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Full text of "Die Musikgeschichte in zwölf Vorträgen"

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Die 

Miasiligesoliiolite 

von 

Wilhelm  Langhans. 


Die 


Musikgeschichte 


in  z^wölf'  Vor*ti"äQ:eii 


Wilhelm  Lans^liaiis 


ö^ 


Zweite,  ^vesentlich  vermehrte  Auflage 

mit  Notenbeispielen  und  Illustrationen. 


Leipzig,  Verlag  von  F.  E.  C.  Leuckart 

(Constantin  Sander). 

1879. 


THE  LIBFARY 

ÖÄIGHAM  YOÜNG  UNIVERSITVI 

PROVO.  UTAH 


zur    zweiten    A.iiflage. 


Der  Plan  dieser  Vorlesungen  sowie  die  Gruppirung  des 
Stoffes  sind  hier,  ungeachtet  beträchtlicher  Erweiterung  der  ein- 
zelnen Abschnitte,  dieselben  geblieben  wie  in  der  ersten  Auflage 
und  wie  in  den,  dem  Buche  zu  Grunde  liegenden,  1877  und  1878 
von  mir  zu  Berlin  gehaltenen  Vorträgen.  Der  Hauptzweck,  den 
ich  damals  im  Auge  hatte,  war  der,  die  Theilnahme  weiterer 
Kreise  für  die  Musikgeschichte  zu  wecken,  und  zwar  nicht  allein 
durch  die  Betrachtung  gewisser,  unserm  Verständniss  näher 
liegender  Epochen,  sondern  ihres  gesammten  Entwickelungsganges. 
Um  dieses  Ziel  bei  beschränkter  Zeit  annähernd  zu  erreichen, 
habe  ich  mich  bezüglich  der  Träger  jener  Epochen  begnügen 
müssen,  ihre  kunstgeschichtliche  Bedeutung  im  Allgemeinen  her- 
vorzuheben, und  auf  die  trefflichen  Biographen  zu  verweisen, 
welclie  jeder  von  ihnen  in  neuester  Zeit  gefunden  hat:  Bach  in 
Ph.  Spitta,  Händel  in  Friedr.  Chrysander,  Gluck  in  A.  B. 
Marx,  Haydn  in  C.  F.  Pohl,  Mozart  in  Otto  Jahn,  Beethoven 
in  A.  W.  Thayer.  In  Betreff  der  weiter  abseits  liegenden 
Zeiten  empfehle  ich  dem  Leser,  sofern  es  mir  überhaupt  gelungen 
ist,  ihn  durch  meine  knappe  Darstellung  zu  gründlicherem  Stu- 
dium anzuregen,  die  werthvollen  Werke  eines  Forkel,  Ambro s 


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und  F^tis;  ferner  für  specielle  Beschäftigung  mit  der  Musik  des 
Alterthums  die  nicht  minder  verdienstvollen  Arbeiten  von  Fried- 
rich Bellermann,  Westphal,  Gevaert,  Weitzmann;  des 
Mittelalters  von  Heinrich  Bellermann;  der  neuesten  Zeit  von 
Franz  Brendel.  Denjenigen  aber,  welchen  der  Sprung  von 
meiner  kleinen  Schrift  zu  jenen,  ihren  Gegenstand  mit  höchster 
Ausführlichkeit  behandelnden  Autoren  zu  gross  erscheinen  sollte, 
wird  das  Handbuch  der  Musikgeschichte  von  A.  von  Dommer 
(2.  Auflage  1878)  sowie  dessen  „Elemente  der  Musik"  und  Be- 
arbeitung von  Koch's  musikalischem  Lexicon  eine  zuverlässige 
Stütze  für  ihr  Studium  gewähren. 

lieber  die  Bedenken,  welche  mein  Hineinziehen  der  Gegen- 
wart in  den  Kreis  der  Geschichtsbetrachtung  bei  einem  Theil 
der  Kritik  eiTegt  hat  —  Bedenken,  deren  grundsätzliche  Berech- 
tigung ich  keineswegs  in  Abrede  stellen  will  —  glaubte  ich  mich 
auch  dieses  mal  hinwegsetzen  zu  dürfen,  weil  die  Bestrebungen 
unserer  hervorragenden  tonkünstlerischen  Zeitgenossen  fast  durch- 
weg von  geschichtlichen  Voraussetzungen  ausgehen,  und  wir  bei 
gründlicher  Beschäftigimg  mit  ihnen  unsere  Aufmerksamkeit 
unwillkürlich  der  Vergangenheit  zuwenden,  Dass  namentlich 
Richard  Wagner  als  Schriftsteller  wie  als  Dichter  und  Musiker 
zur  Belebung  des  Interesses  für  die  Geschichte  der  Musik  in 
umfassender  Weise  beigetragen  hat,  werden  auch  die  Gegner 
seiner  Kunstrichtung  zugeben  müssen,  und  es  schien  mii'  schon 
aus  Rücksicht  füi'  meine  Wissenschaft  geboten,  sein  Wirken 
als  Künstler  und  Aesthetiker  bei  dieser  Veranlassimg  nicht  zu 
übergehen.  Die  für  den  Historiker  nöthige  01)jectivität  halte  ich 
noch  keineswegs  dadurch  für  gefährdet,  dass  er  mit  der  Ent- 
wickelung  auch  seiner  Zeit  enge  Fühlung  behält;  ich  halte  es 
sogar  für  nothwendig,  dass  er  die  Beziehungen  zwischen  dem 
„Sonst"  und  dem  „Jetzt"  niemals  aus  dem  Auge  verhere,  weil 
eüie   grosse  Anzahl   historischer   Thatsachen   niu'   im  Lichte    der 


VII 


Gegenwart  verständlich  werden.  „Es  ist  das  Recht  der  Lebenden" 
sagt  Gustav  Freytag  in  seinen  Bildern  aus  der  deutschen  Ver- 
gangenheit (IV.  S.  492)  „alle  Vergangenheit  nach  den  Bedürf- 
nissen und  den  Forderungen  ihrer  eigenen  Zeit  zu  deuten.  Denn 
das  Ungeheuerliche  und  Unerforschliche  des  geschichthchen  Lehens 
wird  uns  nur  dann  erträglich,  wenn  Avir  einen  Verlauf  darin 
erkennen,  der  unserer  Vernunft  und  der  Sehnsucht  unseres 
Herzens  entspricht,  in  gehäufter  Zerstörung  einen  unendlichen 
Quell  neuen  Lebens,  aus  dem  Vergehen  das  Werdende.  Darum 
liebt  ein  Volk,  welches  sich  seiner  Gegenwart  freut,  auch  der 
vergangenen  Zeit  zu  gedenken,  weil  es  in  ihr  die  geworfene  Saat 
seines  blühenden  Halmenfeldes  erkennt," 

Berlin,  Mai  1879. 

W.  Langhans, 


1 11  halt. 


I.  Das  Alterthum.  Zweck  und  Plan  des  musikgescliichtlichen 
Studiums  —  Charakteristik  der  Musik  der  Inder,  Chinesen, 
Egypter,  Hebräer  —  die  Musik  der  (kriechen  —  die  antike 
Tragödie  —  EiuHuss  der  gi-iechischeu  Philosophie  auf  die 
Kunstentwickelung  —  Lyriker,  Instrumental- Virtuosen,  Theo- 
retiker —  Verfall  der  Musik  unter  der  ßömerherrschaft  — 
Kaiser  Nero 1 — 14 

II.  Die  Musik  der  ersten  christlichen  Zeiten.  Abhängigkeit 
der  frühchristlichen  Kunst  von  der  antiken  —  Fortwirken  der 
griechischen  Cultur  auch  nach  der  Völkerwanderung  —  Theo- 
dorich, König  der  Gotlien  —  das  griechische  Tonsystem  als 
Grundlage  des  christhchen  —  Errichtung  der  ersten  Sing- 
schulen zu  Rom  —  Reformen  des  Bischofs  Ambrosius  und  des 
Papstes  Gregor  —  Karl  der  Grosse  —  die  Sängerschule  von 
St.  Gallen 15—26 

III.  Die  Anfänge  der  mehrstimmigren  Musik.  Die  Araber  und 
die  nordischen  Völker  —  die  musikalischen  Instrumente  und 
das   Organum  —  Hucbald  —  Neumen  —  Guido  von   Arezzo 

—  Solmisation  —  Mensuralmusik  —  Franco  von  Cöln  —  die 
scholastische  Philosophie 27—30 

IV.  Die  musikalische  Herrschaft  der  NiederlHnder.  Kreuzzüge  — 
Troubadours  —  Minnegesang  und  Meistergesang  —  Genossen- 
schaften  der  Instrumentalmusikcr   —   das   deutsche  Volkslied 

—  das  Papstthum  in  Avignon  —  der  Discantus  —  die  Nieder- 
länder in  Rom :  Dufay,  Ockenheim,  Josquin  —  Fortschritte  in 
der  Kunst  des  Musiknotendruckes  —  Vorbereitung  der  Re- 
naissance durch  Dante,  Petrarca,   Boccaccio  40 — 54 

V.    Luther's  Ket'ormation  und  die  Renaissance.    Bildende  Kunst 
und  Musik  im  Beginn  des  Iti.  Jahrhunderts  —  der  protestan- 


Seite 

tische  Kircliengesang  —  seine  Rückwirkung  auf  den  ka'tlioli- 
schen  —  Palestrina  —  classische  Kunst  —  Versuche  zur 
WiederLelebung  der  antiken  Musik  —  Monodie  und  Recitativ 

—  Caccini  und  Peri  —  die   Oper 55 — 65 

VI.    Die    italienische    Oper.      Venedig  —  Willaert    gieBt  der 

dortigen  Kirchenmusik  einen  dramatischen  Charakter  —  Sein 
Schüler  Zarliuo  bringt  das  reine  diatonische  System  in  Auf- 
nahme —  A.  und  J.  Grabrieli  —  Ausbildung  der  Oper  — 
Monteverde,  Cavalli  —  der  Kammermusikstil  —  die  neapoli- 
tanische Schule  des  A.  Scarlatti  —  ihre  Ausbreitung  über 
Europa  —  der  Kunstgesang  —  Wettstreit  der  späteren  Nea- 
politaner mit  Grluck  und  Mozart  —  Rossini  —  Verdi      .     .       66 — 82 

VII.  Die  französische  Oper.  Perrin  und  Cambert,  die  Begründer 
der  nationalen  Oper  in  Frankreich  —  ihre  Ausbildung 
durch  LuUy  und  Rameau  —  Grleichschwebende  Temperatur 

—  Die  komische  Oper  —  Buffonisten  und  Auti-Buffonisten 

—  die  Aufkläruiigs-Philosophie  des  18.  Jahrhunderts  — 
Jean  Jacques  Rousseau  —  Grluck  —  das  pariser  Conser- 
vatorium  der  Musik  —  ausländische  Componisten  im  Dienst 

der  französischen  Oper:  Cherubini,   Spontini,  Meyerbeer     .■   83—103 

VIII.  Die  deutsche  Oper.  Erste  Opemauftuhrung  in  Deutsch- 
land —  Entstehung  einer  deutsch-nationalen  Oper  in  Ham- 
burg —  Reinhard  Keiser  —  das  Singspiel  durch  J.  A.  Hiller 
veredelt  —  Dittersdorf  und  die  Komische  Oper  —  Mozart's 
Entführung  und  Zauberflüte  —  Beetlinven's  Fidelio         .     .  104 — 118 

IX.  Das  Oratorium.  Passion  und  Mysterien  im  Mittelalter  — 
die  musikalischen  Congregationen  des  Filippo  Neri  —  Ein- 
fühi'ung  des  dramatischen  Stils  in  die  Kirche:  Cavaliere, 
Viadana,  Carissimi  —  Lntti,  Caldara,  Marcello,  die  letzten 
Vertreter  der  venetianischen  Schule  —  Weiterbildung  der 
Kirchenmusik  in  Deutschland:  Orlandus  Lassus,  Eccard, 
Hans  Leo  Hasler,  Heinr.  Schütz  —  Vermischung  des  Opern- 
und  Kirchenstils  in  Hamburg  —  der  Passionstext  des  Li- 
centiaten  Brockes  —  Händel  und  Bach  —  die  Entwickelung 

der  Musikzustände  in  England  —  Mendelssohn 119 — 139 

X.  Die  Instrumeutalmusik.  Orgel  und  Claviatur-Saiteninstru- 
mente  —  die  Laute  —  Tabulatur  —  Streich-  und  Blasin- 
strumente —  Instrumentalstil  —  Instrumental-Musikformen 

—  die  cyklischen  Formen:  Parthie,  Suite,  Sonate' —  die  mo- 
derne Ciaviersonate  und  die  Orchester-Sjnnphonie  —  die 
deutsche  Philosophie  des  18.  Jahrhunderts 140 — 161 

XI.  Die  Romantiker  des  19.  Jahrhunderts.  Einfluss  der  Ro- 
mantik auf  die  lyrische  Dichtung  —  Volkslied  und  Kunst- 


Inhalt.  Xt 

Seite 

lied  —  Ausbildung  des  letzteren  durch  Franz  Schubert  und 
Robert  Franz  —  die  romantische  Oper:  Spohr,  "Weber, 
Marschner  —  die  romantische  Instrumentalmusik:  Mendels- 
sohn, Schumann  —  Lieder  ohne  Worte  —  französische  Ro- 
mantiker:   Berlioz,    Liszt,    Chopin   —   Programm-Musik   — 

das  moderne  Olavierspiel 162 — 179 

XII.   Richard  Wagner 180—197 


Beilagen. 

1)  Tabelle  einiger  wichtiger  Jahreszahlen  der  Musikgeschichte  201 — 204 

2)  Verzeichuiss  älterer  Musikwerke  in  neuen  Ausgaben  .     .     .  205 — 209 
Register 211—217 


Bericlitiguiig. 


S.  34,  Zeile  8  lies:  „20"  statt  „21". 

Minder  störende  Druckfehler  wie  S.  2,  Zeile  16  v.  u. :  „Indier"  statt 
„Inder";  „Aristoxenus"  statt  „Aristoxenos"  etc.  wolle  der  Leser  selbst  be- 
ricMigen. 


I. 


Das  Alterthurti. 


Zm-  richtigen  Würdigimg  und  zum  vollen  Genüsse  der  "Werke 
des  menschlichen  Geistes  ist  es  nothwendig.  nicht  allein  diese 
selbst  giündlich  zu  studiren,  sondern  auch  die  Bedingungen  zu 
kennen,  unter  denen  sie  zur  Reife  gelangen  konnten  und  mussten. 
Darf  demnach  behauptet  werden,  dass  die  Beschäftigung  mit  den 
Künsten  und  den  Wissenschaften  nur  dann  erfolgreich  sein  wird, 
wenn  sie  vom  Studium  des  historischen  Entwickelungsganges  der- 
selben begleitet  ist,  so  gilt  dies  ganz  besonders  von  der  Tonkunst. 
Sie  wii'd  mit  Recht  die  subjectivste  unter  den  Künsten  genannt, 
denn  bei  der  Körperlosigkeit  ihres  Materials,  des  schnell  verklingen- 
den Tones,  bei  dem  Mangel  eines  Vorbildes  und  GoiTectivs,  wie 
es  die  übrigen  Künste  in  der  uns  umgebenden  sichtbaren  Welt 
besitzen,  scheint  es  unmöglich,  den  Werth  eines  musikahschen 
Kunstwerkes  nach  festen  Regeln  zu  bestimmen;  und  in  der  That 
tritt  die  Meinungsverschiedenheit  auf  diesfem  Gebiete  nicht  selten 
so  schi'off  hervor,  dass  zu  einer  Zeit  und  an  einem  Orte  für  schön 
gilt,  was  andere  Zeiten  imd  andere  Menschen  als  hässlich  ver- 
werfen. Um  für  das  musikalische  Urfheil  einen  sicheren  Boden 
zu  gewinnen,  ist  daher  die  Geschichtsbetrachtung  der  einzig 
sichere  Weg,  und  zwar  eine  solche,  die  sich  nieht  mit  einfacher 
Kenutnissnahme  der  historischen  Thatsachen  begnügt,  sondern 
dieselben  als  Wirkungen  allgemeiner  Priucipien  in  ihrem  Zu- 
sammenhange untereinander  zu  erkennen  sucht.  So  betrachtet, 
werden  auch  die  scheinbar  unfruchtbaren  Epochen  der  Musik- 
geschichte Bedeutung  gewinnen,  die  Bestrebungen  früherer  Ge- 
schlechter werden  Theilnahme  erwecken,  selbst  dann,  wenn  sie 
nicht  von  unmittelbarem  Erfolge  gekrönt  waren,  und  wie  der 
Vergangenheit,  so  \rird  mau  auch  der  voi*wärtsstrebenden  Gegen- 

Langhans,  Miisikgeecbichte.     i.  Aufl.  1 


I.    33  as  Alterthiim. 


wart,  mögen  ihre  Ziele  immerhin  noch  nicht  klar  vor  Augen 
liegen,  ein  besseres  Verständniss  entgegenbringen,  als  es  ohne 
jenes  Hülfsmittel  der  Fall  sein  würde. 

Die  Beschäftigung  mit  der  Musikgeschichte  darf  sich  jedoch 
nicht  auf  bestimmte,  der  Empfindungsweise  der  Gegenwart  ver- 
wandte Zeitabschnitte  beschränken,  wenn  sie  wahrhaft  nutzbringend 
sein  soll.  In  der  Entwickelung  der  Musik  giebt  es  keine  Sprünge ; 
ja  man  kann  sagen,  dass  hier  der  Zusammenhang  der  verschie- 
denen Geschichtsepochen  noch  inniger  ist,  als  auf  den  übrigen 
Gebieten  der  Geistescultur.  Nicht  einmal  die  tiefe  Kluft  zwischen 
der  antiken  und  der  modernen  Welt  vermochte  diesen  Zusammen- 
hang aufzuheben,  denn  die  Musikformen  der  Griechen  sind  beinahe 
unverändert  in  die  nachchristhche  Tonkunst  übergegangen  und 
bildeten,  wie  weiterhin  noch  ausführlich  gezeigt  werden  soll,  die 
Grundlagen  des  römischen  Kirchengesanges,  auf  welchem  sich 
später  wiederum  der  gewaltige  Bau  der  modernen  Musik  erheben 
konnte. 

Aber  auch  in  noch  entfernteren  Zeiten,  bei  den  ältesten 
Culturvölkern  der  alten  Welt  zeigen  sich  mannichfache  Punkte, 
in  denen  sich  ihre  musikalische  Anschauungsweise  mit  der  der 
jüngeren  Völker  berührt  —  Ursache  genug,  um  jene  frühesten 
Culturepochen  nicht  gänzlich  mit  Stillschweigen  zu  übergehen, 
wie  dies  in  musikgeschichtlichen  Arbeiten  geringeren  Umfangs 
manchmal  der  Fall  ist.  Durch  das  gesammte  Alterthum  geht 
der  Glaube  an  den  göttlichen  Ursprung  der  Musik  und  an  ihre 
Fähigkeit  Wunder  zu  bewirken.  Bei  den  Indiern  gilt  Brahma 
selbst  als  Schöpfer  der  Musik  und  sein  Sohn  Nared  als  Erfinder 
des  nationalen  Musikinstrumentes,  der  guitarrenartigen  Yina,  wie 
auch  bei  den  Griechen  der  Ursprung  der  Lyra  auf  den  Hermes, 
bei  den  Egyptern  auf  den  Gott  Thaut  zurückgeführt  wurde. 
Wenn  nach  der  griechischen  Sage  ein  Orpheus  und  ein  Amphion 
durch  ihren  Gesang  wilde  Thiere  zähmten  und  Städte  erbauten, 
wenn  die  Trompeten  der  Israeliten  die  Macht  hatten,  die  Mauern 
von  Jericho  zu  stürzen,  so  bewirkten  gewisse  Melodien  der  Inder, 
dass  der,  welcher  sie  anstimmte,  vom  Feuer  verzehrt  wurde, 
andere  vermochten  die  Sonne  zu  verfinstern,  wieder  andere 
Regen  hervorzubringen,  wie  denn  eine  solche,  gelegentlich  einer 
Dürre  in.  den  Reisfeldern  Bengalen's,  die  Bevölkerung  von  einer 
Hungersnoth  befreite. 

Die  von  den  indischen  Gelehrten  aufgestellten  Musiksysteme 
zeigen    ebenfalls    mancherlei    Uebereinstimmung    mit    denen    der 


I.    Das  -A.ltertlixiin. 


Übrigen  Ciiltuivölker  des  Alterthums.  Keinem  derselben,  die 
heiTorrageud  begabten  Griechen  nicht  ausgenommen,  war  es  be- 
schieden, die  dem  modernen  Ohr  so  natürlich  klingende  Eiu- 
theilung  der  Octave  in  zwölf  Halbtöne  aufzufinden.  AVie  die 
griechische  Musiktheorie,  so  hatte  auch  die  indische  den  Yiertels- 
ton,  ja  selbst  noch  feinere  lutonations-Unterscheidungen  und,  der 
Mannichfaltigkeit  der  Intei-valle  entsprechend,  eine  grosse  Zahl 
von  Tonarten,  deren  der  Musikgelehrte  Soma  nicht  Aveniger  als 
neunhundert  und  sechzig  nennt.  Hierbei  aber  sei  gleich  be- 
merkt, dass  der  Begriff  Tonart  im  Alterthum  ein  anderer  und 
weiterer  war  als  heute:  die  Tonleitern  jener  Tonarten  —  die 
richtiger  „Toncombinationen"  oder  „Melodien"  heissen  müssten 
—  bestimmen  sich  theils  durch  den  Beginn  des  Octavenumlaufes 
von  verschiedenen  Stufen  derselben  Tonleiter,  wodiu'ch  z.  B.  aus 
der  Cdur-Tonleiter,  dieselbe  von  D  bis  d,  von  E  bis  e  u.  s.  w. 
aber  ohne  Versetzungszeichen  gesungen,  sechs  neue,  der  Inter- 
vallenfolge nach  von  jeuer  verschiedene  Tonarten  entstehen,  theils 
durch  Moditication  einzelner  Intervalle  mittelst  Erhöhung  und 
Vertiefung,  theils  dm-ch  Ueberspringung  gewisser  Tonstufen. 
Wenn  der  Scharfsinn  der  Griechen  es  vermochte,  die  Menge 
der  auf  diese  Weise  entstehenden  Varianten  in  ein  übersicht- 
liches System  zu  bringen,  so  war  der  überschwängliche  Sinn  der 
Orientalen  unfähig,  das  Wesentliche  vom  Zufälligen  zu  unter- 
scheiden, und  ein,  den  unzähligen  Tonverbiudungen  zu  Grunde 
liegendes,  allgemeines  Gesetz  aufzufinden*). 

Im  vollen  Gegensatz  zu  der  ungezügelten  Phantastik  der 
Inder  steht  die  rationalistisch  nüchterne  Natur  der  Chinesen. 
Zu  allen  Arbeiten  befähigt,  bei  denen  emsiger  Fleiss  und  Auf- 
merksamkeit den  Erfolg  bedingen,  sind  doch  ihre  Leistungen 
auf  denjenigen  Gebieten,  wo  geistiger  Schwung  und  Phantasie 
den  Ausschlag  geben,  nur  von  untergeordnetem  Werth.  Dem- 
nach konnte  auch  die  Musik  bei  ihnen  nicht  jene  erhebende  und 
begeisternde  AVirkung  ausüben,  wie  bei  den  Indern,  was  jedoch 
nicht  hinderte,  dass  sie  als  Gegenstand  wissenschaftlichen  Studiums, 
sowie  als  Mittel  zur  Jugenderziehung  hoch  geschätzt  wurde.  In 
letzterer  Beziehung  zeigt  sich  China  in  Uebereinstimmung  mit 
Griechenland:  ..Wollt  ihr  wissen"  so  lautet  ein  Ausspruch  des 
ersten  der  chinesischen  Weisen,  des  Confucius  (500  v.  Chr.)  „ob 
ein  Land  wohl  regiert  und  gut  gesittet  ist,  so  hört  seine  Musik."  — 


*)  S.  Ambros,  (reschichte  der  Musik,  I.  S.  51. 


I.    Das  Alterthum. 


die  gleiche  Ansicht  aber  findet  sich  wiederholt  bei  Plato  und 
Aristoteles  ausgesprochen;  und  auch  darin  treifen  die  Philosophen 
Griechenlands  mit  den  chinesischen  zusammen,  dass  sie  gewissen 
Tonlblgen  eine  besondere  Fähigkeit  zuschreiben,  die  Jugend  zu 
bilden  und  zu  veredeln,  und  sie  deshalb  unter  den  Schutz  der 
Gesetze  stellen.  —  Das  Musiksystem  der  Chinesen  unterscheidet 
sich  von  dem  der  Inder  hauptsächlich  durch  seine  Knappheit; 
schwelgten  diese  in  einer  Masse  von  Intervallen,  die  bei  ihrer 
Kleinheit  dem  modernen  Ohr  unerkennbar  sein  würden,  so  ver- 
lieren sich  die  Chinesen  in  das  andere  Extrem:  ihnen  ist  selbst 
die  diatonische  Scala  nicht  einfach  genug,  man  nimmt  ihr  noch 
zwei  Intervalle,  die  Quarte  und  die  Septime.  Wiederum  aber 
zeigt  sich  hier  eine  Analogie  der  chinesischen  mit  der  griechischen 
Musik,  denn  jene  Tonleiter  der  Chinesen  c  d  e  g  a  c  —  Avelche 
auch  C.  M.  V.  Weber  seiner  Ouvertüre  zu  „Turandot"  zu  Grunde 
gelegt  hat  —  findet  ihr  Seitenstück  in  der  des  Olympos,  welcher,  wie 
Aristoxenos  berichtet,  in  der  Mollscala  die  vierte  und  siebente  Stufe 
unberührt  Hess,  und,  indem  er  die  nach  dieser  Analogie  aufgestellte 
Tonleiter  bewunderte  und  sich  aneignete,  in  derselben  Melodien 
dorischer  Tonart  componirte*).  Uebrigens  kann  das  Bestreben, 
die  strenge  Diatonik  zu  unterbrechen,  sogar  bis  auf  die  neueste 
Zeit  verfolgt  werden;  noch  heute  lebt  jene  Tonleiter  mit  fehlen- 
der Quarte  und  Septime  in  den  Volksweisen  der  Schotten  fort, 
und  die  durch  Liszt's  „ungarische  Rhapsodien"  bekannt  ge- 
wordene Molltonleiter  der  Zigeuner  folgt  mit  ihrem  zweimal 
wiederkehrenden  Intervall  der  übermässigen  Secunde  dem  gleichen 
Princip. 

Das  starre  Festhalten  am  Hergebrachten,  welches  das  geistige 
Leben  der  Chinesen  in  seinem  Banne  hielt  und  sie  um  die  Früchte 
einer  Jahrtausende  alten  Cultur  gebracht  hat,  hinderte  sie  auch 
au  der  weiteren  Ausbildung  ihrer  Musik;  konnte  es  doch  selbst 
der  als  Musikkenner  allgemein  geachtete  Prinz  Tsay-Yu  nicht 
durchsetzen,  dass  in  die  oben  beschriebene  fünfstufige  Scala  die 
zwei  fehlenden  Halbtöne  aufgenommen  wurden;  diese  Töne  der 
Tonleiter  aufzwingen,  so  behaupteten  die  Gegner,  heisse  so  viel, 
als  der  Hand  einen  sechsten  und  siebenten  Finger  anfügen. 
Dieselbe   Ursache   aber   war   es,   weshalb    die  künstlerisch   noch 


*)  Wie  wir  ebenfalls  durch  Aristoxenos  erfahren,  galt  Olympos  aus 
diesem  Grunde  als  Erfinder  des  enharmonischen  Klanggeschlechtes,  von 
welchem  noch  später  (S.  19)  die  Rede  sein  wird. 


I.    X>aa  A-lterfhum. 


ungleich  reicher  begabten  Egypter  in  ihrer  geistigen  Entwicke- 
lung  auf  halbem  Wege  stehen  bleiben  mussten.  Von  der  hohen 
Stellung,  welche  sie  unter  den  Culturvölkern  des  Alterthums  zeit- 
weilig einnahmen,  zeugt  sowohl  der  Kunstwerth  ihrer  zahlreichen, 
der  Nachwelt  erhaltenen  Monumente,  als  auch  der  Einfluss,  den 
sie  auf  die  wissenschaftlicheund  künstlerische  Ausbildung  der  Nach- 
barvölker ausübten,  wie  denn  die  berühmtesten  Forscher  Grriechen- 
lands,  ein  Pythagoras,  ein  Herodot  und  noch  im  vierten 
vorchristlichen  Jahrhundert  Plato  die  Fahrt  über  das  Meer  nicht 
scheuten,  um  der  egyptischen  Weisheitslehren  theilhaftig  zu  wer- 
den. Allerdings  scheint  zur  Zeit  des  Letzteren  schon  ein  Still- 
stand der  geistigen  Thätigkeit  bei  den  Eg3'pteru  eingetreten  zu 
sein,  wie  aus  der  folgenden  Stelle  im  zweiten  Buch  seiner  „G-esetze" 
zu  schliessen  ist:  „Ist  es  erlaubt"  so  wird  hier  gefragt  „alles, 
was  einem  Dichter  in  einem  Gedicht  oder  in  einem  Gesänge  schön 
dünkt,  auch  die  Jugend  zu  lehren?  —  Ueberall  ist  dieses  erlaubt, 
nur  in  Egypten  nicht.  —  Warum  aber  ist  dies  in  Egypten  nicht 
erlaubt?  —  Dies  ist  freilich  zu  verwundern.  Allein  den  Egyptern 
war  es  schon  lange  bekannt,  dass  die  Jugend  in  den  Städten  nur 
an  schöne  Formen  und  an  gute  Musik  gewöhnt  werden  müsse; 
wie  aber  diese  schönen  Formen  und  gute  Musik  beschaffen  sein 
müssen,  ist  von  ihren  Priestern  bestimmt,  und  weder  Malern, 
noch  Musikern,  noch  andern  Künstlern  ist  es  erlaubt,  etwas 
Neues,  von  jenen  einmal  als  schön  erkannten  Mustern  Abweichen- 
des einzuführen.  Daher  kommt  es  auch,  dass  ihre  Gemälde  und 
Statuen,  die  vor  zehntausend  Jahren  verfertigt  Avorden,  in  keinem 
einzigen  Stück  besser  oder  schlechter  sind  als  diejenigen,  welche 
noch  jetzt  gemacht  werden."  Damit  aber  war  den  Künsten  das 
Todesurtheil  gesprochen;  denn  sobald  es  verboten  ist,  über  die 
Alten  hinauszugehen,  die  Grenzen  der  Kunst  zu  erweitern  und 
neuen  Gesetzen  Geltung  zu  verschaffen,  so  muss  selbstverständ- 
lich die  schöpferische  Kraft  erlöschen  und  geistige  Stagnation 
an  ihre  Stelle  treten.  Dass  bei  alledem  die  Musik  im  öffentlichen 
und  privaten  Leben  der  Egypter  einen  grossen  Platz  einnahm, 
zeigen  die  in  den  Kimigsgräbern  und  auf  andern  Monumenten  aufge- 
fundenen bildlichen  Darstellungen  von  Sängern  und  lustruraentisten, 
bald  einzeln,  bald  zu  Chören  und  Orchestern  vereint,  wie  auch  die 
Mannichfaltigkeit  der  dort  abgebildeten  Instrumente,  unter  denen 
die  mit  einer  grossen  Zahl  von  Saiten  versehene  Harfe  am  häufig- 
sten erscheint  und  auf  den  üppigen,  prächtigen  Charakter  der  Musik 
schliessen  lässt.    Doch  konnten  alle  Anstrengungen,  die  Musik  nach 


I.    Das  A-ltertlaum. 


aussen  hin  zu  bereichern,  für  den  Mangel  an  innerer  Triebkraft 
keinen  Ersatz  bieten.  In  der  Gescbicbte  der  Musik  darf  Egypten 
nur  eine  untergeordnete  Stelle  einnehmen,  verglichen  mit  den 
Hebräern  imd  Griechen,  den  beiden  Völkern  des  Alterthums,  die 
zwar  von  den  Egyptern  die  Anregung  zur  geistigen  Thätigkeit 
empfingen,  bald  aber  durch  eigene  Kraft  ihr  Vorbild  auf  die  eine 
oder  die  andere  Weise  weit  überflügeln  sollten. 

Der  Eiufluss,  den  Egyj)ten  auf  die  griechische  Cultur  aus- 
geübt, tritt  besonders  deutlich  hervor  an  den  Werken  der  bil- 
denden Kunst  aus  der  frühesten  Entwickelungszeit  Griechenlands, 
u.  a.  bei  dem  sogenannten  Apollo  von  Tenea,  der  ganz  und  gar 
den  egyptischen  Typus  zur  Schau  trägt.  Noch  bedeutender  muss 
dieser  Einfluss  auf  die  Bildung  des  jüdischen  Volkes  gewesen 
sein,  dessen  Stammväter  als  arme  Nomaden  zu  den  Egyptern 
geflüchtet,  und  Jahi'hunderte  lang  bei  ihnen  in  einem  Abhängig- 
keitsverhältniss  zu  verweilen  gezwungen  waren.  Während  der 
kurzen  nationalen  Selbständigkeit,  welcher  sich  die  Hebräer  später 
erfreuten,  entwickelte  sich  auch  bei  ihnen  eine  eigene  Kunst, 
deren  Bedeutung  für  den  Cultus  wie  für  das  gesellige  Leben  aus 
den  darauf  bezügUchen  zahlreichen  Mittheilungen  des  alten  Testa- 
mentes unzweifelhaft  hervorgeht.  Diesem  zeitweiligen  Aufschwünge 
folgten  jedoch  wieder  Jahrhunderte  der  politischen  Abhängigkeit 
von  verhältnissmässig  hochci^dhsirten  Völkern,  während  welcher 
Zeit  die  künstlerischen  Errungenschaften  jener  kurzen  Freiheits- 
epoche  allmählich  verloren  gehen  mussten,  bis  endlich  die  alles 
übei-fluthende  griechische  Cultur  auch  dem  Judenthum  ihren  Stempel 
aufprägte.  Allerdings  haben  die  Hebräer  mit  einer  in  der  Völker- 
geschichte seltenen  Consequenz  eine  bestimmte  Seite  ihres  Wesens 
ausgebildet;  ihr,  mehr  auf  den  inneren  Menschen  als  auf  das 
äussere  Leben  gerichteter  Sinn,  die  dadurch  erzeugte  reinere  und 
höhere  Weltanschauung,  welche  allen  ihr  feindlichen  Einwirkungen 
der  Nachbarvölker  gegenüber  standhielt,  sie  zeugen  genugsam  von 
der  Eigenartigkeit  des  hebräischen  Volksgeistes  und  rechtfertigen 
die  Theilnahme,  welche  man  zu  allen  Zeiten  für  seine  Entwicke- 
lungsgeschichte  bewiesen  hat.  Gerade  diese  Eigenschaften  der 
Hebräer  aber  sind  es,  die  bezüglich  ihrer  künstlerischen  Be- 
gabung Zweifel  erregen  müssen;  übrigens  kann  ein  ins  Einzelne 
gehendes  Studium  der  althebräischen  Tonkunst  schon  deshalb  kein 
lohnendes  sein,  weil  über  die  Beschaffenheit  derselben  von  den 
gleichzeitigen  Schriftstellem  so  gut  wie  nichts  mitgetheilt  ist,  und 
CS   ausserdem    an  Monmnenten,    wie    solche    von    der  Geschichte 


I.    Das  Alterthum. 


anderer  Völker  Nachricht   geben,   im  jüdischen  Lande   gänzlich 
mangelt*). 

Ist  demnach  von  der  hebräischen  Musik  nur  mittelbar, 
durch  das  Studium  der  egyptischen  und  babylonischen  Alter- 
thümer,  ein  einigermassen  klares  Bild  zu  gewinnen,  so  haben  wir 
von  der  Musik  der  Griechen  durch  ihre  Schriften  und  Monu- 
mente unmittelbare  und  reichliche  Kunde.  Unter  ungleich  gün- 
stigeren Bedingungen  als  die  Hebräer  konnten  sie  es  unternehmen, 
die  von  den  Egyptern  überkommenen  Elemente  der  Künste  und 
Wissenschaften  in  nationalem  Sinne  auszubilden.  Ihrem  gelehrigen 
Naturell  kam  die  geographische  Lage  ihres  Landes  zu  Hülfe;  die 
Leichtigkeit  des  maritimen  Verkehrs  veranlasste  sie  schon  früh, 
zum  Zwecke  des  Austausches  materieller  und  geistiger  Güter  mit 
den  ihnen  au  Bildung  theilweise  überlegenen  Küstenvölkern  des 
Mittelmeeres  in  Verkehr  zu  treten.  Dieser  Verkehr  sollte  auch* 
der  Ausbildung  ihrer  musikalischen  Anlagen  zmn  Vortheil  ge- 
reichen; zur  theoretischen  Speculation  empfingen  sie  die  Anregung 
vornehmlich  von  Eg}73ten  her,  wo  schon  in  frühester  Zeit  die 
Musik  in  Verbindung  mit  mathematischen  und  astronomischen 
Forschungen  gepflegt  war;  auf  ihre  praktische  Musik  dagegen 
wirkten  in  erster  Reihe  die  Beziehungen  zu  Kleinasien,  denn  von 
hier  erhielt  Griechenland  mit  dem  Weinbau  und  dem  Dionysos- 
(Bacchus-)Cultus  auch  die  mit  demselben  verbundene  wild-leiden- 
schaftliche, von  scharf  und  weit  tönenden  Blasinstrumenten  begleitete 
Musik.  Indem  mm  diese  mit  der  heimischen,  auf  strenges  Maass 
gerichteten  Musik  verschmolz,  rief  das  Zusammenwirken  ihrer  ver- 
schiedenartigen Elemente  jene  nationale  Tonkunst  ins  Leben,  von 
deren  erhebender  Kraft  die  Schriftsteller  der  Alten  vielfach  Zeugniss 
ablegen,  und  die  ihre  höchste  Wirkung  in  der  Tragödie  erreichte. 

Nimmt  man  die  Meinung  Westphal's**)  als  die  richtige  an, 
nach  Avelcher  in  der  antiken  Tragödie  nicht  nur  die  Chöre, 
sondern  auch  die  Einzelredeu  und  Dialoge  musikalisch  vorgetragen 
wurden,  und  sie  jedenfalls  „imserer  modernen  Oper  weit  näher 
stand  als  unsenn  recitirenden  Schauspiel'',  so  darf  diese  Kunst-|> 
gattung    mit   Recht   die    besondere    Aufmerksamkeit    des    Musik- 


*)  Als  einziges  Monument  des  hebräisclien  Alterthums  kann  das  im 
Inneren  des  römischen  Tihis-Triumphbogens  abgebildete  Relief  gelten,  wo 
Im  Zuge  der  gefangenen  Juden  neben  anderen  Heiligtliümern  des  Tempels 
von  Jerusalem  auch  das  unter  dem  Namen  Schofar  oder  Keren  im  alten 
Testament  erwähnte  Metallblasinstrument  der  Juden  getragen  wird. 
**)  R.  Westphal,  griechische  Rhythmik  und  Harmonik  I.  S.  18. 


I.    X>as  A-lterth-um. 


historikers  beanspruchen.  Ihre  Entwickelungsgeschichte  ist  mit 
"wenigen  Worten  skizzirt.  Ihren  Ursprung  nimmt  sie  nach  der 
Darstellung  Droysen's  (in  dessen  Didaskalien  zum  „Aischylos" 
S.  510  ff.)  A'^on  den  zm-  Zeit  der  Weinlese  dem  Dionysos  zu  Ehren 
gefeierten  Festen,  bei  welchen  dem  Gotte  unter  begeisterten  Ge- 
sängen ein  Bock  geopfert  wurde  —  wie  auch  der  Name  „Tragödie" 
(aus  „Tragos"  der  Bock  und  „Ode"  der  Gesang  zusammengesetzt) 
wörtlich  „Bocksopfergesang"  bedeutet.  Chorgesänge  und  Tanz 
der  als  Satyrn  vermummten  Festtheilnehmer,  deren  Führer  in  den 
Pausen  die  Leiden  des  Gottes  singend  erzählte,  bildeten  den 
Hauptcharakter  dieser  ländlichen  Feste,  welche  mit  zunehmender 
Civilisatiön  die  Aufmerksamkeit  auch  der  Städter  auf  sich  lenkten 
und  nun  bald  eine  künstlerische  Gestalt  gewannen.  Thespis 
(um  600  V.  Chr.)  war  der  erste,  welcher  ihnen  ein  dramatisches 
*^Element  beimischte,  indem  er  den  Erzähler  zum  Chor  in  eine 
bestimmte  Beziehung  brachte;  auch  regelte  er  die  Bewegungen 
des  Chors  und  gab  ihm  ein  dem  Stoffe  der  Handlung  entsprechen- 
des Costüm.  Fanden  diese  künstlerischen  Neuerungen  des 
Thespis  auf  einer  Seite  heftige  Gegner,  z.  B.  in  dem  Gesetz- 
geber Solon,  so  scheint  doch  das  grosse  Publicum  sein  Streben 
anerkannt  zu  haben,'  wie  sich  aus  seinen  Kunstreisen  schliessen 
lässt,  bei  denen  er  seine  Reqmsiten  auf  einem  Karren  mit  sich 
geführt  haben  soll  —  jenem  Thespiskarren,  dessen  Andenken  als 
Symbol  einer  wandernden  Schauspielertruppe  noch  bis  heute 
erhalten  ist. 

Es  bedurfte  noch  einer  E-eihe  von  Fortschritten,  bis  die 
Tragödie  zu  jenem  Grade  äusserer  und  innerer  Vollendung  ge- 
langte, in  welcher  wir  sie  zur  Zeit  des  Aischylos  finden.  Alle 
Vervollkommnungen  aber,  die  sie  während  jeuer  Entwickelungs- 
jahre  erfuhr,  die  Ausbildung  der  Tanz-  und  Geberdenkuust,  die 
Einführung  eines  zweiten  Schauspielers  und  damit  des  Dialoges, 
der  Gebrauch  der  Maske  und  des  Kothm'ns,  welche  nöthig  schienen, 
um  die  äussere  Erscheinung  mit  den  erhabenen  Vorstellungen, 
die  man  sich  von  den  Heroen  machte,  in  Einklang  zu  bringen  — 
alles  dies  genügt  nicht,  um  die  gewaltige  Wirkung  zu  erklären, 
welche  die  Tragödie  des  Aischylos  auf  die  Gemüther  der  Griechen 
ausübte.  Diese  Wirkung  hat  vielmehr  ihre  eigentliche  Ursache 
in  dem  nationalen  Aufschwünge  Griechenlands  als  Folge  der 
heldenmüthig  durchgekämpften  Perserkriege,  sowie  in  der  tief- 
religiösen Empfindungsweise  des  griechischen  Volkes,  welches  die 
ursprüngliche  Bedeutung  der  Tragödie  als  einer  gottesdienstlichen 


I.    Das  A-ltertli.u.in. 


Handlung  damals  noch  nicht  vergessen  hatte.  Die  auf  Er- 
forschung der  göttlichen  Dinge  gerichtete  Philosophie  jenes  Zeit- 
alters, der  dichterische  Schwung,  mit  dem  sie  ihre  Lehren  zui* 
Darstellung  brachte,  nährte  die  Begeisterung  des  Volkes  für  das 
Hohe  und  Erhabene,  und  wie  sich  Dichten  und  Denken,  unter 
den  Thätigkeiten  des  Geistes  die  polarisch  entgegengesetzten,  in 
den  Werken  der  Philosophen  begegneten,  so  auch  in  den  Dramen 
des  Aischylos.  Erinnert  man  sich  noch,  dass  er  selbst  -vriederholt 
auf  dem  Schlachtfelde  sein  Leben  für  die  Ehi-e  seines  Vater- 
landes eingesetzt  hat.  so  begreift  man  die  Strenge  seiner  ethischen 
Anschauungen,  sein  Festhalten  an  dem  Berufe  des  Dichters  „die 
Bürger  Tugend  und  Recht  zu  lehren".  So  wenig  als  die  Pro- 
pheten Israel's  ihre  mächtigen  Mahnungen  —  bemerkt  Droysen  — 
dichtete  er  seine  Dramen  imi  der  Aesthetik  willen.  Sie  waren 
ihm  Predigten  an  sein  Volk,  und  erst  so  verstanden,  hat  der 
Ernst  seiner  Gedanken,  die  dunkle  Pracht  seiner  Sprache,  die 
tief  leidenschaftliche  Ruhe  seiner  AVeltanschauung  ihre  ganze 
Kraft. 

Es  war  nothwendig,  ein  Bild  des  Dichters  Aischylos  zu 
entwerfen,  um  eine  Vorstellung  von  seinen  Verdiensten  als  Musiker 
zu  ge>vinnen,  da  bezüglich  des  letzteren  nichts  weiter  bekannt  ist, 
als  dass  er  auch  der  Componist  seiner  Dramen  war,  ^rie  über- 
haupt das  Alterthum  mit  dem  Worte  ..Poet"  (Poietes)  stets  nur 
denjenigen  bezeichnet,  welcher  die  Thätigkeit  des  Wort-  und 
Tondichters  in  seiner  Person  vereint.  Ueber  die  Beschaffenheit 
seiner  Musik  können  wii-  uns  nm'  vermuthungsweise  äussern,  dürfen 
jedoch  mit  einiger  Sicherheit  annehmen,  dass  sie,  bei  engem  An- 
schluss  an  die  Rhythmik  des  Verses  unsenn  Recitativ  oder  auch 
der  Recitation  der  römischen  Liturgie  ähnlich  gewesen  ist,  deren 
Formeln  dem  Tonfall  des  gewöhnlichen  Sprechens  nachgebildet 
sind  und  in  uralten  Traditionen  wurzeln.  Wenn  demnach  die 
Musik  der  Aischyleischen  Tragödie  an  Manuichfaltigkeit  und 
Sel])stäudigkeit  mit  der  modernen  schwerlich  zu  vergleichen  ist, 
so  wurde  dieser  Mangel  der  Tonsprache  durch  den  Reichthum 
au  musikalischen  Elementen  in  der  Wortsprache  (auf  ihrer  da- 
maligen Ausbilduugsstufe)  ohne  Zweifel  ausgeglichen,  ja,  man 
darf  annehmen ,  dass  die  künstlerische  Wirkung  der  Dramen 
des  Aischylos  hauptsächlich  dem  Gleichgewicht  zuzuschreiben 
ist,  welches  zwischen  der  Gefühls-  und  der  Begriffssprache, 
zwischen  Ton  und  Wort  herrschte,  ein  Verhältniss,  welches 
nur  zu  einer  Zeit  möglich    ist,    wo    beide  durch    den  Grad  ihrer 


10  !•    Das  ^Itertlium. 


Ausbildung   noch  nicht  gezwungen  sind,    besondere  Wege  einzu- 
schlagen*). 

Jedoch  nicht  lange  sollte  dies  Gleichgewichtsverhältniss  be- 
stehen. Schon  bei  Sophokles  weicht  die  „dunkle  Pracht"  der 
Aischyleischen  Dichtung  einer  klareren,  bestimmteren  Ausdrucks- 
weise, Euripides  aber  zeigt  sich  so  überwiegend  als  Wortdichter, 
dass  sein  Entschluss  begreiflich  Avird,  die  musikalische  Com- 
position  seiner  Tragödien  einem  Andern,  einem  Fachmusiker  zu 
überlassen.  Im  engen  Zusammenhange  mit  dieser  dichterisch- 
musikalischen Wandlung  steht  die,  um  Mitte  des  fünften  Jahr- 
hunderts V.  Chr.  eingeschlagene  Richtung  der  griechischen  Philo- 
sophie. Die  nunmehr  zur  Geltung  gekommene  sophistische 
Philosophie  betrachtet  nicht  mehr,  wie  die  vorangegangenen 
Schulen,  das  Weltall  im  Grossen  und  Ganzen,  sondern  den 
Menschen  für  sich  allein  genommen  als  würdigstes  Object  der 
Forschung;  um  aber  die  Menschenseele  zu  ergründen,  bedarf  es 
vor  allem  einer  dazu  geeigneten  Sprache^  und  die  Ausbildung 
einer  solchen,  sowie  der  Grammatik,  der  Kunst  des  folgerichtigen 
Denkens'  und    des   mündlichen   Gedankenaustausches    (der  Logik 


*)  Als  musikalische  Elemente  der  Sprache  sind  die  sogenannten  Ono- 
mato-Poetica  anzusehen,  d.  h.  Worte,  die  durch  ihren  Klang  allein  ihre 
Bedeutung  kundgeben,  wie  z.  B.  „heulen"  „i-auschen"  „Blitz"  „Donner", 
im  Gegensatz  zu  denjenigen,  deren  Bedeutung  auf  Convention  beruht,  und 
die  uns  erst  in  Folge  der  Erziehung  verständlich  werden,  wie  alle,  nicht  zu 
jener  Gattung  gehörigen.  Die  Entwickelungsgeschichte  der  Sprache  zeigt, 
wie  mit  zunehmender  Ausbildung  derselben  das  erstere  Element  von  dem 
zweiten  mehr  und  mehr  verdrängt  wird.  ,,Im  ersten  Anfange"  sagt  R.Wagner 
in  seiner  Abhandlung  ,, Zukunftsmusik"  (Gesammelte  Schriften  und  Dich- 
tungen VII,  S.  149)  „fiel  die  Bildung  des  Begriffes  von  einem  Gegenstande 
fast  ganz  mit  dem  subjectiven  Gefühle  davon  zusammen,  und  die  Annahme, 
dass  die  erste  Sprache  der  Menschen  eine  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem  Ge- 
sänge gehabt  haben  muss ,  dürfte  vielleicht  nicht  lächerlich  erscheinen.  Von 
einer  jedenfalls  ganz  sinnlich  subjectiv  gefühlten  Bedeutung  der  Worte  aus 
entwickelte  sich  die  menschliche  Sprache  in  einem  immer  abstracteren  Sinne 
in  der  Weise,  dass  endlich  eine  nur  noch  conventionelle  Bedeutung  der 
Worte  übrig  blieb,  welche  dem  Gefühl  allen  Antheil  an  dem  Verständnisse 
derselben  entzog,  wie  auch  ihre  Fügung  und  Construction  gänzlich  nur  noch 
von  zu  erlernenden  Regeln  abhängig  gemacht  wurde."  Es  bedarf  keines 
Beweises,  dass  eine,  auf  solcher  Ausbildungsstufe  angelangte,  gleichsam  halb 
erstarrte  Sprache  dem  Aufschwünge  der  dichterischen  Phantasie  ungleich 
weniger  günstig  ist,  als  im  Zustande  jugendlicher  Biegsamkeit,  und  dass  die 
AViederbelebung  der  ihr  verloren  gegangenen  ,, musikalischen"  Bestandtheile 
für  die  Dichtkunst,  namentlich  wenn  dieselbe  zur  Vereinigung  mit  der  Ton- 
kunst bestimmt  ist,  in  hohem  Grade  förderlich  sein  muss.  (Vgl.  die  Anfänge 
der  französischen  Oper,  Cap.  VII.). 


I.    Das  ^ItertliviiM.  H 


und  der  Dialektik)  musste  den  Jüngern  der  Sopbistik  zunächst 
am  Herzen  liegen.  Diese  Bestrebungen  hatten  den  doppelten 
Erfolg,  die  Wissenschaft  zu  fördern  und  die  Beziehungen  des 
Menschen  zum  Menschen  immer  inniger  zu  gestalten;  andererseits 
ist  es  nicht  unbegründet,  wenn  das  Prädicat  „sophistisch"  heut- 
zutage fast  nur  noch  in  tadelndem  Sinne  angewendet  wird;  denn 
in  dem  Maasse,  Avie  die  Fertigkeit  ^in  diesen  Denk-  und  Eede- 
künsten  und  die  Freude  an  ihrer  Ausübung  zunahm^  wurde  bei 
den  Sophisten  die  Yh-tuosität  so  sehr  zur  Hauptsache,  dass  die 
Sprache,  statt  zur  Erforschung  der  Wahrheit,  nicht  selten  zu 
dialektischen  Scheingefechten  dienen  musste.  Wie  sehr  um  diese 
Zeit  die  Beredtsamkeit  sich  selbst  Zweck  geworden  war,  beweist 
die  Thatsache,  dass  einer  jener  Eede-Yirtuosen  es  auf  seinen 
Kuustreisen  unternahm,  in  zwei  aufeinander  folgenden  öffentlichen 
Vorträgen  das  eine  Mal  für,  das  zweite  Mal  gegen  eine  und 
dieselbe  Sache  zu  sprechen. 

Die  Musik  konnte  in  Folge  dieser  Wendung  nicht  länger 
die  hohe  Stellung  behaupten,  welche  sie  bis  dahin  im  Leben  der 
Griechen  eingenommen.  Die  Sprache  bedurfte  für  die  Ziele, 
Avelche  sie  jetzt  verfolgte,  nicht  mehr  die  Mitwirkung  des  musi- 
kaUschen  Tones.  InzA\dschen  aber  hatte  auf  dem  Gebiete  der 
Tonsprache  ein  ähnUcher  Entwickeluugsprocess  stattgefunden:  eine 
neue  Gattung  der  Poesie,  die  nach  dem  Instrument,  dessen  sich 
die  Dichter  zur  Begleitung  bei  ihrem  Vortrage  bedienten,  die 
lyrische  genannt  wurde,  war  bei  den  Griechen,  besonders  bei 
den  an  der  kleinasiatischen  Küste  wohnhaften  loniern  zu  hoher 
Blüthe  gelangt.  Im  Gegensatz  zu  den  Chorgesängen,  welche  die 
Empfindungen  einer  Allgemeinheit  zum  Ausdruck  bringen,  ge- 
langen in  den  Dichtungen  der  ionischen  Lyriker,  eines  Arion, 
einer  Sappho,  eines  Anakreon,  die  individuellen  Gefühle,  die 
Stimmungen  der  vielfach  bewegten  Einzelnseele  zu  künstlerischer 
Darstellung.  Hier  konnte  und  musste  die  Musik  eine  ungleich 
wichtigere  Rolle  spielen  als  in  den  übrigen  Gattungen  der  Dicht- 
kunst; hier  zeigte  es  sich,  dass  sie  in  der  Fähigkeit,  die  geheimsten 
liegungen  der  Seele  auszudrücken,  der  Wortsprache  überlegen 
war.  Und  wie  die  Sprache  bei  immer  zunehmender  Ausdrucks- 
fähigkeit die  Genossenschaft  der  Musik  entbehren  konnte,  so  be- 
gann auch  diese  jetzt  sich  von  der  Sprache  zu  scheiden,  um  fortan 
ihre  eigenen  Wege  zu  gehen  —  nach  Herder's  Ausspruch  „eine 
für  das  uubewehrte  menschliche  Geschlecht  gefiihrliche  Scheidung; 
denn  Musik   ohne  AVorte  setzt  uns  in  ein  Reich  dunkler  Ideen; 


12  I.   Das  A.ltertliwm. 


sie  weckt  Gefühle  auf.  jedem  nach  seiner  Weise,  Gefühle,  wie  sie 
im  Herzen  schlummern,  die  im  Strom  oder  in  der  Fluth  künst- 
licher Töne  ohne  Worte  keinen  Wegweiser  oder  Leiter  finden."*) 
Von  nun  an  entwickelt  sich  die  Instmmentalmusik  als  eine  be- 
sondere Gattung;  Lyra  und  Aulos  —  gewöhnlich  durch  „Flöte" 
übersetzt,  der  Form  und  dem  Klange  nach  aber  mehr  unserer 
Clarinette  oder  Oboe  entsprechend  —  erscheinen  als  Soloinstru- 
mente bei  den  musischen  Wettkämpfen,  und  bei  einem  der 
pythischen  Spiele  feiert  das  Instrumental- Virtuosenthum  in  der 
Person  des  Auleten  Sakadas,  der  es  sogar  unternahm,  den  Kampf 
Apollo's  mit  dem  Drachen  in  Tönen  darzustellen,  einen  glänzen- 
den Triumph. 

Um  die  kurze  Dauer  der  Blüthezeit  der  griechischen  Kunst 
völlig  zu  erklären,  muss  noch  einmal  auf  die  Wirkungen  der 
sophistischen  Philosophie  und  ihre  dem  Skepticismus  nahe  ver- 
wandten Grundsätze  hingewiesen  werden.  „Der  Mensch  ist  das 
Maass  aller  Dinge.  Wie  einem  Jeden  ein  Jegliches  scheint,  so 
ist  es  für  ihn.  Es  giebt  nur  relative  Wahrheit,  Die  Existenz 
der  Götter  ist  ungewiss"  —  so  lautet  die  Behauptung  eines  ihrer 
Häupter,  des  Protagoras;  nichts  aber  konnte  der  künstlerischen 
Begeisterung  feindseliger  sein,  als  die  hier  ausgesprochene  prin- 
cipielle  Neigung  zum  Zweifel;  besonders  musste  das  Ansehen  der 
ihrem  Ursprung  gemäss  als  gottesdienstliche  Handlung  geltenden 
Tragödie  sinken,  in  dem  Grade  wie  der  religiöse  Glaube  im  Volke 
erschüttert  wurde.  Nachdem  gar  mit  Ausgang  des  peloponnesischen 
Krieges  (404  v.  Chi'.)  die  Hegemonie  in  Griechenland  von  Athen 
an  Sparta  übergegangen  war,  schwand  die  Kunst  -  schöpferische 
Kraft  des  griechischen  Volkes  mehr  und  mehr,  und  sie  erlosch 
völlig  mit  dem  Verlust  der  nationalen  Selbständigkeit  in  Folge 
des  Sieges  Philipps  von  Macedonien  bei  Chäronea  (328  v.  Chr.). 
Das  Conservü-en  dessen,  was  frühere  Geschlechter  geschaffen, 
wird  tun  die  Aufgabe  des  griechischen  Geistes;  an  Stelle  des 
Dichtens  tritt  das  Denken,  an  Stelle  der  künstlerischen  Praxis 
die  Theorie  und  Systembildung.  Auch  die  musikalische  Theorie 
findet  ihre  Vertreter,  unter  denen  der  bedeutendste  Aristoxenus, 
mit  dem  Beinahmen  „der  Musiker",  der  erste,  welcher  das  Gehör 
als  den  allein  maassgebenden  Richter  über  die  Tonverhältnisse  an- 
nahm, im  Gegensatz  zu  der  Schule  des  Pythagoras,  die,  wie 
überall  so  auch  in  der  Tonkunst,  die  Zahl  als  ordnendes  Princip 


*=)  Herder  „Zur  schönen  Literatur  und  Kunst'-.  Theil  XVI.  S.  33. 


X.    IDas  A.ltertlixiixi.  lo 


ausschliesslich  gelten  liess.  Von  eleu  damals  entstandeueu  Musik- 
systemen  wird  später,  beim  Uebergaug  zur  modernen,  aus  ihnen 
hervorgewachseueu  Musik,  das  Wichtigste  mitgetheilt  werden;  für 
jetzt  möge  unsere  Uebersicht  der  musikalischen  Leistungen  des 
Alterthums  mit  dem  Römerreiche  ihren  Abschluss  linden. 

War  es  der  Beruf  Griechenlands  gewesen,  der  Welt  als  Vor- 
bild und  Lehrer  den  Weg  zu  zeigen  —  wie  sich  der  Redner 
Isokrates  einmal  ausdrückt  --  so  ging  das  Bestreben  der  Römer 
in  erster  Linie  auf  die  Erringung  und  Befestigung  der  materiellen 
Herrschaft.  Demgemäss  waren  es  vor  allem  praktische  und  po- 
litische Aufgaben,  deren  Lösung  sie  beschäftigen  musste,  die  künst- 
lerischen konnten  daneben  keine  Berücksichtigung  finden.  Und 
als  sie  endlich  ihr  letztes  Ziel,  die  Beherrschung  aller  ihnen  be- 
kannten Völker  der  Erde  erreicht  hatten,  da  war  es  zu  spät,  das 
auf  idealem  Gebiete  Versäumte  nachzuholen:  Rom  musste  sich 
zu  allen  Zeiten  begnügen,  seine  künstlerischen  Bedürfnisse  durch 
Anleihen  bei  fremden  Völkern,  vor  allen  bei  Griechenland  zu 
befriedigen.  Dies  geschah  nun  allerdings  zur  Kaiserzeit  in  gross- 
artigem Massstabe;  wie  der  Erdki-eis  geplündert  wurde,  um  die 
Werke  der  bildenden  Kunst  aller  Schulen  und  aller  Länder  auf 
den  öffentlichen  Plätzen  und  in  den  Palästen  Rom's  massenhaft 
aufzuhäufen,  so  wurde  die  Stadt  ein  Sammelplatz  auch  der  Mu- 
siker aller  dem  Weltreiche  unterworfenen  Nationen.  Der  Sinn 
für  Massenwirkungen  scheint  beim  musikalischen  Publikum  Rom's 
vorherrschend  gewesen  zu  sein,  denn  schon  aus  der  Zeit  Julius 
Cäsar's  berichtet  Suetonius,  dass  während  einer  öffentlichen  Feier- 
lichkeit einmal  zwölftausend  Sänger,  Sängerinnen  und  Spielleute 
in  der  Stadt  geweilt  haben;  und  Horaz  klagt  zur  Zeit  des  Au- 
gustus,  „dass  die  bescheidene  Flöte  mit  wenigen  Löchern,  welche 
den  Vätern  genügt  habe,  bei  der  Grösse  der  Schauspielhäuser 
seiner  Zeit  den  lärmenden  Instrumenten    habe    weichen   müssen.'' 

Kann  nun  diese,  auf  gewaltsamen  Effect  zielende  Musikrich- 
tung keinerlei  Theilnahme  erwecken,  so  muss  es  geradezu  Ekel 
erregen,  wenn  die  Kunst  derart  in  den  Staub  gezogen  wird,  wie 
es  unter  dem  Kaiser  Nero  der  Fall  war,  der  unter  anderen 
Manien  bekanntlich  auch  die  hatte,  als  Virtuose  im  Gesang  und 
auf  der  Kithara  öffentlich  zu  glänzen.  Seine  Stimme  war  so  klang- 
los und  sein  Vortrag  so  abscheulich,  dass  bei  seiuem  ersten  Auf- 
treten (60  n.  Chr.)  die  Zuhörer  nicht  wussten,  ob  sie  lachen  oder 
weinen  sollten,  und  dass  es  nur  mit  Hülfe  einer  wohlorganisirten 
Claque  möglich    war,    die  Missfallens-Aeusserungen  zu    ersticken. 


14  I.    Das  Alterthvim. 


Später  unternahm  er  eine  Kunstreise  nach  Grriechenland.  wo  er 
sich  mit  allen  nur  verfügbaren  Preisen  krönen  liess,  ohne  auf 
irgend  welchen  Widerstand  zu  stossen  —  ein  trauriger  Beweis 
für  die  Entsittlichung,  die  auch  auf  diesem,  einstmals  von  den 
Musen  geweihten  Boden  Platz  gegriffen  hatte.  Bald  danach  aber 
sollte  Nero's  abenteuerliche  Künstlerlaufbahn  ihr  Ende  erreichen: 
Im  Jahre  60  n.  Chr.  wurde  Galba  zum  Imperator  ausgerufen,  und 
ihm  blieb  nichts  übrig,  als  sich  —  im  Alter  von  dreissig  Jahren  — 
selbst  den  Tod  zu  geben,  ein  Leben  zu  beschliessen,  welches 
nicht  nur  ihm  zur  Schmach  gereichte,  sondern  auch  seinen  Zeit- 
genossen, deren  Servilität  selbst  nicht  in  ihrem  künstlerischen 
Gewissen  eine  Grenze  fand. 

Unter  solchen  Umständen  konnte  es  für  die  Menschheit  nur 
ein  Gewinn  sein,  wenn  die  Fackel  der  antiken  Cultur,  die  so 
lange  der  Welt  geleuchtet,  endlich  erlosch,  wenn  der  römische 
Koloss  beim  ersten  Anprall  der  von  Norden  einbrechenden  Bar- 
baren in  Trümmer  fiel.  Zwar  musste  eine  Jahrhunderte  lange 
Dunkelheit  dem  von  Griechenland  ausgestrahlten  hellen  Lichte 
folgen,  doch  sollten  während  dieser  Zeit  des  scheinbaren  Still- 
standes neuer  Geist  und  neue  Formen  zur  Ent\nckelung  gelangen, 
und  ganz  besonders  in  Bezug  auf  die  Musik  bewährt  sich  in 
diesem  Falle  Schiller's  Wort: 

Das  Alte  stürzt,  es  ändert  sicli  die  Zeit, 
Und  neues  Leben  blüht  aus  den  Ruinen. 


IL 
JDie  jM^U-sik  der  ersten  christliclieii  Zeiten. 


Die  gewaltige  Umwälzung,  welche  mit  Einführung  und  Ver- 
breitung des  Christeuthums  auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens 
stattfand,  musste  nothweudiger  Weise  auch  eine  gründliche  Ver- 
änderung der  Kunstanschauungen  hn  Grefolge  haben;  doch  giebt 
sich  hier  der  neue  Geist  anfänglich  nur  in  schüchterner  "Weise 
kund:  wie  sich  Griechenland  im  Kindheitsstadiura  seiner  künst- 
lerischen Ent'wdckelung  aufs  engste  an  Egypten  angeschlossen,  so 
lehnt  sich  jetzt  die  frühchristliche  Cultur  an  die  der  Griechen 
an.  Auch  in  dieser  Epoche  ist  es  die  bildende  Kunst,  welche 
uns  den  sicheren  Beweis  für  die  völlige  Abhängigkeit  des  jüngeren 
vom  älteren  Culturvolke  liefert;  die  Malereien  der  römischen 
Katakomben,  in  denen  die  ersten  Christen  sich  zu  gottesdienst- 
lichen Zwecken  versammelten,  zeigen  durchweg  die  bekannten 
Figuren  und  Situationen  der  antiken  Mythologie  und  Sage  zur 
Darstellung  l)il)lischer  Vorgänge  verwendet;  Orpheus,  die  wilden 
Thiere  zähmend,  wird  hier  durch  geringe  Modificirung  zum  Daniel 
in  der  Löweugrube;  der  bocktragende  Hermes  (Kriophoros),  ein 
von  den  griechischen  Künstlern  vielfach  reproducirter  Typus,  zum 
guten  Hirten,  der  das  verlorene  Lamm  auf  den  Schultern  heim- 
trägt; Jonas  und  der  "Walltisch,  der  ihn  ausgespieen,  sind  kaum 
vom  Arion  und  seinem  Delphin  zu  unterscheiden.  In  der  Musik 
der  ersten  Christen  einen  höheren  Grad  von  Selbständigkeit  an- 
zunehmen, wäre  in  keiner  Weise  berechtigt;  die  Zeugnisse  der 
gleichzeitigen  Schriftsteller  sind,  in  Ermangelung  musikalischer 
l)okumente  aus  jener  Epoche,  hinreichende  Beweise  des  Gegeu- 
theils;  denn  wenn  der  jüngere  Plinius  von  den  Christengemeinden 
seiner  Zeit  berichtet  „dass  sie  Christo,  gleich  wie  einem  Gotte, 
einen  Wechselgesang  singen",  und  der  in  Alexandrieu  lebende 
jüdische  Gelehrte  Philo  von  den  Therapeuten  und  Essäern,  zweien 


16  II.   Die  Äliasik  der  ersten  oliristliclieii  Zeiten. 

noch  von  den  Aposteln  selbst  zum  Christentlium  bekehrten  Secten 
erzählt,  sie  haben  ihren  Cultusgesang  mit  religiösen  Gesten,  mit 
Vorwärts-  und  Rückwärtsschreiten  begleitet,  so  deutet  alles  dies 
auf  ein  unmittelbares  Anknüpfen  an  die  Musik  und  Geberdekunst 
der  griechischen  Tragödie.  Wohl  darf  angenommen  werden,  dass 
von  Anbeginn  der  christlichen  Zeit  eine  Vereinfachung  der  immer 
üppiger  gewordenen  griechischen  Musik  den  Jüngern  der  neuen 
Religion  am  Herzen  gelegen  hat  —  einer  der  ersten  Kirchen- 
väter, Clemens  von  Alexandrien  (gegen  Ende  des  zweiten 
Jahrhunderts)  untersagte  deshalb  den  Mitgliedern  seiner  Gemeinde 
den  Gebrauch  der  chromatischen  Tonfolgen  beim  Kirchengesange 
—  im  Grossen  und  Ganzen  jedoch  darf  man  im  Gesänge  der 
ersten  Christen  nur  ein,  wenn  auch  von  neuem  Geist  erfülltes,  so 
doch  der  Form  nach  getreues  Abbild  der  antiken  Musik  vermuthen. 
Auch  die  Einfühi'ung  des  Christenthmns  als  Staatsreligion 
durch  Kaiser  Constantin  d.  Gr.  im  Jahre  333  n.  Chr.  konnte  einen 
Umschwung  der  musikalischen  Verhältnisse  nicht  bewirken;  selbst 
unter  den,  durch  die  Völkerwanderung  (375  n.  Chr.)  völlig  ver- 
änderten politischen  Zuständen  erscheint  die  Macht  der  griechischen 
Bildung  noch  ungebrochen.  Dass  die  Zeit  noch  nicht  gekommen 
war,  sie  mit  einer  andern  zu  vertauschen,  dies  mochten  die  so- 
genannten Barbaren  recht  wohl  empfinden;  denn  mit  Avenigen  Aus- 
nahmen fehlte  es  ihnen  keineswegs  an  Ehrfurcht  vor  der  Cultur 
der  alten  "Welt,  wie  auch  sie  im  Durchschnitt  weit  weniger  für 
die  damals  verübten  Zerstörungen  und  Verwüstungen  verantwortlicli 
zu  machen  sind,  als  vielmehr  die,  durch  Jahrhunderte  der  Cor- 
ruption  entsittlichten  Römer  selbst,  bei  denen  Habsucht  und  Leicht- 
sinn jedes  Gefühl  der  Pietät  für  ihre  ruhmvolle  Vergangenheit 
erstickt  hatten.  Von  allen  Völkern  aber,  die  um  Mitte  des  ersten 
nachchristlichen  Jahrtausends  Italien  überflutheten,  verdienen  die 
Gothen,  als  das  unstreitig  begabteste  unter  ihnen,  die  meiste  Be- 
achtung; insbesondere  war  die  Herrschaft  ihres  Königs  Theo- 
dorich  (gest.  520  n.  Chr.)  in  jenen  Zeiten  wilder  Gährung  von 
heilsamem  Einfluss  auf  die  Neugestaltung  der  Verhältnisse.  Auch 
in  der  Musikgeschichte  verdient  sein  Name  genannt  zu  werden; 
an  seinem  Hofe  lebten  die  Musiksschriftsteller  Boetius  und 
Cassiodor,  die  letzten  wissenschaftlichen  Vertreter  des  Alter- 
thums ;  der  erstere  noch  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters  als  musi- 
kalische Autorität  hoch  angesehen,  wiewohl  er  nur  als  TJebersetzer 
und  Erklärer  der  älteren  griechischen  Musikschriftsteller  aijftrat, 
der  andere,   Cassiodor,  schon  den  christlichen  Schriftstellern   zu- 


II.   Die  AXusilz  der  ersten  christliciieii  Zeiten.  17 

zurechnen,  insofern  wenigstens,  als  er  sich  in  seinem  Alter  zum 
Ohristenthum  bekannte.  Dass  der  Ruf  Theodorich's  als  eines 
kunstverständigen  Herrschers  weit  über  die  Grenzen  seines  Reiches 
hinausdrang,  beweist  u,  a.  die  an  ihn  gerichtete  Bitte  des  Franken- 
königs Chlodwig,  ihm  einen  Kitharöden  zu  senden,  welcher  die 
in  Italien  blühende  Kunst  des  Gesanges  mit  Begleitung  der  Ki- 
tliara  auch  in  seinem  Lande  heimisch  mache.  Boetius  war  es, 
der  unter  den  schmeichelhaftesten  Complimenten  von  Theodorich 
den  Auftrag  erhielt,  den  dazu  geeigneten  Künstler  auszuwählen. 
Mit  Boetius,  der  später  bei  seinem  König  in  Ungnade  fiel 
und,  der  Theiln ahme  an  einer  VerschAvörung  der  römischen  National- 
pai-tei  gegen  die  Gothenherrschaft  angeklagt,  in  Pavia  hingerichtet 
wurde  (524  n.  Chr.)  hatte  die  culturhistorische  Mission  des  Alter- 
thums  ihren  Abschluss  gefunden.  Bevor  Avir  uns  jedoch  den  nun 
beginnenden  musikalischen  Neubildungen  zuwenden,  sei  noch  des 
ihnen  zu  Grunde  liegenden  griechischen  Musiksystems  in  Kürze 
erwähnt.  Die  Grundlage  dieses  Systems  bildet  nicht,  wie  beim 
modernen,  die  Octave,  sondern  eine  Reihe  von  vier  Tönen  im 
Umfange  einer  reinen  Quarte,  das  Tetrachor d,  dessen  Ursprung 
von  der  viersaitigen  Lyra  herzuleiten  ist.  Das  Tetrachord,  welches 
stets  zwei  Ganzton-Intervalle  und  ein  Halbton-Intervall  enthält, 
heisst,  je  nach  der  Stellung  dieses  Halbtones,  dorisch  (wenn  er 
in  der  Tiefe  liegt,  z.  B.  EF — G— A),  phrygisch  (wenn  er  in 
der  Mitte  liegt,  z.  B.  D — EF — G)  oder  lydisch  (wenn  er  in  der 
Höhe  liegt,  z.  B.  C — D— EF).  Aus  der  Zusammensetzung  zweier 
dorischer,  phrygischer  oder  lydischer  Tetrachorde  entstehen  die 
gleichnamigen  Octavengattungen  (Harmonia),  zu  denen  in  der 
Folge  noch  vier  weitere,  mit  den  übrigen  Tönen  der  diatonischen 
Scala  beginnende,  liinzukommen.  Während  bei  dieser  Zusammen- 
setzung die  beiden  Tetrachorde  durch  ein  Ganzton-Intervall  ge- 
trennt sind,  kann  ihre  Verbindung  auch  in  der  Weise  ei-folgen,  dass 
der  höchste  Ton  des  tieferen  Tetrachords  zugleich  der  tiefste  des 
höheren  Tetrachords  ist,  und  dies  Verfahren  auf  das  dorische  Tetra- 
chord angewendet,  gab  zu  einer  neuen  Systembildung  Anlass:  indem 
man  nämlich  der  dorischen  OctavengattungEFGA—HCDE  ein  Te- 
trachord in  der  Tiefe  (HCDE)  und  eines  in  der  Höhe  (EFGA)  an- 
setzte, uiul  schliesslich  diese,  aus  zwei  Tetrachord-Paaren  gebildete 
Tonreihe  durch  das  tiefe  A  (den  sogenannten  „hinzugenonnnenen" 
Ton,  Proslambanomenos)  ergänzte,  hatte  man  eine  zwei-octavige 
Mollscala  gewonnen,  ein  System,  welches  sich  dem  Wesen  nach 
dadurch  von  den  Octavengattungen  unterscheidet,  dass  es  (wie  auch 

LanghaDs,  Musikgeschichte.   2.  Auti.  2 


X8  II'  I>ic  Aluaik  der   ersten  cliristliclien  Zeiten. 


die  moderne  Dur-  und  Mollscala)  auf  jeden  der  zwölf  Halbtöne 
der  Octave  transponirt  wii'd.  ohne  dass  sich  die  Inten-allenfolge 
verändert,  wie  dies  ja  bei  den  Octavengattungen  verschiedener  Ton- 
höhe der  Fall  ist.  Zu  dem  sogenannten  vollendeten  System 
(systema  teleion)  mrd  diese  Transpositionsscala  (Tonos)  dui'ch 
Hinzufügung  noch  eines  fünften  Tetrachords,  welches  mit  dem 
Stamm-Tetrachord  EFGA  in  der  erwähnten  engen  Weise  ver- 
bunden wh'd  (ABCD)  und  die,  bei  der  Begegnung  jener  beiden 
Tetrachord-Paare  entstandene  Lücke  (das  Ganzton-Intervall  AH) 
ausfüllt,  zugleich  aber  auch  die  Möglichkeit  giebt,  in  andere  Ton- 
arten (zunächst  in  die  Unterdominante)  zu  moduliren. 
Dorisches  Tetrachord.        Phrygisches  Tetrachord.      Lydisches  Tetrachoi'd. 


$^E^E^E^d       $ 


ZOT. 


-&~ 


Dorische  Octavenofattunsf. 


-1»-^- 


'^»^^ 


»^ 


izar. 


II 


Vollendetes  System  (Systema  teleion). 


Der  bei  letzterer  Ai^t  der  Verbindung  zweien  Tetrachorden 
gemeinsame  Ton  heisst  Synaphe  (Berührungspunkt),  die  im  an- 
dern Falle  entstehende  Lücke  Diazeuxis  (Trennung).  Dem- 
gemäss  heisst  das  Tetrachord,  welches  durch  das  Ganzton-Intervall 
von  dem  benachbarten  tieferen  getrennt  ist,  diezeugmenon  (di- 
visarum,  der  getrennten)  das  eingeschobene  aber  synemmenon 
(conjunctarum,  der  verbundenen  sc.  Saiten  oder  Töne). 

Hiermit  sind  die  Hauptpunkte  bezeichnet,  in  welchen  die  grie- 
chische Musiktheorie  mit  der  der  christlichen  Zeit  zusammentrifft, 
denn  die  Octavengattungen  blieben  noch  Jahrhunderte  lang, 
bis  zwei  von  ihnen,  die  ionische  (unser  Dur)  und  die  aeolische 
(unser  Moll)  zur  Herrschaft  gelangten,  sämmtlich  in  Gebrauch 
und  haben  sich  in  der  katholischen  Kirchenmusik  sogar  bis 
heute    erhalten.*)      Im   Uebrigen    ist   noch    als    ein   wesentlicher 

*)  Das  Bedürfniss  einer  Reduction  der  sieben  Octavengattungen  auf 
zwei  besonders  charakteristische  wurde  erst  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
völlig    befriedigt,    doch    scheint    es    zu  allen  Zeiten  vorhanden  gewesen  zu 


\ 


II.    Die  Aluailc  der  ersten  oh.ristlich.eix  Zeiten.  19 

Unterschied  der  antiken  von  der  modernen  Musik  die  ungleich 
grössere  melodische  Mannichfaltigkeit  der  ersteren  henorzuheben. 
AVenn  die  Griechen  eine  Haiinonie  im  heutigen  Sinne,  d.  h.  Mehr- 
stimmigkeit, nicht  kannten,  so  scheint  dafür  ihr  Ohr  nach 
Seiten  der  Melodik  ungleich  feiner  ausgebildet  gewesen  zu  sein, 
als  das  unsrige.  Darauf  deuten  die  verschiedenen  Klang- 
geschlechter,  welche  innerhalb  eines  dorischen  Tetrachords  zur 
Anwendung  kamen,  indem  man  die  mittleren  Töne  desselben  in 
ihrer  Stellung  veränderte;  so  entstand  aus  dem  diatonischen 
Klanggeschlecht  EFG-A  das  chromatische  durch  Erniedrigung 
des  Gr  um  einen  halben  Ton,  und  das  enharmouische,  wenn 
das  Gr  um  einen  weiteren  halben  Ton.  das  F  aber  um  einen 
Viertelton  erniedrigt  AMirde.'"*)    (S.  das  Beispiel  auf  S.  20  oben). 

sein.  Darauf  deutet  das  Vorherrschen  des  Dur  und  Moll  in  den  ältesten 
uns  überlieferten  Volksweisen;  ferner  eine  Bemerkung-  des  Plato,  der  in 
seinem  ..Staat"  (drittes  Buch,  Cap.  X.  399)  von  einer  Unterhaltung  des 
Sokrates  mit  dem  Tonkünstler  Griaukon  über  den  Charakter  (das  Ethos)  der 
verschiedenen  Tonarten  berichtet,  und  den  ersteren  mit  den  Worten  schli essen 
lässt:  „Ich  kenne  die  Tonarten  nicht,  aber  lasse  mir  jene  Tonart  übrig, 
welche  dessen  Töne  und  Silbenmaasse  angemessen  darstellt,  der  sich  in 
kriegerischen  Verrichtungen  und  in  allen  gewaltthätigen  Zuständen  tapfer 
beweist,  und  der  auch,  wenn  es  misslingt,  oder  wenn  er  in  Wunden  oder 
Tod  geht,  oder  sonst  von  einem  Unglück  befallen  wird  in  dem  Allen  wohl- 
gerüstet und  ausharrend  sein  Schicksal  besteht.  Und  noch  eine  andere 
für  den,  der  sich  in  friedlicher,  nicht  gewaltsamer  sondern  gemächlicher 
Thätigkeit  befindet,  sei  es,  dass  er  einen  Andern  wozu  überredet  und  er- 
bittet, durch  Flehen  Gott  oder  durch  Belehrung  und  Ermahnung  Menschen, 
sei  es  im  Gegentheil,  dass  er  selbst  einem  andern  Bittenden  oder  Belehren- 
den und  Umstimmenden  stillhält,  und  demgemäss  vernünftig  handelt  und 
nicht  hochfahrend  sich  beweist,  sondern  besonnen  und  gemässigt  in  alledem 
sich  beträgt  und  mit  dem  Ausgang  zufrieden  ist.  Diese  beiden  Tonarten, 
eine  gewaltige  und  eine  gemächliche,  welche  der  Unglücklichen  und 
Glücklichen,  der  Besonnenen  und  Tapferen  Töne  am  besten  wiedergeben 
werden,  diese  lasse  mir."   (Vgl.  Cap.  VII.). 

'•')  Zur  Erklärung  des  letzteren  Klanggeschlechtes  und  der  darauf  be- 
züglichen Anmerkung  S.  4  folgt  hier  das  System  der  dorischen  Octaven- 
Gattung  nebst  den  griechischen  Benennungen  seiner  Töne: 


m: 


=J=5=2i; 


ffi      ^Tj      C-^      2      hj      H      i-i 


Hierbei  ist  zu  bemerken,  dass  die  Saitenbenennungen  des  tiefereu  Tetra- 
chords auch  für  das  Tetrachord  gelten,  welches  im  Systema  teleion  obigem 

2* 


20 


II.   Die  Älusils  der  erstell  christliclien  Zeiten. 


diatonisch 


chromatisch 


enharmonisch 


Der  Reichthum,  richtiger  gesagt  die  Bimtheit  der  griechischen 
Melodik,  erhielt  einen  weiteren  Zuwachs  durch  die  Verwendung  noch 
kleinerer  Intonations- Abweichungen,  der  Schattirungen   (Chroai), 


System  in  der  Tiefe  hinzugefügt  war,  und  die  des  höheren  Tetrachords  für 
das  in  der  Höhe  hinzugefügte.  "Wenn  also  Olympos  in  dorischen  Melodien 
die  Lichanos  ausgelassen  hat,  so  fehlten  der  diatonischen  Scala  zwei  Töne: 
die  oben  genannte  Lichanos  g  und  die  des  tieferen  Tetrachords  h  c  d  e, 
nämlich  d,  dann  aber  auch  selbstverständlich  das  oben  als  Paranete  be- 
zeichnete d  der  zweiten  Octave  und  das,  ebenfalls  Paranete  genannte  g  des 
in  der  Höhe  hinzugefügten  Tetrachords.  Demnach  fehlten  der  (Seite  4 
erwähnten)  Scala  des  Olympos,  in  der  dorischen  Octavengattung  die  Terz  (g) 
und  die  Septime  (d),  in  der  von  ihr  abgeleiteten  hypodorischen  dagegen, 
in  welcher  nicht  e  sondern  der  Mittelton  a  (Mese)  Anfangs-  und  Schluss- 
ton ist,  und  deren  Charakter  durch  die  fünf  höchsten  Töne  a  h  c  d  e  als 
Moll  bestimmt  wird,  die  Quarte  (d)  und  die  Septime  (g),  eben  die  in 
der  Scala  der  Chinesen  ausfallenden  Intervalle.  „Man  kann  nicht  läug- 
nen",  sagt  Fr.  Bellermann  („Die  Tonleitern  und  Musiknoten  der  Griechen" 
S.  24)  „dass  derartige  Melodien  wohl  eine  würdevolle  Einfachheit  haben 
können",  auch  beweist  er  an  dem  folgenden,  seinem  ,, Anonymus"  (S.  62)  ent- 
nommenen Beispiele,  dass  sie  nicht  weniger  als  die  diatonischen  einer  natür- 
lichen Harmonisirung  fähig  sind: 


, , — 1 — — ! — i — ^ — ^ — — 1 — I — ] — I — 

-  J5 i — c — — I — . — 0^\ — e — ^_y —  0 — 1__^ — « — 0 —  —  I — I — I — — 11 

T     r  I    I    I      I    ^  r— r         I    ,    ♦     ^  »-^ 


isiiiüei 


t s— •— *— 3l 


0 — it-^ — 0 — j.-^^—0 — I — 0 — 0 — 0 — • — j- — ^^-J-i 

r  f   \      II      I    I    I    r      77-. 


Nach  Westphal  (Plutarch  de  musica  S.  81)  erhielt  in  der  späteren  Ent- 
wickelung  der  Kitharodik  die  in  dieser  Weise  vereinfachte  diatonische  Scala 
gewissermassen  eine  Verzierung;  denn  es  wird  neben  dem  tiefsten  Ton  des 


II.     Die  AXusik   der  ersten  cliristliclieri  Zeiten.  21 

und  mau  begreift,  class  der  iu  der  juugeu  christlichen  Kirche  herr- 
schende Geist  eine  Vereinfachung  der  musikalischen  Darstelkmgs- 
mittel  anstreben  musste.  Xicht  lange  nach  der  olien  erwähnten 
Verordnung  des  Clemens  von  Alexandrien,  das  Verbot  des  chro- 
matischen Klanggeschlechtes  b'etreffend,  giebt  die  christliche  Kirche 
ein  zweites  musikalisches  Lebenszeichen  von  sich:  die  stete  AVieder- 
kehr  der  kirchlichen  Gedenktage  hatte  die  Annahme  gewisser 
Normen  für  die  Ausführung  des  Kirchengesanges  nöthig  gemacht, 
und  um  dieselljen  auch  den  sj)äteren  Geschlechtern  zu  bewahren, 
wurden  von  den  Päpsten  Sylvester  (314  n.  Chr.)  und  seinem  Nach- 
folger Hilarius  die  ersten  Siugsclmleu  errichtet.  Es  war  übrigens 
um  so  nöthiger,  für  die  Erziehung  von  Kirchensängern  zu  sorgen, 
als  mit  dem  Festhalten  der  Kirche  an  der  lateinischen  Sj^rache 
und  dem  allmählichen  Absterben  derselben  als  Sprache  des  Volkes 
die  Betheiliguug  der  Laien  am  Kirchengesange  von  selbst  auf- 
hören musste,  und  wirklich  bald  darauf  das  Concil  von  Laodicea 
(367  n.Chr.)  denBeschluss  fasste  ,.es  solle  kein  anderer  in  der  Kirche 
singen,  als  die  dazu  verordneten  Sänger  von  ihrer  Tribüne." 


Tetrachords  ein  höherer  Ton  (Viertelton)  eingeschaltet,  welcher,  wie  die  Aku- 
stiker sagen,  zu  jenem  in  dem  Yerhältniss  von  27 :28  steht,  oder  wie  Aristoxenus 
v.-ill,  um  17-2  enharmonische  Diesis  höher  steht.  Diese  „neuere  Enharmonik" 
hält  Fr.  Bellennann  in  seiner  erstgenannten  Schrift  (S.  25)  für  eine  Erfindung 
schlechter  Sänger,  welche  die  IManier  hatten,  von  einem  Ton  zum  andern 
durch  den  Zwischenraum  hindurchzuschleifen,  während  gute  Sänger  an  der 
alten,  ernsthaften  und  geschmackvollen  Art  festhielten  und  diese  Unart  ver- 
schmähten. Auch  macht  er  darauf  aufmerksam,  dass  das  für  den  diatonischen 
Gebrauch  ganz  zweckmässig  erfundene  griechische  Xotensystem  für  die 
Notirung  der  beiden  andern  Klanggeschlechter  falsch  gebraucht  wird,  und 
folgert  daraus,  dass  die  Fixirung  jener  hässlichen  Durchschleifung  zu  wirk- 
lichen Tetrachordtönen  eine  blosse  Erfindung  der  Theoretiker  ist.  Anders 
freilich  lautet  Plutarch's  Meinung  in  Cap.  XXI.  seiner  oben  angeführten 
iichrift:  „Die  jetzt  Lebenden"  heisst  es  dort  ,, haben  das  schönste  der  Ton- 
geschlechter, dem  die  Alten  seiner  Ehrwürdigkeit  wegen  den  meisten  Eifer 
widmeten,  ganz  und  gar  hintangesetzt,  so  dass  bei  der  gi'ossen  Mehrzahl 
nicht  einmal  das  Vermögen,  die  enharmonischen  Intervalle  wahrzunehmen, 
vorhanden  ist,  und  sind  in  ihrer  trägen  Leichtfertigkeit  soweit  herab- 
gekommen, dass  sie  die  Ansicht  aufstellen,  die  enharmonische  Diesis  mache 
überhaupt  nicht  den  Eindruck  eines  den  Sinnen  wahrnehmbaren  Intervalles, 
und  das  sie  dieselbe  aus  den  IMelodien  ausschliessen :  diejenigen,  so  sagen 
sie,  hätten  thöricht  gehandelt,  welche  darüber  eine  Theorie  aufgestellt,  und 
dies  Tongeschlecht  in  der  Praxis  verwandt  hätten.  Als  sichersten  Beweis 
für  die  AVahrheit  ihrer  Aussage  glauben  sie  vor  Allem  ihre  eigene  Unfähig- 
keit vorzubringen,  ein  solches  Intervall  wahrzunehmen.  Als  ob  Alles,  was 
ihrem  Gehör  entginge,  durchaus  nicht  vorhanden  und  nicht  praktisch  ver- 
wendbar sei!"    »(Vgl.  AVestphal  a.  a.  0.  S.  60  sowie  S.  80  ff.) 


22  II-    UJe  IMIiisiis  der  ersten  cliristliclieii  Zeiten. 


Eine  noch  wirksamere  Förderung  als  jenen  Päpsten  dankt 
4ie  Musik  dem,  im  selben  Jahrhundert  lebenden  Bischof  Am- 
bro sius  von  Mailand  (gest.  397  n.  Chr.)  und  dem,  zwei  Jahrhunderte 
später  (590)  zum  Papst  erwählten  Gregor  d.  Gr.  Der  erstere 
that  einen  wichtigen  Schritt  zur  Vereinfachung  des  Musiksystems, 
indem  er  aus  den  griechischen  Octavengattungen  die  vier  mit  D,  E, 
F  und  G  beginnenden  zum  Gebrauch  beim  Gottesdienst  auswählte, 
welche  in  der  Folge  authentische  Tonarten  genannt  wurden. 
Gregor  fügte  diesen  noch  vier  weitere,  mit  der  Unterquarte  der 
authentischen  beginnende  hinzu,  die  den  Namen  Plagal-Tonarten 
erhielten  (von  dem  griechischen  "Worte  plagios,  schräg,  seitwärts). 
Hiermit  war  die  Zahl  der  sogenannten  Kirchentöne  auf  acht  ge- 
wachsen, doch  ist  zu  bemerken,  dass  die  plagaKschen  nicht  in 
gleichem  Sinne  selbständige  Tonarten  sind  wie  die  authentischen; 
sie  können  nur  als  eine  Umstellung  der  letzteren  gelten,  derart, 
dass  der  untere,  die  Quinte  umfassende  Theil  an  seiner  Stelle 
bleibt,  der  Rest  aber,  die  Quarte  umfassend,  um  eine  Octave 
tiefer  gelegt  wird.  Die  enge  Zusammengehörigkeit  der  authenti- 
schen und  plagalischen  Töne  —  deren  Verhältniss  von  den  Schrift- 
stellern des  Mittelalters  durch  die  Bezeichnung  „männlich"  und 
„weiblich"  treffend  charakterisirt  ist  —  zeigt  sich  am  deutlichsten 
darin,  dass  der  musikalische  SchweiiDunkt,  der  Grund-  oder  Final- 
ton beiden  gemeinsam  ist;  die  authentische  Tonart  hat  ihn  in  der 
Tiefe,  die  plagalische  dagegen  in  der  Mitte,  d.  h.  ihre  Tonleiter 
tindet  ihren  Abschluss  auf  der  Quarte,  welche  sie  nach  der  Höhe 
und  der  Tiefe  im  Umfang  einer  Octave  umschweift.  Nach  diesem 
Princip  theilte  man  auch  die  Melodien  in  authentische  und  pla- 
galische ein,  nämlich  solche,  die  sich  vom  Grundton  bis  zu  seiner 
Octave  und  zurück  bewegen,  und  solche,  die  von  ihrem  Grundton 
aus  eine  Quinte  aufwärts  und  eine  Quarte  abwärts  steigen,  um 
schliesslich  wieder  zu  ihm  zunickzukehren.*) 


*)  Demnach  würden  z.  B.  die  Anfangsthemen  des  Es-dur-Ti'io  von 
Schubert^)  und  der  Es-dur-Symphonie  von  Beethoven  (Eroica)^)  verschiedenen 
Tonarten,  das  erstere  der  authentischen,  das  letztere  der  plagalischen  an- 
gehören. 


i^iü^tiül^ 


f=:  :z:d=: 


X—ff- 


S 


H.    X>ie  Alusik  der  eraten  clxrietliolieii  Zeiten.  23 

Von  der  Beschaffenheit  des  Ambrosianischen  Gesanges 
geben  uns  nur  die  spärlichen  Mittheilungen  der  gleichzeitigen 
Schriftsteller  Kunde,  da  er  schon  früh  mit  dem  Gregorianischen 
verschmolz  und  mit  der  Zeit  völlig  in  ihm  aufgegangen  ist.  Nur 
so  viel  erfähi-t  man  aus  ihi-en  Berichten,  dass  er  „feierhch"  und 
,.wundersüss"  (j)erdulcis)  war,  und  zeitweilig  in  höherer  Achtimg 
stand,  als  selbst  der  Gesang  der  römischen  Kirche;  ferner  wird 
er  „metrisch*'  genannt,  womit  gemeint  ist,  dass  er  nach  antiker 
Weise  die  Quantität  der  Silben  berücksichtigte,  und  hiermit  ist  der 
wesentliche  Unterschied  zwischen  ihm  und  dem  Gregorianischen 
Gesang  bezeichnet,  welcher  letztere  keine  bestinunte  Zeitdauer 
für  seine  Töne  annahm  und  deshalb  auch  „ebener  Gesang"  (cantus 
planus,  in  Frankreich  plainchant)  genannt  wurde.  Ist  nun  diese 
Ebenmässigkeit  des  Gregorianischen  Gesanges  auch  nicht  streng 
wörthch  zu  nehmen,  als  habe  man  jeden  Unterschied  in  der  Zeit- 
dauer der  Noten  vermieden;  war  es  vielmehr,  besonders  beim 
Einzelvoilrag,  dem  Sänger  überlassen,  die  Textessilben,  wie  in 
der  ausdi'ucksvollen  Rede,  nach  Belieben  zu  dehnen  und  zu  ver- 
kürzen, so  war  doch  hier  der  Zwang  der  Prosodie  abgeschüttelt, 
durch  welchen  die  antike  Musik  wie  auch  der  ihr  nahestehende  Am- 
brosianische Gesang  in  ihrer  Freiheit  beschi'änkt  waren.  Die  Be- 
freiung der  Melodie  von  den  Fesseln  der  Metrik,  sagt  Ambros*), 
zeri'iss  das  Band,  welches  bis  dahin  die  christüche  Musik  noch 
mit  der  antiken  verknüpft  hatte,  und  darin  liegt  die  hohe  Be- 
deutung der  musikalischen  Reform  des  hlg.  Gregor,  dass  sich  nun 
die  Tonkunst  thatsächlich  von  der  AVortdichtung  emancipirte,  in 
welcher  jene  bisher  fast  als  integi'ii'ender  Bestandtheil  unselbständig 
aufgegangen  war. 

Die  Machtstellung,  welche  Papst  Gregor  d.  Gr.  der  römischen 
Kirche  errungen  hatte,  bewirkte  eine  inuner  weitere  Ausbreitung 
des  Christenthums  und  zugleich  der  mit  dem  Cultus  verbundenen 
Musik.  Einen  energischen  Beschützer  fanden  beide  in  Karl  d. 
Gr.,  jenem  erleuchteten  Herrscher,  der  es  nicht  allein  verstand, 
die  der  Cultur  widerspenstigen  Völker  zu  bezwingen,  sondern 
sie  auch  geistig  zu  sich  zu  erheben.  In  richtiger  Erkenntuiss, 
dass  nur  die  AVohlthat  einer  höheren  Bildung  die  imterworfenen 
Nationen  dauernd  mit  seiner  Herrschaft  auszusöhnen  vermöge, 
gründete  er  Schulen  im  gimzen  Umfange  seines  weiten  Reiches, 
von  denen  die  in  Metz,  Soissons,  Fulda,  Mainz,  Ti-ier,  St.  Gallen 

*)  Ambros,  (reschichte  der  ]Musik,  11.  S.  öl. 


24  II-    Die  ÜVIusili  der  ersten  cUristlichen  Zeiten. 

bald  ZU  hohem  Ruhme  gelaugten.  Auf  allen  diesen  Schulen  ^\-urde 
die  Musik  gleichmässig  mit  den  übrigen  Lehrgegenständen  ge- 
pflegt*), hauptsächlich  als  eine  Wissenschaft;  aber  auch  nach 
praktischer  Seite  wurde  sie  vom  Kaiser  eifrig  gefördert,  sowohl 
die  Kirchenmusik  als  auch  die  weltliche.  Von  den  Heldenliedern 
seiner  Zeit  liess  er  durch  seinen  Schreiber  Eginhard  eine  Samm- 
lung veranstalten,  welche  leider  verloren  gegangen  ist;  seine 
Töchter  Hess  er  täglich  di-ei  Stunden  lang  in  der  Musik  unter- 
richten; er  selbst  versäumte  es  nie,  sich  während  des  Gottes- 
dienstes persönhch  beim  Gesänge  zu  betheiligen  —  auf  einem 
seiner  Bildnisse  erscheint  er  inmitten  der  Chorknaben  —  und 
Aviederholt  liess  er  aus  Rom  Sänger  kommen,  um  durch  ihr-  Bei- 
spiel die  ungeübten  Kehlen  seiner  fränkischen  Sänger  zu  veredeln. 
So  konnte  die  Kunst  des  Kirchengesanges  sich  auch  im  Norden 
Europa's  immer  reicher  entwickeln,  besonders  in  der  Schule  zu 
Metz,  deren  unter  dem  Namen  Cantus  Metensis**)  bekannte 
Vortragsweise  sich  einer  gi"ossen  Berühmtheit  erfreute. 

Zwei  solche  aus  Rom  entsandte  Apostel  der  Tonkunst  waren 
es,  die  den  Grimd  legten  zu  dem  musikalischen  Glanz,  welchen 
das  Kloster  St.  Gallen  während  der  Zeit  geistiger  Dunkelheit 
vom  achten  bis  zum  zwölften  Jahrhundert  ausstrahlte.  Petrus 
und  Romanus  hiessen  die  beiden  Sänger,  Avelche  auf  Befehl  des 
Papstes,  versehen  mit  einer  authentischen  Abschrift  der  vom  big. 
Gregor  veranstalteten  Sammlung  von  Kirchengesängen,  dem  so- 
genannten Antiphonarium,  nach  Norden  pilgerten,  um  das 
musikalische  Evangelium  zu  verbreiten.  Beim  Uebergang  über  die 
Alpen  erki'ankte  Romanus  und  niu-  mit  Mühe  und  Noth  erreichte 
er  das  Kloster  St.  Gallen;  hier  aber  fand  er  von  Seiten  der  Mönche 
eine  so  hebevolle  Pflege,  dass  er  auch  nach  seiner  Genesung  sich 
nicht  entschliessen  konnte,  die  gasthche  Stätte  zu  verlassen,  und  — 
nach  eingeholter  Erlaubniss  des  Papstes  —  bis  zu  seinem  Lebensende 
dort  bheb,  mit  ibm  das  Antiphonarium,  welches  noch  heutigen 
Tages  in  der  Stiftsbibliothek  zu  St.  Gallen  bewahi-t  wird.  Von 
nun   an   beginnt   bei   den   Mönchen    des   Klosters    ein   ungemein 


*)  Es  waren  deren  sieben,  welche  in  zwei  Abtheilungen  zerfielen:  das 
Trivium  (Dreiweg),  die  Grammatik,  Rhetorik,  Dialektik  und  das  Quadri- 
vium  (Vierweg),  die  Musik,  Arithmetik,  Geometrie  und  Astronomie  um- 
fassend. 

**)  Daher  nach  Einigen  das  Wort  ,, Mette'-  (katholischer  Frühgottes- 
dienst), während  andere  es  vom  lateinischen  matutinum,  Morgenstunde,, 
herleiten. 


II.     Die  It^uaik  der  ersten.  ctiriatlicUen  Zeiten.  25 


reges  wissenschaftliches  und  künstlerisches  Streben,  von  dessen 
Erfolg  die  Chronisten  unter  ihnen  berichten,  am  ausführ- 
lichsten Ekkehard*),  der  vierte  dieses  Namens,  in  seineu,  um 
das  Jahr  1000  verfassten  „Casus  S.  Galli"  Um  die  Ausbildung 
der  Musik  erwarben  sich  hier  besondere  Verdienste  die  beiden 
Notker,  der  eine  mit  dem  Beinamen  Labeo  (der  Grosslefzige) 
als  Verfasser  der  ältesten  Abhandlung  über  Musik  in  deutscher 
(althochdeutscher)  Sprache,  der  andere,  Notker  Balbulus  (der 
Stammler)  als  Ei-finder  einer  neuen  Kunstgattung,  der  Sequenzen. 
Das  Wesen  dieser  Art  von  Gesängen  erklärt  sich  aus  ihrem 
Namen:  sie  waren  ursprünglich  Anhängsel,  langathmige  Coloraturen, 
mit  denen  man  den  letzten  Ton  des  „Hallelujah"  verzierte.  Diese 
anfänglich  improvish'ten  Coloraturen  bildeten  sich  mit  der  Zeit 
zu  förmhchen  Melodien  aus,  denen  man,  um  sie  dem  Gedächtniss 
besser  einzuprägen,  Worte  unterlegte.  Eine  dieser,  von  Notker 
Balbulus  geregelten  und  mit  Text  versehenen  Melodien  hat  sich 
nicht  nur  in  der  katholischen  Kirchenmusik  erhalten,  sondern  ist 
auch  in  den  protestantischen  Choralgesaug  übergegangen:  es  ist 
die  Sequenz  „Media  vita  in  morte  sumus"  („Mitten  wir  im  Leben 
sind  von  dem  Tod  umfangen"),  zu  deren  Dichtung  Notker  auf 
einer  Wanderung  in  der  unweit  St.  Gallen  gelegenen  wilden  Eels- 
schlucht.  das  Martinstol)el,  durch  den  Anblick  eines  dort  beim 
Brückenbau  verunglückten  Arbeiters  angeregt  war. 

Neben  der  Vocalmusik  wurde  auch  das  Instrumentenspiel  im 
Kloster  St.  Gallen  eifrig  betrieben.  Von  dem  Mönche  Tuotilo 
berichtet  die  Chronik,  dass  er  auf  verschiedenen  Arten  von  Blas- 
und  Saiteninstrumenten  wohl  bewandert  gewesen  sei,  und  die 
jungen  Edelleute  der  Umgegend  im  Gebrauche  derselben  unter- 
wiesen habe.  Hiei-,  wie  überhaupt  im  Norden,  musste  die  Instru- 
mentalmusik schon  deshalb  zahlreiche  Liebhaber  linden,  weil  das 
Klima  die  Entwickelung  der  Gesangsorgane  nicht  in  gleichem 
Maasse  begünstigte,  wie  das  der  südeuropäischen  Länder,  und  in 
Folge  dessen  den  nordischen  Kehlen  die  Lieblichkeit  des  italieni- 
schen Gesanges  versagt  wai".  Dass  auch  die  St.  Gallischen  Sänger 
bei  aller  Reife  ihrer  musikalischen  Ausbildung  in  diesem  Punkte 
zurück    stehen    mussten,    zeigt    der   Ausspruch    eines    Reisenden 


*)  Die  Mittheilungen  dieses  Histoi'iographen  hat  Victor  Scheffel  in 
seinem  gleichnamigen  Roman  zu  einer  lebensvollen  Schilderung  des  St.  Gral- 
lischen  Klosterlebens  verwerthet.  Der  Held  jenes  Romans  ist  der,  wegen 
seiner  Sprachkenntniss  von  der  Herzogin  Hadwig  von  Schwaben  zum  Lehrer 
erwählte  Ekkehard  II.  mit  dem  Beinamen  Palati nus. 


26  H.     Die  jVXvisil?  der  ersten  elirjstliclien  Zeiten. 

aus  Italien,  der  nach  einer,  während  seiner  Anwesenheit  im  Kloster 
veranstalteten  musikalischen  Abendunterhaltung  in  sein  Tagebuch 
schrieb:  „Die  Männer  diesseits  der  Alpen,  wenn  sie  auch  den 
Donner  ihrer  Stimme  hoch  gen  Himmel  erdröhnen  lassen,  können 
sich  doch  nimmer  zur  Süsse  einer  gehobenen  Modulation  auf- 
schwingen. Wahrhaft  barbarisch  ist  die  Rauheit  solch  abge- 
trunkener Kehlen;  wenn  sie  durch  Senkung  und  Hebung  des 
Tones  einen  sanften  Gesang  zu  ermöglichen  suchen,  schauert  die 
Natur,  und  es  klingt  wie  das  Fahren  eines  Wagens,  der  in 
AVinterszeit  über  gefrorenes  Pflaster  dahin  knarrt." 

Der  Verfasser  dieser  herben  Kritik  mochte  wohl  schwerlich 
ahnen,  dass  die  von  ihm  so  gering  geschätzten  Nordländer  berufen 
seien,  die  Musik  um  eines  ihrer  wichtigsten  Hülfsmittel  zu  be- 
reichern. Im  Norden  Europa's  sollte  dasjenige  Element  zur  Aus- 
bildung gelangen,  welches  recht  eigentlich  als  Unterscheidungs- 
merkmal der  modernen  von  der  antiken  Musik  gelten  darf,  die 
Mehrstimmigkeit.  Der  nächste  Abschnitt  wird  zeigen,  wie 
unscheinbar  die  Keime  waren,  aus  denen,  allerdings  erst  nach 
Verlauf  mehrerer  Jahrhunderte  schwerer  Arbeit  die  Kunst 
hervorwachsen  konnte,  deren  Höhepunkt  der  Name  Palestrina 
bezeichnet. 


IIL 
Die   Anfange   der  naelirstininiigen  ]VXiisik. 


Bevor  wir  die  von  den  Völkern  des  Nordens  bewirkten  Fort- 
schiitte  in  der  Musik  näher  betrachten,  sei  noch  eines  andern 
Volkes  gedacht,  welches,  wenn  auch  nicht  speciell  auf  die  Ton- 
kunst, so  doch  auf  die  gesammte  Culturentwickelung  während  der 
Jahi'hundei-te  des  mittelalterlichen  Sturmes  imd  Dranges  einen 
fördernden  EinÜuss  ausübte:  der  Araber.  Von  der  Befähigung 
dieses  Volksstammes  zur  Theilnahme  an  der  geistigen  Arbeit  der 
Menschheit  berichten  schon  die  Schriftsteller  des  Alterthums;  zur 
vollen  Entfaltung  aber  gelangten  diese  Anlagen  erst  in  Folge 
der  durch  Muhamed  (022  n.Chr.)  bewirkten  religiösen  und  socialen 
Reform;  unter  ihrem  Einflüsse  konnte  sich  das  Morgenland  binnen 
kurzem  zu  einer  Stufe  der  Civilisation  erheben,  welche  Europa 
erst  Jahrhunderte  später  erreichen  sollte.  Und  nicht  genug  war 
es  den  Bekennern  des  Islam,  auf  heimathlichem  Boden  Stätten 
_/u  gründen,  die  wie  Bagdad  und  Damaskus  den  Ruf  morgen- 
ländischer Bildung  und  Gesittung  über  die  Welt  verbreiteten; 
schon  im  folgenden  Jahrhundert  trieb  ^  sie,  der  Lehre  des  Pro- 
])heten  auch  ausserhalb  ihres  "Welttheils  Geltung  zu  verschaffen. 
Im  Fluge  ward  Nord- Afrika  bis  zu  den  Säulen  des  Hercules  unter- 
worfen, und  nach  Ueberschreitung  der  Meerenge  von  Gibraltar 
(711  n.  Chr.)  der  schon  durch  Parteikämpfe  stark  erschütterfen 
Gotheuherrschaft  in  Spanien  ein  Ende  gemacht.  Das  aus  ihren 
Trümmern  erwachsene  Kalifenreich  gelaugte  mit  übeiTaschender 
Schnelle  zu  hoher  politischer  wie  auch  geistiger  Machtstellung  und 
seine  Hauptstadt  Cordova  konnte  bald  mit  den  erwähnten  Bil- 
dungs-Mittelpunkten des  Orients  den  gleichen  Rang  einnehmen. 
Vor  allem  zeichneten  sich  die  Ai'aber  durch  die  Pflege  der  Wissen- 
schaften aus,  wobei  die  zahlreichen,  in  Spanien  wolmenden  Juden 


28  III.    Die  Anfänge  der  xuelirstimmigeu  ÜVIusik. 

sie  um  so  "wirksamer  imterstützen  konnten,  als  diese  durch  keinerlei 
materiellen  Druck  in  ihrer  geistigen  Thätigkeit  behindei-t  wurden, 
■wie  dies  in  Folge  des  religiösen  Fanatismus  unter  den  späteren, 
christlichen  Herrschern  des  Landes  der  Fall  war. 

Für  das  übrige  Europa  Avurde  die  Herrschaft  des  Islam  in 
Spanien  vor  allem  dadurch  bedeutungsvoll,  dass  es  durch  Vermitte- 
lung  der  dortigen  Gelehrten  mit  der  Literatur  des  griechischen  Alter- 
thums,  zunächst  freilich  nur  in  lateinischen  Uebersetzungen,  bekannt 
wurde.  Auch  der  künstlerische  Einfluss  der  spanischen  Araber 
auf  die  Nachbarvölker  kann  nicht  gering  gewesen  sein,  nach  ihren 
Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Baukunst  zu  urtheilen,  von  deren 
Bedeutung  und  Eigenartigkeit  die  noch  erhaltenen  Monumente, 
vornehmlich  die  grosse  Moschee  zu  Cordova  und  das  Königsschloss 
Alhambra  zu  Granada  Zeugniss  ablegen.  Für  die  Musik  ähn- 
liches zu  wirken,  daran  scheint  jenes  Gemisch  von  Nüchternheit 
und  Phantasterei,  welches  die  Kunst  der  Orientalen  überhaupt  kenn- 
zeichnet, auch  die  Araber  gehindert  zu  haben.  Derselbe  Geist  der 
Beschränktheit,  der  sich  in  der  Ornamentik  ihrer  Bauten  zeigt, 
und,  um  das  vom  Koran .  ausgesprochene  Verbot  bildlicher  Dar- 
stellung von  Naturgegenständen  nicht  zu  verletzen,  jede  Verzierung 
in  mathematische  Figuren  umsetzt  —  nach  ihren  Erfindern 
Arabesken  genannt  —  dieser  Geist  spricht  sich  auch  in  der 
orientalischen  Musik  mit  ihrem  überschwenglichen  Reichthum  an 
Ornamenten  aus  und  hindert  sie,  zu  festen  Gebilden  zu  ge- 
langen; so  wenig  aber  wie  die  praktische  Musik  der  Araber 
konnte  ihre  musikalische  Theorie,  wiewohl  sie,  um  mit  Ambros 
zu  reden,  an  spitzfindiger  Scharfsinnigkeit  und  Verwickeltheit  der 
altgriechischen  nichts  nachgiebt,  irgend  welche  Ausgangspunkte 
für  eine  musilcalische  Neugestaltung  bieten. 

In  diesem  Sinne  schöpferisch  zu  wirken,  war  den  Völkern 
des  Nordens  vorbehalten.  Hatte  ihnen  die  Natur  den  Wohlklang 
der  südlichen  Stimmen  versagt,  so  war  ihnen  dafür  die  Fähigkeit 
der  Toncombinationen  aller  Art  in  höherem  Grade  verliehen,  als 
den  Bewohnern  Südeuropa's.  Es  sei  hier  noch  einmal  auf  die 
Bedeutung  der  Instrumentalmusik  in  Bezug  auf  jene  Fähig- 
keit hingewiesen.  Zunächst  boten  die  Instrumente  mit  ihrer  be- 
stinunten  Zahl  von  Saiten  oder  —  bei  den  Blasinstrumenten  — 
Bohrlöchern,  einen  weit  sicherern  Anhalt  zur  theoretischen  Spe- 
culation  als  die  menschliche  Stimme,  die  sich  in  Intervallen  von 
unendlich  verschiedener  Grösse  bcAvegen  kann;  auf  die  musikalische 
Composition  aber  wirkte  das  Instrumentenspiel  in  hohem  Grade  an- 


1 


III.    Die  A.xxiä,n.sei  der  melirstimmigeix  Alusilz.  29 

regend  und  klärend,  einmal  weil  die  Instrumente  der  Phantasie 
des  Tonsetzers  eine  freiere  Bewegung  gestatten  als  der,  durch 
den  natürlichen  Umfang  der  menschlichen  Stimme  wie  auch  dm-ch 
den  Text  heschriinkte  Vocalsatz;  sodann,  weil  ein  Tonstück  ohne 
Worte  des  inneren  Zusammenhanges  ganz  besonders  bedarf,  um 
nicht  in  inhaltlose  Spielerei  auszuarten.  Nach  alle  diesem  darf 
man  mit  Bestimmtheit  annehmen,  dass  die  mehrstimmige  Musik 
ihren  Ausgangspunkt  nicht  vom  Lande  des  Gesanges,  sondern  von 
dem  der  Instrumentalmusili  genommen  hat,  und  dass  sie  auf  den 
Instrumenten  praktisch  ausgeübt  wurde,  noch  lange  bevor  man 
anfing,  sie  im  Gesänge  anzuwenden  oder  sich  theoretisch  mit  ihr 
zu  beschäftigen. 

Für  die  Richtigkeit  der  letzteren  Meinung  spricht  auch  die 
Beschaffenheit  der  Streichinstrumente,  wie  sie  auf  den  ältesten 
Denkmälern  erscheinen;  die  hier  abgebildeten  Geigen  sind  meist 
mit  drei  Saiten  bespannt;  da  aber  der  Steg  flach  ist  und  die 
beim  modernen  Geigenkörper  angebrachten  Einbuchtungen  fehlen, 
so  musste  der  Bogen  nothwendigerweise  alle  drei  Saiten  zugleich 
berühren,  es  musste  unter  diesen  Bedingungen  eine  Toncombination 
entstehen,  wie  sie  noch  jetzt  die  schottische  Sackpfeife  und  die 
sogenannte  Savoyardenleier  (Organistrum)  zeigen:  auf  der  höchsten 
Saite  wurde  eine  Melodie  gespielt,  während  die  beiden  tieferen 
den  Grundtou  und  die  Quinte  nach  Art  eines  Orgelpunktes  dazu 
aushielten.  Dass  die  ersten  Versuche  im  mehrstinmiigeu  Gesänge, 
anfänglich  Improvisationen  einer  zweiten  Stimme  zu  einer  Melodie 
des  gregorianischen  Kircheugesanges ,  durch  das  Spiel  solcher 
Instrumente  augeregt  sind,  deutet  schon  die  dafür  gebräuchliche 
Benennung  „Kunst  des  Organisirens"  (ars  organandi)  an,  denn  unter 
.,Organum"  verstand  man  im  frühen  Mittelalter  nicht  nur  die 
Orgel,  sondern  jedes  musikalische  Instrument,  Und  aus  derselben 
Ursache  bezeichnete  mau  mit  dem  Worte  „Organum''  die  Kunst 
des  mehrstinnnigen  Tonsatzes,  zu  der  Zeit,  als  sie  in  dem  flan- 
drischen Mönch  Hucbald  oder  Ubaldus  (gest.  930  n.  Chr.  im 
Kloster  St.  Amand,  im  heutigen  französischen  Departement  du  Nord) 
ihren  ersten  theoretischen  Vertreter  fand. 

Hucbald's  Lehre  vom  Organum,  bei  ihm  auch  Diaphonie 
geheissen,  handelt  von  der  mehrstimmigen  Musik  und  zwar  nicht 
nur  als  Gesang  in  Octaven  oder  gelegentliches  Mit  -  Erklingen 
eines  anderen  Intervalles,  wie  sie  schon  von  den  Griechen  aus- 
geübt worden  war,  sondern  als  gleichzeitiges  Erklingen  verschie- 
dener   Tonreihen,    kurz,    als    das,    was    heute    mit    dem    AVorte 


30  m.    Die  A-nfStuge  der  mebratiminieeii  ^Musik. 


„Harmonie"  bezeichnet  wii'd*).  Das  am  meisten  geeignete  Intervall 
für  solclie  Fortschreitimgen  fand  Hucbald  in  der  sclion  von  den 
Alten  als  Consonanz  anerkannten  Qninte,  und  denigemäss  Hess  er 
zunächst  zwei  Stimmen  in  Quinten-Parallelen  fortschreiten.  Durch 
eine  Verdoppelung  der  Unterstimme  in  der  höheren  Octave  gewinnt 
er  sodann  einen  dreisthnmigen  Satz  und  Quarten-Parallelen,  endlich 
durch  Verdoppelung  der  Quintengänge  einen  vierstimmigen  Satz. 
Handelt  es  sich  hier  nur  um  eine  rein  mechanische  Ton- 
combination,  so  zeigt  eine  zweite  Art  des  Organum,  das  soge- 
nannte schweifende,  schon  eine  annähernd  kunstmässige  Gestalt. 
Dieses  ist  immer  nur  zweistimmig  und  besteht  theils  in  Quai-ten- 
Parallelen,  theils  bleibt  die  untere  Stimme  auf  einem  Ton  liegen, 
während  die  obere  sie  in  andern  Intervallen,  z.  B.  der  Secunde, 
Terz,  dem  Einklang,  umspielt.  Viel  war  allerdings  auch  hiermit 
noch  nicht  für  die  Ausbildung  der  neuen  Kunst  gewonnen,  ob- 
wohl Hucbald  selbst  an  der  herrlichen  Wirkung  seines  Organums 
nicht  zweifelte.  „Singen  ihrer,"  so  sagt  er  „zwei  oder  mehr  mit 
bedächtiger  und  einträchtiger  Strenge  zusammen,  jeder  seine 
Stimme,  so  wirst  du  einen  lieblichen  Zusammenklang  aus  dieser 
Vermischung  der  Töne  entstehen  sehen."  —  IVIit  ähnlichen,  nach 

*)  Im  Alterthmn  verstand  man  unter  ,, Harmonie"  jede  geordnete  Ton- 
folge; noch  im  Ausgange  des  Mittelalters  erklärt  der  niederländische  Musik- 
theoretiker  Tinctoris:  „Harmonie  ist  dasselbe  wie  Melodie."  —  Von  Huc- 
bald's  Organum  hat  man  in  neuester  Zeit  behauptet,  es  sei  gar  nicht  als 
Harmonie  (im  modernen  Sinne  des  AVortes)  aufzufassen ;  die  dort  in  Quinten- 
parallelen  sich  bewegenden  Tonreihen  seien  nicht  zum  gleichzeitigen,  son- 
dern zum  Nacheinander-Erklingen  bestimmt  gewesen.  Als  Gründe  für  diese 
Behauptung  wurde  einestheils  angeführt,  dass  dem  musikalisch  gebildeten 
Ohr  Quintenparallelen  widerwärtig  klingen ;  auderntheils  die  von  den  Schrift- 
stellern jener  Zeit  den  beiden  Tonreihen  gegebenen  Prädicate  ,,praecedens" 
und  „subsequens".'  Das  Ungenügende  d:s  ersteren  Grundes  springt  in  die 
Augen,  wenn  wir  uns  der  Wandelbarkeit  des  musikalischen  Geschmackes, 
selbst  innerhalb  eines  Zeitraumes  von  Jahrzehnten  erinnei'n;  demnach  könnte 
recht  wohl  vor  einem  Jahrtausend  angenehm  geklungen  haben,  was  dem 
modernen  Ohr  unangenehm  ist.  Bezüglich  der  lateinischen  Verba  aber  ist 
zu  bemerken,  dass  sie  nicht  allein  , .vorangehen"  und  ,, nachfolgen",  sondern 
ebensowohl  „den  Vorzug  haben"  und  ,,sich  nach  etwas  richten"  bedeuten 
können.  In  diesem  Falle  nun  kommt  ihnen  unzweifelhaft  die  letztere  Bedeu- 
tung zu,  denn  die  musikalische  Aufgabe  Hucbakl's,  wie  überhaupt  des  Mittel- 
alters, bestand  ja  gerade  darin,  nicht  etwa  den  schon  bei  den  Alten  üblichen 
antiphonischen  oder  Wechselgesang  zu  erneuern,  sondern  für  eine  durchaus 
andersartige  Musik,  nämlich  für  das  Zusammen -Erklingen  der  Intervalle 
und  für  die  Verbindung  dieser  Zusammenklänge  einen  theoretischen  Boden 
zu  orewinnen. 


I 


III.     Die  .^.nfäiige  der  ixielirstixamigen.  Alusik.  31 

heutigen  Begiiffeu  bescheidenen  Resultaten  musste  sich  Hucbahl 
bei  seinem  Bestreben  zur  Verbesserung  der  Tonschrift  begnügen. 
Die  zu  seiner  Zeit  übliche,  schon  von  Gregor  d.  Gr.  eingeführte 
Bezeichnung  der  Töne  durch  die  sieben  ersten  Buchstaben  des 
lateinischen  Alphabets  konnte  für  die  höheren  Ziele,  ^velche  die 
Musik  von  mm  an  verfolgte,  nicht  mehr  genügen,  so  wenig  wie  die 
sogenannten  Neumen,  eine,  vermuthlich  aus  den  Accenteu 
der  griechischen  Schriftsprache  entstandene  Tonschrift.  Diese, 
aus  einer  Unzahl  von  Zeichen,  Punkten,  Stiichelchen  und  Häkchen 
bestehend,  hatte  zwar  vor  der  Buchstabenschrift  die  Fähigkeit 
voraus,  Höhe  und  Tiefe  des  Tones  anschaulich  zu  machen,  doch 
war  die  Stellung  der  einzelnen  Tonzeichen,  so  lange  man  die- 
selbe nicht  mit  Hülfe  eines  Liniensystems  präcisirf  hatte ,  zu 
unbestimmt,  um  nicht  die  verschiedensten  Lesarten  zuzulassen. 
Hucbald's  erster  Refonnversuch  auf  diesem  Gebiete,  kaum  mehr 
als  eine  Modiiicirung  der  griechischen  Buchstaben-Notation,  musste 
schon  deshalb  erfolglos  bleiben,  weil  hier  dem  soeben  ange- 
deuteten Bedürfniss,  das  Steigen  und  Fallen  der  Töne  zu  ver- 
sinnlichen, in  keiner  Weise  Rechnung  getragen  wurde;  eine  später 
von  ihm  vorgeschlagene  Notenschrift  mit  einem  Liniensystem,  in 
welches  die  Textessylben  aufgeschichtet  wurden  und  mit  Bezeich- 
nung der  Tonstufen  durch  die  Buchstaben  T  (Tonus,  Ganzton) 
und  S  (Semitonium,  Halbtou)  am  Beginn  jedes  Spatiums,  leistete 
zwar  jenen  Dienst,  vermochte  jedoch  ebensowenig  die  Xeumen- 
schrift  zu  verdrängen,  namentlich  wegen  ihrer  aus  nachfolgendem 
Beispiel  zu  ersehenden  Schwerfälligkeit. 


f  J    AI 


f  i'  le\      u  \ 

t"I  ~~  lu/     i\ 

s  r  a  \ 


') 


in  moderner  Tonschrift 


AI  -  le  -     lu    -    i    -  a 


*)  Die  hinter  dem  Buchstaben  T  und  8  befindlichen  Zeichen  gehören 
der  oben  erwähnten,  früher  von  Hucbald  erfundenen  Tonschrift  an,  über 
deren  Beschaft'enheit  und  Entstehung  H.  Bellermann  in  der  Allgemeinen 
musikal.  Zeitung,  Jahrgang  1868  No.  37  genaue  Auskunft  giebt. 


32  ni.    Die  Anfänge  der  melirstixnniigen.  llVlusils. 


Erst  ein  Jahrhundert  später  sollte  dem  Bedürfniss  nach  einer 
deutlichen  Tonschrift  abgeholfen  werden,  indem  Guido  von 
Arezzo  zuerst  darauf  kam,  vier  Linien  zu  ziehen,  und  nicht  nur 
diese,  sondern  auch  die  Zwischenräume  Ijenutzte,  um  so  für  jeden 
Ton  der  diatonischen  Scala  einen  bestimmt  abgegrenzten  Platz 
zu  gewinnen.  Er  führte  die  Versuche  seiner  Vorgänger,  welche 
bei  der  Benutzung  der  Linien  noch  keinem  festen  Princip  gefolgt 
waren,  zum  Abschluss  und  wurde  so  der  Schöpfer  des  noch  heute 
gebräuchlichen  Notations-Systems;  denn  von  nun  an  vereinfachte 
sich  auch  die  Zahl  und  die  Gestalt  der  ISTeumenzeichen,  welche 
sich  schliesslich,  nach  allerlei  Modilicii-ungen,  in  die  modernen 
Notenzeichen  verwandelten,  so  u.  a.  die  Virgula  (in  Figur  eines 
Komma),  aus  welcher  unsere  Viertelnote  entstanden  ist.  —  Noch 
grösseren  Ruhm  erwarb  sich  Guido,  bei  seinen  Zeitgenossen 
wenigstens,  durch  die  von  ihm  erdachte  Gesang -Lehrmethode, 
vermittelst  derer,  wie  man  behauptete,  der  Schüler  in  drei  Tagen 
das  zu  lernen  im  Stande  sei,  wozu  er  früher  ebenso  vieler 
Wochen  bedurft  hatte.  Diese  Methode  bestand  darin,  dass  dem 
Lernenden  ein  unbekannter  Gesang  durch  Vergleichung  mit  einem 
ihm  schon  bekannten  eingeprägt  wurde.  Als  eine  solche  typische 
Melodie  empfahl  Guido  eine  Hymne,  deren  einzelne  melodische 
Phrasen  —  nach  heutiger  Ausdrucksweise  „Takte"  —  in  ihren 
Anfangstönen  eine  diatonische  Scala  darstellen.  Die  mit  diesen 
Anfangstönen  zusammenfallenden  Textessilben  lauten:  ut,  re,  mi, 
fa,  sol,  la,*)  welcher  zufällige  Umstand  den  romanischen  Völkern 
Anlass  gegeben  hat,  die  Töne  der  diatonischen  Scala  mit  diesen 


*)  Diese  Hymne,  in  welcher  die  Sänger  den  heiligen  Johannes  bitten, 
sie  von  Heisei-keit  zu  befreien,  lautet  vollständig: 


:^— — ^igrz^gr:rfzi^r^^z;;i:^:3£ra-:  :zzar.zg=gröl-:g^g^_^_.^_l 


Tjtque-antla  -  xis       re-so-na-re  fi-bris       nii  -     -    ra    ge  -  sto-rum 


»-7I-»  ^   n-»-»- n 


:arj£LT^zzz 


fa-mu-li  tu  -     o-rum       sol   -   -     ve  pol-lu-ti  la-bi  -  i  re  -  a  -  tum 


Sanc-te  Jo-han-nes. 


III.    Die  Anfänge  der  melirstimmigen  IMueik.  33 

Silben  zu  benennen  (das  si  für  die  siebente  Stufe  wurde  erst  später, 
nachdem  das  Octavensystem  allgemein  angenommen  war,  in  Frank- 
reich hinzugefügt).  Der  Vortheil,  welchen  gerade  diese  Hymne 
dem  Schüler  bot,  war  ein  doppelter,  da  sie  ihm  nicht  allein  Gelegen- 
heit gab,  sich  die  Tonleiter  einzuprägen,  sondern  auch  geeignet 
war,  das  Gehör  für  den  Unterschied  der  Kircheutonarten  zu 
schärfen,  für  welche  letztere,  wie  für  die  Melodiephrasen  der 
Hymne,  die  verschiedene  Stellung  der  Intervalle  das  charakte- 
ristische Merkmal  bildet. 

Der  Erfolg  dieser  Methode  war  ein  so  grosser,  dass  sogar 
der  Papst  (Johann  XIX.  1024 — 1033)  sie  kennen  lernen  wollte 
und  ihren  Ei-iinder  dm-ch  drei  Boten  nach  Eom  einladen  liess, 
ihn  auch  bei  seiner  Ankunft  aufs  freundlichste  empfing  und  nicht 
eher  von  seinem  Sitze  aufstand,  bis  er  einen  ihm  unbekannt  ge- 
wesenen Gesang  richtig  erlernt  hatte  und  so  au  sich  selbst  erfuhr, 
was  er  den  andern  kamn  hatte  glauben  wollen  —  wie  dies  Guido 
in  einem  Briefe  an  seinen  Freund  und  Klosterbruder  Michael 
berichtet.  Ein  grosser  Theil  von  Guido's  Erfolg  ist  aber  auf  Rech- 
nung seiner  Persönlichkeit  zu  schreiben;  denn  obwohl  er,  wie 
alle  andern  Vertreter  der  Kunst  und  Wissenschaft  mi  Mittelalter,, 
dem  geistlichen  Stande  angehörte  —  anfangs  dem  Kloster  Pom- 
posa  bei  Haveuna,  später  dem  Benedictinerkloster  zu  Arezzo  — 
so  beschränkte  er  sich  in  seiner  Thätigkeit  doch  keineswegs  aut 
die  Mönchszelle,  sondern  war  unablässig  bemüht,  seine  musikali- 
schen Errungenschaften  aller  "Welt  zu  gute  kommen  zu  lassen. 
Dadurch  unterscheidet  er  sich  wesentlich  von  allen  seinen  Zeit- 
genossen, dass  er  ein  Mann  des  Volkes  war,  und  als  solcher  wurde 
er  von  der  dankbaren  Volksstimme  noch  Jahrhunderte  nach 
seinem  Tode  und  selbst  weit  über  sein  Verdienst  gepriesen;  eine 
ganze  Reihe  von  Ei-findungen  aus  späteren  Zeiten  sind  von  den 
Musikschriftstellern  noch  des  vorigen  Jahrhunderts  ihm  beigelegt 
worden,  darunter  die  sogenannte  harmonische  oder  Guido- 
nische Hand,  welche  vom  12.  Jahrhundert  an  in  allen  musi- 
kalischen Lehrbüchern  erscheint,  und  den  Zweck  hatte,  dem 
Schüler  die  Benennungen  der  zu  Guido's  Zeit  gebräuchlichen  Töne 
beizubringen,  indem  man  jedem  derselben  mit  Ausnahme  des 
B-molle  und  des  ee  seinen  Platz  auf  einem  der  neunzehn 
Glieder  der  menschlichen  Hand  (die  Fingerspitzen  mitgerechnet) 
anwies:  das  obere  Glied  des  Daumens  bekam  das  Gamma  (1'), 
liierauf  fuhr  man  herab,  dann  quer  hinüber,  am  kleinen  Finger 
hinauf,    an   den    oberen  Gliedern  der  folgenden  drei  entlaug,  am 

Laug  haus,  Musikgeschichte.    U.  Aufl.  3 


34 


m.     Die  A-ufärige  der  naeKratimmigeii  IVXusik. 


Zeigefinger  wieder  herab  u.  s.  w.  im  Kreise  bis  zum  vorhöchsten 
Ton;  der  letzte  ee  erhielt  seinen  Platz  über  dem  Mittelfinger. 


Von  ungleich  höherem  "Werth  ist  eine  andere,  dem  Guido 
zugeschriebene  Erfindung,  das  System  der  Solmisation,  welches 
hier  schon  deswegen  erwähnt  zu  werden  verdient,  weil  es  weit  über 
das  Mittelalter  hinaus  bei  praktischen  wie  theoretischen  Musikern 
in  hohem  Ansehen  stand.  Die  Solmisation  oder  das  Hexachord- 
System  theilt  die  bald  nach  Guido  auf  21  Töne  erweiterte 
Tonreihe  in  sieben  sechsstufige  Tongruppen,  Hexachorde  genannt; 
deren  einzelne  Töne  mit  den  Silben  ut,  re,  mi,  fa,  sol,  la  bezeichnet 
sind;  doch  schHessen  sich  diese  Hexachorde  nicht,  wie  die  Octaven 
im  modernen  Musiksystem  aneinander  an  —  dies  würde  ja  eine  Reihe 
von  42  Tönen  ergeben  —  sondern  sie  greifen  in  einander  ein; 
das  tiefste,  das  sogenannte  harte  Hexachord  (Hexachordum  durum) 
umfasst  die  Tonreihe  T  (Gamma,  der  Ton,  welcher  der  ursprüng- 
lich mit  A  beginnenden  Scala  noch  in  der  Tiefe  hinzugefügt  war) 


HI.     X>ie  A-iifkiige  der  mehrstimmigen.  ÜVtusik. 


35 


A,  B  (unser  H)*)  C,  D,  E;  aber  schon  auf  der  vierten  Stufe  C 
beginnt  ein  neues,  das  natürliche  genannt  (Hex.  naturale),  die 
Tonreihe  C,  D,  E,  F,  Gr,  a  umfassend,  und  auf  der  vierten  Stufe 
dieses  Hexachords  (auf  F)  ein  drittes,  das  weiche  (Hex.  molle).  Die 
letztere  Benennung  hat  nicht  Bezug  auf  die  Intervallenfolge,  welche 
hier  dieselbe  ist  Avie  in  den  beiden  andern  Hexachorden,  sondern 
auf  das  „weiche  B"  (B molle,  unser  B)  ein  in  die  Scala  einge- 
schobener Ton,  dessen  man  bedurfte,  um  den  Tritonus  (das 
Intervall  der  übermässigen  Quarte)  zu  veraieiden,  welches  aus 
dem  Zusammentreffen  des  „harten  B"  (B  durum,  unserm  H)  mit  dem 
Grundton  des  weichen  Hexachords  (F)  entsteht.  Auf  der  nächsten 
Stufe  Gr  wiederholt  sich  dann  das  harte  u.  s.  w.  bis  zum  Abschluss 
des  siebenten  Hexachords,  welches  als  das  höchste  superacutum 
heisst,  Avähi'end  die  Hexachorde  der  tiefsten  Octaven  mit  grave, 
die  der  folgenden  Octave  mit  acutum  näher  bezeichnet  werden. 


la 


ee 

dd 

cc 

bb  .    .    :    

a,a  .  ■ la  \  mi  l  re 

g  soH  re  Mti 

/  fa[tit 


la 

sol 

fa 


e 

d 

c 

b 

a 

G 

F 

E 

B 

C 

B 

A 


la 

sol 

fa 

mi 

sol  I  re 


la 

sol 

fa 

mi 

re 

ut 


la 

sol 

fa 

mi 

re 


Hexacliordum 
Hexachordum 


duram  superacutum 
molle  acutum 


7tll 

re 
ut 


Hexacliordum  naturale  acutum 


la 


ut  } Hexacliordum 

.     .     Hexachordum 


durum  acutum 
molle  ffrave 


imi  i 
re\ 
ut) 


fa  [ut  ) Hexacliordum  naturale  grave 


mt 
re 


r      ut  ] Hexachordum  durniu  grave 

Die  AnhängUchkeit  an  das  Tetrachordsystem  der  G-riechen  scheint 
eine  Ursache  gewesen   zu  sein,    dass  man   sich   nicht  schon  jetzt 


*)  Die  schon  von  den  (Iriechen  erkannte  Nothwendigkeit  der  Einfügung 
eines  achten  Tones  in  die  siebenstufige  diatonische  »Scala  rechtfertigte  die  An- 
nahme eines  achten  Buchstabens  des  Alphabets  (H)  zur  näheren  Bezeichnung 
desselben  im  modernen  Tonsystem.  Dass  man  aber  in  Deutschland  mit  diesem 
achten  Buchstaben  nicht  den  eingeschobenen  Ton  (B),  sondern  den  ursprüng- 
lichen,   um  einen   Ganzton  von  A  aufwärts  liegenden  bezeichnet  hat,    wird 

nur  durch  die  Annahme  erklärlich,   dass  die  Bedeutung  des  älteren  Schrift- 

I 
Zeichens  für  das  B-durum    G  (seiner  Gestalt  wegen    auch  B-quadratum  ge- 


36  TTT,    Die  Anfenge  der  melirstiinmigeii  Alusik. 

ziu"  Annahme  des  Octavensystems  entschloss,  sondern  eine  Art 
von  Uebergang  durcli  das  Hexacliordsystem  vorzog.  Uebrigens 
aber  ist  die  Solmisation,  indem  sie  die  engen  Beziehungen  zwischen 
der  Haupttonart  und  ihren  Nebentonarten  (Tonica,  Ober-  und  Unter- 
Dominante)  heiTorhebt,  für  die  Entwickekmg  der  modernen  Musik- 
lehi'e  keineswegs  unmchtig  gewesen,  und  es  ist  begreiflich,  dass 
sie  noch  im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  warme  Vertheidiger, 
unter  ihnen  den  trefilichen  Erfurter  Organisten  Buttstedt  ge- 
funden hat. 

Trotz  der  Vervollkommnung  der  Notenschrift  durch  Guido 
von  Ai'ezzo  haftete  ihr  noch  ein  Mangel  an,  der  mit  fortschreiten- 
der Ausbildung  der  mehrstimmigen  Musik  immer  drückender 
empfunden  werden  musste:  die  Unmöglichkeit,  die  Dauer  der 
Noten  zu  bezeichnen.  Sollten  zwei  oder  mehr  Stimmen  gleich- 
zeitig gesungen  werden,  so  musste  ihr  Verhältniss  nicht  nur  in 
Bezug  auf  Höhe  und  Tiefe,  sondern  auch  auf  den  Zeitwerth  der 
Töne  genau  festgestellt  sein.  Der  erste  Schriftsteller,  welcher 
über  die  beim  „gemessenen"  Gesänge  (Mensuralmusik)  zu  be- 
obachtenden Regeln  Auskunft  giebt,  ist  Franco  von  Cöln  (um 
1200  n.  Chr.).  Wie  alle  seine  Vorgänger  auf  musik-theoretischem 
Gebiete,  so  folgt  auch  er  der  griechischen  Ueberlieferung,  indem 
er  zunächst  nur  zwei  Notenwerthe  annimmt,  die  lange  und  kurze 
Note  (Longa  Bl  und  Brevis  ■),  entsprechend  den  langen  und  kiu^zen 

Silben  der  antiken  Prosodie.  Eine  Vereinigung  dieser  beiden 
Noten,  deren  kürzere  den  halben  AVerth  der  längeren  hat,  ergiebt 
den  Modus,  der  entweder  als  Trochäus  ( — ■^-)  oder  als  Jambus 
{■^-^ — )  erscheint  und  stets  dreitheilig  ist.  So  erklärt  es  sich, 
dass  in  den  frühesten  Zeiten  der  Mensuralmusik  der  dreitheilige 
Rhythmus  allein  Anwendung  fand,  und,  nachdem  später  auch 
der  zweitheilige  Rhythmus  in  Gebrauch  kam,  der  vollkommene 
genannt  wurde,  letzterer  aber  der  unvollkommene.  Im  weiteren 
Verlaufe  seiner  Darstellung  freilich  verlässt  Franco  die  Tra- 
ditionen des  Alterthums,  denn  hier  erscheinen  als  neue  Noten- 
werthe    die     doppelte    Longa     (Max im a  Mil)  und    die    halbe 

Brevis  (Semibrevis  ♦).     Mit  diesen  Zeichen,  zu  denen  noch  die 


nannt)  zeitweilig  vei'loren  gegangen  ist,  und  von  der  späteren  Tonschrift  als 
unser  Quadrat  t^  oder  als  H  reproducirt  wurde.  Die  Gestalt  des  weichen 
|j  dagegen  konnte  zu  solchen  Missverständnissen  keinen  Anlass  geben,  und 
sie  veranlasste  die  ohne  Frage  widersinnige  Bezeichnung  des  achten  (hin- 
zugenommenen) Tones  mit  dem  zweiten  Buchstaben  des  Alphabets. 


HI.   X)ie  A.ufänge  der  raelxrstiinixiigeii  ^Vlusili.  3T 

für  die  Pausen  kommen,  welche  ebenfalls  bei  Franco  zum  ersten 
mal  genannt  werden,  war  es  schon  möglich,  eine  rhythmisch 
mannichfaltige  Musik  zu  notiren;  nur  litt  die  Mensural-Notation  au 
dem  Uebelstand,  dass  der  Werth  der  Noten  nicht  durch  ihre  Gestalt 
allein,  sondern  auch  durch  ihre  Stellung  zur  Nachbar - 
note  bedingt  war:  so  füllte  z.  B.  eine  Longa  für  sich  einen  drei- 
zeitigen Takt  aus,  folgte  ihr  aber  eine  Brevis,  so  wurde  sie  da- 
durch zweizeitig  und  bildete  mit  der  letzteren  zusammen  einen 
Takt;  folgten  ihr  zwei  Breven,  so  wurde  sie  wieder  dreizeitig,  die 
beiden  folgenden  Breven  bildeten  dann  zusammen  einen  dreizei- 
tigeu  Takt,  und  zwar  so,  dass  die  erste  eine  Zeit,  die  folgende 
^wei  Zeiten  galt.*) 

Nächst  Franco  von  Cöln  haben  das  meiste  Verdienst  um  die 
Ausbildung  der  Mensuralmusik  Marchettus  von  Padua  (Ende 
des  13.  Jahrhunderts)  und  Johannes  de  Muris,  Doctor  der 
Theologie  an  der  pariser  Universität  (Anfang  des  14.  Jahrhun- 
derts). In  den  Schriften  dieser  beiden  Musik-Gelehrten  erscheint 
zuerst  das  Verbot  der,  von  Hucbald  ihres  Wohlklanges  wegen 
gepriesenen  Quinten-  und  Octaven-Parallelen,  nebst  verschiedenen 
anderen,  für  den  strengen  Tonsatz  noch  bis  heute  gültig  geblie- 
benen Lehren.  De  Muris  soll  auch  zuerst  das  Wort  Contra- 
punkt  (von  „punctus  contra  punctum"  Note  gegen  Note)  statt 
des  bis  dahin  gebräuchlichen  „Discantus"  zur  Bezeichnung  eines 
zweistimmigen  Tonsatzes  angewendet  haben.  Die  einseitige  Be- 
vorzugung des  dreitheiligen  Taktes  findet  sich  allerdings  noch  bei 
ihm;  erst  ein  Jahrhundert  später  wird  der  zweitheilige  als  gleich- 
berechtigt in  die  Compositionspraxis  eingeführt  und  damit  für  die 
weitere  Entwickelung  der  Mensuralmusik  der  nöthige  freie  Raum 
gewonnen. 

Dies  Wenige  möge  genügen,  um  von  der  Unbeholfenheit  der 
Mensural-Notation  und  der  Mühseligkeit  der  geistigen  Arbeit  des 


*)  Ein  Rhythmus  dieser  Art  ■  ■  ■  ■  ■  ■  in  moderner  Notation  ausge- 
drückt -^^  y  Q-r-t — jj — p— [  rj  A  rJ"  rj—\  befremdet  nun  zwar  unser 
Ohr  nicht  wenig  durch  seinen  schwerfälhgen  hinkenden  Gang ;  in  schnellem 
Zeitmass  vorgetragen  -^^    ^     ^-^ — J-— ^''  J    J-H  verliert  er  jedoch  diesen 

Charakter ,  wie  aus  vielfachen  Beispielen  seiner  Verwendung  in  neueren 
Kompositionen,  u.  a.  im  ersten  Satz  der  Beethoven'schen  A-Dur-Symphonie 
(No.  7)  ersichtlich  wird. 


OO  HX.   Die  Aniatxge  der  melrrstimmigen  jVIvisili. 

Mittelalters  überhaupt,  selbst  noch  zur  Zeit  der  genannten  verdienst- 
vollen Männer  einen  Begriff  zu  geben.  Wir  befinden  uns  eben  in 
der  Blüthezeit  der  scholastischen  Philosophie,  welche  von  der 
Zeit  Karls  d.  Gr.  an  bis  zur  Wiedergeburt  der  antiken  Cultur, 
also  sechs  Jahrhunderte  lang  die  Welt  beherrschte.  Während 
dieses  Zeitraumes,  wo  die  immer  mächtiger  gewordene  Kirche 
sowohl  die  Wissenschaft  wie  die  Kunst  sich  allein  dienstbar  ge- 
macht hatte,  steht  auch  das  philosophische  Denken  und  die 
Dialektik  ausschliesslich  im  Dienste  der  Theologie ;  die  Philosophie 
wird  als  dienende  Magd  (ancilla)  der  Religion  betrachtet,  und 
selbst  das  Studium  der  Schrifsteller  des  Alterthums,  insbesondere 
des  Aristoteles,  hatte  nur  den  Zweck,  den  von  den  Kirchenvätern 
aufgeführten  Bau  der  christlichen  Glaubenslehre  wissenschaftlich 
zu  stützen.  Kein  Wunder,  wenn  bei  dieser,  für  die  Erforschung 
der  Wahrheit  so  ungünstigen  Geistesrichtung,  die  nach  Fortschritt 
strebende  Menscheit  häufig  auf  Abwege  gerieth,  und  sich  der 
Forscher  nicht  selten  in  kleinliche  Speculation  und  Spielereien 
verlor.  So  konnte  ein  Hucbald  auf  die  bizarre  Idee  verfallen,, 
zu  Ehren  Karls  des  Kahlen  ein  lateinisches  Gedicht  „Das  Lob 
der  Kahlköpfigkeit"  (calvitia)  zu  verfertigen,  in  welchem  jedes 
Wort  den  Anfangsbuchstaben  C  hatte;  so  konnte  der  praktische 
Guido  eine  Compositions-Methode  empfehlen,  die  darin  bestand^ 
dass  man  jedem  der  fünf  Vocale  einen  Ton  der  Tonleiter  sub- 
stituirte  und  dann  unter  die  einzelnen  Silben  eines  beliebigen 
Textes  den  ihrem  Vocal  entsprechenden  Ton  schrieb,  wodurch 
nach  seiner  Meinung,  alles  Geschriebene  in  Gesang  verwandelt 
wurde  —  eine  Homunculus-Melodiebilclung  in  der  Retorte  der 
fünf  Vocale,  wie  Ambros  diese  Art  zu  componiren  sehr  treffend 
bezeichnet  hat.  Auch  Franco  zeigt  sich  keineswegs  frei  von  der 
Gewohnheit  der  Scholastiker,  alles  zur  Kirche  in  Beziehung  zu 
setzen,  wenn  er  z.  B.  behauptet,  die  dreizeitige  Longa  müsse  man 
deshalb  die  vollkommene  nennen,  weil  sie  von  der  heiligen  Drei- 
einigkeit, der  höchsten  und  wahren  Vollkommenheit,  ihren  Namen 
entnommen  habe.  Marchettus  von  Padua  aber  zieht  die  christ- 
liche Glaubenslehre  sogar  in  den  Streit  hinein,  ob  die  dreizeitige 
lange  Note  den  Strich  auf  der  rechten  oder  linken  Seite  haben 
müsse,  und  beweist  die  Richtigkeit  der  ersteren  Meinung  folgender- 
massen:  So  wie  die  rechte  Seite  am  Menschen  vollkommener  als 
die  linke  ist,  weil  die  rechte  Seite  das  enthält,  was  den  Menschen 
ernährt  und  immer  vollkommener  macht,  nämlich  das  Blut,  so  ist 
auch  eine  Note  mit  dem  Strich  auf  der  rechten  Seite  vollkom- 


III.     Die  A.iifHnge  der  meh.rstimmigen  AlusiU.  39 

mener  als  eine,  die  ihn  links  hat.  Deswegen  hat  sich  auch 
Christus  in  die  rechte  Seite  stechen  lassen,  um  sein  ganzes  Blut 
für  das  menschliche  Geschlecht  zu  vergiessen. 

Bei  aller  Ungunst  der  Zeitverhältnisse  war  indessen  die 
Stagnation  des  geistigen  Lebens  nur  eine  scheinbare;  langsam, 
aber  mit  Sicherheit,  rückte  die  Welt  höheren  Zielen  entgegen. 
Auch  die  Scholastik  musste  zu  der  Bewegung  der  Geister  ihren 
Beitrag  liefern,  indem  sie  die  Gegenstände  des  Glaubens  zu  Ge- 
genständen erst  des  Denkens,  dann  des  Zweifels,  endlich  der 
wissenschaftlichen  Untersuchung  machte;  zeugen  doch  selbst  die  ab- 
surden Einfälle  der  Scholastiker  von  Lichtdurst  und  Forschergeist, 
der  sich  freilich  unter  dem  Drucke  der  Verhältnisse  meist  nur  in 
der  angedeuteten  kleinhchen  Weise  äussern  konnte.  Wie  aber  die 
Wissenschaft  sich  in  Folge  dieser  Bestrebungen  zu  neuem  Leben 
empoiTang,  so  auch  die  Kunst,  insbesondere  die  Musik,  für  welche, 
nach  Ueberwindung  der  nöthigen  Vorarbeiten,  jene  Epoche  reicher 
Entwickelung  begann,  die  nach  dem  hauptsächlich  dabei  bethei- 
ligteu  Volke  die  niederländische  genannt  wird. 


Die  niTasikalisclie  Herrscliaft  der 
JN^iederländer. 


Durch  die  Arbeiten  eines  Hucbald.  Guido  imd  Franco  war 
zwar  der  Boden  bereitet,  auf  welchem  eine  wTrkUche  Kunstmusik 
erwachsen  konnte,  doch  dauerte  es  noch  geraume  Zeit,  bis  die 
ersten  Keime  einer  solchen  sich  hervorwagten.  Noch  waren  die 
Völker  Eui^opa's  zu  tief  in  Lethargie  und  Barbarei  versunken, 
um  der  Kunst  freien  Raum  für  ihrer  Entwickelung  zu  gewähren; 
da  trat  ein  Ereigniss  ein,  welches  nicht  allein  die  religiösen  und 
politischen  Verhältnisse,  sondern  auch  das  gesammte  Geistesleben 
unseres  Welttheils  in  durchgi^eifender  Weise  umgestaltete,  nämlich 
die  1096  beginnenden  Kreuzzüge.  Nicht  nur  die  Angehörigen 
des  geisthchen  und  Bitter-Standes  waren  es,  an  welche  die  Auf- 
rufe eines  Peter  von  Amiens,  eines  Bernhard  von  Clairvaux  zur 
Befreiung  des  heiligen  Grabes  aus  den  Händen  der  Ungläubigen 
gerichtet  waren:  Allen,  die  sich  dem  Zuge  anschliessen  würden, 
war  das  Seelenheil  verheissen,  und  in  Folge  dessen  betheiligten  sich 
die  Unternehmungslustigen  der  verschiedensten  Stände  an  dem  Zuge 
nach  Jerusalem,  -wie  an  einer  allgemeinen  Wallfahrt.  Für  die  grosse 
Mehrzahl  der  Kreuzfahrer  aber  mussten  die  im  Morgenlande  ge- 
sammelten Eindrücke  und  Erfahrungen  von  nachhaltiger  Wirkung 
sein,  da,  wie  früher  erwähnt,  die  dortige  Cultur  schon  seit  der 
Herrschaft  der  Abassiden,  besonders  des,  dieser  Dynastie  ange- 
hörigen  Kalifen  Harun  al  Raschid  (800  n.  Chr.)  der  des  Abend- 
landes nach  jeder  Richtung  hin  überlegen  war.  So  fanden  auch 
die  im  Gefolge  der  Kreuzritter  befindlichen  Sänger  und  Instni- 
mentalmusiker  im  Orient  reiche  Anregung  und  Förderung  für 
ihre  Kunst;  denn  wenn  auch  die  orientalische  Musik  —  wie  die 


IV.   Die  musikaliacUe  Herrscliaft  der  Niederländer. 


41 


der  Araber  in  Spanien  —  ihrem  Wesen  nach  zur  Lösung  idealer 
Kunstaufgaben  ungeeignet  war,  so  konnte  es  doch  nicht  fehlen, 
dass  die  durch  den  Reichthum  an  Verzierungen  charakteristische 
Gesangsweise  der  Orientalen,  sowie  ihre,  den  Kreuzfahrern  un- 
bekannt gewesenen  Musikinstrumente,  die  !]^aute  und  die  Guitarre, 
wie  auch  die,  in  der  sarazenischen  Kriegsmusik  verwendeten  Lärm- 
instrumente, die  Trommel  und  die  Pauke,  nachdem  sie  in  die 
abendländische  Musik  eingeführt  waren,  dieser  ein  verändertes 
Ansehen  gaben. 

Noch  wichtiger  erscheint  die  Bereicherung,  welche  die  abend- 
ländische Dichtkunst  in  Folge  der  Kreuzzüge  erfuhr;  die  häufig 
jahrelange  Trennung  von  Haus  und  Familie  bewirkte  eine  bis  dahin 
unbekannt  gewesene  Vertiefung  des  Gemüthslebens:  es  entsteht  eine 
neue  Gattung  der  Poesie,  in  Avelcher  der  Sinn  für  Ritterlichkeit 
und  Minnedienst  seinen  Ausdruck  findet,  die  sogenannte  fröh- 
liche Kunst  (gaya  ciencia),  heimisch  vor  allem  auf  dem,  durch 
ein  glückliches  Klima  und  das  lebhafte  Naturell  seiner  Bewohner 
begünstigten  Boden  der  Provence.*)  Hier  widmeten  sich  ihr  die 
Vornehmsten  des  Landes,  so  zuerst  Graf  Wilhelm  von  Poi- 
tiers  (1087 — 1127),  später  auch  der  König  Thibaut  von  Na- 
varra  (1201 — 1254),  diese  jedoch  stets  nur  als  Erfinder  von 
Gesängen,  weshalb  sie  auch  Tro  uvfer  es  (von  trouver,  finden)  oder 
Troubadours  genannt  wurden.  Die  Ausfürung  der  von  ihnen 
erfundenen  Gesänge,  sowie  die  Begleitung  derselben  auf  Instru- 
menten überliessen  sie  den  sogenannten  Minstrels,  (entstanden 
aus  Ministerialis,  vom  lateinischen  Minister,  Gehülfe),  auch  Jong- 
leurs genannt  (entstanden  aus  joculator,  Spassmacher) ,  die  einer 
niedrigeren  Gesellschaftsklasse  angehörten  und  häufig  den  Possen- 
reissern  gleichgestellt  wurden,  Avie  dies  ein  jener  Zeit  angehöriges 
Bildwerk  der  Kirche  St.  Georges  zu  Bocherville  bei  Ronen  er- 
kennen lässt,  welches  inmitten  einer  Anzahl  Instrumentalmusiker 
eine  auf  den  Händen  gehende  menschliche  Figur  zeigt.  Eine  Aus- 
nahmestellung unter  den  Troubadours  nimmt  Adam  de  la  Haie 


*)  Als  Wiege  dieser  Kunst  ist  mit  Wahrscheinlichkeit  der  Hof  der 
Markgrafen  von  Barcelona  zu  betrachten,  deren  Reich,  von  Karl  d.  Gr. 
als  Schutzmauer  gegen  die  Araber-Herrschaft  in  Spanien  gegründet,  mit 
dem  südlichen  Frankreich,  im  Besonderen  mit  der  Provence,  in  engem 
politischen  und  geistigen  Zusammenhange  stand,  zugleich  aber  dem  Ein- 
fluss  der  arabischen  Bildung  unmittelbar  ausgesetzt  war ,  welche  auch 
ihrerseits  an  der  Ausbildung  des  provenzalischen  Gesanges  einen  wiclitigeu 
Antheil  hat. 


42 


IV,   Die  tn-usikalisclie  Herrsoliaft  der  UTiederländer. 


ein,  nach  seinem  Wuchs  und  seiner  Vaterstadt  „der  Bucklige 
von  Arras"  genannt,  indem  er  den  Erfinder  von  Gesängen  und 
den  ausübenden  Musiker  in  seiner  Person  vereint.  Uebrigens 
war  er  auch  mit  den  strengen  Kunstformen,  soweit  sie  sich  da- 
mals entwickelt  hatte^^  wohl  vertraut  und  gehört  zu  den  ersten 
Tonsetzem,  die  es  unternahmen,  vierstimmige  Singstücke  zu  com- 
poniren.  Ein  neuerdings  aufgefundenes  Singspiel  von  seiner  Ar- 
beit „Robin  und  Marion",  dessen  Inhalt  die  naive  Schilderung 
einer  ländlichen  Liebesintrigue  bildet,  wurde  1282  am  Hofe  Ro- 
bert's  n.  von  Artois  zu  Neapel  aufgeführt  und  ist  demnach  die 
älteste  Probe  dramatischer  Kunst  in  Frankreich,  weshalb  denn 
auch  Adam  de  la  Haie  von  der  französischen  Literatui-geschichte 
mit  Recht  als  Begründer  der  komischen  Oper  bezeichnet  wird.*) 
Dieselbe  Geistesströmung,  die  bei  den  romanischen  Völkern 
die  Kunst  der  Troubadours  in's  Leben  gerufen,  äusserte  sich  bei 
den  in  Deutschland  unvermischt  gebliebenen  Germanen  im  Minne - 


*)  Das  Singspiel  „Robin  und  Marion"  wurde  1822  zu  Paris  nach  zwei 
in  der  dortigen  Bibliothek  befindlichen  Handschriften  für  die  Mitglieder 
der  pariser  Gesellschaft  der  Bücherfreunde  herausgegeben  und  zwar  in  der 
Gestalt  des  Originals,  mit  der  inzwischen  an  Stelle  der  Neumen  getretenen 
quadratischen  Note,  derselben,  welche  auch  von  den  gleichzeitigen  französi- 
schen und  spanischen  Troubadours  gebraucht  wird,  und  z.  B.  in  folgen- 
dem Bruchstück  einer  spanischen  Handschrift  des  13.  Jahrhunderts  erscheint: 


t 


♦ 


n^  M)$x<^<0x^x<tnhtjx^ 


± 


t==i 


^ 


^ertt^ötm^b^Oicn  cnaaw  fie 


Die  erste  Aufführung  des  Singspiels  ist  dem  pariser  Musikhistoriker, 
Fürst  de  la  Moskowa  zu  danken,  der  es  nebst  einer  erläuternden  Notiz  von 
Botte  de  Toulmon  in  das  Programm  eines  am  3.  Juni  1846  von  ihm  ver- 
anstalteten Concerts  aufgenommen  hatte. 


IV.    Die  miisilzalisolie  Herrschaft  der  Niederländer.  43 

gesang.  Doch  imterscliied  sich  der  Minnesänger  vom  Troubadour 
dadurch,  dass  er  selbst  seine  Gesänge  vortrug  und  sie  mit  einem 
Instrumente  begleitete,  gewöhnlich  einer  kleinen  dreieckigen  Harfe, 
wie  solche  auf  alten  Handschriften  häufig  abgebildet  erscheint,  u,  a. 
auf  der  in  der  Münchener  Hof  bibliothek  befindlichen  von  Gott- 
fried's  von  Strassburg  „Tristan  und  Isolde"  aus  der  ersten  Hälfte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts.  Ferner  gehörten  die  Minnesänger 
nicht,  wie  die  Troubadom-s ,  ausschliesslich  dem  Ritterstande  an: 
von  den  beim  Sängerkrieg  auf  der  Wartburg  (1207)  unter 
dem  Landgrafen  Hermann  von  Thüringen  betheiligten  Sängern 
waren  Wolfram  von  Eschenbach,  Walter  von  der  Vogel- 
weide, Heinrich  Schreiber  und  Heinrich  von  Zwetzschin, 
wie  der  Clu'onist  sich  ausdrückt  „rittermessige  Mann"  Biterolf 
dagegen  einer  „von  des  Landgrafen  Hofgesinde"  und  Heinrich 
von  Oft  er  dingen  ein  Bürger  von  Eisenach.  Die  musikahsche 
Verschiedenheit  des  deutschen  Minnegesanges  vom  Gesang  der 
Troubadours  besteht  darin,  dass  dieser  den  Text  der  Melodie 
unterordnet,  während  bei  jenem  die  Dichtung  zur  Hauptsache 
wird  und  an  Stelle  der  liedmässigen  Melodie  die  recitireude  Weise 
des  Kircheugesanges  tritt. 

Dieses  Vorherrschen  des  poetischen  vor  dem  musikalischen 
Element  zeigt  sich  auch  in  den  Gesängen  der  Meistersinger, 
welche  die  Pflege  der  Kunst  übernahmen,  nachdem  dieselbe  von 
den  ritterlichen  Sängern  auf  die  Bürger  und  ehrsamen  Hand- 
werker übergegangen  war.  Nach  F.  H.  von  der  Hagen*)  sind 
unter  den  sogenannten  Tönen  der  Meistersinger  nicht  blos  die 
eigentlichen  Liedweisen,  sondern  auch  die  metrischen  Schemata 
zu  'verstehen,  mithin  beziehen  sie  sich  vorzugsweise  auf  die  Dich- 
tung. Ueber  die  innere  Einrichtung  dieser  zunftmässig  geordneten 
Sängergesellschaften  giebt  ausführlichen  Bericht  Wagens eil's  1G97 
in  Nürnberg  erschienene  Schrift  „Von  der  Meistersinger  hold- 
seligen Kunst"  und  in  unsern  Tagen  hat  Richard  Wagner  das 
Andenken  der  Meistersinger  in  seiner  gleichnamigen  Dichtung 
wiederum  aufgefrischt.  Dort  wird  man  zunächst  mit  der  Tabu- 
latur  bekannt  gemacht,  worunter  die  Gesammtheit  der  für  die 
Zunft  maassgebenden  Gesetze  zu  verstehen  ist.  Die  Mitglieder 
zerfallen  in  drei  Klassen:  Aver  die  verschiedenen  „Töne"  gelernt 
hat  ist  ein  „Sänger";  eine  höhere  Stufe,  den  Rang  eines  „Dich- 
ters" erreicht  derjenige,  welcher  einen  neuen,  zu  einem  der  Töne 

*)  Vgl.  F.  H.  .von  der  Hagen,   die  Minnesänger  und  Liederdichter  des 
13.,  14.  und  15.  Jahrhunderts.     Leipzig  1838.  Band  IV,  S.  853  ff. 


■44  JV.  Die  imasilialisclaie  Herrscliaft  der  Niederländer. 


passenden  Text  erfindet;  um  aber  die  Meisterwürde  zu  erlangen, 
dazu  bedarf  es  der  Vereinigung  beider  Fähigkeiten,  der  dich- 
terischen und  der  musikalischen: 

„Der  Dichter,  der  aus  eignem  Fleisse 
zu  Wort  und  Reimen,  die  er  erfand 
aus  Tönen  auch  fügt  eine  neue  Weise 
der  wird  als  Meistersinger  erkannt." 

Die  Gewissenhaftigkeit  und  der  Eifer,  welche  die  Zunftgenossen 
in  der  Beobachtung  ihrer  Gesetze  bewiesen,  kann  als  ein  er- 
freuliches Zeugniss  für  den  im  deutschen  Bürgerstande  vorhan- 
denen Kunstsinn  gelten,  wenn  auch  die  künstlerischen  Ergebnisse 
jener  Bestrebungen  nur  äusserst  geringen  Werth  haben.  Die 
Melodien  der  Meistersinger  waren  der  kirchlichen  Psalmodi« 
ähnlich,  eintönig  und  ausdruckslos,  wiewohl  man  sie  an  den  Ca- 
denzeinschnitten  mit  allerlei  Coloraturen  ausschmückte.  Zur  Poesie 
stand  ihre  Musik  in  so  gut  wie  gar  keiner  Beziehung;  in  der 
IRegel  bestimmte  nicht  der  Text  den  Ton,  sondern  umgekehrt, 
der  Ton  den  Text;  häufig  wurde  der  Ton  zuerst  gemacht  und, 
nachdem  er  für  fehlerfrei  erkannt  worden,  gab  man  dem  Erfinder 
auf,  über  einen  bestimmten  biblischen  oder  geistlichen  Stoff  einen 
Text  dazu  zu  machen.  Bei  der  hausbackenen  Art  dieser  Kunstpflege, 
die  sich  auch  in  den  bizarren,  den  Tonweisen  gegebenen  Namen 
äussert  —  es  gab  z.  B.  eine  „über-kurz  Abend-Böt-Weis"  eine 
„Schwarz-Dinten-Weis"  eine  „kurze  Affen-Weis"  eine  „abgeschie- 
dene Vielfrass-AVeis"  etc.  —  konnten  weder  Poesie  noch  Musik  son- 
derlich gedeihen.  Doch  sind  die  Meistersinger -Singschulen  ohne 
Frage  von  gutem  Einfluss  auf  die  Sittlichkeit  ihrer  Mitglieder  ge- 
wesen, und  wie  sehr  man  sich  auch  abgestossen  fühlt  durch 'die 
ihren  künstlerischen  Versuchen  anklebende  Pedanterie,  so  verdient 
doch  andererseits  das  Streben  dieser,  inmitten  aller  Noth  des 
Alltagslebens  nach  dem  Ideal  ringenden  bürgerlichen  Naturen  die 
wärmste  Anerkennung.  Diesen  Standpinikt  vertritt  auch  B.  Wagner 
wenn  er  seinen  Meistersinger  Hans  Sachs  (1495 — 1576)  auf  die 
Frage  „wer  Avar  es,  der  die  Regeln  schuf"  antworten  lässt: 

,,Das  waren  hochbedüi'ft'ge  Meister, 
von  Lebensmüh  bedrängte  Geister: 
in  ihrer  Nöthen  AVildniss 
sie  schufen  sich  ein  Bildniss, 
dass  ihnen  bliebe 
der  Jugendliebe 
ein  Angedenken  klar  und  fest, 
dran  sich  der  Lenz  erkennen  lässt." 


IV.  Die  iiiusikalisclie  üerrscbait  der  INieölerlaiider. 


45 


Die  Schuleu  der  Meistersinger  verfielen  nach  dem  di'eissig- 
jährigen  Kriege  mekr  und  mein-;  nur  die  von  Nürnberg  und 
Strassburg  bewahi'ten  sich  noch  bis  zum  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts eine  gewisse  Bedeutung.  Seinen  eigentlichen  Abschluss 
fand  der  deutsche  Meistergesang  erst  1839,  als  die  letzten  noch 
lebenden  Mitglieder  der  Schule  zu  Ulm  dem  dortigen  Liederkranz 
ihre  Innungszeichen  übergaben  und  damit  ihi'e  Gesellschaft  auf- 
lösten. —  Mittelbar  haben  die  Meistersinger  die  Tonkunst  ihrer 
Zeit  noch  insofern  gefördert,  als  sich  nach  ihrem  Beispiel  auch 
die  Instmmentalmusiker  zu  zunftmässig  geordneten  Genossenschaften 
vereinten,  das  vagabondirende  Leben,  welches  sie  bis  dahin  als 
..fahrende  Leute''  geführt,  aufgaben  und  festen  Wohnsitz  in  den 
Städten  nahmen.  So  entstand  schon  1288  in  Wien  eine  Ver- 
einigung unter  dem  Namen  Nicolai-Bruderschaft  und  1330  in 
Paris  die  „Coufr^rie  de  S.Julien  des  M6n  es  frier  s"  (Minstrels), 
letztere  unter  einem  Vorsteher  mit  dem  Titel  „Geigerkönig"  (roi 
des  ■violons),  dessen  Herrschaft  erst  im  siebzehnten  Jahi'himdert 
dui'ch  Ludwig  XIV.  ein  Ende  gemacht  Avurde,  nachdem  der  letzte, 
Dumanoirll.,  sich  die  Jurisdiction  über  alle  Musiker  von  Paris, 
die  Organisten  nicht  ausgenommen,  angemasst  und  dadurch  selbst 
seinen  Sturz  herbeigeführt  hatte. 

Neben  dem  Minne-  und  Meistergesang,  aber  unabhängig  von 
diesen,  hatte  sich  in  den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters 
das  Volkslied  entwickelt.  Die  sogenannte  Limburger  Chi'onik, 
vertasst  vomSchreiber  Johannes  (1317  — 1402),  enthält  die  frühesten 
]Mittheiluugen  über  die  Beschafi'enheit  der  Volksgesänge  und  der 
gleichzeitigen  Instrumentalmusik  (des  „Pfeifenspiels"  wie  sie  sich 
ausdrückt),  leider  aber,  keine  Musikbeispiele;  diese  finden  sich 
dafür  zahh-eich  in  einer  im  fünfzehnten  Jahrhundert  verfassten 
Handschrift,  nach  ihrem  Entstehungsort  das  .,Lochheimer  Lieder- 
Inich"  genannt.*)  Die  hier  mitgetheilten  Melodien  sind  merk- 
würdig nicht  nur  durch  bedeutungsvolle  Tonfühiaing  und  feinge- 
gliederte Rhythmik,  sondern  auch  durch  die  Treue,  mit  welcher 
sie  den  Inhalt  des  Gedichtes  wiedergeben  und  dasjenige  zum  Aus- 
druck bringen,  was  das  Wort  allein  nicht  auszusprechen  vermag. 

AVenden  wir  uns  mm  zur  Kunstmusik  zurück,  so  sehen  wir 
abei-mals  ein  kirchlich-historisches  Ereigniss  in  den  Entwickelungs- 
gang  der  Tonkunst  eingreifen:  die  in  Folge  der  politischen  Zer- 
rissenheit Italiens  nothwendig  gewordene  Uebersiedelung  des  päpst- 

*)  Der  Titel  des  in  der  Bibliotliek  zu  AVemigerode  befindlichen  Manu- 
scriptes  trägt  die  Bemerkung  „AVolflein  von  Lochamen  ist  das  gesenngkpuch'". 


^Q  TV.  Die  niusikalisclie  Herrschaft  cler  Pfiederläiicler. 


liclien  Stuhles  von  Rom  nach  Avignon  (1305).  Hier,  iu  der 
sangesreiclieu  Provence,  musste  das  Bedürfuiss,  die  im  Laufe  der 
Zeiten  gemachten  musil^alisclien  Fortschritte  auch  in  der  Kirchen- 
musik zm'  Geltung  zu  bringen,  reiche  Nahrung  finden;  insbeson- 
dere wird  die  bis  dahin  nur  schüchtern  ausgeübte  Kunst  des 
Organisirens  nun  unter  dem  Namen  Discantus  (französisch  D6- 
chant,  Zwiegesang)  immer  freier  und  eifriger  von  den  Kirchen- 
sängern betrieben,  so  dass  nicht  selten  die  AVürde  des  Gottes- 
dienstes dadm'ch  gefährdet  erschien.  Vergebens  erliess  der  Papst 
Johann  XXII.  eine  Bulle  gegen  den  Gebrauch  melodiefremder 
Intervalle  beun  gregorianischen  Gesang  „mit  Ausnahme  einiger 
melodiöser  Consonanzen,  -wie  Octave,  Quinte  und  Quarte  über 
dem  einfachen  Kirchengesang  angebracht,  und  auch  diese  nur 
an  Festtagen."  Erst  um  IVIitte  des  vierzehnten  Jahrhunderts  gelangten 
die,  bereits  ein  Jahrhundert  zuvor  aufgestellten  Regeln  für  den  Dis- 
cantus auch  in  der  Praxis  zu  voller  Geltung,  Dank  hauptsächlich  der 
Wfrksamkeit  der  für  diese  Kunst  besonders  begabten  Nordfranzosen 
und  Niederländer  in  der  päpstlichen  Capelle,  und  damit  waren  dem 
IMissbrauche  des  Improvisirens  vorläufig  Schranken  gesetzt.  Aus 
dieser  Zeit  stammt  das  älteste  Beispiel  von  vierstinuniger  Kirchen- 
musik, eine  zur  Krönung  Karl's  V.  von  Frankreich  (1364).  componirte 
Messe  von  Wilhelm  von  Machaud,  der,  wie  schon  früher  Adam 
de  la  Haie,  den  Uebergang  bildet  vom  Troubadour  zum  eigent- 
lich geschulten  Musiker.  Von  den  einzelnen  Stimmen  eines  solchen 
^'ierstimmigen  Gesanges  hiess  diejenige,  welche  die  zu  Grunde 
liegende  Melodie  oder  Cantus  finnus,  dem  Gregorianischen  Ge- 
sänge entnommen,  vorzutragen  hatte,  Tenor  (vom  lateinischen 
teuere,  halten,  also  mit  dem  Accent  auf  der  ersten  Silbe  zu 
zu  sprechen).  Da  man  dieselbe  vorzugsweise  der  hellstklingenden 
Männerstimme  zutheilte,  so  hat  sich  der  Name  für  diese  bis  heute 
erhalten,  wiewohl  seine  lu'sprüngliche  Bedeutung  mit  der  späteren 
Entwickelung  der  mehrstimmigen  Musik  verschwinden  musste.  Die 
Gegenstimme,  der  Discantus  oder  Cantus,  A^^lrde  auch  Motetus 
genannt,  vom  französischen  mot,  Wort,  Spruch,  Motto,  weil  mau  für 
diese  Stimme  in  der  Regel  ein  dem  Volksgesänge  entnommenes 
Motiv  verwendete,  dessen  Text  zu  dem  der  Kirchenmelodie  in  Be- 
ziehung stand.  Die  dritte,  höchste  Stimme  hiess  Triplum  (woraus 
die  heutige  englische  Bezeichnung  T  r  e  b  1  e  für  die  Sopranstimme  eines 
Aierstinmiigen  Gesanges  entstanden  ist)  und  die  vierte  eingeschobene 
Stimme  Quadruplum.  Für  die  beiden  letzteren  Stimmen  kommen 
indessen  auch  die  Namen  Super  ins  und  Contratenor  vor. 


I"V.  Die  musiUalisclxe  Herrscliaft  der  Nierlerläiider.  4T 

Bereits  früher  war  bei  den  päpstlichen  Sängern  eine  Form 
des  dreistimmigen  Gesanges  unter  dem  Namen  Faux-Bourdon 
(wörtlich  „falscher  Bass")  in  Aufnahme  gekommen,  Avelche  der 
Mailänder  Theoretiker  Franchinus  Gafor  (gest.  1522)  mit  den 
Worten  beschreibt:  „Wenn  der  Tenor  und  der  Cantus  in  einer 
oder  mehreren  Sexten  fortschreiten,  dann  wird  die  Mittelstimme, 
nämlich  der  Contratenor,  immer  unter  dem  Cantus  die  Quarte 
einhalten  und  gegen  den  Tenor  die  höhere  Terz".  Demnach  ist 
der  Faux-Bourdon  nichts  anderes,  als  eine  Reihe  von  Sextaccor- 
den,  und  wenn  auch  etwas  wohlklingender,  so  doch  nicht  weniger 
mechanisch,  als  das  Organum  des  Hucbald.  Für  seinen  Namen 
geben  die  Schriftsteller  des  Mittelalters  verschiedene  von  einander 
abweichende  Erklärungen;  wahrscheinlich  hat  die  Bezeichnung 
„falscher  Bass"  ursprünglich  der  Oberstimme  gegolten,  denn  wenn 
auch  die  Lehre  vom  Dreiklang  und  seinen  TJmkehrungen  den  Mu- 
sikern des  Mittelalters  unbekannt  war,  so  musste  doch  ihr  Gehöi- 
sie  überzeugen,  dass  die  Terz  ihrer  Natur  nach  ziu'  Führung  des 
Basses  ungeeignet  sei,  und  diese  eigentlich  der  Oberstimme  ge- 
bühre.*) —  Weitere  wichtige  Neuerungen  des  vierzehnten  Jahr- 
hunderts sind:  der  Gebrauch  der  Synkopen,  durch  welche  das 
Ohr  mit  den  bis  dahin  verpönt  gewesenen  Dissonanzen  vertraut 
wurde,  so  wie  der  Pausen  in  der  Hauptmelodie  (dem  Cantus 
firmus),  welche  den  doppelten  Zweck  erfüllten,  die  Eintönigkeit  der 
stets  wiederkehrenden  Kirchenmelodie  zu  mildern,  und  für  die 
Gegenstimmen  grössere  Freiheit  der  Bewegung  zu  gewinnen.  Wie 
sehr  aber  auch  die  Kunst  des  mehrstimmigen  Tonsatzes  durch  alles 
dieses  gefördert  wurde,  so  blieb  doch  daneben  noch  geraume  Zeit 
der  improvisirte  Contrapunkt  in  Gebrauch.   Dieser  sogenannte 


*)  Von  dem  oben  beschriebenen  Faux-Bourdon  durchaus  verschieden 
ist  die  noch  heute  in  der  kathoUschen  Kirche  übliche  Singweise  dieses 
Namens,  von  der  sich  u.  a.  in  dem  berühmten  Miserere  des  AUegri 
(gest.  1652)  ein  Beispiel  findet.  Sie  besteht  in  einem  regelrechten  vier- 
stimmigen Satze,  in  welchem  eine  Gregorianische  Melodie  von  drei  Stimmen 
nur  in  Consonanzen  und  in  Noten  von  gleichem  Werth,  also  ohne  eigent- 
liche Takteintheilung,  begleitet  wird.  Durch  diese  denkbar  einfachste 
Harmonisirung  wurde  der  Gregorianische  Gesang  um  ein  neues  Mittel  des 
Ausdruckes  bereichert,  ohne  seinen  Charakter  der  erhabenen  Einfachheit 
zu  verlieren.  Der  Vollständigkeit  wegen  sei  hier  noch  eine  dritte  Art  des 
Faux-Bourdon  erwähnt,  die  wiederum  nichts  mit  der  vorhergehenden  ge- 
mein hat,  nämlich  der  Vortrag  einer  Gregorianischen  Melodie  durch  den 
Orgelbass,  zu  welcher  ein  Sänger  einen  figurenreichen  Contrapunkt  im- 
provisirt. 


48  IV.    Die  mxxsiltalisclie  Herrschaft  der  ü^iederläuder. 

Contrapuuto  a  mente,  bei  welchem  nicht  nur  eine  sondern 
mehrere  den  Cantiis  firmus  begleitende  Stimmen  aus  dem  Stegreif 
gesungen  wurden,  mag  wohl  nur  ausnahmsweise  höheren  künst- 
lerischen Ansprüchen  genügt  haben,  wie  auch  die  wiederholt  gegen 
ihn  ausgesprochenen  scharfen  Urtheile  der  Musiksclu-iftsteller  be- 
weisen. Fanden  sich  jedoch  einmal  Säuger  zusammen,  die  be- 
gabt und  geübt  genug  waren  —  denn  auch  hier  mussten  bestimmte 
Regeln  gekannt  und  beobachtet  werden  —  um  eine  kunstgerechte 
Polyphonie  zu  Gehör  zu  bringen,  so  erscheinen  freilich  die 
Leistungen  dieser  Contrapunktisten  „a  meute"  ungleich  achtungs- 
werther  als  die  der  ausübenden  Künstler  unserer  Zeit,  welche 
gewöhnt  sind,  sich  nicht  allein  die  Noten,  sondern  auch  die  Ver- 
zierungen und  Nuancen  des  vorzutragenden  Musikstückes  vom 
Componisten  vorschi-eiben  zu  lassen,  wobei  von  einer  Reproduction 
im  höheren  Sinne  des  Wortes  natüi'Hch  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Die  nun  folgende,  mit  der  Zurückverlegung  des  päpstlichen 
Stuhles  nach  Rom  (1376)  beginnende  Periode  der  niederländischen 
Contrapunktisten  eröffnet  Wilhelm  Dufay  aus  der  belgischen 
Provinz  Hennegau,  welcher,  vermuthlich  mit  vielen  seiner  Lands- 
leute, dem  Papste  von  Avignon  aus  gefolgt  war,  und  in  einem 
Verzeichniss  der  Sänger  an  der  päpstlichen  Capelle  in  Rom  vom 
Jahre  1380  figurirt.  Er  ist  der  erste  von  allen  mittelalterlichen 
Tonsetzern,  dessen  Arbeiten  wirklichen  Stil  zeigen.  Bei  ihm 
zuerst  erscheinen  die  Pausen  auch  in  den  Mittelstimmen,  wodurch 
Melodie  und  Stimmführung  eine  gewisse  Selbständigkeit  gewinnen; 
die  bei  Machaud  nur  erst  schüchtern  auftretenden  Nachahmungen 
gestalten  sich  bei  ihm  zum  Canon,  damals  Fuga  genannt  — 
vom  lateinischen  fuga  (Flucht)  „weil  eine  Stimme  vor  der  an- 
dern gleichsam  wegfliehet  und  auf  solcher  Flucht  auf  eine  ange- 
nehme Art  verfolget  wird"  wie  der  Hamburger  Musikschriftsteller 
Mattheson  sagt  —  während  man  unter  „Canon"  eine  Richtschnur 
für  den  Sänger,  die  Summe  der  Regeln  zur  Entzifferung  der 
immer  verwickelter  werdenden  Mensural -Notenschrift  verstand. 
Der  Ursprung  der  bei  den  niederländischen  Tonsetzern  beliebten 
Notirungskünste  ist  darin  zu  suchen,  dass  man  die  neuerrungene 
Kunst  des  Contrapunkts  vorwiegend  als  ein  Mittel  ansah,  um  den 
Scharfsinn  des  Componisten ,  sowie  des  Ausführenden  zu  üben. 
Zimächst  gaben  die  canonischen  Nachahmungen  Veranlassung, 
die  Noten  durch  Zeichen  zu  ersetzen;  beim  einfachen  Canon  lag 
es  nahe  genug,  sich  mit  Notirung  nur  einer  Stimme  zu  begnügen, 
und  den  Eintritt  der  übrigen  Stimmen   durch   ein  Zeichen  anzu- 


rv.    Die   musilialiscUe  Herrschaft  der  J^ieclerländer.  49 

deuten;  neue  Zeichen  wurden  nothwendig,  als  man  anfing,  die 
nachahmende  Stimme  in  einem  andern  Intervall  als  die  erste  be- 
ginnen zu  lassen;  ferner  beim  Canon  „per  augmeutationem"  und 
„per  diminutionem",  wo  die  Töne  von  der  zweiten  Stimme  doppelt 
oder  halb  so  lang  gesungen  werden  mussten,  wie  Aon  der  ersten. 
Endlich  gebot  man  über  eine  solche  Menge,  nicht  eigenthch  zur 
Tonschi-ift  gehöriger  Zeichen,  dass  man  eine  Composition  für 
mehrere,  selbst  gleichzeitig  eintretende  Stimmen  mit  nur  einer 
Notenreihe  zu  notiren  unternehmen  konnte  und  es  d'em  Schart- 
sinn der  Ausführenden  überliess,  aus  den  hinzugefügten  Zeichen 
die  Absicht  des  Tonsetzers  zu  enträthseln.*) 

Auf  die  Textesworte  wurde  von  den  niederländischen  Ton- 
setzern, in  ihrem  einseitigen  contrapunktischen  Eifer  so  gut  wie 
gar  keine  Rücksicht  genommen;  man  begnügte  sich  z.  B.  in  einer 
Messe  die  Anfangsworte  hinzuschreiben,  und  es  blieb  dem  Sänger 
überlassen,  im  weiteren  Verlaufe  des  Musikstückes  Silben  und 
Töne  so  gut  es  ihm  möglich  war,  in  Uebereinstimmung  zu  bringen. 
Damit  steht  im  Zusammenhang  die  schon  S,  46  angedeutete  Grewohn- 
heit  der  mittelalterlichen  Vocalcomponisten,  in  einem  Musikstücke 
zwei  verschiedene  Texte  geistlichen  und  weltUchen  Inhaltes  gleich- 
zeitig zu  Gehör  zu  bringen.  Der  Ursprung  dieser  Praxis  ist  leicht 
nachzuweisen.  Zunächst  hatten  sich  die  Componisten  veranlasst 
gesehen,  um  ihre  ganze  Kraft  der  Ausbildung  des  noch  unent- 
wickelten mehrstimmigen  Satzes  zuzuwenden,  auf  die  Ei-findung 
eigener  Themen  zu  verzichten  und  ihren  Musikstücken,  in  der 
Hauptstimnie  sowohl  wie  in  der  Gegenstimme,  lediglich  schon 
vorhandene  Melodien  zu  Giimde  zu  legen;  neben  dem  gi-egoriani- 
schen  Cantus  firmus  als  Gegenstimme  eine  zweite  Kirchenmelodie 
zu  benutzen,  war  aber  deshalb  bedenklich,  weil  die  Kirche  für 
jede  festhche  Veranlassung  eine  bestimmte  Melodie  vorgeschrieben 
hatte,  und  durch  gleichzeitige  Benutzung  eines  anderen  Kirchen- 
gesanges die  Reihenfolge  gestört  worden  wäre.  So  kam  es,  da^s 
man    für    jede    Art   geistlicher    Compositionen    vorzugsweise    die 


*)  Au  Stelle  der  Zeichen  traten  auch  bisweilen  mysteriöse  Sprüche,  wie 
„Qui  seijuitur  me  non  ambulat  in  tenebris'"  (wer  mir  folgt  wandelt  nicht  in 
Finsterniss),  womit  die  zweite  Stimme  angewiesen  war,  die  schwarzen  Xoten 
der  ersten  zu  überschlagen.  Dass  man  unter  Umständen  auch  diese  Hülfs- 
mittel  verschmähte,  beweist  ein  ., Kyrie'"  des  von  seinen  Zeitgenossen  hoch- 
gefeierten Ockenheim,  welches  nur  mit  einem  Fragezeichen  versehen  ist, 
und  dem  Sänger  nicht  nur  den  Eintritt  der  nachfolgenden  Stimmen,  sondern 
auch  Takt,  Schlüssel  und  Tonart  zu  errathen  aufgiebt. 

Langhaus,  Musikgescbichte.    2.  Aufl.  4 


50  TV.    I>ie  lyi  11311131180116  Herrschaft  der  T<"ieclerläii<ier. 

Melodie  eines  Volksliedes  zur  Gegenstimme  benutzte.  Wenn 
dann  auch  der  Text  desselben  unberührt  gelassen  wurde,  so  lag 
der  Grund  dafür  lediglich  in  der  schon  erwähnten  Sorglosigkeit 
der  Tonsetzer  bezügUch  der  Textesworte  im  allgemeinen.  Der 
Vorwurf  der  Frivolität  kann  sie  ^vegen  einer  derartigen  Ver- 
mischung des  Geistlichen  und  Weltlichen  so  wenig  treffen, 
Avie  etwa  die  Maler  des  14.  und  15.  Jahrhunderts,  welche  in 
unmittelbarer  Nähe  der  Mutter  Gottes  mit  dem  Jesuskinde  die 
Familie  des  Stifters  im  Costüm  ihrer  Zeit  darstellten;  es  lag  eben 
im  Geiste  des  Zeitalters,  dass  das  Heilige  durch  die  Nachbar- 
schaft des  WeltUchen  nicht  profanirt,  sondern  umgekehrt,  dieses 
durch  jenes  gehoben  und  veredelt  Avurde. 

.  Ein  zweites  Entwickelungsstadium  erreicht  die  Kunst  der 
Niederländer  mit  Ockenheim,  geb.  1430  zu  Termonde  in  Flan- 
dern, der  mit  Recht  als  der  Vater  des  Contrapunktes  gilt;  der 
Canon  gewinnt  bei  ihm  an  Ausdehnung  und  Bedeutung,  er 
erscheint  nicht  nur  im  Einklang  und  in  der  Octave,  sondern  auch 
in  der  Quinte  und  Quarte.  Allerdings  ist  Ockenheim  es  auch 
gewesen,  der  die  contrapunktischen  Künsteleien  auf  die  Spitze 
trieb;  wenn  daher  in  den  meisten  seiner  Werke  die  Mühseligkeit 
des  Schaffens  noch  in  peinlicher  Weise  hervortritt,  wie  u.  a.  in 
einer  Motette  für  sechsunddreissig  Stimmen  —  von  denen  vennuth- 
lich  nur  sechs  oder  neun  Stimmen  notirt  waren,  deren  jede  sich 
als  Canon  von  sechs  oder  vier  Stimmen  gestaltete,  die  schHess- 
lich  zusammen  gesungen  werden  konnten  —  so  merkt  man  doch 
schon  bei  ihm,  so  oft  er  sich  vom  Zwange  der  Polyphonie  frei 
fühlt,  eine  dem  Tonsatz  zu  Grunde  liegende  sinnige  Absicht  und 
ein  Streben  nach  ausdrucksvoller  Melodie. 

Den  Höhepunkt  der  Leistungsfähigkeit  des  niederländischen 
Contrapunktes  bezeichnet  Josquin  des  Prfes,  geb.  1450  zu 
Cond6  im  nördhchen  Frankreich.  Von  seinen  Vorgängern  unter- 
scheidet er  sich  wesentlich  durch  die  Kühnheit  und  Leichtigkeit 
seines  Schaffens;  er  ist  der  erste  in  der  langen  B/Cihe  der  nieder- 
ländischen Meister,  in  dessen  Werken  wahre  Genialität  zum  Vor- 
schein kommt.  Mit  den  bestehenden  Regeln  nahm  er  es  nicht 
eben  genau,  wie  sein  Schüler  Co  diu  s  berichtet,  wiewohl  er 
gründlich  mit  ihnen  vertraut  war  und  beim  Unterricht  streng  aut 
ihre  Beobachtung  hielt.  Als  schaffender  Musiker  freihch  hat  er 
von  dem  Rechte  des  Genius,  sich  selbst  Regeln  zu  geben,  unum- 
schränkten Gebrauch  gemacht,  und  bei  seiner  völligen  Beherr- 
schung   der  Formen   war   sein   künstlerischer  Freiheitsdrang  ein 


IV.    Die  mvisikalisclie  Herrscliaft  der  Nieclerlancler.  51 

durchaus  berechtigter.  Diese  Meinung  spricht  auch  Luther, 
der  zu  seinen  eifrigsten  Verehrern  gehörte,  mit  den  Worten  aus: 
„Josquin  ist  ein  Meister  der  Xoten;  diese  haben  thuu  müssen, 
wie  er  gewollt,  andere  Componisten  müssen  thun  wie  die  Noten 
wollen"  und  von  seinen  Compositionen  sagt  er  „sie  seien  fröh- 
lich, willig,  milde  und  lieblich,  nicht  gez^vungen  noch  genöthigt 
und  nicht  an  die  Regel  stracks  und  schnurgleich  gebunden,  son- 
dern frei  wie  des  Finken  Gesang."  Zwar  ist  die  der  nieder- 
ländischen Schule  anhaftende  Pedanterie  auch  bei  ihm  noch 
keineswegs  völlig  überwunden,  und  Avenn  er  z.  B.  den  Stammbaum 
Christi  zwei  Mal  in  Musik  setzt,  einmal  nach  dem  Evangelium 
des  Matthäus,  einmal  nach  dem  des  Lucas,  so  kann  dabei  von 
einem  genialen  Aufschwung  selbstverständhch  nicht  die  Rede  sein. 
Bei  anderen  Gelegenheiten  aber,  imd  selbst  dann,  wenn  er  nach  der 
Art  seiner  Zeit  noch  verschiedene  Weisen  und  Texte  in  demselben 
Musikstück  vereint,  zeigt  der  ausdrucksvolle,  der  Dichtung  sich 
anschmiegende  Tonsatz  deutlich,  wie  weit  er  sich  über  seine  Vor- 
gänger erhebt,  Uebrigens  ist  bei  ihm  und  seiner  Schule  schon 
das  Streben  bemerkbar,  in  solchen  Fällen  wenigstens  Texte 
gleichartigen  Inhalts  zu  verwenden,  wie  z.  B.  in  seinem  Trauer- 
gesang auf  den  Tod  seines  Lehrers  Ockenheim  „La  deploration 
de  Jehan  Ockenheim"  (mitgetheilt  in  Forkel's  Geschichte  der 
Musik  II  S.  542)  wo  zu  dem  „Requiem  aeternam"  des  Tenors 
vier  begleitende  Stimmen  in  den  Lauten  der  Muttersprache  die  Klage 
ertönen  lassen: 

„Nymplies  des  bois,  deesses  des  fontaines 
Chantres  experts  de  toutes  nations, 
Changez  vos  voix  fort  claires  et  liautaines 
En  cris  tranchantz  et  lamentations." 

Hinsichts  der  Stellung  von  Josquin's  Musik  zur  Poesie  ist  noch 
bemerkenswerth,  dass  er  zuerst  neben  dem  musikalischen  auch 
den  ästhetischen  Werth  der  Dissonanz  erkannt  hat  und  sie  mit 
Bewusstsein  und  Absicht  zum  Ausdruck  leidenschaftlicher  Empfin- 
dungen verwendet. 

Von  dem  Zeitpunkt  an,  wo  man  es  als  die  Aufgabe  des 
Componisten  erkannt  hatte,  nicht  blos  künstliche  Toncombinationen, 
sondern  auch  ausdrucksvolle  Melodien  zu  erfinden,  ist  die  musi- 
kalische Mission  der  Niederländer  beendet.  Hatten  die  übrigen 
Nationen  die  Ausbildung  des  Contrapunktes,  in  der  richtigen  Er- 
kenntniss  ihrer  geringeren  Befähigung  dafür,  jenen  allein  über- 
lassen, ihnen  auch  alle  musikalischen  Ehrenstellen  in  den  Haupt- 

4- 


52  IV.    Die  iiiusikEÜiscIie  iEIerrschaft  der  Niederländer. 

Städten  Europa's  während  anderthalb  Jahrhunderte  willig  einge- 
räumt, so  betreten  sie  jetzt  aufs  neue  den  musikalischen  Schauplatz, 
in  erster  Reihe  die  Italiener,  denen  es  bald  gelingt,  die  Hegemonie 
auf  dem  Gebiete  der  Tonkunst  für  sich  zu  erringen.  Die  Fort- 
schritte, welche  in  Italien  um  eben  diese  Zeit  in  der  Kunst  der 
Vervielfältigung  von  Musikalien  gemacht  waren,  wirkten  ebenfalls 
zum  Aufschwünge  des  musikalischen  Lebens  der  Halbinsel  in 
bemerkenswerther  Weise  mit.  Bereits  zu  Lebzeiten  Josquin's 
hatte  Ottaviano  dei  Petrucci,  nach  seinem  Geburtsort,  einem 
Städtchen  im  Kirchenstaat  da  Fossombrone  genannt,  den 
Notendi'uck  vermittelst  beweglicher  Metalltypen  erfunden.  Bis 
dahin  hatte  man  sich  mit  den  plumpen,  seit  Erfindung  der  Buch- 
druckerkunst (1140)  aufgekommenen  Holzschnitt-Noten  begnügen 
müssen,  oder,  wenn  es  sich  um  elegante  Ausstattung  handelte, 
jene  noch  heute  bewunderten  künstlerisch  geschmückten  Ab- 
schiiften  anfertigen  lassen,  deren  Anschaffung  sich  nur  fürstliche 
Personen  oder  kirchliche  Körperschaften  erlauben  diu'ften;  selbst- 
verständlich beschränkte  man  sich  in  diesem  Falle  auf  ein  Exemplar, 
welches  von  einer  grösseren  Zahl  von  Sängern  gleichzeitig  be- 
nutzt werden  musste,  wodurch,  ungeachtet  der  Grösse  und  Deut- 
lichkeit der  Schrift,  die  correcte  Ausführung  erschwert  wurde, 
namentlich  der  mehrstimmigen  Musik,  wiewohl  hier  die  Stimmen 
nicht  nach  Art  unserer  Partituren  unter  einander,  sondern  jede 
für  sich,  auf  der  ganzen  Fläche  des  Buches  nebeneinander  stehend 
notirt  wurden.  Petrucci's  Ausgaben,  deren  erste,  eine  Sammlung 
von  96  drei-  und  vierstimmigen  Gesängen  von  niederländischen 
Tonsetzern  im  Jahre  1501  erschien,  schafften  für  alle  diese  Uebel- 
stände  Abhülfe.  Seine  Drucke  lassen  an  Schönheit  und  DeutUch- 
keit,  selbst  nach  heutigen  Ansprüchen  nichts  zu  wünschen  übrig, 
und  es  ist  nur  zu  bedauern,  dass  die  von  ihm  veröffentlichten 
"Werke  nach  der  Sitte  jener  Zeit  nicht  in  Partitur,  sondern  nur 
in  einzelnen  Stimmheften  gedruckt  sind,  Aveil  der  Verlust  einzelner 
dieser  Hefte  in  vielen  Fällen  den  des  ganzen  Werkes  zur  Folge 
gehabt  hat. 

Die  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  zu  Gunsten  Italiens  sich 
vollziehende  Wandlung  der  musikalischen  Machtverhältnisse  könnte 
uns  befremdlich  erscheinen,  wenn  wir  uns  nicht  daran  erinnerten, 
dass  auch  vor  dieser  Zeit  die  künstlerische  Triebkraft  des  italieni- 
schen Bodens  keineswegs  geschlummert  hat.  Schon  ein  Jahr- 
hundert zuvor  war  hier  der  Geist  wach  geworden,  der  die  Mensch- 
heit trieb,  die  verlorene  Schöne  des  Alterthums  wieder  aufzusuchen 


X>ie  musikalisclie  KerrscUalt  der  .N'iederlaiider.  53 


und  sich  an  ihr  zu  neuen  künstlerischen  Thaten  zu  begeistern. 
Das  dichterische  Dreigestirn  Dante.  Petrarca  und  Boccaccio 
hatte  die  Morgenröthe  verkündet,  welche  die  lange  Xacht  des 
Mittelalters  nunmehr  aufzuhellen  begann.  Dante  zeigt  sich  von 
den  Anschauungen  der  scholastischen  Philosophie  noch  keineswegs 
befreit;  in  seiner  grossaiiigen  Dichtung  vom  Weltgericht  erscheint 
noch  die  christliche  Theologie  mit  der  antiken  Welt  vei-flochten, 
imd  indem  er  den  ganzen  Reichthum  seiner  Phantasie  aufbietet, 
um  ein  gewaltiges  Bild  der  alles  umfassenden,  alles  beherrschen- 
den Kirche  hinzustellen,  erinnert  er  einigermassen  an  jene  Musiker, 
welche  —  wie  S.  38  erwähnt  wurde  —  das  Tonsystem  mit  allen  seinen 
Einzelheiten  in  symbolisirende  Beziehung  zur  Kirche  brachten. 
Auf  ein  wichtiges  Hülfsmittel  zur  Erkenntniss  des  Alteithums 
musste  Dante  noch  verzichten:  die  griechische  Sprache  war  zu  seiner 
Zeit  —  er  starb  1321  —  so  gut  wie  verloren  gegangen,  und  er 
musste  sich  begnügen,  seinen  Sinn  für  poetische  Formen  an  den 
lateinischen  Dichtem,  besonders  Virgil,  zu  bilden.  Glücklicher 
als  er  hatte  Petrarca,  der  Sänger  der  Liebe,  während  seines 
Aufenthaltes  am  päpstlichen  Hofe  zu  Avignon  (1339)  Gelegenheit, 
durch  den  Untemcht  eines  dort  weilenden  Gelehi-ten  aus  Con- 
stantinopel  mit  der  griechischen  Sprache,  sowie  mit  den  Werken 
Plato's  bekannt  zu  werden.  Sein  Freund  Boccaccio  (gest.  1375) 
endlich  hatte  sich  die  Sprache  und  Wissenschaft  der  Griechen 
schon  in  der  Jugend  gründlich  angeeignet;  auf  seinen  Antrieb 
Avurde  in  Florenz  ein  Lehrstuhl  für  griechische  Sprache  und  Lite- 
ratur errichtet,  dessen  Inhaber,  Leontius  Pilatus  es  unternahm, 
der  studirenden  Jugend  zum  ersten  Mal  die  Dichtungen  Homer's 
und  die  Schriften  Plato's  zu  erklären.  Und  wie  weit  Boccaccio 
von  der  Scholastik  mit  ihrem  Glauben  an  die  allein  seligmachende 
Kraft  der  katholischen  Kirche  entfernt  war,  zeigt  u.  a,  die  in 
seinem  „Dekamerone"*)  enthaltene  (später  von  Lessing  in  seinem 
„Nathan"  reproducirte)  Erzählung  von  den  drei  Ringen,  welche  das 
Christenthum  als  eine  nicht  absolut,  sondern  nur  relativ  wahre 
Religion  mit  den  übrigen  Religionen  gleichstellt. 

Die  von  diesen  Männern  entzündete  Begeisterung  für  das 
Alterthum  wurde  mächtig  genährt  durch  die  grosse  Zahl  griechi- 
scher Gelehrter,  welche  nach  der  Eroberung  Constantinopels  durch 
die  Tüi'ken  (1453)  in  Italien  eine  Zuflucht  suchten  und  nicht  nur 

*)  Eine  Sammlung  von  hundert  Novellen,  deren  Titel  aus  dem  grie- 
chischen deka  ,.zehn"  und  hemera  „Tag"  zusammengesetzt  ist,  weil  ihre 
Erzählung  sich  auf  zehn  Tage  vertheilte. 


54;  IV".    Die  inxasilialisclie  Herrschaft  der  T^^ied.erlä^l<ier. 

am  kunstsinnigen  Hofe  des  Cosimo  von  Medici  in  Florenz,  son- 
dern auch  an  den  übrigen  Culturstätten  der  Halbinsel  mit  offenen 
Armen  empfangen  wurden.  Ihnen  dankte  Europa  die  völlige 
Erlösung  von  dem  geistigen  Drucke  des  Mittelalters,  das  endliche 
Erscheinen  des  Tages  der  Wiedergeburt,  des  auch  für  die  Förde- 
rung der  Tonkunst  so  wichtigen  Zeitalters  der  Renaissance; 
sie  waren  es,  an  welche  sich  Schiller  in  seinem  G-edichte  „Die 
Künstler"  mit  den  Worten  richtet: 

Vertrieben  von  Barbarenheeren, 
Entrisset  ihr  den  letzten  Opferbrand 
Des  Orients  entheiligten  Altären 
Und  brachtet  ihn  dem  Abendland. 

Da  stieg  der  schöne  Flüchtling  aus  dem  Osten, 
Der  junge  Tag  im  Westen  neu  empor, 
Und  auf  Hesperiens  Gefilden  sprossten 
Verjüngte  Blüthen  loniens  hervor. 

Die  schönere  Natur  warf  in  die  Seelen 
Sanft  spiegelnd  einen  schönen  Widerschein, 
Und  prangend  zog  in  die  geschmückten  Seelen 
Des  Lichtes  grosse  Göttin  ein. 


V. 
Luthers  ^Reformation  und  die  Renaissance; 


Die  cliu'ch  das  "Wiedererwachen  der  Theilnalime  für  das 
classische  Altertliiim  bewü-kte  Umwälzung  des  geistigen  Lebens 
in  Europa  berülute  das  musikalische  Gebiet  ungleich  später  als 
das  der  Dichtkimst  und  der  bildenden  Künste.  Die  Ursache 
dieser  Verspätung  liegt  zunächst  im  Mangel  einer  musikalischen 
Antike:  wähi'end  der  Dichter,  wie  auch  der  Maler,  der  Bildhauer 
und  der  Architekt  auf  Schritt  und  Tritt  den  Meisterwerken  üu-er 
Vorgänger  im  Alterthum  begegneten  und  in  ihnen  den  Antrieb 
und  die  Richtschnur  für  ihre  eigenen  Schöpfungen  fanden,  war 
dem  Musiker  der  immittelbare  Zusammenhang  mit  dem  Alter- 
thum versagt.  Die  wenigen  zu  jener  Zeit  aufgefundenen  Reste 
altgi'iechischer  Musik  konnten  von  dem  Wesen  und  der  Wii'kuug 
derselben  schlechterdings  keine  Vorstellung  geben,  so  dass  sich 
der  Componist  der  Renaissancezeit  lediglich  auf  seine  Phantasie 
angewiesen  sah  imd  an  der  naiven,  maassvollen  Schönheit  des 
classischen  x4.1tei-thums  im  besten  Falle  nur  mittelbar  füi-  seine 
Kunst  Antheil  nehmen  konnte.  Eine  zweite  Ursache  des  Zui'ück- 
bleibens  der  Musik  hinter  den  übrigen  Künsten  waren  die  äusseren 
Verhältnisse  Itahens,  jenes  eigenthümliche  Gemisch  von  Rohheit 
und  Cultur,  welches  gerade  die  Blüthezeit  der  Renaissance  kenn- 
zeichnet. In  Folge  der  unaufhörhchen  Kämpfe  zwischen  welt- 
licher und  geistlicher  Gewalt  hatte  sich  in  Italien  eine  starke, 
einheitliche  Regierung  und  ein  monarchisches  Emptinden  nicht 
bilden  können;  die  souveränen  Städte  und  die  kleinen  Füisten  waren 
genöthigt,  neben  ihi-en  wissenschaftlichen  imd  künstlerischen  Inter- 
essen, unausgesetzt  ilue  materielle  Sicherheit  im  Auge  zu  haben, 
und  bei  diesen  Verhältnissen  konnte  sich  gerade  hier  das  Mittel- 
alter mit  seinen  faustrechtlichen  Zuständen  länger  fortsetzen  als 
anderswo  in  Europa.    Das  Italien  der  Päpste  Julius  IL  und  Leo  X. 


OO  V,    Luther's  Reformation  uxid  die  Keiiaiss£uice. 

(1503 — 1513—1521)  zeigt  sich  zu  gleiclier  Zeit  hinter  der  übrigen 
AVeit  zui-ück  und  ihi'  voraus:  erst  eres  in  Bezug  auf  das  Grerech- 
tigkeitsgefühl.  die  Achtimg  vor  dem  Eigenthum  und  dem  Menschen- 
leben; letzteres  iu  Bezug  auf  den  Sinn  für  das  Schöne,  auf  die 
Reinheit  des  Geschmackes  und  die  künstlerische  Initiative. 

Wenn  nun  bei  der,  durch  äussere  Ungebimdenheit  Ijedingten 
Entwickehmg  des  menschhchen  Körpers  Sculptur  und  Malerei 
jenen  Höhepimkt  erreichen  konnten,  auf  welchem  wir  diese  Künste 
zur  Zeit  der  genannten  Päpste  in  den  "Werken  eines  Leonardo 
da  Vinci,  Raphael,  Michel  Angelo  sehen,  so  bheben  die 
Schöpfungen  der  Tonkünstler  von  diesen  Einflüssen  unberühi't. 
Zwar  zeigte  sich,  wie  wdi-  gesehen  haben,  bei  einzelnen  genialen 
Naturen,  z.  B.  bei  Josquin  des  Prfes,  das  Streben  nach  aus- 
drucksvollem Tonsatz  und  damit  das  Bedüi-fniss  nach  einer  Wieder- 
gebm't  auch  der  Musik,  im  grossen  und  ganzen  aber  verharrt  die 
musikalische  Welt  selbst  noch  nach  dem  Tode  dieses  Meisters 
(1521)  in  den  Banden  mittelalterlicher  Beschi-änktheit.  Auch  jetzt 
fähi't  die  Mehi'zahl  der  Componisten  fort,  den  melodischen  Aus- 
druck und  den  poetischen  Inhalt  der  Vocalmusik  zu  Gunsten  der 
contrapunktischen  Combinationen  zu  vernachlässigen,  und  noch  im 
Jahre  1549,  also  beinahe  ein  Jahrhundert  nach  dem  Beginn  der 
Renaissance  mit  Einwanderung  der  aus  Constantinopel  vertriebenen 
griechischen  Gelehi'ten,  konnte  ein  italienischer  Schriftsteller  über 
die  Leistungen  der  päpstlichen  Säuger  folgendes  Urtheil  fällen: 
„Sie  setzen  ihr  ganzes  Glück  und  ihr  ganzes  Verdienst  darein, 
dass  in  demselben  Augenbhck,  wo  der  eine  Sanctus  sagt,  der 
andere  Sabaoth  singt  und  ein  dritter  Gloria  tua,  und  dieser  Wirr- 
warr ist  dann  von  einigem  Geheul,  einigem  Gebrüll  und  KnmTcn 
begleitet,  welches  eher  dem  Geschrei  der  Katzen  im  Januar  gleicht, 
als  den  duftenden  Blimien  des  Maimonats*)". 

Um   die   Musik   von    der    einseitigen    Richtung    abzulenken, 


*)  Was  den  ersten  Theil  dieser  Kritik  betrifft,  die  nachlässige  Behand- 
lung der  Textesworte,  so  ist  die  Gegenwart  keineswegs  berechtigt,  auf  die 
oben  charakterisirte  Leistung  der  i)äpstlichen  Sänger  mit  Cxeringschätzung 
herabzusehen ;  ein  Seitenstück  dazu  findet  sich  in  einem  vielfach  geiiriesenen 
Werke  der  neuesten  Musikliteratur  und  zwar  auffallenderweise  bei  einem 
Componisten,  der  im  allgemeinen  bestrebt  v.'ar,  in  seiner  Vocalmusik  die 
Dichtung  rücksichtsvoller  zu  behandeln,  als  seine  Vorgänger:  bei  Robert 
Schumann.  Dieser  lässt  im  dritten  Theil  seiner  Faustmusik  die  drei 
Büsserinnen  gleichzeitig  syllabisch  verschiedene  Textesworte  singen,  wobei 
natürlicherweise  von  einem  Verständuiss  derselben  schlechterdings  nicht  die 
Rede  sein  kann. 


V".    X^uth.er'8  Reformation,  und  die  Kenaisaaiice.  5  l 


welche  ihr  durch  die  niederländischen  Contrapunktisten  gegeben  war, 
um  sie  edleren  und  höheren  Zielen  entgegenzuführen,  dazu  bedurfte 
es  eines  noch  stärkeren  Impulses,  als  ihn  der  in  Italien  erwachte 
Kunstgeist  zu  geben  vennocht  hatte.  Erst  dem  Wittenberger 
Augustinennönch  und  späteren  Professor  Dr.  Martin  Luther 
sollte  es  gelingen,  wie  auf  rehgiösem,  so  auch  auf  musilcalischem 
Gebiete  die  Bollwerke  mittelalterlicher  Zwingherrschaft  zu  brechen 
und  die  Befi'eiung  dei'  Geister  herbeizuführen.  Durch  Luther's 
Reformation  wurde  zunächst  der  Bann  gehoben,  der  seit  dem 
Concil  von  Laodicea  auf  der  Ku-chenmusik  ruhte,  seit  der  damals 
erlassenen  Verordnung,  welche  den  Gesang  beim  Gottesdienst 
ausschüesslich  den  dazu  bestellten  Sängern  überwiesen  hatte.  Denn 
wie  der  Protestantismus  im  Gegensatz  zum  Kathohcismus  die 
geistige  Selbständigkeit  des  Individuums  als  sein  eigenthches  Ziel 
verfolgte,  so  betrachtete  sein  Stifter  auch  den  Gesang  der  Ge- 
meinde als  wesenthche  Bedingung  des  Gottesdienstes  und  als  ein 
wirksames  Mittel  zur  Erweckung  einer  selbständig  religiösen  Empfin- 
dungsweise. Deingemäss  bemühte  sich  Luther  persönHch  und  mit 
allem  Eifer  um  Verbesserung  und  Veredlung  des  Gemeindegesanges 
in  seiner  Kirche,  und  bei  seiner  hohen  musikahschen  Begabimg 
konnte  er  selbst  die  Wege  zeigen,  auf  welchen  dieses  Ziel  am 
schnellsten  zu  eiTeichen  war.  In  der  richtigen  Erkenntniss  des 
Guten,  was  der  Katholicismus  für  die  Musik  geschafien,  wählte 
er  zunächst  aus  dem  altlateinischen  Kirchengesang  solche 
Melodien,  die  durch  rh}i:hmisches  Ebenmaass  an  die  Liedform 
erinnerten  und  deshalb  dem  Tonsinne  des  Volkes  besonders  zu- 
gänghch  waren,  wie  z.  B.  die  Hymne  des  hlg.  Ambro sius  „Veni 
redemptor  gentium"  —  in  Luther's  Uebertragung  „Nun  konmi 
der  Heiden  Heiland-';  unter  den  Sequenzen  die '  schon  S.  25 
erwähnte  des  Notker  Balbulus  „Media  \ita  in  morte  sumus" 
deutsch  „Mitten  wir  im  Leben  sind  von  dem  Tod  umfangen'-. 
Der  gi-egorianische  Choral  oder  cantus  planus  wiu'de  als  vöUig 
unrhythmisch  von  ihm  ausgeschlossen;  Luther  spricht  seine  Ab- 
neigung gegen  denselben  bei  Gelegenheit  einer  Lobrede  der  mehr- 
stimmigen Musik  mit  den  AVorten  aus:  „Wer  dazu  keine  Liebe 
hat,  der  muss  wahrlich  ein  grober  Klotz  sein,  der  nicht  werth  ist, 
dass  er  solche  liebhche  Musik,  sondern  das  wüste  Eselsgeschrei 
des  Chorals  oder  der  Hunde  oder  der  Säue  Gesang  höre*)."    Auch 

*)  Stellen  wir  diesem  harten  Urtlieil  des  Reformators  eine  Aeusserung 
seines  musikalischen  Mitarbeiters  Johann  Walther  gegenüber,  so  erscheint 
dasselbe  wesentlich  modificirt  und  mehr  gegen  die  mangelhafte  Ausführung 


"V.    Lutlier's  Reformation  und  die  Reutaäesance. 


die  lateinische  Sprache  wurde  von  ihm  für  einige  Gesänge  bei- 
behalten „zur  Uebung  der  Jugend  und  für  die  Gelärten,  während 
das  Deutsche  für  den  gemeinen  Haufen  am  nützHchsten  ist." 

Als  zweite  Quelle  zur  Refonn  des  Gemeiudegesanges  benutzte 
Luther  den  reichen  Vorrath  deutscher  geistlicher  Lieder, 
welche  schon  lange  vor  der  Reformation  als  Bestandtheil  der 
Liturgie  mit  dem  gregorianischen  Gesang  gewechselt  hatten;  haupt- 
sächhch  die  im.  13.  Jahrhundeit  als  eine  'Art  geisthchen  Minne- 
dienstes gesungenen,  an  die  heilige  Jungfrau  gerichteten  Marien- 
lieder, nachdem  die  Texte  derselben  eine  auf  Chi'istus  bezüg- 
hche  Abänderung  erfahren  hatten.  Noch  reichere  Ausbeute  aber 
liefei-te  ihm  eiue  dritte  Quelle:  der  weltliche  Volksgesang, 
wobei  selbstverständHch  nur  die  Musik  in  Betracht  kam.  An  die 
Benutzimg  welthcher  Liedmotive  zu  kirchlichen  Gesängen  war 
man  von  der  Zeit  der  niederländischen  Contrapunktisten  her  ge- 
wöhnt, und  es  lag  deshalb  doppelt  nahe,  dent  Mangel  an  pro- 
testantischen Kai'chenmelodien  auf  diese  Weise  abzuhelfen.  So 
wm'de  die  Melodie  von  Heinrich  Isaak's  Wanderbiu'schenlied 
„Innspruck,  ich  muss  dich  lassen"  zu  dem  Choral  „O  AVeit,  ich 
muss  chch  lassen''  benutzt;  später  wm'de  aus  Hans  Leo  Hasler 's 
.,Mein  Gemüth  ist  mn-  verwirret,  das  macht  ein  Mägdlein  zart" 
., Befiehl  du  deine  Wege";  die  Melodie  „Wie  schön  leuchtet  der 
Morgenstern"  hatte  m'sprünghch  den  Text  „Wie  hell  leuchten  die 
Aeuglein  der  Schönen  und  der  Zarten  mein"  und  den  Choral 
..Von  Gott  will  ich  nicht  lassen"  sang  man  nach  der  Melodie 
..Ich  ging  einmal  spazieren"*).  Dieses  Hinübernehmen  weltlicher 
Lieder  in  die  Kh-che  erregte  zwar  bei  den  strengeren  Theologen 


des  Chorals  als  gegeu  diesen  selbst  gerichtet:  ,,Zum  dritten  so  weiss  und 
zeuge  ich  wahi-hafftig"  lauten  die  „Verba  des  alten  Johan  Walthers"  bei 
Praetorins  (SjTitagnia  I.  451)  „dass  der  heilige  Mann  Gottes  Lutherns,  wel- 
cher Deutscher  Nation  Prophet  und  Apostel  gewest,  zu  der  Musica  im 
Choral  und  Figural-Gesaug  grosse  Lust  hatte,  mit  welchem  ich  gar 
manche  liebe  Stunde  gesungen,  und  oftmahls  gesehen,  wie  der  thewre  Mann 
vom  singen  so  lustig  und  fröhlich  im  Greiste  ward,  dass  er  des  singens  schier 
nicht  köndte  müde  und  satt  werden,  und  von  der  Musica  so  herrlich  zu 
reden  wüste'". 

*)  Aehuliche  Freiheiten  erlaubte  man  sich  in  Deutschland  bis  zum  Ende 
des  17.  Jahrhunderts.  Im  18.  Jahrhundert  ist  noch  Mozart 's  „In  diesen 
heiFgen  Hallen"  und  „Bei  Männern,  welche  Liebe  fülüen"  nach  entsprechen- 
der Textesänderung  unter  die  protestantischen  Kirchengesänge  aufgenommen. 
Noch  heute  singen  die  pariser  protestantischen  Gemeinden  ein  mit  den 
AV orten  ,,Dans  Tabime  de  misere"  beginnendes  Busslied  nach  der  Haydn'- 
schen  Melodie  „Gott  erhalte  Franz  den  Kaiser". 


"V.    Lxitlier's  Reformation  -uiid.  die  Renaissance.  59 

Anstoss;  sie  behaupteten  ,,AVas  der  Welt  und  dem  Satau  einmal 
gewidmet  ist,  lasse  man  heraus  aus  der  Kirche,  es  ärgert."'  Luther 
indessen  war  der  Meinung,  dass  Satan  kein  Musikfreund  sein 
könne  und  den  Protestanten  den  an  seinem  Eigenthum  begangenen 
Raub  nicht  nachtragen  werde ;  unerschüttert  in  seiner  Ueberzeugung, 
dass  eine  zum  Herzen  des  Volkes  sprechende  Musik  zu  der  vom 
Protestantismus  bezweckten  Vertiefung  und  Reinigung  der  Welt- 
anschauung in  reichem  Maasse  beitragen  müsse,  ging  er  ohne 
Zögern  an  die  Ausführung  seiner  musikaUschen  Reformpläne;  ob- 
wohl selbst  gi'ündlich  und  vielseitig  musikaHsch  gebildet,  ver- 
schmähte er  doch  nicht  den  Rath  und  die  Hülfe  der  Fachmänner 
bei  seinem  Werke:  er  berief  den  Torgauischen  (später  Dresdener) 
Capellmeister  Friedrich's  des  AVeisen,  Johann  Walther  zu  sich 
nach  Wittenberg,  und  in  gemeinsamer  Arbeit  mit  diesem,  sowie 
dem  Wittenberger  Sängermeister  Conrad  Rupff  entstand  1524 
das  erste  protestantische  Gesangbuch  unter  dem  Titel  „Geystlich 
Gesangbüchlein"  enthaltend  38  deutsche  und  5  lateinische  Ge- 
sänge, von  Walther  vierstimmig  gesetzt.  Bemerkenswerth  ist,  dass 
hier  die  Melodie  gelegenthch  in  der  Oberstimme  erscheint,  wäh- 
rend sie  bis  dahin  im  mehrstimmigen  Gesänge  stets  vom  Tenor 
gesungen  wurde.  Mit  der  Zeit  setzte  sich  die  Melodie  immer 
mehr  in  der  Oberstimme  fest;  in  der  letzten  Ausgabe  des  Gesang- 
buches (1551)  linden  sich  schon  fünfzig  derartig  componirte  Ge- 
sänge, während  die  erste  nur  zwei  aufweist. 

lieber  die  Art  der  Mitwirkung  Luther's  beim  Zustandekommen 
dieses  Gesangbuches  war  man  lange  Zeit  im  Unklaren,  indem  man 
ihn  als  Ei-finder  einer  grossen  Anzahl  der  darin  enthaltenen  Me- 
lodien bezeichnete,  während  er  nach  neuesten  Forschungen  nur 
für  die  Choralmelodien  „Ein'  feste  Burg  ist  unser  Gott'"  „Jesaias 
dem  Propheten  das  geschah*'  und  „Wir  glauben  all'  an  einen 
Gott"  die  Autorschaft  beanspruchen  darf.  Walther's  i^eusserung, 
„dass  Luther  alle  Noten  auf  den  Text  nach  dem  Accentus  (der 
kirchliche  Lesevortrag)  und  dem  Concentus  (die  wirkhche  Gesangs- 
melodie) meisterlich  und  wohl  gerichtet  habe**',  lässt  keineswegs 
darauf  schliesseu,  dass  er  sicli  gerade  als  Componist  beim  Zustande- 
kommen des  protestantischen  Kirchengesanges   betheiligt   habe*). 


*)  Ueberhaujit  sind  die  hierauf  Vjezüjilichen  Aussafren  der  Zeitgenossen 
schon  deshalb  ungeeignet  zur  Aufklärung  der  Frage,  weil  der  Bogritl"  „Com- 
ponist" damals  ein  anderer  war  als  heute;  wie  im  Mittelalter,  so  war  noch 
zu  Luther's  Zeit  die  Thätigkeit  des  Componisten  an  zwei  Personen  ver- 
theilt:    der  Erfinder  der  Melodie  war    nicht  zugleich  der,    welcher  dieselbe 


(50  ^'-    Lvitlier's  Relbrmatioii  und  die  Keixajssance. 


Uebrigens  ersclieiiit  diese  Frage  von  untergeordneter  Bedeutung, 
sobald  wir  uns  der  Verdienste  erinnern,  welche  sich  Luther  mittel- 
bar als  Schöpfer  der  neuhochdeutschen  Sprache  um  die 
Musik  erworben  hat;  seine  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  kann 
hier  nur  angedeutet  werden;  es  genüge  die  Bemerkung,  dass  ohne 
ihn  das  Hochdeutsche  wahrscheinlicherweise  das  Loos  des  Nieder- 
deutschen getheilt  hätte,  welches  bekanntlich  in  unserm  Yater- 
lande  nur  noch  als  Dialekt  fortlebt  und  in  England  unter  dem 
Einfluss  des  Lateinischen  seinen  Charakter  fast  ganz  eingebüsst 
hat.  Nur  auf  der,  ihr  von  Luther  angewiesenen  Bahn  konnte  sich 
die  hochdeutsche  Sprache  vor  dem  gleichen  Schicksal  bewahren, 
und,  was  den  Kirchengesang  anbetrifft,  den  Kampf  mit  der  latei- 
nischen siegreich  bestehen. 

Die  Wirkung  des  Luther'schen  Gemeindegesanges  bheb  nicht 
auf  die  protestantische  Kirche  allein  beschränkt;  auch  in  katho- 
lischen Kreisen  wurde  seine,  das  rehgiöse  Leben  fördernde  Kraft 
anerkannt,  imd  man  behauptete  sogar,  Luther's  Reform  verdanke 
ihren  Erfolg  mehr  dem  von  ihm  eingeführten  Gesänge,  als  seiner 
Lehre.  Drückender  als  zuvor  empfand  man  jetzt  die  Missbräuche, 
welche  sich  unter  der  HeiTschaft  des  niederländischen  Contra- 
punkts im  Kunstgesang  der  römischen  Kirche  eingeschhchen  und 
festgesetzt  hatten,  und  der  Unmuth  darüber  wurde  in  den  maass- 
gebenden  Kreisen  so  gross,  dass  die  beim  Concil  von  Trient 
(1545 — 1563)  versammelten  Cardinäle  ernstlich  die  Frage  erörter- 
ten, ob  nicht  die  mehrstimmige  oder  Figural-Musik  gänzhch  aus 
der  Kirche  zu  verbannen  sei,  da  sie  die  Würde  des  Gottesdienstes 
eher  beeinträchtige  als  fördere.  Inzwischen  aber  war  in  Pier 
Luigi  Sante,  nach  seiner  in  der  Nähe  Rom's  gelegenen  Geburts- 


kunstvoll auszugestalten  übernahm.  Der  Theoretiker  Glareanus  (so  ge- 
nannt nach  seinem  Greburtsort  Glarus)  sagt  in  seinem  1547  erschienenen 
Werke  „Dodekachordon",  dass  die  Gabe  des  einen,  des  Phonascus,  mit  der 
des  anderen,  des  Symphonetes,  wohl  auch  in  einer  Person  vereinigt  vor- 
kommen könne,  doch  würde  man  selten  in  dem  Sänger  oder  Erfinder  einer 
Weise  auch  zugleich  den  Setzer  finden,  der  sie  kunstvoll  zu  durchbilden 
verstünde.  Der  Gegenwart  mag  diese  künstlerische  Arbeitstheilung  als  eine 
beda,uerliche  Beschränktheit  erscheinen;  doch  sollte  man  nicht  vergessen, 
dass  bei  uns  eine  ähnliche  Theilung  der  künstlerischen  Arbeit  besteht,  in- 
dem der  Vocalcomponist  die  Dichtung  seiner  Texte  in  der  Regel  einem 
Andern  überlässt,  was  einem  zukünftigen  Geschlechte,  welches  möglicher- 
weise nach  dem  Vorgange  des  Alterthums  die  Functionen  des  Dichters  und 
des  Componisten  wiederum  in  einer  Person  vereint,  nicht  weniger  armselig 
erscheinen  könnte,  als  uns  jene  mittelalterliche  Praxis. 


V.    Lutlier's  Kefbrnaation.  viucl  die  Kerxaissauce.  61 

Stadt  Palestriua*)  genannt,  der  Meister  erschienen,  welcher  den 
Beweis  Heferu  sollte,  dass  auch  der  kunstA'ollste  Gesang  recht 
wohl  geeignet  sei.  die  Gemiitlier  zu  ergi'eifen  und  zu  erheben, 
sobald  er  die  Hauptbedinguugen  einer  wirkungsvollen  Vocalmusik, 
die  Verständlichkeit  der  Melodie  und  der  Textesworte,  richtig 
erfülle.  Diesen  Bedingungen  nun  Avar  Palestrina  schon  in  seinen 
1560  erschienenen  „Improperien"  (wörtlich  übersetzt  „Vorwürfe" 
niit  dem  Text :  „Was  habe  ich  dir  getlian,  mein  Volk,  oder  worin 
habe  ich  dich  betrübt?  Antworte  mir!"  etc.)  gerecht  geworden, 
einer  Composition,  deren  bei  aller  Einfachheit  edler  und  bedeut- 
samer Stil  solche  Bewundenmg  eiTCgte,  dass  Papst  Pius  IV.  ihre 
Aufnahme  unter  die  ziu*  Osterfeier  in  der  Sixtinischen  Capelle  be- 
stimmten Musikstücke  befahl.  In  Folge  dessen  auf  Palestrina 
aufmerksam  gemacht,  beschloss  die  zur  Befonn  des  kathohschen 
Kii'chengesanges  eingesetzte  Behörde  noch  einen  letzten  Versuch 
zu  wagen,  und  beauftragte  ihn,  eine  Composition  zu  hefem,  deren 
Erfolg  über  das  Fortbestehen  der  Figiu-al-Musik  in  der  Kü-che 
entscheiden  solle.  Die  bei  diesem  Anlass  entstandenen,  später 
dem  König  PhiHpp  II.  von  Spanien  gewidmeten  drei  Messen  aber, 
besonders  die  dritte,  welche  der  Künstler  dem  Andenken  seines 
Gönners,  des  Papstes  Marcellus  11.  Aveihte  und  „ISIissa  Papae 
Marcelli"  nannte,  zeigten  sich  den  Werken  der  Vorgänger  so  sehr 
überlegen,  sie  entsprachen  so  vollständig  den  an  eine  echte  Kirchen- 
musik zu  stellenden  Anforderungen,  dass  die  zur  Entscheidung  der 
Frage  versammelten  Richter  ihre  früheren  Zweifel  mit  einem 
Schlage  beseitigt  sahen.  ..Die  Empfindungen,  welche  in  der  katho- 
lischen Kirche  die  allein  herrschenden  sein  sollen,  hatten  einen 
tiefen  und  wahren  Ausdruck  gefunden ;  die  höchste  Kunst  erschien 
als  Natur,  ein  echt  kirchhcher  Stil  hatte  sich  entfaltet,  ernst, 
feierhch,  gi-oss;  wie  alle  Leidenschaftlichkeit,  so  auch  alle  Künstelei 
ausschliessend,  in  tiefsinniger  TonsjTubolik  die  Geheünnisse  der 
Gottheit  dem  ahnenden  Gefühle  veraiittelnd.  Palestrina  hat  mit 
diesem  Werke  nicht  nur  der  Kunstmusik  ihren  Antheil  am  katho- 
lischen Gottesdienst  für  alle  Zeiten  gesichert,  sondern  auch  den 
ItaHenern  einen  nationalen  Kirchenstil  geschaffen."*) 

*)  Schüler  des  aus  Burgund  stammenden  Niederländers  Claudio  (tou- 
dimel,  welcher  als  Begründer  der  ersten  öffentlichen  Musikschule  zu  Rom 
(1540)  und  als  Verfasser  von  Tonsätzen  zu  den  Melodien  der  ältesten  fran- 
zösischen Psalmen-Bearbeitung  von  Marot  und  Beza  bekannt  geworden  ist ; 
überdies  durch  sein  tragisches  Ende  zu  Lyon  als  Opfer  der  Bartholomäus- 
nacht des  Jahres  1572. 

*)  A.  von  Dommer,  Handbuch  der  Musikgeschichte.  S.  1-47. 


62  ^-    Lutlier's  Keformatioii  und  die  Renaissance. 

Man  hat  Palestiina's  Compositioiieu  classisch*)  genannt  und 
mit  Reclit,  denn  im  allgemeinen  wird  eine  Epoche  als  classisch 
bezeichnet,  deren  künstlerische  Erzeugnisse  sich  zu  einer  einfachen 
und  maassvollen  Schönheit  erheben,  und  nuabliuugig  vom  Ge- 
schmacke  des  Tages  entstanden  und  über  ihre  Zeit  hinauswirkend, 
auf  alle  späteren  Geschlechter  einen  leitenden  und  bildenden  Ein- 
fluss  ausüben.  In  diesem  Sinne  nennen  wir  die  Blütliezeit  der 
antiken  Kunst  die  classische  Zeit  und  übertragen  diesen  Ausdruck 
auf  spätere  Zeiten,  in  welchen  das  Studium  der  Antike  wieder 
belebt  wurde,  wie  im  Jahrhundert  der  Renaissance  und  drei  Jahr- 
hunderte später  durch  Wiukelmann,  L  es  sing,  Schiller  und 
Goethe.  Dürfen  nun  auch  die  Werke  der  modernen  Tonkunst 
das  Prädicat  „classisch"  in  seinem  eigentlichen  Sinne  nicht  bean- 
spruchen, weil  behn  Mangel  einer  musikalischen  Antike  ihr  "VVerth 
nicht  in  der  Weise  bestimmt  werden  kann,  wie  dies  bei  den 
Werken  der  Dichtkunst  und  der  bildenden  Künste  möghch  ist, 
so  sagt  uns  doch  Gefühl  und  Empfindung,  dass  auch  in  den  zu 
solchen  Zeiten  entstandenen  musikalischen  Kunstwerken  ein  Hauch 
des  classischen  Alterthmns  weht;  ganz  besonders  zeigen  sich  die 
Arbeiten  Palestrina's  erfüllt  von  dem  antiken  Geiste  des  Maasses, 
der  Versöhnung  und  einer  heiteren  Schönheit,  von  jenem  Geiste, 
welchen  die  bildende  Kunst  seiner  Zeit  durch  unmittelbare  Be- 
rührung mit  den  Kunstwerken  des  Alterthums  airfgenommen  hatte; 
und  wenn  auch  das  moderne,  ausschliesshch  an  die  Dur-  und 
Molltonarten  gewöhnte  Ohr  durch  seine  sich  streng  an  die  gi'ego- 
rianischen  Tonarten  anschhessenden  Harmoniefolgen  fi-emdartig 
berührt  wird,  so  muss  sich  doch  der,  den  Werken  Palestrina's 
und  seiner  nächsten  Nachfolger  eigenthümhche  Zug  naiver  Er- 
habenheit auch  Denen  offenbaren,  welche  mit  ihrem  Stil,  dem 
nach  seinem  Schöpfer  benannten  Palestrinastil,  noch  nicht  näher 
vertraut  geworden  sind. 

East  gleichzeitig  mit  Palestrina's  Reform  des  kathohschen 
Kirchengesanges  beginnt  in  Italien  eine  nicht  minder  folgenreiche 
auf  dem  Gebiete  der  weltlichen  Musik.  Auch  hier  hatte  der 
von  den  Niederländern  ausgebildete  mehrstimmige  Gesang  die 
Alleinherrschaft  errungen:  das  Madrigal,  ein  meist  fünfstimmiges 


*)  Den  Ursprung  des  Wortes  „classisch"  betreffend,  sei  daran  erinnert, 
dass  man  im  römischen  Alterthum  unter  Classici  diejenigen  Bürger  verstand, 
welche  zur  ersten  Classis  (Vermögensklasse)  gehörten,  ausserdem  die  zur 
Flotte  (lat.  ebenfalls  Classis)  gehörigen  Soldaten;  speciell  die  Schriftsteller 
ersten  Ranges  nach  dem  Canon  der  alexandrinischen  G-rammatiker. 


"V^.    Ili\itlier's  Ketbrmatioii  und  die  Reixaissaiice. 


63 


Aveltliclies  Lied  (ursprünglich  Schäferlied,  vom  ital.  niaiidra.  Schaf- 
lieerde)  war  ein  Gegenstand  liebevoller  Pflege  seitens  der  besten 
Componisten  geworden,  vor  allem  des.  von  1595  der  päpstlichen 
Capelle  angehörigeu  Luca  Marenzio,  und  galt  als  obhgatorischer 
Begleiter  bei  allen  Gelegenheiten,  Festen,  dramatischen  Auffiili- 
rungen,  geselhgen  Zusammeidcüuften.  avo  man  der  Musik  als  unter- 
stützender Kraft  bedurfte.  AViewohl  musikalisch  ungleich  aus- 
<lnicksvoller  und  mannichfaltiger  als  die  gleichzeitige  Kirchenmusik, 
wie  dies  schon  dm'ch  die  bezüghch  des  Inhalts  wie  der  Form 
freiere  weltliche  Dichtung  bedingt  war,  konnte  doch  das  Madrigal 
dem  in  Folge  der  Alterthumsstuthen  verfeinerten  Geschmack  nicht 
mehr  genügen;  der  Wunsch  nach  einer  einfacheren,  natürlicheren 
Yocalmusik  wurde  immer  lebhafter,  und  kam  endlich  in  Florenz 
in  einem  Kreise  von  Alterthumsfreunden  so  entschieden  zum  Aus- 
druck, dass  die  Mitglieder  desselben,  sowohl  Dilettanten  als  auch 
Musiker  von  Fach,  dem  Contrapunkt  offen  den  Krieg  erklärten. 
Au  seine  Stelle  eine  Musik  zu  setzen,  welche  auch  um-  annähernd 
die  von  den  Schriftstellern  des  Alterthums  gepriesene  Wü'kung 
der  griechischen  Tragödien-Musik  erreiche,  dies  war  der  Liebhngs- 
gedanke  der  Gesellschaft  von  Gelehrten  und  Künstlern,  die  sich 
unter  dem  Namen  Game  rata  (Kameradschaft)  regelmässig  im 
Hause  des  Giovanni  Bardi,  Grafen  von  Vernio,  zum  Zwecke 
künstleiischer  Unterhaltung  vereinigte.  Den  ersten  Schritt  auf 
dieser  Bahn  that  Vincenzo  Galilei,  der  Vater  des  Astronomen 
Galileo  Gahlei,  indem  er,  angeregt  dm'ch  die  Auffindung  dreier 
autiker  Hymnen  in  der  Bibliothek  des  Cardinais  San  Angiolo  zu 
Rom*),  es  unternahm,  Gesänge  für  eine  Singstimme  mit  Beglei- 
tung zu  componiren.  Diese  Gesänge,  deren  Texte  aus  Dante's 
..Hölle"  (der  Scene  des  Ugolino)  und  den  Klageliedern  des 
•leremias  entnommen  waren,  und  die  der  Componist  selbst  mit 
Begleitung  einer  Viola  vortrug,  fanden  bei  den  Mitgliedern  der 
Camerata  so  reichen  Beifall,  dass  nunmehr  auch  ein  Fachmann, 
der  ebenfalls  zm*  Gesellschaft  gehörige  Sänger  Giulio  Caccini 
sich  entschloss,  der  neuen  Kunstgattung  seine  Thätigkeit  zu  widmen. 
Dieser  ging  in  seinem  fortschrittlichen  Eifer  so  weit,  dass  er  den 
Contrapunkt  für  eine  „Zei'fleischung"  (Laceramento)  der  Poesie 
erklärte,    und  behauptete,    er   sei   durch   seinen  Verkehr  mit  den 

*)  Diese  unbedeutenden  Brachstücke  «griechischer  Musik  konnten  um  so 
weniger  zu  Neubildungen  Anhalt  gewähren,  als  man  sie  damals  nicht  ein- 
mal zu  entzift'ern  verstand;  erst  im  vorigen  Jahrhundert  gelang  es  dem 
Franzosen  Bürette,  sie  in  moderne  Notenschrift  zu  übertragen. 


d4  ^V".    Luth.er's  Reform  viiid  die  Reiiaissanee. 


Mitgliedern  der  Camerata  iu  seiner  Kunst  mehr  gefördert,  als 
durch  früheres  dreissigj ähriges  Studium  des  Coutrapiiukts.  Als^ 
praktisches  Ergebniss  dieser  Anschauungen  aber  veröffenthchte  er 
1601  unter  dem  Titel  „Nuove  mu siehe"  eine  Sammlung  von 
Gesängen  nach  dem  Muster  des  Galilei  und  fülu-te  damit  die 
neue  Kunstgattung,  den  Einzelgesang  oder  die  Monodie,  in 
die  Oeffenthchkeit  ein. 

Während  Caccini  in  seinen  Monodien  noch  das  IjTische  und 
melodische  Element  vorherrschen  hess,  that  bald  darauf  der  Flo- 
rentiner Sänger  und  Organist  Jacopo  Peri  einen  v/ eiteren  ent- 
scheidenden Schritt  zui"  Verwirklichung  des  den  Alterthumsfreimden 
vorschwebenden  Ideals  durch  die  Erfindung  eines  völhg  neuen 
Musikstils,  den  er  Stile  rappresentativo  oder  recitativo 
nannte.  Dieser  noch  jetzt  in  der  Oper  gebräuchhche  Stil,  welcher 
die  Mitte  hält  zwischen  Gesang  und  ausdi'ucksvoUer  Rede,  wm'de 
von  Peri  in  seiner  Composition  des  Drama  „Dafne"  von  Rinuc- 
cini  zm"  Anwendung  gebracht  und  gewann  bei  der  ersten  Auf- 
führung des  Werkes  im  Kreise  der  Camerata  (1595)  die  ungetheilte 
Zustimmung  der  Hörer.  Man  hielt  sich  überzeugt,  die  dramatische 
Musik  der  Alten  sei  nun  wirkhch  wieder  aufgefunden;  und  in  der 
That  waren  jetzt  die  Bedingimgen,  das  Material  zm'  Recon- 
struirung  des  antiken  Musikdi-ama  vorhanden:  der  Chor  zum 
Ausdruck  der  Stimmungen  einer  Gesammtheit,  das  Arioso,  der 
melodische  Gesang  zm*  Schildenmg  der  Gefühle  des  Darstellers, 
sofern  sie  zmn  vollen  Ausdruck  kommen,  endlich  das  Recitativ 
für  den  Dialog  und  fiir  diejenigen  Empfindungen,  welche  nur  vor- 
übergehend anzudeuten  waren. 

Durch  den  Erfolg  ihrer  Arbeit  ermuthigt,  wagten  sich  Peri 
und  Rinucchii  bald  darauf  mit  einem  zweiten,  nach  den  gleichen 
Principien  verfassten  Musikdrama  hervor,  der  ..Ernddice",  ein 
Werk,  welches  berufen  war,  einen  Markstein  in  der  Geschichte 
der  Musik  zu  bilden;  denn  mit  der  Aufführung  der  „Euridice" 
iu  Florenz  im  Jahre  1600  zur  Vermählung  Heinrich's  IV.  von 
Frankreich  mit  Maria  von  Medici  tritt  diejenige  Kimstgattung 
in's  Leben,  die  von  nun  an  ununterbrochen  die  musikalische  Welt 
beschäftigen  sollte:  die  moderne  Oper.  Die  Einfachheit,  ja 
Düi-ftigkeit  der  Dichtung  wie  der  Musik  darf  uns  nicht  verleiten, 
den  Werth  jener  beiden  di'amatischen  Ersthngswerke  zu  unter- 
schätzen, wh"  müssen  vielmehr  auch  bei  dieser  Veranlassung  dem 
künstlerischen  Genius  Itahens  unsere  Bewundeiimg  zollen.  „Die 
italienischen  Akademiker"   sagt   Chiysander   („Händel"  I.  S.  154) 


"V.    JLiVither's  Refbnnation  uiitl  <lie  Irteiiaissaiice.  ß5 


„waren  keine  Thoren,  dass  sie  auch  an  der  Vervollkommnung 
der  Tonkunst  so  unablässig  mit  griechischen  Quellen  arbeiteten. 
Dinge ,  die  in  jedem  andern  Lande  von  vornherein  unmöglich 
gewesen  oder  bald  lächerlich  geworden  wären,  vermochten  sie  mit 
Grazie  und  mit  Erfolg  durchzuführen,  so  vollständig  und  so  sicher 
hatten  sie  sich  in  das  Gewerk  der  Alten,  in  die  Formen  voll- 
endet schöner  Kunst  eingelebt.  Ihre  Ansichten  von  der  gi^echi- 
schen  Bühnenmusik  beruhten,  was  das  Einzelne  betrifft,  auf  gänz- 
lich unbeweisbaren  Voraussetzungen,  und  die  so  entstehenden 
Widersprüche  hätten,  ob  klar  erkannt  oder  nicht,  einen  germa- 
nischen Geist  mit  lastender  Schwere  niedergehalten  und  zu  jeder 
zuversichtlichen  That  unfähig  gemacht;  die  Florentiner  Akademie 
dagegen  wandelte  auf  den  Wolken  ihrer  Einbildung  wie  auf  einer 
gebahnten  Strasse  .und  erreichte  schliesslich,  was  sie  sich  vor- 
gesetzt hatte." 

Bei  näherer  Betrachtung  der  neuen  Kunstgattung  zeigt  sich 
freihch  ein  gewaltiger  Abstand  zwischen  ihr  und  ihrem  griechischen 
Vorbilde.  In  Betreff  ihres  Verhältnisses  zum  Volks-  und  Cultur- 
leben,  sowie  zu  den  ihre  Existenz  bedingenden  Ideen  blieb  sie 
der  antiken  Tragödie  so  fern  wie  nur  denkbar.  Nicht  aus  reli- 
giösen Anschauungen,  sondern  aus  höfischem  Luxus  hervorge- 
wachsen, wurde  die  Oper  vorläufig  ein  Monopol  der  Fürsten 
und  der  Grossen,  und  selbst  wenn  das  Volk  hier  und  da  zur 
Theilnahme  zugelassen  wurde,  so  musste  ihm  doch  das  Verständ- 
niss  abgehen  für  die,  ausschliessHch  der  antiken  Mythologie  und 
Heldensage  entlehnten  Stoffe.  Erst  viel  später  konnte  sie  diesen 
exclusiven  Standpunkt  verlassen  und  für  das  allgemeine  Bilduugs- 
leben  Bedeutung  gewinnen,  wiewohl  auch  dann  nicht  in  dem  Sinne 
ihrer  vom  Geiste  des  Alterthums  erfüllten  Begründer.  Dass  trotz 
dem  die  Arbeit  der  florentiner  Camerata  keine  verlorene  ge- 
wesen ist,  dass  die  von  ihr  ausgestreute  Saat  vielmehr  schoii  im 
Verlauf  der  nächsten  Jahrzehnte  reiche  Früchte  tragen  musste, 
wird  der  näch'ste  Abschnitt  zeigen. 


Langhans,  Musikgeschichte.   2.  Aufl. 


VI. 
Die  italienisclie  Oper* 


Den  ersten  wichtigen  Schritt  auf  ihrem  Eutwickelungsgange 
that  die  von  den  Florentinern  entdeckte  neue  Kunstgattung,  die 
moderne  Oper,  damals  Dramma  in  musica,  auch  Tragedia 
l)er  musica  genannt,  nicht  an  der  Stätte  ihrer  Geburt,  sondern 
in  Venedig.  Hier  hatte  Adrian  Will a er t*),  einer  der  letzten, 
aber  auch  der  bedeutendsten  unter  den  niederländischen  Meistern 
(geb.  1490  zu  Brügge,  gest.  1563  als  Capellmeister  an  der  Marcus- 
kirche), eine  Schule  gestiftet, .  deren  Einfluss  sich  auch  nach  dem 
Zurücktreten  der  Niederländer  von  der  musikalischen  Herrschaft 
keineswegs  verminderte.  Mit  noch  grösserem  Erfolge  als  sein 
Landsmann  Josquin  hatte  er  gestrebt,  die  Kunst  des  Tonsatzes 
dem  musikalischen  Gledanken  dienstbar  zu  machen,  insbesondere 
die  polyphonen  Glebilde  durch  dramatischen  Ausdruck  zu  beleben. 
Schon  die  äusseren  Verhältnisse  der  Stadt  mussten  nach  dieser 
Richtung  anregend  auf  den  Musiker  wkken.  Als  fest  in  sich  ab- 
geschlossene Handelsrepublik  hatte  Venedig  von  dem  Druck  der 
Kirche  und  den  politischen  Wirren,  welche  das  übrige  Itahen  in 
seiner  Entwickeluug  gehemmt,  wenig  oder  nichts  zu  leiden  gehabt, 
und  weit  früher  als  dort  konnte  man  daran  denken,  der  Kunst 
und  Wissenschaft  einen  Antheil  am  gesellschaftlicjien  Leben  zu 
gewähren.  Durch  die  Handelsbeziehungen  zum  Orient  waren  der 
Stadt  neben  dem  materiellen  Wohlstand  noch  mancherlei  Cultur- 


*)  Ausgesprochen  Willaart,  da  das  e  hier  nur  die  Dehnung  des  vor- 
hergehenden Tocales  bezweckt,  wie  auch  in  andern  vlämischen  Namen  z.  B. 
unserer  zeitgenössischen  Musiker  Gevaert,  Saint-Saens  etc.  Die  zwei 
Pünktchen,  welche  der  Franzose  in  diesem  Falle  über  das  e  zu  setzen  pflegt, 
sollen  nicht,  wie  in  der  deutschen  Schrift,  die  Trennung  der  beiden  Vocale 
bezeichnen,  sondern  im  Gegentheil  ihre,  in  der  französischen  Sprache  unbe- 
kannte Verschmelzung. 


~VI.    Die  italieiiische  Oper.  67 

^lemeute  zugefülirt.  welche,  verschmolzeu  mit  eleu  heimischen,  ihr 
jeueu  bunt-phantastischeu  Charakter  gaben,  der  sich  besonders 
deuthch  in  den  Werken  ihi-er  Architekten  und  Maler  ausspricht. 
Inmitten  einer  dem  heiteren,  unbefangenen  Lebensgenüsse  ergebeneu 
Bevölkemng  musste  aber  der  Tonsetzer  die  Schwerfälhgkeit  der 
mittelalterhchen  Kuustmusik  doppelt  peinlich  empfinden  und  mit 
Eifer  darauf  bedacht  sein,  die  Tonkunst  dem  allgemeinen  Ver- 
ständnisse näher  zu  bringen.  Dies  gelang  WiUaert  durch  ein 
höchst  einfaches  Mittel:  die  eigenthümhchen  architektonischen 
Verhältnisse  des  inneren  Raimies  der  Marcuskirche  mit  seinen 
zwei  Galerien,  deren  jede  mit  einer  Orgel  versehen  war,  führte 
ihn  auf  den  Gedanken,  seine  Sängerschaar  örtlich  zu  ver- 
t heilen,  mn  so  das  ver\\'ickelte  Gewebe  der  Poh^phonie  mög- 
hchst  zu  entwirrren.  Das  vollständige  Gelingen  dieses  Versuches 
veranlasste  ihn  in  der  Folge,  auch  die  kleineren  Nebengalerien 
der  Kirche  zur  Aufstellung  getrennter  Chorgruppen  zu  benutzen, 
deren  er  schHesshch  neun  von  je  vier  Stinmien  zusammenwirken 
Hess,  selbstverständhch  zu  weit  grösserer  Erbauvmg  seiner  Zuhörer, 
als  es  etwa  sein  Vorgänger  Ockenheim  mit  seiner  36 -stimmigen 
Messe  vermocht  hatte. 

Mit  Willaert  theilen  sich  die  beiden  bedeutendsten  seiner 
Schüler,  Cyprian  de  Rore  und  Gioseffo  Zarlino  in  den 
musikahschen  Ruhm  Venedigs  während  des  Cinquecento  —  wie 
die  Itahener  abkürzungsweise  (statt  IVIille  Cinquecento,  1500)  das 
Jahrhundert  der  Renaissance  nennen.  Der  erstere,  zwar  Nieder- 
länder von  Geburt,  jedoch  schon  völUg  dem  musikahschen  Einfluss 
Itahens  unterworfen,  that  einen  weiteren  Schiitt  in  der  von  seinem 
Lehi-er  eingeschlagenen  Richtimg,  mdem  er  die  Ausdiiicksfähig- 
keit  der  Musik  diu-ch  fi-eien  Gebrauch  der  Chromatik  in  be- 
merkenswerther  Weise  steigerte.  In  seinen  1544  erschienenen 
,, Chromatischen  Madrigalen"  ist  die  strenge  Diatonik  der  Kirchen- 
töne durch  häutige  Verwendung  des  kleinen  oder  chi-omatischen 
Halbtones  some  der  sich  daraus  ergebenden  übermässigen  und 
verminderten  Intervalle  völhg  aufgehoben,  eine  Neuerung,  welche 
nicht  weniger  erfolgreich  als  Willaert's  System  der  getheilten 
Chöre  zur  Befreiung  der  Musik  von  dem  Zwange  der  kirchhchen 
Satzungen  imd  zu  ilu-er  Ki'äftigung  für  die  Lösimg  höherer  Kunst- 
aufgabeu  beigetragen  hat.  —  Der  andere,  Zarlino  (geb.  1517  zu 
Chioggia  bei  Venedig)  der  erste  ItaHener,  w^elcher  sich  neben  den 
Niederländern  eine  hohe  musikahsche  Stellung  zu  erringen  gewusst 
hat,  wirkte  vornehmlich  durch  seine  theoretischen  Arbeiten,  deren 


68  "VI.    Die  italieuisclie  Oper. 

einige,  namentlich  sein  Hauptwerk,  die  1557  erschienenen  .,Isti- 
tuzioni  harmoniche",  epochemachend  geworden  sind.  Denn  wie- 
wohl er  auch  als  Componist  von  seinen  Zeitgenossen  vielfach 
gefeiert  wm'de  und  z.  B.  in  den  von  ihm  hinterlassenen,  1566  zu 
Venedig  gedi'uckten  „Modulationes  sex  vocum"  als  Tonsetzer  von 
hervorragender  Fähigkeit  erscheint,  so  stehen  doch  seine  Ver- 
dienste auf  diesem  Gehiete  weit  zurück  hinter  denen,  welche  er 
sich  als  Theoretiker  um  die  Klänmg  der  zu  seiner  Zeit  noch 
arg  verworrenen  Musikwissenschaft  erworben  hat.  Die  in  oben- 
genanntem "Werke  von  ihm  ausgesprochenen  Grundsätze  und 
Lehren,  welche  er  in  den  später  erschienenen  „Dimostrazioni 
harmoniche"  und  ,.SoppHmenti  musicah"  noch  weiter  ausführt, 
haben  nicht  nur  den  Tonkünstlern  seiner  Zeit  neue  Bahnen 
eröffnet,  sie  sind  auch  von  allen  späteren  Geschlechtern  als  feste 
Grundlage  der  musikahschen  Theorie  sowohl  wie  der  Praxis  an- 
genommen worden. 

Im  Besonderen  ist  Zarlino's  Wirksamkeit  dadurch  von  weit- 
tragender Bedeutung  geworden,  dass  er  einen  entscheidenden 
Schi-itt  zm^  Verbesserung  der  temperirten  Stimmung  that, 
welche  allerdings  mit  zunehmender  Ausbildung  der  mehrstimmigen 
Vocal-  wie  der  Instrumentalmusik  zur  dringenden  Nothwendigkeit 
geworden  war.  Unter  Temperatur  versteht  mau  die  Bestimmung 
gewisser  Abweichungen,  von  der  natürhchen  Grösse  der  Inter- 
valle, welche  nöthig  ist,  um  sie  in  allen  möghchen  melodischen 
und  harmonischen  Beziehungen  zu  einander  wohlkhugend  erscheinen 
zu  lassen;  mit  anderen  Worten,  um  sie  den,  durch  die  Beschaffen- 
heit der  verschiedenen  menschlichen  Gesangs-Organe  bestimmten 
Grenzen  der  Octave  anzupassen,  welche  sie  in  ihrer  natürlichen 
Grösse  entweder  nicht  erreichen  oder  überschreiten*).  Bis  auf 
Zarlino  war  das  System  des  Pythagoras  herrschend  gewesen. 


*)  Zur  Erklärung  des  Obengesagten  dieue  folgendes:  Die  natürliche 
Clrösse  der  Intervalle  ist  durch  das  Verhältniss  eines  Tones  zu  seinen  Ober- 
tönen bedingt,  d.  h.  denjenigen  Tönen,  welche  den  Hauptton  eines  jeden, 
in  schwingende  Bewegning  gesetzten  und  dann  tönenden  Körpers  mehr  oder 
minder  hörbar  begleiten,  weil  derselbe  nicht  nur  als  Oanzes  schwingt,  son- 
dern auch  seine  einzelnen  Theile  für  sich  schwingen.  Bei  Berührung  einer 
gespannten  Saite  z.  B.  schwingt  erstens  ihre  ganze  Länge  und  erkhugt  in 
dem  ihr  eigenen  Ton ;  nebenbei  schwingen  ihre  beiden  Hälften  jede  für  sich, 
nnd  lassen,  wenn  auch  nur  schwach,  die  Octave  des  Haupttoues  hören: 
ebenso  schwingen  ihre  drei  Drittel  jedes  für  sich  und  erzeugen  die  Quinte 
der  Octave;  ebenso  ihre  vier  Viertel,  fünf  Fünftel  u.  s.  w.  Zur  genauen 
Bestimmung  des  Zahlenverhältnisses  diesei'  Töne  untereinander,  welches  man 


VI.    Die  italienisclie  Oper.  69 

nach  welchem  iu  der,  nächst  der  Octave  einfachsten  Consonanz, 
in  Quinten  gestimmt  wurde  und  die  dadurch  nöthig  werdende 
Yertheilung   des   überschüssigen  Intervalls  73 :  74   derart  bewirkt 


früher  nach  der  Länge  der  Saiten  und  ihrer  Theile  berechnete,  ist  man  in 
neuerer  Zeit  durch  Beobachtung  der  ihnen  entsprechenden  Schwingungen 
gelangt;  so  fand  man,  dass  von  zwei  gespannten  Saiten,  deren  tiefere  ein- 
mal, die  höhere  in  derselben  Zeit  zweimal  schwingt,  diese  letztere  die  höhere 
üctave  der  ersteren  erklingen  lässt  und  dass  folglich  das  Verhältniss  des 
Grundtones  zu  seiner  Octave  wie  1:2  ist;  auf  dieselbe  Weise  ergab  sich  das 
Verhältniss  des  Grundtones  zu  seiner  Quinte  wie  2:3,  weil  zwei  Saiten, 
deren  tiefere  zwei,  die  höhere  gleichzeitig  drei  Schwingungen  macht,  die 
Quinte  hören  lassen,  und  ebenso  das  Verhältniss  der  Quarte  3  : 4  sowie  der 
übrigen,  in  folgender  Scala  genannten  Obertöne,  von  denen  freilich  nicht 
alle  rein  genug  sind,  um  im  System  der  diatonischen  Tonleiter  Verwendung 
zu  finden. 

Theile  1  2  3  4  5  6  7  8  9  10  11  12  13  14  15  IG 
Töne  C  c  g  Ci  Cj  gj  b^  c^  d^  e^  i,  g.^  a^  b^  h.^  Cg  etc. 
Das  einzige  Intervall,  welches  unter  allen  Umständen  in  seiner  natürlichen 
Grösse  unberührt  bleiben  muss,  ist  die  Octave;  diese,  auf  das  einfachste 
Zahlenverhältniss  begründete  Consonanz  wird  durch  die  geringste  Abwei- 
chung zum  Missklange,  denn  wenn  wir  eine  tiefere  Stimme  von  einer  höheren 
in  der  Octave  begleiten  lassen,  so  fügen  wir  der  tieferen  nichts  Neues  hin- 
zu, sondern  verstärken  nur  die  geradzahligen  Theiltöne  derselben.  Aber 
schon  die  Quinte  bedarf  im  modernen  Tonsystem  einer  Modificirung  ihrer 
natürlichen  Grösse,  denn  wenn  man  zwölf  reine  Quinten  zusammenaddirt 
{z.  B.  Ci — gj  und  gj — dg  =  2:3  mal  2:3  =  4:9,  nach  Abzug  der  Octave 
2:1  =  8:9,  dies  wieder  mit  2:3  multiplicirt  =  16:27  und  so  weiter  mit 
jedesmaligem  Abzug  der  durch  Addition  einer  neuen  Quinte  erreichten 
höheren  Octave)  so  gelangt  man  zu  einem  His,  welches  die  Octavengrenze 
um  das  kleine  Intervall  524288:531441,  das  sogenannte  ditonische  Komma 
oder  Komma  des  Pythagoras  überschreitet.  Es  muss  daher  in  der 
temperirten  Stimmung  jede  der  Quinten  um  ein  Zwölftel  dieses  Intervalles, 
welches  sich  annährend  auf  73 :  74  (etwa  ein  Fünftel  einer  halben  Tonstufe) 
reduciren  lässt,  von  ihrer  natürlichen  Grösse  verlieren.  Gleicherweise  müssen 
die  Terzen  modificirt  werden,  denn  drei  grosse  Terzen  in  ihrer  natürlichen 
Grösse  addirt  erreichen  nicht  vollständig  die  Grenze  der  Octave  (4:5  mal 
4:5  mal  4:5  =  64:125  anstatt  64:128  oder  1:2)  während  vier  kleine  Terzen 
{5 : 6)  sie  überschreiten.  Selbstverständlich  gelten  diese  Beschränkungen  nur 
für  Instrumente  mit  feststehender  Stimmung  wie  Ciavier,  Orgel,  Blasinstrur 
mente ;  beim  Gesang  und  theilweise  auch  auf  den  Streichinstrumenten  können 
die  erwähnten  Intonations-Abweichungen  zur  Anw^endung  kommen,  voraus- 
gesetzt, dass  man  durch  rechtzeitige  Ausgleichung  es  vermeidet,  die  Grenzen 
der  Octave  zu  verletzen.  —  Wie  der  Leser  weiterhin  sehen  wird,  gelangte 
man  erst  nach  mancherlei  Versuchen,  bei  denen  man  einzelne  Intervalle 
mehr  oder  weniger  veränderte,  um  die  andern  rein  zu  erhalten,  sogenannte 
ungleichschwebende  Temperaturen,  endHch  zu  dem  seit  Bach  und 
Rameau  (vgl.  Cap.  VII.)  allgemein  angenommenen  System  der  gleichschwe- 
1) enden  Temperatur,    bei  welcher  man  die  Octave    in  zwölf  ganz  gleich 


"70  'VI,    Die  italieniaclie  Oper. 

ist,  dass  sicli  für  die  Intervalle  der  diatonischen  Scala  folgende^ 
zum  Theil  complicirte  Zahlenverhältnisse  ergeben: 

Töne ODE  PG  A  B  H  c 

Schwingungszahlen     1     8:9     64:81     3:4     2:3      16:27     9:16     128:243       2 

Stufenweite   ...       8:9     8:9  243:256  8:9     8:9  8:9  243:256 

Der  Hauptübelstand  dieses  [Systems  liegt  in  dem  complicirten 
Verhältniss  der  Terz,  welche  nach  dieser  Grössenbestimmung  dem 
Öhre  unfasslich  ist,  und  deshalb  auch  dem  Alterthum  wie  dem 
Mittelalter  mit  Recht  als  Dissonanz  gegolten  hat.  Um  sie  auf 
ein  einfacheres  Verhältniss  zurückzuführen,  nahm  Zarlino  neben 
dem  G-anzton  8:9  noch  einen,  um  das  Intervall  80:81  kleineren 
Ganzton  im  Verhältniss  von  9:10  an,  eine  Unterscheidung,  welche 
zwar  schon  der,  im  ersten  nachchristlichen  Jahrhundert  lebende 
Mathematiker  Didymus  aufgefunden  hatte,  ohne  jedoch  ihre  Ver- 
werthung  in  der  praktischen  Musik  bewirkt  zu  haben.  Das  nach 
diesem  Principe  von  Zarlino  aufgestellte  sogenannte  reine  dia- 
tonische System,  welches  den  doppelten  Vortheil  der  Verein- 
fachung sowohl  der  Terz  wie  des  diatonischen  Halbtones  bietet,. 
ergab  folgende  Verhältnisse: 

Töne CDE  F  CIA  B         H  c 

Schwingungszahlen     1       8:9       4:5         3:4       2:3       3:5       9:16     8:15         2 

Stufenweite      .     .         8:9      9:10     15:16      8:9      9:10  8:9  15:16 

Diese  Neuerung  wurde  namentlich  dadurch  von  hoher  Bedeutung^ 
dass  nach  Verkleinerung  der  Terz  um  das  Intervall  80:81  (das 
sogenannte  syntonische  Komma  oder  Komma  des  Didymus) 
ihrer  Aufnahme  unter  die  Consonanzen  nichts  mehr  im  Wege 
stand;  und  wenn  bis  dahin  die  Tonsetzer  sich  gescheut  hatten 
sie  im  Anfangs-  und  Schlussaccord  ihrer  Compositionen  anzu- 
bringen, so  konnte  nunmehr  der  Dreiklang,  die  eigentliche 
Basis  aller  polyphonen  Musik,  seine  Herrschaft  antreten  —  vor- 
läufig allerdings  nur  der  Durdreiklang;  was  die  kleine  Terz  anlangt, 
so  dauerte  es  noch  längere  Zeit,  bis  auch  sie  als  Consonanz. 
anerkannt  wurde;   noch  Jahrhunderte    lang  zog  man  es  vor,    ein 


grosse  Tonstufen  eintheilte ;  die  kleine  Abweichung  von  73  :  74  wurde  nun 
auf  alle  zwölf  Quinten  gleichmässig  vertheilt  und  dadurch  alle  Verschieden- 
heit der  Tonstufen  innerhalb  einer  Octave  auf  die  zwölf  Halbtonstufen  zu- 
rückgeführt, wie  wir  sie  in  unsern  modernen  Tasteniustramenten  haben. 
(Näheres  über  diesen  Gegenstand  bei  Helmholtz  „Tonempfindungen" 
sechzehnter  Abschnitt;  H.  Bellermann  „L>ie  Grösse  der  musikalischen 
Intervalle";  A.  von  Dommer  „Koch's  musikalisches  Lexicon"  Artikel 
„Temperatur"  „Addition  der  Intervalle"  etc. 


^I.   Die  italienisclie  Oper.  71 


Musikstück  in  Moll  mit  dem  Durdreiklang  zu  schliessen  und  ver- 
letzte lieber  die  Einheit  des  Tongescblechts,  als  dass  man  die 
kleine  Terz  im  Schlussaccord  angebracht  hätte. 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  zur  Oper,  so  ist  vor  allem  zu 
bemerken,  dass  ihr  in  Venedig,  nach  vorangegangener  Wirksam- 
keit der  genannten  Meister  eine  besonders  günstige  Stätte  für 
ihre  Entwickelung  bereitet  war;  durch  Willaert  und  seme  Schule 
war  der  venetianischen  Kirchenmusik  jener  dramatische  und  farben- 
prächtige Zug  gegeben,  welcher  sie  auch  später,  unter  seinen 
Nachfolgern  Andreas  Gabrieli  und  namenthch  dessen  Neffen 
Johannes  vor  der  der  anderen  italienischen  Schulen  kennzeich- 
nete, und  es  konnte  nicht  ausbleiben,  dass  auch  das  neuerstandene 
Musikdrama  durch  diesen  Zug  in  seiner  Ausbildung  wesentlich 
beeinflusst  wurde.  Gerade  ein  halbes  Jahrhundert  nach  Willlaerts 
Tode  treffen  wir  wiederum  auf  dem  von  ihm  bekleideten  Posten 
einen  Musiker,  welcher  der  Oper  einen,  von  ihren  ersten  Ver- 
tretern schwerlich  geahnten  Aufschwung  gab:  Claudio  Monte- 
verde  (geb.  zu  Cremona  1568,  von  1613  bis  zu  seinem  Tode 
1643  Capellmeister  an  der  Marcuskirche).  Schon  vor  seiner  Be- 
nifung  nach  Venedig,  als  Capellmeister  zu  Mantua,  war  dieser 
Künstler  bestrebt  gewesen,  die  musikahschen  Hülfsmittel  zur 
Charakteristik  und  zur  Darstellung  leidenschaftlich  eiTegter  Ge- 
müthszustände  zu  vermehren,  einmal,  indem  er  eine  Menge  bis 
dahin  ungebräuchlicher  Dissonanzen  in  freiester  Weise  ver- 
wendete*), sodann  durch  eine  einsichtsvolle  Behandlung  des  Or- 
chesters, nachdem  er  die  Individualität  der  einzelnen 
Instrumente  und  ihre  Fähigkeit  zur  Charakteiisinmg  der  han- 
delnden Personen  und  der  Situationen  erkannt  hatte.  In  einem 
seiner  „kriegerischen  Madrigale"  z.  B.  nehmen  die  vier,  das 
Recitativ  begleitenden  Streichinstrumente  an  der  wirkungsvollen 
Darstellung  des  Kampfes  lebhaften  Antheil;  auch  erscheint  hier 
zum  ersten  mal  das  Geigen-Tremolo,  um  an  entsprechenden  Stellen 
den  Eindi-uck  des  Heftigen  und  Leidenschaftlichen  zu  verstärken  — 
eine  Vortragsmanier,    die    anfangs   mit   Tadel   und  Spott   aufge- 


*)  Monteverde  scheute  sich  nicht,  die  Dominant-Septime,  die  None,  so- 
gar die  übermässige  Quarte  (den  Tritonus)  ohne  Vorbereitung,  auch  in  den 
äusseren  Stimmen  eintreten  zu  lassen;  ferner  erscheint  bei  ihm  zuerst 
der  verminderte  Septimenaccord  —  lauter  Wagnisse,  die  ihm  heftige  An- 
griffe seitens  der  Theoretiker  zuzogen,  namentlich  des  Artusi  in  Bologna, 
welcher  ihm  u.  a.  den  Vorwurf  machte  „dass  er  den  eigentlichen  Zweck 
der  Musik,  zu  ergötzen,  aus  den  Augen  verliere." 


7^  VI.    Die  italienische  Oper. 

nommen  wurde,  bald  aber  allgemein  in  Gebrauch  kam  und  sich 
bekanntlich  bis  heute  erhalten  hat. 

Begreiflicherweise  musste  die  Oper  das  eigentliche  Feld  für 
Monteverde's  Thätigkeit  werden;  doch  wendete  er  sich  ihr  erst 
im  Jahre  1607  zu,  wo  er  bei  Gelegenheit  eines  Festes  am  Hofe 
des  Herzogs  Gonzaga  von  Mantua  sein  dramatisches  Erstlings- 
werk „Orfeo",  Text  vonRinuccini,  zur  Aufführung  brachte.  Diesem 
folgten  im  nächsten  Jahre  die  „Arianna"  und  die  Tanzoper  „II 
ballo  delle  ingrate"  (Die  Undankbaren).  In  Venedig  schrieb  er 
sodann  noch  eine  Reihe  von  Opern;  auch  fällt  in  die  Zeit  seiner 
dortigen  Wirksamkeit  ein  für  den  Fortschritt  des  musikalischen 
Drama  wichtiges  Ereigniss,  als  dessen  mittelbarer  Urheber  jeden- 
falls er  anzusehen  ist:  die  Gründung  des  ersten  öffentlichen 
Opernhauses,  in  Folge  dessen  die  Oper  ihren  Charakter  als 
blosse  Hoffestlichkeit  verlor  und  dem  grossen  Publicum  zugängig 
gemacht  wurde.  In  Venedig  war  es,  wo  im  Jahre  1637  das  erste 
Operntheater,  das  Teatro  Cassiano,  eröffnet  wurde,  und  zwar 
mit  der  Oper  „Andromeda",  Text  von  Ferrari,  Musik  von 
Manelli.  Einige  Jahre  später  folgte  die  Eröffnung  des  Theaters 
San  Moise  mit  Monteverde's  neu  einstudirter  „Arianna"  und  im 
Verlaufe  desselben  Jahrhunderts  nahm  die  Oper  in  Venedig  einen 
solchen  Aufschwung,  dass  (wie  Marpurg  in  seinen  „kritischen 
Beiträgen"  Berlin  1754 — 62  berichtet)  bis  1727  fünfzehn  Opern- 
unternehmuugen  durch  Privatmittel  in's  Leben  gerufen  wurden, 
und  bis  1734  gegen  vierhundert  Opern  von  vierzig  verschiedenen 
Componisten  zur  Aufführung  gelangten. 

Von  Monteverde's  Nachfolgern  ist  Cavalli  (seit  1668  Capell- 
meister  an  der  Marcuskirche)  als  der  einzige  zu  nennen,  welcher 
den  dramatischen  Stil  weiter  ausbildete;  die  Berühmtheit  dieses 
Componisten  beschränkte  sich  übrigens  nicht  auf  die  Grenzen 
seines  Vaterlandes,  wie  dies  seine  Berufung  nach  Paris  beweist, 
um  dort  zur  Vermählungsfeier  Ludwig's  XIV.  seine  Oper  „Xerxes" 
aufzuführen.  Nach  ihm  weicht  die  itahenische  Oper  mehr  und 
mehr  von  dem  anfänglich  eingeschlagenen  Wege  ab,  und  opfert 
die  von  ihren  Begründern  angestrebte  antike  Einfachheit  dem 
immer  mehr  sich  steigernden  Bedürfniss  nach  sinnlichem  Reize. 
Der  im  Mittelalter  zerrissene,  erst  vor  wenigen  Jahrzehnten  wieder 
geschlossene  Bund  der  Poesie  mit  der  Musik  wird  aufs  neue  ge- 
lockert, das  soeben  wiedergewonnene  Gleichgewicht  zu  Gunsten 
der  letzteren  abermals  aufgehoben.  Dennoch  kann  die  nun  fol- 
gende Zeit  als  die  Glanzepoche  der  italienischen  Oper  bezeichnet 


VI.    Die  italieuiscUe  Oper.  "3 


A\ erden:  eine  vierte  Stadt  übernininit  jetzt  die.  bisher  abwechselnd 
von  Rom,  Florenz  und  Venedig  ausgeübte  musikalische  Führerschaft 
hl  Italien,  nämlich  Neapel,  und  Alessandro  Scarlatti  (gest. 
•1725  als  Capellmeister  am  dortigen  Hofe)  ist  der  Componist, 
Avelcher  für  die  Oper  den  jetzt  von  ihr  zu  verfolgenden  Ent- 
wickelungsgang  bestimmt.  Der  heitere  Himmel  Neapel's  imd  das 
lebhafte  Natui'ell  seiner  Bewohner  hatten  zwar  schon  früher  auf 
dem  Boden  der  altgiiechischen  Colonie  reiche  musikalische  Früchte 
zur  Reife  gebracht,  jedoch  weit  weniger  auf  dem  Gebiete  der 
ernsten  Tonkunst,  als  auf  dem  des  weltlichen  Liedes,  des  Ma- 
tlrigals,  welches  u.  a.  von  dem  hochbegabten  Dilettanten  imd 
Kunstmäcen  Carlo  Gesualdo,  Fürsten  von  Venosa,  (gest. 
1614)  zu  einer  hohen  Vollkommenheit  ausgebildet  war.  Mit 
A.  Scarlatti  aber  begannen  die  musikalischen  Triebe  der  Neapo- 
litaner sich  in  so  glänzender  und  umfassender  Weise  zu  offen- 
baren, dass  sich  hier  ein  eigener,  den  localen  Verhältnissen 
entsprechender  Musikstil  bilden  konnte ,  welcher  seines  melo- 
dischen Reizes  wegen  der  schöne  Stil  genannt  worden  ist,  im 
Gegensatze  zu  dem  römischen  des  Palestrina,  dem  sogenannten 
erhabenen. 

A.  Scarlatti  selbst  stammte  aus  der  römischen  Schule  des 
als  Förderer  des  Kammergesanges  und  des  Oratoriums  berühmten 
Carissimi,  von  dessen  Wirksamkeit  auf  letzterem  Gebiete  noch 
später  die  Rede  sein  wird.  Bezüglich  des  von  ihm  ausgebildeten 
Kamme rmusikstils,  der  auf  die  Kunstrichtung  der  neapolitani- 
schen Schule  einen  bedeutenden  Einfluss  ausgeübt  hat,  sei  bei 
dieser  Gelegenheit  bemerkt,  dass  er  sich  vom  Kii-chenstil  von 
vornherein  als  weltlicher  unterscheidet,  vom  di-amatischen  aber, 
der  seinem  AVesen  nach  die  Leidenschaften  mit  grossen,  kräftigen 
Zügen  darstellt,  auch,  dem  grösseren  Zuhörerkreise  entsprechend, 
auf  Einfachheit  und  Verständlichkeit  ausgeht,  durch  eine,  weit 
mehr  in's  Einzelne  gehende  kunstvolle  Ausarbeitung  und  Durch- 
führung des  musikahschen  Gedankens.  Eine  derartige  sorgfältige 
Detailarbeit  ist  bei  ihm  um  so  weniger  zu  entbehren,  als  hier 
die  Aufmerksamkeit  weder  durch  äussere  Darstellung,  wie  bei 
der  dra;matischen  Musik,  noch  durch  rehgiöse  Ceremonien.  wie 
bei  der  Kirchenmusik,  mit  in  Anspruch  genommen  wird,  sich 
also  durchaus  auf  das  Tonwerk  selbst  concentrirt;  ferner,  weil  in 
der  Kammemmsilc  jede  Stimme  nur  einen  Spieler  hat,  und  sie 
daher  auf  che  der  Orchestenimsik  zu  Gebote  stehenden  Schall- 
massen,  dynamischen  Wirkungen   und  Farbenschattü'ungen   ver- 


74  "VI.   Die  itaüenische  Oper. 

ziehten  muss*).  Um  die  Ausbildung  des  Kammerstils  hat  sich 
nächst  Carissimi  ein  anderer  Zögling  der  römischen  Schule, 
Agostino  Steffani  (1685  als  Capellmeister  nach  Hannover  be- 
rufen) namhaftes  Verdienst  erworben.  Als  dramatischer  Com- 
ponist  von  verhältnissmässig  geringer  Bedeutung  wirkte  er  mittel- 
bar zu  Gunsten  der  Stilreinheit  der  dramatischen  Musik  durch 
seine  Kamme rduetten,  in  welcher  Gattung  er  Mustergültiges 
geleistet  hat.  Von  dieser  Art  des  Duetts  sagt  Mattheson  („Kern 
melodischer  Wissenschaft"  S.  99)  nachdem  er  den  einfachen  zwei- 
stimmigen Gesang,  die  sog.  französischen  Airs  ä  deux  besprochen 
und  deren  klaren,  leichtfasslichen  Tonsatz  hervorgehoben  „dass 
ihnen  zwar  viel  von  den  guten  Eigenschaften  der  ersteren  ab- 
gehe, durch  das  fugirte,  gekünstelte  und  in  einander  geflochtene 
Wesen;  sie  erfordern  aber  einen  ganzen  Mann,  und  sind  sowohl 
in  der  Kammer,  als  Kirche  (vormals,  zu  Steffani's  Zeiten,  auch 
auf  dem  Schauplatz)  den  gelehrten  Ohren  eine  grosse  Lust,  wenn 
sich  fertige,  sattelfeste  Sänger  dazu  finden". 

In  der  strengen  Schule  der  Kammermusik  zum  Componisten 
gebildet,  hatte  nun  Scarlatti  die  Fähigkeit  erlangt,  auf  jedem 
Specialgebiet  seiner  Kunst  mit  Erfolg  zu  wirken;  und  wenn  auch 
sein  Hauptverdienst  in  der  Förderung  der  dramatischen  Musik 
liegt,  so  konnte  er  doch  für  die  Kirche  und  Kammer  ebenfalls 
so  Bedeutendes  leisten,  dass  seine  Werke  dieser  Gattungen  sogar 
einem  Händel  als  Muster  gedient  haben  und  von  diesem  nicht 
minder  eifrig  studirt  wurden  wie  seine  Opern.  Seine  Fruchtbar- 
keit war  eine  unglaubliche;  im  Jahre  1721  —  vier  Jaln-e  vor 
seinem  Tode  —  hatte  er  bereits  seine  114.  Oper  vollendet;  die 
Messe  hat  er,  wie  der  Flötist  Quanz  in  seiner  Selbstbiographie 
berichtet  „200  Mal  in  Musik  gebracht",  und  die  Zahl  der  von 
ihm  componirten  Cantaten  —  kleine  musikalische  Dramen,  wie 
sie  Fötis  nennt  —  ist  unberechenbar.  Der  englische  Musik- 
historiker Bumey  hat  ein  Originalmanuscript  von  ihm  aufgefunden, 
enthaltend  35  Cantaten  (componirt  1704  zu  Tivoli,  wo  Scarlatti 
zum  Besuche  eines  Collegen  von  der  päpstlichen  Capelle  weilte) 


*)  Vergl.  Koch,  musikalisclies  Lexicon,  bearbeitet  von  A.  von  Dommer, 
S.  467,  „Dem  ursprünglichen  Wortsinne  nach"  so  heisst  es  dort  ,,ist  die 
Kammermusik  eine  an  Höfen  und  in  Palästen  der  Grossen,  und  zwar  in 
Sälen  und  Zimmern  veranstaltete  Privatmusik,  zu  welcher  ohne  besondere 
Erlaubniss  niemand  Zutritt  hatte;  in  älteren  Zeiten  gehörte  neben  den 
Stücken  für  Soloinstrumente  auch  die  vollbesetzte  Orchestermusik  in  die 
Kammer." 


VI.    Die  itaJJeuiactie  Oper.  75 

deren  jede  das  Datum  des  folgenden  Tages  trägt.  In  seinen 
Opern  vereinigt  er  den  Melodieureichthum  und  die  dramatische 
Schlagkraft  des  Süd-ItaMeners  mit  dem  Ernst  und  der  Stilreiu- 
heit  des  römischen  Kunstgesanges;  sie  zeichnen  sich  mehr  durch 
angenehme  und  fassliche  Melodien  aus,  als  durch  stark  leiden- 
schaftlichen Ausdruck,  doch  weiss  er  die  Situationen,  besonders 
die  komischen,  vortreft'lich  zu  charakterisiren.  Seine  Formen  sind 
noch  äusserst  knapp  im  Vergleich  zu  denen  der  späteren  Neapo- 
litaner, sowie  Händers  und  Bach's,  blieben  jedoch  noch  für  lange 
Zeit  hinaus  mustergültig,  insbesondere  die  der  Arie  und  Ouver- 
türe; die  letztere  ist,  wie  die  von  Lully  in  Frankreich  einge- 
führte, dreitheilig;  sie  unterscheidet  sich  von  der  französischen 
nur  dadurch,  dass  bei  ihr  der  Anfang  und  Schlussatz  in  lelj- 
haftem,  der  Mittelsatz  aber  in  langsamem  Tempo  geht,  während 
dort  ein  lebhafter  Älittelsatz  von  zwei  langsamen  Sätzen  einge- 
schlossen ist*). 

Nicht  als  Conlponist  allein  hat  Alessandro  Scarlatti  den 
Geschmack  seiner  Zeit  wie  auch  der  ihm  folgenden  Generationen 
mächtig  beeinflusst;  er  Avar  daneben  —  wie  in  der  Regel  die 
Vocalcomponisten  der  vorigen  Jahrhunderte  —  ein  vortrefflicher 
Sänger  und  Gesauglehrer,  ferner  ein  genialer  Dirigent,  endlich 
hat  er  noch,  wie  ebenfalls  Quanz  erzählt  „das  Clavicymbel  auf 
eine  gelehrte  Art  zu  spielen  gewusst,  ob  er  gleich  nicht  so  viele 
Fertigkeit  besass  wie  sein  Sohn"  (Domenico  S.,  dessen  Bedeutung 
für  die  Instrumentalmusik  an  einer  andern  Stelle  noch  zur  Sprache 
kommen  wird).  So  konnte  A.  Scarlatti  auf  allen  Gebieten  seiner 
Kunst,  namentlich  als  Lehrer  der  Musikstudirenden  aller  Länder 
befruchtend  wirken,  wie  sehr  er  auch  wegen  seiner  Kühnheit  im 
Gebrauch  der  musikalischen  Mittel  von  den  Theoretikern  seiner 
Zeit  angegi'iffen  wurde.  Der  Dresdener  Capellmeister  Heinichen,^ 
ein  Kritiker  von  damals  höchster  Autorität,  machte  ihm  in  seiner 
„Generalbasslehre"  den  Yorwiu'f  „er  gehe  vor  allen  anderen 
heutigen  Practicis   mit   der  musikalischen  Harmonie    extravagant 


*)  Die  Ouvertüre  des  Scarlatti  kann  als  Urbild  der  modernen  Or- 
chester-Symphonie gelten.  Mit  zunehmender  Selbständigkeit  der  In- 
strumentalmusik begann  man  die  Opern-Ouvertüre  nach  Erweiterung  ihrer 
Fonn  und  Bereicherung  ihres  Inhaltes  auch  zum  Concertvortrag  zu  benutzen!; 
noch  später  trennten  sich  ihre  drei  Theile  und  wurden  zu  selbständigen 
Sätzen,  zu  denen  im  18.  Jahrhundert,  durch  Hinübernahme  des  Menuetts 
aus  der  älteren  Suite  noch  ein  vierter  hinzukam. 


Tu  'VI.    Die  italieiiiscli.e  Oper. 

und  irregulär  um,  er  verwerfe  die  Töne  ganz  ungleich  auf  eben 
die  Artli  und  öffters  mit  niehrer  Härtigkeit  als  man  jemals  im 
flüchtigen  Recitativ  thun  kann."  „Meines  Wissens"  so  schliesst 
er  „hat  ihn  bis  dato  unter  unzehligen  Practicis  noch  kein  ein- 
ziger imitiren  wollen";  in  letzterem  Punkte  aber  täuschte  sich 
unser  Kritiker  gewaltig;  denn  wie  wir  zu  allen  Zeiten  die  künst- 
lerisch producirenden  Zeitgenossen  eines  bahnbrechenden  Genius 
der  von  diesem  eingeschlagenen  Richtung,  sei  es  absichtlich  oder 
unabsichtlich,  sich  anschliessen  sehen,  so  wurde  auch  Scarlatti's 
Stil  noch  zu  Lebzeiten  des  Meisters  für  die  Schöpfungen  der 
jüngeren  Generation  bestimmend  und  gelangte  später,  nachdem 
er  durch  seine  Schüler  Leonardo  Leo  und  Francesco  Du- 
rante  völlig  ausgebildet  war,  zur  Herrschaft  über  das  ganze 
musikalische  Europa.  Wie  im  15.  und  16.  Jahrhundert  die  Nieder- 
länder, so  übten  jetzt  die  Neapolitaner  auf  die  musikalischen 
Verhältnisse  unseres  Welttheils  einen  fast  unbeschränkten  Einfluss 
aus.  Selbst  in  Frankreich,  wo  sich  schon  uiti  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts ein  eigenartiges ,  den  nationalen  Kunstanschauungen 
entsprechendes  Musikdrama  ausgebildet  hatte,  gab  es  eine  Gegen- 
partei, welche  die  um  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  erscheinende 
neapolitanische  Oper  mit  offenen  Armen  aufnahm  und  stark 
genug  war,  um  unter  Führung  des  Neapolitaners  Piccini  die 
durch  Gluck  repräsentirte  französische  Oper  mit  zeitweiligem 
Erfolge  zu  bekämpfen.  In  England  hatte  die  italienische  Oper 
schon  seit  Ende  des  17.  Jahrhunderts  Fuss  gefasst  und  die  Con- 
currenz  französischer  sowie  heimischer  Componisten  siegreich  über- 
wunden; während  der  Glanzzeit  der  neapolitanischen  Schule  aber 
war  sie  mächtig  genug,  um  selbst  einen  Musiker  von  der  Kraft 
und  dem  Ansehen  Händel' s  aus  dem  Felde  zu  schlagen,  wie 
dies  die  Erfolge  der  unter  Porpora's  und  Hasse's  Leitung 
stehenden  Londoner  Oper  im  Haymarket-Theater  auf  Kosten  der 
Händel'schen  im  Coventgarden-Theater  beweisen. 

In  Deutschland  waren  Wien,  Dresden  und  Berlin  mit  gleichem 
Eifer  bemüht,  die  italienische  Oper  bei  sich  einzubürgern.  Zwar 
waren  die  hier  an  der  Spitze  stehenden  Künstler  meist  von  Ge- 
burt Deutsche,  ihrer  musikalischen  Erziehung  und  Wirksamkeit 
nach  jedoch  völlig  italianisirt;  so  Johann  Joseph  Fux,  der 
als  Obercapellmeister  dreier  deutscher  Kaiser  mit  Hülfe  seiner 
Vice-Capellmeister,  der  Yenetianer  Conti  und  Caldara,  in  der 
ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  die  Wiener  Oper  auf  ausser- 
ordentliche   Höhe    hob ,    nebenbei    aber   auch    durch    sein,    1745 


VI.    Die  italieiiisclie  Oper.  YZ 

erschienenes,  bis  auf  den  heutigen  Tag  werthvoU  gebliebenes  Lehr- 
buch des  Contrapunkts  „Gradus  ad  Paruassum*'  den  Beweis  lieferte, 
dass  ihm  die  deutsche  Gediegenheit  im  Verkehr  mit  der  italieni- 
schen Oper  nicht  abhanden  gekonmaen  war.  Von  gleicher  Be- 
deutung wiu'de  für  Dresden^  Johann  Adolph  Hasse,  geboren 
1699  zu  Bergedorf  bei  Hamburg,  von  1724  an  in  Neapel  Schüler 
des  Scarlatti  und  des  Porpora.  endlich,  nach  glänzenden  Erfolgen 
in  Italien,  als  Capellmeister  am  sächsischen  Hofe  angestellt;  für 
Berlin  Carl  Heinrich  Graun,  geb.  1701  zu  Wahreubrück 
unweit  Torgau,  bis  zu  seinem  Tode  1759  alleiniger  BeheiTscher 
der  von  Friedrich  dem  Grossen  bei  seinem  Regierungsantritt 
gegründeten  italienischen  Oper.  Bekannt  ist,  wie  gering  dieser 
Monarch  von  der  deutschen  Kunst  dachte,  im  Besonderen  von 
der  deutschen  Gesangskimst;  er  wolle  lieber  von  einem  Pferde 
sich  eine  Arie  vorwiehern  lassen,  soll  er  einmal  geäussert  haben, 
als  an  seiner  Oper  eine  Deutsche  als  Primadonna  anstellen*). 
Gleichwohl  empfand  er  deutsch  genug,  um  die  Leitung  seiner 
Anstalt  so  wie  die  Composition  der  aufzuführenden  Werke  nie- 
mandem anders  als  Graun  zu  übertragen,  und  auch  nach  dessen 
Tode  lehnte  er  den  Vorschlag,  einen  Componisteu  aus  Itahen  zu 
berufen,  aufs  entschiedenste  ab. 

Eine  charakteiistische  Seite  für  die  Musik  dieses  Jahrhun- 
derts bildet  die  Vervollkommnung  der  musikalischen  Ausdrucks- 
mittel, besonders  des  Kunstgesanges.  Wie  der  Vater  der  neapo- 
litanischen Schule,  A.  Scarlatti.  ein  ausgezeichneter  Sänger  war, 
so  auch  seine  Nachfolger.  Der  Kunstgesang  war  die  Schule. 
durch  welche  jeder  Componist  hindurchgehen  musste,  bevor  er 
auf  irgend  welchen  Erfolg  seines  Schaffens  hoffen  durfte.  Hasse 
begann  seine  Laufbahn  als  Tenorist  an  der  Hamburger  Operu- 
bühne;  auch  Graun  gehörte  zu  den  Vertretern  des  gediegenen 
Kunstgesanges  und  konnte  als  solcher  während  seines  Aufent- 
haltes in  Italien  den  Beifall  aller  Kenner  erringen.  Ihren  Höhe- 
punkt en-eichte  die  italienische  Gesangskunst  in  der  von  Pistocchi 
um  1700  zu  Bologna  gegründeten  Schule,  von  deren  •  ertblgreicher 
Wirksamkeit  die  zu  Händel's  Zeit  au  der  Londoner  Oper  thätigen 
Sänger  ein  glänzendes  Zeugniss  ablegen,  namentlich  der  Sopranist 


*)  Erst  die  Bekanntschaft  mit  iler  Sängerin  Gertriule  Schmehling, 
spätere  Mara,  von  deren  europäischen  Erfolgen  und  abenteuerlichem  Leben 
Rochlitz  im  ersten  Bande  seines  Werkes  .,Für  Freunde  der  Tonkunst"  aus- 
führlich berichtet,  konnte  ihn  eines  Besseren  belehren. 


V8  "VI.    -Die  italieiijsclie  Oper. 

Senesino  und  die  Sängerinnen  Cuzzoni  und  Faustina  Hasse. 
Aber  auch  die  Kehrseite  des  Virtuosenthums ,  Hochmuth  und 
grenzenlose  Eitelkeit,  tritt  bei  den  Genannten  in  unerfreulichster 
Weise  zu  Tage.  Die  Cuzzoni  war,  wie  Quanz  berichtet  „von 
Charakter  ein  wahrer  Drache",  und^als  Händel,  um  sie  besser 
bändigen  zu  können ,  die  ihr  künstlerisch  ebenbürtige  Gattin 
Hasse's  nach  London  berufen  hatte,  wurde  der  Wettstreit  zwischen 
den  beiden  Künstlerinnen  bald  ein  so  hitziger,  dass  es  einmal 
bei  offener  Scene  zu  einer  Schlägerei  zwischen  ihnen  kam. 

Je  höher  aber  die  Leistungen  der  Gesangsvirtuosen  vom 
Publicum  geschätzt  und  auch  bezahlt  wurden  —  schon  im  Jahre 
1647  hatte  der  römische  Musikschriftsteller  Doni  behaupten 
können  „sie  lebten  in  solchem  Ueberfluss,  dass  der  Einzelne  unter 
ihnen  mehr  hätte  als  zehn  Cantoren  und  Chormeister  zusammen"  — 
desto  tiefer  sank  das  Ansehen  der  Componisten.  In  der  Oper 
des  18.  Jahrhunderts  wurde  die  Musik  fast  nur  nach  der  Veran- 
lassung beurtheilt,  welche  sie  dem  Sänger  zur  Entfaltung  seiner 
Kunstfertigkeit  darbot;  „besonders  die  Arie  war  in  ihrem  ersten 
(am  Schlüsse  wiederholten)  Theile  gleichsam  nur  das  Lattenwerk, 
welches  der  Sänger  mit  allen  möglichen  Arabesken  und  Colo- 
raturen  zu  einem  kleinen  Triumphbogen  für  sich  selbst  heraus- 
putzte"*). Konnte  die  dramatische  Musik  in  der  Folgezeit  die 
nöthige  Kraft  finden,  aus  dem  Kampfe  gegen  das  Virtuosenthum 
siegreich  und  neugestärkt  hervorzugehen,  so  wurden  diese  miss- 
lichen Verhältnisse  für  einen  andern  Zweig  der  Tonkunst  gerade- 
zu verhängnissvoll:  die  Kirchenmusik  vei'flachte  im  Laufe  des 
18.  Jahrhunderts  mehr  und  mehr;  der  ernste  und  würdige  Stil 
des  Dur  ante,  des  Begründers  der  jüngeren  neapolitanischen 
Schule  (gest.  1755  als  Capellmeister  am  Conservatorium  San 
Onofrio  zu  Neapel)  wird  von  seinen  Nachfolgern  mit  dem  glän- 
zenden weltlichen  oder  einer  romanhaften  Unruhe  vertauscht. 
Dies  zeigt  sich  u.  a.  in  Pergolese's  „Stabat  mater",  dessen 
vorwiegend  sinnliche,  auf  den  Reiz  der  Singstimme  berechnete 
Musik  die  von  den  Zeitgenossen  ihr  gespendeten  begeisterten  Lob- 
sprüche nur  theilweise  verdient.  Jomelli  ist  der  einzige  unter 
den  jüngeren  Neapolitanern,  in  dessen  Kirchenmusik  der  Ernst 
und  die  Gediegenheit  der  römischen  Schule  noch  fortwirken, 
Eigenschaften ,  die  vorwiegend  in  seinen  späteren  Werken  zur 
Erscheinung    kommen,    wohl    in    Folge    seines   Aufenthaltes    in 


*)  S.  v.  Dommei",  Handbuch  der  Musikgeschichte,  S.  449. 


~VI.    J_)ie  italieniscUe  Oper.  79 

Deutschland  (ITöd — 1765)  als  Capellmeister  zu  Stuttgai-t  am 
Hofe  des  Herzogs  Karl  vou  Württemberg,  desselben  Fürsten, 
welcher  die  durch  Schiller  berühmt  gewordene  Karlsschule  ins 
Leben  rief. 

Selbst  zu  der  Zeit,  wo  der  musikalische  Genius  Deutschlands 
erwacht  ist,  wo  mit  Gluck  und  Mozart  die  dramatische  Musik 
einen  ungeahnt  hohen  Aufschwung  nimmt,  selbst  dann  giebt  sich 
die  italienische  Oper  noch  keineswegs  für  besiegt  und  fährt  fort, 
glänzende  Erfolge  zu  erringen.  In  Paris  weiss  Piccini  mehrere 
Jahre  hindui-ch  neben  Gluck  eine  geachtete  Stellung  zu  behaup- 
ten; in  Wien  finden  zu  Mozart's  Glanzzeit  die  Neapolitaner 
Paisiello  und  Sarti  enthusiastischen  Beifall,  der  erstere  mit 
seinem  „Barbier  von  Sevilla",  der  letztere  mit  der  Oper  „Fra 
due  litiganti  il  terzo  gode"  (in  der  deutschen  Bearbeitung  „Im 
Trüben  ist  gut  fischen"),  welche  nebst  Vincenzo  Martin's 
„Cosa  rara"  von  Mozart  zu  seiner  Tafelmusik  im  zweiten  Finale 
des  „Don  Juan"  benutzt  ist.  Sogar  Beethoven's  titanenhafte 
Erscheinung  konnte  es  nicht  hindern,  dass  sich  Europa  noch 
einmal  in  unserm  Jahrhundert  der  italienischen  Oper  auf  Gnade 
und  Ungnade  in  die  Ai'me  warf.  Rossini  (geb.  1792  zu  Pesaro 
im  Kirchenstaat)  war  der  Zauberer,  der  es  vermochte,  die  von 
den  Wiener  Meistern  zu  höherem  Yerständniss  herangebildete 
musikalische  Welt  aufs  neue  durch  den  sinnlichen  Reiz  der 
italienischen  Melodie  zu  fesseln.  Von  1813  an,  wo  sein  „Tancred" 
im  Theater  San  Moise  in  Venedig  zum  ersten  mal  in  Scene  ging, 
bis  zimi  Erscheinen  seines  letzten  Werkes  „Wilhelm  Teil"  im 
Jahre  1829  in  der  Grossen  Oper  zu  Paris,  ist  Rossini's  musikalische 
Laufbahn  durch  eine  Reihe  von  Erfolgen  gekennzeichnet,  wie  sie 
vor  ilim  kein  itaUenischer  Operncomponist  erlebt  hat.  Er  ver- 
dankt dieselben  in  erster  Linie  seiner  schöpferischen  Kraft,  die 
sich  nicht  etwa  allein  in  Ei^findung  von  Melodien,  sondern  auch 
in  einer  für  seine  Zeit  neuen  Behandlungsweise  der  Harmonien 
so  wie  des  Orchesters  kundgiebt;  ferner  den  ihm  zu  Gebote 
stehenden  Gesangskräften,  dies  namentlich  nachdem  im  Jahi'e 
1815  der  Opernunternehmer  Barbaja  ihn  und  die  Elite  der 
Sänger  und  Sängerinnen  Italiens  fest  engagirt  hatte,  imi  abwech- 
selnd in  Neapel,  Mailand  und  Wien  seine  Werke  aufzufühi'en. 
Endlich  sind  noch  die  politischen  Verhältnisse  in  Anschlag  zu 
bringen,  um  den  Enthusiasmus  zu  erklären,  welchen  das  Erscheinen 
der  Rossini'schen  Oper  hervomef:  die  geistige  Erschlaffung,  die 
sich  unseres  Welttheils  nach  den  mit  den  Napoleonischen  Kriegen 


gQ  "VI.    Die  italieuische  Oper. 

verbundenen  Aufregungen  bemächtigt  hatte,  und  das  daraus  fol- 
gende Bediü-fiiiss  nach  Mitteln  zur-  Zerstreuung  und  Betäubung. 
,.Aus  den  Tagen  des  Wiener  Congresses"  sagt  Riehl  („MusikaUsche 
Charakterköpfe-'  11.  S.  38)  „aus  dem  schwülen,  Stillstand  gebie- 
tenden, zurückdämmenden  Jahrzehnt  nach  den  Befi-eiimgskriegen 
stammt  Rossini's  Weltruhm,  Die  müden  Völker  brauchten 
Schlummerlieder  zum  Schlafen  und  Träumen,  und  der  Italiener 
bot  ihnen  den  anmuthigsten,  wollüstigsten  Schlafgesang.  Man  war 
des  gespreizten,  tragischen  Pathos  der  Napoleonischen  Schule  satt, 
auf  der  Bühne  wie  im  Leben;  am  Quell  der  unterhaltenden  Kunst 
wollte  man  süsses  Selbstvergessen  trinken,  und  wo  war  die  Kunst 
unterhaltender  als  in  der  Rossini'schen  Oper?" 

Die  Einseitigkeit,  mit  welcher  ein  Theil  der  musikahscheu 
Welt  sich  dem  Genüsse  der  Opern  Rossiui's  hingab,  imd  zwar 
bis  zu  dem  Grade,  dass  unsere  gi-össten  deutschen  Meister, 
Beethoven  und  Weber,  selbst  an  den  Stätten  ihrer  persönlichen 
Wirksamkeit  gegen  den  „Schwan  von  Pesaro"  in  den  Hinter- 
grund gestellt  wurden  —  diese  Einseitigkeit  rief  in  den  Kreisen 
der  ernster  strebenden  Musikfreunde  eine  Abneigung  gegen  die 
itahenische  Opemmusik  im  Allgemeinen  hervor,  die  ebenfalls  das 
richtige  Maass  überschritt  und  zu  emer  ungerechten  Bemiheilung 
ihi-es  Werthes  gefühi't  hat.  Spätere  italienische  Operncomponisten, 
wie  Bellini  und  Donizetti,  konnten  bei  der  Süsshchkeit  ihrer 
Melodie  sowie  der  Dürftigkeit  ihrer  Harmonie  und  Rhythmik 
nicht  die  geeigneten  Männer  sein,  jene  Abneigimg  zu  vermindem, 
so  dass  es  nach  und  nach  ein  Glaubensartikel  der  deutschen 
Musiker  geworden  ist,  die  italienische  Oper  für  etwas  durchaus 
Verwerfliches  zu  halten  und  ihr  jeden  Werth  abzusprechen.  Auch 
der  jüngste  der  italienischen  Operncomponisten,  Giuseppe  Verdi 
(geb.  1813  zu  Busseto  bei  Parma)  wird  meist  mit  der  traditio- 
nellen Geringschätzung  behandelt,  und  dennoch  scheint  gerade 
er  berufen,  der  Verweichhchung  und  Verflachung,  welcher  die 
itahenische  Oper  seit  einem  Jahrhundert  verfallen  ist,  mit  Erfolg 
entgegen  zu  arbeiten. 

Fassen  wir  die  Verdienste  dieses  Künstlers  als  dramatischer 
Componist  näher  ins  Auge,  so  finden  wir,  dass  er  zunächst  den 
Stoffen  semer  Opern  grössere  Berücksichtigung  zuwendet,  indem 
er  dieselben  nicht  nur  stets  selbst  auswählt,  sondern  auch  den 
Plan  der  Dichtung  bestimmt  und  die  Charaktere  und  Situationen 
aufs  genaueste  bezeichnet,  so  dass  sein  Dichter  nichts  weiter  zu 
thim  hat,  als  seinen  Angaben  zu  folgen  und  das  Ganze  in  Verse--, 


"VI.    Die  italienisciie  Oper.  oX 

211  briugeu.  Hiennit  im  Zusammenhange  zeigt  sodann  die  Musik 
—  namentlich  in  den  Werken  seiner  mittleren  Periode  „Rigo- 
letto"  (1851).  ,.La  Traviata"  (1853)  und  ,. Maskenball"  (1858)  — 
ein  entschiedenes  Streben,  den  dramatischen  Ausdruck  über  den 
rein  musikalischen  zu  setzen,  dem  Orchester  eine  die  Handlung 
charakterisirende  Mitwirkung  statt  der  blos  begleitenden  einzu- 
räumen .  den  melodiösen  Gesang  dem  declamatorischen  unter- 
zuordnen. Die  Bedenken,  welche  sich  trotzdem  in  Deutschland 
gegen  A'erdi's  Musik  erheben,  gelten  tlieils  ihrer  harmonischen 
Armuth,  theils  dem  Vorherrschen  der  Tanzrhythmen,  auch  in 
solchen  Situationen,  wo  das  deutsche  Ohr  dieselben  am  Avenigsten 
erwartet.  Allerdings  steht  Verdi  als  Contrapunktiker  hinter  den 
deutschen  Meistern  der  V^ergangenheit  und  auch  der  Gegemvart 
zurück  —  wie  überhaupt  der  Musiksiun  des  Italieners  zur  Ein- 
fachheit der  harmonischen  Behandlung  neigt  —  doch  leistet  er 
reichlichen  Ersatz  für  jenen  Mangel  durch  tief  empfundene  Me- 
lodie und  dramatisch  wirksames  Ensemble.  Auch  die  Rhythmik 
der  Verdi'schen  Musik  ist  durch  den  nationalen  Geschmack  be- 
stimmt, welcher  eine  grössere  Straffheit  und  Fasslichkeit  des 
Rhythmus  verlangt,  ohne  ihn  deshalb  sofort,  wie  es  das  germa- 
nische Ohr  thut,  als  Tanzmusik  aufzufassen.  Vollends  unbegründet 
aber  ist  der  Vorwurf,  Verdi  verletze  durch  häufige  Verwendung 
der  Diu'tonart  zur  Schilderung  schmerzlicher  Empfindungen  die 
dramatische  Wahrheit;  denn  Avenn  auch  nach  unserer  Auffassungs- 
Aveise  das  Dur  im  Allgemeinen  einer  freudigen,  das  Moll  einer 
traurigen  Stimmung  entspricht,  so  bcAveist  dagegen  die  Entwicke- 
lungsgeschichte  der  Tonarten,  Avie  nicht  minder  die  Volksmusik 
<ler  verschiedenen  Nationen,  dass  jene  Unterscheidung,  mag  sie 
dem  germanischen  Musiksinne  auch  noch  so  natürlich  erscheinen, 
doch  keinesAvegs  in  der  Sache  begründet  ist*).  Wollten  die  in 
Deutschland  so  zahlreichen  Verächter  der  italienischen  Oper  den 
Verhältnissen  Rechnung  tragen,  welche  durch  die  eigenthümliche 
musikalische  Organisation  jedes  der  beiden  Völker  bedingt  sind. 


*)  Die  Thatsaclie,  dass  die  meisten  slavischen  Volkslieder  der  Moll- 
tonart angehören,  ist  vielfach  gedeutet  worden,  als  seien  sie  der  Ausdruck 
einer  melancholischen  (lemüthsstimmung,  der  Trauer  über  politisches  und 
sociales  Unglück  u.  s.  w.  Dieser  Deutung  widerspricht  jedoch  die  in  der 
Regel  heitere  Stimmung  der  Vortragenden  und  der  Zuhörer;  ebenso  der 
harmlose  Charakter  der  Zeit  und  der  Volkskreif^e.  welchen  jene  Lieder  ihre 
Entstehung  verdanken. 

Lau{f!ians.  Musikgeschichte.     2.  Aufl.  >) 


ö^  ~VX.    Die  italienisclie  Oper. 

SO  würden  sie  ihr  die  gebührende  Anerkennung  nicht  länger  ver- 
weigern nnd  ihr  gerade  in  ihrer  gegenwärtigen  Entwickelungs- 
periode  Atolle  Theilnahme  und  Aufmerksamkeit  zuwenden  —  dies 
wahrlich  nicht  zum  Nachtheil  unserer  deutschen  Tonkunst,  welche, 
wie  die  aller  anderen  jSTationeu,  der  künstlerischen  Befruchtung 
von  aussen  bedarf,  um  nicht  der  Einseitigkeit  und  dem  Nieder- 
gang zu  verfallen. 


YII. 
J3ie  französisclie  Oper. 


Bei  keinem  Volke  Europa's  vermochte  das  von  Italien  ge- 
gebene Beispiel  der  Erneuerung  des  musikalischen  Dramas  der 
Alten  mehr  zur  Nachahmung  zu  reizen  als  bei  den  Franzosen, 
deren  Neigung  zur  Musik  wie  nicht  minder  zu  dramatischen 
Darstellungen  schon  im  Mittelalter  vielfach  zum  Ausdruck  ge- 
kommen war  und  durch  die  künstlerische  Strömung  des  16.  Jahr- 
hunderts neue  Nahrung  erhalten  hatte.  Selbst  während  der  po- 
litischen und  religiösen  Stürme  dieser  Zeit  hatte  hier  die  Re- 
naissance ihren  heilsamen  Einfluss  auf  die  Kunstzustände  äussern 
können;  nachdem  aber  in  Folge  des  Edictes  von  Nantes  (1598) 
die  rehgiösen  Spaltungen  und  die  damit  verbundenen  Bürger- 
kriege ihr  Ende  erreicht  hatten,  nachdem  dann  durch  Richelieu's 
eiserne  Hand  der  Trotz  des  Adels  gebrochen  und  die  Staats- 
einheit hergestellt  war,  da  konnten  sich  neben  dem  materiellen 
Wohlstand  die  künstlerischen  Triebe  des  französischen  Volkes  so 
frei  entfalten,  dass  es  den  von  den  Italienern  auf  geistigem  Ge- 
biete gewonnenen  Vorsprung  bald  wieder  einholte. 

Der  erste,  welcher  dem  Bedürfniss  nach  einer  Reform  des 
französischen  Schauspiels  im  modernen  Sinne  entgegen  kam,  war 
ein  Venetianer  Namens  Baif,  der  sich  1570  bei  Karl  IX.  um 
ein  Privilegium  zur  Errichtung  einer  Akademie  für  dramatische 
Dichtkunst  und  Musik  bewarb,  es  auch  erhielt,  durch  die  Un- 
gunst der  Zeiten  jedoch  an  der  Ausführung  seines  Vorhabens 
gehindert  wurde.  Unter  der  Regierung  des  lebenslustigen  Königs 
Heinrich's  IV.  hätten  jene  musikahsch  -  dramatischen  Pläne  wohl 
verwirklicht  werden  können,  um  so  eher,  als  dieser  Fürst,  wie 
im  vorigen  Abschnitt  erwähnt,  bei  seiner  Vermählung  in  Florenz 
persönlich  Zeuge  des  künstlerischen  Ereignisses  gewesen  war, 
von  welchem  die  moderne  Oper  ihren  Ausgang  genommen  hatte 
—   wäre  nicht  seinem    segensreichen    AVirken    durch    Ravaillac's 


g4  ■^^11.    Die  französisctie  Oper. 


Dolch  (1610)  ein  unerwartet  frühes  Ende  bereitet  worden.  Hein- 
rich's  Nachfolger,  Ludwig  XIII.  war  bei  seiner  finstern  GTe- 
müthsart  nicht  geneigt,  den  Künsten  eine  Stätte  an  seinem  Hofe 
zu  gönnen;  gerade  dieser  Umstand  aber  sollte  die  Veranlassung 
geben  ziun  ersten  Erscheinen  der  Oper  in  Frankreich,  indem 
nämlich  der  Cardinal  Mazarin  zur  Erheiterung  der  Königin  Anna 
von  Oestreich  eine  itahenische  Operntruppe  nach  Paris  berief, 
welche  1645  im  Saale  des  Petit  Bourbon  ihre  Vorstellungen  mit 
der  Oper  „La  festa  teatrale  della  finta  pazza"  (Die  yerstellte 
Wahnsinnige)  eröffnete. 

Der  Beifall,  den  die  neue  Kunstgattung  beim  französischen 
Publicum  fand,  konnte  nur  ein  getheilter  sein,  weil  die  Oper  sich 
um  diese  Zeit  von  der  ursprünglich  angestrebten  edlen  Einfach- 
heit schon  beträchtlich  entfernt  hatte  und  ihre  Wirkung  fast  nur 
in  Aeusserlichkeiten  suchte,  im  Reichthum  der  Decorationen,  der 
Costüme,  der  Pallete,  bei  weichen  letzteren  zur  Abwechselung 
auch  alle  denkbaren  Thiergestalten  figurirten;  dies  aber  konnte 
einer  Nation  nicht  genügen,  deren  G-eschmack  für  dramatische 
Dichtung  durch  Männer  wie  Corneille,  dessen  „Cid"  schon 
1636  erschienen  war,  und  Molifere,  der  1644  seine  Wkksamkeit 
in  Paris  begonnen  hatte,  in  bemerkenswerthem  Grade  geläutert 
und  verfeinert  war.  In  Folge  dessen  musste  bald  der  Wunsch 
laut  werden,  das  aus  Italien  eingeführte  Musikdrama  in  einer  den 
nationalen  Kunstanschauungen  entsprechenden  Weise  umgebildet 
zu  sehen.  Ein  scheinbar  unüberwindhches  Hinderniss  für  die 
Erfüllung  dieses  Wunsches  bildete  die  in  den  Hterarischen  Kreisen 
Frankreichs  feststehende  Meinung,  dass  der  französischen  Sprache 
die  Fähigkeit  mangele,  sich  mit  der  Musik  zu  verbinden;  und  in 
der  That  war  sie  seit  den  Peformen  des  Schriftstellers  und 
Dichters  Malherbe  (1555 — 1628)  in  so  feste  Formen  gebannt, 
in  der  Poesie  war  der  Alexandriner  (der  durch  einen  Einschnitt 
unterbrochene  sechsfüssige  Jambus)  so  sehr  zur  Alleinherrschaft 
gelangt,  dass  dem  Vocalcomponisten  die  freie,  selbständige  Be- 
wegung seiner  Phantasie  beinahe  unmögUch  gemacht  war.  Die 
französische  Sprache  war  eben  damals  in  das  Stadium  der  Reife 
getreten,  welches  ein  mittelalterlicher  Dichter  im  Hinblick  auf 
seine  Vorgänger  mit  den  Worten  charakterisirf:*) 

*)  Der  ungenannte  Vollender  des  von  Ciottfried  von  Strasslnirg 
begonnenen,  von  Heinrich  von  Friburg  und  Ulricli  von  Türheini 
fortgesetzten  Epos  „Tristan  und  Isolde".  (Vergl.  die  Bearbeitung  des  Ge- 
dichtes von  Hermann  Kurtz,  S.  518.) 


"VII.    Die  fraiizösisclie  Oper.  85 

..Die  sind  noch  anders  dran  gewesen, 
Da  war  die  Sprache  ein  lieblich  Kind, 
Muthwillig  auch,  wie  Kinder  sind, 
Im  I^nschuldsreiz :  doch   diese  nun, 
Mit  ihren  Runzeln ,  muss  ehrbar  thun." 

AVie  zur  Zeit  der  uiederländischeu  Contrapunktisten  die  Dichtung 
der  Musik  untergeordnet  gewesen  war,  so  hatte  sich  jetzt  in  Frank- 
reich das  Verhältniss  umgekehrt.  Eine  freiere  Behandlung  der 
Sprache  schien  die  unumgängliche  Bedingung,  um  eine  nationale 
Oper  ins  Leben  zu  rufen;  es  musste  sich  ein  Dichter  finden,  der  den 
Muth  hatte,  sich  über  die  bestehenden  Regeln  hinweg  zu  setzen, 
und  dies  war  der  Abbe  Perrin,  der  somit  unter  den  Begründern 
der  französischen  (Jper  in  erster  Reihe  genannt  zu  werden  ver- 
dient. 

So  wenig  sich  Perrin  mit  den  Dichterheroen  seiner  Zeit  an 
poetischer  Begabung  vergleichen  konnte,  so  besass  er  dafür  die 
zur  Lösung  seiner  Aufgabe  nöthige  Bühnenerfahrung  in  reichem 
Maasse,  da  der  Hof  des  Herzogs  Gaston  von  Orleans,  des  Bruders 
Ludwig's  Xni.,  bei  dem  er  das  Amt  eines  Ceremouienmeisters 
(„Introducteur  des  ambassadeurs'')  bekleidete,  inl  vollen  Gegen- 
satz zum  Hofe  des  menschenscheuen  Königs,  der  Schauplatz  aller 
Art  von  Lustbarkeiten  war,  insbesondere  der  theatrahschen.  Hier 
fasste  der  von  vornherein  nichts  weniger  als  geisthch  gesinnte 
Abbö  den  Plan  zu  einer  Dichtungsweise,  die  durch  neue  und 
unregelmässige  Formen,  wie  auch  durch  den  Ausdi'uck  mannich- 
faltiger  Empfindungen  die  Phantasie  des  Musikers  anzuregen  ge- 
eignet wäre.  Seine  nach  diesem  Princip  und  nach  dem  Muster 
der  sogenannten  imgebundenen  Verse  (versi  sciolti)  der  Italiener 
verfassten  und  1661  erschienenen  Dichtungen,  die  er  in  der  Vor- 
rede als  Musiktexte  oder  Singverse  (paroles  de  musique)  bezeich- 
net hatte,  erregten  selbstverständlich  die  heftigste  Opposition  der 
professionellen  AVoildichter,  an  ihrer  Spitze  der  poetische  Zucht- 
raeister  seiner  Zeit,  Boileau,  der  nachmalige  Verfasser  des,  dem 
gleichnamigen  horazischen  nachgebildeten  Lehrgedichtes  „Art 
poetique.*)     Um    so    dankbarer   wurden    sie    von    den   Musikern 


*)  Ihn  nennt  Scherr  (Allgem.  Gesch.  der  Literatur,  fünfte  Auflage  I. 
S.  199}  „den  vollständigen  Ausdruck  der  unter  Ludwig  XIV.  angenommenen 
Conventionellen  Geschmacksrichtung,  mit  ihrer  Vernachlässigung  und  Miss- 
achtung der  Natur,  ihrer  Gemachtheit  und  ihrem  gefrorenen  Pathos,  ihrer 
blos  rhetorischen  Begeisterung,  welche  die  hölzernen  Dämme  der  Convenienz 
nie  oder  doch  nur  höchst  selten  zu  überfluthen  kräftig  und  kühn  genug  ist. 


86  "Vn.    Die  iranzösisclie  Oper. 

aufgenommen  und  der  bedeutendste  Componist  des  damaligen 
Frankreich,  Eobert  Cambert,  Organist  an  der  Kirclie  St.  Ho- 
norö  und  Musikintendant  der  Königin  Mutter,  zeigte  seine  Be- 
reitwilligkeit, auf  Perrin's  Neuerungen  einzugehen,  in  der  Vorrede 
zu  einer  Sammlung  seiner  Trinklieder,  wo  er  die  Hoffnung  aus- 
spricht „dass  die  Schönheit  der  Worte  für  die  Mängel  der  Musik 
entschädigen  werde,  da  sie  zum  grössten  Theil  den  Herrn  Perrin 
zum  Verfasser  haben,  über  dessen  unvergleichliche  Befähigung 
zur  Dichtung  musikalischer  Texte  alle  Welt  einig  sei."  Mit 
diesem  Componisten  verband  sich  Perrin  zur  Ausführung  seiner 
musikalisch-dramatischen  E,eformpläne  und  die  erste  Frucht  ihrer 
gemeinsamen  Arbeit  war  ein  ländliches  Singspiel,  betitelt  „Pa- 
storale, premifere  comedie  frangaise  en  musique",  zum  ersten  mal 
aufgeführt  im  Jahre  1659  im  Schlosse  des  G-eneralpächters  de  la 
Haye  zu  Issy  bei  Paris. 

Der  glänzende  Erfolg  dieses  Versuches  war  deshalb  besonders 
ehrenvoll  für  den  Dichter  und  den  Componisten,  weil  beide  es 
verschmäht  hatten,  die  gebräuchlichen  äusseren  Operneffectmittel 
bei  dieser  Gelegenheit  zur  Anwendung  zu  bringen,  und  so  der 
dem  Werke  gespendete  Beifall  ausschliesslich  seinem  inneren 
Werthe  galt.  Dennoch  musste  eine  B,eihe  von  Jahren  vergehen, 
bis  die  französische  Oper  über  das  erste  Kindheitsstadium  hinaus 
einen  Schritt  vorrücken  konnte.  Zunächst  war  dem  Abb 6  Perrin 
die  Täuschung  beschieden,  als  Festoper  zur  Vermählungsfeier 
Ludwig's  XIV.  eine  italienische  Oper,  den  schon  im  vorigen  Ab- 
schnitt erwähnten  „Xerxes"  von  Cavalli  gewählt  zu  sehen,  ob- 
wohl sein  „Pastorale"  kurz  nach  jener  Aufführung  in  Issy  auch 
vor    dem   Hofe   in   Vincennes    dargestellt   worden   war   und   bei- 


Die  Poesie  war  vollständig  zur  Verstandessaclie  geworden,  ihre  Nüchtern- 
lieit  und  Kahlheit  wurde  fälschlich  für  die  edle  Simplicität  der  Griechen 
gehalten,  man  widmete  den  geistlos  aufgefassten  Kuusti'egeln  der  Alten, 
z.  B.  des  Horaz,  eine  sklavische  Folgsamkeit  und  abstrahirte  aus  ihnen  eine 
Theorie,  deren  praktische  Folgen  gerade  so  abgeschmackt  und  absurd  waren, 
wie  die  Erscheinung  Ludwig's  XIV.,  der  mit  einer  Allongeperrücke  und  in 
Schuhen  mit  rothen  Absätzen  öffentlich  als  Musengott  auftrat.  Besonders 
geschickt  war  Boileau  in  seiner  Nachahmung  der  Alten;  seine  nach  horazi- 
schem  Muster  gefertigte  „Art  poötique"  aber  ist  recht  eigentlich  der  Codex 
der  französischen  Classik  und  wurde  lange  Zeit  in  Frankreich  sowohl  wie 
im  Ausland  als  unfehlbarer  Canon  des  Geschmacks  angesehen.  Man  nannte 
ihren  Verfasser  auch  geradezu  den  Gesetzgeber  des  Geschmacks  (legislateur 
du  goüt),  und  wirklich  hat  niemand  den  Geist  der  französischen  „Classik" 
reinlicher  und  aligezirkelter  zur  Anschauung  gebracht,  als  dieser  pedantische 
Versedrechsler." 


'V^II.    X)ie  frauzösisclie  Oper.  Ol 

fällige  Aufnahme  gefunden  hatte.  Aber  diese  Täuschung,  so 
wenig  wie  der  Tod  seiner  Beschützer,  erst  des  Herzogs  von 
Orleans,  dann  des  Cardiuals  Mazariu,  vermochten  den  unter- 
nehmenden Dichter  an  der  energischen  Fortfiihning  des  begonnenen 
Werkes  zu  hindern.  Durch  unausgesetzte  Bemühungen  und  Bitt- 
gesuche brachte  er  es  1669,  also  volle  zehn  Jahre  nach  der  ersten 
Aufführung  des  Pastorale,  zu  einem  königlichen  Privilegium, 
welches  ihm  für  ZAVölf  Jahre  das  ausschUessliche  Recht  gab,  in 
Paris  wie  in  allen  übrigen  Städten  des  Königreichs  „Opern- 
akademien nach  Art  der  italienischen"  zu  veranstalten.*)  Nun 
bildete  er  mit  Cambert,  dem  Marquis  von  Sourdöac  und  einem 
gewissen  Champeron,  welchen  letzteren  die  Sorge  für  das  De- 
corationswesen und  die  Finanzverwaltuug  oblag;  eine  Gesellschaft.; 
die  besten  Gesaugskräfte  des  Reiches  so  wie  der  Balletmeister 
des  Königs,  Beauchamp,  als  „chef  de  la  danse"  wurden  für 
das  Unternehmen  gewonnen,  und  bald  war  auch  ein  geeigneter 
Platz  für  das  zu  erbauende  Theater  gefunden:  schon  nach  fünf 
Monaten  erhob  sich  an  der  Stelle  des  „Jeu  de  paume  (Ballspiel- 
haus) de  la  bouteille"  in  der  Strasse  Mazarine  das  neue  Gebäude, 
und  1671  konnte  dasselbe  mit  der  Oper  „Pomoua"  eröffnet  werden, 
ein  Werk,  welches  sowohl  hinsichts  der  Dichtung  wie  der  Musik 
der  Erstlingsarbeit  Perrin's  und  Cambert's  weit  nachstand,  mit 
seinem  decorativen  Pomp  jedoch  eine  solche  Anziehungskraft  auf 
das  Publicum  ausübte,  dass  es  volle  acht  Monate  auf  dem  Re- 
pertoire blieb  und  dem  Dichter  allein  die  Summe  von  30,000  Francs 
(24,000  Mark)  eintrug. 

Inzwischen  war  dem  jungen  Unternehmen  ein  gefährlicher 
Gegner  herangewachsen  in  Giovanni  Battista  Lull3^**)  In 
Florenz    1633    geboren   und    als  Knabe    nach  Paris    gekommen, 


*)  „Diverses  Academies,  dans  lesquelles  il  se  fait  des  representations 
en  musique,  qu'on  nomme  opera."  (sie.)  Die  Bezeiclinunpf  „Academie  royale 
de  Musique"  noch  heute  (mit  jeweiliger  Aenderung  des  AVortes  „royale"  in 
„imperiale"  oder  „nationale")  der  officielle  Name  für  die  pariser  sogen. 
Grosse  Oper,  erscheint  erst,  nachdem  das  Perrin'sche  Privilegium  an  seinen 
Nachfolger  übergegangen  war.  Bezüglich  der  Schreibweise  „Grosse  Oper" 
folgen  wir  den  Franzosen,  welche  die  Prädicate  ,,grand"  und  „comique"  in 
der  Verbindung  mit  dem  Wort  „opera"  nicht  als  Adjectiva  sondern  als 
Eigennamen  behandeln  und  demgemäss  mit  grossem  Anfangsbuchstaben 
schreiben. 

**)  Der  Name  LuUy  findet  sich  in  allen  officiellen  Dokumenten  mit 
einem  y;  in  Anbetracht  der  Nationalität  des  Künstlers  müsste  es  allerdings 
,,Lulli"  heissen,  da  das  italienische  Alphabet  den  Buchstaben  y  nicht  kennt. 


88  ^V^II.    Die  fraiizösisclie  Oper. 

hatte  sich  dieser  von  einem  Küchenjungen  der  Mademoiselle  de 
Montpensier,  der  Nichte  des  Königs,  von  Stufe  zu  Stute  zum 
Günsthng  Ludwig's  XIV.  emporgearbeitet.  Von  seiner  Herrin 
in  Folge  eines  auf  sie  verfassten  Spottgedichtes  in  Ungnaden 
entlassen,  fand  er  zunächst  mit  Hülfe  seines  Talentes  für  die 
Violine  ein  Unterkommen  im  königlichen  Orchester,  der  aus  den 
vierundzwanzig  „violons  du  roy"  bestehenden  „grande  bände"; 
nachdem  er  dort  die  Aufmerksamkeit  des  Monarchen  erregt,  war 
für  ihn  ein  eigenes  Orchester  gebildet  worden,  die  aus  sechzehn 
Musikern  bestehenden  „petits  violons",  wie  sie  zum  Unterschied 
von  dem  älteren  zahlreicheren  Orchester  genannt  wurden;  endlich 
hatte  er  es  auch  als  Schauspieler  verstanden,  den  König  für  sich 
zu  gewinnen  und  "durch  seine  unwiderstehliche  Komik  die  Gnade 
desselben  zu  befestigen  gewusst,  so  oft  ihm  seine  Stellung  am 
Hofe  bedroht  erschienen  war.  Auf  die  Gunst  des  allmächtigen 
Herrschers  gestützt,  verfuhr  er,  um  seine  Zwecke  schneller  zu 
erreichen,  gegen  das  Publicum  wie  auch  gegen  seine  Collegen  mit 
der  äussersten  Rücksichtslosigkeit.  Wie  er  die  bedeutendsten 
Männer  seiner  Zeit,  Boileau,  Lafontaine,  selbst  Moliöre, 
dessen  kameradschaftlichem  Entgegenkommen  er  seine  ersten  Er- 
folge verdankte,  aufs  empfindlichste  geschädigt  und  beleidigt  hatte^ 
so  trug  er  jetzt,  durch  den  Erfolg  des  Perrin  -  Cambert'schen 
Unternehmens  eifersüchtig  gemacht,  keine  Scheu,  mit  Aufwendung 
aller  Mittel  der  Intrigue  diese  beiden  Männer  um  die  Früchte 
ihrer  Arbeit  zu  bringen.  Wirklich  gelang  ihm  dies  im  Jahre  1672, 
wo  er  einen  zwischen  den  vier  Directoren  des  Unternehmens 
ausgebrochenen  Streit  benutzte,  um  das  dem  Perrin  ertheilte  Pri- 
vilegium an  sich  zu  bringen,  und  damit  der  Beherrscher  des  ge- 
sammten  französischen  Opernwesens  wurde.  Vergebens  protestirten 
die  Beraubten:  Perrin's  Klagen  verhallten  imgehört  und  nach 
Jahresfrist  war  von  ihm  nicht  mehr  die  Bede;  auch  Cambert 
musste  einsehen,  dass  neben  Lully  für  ihn  kein  Platz  sei;  er 
siedelte  nach  London  über,  konnte  jedoch,  ungeachtet  seiner 
dortigen  glänzenden  Erfolge  als  Componist,  das  ihm  in  seinem 
Vaterlande  widerfahrene  Missgeschick  nicht  verschmerzen  und 
starb  wenige  Jahre  darauf  (1677),  wie  Lully's  Feinde  behaupteten,, 
von  diesem  vergiftet. 

Mit  Lully  beginnt  die  eigentliche  Glanzepoche  der  Grossen 
Oper  in  Frankreich,  da  er  das  Bedürfniss  des  Publicums  nach 
einem  dem  nationalen  Empfinden  entsprechenden  Musikdrama 
richtig  erkannt  hatte  und  ihm  völlig  Genüge  zu  leisten  im  Staude 


"V'II.     Die  iraiizösisclie  Oper.  89 

Avar.  Perriu's  Versuch,  den  Zwang  der  dichterischen  Formen 
ahzuschüttehi ,  konnte  bei  dem  Glauben  der  Franzosen  an  die 
Unabänderhchkeit  gewisser  Satzungen  einen  durchgreifenden  Er- 
folg unmöglich  haben ;  er  war  zu  spät  gekommen,  um  die  vorhin 
beschriebene  Entwickelung  der  Sprache  noch  rückgängig  zu 
machen.  Lully  dagegen  schloss  sich  eng  an  die  herrscheuden 
Kimstanschauungen  an,  und  das  Ansehen,  welches  er  sich  als 
Operncomponist  bei  der  französischen  Nation  erwarb,  dankt  er 
nicht  so  sehr  seiner  musikalischen  Begabung,  als  vielmehr  seiner 
Fähigkeit,  auf  das  Wesen  der  Tragödie  einzugehen,  nach  den 
Vorstellungen,  die  man  sich  in  Frankreich  von  dieser  Kunst- 
gattung gebildet  hatte.  „Wie  das  französische  Drama"  sagt 
V.  Dommer  (Musikgeschichte,  S.  395)  „nach  den  Gesetzen  des 
altgriechischen  sich  zu  bilden  suchte,  so  stand  auch  Lully  in 
in  seiner  Musik  den  Ideen  von  ihrer  Beschaffenheit  im  antiken 
Musikdrama  noch  weit  näher  als  die  gleichzeitigen  Italiener,  bei 
denen  die  Tonkunst  auch  in  der  Oper  vom  Griechenthum  sich 
emancipirt  und  ihre  eigenen  Wege  eingeschlagen  hatte.  Bestärkt 
imd  getragen  wurde  Lully  in  seinen  Ideen  wesentlich  durch  den 
Dichter  Quinault,  dessen  Texte  jenen  Gesetzen  folgen  und,  auch 
abgesehen  davon,  einen  weit  grösseren  poetischen  AVerth  haben 
als  die  meisten  gleichzeitigen  italienischen  Operndichtungen."  Als 
musikalische  Kunstwerke  stehen  Lully's  Opern  hinter  denen  der 
damaligen  Italiener  zurück.  Bei  ihm  liegt  der  Schwerpunkt  in 
der  nuisikalischen  Rhetorik  und  Declamation,  im  dramatischen 
Ausdruck,  den  er  durch  engen  Anschluss  des  Tones  an  das  AVort 
zu  erreichen  sucht;  und  demgemäss  sind  seine  Musikformen  ein- 
fach, ja  dürftig  zu  nennen  im  Vergleich  zu  den,  allerdings  meist 
auf  Kosten  der  dramatischen  AVahrheit,  breit  entwickelten  Ton- 
formen der  gleichzeitigen  italienischen  Oper.  Diese  schwache  Seite 
an  Lully's  Opern  wird  jedoch  ausgeglichen  durch  seine  genaue 
Kenntniss  der  Bühne,  sowie  durch  seine  Fähigkeit,  von  allen 
äusseren  theatralischen  Mitteln  einen  geschickten  Gebrauch  zu 
machen.  Dazu  kommt  noch  der  Eifer,  mit  dem  er  persönlich  ein- 
trat, um  das  von  ihm  als  richtig  und  nothwendig  Erkannte  durch- 
zusetzen. Wie  er  seinen  Dichter  Quinault  aufs  äusserste  tyran- 
nisirteimd  so  lange  an  dessen  Arbeiten  strich  und  hinzusetzte, 
bis  sie  seinen  Intentionen  völlig  entsprachen,  so  hielt  er  auch 
beim  Einstudiren  seiner  Opern  die  Säuger ,  den  Chor ,  das 
Orchester  und  die  Tänzer  zu  einer  peinlichen  Genauigkeit  an. 
Vor   allem    war    er  bestrebt,    seinen   Darstellern    einen    besseren 


QO  "VII.    Die  fraiizösisclie  Oper. 

Bühnenanstand.  eine  höhere  Fertigkeit  in  der  Geberdekimst  und 
eine  deutlichere  Aussprache  der  Worte  beizubringen  —  letzteres 
eine  Hauptbedingung  zum  Erfolg  seiner  Musik,  deren  declama- 
torischer  Charakter  sich  niemals  verleugnet;  auch  nicht  in  den 
Chören,  welche  sich  in  weit  grösserem  Maasse  als  der  italienische 
Opemchor  an  der  Handlung  betheiligen,  und  so  die  Verwandt- 
schaft der  französischen  Oper  mit  der  antiken  Tragödie  auch 
ihrerseits  erkennbar  machen.  Aus  alle  diesem^  erkläi-t  es  sich, 
dass  Lully's  "Werke  nicht  nur-  zu  Lebzeiten  des  Autors  beim 
französischen  Publicum  in  hohem  Ansehen  standen,  sondern  auch 
nach  seinem  Tode  (1678)  noch  beinahe  ein  volles  Jahrhundert 
hindurch  sich  auf  der  Bühne  behaupten  konnten.  Erst  im  Jahre 
1774  verschwanden  sie  vom  Eepertoire,  gleichzeitig  mit  dem  Er- 
scheinen der  „Iphigenia  in  Auhs''  von  Gluck,  dessen  Reform 
des  musikalischen  Dramas  übrigens  im  wesentlichen  den  Lully'schen 
Principien  folgt,  wie  auch  dieselben  bis  in  die  Gegenwart  für  die 
französische  Grosse  Oper  massgebend  geblieben  sind. 

Xur  ein  Componist  vermochte  es,  sich,  während  dieses  langen 
Zeitraumes  neben  Lully  Geltung  zu  verschaffen:  Jean  Philippe 
Rameau  (geb.  1683  zu  Dijon).  Als  Musiker  seinem  Vorgänger 
überlegen,  hat  er  die  französische  Oper  nach  Seiten  des  Me- 
lodischen und  Harmonischen  erheblich  bereicheri,  ohne  jedoch, 
durch  Begünstigung  des  musikalischen  Elementes  auf  Kosten  des 
dramatischen,  den  von  Lully  befolgten  Grundsätzen  untreu  zu 
werden.  Erst  verhältnissmässig  spät,  in  seinem  fünfzigsten  Lebens- 
jahre, begann  Rameau  seine  Laufbahn  als  Operncomponist ;  da 
er  aber  während  der  ersten,  grösseren  Hälfte  seines  Künstler- 
lebens unausgesetzt  musikalisch  thätig  gewesen  war  —  mit  wie 
grossem  Erfolg,  dies  beweisen  seine  Leistungen  als  Theoretiker 
wie  auch  als  ClaAdervirtuose  und  Componist  für  dies  Instrument 
—  so  konnte  er  bereits  mit  Erscheinen  seiner  ersten  Oper 
„Hippolyte  et  Ariele'"  (1.  October  1732)  eine  epochemachende 
Thätigkeit  auch  auf  dramatischem  Gebiete  entfalten.  Schon  hier 
zeigt  sich  der  Unterschied  seiner  Begabung  von  der  des  Lully; 
dieser  behält  von  der  ersten  bis  zur  letzten  seiner  Opern  das- 
selbe musikalische  System  bei.  während  in  den  Werken  Rameau's 
die  reichste  Abwechslung  herrscht,  ein  Streben,  stets  neue  Aus- 
drucksmittel zu  benutzen  und  dem  Stil  Mannichfaltigkeit  zu  geben. 
Die  Pülle  der  musikalischen  Gedanken,  durch  welche  er  in  der 
genannten  Oper  seine  Zeitgenossen  überraschte  uud  anfangs  be- 
greiflicherweise verwirrte,  rechtfertigt  das  ürtheil  des  als  Kirchen- 


"Vn.    Die  i'rauzösisolie  Oper.  91 

wie  auch  als  dramatisclier  Componist  hocliangesehenen  Campra 
(von  1722  bis  zu  seinem  Tode  1744  Capellmeister  Ludwig's  XV.) 
,.Hipi)ol}i;e  et  Aricie  enthalten  den  Stoff  für  zehn  gewöhnliche ' 
Opern,  und  Rameau  werde  alle  Meister  seiner  Zeit  verdunkeln." 
Zunächst  freilich  hatte  der  Künstler  die  heftigsten  Angriffe  von 
Seiten  des  Puhlicums  zu  erdulden;  insbesondere  konnten  die 
blinden  Anhänger  der  Lully'schen  Oper  ihm  seine  Neuerungen 
nicht  verzeihen  und  rächten  sich  dafür  u.  a.  durch  folgendes 
Epigramm: 

Si  le  difficüe  est  le  beau 
^'est  un  grand  homme  que  ßameau. 
Mais  si  le  beau,  par  aventure 
N'etait  que  la  simple  nature, 
Quel  petit  homme  que  ßameau! 

eines  der,  bei  jeder  neuen  Kunstrichtung  wiederkehrenden,  darum 
aber  nicht  weniger  gedankenlosen  Urtheile;  denn  was  man  in 
der  Musik  „Natürlichkeit"  nennt,  ist  lediglich  die  Gewöhnung  des 
Ohres,  und  der  den  bahnbrechenden  Componisten  noch  stets 
gemachte  Vorwurf  des  absichtlichen  Anhäufens  von  Schwierig- 
keiten hat  seine  Ursache  allein  in  der  Trägheit  der  Zuhörer, 
welche  die  Mühe  scheuen,  die  ihnen  vom  Künstler  erschlossenen 
neuen  Kunstgebiete  in  Besitz  zu  nehmen.  Auch  in  der  Folge, 
mit  dem  Erscheinen  jeder  neuen  Oper  musste  ßameau  derartige 
Angriffe  erdulden,  wiewohl  er  seit  der  Aufführung  seiner  Oper 
„Castor  und  Pollux"  (1737)  als  der  erste  dramatische  Componist 
Frankreichs  auch  von  den  Greguern  anerkannt  war.  Die  hervor- 
ragende Stellung,  welche  er  sich  an  der  Grossen  Oper  erworben, 
für  die  er  in  den  folgenden  Jahren  noch  zweiundzwanzig  grössere 
"Werke  lieferte,  behauptete  er  bis  zu  seinem  Tode  (1764),  und  die 
Art  und  Weise,  wie  die  französiche  Nation,  sowohl  durch  ein 
glänzendes  Begräbniss  wie  auch  durch  die,  mehrere  Jahre  hin- 
durch wiederholten  GedächtnissfeierUchkeiteu  am  Tage  seines 
Todes  das  Andenken  des  Meisters  geehrt  hat,  beweist,  dass  sie 
ihn  schon  bei  seinen  Lebzeiten  zu  ihren  besten  Söhnen  zählte. 

Nicht  geringer  sind  die  Verdienste,  welche  sich  Rameau  durch 
seine  epochemachende  Thätigkeit  auf  dem  Felde  der  musikalischen 
Theorie  erworben  hat.  Während  sich  seine  Vorgänger  mit  dem 
Aufstellen  der  Regeln  für  die  Verbindung  der  Ac  cor  de  begnügt 
hatten,  ohne  nach  dem  Ursprung  derselben  zu  forschen,  gelingt 
es  ilun  in  seinem  1722  veröffentlichten  „Traitö  d'harmonie"  diesen 
Ursprung  nachzuweisen.     Sein  System  gründet  sich  auf  das  Mit- 


92  "VII.    Die  französisclie  Oper. 

klingen  gewisser  Töne  zu  einem  Grimdton,  der  S.  68  erwähnten 
Obertöne:  der  Octave,  der  Quinte  in  der  zweiten  Octave  oder 
Duodecime,  und  der  Terz  in  der  dritten  Octave  oder  Septdecime. 
Durch  Versetzung  der  beiden  letzteren  Intep^alle  um  eine  resp. 
zwei  Octaven  tiefer  erhält  er  den  Durdreiklang,  von  ihm  „aecord 
parfait"  genannt;  der  Molldreiklang  dagegen  (accord  parfait  mineur) 
ergiebt  sich  aus  drei  Tönen,  welche  einen  gemeinsamen  Oberton 
haben,  z.  B.  A,  C,  E,  denen  das  E  als  Duodecime,  als  Septdecime 
und  als  Octave  gemeinsam  ist.  Durch  Hinzufügung  weiterer 
Terzen  zum  Dreiklang  erhält  Rameau  den  Septimen-  und  den 
Nonenaccord;  diejenigen  Accorde  aber,  in  welchen  die  Quarte  und 
die  Sexte  die  charakteristischen  Intervalle  sind,  gewinnt  er  durch 
die  TJmkehrungen  des  Dreiklangs  oder  des  Septimenaccords, 
Ausser  diesem  System,  welches  bis  auf  den  heutigen  Tag  die 
Grundlage  der  Harmonielehre  bildet,  verdankt  die  musikalische 
Welt  dem  Rameau  noch  die  Einführung  der  gleichschweben- 
den Temperatur,  d.  h.  die  Eintheilung  der  Octave  in  zwölf 
Halbtöne  von  gleicher  Grösse,  und  damit  die  Beseitigung  der  Hin- 
dernisse, welche  bis  dahin  die  Instrumentalmusik,  soweit  es  die 
Instrumente  mit  feststehender  Stimmung  betrifft,  in  ihi'er  freien 
Entwickelung  gehemmt  hatten.  Schon  1722  hatte  Seb.  Bach  die 
gleichschwebende  Temperatur  durch  sein  „wohltemperirtes  Ciavier" 
in  die  Praxis  eingeführt;  nach  dem  Erscheinen  von  Rameau's 
„Generation  harmonique"  (1737)  aber  wurde  sie  als  Gnmd- 
bedingung  der  modernen  Musik  auch  von  den  Theoretikern  all- 
gemein angenommen,  und  mit  ihr  die  Reduction  der  alten  Ton- 
arten auf  die  ionische  und  aeolische  (unser  Dur  und  Moll).*) 
Diese  letzteren  waren  bereits  Jahrhunderte  früher  im  Volksgesange 
fast  ausschhessHch  zur  Anwendung   gekommen;    sie  mussten  zur 


*)  Die  Zahl  der  alten  Tonarten  belief  sich  seit  Glareauus  (Anfang 
des  16.  Jahrhunderts)  auf  zwölf:  Dorisch  (D),  Phrygisch  (E),  Lydisch  (F), 
Mixolydisch  (Cr),  Jonisch  (C),  Aeolisch  (A)  nebst  ihren,  dem  Namen  nach 
durch  das  vorangesetzte  Wörtchen  hypo  (unter)  von  ihnen  unterschiedenen 
Plagaltonarten.  Die  .altgriechische  Benennung  der  Octavengattungen  nach 
verschiedenen  Volksstämmen  war  schon  zu  Hucbald's  Zeit  wieder  in  Ge- 
brauch gekommen,  jedoch  in  einer  andern  Reihenfolge  als  bei  den  Alten, 
weil  die  Begriffe  Harmonia  (Octavengattung)  und  Tonos  (Transpositions- 
scala)  wahrscheinlich  im  Laufe  der  Zeit  unklar  geworden  w^aren,  und  man 
aus  Missverständniss  die  Namen  der  letzteren  statt  der  der  ersteren  auf  die 
Kirchentöne,  obwohl  ja  diese  auch  Octavengattungen  sind,  übertragen  hatte. 
(Vgl.  S.  17  und  18.)  ">, 


\'II.    JJie  f'raiiisösisclie  Oper.  93 

üniversalheiTSchaft  gelangen,  als  man,  nach  Einfülu.'uug  der  gleich- 
schwebenden  Temperatur  anfing,  alle  zwölf  Halb  töne  der  Octave 
als  Grundtöne  ebensovieler  Transpositionen  der  Dur-  und  Moll- 
scala  zu  gebrauchen  und  damit  die,  der  modernen  Composition 
hinderlichen  Schranken   der  alten  Tonarten  durchbrochen  waren. 

Bei  dem  Eifer,  mit  welchem  sich  Rameau  lange  Jahi'e  hin- 
durch fast  ausschliesshch  der  theoretischen  S^jeculation  gewidmet 
hatte,  und  auch  später,  neben  seiner  Thätigkeit  für  die  Oper, 
imausgesetzt  bestrebt  war,  seine  Errungenschaften  auf  dem  Gebiete 
der  Theorie  gegen  die  Angriffe  des  In-  und  Auslandes  zu  ver- 
theidigen,  war  sein  Charakter  nicht  frei  von  Einseitigkeit  ge- 
bheben. Kann  ihn  auch  nicht  wie  seinen  Vorgänger  Lully  der 
Vorwurf  der  Herzlosigkeit  treffen,  so  kümmerte  er  sich  doch, 
besonders  während  theoretische  Probleme  seinen  Geist  in  An- 
spruch nahmen,  Avenig  oder  gar  nicht  um  die  Aussenwelt.  Dem- 
zufolge fehlte  es  ihm  nicht  an  persönlichen  Feinden,  deren  einer, 
der  Philosoph  Diderot,  welchen  er  schon  durch  seine  Opposition 
gegen  die  von  ihm  herausgegebene  Eucyklopädie  erzürnt  hatte, 
in  seinem  Buche  ..Rameau's  Neffe''  (übersetzt  von  Goethe)  von 
ihm  sagen  konnte :  „Er  ist  ein  Philosoph  in  seiner  Art,  er  denkt 
nur  an  sich,  und  die  übrige  Welt  ist  ihm  wie  ein  Blasebalgsnagel. 
Seine  Tochter  und  Frau  können  sterben,  wann  sie  wollen,  nur 
dass  ja  die  Glocken  im  Kirchsprengel,  mit  denen  man  ihnen  zu 
Grabe  läutet,  hübsch  die  Duodecime  und  Septdecime  nachklingen, 
so  ist  ihm  alles  recht." 

Eine  gefährliche  Concm-renz  erwuchs  der  pariser  Grossen 
Oper  im  Jahre  1752  durch  die  Ankunft  einer  italienischen  Opern- 
truppe, Avelche  die  Erlaubniss  erhielt,  komische  Opern  aufzufühi-en 
und  namenthch  mit  dem  Singspiel  (Intermezzo)  „La  serva  ijadi'ona'" 
von  Pergolese  ungemeines  Glück  machte.  Alsbald  nach  dem 
Erscheinen  der  Italiener  hatte  sich  das  musikalische  Paris  in 
zwei  Parteien  gesondert,  die  unter  dem  Namen  Buffo nisten 
und  Anti-Buffonisten  entweder  auf  Seiten  der  Itahener  oder 
der  nationalen  Oper  standen.  Beide  Parteien  verfochten  mit 
gleicher  Hartnäckigkeit  den  erwählten  Standpunkt,  und  da  der 
Streit  immer  heftiger  wurde,  so  hielten  es  die  italienischen  Sänger 
für  geratheu.  schon  nach  zwei  Jahren  das  Feld  zu  räumen.  Die 
von  ihnen  gegebene  Anregung  sollte  indessen  für  die  dramatische 
Musik  in  Prankreich  nicht  verloren  gehen.  ..Wie  auf  allen  Ge- 
bieten des  geistigen  Lebens'"  sagt  Goethe  in  der  oben  an- 
geführten Schrift  ,.so  hatte  man  auch  auf  dem  der  Grossen  Oper 


9-4  "VII.    Die  tranj5ösisch.e  Oper. 

begonnen,  die  starren  Fesseln  des  Herkommens  imerträglicli  zu 
finden,  und  die  italienischen  Buffo nisten  hatten  die  Möglichkeit 
gezeigt,  das  alte,   verhasste,  starre  Zimmerwerk  zu  zerstören  und 

eine   frische    Fläche    für   neue    Bemühungen    zu   gewinnen 

Sämmtliche  Künste  waren  in  der  ]Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
auf  eine  sonderbare,  ja,  für  ims  fast  unglaubhche  Weise  manüirt 
und  von  aller  eigenthchen  Kimstwahi-heit  und  Einfalt  getrennt. 
Nicht  allein  das  abenteuerliche  Gebäude  der  Oper  war  durch 
das  Herkonunen  nm-  starrer  und  steifer  geworden,  auch  die  Tra- 
gödie ward  in  Eeifröcken  gespielt,  und  eine  hohle,  affectirte  De- 
clamation  trug  ihi'e  Meisterwerke  vor.  Dies  ging  so  weit,  dass 
der  ausserordentliche  Voltaire,  bei  Vorlesung  seiner  eigenen 
Stücke,  in  einen  ausdruckslosen,  eintönigen,  psalmodii-enden  Bom- 
bast verfiel  und  sich  überzeugt  hielt,  dass  auf  diese  AVeise  die 
Würde  seiner  Stücke,  die  eine  weit  bessere  Behandlung  verdienten, 
ausgedi'ückt  werde." 

Kein  Wunder,  dass  in  solcher  Zeit  die  einsichtigen  Köpfe 
imter  den  Franzosen  auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens  in 
dem  Bestreben  zusammentrafen,  das  was  sie  Xatiu-  nannten,  der 
Cultur  und  der  Kunst  entgegen  zu  setzen.  In  der  Malerei  traten 
an  Stelle  der  pomphaften  und  geschraubten  Darstellungen  Le- 
brun's  die  Schilderimgen  des  ländlichen  imd  Famihenlebens,  die 
Gem-escenen  eines  Watteau  und  Liotard;  die  abgezh-kelten 
Gärten  und  beschnittenen  Bäimie  des  Hofgärtners  Ludwig's  Xr\^. 
Le  NOtre.  mussten  den  Parks  im  enghschen  Geschmacke  weichen: 
die  di-amatische  Musik  aber  wendet  sich  mit  Vorliebe  der  Operette 
zu  und  bildet  sie  nach  dem  Muster  der  itahenischen  Opera  bufi'a 
zm'  Opera  Comique  aus.  Eine  solche  hatte  es  zwar  schon  vor 
der  Ankunft  der  Italiener  in  Franki-eich  gegeben,  doch  konnte 
sie.  ausschhesslich  der  Volksbelustigimg  gewidmet,  höheren  künst- 
lerischen Ansprüchen  in  keiner  Weise  genügen.  Der  Leipziger 
Cantor  J.  A.  Hill  er  beschreibt  sie  in  seinen  .,Wöchentlichen 
Nachrichten"  (Band  HI.  Jahrgang  1768)  als  „em  Ding,  das 
eigentlich  nichts  ist.  das  sich  mit  allem  putzt  was  es  findet,  das 
aber,  wenn  ihm  der  Putz  von  einer  geschickten  Hand  angelegt 
Avird,  ein  sehr  angenehmes  Nichts  sein  kann."  Der  erste  Schritt 
zm*  künstlerischen  Veredehmg  dieses  volksthümhchen  Singspiels 
war  die  Aufiiihrung  der  von  den  Italienern  hinterlassenen  Werke, 
zunächst  der  „Serva  padrona"  in  französischer  üebersetzung; 
dann  erschienen  der  Dichter  Vad(5  und  der  Componist  Dau- 
vergne    mit    einer    eigenen    Arbeit,   der   komischen    Oper    „Les 


"VII.     Die  französiscLLe  Oper.  95 

troqueurs"*),  und  nach  dem  durchgreifenden  Erfolg  dieses  Ver- 
suches schlössen  sich  die  angesehensten  Dichter  Frankreichs,  zu- 
erst Favart  und  Marmontel,  der  neuen  Richtung  an,  indem 
sie  an  Stelle  der  von  der  Grossen  Oper  äusschliessHch  verwen- 
deten antiken  Stoffe  Hergänge  des  täglichen ,  namentlich  des 
bürgerhchen  Lehens  zum  Gegenstand  ihrer  dramatischen  Dich- 
tungen wählten.  Als  ihre  musikalischen  Mitarbeiter  sind  in  erster 
Reihe  zu  nennen:  der  Neapohtaner  Duni,  dessen  „Milchmädchen"' 
auch  nach  Deutschland  gelangte  und  hier  ebenfalls  die  Komische 
Oper  einbürgern  half;  dann  die  Franzosen  Philidor,  nebenher 
berühmt  als  Schachspieler,  Monsigny,  dessen  „Deserteur"  (1769) 
noch  heut  in  Frankreich  ein  dankbares  Publicum  findet;  endlich 
Grötry,  der,  obwohl  ein  halber  Ausländer  (geboren  zu  Lüttich 
1741),  der  Komischen  Oper  diejenige  Vollendung  gab,  durch 
welche  sie,  wie  Jahn  („Mozart"  IL  S.  208)  bemerkt,  noch  heute 
die  echte  Repräsentantin  des  nationalen  Charakters  der  Franzosen 
auf  dem  Gebiete  der  dramatischen  Musik  ist. 

Im  engen  Zusammenhang  mit  dieser  Wandlung  des  Kunst- 
geschmackes  in  Frankreich  steht  die  von  der  fi-anzösischen  Phi- 
losophie um  dieselbe  Zeit  eingeschlagene  Richtung.  Die  sogenannte 
Aufklärungsphilosophie  ist  vorwiegend  Opposition  gegen  die 
geltenden  Dogmen  und  bestehenden  Zustände  in  Kirche  und 
Staat  und  Begründung  einer  neuen  theoretischen  und  praktischen 
Weltanschauung  auf  naturalistischen  Principien.  Von  den  Ver- 
tretern dieser  Richtung  sei  hier  nur  Jean  Jaques  Rousseau 
erwähnt,  da  sich  derselbe  nicht  allein  als  Philosoph,  sondern 
auch  als  Musiker  hohen  Ruhm  erworben  hat,  auf  dem  Gebiete 
der  Theorie  durch  sein  1767  erschienenes,  in  zahlreichen  späteren 
Ausgaben  und  Uebersetzungen  in  fremde  Sprachen  bekannt  gewor- 
denes „Dictionnaire  de  Musique",  auf  dem  der  Praxis  durch  die 
von  ihm  gedichtete  und  componirte,  1752  zuerst  aufgeführte  Oper 
,.Der  Dorf- Wahrsager"  (Le  devin  du  village).  Wie  in  Rousseau's 
religiösen,  politischen  und  pädagogischen  Grundsätzen  die  Sehn- 
sucht, den  Uebeln  einer  entarteten  Gesellschaft  durch  Rückgang 
auf  einen  erträumten  Naturzustand  zu  entgehen,  im  Uebermaasse 
zum  Ausdruck  gelangt,  so  kämpft  er  mit  gleicher  Erbitterung 
gegen  die  zu  seiner  Zeit  herrschenden  Normen  des  musikalischen 


*)  Von  trociuer,  tauschen.  Den  Stoff  der  Oper  bilden  diß  Versuche 
zweier  Verlobten,  ihre  Bräute  zu  vertauschen  und  die  (schliesslich  erfolg- 
reichen) Intrigueii  der  letzteren,  dies  zu  verhindern. 


96  VII.     Die  fraiizOsiscIie  Oper. 


Geschmackes,  und  selbstverstäiidlicli  sehen  wir  ihn  in  dem  Streite 
der  Buffonisten  und  der  Auti-Buffouisten  auf  Seite  der  ersteren. 
In  schonungsloser  Weise  geisselt  er  in  seiner  „Lettre  sur  la  musique 
franQaise*".  das  starre  Formemveseu  der  grossen  Oper;  ulid  wenn 
er  auch  in  manchen  Punkten  zu  weit  geht,  wie  z.  B.  in  seiner 
Abneigung  gegen  die  polyphone  Musik,  die  er,  nach  dem  Vor- 
gang des  Caccini  (vergl.  S.  63.)  fih-  eine  Beleidigung  des  guten 
Geschmackes  erklärt,  so  verdienen  doch  die  meisten  seiner  dort 
ausgesprochenen  Ansichten  unbedingte  Zustimmung.  Insbesondere 
Averden  seine  Fordenmgen,  dass  das  Orchester  in  der  Oper  nie- 
mals pausiren  dürfe,  sondern  auch  dann,  Avenn  die  Singstimme 
schweigt,  den  Gedankengang  des  Darstellers  zu  verfolgen  habe: 
ferner,  dass  in  leidenschaftlichen  Scenen  die  vollkommene  Cadenz 
unbedingt  zu  vermeiden  sei*);  endlich,  dass  der  Text -Dichter, 
anstatt  sich  der  möglichsten  Deutlichkeit  zu  befleissigen,  dem 
Zuhörer  lieber  gelegentlich  das  Vergnügen  gönnen  möge,  den 
Sinn  der  Worte  theilweise  in  der  Seele  des  Darstellers  zu  lesen 
—  diese  Forderungen  werden  den  Anhängern  der  in  unsern 
Tagen  eingeschlagenen  Eichtung  des  musikalischen  Drama  durchaus 
billig  erscheinen.  Im  Anschluss  an  die  letzterwähnte  Bemerkung 
hören  wir  ihn  den  schon  ein  Jahrhundert  zuvor  der  französischen 
Sprache  gemachten  Vorwurf  wiederholen,  dass  sie  ungeeignet  sei. 
sich  mit  der  Musik  zu  verbinden,  nicht  etwa  nur  Avegen  der 
Schwierigkeit  der  Aussprache ,  der  Nasallaute ,  der  stummen 
Silben  etc.,  sondern  wegen  ihres  streng  logischen  Satzbaues  im 
Gegensatz  zu  der  Freiheit  in  Umstellung  der  Satzglieder,  der 
Inversionen,  welche  in  der  italienischen  und  deutschen  Sprache 
die  Aufmerksamkeit  bis  zum  Schlüsse  des  Satzes  und  damit  auch 
die  Theilnahme  für  die  ihn  begleitende  Musik  aufrecht  halten**). 


''^')  ,,Ces  cadences  parfaites  sont  toujours  la  niort  de  Fexpression"  lieisst 
es  in  der  erwähnten  Schrift. 

**)  ,,Si  je  voulois  m'etendre  sur  cet  article,  je  pourrois  peut-etre  vous 
faire  voir  encore  que  les  inversions  de  la  langue  italienne  sont  beaucoup 
jilus  favorables  a  la  bonne  melodie  que  l'ordre  didactique  de  la  notre,  et 
»lu'une  phrase  musicale  se  developpe  d'une  manit-re  plus  agreable  et  plus 
interessante,  quand  le  sens  du  discöurs,  longtemps  suspendu.  se  resout  'sur 
le  verbe  avec  la  cadence,  que  quand  il  se  developpe  ä  mesure,  et  laisse 
affoiblir  ou  satisfaire  ainsi  par  degres  le  desir  de  l'esprit,  tandis  que  celui 
de  l'oreille  augniente  en  raison  contraire  jusqu'ä  la  fin  de  la  phrase.  Je 
vous  prouverois  encore  que  l'art  des  suspensions  et  des  mots  entrecoupes, 
que  l'heureuse  Constitution  de  la  langue  rend  si  familier  k  la  musique  ita- 
lienne, est  entierement   iuconnu  dans  la  notre,    et  que  nous  n'avons  d'auti'e 


A'II.     Die  fraiizöiti seile  Oper.  97 

Von  diesem  Vorurtheil  wurde  Rousseau  erst  durch  denjenigen 
Musiker  befreit,  der  die  Lully'sche  Oper  auf  die  höchste  Stufe  der 
Vollkommenheit  brachte,  auffallender  Weise  wieder  ein  Ausländer, 
unser  Landsmann,  der  Ritter  Christoph  von  Gluck  (geb.  1714 
zu  Weidenwang  in  der  bayrischen  Oberpfalz,  gest.  zu  Wien  1787)*). 
Der  mächtigen  Künstlerpersönlichkeit  Gluck's  gelang  es,  nach 
einer  verhältnissmässig  erfolglosen  Operncomponisten-Laufbahn  in 
Italien  und  Deutschland,  in  Paris  den  geeigneten  Boden  für  seine 
musikalisch-dramatischen  Reformbestrebungen  zu  linden.  Wiederum 
theilte  sich  bei  seinem  Auftreten  das  dortige  Publicum  in  zwei  Par- 
teien ;  diesmal  aber  standen  die  Freund©  des  Fortschritts,  unter  ihnen 
Rousseau,  auf  der  Seite  der  französischen  Grossen  Oper,  während 
die  Anhänger  des  Bestehenden  in  der  italienischen  Musik  ihr  Heil 
suchten.  Noch  heftiger  als  zm*  Zeit  der  Buffo nisten  und  der 
Anti-Buffonisten  tobte  der  Streit  zwischen  den  Gluckisten  und 
ihren  Gegnern,  die  sich,  nachdem  man  dem  deutschen  Meister 
den  neapolitanischen  Componisten  Piccini  als  Rivalen  gegenüber- 
gestellt hatte,  Piccinisten  nannten;  und  erst  nach  mehreren  Jahren 
entschied  sich  der  Kampf  in  Folge  des  Sieges,  den  Gluck's 
„Iphigenia  in  Tauiis"  1781  über  die  gleichnamige  Oper  von 
Piccini  errang,  bei  welcher  Gelegenheit  die  deutsche  Tonkunst 
auf  dem  Gebiete  der  Oper  ihren  ersten  Triumph  über  die  ita- 
lienische und  französische  feierte. 

Aus  allem  was  über  den  Charakter  der  französischen  Grossen 
Oper  gesagt  wui'de,  geht  hervor,  dass  Frankreich  keineswegs  blos 
durch  Zufall  der  Schauplatz  von  Gluck's  reformatorischer  Wirk- 
samkeit geworden  ist.  Denn  so  wenig  es  in  seiner  Absicht  lag, 
als  Musiker  dem  Geschmack  irgend  einer  Nation  zu  folgen,  wie 
er  dies  auch  in  einem  Schreiben  an  den  Redacteur  des  „Mercure 
de  France"  (1773)  ausdrücklich  hervorhebt,  so  konnte  er  doch 
nicht  in  Zweifel  sein,  dass  die,  durch  Lully  und  Rameau  der 
dramatischen  Musik  gegebene  Richtung,  und  nur  diese,  eine 
Vei-wirklichung  seiner  eigenen  Principien  gewährleisten  konnte; 
dass  ferner  die  für  das  französische  Opempublicum  von  damals 


moyen  pour  y  suppleer,  qua  des  silences  qui  iie  sont  jamais  du  chant,  et 
qui,  dans  ces  occasions,  montrent  plutot  la  pauvrete  de  la  musique  que  les 
ressources  du  musicien".  (Ecrits  sur  la  musique,  Paris  1827  S.  180). 

*)  Seine  Ritter- AVürde  verdankt  Gluck  dem,  ihm  vom  Papste  verliehenen 
Ordenskreuz  vom  goldnen  Sporn,  dieselbe  Auszeichnung  wurde  später  Mozart 
zu  Theil ,  welcher  demnach  zur  Führung  jenes  Titels  das  gleiche  Recht 
gehabt  hätte. 

Liangbans,  Musikgeschichte.  2.  Aufl.  7 


98  VlI.     Die  französische  Oper. 

(wie  auch  von  heute)  charakteristische  Neigung,  die  Musik  mehr 
reflectirend  als  unmittelbar  zu  gemessen,  ihm  die  grösstmögliche 
Freiheit  in  der  praktischen  Ausführung  seines  Systems  gestatten 
würde.  Wie  er  sich  seiner  besonderen  Aufgabe  als  dramatischer 
Componist  bewusst  war  und  wie  bestimmten  Grundsätzen  er  bei 
seinem  Schaffen  folgte,  dies  sehen  wir  aus  der  Vorrede  zu  seiner 
Oper  „Alceste",  eine  Art  von  künstlerischem  Glaubensbekenntniss, 
welches  zugleich  die  Meinungen  der  Vielen  zum  Ausdruck  bringt, 
welche  vor  und  nach  Gluck  das  Uebergewicht  der  Musik  in  der 
Oper  bekämpft  haben  und  noch  bekämpfen  werden.  Die  wichtigsten 
Sätze  dieses  bedeutungsvollen  Schriftstückes  sind  folgende: 

„Es  war  meine  Absicht,  die  Musik  von  allen  den  Miss- 
bräuchen zu  reinigen,  welche  sich  in  Folge  der  Eitelkeit  der 
Sänger  und  der  übergrossen  Nachgiebigkeit  der  Componisten  in 
die  italienische  Oper  eingeschlichen  haben  und  dies  prächtigste 
nnd  schönste  aller  Schauspiele  in  das  lächerlichste  und  lang- 
weiligste verwandeln;  ich  versuchte  deshalb,  die  Musik  zu  ihrer 
wahren  Bestimmung  zurückzuführen,  nämlich  der  Poesie 
zu  dienen,  indem  sie  den  Ausdruck  derselben  verstärke  und  die 
Darstellung  unterstütze  ohne  die  Handlung  zu  unterbrechen  oder 
sie  durch  überflüssige  Zuthaten  abzuschwächen  (raffii'eddarla  con 
degli  inutili  ornamenti),  indem  ich  dabei  von  der  Meinung  aus- 
ging, die  Dichtkunst  müsse  in  derselben  Weise  von  der  Tonkunst 
unterstützt  und  gehoben  werden,  wie  die  correcte  Zeichnung  eines 
Gemäldes  dm-ch  den  Glanz  der  Farben  und  die  richtige  Vertheilung 
von  Licht  und  Schatten,  welche  die  Figm'en  beleben  ohne  ihre  Um- 
risse zu  verändern.  Ich  habe  es  demnach  vermieden,  den  Schau- 
spieler im  Feuer  des  Dialogs  zu  unterbrechen,  sei  es,  damit  er  in 
herkömmlicher  Weise  das  Ende  eines  langweiligen  Ritornells  abwarte, 
oder  damit  ihm  das  Orchester  Zeit  gebe,  zu  einer  brillanten  Cadenz 
Athem  zu  schöpfen;  und  ebenso  verwerflich  schien  es  mir,  ihn 
inmitten  seiner  Rede  bei  einem  günstigen  Vocale  aufzuhalten, 
damit  er  in  einer  langen  Passage  die  Geläufigkeit  seiner  Stimme 
zeige.  Ich  glaubte  nicht,  über  den  zweiten  Theil  einer  Arie 
möglichst  rasch  hinweggehen  zu  müssen,  \ne  die  heutigen  Com- 
ponisten zu  thun  pflegen,  auch  wenn  derselbe  seinem  dichterischen 
Inhalte  nach  der  wichtigste  und  leidenschaftlichste  ist,  nur  damit 
die  Worte  des  ersten  Theils  viermal  wiederholt  werden;  und 
ebenso  unrichtig  fand  ich  es,  die  Arie  abzuschhessen,  ohne  dass 
zugleich  der  Sinn  der  Worte  seinen  Abschluss  gefunden  hätte, 
nur  um  dem  Sänger  Anlass  zu  geben,  seine  Kunst  im  Variiren 


VII.     Die  französisclie  Oper.  99 

einer  musikalischen  Phrase  zn  zeigen.  Kurz,  ich  habe  gestrebt, 
alle  die  Misstäucle  zu  beseitigen,  gegen  welche  der  natürliche 
Geschmack  und  der  gesunde  Menschenverstand  schon  seit  langer 
Zeit  vergebens  protestü-en.  —  Was  das  Orchester  betrifft,  so 
soll  dasselbe  in  der  Ouvertüre  den  Zuschauer  auf  die  Handlung 
vorbereiten  und  gleichsam  den  Gesammtinhalt  derselben  kund- 
geben (formarne  per  dir  cosi  l'argomento).  Im  weiteren  Verlaufe 
der  Oper  aber  soll  die  Mitwirkung  der  Instrumente  zu  den  auf 
der  Bühne  dargestellten  Vorgängen  stets  in  enger  Beziehung 
bleiben,  und  niemals  soll  sich  das  Orchester  zwischen  das  Reci- 
tativ  und  die  Arie  drängen,  oder  auf  andere  "Weise  den  Fortgang 
der  Handlung  verzögern,  wenn  nicht  der  Inhalt  des  Textes  dies 
ausdrücklich  verlangt.  —  Die  meiste  Sorgfalt  habe  ich  darauf  ver- 
wendet, meiner  Musik  den  Charakter  einer  edlen  Einfalt  zu 
geben  (uua  bella  semplicitä)  und  niemals  die  Klarheit  der  Ton- 
gestaltung dem  äusseren  Prunke  zu  opfern;  auch  habe  ich  es 
verschmäht,  neue  musikalische  Effecte  zu  verwenden,  ausser  wenn 
dieselben  sich  auf  natüi-liche  Weise  aus  den  Situationen  auf  der 
Bühne  und  den  darzustellendan  Charakteren  ergaben;  andrerseits 
habe  ich  mich  aber  auch  nicht  gescheut,  die  Regeln  der  Compo- 
sition  zu  verletzen,  so  oft  mir  dies  zur  Verstärkung  des  drama- 
tischen Ausdrucks  zweckmässig  erschien." 

Die  praktische  Durchführung  dieser  Grundsätze  konnte  selbst- 
verständhch  weder  in  Italien  noch  in  dem,  von  der  italienischen 
Oper  völlig  beherrschten  Vaterlande  des  Künstlers  Beifall  finden. 
In  Deutschland  hatte  er  nicht  nur  die  Gesammtheit  der  Musiker 
zu  Gegnern,  sondern  auch  die  angesehensten  Kritiker,  unter  ihnen 
der  Göttinger  Professor  Forkel,  welcher  in  seiner  „nmsikalisch 
kritischen  Bibliothek"  auf  157  Seiten  mit  Aufbietung  seines  ganzen 
ästhetischen  Scharfsinnes  die  Gluck'sche  Musik  herabzusetzen 
versuchte.  Besonders  heftig  eifert  er  gegen  das  vom  Compo- 
nisten  für  seine  Musik  in  Anspruch  genommene  Prädicat  „edle 
Einfalt".  „Das  was  der  Herr  Ritter  edle  Einfalt  zu  nennen 
beliebt,  ist  nach  unserm  Bedünken  nichts  anderes  als  eine  arm- 
selige ,  leere  und  nackende ,  oder  noch  eigentlicher  zu  reden, 
unedle  Einfalt,  die  aus  einem  Maugel  an  Kunst  und  Wissen 
entsteht;  sie  ist  wie  die  dumme  Einfalt  der  gemeinen  Leute  gegen 
die  edle  Simphcität  in  dem  Betragen  und  Reden  feiner  und 
würdiger  Personen:  dort  ist  alles  plump,  mangelhaft  und  fehler- 
voll, hier  aber  vollkommen  richtig,  deutlich  und  zierlich.  Kurz, 
die  Gluck'sche  Gattung  von  edler  Einfalt  gleicht  dem  Stil  unserer 

7* 


100  "VII.     Die  frauzösisclie  Oper. 

Schenken-Virtuosen,   der  zwar  Einfalt  genug,   aber  auch  zugleich 
viel  Ekelhaftes  in  sich  hat." 

Für  TJrtheile  dieser  Art  wurde  Gluck  nun  zwar  durch  das, 
ihm  aus  literarischen  Kreisen  gespendete  begeisterte  Lob  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  entschädigt  —  schon  seine  Aeusserung 
gegen  den  Dichter  seiner  „Iphigenia  in  Aulis"  du  Rollet  „Ehe 
ich  arbeite  versuche  ich  vor  allen  Dingen  zu  vergessen,  dass  ich 
Musiker  bin"  wäre  genügend  gewesen,  ihm  die  Theilnahme  der 
gebildeten  Nicht-Musiker  zu  sichern  —  doch  war  der  Einfluss 
dieser  Kreise  auf  die  öffentliche  Meinung  unter  den  damaligen 
gesellschaftlichen  und  politischen  Verhältnissen  Deutschlands  ein 
zu  geringer,  als  dass  Gluck  von  ihnen  eine  wirksame  Unter- 
stützung seiner  Bestrebungen  hätte  ei-warten  können.'  Anders  in 
Frankreich,  wo  eben  damals  auf  allen  Gebieten  des  geistigen 
Lebens  von  den  Vertretern  der  Literatur  der  Ton  angegeben 
wurde,  und  wo  sich  in  diesem  Falle  die  hervorragendsten  Philosophen 
und  Dichter  vereint  hatten,  um  der  Gluck'schen  Oper  den  Sieg 
zu  erkämpfen.  Namenthch  musste  die  Stimme  eines  Mannes  von 
der  Autorität  Rousseau 's.  schwer  zu  seinen  Gunsten  ins  Gewicht 
fallen,  nachdem  derselbe  offen  bekannt  hatte,  dass  die  Oper  Gluck's 
ihn  von  seinem  früheren  Unglauben  an  die  MögUchkeit  eines  fran- 
zösischen Musikdrama  völüg  geheilt  habe.  Und  dass  es  sich  bei 
diesem  Bekenntniss  keineswegs  allein  um  theoretische  Principien 
handelte,  dass  die  Gluck'sche  Musik  nicht  nur  dem  Verstände 
des  Philosophen,  sondern  auch  dem  Bedürfniss  seines  Herzens 
und  Gemüthes  volle  Befriedigung  gewährte,  dies  beweist  die 
Thatsache,  dass  Rousseau  nach  jahrelanger  Enthaltung  vom  Be- 
suche der  Oper  seit  dem  Erscheinen  des  „Orpheus"  keine  Vor- 
stellung dieses  Werkes  versäumte,  sowie  auch  seine  Erwiderung 
auf  den  der  Gluck'schen  Musik  gemachten  Vorwurf  der  Melodie- 
losigkeit:  „Ich  finde,  dass  ihm  die  Melodie  aus  allen  Poren  her- 
ausströmt". Um  aber  diesen  Zeugnissen  auch  noch  eines  aus 
deutschem  Munde  hinzuzufügen,  lassen  wn  Wieland  reden,  dessen 
warm  empfundene  Worte  das  Wesen  der  Gluck'schen  Opernreform 
aufs  Bestimmteste  kennzeichnen  und  in  einem  minder  zerspHtterten 
Deutschland  als  das  damahge  ohne  Frage  lauten  Widerhall  ge- 
funden haben  würden:  „Endhch  haben  wir  die  Epoche  erlebt" 
schreibt  der  Dichter  im  „Deutschen  Merkur"  1775  „wo  der 
mächtige  Genius  eines  Gluck  das  grosse  Werk  der  musikaUschen 
Reform  unternommen  hat.  Der  Erfolg  seines  „Orpheus"  und 
seiner  „Iphigenia"  würde  alles  hoffen  lassen,   wenn  nicht  unüber- 


"VII.     Die  französische  Oper.  101 

windliche  Ursachen  gerade  in  jenen  Hauptstädten  Europa's,  wo 
die  schönen  Künste  ihre  vornehmsten  Tempel  haben,  sich  seinem 
Unternehmen  entgegensetzten.  Künste,  die  der  gi'osse  Haufe  hlos 
als  Werkzeug  sinuhcher  TVolUiste  anzusehen  gewohnt  ist,  in  ihre 
ursprüngüche  Würde  wieder  einzusetzen  und  die  Natui'  auf  einem 
Throne  zu  befestigen,  der  so  lange  von  der  willkürlichen  Gewalt 
der  Mode,  des  Luxus  und  der  üppigsten  Sinnlichkeit  usurpirt 
worden,  ist  ein  grosses  und  kühnes  Unternehmen.  Eine  Reihe 
von  Künstlern  wie  Gluck  wäre  dazu  nöthig,  diese  Verbannung 
aller  Sirenenkünste  *) ,  diese  schöne  Zusammenstimmung  aller 
Theile  zur  grossen  Einheit  des  Ganzen  auf  dem  lyrischen  Schau- 
platz herrschend  und  fortdauernd  zu  machen.  Genug,  dass  er 
uns  gezeigt  hat,  was  die  Musik  thun  könnte,  wenn  in  diesen 
unsern  Tagen  irgendwo  in  Europa  ein  Athen  wäre,  und  in  diesem 
Athen  ein  Perikles  aufträte,  der  für  die  Oper  thun  wollte,  was 
jener  für  die  Tragödien  des  Sophokles  und  Euripides  that!'' 

Die  politischen  Kämpfe,  welche  wenige  Jahre  nach  diesem 
zweiten  musikalischen  Kriege  die  französische  Hauptstadt  erschüt- 
terten, waren  der  weiteren  Ausbildung,  der  dramatischen  Musik 
in  Frankreich  nichts  weniger  als  förderlich.  Zwar  füllten  sich 
die  Theater,  wie  eine  Zeitgenossin  (die  Gattin  Cherubini's)  aus 
jenen  Tagen  des  Sckreckens  berichtet,  nachdem  man  Yormittags 
massenhaft  guillotinirt  hatte,  am  Abend  bis  auf  den  letzten  Platz ; 
auch  waren  die  hervorragendsten  Componisten  unablässig  bemüht, 
die  revolutionären  Thaten  durch  nationale  Hjannen  und  andere 
Gelegenheitsarbeiten  zu  verherrlichen,  doch  haben  die  musika- 
lischen Erzeugnisse  jener  Epoche  nicht  über  die  Zeit  ihrer  Ent- 
stehung hinauswirken  können .  mit  Ausnahme  des,  unter  dem 
Namen  „Marseillaise"  bekannten,  von  Rouget  de  Lisle  ge- 
dichteten und  componirten  Freiheitsliedes  (zum  ersten  Male  auf- 
geführt unter  seinem  ursprünglichen  Titel  „Chant  de  guerre  pour 
l'armöe  du  Rhin",  und  von  Gossec  instrumentirt  am  30.  Sep- 
tember 1792  in  der  pariser  Grossen  Oper)  welches  sich,  wie  be- 
kannt, von  damals  bis  heute  seine  zündende  Kraft  erhalten  hat. 
Merkwürdigerweise  aber  fällt  in  diese  Zeit  wildester  Erregung 
ein  musikahsches  Ereigniss  von  durchaus  friedhchem  Charakter 
und  von  höchster  Bedeutung  für  die  Tonkunst  im  Allgemeinen 
wie  für  die  französische  Oper  im  Besonderen:    Die  Gründung  des 


*)  Eine  Erinnerung  an  das   in  Paris  unter  Gluck's   Portrait    gesetzte 
Epigramm  „II  prefera  les  Muses  aux  Sirönes". 


1Q2  VII.     3Die  traiizösisclie  Oper. 

pariser  Conservatoriums.  Diese  Anstalt,  deren  officielle  Be- 
nennung „Conservatoire  de  miisique  et  de  döclamation"  ihre  Auf- 
gabe als  Pflegerin  niclit  nur  der  Musik,  sondern  auch  der  dra- 
matischen Darstellungskunst  ausspricht,  bezweckte  nach  dem  Plane 
ihres  Begründers  Sarrette  zunächst  nur  die  Ausbildung  fran- 
zösischer Militärmusiker,  da  man  sich  bis  zu  jener  Zeit  aus- 
schliesslich mit  deutschen  hatte  begnügen  müssen.  Nach  Uebernahme 
der  anfangs  von  Sarrette  aus  eigenen  Mitteln  erhaltenen  Schule 
durch  den  Staat  erweiterte  sich  jedoch  ihr  Wirkungskreis;  die 
ersten  Musiker  Frankreichs*)  vereinigten  sich  zu  gemeinsamer 
Arbeit,  und  als  nächste  Frucht  derselben  erschienen  eine  Anzahl 
neuer  Lehrmethoden  für  alle  Zweige  der  musikalischen  Technik, 
deren  Brauchbarkeit  sich  zum  grössten  Theil  bis  heute  bewährt 
hat.  Auch  im  Uebrigen  war  die  Thätigkeit  jener  Männer  vom 
besten  Erfolg  begleitet,  so  dass  man  schon  wenige  Jahre  nach 
Eröffnung  der  Anstalt  der  Deutschen  nicht  mehr  bedurfte.  Der 
deutsche  Geist  freilich  wirkte  auch  dann  noch  in  der  französischen. 
Musik  fort,  wie  dies  u.  a.  die  Werke  Möhul's  beweisen,  dessen 
„Joseph  in  Egypten"  (1807)  dem  nationalen  Geschmacke  der 
Franzosen  keinerlei  Zugeständnisse  macht  und  in  Deutschland 
weit  mehr  Anerkennung  fand  als  im  Vaterlande  des  Componisten; 
ferner  Cherubini's,  der  als  Operncomponist  zuerst  in  Wien  zur 
Geltung  kam  und  von  den  dortigen  Musikern,  Beethoven  mit 
eingeschlossen,  als  unübertrefflicher  Meister  in  dieser  Gattung 
anerkannt  wurde;  endlich  Spontini's,  welcher,  obwohl  der  echte 
musikalische  Vertreter  des  Napoleonischen  Frankreichs,  doch  als 
musikalischer  Dramatiker  sich  eng  an  Gluck  anschliesst,  auch 
während  der  grössten  Hälfte  seiner  Künstlerlaufbahn  in  Deutsch- 
land und  zwar  in  Berlin  wirkte,  wo  er  von  1820  bis  1841  als 
General -Musikdirector  angestellt  war.  Der  französische  Geist 
dagegen  findet  von  nun  an  fast  nur  in  der  Komischen  Oper,  hier 
am  reinsten  in  Boieldieu  („Kalif  von  Bagdad"  1800  „Johann 
von  Paris"  1812)  und  Auber  („Maurer  und  Schlosser"  1825) 
seinen  Ausdruck. 

Zu  den  vielen  Ausländern,  die  in  Folge  des  zwingenden  Ein- 
flusses des  nationalen  Geschmackes  der  französischen  Grossen 
Oper  dienstbar  wurden,  gesellt  sich  noch  Meyerbeer  (geb.  zu 


*)  Unter  ihnen  Grossec,  Mehul,  Cherubini,  letzterer  von  1821  bis  1842 
Director  des  Conservatoriums;  ihm  folgte  Auber  (gest.  1871)  und  diesem. 
Ambroise  Thomas. 


"\ni.     Die  französische  Oper.  103 


Berlin  1794,  gest.  zu  Paris  1864).  Er  wäre  der  Mann  gewesen, 
vermöge  seiner  glänzenden  musikalischen  Begabung  und  seiner 
Einsicht  imd  Erfahrung  bezüglich  des  di-amatisch  Wirksamen,  die 
französische  Oper  nach  allen  Seiten  hin  zu  fördern,  hätte  ihn 
nicht  das  Bedürfniss  nach  äusserem  Erfolg  an  der  richtigen,  ge- 
wissenhaften Vei'wendung  seiner  Gaben  gehindert.  In  diesem 
Bestreben  verliert  er  die  Kuustmässigkeit  und  Stilreinheit  fast 
ganz  aus  den  Augen  und  begnügt  sich,  vfie  auch  sein  Mitarbeiter 
Scribe,  in  der  Hauptsache  damit,  das  Publicum  dui-ch  imaus- 
gesetzte  Anwendung  neuer  Reizmittel  in  Erstaunen  zu  setzen. 
Der  Beifall,  den  seine  Opern  trotzdem,  wie  überall,  so  auch  in 
Frankreich  gefunden  haben,  erklärt  es,  dass  auch  die  jüngste 
Generation  der  für  die  Grosse  Oper  arbeitenden  Componisten  im 
Wesenthchen  seinem  Beispiel  gefolgt  ist.  Andererseits  zeigt  es 
sich,  dass  auch  die  seit  den  letzten  Jahrzehnten  in  Deutschland 
so  eifrig  verfolgte  idealere  Richtung  der  dramatischen  Musik  zahl- 
reiche Anhänger  unter  den  französischen  Tonkünstlern  der  Gegen- 
wart gefunden  hat.  Von  ihnen  ist  eine  Bereicherung  und  Veredlung 
der  fi'anzösischen  Oper  mit  Sicherheit  zu  erwarten,  vorausgesetzt, 
dass  sie  die  Khppe  vermeiden,  an  der  so  mancher  ihrer  Lands- 
leute gescheitert  ist:  die  rücksichtslose  Jagd  nach  schnellen  künst- 
lerischen Erfolgen,  die  Ueberschätzung  der  Volksstimme  auf  Kosten 
ihres  musikahschen  Ge^vissens. 


YIIL 
Die  deutsclie   Oper. 


Die  Oper  in  Deutschland  —  wie  die  Ueberschiift  dieses 
Abschnittes  streng  genommen  heissen  müsste,  da  eine  nationale 
Oper,  wie  Italien  und  Frankreich  sie  schon  im  17.  Jahrhundert 
besessen,  bei  uns  während  des  zu  schildernden  Zeitraumes  nicht, 
oder  doch  niu"  im  vollständig  zur  Ausbildung  gelangen  konnte  — 
die  Oper  in  Deutschland  nahm  wie  die  französische  ihren  Aus- 
gangspunkt von  der  italienischen;  und  zwar  ist  merkwürdigerweise 
unser  Vaterland  mit  Einführung  der  in  Florenz  neuentdeckten 
Kunstgattung  allen  übrigen  Ländern  zuvorgekommen.  Der  Kur- 
fürst Johann  Georg  I.  von  Sachsen  war  es,  der  die  erste  Operu- 
auffühi'ung  in  Deutschland  veranlasste;  die  Gelegenheit  dazu  gab 
ihm  die  Vermählung  seiner  Tochter  mit  dem  Landgrafen  von 
Hessen-Darmstadt,  einem  wissenschaftlich  und  künstlerisch  gebil- 
deten Manne,  dem  er  wälirend  seines  Verweilens  am  sächsischen 
Hofe  einen  Kunstgenuss  besonderer  Art  zu  bieten  bedacht  gewesen 
war.  An  Schauspielen  verschiedener  Gattung  fehlte  es  allerdings 
zu  jener  Zeit  in  Deutschland  nicht.  Schon  seit  einem  Jahi'hundert 
hatten  in  Folge  der  Kirchenreformation  Luthers  an  Stelle  der 
geisthchen  Spiele  die  sogenannten  Morali täten  Eingang  gefun- 
den, eine  aus  Frankreich  eingeführte  Gattung  dramatischer  Dar- 
stellung, welche  wesentlich  moralische  und  theologische  Zwecke 
verfolgte,  indem  Personificationen  christhcher  Tugenden  und  Laster 
sich  unter  die  Gestalten  der  biblischen  Geschichte  mischten;  mit 
ihnen  wechselten  die  Schul-  und  Studentenkomödien  in 
lateinischer  und  deutscher  Sprache,  in  denen  schon  beim  Beginn 
der  Renaissance  das  Streben  erscheint,  eine  Wiedergeburt  des 
Schauspiels  nach  classischem  Muster  herbeizuführen ;  neben  diesen 
hatten  sich  aus  der  Mitte  des   Volkes    die   Fastnachtspiele 


"V'irr.    Die  deutsche  Oper.  105 

entwickelt,  welche  von  Bürger-  und  Hanclwerker-Gesellscliafteu 
Yeranstaltet  wurden,  und,  nachdem  ihnen  Dichter  wie  Hans  Sachs 
{Ende  des  16.  Jahrhunderts)  und  Jacoh  Ayrer  (Anfang  des 
17.  Jahrhunderts)  ihre  Thätigkeit  gewidmet,  solche  Theilnahme 
erregten,  dass  sie  nicht  mehr  allein  auf  die  Fastnachtzeit  be- 
schränkt bUeben,  sondern  das  ganze  Jahr  hindurch  stattfanden, 
Lustbarkeiten  dieser  Art  nun  schienen  dem  Kurfürsten  zur 
Unterhaltung  seines  Gastes  ungenügend,  nachdem  die  Kunde  von 
der  Wiederauferstehung  des  antiken  Musikdrama  aus  .Italien  zu 
ihm  gedrungen  war.  Er  beauftragte  demzufolge  seinen  Hofcapell- 
meister,  den  späterhin  noch  zu  erwähnenden  Heinrich  Schütz, 
die  Erstlingsoper  Peri's  und  Rinuccini's.  die  „Daphne''  aus  Florenz 
zu  verschi'eiben,  und  den  Dichter  Martin  Opitz,  den  Text  in's 
Deutsche  zu  übersetzen;  da  indessen  die  deutsche  Bearbeitung  zu 
Peri's  Musik  nicht  passen  wollte,  so  musste  sich  Schütz  dazu  ver- 
stehen, eine  neue  zu  componiren,  und  nun  endhch  konnte  die 
Oper  am  13.  April  1627  im  Tafelsaal  des  Schlosses  Hartenfels 
zu  Torgau  aufgeführt  werden.  lieber  den  Erfolg  dieser  Aufführung 
sind  wir  im  Unklaren;  auch  die  Schütz'sche  Musik  ist  uns  nicht 
erhalten,  was  zu  bedauern  wäre,  wenn  man  nicht  annehmen  düi'fte, 
dass  sich  der  Componist,  als  warmer  Verehrer  der  Italiener,  dem 
von  ihnen  erfundenen  Stil  aufs  engste  angeschlossen  hat.  Eine 
nachhaltige  Wirkung  konnte  sich  an  dies  erste  Erscheinen  der 
Oper  schon  deshalb  nicht  knüpfen,  weil  bald  darauf  die  Wirren 
des  dreissigj ährigen  Krieges  die  Pflege  der  Künste  überhaupt 
unraögUch  machten.  Was  Schütz  betrifft,  so  hat  er  auch  später, 
nach  Wiederherstellung  geordneter  Zustände,  nicht  mehr  für  das 
Theater  gearbeitet*),  sondern  sich  ausschliesslich  der  geistlichen 
Musik  gewidmet,  die  Oper  den  Italienern  überlassend,  welche 
1562  ihren  Einzug  in  Dresden  hielten,  nachdem  mit  dem  Regie- 
rungsantritt Johann  Georg's  H.  die  regelmässigen  Theater- 
vorstellungen wieder  begonnen  hatten.  Der  fremdländischen  Kunst 
eine  nationale  gegenüber  zu  stellen,  dafür  konnte  hier  so  wenig 
Hoffnung  sein,  wie  in  den  übrigen  Hauptstädten  Deutschlands, 
da  das  infolge  des  Krieges  eingetretene  politische  und  materielle 
Elend  die  geistige  Spannkraft  des  Volkes,  wie  es  schien,  auf 
immer  gelähmt  hatte,  und  bei  der  ausschliesslichen  Vorhebe  der 

*)  Mit  einei"  einzigen  Ausnahme,  des  nach  einer  zweiten  italienischen 
Keise  componü'ten,  am  20.  Nov.  1638  zu  Dresden  aufgeführten  „Orpheus" 
Text  nach  Rinuccini's  „Euridice"  von  Prof.  Aug.  Buchner  in  Wittenberg, 
deren  Musik  ebenfalls  vei'loren  gegangen  ist. 


106  VIII.    Die  deutsclie  Oper. 

Fürsten  für  alles ,  was  das  Ausland  produciiie ,  war  es  der 
italienischen  Oper  um  so  leichter,  zur  uneingeschränkten  Herrschaft 
zu  gelangen. 

Eine  einzige  Stadt  Deutschlands  machte  zu  jener  Zeit  eine 
Ausnahme:  Hamburg,  welches  bei  seiner  geographischen  Lage 
von  den  Kriegsstürmeu  weniger  zu  leiden  gehabt  hatte  und  durch 
seinen  Haudelsfleiss  schon  längst  zur  Wohlhabenheit  gelangt  war, 
dabei  aber  die  idealen  Lebenszwecke  so  eifrig  verfolgte,  dass  es 
sich  in  dieser  Hinsicht,  namentlich  als  Pflegestätte  der  Musik, 
während  der  zweiten  Hälfte  des  17,  Jahrhunderts  des  besten  Rufs 
durch  ganz  Deutschland  erli'eute.  Wie  sehr  man  hier  die  Kunst 
und  ihre  Vertreter  zu  schätzen  wusste,  zeigt  u.  a.  die  Thatsache, 
dass  der  von  Dresden  als  Stadtcantor  berufene  Christoph 
Bernhard  von  den  Vornehmsten  der  Stadt,  die  ihm  in  sechs 
Kutschen  zwei  Meilen  weit  bis  Bergedorf  entgegen  gefahren, 
feierlich  eingeholt  wurde;  und  wenn  Schütz  selbst  in  seinem 
Pensionirimgsgesuche  den  Wunsch  ausgesj)rochen  hat  „eine  für- 
nehme Reichs-  und  Hansastadt  zu  seiner  letzten  Herberge  aut 
dieser  Welt  erwählen  zu  dürfen",  so  kann  damit  nur  Hamburg 
gemeint  gewesen  sein.  Besonders  fehlte  es  der  Stadt  niemals  an 
tüchtigen  Organisten;  unter  ihnen  ist  Johann  Adam  Reinken 
hervorzuheben,  dessen  Spiel  u.  a.  auf  Sebastian  Bach  eine  solche 
Anziehungskraft  ausübte,  dass  dieser  während  seiner  Studienzeit 
an  der  Lüneburger  Michaelisschule  wiederholt  zu  Fuss  den  Weg 
nach  Hamburg  machte,  um  den  Meister  zu  hören.  Unter  solchen 
Umständen  musste  es  zunächst  die  geistliche  Musik  sein,  auf 
welche  die  in  Italien  durch  Ausbildung  des  dramatischen  Ele- 
mentes in  der  Musik  bewirkten  Fortschritte  ihren  Einfluss  aus- 
übten. Hamburg  wurde  in  Folge  dessen  der  Ort  zur  Lösung  der 
überall  in  Deutschland  erörterten  Frage,  ol)  in  der  Kirchenmusik 
dem  einfachen,  ernsten,  alten  Stil  oder  einem  „gemässigt  theatra- 
lischen" mit  starken  Affecten  und  rührendem  Ausdruck  der  Vor- 
zug zu  geben  sei.  Die  Hamburger  Componisten  Keiser,  Mat- 
theson,  Telemann  waren  der  letzteren  Ansicht  und  meinten 
„da  in  der  Oper,  als  in  dem  galantesten  Stücke  der  Poesie,  die 
göttliche  Musik  ihre  Vortrefflichkeit  am  besten  sehen  lasse,  so 
wäre  doch  um  so  mehr  Veranlassung,  der  direct  zu  Gottes  Ehre 
bestimmten  Kirchemnusik  eine  ähnliche  Voiirefflichkeit  angedeihen 
zu  lassen".  Auf  Grund  dieser  Princii^ien  imd  durch  Uebertragung 
der  Gesangsformen  der  italienischen  Oper  auf  kirchliche  Texte 
entstand  zuerst  die  grosse  Kirchencantate,   dann  die  Passion  in 


VIII      Die  rtfeutscUe  Oper.  107 

der  Form,  in  welcher  sie  später  durch  Bach  zur  Volleudimg  ge- 
bracht wurde. 

Anfangs  fand  diese  dramatische  Kirchenmusik  allgemeinen 
Beifall;  auch  unter  der  Geistlichkeit  mangelte  es  nicht  an  eifrigen 
Verehrern  der  neuen  Richtung,  ja,  einzelne  ihrer  Mitglieder  hatten 
selbst  den  Anstoss  zu  der  Bewegung  gegeben,  so  namentlich  der 
von  1715  bis  1756  als  Hauptpastor  an  der  Jacobikirche  zu  Ham- 
burg wirkende  Erdmann  jS^eumeister,  welcher  obwohl  der 
orthodoxen  Partei  angehörend,  doch  bereits  seit  1700  Kirchen- 
cantaten  in  opernhafter  Fonn  gedichtet  hatte.  Als  jedoch  die 
Dichter  anfingen  durch  die  eigenen,  meist  nichts  weniger  als 
erhabenen  Eingebungen  das  Bibelwort  immer  mehr  aus  den 
Passions  -  Dichtungen  zu  verdrängen,  fühlte  sich  die  orthodoxe 
Geistlichkeit  veranlasst,  gegen  die  Vermischung  von  Kirchlichem 
und  Welthchem  energisch  zu  protestiren:  es  entspann  sich  aus 
dem  Widerstreit  der  Meinungen  eine  literarische  Fehde,  welche 
jahi'elang  dauerte  und  sogar  weit  über  die  Grenzen  Hamburgs 
hinausgetragen  wurde,  wie  dies  aus  dem,  in  der  derben  Weise 
jener  Zeit  geführten  Briefwechsel  zwischen  dem  Hamburger  Musik- 
schriftsteller Mattheson  und  dem  Göttiuger  Professor  Joachim 
Meyer  ersichtlich  wird.  Mattheson  nennt  hier  seinen  Gegner 
den  „Neuen  Göttingschen ,  aber  \iel  schlechter  als  die  alten 
Lacedämonischen  urtheilenden  Ephorus"  indem  er  auf  das  Straf- 
gericht gegen  den  lesbischen  Musiker  T erpander  anspielt,  wel- 
chem in  Sparta  von  Staatswegen  der  Gebrauch  einer  von  ihm  der 
sechssaitigen  Kithara  hinzugefügten  siebenten  Saite  untersagt 
Avurde.  Ein  anderer  Vertheidiger  der  dramatischen  Kirchenmusik 
drückt  sich  unter  dem  Pseudonym  Frankenberg  in  einer  Schrift 
„Die  gerechte  Waagschal'"  noch  ungebimdener  aus:  ,.Meyer  habe 
in  seinen  Dreck -Thätchen  (Tractätchen)  ein  dick -elend -häutiges 
Kuh-dicium  (Judicium)  an  den  Tag  gelegt.  Es  werde  nöthig 
werden,  den  Kirchen-Cantaten  Telemanns  bald  ein  consihum  abe- 
undi  aus  der  Kirchen  durch  den  Hunde-Peitscher  geben  zu  lassen 
und  dafür  fein  andächtige  Motetten  zu  setzen,  die  hübsche  lang- 
same Noten  haben,  als  z.  E.  in  dem  alten  Tmbabor,  darin  der 
Bass  im  Anfange  eine  Maxima  von  acht  Takten  zu  halten  hat, 
und  der  Bassist  in  einem  Tone  so  fein  lange  aushält,  dass  er  sich 
indessen  aller  römischen  Päpste  erinnern  kann.  Es  sei  gar  nicht 
davon  die  Rede,  einen  luxuriösen  Theatral-Stil  in  die  Kirche  ein- 
zuführen noch  den  Componisten  zu  erlauben,  ihre  Kircheustücke 
mit  buntkrausen  Coloraturen,  unvernehmlichen  Passagien,  abenteuer- 


108  Vin.    Die  deutsclie  Oper. 

liehen  Manieren,  kauderwelschen  Capaunen-Gelächtern,  zerstüm- 
melteu  Saalbadereien.  abgeschmackten  Yariationibus  (da  man  die 
Xoten  zu  Sauerkraut,  "svie  Lung'  und  Leber  zu  Lümmel  hacke) 
und  dergleichen  impertinentem  Tande  zu  spicken;  sondern  es 
komme  darauf  an,  den  Text  wohl  anzusehen  und  ihm  gemäss  die 
Affecten  der  Zuhörer  zu  erregen"  u.  s.  w.*). 

Diese  kurze  Andeutung  der  von  Hamburg  ausgegangenen 
Bestrebungen  zur  Ausbildung  eines  neuen  Kü'cheustils  —  deren 
weitere  Ergebnisse  im  nächsten  Abschnitt  zur  Sprache  kommen 
werden  —  möge  zur  Erklärung  dienen,  dass  gerade  Hamburg  es 
unternehmen  konnte,  auch  auf  dem  Gebiete  der  Oper  selbst- 
schöpferisch imd  mit  nationalen  Kräften  voran  zu  gehen.  Bis 
1678  waren  die  hier  aufgeführten  deutschen  Singspiele  nur  Nach- 
ahmungen der. französischen  Operette;  inzwischen  aber  hatten  die 
Neuerungen  in  der  Kirchenmusik  Anregung  gegeben,  auch  für 
das  Theater  höhere  Ziele  in's  Auge  zu  fassen.  Nicht  nur  die 
Künstlerschaft  und  die  angesehensten  Bürger,  sondern  auch  ein 
Theil  der  Geistlichkeit  war  dem  Plane  einer  nationalen  Oper 
durchaus  geneigt;  der  Prediger  an  der  Katharinen  -  Kirche, 
Elmenhorst,  begnügte  sich  nicht  damit,  ihn  öffentlich  zu  billigen, 
sondern  bethätigte  sich  persönlich  durch  die  Dichtung  von  Opern- 
texten an  seiner  Ausführung,  Ln  genannten  Jahre  aber  sollten 
diese  Wünsche  ihre  Verwirklichung  finden  durch  den  Organisten 
Reinken,  der  sich  mit  dem  nachmaligen  Uathsherrn  Gerhard 
Schott  und  dem  Licentiaten  Lütgens  zu  einem  Theaterunter- 
nehmen in  grossem  Stile  vereinigt  hatte,  und  am  2,  Januar  konnte 
das  auf  dem  Gänsemarkt  belegene  erste  deutsche  Opernhaus  mit 
der  Oper  „Adam  und  Eva,  oder  der  erschaffene,  gefallene  und 
aufgerichtete  Mensch",  Text  von  Richter.  Musik  vom  Capell- 
meister  Theile,  eröffnet  werden. 

Das  Interesse,  welches  dieser  erste  Versuch  in  allen  Kreisen 
der  Hamburger  Bevölkerung  erweckte,  durfte  wohl  Hoffnung  auf  das 
Gedeihen  der  deutschen  Oper  erregen.  Der  deutsche  Volksgeist 
konnte  hier  dem  fremdländischen  Erzeugniss  um  so  eher  seinen 
Stempel  aufdrücken,  als  bei  der  repubhcanischen  Verfassung  der 
Stadt  jede  Rücksicht  auf  Hof  und  Aristokratie  wegfiel.  Wenn 
dennocli  die  Hamburger  Oper  es  nicht  zu  einem  fertigen  Ganzen 
bringen  konnte,  so  lag  die  Ursache  nicht  in  dem  Maugel  an 
fähigen    Componisten,    sondern    in    dem  Zwiespalt   zwischen    den 


*)  S.  "VVinterfeld,  Evangel.  Kirchengesang  III.  S.  75. 


VIII.    Die  devitsclie  Oper.  109 

poetischen  Liebhabereien  der  Kenner  und  denen  des  Volkes,  für 
welchen  es  an  einem  geeigneten  Vermittler  unter  den  damaligen 
Dichtern  fehlte.  An  den  zu  jener  Zeit  ausschliesslich  verwen- 
deten geistlichen  und  antiken  Stoffen  konnte  sich  das  Volk  un- 
möglich ergötzen,  weshalb  man  es  für  nöthig  erachtete,  auch  den 
ernstesten  Situationen  ein  possenhaftes  Element  beizumischen; 
daneben  wurde  nichts  versäumt,  um  die  Schaulust  der  Masse  zu 
befriedigen,  und  demgemäss  verwendete  man  auf  die  äussere  Aus- 
stattung der  Opern  eine  Sorgfalt,  welche  mit  den  ^Nachlässigkeiten 
und  Hohlheiten  der  Dichtungen  in  auffallendem  Widerspruch  stand. 
Nicht  die  kleinste  der  Schwierigkeiten,  mit  denen  die  Hamburger 
Oper  zu  kämpfen  hatte,  war  der  Mangel  an  tüchtigen  Gesangs- 
kräften,  besonders  weiblichen:  die  Castraten  waren  in  Hamburg 
niemals  beliebt  gewesen,  die  Töchter  halbwegs  angesehener  Fa- 
milien aber  wm'den  durch  die  gegen  das  Theater  herrschenden  Vor- 
urtheile  abgehalten,  sich  der  Bühne  zu  widmen.  So  musste  man, 
wie  V.  Dommer  (Musikgeschichte  S.  424)  sagt,  nehmen,  was  man 
eben  bekommen  konnte;  wie  hinter  der  Maske  olympischer  Gott- 
heiten und  Heroen  Schuster  und  Schneider,  verlaufene  Studenten 
und  allerhand  Vagabunden  steckten,  so  ligurirteu  die  Beherrscher- 
innen des  Fisch-  und  Gemüsemarktes  nebst  den  Priesterinneu  der 
Venus  vulgivaga  als  antike  Göttinnen  und  Königinneu. 

Ein  frisches  Leben  begann  für  die  Hamburger  Oper  mit  der 
Ankunft  des  Capellmeisters  Kusser*)  aus  Pressburg  (1693),  der 
zunächst  durch  seine,  den  Steffaui' sehen  nachgebildeten  Opern 
eine  bessere  Schreib-  und  Singweise,  dann  aber  auch  eine  straffere 
Disciplin  beim  Bühnenpersonal  einführte,  und  durch  seinen  Eifer, 
wie  auch  durch  liebevolle  Hingebung  durchsetzte,  was  unter  den 
obwaltenden  Umständen  möglich  war.  Seine  Bestrebungen  als 
Componist,  Dirigent  und  Lehrer  der  seiner  Leitung  anvertrauten 
Künstler  waren  so  erfolgreich,  dass  ihn  Mattheson  in  seinem 
Buche  „der  vollkommene  Capellmeister"  als  das  Ideal  eines  solchen 
hinstellen  konnte.  Noch  belebender  als  Kusser  aber  wirkte  der 
Leipziger  Componist  Reinhard  Keiser,  der  sich  1694  in  Ham- 
burg niederliess  und  in  kurzem  durch  sein  frisches  urwüchsiges 
Genie  zum  Helden  des  Tages  wurde.  Keisers  Productionskraft 
war  eine  ausserordentliche;  er  hat   120  Opern  geschrieben,   von 


*)  Auch  Cousser  geschrieben,  vermuthlich  seitdem  er  in  Paris  ge- 
wesen war,  wo  er  früher  eine  Reihe  von  .Jahren  mit  Erfolg  gewirkt  und 
sich  sogar  die  Gunst  Lully"s  zu  erwei'ben  gewusst  hat. 


110  A'III.    Die  deutscUe  Oper. 


denen  einige  sogar  in  Paris  zur  Aufführung  gelangten,  dort  aller- 
dings ohne  besonderen  Erfolg,  weil  sie  nach  dramatischer  Seite 
den  französischen,  bezüglich  der  gesanglichen  Wirkung  aber  den 
italienischen  nachstanden.  Von  seiner  Musik,  die  auch  für  den 
heutigen  Greschmack  ihren  Reiz  noch  keineswegs  verloren  hat, 
sagt  Mattheson:  „was  Keiser  setzte,  das  sang  alles  auf's  An- 
muthigste,  gleichsam  von  sich  selbst  und  fiel  so  melodisch  weich 
und  leicht  in's  Gehör,  dass  man's  fast  eher  lieben  als  rühmen 
mochte"  —  und  Scheibe  in  seinem  „kritischen  Musikus":  „Keisern 
seine  Sätze  sind  galant,  verliebt  und  zeigen  alle  Leidenschaften, 
deren  Gewalt  das  menschliche  Herz  am  meisten  unterworfen  ist. 
Sie  sind  feurig  ohne  Zwang  und  die  Liebe  selbst."  Leider  nur 
fehlte  ihm  die  sittliche  Kraft,  um  seinem  künstlerischen  Wirken 
nachhaltige  Bedeutung  zu  verleihen.  Ln  täglichen  Leben  mehr 
Cavalier  als  Künstler  —  er  ging,  so  lange  er  bei  Kasse  war, 
nie  ohne  Begleitung  von  zwei  Dienern  in  Livree  spazieren  — 
begnügte  er  sich  als  echter  Weltmann  auch  in  der  Kunst  mit 
derjenigen  Stufe  der  Vollkommenheit,  die  seine  Zeitgenossen  be- 
anspruchten. Bei  der  schon  erwähnten  Bescheidenheit  dieser 
Ansprüche  aber  konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass  Keiser's  Arbeiten 
sich  mehr  und  mehr  dem  Idealen  entfremdeten  und  sein  Talent 
bergab  ging.  Die  gemeinste  Posse  scheute  er  sich  nicht  in  Musik 
zu  setzen,  wenn  sie  Aussicht  auf  Erfolg  bot;  seine  107.  Oper 
„die  Hamburger  Schlachtzeit"  (1725)  enthielt  so  viele  Anstössig- 
keiten,  dass  sie  nach  einmaliger  Aufführung  vom  Senate  verboten 
wurde  und  derselbe  den  Befehl  gab,  die  Anschlagzettel  vom  Ge- 
richtsdiener herabreissen  zu  lassen.  Yon  der  Art  der  Dichtung, 
mit  welcher  Keiser  sich  befasste,  kann  man  sich  nach  der  folgen- 
den Arie  des  Liebhabers  aus  der  im  nächsten  Jahre  aufgeführten 
Oper  „Jodelet"  (Text  von  Praetorius)   eine  Vorstellung  machen: 

Komet-Steni  aller  Lieblichkeiten, 
Spaarbüclise  der  Vollkommenheiteu, 

Du  bist  so  schön  als  eine  Wassermaus! 
Ich  werde  für  heftiger  Liebe  zum  Gecken, 
Ach,  geuss  doch  bald  das  Kammerbecken 

Der  sehnlichst  verlangten  Gegengunst  aus! 

Bezeichnend  für  die ,  dem  Hamburger  Musikleben  inne- 
wohnende Frische  ist  es,  dass  selbst  ein  Händel  sicli  von  ihm 
anziehen  liess  und  seine  Kräfte  drei  Jahre  hindurch,  von  1703 
bis  1706,  dem  dortigen  Theater  widmete.  Trotz  alledem  sank  die 
Hamburger  Oper  schon  nach  wenigen  Jahrzehnten  von  der  schnell 


VIII.    Die  devitscUe  Oper.  111 


erklommeueu  H()lie  herab ;  die  äusseren  Reizmittel  wurden  immer 
rücksichtsloser  verwendet,  um  über  die  innere  Stillosigkeit  hin- 
wegzuhelfen. Himmel  und  Hölle ,  Schlachten  und  sonstiger 
Spectakel  wurden  aufgeboten;  Pferde.  Esel,  Kameele  und  Atfen 
erschienen  immer  häutiger  auf  der  Bühne;  der  Narr  und  der 
Hanswurst  trieben  ihr  Wesen  in  der  ernsten  Oper  wie  in  der 
Posse  mit  zunehmender  Aufdringhchkeit.  Auch  der  weit  über 
die  Grenzen  Deutschlands  hinaus  berühmte  Telemauu,  den  mau 
1721  zur  Hebimg  der  Oper  aus  Frankfurt  berufen,  nachdem 
Mattheson  und  Keiser  sich  schon  früher  von  ihr  zurückgezogen 
hatten,  konnte  ihren  Verfall  nicht  authalten:  1738  hört  die  deutsche 
Oper  ganz  auf,  und  die  schon  längst  in  den  übrigen  Hauptstädten 
unseres  Vaterlandes  zur  Herrschaft  gelangten  Italiener  halten 
ihren  siegreichen  Einzug  nun  auch  in  Hamburg. 

Nachdem  alle  Bemühungen  der  Hamburger,  sich  eine  natio- 
nale Opernbühne  zu  erhalten,  erfolglos  geblieben  waren,  hört  man 
einige  Jahrzehnte  hindurch  nichts  von  weiteren  Bestrebungen  in 
dieser  Richtung.  Um  Mitte  des  Jahrhunderts  jedoch  beginnt  die 
deutsche  Oper  sich  wieder  zu  regen,  im  Anschluss  an  den,  durch 
die  Dichter  der  sogenannten  preussischen  Schule  z.  Z.  Friedriche 
des  Grossen  —  die  Uz,  Gleim,  Ramler,  Klopstock,  Lessing  — 
bewirkten  Aufschwung  der  deutschen  Dichtung.  Auf  dem  Ge- 
biete des  musikalischen  Dramas  äussert  sich  diese  Bewegung  in 
dreifacher  Weise  und  zwar  jedesmal  unter  fremdländischem  Ein- 
flüsse. Gluck  findet  in  der  französischen  Oper  des  Lully  das 
geeignetste  Mittel,  die  Kraft  seines  deutschen  Geistes  der  italieni- 
schen VerAveichlichung  gegenüber  geltend  zu  macheu;  Mozart 
nimmt  die  italienische  Oper  des  Scarlatti  zum  Ausgangspunkt 
seiner,  innerlich  ebenfalls  gut  deutschen  Kunstbestrebungen;  end- 
lich giebt  die,  um  dieselbe  Zeit  mit  Hülfe  der  italienischen  Opera 
buifa  ins  Leben  gerufene  französische  Komische  Oper  die  An- 
regung zur  Wiederherstellung  und  Veredelung  des  deutschen 
Singspiels.  Diese  Reformbestrebungen  waren  in  Deutschland 
wie  in  Frankreich  dem  Wunsche  entsprungen,  von  einer,  allem 
Natürlichen  entfremdeten  Kunst  wieder  zm-  m'sprünglichen  Ein- 
fachheit und  zu  einer  unbefangenen  Empfindungsweise  zurück- 
zukehren. Freilich  verfielen  die  Operette  und  das  Singspiel  da- 
bei in  den  entgegengesetzten  Fehler  wie  die  Grosse  Oper:  während 
diese  den  Boden  der  Wirklichkeit  unter  den  Füssen  verloren 
hatte,  versanken  jene  in  hausbackene  Alltäglichkeit;  dafür  aber 
brachten  sie  zwei  lebenskräftige  Elemente  zur  (jeltuug.  den  Scherz 


112  Vni.      Die  deutsclie  Oper. 


und  die  Komik,  welche  geeignet  waren,  manches  Ki*ankhafte  zu 
heilen,  so  wenig  sie  sich  auch  dahei  immer  der  feinsten  Mittel 
bedienten. 

Diesmal  ist  Leipzig  die  Stadt,  welche  der  deutschen  Oper 
die  Hand  bietet  zu  dem  Wagniss,  der  italienischen  das  Feld 
streitig  zu  machen.  Hier  wurde  1765  das  erste  Singspiel  auf- 
gefiihi't,  betitelt  ,.Der  Teufel  ist  los  oder  die  verwandelten  Weiber", 
ein  Stoff  aus  dem  Englischen,  von  dem  Dichter  Chr.  Felix 
Weisse  bearbeitet  und  von  dem  Cantor  der  Thomasku'che 
Johann  Adam  Hiller  in  Musik  gesetzt.  Der  letztere  hatte  in 
seinem  Streben,  die  Gattung  auf  eine  höhere  Kunststufe  zu 
bringen,  mit  einem  doppelten  Hinderniss  zu  kämpfen.  Zunächst 
verlangte  der  Theaterdirektor  Koch  von  ihm,  die  Musik  müsse 
durchweg  so  verständlich  sein,  dass  jeder  der  Zuhörer  sie  unter 
Umständen  mitsingen  könne;  sodann  erwiesen  sich  die  Gesangs- 
kräfte als  ganz  und  gar  unzulänghch  zur  Lösung  der  ihnen  von 
Hiller  gestellten  Aufgaben,  da  jetzt,  wie  schon  fi'üher  in  Hamburg, 
die  geübteren  Sänger  von  der  italienischen  Oper  in  Anspruch  ge- 
nommen waren.  Der  preussische  Capellmeister  Reich ar dt  schreibt 
einmal  in  Bezug  hierauf:  „so  oft  eine  Aiie  von  Hillern  kam,  die 
voll  edler  Empfindung  und  voll  Ausdruck  war,  so  stellte  ich  mir  vor, 
wie  er  mir  diese  Aiie  voll  warmen  Gefühls  an  seinem  Claviere  sang, 
undmusste  dann  den  Gesang  jener  gi'ossmäulichten,  jener  ki-euschen- 
den  Sängerin  imd  die  Xachtwächterstimme  des  Liebhabers  dabei 
hören!''*)  Dessenungeachtet  wiu-den  Hillers  Opern  allgemein 
behebt  und  verbreiteten  sich  über  ganz  Deutschland,  besonders 
.,Der  Dorfbarbier''  imd  „Die  Jagd",  welche  letztere  1771  in 
BerUn  im  Verlauf  eines  Jahres  nicht  weniger  als  vierzig  mal  zur 
Aufführung  kam. 

In  AVien  waren  schon  früher  deutsche  Singspiele  und  Ope- 
retten von  herumziehenden  Schauspielertruppen  dargestellt  worden ; 
auch  hatte  sich  bereits  1751  ein  Joseph  Haydn  in  dieser 
Gattung  versucht;  doch  konnte  seine  Ojjerette  „Der  kriunme 
Teufel"  (eine  Satire  aul  den  Opemunternehmer  Affligio)  so  Avenig 
^xie  Mozart's  1768  in Privatki-eisen  aufgefühi'tes  Singspiel  ,^astien 
und  Bastienne"  auf  ihi-e  weitere  Ausbildung  von  Bedeutung  werden, 
weil  beide  Werke  als  Jugend-  und  Gelegenheitsarbeiten  aul 
höheren  Kimstwerth  und  allgemeine  Beachtung  keinen  Anspruch 
machen  dui-ften.  Erst  mit  dem  in  Ba-aft  treten  der  deutsch-nationalen 


*)  J.  F.  Reichardt  „Briefe  eines  aufmerksamen  Reisenden"  I,  S.  147. 


1 


"V^IIT.     X3ie  deutsche  Opor.  113 


Tendenzen  Kaiser  Joseph 's  II.  beginnt  die  Operette  sich  zu 
heben;  dieser  hatte  schon  seit  seinem  Regierungsantritt  (1765) 
der  deutschen  Bühne,  die  er  als  ein  wesentliches  Mittel  zur 
Nationalbildung  betrachtete,  seine  Gunst  zugewendet,  und  im  Ver- 
laufe weiterer  Jahre  kam  er  zu  dem  Entschluss,  die  italienische 
Oper  und  das  Ballet  ganz  aufzuheben,  um  das  National-Singspiel, 
wie  er  die  deutsche  Oper  nannte,  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Der 
Künstler,  welchen  Joseph  II.  nach  langem  Suchen  als  den  wür- 
digsten erfand,  die  Beihe  der  deutschen  Operucomponisten  zu 
eröffnen,  war  Ignaz  Umlauf,  damals  Bratschist  im  Orchester, 
dessen  „Bergknappen",  nachdem  sie  in  der  Generalprobe  den 
Beifall  des  Kaisers  gefunden,  im  Jahre  1778  zum  ersten  mal  auf 
der  Bühne  erschienen.  Es  folgte  dann  eine  Reihe  von  Singspielen, 
welche  theils  aus  dem  Italienischen  oder  Französischen  übersetzt 
waren,  theils  von  wiener  Dichtern  und  Componisten  herrührten. 
Unter  den  letzteren  befand  sich  auch  Mozart,  dessen  längst- 
gehegter Plan,  eine  deutsche  Oper  zu  schreiben,  unter  den  ob- 
waltenden Umständen  endhch  zur  Ausführung  gelangen  konnte. 
Ein  seinen  Wünschen  entsprechendes  Textbuch  fand  er  in  Bretz- 
ner's  „Entführung  aus  dem  Serail";  anfangs  1782  war  die  Com- 
position  beendet  und  am  12.  Juli  desselben  Jahres  ging  das  Werk 
unter  enthusiastischer  Theilnahme  des  wiener  Publicums  zum 
ersten  mal  in  Scene. 

Auffallend  genug  erhielt  Mozart,  trotz  dieses  glänzenden 
Ei-folges  und  wiewohl  die  ,.Entführung"  dem  vom  Kaiser  Joseph 
verfolgten  Ideale  weit  näher  kam  als  alle  Arbeiten  früherer  Com- 
ponisten, dennoch  keine  Aufträge  zu  weiteren  Arbeiten  dieser 
Gattung.  Der  Kaiser  selbst  scheint  die  Bedeutung  dessen,  was 
er  hervorgerufen,  nicht  klar  erkannt  zu  haben,  denn  er  beurtheilte 
Mozart's  Musik  ziemlich  kühl.  „Zu  schön  für  unsere  Ohren  und 
gewaltig  viel  Noten,  lieber  Mozart"  äusserte  er  gegen  diesen, 
Avorauf  der  Künstler  replicirte:  „Gerade  so  viel  Noten,  Ew.  Ma- 
jestät, als  nöthig  ist".  Weit  lebhafteren  Anthcil  an  Mozart's 
Oper  nahm  der  Altmeister  Gluck,  auf  dessen  Begehren  sie  sogar 
einmal  ausserhalb  der  Operusaison  aufgeführt  wurde.  Goethe, 
welcher  durch  seine  Operettendichtungen  „Erwin  und  Elmire" 
und  „Claudine  von  Villabella"  seine  Theilnahme  für  die  xlusbil- 
duug  des  deutschen  Singspiels  bewiesen,  und  auf  eine  dritte,  von 
seinem  Freunde  Christoph  Kayser  componirte  Dichtung  ,. Scherz, 
List  und  Rache"  besondere  Hoffnung  gesetzt  hatte,  schneb  kurze 
Zeit  nach   dem  Erscheinen   der  Entführung:   „Unglücklicherweise 

Langlians,  Uusikgescliiclitc.   2.  Aufl.  " 


W4:  vm.     Die  devitsche  Oper. 


litt  unser  Stück,  nach  früheren  Mässigkeitsprincipien ,  an  einer 
Stimmemnagerkeit,  es  stieg  nicht  weiter  als  bis  zum  Terzett  und 
man  hätte  vieles  geben  mögen,  um  einen  Chor  zu  gewinnen. 
Alles  unser  Bemühen  daher,  uns  im  Einfachen  und  Beschränkten 
abzuschliessen,  ging  verloren  als  Mozart  auftrat.  Die  Entführung 
aus  dem  Serail  schlug  alles  nieder,  und  es  ist  auf  dem  Theater 
von  unserm  so  sorgsam  gearbeiteten  Stück  niemals  die  E-ede  ge- 
wesen." In  der  That  hatte  die  deutsche  Operette,  welche  noch 
von  Männern  wie  Grleim  und  Lessing  als  culturfeindlich  und 
verderblich  für  den  Geschmack  bekämpft  worden  war,  durch 
Mozart  einen  Platz  unter  den  ernsten,  edlen  Kunstgattungen  ge- 
wonnen. Der  Meister,  der  in  seinen  italienischen  Opern  „Don 
Juan"  und  „Figaro"  seine  Fähigkeit  bewiesen  hat,  sich  in  den 
Charakter  und  die  Ausdrucksweise  einer  fremden  Nation  zu  ver- 
setzen, zeigt  sich  in  der  „Entführung"  durch  und  durch  als 
Deutscher.  „Zum  ersten  mal",  sagt  Jahn  („Mozart"  III.  S.  99), 
„haben  hier  deutsche  Empfindung,  deutsches  Gefühl,  deutsches 
Gemüth  aus  einer  echten  Künstlerseele  durch  vollkommene  Be- 
herrschung aller  künstlerischen  Mittel  ihren  Ausdruck  gefunden. 
Man  begreift,  dass  vor  der  reichen  Fülle  und  lebendigen  "Wahr- 
heit einer  solchen  Erscheinung  alles  zurücktreten  musste,  was  sein 
Heil  in  Formen  suchte,  die  aus  der  Fremde  entlehnt  und  nach 
äusserlichen  Bedingungen  gemodelt  waren." 

Noch  ungleich  reicheren  Beifall  als  Mozart  fand  bei  seinen 
Zeitgenossen  der  Operettencomponist  Carl  Ditter  von  Ditters- 
dorf,  weil  sich  derselbe  mit  seinen  künstlerischen  Leistungen  dem 
musikalischen  Bildungsgrad  seiner  Umgebung  anbequemte,  anstatt 
sich,  wie  jener,  über  denselben  zu  erheben.  Als  Tonsetzer  durch 
eine  strenge  Schule  gegangen,  wie^  dies  seine,  den  Haydn'schen 
an  Gediegenheit  nahe  stehenden  Streichquartette  beweisen,  fand 
Dittersdorf  später  in  der  komischen  und  Possenoper  das  eigent- 
liche Feld  seiner  Wirksamkeit.  Der  melodische  Reichthum  seiner 
Musik  und  die  Naturwüchsigkeit  seiner  stets  aus  dem  Leben 
gegriffenen  Gestalten  verschafften  ihm  schon  bei  seinem  ersten 
Auftreten  als  Operncomponist  mit  dem  „Doctor  und  Apotheker" 
(1786)  eine  Popularität,  wie  sie  zu  dieser  Zeit  weder  Haydn  noch 
Mozart  besassen.  Die  genannte  Oper  wurde  in  Wien  während 
desselben  Jahres  noch  zwanzig  mal,  und  zwei  Jahre  später  in 
London  sechsunddreissig  mal  hinter  einander  gegeben,  und  seine 
übrigen  Opern,  etwa  dreissig  an  der  Zahl,  fanden  ähnlichen  Bei- 
fall.    Neben  Dittersdorf  sind  als  Wiener  Singspielcomponisten  zu 


I 


A'III.     Die  deutsclie  Oper.  115 

nennen,  der  durch  seinen  ..Dorfbarbier",  vde  auch  als  musikalischer 
Rathgeber  des  jungen  Beethoven  bekannt  gewordene  Johann 
Schenk;  ferner  Wenzel  Müller,  der  Componist  von  mehr  als 
als  zweihundert  Singspielen  niedi'ig-komischer  Gattung,  unter  denen 
sich  „Die  Schwestern  von  Prag"  noch  lauge  Zeit  nach  seinem 
Tode  auf  der  deutschen  Bühne  erhalten  haben;  Ferdinand 
Kauer,  dessen  ,,Donauweibchen"  ein  halbes  Jahrhundert  lang  die 
Besucher  der  Volkstheater  ergötzte,  u.  a.  Die  Liebhaberei  des 
PubHcums  für  diese  Werke  leichteren  Genres  mochte  wohl  die- 
jenigen beunruhigen,  welche  der  deutschen  Oper  einen  idealeren 
Wirkungskreis  zugedacht  hatten;  bald  aber  sollte  es  sich  zeigen, 
dass  auch  jene  Componisten  an  der  Verfeinerung  des  nationalen 
Musikgeschmackes  mitgearbeitet  hatten;  denn  als  Mozart  am 
30.  September  1791  (das  Jahr  seines  Todes)  mit  einer  zweiten 
deutschen  Oper,  der  ..Zauberflöte'*  hervortrat,  da  wurde  er  un- 
gleich besser  verstanden,  als  mit  seiner  „Entführung."  Die 
„Zauberflöte"  ist  es.  durch  welche  Mozart  seiner  Nation  das 
Heihgthum  der  deutschen  Kunst  erschlossen  hat;  immittelbar  imd 
allgemein  drang  diese  Oper  ins  Volk  ein.  wie  wohl  nie  vorher 
ein  musikahsches  Kunstwerk,  um  bis  heute  ihren  Platz  auf  der 
deutschen  Bühne  zu  behaupten.  Während  es  sich  bei  der  „Ent- 
führung" zunächst  nur  darum  gehandelt  hatte,  das  deutsche  Sing- 
spiel auf  eine  Stufe  mit  der  Oper  zu  erheben,  so  galt  es  hier 
Fonnen  zu  finden,  welche  der  dramatischen  Charakteristik  volle 
Freiheit  gewährten.  Wie  dies  dem  Meister  gelungen  ist,  zeigt 
jeder  Takt  der  Partitur  —  selbstverständhch  ausgenommen  die 
beiden  Arien  der  Königin  der  Nacht,  welche  er  aus  Gefälligkeit 
gegen  die  „geläufige  Gurgel"  seiner  ältesten  Schwägerin.  Frau 
Hofer,  geschrieben  hat  —  und  yvie  sein  deutsches  Wesen  trotz 
langjährigen  Umgangs  mit  der  Kunst  der  Italiener  durchaus  un- 
verfälscht geblieben  ist,  dies  empfindet  man  gerade  in  der  „Zauber- 
flöte"  z.  B.  in  der  liebevollen  Ausführung  der  volksthümlichen 
Figur  des  Papageno  und  nicht  weniger  in  dem,  die  Freimaurerei 
betreffenden,  religiös-feierlichen  Theil  der  Oper  mit  überzeugender 
Sicherheit. 

Beethoven  hat  die  „Zauberflöte"  für  Mozart's  grösstes  Werk 
erklärt  ,.denn  hier  erst  habe  er  sich  als  deutscher  Meister  ge- 
zeigt"*) —  und  mit  dieser  Aeusseruug  ist  seine  eigene  Stellung 
als     deutscher    Componist    hinreichend     gekennzeichnet.       Als 


*■)  Vgl.  Seyfried.  ,.L.  van  Beethoven'»  Studien-',  Anhang,  S.  22. 

8^^ 


116  VIII.     Uie   dexitsclie  Oper. 

solcher    musste    auch    er    die    Vervollkommnung    der    deutschen 
Oper  anstreben,   doch  war  es   ihm  nicht  heschieden,   auf  diesem 
Gebiet  über  Mozart  hinauszugehen,  weil  die  Hauptaufgabe  seines 
Zeitalters,  die  Ausbildung  der  Instrumentalmusik,  ihn  überwiegend 
in   Anspruch   nahm.     Wie    das    Studium    des    dramatischen    und 
Kunstgesanges  bis   zum  Ende   des  vorigen  Jahrhunderts  die  un- 
entbehrliche Grundlage  zur  Erziehung  des  Musikers  war,  so  hatte 
auch  Beethoven  diese  Schule  durchgemacht,  und  zwar  unter  der 
Leitung  des  tüchtigsten  Lehrers,  des  als  Operncomponist  in  ganz 
Europa  beliebten  und  selbst  von  Gluck  hochgeschätzten  Salieri 
(seit   den  Zeiten   der  Maria  Theresia   bis  zu   seinem  Tode  1825 
Hofcapellmeister  in   Wien).     Doch    schon   in    Beethoven's    erster 
Oper  „Fidelio",   die   auch   die   einzige  bleiben  sollte,  wurde  es 
offenbar,   dass    er  den  Gesangunterricht   dieses    Meisters   keines- 
wegs in  genügender  AVeise  benutzt  hatte,   und   die   Klagen  über 
Unsangbarkeit,   die  bereits  während  der  Proben  zu   dieser  Oper 
laut  wurden,  waren  nur  zu  berechtigt,  denn  Beethoven,  durch  die 
Fügsamkeit  der  Instrumente  gewöhnt,  sich  im  Fluge  seiner  Phan- 
tasie keinerlei  Beschränkung  aufzuerlegen,  hatte  es  versäumt,  den 
Bedingungen  Rechnung  zu  tragen,  unter  denen   die  menschliche 
Stimme  allein  zur  vollen  Wirkung  gelangen  kanü.     Ebenso  wenig 
wusste  er  den  scenischen  Anforderungen  gerecht  zu  werden,  und 
da  er  ausserdem  mit  der  ihm   eigenen  Hartnäckigkeit  alle  Ver- 
besserungsvorschläge   zurückwies,    so    konnte    die    Aufnahme    des 
Fidelio   bei  seinem  ersten  Erscheinen  (20.  November   1805)  nur 
eine  kühle  sein.     Der  Wiener  Berichterstatter  des  von  Kotzebue 
herausgegebenen  Blattes  „Der  Freimüthige"  schrieb  damals:  „Eine 
neue  Oper  von  Beethoven,  Fidelio  oder  die  eheliche  Liebe  getiel 
nicht.     Sie  wurde  nur  einige  mal  aufgeführt  und  blieb  gleich  nach 
der   ersten  Vorstellung  ganz   leer.     Auch  ist  die  Musik  wirklich 
weit  unter   den  Erwartimgen,  zu   denen  sich  Kenner  und  Lieb- 
haber berechtigt  glaubten.     Die  Melodien  sowohl  als   die   Cha- 
rakteristik entbehren,   so  gewählt  auch  manches   darin  ist,   doch 
jenes    glücklichen,    treffenden,    unwiderstehlichen   Ausdrucks    der 
Leidenschaft,  der  uns  in  Mozart'schen  und  Cherubini'schen  Werken 
hinreisst;  die  Musik  hat  einige  hübsche  Stellen,  aber  sie  ist  sehr 
weit  entfernt,  ein  vollkommenes,  ja  auch  nur  ein  gelungenes  Werk 
zu  sein." 

Zur  Erklärung  des  geringen  Beifalls,  welchen  „Fidelio"  bei 
seinem  ersten  Erscheinen  fand,  sind  noch  die  misslichen  äusseren 
Umstände  in  Anschlag  zu  bringen,  unter  denen  das  AVerk  in  die 


( 


VIU,     Die  deutsclie  Oper.  117 


Oeffeutliclikeit  trat;  wenige  Tage  zuvor  waren  durch  das  Ein- 
rücken der  Franzosen  unter  Napoleon  der  Hof  und  der  Adel 
•aus  AV^ien  vertrieben  worden;  die  Theater  blieben  anfangs  ganz 
leer  und  das  Publicum,  welches  sich  nach  und  nach  einfand,  be- 
stand ausschliesslich  aus  französischem  Militär.  Etwas  mehr 
Olück  hatte  die  Oper  bei  ihrer  Wiederaufnahme  im  folgenden 
Jahre,  nachdem  die  politische  Lage  sich  geklärt,  überdies  auch 
der  Componist  sich  zu  theilweiser  Umarbeitung  seiner  Partitur 
bequemt  hatte.  Dann  ruhte  sie  abermals  eine  Reihe  von  Jahren 
lind  erst  1814,  wo  der  Fidelio,  aufs  neue  umgearbeitet,  zum 
dritten  mal  auf  der  Bühne  erschien,  konnte  er  volles  Verständniss 
finden  und  Gemeingut  des  deutschen  Volkes  werden.  Ohne  ihn 
an  Kunstwerth  neben  oder  gar  über  die  dramatischen  Meister- 
werke Mozart's  stellen  zu  dürfen,  müssen  wir  ihn  doch  als  ein 
kostbares  Vermächtniss  des  Beethoven'schen  Grenius  betrachten. 
Seine  ganze.  Kraft  und  Eigenartigkeit  konnte  der  Meister  hier 
allerdings  nicht  bewähren,  da  die  Formen,  in  welche  die  Oper 
zu  seiner  Zeit  gebannt  war  und  die  zu  zerbrechen  er  sich  noch 
nicht  getraute,  seinem  künstlerischen  Freiheitsdrange  unübersteig- 
liche  Hindernisse  entgegensetzten.  „Während  im  Oratorium  und 
namentlich  in  der  Symphonie  dem  deutschen  Musiker  eine  edle, 
vollendete  Form  vorlag,  bot  ihm  die  Oper  ein  zusammenhang- 
loses Gewirr  kleiner  unentwickelter  Formen,  auf  welchen  eine 
ihm  unbegreifliche,  alle  Freiheit  der  Entwickelung  beeinträchtigende 
Convention  haftete.  Vergleicht  man  die  breit  und  reich  ent- 
wickelten Formen  einer  Symphonie  Beethoven's  mit  den  Musik- 
stücken seiner  Oper  Fidelio,  so  merkt  man  sogleich,  vne  der 
Meister  sich  hier  beengt  und  behindert  fühlte  und  zu  der  eigent- 
lichen Entfaltung  seiner  Macht  fast  gar  nie  gelangen  konnte, 
weshalb  er,  wie  um  sich  doch  einmal  in  seiner  ganzen  Fülle  zu 
ergehen,  mit  gleichsam  verzweiflungsvoller  Wucht  sich  auf  die 
Ouvertüre  warf,  in  ihr  ein  Musikstück  von  bis  dahin  unbekannter 
Breite  und  Bedeutung  entwerfend.  Missmuthig  zog  er  sich  von 
diesem  einzigen  Versuche  einer  Oper  zurück,  ohne  jedoch  dem 
Wunsche  zu  entsagen,  ein  Gedicht  finden  zu  können,  welches 
ihm  die  volle  Entfaltung  seiner  musikalischen  Macht  ermöglichen 
dürfte.     Ihm  schwebte  eben  das  Ideal  vor.'"*) 

Die  zur  Zeit  Beethoven's  herrschenden  Opernzustäude  einer- 
seits, seine  nach  innen  gekehrte,    durchaus  subjective  Künstler- 

*)  Richard  Wagner:  „Zukunftsmusik."    Gresammelte  Schriften,  Band  VII. 
8.  129. 


118  VIII.     Die  devitsclie  Oper. 

natur  andererseits  maclien  es  begreiflich,  dass  der  Fidelio  eine 
vereinzelte  That  geblieben  ist,  eine  That,  zwar  für  ihren  Urheber 
in  hohem  Grade  rühmlich,  jedoch  nicht  geeignet,  ihm  einen  Platz 
unter  den  Koryphäen  der  deutschen  Oper  zu  sichern.  Dafür 
aber  hat  er  derselben  mittelbar  einen  höchst  wichtigen  Dienst 
geleistet,  indem  er  es  gewesen  ist,  der  den  Instrumenten  eine^ 
noch  bis  heute  nicht  übertroffene  Ausdrucksfähigkeit  verliehen 
hat,  derart,  dass  im  Orchester  eine  Tonsprache  zur  Oifenbarung 
der  geheimsten  Seelenregungen  gefunden  war.  Mit  Hülfe  des 
Beethoven'schen  Orchesters  durften  die  ihm  nachfolgenden  Com- 
ponisten  der  romantischen  Schule  es  unternehmen,  die  deutsche 
Oper  in  neue  Bahnen  zu  lenken,  und  unter  dem  fruchtbringenden 
Einfluss  seines  Genius  konnte  es  möglich  werden,  ein  nationales 
Musikdrama,  wie  es  Italien  und  Frankreich  längst  besessen,  end- 
lich auch  in  Deutschland  zur  vollständigen  Reife  zu  bringen. 


IX. 
Das   Oratormm. 


Die  Spuren  des  geistliclieu  Musikdrama,  welches  der  äusseren 
Zuthaten,  Action,  Costüme,  Decorationen  entkleidet,  unter  dem 
N"amen  Oratorium  im  heutigen  Musikleben  zu  so  hoher  Bedeutung 
gelangt  ist,  lassen  sich  in  eine  noch  fernere  Vorzeit  verfolgen  als 
die  des  weltlichen.  Nicht  nur  ist  die  griechische  Tragödie  als 
eine  gottesdienstliche  Feier  dieser  Kategorie  zuzurechnen;  auch 
die  von  Herodot  beschriebene,  ohne  Zweifel  von  Musik  begleitete 
Mysterienfeier  der  egyp tischen  Priester,  bei  welcher  die  Leiden 
des  Gottes  Osiris  dargestellt  wurden,  kann  als  eine  Ali  von 
Passionsschauspiel  gelten,*)  und  ebenso  deuten  bei  den  Juden  der 
reiche  Tempeldienst  zur  Zeit  des  Königs  David,  «ein  Tanzen  vor 
der  Bundeslade,  die  "Wechselgesänge  beim  Psalmenvoi-trag,  auf 
eine  musilvalisch-dramatische  Foi-m  des  Gottesdienstes.  Das 
Christenthum  verband  schon  früh  ein  dramatisches  Element  mit 
seinen  Cultushandhmgen,  da  man  einsah,  dass  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung stärker  auf  die  Gemüther  der  Neubekehrten  wirken 
müsse,  als  die  blosse  Lehre.  Anfangs  wurde  hier  das  Evangelium 
ganz  unverändert  zur  Darstellung  gebracht,  oder,  wie  man  später 
sagte,  in  Personen  gestellt,  wodurch  der  ganze  Actus  ein  dra- 
matisches Ansehen  bekam;  ein  Priester  recitirte  die  Reden  Jesu, 
ein  anderer  die  des  Evangelisten;  Volk,  Jünger,  Gerichtshof  waren 
durch  den  Sängerchor  repräsentirt.  Da  indessen  der  Gesang  von 
dem  für  den  Ritus  vorgeschriebenen  in  keinem  Punkte  abwich, 
so  war  der  Unterschied  zwischen  diesen  Darstellungen  und  der 
gewöhnlichen  Kirchenceremonie  kaum  wahrzunehmen. 

Ein  schärferes  Hervortreten  des  di-amatischen  wie  des  mu- 
sikalischen Elementes  zeigt  sich  bei  den,  während  des  13.  und 

*)  Vgl.  Ambros,  Geschichte  der  Musik,  I.  S.  172. 


1^0  ^^'    I^as  Oratorium. 


14.  Jahrhunderts  unter  dem  Namen  Marienklagen  (planctus 
Mariae)  gebräuchHchen  DarsteUungen  der  Passion,  in  welchen 
das  Versmaass  der  Dichtungen  Ijeweist,  dass  sie  nicht  nach  einer 
kirchlichen,  sondern  nach  einer  Melodie  des  Meistergesanges  ge- 
sungen wurden,  dessen  Singweise  zwischen  der  Leichtigkeit  des 
Volksliedes  und  dem  Ernst  des  Chorals  etwa  in  der  Mitte  stand. 
Noch  weitere  Foi-tschritte  in  dieser  Richtung  machte  das  geist- 
liche Schauspiel,  nachdem  der  Clerus,  um  die  Liebhaberei  des 
Volkes  von  den  sehr  tief  stehenden  weltlichen  Schauspielen  auf 
etwas  Höheres  zu  lenken,  auch  die  Laien  zur  Betheiligung  an 
demselben  herangezogen  hatte.  In  Folge  dessen  bildeten  sich 
aus  ihrer  Mitte  Corporationen  zu  dem  Zwecke,  derartige  Auf- 
führungen ins  Werk  zu  setzen,  so  1389  zu  Paris  die  „Confrferie 
de  la  Passion"  welcher  der  König  ein  eigenes  Theater,  de 
la  Trinite  genannt,  in  St.  Mam'  bei  Paris  einräumte.  Mit  der 
Zeit  aber  gab  die  Mitwirkung  der  Laien,  zu  denen  sich  auch  die 
herumziehenden  Instrumentalmusiker  gesellten,  den  geistlichen 
Schauspielen  ein  weltliches,  burleskes,  ja  unsittUches  Gepräge, 
und  die  Musik,  welche  bei  den  mit  der  heiligen  Geschichte  A'er- 
bundeneu  niedrig-komischen  Episoden  an  Stelle  des  CoUecten- 
tones*)  trat,  durfte  sich,  um  der  Situation  zu  entsprechen,  nicht 
über  die  allerpopulärsten.  an  den  Gassenhauer  streifenden  Volks- 
weisen erheben,  so  z.  B.  wenn  Judas  um  die  Silberlinge  schachert, 
oder  wenn  der  Salbenkrämer  den  zum  Grabe  des  Heilands  eilen- 
den Frauen  unter  allerlei  derben  Scherzen  seine  Waare  anbietet. 
Noch  grösser  war  der  Unfug  bei  den  bis  zum  Ausgang  des 
Mittelalters  in  einigen  Ländern,  hauptsächlich  in  Frankreich  ge- 
feierten sogenannten  Esels  festen  und  Narrenfesten.  Bei  dem 
ersteren,  welches  zum  Andenken  au  die  Flucht  der  heihgen 
Familie  nach  Egj'pten  gefeiert  wurde,  führte  man  einen  mit  einer 
Mönchskutte  behängten  Esel  durch  die  Strassen  in  die  Kirche, 
der  Priester  intonirte  vom  Altar  aus  den  sogenannten  Eselsgesang 
und  ahmte  als  Refrain  das  Eselsgeschrei  nach,  worauf  die  Ge- 
meinde, indem  sie  den  Gegenstand  der  Feier  umtanzte,  anti- 
phonenai"tig  respondk'te.  Das  Narrenfest  wurde  um  die  "Winter- 
sonnenwende gefeiert,  zur  Erinnerung  an  die  altrömischen  Sa- 
turnalien mit  ihrer  zeitweiligen  Freiheit  der  Sclaveu;  man  wählte 
dann  einen  Narrenbischof,  der  die  Messe  celebrirte,  während  die 


*)  Diese  zum  kirchlichen  Lesevortrag-  gehörige  Singweise  hält  die 
Mitte  zwischen  Gesang  und  Declamation;  ihren  Namen  hat  sie  vom  lateini- 
schen Oollecta  (sc.  conventio),  Bet- Versammlung. 


IX.    IDas  Oratorimn.  121 


übrige  Geistlichkeit  und  das  Volk,  als  wilde  Bestien  vermummt 
—  ein  Xachklaug  der  Tbierkämpfe  im  römiscbeu  Circus  —  sieb 
in  der  Kircbe  herumbalgten  und  die  gröbsten  Excesse  begingen. 
So  wenig  wie  alle  diese  Schaustellungen  können  die  zur  selben 
Zeit  aufgekommenen  Darstellungen  des  Todes  in  Proces- 
sionen  eine  künstlerische  Bedeutung  beanspruchen.  Diese  stam- 
men aus  einem  nltbergebrachten  Schauspiel  am  Tage  des  Festes 
der  unschuldigen  Kindlein,  der  sieben  maccabäischen  Brüder  — 
daher  auch  der  Name  Chorea  Macchabaeorum,  woraus  später  in 
Frankreich  danse  macabre  wurde  —  und  erfreuten  sich  grosser 
Popularität,  wie  dies  auch  die  vielfachen  bildlichen  Darstellungen 
des  Todtentanzes  durch  die  Maler  des  Mittelalters  beweisen. 
AVeder  nach  geistlicher  noch  nach  weltlicher  Seite  konnte 
sich  das  Volksschauspiel.  beim  Mangel  aller  dafür  nöthigen  Mittel, 
zu  einer  höheren  Kunstgattung  entwickeln;  es  sank  immer  tiefer, 
bis  es  im  17.  Jahrhundert  gänzlich  verschwand.  Als  sein  letzter 
XJeberrest  darf  das  noch  jetzt  alle  zehn  Jahre  im  bayrischen  Dorfe 
Oberammergau  veranstaltete  Passionsschauspiel  gelten, 
welches  übrigens,  in  Anbetracht  des  Eifers  und  des  künstleri- 
schen Tactes  der  Mitwirkenden,  sowie  der  Theilnahme  des  stets 
massenhaft  versanmielten  Volkes,  ein  mehr  als  blos  historisches 
Interesse  erregt.  Was  dagegen  die  kirchlichen  Darstellungen 
der  heiligen  Geschichte  betrifft,  Avelche  neben  den  Passionsschau- 
s})ielen  der  Laien  fortbestanden  hatten,  so  waren  dieselben,  den 
grotesken  Auswüchsen  der  letzteren  gegenüber,  ihrem  liturgischen 
Charakter  treu  geblieben  und  konnten,  namentlich  seit  der  Neu- 
belebung des  Kirchengesanges  durch  Luther's  Reformation,  er- 
höhte musikalische  Bedeutung  gewinnen.  Anfangs  freilich  mochte 
man  sich  von  den  alten  Musikformen  nicht  trennen;  während  des 
ganzen  16.  Jahrhunderts  fuhr  der  Evangelist  fort,  die  Leidens- 
geschichte des  Heilands  im  Collectentoue  zu  recitiren,  die  Reden 
Christi  wurden  vierstinnnig  gesungen,  gleichsam  als  solle  von  der 
realen  Persönlichkeit  abgesehen  werden,  und  nur  die  geistige 
Allgemeingültigkeit  seiner  "Worte  zum  Ausdruck  gelangen.  Selbst 
El.  Schütz,  den  wir  im  vorigen  Abschnitt  als  Kenner  und  Freund 
der  zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  in  Italien  aufgekommenen 
dramatischen  Musik  kennen  lernten,  Amsste  für  die  musikalische 
Feier  der  Osterzeit  nicht  eigentlich  neue  Formen  zu  finden,  wohl 
aber  die  alten  geistig  zu  beleben,  wie  dies  eine  nähere  Betrachtung 
seines  Schaffens  zeigen  wird,  nachdem  wir  zuvor  eine  Uebersicht 
der  Bestrebungen  Italiens  auf  diesem  Gebiete   gewonnen  haben. 


122  IX.    Das  Oratoritmi. 


Italien,  das  Vaterland  des  Kirchengesanges  und  der  drama- 
tischen Musik,  ist  die  Geburtsstätte  wie  der  Oper,  so  auch  des 
Oratoriums.  Schon  im  Verlaufe  des  16.  Jahrhunderts  war  es 
dort  in  den  Klöstern  Sitte  gewesen,  zur  Fastenzeit  öffentliche 
Erbauungsstunden  zu  veranstalten,  um  dem  Volke  für  die  wäh- 
rend der  Fasten  verbotenen  Schauspiele  Ersatz  zu  bieten.  Eine 
vermehrte  Anziehungskraft  gewannen  diese  Zusammenkünfte  — 
nach  dem  klösterlichen  Betsaal  (oratorio),  in  dem  sie  statt- 
fanden, Congregazioni  del  oratorio  genannt  —  als  der  durch 
Originalität  wie  durch  energische  Frömmigkeit  bemerkenswerthe 
römische  Priester  Filippo  Neri*)  auf  den  Gedanken  kam,  seine 
Erklärung  der  heiligen  Schrift  mit  geistlichen  Chorgesängen  zu 
verbinden,  welche  zu  jener  in  Beziehung  standen  und  den  Zweck 
hatten,  sie  gleichsam  zu  illustriren.  Anfangs  leitete  Animuccia, 
der  Vorgänger  Palestrina's  als  Capellmeister  an  der  Peters- 
kirche, den  musikalischen  Theil  der  Feier,  componh^te  auch  für 
sie  eine  Art  vierstimmiger  Hymnen  unter  dem  Namen  Laudi 
spirituali,  in  denen  sich  gelegenthch  eine  oder  zwei  Stimmen 
dialogisirend  vom  vierstimmigen  Satze  abheben.  Nach  seinem  Tode 
trat  Palestrina  an  seine  Stelle,  wie  als  päpstlicher  Capellmeister  so 
auch  als  musikalischer  Gehülfe  des  Neri ;  unter  seiner  Leitung  prägte 
sich  die  dialogisirende  Form  dieser  Gesänge  noch  bestimmter  aus, 
sie  gruppirten  sich  zu  Scenen,  und  man  nannte  sie  in  dieser  Gestalt 
Azione  sacra  (heilige  Handlung)  oder  auch  schlechthin  Oratorio, 
indem  man  den  Namen  des  Ortes,  in  welchem  sie  zur  Ausführung 
kamen,  auf  die  Sache  selbst  übertrug.  —  Neben  diesen  beiden 
Meistern  stellt  sich  der  Spanier  Vittoria  (aus  Avila  unweit  Ma- 
drid, 1575  Capellmeister  an  der  ApoUinariskirche  zu  Rom),  der 
mit  vielen  seiner  Landsleute,  an  ihrer  Spitze  der  bereits  in  der 
ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  in  die  päpstliche  Capelle  ein- 
getretene Moral  es  aus  Sevilla,  in  Rom  den  künstlerischen  Wir- 
kungskreis fand,  den  ihm  sein  Vaterland  nicht  hatte  bieten  können. 
Der  ernste,  tief  religiöse,  etwas  mystische  Zug,  welcher  den  Com- 
positionen  dieser,  zwar  nach  niederländischen  Mustern  gebildeten, 
doch  aber  als  echte  Spanier  empfindenden  Tonsetzern  eigen  ist, 
zeigt  sich  bei  Vittoria,  namentlich  in  seinen,  auch  an  Klang- 
wirkungen reichen  vierstimmigen  Volkschören  (turbae)  zu  zwei 
Passionen  nach  den  Evangelien  des  Matthäus  und  des  Johannes, 
die,  wiewohl  nur  Ceremonieugesänge  für  die  kirchliche  Feier  und 

*)  Ausführliclies  über  ihn  enthält  Goethe 's  Aufsatz  „Philipp  Neri,, 
der  humoristische  Heilige"  (Italienische  Reise  II.  S.  180). 


IX.    IDas  Oratorivuw.  123 

demgeinäss  noch  von  jeder  dramatischen  Intention  frei,  doch  als 
Vorarbeiten  für  den  späteren  Oratorienchor  gelten  können. 

Um  diese  Zeit  war  es,  wo  die  von  Florenz  ausgegangene 
musikalische  Reformbewegung  (vgl.  S.  63)  dem  Kunstgeschmack 
jene  völlig  veränderte  Richtung  gab,  als  deren  unmittelbares  Ziel 
die  moderne  Oper  in  die  Welt  treten  konnte,  und  es  lag  nahe 
genug,  dass  auch  die  Kirche,  des  abgelebten  Formenwesens  müde,^ 
auf  Aneignung  der  für  die  weltliche  Musik  gewonnenen  neuen 
Stilarten  bedacht  war.  Dies  vermittelte  zuerst  Emilio  del  Ca- 
valiere,  bis  1595  Intendant  der  herzoglichen  Hofmusik  in  Flo- 
renz, der  sich  schon  bei  den  Anfangsversuchen  zur  Wieder- 
belebimg des  altgriechischen  Musikdramas  betheiligt  hatte,  ohne 
jedoch  damals  das  Zweckentsprechende  gefunden  zu  haben.  Musste 
er  hl  Folge  dessen  auf  den  Ruhm  verzichten,  unter  den  Be- 
gründern der  modernen  Oper  mit  genannt  zu  werden,  so  ist  ihm 
dafür  ein  Ehrenplatz  in  der  Geschichte  des  Oratoriums  gesichert  ;^^ 
denn  mit  dem  Erscheinen  seines  geistlich-allegorischen  Musik- 
drama La  irappresentazione  di  anima  e  di  corpo*)  (zuerst 
aufgeführt  im  Jahre  1600  auf  einer  Bühne  im  Betsal  des  Klosters 
Santa  Maria  in  Vallicella  zu  Rom)  beginnen  die  beiden  Haupt- 
gattuugen  der  mit  einer  Handlung  verknüpften  Vocal-  und  In- 
strumentalmusik sich  in  ihrer  besonderen  AVeise  zu  entwickeln: 
die  Aufgabe  der  Oper  ist  von  nun  an,  Ton-  und  Dichtkunst  mit 
einer  auf  der  Bühne  [sichtbar  dargestellten  Handlung  jeglichen 
Inhaltes  in  Verbindung  zu  bringen;  das  Oratorium  dagegen 
erstrebt  die  Vermittelung  kirchlicher  und  weltlicher  Kunst  auf 
dem  Boden  der  bibhschen  Geschichte,  und  wenn  es  auch  an- 
fänghch  die  sichtbare  Action  nicht  verschmäht,  so  tritt  doch  die- 
selbe mehr  und  mehr  ziu'ück,  bis  (von  Händel's  Zeit  an)  die 
Handlung  nur  singend  dargestellt  wird.**) 

Neben  Cavaliere  wirkte  für  Einführung  des  dramatischen 
Stils  in  die  Kirchenmusik  Ludovico  Via  da  na  (gest.  nach  1644 
als  Capellmeister  zu  Mantua),  der  mit  seinen  „Concerti  da 
chiesa",  Stücken  für  eine  oder  mehrere  Singstinunen  mit  einem 


*)  Auftauend  ist  bei  dem  Titel  dieses  Werkes  der  Gattiingsuame 
„Rappresentazione",  welcher  übrigens,  wie  auch  ,.Storia''  ..Esempio"  „Mi- 
sterio"  eine  gewöhnliehe  Bezeichnung  für  das  italienische  geistliche  Drama 
war.  Gesänge  ])flegte  man  schon  von  Alters  her  diesen  Repräsentationen 
beizumischen,  meist,  Sclilusschöre  nach  den  Acten.  (Vgl.  J.  L.  Klein,  Gesch- 
des  Drama,  IV.     Das  italien.  Drama  I..  1S7  ft".). 

*'*)  Vgl.  von  Dommer,  „Elemente  der  Musik'",'  8.  34o. 


1^24  IX^-    Das  Oratorium. 


Orgelbass.  die  von  Caccini  neuerfuudene  Monodie  zuerst  iu  der 
Kirche  heimiscli  machte.  Besonders  heachtenswerth  ist  bei  diesen 
„Concerten''  das  Erscheinen  eines  selbständigen  obhgaten  In- 
strumentalbasses, des  Basso  continuo,  so  genannt,  weil  er 
nicht,  wie  der  gesungene  Bass.  gelegentlich  pausirt,  sondern  un- 
ausgesetzt das  ganze  Stück  hindurch  die  Grundstimme  der  Har- 
monie bildet.  Aus  dieser  Ursache  nannte  man  ihn  auch  Bassus 
generalis  oder  Generalbass,  woraus  später  das  Missverständ- 
niss  entsprungen  ist,  als  sei  Viadana  der  Erfinder  dessen  gewesen, 
was  heute  G-eneralbass  genannt  wird,  nämlich  eines  Basses  mit 
gewissen  Ziffern  und  Signaturen,  welche  die  zur  Vervollständigung 
der  Harmonie  nöthigen  Töne  bestimmen.  Diese  letztere  Art  des 
Generalbasses  war  schon  vor  ihm  in  Gebrauch  und  kommt  u.  a. 
in  der  zwei  Jahre  vor  den  „Kirchenconcerten"  erschieneneu  Oper 
.,Eui'idice"  von  Peri  zur  Anwendung.  —  Den  Avichtigsten  Antheil 
aber  an  der  Ausbildung  des  Oratorimns  als  einer  besonderen 
Kunstgattung  hat  unter  allen  Italienern  Giacomo  Carissimi 
(seit  1628  Caj)ellmeister  an  der  Apollinariskirche  zu  Rom),  in- 
dem er  die  bis  auf  seine  Zeit  einfach  liedartige  Cantate  zu  einer 
Art  dramatischen  Scene  mit  Recitativ,  ariosen  und  Ensemble- 
Sätzen  gestaltete,  in  welcher  Form  sie  den  Namen  Kammer- 
Cantate  führte.  Ausser  zahlreichen  Werken  dieser  Gattung, 
welche  zu  dem  späteren  Oratorium  schon  in  einem  nahen  Ver- 
hältniss  steht,  schrieb  Carissimi  auch  eine  Reihe  von  wirklichen 
Oratorien,  darunter  ..Jephta"  „Das  Urtheil  des  Salomo"  „Jonas" 
die  voll  lebendigen  dramatischen  Ausdrucks,  namentlich  aber  auch 
schon  reich  an  wirkungsvollen  dramatischen  Chören  sind  und 
nicht  selten  an  Händel  erinnern,  auf  dessen  Oratorien  sie  einen 
ähnlichen  Einfluss  geübt  haben,  wie  auf  seine  Opern  die  des 
A.  Scarlatti. 

Nach  Carissimi's  Tode  wurde  in  Italien  das  geistliche  Musik- 
•drama  von  der  Kammercantate  völhg  verdrängt  und  als  es  nach 
einem  Jahrhundert  wieder  auftauchte,  zeigte  es  sich  vom  Geist 
und  vom  Stil  der  Oper  durchaus  verweltlicht.  Auf  dem  Gebiete 
der  eigentlichen  Kirchenmusik  begegnen  wir  freilich  auch  noch 
im  18.  Jahrhundert  einer  Anzahl  von  italienischen  Componisten, 
in  deren  Arbeiten  die  Traditionen  ihrer  grossen  Vorfahren  un- 
geschwächt fortwirken.  Zu  ihnen  gehören  die  Venetianer  Lotti, 
gest.  1740  als  Capellmeister  der  Marcuskirche,  berühmt  durch 
sein  achtstimmiges  ..Crucifixus" ;  ferner  der  schon  S.  76  erwähnte 
Caldara,  gest.  zu  Wien  1736.   dessen   sechzehnstimmiges  „Cru- 


IX.    X>as  Oratoriwm.  l^ö" 


citixus'*  an  künstlerischem  Werth  dem  des  Lotti  nicht  nachsteht-^ 
endlich  Benedetto  Marcello,  ein  venetianischer  Nobile  und  Mu- 
sikdilettant, der  zwar  au  tousetzerischer  Befähigung  von  den  beiden 
Genannten  übertroft'en  wird,  jedoch  durch  Fleiss,  Vielseitigkeit  und 
geistige  Regsamkeit  ebenfalls  eine  glänzende  Stellung  in  der  musi- 
kalischen Welt  erringen  und  behaupten  konnte.  Sein  Hauptwerk, 
die  Composition  von  fünfzig  Psalmen  David's  in  italienischer 
Uebertragung ,  verschaffte  ihm  hohen  Ruhm  bei  seinen  Zeit- 
genossen auch  ausserhalb  seines  Vaterlandes.  J.  A.  Hiller  nennt 
ihn  in  seinen  „Wöchentlichen  Nachrichten''  (Anhang  zum  dritten 
Jahrgang,  Leipzig  1769,  S.  1)  einen  Mann  „der  den  ganzen 
Ernst  der  alten  Musik  mit    den    Grazien    und    Schönheiten    der 

neueren  zu  verbinden  gewaisst in  seinen  Psalmen  ist  er  von,. 

allem,  was  niedrig  oder  gemein  ist,  so  frey  und  entfernt,  dass  ein 
verständiger  Zuhörer  durch  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  neuer 
und  schöner  Modulationen  im  steten  Vergnügen  erhalten  wird. 
Zeichnung  und  Ausdruck  sind  dabei  so  richtig,  dass  Verstand 
und  Harmonie  beständig  zusammentreffen."  Charakteristisch  für 
diese  Arbeit  Marcello's  ist  sein  Streben  nach  antiker  Einfachheit, 
die  er  unter  anderm  durch  Verwendung  hebräischer  Cultus- 
gesänge,  wie  sie  ihm  von  spanischen  und  deutschen  Juden  mit- 
getheilt  waren,  zu  erreichen  suchte.  Wenn  nun  aber  auch  seine 
Meinung,  diese  Melodien  seien  directe  Abkömmlinge  des  alt- 
hebräischen Tempelgesanges,  die  richtige  war,  so  hat  er  doch  mit 
ihrer  Bearbeitung  seinen  künstlerischen  Zweck  nur  halb  erreicht, 
weil  in  ihm,  wie  von  Dommer  (Handbuch  der  Musikgeschichte, 
S.  374)  bemerkt,  der  Verehrer  und  Nachbildner  des  Alterthums 
und  der  Cavalier  des  18.  Jahrhunderts  in  Contlict  gerathen.  Sein 
Antikisiren  bleibt  äusserlich  und  gelangt  zu  keiner  geistigen  Blüthe, 
die  vermeintliche  alterthümliche  Einfachheit  bildet  zur  Sprache 
modern  subjectiver  Empfindung  und  Leidenschaft  einen  Contrasty 
den  Marcello's  unter  merklichem  Eintiuss  der  Oper  stehendes 
Streben  nach  geschmeidigem,  liiessendem  Gesänge,  zu  vermitteln 
keineswegs  geeignet  ist. 

Eine  noch  ungleich  treuere  Pflege  als  in  Italien  wurde  dem 
Oratorium  und  der  Passion  in  Deutschland  zu  Theil,  wo  der  furcht- 
barste aller  Kriege  zwar  den  nuiteriellen  AVohlstand,  nicht  alier 
das  ideale  Geistesstreben  hatte  vernichten  können.  Schon  die 
Wirksamkeit  des  letzten  grossen  Niederländers  Orlandus  Las- 
sus  oder  Roland  de  Lattre  als  Capellmeister  in  München 
(gest.  daselbst  1595),  unter  dessen  zahlreichen  Meisterwerken  die 


126  IX..    Das  Oratorium. 


von  tiefer,  eclit  germanischer  Empfindung  zeugenden  sieben  Buss- 
psalmen*) heiTorragen.  zeigt  uns  Deutschland  als  den  geeigne- 
ten Boden  zum  Gedeihen  der  kirchlichen  Tonkunst.  Unmittelbar 
nach  ihm  erscheinen  in  Hans  Leo  Hasler  (gest.  1612)  imd 
Johannes  Eccard  (gest.  1611  als  Capellmeister  des  branden- 
burgischen Kurfürsten  Joachim  Friedrich  zu  Berlin)  zwei  Künst- 
ler, die,  wenn  auch  in  fremdländischen  Schulen  gebildet  (der  eine 
in  der  venetianischen  des  G-abrieli,  der  andere  in  der  des  Orlandus 
Lassus)  doch  als  Vertreter  einer  selbständigen  deutschen  Ton- 
kunst gelten  dürfen,  und  von  denen  besonders  der  letztere  durch 
seine  ,,Preussischen  Festlieder  durch's  ganze  Jahr"',  eine  Mittel- 
gattung zwischen  Motette  und  Lied,  jedoch  mehr  auf  Seiten  des 
letzteren  stehend,  die  protestantische  Kirchenmusik  wesentlich 
bereicherte.  Auch  Heinrich  Schütz  (geb.  1585,  gest.  1672  als 
Capellmeister  in  Dresden)  hat  als  Schüler  Gabrieli's  die  von 
Italien  empfangene  Anregung  nur  benutzt,  um  seine  deutsche 
Tiefe  und  Kernhaftigkeit  in  vollem  Umfange  zur  Geltung  zu 
bringen,  als  er  sich  nach  seinem,  schon  früher  erwähnten,  ver- 
einzelt gebliebenem  Versuche  auf  dem  Gebiete  der  Oper,  ganz 
und  gar  der  kirchlichen  Tonkimst  zugewendet  hatte:  Ihm  dankt 
das  Oratorium  einen  namhaften  Fortschritt,  ungeachtet  er  kein 
solches  Werk  in  unserm  Sinne  geschrieben  hat;  denn  seine  „Auf- 
erstehung" und  „Sieben  Worte"  gehören  ihrer  Beschaffen- 
heit nach  mehr  zur  Gattung  der  Passionsmusik. 

Im  ersteren  dieser  Werke,  1623  in  Dresden  gedruckt,  zeigt 
sich  noch  ein  entschiedenes  Festhalten  an  den  alten  Formen;  als 
Introduction    dienen    die    Worte    des    Titels    „die    Auferstehung 


*)  Dies  "Werk,  von  welchem  sich  eine  prachtvolle,  mit  kostbaren  Ma- 
lereien verzierte  Handschrift  in  der  Münchener  Bibliothek  befindet,  soll  im 
Anftrage  KarVs  IX.  von  Frankreich  entstanden  sein,  welcher  sein  nach  den 
Mordscenen  der  Bartholomäusnacht  gequältes  Gewissen  dadurch  zu  beruhigen 
gehofft  habe;  dem  widerspricht  jedoch  die  Jahreszahl  seiner  Entstehung, 
denn  der  erste  Band  der  Busspsalmen  war  bereits  1565,  der  zweite  1570 
vollendet,  während  die  Bartholomäusnacht  erst  1572  stattfand.  Richtig  da- 
gegen ist  es,  dass  der  Meister  (der  sich  schon  seit  seinem  einundzwanzigsten 
-Jahre,  wo  er  als  Capellmeister  an  der  Laterankirche  zu  Rom  angestellt 
wurde,,  eines  "Weltrufes  erfreute)  bei  Karl  IX.  in  hoher  Gunst  stand,  und 
dass  er  im  Jahre  1574  von  demselben  die  Einladung  erhalten  hat,  nach 
Paris  überzusiedeln.  Der  Tod  des  Königs,  welchen  Lassus  auf  dem  Wege 
dahin  erfuhr,  vereitelte  die  Ausführung  dieses  Planes  und  bewog  den  Künst- 
ler, wieder  nach  München  in  seine,  schon  von  1562  an  bekleidete  Stellung 
als  Obercapellmeister  des  Herzogs  Albrecht  Y.  (des  Cxrossmüthigen)  zu- 
rückzukehren. 


IX.    Das  OratoriuiTi.  127 


unseres  Herrn  Jesu  Christi,  wie  uns  die  von  den  vier  Evangelisten 
beschrieben  wird'-,  sechsstimmig  componirt;  die  Reden  der  han- 
delnden Personen  sind  ebenfalls  nach  herkömmhcher  Weise  mehr- 
stimmig, der  Evangelist  recitirt  durchweg  im  Collectenton,  welcher 
nm*  hier  imd  da  von  charakteristischen  Tonbewegungen  unter- 
brochen -w-ird.  Eine  auffallende  Wendung  in  Schütz'  künstleri- 
schem Entwickelungsgange  zeigen  dagegen  seine  1645  erschienenen 
„Sieben  Worte"*),  in  denen  das  ariose  Recitativ  den  Collecten- 
ton völlig  verdrängt  hat,  auch  die  Einzelreden  stets  einstimmig 
componirt  sind.  Bemerkenswerth  ist  ausserdem,  dass  hier  die 
Reden  Jesu  nicht  wie  die  der  übrigen  Personen  von  der  Orgel 
begleitet  werden,  sondern  von  Streichinstrumenten,  welche,  in 
hoher  Lage  spielend,  die  Singstimme  gleichsam  mit  einem  Hei- 
ligenschein umgeben,  eine  Begleitungsart,  die  bekanntlich  in 
Bach's  Matthäus-Passion  wie  auch  in  noch  späteren  Passions- 
Musiken  zur  Anwendung  gekommen  ist.  Ferner  ist  zu  bemerken 
die  eigenthümliche  Grruppirung  des  Stoffes,  in  welcher  sich  schon 
die  einstige  Gestaltung  des  Passionstextes  ankündigt:  auf  der 
einen  Seite  die  evangelische  Geschichte  selbst,  als  Handlung  in 
dramatische  Form  gekleidet,  auf  der  andern  Seite  die  christliche 
Kirche,  welche  den  Hergang  mit  ihren  Empfindungen  und  Be- 
trachtungen in  einem  breit  ausgeführten  fünfstimmigen  Einleitungs- 
uud  Schlusschor  umi-ahmt.  Das  eigentlich  charakteristische  Ele- 
ment des  Oratoriums,  der  dramatisch  belebte  Chor,  findet  sich 
weder  in  der  „Auferstehung"  noch  in  den  „Sieben  Worten",  wohl 
aber  in  Schütz'  letztem  Werke,  den  „Vier  Passionen  nach 
den  vier  Evangelisten"  (1666),  in  deren  Volkschören  der 
dramatische  Zug  um  so  mächtiger  wirkt,  als  der  gealterte  Meister 
in  Bezug  auf  die  Gesammtgestaltung  wieder  zu  den  älteren  Formen, 
dem  Collectenton,  der  mehrstimmigen  Behandlung  der  Einzelrede 
u.  s.  w,  zurückgekehrt  ist.  In  jenen  Chören  aber,  die  bald 
schüchtern  fragen  ,,Herr,  bin  ich's?"  bald  zürnen  „Herr,  sollen 
wir  mit  dem  Schwert  dreinschlagen?"  bald  höhnen  „Sei  gegrüsset, 
lieber  Judenkönig!"  zeigt  sich  durchweg  das  Bestreben,  den  In- 
halt der  Worte  nicht  nur  dem  Gefühl  zu  vennitteln,  sondern  ihn 
als  Handlung  darzustellen  und  in  diesem  Sinne  hat  Schütz  noch 
entschiedener    als   Carissimi    dem    Händel'schen    Oratorium   vor- 


*)  Der  Titel  dieses  Werkes  lautet  vollständig:  „Die  sieben  Worte  un- 
seres lieben  Erlösers  und  Seligmachers  Jesu  Christi,  so  Er  am  Stamm  des 
heil.  Creutzes  gesprochen,  gantz  beweglich  gesetzt  von  Hrn.  Heinrich 
Schützen,  Chur  S:  Capellmeistern." 


128  IX.    JDas  Oratorium, 


gearbeitet.  Dem  Begriff  des  streng  Kirchlicheu  entsprechen  Schütz' 
Werke  schon  deshalb  nicht,  weil  der  Kircheustil  jeden  Ausdruck 
der  Leidenschaften  seinem  Wesen  nach  ausschliesst,  im  Gregen- 
satz  zum  Oratorium,  welches  sich  von  der  weltlich -dramatischen 
Musik  aneignet,  was  seinen  Zwecken  entspricht;  nur  insofern  be- 
rühren sich  die  Kirchenmusik  und  das  Oratorium,  als  auch  für 
das  letztere  der  Charakter  des  Erhabenen  ein  wesentliches  Merk- 
mal bildet,  welchen  es  auch  dann  nicht  verläugnet,  wenn  es  sich 
gelegentlich  auf  dem  Gebiet  des  Heiteren  und  Anmuthigen  be- 
wegt; und  diesem  Grundzuge  treu  zu  bleiben,  nicht  um  in  den 
Dienst  der  Kirche  zu  treten,  entnimmt  das  Oratorium  seinen 
'Stoff  vorzugsweise  der  biblischen  Geschichte,  in  deren  Gestalten 
der  Charakter  des  Erhabenen  sich  mit  besonderer  Deutlichkeit 
offenbart. 

Eine  geraume  Zeit  musste  nach  Schütz'  Tode  verstreicheu, 
bevor  für  das  Oratorium  und  die  Passion  die  Formen  gefunden 
waren,  mit  Hülfe  deren  Händel  und  Bach  diese  Gattungen  zur 
höchsten  Vollendung  ausbilden  konnten.  Was  die  Passion  be- 
trifft, so  sind  als  weitere  Momente  in  ihrem  Entwickelungsgange 
beachtenswerth:  zuerst  das  Erscheinen  eines  Passionswerkes  vom 
preussischen  Gapellmeister  Sebastiani,  noch  im  Todesjahr  des 
obengenannten  Meisters  (1672),  in  welchem  der  protestantische 
Choral  an  geeigneten,  durch  den  Bibeltext  bedingten  Stellen  in 
die  musikalische  Darstellung  der  Leidensgeschichte  verflochten  ist. 
Sodann  die  schon  im  vorigen  Abschnitt  erwähnten  Bestrebungen 
der  hamburgischen  Textdichter,  die  Neigungen  des  musikalischen 
Publicums  mit  den  Ansprüchen  der  orthodoxen  Geistlichkeit  in 
Einklang  zu  bringen.  Um  dem  Widerstand  der  letzteren  gegen 
die  damals  beliebten  opernmässigen ,  von  der  alten  Passionsform 
gänzlich  abweichenden  Dichtungen  zu  begegnen,  trat  der  Licentiat 
Brockes,  ein  durch  seine  Stellung  als  Eathsherr  wie  auch  als 
Dichter  angesehener  Manu,  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  mit 
einem  Passionstext  hervor,  w^elcher  zwar  der  Anlage  nach  von 
den  bisherigen  nicht  abwich,  sie  jedoch  durch  Geschick  der 
Gruppirung  und  dramatische  Lebendigkeit  so  weit  überragte,  dass 
er  von  den  Zeitgenossen  als  Meisterwerk  bewundert  wurde  und 
von  den  angesehensten  Componisten  Hamburgs,  Keisör,  Mat- 
theson  und  Telemann,  sogar  noch  von  Händel  (1716)  in 
Musik  gesetzt  worden  ist, 

Eür  die  Ausbildung  der  Passion  als  Kunstgattung  ist  der 
Brockes'sche   Text   deshalb   von  Bedeutung,  weil   hier  zuerst  die 


1 


IX.    Das  Oratorium.  129 

drei  Hauptgi-iippen  gegeben  sind,  die  später  in  den  Bach'schen 
Passionen  erscheinen:  den  Scenen  aus  der  Leidensgeschichte 
Averden  die  Betrachtungen  und  Getühlsäusseningen  zweier  alle- 
gorischer Personen  gegenübergestellt,  der  .,Tochter  Zion"  und  der 
„gläubigen  Seele'*  als  Veiireter  einer,  das  Handeln  und  Leiden 
Christi  auf  Erden  mit  ihren  Gedanken  begleitenden  und  aus- 
legenden Gemeinde,  welche  die  christHche  Glaubenslehre  mit  dem 
Namen  der  unsichtbaren  Kii'che  bezeichnet;  endlich  ist  auch  die 
protestantische  Kii'che  und  Gemeinde  dui'ch  Choralgesänge  ver- 
treten, welche,  wie  schon  bei  Sebastiani,  an  geeigneten  Stellen 
auf  beziehungsreiche  Art  mit  der  Handlung  verbunden  sind.  So 
geschickt  aber  die  Anlage  dieser  Dichtimg,  so  schwülstig  und 
spitzfindig  ist  die  Sprache  derselben;  das  sentimentale  Coquettiren 
mit  dem  Heiland  widerstrebt  dem  heutigen  Geschmack  nicht 
weniger,  wie  die  gi'obsinnlichen  Schilderungen  der  geistigen  und 
körperhchen  Martern,  welche  die  bei  der  Handlung  Betheiligten 
zu  erdulden  haben,  wenn  z.  B.  Petrus,  nachdem  er  den  Herrn 
dreimal  verläugnet  hat  und  der  Hahn  kräht,  seine  Empfindungen 
in  den  Worten  äussert: 

Welch  ungeheurer  Schmerz  bestürmet  mein  Gemüth! 

Ein  kalter  Schauder  schreckt  die  Seele! 

Die  wilde  Gluth  der  dunkeln  Marterhöhle 

Entzündet  schon  mein  zischendes  Greblütl 

Mein  Eingeweide  kreischt  auf  glimmen  Kohlen. 

"Wer  löschet  diesen  Brand?    Wo  soll  ich  Rettung  hohlen? 

Aria. 
Heul'!  du  Schaum  der  Menschenkinder, 
Winsle,  wilder  Sündenknecht! 
Thränen Wasser  ist  zu  schlecht; 
Weine  Blut,  verstockter  Sünder! 

Gerade  diese  Dichtungsweise  aber  entsprach  durchaus  den 
Anforderungen  der  damaligen  Zeit,  und  wenn  man  dem  ersten 
Componisten  der  Brockes'schen  Passion,  dem  im  vorigen  Ab- 
schnitt als  Operncomponisten  uns  bekannt  gewordenen  Rein- 
hard Keiser  begeistertes  Lob  spendete,  wiewohl  seine  Musik 
sich  in  keinem  Punkte  über  die  seiner  Opern  erhob,  so  pries- 
man  doch  den  Dichter  noch  lauter.  In  der  VoiTede  zu  einer 
1714  unter  dem  Titel  Soliloquia*)  erschienenen  Sammlung  von 


*)  Der  italienische  Titel  lautet :  Oratorie  a  voci  diversi  senza  stromenti 
del  Rinardo  Cesare. 

Laug  haus,  Musikgeschichte.    11.  Aufl.  J 


130  IX»    Das  Oratorium. 


Einzelgesängen  aus  Keiser's  Passion  ist  liervorgelioben  „  dass  der 
excellenten  Poi'sie  dissmahl  der  grösste  Theil  des  Ruhmes  zu- 
kommt; denn  was  auch  immer  ein  Musicus  für  glückliche  Gedanken 
haben  mag,  so  yermögen  ihn  doch  schöne,  auserlesene,  klingende 
und  reine  Yerse,  wie  diese  hier  sind,  gantz  unvermerckt  zu 
animiren,  dass  er  sich  gleichsam  selber  übersteigt,  und  etwas 
Ungemeines  hervorbringt".  Den  Schluss  der  Vorrede  aber  bildet 
ein  Gedicht,  welches  den  Leser  geradeswegs  ins  Jenseits  führt 
und  den  Eindruck  der  Passionsmusik  auf  die  himmlischen  Heer- 
schaaren  schildert: 

Die  Drei  die  Eines  sind,  die  hatten  selbst  drauf  Acht, 
Und  als  erbärmlich  schön  erklang:  Es  ist  vollbracht. 
So  sprach  Immanuel  zur  rechten  Hand  der  Macht: 
Weil  Brocks  mir  meinen  Todt  hat  lassen  so  beweinen, 
Dass  es  durchdrungen  hat  auch  Hertzen,  die  von  Steinen, 
So  will  ich  ihm  davor  zum  Trost  im  Todt  erscheinen. 

Derartige  Anzeichen  einer  Verirrung  des  dichterischen  Ge- 
schmackes zu  einer  Zeit,  in  welcher  der  musikahsche  sich  in  den 
Werken  der  zwei  bis  heute  unerreichten  Meister  Bach  und 
Händel  offenbarte,  müssten  unbegreiflich  bleiben,  wenn  nicht  im 
Verlaufe  der  Musikgeschichte  schon  ähnliche  "Widersprüche  zur 
Erscheinung  gekommen  wären;  wenn  nicht,  trotz  des  unläugbaren 
Zusammenhanges  der  verschiedenen .  Geistesbestrebungen  einer 
Epoche,  es  sich  gezeigt  hätte,  dass  äussere  Umstände  die  Ent- 
wickelung  auf  einzelnen  Gebieten  zum  Nachtheil  anderer  beschleu- 
nigen können,  wie  beisi^ielsweise  zur  Zeit  der  Renaissance,  wo 
die  Tonkunst  Jahrzehnte  lang  an  dem  Fortschritt  der  Wissen- 
schaften und  der  bildenden  Kunst  nicht  theilnehmen  durfte,  weil 
ihr  der  unmittelbare  Zusammenhang  mit  dem  Alterthum  versagt 
war.  Umgekehrt  hatten  die  Stürme,  die  während  des  17.  Jahr- 
hunderts über  Deutschland  dahingebraust  waren,  auf  allen  Ge- 
bieten der  geistigen  Arbeit  eine  verheerende  und  hemmende  Wir- 
kung ausgeübt,  nur  nicht  auf  dem  der  Tonkunst,  welche  ihr 
Ausdrucksvermögen  beim  Wiedererwachen  des  unglücklichen  Lan- 
des in  dem  Maasse  bereichert  sah,  wie  die  übrigen  Künste  das 
ihrige  eingebüsst  zu  haben  schienen.  Die  Tonsprache  war  es, 
welche  dem  im  deutschen  Volke  noch  keineswegs  erstorbenen 
Idealismus  zum  Ausdruck  diente,  während  die  Dichtkunst  gleich- 
sam nur  stammelnd  den  Versuch  machte,  die  längst  verloren 
gegangene  Selbständigkeit  und  Bedeutung  wieder  zu  erringen; 
und  wie  gross  auch  der  Vorsprung  war,  den  die  Nachbarnatiouen 


IX.    Das  Oratoriuin.  131 


nach  jeuer  Zeit  des  tiefsten  deutschen  Elends  für  ihre  Ausbiklung 
vor  uns  gewonuen  hatten,  im  musikalischen  Wettstreit  konnte 
unser  Vaterland  doch  schon  jetzt  allen  andern  Ländern  gegen- 
übertreten und  den  Sieg  über  sie  emngen. 

Georg  Friedrich  Händel  und  Johann  Sebastian  Bach 
sind  die  beiden  Künstler,  denen  der  Deutsche  hierfür  zu  danken 
hat,  und  deren  Andenken  er  doppelt  werth  halten  muss,  weil  ihr 
Streben  auf  die  Ver-svirklichung  der  höchsten  Kunstideale  gerichtet 
war,  zu  einer  Zeit,  wo  die  älteren  Culturvölker,  Italiener  wie 
Franzosen,  sich  auf  Kosten  des  künstlerischen  Ernstes  immer 
mehr  der  Ausbildung  des  äusserlich  EifectvoUen  zuwendeten. 
Deshalb  nennen  wir  ihre  Namen  vorzugsweise  gern  zusanmien, 
obwohl  sie  sich,  ihrem  künstlerischen  Naturell  wie  ihren  Lebens- 
schicksalen nach,  so  verschieden  wie  nur  möglich  zeigen.  Beide 
in  Thüringen  und  in  demselben  Jahre  1685  geboren  (Händel  am 
23.  Februar  in  Halle,  Bach  am  21.  März  in  Eisenach),  entwickeln 
sie  sich  jeder  nach  einer  besonderen,  der  des  andern  beinahe 
entgegengesetzten  Richtung.  Bach  wurde  durch  seine  Natur  ge- 
trieben, sich  in  die  Tiefen  des  reHgiösen  Empfindens  zu  versenken, 
in  die  innersten  Geheimnisse  der  Rehgion  einzudringen  und  zwar 
ini  Anschluss  an  den  Pietismus,  die  durch  Spener  seit  lü75  an- 
gebahnte neue  Auffassung  des  kii'chlichen  Lebens,  nach  welcher, 
im  Gegensatz  zur  Orthodoxie,  nicht  das  Bibelwort  oder  die  Pre- 
digt, sondern  die  eigene  innere  Erleuchtung  zur  Erkenntniss  des 
Götthchen  verhilft*).     Er  ist  demgemäss  vorwaltend  Lyriker  (vgl. 


*)  Philipp  Spitta  vertritt  in  seinem  Vortrage  ,,Uel)er  Sebastian  Bach" 
Leipzig  1879  (S.  35)  die  entgegengesetzte  Meinung  und  begründet  dieselbe 
durch  den  Hinweis  auf  die  im  Allgemeinen  kunstfeindliche  Richtung  des 
Pietismus,  welche  der  Künstlernatur  Bach's  unmöglich  habe  zusagen  können; 
überdies  bezeichne  es  seinen  Standpunkt  als  Anhänger  der  Orthodoxie,  dass 
er  als  Organist  zu  Nordhausen  (1707)  in  dem  Streite  der  dortigen  Theologen 
Eilmar  und  Fr  ohne  auf  der  Seite  des  ersteren,  des  Vertreters  der  ortho- 
doxen Partei  gestanden  hat.  In  diesem  Falle  nun  ist  dem  Verhalten  Bach's 
schon  deshall)  kein  Gewicht  beizulegen,  weil  er  als  Künstler  und  als  zwei- 
undzwanzigj ähriger  Jüngling  sich  schwerlich  von  andern  als  persönlichen 
Rücksichten  hat  leiten  lassen;  dass  er  sich  aber  bei  seiner  ausgeprägt  idea- 
listischen und  subjectiven  Natur  in  reiferem  Alter  für  den  Pietismus  ent- 
scheiden musste,  geht  schon  aus  dem  AVesen  desselben  hervor,  da  er  nicht 
allein  von  puritanischer  Beschränktheit  weit  entfernt  war,  sondern  in  der 
Hauptsache  nach  einer  wärmeren,  innerlicheren  und  freieren  Aneignung  der 
heiligen  Dinge  strebte  und  gerade  damals  in  sich  concentrirte.  was  an  Idea- 
lismus und  höherem  Denken  und  Empfinden  im  deutschen  Volke  noch 
lebendig  war.  (Vgl.  v.  Domnier,  Handbuch  der  Musikgeschichte  S.  488). 

9* 


J.3ä  IX.    IDas  OratoriiTiTi. 


S.  11)  in  seiner  ganzen  Gestaltungs-  und  Empfindungsweise  sub- 
jectiv,  fast  romantisch,  daher  auch  in  der  Instrumentalmusik 
heimischer  als  in  der  Vocalmusik.  Händel  dagegen  findet  seinen 
Stützpunkt  in  der  Aussenwelt;  das  Drama  ist  die  Kunstgattung, 
welche  seinem  Wesen  am  meisten  entspricht,  demzufolge  ist  seine 
Kunstauffassung  eine  objective  und,  im  Gregensatz  zu  der  modernen 
des  Bach,  eine  antike;  wie  die  Geschichte  der  Boden  ist,  auf 
dem  er  sich  mit  Vorliebe  bewegt,  so  ist  es  auch  die  bibHsche 
Geschichte,  in  der  seine  religiösen  Ueberzeugungen  wurzeln;  be- 
züglich der  Verwendung  des  Tonmaterials  aber  ist  er  in  erster 
Reihe  Vocalcomponist.  Bach's  Dasein  verfloss  äusserlich  ruhig; 
sein  Vaterland  hat  er  niemals,  Leipzig,  wo  er  von  1723  bis  zu 
seinem  Tode  als  Cantor  an  der  Thomasschule  wirkte,  niu'  selten 
verlassen,  und  eine  Reise  nach  Dresden  oder  nach  Berlin  zu 
Friedrich  dem  Grossen  waren  für  ihn  Ereignisse.  Sein  Sänger- 
chor und  die  Orgel  der  Thomaskirche  wurden  seine  Heimath, 
und  während  Händel  unter  dem  Einfluss  dreier  Nationen  die 
Grenzen  seiner  Nationalität  erweitert,  bleibt  Bach,  wenn  er  auch 
gelegentlich  in  seinen  Instrumental -Compositionen  französischen 
oder  itahenischen  Mustern  folgt,  in  den  engsten  Grenzen  des 
nationalen  Empfindens.  So  stellen  die  beiden  Heroen  unserer 
Tonkunst  auch  die  Doppelnatur  unserer  Nation  dar,  nämlich  die 
Hingabe  an  das  Fremde  und  die  Abgeschlossenheit  gegen  das- 
selbe; dass  aber  der  eine  wie  der  andere  nicht  einen  Augenblick 
seinem  deutschen  Wesen  untreu  geworden  ist,  dies  offenbart  sich, 
wie  im  Charakter  ihrer  Werke,  so  auch  in  dem  rastlosen  Streben 
und  der  nimmer  ermattenden  Arbeitslust,  welche  sie  selbst  in 
den  letzten  Jahren  ihres  Lebens,  nachdem  beide  erblindet  waren, 
bis  zu  ihrem  Tode  —  Bach  starb  1750,  Händel  1759  —  nicht 
verlassen  hat. 

Wie  einflussreich  auch  Bach's  schöpferische  Thätigkeit  in 
den  verscliiedensten  Gebieten  der  Musik,  namentlich  auf  die  Aus- 
bildung des  Orgel-  und  Ciavierspiels  gewesen  ist,  so  gipfelt  sie 
doch  in  der  Passion.  Neue  Formen  zwar  hat  er  für  diese 
Kunstgattung  nicht  geschaffen,  auch  nicht  danach  gestrebt  solche 
zu  finden ;  dagegen  gebührt  ihm  das  Verdienst,  die  überkommenen 
zur  letzmöglichen  Vollendung  gebracht  und  sie  mit  einem,  seinem 
musikalischen  Riesengeist  entsprechenden  Inhalt  erfüllt  zu  haben. 
Nach   Forkel*)    hat    er   fünf  Passionsmusiken    geschrieben,    von 

*)  J.  N.  Forkel  „Ueber  Johann  Sebastian  Bach's  Leben,  Kunst  und 
Kunstwerke".     Leipzig  1802. 


IX.    Das  Oratorium.  133 


denen  jedoch  nur  zwei,  die  nach  den  Evangelien  des  Johannes 
und  des  Matthäus,  in  die  Oeffenthchkeit  gelangten.  Die  Johannes- 
Passion,  deren  Entstehuugszeit  unbekannt  gebheben  ist,  zeigt 
in  ihren  Formen  noch  den  älteren  Zuschnitt,  und  lässt  im  All- 
gemeinen die  später  bei  Bach  so  glänzend  hervortretende  drama- 
tische Schlagkraft  vermissen.  Erst  in  der  Matthäus-Passion, 
zuerst  aufgeführt  im  Jahre  1729,  scheint  er  die  Grösse  seiner 
Aufgabe  völlig  klar  erkannt  zu  haben;  hier  zeigt  sich  sein  ganzes 
künstlerisches  Vermögen:  die  kunstmässige  Behandlung  des  pro- 
testantischen Chorals,  die  unbeschränkte  HeiTSchaft  über  den 
fugü-ten  Stil,  in  welchem  Punkte  ihm  selbst  Händel  nicht  gleich 
gekommen  ist,  endlich  seine  Kenntniss  der  Orchester- Instrumente, 
die  er  mit  Berücksichtigung  ihrer  Klang  -  Individualität  häufig 
einzeln,  als  obligate  Begleiter  des  Sologesangs  verwendet.  Von 
kunstgeschichtlicher  Bedeutung  ist  die  Matthäus  -  Passion  auch 
hinsichtlich  des  Textes,  indem  Bach,  während  er  in  der  Johannes- 
Passion  noch  Theile  der  Brockes'schen  Dichtung  benutzt  hatte, 
hier  den  Text  der  Leidensgeschichte  wortgetreu  nach  dem  Evan- 
gelium wieder  herstellte,  in  Folge  dessen  auch  die  daran  ge- 
knüpften Betrachtungen  der  christlichen  Gemeinde  und  der 
unsichtbaren  Kirche  vom  Dichter  mit  grösserer  Mässigung  als 
zuvor  behandelt  wurden. 

Stellen  wir  nun  der,  durch  Bach  auf  eine  so  hohe  Stufe  der 
Vollkommenheit  erhobenen  Passion  das  Oratorium  als  Kunst- 
gattung gegenüber,  so  muss  dennoch  der  Vergleich  zu  Gunsten  der 
letzteren  ausfallen,  weil  sich  dort  zwei,  streng  genommen  einander 
ausschliessende  Eigenschaften  äusserlich  vereint  finden,  nämlich 
das  Kirchliche  in  seiner  Reinheit  und  Leidenschaftslosigkeit  und  das 
Dramatische  mit  seinem  starken  Ausdruck  der  Seelenbewegungen, 
während  im  Oratorium  Kirchliches  und  Weltlich-Dramatisches  zu 
einer  neuen  Kunst-  und  Stilgattung  einheitlich  verschmolzen  sind. 
Diese  Einheit  des  Stils  und  der  Form,  welche  der  Passion  aus 
dem  erwähnten  Grunde  versagt  ist,  verdankt  das  Oratorium  dem 
AVirken  Händeis  in  England,  wo  er  sich  ihm  ausschliesslich  und 
mit  ganzer  Kraft  widmete,  nachdem  er  in  Hambui"g,  Italien,  als 
Capellmeister  in  Hannover  und  endlich  in  London  die  Schule 
der  Oper  gründlich  durchgemacht  hatte.  Es  gereicht  England 
zu  nicht  geringem  musikalischen  Ruhme,  auf  seinem  Boden  eine 
der  wichtigsten  und  edelsten  Compositions-Gattungen  zur  Reife 
gebracht  zu  haben;  denn  wenn  es  auch  seinen  eigenen  Söhnen 
an  der  dazu  nöthigeu  Kraft  fehlte,   so   setzt  doch   das  Gelingen 


134  IX.    Das  Oratoriviiii. 

einer  solchen  Kimstthat  eine  beacMenswerthe  Summe  von  künst- 
lerischer Arbeit  und  künstlerischem  Sinne  voraus,  von  deren  Vor- 
handensein übrigens  die  Musikgeschichte  Englands  früherer  Jahr- 
hunderte hinreichenden  Beweis  liefert. 

Die  hervorragende  musikalische  Stellung  Englands  im  Mittel- 
alter zeigt  schon  zur  Genüge,  dass  nicht  der  Mangel  an  musi- 
kalischer Begabung,  sondern  äussere  Umstände  für  die  Unselb- 
ständigkeit der  englischen  Tonkunst  während  der  letzten  zwei 
Jahrhunderte  verantwortlich  zu  machen  sind.  Damals  scheint 
England  in  der  Pflege  der  Musik,  namentlich  des  Orgelspiels 
(vgl.  S.  141.)  hinter  den  übrigen  Völkern  des  Abendlandes  keines- 
wegs zurückgebheben  zu  sein;  und  von  dem  lebhaften  Antheil, 
den  es  später  an  der  Ausbildung  des  Contrapunktes  genonunen, 
berichtet  der  berühmte  niederländische  Theoretiker  Tinctoris 
(um  1476  Obercapellmeister  Ferdinand's  I.  zu  Xeapel,  Verfasser 
des  unter  dem  Titel  „Terminorum  musicae  diftinitoriiun"  ungefähr 
um  dieselbe  Zeit  erschienenen  ältesten  musikalischen  Lexicons). 
Derselbe  behauptet  sogar  „dass  die  Quelle  und  der  Ursprung 
dieser  neuen  Kunst  in  England  zu  suchen  sei,  wo  D  uns  table 
(gest.  um  1450)  als  deren  Haupt  hervon-age".  Die  Richtigkeit 
dieser  Behauptung  zu  prüfen,  müssen  wir  uns  allerdings  ver- 
sagen, da  die  künstlerische  Hinterlassenschaft  des  genannten 
Contrapunktisten  bis  heute  so  gut  wie  unbekannt  gebUeben  ist; 
jedoch  spricht  für  sie  die  Thatsache,  dass  die  englischen 
Sänger  und  Tonsetzer  während  der  Blüthezeit  des  nieder- 
ländischen Contrapunkts  überall  und  selbst  im  Vaterlande  des- 
selben behebt  und  gesucht  waren.  Den  Höhepunkt  ihrer 
Entwickelung  aber  erreichte  die  englische  Tonkunst  unter  der 
Regierung  der  Königin  Elisabeth,  nachdem  die  von  Italien 
ausgegangene  Renaissance -Bewegung  dem  geistigen  Leben  auch 
des  Inselreiches  jenen  Aufschi^img  gegeben  hatte,  der  auf  dem 
Gebiete  der  Dichtkunst  einen  Shakespeare  (1564  — 1616)  her- 
vorbringen konnte.  Gleichzeitig  mit  diesem  erscheinen  als  Ver- 
treter der  Schwesterkunst  eine  Anzahl  von  hochbegabten  Com- 
ponisten  und  Virtuosen,  welche  sich  um  so  mehr  zur  Thätigkeit 
angeregt  fühlen  mussten,  als  die  Königin  selbst  mit  dem  Beispiel 
voranging  und  nicht  nur  als  eifrige  Clavierspieleiiu  sondern  auch 
als  Beschützerin  der,  durch  puritanischen  Fanatismus  in  ihrer 
Existenz  bedrohten  Kirchenmusik  ihre  Achtung  vor  der  Tonkunst 
bewiesen  hatte.  Xach  ihrem  Vorgange  wurde  die  Pflege  gedie- 
gener Musik  so  allgemein,  dass  es  z.  B.  als  ein  Zeichen  mangel- 


IX.    JDas  Oratorium.  135 


hafter  Erziehung  galt,  sich  in  einer  Gesellschaft  an  der  iraprovi- 
sirten  Ausführung  eines  polyphonen  Gesangstückes  nicht  lietheiligen 
zu  können.  Nach  einer  Stelle  aus  Shakespeare's  „Was  ihr  wollt" 
zu  schUessen,  hat  man  die  Liebhaberei  für  contrapunktische  Ge- 
sänge sogar  übertrieben.  ..Sollen  wir  die  Xachteule  mit  einem 
Canon  aufstören"  fragt  dort  Junker  Tobias  „der  einem  Leinweber 
drei  Seelen  aus  dem  Leibe  haspeln  könnte?*'  Und  Junker  Christoph 
antwortet  darauf:  „Ja,  wenn  ihr  mich  lieb  habt,  so  thut  das. 
Ich  bin  wie  der  Teufel  auf  einen  Canon'"  —  die  etwaigen  jSIiss- 
bräuche  vermögen  jedoch  den  Glanz  dieses  goldenen  Zeitalters 
der  englischen  Musik  in  keiner  "Weise  zu  verdunkeln,  so  wenig 
wie  den  Ruhm  seiner  Haupt-Repräsentanten  William  Bird  (von 
1585  an  Organist  der  Königin,  zu  seiner  Zeit  als  eine  Art  eng- 
lischer Palestrina  gefeiert)  dessen  Schüler  Thomas  Morley 
(Herausgeber  einer  werthvollen,  1601  unter  dem  Titel  „The 
triumphs  of  Oriana"  erschienenen  Madrigalsammlung*)  mit  zahl- 
reichen Beiträgen  von  seiner  Composition)  Orlando  Gibbons 
(berühmter  Organist,  Herausgeber  der  ersten  in  England  ge- 
druckten Ciaviermusik)  und  der  als  Virtuose  auf  der  Laute  viel- 
gepriesene John  Dowland,  von  dessen  Spiel  es  in  einem,  dem 
Shakespeare  zugeschriebeneu  Sonett  heisst  „Dowland  ....  whose 
heavenly  toucli  upon  the  lute  doth  ravish  human  sense". 

Im  weiteren  Verlaufe  des  17.  Jahrhunderts  wurde  der  geistige 
Entwickelungsgang  Englands  durch  die  Kämpfe  unterbrochen,  aus 
welchen  schhesslich  eine  neue  Staatsform  hervorging;  nach  wieder- 
hergestellter Ordnung  im  Innern  aber  lag  der  Nation  die  PHege 
materieller  Interessen  und,  nachdem  bereits  1588  durch  die  Zer- 
stöiimg  der  ..unüberwindlichen"  spanischen  Kriegsflotte  der  Grund 
zur  SeeheiTschaft  gelegt  war,  die  Befestigung  ihrer  Weltmacht- 
stellung so  sehr  am  Herzen,  dass  die  idealen  Bestrebungen  in 
den  Hintergrund   traten   und   man,   was    die  Musik  betrifft,   den 


*)  Der  Name  Oriana  auf  dem  Titel  dieser  Sammlung  erinnert  an  die 
damals  beliebte  Art  der  Loyalitäts-Bezeigungen  durch  Anspielung  auf  den 
jungfräulichen  Stand  der  Königin,  wie  auch  dem  Titel  „Parthenia''  (vom 
griechischen  Parthenos,  Jungfrau)  und  der  enghschen  Benennung  des  Claviers 
„Virginal"  (vom  latein.  Virgo)  eine  ähnliche  Absicht  zu  Grunde  liegt.  Dass 
Shakespeare  es  ebenfalls  nicht  versäumte,  seiner  Herrscherin  gelegentlich 
das  übliche  Compliment  zu  machen,  zeigt  die  Stelle  in  seinem  „Sommer- 
nachtstraum" (zweiter  Act,  zweite  Scene,  zwischen  Oberon  und  Puck)  „Zur 
selben  Zeit  sah  ich  (Du  konntest  nicht)  Cupido  zwischen  Mond  und  Erde 
fliegen  in  voller  Wehr"  u.  s.  w. 


136  IX.    IDas  Oratoritim. 


ausländischen  Kräften  bereitwilligst  das  Feld  überliess.  Die  gast- 
liche Aufnahme  Cambert's  in  London  (vgl.  S.  88)  so  wie  der 
schon  vor  ihm  erschienenen  Italiener  sind  bezeichnend  für  die 
eklektische  Richtung,  welche  das  musikalische  England  damals 
einschlug  und  bis  zur  Gegenwart  verfolgt  hat.  Selbst  der  begab- 
teste von  allen  englischen  Componisten,  der  geniale  Henry 
Purcell  (1658 — 1695)  vermochte  nicht,  das  Vertrauen  zur  natio- 
nalen Musikproduction  wieder  zu  beleben,  und  weder  seine  zahl- 
reichen, durch  Tiefe  und  Grossaiiigkeit  ausgezeichneten  Kirchen- 
compositionen,  unter  denen  namentlich  die  Anthems*)  bemerkens- 
werth  sind,  noch  seine  dramatischen  Musikwerke,  die,  neunund- 
dreissig  an  der  Zahl,  als  echt  vaterländische  Erzeugnisse  geeignet 
waren,  die  Grundlage  einer  national -englischen  Oper  zu  bilden, 
haben  bei  der  Ungunst  der  Zeit  eine  nachhaltige  Wirkung  aus- 
üben können.  In  eine  solche  Zeit,  sagt  Chrysander  (Händel  I. 
S.  254)  gehörte  ein  Zuchtmeister,  aber  ein  solcher  war  Purcell 
nicht,  ebensowenig  als  Mozart  ein  solcher  war.  Denn  so  ernst 
beide  die  Kunst  nahmen,  so  leicht  nahmen  sie  das  Leben  und 
lebten  nicht  lange.  Was  aber  Purcell  andeutet  und  wünscht,  ist 
in  Händel's  Leben  erfüllt,  und  durch  die  musikalische  Gesund- 
heit, in  der  alle  seine  Werke  strahlen,  durch  ihre  einheitliche 
Gestaltung  und  Gesammtwirkung  sowie  durch  seine  Vielseitigkeit 
ist  er  derjenige  Vorgänger  Händel's,  der  am  geradesten  auf  ihn 
hinleitet. 

Ein  Vierteljahrhundert  nach  Purcell's  frühzeitigem  Ende,  mit 
Händel's  Ankunft  in  London,  welche  Stadt  von  1720  an  bis  zu 
seinem  Tode  der  Schauplatz  seiner  Thätigkeit  geworden  ist,  be- 
ginnt die  Glanzepoche  unseres  Meisters  und  zwar  mit  seiner 
Wirksamkeit  an  der  italienischen  Oper  des  Hapnarket-Theater. 
Die  am  Anfang  des  Jahrhunderts  in  England  stattgehabte  Um- 
wälzung der  Gesellschafts-Verhältnisse  hatte  es  möghch  gemacht, 
dass  eben  jetzt  die  Oper  sich  aus  den  Adels-  und  Hof  kreisen 
hinauswagte  und  sich  an  die  Theilnahme  des  inzwischen  künst- 
lerisch gereiften  Publikums  wendete.  Unter  solchen  Umständen 
fand  Händel  während  seines  zwanzigjährigen  Theaterlebens  die 
beste  Gelegenheit,  dem  volksthümhchen  Kunstbedüi'fuiss  Rechnung 


*)  Das  Antheni,  eigentlich  Anti-Hymne,  Antiplionie  oder  Wechsel- 
gesang,  eine  auch  von  Händel  gepflegte  Gattung  des  Kirchengesanges,  war 
bis  auf  Purcell  eine  motettenartige  Chorform  und  wurde  von  diesem  zu 
einer  Art  Cantate  ausgebildet,  Avobei  ihr  der  ursprüngliche  Charakter  des 
antiphonischen  verloren  ging. 


IX.    Das  Oratorivim.  ^37 


tragen  zu  lernen.  Dafür  aber  hatte  er  auch  schwer  unter  den 
Nachtheilen  zu  leiden,  welche  die  veränderte  Lage  für  die 
Künstlei-welt  mit  sich  brachte.  Die  aristokratische  Gesellschaft, 
die  sich  jetzt  der  alleinigen  Führung  in  musikalischen  Dingen 
beraubt  sah.  begann  den  Künstlern  die  fi'üher  so  reichlich  ge- 
währte mateiielle  Förderung  zu  entziehen,  und  Händel  war  am 
allerwenigsten  der  Mann,  durch  Entgegenkommen  in  den  Fragen 
des  musikaHschen  Geschmackes  die  Stimmung  der  ehemaligen 
Kunstmäcene  zu  seineu  Gunsten  zu  wenden.  Ausserdem  wurde 
ihm  seine  Thätigkeit  als  Oi^erndirector  dm'ch  die  immer  wach- 
sende Concurrenz  erschwert,  insbesondere  seitdem  eine  zweite, 
von  seineu  Gegnern  ins  Leben  gerufene  italienische  Oper  unter 
Leitung  des  Neapoütaners  Porpora  ihn  gezwTingen  hatte,  das 
Haymarket-  mit  dem  Coventgarden-Theater  zu  vertauschen;  nicht 
minder  auch  durch  die  Eifersüchteleien  der  ihm  untergebenen 
Sänger  und  Sängerinnen  (vgl.  S.  78),  und  so  sehen  wir  ihn 
im  Jahre  1740  nach  Auffühnmg  seiner  einunddreissigsten  Oper 
,,Deidamia"  das  Theater  für  immer  verlassen,  nachdem  er  bei  dem 
letzten  Unternehmen  sein  ganzes  mühsam  erworbenes  Vermögen 
eingebüsst  hatte. 

Inzwischen  aber  war  schon  1732  sein  erstes  Oratorium 
„Esther"  zur  Auffühi-uug  gelangt  und  von  demjenigen  Theil  der 
Londoner  Kunstfreunde,  welche  durch  die  1710  gegi'ündete  Aka- 
demie für  alte  Musik  vertreten  waren  und  in  Händel's  Ai'beit 
eine  Verwirklichung  ihrer  Pläne  zur  Erneuerung  der  antiken 
Tragödie  auf  dem  Boden  der  biblischen  Geschichte  erblickten, 
mit  grossem  Beifall  aufgenommen  worden.  Damals  schwankte 
die  Meinung  noch,  ob  das  Oratorium  mit  Action  darzustellen  sei, 
oder  ob  es  der  sichtl)aren  dramatischen  Zuthateu  ganz  entbehren 
solle:  der  Londoner  Bischof  Dr.  Gibson  entschied  sich  für  das 
letztere  —  zum  nicht  geringen  Vortheil  für  Händel  als  Musiker, 
denn  nun  konnte  er  sich  in  seinen  Tongestaltungen  ungleich  freier 
bewegen  als  bei  dem  Zwange,  welchen  die  Bedingungen  einer 
scenischen  Aufführung  dem  Componisten  unter  allen  Umständen 
auferlegen.  Es  bedarf  keines  Beweises,  dass  die  dramatische 
Musik,  sobald  sie  nicht  mehr  durch  die  sichtbare  Darstellung 
unterstützt  wird,  um  so  mehr  die  Aufgabe  hat,  allen  ihren  Ge- 
bilden die  höchstmöglicbe  Plastik,  Schärfe  und  Deutlichkeit  zu 
verleihen,  damit  das  ganze  Kunstwerk  den  Schein  des  vollen 
Lebens  und  der  unmittelbaren  Gegenwart  für  unsere  Vorstellungen 
und  unser  Gefühl  gewinne,  so  dass  wir  das  Fehlen  der  sichtbaren 


138  IX.    Das  Oratoriujin. 


Darstellimg  gar  uiclit  mehr  als  einen  Mangel  empfinden.  Dies 
gilt  sowohl  von  den  Einzelgesängen  als  auch  ganz  besonders  von 
den  Chören;  ja,  der  Chor,  diese  gewichtige  Ausdi'ucksform  volks- 
mässiger  und  allgemein  menschlicher  Ideen  und  Gefühle,  darf 
mit  Recht  als  der  eigentliche  Schwerpunkt  des  Händel'schen 
Oratoriiuns  gelten.  „In  ihm  hegt,  ähnlich  wie  im  Chor  der  grie- 
chischen Tragödie,  die  Summe  der  sittlichen  und  religiösen  Ideen 
des  Werkes;  er  ist  der  Boden,  auf  welchem  die  einzelnen  Per- 
sonen sich  bewegen,  jene  Ideen  in  ihrem  Handeln  und  Empfinden 
bethätigend  oder  verneinend,  ihm,  als  der  Volkes-  und  Gottes- 
stimme, und  seinem  Richteramt  und  letzten  Urtheil  unterworfen. 
Im  Oratorienchore  ist  die  hohe  Bedeutung  des  griechischen  Chores 
weit  mehr  zur  Wirkhchkeit  geworden,  als  es  im  Opemchore  je 
geschehen  mag."*) 

Dies  die  wesentlichen  Merkmale  des  Oratoriums,  dessen  voll- 
ständige Charakteristik  schon  aus  dem  Grunde  hier  übergangen 
werden  darf,  weil  diese  Kunstgattung  in  der,  ihr  von  Händel  ge- 
gebenen Form  uns  allen  durch  wiederholte  unmittelbare  Berührung 
vertraut  geworden  ist.  Frühere  Generationen  sind  in  diesem 
Punkte  weniger  begünstigt  gewesen;  sowohl  Händel  wie  Bach 
waren  bald  nach  ihrem  Tode  fast  vergessen;  der  Stil  der  italieni- 
schen Oper  hatte  um  diese  Zeit  seine  Herrschaft  auch  über  die 
Kirchenmusik  ausgebreitet,  und  seine  Hauptvertreter  in  Deutsch- 
land, Graun**)  und  Hasse  wurden  als  unübertreffliche  Muster 
gepriesen,  wenn  Bach  und  Händel  gar  nicht,  oder  doch  nur  als 
gelehrte  Contrapunktisten  genannt  wurden.  Selbst  Mozart  wurde 
nur  durch  Zufall  und  erst  in  seinen  späteren  Lebensjahren  mit 
Bach's  Yocalcompositionen  bekannt,  bei  Gelegenheit  eines  Be- 
suches in  Leipzig,  wo  ihm  sein  Freund  Doles,  der  zweite  Nach- 
folger Bach's  als  Cantor  an  der  Thomaskirche,  eine  Motette  des 
Altmeisters  als  Rarität  vorsingen  liess.  Erst  den  Bemühungen 
Schelble's,  des  Stifters  des  Frankfurter  Cäcilien-Vereins,  sowie 
Mendelssohn's  ist  es  gelungen,  die  Theilnahme  für  Bach  und 
Händel,  nachdem  sie  mehrere  Menschenalter  geschlimimert,  wie- 
derum zu  erwecken.     Von  dem  Eifer,  mit  welchem  Mendelssohn 


*)  Vgl.  Koch's  musikalisches  Lexikon,  beai'beitet  von  A.  von  Dommer, 
S.  636. 

**)  Graun's  „Tod  Jesu"  ist  ein  Beweis,  wie  weit  man  damals  von  echt 
kirchlichen  Idealen  entfernt  war,  und  sich  in's  Opernhafte  hinein  verloren 
hatte,  wenn  auch  dies  Werk  in  Anbetracht  seiner  Pormgewandtheit  und  ge- 
schickten Behandlung  der  Sirgstimmen  Achtung  verdient. 


IX.    Das  Oratori««!.  139 


als  neunzehnjähriger  Jüngling  die  erste  Wiederaufführung  der 
Matthäus-Passion  (Berlin  1829)  durchsetzte,  und  von  den  Hinder- 
nissen, die  er  dabei  zu  überwinden  hatte,  berichtet  Eduard 
Devrient  Ausführliches  in  seinen  „Erinnerungen  an  F.  Mendels- 
sohn-Bartholdy''.  In  gleicher  Weise  hat  Mendelssohn  als  Dirigent 
der  niederrheinischen  Musikfeste  zur  AViederbelebung  des  Händel'- 
schen  Oratoriums  beigetragen;  seine  liebevolle  Verehrung  für 
diese  beiden  Meister  aber  sollte  ihm  nicht  unvergolteu  bleiben, 
indem  er  durch  ihren  Geist  zur  Schöpfung  seiner  eigenen  bedeu- 
tendsten Werke,  der  Oratorien  „Paulus"  und  „Elias"  angeregt 
wurde.  Freilich  war  es  ihm  nicht  vergönnt,  einen  Fortschritt 
über  seine  grossen  Vorgänger  hinaus  zu  bewirken;  sowohl  die 
Passion  wie  das  Oratorium  scheinen  mit  Bach  und  Händel  in 
ihrer  Entwickeluug  abgeschlossen,  womit  jedoch  nicht  behauptet 
werden  soll,  dass  nicht  noch  fernerhin  Meisterwerke  dieser  Gat- 
tung geschaffen  werden  könnten.  Hat  die  heilige  Geschichte  bis 
heute  ihre  Kraft  bewährt.  Dichter  und  Musiker  zu  künstlerischen 
Schöpfungen  zu  begeistern,  so  wird  sie  dieselbe  auch  in  Zukunft 
nicht  einbüssen,  und  wenn  unser,  gegenwärtig  so  tief  darnieder- 
liegendes kirchliches  Leben  vielleicht  einmal  einen  neuen  Auf- 
schwung nimmt,  so  dürfen  wir  auch  dem  gleichzeitigen  Beginn 
einer  neuen  Epoche  der  geistlichen  Musik  hoffnungsvoll  ent- 
gegensehen. 


X. 

Die  Instniraentalmiisik:. 


Nur  im  Vorübergehen  konnten  wir  bisher  den  musikalischen 
Instrumenten  Beachtung  schenken  und  uns  ihrer  Bedeutung  für 
die  gesammte  Musikentwickelung  erinnern,  insbesondere  füi"  die 
Ausbildung  der  mehrstimmigen  Musik  (vgl.  S.  28)  und  der  mo- 
dernen O^Der  (vgl.  S.  71);  nachdem  wir  aber  die  Instrumentalmusik 
zu  einer  der  Yocalmusik  ebenbürtigen  Macht  haben  heranwachsen 
sehen,  dürjfte  es  an  der  Zeit  sein,  ihren  Entwickelungsgang  auch 
einmal  für  sich  zu  betrachten.  Ihrem  Alter  nach  steht  sie  sicher- 
lich nicht  hinter  der  Yocalmusik  zurück,  jedenfalls  reicht  ihr 
Ursprung  weit  über  die  historische  Zeit  hinaus.  Die  Erfindung 
der  musikalischen  Instrumente  war  durch  die  einfachsten  Natur- 
verhältnisse gegeben:  die  über  das  Knochengerüst  gespannten,  von 
der  Sonne  getrockneten  Därme  eines  Thiercadavers  veranlassten 
die  Erfindung  der  Saiteninstrumente*),  ein  zerbrochenes  Schilf- 
rohr, über  welches  der  Wind  dahinstrich,  die  der  Blasinstru- 
mente. Wie  diese  beiden  Hauptgattungen  im  Alterthum,  und 
zwar  in  mannichfachen  Unterarten  gebräuchlich  waren,  theils  als 
Soloinstrumente,  theils  auch  zu  orchestralen  Massen  vereint,  dies 
wurde  an  betreffender  Stelle  erwähnt.  Hinsichts  der  Blasinstru- 
mente sei  hier  jedoch  noch  eine  Eigenthümlichkeit  in  ihrer  stufen- 
weisen Ausbildung  hervorgehoben,  eine  Erscheinung,  welche  wir 
im  weiteren  Verlauf  der  Geschichte  der  Instrumentalmusik  noch 
einmal  zu  beobachten  Grelegenheit  haben  werden,  dass  nämlich 
ihre  Entwickelung  mit  zunehmender  Cultur  vom  Complicirten  zum 
Einfachen   fortschreitet:    das    älteste  Blasinstrument   ist   die  \ie\- 


*)  Nach  der  griechischen  Sage  war  es  eine  Schildkröte,  deren  AnbHck 
in  diesem  Zustande  dem  am  Meeresstrande  wandehaden  Grotte  Hermes  den 
Gedanken  der  Lyra  eingab. 


X.    Die  tiistrumeiitaliiivisili.  141 


röhrige  Syrinx  (PausHöte),  in  späterer  Zeit  erscheint  die  Doppel- 
flöte, und  indem  die  antike  Bildung  ihren  Höhepunkt  erreicht, 
gelangt  die  einfache  Flöte  zur  Herrschaft. 

Während  des  Mittelalters  waren,  namenthch  bei  den  nordi- 
schen Völkern,  neben  den  vom  Alterthum  überkommenen  Ton- 
werkzeugen auch  die  Tasten-  und  Streichinstrumente  im 
Gebrauch,  standen  jedoch  auf  einer  so  niedrigen  Stufe  der  Aus- 
bildung, dass  sie  zur  Wiedergabe  kunstvoller  Musikfonnen,  wie 
solche  schon  damals  im  Gesänge  sich  entwickelt  hatten,  durchaus 
untaughch  waren.  Das  erste  Instrument,  welches  höheren  künst- 
lerischen Zwecken  zu  dienen  hatte,  war  die  Orgel;  schon  in 
Folge  ihrer  Stellung  zur  Kii-che  war  sie  in  den  Händen  ange- 
sehener und  gelehrter  Musiker,  zu  einer  Zeit,  wo  noch  die  übrigen 
Instrumente  den  fahrenden  Spielleuten  oder  später  den  Stadt- 
pfeifern ausschliesslich  überlassen  waren.  Während  der  ersten 
Jahrhunderte  nach  ihrer  Einführung  in  die  Kirche  war  sie  wegen 
der  Unbeholfenheit  ihres  Mechanismus  zwar  wenig  geeignet,  zur 
Wüi'de  des  Gottesdienstes  beizutragen.  Ein  englischer  Chronist 
berichtet  aus  dem  Jahi-e  951  von  einer  zu  Winchester  befind- 
lichen Orgel  mit  vierhundert  Pfeifen  und  so  gewaltigen  Blase- 
bälgen, dass  siebzig  Männer  erforderlich  waren,  um  sie  in  Be- 
wegung zu  setzen;  dabei  hatte  sie  jedoch  nur  zehn  Töne,  nämlich 
für  jeden  Ton  vierzig  Pfeifen,  es  konnte  sich  hier  also  nur  um 
höchstmögliche  Kraftentfaltung  handeln.  iS^icht  viel  besser  war 
es  mit  den  etwas  später  zu  Halberstadt,  Magdeburg  und  Erfurt 
erbauten  Orgeln  bestellt,  deren  Tasten  die  Breite  einer  Hand 
hatten  und  sich  so  schwer  niederdrücken  Hessen,  dass  man  die 
Faust  oder  gar  den  Ellbogen  dazu  benutzen  musste.  Der  Braun- 
schweiger Capellmeister  Michael  Praetorius,  dessen  1615 
erschienenes  Buch  „Syntagma  musicum"  im  Abschnitt  „Organo- 
graphie"  wichtige  Kunde  über  die  Instrumente  früherer  Zeiten 
enthält,  sagt  von  jenen  Orgeln,  man  habe  sich  nach  damahger 
Art  der  Musik  allenfalls  mit  ihnen  beheKen  können  „sintemal 
keine  Composition  mit  vielen  Stimmen,  sondern  nur  der  schlechte 
[schlichte]  Choral  einfältig  [einstimmig]  darauf  gemacht  worden". 
Dies  genügte  den  Organisten  so  lange,  bis  die  Sänger  begonnen 
hatten,  verschiedene  Tonreihen  gleichzeitig  ertönen  zu  lassen 
(vgl.  S.  29)  und  die  Orgel  nun  auch  ihrerseits  die  Vortheile  einer 
mehrstimmigen  Musik  gemessen  wollte ;  freihch  war  es  unmöghch, 
nach  dem  Beispiele  der  „organisirenden"  Sänger  in  Quinten-  und 
Octaven-Parallelen  zu  spielen,  da  die  Schwerfälligkeit  des  Mecha- 


142  X.     Die  InstruiTientalniusilc. 

nismus  niclit  erlaubte,  mehi'  als  eine  Taste  zm*  Zeit  anzuschlagen, 
doch  half  man  sich,  indem  man  mehrere  in  Quinten  und  Octaven 
gestimmte  Pfeifen  derart  vereinigte,  dass  sie  durch  das  Berühren 
einer  Taste  zum  gleichzeitigen  Erkhngen  gebracht  werden  konnten. 
Diese  sogenannten  Mixturen,  welche  sich  bis  heute  erhalten 
haben,  müssen  ursprünglich  von  barbarischer  Wirkung  gewesen 
sein;  bei  der  modernen  Orgel  aber  sind  durch  eine  sinnreiche 
Vorrichtung  die  mitklingenden  Quinten  und  Octaven  bis  zu  einem 
Grade  gedämpft,  dass  unser  Ohr  sie  nicht  mehr  als  selbständige 
Töne  erfasst,  sondern  sie  nur  als  Füllung  und  Verstärkung  der 
Melodie  empfindet. 

Die  Vervollkommnung  des  Orgelspiels  ging  selbstverständlich 
mit  der  des  Instrumentes  Hand  in  Hand;  seine  erste  Entwicke- 
lung  wie  auch  seine  schliessliche  Vollendung  fand  es  in  Deutsch- 
land, wo  ims  schon  früh  zwei  um  Ausbildung  der  Technik  des 
Orgelspiels  hochverdiente  Künstler  begegnen:  Bernhard  Murer, 
wahrscheinlich  identisch  mit  dem  um  1470  an  der  Marcuskirche 
zu  Venedig  angestellten  und  von  den  dortigen  Chronisten 
als  Erfuder  des  Orgelpedals  bezeichneten  Bernhard  dem 
Deutschen,  und  der  1473  zu  München  gestorbene,  blindgeborene 
Organist  der  Nürnberger  Sebalduskirche  Conrad  Paumann 
oder  Paulmann,  wie  die  Inschrift  auf  seinem  in  der  münchner 
Frauenkirche  befindlichen  Grabstein  besagt.  In  der  Folge  wird 
Italien  der  eigentliche  Sitz  der  Orgelkunst,  namentlich  Venedig, 
nachdem  der  berühmteste  Orgelmeister  seiner  Zeit,  Claudio 
Merulo,  1557  zum  ersten  Organisten  der  dortigen  Marcuskirche 
erwählt  war;  zur  höchsten  Blüthe  aber  gelangt  das  italienische 
Orgelspiel  in  Rom  mit  Girolamo  Frescobaldi,  von  1615 
Organist  an  der  Peterskirche  zu  Rom,  dessen  Kunst  eine  solche 
Anziehungskraft  ausübte,  dass  seine  Verehrer  ihm  auf  seinen 
Reisen  von  Stadt  zu  Stadt  folgten  und  die  strebsamen  Organisten 
aller  Länder  seinen  Unterricht  suchten.  Nach  ihm  und  seinem  eben- 
falls berühmten  Schüler  Pasquini  geht  in  Italien,  dessen  Kräfte 
eben  jetzt  durch  die  Ausbildung  der  dramatischen  Musik  völUg 
in  Anspruch  genommen  waren,  die  Orgelkunst  ihrem  Verfall  ent- 
gegen und  erblüht  T\-iederum  in  Deutschland,  wo  Samuel  Scheidt 
(gest.  1654  als  Organist  der  Moritzkirche  seiner  Vaterstadt  Halle) 
die  Reihe  berühmter  Organisten  eröft'net.  in  welcher  Namen  wie 
Froberger,  Pachelbel.  Buxtehude,  Reinken,  endlich  Se- 
bastian Bach  als  Glanzpunkte  erscheinen.  Alle  diese  Männer 
wirkten  nicht  nur  als  Virtuosen,   sondern  auch  als  Componisten 


X.    Die  Inatruiiieiitaliiiuaik.  14i> 

für  ihr  Instrument  und  wurden  die  Schöpfer  eines  eigenen  In- 
strumental-Musikstils, dessen  Ausbildung  bei  der  schon  erwähnten, 
besonders  geachteten  Stellung  der  Orgel,  folgerichtig  von  ihr  aus- 
gehen musste.  Die  wesentlichen  Merkmale  dieses  Stils  könnten 
wir  schon  jetzt  an  den  Werken  der  genannten  Meister  kennen 
lernen;  zum  besseren  Verständniss  desselben  sowie  der  gleich- 
zeitig mit  ihm  zur  Ausbildung  gelangten  Instrumental-Musikformen 
betrachten  wir  jedoch  zuvor  den  Entwickelungsgang  der  übrigen 
Instrumente,  vor  allem  des  Claviers,  welches  schon  früh  eine 
ähnliche  Ausnahmestellung  unter  den  Instrumenten  einnahm  wie 
die  Orgel,  nachdem  man  sich  überzeugt  hatte,  dass  es  zur  Dar- 
stellung musikalischer  Gedanken  und  Formen  der  verschiedensten 
Ali;  so  gut  und  noch  besser  geeignet  sei  als  diese. 

Die  Entstehung  der  Claviatur- Saiteninstrumente  ist  auf 
zwei  uralte  Instrumente  zurückzuführen:  das  Monochord  und 
das  Psalterium.  Das  erstere  bestand  aus  einem  langen  schmalen 
viereckigen  Resonanzkasten  mit  einer  Saite  (daher  der  griechische 
Name),  welche  durch  einen  verschiebbaren  Steg  nach  einem  dar- 
unter verzeichneten  Glradmesser  theilbar  war.  Dies  Instrument 
diente  im  Alterthum  wie  auch  im  Mittelalter  zur  Bestimmung  der 
Tonverhältnisse  und  zum  ersten  Musikunterricht.  Mit  der  Zeit 
brachte  man,  um  sich  das  Verschieben  des  Steges  zu  ersparen, 
an  einer  der  Seiten  des  Kastens  eine  Anzahl  von  Tasten  an, 
deren  am  oberen  Hebel-Ende  befindliche  Messingstifte  sich  beim 
Niederdrücken  der  Tasten  erhoben  und  die  Saite  gleichzeitig 
theilten  und  erklingen  machten.*)  Nach  Hinzunahme  weiterer 
Saiten  wurde  im  12.  oder  13.  Jahrhundert  aus  dem  Monochord 
das  Clavichord,  welches  übrigens  bis  in  die  neueste  Zeit  die 
Erinnerung  an  seinen  Ursprung  bewahrte,  indem  die  Zahl  seiner 
Saiten  auch  bei  immer  fortschreitender  Ausbildung  des  Instru- 
mentes geringer  war  als  die  seiner  Töne  und  der  ihnen  ent- 
sprechenden Tasten.     Bis  1725,  wo  das  Clavichord  bundfrei**) 


*)  Der  kürzere,  nicht  zum  Tönen  bestimmte  Theil  der  Saite  klingt 
zwar  auch  mit,  jedoch  so  schwach,  dass  sein  Klang-  von  dem  des  längeren 
Saitentheiles  völlig  unterdrückt  wird. 

**)  Im  Ciegensatz  zu  den  bundfreien  stehen  die  gebundenen  Instru- 
mente, bei  welchen,  wie  z.  B.  bei  den  Streichinstrumenten,  eine  Saite  zur 
Erzeugung  mehrerer  Töne  benutzt  wird.  Unter  „Bund"  versteht  man  die 
auf  dem  Clriftbrett  der  Laute,  Guitarre  etc.  befestigte  schmale  Leiste  von 
Messing  oder  Elfenbein,  durch  welche  dem  Spieler  die  Stelle  bezeichnet 
wird,   an  welcher   er   die  Saite  durch  Aufsetzen  des  Fingers   zu  verkürzen 


144  X.    Die  Lnstruineiitainciusils. 

wurde,  diente  eine  und  dieselbe  Saite,  in  geringerer  und  weiterer 
Entfernung  vom  Stege  angeschlagen,  zweien  Tönen,  dem  diatoni- 
schen und  dem  nächsthöheren  chromatischen  Halbtone  zusanunen^ 
wodurch  eine  gleichzeitige  Verwendung  der  in  solchem  Verhältniss 
stehenden  Töne  unmöghch  war. 

Dem  Clavichord  gegenüber  stehen  die  vom  Psalterium  stam- 
menden Cla\datur- Instrumente,  das  Clavicymbel  nebst  seinen 
Abarten  Spinett  und  Virginal,  jenes  besonders  in  Italien  hei- 
misch, dieses  in  England,  wo  es  zu  Ehren  der  königlichen  Jung- 
frau (virgo)  Elisabeth  seinen  Namen  erhalten  hat,  nach  Andern, 
weil  es  vorwiegend  zur  Erziehimg  der  weiblichen  Jugend  diente. 
Im  "Wesentlichen  unterscheidet  sich  das  Clavicymbel  vom  Clavi- 
chord dadurch,  dass  es  für  jeden  Ton  eine  Saite  hatte,  und  dass 
diese  Saiten  von  verschiedener  Länge  waren,  beides  im  Anschluss 
an  das  Psalteriimi,  dessen  di-eieckige  Form  die  ungleiche  Länge 
der  Saiten  mit  sich  brachte,  ebenso  wie  die  Zahl  derselben  mit 
der  der  Töne  übereinstimmen  musste,  weil  hier  die  Saiten  nicht 
wie  beün  Monochord  vennittelst  Tasten  angeschlagen,  sondern 
mit  einem  dem  antiken  Plectrum  ähnlichen  Stäbchen  gerissen 
wm'den.  Zwei  weitere  Eigenthümlichkeiten  des  Clavicymbel  er- 
gaben sich  gleichfalls  aus  seiner  Verwandtschaft  mit  dem  Psal- 
terium: die  ungleiche  Saitenlänge  bot  Anlass,  dem  ursprünglich 
viereckigen  Kasten  der  Raumersparniss  wegen  Harfenform  zu 
geben,  in  Folge  dessen  das  Instrument,  wegen  seiner  Aehnlich- 
keit  mit  dem  Flügel  eines  Vogels,  Flügel  genannt  wurde,  von 
einigen  auch  Schweinskopf,  wie  Praetorius  sagt  „weil  es  so  spitzig 
wie  ein  wilder  Schweinskopf  fornen  an  zugeht";  sodann  wurden 
auch  beim  Clavicymbel  die  Saiten  nicht  angeschlagen,  sondern 
gerissen  und  zwar  dm-ch  Raben -Federkiele,  welche  am  oberen 
Ende  der  Taste  angebracht  waren,  woher  sein  Xame  Kielflügel 
und  die  Bezeichnimg  Instrumenta  pennata  für  die  Gesammt- 
heit  derartiger  Instrumente.  Der  dadm'ch  bewirkte  helle  Klang,, 
welchem  es  auch  nicht  an  Fülle  mangelte,  nachdem  das  Clavi- 
cymbel mehr  chörig  geworden  war,  d.  h.  zwei  und  mehr  Saiten  für 
einen  Ton  erhalten  hatte,  machte  es  auch  zur  Mitwirkung  im 
Orchester  geeignet,  und  noch  bis  nach  Händel's  Zeit  blieb  es 
eine    schätzbare    Stütze    bei  grösseren  Vocal-  und  Instrumental- 


hat, um  höhere  Töne  hervorzubringen.  In  frühester  Zeit  wurde  die  be- 
treffende Stelle  des  G-riffbrettes  durch  ein  um  den  Hals  des  Instrumentes 
gebundenes  Stückchen  Darmsaite  gekennzeichnet,  wodurch  sich  der  Name 
erklärt. 


X.    Die  Iiistrvimeiitalmxisils.  145 

Aufführungen.  Auf  solche  Vorzüge  musste  das  Clavichord  mit 
seinem  zarten,  dm-chsichtigen  Klange  freilich  verzichten,  dafür 
aber  war  es  weit  besser  befähigt,  den  geistigen  Gehalt  eines 
Tonstückes  wiederzugeben  und  seine  Feinheiten  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  .."Will  einer"  so  sagt  Mattheson  „eine  delicate  Faust 
und  reine  Mannier  hören,  der  führe  seinen  Candidaten  zu  einem 
säubern  Clavicordio;  denn  auff  grossen,  mit  3.  ä  4.  Zügen  oder 
Registern  versehenen  Clavicymbeln  werden  dem  Gehöre  viele 
Brouillerien  echappiren  und  schwerHch  wird  man  die  Mannieren 
mit  distinction  vernehmen  können."  In  ähnlichem  Sinne  erklärt 
Praetorius  das  Clavichord  „für  das  Fundament  aller  clavirten 
Instrumenten,  daruff  auch  die  BiscipuU  Organici^)  zum  anfang 
instmirt  und  untemchtet  werden.'" 

Ungeachtet  dieser  Bedeutung  des  Clavierspiels  im  17.  und 
noch  mehr  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  befand  sich  doch  die 
Technik  desselben  noch  bis  zu  Bach's  Zeit  auf  einer  äusserst 
niedrigen  Stufe.  Besondere  Schwierigkeit  machte  der  Gebrauch 
des  Daumens,  dessen  man  sich  Jahrhunderte  hindurch  nur  zum 
Spannen  grosser  Intervalle  bediente,  während  man  bei  Tonleitern 
und  Passagen  nichts  Besseres  mit  ihm  anzufangen  wusste,  als  ihn 
zur  Stütze  der  dabei  beschäftigten  Finger  —  gewöhnhch  nur  des 
dritten  und  vierten  —  an  einem  unterhalb  der  Tastatur  befind- 
lichen Brette  hin  und  her  gleiten  zu  lassen.  Wie  geringen  Werth 
man  iauf  einen  regelrechten  Fingersatz  legte,  zeigt  die  Behaup- 
tung des  Praetorius  „es  komme  gar  nicht  darauf  an,  ob  man 
dieser  oder  jener  Applikatur  sich  bediene;  man  könne  laufen 
mit  welchen  Fingern  man  wolle,  auch  die  Nase  dazu  nehmen, 
wenn  man  nur  alles  fein  rein,  just  und  anmuthig  ins  Gehör 
brächte"  —  und  über  hundert  Jahre  später  schreibt  Mattheson 
in  seiner  „Grossen  Generalbasschule"  (Hamburg  1731)  „So 
mancher  als  spielet,  fast  so  manche  Art  der  sogenannten  Appli- 
cation wird  man  auch  finden.  Einer  läuift  mit  vier,  der  ander 
mit  fünff,  ethche  gar,  und  fast  ebenso  geschwind,  mit  nur  zween 
Fingern.  Es  liegt  auch  nichts  hieran,  so  lange  man  sich  nur 
eine  gewisse  Richtschnur  wehlet,  und  beständig  dabey  bleibet." 
Bei  dieser  Gelegenheit  wollen  wir  die  Verdienste  nicht  unerwähnt 
lassen,  welche  sich  neben  den  Deutschen  und  Italienern  die  Fran- 


*)  Hiermit  sind  ohne  Zweifel  nicht  nur  die  angehenden  Organisten 
sondern  auch  die  Schüler  auf  allen  übrigen  Instrumenten  gemeint.  (Vgl. 
S.  29.) 


Langhans,  Musikgeschichte.     2.  Aufl. 


10 


]_46  ^-    Die  Xustrvin^eixtalmwsik. 

zosen  um  die  Ausbildung  des  Ciavierspiels  erworben  haben. 
Namentlich  seit  Ende  des  17.  Jahrhunderts  fand  dasselbe  liebe- 
volle Pflege  seitens  der  französischen  Organisten,  unter  ihnen 
Louis  Marchand  (geb.  1669),  ein  Meister  im  brillanten  und 
zierlichen  Spiel,  wenn  er  auch  den  musikalischen  Wettstreit  mit 
Sebastian  Bach  gelegentlich  seines  Zusammentreffens  mit  diesem 
in  Dresden  nicht  annehmen  zu  dürfen  glaubte;  ferner  sein  Schüler, 
der  schon  als  Operncomponist  und  Theoretiker  genannte  Ra- 
meau;  endhch  Franz  Couperin  (geb.  1668),  das  hervorragende 
Mitglied  einer  zahlreichen  Künstlerfamilie  dieses  Namens,  dessen 
feine  und  elegante,  nur  mitunter  durch  Verzierungen  überladene 
Compositionen  die  Richtung  des  Ciavierspiels  seiner  Zeit  be- 
stimmten und  selbst  von  Sebastian  Bach  hoch  geschätzt  wurden. 
Von  den  Bestrebungen  dieses  Künstlers  im  Gebiete  des  rein 
Technischen  giebt  sein  1716  zu  Paris  erschienenes  Werk  „L'art 
de  toucher  le  clavecin"  ein  glänzendes  Zeugniss;  der  hier  em- 
pfohlene Fingersatz  weist  schon  auf  einen  häufigeren  Gebrauch 
des  Daumens,  doch  scheinen  erst  mit  Bach  alle  Finger  zu  gleich- 
massiger  Ausbildung  gelangt  zu  sein;  wie  sehr  die  Technik  des 
Ciavierspiels  im  Uebrigen  durch  Bach  in  ihrer  Entwickelung  ge- 
fördert wurde,  erkennt  man  theils  aus  seinen  Compositionen, 
theils  auch  aus  dem  Unterrichtswerke  seines  Sohnes  und  Schülers 
Carl  Philipp  Emanuel  Bach  „Versuch  über  die  wahre  Art, 
das  Ciavier  zu  spielen"  (Berlin  1759),  welches  alle  bis  dahin 
gemachten  Erfahrungen  zusammenfasst,  und  von  ihnen  ausgehend 
den  Uebergang  zum  modernen  Ciavierspiel  vermittelt. 

So  wenig  Em.  Bach  an  Tiefe  und  schöpferischer  Kraft  mit 
seinem  Vater  zu  vergleichen  ist,  so  gebührt  ihm  doch  in  der 
Geschichte  der  Instrumentalmusik  ein  hervorragender  Platz,  und 
die  Verehrung,  welche  ihm  seine  Zeitgenossen  als  Virtuosen  und 
Componisten  zollten,  ist  keineswegs  unbegründet.  In  seinen  ver- 
schiedenen Wirkungskreisen,  von  1740 — 1767  als  Kammercem- 
balist Friedrich's  des  Grossen  und  Capellmeister  der  Prinzessin 
Amalie  von  Preussen,  dann  bis  zu  seinem  Tode  1788  als  Musik- 
director  zu  Hamburg,  galt  er  namentlich  auf  dem  Gebiete  des 
Ciavierspiels  als  eine  Autorität  ersten  Ranges.  „Er  ist  der  Vater, 
wir  sind  die  Buben"  äusserte  Mozart  in  einer  Gesellschaft  bei 
Doles,  als  von  seinem  Spiel  die  Rede  war  „wer  von  uns  was  Rechts 
kann,  hat's  von  ihm  gelernt;  und  wer  das  nicht  eingesteht,  ist  ein...." 
und  Haydn  hat  die  Verdienste  des  älteren  Meisters  noch  in  seinen 
letzten  Lebensjahren  mit  den  Worten  anerkannt:  „Wer  mich  gründ- 


X.    Die  Iixatru.meixtalmi.iaik.  147 

lieh  kennt,  der  niuss  finden,  dass  ich  dem  Emanuel  Bach  sehr  viel 
verdanke,  dass  ich  ihn  verstanden  und  fleissig  studirt  habe;  er 
liess  mir  auch  selbst  einmal  ein  Compliment  darüber  machen." 
Für  die  Gegenwart  freiHch  haben  Em.  Bach's  Compositioneu,  als 
treuer  Ausdruck  des  Geschmackes  seiner  durch  ungesunde  Sen- 
timentahtät  charaktevisirten  Zeit,  den  grössten  Theil  ihrer  Wir- 
kung eingebüsst;  doch  musste  sein  Einfluss  auf  das  damalige 
Ciavierspiel  um  so  grösser  sein,  als  er  den  Uebergang  bezeichnet 
von  der  Praxis  der  älteren  Componisten,  welche  die  Voiirags- 
Details  fast  ganz  dem  Ausführenden  überliessen,  zu  der  der 
späteren,  von  denen  alles  auf  den  Vortrag  BezügHche  bis  ins 
Kleinste  dem  Spieler  vorgeschrieben  ist.  Mit  dem  Erscheinen 
seiner  „Sechs  Sonaten  mit  veränderten  Reprisen"  (1759)  sah  sich 
die  clavierspielende  Welt  zum  ersten  mal  der  Mühe  eines  selb- 
ständigen künstlerischen  Reproducirens  überhoben,  wodurch  be- 
greiflicherweise dem  Dilettantismus  ein  neues  weites  Feld  der 
Bethätigung  eröffnet  war.  Em.  Bach  selbst  sagt  in  der  Vorrede 
zum  genannten  Werke  über  seine  Absicht  Folgendes:  „Bei  Ver- 
fertigung dieser  Sonaten  habe  ich  vornehmlich  an  Anfänger  und 
solche  Liebhaber  gedacht,  die  wegen  gewisser  Jahre  und  anderer 
Verrichtungen  nicht  mehr  Gedult  und  Zeit    genug  haben,    sich 

besonders  stark  zu   üben ich  freue  mich,  meines  Wissens 

der  erste  zu  sein,  der  auf  diese  Art  für  den  Nutzen  und  das 
Vergnügen  seiner  Gönner  und  Freunde  gearbeitet  hat.  Wie 
glücklich  bin  ich,  wenn  man  die  besondere  Art  meiner  Dienst- 
geflissenheit  hieraus  erkennt."  —  Als  Cmiosum  folge  noch  die 
dort  hinzugefügte  Bemerkung  des  würdigen  Capellmeisters  über 
den  „affectvollen  Vortrag",  welche  den  Geist  jener  Zopfzeit 
spiegelt,  wo  jeder  „Gebildete"  ein  empfindsames  Herz  nicht  nur 
haben  sondern  auch  zeigen  musste:  „Dass  alles  dieses  ohne  die 
geringsten  Gebährden  abgehen  könne,  wird  derjenige  blos  läugnen, 
welcher  durch  seine  Unempfindlichkeit  genöthigt  ist,  wie  ein  ge- 
schnitztes Bild  vor  dem  Instrumente  zu  sitzen.  So  unanständig 
und  schädlich  hässliche  Gebährden  sind,  so  nützlich  sind  die 
guten,  indem  sie  unseren  Absichten  bey  den  Zuhörern  zu  Hülfe 
kommen.  (!) 

Trotz  aller  Bemühungen  der  bisher  genannten  älteren  Meister 
des  Claviers  würde  dasselbe  doch  -schwerhch  seine  heutige  Be- 
deutung im  Musikleben  erreicht  haben,  wenn  es  nicht  gelungen 
wäre,  einen  Mechanismus  zu  erfinden,  mittelst  dessen  der  Ton  in 
verschiedenen  Stärkegraden    erklingen  konnte,    was   weder   beim 

10* 


14:8  ^-    JDie  Instruixieiitalmxisili. 

Clavicliord,  noch  beim  Clavicymbel  der  Fall  war.  Die  erste  An- 
regimg zur  Erfindimg  eines  solchen  gab  das  von  einem  geT\Tissen 
Pantaleon  Hebenstreit  Ende  des  17.  Jahrhunderts  construirte, 
nach  Art  des  noch  jetzt  bei  der  Zigeimermusik  gebräuchlichen 
Cynibals  mit  Stäben  geschlagene  Hackbrett  oder  Pantaleon, 
wie  es  nach  seinem  Ei^finder  genannt  wiu^de.  Der  Voilheil,  dass 
hier  die  Saiten  beliebig  stark  oder  schwach  angeschlagen  werden 
konnten,  brachte  um  1710  den  Paduaner  Cristofali  (oder  Cri- 
stofori)  auf  den  Gedanken,  die  Tasten  des  Claviers  am  oberen 
Ende  mit  Hämmern  zu  versehen,  welche  von  unten  gegen  die 
Tasten  schnellen  und  nach  vollzogenem  Anschlage  sogleich  wieder 
zurückfallen;  bald  darauf  aber  vervollkommnete  er  seine  Erfindung 
durch  einen  Dämpfungs-Mechanismus,  welcher  den  Klang  der  Saite, 
unterdrückt,  sobald  der  Finger  von  der  Taste  weggenonunen  ist.  Das 
so  construirte  Instrument,  welches  in  Deutschland  Hammerciavier, 
in  Italien  Pianoforte  genannt  wurde,  weil  man  auf  ihm  leise  und 
stark  (piano  und  forte)  spielen  konnte,  machte  bei  seinem  Er- 
scheinen nicht  geringes  Aufsehen  und  wurde  alsbald  von  den 
Cla^^erbauern  jener  Zeit  nachgeahmt  und  weiter  ausgebildet; 
einige  derselben,  wie  Marius  in  Paris  und  der  Organist  Schröter 
in  Nordhausen,  machten  dem  Cristofali  sogar  die  Ehre  der  Er- 
findung streitig,  doch  ist  neuerdings  nachgewiesen,  dass  sie  erst 
fünf  resp.  sechs  Jahre  später  als  er  mit  ihren  Modellen  an  die 
Oeffentlichkeit  getreten  sind.  Etwa  fünfundzwanzig  Jahre  nach 
seiner  Einfülirung  in  Italien  fand  das  Pianoforte  in  Folge  seiner 
Verbesserung  durch  Silbermann  (gest.  zu  Dresden  1756)  Ein- 
gang in  Deutschland;  doch  vermochte  es  die  zur  Zeit  ge- 
bräuchlichen |Claviatur  -  Saiteninstrumente  nicht  eher  zu  ver- 
drängen, als  bis  ein  Schüler  Silbermann's,  Joh.  Andr,  Stein  zu 
Augsburg,  das  Instrument  im  letzten  Viertel  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zu  demjenigen  Grade  der  Vollkommenheit  erhoben  hatte, 
der  es  befähigte,  dem  mittlerweile  erwachten  neuen  Geiste  der 
Musik  einen  demselben  entsprechenden  Ausdruck  zu  geben. 

Noch  ein  Instrument  von  musikgeschichthcher  Bedeutung 
wurde  diu'ch  das  Hammerciavier  verdrängt:  die  Laute,  welche 
Jahrhunderte  lang  einen  kaum  minder  wichtigen  Platz  im  Musik- 
leben eingenommen  hat  als  das  Ciavier.  Sie  wurde  zuerst  von 
den  Arabern  in  Europa  (Spanien)  eingeführt,  wie  sie  auch  ihren 
Namen  aus  dem  arabischen  al  oud,  die  Schale,  herleitet.  Ihre 
Gestalt,  an  die  Schale  der  Schildkröte  erinnernd,  bestätigt  diesen 
Ursprung,  zugleich  auch  ihre  Verwandtschaft  mit  dem  ältesten, 


X.    Die  Instrumentalmusik:.  149 

der  Sage  iiach  vom  Gotte  Hermes  erfundenen  Saiteninstrument 
der  Griechen.  Die  Saiten  der  Laute,  welche  mit  dem  Finger 
gerissen  wurden,  lagen  theils  über  dem  Griffbrett,  theils  neben 
demselben;  ihre  Zahl  variirte  je  nach  den  verschiedenen  Grössen- 
Gattungen  des  Instrumentes,  deren  zu  Praetorius'  Zeit  sieben 
gebräuchlich  waren,  von  der  in  Italien  zui'  Begleitung  des  Ge- 
sanges benutzten,  mit  sehr  langem  Halse  versehenen  Theorbe 
und  der  ihr  ähnlichen  Gross  -  Octavbasslaute  bis  zur  Discant-, 
ilein  Discant-  und  klein  Octavlaute.  Verwendet  wurde  die  Laute 
nicht  nur  zur  Begleitung  des  Solo-  und  Chorgesanges,  sondern 
auch  als  Solo-  und  Orchesterinstrument  und  überall  war  sie  hei- 
misch, in  der  Earche  wie  in  der  Oper,  ganz  besonders  aber  in 
der  Hausmusik.  Ihre  Literatur  ist  eine  umfassende  und  beginnt 
schon  mit  dem  fi'üher  genannten  Conrad  Paumann,  welcher 
auch  eine  eigene  Notenschrift  für  sie  erfand,  die  sog.  deutsche 
Lautentabulatur,*)  nach  welcher  die  über  dem  Griffbrett 
liegenden  Saiten  durch  deutsche  Buchstaben,  die  daneben  hegen- 
den leeren  Saiten  durch  Zahlen  und  die  Notenwerthe  durch  die, 
in  der  heutigen  Notenschrift  mit  dem  Kopfe  der  Note  verbun- 
denen Striche  und  Widerhaken  I  S  [^  bezeichnet  werden.  Folgen- 
des Beispiel,  der  „Musica  Teusch  auf  die  Instrument  der  grossen 
vnndt  kleinen  Geygen,  auch  Lautten"  etc.  von  Haus  Gerle 
(Nürnberg  1532)  entnommen,  zeigt  das,  neuerdings  in  der  Bear- 
beitung  von  Robert  Franz    bekannt   gewordene  Volkslied  „Ach 


*)  Das  Wort  Tabulatui"  (von  tabula,  Tafel)  bezeichnet  nicht  allein 
die  Cxesammtheit  der  bei  den  Meistersingern  geltenden  Kunstgesetze  (vgl. 
S.  43)  sondern  auch  die  übersichtliche  Zusammenstellung  der  zu  einem 
Musikstück  gehörigen  Stimmen  (also  das,  was  wir  Partitur  nennen)  oder, 
wenn  das  zu  notirende  Musikstück  nur  einstimmig  ist,  schlechthin  Noten- 
schrift. Man  unterscheidet  eine  deutsche  und  eine  italienische  Lauten- 
tabulatur, welche  letztere  aus  einem  System  von  sechs  Linien  bestand,  auf 
welchen  die  Bünde  (Griffe)  durch  Ziffern  bezeichnet  wurden;  dieselbe  fand 
um  1600  als  „neuere  deutsche  Lautentabulatur'"  auch  in  Deutschland  Ein- 
gang. Ausser  der  Lautentabulatur  gab  es  noch  eine  Orgeltabulatur  für 
die  Claviaturinstrumente,  welche,  wie  jene,  vermittelst  der  deutschen  Buch- 
staben und  Werthzeichen  eine  Art  Partitur  bildete,  ohne  jedoch  die  Zahlen 
oder  ein  Liniensystem  zu  Hülfe  zu  nehmen.  In  dieser  Tabulatur  wurde  die 
tiefste  Octave  durch  die  grossen,  die  folgende  höhere  durch  die  kleinen 
Buchstaben  V)ezeichnet,  die  weiteren  Octaven  (vom  tiefsten  c  der  Sopran- 
stimme an)  durch  horizontale  Strichelchen  über  dem  Buchstaben,  was  zu 
der  noch  heute  gültigen  Benennung  ,, grosse"  ,, kleine"  „eingestiüchene"  etc. 
Octave  Anlass  gegeben  hat. 


150 


X.    Die  Instruixieiitalmusili. 


Eislein,  liebes  Elselein"  in  Lautentabulatur  nebst  Uebertragung 
in  die  heutige  Notation: 


^i^lii=ä^=^^iii^üij 


X)iscaTit. 


—o- — • — 


I    r 

0      c 


/    /" 

5    0 


r  r  r  r  r 

5     0    5  c     p 


9    9 


r  /-  /-  /"  /' 

0      t)      0     5      c 


/     /" 
5     0 


/    /     /" 
0     i 


Erst  zur  Zeit  des  S.  112  genannten  Job.  Adam  Hiller,  dessen 
Operetten  noch  im  Arrangement  für  die  Laute  gedruckt  worden 
sind,  scheint  die  Literatur  dieses  Instrumentes  ihren  Abschluss  ge- 
funden zu  haben,  doch  hatte  schon  damals  seine  Behebtheit  stark 
abgenommen;  Mattheson  erklärte  der  Laute  bereits  im  ersten 
Viertel  des  vorigen  Jahrhunderts  förmlich  den  Krieg  und  tadelt 
besonders  die  Obei"flächlichkeit  ihrer  „Professores",  ferner  auch 
ihi'en  „insinuanten  Klang,  welcher  allezeit  mehr  verspreche  als  er 
halte",  endlich  auch  die  Schwierigkeit,  sie  rein  zu  stimmen.  Diese 
muss  allerdings  fast  unüberwindlich  gewesen  sein,  da  die  auf  dem 
Griffbrett  befindlichen  Saiten  verdoiDpelt  waren,  die  daneben 
hegenden  aber,  weil  sie  nicht  verkürzt  werden  konnten,  bei  jedem 
Wechsel  der ,  Tonart  umgestimmt  werden  mussten.  Ueberdies 
stand  die  Kleinheit  und  Schwäche  des  ganzen  Instrumentes  nicht 
im  richtigen  Verhältniss  zm-  Menge  der  Saiten,  namentlich  als 
sich  ihre  Zahl  im  Laufe  der  Zeit  bis  zu  vierundzwanzig,  vierzehn 
über  und  zehn  neben  dem  Griffbrett  vermehrt  hatte. 

Die  Gattungen  der  Streich-  und  Blasinstrumente  waren 
in  früheren  Jahrhunderten  weit  zahh'eicher  als  heute.  Die 
ersteren  sind  ihrem  Ursprung  nach  entweder  auf  die  keltische 
Crotta,    von    den    Schriftstellern    des    Mittelalters    Rota    oder 


X.    IDie  Instrvtnaentalmusilz.  151 


Rotte  genannt,  oder  auf  das  arabische  Rebec,  später  Lieblings- 
instrument  der  Troubadours,  zurückzufühi-en.  Im  mittelalterliclieu 
Latein  Avurden  diese  Instrumente  nach  dem  "Worte  lides  (Saite) 
fidula  oder  vidula  genannt,  welcher  Ausdruck,  mehrfach  corrimi- 
pirt,  durch  die  Zwischenformen  Figella,  Yielle  und  Vioel  zu  dem 
deutschen  „Fidel"  und  dem  italienischen  „Viola"  führte.*)  Am 
Ausgange  des  Mittelalters  begegnen  wir  der  Viola  in  zwei  Haupt- 
gattungen: die  Viola  da  gamba  (Kniegeige)  und  die  Viola  da 
braccio  (Ai-mgeige),  die  wiederum  in  dreizehn  Unterarten  zer- 
fallen, entsprechend  den  verschiedenen  Registern  der  mensch- 
lichen Stimme;  dies  erklärt  sich  dadurch,  dass  es  bis  weit  über 
das  Mittelalter  hinaus  keine  selbständige  Instrumentalmusik  gab, 
und  sich  die  Instrumente  begnügen  mussten,  sofern  sie  an  der 
Kunstmusik  überhaupt  theilnehmen  wollten,  die  Stimmen  der 
mehrstimmigen  Vocalcompositionen  einfach  zu  verdoppeln.  Wie 
sich  demgemäss  die  Streichinstrimiente  in  Bass-,  Tenor-,  Alt-  und 
Discant- Violen  gruppirten,  so  bildeten  auch  die  Blasinstrumente 
jedes  föi-  sich  eine  derartige  Familie  in  verschiedenen  Abstufungen ; 
besonders  waren  die  älteren  Holzblasinstrumente,  die  Pommern 
und  die  Schalmeien  reich  an  Unterarten  und  umfassten  jedes  in 
ihrem  vollständigen  Stimm  werk,  wie  man  einen,  den  Haupt- 
vocalstimmen  Bass,  Tenor,  Alt  und  Sopran  entsprechenden  Chor 
von  Instrumenten  derselben  Gattung  nannte,  fünf  und  eine  halbe 
Octave. 

Diese  Manuichfaltigkeit,  von  welcher  schon  der  Baseler 
Priester  Sebastian  Vir  düng,  der  älteste  deutsche  Schriftsteller 
über  Instrumentalmusik,  in  seiner  1511  erschienenen  Schrift 
„Musica  getutscht"  (verdeutscht)  mit  Bewunderung  redet,  bestand 
noch  im  17.  Jahrhundert  zur  Zeit  des  Praetorius.  Inzwischen 
aber   war   für   die  Instrumentalnnisik   ein    ganz    neues  Feld    der 


*)  Vgl.  Ambros,  Geschichte  der  Musik,  II.  S.  2i).  Die  älteste  Ab- 
bildung eines  (reigeninstrumentes  hat  sich  in  einem,  dem  8.  Jahrhundert 
entstammenden  Manuscripte  des  Klosters  St.  Blasien  im  Schwarzwalde  ge- 
funden und  ist  vom  dortigen  Fürstabt  Gerbert  in  seinem. 1774  erschiene- 
nen Werke  „De  cantu  et  musica  sacra"  (Band  II.  Tafel  XXXII)  veröffent- 
licht worden,  welches  nebst  dessen  1784  erschienenen  Sammelwerke  „Scrip- 
tores  ecclesiastici  de  musica  sacra  potissimum"  die  wichtigste  Quelle  zum 
Studium  der  Musik  des  Mittelalters  bildet.  Das  Corpus  dieses  Instrumentes, 
welches  dort  mit  dem  Namen  Lyra  bezeichnet  wird,  ist  schalenförmig,  der 
Hals  hat  keine  Bünde;  die  einzige  Saite  ist  an  einem  Saitenhalter  befestigt 
und  läuft  über  einen  sattelfönnigen  Steg;  daneben  ist  ein  zierlicher,  dem 
modernen  nicht  unähnlicher  Geigenbogen  abgebildet. 


152  X.    Die  Instriixneiitaliiiu.sil£. 

Wirksamkeit  erschlossen;  nachdem  Monte  verde  die  Individuali- 
tät der  einzelnen  Instrumente  erkannt  und  berücksichtigen  ge- 
lehrt hatte,  trat  jetzt  der  vorhin  angedeutete  Zeitpunkt  ein,  wo 
ein  Rückgang  von  der  Vielheit  zur  Einfachheit  nothwendig 
wurde  und  die  Mehrzahl  der  bis  dahin  gebräuchlich  gewesenen 
Instrumente  zu  Gunsten  einiger  wenigen,  füi*  die  Lösung  der  nun- 
mehr gestellten  höheren  Kuustaufgaben  am  meisten  geeigneten, 
verschwinden  musste.  Von  den  Streichinstrumenten  siegten  nur 
vier  Ai'ten  im  Kampfe  um  das  Dasein:  die  Bass- Viola  und  die 
Tenor- Viola  da  gamba  gingen  als  Contrabass  und  Violoncell 
in  das  moderne  Orchester  über;  ebenso  die  Tenor-Viola  da 
braccio,  an  ihre  Abstammung  durch  ihren  heutigen  Namen 
„Bratsche"  erinnernd,  und  die  Discant- Viola,  die  mit  der 
italienischen  Diminutiv-Endung*)  ,,ino"  zur  Violine  wurde.  In 
demselben  Verhältniss  verminderte  sich  die  Zahl  der  Blas- 
instrumente; von  den  vielen  Arten  der  Querflöte  und  der  Block- 
flöte, welche  letztere  nicht  quer  an  die  Lippen,  sondern  gerade- 
aus gehalten  und  mittelst  eines  Schnabels  geblasen  wurde,  blieben 
nur  die  heutige  Flöte  und  Clarinette  übrig.  Aus  der  Schal- 
mei bildete  sich  die  Oboe  heraus,  welche  anfangs  (um  1700) 
ebenfalls  noch  in  verschiedenen  Grössen  erscheint,  zur  Glanzzeit 
der  Instrumentalmusik  aber  nur  in  einer  Art  vorhanden  ist.  Vom 
Pommer  endhch  erhielt  sich  nur  der  Basspommer,  welcher,  nach- 
dem man  sein  langes,  unhandliches  Bohr  zu  einem  Doppelrohr 
(Bündel,  italienisch  Fagotto)  zusammengelegt,  Fagott  genannt 
wurde.  Von  den  Instrumenten,  welche  mit  der  Zeit  ganz  ver- 
schwunden sind,  sei  hier  nur  der  Zink  erwähnt,  ein  hölzernes, 
mit  schwarzem  Leder  bezogenes,  bei  einigen  Arten  gerades,  bei 
andern  krummes  Blasinstrument,  wegen  seines  hellen,  durch- 
dringenden Tones  bei  Kirchenmusiken,  sowie  auch  von  den  Stadt- 
pfeifern und  Thürmern  noch  bis  ins  18.  Jahrhundert  vielfach 
angewendet. 

Je  kleiner  die  Zahl  der  lustrumeuten-Gattungen  Avurde,  desto 
grössere  Sorgfalt  konnte  man  begreiflicherweise  auf  ihren  Bau 
verwenden.  Die  Geigenbaukunst  beginnt  schon  vom  Jahre 
1600  an  in  Italien  zu  blühen,  wo  sich  unter  allen  Städten  Cre- 
mona  durch  ihre  Pflege  ausgezeichnet  hat.      Hier  wirkte  anfangs 


*)  Auch  die  vergrössernde  Endung  ,,one"  erscheint  in  solcher  Weise 
z.  B.  in  der  Partitur  der  Keiser'schen  Oper  „Jodelet",  wo  das  grösste  (und 
tiefste)  "Streichinstrument  „Violone"  genannt  ist. 


X.    Die  Xiistrumeiitalixivisilz.  10i5 


-die  Familie  Aniati,  deren  Stammvater  Antonio  (1592 — 1619) 
den  Streicliinstrumeuten  diejenige  Fonn  gab,  welche  sie,  allen 
Verbesserungs-Yersuclien  zum  Trotz,  bis  heute  bewahrt  haben. 
Wenn  der  Cremoneser  Geigenbau  im  letzten  Viertel  des  17.  Jahr- 
hunderts mit  Andreas,  Joseph  und  Peter  Guarueri  sowie  mit 
Anton  Stradivari  gleichwohl  fortschreiten  konnte,  so  wurde 
doch  die  Construction  des  Instrumentes  durch  diese  Meister  im 
Wesenthchen  nicht  verändert.  Anders  die  Blasinstrumente,  welche 
noch  bis  in  die  neueste  Zeit  (durch  Adolph  Sax  in  Paris)  umge- 
staltende Verbesserungen  erfahren  haben;  aber  auch  für  ihre  Ent- 
wickelung  war  jene  Epoche  eine  besonders  wichtige,  u.  a.  dankt  die 
Flöte  dem  Hofcomponisten  und  Lehrer  Friedrich's  d.  Gr.  Johann 
Joachim  Quanz  (1697 — 1773)  mancherlei  Vervollkommnung, 
indem  derselbe  vor  seiner  Berufung  nach  Berhu  sich  selbst  an- 
gelegentlich mit  der  Verbesserung  ihres  Mechanismus  beschäftigte, 
und  später  (1752)  in  einer  werthvollen  Schrift  „Versuch  einer 
Anweisung,  die  Flöte  traversiere  zu  spielen"  seine  Erfahrungen 
veröffentlichte. 

Die  nothwendige  Folge  der  zunehmenden  Selbständigkeit 
der  Instrumente  war  ihre  Emancipiruug  von  der  Vocalmusik  und 
die  Ausbildung  eines,  ihrer  Leistungsfähigkeit  entsprechenden 
Stils  sowie  der  daraus  sich  ergebenden  Musikformen.  Der  In- 
strumentalstil unterscheidet  sich  vom  Vocalstil  der  Hauptsache 
nach  durch  grössere  rhythmische  Bestimmtheit  soAvie  dm-ch  grössere 
Beweglichkeit.  Die  erstere  Eigenschaft  dankt  er  dem  Tanze,  zu 
dessen  Begleitung  die  Instrumente  sich  ihrer  Natur  nach  geeig- 
neter ei-wiesen  als  die  menschhche  Stimme;  denn  diese  war  aus 
naheliegenden  Ursachen,  der  Nothwendigkeit  des  Athemholens, 
einer  deuthchen  Aussprache  des  Textes  etc.  gehindert,  sich  den 
Bewegungen  der  Tänzer  mit  voller  Leichtigkeit  anzuschmiegen,  was 
sie  gleichwohl  nicht  abgehalten  hat,  sich  im  Alterthum  und  noch 
weit  in  das  IVIittelalter  hinein  mit  dem  Tanz  zu  verbinden,  bis 
endlich  die  Instrumente  in  ihrer  Entwickeluug  genugsam  vor- 
geschritten waren,  um  sich  der  Tanzmusik  allein  zu  bemächtigen 
und  jenes  Tanzlied,  im  Alterthum  Hyporchema  genannt,  mit  Bei- 
behaltung der  Liedform  selbständig  weiter  zu  bilden.  —  Die 
grössere  Beweglichkeit  lag  ebenfalls  in  der  Natur  der  Instrumente 
und  zeigte  sich  schon  früh  in  dem  Bedürfniss  derselben,  die  lang- 
gehaltenen Töne  des  Gesanges  in  kleinere  Werth-Theile  zu  zer- 
legen, was  man  Dmiinuiren,  Coloriren  oder  Variiren  nannte.  Auch 
diese   Richtung   hatte    die   Instrumentalmusik   mit  dem    Gesänge 


Iö4  X.    Die  IiistrT,T.meiitEilmusik. 

zeitweilig  gemeinsam  verfolgt,  so  lange  nämlich  die  „Kunst  des 
Organisirens"  von  den  Sängern  mit  der  auf  S.  46  geschilderten 
Ungezwungenheit  ausgeübt  wurde;  wenn  aber  die  Sänger,  wie  wir 
ebenda  gesehen  haben,  mit  Ausbildung  der  mehrstimmigen  Musik 
wieder  zum  getragenen  Tonsatz  zurückkehrten,  so  begannen  die 
Instrumente  das  ihnen  nunmehr  allein  überlassene  „Diminuiren"  etc. 
um  so  eifriger  zu  pflegen,  und  die  unmittelbare  Folge  ihrer  da- 
hin zielenden  Bestrebungen  war  die  Entstehung  eigener  Instru- 
mental-Musikformen, als  deren  älteste  die  Toccata  erscheint.  In 
dieser  Compositionsgattung  kommt  die  letzterwähnte  Stileigen- 
thümlichkeit  in  vollem  Maasse  zur  Geltung,  da  hier,  anstatt  der 
Melodie,  laufende  und  gebrochene  Figuren  herrschen,  in  welche 
die  Harmonie  auseinandergelegt  ist.  Ihre  künstlerische  Gestalt 
verdankt  sie  dem  S.  71  genannten  venetianer  Organisten  Claudio 
Merulo,  der  1598  seine  ersten  Toccaten  veröffentlichte;  die  volle 
Ausbildung  aber  wurde  ihr  durch  Frescobaldi  zu  Theil,  dessen 
Toccaten  alle  musikalischen  Errungenschaften  seiner  Zeit  in  sich 
schhessen:  die  Fuge,  die  freiere  Imitation,  glanzvolles  Passagen- 
werk und  mächtig  strömende  Accordfolgen. 

Das  gesangreiche  Spiel,  gegenüber  dem  figurirten  der  Toc- 
cata, kam  in  einer  zweiten  Kunstform  zur  Geltung,  der  Can- 
zone,  dem  Namen  wie  dem  Wesen  nach  eine  Umbildung  des  fran- 
zösischen Liedes  (chanson).  Auch  ihre  Heimath  ist  Venedig,  wo 
Johannes  Gabrieli,  ebenfalls  vom  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
an,  eine  grosse  Zahl  solcher  Tonwerke  veröffentlichte.  Noch 
grössere  Anerkennung  gebührt  diesem  Künstler  dafür,  dass  er 
auch  die  Streich-  und  Blasinstrumente  an  den  gemachten  Fort- 
schritten theilnehmen  Hess,  nachdem  bis  dahin  die  Bemühungen 
der  Componisten  den  Tasteninstrumenten  allein  gegolten  hatten. 
Die  von  J.  Gabrieli  componirten  selbständigen  Orchestersätze 
sind  allerdings  nur  von  bescheidenster  Ausdehnung;  ihre  ganze 
Länge  beträgt  zwölf  bis  zwanzig  Tacte  und  sie  hatten  nur  den 
Zweck,  entweder  als  „Symphonie"  einen  Vocalsatz  einzuleiten 
oder  als  „Bitornell"  die  für  die  Singstimmen  nothwendigen  Er- 
holungspausen auszufüllen.  Aehnlich  verhielt  es  sich  mit  der 
Sonate,  die  gleichfalls  um  diese  Zeit  erscheint;  ihr  Name  be- 
deutet ursprünglich  nichts  weiter  als  ein  Instrumentalstück,  wie 
schon  der  Titel  des  1586  erschienenen  Gabrieli'schen  Werkes 
beweist:  „Sonate  a  cinque  per  istromenti" *)  ebenso  die  Erklärung 

*)  Dieser  Titel  ist  nebenbei  bezeichnend  für  den  primitiven  Zustand  der 
damaligen  Instrumentalmusik:    anstatt  jedem    Insti'umente    eine    besondere, 


X.    Die  Iiistrumeritalmu.sik.  155 

des  Praetorius  ,,Sonata  a  sonando  wird  also  genennet,  dass  es 
nicht  mit  Menschenstimnien ,  sondern  allein  mit  Instrumenten 
musicirt  wird."  Lesen  wir  weiter  bei  demselben  Autor  „dass  mit 
dem  Worte  Sonata  oder  Sonada  der  Trommeter  zu  Tisch-  und 
Tanzblasen  benannt  werde"',  so  können  wir  den  gewaltigen  Ab- 
stand ermessen,  welcher  jene  Musikform  von  der  modernen  mehi*- 
sätzigen  Sonate  trennt. 

Die  mehrsätzigen  oder  cyklischen  Instrumental-Musikfonnen 
sind  übrigens  keineswegs  neueren  Datums;  schon  in  deü  frühesten 
Zeiten  des  Stadtpfeifer-  und  zünftigen  Musikantenthums  bestand 
die  Gewohnheit,  eine  Anzahl  von  Tanzweisen,  zu  einem  Cyklus 
vereint,  auch  ohne  den  dazu  gehörigen  Tanz  vorzutragen;  die  so 
an  einander  gereihten,  im  übrigen  nur  durch  Gemeinsamkeit  der 
Tonart  zusammengehörigen  Tanzstücke,  anfangs  Parthie  (ital. 
Partita)  genannt,  erregten  bald  die  Aufmerksamkeit  der  Ciavier- 
künstler, insbesondere  der  fi'anzösischen,  imter  deren  Händen  die 
Parthie  sich  zur  Suite  veredelte.  Als  solche  kehrte  sie  nach 
Deutschland  zurück,  und  wurde  hier  bekanntlich  diu'ch  Bach  zur 
höchstmöglichen  Vollkommenheit  ausgebildet,  ohne  sich  jedoch 
der  modernen  Sonate  zu  nähern,  die  sich  im  Wesentlichen  da- 
durch von  der  Suite  unterscheidet,  dass  ihre  Sätze  untereinander 
in  organischem  Zusammenhange  stehen.  Den  Anstoss  zur  Aus- 
bildung dieser,  künstlerisch  ungleich  höher  stehenden  cyklischen 
Form  gab  die  dreitheilige  Opern-Ouvertüi-e  in  der  Gestalt,  welche 
sie  in  Italien  durch  A.  Scarlatti,  in  Frankreich  durch  Lulli 
erhalten  hatte.  Schon  bei  Besprechung  des  ersteren  Künstlers 
wui'de  bemerkt,  dass  diese  Ouvertüre,  nachdem  man  zum  Zweck 
des  Concertvortrages  ihre  Sätze  getrennt  und  erweitert,  so  wie 
innerlich  durchgebildet  hatte,  in  die  moderne  Orchester-S}Tnphonie 
hinüberleitete ;  als  ein  Zwischenstadium  in  dieser  Entwickelung  ist 
die  in  Italien,  namenthch  durch  Corelli  (gest.  1713)  ausgebildete 
mehrsätzige  Solosonate  für  Violine  zu  betrachten;  ebenso  das 
durch  den  venetianischen  Violinisten  Vivaldi  (gest.  1743)  ein- 
geführte dreisätzige  Concert.  Schon  hier  erscheint  die  cyklische 
Form  völlig  entwickelt,  wie  dies  Seb.  Bach's,  dem  Vivaldi'schen 
nachgebildetes  „Italienisches  Concert"  für  Ciavier  beweist,  welches 


seinem  Charakter  entsprechende  Aufgabe  zuzuweisen,  begnügten  sich  die 
Componisten  bis  zu  Monteverde's  Zeit  damit,  für  einen  Orchestersatz  nur 
die  Stimmen  aufzuschreiben  und  überliessen  es  dem  Dirigenten,  dieselben 
je  nach  ihrer  Lage  mit  den  ihm  zufällig  zur  Verfügung  stehenden  Instru- 
menten zu  besetzen. 


lÖÖ  ^>    X)ie  Xnstru.inentalxni\sil£. 

als  Muster  für  die  moderne  Sonatenform  gelten  kann;  dass  der 
auf  so  verschiedenen  Gebieten  seiner  Kunst  schöpferisclie  Meister 
sich  nicht  veranlasst  gesehen  hat,  diese  Form  auf  das  Cla-sder  zu 
übertragen,  sondern  es  bei  diesem  vereinzelten  Versuche  hat  be- 
wenden lassen,  ist  um  so  schwerer  zu  begreifen,  als  das  Bedüi'f- 
niss  einer  solchen  Uebertragung  schon  vor  seiner  Zeit  mehrfach 
hervorgetreten  war. 

Johann  Kuhnau,  der  Vorgänger  Bach's  als  Cantor  an  der 
Thomaskirche  zu  Leij^zig,  hatte  zuerst  den  Versuch  gewagt,  ohne 
jedoch  ein  klares  Bewusstsein  von  der  Bedeutsamkeit  dieses 
Schrittes  zu  haben.  Im  Vorwort  zu  seinem  1695  erschienenen 
Werk  „der  Ciavierübungen  anderer  Theil,  beuebenst  einer  Sonate 
aus  dem  B,  den  Liebhabern  dieses  Instrumentes  zu  gar  beson- 
derem Vergnügen  aufgesetzet"  entschuldigt  er  sein  Wagniss  mit 
den  Worten  „Warumb  soll  man  auf  dem  Ciavier  nicht  eben  wie 
auf  den  andern  Instrmnenten  dergleichen  Sachen  tractiren  können, 
da  doch  kein  einziges  Instrument  dem  Ciavier  die  Praecedenz  an 
Vollkommenheit  jemals  disputirHch  gemacht  hat?"  Doch  scheint 
die  neue  Kunstgattung  seitens  der  Ciavierspieler  beifällig  auf- 
genommen zu  sein,  denn  bald  danach  erschienen  „Joh.  Kuhnauens 
frische  Ciavierfrüchte  oder  7  Suonaten  von  guter  Invention  und 
Manier  auf  dem  Claner  zu  spielen."  Mit  kaum  geringerem  Rechte 
als  Kuhnau  darf  Domenico  Scarlatti  (1683 — 1757)  die  Vater- 
schaft der  Ciaviersonate  in  Anspruch  nehmen,  denn  wenn  er  auch 
zur  einsätzigen  Form  zurückkehrte,  so  ist  dafür  in  diesem  Satze 
die  Form  des  ersten  Satzes  unserer  gegenwärtigen  Sonate  schon 
völlig  ausgeprägt;  Scarlatti's  besonderes  Verdienst  aber  liegt  darin, 
dass  er  eine  neue,  claviermässige  Schreibweise  in  Aufnahme  brachte, 
indem  er  an  Stelle  des  polyphonen,  die  Gleichberechtigung 
aller  Stimmen  bedingenden  Stils,  von  dem  sich  weder  Kuhnau 
noch  Bach  lossagen  mochten,  den  homophonen  Stil  einführte, 
d.  h.  diejenige  Setzart,  in  welcher  wesentlich  eine  melodieführende 
Hauptstimme  herrscht,  während  die  andern  nur  begleitende  Neben- 
stimmen sind.  Dieser  Fortschritt  bezeichnet  zugleich  die  Tren- 
nung des  Clavierspiels  vom  Orgelspiel,  welche  beide  bis  dahin 
kaum  unterschieden  waren.  Zwar  hatte  schon  der  Verfasser  der 
ersten  1593  in  Venedig  erschienenen  Orgel-  und  Cla\äerschule, 
Pater  Girolamo  Diruta,  ein  Schüler  Merulo's,  auf  die  Ver- 
schiedenheit in  der  technischen  Behandlung  dieser  beiden  In- 
strumente aufmerksam  gemacht,  doch  hatten  die  späteren  Com- 
ponisten    seine    Weisungen   unberücksichtigt   gelassen    und   nach 


X.    Die  InstruinentaJm'usik.  157 

wie  vor  nur  für  die  Tasteninstrumente  im  Allgemeinen  ge- 
schrieben. 

Auch  Domenico  Scarlatti  erkannte  noch  nicht  die  eigent- 
liche Bedeutung  der  Ciaviersonate  und  empfiehlt  seine  Sonaten 
der  Nachsicht  des  Puhlicums  mit  der  Bemerkung  ..dass  man 
nicht  tiefe  Intentionen,  wohl  aber  den  sinnreichen  Scherz  der 
Kunst  in  ihnen  finden  werde."*)  In  der  That  überwiegt  bei  ihm 
die  Technik  den  geistigen  Gehalt;  dm'ch  seine  Anwendung  des 
für  den  modernen  Sonatensatz  maassgebenden  Principes  der  Drei- 
theiligkeit  jedoch,  ebenso  w^ie  durch  eine  Menge  wirkungsvoller 
Neuerungen  technischer  Art,  wie  fortlaufende  Terzen-  und  Sexten- 
Passagen,  das  schnelle  Anschlagen  einer  und  derselben  Taste  mit 
verschiedenen  Fingern.  Gegenbewegung  gebrochener  Accorde  für 
beide  Hände  etc.,  führt  er  uns  unmittelbar  in  die  neue  Zeit 
ein.  Völlig  ausgebildet  erscheint  dann  die  Ciaviersonate  bei 
Emanuel  Bach,  aus  dessen  Händen  sie  unsere  grossen  Meister 
der  Instrumentalmusik,  zunächst  Haydn  (1732  — 1809),  dann 
Mozart  (1756 — 1791)  empfingen;  bei  beiden  sehen  wir  die  von 
jenem  festgestellten  Formen  gewahrt;  erst  Beethoven  (1770 — 
1827)  war  es  vorbehalten,  diese  Formen  bis  zu  den  äussersten 
Grenzen  ihrer  Erweiterungsfähigkeit  zu  führen,  und  sie  dergestalt 
zur  Aufnahme  des  durch  ihn  erweckten  neuen  Geistes  in  der 
Musik  geeignet  zu  machen.  Durch  ihn  gelangte  auch  die 
Orchester  Symphonie  zur  vollen  Reife;  eine  Darstellung  ihres 
Entwickelungsganges  ist  deshalb  übei"flüssig,  weil  derselbe  im 
AVesentlichen  mit  dem  der  Sonate  zusannnenfällt ;  als  Haupt- 
punkte bemerken  wir  nur  ihre  Umbildung  aus  der  dreisätzigen 
Form  der  itahenischen  Ouvertüre  zur  viersätzigen.  durch  Hinzu- 
nahme des  Menuetts  aus  der  Suite,  sowie  die  Umwandlung 
dieses  Tanzstückes  zu  dem  bald  leidenschaftlichen,  bald  humo- 
ristischen Scherzo  seit  Beethoven. 

Die  mit  diesen  letztgenannten  Meistern  beginnende  Glanz- 
und  HeiTschaftsepoche  der  Instrumentalmusik  ist  in  demselben 
Maasse  wie  die,  von  der  früheren  Componisten- Generation  her- 
vorgerufenen Blüthe  der  Passion  und  des  Oratoriums,  durch  die 
idealistische  Weltanschauung  bedingt,  welche  in  Deutsch- 


*)  Lettore:  Non  aspettarti,  o  Dilettante  o  Professor  che  tu  sia,  in  questi 
Componimenti  il  profonclo  Intendimento ,  ma  bensi  lo  scherze  ingegnoso 
deir  Arte ,  per  addestrarti  alla  Franchezza  sul  Clavicembalo ....  Mostrati 
dunque  piii  umano  che  critico;  e  sl  accrescerai  le  proprie  Dilettazioni.  (D. 
Scarlatti.  XXX  Sonate  per  il  Clavicembalo.     Opera  prima.     Amsterdam). 


J.58  ■^*    Die  Iiistrumeiitalixitisik. 

land  von  jeher,  hauptsächlich  aber  seit  dem  Wiedererwachen  des 
Yolkshewiisstseins    nach    dem    dreissigj ährigen    Kriege,    das    cha- 
rakteristische Merkmal  des  geistigen  Lehens   gewesen   ist;    denn 
die  Instrumental -Composition  gewährt  dem   schaffenden  Musiker 
eine  weit  grössere  Freiheit  sich  zum  Uebersinnlichen  zu  erheben, 
als    die  Vocal- Composition,   welche  mit   ilii'er  Gebundenheit  an 
äusserliche  Bedingungen  dem  Fluge  seiner  Phantasie  unter  allen 
Umständen  gewisse  Grenzen  zieht.     Wie  sich  nun   die,  während 
des   vorigen   Jahrhunderts   in  Deutschland  zum  Durchbruch  ge- 
kommene Auffassung   der  Musik  zu  der   der  Nachbarvölker,  na- 
menthch  der  Franzosen  gegensätzHch  verhält,  so  auch  die  deutsche 
Philosophie,  nachdem   sie  gleichzeitig  mit  der  Musik  und  von 
derselben  Neigung  zum  IdeaHsmus  geleitet,  in  eine  neue  Epoche 
getreten  war.     Hatten  Engländer  und  Franzosen  die    Sinnesein- 
drücke als  alleinige  Quelle  der  menschlichen  Erkenntniss  bezeich- 
net und  folgegemäss  die  Einen  den  Sensualismus,   die  Andern 
den    Materialismus    herausgebildet,     so    findet    der    deutsche 
Idealismus  die  wesentlichen  Bedingungen  aller  Erkenntniss  im 
Menschengeiste    selbst;   und   wenn  jene    darauf   ausgingen,    alles 
Geistige   zu   materiahsiren ,    so    strebt    die    deutsche   Philosophie 
durchweg  nach  einer  Vergeistigung  der  Materie.     Dies  zeigt  sich 
schon   bei  Leibniz,    dem  Vater    der   neueren    deutschen   Philo- 
sophie, speciell  verdient  um   die  Hebung    der  Geistesbildung  in 
unserem  Vaterlande  als  Stifter  der  Akademie  der  Wissenschaften 
zu  BerUn  (1700),  welcher  z.  B.  die  Substanz  nicht  wie  seine  Vor- 
gänger als  ein  Aggregat  lebloser  Atome  auffasst,  sondern  geistig 
beseelter  Einzelwesen,  von  ihm  Monaden  genannt.     Den  Giptel- 
punkt    dieser   Philosophie   bildet  Immanuel   Kant,    der    dui-ch 
seine  1781  erschienene  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  zu  dem  Er- 
gebniss  gelangt,  dass  neben  den  sinnlichen  Eindrücken  gewisse 
im    menschlichen    Geiste    schon    vorhandene    (a   priori)    Begriffe, 
z.  B.  Raum  und  Zeit,  zur  Erkenntniss  nöthig  sind.     Vermögen 
wir  uns  mittelst   der  reinen  Vernunft  nicht  zum  Uebersinnhchen 
zu  erheben,  so  zeigt  Kant's  „Kritik   der  praktischen  Vernunft" 
(1788)    den  Weg,    auf  welchem    auch    diese   Forderung   unseres 
geistigen  Menschen  Befriedigung  findet.     Die  praktische  Vernunft 
verlangt  die  Unterdrückung  des   sinnhchen  Menschen  dm-ch  den 
Vernunftmenschen,  welcher  letztere  dem  ersteren  ein  Gesetz  giebt; 
dies  Gesetz  ist  aber  nicht,  wie  die  Maximen  der  Klugheit, ,  durch 
die  Aussicht  auf  gewisse  Erfolge  bedingt,  sondern  es  ist  ein  un- 
bedingtes,   das    einzige    unbedingte    Gebot:    Kant   nennt    es    den 


1 


X.    Die  Iixstrumentalxnusilc.  159 

kategorischen  Imperativ.  Die  praktische  Vernunft  ist  es 
auch,  welche  zu  gewissen,  zwar  nicht  logisch  zu  beweisenden, 
gleichwohl  aber  unerlässlichen  Forderungen  führt,  von  Kant 
Postulate  genannt.  Als  solche  bezeichnet  er  die  Willens- 
freiheit, weil  der  Wille  von  der  Naturnothwendigkeit  unab- 
hängig sein  muss,  um  der  Stimme  des  kategorischen  Imperativs 
folgen  zu  können;  die  Unsterblichkeit,  weil  trotz  der  Unvoll- 
kommenheit  der  menschUchen  Natur  die  Möglichkeit  einer  fort- 
wähi'enden  Annäherung  an  den  Zustand  der  sittlichen  Voll- 
kommenheit angenommen  werden  muss;  endlich  das  Dasein 
Gottes,  weil  in  der  Natur  kein  nothw endiger  Zusammenhang 
zwschen  der  Sitthchkeit  und  einer  ihr  proportionirten  Glück- 
seligkeit besteht,  und  die  Verwirklichimg  dieser  Uebereinstimmung 
als  des  höchsten  Gutes,  durch  ein  Wesen  verbürgt  sein  muss, 
welches  einerseits  die  absolute  Macht  über  die  Natur  hat,  wäh- 
rend es  andererseits  durch  moralische  Antriebe  schlechthin  be- 
stimmt wird. 

Die  Kunstlehre  Kant's,  enthalten  in  seiner  1790  erschienenen 
„Kiitik  der  Urtheilskraft",  beschäftigt  sich  mit  dem  Schönen, 
welches  wir  vermittelst  des  Gefühls  der  Lust  dm-ch  Geschmack 
bem"theilen  (ästhetische  Urtheilskraft) ,  im  Gegensatz  zu  dem,  der 
organischen  Natm^  innewohnenden  Zweckmässigen,  welches  wir 
durch  Verstand  und  Vernunft  bem*theilen  (teleologische  Urtheils- 
ki-aft).     Die    ästhetische    Urtheilskraft*)    lässt   uns    das    Schöne 

*)  Die  Aesthetik,  wörtlich  die  Lehre  von  den  sinnlichen  Wahr- 
nehmungen und  Empfindimgen ,  im  engeren  Sinne  die  Lehre  von  dem 
Schönen  und  zwar  von  dem  Kunst-Schönen  im  Gegensatz  zu  dem  Natur- 
Schönen,  verdankt  ihre  Einführung  als  besondere  Wissenschaft  dem,  der 
Leibniz- Wolf 'sehen  Schule  angehörigen  Philosophen  Alex.  Baumgarten, 
dessen  1750  erschienene  Schrift  ,,Aesthetica"  ihr  auch  den  Namen  gegeben 
hat.  Unter  den  Aesthetikern  des  Alterthums  —  denn  selbstverständlich  ist 
das  Wesen  des  Schönen  und  der  Kunst  zu  allen  Zeiten  ein  Gegenstand  der 
Forschung  für  die  Philosophie  gewesen  —  nimmt  Aristoteles  die  Auf- 
merksamkeit namentUch  des  Musikers  in  Anspruch,  insofern  er  der  Musik 
eine  hervorragende  Stelle  unter  den  Künsten  einräumt.  Alle  Kunst  näm- 
lich erreicht  ihren  Zweck,  die  Veredlung  des  Geistes  und  Gemüthes,  durch 
Nachahmung»^  (Mimesis)  jedoch  nicht  durch  Nachahmung  der  sichtbaren 
Natur,  sondern  der  Bewegungen  des  menschlichen  Charakters  (Ethos)  und 
der  Seele  (Psyche),  welche  Bewegungen  die  Musik  (wie  Aristoteles  in  seiner 
„Politik"  Buch  VIII,  Cap.  5  auseinandersetzt)  unmittelbar  zur  Dar- 
•  Stellung  bringt,  während  die  bildenden  Künste  nur  durch  Formen  (Sche- 
mata) gewisse  Zeichen  (Seiheia)  für  die  ethischen  Vorgänge  angeben 
können.  (Vgl.  Ueberweg,  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie,  dritte 
Auflage  I.  178  sowie  über  Kant  III.  159). 


160  X.    Die  Instruraentalixiiasik, 

erkennen,  als  das,  was  dnrch  seine,  mit  dem  menschlichen  Er^ 
kenntnissvennögen  harmonirende  Form  ein  nninteressii'tes ,  all- 
gemeines und  nothwendiges  Wohlgefallen  erweckt;  das  Erhabene 
als  das  schlechthin  Grosse,  welches  die  Idee  des  UnendHchen  in 
ims  hervorruft  und  durch  seinen  Widerstreit  gegen  das  Interesse 
der  Sinne  unmittelbar  gefällt.  Diese  Bestimmungen,  so^vie  die 
des  Schönen  als  Symbol  des  sittlich  Guten  wiu'den  nament- 
lich durch  Schiller  in  seinen  ästhetischen  Abhandlungen  weiter 
ausgeführt,  wie  die  Sittenlehre  Kaut's  durch  Fichte.  In  der 
warmen,  begeistenmgsvollen  Darstellung  dieser  beiden  Männer 
wm'de  die  Kant'sche  Philosophie  bald  Gemeingut  des  deutschen 
Volkes,  und  brachte  auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Lebens 
einen  gewaltigen  Umsch-wamg  hervor;  und  wenn  die  von  Fichte 
im  Winter  1807 — 1808  an  der  eben  damals  begründeten  berliner 
Universität  gehaltenen  „Reden  an  die  deutsche  Nation"  den  un- 
mittelbaren Impids  zur  Erhebung  Preussens  gegen  die  Napoleo- 
nische Herrschaft  gaben,  so  ist  doch  die  im  .,kategorischen  Im- 
perativ" ausgesprochene  Mahnung  zu  uneigennütziger  Pflicht- 
erfüllung die  erste  Quelle  gewesen,  aus  welcher  unser  Vaterland 
den  Muth  zum  Beginn  des  ungleichen  Kampfes  schöpfte.  Der 
Geist  aber,  welcher  dieses  be^\Trkte,  verheh  auch  unsern  Meistern 
der  Tonkunst  die  Kraft,  um  mit  alleiniger  Hülfe  der  absoluten 
Musik  den  Sieg  über  die  damals  alhnächtige,  von  den  übrigen 
Künsten  als  Vasallen  umgebene  itahenische  Oper  zu  erringen. 
Die  Orchesterinstrumente,  die  sich  bis  dahin  im  harmlosen  Spiel 
der  Suiten,  Divertissements,  Serenaden  etc.  gefallen  hatten,  fingen 
nun  an,  ziu'  Symphonie  vereint,  eine  Sprache  von  tiefstem  Ernste 
zu  reden.  Haydn  war,  wie  R.  Wagner  in  seiner  Schrift  „Zu- 
kunftsmusik" sagt,*)  der  geniale  Meister,  der  diese  Form  zuerst 
zu  breiter  Ausdehnung  entwickelte  und  ihr  durch  unerschöpflichen 
Wechsel  der  Motive  sowie  ihrer  Verbindungen  und  Verarbeitun- 
gen eine  tief  ausdrucksvolle  Bedeutung  gab.  Mozart  hatte  den, 
den  deutschen  Meistern  bis  dahin  unbekannten  Zauber  der  ita- 
lienischen Gesangsmelodie  erkannt,  und,  indem  er  der  itaHenischen 
Oper  die  reichere  Entwickelung  der  deutschen  Instrumental- 
Compositionsweise  zufühiie,  den  vollen  Wohllaut  der  italienischen 
Gesangsweise  der  Orchestemielodie  wiederum  mitgetheilt.  Das 
reiche,  vielverheissende  Erbe  der  beiden  Meister  trat  Beethoven 
an;  er  bildete  das  symphonische  Kunstwerk  zu  einer  so  fesselnden 


*)  Richard  Wagner,  Gesammelte  Schriften,  Band  YII,  S.  148. 


X.    Die  lustrvLmeiitalmue^ilv.  161 

Breite  der  Form  aus  und  erfüllte  diese  Porm  mit  einem  so  un- 
erhört mannichfaltigen  und  hinreissenden  melodischen  Inhalt,  dass 
wii-  heute  vor  der  Beethoven'schen  Symphonie  wie  vor  dem  Mark- 
steine einer  ganz  neuen  Periode  der  Kunstgeschichte  überhaupt 
stehen;  denn  durch  sie  ist  eine  Erscheinung  in  die  Welt  ge- 
treten, von  welcher  die  Kunst  keiner  Zeit  und  keines  Volkes 
etwas  auch  nur  annähernd  Aehnliches  aufzuweisen  hat.  Indem 
hier  die  Musik  eine  Sprache  redet,  die  mit  ihrer  freien  und 
kühnen  Gresetzmässigkeit  uns  mächtiger  als  alle  Logik  dünken 
muss,  während  doch  das  vernunftgemässe ,  am  Leitfaden  von 
Grund  und  Folge  sich  bewegende  Denken  hier  gar  keinen  An- 
halt findet,  —  muss  uns  Beethoven's  Symphonie  geradeswegs  als 
eine  Offenbarung  aus  einer  anderen  Welt  erscheinen. 

Begreiflich  ist  es,  dass  sich  in  Folge  eines  so  ungeahnt  hohen 
Aufschwunges  der  Instrumentalmusik  die  musikalische  Welt  nach 
Beethoven  mit  bis  zur  Einseitigkeit  gesteigertem  Eifer  ihrer  Pflege 
zuwandte.  Doch  war  es  den  musikalischen  Romantikern  des 
19.  Jahrhunderts,  soweit  sie  sich  ihm  anschlössen,  nicht  vergönnt, 
ihr  grosses  Vorbild  zu  eiTcichen,  geschweige  denn  es  zu  über- 
treffen. Nur  diejenigen  Componisten,  welche  sich  der  von  Beet- 
hoven vernachlässigten  Oper  wieder  zuwendeten,  konnten  mit 
Hülfe  der  von  ihm  hinterlassenen  orchestralen  Mittel  dieser 
Kunstgattung  zu  einer  neuen  Blüthe  verhelfen,  und  damit  auch 
die  Musik  im  Allgemeinen  vor  der  unter  den  obwaltenden  Ver- 
hältnissen nahe  hegenden  Gefahr  des  Stillstandes  bewahren. 


Lanijhans,  Musikgeschichte.  2.  Aufi.  11 


XL 
Die  üoraantiker  des  19.  Jalirliiaiiderts. 


Dem  Begriffe  „classisch",  mit  welchem  wir  die  Vorstellung 
einer  heiteren,  naiven,  in  sich  harmonischen  Seelenstimmung  ver- 
binden, tritt  die  Romantik  gegenüber,  als  der  künstlerische  Aus- 
drack  einer  Zeit,  in  welcher  der  ernstere  Theil  der  Menschheit, 
von  den  herrschenden  Zuständen  unbefriedigt,  sich  aus  der 
realen  Welt  hinaussehnt  und  nach  entfernten,  unklar  erschauten 
Idealen  strebt;  nun  ist  zwar  diese  Neigung,  sich  über  die  nüch- 
te»ne  Wirklichkeit  zu  erheben,  von  jeher  und  überall  das  Merkmal 
geistig  begabter  und  poetischer  Naturen  gewesen,  und  demgemäss 
wäre  die  Romantik  mit  der  Poesie  im  Grunde  gleichbedeutend 
imd  so  alt  wie  die  Welt  selbst.  Zu  gewissen  Zeiten  jedoch  und 
bei  gewissen  Völkern  äussert  sich  der  romantische  Trieb  mit 
ungewöhnlicher  Stärke.  Die  alten  Griechen,  mehr  äusserlich  als 
innerlich  lebend,  kannten  ihn  kaum  und  nährten  ihn  jedenfalls- 
nicht;  der  Sohn  des  Nordens  dagegen  liel)te  es,  in  sein  Inneres 
hinabzusteigen,  wie  er  schon  durch  die  Sprödigkeit  und  Rauhheit 
seines  Klimas  darauf  hingewiesen  war,  sich  eine  eigene  Phantasie- 
welt an  Stelle  der  ihn  umgebenden  realen  aufzubauen.  Aber 
auch  hier  unterscheiden  wir  Epochen,  welche  der  Romantik  mehr 
oder  minder  günstig  waren:  ihre  Blüthe  fällt  mit  den  Zeiten  zu- 
sammen, in  welchen  die  Menschheit  nach  wichtigen  politischen 
und  socialen  Umwälzungen  die  damit  verbundenen  Enttäuschungen 
besonders  drückend  empfindet,  z.  B.  die  Jahrhunderte  nach  dem 
Zusammensturz  der  antiken  Welt  mit  ihrer  reichen  Geistescultur 
und  in  neuerer  Zeit  die  ersten  Jahrzehnte  unseres  Jahrhunderts. 
Die  Begeisterung,  welche  die  Aufklärungsepoche  Friedrich's  des 
Grossen,  dann  die  französische  Revolution,  endlich  die  Befreiung 
Europa's  vom  Napoleonischen  Joche  begleitet  hatte,  musste  einer 


XI.     Die  itomaiitjker  des  19.  Jalirliviuderts.  16o 

tiefen  Eutmiithiguug  und  Ernüchterung  weichen,  nachdem  man 
die  momentane  Erfolglosigkeit  aller  dieser  Anstrengungen  erkannt 
hatte,  und  so  kam  es.  dass  damals  selbst  die  begabtesten  Na- 
turen sich  hoffnungslos  A'on  der  ihnen  schaal  dünkenden  Wirk- 
lichkeit abwandten,  um  sich  in  eine  fern  liegende  Scheinexistenz 
zu  flüchten. 

Beim  Ueberhandnehmen  dieser  Geistesströmung  war  es  unver- 
meidlich, dass  die  Kunst  von  dem  im  verflossenen  Jahrhundert 
betretenen  Entwickelungsgange  abgedrängt,  und  der  reiche  künst- 
lerische Gewinn  jenes  Zeitraumes  -wiederum  in  Frage  gestellt 
wurde.  Xur  nach  gewissen  Seiten  hin  konnte  der  Zug  der  Zeit, 
die  dämmernde  Sehnsucht  nach  unerreichbaren  Idealen,  zu  posi- 
tiven Errungenschaften  führen:  zunächst  auf  dem  Gebiete  der 
lyrischen  Dichtung,  welche  eben  jetzt  unter  dem  Einfluss  der 
herrschenden  Stimmung  eine  bedeutungsvolle  Erweiterung  ihres 
Wirkungskreises  erfuhr.  An  Stelle  des  allgemeinen  Inhaltes,  mit 
welchem  sich  die  lyrische  Poesie  des  vorigen  Jahrhunderts  begnügt 
hatte,  traten  nun  die  subjectiven  Empfindungen  des  Dichters  in 
den  Vordergrund,  und  das  Wesen  der  Lyrik,  ein  schrankenloses 
Versenken  in  das  innerste  Seelenleben,  vermochte  unter  diesen 
Bedingungen  zu  volitr  Geltung  zu  gelangen.  Jene  Allgemeinheit 
des  Inhalts  war  es  geAvesen,  welche  bis  dahin  die  lyrische  Dicht- 
kunst gehindert  hatte,  ihre  wahre  Aufgabe  zu  erfüllen,  d.  h.,  wie 
schon  im  Alterthum.  mit  der  Musik  in  engster  Vereinigung  zu 
"wirken.  Nicht  ohne  Erfolg  hatten  Joh.  Friedr.  Keichardt 
(von  1775  an  Capellmeister  Friedriclrs  des  Grossen)  C.F.Zelter 
(von  1800  bis  zu  seinem  Tode  1832  Direktor  der  berliner  Sing- 
akademie) u,  a.  sich  bemüht,  das  deutsche  Lied  künstlerisch  aus- 
zubilden; ihre  Bestrebungen  konnten  jedoch  aus  dem  erwähnten 
Grunde  keinen  wesentlichen  Fortschritt  herbeiführen,  und  auch 
Meister  wie  Mozart  und  Beethoven  gewannen  bei  dem  Zustand 
der  lyrischen  Poesie  ihrer  Zeit  nicht  diejenige  Vertiefung  der 
Stimmung  durch  sie,  um  der  Liedcomposition  ihre  volle  Theil- 
nalime  zuzuwenden.  Unter  dem  Einfluss  der  Komantik  aber  ver- 
mochte die  subjective  Lp'ik  in  der  Dichtkiuist  neue  Formen  und 
reicheren  Inhalt  zu  finden;  sie  erzeugte  herrliche  Blüthen.  die 
trotz  ihrer  blendenden  Farbenfülle  und  ihres  manchmal  fremd- 
artigen Duftes  doch  ihre  Entstehung  aus  den  Tiefen  des  deutscheu 
Gemüthes  nie  verläugneten.  Und  damit  war  auch  der  Tonkunst 
die  Zunge  gehist.  so  dass  die  schon  längst  augestrebte  Umwand- 
lung des  Volkshedes  zum  Kuustliede  gelingen  konnte,  und  nunmehr 

11* 


\Q4:  ^I-     Die  Romantilier  des  19.  Jalirliviiiclerts. 

der  Sieg  des  deutschen  Liedes  über  die  italienische  Bravoiir-Arie 
gesichert  war. 

Der  Unterschied  zwischen  dem  Volksliede  nnd  dem  Kunst - 
liede  besteht  in  der  Hauptsache  darin,  dass  das  erstere  sich  mit 
einer  und  derselben  Melodie  für  jede  seiner  Strophen  begnügt, 
während  sich  im  Kunstliede  die  Musik  dem  Gedichte  in  seinem 
ganzen  Verlaufe,  unbekümmert  um  die  strophischen  x4.bschnitte, 
aufs  engste  anschliesst  und  seinen  Inhalt  bis  in  die  kleinsten  Züge 
zu  verdeuthchen  sucht.  Diese  Liedgattung,  das  sogenannte  durch- 
componirte  Lied,  unterscheidet  sich  ferner  auch  durch  seine  Be- 
gleitung vom  volksthümlichen  Strophenliede,  indem  dieselbe  eine 
ungleich  höhere  Selbständigkeit  behauptet,  derart,  dass  sie  nicht 
nur  neben  der  Singstimme  ihren  eigenen  Weg  geht,  sondern  auch, 
wenn  es  der  Inhalt  des  Gedichts  erfordert,  zeitweihg  an  ihre 
Stelle  tritt,  um  die  feineren,  dem  Worfausdruck  allein  nicht 
erreichbaren  Stimmungsnüancen  dem  Verständniss  des  Hörers  zu 
vermitteln.  Beim  Volkslied  hingegen  ergiebt  sich  die  Begleitung 
wie  von  selbst  aus  der  Melodie,  deren  harmonische  und  rhythmische 
Verhältnisse  für  sie  allein  maassgebend  sind,  höchstens  dass  sie 
durch  Brechung  (Ai'peggio)  der  Accorde  die  Bewegung  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  verstärkt.  Es  liegt*  auf  der  Hand,  dass 
die  deutsche  Liederdichtung  in  ihrer  nunmehrigen  neuen  Gestalt 
der  Phantasie  des  Tonkünstlers  ein  unermesshches  Gebiet  des 
Schaffens  eröffnete ;  von  ihm  Besitz  zu  nehmen  und  es  mit  genialer 
Freiheit  zu  beherrschen,  hat  aber  keiner  sich  würdiger  gezeigt  als 
Franz  Schubert,  den  wir  deshalb  mit  Recht  als  den  Schöpfer 
des  deutschen  Kunsthedes  verehren. 

Schwerhch  wäre  diese  künstlerische  That  Schubert's  so  voll- 
ständig gelungen,  wenn  nicht  seine  ausserordenthche  musikahsche 
Begabung  mit  einer  seltenen  natürlichen  Kraft  und  Unbefangen- 
heit gepaart  gewesen  wäre,  wenn  nicht  das  maassvolle,  harmonische 
seiner  Künstlernatur  ihn  vor  den  Ausschreitungen  der  roman- 
tischen Richtung  bewahrt  hätte,  von  denen  selbst  sein  grosser 
Vorgänger  Beethoven  nicht  freizusprechen  ist.  Dass  die  Gewalt- 
samkeiten, zu  denen  sich  der  letztere  nicht  selten  auf  Kosten  der 
Schönheit  hat  hinreissen  lassen,  wenig  nach  Schubert's  Geschmack 
waren .  dürfen  wir  aus  der  folgenden,  seine  Kunstauffassung 
charakterisirenden  SteUe  seines  Tagebuches  schliessen,  geschrieben 
am  Tage  der  Jubelfeier  Salieri's,  nachdem  dessen  Schüler  eine 
Aufführung  ihrer  Compositionen  veranstaltet  hatten:  ..Schön  und 
erquickend   muss    es    dem  Künstler   sein,   in    den    Compositionen 


XI.     Die  IrtomaiitiUer  des  19.  JaUrhujiderts.  X65 

seiner  Schüler  blosse  Natur  mit  ihrem  Ausdruck,  frei  von  aller 
Bizarrerie  zu  hören,  welche  bei  den  meisten  Tonsetzern  jetzt  zu 
herrschen  pflegt  und  einem  unserer  grössten  deutscheu  Künstler 
beinah  allein  zu  danken  ist;  von  dieser  Bizarrerie,  welche  das 
Tragische  mit  dem  Komischeu,  das  Angenehme  mit  dem  Widrigen, 
das  Heroische  mit  Heulerei,  das  Heiligste  mit  dem  Arlecjuino 
vereint,  verwechselt,  nicht  unterscheidet,  die  Menschen  in  Raserei 
versetzt  statt  in  Liebe  auflöst,  zum  Lachen  reizt  anstatt  zu  Gott 
zu  erheben".  Ungeachtet  dieser,  in  Betreff  des  Schönheitsideals 
abweichenden  Richtung  Schubert's  von  der  Beethoven's,  welcher 
hier  ohne  Frage  mit  dem  „grössten  deutschen  Künstler"  gemeint 
ist*),  war  er  doch  voller  Verehrung  für  den  älteren  Meister,  zu 
dessen  gewaltiger  Künstlerpersönlichkeit  er  schon  von  frühester 
Kindheit  an  —  Schubert  ist  1797,  mithin  fast  ein  Menscheualter 
nach  Beethoven  geboren  —  mit  einem  Gremisch  von  Liebe  und 
Bangigkeit  hinaufgeblickt  hatte.  Und  als  er  im  Alter  von  noch 
nicht  zweiunddreissig  Jahren  (1828)  am  Nervenfieber  starl),  waren 
seine  letzten  Worte:  „Beethoven  ist  nicht  hier"  was  die  Seiuigen 
veranlasste,  ihn  in  nächster  Nachbarschaft  seines  grossen  Vor- 
gängers zu  bestatten.  Mehr  als  alles  dieses  jedoch  bekunden 
Schubert's  Compositionen  für  Orchester-  und  Kammermusik  seine 
Geistesgemeinschaft  mit  Beethoven,  denn  ohne  seinen  Trieb  zui- 
Anmuth  und  reinen  Schönheit  zu  verläugnen,  hat  er  es  verstanden, 
dem  auf  diesen  Gebieten  unerreichbaren  Meister  näher  zu  konnnen, 
als  irgend  einer  seiner  Zeitgenossen  oder  Nachfolger. 

Und  doch  ist  es  Schubert  nicht  vergönnt  gewesen,  mit  Aus- 
nahme seines  Es-dur-Trio,  auch  nur  ein  einziges  seiner  grösseren 
Instrumentalwerke  l)ei  seinen  Lebzeiten  anerkannt  zu  sehen.  Die 
geringe  Dauer  seiner  Künstlerlaufbahn,  die  unmittelbare  und 
erdrückende  Nähe  Beethoven's,  dessen  Werke  eben  damals  die 
ganze  und  volle  Theilnahme  der  ernster  strebenden  Musikfreunde 
in  Anspruch  nahmen,  während  andererseits  die  Rossini'sche  Ojjcr 
das  grosse  Publicum  in  ihren  Banden  hielt,  dies  sind  die  Ursachen, 
weshalb  Schubert  erst  geraume  Zeit  nach  seinem  Tode  die  ver- 
diente allseitige  Würdigung  gefunden  hat.  Nur  als  Liedercom- 
ponist  wurde  er  schon  von  seinen  Zeitgenossen  gefeiert,  haupt- 


*)  Schubert  mag  dabei  an  die  A-dur-Symphonie  mit  ihrem  erhabenen 
Allegretto  und  ihrem  ausgelassen  tobenden  Finale  gedacht  haben ;  oder  auch 
an  jene  Stelle  im  Finale  der  F-dur-Symphonie  (Nr.  8,  S.  59  der  Breitkopf- 
schen  Ausgabe),  wo  das  liebenswürdige  Pianissimo-Getändel  in  C-dur  uner- 
warteter Weise  durch  ein  Fortissimo-Des  aller  Instrumente  unterbrochen  wird. 


^()6  X.I.     33ie  Roniaiitjlier  .cies  19.  Jalirlivuiderts. 


sächlich  nachdem  der  ihm  innig  befreundete  Sänger  J.  M.  Vogl 
(von  1794 — 1822  Mitglied  des  wiener  Hof- Operntheaters)  den 
„Erlkönig"  im  Jahre  1821  —  erst  volle  fünf  Jahre  nach  seiner 
Entstehung!  —  öffentlich  vorgetragen  hatte.  Dies  Lied  machte 
Schubei-t's  Namen  in  ganz  Deutschland  bekannt,  doch  stand  die 
Nachfrage  nach  seinen  weiteren  Liedcompositionen  auch  jetzt 
noch  nicht  annähernd  im  Verhältniss  zu  seiner  Productionskraft. 
Kaum  der  sechste  Theil  der  gegenwärtig  bekannten  Lieder 
Schubert's  ist  zu  seinen  Lebzeiten  veröffenthcht  worden,  obwohl 
er  nicht  eines  geschrieben  hat,  welches  nicht  den  Stempel  des 
Genius  trüge,  wenn  auch  der  Reichthum  seiner  Phantasie  ihn 
dann  und  wann  über  die  künstlerischen  Schranken  hinausgeführt 
hat,  und  auch  die  Wahl  seiner  Texte  nicht  immer  eine  glückliche 
gewesen  ist*).  Die  ihm  nachfolgenden  Liedercomponisten  Men- 
delssohn, Schumann  und  Robert  Franz  sind  in  mancher 
Hinsicht  kritischer  zu  Werke  gegangen ;  auch  gestattete  ihnen  die 
ungleich  reicher  entwickelte  lyrische  Dichtung  ihrer  Zeit,  die 
Gattung  nach  gewissen  Richtungen  hin  auszubilden;  aber  weder 
die  geglättete  Form  des  Mendelssohn'schen,  noch  die  Gedanken- 
tiefe des  Schumaun'schen  Liedes  vermögen  die  naive  Kraft  und 
den  unerschöpflichen  Melodienreichthum  des  Schubert'schen  auf- 
zuwiegen. Nur  Robert  Franz,  in  dessen  Liedern  eine  unge- 
meine künstlerische  Gestaltungskraft  mit  reinster  Natürlichkeit 
der  Empfindung  verbunden  ist,  scheint  berufen,  für  Schubert's 
Verlust  vollen  Ersatz  zu  liefern  und  darf  schon  jetzt,  obwohl 
noch  unter  den  Lebenden  weilend,  als  sein  legitimer  Erbe  be- 
zeichnet werden. 

Die  Eigenthümlichkeit  und  Bedeutung  des  Franz'schen  Liedes 
beruht  zunächst  auf  seiner  Verwandtschaft  mit  dem  älteren  deut- 
schen Volksliede  und  dem  aus  derselben  Quelle  geHossenen  pro- 
testantischen Choral.  Mit  dem  letzteren  namentlich  hat  sich  Franz 
von  Jugend  auf  vertraut  gemacht,  und  in  ununterbrochenem  eifrigen 
Umgang  mit  den  Werken  Häudel's  und  Bach's,  im  besondern  mit 


*)  Dies  namentlich  im  Anfang  seiner  Componistenlaufbalm;  später 
wandte  er  sich  mit  Vorliebe  der  Lyrik  Goethe's  zu,  ohne  dass  jedoch  diese 
Neigung  Erwiderung  von  Seiten  des  Dichters  gefunden  hätte.  Von  den 
etwa  sechzig  seiner  Gedichte,  die  Schubert  in  Musik  gesetzt  hat,  und  welche 
Goethe  vielfach  gut  vortragen  zu  hören  Gelegenheit  hatte,  scheint  nicht 
eines  die  ihm  vertrauteren  Compositionen  J.  F.  Reichardt's  und  Zelter's 
verdrängt  zu  haben,  denn  weder  in  seinen  Schriften  noch  Tagebüchern  ist 
Schubert's  Name  erwähnt. 


XI.     Die  Roman tiker  des  19.  JahrhLtuiderts.  167 

den  Chorälen  des  letzteren,  gewann  er  für  die  eigene  Tongestal- 
tung jene  ruhige  Kraft,  welche  ihn  vor  der,  in  den  Jahren  seiner 
Entwickelung  die  Welt  beheiTSchenden  romantischen  Unriüie 
bewahrte.  "Wie  der  protestantische  Choral  hei  dem,  durch  seine 
Melodie  bedingten  harmonischen  Reichthum  von  den  genannten 
Meistern  zu  den  gewaltigsten  contrapunktischen  Schöpfimgen  ver- 
wendet worden  war,  so  birgt  auch  Franz'  Melodie  Schritt  für 
Schritt  eine  latente  Harmonie  in  sich  imd  darf  deshalb  im  streng- 
sten Sinne  pol}'i)hon  genannt  werden.  Auf  den  Eiutluss  des  alt- 
deutschen Liedes  sowie  der  Compositionen  Bach's  und  Händel's 
ist  auch  Franz'  Behandlung  der  Harmonie  zurückzuführen;  hier 
zeigt  sich  nämlich,  wie  August  Sarau  in  seiner  lesenswerthen 
Schrift  über  den  Künstler  hervorhebt*),  die  merkwürdige  Er- 
scheinung, dass  Franz,  obschon  er  der  Hauptsache  nach  das 
moderne  Tonsystem  —  also  die  Dm--  und  MoUscalen  —  in  An- 
spi-uch  nimmt,  doch  auch  bei  zahkeichen  Nrnnmern,  und  nament- 
lich bei  volksmässigen  Texten,  auf  die  alten  Kii-chentonai-ten 
zurückgeht  und  deren  specitisches  Tonmaterial  verwendet;  so  hat 
er  der  modernen  Musik  diese  beinahe  vergessene  Tonwelt  gleich- 
sam wieder  entdeckt  und  ihi-  damit  ein  überaus  reichhaltiges  und 
bedeutsames  Ausdi'uckselement  zugeführt.  Die  Rhythmik  ist  bei 
Franz,  der  von  ihm  angestrebten  und  erreichten  engen  Verschmel- 
zung des  Tones  mit  dem  Worte  entsprechend,  von  ungewöhnUcher 
Mannichfaltigkeit  jedoch  durchaus  ungekünstelt;  auch  die  Ciavier- 
begleitung ist  bei  aller  ihrer  Bedeutsamkeit  dem  rh)i:hmischen 
Flusse  der  Singstimme  niemals  hinderhch;  sie  illustrirt  die  Can- 
tilene  nicht  blos  von  aussen  her,  sondern  spriesst  mit  innerer 
Nothwendigkeit  aus  ihr  hervor  mid  steht  zu  ihr  in  demselben 
organischen  Verhältniss,  durch  welches  sich  die  Begleitung  in 
Franz'  Bearbeitungen  Bach'scher  und  Händel'scher  Vocalwerke 
von"  der  rein  accordischen  Behandlung  der  Geueralbasstimmen 
auszeichnet.  Indem  Franz  seine  ganze  Kraft  auf  die  Lied- 
composition concentrü-te,  hat  er  sich  durch  eine  richtige  Erkennt- 
niss  seiner  entschieden  Ijaüschen  und  contemplativ  geai-teten  Natur 

*)  Robert  Franz  und  das  deutsche  Volks-  und  Kirchenlied  von  August 
Saran.  Mit  Notenbeilagen.  Leipzig.  Nicht  weniger  beachtenswerth  sind 
Franz  Liszt's  zuerst  in  der  „neuen  Zeitschrift  für  Musik"  veröffentlichte 
Aufsätze  über  Franz  (1872  bei  Leuckart  als  Broschüre  erschienen);  auch  hat 
Franz  Hü  ff  er  in  seiner  Schrift  „Richard  Wagner  und  die  Musik  der 
Zukunft"  (Leipzig,  1877)  einen  schätzbaren  Beitrag  zum  Verständniss  des 
Meisters  geliefert. 


168  X.I.     I>ie  itomaiitiUer  des  19.  Jah.rliu.ii<aert3. 

leiten  lassen.  Diese  wirkte  auch  bestimmend  auf  die  Art,  wie 
er  den  dichterischen  Stoff  seiner  Lieder  auffasst  und  be- 
handelt, wie  er  den  leidenschaftlichen  Stimmungen  die  extremen 
Spitzen  abbricht  und  sie  zu  maassvoller  Ruhe  sänftigt.  Hierin 
nähert  er  sich  ebenfalls  der  altdeutschen  Lyrik;  denn  wenn  auch 
der  „Weltschmerz"  als  das  charakteristische  Gepräge  aller  neueren 
Lyrik,  in  seinen  Melodien  zum  Ausdruck  gelangt,  so  erscheint 
derselbe  doch  frei  von  jeglicher  barocken  Verzerrung  oder  krank- 
haften Selbstbespiegelung,  vielmehr  ein  reiner  treuer  Ausdruck 
der  tiefen  Sehnsucht  nach  dem  Idealen,  die  jedes  Menschenherz 
durchdringt. 

Wie  die  lyrische,  so  gelangte  auch  die  dramatische  Tonkunst 
unter  dem  Einfluss  der  romantischen  Dichtung  in  ein  neues  Ent- 
wickelungsstadium.  Zwar  hatte  die  Oper  nach  musikalischer  Seite 
durch  Gluck  und  Mozart  eine  solche  Bereicherung  erfahren,  dass 
man  kaum  daran  denken  konnte,  ihren  Besitzstand  in  dieser  Be- 
ziehung noch  zu  vermehren;  nach  Seite  des  poetischen  Inhaltes 
und  der  Form  des  Textes  dagegen  machte  sich  das  Bedürfniss 
nach  einer  Veredlung  auch  dieser  Kunstgattung  in  dem  Maasse 
geltend,  wie  die  Romantik  in  der  Dichtkunst  an  Bedeutung  ge- 
wann. Zur  Entstehung  und  Ausbildung  der  romantischen 
Oper  erwies  sich  Deutschland  als  ein  vorwiegend  günstiger  Boden, 
theils  wegen  der  im  deutschen  Charakter  begründeten  Neigung 
und  Fähigkeit,  dem  geheimnissvollen  Untergrund  der  realen  Dinge 
nachzugehen,  den  Offenbarungen  der  Natur  verständnissvoll  zu 
lauschen,  sich  auf  den  Flügeln  der  Phantasie  in  die  fernsten 
Zeiten  und  Regionen  zu  versetzen;  theils  wegen  des,  in  Folge 
der  Befreiungskriege  bei  dem  grössten  Theile  der  Deutschen  zum 
Durchbruch  gekommenen  Nationalgefühls,  zu  dessen  Befriedigung 
die  romantische  Oper  besser  als  die  bisherige  beitragen  konnte, 
weil  sie  durch  ihre,  meist  der  deutschen  Volkssage  entnommenen 
Stoffe  zur  Ausbildung  eines  nationalen  Colorites  der  Dichtung 
wie  der  Musik  gedrängt  wurde.  Allerdings  lag  hier  für  beide 
Künste  die  Gefahr  nahe,  im  Conflict  der  Phantasiewelt  mit  der 
Wirklichkeit  das  künstlerische  Gleichgewicht  zu  verlieren  und  dem 
Subjectiv-Phantastischen  zu  grosse  Rechte  einzuräumen.  Doch 
standen  gerade  der  Tonkunst  die  Mittel  zu  Gebote,  durch  scharfe 
Zeichnung  der  Charaktere  und  getreue  Schilderung  der  Situationen 
diesen  Zwiespalt  auszugleichen,  und  indem  sie  zur  Erreichung 
dieses  Zweckes  angewiesen  war,  ihr  technisches  Vermögen  zu 
erv\^eitern,   so   hat  sie  der  romantischen  Oper  eine  Bereicherung 


XI.     Die  Roiuantiker  ties  19.  JahxliivndertB.  169 

ZU  danken,  welche  ihr  in  der  Folge  auch  auf  anderen  Gebieten 
zu  Nutze  gekonnnen  ist. 

Ludwig  Spohr  (1784 — 1859),  Carl  Maria  von  Weber 
{1786—1826)  und  Heinrich  Marschner  (1795—1861)  wurden 
die  musikaHschen  Dolmetscher  der  oben  beschriebenen,  im  deut- 
schen Volke  schlummernden  Stiimnimgen  und  Neigungen.  Spohr, 
als  Musiker  seinen  beiden  Nebenbuhlern  überlegen,  wie  dies  seine 
zahlreichen  und  gediegenen  Instrumentalwerke  bekunden,  zeigt 
sich  im  dramatischen  Fache  als  der  Schwächste  A'on  ihnen.  Sein 
Hang  zur  Gefiihlsschwelgerei  und  zum  elegischen  Pathos  hinderten 
ihn  an  einer  consequeuten  Ausarbeitung  seiner  Charaktere,  und 
nur  da,  wo  es  sich  um  Schilderung  von  Situationen  imd  Vor- 
gängen handelt,  die  seiner  engbegrenzten  Emptindungsweise  analog 
sind,  wie  z.  B.  in  der  1823  zuerst  aufgeführten  „Jessonda",  ver- 
mag er  auch  von  der  Bühne  herab  zu  wirken.  Als  dramatischer 
Componist  ihm  weit  überlegen  ist  Marschner,  ein  Meister  in 
der  Darstellung  des  Unheimlichen  und  Dämonischen  (z.  B.  im 
„Vampyr"  1828)  wie  auch  in  der  Zeichnung  volksthümhcher  imd 
komischer  Charaktere*).  Hierin  wird  Marschner  selbst  durch 
Weber  nicht  erreicht;  bei  diesem  war  es  die  Universahtät  der 
künstlerischen  Begabung,  welche,  unbeschadet  seinem  deutsch- 
nationalen Wesen,  seiner  Musik  eine  so  zündende  Kraft  ver- 
lieh, dass  sie  nicht  nur  im  Vaterlande  des  Componisten,  son- 
dern, was  weder  bei  Spohr's  noch  bei  Marschner's  Musik  der 
Fall  gewesen  ist.  noch  weit  über  die  Grenzen  Deutschlands  hiu- 
-aus  enthusiastische  Bewunderung  erregt  hat. 

Wie  die  künstlerischen  Leistungen  Weber's,  so  verdienen 
auch  seine  Lebensschicksale  unsere  volle  Theilnahme.  Ein  durch 
die  Verhältnisse  seines  Vaters,  eines  Theaterdh-ectors,  bedingtes 
Wanderleben  von  Kindheit  an  und  die  hieraus  folgende  unsyste- 
matische Erziehung  konnten  dem  Ernst  seines  künstlerischen 
Strebens  keinen  Abbruch  thun,  so  wenig  wie  seine  Erfolge  als 
Ciaviervirtuose  im  Knaben-  und  frühen  Jünglingsalter.  Noch  im 
vierundzwauzigsten  Lebensjahre,  nachdem  er  schon  seine  erste 
Oper  ,,Das  Waldmädcheu'*  geschrieben   (später  umgearbeitet  als 

*)  Auf  diesem  letzteren  Gebiete  tritt  er  in  den  schäi'fsten  Gegensatz 
zu  Spohr,  der  das  Volkstliümliche  so  wenig  als  einen  Vorzug  der  drama- 
tischen Musik  erkannte,  dass  er  einmal  in  einem  Gesjiräch  über  Weber's 
, .Freischütz"  äusserte  ,,wenn  darin  der  Nerv  der  Musik  liege,  dann  müsse 
es  keine  grösseren  und  glücklicheren  Componisten  geben  als  Kauer  und 
Wenzel  INIüller  und  keinen  schlechteren  und  unsfUicklichereu  als  Gluck." 


170  ^'-     I5ie  Komautilser  des  19.  Jalirh-uiiclerts. 

„Sylvana"  erscliieneu)  und  eine  Capellmeisterstelle  bekleidet  hatte^ 
begab  er  sich  zum  Abt  Vogler  in  die  Lehre,  um  durch  ernste 
Studien  in  der  Compositionstechnik  das  früher  Versäumte  nach- 
zuholen. Zm-  vollen  Entfaltung  seiner  Kraft  gelangte  er  1813 
als  Capellmeister  am  landständischen  Theater  in  Prag,  ohne  jedoch 
liier  rechte  Befr'iedigung  zu  finden,  hauptsächlich  weil  sein  stark 
entwickeltes  Nationalgefühl  auf  dem  nicht -deutschen  Boden  nur 
ungenügende  ISTahrung  fand,  Berlin,  der  Ausgangspunkt  der 
deutsch-i)atriotischen  Bestrebungen,  welche  "Weber  durch  seine 
damals  entstandenen  Compositionen  der  Kömerschen  Freiheits- 
lieder „Leier  und  Schwert"  künstlerisch  verherrlicht  hatte  — 
BerUn  wäre  der  seinen  Wünschen  völlig  entsprechende  Schau- 
platz seiner  Thätigkeit  gewesen,  hätte  nicht  hier  eben  jetzt  —  ein 
wunderlicher  Anachronismus  —  der  musikalische  Herold  des  be- 
siegten französischen  Lnperators,  Spontini,  auf  Veranlassung 
Friedrich  "Wilhelm's  III.  die  Herrschaft  über  das  gesammte  Opem- 
wesen  angetreten.  Eiue  Berufung  an  die  neubegründete  deutsche 
Oper  in  Dresden  konnte  den  Meister  nur  theilweise  für  das  Miss- 
lingen  seiner  Berliner  Pläne  entschädigen;  denn  wenn  er  auch 
hier  auf  deutschem  Boden  weilte  und  wirkte,  so  waren  doch  im 
Publicum  seit  dem,  für  Sachsen  ungünstigen  Ausgange  der  Be- 
freiungskriege die  Sympathien  füi-  Deutschland  nur  in  äusserst 
schwachem  Maasse  vorhanden;  ausserdem  hatte  Weber  dm'ch  die 
Gegnerschaft  der  bei  Hof  und  Adel  noch  immer  hoch  angesehenen 
itahenischen  Oper  und  ihres  Capellmeisters  Morlacchi  mancherlei 
Hemmnisse  seiner  Bestrebungen  zu  erdulden.  Dadurch  erklärt 
es  sich,  dass  es  ihm  nicht  einmal  gelingen  konnte,  sein  Meister- 
werk „Der  Freischütz"  an  der  Stätte  seiner  persönlichen  "Wirk- 
samkeit zui-  Aufführung  zu  bringen.  Berlin  war  es,  welches  durch 
die  erste  Aufführung  des  „Freischütz"  (1821)  gleichsam  eine 
Ehrenschuld  gegen  den  deutschen  Meister  abtrug  und  zugleich 
der  Schauplatz  eines  der  glänzendsten  Triumphe  der  deutschen 
Tonkunst  wurde;  denn  nicht  allein  Avar  mit  diesem  Werke  die 
deutsche  Oper  in  ihre  vollen  Rechte  eingetreten,  sie  hatte  auch 
einen  Sieg  über  die  italienische  errungen,  welcher  an  Bedeutsam- 
keit dem  A-ierzig  Jahre  früher  in  Paris  durch  Gluck  erkämpften 
in  keiner  Weise  nachsteht,  denn  von  nun  an  war  in  der  preus- 
sischen  Hauptstadt  die  musikahsche  Herrschaft  des  Auslandes 
gebrochen,  der  Erfolg  des  „Freischütz"  hatte  dem  Glauben  an 
die  musikahsche  Unfehlbarkeit  Spontini's  ein  Ende  gemacht. 

Mit    dem    „Freischütz",    der    die   treue    Liebe    jugendlicher 


I 


XI.     Die  RoTTiaiitilier  cles  19.  JaUrhuiiderts.  171 

Gemüther  von  echt  deutscher  Innigkeit  und  Keuschheit,  daneben 
die  dämonischen,  den  Menschen  umgarnenden  GeAvalten,  alles  dies 
auf  dem  Untergründe  des  romantischen  Waldlebens,  in  Tönen 
schildert,  welche  in  frischester  Unmittelbarkeit  dem  Herzen  ent- 
quellen, hat  Weber  seinem  Volke  ein  Kunstwerk  geschaffen, 
dessen  Popularität  schwerlich  jemals  übertrügen  werden  kann. 
Nicht  durch  hohe  Genialität  und  absolute  Beherrschung  des 
Stoffes,  wie  sie  Mozart  eigen  gewesen,  sondern  durch  sein  liebe- 
volles Eingehen  auf  die  geheimsten  Emplindungen  der  deutschen 
Volksseele  konnte  Weber  zum  Liebling  seiner  Nation  werden 
und  sich  als  solcher  bis  auf  den  heutigen  Tag  behaupten.  Die 
Dankbarkeit,  welche  Deutschland  ihm  schon  bei  seinen  Lebzeiten 
bewiesen  hatte,  fand  noch  ungleich  wärmeren  Ausdruck,  als  acht- 
zehn Jahre  nach  seinem  Tode  (London  1826)  die  auf  fremd- 
ländischem Boden  bestatteten  Reste  des  Meisters  seinem  Vater- 
lande feierlich  zurückgegeben  wurden.  „Nie  hat  ein  deutscherer 
Musiker  gelebt  als  Du!"  so  lauteten  die  begeisterten  Worte,  mit 
welchen  Richard  Wagner,  als  Nachfolger  Weber's  am  Diri- 
gentenpulte des  Dresdner  Hoftheaters,  die  Feierlichkeit  zur  Be- 
stattung in  heimischer  Erde  eröffnete  —  „Wohin  Dich  auch  Dein 
Genius  trug,  in  welches  ferne  Reich  der  Phantasie,  immer  doch 
blieb  er  mit  jenen  tausend  zarten  Fasern  an  das  deutsche  Volks- 
herz gekettet,  mit  dem  er  weinte  und  lachte  Avie  ein  gläubiges 
Kind,  wenn  es  den  Sagen  und  Märchen  der  Heimath  lauscht. 
Ja,  diese  Kindlichkeit  war  es,  die  Deinen  männlichen  Geist  wie 
sein  guter  Engel  geleitete,  ihn  stets  rein  und  keusch  bewahrte; 
und  in  dieser  Keuschheit  lag  Deine  Eigeuthümlichkeit:  wie  Du 
diese  herrliche  Tugend  stets  ungetrübt  erhieltest,  brauchtest  Du 
nichts  zu  erdenken,  nichts  zu  erfinden,  —  Du  brauchtest  nur  zu 
empfinden,  so  hattest  Du  auch  das  Ursprünglichste  erfunden." 
Der  weitere  Verlauf  der  von  der  deutschen  Tonkunst  ein- 
geschlagenen romantischen  Richtung  zeigt  uns  zwei  Musiker,  welche 
mit  ihren  Schöpfungen  der  Gegenwart  so  nahe  stehen  und  bei 
der-  heutigen  Generation  ein  so  volles  Verständniss  gefunden 
haben,  dass  es  hier  genügen  darf,  ihre  Stellung  zur  musikalischen 
Entwickelung  im  Allgemeinen  zu  kennzeichnen.  Felix  Mendels- 
sühn-Bartholdy  (1809—1847)  und  Robert  Schumann  (1810 
— 1856)  sind  die  Hauptvertreter  derjenigen  Schule,  welche  sich 
die  Weiterbildung  der  Instrumentahnusik  auf  Grund  der  Beet- 
hoven'schen  Hinterlassenschaft  zum  Ziel  setzte.  Diesen  durch 
gleichartige  Leistungen  zu  übertreffen,  wurde  bereits  an  früherer 


172  XI.     Die  Romantiker  des  19.  Jalirliunclerts. 

Stelle  als  eine  Unmöglichkeit  bezeichnet,  doch  ist  es  den  beiden 
genannten  Meistern  nicht  versagt  geblieben,  das  Ausdrucksgebiet 
der  Instrumentalmusik  nach  gewissen  Seiten  hin  zu  erweitern. 
So  konnte  Mendelssohn  in  der  Treue  der  Naturschilderung  durch 
Töne  nicht  allein  Beethoven,  sondern  auch  Weber  übertreffen, 
Avie  z.  B.  in  seiner  Ouvertüre  „Meeresstille  und  glückliche  Fahrt", 
und  es  sogar  unternehmen,  landschaftliche  Bilder  lediglich  mit 
Hülfe  orchestraler  Mittel  zur  Anschauung  zu  bringen,  wie  in  der 
Ouvertüre  „Die  Hebriden"  und  den  Sinfonien  in  A-dur  und 
A-moll,  die  ihre  Beinamen  der  „itahenischen"  und  „schottischen" 
mit  doppettem  Rechte  tragen,  weil  sie  ausser  dem  nationalen 
auch  den  landschaftlichen  Charakter  dieser  Länder  —  den  der 
Componist  übrigens  auf  seinen  Reisen  selbst  zu  erfassen  Gelegen- 
heit gehabt  hatte  —  in  ihrer  Musik  wiederspiegeln.  In  der  Be- 
herrschung grosser,  breitentwickelter  Formen  erweist  sich  Schumann 
als  der  Höherbegabte,  übertrifft  auch  Mendelssohn  noch  an  Tiefe 
der  Gedanken,  so  dass  er  mit  seinen  formvollendeten,  vom  ganzen 
Zauber  der  Romantik  erfüllten  Symphonien  und  Kammercompo- 
sitionen unter  den  Vertretern  der  nachbeethoven'schen  Instrumental- 
musik obenan  stehen  darf. 

Dennoch  dürfen  wir  den  Schwerpunkt  seiner  Leistungen  wie 
auch  der  Mendelssohn's  nicht  in  der  Orchestermusik  oder  in  den 
grossen  Formen  überhaupt  suchen.  Die  durchaus  subjective  Natur 
beider  Künstler,  welche  bei  Schumann  gegen  das  Ende  seiner 
Laufbahn  sogar  zu  einem  eigensinnigen  Einspinnen  in  die  per- 
sönliche Gefühls-  und  Gedankensphäre  führte,  veranlasste  sie,  sich 
mit  Vorliebe  den  kleinen  und  kleinsten  Formen  zuzuwenden; 
solchen,  in  denen  die  flüchtig  auftauchenden  Stimmungen  des 
individuellen  Menschen  zum  Kunstwerk  fixirt  werden,  wie  im 
Liede  und  noch  mehr  in  der  von  Mendelssohn  eingeführten  Kunst- 
gattung, dem  „Lied  ohne  Worte"  für  Ciavier,  in  welchem  der 
Tonsetzer  den  momentanen  Eingebungen  mit  ungleich  grösserer 
Freiheit  folgen  darf  als  im  wirkHchen  Liede,  da  er  dort  weder  durch 
Textesworte  noch  durch  ein  Versmaass  gebunden  ist.  In  dieser 
Gattung  von  Stimmungsbildern  haben  sowohl  Mendelssohn  wie 
Schumann,  dieser  in  seinen,  den  Liedern  ohne  Worte  nachgebil- 
deten „Kinderscenen"  „Novelletten"  etc.  Bedeutendes  geschaffen, 
doch  lief  die  Tonkunst  dabei  Gefahr,  sich  zu  sehr  ins  Individuelle 
zu  verlieren,  und  von  ihrer  allgemeingültigen  Kraft  einzubüssen. 
Mendelssohn's  Subjectivismus  erhielt  ein  heilsames  Gegengewicht 
durch  seine  Anlehnung  an  Bach  und  Händel  —  wir  sahen  schon 


XI.     Die  Romaiitilier  des  19.  Jalirttunderts.  173 

bei  Erwähnimg  seiner  Oratorien,  wie  das  Studium  der  "Werke 
dieser  Meister  auf  seine  eigene  Productiou  fördernd  gewirkt  hat; 
Schumann  dagegen  Hess,  besonders  in  seinen  Ciavierwerken  die 
subjective  Stimmung  und  das  romantische  Sehnen  so  schi-ankenlos 
walten,  dass  Herder's  bei  früherer  Gelegenheit  (S.  11)  citirter 
Ausspruch  über  die  Gelahrlichkeit  einer  Trennung  der  Instru- 
mentalmusik von  der  Vocalmusik  hier  seine  Bestätigung  lindett 
denn  in  der  That  versetzt  uns  Schumann's  Ciaviermusik  nicht 
selten  ..in  ein  Eeich  dunkler  Ideen,  und  weckt  Gefühle  auf.  welche 
im  Strome  künstlicher  Töne  ohne  das  Wort  keinen  Weg- 
weiser finden."  Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich  von  selbst,  dass 
weder  Mendelssohn  noch  Schumann  für  die  dramatische  Musik 
eine  hervorragende  Begabung  hatten,  denn  diese  ist  durch  die 
Fähigkeit  des  Künstlers  bedingt,  sich  zu  objectiviren,  die  eigene 
Individualität  mit  der  Aussenwelt  in  Uebereinstmimung  zu  setzen, 
seine  Gebilde  als  von  seiner  Person  losgelöst  erscheinen  zu  lassen. 
Die  von  ersterem  hinterlassenen  Fragmente  der  Oper  „Loreley" 
können  ungeachtet  ihres  hohen  musikalischen  Werthes  den  Hörer 
nicht  darüber  täuschen,  dass  der  Concertsaal  und  nicht  das  Theater 
ihre  eigentliche  Heimath  ist,  und  Schumann's  Oper  „Genoveva", 
welche  der  Leipziger  Kritiker  J.  C.  Lobe  nicht  unrichtig  ein 
grosses  durchcomponirtes  Lied  genannt  hat,  vermochte  wegen 
mangelnder  dramatischer  Lebenskraft  nur  eine  Scheinexistenz  zu 
führen,  wie  man  sich  nach  wiederholten  Versuchen  auf  verschie- 
denen deutschen  Bühnen  überzeugen  musste. 

Nicht  weniger  üppig  als  in  Deutschland  hat  sich  die  Ro- 
mantik bei  den  Franzosen  entfaltet,  besonders  nachdem  dort  in  den 
dreissiger  Jahi-en  unseres  Jahrhunderts  Victor  Hugo  als  dichte- 
rischer Vorkämpfer  der  romantischen  Ideen  aufgetreten  war.  Die 
musikalischen  Repräsentanten  dieser  Ideen,  Hector  Berlioz 
(1803—1869)  und  Franz  Liszt  (geb.  1811)  können  jedoch  kaum 
als  französische  Musiker  gelten  —  der  letztere  schon  Avegen  seiner 
ungarischen  Nationalität  nicht  —  denn  da  sie  in  der  Instrumental- 
nmsik  das  ihrem  kunstschöpferischen  Drange  entsprechende  Ton- 
material fanden,  so  mussten  sie  folgegemäss  im  Vaterlandc  der- 
selben, bei  den  deutschen  Meistern  der  Instrumentalcomposition 
ihren  Stützpunkt  suchen.  Bei  ihrer  innigen  Verehrung  für  Beet- 
hoven jedoch,  welche  Liszt  namentlich  bewähi-en  konnte,  indem 
er  seine  unglaubliche  Reproductionskraft  als  Ciaviervirtuose  in 
den  Dienst  des  Meisters  stellte,  war  es  ihnen  schwer,  die  Klippe 
zu  vermeiden,  an  welcher  ein  Theil  ihrer  deutschen  Kunstgenossen,. 


[1^74;  XI.     X)ie  Koiiiaiitilier  des  19.  Jalirlix-iiiderts. 


soweit  dieselben  auf  der  Beethoven'schen  Instriimeutalmusik  weiter 
gebaut,  gescheitert  waren.  Doch  wussten  sie  beide  dieser  Gefahr 
7Ai  entgehen,  indem  sie  eine  glückliche  Allianz  mit  der  Poesie 
eingingen  und  dieselbe  auf  ihrer  Fahrt  durch  das  stürmische 
Meer  der  Töne  zum  Wegweiser  nahmen:  sie  legten  ihren  Instru- 
nientalcompositionen  einen  bestimmten  dichterischen  Stoff  zu 
Grunde,  durch  welchen  sie  sich  zur  Tongestaltung  anregen  liessen. 
ohne  sich  jedoch  deshalb  in  der  Freiheit  derselben  zu  beschränken, 
und  wurden  so  die  Schöpfer  der  sogenannten  Programm-Musik. 
Diese  von  Berlioz  und  noch  entschiedener  von  Liszt  in  seineu 
„symphonischen  Dichtungen'-  eingeschlagene  Eichtung  ist  vielfach 
als  ein  Irrweg  bezeichnet  worden,  und  selbst  ein  so  entschiedener 
Vorkämpfer  des  künstlerischen  Fortschrittes,  wie  Richard  Wagner, 
konnte  anfänglich  die  Programm-Musik  verwerfen,  als  ein  „egoisti- 
sches Streben  der  Sonderkünste  nach  Mittheilung  eines,  ausser- 
halb ihrer  Sphäre  liegenden,  ihren  eigenen  Mitteln  unerreichbaren 
Inhaltes";  später  jedoch  änderte  er  seine  Meinung,  weil  er,  wie 
es  in  seiner  Schrift  „Ueber  Franz  Liszt's  symphonische  Dich- 
tungen" ausgesprochen  ist,  inzwischen  eingesehen  hatte  „dass  die 
Programm-Musik  nicht  dem  Wort  oder  der  bildenden  Kunst  den 
Rang  ablaufen  und  Dinge  darstellen  will,  die  nur  jenen  zugäng- 
lich sind,  vielmehr  eine  besondere  Art  des  Vereines  zweier 
selbständiger  Factoren  bildet:  der  Poesie  und  der  Musik,"  Ist 
nun  zwar  diese  Vereinigung  der  hörbaren  Musik  mit  der  lediglich 
im  Geiste  des  Hörers  wirkenden  Dichtung  um*  eine  überaus 
lockere  und,  wenn  man  will,  unvollständige;  ist  ferner  das  Zu- 
sammenwirken der  beiden  Künste  während  des  Kunstgenusses 
selbst  schwer  zu  erweisen,  so  kann  doch  nicht  in  Abrede  gestellt 
werden,  dass  die  Poesie  auch  in  diesem  Falle  dem  schaffenden 
Meister  einen  Anhaltepunkt  bei  der  Entwickelung  seiner  Gedanken 
bietet  und  ihn  zur  Erfindung  neuer  Foimen  hinleitet,  dem  Zu- 
hörer aber  das  Verständniss  des  musikalischen  Kunstwerkes  wesent- 
lich erleichtert.*) 

*)  Die  Programm-Musik  verfehlt  nur  dann  ihre  Aiifgahe.  wenn  sie  es 
unternimmt,  concrete  Empfindungen  und  bestimmte  Vorgänge  darzustellen, 
wie  z.  B.  Froberger  (17.  .Jahrhundert)  die  Abenteuer  einer  Rheinfahrt  in 
einer  Ciaviersuite  zn  schildern  versucht  „wo  u.  a.  vorgestellt  wird,  wie 
Einer  dem  Schiffer  seinen  Degen  reicht  und  darüber  in's  Wasser  fällt'-  — 
und  Kuhn  au  in  seiner  ..Musikalischen  Vorstellung  einiger  biblischer  Hi- 
storien in  sechs  Suonaten  auf  dem  Ciavier  zu  spielen"  (1700)  den  Betinig 
LaV)an's  durch  Jakob  musikalisch  illustriren  will.  Dahin  gehört  auch  Seb. 
Bach"s  Capriccio  ülier  die  Abreise  seines  Bruders,  mit  der  „Vorstellung  unter- 


XI.     X)je  Korn  all  tilver  des  lO.  JalirlixiiKlerts.  1T& 


Das  charakteristische  Merkmal  der  musikalischen  Romantiker 
Frankreichs ,  jene  Vereinigung  des  Kunstgeistes  verschiedener 
Nationalitäten,  tritt  am  deutlichsten  bei  Friedrich  Chopin  her- 
vor. Von  französiscli-i)olnischen  Eltern  1809  bei  Warschau  ge- 
boren, und  im  innigen  Geistesverkehr  mit  den  deutschen  Instru- 
mental-Meistern zum  Künstler  gereift,  vermochte  er  auf  Grund 
der  in  ihm  verschmolzenen  Empfindungsweise  dreier  Nationen 
sich  ein  eigenes  Toureich  aufzubauen,  in  welchem  er  eine  unbe- 
schränkte Herrschaft  ausübte.  Der  chevalereske  Sinn  und  der 
geschichtliche  Schmerz  des  Polen,  die  leichte  Annmth  und  Grazie 
des  Franzosen,  der  romantische  Tiefsinn  des  Deutschen  vereinigen 
sich  in  Chopin  zu  einem  Ganzen  von  solcher  Originalität,  dass 
seine  Musik,  wenngleich  lediglich  für  das  Ciavier  erdacht,  doch 
auch  über  das  Gebiet  dieses  Instrumentes  hinaus  befruchtend 
wirken  konnte.  Wenige  Componisten  haben  im  Beginn  ihrer 
Laufbahn  so  geringe  Anerkennung  gefunden  als  er;  stellte  ihm 
doch  Kalkbrenner,  als  er.  selbst  schon  ein  fertiger  Künstler, 
in  Paris  dessen  Unterricht  suchte,  die  Bedingung,  sich  zu  einem 
dreijährigen  Cursus  zu  verpflichten!  Indessen  wusste  er  sich  hier 
durch  eigene  Kraft  bald  eine  Stellung  zu  erringen,  welche  die 
seiner  Nebenbuhler  weit  überragte,  und  sein  schöpferischer  Ge- 
nius nahm  in  der  Folge,  trotz  körperlicher  Leiden,  einen  so  ge- 
waltigen Flug,  dass  er  bei  seinem  frühen  Tode  (1849)  der 
musikalischen  Welt  ein  Erbtheil  von  unerschöpflichem  Reichthum 
liinterlassen  konnte. 

Die  in  der  Natur  des  Claviers  begründete,  durch  Chopin 
und  Liszt  zu  überraschender  Höhe  gesteigerte  Fähigkeit,  für  sich 
allein  das  ganze  Ausdrucksgebiet  der  Musik  zu  umfassen,  den 
Empfindungen  des  Einzelnen  in  ihrem  weitesten  Umfange  und 
unabhängig  von  jeglicher  fremden  Mitwirkung  als  Organ  zu  dienen, 
—  diese  Fähigkeit  lässt  uns  das  Uebergewicht,  welches  das  Ciavier 
in  neuerer  Zeit  über  die  anderen  Instrumente  errungen,  als  eine, 
durch  die  Romantik  des  19.  Jahrhunderts  wesentlich  bedingte 
Erscheinung  erkennen,  wenn  auch  der  Ursprung  des  modernen 
Clavierspiels  noch  in  die  classische  Epoche  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zurückreicht.  Die  Väter  desselben  sind  Mozart,  auf 
welchen  die  durch  Em.  Bach  vermittelten  Traditionen  Seb.  Bach's 


schiedlicher  Casunm,  die  ihm  in  der  Fremde  könnten  vorfallen",  eudlicli 
Beethoven's  ,, Schlacht  von  Vittoria"  und  seine  Nachahmung  der  Vogel- 
stimmen im  zweiten  Satze  der  Pastoralsymphonie,  welches  Werk  jedr)ch  im 
Uebrigen  als  Prosframm-Musik  im  besten  Sinne  gelten  darf. 


176  XI.     Die  Roxnaiitilser  des  19.  Jahrhunderts. 


übergegangen  waren,"  und  Muzio  Clementi  (geb.  zu  Rom  1752 
gest.  zu  London  1832)  der  jenem  aU'  Gediegenheit  nicht  nach- 
stand, hinsichts  der  Eleganz  des  Spieles  aber  ihn  sogar  noch 
übertraf.  Sie  wurden  die  Häupter  zweier  Schulen,  die  wir  als 
die  Aviener  und  die  londoner  bezeichnen  können;  von  diesen  beiden 
Schulen  war  es  auffallender  Weise  die  wiener,  in  welcher  die 
Virtuosität  zuerst  die  Oberhand  über  den  strengen  ernsten  Stil 
gewann,  und  zwar  ist  Mozai-t's  Schüler  Nepomuk  Hummel 
(1778 — 1837)  der  Vertreter  der  neuen,  wenn  auch  noch  gediegenen,, 
so  doch  eine  glänzende  Bravour  nicht  verschmähenden  Richtung, 
luden  zwanziger  Jahren  unseres  Jahrhunderts  wurde  Carl  Czerny 
(1791 — 1857)  das  Haupt  der  wiener  Schule,  aus  welcher  nunmehr 
eine  grosse  Zahl  von  Virtuosen  hervorgingen,  in  deren  Leistungen 
das  Streben,  durch  Fingerfertigkeit  zu  überraschen,  auf  Kosten 
des  musikalischen  Gehaltes  in  den  Vordergi*und  trat,  bis  mit  dem 
Erscheinen  der  drei  bedeutendsten  Schüler  Czerny's  Franz  Liszt 
(geb.  1811)  Sigismund  Thalberg  (1812—1871)  und  Theodor 
Kullak  (geb.  1818)  das  Ciavierspiel  wiederum  die  Lösung  höherer 
Kunstaufgaben  zum  Ziel  nahm.  Von  diesen  haben  sich  Liszt 
und  Kullak  vornehmlich  an  Beethoven  angelehnt,  indem  sie  in  den 
Geist  dieses,  auch  hinsichts  seiner  Behandlung  des  Clavieres 
einzig  dastehenden  Meisters  eindrangen  und  das  in  weiteren 
Kreisen  noch  schlummernde  Verständniss  fiir  seine  künstlerischen 
Offenbarungen  weckten,  während  Thalberg  durch  Ausbildung  einer 
bestimmten  Seite  der  Ciavier-Technik,  des  gesangreichen  Spieles, 
die  Ausdrucksfähigkeit  des  Instrumentes  den  ■  neuen  Aufgaben 
entsprechend  erweiterte. 

Die  londoner  Schule  des  Clementi  wurde  von  dessen  Schüler 
J. B.  Cramer  (1771 — -1858)  fortgesetzt,  der  sich  namentlich  durch 
das  Studium  der  Werke  Bach's  und  Händel's  jene  Meisterschaft 
im  Ciaviersatze  aneignete,  die  -wir  in  seinen  berühmten  Etüden 
bewundern.  Weitere  bedeutende  Schüler  Clementi's  sind  Lud- 
wig Berger  (1777—1839)  der  Lehrer  Mendelssohn's,  und  John 
Field  (1782 — 1837)  bekannt  durch  seine  den  Chopin'schen  nahe 
verwandten  Noctumen.  —  Eine  dritte,  um  Anfang  des  Jahr- 
hunderts in  Prag  entstandene,  zuerst  von  Dionys  Weber,  dann 
von  Tomaschek  geleitete  Schule  des  Ciavierspiels  fand  in  des 
ersteren  Schüler  Ignaz  Moscheies  (1794—1870)  ihren  Haupt- 
vertreter, der  wie  auch  C.  M.  von  Weber  und  Mendelssohn, 
als  Spieler  und  als  Componist  eine  Richtung  verfolgte,  in  welcher 
sich    brillante  Technik    und    geistige    Tiefe   völlig    durchdringen. 


XI.     Die  Romaiitilier  des  19.  Jalirliuii(iertf=  177 


Auf  französischem  Boden  scheint  der  fiiiher  so  reich  entwickelte 
clavierkünstlerische  Sinn  geraume  Zeit  geschwimden  zu  sein,  denn 
imter  den  Clavierspielem ,  welche  nach  Rameau's  Tode  dort 
herrschten,  findet  sich  keiner  von  liei'vorragender  Bedeutung.  Erst 
mit  der  Anstellung  Louis  Ad  am 's  als  Lehrer  am  pariser  Con- 
servatorium  der  Musik  (1795)  beginnt  das  französische  Clavier- 
spiel  sich  wiederum  zu  heben,  und  nicht  lange  danach  konnte 
Adam's  Schüler,  Friedrich  Kalkbrenner  (1778—1849)  durch 
sein  Spiel  wie  auch  durch  seine  Compositionen  die  Aufmerksam- 
keit der  ganzen  musikalischen  Welt  in  Anspruch  nehmen,  wie- 
wohl er  keineswegs  streng-künstlerischen  Grundsätzen  folgte,  xie\- 
raehr  im  Verein  mit  seinem  jüngeren  Zeitgenossen  Henri  Herz 
der  Urheber  der  seichten  Salonmusik  wurde,  welche  einige  Jahi*- 
zehnte  lang  das  grosse  Publicum  ausschliesslich  fesselte.  Ihnen 
gegenüber  fehlte  es  jedoch  auch  in  Paris  nipht  an  Künstlern, 
welche  das  Ciavierspiel  im  Geiste  der  classischen  Meister  weiter 
bildeten,  an  ihrer  Spitze  Henri  Bertini  (1798 — 1876)  auf  Cle- 
menti's  Schule  fassend  und  rühmlich  bekannt  durch  seine  Etüden, 
welche  an  pädagogischem  Werthe  den  Cramer'schen  kaum  nach- 
stehen; femer  Zimmermann  und  Stamaty,  denen  die  heutige 
französische  Pianisten-Generation  ihre  Ausbildung  verdankt,  dem 
ersteren  Alkan  (der  ältere)  und  Lacombe,  dem  letzteren  Saint- 
Saens  u.  a. 

Bei  der  von  Jahr  zu  Jahr  wachsenden  Verbreitung  des 
Clavierspiels  war  es  unausbleiblich,  dass  die  übrigen  Instrumente 
allmählich  in  den  Hintergnmd  traten  imd  die  Theilnahme  des 
Publicums  für  sie  immer  geringer  wurde.  Selbst  die  VioHne 
musste  die  glänzende  Stellung  einbüssen,  welche  sie  noch  während 
der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  namentlich  in  Italien 
eingenommen  hatte,  wo  die  Schulen  des  Corelli  (Rom),  Vivaldi 
(Venedig)  und  Tartini  (Padua)  das  classische  Violinspiel  gepflegt 
imd  durch  ihre  Zöglinge  über  ganz  Europa  verbreitet  hatten. 
Gleichwohl  erlebte  es  noch  in  diesem  Jahrhundert  eine  Nach- 
blüthe  in  der  durch  Viotti,  einen  Abkömmling  der  Tartini'schen 
Schule  gestifteten  französischen  Violinistenschule,  deren  Repräsen- 
tanten Rode,  Kreutzer  und  Baillot  als  Virtuosen  und  Com- 
ponisten,  besonders  aber  als  Verfasser  der  berühmten.  1803  zu 
Paris  erschienenen  „Methode  de  Violon"  einen  hohen  Rang  unter 
den  Förderen!  ihres  Instrumentes  beanspruchen  dürfen.  Später 
wiu'de  Belgien  der  Schauplatz  der  Entwickelung  des  Violinspiels, 
wo  de  Böriot  und  sein  Schüler  Vieuxtemps  einer  Schule  vor- 

Lacghans,  Musikgeecbicbte.   2.  Aufl.  12 


J^yg  XI.     Die  KomajitiUer  des  19.  JaUrUmidertö. 

standen,  welche  die  Ausbildung  einer  glänzenden  Technik  an- 
strebte, ohne  dabei  die  Vorbilder  der  classischen  Zeit  aus  den 
Augen  zu  verlieren.  Während  die  früher  so  einflussreiche  VioKn- 
schule  Italiens  inzwischen  jede  Bedeutung  verloren  hatte  —  denn 
auch  der  geniale  Paganini  vennochte  nicht  auf  die  schlummernde 
künstlerische  Tiiebkraft  seines  Vaterlandes  belebend  zu  wirken  — 
war  in  Deutschland  durch  Louis  Spohr  eine  Schule  ins  Leben 
gerufen,  welche  mit  demselben  Erfolge  wie  die  französische  des 
Viotti  die  werthvoUen  Errungenschaften  der  älteren  Italiener 
wahrte  und  weiterbildete.  Spohr's  Verdienste  um  die  Viohne, 
sowohl  als  Vhtuose  wie  als  Componist  und  als  Lehrer,  überragen 
noch  diejenigen,  welche  er  sich  um  die  romantische  Oper  ervs^orben 
hat.  In  ersterer  Eigenschaft  konnte  er  neben  Paginini,  mit  dem 
er  während  des  Winters  1816 — 17  in  Italien  zusammentraf,  all- 
gemeine Bewunderung  erregen;  in  seinen  zahbeichen  VioUn- 
compositionen  herrscht  durchweg  die  edle  und  innige  Empfindung 
welche  auch  seine  dramatischen  Werke  kennzeichnet,  daneben 
das  feinste  Gefühl  für  die  technischen  Eigenthümlichkeiten  des 
Instruments.  Als  Lehrer  hat  er  auf  das  gesammte  violinspielende 
Deutschland  ge\\arkt,  theils  persönhch,  theils  durch  seine  vor- 
treffliche 1831  erschienene  „Violinschule",  endlich  auch  durch  seine 
Schüler,  deren  sein  Biograph  Alex.  Mahbran  nicht  Aveniger  als 
187  namhaft  macht.  Unter  diesen  hat  sich  Ferdinand  David 
durch  seine  umfassende  Thätigkeit  am  leipziger  Consen'atorium 
ausgezeichnet,  dem  er  von  der  Gründung  desselben  (1843)  bis  zu 
seinem  Tode  (1873)  als  Lehrer  angehörte. 

Bis  gegen  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  sehen  wir  die 
musikahsche  Romantik  ihre  Hen-schaft  unter  der  Führung  Men- 
delssohn's  und  Schumann's  immer  mehr  enveitem  —  da  erschien 
das  verhängnissvolle  Jahr  1848,  in  welchem  die  während  der  ersten 
Hälfte  des  Jahrhunderts  nur  unklar  erschauten  politischen  und 
socialen  Ziele  sich  den  Bhcken  der  fortschrittsbedürftigen  Menschheit 
in  voller  üeuthchkeit  zeigten.  Mendelssohn  sollte  die  Bewegung 
jenes  Jahres  nicht  mehr  erleben;  Schumann  konnte  wohl  äusserlich 
durch  sie  berührt  werden  —  wie  seine  „vier  Märsche  1849"  zeigen, 
in  denen  er  die  Eindrücke  des  kriegsbewegten  Lebens  um  ihn  her 
auf  dem  Ciavier  zu  schildern  versuchte  —  seine  Kunstrichtung 
indessen  blieb  dieselbe,  ja  sein  Hang  zu  romantischer  Träumerei 
steigerte  sich  bis  zum  Krankhaften.  Und  doch  drängte  die  Zeit 
mit  ihren  positiven  Errungenschaften  zur  Aufstellung  neuer  Ziel- 
punkte  auch  für  die  Kunst,   denn,  wenn  Sokrates   einmal  davor 


XI.     Die  Romantiker  des  19.  OTahrtiviiiclerta.  1 79 

warnt  „nirgends  die  Gesetze  der  Musik  zu  ändern,  und  keine 
neuen  Musikgattungen  einzuführen,  als  nur  zugleich  mit  den 
wichtigsten  bürgerhchen  Ordnungen"*)  so  dürfen  wir  unigekehrt 
behaupten,  dass  eine  so  radicale  Veränderung  der  „bürgerlichen 
Ordnungen",  ein  so  gewaltiger  Umschwung  wie  der  des  Jahres 
1848  nothwendigerweise  auch  veränderte  Kunstanschauungeu  und 
Kunstbedürfnisse  im  G-efolge  haben  musste.  Um  diesem  Verlangen 
Genüge  zu  leisten,  um  an  Stelle  der  sich  ausgelebt  habenden 
Romantik  ein  Neues  zu  setzen,  dazu  bedurfte  es  einer  robusteren 
Künstlernatur  als  die  Meudelssohn's  und  Schumann's  oder  gar 
ihrer  Epigonen.  In  Richard  Wagner,  mit  dem  unsere  musik- 
geschichtliche Rundschau  zum  Abschluss  gelangt,  werden  wir  den 
Mann  kennen  lernen,  der  mit  seltener  vielseitiger  Begabung  und 
eiserner  AVillenskraft  der  Musik  neue  Bahnen  eröffnete,  und,  wie 
es  sich  von  Jahr  zu  Jahr  deuthcher  herausstellt,  durch  seine 
reformatorische  Wirksamkeit  dem  Fortschrittsbedürfniss  nicht  nur 
seiner  Nation,  sondern  ■  der  gesammten  kunstgebildeten  AVeit  ent- 
gegen gekommen  ist. 


'')  Plato's  „Staat'"  übersetzt  von  Schleiermacher,  Buch  IV.  Cap.  3. 


12' 


XII. 
IRicliard  AVagner. 


Die  Besprechung  eines  noch  unter  uns  lebenden  und  schaf- 
fenden Künstlers  in  einer  Reihe  mit  den  grossen  Meistern  der 
Vergangenheit  ist  zwar  principiell  nicht  zulässig,  weil  den  Zeit- 
genossen ein  Gesanunt-Ueh erblick  seines  Schaffens  versagt  ist  und 
es  deshalb  einer  späteren  Zeit  überlassen  bleiben  muss,  den  Werth 
desselben   endgültig   festzustellen.*)      Wenn   wir  jedoch  Richard 


*)  So  wenig  wir  im  Stande  sind',  die  Höhe  eines  Berges  aus  nächster 
!Nähe  richtig  zu  beurtheilen,  vielmehr  erst  in  gewisser  Entfernung  sein  Ver- 
hältniss  zu  den  Nachbargipfeln  erkennen,  so  wird  auch  das  Urtheil  für  oder 
wider  eine  ausserordentliche  Erscheinung  auf  dem  Kunstgebiet  so  lange 
irren,  bis  sie  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  übersehen  werden  kann,  was  er- 
fahrungsmässig  nicht  den  Zeitgenossen,  sondern  erst  einer  folgenden  Ge- 
neration beschieden  ist.  Diese  keineswegs  neue  Erfahrung,  sowie  die  an- 
dere, dass  die  kategorischen  Urtheile  zu  Gunsten  oder  Ungunsten  einer 
neuen,  zur  älteren  in  Gegensatz  tretenden  Kunstrichtung  stets  nur  zu  un- 
fruchtbarem Parteigezänke  führen,  sie  dürfen  uns  jedoch  nicht  veranlassen, 
die  Hände  ia  den  Schooss  zu  legen  und  eine  abwartende  Stellung  einzu- 
nehmen, bis  die  neuen  Ideen  im  Kampfe  um  ihr  Dasein  entweder  gesiegt 
haben  oder  unterlegen  sind;  wir  sollen  vielmehr  keinen  Fleiss  und  keine 
Mühe  scheuen,  sie  uns  anzueignen,  die  Empfindung  des  Fremdartigen, 
welche  uns  bei  oberflächlicher  Bekanntschaft  von  ihnen  trennt  und  abstösst, 
zu  überwinden:  so  werden  wir  dem  bahnbrechenden  Künstler,  welcher  uns 
sein  Bestes,  die  reichsten  Schätze  seines  Geistes  bietet,  gerecht  werden  und 
zugleich  ein  Gegengewicht  bilden  gegen  die  grosse  Menge  derer,  welche 
diese  Gaben,  meist  aus  Bequemüchkeit  und  Scheu  vor  dem  anscheinend 
Fremdartigen  verschmähen  und  dann  schnell  bereit  sind,  den  Geber  zu  ver- 
urtheilen.  Haben  wir  uns  aber  mit  der  neuen  Kunstrichtung  befreundet 
und  die  Bedeutung  ihres  Vertreters  klar  erkannt,  so  dürfen  wir  uns  auch 
seiner  Führung  nicht  an  einem,  nach  unserm  Belieben  festgesetzten  Punkte 
entziehen,  sondern  wir  müssen  es  als  eine  künstlerische  Pflicht  ansehen, 
dem  Manne,  von  dessen  überlegener  Kunsteinsicht  wir  einmal  den  Beweis 
erhalten  haben,  auch  dann  zu  folgen,  wenn  er  einen  von  seinem  bisherigen 
abweichenden  Weg  einschlägt.     Die  so   gangbare  Redensart  „ich  habe  alle 


XIL    Richard  "Wagner.  181 


Wagner  gegenüber  von  dem  Princip  abweichen,  nach  welchem  die 
Geschichte  nur  das  bereits  zum  Abschluss  Gelangte  zu  betrachten 
hat,  so  sind  wir  aus  verschiedenen  Ursachen  dazu  berechtigt:  ein- 
mal, weil  die  durch  ihn  hervorgerufene  Bewegung  von  den  That- 
sachen  einer  künstlerisch  ruhmreichen  Vergangenheit  ihren  Aus- 
gangspunkt nimmt;  sodann  weil  die  von  ihm  angestrebten  Ziele 
durch  seine  schriftstellerischen  Arbeiten  aufs  bestimmteste  be- 
zeichnet und  für  jedermann  erkennbar  geworden  sind;  endlich 
weil  schon  mehr  als  ein  Menschenalter  hinter  uns  liegt,  seitdem 
er  dm'ch  sein  künstlerisches  Schaffen  die  allgemeine  Aufmerksam- 
keit erregt  hat,  so  dass  eine  Uebersicht  desselben  schon  jetzt  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  möglich  ist.  Eine  eingehende  Be- 
schäftigung mit  Wagner's  Leistungen  als  Dichter,  Componist  und 
Philosoph  verbietet  sich  freihch,  in  Anbetracht  des  gewaltigen  Um- 
fanges  derselben,  sowie  der  uns  zugemessenen  Zeit,  an  dieser 
Stelle  von  selbst;  es  kann  sich  hier  nur  darum  handeln,  einen 
Einblick  in  den  Werdeprocess  der  Wagner'schen  Kunst  zu  thun, 
und  da  die  Hauptmomente  seines  reichbewegten  Lebens  zu  seiner 
künstlerischen  Entwickelung  in  enger  Beziehung  stehen,  so  wird 
eine  kurze  Skizze  seines  Lebenslaufes  bis  zu  den  allbekannten 
Ereignissen  der  letzten  Jahre  das  geeignetste  Mittel  zur  Er- 
reichung unseres  Zweckes   sein*)  —   denn,  wie   Goethe  treffend 


Hochachtung  vor  dem  N.  N.,  aber  ich  gehe  nicht  mit  ihm  durch  Dick  und 
Dünn"  ist  im  G-runde  nichts  anderes  als  die  lächerliche  Anmaassung,  dem 
Oenius  das  Gebiet  für  sein  Schaffen  vorzuschreiben,  ihm  die  Grenze  zu 
ziehen ,  über  welche  er  nicht  hinausgehen  darf.  „Wenn  wir  bei  einem  be- 
währten Autor"  sagt  Coleridge  „etwas  Verfehltes  zu  entdecken  glauben,  so 
sollten  wir  zunächst  annehmen,  dass  wir  unfähig  sind  ihn  zu  verstehen,  bis 
wir  uns  von  seiner  Unfähigkeit  völlig  überzeugt  haben."  Das  Schicksal 
der  Werke  Richard  Wagner's  kann  keinen  Zweifel  lassen,  dass  die  Befol- 
gung dieser  Lehre  dem  Künstler  manche  entmuthigende  Erfahrung,  seinen 
vorschnellen  Richtern  aber  manche  nachträgliche  Beschämung  erspart  haben 
würde.  Uebrigens  stehen  Wagner's  Erlebnisse  keineswegs  vereinzelt  da: 
das  Loos  des  Tannhäuser,  Lohengrin,  Tristan  und  Isolde,  Meistersinger  war 
z.  B.  auch  das  der  Opern  Rameau's,  deren  jede  bei  ihrem  ersten  Erscheinen 
durchfiel,  weil  sie  ihrer  Vorgängerin  nicht  ähnlich  genug  war,  d.  h.  sie  an 
Bedeutung  überragte.  („Tous  ses  ouvrages  tombferent  d'abord,  et  s'ils  se 
relevferent  ensuite,  ses  partisans  ne  furent  pas  moins  regardes  comme  here- 
tiques  et  presque  comme  mauvais  citoyens.  Lorsque  ensuite  la  musique 
italienne  fit  des  progrös  en  France,  les  ennemis  les  plus  violents  de  Rameau 
passörent  de  leur  acharnement  k  l'admiration  la  plus  aveugle."  Baron  von 
Grimm  „Correspondance  litteraire"  October  1764). 

*)  Eine  ausführliche  Biographie  des  Künstlers  veröffentlichte  IHl^  Carl 
Fr.  G-lasenapp   unter  dem  Titel   „Richard  Wagner's   Leben  und  Wirken" 


182  XII.    RicUard  -Wagiier. 

gegen  seinen  Freund  Zelter  äussert,  nachdem  er  seine  Lieb- 
haberei für  das  Studium  der  Musikgeschichte  bestätigt  hat  „wer 
versteht  ii'gend  eine  Erscheinung,  wenn  er  sich  nicht  von  dem 
Gang  des  Herkommens  penetrii-t?" 

Richard  Wagner  ist  in  Leipzig  am  22.  Mai  1813  geboren, 
nur  vier  Jahre  nach  Mendelssohn  und  drei  Jahre  nach  Schumann, 
mithin  als  Zeitgenosse  der  Männer,  über  deren  musikalischen 
Gedankenkreis  hinaus  er  ein  Menschenalter  später  einen  so  ge- 
waltigen Sprung  that,  dass  man  an  eine  Entfernung  von  mehreren 
Generationen  zu  glauben  geneigt  wäre.  Der  Kanonendonner  der 
Völkerschlacht,  welcher,  Deutschlands  Befreiung  verkündend,  sich 
in  die  ersten  Lebensäusserungen  des  Säuglings  mischte,  die  na- 
tionale Begeisterung,  inmitten  derer  er  seine  frühesten  Eindrücke 
empfing,  können  kaum  ohne  nachhaltige  "Wirkung  auf  die  Ge- 
müthsentwickelung  des  Kindes  gebheben  sein;  schon  in  der  Wiege 
mag  jene  Liebe  zum  Vaterlande  in  ihm  gekeimt  haben,  die  sich 
später  als  einer  der  wesentlichen  Züge  von  Wagner's  Charakter 
bewährt  hat,  und  die  weder  durch  sein  klares  Verständniss  für 
alles,  worin  uns  das  Ausland  überlegen  ist,  noch  diu'ch  das  hart- 
näckige Misstrauen,  dem  er  in  Deutschland  lange  Zeit  begegnete, 
geschwächt  werden  konnte.  Seine  künstlerischen  Anlagen  sollten 
gleichfalls  schon  im  zarten  Kindesalter  der  Nahrung  nicht  er- 
mangeln. Dank  der  liebevollen  Anregung  seines  Stiefvaters,  des 
Schauspielers  Ludwig  Geyer,  welcher  nichts  versäumte,  um  dem 
Knaben  für  den  fi-ühzeitigen  Verlust  des  eigenen  Vaters  Ersatz 
zu  bieten.  jVIit  seiner  musikalischen  Erziehung  wollte  es  freihch 
nicht  recht  glücken,  und  der  Unterricht  im  Clavierspiel  musste 
bei  der  Abneigung  des  Schülers  gegen  das  blos  technische  Stu- 
dium nach  kurzer  Zeit  wieder  aufgegeben  werden.  Dagegen 
zeigte  er  als  Schüler  der  Kreuzschule  zu  Dresden,  wohin  seine 
Familie  nach  dem  Tode  des  Vaters  übergesiedelt  war,  lebhaftes 
Interesse  für  alte  Sprachen  und  antike  Dichtkunst.  Die  griechi- 
schen Dichter  zogen  ihn  besonders  an,  später  auch  Shakespeare, 
durch  den  er  schon  vor  erreichtem  Jünglingsalter  zu  seinem  ersten 
dichterischen  Versuch  angeregt  wurde;  es  war  dies  ein  grosses 
Trauerspiel,  von  dem  uns  der  Autor  selbst  berichtet,  dass  es  ihn 
volle  zwei  Jahre  beschäftigt  habe,  und  bezüglich  der  Anhäufimg 


in  zwei  Bänden  (Cassel  und  Leipzig,  Carl  Maurer).  Wagner's  eigene 
Schriften  erschienen  1871 — 1873  in  neun  Bänden  bei  E.  W.  Fritzsch  in 
Leipzig. 


Xrr.    Ricliard  Wagiier.  183 

tragischer  Cönflicte  hinter  keinem  der  Dramen  seines  grossen 
Vorbildes  zurückgeblieben  sei.  „Zweiundvierzig  Menschen  starben 
im  Verlauf  des  Stückes  \md  ich  sah  mich  bei  der  Ausführung 
genöthigt,  die  meisten  als  Geister  wiederkommen  zu  lassen,  weil 
mir  sonst  in  den  letzten  Acten  die  Personen  ausgegangen  wären."*) 
In  diese  Zeit  fallen  auch  die  ersten  nachhaltigen  Eindrücke 
auf  die  musikalische  Natur  des  Knaben,  und  zwar  bei  Gelegen- 
heit einer  Aufführung  des  „Freischütz",  der  in  Dresden,  wie  zu- 
vor in  Berlin  enthusiastisch  aufgenommen  wurde,  trotz  des  Wider- 
standes der  Vei-treter  der  italienischen  Oper,  sowie  der  Literatur- 
poeten, deren  Haupt,  Ludwig  Tieck,  den  Freischütz  „das  un-' 
musikalischste  Getöse"  genannt  hatte  „das  je  über  die  Bühne 
getobt  sei."  Die  von  damals  herstammende  Verehi'ung  Wagner's 
für  die  Kunst  und  die  Person  Web  er 's  hat  sich  im  Verlauf 
seiner  Entwickelung  nicht  vermindert,  auch  dann  nicht,  als  er  in 
Leipzig,  nach  dorthin  erfolgter  Rückkehr  in  Folge  des  Todes 
seines  Stiefvaters,  mit  Beethoven's  Musik  bekannt  geworden 
war.  Allerdings  war  diese  Bekanntschaft  geeignet,  den  fünfzehn- 
jährigen Jüngling  für  eine  Zeit  lang  ausschliesslich  in  Anspruch 
zu  nehmen;  namentlich  wirkte  die  Egmont-Musik  so  sehr  auf  ihn, 
dass  er. sich  entschloss,  die  Tonkunst  zu  seinem  Beruf  zu  machen, 
wobei  in  erster  Reihe  der  Wunsch  mitwirkte,  seine  Trauerspiele 
von  einer  ähnlichen  Musik  begleitet,  an  die  Oeffentlichkeit  zu 
bringen.  Dass  er  der  Mann  sei,  eine  solche  dereinst  zu  com- 
poniren,  und  dass  er  auch  die  Schwierigkeiten  des  dazu  nöthigeu 
Studiums  nicht  zu  fürchten  habe,  war  für  ihn  so  gut  wie  eine 
ausgemachte  Sache;  anders  aber  dachten  die  Seinigen,  denen  es 
bedenklich  war,  den  jungen  Enthusiasten  von  dem  früher  er- 
wählten Dichterberufe  zu  einem  andern  übergehen  zu  sehen.  Eine 
Vereinigung  des  Dichter-  und  Musikerberufes  mussten  sie,  bei 
den  zu  ihrer  Zeit  (theilweise  auch  noch  heute)  herrschenden  An- 
schauungen, und  nachdem  eine  Jahrhundei-te  lange  Praxis,  allen 
Gegenbestrebungen  zum  Trotz,  die  Vertheilung  dieser  Thätig- 
keiten  unter  zwei  Personen  gleichsam  sanctionirt  hatte,  für  ein 
phantastisches  und  aussichtsloses  Wagniss  halten.**) 


*)  R.  Wagner,  Auto1)iographische  Skizze,  gesammelte  Schriften  I.  S.  8. 
**)  Die  Sehnsucht  nach  der  Wiedervereinigung  des  Dichters  und  Mu- 
sikers in  einer  Person  scheint  seit  dem  Untergange  der  antiken  Cultur 
niemals  ganz  erloschen  zu  sein,  denn  wiederholt  sehen  wir  sie  bei  künst- 
lerisch angelegten  Naturen  zum  Ausdruck  gelangen.  So  schreibt  Friedrich 
der  Grosse  au  die  Kurprinzessin  IMaria  Antonia  von  Sachsen,  welche  ihm  zwei 


184  ^11-    Ricliard  AVagner. 


Auch  Wagner  musste  einsehen,  dass  er  sich  der  Musik  zu- 
nächst ausschliesshch  zu  widmen  habe,  wollte  er  anders  das  Lhni 
vorschwebende  Ziel  erreichen,  und  denTgemäss  begann  er,  nach 
absolvirtem  wissenschafthchen  Studium  (erst  an  der  Leipziger 
Nicolaischule,  dann  an  der  Universität)  sich  dem  des  Contra- 
punkts mit  vollem  Eifer  hinzugeben.  Hierin  durch  den  Cantor 
der  Thomasschule,  Weinlig,  bei  weiteren  Compositionsversuchen 
durch  den,  damals  am  Leipziger  Theater  als  Capellmeister  an- 
gestellten Heinrich  Dorn  gefördert,  konnte  er  schon  1833  als 
Componist  in  die  Oeffentlichkeit  treten,  und  zwar  mit  einer  Sym- 
phonie, die  in  einem  der  Gewandhausconcerte  zur  Aufführung 
gelangte,  sowie  mit  einer,  noch  in  derselben  Saison  aufgeführten 
Concertouverture.  Noch  näher  trat  er  der  praktischen  Seite 
seines  Berufes  auf  einer  demnächst  unternommeneu  Reise  nach 
Würzburg,  wo  sein  Bi-uder  Albert  als  Sänger  und  Schauspieler 
wirkte,  und  er  selbst  sich  zeitweilig  an  den  Leistungen  des 
Theaters  als  Chordirigent  betheiHgte;  hier  entstand  auch  sein 
erstes  di'amatisches  Werk,  eine  di-eiactige  romantische  Oper  „Die 
Feen",  deren  Text  er  nach  Gozzi's  „La  douna  serpente"  selbst 
gedichtet  hatte.  Die  Aufführung  dieses  Erstlingswerkes  lag  ihm, 
nachdem  er  in  seine  Yaterstadt  zurückgekehrt  war,  sehr  am 
Herzen;  doch  Avurde  dieselbe  durch  immer  neue  Hindernisse  ver- 
zögert, und  da  eben  jetzt  eine  AVendung  in  Wagner's  Geschmacks*- 
richtung  eingetreten  war,  nachdem  er  durch  Vermittelung  der 
Sängerin  Schröder-Devrient  den  Reiz  und  den  Werth  der 
itahenischen  und  französischen  Oper  erkannt,  so  verlor  auch  er 
das  Interesse  für  seine  Arbeit  und  verzichtete   auf  den  Yortheil 


von  ihr  gedichtete  und  comijonirte  Opern  übersandt  hatte:  „Vous  donnez 
un  exemple  aux  compositeurs ,  qui  tous,  pour  bien  reussir,  devraient  gtre 
poetes  en  meme  temps"  —  und  Lesueur,  Capellmeister  an  der  Notre- 
Dame-Kirche  in  Paris,  später  Inspector  des  Oonservatoriums  und  als  solcher 
der  Lehrer  und  Freund  Berlioz',  beklagt  in  seiner  1787  erschienenen  Schrift 
„Essai  sur  une  musique  une  et  imitative"  die  Unfreiheit  des  katholischen 
Kirchencomponisten  mit  den  "Worten:  ,,0h!  s'il  etait  permis  au  musicien 
de  composer  ces  paroles!  Que  ne  pourrait-il  pas  faire!"  Die  Beispiele 
derartiger  „frommer  Wünsche"  Hessen  sich  massenhaft  vermehren;  um  so 
seltener  erscheinen  dafür  die  Tonkünstler,  welche  im  Gegensatz  zur  Con- 
vention es  als  eine  künstlerische  Pflicht  erkannt  haben,  ihre  Texte  selbst 
zu  verfassen,  wie  z.  B.  Lortzing,  dessen  Opern  ihre  Wirkung  vornehm- 
lich dem  einheitlichen  Verhältniss  zwischen  Dichtung  und  Musik  verdanken 
und  zugleich  beweisen,  dass  man,  auch  ohne  einen  Platz  unter  den  Literatur- 
Dichtern  einzunehmen,  doch  als  Dichter-Componist  Bemerkenswerthes  leisten 
kann. 


XXL    Riclxard  "Wagner.  185 


einer  öffentlichen  Darstellung,  Die  schriftstellerisclie  Thätigkeit 
bot  ihm  schon  jetzt  einen  Ersatz  für  die  ihm  vorläufig  versagten 
Erfolge  als  schaffender  Künstler;  ein,  unter  dem  Eindruck  jener 
Opern,  namenthch  der  Auber'schen  „Stumme  von  Portici"  ver- 
fasster  Aufsatz  zeigt  ihn  uns  als  den  unerbitthchen  Gegner  der 
Einseitigkeit  und  der  Routine,  als  welcher  er  später  eine  nicht 
minder  unerbittUche  Opposition  hervorrief  Schon  hier  spricht 
er  die  Absicht  aus  „die  Begriffsverwirrung  deutschthümelnder 
Musikkenner  über  deutsche  Musik,  wenn  nicht  zu  heilen,  so  doch 
in  helles  Licht  zu  setzen."  „Wir  haben  allerdings"  behauptet 
er  „ein  Feld  der  Musik,  das  uns  eigens  gehört,  und  dies  ist  die 
Instrumentalmusik;  eine  deutsche  Oper  aber  haben  wiv  nicht  und 
der  G-rund  dafür  ist  derselbe,  aus  dem  wir  ebenfalls  kein  Na- 
tionaldrama besitzen.  Wir  sind  viel  zu  geistig  und  viel  zu  ge- 
lehrt, um  warme  menschUche  Gestalten  zu  schaffen  ....  Ich  will 
zwar  keineswegs,  dass  die  französische  und  italienische  Musik  die 
unsrige  verdi'ängen  soll,  aber  wir  sollen  das  Wahre  in  beiden 
kennen  und  uns  vor  jeder  selbstsüchtigen  Heuchelei  hüten.  AVir 
sollen  aufathmen  aus  dem  Wust,  der  uns  zu  erdrücken  droht, 
ein  gutes  Theil  affectirten  Contrapunkt  vom  Halse  werfen  und 
endlich  Menschen  werden." 

Die  Stelle  eines  Theatercapellmeisters  in  Magdeburg,  die 
Wagner  im  Herbst  des  nächsten  Jahres  (1834)  antrat,  bot  ihm 
reiche  Gelegenheit,  seine  im  vorstehenden  ausgesprochenen  viel- 
seitigen Kunstbedürfnisse  zu  befriedigen.  Der  bunte  Wechsel  im 
Opernrepertoire  eines  deutschen  Stadttheaters,  das  tägliche  Ein- 
studiren und  Dirigiren  deutscher,  italienischer  und  französischer 
Opern,  so  wie  die  dabei  gewonnenen  Erfahrungen  halfen  ihm  die 
Lasten  seines  neuen  Amtes  freudig  ertragen  und  hielten  seinen 
Muth  aufrecht,  so  oft  er  auch  einsehen  musste,  dass  seine  Be- 
mühungen um  die  Hebung  des  Theaters  bei  den  kleinlichen  Ver- 
hältnissen desselben  erfolglos  bleiben  würden.  Mittlerweile  war 
auch  eine  zweite  Oper  vollendet:  „Das  Liebesverbot",  deren 
Stoff  er  Shakespeare's  „Maass  für  Maass"  entnommen  hatte  und 
deren  Musik  eine  ungleich  grössere  Freiheit  zeigt,  als  die,  noch 
stark  von  Weber  beeinflusste  der  „Feen."  Im  Winter  1836 
konnte  dies  Werk  in  Scene  gehen,  doch  waren  die  Umstände 
seiner  Aufführung  so  wenig  günstig,  dass  es,  mit  Ausnahme  einiger 
halbweg  gut  ausgeführter  Scenen  keinen  Eindruck  hervorbringen 
konnte,  während  der  Autor  bei  dieser  Gelegenheit  die  Schatten- 
seiten   seines  Berufes   drückender   als  je   empfand   und    die  Un- 


186  XII.     Richiarcl  ^Wagner. 


möglichkeit  erkannte,  mit  den  einem  kleineren  Stadttheater  zu 
Gebote  stehenden  Mitteln  etwas  künstlerisch  Erspriessliches  zu 
leisten.  Bei  dieser  Veranlassung  kam  er  zu  dem  Entschluss^ 
seine  nächste  grössere  Arbeit  von  vorn  herein  auf  eine  Bühne 
ersten  Ranges  zu  berechnen,  unbekümmert  darum,  wo  und  wann 
sich  dieselbe  für  ihn  linden  werde;  in  diesem  Sinne  verfasste  er 
den  Entwurf  zu  einer  grossen  tragischen  Oper  in  fünf  Acten: 
„Rienzi,  der  letzte  der  Tribunen*'  und  legte  ihn  derart  an, 
dass  es  unmöglich  ward,  diese  Oper  —  wenigstens  zum  ersten 
mal  —  auf  einem  in  seinen  Mitteln  beschränkten  Theater  zui- 
Aufführung  zu  bringen.  Vorläufig  blieb  Wagner  freilich  noch 
auf  Bühnen  untergeordneten  Ranges  angew^iesen,  indem  er  1836 
in  Königsberg  und  im  folgenden  Jahre  in  Riga  als  Theater- 
capellmeister  thätig  sein  musste,  Dass  er  weder  in  der  einen 
noch  in  der  andern  Stadt  künstlerische  Befriedigimg  fand,  Hess 
sich  nach  den  bisherigen  Erfahi-ungen  voraussetzen,  und  da  er 
ausserdem  mit  materiellen  Sorgen  zu  kämpfen  hatte,  so  fasste  er 
den  unter  seinen  Verhältnissen  abenteuerlichen  Plan,  nach  Paris 
überzusiedeln,  um  dort,  wenn  möglich,  den  inzwischen  vollendeten 
„Rienzi"  an  der  Grossen  Oper  zur  Aufführung  zu  bringen. 

Im  Sommer  1839  war  dieser  Plan  zur  Reife  gediehen;  mit 
einem  nach  London  bestimmten  Segelschiffe  wurde  die  Reise  an- 
getreten. „Die  Seefahrt"  schreibt  Wagner*)  „dauerte  drei  und 
eine  halbe  Woche  und  war  reich  an  Unfällen.  Dreimal  litten 
wir  vom  heftigsten  Sturme,  \md  einmal  sah  sich  der  Capitän 
genöthigt,  in  einen  norwegischen  Hafen  einzulaufen.  Die  Durch- 
fahrt dm"ch  die  norwegischen  Schären  machte  einen  wunderbaren 
Eindruck  auf  meine  Phantasie;  die  Sage  vom  fliegenden  Hollän- 
der, wie  ich  sie  aus  dem  Munde  der  Matrosen  bestätigt  erhielt, 
gewann  in  mir  eine  bestimmte,  eigenthümliche  Farbe,  die  ihr  nur 
die  von  mir  erlebten  Seeabenteuer  verleihen  konnten."  Nach 
kurzem  Aufenthalt  in  London  begab  sich  Wagner  nach  Paris, 
wo  er  im  Herbst  des  genannten  Jahres,  reich  an  Hoffnungen 
doch  mit  stark  erschöpften  Geldmitteln  anlangte;  gänzlich  ohne 
Empfehlungen,  war  er  einzig  auf  Meyerbeer  angewiesen,  dessen 
Bekanntschaft  er  schon  auf  der  Reise  in  Boulogne  gemacht,  wo 
ihm  derselbe  aufs  freundlichste  seine  Unterstützung  zugesagt  hatte. 
Aber  weder  die  eigene  Energie,  noch  die  Bemühungen  des  ein- 
flussreichen Collegen  vermochten  den  sanguinischen  Künstler  vor 


')  A.  a.  0.  S.  18. 


XII.    Richard  Wagner.  187 

jenen  Täuschungen  zu  bewahi-en,  welche  diu'ch  die  ungeheure 
Concurrenz  der  Arbeitskräfte  aller  Ai-t  in  der  französischen 
Hauptstadt  bedingt  sind.  Schon  während  des  ersten  Winters 
musste  er  zur  Einsicht  gelangen,  dass  in  den,  durch  die  Gesetze 
der  Mode  und  der  Speculation  geregelten  Pariser  Zuständen  sein 
ideales  Streben  schwerlich  jemals  Würdigung  finden  Averde.  Die 
äussere  Noth,  die  ihn  zeitweilig  zwang,  aller  selbständigen  Kunst- 
thätigkeit  zu  entsagen,  um  durch  schriftstellerische  Arbeiten  für 
die  „Gazette  musicale"  und  durch  Opern- Arrangements,  sogar  für 
das  Cornet  k  piston,  seinen  Unterhalt  zu  verdienen,  erhöhte  seine 
Bitterkeit  gegen  die  ihn  umgebenden  Verhältnisse.  Sie  fand  ihren 
Ausdruck  in  der  während  dieses  Winters  entstandenen  Ouver- 
türe zu  Goethe's  Faust,  deren  Motto  die  im  Gemüth  des 
Künstlers  gährende  und  auf  die  Composition  übertragene  Stim- 
mung andeutet: 

Der  Gott,  der  mir  im  Busen  wohnt, 

Kann  tief  mein  Innerstes  erregen; 

Der  über  allen  meinen  Kräften  thront, 

Er  kann  nach  aussen  nichts  bewegen; 

Und  so  ist  mir  das  Dasein  eine  Last, 

Der  Tod  erwünscht,  das  Leben  mir  verhasst. 

Wir  übergehen  die  traurige  Zeit  von  Anfang  1840,  der 
Entstehungszeit  der  Faust- Ouvertüre,*)  bis  zum  Frühjahr  1842, 
wo  Wagner,  ohne  auch  nur  einen  einzigen  Erfolg  errungen  zu 
haben,  dafür  aber  um  so  reicher  an  ernsten  Erfahrungen,  der 
Hauptstadt  Frankreichs  den  Rücken  wendete.  Die  Nachricht, 
dass  seine  Opern  „Rienzi"  und  die  ebenfalls  längst  vollendete 
„Der  fliegende  Holländer"  in  Deutschland,  erstere  am 
Dresdener,  die  andere  am  Berliner  Hoftheater  zur  Aufnahme 
angenommen  seien,  hatte  seine  immer  dunkeler  gewordenen  Aus- 
sichten freundhch  aufgehellt  und  gleichzeitig  die  Sehnsucht  nach 
dem  Vaterlande  mächtig  bei  ihm  angefacht.  Er  kam  noch  recht- 
zeitig nach  Dresden,  um  die  Proben  des  „Rienzi"  zu  überAvachen 
und  Zeuge  der  begeisterten  Aufnahme  zu  sein,  welche  das  Werk 


*)  Dies  Werk  ist  in  doppelter  Hinsicht  bemerkenswerth ;  einmal  als  die 
erste  Arbeit  Wagner's,  welcher  das  gi-osse  Publicum  das  Zeugniss  der  Lebens- 
fähigkeit gegeben  hat;  ferner,  weil  hier  inmitten  aller  Verdüsterung  die 
kraftvolle  Natur  des  Künstlers  erkennbar  wird,  welche  sich  nicht,  nach  Art 
dei*  früheren  Romantiker  durch  die  Drangsale  des  Lebens  und  den  Welt- 
schmerz überwältigen  lässt,  sondern  den  Kampf  mit  den  finsteren  Gewalten 
muthig  aufnimmt  und  sohliesslich  als  Sieger  aus  demselben  hervorgeht. 


188  XU.    RicUara  Wagner. 


bei  seiner  ersten  Auffiihi'ung  (20.  Oct.  1842)  trotz  hoch  ge- 
spannter Erwartungen,  beim  Publicum  fand.  Als  dem  Com- 
ponisten  dann  schon  im  nächsten  Jahre  das  Capellmeisteramt  am 
Hoftheater  übertragen  wurde,  und  damit  auch  seine  materielle 
Lage  gesichert  war,  da  durfte  man  wohl  glauben,  dass  die  Zeit 
der  Prüfungen  für  ihn  vorüber  sei.  Hätte  er  sich  nur  bequemen 
wollen,  auf  dem  jetzt  erreichten  Entwickelungspunkte  stehen  zu 
bleiben,  sich  als  Dichter -Compouist,  wie  schon  im  „Rienzi"  so 
auch  ferner  an  die  Vorbilder  der  fi-anzösischen  Grossen  Oper 
anzuschliessen,  als  Dmgent  dem  von  seinen  Vorgängern  bezeich- 
neten Pfade  gewissenhaft  zu  folgen  —  so  wäre  seine  Künstler- 
laufbahn voraussichtlich  in  ungetrübter  Ruhe  verflossen.  Von 
alledem  war  jedoch  nichts  der  Fall.  Schon  beiui  Erscheinen  des 
„Holländer"  (Berlin,  Januar  1844)  fühlten  sich  die  Freunde  seiner 
Kunst,  die  eine  Musik  nach  Art  des  „Rienzi"  erwartet  hatten, 
in  der  Mehrzahl  unbefriedigt;  noch  weit  stärker  und  allgemeiner 
aber  war  die  Enttäuschung,  als  1845  der  „Tannhäuser"  zum 
ersten  mal  in  Scene  ging.  Die  Wirkung  dieser  Oper  war  selbst 
auf  das  Dresdener  Publicum,  ungeachtet  der  persönlichen  Be- 
ziehungen Wagner's  zu  demselben,  ein  so  befremdender,  dass  der 
Künstler  wieder  einmal  das  Gefühl  der  Vereinsamung"  in  seiner 
ganzen  Schwere  empfinden  musste.  Aber  auch  als  Dirigent  hatte 
er  schon  in  den  ersten  Tagen  seiner  Amtsführung  durch  rück- 
sichtslose Bekämpfung  der  mit  dem  Opernwesen  verbundenen 
Missbräuche  bei  seinen  Vorgesetzten  wie  bei  seinen  Untergebenen 
vieKach  Anstoss  erregt  und  sich  dabei  überzeugen  können,  dass 
selbst  unter  den  äusserUch  günstigsten  Bedingungen,  wie  sie  das 
Dresdener  Hoftheater  wohl  zu  erfüllen  im  Stande  war,  an  eine, 
wenn  auch  nur  annähernde  Verwirklichung  seiner  künstlerischen 
Ideale  nicht  zu  denken  sei. 

Versetzt  man  sich  in  die  Lage  des  Künstlers,  dessen  Ver- 
stimmung zur  vollständigen  Entmuthigung  übergegangen  war,  nach- 
dem er  sogar  die  Hoffnung  hatte  aufgeben  müssen,  seinen  inzwischen 
(1847)  vollendeten  Lohengrin  an  die  Oeffentlichkeit  zu  bringen*), 
so  kann  man  sich  kamn  wundern,  wenn  das  Sturm-  und  Drang- 


*)  Erst  185Ö  gelaugte  der  Lohengriu  zur  Aufführung,  und  zwar  in 
Weimar,  auf  Veranlassung  und  unter  Leitung  von  Franz  Liszt,  welcher 
dort  ein  Jahr  zuvor  die  Stelle  als  Hofcapellmeister  angetreten  hatte.  Wag- 
ner selbst  sollte  noch  weitere  elf  Jahre  warten,  bis  es  ihm  beschieden  war 
(während  seines  Aufenthaltes  in  Wien  1861)  sein  Werk  zum  erstenmal 
zu  hören. 


XII.    lUcIiard  AVagner.  189 


Jahr  1848  ihn  in  den  Reihen  der  Missvergnügten  fand;  bezüglich 
seiner  thätigen  Antheilnahme  an  der  Reformbewegung  jenes  Jahres 
hielt  er  sich  zwar  streng  in  den  Grenzen  seines  Berufes  und 
beschränkte  sich  darauf,  dem  sächsischen  Cultusminister  einen 
„Entwurf  zur  Organisation  eines  deutschen  National -Theaters" 
vorzulegen,  welcher  in  der  Hauptsache  die  Umwandlung  des 
Dresdener  Hoftheaters  in  ein  Nationaltheater  bezweckte,  sowie 
seine  Erhaltung  aus  Staatsmitteln  und  Ueberweisung  an  das 
Ministerium  des  Cultus,  seiner  Bestimmung  als  Volksbildungs- 
anstalt entsprechend.*)  Bei  seinem  warmen  und  stets  rückhalt- 
los geäusserten  Interesse  für  sociale  und  politische  Fragen  im 
allgemeinen  war  es  jedoch  unvermeidlich,  dass  auch  er  in  die 
AVirren  der  Maitage  des  Jahres  1 849  verwickelt  wurde  und  nach 
eingetretener  Reaction  mit  seinem  Namen  auf  der  Liste  der  Ge- 
ächteten figuriii:e.  Glücklicherweise  wurde  ihm  das  BedenkHche 
seiner  Lage  früh  genug  klar,  um  seine  Flucht  zu  ermöglichen; 
ein  ihm  nachgesandter,  noch  im  Jahre  1853  erneuerter  Steck- 
brief, welcher  die  deutschen  Behörden  auffordert  „den  Wagner, 
Richard,  einen  der  hervorragendsten  Anhänger  der  Umsturzpartei, 
im  Betretungsfalle  zu  verhaften  und  an  das  Königl.  Stadtgericht 
zu  Dresden  abzuliefern"  musste  ihm  jeden  Zweifel  nehmen  be- 
züghch  der  Gefahren,  denen  er  auf  diese  Weise  entgangen  war. 
Üeber  Paris,  wo  er  den  Boden  für  seine  Bestrebungen  dies- 
mal nicht  weniger  ungünstig  fand,  als  bei  seinem  ersten  Aufent- 
halt, gelangte  Wagner  nach  Zürich,  imd  so  zum  zweiten  mal  dem 
für  sein  praktisches  Kunstschaffen  durchaus  nöthigen  Heimaths- 
boden  entrückt,  fühlte  er  jetzt  den  unabweisbaren  Drang,  auf 
theoretischem  Wege  zur  völligen  Klärung  seiner  Ideen  zu  ge- 
langen, sich  selbst  so  wie  den  mit  ihm  Strebenden  ausführUche 
Rechenschaft  über  Ursachen  und  Ziele  seiner  reformatorischen 
Thätigkeit  abzulegen.  Hier,  fem  vom  musikalischen  Treiben  und 
ohne  irgend  welche  Gelegenheit  sich  als  ausübender  Künstler  zu 
bethätigen,  begann  er  eine  schriftstellerische  Wirksamkeit, 
welche  als  Ergänzung  seiner  musikalisch-dichterischen  von  kaum 
geringerer  Bedeutung  ist  als  diese  letztere.  In  seiner  ersten  noch 
1849  erschienenen  Schrift  „Kunst  und  Revolution"  äussert 
Wagner   seine    Unbefriedigtheit    mit   der   modernen  Kunstübung, 


*)  Diese  hochbedeutende,  damals  aber  gänzlich  erfolglos  gebliebene  Ar- 
beit findet  sich  in  den  gesammelten  Schriften  von  R.  Wagner,  Band  II. 
S.  307. 


190  XII.    Richarcl  -Wagner. 


deren  moralischer  Zweck  der  Gelderwerb,  ihr  ästhetisches  Vor- 
geben die  Unterhaltung  der  Gelangweilten  sei;  eine  Besserung 
dieser  Verhältnisse  hoift  er  nur  von  der  Rückkehr  zu  den  an- 
tiken Kunstzuständen,  als  deren  "Wesen  er  die  Freude  des  Men- 
schen an  sich  selbst  und  an  der  Natur  bezeichnet,  im  Gegensatz 
zum  Christenthum ,  welches  die  Unfreude  predigt  und  die  Ent- 
haltung aller  Selbstthätigkeit  empfiehlt,  um  sich  dem  Zustande 
geistiger  Bedrücktheit  zu  entwinden.*)  Namentlich  das  Theater, 
in  welchem  sich  alle  Künste  zum  höchsten  Kunstwerk,  zum 
Drama  vereinigen,  soll  einer  Dienstbarkeit  entzogen  werden, 
welcher  heutzutage  alle  Menschen  unterworfen  sind:  der  Industrie. 
„Ist  die  Industrie  nicht  mehr  unsere  Henin  sondern  unsere  Dienerin, 
so  werden  wir  den  Zweck  des  Lebens  in  die  Freude  am  Leben 
setzen,  und  zu  dem  wirklichsten  Genüsse  dieser  Freude  unsere 
Kinder  durch  Erziehung  fähig  und  tüchtig  zu  machen  streben. 
Die  Erziehung,  von  der  Uebung  der  Kraft,  von  der  Pflege  der 
körperlichen  Schönheit  ausgehend,  wird  schon  aus  ungestörter 
Liebe  zu  dem  Kinde,  und  aus  Freude  am  Gedeihen  seiner 
Schönheit,  eine  rein  künstlerische  werden,  und  jeder  Mensch  wird 
in  irgend  einem  Bezüge  in  Wahrheit  Künstler  sein." 

In  einer  zweiten  grösseren  Arbeit  „das  Kunstwerk  der 
Zukunft"  (1850)  finden  wir  jene  Grundsätze  in  kunstreformato- 
rischem  Sinne  weiter  ausgeführt.  Wagner  bezeichnet  hier  das 
Volk  als  die  bedingende  Kraft  für  das  Kunstwerk,  und  den 
Menschen  —  im  Anschluss  an  die  Lehre  Ludwig  Feuer- 
bach's,  dem  auch  das  Buch  gewidmet  ist  —  als  seinen  eigenen 
Gott  und  über  der  Natur  stehend.  Diesem  Menschen  entspricht 
nur  diejenige  Kunst,  welche  als  einzig  wahre  aus  der  Vereinigung 
aller  unserer  Kunstarten  hervorgeht.  Die  Einzelkünste,  die  bis- 
her um  den  Vorrang  stritten  und  auseinander  strebten,  sollen 
sich  in  gegenseitiger  Liebe  und  Bescheidenheit  einander  nähern 
und  je  nach  Bedürfniss  unterordnen,  um  sich  endlich  im  Drama 
zum  Gesammtkunstwerk,  dem  Kunstwerk  der  Zukunft  zu  ver- 
einen. —  Noch  bestimmter  kennzeichnet  Wagner  sein  Ziel  in 
einer  dritten  Schrift  „Oper  und  Drama"  (1851).  Hier  geht 
er  von   dem  Grundsatz   aus,   dass  die  moderne  Oper  als  Kunst- 

*)  Mit  Recht  macht  Franz  Brendel,  einer  der  frühesten  Vertheidiger 
der  Wagner'schen  Theorien,  in  seiner  ,, Musik  der  Gregenwart"  darauf  auf- 
merksam, dass  Wagner  bei  seiner  Verkündigung  einer  grossen  „Mensch- 
heitsrevolution" die  sociale  Seite  der  christlichen  Lehre  übersehen  hat,  durch 
welche  diese  Revolution  bereits  ins  Leben  gerufen  ist. 


XII.    KicUard  "Wagner.  191 


gattung  ein  IiTthum  ist.  da  iu  ihr  ein  Mittel  des  Ausdmcks,  die 
Musik,  zum  Zweck,  der  wahre  Zweck  dagegen,  das  Drama,  zum 
Mittel  gemacht  wird.  Nur  durch  Einheit  der  Poesie  und  der 
Musik  kann  das  Musikdrama  zu  unmittelbarer  Wirkung  gelangen; 
lun  aber  diese  Einheit  zu  eiTcichen  ist  es  nöthig.  dass  jede  dieser 
beiden  Künste  die  mit  der  Zeit  in  ihnen  ausgebildeten  conven- 
tioneilen Eigenthümlichkeiten  opfere:  die  Wortsprache  muss  wieder 
zu  den,  im  Laufe  ihrer  Entwickelung  verloren  gegangenen  mu- 
sikalischen Elementen  zurückgreifen  (vgl.  8.  10)  und  nur  solche 
Stoife  Ijehandeln,  die,  wie  der  griechische  Mythos  und  unsere 
heimische  Sage,  sich  an  die  sinnliche  Anschauung  wenden.  Die 
Musik,  richtiger  die  Melodie,  als  das  Wesen  derselben,  soll  nicht 
um  ihi-er  selbst  willen  da  sein,  sondern  auf  natürlichem  Wege 
aus  der  ausdrucksvoll  vorgetragenen  Rede  entstehen  und  mit  ihr 
sowie  mit  der  auf  der  Bühne  dargestellten  Handlung  unausgesetzt 
im  Zusammenhange  bleiben. 

In  seineu  philosophischen  Untersuchungen  Hess  sich  Wagner 
anfangs  von  L.  Feuerbach  leiten,  folgte  jedoch  später  der  Lehre 
Arthur  Schopenhauer's.  dessen  Weltanschauung  sich  schon 
in  seinen,  vor  der  Bekanntschaft  mit  Schopenhauer's  Philosophie 
entstandenen  Dichtungen  theilweise  ausgesprochen  findet,  später 
aber  von  ihm  völlig  aufgenommen  und  in  genialer  Weise  zur  Be- 
stimmung des  Wesens  seiner  Kunst  verwerthet  wm'de.  Schopen- 
hauer bezeichnet  in  seinem  1819  erschienenen,  Jahrzehnte  lang 
fast  unbeachtet  gebliebenen  Hauptwerke  „Die  Welt  als  Wille  und 
Voi-stellung"  die  uns  umgebende  Welt  als  eine  von  uns  gebildete 
Erscheinung  (Vorstellung)  der  er  als  das  Wirkliche  den  Willen 
gegenüberstellt,  welchen  Begriff  er  jedoch  in  einem  weit  über  den 
Sprachgebrauch  hinausgehenden  Sinne  ninunt,  indem  er  darunter 
nicht  nur  das  bewusste  Begehren,  sondern  auch  den  unbewussteu 
Trieb,  bis  herab  zu  den  in  der  organischen  Natur  sich  bekunden- 
den Kräften  versteht.  Der  Wille  im  Sinne  Schopenhauer's  ist 
das  Wesen  der  Welt  und  der  Kern  aller  Erscheinung,  das  Blei- 
bende im  fortwährenden  Wechsel  des  Entstehens  und  Vergehens 
der  Aussendinge,  demnach  gleichbedeutend  mit  den  Ideen  der 
Platonischen,  dem  „Ding  au  sich"  der  Kantischen  Philosophie. 
Während  aber  die  Ideen  nach  Plato's  Auffassung  nur  im  Be- 
griff gedacht  werden  können  und  Kaut  das  Ding  an  sich  fiii- 
unerkennbar  hält,  ist  uns  nach  Schopenhauer  die  Möglichkeit 
gegeben,  das  Wesen  der  Dinge  zu  erfassen,  indem  sich  die  Er- 
kenntniss   von   ihrer   ursprüughchen    Dieustbarkeit    unter    uuseru 


192  Xrr.     Rictiara  -Wagner. 


individuellen  Willen  losreisst  und  die  Dinge  nicht  mehr  in  ihren 
Beziehungen  zu  ihm  betrachtet,  wodurch  dann  das  erkennende 
Suhject  aufhört  ein  blos  individuelles  zu  sein  und  in  fester  Con- 
templation  des  dargebotenen  Objectes  (ausser  seinem  Zusammen- 
hang mit  irgend  andern)  ruht  imd  darin  aufgeht.*) 

Diese  Erkenntnissart  nun  ist  der  Ursprung  der  Kunst,  welche 
die  durch  reine  Contemplation  aufgefassten  ewigen  Ideen,  das 
Wesentliche  und  bleibende  aller  Erscheinungen  der  Welt  wieder- 
holt. Im  Kunstwerk  erkennen  wü*  das  Urbild,  von  welchem  die 
in  die  Erscheinung  tretenden  Einzelndinge  nur  Abbilder  sind. 
Die  Kunst  allein  ist  fähig,  uns  zeitweilig  von  der  Qual  des  Lebens 
zu  befreien,  welches  nach  Schopenhauer  ein   stetes  Leiden  ist.**) 


*)  „Wenn  man"  sagt  Schopenhauer  in  seinem  obengenannten  Werke 
(I.  S.  210)  ,, durch  die  Kraft  des  Geistes  gehoben,  die  gewöhnliche  Betrach- 
tungsart der  Dinge  fahren  lässt,  aufhört,  nur  ihren  Relationen  zu  einander, 
deren  letztes  Ziel  immer  die  Relation  zum  eigenen  Willen  ist,  am  Leitfaden 
der  Gestaltungen  des  Satzes  vom  Grunde  nachzugehen,  also  nicht  mehr  das 
AVo,  das  Wann,  das  Warum  und  das  Wozu  an  den  Dingen  betrachtet,  son- 
dern einzig  und  allein  das  Was;  auch  nicht  das  abstracte  Denken,  die 
Begriffe  der  Vernunft,  das  Bewusstsein  einnehmen  lässt;  sondern,  statt  alles 
diesen,  die  ganze  Macht  seines  Geistes  der  Anschauung  hingiebt,  sich  ganz 
in  diese  versenkt  und  das  ganze  Bewusstsein  ausfüllen  lässt  durch  die  ruhige 
Contemplation  des  gerade  gegenwärtigen  natürlichen  Gegenstandes,  sei  es 
eine  Landschaft,  ein  Baum,  ein  Fels,  ein  Gebäude  oder  was  auch  immer; 
indem  man,  nach  einer  sinnvollen  deutschen  Redensart,  sich  gänzlich  in 
diesen  Gegenstand  verliert,  d.  h.  eben  sein  Individuum  (seinen  Willen)  vei'- 
gisst  und  nur  noch  als  reines  Subject,  als  klarer  Spiegel  des  Objects  be- 
stehen bleibt;  so  dass  es  ist,  als  ob  der  Gegenstand  allein  da  wäre,  ohne 
Jemanden,  der  ihn  wahrnimmt,  und  man  also  nicht  mehr  den  Anschauenden 
von  der  Anschauung  trennen  kann,  sondern  beide  Eins  geworden  sind,  in- 
dem das  ganze  Bewusstsein  von  einem  einzigen  anschaulichen  Bilde  gänzHch 
gefüllt  und  eingenommen  ist;  wenn  also  solchennaassen  das  Object  aus  aller 
Relation  zu  etwas  ausser  ihm,  das  Subject  aus  aller  Relation  zum  Willen 
getreten  ist:  dann  ist,  was  also  erkannt  wird,  nicht  mehr  das  einzelne  Ding 
als  solches;  sondern  es  ist  die  Idee,  die  ewige  Form." 

**)  In  seiner  Ethik  bezeichnet  Schopenhauer  als  höchste  Aufgabe  des 
Menschen  die  Aufhebung,  nicht  des  Lebens  selbst,  sondern  des  Willens  zum 
Leben  durch  Askese,  und  hier  berührt  sich  seine  Lehre  einerseits  mit  der 
Buddhistischen  von  der  Aufhebung  des  Leidens  durch  den  Austritt  aus  der 
bunten  Welt  des  Lebens  (Sansara)  und  den  Eingang  in  die  Bewusstlosigkeit 
(Nirwana),  andrerseits  mit  den  asketischen  Elementen  im  Christenthum. 
Dieselbe  Lebensanschauung  bildet  auch  die  Grundlage  zu  Wagner's  gross- 
artiger und  ergreifender  Dichtung  „Tristan  und  Isolde";  nicht  nur  Schopen- 
hauer's  Auffassung  der  Welt  als  eine  von  uns  selbst  gebildete  Erscheinung, 
sondern  auch  die  Sehnsucht  nach  einer  Flucht  aus  dem  täuschenden  Lichte 


XII.     Richard  AVagiier.  193 


Das  Leben  ist  nie  schön  (sagt  er  a.  a.  O.  II.  S.  428)  sondern 
nur  die  Bilder  des  Lebens  sind  es,  nänilich  im  verklärenden  Spiegel 
der  Kunst  oder  der  Poesie.  Das  wesentliche  Merkmal  der  Natur 
des  Künstlers  ist  seine  Fähigkeit,  im  Einzelnen  stets  das  Allge- 
meine zu  sehen,  in  den  Einzeldingen  die  in  ihnen  sich  aus- 
sprechenden Ideen  zu  erkennen.  „Was  man  das  RegeAverden  des 
Genius,  die  Stunde  der  Weihe,  den  Augenblick  der  Begeisterung 
nennt,  ist  nichts  Anderes,  als  das  Freiwerden  des  Intellects,  wenn 
dieser,  seines  Dienstes  unter  dem  Willen  zeitweiUg  enthoben, 
jetzt  nicht  in  Unthätigkeit  oder  Abspannung  versinkt,  sondern, 
auf  eine  kurze  Weile,  ganz  allein,  aus  freien  Stücken,  thätig  ist. 
Dann  ist  er  von  der  grössten  Reinheit  und  wird  zum  klaren 
Spiegel  der  Welt;  denn,  von  seinem  Ursprung,  dem  Willen,  völhg 
abgetrennt,  ist  er  jetzt  die  in  einem  Bewusstsein  concentrirte 
Welt  als  Vorstellung  selbst.  In  solchen  Augenblicken  wird 
gleichsam  die  Seele  unsterblicher  Werke  erzeugt",  (a.  a.  O.  IL 
S.  434). 

An  diese  Lehre  knüpft  Wagner  in  seiner  Schrift  „Beethoven"' 
an  (erschienen  1870  zur  Feier  des  hundertjährigen  Geburtstages 
des  Meisters)  um  zu  musik.-philosophischen  Ergebnissen  von  höchster 
Wichtigkeit  zu  gelangen.  Schopenhauer  hatte  bereits  der  Musik 
eine  von  der  bildenden  und  dichtenden  Kunst  gänzhch  verschie- 
dene Natur  zugesprochen  und  in  ihr  nicht  nur  ein  Abbild  der 
Idee  der  Welt,  sondern  diese  Idee  selbst  zu  erkennen  geglaubt. 
Was  die  Erscheinungen  der  sichtbaren  Welt  ausser  uns  betrifft, 
so  spricht  ihr  Charakter  an  sich  am  deutlichsten  zu  uns  aus  den 
Werken  der  bildenden  Kunst  „deren  eigenthches  Element  es  daher 
ist,  den  täuschenden  Schein  der  durch  das  Licht  vor  uns  aus- 
gebreiteten Welt,  vermöge  eines  höchst  besonnenen  Spieles  mit 
diesem  Schein,  zur  Kundgebung  der  von  ihm  verhüllten  Idee  der- 
selben zu  verwenden.  .  .  .  Aber  immer  bleibt  hier  das  Wirksame 
eben  nur  der  Schein  der  Dinge,  in  dessen  Betrachtung  wii-  uns 
für  die  Augenblicke  der  willenfreien  ästhetischen  Anschauung 
versenken.     Das   Bewusstsein,    welches    einzig    im   Schauen    des. 


des   Tages  in   die   Dämmerung  des  Unbewusstseins  kommt .  hier  wiederholt, 
zum  Ausdruck;  so  z.  B.  in  den  Worten:  • 

Bricht  mein  Blick  sich  wonn'-erblindet, 

erbleicht  die  AVeit  mit  ihrem  Blenden: 

die  mir  der  Tag  trügend  erhellt 

zu  täuschendem  Wahn  entgegengestellt, 

selbst  —  dann  bin  ich  die  Welt. 

Lan gh an s  ,  Musikgeschichte.    II.  Aut).  lö 


194  XII.     Iticliard  AVagiier. 

Scheines  uns  das  Erfassen  der  diu'cli  ihn  sich  kundgebenden  Idee 
ermöglichte,  dürfte  endlich  sich  aber  gedrungen  fühlen,  mit  Faust 
auszurufen : 

AVelch"  Schauspiel!     Aber  ach,  ein  Schauspiel  nur! 

Wo  fass'  ich  dich,  unendliche  Katui*? 

Diesem  Rufe  antwortet  nun  auf  das  Aller  sicherste  die  Musik. 
Hier  spricht  die  äussere  Welt  so  unvergleichhch  verständhch  zu 
uns,  weil  sie  durch  das  Gehör  vermöge  der  Klangwirkung  uns 
ganz  dasselbe  mittheilt,  was  wir  aus  tiefstem  Inneren  selbst  ihi' 
zurufen.  Das  Object  des  vernommenen  Tones  fällt  unmittelbar 
mit  dem  Subject  des  ausgegebenen  Tones  zusammen:  wir  ver- 
stehen ohne  jede  Begriffsvennittelung,  was  uns  der  vernommene 
Hilfe-,  Klage-  oder  Freudenruf  sagt,  und  antworten  ihm  sofort  in 
dem  entsprechenden  Sinne;  keine  Täuschung,  wie  im  Scheine  des 
Lichtes,  ist  hier  möghch,  dass  das  Grundwesen  der  Welt  ausser 
uns  mit  dem  imsrigen  nicht  völlig  identisch  sei,  wodurch  jene 
dem  Sehen  dünkende  Kluft  sofort  sich  schhesst".*) 

Der  Widerspruch,  welchen  die  zuerst  genannten  Schriften 
Wagner's  bei  ihrem  Erscheinen  hervorriefen,  war  ein  besonders 
heftiger,  weil  ihr  Verfasser  mit  dem  bestehenden  Oi3emwesen  auch 
die  zum  Theil  noch  lebenden  Vertreter  desselben  angegriffen 
hatte  und  man  ihm,  wie  nur  zu  häufig  in  derartigen  Fällen,  per- 
sönliche Motive  als  Ursache  seiner  Meinungsäusserimg  zui'  Last 
legte.  Aber  auch  da,  wo  man  an  der  Reinheit  seiner  künstle- 
rischen Absicht  nicht  zweifelte,  konnte  Wagner  bei  der  Schroff- 
heit, mit  welcher  sich  seine  Theorie  der  zeitweilig  hen'schenden 
gegenüber  stellte,  vorläufig  nur  geringes  Verständniss  finden.  Dies 
wurde  auch  nicht  anders,  als  der  Künstler  den  Muth  hatte,  auf 
seine  Theorien  die  That  folgen  zu  lassen  und  in  seinem  Musik- 
drama „Tristan  und  Isolde"  (vollendet  1859)  den  Bruch  mit  der 
bisherigen  Opernform  in  vollster  Consequenz  zu  vollziehen;  im 
Gegentheil,  die  von  den  Opern  seiner  Vorgänger  und  selbst  von 
seinen  eigenen,  mittlerweile  bekannt  und  beliebt  gewordenen 
AVerken  „  Tannhäuser "  und  „Lohengrin"  durchaus  abweichende 
Wort-  und  Tonsprache  des  „Tristan"  entfremdete  ihm  sogar  einen 
Theil  deijenigen  Kunstfreunde,  welche  ihm  bis  dahin  gefolgt  waren. 
Ausserdem  hielt  man  sich  überzeugt,  dass  die  Schwierigkeiten 
der  Ausführung  unüberwindhch  seien,  nachdem  die  in  Carlsruhe 
und  Wien  gemachten  Anstrengungen,  das  Werk  zur  Aufführung 


*)  „Beethoven"  S.  10.    Abgednickt  in  den  ges.  Schriften  IX.  S.  38. 


XII.     Kicixard  AVagner.  195 

ZU  bringen,  kein  Ergebniss  gebabt  hatten.  Unter  diesen  Umstän- 
den bescbloss  AVaguer  im  Jahre  1859  noch  ein  drittes  mal  an 
die  EmpfängUchkeit  des  pariser  Publicums  zu  appelliren;  doch 
sollte  er  auch  diesmal  in  seinem  Glauben  an  die,  beim  Erscheinen 
Gluck's  so  unzweideutig  hervorgetretene  Kunsteinsicht  der  Fran- 
zosen getäuscht  werden.  Denn  obwohl  durch  eine  Reihe  glän- 
zender und  künstlerisch  gelungener  Concerte  im  italienischen 
Theater  (Anfang  1860)  mit  der  neuen  Musikrichtung  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  vertraut  gemacht,  fühlte  sich  doch  das  Publicum 
bei  den  im  März  1861  folgenden  Aufführungen  des  „Tannhäuser" 
derart  in  seinen  künstlerischen  Gewohnheiten  verletzt  und  äusserte 
sein  Missfallen  in  so  rücksichtsloser  Weise  —  selbst  ein  so 
erfahrener  Kritiker  und  dem  Fortschritt  ergebener  Musiker  wie 
Berlioz  schloss  sich  bei  dieser  Gelegenheit  dem  fast  allgemeinen 
Verdammungsurtheile  an!  —  dass  dem  Autor  nichts  übrig  blieb, 
als   seine  Partitur  nach  der   dritten  Aufführung   zurückzuziehen. 

Wiederum  um  eine  Hoffnung  ärmer  verliess  Wagner  Paris 
und  wandte  sich,  da  inzwischen  der  seit  1849  auf  ihm  ruhende 
Bann  gehoben  war,  nach  Deutschland,  wo  die  Zahl  der  Freunde 
seiner  Kunst  von  Jahr  zu  Jahr  zugenommen  und  sich  die  Theil- 
nahme  für  ihn  in  Folge  der  pariser  Ereignisse  noch  gesteigert 
hatte.  Eine  bleibende  Stätte  seines  AVirkens  zu  finden,  konnte 
ihm  freilich  auch  jetzt  noch  nicht  gelingen.  Da  trat  der  für  seine 
Künstlerlaufbahn  verhängnissvolle  Zeitpunkt  der  Thronbesteigung 
Ludwig's  II.  von  Bayern  ein.  Dieser  Fürst,  schon  seit  dem 
Knabenalter  von  Liebe  und  Vertrauen  zu  Wagner's  Kunst  beseelt, 
zögerte  keinen  Augenblick,  den  Meister  zu  sich  nach  München 
zu  berufen  (1864)  und  ihm  die  reichen  musikalischen  Mittel,  welche 
seine  Residenz  bot,  zur  unbeschränkten  Verfügung  zu  stellen. 
Wagner  gehorchte  dem  Rufe  und  die  nächsten  Folgen  seiner 
Uebersiedlung  waren  die  Errichtung  einer  Musikschule  nach  seinem 
Plane*)  sowie  die  Aufführung  von  „Tristan  und  Isolde"  (1865) 
unter  Mitwirkung  des  Schnorr' sehen  Ehepaares  in  den  Titel- 
rollen und  unter  Leitung  Hans  von  Bülow's,  wobei  es  sich 
erwies,  dass  das  früher  als  unausführbar  bezeichnete  AVerk  bei 
voller  Hingabe  seitens  der  dabei  betheiligten  Künstler  seine  Wir- 
kung nicht  verfehle. 

Hiermit  sind  wir  zu  der  dritten  Lebensperiode  des  Meisters 

*)  Die  Einzelheiten  desselben  enthält  Wagner's  „Bericht  an  S.  M.  den 
König  Ludwig  II.  voti  Bayern  über  eine  in  München  zu  errichtende  deutsche 
Musikschule"  (ges.  Schriften  VIII.  S.  159.) 

13* 


196  XII.     Rictiara  "Wagner. 


gelangt  —  wenn  nämlich  die  zweite  von  dem  Erscheinen  seines 
„Rienzi"  datirt  werden  muss  —  und  haben  demnach  die  Grenze 
erreicht,  welche  dieser  kurzen  Darstellung  am  Eingang  derselben 
gezogen  wiu-de.  Die  nun  folgenden  Hauptmomente  seiner  Lauf- 
bahn sind  von  den  Kunstfreunden  auch  der  jüngsten  Generation 
gleichsam  persönhch  miterlebt  und  bedürfen  kaum  noch  besonders 
hervorgehoben  zu  werden.  Wie  Wagner  auch  in  München  seinen 
Thätigkeitsdrang  derart  gehemmt  sah,  dass  er  schon  Ende  1865 
die  Stadt  wieder  verlassen  musste;  wie  er  dann  in  der  ländHchen 
Einsamkeit  seiner  Villa  Tribschen  bei  Luzern  seine  „Meister- 
singer von  Nürnberg"  vollendete*)  und  mit  der  ersten  Auf- 
führung dieses  Werkes  in  München  1868  trotz  aller  dort  wirkenden 
Gegenströmungen,  einen  Triimiph  erlebte,  der  alle  seine  früheren 
Erfolge  in  Schatten  stellte ;  wie  er  endhch  im  Anfang  unseres 
Jahrzehnts  den  Gedanken  der  Bayreuther  Festspiele  erfasste, 
und  ungeachtet  der  Kühnheit  dieses  Planes  so  warme  Theil- 
nahme  dafür  fand,  dass  schon  1872  (am  22.  Mai,  dem  neummd- 
fünfzigsten  Geburtstag  des  Künstlers)  der  Grundstein  des  zu 
diesem  Zwecke  zu  errichtenden  Theaters  gelegt  werden  konnte 
—  alles  dies  lebt  noch  frisch  hn  Gedächtniss  der  Zeitgenossen. 
Ebenso  das  bedeutungsvollste  Ereigniss  in  Wagner's  Leben,  das 
von  den  Zweiflern  noch  bis  zum  letzten  Tage  für  unmöghch 
gehaltene  Zustandekommen  der  Festspiele  in  Bayreuth 
(1876)  und  die  zu  ihrer  Eröffnung  bestimmte  Darstellung  der 
Nibelungen-Trilogie. 

Giebt  es  überhaupt  eine  Entschädigung  für  die  Leiden  und 
Täuschungen,  welche  dem  seiner  Zeit  vorauseilenden  Künstler 
niemals  erspart  bleiben,  so  sollte  sie  Richard  Wagner  an  diesen 
denkwürdigen  Tagen  in  ungewöhnlich  reichem  Maasse  zu  theil 
werden;  denn  hier  konnte  er  zm-  Gewissheit  gelangen,  dass 
die  deutsche  Nation,  wenn  sie  auch  begreiflicherweise  in  Bay- 
reuth nur  diu-ch  einen  kleinen  Bruchtheil  vertreten  war,  sich 
ihm  vertrauensvoll  anschliesse  imd  seine  Bemühimgen  um  die 
deutsche  Kunst  zu  würdigen  gelernt  habe.  Und  mancher  von 
den  Festgästen,  sofern  er  sich  nicht  durch  die  bei  der  Neuheit 
des  Unternehmens  unvermeidhchen  äusseren  Mängel  den  Empfäng- 
lichkeitssinn trüben  Hess,  sondern  sich  der  weihevollen  Stinnnung, 
wie  sie  die  Abgeschiedenheit  des  Ortes  und  das  Zusammentreffen 


I 


*)  Der  Entstehungszeit  nach  finden  die  „Meistersinger"  ihren  Platz 
zwischen  „Tannhäuser"  und  „Lohengrin",  denn  die  Dichtung  wurde  von 
Wagner  bereits  1845  während  eines  Aufenthaltes  in  Marienbad  skizzirt. 


XII.    Rjcliard  "Wagner.  197 


Tausender  von  Gleichgesinnten  mit  sich  brachten,  unbefangen 
hingab  —  mancher  von  ihnen  wird  während  jener  Tage  die,  fast 
ein  Jahrhundert  zuvor  (im  HiubHck  auf  Gluck)  ausgesprochenen 
prophetischen  Worte  Herder's  in  ihrer  vollen  Bedeutung  empfun- 
den haben:  der  Fortgang  des  Jahrhunderts  wird  uns  auf  einen 
Mann  führen,  der  den  Trödelkram  wortloser  Töne  verachtend, 
die  Nothwendigkeit  einer  innigen  Verknüpfung  menschlicher  Em- 
pfindung und  der  Fabel  selbst  mit  seinen  Tönen  einsah.  Von 
jener  Herrscherhöhe,  auf  welcher  sich  der  gemeine  Musikus 
brüstet,  dass  die  Poesie  seiner  Kunst  diene,  stieg  er  hinab  und 
Hess  den  Worten  der  Empfindung,  der  Handlung  selbst  seine 
Töne  nur  dienen.  Er  hat  Nacheiferer;  und  vielleicht  eifert 
ihm  bald  Jemand  vor,  dass  er  nämlich  die  ganze  Bude 
des  zerschnittenen  und  zerfetzten  Opern-Klingklangs 
umwerfe,  und  ein  Odeum  aufrichte,  ein  zusammenhän- 
gend lyrisches  Gebäude,  in  welchem  Poesie,  Musik, 
Action,  Decoration  Eins  sind. 


A^ntLang, 


Beilage  I. 

Tal>elle 

zur  Einprägung  einiger  musikhistorisch  wichtiger  Jahreszahlen. 


So  wenig  es  von  dem  Leser  zu  erwarten  ist,  dass  er  die  im 
Verlauf  dieser  kurzen  Darstellung,  geschweige  die  in  ausfiihr- 
liclien  "Werken  über  Musikgeschiclite  vorkommenden  JabreszaMen 
dem  Gedäcbtniss  einpräge,  so  muss  doch  das  Festhalten  einiger 
weniger  Daten,  um  welche  herum  sich  dann  die  übrigen  That- 
sachen  gi'uppiren,  als  unerlässUche  Bedingung  des  erfolgreichen 
Studiums  bezeichnet  werden.  Um  dies  zu  erleichtem,  habe  ich 
(zunächst  für  meine  Zuhörer  in  der  berliner  Neuen  Akademie 
der  Tonkunst)  auf  nachfolgender  Tabelle  den  Jahreszahlen  aus 
der  Musikgeschichte  gewisse  aus  der  allgemeinen  Geschichte  wohl- 
bekannte Zahlen  gegenüber  gestellt,  bei  deren  Auswahl  übrigens 
nicht  die  gegenseitigen  Beziehungen,  sondern  lediglich  der  mnemo- 
technische Zweck  bestimmend  war,  wenn  auch,  der  Tendenz  des 
Buches  entsprechend,  jene  Beziehungen  zwischen  der  musikalischen 
und  der  weltgeschichtHchen  Entwickelung  nach  Möglichkeit  be- 
rücksichtigt worden  sind. 


200 


Das  A-ltertlium  und.  das  Mittelalter. 


753.  Gründung  Rom's  durch  Romu-      776. 
lus  und  Renius. 

600.   Solon,  Gresetzgeber  Athens,  ein      600. 
Gegner  der  dramatischen  Dar- 
stellungen. 

490.   Sieg    der    Grriechen    über    die       472. 
Perser  bei  Marathon. 

429.   Tod  des  Perikles. 

404.  Ende     des     peloponnesischeu      405. 

Krieges;  Uebergang  der  Hege- 
monie in  Griechenland  von 
Athen  an  Sparta. 

338.  Schlacht  bei  Chäronea.  Untei- 
gang  der  griechischen  Freiheit. 

336.  Thronbesteigung  Alexander's 
d.  C4r. 


n.  Chr. 


Anfang  der  olympischen  Fest- 
spiele und  der  Olympiaden- 
Zeitrechnung. 

Thespis  vermittelt  den  Ueber- 
gang von  der  Dionysos -Feier 
zur  Tragödie. 

Die  attische  Tragödie  erreicht 
mit  Aischylos  ihren  Höhepunkt. 
Aufführung  der  „Perser". 
Trennung  des  Dichterberufs  von 
dem  des  Musikers  beiEuripides. 
Blüthe  der  attischen  Komödie. 
Aufführung  der  „Frösche"  von 
Aristophanes.    Ausbildung  der 
sophistischen  Philosophie. 
Ausbildung  der  Redekunst. 
Bemosthenes  f  322. 
Aristoteles  f  322.  Sein  Schüler, 
der  Musik-Theoretiker  Aristo- 
xenos. 


Tod  des  Kaisers  Nero. 


333. 


Constantin  d. 

Christenthum 
gion. 


zur 


erhebt  das 
Staatsreli- 


375.  Beginn  der  Tölkerwanderung. 


67.  Kunstreisen  Nero-s  in  Italien 
und  Griechenland. 

314.  Papst  Sylvester  stiftet  zu  Rom 
die  erste  Singschule. 

367.  Das  Concil  von  Laodieea  ver- 
bietet den  Gemeindegesang. 

386.  Der  Bischof  Ambrosius  führt 
den  nach  ihm  benannten  Gesang 
in  der  Mailänder  Kirche  ein. 


526.  Theodorich  d.  Grr.  f     König 
des  Ostgothenreiches  in  Italien. 

622.    Gründung    des  Islam's,  durch 

Muhamed. 
814.  Karl  d.  Gr.  f- 


1077.  Kaiser  Heinrich  IV.  thut  zu 
Canossa  Busse  vor  dem  Papst 
Gregor  VII. 


524.  Boetius  f  Der  letze  Philosoph 
und  Musiktheoretiker  des  Al- 
terthums  am  Hofe  Theodorichs. 

604.  Papst  Gregor  d.  Gr.  t  Schöpfer 
des  Gregorianischen  Gesanges. 

840—930  Hucbald.  Erste  Versuche 
einer  mehrstimmigen  Musik 
(Organum  oder  Diaphonie). 
1024.  Papst  Johann  IX.  Guido  von 
Arezzo's  Gesanglehrmethode 
und  Verbesserung  der  Noten- 
schrift. 


Seilage. 


201 


1270.  Ende  der  Kreuzzügre.  1200. 


1305—1377.    Aufenthalt   der   Päpste       1380. 
in  Avig-non. 

1453.   Eroberung  von  Constantiiiopel       1476. 
durch  die  Türken. 


1492.  EntdeckungvonAmerika  durch       1490. 
Columbus. 

1517.  Martin    Luther    schlägt    95      1521. 
Thesen  wider  den  Ablasshan- 
del   an    die    Schlosskircbe    in 
Wittenberg. 

1563.  Ende  des  Tridentiuer  Concils.      1565. 


1572.  Die  Bartholomäusnacht  oder      1570. 
Pariser  Bluthochzeit. 

1600.  Vermählung    Heinrich's    IV.      1600. 

von  Frankreich  mit  Maria  von 
Medici  in  Florenz. 


Franco  von  Cöln,  der  älteste 
Schriftsteller  über  die  Mensu- 
ralmusik. 

Der     Niederländer     Wilhelm 
Dufay  Mitglied  der  päpstlichen 
Sängercajielle  zu  Rom. 
Der    Niederländer    Tinctoris 
veröffentlicht    das   erste  musi- 
kalische  Lexicon:     „Termino- 
rum  musicae  diffinitorium". 
Adrian  Willaert,   Begründer 
der  venetianischen  Schule,  zu 
Brügge  geboren. 
Josquin    des    Vrhs    f     Dei 
niederländische      Contrapunkt 
auf    der     Höhe     seiner     Ent- 
wickelung. 

Aufführung  der  drei  6-stimmi- 
gen,  Philipp  II.  gewidmeten 
Messen  Palestrina's  unter 
denen  die  „Missa  Papae  Mar- 
eeUi." 

Orlandus  Lassus,CapelLmeister 
in  München,  vollendet  seine 
Bnsspsalmen. 

Erste  Aufführung  des  Musik- 
Drama  Euridice  vonRinuccini, 
Musik  von  Peri,  sowie  des 
geistlichen  Musik -Drama  La 
rappresentazione  dl  anima  e 
dl  corpo  von  Cavaliere. 


Die  Neuzeit. 


1618-1648.    Der 
Krieg. 


dreissigrjährige 


1675.  Schlacht  bei  Fehrbellin.    Der 

grosse  Kurfürst  schlägt  die 
mit  Frankreich  verbündeten 
Schweden. 


1627.  Das  erste  Erscheinen  der  Oper 
in  Deutschland.  (Aufführung 
der  „Dafne"  von  Rinuccini, 
bearljeitet  von  Opitz  mit  Musik 
von  Schütz  in  Torgau.) 

1637.  Gründung  des  ersten  öffent- 
lichen Operntheaters ,  des 
Teatro  Cassiano  in  Venedig. 

1672.  Lully  gewinnt  die  Alleinherr- 
schaft über  das  0pernwes3n 
in  Prankreich. 


202 


Beilage. 


1685.  Aufhebung  des  Edictes  von 
Nantes.  700,000  Hugenotten 
finden  in  Deutschland  eine  Zu- 
flucht. 

1701.  Preussen  unter  Friedrich  I. 
zum  Königreich  erhoben. 

1725.  Peter  d.  (Jr.  f  Russland  un- 
ter die  europäischen  G-ross- 
mächte  aufgenommen. 


1740.  Thronhesteigung  Friedrieh's 
d.  Gr. 


1756.  Anfang    des    siebenjährigen 

Krieges. 
1774.  Thronbesteigung        Ludmg's 

XVI.  von  Frankreich. 
1793.  Hinrichtung  Ludwig's  XTI. 


1805.  Schlacht  bei  Austerlitz.  INa- 
poleon  I.  in  Wien. 

1809.  Schlacht  bei  Wagram.  Na- 
poleon I.  in  Schönbrunn. 

1813.  Völkerschlacht   hei  Leipzig. 


1821.  Tod  Napoleon's  I.  auf  St.  He- 
lena. 


1685.  Bach  und  Händel  geboren. 


1703.  Händel  beginnt  seine  Wirk- 
samkeit an  der  Oper  zu^Ham- 
hurg. 

1725.  Alessandro  Scarlatti  f  Die 
von  ihm  begründete  neapoli- 
tanische Schule  gelangt  in 
ganz  Europa  zur  Herrschaft. 

1729.  Erste  Aufführung  von  Baches 
Matthäus-Passion  zu  Leipzig. 

1740.  Händel  beschHesst  seine  Thä- 
tigkeit  als  Opemcomponist  und 
widmet  sich  ganz  dem  Ora- 
torium. 

1756.  Mozart  geboren. 

1774.  Erste  Aufführung  von  Gluck's 

Iphigenia  in  Aulis   zu  Paris. 
1795.   Gründung  des  Pariser  „€on- 

servatoire  de  musique  et  de 

declamation." 
1805.  Erste   Aufführung    von    Beet- 

hoven's  Fidelio  zu  Wien. 
1809.  Joseph  Haydn  f  zu  Wien. 

1813.  Richard  Wagner  geboren. 
Erste  Aufführung  von  Rossini 's 
Tancred  zu  Venedig. 

1821.  Erste  Aufführung  von  Weher's 
Freischütz  zu  Berlin. 


Beilage  IL 
Verzeichniss  neuer  Ausgaben  alter  Musikwerke. 


Unter  diesem  Titel  hat  Robert  Eitner  eine  Arbeit  ver- 
öffentlicht (BerUn,  Trautwein  1871)  die  allen  Freunden  der 
Musikgeschichte  willkommeu  sein  wird,  welche  auf  praktischem 
"Wege  in  den  Geist  der  älteren  Tonkunst  einzudringen  wünschen 
und  nicht  Gelegenheit  haben,  zu  den  Quellen  hinabzusteigen. 
Für  die  Leser  meines  Buches  linden  sich  hier  aus  dem  von  Eitner 
gesammelten  reichen  Vorrath  diejenigen  Ausgaben  zusammen- 
gestellt, welche  mir  zum  Beginn  dieses  Studiums  und  als  Er- 
gänzung meiner  „Vorlesungen"  besonders  geeignet  erschienen,  so 
wie  auch  einige  dort  nicht  aufgenommene  Publicationen : 

1.  Altgriechische  Musik, 

Friedrich  Bellermanu,  die  Hymnen  des  Dionysius  und  Mesomedes. 
Berlin  1840.  (Drei  Melodien  mit  Ciavierbegleitung).  —  C.  F.  Weitzmaun, 
Geschichte  der  griechischen  Musik.  Berlin  1855.  (sämmtliche  noch  vor- 
handene Proben  altgriechischer  Melodien  und  vierzig  neugriechische  Volks- 
melodien.) 

2.  Die  Musik  der  ersten  christlichen  Zeiten. 

Coussemaker,  Histoire  de  t'harmonie  im  moyen  age.  Paris  1852.  (Ge- 
sänge aus  dem  9.  bis  14.  Jahrhundert,  Facsimile  und  Uebertragung  in  mo- 
derne Notation,  u.  a.  zwei  Oden  des  Boetius.)  —  SchuWger,  die  Sänger- 
schule  St.  Gallens  vom  8.  bis  12.  Jahrhundert.  Einsiedeln  und  New-York 
1858.!  (Acht  Tafeln  Facsimile  und  einstimmige  Gesänge  von  Notker  Bal- 
bulus,  Ekkehard  I.  u.  a.). 


204 


3.  Die  Anfänge  der  mehrstimmigen  Musik. 

Kiesewetter,  Gl-eschichte  der  europäiscli-abendländisclien  Musik.  Leipaig 
1846,  nebst  Beilagen :  Die  ältesten  Monumente  eines  figurirten  Contrapunkts. 
(Adam  de  la  Haie,  Guillaume  de  Macliault  u.  a.).  —  Ambrös,  Geschichte 
der  Musik.  Leipzig,  Leuckart  1864.  Band  II.  S.  309  fif.).  —  Heinrich 
Bellermaun,  Die  Mensuralnoten  und  Taktzeichen  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts. Berlin  1858,  sowie  dessen  Contrapunkt,  2te  Auflage,   Berlin  1877. 

4.  Die  Musik  der  Minnesänger  und  der  Meistersinger.  Das 
Volkslied. 

Friedr.  Heinr.  toh  der  Hagen,  Minnesänger.  Deutsche  Liederdichter 
des  12.  13.  und  14.  Jahrhunderts,  mit  zahlreichen  alten  Melodien  in  Ori- 
ginal-Notation in  Bd.  IV.  S.  766 — 932.  —  De  Laborde,  Essai  sur  la  musique 
(ohne  Nennung  des  Autors)  Paris  1758.  Enthält  Band  IL  S.  235  die  Q-e- 
sänge  des  Troubadours  Chätelain  de  Coucy  und  Band  IV.  (Anhang)  eine 
Anzahl  altfranzösischer  mehrstimmiger  Chansons.  —  Forkel,  Geschichte  der 
Musik.  IL  S.  757—772.  —  Ambros,  Geschichte  der  Musik.  IL  S.  248—265. 
F.  W.  Arnold,  Deutsche  Volkslieder  aus  alter  und  neuer  Zeit  gesammelt 
und  mit  Ciavierbegleitung  versehen.  Sieben  Hefte  ä  M.  3.  Elberfeld  bei 
F.  "W.  Arnold.  —  Robert  Franz,  sechs  altdeutsche  Lieder  für  eine  Sing- 
stimme mit  Begleitung  des  Pianoforte.  Beilage  zu  ,, Robert  Franz"  von 
August  Saran.  Leipzig ,  Leuckart.  —  August  Saran ,  30  altdeutsche 
Volksmelodien  (aus  Franz  M.  Böhme's  altdeutschem  Liederbuch)  für  eine 
Singstimme  mit  Clavierbegleitung.  Leipzig ,  Breitkopf  &  Härtel.  Preis 
Mark  5.  —  C.  F.  Becker,  Lieder  und  "Weisen  vergangener  Jahrhunderte. 
Zweite  Auflage  1853.  —  Aug.  Keissmann,  Das  deutsche  Lied  in  seiner 
historischen  Entwickelung.  Mit  Musikbeilagen:  33  Lieder  aus  dem  15.  16. 
17.  und  18.  Jahrhundert.  Cassel  1861.  —  Wilh.  Tai)pert,  deutsche  Lieder 
aus  dem  15.  16.  und  17.  Jahrhundert  für  eine  Singstimme  mit  Begleitung 
des  Pianoforte.  Berlin,  C.  A.  Challier  &  Co.  Enthaltend  Lieder  aus  dem 
sog.  Lochheimer  Liederbuche,  den  Sammlungen  von  Job.  Ott  und  G.  Forster 
(Nürnberg)  etc.  —  Adam  de  la  Haie  Le  jeu  de  Robin  et  de  Marion,  Paris, 
Firmin  Didot  (auf  Veranlassung  der  Societe  des  Bihliopliiles  in  30  Exem- 
plaren gedruckt).  —  W.  Tappert,  zwei  Lieder  aus  Robin  und  Marion  mit 
Clavierbegleitung.  Berlin,  ChalUer  &  Co.  Mark  1.  —  Eduard  Kremser, 
sechs  altniederländische  Volkslieder  aus  der  Sammlung  des  Adrianus  Valerius 
vom  Jahre  1626,  für  Tenor  und  Bariton-Solo,  Männerchor  mit  Orchester 
oder  Pianoforte.  Leipzig,  Leuckart.  Partitur  M.  10,00.  Ciavierauszug 
M.  2.  40.  —  J.  B.  Wekerlin,  Echos  d)i  temps  passe.  Sammlung  weltlicher 
Gesänge  und  Volkslieder  meist  französischen  Ursprungs  mit  Clavierbeglei- 
tung, drei  Bände.  Paris,  G.  Flaxland  (Durand,  Schönewerk  &  Co.).  Ent- 
hält Melodien  der  Troubadours,  zwei  Gesänge  aus  „Robin  und  Marion", 
Arien  und  Chansons  von  Lully,  Rameau,  Campra,  Rousseau,  sowie  Tanz- 
und  Trinklieder  nebst  historischen  Notizen. 


Beilage.  205 

5.  Das  Zeitalter  der  Niederländer. 

Franz  Commer,  Colleciio  operum  musicorum  batavorum  saectili  XVI. 
Zwölf  Bände.  Berlin,  Trautwein.  Enthält  mehrstimmige  (xesänge  von  Jos- 
quin  des  Pres,  AVillaert,  Orlandus  Lassus  etc.  in  Partitur.  —  Kiesewetter, 
(■reschichte  der  europäisch -abendländischen  Musik,  nel)st  Beilage  (mehr- 
stimmige Gesänge  von  Dufay,  Ockenheim  etc.).  —  Forkel,  Geschichte  der 
Musik,  enthält  u.  a.  Band  II.  S.  •542  Josquin  des  Prfes'  fünfstimmige  Deplo- 
ration  de  Jehan  Okenheivi.  —  Ambros,  Gesch.  d.  Musik.  Bd.  II.  (Musik- 
beilagen: Dufay,  Dvmstable  u.  a.). 

6.  Geistliche  Musik  des  16.— 18.  Jahrhunderts. 

^ustay  Bock;  Musiea  sacra,  vierzehn  Bände.  Gesänge  älterer  Meister, 
grösstentheils  aus  den  Programmen  des  berliner  Domchors.  Berlin,  Bote 
&  Bock.  Partitur  und  Stimmen.  (Mit  "Werken  von  Palestrina,  Vittoria, 
Morales,  AUegri;  A.  Scarlatti,  Leo,  Durante,  Jomelli;  Lotti,  Caldara,  Mar- 
cello;  Orlando  Lasso,  Hans  Leo  Hasler,  Eccard,  Prätorius,  Heinrich 
Schütz  u.  a.).  —  Eccard,  geistliche  fünfstimmige  Lieder,  nach  den  Königs- 
berger Originalausgaben  von  1597,  herausgegeben  von  G.  W.  Teschner, 
Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.  2  Theile.  —  Eccard  und  t>toVäus,  preussische 
Festlieder  auf  das  ganze  Jahr  für  .5,  6,  7  und  8  Stimmen,  herausgegeben 
von  demselben.  Ebenda.  2  Theile  k  M.  10.  50  und  M.  13,  50.  —  Denk- 
mäler der  Tonkunst.  Bergedorf  bei  Hamburg  1879.  Vier  Bände.  Sub- 
scriptionspreis  M.  12.  Band  I.  Vierstimmige  Motetten  von  Palestrina,  her- 
ausgegeben von  H.  Bellermann.  Band  II.  Vier  Oratorien  von  Carissimi, 
herausgegeben  von  F.  Chrysander.  —  Heinrich  Schütz,  Historia  des  Leidens 
und  Sterbens  unseres  Herrn  und  Heilands  Jesu  Christi.  Aus  dessen  „Vier 
Passionen"  zusammengestellt  und  herausgegeben  von  Carl  Riedel-  Leipzig, 
E.  W.  Fritzsch.  Partitur  M.  5,00.  Stimmen  k  M.  1.  50.  —  Bernh.  Kothe, 
Musiea  sacra.  Sammlung  von  Hymnen  und  Motetten  für  Männerstimmen, 
der  Mehrzahl  nach  den  älteren  Classikern  entnommen.  Leipzig,  Leuckart.  — 
Franz  Commer,  Caniica  sacra.  Sammlung  geistlicher  Arien  aus  dem  16. 
bis  18.  Jahrhundert  für  eine  Sopranstimme  mit  Ciavierbegleitung.  Berlin, 
T.  Trautwein  ä  M.  — .  40.  bis  M.  1.  —  Winterfeld,  der  evangelische  Kir- 
chengesang und  sein  Verhältniss  zur  Kunst  des  Tonsatzes.  Drei  Bände. 
Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.  Die  Musikbeilagen,  505  Tonsätze  in  Partitur 
(auch  besonders  erschienen)  enthalten  u.  a.  eine  Anzahl  von  Arien  und 
Duetten  aus  den  geistlichen  Werken  von  Reinhard  Keiser.  —  Jomelli, 
Miserere.  Partitur  mit  Porträt  des  Componisten  und  einer  historischen  Notiz 
von  Domenico  Bertini.  —  Marcello,  Miserere  (Desgl.).  —  Pergolese,  Stahat 
mater.     (Desgl.  mit  Notiz  von  Casamorata)  Florenz,  G.  G.  Guidi  (k  fr.  10). 

7.  Opernmusik,    a.  Italienische  Oper. 

Jacopo  Peri,  Euridice,  Partitur  mit  beziffertem  Bass.  Florenz, 
G.  G.  Guidi.  Pr.  Fr.  4.  —  F.  A.  Gevaert,  Les  Gloires  de  TItalie.  Ge- 
sänge für  eine  und  zwei  Stimmen  mit  Ciavierbegleitung  aus  Opern  von  Peri, 


206  Beilage. 

Monteverde,  Cavalli,  A.  Scarlatti,  Leo,  Jomelli,  Pergolese,  Hasse,  Sarti, 
Paisiello,  sowie  aus  den  Nuove  musiehe  von  Caccini  und  den  weltlichen 
Cantaten  von  Carissimi.  Paris,  Heugel  &  Co.  Zwei  Bände  je  30  Nummern 
enthaltend  k  Fr.  25. 

b.  Französische  Oper. 

Lully,  Le  bourgeois  gentilhomme,  Comedie-BaUet.  Vollständiger  Cia- 
vierauszug von  J.  B.  Wekerlin,  mit  dem  Porträt  des  Componisten  und  einer 
Vorrede.  Paris,  Durand,  Schoenewerk  &  Co.  Preis  Fr.  7.  —  Fran<jois  Del- 
sarte,  Ärchives  du  cliant.  Paris,  im  Selbstverlag  des  Verfassers.  Enthält 
unter  der  Rubrik  Chefs-d'oeuvre  lyriques  des  16.  17.  et  18.  siecles  Gesänge 
aus  den  Opern  des  LuUy,  Rameau,  Duni,  Philidor,  Monsigny,  Gretry. 

c.  Deutsche  Oper. 

Lindner,  die  erste  stehende  deutsche  Oper.  Berlin,  Schlesinger  1855. 
Band  II.  Neun  Compositionen  aus  den  Opern  von  Reinhard  Keiser  im 
Ciavierauszug.  —  J.  A.  Hiller,  „Der  Krieg"  komische  Oper  in  drei  Acten 
(1773)  und  „Die  Liebe  auf  dem  Lande"  (desgl.  1770)  Ciavierauszug  ä  M.  4.  50. 
Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.  —  A.  Reissmaun,  allgemeine  Geschichte  der 
Musik.  München  18  53.  Mit  Beispielen  aus  den  Opern  von  R.  Keiser,  Graun, 
Hasse,  Händel  u.  a. 

8.  Englische  Vocaimusiic. 

Musical  antiqnarian  Society.  Die  von  dieser  Gesellschaft  veröffent- 
lichten mehrstimmigen  geistlichen  und  Madrigal-Compositionen  von  "W.  Bird, 
Dowland,  Gibbons,  Morley  u.  a.  sind  nur  antiquarisch  zu  haben.  —  Die 
PurceU-Society  hat  eine  neue  Ausgabe  der  Compositioiien  dieses  Meisters 
mit  dessen  Yorkshire  Feast-Song  begonnen  (im  Ciavierauszug  von  Cum- 
mings  erschienen  in  London)  denen  die  dramatischen  "Werke  folgen  werden 
(Leipzig  bei  Breitkopf  &  Härtel.  Preis  des  Jahrgangs  M.  21).  —  W.  Chap- 
pell,  The  Ballad  Literature  and  populär  Music  of  the  olden  Urne.  Eine 
Sammlung  englischer  Volksgesänge,  harmonisirt  von  G.  A.  Macfarren.  Zwei 
Bände.  —  Sir  John  Hawkins,  A  general  history  of  the  science  and  practice 
of  music.  Zwei  Bände,  neu  aufgelegt  von  Novello,  Ewer  &  Co.  in  London, 
enthält  zahlreiche  Notenbeispiele,  besonders  älterer  englischer  Vocalcompo- 
nisten.  —  J.  Maier,  Auswahl  englischer  Madrigale  für  gemischten  Chor  mit 
deutschem  Text.     Drei  Hefte.     Leipzig,  F.  E.  C.  Leuckart. 

9.  Instrumentalmusik,    a.  Für  die  Orgel. 

Franz  Commer,  Sammlung  von  Orgelcompositionen  des  Hi. — 18.  Jahr- 
hunderts (6  Hefte,  Leipzig,  F.  E.  C.  Leuckart),  enthält  Stücke  von  Frescobaldi, 
Caldara  u.  a.  —  Grustav  Bock,  Musica  sacra.  Band  I.  mit  Compositionen 
von  Claudio  Merulo,  Frescobaldi,  Froberger  u.  a.,  herausgegeben  von  Franz 
Commer.    . 


Beilage.  207 

b.  Für  das  Ciavier. 

Alte  Meister.  Sammlung  werthvoller  Ciavierstücke  des  17.  und  18. 
-Jahrhunderts,  herausgegeben  von  E.  Pauer.  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel. 
Vierzig  Nummern,  darunter  Compositionen  von  Kuhnau,  Fi'oberger,  Mat- 
theson,  Rameau,  Couperin,  Padre  Martini,  den  drei  Söhnen  Seb.  Bach's  etc. 
—  ClavierstUcke  aus  den  Concertprogrammen  von  Frau  Szarvady  geb. 
C  lau  SS.  Leipzig,  B.  Senff.  Drei  Hefte  k  M.  3.  —  Weitzmann,  Geschichte 
des  Clavierspiels  und  der  Ciavierliteratur.  Stuttgart  1863  (erscheint  dem- 
nächst in  2.  Auflage).  Mit  einer  Musikbeilage  enthaltend  Compositionen 
von  Cl.  Merulo,  Frescobaldi,  Pasquini,  Durante,  D.  Scarlatti,  Bird,  Cübbons, 
Purcell,  Couperin,  Froberger  u.  a.  —  Rimbault,  The  Pianoforte,  its  origin, 
progress  and  construction  etc.  London,  Robert  Cocks.  Mit  zahlreichen 
Beispielen  älterer  Ciaviermusik.  —  Les  Iboniies  traditious  du  pianiste, 
3  Bände,  Paris,  Flaxland.  —  DenkmUler  der  Tonkunst.  Bergedorf  bei 
Hamburg.  Band  IV  enthält  Couperin's  Ciavierstücke,  herausgegeben  von 
J.  Brahms.  —  C.  Ph.  Em.  Bach,  fünf  Sammlungen  von  Claviercompositionen 
mit  einer  Vorrede  von  E.  F.  Baumgart.  Leipzig,  Leuckart.  —  Old  Eng'lish 
Composers  for  the  Virginal  and  Harpsieliord.  Compositionen  von  Bird, 
John  Bull,  Gibbons.  Purcell  etc.,  herausgegeben  von  E.  Pauer,  mit  bio- 
graphischen Notizen  von  W.  A.  Barrett.  London,  Augener  &  Co.  — 
50  Harpsichord  Lessons  by  Domenico  Scarlatti,  bearbeitet  von  E.  Pauer. 
Ebenda.  —  C.  F.  Becker,  Op.  32.  Die  Hausmusik  in  England  etc.  Leipzig, 
F.  E.  C.  Leuckart. 

c.  Für  die  Violine. 

David,  die  hohe  Schule  des  Violinspiels.  Werke  berühmter  Meister 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  für  Violine  und  Ciavier  bearbeitet.  Leipzig, 
Breitkopf  &  Härtel.  20  Hefte  ä  M.  4.  50  bis  M.  5.  Compositionen  von 
Corelli,  Tartini,  Vivaldi  u.  a.  —  Alard,  die  classischen  Meister  des  Violin- 
spiels. 30  Nummern  ä  M.  2  bis  M.  3.  Mainz,  Schott.  -—  Deldevez,  Les 
violonistes  celebres  depuis  Corelli  jvsqu'ä  Viotti.  Paris,  Richault.  26  Num- 
mern. Preis  Fr.  25  (beide  Sammlungen  mit  Clavierbegleitung).  —  Denk- 
mUler der  Tonkunst.  Bergedorf  bei  Hamburg.  Band  III.  GoreWi,  Sonate 
da  chiesa  a  tre^  due  Violini  e  Violone  o  Arcileuio ,  col  Basso  per  Vorgano. 
Herausgegeben  von  J.  Joachim.  —  Witting,  Die  Kunst  des  Violiuspiels. 
Acht  Bände  ä  M.  1.  25  bis  M.  2.  50.     Wolfenbüttel,  Holle. 


Register. 


Accentus,  59. 

Accord,  91. 

Adam  de  la  Haie,  41. 

Adam,  Louis,  177. 

Aeolisch,  18.  92. 

Aischylos,  8. 

Alkan,  177. 

AUegri,  47. 

Amati,  153. 

Ambrosius,  22. 

Anakreon,  11. 

Animuccia,  122. 

Anthem,  136. 

Antiphonarium,  24. 

Antiphonisclier  oder  Wechsel-Gesang, 

15.  30.  119. 
Applicatur,  145. 
Araber,  27. 
Arie,  75.  78. 
Arion,  11. 
Aristoteles,  159. 
Aristoxenos,  12. 
Artusi,  71. 
Auber,  102. 
Aulos,  12. 

Authentisch  und  plagalisch,  22. 
Ayrer,  Jacob,  105. 
Azione  aacra  (Oratorium)  122. 

Bach,  Sebastian,  131.  92.  138.  1.55. 
Bach,  Emanuel,  146.  157.  175. 
Baif,  83. 


Baillot,  177, 

Barbaja,  79. 

Bardi,  Griovanni,  Graf  von  Vemio,  6. 

Basso  continuo,  124. 

Beethoven,   115.  157.   160.  163.  165. 

176.  183. 
Bellini,  80. 
Berger,  Ludwig,  176. 
Beriot,  de,  177. 
Berlioz,  173.  195. 

Bernhard  der  Deutsche  (Murer)  142. 
Bernhard,  Christoph,  106. 
Bertini,  Henri,  177. 
Beza,  61. 

Bird,  William,  135. 
Blasinstrumente,  im  Alterthum,  7. 

—     in  der  Neuzeit,  150. 
Blockflöte,  152. 
Boccaccio,  53. 
Boötius,  16. 
Boieldieu,  102. 
B-quadratum  (B-durum)  35. 
Bi'accio,  Viola  da,  151. 
Bratsche,  152. 
Brevis  (Mensuralmusik)  36. 
Brockes,  128. 
Buchstaben-Tonschrift,  31. 
Bülow,  Hans  von,  195. 
Bufifonisten  und  Antibuffonisten,  93. 
Bund,  bundfrei,  143. 
Bürette,  63. 
Bumey,  74. 

14 


210 


Register. 


Buttstedt,  36. 
Buxtehude,  142. 

Caccini,  63.  96. 

Caldara,  124.  76. 

Cambert,  86,  136. 

Camerata,  63. 

Campra,  91. 

Canon,  48. 

Cantate,  Kirchen-,  106.  Kammer-,  124. 

Cantus  firmus,  47.  —  planus,  23.  — 

als  Gegenstimme  zum  Tenor,  46. 
Canzone,  154. 
Carissimi,  124.  73. 
Cassiodor,  16. 
Castraten,  109. 
Cavaliere,  123. 
Cavalli,  72. 
Cherubini    102. 
Chinesen,  3. 
Chopiu,  175. 
Chor,  in  der  antiken  Tragödie,  7. 

—  in  der  französischen  Oper,  90. 

—  bei  Vittoria  (Turbae)  122. 

—  bei  Schütz,  127.  —  bei  Händel,  138. 
Choral,  der  katholische,  57. 

—  der  protestantische,  128.  133. 
Chromatik,  bei  den  Griechen,  19. 

—  in  der  modernen  Musik,  67. 
Chronik,  Limburger,  45. 
Clarinette,  152. 

Classisch,  62. 

Claviatur-Saiteninstrumente,  143. 
Clavichord,  143. 
Clavicymbel,  144. 
Ciaviersonate,  156. 
Clavierspiel,  156.  das  moderne  175. 
Clemens  v.  Alexandrien,  16. 
Clementi,  176. 
Coclius,  50. 
CoUectenton,  127.     *■ 
Coloriren,  153. 
Concentus,  59. 

Concerto,  da  Chiesa,  123.  —  das  drei- 
sätzige des  Vivaldi,  155. 


Confr&rie    de   St.  Julien    des  Mdne- 

striers,  45. 
Confucius,  3. 

Conservatorium,  pariser,  102. 
Conti,  76. 

Contrapunkt,  37,  47,  77. 
Contratenor,  46. 
Corelli,  155.  177. 
Couperin,   146. 
Cousser  (Kusser)  109. 
Cramer,  176. 
Cristofali,  148. 
Crotta,  150. 
Cuzzoni,  Francesca,  78. 
Cyklische  Formen,  155. 
Czerny,  176. 

• 

Dante,  53. 

Dauvergne,  94. 

David,  Ferdinand,  178. 

Dialogisirende  Form  (der  Laudi  spi- 

rituali)  122. 
Diaphonie;  29. 
Diatonik,  bei  den  Griechen,  20. 

—  bei  Zarlino,  70. 
Diazeuxis,  18. 
Didymus,  70. 
Diminuiren,  153. 
Diruta,  156. 
Discantus,  46. 
Dissonanzen,  bei  Josquin,  51.  —  bei 

Monteverde,  71.  —  die  Terzen  bis 

auf  Zarlino,  70. 
Dittersdorf,  114. 
Doles,  138. 
Doni,  78. 
Donizetti,  80. 

Dorisch,  17.  —  Kirchentonart,  92 
Dorn,  Heinr.,  184. 
Dowland,  135. 
Duett,  74. 
Dufay,  48. 

Dumanoir,  roi  des  violons,  45. 
Duni,  95. 
Dunstable,  134. 


Register. 


211 


Dur-  und  Mollgeschlecht,  18.  92. 
Durante,  76. 
Durchcomponirtes  Lied,  164. 

Eccard,  12Ö. 
Egypter,  6. 

Einzelgesaug,  Monodie,  64. 
Ekkehard,  25. 
Elmenhorst,  108. 
England,  134. 
Enharmonik,  19. 
Eselsfest,  120. 

Fagott,  152. 

Falscher  Bass,  Faux-Bourdon,  47. 

Fastnachtspiel,  104. 

Ferrari,  72. 

Festlieder,  preussis che,  bei  Eccard,  1 26. 

Field,  John,  176. 

Figuralgesang  (Mensuralgesang)  58. 

Flöte,  152. 

Flügel,  144. 

Forkel,  gegen  Gluck,  99. 

Franco  von  Cöln,  36. 

Franz,  Robert,  166. 

Frescobaldi,  142.  154. 

Friedrich  d.  Gr.,  77. 

Froberger,  142.  174. 

Fuge,  48. 

Fux,  76. 

<xabrieli,  A.  und  J.  71.  —  J.  154. 

Gafor,  Franchinus,  47. 

Galilei,  Vincenzo,  63. 

Gamba,  Viola  da,  151. 

Gamma,  34. 

•Gemeindegesang,  protestantischer,  57. 

Generalbass,  124. 

Gerle,  Hans,  149. 

Gerbert,  Fürstabt,  151. 

Geaualdo,  Fürst  von  Venosa,  73. 

Gibbons,  Orlando,  135. 

Glareanus,  60.  92. 

Gluck,  97. 

Gothen,  unter  Theodorich  d.  Gr.,  16. 

Oossec,  101.  102. 


Goudimel,  61. 
Graun,  77.  138. 
Gregor  d.  Gr.,  22. 
Gr^try,  95. 
Griechen,  7. 
Guameri,  153. 
Guido  von  Ai-ezzo,  32. 

Hackbrett,  148. 

Händel,  131.  78.  HO. 

Harmonia,    griech.    für    Octavengat- 

tung,  17. 
Harmonie,  bei  den  Griechen,  19. 

—  im  modernen  Sinne,  30. 
Hasler,  Hans  Leo,  126. 
Hasse,  J.  A.,  77.  138. 
Hasse,  Faustina,  78. 
Haydn,  157.  160.  112. 
Hebenstreit,  Pantaleon,  148. 
Hebräer,  6. 
Heinichen,  75. 
Herz,  Henri,  177. 
Hexachord-System,  34. 
Hilarius,  Papst,  21. 
Hiller,  J.  A,  112.  94. 
Homophoner  Stil,  156. 
Hucbald,  29.  38. 
Hummel,  176. 
Hyporchema,  153. 

Indier,  2. 

Improperien,  des  Palestrina,  61. 
Instrumental-Musikstil,  153. 
Instrumental-Musikformen,  154. 
Intermezzo  (Singspiel)  93. 
Intervalle ,    natürliche    und    tempe- 

rirte,  68. 
Jomelli,  78. 
Jongleurs,  41. 
Ionisch,  92. 
Josquin  des  Pros,  50. 
Isaak,  58. 


Kalkbrenner,  177.  175. 
Kamme  r-Cantate,  124. 


14' 


212 


Register. 


Kammer-Duett,  74. 

—  Musikstil,  73. 
Karl  d.  Gr.,  23. 
Kauer,  Ferd.,  115. 
Kayser,  Ckristopli,  113. 
Keiser,  Reinhard,  109.  129. 
Keren,  7. 

Kirchentonarten,  92. 
Klanggeschlechter,  der  Griechen,  19. 
Kreutzer,  K,  177. 
Kuhnau,  156.  174. 
Kullak,  Th.,  176. 
Kunstlied,  164. 
Kusser  (Cousser)  109. 

Lacombe,  177. 

Lassus,  Orlandus,  125. 

Laudi  spirituali,  122. 

Laute,  148. 

Leo,  Leonardo,  76. 

Lesueur,  184. 

Leute ,  fahrende  (Instrumentalmusi- 
ker) 45. 

Lied  ohne  Worte,  172. 

Liederbuch,  Lochheimer,  45. 

Liniensystem,  bei  Hucbald,  31.  —  bei 
Guido,  32. 

Liszt,  Franz,  173.  176.  188.    ' 

Lobe,  J.  C,  173. 

Longa  (Mensuralmusik),  36. 

Lortzing,  184. 

Lotti,  124. 

Lütgens,  108. 

Lully,  87. 

Luther,  Martin,  57*.  51. 

Lydisch,  17.  —  Kirchentonart,  92. 

Lyra,  12.  —  ihr  Ursprung,  140. 

Lyrische  Poesie,  bei  den  Griechen,  11. 
—  im  19.  Jahrhundert,  163. 

Machaud,  Wilhelm  von,  46. 

Madrigal,  62. 

Malherbe,  84. 

Manelli,  72. 

Mara,  Gertrude,  geb.  Schmehling,  77. 


Marcello,  125. 

Marchand,  146. 

Marchettus  von  Padua,  37. 

Marenzio,  Luca,  63. 

Marienklagen,  120. 

Marienlieder,  58. 

Marius,  148. 

Marot,  61. 

Marschner,  169. 

Martin,  Vincenzo,  79. 

Mattheson,  107.  128. 

Maxima  (Mensuralmusik),  36. 

Mehrstimmigkeit  (Polyphonie),  26.  29. 

Mehul,  102. 

Meistersinger,  43. 

Mendelssohn,  171.  138. 

Mensuralmusik,  36. 

Menuett,  157. 

Merulo,  Claudio,  142.  154. 

Mette,  Cantus  Metensis,  24. 

Meyerbeer,  102. 

Minnegesang,  42. 

Minstrels,  41. 

Mixolydisch,  92. 

Mixturen,  der  Orgel,  142. 

Modus  (Mensuralmusik)  36. 

Moll-  und  Durgeschlecht,  18.  92. 

Monochord,  143. 

Monodie,  64. 

Monsigny,  95. 

Monteverde,  71.  152. 

Morales,  122. 

Mor  alitäten,  104. 

Morlacchi,  170. 

Morley,  135. 

Motetus,  46. 

Moscheies,  176. 

Mozart,  113.  157.  160.  163. 

Müller,  Wenzel,  115. 

Murer,  Bernhard,  142. 

Muris,  Johannes  de,  37. 

Narr  euf est,  120. 
Neri,  Filippo,  122. 
Nero,  Kaiser,  13. 


Register. 


213 


Neumeister,  107. 
Neumen,  31. 
Nicolai-Bruderschaft,  45. 
Note,  quadratische,  42. 
Notendruck,  mit  beweglichen  Typen, 

52. 
Notenschrift,  31.  32.  36. 
Notker,  Balbulus,  25.  57. 
Notker,  Labeo,  25. 

Oboe,  152. 

Ockenheim,  50. 

Octave  (grosse,  kleine,  eingestrichene 

etc.)  149. 
Octavengattungen,  17. 
Olympos,  4.  20. 

Onomato-Poetica,  10.  • 

Oper,  erste,  64. 
Opitz,  Martin,  105. 
Oratorio  (Betsaal),  122. 
Organum,  29. 
Organisiren,  29.  46.  154. 
Organistrum  (Savoyardenleier)  29. 
Orgel,  141. 
Orlandus,  v.  Lassus. 
Ouvertüre,    italien.    des  A.   Scarlatti 

und  franz.  des  LuUy,  75.  155. 

Pachelbel,  142. 

Paganini,  178. 

Paisiello,  79. 

Palestrina,  61.  122.  , 

Parthie,  Partita  155. 

Partitur,  149. 

Pasquini,  142. 

Passion,  132. 

Passionsschauspiel,  121. 

Paumann  (Paulmann)  142.  149. 

Pausen,  37.  47. 

Pedal,  der  Orgel,  142. 

Pergolese,  78.  93. 

Peri,  Jacopo,  64. 

Perrin,  85. 

Petrarca,  53. 

Petrucci,  Ottav.  da  Fossombrone,  52. 


Petrus,  24. 

Philidor,  95. 

Phrygisch,  17.     Kirchentonart,  92. 

Pianoforte,  148. 

Piccini,  79.  97. 

Pietismus,  131. 

Pistocchi,  77. 

Plagalisch,  22.  * 

Plain-Chant  (cantus  planus)  23. 

Plato,  über  die  Tonarten,  19. 

Polyphoner  Stil,  156. 

Pommer,  151.  152. 

Porpora,  137. 

Praetorius,  M.,  141. 

Programm-Musik.  174. 

Psalterium,  143. 

Purcell,  136. 

Pythagoras,  12. 

Quanz,  153. 

Quarten-   (Tetrachord-)    System    der 

Grriechen,  17. 
Querflöte,  152, 
Quinault,  89. 
Quinten-Parallelen,  bei  Hucbald,  30. 

—  von  de  Huris  verboten,  37. 
Quinten-Stimmung  (nach  dem  System 

des  Pythagoras)  68. 

Rameau,  90.  146. 

Rebec,  151. 

Recitativ,  64. 

Reichardt,  163. 

Reinken,  106.  108.  142. 

Renaissance,  54. 

Richter,  108. 

Rinuccini,  64. 

Ritornell,  154. 

Rode,  177. 

Roland  de  Lattre  (Orlandus  Lassus) 

125. 
Rollet,  du,  100. 
Romantisch,  162. 
Romantische  Oper,  168. 
Romanus,  24. 


214 


Register. 


Rore,  Oyprian  de,  67. 
Rossini,  79. 
Rota  (Rotte)  150. 
Rouget  de  Lisle,  101. 
Rousseau,  95.  100. 
Rupff,  59. 

Sachs,  Hans,  44.  105. 

Sängerkrieg  auf  der  "Wartburg,  43. 

Saint-Saens,  177. 

Sakadas,  12. 

Salieri,  116.  164. 

Sanct  Grallen,  Kloster,  24. 

Sante,  Pier  Luigi,  v.  Palestrina. 

Sapi)ho,  11. 

Sarti,  79. 

Sarrette.  102. 

Savoyardenleier  (Organistrum)  29. 

Sax,  Adolph,  153. 

Scarlatti,  A.,  73. 

Scarlatti,  D.,  75.  156. 

Schalmei,  151.  152. 

Scheidt,  142. 

Schelble,  138. 

Schenk,  115. 

Schmehling  (Gertrude  Mara)  77. 

Schnorr,  195. 

Schofar,  7. 

Scholastik,  38. 

Schopenhauer,  191. 

Schott,  Gerhard,  108. 

Schröder-Devrient,  Frau,  184. 

Schröter,  148. 

Schubert,  Franz,  164. 

Schütz,  Heinr.,  126.  105. 

Schul-  und  Studenten-Komödien,  104. 

Schumann,   171. 

Scribe,  103. 

Sebastiani,  128. 

Semibrevis  (Mensuralmusik)  36. 

Senesino,  78. 

Sequenz,  25. 

Silbermann,  148. 

Singschulen,  die  ersten,  21. 

Singspiel,  112. 


Soliloquia,  129. 

Solmisation,  34. 

Soma,  3. 

Sonate,  154. 

Sophistik,  10. 

Spinett,  144. 

Spitta,  131. 

Spohr,  169.  178. 

Spontini,  102.  170. 

Stamaty,  177. 

Steffani,  74. 

Stein,  Joh.  Andr.,  148. 

Stil,  des  Palestrina,  G2.  —  Stile  reci- 
tativo,  64.  —  erhabener  und  schö- 
ner, 73. 

Stimmbücher,  52. 

Stimm  werk,  151. 

Stradivari,  153. 

Streichinstrumente,  150. 

Suite,  155. 

Sylvester,  21. 

Symphonie,  75.  154.  157. 

Synaphe,  18. 

Synkopen,  47. 

System,  griechisches,  17.  —  das  reine 
diatonische  des  Zarlino,  70.  —  des 
Rameau,  91. 

Tabulatur,  bei  den  Meistersingern,  43. 

—  für  Laute  und  Orgel,  149. 
Tanz,  in  der  französischen  Oper,  89. 
Tanzlied  (Hyporchema)  153. 
Tartini,  177. 
Telemann,  111.  128. 
Temperatur,  68.  —  gleichschwebende, 

92. 
Tenor  (Cantus  firmus)  46. 
Terpander,  107. 
Terz,  wird  Consonanz,  70. 
Tetrachord,  17. 
Thalberg,  176. 
Theile,  Johann,  108. 
Theodorich  d.  Gr.,  16. 
Theorbe,  149. 
Therapeuten  und  Essäer,  15. 


Register. 


215 


Thibaut  von  Xavarra.  41. 

Thomas,  Ambroise,  102. 

Tinctoris,  30.  134. 

Toccata,  154. 

Todtentanz  (danse  macabre)  121. 

Töne,  der  Meistersinger,  43. 

Tomaschek,  176. 

Tonarten  der  Grrieclien,  17.     —    bei 

Ambrosius  und  Gregor,  22.  —  im 

Mittelalter  bei  Glarean,  92. 
Tonos    (griech.    für    Transpositions- 

scala)  18. 
Tragedia  per  Musica,  66. 
Tragödie,  griechische,  7. 
Trans^jositionsscala,  griechische,  18. 
Troubadours,  Trouvferes,  41. 
Tsay-Yu,  4. 
Tuotilo,  25. 
Turbae  (Volkschöre  in  den  Passionen) 

122. 

Umlauf,  Ignaz,  113. 

Venosa,  Fürst  von,  s.  Gesualdo. 
Verdi,  80. 
Viadana,  123. 
Vieuxtemps,  177. 


Viola,  151. 
Violine,  152. 
VioUnspiel,  177. 
Violoncell,  152. 
Violone,  152. 
Viotti,  177. 
Vii'dung,  151. 
Virginal,  144. 
Vittoria,  122. 
Vivaldi,  155.  177. 
Vogl,  J.  M.,  166. 
Volkslied,  älteres,  45. 
liede  veredelt.  164. 


—  zum  Kunst- 


Wagner,  R.,  171.  179.  180. 

Walther,  Joh.,  59. 

Weber,  C.  M.  von,  169.  176. 

Weber,  Dionys,  176. 

Weinlig,  184. 

Wilhelm  von  Poitiers,  41. 

Willaert,  66. 

Zarlino,  67. 

Zelter,  163. 

Zimmermann,  177. 

Zink,  152. 

Zünfte,  der  Instrumentahausiker,  45. 


Ans  dem  Verlage  von  F.  E.  C.  Lieuckart  (Constantin  Sander)  in  Leipzig. 

Greschichte  der  Musik 


A.  W.  Ambros. 

Mit  vielen  Notenbeispielen. 
In  gross  Octav.     Vier  Bände.     Geh.  45  M. 
Erster  Band.    (XX,  447  S.)    1862.    9  M.  —  Zweiter  Band.    (XXm,  538  S.)    1864.    12  M.  — 
Dritter  Band.     Auch  unter  dem  Titel:  Geschichte    der  Musik  im  Zeitalter   der   Renaissance 
bis  zu  Palestrina.     (IX,  592  S.)     1868.     12  M.  —  Vierter  Band  (Fragment).     Auch  unter  dem 
Titel:    Geschichte  der  Musik  im  Zeitalter  der  Eenaissance  von  Palestrina  an.     (XVI,   487  S. 

1878.     12  M. 

Gebunden  jeder  Band  1  M.  50  Pf.  mehr. 
Ambros  bietet  die  erste  grosse,  umfassende,  auf  fleissige  Quellenstudien 
basirte  Geschichte  der  Musik  und  füllt  damit  eine  bisher  empfindlich  ge- 
fühlte Lücke  in  der  allgemeinen  Cultur-  und  speciellen  Kunstgeschichte  aus. 
Was  menschlicher  Fleiss,  Ausdauer,  Belesenheit,  Gelehrsamkeit,  kritischer 
Geist  bei  einem  so  umfangreichen  Gegenstande  zu  leisten  vermögen,  hat  der 
Verfasser  in  diesem  Werke  auf  eminente  Weise  dargethan. 


Skizzen  nnd  Studien  für  Freunde  der  Musik  und  bildenden  Eunst 

von 

A.  W.  Ambros. 

Mit  dem  Portrait  des  Verfassers,  gestochen  von  Adolf  Neumann. 
Zwei  Bände.     Preis  geh.  ä  4  M.  50  Pf.     Elegant  gebunden  ä  6  M.  netto. 

Erster  Band.  Mit  dem  Portrait  des  Verfassers,  gestochen  von  Adolf  Neumann.  — 
Inhalt:  Der  Originalstoff  zu  Weber's  „Freischütz".  —  Musikalisches  aus  Italien.  —  Deutsche 
Musik  und  deutsche  Musiker  in  Italien.  —  Abbe  Liszt  in  Eom.  —  Carneval  und  Tanz  in 
alter  Zeit.  —  Die  „Messe  solenelle"  von  Eossini.  —  Hector  Berlioz.  —  Siegismund  Thal- 
berg. —  Schwind's  und  Mendelssohn's  „Melusine".  —  Zur  Erinnerung  an  Friedrich  Overbeck. 

—  Fetis.  —  Wagneriana.  —  Tage  in  Assisi.  —  Im  Campo  Santo  zu  Pisa.  —  Florenz  und  Elb- 
Florenz. —  Lose  Studienblätter  aus  Florenz  und  dessen  Nachbarschaft  (Giotto.  —  Die  Geschichte 
des  Antichrist).  —  Von  der  Holbeinausstellung  in  Dresden.  —  Alessandro  Stradella.  —  Eobert 
Franz.  —  Musik-Beilagen. 

Zweiter  Band.  Inhalt:  I.  Musikalisches.  Musikalische  Wasserpest.  —  Hamlet, 
Oper  von  Ambroise  Thomas.  —  Zumsteeg,  der  Balladeneomponist.  —  Der  erste  Keim  des 
Freischütz-Textes.  —  Musikalische  Uebermalungen  und  Eetouchen.  —  Franz  Lachner's 
Requiem.  —  Bachiana.  —  Rubinstein.  —  Halbopern  und  Halboratorien.  —  Schubertiana.  — 
Allerlei  Beethoven'sche  Humore.  —  Ein  Kapitel  von  musikalischen  Instrumenten.  —  II.  Zur 
bildenden  Eunst.  Von  Wien  nach  Nürnberg.  —  Orcagna,  Holbein  und  Kaulbach.  — 
Kaulbuch's  Carton:  die  Christenverfolgung  unter  Nero.  —  In  den  Eaphael-Sälen  des  Vaticans. 

—  III.  Aus  meiner  italienischen  Reisemappe.  Goethe  in  Italien  und  seine  Nach- 
fahrer. —  Italienischer  Frühling.  —  Ein  Bilderbuch  voll  Figuren.  —  Der  Gesundheitspass  von 
Orbetello.  —  Römische  Ostern.  —  S.  Maria  alla  morte  in  Eom.  —  Orvieto. 

Der  berühmte  Verfasser  giebt  hier  eine  geschmackvolle  Auslese  aus  den 
reichen  Schätzen  seines  Wissens.  Man  könnte  diese  Blätter  ein  verkapptes 
Handbuch  der  Aesthetik  nennen,  in  welchem  der  Verfasser  an  frisch 
aus  dem  Kunstleben  der  Neuzeit  sowohl,  als  aus  dem  der  Vergangenheit 
herausgegriffenen  Beispielen  über  die  wichtigsten  Fragen  der  Kunst  zu  be- 
lehren sucht  und  uns  gleichzeitig  auf  das  angenehmste  zu  unterhalten  weiss. 
Hinter  der  leichten  Form  der  Darstellung  verbirgt  sich  keineswegs  Leichtig- 
keit des  Inhalts,  sondern  gediegenes  Wissen  eines  durchgebildeten  Mannes 
von  profunder  Gelehrsamkeit  und  Originalität,  der  oft  auch  den  gewiegtesten 
Fachmann  durch  neue  Gesichtspunkte,  feine  Beobachtungen,  schlagende  Ur- 
theile  und  Vergleiche  überrascht. 


Aus  dem  Verlage  von  F.  E.  C.  Leuckart  (Constantin  Sander)  in  Leipzig. 

Hector  Berlioz'  Gesammelte  Schriften. 

Autorisirte  deutsche  Ausgabe  von  Richard  Pohl. 

Neue  billige  Ausgabe  vollständig  in   vier  Bänden.    8°.    Geheftet  7  M.  50  Pf- 
Elegant  gebunden  10  M. 

Einzeln: 

I.  Band:  ä  travers  chants.  Musikalische  Studien,  Huldigungen,  Einfälle  u.  Kritiken  3  M. 

II.  Band:  Orchester- Abende.     Musikalische  Novellen  und  Genrebilder  I.     .     .     .  2  M. 

III.  Band:  Orchester-Abende.     Musikalische  Novellen  und  Genrebilder  II.   ...  2  M. 

lY.  Band:  Musikalische  Grotesken.    Humoristische  Feuilletons 2  M. 


Der  Orchester-Dirigent. 

Eine  Anleitung  zur 

Direction,  Behandlung  und  Zusammenstellung  des  Orchesters  von 
Hector  Berlioz. 

Autorisirte  deutsche  Ausgalie  7on  Alfred  Dörffel. 

Mit  fünf  Notentafeln  enthaltend:  alle  Zeichen  für  sämmtliche  vorkommende 

Takt-  und  Schlagarten.     Geheftet  1  M.  20  Pf. 


Op 


lasciala. 


Vermischte  Aufsätze  von  Moritz  Hauptmann. 

Geheftet.     3  M. 

Inhalt:  Klang.  —  Temperatur.  —  Der  Dreiklang  und  seine  Intervalle.  —  Dreiklang 
mit  der  pythagoräischen  Terz.  —  Zum  Quintenverbot.  —  Zur  Auflösung  des  Dominant- 
septimenaccordes  durch  Erweiterung  der  Septime  zur  Octave.  —  Einige  Kegeln  zur  richtigen 
Beantwortung  des  Fugenthemas.  —  Das  Hexachord.  —  Authentisch  und  Plagalisch.  —  Con- 
trapunkt. —  Metrum.  —  Zur  Metrik.  —  lieber  die  Kecitative  in  Joh.  Seb.  Bach's  Matthäus- 
Passion.  —  Kunstvollendung.  —  Form  iu  der  Kunst.  —  Ironie  in  der  Kunst.  —  Männlich 
und  Weiblich.  —  Egoismus.  —  Mechanik.  —  Die  Sinne. 

Diese  Sammlung,  eine  wahre  Fundgrube  tiefsinnigster  musilialischer 
Weisheit,  beschäftigt  sich  zum  grössten  Theil  mit  rein  fachwissenschaftlichen 
Dingen,  in  Untersuchungen,  welclie  die  physikalischen  Voraussetzungen  und 
Eigenschaften  des  Tons  und  einzelne  die  Lehre  von  der  Harmonie,  dem 
Rhythmus  und  dera  Contrapunkt  einschlagende  Fi'agen  zum  Gegenstand 
haben.  Nur  am  Schlüsse  finden  sich  einige  Aufsätze  allgemein  ästhetischer 
Natur.  Recht  nachdrücklicli  möchten  wir  sie  Allen  empfehlen,  denen  es 
Lohn  und  Genuss  gewährt,  über  das  AVesen  der  musikalischen  Kunst  nach- 
zudenken. (National-Zeitung  1874,  Nr.  599.) 

Aus  dem   Tonleben   unserer  Zeit. 

Gelegentliches  von 

Ferdinand  Hiller. 

N^ne  Folge.   Mit  dem  Portrait  des  Verfassers  nach  einer  Originalzeichnung  von  Adolf  Neumanni 
Geheftet  3  M.     Gebunden  4  M.  50  Pf. 

Inhalt:  Zu  viel  Musik.  —  Musikalische  Briefe.  —  Erinnerungsfeier  an  Jobann  Se- 
bastian Bach.  —  Nachruf  an  Moritz  Hauptmann.  —  Nachruf  an  Bossini.  —  Ludwig  van 
Beethoven:  Zum  n.  December  1870.  —  Zur  hundertjährigen  Geburtstagsfeier  Ludwig  van 
Beethoven's.  —  Biographische  Skizze.  —  Aus  den  letzten  Tagen  Ludwig  van  Beethoven's. 
—  Beethoven's  Ciaviersonaten. 

Originelles,  Glänzendes  fehlt  niemals  bei  Hiller,  und  das  Bekannte,  Ge- 
läufigere weiss  er  mit  einer  Grazie  zu  sagen,  welche  unwiderstehlich  fesselt. 
Das  Bändchen  enthält  eine  Reihe  Aufsätze,  welche  der  Musikfreund  mit  Nutzen, 
der  stylistische  Gourmand  mit  Hochgenuss  und  der  musikalische  Schriftsteller 

nicht   ohne   Brodneid   liest.  Dr.  Eduard  Hanslick.     (N.  freie  Presse.) 


Aus  dem  Verlage  von  F.  E.  C.  Leuckart  (Constantin  Sander)  in  Leipzig. 

Richard  Wagner  und  die  Musik  der  Zukunft. 

von 

Franz  Hüffer. 

Elegant   geheftet.      3  M. 

Inhalt:  Das  Drama:  Kichard  "Wagner.  —  Das  Lied:  Franz  Schubert.  —  Kobert 
Schumann.  —  Kobert  Franz  und  Franz  Liszt. 

Anhang  I.  Bericht  über  die  Festlichkeiten  zu  Bayreuth  bei  Gelegenheit  der  Grundstein- 
legung des  Wagner -Theaters  1872.  —  Anhang  II.  Briefe  von  Eobert  Schumann  aus  den 
Jahren  1835  bis  1844  an  Anton  von  Zuccalmäglio.  —  Anhang  III.  Englische  Uebertragungen 
deutscher  Gedichte. 

„Der  Zweck  des  Hüfifer'scben  Buches  ist  eiu  viel  allgemeinerer  als  sein 
Titel  anzudeuten  scheint  und  indem  es  den  Leser  in  die  Musik  der  Zukunft 
einführt,  gewährt  es  ihm  gleichzeitig  einen  lichtvollen  Einblick  in  die  Musik 
der  Vergangenheit,  im  Besonderen  derjenigen  Epochen,  welche  hinsichts  ihrer 
charakteristischen  Merkmale  mit  der  von  Richard  Wagner  eingeschlagenen 
Richtung  zusammentreffen.  Demgemäss  behandelt  der  Autor  in  zwei  Haupt- 
abschnitten erst  das  Drama,  dann  das  Lied  und  weist  nach,  dass  wir  das 
unterscheidende  Merkmal  der  Musiker  der  alten  und  modernen  Schule  in 
ihrer  verschiedenartigen  Stellung  zur  Literatur  im  Allgemeinen  zu  erkennen 
haben.  Zur  besseren  Begründung  dieser  Ansicht  führt  er  den  Leser  auch 
auf  das  literarische  Gebiet.  War  es  zunächst  die  dramatische  Musik,  welche 
durch  die  veränderte  Stellung  ihrer  Vertreter  zur  Literatur  beeinflusst  wurde, 
so  zeigt  sich  doch  die  lyrische  Musik  bei  genauerer  Betrachtung  dieser  Geistes- 
strömuDg  in  kaum  geringerem  Grade  unterworfen.  Darüber  belehrt  uns  der 
zweite  Hauptabschnitt:  „Das  Lied",  und  die  hier  gebotene  eingehende  Charak- 
teristik derjenigen  Meister,  welche  für  dessen  Ausbildung  in  erster  Reihe 
gekämpft  haben:  Schubert,  Schumann,  endlich  Robert  Franz  und  Liszt,  deren 
Werke  der  musikalischen  Lyrik  „zu  dem  Siege  des  reinen  dichterischen 
Impulses    verhalfen,    dessen    Vollendung    wir    in   dem  Musikdrama  Richard 

Wagner's    erkannt  haben."  (Neue  Berliner  Musikzeitung.     1879.     Nr.  18.) 


Ludwig  van  Beethoven. 

Ein   ransikalisclies    Cliarakterbild 

von 

Gr.  Menscli. 

Neue  hillige  Ausgabe  mit  dem  Portrait  Beethoven' s. 

Elegant  g  ehunclen  2  M. 

In  einfach  edler  Sprache,  entwirft  der  Verfasser  ein  Bild  des  Lebens, 
Strebens  und  Wirkens  seines  Helden.  Durchleuchtet  von  feuriger  Be- 
geisterung zeichnet  er  uns  Beethoven  als  Menschen  und  Künstler  in 
so  ansprechender  und  ergreifender  Weise,  dass  wir  alles  mit  zu  erleben 
meinen  und  dem  Meister  so  nahe  treten,  als  ob  wir  ihm  persönlich  begegnet 
wären.  Eingehende,  prägnante  Analysen  der  bekanntesten  uud  hervorragend- 
sten Werke  suchen  auch  den  Laien  in  das  Verständniss  der  Beethoveu'schen 
Gomposition  einzuführen.  Das  nach  den  verlässlichsten  Quellen  gearbeitete 
Buch  —  die  „Signale"  nennen  es  die  beste  unter  allen- in  populärer  Form 
erschienenen  Schriften  über  Beethoven  —  ist  mit  einem  höchst  nützlichen 
chronologischen  Verzeichnisse  der  Werke  Beethovens  und  einem  Register 
dazu  versehen. 


Ans  dem  Verlage  von  F.  E.  C.  Leuckart  i^Constantin  Sander)  in  Leipzig. 

Musik,  Klavier  und  Klavierspiel. 

K leine    mii?jik-ästheti?5Che   "Vorträge 

von 

Dr.  K.  E.  Schneider. 

Geheftet  3  M.  Elegant  (jehunden  4  31.  50  Pf. 
Der  Verfasser  dieser  kleinen  musik-ästhetischen  Vorträge,  rühmlich  be- 
kannt durch  seine  gediegene  Arbeit  „das  musikalische  Lied  in  geschicht- 
licher Entwickelung",  kann  des  aufrichtigen  Dankes  jedes  wahren  Musik- 
freundes für  die  hier  gebotene  Gabe  gewiss  sein.  Der  jüngeren  Generation 
waren  diese  Vorträge  bestimmt,  und  es  wäre  zu  wünschen,  dass  die  klavier- 
lustige Jugend  die  Stimme  eines  so  bewährten  Lehrers  und  Kenners  der 
Musik  und  gerade  auch  des  Klaviers  sich  zu  Herzen  nähme.  Die  11  Vor- 
träge vertheilen  sich  so,  dass  nach  dem  einleitenden  Vortrage,  der  die  Mo- 
tive zum  Klavierspiele  bespricht,  die  nächsten  drei  das  Wesen  und  die  Na- 
tur der  Musik  behandeln  und  Folgerungen  aus  dem  Wesen  derselben  für 
Jeden,  der  sich  mit  Musik  abgiebt,  ziehen.  Das  Instrument  selbst,  das 
Klavier,  charakterisirt  trefflich  der  fünfte  Vortrag.  Bei  weitem  das  Wich- 
tigste, das  Klavierspiel,  behandelt  der  sechste  bis  elfte  Vortrag:  und  es  giebt 
der  Verfasser  hier  in  vier  Abschnitten  zuerst  eine  kurze  Geschichte  der 
Klavierliteratur,  sowie  eine  gedrängte  Charakteristik  ihrer  hauptsächlichsten 
Vertreter.  Bach,  die  Wiener  Classiker,  die  Romantiker,  in  deren  erster  Hälfte 
Weber,  Schubert,  Mendelssohn,  aber  auch  Schumann,  Liszt  und  Wagner  er- 
scheinen, gehen  an  uns  vorüber,  und  wohlthuend  ist  es,  in  so  gerecht  ab- 
wägender Weise  Jedem  die  ihm  gebührende  Anerkennung  erwiesen  zu  sehen. 
In  der  zweiten  Hälfte  kritisirt  der  Verfasser  die  Neuromantiker.  Ferner  setzt 
der  Verfasser  im  zweiten  Abschnitte  die  Stellung  des  Spielers  zu  dieser 
Literatur  auseinander;  im  dritten  lehrt  er  die  Auffassung  der  gewählten 
Compositionen ,  und  endlich  im  vierten,  in  welcher  Weise   die  Wiedergabe 

von   Compositionen   zu   bewirken  sei.  Literarisches  Centralblatt. 


Klavier  und  Gesang. 

Didaktisches    und    Polemisches 

von 

Friedrich  Wieck. 

Dritte  vermehrte  Auflage.    Geheftet  331.    Elegant  gebunden  4  31.  50  Pf. 

Inhalt:  Ueber  Elementarunterricht  im  Klavierspiel.  —  Abendunterhaltung  und  Speisung 
bei  Herrn  Zach.  —  Besuch  bei  Frau  N.  —  Geheimnisse.  —  Opemwirthschaft.  —  Ueber's 
Pedal.  —  Verschiebungsgefilhl.  —  Viel  Klavierlernende  und  keine  Spieler.  —  Gesang  und 
Gesanglehrer.  —  Khapsodisches  über  Gesang.  —  Hans  Eilig.  —  Aphorismen  tlber  Klavier- 
spiel.  —  "Wunderdoctor.  —  Frau  Grund  und  vier  Lectionen.  —  Gesangs-  und  Klavierunfug. 
—  Die  Kunst  ist  nur  durch  die  Künstler  gefallen.  —  Vermischtes.  —  Ueber  Pianoforte.  — 
Schluss.  —  Anhang:  Aphorismen  aus  Friedrich  Wieck's  Tagebuche. 

In  diesen  Blättern  hat  der  berühmte  Altmeister  den  reichen  Schatz 
seiner  vieljährigen  Erfahrungen  über  Klavierspiel  und  Gesang  niedergelegt. 
Mit  köstlichem  Humor  geisselt  er  darin  die  mannichfachen  Uebelstände  der 
häuslichen  musikalischen  Erziehung,  und  ertheilt  die  treffendsten  Winke  und 
Rathschläge  zu  einer  idealeren.  Jeder,  der  sich  für  Musik  interessirt,  wird 
aus  dem  originellen,  mit  Wärme  geschriebenen  Buche  eine  Fülle  von  An- 
regung und  Belehrung  schöpfen. 


Wieck,  Friedrich,  Musikalische  BauernsprUche  und  Aphorismen  ernsten 
und  heiteren  Inhalts.  Zweite  sehr  vermehrte  Auflage.  —  Geh.  60  Pf. 
netto. 


Methoilisclie  Werke  für  den  lusik-UDlerricht 


im  Verlage  von 


F.  E.  C.  Lenckart  (Constantin  Sander)  in  Leipzig. 


I^iir  d-en  "V^iolin-TJnterriclit. 


Blnmenthal,  Jos.  von,  Op.  61.    Leiclite  fort- 
schreitende Duette.     3  Hefte       .     .     ä  1,20 

Op.  68.     24  Etüden.     3  Hefte  ä  1,20 

Op.  95.   Drei  Duos  (2.  Position)  1,20 

Dont,    Jac. ,    Op.    26.      Leichte    Duettinen. 


2  Hefte 

Op.  39.     Die  Tonleitern  in  allen  Er- 

höhungs  und  Vertiefungszeichen  sammt  den 
Intervallen,  mit  Rücksicht  auf  die  ersten 
Tact- und  Bogenübungen.  Heft  I,  Et.  h,  3. — 
Gradus  ad  Parnassum.     Samm- 


lung von  fortschreitenden  TTebungsstücken : 

Op.  38.  20  fortschreitende  Uebungen  (mit 

einer  2.  Violine).    2  Hefte   .     .     ä  3.— 

Op.  37.  24  Vorübungen  zu  Kreutzer's  und 

Kode's  Etüden 5. — 

Op.  35.     Etudes  et  caprices    .     .     .     6. — 
Op.  52.  Sammlung  mehrstimmiger  Musik- 
stücke  zur  Uebung    im  Ensemblespiel 


(theilweise    mit   Viola    oder    Viola   und 

Violoncello.    6  Hefte ä  3. — 

Hering,  Carl,  Op.  25.  Zwei  Elementar-Dnette 
(1.  Position).     2  Hefte k  1,20 

Drei  Elementar -Duos  (1.  Position): 

Op.  29.  Serenade  in  C-dur  ....  1,20 
Op.  31.  Serenade  in  C-dur  ....  1,20 
Op.  36.     Serenade  in  A-moll      .     .     .     1,20 

Kothe,  Bernhard,  Uebungsstücke  für  2  Vio- 
linen nach  klassischen  Compositionen  be- 
arbeitet (2.  bis  5.  Position).     3  Hefte  ä  1,20 

Kreutzer,  Rudolph,  42  Etüden,  revidirt  von 
Carl  Hering.     Geh 3.— 

Dieselben  in  3  Heften     .     .     ä  1,20 

Michaclis-Wichtl's  Praktische  Violinschüle. 
Siebente  Auflage  revidirt  und  vermehrt 
von  Jac.  Dont.     Geh 3. — 

Schoen,  Moritz,  Praktischer  Lehrgang  für 
den  Violin-Unterricht.     30  Hefte      .  ä  1,20 


I^\ir  d-en  l^lavier-TJnterriclit. 


Beranek,  Joli.,  Praktische  Pianoforte-Schule 
für  Anfänger.     Neue  Ausgabe.     Geh.    3. — 

Kraeger,  Carl  A.,  Volks-Klavierschule.  An- 
leitung zur  gründlichen  Erlernung  des  Kla- 
vierspiels unter  Zugrundelegung  von  Volka- 
und  Opernmelodien,  technischen  Uebungen 
und  auserlesenen  Stücken  aus  Werken  äl- 
terer und  neuerer  Meister.  Sechste  Auf- 
lage.    Geh 3. — 

Maertens,  Albert,  Eode  und  Kreutzer'sche 
Violin-Etüden  als  Studien  für  den  Elügel 
bearbeitet 3. — 

Mayer,  Charles,  Op.  168.  Neue  Schule  der 
Geläufigkeit.     40   Studien   mit  Eingersatz: 

Heft  1  bis  5 k  3,50 

Heft  6  bis  8 k  4.— 

Op.    168.      Dieselben    in    einzelnen 


Nummern k  60  Pf.  bis  1,20 


Philipp,    B.    E.,   Op.   28.     Songe   et  Verite. 

12  Etudes.     complet G. — 

Heft      I.     Nr.  1  bis  4 2.— 

Heft    II.     Nr.  5  bis  8 2,25 

Heft  III.     Nr.  9  bis  12 2,25 

Op.    28.       Dieselben    in    einzelnen 

Nummern a  50  Pf.  bis  1. — 

Plachy,  Wenzel,  Op.  26.  Der  kürzeste  "Weg 
auf  den  Parnass  enthaltend  fortschreitende 
Originalsätze    für    den    ersten    Unterricht. 

6  Hefte  .     .     , ^  !•— 

Pleyel-Czerny,  Klavierschule.  Neue  Aus- 
gabe, bearbeitet  von  Moritz  Vogel.     Geh. 

8.— 

Vogel,  Moritz,  Praktischer  Lehrgang  für 
den  Klavier-Unterricht  vom  ersten  Anfange 
bis  zur  Mittelstufe.     10  Hefte    .     .     h  1,20 


IPür  d-en  Oesangr-'ü'iiterriclit- 

Friedrich  Wieck's  Siugübungeu, 

herausgegeben  von  Marie  Wieck  und  Louis  Grosse. 
Theil  I.     Kurze  ein-  und  mehrstimmige  Ue-    1    Theil  II.     Grössere   ein-   und   zweistimmige 
bungen.     Geh 2. —    j        Vocalisen.     Geh 2,50 


1^-ü.r  d-en  tlieoretisclieii  XJnterriclit. 


Brosig,  Morit?,  Modulationstheorie  mit  Bei- 
spielen.    Geh 1. — 

Handbuch      der      Harmonielehre. 

Zweite  Auflage.     Geh 3. — 

Haebmer,  Anton,  Allgemeine  Musiklehre. 
Geh.  ]._ 

— —  Harmonielehre.     Geh.     .     .     .     3. — 

Kothe  j  Bernhard,  Abriss  der  Musikgeschichte. 

Zweite  vermehrte  Auflage.    Geh.  .     .     1,50 

Cartonnirt    1,80 


Knntze,  C,  Die  Orgel  und  ihr  Bau.  Dritte 
umgearbeitete  Auflage  von  J.  J.  Seidel's 
gleichnamigem  Werke.     Geh.    .     .     .     3. — 

Langhans,  W.,  Musikgeschichte  in  12  Vor- 
lesungen.   Zweite  verm.  Auflage.   Geh.  2.40 

Sechter,  Simon,  Op.  49.  Praktische  Ge- 
neralbass- Schule,  bestehend  in  120  pro- 
gressiven und  mehrfach  ausgeführten  Ue- 
bungen im  Generalbass.  Neue  Ausgabe. 
Cartonnirt 4,50 


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