allmacht" eine Fiction sei,
die nicht Stand hält. Man denke sich , dasz ein corrumpirtes
Ober- und Unterhaus von einem despotisch gesinnten Könige
bestimmt würde, die Parlamentsverfassung in England aufzu-
heben, und diesem allein alle gesetzgebende Gewalt zu über-
tragen. So lange das englische Volk noch nicht völlig ent-
Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Gesetzgebungskörpers- 521
artet und verdorben ist, würde es sich eine solche Parlaments-
acte sicher nicht gefallen lassen. 1
In folgenden Richtungen äuszert sich die Thätigkeit des
gesetzgebenden Körpers hauptsächlich :
1. Ihm steht es zu, die dauernde Ordnung des
States selbst festzustellen, die Verfassung der Nation
auszubilden, zu verbessern, umzuändern, bleibende Institu-
tionen zu begründen oder aufzuheben, mit einem Worte, ihm
gebührt voraus die organische Gesetzgebung.
Diese Befugnisz ist in den meisten neueren Verfassungen
anerkannt. In Nordamerika aber concurrirt mit dem Congresz,
wenn es sich um Zusätze zu der Bundesverfassung oder Ab-
änderung derselben handelt, ein auszerordentlich gewählter
Convent. In einzelnen schweizerischen Republiken ist die Ab-
änderung der Verfassung geradezu dem gewöhnlichen groszen
Rathe, der sonst die gesetzgebende Gewalt ausübt, entzogen,
und einem eigens für diesen Zweck zu ernennenden Verfassungs-
rathe vorbehalten. Erhöhte Vorsicht und strengere Erforder-
nisse für diese wichtigste Function der Gesetzgebung haben
guten Grund, aber die Begründung besonderer Organe für die-
selbe neben dem gesetzgebenden Körper macht einen unorga-
nischen Eindruck und bringt leicht Störung und Verwirrung in
die bestehende Statsordnung.
2. Er übt auch in allen übrigen Beziehungen das Recht
1 Mit dieser letzteren Auffassung stimmen auch die englischen Com-
mentatoren ßlackstone's zu I. 2, 3 überein Sie verweisen einmal auf
das „angeborene Volksrecht," und anderseits darauf, dasz die Macht des
Parlaments ihrem Wesen nach eine „anvertraute," nicht eine ursprüng-
liche sei. Eine ganz entgegengesetzte und auch in unsern Tagen noch
wahrnehmbare Gefahr ist die der Ohnmacht des Gesetzes, die der sky-
thische Fürst Anacharsis schon in einem Gespräche mit Solon (Plu-
tarch, Solon 5) scharf genug bezeichnet hat: „Die geschriebenen Gesetze
gleichen Spinngeweben, welche die Schwachen und Kleinen , die hinein-
gerathen, festhalten, aber von den Eeichen und Mächtigen zerrissen
werden."
522 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
der Gesetzgebung in vollem Umfange aus, und ordnet so-
wohl das öffentliche als das Privatrecht.
Er allein spricht das Gesetz (loi) aus. Die Kegierung
dagegen unter Umständen auch andere Verwaltungsbehörden
erläszt die Verordnung (ordonnance, decret). Auf diesem
organischen Gegensatz der Autoritäten beruht zunächst der
Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung. Jenes ist der
Willensausdruck des Gesetzgebers, diese der Verwaltung.
In der Kegel kann daher das Gesetz nur durch die Ueber-
einstimmung aller Factoren der gesetzgebenden Gewalt (König
und Kammern, Congresz u. s. f.) zu Stande kommen.2 In der
Verordnung dagegen spricht sich die Autorität der Regierung
oder einer andern Behörde aus.
Offenbar ist die Autorität des Gesetzes die höhere, weil sich
in ihm der Wille der Gesammtrepräsentation des ganzen
Stats ausspricht, die der Verordnung die mindere, weil sie nur auf
der Autorität eines einzelnen Gliedes der Staatsgewalt, wenn
auch vielleicht der obrigkeitlichen Gewalt beruht.
Dem Inhalte nach treffen die beiden Gebiete keineswegs
zusammen. Vielmehr dürfen eine Reihe der wichtigsten Ver-
hältnisse nach den meisten Verfassungen nur durch die Ge-
setzgebung nicht durch die Verordnung geregelt werden.
Dahin gehören zumeist:
a) die wichtigeren s tatlichen Institutionen und die
Grundrechte,
b) das gesammte Privatrecht und die Civilprocesz-
Ordnung,
c) das Straf recht und die Ordnung des Strafver-
fahrens,
1 In mehreren deutschen Staten steht dorn König auch da? Recht
zu, in dringlichen Fällen sogenannte p ro visoris cli e Gesetze zu erlassen,
die aber nur insofern ihre Rechtsgültigkeit behaupten können, als die
beiden Kammern in nächster Versammlung zustimmen und hinfällig
werden, wenn eine derselben die Zustimmung verweigert. Vgl. v. Rönne
in Aegidis Zeitschr. f. D. Statsrecht. Bd. I. H. 3.
Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Gesetzgebungskörpers. 523
d) alle Auflagen von Steuern und die Feststellung des
Statshaushalts,
e) die Grundbestimmungen über die Militärpflicht.
Ueberdem musz, soweit die Gesetzgebung die Verhältnisse
ordnet, die Verordnung das beachten und wird demgemäsz der
Bereich der Verordnung eingeschränkt.
Die Gesetze selber machen unter Umständen weitere Ver-
ordnungen nöthig, theiis zum Behuf des Vollzugs (Voll-
zugsverordnungen)', theils zur E r g ä n zu ng der Lücken der
Gesetze, besonders in den Verhältnissen, die einem öftern
Wechsel unterworfen sind.
Daneben bezieht sich eine dritte und die zahlreichste Classe
der Verordnungen auf einzelne statliche Kichtungen,
— z. B. die Finanzverwaltung, polizeiliche Beziehungen, Vor-
schriften für die Heeresordnung — und nicht auf die Verhält-
nisse der gesammten Nation, welche vorzugsweise durch das
Gesetz geordnet werden.3
Nicht unpassend werden die allgemeinen Verordnungen,
welche in näherer Beziehung zu der Gesetzgebung stehen, nach
manchen Verfassungen der regelmäszigen Controle des gesetz-
gebenden Körpers unterworfen.
Die Ausbildung dieses Gegensatzes gehört erst der neuern
Zeit an: und auch nun sind die einen Völker eifriger als
die anderen, den Bereich der Gesetzgebung auszudehnen und
den der Verordnungen einzuschränken. Die Besorgnisz vor
der Willkür der Kegierungsgewalt ist die eine, das Interesse
der öffentlichen Wohlfahrt, dasz die Wirksamkeit der Regierung
nicht gelähmt und der gesetzgebende Körper nicht zu einem
regierenden und verwaltenden verdorben werde, die entgegen-
gesetzte Rücksicht, welche bei der Bestimmung der Gränzen
zwischen beiden vorzüglich in Betracht kommen. In England
3 Vgl. die Ausführung bei Stein Verwaltungslehre. Stuttg. 1865.
Bd. I. S. 62 f., welcher übrigens den Gegensatz meines Erachtens zu
formel faszt, und daher das Gebiet der Verordnung zu weit ausdehnt.
524 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
wird die Gesetzgebung durch ein üebermasz von Einzelheiten
beladen und verwirrt; in Frankreich pflegt das Gesetz nur die
allgemeinen Grundsätze festzustellen und alles Detail den Or-
donnanzen und Decreten zu überlassen.
In den früheren Jahrhunderten des Mittelalters wurde der'
Nachdruck eher auf den Gegensatz zwischen hergebrachtem
Kecht und Neuerungen gelegt. Nur die letztern bedurften
in der Regel der Zustimmung der Sünde. l
3. Dem Gesetzgeber kommt in den meisten neuern Stuten
auch das ausschlieszliche Recht zu, Steuern und Abgaben
zu bewilligen, oft auch der Entscheid über die Verwendbar-
keit der öffentlichen Einnahmen zu bestimmten
Statswerken, und die Erlaubnis/, zur Benutzung des
Laudescredits, sei es durch Aufnahme von Darlehen, sei
es in anderer Form.
Diese practisch «richtige Seite der Thätigkeit des gesetz-
gebenden Körpers war den römischen Comitien fremd ge-
blieben und vornehmlich den Magistraten und der Autorität
des Senates überlassen worden. Die germanischen Völker aber
haben von jeher auf die Rechte »1er Repräsentation in dieser
Beziehung den gröszten Werth gelegt. Anfänglich war die
4 Einige Bauptstellen mögen die Verbreitung dieser a.uffassung be-
urkunden, ai für die fr&nkisohe Monarchie Capit. Garoli M. a. 803,
c 1;<: „l'i populus interrogetur de oapitulis, quae in lege noviter addita
sunt: ei postquam omnes oonsenserini, snbsoriptioues — faciant. Ed.
Oaroii Cakri a 864, o. 6: »Lei consentn populi St et constitutione Re-
gig.- in Für die deutschen Linder Reichsgeseti ron 1231: „Saper
qua re reqnisitd oonsensn prinoipum i'uit taliter diffinitum, oft neque
principe* neque cUii quilibet constitutione* v<I nova jura facere possint,
ni-'i meliomm et majorani terre consensm primitaa uabeatur,B Vgl.
Ungcr, Geschichte der Landstände II, S. 188 ff. c) Für England
Fleta über das sächsische Witenagemot, das berufen sei, „novis injurUi
emersis nova constituere remedia.* d) Für Frankreich. Alte Cou-
turae von Anjou, eitirt von Schaffner, braus. Reohtsgeso)* II, 170:
Ne le Roy sans assentement e Barons ue peul mettrt o&uitwM en leurs
terres — ne ils la pevent auxi mettre cn la leur sans lassentement de
leurs Valvasseuri ne de la greignour partie du peuple.a
Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Gesetzgebungskörpers. 525
Zustimmung der Staude auch hier nur für die Auflage neuer
Steuern und Lasten 5 gefordert worden. Später erst ent-
wickelte sich das Steuerbewilligungsrecht der Landesvertretung
zu einem Antheil an der Normirung des gesammten Stats-
haushalts. 6
4. Die Abschlieszung von Stats vertragen mit frem-
6 Englische Magna Charta von 1215: „Nulluni scutagium (lehens-
reclitliche Kriegssteuer) vel auxilium ponatur in regno nostro, nisi per
commune consilium legni nostri, nisi ad corpus nostrum redimendum et
primogenitum filium nostrum militcm faciendum, et ad filiam nostram
primo^enitam semel maritandam." Freiheitsbrief König Eduards I.
von England von 1297: „avuus dites graunto pur nos heyrs que mes
teles aydes mises ne prises uc trerroms a coustume par nule chose que
soit fayte" (die zuletzt B< zogenen auszerordentliohen Steuern sollen nicht
in Gewohnheitsabgaben umgewandelt werden dürfen): wenn Bedürfnisse
zu solchen wiederkehren, so verspricht der König nur „par comraun
assent de tout le Roiaume" Steuern zu erheben „da commun profist de
meismes te Roiaume, sauve /-■>■ ancienes aydes eprises dues e acoustu>iiees.it
Die alte Chronik der Normandie über die Zeit Wilhelms des Eroberers :
„En ce fait avez be-oing de l'ayde et du conseil de vos amis ; si le faites
tous a>sembler et lenr remonstrez vostre fait, et les re({uerez de ce qui
vous e»t necessairej et be3oigniez par leur conscil; car raison est, que
qui paie Vescot (Schoosz), quHl so/t ä V'asseoir." Sachsenspiegel III,
Dl, §. 3: „He ne mut ok neu gebot, noch hei berge, noch beedc de-
nest, noch recht uppe't bind äetten, is ne willekore dat land."
Das Sprichwort der deutschen Stände:
.. Wo Wir nicht niitrathen,
Wir auch nicht mitthaten"
hat einen ähnlichen Sinn.
6 Nordamerikanischc Bundesverfassung von 17871, 8: „Der Con-
gresz hat das Recht, Taxen, Abgaben, Auflagen und Accisen aufzulegen
und zu erheben, Geld zu borgen auf den Credit der Yereinigten Staten,
Geld zu münzen4' u. s. w. Bayerische Verfassung von 1818 VII,
§. 3: „Der König erholt die Zustimmung der Stände zur Erhebung aller
directen Steuern, sowie zur Erhebung neuer indirecten Auflagen oder zu
der Erhöhung oder Veränderung der bestehenden." §. 4: „Den Ständen
wird daher nach ihrer Eröffnung die genaue Uebersicht des Statsbedürf-
nisses sowie der gesammten Statseinnahmen (Budget) vorgelegt werden."
Preuszische Verfassung von 1850 I, §. 99: „Alle Einnahmen und Aus-
gaben des Stats müssen für jedes Jahr zum voraus veranschlagt und auf
den Statshaushalt-Etat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch
ein Gesetz festgestellt."
526 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
den Staten ist in den neueren Verfassungen gewöhnlich der
Competenz des gesetzgebenden Körpers entzogen und der der
Regierung zugetheilt. Obwohl durch dieselben allerdings
oft dauernde Verhältnisse der ganzen Nation geregelt werden,
so hat doch hier vorzüglich die Rücksicht überwogen, dasz die
Statsinteressen im Verhältnis zu fremden Staten besser durch eine
concentrirte und im Stillen ihre Beschlüsse fassende und ihre Maß-
regeln treffende Macht geordnet werden, dasz dagegen die öffent-
liche Verhandlung in dem gesetzgebenden Körper leicht die Schwie-
rigkeiten der Regelung vergrßszern und demso handelnden State
neue Verlegenheiten, Gefahren und Nachtlieile bereiten könnte.7
Im Altertlium dagegen ist die entgegengesetzte An-
sicht, dasz die Statsverträge zu ihrer unbezweifelten Gül-
tigkeit auch der Zustimmung des Volks bedürfen, vorherrschend,8
und im Mittelalter wurde auch oft der Kath oder die Ein-
willigung der Stände nftthig erfunden.9
7 Für England Klacks t I. 7, 2. Seilet in der nur da nie r i k a-
nisohen BundeSYerfassung ist das Recht Btatsrertr&ge ia loUiesuea
dem Präsidenten vorbehalten, and derselbe nur an die „Zustimmung
des Senates,1' nicht anefa der Reprisentanten gebunden. H, 2 Was-
hington in Beiner Botschaft ron 30. Mir/ 1796: »Die Verhandlungen
mit auswärtigen Hftohten erfordern Disoretion, ihr Erfolg hängt fast
immer von dem Gteheimnisi ab. Selbst wenn dieselben in einem End-
resultate gebracht sind, wäre die sofortige Enthüllung der lCissregelo,
Begehren und Zugeständnisse, welche vorgeschlagen oder erwartet werden,
unpolitisch, und könnte einen verderblichen Einflusz auf die künftigen
Verhandlungen haben oder eine nnrersQgliche Dmstimmung bei den
Mächten hervorrufen."
8 In Athen wmd. Mi sogar die fremden Qesaadteu von der Volksrer-
lasnmluag angehört In Rom kam dal Prinoip, dasz die Comitien zu-
stimmen müssen, erst seit den Kriegen mit den Bamnitem auf. Hatte
das Volk nicht zugestimmt, so konnte es lieh duroh Deberliereruag der
abschließenden Magistrate an (\<'\\ Feind ron leinen Verpflichtungen be-
freien. Vgl. die ausführliche Untersuchung Rubino'fl (roa. Verf. und
Gesch.) I, S. 274 ff., 280.
J Ungar, Gesch. der Landst. I, 96 ff., II, 332 ff. So für Bayern
die Primogeniturordnung v. 1506: „Wir — als regierende Fürsten -ollen
und mögen kriegen, wie wir uns und eine gemeine Landschaft dessen
miteinander vertragen."
Zehnte? Capitel B. Befugnisse aller einzelnen Bestandteile. 527
Unter den neuern Verfassungen hatte ausnahmsweise die
französische von 1848 dem Präsidenten zwar die Unter-
handlung und Genehmigung der Verträge auch überlassen,
aber die vorherige Billigung der Nationalversammlung für ein
notwendiges Erfordernisz der Gültigkeit derselben erklärt
(Art. 52), und haben die schweizerischen Verfassungen
durchweg die Genehmigung der Verträge den repräsentativen
Körpern vorbehalten. (Bundesverf. Art. 73. 5.) Insofern die
Ausführung von Statsverträgen aber die Rechtssphäre auch der
einzelnen Einwohner betrifft, oder in die Gesetzgebung ein-
greifen, bedürfen sie der Mitwirkung des Gesetzgebers. lu
Zehntes Capitel.
li. Befugnisse aller einzelnen Bestandtlifile.
1. Das Recht, einen in die Competenz des Gesetzgebungs-
körpers gehörigen Gegenstand in Anregung zu bringen, steht
regelmäszig allen Theilen des Körpers zu. Sie kann eine Bitte
sein (Petition), zur Vorbereitung eines Gesetzesantrages, wie
nur diese gewöhnlich den deutschen Kammern vor 1848 dem
Statsoberhaupte gegenüber zukam,1 oder eine Empfehlung,
10 Belgische Verf. §. G8. Die Handelsverträge, sowie diejenigen
Verträge, welche den Stat belasten oder einzelne Belgier verpflichten,
haben nur Kraft, wenn sie die Zustimmung der Kammern erhalten.
Griechische Verf. §. 25: „Immerhin sind Handelsverträge oder alle
andern Verträge, welche Bestimmungen enthalten, die der Sanction eines
Gesetzes bedürfen oder die Griechen persönlich verpflichten, nur aus-
führbar, insofern sie die Zustimmung der Deputirtenkammer und des
Senates erlangen." Norddeutsche Bundesverf. 11: „Insoweit die
Verträge mit fremden Staten sich auf solche Gegenstände beziehen,
welche nach Art. 4 in den Bereich der Bundesgesetzgebung gehören, ist
zu ihrem Abschlusz die Zustimmung des Bundesrates und zu ihrer
Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich."
1 Vgl. schon die französische Verfassung von 1814. Art. 19—21.
528 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
wie sie in England durch die Botschaft des Königs an die
beiden Häuser und in Amerika durch die Botschaft des Prä-
sidenten an den Congresz geschieht, einen Gegenstand in Be-
rathung zu ziehen, oder ein Auftrag, beziehungsweise Befehl
zur Berichterstattung und Antragstellung, wie die Häuser
Nordamerika^ den Commissionen, und die groszen Käthe der
Schweiz den Regierungen zu ertheilen pflegen. Endlich kann
die Anregung mit
ii. der Einbringung eines Gesetzesantrages selbst, mit
der Proposition, oder der Ausübung der sogenannten Ini-
tiative im engern Sinne zusammenfalle]].
Naturgemäsz and nach der Auffassung der meisten Staten
ist es vorzugsweise die Aufgabe des Statshauptes, und
seiner Regierung, die nöthigen Gesetzesanträge dem Gesetz-
gebungskörper vorzulegen. In Bona war dies/ Sache der Ma-
gistrate, später der Kaiser, im Mittelalter überall der Könige
und Forsten. Aueh in unsern Tagen isl es die Regel geblieben,
dau die Entwürfe von der Regierung ausgehen; sogar in
den schweizerischen Bepubliken, deren neuen' Statstheorie (seit
1830) dieselbe nichl mehr als einen Bestandteil des Gk
gebung8körpers anerkennt. Die Napoleonische Verfassung ron
1852 (§. 8) spricht dem Kaiser allein die [nitiative der Gesetze ru.
Eine Bonderbare Ausnahme mach! das englische Stats-
recht, welches dem Könige allein unter den drei Theilen des
Parlaments die Initiative rersagt, angeblich zur Ehre des
Königs, damit nichl Bein Vorschlag der Bekämpfung ausgesetzt
werde.- In Wirklichkeit indessen werden auch in England fast
alle Gesetzesentwürfe rorersi ron den Ministem bearbeitet und
* Der Modus ten. pari, läset das Parlament noch durch den König
in Person halten und die Vorschläge durch den kSnigl. Kanzler machen.
Die spätere Auffassung BOhlosz Bioh formell wohl daran an, daft die Bills
anfänglich in Form von Petitionen an den König rerfasst and ent
seit Heinrich VI. (1313—1422) in Form von Parlainentsacten aufge-
zeichnet wurden.
Zehntes Capitel. B. Befugnisse aller einzelnen Bestandtheile. 529
nur, wenn sie der Unterstützung der Regierung sicher sind,
auf dem Wege der Motion durch ein Parlamentsmitglied ein-
gebracht. :i
In der neueren constitutionellen Monarchie kann der Ge-
setzesantrag nun gewöhnlich auch in jeder Kammer seinen
Anfang nehmen.4 Da die Kammer in ihrer Gesammtheit erst
durch die Berathung einen gemeinsamen Beschlusz hervor-
bringt, so wird der Weg, auf welchem sie von diesem Rechte
Gebrauch machen kann, gewöhnlich durch ein einzelnes
Mitglied eröffnet werden müssen, welches erst einen indi-
3 Die englische Praxis entspricht dem richtigen Princip, welches die
englische Theorie verläugnet hat, viel genauer als die Praxis mancher
constitutionellen Staten des Continents, welche die richtige Theorie sanc-
tionirt haben. Vgl. Sismondi , Etudes I, S. lfji: „Ohne Zweifel haben
in England alle Mitglieder der beiden Häuser die Initiative und be-
trachten dieselbe als ein werthvolles Vorrecht; aber sie ist in ihren
Händen nur ein Mittel, die Einsicht des Parlamente auf Alles auszu-
dehnen und die Mitglieder der Regierung zu nöthigen, das Ihrige zu
thun. In Wahrheit werden alle Gesetze von einem Mitglied der Re-
gierung vorbereitet und vorgelegt und von der Autorität des Ministeriums
gehalten. Wenn es zufällig begegnen würde, dasz ein von der Oppo-
sition vorgeschlagenes Gesetz durchginge, so würde das Ministerium sich
zurückziehen, aber die Opposition ist ihrerseits zu weise, um sich mit
dem Detail einer Maszregel zu befassen, die sie nicht zu vollziehen hätte.
Wenn sie ihre Macht fühlt und der Majorität in einer Frage versichert
ist, so begnügt sie sich, eine „Resolution" durchzusetzen. Diese ist nur
ein Princip, welches sie annimmt oder ausspricht; die Sorge, dasselbe
in ein Gesetz umzuwandeln, überläszt sie dem gegenwärtigen oder künf-
tigen Ministerium." Die Vorlagen der Statsregierung werden sogar an be-
stimmten Tagen vorzugsweise eingebracht. E. May. Engl. Pari. S. 222.
In Schweden hatten die Stände schon nach der Verfassung von 1722,
§. 72 das Recht, durch eine gemeinsame Botschaft dem Könige einen
neuen in ihrer Mitte entstandenen Gesetzesentwurf zur Genehmigung
vorzulegen. Vgl. Verf. von 1809, §. 81, 87.
4 Französische Verfassung von 1830, Art. 15: „La proposition
des lois appartient au roi ä la chambre des pairs et ä la chambre des
deputes." Belgische Verfassung §. 27. Griechische von 1844,
§. IG. Bayerisches Gesetz vom 4. Junius 1848. Preuszische Ver-
fassung §. 64. Oesterreichische von 186J, §. 12. Deutsche Bun-
desv. §. 23.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 34
530 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Ge>etz.
vi du eil en Anzug (Motion) stellt. Das Recht der Initia-
tive der Kammer schlieszt daher das Recht ihrer Mitglieder
zu Motionen in sich. Damit aber dieses nicht in einer für die
Kammer selbst oder das Land schädlichen Weise ausgeübt
werde, ist eine wirksame Controle der Kammer selbst unent-
behrlich und um so eher zu rechtfertigen, als die Antrag-
stellung von Gesetzen ihrem Wesen nach keine blosz persön-
liche, sondern eine s tat liehe Function ist, und nicht den
Mitgliedern der Kammer als Individuen. Bondern der Kammer
als einem politischen Körper zukommt. Die Mittel, deren Mch
die Kammer zu diesem Zwecke bedient, sind:
a) die Erlaubnis/, oder Verweigerung der Einbrin-
gung selbst; in der Regel wird jene, wenn nicht klare und
gewichtige Gründe, z. B. die Besorgnisz vor schädlichem Scandal,
dagegen sprechen, ertheilt werden. In England erste Lesung,
b) Die Erklärung aber die Erheblichkeit de> <-
Standes nach angehörten Vortrag d<-> ICotionsstellers, in Eng-
land in Form der Zulassung zu zweiter Lesung.
c) Die Vorberathung und Prüfung durch Com-
missionen der Kammer oder die öeberweisung dazu an die
Regierung, bevor näher in den Vorschlag eingetreten wird.
Der Napoleo nischen Verfassung von 1852 eigen-
tümlich ist die Bestimmung, dasz der Gesetzgebungskörper
nur die Geseteesentwürfe der Regierung beratheii and darüber
abstimmen, und nur durch seine Prüfungsausschüsse den Stats-
rath veranlassen darf, Verbesserungsanträge seinerseits gut zu
hoisxea und unter dieser Voraussetzung dem Gesetzgebungs-
k<»rper vorzulegen (§. 89, 40 .
3. Das Recht« Prüfungen [Enquites) anzuordnen, um
die allgemeinen Zustände und Bedürfnisse näher zu erkunden,
und daraufhin gesetzgeberische oder andere in die Competeal
des Gesetzgebungskörpers gehörige bfaszregeln einzuleiten«
Wahrend die Kammern auf dem Contineni vornehmlich
nur amtliche Wege benutzen, um zu dieser Einheit zu gelangen.
Zehntes Capitel. B. Befugnisse aller einzelnen Bestandteile. 531
wird dieses Recht in England schon seit langem in viel freierer
und gründlicherer Weise mit weit gröszerem Erfolge von den
Parlamentshäusern so geübt, dasz ihre Commissionen vorzüglich
auch von kundigen Privatpersonen (Sachverständigen und Zeugen)
theils mündliche, theils schriftliche Aufschlüsse begehren und
auch freiwillig angebotene empfangen.
4. Das Recht, Petitionen, Beschwerden, An-
sprachen (Adressen), welche auf ihre Functionen Bezug haben,
in Empfang zu nehmen, und zu der Ausübung ihrer Compe-
tenz zu benutzen, nötigenfalls auch darüber Beschlüsse zu
fassen.
5. Das Recht, ihre Meinung, Gesinnung, Wünsche,
H o f f n unge n und Besorgnisse für das Land in un ver-
bindlicher Weise auszusprechen.
Das Statsoberhaupt pflegt dasselbe regelinäszig bei Ge-
legenheit der Eröffnung der Kammern in der Form der soge-
nannten Thronrede auszuüben. Diese ist von Rechts wegen
der Ausdruck der Meinung des Königs in der constitutionellon
Monarchie und nicht etwa der König das blosze Sprachrohr
seiner Minister.* Aber die Minister sind verpflichtet, dieselbe
zu vertreten, wie jeden andern Statsact des Königs, und es
wird die Uebereinstimmung der Minister mit dem Inhalt und
der Form der königlichen Rede vorausgesetzt. Daher wird die
Thronrede auch von dem Könige mit den Ministern vorberathen.
Die Antwortsadressen der Kammern an den König
sind ebenso der Meinungsausdruck der ersteren, und im In-
teresse der Monarchie nicht minder als der Kammern liegt
es, dasz dieser Ausdruck ein völlig freier der einzelnen Kam-
mern sei. Die Uebereinstimmung beider Kammern darf hier
nicht gefordert werden, da es sich nicht um eine verpflichtete
Willensäuszerung handelt. Dieselbe verstärkt natürlich das
Gewicht ihrer moralischen Autorität, aber ist keineswegs als
der Ausdruck des gesammten Volkes zu betrachten, denn von
5 Vgl. oben Buch IV, Cap. 23, S. 44 i ff.
34*
532 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
diesem läszt sich das Haupt nicht trennen, und das Volk hat
seine Meinung nicht völlig den Kammern übertragen.
Dagegen steht es den einzelnen oder beiden Kammern
nicht zu, Proclamationen an das Volk zu erlassen. Diese
enthalten nicht blosz eine freie Meinungsäuszerung, sondern sie
sind mit statlicher Autorität ausgerüstet, und eine solche steht
nur dem ganzen gesetzgebenden Körper, oder den Organen der
Regierung zu.
Eilftes Capitel.
C. Besondere Befugnisse.
I. Des Königs.
Dem Könige als dem Haupt des gesetzgebenden Körpers
kommen regelmäszig folgende Befugnisse ausschließlich1 zu:
1. Die Einberufung der Kammern und die Ver-
sammlung des gesetzgebenden Körpers.
Er allein ist fortwährend wach und thätig; ihm als dem
Haupt gebührt es öberdem, die zerstreuten Glieder, wenn das
Bedürfnisz es erfordert, um sich zu versammeln. Auch in re-
publikanischen Stuten ist diese Einwirkung auf den gesetz-
gebenden Körper in der Regel der Regierung belassen worden,
obwohl im Widerspruch mit der sonst häufig gebildeten Theorie
von der „vollziehenden Gewalt" und mit der Ausschlieszung
der Regierung von dem Antheil an der ..gesetzgebenden Gewalt."2
1 Das englische Statsrecht nennt diejenigen Rechte, welche dem
Könige allein, nicht auszer ihm auch noch anders Behörden oder
Privaten zukommen, des Könige „Prärogative.1* Die Adoption dieser
Bezeichnung ist indessen nicht zu empfehlen, indem das königliche
Recht durch dieselbe den Schein des Vorrechtes erhält.
? In Nordamerika übt der Präsident dieses Recht wenigstens in
außerordentlichen Fällen (Verf. TT, 3), in der Schweiz üben es die Re-
gierungen gewöhnlich aus, obwohl nach nähern gesetzlichen Vorschriften.
Eilftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. I. Des Königs. 533
Eine regelmäszi ge und in kurzen Zeiträumen wieder-
kehrende Versammlung des repräsentativen Körpers, im
Gegensatze zu willkürlicher Berufung oder Nichtberufung durch
die Regierung, ist indessen ein nothwendiges Erfordernisz seines
Lebens und seiner Gesundheit. Der Mangel einer solchen Ein-
richtung hat auf dem Continent sehr vieles zu dem Untergang
der ständischen Verfassung, der Ueberwucherung des Absolu-
tismus und den Erschütterungen der Revolution beigetragen.
In England wurde schon unter Eduard III. die jährliche
Versammlung des Parlaments gesetzlich vorgeschrieben:3 und
obwohl auch in der englischen Geschichte einzelne Unterbrech-
ungen vorkommen, und durch ein späteres Gesetz sogar nur
zu drei Jahren eine Sitzung gefordert wird, so ist doch die
jährliche Versammlung Regel geblieben. In neuerer Zeit
ebenso sind jährliche Versammlungen in den meisten Verfass-
ungen zur Vorschrift gemacht. 4
2. Die Schliessung (Prorogation) und die Auflösung
(dissolution) der Kammern. Die Vertagung im engern Sinn
(ajoitrncmenl), cl. h. die Verschiebung einer Versammlung
innerhalb der nämlichen Sitzungsperiode von einem Tag auf
einen andern steht oft nicht blosz dem König, sondern auch
den einzelnen Kammern selber zu. Die Schlieszung beendigt
eine Sitzungsperiode, die Auflösung hebt die Kammern selbst
auf. Mit jener werden gewöhnlich die Bescheide des Königs
3 In Bayern bat die Landschaft schon 1458, dasz alljährlich ein
Landtag gehalten werde. Der Herzog behielt sich aber vor, „unsere
Landschaft zu fordern, so oft uns Noth sein bedünken wird." Rudhart
Gesch. der Landstände in Bayern I, S. 220.
4 Nordamerika (I, 4), G riech enland (§. 30), Preuszen (§. 76),
Oesterreich (§. 9). In Frankreich war die „Nationalversammlung"
sogar permanent (§. 32); die jährliche Versammlung des Senats
und des Gesetzgebungskörpers ist auch nach der napoleonischen Ver-
fassung nothwendig (§. 11, 23, 43). In der Schweiz ist meistens über-
dem der Grundsatz anerkannt, dasz eine bestimmte Anzahl von Mit-
gliedern des Repräsentativkörpers die Besammlung fordern könne. Viele
deutsche Verfassungen haben noch mehrjährige Sitzungsperioden.
534 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Korper und das Gesetz.
über die vorberathenen Gesetzesentwürfe und Wünsche der
Kammern veibunden. Diese macht neue Wahlen nothwendig. •
Mit der Auflösung der zweiten Kammer ist die Schlieszung
auch der ersten Kammer nothwendig verbunden. fi
3. Die Sanctionder Gesetze und der letzte Entscheid
in allen dem gesammten Körper zustehenden Angelegenheiten.
Man hat sich in neuerer Zeit gewöhnt, die Sanction des
Königs das Veto desselben zu nennen. Dieser Sprachgebrauch,
von dem negativen Eechte der römischen Volkstribunen ent-
lehnt, ist durchaus verwerflich, wie schon die Hinweisung auf
seinen Ursprung zeigt. Die Sanction der Gesetze ist ein
wesentlich positives Recht des Königs. Sie ist die Erfüllung
und Vollendung, der oberste Ausdruck der gesetzgebenden Ge-
walt, und keineswegs ihre Beschränkung. Sie ist auch nicht
Vollzug des Gesetzes, 7 sondern Anna h m e desselben. Vorher
war es kein Gesetz. Erst durch sie wird es dazu.
Es gilt das auch von dem englisches Statsrecht unzweifel-
haft, angeachtet die englische Theorie von einem absoluten
Veto spricht, wie schon die Sanctionsformel: ,,Le roy le veut"
und die Verweigerungsformel: .,Lc roy s'&visera" beweist. Auch
ist der richtige Ausdruck in manche neuere Verfassungen über-
gegangen. 8
In den republikanischen Staten der neueren Zeit ist
dagegen zuweilen der Regierung nur ein Veto, und zwar
regelmäszig ein beschränktes (sog. suspensives Veto)
eingeräumt, durch welches sie die Gültigkeit des Gesetzes
beanstanden und einstweilen hemmen darf. So ist in Nord-
5 Blackstone I. 2, 7.
6 Streit darüber zwischen der ersten und zweiten Kammer in Preu-
szen. Vgl. Gneist's Gutachten über die Frage.
7 Von manchen Publici.sten wird sie irrigerweise so dargostellt.
s Blacks tone I. 2, 6. Französisch e Verfassung von 1814 §.22.
und J 830, §. 18: „Le roi seul sanetionne et promulgue les lois" und von
1852 §. 10; „II (l'empereur) sanetionne et promulgue les lois et les se-
natum consultes." Belgische §. 69. Griechische §. 29. Nieder-
ländische §. 118. Preus zische §. 62. Oesterreichische §. 12,
Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. II. Der beiden Häuser. 535
amerika, wo der Präsident durch Nichtbilligung einer Bill
eine neue Prüfung der Kammern veranlaszt und die Wirksam-
keit des Gesetzes hindert, wenn diese nicht zum zweitenmal
und nun mit einer Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen
dasselbe beschlieszen.9 Die schweizerischen Verfassungen
kennen selbst ein Veto der Kegierung nicht.
Zwölftes Capitel.
II. Der beiden Häuser.
1. Den beiden Häusern kommt zwar nicht das Kecht der
Mitwirkung bei der Statsregierung und Verwaltung zu,
wohl aber ein Kecht der umfassenden Controle. Es ist das
eine der wichtigsten Unterscheidungen des constitutionellen
Statsrechts. Die repräsentativen Versammlungen wären unge-
schickte Organe zur eigentlichen Regierung und Verwaltung,
welche eine concentrirte und fortgesetzte Thätigkeit erfordert.
Aber sie sind passende Organe, um eine Meinung darüber zu
äuszern, ob den Gesetzen gemäszund ob gut regiert und ver-
waltet werde. Die constitutionelle Monarchie schlieszt die Re-
gierung der Massen aus, aber sie erkennt an, dasz alle Volks-
classen einen Anspruch darauf haben, gut regiert zu werden und
sorgt daher für die erforderlichen Garantien.
Die Kammern sind daher nicht berechtigt, Befehle in
einzelnen Fällen an Regierungsbeamte, auch nicht an die Mi-
nister zu erlassen, und thun überhaupt wohl, sich nicht über-
geschäftig in die Detailfragen der Verwaltung einzumischen.
9 Vgl. oben Cap. 6, S. 490. Bundesverfassung I, 7. Die norwe-
gische Verfassung (J. 72—82) schwankt zwischen der Idee einer Sanc-
tion des Königs und dem Begriff eines bloszen beschränkten Veto des-
selben.
536 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Aber es kommt den Kammern allerdings zu
a) zu prüfen, ob in der Verwaltung des Statshaushalts
die gesetzlichen Voranschläge und Bewilligungen eingehalten
oder überschritten worden sind und im letztern Fall entweder
die Verwaltung nachträglich gutznheiszen und zu entlasten oder
aber den betreffenden Minister zur Verantwortung zu ziehen
und zum Ersatz anzuhalten;
b) ein Verfassung^- oder ges etzwidriges Verfahren
überhaupt zu tadeln, auf Verbesserung zu dringen;
c) auf öffentliche Bedürfnisse und Uebelstände die
Statsregierung aufmerksam zu machen und die Befriedigung
jener, die Abstellung dieser zu empfehlen :
d) auch über die hohe und insbesondere die auswärt-
ige Politik eine Meinung zu äuszern und Kath zu geben.
Die Regierung ist freilich an diesen Kath nicht gebunden, aber
da die Kammern, wenn sie ihre Meinung ernstlich geltend
machen wollen, den Ministern ihr Vertrauen entziehen und die-
selben in der Verfügung über die Volkskräfte beschränken
können, so bleibt den Ministern doch nichts anderes übrig,
als entweder sich mit den Kammern zu verständigen oder die-
selben aufzulösen und an die Wähler zu appelliren. In England
sind diese Grundsätze alt hergebracht. Auf dem europäischen
Continent kommen sie nur allmählich zur Geltung.1
2. Es ist eine alt englische Einrichtung, dasz alle Steuer-
bewilligungen in dem Unterhause zuerst behandelt
werden müssen , und das Haus der Lords in solchen Fällen
nur zustimmen oder verwerfen, nicht aber verändern darf.
Diese Einrichtung erklärt sich historisch daraus, dasz die Ab-
geordneten der Städte und Grafschaften ursprünglich meist nur
deszhalb berufen wurden, um von ihnen Steuerbewilligungei
1 St. Mill, Repräsenfcutivverfassung, S. 58. Ersk. M;iv, Englisoh«
Ycrfassungsgesch. I. S. 381.
Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. II. Der beiden Häuser. 537
zu erlangen.2 In der Folge konnte dafür angeführt werden,
dasz die Steuern vornehmlich auf der Menge des Volkes lasten,
und von der Aristokratie minder empfunden werden. Dann
wurde dieselbe auch in andern Staten nachgebildet.3
Die Ausdehnung des Rechtes der Steuerbewilligung,
^welches den Kammern zusteht, ist schwierig zu bestimmen.
In England hat sich das mittelalterliche Princip freier Steuer-
verweigerung in weitestem Umfang in der Theorie erhalten;
an eine practische Ausübung derselben aber ist dort viel we-
niger als irgend anderswo zu denken, indem die Mitglieder
der beiden Häuser bei dem ungestörten Fortgang des Stats-
lebens voraus interessirt sind.
Auf der einen Seite ist anzuerkennen:
a) Dasz die Vorstellung des Mittelalters, wornach es keine
Steuerpflicht der Unterthanen, sondern nur eine freiwil-
lige Uebernahme der Steuern durch dieselben oder ihre
Vertreter gibt, mit dem modernen Statsprincip unverträglich
ist, nach welchem das Ganze über die Kräfte der Statsbürger,
soweit das Bedürfniss desselben es erfordert, verfügen darf.
b) Dasz eine Verweigerung aller Steuern oder auch
nur eines erheblichen Theils derselben bei der modernen
Entwicklung des States einer völligen Lähmung des
Statskörpers gleich kommt, und wenn sie auch nur
eine kurze Frist anhält, den Untergang der Statsordnung nach
sich zieht. Ein Recht, den Stat zu lähmen und zu tödten,
kann aber einem einzelnen Gliede des Statskörpers nicht im
2 Lord Chat h am: „Die Besteurung bildet keinen Theil der Befug-
nisse der Statsregierung oder der Gesetzgebung. Steuern sind eine frei-
willige Gabe und Zubilligung der Gemeinen allein." Ersk. May, Engl.
Verfassungsgesch. I, 394.
3 Nordamerikanische Bundesverfassung I, 7, aber ohne den
Senat in der Abänderung zu beschränken. Ygl. Laboulaye, hist. des
ßtats Unis IL S. 262. Ebenso die französische von 1814, §. 17.
Bayerische §. 18. Badische §. 60. Portugiesische von 1826,
§. 35. Spanische von 1837, §• 37.
538 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das- Gesetz.
Ernste zugestanden noch als ein Begriff des Statsreehts ver-
theidigt werden.
c) Dasz das Unterhaus, wenn es die Macht , die Steuern
zu bewilligen und zu versagen, völlig rücksichtslos und unbe-
schränkt ausüben darf, eben damit auch die Macht besitzt,
alle andern Gewalten im Stat sich unterzuordnen
und so die ganze Verfassung umzustürzen: denn unter dieser
Voraussetzung bliebe der andern Macht, und insbesondere dem
Könige keine andere Wahl, als entweder den AVillen des Volks-
hauses zu thun und damit die Fortdauer des Statshaushalts
zu erlangen, oder mit dann ungesetzlicher Gewalt das Unter-
haus zu bezwingen und dadurch jenes absolute Recht der
Steuerverweigerung aufzuheben.
Als die preuszische Nationalversammlung im Jahr 1848
einen solchen Versach wagte, durch die Steuerverweigerung
ihrer Politik den Sieg zu verschaffen, empörte sich die öffent-
liche Meinung gerade des vornehmlich von den Steuern be-
troffenen Theiles der Bevölkerung, geschreckl durch die uner-
meszliche Statsgefahr wider diesen Versoch.
Auf der andern Seite steht es ebenso f<
a) dasz das verrasflnmgsm&szige Rechl der Steuerbe-
willigung nur dann einen Sinn hat, wenn damit die Mög-
lichkeil des Abschlags, d. h. das Recht der Steuer verwei-
geru n g verbunden wird ;
b) dasz ohne dieses zweiseitige Rechl die Controle,
welche den Kammern gegenüber der öffentlichen Verwaltung
zukommt, u n w i r k s a m würde ;
c) dasz auch andere Machtbefugnisse, einseifig und rück-
sichtslos auf die Spitze getrieben, wie z. B. die Kriegs lie-
he it des Fürsten, das öffentliche Hecht und die Freiheit eben-
so gefährden würden.
Man hat in der Absicht, den Widerstreit zu lösen, in
neuerer Zeit verschiedene Vorschläge gemacht, welche (ÜB
Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. IL Der beiden Häuser. 539
Steuerbewilligungs- und das Steuerverweigemogsrecht be-
schränken :
a) indem unterschieden wird zwischen einem unbeweg-
lichen und einem beweglichen Budget, und nur dieses
verweigert werden darf; allein auch das letztere beruht auf
einem Bedürfnisz des States, und das erstere ist doch nicht
unveränderlich, somit ebenfalls der Einwirkung der Kammern
nicht völlig entzogen;
b) indem der Grundsatz angenommen wird: Steuern,
„ welche zur Führung der Regierung nöthig" seien,4 dürfen
nicht verweigert werden; aber die Frage: was nöthig sei, ist
dem Streit ausgesetzt, und dieser fordert eine Erledigung, wie
sie in zusammengesetzten State n durch ein höheres Tribunal
zwar gegeben werden kann, in einem einheitlichen State kaum
zu organisiren ist, ohne die Einheit des States und die Attri-
bute seiner Gewalten zu stören;
c) indem die alten Steuern fortdauern, die Verweigerung
nur die neuen betrifft.6
Die einfachste Lösung ist wohl die, wenn keine äuszer-
liche Beschränkung eingeführt, wohl aber die der inneren
Bestimmung des Steuerbewilligungsrechtes selbst innewoh-
nende beachtet wird. Diese Bestimmung aber ist keine andere,
als für den Statshaushalt zu sorgen, dem hinwieder die
Existenz und Wohlfahrt des Stats in seiner verfassungsmäszigen
Gestaltung zu Grunde liegt, nicht aber die, als ein Hebel für die
politische Macht der Kammern zu dienen, und deren Uebergriffe
zu unterstützen. Demgemäsz hat die Kammer volle Freiheit, die
Steuern zu bewilligen oder zu versagen, beides aber nicht aus
fremdartigen, sondern vornehmlich aus Motiven der Statsöko-
nomie : folglich je nachdem sie eine Ausgabe für gerechtfer-
tigt oder überflüssig hält, je nachdem die Art der Steuerer-
4 Deutscher Bundesbeschlusz von 1831 III. und von 1836.
5 Preuszische Verfassung, §. 109. Vgl. auch die bayerische
Verfassung VII, §. b.
540 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
hebimg ihr gerecht und zweckmäszig erscheint oder nicht.
Eine Verweigerung der Steuern im allgemeinen ist daher im-
mer ein Miszbraueh und ein Unrecht, denn nie läszt sich diese
aus Gründen des Staatshaushaltes, der gesicherter Einnahmen
bedarf, rechtfertigen.6
Wohl aber läszt sich eine Steuerverweigerung im einzel-
nen und ebenso die Ermächtigung zu gewissen Ausgaben dann
vollständig rechtfertigen, wenn die Kammer ernstlich besorgt,
dasz jene Steuer zu verwerflichen Zwecken miszbraucht würde,
oder diese Verwendung ungeeignet wäre. Diese Besorgnisz
wird natürlich eher entstehen und schwerer ins Gewicht fallen.
wenn sie überhaupt kein Vertrauen hat zu der Politik der Mi-
nister. Man darf es daher nicht tadeln, wenn die Kammern,
gegenüber einem unpopulären Ministerium sich eher karg als
freigebig erweisen, wenn gleich darin unter Umstände« eine
mittelbare Nöthigung der Minister zum Rücktritt liegen mag.
3. Mit dem Rechte der Steuerbewilligung ist gewöhnlich
auch das Recht der Zustimmung zur Aufnahme von Dar-
lehen für den Stat und zum Verkauf und zur Verpfandung
der Domänen verbunden-7
4. Ebenso hängt mit beiden zusammen und ist vorzugs-
weise die Form des modernen, den ganzen Stat umfassenden
Haushaltes: die Bewilligung des Voranschlags (Budget)
aller jährlichen Einnahmen und Ausgaben des States, und die
Vorlage der Statsr echnung an die Kammer zur Prüfung
und Gutheissung.8
Auch in den Budgetberatliungen nimmt das Volkshaus
6 Das ist denn auch der wahre Sinn der öfter vorkommenden Vcr-
fassungsbestimmung : „Die Stünde dürfen die Bewilligung der Steuern
mit keiner Bedingung verbinden." Bayern VII. g. !».
7 Bayerische Verfassung VII, §. 11—18. Die Stünde sind bei
der 8chuldentilgung3commissioD sogar durch Commissäre betheiligt. Preu-
Bzisohe Verfassung, §. 103.
1 Bayerische Verfassung VII, §. 4, 10. Belgische §. 115,116.
Preuszische §. 99. 104. Oesterreichiscbe §. LO.
Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. IL Der beiden Häuser. 541
gewöhnlich eine hervorragende Stellung ein, indem dieselben
nach englischem Vorbild da beginnen müssen, und in den
meisten Monarchien das Oberhaus nur das Recht hat, die Ge-
sammtanträge anzunehmen oder zu verwerfen, nicht aber im
Einzelnen Verbesserungen zu machen; in den Republiken tritt
der Unterschied zwischen den beiden Häusern weniger stark
hervor.
Dieses Uebergewicht des Volkshauses darf jedoch nicht
dahin überspannt werden, dasz die höhere Autorität des Ge-
setzes beeinträchtigt wird. So weit durch Gesetze oder
durch zu Recht bestehende Verträge und dauernde
Anordnungen die Einnahmen und Ausgaben festgestellt
sind, ist diese Feststellung auch in dem Budget8 zu beachten.
Es darf nicht, was die sammtlichen Factoren der Gesetz-
gebung gemeinsam geordnet haben, durch eine Verfügung eines
einzelnen Factors willkürlich geändert werden. Nur innerhalb
der Rechtsordnung, die bona fide anzuerkennen ist, haben
die Bewilligungen vorzüglich der Ausgaben einen freien Spiel-
raum. Der gröszte Theil des Budgets hat demgemäsz einen
nothwendigen und dauernden Rechtscharakter.9
5. Als letztes Mittel, um ihrer Controle Nachdruck zu
geben, ist den Kammern das Recht verliehen, die Minister zu
persönlicher Verantwortung zu ziehen, und einen Statsprocesz
gegen dieselben einzuleiten.
In England hat sich dieser Procesz dergestalt entwickelt,
dasz die Anklage der Minister ausschlieszlich von dem
Unterhause ausgeht.10 Man nimmt an, dasz hierin das
Unterhaus vorzugsweise das durch ein verwerfliches und schäd-
liches Regierungsverfahren beleidigte und verletzte Volk reprä-
sentire. Dasselbe System ging auch in die Verfassung Nord-
9 Tgl. R. Grneist: Budget und Gesetz nach dem constitutionellen
Statsrecht Englands mit Rücksicht auf die deutsche Reichsverfassung.
Berlin 1867.
10 Vgl. Acte über die Thronfolge von 1801.
542 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
amerika's (I. 2.) über, in der weiteren Ausdehnung jedoch
dasz dem Hause der Repräsentanten das Recht der Anklage
gegen ,, untreue Statsbeamte" überhaupt, den Präsidenten in-
begriffen, zugesprochen wurde; es wurde sodann in die Ver-
fassungen des Continents vielfach verpflanzt. 1 1 Einzelne deutsche
Verfassungen erschweren die Anklage der Minister durch das
Erfordernisz der Vereinigung bei der Kammern, oder gestatten
zwar die Klage jeder von beiden Kammern, aber stumpfen
die politische Schneide der Klage, indem sie dieselbe in ein
Verfahren vor einem auszerhalb der Kammern stehenden Stats-
gerichtshof verweisen. ' *
6. Nach englischem Statsrechte geziemt es dem Ober-
hause allein, über die Statsanklagen des Unterhauses zu
richten. Die Klage im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt
wird als Volkssache, die würdige und gerechte Beurtheilung
als der Beruf der Aristokratie betrachtet.1'* Auch die Nord-
amerikaner haben die Beurtheilung der Statsanklagen dem
Senate zugetheilt, obwohl ihr gewählter Senat weniger un-
abhängig ist als das englische erbliche Oberhaus, und obwohl
sie sonst mehr als alle andern Völker auf eine scharfe Aus-
scheidung der verschiedenen Statsgewalten groszen Werth legen.
Der ursprüngliche Verfassungsentwurf hatte die Beurtheilung
dem obersten Gerichtshöfe zugesprochen. Aber nach gründ-
licher Erörterung erhielt das englische System den Vorzug,
hauptsächlich aus folgenden Gründen der Politik und der Ge-
rechtigkeit :
a) Die Wichtigkeit und Schwierigkeit solcher Klagen
haben bewirkt, dasz das Volkshaus ausschlieszlich für berufen
erklärt wurde, dieselben zu erheben. Der groszen und mächtigen
11 Französische von 1814, §. 55. Belgische §. 90.
12 Bayerische Verfassung X, §. 6. Bayerisches Gesetz vom
4. Junius 1848 und vom 30. März 1850. Preuszische §. 61. Vgl.
unten Buch VII, Cap. 5.
13 Blackstone IV. 19, 1.
Zwölftes Capifcel. C. Besondere Befugnisse. II. Der beiden Häuser. 543
Autorität des Klägers gegenüber erscheint aber ein gewöhn-
licher Gerichtshof zu schwach, und nur die Unabhängigkeit
und das Ansehen einer andern nicht minder hohen Macht kann
hier das erforderliche, für die gerichtliche Würde und das
öffentliche Vertrauen unentbehrliche Gleichgewicht herstellen.
b) Diese Klagen beziehen sich auf politische Verhält-
nisse, deren richtige Würdigung eine Menge von Kenntnissen
und Erwägungen voraussetzt, wie sie von Statsmännern wohl,
nicht ebenso von bloszen Rechtsgelehrten erwartet werden dürfen.
c) Das politische Miszverhalten ist so mannichfaltig, dasz
hier genaue Vorschriften des positiven Rechtes, die sonst den
Richter binden, nicht möglich sind, und das ganze Verfahren
dem freieren Ermessen des Gerichtes überlassen werden musz.
Diese Eigenthümlichkeit einerseits und die Gefahr andererseits,
dasz gerade bei solchen Processen die Leidenschaften der Par-
teien in ungewöhnlichem Grade aufgeregt werden, machen es
doppelt wünschenswerth, dasz eine zahlreiche und durch
ihre hohe und unabhängige Lebensstellung ausgezeichnete Ver-
sammlung den Entscheid habe.14
Darin aber unterscheidet sich das englische von dem
nordamerikanischen System, dasz nach jenem das Ober-
haus jede Strafe aussprechen darf, und kein zweites gewöhn-
liches Proceszverfahren mehr möglich ist, während nach diesem
der Senat nur die politische Strafe der Entfernung vom
Amte und der Unfähigkeitserklärung zu weiterer Be-
trauung mit öffentlichen Aemtern verhängt, und der Ueber-
führte mit Bezug auf die gewöhnliche Criminalstrafe wegen
eines Verbrechens noch der Beurtheilung der Geschworenen
nach dem Gesetz anheimfällt. 15
Auch die französische Charte von 1814 (§. 33) erhob
die Pairskammer zu einem Gericht über die Verbrechen des
14 Vgl. denFederalis t und die näheren Ausführungen inStory's
Comm. III, 10, §. 102.
15 Bundes ver f. I, 3.
544 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Hochverraths und der Gefährdung der Staatssicherheit, und
zwar nicht blosz wenn die Deputirtenkainmer Kläger, noch
wenn die Minister oder andere Beamte Beklagte waren. Diese
Einrichtung wurde denn auch in manchen romanischen Ver-
fassungen wieder nachgeahmt. 16
In den deutschen Verfassungen sind der ersten Kammer
auch bei politischen Vergehen gewöhnlich keine richterlichen
Befugnisse zugestanden, sondern die Beurtheilung solcher Klagen
wird an Gerichtshöfe verwiesen.17 Wir werden unten bei Be-
trachtung der Ministerverantwortlichkeit darauf zurückkommen.
7. Jedes Haus übt bei sich Haus recht und sorgt
selbständig für die Handhabung der innern Ordnung. Zu
diesem Behuf kommt dem Präsidenten und der Versammlung
eine Disciplinargewalt zu, welche in England sehr aus-
gedehnt, auf dem Continent gewöhnlich beschränkt ist.
8. Gesetze, welche sich auf die Zusammensetzung
und die Rechte des Oberhauses beziehen, müssen in Eng-
land zuerst im Oberhause eingebracht, und dürfen im Unter-
hause nur angenommen oder verworfen, nicht aber amendirt
werden. 1S
9. Eine eigenthüm liehe Stellung und Aufgabe hat
der Senat in der neuen Napoleonischen Verfassung. Er hat
a) das Hecht, die Promulgation eines Gesetzes durch
seine Opposition (Veto) aus dem Grunde zu behindern,
dasz dasselbe der Verfassung oder der Religion oder der Moral,
oder der Cultusfreiheit oder der individuellen Freiheit, oder der
Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz oder der Unverletzlich-
keit des Eigenthums und dem Grundsatz der Unentfernbarkeit
16 Portugal von 1826, §.40. Neapel von 1818, §. 48. Griechen-
land. §. 84.
,7 Bayern X, §. 7. Belgien, §. 90. Niederlande, §. 177,
179. Preuszen, §. 95.
18 Blacks tone I, 2. 4. Vgl. Mühry in Mittermaier's Zeitschrift
XXIV, S. 309.
Dreizehntes Capitel. Von den Gesetzen. I. Arten der Gesetze. 545
des Kichterstandes widerspreche; oder die Verteidigung des
Landes beeinträchtige (§. 26);
b) die Befugnisz, durch Senatus consulte die Lücken
der Verfassung zu ergänzen (§. 27);
c) die C a s s a t i o n aller verfassungswidrigen Acten (§. 28) ;
d) die Anregung zu neuen Gesetzen und Verfassungs-
änderungen.
Dreizehntes Capitel.
Von den Gesetzen,
J. Alten der Gesetze.
Die Römer verstanden anfänglich unter Lex jede Rechts-
verbindlichkeit, welche auferlegt worden. Publica lex
war dann die dem Volke selbst auferlegte und von ihm gut-
geheiszene Rechtsverbindlichkeit. Das Volk nimmt das Gesetz
auf sich , und wird durch dasselbe gebunden. Der Magistrat
fordert das Volk zur Uebernahme der Verbindlichkeit auf. '
Das römische Gesetz war daher ursprünglich weniger eine Vor-
schrift, welche das Volk erliesz, als eine Verpflichtung, welcher
sich das Volk unterzog. Später aber nannten auch die Römer
vorzugsweise die allgemeinen von der Volksversammlung fest-
gesetzten Rechtsregeln und Ordnungen Gesetze.2
In der neueren Rechtssprache wird der Ausdruck Gesetz
in verschiedenem Sinne gebraucht:
a) Um überhaupt jede allgemeine Rechtsbestim-
mung, Rechtsregel, oder jede dauernde Rechtsord-
1 Populus legem accipit, tenetur lege, magistratus fert legem. Vgl.
Rubino, Untersuchungen I, S. 352 ff.
2 Atejus Capito bei Gellius Noctes Atticae X, 20: „Lex est generale
jussum populi aut plebis rogante magistratu." Gajus, Inst. I, §. 3: „Lex
est, quod populus jubet atque constituit.'"
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 35
546 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Korper und das Gesetz.
nung, Institution zu bezeichnen, somit auch die des Ge-
wohnheits- oder des wissenschaftlichen Rechts, und selbst die
Statuten von Privatvereinen.
b) In etwas beschränkterem Sinne jede von einer öffent-
lichen Autorität im State ausgesprochene Eechtsregel oder
Rechtsordnung, nach welchem Sprach gebrauche auch dieEdicte
der römischen Magistrate, die Decrete und Rescripte der Kaiser,
die Statuten der Räthe in den Städten und die Weisthümer
und Offnungen des Mittelalters, und in neuerer Zeit die Re-
gierungsverordnungen Gesetze heiszen.
c) Im eigentlichen Sinne versteht mau unter Gesetz nur
die von der obersten gesetzgebenden Gewalt, dem Gesetz-
gebungskörper, mit höchster statlicher Autorität ausge-
rüstete dauernde Rechts re gel und Rechts Institution, im
Gegensatze zu allen andern Rechtsansprüchen und Anordnungen,
sowohl durch andere Organe des States als zu den Beschlüssen
des Gesetzgebers selbst, in einzelnen Fällen eines momentanen
Bedürfnisses.
Mit Rücksicht auf ihren Inhal f werden unterschieden:
a) Verfassung s- und Grundgesetze, durch welche
die Grundeinrichtungen des States, zuweilen auch die Grund-
rechte seiner Bürger uml Einwohner normirt werden.
b) Organische Gesetze, welche innerhalb der Grund-
gesetze die Verfassung im einzelnen weiter ausbauen und
ausbilden.
Insofern beide auf der organ i sirenden Tliätigkeit des
Gesetzgebers beruhen, (das gilt von den Grundrechten nicht)
begründen dieselben n o t li w e n d i g e s , bindendes Recht,
und sie haben durchweg einen eminent politischen Cha-
rakter, gehören daher vorzugsweise dem jus publicum an. Neue
Verfassungs- und Grundgesetze aber bedürfen um ihrer Wich-
tigkeit willen in manchen Staten einer strengeren Form und
erhöhter Erfordernisse als die gewöhnlichen organischen besetze.3
3 Schweiz. Bundesverfassung von 1843, Art. Mi. „Die revidirto
Dreizehntes Capitel. Von den Gesetzen. I. Arten der Gesetze. 547
c) Regierun gs- (Verwaltung^-) Gesetze und poli-
tische Gesetze im engeren Sinne, sowohl zur Normirung der
Regierungsweise als der politischen Rechte der Bürger im
einzelnen. Dieselben sind nicht immer von bindender Natur,
wohl aber meistens von bestimmendem und näher begränzendem
Inhalt, sowohl für die Thätigkeit der öffentlichen Gewalten,
als für die Ausübung der Freiheitsrechte.
ä) Finanz-Gesetze zur Normirung des Statshaushalts.
Sie enthalten ebenfalls öffentliches Recht (jus publicum),
sind aber oft nicht von bindendem Charakter , sondern ent-
halten nur eine Ermächtigung der Regierung, z. B. den
Credit des States zu benutzen und Steuern zu erheben.
e) Straf- und Polizei gesetze, in der Regel Ver-
bote und Strafandrohung enthaltend, und daher wieder
von zwingendem Charakter, gewöhnlich aber dem richterlichen
Ermessen einen freien Spielraum zur Entscheidung offenlassend,
je nach den besonderen Verhältnissen einzelner Uebertretungen
jener Verbote.
/) Privat rechtliche Gesetze zur Regulierung und
Sicherstellung der privatrechtlichen Verhältnisse. Nur aus-
nahmsweise, und zwar wenn öffentliche Tuteressen bestimmend
einwirken, sind dieselben bindend. Tn der Regel haben sie
nur einen erklärenden Charakter, mit Vorbehalt der indi-
viduellen Willensbestimmung der einzelnen Privatpersonen,
welche im Privatvertrag ihr eigenes Gesetz machen, und be-
stimmen nur, was als regelmäszige Rechtsmeinung
der Parteien betrachtet und gehalten werden soll, wenn diese
nichts Abweichendes festsetzen.4
Eine besondere Berücksichtigung erfordern noch diejenigen
Ausnahmsgesetze, welche wir Privilegien zu nennen pflegen.
Bundesverfassung tritt in Kraft, wenn sie von der Mehrheit der stimm-
enden Schweizerbürger und von der Mehrheit der Cantone angenommen
worden ist."
4 Vgl. Savigny, System des röm. Rechts I, S. 58.
35*
548 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Man hat diesem Ausdrucke zuweilen eine ganz ungebührliche
Ausdehnung gegeben, und dadurch die Abneigung, welche
unser nach Gleichheit des Eechtes strebendes Zeitalter gegen
die Privilegien nährt, auch auf Institutionen hingelenkt, welche
durchaus nicht den Charakter von Privilegien an sich tragen.
Man hat z. B. alle königlichen Rechte Privilegien genannt,
weil sie der einzigen Person des Königs zustehen. Nach diesem
falschen Sprachgebrauch würde und müszte fast das ganze
Y erfassungsrecht des States als eine Anhäufung von Privi-
legien betrachtet werden, denn jedem einzelnen Organe kommen
besondere und aussehlieszliehe Rechte zu, während dasselbe
gerade vorzugsweise von dem Geiste des Ganzen erfüllt und
seinem Wesen nach also von normaler Natur ist.
Die Privilegien sind immer Ausnahmsgesetze und
zwar :
a) Entweder individuelle Ausnahmen von der regel-
mäßigen Rechtsordnung und dem gemeinen Rechte, Als stats-
rechtliche Privilegien von dieser Art sind z. 13. der Ostra-
eismus der Athener und die Verbannung der Bourbohen aus Frank-
reich, zu erwähnen,* als privatrechtliche die G-ewerbsmoaopole.
b) Oder Ausnahmsregeln, welche eine gewöhnlich
durch äuszere Motive des Nutzens und der Zweckmäszigkeit
gerechtfertigte oder entschuldigte Abweichung von dem
unter gleichen Verhältnissen Bonsl gleichartigen gemeinen
Rechte und somit anomales Rech.4 (jus singulare, im Gegen-
satz zum jus commune) enthalten.6 Die Majestätsrechte des
Königs, die Pairschafi der englischen Lords, die Qnabsetzbar-
keit der Richter sind normale Rechte, die Immunitäten der
Geistlichkeit, der besondere Gerichtestand der Adeligen, die
Römische XII Tafelgesetze l\. „Privilegia ne inroganto."
f> Paulus in L. in. I). de Legibus i I, :'»): „Jus singulare est, quod
contra tetwrem rationis propter quandara utilitatera introductum est4u
Julianas in L. 15. eod.: „Quod rero contra rationem juris est, nun eit
producendum al consoquentiai." Vgl. Savigny, System I, 6i.
Vierzehntes Capitel. Form und Erzeugung der Gesetze. 549
Ausschlieszung der Juden von allen öffentlichen Stellen und
Aemtern, die ausgedehntere Testirbefugnisz der Soldaten da-
gegen sind Privilegien in diesem Sinne. Oft begegnet es, dasz
was ursprünglich normales Kecht war, im Verfolg der Zeit
unter veränderten Umständen zu grundlosem Privilegium wird,
und gerade diese Privilegien sind es, die den meisten Hasz
auf sich gezogen haben. In früheren Zeiten z. B. konnte die
Steuerfreiheit der Kitter, die mit Leib und Leben dem State
dienten, als durchaus normales Kecht betrachtet werden, im
siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderte aber war die
Steuerfreiheit des Adels ein bloszes Privilegium geworden.
Vierzehntes Capitel,
II. Form der Erzeugung der Gesetze.
Es lassen sich vier Momente unterscheiden: 1) die Bil-
dung des Gesetzesvorschlags, 2) die Berathung über
denselben, 3) die Annahme und 4) die Verkündigung
des Gesetzes. ■
1 . Der Gesetzesvorschlag bildet die Grundlage der
weiteren Berathung und enthält das ganze künftige Gesetz in
sich. Eine sorgfältige und gute Fassung des Vorschlags ist
daher in der Regel entscheidend für alles Uebrige. Ein in der
Anlage oder ersten Ausarbeitung miszrathener Vorschlag wird
durch die Berathung schwerlich gut gemacht, so wenig als
ein schlechtes Gedicht durch die Kritik. Ein gutes Gesetz ist
ein Kunstwerk, und wer den Vorschlag zu machen hat, soll
ein Meister sein.
1 Tgl. für England Ersk. May. Das engl. Parlament und seine
Verfassung, übers, von Oppenheim. Leipzig 1860 und für die Ver-
einigten Staten von Amerika: L. S. Cushing law and Practice of
legislative Assemblies in the United States of America. Boston 1856.
550 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Im Alterthum wurde der Vorschlag gewöhnlich indivi-
duell behandelt; zu Athen konnte jeder Bürger, zu Rom
nur ein Magistrat ihn stellen. Immer aber war die Vorbe-
rathung und Begutachtung dort des Eathes, hier des Senates
nöthig. In unserer Zeit werden die Vorschläge meistens von
der, R e g i e r u n g , seltener von Mitgliedern der gesetzgebenden
Versammlung eingebracht, setzen aber auch im ersteren Falle
die individuelle Arbeit eines Kedactors voraus, wenn sie in
Form und Inhalt wohlgerathen ausfallen sollen.
2. Ist der Vorschlag (Entwurf) eröffnet, so unterliegt er
nun der Berathung, und diese ist entweder Vor berat h-
ung oder eigentliche Berathung.
Die Vorberathung hinwieder kann in formloser
Weise vor sich gehen. Bei den Römern dienten die Con-
cionen dazu, welche den Comitien vorhergingen und darauf
vorbereiteten. In neuerer Zeit geschieht dieselbe hauptsäch-
lich durch die öffentliche Discussion in der Presse, kann
aber gar wohl auch durcli Privatarbeiten and Eingaben anderer
Art gefördert werden. Soll diese Vorberathung benutzt werden
— und gewisz ist es jederzeit wichtig, dasz die öffentliche
Meinung Gelegenheit erhalte, sich in freier Weise zu äuszern,
— so ist erforderlich, dasz der Entwurf des Gesetzes vor der
Hauptberathung in den Kammern öffentlich bekannt gemacht
werde.
Wichtiger noch ist die geordnete Vorberathung
durch die Kammern seilet. Zu diesem Behuf bedarf es der
Ausschüsse, C o m m i s s i o n e n.
Sehr ausgebildet ist das englische System der Com-
missionen, ihrer Prüfungen und Berichte. In wich-
tigen Fällen verwandelt sich das ganze Haus in eine Com-
mission und der Sprecher verläszt seinen Sitz, in andern
Fällen werden je im einzelnen Fall besondere Ausschüsse ge-
wählt und dabei die löbliche Sitte beachtet, die verschiedenen
Parteien in den Ausschüssen vertreten zu lassen. Berühmt
Vierzehntes Capitel. IL Form und Erzeugung der Gesetze. 551
und mit Eecht sind die englischen Prüfungen, um ihrer
Gründlichkeit, ihres Reichthums und ihrer lebendigen Anschau-
ung willen. Es werden nicht allein amtliche, sondern auch
Privatberichte von kundigen Männern eingezogen, und mehr
noch mündlich durch persönliche Einvernahmen und Gespräche
als schriftlich verkehrt. Dann erst wird dieser umfassende
Stoff in dem Berichte verarbeitet und die Anträge der Com-
mission darauf gestützt.
Verschieden ist sowohl die französische und preus-
sische Methode, das ganze Haus in eine Anzahl Bureaus
durch das Loos zu vertheilen, und von den Bureaus die Aus-
schüsse bestellen zu lassen, als die bayerische, ständige
Ausschüsse durch die Kammer zu erwählen.
Der Wechsel der verschiedenen Formen je nach der ver-
schiedenen Art der Fälle ist wohl das beste System. — Unter
allen Umständen aber ist darauf der gröszte Werth zu legen,
einerseits, dasz in die Ausschüsse je die sachkundigsten und
urtheilfähigsten Mitglieder von verschiedenen Parteien
und Richtungen bezeichnet werden, andererseits, dasz die Aus-
schüsse ihre Untersuchung und Nachfragen nicht auf bureau-
kratische Wege beschränken müssen, sondern in der Einver-
nahme sachkundiger Personen frei verfahren dürfen.
Für die Hauptberathung innerhalb der Kammern
selbst sind folgende Momente zu beachten:
a) Die Redefreiheit der einzelnen Mitglieder. Dieselbe
darf nicht beschränkt werden
a) durch Instructionen der Wähler, denn wieBurke
zu seinen Wählern sprach: „Das Parlament ist nicht ein
Gesandtencongresz für unter sich abweichende und feind-
liche Interessen, welche Jeder als ein Agent und Anwalt
gegen andere Agenten und Anwälte aufrecht erhalten
musz, sondern das Parlament ist eine berathschlagende
Versammlung Eines Volkes mit Einem Interesse, dem der
Gesammtheit, wo weder örtliche. Absichten noch Vorur-
552 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
theile, sondern das von der allgemeinen Vernunft der Ge-
sammtheit anerkannte Gemeinwohl leiten soll."2
Die Zulassung der Abstimmung durch bevollmächtigte
Stellvertreter von Seite der Lords im englischen Oberhaus
(vote by proxy) ist ein in das moderne Kepräsentativsystem
nicht passender Rest des früheren ständischen Wesens.3
ß) Eben so wenig darf sie durch vorherige Ab-
stimmungen in den Parteiclubbs der Kammermit-
glieder gebunden werden. Diese mögen zai besserer Vor-
bereitung auf die Berathungen sich verbinden, aber über
dem Parteiinteresse steht die allgemeine Wohlfahrt, und
diese versagt jeden Versuch eines derartigen Zwangen '
2 Burke, Rede von 1774, Vgl. "Washington^ Brief vom 15. Nov.
1786: „In nationalen Angelegenheiten mag man wohl die Gefühle des
Bezirks, aber nicht den Willen des Bezirk-; aussprechen, und man nm>7
den Abgeordneten die Befugnisz lassen , je nach den Umständen und je
nach vorgelegten Aufklärungen zu artheilen. " Franz 5 8. Verfassung
1848, >;• 3 i : „Lea membres de L'Assemblee nationale sont les represen-
tants, non du Appartement qui les nomine, mais de la France entiere."
„II- nc peurent recevoir de mandat imperatif." Bayerische
Verf. ^. 25, Eidesformel: „Ich schwöre — in der Btänderersammlung
nur des ganzen Lande« allgemeines Wohl und Beste, ohne Rücksicht auf
besondere Stände oder (Jlassen, nach meiner innern Ueberzeuguns zu
berathen." Preuszische Verf. §. 83: „Die Mitglieder heider Kammern
sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Ueber-
zeugung und sind an Aufträge und Instructionen nicht gebunden/
3 Blacks tone I. !. i. Bayerisch« Verf. g. 17: .Kein Mitglied
der ersten und zweiten Kammer darf sich in der Sitzung durch einen
Bevollmächtigten vertreten lassen. tt
♦ Ansprache des Münchener Constitutionen -monarchischen Vereins
vom 17-Mai 1849: „Nimmermehr darf die blosze Partei, beisse sie Rechte
oder Linke, die Stimme eines Volks abgeordneten zum voraus für -ich
gefangen nehmen, ihn zum bloszen Parteiabgeordneten erniedrigen, seine
Ohren den Gründen seiner Gegner verschlieszen, über seine freie Stimme
nach ihrem Belieben verfügen, die freie Berathung in der Kammer, die
alle Parteien in sich vereinigt, stören, die AVirkung der allseitigen Er-
örterung der Volksinteressen hemmen, die Freiheit der gemeinsamen
Verhandlung und Abstimmung fesseln und die Thätigkeit des Ganzen
unterbrechen. *
Vierzehntes Capitel. II. Form und Erzeugung der Gesetze. 553
y) Sie darf auch nicht bedroht werden durch die Ge-
fahr von Verfolgungen. Es ist ein allgemein aner-
kannter Satz des modernen Statsrechtes , hervorgebracht
durch das hohe Nationalinteresse der parlamentarischen
Eedefreiheit, dasz kein Mitglied des gesetzgebenden Kör-
pers für seine in demselben geäuszerten individuellen
Meinungen oder für seine Abstimmung gerichtlich ver-
folgt noch überhaupt auszerhalb des gesetzgebenden Kör-
pers selbst zur Kechenschaft gezogen werden dürfe.5
Dagegen ist es die Sorge des Präsidenten und der
Kammer selbst, die Debatten in gemessenen Schranken der
Ordnung und des Anstands zu halten, Ungebühr zu rügen
(Ordnungruf, Entziehung des Worts) und grobe Verletzungen
ernster, nötigenfalls wie in England mit Verhaftung oder in
Deutschland mit Ausstoszung aus der Kammer zu bestrafen.
Die Würde und die Autorität sowohl als die Art und die
Grösze ihrer Aufgabe erfordern eine unnachsichtige Handhab-
ung solcher Ordnung und einen entschiedenen Nachdruck auf
Bewahrung des guten Tones und des parlamentarischen An-
standes. 6
5 Englische Bill of rights von 1G8CJ. Blacks tone I. 2, 3. Story
Coram. III, St. 12, §. 124 und St. 10, §. 100. Bayerische VII, §. 27.
Belgische §. 44. Griechische §. 55. Preuszische §. 84. Das
Princip ist auch in die s ch weizeris chen Verfassungen übergegangen.
6 Sismonäi, ßtudes sur les const. des peuples libres I, 145: „Jeder
Tumult, jede Gewaltsamkeit der Sprache, jede Reizung zum Zorne und
zu den Leidenschaften des Hasses, sind nicht blosz Beleidigungen der
nationalen Würde, sie sind auch Angriffe auf die Freiheit, auf jene
Souveränetät der nationalen Vernunft, welche das schönste Vorzugsrecht
der freien Völker ist. In Frankreich haben die Stürme der Volksleiden-
schaften den Geist der Repräsentation getödtet und kaum dessen Form
stehen lassen. "Wie kann die öffentliche Achtung vor einer Kammer be-
stehen, die immer ungeduldig, immer leidenschaftlich aufgeregt erscheint,
wenn sie nicht aufmerksam ist? Kann die Nation sich vorstellen, dasz
diese Versammlung ihre Einsichten widerstrahlt und ihren Geist zu-
sammenfaszt? — Das Schicksal der Freiheit, der endliche Sieg der Sache
der Menschheit ist gefährdet durch diese verderbliche Manier, welche in
554 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
b) Das Kecht Verbesserungs antrage (amendements)
zur Sprache zu bringen wird nun gewöhnlich nach dem Vor-
gang der Engländer den Mitgliedern der Versammlung zuge-
standen, auf dem Continent aber weit unmäsziger geübt als in
England.7 Unbedenklich mag es von den Ausschüssen und in
den Ausschüssen in weitem Umfange geübt werden. Für die
Hauptberathung der Versammlung aber gibt es der Gründe
genug, um ähnlich wie die Motionen so auch die Verbesserungs-
anträge der Mitglieder innerhalb gewisser Schranken zu weisen,
welche die Versammlung vor Ueberraschung schützen und vor
Miszgriffen bewahren sollen, und dafür sorgen, dasz nicht die
Harmonie und die Absicht des Gesetzes Schaden leiden.
c) Die Notwendigkeit wiederholter Berathung, bevor
neuerer Zeit sicli über alle repräsentativen Riithe verbreitet, durch diese
Beifallsbezeugungen , welche denen zu Theil werden, die sich in dem
Ausdrucke der Leidenschaft oder in dem Talente beiszenden Spottes aus-
zeichnen, durch diese Sucht zu glänzen, welche den Ton der Wahrheit
und die Gedanken der Weisheit für einen Triumph der Tribüne hergibt.
Und doch ist es nur der Triumph eines Tages, dem bald die Miszbilligung
folgt, welche der ganze Körper auf Bich zieht, und der Miszoredit selbst
der Institutionen der Freiheit. E> isi Zeil auch für England, auf seine
alten parlamentarischen Gewohnheiten und auf sein altes Gefühl für
Schicklichkeit zurückzugehen, und es tat Zeh für alle Andern freien
Staten, von England zu lernen, dasz die repräsentativen Formen ihren
Nutzen verlieren und in Verachtung fallen, wenn sie nicht durch die
"Würde, durch die Urbanität und die Leidenschaftslosigkeit der Verhand-
lung gehoben werden. u Feine Bemerkungen über die „Taktik der ge-
setzgebenden Versammlungen" hat der Engländer Bcntham mit Bei-
hülfe des Genfers Dumont unter diesem Titel herausgegeben.
7 Sismondi, (Etudcs I, 164): „Die Mitglieder der beiden Häuser
haben das ausgedehnteste Recht der Amendements, aber sie haben zu
viel Weisheit, um sich der Redaction des Gesetzes zu bemächtigen; sie
überlassen alle Ehre und alle Mühe derselben den Urhebern der Bill,
und ermüden die Versammlung nicht durch eine unendliche Reihe von
Abstimmungen im Einzelnen. Die Opposition concentrirt ihren Angriff
in einen einzigen Yerbesscrungsantrag, der ihr ganzes System darlegt,
und darüber verlangt sie die Meinung des Hauses, the sense of the
House. Geht der Antrag durch , so läszt das Ministerium die Bill fallen
oder zieht sich auch wohl selber zurück,"
Vierzehntes Capitel. II. Form und Erzeugung der Gesetze. 555
es zur endlichen Abstimmung kommt, sichert die Reife der
Meinungs- und Willenserzeugung. In England wird drei-
malige Lesung des Gesetzesentwurfs erfordert, je nach
Zwischenräumen. Die erste Lesung bedeutet nur, das Haus
bekannt machen mit der Vorlage und es auffordern, dieselbe
in Berathung zu nehmen. Sie wird nur versagt, wenn das
Haus von Anfang an entschlossen ist, die Frage nicht zu er-
örtern oder das Princip des Vorschlags zu verwerfen. Wicht-
iger ist die zweite Lesung. Diese wird schon öfters verweigert.
Wird sie bewilligt, so ist das regelmäszig die Einleitung zu
einer allgemeinen Comite-Berathung, welche das Detail fest-
stellt. Erst wenn die ganze Arbeit reif ist, kommt es zu der
dritten entscheidenden Lesung, bei welcher nur noch Redac-
tionsverbesserungen zuläszig sind.8
Auf dem Continente ist die einmalige Lesung meistens
als Regel anerkannt. Da indessen gewöhnlich auch da Aus-
schuszberathungen der Hauptverhandlung vorangehen und der
Entwurf schon früher eingebracht war, so ersetzt diese ein-
malige Lesung die englischen zweite und dritte. Nur aus-
nahmsweise z. B. für Verfassungsgesetze schreiben einzelne
Verfassungen, z. B. die preuszische, eine wiederholte
Abstimmung vor, seltener, wie z. B. in Zürich für alle
Gesetze.
d) Eigenthümlich war die Methode der Athener zur
Verfechtung des alten Gesetzes gegenüber von neuen Ent-
würfen, besondere Anwälte von Statswegen zu bestellen. In
einem Zeitalter der Neuerung wie das unsrige wäre solche
Vorsicht kaum überflüssig, und würde zu gründlicher Betracht-
ung und Vergleichung der hergebrachten Ordnung mit der
neuen mancherlei oft übersehenen Stoff herbeischaffen.
3. Ueber die Annahme des Gesetzes wird durch die
Abstimmung entschieden. Auch sie soll eine freie sein.
8 Oppenheim, Artikel Parlam. Geschäftsordnung im deutschen
Statswörterbuch. Haym, Preuszische Jahrb. von 1859, Heft 2.
556 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Was die Mehrheit nach gepflogener Berathung beschlieszt, das
gilt als Meinung und Wille der ganzen Kammer. Die Ab-
stimmung kann öffentlich geschehen durch Handaufheben oder
Aufstehen. Jenes macht weniger Geräusch und befördert die
Freiheit, indem es ihr nicht, wie die Nöthigung zum Auf-
stehen, die Bequemlichkeit des Sitzenbleibens als Schwerge-
wicht anhängt. Seltener und nur aus be sondern Gründen ist
eine geheime Abstimmung durch Kugeln oder Stimmtäfelchen
anwendbar. Die Stellvertreter des Volkes dürfen das Licht
nicht scheuen, und sollen vor seinem Angesichte ihre Ueber-
zeugung kundgeben. Eine Abstimmung aber mit Namensaufruf
rechtfertigt sich nur in besonders wichtigen Fällen. Häutig
angewendet dient sie der Verschleppung, der Intrigue und dem
Parteispiele.
Was die Abstimmung durch die Kammern, ist die Sanc-
tion des Hauptes. Sie erst ertheüt dem zur Bill gewordenen
Vorschlag Gesetzeskraft.
L Durch die Sanction des Gesetzes ist der eigentliche
Act der Gesetzgebung vollendet. Die Verkündigung, Pro-
mulgation, Publication derselben aber wird regelmässig
als ein Act der Kegierun-- behandelt, indem durch dieselbe
das Volk mit dem Inhalte des G< in offizieller Form be-
kannt gemacht und dessen Beachtung gesichert wird.'' Die
Gültigkeit des Gesetzes tritt mit der Sanction ein. und die
Verkündigung ist eine nothwendige Folg«', nichl der Grund
jener. Die Rechtsverbindlichkeit des Gesetzes aber für
die Statsangehörigen wird in manchen Staten erst von der
öffentlichen Verkündigung an gerechnet. ," die nun meistens
durch die Presse vollzogen wird.
Es gilt das auch in den schweizerischen Republiken, wo
der Regierung nicht einmal ein Veto, noch weniger die Sanction zustellt.
In Frankreich: ,,Le president de la Repnblique ]>romulgue leg lois au
nom du peuple francais." Verf. von 1848, §. 56- -59.
10 Cude Civil Napolfon, §. 1. Oesterroich : Gteeetsbuoh §. 2. Die
Engländer nehmen an, durch die Erklärung der königlichen Sanction im
Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 557
Fünfzehntes Capitel.
Grenzen der Gültigkeit der Gesetze.
Die Macht des Gesetzgebers ist die höchste im State,
wenn auch nicht eine absolute ; l ihn in der Ausübung der-
selben durch statliche Anordnungen zu beschränken, ist daher
schwer. Wenn der Gesetzgeber die moralischen Bestimmungen
und Schranken, welche die groszen Zwecke des States, Ge-
rechtigkeit und allgemeine Wohlfahrt, ihm setzen, nicht be-
achtet, so wird es nicht leicht gelingen, ihn durch äuszerliche
Rechtsmittel auf der richtigen Bahn zu erhalten.
Einige Rücksichten der Rechtsordnung dienen indessen
auch als Schranken dei gesetzgeberischen Willkür.
1 . Die f 0 r m e 1 1 e P r ü l'u n g , ob wirklich ein auf ver-
fassungsmäßigem Wege entstandenes Gesetz vorhanden sei,
steht auch den ü br ig en S t a t s g e w alten, wenn sie das Ge-
setz anwenden oder beachten sollen, unbedenklich zu. AVürden
in der constitutionellen Monarchie die beiden Kammern ein
Gesetz verkünden lassen, das der König nicht sanetionirt hat,
so würden die Regierung und die Gerichte mit Recht dessen
Anerkennung verweigern , und würde der König ein Gesetz
proclamiren, das nicht die Zustimmung der Kammern erlangt
hat, wo diese unentbehrlich ist, so würde auch einem solchen
angeblichen Gesetze der Gehorsam versagt werden dürfen. 2
Parlament werde das Gesetz für Jedermann verbindlich, denn was im
Parlament öffentlich geschehe, sei .ledermann bekannt. Blacks tone I,
2, 6. Ebenso die Nordamerikaner. R. v. Mohl, Statsrecht, Völker
und Politik IL S. 602.
1 Siehe oben Cap. 8.
2 Puchta, Pandekten, §. 15. Beseler, deutsches Privatrecht 1,71.
Die Frage ist neuerdings in Deutschland streitig geworden. Vgl. Seuf-
fert im Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe IV, Nr. 250,
und V oller t in Mohl's Zeitschrift für Statswissenschaft X, S. 328 ff.
Bei Erörterung der Frage stellt man sich oft einseitig auf den Stand-
punkt des Gerichts, vor dem über die formelle Gültigkeit und An-
558 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und da3 Gesetz.
Die Prüfung der übrigen Statsgewalten erstreckt sich aber
nicht auf die Art der Zusammensetzung einer Kammer noch
auf ihre Beschluszfähigkeit im einzelnen Fall. Der Entscheid
z. ß. über die Gültigkeit einzelner Wahlen von Abgeordneten,
über Erfordernisz einer bestimmten Zahl von anwesenden Mit-
gliedern u. s. f. ist ganz der Kammer selbst anvertraut, und
ihr Verfahren unterliegt nicht der Controle der Verwaltungs-
oder Gerichtsbehörden.
2. Gröszere Bedenken hat die Xirhtanerkennuug eines
Gesetzes, weil der Inhalt desselben verfassungswidrig sei.
Es versteht sich, dasz der gesetzgebende Körper
selbst, auch wenn er eine Verletzung der Verfassung oder
sonst ein Unrecht begangen hat, nicht innerhalb des States,
dessen Gesammtheit er repräsentirt, zur Verantwortung und
Strafe gezogen noch Oberhaupt verklagt werden kann. Selbst
in denjenigen S taten, in welchen das Statsoberhaupt verant-
wortlich ist für Beine Regierung, hat man doch nie an die
Möglichkeit gedacht, auch den gesetzgebenden Körper für ver-
antwortlich zu erklären. Alle andern Behörden und Beamt-
ongen im stufe sind nur einzeln.' Organe in dem Statskörper.
Er allein stellt als Gesetzgeber den ganzen Körper >ell>sf dar.
Wie könnte dalier der Theil zu Gericht sitzen über das Ganze,
das Glied über den Körper?3
wendbarkeit einet Gesetzes nuf eine bestimmte Prooeszsaohe gestritten
wird. \)a< Grerieht prüft hier die Präge, ob eine GesetsesautoritAt da
sei, wie es prüft, ob die A atorUat des Gewohnheitsrechtes oder der
Jurisprndeni rar Anwendung komme, in'" Präge [gl aber für die V.-r-
waltung suefa zu erwägen, denn euch sie bat in ihrem Bereich jene
Autoritäten zu beaebten und daher vorerst in erkennen, Deberdem darf
man nicht übersehen, dasz im leisten Grande die Präge eine stati-
rechtliche und dabei die h0ob9te itatsreehtliohe Autorität des gesetz-
gebenden Körpers für die «künftige Anerkennung oder Nichtanerkennung
früherer zweifelhafter (resetze mailgebend i-t.
3 E* gilt das auch in den republikanischen Btaten nicht minder all
in dem monarobisoben. Story, Comra. in, st. .;>. Die Luzerner Oe-
ricbte des Jahres 1850 haben diesem Prinoip entgegen die Verurtheilung
Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 559
In den meisten neuern Staten wird aber auch kein Rechts-
mittel verstattet gegen die Gültigkeit und Anwendbar-
keit eines Gesetzes aus dem Grunde, dasz sein Inhalt im
Widerspruch mit der Verfassung stehe. Die Autorität
des gesetzgebenden Körpers gilt, so weit seine Functionen
reichen, als die höchste und als eine unbestreitbare. Die
Gerichte sind daher nicht ermächtigt, den Inhalt eines Ge-
setzes anzugreifen, und durch ihre Autorität für ungültig zu
erklären. Ungeachtet sie sich nur über die Anwendung im
einzelnen Falle aussprechen, nicht über das Princip in seiner
Allgemeinheit, so sind sie doch auch in den ihnen zur Beur-
theilung vorgelegten einzelnen Fällen gehalten, sich der
höheren Autorität des Gesetzgebers unterzuordnen.4
Diesen letzteren Grundsätzen , welche sowohl in F n g-
1 a n d als auf dem e u r o p ä i s c h e n Continente allgemein
gelten, und in der Harmonie und Einheit des Statsorganismus
und seiner Thätigkeit ihre tiefere Begründung suchen, hat das
nordamerikanische Statsrecht ein anderes System entgegen-
gesetzt. Nach demselben nämlich sind die Gerichte befugt
und verpflichtet, einem Gesetze, welches nach ihrer Ueberzeug-
ung der Verfassung widerspricht, als einem ungültigen die
Anerkennung zu versagen und die Vollziehung desselben zu
hemmen.5 Die amerikanischen Statsmänner sehen darin „den
Ruhm ihrer Verfassung, dasz es sogar für die Versehen der
der Mitglieder eine' gewaltsam aufgelösten Groszen Käthes wegen eines
von diesem gutgeheiszenen Statsvertrags ausgesprochen, ungeachtet sie
vorher durch die Rechtsgutachten der Juristenfacultäten von München
und Zürich über die Rechtswidrigkeit eines solchen Verfahrens unter-
lichtet worden waren, und obwohl gerade die Luzerner Gesetzgebung
mit vozüglicher Klarheit die Unzuläszigkeit desselben ausspricht.
4 Vgl. oben S. 460.
5 Bundesverfassung III, 2: „Die richterliche Gewalt erstreckt sich
über alle Fälle des Gesetzes und der Billigkeit (in law and equity) die
sich gegen diese Verfassung^ die Gesetze der Vereinigten
Staten und gegen Statsverträge ereignen."
560 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Legislatur selbst ein Heilmittel gebe."6 Der „Föderalist" führt
dafür folgende Hauptgründe an: .Die Gewalt des Volkes stellt
über der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt, und
die Constitution musz dem Statute, die Absicht des Volkes
der Absicht seines Agenten vorgezogen werden. Wo daher
der Wille der Legislatur, den sie in ihren Statuten erklärt.
dem von dem Volk in der Constitution erklärten entgegen-
steht, da müssen die Richter sich mehr durch den letztem
als durch den erstem leiten lassen. Sie müssen ihre Ent-
scheidungen eher naeh den Grundgesetzen als nach jenen
regeln, welche nicht fundamental sind. Wie die Gerichte bei
der Bestimmung zwischen zwei sieb widersprechenden Ge-
setzen, dem später erlassenen den Vorzug geben, s.» geben sie
hier bei der Bestimmung zwischen zwei sich widersprechenden
Acten einer höhern und einer untergeordneten Behörde, einer
ursprünglichen und einer abgeleiteten Gewalt, dem Ausspruche
der hohem Behörde den Vorzug. .Man kann niohi erwiedern,
dasi die Gerichtshöfe unter dem Vorwand eines Widerstreits
ihre Willkür den constitutioneUen Absichten der Legislatui
unterstellen möchten, hie Gerichte müssen den Sinn des
sei/es erklären, und wenn sie geneigl sein würden, ihren
Willen statt ihres Drtheile geltend zu machen, so würde
die Folge überhaupt auch in allen andern Fällen der richter-
lichen Thätigkeii die Setzung ihrer Willkür an die Stelle des
Willen.^ des Gesetzsebers sein." Der oberste Gerichtshof seihst
sprach sieb darüber unter anderm bo aus: „Jene, welche den
Grundsatz bestreiten, dasz die Constitution in den Gerichts-
höfen als oberstes Gesetz betrachte! werden müsse, werden zu
der Nothwendigkeil geführt, zu behaupten, das/ die (Jeriehts-
höfe ihre Augen über die Verfassung schlieszen, und blosz
das Gesetz, ansehen dürfen. Diese Lehre würde erklären, das/
ein Act, welcher nach den Grundsätzen und der Theorie un-
serer Etegierungsweise völlig ungültig ist. dennoch in der
' Worte des Repräsentanten Boudinot.
Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 5ßl
Praxis vollkommen verbindlich sei. Sie würde erklären, dasz
wenn die Legislatur thun wird, was ausdrücklich verboten
ist, ein solcher Act, ungeachtet des ausdrücklichen Verbots,
in der Wirklichkeit gültig sei. Sie würde der Legislatur eine
practische und reelle Allmacht in dem nämlichen Athemzug
geben , welcher erklärt , sie in enge Grenzen einzuschränken.
Sie zieht Schranken und erklärt zugleich, dasz diese Schranken
nach Willkür übertreten werden dürfen."
Es läszt sich nicht verkennen, dasz in diesem Eaisonne-
ment eine gewisse Wahrheit liegt, und dieser Versuch, die
moralischen und ideellen Schranken der Legislatur durch
äuszerliche Stützen zu befestigen, verdient immerhin die Be-
achtung der Statsmänner. Auch ist die Gefahr, dasz die
richterliche Gewalt ihrerseits die gesetzgeberische usurpiren
möchte, in der That gering ; denn sicher erfordert es jeder-
zeit groszen und seltenen Muth der Richter, um im einzelnen
Falle dem ausgesprochenen Willen der obersten Statsmacht
entgegenzutreten und das Keclit der Verfassung gegen jene
und gegen die Kegierung zu schirmen. Würde es sich auch
nur darum handeln , ein „ Versehen " des Gesetzgebers zu
verbessern, würde die gerichtliche Erklärung der Verfas-
sungswidrigkeit eines Gesetzes keine andere Folge haben, als
die, den Gesetzgeber zu nochmaliger Prüfung zu veranlassen,
so könnte man ohne grosze Bedenken jener amerikanischen
Auffassung zustimmen.
Wenn man aber in Erwägung zieht, dasz der Gesetzgeber
in der Regel von der Verfassungsmäszigkeit des Gesetzes
überzeugt ist und dieselbe will, und dasz dennoch sehr leicht
sich verschiedene Meinungen darüber bilden, so dasz, wenn
sein Ausspruch Gegenstand des Streites werden kann, das Ge-
richt vielleicht eine andere Ansicht darüber hat, als der Ge-
setzgeber; wenn man bedenkt, dasz in diesem Falle doch die
höhere Autorität des Gesetzgebers zwar nicht im Princip,
aber im Erfolg der niedriger gestellten der Gerichte weichen
Itluntächli, allgemeines Statsrecht. I. 36
5ß2 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
und der Repräsentant der gesarnmten Nation im Conflicte mit
einem einzelnen Organe des Statskörpers hinter dasselbe zu-
rückstehen niüszte; wenn man die Störung und den Zwiespalt,
welche auf solche Weise in den einheitlichen Gang des Stats-
lebens gebracht wird, überlegt und sich erinnert, dasz die
Gerichte ihrer jetzigen Beschaffenheit nach vorzugsweise zur
Erkenn tnisz privatrechtlicher Normen und Rechtsverhältnisse
berufen und vorzugsweise geneigt sind, auf formell - logische
Momente den Nachdruck zu legen, während es sich hier ge-
rade häufig um die wichtigsten statsrechtlichen Interessen und
die allgemeine Wohlfahrt handelt, die zu erkennen und n
fördern Aufgabe des Gesetzgebers ist: so wird man dennoch
dem europäischen System den Vorzug geben, obwohl dasselbe
nicht vor allen Uebeln schützt und an der UnvollkommenhiMt
der menschlichen Zustände auch seinen Antheil hat. Auch
gegen ungerechte Urtheile der obersten Gerichte gibt es in
der Regel keine Inneren HülfsmitteL Der gesetzgebende
Körper aber trägt in seiner Bildung die wichtigsten Garan-
tien, dasz er nicht seine Befugnisse in verfassungswidrigem
Geiste ausübe.7
7 Die nordamerikanisehe Ansicht hat auch in Europa zwei bedeu-
tende Vertreter gefunden, in dem Belgier Verhaegen, des lois consti-
tutionelles, Bruxeft und in unserem Robert v. Molil, Stats-
reelit, Völkerrecht und Politik I, s. 66 ff., und in dem deutsehen Btats-
wörterbuch, An. Gesetz. Auch er unterscheidet Verfassung, Gesetz und
Verordnung, so das/ den Gerichten zustehe, die Verfassungsmisiigkeit
der Besetze Bowohi in Form als in Inhalt, wie die Gesetzm&szigkeit der
Verordnung zu prüfen. Das praotiscb «richtigste Motiv, welches mich
einstweilen noch bestimmt, die europäische Praxis rorzuziehen, hat übri-
geD9 HohJ miszyerstanden. .Nicht weil ich ein blindes Vertrauen haha,
dasz die Kammern allezeit von einem lebendigen Gefühl ihrer Pflichten
gegen die Verfassung geleitet werden und desihalb keine materielle
Verfassungswidrigkeit begehen werden, habe ich die-e Meinung rerthei-
digt; sondern weil ich unsern fast nur oifilistisoh und criminalistisch
gebildeten und an blosze formell-logische Operationen gewohnten
Berichten weniger ein richtiges Urthcil über die Verfassungsmäszigkeit
eines Gesetzaa zutraue als den großen repräsentativen Körpern, d.h. weil
Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 563
In neuester Zeit hat Napoleon III. durch seine Verfassung
vom 14. Januar 1852 eine neue Form der Garantie gegen
einen verfassungs- und rechtswidrigen Inhalt der Gesetze ein-
geführt, indem er dem Senate die Pflicht einschärfte und
das Recht gab, Einsprache zu machen gegen Gesetze mit
solchem Inhalt. Da aber diese Prüfung vor, nicht nach der
Promulgation der Gesetze geübt wird, so wirkt diese Form
doch nicht stärker, als die in dem Zweikammersystem eben-
falls gegebene, der nöthigen Zustimmung beider Häuser.
3. Aehnlich verhält es sich mit der Beachtung der na-
türlichen Eechtsordnung überhaupt. Sie ist die Pflicht
des Gesetzgebers, denn das Gesetz ist seinem Wesen nach der
Ausdruck und die Offenbarung des natürlichen Eechtes und
nicht ein willkürliches Froduct. Aber wenn er dieser Pflicht
nicht eingedenk oder über ihre Ausdehnung und Anwendung
die politischen Garantien für den verfassungs- und rechtmäszigen
Inhalt der Gesetze gröszer sind in dem Parlament als in einem gewöhn-
lichen Gerichtshof. Die Fälle, wo das Statshaupt mit Zustimmung der
Kammern eine offenbar verfassungswidrige Bestimmung in ein Gesetz
aufnimmt, sind gewisz äuszerst selten. Aber die Fälle, in denen gesetz-
liche Bestimmungen einen allgemeinen Grundsatz der Verfassung im
einzelnen beschränken und in der Anwendung modificiren, sind sehr
häufig, und da kann immer und leicht gestritten werden, ob der Inhalt
des Gesetzes verfassungsmäszig oder verfaszungswidrig sei. Die blosz
logische Schluszfolgerung aus einem abstracten Verfassung.ssatz wird da
leicht zu dem verneinenden Resultate der Verfassungswidrigkeit führen,
während die politische Erwägung aller Verhältnisse, die neben und
auszer dem Wortlaute des Verfassungsparagraphen wirken, den Gesetz-
geber von der Rechtmäszigkeit seiner Anordnung überzeugt. "Würde es
gelingen, einen statswissensc haftlich durchgebildeten Statsgerichts-
hof oder Senat herzustellen, dem mit politischem Vertrauen eine nega-
tive Controle auch des Gesetzgebungskörper3 anvertraut werden könnte,
so würde mein Hauptbedenken beschwichtigt sein. Der Grundgedanke
des französischen Senats entspricht dieser Forderung, aber seine Aus-
führung gewährt nicht die nöthige Sicherheit für eine selbständige Con-
trole der verfassungsmäszigen Rechte und Freiheiten. Die nordamerika-
nische Praxis selber hat übrigens bei den Reconstructionsgesetzen von
1866. 67 gezeigt, dasz auch in Amerika die Autorität der Gerichte im
Kampfe mit der des Congresses weichen musz.
36*
564 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
im Irrthum ein Gesetz erläszt, welches mit der natürlichen
Rechtsordnung im Widerspruche steht, so gibt es auch hier
kein legales Statsmittel, um diesen Fehler zu verbessern, als
die Befugnisz des Gesetzgebers selbst, durch Revision des Ge-
setzes die Harmonie herzustellen. Den Gerichten darf wieder
das Recht nicht zugestanden werden, die höhere Autorität des
Gesetzgebers durch ihre eigene unwirksam ^u machen. Auch
das ungerechte Gesetz ist, so lange es in äuszerer Kraft be-
steht, von den untergeordneten Organen des States als ein
gültiges zu handhaben.
4. Ebenso ist es eine Verpflichtung des Gesetzgebers,
die wohlerworbenen Rechte Dritter (jura quaesita) zu
achten und nicht zu kränken.
Der Begriff der wohlerworbenen Rechte setzt voraus, dasz
dieselben bestimmten Personen, sei es einzelnen Men-
schen oder Genossenschaften und juristischen Personen, zu
eigenem und selbständigem Rechte zustehen. In
diese Rechtssphäre des Individuums darf der Gesetzgeber
regelmäszig nicht eingreifen. Indessen musz hier unterschie-
den werden:
a) Erworbene rein politische Rechte. Diese kommen
zwar auch bestimmten Personen zu, z. B. Hoheitsrechte den
Fürsten, Thronfolgerechte ihren Agnaten, Gerichtsbarkeit den
Gutsherren, Pairsrechte den Lords, Amtsrechte den Beamten,
aber sie kommen denselben nicht für sie allein, sondern
als statliche Rechte im Zusammenhang mit dem ganzen Stat
voraus für diesen zu. Ihre ganze Existenz ist von der Stats-
existenz abhängig. Auszerhalb des Stats haben sie keinen
Sinn und keine Geltung, im Widerspruch mit dem Dasein und
der Gesundheit des Stats keine innere Berechtigung. Es än-
dert nichts an diesem Grundverhältnisz, dasz solche Rechte
zuweilen ähnlich wie Privatrechte erkauft worden sind. Im
Mittelalter ist das häufig geschehen; aber im Mittelalter
waren Privat- und öffentliches Recht vielfältig auch sonst ver-
Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit des Gesetzes. 565
mischt. In unserer Zeit müssen wir schärfer trennen und
können dem öffentlichen Kechte, auch wo es früher auf Privat-
wegen erworben worden ist, darum doch nicht mehr einen
privatrechtlichen Charakter zugestehen. Daher hat aber hier
der gesetzgebende Körper die Macht, auch solche Kechte aus
Gründen der natürlichen Statsordnung und in verfassungs-
mäsziger Form, sei es aufzuheben, sei es abzuändern:
und wenn er auch hier Entschädigungen eintreten läszt, so
mögen ihn dazu Gründe der Klugheit und billiger Schonung
bestimmen, eine Verpflichtung dazu aber lastet nicht auf
ihm. 8
b) Nur wo mit öffentlichen Rechten der Art Vortheile
und Genüsse verbunden sind, welche wesentlich dem Indivi-
duum als solchem zu gute kommen, z. B. ein mit der
Würde verbundener Rang in der bürgerlichen Gesellschaft,
Ansprüche der Prinzen auf Apanagen, der Bürger einer Stadt
auf Benutzung von Kunst- und Wohlthätigkeitsanstalten , das
Recht einzelner Familien auf die Ausbeutung von Regalien,
z.B. der Posten, wo somit das öffentliche Recht einen erheb-
8 Für Deutschland ist in dieser Beziehung der Reichsdeputations-
hauptschlusz vom 25. Febr. 1803 von Interesse. Robert Peel, Rede
vom 5. Mai 1829: „Ich gebe die volle Kraft des Einwandes zu, welcher
gegen den Theil der vorgeschlagenen Maszregel geltend gemacht wird,
gegen den Theil, durch welchen den Freisassen das bestehende Recht
der Abstimmung entzogen wird. Es ist ohne Zweifel ein rechtsgültig
verliehenes Recht, aber es ist ein Recht, welches seinem Charakter nach
von den Eigentumsrechten und von andern Privatrechten verschieden
ist. Es ist ein öffentliches Recht, das für öffentliche Zwecke gegeben
ist, das man ohne Zweifel mit groszer Yorsicht und Rückhaltung ver-
ändern musz, das wir aber verändern dürfen, wenn das öffentliche Inter-
esse offenbare Opfer verlangt." Viel zu enge ist in dieser — wie in
andern Beziehungen die Auffassung von Radowitz in den Gesprächen
über Kirche und Stat, S. 243: „Das Gesetz hat ursprünglich nur den
Beruf, die Lücken des Gewohnheitsrechtes zu ergänzen, die Widersprüche
zu lösen, das Ganze übersichtlich zusammen zu fassen. Geht ein Gesetz
über diese Aufgabe hinaus, ändert und verletzt es wohlerworbene Rechte,
so ist es ein ungerechtes, gleichviel, von wem es ausgegangen."
566 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
liehen Beisatz von individuellem und insofern im letzten Grunde
von Privatrecht in sich hat, das erworbene Recht ein
solches in engerem Sinne geworden ist, da wird, so
weit dieser Beisatz reicht, die Befugnisz des Gesetzgebers be-
schränkt durch die Pflicht desselben, diese individuelle Seite
unverletzt zu erhalten, oder wenn im Conflicte mit der öffent-
lichen Wohlfahrt eine Veränderung und Aufhebung unver-
meidlich wird, die zu Verlust kommende Person dafür zu
entschädigen. 9
c) Am wichtigsten ist dieser Begriff auf dem Gebiete
des Privatrechts. Die Privatrechte gehören ihrer Natur
nach den Privatpersonen an und nicht dem State, den Indivi-
duen und nicht dem Volk. Der Gesetzgeber, welcher das
Volk darstellt, würde demnach in ein ihm fremdes Gebiet
übergreifen, und fremde Rechte verletzen, wollte er den Pri-
vaten ihre erworbenen Rechte entziehen oder beeinträchtigen,
Rechte, die zu schützen gerade sine Hauptaufgabe des States
ist. Allerdings in io ireil der einzelne mit seiner Rechts-
sphäre sich der öesammtheü unterordnen muss, so dasi diese
bestehen und ihre Aufsähe erfüllen kann, s<» weit i.-t der Ge-
Betzgebei berechtigt, avefa die bestehendes PriYatrechte zu be-
schränken, /.. 1). durch ein Bangesetz im Interesse der öffent-
lichen Sicherheil and des Öffentlichen Anstandes die Baufrei-
heit zu beschränken, durch ein Gesetz die Nachbarverhältnisse
zu regnliren oder Gewerbebeschränkungen anzulegen. Aber Je
mehr ein." Privatberechtigung den Charakter der Selbstän-
digkeit und Besonderheit an si< h trägt, desto weniger
darf <ler stat in dieselbe eingreifen, und «renn er durch die
höheren Interessen der allgemeinen Wohlfahrt dazu genöthigl
wird, sm niusz sich der Gesetzgeber stets daran erinnern, dasz
9 V^l. auch Stahl, Btatilehre II, B. I75ft Ptf du mitteklterliehe
Recht lind ili<- meiste« MTenftüeheii Rechte .ii^ Boiehe erworbene im
engeren Sinne n betrachten. In den m 3tate dagegen i
Gebiet derselben sehr beschränkt worden.
Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 567
das Sonderrecht des Individuums wohl dem Rechte des ge-
sammten States im Conflicte weichen musz, aber nur gegen
volle Entschädigung des Individuums durch den Stat, der jenes
Opfer fordert.10
Das Recht der Privatpersonen auf Entschädigung, in-
sofern sie genöthigt werden, ihre erworbenen Rechte abzu-
treten oder aus Rücksichten der öffentlichen Wohlfahrt aufzu-
geben, versteht sich zunächst von selbst. Es gründet sich
nicht erst auf die Bestimmung und Normirung, es ist nicht
das Product des Gesetzes. Daher können die Privatpersonen
auch in solchen Fällen den Schutz der Gerichte für dieses
wie für ihr anderes Privatrecht anrufen. Nur wenn das Ge-
setz die Entschädigung ausdrücklich versagt oder ungenügend
bestimmt, dann freilich wird der Richter auch in solchen
Fällen dem ungerechten Gesetze nicht widerstehen dürfen. n
Die überwiegende Macht des States in auszerordentlichen
10 "Vgl. preuszisches Landrecht, Einleitung, §.74: „Privilegia,
auch solche, die durch einen lästigen Vertrag erworben worden, kann
der Stat, jedoch nur aus überwiegenden Gründen des geraeinen Wohls
und nur gegen hinlängliche Entschädigung des Privilegirten, wieder auf-
heben." §. 75: „Die Entschädigung selbst kann nicht anders als durch
Vertrag oder rechtliches Erkcnntnisz festgesetzt werden."
11 Eine Reihe neuerer Schriftsteller gestatten die Entschädigungs-
klage nur, wenn die Aufhebung des Privatrechtes durch einen Regie-
rungsact, nicht auch wenn sie durch einen legislativen Act geschehen
ist, auszer wenn das Gesetz selbst die Entschädigung vorschreibe, z. B.
Stahl, Statslehre II, S. 469. Zöpfl, Statsrccht, §.196. B eseler, D.
Privatrecht I, S. 72. Verfassung von Hannover von 1833, §.37: „Ist
die Verletzung (wohlerworbener Rechte) durch einen Statsvertrag oder
durch ein verfassungsmäszig erlassenes Gesetz bewirkt, so kann die-
selbe nicht zum Gegenstand eines Rechtsanspruches gegen den Stat oder
gegen Verwaltungsbehörden gemacht werden." Vgl. Kl üb er, Oeff.
R. d. D. Bundes, §.551 und 552. Faszt man den ganzen Satz, wie es
}ni Texte geschehen ist, so ist nicht abzusehen, wie dadurch die natür-
liche Unterordnung des Richters unter den Gesetzgeber verkehrt, noch
wie dem Gesetzgeber irgend Gewalt angethan würde. Vielmehr ist der-
selbe nur einfache Anerkennung des Privatrechtes, soweit der Gesetz-
geber demselben nicht ausdrücklich den Statsschutz entzogen hat.
568 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
Collisionsfällen zwischen der öffentlichen Wohlfahrt und dem
individuellen Recht durchzugreifen und dieses zu beugen, wird
die „potestas eminens- die gesetzgeberische Ausnahms-
gewalt des States genannt. Ein gewissenhafter Gebrauch
derselben in ernster und dringender Gefahr des States kann
zu dessen Rettung unentbehrlich sein, eine leichtsinnige und
willkürliche Anwendung aber ist ein moralisches Verderben
des States selbst.
5. Wenn sich das bestehende Recht auf einen Sta ts-
vertrag mit andern State n gründet, so ist dasselbe gegen
eine Verletzung von Seite der Landesgesetzgebung unter den
Schutz des Völkerrechtes gestellt, und wird durch dieses
die Macht des Gesetzgebers beschränkt. Der so berechtigte
Unterthan darf zwar in einem solchen Falle, ohne die Treue
und die Unterthanenprlicht zu verletzen, den fremdes Stat, der
sein Recht garantirt, um völkerrechtliche Hülfe und Beistand
anrufen, denn indem er das tliut, beruft er sich auf ein Recht
und macht von einem Rechtsmittel Gebrauch, welches der
Stat, dem er angehört, selber durch den eingegangenen Stats-
vertrag auf eine für ihn verbindliche Weise anerkannt hat '■
Aber vom Standpunkt«' der politischen Selbständigkeit des
Vaterlandes aus hat die Anrufung einer fremden Hülfe ge-
wöhnlich grosze Bedenken.
Ein Vertrag dagegen zwischen einzelnen Gliedern des
States vermag diesen Schulz nicht zu gewähren.
Das nordamerikanische Statsrecht kennt auch in den
Fällen einen gerichtliehen Schutz gegen Kechtsverletzungen
von Seite des Congresses, in welchen State vertrage , die von
den vereinigten Staten eingegangen oder garantirt sind , zur
Anwendung gelangen. ,3
6. In zusammengesetzten Staten läszt sich eher
12 Beispiele der Art sind die Reohtt der S tan des I) er reu in
Deutschland.
11 ßundesverfMdsung III, l. Story III, St. 3g, gt22fc
Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 569
dafür sorgen, dasz die gesetzgebende Gewalt der Einzel-
staten auch durch die äuszere Rechtsordnung in Schranken
gehalten werde, indem die Bundes- oder R eich s Verfassung
höhere Organe für Aufrechthaltung des Rechts in dem ganzen
Umfange des Bundes oder Reiches besitzt, welche insofern
auch den obersten Gewalten der Einzelnen übergeordnet sind.
Eine derartige Bedeutung hatte das Reichskammer-
gericht in der Verfassung des spätem deutschen Reiches.
Der oberste Gerichtshof Nordamerika 's hat hier eine aus-
gedehnte Competenz. Aber merkwürdig ist es, dasz die Nord-
amerikaner, welche sonst die richterliche Gewalt selbst über
Gebühr ausdehnen, sie in Fällen hemmen, wo dieselbe überall
sonst waltet und practisch völlig unentbehrlich ist, nämlich wo
Rechtsansprüche von Privaten, /.. B. Gläubigern, gegen die Ver-
einigten Staten selbst oder gegen Einzelstaten gestellt, somit
Staten eingeklagt werden. Ihre Verfassung von 1787 scheint
freilich das Gegentheil zu bestimmen; aber die Theorie
mancher Statsmänner, welche meinten, dasz souveräne Staten
keiner Klage unterworfen werden dürfen (schon die Kömer
haben den Stat, wenn er als Schuldner oder Gläubiger er-
scheint, der Souveränetät entkleidet und als Fiscus den Pri-
vatpersonen gleich gestellt), und ein Amendement zu der
Verfassung von 1705 führten diese durch keine wahren Rechts-
gründe zu vertheidigende Beschränkung ein, welche die Stats-
gläubiger lediglich auf den Rechtssinn ihres Schuldners ver-
weist.14 In der Schweiz hat die Bundesversammlung
das Recht, im Interesse der Bundesverfassung und der Bundes-
gesetze wie zur Garantie der Cantonalverfassungen auch gegen
gesetzgeberische Uebergrifte der Cantone einzuschreiten oder
solche statsrechtliche Fragen dem Bundesgerichte zur Beur-
theilung zu überweisen.15
Die Ausbildung des Völkerrechts könnte in der Zu-
14 Story a.a.O., §.235, 237. Schubert, Verfassungsurkunden I,
S. 321.
15 Bundesverfassung, §. 74, und 105, 106.
Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 37
570 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.
kimft auch hier Eechtshülfe schaffen, und die allerdings fühl-
baren Mängel verbessern, welche der schrankenlosen Gewalt
des gesetzgebenden Körpers auf dem Fusze folgen.
7. Endlich ist noch der Satz zu erwähnen, dasz die
Gesetze keine rückwirkende Kraft haben noch haben
dürfen.
Dasz auch das Gesetz nicht das Unmögliche möglich und
das Geschehene nicht ungeschehen machen, und dasz dasselbe
somit nicht in die Vergangenheit zurückgreifen und diese um-
gestalten könne, bedarf keiner Erörterung. Wenn in der
Rechtssprüche von einer rückwirkenden Kraft der Gesetze die
Hede ist, und diese nicht zugelassen wird, so hat das den
Sinn, dasz Handlungen oder Rechtsgeschäfte, welche in eine
frühere Zeit fallen, aber später zur Beurtheilung kommen, m
der Kegel nicht nach einem inzwischen und nach ihrer Voll-
endung entstandenen Gesetze zu Im- in essen seien, und das
spätere Gesetz in der Kegel auch die bereits erworbenen
Rechte nicht ändere. ,fi Hat alter das Gesetz einen blosz
interpretativen, nicht einen Heuernden Charakter und
sprechen keine Grunde fflr eine zeitliche Beschränkung dieser
Interpretation auf die Zeil des Gesetzes selbst, so kann es
unbedenklich auch zur Erklärung früherer Rechtsgeschäfte be-
nutzt werden.
Jener Satz enthält demnach zunächst eine Rege] der
Gesetzesauslegung, welche allerdings sich an eine natür-
liche Beschränkung der Gesetzgebung anschlieszt. Ausnahmen
kommen vor, wenn entweder das Gesetl seihst aus der ihm
,f' c. ]. C. [TheodoriuA et Vdlentinianus) de Legibus: „Leges et
oonstitutiones futuris certum es! dare formam negotiis, doh ad facta prae-
terita revocari. nir-i nominatim et de praeterito tempore et adhuc pen-
dentibus nego-tiis cautum sit." Code Civil) §.2: „La l<>i no dispose (juc
pour l'avenir; ello n'a point d'effeot retroaotiü." Oesterreich. Gteseti,
§. 5: „Gesetze wirken nicht zurück; sie Italien daher auf vorange-
gangene Handlungen und auf vorher erworbene Rechte keinen Eünfluai."
Preuszisches Landreoht, Einl., g. 14 ff. Bayer. Landr. I. I '
angewiesenen Bahn heraustritt, und bereits begründete Rechts-
verhältnisse ausdrücklich abändert, oder wenn durch Anwen-
dung des Gesetzes auf die Beurtheilung früherer Handlungen
oder Rechtsgeschäfte keine wohlerworbenen Rechte gekränkt,
vielmehr die Anwendnng zu Gunsten des Handelnden oder im
Interesse des Rechtsgeschäftes ausfällt, z. B. bei Strafgesetzen,
welche für einzelne Verbrechen mildere Strafen anordnen,
oder bei Gesetzen, welche einzelne früher für strafbar erklärte
Handlungen erlauben, oder bei solchen, welche geringere Er-
fordernisse für die Gültigkeit gewisser Rechtsgeschäfte, z. B.
leichtere Formen des Testaments, einführen, Hier hilft, wie
die Köiner das nennen, eine wohlwollende Auslegung (benigna
interpretatio) über dir logische Strenge des Princips hinüber.
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fr
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