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Die
Miasiligesoliiolite
von
Wilhelm Langhans.
Die
Musikgeschichte
in z^wölf' Vor*ti"äQ:eii
Wilhelm Lans^liaiis
ö^
Zweite, ^vesentlich vermehrte Auflage
mit Notenbeispielen und Illustrationen.
Leipzig, Verlag von F. E. C. Leuckart
(Constantin Sander).
1879.
THE LIBFARY
ÖÄIGHAM YOÜNG UNIVERSITVI
PROVO. UTAH
zur zweiten A.iiflage.
Der Plan dieser Vorlesungen sowie die Gruppirung des
Stoffes sind hier, ungeachtet beträchtlicher Erweiterung der ein-
zelnen Abschnitte, dieselben geblieben wie in der ersten Auflage
und wie in den, dem Buche zu Grunde liegenden, 1877 und 1878
von mir zu Berlin gehaltenen Vorträgen. Der Hauptzweck, den
ich damals im Auge hatte, war der, die Theilnahme weiterer
Kreise für die Musikgeschichte zu wecken, und zwar nicht allein
durch die Betrachtung gewisser, unserm Verständniss näher
liegender Epochen, sondern ihres gesammten Entwickelungsganges.
Um dieses Ziel bei beschränkter Zeit annähernd zu erreichen,
habe ich mich bezüglich der Träger jener Epochen begnügen
müssen, ihre kunstgeschichtliche Bedeutung im Allgemeinen her-
vorzuheben, und auf die trefflichen Biographen zu verweisen,
welclie jeder von ihnen in neuester Zeit gefunden hat: Bach in
Ph. Spitta, Händel in Friedr. Chrysander, Gluck in A. B.
Marx, Haydn in C. F. Pohl, Mozart in Otto Jahn, Beethoven
in A. W. Thayer. In Betreff der weiter abseits liegenden
Zeiten empfehle ich dem Leser, sofern es mir überhaupt gelungen
ist, ihn durch meine knappe Darstellung zu gründlicherem Stu-
dium anzuregen, die werthvollen Werke eines Forkel, Ambro s
vr
und F^tis; ferner für specielle Beschäftigung mit der Musik des
Alterthums die nicht minder verdienstvollen Arbeiten von Fried-
rich Bellermann, Westphal, Gevaert, Weitzmann; des
Mittelalters von Heinrich Bellermann; der neuesten Zeit von
Franz Brendel. Denjenigen aber, welchen der Sprung von
meiner kleinen Schrift zu jenen, ihren Gegenstand mit höchster
Ausführlichkeit behandelnden Autoren zu gross erscheinen sollte,
wird das Handbuch der Musikgeschichte von A. von Dommer
(2. Auflage 1878) sowie dessen „Elemente der Musik" und Be-
arbeitung von Koch's musikalischem Lexicon eine zuverlässige
Stütze für ihr Studium gewähren.
lieber die Bedenken, welche mein Hineinziehen der Gegen-
wart in den Kreis der Geschichtsbetrachtung bei einem Theil
der Kritik eiTegt hat — Bedenken, deren grundsätzliche Berech-
tigung ich keineswegs in Abrede stellen will — glaubte ich mich
auch dieses mal hinwegsetzen zu dürfen, weil die Bestrebungen
unserer hervorragenden tonkünstlerischen Zeitgenossen fast durch-
weg von geschichtlichen Voraussetzungen ausgehen, und wir bei
gründlicher Beschäftigimg mit ihnen unsere Aufmerksamkeit
unwillkürlich der Vergangenheit zuwenden, Dass namentlich
Richard Wagner als Schriftsteller wie als Dichter und Musiker
zur Belebung des Interesses für die Geschichte der Musik in
umfassender Weise beigetragen hat, werden auch die Gegner
seiner Kunstrichtung zugeben müssen, und es schien mii' schon
aus Rücksicht füi' meine Wissenschaft geboten, sein Wirken
als Künstler und Aesthetiker bei dieser Veranlassimg nicht zu
übergehen. Die für den Historiker nöthige 01)jectivität halte ich
noch keineswegs dadurch für gefährdet, dass er mit der Ent-
wickelung auch seiner Zeit enge Fühlung behält; ich halte es
sogar für nothwendig, dass er die Beziehungen zwischen dem
„Sonst" und dem „Jetzt" niemals aus dem Auge verhere, weil
eüie grosse Anzahl historischer Thatsachen niu' im Lichte der
VII
Gegenwart verständlich werden. „Es ist das Recht der Lebenden"
sagt Gustav Freytag in seinen Bildern aus der deutschen Ver-
gangenheit (IV. S. 492) „alle Vergangenheit nach den Bedürf-
nissen und den Forderungen ihrer eigenen Zeit zu deuten. Denn
das Ungeheuerliche und Unerforschliche des geschichthchen Lehens
wird uns nur dann erträglich, wenn Avir einen Verlauf darin
erkennen, der unserer Vernunft und der Sehnsucht unseres
Herzens entspricht, in gehäufter Zerstörung einen unendlichen
Quell neuen Lebens, aus dem Vergehen das Werdende. Darum
liebt ein Volk, welches sich seiner Gegenwart freut, auch der
vergangenen Zeit zu gedenken, weil es in ihr die geworfene Saat
seines blühenden Halmenfeldes erkennt,"
Berlin, Mai 1879.
W. Langhans,
1 11 halt.
I. Das Alterthum. Zweck und Plan des musikgescliichtlichen
Studiums — Charakteristik der Musik der Inder, Chinesen,
Egypter, Hebräer — die Musik der (kriechen — die antike
Tragödie — EiuHuss der gi-iechischeu Philosophie auf die
Kunstentwickelung — Lyriker, Instrumental- Virtuosen, Theo-
retiker — Verfall der Musik unter der ßömerherrschaft —
Kaiser Nero 1 — 14
II. Die Musik der ersten christlichen Zeiten. Abhängigkeit
der frühchristlichen Kunst von der antiken — Fortwirken der
griechischen Cultur auch nach der Völkerwanderung — Theo-
dorich, König der Gotlien — das griechische Tonsystem als
Grundlage des christhchen — Errichtung der ersten Sing-
schulen zu Rom — Reformen des Bischofs Ambrosius und des
Papstes Gregor — Karl der Grosse — die Sängerschule von
St. Gallen 15—26
III. Die Anfänge der mehrstimmigren Musik. Die Araber und
die nordischen Völker — die musikalischen Instrumente und
das Organum — Hucbald — Neumen — Guido von Arezzo
— Solmisation — Mensuralmusik — Franco von Cöln — die
scholastische Philosophie 27—30
IV. Die musikalische Herrschaft der NiederlHnder. Kreuzzüge —
Troubadours — Minnegesang und Meistergesang — Genossen-
schaften der Instrumentalmusikcr — das deutsche Volkslied
— das Papstthum in Avignon — der Discantus — die Nieder-
länder in Rom : Dufay, Ockenheim, Josquin — Fortschritte in
der Kunst des Musiknotendruckes — Vorbereitung der Re-
naissance durch Dante, Petrarca, Boccaccio 40 — 54
V. Luther's Ket'ormation und die Renaissance. Bildende Kunst
und Musik im Beginn des Iti. Jahrhunderts — der protestan-
Seite
tische Kircliengesang — seine Rückwirkung auf den ka'tlioli-
schen — Palestrina — classische Kunst — Versuche zur
WiederLelebung der antiken Musik — Monodie und Recitativ
— Caccini und Peri — die Oper 55 — 65
VI. Die italienische Oper. Venedig — Willaert gieBt der
dortigen Kirchenmusik einen dramatischen Charakter — Sein
Schüler Zarliuo bringt das reine diatonische System in Auf-
nahme — A. und J. Grabrieli — Ausbildung der Oper —
Monteverde, Cavalli — der Kammermusikstil — die neapoli-
tanische Schule des A. Scarlatti — ihre Ausbreitung über
Europa — der Kunstgesang — Wettstreit der späteren Nea-
politaner mit Grluck und Mozart — Rossini — Verdi . . 66 — 82
VII. Die französische Oper. Perrin und Cambert, die Begründer
der nationalen Oper in Frankreich — ihre Ausbildung
durch LuUy und Rameau — Grleichschwebende Temperatur
— Die komische Oper — Buffonisten und Auti-Buffonisten
— die Aufkläruiigs-Philosophie des 18. Jahrhunderts —
Jean Jacques Rousseau — Grluck — das pariser Conser-
vatorium der Musik — ausländische Componisten im Dienst
der französischen Oper: Cherubini, Spontini, Meyerbeer .■ 83—103
VIII. Die deutsche Oper. Erste Opemauftuhrung in Deutsch-
land — Entstehung einer deutsch-nationalen Oper in Ham-
burg — Reinhard Keiser — das Singspiel durch J. A. Hiller
veredelt — Dittersdorf und die Komische Oper — Mozart's
Entführung und Zauberflüte — Beetlinven's Fidelio . . 104 — 118
IX. Das Oratorium. Passion und Mysterien im Mittelalter —
die musikalischen Congregationen des Filippo Neri — Ein-
fühi'ung des dramatischen Stils in die Kirche: Cavaliere,
Viadana, Carissimi — Lntti, Caldara, Marcello, die letzten
Vertreter der venetianischen Schule — Weiterbildung der
Kirchenmusik in Deutschland: Orlandus Lassus, Eccard,
Hans Leo Hasler, Heinr. Schütz — Vermischung des Opern-
und Kirchenstils in Hamburg — der Passionstext des Li-
centiaten Brockes — Händel und Bach — die Entwickelung
der Musikzustände in England — Mendelssohn 119 — 139
X. Die Instrumeutalmusik. Orgel und Claviatur-Saiteninstru-
mente — die Laute — Tabulatur — Streich- und Blasin-
strumente — Instrumentalstil — Instrumental-Musikformen
— die cyklischen Formen: Parthie, Suite, Sonate' — die mo-
derne Ciaviersonate und die Orchester-Sjnnphonie — die
deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts 140 — 161
XI. Die Romantiker des 19. Jahrhunderts. Einfluss der Ro-
mantik auf die lyrische Dichtung — Volkslied und Kunst-
Inhalt. Xt
Seite
lied — Ausbildung des letzteren durch Franz Schubert und
Robert Franz — die romantische Oper: Spohr, "Weber,
Marschner — die romantische Instrumentalmusik: Mendels-
sohn, Schumann — Lieder ohne Worte — französische Ro-
mantiker: Berlioz, Liszt, Chopin — Programm-Musik —
das moderne Olavierspiel 162 — 179
XII. Richard Wagner 180—197
Beilagen.
1) Tabelle einiger wichtiger Jahreszahlen der Musikgeschichte 201 — 204
2) Verzeichuiss älterer Musikwerke in neuen Ausgaben . . . 205 — 209
Register 211—217
Bericlitiguiig.
S. 34, Zeile 8 lies: „20" statt „21".
Minder störende Druckfehler wie S. 2, Zeile 16 v. u. : „Indier" statt
„Inder"; „Aristoxenus" statt „Aristoxenos" etc. wolle der Leser selbst be-
ricMigen.
I.
Das Alterthurti.
Zm- richtigen Würdigimg und zum vollen Genüsse der "Werke
des menschlichen Geistes ist es nothwendig. nicht allein diese
selbst giündlich zu studiren, sondern auch die Bedingungen zu
kennen, unter denen sie zur Reife gelangen konnten und mussten.
Darf demnach behauptet werden, dass die Beschäftigung mit den
Künsten und den Wissenschaften nur dann erfolgreich sein wird,
wenn sie vom Studium des historischen Entwickelungsganges der-
selben begleitet ist, so gilt dies ganz besonders von der Tonkunst.
Sie wii'd mit Recht die subjectivste unter den Künsten genannt,
denn bei der Körperlosigkeit ihres Materials, des schnell verklingen-
den Tones, bei dem Mangel eines Vorbildes und GoiTectivs, wie
es die übrigen Künste in der uns umgebenden sichtbaren Welt
besitzen, scheint es unmöglich, den Werth eines musikahschen
Kunstwerkes nach festen Regeln zu bestimmen; und in der That
tritt die Meinungsverschiedenheit auf diesfem Gebiete nicht selten
so schi'off hervor, dass zu einer Zeit und an einem Orte für schön
gilt, was andere Zeiten imd andere Menschen als hässlich ver-
werfen. Um für das musikalische Urfheil einen sicheren Boden
zu gewinnen, ist daher die Geschichtsbetrachtung der einzig
sichere Weg, und zwar eine solche, die sich nieht mit einfacher
Kenutnissnahme der historischen Thatsachen begnügt, sondern
dieselben als Wirkungen allgemeiner Priucipien in ihrem Zu-
sammenhange untereinander zu erkennen sucht. So betrachtet,
werden auch die scheinbar unfruchtbaren Epochen der Musik-
geschichte Bedeutung gewinnen, die Bestrebungen früherer Ge-
schlechter werden Theilnahme erwecken, selbst dann, wenn sie
nicht von unmittelbarem Erfolge gekrönt waren, und wie der
Vergangenheit, so \rird mau auch der voi*wärtsstrebenden Gegen-
Langhans, Miisikgeecbichte. i. Aufl. 1
I. 33 as Alterthiim.
wart, mögen ihre Ziele immerhin noch nicht klar vor Augen
liegen, ein besseres Verständniss entgegenbringen, als es ohne
jenes Hülfsmittel der Fall sein würde.
Die Beschäftigung mit der Musikgeschichte darf sich jedoch
nicht auf bestimmte, der Empfindungsweise der Gegenwart ver-
wandte Zeitabschnitte beschränken, wenn sie wahrhaft nutzbringend
sein soll. In der Entwickelung der Musik giebt es keine Sprünge ;
ja man kann sagen, dass hier der Zusammenhang der verschie-
denen Geschichtsepochen noch inniger ist, als auf den übrigen
Gebieten der Geistescultur. Nicht einmal die tiefe Kluft zwischen
der antiken und der modernen Welt vermochte diesen Zusammen-
hang aufzuheben, denn die Musikformen der Griechen sind beinahe
unverändert in die nachchristhche Tonkunst übergegangen und
bildeten, wie weiterhin noch ausführlich gezeigt werden soll, die
Grundlagen des römischen Kirchengesanges, auf welchem sich
später wiederum der gewaltige Bau der modernen Musik erheben
konnte.
Aber auch in noch entfernteren Zeiten, bei den ältesten
Culturvölkern der alten Welt zeigen sich mannichfache Punkte,
in denen sich ihre musikalische Anschauungsweise mit der der
jüngeren Völker berührt — Ursache genug, um jene frühesten
Culturepochen nicht gänzlich mit Stillschweigen zu übergehen,
wie dies in musikgeschichtlichen Arbeiten geringeren Umfangs
manchmal der Fall ist. Durch das gesammte Alterthum geht
der Glaube an den göttlichen Ursprung der Musik und an ihre
Fähigkeit Wunder zu bewirken. Bei den Indiern gilt Brahma
selbst als Schöpfer der Musik und sein Sohn Nared als Erfinder
des nationalen Musikinstrumentes, der guitarrenartigen Yina, wie
auch bei den Griechen der Ursprung der Lyra auf den Hermes,
bei den Egyptern auf den Gott Thaut zurückgeführt wurde.
Wenn nach der griechischen Sage ein Orpheus und ein Amphion
durch ihren Gesang wilde Thiere zähmten und Städte erbauten,
wenn die Trompeten der Israeliten die Macht hatten, die Mauern
von Jericho zu stürzen, so bewirkten gewisse Melodien der Inder,
dass der, welcher sie anstimmte, vom Feuer verzehrt wurde,
andere vermochten die Sonne zu verfinstern, wieder andere
Regen hervorzubringen, wie denn eine solche, gelegentlich einer
Dürre in. den Reisfeldern Bengalen's, die Bevölkerung von einer
Hungersnoth befreite.
Die von den indischen Gelehrten aufgestellten Musiksysteme
zeigen ebenfalls mancherlei Uebereinstimmung mit denen der
I. Das -A.ltertlixiin.
Übrigen Ciiltuivölker des Alterthums. Keinem derselben, die
heiTorrageud begabten Griechen nicht ausgenommen, war es be-
schieden, die dem modernen Ohr so natürlich klingende Eiu-
theilung der Octave in zwölf Halbtöne aufzufinden. AVie die
griechische Musiktheorie, so hatte auch die indische den Yiertels-
ton, ja selbst noch feinere lutonations-Unterscheidungen und, der
Mannichfaltigkeit der Intei-valle entsprechend, eine grosse Zahl
von Tonarten, deren der Musikgelehrte Soma nicht Aveniger als
neunhundert und sechzig nennt. Hierbei aber sei gleich be-
merkt, dass der Begriff Tonart im Alterthum ein anderer und
weiterer war als heute: die Tonleitern jener Tonarten — die
richtiger „Toncombinationen" oder „Melodien" heissen müssten
— bestimmen sich theils durch den Beginn des Octavenumlaufes
von verschiedenen Stufen derselben Tonleiter, wodiu'ch z. B. aus
der Cdur-Tonleiter, dieselbe von D bis d, von E bis e u. s. w.
aber ohne Versetzungszeichen gesungen, sechs neue, der Inter-
vallenfolge nach von jeuer verschiedene Tonarten entstehen, theils
durch Moditication einzelner Intervalle mittelst Erhöhung und
Vertiefung, theils dm-ch Ueberspringung gewisser Tonstufen.
Wenn der Scharfsinn der Griechen es vermochte, die Menge
der auf diese Weise entstehenden Varianten in ein übersicht-
liches System zu bringen, so war der überschwängliche Sinn der
Orientalen unfähig, das Wesentliche vom Zufälligen zu unter-
scheiden, und ein, den unzähligen Tonverbiudungen zu Grunde
liegendes, allgemeines Gesetz aufzufinden*).
Im vollen Gegensatz zu der ungezügelten Phantastik der
Inder steht die rationalistisch nüchterne Natur der Chinesen.
Zu allen Arbeiten befähigt, bei denen emsiger Fleiss und Auf-
merksamkeit den Erfolg bedingen, sind doch ihre Leistungen
auf denjenigen Gebieten, wo geistiger Schwung und Phantasie
den Ausschlag geben, nur von untergeordnetem Werth. Dem-
nach konnte auch die Musik bei ihnen nicht jene erhebende und
begeisternde AVirkung ausüben, wie bei den Indern, was jedoch
nicht hinderte, dass sie als Gegenstand wissenschaftlichen Studiums,
sowie als Mittel zur Jugenderziehung hoch geschätzt wurde. In
letzterer Beziehung zeigt sich China in Uebereinstimmung mit
Griechenland: ..Wollt ihr wissen" so lautet ein Ausspruch des
ersten der chinesischen Weisen, des Confucius (500 v. Chr.) „ob
ein Land wohl regiert und gut gesittet ist, so hört seine Musik." —
*) S. Ambros, (reschichte der Musik, I. S. 51.
I. Das Alterthum.
die gleiche Ansicht aber findet sich wiederholt bei Plato und
Aristoteles ausgesprochen; und auch darin treifen die Philosophen
Griechenlands mit den chinesischen zusammen, dass sie gewissen
Tonlblgen eine besondere Fähigkeit zuschreiben, die Jugend zu
bilden und zu veredeln, und sie deshalb unter den Schutz der
Gesetze stellen. — Das Musiksystem der Chinesen unterscheidet
sich von dem der Inder hauptsächlich durch seine Knappheit;
schwelgten diese in einer Masse von Intervallen, die bei ihrer
Kleinheit dem modernen Ohr unerkennbar sein würden, so ver-
lieren sich die Chinesen in das andere Extrem: ihnen ist selbst
die diatonische Scala nicht einfach genug, man nimmt ihr noch
zwei Intervalle, die Quarte und die Septime. Wiederum aber
zeigt sich hier eine Analogie der chinesischen mit der griechischen
Musik, denn jene Tonleiter der Chinesen c d e g a c — Avelche
auch C. M. V. Weber seiner Ouvertüre zu „Turandot" zu Grunde
gelegt hat — findet ihr Seitenstück in der des Olympos, welcher, wie
Aristoxenos berichtet, in der Mollscala die vierte und siebente Stufe
unberührt Hess, und, indem er die nach dieser Analogie aufgestellte
Tonleiter bewunderte und sich aneignete, in derselben Melodien
dorischer Tonart componirte*). Uebrigens kann das Bestreben,
die strenge Diatonik zu unterbrechen, sogar bis auf die neueste
Zeit verfolgt werden; noch heute lebt jene Tonleiter mit fehlen-
der Quarte und Septime in den Volksweisen der Schotten fort,
und die durch Liszt's „ungarische Rhapsodien" bekannt ge-
wordene Molltonleiter der Zigeuner folgt mit ihrem zweimal
wiederkehrenden Intervall der übermässigen Secunde dem gleichen
Princip.
Das starre Festhalten am Hergebrachten, welches das geistige
Leben der Chinesen in seinem Banne hielt und sie um die Früchte
einer Jahrtausende alten Cultur gebracht hat, hinderte sie auch
au der weiteren Ausbildung ihrer Musik; konnte es doch selbst
der als Musikkenner allgemein geachtete Prinz Tsay-Yu nicht
durchsetzen, dass in die oben beschriebene fünfstufige Scala die
zwei fehlenden Halbtöne aufgenommen wurden; diese Töne der
Tonleiter aufzwingen, so behaupteten die Gegner, heisse so viel,
als der Hand einen sechsten und siebenten Finger anfügen.
Dieselbe Ursache aber war es, weshalb die künstlerisch noch
*) Wie wir ebenfalls durch Aristoxenos erfahren, galt Olympos aus
diesem Grunde als Erfinder des enharmonischen Klanggeschlechtes, von
welchem noch später (S. 19) die Rede sein wird.
I. X>aa A-lterfhum.
ungleich reicher begabten Egypter in ihrer geistigen Entwicke-
lung auf halbem Wege stehen bleiben mussten. Von der hohen
Stellung, welche sie unter den Culturvölkern des Alterthums zeit-
weilig einnahmen, zeugt sowohl der Kunstwerth ihrer zahlreichen,
der Nachwelt erhaltenen Monumente, als auch der Einfluss, den
sie auf die wissenschaftlicheund künstlerische Ausbildung der Nach-
barvölker ausübten, wie denn die berühmtesten Forscher Grriechen-
lands, ein Pythagoras, ein Herodot und noch im vierten
vorchristlichen Jahrhundert Plato die Fahrt über das Meer nicht
scheuten, um der egyptischen Weisheitslehren theilhaftig zu wer-
den. Allerdings scheint zur Zeit des Letzteren schon ein Still-
stand der geistigen Thätigkeit bei den Eg3'pteru eingetreten zu
sein, wie aus der folgenden Stelle im zweiten Buch seiner „G-esetze"
zu schliessen ist: „Ist es erlaubt" so wird hier gefragt „alles,
was einem Dichter in einem Gedicht oder in einem Gesänge schön
dünkt, auch die Jugend zu lehren? — Ueberall ist dieses erlaubt,
nur in Egypten nicht. — Warum aber ist dies in Egypten nicht
erlaubt? — Dies ist freilich zu verwundern. Allein den Egyptern
war es schon lange bekannt, dass die Jugend in den Städten nur
an schöne Formen und an gute Musik gewöhnt werden müsse;
wie aber diese schönen Formen und gute Musik beschaffen sein
müssen, ist von ihren Priestern bestimmt, und weder Malern,
noch Musikern, noch andern Künstlern ist es erlaubt, etwas
Neues, von jenen einmal als schön erkannten Mustern Abweichen-
des einzuführen. Daher kommt es auch, dass ihre Gemälde und
Statuen, die vor zehntausend Jahren verfertigt Avorden, in keinem
einzigen Stück besser oder schlechter sind als diejenigen, welche
noch jetzt gemacht werden." Damit aber war den Künsten das
Todesurtheil gesprochen; denn sobald es verboten ist, über die
Alten hinauszugehen, die Grenzen der Kunst zu erweitern und
neuen Gesetzen Geltung zu verschaffen, so muss selbstverständ-
lich die schöpferische Kraft erlöschen und geistige Stagnation
an ihre Stelle treten. Dass bei alledem die Musik im öffentlichen
und privaten Leben der Egypter einen grossen Platz einnahm,
zeigen die in den Kimigsgräbern und auf andern Monumenten aufge-
fundenen bildlichen Darstellungen von Sängern und lustruraentisten,
bald einzeln, bald zu Chören und Orchestern vereint, wie auch die
Mannichfaltigkeit der dort abgebildeten Instrumente, unter denen
die mit einer grossen Zahl von Saiten versehene Harfe am häufig-
sten erscheint und auf den üppigen, prächtigen Charakter der Musik
schliessen lässt. Doch konnten alle Anstrengungen, die Musik nach
I. Das A-ltertlaum.
aussen hin zu bereichern, für den Mangel an innerer Triebkraft
keinen Ersatz bieten. In der Gescbicbte der Musik darf Egypten
nur eine untergeordnete Stelle einnehmen, verglichen mit den
Hebräern imd Griechen, den beiden Völkern des Alterthums, die
zwar von den Egyptern die Anregung zur geistigen Thätigkeit
empfingen, bald aber durch eigene Kraft ihr Vorbild auf die eine
oder die andere Weise weit überflügeln sollten.
Der Eiufluss, den Egyj)ten auf die griechische Cultur aus-
geübt, tritt besonders deutlich hervor an den Werken der bil-
denden Kunst aus der frühesten Entwickelungszeit Griechenlands,
u. a. bei dem sogenannten Apollo von Tenea, der ganz und gar
den egyptischen Typus zur Schau trägt. Noch bedeutender muss
dieser Einfluss auf die Bildung des jüdischen Volkes gewesen
sein, dessen Stammväter als arme Nomaden zu den Egyptern
geflüchtet, und Jahi'hunderte lang bei ihnen in einem Abhängig-
keitsverhältniss zu verweilen gezwungen waren. Während der
kurzen nationalen Selbständigkeit, welcher sich die Hebräer später
erfreuten, entwickelte sich auch bei ihnen eine eigene Kunst,
deren Bedeutung für den Cultus wie für das gesellige Leben aus
den darauf bezügUchen zahlreichen Mittheilungen des alten Testa-
mentes unzweifelhaft hervorgeht. Diesem zeitweiligen Aufschwünge
folgten jedoch wieder Jahrhunderte der politischen Abhängigkeit
von verhältnissmässig hochci^dhsirten Völkern, während welcher
Zeit die künstlerischen Errungenschaften jener kurzen Freiheits-
epoche allmählich verloren gehen mussten, bis endlich die alles
übei-fluthende griechische Cultur auch dem Judenthum ihren Stempel
aufprägte. Allerdings haben die Hebräer mit einer in der Völker-
geschichte seltenen Consequenz eine bestimmte Seite ihres Wesens
ausgebildet; ihr, mehr auf den inneren Menschen als auf das
äussere Leben gerichteter Sinn, die dadurch erzeugte reinere und
höhere Weltanschauung, welche allen ihr feindlichen Einwirkungen
der Nachbarvölker gegenüber standhielt, sie zeugen genugsam von
der Eigenartigkeit des hebräischen Volksgeistes und rechtfertigen
die Theilnahme, welche man zu allen Zeiten für seine Entwicke-
lungsgeschichte bewiesen hat. Gerade diese Eigenschaften der
Hebräer aber sind es, die bezüglich ihrer künstlerischen Be-
gabung Zweifel erregen müssen; übrigens kann ein ins Einzelne
gehendes Studium der althebräischen Tonkunst schon deshalb kein
lohnendes sein, weil über die Beschaffenheit derselben von den
gleichzeitigen Schriftstellem so gut wie nichts mitgetheilt ist, und
CS ausserdem an Monmnenten, wie solche von der Geschichte
I. Das Alterthum.
anderer Völker Nachricht geben, im jüdischen Lande gänzlich
mangelt*).
Ist demnach von der hebräischen Musik nur mittelbar,
durch das Studium der egyptischen und babylonischen Alter-
thümer, ein einigermassen klares Bild zu gewinnen, so haben wir
von der Musik der Griechen durch ihre Schriften und Monu-
mente unmittelbare und reichliche Kunde. Unter ungleich gün-
stigeren Bedingungen als die Hebräer konnten sie es unternehmen,
die von den Egyptern überkommenen Elemente der Künste und
Wissenschaften in nationalem Sinne auszubilden. Ihrem gelehrigen
Naturell kam die geographische Lage ihres Landes zu Hülfe; die
Leichtigkeit des maritimen Verkehrs veranlasste sie schon früh,
zum Zwecke des Austausches materieller und geistiger Güter mit
den ihnen au Bildung theilweise überlegenen Küstenvölkern des
Mittelmeeres in Verkehr zu treten. Dieser Verkehr sollte auch*
der Ausbildung ihrer musikalischen Anlagen zmn Vortheil ge-
reichen; zur theoretischen Speculation empfingen sie die Anregung
vornehmlich von Eg}73ten her, wo schon in frühester Zeit die
Musik in Verbindung mit mathematischen und astronomischen
Forschungen gepflegt war; auf ihre praktische Musik dagegen
wirkten in erster Reihe die Beziehungen zu Kleinasien, denn von
hier erhielt Griechenland mit dem Weinbau und dem Dionysos-
(Bacchus-)Cultus auch die mit demselben verbundene wild-leiden-
schaftliche, von scharf und weit tönenden Blasinstrumenten begleitete
Musik. Indem mm diese mit der heimischen, auf strenges Maass
gerichteten Musik verschmolz, rief das Zusammenwirken ihrer ver-
schiedenartigen Elemente jene nationale Tonkunst ins Leben, von
deren erhebender Kraft die Schriftsteller der Alten vielfach Zeugniss
ablegen, und die ihre höchste Wirkung in der Tragödie erreichte.
Nimmt man die Meinung Westphal's**) als die richtige an,
nach Avelcher in der antiken Tragödie nicht nur die Chöre,
sondern auch die Einzelredeu und Dialoge musikalisch vorgetragen
wurden, und sie jedenfalls „imserer modernen Oper weit näher
stand als unsenn recitirenden Schauspiel'', so darf diese Kunst-|>
gattung mit Recht die besondere Aufmerksamkeit des Musik-
*) Als einziges Monument des hebräisclien Alterthums kann das im
Inneren des römischen Tihis-Triumphbogens abgebildete Relief gelten, wo
Im Zuge der gefangenen Juden neben anderen Heiligtliümern des Tempels
von Jerusalem auch das unter dem Namen Schofar oder Keren im alten
Testament erwähnte Metallblasinstrument der Juden getragen wird.
**) R. Westphal, griechische Rhythmik und Harmonik I. S. 18.
I. X>as A-lterth-um.
historikers beanspruchen. Ihre Entwickelungsgeschichte ist mit
"wenigen Worten skizzirt. Ihren Ursprung nimmt sie nach der
Darstellung Droysen's (in dessen Didaskalien zum „Aischylos"
S. 510 ff.) A'^on den zm- Zeit der Weinlese dem Dionysos zu Ehren
gefeierten Festen, bei welchen dem Gotte unter begeisterten Ge-
sängen ein Bock geopfert wurde — wie auch der Name „Tragödie"
(aus „Tragos" der Bock und „Ode" der Gesang zusammengesetzt)
wörtlich „Bocksopfergesang" bedeutet. Chorgesänge und Tanz
der als Satyrn vermummten Festtheilnehmer, deren Führer in den
Pausen die Leiden des Gottes singend erzählte, bildeten den
Hauptcharakter dieser ländlichen Feste, welche mit zunehmender
Civilisatiön die Aufmerksamkeit auch der Städter auf sich lenkten
und nun bald eine künstlerische Gestalt gewannen. Thespis
(um 600 V. Chr.) war der erste, welcher ihnen ein dramatisches
*^Element beimischte, indem er den Erzähler zum Chor in eine
bestimmte Beziehung brachte; auch regelte er die Bewegungen
des Chors und gab ihm ein dem Stoffe der Handlung entsprechen-
des Costüm. Fanden diese künstlerischen Neuerungen des
Thespis auf einer Seite heftige Gegner, z. B. in dem Gesetz-
geber Solon, so scheint doch das grosse Publicum sein Streben
anerkannt zu haben,' wie sich aus seinen Kunstreisen schliessen
lässt, bei denen er seine Reqmsiten auf einem Karren mit sich
geführt haben soll — jenem Thespiskarren, dessen Andenken als
Symbol einer wandernden Schauspielertruppe noch bis heute
erhalten ist.
Es bedurfte noch einer E-eihe von Fortschritten, bis die
Tragödie zu jenem Grade äusserer und innerer Vollendung ge-
langte, in welcher wir sie zur Zeit des Aischylos finden. Alle
Vervollkommnungen aber, die sie während jeuer Entwickelungs-
jahre erfuhr, die Ausbildung der Tanz- und Geberdenkuust, die
Einführung eines zweiten Schauspielers und damit des Dialoges,
der Gebrauch der Maske und des Kothm'ns, welche nöthig schienen,
um die äussere Erscheinung mit den erhabenen Vorstellungen,
die man sich von den Heroen machte, in Einklang zu bringen —
alles dies genügt nicht, um die gewaltige Wirkung zu erklären,
welche die Tragödie des Aischylos auf die Gemüther der Griechen
ausübte. Diese Wirkung hat vielmehr ihre eigentliche Ursache
in dem nationalen Aufschwünge Griechenlands als Folge der
heldenmüthig durchgekämpften Perserkriege, sowie in der tief-
religiösen Empfindungsweise des griechischen Volkes, welches die
ursprüngliche Bedeutung der Tragödie als einer gottesdienstlichen
I. Das A-ltertli.u.in.
Handlung damals noch nicht vergessen hatte. Die auf Er-
forschung der göttlichen Dinge gerichtete Philosophie jenes Zeit-
alters, der dichterische Schwung, mit dem sie ihre Lehren zui*
Darstellung brachte, nährte die Begeisterung des Volkes für das
Hohe und Erhabene, und wie sich Dichten und Denken, unter
den Thätigkeiten des Geistes die polarisch entgegengesetzten, in
den Werken der Philosophen begegneten, so auch in den Dramen
des Aischylos. Erinnert man sich noch, dass er selbst -vriederholt
auf dem Schlachtfelde sein Leben für die Ehi-e seines Vater-
landes eingesetzt hat. so begreift man die Strenge seiner ethischen
Anschauungen, sein Festhalten an dem Berufe des Dichters „die
Bürger Tugend und Recht zu lehren". So wenig als die Pro-
pheten Israel's ihre mächtigen Mahnungen — bemerkt Droysen —
dichtete er seine Dramen imi der Aesthetik willen. Sie waren
ihm Predigten an sein Volk, und erst so verstanden, hat der
Ernst seiner Gedanken, die dunkle Pracht seiner Sprache, die
tief leidenschaftliche Ruhe seiner AVeltanschauung ihre ganze
Kraft.
Es war nothwendig, ein Bild des Dichters Aischylos zu
entwerfen, um eine Vorstellung von seinen Verdiensten als Musiker
zu ge>vinnen, da bezüglich des letzteren nichts weiter bekannt ist,
als dass er auch der Componist seiner Dramen war, ^rie über-
haupt das Alterthum mit dem Worte ..Poet" (Poietes) stets nur
denjenigen bezeichnet, welcher die Thätigkeit des Wort- und
Tondichters in seiner Person vereint. Ueber die Beschaffenheit
seiner Musik können wii- uns nm' vermuthungsweise äussern, dürfen
jedoch mit einiger Sicherheit annehmen, dass sie, bei engem An-
schluss an die Rhythmik des Verses unsenn Recitativ oder auch
der Recitation der römischen Liturgie ähnlich gewesen ist, deren
Formeln dem Tonfall des gewöhnlichen Sprechens nachgebildet
sind und in uralten Traditionen wurzeln. Wenn demnach die
Musik der Aischyleischen Tragödie an Manuichfaltigkeit und
Sel])stäudigkeit mit der modernen schwerlich zu vergleichen ist,
so wurde dieser Mangel der Tonsprache durch den Reichthum
au musikalischen Elementen in der Wortsprache (auf ihrer da-
maligen Ausbilduugsstufe) ohne Zweifel ausgeglichen, ja, man
darf annehmen , dass die künstlerische Wirkung der Dramen
des Aischylos hauptsächlich dem Gleichgewicht zuzuschreiben
ist, welches zwischen der Gefühls- und der Begriffssprache,
zwischen Ton und Wort herrschte, ein Verhältniss, welches
nur zu einer Zeit möglich ist, wo beide durch den Grad ihrer
10 !• Das ^Itertlium.
Ausbildung noch nicht gezwungen sind, besondere Wege einzu-
schlagen*).
Jedoch nicht lange sollte dies Gleichgewichtsverhältniss be-
stehen. Schon bei Sophokles weicht die „dunkle Pracht" der
Aischyleischen Dichtung einer klareren, bestimmteren Ausdrucks-
weise, Euripides aber zeigt sich so überwiegend als Wortdichter,
dass sein Entschluss begreiflich Avird, die musikalische Com-
position seiner Tragödien einem Andern, einem Fachmusiker zu
überlassen. Im engen Zusammenhange mit dieser dichterisch-
musikalischen Wandlung steht die, um Mitte des fünften Jahr-
hunderts V. Chr. eingeschlagene Richtung der griechischen Philo-
sophie. Die nunmehr zur Geltung gekommene sophistische
Philosophie betrachtet nicht mehr, wie die vorangegangenen
Schulen, das Weltall im Grossen und Ganzen, sondern den
Menschen für sich allein genommen als würdigstes Object der
Forschung; um aber die Menschenseele zu ergründen, bedarf es
vor allem einer dazu geeigneten Sprache^ und die Ausbildung
einer solchen, sowie der Grammatik, der Kunst des folgerichtigen
Denkens' und des mündlichen Gedankenaustausches (der Logik
*) Als musikalische Elemente der Sprache sind die sogenannten Ono-
mato-Poetica anzusehen, d. h. Worte, die durch ihren Klang allein ihre
Bedeutung kundgeben, wie z. B. „heulen" „i-auschen" „Blitz" „Donner",
im Gegensatz zu denjenigen, deren Bedeutung auf Convention beruht, und
die uns erst in Folge der Erziehung verständlich werden, wie alle, nicht zu
jener Gattung gehörigen. Die Entwickelungsgeschichte der Sprache zeigt,
wie mit zunehmender Ausbildung derselben das erstere Element von dem
zweiten mehr und mehr verdrängt wird. ,,Im ersten Anfange" sagt R.Wagner
in seiner Abhandlung ,, Zukunftsmusik" (Gesammelte Schriften und Dich-
tungen VII, S. 149) „fiel die Bildung des Begriffes von einem Gegenstande
fast ganz mit dem subjectiven Gefühle davon zusammen, und die Annahme,
dass die erste Sprache der Menschen eine grosse Aehnlichkeit mit dem Ge-
sänge gehabt haben muss , dürfte vielleicht nicht lächerlich erscheinen. Von
einer jedenfalls ganz sinnlich subjectiv gefühlten Bedeutung der Worte aus
entwickelte sich die menschliche Sprache in einem immer abstracteren Sinne
in der Weise, dass endlich eine nur noch conventionelle Bedeutung der
Worte übrig blieb, welche dem Gefühl allen Antheil an dem Verständnisse
derselben entzog, wie auch ihre Fügung und Construction gänzlich nur noch
von zu erlernenden Regeln abhängig gemacht wurde." Es bedarf keines
Beweises, dass eine, auf solcher Ausbildungsstufe angelangte, gleichsam halb
erstarrte Sprache dem Aufschwünge der dichterischen Phantasie ungleich
weniger günstig ist, als im Zustande jugendlicher Biegsamkeit, und dass die
AViederbelebung der ihr verloren gegangenen ,, musikalischen" Bestandtheile
für die Dichtkunst, namentlich wenn dieselbe zur Vereinigung mit der Ton-
kunst bestimmt ist, in hohem Grade förderlich sein muss. (Vgl. die Anfänge
der französischen Oper, Cap. VII.).
I. Das ^ItertliviiM. H
und der Dialektik) musste den Jüngern der Sopbistik zunächst
am Herzen liegen. Diese Bestrebungen hatten den doppelten
Erfolg, die Wissenschaft zu fördern und die Beziehungen des
Menschen zum Menschen immer inniger zu gestalten; andererseits
ist es nicht unbegründet, wenn das Prädicat „sophistisch" heut-
zutage fast nur noch in tadelndem Sinne angewendet wird; denn
in dem Maasse, Avie die Fertigkeit ^in diesen Denk- und Eede-
künsten und die Freude an ihrer Ausübung zunahm^ wurde bei
den Sophisten die Yh-tuosität so sehr zur Hauptsache, dass die
Sprache, statt zur Erforschung der Wahrheit, nicht selten zu
dialektischen Scheingefechten dienen musste. Wie sehr um diese
Zeit die Beredtsamkeit sich selbst Zweck geworden war, beweist
die Thatsache, dass einer jener Eede-Yirtuosen es auf seinen
Kuustreisen unternahm, in zwei aufeinander folgenden öffentlichen
Vorträgen das eine Mal für, das zweite Mal gegen eine und
dieselbe Sache zu sprechen.
Die Musik konnte in Folge dieser Wendung nicht länger
die hohe Stellung behaupten, welche sie bis dahin im Leben der
Griechen eingenommen. Die Sprache bedurfte für die Ziele,
Avelche sie jetzt verfolgte, nicht mehr die Mitwirkung des musi-
kaUschen Tones. InzA\dschen aber hatte auf dem Gebiete der
Tonsprache ein ähnUcher Entwickeluugsprocess stattgefunden: eine
neue Gattung der Poesie, die nach dem Instrument, dessen sich
die Dichter zur Begleitung bei ihrem Vortrage bedienten, die
lyrische genannt wurde, war bei den Griechen, besonders bei
den an der kleinasiatischen Küste wohnhaften loniern zu hoher
Blüthe gelangt. Im Gegensatz zu den Chorgesängen, welche die
Empfindungen einer Allgemeinheit zum Ausdruck bringen, ge-
langen in den Dichtungen der ionischen Lyriker, eines Arion,
einer Sappho, eines Anakreon, die individuellen Gefühle, die
Stimmungen der vielfach bewegten Einzelnseele zu künstlerischer
Darstellung. Hier konnte und musste die Musik eine ungleich
wichtigere Rolle spielen als in den übrigen Gattungen der Dicht-
kunst; hier zeigte es sich, dass sie in der Fähigkeit, die geheimsten
liegungen der Seele auszudrücken, der Wortsprache überlegen
war. Und wie die Sprache bei immer zunehmender Ausdrucks-
fähigkeit die Genossenschaft der Musik entbehren konnte, so be-
gann auch diese jetzt sich von der Sprache zu scheiden, um fortan
ihre eigenen Wege zu gehen — nach Herder's Ausspruch „eine
für das uubewehrte menschliche Geschlecht gefiihrliche Scheidung;
denn Musik ohne AVorte setzt uns in ein Reich dunkler Ideen;
12 I. Das A.ltertliwm.
sie weckt Gefühle auf. jedem nach seiner Weise, Gefühle, wie sie
im Herzen schlummern, die im Strom oder in der Fluth künst-
licher Töne ohne Worte keinen Wegweiser oder Leiter finden."*)
Von nun an entwickelt sich die Instmmentalmusik als eine be-
sondere Gattung; Lyra und Aulos — gewöhnlich durch „Flöte"
übersetzt, der Form und dem Klange nach aber mehr unserer
Clarinette oder Oboe entsprechend — erscheinen als Soloinstru-
mente bei den musischen Wettkämpfen, und bei einem der
pythischen Spiele feiert das Instrumental- Virtuosenthum in der
Person des Auleten Sakadas, der es sogar unternahm, den Kampf
Apollo's mit dem Drachen in Tönen darzustellen, einen glänzen-
den Triumph.
Um die kurze Dauer der Blüthezeit der griechischen Kunst
völlig zu erklären, muss noch einmal auf die Wirkungen der
sophistischen Philosophie und ihre dem Skepticismus nahe ver-
wandten Grundsätze hingewiesen werden. „Der Mensch ist das
Maass aller Dinge. Wie einem Jeden ein Jegliches scheint, so
ist es für ihn. Es giebt nur relative Wahrheit, Die Existenz
der Götter ist ungewiss" — so lautet die Behauptung eines ihrer
Häupter, des Protagoras; nichts aber konnte der künstlerischen
Begeisterung feindseliger sein, als die hier ausgesprochene prin-
cipielle Neigung zum Zweifel; besonders musste das Ansehen der
ihrem Ursprung gemäss als gottesdienstliche Handlung geltenden
Tragödie sinken, in dem Grade wie der religiöse Glaube im Volke
erschüttert wurde. Nachdem gar mit Ausgang des peloponnesischen
Krieges (404 v. Chi'.) die Hegemonie in Griechenland von Athen
an Sparta übergegangen war, schwand die Kunst - schöpferische
Kraft des griechischen Volkes mehr und mehr, und sie erlosch
völlig mit dem Verlust der nationalen Selbständigkeit in Folge
des Sieges Philipps von Macedonien bei Chäronea (328 v. Chr.).
Das Conservü-en dessen, was frühere Geschlechter geschaffen,
wird tun die Aufgabe des griechischen Geistes; an Stelle des
Dichtens tritt das Denken, an Stelle der künstlerischen Praxis
die Theorie und Systembildung. Auch die musikalische Theorie
findet ihre Vertreter, unter denen der bedeutendste Aristoxenus,
mit dem Beinahmen „der Musiker", der erste, welcher das Gehör
als den allein maassgebenden Richter über die Tonverhältnisse an-
nahm, im Gegensatz zu der Schule des Pythagoras, die, wie
überall so auch in der Tonkunst, die Zahl als ordnendes Princip
*=) Herder „Zur schönen Literatur und Kunst'-. Theil XVI. S. 33.
X. IDas A.ltertlixiixi. lo
ausschliesslich gelten liess. Von eleu damals entstandeueu Musik-
systemen wird später, beim Uebergaug zur modernen, aus ihnen
hervorgewachseueu Musik, das Wichtigste mitgetheilt werden; für
jetzt möge unsere Uebersicht der musikalischen Leistungen des
Alterthums mit dem Römerreiche ihren Abschluss linden.
War es der Beruf Griechenlands gewesen, der Welt als Vor-
bild und Lehrer den Weg zu zeigen — wie sich der Redner
Isokrates einmal ausdrückt -- so ging das Bestreben der Römer
in erster Linie auf die Erringung und Befestigung der materiellen
Herrschaft. Demgemäss waren es vor allem praktische und po-
litische Aufgaben, deren Lösung sie beschäftigen musste, die künst-
lerischen konnten daneben keine Berücksichtigung finden. Und
als sie endlich ihr letztes Ziel, die Beherrschung aller ihnen be-
kannten Völker der Erde erreicht hatten, da war es zu spät, das
auf idealem Gebiete Versäumte nachzuholen: Rom musste sich
zu allen Zeiten begnügen, seine künstlerischen Bedürfnisse durch
Anleihen bei fremden Völkern, vor allen bei Griechenland zu
befriedigen. Dies geschah nun allerdings zur Kaiserzeit in gross-
artigem Massstabe; wie der Erdki-eis geplündert wurde, um die
Werke der bildenden Kunst aller Schulen und aller Länder auf
den öffentlichen Plätzen und in den Palästen Rom's massenhaft
aufzuhäufen, so wurde die Stadt ein Sammelplatz auch der Mu-
siker aller dem Weltreiche unterworfenen Nationen. Der Sinn
für Massenwirkungen scheint beim musikalischen Publikum Rom's
vorherrschend gewesen zu sein, denn schon aus der Zeit Julius
Cäsar's berichtet Suetonius, dass während einer öffentlichen Feier-
lichkeit einmal zwölftausend Sänger, Sängerinnen und Spielleute
in der Stadt geweilt haben; und Horaz klagt zur Zeit des Au-
gustus, „dass die bescheidene Flöte mit wenigen Löchern, welche
den Vätern genügt habe, bei der Grösse der Schauspielhäuser
seiner Zeit den lärmenden Instrumenten habe weichen müssen.''
Kann nun diese, auf gewaltsamen Effect zielende Musikrich-
tung keinerlei Theilnahme erwecken, so muss es geradezu Ekel
erregen, wenn die Kunst derart in den Staub gezogen wird, wie
es unter dem Kaiser Nero der Fall war, der unter anderen
Manien bekanntlich auch die hatte, als Virtuose im Gesang und
auf der Kithara öffentlich zu glänzen. Seine Stimme war so klang-
los und sein Vortrag so abscheulich, dass bei seiuem ersten Auf-
treten (60 n. Chr.) die Zuhörer nicht wussten, ob sie lachen oder
weinen sollten, und dass es nur mit Hülfe einer wohlorganisirten
Claque möglich war, die Missfallens-Aeusserungen zu ersticken.
14 I. Das Alterthvim.
Später unternahm er eine Kunstreise nach Grriechenland. wo er
sich mit allen nur verfügbaren Preisen krönen liess, ohne auf
irgend welchen Widerstand zu stossen — ein trauriger Beweis
für die Entsittlichung, die auch auf diesem, einstmals von den
Musen geweihten Boden Platz gegriffen hatte. Bald danach aber
sollte Nero's abenteuerliche Künstlerlaufbahn ihr Ende erreichen:
Im Jahre 60 n. Chr. wurde Galba zum Imperator ausgerufen, und
ihm blieb nichts übrig, als sich — im Alter von dreissig Jahren —
selbst den Tod zu geben, ein Leben zu beschliessen, welches
nicht nur ihm zur Schmach gereichte, sondern auch seinen Zeit-
genossen, deren Servilität selbst nicht in ihrem künstlerischen
Gewissen eine Grenze fand.
Unter solchen Umständen konnte es für die Menschheit nur
ein Gewinn sein, wenn die Fackel der antiken Cultur, die so
lange der Welt geleuchtet, endlich erlosch, wenn der römische
Koloss beim ersten Anprall der von Norden einbrechenden Bar-
baren in Trümmer fiel. Zwar musste eine Jahrhunderte lange
Dunkelheit dem von Griechenland ausgestrahlten hellen Lichte
folgen, doch sollten während dieser Zeit des scheinbaren Still-
standes neuer Geist und neue Formen zur Ent\nckelung gelangen,
und ganz besonders in Bezug auf die Musik bewährt sich in
diesem Falle Schiller's Wort:
Das Alte stürzt, es ändert sicli die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.
IL
JDie jM^U-sik der ersten christliclieii Zeiten.
Die gewaltige Umwälzung, welche mit Einführung und Ver-
breitung des Christeuthums auf allen Gebieten des geistigen Lebens
stattfand, musste nothweudiger Weise auch eine gründliche Ver-
änderung der Kunstanschauungen hn Grefolge haben; doch giebt
sich hier der neue Geist anfänglich nur in schüchterner "Weise
kund: wie sich Griechenland im Kindheitsstadiura seiner künst-
lerischen Ent'wdckelung aufs engste an Egypten angeschlossen, so
lehnt sich jetzt die frühchristliche Cultur an die der Griechen
an. Auch in dieser Epoche ist es die bildende Kunst, welche
uns den sicheren Beweis für die völlige Abhängigkeit des jüngeren
vom älteren Culturvolke liefert; die Malereien der römischen
Katakomben, in denen die ersten Christen sich zu gottesdienst-
lichen Zwecken versammelten, zeigen durchweg die bekannten
Figuren und Situationen der antiken Mythologie und Sage zur
Darstellung l)il)lischer Vorgänge verwendet; Orpheus, die wilden
Thiere zähmend, wird hier durch geringe Modificirung zum Daniel
in der Löweugrube; der bocktragende Hermes (Kriophoros), ein
von den griechischen Künstlern vielfach reproducirter Typus, zum
guten Hirten, der das verlorene Lamm auf den Schultern heim-
trägt; Jonas und der "Walltisch, der ihn ausgespieen, sind kaum
vom Arion und seinem Delphin zu unterscheiden. In der Musik
der ersten Christen einen höheren Grad von Selbständigkeit an-
zunehmen, wäre in keiner Weise berechtigt; die Zeugnisse der
gleichzeitigen Schriftsteller sind, in Ermangelung musikalischer
l)okumente aus jener Epoche, hinreichende Beweise des Gegeu-
theils; denn wenn der jüngere Plinius von den Christengemeinden
seiner Zeit berichtet „dass sie Christo, gleich wie einem Gotte,
einen Wechselgesang singen", und der in Alexandrieu lebende
jüdische Gelehrte Philo von den Therapeuten und Essäern, zweien
16 II. Die Äliasik der ersten oliristliclieii Zeiten.
noch von den Aposteln selbst zum Christentlium bekehrten Secten
erzählt, sie haben ihren Cultusgesang mit religiösen Gesten, mit
Vorwärts- und Rückwärtsschreiten begleitet, so deutet alles dies
auf ein unmittelbares Anknüpfen an die Musik und Geberdekunst
der griechischen Tragödie. Wohl darf angenommen werden, dass
von Anbeginn der christlichen Zeit eine Vereinfachung der immer
üppiger gewordenen griechischen Musik den Jüngern der neuen
Religion am Herzen gelegen hat — einer der ersten Kirchen-
väter, Clemens von Alexandrien (gegen Ende des zweiten
Jahrhunderts) untersagte deshalb den Mitgliedern seiner Gemeinde
den Gebrauch der chromatischen Tonfolgen beim Kirchengesange
— im Grossen und Ganzen jedoch darf man im Gesänge der
ersten Christen nur ein, wenn auch von neuem Geist erfülltes, so
doch der Form nach getreues Abbild der antiken Musik vermuthen.
Auch die Einfühi'ung des Christenthmns als Staatsreligion
durch Kaiser Constantin d. Gr. im Jahre 333 n. Chr. konnte einen
Umschwung der musikalischen Verhältnisse nicht bewirken; selbst
unter den, durch die Völkerwanderung (375 n. Chr.) völlig ver-
änderten politischen Zuständen erscheint die Macht der griechischen
Bildung noch ungebrochen. Dass die Zeit noch nicht gekommen
war, sie mit einer andern zu vertauschen, dies mochten die so-
genannten Barbaren recht wohl empfinden; denn mit Avenigen Aus-
nahmen fehlte es ihnen keineswegs an Ehrfurcht vor der Cultur
der alten "Welt, wie auch sie im Durchschnitt weit weniger für
die damals verübten Zerstörungen und Verwüstungen verantwortlicli
zu machen sind, als vielmehr die, durch Jahrhunderte der Cor-
ruption entsittlichten Römer selbst, bei denen Habsucht und Leicht-
sinn jedes Gefühl der Pietät für ihre ruhmvolle Vergangenheit
erstickt hatten. Von allen Völkern aber, die um Mitte des ersten
nachchristlichen Jahrtausends Italien überflutheten, verdienen die
Gothen, als das unstreitig begabteste unter ihnen, die meiste Be-
achtung; insbesondere war die Herrschaft ihres Königs Theo-
dorich (gest. 520 n. Chr.) in jenen Zeiten wilder Gährung von
heilsamem Einfluss auf die Neugestaltung der Verhältnisse. Auch
in der Musikgeschichte verdient sein Name genannt zu werden;
an seinem Hofe lebten die Musiksschriftsteller Boetius und
Cassiodor, die letzten wissenschaftlichen Vertreter des Alter-
thums ; der erstere noch bis zum Ausgange des Mittelalters als musi-
kalische Autorität hoch angesehen, wiewohl er nur als TJebersetzer
und Erklärer der älteren griechischen Musikschriftsteller aijftrat,
der andere, Cassiodor, schon den christlichen Schriftstellern zu-
II. Die AXusilz der ersten christliciieii Zeiten. 17
zurechnen, insofern wenigstens, als er sich in seinem Alter zum
Ohristenthum bekannte. Dass der Ruf Theodorich's als eines
kunstverständigen Herrschers weit über die Grenzen seines Reiches
hinausdrang, beweist u, a. die an ihn gerichtete Bitte des Franken-
königs Chlodwig, ihm einen Kitharöden zu senden, welcher die
in Italien blühende Kunst des Gesanges mit Begleitung der Ki-
tliara auch in seinem Lande heimisch mache. Boetius war es,
der unter den schmeichelhaftesten Complimenten von Theodorich
den Auftrag erhielt, den dazu geeigneten Künstler auszuwählen.
Mit Boetius, der später bei seinem König in Ungnade fiel
und, der Theiln ahme an einer VerschAvörung der römischen National-
pai-tei gegen die Gothenherrschaft angeklagt, in Pavia hingerichtet
wurde (524 n. Chr.) hatte die culturhistorische Mission des Alter-
thums ihren Abschluss gefunden. Bevor Avir uns jedoch den nun
beginnenden musikalischen Neubildungen zuwenden, sei noch des
ihnen zu Grunde liegenden griechischen Musiksystems in Kürze
erwähnt. Die Grundlage dieses Systems bildet nicht, wie beim
modernen, die Octave, sondern eine Reihe von vier Tönen im
Umfange einer reinen Quarte, das Tetrachor d, dessen Ursprung
von der viersaitigen Lyra herzuleiten ist. Das Tetrachord, welches
stets zwei Ganzton-Intervalle und ein Halbton-Intervall enthält,
heisst, je nach der Stellung dieses Halbtones, dorisch (wenn er
in der Tiefe liegt, z. B. EF — G— A), phrygisch (wenn er in
der Mitte liegt, z. B. D — EF — G) oder lydisch (wenn er in der
Höhe liegt, z. B. C — D— EF). Aus der Zusammensetzung zweier
dorischer, phrygischer oder lydischer Tetrachorde entstehen die
gleichnamigen Octavengattungen (Harmonia), zu denen in der
Folge noch vier weitere, mit den übrigen Tönen der diatonischen
Scala beginnende, liinzukommen. Während bei dieser Zusammen-
setzung die beiden Tetrachorde durch ein Ganzton-Intervall ge-
trennt sind, kann ihre Verbindung auch in der Weise ei-folgen, dass
der höchste Ton des tieferen Tetrachords zugleich der tiefste des
höheren Tetrachords ist, und dies Verfahren auf das dorische Tetra-
chord angewendet, gab zu einer neuen Systembildung Anlass: indem
man nämlich der dorischen OctavengattungEFGA—HCDE ein Te-
trachord in der Tiefe (HCDE) und eines in der Höhe (EFGA) an-
setzte, uiul schliesslich diese, aus zwei Tetrachord-Paaren gebildete
Tonreihe durch das tiefe A (den sogenannten „hinzugenonnnenen"
Ton, Proslambanomenos) ergänzte, hatte man eine zwei-octavige
Mollscala gewonnen, ein System, welches sich dem Wesen nach
dadurch von den Octavengattungen unterscheidet, dass es (wie auch
LanghaDs, Musikgeschichte. 2. Auti. 2
X8 II' I>ic Aluaik der ersten cliristliclien Zeiten.
die moderne Dur- und Mollscala) auf jeden der zwölf Halbtöne
der Octave transponirt wii'd. ohne dass sich die Inten-allenfolge
verändert, wie dies ja bei den Octavengattungen verschiedener Ton-
höhe der Fall ist. Zu dem sogenannten vollendeten System
(systema teleion) mrd diese Transpositionsscala (Tonos) dui'ch
Hinzufügung noch eines fünften Tetrachords, welches mit dem
Stamm-Tetrachord EFGA in der erwähnten engen Weise ver-
bunden wh'd (ABCD) und die, bei der Begegnung jener beiden
Tetrachord-Paare entstandene Lücke (das Ganzton-Intervall AH)
ausfüllt, zugleich aber auch die Möglichkeit giebt, in andere Ton-
arten (zunächst in die Unterdominante) zu moduliren.
Dorisches Tetrachord. Phrygisches Tetrachord. Lydisches Tetrachoi'd.
$^E^E^E^d $
ZOT.
-&~
Dorische Octavenofattunsf.
-1»-^-
'^»^^
»^
izar.
II
Vollendetes System (Systema teleion).
Der bei letzterer Ai^t der Verbindung zweien Tetrachorden
gemeinsame Ton heisst Synaphe (Berührungspunkt), die im an-
dern Falle entstehende Lücke Diazeuxis (Trennung). Dem-
gemäss heisst das Tetrachord, welches durch das Ganzton-Intervall
von dem benachbarten tieferen getrennt ist, diezeugmenon (di-
visarum, der getrennten) das eingeschobene aber synemmenon
(conjunctarum, der verbundenen sc. Saiten oder Töne).
Hiermit sind die Hauptpunkte bezeichnet, in welchen die grie-
chische Musiktheorie mit der der christlichen Zeit zusammentrifft,
denn die Octavengattungen blieben noch Jahrhunderte lang,
bis zwei von ihnen, die ionische (unser Dur) und die aeolische
(unser Moll) zur Herrschaft gelangten, sämmtlich in Gebrauch
und haben sich in der katholischen Kirchenmusik sogar bis
heute erhalten.*) Im Uebrigen ist noch als ein wesentlicher
*) Das Bedürfniss einer Reduction der sieben Octavengattungen auf
zwei besonders charakteristische wurde erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts
völlig befriedigt, doch scheint es zu allen Zeiten vorhanden gewesen zu
\
II. Die Aluailc der ersten oh.ristlich.eix Zeiten. 19
Unterschied der antiken von der modernen Musik die ungleich
grössere melodische Mannichfaltigkeit der ersteren henorzuheben.
AVenn die Griechen eine Haiinonie im heutigen Sinne, d. h. Mehr-
stimmigkeit, nicht kannten, so scheint dafür ihr Ohr nach
Seiten der Melodik ungleich feiner ausgebildet gewesen zu sein,
als das unsrige. Darauf deuten die verschiedenen Klang-
geschlechter, welche innerhalb eines dorischen Tetrachords zur
Anwendung kamen, indem man die mittleren Töne desselben in
ihrer Stellung veränderte; so entstand aus dem diatonischen
Klanggeschlecht EFG-A das chromatische durch Erniedrigung
des Gr um einen halben Ton, und das enharmouische, wenn
das Gr um einen weiteren halben Ton. das F aber um einen
Viertelton erniedrigt AMirde.'"*) (S. das Beispiel auf S. 20 oben).
sein. Darauf deutet das Vorherrschen des Dur und Moll in den ältesten
uns überlieferten Volksweisen; ferner eine Bemerkung- des Plato, der in
seinem ..Staat" (drittes Buch, Cap. X. 399) von einer Unterhaltung des
Sokrates mit dem Tonkünstler Griaukon über den Charakter (das Ethos) der
verschiedenen Tonarten berichtet, und den ersteren mit den Worten schli essen
lässt: „Ich kenne die Tonarten nicht, aber lasse mir jene Tonart übrig,
welche dessen Töne und Silbenmaasse angemessen darstellt, der sich in
kriegerischen Verrichtungen und in allen gewaltthätigen Zuständen tapfer
beweist, und der auch, wenn es misslingt, oder wenn er in Wunden oder
Tod geht, oder sonst von einem Unglück befallen wird in dem Allen wohl-
gerüstet und ausharrend sein Schicksal besteht. Und noch eine andere
für den, der sich in friedlicher, nicht gewaltsamer sondern gemächlicher
Thätigkeit befindet, sei es, dass er einen Andern wozu überredet und er-
bittet, durch Flehen Gott oder durch Belehrung und Ermahnung Menschen,
sei es im Gegentheil, dass er selbst einem andern Bittenden oder Belehren-
den und Umstimmenden stillhält, und demgemäss vernünftig handelt und
nicht hochfahrend sich beweist, sondern besonnen und gemässigt in alledem
sich beträgt und mit dem Ausgang zufrieden ist. Diese beiden Tonarten,
eine gewaltige und eine gemächliche, welche der Unglücklichen und
Glücklichen, der Besonnenen und Tapferen Töne am besten wiedergeben
werden, diese lasse mir." (Vgl. Cap. VII.).
'•') Zur Erklärung des letzteren Klanggeschlechtes und der darauf be-
züglichen Anmerkung S. 4 folgt hier das System der dorischen Octaven-
Gattung nebst den griechischen Benennungen seiner Töne:
m:
=J=5=2i;
ffi ^Tj C-^ 2 hj H i-i
Hierbei ist zu bemerken, dass die Saitenbenennungen des tiefereu Tetra-
chords auch für das Tetrachord gelten, welches im Systema teleion obigem
2*
20
II. Die Älusils der erstell christliclien Zeiten.
diatonisch
chromatisch
enharmonisch
Der Reichthum, richtiger gesagt die Bimtheit der griechischen
Melodik, erhielt einen weiteren Zuwachs durch die Verwendung noch
kleinerer Intonations- Abweichungen, der Schattirungen (Chroai),
System in der Tiefe hinzugefügt war, und die des höheren Tetrachords für
das in der Höhe hinzugefügte. "Wenn also Olympos in dorischen Melodien
die Lichanos ausgelassen hat, so fehlten der diatonischen Scala zwei Töne:
die oben genannte Lichanos g und die des tieferen Tetrachords h c d e,
nämlich d, dann aber auch selbstverständlich das oben als Paranete be-
zeichnete d der zweiten Octave und das, ebenfalls Paranete genannte g des
in der Höhe hinzugefügten Tetrachords. Demnach fehlten der (Seite 4
erwähnten) Scala des Olympos, in der dorischen Octavengattung die Terz (g)
und die Septime (d), in der von ihr abgeleiteten hypodorischen dagegen,
in welcher nicht e sondern der Mittelton a (Mese) Anfangs- und Schluss-
ton ist, und deren Charakter durch die fünf höchsten Töne a h c d e als
Moll bestimmt wird, die Quarte (d) und die Septime (g), eben die in
der Scala der Chinesen ausfallenden Intervalle. „Man kann nicht läug-
nen", sagt Fr. Bellermann („Die Tonleitern und Musiknoten der Griechen"
S. 24) „dass derartige Melodien wohl eine würdevolle Einfachheit haben
können", auch beweist er an dem folgenden, seinem ,, Anonymus" (S. 62) ent-
nommenen Beispiele, dass sie nicht weniger als die diatonischen einer natür-
lichen Harmonisirung fähig sind:
, , — 1 — — ! — i — ^ — ^ — — 1 — I — ] — I —
- J5 i — c — — I — . — 0^\ — e — ^_y — 0 — 1__^ — « — 0 — — I — I — I — — 11
T r I I I I ^ r— r I , ♦ ^ »-^
isiiiüei
t s— •— *— 3l
0 — it-^ — 0 — j.-^^—0 — I — 0 — 0 — 0 — • — j- — ^^-J-i
r f \ II I I I r 77-.
Nach Westphal (Plutarch de musica S. 81) erhielt in der späteren Ent-
wickelung der Kitharodik die in dieser Weise vereinfachte diatonische Scala
gewissermassen eine Verzierung; denn es wird neben dem tiefsten Ton des
II. Die AXusik der ersten cliristliclieri Zeiten. 21
und mau begreift, class der iu der juugeu christlichen Kirche herr-
schende Geist eine Vereinfachung der musikalischen Darstelkmgs-
mittel anstreben musste. Xicht lange nach der olien erwähnten
Verordnung des Clemens von Alexandrien, das Verbot des chro-
matischen Klanggeschlechtes b'etreffend, giebt die christliche Kirche
ein zweites musikalisches Lebenszeichen von sich: die stete AVieder-
kehr der kirchlichen Gedenktage hatte die Annahme gewisser
Normen für die Ausführung des Kirchengesanges nöthig gemacht,
und um dieselljen auch den sj)äteren Geschlechtern zu bewahren,
wurden von den Päpsten Sylvester (314 n. Chr.) und seinem Nach-
folger Hilarius die ersten Siugsclmleu errichtet. Es war übrigens
um so nöthiger, für die Erziehung von Kirchensängern zu sorgen,
als mit dem Festhalten der Kirche an der lateinischen Sj^rache
und dem allmählichen Absterben derselben als Sprache des Volkes
die Betheiliguug der Laien am Kirchengesange von selbst auf-
hören musste, und wirklich bald darauf das Concil von Laodicea
(367 n.Chr.) denBeschluss fasste ,.es solle kein anderer in der Kirche
singen, als die dazu verordneten Sänger von ihrer Tribüne."
Tetrachords ein höherer Ton (Viertelton) eingeschaltet, welcher, wie die Aku-
stiker sagen, zu jenem in dem Yerhältniss von 27 :28 steht, oder wie Aristoxenus
v.-ill, um 17-2 enharmonische Diesis höher steht. Diese „neuere Enharmonik"
hält Fr. Bellennann in seiner erstgenannten Schrift (S. 25) für eine Erfindung
schlechter Sänger, welche die IManier hatten, von einem Ton zum andern
durch den Zwischenraum hindurchzuschleifen, während gute Sänger an der
alten, ernsthaften und geschmackvollen Art festhielten und diese Unart ver-
schmähten. Auch macht er darauf aufmerksam, dass das für den diatonischen
Gebrauch ganz zweckmässig erfundene griechische Xotensystem für die
Notirung der beiden andern Klanggeschlechter falsch gebraucht wird, und
folgert daraus, dass die Fixirung jener hässlichen Durchschleifung zu wirk-
lichen Tetrachordtönen eine blosse Erfindung der Theoretiker ist. Anders
freilich lautet Plutarch's Meinung in Cap. XXI. seiner oben angeführten
iichrift: „Die jetzt Lebenden" heisst es dort ,, haben das schönste der Ton-
geschlechter, dem die Alten seiner Ehrwürdigkeit wegen den meisten Eifer
widmeten, ganz und gar hintangesetzt, so dass bei der gi'ossen Mehrzahl
nicht einmal das Vermögen, die enharmonischen Intervalle wahrzunehmen,
vorhanden ist, und sind in ihrer trägen Leichtfertigkeit soweit herab-
gekommen, dass sie die Ansicht aufstellen, die enharmonische Diesis mache
überhaupt nicht den Eindruck eines den Sinnen wahrnehmbaren Intervalles,
und das sie dieselbe aus den IMelodien ausschliessen : diejenigen, so sagen
sie, hätten thöricht gehandelt, welche darüber eine Theorie aufgestellt, und
dies Tongeschlecht in der Praxis verwandt hätten. Als sichersten Beweis
für die AVahrheit ihrer Aussage glauben sie vor Allem ihre eigene Unfähig-
keit vorzubringen, ein solches Intervall wahrzunehmen. Als ob Alles, was
ihrem Gehör entginge, durchaus nicht vorhanden und nicht praktisch ver-
wendbar sei!" »(Vgl. AVestphal a. a. 0. S. 60 sowie S. 80 ff.)
22 II- UJe IMIiisiis der ersten cliristliclieii Zeiten.
Eine noch wirksamere Förderung als jenen Päpsten dankt
4ie Musik dem, im selben Jahrhundert lebenden Bischof Am-
bro sius von Mailand (gest. 397 n. Chr.) und dem, zwei Jahrhunderte
später (590) zum Papst erwählten Gregor d. Gr. Der erstere
that einen wichtigen Schritt zur Vereinfachung des Musiksystems,
indem er aus den griechischen Octavengattungen die vier mit D, E,
F und G beginnenden zum Gebrauch beim Gottesdienst auswählte,
welche in der Folge authentische Tonarten genannt wurden.
Gregor fügte diesen noch vier weitere, mit der Unterquarte der
authentischen beginnende hinzu, die den Namen Plagal-Tonarten
erhielten (von dem griechischen "Worte plagios, schräg, seitwärts).
Hiermit war die Zahl der sogenannten Kirchentöne auf acht ge-
wachsen, doch ist zu bemerken, dass die plagaKschen nicht in
gleichem Sinne selbständige Tonarten sind wie die authentischen;
sie können nur als eine Umstellung der letzteren gelten, derart,
dass der untere, die Quinte umfassende Theil an seiner Stelle
bleibt, der Rest aber, die Quarte umfassend, um eine Octave
tiefer gelegt wird. Die enge Zusammengehörigkeit der authenti-
schen und plagalischen Töne — deren Verhältniss von den Schrift-
stellern des Mittelalters durch die Bezeichnung „männlich" und
„weiblich" treffend charakterisirt ist — zeigt sich am deutlichsten
darin, dass der musikalische SchweiiDunkt, der Grund- oder Final-
ton beiden gemeinsam ist; die authentische Tonart hat ihn in der
Tiefe, die plagalische dagegen in der Mitte, d. h. ihre Tonleiter
tindet ihren Abschluss auf der Quarte, welche sie nach der Höhe
und der Tiefe im Umfang einer Octave umschweift. Nach diesem
Princip theilte man auch die Melodien in authentische und pla-
galische ein, nämlich solche, die sich vom Grundton bis zu seiner
Octave und zurück bewegen, und solche, die von ihrem Grundton
aus eine Quinte aufwärts und eine Quarte abwärts steigen, um
schliesslich wieder zu ihm zunickzukehren.*)
*) Demnach würden z. B. die Anfangsthemen des Es-dur-Ti'io von
Schubert^) und der Es-dur-Symphonie von Beethoven (Eroica)^) verschiedenen
Tonarten, das erstere der authentischen, das letztere der plagalischen an-
gehören.
i^iü^tiül^
f=: :z:d=:
X—ff-
S
H. X>ie Alusik der eraten clxrietliolieii Zeiten. 23
Von der Beschaffenheit des Ambrosianischen Gesanges
geben uns nur die spärlichen Mittheilungen der gleichzeitigen
Schriftsteller Kunde, da er schon früh mit dem Gregorianischen
verschmolz und mit der Zeit völlig in ihm aufgegangen ist. Nur
so viel erfähi-t man aus ihi-en Berichten, dass er „feierhch" und
,.wundersüss" (j)erdulcis) war, und zeitweilig in höherer Achtimg
stand, als selbst der Gesang der römischen Kirche; ferner wird
er „metrisch*' genannt, womit gemeint ist, dass er nach antiker
Weise die Quantität der Silben berücksichtigte, und hiermit ist der
wesentliche Unterschied zwischen ihm und dem Gregorianischen
Gesang bezeichnet, welcher letztere keine bestinunte Zeitdauer
für seine Töne annahm und deshalb auch „ebener Gesang" (cantus
planus, in Frankreich plainchant) genannt wurde. Ist nun diese
Ebenmässigkeit des Gregorianischen Gesanges auch nicht streng
wörthch zu nehmen, als habe man jeden Unterschied in der Zeit-
dauer der Noten vermieden; war es vielmehr, besonders beim
Einzelvoilrag, dem Sänger überlassen, die Textessilben, wie in
der ausdi'ucksvollen Rede, nach Belieben zu dehnen und zu ver-
kürzen, so war doch hier der Zwang der Prosodie abgeschüttelt,
durch welchen die antike Musik wie auch der ihr nahestehende Am-
brosianische Gesang in ihrer Freiheit beschi'änkt waren. Die Be-
freiung der Melodie von den Fesseln der Metrik, sagt Ambros*),
zeri'iss das Band, welches bis dahin die christüche Musik noch
mit der antiken verknüpft hatte, und darin liegt die hohe Be-
deutung der musikalischen Reform des hlg. Gregor, dass sich nun
die Tonkunst thatsächlich von der AVortdichtung emancipirte, in
welcher jene bisher fast als integi'ii'ender Bestandtheil unselbständig
aufgegangen war.
Die Machtstellung, welche Papst Gregor d. Gr. der römischen
Kirche errungen hatte, bewirkte eine inuner weitere Ausbreitung
des Christenthums und zugleich der mit dem Cultus verbundenen
Musik. Einen energischen Beschützer fanden beide in Karl d.
Gr., jenem erleuchteten Herrscher, der es nicht allein verstand,
die der Cultur widerspenstigen Völker zu bezwingen, sondern
sie auch geistig zu sich zu erheben. In richtiger Erkenntuiss,
dass nur die AVohlthat einer höheren Bildung die imterworfenen
Nationen dauernd mit seiner Herrschaft auszusöhnen vermöge,
gründete er Schulen im gimzen Umfange seines weiten Reiches,
von denen die in Metz, Soissons, Fulda, Mainz, Ti-ier, St. Gallen
*) Ambros, (reschichte der ]Musik, 11. S. öl.
24 II- Die ÜVIusili der ersten cUristlichen Zeiten.
bald ZU hohem Ruhme gelaugten. Auf allen diesen Schulen ^\-urde
die Musik gleichmässig mit den übrigen Lehrgegenständen ge-
pflegt*), hauptsächlich als eine Wissenschaft; aber auch nach
praktischer Seite wurde sie vom Kaiser eifrig gefördert, sowohl
die Kirchenmusik als auch die weltliche. Von den Heldenliedern
seiner Zeit liess er durch seinen Schreiber Eginhard eine Samm-
lung veranstalten, welche leider verloren gegangen ist; seine
Töchter Hess er täglich di-ei Stunden lang in der Musik unter-
richten; er selbst versäumte es nie, sich während des Gottes-
dienstes persönhch beim Gesänge zu betheiligen — auf einem
seiner Bildnisse erscheint er inmitten der Chorknaben — und
Aviederholt liess er aus Rom Sänger kommen, um durch ihr- Bei-
spiel die ungeübten Kehlen seiner fränkischen Sänger zu veredeln.
So konnte die Kunst des Kirchengesanges sich auch im Norden
Europa's immer reicher entwickeln, besonders in der Schule zu
Metz, deren unter dem Namen Cantus Metensis**) bekannte
Vortragsweise sich einer gi"ossen Berühmtheit erfreute.
Zwei solche aus Rom entsandte Apostel der Tonkunst waren
es, die den Grimd legten zu dem musikalischen Glanz, welchen
das Kloster St. Gallen während der Zeit geistiger Dunkelheit
vom achten bis zum zwölften Jahrhundert ausstrahlte. Petrus
und Romanus hiessen die beiden Sänger, Avelche auf Befehl des
Papstes, versehen mit einer authentischen Abschrift der vom big.
Gregor veranstalteten Sammlung von Kirchengesängen, dem so-
genannten Antiphonarium, nach Norden pilgerten, um das
musikalische Evangelium zu verbreiten. Beim Uebergang über die
Alpen erki'ankte Romanus und niu- mit Mühe und Noth erreichte
er das Kloster St. Gallen; hier aber fand er von Seiten der Mönche
eine so hebevolle Pflege, dass er auch nach seiner Genesung sich
nicht entschliessen konnte, die gasthche Stätte zu verlassen, und —
nach eingeholter Erlaubniss des Papstes — bis zu seinem Lebensende
dort bheb, mit ibm das Antiphonarium, welches noch heutigen
Tages in der Stiftsbibliothek zu St. Gallen bewahi-t wird. Von
nun an beginnt bei den Mönchen des Klosters ein ungemein
*) Es waren deren sieben, welche in zwei Abtheilungen zerfielen: das
Trivium (Dreiweg), die Grammatik, Rhetorik, Dialektik und das Quadri-
vium (Vierweg), die Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie um-
fassend.
**) Daher nach Einigen das Wort ,, Mette'- (katholischer Frühgottes-
dienst), während andere es vom lateinischen matutinum, Morgenstunde,,
herleiten.
II. Die It^uaik der ersten. ctiriatlicUen Zeiten. 25
reges wissenschaftliches und künstlerisches Streben, von dessen
Erfolg die Chronisten unter ihnen berichten, am ausführ-
lichsten Ekkehard*), der vierte dieses Namens, in seineu, um
das Jahr 1000 verfassten „Casus S. Galli" Um die Ausbildung
der Musik erwarben sich hier besondere Verdienste die beiden
Notker, der eine mit dem Beinamen Labeo (der Grosslefzige)
als Verfasser der ältesten Abhandlung über Musik in deutscher
(althochdeutscher) Sprache, der andere, Notker Balbulus (der
Stammler) als Ei-finder einer neuen Kunstgattung, der Sequenzen.
Das Wesen dieser Art von Gesängen erklärt sich aus ihrem
Namen: sie waren ursprünglich Anhängsel, langathmige Coloraturen,
mit denen man den letzten Ton des „Hallelujah" verzierte. Diese
anfänglich improvish'ten Coloraturen bildeten sich mit der Zeit
zu förmhchen Melodien aus, denen man, um sie dem Gedächtniss
besser einzuprägen, Worte unterlegte. Eine dieser, von Notker
Balbulus geregelten und mit Text versehenen Melodien hat sich
nicht nur in der katholischen Kirchenmusik erhalten, sondern ist
auch in den protestantischen Choralgesaug übergegangen: es ist
die Sequenz „Media vita in morte sumus" („Mitten wir im Leben
sind von dem Tod umfangen"), zu deren Dichtung Notker auf
einer Wanderung in der unweit St. Gallen gelegenen wilden Eels-
schlucht. das Martinstol)el, durch den Anblick eines dort beim
Brückenbau verunglückten Arbeiters angeregt war.
Neben der Vocalmusik wurde auch das Instrumentenspiel im
Kloster St. Gallen eifrig betrieben. Von dem Mönche Tuotilo
berichtet die Chronik, dass er auf verschiedenen Arten von Blas-
und Saiteninstrumenten wohl bewandert gewesen sei, und die
jungen Edelleute der Umgegend im Gebrauche derselben unter-
wiesen habe. Hiei-, wie überhaupt im Norden, musste die Instru-
mentalmusik schon deshalb zahlreiche Liebhaber linden, weil das
Klima die Entwickelung der Gesangsorgane nicht in gleichem
Maasse begünstigte, wie das der südeuropäischen Länder, und in
Folge dessen den nordischen Kehlen die Lieblichkeit des italieni-
schen Gesanges versagt wai". Dass auch die St. Gallischen Sänger
bei aller Reife ihrer musikalischen Ausbildung in diesem Punkte
zurück stehen mussten, zeigt der Ausspruch eines Reisenden
*) Die Mittheilungen dieses Histoi'iographen hat Victor Scheffel in
seinem gleichnamigen Roman zu einer lebensvollen Schilderung des St. Gral-
lischen Klosterlebens verwerthet. Der Held jenes Romans ist der, wegen
seiner Sprachkenntniss von der Herzogin Hadwig von Schwaben zum Lehrer
erwählte Ekkehard II. mit dem Beinamen Palati nus.
26 H. Die jVXvisil? der ersten elirjstliclien Zeiten.
aus Italien, der nach einer, während seiner Anwesenheit im Kloster
veranstalteten musikalischen Abendunterhaltung in sein Tagebuch
schrieb: „Die Männer diesseits der Alpen, wenn sie auch den
Donner ihrer Stimme hoch gen Himmel erdröhnen lassen, können
sich doch nimmer zur Süsse einer gehobenen Modulation auf-
schwingen. Wahrhaft barbarisch ist die Rauheit solch abge-
trunkener Kehlen; wenn sie durch Senkung und Hebung des
Tones einen sanften Gesang zu ermöglichen suchen, schauert die
Natur, und es klingt wie das Fahren eines Wagens, der in
AVinterszeit über gefrorenes Pflaster dahin knarrt."
Der Verfasser dieser herben Kritik mochte wohl schwerlich
ahnen, dass die von ihm so gering geschätzten Nordländer berufen
seien, die Musik um eines ihrer wichtigsten Hülfsmittel zu be-
reichern. Im Norden Europa's sollte dasjenige Element zur Aus-
bildung gelangen, welches recht eigentlich als Unterscheidungs-
merkmal der modernen von der antiken Musik gelten darf, die
Mehrstimmigkeit. Der nächste Abschnitt wird zeigen, wie
unscheinbar die Keime waren, aus denen, allerdings erst nach
Verlauf mehrerer Jahrhunderte schwerer Arbeit die Kunst
hervorwachsen konnte, deren Höhepunkt der Name Palestrina
bezeichnet.
IIL
Die Anfange der naelirstininiigen ]VXiisik.
Bevor wir die von den Völkern des Nordens bewirkten Fort-
schiitte in der Musik näher betrachten, sei noch eines andern
Volkes gedacht, welches, wenn auch nicht speciell auf die Ton-
kunst, so doch auf die gesammte Culturentwickelung während der
Jahi'hundei-te des mittelalterlichen Sturmes imd Dranges einen
fördernden EinÜuss ausübte: der Araber. Von der Befähigung
dieses Volksstammes zur Theilnahme an der geistigen Arbeit der
Menschheit berichten schon die Schriftsteller des Alterthums; zur
vollen Entfaltung aber gelangten diese Anlagen erst in Folge
der durch Muhamed (022 n.Chr.) bewirkten religiösen und socialen
Reform; unter ihrem Einflüsse konnte sich das Morgenland binnen
kurzem zu einer Stufe der Civilisation erheben, welche Europa
erst Jahrhunderte später erreichen sollte. Und nicht genug war
es den Bekennern des Islam, auf heimathlichem Boden Stätten
_/u gründen, die wie Bagdad und Damaskus den Ruf morgen-
ländischer Bildung und Gesittung über die Welt verbreiteten;
schon im folgenden Jahrhundert trieb ^ sie, der Lehre des Pro-
])heten auch ausserhalb ihres "Welttheils Geltung zu verschaffen.
Im Fluge ward Nord- Afrika bis zu den Säulen des Hercules unter-
worfen, und nach Ueberschreitung der Meerenge von Gibraltar
(711 n. Chr.) der schon durch Parteikämpfe stark erschütterfen
Gotheuherrschaft in Spanien ein Ende gemacht. Das aus ihren
Trümmern erwachsene Kalifenreich gelaugte mit übeiTaschender
Schnelle zu hoher politischer wie auch geistiger Machtstellung und
seine Hauptstadt Cordova konnte bald mit den erwähnten Bil-
dungs-Mittelpunkten des Orients den gleichen Rang einnehmen.
Vor allem zeichneten sich die Ai'aber durch die Pflege der Wissen-
schaften aus, wobei die zahlreichen, in Spanien wolmenden Juden
28 III. Die Anfänge der xuelirstimmigeu ÜVIusik.
sie um so "wirksamer imterstützen konnten, als diese durch keinerlei
materiellen Druck in ihrer geistigen Thätigkeit behindei-t wurden,
■wie dies in Folge des religiösen Fanatismus unter den späteren,
christlichen Herrschern des Landes der Fall war.
Für das übrige Europa Avurde die Herrschaft des Islam in
Spanien vor allem dadurch bedeutungsvoll, dass es durch Vermitte-
lung der dortigen Gelehrten mit der Literatur des griechischen Alter-
thums, zunächst freilich nur in lateinischen Uebersetzungen, bekannt
wurde. Auch der künstlerische Einfluss der spanischen Araber
auf die Nachbarvölker kann nicht gering gewesen sein, nach ihren
Leistungen auf dem Gebiete der Baukunst zu urtheilen, von deren
Bedeutung und Eigenartigkeit die noch erhaltenen Monumente,
vornehmlich die grosse Moschee zu Cordova und das Königsschloss
Alhambra zu Granada Zeugniss ablegen. Für die Musik ähn-
liches zu wirken, daran scheint jenes Gemisch von Nüchternheit
und Phantasterei, welches die Kunst der Orientalen überhaupt kenn-
zeichnet, auch die Araber gehindert zu haben. Derselbe Geist der
Beschränktheit, der sich in der Ornamentik ihrer Bauten zeigt,
und, um das vom Koran . ausgesprochene Verbot bildlicher Dar-
stellung von Naturgegenständen nicht zu verletzen, jede Verzierung
in mathematische Figuren umsetzt — nach ihren Erfindern
Arabesken genannt — dieser Geist spricht sich auch in der
orientalischen Musik mit ihrem überschwenglichen Reichthum an
Ornamenten aus und hindert sie, zu festen Gebilden zu ge-
langen; so wenig aber wie die praktische Musik der Araber
konnte ihre musikalische Theorie, wiewohl sie, um mit Ambros
zu reden, an spitzfindiger Scharfsinnigkeit und Verwickeltheit der
altgriechischen nichts nachgiebt, irgend welche Ausgangspunkte
für eine musilcalische Neugestaltung bieten.
In diesem Sinne schöpferisch zu wirken, war den Völkern
des Nordens vorbehalten. Hatte ihnen die Natur den Wohlklang
der südlichen Stimmen versagt, so war ihnen dafür die Fähigkeit
der Toncombinationen aller Art in höherem Grade verliehen, als
den Bewohnern Südeuropa's. Es sei hier noch einmal auf die
Bedeutung der Instrumentalmusik in Bezug auf jene Fähig-
keit hingewiesen. Zunächst boten die Instrumente mit ihrer be-
stinunten Zahl von Saiten oder — bei den Blasinstrumenten —
Bohrlöchern, einen weit sicherern Anhalt zur theoretischen Spe-
culation als die menschliche Stimme, die sich in Intervallen von
unendlich verschiedener Grösse bcAvegen kann; auf die musikalische
Composition aber wirkte das Instrumentenspiel in hohem Grade an-
1
III. Die A.xxiä,n.sei der melirstimmigeix Alusilz. 29
regend und klärend, einmal weil die Instrumente der Phantasie
des Tonsetzers eine freiere Bewegung gestatten als der, durch
den natürlichen Umfang der menschlichen Stimme wie auch dm-ch
den Text heschriinkte Vocalsatz; sodann, weil ein Tonstück ohne
Worte des inneren Zusammenhanges ganz besonders bedarf, um
nicht in inhaltlose Spielerei auszuarten. Nach alle diesem darf
man mit Bestimmtheit annehmen, dass die mehrstimmige Musik
ihren Ausgangspunkt nicht vom Lande des Gesanges, sondern von
dem der Instrumentalmusili genommen hat, und dass sie auf den
Instrumenten praktisch ausgeübt wurde, noch lange bevor man
anfing, sie im Gesänge anzuwenden oder sich theoretisch mit ihr
zu beschäftigen.
Für die Richtigkeit der letzteren Meinung spricht auch die
Beschaffenheit der Streichinstrumente, wie sie auf den ältesten
Denkmälern erscheinen; die hier abgebildeten Geigen sind meist
mit drei Saiten bespannt; da aber der Steg flach ist und die
beim modernen Geigenkörper angebrachten Einbuchtungen fehlen,
so musste der Bogen nothwendigerweise alle drei Saiten zugleich
berühren, es musste unter diesen Bedingungen eine Toncombination
entstehen, wie sie noch jetzt die schottische Sackpfeife und die
sogenannte Savoyardenleier (Organistrum) zeigen: auf der höchsten
Saite wurde eine Melodie gespielt, während die beiden tieferen
den Grundtou und die Quinte nach Art eines Orgelpunktes dazu
aushielten. Dass die ersten Versuche im mehrstinmiigeu Gesänge,
anfänglich Improvisationen einer zweiten Stimme zu einer Melodie
des gregorianischen Kircheugesanges , durch das Spiel solcher
Instrumente augeregt sind, deutet schon die dafür gebräuchliche
Benennung „Kunst des Organisirens" (ars organandi) an, denn unter
.,Organum" verstand man im frühen Mittelalter nicht nur die
Orgel, sondern jedes musikalische Instrument, Und aus derselben
Ursache bezeichnete mau mit dem Worte „Organum'' die Kunst
des mehrstinnnigen Tonsatzes, zu der Zeit, als sie in dem flan-
drischen Mönch Hucbald oder Ubaldus (gest. 930 n. Chr. im
Kloster St. Amand, im heutigen französischen Departement du Nord)
ihren ersten theoretischen Vertreter fand.
Hucbald's Lehre vom Organum, bei ihm auch Diaphonie
geheissen, handelt von der mehrstimmigen Musik und zwar nicht
nur als Gesang in Octaven oder gelegentliches Mit - Erklingen
eines anderen Intervalles, wie sie schon von den Griechen aus-
geübt worden war, sondern als gleichzeitiges Erklingen verschie-
dener Tonreihen, kurz, als das, was heute mit dem AVorte
30 m. Die A-nfStuge der mebratiminieeii ^Musik.
„Harmonie" bezeichnet wii'd*). Das am meisten geeignete Intervall
für solclie Fortschreitimgen fand Hucbald in der sclion von den
Alten als Consonanz anerkannten Qninte, und denigemäss Hess er
zunächst zwei Stimmen in Quinten-Parallelen fortschreiten. Durch
eine Verdoppelung der Unterstimme in der höheren Octave gewinnt
er sodann einen dreisthnmigen Satz und Quarten-Parallelen, endlich
durch Verdoppelung der Quintengänge einen vierstimmigen Satz.
Handelt es sich hier nur um eine rein mechanische Ton-
combination, so zeigt eine zweite Art des Organum, das soge-
nannte schweifende, schon eine annähernd kunstmässige Gestalt.
Dieses ist immer nur zweistimmig und besteht theils in Quai-ten-
Parallelen, theils bleibt die untere Stimme auf einem Ton liegen,
während die obere sie in andern Intervallen, z. B. der Secunde,
Terz, dem Einklang, umspielt. Viel war allerdings auch hiermit
noch nicht für die Ausbildung der neuen Kunst gewonnen, ob-
wohl Hucbald selbst an der herrlichen Wirkung seines Organums
nicht zweifelte. „Singen ihrer," so sagt er „zwei oder mehr mit
bedächtiger und einträchtiger Strenge zusammen, jeder seine
Stimme, so wirst du einen lieblichen Zusammenklang aus dieser
Vermischung der Töne entstehen sehen." — IVIit ähnlichen, nach
*) Im Alterthmn verstand man unter ,, Harmonie" jede geordnete Ton-
folge; noch im Ausgange des Mittelalters erklärt der niederländische Musik-
theoretiker Tinctoris: „Harmonie ist dasselbe wie Melodie." — Von Huc-
bald's Organum hat man in neuester Zeit behauptet, es sei gar nicht als
Harmonie (im modernen Sinne des AVortes) aufzufassen ; die dort in Quinten-
parallelen sich bewegenden Tonreihen seien nicht zum gleichzeitigen, son-
dern zum Nacheinander-Erklingen bestimmt gewesen. Als Gründe für diese
Behauptung wurde einestheils angeführt, dass dem musikalisch gebildeten
Ohr Quintenparallelen widerwärtig klingen ; auderntheils die von den Schrift-
stellern jener Zeit den beiden Tonreihen gegebenen Prädicate ,,praecedens"
und „subsequens".' Das Ungenügende d:s ersteren Grundes springt in die
Augen, wenn wir uns der Wandelbarkeit des musikalischen Geschmackes,
selbst innerhalb eines Zeitraumes von Jahrzehnten erinnei'n; demnach könnte
recht wohl vor einem Jahrtausend angenehm geklungen haben, was dem
modernen Ohr unangenehm ist. Bezüglich der lateinischen Verba aber ist
zu bemerken, dass sie nicht allein , .vorangehen" und ,, nachfolgen", sondern
ebensowohl „den Vorzug haben" und ,,sich nach etwas richten" bedeuten
können. In diesem Falle nun kommt ihnen unzweifelhaft die letztere Bedeu-
tung zu, denn die musikalische Aufgabe Hucbakl's, wie überhaupt des Mittel-
alters, bestand ja gerade darin, nicht etwa den schon bei den Alten üblichen
antiphonischen oder Wechselgesang zu erneuern, sondern für eine durchaus
andersartige Musik, nämlich für das Zusammen -Erklingen der Intervalle
und für die Verbindung dieser Zusammenklänge einen theoretischen Boden
zu orewinnen.
I
III. Die .^.nfäiige der ixielirstixamigen. Alusik. 31
heutigen Begiiffeu bescheidenen Resultaten musste sich Hucbahl
bei seinem Bestreben zur Verbesserung der Tonschrift begnügen.
Die zu seiner Zeit übliche, schon von Gregor d. Gr. eingeführte
Bezeichnung der Töne durch die sieben ersten Buchstaben des
lateinischen Alphabets konnte für die höheren Ziele, ^velche die
Musik von mm an verfolgte, nicht mehr genügen, so wenig wie die
sogenannten Neumen, eine, vermuthlich aus den Accenteu
der griechischen Schriftsprache entstandene Tonschrift. Diese,
aus einer Unzahl von Zeichen, Punkten, Stiichelchen und Häkchen
bestehend, hatte zwar vor der Buchstabenschrift die Fähigkeit
voraus, Höhe und Tiefe des Tones anschaulich zu machen, doch
war die Stellung der einzelnen Tonzeichen, so lange man die-
selbe nicht mit Hülfe eines Liniensystems präcisirf hatte , zu
unbestimmt, um nicht die verschiedensten Lesarten zuzulassen.
Hucbald's erster Refonnversuch auf diesem Gebiete, kaum mehr
als eine Modiiicirung der griechischen Buchstaben-Notation, musste
schon deshalb erfolglos bleiben, weil hier dem soeben ange-
deuteten Bedürfniss, das Steigen und Fallen der Töne zu ver-
sinnlichen, in keiner Weise Rechnung getragen wurde; eine später
von ihm vorgeschlagene Notenschrift mit einem Liniensystem, in
welches die Textessylben aufgeschichtet wurden und mit Bezeich-
nung der Tonstufen durch die Buchstaben T (Tonus, Ganzton)
und S (Semitonium, Halbtou) am Beginn jedes Spatiums, leistete
zwar jenen Dienst, vermochte jedoch ebensowenig die Xeumen-
schrift zu verdrängen, namentlich wegen ihrer aus nachfolgendem
Beispiel zu ersehenden Schwerfälligkeit.
f J AI
f i' le\ u \
t"I ~~ lu/ i\
s r a \
')
in moderner Tonschrift
AI - le - lu - i - a
*) Die hinter dem Buchstaben T und 8 befindlichen Zeichen gehören
der oben erwähnten, früher von Hucbald erfundenen Tonschrift an, über
deren Beschaft'enheit und Entstehung H. Bellermann in der Allgemeinen
musikal. Zeitung, Jahrgang 1868 No. 37 genaue Auskunft giebt.
32 ni. Die Anfänge der melirstixnniigen. llVlusils.
Erst ein Jahrhundert später sollte dem Bedürfniss nach einer
deutlichen Tonschrift abgeholfen werden, indem Guido von
Arezzo zuerst darauf kam, vier Linien zu ziehen, und nicht nur
diese, sondern auch die Zwischenräume Ijenutzte, um so für jeden
Ton der diatonischen Scala einen bestimmt abgegrenzten Platz
zu gewinnen. Er führte die Versuche seiner Vorgänger, welche
bei der Benutzung der Linien noch keinem festen Princip gefolgt
waren, zum Abschluss und wurde so der Schöpfer des noch heute
gebräuchlichen Notations-Systems; denn von nun an vereinfachte
sich auch die Zahl und die Gestalt der ISTeumenzeichen, welche
sich schliesslich, nach allerlei Modilicii-ungen, in die modernen
Notenzeichen verwandelten, so u. a. die Virgula (in Figur eines
Komma), aus welcher unsere Viertelnote entstanden ist. — Noch
grösseren Ruhm erwarb sich Guido, bei seinen Zeitgenossen
wenigstens, durch die von ihm erdachte Gesang -Lehrmethode,
vermittelst derer, wie man behauptete, der Schüler in drei Tagen
das zu lernen im Stande sei, wozu er früher ebenso vieler
Wochen bedurft hatte. Diese Methode bestand darin, dass dem
Lernenden ein unbekannter Gesang durch Vergleichung mit einem
ihm schon bekannten eingeprägt wurde. Als eine solche typische
Melodie empfahl Guido eine Hymne, deren einzelne melodische
Phrasen — nach heutiger Ausdrucksweise „Takte" — in ihren
Anfangstönen eine diatonische Scala darstellen. Die mit diesen
Anfangstönen zusammenfallenden Textessilben lauten: ut, re, mi,
fa, sol, la,*) welcher zufällige Umstand den romanischen Völkern
Anlass gegeben hat, die Töne der diatonischen Scala mit diesen
*) Diese Hymne, in welcher die Sänger den heiligen Johannes bitten,
sie von Heisei-keit zu befreien, lautet vollständig:
:^— — ^igrz^gr:rfzi^r^^z;;i:^:3£ra-: :zzar.zg=gröl-:g^g^_^_.^_l
Tjtque-antla - xis re-so-na-re fi-bris nii - - ra ge - sto-rum
»-7I-» ^ n-»-»- n
:arj£LT^zzz
fa-mu-li tu - o-rum sol - - ve pol-lu-ti la-bi - i re - a - tum
Sanc-te Jo-han-nes.
III. Die Anfänge der melirstimmigen IMueik. 33
Silben zu benennen (das si für die siebente Stufe wurde erst später,
nachdem das Octavensystem allgemein angenommen war, in Frank-
reich hinzugefügt). Der Vortheil, welchen gerade diese Hymne
dem Schüler bot, war ein doppelter, da sie ihm nicht allein Gelegen-
heit gab, sich die Tonleiter einzuprägen, sondern auch geeignet
war, das Gehör für den Unterschied der Kircheutonarten zu
schärfen, für welche letztere, wie für die Melodiephrasen der
Hymne, die verschiedene Stellung der Intervalle das charakte-
ristische Merkmal bildet.
Der Erfolg dieser Methode war ein so grosser, dass sogar
der Papst (Johann XIX. 1024 — 1033) sie kennen lernen wollte
und ihren Ei-iinder dm-ch drei Boten nach Eom einladen liess,
ihn auch bei seiner Ankunft aufs freundlichste empfing und nicht
eher von seinem Sitze aufstand, bis er einen ihm unbekannt ge-
wesenen Gesang richtig erlernt hatte und so au sich selbst erfuhr,
was er den andern kamn hatte glauben wollen — wie dies Guido
in einem Briefe an seinen Freund und Klosterbruder Michael
berichtet. Ein grosser Theil von Guido's Erfolg ist aber auf Rech-
nung seiner Persönlichkeit zu schreiben; denn obwohl er, wie
alle andern Vertreter der Kunst und Wissenschaft mi Mittelalter,,
dem geistlichen Stande angehörte — anfangs dem Kloster Pom-
posa bei Haveuna, später dem Benedictinerkloster zu Arezzo —
so beschränkte er sich in seiner Thätigkeit doch keineswegs aut
die Mönchszelle, sondern war unablässig bemüht, seine musikali-
schen Errungenschaften aller "Welt zu gute kommen zu lassen.
Dadurch unterscheidet er sich wesentlich von allen seinen Zeit-
genossen, dass er ein Mann des Volkes war, und als solcher wurde
er von der dankbaren Volksstimme noch Jahrhunderte nach
seinem Tode und selbst weit über sein Verdienst gepriesen; eine
ganze Reihe von Ei-findungen aus späteren Zeiten sind von den
Musikschriftstellern noch des vorigen Jahrhunderts ihm beigelegt
worden, darunter die sogenannte harmonische oder Guido-
nische Hand, welche vom 12. Jahrhundert an in allen musi-
kalischen Lehrbüchern erscheint, und den Zweck hatte, dem
Schüler die Benennungen der zu Guido's Zeit gebräuchlichen Töne
beizubringen, indem man jedem derselben mit Ausnahme des
B-molle und des ee seinen Platz auf einem der neunzehn
Glieder der menschlichen Hand (die Fingerspitzen mitgerechnet)
anwies: das obere Glied des Daumens bekam das Gamma (1'),
liierauf fuhr man herab, dann quer hinüber, am kleinen Finger
hinauf, an den oberen Gliedern der folgenden drei entlaug, am
Laug haus, Musikgeschichte. U. Aufl. 3
34
m. Die A-ufärige der naeKratimmigeii IVXusik.
Zeigefinger wieder herab u. s. w. im Kreise bis zum vorhöchsten
Ton; der letzte ee erhielt seinen Platz über dem Mittelfinger.
Von ungleich höherem "Werth ist eine andere, dem Guido
zugeschriebene Erfindung, das System der Solmisation, welches
hier schon deswegen erwähnt zu werden verdient, weil es weit über
das Mittelalter hinaus bei praktischen wie theoretischen Musikern
in hohem Ansehen stand. Die Solmisation oder das Hexachord-
System theilt die bald nach Guido auf 21 Töne erweiterte
Tonreihe in sieben sechsstufige Tongruppen, Hexachorde genannt;
deren einzelne Töne mit den Silben ut, re, mi, fa, sol, la bezeichnet
sind; doch schHessen sich diese Hexachorde nicht, wie die Octaven
im modernen Musiksystem aneinander an — dies würde ja eine Reihe
von 42 Tönen ergeben — sondern sie greifen in einander ein;
das tiefste, das sogenannte harte Hexachord (Hexachordum durum)
umfasst die Tonreihe T (Gamma, der Ton, welcher der ursprüng-
lich mit A beginnenden Scala noch in der Tiefe hinzugefügt war)
HI. X>ie A-iifkiige der mehrstimmigen. ÜVtusik.
35
A, B (unser H)*) C, D, E; aber schon auf der vierten Stufe C
beginnt ein neues, das natürliche genannt (Hex. naturale), die
Tonreihe C, D, E, F, Gr, a umfassend, und auf der vierten Stufe
dieses Hexachords (auf F) ein drittes, das weiche (Hex. molle). Die
letztere Benennung hat nicht Bezug auf die Intervallenfolge, welche
hier dieselbe ist Avie in den beiden andern Hexachorden, sondern
auf das „weiche B" (B molle, unser B) ein in die Scala einge-
schobener Ton, dessen man bedurfte, um den Tritonus (das
Intervall der übermässigen Quarte) zu veraieiden, welches aus
dem Zusammentreffen des „harten B" (B durum, unserm H) mit dem
Grundton des weichen Hexachords (F) entsteht. Auf der nächsten
Stufe Gr wiederholt sich dann das harte u. s. w. bis zum Abschluss
des siebenten Hexachords, welches als das höchste superacutum
heisst, Avähi'end die Hexachorde der tiefsten Octaven mit grave,
die der folgenden Octave mit acutum näher bezeichnet werden.
la
ee
dd
cc
bb . . :
a,a . ■ la \ mi l re
g soH re Mti
/ fa[tit
la
sol
fa
e
d
c
b
a
G
F
E
B
C
B
A
la
sol
fa
mi
sol I re
la
sol
fa
mi
re
ut
la
sol
fa
mi
re
Hexacliordum
Hexachordum
duram superacutum
molle acutum
7tll
re
ut
Hexacliordum naturale acutum
la
ut } Hexacliordum
. . Hexachordum
durum acutum
molle ffrave
imi i
re\
ut)
fa [ut ) Hexacliordum naturale grave
mt
re
r ut ] Hexachordum durniu grave
Die AnhängUchkeit an das Tetrachordsystem der G-riechen scheint
eine Ursache gewesen zu sein, dass man sich nicht schon jetzt
*) Die schon von den (Iriechen erkannte Nothwendigkeit der Einfügung
eines achten Tones in die siebenstufige diatonische »Scala rechtfertigte die An-
nahme eines achten Buchstabens des Alphabets (H) zur näheren Bezeichnung
desselben im modernen Tonsystem. Dass man aber in Deutschland mit diesem
achten Buchstaben nicht den eingeschobenen Ton (B), sondern den ursprüng-
lichen, um einen Ganzton von A aufwärts liegenden bezeichnet hat, wird
nur durch die Annahme erklärlich, dass die Bedeutung des älteren Schrift-
I
Zeichens für das B-durum G (seiner Gestalt wegen auch B-quadratum ge-
36 TTT, Die Anfenge der melirstiinmigeii Alusik.
ziu" Annahme des Octavensystems entschloss, sondern eine Art
von Uebergang durcli das Hexacliordsystem vorzog. Uebrigens
aber ist die Solmisation, indem sie die engen Beziehungen zwischen
der Haupttonart und ihren Nebentonarten (Tonica, Ober- und Unter-
Dominante) heiTorhebt, für die Entwickekmg der modernen Musik-
lehi'e keineswegs unmchtig gewesen, und es ist begreiflich, dass
sie noch im Anfange des vorigen Jahrhunderts warme Vertheidiger,
unter ihnen den trefilichen Erfurter Organisten Buttstedt ge-
funden hat.
Trotz der Vervollkommnung der Notenschrift durch Guido
von Ai'ezzo haftete ihr noch ein Mangel an, der mit fortschreiten-
der Ausbildung der mehrstimmigen Musik immer drückender
empfunden werden musste: die Unmöglichkeit, die Dauer der
Noten zu bezeichnen. Sollten zwei oder mehr Stimmen gleich-
zeitig gesungen werden, so musste ihr Verhältniss nicht nur in
Bezug auf Höhe und Tiefe, sondern auch auf den Zeitwerth der
Töne genau festgestellt sein. Der erste Schriftsteller, welcher
über die beim „gemessenen" Gesänge (Mensuralmusik) zu be-
obachtenden Regeln Auskunft giebt, ist Franco von Cöln (um
1200 n. Chr.). Wie alle seine Vorgänger auf musik-theoretischem
Gebiete, so folgt auch er der griechischen Ueberlieferung, indem
er zunächst nur zwei Notenwerthe annimmt, die lange und kurze
Note (Longa Bl und Brevis ■), entsprechend den langen und kiu^zen
Silben der antiken Prosodie. Eine Vereinigung dieser beiden
Noten, deren kürzere den halben AVerth der längeren hat, ergiebt
den Modus, der entweder als Trochäus ( — ■^-) oder als Jambus
{■^-^ — ) erscheint und stets dreitheilig ist. So erklärt es sich,
dass in den frühesten Zeiten der Mensuralmusik der dreitheilige
Rhythmus allein Anwendung fand, und, nachdem später auch
der zweitheilige Rhythmus in Gebrauch kam, der vollkommene
genannt wurde, letzterer aber der unvollkommene. Im weiteren
Verlaufe seiner Darstellung freilich verlässt Franco die Tra-
ditionen des Alterthums, denn hier erscheinen als neue Noten-
werthe die doppelte Longa (Max im a Mil) und die halbe
Brevis (Semibrevis ♦). Mit diesen Zeichen, zu denen noch die
nannt) zeitweilig vei'loren gegangen ist, und von der späteren Tonschrift als
unser Quadrat t^ oder als H reproducirt wurde. Die Gestalt des weichen
|j dagegen konnte zu solchen Missverständnissen keinen Anlass geben, und
sie veranlasste die ohne Frage widersinnige Bezeichnung des achten (hin-
zugenommenen) Tones mit dem zweiten Buchstaben des Alphabets.
HI. X)ie A.ufänge der raelxrstiinixiigeii ^Vlusili. 3T
für die Pausen kommen, welche ebenfalls bei Franco zum ersten
mal genannt werden, war es schon möglich, eine rhythmisch
mannichfaltige Musik zu notiren; nur litt die Mensural-Notation au
dem Uebelstand, dass der Werth der Noten nicht durch ihre Gestalt
allein, sondern auch durch ihre Stellung zur Nachbar -
note bedingt war: so füllte z. B. eine Longa für sich einen drei-
zeitigen Takt aus, folgte ihr aber eine Brevis, so wurde sie da-
durch zweizeitig und bildete mit der letzteren zusammen einen
Takt; folgten ihr zwei Breven, so wurde sie wieder dreizeitig, die
beiden folgenden Breven bildeten dann zusammen einen dreizei-
tigeu Takt, und zwar so, dass die erste eine Zeit, die folgende
^wei Zeiten galt.*)
Nächst Franco von Cöln haben das meiste Verdienst um die
Ausbildung der Mensuralmusik Marchettus von Padua (Ende
des 13. Jahrhunderts) und Johannes de Muris, Doctor der
Theologie an der pariser Universität (Anfang des 14. Jahrhun-
derts). In den Schriften dieser beiden Musik-Gelehrten erscheint
zuerst das Verbot der, von Hucbald ihres Wohlklanges wegen
gepriesenen Quinten- und Octaven-Parallelen, nebst verschiedenen
anderen, für den strengen Tonsatz noch bis heute gültig geblie-
benen Lehren. De Muris soll auch zuerst das Wort Contra-
punkt (von „punctus contra punctum" Note gegen Note) statt
des bis dahin gebräuchlichen „Discantus" zur Bezeichnung eines
zweistimmigen Tonsatzes angewendet haben. Die einseitige Be-
vorzugung des dreitheiligen Taktes findet sich allerdings noch bei
ihm; erst ein Jahrhundert später wird der zweitheilige als gleich-
berechtigt in die Compositionspraxis eingeführt und damit für die
weitere Entwickelung der Mensuralmusik der nöthige freie Raum
gewonnen.
Dies Wenige möge genügen, um von der Unbeholfenheit der
Mensural-Notation und der Mühseligkeit der geistigen Arbeit des
*) Ein Rhythmus dieser Art ■ ■ ■ ■ ■ ■ in moderner Notation ausge-
drückt -^^ y Q-r-t — jj — p— [ rj A rJ" rj—\ befremdet nun zwar unser
Ohr nicht wenig durch seinen schwerfälhgen hinkenden Gang ; in schnellem
Zeitmass vorgetragen -^^ ^ ^-^ — J-— ^'' J J-H verliert er jedoch diesen
Charakter , wie aus vielfachen Beispielen seiner Verwendung in neueren
Kompositionen, u. a. im ersten Satz der Beethoven'schen A-Dur-Symphonie
(No. 7) ersichtlich wird.
OO HX. Die Aniatxge der melrrstimmigen jVIvisili.
Mittelalters überhaupt, selbst noch zur Zeit der genannten verdienst-
vollen Männer einen Begriff zu geben. Wir befinden uns eben in
der Blüthezeit der scholastischen Philosophie, welche von der
Zeit Karls d. Gr. an bis zur Wiedergeburt der antiken Cultur,
also sechs Jahrhunderte lang die Welt beherrschte. Während
dieses Zeitraumes, wo die immer mächtiger gewordene Kirche
sowohl die Wissenschaft wie die Kunst sich allein dienstbar ge-
macht hatte, steht auch das philosophische Denken und die
Dialektik ausschliesslich im Dienste der Theologie ; die Philosophie
wird als dienende Magd (ancilla) der Religion betrachtet, und
selbst das Studium der Schrifsteller des Alterthums, insbesondere
des Aristoteles, hatte nur den Zweck, den von den Kirchenvätern
aufgeführten Bau der christlichen Glaubenslehre wissenschaftlich
zu stützen. Kein Wunder, wenn bei dieser, für die Erforschung
der Wahrheit so ungünstigen Geistesrichtung, die nach Fortschritt
strebende Menscheit häufig auf Abwege gerieth, und sich der
Forscher nicht selten in kleinliche Speculation und Spielereien
verlor. So konnte ein Hucbald auf die bizarre Idee verfallen,,
zu Ehren Karls des Kahlen ein lateinisches Gedicht „Das Lob
der Kahlköpfigkeit" (calvitia) zu verfertigen, in welchem jedes
Wort den Anfangsbuchstaben C hatte; so konnte der praktische
Guido eine Compositions-Methode empfehlen, die darin bestand^
dass man jedem der fünf Vocale einen Ton der Tonleiter sub-
stituirte und dann unter die einzelnen Silben eines beliebigen
Textes den ihrem Vocal entsprechenden Ton schrieb, wodurch
nach seiner Meinung, alles Geschriebene in Gesang verwandelt
wurde — eine Homunculus-Melodiebilclung in der Retorte der
fünf Vocale, wie Ambros diese Art zu componiren sehr treffend
bezeichnet hat. Auch Franco zeigt sich keineswegs frei von der
Gewohnheit der Scholastiker, alles zur Kirche in Beziehung zu
setzen, wenn er z. B. behauptet, die dreizeitige Longa müsse man
deshalb die vollkommene nennen, weil sie von der heiligen Drei-
einigkeit, der höchsten und wahren Vollkommenheit, ihren Namen
entnommen habe. Marchettus von Padua aber zieht die christ-
liche Glaubenslehre sogar in den Streit hinein, ob die dreizeitige
lange Note den Strich auf der rechten oder linken Seite haben
müsse, und beweist die Richtigkeit der ersteren Meinung folgender-
massen: So wie die rechte Seite am Menschen vollkommener als
die linke ist, weil die rechte Seite das enthält, was den Menschen
ernährt und immer vollkommener macht, nämlich das Blut, so ist
auch eine Note mit dem Strich auf der rechten Seite vollkom-
III. Die A.iifHnge der meh.rstimmigen AlusiU. 39
mener als eine, die ihn links hat. Deswegen hat sich auch
Christus in die rechte Seite stechen lassen, um sein ganzes Blut
für das menschliche Geschlecht zu vergiessen.
Bei aller Ungunst der Zeitverhältnisse war indessen die
Stagnation des geistigen Lebens nur eine scheinbare; langsam,
aber mit Sicherheit, rückte die Welt höheren Zielen entgegen.
Auch die Scholastik musste zu der Bewegung der Geister ihren
Beitrag liefern, indem sie die Gegenstände des Glaubens zu Ge-
genständen erst des Denkens, dann des Zweifels, endlich der
wissenschaftlichen Untersuchung machte; zeugen doch selbst die ab-
surden Einfälle der Scholastiker von Lichtdurst und Forschergeist,
der sich freilich unter dem Drucke der Verhältnisse meist nur in
der angedeuteten kleinhchen Weise äussern konnte. Wie aber die
Wissenschaft sich in Folge dieser Bestrebungen zu neuem Leben
empoiTang, so auch die Kunst, insbesondere die Musik, für welche,
nach Ueberwindung der nöthigen Vorarbeiten, jene Epoche reicher
Entwickelung begann, die nach dem hauptsächlich dabei bethei-
ligteu Volke die niederländische genannt wird.
Die niTasikalisclie Herrscliaft der
JN^iederländer.
Durch die Arbeiten eines Hucbald. Guido imd Franco war
zwar der Boden bereitet, auf welchem eine wTrkUche Kunstmusik
erwachsen konnte, doch dauerte es noch geraume Zeit, bis die
ersten Keime einer solchen sich hervorwagten. Noch waren die
Völker Eui^opa's zu tief in Lethargie und Barbarei versunken,
um der Kunst freien Raum für ihrer Entwickelung zu gewähren;
da trat ein Ereigniss ein, welches nicht allein die religiösen und
politischen Verhältnisse, sondern auch das gesammte Geistesleben
unseres Welttheils in durchgi^eifender Weise umgestaltete, nämlich
die 1096 beginnenden Kreuzzüge. Nicht nur die Angehörigen
des geisthchen und Bitter-Standes waren es, an welche die Auf-
rufe eines Peter von Amiens, eines Bernhard von Clairvaux zur
Befreiung des heiligen Grabes aus den Händen der Ungläubigen
gerichtet waren: Allen, die sich dem Zuge anschliessen würden,
war das Seelenheil verheissen, und in Folge dessen betheiligten sich
die Unternehmungslustigen der verschiedensten Stände an dem Zuge
nach Jerusalem, -wie an einer allgemeinen Wallfahrt. Für die grosse
Mehrzahl der Kreuzfahrer aber mussten die im Morgenlande ge-
sammelten Eindrücke und Erfahrungen von nachhaltiger Wirkung
sein, da, wie früher erwähnt, die dortige Cultur schon seit der
Herrschaft der Abassiden, besonders des, dieser Dynastie ange-
hörigen Kalifen Harun al Raschid (800 n. Chr.) der des Abend-
landes nach jeder Richtung hin überlegen war. So fanden auch
die im Gefolge der Kreuzritter befindlichen Sänger und Instni-
mentalmusiker im Orient reiche Anregung und Förderung für
ihre Kunst; denn wenn auch die orientalische Musik — wie die
IV. Die musikaliacUe Herrscliaft der Niederländer.
41
der Araber in Spanien — ihrem Wesen nach zur Lösung idealer
Kunstaufgaben ungeeignet war, so konnte es doch nicht fehlen,
dass die durch den Reichthum an Verzierungen charakteristische
Gesangsweise der Orientalen, sowie ihre, den Kreuzfahrern un-
bekannt gewesenen Musikinstrumente, die !]^aute und die Guitarre,
wie auch die, in der sarazenischen Kriegsmusik verwendeten Lärm-
instrumente, die Trommel und die Pauke, nachdem sie in die
abendländische Musik eingeführt waren, dieser ein verändertes
Ansehen gaben.
Noch wichtiger erscheint die Bereicherung, welche die abend-
ländische Dichtkunst in Folge der Kreuzzüge erfuhr; die häufig
jahrelange Trennung von Haus und Familie bewirkte eine bis dahin
unbekannt gewesene Vertiefung des Gemüthslebens: es entsteht eine
neue Gattung der Poesie, in Avelcher der Sinn für Ritterlichkeit
und Minnedienst seinen Ausdruck findet, die sogenannte fröh-
liche Kunst (gaya ciencia), heimisch vor allem auf dem, durch
ein glückliches Klima und das lebhafte Naturell seiner Bewohner
begünstigten Boden der Provence.*) Hier widmeten sich ihr die
Vornehmsten des Landes, so zuerst Graf Wilhelm von Poi-
tiers (1087 — 1127), später auch der König Thibaut von Na-
varra (1201 — 1254), diese jedoch stets nur als Erfinder von
Gesängen, weshalb sie auch Tro uvfer es (von trouver, finden) oder
Troubadours genannt wurden. Die Ausfürung der von ihnen
erfundenen Gesänge, sowie die Begleitung derselben auf Instru-
menten überliessen sie den sogenannten Minstrels, (entstanden
aus Ministerialis, vom lateinischen Minister, Gehülfe), auch Jong-
leurs genannt (entstanden aus joculator, Spassmacher) , die einer
niedrigeren Gesellschaftsklasse angehörten und häufig den Possen-
reissern gleichgestellt wurden, Avie dies ein jener Zeit angehöriges
Bildwerk der Kirche St. Georges zu Bocherville bei Ronen er-
kennen lässt, welches inmitten einer Anzahl Instrumentalmusiker
eine auf den Händen gehende menschliche Figur zeigt. Eine Aus-
nahmestellung unter den Troubadours nimmt Adam de la Haie
*) Als Wiege dieser Kunst ist mit Wahrscheinlichkeit der Hof der
Markgrafen von Barcelona zu betrachten, deren Reich, von Karl d. Gr.
als Schutzmauer gegen die Araber-Herrschaft in Spanien gegründet, mit
dem südlichen Frankreich, im Besonderen mit der Provence, in engem
politischen und geistigen Zusammenhange stand, zugleich aber dem Ein-
fluss der arabischen Bildung unmittelbar ausgesetzt war , welche auch
ihrerseits an der Ausbildung des provenzalischen Gesanges einen wiclitigeu
Antheil hat.
42
IV, Die tn-usikalisclie Herrsoliaft der UTiederländer.
ein, nach seinem Wuchs und seiner Vaterstadt „der Bucklige
von Arras" genannt, indem er den Erfinder von Gesängen und
den ausübenden Musiker in seiner Person vereint. Uebrigens
war er auch mit den strengen Kunstformen, soweit sie sich da-
mals entwickelt hatte^^ wohl vertraut und gehört zu den ersten
Tonsetzem, die es unternahmen, vierstimmige Singstücke zu com-
poniren. Ein neuerdings aufgefundenes Singspiel von seiner Ar-
beit „Robin und Marion", dessen Inhalt die naive Schilderung
einer ländlichen Liebesintrigue bildet, wurde 1282 am Hofe Ro-
bert's n. von Artois zu Neapel aufgeführt und ist demnach die
älteste Probe dramatischer Kunst in Frankreich, weshalb denn
auch Adam de la Haie von der französischen Literatui-geschichte
mit Recht als Begründer der komischen Oper bezeichnet wird.*)
Dieselbe Geistesströmung, die bei den romanischen Völkern
die Kunst der Troubadours in's Leben gerufen, äusserte sich bei
den in Deutschland unvermischt gebliebenen Germanen im Minne -
*) Das Singspiel „Robin und Marion" wurde 1822 zu Paris nach zwei
in der dortigen Bibliothek befindlichen Handschriften für die Mitglieder
der pariser Gesellschaft der Bücherfreunde herausgegeben und zwar in der
Gestalt des Originals, mit der inzwischen an Stelle der Neumen getretenen
quadratischen Note, derselben, welche auch von den gleichzeitigen französi-
schen und spanischen Troubadours gebraucht wird, und z. B. in folgen-
dem Bruchstück einer spanischen Handschrift des 13. Jahrhunderts erscheint:
t
♦
n^ M)$x<^<0x^x<tnhtjx^
±
t==i
^
^ertt^ötm^b^Oicn cnaaw fie
Die erste Aufführung des Singspiels ist dem pariser Musikhistoriker,
Fürst de la Moskowa zu danken, der es nebst einer erläuternden Notiz von
Botte de Toulmon in das Programm eines am 3. Juni 1846 von ihm ver-
anstalteten Concerts aufgenommen hatte.
IV. Die miisilzalisolie Herrschaft der Niederländer. 43
gesang. Doch imterscliied sich der Minnesänger vom Troubadour
dadurch, dass er selbst seine Gesänge vortrug und sie mit einem
Instrumente begleitete, gewöhnlich einer kleinen dreieckigen Harfe,
wie solche auf alten Handschriften häufig abgebildet erscheint, u, a.
auf der in der Münchener Hof bibliothek befindlichen von Gott-
fried's von Strassburg „Tristan und Isolde" aus der ersten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts. Ferner gehörten die Minnesänger
nicht, wie die Troubadom-s , ausschliesslich dem Ritterstande an:
von den beim Sängerkrieg auf der Wartburg (1207) unter
dem Landgrafen Hermann von Thüringen betheiligten Sängern
waren Wolfram von Eschenbach, Walter von der Vogel-
weide, Heinrich Schreiber und Heinrich von Zwetzschin,
wie der Clu'onist sich ausdrückt „rittermessige Mann" Biterolf
dagegen einer „von des Landgrafen Hofgesinde" und Heinrich
von Oft er dingen ein Bürger von Eisenach. Die musikahsche
Verschiedenheit des deutschen Minnegesanges vom Gesang der
Troubadours besteht darin, dass dieser den Text der Melodie
unterordnet, während bei jenem die Dichtung zur Hauptsache
wird und an Stelle der liedmässigen Melodie die recitireude Weise
des Kircheugesanges tritt.
Dieses Vorherrschen des poetischen vor dem musikalischen
Element zeigt sich auch in den Gesängen der Meistersinger,
welche die Pflege der Kunst übernahmen, nachdem dieselbe von
den ritterlichen Sängern auf die Bürger und ehrsamen Hand-
werker übergegangen war. Nach F. H. von der Hagen*) sind
unter den sogenannten Tönen der Meistersinger nicht blos die
eigentlichen Liedweisen, sondern auch die metrischen Schemata
zu 'verstehen, mithin beziehen sie sich vorzugsweise auf die Dich-
tung. Ueber die innere Einrichtung dieser zunftmässig geordneten
Sängergesellschaften giebt ausführlichen Bericht Wagens eil's 1G97
in Nürnberg erschienene Schrift „Von der Meistersinger hold-
seligen Kunst" und in unsern Tagen hat Richard Wagner das
Andenken der Meistersinger in seiner gleichnamigen Dichtung
wiederum aufgefrischt. Dort wird man zunächst mit der Tabu-
latur bekannt gemacht, worunter die Gesammtheit der für die
Zunft maassgebenden Gesetze zu verstehen ist. Die Mitglieder
zerfallen in drei Klassen: Aver die verschiedenen „Töne" gelernt
hat ist ein „Sänger"; eine höhere Stufe, den Rang eines „Dich-
ters" erreicht derjenige, welcher einen neuen, zu einem der Töne
*) Vgl. F. H. .von der Hagen, die Minnesänger und Liederdichter des
13., 14. und 15. Jahrhunderts. Leipzig 1838. Band IV, S. 853 ff.
■44 JV. Die imasilialisclaie Herrscliaft der Niederländer.
passenden Text erfindet; um aber die Meisterwürde zu erlangen,
dazu bedarf es der Vereinigung beider Fähigkeiten, der dich-
terischen und der musikalischen:
„Der Dichter, der aus eignem Fleisse
zu Wort und Reimen, die er erfand
aus Tönen auch fügt eine neue Weise
der wird als Meistersinger erkannt."
Die Gewissenhaftigkeit und der Eifer, welche die Zunftgenossen
in der Beobachtung ihrer Gesetze bewiesen, kann als ein er-
freuliches Zeugniss für den im deutschen Bürgerstande vorhan-
denen Kunstsinn gelten, wenn auch die künstlerischen Ergebnisse
jener Bestrebungen nur äusserst geringen Werth haben. Die
Melodien der Meistersinger waren der kirchlichen Psalmodi«
ähnlich, eintönig und ausdruckslos, wiewohl man sie an den Ca-
denzeinschnitten mit allerlei Coloraturen ausschmückte. Zur Poesie
stand ihre Musik in so gut wie gar keiner Beziehung; in der
IRegel bestimmte nicht der Text den Ton, sondern umgekehrt,
der Ton den Text; häufig wurde der Ton zuerst gemacht und,
nachdem er für fehlerfrei erkannt worden, gab man dem Erfinder
auf, über einen bestimmten biblischen oder geistlichen Stoff einen
Text dazu zu machen. Bei der hausbackenen Art dieser Kunstpflege,
die sich auch in den bizarren, den Tonweisen gegebenen Namen
äussert — es gab z. B. eine „über-kurz Abend-Böt-Weis" eine
„Schwarz-Dinten-Weis" eine „kurze Affen-Weis" eine „abgeschie-
dene Vielfrass-AVeis" etc. — konnten weder Poesie noch Musik son-
derlich gedeihen. Doch sind die Meistersinger -Singschulen ohne
Frage von gutem Einfluss auf die Sittlichkeit ihrer Mitglieder ge-
wesen, und wie sehr man sich auch abgestossen fühlt durch 'die
ihren künstlerischen Versuchen anklebende Pedanterie, so verdient
doch andererseits das Streben dieser, inmitten aller Noth des
Alltagslebens nach dem Ideal ringenden bürgerlichen Naturen die
wärmste Anerkennung. Diesen Standpinikt vertritt auch B. Wagner
wenn er seinen Meistersinger Hans Sachs (1495 — 1576) auf die
Frage „wer Avar es, der die Regeln schuf" antworten lässt:
,,Das waren hochbedüi'ft'ge Meister,
von Lebensmüh bedrängte Geister:
in ihrer Nöthen AVildniss
sie schufen sich ein Bildniss,
dass ihnen bliebe
der Jugendliebe
ein Angedenken klar und fest,
dran sich der Lenz erkennen lässt."
IV. Die iiiusikalisclie üerrscbait der INieölerlaiider.
45
Die Schuleu der Meistersinger verfielen nach dem di'eissig-
jährigen Kriege mekr und mein-; nur die von Nürnberg und
Strassburg bewahi'ten sich noch bis zum Ende des vorigen Jahr-
hunderts eine gewisse Bedeutung. Seinen eigentlichen Abschluss
fand der deutsche Meistergesang erst 1839, als die letzten noch
lebenden Mitglieder der Schule zu Ulm dem dortigen Liederkranz
ihre Innungszeichen übergaben und damit ihi'e Gesellschaft auf-
lösten. — Mittelbar haben die Meistersinger die Tonkunst ihrer
Zeit noch insofern gefördert, als sich nach ihrem Beispiel auch
die Instmmentalmusiker zu zunftmässig geordneten Genossenschaften
vereinten, das vagabondirende Leben, welches sie bis dahin als
..fahrende Leute'' geführt, aufgaben und festen Wohnsitz in den
Städten nahmen. So entstand schon 1288 in Wien eine Ver-
einigung unter dem Namen Nicolai-Bruderschaft und 1330 in
Paris die „Coufr^rie de S.Julien des M6n es frier s" (Minstrels),
letztere unter einem Vorsteher mit dem Titel „Geigerkönig" (roi
des ■violons), dessen Herrschaft erst im siebzehnten Jahi'himdert
dui'ch Ludwig XIV. ein Ende gemacht Avurde, nachdem der letzte,
Dumanoirll., sich die Jurisdiction über alle Musiker von Paris,
die Organisten nicht ausgenommen, angemasst und dadurch selbst
seinen Sturz herbeigeführt hatte.
Neben dem Minne- und Meistergesang, aber unabhängig von
diesen, hatte sich in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters
das Volkslied entwickelt. Die sogenannte Limburger Chi'onik,
vertasst vomSchreiber Johannes (1317 — 1402), enthält die frühesten
]Mittheiluugen über die Beschafi'enheit der Volksgesänge und der
gleichzeitigen Instrumentalmusik (des „Pfeifenspiels" wie sie sich
ausdrückt), leider aber, keine Musikbeispiele; diese finden sich
dafür zahh-eich in einer im fünfzehnten Jahrhundert verfassten
Handschrift, nach ihrem Entstehungsort das .,Lochheimer Lieder-
Inich" genannt.*) Die hier mitgetheilten Melodien sind merk-
würdig nicht nur durch bedeutungsvolle Tonfühiaing und feinge-
gliederte Rhythmik, sondern auch durch die Treue, mit welcher
sie den Inhalt des Gedichtes wiedergeben und dasjenige zum Aus-
druck bringen, was das Wort allein nicht auszusprechen vermag.
AVenden wir uns mm zur Kunstmusik zurück, so sehen wir
abei-mals ein kirchlich-historisches Ereigniss in den Entwickelungs-
gang der Tonkunst eingreifen: die in Folge der politischen Zer-
rissenheit Italiens nothwendig gewordene Uebersiedelung des päpst-
*) Der Titel des in der Bibliotliek zu AVemigerode befindlichen Manu-
scriptes trägt die Bemerkung „AVolflein von Lochamen ist das gesenngkpuch'".
^Q TV. Die niusikalisclie Herrschaft cler Pfiederläiicler.
liclien Stuhles von Rom nach Avignon (1305). Hier, iu der
sangesreiclieu Provence, musste das Bedürfuiss, die im Laufe der
Zeiten gemachten musil^alisclien Fortschritte auch in der Kirchen-
musik zm' Geltung zu bringen, reiche Nahrung finden; insbeson-
dere wird die bis dahin nur schüchtern ausgeübte Kunst des
Organisirens nun unter dem Namen Discantus (französisch D6-
chant, Zwiegesang) immer freier und eifriger von den Kirchen-
sängern betrieben, so dass nicht selten die AVürde des Gottes-
dienstes dadm'ch gefährdet erschien. Vergebens erliess der Papst
Johann XXII. eine Bulle gegen den Gebrauch melodiefremder
Intervalle beun gregorianischen Gesang „mit Ausnahme einiger
melodiöser Consonanzen, -wie Octave, Quinte und Quarte über
dem einfachen Kirchengesang angebracht, und auch diese nur
an Festtagen." Erst um IVIitte des vierzehnten Jahrhunderts gelangten
die, bereits ein Jahrhundert zuvor aufgestellten Regeln für den Dis-
cantus auch in der Praxis zu voller Geltung, Dank hauptsächlich der
Wfrksamkeit der für diese Kunst besonders begabten Nordfranzosen
und Niederländer in der päpstlichen Capelle, und damit waren dem
IMissbrauche des Improvisirens vorläufig Schranken gesetzt. Aus
dieser Zeit stammt das älteste Beispiel von vierstinuniger Kirchen-
musik, eine zur Krönung Karl's V. von Frankreich (1364). componirte
Messe von Wilhelm von Machaud, der, wie schon früher Adam
de la Haie, den Uebergang bildet vom Troubadour zum eigent-
lich geschulten Musiker. Von den einzelnen Stimmen eines solchen
^'ierstimmigen Gesanges hiess diejenige, welche die zu Grunde
liegende Melodie oder Cantus finnus, dem Gregorianischen Ge-
sänge entnommen, vorzutragen hatte, Tenor (vom lateinischen
teuere, halten, also mit dem Accent auf der ersten Silbe zu
zu sprechen). Da man dieselbe vorzugsweise der hellstklingenden
Männerstimme zutheilte, so hat sich der Name für diese bis heute
erhalten, wiewohl seine lu'sprüngliche Bedeutung mit der späteren
Entwickelung der mehrstimmigen Musik verschwinden musste. Die
Gegenstimme, der Discantus oder Cantus, A^^lrde auch Motetus
genannt, vom französischen mot, Wort, Spruch, Motto, weil mau für
diese Stimme in der Regel ein dem Volksgesänge entnommenes
Motiv verwendete, dessen Text zu dem der Kirchenmelodie in Be-
ziehung stand. Die dritte, höchste Stimme hiess Triplum (woraus
die heutige englische Bezeichnung T r e b 1 e für die Sopranstimme eines
Aierstinmiigen Gesanges entstanden ist) und die vierte eingeschobene
Stimme Quadruplum. Für die beiden letzteren Stimmen kommen
indessen auch die Namen Super ins und Contratenor vor.
I"V. Die musiUalisclxe Herrscliaft der Nierlerläiider. 4T
Bereits früher war bei den päpstlichen Sängern eine Form
des dreistimmigen Gesanges unter dem Namen Faux-Bourdon
(wörtlich „falscher Bass") in Aufnahme gekommen, Avelche der
Mailänder Theoretiker Franchinus Gafor (gest. 1522) mit den
Worten beschreibt: „Wenn der Tenor und der Cantus in einer
oder mehreren Sexten fortschreiten, dann wird die Mittelstimme,
nämlich der Contratenor, immer unter dem Cantus die Quarte
einhalten und gegen den Tenor die höhere Terz". Demnach ist
der Faux-Bourdon nichts anderes, als eine Reihe von Sextaccor-
den, und wenn auch etwas wohlklingender, so doch nicht weniger
mechanisch, als das Organum des Hucbald. Für seinen Namen
geben die Schriftsteller des Mittelalters verschiedene von einander
abweichende Erklärungen; wahrscheinlich hat die Bezeichnung
„falscher Bass" ursprünglich der Oberstimme gegolten, denn wenn
auch die Lehre vom Dreiklang und seinen TJmkehrungen den Mu-
sikern des Mittelalters unbekannt war, so musste doch ihr Gehöi-
sie überzeugen, dass die Terz ihrer Natur nach ziu' Führung des
Basses ungeeignet sei, und diese eigentlich der Oberstimme ge-
bühre.*) — Weitere wichtige Neuerungen des vierzehnten Jahr-
hunderts sind: der Gebrauch der Synkopen, durch welche das
Ohr mit den bis dahin verpönt gewesenen Dissonanzen vertraut
wurde, so wie der Pausen in der Hauptmelodie (dem Cantus
firmus), welche den doppelten Zweck erfüllten, die Eintönigkeit der
stets wiederkehrenden Kirchenmelodie zu mildern, und für die
Gegenstimmen grössere Freiheit der Bewegung zu gewinnen. Wie
sehr aber auch die Kunst des mehrstimmigen Tonsatzes durch alles
dieses gefördert wurde, so blieb doch daneben noch geraume Zeit
der improvisirte Contrapunkt in Gebrauch. Dieser sogenannte
*) Von dem oben beschriebenen Faux-Bourdon durchaus verschieden
ist die noch heute in der kathoUschen Kirche übliche Singweise dieses
Namens, von der sich u. a. in dem berühmten Miserere des AUegri
(gest. 1652) ein Beispiel findet. Sie besteht in einem regelrechten vier-
stimmigen Satze, in welchem eine Gregorianische Melodie von drei Stimmen
nur in Consonanzen und in Noten von gleichem Werth, also ohne eigent-
liche Takteintheilung, begleitet wird. Durch diese denkbar einfachste
Harmonisirung wurde der Gregorianische Gesang um ein neues Mittel des
Ausdruckes bereichert, ohne seinen Charakter der erhabenen Einfachheit
zu verlieren. Der Vollständigkeit wegen sei hier noch eine dritte Art des
Faux-Bourdon erwähnt, die wiederum nichts mit der vorhergehenden ge-
mein hat, nämlich der Vortrag einer Gregorianischen Melodie durch den
Orgelbass, zu welcher ein Sänger einen figurenreichen Contrapunkt im-
provisirt.
48 IV. Die mxxsiltalisclie Herrschaft der ü^iederläuder.
Contrapuuto a mente, bei welchem nicht nur eine sondern
mehrere den Cantiis firmus begleitende Stimmen aus dem Stegreif
gesungen wurden, mag wohl nur ausnahmsweise höheren künst-
lerischen Ansprüchen genügt haben, wie auch die wiederholt gegen
ihn ausgesprochenen scharfen Urtheile der Musiksclu-iftsteller be-
weisen. Fanden sich jedoch einmal Säuger zusammen, die be-
gabt und geübt genug waren — denn auch hier mussten bestimmte
Regeln gekannt und beobachtet werden — um eine kunstgerechte
Polyphonie zu Gehör zu bringen, so erscheinen freilich die
Leistungen dieser Contrapunktisten „a meute" ungleich achtungs-
werther als die der ausübenden Künstler unserer Zeit, welche
gewöhnt sind, sich nicht allein die Noten, sondern auch die Ver-
zierungen und Nuancen des vorzutragenden Musikstückes vom
Componisten vorschi-eiben zu lassen, wobei von einer Reproduction
im höheren Sinne des Wortes natüi'Hch nicht die Rede sein kann.
Die nun folgende, mit der Zurückverlegung des päpstlichen
Stuhles nach Rom (1376) beginnende Periode der niederländischen
Contrapunktisten eröffnet Wilhelm Dufay aus der belgischen
Provinz Hennegau, welcher, vermuthlich mit vielen seiner Lands-
leute, dem Papste von Avignon aus gefolgt war, und in einem
Verzeichniss der Sänger an der päpstlichen Capelle in Rom vom
Jahre 1380 figurirt. Er ist der erste von allen mittelalterlichen
Tonsetzern, dessen Arbeiten wirklichen Stil zeigen. Bei ihm
zuerst erscheinen die Pausen auch in den Mittelstimmen, wodurch
Melodie und Stimmführung eine gewisse Selbständigkeit gewinnen;
die bei Machaud nur erst schüchtern auftretenden Nachahmungen
gestalten sich bei ihm zum Canon, damals Fuga genannt —
vom lateinischen fuga (Flucht) „weil eine Stimme vor der an-
dern gleichsam wegfliehet und auf solcher Flucht auf eine ange-
nehme Art verfolget wird" wie der Hamburger Musikschriftsteller
Mattheson sagt — während man unter „Canon" eine Richtschnur
für den Sänger, die Summe der Regeln zur Entzifferung der
immer verwickelter werdenden Mensural -Notenschrift verstand.
Der Ursprung der bei den niederländischen Tonsetzern beliebten
Notirungskünste ist darin zu suchen, dass man die neuerrungene
Kunst des Contrapunkts vorwiegend als ein Mittel ansah, um den
Scharfsinn des Componisten , sowie des Ausführenden zu üben.
Zimächst gaben die canonischen Nachahmungen Veranlassung,
die Noten durch Zeichen zu ersetzen; beim einfachen Canon lag
es nahe genug, sich mit Notirung nur einer Stimme zu begnügen,
und den Eintritt der übrigen Stimmen durch ein Zeichen anzu-
rv. Die musilialiscUe Herrschaft der J^ieclerländer. 49
deuten; neue Zeichen wurden nothwendig, als man anfing, die
nachahmende Stimme in einem andern Intervall als die erste be-
ginnen zu lassen; ferner beim Canon „per augmeutationem" und
„per diminutionem", wo die Töne von der zweiten Stimme doppelt
oder halb so lang gesungen werden mussten, wie Aon der ersten.
Endlich gebot man über eine solche Menge, nicht eigenthch zur
Tonschi-ift gehöriger Zeichen, dass man eine Composition für
mehrere, selbst gleichzeitig eintretende Stimmen mit nur einer
Notenreihe zu notiren unternehmen konnte und es d'em Schart-
sinn der Ausführenden überliess, aus den hinzugefügten Zeichen
die Absicht des Tonsetzers zu enträthseln.*)
Auf die Textesworte wurde von den niederländischen Ton-
setzern, in ihrem einseitigen contrapunktischen Eifer so gut wie
gar keine Rücksicht genommen; man begnügte sich z. B. in einer
Messe die Anfangsworte hinzuschreiben, und es blieb dem Sänger
überlassen, im weiteren Verlaufe des Musikstückes Silben und
Töne so gut es ihm möglich war, in Uebereinstimmung zu bringen.
Damit steht im Zusammenhang die schon S, 46 angedeutete Grewohn-
heit der mittelalterlichen Vocalcomponisten, in einem Musikstücke
zwei verschiedene Texte geistlichen und weltUchen Inhaltes gleich-
zeitig zu Gehör zu bringen. Der Ursprung dieser Praxis ist leicht
nachzuweisen. Zunächst hatten sich die Componisten veranlasst
gesehen, um ihre ganze Kraft der Ausbildung des noch unent-
wickelten mehrstimmigen Satzes zuzuwenden, auf die Ei-findung
eigener Themen zu verzichten und ihren Musikstücken, in der
Hauptstimnie sowohl wie in der Gegenstimme, lediglich schon
vorhandene Melodien zu Giimde zu legen; neben dem gi-egoriani-
schen Cantus firmus als Gegenstimme eine zweite Kirchenmelodie
zu benutzen, war aber deshalb bedenklich, weil die Kirche für
jede festhche Veranlassung eine bestimmte Melodie vorgeschrieben
hatte, und durch gleichzeitige Benutzung eines anderen Kirchen-
gesanges die Reihenfolge gestört worden wäre. So kam es, da^s
man für jede Art geistlicher Compositionen vorzugsweise die
*) Au Stelle der Zeichen traten auch bisweilen mysteriöse Sprüche, wie
„Qui seijuitur me non ambulat in tenebris'" (wer mir folgt wandelt nicht in
Finsterniss), womit die zweite Stimme angewiesen war, die schwarzen Xoten
der ersten zu überschlagen. Dass man unter Umständen auch diese Hülfs-
mittel verschmähte, beweist ein ., Kyrie'" des von seinen Zeitgenossen hoch-
gefeierten Ockenheim, welches nur mit einem Fragezeichen versehen ist,
und dem Sänger nicht nur den Eintritt der nachfolgenden Stimmen, sondern
auch Takt, Schlüssel und Tonart zu errathen aufgiebt.
Langhaus, Musikgescbichte. 2. Aufl. 4
50 TV. I>ie lyi 11311131180116 Herrschaft der T<"ieclerläii<ier.
Melodie eines Volksliedes zur Gegenstimme benutzte. Wenn
dann auch der Text desselben unberührt gelassen wurde, so lag
der Grund dafür lediglich in der schon erwähnten Sorglosigkeit
der Tonsetzer bezügUch der Textesworte im allgemeinen. Der
Vorwurf der Frivolität kann sie ^vegen einer derartigen Ver-
mischung des Geistlichen und Weltlichen so wenig treffen,
Avie etwa die Maler des 14. und 15. Jahrhunderts, welche in
unmittelbarer Nähe der Mutter Gottes mit dem Jesuskinde die
Familie des Stifters im Costüm ihrer Zeit darstellten; es lag eben
im Geiste des Zeitalters, dass das Heilige durch die Nachbar-
schaft des WeltUchen nicht profanirt, sondern umgekehrt, dieses
durch jenes gehoben und veredelt Avurde.
. Ein zweites Entwickelungsstadium erreicht die Kunst der
Niederländer mit Ockenheim, geb. 1430 zu Termonde in Flan-
dern, der mit Recht als der Vater des Contrapunktes gilt; der
Canon gewinnt bei ihm an Ausdehnung und Bedeutung, er
erscheint nicht nur im Einklang und in der Octave, sondern auch
in der Quinte und Quarte. Allerdings ist Ockenheim es auch
gewesen, der die contrapunktischen Künsteleien auf die Spitze
trieb; wenn daher in den meisten seiner Werke die Mühseligkeit
des Schaffens noch in peinlicher Weise hervortritt, wie u. a. in
einer Motette für sechsunddreissig Stimmen — von denen vennuth-
lich nur sechs oder neun Stimmen notirt waren, deren jede sich
als Canon von sechs oder vier Stimmen gestaltete, die schHess-
lich zusammen gesungen werden konnten — so merkt man doch
schon bei ihm, so oft er sich vom Zwange der Polyphonie frei
fühlt, eine dem Tonsatz zu Grunde liegende sinnige Absicht und
ein Streben nach ausdrucksvoller Melodie.
Den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit des niederländischen
Contrapunktes bezeichnet Josquin des Prfes, geb. 1450 zu
Cond6 im nördhchen Frankreich. Von seinen Vorgängern unter-
scheidet er sich wesentlich durch die Kühnheit und Leichtigkeit
seines Schaffens; er ist der erste in der langen B/Cihe der nieder-
ländischen Meister, in dessen Werken wahre Genialität zum Vor-
schein kommt. Mit den bestehenden Regeln nahm er es nicht
eben genau, wie sein Schüler Co diu s berichtet, wiewohl er
gründlich mit ihnen vertraut war und beim Unterricht streng aut
ihre Beobachtung hielt. Als schaffender Musiker freihch hat er
von dem Rechte des Genius, sich selbst Regeln zu geben, unum-
schränkten Gebrauch gemacht, und bei seiner völligen Beherr-
schung der Formen war sein künstlerischer Freiheitsdrang ein
IV. Die mvisikalisclie Herrscliaft der Nieclerlancler. 51
durchaus berechtigter. Diese Meinung spricht auch Luther,
der zu seinen eifrigsten Verehrern gehörte, mit den Worten aus:
„Josquin ist ein Meister der Xoten; diese haben thuu müssen,
wie er gewollt, andere Componisten müssen thun wie die Noten
wollen" und von seinen Compositionen sagt er „sie seien fröh-
lich, willig, milde und lieblich, nicht gez^vungen noch genöthigt
und nicht an die Regel stracks und schnurgleich gebunden, son-
dern frei wie des Finken Gesang." Zwar ist die der nieder-
ländischen Schule anhaftende Pedanterie auch bei ihm noch
keineswegs völlig überwunden, und Avenn er z. B. den Stammbaum
Christi zwei Mal in Musik setzt, einmal nach dem Evangelium
des Matthäus, einmal nach dem des Lucas, so kann dabei von
einem genialen Aufschwung selbstverständhch nicht die Rede sein.
Bei anderen Gelegenheiten aber, imd selbst dann, wenn er nach der
Art seiner Zeit noch verschiedene Weisen und Texte in demselben
Musikstück vereint, zeigt der ausdrucksvolle, der Dichtung sich
anschmiegende Tonsatz deutlich, wie weit er sich über seine Vor-
gänger erhebt, Uebrigens ist bei ihm und seiner Schule schon
das Streben bemerkbar, in solchen Fällen wenigstens Texte
gleichartigen Inhalts zu verwenden, wie z. B. in seinem Trauer-
gesang auf den Tod seines Lehrers Ockenheim „La deploration
de Jehan Ockenheim" (mitgetheilt in Forkel's Geschichte der
Musik II S. 542) wo zu dem „Requiem aeternam" des Tenors
vier begleitende Stimmen in den Lauten der Muttersprache die Klage
ertönen lassen:
„Nymplies des bois, deesses des fontaines
Chantres experts de toutes nations,
Changez vos voix fort claires et liautaines
En cris tranchantz et lamentations."
Hinsichts der Stellung von Josquin's Musik zur Poesie ist noch
bemerkenswerth, dass er zuerst neben dem musikalischen auch
den ästhetischen Werth der Dissonanz erkannt hat und sie mit
Bewusstsein und Absicht zum Ausdruck leidenschaftlicher Empfin-
dungen verwendet.
Von dem Zeitpunkt an, wo man es als die Aufgabe des
Componisten erkannt hatte, nicht blos künstliche Toncombinationen,
sondern auch ausdrucksvolle Melodien zu erfinden, ist die musi-
kalische Mission der Niederländer beendet. Hatten die übrigen
Nationen die Ausbildung des Contrapunktes, in der richtigen Er-
kenntniss ihrer geringeren Befähigung dafür, jenen allein über-
lassen, ihnen auch alle musikalischen Ehrenstellen in den Haupt-
4-
52 IV. Die iiiusikEÜiscIie iEIerrschaft der Niederländer.
Städten Europa's während anderthalb Jahrhunderte willig einge-
räumt, so betreten sie jetzt aufs neue den musikalischen Schauplatz,
in erster Reihe die Italiener, denen es bald gelingt, die Hegemonie
auf dem Gebiete der Tonkunst für sich zu erringen. Die Fort-
schritte, welche in Italien um eben diese Zeit in der Kunst der
Vervielfältigung von Musikalien gemacht waren, wirkten ebenfalls
zum Aufschwünge des musikalischen Lebens der Halbinsel in
bemerkenswerther Weise mit. Bereits zu Lebzeiten Josquin's
hatte Ottaviano dei Petrucci, nach seinem Geburtsort, einem
Städtchen im Kirchenstaat da Fossombrone genannt, den
Notendi'uck vermittelst beweglicher Metalltypen erfunden. Bis
dahin hatte man sich mit den plumpen, seit Erfindung der Buch-
druckerkunst (1140) aufgekommenen Holzschnitt-Noten begnügen
müssen, oder, wenn es sich um elegante Ausstattung handelte,
jene noch heute bewunderten künstlerisch geschmückten Ab-
schiiften anfertigen lassen, deren Anschaffung sich nur fürstliche
Personen oder kirchliche Körperschaften erlauben diu'ften; selbst-
verständlich beschränkte man sich in diesem Falle auf ein Exemplar,
welches von einer grösseren Zahl von Sängern gleichzeitig be-
nutzt werden musste, wodurch, ungeachtet der Grösse und Deut-
lichkeit der Schrift, die correcte Ausführung erschwert wurde,
namentlich der mehrstimmigen Musik, wiewohl hier die Stimmen
nicht nach Art unserer Partituren unter einander, sondern jede
für sich, auf der ganzen Fläche des Buches nebeneinander stehend
notirt wurden. Petrucci's Ausgaben, deren erste, eine Sammlung
von 96 drei- und vierstimmigen Gesängen von niederländischen
Tonsetzern im Jahre 1501 erschien, schafften für alle diese Uebel-
stände Abhülfe. Seine Drucke lassen an Schönheit und DeutUch-
keit, selbst nach heutigen Ansprüchen nichts zu wünschen übrig,
und es ist nur zu bedauern, dass die von ihm veröffentlichten
"Werke nach der Sitte jener Zeit nicht in Partitur, sondern nur
in einzelnen Stimmheften gedruckt sind, Aveil der Verlust einzelner
dieser Hefte in vielen Fällen den des ganzen Werkes zur Folge
gehabt hat.
Die im Laufe des 16. Jahrhunderts zu Gunsten Italiens sich
vollziehende Wandlung der musikalischen Machtverhältnisse könnte
uns befremdlich erscheinen, wenn wir uns nicht daran erinnerten,
dass auch vor dieser Zeit die künstlerische Triebkraft des italieni-
schen Bodens keineswegs geschlummert hat. Schon ein Jahr-
hundert zuvor war hier der Geist wach geworden, der die Mensch-
heit trieb, die verlorene Schöne des Alterthums wieder aufzusuchen
X>ie musikalisclie KerrscUalt der .N'iederlaiider. 53
und sich an ihr zu neuen künstlerischen Thaten zu begeistern.
Das dichterische Dreigestirn Dante. Petrarca und Boccaccio
hatte die Morgenröthe verkündet, welche die lange Xacht des
Mittelalters nunmehr aufzuhellen begann. Dante zeigt sich von
den Anschauungen der scholastischen Philosophie noch keineswegs
befreit; in seiner grossaiiigen Dichtung vom Weltgericht erscheint
noch die christliche Theologie mit der antiken Welt vei-flochten,
imd indem er den ganzen Reichthum seiner Phantasie aufbietet,
um ein gewaltiges Bild der alles umfassenden, alles beherrschen-
den Kirche hinzustellen, erinnert er einigermassen an jene Musiker,
welche — wie S. 38 erwähnt wurde — das Tonsystem mit allen seinen
Einzelheiten in symbolisirende Beziehung zur Kirche brachten.
Auf ein wichtiges Hülfsmittel zur Erkenntniss des Alteithums
musste Dante noch verzichten: die griechische Sprache war zu seiner
Zeit — er starb 1321 — so gut wie verloren gegangen, und er
musste sich begnügen, seinen Sinn für poetische Formen an den
lateinischen Dichtem, besonders Virgil, zu bilden. Glücklicher
als er hatte Petrarca, der Sänger der Liebe, während seines
Aufenthaltes am päpstlichen Hofe zu Avignon (1339) Gelegenheit,
durch den Untemcht eines dort weilenden Gelehi-ten aus Con-
stantinopel mit der griechischen Sprache, sowie mit den Werken
Plato's bekannt zu werden. Sein Freund Boccaccio (gest. 1375)
endlich hatte sich die Sprache und Wissenschaft der Griechen
schon in der Jugend gründlich angeeignet; auf seinen Antrieb
Avurde in Florenz ein Lehrstuhl für griechische Sprache und Lite-
ratur errichtet, dessen Inhaber, Leontius Pilatus es unternahm,
der studirenden Jugend zum ersten Mal die Dichtungen Homer's
und die Schriften Plato's zu erklären. Und wie weit Boccaccio
von der Scholastik mit ihrem Glauben an die allein seligmachende
Kraft der katholischen Kirche entfernt war, zeigt u. a, die in
seinem „Dekamerone"*) enthaltene (später von Lessing in seinem
„Nathan" reproducirte) Erzählung von den drei Ringen, welche das
Christenthum als eine nicht absolut, sondern nur relativ wahre
Religion mit den übrigen Religionen gleichstellt.
Die von diesen Männern entzündete Begeisterung für das
Alterthum wurde mächtig genährt durch die grosse Zahl griechi-
scher Gelehrter, welche nach der Eroberung Constantinopels durch
die Tüi'ken (1453) in Italien eine Zuflucht suchten und nicht nur
*) Eine Sammlung von hundert Novellen, deren Titel aus dem grie-
chischen deka ,.zehn" und hemera „Tag" zusammengesetzt ist, weil ihre
Erzählung sich auf zehn Tage vertheilte.
54; IV". Die inxasilialisclie Herrschaft der T^^ied.erlä^l<ier.
am kunstsinnigen Hofe des Cosimo von Medici in Florenz, son-
dern auch an den übrigen Culturstätten der Halbinsel mit offenen
Armen empfangen wurden. Ihnen dankte Europa die völlige
Erlösung von dem geistigen Drucke des Mittelalters, das endliche
Erscheinen des Tages der Wiedergeburt, des auch für die Förde-
rung der Tonkunst so wichtigen Zeitalters der Renaissance;
sie waren es, an welche sich Schiller in seinem G-edichte „Die
Künstler" mit den Worten richtet:
Vertrieben von Barbarenheeren,
Entrisset ihr den letzten Opferbrand
Des Orients entheiligten Altären
Und brachtet ihn dem Abendland.
Da stieg der schöne Flüchtling aus dem Osten,
Der junge Tag im Westen neu empor,
Und auf Hesperiens Gefilden sprossten
Verjüngte Blüthen loniens hervor.
Die schönere Natur warf in die Seelen
Sanft spiegelnd einen schönen Widerschein,
Und prangend zog in die geschmückten Seelen
Des Lichtes grosse Göttin ein.
V.
Luthers ^Reformation und die Renaissance;
Die cliu'ch das "Wiedererwachen der Theilnalime für das
classische Altertliiim bewü-kte Umwälzung des geistigen Lebens
in Europa berülute das musikalische Gebiet ungleich später als
das der Dichtkimst und der bildenden Künste. Die Ursache
dieser Verspätung liegt zunächst im Mangel einer musikalischen
Antike: wähi'end der Dichter, wie auch der Maler, der Bildhauer
und der Architekt auf Schritt und Tritt den Meisterwerken üu-er
Vorgänger im Alterthum begegneten und in ihnen den Antrieb
und die Richtschnur für ihre eigenen Schöpfungen fanden, war
dem Musiker der immittelbare Zusammenhang mit dem Alter-
thum versagt. Die wenigen zu jener Zeit aufgefundenen Reste
altgi'iechischer Musik konnten von dem Wesen und der Wii'kuug
derselben schlechterdings keine Vorstellung geben, so dass sich
der Componist der Renaissancezeit lediglich auf seine Phantasie
angewiesen sah imd an der naiven, maassvollen Schönheit des
classischen x4.1tei-thums im besten Falle nur mittelbar füi- seine
Kunst Antheil nehmen konnte. Eine zweite Ursache des Zui'ück-
bleibens der Musik hinter den übrigen Künsten waren die äusseren
Verhältnisse Itahens, jenes eigenthümliche Gemisch von Rohheit
und Cultur, welches gerade die Blüthezeit der Renaissance kenn-
zeichnet. In Folge der unaufhörhchen Kämpfe zwischen welt-
licher und geistlicher Gewalt hatte sich in Italien eine starke,
einheitliche Regierung und ein monarchisches Emptinden nicht
bilden können; die souveränen Städte und die kleinen Füisten waren
genöthigt, neben ihi-en wissenschaftlichen imd künstlerischen Inter-
essen, unausgesetzt ilue materielle Sicherheit im Auge zu haben,
und bei diesen Verhältnissen konnte sich gerade hier das Mittel-
alter mit seinen faustrechtlichen Zuständen länger fortsetzen als
anderswo in Europa. Das Italien der Päpste Julius IL und Leo X.
OO V, Luther's Reformation uxid die Keiiaiss£uice.
(1503 — 1513—1521) zeigt sich zu gleiclier Zeit hinter der übrigen
AVeit zui-ück und ihi' voraus: erst eres in Bezug auf das Grerech-
tigkeitsgefühl. die Achtimg vor dem Eigenthum und dem Menschen-
leben; letzteres iu Bezug auf den Sinn für das Schöne, auf die
Reinheit des Geschmackes und die künstlerische Initiative.
Wenn nun bei der, durch äussere Ungebimdenheit Ijedingten
Entwickehmg des menschhchen Körpers Sculptur und Malerei
jenen Höhepimkt erreichen konnten, auf welchem wir diese Künste
zur Zeit der genannten Päpste in den "Werken eines Leonardo
da Vinci, Raphael, Michel Angelo sehen, so bheben die
Schöpfungen der Tonkünstler von diesen Einflüssen unberühi't.
Zwar zeigte sich, wie wdi- gesehen haben, bei einzelnen genialen
Naturen, z. B. bei Josquin des Prfes, das Streben nach aus-
drucksvollem Tonsatz und damit das Bedüi-fniss nach einer Wieder-
gebm't auch der Musik, im grossen und ganzen aber verharrt die
musikalische Welt selbst noch nach dem Tode dieses Meisters
(1521) in den Banden mittelalterlicher Beschi-änktheit. Auch jetzt
fähi't die Mehi'zahl der Componisten fort, den melodischen Aus-
druck und den poetischen Inhalt der Vocalmusik zu Gunsten der
contrapunktischen Combinationen zu vernachlässigen, und noch im
Jahre 1549, also beinahe ein Jahrhundert nach dem Beginn der
Renaissance mit Einwanderung der aus Constantinopel vertriebenen
griechischen Gelehi'ten, konnte ein italienischer Schriftsteller über
die Leistungen der päpstlichen Säuger folgendes Urtheil fällen:
„Sie setzen ihr ganzes Glück und ihr ganzes Verdienst darein,
dass in demselben Augenbhck, wo der eine Sanctus sagt, der
andere Sabaoth singt und ein dritter Gloria tua, und dieser Wirr-
warr ist dann von einigem Geheul, einigem Gebrüll und KnmTcn
begleitet, welches eher dem Geschrei der Katzen im Januar gleicht,
als den duftenden Blimien des Maimonats*)".
Um die Musik von der einseitigen Richtung abzulenken,
*) Was den ersten Theil dieser Kritik betrifft, die nachlässige Behand-
lung der Textesworte, so ist die Gegenwart keineswegs berechtigt, auf die
oben charakterisirte Leistung der i)äpstlichen Sänger mit Cxeringschätzung
herabzusehen ; ein Seitenstück dazu findet sich in einem vielfach geiiriesenen
Werke der neuesten Musikliteratur und zwar auffallenderweise bei einem
Componisten, der im allgemeinen bestrebt v.'ar, in seiner Vocalmusik die
Dichtung rücksichtsvoller zu behandeln, als seine Vorgänger: bei Robert
Schumann. Dieser lässt im dritten Theil seiner Faustmusik die drei
Büsserinnen gleichzeitig syllabisch verschiedene Textesworte singen, wobei
natürlicherweise von einem Verständuiss derselben schlechterdings nicht die
Rede sein kann.
V". X^uth.er'8 Reformation, und die Kenaisaaiice. 5 l
welche ihr durch die niederländischen Contrapunktisten gegeben war,
um sie edleren und höheren Zielen entgegenzuführen, dazu bedurfte
es eines noch stärkeren Impulses, als ihn der in Italien erwachte
Kunstgeist zu geben vennocht hatte. Erst dem Wittenberger
Augustinennönch und späteren Professor Dr. Martin Luther
sollte es gelingen, wie auf rehgiösem, so auch auf musilcalischem
Gebiete die Bollwerke mittelalterlicher Zwingherrschaft zu brechen
und die Befi'eiung dei' Geister herbeizuführen. Durch Luther's
Reformation wurde zunächst der Bann gehoben, der seit dem
Concil von Laodicea auf der Ku-chenmusik ruhte, seit der damals
erlassenen Verordnung, welche den Gesang beim Gottesdienst
ausschüesslich den dazu bestellten Sängern überwiesen hatte. Denn
wie der Protestantismus im Gegensatz zum Kathohcismus die
geistige Selbständigkeit des Individuums als sein eigenthches Ziel
verfolgte, so betrachtete sein Stifter auch den Gesang der Ge-
meinde als wesenthche Bedingung des Gottesdienstes und als ein
wirksames Mittel zur Erweckung einer selbständig religiösen Empfin-
dungsweise. Deingemäss bemühte sich Luther persönHch und mit
allem Eifer um Verbesserung und Veredlung des Gemeindegesanges
in seiner Kirche, und bei seiner hohen musikahschen Begabimg
konnte er selbst die Wege zeigen, auf welchen dieses Ziel am
schnellsten zu eiTeichen war. In der richtigen Erkenntniss des
Guten, was der Katholicismus für die Musik geschafien, wählte
er zunächst aus dem altlateinischen Kirchengesang solche
Melodien, die durch rh}i:hmisches Ebenmaass an die Liedform
erinnerten und deshalb dem Tonsinne des Volkes besonders zu-
gänghch waren, wie z. B. die Hymne des hlg. Ambro sius „Veni
redemptor gentium" — in Luther's Uebertragung „Nun konmi
der Heiden Heiland-'; unter den Sequenzen die ' schon S. 25
erwähnte des Notker Balbulus „Media \ita in morte sumus"
deutsch „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen'-.
Der gi-egorianische Choral oder cantus planus wiu'de als vöUig
unrhythmisch von ihm ausgeschlossen; Luther spricht seine Ab-
neigung gegen denselben bei Gelegenheit einer Lobrede der mehr-
stimmigen Musik mit den AVorten aus: „Wer dazu keine Liebe
hat, der muss wahrlich ein grober Klotz sein, der nicht werth ist,
dass er solche liebhche Musik, sondern das wüste Eselsgeschrei
des Chorals oder der Hunde oder der Säue Gesang höre*)." Auch
*) Stellen wir diesem harten Urtlieil des Reformators eine Aeusserung
seines musikalischen Mitarbeiters Johann Walther gegenüber, so erscheint
dasselbe wesentlich modificirt und mehr gegen die mangelhafte Ausführung
"V. Lutlier's Reformation und die Reutaäesance.
die lateinische Sprache wurde von ihm für einige Gesänge bei-
behalten „zur Uebung der Jugend und für die Gelärten, während
das Deutsche für den gemeinen Haufen am nützHchsten ist."
Als zweite Quelle zur Refonn des Gemeiudegesanges benutzte
Luther den reichen Vorrath deutscher geistlicher Lieder,
welche schon lange vor der Reformation als Bestandtheil der
Liturgie mit dem gregorianischen Gesang gewechselt hatten; haupt-
sächhch die im. 13. Jahrhundeit als eine 'Art geisthchen Minne-
dienstes gesungenen, an die heilige Jungfrau gerichteten Marien-
lieder, nachdem die Texte derselben eine auf Chi'istus bezüg-
hche Abänderung erfahren hatten. Noch reichere Ausbeute aber
liefei-te ihm eiue dritte Quelle: der weltliche Volksgesang,
wobei selbstverständHch nur die Musik in Betracht kam. An die
Benutzimg welthcher Liedmotive zu kirchlichen Gesängen war
man von der Zeit der niederländischen Contrapunktisten her ge-
wöhnt, und es lag deshalb doppelt nahe, dent Mangel an pro-
testantischen Kai'chenmelodien auf diese Weise abzuhelfen. So
wm'de die Melodie von Heinrich Isaak's Wanderbiu'schenlied
„Innspruck, ich muss dich lassen" zu dem Choral „O AVeit, ich
muss chch lassen'' benutzt; später wm'de aus Hans Leo Hasler 's
.,Mein Gemüth ist mn- verwirret, das macht ein Mägdlein zart"
., Befiehl du deine Wege"; die Melodie „Wie schön leuchtet der
Morgenstern" hatte m'sprünghch den Text „Wie hell leuchten die
Aeuglein der Schönen und der Zarten mein" und den Choral
..Von Gott will ich nicht lassen" sang man nach der Melodie
..Ich ging einmal spazieren"*). Dieses Hinübernehmen weltlicher
Lieder in die Kh-che erregte zwar bei den strengeren Theologen
des Chorals als gegeu diesen selbst gerichtet: ,,Zum dritten so weiss und
zeuge ich wahi-hafftig" lauten die „Verba des alten Johan Walthers" bei
Praetorins (SjTitagnia I. 451) „dass der heilige Mann Gottes Lutherns, wel-
cher Deutscher Nation Prophet und Apostel gewest, zu der Musica im
Choral und Figural-Gesaug grosse Lust hatte, mit welchem ich gar
manche liebe Stunde gesungen, und oftmahls gesehen, wie der thewre Mann
vom singen so lustig und fröhlich im Greiste ward, dass er des singens schier
nicht köndte müde und satt werden, und von der Musica so herrlich zu
reden wüste'".
*) Aehuliche Freiheiten erlaubte man sich in Deutschland bis zum Ende
des 17. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert ist noch Mozart 's „In diesen
heiFgen Hallen" und „Bei Männern, welche Liebe fülüen" nach entsprechen-
der Textesänderung unter die protestantischen Kirchengesänge aufgenommen.
Noch heute singen die pariser protestantischen Gemeinden ein mit den
AV orten ,,Dans Tabime de misere" beginnendes Busslied nach der Haydn'-
schen Melodie „Gott erhalte Franz den Kaiser".
"V. Lxitlier's Reformation -uiid. die Renaissance. 59
Anstoss; sie behaupteten ,,AVas der Welt und dem Satau einmal
gewidmet ist, lasse man heraus aus der Kirche, es ärgert."' Luther
indessen war der Meinung, dass Satan kein Musikfreund sein
könne und den Protestanten den an seinem Eigenthum begangenen
Raub nicht nachtragen werde ; unerschüttert in seiner Ueberzeugung,
dass eine zum Herzen des Volkes sprechende Musik zu der vom
Protestantismus bezweckten Vertiefung und Reinigung der Welt-
anschauung in reichem Maasse beitragen müsse, ging er ohne
Zögern an die Ausführung seiner musikaUschen Reformpläne; ob-
wohl selbst gi'ündlich und vielseitig musikaHsch gebildet, ver-
schmähte er doch nicht den Rath und die Hülfe der Fachmänner
bei seinem Werke: er berief den Torgauischen (später Dresdener)
Capellmeister Friedrich's des AVeisen, Johann Walther zu sich
nach Wittenberg, und in gemeinsamer Arbeit mit diesem, sowie
dem Wittenberger Sängermeister Conrad Rupff entstand 1524
das erste protestantische Gesangbuch unter dem Titel „Geystlich
Gesangbüchlein" enthaltend 38 deutsche und 5 lateinische Ge-
sänge, von Walther vierstimmig gesetzt. Bemerkenswerth ist, dass
hier die Melodie gelegenthch in der Oberstimme erscheint, wäh-
rend sie bis dahin im mehrstimmigen Gesänge stets vom Tenor
gesungen wurde. Mit der Zeit setzte sich die Melodie immer
mehr in der Oberstimme fest; in der letzten Ausgabe des Gesang-
buches (1551) linden sich schon fünfzig derartig componirte Ge-
sänge, während die erste nur zwei aufweist.
lieber die Art der Mitwirkung Luther's beim Zustandekommen
dieses Gesangbuches war man lange Zeit im Unklaren, indem man
ihn als Ei-finder einer grossen Anzahl der darin enthaltenen Me-
lodien bezeichnete, während er nach neuesten Forschungen nur
für die Choralmelodien „Ein' feste Burg ist unser Gott'" „Jesaias
dem Propheten das geschah*' und „Wir glauben all' an einen
Gott" die Autorschaft beanspruchen darf. Walther's i^eusserung,
„dass Luther alle Noten auf den Text nach dem Accentus (der
kirchliche Lesevortrag) und dem Concentus (die wirkhche Gesangs-
melodie) meisterlich und wohl gerichtet habe**', lässt keineswegs
darauf schliesseu, dass er sicli gerade als Componist beim Zustande-
kommen des protestantischen Kirchengesanges betheiligt habe*).
*) Ueberhaujit sind die hierauf Vjezüjilichen Aussafren der Zeitgenossen
schon deshalb ungeeignet zur Aufklärung der Frage, weil der Bogritl" „Com-
ponist" damals ein anderer war als heute; wie im Mittelalter, so war noch
zu Luther's Zeit die Thätigkeit des Componisten an zwei Personen ver-
theilt: der Erfinder der Melodie war nicht zugleich der, welcher dieselbe
(50 ^'- Lvitlier's Relbrmatioii und die Keixajssance.
Uebrigens ersclieiiit diese Frage von untergeordneter Bedeutung,
sobald wir uns der Verdienste erinnern, welche sich Luther mittel-
bar als Schöpfer der neuhochdeutschen Sprache um die
Musik erworben hat; seine Thätigkeit auf diesem Gebiete kann
hier nur angedeutet werden; es genüge die Bemerkung, dass ohne
ihn das Hochdeutsche wahrscheinlicherweise das Loos des Nieder-
deutschen getheilt hätte, welches bekanntlich in unserm Yater-
lande nur noch als Dialekt fortlebt und in England unter dem
Einfluss des Lateinischen seinen Charakter fast ganz eingebüsst
hat. Nur auf der, ihr von Luther angewiesenen Bahn konnte sich
die hochdeutsche Sprache vor dem gleichen Schicksal bewahren,
und, was den Kirchengesang anbetrifft, den Kampf mit der latei-
nischen siegreich bestehen.
Die Wirkung des Luther'schen Gemeindegesanges bheb nicht
auf die protestantische Kirche allein beschränkt; auch in katho-
lischen Kreisen wurde seine, das rehgiöse Leben fördernde Kraft
anerkannt, imd man behauptete sogar, Luther's Reform verdanke
ihren Erfolg mehr dem von ihm eingeführten Gesänge, als seiner
Lehre. Drückender als zuvor empfand man jetzt die Missbräuche,
welche sich unter der HeiTschaft des niederländischen Contra-
punkts im Kunstgesang der römischen Kirche eingeschhchen und
festgesetzt hatten, und der Unmuth darüber wurde in den maass-
gebenden Kreisen so gross, dass die beim Concil von Trient
(1545 — 1563) versammelten Cardinäle ernstlich die Frage erörter-
ten, ob nicht die mehrstimmige oder Figural-Musik gänzhch aus
der Kirche zu verbannen sei, da sie die Würde des Gottesdienstes
eher beeinträchtige als fördere. Inzwischen aber war in Pier
Luigi Sante, nach seiner in der Nähe Rom's gelegenen Geburts-
kunstvoll auszugestalten übernahm. Der Theoretiker Glareanus (so ge-
nannt nach seinem Greburtsort Glarus) sagt in seinem 1547 erschienenen
Werke „Dodekachordon", dass die Gabe des einen, des Phonascus, mit der
des anderen, des Symphonetes, wohl auch in einer Person vereinigt vor-
kommen könne, doch würde man selten in dem Sänger oder Erfinder einer
Weise auch zugleich den Setzer finden, der sie kunstvoll zu durchbilden
verstünde. Der Gegenwart mag diese künstlerische Arbeitstheilung als eine
beda,uerliche Beschränktheit erscheinen; doch sollte man nicht vergessen,
dass bei uns eine ähnliche Theilung der künstlerischen Arbeit besteht, in-
dem der Vocalcomponist die Dichtung seiner Texte in der Regel einem
Andern überlässt, was einem zukünftigen Geschlechte, welches möglicher-
weise nach dem Vorgange des Alterthums die Functionen des Dichters und
des Componisten wiederum in einer Person vereint, nicht weniger armselig
erscheinen könnte, als uns jene mittelalterliche Praxis.
V. Lutlier's Kefbrnaation. viucl die Kerxaissauce. 61
Stadt Palestriua*) genannt, der Meister erschienen, welcher den
Beweis Heferu sollte, dass auch der kunstA'ollste Gesang recht
wohl geeignet sei. die Gemiitlier zu ergi'eifen und zu erheben,
sobald er die Hauptbedinguugen einer wirkungsvollen Vocalmusik,
die Verständlichkeit der Melodie und der Textesworte, richtig
erfülle. Diesen Bedingungen nun Avar Palestrina schon in seinen
1560 erschienenen „Improperien" (wörtlich übersetzt „Vorwürfe"
niit dem Text : „Was habe ich dir getlian, mein Volk, oder worin
habe ich dich betrübt? Antworte mir!" etc.) gerecht geworden,
einer Composition, deren bei aller Einfachheit edler und bedeut-
samer Stil solche Bewundenmg eiTCgte, dass Papst Pius IV. ihre
Aufnahme unter die ziu* Osterfeier in der Sixtinischen Capelle be-
stimmten Musikstücke befahl. In Folge dessen auf Palestrina
aufmerksam gemacht, beschloss die zur Befonn des kathohschen
Kii'chengesanges eingesetzte Behörde noch einen letzten Versuch
zu wagen, und beauftragte ihn, eine Composition zu hefem, deren
Erfolg über das Fortbestehen der Figiu-al-Musik in der Kü-che
entscheiden solle. Die bei diesem Anlass entstandenen, später
dem König PhiHpp II. von Spanien gewidmeten drei Messen aber,
besonders die dritte, welche der Künstler dem Andenken seines
Gönners, des Papstes Marcellus 11. Aveihte und „ISIissa Papae
Marcelli" nannte, zeigten sich den Werken der Vorgänger so sehr
überlegen, sie entsprachen so vollständig den an eine echte Kirchen-
musik zu stellenden Anforderungen, dass die zur Entscheidung der
Frage versammelten Richter ihre früheren Zweifel mit einem
Schlage beseitigt sahen. ..Die Empfindungen, welche in der katho-
lischen Kirche die allein herrschenden sein sollen, hatten einen
tiefen und wahren Ausdruck gefunden ; die höchste Kunst erschien
als Natur, ein echt kirchhcher Stil hatte sich entfaltet, ernst,
feierhch, gi-oss; wie alle Leidenschaftlichkeit, so auch alle Künstelei
ausschliessend, in tiefsinniger TonsjTubolik die Geheünnisse der
Gottheit dem ahnenden Gefühle veraiittelnd. Palestrina hat mit
diesem Werke nicht nur der Kunstmusik ihren Antheil am katho-
lischen Gottesdienst für alle Zeiten gesichert, sondern auch den
ItaHenern einen nationalen Kirchenstil geschaffen."*)
*) Schüler des aus Burgund stammenden Niederländers Claudio (tou-
dimel, welcher als Begründer der ersten öffentlichen Musikschule zu Rom
(1540) und als Verfasser von Tonsätzen zu den Melodien der ältesten fran-
zösischen Psalmen-Bearbeitung von Marot und Beza bekannt geworden ist ;
überdies durch sein tragisches Ende zu Lyon als Opfer der Bartholomäus-
nacht des Jahres 1572.
*) A. von Dommer, Handbuch der Musikgeschichte. S. 1-47.
62 ^- Lutlier's Keformatioii und die Renaissance.
Man hat Palestiina's Compositioiieu classisch*) genannt und
mit Reclit, denn im allgemeinen wird eine Epoche als classisch
bezeichnet, deren künstlerische Erzeugnisse sich zu einer einfachen
und maassvollen Schönheit erheben, und nuabliuugig vom Ge-
schmacke des Tages entstanden und über ihre Zeit hinauswirkend,
auf alle späteren Geschlechter einen leitenden und bildenden Ein-
fluss ausüben. In diesem Sinne nennen wir die Blütliezeit der
antiken Kunst die classische Zeit und übertragen diesen Ausdruck
auf spätere Zeiten, in welchen das Studium der Antike wieder
belebt wurde, wie im Jahrhundert der Renaissance und drei Jahr-
hunderte später durch Wiukelmann, L es sing, Schiller und
Goethe. Dürfen nun auch die Werke der modernen Tonkunst
das Prädicat „classisch" in seinem eigentlichen Sinne nicht bean-
spruchen, weil behn Mangel einer musikalischen Antike ihr "VVerth
nicht in der Weise bestimmt werden kann, wie dies bei den
Werken der Dichtkunst und der bildenden Künste möghch ist,
so sagt uns doch Gefühl und Empfindung, dass auch in den zu
solchen Zeiten entstandenen musikalischen Kunstwerken ein Hauch
des classischen Alterthmns weht; ganz besonders zeigen sich die
Arbeiten Palestrina's erfüllt von dem antiken Geiste des Maasses,
der Versöhnung und einer heiteren Schönheit, von jenem Geiste,
welchen die bildende Kunst seiner Zeit durch unmittelbare Be-
rührung mit den Kunstwerken des Alterthums airfgenommen hatte;
und wenn auch das moderne, ausschliesshch an die Dur- und
Molltonarten gewöhnte Ohr durch seine sich streng an die gi'ego-
rianischen Tonarten anschhessenden Harmoniefolgen fi-emdartig
berührt wird, so muss sich doch der, den Werken Palestrina's
und seiner nächsten Nachfolger eigenthümhche Zug naiver Er-
habenheit auch Denen offenbaren, welche mit ihrem Stil, dem
nach seinem Schöpfer benannten Palestrinastil, noch nicht näher
vertraut geworden sind.
East gleichzeitig mit Palestrina's Reform des kathohschen
Kirchengesanges beginnt in Italien eine nicht minder folgenreiche
auf dem Gebiete der weltlichen Musik. Auch hier hatte der
von den Niederländern ausgebildete mehrstimmige Gesang die
Alleinherrschaft errungen: das Madrigal, ein meist fünfstimmiges
*) Den Ursprung des Wortes „classisch" betreffend, sei daran erinnert,
dass man im römischen Alterthum unter Classici diejenigen Bürger verstand,
welche zur ersten Classis (Vermögensklasse) gehörten, ausserdem die zur
Flotte (lat. ebenfalls Classis) gehörigen Soldaten; speciell die Schriftsteller
ersten Ranges nach dem Canon der alexandrinischen G-rammatiker.
"V^. Ili\itlier's Ketbrmatioii und die Reixaissaiice.
63
Aveltliclies Lied (ursprünglich Schäferlied, vom ital. niaiidra. Schaf-
lieerde) war ein Gegenstand liebevoller Pflege seitens der besten
Componisten geworden, vor allem des. von 1595 der päpstlichen
Capelle angehörigeu Luca Marenzio, und galt als obhgatorischer
Begleiter bei allen Gelegenheiten, Festen, dramatischen Auffiili-
rungen, geselhgen Zusammeidcüuften. avo man der Musik als unter-
stützender Kraft bedurfte. AViewohl musikalisch ungleich aus-
<lnicksvoller und mannichfaltiger als die gleichzeitige Kirchenmusik,
wie dies schon dm'ch die bezüghch des Inhalts wie der Form
freiere weltliche Dichtung bedingt war, konnte doch das Madrigal
dem in Folge der Alterthumsstuthen verfeinerten Geschmack nicht
mehr genügen; der Wunsch nach einer einfacheren, natürlicheren
Yocalmusik wurde immer lebhafter, und kam endlich in Florenz
in einem Kreise von Alterthumsfreunden so entschieden zum Aus-
druck, dass die Mitglieder desselben, sowohl Dilettanten als auch
Musiker von Fach, dem Contrapunkt offen den Krieg erklärten.
Au seine Stelle eine Musik zu setzen, welche auch um- annähernd
die von den Schriftstellern des Alterthums gepriesene Wü'kung
der griechischen Tragödien-Musik erreiche, dies war der Liebhngs-
gedanke der Gesellschaft von Gelehrten und Künstlern, die sich
unter dem Namen Game rata (Kameradschaft) regelmässig im
Hause des Giovanni Bardi, Grafen von Vernio, zum Zwecke
künstleiischer Unterhaltung vereinigte. Den ersten Schritt auf
dieser Bahn that Vincenzo Galilei, der Vater des Astronomen
Galileo Gahlei, indem er, angeregt dm'ch die Auffindung dreier
autiker Hymnen in der Bibliothek des Cardinais San Angiolo zu
Rom*), es unternahm, Gesänge für eine Singstimme mit Beglei-
tung zu componiren. Diese Gesänge, deren Texte aus Dante's
..Hölle" (der Scene des Ugolino) und den Klageliedern des
•leremias entnommen waren, und die der Componist selbst mit
Begleitung einer Viola vortrug, fanden bei den Mitgliedern der
Camerata so reichen Beifall, dass nunmehr auch ein Fachmann,
der ebenfalls zm* Gesellschaft gehörige Sänger Giulio Caccini
sich entschloss, der neuen Kunstgattung seine Thätigkeit zu widmen.
Dieser ging in seinem fortschrittlichen Eifer so weit, dass er den
Contrapunkt für eine „Zei'fleischung" (Laceramento) der Poesie
erklärte, und behauptete, er sei durch seinen Verkehr mit den
*) Diese unbedeutenden Brachstücke «griechischer Musik konnten um so
weniger zu Neubildungen Anhalt gewähren, als man sie damals nicht ein-
mal zu entzift'ern verstand; erst im vorigen Jahrhundert gelang es dem
Franzosen Bürette, sie in moderne Notenschrift zu übertragen.
d4 ^V". Luth.er's Reform viiid die Reiiaissanee.
Mitgliedern der Camerata iu seiner Kunst mehr gefördert, als
durch früheres dreissigj ähriges Studium des Coutrapiiukts. Als^
praktisches Ergebniss dieser Anschauungen aber veröffenthchte er
1601 unter dem Titel „Nuove mu siehe" eine Sammlung von
Gesängen nach dem Muster des Galilei und fülu-te damit die
neue Kunstgattung, den Einzelgesang oder die Monodie, in
die Oeffenthchkeit ein.
Während Caccini in seinen Monodien noch das IjTische und
melodische Element vorherrschen hess, that bald darauf der Flo-
rentiner Sänger und Organist Jacopo Peri einen v/ eiteren ent-
scheidenden Schritt zui" Verwirklichung des den Alterthumsfreimden
vorschwebenden Ideals durch die Erfindung eines völhg neuen
Musikstils, den er Stile rappresentativo oder recitativo
nannte. Dieser noch jetzt in der Oper gebräuchhche Stil, welcher
die Mitte hält zwischen Gesang und ausdi'ucksvoUer Rede, wm'de
von Peri in seiner Composition des Drama „Dafne" von Rinuc-
cini zm" Anwendung gebracht und gewann bei der ersten Auf-
führung des Werkes im Kreise der Camerata (1595) die ungetheilte
Zustimmung der Hörer. Man hielt sich überzeugt, die dramatische
Musik der Alten sei nun wirkhch wieder aufgefunden; und in der
That waren jetzt die Bedingimgen, das Material zm' Recon-
struirung des antiken Musikdi-ama vorhanden: der Chor zum
Ausdruck der Stimmungen einer Gesammtheit, das Arioso, der
melodische Gesang zm* Schildenmg der Gefühle des Darstellers,
sofern sie zmn vollen Ausdruck kommen, endlich das Recitativ
für den Dialog und fiir diejenigen Empfindungen, welche nur vor-
übergehend anzudeuten waren.
Durch den Erfolg ihrer Arbeit ermuthigt, wagten sich Peri
und Rinucchii bald darauf mit einem zweiten, nach den gleichen
Principien verfassten Musikdrama hervor, der ..Ernddice", ein
Werk, welches berufen war, einen Markstein in der Geschichte
der Musik zu bilden; denn mit der Aufführung der „Euridice"
iu Florenz im Jahre 1600 zur Vermählung Heinrich's IV. von
Frankreich mit Maria von Medici tritt diejenige Kimstgattung
in's Leben, die von nun an ununterbrochen die musikalische Welt
beschäftigen sollte: die moderne Oper. Die Einfachheit, ja
Düi-ftigkeit der Dichtung wie der Musik darf uns nicht verleiten,
den Werth jener beiden di'amatischen Ersthngswerke zu unter-
schätzen, wh" müssen vielmehr auch bei dieser Veranlassung dem
künstlerischen Genius Itahens unsere Bewundeiimg zollen. „Die
italienischen Akademiker" sagt Chiysander („Händel" I. S. 154)
"V. JLiVither's Refbnnation uiitl <lie Irteiiaissaiice. ß5
„waren keine Thoren, dass sie auch an der Vervollkommnung
der Tonkunst so unablässig mit griechischen Quellen arbeiteten.
Dinge , die in jedem andern Lande von vornherein unmöglich
gewesen oder bald lächerlich geworden wären, vermochten sie mit
Grazie und mit Erfolg durchzuführen, so vollständig und so sicher
hatten sie sich in das Gewerk der Alten, in die Formen voll-
endet schöner Kunst eingelebt. Ihre Ansichten von der gi^echi-
schen Bühnenmusik beruhten, was das Einzelne betrifft, auf gänz-
lich unbeweisbaren Voraussetzungen, und die so entstehenden
Widersprüche hätten, ob klar erkannt oder nicht, einen germa-
nischen Geist mit lastender Schwere niedergehalten und zu jeder
zuversichtlichen That unfähig gemacht; die Florentiner Akademie
dagegen wandelte auf den Wolken ihrer Einbildung wie auf einer
gebahnten Strasse .und erreichte schliesslich, was sie sich vor-
gesetzt hatte."
Bei näherer Betrachtung der neuen Kunstgattung zeigt sich
freihch ein gewaltiger Abstand zwischen ihr und ihrem griechischen
Vorbilde. In Betreff ihres Verhältnisses zum Volks- und Cultur-
leben, sowie zu den ihre Existenz bedingenden Ideen blieb sie
der antiken Tragödie so fern wie nur denkbar. Nicht aus reli-
giösen Anschauungen, sondern aus höfischem Luxus hervorge-
wachsen, wurde die Oper vorläufig ein Monopol der Fürsten
und der Grossen, und selbst wenn das Volk hier und da zur
Theilnahme zugelassen wurde, so musste ihm doch das Verständ-
niss abgehen für die, ausschliessHch der antiken Mythologie und
Heldensage entlehnten Stoffe. Erst viel später konnte sie diesen
exclusiven Standpunkt verlassen und für das allgemeine Bilduugs-
leben Bedeutung gewinnen, wiewohl auch dann nicht in dem Sinne
ihrer vom Geiste des Alterthums erfüllten Begründer. Dass trotz
dem die Arbeit der florentiner Camerata keine verlorene ge-
wesen ist, dass die von ihr ausgestreute Saat vielmehr schoii im
Verlauf der nächsten Jahrzehnte reiche Früchte tragen musste,
wird der näch'ste Abschnitt zeigen.
Langhans, Musikgeschichte. 2. Aufl.
VI.
Die italienisclie Oper*
Den ersten wichtigen Schritt auf ihrem Eutwickelungsgange
that die von den Florentinern entdeckte neue Kunstgattung, die
moderne Oper, damals Dramma in musica, auch Tragedia
l)er musica genannt, nicht an der Stätte ihrer Geburt, sondern
in Venedig. Hier hatte Adrian Will a er t*), einer der letzten,
aber auch der bedeutendsten unter den niederländischen Meistern
(geb. 1490 zu Brügge, gest. 1563 als Capellmeister an der Marcus-
kirche), eine Schule gestiftet, . deren Einfluss sich auch nach dem
Zurücktreten der Niederländer von der musikalischen Herrschaft
keineswegs verminderte. Mit noch grösserem Erfolge als sein
Landsmann Josquin hatte er gestrebt, die Kunst des Tonsatzes
dem musikalischen Gledanken dienstbar zu machen, insbesondere
die polyphonen Glebilde durch dramatischen Ausdruck zu beleben.
Schon die äusseren Verhältnisse der Stadt mussten nach dieser
Richtung anregend auf den Musiker wkken. Als fest in sich ab-
geschlossene Handelsrepublik hatte Venedig von dem Druck der
Kirche und den politischen Wirren, welche das übrige Itahen in
seiner Entwickeluug gehemmt, wenig oder nichts zu leiden gehabt,
und weit früher als dort konnte man daran denken, der Kunst
und Wissenschaft einen Antheil am gesellschaftlicjien Leben zu
gewähren. Durch die Handelsbeziehungen zum Orient waren der
Stadt neben dem materiellen Wohlstand noch mancherlei Cultur-
*) Ausgesprochen Willaart, da das e hier nur die Dehnung des vor-
hergehenden Tocales bezweckt, wie auch in andern vlämischen Namen z. B.
unserer zeitgenössischen Musiker Gevaert, Saint-Saens etc. Die zwei
Pünktchen, welche der Franzose in diesem Falle über das e zu setzen pflegt,
sollen nicht, wie in der deutschen Schrift, die Trennung der beiden Vocale
bezeichnen, sondern im Gegentheil ihre, in der französischen Sprache unbe-
kannte Verschmelzung.
~VI. Die italieiiische Oper. 67
^lemeute zugefülirt. welche, verschmolzeu mit eleu heimischen, ihr
jeueu bunt-phantastischeu Charakter gaben, der sich besonders
deuthch in den Werken ihi-er Architekten und Maler ausspricht.
Inmitten einer dem heiteren, unbefangenen Lebensgenüsse ergebeneu
Bevölkemng musste aber der Tonsetzer die Schwerfälhgkeit der
mittelalterhchen Kuustmusik doppelt peinlich empfinden und mit
Eifer darauf bedacht sein, die Tonkunst dem allgemeinen Ver-
ständnisse näher zu bringen. Dies gelang WiUaert durch ein
höchst einfaches Mittel: die eigenthümhchen architektonischen
Verhältnisse des inneren Raimies der Marcuskirche mit seinen
zwei Galerien, deren jede mit einer Orgel versehen war, führte
ihn auf den Gedanken, seine Sängerschaar örtlich zu ver-
t heilen, mn so das ver\\'ickelte Gewebe der Poh^phonie mög-
hchst zu entwirrren. Das vollständige Gelingen dieses Versuches
veranlasste ihn in der Folge, auch die kleineren Nebengalerien
der Kirche zur Aufstellung getrennter Chorgruppen zu benutzen,
deren er schHesshch neun von je vier Stinmien zusammenwirken
Hess, selbstverständhch zu weit grösserer Erbauvmg seiner Zuhörer,
als es etwa sein Vorgänger Ockenheim mit seiner 36 -stimmigen
Messe vermocht hatte.
Mit Willaert theilen sich die beiden bedeutendsten seiner
Schüler, Cyprian de Rore und Gioseffo Zarlino in den
musikahschen Ruhm Venedigs während des Cinquecento — wie
die Itahener abkürzungsweise (statt IVIille Cinquecento, 1500) das
Jahrhundert der Renaissance nennen. Der erstere, zwar Nieder-
länder von Geburt, jedoch schon völUg dem musikahschen Einfluss
Itahens unterworfen, that einen weiteren Schiitt in der von seinem
Lehi-er eingeschlagenen Richtimg, mdem er die Ausdiiicksfähig-
keit der Musik diu-ch fi-eien Gebrauch der Chromatik in be-
merkenswerther Weise steigerte. In seinen 1544 erschienenen
,, Chromatischen Madrigalen" ist die strenge Diatonik der Kirchen-
töne durch häutige Verwendung des kleinen oder chi-omatischen
Halbtones some der sich daraus ergebenden übermässigen und
verminderten Intervalle völhg aufgehoben, eine Neuerung, welche
nicht weniger erfolgreich als Willaert's System der getheilten
Chöre zur Befreiung der Musik von dem Zwange der kirchhchen
Satzungen imd zu ilu-er Ki'äftigung für die Lösimg höherer Kunst-
aufgabeu beigetragen hat. — Der andere, Zarlino (geb. 1517 zu
Chioggia bei Venedig) der erste ItaHener, w^elcher sich neben den
Niederländern eine hohe musikahsche Stellung zu erringen gewusst
hat, wirkte vornehmlich durch seine theoretischen Arbeiten, deren
68 "VI. Die italieuisclie Oper.
einige, namentlich sein Hauptwerk, die 1557 erschienenen .,Isti-
tuzioni harmoniche", epochemachend geworden sind. Denn wie-
wohl er auch als Componist von seinen Zeitgenossen vielfach
gefeiert wm'de und z. B. in den von ihm hinterlassenen, 1566 zu
Venedig gedi'uckten „Modulationes sex vocum" als Tonsetzer von
hervorragender Fähigkeit erscheint, so stehen doch seine Ver-
dienste auf diesem Gehiete weit zurück hinter denen, welche er
sich als Theoretiker um die Klänmg der zu seiner Zeit noch
arg verworrenen Musikwissenschaft erworben hat. Die in oben-
genanntem "Werke von ihm ausgesprochenen Grundsätze und
Lehren, welche er in den später erschienenen „Dimostrazioni
harmoniche" und ,.SoppHmenti musicah" noch weiter ausführt,
haben nicht nur den Tonkünstlern seiner Zeit neue Bahnen
eröffnet, sie sind auch von allen späteren Geschlechtern als feste
Grundlage der musikahschen Theorie sowohl wie der Praxis an-
genommen worden.
Im Besonderen ist Zarlino's Wirksamkeit dadurch von weit-
tragender Bedeutung geworden, dass er einen entscheidenden
Schi-itt zm^ Verbesserung der temperirten Stimmung that,
welche allerdings mit zunehmender Ausbildung der mehrstimmigen
Vocal- wie der Instrumentalmusik zur dringenden Nothwendigkeit
geworden war. Unter Temperatur versteht mau die Bestimmung
gewisser Abweichungen, von der natürhchen Grösse der Inter-
valle, welche nöthig ist, um sie in allen möghchen melodischen
und harmonischen Beziehungen zu einander wohlkhugend erscheinen
zu lassen; mit anderen Worten, um sie den, durch die Beschaffen-
heit der verschiedenen menschlichen Gesangs-Organe bestimmten
Grenzen der Octave anzupassen, welche sie in ihrer natürlichen
Grösse entweder nicht erreichen oder überschreiten*). Bis auf
Zarlino war das System des Pythagoras herrschend gewesen.
*) Zur Erklärung des Obengesagten dieue folgendes: Die natürliche
Clrösse der Intervalle ist durch das Verhältniss eines Tones zu seinen Ober-
tönen bedingt, d. h. denjenigen Tönen, welche den Hauptton eines jeden,
in schwingende Bewegning gesetzten und dann tönenden Körpers mehr oder
minder hörbar begleiten, weil derselbe nicht nur als Oanzes schwingt, son-
dern auch seine einzelnen Theile für sich schwingen. Bei Berührung einer
gespannten Saite z. B. schwingt erstens ihre ganze Länge und erkhugt in
dem ihr eigenen Ton ; nebenbei schwingen ihre beiden Hälften jede für sich,
nnd lassen, wenn auch nur schwach, die Octave des Haupttoues hören:
ebenso schwingen ihre drei Drittel jedes für sich und erzeugen die Quinte
der Octave; ebenso ihre vier Viertel, fünf Fünftel u. s. w. Zur genauen
Bestimmung des Zahlenverhältnisses diesei' Töne untereinander, welches man
VI. Die italienisclie Oper. 69
nach welchem iu der, nächst der Octave einfachsten Consonanz,
in Quinten gestimmt wurde und die dadurch nöthig werdende
Yertheilung des überschüssigen Intervalls 73 : 74 derart bewirkt
früher nach der Länge der Saiten und ihrer Theile berechnete, ist man in
neuerer Zeit durch Beobachtung der ihnen entsprechenden Schwingungen
gelangt; so fand man, dass von zwei gespannten Saiten, deren tiefere ein-
mal, die höhere in derselben Zeit zweimal schwingt, diese letztere die höhere
üctave der ersteren erklingen lässt und dass folglich das Verhältniss des
Grundtones zu seiner Octave wie 1:2 ist; auf dieselbe Weise ergab sich das
Verhältniss des Grundtones zu seiner Quinte wie 2:3, weil zwei Saiten,
deren tiefere zwei, die höhere gleichzeitig drei Schwingungen macht, die
Quinte hören lassen, und ebenso das Verhältniss der Quarte 3 : 4 sowie der
übrigen, in folgender Scala genannten Obertöne, von denen freilich nicht
alle rein genug sind, um im System der diatonischen Tonleiter Verwendung
zu finden.
Theile 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 IG
Töne C c g Ci Cj gj b^ c^ d^ e^ i, g.^ a^ b^ h.^ Cg etc.
Das einzige Intervall, welches unter allen Umständen in seiner natürlichen
Grösse unberührt bleiben muss, ist die Octave; diese, auf das einfachste
Zahlenverhältniss begründete Consonanz wird durch die geringste Abwei-
chung zum Missklange, denn wenn wir eine tiefere Stimme von einer höheren
in der Octave begleiten lassen, so fügen wir der tieferen nichts Neues hin-
zu, sondern verstärken nur die geradzahligen Theiltöne derselben. Aber
schon die Quinte bedarf im modernen Tonsystem einer Modificirung ihrer
natürlichen Grösse, denn wenn man zwölf reine Quinten zusammenaddirt
{z. B. Ci — gj und gj — dg = 2:3 mal 2:3 = 4:9, nach Abzug der Octave
2:1 = 8:9, dies wieder mit 2:3 multiplicirt = 16:27 und so weiter mit
jedesmaligem Abzug der durch Addition einer neuen Quinte erreichten
höheren Octave) so gelangt man zu einem His, welches die Octavengrenze
um das kleine Intervall 524288:531441, das sogenannte ditonische Komma
oder Komma des Pythagoras überschreitet. Es muss daher in der
temperirten Stimmung jede der Quinten um ein Zwölftel dieses Intervalles,
welches sich annährend auf 73 : 74 (etwa ein Fünftel einer halben Tonstufe)
reduciren lässt, von ihrer natürlichen Grösse verlieren. Gleicherweise müssen
die Terzen modificirt werden, denn drei grosse Terzen in ihrer natürlichen
Grösse addirt erreichen nicht vollständig die Grenze der Octave (4:5 mal
4:5 mal 4:5 = 64:125 anstatt 64:128 oder 1:2) während vier kleine Terzen
{5 : 6) sie überschreiten. Selbstverständlich gelten diese Beschränkungen nur
für Instrumente mit feststehender Stimmung wie Ciavier, Orgel, Blasinstrur
mente ; beim Gesang und theilweise auch auf den Streichinstrumenten können
die erwähnten Intonations-Abweichungen zur Anw^endung kommen, voraus-
gesetzt, dass man durch rechtzeitige Ausgleichung es vermeidet, die Grenzen
der Octave zu verletzen. — Wie der Leser weiterhin sehen wird, gelangte
man erst nach mancherlei Versuchen, bei denen man einzelne Intervalle
mehr oder weniger veränderte, um die andern rein zu erhalten, sogenannte
ungleichschwebende Temperaturen, endHch zu dem seit Bach und
Rameau (vgl. Cap. VII.) allgemein angenommenen System der gleichschwe-
1) enden Temperatur, bei welcher man die Octave in zwölf ganz gleich
"70 'VI, Die italieniaclie Oper.
ist, dass sicli für die Intervalle der diatonischen Scala folgende^
zum Theil complicirte Zahlenverhältnisse ergeben:
Töne ODE PG A B H c
Schwingungszahlen 1 8:9 64:81 3:4 2:3 16:27 9:16 128:243 2
Stufenweite ... 8:9 8:9 243:256 8:9 8:9 8:9 243:256
Der Hauptübelstand dieses [Systems liegt in dem complicirten
Verhältniss der Terz, welche nach dieser Grössenbestimmung dem
Öhre unfasslich ist, und deshalb auch dem Alterthum wie dem
Mittelalter mit Recht als Dissonanz gegolten hat. Um sie auf
ein einfacheres Verhältniss zurückzuführen, nahm Zarlino neben
dem G-anzton 8:9 noch einen, um das Intervall 80:81 kleineren
Ganzton im Verhältniss von 9:10 an, eine Unterscheidung, welche
zwar schon der, im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebende
Mathematiker Didymus aufgefunden hatte, ohne jedoch ihre Ver-
werthung in der praktischen Musik bewirkt zu haben. Das nach
diesem Principe von Zarlino aufgestellte sogenannte reine dia-
tonische System, welches den doppelten Vortheil der Verein-
fachung sowohl der Terz wie des diatonischen Halbtones bietet,.
ergab folgende Verhältnisse:
Töne CDE F CIA B H c
Schwingungszahlen 1 8:9 4:5 3:4 2:3 3:5 9:16 8:15 2
Stufenweite . . 8:9 9:10 15:16 8:9 9:10 8:9 15:16
Diese Neuerung wurde namentlich dadurch von hoher Bedeutung^
dass nach Verkleinerung der Terz um das Intervall 80:81 (das
sogenannte syntonische Komma oder Komma des Didymus)
ihrer Aufnahme unter die Consonanzen nichts mehr im Wege
stand; und wenn bis dahin die Tonsetzer sich gescheut hatten
sie im Anfangs- und Schlussaccord ihrer Compositionen anzu-
bringen, so konnte nunmehr der Dreiklang, die eigentliche
Basis aller polyphonen Musik, seine Herrschaft antreten — vor-
läufig allerdings nur der Durdreiklang; was die kleine Terz anlangt,
so dauerte es noch längere Zeit, bis auch sie als Consonanz.
anerkannt wurde; noch Jahrhunderte lang zog man es vor, ein
grosse Tonstufen eintheilte ; die kleine Abweichung von 73 : 74 wurde nun
auf alle zwölf Quinten gleichmässig vertheilt und dadurch alle Verschieden-
heit der Tonstufen innerhalb einer Octave auf die zwölf Halbtonstufen zu-
rückgeführt, wie wir sie in unsern modernen Tasteniustramenten haben.
(Näheres über diesen Gegenstand bei Helmholtz „Tonempfindungen"
sechzehnter Abschnitt; H. Bellermann „L>ie Grösse der musikalischen
Intervalle"; A. von Dommer „Koch's musikalisches Lexicon" Artikel
„Temperatur" „Addition der Intervalle" etc.
^I. Die italienisclie Oper. 71
Musikstück in Moll mit dem Durdreiklang zu schliessen und ver-
letzte lieber die Einheit des Tongescblechts, als dass man die
kleine Terz im Schlussaccord angebracht hätte.
Wenden wir uns nun wieder zur Oper, so ist vor allem zu
bemerken, dass ihr in Venedig, nach vorangegangener Wirksam-
keit der genannten Meister eine besonders günstige Stätte für
ihre Entwickelung bereitet war; durch Willaert und seme Schule
war der venetianischen Kirchenmusik jener dramatische und farben-
prächtige Zug gegeben, welcher sie auch später, unter seinen
Nachfolgern Andreas Gabrieli und namenthch dessen Neffen
Johannes vor der der anderen italienischen Schulen kennzeich-
nete, und es konnte nicht ausbleiben, dass auch das neuerstandene
Musikdrama durch diesen Zug in seiner Ausbildung wesentlich
beeinflusst wurde. Gerade ein halbes Jahrhundert nach Willlaerts
Tode treffen wir wiederum auf dem von ihm bekleideten Posten
einen Musiker, welcher der Oper einen, von ihren ersten Ver-
tretern schwerlich geahnten Aufschwung gab: Claudio Monte-
verde (geb. zu Cremona 1568, von 1613 bis zu seinem Tode
1643 Capellmeister an der Marcuskirche). Schon vor seiner Be-
nifung nach Venedig, als Capellmeister zu Mantua, war dieser
Künstler bestrebt gewesen, die musikahschen Hülfsmittel zur
Charakteristik und zur Darstellung leidenschaftlich eiTegter Ge-
müthszustände zu vermehren, einmal, indem er eine Menge bis
dahin ungebräuchlicher Dissonanzen in freiester Weise ver-
wendete*), sodann durch eine einsichtsvolle Behandlung des Or-
chesters, nachdem er die Individualität der einzelnen
Instrumente und ihre Fähigkeit zur Charakteiisinmg der han-
delnden Personen und der Situationen erkannt hatte. In einem
seiner „kriegerischen Madrigale" z. B. nehmen die vier, das
Recitativ begleitenden Streichinstrumente an der wirkungsvollen
Darstellung des Kampfes lebhaften Antheil; auch erscheint hier
zum ersten mal das Geigen-Tremolo, um an entsprechenden Stellen
den Eindi-uck des Heftigen und Leidenschaftlichen zu verstärken —
eine Vortragsmanier, die anfangs mit Tadel und Spott aufge-
*) Monteverde scheute sich nicht, die Dominant-Septime, die None, so-
gar die übermässige Quarte (den Tritonus) ohne Vorbereitung, auch in den
äusseren Stimmen eintreten zu lassen; ferner erscheint bei ihm zuerst
der verminderte Septimenaccord — lauter Wagnisse, die ihm heftige An-
griffe seitens der Theoretiker zuzogen, namentlich des Artusi in Bologna,
welcher ihm u. a. den Vorwurf machte „dass er den eigentlichen Zweck
der Musik, zu ergötzen, aus den Augen verliere."
7^ VI. Die italienische Oper.
nommen wurde, bald aber allgemein in Gebrauch kam und sich
bekanntlich bis heute erhalten hat.
Begreiflicherweise musste die Oper das eigentliche Feld für
Monteverde's Thätigkeit werden; doch wendete er sich ihr erst
im Jahre 1607 zu, wo er bei Gelegenheit eines Festes am Hofe
des Herzogs Gonzaga von Mantua sein dramatisches Erstlings-
werk „Orfeo", Text vonRinuccini, zur Aufführung brachte. Diesem
folgten im nächsten Jahre die „Arianna" und die Tanzoper „II
ballo delle ingrate" (Die Undankbaren). In Venedig schrieb er
sodann noch eine Reihe von Opern; auch fällt in die Zeit seiner
dortigen Wirksamkeit ein für den Fortschritt des musikalischen
Drama wichtiges Ereigniss, als dessen mittelbarer Urheber jeden-
falls er anzusehen ist: die Gründung des ersten öffentlichen
Opernhauses, in Folge dessen die Oper ihren Charakter als
blosse Hoffestlichkeit verlor und dem grossen Publicum zugängig
gemacht wurde. In Venedig war es, wo im Jahre 1637 das erste
Operntheater, das Teatro Cassiano, eröffnet wurde, und zwar
mit der Oper „Andromeda", Text von Ferrari, Musik von
Manelli. Einige Jahre später folgte die Eröffnung des Theaters
San Moise mit Monteverde's neu einstudirter „Arianna" und im
Verlaufe desselben Jahrhunderts nahm die Oper in Venedig einen
solchen Aufschwung, dass (wie Marpurg in seinen „kritischen
Beiträgen" Berlin 1754 — 62 berichtet) bis 1727 fünfzehn Opern-
unternehmuugen durch Privatmittel in's Leben gerufen wurden,
und bis 1734 gegen vierhundert Opern von vierzig verschiedenen
Componisten zur Aufführung gelangten.
Von Monteverde's Nachfolgern ist Cavalli (seit 1668 Capell-
meister an der Marcuskirche) als der einzige zu nennen, welcher
den dramatischen Stil weiter ausbildete; die Berühmtheit dieses
Componisten beschränkte sich übrigens nicht auf die Grenzen
seines Vaterlandes, wie dies seine Berufung nach Paris beweist,
um dort zur Vermählungsfeier Ludwig's XIV. seine Oper „Xerxes"
aufzuführen. Nach ihm weicht die itahenische Oper mehr und
mehr von dem anfänglich eingeschlagenen Wege ab, und opfert
die von ihren Begründern angestrebte antike Einfachheit dem
immer mehr sich steigernden Bedürfniss nach sinnlichem Reize.
Der im Mittelalter zerrissene, erst vor wenigen Jahrzehnten wieder
geschlossene Bund der Poesie mit der Musik wird aufs neue ge-
lockert, das soeben wiedergewonnene Gleichgewicht zu Gunsten
der letzteren abermals aufgehoben. Dennoch kann die nun fol-
gende Zeit als die Glanzepoche der italienischen Oper bezeichnet
VI. Die italieuiscUe Oper. "3
A\ erden: eine vierte Stadt übernininit jetzt die. bisher abwechselnd
von Rom, Florenz und Venedig ausgeübte musikalische Führerschaft
hl Italien, nämlich Neapel, und Alessandro Scarlatti (gest.
•1725 als Capellmeister am dortigen Hofe) ist der Componist,
Avelcher für die Oper den jetzt von ihr zu verfolgenden Ent-
wickelungsgang bestimmt. Der heitere Himmel Neapel's imd das
lebhafte Natui'ell seiner Bewohner hatten zwar schon früher auf
dem Boden der altgiiechischen Colonie reiche musikalische Früchte
zur Reife gebracht, jedoch weit weniger auf dem Gebiete der
ernsten Tonkunst, als auf dem des weltlichen Liedes, des Ma-
tlrigals, welches u. a. von dem hochbegabten Dilettanten imd
Kunstmäcen Carlo Gesualdo, Fürsten von Venosa, (gest.
1614) zu einer hohen Vollkommenheit ausgebildet war. Mit
A. Scarlatti aber begannen die musikalischen Triebe der Neapo-
litaner sich in so glänzender und umfassender Weise zu offen-
baren, dass sich hier ein eigener, den localen Verhältnissen
entsprechender Musikstil bilden konnte , welcher seines melo-
dischen Reizes wegen der schöne Stil genannt worden ist, im
Gegensatze zu dem römischen des Palestrina, dem sogenannten
erhabenen.
A. Scarlatti selbst stammte aus der römischen Schule des
als Förderer des Kammergesanges und des Oratoriums berühmten
Carissimi, von dessen Wirksamkeit auf letzterem Gebiete noch
später die Rede sein wird. Bezüglich des von ihm ausgebildeten
Kamme rmusikstils, der auf die Kunstrichtung der neapolitani-
schen Schule einen bedeutenden Einfluss ausgeübt hat, sei bei
dieser Gelegenheit bemerkt, dass er sich vom Kii-chenstil von
vornherein als weltlicher unterscheidet, vom di-amatischen aber,
der seinem AVesen nach die Leidenschaften mit grossen, kräftigen
Zügen darstellt, auch, dem grösseren Zuhörerkreise entsprechend,
auf Einfachheit und Verständlichkeit ausgeht, durch eine, weit
mehr in's Einzelne gehende kunstvolle Ausarbeitung und Durch-
führung des musikahschen Gedankens. Eine derartige sorgfältige
Detailarbeit ist bei ihm um so weniger zu entbehren, als hier
die Aufmerksamkeit weder durch äussere Darstellung, wie bei
der dra;matischen Musik, noch durch rehgiöse Ceremonien. wie
bei der Kirchenmusik, mit in Anspruch genommen wird, sich
also durchaus auf das Tonwerk selbst concentrirt; ferner, weil in
der Kammemmsilc jede Stimme nur einen Spieler hat, und sie
daher auf che der Orchestenimsik zu Gebote stehenden Schall-
massen, dynamischen Wirkungen und Farbenschattü'ungen ver-
74 "VI. Die itaüenische Oper.
ziehten muss*). Um die Ausbildung des Kammerstils hat sich
nächst Carissimi ein anderer Zögling der römischen Schule,
Agostino Steffani (1685 als Capellmeister nach Hannover be-
rufen) namhaftes Verdienst erworben. Als dramatischer Com-
ponist von verhältnissmässig geringer Bedeutung wirkte er mittel-
bar zu Gunsten der Stilreinheit der dramatischen Musik durch
seine Kamme rduetten, in welcher Gattung er Mustergültiges
geleistet hat. Von dieser Art des Duetts sagt Mattheson („Kern
melodischer Wissenschaft" S. 99) nachdem er den einfachen zwei-
stimmigen Gesang, die sog. französischen Airs ä deux besprochen
und deren klaren, leichtfasslichen Tonsatz hervorgehoben „dass
ihnen zwar viel von den guten Eigenschaften der ersteren ab-
gehe, durch das fugirte, gekünstelte und in einander geflochtene
Wesen; sie erfordern aber einen ganzen Mann, und sind sowohl
in der Kammer, als Kirche (vormals, zu Steffani's Zeiten, auch
auf dem Schauplatz) den gelehrten Ohren eine grosse Lust, wenn
sich fertige, sattelfeste Sänger dazu finden".
In der strengen Schule der Kammermusik zum Componisten
gebildet, hatte nun Scarlatti die Fähigkeit erlangt, auf jedem
Specialgebiet seiner Kunst mit Erfolg zu wirken; und wenn auch
sein Hauptverdienst in der Förderung der dramatischen Musik
liegt, so konnte er doch für die Kirche und Kammer ebenfalls
so Bedeutendes leisten, dass seine Werke dieser Gattungen sogar
einem Händel als Muster gedient haben und von diesem nicht
minder eifrig studirt wurden wie seine Opern. Seine Fruchtbar-
keit war eine unglaubliche; im Jahre 1721 — vier Jaln-e vor
seinem Tode — hatte er bereits seine 114. Oper vollendet; die
Messe hat er, wie der Flötist Quanz in seiner Selbstbiographie
berichtet „200 Mal in Musik gebracht", und die Zahl der von
ihm componirten Cantaten — kleine musikalische Dramen, wie
sie Fötis nennt — ist unberechenbar. Der englische Musik-
historiker Bumey hat ein Originalmanuscript von ihm aufgefunden,
enthaltend 35 Cantaten (componirt 1704 zu Tivoli, wo Scarlatti
zum Besuche eines Collegen von der päpstlichen Capelle weilte)
*) Vergl. Koch, musikalisclies Lexicon, bearbeitet von A. von Dommer,
S. 467, „Dem ursprünglichen Wortsinne nach" so heisst es dort ,,ist die
Kammermusik eine an Höfen und in Palästen der Grossen, und zwar in
Sälen und Zimmern veranstaltete Privatmusik, zu welcher ohne besondere
Erlaubniss niemand Zutritt hatte; in älteren Zeiten gehörte neben den
Stücken für Soloinstrumente auch die vollbesetzte Orchestermusik in die
Kammer."
VI. Die itaJJeuiactie Oper. 75
deren jede das Datum des folgenden Tages trägt. In seinen
Opern vereinigt er den Melodieureichthum und die dramatische
Schlagkraft des Süd-ItaMeners mit dem Ernst und der Stilreiu-
heit des römischen Kunstgesanges; sie zeichnen sich mehr durch
angenehme und fassliche Melodien aus, als durch stark leiden-
schaftlichen Ausdruck, doch weiss er die Situationen, besonders
die komischen, vortreft'lich zu charakterisiren. Seine Formen sind
noch äusserst knapp im Vergleich zu denen der späteren Neapo-
litaner, sowie Händers und Bach's, blieben jedoch noch für lange
Zeit hinaus mustergültig, insbesondere die der Arie und Ouver-
türe; die letztere ist, wie die von Lully in Frankreich einge-
führte, dreitheilig; sie unterscheidet sich von der französischen
nur dadurch, dass bei ihr der Anfang und Schlussatz in lelj-
haftem, der Mittelsatz aber in langsamem Tempo geht, während
dort ein lebhafter Älittelsatz von zwei langsamen Sätzen einge-
schlossen ist*).
Nicht als Conlponist allein hat Alessandro Scarlatti den
Geschmack seiner Zeit wie auch der ihm folgenden Generationen
mächtig beeinflusst; er Avar daneben — wie in der Regel die
Vocalcomponisten der vorigen Jahrhunderte — ein vortrefflicher
Sänger und Gesauglehrer, ferner ein genialer Dirigent, endlich
hat er noch, wie ebenfalls Quanz erzählt „das Clavicymbel auf
eine gelehrte Art zu spielen gewusst, ob er gleich nicht so viele
Fertigkeit besass wie sein Sohn" (Domenico S., dessen Bedeutung
für die Instrumentalmusik an einer andern Stelle noch zur Sprache
kommen wird). So konnte A. Scarlatti auf allen Gebieten seiner
Kunst, namentlich als Lehrer der Musikstudirenden aller Länder
befruchtend wirken, wie sehr er auch wegen seiner Kühnheit im
Gebrauch der musikalischen Mittel von den Theoretikern seiner
Zeit angegi'iffen wurde. Der Dresdener Capellmeister Heinichen,^
ein Kritiker von damals höchster Autorität, machte ihm in seiner
„Generalbasslehre" den Yorwiu'f „er gehe vor allen anderen
heutigen Practicis mit der musikalischen Harmonie extravagant
*) Die Ouvertüre des Scarlatti kann als Urbild der modernen Or-
chester-Symphonie gelten. Mit zunehmender Selbständigkeit der In-
strumentalmusik begann man die Opern-Ouvertüre nach Erweiterung ihrer
Fonn und Bereicherung ihres Inhaltes auch zum Concertvortrag zu benutzen!;
noch später trennten sich ihre drei Theile und wurden zu selbständigen
Sätzen, zu denen im 18. Jahrhundert, durch Hinübernahme des Menuetts
aus der älteren Suite noch ein vierter hinzukam.
Tu 'VI. Die italieiiiscli.e Oper.
und irregulär um, er verwerfe die Töne ganz ungleich auf eben
die Artli und öffters mit niehrer Härtigkeit als man jemals im
flüchtigen Recitativ thun kann." „Meines Wissens" so schliesst
er „hat ihn bis dato unter unzehligen Practicis noch kein ein-
ziger imitiren wollen"; in letzterem Punkte aber täuschte sich
unser Kritiker gewaltig; denn wie wir zu allen Zeiten die künst-
lerisch producirenden Zeitgenossen eines bahnbrechenden Genius
der von diesem eingeschlagenen Richtung, sei es absichtlich oder
unabsichtlich, sich anschliessen sehen, so wurde auch Scarlatti's
Stil noch zu Lebzeiten des Meisters für die Schöpfungen der
jüngeren Generation bestimmend und gelangte später, nachdem
er durch seine Schüler Leonardo Leo und Francesco Du-
rante völlig ausgebildet war, zur Herrschaft über das ganze
musikalische Europa. Wie im 15. und 16. Jahrhundert die Nieder-
länder, so übten jetzt die Neapolitaner auf die musikalischen
Verhältnisse unseres Welttheils einen fast unbeschränkten Einfluss
aus. Selbst in Frankreich, wo sich schon uiti Mitte des 17. Jahr-
hunderts ein eigenartiges , den nationalen Kunstanschauungen
entsprechendes Musikdrama ausgebildet hatte, gab es eine Gegen-
partei, welche die um Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinende
neapolitanische Oper mit offenen Armen aufnahm und stark
genug war, um unter Führung des Neapolitaners Piccini die
durch Gluck repräsentirte französische Oper mit zeitweiligem
Erfolge zu bekämpfen. In England hatte die italienische Oper
schon seit Ende des 17. Jahrhunderts Fuss gefasst und die Con-
currenz französischer sowie heimischer Componisten siegreich über-
wunden; während der Glanzzeit der neapolitanischen Schule aber
war sie mächtig genug, um selbst einen Musiker von der Kraft
und dem Ansehen Händel' s aus dem Felde zu schlagen, wie
dies die Erfolge der unter Porpora's und Hasse's Leitung
stehenden Londoner Oper im Haymarket-Theater auf Kosten der
Händel'schen im Coventgarden-Theater beweisen.
In Deutschland waren Wien, Dresden und Berlin mit gleichem
Eifer bemüht, die italienische Oper bei sich einzubürgern. Zwar
waren die hier an der Spitze stehenden Künstler meist von Ge-
burt Deutsche, ihrer musikalischen Erziehung und Wirksamkeit
nach jedoch völlig italianisirt; so Johann Joseph Fux, der
als Obercapellmeister dreier deutscher Kaiser mit Hülfe seiner
Vice-Capellmeister, der Yenetianer Conti und Caldara, in der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Wiener Oper auf ausser-
ordentliche Höhe hob , nebenbei aber auch durch sein, 1745
VI. Die italieiiisclie Oper. YZ
erschienenes, bis auf den heutigen Tag werthvoU gebliebenes Lehr-
buch des Contrapunkts „Gradus ad Paruassum*' den Beweis lieferte,
dass ihm die deutsche Gediegenheit im Verkehr mit der italieni-
schen Oper nicht abhanden gekonmaen war. Von gleicher Be-
deutung wiu'de für Dresden^ Johann Adolph Hasse, geboren
1699 zu Bergedorf bei Hamburg, von 1724 an in Neapel Schüler
des Scarlatti und des Porpora. endlich, nach glänzenden Erfolgen
in Italien, als Capellmeister am sächsischen Hofe angestellt; für
Berlin Carl Heinrich Graun, geb. 1701 zu Wahreubrück
unweit Torgau, bis zu seinem Tode 1759 alleiniger BeheiTscher
der von Friedrich dem Grossen bei seinem Regierungsantritt
gegründeten italienischen Oper. Bekannt ist, wie gering dieser
Monarch von der deutschen Kunst dachte, im Besonderen von
der deutschen Gesangskimst; er wolle lieber von einem Pferde
sich eine Arie vorwiehern lassen, soll er einmal geäussert haben,
als an seiner Oper eine Deutsche als Primadonna anstellen*).
Gleichwohl empfand er deutsch genug, um die Leitung seiner
Anstalt so wie die Composition der aufzuführenden Werke nie-
mandem anders als Graun zu übertragen, und auch nach dessen
Tode lehnte er den Vorschlag, einen Componisteu aus Itahen zu
berufen, aufs entschiedenste ab.
Eine charakteiistische Seite für die Musik dieses Jahrhun-
derts bildet die Vervollkommnung der musikalischen Ausdrucks-
mittel, besonders des Kunstgesanges. Wie der Vater der neapo-
litanischen Schule, A. Scarlatti. ein ausgezeichneter Sänger war,
so auch seine Nachfolger. Der Kunstgesang war die Schule.
durch welche jeder Componist hindurchgehen musste, bevor er
auf irgend welchen Erfolg seines Schaffens hoffen durfte. Hasse
begann seine Laufbahn als Tenorist an der Hamburger Operu-
bühne; auch Graun gehörte zu den Vertretern des gediegenen
Kunstgesanges und konnte als solcher während seines Aufent-
haltes in Italien den Beifall aller Kenner erringen. Ihren Höhe-
punkt en-eichte die italienische Gesangskunst in der von Pistocchi
um 1700 zu Bologna gegründeten Schule, von deren • ertblgreicher
Wirksamkeit die zu Händel's Zeit au der Londoner Oper thätigen
Sänger ein glänzendes Zeugniss ablegen, namentlich der Sopranist
*) Erst die Bekanntschaft mit iler Sängerin Gertriule Schmehling,
spätere Mara, von deren europäischen Erfolgen und abenteuerlichem Leben
Rochlitz im ersten Bande seines Werkes .,Für Freunde der Tonkunst" aus-
führlich berichtet, konnte ihn eines Besseren belehren.
V8 "VI. -Die italieiijsclie Oper.
Senesino und die Sängerinnen Cuzzoni und Faustina Hasse.
Aber auch die Kehrseite des Virtuosenthums , Hochmuth und
grenzenlose Eitelkeit, tritt bei den Genannten in unerfreulichster
Weise zu Tage. Die Cuzzoni war, wie Quanz berichtet „von
Charakter ein wahrer Drache", und^als Händel, um sie besser
bändigen zu können , die ihr künstlerisch ebenbürtige Gattin
Hasse's nach London berufen hatte, wurde der Wettstreit zwischen
den beiden Künstlerinnen bald ein so hitziger, dass es einmal
bei offener Scene zu einer Schlägerei zwischen ihnen kam.
Je höher aber die Leistungen der Gesangsvirtuosen vom
Publicum geschätzt und auch bezahlt wurden — schon im Jahre
1647 hatte der römische Musikschriftsteller Doni behaupten
können „sie lebten in solchem Ueberfluss, dass der Einzelne unter
ihnen mehr hätte als zehn Cantoren und Chormeister zusammen" —
desto tiefer sank das Ansehen der Componisten. In der Oper
des 18. Jahrhunderts wurde die Musik fast nur nach der Veran-
lassung beurtheilt, welche sie dem Sänger zur Entfaltung seiner
Kunstfertigkeit darbot; „besonders die Arie war in ihrem ersten
(am Schlüsse wiederholten) Theile gleichsam nur das Lattenwerk,
welches der Sänger mit allen möglichen Arabesken und Colo-
raturen zu einem kleinen Triumphbogen für sich selbst heraus-
putzte"*). Konnte die dramatische Musik in der Folgezeit die
nöthige Kraft finden, aus dem Kampfe gegen das Virtuosenthum
siegreich und neugestärkt hervorzugehen, so wurden diese miss-
lichen Verhältnisse für einen andern Zweig der Tonkunst gerade-
zu verhängnissvoll: die Kirchenmusik vei'flachte im Laufe des
18. Jahrhunderts mehr und mehr; der ernste und würdige Stil
des Dur ante, des Begründers der jüngeren neapolitanischen
Schule (gest. 1755 als Capellmeister am Conservatorium San
Onofrio zu Neapel) wird von seinen Nachfolgern mit dem glän-
zenden weltlichen oder einer romanhaften Unruhe vertauscht.
Dies zeigt sich u. a. in Pergolese's „Stabat mater", dessen
vorwiegend sinnliche, auf den Reiz der Singstimme berechnete
Musik die von den Zeitgenossen ihr gespendeten begeisterten Lob-
sprüche nur theilweise verdient. Jomelli ist der einzige unter
den jüngeren Neapolitanern, in dessen Kirchenmusik der Ernst
und die Gediegenheit der römischen Schule noch fortwirken,
Eigenschaften , die vorwiegend in seinen späteren Werken zur
Erscheinung kommen, wohl in Folge seines Aufenthaltes in
*) S. v. Dommei", Handbuch der Musikgeschichte, S. 449.
~VI. J_)ie italieniscUe Oper. 79
Deutschland (ITöd — 1765) als Capellmeister zu Stuttgai-t am
Hofe des Herzogs Karl vou Württemberg, desselben Fürsten,
welcher die durch Schiller berühmt gewordene Karlsschule ins
Leben rief.
Selbst zu der Zeit, wo der musikalische Genius Deutschlands
erwacht ist, wo mit Gluck und Mozart die dramatische Musik
einen ungeahnt hohen Aufschwung nimmt, selbst dann giebt sich
die italienische Oper noch keineswegs für besiegt und fährt fort,
glänzende Erfolge zu erringen. In Paris weiss Piccini mehrere
Jahre hindui-ch neben Gluck eine geachtete Stellung zu behaup-
ten; in Wien finden zu Mozart's Glanzzeit die Neapolitaner
Paisiello und Sarti enthusiastischen Beifall, der erstere mit
seinem „Barbier von Sevilla", der letztere mit der Oper „Fra
due litiganti il terzo gode" (in der deutschen Bearbeitung „Im
Trüben ist gut fischen"), welche nebst Vincenzo Martin's
„Cosa rara" von Mozart zu seiner Tafelmusik im zweiten Finale
des „Don Juan" benutzt ist. Sogar Beethoven's titanenhafte
Erscheinung konnte es nicht hindern, dass sich Europa noch
einmal in unserm Jahrhundert der italienischen Oper auf Gnade
und Ungnade in die Ai'me warf. Rossini (geb. 1792 zu Pesaro
im Kirchenstaat) war der Zauberer, der es vermochte, die von
den Wiener Meistern zu höherem Yerständniss herangebildete
musikalische Welt aufs neue durch den sinnlichen Reiz der
italienischen Melodie zu fesseln. Von 1813 an, wo sein „Tancred"
im Theater San Moise in Venedig zum ersten mal in Scene ging,
bis zimi Erscheinen seines letzten Werkes „Wilhelm Teil" im
Jahre 1829 in der Grossen Oper zu Paris, ist Rossini's musikalische
Laufbahn durch eine Reihe von Erfolgen gekennzeichnet, wie sie
vor ilim kein itaUenischer Operncomponist erlebt hat. Er ver-
dankt dieselben in erster Linie seiner schöpferischen Kraft, die
sich nicht etwa allein in Ei^findung von Melodien, sondern auch
in einer für seine Zeit neuen Behandlungsweise der Harmonien
so wie des Orchesters kundgiebt; ferner den ihm zu Gebote
stehenden Gesangskräften, dies namentlich nachdem im Jahi'e
1815 der Opernunternehmer Barbaja ihn und die Elite der
Sänger und Sängerinnen Italiens fest engagirt hatte, imi abwech-
selnd in Neapel, Mailand und Wien seine Werke aufzufühi'en.
Endlich sind noch die politischen Verhältnisse in Anschlag zu
bringen, um den Enthusiasmus zu erklären, welchen das Erscheinen
der Rossini'schen Oper hervomef: die geistige Erschlaffung, die
sich unseres Welttheils nach den mit den Napoleonischen Kriegen
gQ "VI. Die italieuische Oper.
verbundenen Aufregungen bemächtigt hatte, und das daraus fol-
gende Bediü-fiiiss nach Mitteln zur- Zerstreuung und Betäubung.
,.Aus den Tagen des Wiener Congresses" sagt Riehl („MusikaUsche
Charakterköpfe-' 11. S. 38) „aus dem schwülen, Stillstand gebie-
tenden, zurückdämmenden Jahrzehnt nach den Befi-eiimgskriegen
stammt Rossini's Weltruhm, Die müden Völker brauchten
Schlummerlieder zum Schlafen und Träumen, und der Italiener
bot ihnen den anmuthigsten, wollüstigsten Schlafgesang. Man war
des gespreizten, tragischen Pathos der Napoleonischen Schule satt,
auf der Bühne wie im Leben; am Quell der unterhaltenden Kunst
wollte man süsses Selbstvergessen trinken, und wo war die Kunst
unterhaltender als in der Rossini'schen Oper?"
Die Einseitigkeit, mit welcher ein Theil der musikahscheu
Welt sich dem Genüsse der Opern Rossiui's hingab, imd zwar
bis zu dem Grade, dass unsere gi-össten deutschen Meister,
Beethoven und Weber, selbst an den Stätten ihrer persönlichen
Wirksamkeit gegen den „Schwan von Pesaro" in den Hinter-
grund gestellt wurden — diese Einseitigkeit rief in den Kreisen
der ernster strebenden Musikfreunde eine Abneigung gegen die
itahenische Opemmusik im Allgemeinen hervor, die ebenfalls das
richtige Maass überschritt und zu emer ungerechten Bemiheilung
ihi-es Werthes gefühi't hat. Spätere italienische Operncomponisten,
wie Bellini und Donizetti, konnten bei der Süsshchkeit ihrer
Melodie sowie der Dürftigkeit ihrer Harmonie und Rhythmik
nicht die geeigneten Männer sein, jene Abneigimg zu vermindem,
so dass es nach und nach ein Glaubensartikel der deutschen
Musiker geworden ist, die italienische Oper für etwas durchaus
Verwerfliches zu halten und ihr jeden Werth abzusprechen. Auch
der jüngste der italienischen Operncomponisten, Giuseppe Verdi
(geb. 1813 zu Busseto bei Parma) wird meist mit der traditio-
nellen Geringschätzung behandelt, und dennoch scheint gerade
er berufen, der Verweichhchung und Verflachung, welcher die
itahenische Oper seit einem Jahrhundert verfallen ist, mit Erfolg
entgegen zu arbeiten.
Fassen wir die Verdienste dieses Künstlers als dramatischer
Componist näher ins Auge, so finden wir, dass er zunächst den
Stoffen semer Opern grössere Berücksichtigung zuwendet, indem
er dieselben nicht nur stets selbst auswählt, sondern auch den
Plan der Dichtung bestimmt und die Charaktere und Situationen
aufs genaueste bezeichnet, so dass sein Dichter nichts weiter zu
thim hat, als seinen Angaben zu folgen und das Ganze in Verse--,
"VI. Die italienisciie Oper. oX
211 briugeu. Hiennit im Zusammenhange zeigt sodann die Musik
— namentlich in den Werken seiner mittleren Periode „Rigo-
letto" (1851). ,.La Traviata" (1853) und ,. Maskenball" (1858) —
ein entschiedenes Streben, den dramatischen Ausdruck über den
rein musikalischen zu setzen, dem Orchester eine die Handlung
charakterisirende Mitwirkung statt der blos begleitenden einzu-
räumen . den melodiösen Gesang dem declamatorischen unter-
zuordnen. Die Bedenken, welche sich trotzdem in Deutschland
gegen A'erdi's Musik erheben, gelten tlieils ihrer harmonischen
Armuth, theils dem Vorherrschen der Tanzrhythmen, auch in
solchen Situationen, wo das deutsche Ohr dieselben am Avenigsten
erwartet. Allerdings steht Verdi als Contrapunktiker hinter den
deutschen Meistern der V^ergangenheit und auch der Gegemvart
zurück — wie überhaupt der Musiksiun des Italieners zur Ein-
fachheit der harmonischen Behandlung neigt — doch leistet er
reichlichen Ersatz für jenen Mangel durch tief empfundene Me-
lodie und dramatisch wirksames Ensemble. Auch die Rhythmik
der Verdi'schen Musik ist durch den nationalen Geschmack be-
stimmt, welcher eine grössere Straffheit und Fasslichkeit des
Rhythmus verlangt, ohne ihn deshalb sofort, wie es das germa-
nische Ohr thut, als Tanzmusik aufzufassen. Vollends unbegründet
aber ist der Vorwurf, Verdi verletze durch häufige Verwendung
der Diu'tonart zur Schilderung schmerzlicher Empfindungen die
dramatische Wahrheit; denn Avenn auch nach unserer Auffassungs-
Aveise das Dur im Allgemeinen einer freudigen, das Moll einer
traurigen Stimmung entspricht, so bcAveist dagegen die Entwicke-
lungsgeschichte der Tonarten, Avie nicht minder die Volksmusik
<ler verschiedenen Nationen, dass jene Unterscheidung, mag sie
dem germanischen Musiksinne auch noch so natürlich erscheinen,
doch keinesAvegs in der Sache begründet ist*). Wollten die in
Deutschland so zahlreichen Verächter der italienischen Oper den
Verhältnissen Rechnung tragen, welche durch die eigenthümliche
musikalische Organisation jedes der beiden Völker bedingt sind.
*) Die Thatsaclie, dass die meisten slavischen Volkslieder der Moll-
tonart angehören, ist vielfach gedeutet worden, als seien sie der Ausdruck
einer melancholischen (lemüthsstimmung, der Trauer über politisches und
sociales Unglück u. s. w. Dieser Deutung widerspricht jedoch die in der
Regel heitere Stimmung der Vortragenden und der Zuhörer; ebenso der
harmlose Charakter der Zeit und der Volkskreif^e. welchen jene Lieder ihre
Entstehung verdanken.
Lau{f!ians. Musikgeschichte. 2. Aufl. >)
ö^ ~VX. Die italienisclie Oper.
SO würden sie ihr die gebührende Anerkennung nicht länger ver-
weigern nnd ihr gerade in ihrer gegenwärtigen Entwickelungs-
periode Atolle Theilnahme und Aufmerksamkeit zuwenden — dies
wahrlich nicht zum Nachtheil unserer deutschen Tonkunst, welche,
wie die aller anderen jSTationeu, der künstlerischen Befruchtung
von aussen bedarf, um nicht der Einseitigkeit und dem Nieder-
gang zu verfallen.
YII.
J3ie französisclie Oper.
Bei keinem Volke Europa's vermochte das von Italien ge-
gebene Beispiel der Erneuerung des musikalischen Dramas der
Alten mehr zur Nachahmung zu reizen als bei den Franzosen,
deren Neigung zur Musik wie nicht minder zu dramatischen
Darstellungen schon im Mittelalter vielfach zum Ausdruck ge-
kommen war und durch die künstlerische Strömung des 16. Jahr-
hunderts neue Nahrung erhalten hatte. Selbst während der po-
litischen und religiösen Stürme dieser Zeit hatte hier die Re-
naissance ihren heilsamen Einfluss auf die Kunstzustände äussern
können; nachdem aber in Folge des Edictes von Nantes (1598)
die rehgiösen Spaltungen und die damit verbundenen Bürger-
kriege ihr Ende erreicht hatten, nachdem dann durch Richelieu's
eiserne Hand der Trotz des Adels gebrochen und die Staats-
einheit hergestellt war, da konnten sich neben dem materiellen
Wohlstand die künstlerischen Triebe des französischen Volkes so
frei entfalten, dass es den von den Italienern auf geistigem Ge-
biete gewonnenen Vorsprung bald wieder einholte.
Der erste, welcher dem Bedürfniss nach einer Reform des
französischen Schauspiels im modernen Sinne entgegen kam, war
ein Venetianer Namens Baif, der sich 1570 bei Karl IX. um
ein Privilegium zur Errichtung einer Akademie für dramatische
Dichtkunst und Musik bewarb, es auch erhielt, durch die Un-
gunst der Zeiten jedoch an der Ausführung seines Vorhabens
gehindert wurde. Unter der Regierung des lebenslustigen Königs
Heinrich's IV. hätten jene musikahsch - dramatischen Pläne wohl
verwirklicht werden können, um so eher, als dieser Fürst, wie
im vorigen Abschnitt erwähnt, bei seiner Vermählung in Florenz
persönlich Zeuge des künstlerischen Ereignisses gewesen war,
von welchem die moderne Oper ihren Ausgang genommen hatte
— wäre nicht seinem segensreichen AVirken durch Ravaillac's
g4 ■^^11. Die französisctie Oper.
Dolch (1610) ein unerwartet frühes Ende bereitet worden. Hein-
rich's Nachfolger, Ludwig XIII. war bei seiner finstern GTe-
müthsart nicht geneigt, den Künsten eine Stätte an seinem Hofe
zu gönnen; gerade dieser Umstand aber sollte die Veranlassung
geben ziun ersten Erscheinen der Oper in Frankreich, indem
nämlich der Cardinal Mazarin zur Erheiterung der Königin Anna
von Oestreich eine itahenische Operntruppe nach Paris berief,
welche 1645 im Saale des Petit Bourbon ihre Vorstellungen mit
der Oper „La festa teatrale della finta pazza" (Die yerstellte
Wahnsinnige) eröffnete.
Der Beifall, den die neue Kunstgattung beim französischen
Publicum fand, konnte nur ein getheilter sein, weil die Oper sich
um diese Zeit von der ursprünglich angestrebten edlen Einfach-
heit schon beträchtlich entfernt hatte und ihre Wirkung fast nur
in Aeusserlichkeiten suchte, im Reichthum der Decorationen, der
Costüme, der Pallete, bei weichen letzteren zur Abwechselung
auch alle denkbaren Thiergestalten figurirten; dies aber konnte
einer Nation nicht genügen, deren G-eschmack für dramatische
Dichtung durch Männer wie Corneille, dessen „Cid" schon
1636 erschienen war, und Molifere, der 1644 seine Wkksamkeit
in Paris begonnen hatte, in bemerkenswerthem Grade geläutert
und verfeinert war. In Folge dessen musste bald der Wunsch
laut werden, das aus Italien eingeführte Musikdrama in einer den
nationalen Kunstanschauungen entsprechenden Weise umgebildet
zu sehen. Ein scheinbar unüberwindhches Hinderniss für die
Erfüllung dieses Wunsches bildete die in den Hterarischen Kreisen
Frankreichs feststehende Meinung, dass der französischen Sprache
die Fähigkeit mangele, sich mit der Musik zu verbinden; und in
der That war sie seit den Peformen des Schriftstellers und
Dichters Malherbe (1555 — 1628) in so feste Formen gebannt,
in der Poesie war der Alexandriner (der durch einen Einschnitt
unterbrochene sechsfüssige Jambus) so sehr zur Alleinherrschaft
gelangt, dass dem Vocalcomponisten die freie, selbständige Be-
wegung seiner Phantasie beinahe unmögUch gemacht war. Die
französische Sprache war eben damals in das Stadium der Reife
getreten, welches ein mittelalterlicher Dichter im Hinblick auf
seine Vorgänger mit den Worten charakterisirf:*)
*) Der ungenannte Vollender des von Ciottfried von Strasslnirg
begonnenen, von Heinrich von Friburg und Ulricli von Türheini
fortgesetzten Epos „Tristan und Isolde". (Vergl. die Bearbeitung des Ge-
dichtes von Hermann Kurtz, S. 518.)
"VII. Die fraiizösisclie Oper. 85
..Die sind noch anders dran gewesen,
Da war die Sprache ein lieblich Kind,
Muthwillig auch, wie Kinder sind,
Im I^nschuldsreiz : doch diese nun,
Mit ihren Runzeln , muss ehrbar thun."
AVie zur Zeit der uiederländischeu Contrapunktisten die Dichtung
der Musik untergeordnet gewesen war, so hatte sich jetzt in Frank-
reich das Verhältniss umgekehrt. Eine freiere Behandlung der
Sprache schien die unumgängliche Bedingung, um eine nationale
Oper ins Leben zu rufen; es musste sich ein Dichter finden, der den
Muth hatte, sich über die bestehenden Regeln hinweg zu setzen,
und dies war der Abbe Perrin, der somit unter den Begründern
der französischen (Jper in erster Reihe genannt zu werden ver-
dient.
So wenig sich Perrin mit den Dichterheroen seiner Zeit an
poetischer Begabung vergleichen konnte, so besass er dafür die
zur Lösung seiner Aufgabe nöthige Bühnenerfahrung in reichem
Maasse, da der Hof des Herzogs Gaston von Orleans, des Bruders
Ludwig's Xni., bei dem er das Amt eines Ceremouienmeisters
(„Introducteur des ambassadeurs'') bekleidete, inl vollen Gegen-
satz zum Hofe des menschenscheuen Königs, der Schauplatz aller
Art von Lustbarkeiten war, insbesondere der theatrahschen. Hier
fasste der von vornherein nichts weniger als geisthch gesinnte
Abbö den Plan zu einer Dichtungsweise, die durch neue und
unregelmässige Formen, wie auch durch den Ausdi'uck mannich-
faltiger Empfindungen die Phantasie des Musikers anzuregen ge-
eignet wäre. Seine nach diesem Princip und nach dem Muster
der sogenannten imgebundenen Verse (versi sciolti) der Italiener
verfassten und 1661 erschienenen Dichtungen, die er in der Vor-
rede als Musiktexte oder Singverse (paroles de musique) bezeich-
net hatte, erregten selbstverständlich die heftigste Opposition der
professionellen AVoildichter, an ihrer Spitze der poetische Zucht-
raeister seiner Zeit, Boileau, der nachmalige Verfasser des, dem
gleichnamigen horazischen nachgebildeten Lehrgedichtes „Art
poetique.*) Um so dankbarer wurden sie von den Musikern
*) Ihn nennt Scherr (Allgem. Gesch. der Literatur, fünfte Auflage I.
S. 199} „den vollständigen Ausdruck der unter Ludwig XIV. angenommenen
Conventionellen Geschmacksrichtung, mit ihrer Vernachlässigung und Miss-
achtung der Natur, ihrer Gemachtheit und ihrem gefrorenen Pathos, ihrer
blos rhetorischen Begeisterung, welche die hölzernen Dämme der Convenienz
nie oder doch nur höchst selten zu überfluthen kräftig und kühn genug ist.
86 "Vn. Die iranzösisclie Oper.
aufgenommen und der bedeutendste Componist des damaligen
Frankreich, Eobert Cambert, Organist an der Kirclie St. Ho-
norö und Musikintendant der Königin Mutter, zeigte seine Be-
reitwilligkeit, auf Perrin's Neuerungen einzugehen, in der Vorrede
zu einer Sammlung seiner Trinklieder, wo er die Hoffnung aus-
spricht „dass die Schönheit der Worte für die Mängel der Musik
entschädigen werde, da sie zum grössten Theil den Herrn Perrin
zum Verfasser haben, über dessen unvergleichliche Befähigung
zur Dichtung musikalischer Texte alle Welt einig sei." Mit
diesem Componisten verband sich Perrin zur Ausführung seiner
musikalisch-dramatischen E,eformpläne und die erste Frucht ihrer
gemeinsamen Arbeit war ein ländliches Singspiel, betitelt „Pa-
storale, premifere comedie frangaise en musique", zum ersten mal
aufgeführt im Jahre 1659 im Schlosse des G-eneralpächters de la
Haye zu Issy bei Paris.
Der glänzende Erfolg dieses Versuches war deshalb besonders
ehrenvoll für den Dichter und den Componisten, weil beide es
verschmäht hatten, die gebräuchlichen äusseren Operneffectmittel
bei dieser Gelegenheit zur Anwendung zu bringen, und so der
dem Werke gespendete Beifall ausschliesslich seinem inneren
Werthe galt. Dennoch musste eine B,eihe von Jahren vergehen,
bis die französische Oper über das erste Kindheitsstadium hinaus
einen Schritt vorrücken konnte. Zunächst war dem Abb 6 Perrin
die Täuschung beschieden, als Festoper zur Vermählungsfeier
Ludwig's XIV. eine italienische Oper, den schon im vorigen Ab-
schnitt erwähnten „Xerxes" von Cavalli gewählt zu sehen, ob-
wohl sein „Pastorale" kurz nach jener Aufführung in Issy auch
vor dem Hofe in Vincennes dargestellt worden war und bei-
Die Poesie war vollständig zur Verstandessaclie geworden, ihre Nüchtern-
lieit und Kahlheit wurde fälschlich für die edle Simplicität der Griechen
gehalten, man widmete den geistlos aufgefassten Kuusti'egeln der Alten,
z. B. des Horaz, eine sklavische Folgsamkeit und abstrahirte aus ihnen eine
Theorie, deren praktische Folgen gerade so abgeschmackt und absurd waren,
wie die Erscheinung Ludwig's XIV., der mit einer Allongeperrücke und in
Schuhen mit rothen Absätzen öffentlich als Musengott auftrat. Besonders
geschickt war Boileau in seiner Nachahmung der Alten; seine nach horazi-
schem Muster gefertigte „Art poötique" aber ist recht eigentlich der Codex
der französischen Classik und wurde lange Zeit in Frankreich sowohl wie
im Ausland als unfehlbarer Canon des Geschmacks angesehen. Man nannte
ihren Verfasser auch geradezu den Gesetzgeber des Geschmacks (legislateur
du goüt), und wirklich hat niemand den Geist der französischen „Classik"
reinlicher und aligezirkelter zur Anschauung gebracht, als dieser pedantische
Versedrechsler."
'V^II. X)ie frauzösisclie Oper. Ol
fällige Aufnahme gefunden hatte. Aber diese Täuschung, so
wenig wie der Tod seiner Beschützer, erst des Herzogs von
Orleans, dann des Cardiuals Mazariu, vermochten den unter-
nehmenden Dichter an der energischen Fortfiihning des begonnenen
Werkes zu hindern. Durch unausgesetzte Bemühungen und Bitt-
gesuche brachte er es 1669, also volle zehn Jahre nach der ersten
Aufführung des Pastorale, zu einem königlichen Privilegium,
welches ihm für ZAVölf Jahre das ausschUessliche Recht gab, in
Paris wie in allen übrigen Städten des Königreichs „Opern-
akademien nach Art der italienischen" zu veranstalten.*) Nun
bildete er mit Cambert, dem Marquis von Sourdöac und einem
gewissen Champeron, welchen letzteren die Sorge für das De-
corationswesen und die Finanzverwaltuug oblag; eine Gesellschaft.;
die besten Gesaugskräfte des Reiches so wie der Balletmeister
des Königs, Beauchamp, als „chef de la danse" wurden für
das Unternehmen gewonnen, und bald war auch ein geeigneter
Platz für das zu erbauende Theater gefunden: schon nach fünf
Monaten erhob sich an der Stelle des „Jeu de paume (Ballspiel-
haus) de la bouteille" in der Strasse Mazarine das neue Gebäude,
und 1671 konnte dasselbe mit der Oper „Pomoua" eröffnet werden,
ein Werk, welches sowohl hinsichts der Dichtung wie der Musik
der Erstlingsarbeit Perrin's und Cambert's weit nachstand, mit
seinem decorativen Pomp jedoch eine solche Anziehungskraft auf
das Publicum ausübte, dass es volle acht Monate auf dem Re-
pertoire blieb und dem Dichter allein die Summe von 30,000 Francs
(24,000 Mark) eintrug.
Inzwischen war dem jungen Unternehmen ein gefährlicher
Gegner herangewachsen in Giovanni Battista Lull3^**) In
Florenz 1633 geboren und als Knabe nach Paris gekommen,
*) „Diverses Academies, dans lesquelles il se fait des representations
en musique, qu'on nomme opera." (sie.) Die Bezeiclinunpf „Academie royale
de Musique" noch heute (mit jeweiliger Aenderung des AVortes „royale" in
„imperiale" oder „nationale") der officielle Name für die pariser sogen.
Grosse Oper, erscheint erst, nachdem das Perrin'sche Privilegium an seinen
Nachfolger übergegangen war. Bezüglich der Schreibweise „Grosse Oper"
folgen wir den Franzosen, welche die Prädicate ,,grand" und „comique" in
der Verbindung mit dem Wort „opera" nicht als Adjectiva sondern als
Eigennamen behandeln und demgemäss mit grossem Anfangsbuchstaben
schreiben.
**) Der Name LuUy findet sich in allen officiellen Dokumenten mit
einem y; in Anbetracht der Nationalität des Künstlers müsste es allerdings
,,Lulli" heissen, da das italienische Alphabet den Buchstaben y nicht kennt.
88 ^V^II. Die fraiizösisclie Oper.
hatte sich dieser von einem Küchenjungen der Mademoiselle de
Montpensier, der Nichte des Königs, von Stufe zu Stute zum
Günsthng Ludwig's XIV. emporgearbeitet. Von seiner Herrin
in Folge eines auf sie verfassten Spottgedichtes in Ungnaden
entlassen, fand er zunächst mit Hülfe seines Talentes für die
Violine ein Unterkommen im königlichen Orchester, der aus den
vierundzwanzig „violons du roy" bestehenden „grande bände";
nachdem er dort die Aufmerksamkeit des Monarchen erregt, war
für ihn ein eigenes Orchester gebildet worden, die aus sechzehn
Musikern bestehenden „petits violons", wie sie zum Unterschied
von dem älteren zahlreicheren Orchester genannt wurden; endlich
hatte er es auch als Schauspieler verstanden, den König für sich
zu gewinnen und "durch seine unwiderstehliche Komik die Gnade
desselben zu befestigen gewusst, so oft ihm seine Stellung am
Hofe bedroht erschienen war. Auf die Gunst des allmächtigen
Herrschers gestützt, verfuhr er, um seine Zwecke schneller zu
erreichen, gegen das Publicum wie auch gegen seine Collegen mit
der äussersten Rücksichtslosigkeit. Wie er die bedeutendsten
Männer seiner Zeit, Boileau, Lafontaine, selbst Moliöre,
dessen kameradschaftlichem Entgegenkommen er seine ersten Er-
folge verdankte, aufs empfindlichste geschädigt und beleidigt hatte^
so trug er jetzt, durch den Erfolg des Perrin - Cambert'schen
Unternehmens eifersüchtig gemacht, keine Scheu, mit Aufwendung
aller Mittel der Intrigue diese beiden Männer um die Früchte
ihrer Arbeit zu bringen. Wirklich gelang ihm dies im Jahre 1672,
wo er einen zwischen den vier Directoren des Unternehmens
ausgebrochenen Streit benutzte, um das dem Perrin ertheilte Pri-
vilegium an sich zu bringen, und damit der Beherrscher des ge-
sammten französischen Opernwesens wurde. Vergebens protestirten
die Beraubten: Perrin's Klagen verhallten imgehört und nach
Jahresfrist war von ihm nicht mehr die Bede; auch Cambert
musste einsehen, dass neben Lully für ihn kein Platz sei; er
siedelte nach London über, konnte jedoch, ungeachtet seiner
dortigen glänzenden Erfolge als Componist, das ihm in seinem
Vaterlande widerfahrene Missgeschick nicht verschmerzen und
starb wenige Jahre darauf (1677), wie Lully's Feinde behaupteten,,
von diesem vergiftet.
Mit Lully beginnt die eigentliche Glanzepoche der Grossen
Oper in Frankreich, da er das Bedürfniss des Publicums nach
einem dem nationalen Empfinden entsprechenden Musikdrama
richtig erkannt hatte und ihm völlig Genüge zu leisten im Staude
"V'II. Die iraiizösisclie Oper. 89
Avar. Perriu's Versuch, den Zwang der dichterischen Formen
ahzuschüttehi , konnte bei dem Glauben der Franzosen an die
Unabänderhchkeit gewisser Satzungen einen durchgreifenden Er-
folg unmöglich haben ; er war zu spät gekommen, um die vorhin
beschriebene Entwickelung der Sprache noch rückgängig zu
machen. Lully dagegen schloss sich eng an die herrscheuden
Kimstanschauungen an, und das Ansehen, welches er sich als
Operncomponist bei der französischen Nation erwarb, dankt er
nicht so sehr seiner musikalischen Begabung, als vielmehr seiner
Fähigkeit, auf das Wesen der Tragödie einzugehen, nach den
Vorstellungen, die man sich in Frankreich von dieser Kunst-
gattung gebildet hatte. „Wie das französische Drama" sagt
V. Dommer (Musikgeschichte, S. 395) „nach den Gesetzen des
altgriechischen sich zu bilden suchte, so stand auch Lully in
in seiner Musik den Ideen von ihrer Beschaffenheit im antiken
Musikdrama noch weit näher als die gleichzeitigen Italiener, bei
denen die Tonkunst auch in der Oper vom Griechenthum sich
emancipirt und ihre eigenen Wege eingeschlagen hatte. Bestärkt
imd getragen wurde Lully in seinen Ideen wesentlich durch den
Dichter Quinault, dessen Texte jenen Gesetzen folgen und, auch
abgesehen davon, einen weit grösseren poetischen AVerth haben
als die meisten gleichzeitigen italienischen Operndichtungen." Als
musikalische Kunstwerke stehen Lully's Opern hinter denen der
damaligen Italiener zurück. Bei ihm liegt der Schwerpunkt in
der nuisikalischen Rhetorik und Declamation, im dramatischen
Ausdruck, den er durch engen Anschluss des Tones an das AVort
zu erreichen sucht; und demgemäss sind seine Musikformen ein-
fach, ja dürftig zu nennen im Vergleich zu den, allerdings meist
auf Kosten der dramatischen AVahrheit, breit entwickelten Ton-
formen der gleichzeitigen italienischen Oper. Diese schwache Seite
an Lully's Opern wird jedoch ausgeglichen durch seine genaue
Kenntniss der Bühne, sowie durch seine Fähigkeit, von allen
äusseren theatralischen Mitteln einen geschickten Gebrauch zu
machen. Dazu kommt noch der Eifer, mit dem er persönlich ein-
trat, um das von ihm als richtig und nothwendig Erkannte durch-
zusetzen. Wie er seinen Dichter Quinault aufs äusserste tyran-
nisirteimd so lange an dessen Arbeiten strich und hinzusetzte,
bis sie seinen Intentionen völlig entsprachen, so hielt er auch
beim Einstudiren seiner Opern die Säuger , den Chor , das
Orchester und die Tänzer zu einer peinlichen Genauigkeit an.
Vor allem war er bestrebt, seinen Darstellern einen besseren
QO "VII. Die fraiizösisclie Oper.
Bühnenanstand. eine höhere Fertigkeit in der Geberdekimst und
eine deutlichere Aussprache der Worte beizubringen — letzteres
eine Hauptbedingung zum Erfolg seiner Musik, deren declama-
torischer Charakter sich niemals verleugnet; auch nicht in den
Chören, welche sich in weit grösserem Maasse als der italienische
Opemchor an der Handlung betheiligen, und so die Verwandt-
schaft der französischen Oper mit der antiken Tragödie auch
ihrerseits erkennbar machen. Aus alle diesem^ erkläi-t es sich,
dass Lully's "Werke nicht nur- zu Lebzeiten des Autors beim
französischen Publicum in hohem Ansehen standen, sondern auch
nach seinem Tode (1678) noch beinahe ein volles Jahrhundert
hindurch sich auf der Bühne behaupten konnten. Erst im Jahre
1774 verschwanden sie vom Eepertoire, gleichzeitig mit dem Er-
scheinen der „Iphigenia in Auhs'' von Gluck, dessen Reform
des musikalischen Dramas übrigens im wesentlichen den Lully'schen
Principien folgt, wie auch dieselben bis in die Gegenwart für die
französische Grosse Oper massgebend geblieben sind.
Xur ein Componist vermochte es, sich, während dieses langen
Zeitraumes neben Lully Geltung zu verschaffen: Jean Philippe
Rameau (geb. 1683 zu Dijon). Als Musiker seinem Vorgänger
überlegen, hat er die französische Oper nach Seiten des Me-
lodischen und Harmonischen erheblich bereicheri, ohne jedoch,
durch Begünstigung des musikalischen Elementes auf Kosten des
dramatischen, den von Lully befolgten Grundsätzen untreu zu
werden. Erst verhältnissmässig spät, in seinem fünfzigsten Lebens-
jahre, begann Rameau seine Laufbahn als Operncomponist ; da
er aber während der ersten, grösseren Hälfte seines Künstler-
lebens unausgesetzt musikalisch thätig gewesen war — mit wie
grossem Erfolg, dies beweisen seine Leistungen als Theoretiker
wie auch als ClaAdervirtuose und Componist für dies Instrument
— so konnte er bereits mit Erscheinen seiner ersten Oper
„Hippolyte et Ariele'" (1. October 1732) eine epochemachende
Thätigkeit auch auf dramatischem Gebiete entfalten. Schon hier
zeigt sich der Unterschied seiner Begabung von der des Lully;
dieser behält von der ersten bis zur letzten seiner Opern das-
selbe musikalische System bei. während in den Werken Rameau's
die reichste Abwechslung herrscht, ein Streben, stets neue Aus-
drucksmittel zu benutzen und dem Stil Mannichfaltigkeit zu geben.
Die Pülle der musikalischen Gedanken, durch welche er in der
genannten Oper seine Zeitgenossen überraschte uud anfangs be-
greiflicherweise verwirrte, rechtfertigt das ürtheil des als Kirchen-
"Vn. Die i'rauzösisolie Oper. 91
wie auch als dramatisclier Componist hocliangesehenen Campra
(von 1722 bis zu seinem Tode 1744 Capellmeister Ludwig's XV.)
,.Hipi)ol}i;e et Aricie enthalten den Stoff für zehn gewöhnliche '
Opern, und Rameau werde alle Meister seiner Zeit verdunkeln."
Zunächst freilich hatte der Künstler die heftigsten Angriffe von
Seiten des Puhlicums zu erdulden; insbesondere konnten die
blinden Anhänger der Lully'schen Oper ihm seine Neuerungen
nicht verzeihen und rächten sich dafür u. a. durch folgendes
Epigramm:
Si le difficüe est le beau
^'est un grand homme que ßameau.
Mais si le beau, par aventure
N'etait que la simple nature,
Quel petit homme que ßameau!
eines der, bei jeder neuen Kunstrichtung wiederkehrenden, darum
aber nicht weniger gedankenlosen Urtheile; denn was man in
der Musik „Natürlichkeit" nennt, ist lediglich die Gewöhnung des
Ohres, und der den bahnbrechenden Componisten noch stets
gemachte Vorwurf des absichtlichen Anhäufens von Schwierig-
keiten hat seine Ursache allein in der Trägheit der Zuhörer,
welche die Mühe scheuen, die ihnen vom Künstler erschlossenen
neuen Kunstgebiete in Besitz zu nehmen. Auch in der Folge,
mit dem Erscheinen jeder neuen Oper musste ßameau derartige
Angriffe erdulden, wiewohl er seit der Aufführung seiner Oper
„Castor und Pollux" (1737) als der erste dramatische Componist
Frankreichs auch von den Greguern anerkannt war. Die hervor-
ragende Stellung, welche er sich an der Grossen Oper erworben,
für die er in den folgenden Jahren noch zweiundzwanzig grössere
"Werke lieferte, behauptete er bis zu seinem Tode (1764), und die
Art und Weise, wie die französiche Nation, sowohl durch ein
glänzendes Begräbniss wie auch durch die, mehrere Jahre hin-
durch wiederholten GedächtnissfeierUchkeiteu am Tage seines
Todes das Andenken des Meisters geehrt hat, beweist, dass sie
ihn schon bei seinen Lebzeiten zu ihren besten Söhnen zählte.
Nicht geringer sind die Verdienste, welche sich Rameau durch
seine epochemachende Thätigkeit auf dem Felde der musikalischen
Theorie erworben hat. Während sich seine Vorgänger mit dem
Aufstellen der Regeln für die Verbindung der Ac cor de begnügt
hatten, ohne nach dem Ursprung derselben zu forschen, gelingt
es ilun in seinem 1722 veröffentlichten „Traitö d'harmonie" diesen
Ursprung nachzuweisen. Sein System gründet sich auf das Mit-
92 "VII. Die französisclie Oper.
klingen gewisser Töne zu einem Grimdton, der S. 68 erwähnten
Obertöne: der Octave, der Quinte in der zweiten Octave oder
Duodecime, und der Terz in der dritten Octave oder Septdecime.
Durch Versetzung der beiden letzteren Intep^alle um eine resp.
zwei Octaven tiefer erhält er den Durdreiklang, von ihm „aecord
parfait" genannt; der Molldreiklang dagegen (accord parfait mineur)
ergiebt sich aus drei Tönen, welche einen gemeinsamen Oberton
haben, z. B. A, C, E, denen das E als Duodecime, als Septdecime
und als Octave gemeinsam ist. Durch Hinzufügung weiterer
Terzen zum Dreiklang erhält Rameau den Septimen- und den
Nonenaccord; diejenigen Accorde aber, in welchen die Quarte und
die Sexte die charakteristischen Intervalle sind, gewinnt er durch
die TJmkehrungen des Dreiklangs oder des Septimenaccords,
Ausser diesem System, welches bis auf den heutigen Tag die
Grundlage der Harmonielehre bildet, verdankt die musikalische
Welt dem Rameau noch die Einführung der gleichschweben-
den Temperatur, d. h. die Eintheilung der Octave in zwölf
Halbtöne von gleicher Grösse, und damit die Beseitigung der Hin-
dernisse, welche bis dahin die Instrumentalmusik, soweit es die
Instrumente mit feststehender Stimmung betrifft, in ihi'er freien
Entwickelung gehemmt hatten. Schon 1722 hatte Seb. Bach die
gleichschwebende Temperatur durch sein „wohltemperirtes Ciavier"
in die Praxis eingeführt; nach dem Erscheinen von Rameau's
„Generation harmonique" (1737) aber wurde sie als Gnmd-
bedingung der modernen Musik auch von den Theoretikern all-
gemein angenommen, und mit ihr die Reduction der alten Ton-
arten auf die ionische und aeolische (unser Dur und Moll).*)
Diese letzteren waren bereits Jahrhunderte früher im Volksgesange
fast ausschhessHch zur Anwendung gekommen; sie mussten zur
*) Die Zahl der alten Tonarten belief sich seit Glareauus (Anfang
des 16. Jahrhunderts) auf zwölf: Dorisch (D), Phrygisch (E), Lydisch (F),
Mixolydisch (Cr), Jonisch (C), Aeolisch (A) nebst ihren, dem Namen nach
durch das vorangesetzte Wörtchen hypo (unter) von ihnen unterschiedenen
Plagaltonarten. Die .altgriechische Benennung der Octavengattungen nach
verschiedenen Volksstämmen war schon zu Hucbald's Zeit wieder in Ge-
brauch gekommen, jedoch in einer andern Reihenfolge als bei den Alten,
weil die Begriffe Harmonia (Octavengattung) und Tonos (Transpositions-
scala) wahrscheinlich im Laufe der Zeit unklar geworden w^aren, und man
aus Missverständniss die Namen der letzteren statt der der ersteren auf die
Kirchentöne, obwohl ja diese auch Octavengattungen sind, übertragen hatte.
(Vgl. S. 17 und 18.) ">,
\'II. JJie f'raiiisösisclie Oper. 93
üniversalheiTSchaft gelangen, als man, nach Einfülu.'uug der gleich-
schwebenden Temperatur anfing, alle zwölf Halb töne der Octave
als Grundtöne ebensovieler Transpositionen der Dur- und Moll-
scala zu gebrauchen und damit die, der modernen Composition
hinderlichen Schranken der alten Tonarten durchbrochen waren.
Bei dem Eifer, mit welchem sich Rameau lange Jahi'e hin-
durch fast ausschliesshch der theoretischen S^jeculation gewidmet
hatte, und auch später, neben seiner Thätigkeit für die Oper,
imausgesetzt bestrebt war, seine Errungenschaften auf dem Gebiete
der Theorie gegen die Angriffe des In- und Auslandes zu ver-
theidigen, war sein Charakter nicht frei von Einseitigkeit ge-
bheben. Kann ihn auch nicht wie seinen Vorgänger Lully der
Vorwurf der Herzlosigkeit treffen, so kümmerte er sich doch,
besonders während theoretische Probleme seinen Geist in An-
spruch nahmen, Avenig oder gar nicht um die Aussenwelt. Dem-
zufolge fehlte es ihm nicht an persönlichen Feinden, deren einer,
der Philosoph Diderot, welchen er schon durch seine Opposition
gegen die von ihm herausgegebene Eucyklopädie erzürnt hatte,
in seinem Buche ..Rameau's Neffe'' (übersetzt von Goethe) von
ihm sagen konnte : „Er ist ein Philosoph in seiner Art, er denkt
nur an sich, und die übrige Welt ist ihm wie ein Blasebalgsnagel.
Seine Tochter und Frau können sterben, wann sie wollen, nur
dass ja die Glocken im Kirchsprengel, mit denen man ihnen zu
Grabe läutet, hübsch die Duodecime und Septdecime nachklingen,
so ist ihm alles recht."
Eine gefährliche Concm-renz erwuchs der pariser Grossen
Oper im Jahre 1752 durch die Ankunft einer italienischen Opern-
truppe, Avelche die Erlaubniss erhielt, komische Opern aufzufühi-en
und namenthch mit dem Singspiel (Intermezzo) „La serva ijadi'ona'"
von Pergolese ungemeines Glück machte. Alsbald nach dem
Erscheinen der Italiener hatte sich das musikalische Paris in
zwei Parteien gesondert, die unter dem Namen Buffo nisten
und Anti-Buffonisten entweder auf Seiten der Itahener oder
der nationalen Oper standen. Beide Parteien verfochten mit
gleicher Hartnäckigkeit den erwählten Standpunkt, und da der
Streit immer heftiger wurde, so hielten es die italienischen Sänger
für geratheu. schon nach zwei Jahren das Feld zu räumen. Die
von ihnen gegebene Anregung sollte indessen für die dramatische
Musik in Prankreich nicht verloren gehen. ..Wie auf allen Ge-
bieten des geistigen Lebens'" sagt Goethe in der oben an-
geführten Schrift ,.so hatte man auch auf dem der Grossen Oper
9-4 "VII. Die tranj5ösisch.e Oper.
begonnen, die starren Fesseln des Herkommens imerträglicli zu
finden, und die italienischen Buffo nisten hatten die Möglichkeit
gezeigt, das alte, verhasste, starre Zimmerwerk zu zerstören und
eine frische Fläche für neue Bemühungen zu gewinnen
Sämmtliche Künste waren in der ]Mitte des vorigen Jahrhunderts
auf eine sonderbare, ja, für ims fast unglaubhche Weise manüirt
und von aller eigenthchen Kimstwahi-heit und Einfalt getrennt.
Nicht allein das abenteuerliche Gebäude der Oper war durch
das Herkonunen nm- starrer und steifer geworden, auch die Tra-
gödie ward in Eeifröcken gespielt, und eine hohle, affectirte De-
clamation trug ihi'e Meisterwerke vor. Dies ging so weit, dass
der ausserordentliche Voltaire, bei Vorlesung seiner eigenen
Stücke, in einen ausdruckslosen, eintönigen, psalmodii-enden Bom-
bast verfiel und sich überzeugt hielt, dass auf diese AVeise die
Würde seiner Stücke, die eine weit bessere Behandlung verdienten,
ausgedi'ückt werde."
Kein Wunder, dass in solcher Zeit die einsichtigen Köpfe
imter den Franzosen auf allen Gebieten des geistigen Lebens in
dem Bestreben zusammentrafen, das was sie Xatiu- nannten, der
Cultur und der Kunst entgegen zu setzen. In der Malerei traten
an Stelle der pomphaften und geschraubten Darstellungen Le-
brun's die Schilderimgen des ländlichen imd Famihenlebens, die
Gem-escenen eines Watteau und Liotard; die abgezh-kelten
Gärten und beschnittenen Bäimie des Hofgärtners Ludwig's Xr\^.
Le NOtre. mussten den Parks im enghschen Geschmacke weichen:
die di-amatische Musik aber wendet sich mit Vorliebe der Operette
zu und bildet sie nach dem Muster der itahenischen Opera bufi'a
zm' Opera Comique aus. Eine solche hatte es zwar schon vor
der Ankunft der Italiener in Franki-eich gegeben, doch konnte
sie. ausschhesslich der Volksbelustigimg gewidmet, höheren künst-
lerischen Ansprüchen in keiner Weise genügen. Der Leipziger
Cantor J. A. Hill er beschreibt sie in seinen .,Wöchentlichen
Nachrichten" (Band HI. Jahrgang 1768) als „em Ding, das
eigentlich nichts ist. das sich mit allem putzt was es findet, das
aber, wenn ihm der Putz von einer geschickten Hand angelegt
Avird, ein sehr angenehmes Nichts sein kann." Der erste Schritt
zm* künstlerischen Veredehmg dieses volksthümhchen Singspiels
war die Aufiiihrung der von den Italienern hinterlassenen Werke,
zunächst der „Serva padrona" in französischer üebersetzung;
dann erschienen der Dichter Vad(5 und der Componist Dau-
vergne mit einer eigenen Arbeit, der komischen Oper „Les
"VII. Die französiscLLe Oper. 95
troqueurs"*), und nach dem durchgreifenden Erfolg dieses Ver-
suches schlössen sich die angesehensten Dichter Frankreichs, zu-
erst Favart und Marmontel, der neuen Richtung an, indem
sie an Stelle der von der Grossen Oper äusschliessHch verwen-
deten antiken Stoffe Hergänge des täglichen , namentlich des
bürgerhchen Lehens zum Gegenstand ihrer dramatischen Dich-
tungen wählten. Als ihre musikalischen Mitarbeiter sind in erster
Reihe zu nennen: der Neapohtaner Duni, dessen „Milchmädchen"'
auch nach Deutschland gelangte und hier ebenfalls die Komische
Oper einbürgern half; dann die Franzosen Philidor, nebenher
berühmt als Schachspieler, Monsigny, dessen „Deserteur" (1769)
noch heut in Frankreich ein dankbares Publicum findet; endlich
Grötry, der, obwohl ein halber Ausländer (geboren zu Lüttich
1741), der Komischen Oper diejenige Vollendung gab, durch
welche sie, wie Jahn („Mozart" IL S. 208) bemerkt, noch heute
die echte Repräsentantin des nationalen Charakters der Franzosen
auf dem Gebiete der dramatischen Musik ist.
Im engen Zusammenhang mit dieser Wandlung des Kunst-
geschmackes in Frankreich steht die von der fi-anzösischen Phi-
losophie um dieselbe Zeit eingeschlagene Richtung. Die sogenannte
Aufklärungsphilosophie ist vorwiegend Opposition gegen die
geltenden Dogmen und bestehenden Zustände in Kirche und
Staat und Begründung einer neuen theoretischen und praktischen
Weltanschauung auf naturalistischen Principien. Von den Ver-
tretern dieser Richtung sei hier nur Jean Jaques Rousseau
erwähnt, da sich derselbe nicht allein als Philosoph, sondern
auch als Musiker hohen Ruhm erworben hat, auf dem Gebiete
der Theorie durch sein 1767 erschienenes, in zahlreichen späteren
Ausgaben und Uebersetzungen in fremde Sprachen bekannt gewor-
denes „Dictionnaire de Musique", auf dem der Praxis durch die
von ihm gedichtete und componirte, 1752 zuerst aufgeführte Oper
,.Der Dorf- Wahrsager" (Le devin du village). Wie in Rousseau's
religiösen, politischen und pädagogischen Grundsätzen die Sehn-
sucht, den Uebeln einer entarteten Gesellschaft durch Rückgang
auf einen erträumten Naturzustand zu entgehen, im Uebermaasse
zum Ausdruck gelangt, so kämpft er mit gleicher Erbitterung
gegen die zu seiner Zeit herrschenden Normen des musikalischen
*) Von trociuer, tauschen. Den Stoff der Oper bilden diß Versuche
zweier Verlobten, ihre Bräute zu vertauschen und die (schliesslich erfolg-
reichen) Intrigueii der letzteren, dies zu verhindern.
96 VII. Die fraiizOsiscIie Oper.
Geschmackes, und selbstverstäiidlicli sehen wir ihn in dem Streite
der Buffonisten und der Auti-Buffouisten auf Seite der ersteren.
In schonungsloser Weise geisselt er in seiner „Lettre sur la musique
franQaise*". das starre Formemveseu der grossen Oper; ulid wenn
er auch in manchen Punkten zu weit geht, wie z. B. in seiner
Abneigung gegen die polyphone Musik, die er, nach dem Vor-
gang des Caccini (vergl. S. 63.) fih- eine Beleidigung des guten
Geschmackes erklärt, so verdienen doch die meisten seiner dort
ausgesprochenen Ansichten unbedingte Zustimmung. Insbesondere
Averden seine Fordenmgen, dass das Orchester in der Oper nie-
mals pausiren dürfe, sondern auch dann, Avenn die Singstimme
schweigt, den Gedankengang des Darstellers zu verfolgen habe:
ferner, dass in leidenschaftlichen Scenen die vollkommene Cadenz
unbedingt zu vermeiden sei*); endlich, dass der Text -Dichter,
anstatt sich der möglichsten Deutlichkeit zu befleissigen, dem
Zuhörer lieber gelegentlich das Vergnügen gönnen möge, den
Sinn der Worte theilweise in der Seele des Darstellers zu lesen
— diese Forderungen werden den Anhängern der in unsern
Tagen eingeschlagenen Eichtung des musikalischen Drama durchaus
billig erscheinen. Im Anschluss an die letzterwähnte Bemerkung
hören wir ihn den schon ein Jahrhundert zuvor der französischen
Sprache gemachten Vorwurf wiederholen, dass sie ungeeignet sei.
sich mit der Musik zu verbinden, nicht etwa nur Avegen der
Schwierigkeit der Aussprache , der Nasallaute , der stummen
Silben etc., sondern wegen ihres streng logischen Satzbaues im
Gegensatz zu der Freiheit in Umstellung der Satzglieder, der
Inversionen, welche in der italienischen und deutschen Sprache
die Aufmerksamkeit bis zum Schlüsse des Satzes und damit auch
die Theilnahme für die ihn begleitende Musik aufrecht halten**).
''^') ,,Ces cadences parfaites sont toujours la niort de Fexpression" lieisst
es in der erwähnten Schrift.
**) ,,Si je voulois m'etendre sur cet article, je pourrois peut-etre vous
faire voir encore que les inversions de la langue italienne sont beaucoup
jilus favorables a la bonne melodie que l'ordre didactique de la notre, et
»lu'une phrase musicale se developpe d'une manit-re plus agreable et plus
interessante, quand le sens du discöurs, longtemps suspendu. se resout 'sur
le verbe avec la cadence, que quand il se developpe ä mesure, et laisse
affoiblir ou satisfaire ainsi par degres le desir de l'esprit, tandis que celui
de l'oreille augniente en raison contraire jusqu'ä la fin de la phrase. Je
vous prouverois encore que l'art des suspensions et des mots entrecoupes,
que l'heureuse Constitution de la langue rend si familier k la musique ita-
lienne, est entierement iuconnu dans la notre, et que nous n'avons d'auti'e
A'II. Die fraiizöiti seile Oper. 97
Von diesem Vorurtheil wurde Rousseau erst durch denjenigen
Musiker befreit, der die Lully'sche Oper auf die höchste Stufe der
Vollkommenheit brachte, auffallender Weise wieder ein Ausländer,
unser Landsmann, der Ritter Christoph von Gluck (geb. 1714
zu Weidenwang in der bayrischen Oberpfalz, gest. zu Wien 1787)*).
Der mächtigen Künstlerpersönlichkeit Gluck's gelang es, nach
einer verhältnissmässig erfolglosen Operncomponisten-Laufbahn in
Italien und Deutschland, in Paris den geeigneten Boden für seine
musikalisch-dramatischen Reformbestrebungen zu linden. Wiederum
theilte sich bei seinem Auftreten das dortige Publicum in zwei Par-
teien ; diesmal aber standen die Freund© des Fortschritts, unter ihnen
Rousseau, auf der Seite der französischen Grossen Oper, während
die Anhänger des Bestehenden in der italienischen Musik ihr Heil
suchten. Noch heftiger als zm* Zeit der Buffo nisten und der
Anti-Buffonisten tobte der Streit zwischen den Gluckisten und
ihren Gegnern, die sich, nachdem man dem deutschen Meister
den neapolitanischen Componisten Piccini als Rivalen gegenüber-
gestellt hatte, Piccinisten nannten; und erst nach mehreren Jahren
entschied sich der Kampf in Folge des Sieges, den Gluck's
„Iphigenia in Tauiis" 1781 über die gleichnamige Oper von
Piccini errang, bei welcher Gelegenheit die deutsche Tonkunst
auf dem Gebiete der Oper ihren ersten Triumph über die ita-
lienische und französische feierte.
Aus allem was über den Charakter der französischen Grossen
Oper gesagt wui'de, geht hervor, dass Frankreich keineswegs blos
durch Zufall der Schauplatz von Gluck's reformatorischer Wirk-
samkeit geworden ist. Denn so wenig es in seiner Absicht lag,
als Musiker dem Geschmack irgend einer Nation zu folgen, wie
er dies auch in einem Schreiben an den Redacteur des „Mercure
de France" (1773) ausdrücklich hervorhebt, so konnte er doch
nicht in Zweifel sein, dass die, durch Lully und Rameau der
dramatischen Musik gegebene Richtung, und nur diese, eine
Vei-wirklichung seiner eigenen Principien gewährleisten konnte;
dass ferner die für das französische Opempublicum von damals
moyen pour y suppleer, qua des silences qui iie sont jamais du chant, et
qui, dans ces occasions, montrent plutot la pauvrete de la musique que les
ressources du musicien". (Ecrits sur la musique, Paris 1827 S. 180).
*) Seine Ritter- AVürde verdankt Gluck dem, ihm vom Papste verliehenen
Ordenskreuz vom goldnen Sporn, dieselbe Auszeichnung wurde später Mozart
zu Theil , welcher demnach zur Führung jenes Titels das gleiche Recht
gehabt hätte.
Liangbans, Musikgeschichte. 2. Aufl. 7
98 VlI. Die französische Oper.
(wie auch von heute) charakteristische Neigung, die Musik mehr
reflectirend als unmittelbar zu gemessen, ihm die grösstmögliche
Freiheit in der praktischen Ausführung seines Systems gestatten
würde. Wie er sich seiner besonderen Aufgabe als dramatischer
Componist bewusst war und wie bestimmten Grundsätzen er bei
seinem Schaffen folgte, dies sehen wir aus der Vorrede zu seiner
Oper „Alceste", eine Art von künstlerischem Glaubensbekenntniss,
welches zugleich die Meinungen der Vielen zum Ausdruck bringt,
welche vor und nach Gluck das Uebergewicht der Musik in der
Oper bekämpft haben und noch bekämpfen werden. Die wichtigsten
Sätze dieses bedeutungsvollen Schriftstückes sind folgende:
„Es war meine Absicht, die Musik von allen den Miss-
bräuchen zu reinigen, welche sich in Folge der Eitelkeit der
Sänger und der übergrossen Nachgiebigkeit der Componisten in
die italienische Oper eingeschlichen haben und dies prächtigste
nnd schönste aller Schauspiele in das lächerlichste und lang-
weiligste verwandeln; ich versuchte deshalb, die Musik zu ihrer
wahren Bestimmung zurückzuführen, nämlich der Poesie
zu dienen, indem sie den Ausdruck derselben verstärke und die
Darstellung unterstütze ohne die Handlung zu unterbrechen oder
sie durch überflüssige Zuthaten abzuschwächen (raffii'eddarla con
degli inutili ornamenti), indem ich dabei von der Meinung aus-
ging, die Dichtkunst müsse in derselben Weise von der Tonkunst
unterstützt und gehoben werden, wie die correcte Zeichnung eines
Gemäldes dm-ch den Glanz der Farben und die richtige Vertheilung
von Licht und Schatten, welche die Figm'en beleben ohne ihre Um-
risse zu verändern. Ich habe es demnach vermieden, den Schau-
spieler im Feuer des Dialogs zu unterbrechen, sei es, damit er in
herkömmlicher Weise das Ende eines langweiligen Ritornells abwarte,
oder damit ihm das Orchester Zeit gebe, zu einer brillanten Cadenz
Athem zu schöpfen; und ebenso verwerflich schien es mir, ihn
inmitten seiner Rede bei einem günstigen Vocale aufzuhalten,
damit er in einer langen Passage die Geläufigkeit seiner Stimme
zeige. Ich glaubte nicht, über den zweiten Theil einer Arie
möglichst rasch hinweggehen zu müssen, \ne die heutigen Com-
ponisten zu thun pflegen, auch wenn derselbe seinem dichterischen
Inhalte nach der wichtigste und leidenschaftlichste ist, nur damit
die Worte des ersten Theils viermal wiederholt werden; und
ebenso unrichtig fand ich es, die Arie abzuschhessen, ohne dass
zugleich der Sinn der Worte seinen Abschluss gefunden hätte,
nur um dem Sänger Anlass zu geben, seine Kunst im Variiren
VII. Die französisclie Oper. 99
einer musikalischen Phrase zn zeigen. Kurz, ich habe gestrebt,
alle die Misstäucle zu beseitigen, gegen welche der natürliche
Geschmack und der gesunde Menschenverstand schon seit langer
Zeit vergebens protestü-en. — Was das Orchester betrifft, so
soll dasselbe in der Ouvertüre den Zuschauer auf die Handlung
vorbereiten und gleichsam den Gesammtinhalt derselben kund-
geben (formarne per dir cosi l'argomento). Im weiteren Verlaufe
der Oper aber soll die Mitwirkung der Instrumente zu den auf
der Bühne dargestellten Vorgängen stets in enger Beziehung
bleiben, und niemals soll sich das Orchester zwischen das Reci-
tativ und die Arie drängen, oder auf andere "Weise den Fortgang
der Handlung verzögern, wenn nicht der Inhalt des Textes dies
ausdrücklich verlangt. — Die meiste Sorgfalt habe ich darauf ver-
wendet, meiner Musik den Charakter einer edlen Einfalt zu
geben (uua bella semplicitä) und niemals die Klarheit der Ton-
gestaltung dem äusseren Prunke zu opfern; auch habe ich es
verschmäht, neue musikalische Effecte zu verwenden, ausser wenn
dieselben sich auf natüi-liche Weise aus den Situationen auf der
Bühne und den darzustellendan Charakteren ergaben; andrerseits
habe ich mich aber auch nicht gescheut, die Regeln der Compo-
sition zu verletzen, so oft mir dies zur Verstärkung des drama-
tischen Ausdrucks zweckmässig erschien."
Die praktische Durchführung dieser Grundsätze konnte selbst-
verständhch weder in Italien noch in dem, von der italienischen
Oper völlig beherrschten Vaterlande des Künstlers Beifall finden.
In Deutschland hatte er nicht nur die Gesammtheit der Musiker
zu Gegnern, sondern auch die angesehensten Kritiker, unter ihnen
der Göttinger Professor Forkel, welcher in seiner „nmsikalisch
kritischen Bibliothek" auf 157 Seiten mit Aufbietung seines ganzen
ästhetischen Scharfsinnes die Gluck'sche Musik herabzusetzen
versuchte. Besonders heftig eifert er gegen das vom Compo-
nisten für seine Musik in Anspruch genommene Prädicat „edle
Einfalt". „Das was der Herr Ritter edle Einfalt zu nennen
beliebt, ist nach unserm Bedünken nichts anderes als eine arm-
selige , leere und nackende , oder noch eigentlicher zu reden,
unedle Einfalt, die aus einem Maugel an Kunst und Wissen
entsteht; sie ist wie die dumme Einfalt der gemeinen Leute gegen
die edle Simphcität in dem Betragen und Reden feiner und
würdiger Personen: dort ist alles plump, mangelhaft und fehler-
voll, hier aber vollkommen richtig, deutlich und zierlich. Kurz,
die Gluck'sche Gattung von edler Einfalt gleicht dem Stil unserer
7*
100 "VII. Die frauzösisclie Oper.
Schenken-Virtuosen, der zwar Einfalt genug, aber auch zugleich
viel Ekelhaftes in sich hat."
Für TJrtheile dieser Art wurde Gluck nun zwar durch das,
ihm aus literarischen Kreisen gespendete begeisterte Lob bis zu
einem gewissen Grade entschädigt — schon seine Aeusserung
gegen den Dichter seiner „Iphigenia in Aulis" du Rollet „Ehe
ich arbeite versuche ich vor allen Dingen zu vergessen, dass ich
Musiker bin" wäre genügend gewesen, ihm die Theilnahme der
gebildeten Nicht-Musiker zu sichern — doch war der Einfluss
dieser Kreise auf die öffentliche Meinung unter den damaligen
gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen Deutschlands ein
zu geringer, als dass Gluck von ihnen eine wirksame Unter-
stützung seiner Bestrebungen hätte ei-warten können.' Anders in
Frankreich, wo eben damals auf allen Gebieten des geistigen
Lebens von den Vertretern der Literatur der Ton angegeben
wurde, und wo sich in diesem Falle die hervorragendsten Philosophen
und Dichter vereint hatten, um der Gluck'schen Oper den Sieg
zu erkämpfen. Namenthch musste die Stimme eines Mannes von
der Autorität Rousseau 's. schwer zu seinen Gunsten ins Gewicht
fallen, nachdem derselbe offen bekannt hatte, dass die Oper Gluck's
ihn von seinem früheren Unglauben an die MögUchkeit eines fran-
zösischen Musikdrama völüg geheilt habe. Und dass es sich bei
diesem Bekenntniss keineswegs allein um theoretische Principien
handelte, dass die Gluck'sche Musik nicht nur dem Verstände
des Philosophen, sondern auch dem Bedürfniss seines Herzens
und Gemüthes volle Befriedigung gewährte, dies beweist die
Thatsache, dass Rousseau nach jahrelanger Enthaltung vom Be-
suche der Oper seit dem Erscheinen des „Orpheus" keine Vor-
stellung dieses Werkes versäumte, sowie auch seine Erwiderung
auf den der Gluck'schen Musik gemachten Vorwurf der Melodie-
losigkeit: „Ich finde, dass ihm die Melodie aus allen Poren her-
ausströmt". Um aber diesen Zeugnissen auch noch eines aus
deutschem Munde hinzuzufügen, lassen wn Wieland reden, dessen
warm empfundene Worte das Wesen der Gluck'schen Opernreform
aufs Bestimmteste kennzeichnen und in einem minder zerspHtterten
Deutschland als das damahge ohne Frage lauten Widerhall ge-
funden haben würden: „Endhch haben wir die Epoche erlebt"
schreibt der Dichter im „Deutschen Merkur" 1775 „wo der
mächtige Genius eines Gluck das grosse Werk der musikaUschen
Reform unternommen hat. Der Erfolg seines „Orpheus" und
seiner „Iphigenia" würde alles hoffen lassen, wenn nicht unüber-
"VII. Die französische Oper. 101
windliche Ursachen gerade in jenen Hauptstädten Europa's, wo
die schönen Künste ihre vornehmsten Tempel haben, sich seinem
Unternehmen entgegensetzten. Künste, die der gi'osse Haufe hlos
als Werkzeug sinuhcher TVolUiste anzusehen gewohnt ist, in ihre
ursprüngüche Würde wieder einzusetzen und die Natui' auf einem
Throne zu befestigen, der so lange von der willkürlichen Gewalt
der Mode, des Luxus und der üppigsten Sinnlichkeit usurpirt
worden, ist ein grosses und kühnes Unternehmen. Eine Reihe
von Künstlern wie Gluck wäre dazu nöthig, diese Verbannung
aller Sirenenkünste *) , diese schöne Zusammenstimmung aller
Theile zur grossen Einheit des Ganzen auf dem lyrischen Schau-
platz herrschend und fortdauernd zu machen. Genug, dass er
uns gezeigt hat, was die Musik thun könnte, wenn in diesen
unsern Tagen irgendwo in Europa ein Athen wäre, und in diesem
Athen ein Perikles aufträte, der für die Oper thun wollte, was
jener für die Tragödien des Sophokles und Euripides that!''
Die politischen Kämpfe, welche wenige Jahre nach diesem
zweiten musikalischen Kriege die französische Hauptstadt erschüt-
terten, waren der weiteren Ausbildung, der dramatischen Musik
in Frankreich nichts weniger als förderlich. Zwar füllten sich
die Theater, wie eine Zeitgenossin (die Gattin Cherubini's) aus
jenen Tagen des Sckreckens berichtet, nachdem man Yormittags
massenhaft guillotinirt hatte, am Abend bis auf den letzten Platz ;
auch waren die hervorragendsten Componisten unablässig bemüht,
die revolutionären Thaten durch nationale Hjannen und andere
Gelegenheitsarbeiten zu verherrlichen, doch haben die musika-
lischen Erzeugnisse jener Epoche nicht über die Zeit ihrer Ent-
stehung hinauswirken können . mit Ausnahme des, unter dem
Namen „Marseillaise" bekannten, von Rouget de Lisle ge-
dichteten und componirten Freiheitsliedes (zum ersten Male auf-
geführt unter seinem ursprünglichen Titel „Chant de guerre pour
l'armöe du Rhin", und von Gossec instrumentirt am 30. Sep-
tember 1792 in der pariser Grossen Oper) welches sich, wie be-
kannt, von damals bis heute seine zündende Kraft erhalten hat.
Merkwürdigerweise aber fällt in diese Zeit wildester Erregung
ein musikahsches Ereigniss von durchaus friedhchem Charakter
und von höchster Bedeutung für die Tonkunst im Allgemeinen
wie für die französische Oper im Besonderen: Die Gründung des
*) Eine Erinnerung an das in Paris unter Gluck's Portrait gesetzte
Epigramm „II prefera les Muses aux Sirönes".
1Q2 VII. 3Die traiizösisclie Oper.
pariser Conservatoriums. Diese Anstalt, deren officielle Be-
nennung „Conservatoire de miisique et de döclamation" ihre Auf-
gabe als Pflegerin niclit nur der Musik, sondern auch der dra-
matischen Darstellungskunst ausspricht, bezweckte nach dem Plane
ihres Begründers Sarrette zunächst nur die Ausbildung fran-
zösischer Militärmusiker, da man sich bis zu jener Zeit aus-
schliesslich mit deutschen hatte begnügen müssen. Nach Uebernahme
der anfangs von Sarrette aus eigenen Mitteln erhaltenen Schule
durch den Staat erweiterte sich jedoch ihr Wirkungskreis; die
ersten Musiker Frankreichs*) vereinigten sich zu gemeinsamer
Arbeit, und als nächste Frucht derselben erschienen eine Anzahl
neuer Lehrmethoden für alle Zweige der musikalischen Technik,
deren Brauchbarkeit sich zum grössten Theil bis heute bewährt
hat. Auch im Uebrigen war die Thätigkeit jener Männer vom
besten Erfolg begleitet, so dass man schon wenige Jahre nach
Eröffnung der Anstalt der Deutschen nicht mehr bedurfte. Der
deutsche Geist freilich wirkte auch dann noch in der französischen.
Musik fort, wie dies u. a. die Werke Möhul's beweisen, dessen
„Joseph in Egypten" (1807) dem nationalen Geschmacke der
Franzosen keinerlei Zugeständnisse macht und in Deutschland
weit mehr Anerkennung fand als im Vaterlande des Componisten;
ferner Cherubini's, der als Operncomponist zuerst in Wien zur
Geltung kam und von den dortigen Musikern, Beethoven mit
eingeschlossen, als unübertrefflicher Meister in dieser Gattung
anerkannt wurde; endlich Spontini's, welcher, obwohl der echte
musikalische Vertreter des Napoleonischen Frankreichs, doch als
musikalischer Dramatiker sich eng an Gluck anschliesst, auch
während der grössten Hälfte seiner Künstlerlaufbahn in Deutsch-
land und zwar in Berlin wirkte, wo er von 1820 bis 1841 als
General -Musikdirector angestellt war. Der französische Geist
dagegen findet von nun an fast nur in der Komischen Oper, hier
am reinsten in Boieldieu („Kalif von Bagdad" 1800 „Johann
von Paris" 1812) und Auber („Maurer und Schlosser" 1825)
seinen Ausdruck.
Zu den vielen Ausländern, die in Folge des zwingenden Ein-
flusses des nationalen Geschmackes der französischen Grossen
Oper dienstbar wurden, gesellt sich noch Meyerbeer (geb. zu
*) Unter ihnen Grossec, Mehul, Cherubini, letzterer von 1821 bis 1842
Director des Conservatoriums; ihm folgte Auber (gest. 1871) und diesem.
Ambroise Thomas.
"\ni. Die französische Oper. 103
Berlin 1794, gest. zu Paris 1864). Er wäre der Mann gewesen,
vermöge seiner glänzenden musikalischen Begabung und seiner
Einsicht imd Erfahrung bezüglich des di-amatisch Wirksamen, die
französische Oper nach allen Seiten hin zu fördern, hätte ihn
nicht das Bedürfniss nach äusserem Erfolg an der richtigen, ge-
wissenhaften Vei'wendung seiner Gaben gehindert. In diesem
Bestreben verliert er die Kuustmässigkeit und Stilreinheit fast
ganz aus den Augen und begnügt sich, vfie auch sein Mitarbeiter
Scribe, in der Hauptsache damit, das Publicum dui-ch imaus-
gesetzte Anwendung neuer Reizmittel in Erstaunen zu setzen.
Der Beifall, den seine Opern trotzdem, wie überall, so auch in
Frankreich gefunden haben, erklärt es, dass auch die jüngste
Generation der für die Grosse Oper arbeitenden Componisten im
Wesenthchen seinem Beispiel gefolgt ist. Andererseits zeigt es
sich, dass auch die seit den letzten Jahrzehnten in Deutschland
so eifrig verfolgte idealere Richtung der dramatischen Musik zahl-
reiche Anhänger unter den französischen Tonkünstlern der Gegen-
wart gefunden hat. Von ihnen ist eine Bereicherung und Veredlung
der fi'anzösischen Oper mit Sicherheit zu erwarten, vorausgesetzt,
dass sie die Khppe vermeiden, an der so mancher ihrer Lands-
leute gescheitert ist: die rücksichtslose Jagd nach schnellen künst-
lerischen Erfolgen, die Ueberschätzung der Volksstimme auf Kosten
ihres musikahschen Ge^vissens.
YIIL
Die deutsclie Oper.
Die Oper in Deutschland — wie die Ueberschiift dieses
Abschnittes streng genommen heissen müsste, da eine nationale
Oper, wie Italien und Frankreich sie schon im 17. Jahrhundert
besessen, bei uns während des zu schildernden Zeitraumes nicht,
oder doch niu" im vollständig zur Ausbildung gelangen konnte —
die Oper in Deutschland nahm wie die französische ihren Aus-
gangspunkt von der italienischen; und zwar ist merkwürdigerweise
unser Vaterland mit Einführung der in Florenz neuentdeckten
Kunstgattung allen übrigen Ländern zuvorgekommen. Der Kur-
fürst Johann Georg I. von Sachsen war es, der die erste Operu-
auffühi'ung in Deutschland veranlasste; die Gelegenheit dazu gab
ihm die Vermählung seiner Tochter mit dem Landgrafen von
Hessen-Darmstadt, einem wissenschaftlich und künstlerisch gebil-
deten Manne, dem er wälirend seines Verweilens am sächsischen
Hofe einen Kunstgenuss besonderer Art zu bieten bedacht gewesen
war. An Schauspielen verschiedener Gattung fehlte es allerdings
zu jener Zeit in Deutschland nicht. Schon seit einem Jahi'hundert
hatten in Folge der Kirchenreformation Luthers an Stelle der
geisthchen Spiele die sogenannten Morali täten Eingang gefun-
den, eine aus Frankreich eingeführte Gattung dramatischer Dar-
stellung, welche wesentlich moralische und theologische Zwecke
verfolgte, indem Personificationen christhcher Tugenden und Laster
sich unter die Gestalten der biblischen Geschichte mischten; mit
ihnen wechselten die Schul- und Studentenkomödien in
lateinischer und deutscher Sprache, in denen schon beim Beginn
der Renaissance das Streben erscheint, eine Wiedergeburt des
Schauspiels nach classischem Muster herbeizuführen ; neben diesen
hatten sich aus der Mitte des Volkes die Fastnachtspiele
"V'irr. Die deutsche Oper. 105
entwickelt, welche von Bürger- und Hanclwerker-Gesellscliafteu
Yeranstaltet wurden, und, nachdem ihnen Dichter wie Hans Sachs
{Ende des 16. Jahrhunderts) und Jacoh Ayrer (Anfang des
17. Jahrhunderts) ihre Thätigkeit gewidmet, solche Theilnahme
erregten, dass sie nicht mehr allein auf die Fastnachtzeit be-
schränkt bUeben, sondern das ganze Jahr hindurch stattfanden,
Lustbarkeiten dieser Art nun schienen dem Kurfürsten zur
Unterhaltung seines Gastes ungenügend, nachdem die Kunde von
der Wiederauferstehung des antiken Musikdrama aus .Italien zu
ihm gedrungen war. Er beauftragte demzufolge seinen Hofcapell-
meister, den späterhin noch zu erwähnenden Heinrich Schütz,
die Erstlingsoper Peri's und Rinuccini's. die „Daphne'' aus Florenz
zu verschi'eiben, und den Dichter Martin Opitz, den Text in's
Deutsche zu übersetzen; da indessen die deutsche Bearbeitung zu
Peri's Musik nicht passen wollte, so musste sich Schütz dazu ver-
stehen, eine neue zu componiren, und nun endhch konnte die
Oper am 13. April 1627 im Tafelsaal des Schlosses Hartenfels
zu Torgau aufgeführt werden. lieber den Erfolg dieser Aufführung
sind wir im Unklaren; auch die Schütz'sche Musik ist uns nicht
erhalten, was zu bedauern wäre, wenn man nicht annehmen düi'fte,
dass sich der Componist, als warmer Verehrer der Italiener, dem
von ihnen erfundenen Stil aufs engste angeschlossen hat. Eine
nachhaltige Wirkung konnte sich an dies erste Erscheinen der
Oper schon deshalb nicht knüpfen, weil bald darauf die Wirren
des dreissigj ährigen Krieges die Pflege der Künste überhaupt
unraögUch machten. Was Schütz betrifft, so hat er auch später,
nach Wiederherstellung geordneter Zustände, nicht mehr für das
Theater gearbeitet*), sondern sich ausschliesslich der geistlichen
Musik gewidmet, die Oper den Italienern überlassend, welche
1562 ihren Einzug in Dresden hielten, nachdem mit dem Regie-
rungsantritt Johann Georg's H. die regelmässigen Theater-
vorstellungen wieder begonnen hatten. Der fremdländischen Kunst
eine nationale gegenüber zu stellen, dafür konnte hier so wenig
Hoffnung sein, wie in den übrigen Hauptstädten Deutschlands,
da das infolge des Krieges eingetretene politische und materielle
Elend die geistige Spannkraft des Volkes, wie es schien, auf
immer gelähmt hatte, und bei der ausschliesslichen Vorhebe der
*) Mit einei" einzigen Ausnahme, des nach einer zweiten italienischen
Keise componü'ten, am 20. Nov. 1638 zu Dresden aufgeführten „Orpheus"
Text nach Rinuccini's „Euridice" von Prof. Aug. Buchner in Wittenberg,
deren Musik ebenfalls vei'loren gegangen ist.
106 VIII. Die deutsclie Oper.
Fürsten für alles , was das Ausland produciiie , war es der
italienischen Oper um so leichter, zur uneingeschränkten Herrschaft
zu gelangen.
Eine einzige Stadt Deutschlands machte zu jener Zeit eine
Ausnahme: Hamburg, welches bei seiner geographischen Lage
von den Kriegsstürmeu weniger zu leiden gehabt hatte und durch
seinen Haudelsfleiss schon längst zur Wohlhabenheit gelangt war,
dabei aber die idealen Lebenszwecke so eifrig verfolgte, dass es
sich in dieser Hinsicht, namentlich als Pflegestätte der Musik,
während der zweiten Hälfte des 17, Jahrhunderts des besten Rufs
durch ganz Deutschland erli'eute. Wie sehr man hier die Kunst
und ihre Vertreter zu schätzen wusste, zeigt u. a. die Thatsache,
dass der von Dresden als Stadtcantor berufene Christoph
Bernhard von den Vornehmsten der Stadt, die ihm in sechs
Kutschen zwei Meilen weit bis Bergedorf entgegen gefahren,
feierlich eingeholt wurde; und wenn Schütz selbst in seinem
Pensionirimgsgesuche den Wunsch ausgesj)rochen hat „eine für-
nehme Reichs- und Hansastadt zu seiner letzten Herberge aut
dieser Welt erwählen zu dürfen", so kann damit nur Hamburg
gemeint gewesen sein. Besonders fehlte es der Stadt niemals an
tüchtigen Organisten; unter ihnen ist Johann Adam Reinken
hervorzuheben, dessen Spiel u. a. auf Sebastian Bach eine solche
Anziehungskraft ausübte, dass dieser während seiner Studienzeit
an der Lüneburger Michaelisschule wiederholt zu Fuss den Weg
nach Hamburg machte, um den Meister zu hören. Unter solchen
Umständen musste es zunächst die geistliche Musik sein, auf
welche die in Italien durch Ausbildung des dramatischen Ele-
mentes in der Musik bewirkten Fortschritte ihren Einfluss aus-
übten. Hamburg wurde in Folge dessen der Ort zur Lösung der
überall in Deutschland erörterten Frage, ol) in der Kirchenmusik
dem einfachen, ernsten, alten Stil oder einem „gemässigt theatra-
lischen" mit starken Affecten und rührendem Ausdruck der Vor-
zug zu geben sei. Die Hamburger Componisten Keiser, Mat-
theson, Telemann waren der letzteren Ansicht und meinten
„da in der Oper, als in dem galantesten Stücke der Poesie, die
göttliche Musik ihre Vortrefflichkeit am besten sehen lasse, so
wäre doch um so mehr Veranlassung, der direct zu Gottes Ehre
bestimmten Kirchemnusik eine ähnliche Voiirefflichkeit angedeihen
zu lassen". Auf Grund dieser Princii^ien imd durch Uebertragung
der Gesangsformen der italienischen Oper auf kirchliche Texte
entstand zuerst die grosse Kirchencantate, dann die Passion in
VIII Die rtfeutscUe Oper. 107
der Form, in welcher sie später durch Bach zur Volleudimg ge-
bracht wurde.
Anfangs fand diese dramatische Kirchenmusik allgemeinen
Beifall; auch unter der Geistlichkeit mangelte es nicht an eifrigen
Verehrern der neuen Richtung, ja, einzelne ihrer Mitglieder hatten
selbst den Anstoss zu der Bewegung gegeben, so namentlich der
von 1715 bis 1756 als Hauptpastor an der Jacobikirche zu Ham-
burg wirkende Erdmann jS^eumeister, welcher obwohl der
orthodoxen Partei angehörend, doch bereits seit 1700 Kirchen-
cantaten in opernhafter Fonn gedichtet hatte. Als jedoch die
Dichter anfingen durch die eigenen, meist nichts weniger als
erhabenen Eingebungen das Bibelwort immer mehr aus den
Passions - Dichtungen zu verdrängen, fühlte sich die orthodoxe
Geistlichkeit veranlasst, gegen die Vermischung von Kirchlichem
und Welthchem energisch zu protestiren: es entspann sich aus
dem Widerstreit der Meinungen eine literarische Fehde, welche
jahi'elang dauerte und sogar weit über die Grenzen Hamburgs
hinausgetragen wurde, wie dies aus dem, in der derben Weise
jener Zeit geführten Briefwechsel zwischen dem Hamburger Musik-
schriftsteller Mattheson und dem Göttiuger Professor Joachim
Meyer ersichtlich wird. Mattheson nennt hier seinen Gegner
den „Neuen Göttingschen , aber \iel schlechter als die alten
Lacedämonischen urtheilenden Ephorus" indem er auf das Straf-
gericht gegen den lesbischen Musiker T erpander anspielt, wel-
chem in Sparta von Staatswegen der Gebrauch einer von ihm der
sechssaitigen Kithara hinzugefügten siebenten Saite untersagt
Avurde. Ein anderer Vertheidiger der dramatischen Kirchenmusik
drückt sich unter dem Pseudonym Frankenberg in einer Schrift
„Die gerechte Waagschal'" noch ungebimdener aus: ,.Meyer habe
in seinen Dreck -Thätchen (Tractätchen) ein dick -elend -häutiges
Kuh-dicium (Judicium) an den Tag gelegt. Es werde nöthig
werden, den Kirchen-Cantaten Telemanns bald ein consihum abe-
undi aus der Kirchen durch den Hunde-Peitscher geben zu lassen
und dafür fein andächtige Motetten zu setzen, die hübsche lang-
same Noten haben, als z. E. in dem alten Tmbabor, darin der
Bass im Anfange eine Maxima von acht Takten zu halten hat,
und der Bassist in einem Tone so fein lange aushält, dass er sich
indessen aller römischen Päpste erinnern kann. Es sei gar nicht
davon die Rede, einen luxuriösen Theatral-Stil in die Kirche ein-
zuführen noch den Componisten zu erlauben, ihre Kircheustücke
mit buntkrausen Coloraturen, unvernehmlichen Passagien, abenteuer-
108 Vin. Die deutsclie Oper.
liehen Manieren, kauderwelschen Capaunen-Gelächtern, zerstüm-
melteu Saalbadereien. abgeschmackten Yariationibus (da man die
Xoten zu Sauerkraut, "svie Lung' und Leber zu Lümmel hacke)
und dergleichen impertinentem Tande zu spicken; sondern es
komme darauf an, den Text wohl anzusehen und ihm gemäss die
Affecten der Zuhörer zu erregen" u. s. w.*).
Diese kurze Andeutung der von Hamburg ausgegangenen
Bestrebungen zur Ausbildung eines neuen Kü'cheustils — deren
weitere Ergebnisse im nächsten Abschnitt zur Sprache kommen
werden — möge zur Erklärung dienen, dass gerade Hamburg es
unternehmen konnte, auch auf dem Gebiete der Oper selbst-
schöpferisch imd mit nationalen Kräften voran zu gehen. Bis
1678 waren die hier aufgeführten deutschen Singspiele nur Nach-
ahmungen der. französischen Operette; inzwischen aber hatten die
Neuerungen in der Kirchenmusik Anregung gegeben, auch für
das Theater höhere Ziele in's Auge zu fassen. Nicht nur die
Künstlerschaft und die angesehensten Bürger, sondern auch ein
Theil der Geistlichkeit war dem Plane einer nationalen Oper
durchaus geneigt; der Prediger an der Katharinen - Kirche,
Elmenhorst, begnügte sich nicht damit, ihn öffentlich zu billigen,
sondern bethätigte sich persönlich durch die Dichtung von Opern-
texten an seiner Ausführung, Ln genannten Jahre aber sollten
diese Wünsche ihre Verwirklichung finden durch den Organisten
Reinken, der sich mit dem nachmaligen Uathsherrn Gerhard
Schott und dem Licentiaten Lütgens zu einem Theaterunter-
nehmen in grossem Stile vereinigt hatte, und am 2, Januar konnte
das auf dem Gänsemarkt belegene erste deutsche Opernhaus mit
der Oper „Adam und Eva, oder der erschaffene, gefallene und
aufgerichtete Mensch", Text von Richter. Musik vom Capell-
meister Theile, eröffnet werden.
Das Interesse, welches dieser erste Versuch in allen Kreisen
der Hamburger Bevölkerung erweckte, durfte wohl Hoffnung auf das
Gedeihen der deutschen Oper erregen. Der deutsche Volksgeist
konnte hier dem fremdländischen Erzeugniss um so eher seinen
Stempel aufdrücken, als bei der repubhcanischen Verfassung der
Stadt jede Rücksicht auf Hof und Aristokratie wegfiel. Wenn
dennocli die Hamburger Oper es nicht zu einem fertigen Ganzen
bringen konnte, so lag die Ursache nicht in dem Maugel an
fähigen Componisten, sondern in dem Zwiespalt zwischen den
*) S. "VVinterfeld, Evangel. Kirchengesang III. S. 75.
VIII. Die devitsclie Oper. 109
poetischen Liebhabereien der Kenner und denen des Volkes, für
welchen es an einem geeigneten Vermittler unter den damaligen
Dichtern fehlte. An den zu jener Zeit ausschliesslich verwen-
deten geistlichen und antiken Stoffen konnte sich das Volk un-
möglich ergötzen, weshalb man es für nöthig erachtete, auch den
ernstesten Situationen ein possenhaftes Element beizumischen;
daneben wurde nichts versäumt, um die Schaulust der Masse zu
befriedigen, und demgemäss verwendete man auf die äussere Aus-
stattung der Opern eine Sorgfalt, welche mit den ^Nachlässigkeiten
und Hohlheiten der Dichtungen in auffallendem Widerspruch stand.
Nicht die kleinste der Schwierigkeiten, mit denen die Hamburger
Oper zu kämpfen hatte, war der Mangel an tüchtigen Gesangs-
kräften, besonders weiblichen: die Castraten waren in Hamburg
niemals beliebt gewesen, die Töchter halbwegs angesehener Fa-
milien aber wm'den durch die gegen das Theater herrschenden Vor-
urtheile abgehalten, sich der Bühne zu widmen. So musste man,
wie V. Dommer (Musikgeschichte S. 424) sagt, nehmen, was man
eben bekommen konnte; wie hinter der Maske olympischer Gott-
heiten und Heroen Schuster und Schneider, verlaufene Studenten
und allerhand Vagabunden steckten, so ligurirteu die Beherrscher-
innen des Fisch- und Gemüsemarktes nebst den Priesterinneu der
Venus vulgivaga als antike Göttinnen und Königinneu.
Ein frisches Leben begann für die Hamburger Oper mit der
Ankunft des Capellmeisters Kusser*) aus Pressburg (1693), der
zunächst durch seine, den Steffaui' sehen nachgebildeten Opern
eine bessere Schreib- und Singweise, dann aber auch eine straffere
Disciplin beim Bühnenpersonal einführte, und durch seinen Eifer,
wie auch durch liebevolle Hingebung durchsetzte, was unter den
obwaltenden Umständen möglich war. Seine Bestrebungen als
Componist, Dirigent und Lehrer der seiner Leitung anvertrauten
Künstler waren so erfolgreich, dass ihn Mattheson in seinem
Buche „der vollkommene Capellmeister" als das Ideal eines solchen
hinstellen konnte. Noch belebender als Kusser aber wirkte der
Leipziger Componist Reinhard Keiser, der sich 1694 in Ham-
burg niederliess und in kurzem durch sein frisches urwüchsiges
Genie zum Helden des Tages wurde. Keisers Productionskraft
war eine ausserordentliche; er hat 120 Opern geschrieben, von
*) Auch Cousser geschrieben, vermuthlich seitdem er in Paris ge-
wesen war, wo er früher eine Reihe von .Jahren mit Erfolg gewirkt und
sich sogar die Gunst Lully"s zu erwei'ben gewusst hat.
110 A'III. Die deutscUe Oper.
denen einige sogar in Paris zur Aufführung gelangten, dort aller-
dings ohne besonderen Erfolg, weil sie nach dramatischer Seite
den französischen, bezüglich der gesanglichen Wirkung aber den
italienischen nachstanden. Von seiner Musik, die auch für den
heutigen Greschmack ihren Reiz noch keineswegs verloren hat,
sagt Mattheson: „was Keiser setzte, das sang alles auf's An-
muthigste, gleichsam von sich selbst und fiel so melodisch weich
und leicht in's Gehör, dass man's fast eher lieben als rühmen
mochte" — und Scheibe in seinem „kritischen Musikus": „Keisern
seine Sätze sind galant, verliebt und zeigen alle Leidenschaften,
deren Gewalt das menschliche Herz am meisten unterworfen ist.
Sie sind feurig ohne Zwang und die Liebe selbst." Leider nur
fehlte ihm die sittliche Kraft, um seinem künstlerischen Wirken
nachhaltige Bedeutung zu verleihen. Ln täglichen Leben mehr
Cavalier als Künstler — er ging, so lange er bei Kasse war,
nie ohne Begleitung von zwei Dienern in Livree spazieren —
begnügte er sich als echter Weltmann auch in der Kunst mit
derjenigen Stufe der Vollkommenheit, die seine Zeitgenossen be-
anspruchten. Bei der schon erwähnten Bescheidenheit dieser
Ansprüche aber konnte es nicht ausbleiben, dass Keiser's Arbeiten
sich mehr und mehr dem Idealen entfremdeten und sein Talent
bergab ging. Die gemeinste Posse scheute er sich nicht in Musik
zu setzen, wenn sie Aussicht auf Erfolg bot; seine 107. Oper
„die Hamburger Schlachtzeit" (1725) enthielt so viele Anstössig-
keiten, dass sie nach einmaliger Aufführung vom Senate verboten
wurde und derselbe den Befehl gab, die Anschlagzettel vom Ge-
richtsdiener herabreissen zu lassen. Yon der Art der Dichtung,
mit welcher Keiser sich befasste, kann man sich nach der folgen-
den Arie des Liebhabers aus der im nächsten Jahre aufgeführten
Oper „Jodelet" (Text von Praetorius) eine Vorstellung machen:
Komet-Steni aller Lieblichkeiten,
Spaarbüclise der Vollkommenheiteu,
Du bist so schön als eine Wassermaus!
Ich werde für heftiger Liebe zum Gecken,
Ach, geuss doch bald das Kammerbecken
Der sehnlichst verlangten Gegengunst aus!
Bezeichnend für die , dem Hamburger Musikleben inne-
wohnende Frische ist es, dass selbst ein Händel sicli von ihm
anziehen liess und seine Kräfte drei Jahre hindurch, von 1703
bis 1706, dem dortigen Theater widmete. Trotz alledem sank die
Hamburger Oper schon nach wenigen Jahrzehnten von der schnell
VIII. Die devitscUe Oper. 111
erklommeueu H()lie herab ; die äusseren Reizmittel wurden immer
rücksichtsloser verwendet, um über die innere Stillosigkeit hin-
wegzuhelfen. Himmel und Hölle , Schlachten und sonstiger
Spectakel wurden aufgeboten; Pferde. Esel, Kameele und Atfen
erschienen immer häutiger auf der Bühne; der Narr und der
Hanswurst trieben ihr Wesen in der ernsten Oper wie in der
Posse mit zunehmender Aufdringhchkeit. Auch der weit über
die Grenzen Deutschlands hinaus berühmte Telemauu, den mau
1721 zur Hebimg der Oper aus Frankfurt berufen, nachdem
Mattheson und Keiser sich schon früher von ihr zurückgezogen
hatten, konnte ihren Verfall nicht authalten: 1738 hört die deutsche
Oper ganz auf, und die schon längst in den übrigen Hauptstädten
unseres Vaterlandes zur Herrschaft gelangten Italiener halten
ihren siegreichen Einzug nun auch in Hamburg.
Nachdem alle Bemühungen der Hamburger, sich eine natio-
nale Opernbühne zu erhalten, erfolglos geblieben waren, hört man
einige Jahrzehnte hindurch nichts von weiteren Bestrebungen in
dieser Richtung. Um Mitte des Jahrhunderts jedoch beginnt die
deutsche Oper sich wieder zu regen, im Anschluss an den, durch
die Dichter der sogenannten preussischen Schule z. Z. Friedriche
des Grossen — die Uz, Gleim, Ramler, Klopstock, Lessing —
bewirkten Aufschwung der deutschen Dichtung. Auf dem Ge-
biete des musikalischen Dramas äussert sich diese Bewegung in
dreifacher Weise und zwar jedesmal unter fremdländischem Ein-
flüsse. Gluck findet in der französischen Oper des Lully das
geeignetste Mittel, die Kraft seines deutschen Geistes der italieni-
schen VerAveichlichung gegenüber geltend zu macheu; Mozart
nimmt die italienische Oper des Scarlatti zum Ausgangspunkt
seiner, innerlich ebenfalls gut deutschen Kunstbestrebungen; end-
lich giebt die, um dieselbe Zeit mit Hülfe der italienischen Opera
buifa ins Leben gerufene französische Komische Oper die An-
regung zur Wiederherstellung und Veredelung des deutschen
Singspiels. Diese Reformbestrebungen waren in Deutschland
wie in Frankreich dem Wunsche entsprungen, von einer, allem
Natürlichen entfremdeten Kunst wieder zm- m'sprünglichen Ein-
fachheit und zu einer unbefangenen Empfindungsweise zurück-
zukehren. Freilich verfielen die Operette und das Singspiel da-
bei in den entgegengesetzten Fehler wie die Grosse Oper: während
diese den Boden der Wirklichkeit unter den Füssen verloren
hatte, versanken jene in hausbackene Alltäglichkeit; dafür aber
brachten sie zwei lebenskräftige Elemente zur (jeltuug. den Scherz
112 Vni. Die deutsclie Oper.
und die Komik, welche geeignet waren, manches Ki*ankhafte zu
heilen, so wenig sie sich auch dahei immer der feinsten Mittel
bedienten.
Diesmal ist Leipzig die Stadt, welche der deutschen Oper
die Hand bietet zu dem Wagniss, der italienischen das Feld
streitig zu machen. Hier wurde 1765 das erste Singspiel auf-
gefiihi't, betitelt ,.Der Teufel ist los oder die verwandelten Weiber",
ein Stoff aus dem Englischen, von dem Dichter Chr. Felix
Weisse bearbeitet und von dem Cantor der Thomasku'che
Johann Adam Hiller in Musik gesetzt. Der letztere hatte in
seinem Streben, die Gattung auf eine höhere Kunststufe zu
bringen, mit einem doppelten Hinderniss zu kämpfen. Zunächst
verlangte der Theaterdirektor Koch von ihm, die Musik müsse
durchweg so verständlich sein, dass jeder der Zuhörer sie unter
Umständen mitsingen könne; sodann erwiesen sich die Gesangs-
kräfte als ganz und gar unzulänghch zur Lösung der ihnen von
Hiller gestellten Aufgaben, da jetzt, wie schon fi'üher in Hamburg,
die geübteren Sänger von der italienischen Oper in Anspruch ge-
nommen waren. Der preussische Capellmeister Reich ar dt schreibt
einmal in Bezug hierauf: „so oft eine Aiie von Hillern kam, die
voll edler Empfindung und voll Ausdruck war, so stellte ich mir vor,
wie er mir diese Aiie voll warmen Gefühls an seinem Claviere sang,
undmusste dann den Gesang jener gi'ossmäulichten, jener ki-euschen-
den Sängerin imd die Xachtwächterstimme des Liebhabers dabei
hören!''*) Dessenungeachtet wiu-den Hillers Opern allgemein
behebt und verbreiteten sich über ganz Deutschland, besonders
.,Der Dorfbarbier'' imd „Die Jagd", welche letztere 1771 in
BerUn im Verlauf eines Jahres nicht weniger als vierzig mal zur
Aufführung kam.
In AVien waren schon früher deutsche Singspiele und Ope-
retten von herumziehenden Schauspielertruppen dargestellt worden ;
auch hatte sich bereits 1751 ein Joseph Haydn in dieser
Gattung versucht; doch konnte seine Ojjerette „Der kriunme
Teufel" (eine Satire aul den Opemunternehmer Affligio) so Avenig
^xie Mozart's 1768 in Privatki-eisen aufgefühi'tes Singspiel ,^astien
und Bastienne" auf ihi-e weitere Ausbildung von Bedeutung werden,
weil beide Werke als Jugend- und Gelegenheitsarbeiten aul
höheren Kimstwerth und allgemeine Beachtung keinen Anspruch
machen dui-ften. Erst mit dem in Ba-aft treten der deutsch-nationalen
*) J. F. Reichardt „Briefe eines aufmerksamen Reisenden" I, S. 147.
1
"V^IIT. X3ie deutsche Opor. 113
Tendenzen Kaiser Joseph 's II. beginnt die Operette sich zu
heben; dieser hatte schon seit seinem Regierungsantritt (1765)
der deutschen Bühne, die er als ein wesentliches Mittel zur
Nationalbildung betrachtete, seine Gunst zugewendet, und im Ver-
laufe weiterer Jahre kam er zu dem Entschluss, die italienische
Oper und das Ballet ganz aufzuheben, um das National-Singspiel,
wie er die deutsche Oper nannte, an ihre Stelle zu setzen. Der
Künstler, welchen Joseph II. nach langem Suchen als den wür-
digsten erfand, die Beihe der deutschen Operucomponisten zu
eröffnen, war Ignaz Umlauf, damals Bratschist im Orchester,
dessen „Bergknappen", nachdem sie in der Generalprobe den
Beifall des Kaisers gefunden, im Jahre 1778 zum ersten mal auf
der Bühne erschienen. Es folgte dann eine Reihe von Singspielen,
welche theils aus dem Italienischen oder Französischen übersetzt
waren, theils von wiener Dichtern und Componisten herrührten.
Unter den letzteren befand sich auch Mozart, dessen längst-
gehegter Plan, eine deutsche Oper zu schreiben, unter den ob-
waltenden Umständen endhch zur Ausführung gelangen konnte.
Ein seinen Wünschen entsprechendes Textbuch fand er in Bretz-
ner's „Entführung aus dem Serail"; anfangs 1782 war die Com-
position beendet und am 12. Juli desselben Jahres ging das Werk
unter enthusiastischer Theilnahme des wiener Publicums zum
ersten mal in Scene.
Auffallend genug erhielt Mozart, trotz dieses glänzenden
Ei-folges und wiewohl die ,.Entführung" dem vom Kaiser Joseph
verfolgten Ideale weit näher kam als alle Arbeiten früherer Com-
ponisten, dennoch keine Aufträge zu weiteren Arbeiten dieser
Gattung. Der Kaiser selbst scheint die Bedeutung dessen, was
er hervorgerufen, nicht klar erkannt zu haben, denn er beurtheilte
Mozart's Musik ziemlich kühl. „Zu schön für unsere Ohren und
gewaltig viel Noten, lieber Mozart" äusserte er gegen diesen,
Avorauf der Künstler replicirte: „Gerade so viel Noten, Ew. Ma-
jestät, als nöthig ist". Weit lebhafteren Anthcil an Mozart's
Oper nahm der Altmeister Gluck, auf dessen Begehren sie sogar
einmal ausserhalb der Operusaison aufgeführt wurde. Goethe,
welcher durch seine Operettendichtungen „Erwin und Elmire"
und „Claudine von Villabella" seine Theilnahme für die xlusbil-
duug des deutschen Singspiels bewiesen, und auf eine dritte, von
seinem Freunde Christoph Kayser componirte Dichtung ,. Scherz,
List und Rache" besondere Hoffnung gesetzt hatte, schneb kurze
Zeit nach dem Erscheinen der Entführung: „Unglücklicherweise
Langlians, Uusikgescliiclitc. 2. Aufl. "
W4: vm. Die devitsche Oper.
litt unser Stück, nach früheren Mässigkeitsprincipien , an einer
Stimmemnagerkeit, es stieg nicht weiter als bis zum Terzett und
man hätte vieles geben mögen, um einen Chor zu gewinnen.
Alles unser Bemühen daher, uns im Einfachen und Beschränkten
abzuschliessen, ging verloren als Mozart auftrat. Die Entführung
aus dem Serail schlug alles nieder, und es ist auf dem Theater
von unserm so sorgsam gearbeiteten Stück niemals die E-ede ge-
wesen." In der That hatte die deutsche Operette, welche noch
von Männern wie Grleim und Lessing als culturfeindlich und
verderblich für den Geschmack bekämpft worden war, durch
Mozart einen Platz unter den ernsten, edlen Kunstgattungen ge-
wonnen. Der Meister, der in seinen italienischen Opern „Don
Juan" und „Figaro" seine Fähigkeit bewiesen hat, sich in den
Charakter und die Ausdrucksweise einer fremden Nation zu ver-
setzen, zeigt sich in der „Entführung" durch und durch als
Deutscher. „Zum ersten mal", sagt Jahn („Mozart" III. S. 99),
„haben hier deutsche Empfindung, deutsches Gefühl, deutsches
Gemüth aus einer echten Künstlerseele durch vollkommene Be-
herrschung aller künstlerischen Mittel ihren Ausdruck gefunden.
Man begreift, dass vor der reichen Fülle und lebendigen "Wahr-
heit einer solchen Erscheinung alles zurücktreten musste, was sein
Heil in Formen suchte, die aus der Fremde entlehnt und nach
äusserlichen Bedingungen gemodelt waren."
Noch ungleich reicheren Beifall als Mozart fand bei seinen
Zeitgenossen der Operettencomponist Carl Ditter von Ditters-
dorf, weil sich derselbe mit seinen künstlerischen Leistungen dem
musikalischen Bildungsgrad seiner Umgebung anbequemte, anstatt
sich, wie jener, über denselben zu erheben. Als Tonsetzer durch
eine strenge Schule gegangen, wie^ dies seine, den Haydn'schen
an Gediegenheit nahe stehenden Streichquartette beweisen, fand
Dittersdorf später in der komischen und Possenoper das eigent-
liche Feld seiner Wirksamkeit. Der melodische Reichthum seiner
Musik und die Naturwüchsigkeit seiner stets aus dem Leben
gegriffenen Gestalten verschafften ihm schon bei seinem ersten
Auftreten als Operncomponist mit dem „Doctor und Apotheker"
(1786) eine Popularität, wie sie zu dieser Zeit weder Haydn noch
Mozart besassen. Die genannte Oper wurde in Wien während
desselben Jahres noch zwanzig mal, und zwei Jahre später in
London sechsunddreissig mal hinter einander gegeben, und seine
übrigen Opern, etwa dreissig an der Zahl, fanden ähnlichen Bei-
fall. Neben Dittersdorf sind als Wiener Singspielcomponisten zu
I
A'III. Die deutsclie Oper. 115
nennen, der durch seinen ..Dorfbarbier", vde auch als musikalischer
Rathgeber des jungen Beethoven bekannt gewordene Johann
Schenk; ferner Wenzel Müller, der Componist von mehr als
als zweihundert Singspielen niedi'ig-komischer Gattung, unter denen
sich „Die Schwestern von Prag" noch lauge Zeit nach seinem
Tode auf der deutschen Bühne erhalten haben; Ferdinand
Kauer, dessen ,,Donauweibchen" ein halbes Jahrhundert lang die
Besucher der Volkstheater ergötzte, u. a. Die Liebhaberei des
PubHcums für diese Werke leichteren Genres mochte wohl die-
jenigen beunruhigen, welche der deutschen Oper einen idealeren
Wirkungskreis zugedacht hatten; bald aber sollte es sich zeigen,
dass auch jene Componisten an der Verfeinerung des nationalen
Musikgeschmackes mitgearbeitet hatten; denn als Mozart am
30. September 1791 (das Jahr seines Todes) mit einer zweiten
deutschen Oper, der ..Zauberflöte'* hervortrat, da wurde er un-
gleich besser verstanden, als mit seiner „Entführung." Die
„Zauberflöte" ist es. durch welche Mozart seiner Nation das
Heihgthum der deutschen Kunst erschlossen hat; immittelbar imd
allgemein drang diese Oper ins Volk ein. wie wohl nie vorher
ein musikahsches Kunstwerk, um bis heute ihren Platz auf der
deutschen Bühne zu behaupten. Während es sich bei der „Ent-
führung" zunächst nur darum gehandelt hatte, das deutsche Sing-
spiel auf eine Stufe mit der Oper zu erheben, so galt es hier
Fonnen zu finden, welche der dramatischen Charakteristik volle
Freiheit gewährten. Wie dies dem Meister gelungen ist, zeigt
jeder Takt der Partitur — selbstverständhch ausgenommen die
beiden Arien der Königin der Nacht, welche er aus Gefälligkeit
gegen die „geläufige Gurgel" seiner ältesten Schwägerin. Frau
Hofer, geschrieben hat — und yvie sein deutsches Wesen trotz
langjährigen Umgangs mit der Kunst der Italiener durchaus un-
verfälscht geblieben ist, dies empfindet man gerade in der „Zauber-
flöte" z. B. in der liebevollen Ausführung der volksthümlichen
Figur des Papageno und nicht weniger in dem, die Freimaurerei
betreffenden, religiös-feierlichen Theil der Oper mit überzeugender
Sicherheit.
Beethoven hat die „Zauberflöte" für Mozart's grösstes Werk
erklärt ,.denn hier erst habe er sich als deutscher Meister ge-
zeigt"*) — und mit dieser Aeusseruug ist seine eigene Stellung
als deutscher Componist hinreichend gekennzeichnet. Als
*■) Vgl. Seyfried. ,.L. van Beethoven'» Studien-', Anhang, S. 22.
8^^
116 VIII. Uie dexitsclie Oper.
solcher musste auch er die Vervollkommnung der deutschen
Oper anstreben, doch war es ihm nicht heschieden, auf diesem
Gebiet über Mozart hinauszugehen, weil die Hauptaufgabe seines
Zeitalters, die Ausbildung der Instrumentalmusik, ihn überwiegend
in Anspruch nahm. Wie das Studium des dramatischen und
Kunstgesanges bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts die un-
entbehrliche Grundlage zur Erziehung des Musikers war, so hatte
auch Beethoven diese Schule durchgemacht, und zwar unter der
Leitung des tüchtigsten Lehrers, des als Operncomponist in ganz
Europa beliebten und selbst von Gluck hochgeschätzten Salieri
(seit den Zeiten der Maria Theresia bis zu seinem Tode 1825
Hofcapellmeister in Wien). Doch schon in Beethoven's erster
Oper „Fidelio", die auch die einzige bleiben sollte, wurde es
offenbar, dass er den Gesangunterricht dieses Meisters keines-
wegs in genügender AVeise benutzt hatte, und die Klagen über
Unsangbarkeit, die bereits während der Proben zu dieser Oper
laut wurden, waren nur zu berechtigt, denn Beethoven, durch die
Fügsamkeit der Instrumente gewöhnt, sich im Fluge seiner Phan-
tasie keinerlei Beschränkung aufzuerlegen, hatte es versäumt, den
Bedingungen Rechnung zu tragen, unter denen die menschliche
Stimme allein zur vollen Wirkung gelangen kanü. Ebenso wenig
wusste er den scenischen Anforderungen gerecht zu werden, und
da er ausserdem mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit alle Ver-
besserungsvorschläge zurückwies, so konnte die Aufnahme des
Fidelio bei seinem ersten Erscheinen (20. November 1805) nur
eine kühle sein. Der Wiener Berichterstatter des von Kotzebue
herausgegebenen Blattes „Der Freimüthige" schrieb damals: „Eine
neue Oper von Beethoven, Fidelio oder die eheliche Liebe getiel
nicht. Sie wurde nur einige mal aufgeführt und blieb gleich nach
der ersten Vorstellung ganz leer. Auch ist die Musik wirklich
weit unter den Erwartimgen, zu denen sich Kenner und Lieb-
haber berechtigt glaubten. Die Melodien sowohl als die Cha-
rakteristik entbehren, so gewählt auch manches darin ist, doch
jenes glücklichen, treffenden, unwiderstehlichen Ausdrucks der
Leidenschaft, der uns in Mozart'schen und Cherubini'schen Werken
hinreisst; die Musik hat einige hübsche Stellen, aber sie ist sehr
weit entfernt, ein vollkommenes, ja auch nur ein gelungenes Werk
zu sein."
Zur Erklärung des geringen Beifalls, welchen „Fidelio" bei
seinem ersten Erscheinen fand, sind noch die misslichen äusseren
Umstände in Anschlag zu bringen, unter denen das AVerk in die
(
VIU, Die deutsclie Oper. 117
Oeffeutliclikeit trat; wenige Tage zuvor waren durch das Ein-
rücken der Franzosen unter Napoleon der Hof und der Adel
•aus AV^ien vertrieben worden; die Theater blieben anfangs ganz
leer und das Publicum, welches sich nach und nach einfand, be-
stand ausschliesslich aus französischem Militär. Etwas mehr
Olück hatte die Oper bei ihrer Wiederaufnahme im folgenden
Jahre, nachdem die politische Lage sich geklärt, überdies auch
der Componist sich zu theilweiser Umarbeitung seiner Partitur
bequemt hatte. Dann ruhte sie abermals eine Reihe von Jahren
lind erst 1814, wo der Fidelio, aufs neue umgearbeitet, zum
dritten mal auf der Bühne erschien, konnte er volles Verständniss
finden und Gemeingut des deutschen Volkes werden. Ohne ihn
an Kunstwerth neben oder gar über die dramatischen Meister-
werke Mozart's stellen zu dürfen, müssen wir ihn doch als ein
kostbares Vermächtniss des Beethoven'schen Grenius betrachten.
Seine ganze. Kraft und Eigenartigkeit konnte der Meister hier
allerdings nicht bewähren, da die Formen, in welche die Oper
zu seiner Zeit gebannt war und die zu zerbrechen er sich noch
nicht getraute, seinem künstlerischen Freiheitsdrange unübersteig-
liche Hindernisse entgegensetzten. „Während im Oratorium und
namentlich in der Symphonie dem deutschen Musiker eine edle,
vollendete Form vorlag, bot ihm die Oper ein zusammenhang-
loses Gewirr kleiner unentwickelter Formen, auf welchen eine
ihm unbegreifliche, alle Freiheit der Entwickelung beeinträchtigende
Convention haftete. Vergleicht man die breit und reich ent-
wickelten Formen einer Symphonie Beethoven's mit den Musik-
stücken seiner Oper Fidelio, so merkt man sogleich, vne der
Meister sich hier beengt und behindert fühlte und zu der eigent-
lichen Entfaltung seiner Macht fast gar nie gelangen konnte,
weshalb er, wie um sich doch einmal in seiner ganzen Fülle zu
ergehen, mit gleichsam verzweiflungsvoller Wucht sich auf die
Ouvertüre warf, in ihr ein Musikstück von bis dahin unbekannter
Breite und Bedeutung entwerfend. Missmuthig zog er sich von
diesem einzigen Versuche einer Oper zurück, ohne jedoch dem
Wunsche zu entsagen, ein Gedicht finden zu können, welches
ihm die volle Entfaltung seiner musikalischen Macht ermöglichen
dürfte. Ihm schwebte eben das Ideal vor.'"*)
Die zur Zeit Beethoven's herrschenden Opernzustäude einer-
seits, seine nach innen gekehrte, durchaus subjective Künstler-
*) Richard Wagner: „Zukunftsmusik." Gresammelte Schriften, Band VII.
8. 129.
118 VIII. Die devitsclie Oper.
natur andererseits maclien es begreiflich, dass der Fidelio eine
vereinzelte That geblieben ist, eine That, zwar für ihren Urheber
in hohem Grade rühmlich, jedoch nicht geeignet, ihm einen Platz
unter den Koryphäen der deutschen Oper zu sichern. Dafür
aber hat er derselben mittelbar einen höchst wichtigen Dienst
geleistet, indem er es gewesen ist, der den Instrumenten eine^
noch bis heute nicht übertroffene Ausdrucksfähigkeit verliehen
hat, derart, dass im Orchester eine Tonsprache zur Oifenbarung
der geheimsten Seelenregungen gefunden war. Mit Hülfe des
Beethoven'schen Orchesters durften die ihm nachfolgenden Com-
ponisten der romantischen Schule es unternehmen, die deutsche
Oper in neue Bahnen zu lenken, und unter dem fruchtbringenden
Einfluss seines Genius konnte es möglich werden, ein nationales
Musikdrama, wie es Italien und Frankreich längst besessen, end-
lich auch in Deutschland zur vollständigen Reife zu bringen.
IX.
Das Oratormm.
Die Spuren des geistliclieu Musikdrama, welches der äusseren
Zuthaten, Action, Costüme, Decorationen entkleidet, unter dem
N"amen Oratorium im heutigen Musikleben zu so hoher Bedeutung
gelangt ist, lassen sich in eine noch fernere Vorzeit verfolgen als
die des weltlichen. Nicht nur ist die griechische Tragödie als
eine gottesdienstliche Feier dieser Kategorie zuzurechnen; auch
die von Herodot beschriebene, ohne Zweifel von Musik begleitete
Mysterienfeier der egyp tischen Priester, bei welcher die Leiden
des Gottes Osiris dargestellt wurden, kann als eine Ali von
Passionsschauspiel gelten,*) und ebenso deuten bei den Juden der
reiche Tempeldienst zur Zeit des Königs David, «ein Tanzen vor
der Bundeslade, die "Wechselgesänge beim Psalmenvoi-trag, auf
eine musilvalisch-dramatische Foi-m des Gottesdienstes. Das
Christenthum verband schon früh ein dramatisches Element mit
seinen Cultushandhmgen, da man einsah, dass die sinnliche Wahr-
nehmung stärker auf die Gemüther der Neubekehrten wirken
müsse, als die blosse Lehre. Anfangs wurde hier das Evangelium
ganz unverändert zur Darstellung gebracht, oder, wie man später
sagte, in Personen gestellt, wodurch der ganze Actus ein dra-
matisches Ansehen bekam; ein Priester recitirte die Reden Jesu,
ein anderer die des Evangelisten; Volk, Jünger, Gerichtshof waren
durch den Sängerchor repräsentirt. Da indessen der Gesang von
dem für den Ritus vorgeschriebenen in keinem Punkte abwich,
so war der Unterschied zwischen diesen Darstellungen und der
gewöhnlichen Kirchenceremonie kaum wahrzunehmen.
Ein schärferes Hervortreten des di-amatischen wie des mu-
sikalischen Elementes zeigt sich bei den, während des 13. und
*) Vgl. Ambros, Geschichte der Musik, I. S. 172.
1^0 ^^' I^as Oratorium.
14. Jahrhunderts unter dem Namen Marienklagen (planctus
Mariae) gebräuchHchen DarsteUungen der Passion, in welchen
das Versmaass der Dichtungen Ijeweist, dass sie nicht nach einer
kirchlichen, sondern nach einer Melodie des Meistergesanges ge-
sungen wurden, dessen Singweise zwischen der Leichtigkeit des
Volksliedes und dem Ernst des Chorals etwa in der Mitte stand.
Noch weitere Foi-tschritte in dieser Richtung machte das geist-
liche Schauspiel, nachdem der Clerus, um die Liebhaberei des
Volkes von den sehr tief stehenden weltlichen Schauspielen auf
etwas Höheres zu lenken, auch die Laien zur Betheiligung an
demselben herangezogen hatte. In Folge dessen bildeten sich
aus ihrer Mitte Corporationen zu dem Zwecke, derartige Auf-
führungen ins Werk zu setzen, so 1389 zu Paris die „Confrferie
de la Passion" welcher der König ein eigenes Theater, de
la Trinite genannt, in St. Mam' bei Paris einräumte. Mit der
Zeit aber gab die Mitwirkung der Laien, zu denen sich auch die
herumziehenden Instrumentalmusiker gesellten, den geistlichen
Schauspielen ein weltliches, burleskes, ja unsittUches Gepräge,
und die Musik, welche bei den mit der heiligen Geschichte A'er-
bundeneu niedrig-komischen Episoden an Stelle des CoUecten-
tones*) trat, durfte sich, um der Situation zu entsprechen, nicht
über die allerpopulärsten. an den Gassenhauer streifenden Volks-
weisen erheben, so z. B. wenn Judas um die Silberlinge schachert,
oder wenn der Salbenkrämer den zum Grabe des Heilands eilen-
den Frauen unter allerlei derben Scherzen seine Waare anbietet.
Noch grösser war der Unfug bei den bis zum Ausgang des
Mittelalters in einigen Ländern, hauptsächlich in Frankreich ge-
feierten sogenannten Esels festen und Narrenfesten. Bei dem
ersteren, welches zum Andenken au die Flucht der heihgen
Familie nach Egj'pten gefeiert wurde, führte man einen mit einer
Mönchskutte behängten Esel durch die Strassen in die Kirche,
der Priester intonirte vom Altar aus den sogenannten Eselsgesang
und ahmte als Refrain das Eselsgeschrei nach, worauf die Ge-
meinde, indem sie den Gegenstand der Feier umtanzte, anti-
phonenai"tig respondk'te. Das Narrenfest wurde um die "Winter-
sonnenwende gefeiert, zur Erinnerung an die altrömischen Sa-
turnalien mit ihrer zeitweiligen Freiheit der Sclaveu; man wählte
dann einen Narrenbischof, der die Messe celebrirte, während die
*) Diese zum kirchlichen Lesevortrag- gehörige Singweise hält die
Mitte zwischen Gesang und Declamation; ihren Namen hat sie vom lateini-
schen Oollecta (sc. conventio), Bet- Versammlung.
IX. IDas Oratorimn. 121
übrige Geistlichkeit und das Volk, als wilde Bestien vermummt
— ein Xachklaug der Tbierkämpfe im römiscbeu Circus — sieb
in der Kircbe herumbalgten und die gröbsten Excesse begingen.
So wenig wie alle diese Schaustellungen können die zur selben
Zeit aufgekommenen Darstellungen des Todes in Proces-
sionen eine künstlerische Bedeutung beanspruchen. Diese stam-
men aus einem nltbergebrachten Schauspiel am Tage des Festes
der unschuldigen Kindlein, der sieben maccabäischen Brüder —
daher auch der Name Chorea Macchabaeorum, woraus später in
Frankreich danse macabre wurde — und erfreuten sich grosser
Popularität, wie dies auch die vielfachen bildlichen Darstellungen
des Todtentanzes durch die Maler des Mittelalters beweisen.
AVeder nach geistlicher noch nach weltlicher Seite konnte
sich das Volksschauspiel. beim Mangel aller dafür nöthigen Mittel,
zu einer höheren Kunstgattung entwickeln; es sank immer tiefer,
bis es im 17. Jahrhundert gänzlich verschwand. Als sein letzter
XJeberrest darf das noch jetzt alle zehn Jahre im bayrischen Dorfe
Oberammergau veranstaltete Passionsschauspiel gelten,
welches übrigens, in Anbetracht des Eifers und des künstleri-
schen Tactes der Mitwirkenden, sowie der Theilnahme des stets
massenhaft versanmielten Volkes, ein mehr als blos historisches
Interesse erregt. Was dagegen die kirchlichen Darstellungen
der heiligen Geschichte betrifft, Avelche neben den Passionsschau-
s})ielen der Laien fortbestanden hatten, so waren dieselben, den
grotesken Auswüchsen der letzteren gegenüber, ihrem liturgischen
Charakter treu geblieben und konnten, namentlich seit der Neu-
belebung des Kirchengesanges durch Luther's Reformation, er-
höhte musikalische Bedeutung gewinnen. Anfangs freilich mochte
man sich von den alten Musikformen nicht trennen; während des
ganzen 16. Jahrhunderts fuhr der Evangelist fort, die Leidens-
geschichte des Heilands im Collectentoue zu recitiren, die Reden
Christi wurden vierstinnnig gesungen, gleichsam als solle von der
realen Persönlichkeit abgesehen werden, und nur die geistige
Allgemeingültigkeit seiner "Worte zum Ausdruck gelangen. Selbst
El. Schütz, den wir im vorigen Abschnitt als Kenner und Freund
der zu Anfang des 17. Jahrhunderts in Italien aufgekommenen
dramatischen Musik kennen lernten, Amsste für die musikalische
Feier der Osterzeit nicht eigentlich neue Formen zu finden, wohl
aber die alten geistig zu beleben, wie dies eine nähere Betrachtung
seines Schaffens zeigen wird, nachdem wir zuvor eine Uebersicht
der Bestrebungen Italiens auf diesem Gebiete gewonnen haben.
122 IX. Das Oratoritmi.
Italien, das Vaterland des Kirchengesanges und der drama-
tischen Musik, ist die Geburtsstätte wie der Oper, so auch des
Oratoriums. Schon im Verlaufe des 16. Jahrhunderts war es
dort in den Klöstern Sitte gewesen, zur Fastenzeit öffentliche
Erbauungsstunden zu veranstalten, um dem Volke für die wäh-
rend der Fasten verbotenen Schauspiele Ersatz zu bieten. Eine
vermehrte Anziehungskraft gewannen diese Zusammenkünfte —
nach dem klösterlichen Betsaal (oratorio), in dem sie statt-
fanden, Congregazioni del oratorio genannt — als der durch
Originalität wie durch energische Frömmigkeit bemerkenswerthe
römische Priester Filippo Neri*) auf den Gedanken kam, seine
Erklärung der heiligen Schrift mit geistlichen Chorgesängen zu
verbinden, welche zu jener in Beziehung standen und den Zweck
hatten, sie gleichsam zu illustriren. Anfangs leitete Animuccia,
der Vorgänger Palestrina's als Capellmeister an der Peters-
kirche, den musikalischen Theil der Feier, componh^te auch für
sie eine Art vierstimmiger Hymnen unter dem Namen Laudi
spirituali, in denen sich gelegenthch eine oder zwei Stimmen
dialogisirend vom vierstimmigen Satze abheben. Nach seinem Tode
trat Palestrina an seine Stelle, wie als päpstlicher Capellmeister so
auch als musikalischer Gehülfe des Neri ; unter seiner Leitung prägte
sich die dialogisirende Form dieser Gesänge noch bestimmter aus,
sie gruppirten sich zu Scenen, und man nannte sie in dieser Gestalt
Azione sacra (heilige Handlung) oder auch schlechthin Oratorio,
indem man den Namen des Ortes, in welchem sie zur Ausführung
kamen, auf die Sache selbst übertrug. — Neben diesen beiden
Meistern stellt sich der Spanier Vittoria (aus Avila unweit Ma-
drid, 1575 Capellmeister an der ApoUinariskirche zu Rom), der
mit vielen seiner Landsleute, an ihrer Spitze der bereits in der
ersten Hälfte des Jahrhunderts in die päpstliche Capelle ein-
getretene Moral es aus Sevilla, in Rom den künstlerischen Wir-
kungskreis fand, den ihm sein Vaterland nicht hatte bieten können.
Der ernste, tief religiöse, etwas mystische Zug, welcher den Com-
positionen dieser, zwar nach niederländischen Mustern gebildeten,
doch aber als echte Spanier empfindenden Tonsetzern eigen ist,
zeigt sich bei Vittoria, namentlich in seinen, auch an Klang-
wirkungen reichen vierstimmigen Volkschören (turbae) zu zwei
Passionen nach den Evangelien des Matthäus und des Johannes,
die, wiewohl nur Ceremonieugesänge für die kirchliche Feier und
*) Ausführliclies über ihn enthält Goethe 's Aufsatz „Philipp Neri,,
der humoristische Heilige" (Italienische Reise II. S. 180).
IX. IDas Oratorivuw. 123
demgeinäss noch von jeder dramatischen Intention frei, doch als
Vorarbeiten für den späteren Oratorienchor gelten können.
Um diese Zeit war es, wo die von Florenz ausgegangene
musikalische Reformbewegung (vgl. S. 63) dem Kunstgeschmack
jene völlig veränderte Richtung gab, als deren unmittelbares Ziel
die moderne Oper in die Welt treten konnte, und es lag nahe
genug, dass auch die Kirche, des abgelebten Formenwesens müde,^
auf Aneignung der für die weltliche Musik gewonnenen neuen
Stilarten bedacht war. Dies vermittelte zuerst Emilio del Ca-
valiere, bis 1595 Intendant der herzoglichen Hofmusik in Flo-
renz, der sich schon bei den Anfangsversuchen zur Wieder-
belebimg des altgriechischen Musikdramas betheiligt hatte, ohne
jedoch damals das Zweckentsprechende gefunden zu haben. Musste
er hl Folge dessen auf den Ruhm verzichten, unter den Be-
gründern der modernen Oper mit genannt zu werden, so ist ihm
dafür ein Ehrenplatz in der Geschichte des Oratoriums gesichert ;^^
denn mit dem Erscheinen seines geistlich-allegorischen Musik-
drama La irappresentazione di anima e di corpo*) (zuerst
aufgeführt im Jahre 1600 auf einer Bühne im Betsal des Klosters
Santa Maria in Vallicella zu Rom) beginnen die beiden Haupt-
gattuugen der mit einer Handlung verknüpften Vocal- und In-
strumentalmusik sich in ihrer besonderen AVeise zu entwickeln:
die Aufgabe der Oper ist von nun an, Ton- und Dichtkunst mit
einer auf der Bühne [sichtbar dargestellten Handlung jeglichen
Inhaltes in Verbindung zu bringen; das Oratorium dagegen
erstrebt die Vermittelung kirchlicher und weltlicher Kunst auf
dem Boden der bibhschen Geschichte, und wenn es auch an-
fänghch die sichtbare Action nicht verschmäht, so tritt doch die-
selbe mehr und mehr ziu'ück, bis (von Händel's Zeit an) die
Handlung nur singend dargestellt wird.**)
Neben Cavaliere wirkte für Einführung des dramatischen
Stils in die Kirchenmusik Ludovico Via da na (gest. nach 1644
als Capellmeister zu Mantua), der mit seinen „Concerti da
chiesa", Stücken für eine oder mehrere Singstinunen mit einem
*) Auftauend ist bei dem Titel dieses Werkes der Gattiingsuame
„Rappresentazione", welcher übrigens, wie auch ,.Storia'' ..Esempio" „Mi-
sterio" eine gewöhnliehe Bezeichnung für das italienische geistliche Drama
war. Gesänge ])flegte man schon von Alters her diesen Repräsentationen
beizumischen, meist, Sclilusschöre nach den Acten. (Vgl. J. L. Klein, Gesch-
des Drama, IV. Das italien. Drama I.. 1S7 ft".).
*'*) Vgl. von Dommer, „Elemente der Musik'",' 8. 34o.
1^24 IX^- Das Oratorium.
Orgelbass. die von Caccini neuerfuudene Monodie zuerst iu der
Kirche heimiscli machte. Besonders heachtenswerth ist bei diesen
„Concerten'' das Erscheinen eines selbständigen obhgaten In-
strumentalbasses, des Basso continuo, so genannt, weil er
nicht, wie der gesungene Bass. gelegentlich pausirt, sondern un-
ausgesetzt das ganze Stück hindurch die Grundstimme der Har-
monie bildet. Aus dieser Ursache nannte man ihn auch Bassus
generalis oder Generalbass, woraus später das Missverständ-
niss entsprungen ist, als sei Viadana der Erfinder dessen gewesen,
was heute G-eneralbass genannt wird, nämlich eines Basses mit
gewissen Ziffern und Signaturen, welche die zur Vervollständigung
der Harmonie nöthigen Töne bestimmen. Diese letztere Art des
Generalbasses war schon vor ihm in Gebrauch und kommt u. a.
in der zwei Jahre vor den „Kirchenconcerten" erschieneneu Oper
.,Eui'idice" von Peri zur Anwendung. — Den Avichtigsten Antheil
aber an der Ausbildung des Oratorimns als einer besonderen
Kunstgattung hat unter allen Italienern Giacomo Carissimi
(seit 1628 Caj)ellmeister an der Apollinariskirche zu Rom), in-
dem er die bis auf seine Zeit einfach liedartige Cantate zu einer
Art dramatischen Scene mit Recitativ, ariosen und Ensemble-
Sätzen gestaltete, in welcher Form sie den Namen Kammer-
Cantate führte. Ausser zahlreichen Werken dieser Gattung,
welche zu dem späteren Oratorium schon in einem nahen Ver-
hältniss steht, schrieb Carissimi auch eine Reihe von wirklichen
Oratorien, darunter ..Jephta" „Das Urtheil des Salomo" „Jonas"
die voll lebendigen dramatischen Ausdrucks, namentlich aber auch
schon reich an wirkungsvollen dramatischen Chören sind und
nicht selten an Händel erinnern, auf dessen Oratorien sie einen
ähnlichen Einfluss geübt haben, wie auf seine Opern die des
A. Scarlatti.
Nach Carissimi's Tode wurde in Italien das geistliche Musik-
•drama von der Kammercantate völhg verdrängt und als es nach
einem Jahrhundert wieder auftauchte, zeigte es sich vom Geist
und vom Stil der Oper durchaus verweltlicht. Auf dem Gebiete
der eigentlichen Kirchenmusik begegnen wir freilich auch noch
im 18. Jahrhundert einer Anzahl von italienischen Componisten,
in deren Arbeiten die Traditionen ihrer grossen Vorfahren un-
geschwächt fortwirken. Zu ihnen gehören die Venetianer Lotti,
gest. 1740 als Capellmeister der Marcuskirche, berühmt durch
sein achtstimmiges ..Crucifixus" ; ferner der schon S. 76 erwähnte
Caldara, gest. zu Wien 1736. dessen sechzehnstimmiges „Cru-
IX. X>as Oratoriwm. l^ö"
citixus'* an künstlerischem Werth dem des Lotti nicht nachsteht-^
endlich Benedetto Marcello, ein venetianischer Nobile und Mu-
sikdilettant, der zwar au tousetzerischer Befähigung von den beiden
Genannten übertroft'en wird, jedoch durch Fleiss, Vielseitigkeit und
geistige Regsamkeit ebenfalls eine glänzende Stellung in der musi-
kalischen Welt erringen und behaupten konnte. Sein Hauptwerk,
die Composition von fünfzig Psalmen David's in italienischer
Uebertragung , verschaffte ihm hohen Ruhm bei seinen Zeit-
genossen auch ausserhalb seines Vaterlandes. J. A. Hiller nennt
ihn in seinen „Wöchentlichen Nachrichten'' (Anhang zum dritten
Jahrgang, Leipzig 1769, S. 1) einen Mann „der den ganzen
Ernst der alten Musik mit den Grazien und Schönheiten der
neueren zu verbinden gewaisst in seinen Psalmen ist er von,.
allem, was niedrig oder gemein ist, so frey und entfernt, dass ein
verständiger Zuhörer durch eine unendliche Mannigfaltigkeit neuer
und schöner Modulationen im steten Vergnügen erhalten wird.
Zeichnung und Ausdruck sind dabei so richtig, dass Verstand
und Harmonie beständig zusammentreffen." Charakteristisch für
diese Arbeit Marcello's ist sein Streben nach antiker Einfachheit,
die er unter anderm durch Verwendung hebräischer Cultus-
gesänge, wie sie ihm von spanischen und deutschen Juden mit-
getheilt waren, zu erreichen suchte. Wenn nun aber auch seine
Meinung, diese Melodien seien directe Abkömmlinge des alt-
hebräischen Tempelgesanges, die richtige war, so hat er doch mit
ihrer Bearbeitung seinen künstlerischen Zweck nur halb erreicht,
weil in ihm, wie von Dommer (Handbuch der Musikgeschichte,
S. 374) bemerkt, der Verehrer und Nachbildner des Alterthums
und der Cavalier des 18. Jahrhunderts in Contlict gerathen. Sein
Antikisiren bleibt äusserlich und gelangt zu keiner geistigen Blüthe,
die vermeintliche alterthümliche Einfachheit bildet zur Sprache
modern subjectiver Empfindung und Leidenschaft einen Contrasty
den Marcello's unter merklichem Eintiuss der Oper stehendes
Streben nach geschmeidigem, liiessendem Gesänge, zu vermitteln
keineswegs geeignet ist.
Eine noch ungleich treuere Pflege als in Italien wurde dem
Oratorium und der Passion in Deutschland zu Theil, wo der furcht-
barste aller Kriege zwar den nuiteriellen AVohlstand, nicht alier
das ideale Geistesstreben hatte vernichten können. Schon die
Wirksamkeit des letzten grossen Niederländers Orlandus Las-
sus oder Roland de Lattre als Capellmeister in München
(gest. daselbst 1595), unter dessen zahlreichen Meisterwerken die
126 IX.. Das Oratorium.
von tiefer, eclit germanischer Empfindung zeugenden sieben Buss-
psalmen*) heiTorragen. zeigt uns Deutschland als den geeigne-
ten Boden zum Gedeihen der kirchlichen Tonkunst. Unmittelbar
nach ihm erscheinen in Hans Leo Hasler (gest. 1612) imd
Johannes Eccard (gest. 1611 als Capellmeister des branden-
burgischen Kurfürsten Joachim Friedrich zu Berlin) zwei Künst-
ler, die, wenn auch in fremdländischen Schulen gebildet (der eine
in der venetianischen des G-abrieli, der andere in der des Orlandus
Lassus) doch als Vertreter einer selbständigen deutschen Ton-
kunst gelten dürfen, und von denen besonders der letztere durch
seine ,,Preussischen Festlieder durch's ganze Jahr"', eine Mittel-
gattung zwischen Motette und Lied, jedoch mehr auf Seiten des
letzteren stehend, die protestantische Kirchenmusik wesentlich
bereicherte. Auch Heinrich Schütz (geb. 1585, gest. 1672 als
Capellmeister in Dresden) hat als Schüler Gabrieli's die von
Italien empfangene Anregung nur benutzt, um seine deutsche
Tiefe und Kernhaftigkeit in vollem Umfange zur Geltung zu
bringen, als er sich nach seinem, schon früher erwähnten, ver-
einzelt gebliebenem Versuche auf dem Gebiete der Oper, ganz
und gar der kirchlichen Tonkimst zugewendet hatte: Ihm dankt
das Oratorium einen namhaften Fortschritt, ungeachtet er kein
solches Werk in unserm Sinne geschrieben hat; denn seine „Auf-
erstehung" und „Sieben Worte" gehören ihrer Beschaffen-
heit nach mehr zur Gattung der Passionsmusik.
Im ersteren dieser Werke, 1623 in Dresden gedruckt, zeigt
sich noch ein entschiedenes Festhalten an den alten Formen; als
Introduction dienen die Worte des Titels „die Auferstehung
*) Dies "Werk, von welchem sich eine prachtvolle, mit kostbaren Ma-
lereien verzierte Handschrift in der Münchener Bibliothek befindet, soll im
Anftrage KarVs IX. von Frankreich entstanden sein, welcher sein nach den
Mordscenen der Bartholomäusnacht gequältes Gewissen dadurch zu beruhigen
gehofft habe; dem widerspricht jedoch die Jahreszahl seiner Entstehung,
denn der erste Band der Busspsalmen war bereits 1565, der zweite 1570
vollendet, während die Bartholomäusnacht erst 1572 stattfand. Richtig da-
gegen ist es, dass der Meister (der sich schon seit seinem einundzwanzigsten
-Jahre, wo er als Capellmeister an der Laterankirche zu Rom angestellt
wurde,, eines "Weltrufes erfreute) bei Karl IX. in hoher Gunst stand, und
dass er im Jahre 1574 von demselben die Einladung erhalten hat, nach
Paris überzusiedeln. Der Tod des Königs, welchen Lassus auf dem Wege
dahin erfuhr, vereitelte die Ausführung dieses Planes und bewog den Künst-
ler, wieder nach München in seine, schon von 1562 an bekleidete Stellung
als Obercapellmeister des Herzogs Albrecht Y. (des Cxrossmüthigen) zu-
rückzukehren.
IX. Das OratoriuiTi. 127
unseres Herrn Jesu Christi, wie uns die von den vier Evangelisten
beschrieben wird'-, sechsstimmig componirt; die Reden der han-
delnden Personen sind ebenfalls nach herkömmhcher Weise mehr-
stimmig, der Evangelist recitirt durchweg im Collectenton, welcher
nm* hier imd da von charakteristischen Tonbewegungen unter-
brochen -w-ird. Eine auffallende Wendung in Schütz' künstleri-
schem Entwickelungsgange zeigen dagegen seine 1645 erschienenen
„Sieben Worte"*), in denen das ariose Recitativ den Collecten-
ton völlig verdrängt hat, auch die Einzelreden stets einstimmig
componirt sind. Bemerkenswerth ist ausserdem, dass hier die
Reden Jesu nicht wie die der übrigen Personen von der Orgel
begleitet werden, sondern von Streichinstrumenten, welche, in
hoher Lage spielend, die Singstimme gleichsam mit einem Hei-
ligenschein umgeben, eine Begleitungsart, die bekanntlich in
Bach's Matthäus-Passion wie auch in noch späteren Passions-
Musiken zur Anwendung gekommen ist. Ferner ist zu bemerken
die eigenthümliche Grruppirung des Stoffes, in welcher sich schon
die einstige Gestaltung des Passionstextes ankündigt: auf der
einen Seite die evangelische Geschichte selbst, als Handlung in
dramatische Form gekleidet, auf der andern Seite die christliche
Kirche, welche den Hergang mit ihren Empfindungen und Be-
trachtungen in einem breit ausgeführten fünfstimmigen Einleitungs-
uud Schlusschor umi-ahmt. Das eigentlich charakteristische Ele-
ment des Oratoriums, der dramatisch belebte Chor, findet sich
weder in der „Auferstehung" noch in den „Sieben Worten", wohl
aber in Schütz' letztem Werke, den „Vier Passionen nach
den vier Evangelisten" (1666), in deren Volkschören der
dramatische Zug um so mächtiger wirkt, als der gealterte Meister
in Bezug auf die Gesammtgestaltung wieder zu den älteren Formen,
dem Collectenton, der mehrstimmigen Behandlung der Einzelrede
u. s. w, zurückgekehrt ist. In jenen Chören aber, die bald
schüchtern fragen ,,Herr, bin ich's?" bald zürnen „Herr, sollen
wir mit dem Schwert dreinschlagen?" bald höhnen „Sei gegrüsset,
lieber Judenkönig!" zeigt sich durchweg das Bestreben, den In-
halt der Worte nicht nur dem Gefühl zu vennitteln, sondern ihn
als Handlung darzustellen und in diesem Sinne hat Schütz noch
entschiedener als Carissimi dem Händel'schen Oratorium vor-
*) Der Titel dieses Werkes lautet vollständig: „Die sieben Worte un-
seres lieben Erlösers und Seligmachers Jesu Christi, so Er am Stamm des
heil. Creutzes gesprochen, gantz beweglich gesetzt von Hrn. Heinrich
Schützen, Chur S: Capellmeistern."
128 IX. JDas Oratorium,
gearbeitet. Dem Begriff des streng Kirchlicheu entsprechen Schütz'
Werke schon deshalb nicht, weil der Kircheustil jeden Ausdruck
der Leidenschaften seinem Wesen nach ausschliesst, im Gregen-
satz zum Oratorium, welches sich von der weltlich -dramatischen
Musik aneignet, was seinen Zwecken entspricht; nur insofern be-
rühren sich die Kirchenmusik und das Oratorium, als auch für
das letztere der Charakter des Erhabenen ein wesentliches Merk-
mal bildet, welchen es auch dann nicht verläugnet, wenn es sich
gelegentlich auf dem Gebiet des Heiteren und Anmuthigen be-
wegt; und diesem Grundzuge treu zu bleiben, nicht um in den
Dienst der Kirche zu treten, entnimmt das Oratorium seinen
'Stoff vorzugsweise der biblischen Geschichte, in deren Gestalten
der Charakter des Erhabenen sich mit besonderer Deutlichkeit
offenbart.
Eine geraume Zeit musste nach Schütz' Tode verstreicheu,
bevor für das Oratorium und die Passion die Formen gefunden
waren, mit Hülfe deren Händel und Bach diese Gattungen zur
höchsten Vollendung ausbilden konnten. Was die Passion be-
trifft, so sind als weitere Momente in ihrem Entwickelungsgange
beachtenswerth: zuerst das Erscheinen eines Passionswerkes vom
preussischen Gapellmeister Sebastiani, noch im Todesjahr des
obengenannten Meisters (1672), in welchem der protestantische
Choral an geeigneten, durch den Bibeltext bedingten Stellen in
die musikalische Darstellung der Leidensgeschichte verflochten ist.
Sodann die schon im vorigen Abschnitt erwähnten Bestrebungen
der hamburgischen Textdichter, die Neigungen des musikalischen
Publicums mit den Ansprüchen der orthodoxen Geistlichkeit in
Einklang zu bringen. Um dem Widerstand der letzteren gegen
die damals beliebten opernmässigen , von der alten Passionsform
gänzlich abweichenden Dichtungen zu begegnen, trat der Licentiat
Brockes, ein durch seine Stellung als Eathsherr wie auch als
Dichter angesehener Manu, im Anfang des 18. Jahrhunderts mit
einem Passionstext hervor, w^elcher zwar der Anlage nach von
den bisherigen nicht abwich, sie jedoch durch Geschick der
Gruppirung und dramatische Lebendigkeit so weit überragte, dass
er von den Zeitgenossen als Meisterwerk bewundert wurde und
von den angesehensten Componisten Hamburgs, Keisör, Mat-
theson und Telemann, sogar noch von Händel (1716) in
Musik gesetzt worden ist,
Eür die Ausbildung der Passion als Kunstgattung ist der
Brockes'sche Text deshalb von Bedeutung, weil hier zuerst die
1
IX. Das Oratorium. 129
drei Hauptgi-iippen gegeben sind, die später in den Bach'schen
Passionen erscheinen: den Scenen aus der Leidensgeschichte
Averden die Betrachtungen und Getühlsäusseningen zweier alle-
gorischer Personen gegenübergestellt, der .,Tochter Zion" und der
„gläubigen Seele'* als Veiireter einer, das Handeln und Leiden
Christi auf Erden mit ihren Gedanken begleitenden und aus-
legenden Gemeinde, welche die christHche Glaubenslehre mit dem
Namen der unsichtbaren Kii'che bezeichnet; endlich ist auch die
protestantische Kii'che und Gemeinde dui'ch Choralgesänge ver-
treten, welche, wie schon bei Sebastiani, an geeigneten Stellen
auf beziehungsreiche Art mit der Handlung verbunden sind. So
geschickt aber die Anlage dieser Dichtimg, so schwülstig und
spitzfindig ist die Sprache derselben; das sentimentale Coquettiren
mit dem Heiland widerstrebt dem heutigen Geschmack nicht
weniger, wie die gi'obsinnlichen Schilderungen der geistigen und
körperhchen Martern, welche die bei der Handlung Betheiligten
zu erdulden haben, wenn z. B. Petrus, nachdem er den Herrn
dreimal verläugnet hat und der Hahn kräht, seine Empfindungen
in den Worten äussert:
Welch ungeheurer Schmerz bestürmet mein Gemüth!
Ein kalter Schauder schreckt die Seele!
Die wilde Gluth der dunkeln Marterhöhle
Entzündet schon mein zischendes Greblütl
Mein Eingeweide kreischt auf glimmen Kohlen.
"Wer löschet diesen Brand? Wo soll ich Rettung hohlen?
Aria.
Heul'! du Schaum der Menschenkinder,
Winsle, wilder Sündenknecht!
Thränen Wasser ist zu schlecht;
Weine Blut, verstockter Sünder!
Gerade diese Dichtungsweise aber entsprach durchaus den
Anforderungen der damaligen Zeit, und wenn man dem ersten
Componisten der Brockes'schen Passion, dem im vorigen Ab-
schnitt als Operncomponisten uns bekannt gewordenen Rein-
hard Keiser begeistertes Lob spendete, wiewohl seine Musik
sich in keinem Punkte über die seiner Opern erhob, so pries-
man doch den Dichter noch lauter. In der VoiTede zu einer
1714 unter dem Titel Soliloquia*) erschienenen Sammlung von
*) Der italienische Titel lautet : Oratorie a voci diversi senza stromenti
del Rinardo Cesare.
Laug haus, Musikgeschichte. 11. Aufl. J
130 IX» Das Oratorium.
Einzelgesängen aus Keiser's Passion ist liervorgelioben „ dass der
excellenten Poi'sie dissmahl der grösste Theil des Ruhmes zu-
kommt; denn was auch immer ein Musicus für glückliche Gedanken
haben mag, so yermögen ihn doch schöne, auserlesene, klingende
und reine Yerse, wie diese hier sind, gantz unvermerckt zu
animiren, dass er sich gleichsam selber übersteigt, und etwas
Ungemeines hervorbringt". Den Schluss der Vorrede aber bildet
ein Gedicht, welches den Leser geradeswegs ins Jenseits führt
und den Eindruck der Passionsmusik auf die himmlischen Heer-
schaaren schildert:
Die Drei die Eines sind, die hatten selbst drauf Acht,
Und als erbärmlich schön erklang: Es ist vollbracht.
So sprach Immanuel zur rechten Hand der Macht:
Weil Brocks mir meinen Todt hat lassen so beweinen,
Dass es durchdrungen hat auch Hertzen, die von Steinen,
So will ich ihm davor zum Trost im Todt erscheinen.
Derartige Anzeichen einer Verirrung des dichterischen Ge-
schmackes zu einer Zeit, in welcher der musikahsche sich in den
Werken der zwei bis heute unerreichten Meister Bach und
Händel offenbarte, müssten unbegreiflich bleiben, wenn nicht im
Verlaufe der Musikgeschichte schon ähnliche "Widersprüche zur
Erscheinung gekommen wären; wenn nicht, trotz des unläugbaren
Zusammenhanges der verschiedenen . Geistesbestrebungen einer
Epoche, es sich gezeigt hätte, dass äussere Umstände die Ent-
wickelung auf einzelnen Gebieten zum Nachtheil anderer beschleu-
nigen können, wie beisi^ielsweise zur Zeit der Renaissance, wo
die Tonkunst Jahrzehnte lang an dem Fortschritt der Wissen-
schaften und der bildenden Kunst nicht theilnehmen durfte, weil
ihr der unmittelbare Zusammenhang mit dem Alterthum versagt
war. Umgekehrt hatten die Stürme, die während des 17. Jahr-
hunderts über Deutschland dahingebraust waren, auf allen Ge-
bieten der geistigen Arbeit eine verheerende und hemmende Wir-
kung ausgeübt, nur nicht auf dem der Tonkunst, welche ihr
Ausdrucksvermögen beim Wiedererwachen des unglücklichen Lan-
des in dem Maasse bereichert sah, wie die übrigen Künste das
ihrige eingebüsst zu haben schienen. Die Tonsprache war es,
welche dem im deutschen Volke noch keineswegs erstorbenen
Idealismus zum Ausdruck diente, während die Dichtkunst gleich-
sam nur stammelnd den Versuch machte, die längst verloren
gegangene Selbständigkeit und Bedeutung wieder zu erringen;
und wie gross auch der Vorsprung war, den die Nachbarnatiouen
IX. Das Oratoriuin. 131
nach jeuer Zeit des tiefsten deutschen Elends für ihre Ausbiklung
vor uns gewonuen hatten, im musikalischen Wettstreit konnte
unser Vaterland doch schon jetzt allen andern Ländern gegen-
übertreten und den Sieg über sie emngen.
Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach
sind die beiden Künstler, denen der Deutsche hierfür zu danken
hat, und deren Andenken er doppelt werth halten muss, weil ihr
Streben auf die Ver-svirklichung der höchsten Kunstideale gerichtet
war, zu einer Zeit, wo die älteren Culturvölker, Italiener wie
Franzosen, sich auf Kosten des künstlerischen Ernstes immer
mehr der Ausbildung des äusserlich EifectvoUen zuwendeten.
Deshalb nennen wir ihre Namen vorzugsweise gern zusanmien,
obwohl sie sich, ihrem künstlerischen Naturell wie ihren Lebens-
schicksalen nach, so verschieden wie nur möglich zeigen. Beide
in Thüringen und in demselben Jahre 1685 geboren (Händel am
23. Februar in Halle, Bach am 21. März in Eisenach), entwickeln
sie sich jeder nach einer besonderen, der des andern beinahe
entgegengesetzten Richtung. Bach wurde durch seine Natur ge-
trieben, sich in die Tiefen des reHgiösen Empfindens zu versenken,
in die innersten Geheimnisse der Rehgion einzudringen und zwar
ini Anschluss an den Pietismus, die durch Spener seit lü75 an-
gebahnte neue Auffassung des kii'chlichen Lebens, nach welcher,
im Gegensatz zur Orthodoxie, nicht das Bibelwort oder die Pre-
digt, sondern die eigene innere Erleuchtung zur Erkenntniss des
Götthchen verhilft*). Er ist demgemäss vorwaltend Lyriker (vgl.
*) Philipp Spitta vertritt in seinem Vortrage ,,Uel)er Sebastian Bach"
Leipzig 1879 (S. 35) die entgegengesetzte Meinung und begründet dieselbe
durch den Hinweis auf die im Allgemeinen kunstfeindliche Richtung des
Pietismus, welche der Künstlernatur Bach's unmöglich habe zusagen können;
überdies bezeichne es seinen Standpunkt als Anhänger der Orthodoxie, dass
er als Organist zu Nordhausen (1707) in dem Streite der dortigen Theologen
Eilmar und Fr ohne auf der Seite des ersteren, des Vertreters der ortho-
doxen Partei gestanden hat. In diesem Falle nun ist dem Verhalten Bach's
schon deshall) kein Gewicht beizulegen, weil er als Künstler und als zwei-
undzwanzigj ähriger Jüngling sich schwerlich von andern als persönlichen
Rücksichten hat leiten lassen; dass er sich aber bei seiner ausgeprägt idea-
listischen und subjectiven Natur in reiferem Alter für den Pietismus ent-
scheiden musste, geht schon aus dem AVesen desselben hervor, da er nicht
allein von puritanischer Beschränktheit weit entfernt war, sondern in der
Hauptsache nach einer wärmeren, innerlicheren und freieren Aneignung der
heiligen Dinge strebte und gerade damals in sich concentrirte. was an Idea-
lismus und höherem Denken und Empfinden im deutschen Volke noch
lebendig war. (Vgl. v. Domnier, Handbuch der Musikgeschichte S. 488).
9*
J.3ä IX. IDas OratoriiTiTi.
S. 11) in seiner ganzen Gestaltungs- und Empfindungsweise sub-
jectiv, fast romantisch, daher auch in der Instrumentalmusik
heimischer als in der Vocalmusik. Händel dagegen findet seinen
Stützpunkt in der Aussenwelt; das Drama ist die Kunstgattung,
welche seinem Wesen am meisten entspricht, demzufolge ist seine
Kunstauffassung eine objective und, im Gregensatz zu der modernen
des Bach, eine antike; wie die Geschichte der Boden ist, auf
dem er sich mit Vorliebe bewegt, so ist es auch die bibHsche
Geschichte, in der seine religiösen Ueberzeugungen wurzeln; be-
züglich der Verwendung des Tonmaterials aber ist er in erster
Reihe Vocalcomponist. Bach's Dasein verfloss äusserlich ruhig;
sein Vaterland hat er niemals, Leipzig, wo er von 1723 bis zu
seinem Tode als Cantor an der Thomasschule wirkte, niu' selten
verlassen, und eine Reise nach Dresden oder nach Berlin zu
Friedrich dem Grossen waren für ihn Ereignisse. Sein Sänger-
chor und die Orgel der Thomaskirche wurden seine Heimath,
und während Händel unter dem Einfluss dreier Nationen die
Grenzen seiner Nationalität erweitert, bleibt Bach, wenn er auch
gelegentlich in seinen Instrumental -Compositionen französischen
oder itahenischen Mustern folgt, in den engsten Grenzen des
nationalen Empfindens. So stellen die beiden Heroen unserer
Tonkunst auch die Doppelnatur unserer Nation dar, nämlich die
Hingabe an das Fremde und die Abgeschlossenheit gegen das-
selbe; dass aber der eine wie der andere nicht einen Augenblick
seinem deutschen Wesen untreu geworden ist, dies offenbart sich,
wie im Charakter ihrer Werke, so auch in dem rastlosen Streben
und der nimmer ermattenden Arbeitslust, welche sie selbst in
den letzten Jahren ihres Lebens, nachdem beide erblindet waren,
bis zu ihrem Tode — Bach starb 1750, Händel 1759 — nicht
verlassen hat.
Wie einflussreich auch Bach's schöpferische Thätigkeit in
den verscliiedensten Gebieten der Musik, namentlich auf die Aus-
bildung des Orgel- und Ciavierspiels gewesen ist, so gipfelt sie
doch in der Passion. Neue Formen zwar hat er für diese
Kunstgattung nicht geschaffen, auch nicht danach gestrebt solche
zu finden ; dagegen gebührt ihm das Verdienst, die überkommenen
zur letzmöglichen Vollendung gebracht und sie mit einem, seinem
musikalischen Riesengeist entsprechenden Inhalt erfüllt zu haben.
Nach Forkel*) hat er fünf Passionsmusiken geschrieben, von
*) J. N. Forkel „Ueber Johann Sebastian Bach's Leben, Kunst und
Kunstwerke". Leipzig 1802.
IX. Das Oratorium. 133
denen jedoch nur zwei, die nach den Evangelien des Johannes
und des Matthäus, in die Oeffenthchkeit gelangten. Die Johannes-
Passion, deren Entstehuugszeit unbekannt gebheben ist, zeigt
in ihren Formen noch den älteren Zuschnitt, und lässt im All-
gemeinen die später bei Bach so glänzend hervortretende drama-
tische Schlagkraft vermissen. Erst in der Matthäus-Passion,
zuerst aufgeführt im Jahre 1729, scheint er die Grösse seiner
Aufgabe völlig klar erkannt zu haben; hier zeigt sich sein ganzes
künstlerisches Vermögen: die kunstmässige Behandlung des pro-
testantischen Chorals, die unbeschränkte HeiTSchaft über den
fugü-ten Stil, in welchem Punkte ihm selbst Händel nicht gleich
gekommen ist, endlich seine Kenntniss der Orchester- Instrumente,
die er mit Berücksichtigung ihrer Klang - Individualität häufig
einzeln, als obligate Begleiter des Sologesangs verwendet. Von
kunstgeschichtlicher Bedeutung ist die Matthäus - Passion auch
hinsichtlich des Textes, indem Bach, während er in der Johannes-
Passion noch Theile der Brockes'schen Dichtung benutzt hatte,
hier den Text der Leidensgeschichte wortgetreu nach dem Evan-
gelium wieder herstellte, in Folge dessen auch die daran ge-
knüpften Betrachtungen der christlichen Gemeinde und der
unsichtbaren Kirche vom Dichter mit grösserer Mässigung als
zuvor behandelt wurden.
Stellen wir nun der, durch Bach auf eine so hohe Stufe der
Vollkommenheit erhobenen Passion das Oratorium als Kunst-
gattung gegenüber, so muss dennoch der Vergleich zu Gunsten der
letzteren ausfallen, weil sich dort zwei, streng genommen einander
ausschliessende Eigenschaften äusserlich vereint finden, nämlich
das Kirchliche in seiner Reinheit und Leidenschaftslosigkeit und das
Dramatische mit seinem starken Ausdruck der Seelenbewegungen,
während im Oratorium Kirchliches und Weltlich-Dramatisches zu
einer neuen Kunst- und Stilgattung einheitlich verschmolzen sind.
Diese Einheit des Stils und der Form, welche der Passion aus
dem erwähnten Grunde versagt ist, verdankt das Oratorium dem
AVirken Händeis in England, wo er sich ihm ausschliesslich und
mit ganzer Kraft widmete, nachdem er in Hambui"g, Italien, als
Capellmeister in Hannover und endlich in London die Schule
der Oper gründlich durchgemacht hatte. Es gereicht England
zu nicht geringem musikalischen Ruhme, auf seinem Boden eine
der wichtigsten und edelsten Compositions-Gattungen zur Reife
gebracht zu haben; denn wenn es auch seinen eigenen Söhnen
an der dazu nöthigeu Kraft fehlte, so setzt doch das Gelingen
134 IX. Das Oratoriviiii.
einer solchen Kimstthat eine beacMenswerthe Summe von künst-
lerischer Arbeit und künstlerischem Sinne voraus, von deren Vor-
handensein übrigens die Musikgeschichte Englands früherer Jahr-
hunderte hinreichenden Beweis liefert.
Die hervorragende musikalische Stellung Englands im Mittel-
alter zeigt schon zur Genüge, dass nicht der Mangel an musi-
kalischer Begabung, sondern äussere Umstände für die Unselb-
ständigkeit der englischen Tonkunst während der letzten zwei
Jahrhunderte verantwortlich zu machen sind. Damals scheint
England in der Pflege der Musik, namentlich des Orgelspiels
(vgl. S. 141.) hinter den übrigen Völkern des Abendlandes keines-
wegs zurückgebheben zu sein; und von dem lebhaften Antheil,
den es später an der Ausbildung des Contrapunktes genonunen,
berichtet der berühmte niederländische Theoretiker Tinctoris
(um 1476 Obercapellmeister Ferdinand's I. zu Xeapel, Verfasser
des unter dem Titel „Terminorum musicae diftinitoriiun" ungefähr
um dieselbe Zeit erschienenen ältesten musikalischen Lexicons).
Derselbe behauptet sogar „dass die Quelle und der Ursprung
dieser neuen Kunst in England zu suchen sei, wo D uns table
(gest. um 1450) als deren Haupt hervon-age". Die Richtigkeit
dieser Behauptung zu prüfen, müssen wir uns allerdings ver-
sagen, da die künstlerische Hinterlassenschaft des genannten
Contrapunktisten bis heute so gut wie unbekannt gebUeben ist;
jedoch spricht für sie die Thatsache, dass die englischen
Sänger und Tonsetzer während der Blüthezeit des nieder-
ländischen Contrapunkts überall und selbst im Vaterlande des-
selben behebt und gesucht waren. Den Höhepunkt ihrer
Entwickelung aber erreichte die englische Tonkunst unter der
Regierung der Königin Elisabeth, nachdem die von Italien
ausgegangene Renaissance -Bewegung dem geistigen Leben auch
des Inselreiches jenen Aufschi^img gegeben hatte, der auf dem
Gebiete der Dichtkunst einen Shakespeare (1564 — 1616) her-
vorbringen konnte. Gleichzeitig mit diesem erscheinen als Ver-
treter der Schwesterkunst eine Anzahl von hochbegabten Com-
ponisten und Virtuosen, welche sich um so mehr zur Thätigkeit
angeregt fühlen mussten, als die Königin selbst mit dem Beispiel
voranging und nicht nur als eifrige Clavierspieleiiu sondern auch
als Beschützerin der, durch puritanischen Fanatismus in ihrer
Existenz bedrohten Kirchenmusik ihre Achtung vor der Tonkunst
bewiesen hatte. Xach ihrem Vorgange wurde die Pflege gedie-
gener Musik so allgemein, dass es z. B. als ein Zeichen mangel-
IX. JDas Oratorium. 135
hafter Erziehung galt, sich in einer Gesellschaft an der iraprovi-
sirten Ausführung eines polyphonen Gesangstückes nicht lietheiligen
zu können. Nach einer Stelle aus Shakespeare's „Was ihr wollt"
zu schUessen, hat man die Liebhaberei für contrapunktische Ge-
sänge sogar übertrieben. ..Sollen wir die Xachteule mit einem
Canon aufstören" fragt dort Junker Tobias „der einem Leinweber
drei Seelen aus dem Leibe haspeln könnte?*' Und Junker Christoph
antwortet darauf: „Ja, wenn ihr mich lieb habt, so thut das.
Ich bin wie der Teufel auf einen Canon'" — die etwaigen jSIiss-
bräuche vermögen jedoch den Glanz dieses goldenen Zeitalters
der englischen Musik in keiner "Weise zu verdunkeln, so wenig
wie den Ruhm seiner Haupt-Repräsentanten William Bird (von
1585 an Organist der Königin, zu seiner Zeit als eine Art eng-
lischer Palestrina gefeiert) dessen Schüler Thomas Morley
(Herausgeber einer werthvollen, 1601 unter dem Titel „The
triumphs of Oriana" erschienenen Madrigalsammlung*) mit zahl-
reichen Beiträgen von seiner Composition) Orlando Gibbons
(berühmter Organist, Herausgeber der ersten in England ge-
druckten Ciaviermusik) und der als Virtuose auf der Laute viel-
gepriesene John Dowland, von dessen Spiel es in einem, dem
Shakespeare zugeschriebeneu Sonett heisst „Dowland .... whose
heavenly toucli upon the lute doth ravish human sense".
Im weiteren Verlaufe des 17. Jahrhunderts wurde der geistige
Entwickelungsgang Englands durch die Kämpfe unterbrochen, aus
welchen schhesslich eine neue Staatsform hervorging; nach wieder-
hergestellter Ordnung im Innern aber lag der Nation die PHege
materieller Interessen und, nachdem bereits 1588 durch die Zer-
stöiimg der ..unüberwindlichen" spanischen Kriegsflotte der Grund
zur SeeheiTschaft gelegt war, die Befestigung ihrer Weltmacht-
stellung so sehr am Herzen, dass die idealen Bestrebungen in
den Hintergrund traten und man, was die Musik betrifft, den
*) Der Name Oriana auf dem Titel dieser Sammlung erinnert an die
damals beliebte Art der Loyalitäts-Bezeigungen durch Anspielung auf den
jungfräulichen Stand der Königin, wie auch dem Titel „Parthenia'' (vom
griechischen Parthenos, Jungfrau) und der enghschen Benennung des Claviers
„Virginal" (vom latein. Virgo) eine ähnliche Absicht zu Grunde liegt. Dass
Shakespeare es ebenfalls nicht versäumte, seiner Herrscherin gelegentlich
das übliche Compliment zu machen, zeigt die Stelle in seinem „Sommer-
nachtstraum" (zweiter Act, zweite Scene, zwischen Oberon und Puck) „Zur
selben Zeit sah ich (Du konntest nicht) Cupido zwischen Mond und Erde
fliegen in voller Wehr" u. s. w.
136 IX. IDas Oratoritim.
ausländischen Kräften bereitwilligst das Feld überliess. Die gast-
liche Aufnahme Cambert's in London (vgl. S. 88) so wie der
schon vor ihm erschienenen Italiener sind bezeichnend für die
eklektische Richtung, welche das musikalische England damals
einschlug und bis zur Gegenwart verfolgt hat. Selbst der begab-
teste von allen englischen Componisten, der geniale Henry
Purcell (1658 — 1695) vermochte nicht, das Vertrauen zur natio-
nalen Musikproduction wieder zu beleben, und weder seine zahl-
reichen, durch Tiefe und Grossaiiigkeit ausgezeichneten Kirchen-
compositionen, unter denen namentlich die Anthems*) bemerkens-
werth sind, noch seine dramatischen Musikwerke, die, neunund-
dreissig an der Zahl, als echt vaterländische Erzeugnisse geeignet
waren, die Grundlage einer national -englischen Oper zu bilden,
haben bei der Ungunst der Zeit eine nachhaltige Wirkung aus-
üben können. In eine solche Zeit, sagt Chrysander (Händel I.
S. 254) gehörte ein Zuchtmeister, aber ein solcher war Purcell
nicht, ebensowenig als Mozart ein solcher war. Denn so ernst
beide die Kunst nahmen, so leicht nahmen sie das Leben und
lebten nicht lange. Was aber Purcell andeutet und wünscht, ist
in Händel's Leben erfüllt, und durch die musikalische Gesund-
heit, in der alle seine Werke strahlen, durch ihre einheitliche
Gestaltung und Gesammtwirkung sowie durch seine Vielseitigkeit
ist er derjenige Vorgänger Händel's, der am geradesten auf ihn
hinleitet.
Ein Vierteljahrhundert nach Purcell's frühzeitigem Ende, mit
Händel's Ankunft in London, welche Stadt von 1720 an bis zu
seinem Tode der Schauplatz seiner Thätigkeit geworden ist, be-
ginnt die Glanzepoche unseres Meisters und zwar mit seiner
Wirksamkeit an der italienischen Oper des Hapnarket-Theater.
Die am Anfang des Jahrhunderts in England stattgehabte Um-
wälzung der Gesellschafts-Verhältnisse hatte es möghch gemacht,
dass eben jetzt die Oper sich aus den Adels- und Hof kreisen
hinauswagte und sich an die Theilnahme des inzwischen künst-
lerisch gereiften Publikums wendete. Unter solchen Umständen
fand Händel während seines zwanzigjährigen Theaterlebens die
beste Gelegenheit, dem volksthümhchen Kunstbedüi'fuiss Rechnung
*) Das Antheni, eigentlich Anti-Hymne, Antiplionie oder Wechsel-
gesang, eine auch von Händel gepflegte Gattung des Kirchengesanges, war
bis auf Purcell eine motettenartige Chorform und wurde von diesem zu
einer Art Cantate ausgebildet, Avobei ihr der ursprüngliche Charakter des
antiphonischen verloren ging.
IX. Das Oratorivim. ^37
tragen zu lernen. Dafür aber hatte er auch schwer unter den
Nachtheilen zu leiden, welche die veränderte Lage für die
Künstlei-welt mit sich brachte. Die aristokratische Gesellschaft,
die sich jetzt der alleinigen Führung in musikalischen Dingen
beraubt sah. begann den Künstlern die fi'üher so reichlich ge-
währte mateiielle Förderung zu entziehen, und Händel war am
allerwenigsten der Mann, durch Entgegenkommen in den Fragen
des musikaHschen Geschmackes die Stimmung der ehemaligen
Kunstmäcene zu seineu Gunsten zu wenden. Ausserdem wurde
ihm seine Thätigkeit als Oi^erndirector dm'ch die immer wach-
sende Concurrenz erschwert, insbesondere seitdem eine zweite,
von seineu Gegnern ins Leben gerufene italienische Oper unter
Leitung des Neapoütaners Porpora ihn gezwTingen hatte, das
Haymarket- mit dem Coventgarden-Theater zu vertauschen; nicht
minder auch durch die Eifersüchteleien der ihm untergebenen
Sänger und Sängerinnen (vgl. S. 78), und so sehen wir ihn
im Jahre 1740 nach Auffühnmg seiner einunddreissigsten Oper
,,Deidamia" das Theater für immer verlassen, nachdem er bei dem
letzten Unternehmen sein ganzes mühsam erworbenes Vermögen
eingebüsst hatte.
Inzwischen aber war schon 1732 sein erstes Oratorium
„Esther" zur Auffühi-uug gelangt und von demjenigen Theil der
Londoner Kunstfreunde, welche durch die 1710 gegi'ündete Aka-
demie für alte Musik vertreten waren und in Händel's Ai'beit
eine Verwirklichung ihrer Pläne zur Erneuerung der antiken
Tragödie auf dem Boden der biblischen Geschichte erblickten,
mit grossem Beifall aufgenommen worden. Damals schwankte
die Meinung noch, ob das Oratorium mit Action darzustellen sei,
oder ob es der sichtl)aren dramatischen Zuthateu ganz entbehren
solle: der Londoner Bischof Dr. Gibson entschied sich für das
letztere — zum nicht geringen Vortheil für Händel als Musiker,
denn nun konnte er sich in seinen Tongestaltungen ungleich freier
bewegen als bei dem Zwange, welchen die Bedingungen einer
scenischen Aufführung dem Componisten unter allen Umständen
auferlegen. Es bedarf keines Beweises, dass die dramatische
Musik, sobald sie nicht mehr durch die sichtbare Darstellung
unterstützt wird, um so mehr die Aufgabe hat, allen ihren Ge-
bilden die höchstmöglicbe Plastik, Schärfe und Deutlichkeit zu
verleihen, damit das ganze Kunstwerk den Schein des vollen
Lebens und der unmittelbaren Gegenwart für unsere Vorstellungen
und unser Gefühl gewinne, so dass wir das Fehlen der sichtbaren
138 IX. Das Oratoriujin.
Darstellimg gar uiclit mehr als einen Mangel empfinden. Dies
gilt sowohl von den Einzelgesängen als auch ganz besonders von
den Chören; ja, der Chor, diese gewichtige Ausdi'ucksform volks-
mässiger und allgemein menschlicher Ideen und Gefühle, darf
mit Recht als der eigentliche Schwerpunkt des Händel'schen
Oratoriiuns gelten. „In ihm hegt, ähnlich wie im Chor der grie-
chischen Tragödie, die Summe der sittlichen und religiösen Ideen
des Werkes; er ist der Boden, auf welchem die einzelnen Per-
sonen sich bewegen, jene Ideen in ihrem Handeln und Empfinden
bethätigend oder verneinend, ihm, als der Volkes- und Gottes-
stimme, und seinem Richteramt und letzten Urtheil unterworfen.
Im Oratorienchore ist die hohe Bedeutung des griechischen Chores
weit mehr zur Wirkhchkeit geworden, als es im Opemchore je
geschehen mag."*)
Dies die wesentlichen Merkmale des Oratoriums, dessen voll-
ständige Charakteristik schon aus dem Grunde hier übergangen
werden darf, weil diese Kunstgattung in der, ihr von Händel ge-
gebenen Form uns allen durch wiederholte unmittelbare Berührung
vertraut geworden ist. Frühere Generationen sind in diesem
Punkte weniger begünstigt gewesen; sowohl Händel wie Bach
waren bald nach ihrem Tode fast vergessen; der Stil der italieni-
schen Oper hatte um diese Zeit seine Herrschaft auch über die
Kirchenmusik ausgebreitet, und seine Hauptvertreter in Deutsch-
land, Graun**) und Hasse wurden als unübertreffliche Muster
gepriesen, wenn Bach und Händel gar nicht, oder doch nur als
gelehrte Contrapunktisten genannt wurden. Selbst Mozart wurde
nur durch Zufall und erst in seinen späteren Lebensjahren mit
Bach's Yocalcompositionen bekannt, bei Gelegenheit eines Be-
suches in Leipzig, wo ihm sein Freund Doles, der zweite Nach-
folger Bach's als Cantor an der Thomaskirche, eine Motette des
Altmeisters als Rarität vorsingen liess. Erst den Bemühungen
Schelble's, des Stifters des Frankfurter Cäcilien-Vereins, sowie
Mendelssohn's ist es gelungen, die Theilnahme für Bach und
Händel, nachdem sie mehrere Menschenalter geschlimimert, wie-
derum zu erwecken. Von dem Eifer, mit welchem Mendelssohn
*) Vgl. Koch's musikalisches Lexikon, beai'beitet von A. von Dommer,
S. 636.
**) Graun's „Tod Jesu" ist ein Beweis, wie weit man damals von echt
kirchlichen Idealen entfernt war, und sich in's Opernhafte hinein verloren
hatte, wenn auch dies Werk in Anbetracht seiner Pormgewandtheit und ge-
schickten Behandlung der Sirgstimmen Achtung verdient.
IX. Das Oratori««!. 139
als neunzehnjähriger Jüngling die erste Wiederaufführung der
Matthäus-Passion (Berlin 1829) durchsetzte, und von den Hinder-
nissen, die er dabei zu überwinden hatte, berichtet Eduard
Devrient Ausführliches in seinen „Erinnerungen an F. Mendels-
sohn-Bartholdy''. In gleicher Weise hat Mendelssohn als Dirigent
der niederrheinischen Musikfeste zur AViederbelebung des Händel'-
schen Oratoriums beigetragen; seine liebevolle Verehrung für
diese beiden Meister aber sollte ihm nicht unvergolteu bleiben,
indem er durch ihren Geist zur Schöpfung seiner eigenen bedeu-
tendsten Werke, der Oratorien „Paulus" und „Elias" angeregt
wurde. Freilich war es ihm nicht vergönnt, einen Fortschritt
über seine grossen Vorgänger hinaus zu bewirken; sowohl die
Passion wie das Oratorium scheinen mit Bach und Händel in
ihrer Entwickeluug abgeschlossen, womit jedoch nicht behauptet
werden soll, dass nicht noch fernerhin Meisterwerke dieser Gat-
tung geschaffen werden könnten. Hat die heilige Geschichte bis
heute ihre Kraft bewährt. Dichter und Musiker zu künstlerischen
Schöpfungen zu begeistern, so wird sie dieselbe auch in Zukunft
nicht einbüssen, und wenn unser, gegenwärtig so tief darnieder-
liegendes kirchliches Leben vielleicht einmal einen neuen Auf-
schwung nimmt, so dürfen wir auch dem gleichzeitigen Beginn
einer neuen Epoche der geistlichen Musik hoffnungsvoll ent-
gegensehen.
X.
Die Instniraentalmiisik:.
Nur im Vorübergehen konnten wir bisher den musikalischen
Instrumenten Beachtung schenken und uns ihrer Bedeutung für
die gesammte Musikentwickelung erinnern, insbesondere füi" die
Ausbildung der mehrstimmigen Musik (vgl. S. 28) und der mo-
dernen O^Der (vgl. S. 71); nachdem wir aber die Instrumentalmusik
zu einer der Yocalmusik ebenbürtigen Macht haben heranwachsen
sehen, dürjfte es an der Zeit sein, ihren Entwickelungsgang auch
einmal für sich zu betrachten. Ihrem Alter nach steht sie sicher-
lich nicht hinter der Yocalmusik zurück, jedenfalls reicht ihr
Ursprung weit über die historische Zeit hinaus. Die Erfindung
der musikalischen Instrumente war durch die einfachsten Natur-
verhältnisse gegeben: die über das Knochengerüst gespannten, von
der Sonne getrockneten Därme eines Thiercadavers veranlassten
die Erfindung der Saiteninstrumente*), ein zerbrochenes Schilf-
rohr, über welches der Wind dahinstrich, die der Blasinstru-
mente. Wie diese beiden Hauptgattungen im Alterthum, und
zwar in mannichfachen Unterarten gebräuchlich waren, theils als
Soloinstrumente, theils auch zu orchestralen Massen vereint, dies
wurde an betreffender Stelle erwähnt. Hinsichts der Blasinstru-
mente sei hier jedoch noch eine Eigenthümlichkeit in ihrer stufen-
weisen Ausbildung hervorgehoben, eine Erscheinung, welche wir
im weiteren Verlauf der Geschichte der Instrumentalmusik noch
einmal zu beobachten Grelegenheit haben werden, dass nämlich
ihre Entwickelung mit zunehmender Cultur vom Complicirten zum
Einfachen fortschreitet: das älteste Blasinstrument ist die \ie\-
*) Nach der griechischen Sage war es eine Schildkröte, deren AnbHck
in diesem Zustande dem am Meeresstrande wandehaden Grotte Hermes den
Gedanken der Lyra eingab.
X. Die tiistrumeiitaliiivisili. 141
röhrige Syrinx (PausHöte), in späterer Zeit erscheint die Doppel-
flöte, und indem die antike Bildung ihren Höhepunkt erreicht,
gelangt die einfache Flöte zur Herrschaft.
Während des Mittelalters waren, namenthch bei den nordi-
schen Völkern, neben den vom Alterthum überkommenen Ton-
werkzeugen auch die Tasten- und Streichinstrumente im
Gebrauch, standen jedoch auf einer so niedrigen Stufe der Aus-
bildung, dass sie zur Wiedergabe kunstvoller Musikfonnen, wie
solche schon damals im Gesänge sich entwickelt hatten, durchaus
untaughch waren. Das erste Instrument, welches höheren künst-
lerischen Zwecken zu dienen hatte, war die Orgel; schon in
Folge ihrer Stellung zur Kii-che war sie in den Händen ange-
sehener und gelehrter Musiker, zu einer Zeit, wo noch die übrigen
Instrumente den fahrenden Spielleuten oder später den Stadt-
pfeifern ausschliesslich überlassen waren. Während der ersten
Jahrhunderte nach ihrer Einführung in die Kirche war sie wegen
der Unbeholfenheit ihres Mechanismus zwar wenig geeignet, zur
Wüi'de des Gottesdienstes beizutragen. Ein englischer Chronist
berichtet aus dem Jahi-e 951 von einer zu Winchester befind-
lichen Orgel mit vierhundert Pfeifen und so gewaltigen Blase-
bälgen, dass siebzig Männer erforderlich waren, um sie in Be-
wegung zu setzen; dabei hatte sie jedoch nur zehn Töne, nämlich
für jeden Ton vierzig Pfeifen, es konnte sich hier also nur um
höchstmögliche Kraftentfaltung handeln. iS^icht viel besser war
es mit den etwas später zu Halberstadt, Magdeburg und Erfurt
erbauten Orgeln bestellt, deren Tasten die Breite einer Hand
hatten und sich so schwer niederdrücken Hessen, dass man die
Faust oder gar den Ellbogen dazu benutzen musste. Der Braun-
schweiger Capellmeister Michael Praetorius, dessen 1615
erschienenes Buch „Syntagma musicum" im Abschnitt „Organo-
graphie" wichtige Kunde über die Instrumente früherer Zeiten
enthält, sagt von jenen Orgeln, man habe sich nach damahger
Art der Musik allenfalls mit ihnen beheKen können „sintemal
keine Composition mit vielen Stimmen, sondern nur der schlechte
[schlichte] Choral einfältig [einstimmig] darauf gemacht worden".
Dies genügte den Organisten so lange, bis die Sänger begonnen
hatten, verschiedene Tonreihen gleichzeitig ertönen zu lassen
(vgl. S. 29) und die Orgel nun auch ihrerseits die Vortheile einer
mehrstimmigen Musik gemessen wollte ; freihch war es unmöghch,
nach dem Beispiele der „organisirenden" Sänger in Quinten- und
Octaven-Parallelen zu spielen, da die Schwerfälligkeit des Mecha-
142 X. Die InstruiTientalniusilc.
nismus niclit erlaubte, mehi' als eine Taste zm* Zeit anzuschlagen,
doch half man sich, indem man mehrere in Quinten und Octaven
gestimmte Pfeifen derart vereinigte, dass sie durch das Berühren
einer Taste zum gleichzeitigen Erkhngen gebracht werden konnten.
Diese sogenannten Mixturen, welche sich bis heute erhalten
haben, müssen ursprünglich von barbarischer Wirkung gewesen
sein; bei der modernen Orgel aber sind durch eine sinnreiche
Vorrichtung die mitklingenden Quinten und Octaven bis zu einem
Grade gedämpft, dass unser Ohr sie nicht mehr als selbständige
Töne erfasst, sondern sie nur als Füllung und Verstärkung der
Melodie empfindet.
Die Vervollkommnung des Orgelspiels ging selbstverständlich
mit der des Instrumentes Hand in Hand; seine erste Entwicke-
lung wie auch seine schliessliche Vollendung fand es in Deutsch-
land, wo ims schon früh zwei um Ausbildung der Technik des
Orgelspiels hochverdiente Künstler begegnen: Bernhard Murer,
wahrscheinlich identisch mit dem um 1470 an der Marcuskirche
zu Venedig angestellten und von den dortigen Chronisten
als Erfuder des Orgelpedals bezeichneten Bernhard dem
Deutschen, und der 1473 zu München gestorbene, blindgeborene
Organist der Nürnberger Sebalduskirche Conrad Paumann
oder Paulmann, wie die Inschrift auf seinem in der münchner
Frauenkirche befindlichen Grabstein besagt. In der Folge wird
Italien der eigentliche Sitz der Orgelkunst, namentlich Venedig,
nachdem der berühmteste Orgelmeister seiner Zeit, Claudio
Merulo, 1557 zum ersten Organisten der dortigen Marcuskirche
erwählt war; zur höchsten Blüthe aber gelangt das italienische
Orgelspiel in Rom mit Girolamo Frescobaldi, von 1615
Organist an der Peterskirche zu Rom, dessen Kunst eine solche
Anziehungskraft ausübte, dass seine Verehrer ihm auf seinen
Reisen von Stadt zu Stadt folgten und die strebsamen Organisten
aller Länder seinen Unterricht suchten. Nach ihm und seinem eben-
falls berühmten Schüler Pasquini geht in Italien, dessen Kräfte
eben jetzt durch die Ausbildung der dramatischen Musik völUg
in Anspruch genommen waren, die Orgelkunst ihrem Verfall ent-
gegen und erblüht T\-iederum in Deutschland, wo Samuel Scheidt
(gest. 1654 als Organist der Moritzkirche seiner Vaterstadt Halle)
die Reihe berühmter Organisten eröft'net. in welcher Namen wie
Froberger, Pachelbel. Buxtehude, Reinken, endlich Se-
bastian Bach als Glanzpunkte erscheinen. Alle diese Männer
wirkten nicht nur als Virtuosen, sondern auch als Componisten
X. Die Inatruiiieiitaliiiuaik. 14i>
für ihr Instrument und wurden die Schöpfer eines eigenen In-
strumental-Musikstils, dessen Ausbildung bei der schon erwähnten,
besonders geachteten Stellung der Orgel, folgerichtig von ihr aus-
gehen musste. Die wesentlichen Merkmale dieses Stils könnten
wir schon jetzt an den Werken der genannten Meister kennen
lernen; zum besseren Verständniss desselben sowie der gleich-
zeitig mit ihm zur Ausbildung gelangten Instrumental-Musikformen
betrachten wir jedoch zuvor den Entwickelungsgang der übrigen
Instrumente, vor allem des Claviers, welches schon früh eine
ähnliche Ausnahmestellung unter den Instrumenten einnahm wie
die Orgel, nachdem man sich überzeugt hatte, dass es zur Dar-
stellung musikalischer Gedanken und Formen der verschiedensten
Ali; so gut und noch besser geeignet sei als diese.
Die Entstehung der Claviatur- Saiteninstrumente ist auf
zwei uralte Instrumente zurückzuführen: das Monochord und
das Psalterium. Das erstere bestand aus einem langen schmalen
viereckigen Resonanzkasten mit einer Saite (daher der griechische
Name), welche durch einen verschiebbaren Steg nach einem dar-
unter verzeichneten Glradmesser theilbar war. Dies Instrument
diente im Alterthum wie auch im Mittelalter zur Bestimmung der
Tonverhältnisse und zum ersten Musikunterricht. Mit der Zeit
brachte man, um sich das Verschieben des Steges zu ersparen,
an einer der Seiten des Kastens eine Anzahl von Tasten an,
deren am oberen Hebel-Ende befindliche Messingstifte sich beim
Niederdrücken der Tasten erhoben und die Saite gleichzeitig
theilten und erklingen machten.*) Nach Hinzunahme weiterer
Saiten wurde im 12. oder 13. Jahrhundert aus dem Monochord
das Clavichord, welches übrigens bis in die neueste Zeit die
Erinnerung an seinen Ursprung bewahrte, indem die Zahl seiner
Saiten auch bei immer fortschreitender Ausbildung des Instru-
mentes geringer war als die seiner Töne und der ihnen ent-
sprechenden Tasten. Bis 1725, wo das Clavichord bundfrei**)
*) Der kürzere, nicht zum Tönen bestimmte Theil der Saite klingt
zwar auch mit, jedoch so schwach, dass sein Klang- von dem des längeren
Saitentheiles völlig unterdrückt wird.
**) Im Ciegensatz zu den bundfreien stehen die gebundenen Instru-
mente, bei welchen, wie z. B. bei den Streichinstrumenten, eine Saite zur
Erzeugung mehrerer Töne benutzt wird. Unter „Bund" versteht man die
auf dem Clriftbrett der Laute, Guitarre etc. befestigte schmale Leiste von
Messing oder Elfenbein, durch welche dem Spieler die Stelle bezeichnet
wird, an welcher er die Saite durch Aufsetzen des Fingers zu verkürzen
144 X. Die Lnstruineiitainciusils.
wurde, diente eine und dieselbe Saite, in geringerer und weiterer
Entfernung vom Stege angeschlagen, zweien Tönen, dem diatoni-
schen und dem nächsthöheren chromatischen Halbtone zusanunen^
wodurch eine gleichzeitige Verwendung der in solchem Verhältniss
stehenden Töne unmöghch war.
Dem Clavichord gegenüber stehen die vom Psalterium stam-
menden Cla\datur- Instrumente, das Clavicymbel nebst seinen
Abarten Spinett und Virginal, jenes besonders in Italien hei-
misch, dieses in England, wo es zu Ehren der königlichen Jung-
frau (virgo) Elisabeth seinen Namen erhalten hat, nach Andern,
weil es vorwiegend zur Erziehimg der weiblichen Jugend diente.
Im "Wesentlichen unterscheidet sich das Clavicymbel vom Clavi-
chord dadurch, dass es für jeden Ton eine Saite hatte, und dass
diese Saiten von verschiedener Länge waren, beides im Anschluss
an das Psalteriimi, dessen di-eieckige Form die ungleiche Länge
der Saiten mit sich brachte, ebenso wie die Zahl derselben mit
der der Töne übereinstimmen musste, weil hier die Saiten nicht
wie beün Monochord vennittelst Tasten angeschlagen, sondern
mit einem dem antiken Plectrum ähnlichen Stäbchen gerissen
wm'den. Zwei weitere Eigenthümlichkeiten des Clavicymbel er-
gaben sich gleichfalls aus seiner Verwandtschaft mit dem Psal-
terium: die ungleiche Saitenlänge bot Anlass, dem ursprünglich
viereckigen Kasten der Raumersparniss wegen Harfenform zu
geben, in Folge dessen das Instrument, wegen seiner Aehnlich-
keit mit dem Flügel eines Vogels, Flügel genannt wurde, von
einigen auch Schweinskopf, wie Praetorius sagt „weil es so spitzig
wie ein wilder Schweinskopf fornen an zugeht"; sodann wurden
auch beim Clavicymbel die Saiten nicht angeschlagen, sondern
gerissen und zwar dm-ch Raben -Federkiele, welche am oberen
Ende der Taste angebracht waren, woher sein Xame Kielflügel
und die Bezeichnimg Instrumenta pennata für die Gesammt-
heit derartiger Instrumente. Der dadm'ch bewirkte helle Klang,,
welchem es auch nicht an Fülle mangelte, nachdem das Clavi-
cymbel mehr chörig geworden war, d. h. zwei und mehr Saiten für
einen Ton erhalten hatte, machte es auch zur Mitwirkung im
Orchester geeignet, und noch bis nach Händel's Zeit blieb es
eine schätzbare Stütze bei grösseren Vocal- und Instrumental-
hat, um höhere Töne hervorzubringen. In frühester Zeit wurde die be-
treffende Stelle des G-riffbrettes durch ein um den Hals des Instrumentes
gebundenes Stückchen Darmsaite gekennzeichnet, wodurch sich der Name
erklärt.
X. Die Iiistrvimeiitalmxisils. 145
Aufführungen. Auf solche Vorzüge musste das Clavichord mit
seinem zarten, dm-chsichtigen Klange freilich verzichten, dafür
aber war es weit besser befähigt, den geistigen Gehalt eines
Tonstückes wiederzugeben und seine Feinheiten zum Ausdruck
zu bringen. .."Will einer" so sagt Mattheson „eine delicate Faust
und reine Mannier hören, der führe seinen Candidaten zu einem
säubern Clavicordio; denn auff grossen, mit 3. ä 4. Zügen oder
Registern versehenen Clavicymbeln werden dem Gehöre viele
Brouillerien echappiren und schwerHch wird man die Mannieren
mit distinction vernehmen können." In ähnlichem Sinne erklärt
Praetorius das Clavichord „für das Fundament aller clavirten
Instrumenten, daruff auch die BiscipuU Organici^) zum anfang
instmirt und untemchtet werden.'"
Ungeachtet dieser Bedeutung des Clavierspiels im 17. und
noch mehr im Anfang des 18. Jahrhunderts befand sich doch die
Technik desselben noch bis zu Bach's Zeit auf einer äusserst
niedrigen Stufe. Besondere Schwierigkeit machte der Gebrauch
des Daumens, dessen man sich Jahrhunderte hindurch nur zum
Spannen grosser Intervalle bediente, während man bei Tonleitern
und Passagen nichts Besseres mit ihm anzufangen wusste, als ihn
zur Stütze der dabei beschäftigten Finger — gewöhnhch nur des
dritten und vierten — an einem unterhalb der Tastatur befind-
lichen Brette hin und her gleiten zu lassen. Wie geringen Werth
man iauf einen regelrechten Fingersatz legte, zeigt die Behaup-
tung des Praetorius „es komme gar nicht darauf an, ob man
dieser oder jener Applikatur sich bediene; man könne laufen
mit welchen Fingern man wolle, auch die Nase dazu nehmen,
wenn man nur alles fein rein, just und anmuthig ins Gehör
brächte" — und über hundert Jahre später schreibt Mattheson
in seiner „Grossen Generalbasschule" (Hamburg 1731) „So
mancher als spielet, fast so manche Art der sogenannten Appli-
cation wird man auch finden. Einer läuift mit vier, der ander
mit fünff, ethche gar, und fast ebenso geschwind, mit nur zween
Fingern. Es liegt auch nichts hieran, so lange man sich nur
eine gewisse Richtschnur wehlet, und beständig dabey bleibet."
Bei dieser Gelegenheit wollen wir die Verdienste nicht unerwähnt
lassen, welche sich neben den Deutschen und Italienern die Fran-
*) Hiermit sind ohne Zweifel nicht nur die angehenden Organisten
sondern auch die Schüler auf allen übrigen Instrumenten gemeint. (Vgl.
S. 29.)
Langhans, Musikgeschichte. 2. Aufl.
10
]_46 ^- Die Xustrvin^eixtalmwsik.
zosen um die Ausbildung des Ciavierspiels erworben haben.
Namentlich seit Ende des 17. Jahrhunderts fand dasselbe liebe-
volle Pflege seitens der französischen Organisten, unter ihnen
Louis Marchand (geb. 1669), ein Meister im brillanten und
zierlichen Spiel, wenn er auch den musikalischen Wettstreit mit
Sebastian Bach gelegentlich seines Zusammentreffens mit diesem
in Dresden nicht annehmen zu dürfen glaubte; ferner sein Schüler,
der schon als Operncomponist und Theoretiker genannte Ra-
meau; endhch Franz Couperin (geb. 1668), das hervorragende
Mitglied einer zahlreichen Künstlerfamilie dieses Namens, dessen
feine und elegante, nur mitunter durch Verzierungen überladene
Compositionen die Richtung des Ciavierspiels seiner Zeit be-
stimmten und selbst von Sebastian Bach hoch geschätzt wurden.
Von den Bestrebungen dieses Künstlers im Gebiete des rein
Technischen giebt sein 1716 zu Paris erschienenes Werk „L'art
de toucher le clavecin" ein glänzendes Zeugniss; der hier em-
pfohlene Fingersatz weist schon auf einen häufigeren Gebrauch
des Daumens, doch scheinen erst mit Bach alle Finger zu gleich-
massiger Ausbildung gelangt zu sein; wie sehr die Technik des
Ciavierspiels im Uebrigen durch Bach in ihrer Entwickelung ge-
fördert wurde, erkennt man theils aus seinen Compositionen,
theils auch aus dem Unterrichtswerke seines Sohnes und Schülers
Carl Philipp Emanuel Bach „Versuch über die wahre Art,
das Ciavier zu spielen" (Berlin 1759), welches alle bis dahin
gemachten Erfahrungen zusammenfasst, und von ihnen ausgehend
den Uebergang zum modernen Ciavierspiel vermittelt.
So wenig Em. Bach an Tiefe und schöpferischer Kraft mit
seinem Vater zu vergleichen ist, so gebührt ihm doch in der
Geschichte der Instrumentalmusik ein hervorragender Platz, und
die Verehrung, welche ihm seine Zeitgenossen als Virtuosen und
Componisten zollten, ist keineswegs unbegründet. In seinen ver-
schiedenen Wirkungskreisen, von 1740 — 1767 als Kammercem-
balist Friedrich's des Grossen und Capellmeister der Prinzessin
Amalie von Preussen, dann bis zu seinem Tode 1788 als Musik-
director zu Hamburg, galt er namentlich auf dem Gebiete des
Ciavierspiels als eine Autorität ersten Ranges. „Er ist der Vater,
wir sind die Buben" äusserte Mozart in einer Gesellschaft bei
Doles, als von seinem Spiel die Rede war „wer von uns was Rechts
kann, hat's von ihm gelernt; und wer das nicht eingesteht, ist ein...."
und Haydn hat die Verdienste des älteren Meisters noch in seinen
letzten Lebensjahren mit den Worten anerkannt: „Wer mich gründ-
X. Die Iixatru.meixtalmi.iaik. 147
lieh kennt, der niuss finden, dass ich dem Emanuel Bach sehr viel
verdanke, dass ich ihn verstanden und fleissig studirt habe; er
liess mir auch selbst einmal ein Compliment darüber machen."
Für die Gegenwart freiHch haben Em. Bach's Compositioneu, als
treuer Ausdruck des Geschmackes seiner durch ungesunde Sen-
timentahtät charaktevisirten Zeit, den grössten Theil ihrer Wir-
kung eingebüsst; doch musste sein Einfluss auf das damalige
Ciavierspiel um so grösser sein, als er den Uebergang bezeichnet
von der Praxis der älteren Componisten, welche die Voiirags-
Details fast ganz dem Ausführenden überliessen, zu der der
späteren, von denen alles auf den Vortrag BezügHche bis ins
Kleinste dem Spieler vorgeschrieben ist. Mit dem Erscheinen
seiner „Sechs Sonaten mit veränderten Reprisen" (1759) sah sich
die clavierspielende Welt zum ersten mal der Mühe eines selb-
ständigen künstlerischen Reproducirens überhoben, wodurch be-
greiflicherweise dem Dilettantismus ein neues weites Feld der
Bethätigung eröffnet war. Em. Bach selbst sagt in der Vorrede
zum genannten Werke über seine Absicht Folgendes: „Bei Ver-
fertigung dieser Sonaten habe ich vornehmlich an Anfänger und
solche Liebhaber gedacht, die wegen gewisser Jahre und anderer
Verrichtungen nicht mehr Gedult und Zeit genug haben, sich
besonders stark zu üben ich freue mich, meines Wissens
der erste zu sein, der auf diese Art für den Nutzen und das
Vergnügen seiner Gönner und Freunde gearbeitet hat. Wie
glücklich bin ich, wenn man die besondere Art meiner Dienst-
geflissenheit hieraus erkennt." — Als Cmiosum folge noch die
dort hinzugefügte Bemerkung des würdigen Capellmeisters über
den „affectvollen Vortrag", welche den Geist jener Zopfzeit
spiegelt, wo jeder „Gebildete" ein empfindsames Herz nicht nur
haben sondern auch zeigen musste: „Dass alles dieses ohne die
geringsten Gebährden abgehen könne, wird derjenige blos läugnen,
welcher durch seine Unempfindlichkeit genöthigt ist, wie ein ge-
schnitztes Bild vor dem Instrumente zu sitzen. So unanständig
und schädlich hässliche Gebährden sind, so nützlich sind die
guten, indem sie unseren Absichten bey den Zuhörern zu Hülfe
kommen. (!)
Trotz aller Bemühungen der bisher genannten älteren Meister
des Claviers würde dasselbe doch -schwerhch seine heutige Be-
deutung im Musikleben erreicht haben, wenn es nicht gelungen
wäre, einen Mechanismus zu erfinden, mittelst dessen der Ton in
verschiedenen Stärkegraden erklingen konnte, was weder beim
10*
14:8 ^- JDie Instruixieiitalmxisili.
Clavicliord, noch beim Clavicymbel der Fall war. Die erste An-
regimg zur Erfindimg eines solchen gab das von einem geT\Tissen
Pantaleon Hebenstreit Ende des 17. Jahrhunderts construirte,
nach Art des noch jetzt bei der Zigeimermusik gebräuchlichen
Cynibals mit Stäben geschlagene Hackbrett oder Pantaleon,
wie es nach seinem Ei^finder genannt wiu^de. Der Voilheil, dass
hier die Saiten beliebig stark oder schwach angeschlagen werden
konnten, brachte um 1710 den Paduaner Cristofali (oder Cri-
stofori) auf den Gedanken, die Tasten des Claviers am oberen
Ende mit Hämmern zu versehen, welche von unten gegen die
Tasten schnellen und nach vollzogenem Anschlage sogleich wieder
zurückfallen; bald darauf aber vervollkommnete er seine Erfindung
durch einen Dämpfungs-Mechanismus, welcher den Klang der Saite,
unterdrückt, sobald der Finger von der Taste weggenonunen ist. Das
so construirte Instrument, welches in Deutschland Hammerciavier,
in Italien Pianoforte genannt wurde, weil man auf ihm leise und
stark (piano und forte) spielen konnte, machte bei seinem Er-
scheinen nicht geringes Aufsehen und wurde alsbald von den
Cla^^erbauern jener Zeit nachgeahmt und weiter ausgebildet;
einige derselben, wie Marius in Paris und der Organist Schröter
in Nordhausen, machten dem Cristofali sogar die Ehre der Er-
findung streitig, doch ist neuerdings nachgewiesen, dass sie erst
fünf resp. sechs Jahre später als er mit ihren Modellen an die
Oeffentlichkeit getreten sind. Etwa fünfundzwanzig Jahre nach
seiner Einfülirung in Italien fand das Pianoforte in Folge seiner
Verbesserung durch Silbermann (gest. zu Dresden 1756) Ein-
gang in Deutschland; doch vermochte es die zur Zeit ge-
bräuchlichen |Claviatur - Saiteninstrumente nicht eher zu ver-
drängen, als bis ein Schüler Silbermann's, Joh. Andr, Stein zu
Augsburg, das Instrument im letzten Viertel des vorigen Jahr-
hunderts zu demjenigen Grade der Vollkommenheit erhoben hatte,
der es befähigte, dem mittlerweile erwachten neuen Geiste der
Musik einen demselben entsprechenden Ausdruck zu geben.
Noch ein Instrument von musikgeschichthcher Bedeutung
wurde diu'ch das Hammerciavier verdrängt: die Laute, welche
Jahrhunderte lang einen kaum minder wichtigen Platz im Musik-
leben eingenommen hat als das Ciavier. Sie wurde zuerst von
den Arabern in Europa (Spanien) eingeführt, wie sie auch ihren
Namen aus dem arabischen al oud, die Schale, herleitet. Ihre
Gestalt, an die Schale der Schildkröte erinnernd, bestätigt diesen
Ursprung, zugleich auch ihre Verwandtschaft mit dem ältesten,
X. Die Instrumentalmusik:. 149
der Sage iiach vom Gotte Hermes erfundenen Saiteninstrument
der Griechen. Die Saiten der Laute, welche mit dem Finger
gerissen wurden, lagen theils über dem Griffbrett, theils neben
demselben; ihre Zahl variirte je nach den verschiedenen Grössen-
Gattungen des Instrumentes, deren zu Praetorius' Zeit sieben
gebräuchlich waren, von der in Italien zui' Begleitung des Ge-
sanges benutzten, mit sehr langem Halse versehenen Theorbe
und der ihr ähnlichen Gross - Octavbasslaute bis zur Discant-,
ilein Discant- und klein Octavlaute. Verwendet wurde die Laute
nicht nur zur Begleitung des Solo- und Chorgesanges, sondern
auch als Solo- und Orchesterinstrument und überall war sie hei-
misch, in der Earche wie in der Oper, ganz besonders aber in
der Hausmusik. Ihre Literatur ist eine umfassende und beginnt
schon mit dem fi'üher genannten Conrad Paumann, welcher
auch eine eigene Notenschrift für sie erfand, die sog. deutsche
Lautentabulatur,*) nach welcher die über dem Griffbrett
liegenden Saiten durch deutsche Buchstaben, die daneben hegen-
den leeren Saiten durch Zahlen und die Notenwerthe durch die,
in der heutigen Notenschrift mit dem Kopfe der Note verbun-
denen Striche und Widerhaken I S [^ bezeichnet werden. Folgen-
des Beispiel, der „Musica Teusch auf die Instrument der grossen
vnndt kleinen Geygen, auch Lautten" etc. von Haus Gerle
(Nürnberg 1532) entnommen, zeigt das, neuerdings in der Bear-
beitung von Robert Franz bekannt gewordene Volkslied „Ach
*) Das Wort Tabulatui" (von tabula, Tafel) bezeichnet nicht allein
die Cxesammtheit der bei den Meistersingern geltenden Kunstgesetze (vgl.
S. 43) sondern auch die übersichtliche Zusammenstellung der zu einem
Musikstück gehörigen Stimmen (also das, was wir Partitur nennen) oder,
wenn das zu notirende Musikstück nur einstimmig ist, schlechthin Noten-
schrift. Man unterscheidet eine deutsche und eine italienische Lauten-
tabulatur, welche letztere aus einem System von sechs Linien bestand, auf
welchen die Bünde (Griffe) durch Ziffern bezeichnet wurden; dieselbe fand
um 1600 als „neuere deutsche Lautentabulatur'" auch in Deutschland Ein-
gang. Ausser der Lautentabulatur gab es noch eine Orgeltabulatur für
die Claviaturinstrumente, welche, wie jene, vermittelst der deutschen Buch-
staben und Werthzeichen eine Art Partitur bildete, ohne jedoch die Zahlen
oder ein Liniensystem zu Hülfe zu nehmen. In dieser Tabulatur wurde die
tiefste Octave durch die grossen, die folgende höhere durch die kleinen
Buchstaben V)ezeichnet, die weiteren Octaven (vom tiefsten c der Sopran-
stimme an) durch horizontale Strichelchen über dem Buchstaben, was zu
der noch heute gültigen Benennung ,, grosse" ,, kleine" „eingestiüchene" etc.
Octave Anlass gegeben hat.
150
X. Die Instruixieiitalmusili.
Eislein, liebes Elselein" in Lautentabulatur nebst Uebertragung
in die heutige Notation:
^i^lii=ä^=^^iii^üij
X)iscaTit.
—o- — • —
I r
0 c
/ /"
5 0
r r r r r
5 0 5 c p
9 9
r /- /- /" /'
0 t) 0 5 c
/ /"
5 0
/ / /"
0 i
Erst zur Zeit des S. 112 genannten Job. Adam Hiller, dessen
Operetten noch im Arrangement für die Laute gedruckt worden
sind, scheint die Literatur dieses Instrumentes ihren Abschluss ge-
funden zu haben, doch hatte schon damals seine Behebtheit stark
abgenommen; Mattheson erklärte der Laute bereits im ersten
Viertel des vorigen Jahrhunderts förmlich den Krieg und tadelt
besonders die Obei"flächlichkeit ihrer „Professores", ferner auch
ihi'en „insinuanten Klang, welcher allezeit mehr verspreche als er
halte", endlich auch die Schwierigkeit, sie rein zu stimmen. Diese
muss allerdings fast unüberwindlich gewesen sein, da die auf dem
Griffbrett befindlichen Saiten verdoiDpelt waren, die daneben
hegenden aber, weil sie nicht verkürzt werden konnten, bei jedem
Wechsel der , Tonart umgestimmt werden mussten. Ueberdies
stand die Kleinheit und Schwäche des ganzen Instrumentes nicht
im richtigen Verhältniss zm- Menge der Saiten, namentlich als
sich ihre Zahl im Laufe der Zeit bis zu vierundzwanzig, vierzehn
über und zehn neben dem Griffbrett vermehrt hatte.
Die Gattungen der Streich- und Blasinstrumente waren
in früheren Jahrhunderten weit zahh'eicher als heute. Die
ersteren sind ihrem Ursprung nach entweder auf die keltische
Crotta, von den Schriftstellern des Mittelalters Rota oder
X. IDie Instrvtnaentalmusilz. 151
Rotte genannt, oder auf das arabische Rebec, später Lieblings-
instrument der Troubadours, zurückzufühi-en. Im mittelalterliclieu
Latein Avurden diese Instrumente nach dem "Worte lides (Saite)
fidula oder vidula genannt, welcher Ausdruck, mehrfach corrimi-
pirt, durch die Zwischenformen Figella, Yielle und Vioel zu dem
deutschen „Fidel" und dem italienischen „Viola" führte.*) Am
Ausgange des Mittelalters begegnen wir der Viola in zwei Haupt-
gattungen: die Viola da gamba (Kniegeige) und die Viola da
braccio (Ai-mgeige), die wiederum in dreizehn Unterarten zer-
fallen, entsprechend den verschiedenen Registern der mensch-
lichen Stimme; dies erklärt sich dadurch, dass es bis weit über
das Mittelalter hinaus keine selbständige Instrumentalmusik gab,
und sich die Instrumente begnügen mussten, sofern sie an der
Kunstmusik überhaupt theilnehmen wollten, die Stimmen der
mehrstimmigen Vocalcompositionen einfach zu verdoppeln. Wie
sich demgemäss die Streichinstrimiente in Bass-, Tenor-, Alt- und
Discant- Violen gruppirten, so bildeten auch die Blasinstrumente
jedes föi- sich eine derartige Familie in verschiedenen Abstufungen ;
besonders waren die älteren Holzblasinstrumente, die Pommern
und die Schalmeien reich an Unterarten und umfassten jedes in
ihrem vollständigen Stimm werk, wie man einen, den Haupt-
vocalstimmen Bass, Tenor, Alt und Sopran entsprechenden Chor
von Instrumenten derselben Gattung nannte, fünf und eine halbe
Octave.
Diese Manuichfaltigkeit, von welcher schon der Baseler
Priester Sebastian Vir düng, der älteste deutsche Schriftsteller
über Instrumentalmusik, in seiner 1511 erschienenen Schrift
„Musica getutscht" (verdeutscht) mit Bewunderung redet, bestand
noch im 17. Jahrhundert zur Zeit des Praetorius. Inzwischen
aber war für die Instrumentalnnisik ein ganz neues Feld der
*) Vgl. Ambros, Geschichte der Musik, II. S. 2i). Die älteste Ab-
bildung eines (reigeninstrumentes hat sich in einem, dem 8. Jahrhundert
entstammenden Manuscripte des Klosters St. Blasien im Schwarzwalde ge-
funden und ist vom dortigen Fürstabt Gerbert in seinem. 1774 erschiene-
nen Werke „De cantu et musica sacra" (Band II. Tafel XXXII) veröffent-
licht worden, welches nebst dessen 1784 erschienenen Sammelwerke „Scrip-
tores ecclesiastici de musica sacra potissimum" die wichtigste Quelle zum
Studium der Musik des Mittelalters bildet. Das Corpus dieses Instrumentes,
welches dort mit dem Namen Lyra bezeichnet wird, ist schalenförmig, der
Hals hat keine Bünde; die einzige Saite ist an einem Saitenhalter befestigt
und läuft über einen sattelfönnigen Steg; daneben ist ein zierlicher, dem
modernen nicht unähnlicher Geigenbogen abgebildet.
152 X. Die Instriixneiitaliiiu.sil£.
Wirksamkeit erschlossen; nachdem Monte verde die Individuali-
tät der einzelnen Instrumente erkannt und berücksichtigen ge-
lehrt hatte, trat jetzt der vorhin angedeutete Zeitpunkt ein, wo
ein Rückgang von der Vielheit zur Einfachheit nothwendig
wurde und die Mehrzahl der bis dahin gebräuchlich gewesenen
Instrumente zu Gunsten einiger wenigen, füi* die Lösung der nun-
mehr gestellten höheren Kuustaufgaben am meisten geeigneten,
verschwinden musste. Von den Streichinstrumenten siegten nur
vier Ai'ten im Kampfe um das Dasein: die Bass- Viola und die
Tenor- Viola da gamba gingen als Contrabass und Violoncell
in das moderne Orchester über; ebenso die Tenor-Viola da
braccio, an ihre Abstammung durch ihren heutigen Namen
„Bratsche" erinnernd, und die Discant- Viola, die mit der
italienischen Diminutiv-Endung*) ,,ino" zur Violine wurde. In
demselben Verhältniss verminderte sich die Zahl der Blas-
instrumente; von den vielen Arten der Querflöte und der Block-
flöte, welche letztere nicht quer an die Lippen, sondern gerade-
aus gehalten und mittelst eines Schnabels geblasen wurde, blieben
nur die heutige Flöte und Clarinette übrig. Aus der Schal-
mei bildete sich die Oboe heraus, welche anfangs (um 1700)
ebenfalls noch in verschiedenen Grössen erscheint, zur Glanzzeit
der Instrumentalmusik aber nur in einer Art vorhanden ist. Vom
Pommer endhch erhielt sich nur der Basspommer, welcher, nach-
dem man sein langes, unhandliches Bohr zu einem Doppelrohr
(Bündel, italienisch Fagotto) zusammengelegt, Fagott genannt
wurde. Von den Instrumenten, welche mit der Zeit ganz ver-
schwunden sind, sei hier nur der Zink erwähnt, ein hölzernes,
mit schwarzem Leder bezogenes, bei einigen Arten gerades, bei
andern krummes Blasinstrument, wegen seines hellen, durch-
dringenden Tones bei Kirchenmusiken, sowie auch von den Stadt-
pfeifern und Thürmern noch bis ins 18. Jahrhundert vielfach
angewendet.
Je kleiner die Zahl der lustrumeuten-Gattungen Avurde, desto
grössere Sorgfalt konnte man begreiflicherweise auf ihren Bau
verwenden. Die Geigenbaukunst beginnt schon vom Jahre
1600 an in Italien zu blühen, wo sich unter allen Städten Cre-
mona durch ihre Pflege ausgezeichnet hat. Hier wirkte anfangs
*) Auch die vergrössernde Endung ,,one" erscheint in solcher Weise
z. B. in der Partitur der Keiser'schen Oper „Jodelet", wo das grösste (und
tiefste) "Streichinstrument „Violone" genannt ist.
X. Die Xiistrumeiitalixivisilz. 10i5
-die Familie Aniati, deren Stammvater Antonio (1592 — 1619)
den Streicliinstrumeuten diejenige Fonn gab, welche sie, allen
Verbesserungs-Yersuclien zum Trotz, bis heute bewahrt haben.
Wenn der Cremoneser Geigenbau im letzten Viertel des 17. Jahr-
hunderts mit Andreas, Joseph und Peter Guarueri sowie mit
Anton Stradivari gleichwohl fortschreiten konnte, so wurde
doch die Construction des Instrumentes durch diese Meister im
Wesenthchen nicht verändert. Anders die Blasinstrumente, welche
noch bis in die neueste Zeit (durch Adolph Sax in Paris) umge-
staltende Verbesserungen erfahren haben; aber auch für ihre Ent-
wickelung war jene Epoche eine besonders wichtige, u. a. dankt die
Flöte dem Hofcomponisten und Lehrer Friedrich's d. Gr. Johann
Joachim Quanz (1697 — 1773) mancherlei Vervollkommnung,
indem derselbe vor seiner Berufung nach Berhu sich selbst an-
gelegentlich mit der Verbesserung ihres Mechanismus beschäftigte,
und später (1752) in einer werthvollen Schrift „Versuch einer
Anweisung, die Flöte traversiere zu spielen" seine Erfahrungen
veröffentlichte.
Die nothwendige Folge der zunehmenden Selbständigkeit
der Instrumente war ihre Emancipiruug von der Vocalmusik und
die Ausbildung eines, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden
Stils sowie der daraus sich ergebenden Musikformen. Der In-
strumentalstil unterscheidet sich vom Vocalstil der Hauptsache
nach durch grössere rhythmische Bestimmtheit soAvie dm-ch grössere
Beweglichkeit. Die erstere Eigenschaft dankt er dem Tanze, zu
dessen Begleitung die Instrumente sich ihrer Natur nach geeig-
neter ei-wiesen als die menschhche Stimme; denn diese war aus
naheliegenden Ursachen, der Nothwendigkeit des Athemholens,
einer deuthchen Aussprache des Textes etc. gehindert, sich den
Bewegungen der Tänzer mit voller Leichtigkeit anzuschmiegen, was
sie gleichwohl nicht abgehalten hat, sich im Alterthum und noch
weit in das IVIittelalter hinein mit dem Tanz zu verbinden, bis
endlich die Instrumente in ihrer Entwickeluug genugsam vor-
geschritten waren, um sich der Tanzmusik allein zu bemächtigen
und jenes Tanzlied, im Alterthum Hyporchema genannt, mit Bei-
behaltung der Liedform selbständig weiter zu bilden. — Die
grössere Beweglichkeit lag ebenfalls in der Natur der Instrumente
und zeigte sich schon früh in dem Bedürfniss derselben, die lang-
gehaltenen Töne des Gesanges in kleinere Werth-Theile zu zer-
legen, was man Dmiinuiren, Coloriren oder Variiren nannte. Auch
diese Richtung hatte die Instrumentalmusik mit dem Gesänge
Iö4 X. Die IiistrT,T.meiitEilmusik.
zeitweilig gemeinsam verfolgt, so lange nämlich die „Kunst des
Organisirens" von den Sängern mit der auf S. 46 geschilderten
Ungezwungenheit ausgeübt wurde; wenn aber die Sänger, wie wir
ebenda gesehen haben, mit Ausbildung der mehrstimmigen Musik
wieder zum getragenen Tonsatz zurückkehrten, so begannen die
Instrumente das ihnen nunmehr allein überlassene „Diminuiren" etc.
um so eifriger zu pflegen, und die unmittelbare Folge ihrer da-
hin zielenden Bestrebungen war die Entstehung eigener Instru-
mental-Musikformen, als deren älteste die Toccata erscheint. In
dieser Compositionsgattung kommt die letzterwähnte Stileigen-
thümlichkeit in vollem Maasse zur Geltung, da hier, anstatt der
Melodie, laufende und gebrochene Figuren herrschen, in welche
die Harmonie auseinandergelegt ist. Ihre künstlerische Gestalt
verdankt sie dem S. 71 genannten venetianer Organisten Claudio
Merulo, der 1598 seine ersten Toccaten veröffentlichte; die volle
Ausbildung aber wurde ihr durch Frescobaldi zu Theil, dessen
Toccaten alle musikalischen Errungenschaften seiner Zeit in sich
schhessen: die Fuge, die freiere Imitation, glanzvolles Passagen-
werk und mächtig strömende Accordfolgen.
Das gesangreiche Spiel, gegenüber dem figurirten der Toc-
cata, kam in einer zweiten Kunstform zur Geltung, der Can-
zone, dem Namen wie dem Wesen nach eine Umbildung des fran-
zösischen Liedes (chanson). Auch ihre Heimath ist Venedig, wo
Johannes Gabrieli, ebenfalls vom Ende des 16. Jahrhunderts
an, eine grosse Zahl solcher Tonwerke veröffentlichte. Noch
grössere Anerkennung gebührt diesem Künstler dafür, dass er
auch die Streich- und Blasinstrumente an den gemachten Fort-
schritten theilnehmen Hess, nachdem bis dahin die Bemühungen
der Componisten den Tasteninstrumenten allein gegolten hatten.
Die von J. Gabrieli componirten selbständigen Orchestersätze
sind allerdings nur von bescheidenster Ausdehnung; ihre ganze
Länge beträgt zwölf bis zwanzig Tacte und sie hatten nur den
Zweck, entweder als „Symphonie" einen Vocalsatz einzuleiten
oder als „Bitornell" die für die Singstimmen nothwendigen Er-
holungspausen auszufüllen. Aehnlich verhielt es sich mit der
Sonate, die gleichfalls um diese Zeit erscheint; ihr Name be-
deutet ursprünglich nichts weiter als ein Instrumentalstück, wie
schon der Titel des 1586 erschienenen Gabrieli'schen Werkes
beweist: „Sonate a cinque per istromenti" *) ebenso die Erklärung
*) Dieser Titel ist nebenbei bezeichnend für den primitiven Zustand der
damaligen Instrumentalmusik: anstatt jedem Insti'umente eine besondere,
X. Die Iiistrumeritalmu.sik. 155
des Praetorius ,,Sonata a sonando wird also genennet, dass es
nicht mit Menschenstimnien , sondern allein mit Instrumenten
musicirt wird." Lesen wir weiter bei demselben Autor „dass mit
dem Worte Sonata oder Sonada der Trommeter zu Tisch- und
Tanzblasen benannt werde"', so können wir den gewaltigen Ab-
stand ermessen, welcher jene Musikform von der modernen mehi*-
sätzigen Sonate trennt.
Die mehrsätzigen oder cyklischen Instrumental-Musikfonnen
sind übrigens keineswegs neueren Datums; schon in deü frühesten
Zeiten des Stadtpfeifer- und zünftigen Musikantenthums bestand
die Gewohnheit, eine Anzahl von Tanzweisen, zu einem Cyklus
vereint, auch ohne den dazu gehörigen Tanz vorzutragen; die so
an einander gereihten, im übrigen nur durch Gemeinsamkeit der
Tonart zusammengehörigen Tanzstücke, anfangs Parthie (ital.
Partita) genannt, erregten bald die Aufmerksamkeit der Ciavier-
künstler, insbesondere der fi'anzösischen, imter deren Händen die
Parthie sich zur Suite veredelte. Als solche kehrte sie nach
Deutschland zurück, und wurde hier bekanntlich diu'ch Bach zur
höchstmöglichen Vollkommenheit ausgebildet, ohne sich jedoch
der modernen Sonate zu nähern, die sich im Wesentlichen da-
durch von der Suite unterscheidet, dass ihre Sätze untereinander
in organischem Zusammenhange stehen. Den Anstoss zur Aus-
bildung dieser, künstlerisch ungleich höher stehenden cyklischen
Form gab die dreitheilige Opern-Ouvertüi-e in der Gestalt, welche
sie in Italien durch A. Scarlatti, in Frankreich durch Lulli
erhalten hatte. Schon bei Besprechung des ersteren Künstlers
wui'de bemerkt, dass diese Ouvertüre, nachdem man zum Zweck
des Concertvortrages ihre Sätze getrennt und erweitert, so wie
innerlich durchgebildet hatte, in die moderne Orchester-S}Tnphonie
hinüberleitete ; als ein Zwischenstadium in dieser Entwickelung ist
die in Italien, namenthch durch Corelli (gest. 1713) ausgebildete
mehrsätzige Solosonate für Violine zu betrachten; ebenso das
durch den venetianischen Violinisten Vivaldi (gest. 1743) ein-
geführte dreisätzige Concert. Schon hier erscheint die cyklische
Form völlig entwickelt, wie dies Seb. Bach's, dem Vivaldi'schen
nachgebildetes „Italienisches Concert" für Ciavier beweist, welches
seinem Charakter entsprechende Aufgabe zuzuweisen, begnügten sich die
Componisten bis zu Monteverde's Zeit damit, für einen Orchestersatz nur
die Stimmen aufzuschreiben und überliessen es dem Dirigenten, dieselben
je nach ihrer Lage mit den ihm zufällig zur Verfügung stehenden Instru-
menten zu besetzen.
lÖÖ ^> X)ie Xnstru.inentalxni\sil£.
als Muster für die moderne Sonatenform gelten kann; dass der
auf so verschiedenen Gebieten seiner Kunst schöpferisclie Meister
sich nicht veranlasst gesehen hat, diese Form auf das Cla-sder zu
übertragen, sondern es bei diesem vereinzelten Versuche hat be-
wenden lassen, ist um so schwerer zu begreifen, als das Bedüi'f-
niss einer solchen Uebertragung schon vor seiner Zeit mehrfach
hervorgetreten war.
Johann Kuhnau, der Vorgänger Bach's als Cantor an der
Thomaskirche zu Leij^zig, hatte zuerst den Versuch gewagt, ohne
jedoch ein klares Bewusstsein von der Bedeutsamkeit dieses
Schrittes zu haben. Im Vorwort zu seinem 1695 erschienenen
Werk „der Ciavierübungen anderer Theil, beuebenst einer Sonate
aus dem B, den Liebhabern dieses Instrumentes zu gar beson-
derem Vergnügen aufgesetzet" entschuldigt er sein Wagniss mit
den Worten „Warumb soll man auf dem Ciavier nicht eben wie
auf den andern Instrmnenten dergleichen Sachen tractiren können,
da doch kein einziges Instrument dem Ciavier die Praecedenz an
Vollkommenheit jemals disputirHch gemacht hat?" Doch scheint
die neue Kunstgattung seitens der Ciavierspieler beifällig auf-
genommen zu sein, denn bald danach erschienen „Joh. Kuhnauens
frische Ciavierfrüchte oder 7 Suonaten von guter Invention und
Manier auf dem Claner zu spielen." Mit kaum geringerem Rechte
als Kuhnau darf Domenico Scarlatti (1683 — 1757) die Vater-
schaft der Ciaviersonate in Anspruch nehmen, denn wenn er auch
zur einsätzigen Form zurückkehrte, so ist dafür in diesem Satze
die Form des ersten Satzes unserer gegenwärtigen Sonate schon
völlig ausgeprägt; Scarlatti's besonderes Verdienst aber liegt darin,
dass er eine neue, claviermässige Schreibweise in Aufnahme brachte,
indem er an Stelle des polyphonen, die Gleichberechtigung
aller Stimmen bedingenden Stils, von dem sich weder Kuhnau
noch Bach lossagen mochten, den homophonen Stil einführte,
d. h. diejenige Setzart, in welcher wesentlich eine melodieführende
Hauptstimme herrscht, während die andern nur begleitende Neben-
stimmen sind. Dieser Fortschritt bezeichnet zugleich die Tren-
nung des Clavierspiels vom Orgelspiel, welche beide bis dahin
kaum unterschieden waren. Zwar hatte schon der Verfasser der
ersten 1593 in Venedig erschienenen Orgel- und Cla\äerschule,
Pater Girolamo Diruta, ein Schüler Merulo's, auf die Ver-
schiedenheit in der technischen Behandlung dieser beiden In-
strumente aufmerksam gemacht, doch hatten die späteren Com-
ponisten seine Weisungen unberücksichtigt gelassen und nach
X. Die InstruinentaJm'usik. 157
wie vor nur für die Tasteninstrumente im Allgemeinen ge-
schrieben.
Auch Domenico Scarlatti erkannte noch nicht die eigent-
liche Bedeutung der Ciaviersonate und empfiehlt seine Sonaten
der Nachsicht des Puhlicums mit der Bemerkung ..dass man
nicht tiefe Intentionen, wohl aber den sinnreichen Scherz der
Kunst in ihnen finden werde."*) In der That überwiegt bei ihm
die Technik den geistigen Gehalt; dm'ch seine Anwendung des
für den modernen Sonatensatz maassgebenden Principes der Drei-
theiligkeit jedoch, ebenso w^ie durch eine Menge wirkungsvoller
Neuerungen technischer Art, wie fortlaufende Terzen- und Sexten-
Passagen, das schnelle Anschlagen einer und derselben Taste mit
verschiedenen Fingern. Gegenbewegung gebrochener Accorde für
beide Hände etc., führt er uns unmittelbar in die neue Zeit
ein. Völlig ausgebildet erscheint dann die Ciaviersonate bei
Emanuel Bach, aus dessen Händen sie unsere grossen Meister
der Instrumentalmusik, zunächst Haydn (1732 — 1809), dann
Mozart (1756 — 1791) empfingen; bei beiden sehen wir die von
jenem festgestellten Formen gewahrt; erst Beethoven (1770 —
1827) war es vorbehalten, diese Formen bis zu den äussersten
Grenzen ihrer Erweiterungsfähigkeit zu führen, und sie dergestalt
zur Aufnahme des durch ihn erweckten neuen Geistes in der
Musik geeignet zu machen. Durch ihn gelangte auch die
Orchester Symphonie zur vollen Reife; eine Darstellung ihres
Entwickelungsganges ist deshalb übei"flüssig, weil derselbe im
AVesentlichen mit dem der Sonate zusannnenfällt ; als Haupt-
punkte bemerken wir nur ihre Umbildung aus der dreisätzigen
Form der itahenischen Ouvertüre zur viersätzigen. durch Hinzu-
nahme des Menuetts aus der Suite, sowie die Umwandlung
dieses Tanzstückes zu dem bald leidenschaftlichen, bald humo-
ristischen Scherzo seit Beethoven.
Die mit diesen letztgenannten Meistern beginnende Glanz-
und HeiTschaftsepoche der Instrumentalmusik ist in demselben
Maasse wie die, von der früheren Componisten- Generation her-
vorgerufenen Blüthe der Passion und des Oratoriums, durch die
idealistische Weltanschauung bedingt, welche in Deutsch-
*) Lettore: Non aspettarti, o Dilettante o Professor che tu sia, in questi
Componimenti il profonclo Intendimento , ma bensi lo scherze ingegnoso
deir Arte , per addestrarti alla Franchezza sul Clavicembalo .... Mostrati
dunque piii umano che critico; e sl accrescerai le proprie Dilettazioni. (D.
Scarlatti. XXX Sonate per il Clavicembalo. Opera prima. Amsterdam).
J.58 ■^* Die Iiistrumeiitalixitisik.
land von jeher, hauptsächlich aber seit dem Wiedererwachen des
Yolkshewiisstseins nach dem dreissigj ährigen Kriege, das cha-
rakteristische Merkmal des geistigen Lehens gewesen ist; denn
die Instrumental -Composition gewährt dem schaffenden Musiker
eine weit grössere Freiheit sich zum Uebersinnlichen zu erheben,
als die Vocal- Composition, welche mit ilii'er Gebundenheit an
äusserliche Bedingungen dem Fluge seiner Phantasie unter allen
Umständen gewisse Grenzen zieht. Wie sich nun die, während
des vorigen Jahrhunderts in Deutschland zum Durchbruch ge-
kommene Auffassung der Musik zu der der Nachbarvölker, na-
menthch der Franzosen gegensätzHch verhält, so auch die deutsche
Philosophie, nachdem sie gleichzeitig mit der Musik und von
derselben Neigung zum IdeaHsmus geleitet, in eine neue Epoche
getreten war. Hatten Engländer und Franzosen die Sinnesein-
drücke als alleinige Quelle der menschlichen Erkenntniss bezeich-
net und folgegemäss die Einen den Sensualismus, die Andern
den Materialismus herausgebildet, so findet der deutsche
Idealismus die wesentlichen Bedingungen aller Erkenntniss im
Menschengeiste selbst; und wenn jene darauf ausgingen, alles
Geistige zu materiahsiren , so strebt die deutsche Philosophie
durchweg nach einer Vergeistigung der Materie. Dies zeigt sich
schon bei Leibniz, dem Vater der neueren deutschen Philo-
sophie, speciell verdient um die Hebung der Geistesbildung in
unserem Vaterlande als Stifter der Akademie der Wissenschaften
zu BerUn (1700), welcher z. B. die Substanz nicht wie seine Vor-
gänger als ein Aggregat lebloser Atome auffasst, sondern geistig
beseelter Einzelwesen, von ihm Monaden genannt. Den Giptel-
punkt dieser Philosophie bildet Immanuel Kant, der dui-ch
seine 1781 erschienene „Kritik der reinen Vernunft" zu dem Er-
gebniss gelangt, dass neben den sinnlichen Eindrücken gewisse
im menschlichen Geiste schon vorhandene (a priori) Begriffe,
z. B. Raum und Zeit, zur Erkenntniss nöthig sind. Vermögen
wir uns mittelst der reinen Vernunft nicht zum Uebersinnhchen
zu erheben, so zeigt Kant's „Kritik der praktischen Vernunft"
(1788) den Weg, auf welchem auch diese Forderung unseres
geistigen Menschen Befriedigung findet. Die praktische Vernunft
verlangt die Unterdrückung des sinnhchen Menschen dm-ch den
Vernunftmenschen, welcher letztere dem ersteren ein Gesetz giebt;
dies Gesetz ist aber nicht, wie die Maximen der Klugheit, , durch
die Aussicht auf gewisse Erfolge bedingt, sondern es ist ein un-
bedingtes, das einzige unbedingte Gebot: Kant nennt es den
1
X. Die Iixstrumentalxnusilc. 159
kategorischen Imperativ. Die praktische Vernunft ist es
auch, welche zu gewissen, zwar nicht logisch zu beweisenden,
gleichwohl aber unerlässlichen Forderungen führt, von Kant
Postulate genannt. Als solche bezeichnet er die Willens-
freiheit, weil der Wille von der Naturnothwendigkeit unab-
hängig sein muss, um der Stimme des kategorischen Imperativs
folgen zu können; die Unsterblichkeit, weil trotz der Unvoll-
kommenheit der menschUchen Natur die Möglichkeit einer fort-
wähi'enden Annäherung an den Zustand der sittlichen Voll-
kommenheit angenommen werden muss; endlich das Dasein
Gottes, weil in der Natur kein nothw endiger Zusammenhang
zwschen der Sitthchkeit und einer ihr proportionirten Glück-
seligkeit besteht, und die Verwirklichimg dieser Uebereinstimmung
als des höchsten Gutes, durch ein Wesen verbürgt sein muss,
welches einerseits die absolute Macht über die Natur hat, wäh-
rend es andererseits durch moralische Antriebe schlechthin be-
stimmt wird.
Die Kunstlehre Kant's, enthalten in seiner 1790 erschienenen
„Kiitik der Urtheilskraft", beschäftigt sich mit dem Schönen,
welches wir vermittelst des Gefühls der Lust dm-ch Geschmack
bem"theilen (ästhetische Urtheilskraft) , im Gegensatz zu dem, der
organischen Natm^ innewohnenden Zweckmässigen, welches wir
durch Verstand und Vernunft bem*theilen (teleologische Urtheils-
ki-aft). Die ästhetische Urtheilskraft*) lässt uns das Schöne
*) Die Aesthetik, wörtlich die Lehre von den sinnlichen Wahr-
nehmungen und Empfindimgen , im engeren Sinne die Lehre von dem
Schönen und zwar von dem Kunst-Schönen im Gegensatz zu dem Natur-
Schönen, verdankt ihre Einführung als besondere Wissenschaft dem, der
Leibniz- Wolf 'sehen Schule angehörigen Philosophen Alex. Baumgarten,
dessen 1750 erschienene Schrift ,,Aesthetica" ihr auch den Namen gegeben
hat. Unter den Aesthetikern des Alterthums — denn selbstverständlich ist
das Wesen des Schönen und der Kunst zu allen Zeiten ein Gegenstand der
Forschung für die Philosophie gewesen — nimmt Aristoteles die Auf-
merksamkeit namentUch des Musikers in Anspruch, insofern er der Musik
eine hervorragende Stelle unter den Künsten einräumt. Alle Kunst näm-
lich erreicht ihren Zweck, die Veredlung des Geistes und Gemüthes, durch
Nachahmung»^ (Mimesis) jedoch nicht durch Nachahmung der sichtbaren
Natur, sondern der Bewegungen des menschlichen Charakters (Ethos) und
der Seele (Psyche), welche Bewegungen die Musik (wie Aristoteles in seiner
„Politik" Buch VIII, Cap. 5 auseinandersetzt) unmittelbar zur Dar-
• Stellung bringt, während die bildenden Künste nur durch Formen (Sche-
mata) gewisse Zeichen (Seiheia) für die ethischen Vorgänge angeben
können. (Vgl. Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie, dritte
Auflage I. 178 sowie über Kant III. 159).
160 X. Die Instruraentalixiiasik,
erkennen, als das, was dnrch seine, mit dem menschlichen Er^
kenntnissvennögen harmonirende Form ein nninteressii'tes , all-
gemeines und nothwendiges Wohlgefallen erweckt; das Erhabene
als das schlechthin Grosse, welches die Idee des UnendHchen in
ims hervorruft und durch seinen Widerstreit gegen das Interesse
der Sinne unmittelbar gefällt. Diese Bestimmungen, so^vie die
des Schönen als Symbol des sittlich Guten wiu'den nament-
lich durch Schiller in seinen ästhetischen Abhandlungen weiter
ausgeführt, wie die Sittenlehre Kaut's durch Fichte. In der
warmen, begeistenmgsvollen Darstellung dieser beiden Männer
wm'de die Kant'sche Philosophie bald Gemeingut des deutschen
Volkes, und brachte auf allen Gebieten des geistigen Lebens
einen gewaltigen Umsch-wamg hervor; und wenn die von Fichte
im Winter 1807 — 1808 an der eben damals begründeten berliner
Universität gehaltenen „Reden an die deutsche Nation" den un-
mittelbaren Impids zur Erhebung Preussens gegen die Napoleo-
nische Herrschaft gaben, so ist doch die im .,kategorischen Im-
perativ" ausgesprochene Mahnung zu uneigennütziger Pflicht-
erfüllung die erste Quelle gewesen, aus welcher unser Vaterland
den Muth zum Beginn des ungleichen Kampfes schöpfte. Der
Geist aber, welcher dieses be^\Trkte, verheh auch unsern Meistern
der Tonkunst die Kraft, um mit alleiniger Hülfe der absoluten
Musik den Sieg über die damals alhnächtige, von den übrigen
Künsten als Vasallen umgebene itahenische Oper zu erringen.
Die Orchesterinstrumente, die sich bis dahin im harmlosen Spiel
der Suiten, Divertissements, Serenaden etc. gefallen hatten, fingen
nun an, ziu' Symphonie vereint, eine Sprache von tiefstem Ernste
zu reden. Haydn war, wie R. Wagner in seiner Schrift „Zu-
kunftsmusik" sagt,*) der geniale Meister, der diese Form zuerst
zu breiter Ausdehnung entwickelte und ihr durch unerschöpflichen
Wechsel der Motive sowie ihrer Verbindungen und Verarbeitun-
gen eine tief ausdrucksvolle Bedeutung gab. Mozart hatte den,
den deutschen Meistern bis dahin unbekannten Zauber der ita-
lienischen Gesangsmelodie erkannt, und, indem er der itaHenischen
Oper die reichere Entwickelung der deutschen Instrumental-
Compositionsweise zufühiie, den vollen Wohllaut der italienischen
Gesangsweise der Orchestemielodie wiederum mitgetheilt. Das
reiche, vielverheissende Erbe der beiden Meister trat Beethoven
an; er bildete das symphonische Kunstwerk zu einer so fesselnden
*) Richard Wagner, Gesammelte Schriften, Band YII, S. 148.
X. Die lustrvLmeiitalmue^ilv. 161
Breite der Form aus und erfüllte diese Porm mit einem so un-
erhört mannichfaltigen und hinreissenden melodischen Inhalt, dass
wii- heute vor der Beethoven'schen Symphonie wie vor dem Mark-
steine einer ganz neuen Periode der Kunstgeschichte überhaupt
stehen; denn durch sie ist eine Erscheinung in die Welt ge-
treten, von welcher die Kunst keiner Zeit und keines Volkes
etwas auch nur annähernd Aehnliches aufzuweisen hat. Indem
hier die Musik eine Sprache redet, die mit ihrer freien und
kühnen Gresetzmässigkeit uns mächtiger als alle Logik dünken
muss, während doch das vernunftgemässe , am Leitfaden von
Grund und Folge sich bewegende Denken hier gar keinen An-
halt findet, — muss uns Beethoven's Symphonie geradeswegs als
eine Offenbarung aus einer anderen Welt erscheinen.
Begreiflich ist es, dass sich in Folge eines so ungeahnt hohen
Aufschwunges der Instrumentalmusik die musikalische Welt nach
Beethoven mit bis zur Einseitigkeit gesteigertem Eifer ihrer Pflege
zuwandte. Doch war es den musikalischen Romantikern des
19. Jahrhunderts, soweit sie sich ihm anschlössen, nicht vergönnt,
ihr grosses Vorbild zu eiTcichen, geschweige denn es zu über-
treffen. Nur diejenigen Componisten, welche sich der von Beet-
hoven vernachlässigten Oper wieder zuwendeten, konnten mit
Hülfe der von ihm hinterlassenen orchestralen Mittel dieser
Kunstgattung zu einer neuen Blüthe verhelfen, und damit auch
die Musik im Allgemeinen vor der unter den obwaltenden Ver-
hältnissen nahe hegenden Gefahr des Stillstandes bewahren.
Lanijhans, Musikgeschichte. 2. Aufi. 11
XL
Die üoraantiker des 19. Jalirliiaiiderts.
Dem Begriffe „classisch", mit welchem wir die Vorstellung
einer heiteren, naiven, in sich harmonischen Seelenstimmung ver-
binden, tritt die Romantik gegenüber, als der künstlerische Aus-
drack einer Zeit, in welcher der ernstere Theil der Menschheit,
von den herrschenden Zuständen unbefriedigt, sich aus der
realen Welt hinaussehnt und nach entfernten, unklar erschauten
Idealen strebt; nun ist zwar diese Neigung, sich über die nüch-
te»ne Wirklichkeit zu erheben, von jeher und überall das Merkmal
geistig begabter und poetischer Naturen gewesen, und demgemäss
wäre die Romantik mit der Poesie im Grunde gleichbedeutend
imd so alt wie die Welt selbst. Zu gewissen Zeiten jedoch und
bei gewissen Völkern äussert sich der romantische Trieb mit
ungewöhnlicher Stärke. Die alten Griechen, mehr äusserlich als
innerlich lebend, kannten ihn kaum und nährten ihn jedenfalls-
nicht; der Sohn des Nordens dagegen liel)te es, in sein Inneres
hinabzusteigen, wie er schon durch die Sprödigkeit und Rauhheit
seines Klimas darauf hingewiesen war, sich eine eigene Phantasie-
welt an Stelle der ihn umgebenden realen aufzubauen. Aber
auch hier unterscheiden wir Epochen, welche der Romantik mehr
oder minder günstig waren: ihre Blüthe fällt mit den Zeiten zu-
sammen, in welchen die Menschheit nach wichtigen politischen
und socialen Umwälzungen die damit verbundenen Enttäuschungen
besonders drückend empfindet, z. B. die Jahrhunderte nach dem
Zusammensturz der antiken Welt mit ihrer reichen Geistescultur
und in neuerer Zeit die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts.
Die Begeisterung, welche die Aufklärungsepoche Friedrich's des
Grossen, dann die französische Revolution, endlich die Befreiung
Europa's vom Napoleonischen Joche begleitet hatte, musste einer
XI. Die itomaiitjker des 19. Jalirliviuderts. 16o
tiefen Eutmiithiguug und Ernüchterung weichen, nachdem man
die momentane Erfolglosigkeit aller dieser Anstrengungen erkannt
hatte, und so kam es. dass damals selbst die begabtesten Na-
turen sich hoffnungslos A'on der ihnen schaal dünkenden Wirk-
lichkeit abwandten, um sich in eine fern liegende Scheinexistenz
zu flüchten.
Beim Ueberhandnehmen dieser Geistesströmung war es unver-
meidlich, dass die Kunst von dem im verflossenen Jahrhundert
betretenen Entwickelungsgange abgedrängt, und der reiche künst-
lerische Gewinn jenes Zeitraumes -wiederum in Frage gestellt
wurde. Xur nach gewissen Seiten hin konnte der Zug der Zeit,
die dämmernde Sehnsucht nach unerreichbaren Idealen, zu posi-
tiven Errungenschaften führen: zunächst auf dem Gebiete der
lyrischen Dichtung, welche eben jetzt unter dem Einfluss der
herrschenden Stimmung eine bedeutungsvolle Erweiterung ihres
Wirkungskreises erfuhr. An Stelle des allgemeinen Inhaltes, mit
welchem sich die lyrische Poesie des vorigen Jahrhunderts begnügt
hatte, traten nun die subjectiven Empfindungen des Dichters in
den Vordergrund, und das Wesen der Lyrik, ein schrankenloses
Versenken in das innerste Seelenleben, vermochte unter diesen
Bedingungen zu volitr Geltung zu gelangen. Jene Allgemeinheit
des Inhalts war es geAvesen, welche bis dahin die lyrische Dicht-
kunst gehindert hatte, ihre wahre Aufgabe zu erfüllen, d. h., wie
schon im Alterthum. mit der Musik in engster Vereinigung zu
"wirken. Nicht ohne Erfolg hatten Joh. Friedr. Keichardt
(von 1775 an Capellmeister Friedriclrs des Grossen) C.F.Zelter
(von 1800 bis zu seinem Tode 1832 Direktor der berliner Sing-
akademie) u, a. sich bemüht, das deutsche Lied künstlerisch aus-
zubilden; ihre Bestrebungen konnten jedoch aus dem erwähnten
Grunde keinen wesentlichen Fortschritt herbeiführen, und auch
Meister wie Mozart und Beethoven gewannen bei dem Zustand
der lyrischen Poesie ihrer Zeit nicht diejenige Vertiefung der
Stimmung durch sie, um der Liedcomposition ihre volle Theil-
nalime zuzuwenden. Unter dem Einfluss der Komantik aber ver-
mochte die subjective Lp'ik in der Dichtkiuist neue Formen und
reicheren Inhalt zu finden; sie erzeugte herrliche Blüthen. die
trotz ihrer blendenden Farbenfülle und ihres manchmal fremd-
artigen Duftes doch ihre Entstehung aus den Tiefen des deutscheu
Gemüthes nie verläugneten. Und damit war auch der Tonkunst
die Zunge gehist. so dass die schon längst augestrebte Umwand-
lung des Volkshedes zum Kuustliede gelingen konnte, und nunmehr
11*
\Q4: ^I- Die Romantilier des 19. Jalirliviiiclerts.
der Sieg des deutschen Liedes über die italienische Bravoiir-Arie
gesichert war.
Der Unterschied zwischen dem Volksliede nnd dem Kunst -
liede besteht in der Hauptsache darin, dass das erstere sich mit
einer und derselben Melodie für jede seiner Strophen begnügt,
während sich im Kunstliede die Musik dem Gedichte in seinem
ganzen Verlaufe, unbekümmert um die strophischen x4.bschnitte,
aufs engste anschliesst und seinen Inhalt bis in die kleinsten Züge
zu verdeuthchen sucht. Diese Liedgattung, das sogenannte durch-
componirte Lied, unterscheidet sich ferner auch durch seine Be-
gleitung vom volksthümlichen Strophenliede, indem dieselbe eine
ungleich höhere Selbständigkeit behauptet, derart, dass sie nicht
nur neben der Singstimme ihren eigenen Weg geht, sondern auch,
wenn es der Inhalt des Gedichts erfordert, zeitweihg an ihre
Stelle tritt, um die feineren, dem Worfausdruck allein nicht
erreichbaren Stimmungsnüancen dem Verständniss des Hörers zu
vermitteln. Beim Volkslied hingegen ergiebt sich die Begleitung
wie von selbst aus der Melodie, deren harmonische und rhythmische
Verhältnisse für sie allein maassgebend sind, höchstens dass sie
durch Brechung (Ai'peggio) der Accorde die Bewegung bis zu
einem gewissen Grade verstärkt. Es liegt* auf der Hand, dass
die deutsche Liederdichtung in ihrer nunmehrigen neuen Gestalt
der Phantasie des Tonkünstlers ein unermesshches Gebiet des
Schaffens eröffnete ; von ihm Besitz zu nehmen und es mit genialer
Freiheit zu beherrschen, hat aber keiner sich würdiger gezeigt als
Franz Schubert, den wir deshalb mit Recht als den Schöpfer
des deutschen Kunsthedes verehren.
Schwerhch wäre diese künstlerische That Schubert's so voll-
ständig gelungen, wenn nicht seine ausserordenthche musikahsche
Begabung mit einer seltenen natürlichen Kraft und Unbefangen-
heit gepaart gewesen wäre, wenn nicht das maassvolle, harmonische
seiner Künstlernatur ihn vor den Ausschreitungen der roman-
tischen Richtung bewahrt hätte, von denen selbst sein grosser
Vorgänger Beethoven nicht freizusprechen ist. Dass die Gewalt-
samkeiten, zu denen sich der letztere nicht selten auf Kosten der
Schönheit hat hinreissen lassen, wenig nach Schubert's Geschmack
waren . dürfen wir aus der folgenden, seine Kunstauffassung
charakterisirenden SteUe seines Tagebuches schliessen, geschrieben
am Tage der Jubelfeier Salieri's, nachdem dessen Schüler eine
Aufführung ihrer Compositionen veranstaltet hatten: ..Schön und
erquickend muss es dem Künstler sein, in den Compositionen
XI. Die IrtomaiitiUer des 19. JaUrhujiderts. X65
seiner Schüler blosse Natur mit ihrem Ausdruck, frei von aller
Bizarrerie zu hören, welche bei den meisten Tonsetzern jetzt zu
herrschen pflegt und einem unserer grössten deutscheu Künstler
beinah allein zu danken ist; von dieser Bizarrerie, welche das
Tragische mit dem Komischeu, das Angenehme mit dem Widrigen,
das Heroische mit Heulerei, das Heiligste mit dem Arlecjuino
vereint, verwechselt, nicht unterscheidet, die Menschen in Raserei
versetzt statt in Liebe auflöst, zum Lachen reizt anstatt zu Gott
zu erheben". Ungeachtet dieser, in Betreff des Schönheitsideals
abweichenden Richtung Schubert's von der Beethoven's, welcher
hier ohne Frage mit dem „grössten deutschen Künstler" gemeint
ist*), war er doch voller Verehrung für den älteren Meister, zu
dessen gewaltiger Künstlerpersönlichkeit er schon von frühester
Kindheit an — Schubert ist 1797, mithin fast ein Menscheualter
nach Beethoven geboren — mit einem Gremisch von Liebe und
Bangigkeit hinaufgeblickt hatte. Und als er im Alter von noch
nicht zweiunddreissig Jahren (1828) am Nervenfieber starl), waren
seine letzten Worte: „Beethoven ist nicht hier" was die Seiuigen
veranlasste, ihn in nächster Nachbarschaft seines grossen Vor-
gängers zu bestatten. Mehr als alles dieses jedoch bekunden
Schubert's Compositionen für Orchester- und Kammermusik seine
Geistesgemeinschaft mit Beethoven, denn ohne seinen Trieb zui-
Anmuth und reinen Schönheit zu verläugnen, hat er es verstanden,
dem auf diesen Gebieten unerreichbaren Meister näher zu konnnen,
als irgend einer seiner Zeitgenossen oder Nachfolger.
Und doch ist es Schubert nicht vergönnt gewesen, mit Aus-
nahme seines Es-dur-Trio, auch nur ein einziges seiner grösseren
Instrumentalwerke l)ei seinen Lebzeiten anerkannt zu sehen. Die
geringe Dauer seiner Künstlerlaufbahn, die unmittelbare und
erdrückende Nähe Beethoven's, dessen Werke eben damals die
ganze und volle Theilnahme der ernster strebenden Musikfreunde
in Anspruch nahmen, während andererseits die Rossini'sche Ojjcr
das grosse Publicum in ihren Banden hielt, dies sind die Ursachen,
weshalb Schubert erst geraume Zeit nach seinem Tode die ver-
diente allseitige Würdigung gefunden hat. Nur als Liedercom-
ponist wurde er schon von seinen Zeitgenossen gefeiert, haupt-
*) Schubert mag dabei an die A-dur-Symphonie mit ihrem erhabenen
Allegretto und ihrem ausgelassen tobenden Finale gedacht haben ; oder auch
an jene Stelle im Finale der F-dur-Symphonie (Nr. 8, S. 59 der Breitkopf-
schen Ausgabe), wo das liebenswürdige Pianissimo-Getändel in C-dur uner-
warteter Weise durch ein Fortissimo-Des aller Instrumente unterbrochen wird.
^()6 X.I. 33ie Roniaiitjlier .cies 19. Jalirlivuiderts.
sächlich nachdem der ihm innig befreundete Sänger J. M. Vogl
(von 1794 — 1822 Mitglied des wiener Hof- Operntheaters) den
„Erlkönig" im Jahre 1821 — erst volle fünf Jahre nach seiner
Entstehung! — öffentlich vorgetragen hatte. Dies Lied machte
Schubei-t's Namen in ganz Deutschland bekannt, doch stand die
Nachfrage nach seinen weiteren Liedcompositionen auch jetzt
noch nicht annähernd im Verhältniss zu seiner Productionskraft.
Kaum der sechste Theil der gegenwärtig bekannten Lieder
Schubert's ist zu seinen Lebzeiten veröffenthcht worden, obwohl
er nicht eines geschrieben hat, welches nicht den Stempel des
Genius trüge, wenn auch der Reichthum seiner Phantasie ihn
dann und wann über die künstlerischen Schranken hinausgeführt
hat, und auch die Wahl seiner Texte nicht immer eine glückliche
gewesen ist*). Die ihm nachfolgenden Liedercomponisten Men-
delssohn, Schumann und Robert Franz sind in mancher
Hinsicht kritischer zu Werke gegangen ; auch gestattete ihnen die
ungleich reicher entwickelte lyrische Dichtung ihrer Zeit, die
Gattung nach gewissen Richtungen hin auszubilden; aber weder
die geglättete Form des Mendelssohn'schen, noch die Gedanken-
tiefe des Schumaun'schen Liedes vermögen die naive Kraft und
den unerschöpflichen Melodienreichthum des Schubert'schen auf-
zuwiegen. Nur Robert Franz, in dessen Liedern eine unge-
meine künstlerische Gestaltungskraft mit reinster Natürlichkeit
der Empfindung verbunden ist, scheint berufen, für Schubert's
Verlust vollen Ersatz zu liefern und darf schon jetzt, obwohl
noch unter den Lebenden weilend, als sein legitimer Erbe be-
zeichnet werden.
Die Eigenthümlichkeit und Bedeutung des Franz'schen Liedes
beruht zunächst auf seiner Verwandtschaft mit dem älteren deut-
schen Volksliede und dem aus derselben Quelle geHossenen pro-
testantischen Choral. Mit dem letzteren namentlich hat sich Franz
von Jugend auf vertraut gemacht, und in ununterbrochenem eifrigen
Umgang mit den Werken Häudel's und Bach's, im besondern mit
*) Dies namentlich im Anfang seiner Componistenlaufbalm; später
wandte er sich mit Vorliebe der Lyrik Goethe's zu, ohne dass jedoch diese
Neigung Erwiderung von Seiten des Dichters gefunden hätte. Von den
etwa sechzig seiner Gedichte, die Schubert in Musik gesetzt hat, und welche
Goethe vielfach gut vortragen zu hören Gelegenheit hatte, scheint nicht
eines die ihm vertrauteren Compositionen J. F. Reichardt's und Zelter's
verdrängt zu haben, denn weder in seinen Schriften noch Tagebüchern ist
Schubert's Name erwähnt.
XI. Die Roman tiker des 19. JahrhLtuiderts. 167
den Chorälen des letzteren, gewann er für die eigene Tongestal-
tung jene ruhige Kraft, welche ihn vor der, in den Jahren seiner
Entwickelung die Welt beheiTSchenden romantischen Unriüie
bewahrte. "Wie der protestantische Choral hei dem, durch seine
Melodie bedingten harmonischen Reichthum von den genannten
Meistern zu den gewaltigsten contrapunktischen Schöpfimgen ver-
wendet worden war, so birgt auch Franz' Melodie Schritt für
Schritt eine latente Harmonie in sich imd darf deshalb im streng-
sten Sinne pol}'i)hon genannt werden. Auf den Eiutluss des alt-
deutschen Liedes sowie der Compositionen Bach's und Händel's
ist auch Franz' Behandlung der Harmonie zurückzuführen; hier
zeigt sich nämlich, wie August Sarau in seiner lesenswerthen
Schrift über den Künstler hervorhebt*), die merkwürdige Er-
scheinung, dass Franz, obschon er der Hauptsache nach das
moderne Tonsystem — also die Dm-- und MoUscalen — in An-
spi-uch nimmt, doch auch bei zahkeichen Nrnnmern, und nament-
lich bei volksmässigen Texten, auf die alten Kii-chentonai-ten
zurückgeht und deren specitisches Tonmaterial verwendet; so hat
er der modernen Musik diese beinahe vergessene Tonwelt gleich-
sam wieder entdeckt und ihi- damit ein überaus reichhaltiges und
bedeutsames Ausdi'uckselement zugeführt. Die Rhythmik ist bei
Franz, der von ihm angestrebten und erreichten engen Verschmel-
zung des Tones mit dem Worte entsprechend, von ungewöhnUcher
Mannichfaltigkeit jedoch durchaus ungekünstelt; auch die Ciavier-
begleitung ist bei aller ihrer Bedeutsamkeit dem rh)i:hmischen
Flusse der Singstimme niemals hinderhch; sie illustrirt die Can-
tilene nicht blos von aussen her, sondern spriesst mit innerer
Nothwendigkeit aus ihr hervor mid steht zu ihr in demselben
organischen Verhältniss, durch welches sich die Begleitung in
Franz' Bearbeitungen Bach'scher und Händel'scher Vocalwerke
von" der rein accordischen Behandlung der Geueralbasstimmen
auszeichnet. Indem Franz seine ganze Kraft auf die Lied-
composition concentrü-te, hat er sich durch eine richtige Erkennt-
niss seiner entschieden Ijaüschen und contemplativ geai-teten Natur
*) Robert Franz und das deutsche Volks- und Kirchenlied von August
Saran. Mit Notenbeilagen. Leipzig. Nicht weniger beachtenswerth sind
Franz Liszt's zuerst in der „neuen Zeitschrift für Musik" veröffentlichte
Aufsätze über Franz (1872 bei Leuckart als Broschüre erschienen); auch hat
Franz Hü ff er in seiner Schrift „Richard Wagner und die Musik der
Zukunft" (Leipzig, 1877) einen schätzbaren Beitrag zum Verständniss des
Meisters geliefert.
168 X.I. I>ie itomaiitiUer des 19. Jah.rliu.ii<aert3.
leiten lassen. Diese wirkte auch bestimmend auf die Art, wie
er den dichterischen Stoff seiner Lieder auffasst und be-
handelt, wie er den leidenschaftlichen Stimmungen die extremen
Spitzen abbricht und sie zu maassvoller Ruhe sänftigt. Hierin
nähert er sich ebenfalls der altdeutschen Lyrik; denn wenn auch
der „Weltschmerz" als das charakteristische Gepräge aller neueren
Lyrik, in seinen Melodien zum Ausdruck gelangt, so erscheint
derselbe doch frei von jeglicher barocken Verzerrung oder krank-
haften Selbstbespiegelung, vielmehr ein reiner treuer Ausdruck
der tiefen Sehnsucht nach dem Idealen, die jedes Menschenherz
durchdringt.
Wie die lyrische, so gelangte auch die dramatische Tonkunst
unter dem Einfluss der romantischen Dichtung in ein neues Ent-
wickelungsstadium. Zwar hatte die Oper nach musikalischer Seite
durch Gluck und Mozart eine solche Bereicherung erfahren, dass
man kaum daran denken konnte, ihren Besitzstand in dieser Be-
ziehung noch zu vermehren; nach Seite des poetischen Inhaltes
und der Form des Textes dagegen machte sich das Bedürfniss
nach einer Veredlung auch dieser Kunstgattung in dem Maasse
geltend, wie die Romantik in der Dichtkunst an Bedeutung ge-
wann. Zur Entstehung und Ausbildung der romantischen
Oper erwies sich Deutschland als ein vorwiegend günstiger Boden,
theils wegen der im deutschen Charakter begründeten Neigung
und Fähigkeit, dem geheimnissvollen Untergrund der realen Dinge
nachzugehen, den Offenbarungen der Natur verständnissvoll zu
lauschen, sich auf den Flügeln der Phantasie in die fernsten
Zeiten und Regionen zu versetzen; theils wegen des, in Folge
der Befreiungskriege bei dem grössten Theile der Deutschen zum
Durchbruch gekommenen Nationalgefühls, zu dessen Befriedigung
die romantische Oper besser als die bisherige beitragen konnte,
weil sie durch ihre, meist der deutschen Volkssage entnommenen
Stoffe zur Ausbildung eines nationalen Colorites der Dichtung
wie der Musik gedrängt wurde. Allerdings lag hier für beide
Künste die Gefahr nahe, im Conflict der Phantasiewelt mit der
Wirklichkeit das künstlerische Gleichgewicht zu verlieren und dem
Subjectiv-Phantastischen zu grosse Rechte einzuräumen. Doch
standen gerade der Tonkunst die Mittel zu Gebote, durch scharfe
Zeichnung der Charaktere und getreue Schilderung der Situationen
diesen Zwiespalt auszugleichen, und indem sie zur Erreichung
dieses Zweckes angewiesen war, ihr technisches Vermögen zu
erv\^eitern, so hat sie der romantischen Oper eine Bereicherung
XI. Die Roiuantiker ties 19. JahxliivndertB. 169
ZU danken, welche ihr in der Folge auch auf anderen Gebieten
zu Nutze gekonnnen ist.
Ludwig Spohr (1784 — 1859), Carl Maria von Weber
{1786—1826) und Heinrich Marschner (1795—1861) wurden
die musikaHschen Dolmetscher der oben beschriebenen, im deut-
schen Volke schlummernden Stiimnimgen und Neigungen. Spohr,
als Musiker seinen beiden Nebenbuhlern überlegen, wie dies seine
zahlreichen und gediegenen Instrumentalwerke bekunden, zeigt
sich im dramatischen Fache als der Schwächste A'on ihnen. Sein
Hang zur Gefiihlsschwelgerei und zum elegischen Pathos hinderten
ihn an einer consequeuten Ausarbeitung seiner Charaktere, und
nur da, wo es sich um Schilderung von Situationen imd Vor-
gängen handelt, die seiner engbegrenzten Emptindungsweise analog
sind, wie z. B. in der 1823 zuerst aufgeführten „Jessonda", ver-
mag er auch von der Bühne herab zu wirken. Als dramatischer
Componist ihm weit überlegen ist Marschner, ein Meister in
der Darstellung des Unheimlichen und Dämonischen (z. B. im
„Vampyr" 1828) wie auch in der Zeichnung volksthümhcher imd
komischer Charaktere*). Hierin wird Marschner selbst durch
Weber nicht erreicht; bei diesem war es die Universahtät der
künstlerischen Begabung, welche, unbeschadet seinem deutsch-
nationalen Wesen, seiner Musik eine so zündende Kraft ver-
lieh, dass sie nicht nur im Vaterlande des Componisten, son-
dern, was weder bei Spohr's noch bei Marschner's Musik der
Fall gewesen ist. noch weit über die Grenzen Deutschlands hiu-
-aus enthusiastische Bewunderung erregt hat.
Wie die künstlerischen Leistungen Weber's, so verdienen
auch seine Lebensschicksale unsere volle Theilnahme. Ein durch
die Verhältnisse seines Vaters, eines Theaterdh-ectors, bedingtes
Wanderleben von Kindheit an und die hieraus folgende unsyste-
matische Erziehung konnten dem Ernst seines künstlerischen
Strebens keinen Abbruch thun, so wenig wie seine Erfolge als
Ciaviervirtuose im Knaben- und frühen Jünglingsalter. Noch im
vierundzwauzigsten Lebensjahre, nachdem er schon seine erste
Oper ,,Das Waldmädcheu'* geschrieben (später umgearbeitet als
*) Auf diesem letzteren Gebiete tritt er in den schäi'fsten Gegensatz
zu Spohr, der das Volkstliümliche so wenig als einen Vorzug der drama-
tischen Musik erkannte, dass er einmal in einem Gesjiräch über Weber's
, .Freischütz" äusserte ,,wenn darin der Nerv der Musik liege, dann müsse
es keine grösseren und glücklicheren Componisten geben als Kauer und
Wenzel INIüller und keinen schlechteren und unsfUicklichereu als Gluck."
170 ^'- I5ie Komautilser des 19. Jalirh-uiiclerts.
„Sylvana" erscliieneu) und eine Capellmeisterstelle bekleidet hatte^
begab er sich zum Abt Vogler in die Lehre, um durch ernste
Studien in der Compositionstechnik das früher Versäumte nach-
zuholen. Zm- vollen Entfaltung seiner Kraft gelangte er 1813
als Capellmeister am landständischen Theater in Prag, ohne jedoch
liier rechte Befr'iedigung zu finden, hauptsächlich weil sein stark
entwickeltes Nationalgefühl auf dem nicht -deutschen Boden nur
ungenügende ISTahrung fand, Berlin, der Ausgangspunkt der
deutsch-i)atriotischen Bestrebungen, welche "Weber durch seine
damals entstandenen Compositionen der Kömerschen Freiheits-
lieder „Leier und Schwert" künstlerisch verherrlicht hatte —
BerUn wäre der seinen Wünschen völlig entsprechende Schau-
platz seiner Thätigkeit gewesen, hätte nicht hier eben jetzt — ein
wunderlicher Anachronismus — der musikalische Herold des be-
siegten französischen Lnperators, Spontini, auf Veranlassung
Friedrich "Wilhelm's III. die Herrschaft über das gesammte Opem-
wesen angetreten. Eiue Berufung an die neubegründete deutsche
Oper in Dresden konnte den Meister nur theilweise für das Miss-
lingen seiner Berliner Pläne entschädigen; denn wenn er auch
hier auf deutschem Boden weilte und wirkte, so waren doch im
Publicum seit dem, für Sachsen ungünstigen Ausgange der Be-
freiungskriege die Sympathien füi- Deutschland nur in äusserst
schwachem Maasse vorhanden; ausserdem hatte Weber dm'ch die
Gegnerschaft der bei Hof und Adel noch immer hoch angesehenen
itahenischen Oper und ihres Capellmeisters Morlacchi mancherlei
Hemmnisse seiner Bestrebungen zu erdulden. Dadurch erklärt
es sich, dass es ihm nicht einmal gelingen konnte, sein Meister-
werk „Der Freischütz" an der Stätte seiner persönlichen "Wirk-
samkeit zui- Aufführung zu bringen. Berlin war es, welches durch
die erste Aufführung des „Freischütz" (1821) gleichsam eine
Ehrenschuld gegen den deutschen Meister abtrug und zugleich
der Schauplatz eines der glänzendsten Triumphe der deutschen
Tonkunst wurde; denn nicht allein Avar mit diesem Werke die
deutsche Oper in ihre vollen Rechte eingetreten, sie hatte auch
einen Sieg über die italienische errungen, welcher an Bedeutsam-
keit dem A-ierzig Jahre früher in Paris durch Gluck erkämpften
in keiner Weise nachsteht, denn von nun an war in der preus-
sischen Hauptstadt die musikahsche Herrschaft des Auslandes
gebrochen, der Erfolg des „Freischütz" hatte dem Glauben an
die musikahsche Unfehlbarkeit Spontini's ein Ende gemacht.
Mit dem „Freischütz", der die treue Liebe jugendlicher
I
XI. Die RoTTiaiitilier cles 19. JaUrhuiiderts. 171
Gemüther von echt deutscher Innigkeit und Keuschheit, daneben
die dämonischen, den Menschen umgarnenden GeAvalten, alles dies
auf dem Untergründe des romantischen Waldlebens, in Tönen
schildert, welche in frischester Unmittelbarkeit dem Herzen ent-
quellen, hat Weber seinem Volke ein Kunstwerk geschaffen,
dessen Popularität schwerlich jemals übertrügen werden kann.
Nicht durch hohe Genialität und absolute Beherrschung des
Stoffes, wie sie Mozart eigen gewesen, sondern durch sein liebe-
volles Eingehen auf die geheimsten Emplindungen der deutschen
Volksseele konnte Weber zum Liebling seiner Nation werden
und sich als solcher bis auf den heutigen Tag behaupten. Die
Dankbarkeit, welche Deutschland ihm schon bei seinen Lebzeiten
bewiesen hatte, fand noch ungleich wärmeren Ausdruck, als acht-
zehn Jahre nach seinem Tode (London 1826) die auf fremd-
ländischem Boden bestatteten Reste des Meisters seinem Vater-
lande feierlich zurückgegeben wurden. „Nie hat ein deutscherer
Musiker gelebt als Du!" so lauteten die begeisterten Worte, mit
welchen Richard Wagner, als Nachfolger Weber's am Diri-
gentenpulte des Dresdner Hoftheaters, die Feierlichkeit zur Be-
stattung in heimischer Erde eröffnete — „Wohin Dich auch Dein
Genius trug, in welches ferne Reich der Phantasie, immer doch
blieb er mit jenen tausend zarten Fasern an das deutsche Volks-
herz gekettet, mit dem er weinte und lachte Avie ein gläubiges
Kind, wenn es den Sagen und Märchen der Heimath lauscht.
Ja, diese Kindlichkeit war es, die Deinen männlichen Geist wie
sein guter Engel geleitete, ihn stets rein und keusch bewahrte;
und in dieser Keuschheit lag Deine Eigeuthümlichkeit: wie Du
diese herrliche Tugend stets ungetrübt erhieltest, brauchtest Du
nichts zu erdenken, nichts zu erfinden, — Du brauchtest nur zu
empfinden, so hattest Du auch das Ursprünglichste erfunden."
Der weitere Verlauf der von der deutschen Tonkunst ein-
geschlagenen romantischen Richtung zeigt uns zwei Musiker, welche
mit ihren Schöpfungen der Gegenwart so nahe stehen und bei
der- heutigen Generation ein so volles Verständniss gefunden
haben, dass es hier genügen darf, ihre Stellung zur musikalischen
Entwickelung im Allgemeinen zu kennzeichnen. Felix Mendels-
sühn-Bartholdy (1809—1847) und Robert Schumann (1810
— 1856) sind die Hauptvertreter derjenigen Schule, welche sich
die Weiterbildung der Instrumentahnusik auf Grund der Beet-
hoven'schen Hinterlassenschaft zum Ziel setzte. Diesen durch
gleichartige Leistungen zu übertreffen, wurde bereits an früherer
172 XI. Die Romantiker des 19. Jalirliunclerts.
Stelle als eine Unmöglichkeit bezeichnet, doch ist es den beiden
genannten Meistern nicht versagt geblieben, das Ausdrucksgebiet
der Instrumentalmusik nach gewissen Seiten hin zu erweitern.
So konnte Mendelssohn in der Treue der Naturschilderung durch
Töne nicht allein Beethoven, sondern auch Weber übertreffen,
Avie z. B. in seiner Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt",
und es sogar unternehmen, landschaftliche Bilder lediglich mit
Hülfe orchestraler Mittel zur Anschauung zu bringen, wie in der
Ouvertüre „Die Hebriden" und den Sinfonien in A-dur und
A-moll, die ihre Beinamen der „itahenischen" und „schottischen"
mit doppettem Rechte tragen, weil sie ausser dem nationalen
auch den landschaftlichen Charakter dieser Länder — den der
Componist übrigens auf seinen Reisen selbst zu erfassen Gelegen-
heit gehabt hatte — in ihrer Musik wiederspiegeln. In der Be-
herrschung grosser, breitentwickelter Formen erweist sich Schumann
als der Höherbegabte, übertrifft auch Mendelssohn noch an Tiefe
der Gedanken, so dass er mit seinen formvollendeten, vom ganzen
Zauber der Romantik erfüllten Symphonien und Kammercompo-
sitionen unter den Vertretern der nachbeethoven'schen Instrumental-
musik obenan stehen darf.
Dennoch dürfen wir den Schwerpunkt seiner Leistungen wie
auch der Mendelssohn's nicht in der Orchestermusik oder in den
grossen Formen überhaupt suchen. Die durchaus subjective Natur
beider Künstler, welche bei Schumann gegen das Ende seiner
Laufbahn sogar zu einem eigensinnigen Einspinnen in die per-
sönliche Gefühls- und Gedankensphäre führte, veranlasste sie, sich
mit Vorliebe den kleinen und kleinsten Formen zuzuwenden;
solchen, in denen die flüchtig auftauchenden Stimmungen des
individuellen Menschen zum Kunstwerk fixirt werden, wie im
Liede und noch mehr in der von Mendelssohn eingeführten Kunst-
gattung, dem „Lied ohne Worte" für Ciavier, in welchem der
Tonsetzer den momentanen Eingebungen mit ungleich grösserer
Freiheit folgen darf als im wirkHchen Liede, da er dort weder durch
Textesworte noch durch ein Versmaass gebunden ist. In dieser
Gattung von Stimmungsbildern haben sowohl Mendelssohn wie
Schumann, dieser in seinen, den Liedern ohne Worte nachgebil-
deten „Kinderscenen" „Novelletten" etc. Bedeutendes geschaffen,
doch lief die Tonkunst dabei Gefahr, sich zu sehr ins Individuelle
zu verlieren, und von ihrer allgemeingültigen Kraft einzubüssen.
Mendelssohn's Subjectivismus erhielt ein heilsames Gegengewicht
durch seine Anlehnung an Bach und Händel — wir sahen schon
XI. Die Romaiitilier des 19. Jalirttunderts. 173
bei Erwähnimg seiner Oratorien, wie das Studium der "Werke
dieser Meister auf seine eigene Productiou fördernd gewirkt hat;
Schumann dagegen Hess, besonders in seinen Ciavierwerken die
subjective Stimmung und das romantische Sehnen so schi-ankenlos
walten, dass Herder's bei früherer Gelegenheit (S. 11) citirter
Ausspruch über die Gelahrlichkeit einer Trennung der Instru-
mentalmusik von der Vocalmusik hier seine Bestätigung lindett
denn in der That versetzt uns Schumann's Ciaviermusik nicht
selten ..in ein Eeich dunkler Ideen, und weckt Gefühle auf. welche
im Strome künstlicher Töne ohne das Wort keinen Weg-
weiser finden." Aus dem Gesagten ergiebt sich von selbst, dass
weder Mendelssohn noch Schumann für die dramatische Musik
eine hervorragende Begabung hatten, denn diese ist durch die
Fähigkeit des Künstlers bedingt, sich zu objectiviren, die eigene
Individualität mit der Aussenwelt in Uebereinstmimung zu setzen,
seine Gebilde als von seiner Person losgelöst erscheinen zu lassen.
Die von ersterem hinterlassenen Fragmente der Oper „Loreley"
können ungeachtet ihres hohen musikalischen Werthes den Hörer
nicht darüber täuschen, dass der Concertsaal und nicht das Theater
ihre eigentliche Heimath ist, und Schumann's Oper „Genoveva",
welche der Leipziger Kritiker J. C. Lobe nicht unrichtig ein
grosses durchcomponirtes Lied genannt hat, vermochte wegen
mangelnder dramatischer Lebenskraft nur eine Scheinexistenz zu
führen, wie man sich nach wiederholten Versuchen auf verschie-
denen deutschen Bühnen überzeugen musste.
Nicht weniger üppig als in Deutschland hat sich die Ro-
mantik bei den Franzosen entfaltet, besonders nachdem dort in den
dreissiger Jahi-en unseres Jahrhunderts Victor Hugo als dichte-
rischer Vorkämpfer der romantischen Ideen aufgetreten war. Die
musikalischen Repräsentanten dieser Ideen, Hector Berlioz
(1803—1869) und Franz Liszt (geb. 1811) können jedoch kaum
als französische Musiker gelten — der letztere schon Avegen seiner
ungarischen Nationalität nicht — denn da sie in der Instrumental-
nmsik das ihrem kunstschöpferischen Drange entsprechende Ton-
material fanden, so mussten sie folgegemäss im Vaterlandc der-
selben, bei den deutschen Meistern der Instrumentalcomposition
ihren Stützpunkt suchen. Bei ihrer innigen Verehrung für Beet-
hoven jedoch, welche Liszt namentlich bewähi-en konnte, indem
er seine unglaubliche Reproductionskraft als Ciaviervirtuose in
den Dienst des Meisters stellte, war es ihnen schwer, die Klippe
zu vermeiden, an welcher ein Theil ihrer deutschen Kunstgenossen,.
[1^74; XI. X)ie Koiiiaiitilier des 19. Jalirlix-iiiderts.
soweit dieselben auf der Beethoven'schen Instriimeutalmusik weiter
gebaut, gescheitert waren. Doch wussten sie beide dieser Gefahr
7Ai entgehen, indem sie eine glückliche Allianz mit der Poesie
eingingen und dieselbe auf ihrer Fahrt durch das stürmische
Meer der Töne zum Wegweiser nahmen: sie legten ihren Instru-
nientalcompositionen einen bestimmten dichterischen Stoff zu
Grunde, durch welchen sie sich zur Tongestaltung anregen liessen.
ohne sich jedoch deshalb in der Freiheit derselben zu beschränken,
und wurden so die Schöpfer der sogenannten Programm-Musik.
Diese von Berlioz und noch entschiedener von Liszt in seineu
„symphonischen Dichtungen'- eingeschlagene Eichtung ist vielfach
als ein Irrweg bezeichnet worden, und selbst ein so entschiedener
Vorkämpfer des künstlerischen Fortschrittes, wie Richard Wagner,
konnte anfänglich die Programm-Musik verwerfen, als ein „egoisti-
sches Streben der Sonderkünste nach Mittheilung eines, ausser-
halb ihrer Sphäre liegenden, ihren eigenen Mitteln unerreichbaren
Inhaltes"; später jedoch änderte er seine Meinung, weil er, wie
es in seiner Schrift „Ueber Franz Liszt's symphonische Dich-
tungen" ausgesprochen ist, inzwischen eingesehen hatte „dass die
Programm-Musik nicht dem Wort oder der bildenden Kunst den
Rang ablaufen und Dinge darstellen will, die nur jenen zugäng-
lich sind, vielmehr eine besondere Art des Vereines zweier
selbständiger Factoren bildet: der Poesie und der Musik," Ist
nun zwar diese Vereinigung der hörbaren Musik mit der lediglich
im Geiste des Hörers wirkenden Dichtung um* eine überaus
lockere und, wenn man will, unvollständige; ist ferner das Zu-
sammenwirken der beiden Künste während des Kunstgenusses
selbst schwer zu erweisen, so kann doch nicht in Abrede gestellt
werden, dass die Poesie auch in diesem Falle dem schaffenden
Meister einen Anhaltepunkt bei der Entwickelung seiner Gedanken
bietet und ihn zur Erfindung neuer Foimen hinleitet, dem Zu-
hörer aber das Verständniss des musikalischen Kunstwerkes wesent-
lich erleichtert.*)
*) Die Programm-Musik verfehlt nur dann ihre Aiifgahe. wenn sie es
unternimmt, concrete Empfindungen und bestimmte Vorgänge darzustellen,
wie z. B. Froberger (17. .Jahrhundert) die Abenteuer einer Rheinfahrt in
einer Ciaviersuite zn schildern versucht „wo u. a. vorgestellt wird, wie
Einer dem Schiffer seinen Degen reicht und darüber in's Wasser fällt'- —
und Kuhn au in seiner ..Musikalischen Vorstellung einiger biblischer Hi-
storien in sechs Suonaten auf dem Ciavier zu spielen" (1700) den Betinig
LaV)an's durch Jakob musikalisch illustriren will. Dahin gehört auch Seb.
Bach"s Capriccio ülier die Abreise seines Bruders, mit der „Vorstellung unter-
XI. X)je Korn all tilver des lO. JalirlixiiKlerts. 1T&
Das charakteristische Merkmal der musikalischen Romantiker
Frankreichs , jene Vereinigung des Kunstgeistes verschiedener
Nationalitäten, tritt am deutlichsten bei Friedrich Chopin her-
vor. Von französiscli-i)olnischen Eltern 1809 bei Warschau ge-
boren, und im innigen Geistesverkehr mit den deutschen Instru-
mental-Meistern zum Künstler gereift, vermochte er auf Grund
der in ihm verschmolzenen Empfindungsweise dreier Nationen
sich ein eigenes Toureich aufzubauen, in welchem er eine unbe-
schränkte Herrschaft ausübte. Der chevalereske Sinn und der
geschichtliche Schmerz des Polen, die leichte Annmth und Grazie
des Franzosen, der romantische Tiefsinn des Deutschen vereinigen
sich in Chopin zu einem Ganzen von solcher Originalität, dass
seine Musik, wenngleich lediglich für das Ciavier erdacht, doch
auch über das Gebiet dieses Instrumentes hinaus befruchtend
wirken konnte. Wenige Componisten haben im Beginn ihrer
Laufbahn so geringe Anerkennung gefunden als er; stellte ihm
doch Kalkbrenner, als er. selbst schon ein fertiger Künstler,
in Paris dessen Unterricht suchte, die Bedingung, sich zu einem
dreijährigen Cursus zu verpflichten! Indessen wusste er sich hier
durch eigene Kraft bald eine Stellung zu erringen, welche die
seiner Nebenbuhler weit überragte, und sein schöpferischer Ge-
nius nahm in der Folge, trotz körperlicher Leiden, einen so ge-
waltigen Flug, dass er bei seinem frühen Tode (1849) der
musikalischen Welt ein Erbtheil von unerschöpflichem Reichthum
liinterlassen konnte.
Die in der Natur des Claviers begründete, durch Chopin
und Liszt zu überraschender Höhe gesteigerte Fähigkeit, für sich
allein das ganze Ausdrucksgebiet der Musik zu umfassen, den
Empfindungen des Einzelnen in ihrem weitesten Umfange und
unabhängig von jeglicher fremden Mitwirkung als Organ zu dienen,
— diese Fähigkeit lässt uns das Uebergewicht, welches das Ciavier
in neuerer Zeit über die anderen Instrumente errungen, als eine,
durch die Romantik des 19. Jahrhunderts wesentlich bedingte
Erscheinung erkennen, wenn auch der Ursprung des modernen
Clavierspiels noch in die classische Epoche des vorigen Jahr-
hunderts zurückreicht. Die Väter desselben sind Mozart, auf
welchen die durch Em. Bach vermittelten Traditionen Seb. Bach's
schiedlicher Casunm, die ihm in der Fremde könnten vorfallen", eudlicli
Beethoven's ,, Schlacht von Vittoria" und seine Nachahmung der Vogel-
stimmen im zweiten Satze der Pastoralsymphonie, welches Werk jedr)ch im
Uebrigen als Prosframm-Musik im besten Sinne gelten darf.
176 XI. Die Roxnaiitilser des 19. Jahrhunderts.
übergegangen waren," und Muzio Clementi (geb. zu Rom 1752
gest. zu London 1832) der jenem aU' Gediegenheit nicht nach-
stand, hinsichts der Eleganz des Spieles aber ihn sogar noch
übertraf. Sie wurden die Häupter zweier Schulen, die wir als
die Aviener und die londoner bezeichnen können; von diesen beiden
Schulen war es auffallender Weise die wiener, in welcher die
Virtuosität zuerst die Oberhand über den strengen ernsten Stil
gewann, und zwar ist Mozai-t's Schüler Nepomuk Hummel
(1778 — 1837) der Vertreter der neuen, wenn auch noch gediegenen,,
so doch eine glänzende Bravour nicht verschmähenden Richtung,
luden zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wurde Carl Czerny
(1791 — 1857) das Haupt der wiener Schule, aus welcher nunmehr
eine grosse Zahl von Virtuosen hervorgingen, in deren Leistungen
das Streben, durch Fingerfertigkeit zu überraschen, auf Kosten
des musikalischen Gehaltes in den Vordergi*und trat, bis mit dem
Erscheinen der drei bedeutendsten Schüler Czerny's Franz Liszt
(geb. 1811) Sigismund Thalberg (1812—1871) und Theodor
Kullak (geb. 1818) das Ciavierspiel wiederum die Lösung höherer
Kunstaufgaben zum Ziel nahm. Von diesen haben sich Liszt
und Kullak vornehmlich an Beethoven angelehnt, indem sie in den
Geist dieses, auch hinsichts seiner Behandlung des Clavieres
einzig dastehenden Meisters eindrangen und das in weiteren
Kreisen noch schlummernde Verständniss fiir seine künstlerischen
Offenbarungen weckten, während Thalberg durch Ausbildung einer
bestimmten Seite der Ciavier-Technik, des gesangreichen Spieles,
die Ausdrucksfähigkeit des Instrumentes den ■ neuen Aufgaben
entsprechend erweiterte.
Die londoner Schule des Clementi wurde von dessen Schüler
J. B. Cramer (1771 — -1858) fortgesetzt, der sich namentlich durch
das Studium der Werke Bach's und Händel's jene Meisterschaft
im Ciaviersatze aneignete, die -wir in seinen berühmten Etüden
bewundern. Weitere bedeutende Schüler Clementi's sind Lud-
wig Berger (1777—1839) der Lehrer Mendelssohn's, und John
Field (1782 — 1837) bekannt durch seine den Chopin'schen nahe
verwandten Noctumen. — Eine dritte, um Anfang des Jahr-
hunderts in Prag entstandene, zuerst von Dionys Weber, dann
von Tomaschek geleitete Schule des Ciavierspiels fand in des
ersteren Schüler Ignaz Moscheies (1794—1870) ihren Haupt-
vertreter, der wie auch C. M. von Weber und Mendelssohn,
als Spieler und als Componist eine Richtung verfolgte, in welcher
sich brillante Technik und geistige Tiefe völlig durchdringen.
XI. Die Romaiitilier des 19. Jalirliuii(iertf= 177
Auf französischem Boden scheint der fiiiher so reich entwickelte
clavierkünstlerische Sinn geraume Zeit geschwimden zu sein, denn
imter den Clavierspielem , welche nach Rameau's Tode dort
herrschten, findet sich keiner von liei'vorragender Bedeutung. Erst
mit der Anstellung Louis Ad am 's als Lehrer am pariser Con-
servatorium der Musik (1795) beginnt das französische Clavier-
spiel sich wiederum zu heben, und nicht lange danach konnte
Adam's Schüler, Friedrich Kalkbrenner (1778—1849) durch
sein Spiel wie auch durch seine Compositionen die Aufmerksam-
keit der ganzen musikalischen Welt in Anspruch nehmen, wie-
wohl er keineswegs streng-künstlerischen Grundsätzen folgte, xie\-
raehr im Verein mit seinem jüngeren Zeitgenossen Henri Herz
der Urheber der seichten Salonmusik wurde, welche einige Jahi*-
zehnte lang das grosse Publicum ausschliesslich fesselte. Ihnen
gegenüber fehlte es jedoch auch in Paris nipht an Künstlern,
welche das Ciavierspiel im Geiste der classischen Meister weiter
bildeten, an ihrer Spitze Henri Bertini (1798 — 1876) auf Cle-
menti's Schule fassend und rühmlich bekannt durch seine Etüden,
welche an pädagogischem Werthe den Cramer'schen kaum nach-
stehen; femer Zimmermann und Stamaty, denen die heutige
französische Pianisten-Generation ihre Ausbildung verdankt, dem
ersteren Alkan (der ältere) und Lacombe, dem letzteren Saint-
Saens u. a.
Bei der von Jahr zu Jahr wachsenden Verbreitung des
Clavierspiels war es unausbleiblich, dass die übrigen Instrumente
allmählich in den Hintergnmd traten imd die Theilnahme des
Publicums für sie immer geringer wurde. Selbst die VioHne
musste die glänzende Stellung einbüssen, welche sie noch während
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts namentlich in Italien
eingenommen hatte, wo die Schulen des Corelli (Rom), Vivaldi
(Venedig) und Tartini (Padua) das classische Violinspiel gepflegt
imd durch ihre Zöglinge über ganz Europa verbreitet hatten.
Gleichwohl erlebte es noch in diesem Jahrhundert eine Nach-
blüthe in der durch Viotti, einen Abkömmling der Tartini'schen
Schule gestifteten französischen Violinistenschule, deren Repräsen-
tanten Rode, Kreutzer und Baillot als Virtuosen und Com-
ponisten, besonders aber als Verfasser der berühmten. 1803 zu
Paris erschienenen „Methode de Violon" einen hohen Rang unter
den Förderen! ihres Instrumentes beanspruchen dürfen. Später
wiu'de Belgien der Schauplatz der Entwickelung des Violinspiels,
wo de Böriot und sein Schüler Vieuxtemps einer Schule vor-
Lacghans, Musikgeecbicbte. 2. Aufl. 12
J^yg XI. Die KomajitiUer des 19. JaUrUmidertö.
standen, welche die Ausbildung einer glänzenden Technik an-
strebte, ohne dabei die Vorbilder der classischen Zeit aus den
Augen zu verlieren. Während die früher so einflussreiche VioKn-
schule Italiens inzwischen jede Bedeutung verloren hatte — denn
auch der geniale Paganini vennochte nicht auf die schlummernde
künstlerische Tiiebkraft seines Vaterlandes belebend zu wirken —
war in Deutschland durch Louis Spohr eine Schule ins Leben
gerufen, welche mit demselben Erfolge wie die französische des
Viotti die werthvoUen Errungenschaften der älteren Italiener
wahrte und weiterbildete. Spohr's Verdienste um die Viohne,
sowohl als Vhtuose wie als Componist und als Lehrer, überragen
noch diejenigen, welche er sich um die romantische Oper ervs^orben
hat. In ersterer Eigenschaft konnte er neben Paginini, mit dem
er während des Winters 1816 — 17 in Italien zusammentraf, all-
gemeine Bewunderung erregen; in seinen zahbeichen VioUn-
compositionen herrscht durchweg die edle und innige Empfindung
welche auch seine dramatischen Werke kennzeichnet, daneben
das feinste Gefühl für die technischen Eigenthümlichkeiten des
Instruments. Als Lehrer hat er auf das gesammte violinspielende
Deutschland ge\\arkt, theils persönhch, theils durch seine vor-
treffliche 1831 erschienene „Violinschule", endlich auch durch seine
Schüler, deren sein Biograph Alex. Mahbran nicht Aveniger als
187 namhaft macht. Unter diesen hat sich Ferdinand David
durch seine umfassende Thätigkeit am leipziger Consen'atorium
ausgezeichnet, dem er von der Gründung desselben (1843) bis zu
seinem Tode (1873) als Lehrer angehörte.
Bis gegen die Mitte unseres Jahrhunderts sehen wir die
musikahsche Romantik ihre Hen-schaft unter der Führung Men-
delssohn's und Schumann's immer mehr enveitem — da erschien
das verhängnissvolle Jahr 1848, in welchem die während der ersten
Hälfte des Jahrhunderts nur unklar erschauten politischen und
socialen Ziele sich den Bhcken der fortschrittsbedürftigen Menschheit
in voller üeuthchkeit zeigten. Mendelssohn sollte die Bewegung
jenes Jahres nicht mehr erleben; Schumann konnte wohl äusserlich
durch sie berührt werden — wie seine „vier Märsche 1849" zeigen,
in denen er die Eindrücke des kriegsbewegten Lebens um ihn her
auf dem Ciavier zu schildern versuchte — seine Kunstrichtung
indessen blieb dieselbe, ja sein Hang zu romantischer Träumerei
steigerte sich bis zum Krankhaften. Und doch drängte die Zeit
mit ihren positiven Errungenschaften zur Aufstellung neuer Ziel-
punkte auch für die Kunst, denn, wenn Sokrates einmal davor
XI. Die Romantiker des 19. OTahrtiviiiclerta. 1 79
warnt „nirgends die Gesetze der Musik zu ändern, und keine
neuen Musikgattungen einzuführen, als nur zugleich mit den
wichtigsten bürgerhchen Ordnungen"*) so dürfen wir unigekehrt
behaupten, dass eine so radicale Veränderung der „bürgerlichen
Ordnungen", ein so gewaltiger Umschwung wie der des Jahres
1848 nothwendigerweise auch veränderte Kunstanschauungeu und
Kunstbedürfnisse im G-efolge haben musste. Um diesem Verlangen
Genüge zu leisten, um an Stelle der sich ausgelebt habenden
Romantik ein Neues zu setzen, dazu bedurfte es einer robusteren
Künstlernatur als die Meudelssohn's und Schumann's oder gar
ihrer Epigonen. In Richard Wagner, mit dem unsere musik-
geschichtliche Rundschau zum Abschluss gelangt, werden wir den
Mann kennen lernen, der mit seltener vielseitiger Begabung und
eiserner AVillenskraft der Musik neue Bahnen eröffnete, und, wie
es sich von Jahr zu Jahr deuthcher herausstellt, durch seine
reformatorische Wirksamkeit dem Fortschrittsbedürfniss nicht nur
seiner Nation, sondern ■ der gesammten kunstgebildeten AVeit ent-
gegen gekommen ist.
'') Plato's „Staat'" übersetzt von Schleiermacher, Buch IV. Cap. 3.
12'
XII.
IRicliard AVagner.
Die Besprechung eines noch unter uns lebenden und schaf-
fenden Künstlers in einer Reihe mit den grossen Meistern der
Vergangenheit ist zwar principiell nicht zulässig, weil den Zeit-
genossen ein Gesanunt-Ueh erblick seines Schaffens versagt ist und
es deshalb einer späteren Zeit überlassen bleiben muss, den Werth
desselben endgültig festzustellen.*) Wenn wir jedoch Richard
*) So wenig wir im Stande sind', die Höhe eines Berges aus nächster
!Nähe richtig zu beurtheilen, vielmehr erst in gewisser Entfernung sein Ver-
hältniss zu den Nachbargipfeln erkennen, so wird auch das Urtheil für oder
wider eine ausserordentliche Erscheinung auf dem Kunstgebiet so lange
irren, bis sie in ihrer ganzen Bedeutung übersehen werden kann, was er-
fahrungsmässig nicht den Zeitgenossen, sondern erst einer folgenden Ge-
neration beschieden ist. Diese keineswegs neue Erfahrung, sowie die an-
dere, dass die kategorischen Urtheile zu Gunsten oder Ungunsten einer
neuen, zur älteren in Gegensatz tretenden Kunstrichtung stets nur zu un-
fruchtbarem Parteigezänke führen, sie dürfen uns jedoch nicht veranlassen,
die Hände ia den Schooss zu legen und eine abwartende Stellung einzu-
nehmen, bis die neuen Ideen im Kampfe um ihr Dasein entweder gesiegt
haben oder unterlegen sind; wir sollen vielmehr keinen Fleiss und keine
Mühe scheuen, sie uns anzueignen, die Empfindung des Fremdartigen,
welche uns bei oberflächlicher Bekanntschaft von ihnen trennt und abstösst,
zu überwinden: so werden wir dem bahnbrechenden Künstler, welcher uns
sein Bestes, die reichsten Schätze seines Geistes bietet, gerecht werden und
zugleich ein Gegengewicht bilden gegen die grosse Menge derer, welche
diese Gaben, meist aus Bequemüchkeit und Scheu vor dem anscheinend
Fremdartigen verschmähen und dann schnell bereit sind, den Geber zu ver-
urtheilen. Haben wir uns aber mit der neuen Kunstrichtung befreundet
und die Bedeutung ihres Vertreters klar erkannt, so dürfen wir uns auch
seiner Führung nicht an einem, nach unserm Belieben festgesetzten Punkte
entziehen, sondern wir müssen es als eine künstlerische Pflicht ansehen,
dem Manne, von dessen überlegener Kunsteinsicht wir einmal den Beweis
erhalten haben, auch dann zu folgen, wenn er einen von seinem bisherigen
abweichenden Weg einschlägt. Die so gangbare Redensart „ich habe alle
XIL Richard "Wagner. 181
Wagner gegenüber von dem Princip abweichen, nach welchem die
Geschichte nur das bereits zum Abschluss Gelangte zu betrachten
hat, so sind wir aus verschiedenen Ursachen dazu berechtigt: ein-
mal, weil die durch ihn hervorgerufene Bewegung von den That-
sachen einer künstlerisch ruhmreichen Vergangenheit ihren Aus-
gangspunkt nimmt; sodann weil die von ihm angestrebten Ziele
durch seine schriftstellerischen Arbeiten aufs bestimmteste be-
zeichnet und für jedermann erkennbar geworden sind; endlich
weil schon mehr als ein Menschenalter hinter uns liegt, seitdem
er dm'ch sein künstlerisches Schaffen die allgemeine Aufmerksam-
keit erregt hat, so dass eine Uebersicht desselben schon jetzt bis
zu einem gewissen Grade möglich ist. Eine eingehende Be-
schäftigung mit Wagner's Leistungen als Dichter, Componist und
Philosoph verbietet sich freihch, in Anbetracht des gewaltigen Um-
fanges derselben, sowie der uns zugemessenen Zeit, an dieser
Stelle von selbst; es kann sich hier nur darum handeln, einen
Einblick in den Werdeprocess der Wagner'schen Kunst zu thun,
und da die Hauptmomente seines reichbewegten Lebens zu seiner
künstlerischen Entwickelung in enger Beziehung stehen, so wird
eine kurze Skizze seines Lebenslaufes bis zu den allbekannten
Ereignissen der letzten Jahre das geeignetste Mittel zur Er-
reichung unseres Zweckes sein*) — denn, wie Goethe treffend
Hochachtung vor dem N. N., aber ich gehe nicht mit ihm durch Dick und
Dünn" ist im G-runde nichts anderes als die lächerliche Anmaassung, dem
Oenius das Gebiet für sein Schaffen vorzuschreiben, ihm die Grenze zu
ziehen , über welche er nicht hinausgehen darf. „Wenn wir bei einem be-
währten Autor" sagt Coleridge „etwas Verfehltes zu entdecken glauben, so
sollten wir zunächst annehmen, dass wir unfähig sind ihn zu verstehen, bis
wir uns von seiner Unfähigkeit völlig überzeugt haben." Das Schicksal
der Werke Richard Wagner's kann keinen Zweifel lassen, dass die Befol-
gung dieser Lehre dem Künstler manche entmuthigende Erfahrung, seinen
vorschnellen Richtern aber manche nachträgliche Beschämung erspart haben
würde. Uebrigens stehen Wagner's Erlebnisse keineswegs vereinzelt da:
das Loos des Tannhäuser, Lohengrin, Tristan und Isolde, Meistersinger war
z. B. auch das der Opern Rameau's, deren jede bei ihrem ersten Erscheinen
durchfiel, weil sie ihrer Vorgängerin nicht ähnlich genug war, d. h. sie an
Bedeutung überragte. („Tous ses ouvrages tombferent d'abord, et s'ils se
relevferent ensuite, ses partisans ne furent pas moins regardes comme here-
tiques et presque comme mauvais citoyens. Lorsque ensuite la musique
italienne fit des progrös en France, les ennemis les plus violents de Rameau
passörent de leur acharnement k l'admiration la plus aveugle." Baron von
Grimm „Correspondance litteraire" October 1764).
*) Eine ausführliche Biographie des Künstlers veröffentlichte IHl^ Carl
Fr. G-lasenapp unter dem Titel „Richard Wagner's Leben und Wirken"
182 XII. RicUard -Wagiier.
gegen seinen Freund Zelter äussert, nachdem er seine Lieb-
haberei für das Studium der Musikgeschichte bestätigt hat „wer
versteht ii'gend eine Erscheinung, wenn er sich nicht von dem
Gang des Herkommens penetrii-t?"
Richard Wagner ist in Leipzig am 22. Mai 1813 geboren,
nur vier Jahre nach Mendelssohn und drei Jahre nach Schumann,
mithin als Zeitgenosse der Männer, über deren musikalischen
Gedankenkreis hinaus er ein Menschenalter später einen so ge-
waltigen Sprung that, dass man an eine Entfernung von mehreren
Generationen zu glauben geneigt wäre. Der Kanonendonner der
Völkerschlacht, welcher, Deutschlands Befreiung verkündend, sich
in die ersten Lebensäusserungen des Säuglings mischte, die na-
tionale Begeisterung, inmitten derer er seine frühesten Eindrücke
empfing, können kaum ohne nachhaltige "Wirkung auf die Ge-
müthsentwickelung des Kindes gebheben sein; schon in der Wiege
mag jene Liebe zum Vaterlande in ihm gekeimt haben, die sich
später als einer der wesentlichen Züge von Wagner's Charakter
bewährt hat, und die weder durch sein klares Verständniss für
alles, worin uns das Ausland überlegen ist, noch diu'ch das hart-
näckige Misstrauen, dem er in Deutschland lange Zeit begegnete,
geschwächt werden konnte. Seine künstlerischen Anlagen sollten
gleichfalls schon im zarten Kindesalter der Nahrung nicht er-
mangeln. Dank der liebevollen Anregung seines Stiefvaters, des
Schauspielers Ludwig Geyer, welcher nichts versäumte, um dem
Knaben für den fi-ühzeitigen Verlust des eigenen Vaters Ersatz
zu bieten. jVIit seiner musikalischen Erziehung wollte es freihch
nicht recht glücken, und der Unterricht im Clavierspiel musste
bei der Abneigung des Schülers gegen das blos technische Stu-
dium nach kurzer Zeit wieder aufgegeben werden. Dagegen
zeigte er als Schüler der Kreuzschule zu Dresden, wohin seine
Familie nach dem Tode des Vaters übergesiedelt war, lebhaftes
Interesse für alte Sprachen und antike Dichtkunst. Die griechi-
schen Dichter zogen ihn besonders an, später auch Shakespeare,
durch den er schon vor erreichtem Jünglingsalter zu seinem ersten
dichterischen Versuch angeregt wurde; es war dies ein grosses
Trauerspiel, von dem uns der Autor selbst berichtet, dass es ihn
volle zwei Jahre beschäftigt habe, und bezüglich der Anhäufimg
in zwei Bänden (Cassel und Leipzig, Carl Maurer). Wagner's eigene
Schriften erschienen 1871 — 1873 in neun Bänden bei E. W. Fritzsch in
Leipzig.
Xrr. Ricliard Wagiier. 183
tragischer Cönflicte hinter keinem der Dramen seines grossen
Vorbildes zurückgeblieben sei. „Zweiundvierzig Menschen starben
im Verlauf des Stückes \md ich sah mich bei der Ausführung
genöthigt, die meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil
mir sonst in den letzten Acten die Personen ausgegangen wären."*)
In diese Zeit fallen auch die ersten nachhaltigen Eindrücke
auf die musikalische Natur des Knaben, und zwar bei Gelegen-
heit einer Aufführung des „Freischütz", der in Dresden, wie zu-
vor in Berlin enthusiastisch aufgenommen wurde, trotz des Wider-
standes der Vei-treter der italienischen Oper, sowie der Literatur-
poeten, deren Haupt, Ludwig Tieck, den Freischütz „das un-'
musikalischste Getöse" genannt hatte „das je über die Bühne
getobt sei." Die von damals herstammende Verehi'ung Wagner's
für die Kunst und die Person Web er 's hat sich im Verlauf
seiner Entwickelung nicht vermindert, auch dann nicht, als er in
Leipzig, nach dorthin erfolgter Rückkehr in Folge des Todes
seines Stiefvaters, mit Beethoven's Musik bekannt geworden
war. Allerdings war diese Bekanntschaft geeignet, den fünfzehn-
jährigen Jüngling für eine Zeit lang ausschliesslich in Anspruch
zu nehmen; namentlich wirkte die Egmont-Musik so sehr auf ihn,
dass er. sich entschloss, die Tonkunst zu seinem Beruf zu machen,
wobei in erster Reihe der Wunsch mitwirkte, seine Trauerspiele
von einer ähnlichen Musik begleitet, an die Oeffentlichkeit zu
bringen. Dass er der Mann sei, eine solche dereinst zu com-
poniren, und dass er auch die Schwierigkeiten des dazu nöthigeu
Studiums nicht zu fürchten habe, war für ihn so gut wie eine
ausgemachte Sache; anders aber dachten die Seinigen, denen es
bedenklich war, den jungen Enthusiasten von dem früher er-
wählten Dichterberufe zu einem andern übergehen zu sehen. Eine
Vereinigung des Dichter- und Musikerberufes mussten sie, bei
den zu ihrer Zeit (theilweise auch noch heute) herrschenden An-
schauungen, und nachdem eine Jahrhundei-te lange Praxis, allen
Gegenbestrebungen zum Trotz, die Vertheilung dieser Thätig-
keiten unter zwei Personen gleichsam sanctionirt hatte, für ein
phantastisches und aussichtsloses Wagniss halten.**)
*) R. Wagner, Auto1)iographische Skizze, gesammelte Schriften I. S. 8.
**) Die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung des Dichters und Mu-
sikers in einer Person scheint seit dem Untergange der antiken Cultur
niemals ganz erloschen zu sein, denn wiederholt sehen wir sie bei künst-
lerisch angelegten Naturen zum Ausdruck gelangen. So schreibt Friedrich
der Grosse au die Kurprinzessin IMaria Antonia von Sachsen, welche ihm zwei
184 ^11- Ricliard AVagner.
Auch Wagner musste einsehen, dass er sich der Musik zu-
nächst ausschliesshch zu widmen habe, wollte er anders das Lhni
vorschwebende Ziel erreichen, und denTgemäss begann er, nach
absolvirtem wissenschafthchen Studium (erst an der Leipziger
Nicolaischule, dann an der Universität) sich dem des Contra-
punkts mit vollem Eifer hinzugeben. Hierin durch den Cantor
der Thomasschule, Weinlig, bei weiteren Compositionsversuchen
durch den, damals am Leipziger Theater als Capellmeister an-
gestellten Heinrich Dorn gefördert, konnte er schon 1833 als
Componist in die Oeffentlichkeit treten, und zwar mit einer Sym-
phonie, die in einem der Gewandhausconcerte zur Aufführung
gelangte, sowie mit einer, noch in derselben Saison aufgeführten
Concertouverture. Noch näher trat er der praktischen Seite
seines Berufes auf einer demnächst unternommeneu Reise nach
Würzburg, wo sein Bi-uder Albert als Sänger und Schauspieler
wirkte, und er selbst sich zeitweilig an den Leistungen des
Theaters als Chordirigent betheiHgte; hier entstand auch sein
erstes di'amatisches Werk, eine di-eiactige romantische Oper „Die
Feen", deren Text er nach Gozzi's „La douna serpente" selbst
gedichtet hatte. Die Aufführung dieses Erstlingswerkes lag ihm,
nachdem er in seine Yaterstadt zurückgekehrt war, sehr am
Herzen; doch Avurde dieselbe durch immer neue Hindernisse ver-
zögert, und da eben jetzt eine AVendung in Wagner's Geschmacks*-
richtung eingetreten war, nachdem er durch Vermittelung der
Sängerin Schröder-Devrient den Reiz und den Werth der
itahenischen und französischen Oper erkannt, so verlor auch er
das Interesse für seine Arbeit und verzichtete auf den Yortheil
von ihr gedichtete und comijonirte Opern übersandt hatte: „Vous donnez
un exemple aux compositeurs , qui tous, pour bien reussir, devraient gtre
poetes en meme temps" — und Lesueur, Capellmeister an der Notre-
Dame-Kirche in Paris, später Inspector des Oonservatoriums und als solcher
der Lehrer und Freund Berlioz', beklagt in seiner 1787 erschienenen Schrift
„Essai sur une musique une et imitative" die Unfreiheit des katholischen
Kirchencomponisten mit den "Worten: ,,0h! s'il etait permis au musicien
de composer ces paroles! Que ne pourrait-il pas faire!" Die Beispiele
derartiger „frommer Wünsche" Hessen sich massenhaft vermehren; um so
seltener erscheinen dafür die Tonkünstler, welche im Gegensatz zur Con-
vention es als eine künstlerische Pflicht erkannt haben, ihre Texte selbst
zu verfassen, wie z. B. Lortzing, dessen Opern ihre Wirkung vornehm-
lich dem einheitlichen Verhältniss zwischen Dichtung und Musik verdanken
und zugleich beweisen, dass man, auch ohne einen Platz unter den Literatur-
Dichtern einzunehmen, doch als Dichter-Componist Bemerkenswerthes leisten
kann.
XXL Riclxard "Wagner. 185
einer öffentlichen Darstellung, Die schriftstellerisclie Thätigkeit
bot ihm schon jetzt einen Ersatz für die ihm vorläufig versagten
Erfolge als schaffender Künstler; ein, unter dem Eindruck jener
Opern, namenthch der Auber'schen „Stumme von Portici" ver-
fasster Aufsatz zeigt ihn uns als den unerbitthchen Gegner der
Einseitigkeit und der Routine, als welcher er später eine nicht
minder unerbittUche Opposition hervorrief Schon hier spricht
er die Absicht aus „die Begriffsverwirrung deutschthümelnder
Musikkenner über deutsche Musik, wenn nicht zu heilen, so doch
in helles Licht zu setzen." „Wir haben allerdings" behauptet
er „ein Feld der Musik, das uns eigens gehört, und dies ist die
Instrumentalmusik; eine deutsche Oper aber haben wiv nicht und
der G-rund dafür ist derselbe, aus dem wir ebenfalls kein Na-
tionaldrama besitzen. Wir sind viel zu geistig und viel zu ge-
lehrt, um warme menschUche Gestalten zu schaffen .... Ich will
zwar keineswegs, dass die französische und italienische Musik die
unsrige verdi'ängen soll, aber wir sollen das Wahre in beiden
kennen und uns vor jeder selbstsüchtigen Heuchelei hüten. AVir
sollen aufathmen aus dem Wust, der uns zu erdrücken droht,
ein gutes Theil affectirten Contrapunkt vom Halse werfen und
endlich Menschen werden."
Die Stelle eines Theatercapellmeisters in Magdeburg, die
Wagner im Herbst des nächsten Jahres (1834) antrat, bot ihm
reiche Gelegenheit, seine im vorstehenden ausgesprochenen viel-
seitigen Kunstbedürfnisse zu befriedigen. Der bunte Wechsel im
Opernrepertoire eines deutschen Stadttheaters, das tägliche Ein-
studiren und Dirigiren deutscher, italienischer und französischer
Opern, so wie die dabei gewonnenen Erfahrungen halfen ihm die
Lasten seines neuen Amtes freudig ertragen und hielten seinen
Muth aufrecht, so oft er auch einsehen musste, dass seine Be-
mühungen um die Hebung des Theaters bei den kleinlichen Ver-
hältnissen desselben erfolglos bleiben würden. Mittlerweile war
auch eine zweite Oper vollendet: „Das Liebesverbot", deren
Stoff er Shakespeare's „Maass für Maass" entnommen hatte und
deren Musik eine ungleich grössere Freiheit zeigt, als die, noch
stark von Weber beeinflusste der „Feen." Im Winter 1836
konnte dies Werk in Scene gehen, doch waren die Umstände
seiner Aufführung so wenig günstig, dass es, mit Ausnahme einiger
halbweg gut ausgeführter Scenen keinen Eindruck hervorbringen
konnte, während der Autor bei dieser Gelegenheit die Schatten-
seiten seines Berufes drückender als je empfand und die Un-
186 XII. Richiarcl ^Wagner.
möglichkeit erkannte, mit den einem kleineren Stadttheater zu
Gebote stehenden Mitteln etwas künstlerisch Erspriessliches zu
leisten. Bei dieser Veranlassung kam er zu dem Entschluss^
seine nächste grössere Arbeit von vorn herein auf eine Bühne
ersten Ranges zu berechnen, unbekümmert darum, wo und wann
sich dieselbe für ihn linden werde; in diesem Sinne verfasste er
den Entwurf zu einer grossen tragischen Oper in fünf Acten:
„Rienzi, der letzte der Tribunen*' und legte ihn derart an,
dass es unmöglich ward, diese Oper — wenigstens zum ersten
mal — auf einem in seinen Mitteln beschränkten Theater zui-
Aufführung zu bringen. Vorläufig blieb Wagner freilich noch
auf Bühnen untergeordneten Ranges angew^iesen, indem er 1836
in Königsberg und im folgenden Jahre in Riga als Theater-
capellmeister thätig sein musste, Dass er weder in der einen
noch in der andern Stadt künstlerische Befriedigimg fand, Hess
sich nach den bisherigen Erfahi-ungen voraussetzen, und da er
ausserdem mit materiellen Sorgen zu kämpfen hatte, so fasste er
den unter seinen Verhältnissen abenteuerlichen Plan, nach Paris
überzusiedeln, um dort, wenn möglich, den inzwischen vollendeten
„Rienzi" an der Grossen Oper zur Aufführung zu bringen.
Im Sommer 1839 war dieser Plan zur Reife gediehen; mit
einem nach London bestimmten Segelschiffe wurde die Reise an-
getreten. „Die Seefahrt" schreibt Wagner*) „dauerte drei und
eine halbe Woche und war reich an Unfällen. Dreimal litten
wir vom heftigsten Sturme, \md einmal sah sich der Capitän
genöthigt, in einen norwegischen Hafen einzulaufen. Die Durch-
fahrt dm"ch die norwegischen Schären machte einen wunderbaren
Eindruck auf meine Phantasie; die Sage vom fliegenden Hollän-
der, wie ich sie aus dem Munde der Matrosen bestätigt erhielt,
gewann in mir eine bestimmte, eigenthümliche Farbe, die ihr nur
die von mir erlebten Seeabenteuer verleihen konnten." Nach
kurzem Aufenthalt in London begab sich Wagner nach Paris,
wo er im Herbst des genannten Jahres, reich an Hoffnungen
doch mit stark erschöpften Geldmitteln anlangte; gänzlich ohne
Empfehlungen, war er einzig auf Meyerbeer angewiesen, dessen
Bekanntschaft er schon auf der Reise in Boulogne gemacht, wo
ihm derselbe aufs freundlichste seine Unterstützung zugesagt hatte.
Aber weder die eigene Energie, noch die Bemühungen des ein-
flussreichen Collegen vermochten den sanguinischen Künstler vor
') A. a. 0. S. 18.
XII. Richard Wagner. 187
jenen Täuschungen zu bewahi-en, welche diu'ch die ungeheure
Concurrenz der Arbeitskräfte aller Ai-t in der französischen
Hauptstadt bedingt sind. Schon während des ersten Winters
musste er zur Einsicht gelangen, dass in den, durch die Gesetze
der Mode und der Speculation geregelten Pariser Zuständen sein
ideales Streben schwerlich jemals Würdigung finden Averde. Die
äussere Noth, die ihn zeitweilig zwang, aller selbständigen Kunst-
thätigkeit zu entsagen, um durch schriftstellerische Arbeiten für
die „Gazette musicale" und durch Opern- Arrangements, sogar für
das Cornet k piston, seinen Unterhalt zu verdienen, erhöhte seine
Bitterkeit gegen die ihn umgebenden Verhältnisse. Sie fand ihren
Ausdruck in der während dieses Winters entstandenen Ouver-
türe zu Goethe's Faust, deren Motto die im Gemüth des
Künstlers gährende und auf die Composition übertragene Stim-
mung andeutet:
Der Gott, der mir im Busen wohnt,
Kann tief mein Innerstes erregen;
Der über allen meinen Kräften thront,
Er kann nach aussen nichts bewegen;
Und so ist mir das Dasein eine Last,
Der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst.
Wir übergehen die traurige Zeit von Anfang 1840, der
Entstehungszeit der Faust- Ouvertüre,*) bis zum Frühjahr 1842,
wo Wagner, ohne auch nur einen einzigen Erfolg errungen zu
haben, dafür aber um so reicher an ernsten Erfahrungen, der
Hauptstadt Frankreichs den Rücken wendete. Die Nachricht,
dass seine Opern „Rienzi" und die ebenfalls längst vollendete
„Der fliegende Holländer" in Deutschland, erstere am
Dresdener, die andere am Berliner Hoftheater zur Aufnahme
angenommen seien, hatte seine immer dunkeler gewordenen Aus-
sichten freundhch aufgehellt und gleichzeitig die Sehnsucht nach
dem Vaterlande mächtig bei ihm angefacht. Er kam noch recht-
zeitig nach Dresden, um die Proben des „Rienzi" zu überAvachen
und Zeuge der begeisterten Aufnahme zu sein, welche das Werk
*) Dies Werk ist in doppelter Hinsicht bemerkenswerth ; einmal als die
erste Arbeit Wagner's, welcher das gi-osse Publicum das Zeugniss der Lebens-
fähigkeit gegeben hat; ferner, weil hier inmitten aller Verdüsterung die
kraftvolle Natur des Künstlers erkennbar wird, welche sich nicht, nach Art
dei* früheren Romantiker durch die Drangsale des Lebens und den Welt-
schmerz überwältigen lässt, sondern den Kampf mit den finsteren Gewalten
muthig aufnimmt und sohliesslich als Sieger aus demselben hervorgeht.
188 XU. RicUara Wagner.
bei seiner ersten Auffiihi'ung (20. Oct. 1842) trotz hoch ge-
spannter Erwartungen, beim Publicum fand. Als dem Com-
ponisten dann schon im nächsten Jahre das Capellmeisteramt am
Hoftheater übertragen wurde, und damit auch seine materielle
Lage gesichert war, da durfte man wohl glauben, dass die Zeit
der Prüfungen für ihn vorüber sei. Hätte er sich nur bequemen
wollen, auf dem jetzt erreichten Entwickelungspunkte stehen zu
bleiben, sich als Dichter -Compouist, wie schon im „Rienzi" so
auch ferner an die Vorbilder der fi-anzösischen Grossen Oper
anzuschliessen, als Dmgent dem von seinen Vorgängern bezeich-
neten Pfade gewissenhaft zu folgen — so wäre seine Künstler-
laufbahn voraussichtlich in ungetrübter Ruhe verflossen. Von
alledem war jedoch nichts der Fall. Schon beiui Erscheinen des
„Holländer" (Berlin, Januar 1844) fühlten sich die Freunde seiner
Kunst, die eine Musik nach Art des „Rienzi" erwartet hatten,
in der Mehrzahl unbefriedigt; noch weit stärker und allgemeiner
aber war die Enttäuschung, als 1845 der „Tannhäuser" zum
ersten mal in Scene ging. Die Wirkung dieser Oper war selbst
auf das Dresdener Publicum, ungeachtet der persönlichen Be-
ziehungen Wagner's zu demselben, ein so befremdender, dass der
Künstler wieder einmal das Gefühl der Vereinsamung" in seiner
ganzen Schwere empfinden musste. Aber auch als Dirigent hatte
er schon in den ersten Tagen seiner Amtsführung durch rück-
sichtslose Bekämpfung der mit dem Opernwesen verbundenen
Missbräuche bei seinen Vorgesetzten wie bei seinen Untergebenen
vieKach Anstoss erregt und sich dabei überzeugen können, dass
selbst unter den äusserUch günstigsten Bedingungen, wie sie das
Dresdener Hoftheater wohl zu erfüllen im Stande war, an eine,
wenn auch nur annähernde Verwirklichung seiner künstlerischen
Ideale nicht zu denken sei.
Versetzt man sich in die Lage des Künstlers, dessen Ver-
stimmung zur vollständigen Entmuthigung übergegangen war, nach-
dem er sogar die Hoffnung hatte aufgeben müssen, seinen inzwischen
(1847) vollendeten Lohengrin an die Oeffentlichkeit zu bringen*),
so kann man sich kamn wundern, wenn das Sturm- und Drang-
*) Erst 185Ö gelaugte der Lohengriu zur Aufführung, und zwar in
Weimar, auf Veranlassung und unter Leitung von Franz Liszt, welcher
dort ein Jahr zuvor die Stelle als Hofcapellmeister angetreten hatte. Wag-
ner selbst sollte noch weitere elf Jahre warten, bis es ihm beschieden war
(während seines Aufenthaltes in Wien 1861) sein Werk zum erstenmal
zu hören.
XII. lUcIiard AVagner. 189
Jahr 1848 ihn in den Reihen der Missvergnügten fand; bezüglich
seiner thätigen Antheilnahme an der Reformbewegung jenes Jahres
hielt er sich zwar streng in den Grenzen seines Berufes und
beschränkte sich darauf, dem sächsischen Cultusminister einen
„Entwurf zur Organisation eines deutschen National -Theaters"
vorzulegen, welcher in der Hauptsache die Umwandlung des
Dresdener Hoftheaters in ein Nationaltheater bezweckte, sowie
seine Erhaltung aus Staatsmitteln und Ueberweisung an das
Ministerium des Cultus, seiner Bestimmung als Volksbildungs-
anstalt entsprechend.*) Bei seinem warmen und stets rückhalt-
los geäusserten Interesse für sociale und politische Fragen im
allgemeinen war es jedoch unvermeidlich, dass auch er in die
AVirren der Maitage des Jahres 1 849 verwickelt wurde und nach
eingetretener Reaction mit seinem Namen auf der Liste der Ge-
ächteten figuriii:e. Glücklicherweise wurde ihm das BedenkHche
seiner Lage früh genug klar, um seine Flucht zu ermöglichen;
ein ihm nachgesandter, noch im Jahre 1853 erneuerter Steck-
brief, welcher die deutschen Behörden auffordert „den Wagner,
Richard, einen der hervorragendsten Anhänger der Umsturzpartei,
im Betretungsfalle zu verhaften und an das Königl. Stadtgericht
zu Dresden abzuliefern" musste ihm jeden Zweifel nehmen be-
züghch der Gefahren, denen er auf diese Weise entgangen war.
Üeber Paris, wo er den Boden für seine Bestrebungen dies-
mal nicht weniger ungünstig fand, als bei seinem ersten Aufent-
halt, gelangte Wagner nach Zürich, imd so zum zweiten mal dem
für sein praktisches Kunstschaffen durchaus nöthigen Heimaths-
boden entrückt, fühlte er jetzt den unabweisbaren Drang, auf
theoretischem Wege zur völligen Klärung seiner Ideen zu ge-
langen, sich selbst so wie den mit ihm Strebenden ausführUche
Rechenschaft über Ursachen und Ziele seiner reformatorischen
Thätigkeit abzulegen. Hier, fem vom musikalischen Treiben und
ohne irgend welche Gelegenheit sich als ausübender Künstler zu
bethätigen, begann er eine schriftstellerische Wirksamkeit,
welche als Ergänzung seiner musikalisch-dichterischen von kaum
geringerer Bedeutung ist als diese letztere. In seiner ersten noch
1849 erschienenen Schrift „Kunst und Revolution" äussert
Wagner seine Unbefriedigtheit mit der modernen Kunstübung,
*) Diese hochbedeutende, damals aber gänzlich erfolglos gebliebene Ar-
beit findet sich in den gesammelten Schriften von R. Wagner, Band II.
S. 307.
190 XII. Richarcl -Wagner.
deren moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vor-
geben die Unterhaltung der Gelangweilten sei; eine Besserung
dieser Verhältnisse hoift er nur von der Rückkehr zu den an-
tiken Kunstzuständen, als deren "Wesen er die Freude des Men-
schen an sich selbst und an der Natur bezeichnet, im Gegensatz
zum Christenthum , welches die Unfreude predigt und die Ent-
haltung aller Selbstthätigkeit empfiehlt, um sich dem Zustande
geistiger Bedrücktheit zu entwinden.*) Namentlich das Theater,
in welchem sich alle Künste zum höchsten Kunstwerk, zum
Drama vereinigen, soll einer Dienstbarkeit entzogen werden,
welcher heutzutage alle Menschen unterworfen sind: der Industrie.
„Ist die Industrie nicht mehr unsere Henin sondern unsere Dienerin,
so werden wir den Zweck des Lebens in die Freude am Leben
setzen, und zu dem wirklichsten Genüsse dieser Freude unsere
Kinder durch Erziehung fähig und tüchtig zu machen streben.
Die Erziehung, von der Uebung der Kraft, von der Pflege der
körperlichen Schönheit ausgehend, wird schon aus ungestörter
Liebe zu dem Kinde, und aus Freude am Gedeihen seiner
Schönheit, eine rein künstlerische werden, und jeder Mensch wird
in irgend einem Bezüge in Wahrheit Künstler sein."
In einer zweiten grösseren Arbeit „das Kunstwerk der
Zukunft" (1850) finden wir jene Grundsätze in kunstreformato-
rischem Sinne weiter ausgeführt. Wagner bezeichnet hier das
Volk als die bedingende Kraft für das Kunstwerk, und den
Menschen — im Anschluss an die Lehre Ludwig Feuer-
bach's, dem auch das Buch gewidmet ist — als seinen eigenen
Gott und über der Natur stehend. Diesem Menschen entspricht
nur diejenige Kunst, welche als einzig wahre aus der Vereinigung
aller unserer Kunstarten hervorgeht. Die Einzelkünste, die bis-
her um den Vorrang stritten und auseinander strebten, sollen
sich in gegenseitiger Liebe und Bescheidenheit einander nähern
und je nach Bedürfniss unterordnen, um sich endlich im Drama
zum Gesammtkunstwerk, dem Kunstwerk der Zukunft zu ver-
einen. — Noch bestimmter kennzeichnet Wagner sein Ziel in
einer dritten Schrift „Oper und Drama" (1851). Hier geht
er von dem Grundsatz aus, dass die moderne Oper als Kunst-
*) Mit Recht macht Franz Brendel, einer der frühesten Vertheidiger
der Wagner'schen Theorien, in seiner ,, Musik der Gregenwart" darauf auf-
merksam, dass Wagner bei seiner Verkündigung einer grossen „Mensch-
heitsrevolution" die sociale Seite der christlichen Lehre übersehen hat, durch
welche diese Revolution bereits ins Leben gerufen ist.
XII. KicUard "Wagner. 191
gattung ein IiTthum ist. da iu ihr ein Mittel des Ausdmcks, die
Musik, zum Zweck, der wahre Zweck dagegen, das Drama, zum
Mittel gemacht wird. Nur durch Einheit der Poesie und der
Musik kann das Musikdrama zu unmittelbarer Wirkung gelangen;
lun aber diese Einheit zu eiTcichen ist es nöthig. dass jede dieser
beiden Künste die mit der Zeit in ihnen ausgebildeten conven-
tioneilen Eigenthümlichkeiten opfere: die Wortsprache muss wieder
zu den, im Laufe ihrer Entwickelung verloren gegangenen mu-
sikalischen Elementen zurückgreifen (vgl. 8. 10) und nur solche
Stoife Ijehandeln, die, wie der griechische Mythos und unsere
heimische Sage, sich an die sinnliche Anschauung wenden. Die
Musik, richtiger die Melodie, als das Wesen derselben, soll nicht
um ihi-er selbst willen da sein, sondern auf natürlichem Wege
aus der ausdrucksvoll vorgetragenen Rede entstehen und mit ihr
sowie mit der auf der Bühne dargestellten Handlung unausgesetzt
im Zusammenhange bleiben.
In seineu philosophischen Untersuchungen Hess sich Wagner
anfangs von L. Feuerbach leiten, folgte jedoch später der Lehre
Arthur Schopenhauer's. dessen Weltanschauung sich schon
in seinen, vor der Bekanntschaft mit Schopenhauer's Philosophie
entstandenen Dichtungen theilweise ausgesprochen findet, später
aber von ihm völlig aufgenommen und in genialer Weise zur Be-
stimmung des Wesens seiner Kunst verwerthet wm'de. Schopen-
hauer bezeichnet in seinem 1819 erschienenen, Jahrzehnte lang
fast unbeachtet gebliebenen Hauptwerke „Die Welt als Wille und
Voi-stellung" die uns umgebende Welt als eine von uns gebildete
Erscheinung (Vorstellung) der er als das Wirkliche den Willen
gegenüberstellt, welchen Begriff er jedoch in einem weit über den
Sprachgebrauch hinausgehenden Sinne ninunt, indem er darunter
nicht nur das bewusste Begehren, sondern auch den unbewussteu
Trieb, bis herab zu den in der organischen Natur sich bekunden-
den Kräften versteht. Der Wille im Sinne Schopenhauer's ist
das Wesen der Welt und der Kern aller Erscheinung, das Blei-
bende im fortwährenden Wechsel des Entstehens und Vergehens
der Aussendinge, demnach gleichbedeutend mit den Ideen der
Platonischen, dem „Ding au sich" der Kantischen Philosophie.
Während aber die Ideen nach Plato's Auffassung nur im Be-
griff gedacht werden können und Kaut das Ding an sich fiii-
unerkennbar hält, ist uns nach Schopenhauer die Möglichkeit
gegeben, das Wesen der Dinge zu erfassen, indem sich die Er-
kenntniss von ihrer ursprüughchen Dieustbarkeit unter uuseru
192 Xrr. Rictiara -Wagner.
individuellen Willen losreisst und die Dinge nicht mehr in ihren
Beziehungen zu ihm betrachtet, wodurch dann das erkennende
Suhject aufhört ein blos individuelles zu sein und in fester Con-
templation des dargebotenen Objectes (ausser seinem Zusammen-
hang mit irgend andern) ruht imd darin aufgeht.*)
Diese Erkenntnissart nun ist der Ursprung der Kunst, welche
die durch reine Contemplation aufgefassten ewigen Ideen, das
Wesentliche und bleibende aller Erscheinungen der Welt wieder-
holt. Im Kunstwerk erkennen wü* das Urbild, von welchem die
in die Erscheinung tretenden Einzelndinge nur Abbilder sind.
Die Kunst allein ist fähig, uns zeitweilig von der Qual des Lebens
zu befreien, welches nach Schopenhauer ein stetes Leiden ist.**)
*) „Wenn man" sagt Schopenhauer in seinem obengenannten Werke
(I. S. 210) ,, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrach-
tungsart der Dinge fahren lässt, aufhört, nur ihren Relationen zu einander,
deren letztes Ziel immer die Relation zum eigenen Willen ist, am Leitfaden
der Gestaltungen des Satzes vom Grunde nachzugehen, also nicht mehr das
AVo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen betrachtet, son-
dern einzig und allein das Was; auch nicht das abstracte Denken, die
Begriffe der Vernunft, das Bewusstsein einnehmen lässt; sondern, statt alles
diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingiebt, sich ganz
in diese versenkt und das ganze Bewusstsein ausfüllen lässt durch die ruhige
Contemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es
eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer;
indem man, nach einer sinnvollen deutschen Redensart, sich gänzlich in
diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein Individuum (seinen Willen) vei'-
gisst und nur noch als reines Subject, als klarer Spiegel des Objects be-
stehen bleibt; so dass es ist, als ob der Gegenstand allein da wäre, ohne
Jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden
von der Anschauung trennen kann, sondern beide Eins geworden sind, in-
dem das ganze Bewusstsein von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzHch
gefüllt und eingenommen ist; wenn also solchennaassen das Object aus aller
Relation zu etwas ausser ihm, das Subject aus aller Relation zum Willen
getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding
als solches; sondern es ist die Idee, die ewige Form."
**) In seiner Ethik bezeichnet Schopenhauer als höchste Aufgabe des
Menschen die Aufhebung, nicht des Lebens selbst, sondern des Willens zum
Leben durch Askese, und hier berührt sich seine Lehre einerseits mit der
Buddhistischen von der Aufhebung des Leidens durch den Austritt aus der
bunten Welt des Lebens (Sansara) und den Eingang in die Bewusstlosigkeit
(Nirwana), andrerseits mit den asketischen Elementen im Christenthum.
Dieselbe Lebensanschauung bildet auch die Grundlage zu Wagner's gross-
artiger und ergreifender Dichtung „Tristan und Isolde"; nicht nur Schopen-
hauer's Auffassung der Welt als eine von uns selbst gebildete Erscheinung,
sondern auch die Sehnsucht nach einer Flucht aus dem täuschenden Lichte
XII. Richard AVagiier. 193
Das Leben ist nie schön (sagt er a. a. O. II. S. 428) sondern
nur die Bilder des Lebens sind es, nänilich im verklärenden Spiegel
der Kunst oder der Poesie. Das wesentliche Merkmal der Natur
des Künstlers ist seine Fähigkeit, im Einzelnen stets das Allge-
meine zu sehen, in den Einzeldingen die in ihnen sich aus-
sprechenden Ideen zu erkennen. „Was man das RegeAverden des
Genius, die Stunde der Weihe, den Augenblick der Begeisterung
nennt, ist nichts Anderes, als das Freiwerden des Intellects, wenn
dieser, seines Dienstes unter dem Willen zeitweiUg enthoben,
jetzt nicht in Unthätigkeit oder Abspannung versinkt, sondern,
auf eine kurze Weile, ganz allein, aus freien Stücken, thätig ist.
Dann ist er von der grössten Reinheit und wird zum klaren
Spiegel der Welt; denn, von seinem Ursprung, dem Willen, völhg
abgetrennt, ist er jetzt die in einem Bewusstsein concentrirte
Welt als Vorstellung selbst. In solchen Augenblicken wird
gleichsam die Seele unsterblicher Werke erzeugt", (a. a. O. IL
S. 434).
An diese Lehre knüpft Wagner in seiner Schrift „Beethoven"'
an (erschienen 1870 zur Feier des hundertjährigen Geburtstages
des Meisters) um zu musik.-philosophischen Ergebnissen von höchster
Wichtigkeit zu gelangen. Schopenhauer hatte bereits der Musik
eine von der bildenden und dichtenden Kunst gänzhch verschie-
dene Natur zugesprochen und in ihr nicht nur ein Abbild der
Idee der Welt, sondern diese Idee selbst zu erkennen geglaubt.
Was die Erscheinungen der sichtbaren Welt ausser uns betrifft,
so spricht ihr Charakter an sich am deutlichsten zu uns aus den
Werken der bildenden Kunst „deren eigenthches Element es daher
ist, den täuschenden Schein der durch das Licht vor uns aus-
gebreiteten Welt, vermöge eines höchst besonnenen Spieles mit
diesem Schein, zur Kundgebung der von ihm verhüllten Idee der-
selben zu verwenden. . . . Aber immer bleibt hier das Wirksame
eben nur der Schein der Dinge, in dessen Betrachtung wii- uns
für die Augenblicke der willenfreien ästhetischen Anschauung
versenken. Das Bewusstsein, welches einzig im Schauen des.
des Tages in die Dämmerung des Unbewusstseins kommt . hier wiederholt,
zum Ausdruck; so z. B. in den Worten: •
Bricht mein Blick sich wonn'-erblindet,
erbleicht die AVeit mit ihrem Blenden:
die mir der Tag trügend erhellt
zu täuschendem Wahn entgegengestellt,
selbst — dann bin ich die Welt.
Lan gh an s , Musikgeschichte. II. Aut). lö
194 XII. Iticliard AVagiier.
Scheines uns das Erfassen der diu'cli ihn sich kundgebenden Idee
ermöglichte, dürfte endlich sich aber gedrungen fühlen, mit Faust
auszurufen :
AVelch" Schauspiel! Aber ach, ein Schauspiel nur!
Wo fass' ich dich, unendliche Katui*?
Diesem Rufe antwortet nun auf das Aller sicherste die Musik.
Hier spricht die äussere Welt so unvergleichhch verständhch zu
uns, weil sie durch das Gehör vermöge der Klangwirkung uns
ganz dasselbe mittheilt, was wir aus tiefstem Inneren selbst ihi'
zurufen. Das Object des vernommenen Tones fällt unmittelbar
mit dem Subject des ausgegebenen Tones zusammen: wir ver-
stehen ohne jede Begriffsvennittelung, was uns der vernommene
Hilfe-, Klage- oder Freudenruf sagt, und antworten ihm sofort in
dem entsprechenden Sinne; keine Täuschung, wie im Scheine des
Lichtes, ist hier möghch, dass das Grundwesen der Welt ausser
uns mit dem imsrigen nicht völlig identisch sei, wodurch jene
dem Sehen dünkende Kluft sofort sich schhesst".*)
Der Widerspruch, welchen die zuerst genannten Schriften
Wagner's bei ihrem Erscheinen hervorriefen, war ein besonders
heftiger, weil ihr Verfasser mit dem bestehenden Oi3emwesen auch
die zum Theil noch lebenden Vertreter desselben angegriffen
hatte und man ihm, wie nur zu häufig in derartigen Fällen, per-
sönliche Motive als Ursache seiner Meinungsäusserimg zui' Last
legte. Aber auch da, wo man an der Reinheit seiner künstle-
rischen Absicht nicht zweifelte, konnte Wagner bei der Schroff-
heit, mit welcher sich seine Theorie der zeitweilig hen'schenden
gegenüber stellte, vorläufig nur geringes Verständniss finden. Dies
wurde auch nicht anders, als der Künstler den Muth hatte, auf
seine Theorien die That folgen zu lassen und in seinem Musik-
drama „Tristan und Isolde" (vollendet 1859) den Bruch mit der
bisherigen Opernform in vollster Consequenz zu vollziehen; im
Gegentheil, die von den Opern seiner Vorgänger und selbst von
seinen eigenen, mittlerweile bekannt und beliebt gewordenen
AVerken „ Tannhäuser " und „Lohengrin" durchaus abweichende
Wort- und Tonsprache des „Tristan" entfremdete ihm sogar einen
Theil deijenigen Kunstfreunde, welche ihm bis dahin gefolgt waren.
Ausserdem hielt man sich überzeugt, dass die Schwierigkeiten
der Ausführung unüberwindhch seien, nachdem die in Carlsruhe
und Wien gemachten Anstrengungen, das Werk zur Aufführung
*) „Beethoven" S. 10. Abgednickt in den ges. Schriften IX. S. 38.
XII. Kicixard AVagner. 195
ZU bringen, kein Ergebniss gebabt hatten. Unter diesen Umstän-
den bescbloss AVaguer im Jahre 1859 noch ein drittes mal an
die EmpfängUchkeit des pariser Publicums zu appelliren; doch
sollte er auch diesmal in seinem Glauben an die, beim Erscheinen
Gluck's so unzweideutig hervorgetretene Kunsteinsicht der Fran-
zosen getäuscht werden. Denn obwohl durch eine Reihe glän-
zender und künstlerisch gelungener Concerte im italienischen
Theater (Anfang 1860) mit der neuen Musikrichtung bis zu einem
gewissen Grade vertraut gemacht, fühlte sich doch das Publicum
bei den im März 1861 folgenden Aufführungen des „Tannhäuser"
derart in seinen künstlerischen Gewohnheiten verletzt und äusserte
sein Missfallen in so rücksichtsloser Weise — selbst ein so
erfahrener Kritiker und dem Fortschritt ergebener Musiker wie
Berlioz schloss sich bei dieser Gelegenheit dem fast allgemeinen
Verdammungsurtheile an! — dass dem Autor nichts übrig blieb,
als seine Partitur nach der dritten Aufführung zurückzuziehen.
Wiederum um eine Hoffnung ärmer verliess Wagner Paris
und wandte sich, da inzwischen der seit 1849 auf ihm ruhende
Bann gehoben war, nach Deutschland, wo die Zahl der Freunde
seiner Kunst von Jahr zu Jahr zugenommen und sich die Theil-
nahme für ihn in Folge der pariser Ereignisse noch gesteigert
hatte. Eine bleibende Stätte seines AVirkens zu finden, konnte
ihm freilich auch jetzt noch nicht gelingen. Da trat der für seine
Künstlerlaufbahn verhängnissvolle Zeitpunkt der Thronbesteigung
Ludwig's II. von Bayern ein. Dieser Fürst, schon seit dem
Knabenalter von Liebe und Vertrauen zu Wagner's Kunst beseelt,
zögerte keinen Augenblick, den Meister zu sich nach München
zu berufen (1864) und ihm die reichen musikalischen Mittel, welche
seine Residenz bot, zur unbeschränkten Verfügung zu stellen.
Wagner gehorchte dem Rufe und die nächsten Folgen seiner
Uebersiedlung waren die Errichtung einer Musikschule nach seinem
Plane*) sowie die Aufführung von „Tristan und Isolde" (1865)
unter Mitwirkung des Schnorr' sehen Ehepaares in den Titel-
rollen und unter Leitung Hans von Bülow's, wobei es sich
erwies, dass das früher als unausführbar bezeichnete AVerk bei
voller Hingabe seitens der dabei betheiligten Künstler seine Wir-
kung nicht verfehle.
Hiermit sind wir zu der dritten Lebensperiode des Meisters
*) Die Einzelheiten desselben enthält Wagner's „Bericht an S. M. den
König Ludwig II. voti Bayern über eine in München zu errichtende deutsche
Musikschule" (ges. Schriften VIII. S. 159.)
13*
196 XII. Rictiara "Wagner.
gelangt — wenn nämlich die zweite von dem Erscheinen seines
„Rienzi" datirt werden muss — und haben demnach die Grenze
erreicht, welche dieser kurzen Darstellung am Eingang derselben
gezogen wiu-de. Die nun folgenden Hauptmomente seiner Lauf-
bahn sind von den Kunstfreunden auch der jüngsten Generation
gleichsam persönhch miterlebt und bedürfen kaum noch besonders
hervorgehoben zu werden. Wie Wagner auch in München seinen
Thätigkeitsdrang derart gehemmt sah, dass er schon Ende 1865
die Stadt wieder verlassen musste; wie er dann in der ländHchen
Einsamkeit seiner Villa Tribschen bei Luzern seine „Meister-
singer von Nürnberg" vollendete*) und mit der ersten Auf-
führung dieses Werkes in München 1868 trotz aller dort wirkenden
Gegenströmungen, einen Triimiph erlebte, der alle seine früheren
Erfolge in Schatten stellte ; wie er endhch im Anfang unseres
Jahrzehnts den Gedanken der Bayreuther Festspiele erfasste,
und ungeachtet der Kühnheit dieses Planes so warme Theil-
nahme dafür fand, dass schon 1872 (am 22. Mai, dem neummd-
fünfzigsten Geburtstag des Künstlers) der Grundstein des zu
diesem Zwecke zu errichtenden Theaters gelegt werden konnte
— alles dies lebt noch frisch hn Gedächtniss der Zeitgenossen.
Ebenso das bedeutungsvollste Ereigniss in Wagner's Leben, das
von den Zweiflern noch bis zum letzten Tage für unmöghch
gehaltene Zustandekommen der Festspiele in Bayreuth
(1876) und die zu ihrer Eröffnung bestimmte Darstellung der
Nibelungen-Trilogie.
Giebt es überhaupt eine Entschädigung für die Leiden und
Täuschungen, welche dem seiner Zeit vorauseilenden Künstler
niemals erspart bleiben, so sollte sie Richard Wagner an diesen
denkwürdigen Tagen in ungewöhnlich reichem Maasse zu theil
werden; denn hier konnte er zm- Gewissheit gelangen, dass
die deutsche Nation, wenn sie auch begreiflicherweise in Bay-
reuth nur diu-ch einen kleinen Bruchtheil vertreten war, sich
ihm vertrauensvoll anschliesse imd seine Bemühimgen um die
deutsche Kunst zu würdigen gelernt habe. Und mancher von
den Festgästen, sofern er sich nicht durch die bei der Neuheit
des Unternehmens unvermeidhchen äusseren Mängel den Empfäng-
lichkeitssinn trüben Hess, sondern sich der weihevollen Stinnnung,
wie sie die Abgeschiedenheit des Ortes und das Zusammentreffen
I
*) Der Entstehungszeit nach finden die „Meistersinger" ihren Platz
zwischen „Tannhäuser" und „Lohengrin", denn die Dichtung wurde von
Wagner bereits 1845 während eines Aufenthaltes in Marienbad skizzirt.
XII. Rjcliard "Wagner. 197
Tausender von Gleichgesinnten mit sich brachten, unbefangen
hingab — mancher von ihnen wird während jener Tage die, fast
ein Jahrhundert zuvor (im HiubHck auf Gluck) ausgesprochenen
prophetischen Worte Herder's in ihrer vollen Bedeutung empfun-
den haben: der Fortgang des Jahrhunderts wird uns auf einen
Mann führen, der den Trödelkram wortloser Töne verachtend,
die Nothwendigkeit einer innigen Verknüpfung menschlicher Em-
pfindung und der Fabel selbst mit seinen Tönen einsah. Von
jener Herrscherhöhe, auf welcher sich der gemeine Musikus
brüstet, dass die Poesie seiner Kunst diene, stieg er hinab und
Hess den Worten der Empfindung, der Handlung selbst seine
Töne nur dienen. Er hat Nacheiferer; und vielleicht eifert
ihm bald Jemand vor, dass er nämlich die ganze Bude
des zerschnittenen und zerfetzten Opern-Klingklangs
umwerfe, und ein Odeum aufrichte, ein zusammenhän-
gend lyrisches Gebäude, in welchem Poesie, Musik,
Action, Decoration Eins sind.
A^ntLang,
Beilage I.
Tal>elle
zur Einprägung einiger musikhistorisch wichtiger Jahreszahlen.
So wenig es von dem Leser zu erwarten ist, dass er die im
Verlauf dieser kurzen Darstellung, geschweige die in ausfiihr-
liclien "Werken über Musikgeschiclite vorkommenden JabreszaMen
dem Gedäcbtniss einpräge, so muss doch das Festhalten einiger
weniger Daten, um welche herum sich dann die übrigen That-
sachen gi'uppiren, als unerlässUche Bedingung des erfolgreichen
Studiums bezeichnet werden. Um dies zu erleichtem, habe ich
(zunächst für meine Zuhörer in der berliner Neuen Akademie
der Tonkunst) auf nachfolgender Tabelle den Jahreszahlen aus
der Musikgeschichte gewisse aus der allgemeinen Geschichte wohl-
bekannte Zahlen gegenüber gestellt, bei deren Auswahl übrigens
nicht die gegenseitigen Beziehungen, sondern lediglich der mnemo-
technische Zweck bestimmend war, wenn auch, der Tendenz des
Buches entsprechend, jene Beziehungen zwischen der musikalischen
und der weltgeschichtHchen Entwickelung nach Möglichkeit be-
rücksichtigt worden sind.
200
Das A-ltertlium und. das Mittelalter.
753. Gründung Rom's durch Romu- 776.
lus und Renius.
600. Solon, Gresetzgeber Athens, ein 600.
Gegner der dramatischen Dar-
stellungen.
490. Sieg der Grriechen über die 472.
Perser bei Marathon.
429. Tod des Perikles.
404. Ende des peloponnesischeu 405.
Krieges; Uebergang der Hege-
monie in Griechenland von
Athen an Sparta.
338. Schlacht bei Chäronea. Untei-
gang der griechischen Freiheit.
336. Thronbesteigung Alexander's
d. C4r.
n. Chr.
Anfang der olympischen Fest-
spiele und der Olympiaden-
Zeitrechnung.
Thespis vermittelt den Ueber-
gang von der Dionysos -Feier
zur Tragödie.
Die attische Tragödie erreicht
mit Aischylos ihren Höhepunkt.
Aufführung der „Perser".
Trennung des Dichterberufs von
dem des Musikers beiEuripides.
Blüthe der attischen Komödie.
Aufführung der „Frösche" von
Aristophanes. Ausbildung der
sophistischen Philosophie.
Ausbildung der Redekunst.
Bemosthenes f 322.
Aristoteles f 322. Sein Schüler,
der Musik-Theoretiker Aristo-
xenos.
Tod des Kaisers Nero.
333.
Constantin d.
Christenthum
gion.
zur
erhebt das
Staatsreli-
375. Beginn der Tölkerwanderung.
67. Kunstreisen Nero-s in Italien
und Griechenland.
314. Papst Sylvester stiftet zu Rom
die erste Singschule.
367. Das Concil von Laodieea ver-
bietet den Gemeindegesang.
386. Der Bischof Ambrosius führt
den nach ihm benannten Gesang
in der Mailänder Kirche ein.
526. Theodorich d. Grr. f König
des Ostgothenreiches in Italien.
622. Gründung des Islam's, durch
Muhamed.
814. Karl d. Gr. f-
1077. Kaiser Heinrich IV. thut zu
Canossa Busse vor dem Papst
Gregor VII.
524. Boetius f Der letze Philosoph
und Musiktheoretiker des Al-
terthums am Hofe Theodorichs.
604. Papst Gregor d. Gr. t Schöpfer
des Gregorianischen Gesanges.
840—930 Hucbald. Erste Versuche
einer mehrstimmigen Musik
(Organum oder Diaphonie).
1024. Papst Johann IX. Guido von
Arezzo's Gesanglehrmethode
und Verbesserung der Noten-
schrift.
Seilage.
201
1270. Ende der Kreuzzügre. 1200.
1305—1377. Aufenthalt der Päpste 1380.
in Avig-non.
1453. Eroberung von Constantiiiopel 1476.
durch die Türken.
1492. EntdeckungvonAmerika durch 1490.
Columbus.
1517. Martin Luther schlägt 95 1521.
Thesen wider den Ablasshan-
del an die Schlosskircbe in
Wittenberg.
1563. Ende des Tridentiuer Concils. 1565.
1572. Die Bartholomäusnacht oder 1570.
Pariser Bluthochzeit.
1600. Vermählung Heinrich's IV. 1600.
von Frankreich mit Maria von
Medici in Florenz.
Franco von Cöln, der älteste
Schriftsteller über die Mensu-
ralmusik.
Der Niederländer Wilhelm
Dufay Mitglied der päpstlichen
Sängercajielle zu Rom.
Der Niederländer Tinctoris
veröffentlicht das erste musi-
kalische Lexicon: „Termino-
rum musicae diffinitorium".
Adrian Willaert, Begründer
der venetianischen Schule, zu
Brügge geboren.
Josquin des Vrhs f Dei
niederländische Contrapunkt
auf der Höhe seiner Ent-
wickelung.
Aufführung der drei 6-stimmi-
gen, Philipp II. gewidmeten
Messen Palestrina's unter
denen die „Missa Papae Mar-
eeUi."
Orlandus Lassus,CapelLmeister
in München, vollendet seine
Bnsspsalmen.
Erste Aufführung des Musik-
Drama Euridice vonRinuccini,
Musik von Peri, sowie des
geistlichen Musik -Drama La
rappresentazione dl anima e
dl corpo von Cavaliere.
Die Neuzeit.
1618-1648. Der
Krieg.
dreissigrjährige
1675. Schlacht bei Fehrbellin. Der
grosse Kurfürst schlägt die
mit Frankreich verbündeten
Schweden.
1627. Das erste Erscheinen der Oper
in Deutschland. (Aufführung
der „Dafne" von Rinuccini,
bearljeitet von Opitz mit Musik
von Schütz in Torgau.)
1637. Gründung des ersten öffent-
lichen Operntheaters , des
Teatro Cassiano in Venedig.
1672. Lully gewinnt die Alleinherr-
schaft über das 0pernwes3n
in Prankreich.
202
Beilage.
1685. Aufhebung des Edictes von
Nantes. 700,000 Hugenotten
finden in Deutschland eine Zu-
flucht.
1701. Preussen unter Friedrich I.
zum Königreich erhoben.
1725. Peter d. (Jr. f Russland un-
ter die europäischen G-ross-
mächte aufgenommen.
1740. Thronhesteigung Friedrieh's
d. Gr.
1756. Anfang des siebenjährigen
Krieges.
1774. Thronbesteigung Ludmg's
XVI. von Frankreich.
1793. Hinrichtung Ludwig's XTI.
1805. Schlacht bei Austerlitz. INa-
poleon I. in Wien.
1809. Schlacht bei Wagram. Na-
poleon I. in Schönbrunn.
1813. Völkerschlacht hei Leipzig.
1821. Tod Napoleon's I. auf St. He-
lena.
1685. Bach und Händel geboren.
1703. Händel beginnt seine Wirk-
samkeit an der Oper zu^Ham-
hurg.
1725. Alessandro Scarlatti f Die
von ihm begründete neapoli-
tanische Schule gelangt in
ganz Europa zur Herrschaft.
1729. Erste Aufführung von Baches
Matthäus-Passion zu Leipzig.
1740. Händel beschHesst seine Thä-
tigkeit als Opemcomponist und
widmet sich ganz dem Ora-
torium.
1756. Mozart geboren.
1774. Erste Aufführung von Gluck's
Iphigenia in Aulis zu Paris.
1795. Gründung des Pariser „€on-
servatoire de musique et de
declamation."
1805. Erste Aufführung von Beet-
hoven's Fidelio zu Wien.
1809. Joseph Haydn f zu Wien.
1813. Richard Wagner geboren.
Erste Aufführung von Rossini 's
Tancred zu Venedig.
1821. Erste Aufführung von Weher's
Freischütz zu Berlin.
Beilage IL
Verzeichniss neuer Ausgaben alter Musikwerke.
Unter diesem Titel hat Robert Eitner eine Arbeit ver-
öffentlicht (BerUn, Trautwein 1871) die allen Freunden der
Musikgeschichte willkommeu sein wird, welche auf praktischem
"Wege in den Geist der älteren Tonkunst einzudringen wünschen
und nicht Gelegenheit haben, zu den Quellen hinabzusteigen.
Für die Leser meines Buches linden sich hier aus dem von Eitner
gesammelten reichen Vorrath diejenigen Ausgaben zusammen-
gestellt, welche mir zum Beginn dieses Studiums und als Er-
gänzung meiner „Vorlesungen" besonders geeignet erschienen, so
wie auch einige dort nicht aufgenommene Publicationen :
1. Altgriechische Musik,
Friedrich Bellermanu, die Hymnen des Dionysius und Mesomedes.
Berlin 1840. (Drei Melodien mit Ciavierbegleitung). — C. F. Weitzmaun,
Geschichte der griechischen Musik. Berlin 1855. (sämmtliche noch vor-
handene Proben altgriechischer Melodien und vierzig neugriechische Volks-
melodien.)
2. Die Musik der ersten christlichen Zeiten.
Coussemaker, Histoire de t'harmonie im moyen age. Paris 1852. (Ge-
sänge aus dem 9. bis 14. Jahrhundert, Facsimile und Uebertragung in mo-
derne Notation, u. a. zwei Oden des Boetius.) — SchuWger, die Sänger-
schule St. Gallens vom 8. bis 12. Jahrhundert. Einsiedeln und New-York
1858.! (Acht Tafeln Facsimile und einstimmige Gesänge von Notker Bal-
bulus, Ekkehard I. u. a.).
204
3. Die Anfänge der mehrstimmigen Musik.
Kiesewetter, Gl-eschichte der europäiscli-abendländisclien Musik. Leipaig
1846, nebst Beilagen : Die ältesten Monumente eines figurirten Contrapunkts.
(Adam de la Haie, Guillaume de Macliault u. a.). — Ambrös, Geschichte
der Musik. Leipzig, Leuckart 1864. Band II. S. 309 fif.). — Heinrich
Bellermaun, Die Mensuralnoten und Taktzeichen des 15. und 16. Jahr-
hunderts. Berlin 1858, sowie dessen Contrapunkt, 2te Auflage, Berlin 1877.
4. Die Musik der Minnesänger und der Meistersinger. Das
Volkslied.
Friedr. Heinr. toh der Hagen, Minnesänger. Deutsche Liederdichter
des 12. 13. und 14. Jahrhunderts, mit zahlreichen alten Melodien in Ori-
ginal-Notation in Bd. IV. S. 766 — 932. — De Laborde, Essai sur la musique
(ohne Nennung des Autors) Paris 1758. Enthält Band IL S. 235 die Q-e-
sänge des Troubadours Chätelain de Coucy und Band IV. (Anhang) eine
Anzahl altfranzösischer mehrstimmiger Chansons. — Forkel, Geschichte der
Musik. IL S. 757—772. — Ambros, Geschichte der Musik. IL S. 248—265.
F. W. Arnold, Deutsche Volkslieder aus alter und neuer Zeit gesammelt
und mit Ciavierbegleitung versehen. Sieben Hefte ä M. 3. Elberfeld bei
F. "W. Arnold. — Robert Franz, sechs altdeutsche Lieder für eine Sing-
stimme mit Begleitung des Pianoforte. Beilage zu ,, Robert Franz" von
August Saran. Leipzig , Leuckart. — August Saran , 30 altdeutsche
Volksmelodien (aus Franz M. Böhme's altdeutschem Liederbuch) für eine
Singstimme mit Clavierbegleitung. Leipzig , Breitkopf & Härtel. Preis
Mark 5. — C. F. Becker, Lieder und "Weisen vergangener Jahrhunderte.
Zweite Auflage 1853. — Aug. Keissmann, Das deutsche Lied in seiner
historischen Entwickelung. Mit Musikbeilagen: 33 Lieder aus dem 15. 16.
17. und 18. Jahrhundert. Cassel 1861. — Wilh. Tai)pert, deutsche Lieder
aus dem 15. 16. und 17. Jahrhundert für eine Singstimme mit Begleitung
des Pianoforte. Berlin, C. A. Challier & Co. Enthaltend Lieder aus dem
sog. Lochheimer Liederbuche, den Sammlungen von Job. Ott und G. Forster
(Nürnberg) etc. — Adam de la Haie Le jeu de Robin et de Marion, Paris,
Firmin Didot (auf Veranlassung der Societe des Bihliopliiles in 30 Exem-
plaren gedruckt). — W. Tappert, zwei Lieder aus Robin und Marion mit
Clavierbegleitung. Berlin, ChalUer & Co. Mark 1. — Eduard Kremser,
sechs altniederländische Volkslieder aus der Sammlung des Adrianus Valerius
vom Jahre 1626, für Tenor und Bariton-Solo, Männerchor mit Orchester
oder Pianoforte. Leipzig, Leuckart. Partitur M. 10,00. Ciavierauszug
M. 2. 40. — J. B. Wekerlin, Echos d)i temps passe. Sammlung weltlicher
Gesänge und Volkslieder meist französischen Ursprungs mit Clavierbeglei-
tung, drei Bände. Paris, G. Flaxland (Durand, Schönewerk & Co.). Ent-
hält Melodien der Troubadours, zwei Gesänge aus „Robin und Marion",
Arien und Chansons von Lully, Rameau, Campra, Rousseau, sowie Tanz-
und Trinklieder nebst historischen Notizen.
Beilage. 205
5. Das Zeitalter der Niederländer.
Franz Commer, Colleciio operum musicorum batavorum saectili XVI.
Zwölf Bände. Berlin, Trautwein. Enthält mehrstimmige (xesänge von Jos-
quin des Pres, AVillaert, Orlandus Lassus etc. in Partitur. — Kiesewetter,
(■reschichte der europäisch -abendländischen Musik, nel)st Beilage (mehr-
stimmige Gesänge von Dufay, Ockenheim etc.). — Forkel, Geschichte der
Musik, enthält u. a. Band II. S. •542 Josquin des Prfes' fünfstimmige Deplo-
ration de Jehan Okenheivi. — Ambros, Gesch. d. Musik. Bd. II. (Musik-
beilagen: Dufay, Dvmstable u. a.).
6. Geistliche Musik des 16.— 18. Jahrhunderts.
^ustay Bock; Musiea sacra, vierzehn Bände. Gesänge älterer Meister,
grösstentheils aus den Programmen des berliner Domchors. Berlin, Bote
& Bock. Partitur und Stimmen. (Mit "Werken von Palestrina, Vittoria,
Morales, AUegri; A. Scarlatti, Leo, Durante, Jomelli; Lotti, Caldara, Mar-
cello; Orlando Lasso, Hans Leo Hasler, Eccard, Prätorius, Heinrich
Schütz u. a.). — Eccard, geistliche fünfstimmige Lieder, nach den Königs-
berger Originalausgaben von 1597, herausgegeben von G. W. Teschner,
Leipzig, Breitkopf & Härtel. 2 Theile. — Eccard und t>toVäus, preussische
Festlieder auf das ganze Jahr für .5, 6, 7 und 8 Stimmen, herausgegeben
von demselben. Ebenda. 2 Theile k M. 10. 50 und M. 13, 50. — Denk-
mäler der Tonkunst. Bergedorf bei Hamburg 1879. Vier Bände. Sub-
scriptionspreis M. 12. Band I. Vierstimmige Motetten von Palestrina, her-
ausgegeben von H. Bellermann. Band II. Vier Oratorien von Carissimi,
herausgegeben von F. Chrysander. — Heinrich Schütz, Historia des Leidens
und Sterbens unseres Herrn und Heilands Jesu Christi. Aus dessen „Vier
Passionen" zusammengestellt und herausgegeben von Carl Riedel- Leipzig,
E. W. Fritzsch. Partitur M. 5,00. Stimmen k M. 1. 50. — Bernh. Kothe,
Musiea sacra. Sammlung von Hymnen und Motetten für Männerstimmen,
der Mehrzahl nach den älteren Classikern entnommen. Leipzig, Leuckart. —
Franz Commer, Caniica sacra. Sammlung geistlicher Arien aus dem 16.
bis 18. Jahrhundert für eine Sopranstimme mit Ciavierbegleitung. Berlin,
T. Trautwein ä M. — . 40. bis M. 1. — Winterfeld, der evangelische Kir-
chengesang und sein Verhältniss zur Kunst des Tonsatzes. Drei Bände.
Leipzig, Breitkopf & Härtel. Die Musikbeilagen, 505 Tonsätze in Partitur
(auch besonders erschienen) enthalten u. a. eine Anzahl von Arien und
Duetten aus den geistlichen Werken von Reinhard Keiser. — Jomelli,
Miserere. Partitur mit Porträt des Componisten und einer historischen Notiz
von Domenico Bertini. — Marcello, Miserere (Desgl.). — Pergolese, Stahat
mater. (Desgl. mit Notiz von Casamorata) Florenz, G. G. Guidi (k fr. 10).
7. Opernmusik, a. Italienische Oper.
Jacopo Peri, Euridice, Partitur mit beziffertem Bass. Florenz,
G. G. Guidi. Pr. Fr. 4. — F. A. Gevaert, Les Gloires de TItalie. Ge-
sänge für eine und zwei Stimmen mit Ciavierbegleitung aus Opern von Peri,
206 Beilage.
Monteverde, Cavalli, A. Scarlatti, Leo, Jomelli, Pergolese, Hasse, Sarti,
Paisiello, sowie aus den Nuove musiehe von Caccini und den weltlichen
Cantaten von Carissimi. Paris, Heugel & Co. Zwei Bände je 30 Nummern
enthaltend k Fr. 25.
b. Französische Oper.
Lully, Le bourgeois gentilhomme, Comedie-BaUet. Vollständiger Cia-
vierauszug von J. B. Wekerlin, mit dem Porträt des Componisten und einer
Vorrede. Paris, Durand, Schoenewerk & Co. Preis Fr. 7. — Fran<jois Del-
sarte, Ärchives du cliant. Paris, im Selbstverlag des Verfassers. Enthält
unter der Rubrik Chefs-d'oeuvre lyriques des 16. 17. et 18. siecles Gesänge
aus den Opern des LuUy, Rameau, Duni, Philidor, Monsigny, Gretry.
c. Deutsche Oper.
Lindner, die erste stehende deutsche Oper. Berlin, Schlesinger 1855.
Band II. Neun Compositionen aus den Opern von Reinhard Keiser im
Ciavierauszug. — J. A. Hiller, „Der Krieg" komische Oper in drei Acten
(1773) und „Die Liebe auf dem Lande" (desgl. 1770) Ciavierauszug ä M. 4. 50.
Leipzig, Breitkopf & Härtel. — A. Reissmaun, allgemeine Geschichte der
Musik. München 18 53. Mit Beispielen aus den Opern von R. Keiser, Graun,
Hasse, Händel u. a.
8. Englische Vocaimusiic.
Musical antiqnarian Society. Die von dieser Gesellschaft veröffent-
lichten mehrstimmigen geistlichen und Madrigal-Compositionen von "W. Bird,
Dowland, Gibbons, Morley u. a. sind nur antiquarisch zu haben. — Die
PurceU-Society hat eine neue Ausgabe der Compositioiien dieses Meisters
mit dessen Yorkshire Feast-Song begonnen (im Ciavierauszug von Cum-
mings erschienen in London) denen die dramatischen "Werke folgen werden
(Leipzig bei Breitkopf & Härtel. Preis des Jahrgangs M. 21). — W. Chap-
pell, The Ballad Literature and populär Music of the olden Urne. Eine
Sammlung englischer Volksgesänge, harmonisirt von G. A. Macfarren. Zwei
Bände. — Sir John Hawkins, A general history of the science and practice
of music. Zwei Bände, neu aufgelegt von Novello, Ewer & Co. in London,
enthält zahlreiche Notenbeispiele, besonders älterer englischer Vocalcompo-
nisten. — J. Maier, Auswahl englischer Madrigale für gemischten Chor mit
deutschem Text. Drei Hefte. Leipzig, F. E. C. Leuckart.
9. Instrumentalmusik, a. Für die Orgel.
Franz Commer, Sammlung von Orgelcompositionen des Hi. — 18. Jahr-
hunderts (6 Hefte, Leipzig, F. E. C. Leuckart), enthält Stücke von Frescobaldi,
Caldara u. a. — Grustav Bock, Musica sacra. Band I. mit Compositionen
von Claudio Merulo, Frescobaldi, Froberger u. a., herausgegeben von Franz
Commer. .
Beilage. 207
b. Für das Ciavier.
Alte Meister. Sammlung werthvoller Ciavierstücke des 17. und 18.
-Jahrhunderts, herausgegeben von E. Pauer. Leipzig, Breitkopf & Härtel.
Vierzig Nummern, darunter Compositionen von Kuhnau, Fi'oberger, Mat-
theson, Rameau, Couperin, Padre Martini, den drei Söhnen Seb. Bach's etc.
— ClavierstUcke aus den Concertprogrammen von Frau Szarvady geb.
C lau SS. Leipzig, B. Senff. Drei Hefte k M. 3. — Weitzmann, Geschichte
des Clavierspiels und der Ciavierliteratur. Stuttgart 1863 (erscheint dem-
nächst in 2. Auflage). Mit einer Musikbeilage enthaltend Compositionen
von Cl. Merulo, Frescobaldi, Pasquini, Durante, D. Scarlatti, Bird, Cübbons,
Purcell, Couperin, Froberger u. a. — Rimbault, The Pianoforte, its origin,
progress and construction etc. London, Robert Cocks. Mit zahlreichen
Beispielen älterer Ciaviermusik. — Les Iboniies traditious du pianiste,
3 Bände, Paris, Flaxland. — DenkmUler der Tonkunst. Bergedorf bei
Hamburg. Band IV enthält Couperin's Ciavierstücke, herausgegeben von
J. Brahms. — C. Ph. Em. Bach, fünf Sammlungen von Claviercompositionen
mit einer Vorrede von E. F. Baumgart. Leipzig, Leuckart. — Old Eng'lish
Composers for the Virginal and Harpsieliord. Compositionen von Bird,
John Bull, Gibbons. Purcell etc., herausgegeben von E. Pauer, mit bio-
graphischen Notizen von W. A. Barrett. London, Augener & Co. —
50 Harpsichord Lessons by Domenico Scarlatti, bearbeitet von E. Pauer.
Ebenda. — C. F. Becker, Op. 32. Die Hausmusik in England etc. Leipzig,
F. E. C. Leuckart.
c. Für die Violine.
David, die hohe Schule des Violinspiels. Werke berühmter Meister
des 17. und 18. Jahrhunderts für Violine und Ciavier bearbeitet. Leipzig,
Breitkopf & Härtel. 20 Hefte ä M. 4. 50 bis M. 5. Compositionen von
Corelli, Tartini, Vivaldi u. a. — Alard, die classischen Meister des Violin-
spiels. 30 Nummern ä M. 2 bis M. 3. Mainz, Schott. -— Deldevez, Les
violonistes celebres depuis Corelli jvsqu'ä Viotti. Paris, Richault. 26 Num-
mern. Preis Fr. 25 (beide Sammlungen mit Clavierbegleitung). — Denk-
mUler der Tonkunst. Bergedorf bei Hamburg. Band III. GoreWi, Sonate
da chiesa a tre^ due Violini e Violone o Arcileuio , col Basso per Vorgano.
Herausgegeben von J. Joachim. — Witting, Die Kunst des Violiuspiels.
Acht Bände ä M. 1. 25 bis M. 2. 50. Wolfenbüttel, Holle.
Register.
Accentus, 59.
Accord, 91.
Adam de la Haie, 41.
Adam, Louis, 177.
Aeolisch, 18. 92.
Aischylos, 8.
Alkan, 177.
AUegri, 47.
Amati, 153.
Ambrosius, 22.
Anakreon, 11.
Animuccia, 122.
Anthem, 136.
Antiphonarium, 24.
Antiphonisclier oder Wechsel-Gesang,
15. 30. 119.
Applicatur, 145.
Araber, 27.
Arie, 75. 78.
Arion, 11.
Aristoteles, 159.
Aristoxenos, 12.
Artusi, 71.
Auber, 102.
Aulos, 12.
Authentisch und plagalisch, 22.
Ayrer, Jacob, 105.
Azione aacra (Oratorium) 122.
Bach, Sebastian, 131. 92. 138. 1.55.
Bach, Emanuel, 146. 157. 175.
Baif, 83.
Baillot, 177,
Barbaja, 79.
Bardi, Griovanni, Graf von Vemio, 6.
Basso continuo, 124.
Beethoven, 115. 157. 160. 163. 165.
176. 183.
Bellini, 80.
Berger, Ludwig, 176.
Beriot, de, 177.
Berlioz, 173. 195.
Bernhard der Deutsche (Murer) 142.
Bernhard, Christoph, 106.
Bertini, Henri, 177.
Beza, 61.
Bird, William, 135.
Blasinstrumente, im Alterthum, 7.
— in der Neuzeit, 150.
Blockflöte, 152.
Boccaccio, 53.
Boötius, 16.
Boieldieu, 102.
B-quadratum (B-durum) 35.
Bi'accio, Viola da, 151.
Bratsche, 152.
Brevis (Mensuralmusik) 36.
Brockes, 128.
Buchstaben-Tonschrift, 31.
Bülow, Hans von, 195.
Bufifonisten und Antibuffonisten, 93.
Bund, bundfrei, 143.
Bürette, 63.
Bumey, 74.
14
210
Register.
Buttstedt, 36.
Buxtehude, 142.
Caccini, 63. 96.
Caldara, 124. 76.
Cambert, 86, 136.
Camerata, 63.
Campra, 91.
Canon, 48.
Cantate, Kirchen-, 106. Kammer-, 124.
Cantus firmus, 47. — planus, 23. —
als Gegenstimme zum Tenor, 46.
Canzone, 154.
Carissimi, 124. 73.
Cassiodor, 16.
Castraten, 109.
Cavaliere, 123.
Cavalli, 72.
Cherubini 102.
Chinesen, 3.
Chopiu, 175.
Chor, in der antiken Tragödie, 7.
— in der französischen Oper, 90.
— bei Vittoria (Turbae) 122.
— bei Schütz, 127. — bei Händel, 138.
Choral, der katholische, 57.
— der protestantische, 128. 133.
Chromatik, bei den Griechen, 19.
— in der modernen Musik, 67.
Chronik, Limburger, 45.
Clarinette, 152.
Classisch, 62.
Claviatur-Saiteninstrumente, 143.
Clavichord, 143.
Clavicymbel, 144.
Ciaviersonate, 156.
Clavierspiel, 156. das moderne 175.
Clemens v. Alexandrien, 16.
Clementi, 176.
Coclius, 50.
CoUectenton, 127. *■
Coloriren, 153.
Concentus, 59.
Concerto, da Chiesa, 123. — das drei-
sätzige des Vivaldi, 155.
Confr&rie de St. Julien des Mdne-
striers, 45.
Confucius, 3.
Conservatorium, pariser, 102.
Conti, 76.
Contrapunkt, 37, 47, 77.
Contratenor, 46.
Corelli, 155. 177.
Couperin, 146.
Cousser (Kusser) 109.
Cramer, 176.
Cristofali, 148.
Crotta, 150.
Cuzzoni, Francesca, 78.
Cyklische Formen, 155.
Czerny, 176.
•
Dante, 53.
Dauvergne, 94.
David, Ferdinand, 178.
Dialogisirende Form (der Laudi spi-
rituali) 122.
Diaphonie; 29.
Diatonik, bei den Griechen, 20.
— bei Zarlino, 70.
Diazeuxis, 18.
Didymus, 70.
Diminuiren, 153.
Diruta, 156.
Discantus, 46.
Dissonanzen, bei Josquin, 51. — bei
Monteverde, 71. — die Terzen bis
auf Zarlino, 70.
Dittersdorf, 114.
Doles, 138.
Doni, 78.
Donizetti, 80.
Dorisch, 17. — Kirchentonart, 92
Dorn, Heinr., 184.
Dowland, 135.
Duett, 74.
Dufay, 48.
Dumanoir, roi des violons, 45.
Duni, 95.
Dunstable, 134.
Register.
211
Dur- und Mollgeschlecht, 18. 92.
Durante, 76.
Durchcomponirtes Lied, 164.
Eccard, 12Ö.
Egypter, 6.
Einzelgesaug, Monodie, 64.
Ekkehard, 25.
Elmenhorst, 108.
England, 134.
Enharmonik, 19.
Eselsfest, 120.
Fagott, 152.
Falscher Bass, Faux-Bourdon, 47.
Fastnachtspiel, 104.
Ferrari, 72.
Festlieder, preussis che, bei Eccard, 1 26.
Field, John, 176.
Figuralgesang (Mensuralgesang) 58.
Flöte, 152.
Flügel, 144.
Forkel, gegen Gluck, 99.
Franco von Cöln, 36.
Franz, Robert, 166.
Frescobaldi, 142. 154.
Friedrich d. Gr., 77.
Froberger, 142. 174.
Fuge, 48.
Fux, 76.
<xabrieli, A. und J. 71. — J. 154.
Gafor, Franchinus, 47.
Galilei, Vincenzo, 63.
Gamba, Viola da, 151.
Gamma, 34.
•Gemeindegesang, protestantischer, 57.
Generalbass, 124.
Gerle, Hans, 149.
Gerbert, Fürstabt, 151.
Geaualdo, Fürst von Venosa, 73.
Gibbons, Orlando, 135.
Glareanus, 60. 92.
Gluck, 97.
Gothen, unter Theodorich d. Gr., 16.
Oossec, 101. 102.
Goudimel, 61.
Graun, 77. 138.
Gregor d. Gr., 22.
Gr^try, 95.
Griechen, 7.
Guameri, 153.
Guido von Ai-ezzo, 32.
Hackbrett, 148.
Händel, 131. 78. HO.
Harmonia, griech. für Octavengat-
tung, 17.
Harmonie, bei den Griechen, 19.
— im modernen Sinne, 30.
Hasler, Hans Leo, 126.
Hasse, J. A., 77. 138.
Hasse, Faustina, 78.
Haydn, 157. 160. 112.
Hebenstreit, Pantaleon, 148.
Hebräer, 6.
Heinichen, 75.
Herz, Henri, 177.
Hexachord-System, 34.
Hilarius, Papst, 21.
Hiller, J. A, 112. 94.
Homophoner Stil, 156.
Hucbald, 29. 38.
Hummel, 176.
Hyporchema, 153.
Indier, 2.
Improperien, des Palestrina, 61.
Instrumental-Musikstil, 153.
Instrumental-Musikformen, 154.
Intermezzo (Singspiel) 93.
Intervalle , natürliche und tempe-
rirte, 68.
Jomelli, 78.
Jongleurs, 41.
Ionisch, 92.
Josquin des Pros, 50.
Isaak, 58.
Kalkbrenner, 177. 175.
Kamme r-Cantate, 124.
14'
212
Register.
Kammer-Duett, 74.
— Musikstil, 73.
Karl d. Gr., 23.
Kauer, Ferd., 115.
Kayser, Ckristopli, 113.
Keiser, Reinhard, 109. 129.
Keren, 7.
Kirchentonarten, 92.
Klanggeschlechter, der Griechen, 19.
Kreutzer, K, 177.
Kuhnau, 156. 174.
Kullak, Th., 176.
Kunstlied, 164.
Kusser (Cousser) 109.
Lacombe, 177.
Lassus, Orlandus, 125.
Laudi spirituali, 122.
Laute, 148.
Leo, Leonardo, 76.
Lesueur, 184.
Leute , fahrende (Instrumentalmusi-
ker) 45.
Lied ohne Worte, 172.
Liederbuch, Lochheimer, 45.
Liniensystem, bei Hucbald, 31. — bei
Guido, 32.
Liszt, Franz, 173. 176. 188. '
Lobe, J. C, 173.
Longa (Mensuralmusik), 36.
Lortzing, 184.
Lotti, 124.
Lütgens, 108.
Lully, 87.
Luther, Martin, 57*. 51.
Lydisch, 17. — Kirchentonart, 92.
Lyra, 12. — ihr Ursprung, 140.
Lyrische Poesie, bei den Griechen, 11.
— im 19. Jahrhundert, 163.
Machaud, Wilhelm von, 46.
Madrigal, 62.
Malherbe, 84.
Manelli, 72.
Mara, Gertrude, geb. Schmehling, 77.
Marcello, 125.
Marchand, 146.
Marchettus von Padua, 37.
Marenzio, Luca, 63.
Marienklagen, 120.
Marienlieder, 58.
Marius, 148.
Marot, 61.
Marschner, 169.
Martin, Vincenzo, 79.
Mattheson, 107. 128.
Maxima (Mensuralmusik), 36.
Mehrstimmigkeit (Polyphonie), 26. 29.
Mehul, 102.
Meistersinger, 43.
Mendelssohn, 171. 138.
Mensuralmusik, 36.
Menuett, 157.
Merulo, Claudio, 142. 154.
Mette, Cantus Metensis, 24.
Meyerbeer, 102.
Minnegesang, 42.
Minstrels, 41.
Mixolydisch, 92.
Mixturen, der Orgel, 142.
Modus (Mensuralmusik) 36.
Moll- und Durgeschlecht, 18. 92.
Monochord, 143.
Monodie, 64.
Monsigny, 95.
Monteverde, 71. 152.
Morales, 122.
Mor alitäten, 104.
Morlacchi, 170.
Morley, 135.
Motetus, 46.
Moscheies, 176.
Mozart, 113. 157. 160. 163.
Müller, Wenzel, 115.
Murer, Bernhard, 142.
Muris, Johannes de, 37.
Narr euf est, 120.
Neri, Filippo, 122.
Nero, Kaiser, 13.
Register.
213
Neumeister, 107.
Neumen, 31.
Nicolai-Bruderschaft, 45.
Note, quadratische, 42.
Notendruck, mit beweglichen Typen,
52.
Notenschrift, 31. 32. 36.
Notker, Balbulus, 25. 57.
Notker, Labeo, 25.
Oboe, 152.
Ockenheim, 50.
Octave (grosse, kleine, eingestrichene
etc.) 149.
Octavengattungen, 17.
Olympos, 4. 20.
Onomato-Poetica, 10. •
Oper, erste, 64.
Opitz, Martin, 105.
Oratorio (Betsaal), 122.
Organum, 29.
Organisiren, 29. 46. 154.
Organistrum (Savoyardenleier) 29.
Orgel, 141.
Orlandus, v. Lassus.
Ouvertüre, italien. des A. Scarlatti
und franz. des LuUy, 75. 155.
Pachelbel, 142.
Paganini, 178.
Paisiello, 79.
Palestrina, 61. 122. ,
Parthie, Partita 155.
Partitur, 149.
Pasquini, 142.
Passion, 132.
Passionsschauspiel, 121.
Paumann (Paulmann) 142. 149.
Pausen, 37. 47.
Pedal, der Orgel, 142.
Pergolese, 78. 93.
Peri, Jacopo, 64.
Perrin, 85.
Petrarca, 53.
Petrucci, Ottav. da Fossombrone, 52.
Petrus, 24.
Philidor, 95.
Phrygisch, 17. Kirchentonart, 92.
Pianoforte, 148.
Piccini, 79. 97.
Pietismus, 131.
Pistocchi, 77.
Plagalisch, 22. *
Plain-Chant (cantus planus) 23.
Plato, über die Tonarten, 19.
Polyphoner Stil, 156.
Pommer, 151. 152.
Porpora, 137.
Praetorius, M., 141.
Programm-Musik. 174.
Psalterium, 143.
Purcell, 136.
Pythagoras, 12.
Quanz, 153.
Quarten- (Tetrachord-) System der
Grriechen, 17.
Querflöte, 152,
Quinault, 89.
Quinten-Parallelen, bei Hucbald, 30.
— von de Huris verboten, 37.
Quinten-Stimmung (nach dem System
des Pythagoras) 68.
Rameau, 90. 146.
Rebec, 151.
Recitativ, 64.
Reichardt, 163.
Reinken, 106. 108. 142.
Renaissance, 54.
Richter, 108.
Rinuccini, 64.
Ritornell, 154.
Rode, 177.
Roland de Lattre (Orlandus Lassus)
125.
Rollet, du, 100.
Romantisch, 162.
Romantische Oper, 168.
Romanus, 24.
214
Register.
Rore, Oyprian de, 67.
Rossini, 79.
Rota (Rotte) 150.
Rouget de Lisle, 101.
Rousseau, 95. 100.
Rupff, 59.
Sachs, Hans, 44. 105.
Sängerkrieg auf der "Wartburg, 43.
Saint-Saens, 177.
Sakadas, 12.
Salieri, 116. 164.
Sanct Grallen, Kloster, 24.
Sante, Pier Luigi, v. Palestrina.
Sapi)ho, 11.
Sarti, 79.
Sarrette. 102.
Savoyardenleier (Organistrum) 29.
Sax, Adolph, 153.
Scarlatti, A., 73.
Scarlatti, D., 75. 156.
Schalmei, 151. 152.
Scheidt, 142.
Schelble, 138.
Schenk, 115.
Schmehling (Gertrude Mara) 77.
Schnorr, 195.
Schofar, 7.
Scholastik, 38.
Schopenhauer, 191.
Schott, Gerhard, 108.
Schröder-Devrient, Frau, 184.
Schröter, 148.
Schubert, Franz, 164.
Schütz, Heinr., 126. 105.
Schul- und Studenten-Komödien, 104.
Schumann, 171.
Scribe, 103.
Sebastiani, 128.
Semibrevis (Mensuralmusik) 36.
Senesino, 78.
Sequenz, 25.
Silbermann, 148.
Singschulen, die ersten, 21.
Singspiel, 112.
Soliloquia, 129.
Solmisation, 34.
Soma, 3.
Sonate, 154.
Sophistik, 10.
Spinett, 144.
Spitta, 131.
Spohr, 169. 178.
Spontini, 102. 170.
Stamaty, 177.
Steffani, 74.
Stein, Joh. Andr., 148.
Stil, des Palestrina, G2. — Stile reci-
tativo, 64. — erhabener und schö-
ner, 73.
Stimmbücher, 52.
Stimm werk, 151.
Stradivari, 153.
Streichinstrumente, 150.
Suite, 155.
Sylvester, 21.
Symphonie, 75. 154. 157.
Synaphe, 18.
Synkopen, 47.
System, griechisches, 17. — das reine
diatonische des Zarlino, 70. — des
Rameau, 91.
Tabulatur, bei den Meistersingern, 43.
— für Laute und Orgel, 149.
Tanz, in der französischen Oper, 89.
Tanzlied (Hyporchema) 153.
Tartini, 177.
Telemann, 111. 128.
Temperatur, 68. — gleichschwebende,
92.
Tenor (Cantus firmus) 46.
Terpander, 107.
Terz, wird Consonanz, 70.
Tetrachord, 17.
Thalberg, 176.
Theile, Johann, 108.
Theodorich d. Gr., 16.
Theorbe, 149.
Therapeuten und Essäer, 15.
Register.
215
Thibaut von Xavarra. 41.
Thomas, Ambroise, 102.
Tinctoris, 30. 134.
Toccata, 154.
Todtentanz (danse macabre) 121.
Töne, der Meistersinger, 43.
Tomaschek, 176.
Tonarten der Grrieclien, 17. — bei
Ambrosius und Gregor, 22. — im
Mittelalter bei Glarean, 92.
Tonos (griech. für Transpositions-
scala) 18.
Tragedia per Musica, 66.
Tragödie, griechische, 7.
Trans^jositionsscala, griechische, 18.
Troubadours, Trouvferes, 41.
Tsay-Yu, 4.
Tuotilo, 25.
Turbae (Volkschöre in den Passionen)
122.
Umlauf, Ignaz, 113.
Venosa, Fürst von, s. Gesualdo.
Verdi, 80.
Viadana, 123.
Vieuxtemps, 177.
Viola, 151.
Violine, 152.
VioUnspiel, 177.
Violoncell, 152.
Violone, 152.
Viotti, 177.
Vii'dung, 151.
Virginal, 144.
Vittoria, 122.
Vivaldi, 155. 177.
Vogl, J. M., 166.
Volkslied, älteres, 45.
liede veredelt. 164.
— zum Kunst-
Wagner, R., 171. 179. 180.
Walther, Joh., 59.
Weber, C. M. von, 169. 176.
Weber, Dionys, 176.
Weinlig, 184.
Wilhelm von Poitiers, 41.
Willaert, 66.
Zarlino, 67.
Zelter, 163.
Zimmermann, 177.
Zink, 152.
Zünfte, der Instrumentahausiker, 45.
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bis zu Palestrina. (IX, 592 S.) 1868. 12 M. — Vierter Band (Fragment). Auch unter dem
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Ambros bietet die erste grosse, umfassende, auf fleissige Quellenstudien
basirte Geschichte der Musik und füllt damit eine bisher empfindlich ge-
fühlte Lücke in der allgemeinen Cultur- und speciellen Kunstgeschichte aus.
Was menschlicher Fleiss, Ausdauer, Belesenheit, Gelehrsamkeit, kritischer
Geist bei einem so umfangreichen Gegenstande zu leisten vermögen, hat der
Verfasser in diesem Werke auf eminente Weise dargethan.
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Musik und deutsche Musiker in Italien. — Abbe Liszt in Eom. — Carneval und Tanz in
alter Zeit. — Die „Messe solenelle" von Eossini. — Hector Berlioz. — Siegismund Thal-
berg. — Schwind's und Mendelssohn's „Melusine". — Zur Erinnerung an Friedrich Overbeck.
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Florenz. — Lose Studienblätter aus Florenz und dessen Nachbarschaft (Giotto. — Die Geschichte
des Antichrist). — Von der Holbeinausstellung in Dresden. — Alessandro Stradella. — Eobert
Franz. — Musik-Beilagen.
Zweiter Band. Inhalt: I. Musikalisches. Musikalische Wasserpest. — Hamlet,
Oper von Ambroise Thomas. — Zumsteeg, der Balladeneomponist. — Der erste Keim des
Freischütz-Textes. — Musikalische Uebermalungen und Eetouchen. — Franz Lachner's
Requiem. — Bachiana. — Rubinstein. — Halbopern und Halboratorien. — Schubertiana. —
Allerlei Beethoven'sche Humore. — Ein Kapitel von musikalischen Instrumenten. — II. Zur
bildenden Eunst. Von Wien nach Nürnberg. — Orcagna, Holbein und Kaulbach. —
Kaulbuch's Carton: die Christenverfolgung unter Nero. — In den Eaphael-Sälen des Vaticans.
— III. Aus meiner italienischen Reisemappe. Goethe in Italien und seine Nach-
fahrer. — Italienischer Frühling. — Ein Bilderbuch voll Figuren. — Der Gesundheitspass von
Orbetello. — Römische Ostern. — S. Maria alla morte in Eom. — Orvieto.
Der berühmte Verfasser giebt hier eine geschmackvolle Auslese aus den
reichen Schätzen seines Wissens. Man könnte diese Blätter ein verkapptes
Handbuch der Aesthetik nennen, in welchem der Verfasser an frisch
aus dem Kunstleben der Neuzeit sowohl, als aus dem der Vergangenheit
herausgegriffenen Beispielen über die wichtigsten Fragen der Kunst zu be-
lehren sucht und uns gleichzeitig auf das angenehmste zu unterhalten weiss.
Hinter der leichten Form der Darstellung verbirgt sich keineswegs Leichtig-
keit des Inhalts, sondern gediegenes Wissen eines durchgebildeten Mannes
von profunder Gelehrsamkeit und Originalität, der oft auch den gewiegtesten
Fachmann durch neue Gesichtspunkte, feine Beobachtungen, schlagende Ur-
theile und Vergleiche überrascht.
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Inhalt: Klang. — Temperatur. — Der Dreiklang und seine Intervalle. — Dreiklang
mit der pythagoräischen Terz. — Zum Quintenverbot. — Zur Auflösung des Dominant-
septimenaccordes durch Erweiterung der Septime zur Octave. — Einige Kegeln zur richtigen
Beantwortung des Fugenthemas. — Das Hexachord. — Authentisch und Plagalisch. — Con-
trapunkt. — Metrum. — Zur Metrik. — lieber die Kecitative in Joh. Seb. Bach's Matthäus-
Passion. — Kunstvollendung. — Form iu der Kunst. — Ironie in der Kunst. — Männlich
und Weiblich. — Egoismus. — Mechanik. — Die Sinne.
Diese Sammlung, eine wahre Fundgrube tiefsinnigster musilialischer
Weisheit, beschäftigt sich zum grössten Theil mit rein fachwissenschaftlichen
Dingen, in Untersuchungen, welclie die physikalischen Voraussetzungen und
Eigenschaften des Tons und einzelne die Lehre von der Harmonie, dem
Rhythmus und dera Contrapunkt einschlagende Fi'agen zum Gegenstand
haben. Nur am Schlüsse finden sich einige Aufsätze allgemein ästhetischer
Natur. Recht nachdrücklicli möchten wir sie Allen empfehlen, denen es
Lohn und Genuss gewährt, über das AVesen der musikalischen Kunst nach-
zudenken. (National-Zeitung 1874, Nr. 599.)
Aus dem Tonleben unserer Zeit.
Gelegentliches von
Ferdinand Hiller.
N^ne Folge. Mit dem Portrait des Verfassers nach einer Originalzeichnung von Adolf Neumanni
Geheftet 3 M. Gebunden 4 M. 50 Pf.
Inhalt: Zu viel Musik. — Musikalische Briefe. — Erinnerungsfeier an Jobann Se-
bastian Bach. — Nachruf an Moritz Hauptmann. — Nachruf an Bossini. — Ludwig van
Beethoven: Zum n. December 1870. — Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier Ludwig van
Beethoven's. — Biographische Skizze. — Aus den letzten Tagen Ludwig van Beethoven's.
— Beethoven's Ciaviersonaten.
Originelles, Glänzendes fehlt niemals bei Hiller, und das Bekannte, Ge-
läufigere weiss er mit einer Grazie zu sagen, welche unwiderstehlich fesselt.
Das Bändchen enthält eine Reihe Aufsätze, welche der Musikfreund mit Nutzen,
der stylistische Gourmand mit Hochgenuss und der musikalische Schriftsteller
nicht ohne Brodneid liest. Dr. Eduard Hanslick. (N. freie Presse.)
Aus dem Verlage von F. E. C. Leuckart (Constantin Sander) in Leipzig.
Richard Wagner und die Musik der Zukunft.
von
Franz Hüffer.
Elegant geheftet. 3 M.
Inhalt: Das Drama: Kichard "Wagner. — Das Lied: Franz Schubert. — Kobert
Schumann. — Kobert Franz und Franz Liszt.
Anhang I. Bericht über die Festlichkeiten zu Bayreuth bei Gelegenheit der Grundstein-
legung des Wagner -Theaters 1872. — Anhang II. Briefe von Eobert Schumann aus den
Jahren 1835 bis 1844 an Anton von Zuccalmäglio. — Anhang III. Englische Uebertragungen
deutscher Gedichte.
„Der Zweck des Hüfifer'scben Buches ist eiu viel allgemeinerer als sein
Titel anzudeuten scheint und indem es den Leser in die Musik der Zukunft
einführt, gewährt es ihm gleichzeitig einen lichtvollen Einblick in die Musik
der Vergangenheit, im Besonderen derjenigen Epochen, welche hinsichts ihrer
charakteristischen Merkmale mit der von Richard Wagner eingeschlagenen
Richtung zusammentreffen. Demgemäss behandelt der Autor in zwei Haupt-
abschnitten erst das Drama, dann das Lied und weist nach, dass wir das
unterscheidende Merkmal der Musiker der alten und modernen Schule in
ihrer verschiedenartigen Stellung zur Literatur im Allgemeinen zu erkennen
haben. Zur besseren Begründung dieser Ansicht führt er den Leser auch
auf das literarische Gebiet. War es zunächst die dramatische Musik, welche
durch die veränderte Stellung ihrer Vertreter zur Literatur beeinflusst wurde,
so zeigt sich doch die lyrische Musik bei genauerer Betrachtung dieser Geistes-
strömuDg in kaum geringerem Grade unterworfen. Darüber belehrt uns der
zweite Hauptabschnitt: „Das Lied", und die hier gebotene eingehende Charak-
teristik derjenigen Meister, welche für dessen Ausbildung in erster Reihe
gekämpft haben: Schubert, Schumann, endlich Robert Franz und Liszt, deren
Werke der musikalischen Lyrik „zu dem Siege des reinen dichterischen
Impulses verhalfen, dessen Vollendung wir in dem Musikdrama Richard
Wagner's erkannt haben." (Neue Berliner Musikzeitung. 1879. Nr. 18.)
Ludwig van Beethoven.
Ein ransikalisclies Cliarakterbild
von
Gr. Menscli.
Neue hillige Ausgabe mit dem Portrait Beethoven' s.
Elegant g ehunclen 2 M.
In einfach edler Sprache, entwirft der Verfasser ein Bild des Lebens,
Strebens und Wirkens seines Helden. Durchleuchtet von feuriger Be-
geisterung zeichnet er uns Beethoven als Menschen und Künstler in
so ansprechender und ergreifender Weise, dass wir alles mit zu erleben
meinen und dem Meister so nahe treten, als ob wir ihm persönlich begegnet
wären. Eingehende, prägnante Analysen der bekanntesten uud hervorragend-
sten Werke suchen auch den Laien in das Verständniss der Beethoveu'schen
Gomposition einzuführen. Das nach den verlässlichsten Quellen gearbeitete
Buch — die „Signale" nennen es die beste unter allen- in populärer Form
erschienenen Schriften über Beethoven — ist mit einem höchst nützlichen
chronologischen Verzeichnisse der Werke Beethovens und einem Register
dazu versehen.
Ans dem Verlage von F. E. C. Leuckart i^Constantin Sander) in Leipzig.
Musik, Klavier und Klavierspiel.
K leine mii?jik-ästheti?5Che "Vorträge
von
Dr. K. E. Schneider.
Geheftet 3 M. Elegant (jehunden 4 31. 50 Pf.
Der Verfasser dieser kleinen musik-ästhetischen Vorträge, rühmlich be-
kannt durch seine gediegene Arbeit „das musikalische Lied in geschicht-
licher Entwickelung", kann des aufrichtigen Dankes jedes wahren Musik-
freundes für die hier gebotene Gabe gewiss sein. Der jüngeren Generation
waren diese Vorträge bestimmt, und es wäre zu wünschen, dass die klavier-
lustige Jugend die Stimme eines so bewährten Lehrers und Kenners der
Musik und gerade auch des Klaviers sich zu Herzen nähme. Die 11 Vor-
träge vertheilen sich so, dass nach dem einleitenden Vortrage, der die Mo-
tive zum Klavierspiele bespricht, die nächsten drei das Wesen und die Na-
tur der Musik behandeln und Folgerungen aus dem Wesen derselben für
Jeden, der sich mit Musik abgiebt, ziehen. Das Instrument selbst, das
Klavier, charakterisirt trefflich der fünfte Vortrag. Bei weitem das Wich-
tigste, das Klavierspiel, behandelt der sechste bis elfte Vortrag: und es giebt
der Verfasser hier in vier Abschnitten zuerst eine kurze Geschichte der
Klavierliteratur, sowie eine gedrängte Charakteristik ihrer hauptsächlichsten
Vertreter. Bach, die Wiener Classiker, die Romantiker, in deren erster Hälfte
Weber, Schubert, Mendelssohn, aber auch Schumann, Liszt und Wagner er-
scheinen, gehen an uns vorüber, und wohlthuend ist es, in so gerecht ab-
wägender Weise Jedem die ihm gebührende Anerkennung erwiesen zu sehen.
In der zweiten Hälfte kritisirt der Verfasser die Neuromantiker. Ferner setzt
der Verfasser im zweiten Abschnitte die Stellung des Spielers zu dieser
Literatur auseinander; im dritten lehrt er die Auffassung der gewählten
Compositionen , und endlich im vierten, in welcher Weise die Wiedergabe
von Compositionen zu bewirken sei. Literarisches Centralblatt.
Klavier und Gesang.
Didaktisches und Polemisches
von
Friedrich Wieck.
Dritte vermehrte Auflage. Geheftet 331. Elegant gebunden 4 31. 50 Pf.
Inhalt: Ueber Elementarunterricht im Klavierspiel. — Abendunterhaltung und Speisung
bei Herrn Zach. — Besuch bei Frau N. — Geheimnisse. — Opemwirthschaft. — Ueber's
Pedal. — Verschiebungsgefilhl. — Viel Klavierlernende und keine Spieler. — Gesang und
Gesanglehrer. — Khapsodisches über Gesang. — Hans Eilig. — Aphorismen tlber Klavier-
spiel. — "Wunderdoctor. — Frau Grund und vier Lectionen. — Gesangs- und Klavierunfug.
— Die Kunst ist nur durch die Künstler gefallen. — Vermischtes. — Ueber Pianoforte. —
Schluss. — Anhang: Aphorismen aus Friedrich Wieck's Tagebuche.
In diesen Blättern hat der berühmte Altmeister den reichen Schatz
seiner vieljährigen Erfahrungen über Klavierspiel und Gesang niedergelegt.
Mit köstlichem Humor geisselt er darin die mannichfachen Uebelstände der
häuslichen musikalischen Erziehung, und ertheilt die treffendsten Winke und
Rathschläge zu einer idealeren. Jeder, der sich für Musik interessirt, wird
aus dem originellen, mit Wärme geschriebenen Buche eine Fülle von An-
regung und Belehrung schöpfen.
Wieck, Friedrich, Musikalische BauernsprUche und Aphorismen ernsten
und heiteren Inhalts. Zweite sehr vermehrte Auflage. — Geh. 60 Pf.
netto.
Methoilisclie Werke für den lusik-UDlerricht
im Verlage von
F. E. C. Lenckart (Constantin Sander) in Leipzig.
I^iir d-en "V^iolin-TJnterriclit.
Blnmenthal, Jos. von, Op. 61. Leiclite fort-
schreitende Duette. 3 Hefte . . ä 1,20
Op. 68. 24 Etüden. 3 Hefte ä 1,20
Op. 95. Drei Duos (2. Position) 1,20
Dont, Jac. , Op. 26. Leichte Duettinen.
2 Hefte
Op. 39. Die Tonleitern in allen Er-
höhungs und Vertiefungszeichen sammt den
Intervallen, mit Rücksicht auf die ersten
Tact- und Bogenübungen. Heft I, Et. h, 3. —
Gradus ad Parnassum. Samm-
lung von fortschreitenden TTebungsstücken :
Op. 38. 20 fortschreitende Uebungen (mit
einer 2. Violine). 2 Hefte . . ä 3.—
Op. 37. 24 Vorübungen zu Kreutzer's und
Kode's Etüden 5. —
Op. 35. Etudes et caprices . . . 6. —
Op. 52. Sammlung mehrstimmiger Musik-
stücke zur Uebung im Ensemblespiel
(theilweise mit Viola oder Viola und
Violoncello. 6 Hefte ä 3. —
Hering, Carl, Op. 25. Zwei Elementar-Dnette
(1. Position). 2 Hefte k 1,20
Drei Elementar -Duos (1. Position):
Op. 29. Serenade in C-dur .... 1,20
Op. 31. Serenade in C-dur .... 1,20
Op. 36. Serenade in A-moll . . . 1,20
Kothe, Bernhard, Uebungsstücke für 2 Vio-
linen nach klassischen Compositionen be-
arbeitet (2. bis 5. Position). 3 Hefte ä 1,20
Kreutzer, Rudolph, 42 Etüden, revidirt von
Carl Hering. Geh 3.—
Dieselben in 3 Heften . . ä 1,20
Michaclis-Wichtl's Praktische Violinschüle.
Siebente Auflage revidirt und vermehrt
von Jac. Dont. Geh 3. —
Schoen, Moritz, Praktischer Lehrgang für
den Violin-Unterricht. 30 Hefte . ä 1,20
I^\ir d-en l^lavier-TJnterriclit.
Beranek, Joli., Praktische Pianoforte-Schule
für Anfänger. Neue Ausgabe. Geh. 3. —
Kraeger, Carl A., Volks-Klavierschule. An-
leitung zur gründlichen Erlernung des Kla-
vierspiels unter Zugrundelegung von Volka-
und Opernmelodien, technischen Uebungen
und auserlesenen Stücken aus Werken äl-
terer und neuerer Meister. Sechste Auf-
lage. Geh 3. —
Maertens, Albert, Eode und Kreutzer'sche
Violin-Etüden als Studien für den Elügel
bearbeitet 3. —
Mayer, Charles, Op. 168. Neue Schule der
Geläufigkeit. 40 Studien mit Eingersatz:
Heft 1 bis 5 k 3,50
Heft 6 bis 8 k 4.—
Op. 168. Dieselben in einzelnen
Nummern k 60 Pf. bis 1,20
Philipp, B. E., Op. 28. Songe et Verite.
12 Etudes. complet G. —
Heft I. Nr. 1 bis 4 2.—
Heft II. Nr. 5 bis 8 2,25
Heft III. Nr. 9 bis 12 2,25
Op. 28. Dieselben in einzelnen
Nummern a 50 Pf. bis 1. —
Plachy, Wenzel, Op. 26. Der kürzeste "Weg
auf den Parnass enthaltend fortschreitende
Originalsätze für den ersten Unterricht.
6 Hefte . . , ^ !•—
Pleyel-Czerny, Klavierschule. Neue Aus-
gabe, bearbeitet von Moritz Vogel. Geh.
8.—
Vogel, Moritz, Praktischer Lehrgang für
den Klavier-Unterricht vom ersten Anfange
bis zur Mittelstufe. 10 Hefte . . h 1,20
IPür d-en Oesangr-'ü'iiterriclit-
Friedrich Wieck's Siugübungeu,
herausgegeben von Marie Wieck und Louis Grosse.
Theil I. Kurze ein- und mehrstimmige Ue- 1 Theil II. Grössere ein- und zweistimmige
bungen. Geh 2. — j Vocalisen. Geh 2,50
1^-ü.r d-en tlieoretisclieii XJnterriclit.
Brosig, Morit?, Modulationstheorie mit Bei-
spielen. Geh 1. —
Handbuch der Harmonielehre.
Zweite Auflage. Geh 3. —
Haebmer, Anton, Allgemeine Musiklehre.
Geh. ]._
— — Harmonielehre. Geh. . . . 3. —
Kothe j Bernhard, Abriss der Musikgeschichte.
Zweite vermehrte Auflage. Geh. . . 1,50
Cartonnirt 1,80
Knntze, C, Die Orgel und ihr Bau. Dritte
umgearbeitete Auflage von J. J. Seidel's
gleichnamigem Werke. Geh. . . . 3. —
Langhans, W., Musikgeschichte in 12 Vor-
lesungen. Zweite verm. Auflage. Geh. 2.40
Sechter, Simon, Op. 49. Praktische Ge-
neralbass- Schule, bestehend in 120 pro-
gressiven und mehrfach ausgeführten Ue-
bungen im Generalbass. Neue Ausgabe.
Cartonnirt 4,50
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