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Full text of "Kleine Schriften"

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W.  VISCHER  KLEINE  SCHEIFTEN. 


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KLEINE  SCHRIFTEN 


VON 


WILHELM  VISCHER 

WEILAND  PROFESSOR  DER  GRIECHISCHEN  SPRACHE  UND  LITTERATUR 
AN  DER  UNIVERSITÄT  ZU  BASEL. 


ERSTER  BAND 
HISTORISCHE    SCHRIFTEN 


HERAUSGEGEBEN 


Dß.  HEINRICH  GELZER 

PROFESSOR  IN  HEIDELBERG. 


MIT  EINER  LITHOGRAPHIBTEN  TAFEL. 


LEIPZIG 
VERLAG  VON  S.  HIRZEL. 


^^m* 


»■» 


VORREDE. 


In  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  trug  W.  Vischer,  wie  er 
dem  Unterzeichneten  mündlich  mittheilte,  sich  mit  dem  Gedan- 
ken, die  Heransgabe  seiner  kleinen  gesammelten  Schriften  vor- 
zubereiten. An  der  Ausführung  dieses  Vorhabens  hinderten  ihn 
seine  angestrengte  Thätigkeit  als  Leiter  des  Baslerischen  Er- 
ziehungswesens, später  seine  langwierige  Krankheit  und  der  Tod. 

Der  Aufiforderung  des  Sohnes,  des  Professors  W.  Vischer, 
gern  entsprechend,  haben  nun  zwei  ehemalige  Schüler  die  Ar- 
beit übernommen.  Sie  theilten  sich  in  die  Aufgabe  in  der 
Weise,  dass  der  Unterzeichnete  im  ersten  Bande  die  histori- 
schen Schriften  sammelte,  während  Dr.  Achilles  Burckhardt, 
Lehrer  am  Pädagogium  zu  Basel,  im  zweiten  Bande  die  archäo- 
logischen und  epigraphischen  Schriften  zusammenstellt. 

Aehnlich ,  wie  in  der  Sammlung  von  W.  Wackernagels 
hinterlassenen  Schriften,  sind  auch  hier  die  Aufsätze  nicht  nach 
der  chronologischen  Reihenfolge  ihres  Erscheinens,  sondern  nach 
der  Innern  Zusammengehörigkeit  geordnet.  So  enthält  dieser 
Band  zuerst  die  Abhandlungen  über  attische  Geschichte  (1 — 5), 
dann  zwei  andre  aus  der  Geschichte  des  übrigen  Griechenlands 
(6  u.  7).  Die  drei  folgenden  gehören  dem  Gebiete  der  Ver- 
fassungsgeschichte und  der  Staatsalterthümer  an  (8—10).  Den 
Schluss  der  Abhandlungen  bilden  zwei  litterarhistorische  Unter- 
suchungen über  den  geschichtlichen  Werth  unsrer  zeitgenössi- 
schen Hauptquellen  für  die  Epoche  des  peloponnesischen  Krie- 
ges (11  u.  12)  und  zwei  längere  historische  Excurse  über  ein- 
zelne Stellen  (13  u.  14).  Auf  die  Abhandlungen  folgen  die 
Recensionen  geschichtlichen  Inhalts  (15 — 18). 

Nicht  aufgenommen  in  die  Sammlung  sind  zwei  kurze 
Miscellen : 

Die  pseudoxenophontische  Schrift  über  den  Staat  der  Athener. 
Neues  Schweiz.  Mus.  E.  1862,  S.  145—147. 

Zu  den  der  Schlacht  bei  Chäronea  vorhergegangenen  Käm- 
pfen. Neues  Schweiz.  Mus.  IIL  1863,  S.  113—114.  Ferner  zwei 
Recensionen  über: 


VI  VOEKEDE. 

W.  Röscher:  Leben,  Wirken  und  Zeitalter  desThukydides. 
Zeitschr.  für  Alterthumsw.  1 843,  n.  97— 101 ,  S.  769— 804,  und  über : 

B.  G.  Niebuh r:  Vorträge  über  alte  Geschichte  an  der 
Universität  zu  Bonn.  Zeitschr.  f.  Alterthumsw.  ISoO,  n.  44 — 47, 
S.  349—373.  Für  eine  Reihe  dieser  Abhandlungen,  so  für  »Ki- 
mon«,  «Alkibiades  und  Lysandros«,  «die  oligarchische  Partei  und 
die  Hetairien  in  Athen«  lagen  Handexemplare  mit  reichen  Nach- 
trägen und  Berichtigungen  vor.  Von  ganz  besonderm  Werthe 
sind  aber  die  Zusätze  zu  der  Schrift  »über  die  Bildung  von  Staa- 
ten und  Bünden«,  indem  hier  der  Verfasser  das  ausgedehnte 
seither  erschienene  epigraphische  Material  ausgiebig  benutzt  hat. 
Wie  vresentlich  diese  Umgestaltungen  sind,  zeigen  beispielsweise 
die  Schilderungen  des  phokischen,  des  lokrischen,  des  arka- 
dischen, des  aitolischen  und  des  achaiischen  Bundes.  In  den 
wenigsten  Fällen  Hessen  sich  diese  Zusätze,  ohne  den  Zusammen- 
hang zu  stören,  dem  Texte  einverleiben ;  daher  empfahl  es  sich, 
sie  einfach  als  Anmerkungen  unterzubringen.  Alles  neu  hinzuge- 
kommene ist  durch  eckige  Klammern  '   ]  bemerkbar  gemacht. 

Ganz  neu  ist  der  Vortrag  über  Epameinondas.  Andre  un- 
gedruckte Arbeiten  wird  der  zweite  Band  bringen.  Eine  gewiss 
willkommene  Zugabe  wird  der  Stadtplan  von  Kerinthos  sein, 
welchen  nach  einer  Skizze  Vischer's  sein  Sohn,  Herr  Archi- 
tect  E.  Vischer-Sarasin,  gefertigt  hat. 

In  der  Rechtschreibung  der  griechischen  Eigennamen  hat 
Vischer  selbst  geschwankt,  indem  er  in  einigen  Schriften  die 
griechischen  Formen  ausschliesslich  bevorzugte,  in  andern  da- 
neben die  lateinischen  gebrauchte.  Für  die  Sammlung  war  eine 
durchgehende  Orthographie  geboten,  und  so  sind  jetzt  überall 
die  griechischen  Formen  hergestellt. 

Mit  Ausnahme  einiger  weniger  Citate  aus  altern  Gelegen- 
heitsschriften, welche  nicht  mehr  aufzutreiben  waren ,  sind  die 
Belegstellen  durchgeheuds  nachgeschlagen  worden.  An  Stelle  der 
frühern  Ausgaben  sind  der  Bequemlichkeit  halber  die  jetzt  ge- 
bräuchlichen gesetzt  worden. 

Eine  kurze  Lebensbeschreibung  wird  dem  zweiten  Bande 
beigegeben  werden.  Das  Register  hat  stud.  phil.  E.  Perino 
aus  Mannheim  angefertigt. 

Heidelberg,  September  1877.  TT     r     1 


INHALTS-YERZEICHNISS. 


A.  Abliaudliingen. 

Seite 

Kimon 1 —  52 

Das  Kriegssystem  der  Athener  von  dem  Tode  des   Perikles  bis 

zur   Schlacht  bei  Delion ,   und  Demosthenes ,    der  Sohn  des 

Alkisthenes 53 —  86 

Alkibiades  und  Lysandros 87 — 152 

Die   oligarchische  Partei   und  die  Hetairien  in  Athen  von  Klei- 

sthenes  bis  ans  Ende  des  peloponnesischen  Krieges    ....   153 — 204 
Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen  in  den  letzten 

Jahren  des  peloponnesischen  Krieges 205 — 238 

Perdikkas  II  König  von  Makedonien 239 — 271 

Epameinondas 272 — 307 

Ueber   die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden  oder  Centralisation 

und  Föderation  im  alten  Griechenland 308 — 381 

Ueber    die     Stellung     des     Geschlechts     der     Alkmaioniden    in 

Athen 382—401 

Sitzen  oder  Stehen  in  den  griechischen  Volksversammlungen   .    .  402 — 414 

Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides 415 — 458 

Ueber    die    Benutzung    der    alten    Komödie    als    geschichtlicher 

Quelle 459—485 

Zu  Isokrates  Panegyricus  §  106 486 — 491 

Zu  Polyb  V,  94  .    .   • 492—496 


Vin  Inhalts-Verzeichn'iss. 


B.  Eeceusionen. 

€.  Scheibe ;    die  oligarchische  Umwälzung  zu  Athen  am  Ende  des 

peloponnesischen  Krieges  und  das  Archontat  des  Eukleides  .  497 — 51 U 

Ueber  die  neueren  Bearbeitungen  der  griechischen  Geschichte.    .  511 — 533 

E.  A.  Freeman :  history  of  federal  government  from  the  founda- 
tion  of  the  Achaian  League  to  the  disruption  of  the  United 

States 534—587 

A.  Baumeister :  TopogTaphische  Skizze  der  Insel  Euboia  ....  588 — 604 


K I M  0  N. 

[Eine  Rede  yehalten  iini  Juhresfeste  der   Unimrsäät  zu  Basel,   de^i 
20.  Nocember  1S4G.     Basel  1846.] 


Wenn  ich  bereits  voriges  Jalir  nicht  ohne  Schüchternheit 
vor  Ihnen  anfgetreten  bin,  so  sehe  ich  mich  heute  noch  mehr 
veranlasst,  Sie  um  gütige  Nachsicht  zu  bitten ;  denn  zum  ersten- 
mal spricht  der  nämliche  Redner  bei  derselben  Gelegenheit 
zweimal  nach  einander,  und  begiebt  sich  somit  des  Vortheils, 
den  der  Reiz  der  Abwechslung  hat.  Noch  mehr  aber  als  dieser 
Umstand  erscheint  der  gegenwärtige  Augenblick  aufmerksamer 
Theilnahme  an  einem  wissenschaftHchen  Vortrage  ungünstig. 
Die  Gemüther  sind  von  anderen  Interessen  bewegt,  und  mir 
selber  hat  die  nöthige  Sammhing  gefehlt,  um  dein  Gegenstand, 
über  den  ich  zu  sprechen  gedenke,  die  Vollendung  und  Ab- 
rundung  zu  geben,  die  ich  gewünscht  hätte.  Nichts  desto 
weniger  mag  es  Manchem  angenehm  sein,  den  Blick  einen 
Augenblick  von  den  Tagesfragen,  die  uns  alle  erfüllen,  abzu- 
wenden und  auf  einen  andern  Gegenstand  zu  richten.  Und 
so  habe  ich  es  gCAvagt,  auch  heute  Ihre  Aufmerksamkeit  in 
Anspruch  zu  nehmen. 

Reissen  wir  uns  also  los  von  der  Gegenwart  und  folgen 
Sie  mir  noch  einmal  in  jene  Zeiten,  welche  dadurch  auch  für 
uns  alle  einen  eigenthümhchen  Reiz  haben,  dass  sie,  trotz  der 
grössten  Verschiedenheiten,  doch  eine  Menge  unverkennbarer 
Analogien  mit  unsem  vaterländischen  Zuständen  darbieten, 
in  die  Zeiten  der  griechischen  Geschichte,  und  zwar  erlaube 
ich  mir  Sie  um  ein  halbes  Jahrhundert  weiter  zurück  zu  füh- 
ren, als  das  letztemal.  Habe  ich  Ihnen  damals  zwei  ge- 
waltige Persönhchkeiten  als  Vertreter  ihrer  in  der  Auflösung 
begriffenen  Vaterstädte  vor  Augen  zu  stellen  gesucht ,  welche 
mit    allem  Andern    von    der  Natur    ausgestattet,    nur   der  sitt- 

V  i  s  c  U  e  r  ,  Scbriften  I.  I 


2  KiMON. 

Hellen  Kraft  und  Besonnenheit  ermangelten  ^ )  ,  so  will  ich 
hente  das  ruhigere  Bild  zu  entwerten  versuchen  von  einem 
Manne ,  der  zwar  an  Genialität  jenen  beiden  nachsteht ,  der 
aber  sein  ganzes  Leben  der  Grösse  und  Ehre  seiner  Vaterstadt 
und  der  Eintracht  des  weitern  Vaterlandes  weihte,  eines  Mannes, 
der  zwar  auch  die  SVandelbarkeit  der  ^'olksgunst  erfahren 
musste,  aber  nichts  desto  Aveniger  unwandelbar  treu  blieb,  der 
zuletzt  wieder  Anerkennung  i'and  und,  was  so  wenigen  unter 
den  athenischen  Helden  zu  Theil  ward,  in  solcher  Stellung 
vom  Tode  betroffen  wurde,  dass  eine  fast  mythische  Glorie  ihn 
umstrahlt  und  sein  Andenken  mit  Dankbarkeit  und  Bewunde- 
rung genannt  wurde.  Dieser  Mann  ist  Kimon  der  .Sohn  des 
Miltiades ,  zwar  oft  besprochen ,  doch  nicht  so ,  dass  die  ür- 
theile  über  ihn  einstimmig  wären.  Denn  während  seine  Lob- 
redner bereits  im  Alterthume  ihn  bisweilen  übertrieben  erhoben, 
hat  er  auch  das  Schicksal  gehabt,  von  Anekdotenkrämern 
misshandelt  zu  werden,  welche  sich  einen  Namen  dadurch  zu 
machen  suchten,  dass  sie  an  grossen  Männern  eine  Schwäche 
entdeckten  und  der  bösen  Welt  preisgaben;  in  neuerer  Zeit 
hat  man  oft  nur  den  Feldherrnruhm  anerkannt,  dagegen  als 
Staatsmann  ihm  keine  Geltung  gelassen ,  ja  ihn  selbst  als 
Feind  der  Freiheit  Athens  dargestellt  und  ihn  eitler  Selbst- 
verblendung bezüchtigt  2) .  Betrachten  wir  den  Mann  nach 
seinen  Thaten. 


1)  Vgl.  Alkibiades  und  Lysandros.  Eine  Rede,  gehalten  am  Jahre.?- 
feste  der  Universität  zu  Basel  den  6.  November  1S45  von  Wilhelm  Vischer. 
Basel  1845. 

2)  Dies  ist  namentlich  geschehen  von  Dr.  Herman  Büttner  in  seiner 
geistreichen  Geschichte  der  politischen  Hetairien  in  Athen ,  dessen  Urtheil 
über  Kimon  mir  ungerecht  und  einseitig  scheint.  Er  sucht  zu  zeigen,  dass 
die  Art  und  Weise ,  wie  Kimon  den  Staat  geleitet ,  keine  wahre  Volks- 
führung gewesen  sei ,  und  spricht  unter  ande.-m  folgendermassen  S.  30 : 
"In  sofern  aber  auch  Kimon  von  seiner  Faktion  sich  wesentlich  unterschied, 
haben  wir  ihn  richtiger  als  einen  einzeln  stehenden  Herrschsüchtigen  zu 
betrachten ,  jedoch  in  dem  Sinne ,  dass  er  weniger  seine  Person  als  seine 
Ideen  zur  Herrschaft  zu  bringen  trachtete.«  S.  32.  »Sehen  wir  überdiess, 
anderer  Vorwürfe ,  die  man  ihm  machte ,  nicht  zu  gedenken ,  dass  Kimon 
nicht  bloss  die  politischen  Bestrebungen  als  etwas  so  Persönliches  betrach- 
tete und  die  Feindseligkeit  gegen  seine  politischen  Widersacher  so  weit 
trieb ,  dass  er  nach  dem  Zeugnisse  seines  Zeitgenossen  Stesimbrotos  die 
Hinrichtung  des  Epikrates  bewirkte,  weil  derselbe  dem  Themistokles  Weib 


KiMON .  3 

Kimon  geliörte  einem  der  edelsten  Enpatriden^eschlecliter 
von  Athen  an,  den  Philaiden,  so  genannt  nach  Phihiios,  dem 
Sohn  oder  Enkel  des  Telamonischen  Aias  ^j ;  dnrch  ihn  führte 
also  auch  diese  Familie,  gleich  der  des  Alkihiades  ,  ihren  Ur- 
sprung auf  Zeus  zurück.  In  die  Geschichte  tritt  dieses  Ge- 
schlecht aber,  trotz  der  langen  Ahnenreihe,  eigentlich  erst  im 
sechsten  Jahrhundert  2  .  Wie  jener  Hippokieides,  welcher  un- 
ter den  Freiern  der  Fürstentochter  Agariste  in  Sikyon  zuerst 
der  Bevorzugte  war,  dann  aber  durch  einen  unschicklichen 
Tanz  sein  Glück  verscherzte,  ihm  angehörte,  lassen  wir  dahin- 


und  Kind  nachgefülirt  hatte ,  sondern  dass  er  in  seinem  eigenen  persön- 
lichen Wandel  die  alte  gute  Sitte,  zu  deren  Wiederhersteller  er  sich  auf- 
warf, selbst  so  mit  Füssen  trat,  dass  er  durch  das  Verhältniss  zu  seine;- 
Schwester  dem  Volke  M'enigstens  einen  ostensiblen  Vorwand  lieh ,  um  ihn 
zu  verbannen,  so  wird  es  nach  alle  diesem  nicht  zu  hart  erscheinen,  wenn  wir 
eine  eitle  und  leidenschaftliche  auf  handgreiflicher  Selbst- 
täuschung beruhende  Einbildung  klüger  und  besser  als  sein 
Volk  zu  sein,  für  den  G  r u  n  d z u g  in  K i ni  o n  s  Charakter  er- 
klären. Eine  wirkliche  Bedeutung  hat  dieser  Staatsmann 
nur  durch  seine  ausgezeichnete  Feldhcrrn  t  ü  ch  tigkei  t  sicli 
erworben,  ein  Vorzug,  welcher  hauptsächlich  dasEigenthum 
aristokratischer  Männer  zu  sein  scheint.  Dagegen  ist  sein 
politischer  Einfluss  nur  ein  äusserlicher  und  vorübergehen- 
der gewesen  und  zwar  darum,  weil  er  dem  sittlichen  Geiste 
seines  Volks  sich  entfremdet  hat.«  Auf  die  einzelnen  Punkte  werde 
ich  im  Verlauf  der  Darstellung  eintreten  und  zeigen,  dass  eine  unbefangene 
Prüfung  die  meisten  dieser  Anklagen  als  nichtig  erscheinen  lässt.  Mit 
meiner  Beurtheilung  des  Mannes  trifft  im  Ganzen  zusammen  der  »Versuch 
einer  Charakteristik  Kimons«  nach  den  Quellen  dargestellt  von  Th.  Lucas. 
Hirschberg  1835.  Ausserdem  vergl.  neben  den  grössern  Geschichtswerken 
den  Artikel  »Kimon«  von  Kraft  in  der  Realencyclopädie  von  Pauly,  und 
die  neuste  Ausgabe  von  Plutarchs  Biographie  des  Kimon  von  Arnold  Ekker, 
Utrecht  1843  mit  einer  ausführlichen  Einleitung. 

1)  Pausan.  I,  35,  2.  II,  29,  4.  Herod.  VI,  35.  Pherecydes  bei  Mar- 
cellinus Leben  des  Thucyd.  §.  3.  Plutarch  Solon.  10.  Steph.  Byz.  s.  v. 
«PtXaioat.  M.  H.  E.  Meier  de  gentilitate  attica  p.  51.  »Einige  Bemerkungen 
über  die  ältesten  Bewohner  Attika's,  besonders  das  Geschlecht  der  Philaiden« 
in  der  Zeitschrift  f.  A.  W.   1843.  Nr.   75  flg.  von  Hs. 

-)  Damit  soll  indessen  keineswegs  gesagt  sein,  dass  nicht  bereits  früher 
die  Philaiden,  als  eines  der  vornehmsten  Eupatridengeschlechter  in  Athen 
in  hohen  Ehren  und  Würden  standen.  So  finden  wir  Ol.  XXX,  2.  oder 
659  V.  Chr.  einen  Archon  Miltiades,  nach  Pausan.  VIII,  39,  3.  Vgl.  Pätter 
Didymi  Chalcenterl  opuscula  p.    125. 

1* 


4  KiMON. 

gestellt.'  Aber  bald  darauf  finden  A\ir  die  Philaiden,  wie  es 
ibi'e  adeliche  Abstammung  natürlich  machte,  nächst  den 
Alkmaioniden  als  die  entschiedensten  Gegner  der  aus  der  De- 
magogie hervorgegangenen  HeiTschaft  des  Peisistratos  und 
seiner  Söhne.  Durch  Pferdezucht  und  einen  olympischen  Sieg 
bereits  hochberühmt,  wiaxle  Miltiades,  der  Zeitgenosse  des 
Peisistratos,  besonders  dadurch  der  Begründer  der  hohen  Stel- 
lung seiner  Familie,  dass  er  in  Folge  eines  Orakelspruches 
das  Fürstenthum  über  den  Thrakischen  Chersones  auf  fried- 
lichem Wege  gewaim.  In  diesem  folgten  ihm  die  Söhne  sei- 
nes von  den  Peisistratiden  gemordeten  Ilalbbriulers  K  i  m  o  n  , 
zuerst  der  ältere  Stesagoras  und  dann  Miltiades.  Dieser 
durch  Thatkraft,  FeldheiTugabe  und  kühne  oft  rücksichtslose  ^J 
Entschlossenheit  ausgezeichnete  Mann  heiTschte  im  Chersones 
bis  zum  Abfall  der  lonier  von  den  Persern.  l>ei  ihrer  Wieder- 
untei"v\'ei'fung  musste  er,  der  bereits  früher  zur  Abschüttelung 
des  persischen  Joches  gerathen  hatte,  ilui  verlassen.  Mit 
Mühe  entkam  er  der  verfolgenden  phönizischen  Flotte,  wäh- 
rend sein  älterer  Sohn  Metiochos  dem  Feinde  in  die  Hände 
fiel.  Die  Schlacht  bei  Marathon  gab  ihm  Gelegenheit,  glän- 
zende Rache  zu  nehmen  und  seinen  Namen  durch  die  schönste 
^^  aff"enthat  mit  dem  Ruhme  Athens  zu  verbinden.  So  war  er 
der  erste  Mann  seiner  Vaterstadt.    Aber  sein  Glück  war  nicht 


')  Herodot.  VI,  127.  Marceil.  vita  Thucyd.  §.  3.  Uass  Hippokieides 
ein  Philaide  war,  ist  nicht  zu  bezweifeln,  hingegen  bei  der  Verderbniss  der 
Worte  des  Pherekydes  in  Markellinos  Leben  des  Thukydides  über  Ver- 
muthungen  niclit  hinauszukommen.  Man  vergleiche  die  Ausleger  zu  Herod. 
a.  a.  O.  Schultz  appar.  ad  annal.  rer.  Grsecar.  spec.  I.  p.  S.  squ.  Pherecyd. 
fragm.  20  in  den  fragmenta  historicorum  griEcorum  von  Car.  et  Theod. 
Mueller.  I  pg.  73.  Fr.  Ritter,  Didymi  Chalcenteri  opuscula  p.  12-5  und  den 
von  ihm  citirten  Yömel  exercitat.  chronol.  de  setate  Solonis  et  Croesi.  Mit 
der  Chronologie  würde  am  besten  die  Annalime  Vömels  stimmen,  dass  Hippo- 
kleides  und  Kypselos ,  der  Vater  des  ot7.i3--r,;  X£p;ovT,3o'j  Brüder  gewesen. 
Doch  ist  Ritters  Bedenken  dagegen,  dass  in  dem  ganzen  Stammbaume  nur 
die  direkte  Linie  genannt  werde,  nicht  unbegründet. 

■-;  Miltiades,  den  wir  gewohnt  sind  wegen  seines  Sieges  bei  ^larathon 
nur  als  einen  Freiheitshelden  zu  betrachten,  hatte  etwas  TjTannisches  in 
seinem  ganzen  Charakter,  wie  es  das  gegenüber  den  angesehensten  Männern 
des  Chersones  geübte  Verfahren,  das  Herodot  VI,  39  erzählt,  zur  Genüge 
beweist. 


KiMON.  5 

von  Dauer.  Eine  raisslungene  Unternehnumg  ^eg;en  Faros  '  , 
bei  der  er  von  Unbesonnenheit  und  Willkür  schwerlich  wird 
ganz  freigesprochen  werden  können,  zog  ihm  A'crnrtheilung  zu 
einer  nnerschwinglichen  Geldb\isse  und  als  Folge  eines  liein- 
bruches  baldigen  Tod  im  Gefängniss  zu.  »Sein  Ilauptgegner, 
der  auf  Todesstrafe  angetragen  hatte,  w'ar  Xanthippos  ge- 
Avesen,  der  später  die  Athener  bei  Mykale  zum  Siege  führte, 
der  ^'ater  des  grossen  Perikles. 

Der  lluhm  des  Hauses  sollte  aber  nicht  untergehen.  Der 
Sieger  von  Marathon  hatte  neben  jenem  Metiochos,  der  in  per- 
sische Gefangenschaft  gerathen  A^ar  und  vom  grossen  Könige 
hochgeehrt,  aber  seinem  Yaterlande  nicht  mehr  zurückgegeben 
wurde,  noch  einen  zweiten  Sohn  hinterlassen,  den  ihm  Hege- 
sipyle,  die  Tochter  des  thrakischen  Fürsten  Oloros,  geboren 
hattet).      Dieser,    nach    dem    väterlichen    Grossvater    Kimon 


')  lieber  die  Unternehmung  gegen  Faros  vergl.  ausser  Herodot  VI, 
i:32— i;i6.  Ephorus  bei  Steph.  Byz.  s.  v.  Ilapo;.  Cornel.  Nep.  Miltiad.  7. 
Schob  zu  Aristid.  ed.  Dindorf  111,   S.  572  u.  6!)1. 

-;  Lucas  nimmt  das  Jahr  5U4  als  Geburtsjahr  Kimons  an,  und  Arnold 
Ekker  (Plutarchi  Cimon.  Commentariis  suis  illustravit  et  de  vitae  hujus 
fontibus  disseruit  Arnoldus  Ekker.  Trajecti  ad  Khenum  'mdcccxlhi)  folgt 
ihm.  Indessen  gewähren  die  dafür  angeführten  Gründe  keine  vollkommene 
Sicherheit.  Vielmehr  möchte  eine  frühere  Geburt  des  Kimon  mehr  AVahr- 
scheinlichkeit  für  sich  haben,  da  Miltiades  bereits  Ol.  ih).  4  oder  OB.  1, 
.il6  oder  515  nach  dem  Chersones  kam  und  Kimon  sonst  in  einem  für  jene 
Zeiten  gar  zu  jugendlichen  Alter  bereits  in  Aeratern  und  Ehre  gestanden 
hätte.  Denn  bereits  beim  Ausbruch  des  Perserkriegs  erscheint  er  als  sehr 
einflussreich,  da  sein  Beispiel  wesentlich  für  Themistokle.s  Kriegsplan  wirkte, 
vor  der  Schlacht  bei  Plataia  ist  er  unter  den  Gesandten  nach  Sparta,  bald 
nachher  Mitfeldherr  des  Aristeides.  Andrerseits  nennt  ihn  freilich  Plutarch 
c.  4  bei  des  Vaters  Tode  rcz-vj  lAetpav.iov  und  wenn  auch  bekanntlich  der 
Ausdruck  (j.£ipä7.iov  in  ziemlich  weitem  Sinne  gebraucht  wird,  so  spricht 
doch  diese  Stelle  in  Verbindung  mit  Aristid.  de  quatuorv.  II  p.  203  ed. 
Dindorf  dafür,  dass  Kimon  bei  des  Vaters  Tode  noch  nicht  mündig  ge- 
wesen sei,  also  noch  nicht  18  Jahre.  Wenn  Aristides  aber  erzählt,  die 
Vormünder  hätten  ihm  wegen  seiner  Lebensweise  das  väterliche  Vermögen 
xä  -axpiV/  nicht  herausgegeben,  so  möchte  man  fragen,  was  für  rc/.-pipa 
denn  dagewesen  sein  können,  da  Miltiades  die  Mulct  von  50  Talenten  nicht 
zahlen  konnte  und  also  das  vorhandene  Vermögen  conüscirt  wurde ,  und 
wenn  gar  der  Scholiast  zu  der  Stelle  beifügt  (Arist.  ed.  Dind.  III  p.  517), 
er  sei  bis  zum  vierzigsten  Lebensjahr  unter  Tutel  gestanden,  so  leuchtet 
das  Verkehrte  der  Nachricht  von  selbst  ein.  Nehmen  wir  an,  Kimon  sej 
bei  des  Vaters  Tode  im  Jahre   489  oder  490,    17  Jahre   alt   gewesen,    was 


ß  KiMON. 

genannt,  hatte  in  seiner  Jugend  sich  weniger  der  Anshildnng 
seiner  Geisteskräfte,  als  den  A'ergnügnngen  gewidmet,  welche 
bei  den  jungen  Athenern  von  Adel  in  r)ranch  waren.  Er  soll 
sehr  leichtsinnig  gelebt  haben ,  dem  Wein  nnd  den  Franen 
über  Gebühr  ergeben  gcAvesen  sein ,  nnd  seinen  \  ormündeni 
viel  zn  schaffen  gemacht  haben ') .  Die  Knnst  der  Kede, 
welche  damals  in  Athen  überhaupt  noch  wenig  ansgebildet 
war,  das  Witzige  nnd  Scharfsinnige  nnd  oft  Spitzfindige, 
welches  später  den  Athener  nicht  immer  zn  seinem  A  cntheile 
auszeichnete,  waren  dem  Jünglinge  ziemlich  fremd.  Doch 
w^eiss  er  später  mit  Gewandtheit  und  Erfolg  das  Wort  in  der 
Volksversammlung  zu  führen.  Auch  in  der  Musik  soll  er  sich 
nicht  sonderlich  liervorgethan  haben,  wenn  er  auch  keineswegs 
dieser  Bildung  entbehrte.     Eine  derbe,   gutmüthige,   oft  etwas 


wohl  nicht  zu  viel  ist,  so  würden  wir  für  das  Geburtsjahr  506  oder  -507 
setzen  müssen.  —  Ich  habe  oben  das  achtzehnte  Altersjahr  als  die  Grenze 
der  Vormundschaft  angenommen,  weil  in  diesem  Jahre  sie  wenigstens  auf- 
hören konnte.  Doch  glaube  ich  mit  Schömann  de  comit.  Athen,  p.  78, 
dass  die*'lbe  auch  habe  bis  zum  zwanzigsten  dauern  können.  Ausser  den 
von  Schömann  angeführten  Stellen  vergleiche  man  noch  Xenoph.  Memorab. 
I,  2,  4U :  '/.i'jzzo.i  fari  "AÄy.'.ßtdoTjV  -piv  stxostv  d-rtüv  tl-zon  riep'.y./.jT  stt'.too-o) 
[xev  ovTi  ea'jToü  .  .  .  Toiaos  otaXs/ilfjVa!.  Nehmen  wir  das  bei  Kimon  an, 
so  könnte  er  also  auch,  wenn  er  bei  des  Vaters  Tode  noch  unter  Vor- 
mundschaft stand ,  noch  um  zMei  Jahre  älter  gewesen  sein ,  als  ich  oben 
vermuthete. 

')  Hauptstelle  Plutarch  Cim.  4,  wo  aber  der  unzuverlässige  Stesim- 
brotos  aus  Thasos  Gewährsmann  ist :  S-TjaifißpoToc  V  6  Baiio;  zspi  tov  ctü-6v 
öaoö  -'.  ypovov  zw  Kificuvi  •je-fO'^jöiz  ciTjOtv  aÜTOv  o'jts  ao'j!ji7.T|V  o'jte  aXXo  ti 
[AdyTyp.«  Töjv  sÄc'j&epiojv  y.ai  Tot;  'EA).Tjaiv  e-iyojpta^ov-ojv  iv-oioa/^f^vai  o£ivoTr,T6; 
T£    y.ctt    arojtA'jJ.ia?    'ATTr/.f,;    o/.uj;    ä-T,>.).dy>)o(»    y.at    xü)  Tpo-w  -oXü  tö  -^z^-^awi 

ToO  ävopoj, 

«P'/OXov,   a'y.oa'iiov,   za  [xifii^z^  arjOL^rj-K 
■/.aza  Tov  E'jpi-iociov    Hpcty.AEa. 

Dass  6'^  ihm  an  einer  natürlichen  kräftigen  Beredsamkeit  nicht  gefehlt, 
beweist  Plutarch  c.  16,  vergl.  Corn.  Nep.  Cim.  2,  dass  er  musikalische 
Bildung  besessen,  berichtet  sehr  bestimmt  der  in  dieser  Hinsicht  sehr 
competente  Ion  von  Chios  bei  Plut.  c.  9  :  a'jv&et-vTjaat  0£  xw  KtfAwvi  ctTjctv 
ö  l(uv  T.avzd-'x'ji  [Actpdy.tov  r^y-ojv  sie,  'A9Y)\a;  ix  Xto-j  -ctpd  Aaojiloovxi,  xai 
xöjv  a-ovoÖ3v  -^f/op-i^m-/  zao  a-itÄTjösvxo:  aaat  xai  acavxo?  o'jx  aTjOtü;  l-aivciv 
-O'j;  rapövxa;  (u;  0£^ti6x£po>^  0£ijlicxoxX£O'jc,  IxeTvov  ytip  'aSeiv  [asv  oO  cpävai 
|xaÖ£rv,  o'joe  y.i&apiC£iv,  tioXiv  0£  Tiorrjsai  [.tEYdXTjv  y.at  -Xoucfav  e-taTaa&ott. 


KiMox .  7 

plumpe  Art  machte .  dass  man  ihn  seinem  Giossvater  Kimon 
verglich,  der  den  Spottnamen  Koalemos,  Dummkopf,  getragen 
hatte.  Allein  unter  dieser  unscheinbaren  Hülle  lag  eine  kräf- 
tige, unverdorbene  Natur  verborgen,  welche  früh  mit  dem  Un- 
glück vertraut,  sich  bald  in  glänzender  AVeise  l^ahn  brach. 
Nach  der  Strenge  der  athenischen  Gesetze  gegen  Staatsschuld- 
ner, war  Kimon,  dessen  A'ater  die  Busse,  zu  der  er  verurtheilt 
war.  nicht  zu  zahlen  vermocht  hatte,  der  bürgerlichen  Ehre 
verlustig ,  ein  Atime ,  bis  er  die  Schuld  des  N'aters  bezahlt 
hatte.  Ja  eine  keineswegs  verächtliche  Nachricht  sagt  sogar, 
es  sei  das  Gefängniss.  Avelches  zahlungsunfähige  Schuldner  des 
Staates  betraf,   auf  ihn  übergegangen  ') .     Aus  dieser    traurigen 


')  Diodor.  X,  29,  1:  8ti  rt'j  Mt"/.Tiäoou  u'io;  6  Kiixcuv,  TeXe'j-rfjaavTO? 
Toü  TTaTOÖ;  ocjToO  £v  TT)  OT,[jLoa(a  ci'j/.axTy  oia  tö  (jltj  iay'jaai  dy.TiJoit  to  fj'Si.r^fj.a, 
Iva  ^vOt^Tj  TÖ  aü)|ji,a  toü  -aTpö;  eU  ttctjv  eocjtöv  ei?  tT|V  cfu).7.-/.?,v  napeoiuy.e 
■/ai  oiEOE^aTo  TÖ  öcpXirjfjLa.  Unbestimmter  Cornel.  Nepos  Cim.  1  :  cum  jniter 
eins  Ufern  aestimatani  populo  solvere  non  potuisset  ob  eamque  causam  in 
rmculis  publicis  clecessisset,  Cimon  eudem  custodia  tenebatur,  neque  legibus 
Atheniensium  emitti  poterat  nisi  pecuniam  qua  pater  niultatus  erat  so'visset. 
Valer.  Maxim.  V,  3  Ext.  6.  Justin.  II,  !•=>,  H).  Senec.  Contr.  VIII,  24. 
Quintil.  Decl.  302.  Rinck  und  Freudenberg  Quaestiones  historicae  in 
Cornel.  Nepotis  vitas  excell.  imper.  part.  II,  p.  2  sq.  haben  diese  ganze 
Erzählung  als  Khetorenerfindung  unbedingt  ^  erworfen  und  letzterer  nament- 
lich zu  zeigen  gesucht,  dass  in  den  attischen  Gesetzen  sich  nichts  nach- 
weisen lasse,  was  auf  ein  solches  Verfahren  gegen  die  Kinder  eines  Staats- 
schuldners hinweise.  Allein  es  ist  einestheils  zu  bedenken,  dass  wir  die 
Gesetze  nur  sehr  mangelhaft  vmd  meist  aus  späterer  Zeit  kennen,  andern- 
theils  aber  zeigen  doch  die  von  Freudenberg  selbst  angeführten  Stellen  des 
Demosth.  adv.  Androt.  p.  603.  604.  adv.  Theocrin.  1320.  1327,  dass  die 
Atimie  und  die  Schuld  sich  vererbten.  Wenn  aber  die  Schuld  auf  die 
Kinder  überging,  so  führt  die  Consequenz  darauf,  dass  auch  das  gegen 
Staatsschuldner  übliche  Verfahren  sie  treffen  konnte.  Daher  denn  auch 
Böckh  athen.  Staatshaush.  I,  p.  514  sagt:  »so  pflanzt  sich  also,  wenn  nicht 
gerade,  ausser  einzelnen  Fällen,  die  Gefängnissstrafe,  doch  die  Ehrlosigkeit 
auf  die  Kinder  fort ,  bis  sie  bezahlt  haben ,  was  der  Vater  schuldig  war, 
wie  unter  andern  Kimons  Beispiel  zeigt.«  Suidas  s.  r.  'ApiaToysiTcuv  sagt 
geradezu ,  dass  Aristogeiton  ins  Gefängniss  gesetzt  worden  sei ,  weil  sein 
Vater  als  Staatsschuldner  darin  gestorben  war,  und  diese  Stelle  ist  nicht 
80  verächtlich  als  Freudenberg  meint ,  der  sie  aus  Demosth.  c.  Aristog. 
p.  787  schlecht  zusammengeflickt  glaubt ,  da  vielmehr  der  Xame  von 
Aristogeitons  Vater ,  Skydimos  deutlich  eine  andere  Quelle  verräth ,  viel- 
leicht die  Kede  des  Lykurg.  Meine  Meinung  ist  daher  die,  dass  wie  die 
Schuld  des  Vaters  und  die  Atimie  auf  die  Kinder  überging,   so  Ursprung- 


3  KiMON. 

Lage  zog  ihn  die  Liebe  eines  reichen  Atheners,   Namens  Kal- 
lias  1)  zu  seiner   schönen  Halbschwester  Elpinike .    mit    der   er 


lieh  auch  das  Gefängniss  vererbt  wurde.  Indess  mochte  die  Sitte  die 
Strenge  des  Gesetzes  in  der  Regel  mildern,  vielleicht  auch  später  ein  aus- 
drückliches Gesetz  die  Folgen  für  die  Kinder  auf  die  Atimie  beschränkt 
haben.  Die  Erzählung  Diodors  und  der  Schriftsteller,  die  ihm  folgen, 
macht  ferner  sehr  wahrscheinlich,  dass  ein  im  Kerker  verstorbener  Staats- 
schuldner  nicht  eine  regelmässige  Bestattung  erhielt,  wenn  nicht  der  Erbe 
für  ihn  eintrat.  Er  blieb  dann  gleichsam  auch  im  Tode  noch  dem  Staate, 
dem  er  schuldete,  verpfändet.  Im  Allgemeinen  also  halte  ich  dafür ,  dass 
die  Uebertragung  des  Gefängnisses  vom  Vater  auf  den  Sohn  nicht  im 
Widerspruch  mit  den  attischen  Gesetzen  sei ,  sondern  vielmehr  eine  nur 
durch  die  mildern  Sitten  allmählig  ausser  Uebung  gekommene  Consequenz. 
Ob  aber  bei  Kimon  dieselbe  eingetreten,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden, 
weil  damit  die  Erzählung,  dass  er  nach  dös  Vaters  Tode  mit  der  Schwester 
Elpinike  in  der  Ehe  gelebt  habe,  bis  Kallias  sie  geheirathet  und  die  Schuld 
bezahlt  habe,  schwer  zu  vereinbaren  ist.  M.  H.  E.  Meier  de  bonis  damna- 
torum.  p.  5.  Anmerkung  1 1  hält  übrigens  auch  die  Erzählung  von  Kimons 
Haft  für  begründet:  Cimo  enini  R.  P.  tum  demum  attingere  potuit,  cum 
Callias  ducta  Cimonis  sorore ,  miilctam  Mittiadis  patris ,  ob  quam  ßlius  in 
carcere  tenebaiur,  sohisset.  [Grote  history  of  Greece  18()2.  III  S.  31.5  verwirft 
die  Haft  des  Kimon  und  des  Miltiades.  Der  bereits  vom  Brande  ergriffene 
Miltiades  sei  gewiss  nicht  ins  Gefängniss  gebracht  worden  da  man  auch 
einem  zu  Bussen  verurtheilten  immer  einen  Zahlungstermin  gelassen  habe 
und  kein  Entfliehen  zu  fürchten  gewesen.  Ueberdies  sagt  er,  sei  die  Strafe 
nicht  zu  hoch  für  Miltiades  gewesen,  da  der  Sohn  sie  habe  zahlen  können, 
dabei  übergeht  er  aber  nur  aUe  alten  Nachrichten,  ohne  sie  zu  widerlegen.  | 
'  Wiewohl  van  Staveren  zu  Corn.  Xep.  Böckh  athen.  Staatsh.  I, 
S.  632.  Kraft  in  Pauly's  Realencyclopädie  und  Freudenberg  a.  a.  ü.  diesen 
Kallias  von  dem  Sohne  des  Hipponikos,  dem  Xct-/.x6->.o'JTo;  unterscheiden 
wollen,  so  stimme  ich  doch  M.  H.  E.  Meier  de  bon.  damn.  122  und  Kinck 
prol.  zu  Roths  Aemil.  Probus  bei,  dass  es  der  nämliche  sei.  Die  Aus- 
drücke des  Corn.  Nep.  non  tarn  yenerosus  quam  pecxniosus  und  des  Plutarch 
Tör;  eÜTTOj^ojv  xi;  können  auf  diesen  Kallias  wohl  bezogen  werden,  und  die 
Worte  des  Dio  Chrysost.  LXXIII,  §.  6  ö  Kt[Aajv  aTiixo;  r,v  äv  tov  ö-^jm-^ 
/povov,  ei  |j.Tj  TTjV  äoeX'iTjV  'E/.-tvtv.T^v  i'izwr/.S'i  ävoot  Tareivio  y.'/l  -/pT,ij.aTot  v/oni 
tragen  ein  zu  rhetorisches  Gepräge,  als  dass  darauf  Gewicht  zu  legen  wäre. 
Diseria  testimonia  wie  Freudenberg  sagt  sind  das  durchaus  nicht.  Der- 
selbe bemerkt,  der  KaUias  Xa-/--/.o-Äo>jTos  habe  seine  Reichthümer  nicht  aus 
Bergwerken  gezogen,  was  vom  Schwager  des  Kimon  Cornel.  Nepos  berichte. 
Allerdings  erzählen  die  Schriftsteller  verschiedene  Geschichten,  die  aber, 
wie  schon  Böckh  a.  a.  O.  bemerkt,  einem  Mährchen  zur  Erklärung  des 
Beinamens  Xc.-/.-/.o-/.o'jtoc  gleichen.  Mögen  sie  aber  auch  theilweise  wahr 
sein,  so  schliessen  sie  die  Bergwerke  nicht  aus,  die  uns  bestätigt  werden 
durch  Xenuph.  de  vectig.  IV,  15:   eyeveto  os  -/.ext  '\--jj'Ay.w  zca-z.ö'Zi^j.  dvoparooa 


KIMo^ .  9 

bis  dahin  in  einer  nach  athenischen  Gesetzen  erlanhten  Ehe 
gelebt  zn  haben  scheint.  Kallias  bot  ihm  an ,  die  ganze 
Summe  von  50  Talenten  zn  bezahlen,  wenn  er  ihm  die 
Schwester  znr  Frau  gebe ;  dass  Kimon  es  that.  darf  iins  nicht 
befremden  bei  den  laxen  l^egriffen.  welche  in  Athen  hinsicht- 
lich der  Ehe  galten,  nm  so  weniger  Avenn  richtig  ist.  dass  er 
sie  nur  geehelicht  hatte .  weil  sie  zuvor  Avcgen  ihrer  Anuuth 
keinen  ihres  Standes  Aviirdigen  Freier  gefuiulen  hatte '  .  und 
überdies  tilgte  er  dadurch  den  Makel,  der  dem  Namen  des 
Katers  noch  anklebte.  So  Avard  er  nun  Avieder  ehrenfähig. 
Trotz  jenes  angeblichen  schlechten  Ivufs  muss  utiu  Kimon 
bald  unter  seinen  Altersgenossen  einen  bedeutenden  Einfiuss  ge- 
Avonnen  habendi,  den  er  mit  eben  so  viel  Einsicht  als  Selbstver- 
läugnung  zur  Rettung  der  bedrohten  Heimat  auAvandte.  Jener 
Feldzug.  der  durch  die  Schlacht  bei  Marathon  seine  Entschei- 
diuig  gef\nidcn  hatte,  Avar  nämhch  nur  das  Vorspiel  grösserer 
Gefahren  für  Hellas  gcAvorden.  Der  unerAvartete  Widerstand 
des  gering  geachteten  freien  \  olks  hatte  den  Ingrimm  des 
orientalischen    Herrschers    Dareios    niu'    vermehrt,    und    nach 


-/.ara  tov  aÖTov  xpoTTOv  tojtov  ,i.  e.  £v  xoTs  äpY'JfJtoic)  d7C0£00(j.eva  o.  Trpoas'-pspe 
[Aväv  axüJfi  TYj;  Tjii.£pa;.  Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  A^'ie  der  Sohn 
Hipponikos,  so  bereits  der  Vater  Kallias  einen  Haupttheil  seines  Einkommens 
aus  Borgwerken  zog. 

')  Plutarch.  Cim.  1.  Cornel.  Nepos  1  erzälilt,  Kimon  hal)e  zuerst  sich 
geweigert  und  erst  auf  das  Verlangen  der  Elpinikc  selbst,  die  den  Sohn 
des  Miltiades  nicht  habe  im  Kerker  lassen  Avollen ,  nachgegeben.  Ueber 
das  ganze  Verhältniss  zu  Elpinike  vgl.  Lucas  S.  25.  Freudenberg  a.  a.  O. 
S.  5.  Nach  einigen  hätte  gar  keine  Ehe  stattgefunden,  sondern  ein  uner- 
laubter Umgang.  Dem  mag  nun  aber  gewesen  sein  wie  es  will ,  so  fällt 
dies  Verhältniss  in  die  erste  Jugend  des  Mannes  und  es  ist  also  sehr  un- 
billig, Avenn  Büttner  S.  32  sagt,  Kimon  habe  die  alte  gute  Sitte,  zu  deren 
Hersteller  er  sich  aufgeworfen,  selbst  mit  Füssen  getreten.  Vgl.  Meier  de 
bonis  damn.  p.  5.  A.   11. 

2)  Lucas  setzt  auch  sein  Wetteifern  in  Olympia  mit  Themistokles, 
dessen  Plutarch  Them.  5  erwähnt,  bereits  in  diese  Zeit,  und  allerdings 
scheint  Plutarch  es  so  zu  meinen,  da  er  sagt :  ö  oe  \).r^-m  Yva)pt|J.o?  •{ZlmÖK, 
dXXd  vcal  007C(üv  e?  O'jy  'jrapyovTtuv  zap'  d;iav  e-atpes&at  rpoatu'fXiaxavcV 
äXaCoveiaV;  was  für  Themistokles  nur  auf  die  Zeit  Aor  den  Perserkriegen 
passt.  Auffallend  ist  es  aber,  Avie  Plutarch,  ohne  den  Zeitunterschied 
hervorzuheben,  damit  den  Sieg,  den  Themistokles  als  tragischer  Chorege 
Ol.   75,  4  nach  den  Perserkriegen  gewann,  verbindet. 


10  KiMON. 

seinem  Tode  sah  der  8ohn  Xerxes  sich  durch  die  Stimmung-  der 
Perser  genöthigt  gegen  seine  Neignng  den  Krieg  \on  neuem 
aufzunehmen.  Wenige  Männer  in  Griechenland  sahen  das  Un- 
gewitter  kommen,  unter  diesen  wenigen  am  klarsten  der  Athe- 
ner Themistokles,  an  Genialität,  Entschlossenheit  und  J  hatkraft 
von  keinem  griechischen  Staatsmanne  aller  Zeiten  überirofFen, 
von  Avenigen  erreicht.  Er  erkannte,  dass  die  Widerstands- 
fähigkeit Griechenlands  nur  auf  den  Schiffen  zu  suchen  sei  und 
bereitete  Athen  dazu  vor;  er  deutete  das  Orakel  von  den  höl- 
zernen Mauern  nicht  auf  eine  schlechte  Holzbefestigung  der 
Stadtburg ,  sondern  auf  die  Trieren  und  forderte  seine  Mit- 
bürger auf,  Haus  und  Land  zu  verlassen  und  sich  dem  Meere 
anzuvertrauen.  Es  Avar  ein  gewaltiger  Entschluss,  den  ein 
ganzes  ^'olk  zu  fassen  hatte,  doppelt  bewundernswerth  bei  den 
religiösen  Begriffen  der  Griechen ,  deren  Götter  sich  an  be- 
stimmte üertlichkeiten  knüpften.  Kein  Wunder,  dass  der 
Rath  nicht  sogleich  Eingang  fand.  Wundererscheintingen 
mussten  erst  den  Athenern  zeigen,  dass  die  Götter  selbst  ihre 
Sitze  verliessen ,  und  das  Beispiel  edler  Männer  das  A'olk  zur 
Aufopferung  entflammen.  Hier  hat  vor  Allen  Kimon  gewirkt. 
Er,  dessen  ^ater  Miltiades  noch  den  Plan  des  Themistokles, 
eine  Flotte  zu  gründen ,  bekämpft  haben  soll  \  ,  der  selbst 
seiner  ganzen  Stellung  nach  zum  Nebenbuhler  des  Themistokles 
berufen  war,  schloss  sich  zuerst  diesem  an.  Während  die 
Masse  noch  erschrocken  und  unentschlossen  war,  sah  man  ihn, 
den  ritterlichen  Sprössling  eines  Geschlechts,  das  sich  durch 
Pferdezucht  längst  in  ganz  Griechenland  berühmt  gemacht 
hatte,  eine  kräftige  hohe  Heldengestalt,  mit  lockigem,  reich- 
lichen Haare,  von  seinen  Freunden  begleitet,  heitern  Antlitzes 
die  Burg  hinansteigen .  um  einen  Pferdezaum ,  den  er  in  den 
Händen  trug,  der  Göttin  als  Geschenk  zu  weihen.  Denn  jetzt 
sei  mit  der  Reiterei  nichts  auszurichten ,  sondern  nur  mit  der 
Seemacht  2  .  Dann  nahm  er  einen  von  den  der  Göttin  geweih- 
ten Schilden  und  stieg  zum  Meere  herunter.  Der  schönste 
Erfolg  belohnte  die  Aufopferung  des  athenischen  Volkes. 
Griechenland  Avar  gerettet.    Athen  erhob  sich  aus  seiner  Asche 


*)  Plut.  Them.  4.  Autorität  ist  freilich  der  unzuverlässige  Stesimbrotos. 
2)  Plut.  Cim.  5. 


KiMON.  11 

ZU  einem  neuen  Leben,  verjüngt  trat  es  an  die  Spitze  derjeni- 
gen Jlellenen,  welche  den  Krieg  mit  Persien  fortführen  und 
Freiheit  bringen  \\ oUten.  so  weit  die  griechische  Zunge  reichte ; 
Theraistokles ,  Aristeides,  Xanthinpos  hatten  jeder  an  seinem 
Phitze  mit  Hintansetzung  aUer  ])ersönlichen  Eifersucht,  ihre 
Mitbürger  zu  den  Siegen  geführt  und  ihre  A  aterstadt  auf  die 
holie  Stufe  gebracht,  auf  Aveh-her  sie  nach  dem  Rückzuge  der 
Ferser.  nach  ihren  Niederlagen  bei  l'lataia  und  ^lykale  stand. 
Der  jüngere  Kimon  hatte  den  Ruf  glänzender  Tapferkeit  ge- 
wonnen. 

In  Folge  dieses  A'ertheidiguugskriegs  gegen  Persien  ge- 
Avinnt  nun  aber  bald  die  Geschichte  Griechenlands  und  na- 
mentlich Athens  eine  neue  Richtinig.  Nachdem  die  nächste 
Gefahr  beseitigt  Avar,  kam  es  darauf  an,  durch  VereinigTing 
der  Kräfte  eine  entschiedene  Fortsetzung  des  Kampfes  mög- 
lich zw  machen,  die  Macht  l*ersiens  in  ihrem  eigenen  Lande 
anztigreifen  und  Griechenland  gegen  künftige  Angriffe  zu 
sichern.  Zuerst  hatte  S])arta  die  Leitung  dieser  Aufgabe  über- 
nommen ;  in  der  ersten  Regeisterung  nach  dem  Siege  bei  Pla- 
taia  Avar  der  A'ersuch  gemacht  AAOrden  auf  der  Grundlage  der 
bestehciulen  A  erhältnisse  eine  allgemein  griechische  P)undes- 
genossenschaft  zur  Fortführmig  des  Krieges  zu  organisiren  i) . 
Allein  die  A'erhältnisse  hatten  sich  zu  sehr  Aerändert,  als  dass 
das  schAverbeAvegliche,  dem  Seekriege  nicht  geAvachsene  Sparta 
an  der  Spitze  des  gesammten  Griechenlandes  hätte  bleiben 
können ,  und  eine  erfolgreiche  Kriegführung  ohne  kräftige, 
mächtige  Oberleitung  Avar  eine  Fnmöglichkeit.  Diese  fand 
sich  bald  in  Athen,  das  durch  seine  Verdienste  im  Perser- 
kriege jetzt  auf  die  erste  Stelle  kühn  Anspnich  machen  konnte. 
Die  Unabhängigkeit  Aon  der  spai'tanischen  Hegemonie  und  die 
Rildung  eines  Rundes  der  Seestaaten  unter  seiner  Leitung, 
um  zunächst  den  Kampf  gegen  Persien  fortzusetzen,  waren 
das  Ziel,    Avelches    das    athenische  Volk,    von    seinen    grossen 


')  Plut.  Arist.  21.  Thucyd.  III;  HS.  Ein  ganz  neues  Bündniss  wurde 
auf  dem  Schlachtfelde  \'on  Plataia  nicht  geschlossen,  sondern  nur  die  be- 
stehende Bundesgenossenschaft  unter  Sparta's  Hegemonie  und  vertreten 
durch  das  -/.o'.vöv  -vyt  T//."/.tjvujv  cjveooiov  enger  geknüpft  und  zur  Fortsetzung 
des  Krieges  organisirt.  Vgl.  K.  F.  Hermann  Lehrb.  d.  gr.  Staatsalt. 
§.  '-iö,  6.   7.     Schömann  antiq    VI  §.   30.   p.  427. 


1 2  KiMox . 

Männern  geleitet,  jetzt  mit  Beharrlichkeit  und  Erfolg  anstrebte. 
Themistokles  gebührt  der  Kuhm.  seiner  Vaterstadt  durch 
schnelle  Befestigung  eine  unabhängige  Stellung  gesichert  zu 
haben;  die  Gründung  der  Bundesgenossenschaft  war  vorzugs- 
weise das  Werk  des  besonnenen  Aristeides;  ausgebildet,  be- 
festigt und  zum  siegreichen  Kampfe  gegen  die  Barbaren  ge- 
führt aber  hat  sie  Kimon^  .  dessen  Bestreben  schon  jetzt 
darauf  ging,  die  Griechen  zum  gemeinsamen  Handeln  gegen 
aussen  zu  vereinigen  und  dadurch  die  ZA^•istigkeiten  im  In- 
nern zu  verhindern.  Schon  vor  der  Schlacht  bei  Plataia  war 
er  mit  imter  den  Gesandten  gewesen,  welche  die  Spartiaten 
zu  thätigem  Handeln  auffordern  sollten  2  .  Nach  der  A'er- 
nichtung  der  Perser  finden  wir  ihn  bald  neben  Aristeides  an 
der  Spitze  der  attischen  Flotte  ^) .  Seine  Tapferkeit  und  sem 
freundliches  einfaches  Wesen  hatten  ihm  die  Gemüther  ge- 
wonnen ,  und  der  einflussreiche  Aristeides  schenkte  ihm  sein 
ganzes  Wohlwollen.  Den  Oberbefehl  führten  aber  noch  die 
Spartiaten.  Denn  obgleich  sie  nach  der  Schlacht  bei  Mykale 
zuerst  in  die  Heimat  zurückgekehrt  Avaren  und  den  Athenern, 
nebst  den  von  den  Persem  abgefallenen  Bundesgenossen  die 
Erobervmg  der  festen  Stadt  Sestos  überlassen  hatten,   trat  bald 

1)  Damit  soll  natürlich  nicht  gesagt  sein ,  dass  diese  drei  Männer  sich 
auf  die  angegebenen  Punkte  beschränkten.  Wie  bekanntlich  Aristeides 
l)ei  der  Befestigung  Athens  dem  Themistokles  hülfreich  zur  Seite  stand 
(Thucyd.  1,  91;,  so  war  auch  Themistokles,  der  Athens  Seemacht  be- 
gründet hat,  bei  der  Einrichtung  der  Bundesgenossenschaft  thätig.  Dai-auf 
weist  unter  andern  Plutarch  Them.  21,  obwohl  er  auch  Ungehöriges  her- 
beizieht, wie  Sintenis  zu  der  Stelle  mit  Hinsicht  auf  Andres  richtig  be- 
merkt hat. 

2)  Plut.  Arist.  lü.  In  dem  Psephisma  waren  als  Gesandte  Kiraon, 
Xanthippos  und  Myronides  genannt,  nach  Idomeneus  wäre  Aristeides  .selbst 
nach  Sparta  gegangen.  Kimon  wurde  also  bereits  damals  den  ersten  und 
bewährtesten  Männern  an  die  Seite  gestellt,  und  da  die  genannten  sämmt- 
lich  in  diesem  Jahre  Feldherren  waren  (von  Myronides  sagt  es  Plutarch 
Aristid.  2U),  so  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  Kimon  selbst  auch  dies 
Amt  bekleidete.  Dass  es  nicht  ausdrücklich  berichtet  wird,  darf  uns  nicht 
auffallen,  da  die  meisten  Schriftsteller  nur  kurz  den  Aristeides  als  Befehls- 
haber des  Landheeres  ,  Xanthippos  als  Flottenführer  nennen,  und  von  den 
acht  Uebrigen  nur  zufäUig  Leokrates  und  Myronides  von  jPlutarch  a.  a.  O. 
bezeichnet  werden. 

3)  Im  Jahre  477,  Ol.  7574.  Thucyd.  I,  94.  Plut.  Arist.  23.  Cimon.  6. 
Vgl.  Krüger  bist.  phil.  Studien  S.  37. 


KiMox.  13 

darauf  Aviotler  der  Sieger  von  Plataia  Paiisanias  an  die  Spitze 
der  ]5undesllotte,  vertrieb  die  Perser  ans  einem  grossen  Theile 
der  Insel  Cypem  und  wandte  sich  dann  nach  dem  Hellesponte, 
lim  Europa  gänzlich  zu  befreien.  Denn  noch  hatten  die  Per- 
ser nebst  andern  Punkten  das  ^^ichtige  Byzanz  und  das  feste 
Eion  am  Strymon  inne.  Byzanz  wurde  glücklich  erobert,  aber 
anstatt  den  Sieg  mit  Nachdruck  zu  verfolgen,  setzte  Pausanias 
sich  dort  fest,  behandelte  die  vom  persischen  Joche  befreiten 
Byzantier  wie  Knechte  und  spielte  die  Rolle  eines  persischen 
Satrapen.  Zugleich  trat  er  schon  jetzt  in  verrätherische  Ver- 
bindung mit  dem  Feinde.  Die  von  dem  Perserjochc  befreiten 
Griechen,  welche  nicht  gesonnen  waren  nur  den  Herrn  zu 
Avechseln ,  ertrugen  diese  Behandlung  nur  unwillig ,  und 
wandten  sich  daher  mit  Klagen  an  die  Athener,  die  überdies 
den  meisten  von  ihnen  als  lonier  näher  standen  und  weit  mehr 
Schiffe  als  die  sämmtlichen  Peloponnesier  bei  der  Flotte  hat- 
ten '  .  Die  Befehlshaber  der  Athener ,  Aristeides  und  Kimon 
wiesen  die  Klagen  nicht  ab,  versprachen  vielmehr  denselben 
abzuhelfen  und  berichteten  nach  Sparta.  Die  Spartiaten  be- 
riefen den  Pausanias  zur  Untersuchung  nach  Hause  2) .  Allein 
bereits  war  es  zu  spät  geworden.  Da  selbst  des  Aristeides 
Vorstellungen  schnöde  von  dem  OberfeldheiTii  aufgenommen 
wurden,  da  eine  edle  byzantische  Jungfrau  Kleonike  als  Opfer 
seiner  Lüste  gefallen  war,  brach  der  allgemeine  Unwille  in  die 
That   aus  '■'  .      Die    Bundesgenossen   kündigten   ihm    sämmtlich 


•)  Die  Athener  hatten  dreissig,  die  Peloponnesier  nur  zwanzig  Thuc. 
a.  a.  O.  Diodor  XI,  44  sagt  freilich :  outo;  os  -£vTT,-/trjvTa  (xev  xptYjpsi;  i'f- 
n£Xo-ovvr,30'j  Xa(jtt)v,  Toiav.ovTa  0£  Ttap'  'AOrjvxituv  (i.£Ta-£(j.'iiaiAEvo;.  In  gewöhn- 
licher Nachlässigkeit  hat  er  zuerst  die  peloponnesischen  und  attischen 
Schiffe  zusammen  mit  den  bloss  peloponnesischen  verwechselt. 

■i,  Thucyd.  I,  94.     Plut.  Cim.  (j.     Arist.  23.     Diod.  XI,  44. 

3j  Plut.  Cim.  6.  Pausan.  III,  17,  8.  9.  Pausanias  soll  bis  an  seinen 
Tod  von  der  Erscheinung  des  Mädcliens  verfolgt  worden  sein  und  umsonst 
bei  den  Todtenorakeln  von  Phigalia  in  Arkadien,  wie  Pausanias,  von  Hera- 
kleia,  wie  Plutarch  erzählt,  Hülfe  gesucht  haben.  Mit  Kecht  bemerkt  der 
neuste  Herausgeber  Arnold  Ekker  zu  Plutarch  a.  a.  O.  dass  unter  Herakleia 
nicht  an  die  'Hf-ay.Xsta  6o6;  am  Avernussee  in  Campanien  zu  denken  sei, 
aber  eben  so  unrichtig  versteht  er  Herakleia  an  der  Propontis  oder  Perin- 
thos.  Allerdings  nennt  Ptolemäus  III,  11,  6  Perinthos  auch  Herakleia, 
allein  darum  wurde  es  doch  nicht  so  ohne  nähere  Bezeichnung  bloss 
Herakleia  genannt,  vielmehr  ist  das  pontische  Herakleia  gemeint,  wo  auch 


]  4  KiMON. 

den  Gehorsam  auf)  und  stellten  sich  unter  den  Befehl  Athens. 
Der  an  Pausanias  Stelle  von  Sparta  ausgesandte  Dorkis  wurde 
abgewiesen,  und  Sparta  verzichtete  halb  freiAviliig ,  halb  ge- 
zwungen auf  die  Oberanführung  2) .  Den  persönlichen  Eigen- 
schaften des  Aristeides  und  Kimon  verdankte  Athen,  nebst 
dem  frevelhaften  Benehmen  des  Pausanias ,  das  schnelle  und 
friedliche  En-ingen  der  Oberleitung.     Denn   neben  ihrer  aner- 


Xenoph.  Anab.  VI,  2,  2  einen  Achevusischeu  Chersones  erwähnt  und  wo 
der  Sage  nach  Herakles  in  die  Unterwelt  gegangen  war ,  um  den  Kerberos 
zu  holen.  Vgl.  Strabo  XII,  p.  542  C.  [Das  Richtige  auch  bei  O.  Müller. 
Prolegomeua  z.  e.  wissenschaftl.  Mythol.  S.  36H.1 

')  Plutarch  Aristid.  23  und  Cim.  G  erzählt  die  Sache,  als  ob  die 
Bundesgenossen  jetzt  schon  den  Pausanias  aus  Byzanz  vertrieben  hätten. 
Dagegen  spricht  aber  Thukydides  I,  95  sehr  bestimmt  nur  von  einem  Ueber- 
gehen  der  Bundesgenossen  unter  den  Überbefehl  der  Athener,  5'jv£,3y]  -z 
aüxtji  -ytaXEiGrlat  xe  ö.\).n.  v.al  to'j;  gyfifjiayj^O'j;  tüj  iy.sivo'j  i/%ti  r.o.^^  A%r^')a\.o'Ji  fxExa- 
Tä;aai}ai  -Xy)v  xwv  ä-ö  risÄo-ovvTjao'j  axf^axtwtujv.  Da  Plutarch  Cim.  6  den  Aus- 
druck i-iC-oÄiopxeiv  hat,  den  Thukydides  I,  131  gebraucht  wo  er  erzählt,  wie 
später  Pausanias ,  da  er  ohne  Amt  in  Byzanz  verweilte,  von  den  Athenern 
vertrieben  wurde,  so  ist  sehr  wahrsclieinlich,  dass  er  die  zweite  Entfernung 
des  Pausanias  aus  Byzanz  oder  seine  Vertreibung  durch  die  Athener  mit 
dem  Abfalle  der  Bundesgenossen  und  der  Abberufung  des  Feldherrn  nach 
Sparta  verwechselt.  [Die  Erzählung  Plutarchs,  dass  Ai-isteides  das  Bandes- 
heer zu  einem  beleidigenden  Schritt  gegen  Sparta  gereizt  habe ,  verwirft 
Grote  IV,  p.   16  mit  Recht.] 

2)  Man  thut  gewiss  Unrecht,  wenn  man  glaubt,  die  Spartiaten  hätten 
durchaus  unfreiwillig  auf  die  Hegemonie  in  der  Fortsetzung  des  Perser- 
krieges verzichtet.  Ein  grosser  Theil  derselben  sah  den  Aufenthalt  der 
Feldherrn  und  Bürger  in  der  Fremde  für  verderblich  an  und  war  desshalb 
mit  dem  Zurücktreten  zufrieden.  Thukydides  spricht  sich  darüber  I,  95 
sehr  bestimmt  und  gewiss  unbefangen  aus :  xal  o/J-o-j;  o-j-/.  Ixt  uaxspov 
d^eTrefJiiaN  ol  Aax£Oai[AÖvtot  cfofio6jj.;voi  (x-?j  s'-pistv  ot  ^;i6vx£?  y_£tpo'j;  ■^[•(u*a^-zi\, 
oirep  xal  bt  xw  Ila'jaavia  ^veioov ,  d7:aXXa|£iovXii  o£  xal  xoO  MrjOfjCOJ  — oXeLto'j 
xal  xo'j;  'Ai}Tjvaio'j;  voij.i!^ov-£;  ly.avoü;  e^TjYsTa&at  zai  acpbiv  ev  xüj  tote  s-ityj- 
?j£io'j;.  Damit  vergleiche  man,  was  Xenophon  Hellen.  XI,  5,  34  die  sparta- 
nischen Gesandten  in  Athen  sagen  lässt :  ävaixi;j.v'/]T/.ovx£;  0£  oj;  'Ailr^vaiot 
x£  'jTio  xüjv  E/./.'fjvo)v  •/■jp£i}if)37.v  '/)Y£[x6v£;  xoü  va'jxivcoO  "/.Ott  xtuv  y.citvöjv  yprjixaxiuv 
ouAaxE;  xtüv  Aa7.£oai[j.ovicuv  xaüxa  a'j[x^o'jX&ij.svujv.  Man  muss  dabei  nur  daran 
denken,  dass  die  Lakedaimonier  in  dem  Zurücktreten  von  der  Leitung  des 
Perserkriegs  gar  nicht  ein  gänzliches  Aufgeben  ihrer  Hegemonie  sahen, 
sondern  nach  wie  vor  eine  allgemein  hellenische  Symmachie  als  bestehend 
annahmen  und  sich  selbst  als  deren  Hegemonen  betrachteten.  Erst  mit 
dem  dreissigj ährigen  Frieden  veränderte  sich  das.  Vgl.  Alkibiades  und 
Lysandros  S.   10. 


KiMON .  1 5 

kannten  Feldherrntüclitigkeit  hatten  sie  durch  Gerechtigkeit 
und  bilHges ,  entgegenkommendes  Wesen  die  Bundesgenossen 
gewonnen.  Die  strenge  Ordnung  und  unermüdliche  Dienst- 
bereitwilligkeit, welche  bei  den  athenischen  Truppen  herrsch- 
ten, bildeten  einen  wohlthätigen  schroffen  Gegensatz  zu  dem 
hochmüthigen  Benehmen  der  Spartaner ,  die  überall  von  Paii- 
sanias  bevorzugt  wurden.  Die  Organisation  der  IJundesgenos- 
senschaft,  die  Festsetzung  der  Contingente  an  Schiffen,  an 
Mannschaft  und  Geld,  die  Einrichtung  eines  liundesschatzes 
und  die  Niedersetzung  einer  Schatzbehörde,  grösstentheils  durch 
Aristeides,   befestigten  das  in  Byzanz  Gewonnene. 

Kimon  aber  w^ar  es  vorbehalten ,  die  also  organisirten 
Bundeskräfte  zum  Siege  gegen  die  Perser  zu  führen  und  zu- 
gleich die  Grundlage  der  Herrschaft  Athens,  die  sich  aus  jenem 
Bunde  entwickelte,  zu  legen.  Zunächst  griff  er  den  bedeu- 
tendsten Platz  an,  den  die  Perser  in  Europa  noch  behaupteten, 
die  Hafenstadt  Eion  an  der  Mündung  des  Strymon  in  Thra- 
kien. Der  tapfere  Befehlshaber  Boges  vertheidigte  sie,  so 
lange  als  die  Lebensmittel  ausreichten ,  dann  zündete  er  die 
Stadt  an ,  versenkte  alles  Geld  und  alle  Kostbarkeiten  in  den 
StrNTnon  und  tödtete  sich  und  die  Seinigen.  Kimon  erhielt 
einen  Trümmerhaufen ';  aber  der  Ort  war  wegen  seiner  Lage 
von  grosser  Wichtigkeit,  um  auf  Thrakien  und  Makedonien 
einzuwirken ,  besonders  bedeutend  auch  für  Athen  wegen  des 
Holzreichthums  jener  Gegenden.  Darum  riihten  die  Athener 
nicht  bis  sie  in  der  Nähe  von  Eion ,  nach  mehreren  unglück- 
lichen Versuchen  die  Stadt  Amphipolis  gegründet  hatten.    Nach 


1)  Ueber  die  Vertheidigung  und  endliche  Eroberung  Eions  vgl.  Herod. 
YLl,  107.  Plut.  Cim.  7.  Polyaeu.  \^I,  24.  Aeschin.  in  Ctesiph.  §.  183  ff. 
Pausan.  VIII,  8,  9.  Die  Erzählung  des  Letztern,  Kimon  habe,  wie  später 
Agesipolis  bei  Mantineia ,  die  Mauern  von  Eion ,  die  aus  ungebrannten 
Backsteinen  gebaut  gewesen  seien,  durch  dagegen  geleitetes  "Wasser  zerstört, 
möchte  ich  nicht  mit  Lucas  S.  29  Anm.  17  geradezu  verwerfen,  da  sie 
sich  mit  der  Angabe  des  Herodot  verträgt,  obgleich  dieser  allerdings  nichts 
davon  sagt.  Eion  mochte  sowohl  durch  die  Beschädigung  der  Mauern  als 
durch  -Mangel  an  Lebensmitteln  unhaltbar  gewoi-den  sein ,  als  der  helden- 
müthige  Boges  die  Stadt  anzündete  und  sich  und  die  Seinigen  tödtete. 
Auch  die  Hermeninschrift ,  welche  den  Hunger  erwähnt ,  sagt  allerdings 
von  dem  Wasser  nichts.  Die  Eroberung  von  Eion  fällt  in  das  Jahr  476, 
vgl.  Krüger  histur.  phil.   Studien  S.  39. 


16  KiMox. 

Eions  Eroberung  wendete  sich  Kimon  gegen  Skyros.  Auf 
diesem  im  ägäischen  Meere  gelegenen  Eilande  Avohnte  damals 
ein  der  Entwicklung  der  Hellenen  ziemlich  entfremdeter  Stamm, 
die  Dolo  per,  welche  durch  Seeräuberei  berüchtigt  Avaren.  Es 
ist  bekannt,  wie  zu  allen  Zeiten  auf  den  Inseln  des  griechi- 
schen Meeres  Avegen  der  zahlreichen  Schlupfwinkel ,  die  sie 
darbieten,  die  Piraten  gerne  sich  einnisteten  und  von  Minos 
bis  in  die  neuesten  Zeiten  bedurfte  es  einer  kräftigen  Hand, 
dem  Meere  die  für  den  Handel  nöthige  Sicherheit  zu  gewäh- 
ren. Den  Athenern,  deren  Rheder  damals  den  grössten  Theil 
des  Handels  im  ägäischen  Meere  betrieben ,  konnte  es  nicht 
gleichgültig  sein ,  wenn  Räuber  die  See  beunmhigten ,  ihre 
Seeherrschaft,  die  sie  bereits  offen  ansprachen,  erschien  über- 
dies dadurch  beeinträchtigt.  Es  konnte  daher  ihnen  nur  er- 
wünscht sein ,  als  die  delphische  Amphiktyonie ,  wegen  lläu- 
bereien  luid  anderer  Gewaltthätigkeiten ,  die  an  thessahschen 
Kaufleuten  verübt  worden  waren ,  den  Dolopern  eine  Geld- 
strafe auferlegte ,  und  da  sie  diese  zu  zahlen  sich  Aveigerten, 
dem  Kimon  Anlass  gab ,  mit  seiner  Flotte  die  Insel  anziigrei- 
fen  ^) .  Er  eroberte  dieselbe,  machte  die  Bewohner  zu  Sklaven  ^) 
und  sandte  an  ihre  Stelle  athenische  Colonisten  Kleruchen). 
So  hatte  jetzt  Athen  am  Str}-mon  und  auf  einer  Insel  des 
ägäischen  Meeres  festen  Fuss  gefasst,  hier  hatte  es  nun  nicht 
blos  Bundesgenossen ,  sondern  eigenen  Besitz ,  von  dem  aus 
es  seine  Macht  bald  weiter  verbreitete.  Doch  waren  diese 
beiden  Plätze  ohne  irgend  eine  Beeinträchtigung  der  Bundes- 
genossen, vielmehr  unter  ihrer  Mitwirkung  und  auch  zu  ihrem 
Vortheile  genommen  Avorden  476  .  Es  hatte  aber  die  Er- 
oberung der  Insel  noch  eine  zweite,   religiöse  Bedeutung. 

'j  Plut.  Cim.  8.  Diod.  XI,  60.  Die  erste  Veranlassung  scheint  nicht 
von  Athen  ausgegangen  zu  sein ,  da  thessalische  Kauffahrer  geplündert 
worden  waren  und  bei  den  Amphiktyonen  klagten.  Nach  Plutarchs  Er- 
zähhing  haben  die  Käuber  selber  den  Kimon  herbeigerufen  und  ihm  die 
Stadt  überliefert,  weil  das  Volk  ;ot  tto/.Xoi)  nicht  die  Busse  zahlen,  sondern 
ihnen ,  den  Thätern  auferlegen  wollte.  Es  lässt  sich  aber  denken ,  dass 
Athen  die  Gelegenheit  gerne  benutzte  sich  in  Skyros  festzusetzen. 

-)  Thucyd.  I,  98 :  l-ei-a  Sy-Opov  xtjv  ev  tw  Aifauo  vfjaov  TjV  wko'jv  Ao/.ottj; 
r,vOfja7:6otoav  7.ai  wv.taav  aOtoi.  Ungenauer  Plutarch  a.  a.  O.  xo'J;  Aö/.ora; 
dIfjXaae,  das  aber  nicht  im  Widerspruche  mit  Thukydides  ist,  da  die  zu 
Sklaven  gemachten  Bewohner  ausser  Landes  geführt  wurden. 


KiMON.  1 7 

Auf  ihr  war  einst  der  Heros  des  Ionischen  Stammes  in  Athen, 
T  h  e  s  e  u  s  ,  der  für  den  Stifter  der  Demokratie  galt,  gestorben 
und  begraben  worden.  Ein  Orakel  hatte  den  Athenern, 
welche  Abhülfe  gegen  eine  Seuche  suchten  ^  i  ,  geboten ,  seine 
Gebeine  nach  Athen  zu  biingen.  \nid  Kimon  war  so  glücklich 
oder  klug,  von  einem  Adler  angeleitet,  den  Hügel  zu  ent- 
decken, welcher  sie  barg.  Ein  riesiger  Leichnam  nebst  eher- 
ner Lanze  imd  ScliAvert  wurde  ausgegraben  und  unter  grossem 
Gepränge  nach  Athen  gebracht  ^  ,   wo  dem  Theseus  ein  Heihg- 


')  "Wegen  einer  Seuche  Xo'.[x6;,  und  nicht  Hungersnoth  Xt(xo;.  Schol. 
zu  Aristoph.  Plut.  627:  Xot[x(u;avTc;,  und  i.u  Aristid.  p.  2G7  ed.  Frommel, 
der  aus  dem  Leid.  Cod.  Xot,aö;  aufgenommen  hat.  [Die  Ausgabe  Dindorfs 
hat  Xiij-ov.  III  pg.  6SS\  Letztere  Lesart  /.iiao;,  welche  so  oft  neben  Xotfxoc 
in  den  Handschr.  sich  findet  und  bekanntlich  nach  Thukydides  II,  54  schon 
zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  in  einem  Orakel  als  Variante  vor- 
kam, geben  zwar  einige  Handschr.  auch  hier  an  beiden  Orten  und  Scholl 
in  dem  Leben  des  Sophokles  hat  darauf  den  ganzen  InhaU  der  Tragödie 
Triptolemos  construirt.  Allein  K.  Fr.  Hermann  hat  in  der  Kecension  des 
Schöir sehen  Buches,  Berl.  Jahrb.  1S43  S.  554.  555  überzeugend  dargethan, 
dass  Äot[j.o;  und  /.oiii.a);av-£;  das  richtige  sei,  da  Aeneas  von  Gaza,  der 
älteste  Zeuge,  das  ganz  unzweifelhafte  I-siot,  ivoao'jv  hat,  »zu  geschweigen, 
dass  das  plötzliche  Aufhören  des  Uebels,  worin  alle  Gewährsmänner  über- 
einstimmen, eben  so  wohl  wie  seine  lange  Dauer  weit  eher  zu  einer  Seuche 
als  zu  einer  Hungersnoth  passt.«  Aehnlich  bereits  Krüger  hist.  phil. 
Studien  S.  42.  43. 

■-)  Ueber  diese  Zurückführung  der  Gebeine  des  Theseus  Plut.  Cim.  S. 
Theseus  36.  Schol.  zu  Aristoph.  Plut.  627,  zu  Aristid.  III  ]).  68S.  Paus. 
I,  17,  6.  III,  3,  7.  Dieser  erzählt  an  der  letztern  Stelle,  die  Auffindung 
der  Gebeine  des  Theseus  sei  nach  einem  Orakel  die  Bedingung  der  Er- 
oberung von  Skyros  gewese« ,  und  lässt  sie  daher  derselben  vorangehen. 
Es  hat  indess  bereits  Krüger  hist.  phil.  Studien  S.  43  mit  Recht  bemerkt, 
dass  die  Eroberung  der  Insel  so  leicht  von  Statten  ging,  dass  sich  die 
Befragung  des  Orakels  kaum  dadurch  erklären  lässt.  Was  die  Zeit  anbe- 
trifft, so  sind  darüber  die  Angaben  abweichend,  indem  bekanntlich  gewöhn- 
lich die  Zurückführung  von  Theseus  Ueberresten  mit  dem  tragischen  "Wett- 
kampfe des  Aischylos  und  Sophokles  verbunden  und  ins  Jahr  46S ,  also 
7 — 8  Jahre  nach  der  Eroberung  von  Skyros  gesetzt  wird ,  und  diese  An- 
nahme, die  sich  hauptsächlich  auf  Plutarch  stützt ,  hat  Lucas  S.  32  An- 
merk.  21  zu  rechtfertigen  getrachtet.  Indessen  sind  seine  Gründe  durchaus 
nicht  überzeugend,  namentlich  lassen  die  von  ihm  zu  diesem  Zwecke  ange- 
führten Worte  Plutarchs  -o'/J.f^  citXott[jLia  to'j  cr,7,o5  |j.6yi;  £;£'jp£fHvTo;  sich 
schwerlich  so  deuten,  dass  die  Athener  mit  grossem  Eifer  7  Jahre  lang 
das  Grab  des  Theseus  gesucht,  sondern  passen  weit  eher  zu  einer  bald  auf 
die  Eroberung   folgenden  Auffindung.     Vielmehr    hat    Krüger   hist.    phil. 

Vischer,  Schriften  I.  2 


1  8  KiMON . 

thum  errichtet  wurde ,  welches  nach  der  geAVÖhnlichen  Mei- 
nung noch  heutzutage  steht,  als  einer  der  am  besten  erhalte- 
nen Tempel  des  alten  Athen.  Doch  ist  dieses  Theseion,  das 
von  den  Christen  später  dem  heiligen  Georg  geweiht  wurde, 
in  neuester  Zeit  von  einem  ausgezeichneten  Archäologen  mit 
gewichtigen  Gründen  dem  Theseus  abgesprochen  und  für  einen 
Arestempel  erklärt  worden^  . 

Diese  dem  vaterländischen  Gefühle  der  Athener  schmei- 
chelnde Handlung ,  welche  zugleich  Bürgschaft  für  fernere 
Wohlfahrt  sein  sollte,  trug  wohl  nicht  viel  weniger  zu  Kimons 
Ansehen  bei,  als  die  Eroberung  von  Eion.  Wie  hoch  aber 
diese  geschätzt  ward,  bezeugen  die  Ehren,  die  den  Siegern  zu 
Theil  wurden.  In  der  sogenannten  Hermenhalle  ■niirde  ihnen 
gestattet  drei  Hennen  aufzustellen  mit  Inschriften  die  ihre 
That  verkündeten 2  .  Und  obwohl  kein  Name  darauf  war,  so 
galt  es  doch  in  jenen  Zeiten,  wo  die  That  des  einzelnen  Bür- 
gers als  dem  ganzen  Volke  angehörig  betrachtet  wurde ,  für 
unerhört.  Kimon  stand  jetzt  bereits  den  ersten  Männern 
Athens ,  dem  Aristeides  und  Themistokles  gleich  an  Ansehen, 
und  zwar  nicht  mehr  bloss  im  Felde,  sondern  auch  im  Staate. 
Wie  nämlich  in  jenen  Zeiten  die  hervorragenden  Staatsmänner 
noch  sämmtlich  auch  zugleich  Feldherrn  waren,  und  der  krie- 
gerische Ruhm  in  der  Regel  die  Laufbahn  des  Staatsmannes 
eröffnete,  so  macht  jetzt  Kimon  sich  auch  in  der  Heimath  bald 
unter  den  Lenkern  des  Gemeinwesens  bemerklich.  Während 
der  Persemoth  waren    die    Parteiungen   verschwunden ,    indem 

Studien  S.  39 — 45  evident  dargelegt,  dass  die  Zurückführung  der  Gebeine 
in  das  gleiche  Jahr  wie  die  Eroberung  der  Insel  falle,  und  der  Grund  der 
entgegengesetzten  Angaben  in  einer  Verwechslung  der  Archonten  Phädon 
und  Apsephion  zu  finden  sei.  [Grote  hist.  of  Gr.  IV  p.  5S  meint ,  das 
Orakel  sei  schon  47G  gegeben  wurden ,  die  Insel  erst  470  erobert  und  die 
Gebeine  469  zurückgebracht  —  sehr  unwahrscheinlich.^ 

')  Bekanntlich  hat  Ludwig  Ross  diese  Meinung  aufgestellt  zuerst  in 
der  1838  in  Athen  erschienenen  Schrift  t6  Stj^sTov  -/.at  6  vaö;  toö  "Ap£oj;, 
welche  ich  nur  aus  Anzeigen  kenne.  Damit  vergl.  desselben  Gelehrten 
Hellenika  zweites  Heft,  Halle  1846  S.  80  Anm.  11.  Gegen  ihn  unter  An- 
dern E.  Curtius  in  Gerhards  archäol.  Zeitung  1.  Band  S.  97  ff.  und  der 
von  diesem  angeführte  Ulrichs  in  den    Annali  dell'  Instituto    1842  p.  74  ff. 

2)  Aeschin.  in  Ctesiph.  §.  183.  Plutarch  Cim.  7.  8.  Kraft,  in  der 
Realencyclopädie  Artikel  Kimon ,  nennt  diese  Inschriften  mit  Unrecht 
prahlend. 


KiMOX.  19 

ein  gemeinsames  Ziel  Alle  vereinigte.  Aristeides  selbst,  ob- 
gleich kein  Freund  der  extrem-demokratischen  Richtung,  hatte 
nach  der  Schlacht  bei  Plataia  die  Ungleichheit,  welche  noch 
ZA\4schen  der  letzten  Censusklasse  der  Theten  und  den  drei 
obern  herrschte,  gehoben,  er  hatte  das  Archontat  allen  ehren- 
fähigen Athenern  eröffnet ,  und  somit  die  demokratische  Ent- 
wicklung, welche  die  Solonische  Verfassung  durch  Kleisthenes 
erhalten  hatte,  zum  Abschlüsse  gebracht.  Keine  Hemmungen 
standen  mehr  der  freisten  Entfaltung  der  Kräfte  aller  Bürger 
entgegen ,  aber  es  bestanden  noch  die  wohlthätigen  Einrich- 
tungen, welche  neben  die  Beweglichkeit  der  ^  olksmassen  weise 
Besonnenheit  und  Mässigmig  brachten .  namentlich  der  Rath 
auf  dem  Areopage.  In  den  nächstfolgenden  Jahren  scheint 
sich  hinsichtlich  der  iuneni  Staatsentwickhnig  noch  keine  be- 
deutende Verschiedenheit  gezeigt,  sondern  ziemliche  Eintracht 
geherrscht  zu  haben,  was  auch  um  so  begreiflicher  ist,  da  die 
Thätigkeit  sich  mehren theils  nach  aussen  richtete.  In  der 
äussern  Politik  traten  sich  aber  bald  verschiedene  Richtungen 
entgegen,  was  natürlich  auf  die  innern  Verhältnisse  auch 
Rückwirkungen  haben  musste.  Zwar  ging  das  Bestreben  aller 
drei  grossen  Staatsmänner  jener  Zeit  darauf  aus,  Athen  mäch- 
tig zu  machen,  allein  in  verschiedener  Weise.  Themistokles 
wollte  es  auf  jede  Art  zur  ersten  Macht  in  Griechenland  er- 
heben ,  gleichviel  ob  er  es  mit  den  übrigen  Griechen  verfein- 
dete oder  nicht ;  Spartas  Groll ,  der  Bundesgenossen  Unter- 
drückung galten  ihm  nichts.  Wie  rücksichtslos  er  in  der 
Wahl  der  Mittel  war,  beweist  jene  Erzählung  von  seinem  Plan, 
die  Flotte  der  übrigen  Griechen  in  Brand  zu  stecken,  die  ich 
nicht    für   eine   reine    Erfindung   halten    kann '  .     Er    war    ein 


1)  Dafür  erklärt  sie  Wachsmuth  Hell.  Alterth.  I,  2,  71.  1.  Ausg.  und 
Niebuhr  in  seinen  Vorträgen  über  alte  Geschichte  I  S.  425-427,  indem 
er  meint ,  sie  sei  eine  Sophisteuerfindung ,  welche  aus  der  ähnlichen  Er- 
zählung über  die  Befestigung  des  Peiraieus  geschmiedet  worden  sei.  Allein 
seine  Gründe  gehen  blos^  gegen  die  Darstellung  bei  Cicero  de  olfic.  III, 
11,  49,  wonach  Themistokles  die  lakedaimonische  Flotte  in  Gytheion  habe 
verbrennen  wollen.  Da  lässt  sich  allerdings  sagen:  »Was  in  aller  Welt 
hätte  es  den  Athenern  helfen  sollen  das  elende  Arsenal  der  Spartaner  in 
Gythium  anzuzünden ,  wo  sechszehn  Galeeren  lagen .  ihnen ,  die  an  drei- 
hundert hatten?"  Allein  Plutarch  Arist.  22  und  Themist.  20  spricht  von 
der  vereinigten  Flotte  der  Hellenen ,    unmittelbar   nach  dem  Rückzuge  des 

2* 


20  KiMON. 

Mann ,  wie  sie  nöthig  sind ,  nm  in  ausserordentlichen  Zeiten 
der  Noth  und  Bedrängniss  einen  Staat  zu  eiTetten;  für  ruhi- 
gere Verhältnisse  war  er  zu  rücksichtslos  und  gewaltthätig. 
Aristeides  und  Kimon  dagegen ,  eben  so  eifrig  für  Athens 
Grösse ,  wollten  diese  verbinden  mit  einem  freundschaftlichen 
Verhältnisse  zu  den  übrigen  griechischen  Staaten  und  billiger 
Uehandlung  der  Bundesgenossen.  Diese  Verschiedenheit  musste 
sie  bald  einander  gegenüber  stellen.  Der  ältere  Aristeides 
zwar  scheint  bald  etwas  zurückgetreten  zu  sein ,  nicht  weil  er 
weniger  geehrt  war  '  ;  denn  wir  finden  ihn  auch  noch  nachher 
in  hohem  Ansehen  in  Athen .  sondern  wohl  darum ,  weil  ihm 
die  heftigen  Parteizwiste  nicht  mehr  zusagen  mochten,  Kimon 
aber  tritt  nun  dem  Themistokles  entschieden  entgegen,  und  in 
ihm  erscheint  die  gemein -hellenische  Politik  gegenüber  der 
eiaiseitig-athenischen  des  Themistokles  vertreten.     Bezeichnend 


Xerxes  und  zwar  an  der  letztern  Stelle  mit  der  genauem  Bestimmung,  dass 
sie  damals  im  Hafen  von  Pagasai  gelegen  habe.  Die  Gründe  für  Ver- 
werfung der  Erzählung  erscheinen  mir  daher  nicht  genügend.  Und  lässt 
sich  nicht  das  Verfahren  der  Engländer  gegen  Kopenhagen  und  die  dänische 
Flotte  damit  einigermassen  vergleichen?  Der  Gründer  der  athenischen  See- 
macht hatte ,  wie  die  erste  Seemacht  unserer  Zeit ,  nur  den  Vortheil  des 
eigenen  Staates  im  Auge  und  verfolgte  den  mit  dem  consequentesten  Egois- 
mus. ^Grote  III  p.  533  A.  2  meint  auch,  die  Erzählung  sei  eine  Erfindung 
aus  der  platonischen  Zeit  und  die  griechische  Flotte  sei  nie  in  Pagasai 
gewesen.     Aber  warum  wird  dann  gerade  dieser  Ort  genannt?] 

')  Büttner  in  der  angeführten  Schrift,  S.  28  sagt:  »dass  Aristides 
durch  ihn  'Kimon  verdrängt  war ,  davon  liefert  nicht  bloss  die  ohne  ihn 
geschehene  Verbannung  des  Themistokles  den  Beweis ,  sondern  es  kann 
derselbe  zu  irgend  einem  erheblichen  Einfluss  auf  die  öffentlichen  Ange- 
legenheiten nach  dieser  Zeit  nicht  wieder  gelangt  sein,  weil  sonst  so  wider- 
sprechende Nachrichten  über  seine  weitern  Schicksale,  wie  die  von  Plutarch 
(Arist.  26)  mitgetheilten,  nicht  hätten  entstehen  können.«  Lässt  sich  denn 
aber  nicht  mit  mehr  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  Aristeides,  der  zur  Zeit 
der  Schlacht  am  EurjTaedon  wenigstens  schon  über  60  Jahre  alt  war  (vgl. 
Sintenis  zu  Plut.  Themist.  S.  2(J0.  Krüger  bist.  phil.  Studien  S.  32. 
Wagner  de  Themistocle  exule  Ztschr.  f.  A.  W.  1847  S.  19^.  199;  und 
liereits  seit  dem  Jahre  .510  als  Freund  des  Kleisthenes  in  politischer  Thätig- 
keit,  habe  sich  im  höhern  Alter  freiwillig  zurückgezogen?  Da  immer  nur 
von  seiner  Freundschaft  mit  Kimon  gesprochen  wird,  nirgend  von  Span- 
nung oder  Streit,  hat  das  gewiss  viel  für  sich.  [Die  DidaskaKe  zu  Aesch. 
VII  c.  Theb.,  welche  das  Stück  in  das  J.  467  setzt,  ist  jetzt  ein  Beleg,  dass 
damals  Aristeides  noch  lebte.] 


KiMON.  21 

ist  in  dieser  Hinsicht,  dass  Kimon  mit  drei  der  bedeutendsten 
Staaten  in  Proxenie  stand  und  drei  Söhne  nach  diesen  Staaten 
benannte .  Lakedaimonios ,  Thessalos ,  Eleios  '  .  Sofeni  nun 
unter  den  übrigen  Staaten  Griechenlands  Sparta  immer  der 
mächtigste  blieb ,  die  hellenische  Politik  sich  also  hauptsäch- 
lich im  Vcrhältniss  zu  Sparta  darstellt,  vertritt  Themistokles 
die  Sparta  feindliche  Partei.  Kimon  wird  ein  Lakonenfreund. 
Obgleich  nämlich  unmittelbar  nach  dem  Perserkrieg  Themi- 
stokles von  den  Spartiatcn  geehrt  worden  Avar.  wie  niemals 
ein  Fremdling,  so  lud  er  doch  bald  darauf  durch  die  schlaue 
Weise,  wie  er  die  Befestigung  Athens  gegen  den  Willen 
Spartas  durchsetzte,  dessen  mrversöhnlichcn  Groll  auf  sich, 
während  das  Erringen  der  Hegemonie  durch  Aristeides  und 
Kimon  diesen  durchaus  keinen  persönlichen  Hass  von  Seite 
Spartas  zuzog;  offenbar  ein  l>eweis.  dass  das  Aufgeben  der- 
selben sie  nicht  so  sehr  schmerzte.  Da  nun  aber  die  Bundes- 
genossenschaft zwischen  den  beiden  Städten  noch  nicht  aufge- 
löst war  und  im  Ganzen  noch  freundschaftliche  Beziehungen 
zwischen  ihnen  bestanden,  so  hat  Spartas  A'orUebc  und  llück- 
sicht  für  Kimon  diesen  damals  noch  selbst  in  den  Augen  der 
eigenen  Mitbürger  gehoben  2  .  Dieser  Gegensatz  in  der  äussern 
Politik  musste  sich  nun  freilich  auch  iu  der  inneni  in  gewis- 
ser Weise  geltend  machen,  und  da  wird  uns  die  Stellung  des 
Themistokles  als  die  demokratische ,  die  des  Kimon  als  die 
aristokratische  bezeichnet  3.  Das  darf  man  nicht  so  verstehen, 
als  ob  der  Eine  eine  bestimmte  demokratischere  Gestaltung 
der  Verfassung  erstrebt  hätte,  der  Andere  aristokratische  Ein- 
richtimgen  hätte  neu  einführen  oder  zurückführen -wollen,  son- 
dern es  bezeichnet  nur  den  ganzen  Geist  ihrer  Verwaltung ; 
Themistokles,  vim  Athen  schnell  zum  Höhenpunkte  der  Macht 
zu  heben,  förderte  eine  unbeschränkte,  rastlose  Thätigkeit  der 
Massen,  vorzugsweise  des  Schifffahrt  und  Handel  treibenden 
Theils    der   Bevölkeiimg .    wodurch   natürlich    der   nihige    her- 


1)  Plutarch  Cimon.  16.  Schol.  Aristid.  III,  515  Dind. 

2)  Plut.  Cim.   16. 

3)  Ueber  des  Themistokles  demokratische  Tendenzen  und  den  Gegen- 
satz zu  Aristeides  spricht  Büttner  S.  27  gut.  Die  Art,  wie  er  aler  den 
Kimon  dem  Aristeides  entgegensetzt ,  hätte  der  Beweise  bedurft ,  welche 
fehlen. 


22  KmoN. 

kömmliche  Gang  \'ielfach  gestört,  die  bisherige  Weise  des 
Lebens  mannichfach  erschüttert  wurden,  Athen  bei  den  übri- 
gen Staaten  durch  seine  Neuerungskist  (vscüTopiajxo;)  Unruhe 
und  Argwohn  erregen  musste.  Kimon,  wie  bereits  Aristeides, 
strebte  dagegen,  die  bisherigen  Lebensverhältnisse  und  Ge- 
wohnheiten ,  Sitten  und  Gesetze  möglichst  zu  erhalten  und 
durch  ruhige  Entwicklung  auch  den  übrigen  Staaten  die  Ge- 
währ gegen  gewaltthätige  Uebergiiffe  zu  geben.  Es  stellt  sich 
schon  jetzt  die  durch  die  ganze  Geschichte  Athens  gehende 
Thatsache  heraus ,  dass  die  demokratische  Partei .  die  im  In- 
nern schrankenlose  Entwicklung  aller  Kräfte,  unbedingte  Frei- 
heit des  Lidividuums  wollte,  nach  aussen  jede  Rücksicht 
gegen  die  Stammesbrüder  ausser  Augen  setzte ,  und  die  l^un- 
desgenossen  unter  strenge  Herrschaft  zu  bringen  trachtete,  die 
aristokratische  dagegen,  die  im  Innern  einen  nihigem  Gang 
wollte,  ein  lebendigeres  Gefühl  für  die  Gemeinschaft  mit  den 
andern  hellenischen  Staaten  hatte  und  darum  eine  schonendere, 
weniger  egoistische  Politik  befolgte  ^  .  Noch  war  aber  damals 
diese  sogenannte  aristokratische  Richtung  keineswegs  dem 
athenischen  Volksgeiste  fremd  oder  gar  entgegengesetzt  2) ,  son- 
dern entsprach  dem  grössten  Theil  der  Bevölkerung.  Das 
zeigte  der  Erfolg.  Noch  bestand  das  athenische  A'olk  zum 
grossen  Theil  aus  jenen  derben,  kräftigen,  dem  spätem  beweg- 
lichen, zungenfertigen  Geschlechte  wohl  auch  plump  und  alt- 
fränkisch erscheinenden  Marathonshelden,  welche  zu  den  pelo- 
ponnesisch-dorischen  Staaten   noch   keineswegs  den  Gegensatz 


';  Dies  läsSt  sich  als  Thatsache  von  den  Perserkriegen  bis  zum  Sturze 
der  athenischen  Hegemonie  nachweisen.  Die  demokratischen  Volksführer 
sind  immer  die  härtesten  gegen  die  Unterthanen ,  während  die  gemässigte 
aristokratische  Opposition  sich  ihrer  annimmt.  Am  schärfsten  tritt  das  bei 
Kleon  hervor,  namentlich  gegenüber  den  Mytilenaiern.     Thucyd.  III,  37  ff. 

2)  Büttner  freilich  sagt  S.  28 .-  «Die  Art  und  Weise,  wie  Kimon  ferner- 
hin den  Staat  leitete ,  kann  nicht  eine  wahrhafte  Volksführung  genannt 
werden.  Vielmehr  suchte  er  als  Haupt  und  in  dem  Interesse  einer  Partei, 
welche  ausserhalb  des  lebendigen  Volksgeistes  stand,  nämlich  der  aristo- 
kratischen, die  innere  und  äussere  Politik  Athens  zu  lenken.«  Am  Ende 
fällt  ihm  freilich  diese  Partei  in  nichts  zusammen  und  Kimon  bleibt  nur 
ein  einzelner  Ehrgeiziger.  A^'arum  ehrt  ihn  nun  aber  das  athenische  Volk, 
ihn  den  ganz  vereinzelten  und  ihm  entfremdeten  Aristokraten  so  viele  Jahre 
hindurch? 


KiMOX.  23 

hiltleten,  wie  er  später  eintrat,  und  in  denen  alte  Sitte  und 
alter  Glaube  und  das  gemein-hellenische  JieAvusstsem  lebhaft 
vorhanden  waren.  Bei  ihnen  fand  Kimons  Persönlichkeit 
Anklang,  Avährend  der  rücksichtslose  Ihemistokles  in  seiner 
Geltung  sank.  Neben  der  politischen  Kichtung  schadeten  die- 
sem letztem  vorzugsweise  auch  einige  unläugbare  »Schwächen, 
welche  sich  in  dem  Charakter  dieses  ausserordentlichen  Mannes 
finden.  Denn  wiewohl  man  sehr  Unrecht  thun  würde,  ihm 
Bestechliclikeit  in  dem  Sinne  beizulegen,  dass  er  sich  für  Geld 
je  zu  einer  Handlung  gegen  seine  Ueberzeugung  hätte  bewegen 
lassen,  so  war  doch  seine  Habsucht  und  seine  oft  zum  Geiz 
gesteigerte  Liebe  zum  Geld  eine  unbestrittene  Thatsache '),  die 
um  so  greller  hervortrat,  je  fleckenloser  in  allgemein  aner- 
kannter Uneigennützigkeit  Aristeides  dastand .  je  freigebiger 
und  glänzender  Kimon  von  seinen  auf  erlaubtem  Wege  ge- 
wonnenen Keichthümern  Gebrauch  machte.  Nicht  Wenige 
beleidigte  aber  auch  sein  grell  hervortretendes  Selbstgefühl. 
Kein  Wiindcr  also ,  dass  die  beiden  Männer  in  öffentlichen 
Conflikt  kamen,    den  das   gesetzliche    Mittel    des  Ostrakismos, 


1)  Für  die  Habgier  des  Themistokles  Beweise  anzuführen ,  ist  wohl 
überflüssig,  Herodot,  Plutarch'und  andere  Schriftsteller  liefern  sie  in  Menge. 
Unterschleif  öffentlicher  Gelder  wird  ihm  vorgeworfen  bei  Plut.  Aristid. 
c.  4.  Das  nach  seiner  Flucht  confiscirte  Vermögen  allein  betrug  nach 
Theopomp  1 00 ,  nach  Theophrast  80  Talente.  Einen  grossen  Theil  aber 
rettete  er  nach  Asien.  Beim  Beginn  seiner  politischen  Laufbahn  soll  er 
nur  drei  Talente  besessen  haben.  Plut.  Themist.  25.  Diese  auf  rechte  und 
unrechte  Art  gewonnenen  Schätze  gebrauchte  aber  Themistokles  nicht  in 
grossartiger  freigebiger  Art,  sondern  zeigte  sich  trotz  seines  Ehrgeizes  bei 
Gelegenheiten  knauserig  Plut.  Themist.  5,  21.  Auch  Kimon  hatte  sich 
durch  Feldzüge  bereichert,  doch  wird  ihm  nirgend  Habgier  oder  Bestechung 
vorgeworfen,  vielmehr  umgekehrt  gerühmt,  dass  er  sich  nicht  ungerechte 
Schätze  erworben  jPlut.  Cim.  lOj,  und  welch  liberalen  Gebrauch  machte 
er  davon!  Uebrigens  stimme  ich  Niebuhr  Vortr.  über  alte  Gesch.  I,  S.  432 
bei,  wenn  er  bemerkt,  man  dürfe  sich  ihn  nicht  als  einen  streng  Uneigen- 
nützigen, wie  Curius  und  Fabricius,  denken.  AVas  von  der  Liederlichkeit 
des  Themistokles  gemeldet  wird  z.  B.  Athen.  XH,  p.  533  d.  und  bei 
Plutarch  Themist.  -3  gehört  wohl  Alles  in  seine  erste  Jugend  und  hatte 
keinen  Einfluss  auf  die  spätere  politische  Stellung;  denn  Plutarch  reg.  et 
imp.  apophth.  p.  184  f.  S.  221  Dübner  und  praec.  reipubl.  ger.  800b.  S.  977 
Dübner  bemerkt  ausdrücklich ,  dass  von  der  Zeit  an ,  wo  er  sich  dem 
Staatsleben  zuwandte ,  er  den  frühern  Ausschweifungen  gänzlich  abge- 
sagt habe. 


24  KiMON. 

das  iii  spätem  Zeiten  ganz  verkannt  worden  ist,  entscheiden 
musste.  Die  Politik  der  beiden  Männer  konnte  nicht  mehr 
neben  einander  gehen  und  so  erlag  Themistokles  den  Angriffen 
des  Kimon  und  anderer  Männer  der  Partei,  er  wurde  exostra- 
kisirt  und  nahm  seinen  Aufenthalt  in  Argos  ^  .  Wenn  nun 
auch  an  Aristeides  geinihmt  wird,  dass  er  an  diesem  Kampfe 
der  Parteien  keinen  Antheil  nahm,  so  ist  doch  dem  Kimon 
durchaus  kein  A  orwurf  zu  machen,  gerade  so  wenig  als  später 
dem  Perikles  zu  verargen  war.  dass  er  den  Kimon  und  nach 
ihm  den  Thukydides  entfernte.  Er  befolgte  ein  durchaus  ge- 
setzmässiges  ^"erfahren,  das  dem  Gestürzten  keine  Schande 
oder  Unehre  brachte.  Ja,  ich  glaube  behaupten  zu  dürfen, 
dass  für  einen  Staatsmann  ersten  Ranges  in  einer  auf  einen 
kleinen  Raum  beschränkten  Republik  es  viel  weniger  demüthi- 
gend  sein  konnte ,  ausser  Landes  leben  zu  müssen ,  als  zu 
Hause  ohnmächtig  und  gering  geschätzt  dem  Walten  seiner 
siegreichen    Gegner   zuzusehen.     Dass    aber  Kimon   zur  En'ei- 


')  Die  Zeit  vor  Themistokles  Ostrakismos  wird  nicht  genau  berichtet, 
kann  indess  mit  ziemlicher  Sicherheit  gegen  die  Mitte  der  TO.  Olympiade, 
oder  Ol.  76,  2.  471  gesetzt  werden.  Vgl.  Krüger  hist.  phil.  Studien  S.  49 
und  Gustav  Wagner  de  Themistocle  exule  Ztschr.  f.  A.  W.  1S47  Nr.  14. 
15.  16.  25.  26.  p.  Uüfi.  193  ff.  Ueber  des  Kimon  Stellung  zu  Themistokles 
sagt  treffend  Niebuhr  a.  a.  O.  S.  433 :  »Nun  war  Kimon  gegen  Themi- 
stokles feindselig,  eine  Feindseligkeit  zwischen  solchen  Männern  ist  auch 
ganz  natürlich.«  Ist  aber  einmal  die  Feindseligkeit  als  etwas  Natür- 
liches zugegeben,  so  ist  auch  der  Ostrakismos  als  nothwendige  Folge  davon 
dem  Kimon  nicht  zum  Vorwurfe  zu  machen.  Ueber  seine  Betheiligung 
bei  diesem  besonders  Plutarch  Arist.  25 :  yjyr^^dixftoz  -(art  «'j-tü  -apa  räiav 
T-?jv  TToXiTiiav  i'/ßpw  y-al  oi  sv.eTvov  i^oaxpaTita&ei;,  £"£1  ttjv  a'JXYjv  Xaj3TjV  r.n.rjizyt't 
b  ävTjp  £v  ciitE«  •^e^öit.e^oc,  lipo;  tTjV  rröXtv  o'jx  ejjivrjOixaxTjaev  dXX  AX"A(i.ai(uvo; 
:tal  KifjLOJVo;  xäX  ttoXXöjv  oXXwv  eXa'Jvovxtöv  -/al  y.aT7]Yopo6vT(uv  [j.övo(;  ApiaxeioYj; 
oüT  £7rpa|e  xi  oüx'  eiTie  cpaüXov,  wo  statt  Alkmaion  Meier,  in  der  hall.  En- 
cyclopädie  im  Artikel  Ostrakismos,  an  Leobotes  den  Sohn  des  Alkmaion 
denkt,  welcher  später  die  Klage  auf  Verrath  gegen  Themistokles  einleitete. 
Plut.  Them  23.  Indess  lässt  sich  doch  wohl  denken,  dass  der  Sohn 
Leobotes  die  vom  Vater  bereits  gegen  Themistokles  geübte  Feindschaft 
fortgesetzt,  wie  denn  Plutarch  auch  in  den  praecept.  ger.  reipubl.  p.  S05. 
c.  S.  983  Dübner  den  Alkmaion  nochmals  nennt.  [Grote  IV  p.  36  A.  2  nimmt 
mit  Beziehung  auf  Diodor  XI,  54  an,  Themistokles  sei  vor  dem  Ostrakis- 
mus  durch  Leobotes  angeklagt,  aber  freigesprochen  worden ;  nachher  habe 
keine  förmliche  Klage  stattgefunden.  Das  scheint  aber  sehr  unwahr- 
scheinlich.] 


KiMox.  25 

chiing  seines  Zieles  irgendwie  unedle  Mittel  in  Anwendung 
gebracht  hätte,  berichtet  Niemand.  Die  Exostrakisirung  des 
Theraistokles  also  dürfen  wir  billiger  Weise  nicht  tadeln. 
Weniger  klar  ist  Kimons  benehmen  in  dem  bald  darauf  er- 
folgenden Prozesse  des  Themistokles.  Nachdem  nämlich  Pau- 
sanias  in  Sparta,  des  Verrathes  überführt,  seine  Schuld  mit 
dem  Tode  gebüsst  hatte,  veranlassten  die  Spartiaten  in  Athen 
eine  Anklage  gegen  Themistokles  als  Theilnehmer  an  jenem 
verbrecherischen  Unternehmen.  Jiei  dieser  Anklage  scheint 
Kimon  nicht  unbetheihgt  gewesen  zu  sein,  da  sie  von  den 
Freunden  Spartas  und  speciell  von  Leobotes ,  dem  Sohne 
Alkmaions,  der  zu  Kimons  Partei  gehörte,  ausging.  Indessen 
wird  Kimons  Name  nicht  genannt  vmd  es  wäre  möglich,  dass 
er  Avährend  des  Processes  als  Feldherr  von  Athen  abwesend 
gewesen  Aväre,  auch  lässt  sich  nicht  läugnen,  dass  gegen  The- 
mistokles Indicien  vorlagen ,  die  eine  Untersuchung  entschul- 
digten. Denn  wiewohl  er  unschuldig  war,  so  hatte  er  doch 
von  Pausanias  Unternehmen  gewusst,  und  durch  seine  frühe- 
ren Unterhandlungen  mit  Xerxes  dem  Argwohn  Stoff  gegeben, 
den  seine  Flucht  nach  Persien  nicht  tilgen  konnte.  So  kön- 
nen wir  bei  unbefangener  Betrachtung  der  Sachlage  seine  Ver- 
folginig  uns  leicht  erklären,  ohne  bei  den  Gegnern  unlautere 
Motive  vorauszusetzen  *  .  Dagegen  erscheint  unedel  und  Ki- 
mons unwürdig  sein  Verfahren  gegen  Epikrates,  den  Freund 
des  Themistokles,  wie  es  erzählt  Avird.  Dieser  hatte  heimlich 
des  Themistokles  Frau  und  Kinder  aus  Athen  dem  Flüchtigen 
zugeführt.  Kimon  soll  ihn  darum  angeklagt  und  seine  Ver- 
urtheilung  zum  Tode  bcAvirkt  haben.  Wenn  diese  Nachricht 
in  dieser  Weise  Avahr  ist,  so  AA'irft  sie  einen  unaustilgbaren 
Flecken  auf  seinen  Namen ,  den  man  durch  Parteiverblen- 
dung erklären,  aber  nie  rechtfertigen  kann.  Verschweigen 
wir  indess  nicht,  dass  die  ganze  Geschichte  nur  auf  der 
Autorität  des  dem  Kimon  besonders  feindselig  gesinnten  Ste- 
simbrotos  von  Thasos  beruht,   der  in  der  Erzählung  von  The- 


')  Es  ist  nicht  meine  Absicht,  das  offenbar  leidenschaftliche  Verfahi-en 
gegen  Themistokles  zu  rechtfertigen ,  wohl  aber  es  zu  erklären  und  dazu 
müssen  wir  uns  vergegenwärtigen,  dass  seine  Gegner  nicht  den  unbefangenen 
historischen  Standpunkt  einnahmen  und  einnehmen  konnten,  der  uns  jetzt 
die  Sache  in  ganz  anderm  Lichte  betrachten  lässt. 


26  KiMON. 

mistokles  letzten  Schicksalen  oiFenbare  Unwahrheiten  berichtet. 
Es  ist,  wenn  anders  der  Nachricht  ein  wahres  Faktum  zu 
Grunde  liegt,  höchst  wahrscheinlich,  dass  Epikrates  der  Theil- 
nahme  an  veiTätherischen  Umtrieben  angeklagt  wurde,  die 
nach  Themistokles  Flucht  nun  erwiesen  schienen ,  und  für 
diese  Theilnahme  mochte  das  Wegschaffen  der  Familie  des 
Themistokles,  vielleicht  auch  von  Geldern,  die  dem  Staate 
verfallen  waren,    als  Beweis  gelten  2  . 

Durch  die  Entfernung  des  Themistokles  etwa  474  war 
nun  Kimon.  da  auch  der  alternde  Aristeides  zurücktrat,  zur 
höchsten  Macht,  zur  Leitung  von  Athens  Angelegenheiten  em- 
porgestiegen, ohne  dass  in  den  ersten  Jahren  eine  bedeutende 
Opposition  bemerkt  wird,  zum  klaren  Beweise,  dass  in  dieser 
Zeit  er  der  wahre  Vertreter  seines  Volkes  war.  Jetzt  ent- 
wickelte er  in  vollem  Masse  seine  äussere  Politik,  freund- 
schaftliches Vernehmen  zu  Sparta ,  Kräftigling  der  attischen 
Bundesgenossenschaft  mit  möglichster  Schonung  der  l^undes- 
staaten,  und  Krieg  gegen  Persien.  Den  Einfluss  Athens  auf 
die  Bundesstaaten  vermehrte  er  hauptsächlich  dadurch,  dass, 
wähi'end  andere  FeldheiTcn  streng  auf  Erfüllung  der  Bundes- 
leistungen gehalten  hatten,  er  ihnen  gestattete  sich  davon  los- 
zukaufen. Vielen  kiemern  Staaten  nämlich  wurde  die  nach 
Aristeides  Anordnung  übernommene  Kriegspflicht  jetzt,  da  sie 
vor  persischem  Drucke  sich  sicher  glaubten,  lästig,  aus  Bequem- 
lichkeit stellten  sie  ihre  Contingente  zur  l^undesflotte  nur  lässig. 
Kimon  erlaubte  ihnen  ,   statt  der  Schiffe  einen  entsprechenden 


2)  Plut.  Themistocl.  24.  Die  ganze  Erzählung  von  der  Werbung  des 
Themistokles  um  eine  Tochter  des  syrakusischen  Fürsten  Hieron  bezeichnet 
Plutarch  mit  Recht  als  einen  ungereimten  "Widerspruch  gegen  des  Stesim- 
brotos  eigene  Angabe,  dass  Epikrates  ihm  seine  Frau  nach  Epirus  gebracht. 
Vgl.  Sintenis  zu  der  angeführten  Stelle.  l)ie  Lügenhaftigkeit  des  Stesim- 
brotos  ist  hinlänglich  anerkannt.  Man  vgl.  Lucas  S  9  Sintenis  zu  Plut. 
Them.  S.  14 — 16.  Ekker  prooem.  Plut.  Cim.  p.  16  squ.  und  die  von 
diesem  angeführten  Schriftsteller.  Gegen  Kimon  war  er  vielleicht  besonders 
darum  übel  gestimmt,  weil  dieser  seine  Vaterstadt  unterworfen  hatte.  Dass 
er  ein  Zeitgenosse  war,  erhöht  seine  Glaubwürdigkeit  nicht,  vielmehr  stand 
er  wohl  eben  desshalb  um  so  weniger  auf  einem  unbefangenen  historischen 
Boden  und  mag  ungefähr  den  gleichen  Werth  als  historische  Quelle  be- 
sitzen ,  wie  manche  Klatschblätter  unserer  Tagespresse ,  aus  denen  auch 
bisweilen  sogenannte  Geschichte  fabrizirt  wird. 


KiMON.  27 

Geldbeitrag  zu  geben ') .  Dadurch  Av\irde  Athen  in  den  Stand 
gesetzt ,  selber  mehr  Schiffe  zu  bauen  und  die  Hundesflotte 
mehr  und  mehr  zu  einer  athenischen  umzuwandeln ,  die  Bun- 
desgenossen selbst  kamen  unvennerkt  in  das  Verhältniss  tribut- 
pflichtiger Unterthanen  2]  und  sahen  sich  zu  spät  der  Mittel 
beraubt,  ihre  Freiheit  gegen  UebergrifFe  Athens  zu  vertheidigen. 
Da  die  Bundesgenossen  selber  es  so  Avollten,  Athen  aber  ohne 
auf  Sicherheit  gegen  Persien  und  seine  ganze  Grösse  zii  ver- 
zichten ,  die  ihm  freiwillig  übertragene  Hegemonie  unmöglich 
aufgeben  konnte ,  so  bleibt  Kimons  Verfahren  unter  den  ge- 
gebenen Umstäiulen  immerhin  das  klügste  mid  schonendste, 
um  so  mehr  als  er  in  seinen  persönlichen  l^ierührungen  überall 
Milde  und  Freundlichkeit  ausübte.  Freilich  war  auch  so  Un- 
zufriedenheit nicht  zu  vermeiden ,  da  die  einzelnen  Staaten 
am  lie])sten  ganz  unabhängig  gewesen  wären  und  jede  Unter- 
ordnung  bei    dem   Streben  nach  Particularismus  den  Griechen 


1)  Plut.  Cim.  11.  Thi;cyd.  I,  99.  Nach  Thiicyd.  I,  '.»0  waren  nach 
Aristeides  Bestimmungen,  die  einen  ursprünglich  zu  Geldbeiträgen,  die 
andern  zu  Schiffen  verpflichtet.  Vgl.  K.  F.  Hermann  Staatsalt.  §.  157  1. 
Sintenis  zu  Plut.  Pericl.  12.  Damit  scheint  mir  auch  Plutai'ch  mit  Cim.  II, 
nicht  im  Widerspruche  zu  sein ,  wenn  er  sagt :  ir^el  o  ol  oufAfiof/oi  tou; 
cpopo'j;  [Ji£v  steXo'jv  avopa?  0£  xcii  vaü?  w?  £T0iy{}r|Oav  oO  -otpetyov ,  und  zwar 
halte  ich  nicht  einmal  für  nöthig  nach  dem  Vorschlage  von  Sintenis  ois 
ixäyj^tjiav  statt  w;  eTd/OTjacv  zu  lesen,  sondern  glaube ,  dass  lü;  STayÜTjaav 
heisst ,  wie  sie  diese  zu  stellen  hatten ,  und  sich  natürlich  auf  die  bezieht, 
denen  diese  Leistung  auferlegt  war.  Drückt  sich  doch  Thukydides  selbst 
I,  99  ganz  ähnlich  aus :  atxiat  o  aXXat  xe  ^oav  xöiv  aTtooxaaewv  xal  {i.lY'<3xai 
al  Twv  cpopojv  xrd  veöiv  Ixoeiai  xal  Xenrooxpaxtov  ei  tw  ifi-^e-o.  Aber  offenbar 
unrichtig  ist,  was  derselbe  Plutarch  im  Pericl.  12  sagt:  o'jy  'irnov  oü  votüv 
o'jy  6-)axTjV  txkli  ypT,[j.axa  [j.ovo-^  xeXouvxtuv,  denn  Landtruppen  mussten  auch 
die  'j-o-z'/.eli  stellen.  Vgl.  Thucyd.  II,  9:  oi  o'  a/J.ni  rs^ov  v.cti  ypr,[j.axc.. 
Beispiele  von  Landtruppen,  welche  die  Tributpflichtigen  stellen,  auch  bei 
Thukydides  häufig,  unter  andern  IV,  42.  V,  2. 

-)  Anfangs  waren  auch  die  cpopo'j  ÜTToxeXsi; ,  welche  durch  freiwillige 
Uebereinkunft  den  cpopo;  übernommen  hatten,  so  autonom,  als  diejenigen, 
welche  keinen  cpopo;  zahlten,  sondern  Schiffe  stellten.  Allmählich  wurden 
sie  in  Unterthänigkeit  gebracht,  daher  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Kriegs 
die  Ausdrücke :  'jttoxeXei;  und  'jtttjV.ooi  fast  synonym  waren.  Dass  man 
aber  auch  damals  den  Unterschied  noch  Avohl  kannte,  geht  deutlich  hervor 
aus  der  Bestimmung  über  die  thrakischen  Städte  im  Frieden  des  Nikias 
bei  Thucyd.  V,  18:  xd;  oe  ttoXei;  tpepo'jGa;  xöv  cfopov  xov  iiz  Aptsxstoo'j 
otüxovofxo'ji;  £ivat. 


28  KiMON. 

lästig  schien.  Daher  denn  öfters  Abfall  vom  liuiide,  und  den 
konnte  und  durfte  Athen  nicht  ungestraft  lassen.  So  wurde 
zuerst  Athen  in  Krieg'  mit  Karystos  auf  Euhoia  verwickelt 
und  nicht  lange  nachher  fiel  Naxos  (473?)  ab.  Beide  wurden 
mit  Waffengewalt  bezwungen  und  Naxos ,  die  schönste  der 
Kykladen,  zuerst  unter  allen  Kundesstädten  in  eigentliche  Un- 
terthänigkeit  gebracht.  Wiefern  Kimon  selbst  bei  diesen  Er- 
eignissen betheiligt  Avar,  '«ird  nicht  belichtet.  Dagegen  be- 
nutzte er  nun  die  Macht,  die  Athen  zu  Gebote  stand,  gegen 
die  Perser.  Diese  hatten  sich  von  den  in  Griechenland  erlit- 
tenen Niederlagen  allmählig  wieder  erholt.  Die  Schicksale 
des  Pausanias  und  die  Flucht  des  Themistokles  nach  Asien 
schienen  die  Hellenen  ihrer  besten  Feldhemi  beraubt  zu  haben, 
Persien  hatte  die  Schwächen  der  Gegner  kennen  gelernt ,  so 
gut  als  Pausanias  Avaren  andere  hochstehende  Männer  zu  ge- 
winnen ,  die  Kimdesgenossen  Athens  bereits  nicht  mehr  für 
den  neuen  Zustand  begeistert,  sondern  schwierig  und  zum  Ab- 
fall geneigt.  Alle  diese  Umstände  erklären  uns.  dass  damals 
Persien  noch  einmal  den  Gedanken  fasste ,  den  Krieg  gegen 
Griechenland  zu  unternehmen,  Avenigstens  die  verlorenen  grie- 
chischen Staaten  in  Asien  Avieder  zu  erobern,  die  noch  schAvan- 
kenden  entschieden  zu  behaupten  2  .  Starke  Heeresmassen  zu 
Wasser  und  Lande  sammelten  sich  unter   mehreren  FeldheiTn 


'1  Die  Führung  des  Krieges  gegen  Karystos  schreibt  Lucas  S.  33  auch 
dem  Kimon  zu.  Es  ist  das  möglich,  aber  eine  bestimmte  Nachricht  darüber 
fehlt.  Die  Zeit  lässt  sich  auch  nicht  genau  bestimmen ,  nur  das  geht  aus 
Thukydides  hervor ,  dass  sie  zwischen  die  Einnahme  von  Skyros  und  von 
Naxos  fällt.  Ueber  letztere  Krüger  a.  a.  O.  S.  46  ff.  und  Wagner  de 
Themistocle  exule  a.  a.  O.  [Karystos  scheint  vorher  nicht  attische  Bundes- 
stadt geAvesen  zu  sein;  Avie  die  6[j.oXoYia,  die  es  schloss,  Avar,  Avissen  Avir  nicht.] 

-;  Die  neuen  Unternehmungen  Persiens  in  jener  Zeit  Avürden  sich  am 
leichtesten  erklären,  A\'enn  A\-irklich  Artaxerxes  bereits  seinem  entmuthigten 
Vater  Xerxes  in  der  Regierung  gefolg::  gewesen  wäre,  wie  das  namentlich 
Krüger  histor.  phil.  Studien  S.  52  ff.  mit  Scharfsinn  zu  begründen-  sucht, 
indem  er  den  Regierungsantritt  dcS  Artaxerxes  Ol.  '6^/4  oder  473  setzt. 
Indessen  sprechen  doch  für  die  entgegenstehende  Angabe  des  Kanon,  wo- 
nach Artaxerxes  Ol.  TS,  4  König  wurde,  sehr  gewichtige  Gründe.  Vgl. 
Kleinert :  Ueber  den  Regierungsantritt  des  Artaxerxes  Longimanus  in  den 
Beiträgen  zu  den  theolog.  "Wissenschaften  A^on  den  Professoren  der  Univer- 
sität zu  Dorpat  S.  1 — 232  und  Wagner  de  Themistocle  exule  a.  a.  O. 


KiMON.  29 

an  der  Südküste  Kleinasiens  ') .  Cypern ,  das  nie  vollstiindii>; 
von  den  Persern  geräumt  worden  war,  scheint  wieder  ganz  in 
ihre  Hände  gefallen  zu  sein  '^) ,  und  auf  dem  Thrakischen  Cher- 
sonese,  der  IJrücke  nach  Europa,  fassten  sie  wieder  festen 
Fuss.  Diesmal  Hessen  die  Athener  es  aber  nicht  mehr  darauf 
ankommen,  erst  im  eigenen  Lande  eine  Entscheidungsschlacht 
zu  liefern..  Kimon  kam  einem  Angriife  zuvor,  mit  einer  Flotte 
von  200  3)  trefflichen  Schüfen  segelte  er  (469)  nach  Kleinasien, 
reinigte  die  Küste  von  den  Feinden,  eroberte  mehrere  Städte 
und  ging  der  in  der  Nähe  von  Aspendos  an  der  Mündung  des 
Flusses  Eurymedon  in  Pamphylien  sich  sammelnden  feindlichen 
Macht  entgegen.  Noch  war  diese  nicht  ganz  concentrirt,  doch 
an  Zahl  der  athenischen  Flotte  weit  überlegen,  indem  die  An- 
gaben zwischen  350  und  000  Schiffen  schAvanken.  Der  Feld- 
heiT  Tithraustes  wollte  der  Schlacht  ausweichen ,  bis  er  noch 
80  phönizische  Schiffe,  die  von  Cypern  heransegelten,  an  sich 
gezogen  hätte,  und  zog  sich  daher  xnigeschickter  Weise  in  die 
Mihidung  des  Eurymedon,  wo  ihm  die  überlegene  Zahl  nichts 
nützen  konnte.  Kimon  griff  ihn  an  und  siegte  nach  kurzem 
Kampfe  so  entschieden,  dass  er  gegen  200  Trieren  zerstörte 
oder  eroberte  ^) .  Der  grösste  Theil  der  geschlagenen  Mann- 
schaft warf  sich  ans  Land  und  vereinigte  sich  mit  dem  hier 
atifgestellten  Heere.  Kimon  aber  Hess  trotz  der  Ermüdung 
seiner  Leute    dem    Feinde    keine    Zeit    sich  vom  Schrecken  zu 


')  Die  Namen  derselben  wurden  von  den  verschiedenen  alten  Geschichts- 
schreibern verschieden  angegeben.     Flut.  Cini.    12.  Diud.   XI,  60. 

2)  Engel  Kypros  I.  S.  274  ff.  Die  Fürsten  der  kyprischen  Städte 
waren  höchst  wahrscheinlich  persisch  gesinnt,  aber  auch  das  Volk  war  dem 
hellenischen  Leben  und  den  hellenischen  Interessen  ziemlich  entfremdet, 
wie  wir  dasselbe  auch  bei  manchen  griechischen  Städten  Kleinasiens  fin- 
den, z.  B.  Phaseiis  nach  Plut.  Cim.   12. 

3)  So  Plut.  Cim.  12.  Diod.  XI,  60  dagegen  lässt  ihn  mit  200  Schiffen 
aus  dem  Peiraieus  auslaufen  und  dann  noch  lOti  Trieren  von  den  Bundes- 
genossen an  sich  ziehen. 

■*)  So  Thucyd.  I,  100.  Andere  Schriftsteller  haben  andere  Zahlen, 
Diodor  XI ,  62  lässt  den  Kimon  in  den  verschiedenen  in  dem  Feldzuge 
gelieferten  Schlachten  nicht  weniger  als  340  Trieren  nehmen.  Ohne  Zwei- 
fel aber  betrug  die  Zahl  der  eroberten  nur  100.  So  schon  das  alte  dem 
Simonides  zugeschriebene  Epigramm.  Eben  so  viele  mochten  zerstört 
worden  sein.  Krüger  a.  a.  O.  S.  64  ff.  Freudenberg  S.  9.  10.  Ekker  zu 
Plut.   Cim.   12. 


30  Kmox. 

erholen ;  er  schiffte  seine  Krieger  aus .  griff  die  Perser  auch 
auf  dem  Lande  an ,  und  errang  auch  hier  nach  langem  und 
hartnäckigem  Widerstände  einen  vollständigen  Sieg.  Das  ganze 
persische  Lager  mit  unermesslicher  Beute  fiel  in  die  Hände 
des  Siegers.  Dieser  aber  begnügte  sich  damit  noch  nicht, 
sondern  ging  nun  rasch  der  phönizischen  Flottenabtheilung 
entgegen,  welche,  ohne  etwas  von  dem  Vorgefallenen  zu  wissen, 
bei  dem  Orte  Ilydros  ^  stand.  Auch  sie  wurde  üben-ascht 
und  zerstreut.  Der  Zweck  des  Feldzugs  war  eiTeicht.  eine 
neue  Unternehmung  der  Ferser  vereitelt,  Griechenland  für 
lange  Zeit  von  dieser  Seite  gesichert ,  mit  Beute  beladen  zog 
Kimon  nach  Athen  zurück,  wo  er,  der  gefeiertste  Held,  von 
allen  Seiten  mit  "\V  ohlwollen  und  Bewamdeiimg  empfangen 
wurde.     Der  Schrecken,    der  ganz  Asien  erfüllte,   die  Sicher- 


1)  Plut.  Cim.  13:  -/.rd  xd;  ÖYOOTjxovra  Ooivisaa?  TpiTjpsts  ai  ■:f^i  [J-axO' 
dTreXetcpÖTjaav  'Yopcu  -poaßeß/.-fjV-Evai  -'jxioixe-ir,:;  oid  rayo-j;  e-Äi-jcev.  Statt  des 
unbekannten  Hydros  hat  man  verschiedene  Conjekturen  versucht ,  und 
namentlich  Kurpirj ,  mit  Hinsicht  auf  Polyaen.  I,  34,  1  und  Diod.  XI,  61. 
Indessen  kann  ich  mich  von  der  Richtigkeit  dieser  Vermuthung  nicht  über- 
zeugen. Zwar  kommt  auch  in  dem  Epigramm  bei  Diodor  =v  KÜTtpio  vor, 
allein  für  die  Hauptschlacht,  und  ich  denke  man  darf  nicht  anstehen  dafür 
die  andere  Lesart  £v  -[air^  aufzunehmen,  wie  das  Krüger  S.  65  evident  ge- 
zeigt. "Wäre  aber  nach  der  Schlacht  am  Eurymedon  Kimon  noch  nach 
Cypern  gesegelt ,  so  würde  Thukydides  das  gewiss  ausdrücklich  erzählt 
haben.  Dass  dieser  gar  nichts  von  einem  zweiten  Gefechte  sagt ,  liesse 
nun  allerdings  die  Vermuthung  zu,  dass  ein  solches  überhaupt  nicht  statt- 
gefunden, und  dann  könnte  man  die  Erwähnung  einos  solchen  mit  der 
Lesart  i-i  K'jttow  aus  einer  Verwechslung  mit  der  spätem  Ex]ieditian  Kimons 
nach  Cypern  erklären.  Allein  ich  kann  mir  nicht  erklären,  wie  aus  dem 
bekannten  Kj-pw  hätte  "Yopoj  entstehen  sollen ,  und  glaube  Thukydides 
konnte  bei  seiner  gedrängten  Kürze  die  Sache  ganz  übergehen ,  wenn  die 
verhältnissmässig  nicht  sehr  bedeutende  Ueberraschung  des  phönizischen 
Geschwaders  in  der  Nähe  des  Euiymedon  vorging,  also  so  zu  sagen  zu  der 
ersten  Schlacht  gehörte.  Daher  wird  unter  "Topr);  ein  nicht  sehr  weit  vom 
Eurj-medon  gelegener  Ort  an  der  Küste  zu  verstehen  sein.  Sollte  vielleicht 
lopo;  denselben  Ort  bezeichnen,  der  später  2'jeopa  heisst  zwischen  Kora- 
kesion  und  Hamaxia?  Vgl.  Strabo  XIV  p.  669.  Steph.  Byz.  :  Skooa  zö'uc. 
loaupta;.  Auch  sonst  weichen  die  verschiedenen  Schriftsteller  in  der  Er- 
zählung der  Schlachten  dieses  Feldzugs  so  von  einander  ab,  dass  eine  be- 
friedigende Vereinigung  nicht  möglich.  Ich  habe  mich  daher  auf  den 
Grund  von  Thukydides  Erzählung  so  kurz  als  möglich  gefasst.  AVer  mehr 
wünscht  lese  Lucas  S.  39  ff.  'A.  Schäfer  Philol.  XXIII.  S.  184  schlägt 
vor  'I5jp(o  mit  Verweisung  auf  Meineke  zu  Steph.  Byz.  p.  327.] 


KiMON.  31 

heit,  welche  in  der  nächsten  Zeit  die  griechischen  Staaten  in 
Kleinasien  genossen ,  wurden  Veranlassung .  dass  spätere  Ge- 
schlechter glaubten,  es  sei  damals  ein  für  Fersien  schmählicher 
Friede  abgeschlossen  worden,  der  unter  dem  Namen  des  Ki- 
monischen  in  die  Geschichtsbücher  übergegangen  ist  ^) . 

Nach  der  Heimkehr  vom  Eurymedon  war  dem  FeldheiTn 
noch  eine  ungewöhnliche  Ehre  zu  Theil  geworden.  An  dem 
Dionysosfeste ,  das  damals  gefeiert  wiirde ,  war  nämlich  dem 
längst  berühmten  Aischylos  gegenüber  als  Preisbewerber  der 
jugendliche  Sophokles  aufgetreten  und  die  Theilnahme  der 
Athener  an  diesem  Wettkampfe  so  gross,  dass  der  Vorsitzende 
Archon,  anstatt  die  gewöhnlichen  Kampfrichter  zu  bestimmen, 
den  Kimon  und  seine  Mitfeldherrn  ersuchte,  das  Amt  zu  über- 
nehmen. Sie  sprachen  dem  Sophokles  den  Sieg  zu,  der  hin- 
fort über  60  Jahre  lang  die  athenische  Bühne  mit  Werken 
seines  Geistes  schmückte  2) . 

Bald  darauf  '468)  ^)  vollendete  Kimon  die  Befreiung 
Europas  durch  die  Eroberung  des  Chersoneses,  aus  dem  er  die 


1)  Ueber  den  sogenannten  Kinionischen  Frieden  will  icli  nach  den  be- 
kannten Arbeiten  von  Dalilmann  und  Krüger  mich  jeder  weitern  Bemerkung 
enthalten ,  indem  ich  die  spätere  Erfindung  desselben  für  eine  erwiesene 
Thatsache  ansehe.  Sobald  das  anerkannt  ist,  bleibt  es  von  ziemlich  unter- 
geordneter Bedeutung ,  ob  man  ihn  an  die  Schlacht  von  Eurymedon  wie 
Plutarch  oder  an  den  letzten  Feldzug  des  Kimon  gegen  Cypern  knüpft. 
[Grote  bist,  of  Greece  IV  p.  8.5 — 88  nimmt  den  Frieden  als  historisches 
Factum  an  im  Jahr -149.  Ein  Widerspruch  liegt  aber  offenbar  darin,  wenn 
er  p.  87  ff.  A.  annimmt,  die  Seestädte  seien  fortwährend  in  den  persi- 
schen Steuerregistern  gestanden,  nur  die  Steuern  faktisch  nicht  erhoben 
worden.  Er  meint,  Perikles  sei  der  eigentliche  Urheber  desselben  gewesen, 
und  Athen  habe  sich  verpflichtet,  Cypern,  Kilikien,  Phoenizien,  Aegypten 
unangegriffen  zu  lassen.] 

2;  Es  ist  oben  bemerkt  worden,  S.  17  Anm.  2,  dass  andere  Nach- 
richten diesen  Vorgang  mit  der  Zurückführung  von  Theseus  Gebeinen  in 
Verbindung  bringen.  Ueber  die  Zeit  der  Rückkelir  des  Kimon  vgl.  Krüger 
a.  a.   O.   S.  52. 

3j  Kimon  war  zuerst  nach  Athen  zurückgekehrt,  wie  Plutarch  Cim.  14 
ausdi-ücklich  sagt.  Engel  Kypros  I  S.  270  fasst  sicher  die  Sache  schief 
auf  wenn  er  sagt:  »Es  ist  sehr  auffallend,  dass  wir  den  Kimon  jetzt  (nach 
den  Siegen  am  Eurymedon  und  bei  Kypros,  wie  Engel  meint;  wieder  ab- 
ziehen sehen,  um  die  Perser  aus  dem  Chersones  zu  verjagen  und  Thasos 
zu  erobern.«  Es  ergiebt  sich  aus  einer  genauen  Betrachtung,  dass  der 
Feldzug  Kimons   nicht   sowohl   Eroberungen   bezweckte   als  einem  Angriffe 


32  KiMON. 

durch  Thrakier  verstärkten  Perser  vertrieb,  sei  es,  dass  sie,  was 
kaum  glaublich,  sich  fortwährend  dort  behauptet  hatten,  oder, 
was  das  wahrscheinlichere,  zugleich  mit  den  grossen  neuen 
Rüstungen  dort  wieder  Fuss  gefasst  hatten.  Dieser  für  die 
BeheiTschung  der  Schifffahrt  nach  der  Propontis  und  dem 
schwarzen  Meere  höchst  wichtige  Landstrich  wurde  den  Athe- 
nern jetzt  bleibend  gesichert,  das  ehemalige  Fürstenthum  des 
Miltiades  Avurde  d\n-ch  Kimon  Besitzthum  des  athenischen 
Volks.  Nicht  minder  als  durch  seine  Siege  machte  Kimon 
sich  aber  auch  im  Innern  um  seine  Vaterstadt  verdient,  weckte 
aber  vielleicht  unbewusst  den  demokratischen  Geist  mehr  als 
seine  Absicht  war.  Die  Reichthümer,  die  er  selber  gewonnen, 
Hess  er  seine  Mitbürger  aufs  Freigebigste  mitgeniessen.  Be- 
kannt ist,  AA-ie  er  beim  Ausgehen  immer  Diener  bei  sich  zu 
haben  pflegte  mit  Kleidern  und  Geld,  um  ärmliche  ältere 
Bürger  besser  zu  kleiden ,  andern  Dürftigen  kleine  Unter- 
stützungen darzureichen.  Aon  seinen  Landgütern  liess  er  die 
Umzäunungen  wegreissen ,  damit  Fremde  und  Bürger  nach 
Belieben  von  den  Früchten  sich  nehmen  könnten,  und  in 
seinem  Hause  war  täglich  offene  Tafel  für  alle  seine  Gau- 
genossen 1) ,  denen  er  so  die  Möglichkeit  gewähren  Avollte,  un- 
besorgt an  den  Staatsgeschäften  Theil  zu  nehmen.  Seine  gross- 
artige Freigebigkeit  und  Gastlichkeit  wurde  sprichwörtlich,  und 


der  Perser  begegnen  sollte.  Nachdem  dieser  im  Süden  Kleinasiens  glück- 
lich zurückgeschlagen  war,  brachte  gar  nicht  auffallender  Weise  der  Sieger 
die  grosse  Beute  in  Athen  in  Sicherheit  und  wandte  sich  dann  gegen  die 
übrigen  noch  gefährdeten  Punkte. 

1)  Plut.  Cim.  10.  Theopomp,  bei  Athenaeus  XII.  p.  533a.  Cornel. 
Nepos  4.  Aristoteles  bei  Plutarch,  gewiss  der  glaubwürdigste  Zeuge,  be- 
schränkt die  offene  Tafel  auf  die  Demoten  des  Kimon,  die  Lakiaden,  was 
auch  in  der  Unmöglichkeit  der  andern  Nachricht,  wonach  alle  Athener 
täglich  Zutritt  gehabt  hätten,  Bestätigung  findet.  Büttner  S.  31,  32  nimmt 
aber  davon  keine  Notiz  und  schiebt  dem  Kimon  »die  eines  Staatsmannes 
unwürdige  List  unter,  dass  er  die  Armen  in  die  Volksversammlung  sogar 
durch  künstliche  Mittel  hineinzog,  um  nachmals  sie  vermittelst  ihrer  selbst 
von  einer  wirksamen  Theilnahme  an  den  Staatsangelegenheiten  gesetzlich 
auszuschliessen«.  Glaubt  Herr  Büttner  wohl,  dass  Kimon  so  blind  gewesen 
sei,  vorauszusetzen,  die  niedrigere  Volksklasse  werde  für  ihren  Ausschluss 
zustimmen?  Es  ist  auffallend,  wie  gut  er  die  thörichten  Anekdoten  über 
Perikles  zu  beseitigen  weiss,  dagegen  bei  Kimon  alle  Schmähungen  oder 
Klatschereien  benutzt  und  zum  Nachtheile  deutet. 


KiMo>-.  33 

treffend  sagte  von  ihm  der  Rhetor  Gorgias,  er  habe  nur  Geld 
erworben  nm  es  zu  gebrauchen,  gebraucht  um  geehrt  zu  wer- 
den. Selbst  die  Komödie  pries  ihn  als  den  gastfreundlichsten 
von  allen  Hellenen  und  als  einen  göttlichen  Mann ') .  Und  in 
nicht  weniger  zweckmässiger  und  grossartiger  ^^"eise  wurde 
die  reiche  ]^)eute,  welche  die  Siege  in  die  Staatskasse  gebracht 
hatten,  auf  seine  Veranlassxing  verwendet,  ziir  Befestigung  mid 
Verschönening  der  Stadt.  Er  Hess  den  Markt  mit  Platanen 
bepflanzen ,  er  schuf  die  Akademie ,  bisher  einen  sonnigen, 
dürren  Ort  zu  dem  schönsten  Gymnasium  mit  reichlich  bcAväs- 
sertem  Liisthaine  und  schattigen  Spaziergängen  um ,  er  Hess 
auf  der  Südseite  der  Stadtburg,  wo  die  Befestigungen  fehlten 
oder  verfallen  waren ,  eine  mächtige  Mauer  aufführen ,  die 
fortan  den  Namen  der  Kimonischen  trug,  und  er  endlich  soll 
den  Grund  zu  jenem  staunenswerthen  Bau  der  langen  Mauern 
gelegt  haben,  welche  Athen  zu  einer  Seestadt  machten.  Den 
Plan  zu  diesem  Werke  hatte  allerdings,  nachdem  seine  Absicht, 
die  ganze  Stadt  an  die  Küste  zu  verlegen ,  gescheitert  v,ar, 
Themistokles  gefasst.  Durch  den  Anfang  der  Ausführung  hat 
aber  Kimon  auch  hier  wieder  bewiesen,  dass  er  aufrichtig  auf 
den  von  seinem  grossen  Gegner  gelegten  Grundlagen  der 
Grösse  von  Athen  fortbaute.  Und  darf  man  sich  wohl  wun- 
dem, wenn  er,  den  wir  meistenstheils  an  der  Spitze  von 
Flotten  sehen,  der  nebst  Themistokles  der  eigentliche  Gründer 
der  athenischen  Seemacht  ist,  auch  bemüht  ist,  die  Stadt  un- 
mittelbar mit  der  See  zu  verbinden  und  so  gegen  jeden  Angriff" 
vom  Lande  zu  sichern  t  Wenn  später  eine  kleine  oligarchische 
Faktion  diesem  Werke  feindlich  ist ,  so  dürfen  wir  daraus 
keinen  Schluss  auf  Kimons  Gesinnung  ziehen,  sondern  müssen 
umgekehrt  das  daraus  abnehmen ,  dass  jene  Partei  ganz  an- 
dere Zwecke  verfolgte  als  er  -j . 

1)  Plut.  Cim.  10.  Das  Epitheton  ftjio;  ävr,p  ist  nach  Meineke's  [Fragm. 
Com.  Graec.  II,  1  S.  161,  Bemerkung  nicht  ohne  Beziehung  auf  den 
Lakonismus  des  Kimon,  da  man  in  Sparta  einen  ausgezeichneten  Mann  so 
zu  nennen  pflegte. 

-,  Plut.  Cim.  13:  '}.i-^t~'j.i  os  v-al  töjv  pLav-pÄv  tsiyöjv  a  cr.i\-q  •/caXoOoi 
G'j^^T£Xia8fjV7.t  [xev  'jjTspov  TTjV  oiy.ooojxtav  tyjv  os  —pojxTj-;  i}£u.£Xi(oatv  eU  to-o'j? 
sXiuSei;  7,al  oiaßpoyo'j;  töjv  spytuv  IfxreaovTcuv  ipzi-j\)fi^tri'.  oid  Ki[-t(uvo;  dacfaXw? 
ydKvAi  ttoXXtj  v-rn  Xi&ot;  ßapeat  tJjv  eXtüv  Titea&evtojv  iy.eivo'j  ypTjjxaTa  -opiCov-o; 
r.n.\  oioovTo?.    Die  Nachricht  ist  freilich  ziemlich  zweifelhaft  und  Thukydides 

Vis  eher,  Schriften  I.  3 


34  KiMON. 

Bei  allen  diesen  Verdiensten  blieb  aber  Kimons  Stellung 
nicht  fortwährend  unangefochten.  Es  lag  in  der  Natur  der 
athenischen  Verhältnisse,  dass  sich  eine  Gegenpartei  wider  ihn 
erheben  musste,  welche  bald  um  so  mehr  Boden  gewann,  als 
er  auf  seinen  Feldzügen  Aiel  von  Hause  abwesend  war.  Die 
erste  Veranlassung  zu  entschiedenem  Auftreten  der  Opposition 
gab  der  thasische  Krieg.  Das  Bestreben  der  Athener  sich 
an  der  thrakischen  Küste  festzusetzen,  die  durch  ihren  Reich- 
thum  an  Bauholz  und  Metallen  von  grosser  Wichtigkeit  war 
und  eine  Reihe  blühender  Städte  zählte ,  hatte  Streitigkeiten 
mit  den  Thasiem  herbeigeführt,  welche  gegenüber  ihrer  Insel 
im  Besitz  von  ergiebigen  Goldbergwerken  waren.  Bisher  selbst- 
•ständige  Bundesgenossen  von  Athen  fanden  sie  sich  durch 
dessen  Uebergriffe  verletzt  und  traten  aus  dem  Bunde  oder  fielen 
ab,  nicht  ohne  Hoffnung  aiif  spartanische  Hülfe.  Die  Athener 
boten  Alles  auf  um  die  mächtige  Insel  zum  Gehorsam  zurückzu- 
führen. Aber  erst  im  dritten  Jahre  gelang  es  dem  Kimon,  sie 
z\ir  Uebergabe  zu  zwingen,  sie  musste  ihre  ^Mauern  schleifen, 
die  Schiffe  ausliefern,  die  Kriegskosten  zahlen,  alle  Besitzungen 
auf  dem  Festlande    aufgeben    und  hinfort  Tribut  entrichten '  . 


scheint  den  Anfang  des  Baues  erst  nach  Kimons  Verbannung  zu  setzen 
(I,  107).  Doch  Hesse  sich  denken,  dass  er  erst  an  die  Erbauung  der 
eigentlichen  Mauern  über  dem  Boden  dachte,  während  bereits  früher  an 
den  sumpfigen  Stellen  Vorbereitungen  für  die  Fundamentirung  gemacht 
wurden.  Bei  der  grossen  Unsicherheit  der  Chronologie  in  dieser  Zeit  wird 
es  schwe?  sein,  ein  ganz  festes  Resultat  zu  erhalten ,  wenn  uns  nicht  etwa 
noch  ein  glücklicher  Inschriftenfund  zu  Hülfe  kommt.  Mir  kommt  es  auch 
nicht  sowohl  darauf  an,  dem  Kimon  den  Bau  zu  vindiziren,  als  den  poli- 
tischen Grund,  den  unter  andern  O.  Müller  de  munimentis  Athenarum 
p.  20.  gegen  seine  Betheiligung  daran  geltend  gemacht  hat,  zu  beseitigen. 
Offenbar  verwechselt  er  Kimon  mit  jener  volksfeindlichen  oligai'chischen  Fak- 
tion,  mit  der  er  nicht^;  gemein  hat,  wenn  er  sagt :  Quanquam  proptcr  ea,  qiiae 
Thucydides  tradit  partium  tum  Athenis  studia  fuisse,  ipsum  Cimonem  huic 
operi  invidioso  Uli  apud  optimatem  factionem,  jion  magnojjere  favisse  credideritn. 
1)  Der  Abfall  von  Thasos ,  der  bei  der  bedeutenden  Macht  der  Insel 
und  dem  Beistand,  den  sie  von  verschiedenen  Seiten  theils  im  Geheimen 
erhalten  zu  haben  scheint,  theils  zu  erhalten  hoffte,  Athen?  Herrschaft  ge- 
fährlich bedrohte,  ist  wahrscheinlich  in  Ol.  TS,  2  oder  die  erste  Hälfte  des 
Jahres  466  zu  setzen,  die  Uebergabe  in  Ol.  79  1  oder  die  zweite  Hälfte  des 
Jahres  464.  Krüger  setzt  S.  146  die  Uebergabe  in  die  gleiche  Zeit,  den 
Abfall  aber  in  467,  dagegen  Rospatt  Chronolog.  Beiträge  (die  ich  nur  aus 
Anzeigen  kenne)  den  Abfall  466,  die  Uebergabe  463.    Da  aber  Thucyd.  I, 


KiMON .  35 

Trotz  dieses  Sieges  wurde  Kimon  gerade  jetzt  zum  ersten- 
mal offen  angegriffen.  Der  früher  Athen  befreundete  König 
Alexandros  von  Makedonien,  der  natürlich  durch  die  Ausdeh- 
nung der  athenischen  Herrschaft  über  seine  Küsten  beunruhigt 
sein  musste,  schien  nämlich  die  Thasier  begünstigt  zu  haben. 
Nun  warf  man  dem  Kimon  vor,  er  habe  Cxelegenlieit  gehabt, 
dem    Könige    ein    Stück    seines   Landes    zu    entreissen^]  ,    sich 

1(H  deutlich  sagt:  xpiiw  irti  -o)aop7.o'jj;L£vot  (üij.oÄOYTj'jav,  im  Laufe  des  dritten 
Jahres  und  nicht  nach  vollendeten  drei  Jahren ,  so  muss  man  Uebergabe 
und  Abfall  um  ein  Jahr  näher  rücken,  und  da  Ol.  79,  1,  die  sich  zwischen 
die  Jahre  464  und  463  theilt,  für  die  Uebergabe  festzustehen  scheint,  den 
Krieg  von  466 — 464  oder  4(i5 — 463  setzen. 

')  Plut.  Cimon.  14:  cX£it)iv  ok  paoüo;  i-ißfjv/t  Maxsoovias  -aolI  -oXXtjV 
ä-o~£[i.s3&ai  Ttapaiyöv,  w;  looxet,  \j:q  ikX-fjSct;  atxiav  eaye  ocupot;  ü-6  toO  fiaat- 
Xci«;  'A/.Egd-vopo'j  c'jij.n£-£T3i)c(i.  Diese  Stelle  Plutarchs  ist  die  einzige  wo 
der  Gegenstand  de:-  Klage  genannt  ist;  denn  in  dem  Leben  des  Perikles 
c.  10  spricht  derselbe  Schriftsteller  nur  von  einer  DavotTix:?]  '^ji"/-'']  ,  ohne  sie 
näher  zu  bezeichnen.  Nun  erwähnt  aber  bekanntlich  auch  Demosthenes  c. 
Aristocr.  §.  2ü5  p.  6SS  eines  Processes  des  Kimon ,  in  dem  er  kaum  dem 
Tode  entgangen  und  zu  50  Talenten  Strafe  verurtheilt  worden  sei,  xat  Ki- 
p.(uva,  sagt  er,  oxt  ttjV  -axptov  (v.  l.  llotpuuv;  ixzTiv.hr^3t  -o/.tT^iav  i(f  iauTo'j 
Tcapa  TpEi;  [jl£v  «'Y^ioav  'J;'/]'iO'ji;  "o  a?j  'i)vi'j.7'\>  C,■f^lJ.<-Gi■5o.l  T:EvTTj7.ovTa  Zz  TaXavra 
i^i-piQ'x^ .  Ich  hatte  früher  mit  Beibehaltung  der  Lesart  -atptov ,  weif  mir 
die  andere  FlapEiov  entgangen  war ,  diesen  Process  in  Verbindung  mit  dem 
Process  nach  der  Rückkehr  von  Thasos  gebracht  und  an  eine  ungenaue 
Erinnerung  des  Demosthenes  gedacht  (die  oligarchische  Partei  und  die  He- 
tairien  in  Athen  S.  10).  Lucas  S.  4'J  macht  ebenfalls  mit  Beibehaltung 
von  -dtptov  daraus  einen  zweiten  Process ,  bald  nach  jenem  ersten.  «Aus 
diesem  Grunde«,  sagt  er:  »ist  Kimons  kräftiges  Einschreiten  zur  Erhaltung 
der  alten  Verfassung  eben  so  begreiflich  als  die  Anklage  der  demokratischen 
Partei,  dass  er  die  Herrschaft  an  sich  gerissen  habe.  Er  kam  aus  diesem 
äusserst  gefährlichen  allein  von  Demosthenes  erwähnten  Processe  nur  durch 
eine  Mehrheit  von  drei  Stimmen  mit  dem  Leben  davon.«  Offenbar  legt  er 
in  die  Worte  mehr  als ,  die  Richtigkeit  der  Lesart  vorausgesetzt ,  darin 
liegen  kann.  Es  ist  nur  von  einem  Verändern  der  Verfassung  in  willkür- 
licher Weise,  nicht  davon  die  Rede,  dass  er  die  Herrschaft  an  sich  gerissen 
habe,  und  wollten  wir  ein  solches  Eingreifen  in  die  Verfassungsverhältnisse 
nebst  einem  daraus  folgenden  Processe  annehmen,  so  müssten  wir  offenbar 
eher  an  die  Zeit  nach  dem  Sturze  des  Areopags  denken,  den  Kimon  wie- 
der einzusetzen  trachtete.  Denn  was  soll  er  jetzt  schon  geändert  haben? 
Ich  halte  aber  auch  das  nicht  für  das  richtige  ,  sondern  habe  mich  nach 
genauer  und  langer  Prüfung  vollständig  überzeugt,  dass  die  Lesart  Trarptov 
so  wie  die  von  dem  neuesten  Herausgeber  der  Rede  g.  Aristokrat.,  E.  W. 
Weber  in  Weimar ,  der  übrigens  den  von  Demosthenes  genannten  Process 
auch  für  denselben   mit  dem  von  Plutarch  nach  der  Rückkehr  aus  Thasos 

3* 


36  KiMoN. 

aber  cliucli  Geschenke  davon  abhalten  lassen.  Es  Avurde  eme 
Anzeige   gegen   ihn   beim  Volke    gemacht,    und   dieses  gab  so 

erwähnten  hält,  aufgenommene  Conjektur  tT|V  iiapo'ioav  TtoXixeiav  unrichtig 
und  die  von  dem  trefflichen  Cod  ^  gebotene  Lesart  Haoiojv  allein  richtig 
sei.  Lesen  wir  nämlich  -aToiov  oder  rapoöaa-/ ,  was  in  dieser  Beziehung 
ganz  die  gleichen  Schwierigkeiten  bietet  ,  so  würde  die  Stelle  heissen :  '>weil 
er  die  alte  die  bestehende»  Verfassung  auf  seine  eigene  Faust  hin  will- 
kürlich) verändert  habe."  Diess  würde  also  deutlich  besagen,  Kimon  habe 
die  Verfassung  bereits  verändert  und  zwar  sie  durch  eigene  Willkür  ver- 
ändert, d.  h.  wohl  durch  diktatorisches  Einschreiten.  Konnte  aber  etwas 
der  Art  bei  den  athenischen  Verhältnissen  auch  nur  von  ferne  statthaben? 
Konnte  es  statthaben ,  ohne  dass  uns  sonst  mit  einem  Worte  davon  be- 
richtet wird  und  wäre,  wenn  es  stattgehabt  hätte,  Kimon  wohl  der  Todes- 
strafe entgangen?  Konnte  Demosthenes  etwas  Derartiges  auch  bei  seinen 
mangelhaften  historischen  Kenntnissen  erzählen?  Ich  glaube  nicht,  ütfen- 
bar  hat  man  auch  die  Stelle  nicht  so  gefasst,  sondern  nur  an  einen  Versuch 
Kimons  gedacht,  wie  das  aus  den  oben  angeführten  Worten  von  Lucas  er- 
hellt und  wie  z.  B.  Büttner  S.  31  es  fasst,  wenn  er  die  Worte  des  De- 
mosthenes übersetzt:  »weil  er  die  von  den  Vätern  herrührende  Staatsver- 
fassung aus  eigenem  Antriebe  umändern  wollte.«  Allerdings  erwartet 
man  etwas  Derartiges,  abe^  die  Worte  des  Demosthenes  besagen  das  nicht. 
Eintn  sogenannten  Aoristus  des  conatus  wird  schwerlich  Jemand  hier  sta- 
tuiren  wollen,  da  derselbe  auf  die  Dichter  und  auch  bei  diesen  auf  eine 
massige  Anzahl  von  Verben  beschränkt  ist.  Vgl.  FranckeZtsch.  f.  A.  W.  184.5 
S.  260  ff.  Wenn  der  Redner  das  gewollt  hätte,  so  hätte  er  sich,  wenn  nicht  ge- 
radezu der  Umschreibung  mit  s-f/eipsiv  oder  -etoästlat,  doch  wenigstens  des 
Imperfektums  bedient,  wie  Philipp.  III.  §.  24:  £t:£iotj  -Xsova^stv  l-eyefpo'jv  -/.al 
zepa  Toj  p.£-p'.o'j  10.  ■/.a&EsxYjy.oT'x  iy.ivojv.  Aber  auch  dann  ständen  immer  noch 
dem  l'f'  E'rjToü  die  oben  angeführten  Schwierigkeiten  entgegen.  Diesen 
Schwierigkeiten  entgehen  wir  nur,  wenn  wir  die  Lesart  des  besten  Codex  --r^-/ 
Yla^Ami  T.nKizz.'.'x-i  aufnehmen ,  was  mit  Recht  von  Bekker ,  Dindorf  und  den 
Zürcher  Herausgebern  geschehen  ist ;  denn  Herr  Weber  zu  Demosth.1.1.  irrt 
gewiss ,  wenn  er  meint ,  sie  hätten  das  nur  gethan :  satius  esse  haud  dubie 
existimantcs  tibi  integra  scriptura  desit,  corruptam  ut  qiiae  illius  facile  mon- 
stret  vestigia  servare  quam  sequi  'perspicue  falsam  et  perversam.  Lesen  wir 
so,  so  erhalten  jj.£T£-/.i-;yj3£  und  i'z/  ea-j-oO  sogleich  ihre  rechte  Bedeutung; 
»weil  er  die  Verfassung  der  Parier  auf  eigene  Faust  hin  verändert  hatte.« 
Es  ist  nämlich  bekannt,  wie  die  Athener  sich  häufig  in  die  Verfassungs- 
angelegenheiten ihrer  Bundesgenossen  mischten  und  sie  nach  ihrer  eigenen 
Convenienz  ordneten.  Meist  geschah  das  natürlich  in  demokratischem  Sinne, 
vgl.  u.  a.  Böckh  Einleitung  zum  7.  olymp.  Gedichte  Pindars.  Umgekehrt 
im  oligarchischen  Sinne  wurde  durch  die  oligarchische  Partei  im  Jahre  411 
eine  Umwälzung  in  Samos  versucht ,  in  Thasos  und  auf  andern  Inseln 
wirklich  durchgesetzt,  Thucyd.  M^II.  64 — 73.  Aehnliches  konnte  nun  sehr 
gut  zu  Kimons  Zeit  geschehen  und  scheint  an  unserer  Stelle  Demosthenes 
anzudeuten.     Kimon   war   mit  den    Aristokraten   der    meisten  griechischen 


KiMüN.  37 

weit  Gehör .  dass  es  Ankläger  bestellte .  um  den  Process  im 
ordentlichen  Wege  vor  den  Gerichten  zn  führen  '  .     Sie  klag^ 

Staaten  befreundet,  es  ist  also  sehr  denkbar,  dass  er  aristokratisch  gesinnte 
Bürger  der  Insel  Faros  bei  einer  Verfassungsänderung  unterstützte  und 
zwar  icp'  ea'JTOJ  siia  soUus  auctnrifatr,  ohne  vom  athenischen  Volke  Auftrag 
zu  haben,  ja  gegen  dessen  Absicht.  Dazu  passt  denn  auch  [xtTzvMrpz,  da 
die  Veränderung  als  durchgeführt  zu  denken  ist.  Was  die  Zeit  betrifft, 
so  ist  für  einen  solchen  Vorfall  die  des  Thasischen  Krieges  ganz  geeignet. 
Die  Bundesgenossen ,  namentlich  die  aristokratische  Partei  unter  ihnen, 
fingen  damals  an  schwierig  zu  werden.  Kimon,  obwohl  als  bester  atheni- 
scher Feldherr  mit  der  Unterwerfung  der  Abtrünnigen  beauftragt,  wandte 
gewiss  nicht  gerne  Gewalt  an  und  trollte  die  Bundesgenossen  lieber  durch 
Milde  und  Nachsicht  gewinnen  ,  und  man  darf  sich  wohl  nicht  wundern, 
wenn  diese  Freundlichkeit  bisweilen  vorzugsweise  der  Partei  zu  Theil  wurde, 
zu  der  er  hinneigte.  Hatte  er  nun  so  durch  seinen  Einfluss  eine  aristokra- 
tische Verfassungsänderung  in  Faros  durchgesetzt,  so  war  sehr  natürlich, 
dass  man  ihm  in  Athen,  wo  mittlerweile  in  den  Gesinnungen  eine  demo- 
kratische Reaktion  vorging,  ein  Verbrechen  daraus  machte  und  ihn  wegen 
des  Benehmens  gegen  Makedonien  und  in  Faros  auf  den  Tod  anklagte. 
Man  müsste  dann  annehmen  ,  Plitarch  oder  schon  seine  Uuelle  habe  die 
Sache  etwas  flüchtig  berichtet  und  namentlich  weil  die  Freisprechung  vom 
Tode  erfolgte,  darüber  die  Geldstrafe  übergangen.  So  gefasst  erscheint  die 
Stelle  als  sprachlich  richtig  und  historisch  denkbar.  Nichtsdestoweniger 
halte  ich  aber  bei  dem  gänzlichen  Stillschweigen  aller  andern  Schriftsteller, 
bei  der  auffallenden  Aehnlichkeit  mit  dem  Process  des  Miltiades  und  bei 
der  historischen  Unzuverlässigkeit  der  Redner  eine  Vermengung  von  Ki- 
mons  Process  mit  dem  seine-?  Vaters  Miltiades  für  wahrscheinlicher,  wie 
das  H.  Sauppe  de  causis  magnitudinis  iisdem  et  labis  Athenarum  I  p.  21 
vermuthet  hat,  vgl.  Funkhänel  Ztsc'ir.  f.  A.  W.  1836  n.  130.  Die  von 
Weber  aufgenommene  Conjektur  zapoöaav  muss  ich  also  schon  aus  den  an- 
gegebenen Gründen  verwerfen ,  aber  auch  abgesehen  davon  sind  die  gegen 
Ttatpiov  erhobenen  Einwendungen  unbegründet.  Demosthenes  hätte  von 
seinem  Standpunkte  aus  sehr  gut  die  Verfassung,  welche  Kimon  bekämpfte, 
die  TTarpto?  r.riKvzz'm  nennen  können  gerade  wie  Arist.  Polit.  II.  9,  p.  .56,  8 
Bekker  die  von  Solon  gegründete  Demokratie  so  nennt :  S6Xo)voi  o'  Ivtot  [j.£v 
oiovxat  vo|J.o&eT7)v  ■^t-ti'i^'xi  aTTO'Joatov.  öXif<xpyt<xv  xe  yap  xaxaXüaai  Xiav  aV-paiov 
oOaav  -Aal  oouXeuovxct  xöv  ^[ao^  Tioiijsai,  xai  07)fjLoxpaxiav  -/axaaxfj  aat  xtjv 
raxptov  [At^avxa  -/aXoj;  xTjV  TroXtxeiav. 

1)  Die  Form  der  Klage  war  die  Eisangelia,  und  man  darf  sich  durch 
die  Worte,  welche  Plutarch  Fericl.  10  gebraucht:  r^v  jj.£v  yotp  eU  twv  xa- 
XYjfoptuv  6  nepf^X'^?  u~6  xoö  otjjxo'j  Trpo  ße  ß  X-^  [ae  vo  c  und  o'j  [i.-?jv  äXXa  ■Aa\ 
Trpo?  xov  Xo^ov  a— a^  ävsoxYj  xtj-^  zpoiSoX-rjv  äcpo(Jio'j(j.£vo;  nicht  verleiten 
lassen,  an  eine  Probole  zu  denken;  -poߣßX7]|j.£vo?  heisst  hier  nur  vom 
Volke  ernannt,  TtpoßoX-fj  bezeichnet  die  Klagerede  des  Perikles  oder  genauer 
den  Theil  derselben ,  worin  er  den  Richtern  den  Sachverhalt  auseinander 
setzte,  vgl.  Schümann  de  Comit.  Athen,  p.  228.  229, 


38  KiMON. 

teil  auf  den  Tod.  Mit  edlem  SelbstheAvusstsein  trat  der  Be- 
schuldigte der  Gefahr  entgegen  und  Avies  auf  seine  bisherige 
anerkannte  Uneigennützigkeit  hin.  Der  gefürchtetste  unter 
den  Klägern  selbst ,  Perikles ,  sei  es  aus  Ueberzeugung  von 
Kimons  Unschuld  oder  aus  Eücksicht  auf  seine  sonstigen  ^'er- 
dienste ,  sprach  nur  so  ^iel ,  als  er  der  Form  nach  musste  \- . 
Der  Angeklagte  wurde  freigesprochen ,  und  es  ist  kein  Grund 
vorhanden,   irgend  an  seiner  Unschuld  zu  zweifeln. 

Allein  obgleich  er  fleckenlos  aus  dem  Processe  hervorging, 
so  bildet  derselbe  dennoch  für  seine  politische  Stellung  ein 
bedeutendes  Moment.  Während  seit  der  ^  erbannung  des  The- 
mistokles  er  fast  unbeschränkt  den  Staat  geleitet  hatte,  war 
hier  die  Gegenpartei,  welche  sich  allmählig  gebildet,  zum  er- 
stenmal hervorgetreten.  Das  Streben  dieser  Partei  ging  darauf 
hin ,  im  Innern  die  demokratische  EntAvicklung  auf  jegliche 
Weise  zu  fördern ,  den  sämmtlichen  l^ürgern  nicht  allein  die 
Berechtigung  zu  geben,  an  allen  Aemteni  des  Staates  Theil  zu 
nehmen,  sondern  auch  die  Möglichkeit  dieses  Recht  im  weite- 
sten Umfang  auszuüben  durch  Entschädigung  aus  dem  öffent- 
lichen Schatze  für  jeglichen  Zeitverlust  bei  Ausübung  dessel- 
ben ,  endlich  jede  Schranke  die  der  Aeusseiimg  des  neuen 
Geistes  noch  in  der  Verfassung  entgegenstand  zu  brechen. 
Nach  aussen  dringt  diese  Partei  auf  unbedingtes  Geltend- 
machen der  Macht  Athens  sowohl  gegen  die  Bundesgenossen 
als  die  übrigen  Hellenen.  Es  stellt  sich  das  dar  in  immer 
schärferer  Ausbildung  der  Herrschaft  über  die  Bundesgenossen, 
deren  Beiträge  man  zu  den  Bedürfnissen  des  athenischen  Staa- 
tes,  ohne  Rücksicht  auf  ihre  ursprüngliche  Bestimmung,    ver- 


*  Plut.  Cim.  14  :  MvT(a8etc  oj  tt,;  -/.pfiew;  £7.£tvT,;  h  STTfjaiaSpoTÖ;  cf.r,^t 
TTjV  'E).7:wt7.r;V  'j-£p  Toö  K'.ijLOivoi;  oeoixivr^v  eX&sTv  e-i  xac  ft'jpoLc  toü  IlEpfxXs'j'JC 
(o'jTo?  Y"P  '^i"'  "^"^"^  y-ar/j-fopcuv  b  aciooooTaTo;),  tov  o£  fxeiota^ivTa  »FpaO?  £i«  cdvott 
»Ypaü;  oj  EX-tvix-^  w?  TT,Xiy.aÜTa  otarpaTTiar^oti  rpaYixaTa«  ~Xr,v  Iv  f-  "^ 
017.7]  TTpaoTctTOv  '^z-^ZQ^ii  T(i)  Kiij-ojvi  y.cti  TTpo?  TT,v  y.a~r^-^oo''.OM  a.T,a\  ävastfjvai 
(AÖvov,  cia-Ep  äcpo3iou[j.£vov.  Aehnlich  Pericl.  lü.  Es  beruht  die  Geschichte 
also  a\ich  wieder  auf  der  Autorität  des  Stesimbrotos  und  kann  darum  auf 
Glaubwürdigkeit  wenig  Anspruch  machen.  Xamentlich  erscheint  gar  nicht 
wahrscheinlich ,  dass  der  immer  besonnene  Perikles  zuerst  6  s-jioopoTaToc, 
der  heftigste  der  Ankläger  gewesen  und  sich  dann  durch  die  Bitten  eines 
»alten  Weibes«  habe  so  weit  umstimmen  lassen ,  dass  er  bloss  pro  forma 
geklagt  habe.    Der  gefährlichste  unter  den  Anklägern,  der  war  er  freilich. 


KiMON.  39 

wandte  und  in  Unterstützung  der  demokratischen  Partei  in 
den  einzelnen  verbündeten  nnd  nicht  verhündeten  Staaten. 
Daraus  ging  von  selbst  ein  entschiedener  Gegensatz  zu  Sparta 
hervor,  das  die  altaristokratischen  Zustände  schützte.  Es  tritt 
also  diese  Partei  so  ziemlich  in  die  Fussstapfen  des  Ihemi- 
stokles ,  nur  dass  manches,  was  bei  diesem  noch  unentwickelt 
gewesen  war.  jetzt  in  bestimmten  Formen  sich  gestaltet.  Ihr 
schloss  sich  der  jüngere  Theil  der  Hevölkennig  an,  in  Avelcher 
das  IJewusstsein  eines  gemeinsamen  Ilellenenthums  bereits  we- 
niger wurzelte,  um  so  lebhafter  aber  das  Gefühl  der  Eifer- 
sucht gegen  Sparta  sich  regte.  Den  Mittelpunkt  bildete  die 
Genossenschaft'  Hetairie)  des  Perikles,  des  Sohnes  des 
Xanthippos.  Dieser  Mann  vereinigte  in  sich  das  Genie  des 
Themistokles  mit  der  sittlichen  Grösse  des  Aristeides.  gehoben 
noch  durch  die  höhere  Bildung  seiner  Zeit,  in  ihm  verkörperte 
sich  der  athenische  Volksgeist  in  seiner  schönsten  Gestalt  und 
darum  ist  es  ihm  möglich  geworden,  etwa  40  Jahre  lang  thä- 
tig  in  die  Geschicke  seiner  ^'aterstadt  einzugreifen ,  fast 
dreissig  Jahre  lang  sie  zu  leiten.  Neben  ihm  stand  Ephi al- 
tes, der  Sohn  des  Sophonides,  ein  Mann  dem  axich  von  seinen 
Gegnern  das  I^ob  der  reinsten  Unbestechlichkeit  und  des  red- 
lichen AVillens  nicht  versagt  Avurde,  der  aber  durch  den  leiden- 
schaftlichen Eifer,  mit  dem  er  die  demokratischen  Pläne  seiner 
Partei  betrieb,  ganz  besonders  den  Hass  der  andern  auf  sich 
zog.  Er  pflegte  mit  den  "S'orschlägen  hervorzutreten,  welche 
die  Genossenschaft  entworfen  hatte ,  und  so  lange  diese  noch 
in  der  Opposition  stand,  wird  sein  Name  bei  den  Hauptschlä- 
gen  mehr  genannt,  als  der  des  ruhigem  und  selten  öff'entlich 
auftretenden  Perikles,  der  seine  ganze  Grösse  erst  entwickelte, 
als  er  nach  UeberAvindung  der  Gegenpartei  das  Staatsruder  in 
den  Händen  hatte  und  positiv  wirken  konnte.  Diese  Partei 
also ,  welche  etwa  um  die  Zeit  der  Schlacht  am  Eurymedon 
feste  Gestalt  gewonnen  haben  mag,  hat  sich  durch  Kimons 
Anklage  zuerst  versucht  und  zwar  mit  Erfolg.  Dass  das  ^^olk 
die  Anklage  beschloss,  beweist  ihre  Stärke,  und  dass  der  Feld- 
herr freigesprochen  wurde,    mochte  bei  Perikles  Benehmen  als 

1)  Ueber  die  Genossenschaft  des  Perikles  vgl.  Büttner  S.  38.  Meine 
Schrift  über  die  Hetairien  S.  10.  11.  Von  den  Stellen  der  Alten  beson- 
ders Plut.  Pericl.  7.  16  und  praec.  reipubl.  gerend.  15.  p.  990  Dübner, 


40  KiMON. 

ein  Beweis    ihrer  Massigung   gelten    und    ihr   moralisches    Ge- 
wicht nur  verstärken. 

Kimons  8tellnng  ist  nun  also  fortan  natürhch  durch  die 
Partei  des  Perikles  und  Ephialtes  bedingt  ^  .  Während  er  bis 
jetzt  seine  oben  geschilderte  Politik  einer  mit  möglichster 
Schonung  des  Bestehenden  verbundenen  Entwicklung  befolgt 
hatte,  stemmt  er  jetzt  mit  aller  Entschiedenheit  sich  den  For- 
derungen der  Perikleischen  Partei  entgegen  und  sofern  diese 
immer  weitere  Entwicklung  der  Demokratie  will,  wird  seine 
Richtung  jetzt  viel  mehr  als  früher  aristokratisch,  sofern  sie 
gegen  Sparta  immer  feindlicher  auftritt,  gestaltet  sich  sein  Be- 
streben ,  die  Freundschaft  mit  diesem  Staate  zu  erhalten ,  als 
Lakonismus.  Diese  Richtung  hat  er  keineswegs  etwa,  durch 
seinen  Process  eingeschüchtert,  nur  leise  hervorblicken  lassen, 
sondern  dadurch  eher  gereizt  als  erschi-eckt ,  seine  Neigung 
offen  und  ohne  Scheu  zu  Tage  getragen.  Namentlich  hat  er 
jetzt  seine  Vorliebe  für  den  einfachen  und  besonnenen  Cha- 
rakter der  Spartiaten  in  einer  Weise  geäussert,  die  manchen 
seiner  Mitbürger  verletzen  mochte  2) .  Auch  darf  man  seine 
Macht,  nachdem  er  den  Process  gewonnen  hatte,  nicht  zu  ge- 
ring anschlagen :  er  war  noch  entschieden  der  erste  Mann 
aber  bedroht  von  einer  gefährlichen  Gegenpartei ,  deren  An- 
strengungen täglich  stiegen  und  die  vielleicht  von  ihm  nicht 
so  hoch  angeschlagen  wurde  als  sie  verdiente.  Zunächst  ent- 
brannte der  Kampf  bei  Anlass  der  äussern  Politik.  Bald  näm- 
lich nach  dem  Abfalle  von  Thasos  war  Sparta  durch  ein  furcht- 
bares  Erdbeben   verwüstet   v.orden    (465)  '■^)    und    seine    Unter- 

')  Aus  Plutarch,  besonders  Cim.  15  geht  deutlich  hervor,  dass  die  la- 
konisirende  aristokratische  Tendenz  Kimons  wesentlich  erst  durch  den  Ge- 
gensatz der  Partei  des  Perikles  hervorgetreten  ist. 

■-)  Plut.  Cim.  16  und  14.  Hier  lässt  Plutarch  ihn  in  der  Vertheidigung 
bei  seinem  Processe  sagen ,  er  sei  nicht  Gastfreund  reicher  Völker  cüXXa 
Aa7,£0ai|j.ovicu>^  [j.t(xo'j[ji.£NOC  v-'j'i  i'^x-m^i  rrjV  -ap'  aÜToI?  EÜTsXeiav  xcti  ctucppo- 
o'jvTjv  ■?!<;  whisa  -poxtfxäv  ttXoütov  äXXd  tiXo'jti^wv  azo  ~ßyi  ro^.eiJ-iwv  ty;v  ttqXiv 
d^akkeüWai.  Daraus  macht  Büttner  S.  30  Folgendes:  Er  selbst  sagt  in 
dieser  Beziehung ,  dass  er  den  Lakedämoniern  zugethan  sei ,  weil  er  ihre 
Einfachheit  und  Besonnenheit  ehre  und  derselben  nachstrebe.  Wir  sehen 
daran,  dass  er  die  höhere  Bedeutung  des  athenischen  Geistes  dem  lake- 
dämonischen gegenüber  verkannte  I 

3)  Das  Erdbeben  setzt  Krüger  S.  149  fr.  ins  J.  466,  Rospatt  465  oder 
464.     [Grote  464.     Die  Noth  der  Spartaner  zu  jener  Zeit  war  grösser,  als 


KiMOX.  41 

thanen  die  Heloten  hatten  die  Gelegenheit  zu  einem  Aufstande 
hemitzt.  In  dem  ebenen  Lande  bald  besiegt,  warfen  sie  sich 
in  die  messenische  Bergfeste  Ithome.  Die  Spartaner,  denen 
die  Eroberung  nicht  gelang,  riefen  die  Athener,  weil  sie  mehr 
Erfahrung  in  der  Belagernngskimst  belassen,  zu  Hülfe  ') .  Da 
traten  sich  in  der  Volksversammlung  die  beiden  Parteien  ent- 
gegen. Ephialtes  beantragte,  das  Gesuch  der  Spartiaten  rein 
abzuschlagen .  er  beschwor  die  Athener ,  der  gedemüthigten 
Stadt  nicht  zu  helfen .  sondern  die  sonst  so  stolze  Nebenbuh- 
lerin ihrem  Geschicke  preiszugeben.  Kimon  dagegen,  der  sein 
Vaterland  über  Attikas  Gränzen  ausdehnte  und  eingedenk  der 
seit  den  Mederzeiten  her  bestehenden  liundesgenossenschaft '^) , 
sprach  für  Gew^ährung .  denn  man  dürfe  nicht  zugeben ,  dass 
Hellas  hinkend  werde.  Noch  war  sein  Einfluss  so  gross,  noch 
das  ]>ewusstsein  einer  hellenischen  ^'olksgemeinschaft  so  leben- 
dig, dass  das  athenische  \  olk  ihm  beistimmte.  Kimon  führte 
viertausend    SchwerbeAvaffnete    über    den    Isthmos    durch    das 


man  gewöhnlich  meint.  Eine  Anzahl  einzelner  fast  zufällige!'  Erwähnungen 
beweist  das;  u.  a.  Xen.  Hell.  YL,  V;  33.  oxs  ajxol  l-oXtopy-oOvxo  j-o  Msaar)- 
vicuv.  vgl.  Herod.  IX,  35.] 

'!  Die  von  Plutarch  Cim.  10.  IT  angenommenen  zwei  Züge  der  Athe- 
ner nach  Lakonika  beruhen  sicherlich  auf  Irrthum,  wie  das  Krüger  S.  154 
und  Müller  zu  Aeschyl.  Eumeniden  S.  118  gezeigt  haben.  [Auch  G rote  IV, 
p.  69  A.  1  verwirft  die  zwei  Züge."  Der  Versach  Ekkers,  die  Angabe  Plutarchs 
zu  rechtfertigen,  scheint  mir  nicht  gelungen.  Auf  der  andern  Seite  glaube 
ich,  muss  der  Hültszug  des  Kimon  mit  Lucas  S.  50  weiter  als  Ol.  70,  1 
hei'abgesetzt  werden ,  obwohl  ich  bei  den  mangelhaften  Nachrichten  über 
die  Chronologie  jener  Ereignisse  nicht  wage,  das  Jahr  zu  bestimmen.  Ich 
stimme  in  dieser  Hinsicht  dem  bei,  was  Schömann  zu  Aischylos  Eumeni- 
den 8.  lül  sagt;  "AVenn  man  die  neuern  Untersuchungen  über  diesen  Ge- 
genstand von  Clinton,  Lucas,  Rospatt,  Sintenis,  Krüger,  Freudenberg, 
Ekker  unter  einander  vergleicht,  so  wird  man  auf  die  Hoffnung,  ein  siche- 
res und  überzeugendes  Ergebniss  zu  gewinnen,  wohl  Verzicht  leisten.« 

2)  Um  Kimons  Rath  zu  würdigen,  und  ihm  nicht  auch  hier  übertrie- 
benen Lakonismus  vorzuwerfen ,  muss  man  sich  erinnern ,  dass  noch  a'jfx- 
fjiayia  zwischen  den  beiden  Staaten  bestand,  dass  also  Athen  zu  dieser 
Hülfe  verpflichtet  war.  Die  demokratische  Partei  wollte  aber  ihre  Con- 
venienz  über  die  Bundespflicht  setzen.  Für  Kimons  Politik  wirkte  also 
damals  in  der  athenischen  Bürgerschaft  noch  das  Gefühl  der  Bundespflicht 
und  das  Bewusstsein  mit  Sparta  einem  Volke  anzugehören,  mit  Sparta  ge- 
meinsam den  Perser  besiegt  zu  haben.  Dieses  »sittliche  Element«  hätte 
Büttner  nicht  ganz  ignoriren  sollen. 


42  KiMox. 

korinthische  Gebiet')  vor  Ithome.  Hier  aber  erref,^te  der  de- 
mokratische neiierungshistige  Sinn  der  Athener  bakl  den  Arg- 
Avohn  der  Spartiaten.  Da  die  ]»elagerung  überdies  nicht  so 
schnell  zu  einem  Ziele  führte,  als  sie  erwartet  hatten,  ent- 
liessen  sie  die  Athener  wieder  nach  Hanse ,  unter  dem  ^'or- 
wande,  ihrer  weiter  nicht  zu  bedürfen.  Diese  Beleidigung  er- 
trugen die  Athener  nicht  ruhig,  vielmehr  gaben  sie  jetzt  die 
alte  Bundesgenossenschaft  mit  Sparta  auf^^  und  verbanden 
sich  mit  den  Feinden  desselben,  den  Argeiem  und  Thessalern. 
Der  ganze  Unwille  des  A'olks  traf  aber  den  Kimon,  dessen  be- 
sonnene hellenische  Politik  jetzt  den  Leidenschaften  des  athe- 
nischen Volks  erlegen  war.  Indessen  scheint  er  unmittelbar 
nach  der  Rückkehr  aus  Lakonien  noch  einen  gewissen  Einfluss 
behauptet  und  bald  daraiif  noch  eine  Flotte  in  die  See  geführt 
zu  haben  ^).     Deutet  doch    selbst  die  Absendung  einer  grossen 


1)  Bei  dem  Zuge  nach  Ithome  wurde  den  Athenern  keine  Schwierig- 
keit gemacht ,  bei  der  Rückkehr  aber  machte  Lachartos ,  wahrscheinlich 
ein  korinthischer  Beamte  oder  Feldherr  Miene  den  Durchzug  zu  verweigern, 
allein  Kimon  fertigte  ihn  kurz  ab,  Plut.  Cim.  IT.  Es  kann  diese  Aende- 
rung  vielleicht  nur  eine  Folge  des  von  Sparta  gegen  die  Athener  befolgten 
Benehmens  gewesen  sein,  wenn  man  sie  aber  in  Verbindung  mit  Kimons 
Antwort :  dlX  ouy  btjsic,  w  Ad/apre  -rd;  KXeojvaiojv  -/.ai  M^Y'^ip-w  niXa;  7.6- 
«iiavTe;  äXkä  7.aTaayiaavTe;  Etseßtdiaaöe  fie-d  t<üv  orXtuv  d^ioövre;  dvEorfE-zai 
TidvTa  ToT;  jAei^^jv  o'jvo:[a£voi?  ,  betrachtet ,  die  sich  ofi'enbar  auf  die  Kriege 
mit  Megara  bezieht,  so  möchte  man  vermuthen,  dass  in  der  Zwischenzeit 
Megara  vom  peloponnesischen  Bunde  zu  Athen  abgefallen  war.  Doch 
spricht  die  Reihenfolge  der  Erzählung  bei  Thukydides  dagegen. 

2  Thucyd.  I,  102:  oi  o'  'Ai^r^vato'.  Iyvoj^olv  o'jx  £—1  tÜ)  ßeXxiovi  köfw  6.-0- 
7:£[j.7:oiji£voi  al.'l.ö.  Ttvo;  'jT.6-~ryj  y^vojasvou  '/.ax  Seivov  — of^ad[A£voi  *itai  o'r/.  d^ieu- 
oavTE;  'jTTo  Aa7.£oai(j.ov[u)v  toöto  ra&Eiv  eCi&u;  ^tteiot,  dvEyojpTjaiv  ,  dosvTE;  ttjv 
YEvojAcVTjV  £ri  TU)  MtjOo)  ;'jij.fi.ayiciiv  -po;  aÜTO'j;  'Apy^tot?  toT;  exeivojv  -oÄEufoi; 
|'j[jLu.otyoi.  ifho-i-o  xal  "pö;  0£c;3ci).o'j?  dpia  d[j.'j.o-£po'.;  ot  aÜTol  opy.ot  v.al  ?'J[j.- 
[ictyict  v.aT£3Tr,.  Hiermit  tritt  also  Athen  in  ein  ganz  neues  Stadium  seiner 
äussern  Politik ,  welches  erst  mit  dem  dreissigj ährigen  Frieden  zu  Ende 
geht,  wo  z^-ar  nicht  SjTnmachie  zwischen  den  beiden  Staaten  eintritt,  wohl 
aber  sie  gegenseitig  ihre  Symmachien  anerkennen. 

3)  AVenn  die  Chronologie  dieser  ganzen  Zeit,  wie  oben  bemerkt,  grosse 
Schwierigkeiten  darbietet ,  so  erreichen  diese  hier  ihren  höchsten  Grad. 
Plutarch  erzählt,  nach  der  Rückkehr  aus  Lakonika  sei  Kimon  exostrakisirt 
worden,  Cim.  17  und  zwar  so,  dass  es  scheint,  er  meine  unmittelbar  nach 
der  Rückkehr.  Ferner  erzählt  er  ebendaselbst ,  das  er  unmittelbar  nach 
der  Schlacht  bei  Tanagra,  die  man  jedenfalls  nicht  später  als  in  den  Spät- 
herbst 4.57,  Ol.  8(1,  4  setzen  darf   Krüger  setzt  sie  458,  Ol.  80,  3,   zurück- 


KiMON.  43 

Macht   nach    Aegypten   zur   Unter«tütz\nig    de-    gegen   Persien 
anfgestandenen    Inaros    auf   IJefolgnng    seiner    Politik.      Allein 


berufen  worden  sei.  Theopomp  bei  dem  Schol.  zu  Aristid.  Dindorf  III. 
p.  52S  sagt,  ehe  fünf  Jahre  verflossen  seien,  sei  Kinion  zurückbei'ufen 
worden,  weil  die  Athener  gedacht  hätten,  er  werde  am  ehesten  den  Frieden 
mit  Sparta  herstellen;  ihm  folgt  Nepos  Cim.  3.  Combinirt  man  diese  bei- 
den Angaben,  so  würde  also  Kimon  nicht  später  als  Ol.  79,  3,  462  ver- 
bannt worden  sein,  und  da  unbestritten  ist,  dass  die  Massregeln  des  Ephi- 
altes  gegen  den  Areopag  noch  in  die  Zeit  vor  seiner  Verbannung  fielen, 
so  dürften  sie  auch  spätestens  in  Ol.  79,  3  ,  eher  aber  noch  etwas  früher 
gesetzt  werden.  Es  scheint  sich  das  auf  den  ersten  Anblick  recht  gut  zu- 
sammenzufügen ,  jene  Massregeln  wären  während  Kimons  Abwesenheit  in 
Lakonika  durchgesetzt  worden ,  bei  seiner  Rückkehr  hätte  er  darüber  auf- 
gebracht allen  seinen  Einfluss  angewandt,  sie  rückgängig  zu  machen,  aber 
eben  dadurch  seinen  Gegnern  Anlass  gegeben,  die  wegen  des  lakonischen 
Hülfszugs  ohneliin  gegen  ihn  gereizte  Volksstimmung  zu  benutzen  und  ihn 
zu  exostrakisiren.  Allein  bei  genauerer  Betrachtung  hält  diese  Combination 
nicht  Stich.  Zunächst  sagt  Plutarch  Cim.  1.5,  Ephialtes  habe  die  Angriffe 
auf  den  Areopag  gemacht  u'j;  -dXtv  i~i  arpaTsiav  i^srj.tuas,  als  Kimon  Avie- 
der  zu  einem  Feldzuge  in  See  gegangen  sei.  An  den  lakonischen  Zug 
darf  man  also  nicht  denken.  Hingegen  Hesse  die  Art,  wie  Plutarch  es 
unmittelbar  nach  dem  thasischen  Krieg  und  dem  darauf  folgenden  Pxocess 
erzählt,  vermuthen,  er  setze  das  Ereigniss  zwischen  diesen  Process  und  den 
Feldzug  nach  Ithome.  Bei  der  ganz  unchronologischcn  Darstellung 
Plutarchs  ist  aber  darauf  nichts  zu  geben,  sondern  Avir  werden  an  die  Zeit 
nach  der  Kückkehr  von  Ithome  denken  müssen.  Diodor  XI,  77  setzt  näm- 
lich den  Sturz  des  Areopags  in  Ol.  SO,  1  oder  460/59.  Man  kann  nun 
freilich  die  vielen  chronologischen  Irrthümer  Diodors  zum  Beweise  anführen, 
dass  er  auch  hier  geirrt  habe.  Allein  eine  zweite  ganz  sichere  chronolo- 
gische Angabe  kommt  ihm  hier  zu  Hülfe  und  lässt  das  Ereigniss  nicht 
wohl  weiter  zurücksetzen.  Es  ist  die  Didaskalie  z.i  Aeschyl.  Agamemnon, 
wonacli  die  Trilogie  Agamemnon ,  Choephoren ,  Eumeniden  unter  Archon 
Philokles  Ol.  80,  2,  458  gegeben  wurde.  Denn  wenn  man  auch  mit  Schö- 
mann  zu  den  Eumeniden  S.  101,  102  zugiebt,  dass  die  Eumeniden  auch 
nach  der  Durchführung  der  Massregel  des  Ephialtes  gegeben  werden 
konnten,  so  wird  man  doch  sicher  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  sie  in  Be- 
ziehung zu  derselben  standen  und  man  sie  deshalb  nicht  mehrere  Jahre 
(mit  bloss  zweien  ,  wovon  Schömann  spricht ,  kommt  man  schwerlich  aus, 
sobald  man  die  Eückkehr  gleich  nach  der  Schlacht  bei  Tanagra  setzt,  nach 
derselben  setzen  darf.  Ich  nehme  deshalb  an,  Kimon  sei  nicht  vor  Ol.  80, 
1  exostrakisirt  worden.  Damit  stimmt  dann  freilich  die  Rückkehr  gleich 
nach  der  Schlacht  bei  Tanagra  nach  Verfluss  von  nicht  vollen  fünf  Jahren 
nicht,  und  diese  Angabe,  welche  sich  bei  Plutarch  Pericl.  10  Cim.  17  fin- 
det, glaube  ich,  müssen  wir  aufgeben,  da  Plutarch  mit  sich  selber  im  Wi- 
derspruch ist  und  noch  andere  Schwierigkeiten  entstehen.     Plutarch  sagt 


44  KiMON. 

während  seiner  Abwesenheit  richtete  nnn  die  demokratische 
Partei  unter  Ephialtes  ihre  Angriffe  anf  den  ehrwürdigen  Aren- 
pag  und  brach  dessen  Macht,  die  allein  noch  der  unum- 
schränkten Leitung  des  Volkes  durch  Demagogen  im  Wege 
stand').  Diese  Neuerung  verletzte  den  Kimon  in  seinem  In- 
nersten ;  die  AVürde  des  .Staats  schien  ihm  und  der  ganzen 
Partei  der  älteren  Generation  beschimpft.  Wie  ernst  diese  die 
Sache  nahm,  zeigt  uns  am  deutlichsten  die  herrliche  Tragödie 
des  Aischylos  die  Eumeniden,  in  denen  Beeinträchtigungen 
dieses  alten  Gerichtshofes  und  Eathes  als  ein  sündhafter  an 
den  Göttern  verübter  Frev^el  dargestellt  werden.  Die  Würde 
und  Macht  des  Areopags  wieder  herzustellen .  strengte  nun 
Kimon  alle  Kräfte  an    ja  er  soll  darauf  ausgegangen  sein,  die 


nämlich,  Kimon  habe  gleich  nach  seiner  Rückkehr  den  Frieden  hergestellt, 
Cim.  18:  £'j9'j;  |j.sv  o'jv  o  Ki[A(ov  7.aT£/.8oj-;  e/.oIc  tov  rJt).z\xvi  v.oti  w'r).).'j!z-. 
T«;  -oXetc,  und  doch  ist  der  fünfjährige  Waffenstillstand  nicht  vor  Ol.  82, 
2,  451/50  geschlossen  worden,  er  ist  also  entweder  nicht  gleich  nach  der 
Schlacht  bei  Tanagra  heimgekehrt ,  oder  hat  den  Frieden  nicht  gleich  ge- 
schlossen. Schwerlich  auch  wird  man  behaupten  wollen,  Kimon,  der  aller- 
dings nach  Andoc.  de  pace  §.  3  und  Nepos  Cim.  3  nach  Sparta  als  Frie- 
densunterhändler gegangen  zu  sein  scheint,  habe  6  —  7  Jahre  dort  unter- 
handelt um  am  Ende  einen  blossen  "Waffenstillstand  von  fünf  Jahren  zu 
Stande  zu  bringen.  Ebenso  auffallend  aber  wäre  es,  wenn  Kimon,  den 
man  doch  in  dem  gefährlichen  Kriege  auch  mit  Rücksicht  auf  seine  Feld- 
hermtüchtigkeit zurückberief,  während  so  langer  Zeit  keine  kriegerische 
That  ausgeführt  hätte ,  und  doch  werden  zwar  Tolmides ,  Myronides ,  Pe- 
rikles  in  dieser  Zeit  als  Feldherrn  rühmlieh  genannt ,  er  aber  nirgends. 
Daher  glaube  ich,  müssen  wir  die  Annahme,  er  sei  gleich  nach  der  Schlacht 
bei  Tanagra  zurückberufen  worden ,  aufgeben ,  wodurch  wir  zugleich  die 
Möglichkeit  erhalten ,  seine  Verbannimg  erst  Ol.  SO,  1  oder  2  zu  setzen. 
Welcher  Feldzug  es  gewesen ,  zu  dem  er  in  See  ging  ,  während  Ephialtes 
die  Macht  des  Areopags  brach ,  können  wir  nicht  mehr  Ijestimmen  ,  doch 
halte  ich  mit  O.  Müller  zu  den  Eumeniden  S.  118  für  wahrscheinlich,  dass 
man  an  eine  Theilnahme  an  dem  Kriege  gegen  Aegypten  und  Cypem  den- 
ken muss.  ^Grote  IV,  110  setzt  Kimons  Verbannung  vor  den  Sturz  des 
Areopags.     Beweise  giebt  er  nicht. j 

')  Der  conservative  Charakter  des  Areopags  lag  nicht  nur  in  der  Zu- 
sammensetzung desselben  aus  Männern,  welche  dem  grössern  Theile  nach 
auch  damals  noch  den  höhern  Classen  der  Bürgerschaft  angehörten ,  wie 
Schömann  Einleitung  zu  den  Eumeniden  S.  47  richtig  bemerkt,  sondern 
auch  und  wohl  in  noch  höherm  Grade  in  dem  Umstände ,  dass  seine  Mit- 
glieder gegenüber  den  andern  bloss  auf  ein  Jahr  gewählten  Aemtern,  allein 
ihre  Stellen  auf  Lebenszeit  hatten. 


KiMox.  45 

Verfassung  des  Kleisthenes  -wieder  herzustellen ,  was  indess 
Avohl  auf  unrichtiger  Auffassung  beruht ') .  Dass  er  dabei  ir- 
gend ein  ungesetzliches  Mittel  sich  erlaubt,  ist  nicht  glaublich, 
wenn  man  nicht  eine  sehr  undeutliche  Stelle  eines  Kedners 
hieher  ziehen  will  ■^  .  Allein  der  Parteikampf  wurde  so  heftig, 
dass  eine  Entscheidung  für  Athen  nothwendig  Avurde  und  Ki- 
mons  Anwesenheit  der  Gegenpartei  nicht  mehr  erträglich  schien. 


1)  Plut.  Cim.  15.  Aio  y.aX  toj  Ki[j.ojvo;  ,  oj;  ä-avfjXHev ,  äY'/vaxTO'JvTo; 
£771  tJ)  7:po7T7]Xax.tC£38oit  To  ä^i(i)(xa  Toü)  a'jviOpio'j  y.iX  tA/.vi  avw  xa;  oi7.a;  oyx- 
xoiXet  11)7.1  7cai  T-?,v  Itti  Käsi^SIvo'j;  sfeipetv  äpiaroy-pa-tav  a.  t.  X.  das  a-nu  ävi- 
•/.aXeiaitai  hat  Ekker  falsch  erklärt :  «6  injerioris  ordinis  atque  äignitatls  ho- 
miuihu^  quibiis  Ephialtes  eas  commisi'rat  7-ursus  ad  superius  tribumil  ad  Areo- 
pagu))i  levocare  yj  d'vw  [io'jXfj  ist  vielmehr  wegen  seiner  Lage  der  Areopag 
Plut.  Solon.  19.  avd)  xdi  01x7.;  äva-x^XeTaDai  heisst  also  nur  die  Processe 
■wieder  vor  den  Gerichtshof  auf  dem  Areopag  bringen,  ohne  den  Gegensatz 
zu  den  niedern  Classen  der  Bürger  auszudrücken.  Bei  der  i^zi  KXetoSevo'j; 
dpia-o-/.paTia  ist  gewiss  nur  an  die  Stellung  zu  denken,  die  der  Areopag  in 
ihr  einnahm  und  nicht  an  ein  Ausschliessen  der  Theten  vom  Archontat. 

-,  Vgl.  S.  35  Anm.  1.  AVenn  Plutarch  Cim.  c.  15.  sagt  die  Gegner 
des  Kimon  hätten  auch  wieder  an  sein  Verhältniss  zu  Elpinike  erinnert, 
so  ist  das  möglich ,  obschon  höchst  unwahrscheinlich.  Denn  dieses  übri- 
gens gesetzlich  erlaubte  Verhältniss  fällt  über  20  Jahre  früher  und  konnte 
gewiss  nicht  mehr  als  Agitationsmittel  dienen.  An  einen  damaligen  Um- 
gang Kimons  mit  der  Schwester  wird  man  um  so  weniger  denken,  als  Pe- 
rikles  sie  bereits  einige  Jahre  zuvor  eine  ypciD;  nannte  und  überdies  sagt 
Plutarch  deutlich  ra  -o<jt  tt,v  äo£X'iT|V  ctvctveouasvo'..  vgl.  auch  de  sera  num. 
V.  c.  6.  p.  667  Dübner.  Ganz  unbegründet  ist  des  Pseudo-Andokides  Be- 
hauptung (c.  Alcib.  33.)  £|(03Tpä7.i3av  K'<.\J.oyrj. ,  oti  f^  doiK^r^  ttj  ia'j-ryj  o'jv- 
uj7.r^3£ ,  als  ob  man  wegen  dergleiciien  den  Ostrakismos  angewendet  hätte. 
Von  Tzetzes  kann  es  nicht  verwundern  wenn  er  Chiliad.  1,  22.  588  f. 
erzählt ,  Kallias  sei  wegen  des  Umgangs  seines  Vaters  Kimon  mit  der 
Schwester  in  eine  Strafe  von  50  Talenten  verurtheilt  worden ,  vgl.  Meier 
de  bonis  damnat.  p.  5,  not.  11.  Was  soll  man  nun  aber  dazu  sagen,  wenn 
man  bei  Büttner  S.  32  liest :  »Sehen  wir  .  .  dass  er  in  seinem  eigenen  per- 
sönlichen "Wandel  die  alte  gute  Sitte ,  zu  deren  Wiederhersteller  er  sich 
aufwarf,  selbst  so  mit  Füssen  trat,  dass  er  durch  das  Verhältniss  zu  seiner 
Schwester  dem  Volke   wenigstens   einen   ostensiblen  Vorwand  lieh  um  ihn 

zu  verbannen !«    Da  Kimon  zur  Zeit  seiner  Ehe  mit  Elpinike  noch 

gar  keine  Stellung  im  Staate  hatte,  so  ist  diese  Zusammenstellung  eben  so 
unbegründet  als  ungerecht ,  wie  es  überhaupt  ein  unpassendes  Verfahren 
ist ,  Jugendfehler  grossen  Männern  später  vorzuhalten.  Mit  dem  gleichen 
Rechte  dürften  wir  auch  die  abgeschmackte  Anekdote  bei  Athenaeus  XIII. 
p.  589  d.  e.  gebrauchen,  um  den  Satz  zu  begründen,  Perikles  habe  seine 
hohe  politische  Stellung  benutzt,  um  seinen  sinnlichen  Begierden  zu  fröhnen. 


46  KiMON. 

Da  sie  sie  jetzt  die  Mehrheit  besass,  wandte  sie  den  Ostrakis- 
mos  an,  er  miisste  Athen  verlas -en,  das  nun  auf  einmal  eine 
ganz  entgegengesetzte  Pohtik  verfolgte.  Denn  jetzt  bricht  die 
lang  verhaltene  Eifersucht  gegen  Sparta  und  die  aristokrati- 
schen Staaten  des  Festlandes  in  helle  Flammen  aus.  Ein  blu- 
tiger Krieg,  in  dem  Sparta  seine  Hegemonie  auf  dem  griechi- 
schen Festlande  neu  zu  befestigen,  Athen  seine  HeiTschaft 
auch  hier  zu  begründen  trachtet,  beginnt.  Der  Parteihass 
steigert  sich  auch  in  den  Einzelstaaten  aufs  höchste.  In  Athen 
tritt  eine  äusserste  volksfeindliche  Partei ,  jetzt  wo  die  verfas- 
sungsmässige Opposition  durch  Kimons  Entfernung  gebrochen 
war,  mit  den  Feinden  in  Verbindung').  Die  Annäheiiing 
eines  lakedaimonischen  Heeres  stand  im  Zusammenhang  mit 
dem  beabsichtigten  Sturze  der  Demokratie.  Ephialtes  wurde 
nächtlicher  Weile  ermordet .  und  während  die  einen  die  That 
der  lakonischgesinnten  l^artei  zuschrieben,  ging  anderseits  die 
Leidenschaft  so  Aveit.  dass  selbst  Perikles  derselben  beschul- 
digt wurde  -  .  Ein  starkes  athenisches  Heer  rückte  dem  Feinde 
an  die  Gränze  entgegen.  Da  stellte  sich  unerwartet  Kimon 
bei  dem  Heerhaufen  seines  Stammes ,  um  in  dieser  Xoth  der 
Vaterstadt  auch  gegen  Sparta  seine  Hülfe  zu  bringen.  Es 
wurde  ihm,   dem  Verbannten,   diese  Gunst  nicht  gewährt,    er 


\  Den  Kimon  für  die  verrätherischen  Umtriebe  einiger  volksfeindlichen 
Oligarchen  irgend  wie  mit  verantwortlich  zu  machen  sind  wir  durchaus 
nicht  befugt,  und  wenn  Büttner  S.  31  behauptet,  »dass  er  eine  Hetärie 
nur  aus  solchen  Leuten  sich  habe  bilden  können ,  die  nicht  Aristokraten 
in  seinem  Sinne  waren,  sondern  Oligarchen  der  schlechtesten  Art,  nämlich 
die  schon  erwähnten  Verräther  vor  de/  Schlacht  von  Tanagra«  so  ist  er 
den  Beweis  dafür  schuldig  geblieben.  Denn  kein  Schriftsteller  sagt,  dass 
des  Kimon  i-alooi  namentlic'h  der  Euthippos  aus  Anaphlystos  Yerräther 
gewesen  seien,  sondern  nur  dass  man  sie  des  Lakonismus  beschuldigte, 
aber  wie  Plutarch  selbst  sagt  mit  Unrecht.  Die  Verbindung  mit  den  Feinden, 
von  der  Thukydides  spricht,  ging  von  einigen  wenigen  Männern  aus ,  die 
wir  nicht  kennen,  und  mit  denen  wir  nicht  die  staTooi  des  Kimon  identifiziren 
dürfen.  Vgl.  was  K.  F.  Hermann  Berl.  Jahrb.  1S42.  S.  1.36  richtig  über 
den  Unterschied  solcher  einzelnen  Verschwörungen  und  ganzer  Hetäi'ien  sagt. 

2)  Plut.  Pericl.  10.  Es  ist  das  schwerlich  eine  Erfindung  des  Idomeneus 
gewesen,  wie  Plutarch  zu  meinen  scheint,  sondern  ein  von  der  Seite  der 
Mörder  und  ihres  Anhangs  ausgesprengtes  Gerücht.  Eine  frappante  Aehn- 
lichkeit  bietet  in  der  neuesten  Zeit  die  Ermordung  des  biedern  Luzerner 
Demagogen  Leu  von  EbersoU. 


KiMON.  47 

musste  sich  eutfernen ')  ;  seine  treusten  Genossen  aber,  von 
ihm  zu  hehlenmüthiger  Aiifopferung  ermahnt,  nahmen  seine 
Waifenrüstnng  in  die  Mitte  und  fielen  alle ,  hundert  an  der 
Zahl  den  Heldentod  in  der  blutigen  Schlacht  bei  Tanagra  (458 
oder  457),  indem  sie  sich  so  aufs  schönste  von  dem  Verdachte 
verrätherischer  Verbindung  mit  dem  Feinde  reinigten.  Wahr- 
scheinlich hatte  man  das,  was  nur  von  einer  kleinen  Faktion 
ausging,  mit  Unrecht  der  ganzen  ehemaligen  Kimonischen 
Partei  zur  Last  gelegt.  Dies  edle  Benehmen  und  die  Erinne- 
rung an  Kimons  kriegerische  Tüchtigkeit,  auch  an  seinen  Ein- 
fluss  in  Sparta  machte,  dass  er  nach  fünfjähriger  Entfernung 
aus  der  Heimath  schon  zurückberufen  wurde ,  l'erikles  selbst 
brachte  den  Antrag  vor  das  ^'olk  -  .  So  kehrte  er  allgemein 
geehrt  wieder  nach  Athen  zurück.  Er  hat  aber  fortan,  so  Aveit 
wir  urtheilen  können,  nicht  mein  in  die  innere  Politik  seiner 
"\"aterstadt  eingegriffen,  dagegen  nach  aussen  ihr  die  glänzend- 
sten Dienste  geleistet,  seinen  frühern  l>estrebiingen  getreu. 
In  den  Kämpfen  mit  den  hellenischen  Staaten  zwar  wird  sein 
Name  bei  keiner  der  Watfenthaten  genannt,  durch  die  ein  Pe- 
rikles,  Myronides,  Tolmides  ihre  Namen  unsterblich  machten ; 
vielmehr  w\irde  ihm  das  schöne  Loos  zti  Theil,  seinen  Waffen- 
ruhm nicht  an  die  Kämpfe  mit  den  Bruderstaaten  zu  knüpfen. 
Dagegen  ist  es  ihm  gelungen  (451),  den  Krieg  durch  einen 
fünfjährigen  Waffenstillstand  mit  Sparta  zii  beendigen,  und 
trotz  der  glänzenden  Erfolge,  welche  die  Athener  errungen 
hatten,  war  ihnen,  wie  den  Spartanern  die  Erholung  sehr  er- 
wünscht. Kimon  steht  noch  einmal  in  dem  ersten  Range 
eines  Vorstehers  des  athenischen  Staates  neben  Perikles,  jetzt 
aber  nicht  mehr  feindlich,   sondern  in  friedlichem  Vereine ,   so 


')  Die  ältei'e  Schweizergeachiclite  bietet  ein  ganz  ähnliches  Beispiel  von 
warmer  Vaterlandsliebe  bei  Verbannten  und  strenger  Handhabung  des  Ge- 
setzes gegenüber  denselben.  Vor  der  Schlacht  bei  ^lorgarten  1.'<I5  hatten 
50  verbannte  Schweizer  umsonst  darum  gebeten  in  den  Reihen  ihrer  Brüder 
mitfechten  zu  dürfen.  Abgewiesen,  stellten  sie  sich  ausserhalb  der  Landes- 
grenzen auf  und  trugen  wesentlich  zu  dem  glänzenden  Siege  bei. 

-)  lieber  die  Zeit  der  Zurückberufung  des  Kimon  vgl.  S.  4  5  A.  Wer 
ein  Beispiel  recht  abgeschmackter  Klatscherei  kennen  lernen  will  findet  es 
bei  Athenaeus  XIII,  p.  589  e.  y.rd  Kifxtovoc  o'  'E^Tttvi-/^  t^  äoeXcpT]  7rapav6[Atu? 
a'jvovTo; ,  £i&'  uaxepov  £-,coo&£taTj  KaXXia  xaX  ^u^mrjBit^hTOi  [j.[a&6v  eXaße  ttj; 
7.7.i}ooo'j   a'JToü   6   Ue^ji'AKq;,  xo  tt^  'EXTitvi-/.T|j  [Aiy^&fjvat. 


48  KiMox. 

dass  Perikles  die  innern  Verhältnisse,  Kimon  die  äussern  leitet. 
Denn  mag  nun  die  Nachricht,  dass  darüber  vor  seiner  Zurück- 
herulüng  ein  förmlicher  Vertrag  zwischen  den  beiden  Männern 
zu  Stande  gekommen  sei .  wahr  sein  oder  nicht,  faktisch  ver- 
hielt es  sich  so '  .  Offenbar  war  eine  ^'erständigiing  viel 
leichter,  seitdem  der  heftige  Ephialtes  nicht  mehr  da  war.  Um 
nun  aber  den  Thatendrang  der  Athener  zu  befriedigen .  ohne 
von  neuem  Krieg  mit  den  Staramgenossen  zu  beginnen.  Avandte 
Kimon  noch  einmal  die  hellenischen  Streitkräfte  gegen  Persien. 
Wie  oben  erAvähnt.  war  bereits  früher  eine  grosse  Flotte  gegen 
diese  nach  Aegyten  abgegangen,  um  dies  Land  in  seinem  Auf- 
stande gegen  Persien  zu  unterstützen.  Diese  ganze  athenische 
Flotte  war  von  den  Persern  vernichtet  worden,  Aegypten  wie- 
der unterworfen,  Cypern  wieder  unter  persische  Herrschaft 
gebracht.  Nach  jenen  Gegenden,  wo  er  schon  früher  siegreich 
die  Hellenen  befehligt  hatte,  richtete  Kimon  noch  einmal  den 
Blick.  Und  als  Athen  sich  einigeiinassen  von  den  An- 
strengungen des  Krieges  erholt  hatte,  führte  er  449  zweihun- 
dert Schiffe  der  Athener  und  Bundesgenossen  nach  Cypern, 
entsandte  von  da  sechzig  zur  Unterstützung  des  Amyrtaios,  eines 
ägyptischen  Fürsten,  der  sich  noch  immer  in  den  Niedenmgen 
des  Delta  gegen  die  Perser  behauptete,  und  belagerte  nach 
glücklichen  Gefechten  mit  dem  Feinde  mit  den  übrigen  die 
Stadt  Kition.  Allein  schon  vor  der  Al)fahrt  aus  Athen  hatten 
bedeutungsvolle  Zeichen  auf  sein  herannahendes  Ende  gewie- 
sen ,  eine  Gesandtschaft .  die  er  zu  Amnion  schickte ,  erhielt 
die  Antwort,  sie  möge  nur  wieder  gehen,  denn  schon  sei  Ki- 
mon selbst  bei  dem  Gotte.  In  der  That  war  er  an  demselben 
Tage  an  einer  Krankheit  oder  den  Folgen  einer  AA^unde  ge- 
storben -  .  Aber  noch  im  Tode  fühlte  er  das  Heer  zum  Siege, 
durch  den  Glanz  seines  Namens.  Nach  seinem  eigenen  Rathe 
nämlich  verheimlichten  die  Athener,  dass  er  gestorben  sei, 
und   verliessen   ihre    Stellung   vor  Kition ,    wo    sie  Maugel    an 


I 


'i  Plut.  Per.  10.  praec.  reip.  ger.  15,  22.  pg.  922  Dübner ;  dass  eine 
solche  Verabredung  statt  gehabt  habe  ist  so  umvahrscheinlich  nicht,  eine 
andere  Frage  ist,  ob,  wie  es  an  der  ersten  Stelle  erzählt  -n-ird,  Elpinike 
die  A  erniittlerin  war.  was  allerdings  etwas  an  die  Manier  des  Stesimbrotos 
erinnert.     Vgl.   Sintenis  zu  der  Stelle. 

-I  Plut.  Cim.    IS.    19. 


KiMON.  49 

Lebensmitteln  zu  fühlen  begannen.  Auf  der  Höhe  der  Stadt 
Salamis  trafen  sie  auf  die  phönizisch-kilikische  Flotte,  schlugen 
sie  und  griffen  den  Feind  mit  ebensoviel  Erfolg  auf  dem  Lande 
an  1  .  Des  Feldherrn  aber  beraubt,  der  allein  die  Unternehmung 
zu  leiten  verstand,  verfolgten  sie  die  Siege  nicht  weiter,  sondern 
kehrten  vom  Feinde  nicht  beunruhigt  nach  der  Heimat  zurück. 
Es  war  der  letzte  Kampf,  den  Athen  gegen  Persien  führte,  die 
Versuche,  das  persische  Reich  zu  erschüttern ,  ruhen  hinfort, 
ohne  Zweifel  nicht  in  Folge  eines  geschlossenen  Friedens,  son- 
dern weil  die  nähern  hellenischen  Angelegenheiten  bald  die 
Kräfte  vollauf  in  Anspruch  nahmen  und  Perikles  allen  weitern 
Unternehmimgen  von  zweifelhaftem  Erfolge  abgeneigt  war. 
So  also  endigte  Kimon  sein  Leben  im  Dienste  für  das 
»  Vaterland,  dem  er  es  von  früh  an  gewidmet  hatte.  Der  lilick 
auf  dasselbe  macht  auf  den  Beschauer  einen  wohlthätigen  Ein- 
druck, den  nur  ganz  einseitige  Betrachtung  trüben  kann.  Seine 
Verdienste  um  Athen  und  Griechenland  sind  gross  gewesen. 
Als  kühner,  kluger  und  unternehmender  Feldherr  steht  er  den 
ersten  Männern  jener  Zeit  in  nichts  nach,  keiner  hat  so  glän- 
zende Kriegsthaten  verrichtet,  keiner  so  oft  griechische  Heere 
z\im  Siege  gegen  Barbaren  geführt  und  dadurch  das  Vaterland 
gesichert.  Er  hat  durch  seine  Leutseligkeit  nicht  weniger  als 
durch  seine  Feldherrntüchtigkeit  die  Basis  von  Athens  Grösse, 
die  Bundesgenossenschaft,  wesentlich  mitbegründet  und  befestigt, 
ohne  sich  der  Härte  schuldig  zu  machen,  welche  spätere  Feld- 
herrn und  Staatsmänner  bewiesen;  er  hat  mit  lebendigem  Ge- 
fühle für  die  Stammesgemeinschaft  aller  Hellenen  die  Freund- 
schaft und  das  Bündniss  unter  den  ersten  Staaten  zu  erhalten  ge- 


'  Ich  habe  mich  hier  an  die  einfache  Erzählung  des  Thukydides 
(1,  112.  angeschlossen,  gegen  die  die  Abweichungen  des  Diodor  XII,  3.  4. 
Plut.  Cim.  19.  Cornel.  Nepos  3  nicht  in  Betracht  kommen  können.  Da- 
gegen lässt  sich  denken,  dass  bei  der  Kürze  der  Erzählung  Thukydides 
untergeordnete  Ereignisse  übergeht.  Eine  Zusammenstellung  der  verschie- 
denen Nachrichten  giebt  Lucas  S.  57.  Anm.  67.  der  aber  irrig  den  Anaxi- 
krates  bei  Diodor  zum  persischen  statt  zum  athenischen  Feldherrn  macht 
und  Engel  Kypros  I.  S.  27S  ff.  —  Bemerkenswerth  ist  die  von  Plutarch 
c.  19  nach  dem  Rhetor  Nausikrates  aus  Erythrai  einem  Schüler  des  Iso- 
krates  mitgetheilte  Nahricht,  dass  die  Bewohner  von  Kition  den  Kimon  in 
Folge  eines  Orakelspruchs  als  Heros  verehrten.  Begraben  war  er  nicht 
dort,  sondern  in  der  Familiengrabstätte  vor  dem  Melitischen  Thore  zu  Athen. 

Vischer.  Schriften  I.  4 


50  KiMON . 

trachtet,  so  lange  als  möglich,  und  Athens  Grosse  nicht  auf 
dem  Sturze  Sparta's  errichten  wollen,  er  hat  Freunden  und 
Feinden  so  viel  Zutrauen  eingeflösst,  dass  ihm  es  gelang,  nach 
blutigen  Kriegen  für  den  Augenblick  die  kämpfenden  Parteien  zu 
versöhnen.  Seine  Abwesenheit  von  Athen  war  die  Zeit  blutiger 
Kriege  mit  Sparta ;  bald  nach  seinem  Tode  begannen  die  Kämpfe 
von  neuem.  Er  selbst  hatte  das  Glück,  ihnen  fremd  zu  bleiben. 
Mit  dieser  äusseren  Wirksamkeit  stimmt  seine  innere  im 
Ganzen  wesentlich  überein.  Ein  einfaches  biederes  Wesen, 
das  sich  aber  in  aristokratischem  Glänze  gefiel,  A'orliebe  für 
die  herkömmliche  Ordnung  der  Dinge ,  Widerstand  gegen 
Neuerungen ,  die  ihm  schädlich  schienen ,  zeichnen  ihn  aus, 
und  wenn  er  ^delleicht  in  der  letzten  Zeit  seines  Lebens  in 
einigen  Punkten  hinter  der  Entwickelung  des  athenischen  ♦ 
Geistes  zurückgeblieben  ist,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dass 
diese  EntAvicklung ,  wie  sie  unter  Perikles  ihren  Höhenpunkt 
erreicht,  zwar  allerdings  Athen  auf  eine  Stufe  geistiger  Vollen- 
dung bringt,  wie  sie  kein  anderer  Staat  des  Alterthums  je  er- 
reicht hat,  allein  zugleich  die  Keime  des  eigenen  Verfalls  imd 
des  Zerwürfnisses  mit  den  übrigen  Griechen  in  sich  schliesst. 
Diesen  entgegengearbeitet  zu  haben,  ist  ein  A'erdienst  Kimons. 
Und  das  hat  er  überall  in  männlicher  Weise  mit  ehrlichen, 
offenen  Waffen  gethan,  vielleicht  später  hie  und  da  mit  etwas 
zu  \ie\  Selbstgefühl  und  fast  trotziger  Geringschätzung  seiner 
Gegner,  die  in  berechneter  Leitung  der  Yolksstimmung  daher 
ihn  überflügelten.  AVemi  etwas,  so  ist  sein  Verfahren  gegen 
Themistokles  zu  tadeln;  allein  hier  sind  wir  bei  dem  Mangel 
der  Quellen  nicht  zu  hinreichendem  Urtheil  befähigt,  und  sein 
ganzes  übriges  Leben  lässt  kaum  eine  absichtliche  unedle 
Handlungsweise  vermuthen.  An  Unbestechlichkeit  steht  er 
neben  Aristeides  und  Perikles.  zwischen  denen  er  in  mancher 
Beziehung  ein  vermittelndes  Glied  bildet.  Was  aber  vor  Allem 
ihn  auszeichnet,  was  den  schönsten  Ruhm  seines  Lebens  bil- 
det, das  ist  die  bei  kräftigen  und  ganzen  Naturen,  ^vie  er  war. 
so  seltene  Fähigkeit,  seine  eigenen  Neigungen  zu  überwinden 
und  erlittene  Unbilden  zu  vergessen.  Obgleich  schon  in  früher 
Jugend  durch  des  ^"aters  "S'erurtheiliing  von  schwerem  Un- 
glücke betroffen,  hat  er  doch  zuerst  sich  den  heilsamen  Rath- 
schlägen  des  Themistokles,   des  Führers    der  Gegenpartei,   an- 


KiMON.  51 

geschlossen;  durch  den  »Sturz  des  Areopags  und  den  Bruch 
mit  Sparta  tief  verletzt,  durch  den  Ostrakismos  verbannt,  hat 
er  nicht  nur  keine  feindliche  Handlung  gegen  die  Vaterstadt 
unternommen,  keine  Verbindung  mit  deren  Feinden  einge- 
gangen, sondern  bei  der  ersten  Gefahr  sein  Leben  ihr  dar- 
bringen wollen  und  seine  Parteigenossen  zur  edelsten  Hin- 
gebung begeistert ;  endlich  zurückberufen  hat  er  dem  ehemali- 
gen Gegner  die  Hand  der  Versöhnung  gereicht  und  gemeinsam 
mit  ihm  zum  Heil  der  Vaterstadt  gewirkt.  Stellen  wir  also 
auch  an  genialer  Geisteskraft  seine  Gegner  Themistokles  und 
Perikles  höher  als  ihn,  so  werden  wir.  was  Feldherrntalent, 
Tüchtigkeit  der  Gesinnung,  redliches  Wollen  und  aufopfernde 
Vaterlandsliebe  betrifft,  dem  Kimon  die  Hochachtung  und  Be- 
wunderung nicht  versagen  mid  eine  Zeit  glücklich  preisen,  wo 
solche  Männer,  wenn  auch  sonst  entzweit,  im  Augenblick  der 
Gefahr  für  das  Gemeinwohl  Hand  in  Hand  gingen. 


Stammtafel  des  Kimou. 

Kypselos  i) ungenannte  Frau  zweimal  vermähh— v — ^Stesagoras-J  • 

Miltiades  Kimon  6  KoaXeij-o;*; 

der  Oekiste  des  Cher-sones^  | 

Stesagoras'^,  Miltiades, 

der  Sieger  von  Marathon,  vermählt 
1    mit  einer  Unbekannten  6) 
2)  Hegesipjie,   Tochter  des 
thrakischen^Fürsten  Oloros.'^] 


1  Metiochos  1   Elpinike  2  Kimon  2  Hegesipyle^j 

mit  einer  Perserin       vermählt  mit  vermählt  mit  vermählt  mit 

vermählt  1  Kimon  1  Elpinike  Oloros  Mut- 

2  Kallias  2  Isodike  ter  des  Thu- 

Tochter  des  kydides 

Euryptole- 
■  mos  3 
3  einer  Ar- 
kadierin  aus 
Kleitor  10 


"2.,  Miltiades  2  Kimon  2  Peisianax",  .'i  Thessalos  3  Lakedaimonios  SEleios'-i. 

1)  Kypselos  war  wahrsclieinlicli  der  Sohn  des  Hippolileides,  Mareell.  vit.  Thucyd.  3,  vgl. 
S.  3  Anm.  2.  Der  Name  weist  auf  Verwandtscliaft  mit  dem  Geschlechte  der  Kypseliden  in 
Korinth,  welche  Herodot  VI,  12S  bestätigt. 

2)  Herod.  VI,  103.  Wie  Stesagoras  mit  den  frühem  Philaiden  und  namentlich  Kypselos 
verwandt  war,  iviesen  wir  nicht.     Vöme!  nimmt  übrigens,  wie  ich  aus  Bahr  zu  Herod.  VI,  38 


52  KiMON. 

sehe,  an,  die  Mutter  des  Oekisten  Miltiades  und  des  Kimon  Koalemos  sei  in  erster  Ehe  mit 
Stesagoras,  in  zweiter  mit  Kypselos  vermählt  gewesen.  Eine  bestimmte  Nachricht  ist  mir 
unbekannt. 

3J  Er  starb  kinderlos  Herod.  VI,  3S. 

4)  Herod.  VI,  103.  Plut.  Cim.  4.  Er  wurde  a«f  Anstiften  der  Peisistratiden  ermordet^ 
und  wird  deshalb  nicht  so  unbedeutend  gewesen  sein,   als  der  Spottname  vermuthen  Hesse. 

5)  Im  Prytaneum  auf  dem  Chersones  erschlagen,  kinderlos.    Herod.  VI,  3S. 

öj  Herod.  VI,  41  nach  Marcell.  Leben  des  Thukyd.  §.  11  eine  Athenerin,  was  durchaus 
wahrscheinlich. 

7)  Herod.  VI,  39. 

8J  Diese  Verwandtschaft  unsicher  vgl.  Marcell.  §.  2.  14.  Eine  andere  Combination  hat 
Krüger  im  Leben  des  Thukydides  S.  34  versucht. 

0)  Plut.  Cim.  16.  4.  An  ihr  hing  Kimon  mit  ungewöhnlicher  Liebe.  Sie  gehörte  dem 
Alkmaionidengeschlechte  an,  Euryptolemos  war  Sohn  eines  Megakles.  Dass  sie  vor  der 
Kleitorierin  mit  Kimon  vermählt  war,  wird  nirgends  gemeldet,  ich  halte  es  aber  für  das 
wahrscheinlichere,  weil  wir  aus  Plutarch  wissen,  dass  sie  vor  Kimon  starb  und  weil  es  sehr 
natürlich  erscheint,  da^s  Kimon  zuerst  in  seiner  Heimat  heirathete  und  erst  später,  als  er  in 
ganz  Griechenland  Verbindungen  hatte,  eine  Peloponnesierin  zur  Frau  nahm.  Auch  die 
Namen  der  Söhne  sprechen  dafür. 

10|  Plut.  Cim.  16.  kXiiTooia.  Pericl.  29.  y'J"'^  'Apxa&ixT;'.  Lucas  und  Ekker  nehmen  es 
gewiss  irrig  für  ihren  Eigennamen.  Geht  aber  vielleicht  KXji-iü  '.^outo  . . ,  •  io'j  Kifituvo?  yuvTy 
in  der  Inschrift  C.  I.  G.  l.!>0  sie  etwas  an? 

11)  [Ueber  Euryptolemos  und  Peisianax  cfr.  auch  0.  Jahn:  archaeol.  Ztg.  1S69  n.  F.  I 
S.  175,  176.] 

12)  Nach  Ste^imbrotos  bei  Plut.  Cim.  16  waren  Lakedaimonios  und  Eleios  zwei  Zwillings- 
brüder von  der  Kleitorierin.  Thessalos  von  Isodike,  nach  Diodor  dem  Periegeten  ebendaselbst 
(vgl.  Pericl.  29)  war  auch  Thessalos  von  der  Kleitorierin.  Die  drei  andern  werden  genannt 
von  dem  Scholiasten  zu  Aristid.  III,  p.  515  Dindorf.  Ihre  Namen  waren  aus  der  Familie 
genommen,  die  der  drei  andern  nach  Proxenien.  Da  nun  wahrscheinlich  ist,  dass  Kimon 
zuerst  die  Familiennamen  anwandte  und  da  Peisianax  ganz  bestimmt  auf  die  Familie  der 
Isodike  weist,  so  habe  ich  keinen  Anstand  genommen,  diese  drei  Söhne  ihr  zuzuschreiben, 
vgl.  Xenoph.  Hell.  I,  4,  19.  Miltiades,  Sohn  des  Kimon  bei  Andoc.  de  pac.  §.  3  steht  offen- 
bar nur  aus  Irrthum,  statt  Kimon,  Sohn  des  Miltiades. 


DAS  KRIECtSSYSTEM  DEE  ATHENER 

YOn  dem  Tode  des  Perikles  bis  zur  Sdilaclit  bei  Delion  und 
Demosthenes,  der  Sohn  des  Alkistlienes. 

[Schiceizerisches  Museum  I.    1S37.    S.   372  —  408.] 

Die  Wichtiglveit  de?  peloponnesischen  Kriegs  für  die  poli- 
tische, sittliche  und  intellektuelle  Gestaltung  der  griecliisclien 
Völker  und  Staaten,  die  zu  allgemein  anerkannt  ist,  als  dass 
noch  ein  Wort  darüber  zu  sagen  wäre,  scheint  Ursache  ge- 
worden zn  sein,  dass  man,  besonders  in  neuerer  Zeit,  fast  alle 
Aufmerksamkeit  auf  diese  Seite  desselben  gerichtet,  dagegen  das 
eigentlich  Kriegsgeschichtliche  mehr  ausser  Acht  gelassen  hat. 
Als  Beweis,  dass  auch  das  Letztere  die  gebührende  Aufmerk- 
samkeit erhalten  habe,  könnte  man  zAvar  die  Bemühungen  der 
neuem  Herausgeber  des  Ihukydides  anführen.  Allein  so  sehr 
sie  Anerkennung  verdienen,  so  beschränken  sie  sich  doch,  der 
Natur  der  Sache  nach,  auf  Einzelnheiten,  und  können  nicht  auf 
zusammenhängende  Darstellungen  eingehen.  Daher  scheint 
der  Versuch  gerechtfertigt,  einzelne  Theile  des  grossen  Kam- 
pfes auch  in  kriegsgeschichtlicher  Hinsicht  zu  erörtern,  und 
die  Männer,  welche  hier  auftreten,  zu  würdigen;  und  es  sei 
mir  gestattet,  zunächst  die  Art,  Avie  die  Athener  von  Perikles 
Tod  bis  zu  der  Schacht  bei  Delion.  Olymp.  S7.  4.  bis  S9.  1. 
den  Krieg  führten,   zu  betrachten. 

In  den  ersten  Jahren  des  Krieges  hatte  Perikles  ein 
w^ohl  überdachtes  System  entworfen:  die  Athener  sollten  ihre 
feste  Stadt  vertheidigen ,  das  Land  von  Attika  dagegen  Preis 
geben  und  eine  Hauptschlacht  mit  dem  überlegenen  feindlichen 
Landheere  sorgfältig  venneiden;  sie  sollten  auf  die  Bundesge- 
nossen ein  wachsames  Auge  haben,  die  Verheerung  Attikas 
durch  Landungen  an  der  peloponnesischen  Küste  erwidern,  und 


54  Athen's  Kriegssystem 

den  Feind  durch  häufige  Beunruhigung  nicht  zvi  Athem  kom- 
men lassen,  sich  dabei  ja  nicht  auf  neue  Eroberungen  einlas- 
sen, und  überhaupt  die  Kräfte  nicht  zersplittern.  Auf  diese 
Art  gedachte  Perikles  den  Krieg  in  die  Länge  zu  ziehen,  die 
Peloponnesier.  denen  es  an  Geld  fehlte,  und  die  für  die  ver- 
wüsteten Ländereien  nicht  wie  die  Athener  im  Handel  und  in 
auswärtigen  l^esitzungen  Ersatz  fanden,  zu  ennüden  und  miss- 
muthig  zu  machen,  bis  sie  sich  zu  einem  für  Athen  günstigen 
Frieden  bequemen  würden.  Dieses  System,  wenn  es  auch  bei 
einem  grossen  Theile  der  attischen  Bevölkenmg  Unzufrieden- 
heit erregte,  konnte  dennoch  Perikles,  veiinöge  seiner  Stellung^ 
mit  eiserner  Consequenz  durchführen.  Aehnlich,  nur  nicht  so 
klar  imd  bewusst  aiisgebildet,  war  der  Plan  der  Peloponnesier. 
Sie  hofften  durch  ihre  regelmässigen  Einfälle  in  Attika,  wobei 
Alles  zerstört  und  namentlich  die  Oelbäume,  Athens  Reichthum, 
umgehauen  A^-urden,  die  Athener  dahin  zu  bringen,  sich  den 
früher  gestellten  Forderungen  zu  unterziehen,  und  dass  sie 
nicht  ganz  falsch  gerechnet  hatten,  zeigte  sich  während  der 
Pest,  als  Perikles  eine  kurze  Zeit  vom  Volke  verkannt  und 
Friede  gesucht  ■«Tu-de.  Ausserdem  suchten  die  Peloponnesier 
gleich  von  Anfang  an  Athen  in  seiner  Bundesgenossenschaft 
anzugreifen.  Aviewohl  ohne  Erfolg,  aus  Mangel  an  einer  dem 
Feinde  gewachsenen  Seemacht.  Es  kam  bei  dieser  Kriegsfüh- 
rung also  hauptsächlich  darauf  an,  wer  am  längsten  ausharren 
könne .  wessen  Hülfsmittel  am  längsten  ausreichen  würden ; 
und  da  in  dieser  Beziehung  Athen  den  Peloponnesiern  über- 
legen war,  so  kann  die  Zweckmässigkeit  des  perikleischen 
System  unmöglich  verkannt  Averden.  Es  konnte  aber  nur  be- 
hauptet werden,  so  lange  ein  einiger  fester  Wille  das  Gescliick 
Athens  lenkte.  Mit  Perikles  Tode  hörte  das  auf,  imd  der 
Krieg  gestaltete  sich  sogleich  anders. 

Die  Peloponnesier  behalten  zwar  im  Ganzen  ihre  bis  dahin 
befolgte  Kriegsart ,  nur  entwickeln  sie  mehr  Energie  in  den 
Angriffen  auf  die  attische  Bundesgenossenschaft.  Davon  zeu- 
gen die  Belagerung  Plataias.  die  Aufhetzung  der  Lesbier  zum 
Abfall,  die  Versuche,  Akarnanien  zu  erobern,  zuletzt  der  erfolg- 
reiche Zug  des  Brasidas  nach  Thrakien.  —  Bei  den  Athenena 
dagegen  zeigt  sich  bald  eine  auffallende  Aendeiiing,  die  um  so 
entschiedener   hervortritt,    je   bestimmter   das    Vertheidigungs- 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       55 

System  ausgebildet  war.  Ueberall  treten  sie  auf  einmal  angriffs- 
-\veise  auf,  in  Sicilien,  im  Peloponnese ,  im  AVesten  Griechen- 
lands, in  Megaris  und  13oiotien.  Auf  den  ersten  Anblick 
scheinen  alle  diese  Unternehmungen  unzusammenhängend,  die 
Folge  augenblicklichen  Gutdünkens,  und  so  ist  denn  aiich  die 
allgemeine  Ansicht,  die  Athener  hätten  sich  nach  Perikles  Tod 
zu  unbesonnenem,  planlosem  Handeln  hinreissen  lassen.  Das 
ist  zum  Theil  wahr,  zum  Theil  aber  auch  nicht,  und  man  miiss 
dabei  die  Zeiten  wohl  unterscheiden.  Man  mag  gern  zugeben, 
dass  die  letzte  Unternehmung  gegen  Syrakus  bei  der  Lage  der 
Dinge  vertvegen  war,  allein  sie  fällt  in  eine  spätere  Zeit,  die 
sehr  verschieden  ist  von  derjenigen,  von  welcher  hier  die  Rede 
ist.  Allerdings  wurde  auch  gleich  nach  Perikles  Tod  der  Krieg 
nicht  mehr  in  dem  festen  Zusammenhange  geleitet  väe  bis  da- 
hin. Wie  hätte  das  geschehen  können?  Niemand  vereinigte 
die  Erfordernisse  des  Feldherni  und  Staatsmannes  in  einem 
Grade ,  um  Jahie  lang  den  gesammten  Staat  nach  Innen  und 
Aussen  zu  lenken.  Nikias.  damals  der  einzige,  der  sich  in 
beider  Peziehung  einigen  Namen  erworben  hatte,  ennangelte 
der  nothwendigen  geistigen  Kraft ;  K 1  e  o  n  kam  erst  zufällig 
auf  den  Gedanken,  er  sei  ein  FeldheiT.  luid  musste  sich  bald 
von  seinem  Inthum  überzeugen;  die  meisten  tüchtigen  Heer- 
führer, ein  Phormion,  Laches,  Lamachos,  Faches,  Demosthenes, 
waren  keine  Staatsmänner  imd  konnten  daher  keine  Stellung 
gewinnen,  um  einen  zusammenhängenden  Kriegsplan  längere 
Zeit  ohne  Unterbrechung  durchzuführen.  Nichts  desto  weni- 
ger entdeckt  man  bei  genauerer  Betrachtung  in  der  bezeich- 
neten Zeit  gewisse  Ideen,  welche  sich  durch  den  Kampf  hin- 
durch ziehen  und  demselben  einen  bestimmten  Charakter  auf- 
prägen, Ideen ,  die  zwar  eben  wegen  des  erwähnten  Mangels 
einer  stetigen  Oberleitung  bisweilen  zurücktreten,  aber  wieder 
aufgenommen  werden,  und  die  besonders  in  einem  Feldherrn 
ihren  Vertreter  haben. 

Es  kann  nämlich  die  in  dem  erwähnten  Zeiträume  befolgte 
Art  der  Kriegführung  betrachtet  werden  als  eine,  durch  das 
Bedürfniss  der  Athener  nach  Thätigkeit,  und  durch  den  gün- 
stigen Lauf  des  Krieges  hervorgerufene  Erweitening  des  peri- 
kleischen  Systems  zur  Offensive.  Nach  wie  vor  Avird  Attika 
den  Feinden  preisgegeben,   bis  die  Gefangennehmung  der  Spar- 


56  Athen's  Kkiegssystem 

tiaten  auf  Sphakteria  ein  Mittel  gieht .  den  Einfällen  der  Pe- 
loponnesier  ein  Ziel  zu  setzen ;  ■^^•ie  früher  wird  die  feindliche 
Küste  verheert,  und  auf  die  Bundesgenossen  ein  wachsames 
Ange  gerichtet.  Abfall  blutig  geahndet.  Aber  dabei  bleibt 
man  nicht  stehen,  ^-ielmehr  trachtet  man.  die  Peloponnesier 
zu  isoliren.  sie  von  auswärtigen  Kundesgenossen  und  Hülfs- 
mitteln  abzuschneiden,  und  sie  in  ihrer  eigenen  Heimat,  nicht 
mehr  bloss  vorübergehend  durch  Landungen,  sondern  ununter- 
brochen, zu  bedrängen.  Daher  der  Versuch  im  Westen  Grie- 
chenlands. Avo  Phormion  Athens  Einfluss  erweitert  hatte  ^j .  die 
sehr  bedeutende  Macht  der  Peloponnesier  zu  brechen  und 
ihnen  die  dortigen  Gewässer  ganz  zu  verschliessen.  jene  Gegen- 
den eng  an  das  athenische  Interesse  zu  knüpfen,  und  dann 
von  zwei  Seiten  her  die  peloponnesischen  Bundesgenossen  Mit- 
telgriechenlands, deren  Kern  die  Boiotier  bildeten,  anzugreifen. 
Daher .  zum  Theil  wenigstens ,  selbst  die  erste  Unternehmung 
gegen  Sicilien,  deiui  die  Peloponnesier  bezogen  ihr  meistes 
Getraide  von  dieser  Insel.  Diese  Zufuhr  abzuschneiden  war 
der  Hauptzweck  des  ersten  Unternehmens  2^ .  der  um  so  bedeu- 
tender erscheint,  wenn  man  sich  erinnert,  dass  der  Pontos.  die 
eigentliche  Getraidekammer  des  damaligen  Griechenlands,  den 
Peloponnesiern  ganz  verschlossen  Mar.  Daher  endlich  und  vor- 
züglich das  Anlegen  einer  Reihe  von  festen  Punkten  rings  an 
der  Küste  des  Peloponneses .  von  wo  fortwährend  Streifzüge 
in  das  Land  gemacht  Miirden .  und  wo  die  flüchtigen  Heloten 
und  Sklaven  willkommene  Aufnahme  fanden. 

Dieses  System  hat  nun  freilich  keinen  so  ausschliesslichen 
Schöpfer  und  Vertreter  wie  das  frühere,  "o-ie  es  auch  nie  so 
consequent  sich  darstellt.  Verschiedene  Feldherm  handeln  un- 
abhängig von  einander;  dennoch  erscheint  ein  Mann  der 
Hauptsache  nach  als  Urheber  desselben,  greift  fast  überall  aiich 
in  die  Ausfühning  am  thätigsten  ein.  und  gewinnt  dadurch 
einen  solchen  Einfluss,  dass  die  übrigen  Heerführer  sich  ge- 
wissermassen  ihm  anschliessen.  und  den  Kriege  nach  den  von 
ihm  entworfenen  Planen  führen.  Dieser  Mann  ist  Demo- 
sthenes.    der  Sohn  des  Alkisthenes^''/ .    [aiis  dem   Gau 


1)  Thuk.  II,  68. 

2)  Thuk.  IIL  86. 

3j   [C.  1.  A.  I.  273]. 


VON  Perikles  Toi)  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.      57 

Aphidnai].  der  ohne  Bedenken,  nächst  Perikles  und  Alkibiades, " 
der  avisgezeichnetste  Feldherr  der  Athener  im  peloponnesischen 
Kriege  genannt  werden  darf^).  Neben  ihm  erscheinen  beson- 
ders Nikias  und  Ilippokrates  -) .  welche  zwar  wegen  vornehme- 
rer Geburt  in  äusserem  Ansehen  höher  standen,  aber  offenbar 
beide  hinsichtlich  ihrer  strategischen  Eigenschaften  dem  De- 
mosthenes  untergeordnet  werden  müssen.  Dass  nun  ein  solcher 
innerer  Zusammenhang  in  der  Kriegführung  der  Athener  Aväh- 
rend  des  genannten  Zeitraums  Avirklich  vorhanden  war.  und 
dass  dem  Demosthenes  derselbe  besonders  zuzuschreiben,  soll 
im  Folgenden  nachgewiesen  werden,  wobei  natürlich  nicht  in 
eine  allseitige  Darstellung  der  Ereignisse  eingetreten  werden 
kann. 

Unmittelbar  nach  dem  Tode  des  Perikles  beschäftigten,, 
neben  dem  fortdauernden  Kriege  der  Athener  gegen  die  abge- 
fallenen Bundesgenossen  in  Chalkidike ,  die  Belagerung  von 
Plataia,  der  Abfall  von  Lesbos  und  die  Anstrenginig  der  Athe- 
ner ,  es  wieder  zu  unterAverfen .  die  kriegführenden  Mächte 
längere  Zeit.  Ausserdem  machten  die  Peloponnesier  im  dritten 
Kriegsjahre  einen  Versuch,  Akarnanien  zii  erobern,  der  aber 
von  Phormion  siegreich  zurückgewiesen  wurde.  Der  wegen 
der   Belagerung   Plataias    im    dritten   Kriegsjahre    unterlassene 

1,  Gut  spricht  von  ihm  Poppo  in  den  Prolegom.  zu  Thuk.  I,  2.  S.  84 
und  der  von  demfselben  zu  Thuk.  III,  91  angeführte  Smith.  K.  F.  Her- 
mann's  Abhandlung  de  persona  Niciae,  so  wie  der  zweite  Band  der  Ueber- 
setzung  des  Aristophanes  von  Droysen  konnten  vom  Verfasser  nicht  benutzt 
werden. 

-}  Ueber  Hippoki*ates  Geschlecht  wird  nichts  weiter  berichtet,  als  dass 
er  ein  Sohn  des  Ariphron  heisst.  Wer  dieser  Ariphron  gewesen,  darüber 
findet  sich  in  keinem  Commentar  des  Thukydides  Auskunft,  und  auch  sonst 
erinnere  ich  mich  nicht,  etwas  über  ihn  gefunden  zu  haben.  Bekanntlich 
hiess  nun  aber  Perikles  Bruder  Ariphron,  und  der  mütterliche  Grossvater 
dieser  beiden  Männer  Hippokrates.  Es  scheint  daher  bei  der  Stetigkeit, 
womit  die  Griechen  die  gleichen  Namen  in  den  Familien  festhielten,  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  der  Feldherr  Hippokrates  ein  Neffe  des  Perikles 
war.  Das  Schweigen  der  alten  Schriftsteller  darüber  beweist  nichts  dagegen, 
da  Hippokrates  bei  seinem  Tode  noch  ganz  jung  gcAvesen  zu  sein  scheint, 
und  Thukydides,  der  ihn  beinah  allein  nennt,  solche  Verhältnisse  über- 
haupt nicht  zu  erwähnen  pflegt.  [Die  Sache  ist  ganz  sicher :  auch  wird 
Hippokrates  C.  I.  A.  I,  273  Kolrtpfs-jc,  genannt.  Der  Name  Hippokrates 
kommt  von  dem  Vater  der  Agariste.  Herod.  VI.  131.  cfr.  Bergk  reliqu. 
Com.  p.  350. j 


58  Athen' s  Kriegssystem 

Einfall  in  Attika  Avnrde  im  vierten  Txnd  fünften  wiederholt.  — 
Als  aber  Olymp.  SS.  1.  Plataia  imd  Mytilene  sich  ergeben 
hatten,  erhielten  die  Waffen  freiem  Spielraum,  und  jetzt  eigentlich 
fangen  erst  die  Athener  an,  angriffsweise  zu  Werke  zu  gehen. 
Gleich  nach  Lesbos  UnterAverfung  eroberte  Nikias  die  Insel 
Minoa,  dicht  vor  dem  megarischen  Hafen  Nisaia,  und  legte 
dort  eine  Befestigung  an,  in  welcher  eine  l^esatzung  zurück 
blieb.  Diese  Erobeiimg  hatte  jedoch  noch  mehr  einen  defen- 
<siven  als  offensiven  Zweck.  Man  Avollte  von  Minoa  aus  den 
Hafen  von  Megara  beobachten,  das  Auslaufen  megarischer 
Kaperschiffe  hindern  und  jeden  Versuch  einer  peloponnesischen 
Flotte,  von  dort  aus  Athen  zu  üben'aschen,  unmöglich  machen  *) . 
Der  Besitz  von  Minoa  vervollständigte  das .  was  man  durch 
die  Eroberiuig  Aiginas  und  die  Yerti'eibung  der  Aigineten  be- 
ZAveckt  hatte.  Bald  darauf  zogen  die  Unruhen  auf  Kerkyra 
die  Aufmerksamkeit  der  Peloponnesier  und  Athener  auf  sich. 
Ihr  Ausgang  Avar  den  Athenern ,  Avelche  schnell  und  kräftig 
eingriffen,  durchaus  günstig.  Die  von  den  Peloponnesiern  ge- 
Avonnene  oligarchische  Partei.  Avelche  ziierst  sich  Ungesetzhch- 
keiten  erlaubt  hatte,  büsste  ilu-en  Frevel  furchtbar,  und  die 
Insel  AA'urde  enger  als  zuvor  mit  Athen  A'erbündet;  denn  aus 
dem  bisherigen  Schutzbündnisse  (e-i.[ia/ia)  AA'urde  ein  Schutz- 
und  Trutzbündniss  2) ,  Da  so  Alles  nach  Wunsch  ging,  sandten 
am  Ende  des  Sommers  des  fünften  Kriegsjahres  (Ol.  SS.  2.) 
die  Athener  die  erste  Flotte  nach  Sicilien,  und  A-eiiiessen  da- 
mit zuerst  entschieden  die  von  Peiikles  A'orgezeichnete  Bahn. 
Den  Yonvand  dazu  gab  die  Unterstützung  der  stammA'erwandten 
chalkidischen  Städte,  im  Grunde  aber  wollte  man  theils ,  Avie 
oben  bemerkt,  den  Peloponnesiern  die  Getraidezufuhr  ab- 
schneiden, theils  schon  jetzt  einen  Versuch  machen,  ob  die 
Insel  könne  erobert  werden.  Keiner  von  den  damaligen  be- 
deutenden Männern  Avird  als  Urheber  dieser  Unternehmung 
genannt,  die  Avohl  noch  nicht  als  sehr  wichtig  betrachtet 
Avurde  ^) .     Ohne    grosse   Resultate    dauerte    der  Krieg   auf   der 


1)  Thuk.  III.  51. 

2)  Thuk.    III.    75.       Nt7.o3TpaTo;;    iüapaoiv    -s    i'rpasae    vtal    reii^st    uijTC 
|'j-f/_iopf,oai    äXX-fjXoi;    ....    arovod;    roö;    ä}.).-f;Xo'j;    -rn-qzaiihrfJi    ■/,'xi    reo; 

3;  Es  lässt  sich  das  wohl  daraus  schliessen,  dass  nicht,  Avie  beim  ZAvei- 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       59 

Insel  bis  ins  achte  Kriegsjalir  (Ol.  S9.  1.),  da  schlössen  die 
griechischen  Staaten  Siciliens  einen  Frieden,  der  die  Athener, 
welche  kurz  ziivor  mit  einer  zweiten  zahlreichern  Flotte  ver- 
stärkt worden  waren,  zur  Eückkehr  nöthigte  K  .  Erfolgreichere 
Ereignisse  fielen  in  dieser  Zeit  in  Griechenland  selber  vor.  ]?eim 
Beginn  des  sechsten  Kriegsjahres  hatten  die  Peloponnesier  sich 
zum  Einfall  in  Attika  auf  dem  Isthmos  unter  König  Agis  versam- 
melt, aber,  durch  Erdbeben  veranlasst,  sich  -uieder  zurückge- 
zogen. Attika  blieb  dies  Jahr  verschont.  Die  Athener  aber 
hatten  um  dieselbe  Zeit  zwei  Flotten  ausgesandt :  die  zahl- 
reichere, von  60  Schiffen,  führte  Nikias  gegen  die  Insel 
Melos.  dann,  als  deren  Eroberung  nicht  gelang,  an  die  boio- 
tisclie  Küste  bei  Tanagra.  wo  zugleich  ein  attisches  Landheer 
erschien  luid  die  zu  Hülfe  herbeigeeilten  Boiotier  schlug.  Doch 
hatte  dieser  Angriff  noch  keinen  weitern  ZAveck,  als,  in  der 
unter  Perikles  üblichen  Weise,  das  Land  zu  plündern  und  zu 
venA'üsten.  Avas  gleich  darauf  an  der  Küste  von  Lokris  -vAaeder- 
holt  Avurde  ^j . 

Eine  zAA-eite  Flotte  von  30  Schiffen  befehligten  De- 
mosthenes,  der  Sohn  des  Alkisthenes,  der  hier  zum  ersten- 
mal genannt  Avird,  und  Prokies,  der  Sohn  des  Theodoros,  der 
aber  als  ganz  untergeordnet  erscheint.  Die  Bestimmung  die- 
ser Flotte  Avar,  nach  früherer  Uebung,  den  Peloponnes  zu  um- 
schiffen, und  den  l^undesgenossen  im  Westen  Griechenlands 
Schutz  und  Beistand  zu  leisten  gegen  die  Feinde ,  Avelche  in 
den  korinthischen  Städten  Amprakia,  Leukas  und  Anaktorion 
dort  eine  drohende  Macht  besassen.  Demosthenes  Avandte  sich 
zuerst  nach  der  Küste  von  Leukadia  und  gcAvann  bei  Ellome- 
non,  durch  einen  Hinterhalt,  einen  kleinen  Vortheil.  Dann 
versammelte  er  alle  Bundesgenossen  jener  Gegend,  Akarnanier, 
Zakynthier,  Kephallenier.  nebst  15  Schiffen  aus  Kerkyra,  be- 
gab sich  vor  Leukas  selber,  und  verAvüstete  das  ganze  Gebiet. 
Die  Akarnanier,   denen  die  Leukadier  höchst  lästige  Nachbarn 

ten  Sicilischen  Krieg,  von  Widerspruch  in  der  Volksversammlung  berichtet 
Avird.  Auch  A\ird  kein  Athener  als  besonderer  Betreiber  der  Unternehmung, 
Avie  später  Alkibiades,  genannt.  Gorgias  Beredsamkeit  scheint  das  Meiste 
gethan  zu  haben.     Vgl.  Diod.  XII.  53, 

1)  Thuk.  IV.  65. 

2    Thuk.  III.  91. 


ßO  Athen's  Kriegssystem 

■waren,  baten  ihn  dringend  die  Stadt  ernstlich  zn  belagern,  da 
die  Eroberimg  mit  den  vorhandenen  Streitkräften  leicht  schien. 
Aber  Demosthenes  willfahrte  ihnen  nicht,  denn  er  beabsich- 
tigte eine  grössere  Unternehmung.  Die  Messenier  aus  Naii- 
paktos  überredeten  ihn  nämlich  einen  Angriff  auf  Aitolien  zu 
machen .  von  wo  aus  die  Besitzungen  der  Athener  am  korin- 
thischen Meerbusen  immer  bedroht  seien.  Die  Eroberung 
werde  einem  so  zahlreichen  Heere  nicht  schwer  fallen,  da  die 
Aitoler  nur  offene,  weit  von  einander  entfernte  Flecken  be- 
wohnten. Sei  aber  einmal  Aitolien  unterworfen,  so  werde  das 
ganze  westliche  Festland  leicht  für  die  Athener  zu  gewinnen 
sein.  Demosthenes  folgte  der  Aufforderimg  hauptsächlich  da- 
rum, weil  er  einen  weitern  Plan  daran  knüpfte.  Er  beabsich- 
tigte nämlich  nach  Aitoliens  Eroberung  mit  einem  aus  den 
tapfern  halbbarbarischen  Völkerschaften  jener  Gegend  zusam- 
mengesetzten Heere  durch  das  Gebiet  der  ozolischen  Lokrer 
um  den  Parnass,  den  er  rechts  liegen  lassen  wollte,  nach  dem 
dorischen  Kytinion  zu  ziehen.  Von  da  wollte  er  in  das  Land 
der  Phokier  hinabsteigen.  Diese  hoifte  er  leicht  auf  Seiten 
der  Athener  zu  bringen,  denen  sie  immer  befreundet  gewesen 
waren.  Mit  den  Delphiern.  Doriern  und  Thebaneni  fortAväh- 
rend  in  Streitigkeiten  verwickelt,  zog  sie  eine  natürliche  Poli- 
tik zu  Athen,  und  nur  der  Drang  der  Verhältnisse  hatte  sie 
im  peloponnesischen  Kriege  auf  Seiten  der  Spartiaten  gestellt  i  - , 

1,  Poppos  Bemerkung  zu  Thuk.  II,  9,  und  in  den  Prolegom.  I,  2, 
p.  297,  wo  er  die  Yermuthung  ausspricht,  die  Phokier  seien  -wohl  irrthüm- 
lich  von  Thukydides  und  Diodor  als  Bundesgenossen  der  Peloponnesier 
angeführt,  ist  ganz  unbegründet.  Der  Krieg,  den  sie  während  des  Friedens 
des  Nikias  mit  den  Lokrern  führen ,  beweist  so  wenig ,  als  man  aus  dem 
Kriege  der  Eleer  und  Mantineier  gegen  Sparta  den  Schluss  ziehen  darf, 
sie  seien  früher  nicht  mit  Sparta  verbündet  gewesen.  Die  "N^'orte  des  Thuky- 
dides III,  IUI,  oid  TÖ  Tü)v  (ptuy.Etov  £yi)o;  o£otoT£;  hat  derselbe  Gelehrte,  von 
diesem  Irrthum  befangen,  missverstanden,  obwohl  Bloomfield  das  Richtige 
giebt.  Der  Sinn  ist  nämlich  der :  die  Lokrer  sahen  ein,  dass  sie  dem  ver- 
einigten feindlichen  Heere  nicht  widerstehen  könnten ,  und  fürchteten  na- 
mentlich,  ihre  alten  Feinde,  die  Phokier,  möchten  bei  dieser  Gelegenheit 
ihre  AVuth  an  ihnen  auslassen ;  d«m  zuvorzukommen ,  schliessen  sie  mit 
Eurylochos  Bundesgenossenschaft,  die  sie  natürlich  gegen  alle  Feindselig- 
keit von  Seiten  peloponnesischer  Bundesgenossen  sicher  stellte.  Merk- 
würdig ist  aber,  dass  Poppo  selbst  daran  keinen  Anstoss  nimmt,  dass  nach 
dem   Sicilischen  Kriege   die  Spartiaten   den  Phokiern    15  Schiffe   zu  bauen 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       61 

Im  migünstigsten  Falle  meinte  Demosthenes  sie  durch  Gewalt 
zur  Heeresfolge  zwingen  zn  können.  VonPhokis  führte  der  Weg 
im  Kephissosthale  ohne  Hindernisse  nach  dem  eigentlichen  Ziele 
des  beabsichtigten  Feldzugs,  nach  Boiotien,  das  von  dieser 
Seite  immer  mit  dem  meisten  Erfolge  angegriffen  worden  ist. 
Demosthenes  konnte  dort  auf  zahlreiche  Anhänger  rechnen  und 
hoffte  so,  ohne  Athen  grosse  Anstrengungen  zu  verursachen, 
den  mächtigsten  Staat  vom  liunde  mit  Sparta  loszureissen. 

Dieser  wohl  entworfene  Plan  scheiterte  aber  gleich  anfangs 
aus  verschiedenen  Gründen.  Zuerst  nämlich  Aveigerten  sich 
die  Akarnanier,  erzürnt,  dass  Demosthenes  nicht  Leukas  be- 
lagere, daran  Theil  zu  nehmen,  und  auch  die  Kerkyraier  kehr- 
ten nach  Hause  zurück.  So  sah  sich  der  athenische  Feldherr 
eines  grossen  Theils  seiner  Truppen  beraubt  und  auf  die  Ke- 
phallenier,  Zakynthier,  Messenier  aus  Naupaktos  imd  300 
Athener  beschränkt,  woz\i  im  Innern  des  Landes  noch  die 
ozolischen  Lokrer  mit  ihrer  gesammten  Streitmacht  stossen 
sollten.  Diese  Avaren  besonders  wichtig,  Aveil  sie  die  gleiche 
Bewaffnung  wie  die  Aitoler  hatten,  und  deren  Kriegsweise 
kannten.  Demosthenes  drang  nun  mit  seinem  Heere,  von  dem 
lokrischen  Orte  Oineon  aus ,  in  Aitolien  em ,  und  machte  an 
den  drei  ersten  Tagen  glückliche  Fortschritte.  Seine  Absicht 
war,  zuerst  nur  die  näher  gelegenen  Theile  Aitoliens,  nament- 
lich den  Stamm  der  Apodoter,  z\i  unterAverfen ,  dann  nach 
Naupaktos  zurückzukehren,  und  in  einem  zAveiten  Feldzuge  die 
entfernten  Ophioneer  anzugreifen.  Er  Avollte  also  nichts  über- 
eilen. Da  er  aber  selber  nicht  genaue  Kinide  von  Aitolien 
besass,  und  den  Messeniern  zu  unbedingtes  Zutrauen  schenkte, 
Hess  er  sich  von  diesen  bcAvegen ,  rasch  Aveiter  vorzudringen, 
ohne  erst  nach  Naupaktos  zurückzukehren,  und  ohne  die  Lokrer 
zu  erAAarten;  denn  sie  stellten  ihm  vor,  es  komme  vorzüglich 
darauf  an  den  Aitolern  keine  Zeit  zu  lassen  um  sich  zu  sam- 
meln. So  geschah  es  denn,  dass  er  bis  zu  dem  Flecken  Aigi- 
tion  ohne  Hindernisse  vordrang.  Dort  aber  hatte  sich  bereits 
die  gesammte  Macht  der  Aitoler  A'ersammelt,  und  ohne  den 
Athenern   irgend  avo  in  offener  Feldschlacht  entgegenzutreten, 


auftragen.     Thuk.  VIII,  '.i.  —  Ohne  Zweifel  war  Phokis  seit  der  Schlacht 
bei  Koroneia  Ol.  83.  2,  für  Athen  verloren. 


62  Athen's  Kriegssystem 

bedrängten  sie  dieselben  von  allen  Seiten  mit  "Wurfgeschossen 
dermassen.  dass  diese  den  Rückzug  antreten  mussten.  auf  dem 
sie  vollkommen  geschlagen  und  grösstentheils  zersprengt  wwr- 
den.  Der  Verlust  war  gross:  von  den  300  Athenern  allein 
■waren  120  geblieben,  unter  ihnen  der  Feldherr  Prokies.  Der 
Eest  erreichte  Oineon  und  die  Küste ,  und  begab  sich  über 
Na'upaktos  nach  Hause.  Xur  Demosthenes  blieb  zurück, 
weil  er  nach  einer  solchen  Niederlage  den  Zoni  der  Athener 
fürchtete  ') .  Er  fand  aber  bald  Gelegenheit  seinen  Fehler  wieder 
glänzend  gut  zu  machen.  Die  Aitoler  hielten  nämlich  mit 
Recht  den  Zeitpunkt  für  passend,  Xaupaktos  zu  erobern.  Der 
Spartiate  Eurylochos  führte  ihnen  im  Herbste  von  Delphi 
aus  ein  Heer  von  3000  Mann  zu;  das  ganze  ozolische  Lokris 
wurde,  tlieils  durch  Vertrag,  theils  durch  Gewalt  genommen, 
^lit  den  Aitolern  vereinigt  verwüstete  nun  das  Heer  das  ganze 
naupaktische  Gebiet,  nahm  selbst  die  unbefestigte  Vorstadt, 
und  das  nah  gelegene  Molykrion.  Aber  Xaupaktos  rettete 
Demosthenes.  Denn  in  aller  Eile  hatte  er  sich  nach  Akania- 
nien  begeben,  und  durch  dringende  Vorstellungen  1000  Hopli- 
ten  erhalten,  welche  er  eben  noch  zin-  rechten  Zeit  zur  See 
in  die  bedrohte  Stadt  führte. 

Eurylochos  zog  sich  in  die  Ebene  von  Pleuron  und  Kaly- 
don.  Dorthin  kamen  Boten  aus  Amprakia,  und  forderten  ihn 
zu  einem  Feldzug  gegen  das  amphilochische  Argos  und 
Akarnanien  auf.  deren  Besitz  Sparta  die  HeiTschaft  über 
das  ganze  Festland  sichern  werde.  Eurylochos  ging  in  die 
"\  erschlage  ein .  und  im  Anfange  des  Winters  fand  die  viel- 
versprechende Unternehmung  statt.  Die  Amprakioten,  die 
streitbarsten  peloponnesischen  Bmidesgenossen  jener  Gegend, 
rückten  von  ihrer  Stadt  mit  3000  Hopliten  gegen  Argos  aus. 
^  on  der  andern  Seite  her  führte  Eurylochos  sein  Heer  aus 
Aitolien  heran.  Ungehindert  durchzog  er  Akarnanien;  denn 
mit  Ausnahme  einer  Besatzung,  die  in  Stratos  zurückblieb, 
waren  die  Akarnanier  den  Amphilochiern  zu  Hülfe  geeilt.  Ein 
Theil  war  in  Argos  selbst,  der  andere  hatte  einen,  wie  es 
scheint,   südöstlich  davon  gelegenen  Ort.   Krenai.   besetzt,   um 


1]  Thuk.  III  91.  94  —  9S.  —  Dicd.  XII  60. 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       63 

durch  diese  Stellung  eine  "N'ereinigung  der  Amprakioten  und 
des  Eurylochos  zu  verhindern.  Nichts  desto  weniger  gelang 
es  diesem,  in  der  Nacht  unbemerkt  zwischen  Argos  und  Kre- 
nai  durchzuziehen  ^i  ,  und  sich  mit  den  Amprakioten  zu  ver- 
einigen, welche  25  Stadien  nördlich  von  Argos  bei  Olpai^i, 
nicht  Aveit  vom  Meere,   eine  Stellung  genommen  hatten. 

Gleichzeitig  waren  aber,  auf  die  Bitten  der  Akarnanier, 
auch  Demosthenes  mit  200  messenischen  Hopliten  und  60  Bo- 
genschützen aus  Naupaktos,  und  20  attische  Schiffe,  die  an 
der  Küste  des  Peloponneses  standen,  eingetroffen.  Die  Flotte 
nahm  Olpai  gegenüber  eine  Stellung.  Demosthenes  aber  wurde 
zum  Oberbefehlshaber  der  in  Argos  versammelten  Streitkräfte 
ernannt,  ein  Beweis,  dass  er  das  Zutrauen  der  Akarnanier  wie- 
der vollständig  gewonnen  hatte.  Er  führte  das  Heer  gegen 
Olpai  hinaus,  und  bezog  im  Angesicht  des  Feindes,  nur  durch 
eine  Schlucht  von  ihm  getrennt,  ein  Lager.  Fünf  Tage  lagen 
sich  die  Heere  gegenüber:  am  sechsten  kam  es  zur  Schlacht. 
Der  überlegenen  Zahl  der  Feinde  begegnete  Demosthenes  durch 

1)  Poppos  Irrthum  als  ob  Eurylochos  in  einem  weiten  Bogen  die  Stel- 
lung bei  Krenai  umgangen,  hat  Goeller  richtig  aus  den  "Worten  des  Thuk. 
III,  106:  'AolI  oie^E/.dövTSi  (jL£Ta|'j  Tq<;  xe  'ApY^'wv  roXeo);  -/.otl  Tf|;  iril  Kpfjvai? 
'Axapvavttiv  cpuXaicfjs  IXa&ov  nachgewiesen.  Der  Irrthum  beruht  auf  der 
Ansicht,  welche  sich  P.  von  der  Lage  des  Agraischen  Landes  gemacht  hat, 
indem  er  aus  Thuk.  II,  102  schliesst,  es  könne  nicht  südöstlich  von  Amphi- 
lochien  gelegen  haben.  Allein ,  wenn  auch  zugegeben  werden  kann ,  dass 
jene  Stelle  darauf  deute,  ein  Theil  des  Agraierlandes  habe  nordöstlich  von 
Amphilochien  gelegen,  so  hindert  das  nicht,  dass  es  sich  südwärts  bis  an 
die  akarnanische  Grenze  gezogen,  und  dort  etwas  gegen  den  amprakischen 
Meerbusen  eingebogen  habe.  Dass  es  diesen  berührt,  wie  K.  O.  Müller 
zur  Karte  des  nördlichen  Griechenlands  aus  Thuk.  III,  106  schliesst,  lässt 
sich  wenigstens  nicht  nut  Bestimmtheit  beweisen,  und  es  scheint  im  Gegen- 
theil  sehr  wahrscheinlich,  dass  an  der  Küste  das  Argeiische  und  Akarna- 
nische Gebiet  an  einander  stiessen. 

'-)  Die  Worte  des  Thuk.  III,  105:  S  -oxe  'A/.apväve;  x£iyisa|j.£voi  -/.otvoj 
Sixaarfjouo  £ypü>~rto  sind  mit  Kruse  Hellas  II,  2.  S.  333  so  zu  fassen,  dass 
sie  mit  den  Amphilochiern  es  gemeinsam  hatten.  Die  Einwendung ,  es 
müsste  dann  heissen  actiai  v.ai  xoT?  'AficptÄoyoi;  ist  darum  unbegründet,  weil 
aus  Thuk.  II,  68  hervorgeht,  dass  die  Amphilochier  durchaus  mit  den 
Akarnaniern  einen  Staat  bildeten,  wesshalb  sie  recht  wohl  unter  dem  ge- 
meinsamen Namen  Akarnanien  mitbegi-iffen  sein  können  ,  tote  ist  nur  zu 
T£t/iaa[j.£voi  zu  ziehen.  —  Das  Verhältniss  von  Olpai  und  Metropolis  genau 
zu  bestimmen  wage  ich  nicht. 


64  Athen's  Kriegssystem 

einen  geschickt  gelegten  Hinterhalt.  Er  selbst  stand  mit  sei- 
nen Messeniern  und  einigen  Athenern  auf  dem  rechten  Flügel, 
die  Akarnanier  und  die  amphilochischen  Wurfspiesschleuderer 
nahmen  den  übrigen  Theil  der  Schiachtor dnimg  ein.  Ihm  ge- 
genüber stand  Eurylochos  auf  dem  äussersten  linken  Flügel; 
an  ihn  stiessen  die  Mantineer,  das  Mitteltreffen  und  den  rech- 
ten Flügel  bildeten  Amprakioten  und  Peloponnesier  vermischt 
aufgestellt.  Beim  Beginne  des  Kampfes  überflügelte  und  um- 
ringte Eurylochos  den  feindlichen  rechten  Flügel  bereits ,  als 
die  im  Hinterhalt  versteckten  400  Mann  hervorbrachen,  und 
ihm  in  den  Rücken  fielen.  Da  wandte  sich  der  linke  pelo- 
ponnesische  Flügel  zur  Flucht  und  riss  den  grössern  Theil  des 
übrigen  Heeres  mit.  Der  rechte  Flügel,  der  unterdessen  die 
Akarnanier  geschlagen  und  verfolgt  hatte,  sah  sich  nun  von 
allen  Seiten  bedrängt ,  und  konnte  nur  mit  grossem  Verlust 
und  in  Unordnung  das  Lager  wieder  erreichen.  Der  Sieg  des 
Demosthenes  war  vollständig,  Eurylochos  und  der  zweite  Be- 
fehlshaber Makarios  Avaren  geblieben.  Schlau  wusste  Demo- 
sthenes die  Erbärmlichkeit  und  Gewissenlosigkeit  des  jetzt  an 
Eurylochos  Stelle  getretenen  Menedaios  zu  benutzen,  um  die 
Amprakioten  ganz  zu  vernichten  und  die  Spartiaten  bei  ihren 
Bundesgenossen  in  üblen  Ruf  zu  bringen.  Er  schloss  mit  Mene- 
daios und  andern  Befehlshabern  und  angesehenen  Männern  der 
Peloponnesier  ^  und  mit  den  beim  Heere  befindlichen  Manti- 
neern  einen  Separatvertrag,  der  ihnen  freien  Abzug  gestattete. 
Heimlich  wollten  sich  nun  diese  vom  Lager  entfernen.  Als 
die  Amprakioten  und  übrigen  Bundesgenossen,  die  von  dem 
Verrathe  keine  Ahnung  hatten,  es  bemerkten,  zogen  sie  auch  aus 
dem  Lager,  wurden  aber  von  den  Feinden  überfallen,  und  etwa 
200  getödtet,   die  Uebrigen  fanden  eine  Zuflucht  bei  dem  Für- 


';  Thuk.  III,  109  sagt  ausdrücklich  zrA-tW'-i'.  MavT'vcijjt  -/.cti  Msveoatoj 
Ttat  ToT;  aXXoi;  apyo'jGi  twv  niXoTtovvY^oicov  wi  oaot  otjTwv  7;aav  ä;ioXoYw-a-oi, 
also  durchaus  nicht  mit  aller  zum  Heere  des  Eurylochos  gehörigen  Mann» 
Schaft.  Unter  dem  ii.ia&o',i6po;  o/>.oc,  der  mit  den  Amprakioten  verbunden 
wird ,  sind  daher  ohne  Zweifel  die  übrigen  Bundesgenossen  zu  verstehen, 
welche  Eurylochos  herbeigeführt  hatte ,  namentlich  die  aus  Herakleia,  zu 
welcher  Erklärung  auch  Poppo  geneigt  ist.  Die  Bedenklichkeiten,  die  er 
dagegen  noch  äussert,  verschwinden,  so  bald  man  beachtet,  dass  keineswegs 
das  ganze  ehemalige  Heer  des  Eurylochos  in  dem  Vertrag  begriffen  war. 


VON  Perikles  Tod  bis  zvr  Schlacht  bei  Deliox.       65 

sten  der  Agraier,   Salynthios.    Das  geschah  am  Tage  nach  der 
Schlacht. 

Unterdessen  hatte  Demosthenes  Kunde  vom  Herannahen 
eines  zweiten  amprakischen  Heeres  erhalten.  Schon  vor  der 
Schlacht  nämlich,  noch  vor  Enrylochos  Ankunft,  hatten  die  bei 
Olpai  aufgestellten  Araprakioten  lioten  in  ihre  Stadt  geschickt, 
mit  dem  Begelu'en,  dass  man  ilmen  mit  aller  AvafFenfähigen 
Mannschaft  zu  Hülfe  ziehe.  Dem  Gesuche  war  entsprochen 
Avorden,  und,  ohne  von  der  Schlacht  etwas  zu  wissen,  rückte 
das  neue  Heer  auf  dem  Wege  gegen  Argos  vor.  Auf  die  erste 
Kunde  davon  schickte  Demosthenes  einen  Theil  seiner  Mann- 
schaft ab,  um  alle  günstigen  Plätze  zu  besetzen  und  Verstecke 
zu  legen.  Die  Amprakioten  waren  indess  arglos  bis  zu  zwei 
Hügeln  gekommen,  Avelche  den  Namen  Idomene  trugen.  Auf 
dem  kleinern  nahmen  sie  für  die  Nacht  ihre  Lagerstätte,  den 
grossem  hatten  die  Leute  des  Demosthenes  besetzt.  Am  Abend 
führte  dieser  das  übrige  Heer  in  zwei  Colonnen  gegen  Idomene ; 
die  erste  zog,  unter  seinem  unmittelbaren  Befehl,  auf  dem 
geraden  Wege;  die  zweite  rechts  durch  die  amphilochischen 
Gebirge.  Mit  der  ersten  Morgendämmerung  überfiel  er  die 
Feinde  noch  im  Schlafe.  Sie  ahnten  die  Nähe  des  Feindes 
so  wenig,  dass  sie  die  von  Demosthenes  absichtlich  vorange- 
stellten dorischredenden  Messenier  anfangs  für  Freunde  hielten. 
Ein  grosser  Theil  wurde  axif  der  Stelle  niedergemacht,  und 
auch  von  den  Flüchtigen  entkamen  Wenige.  Denn  die  einen 
fanden  den  Tod  durch  die  im  Hinterhalt  lauernden  Feinde  und 
die  der  Gegend  kundigen  verfolgenden  Amphilochier,  manche 
stürzten  sich  auch  verzweifelt  ins  Meer,  und  wurden  von  der 
Mannschaft  der  attischen  Flotte  erschlagen.  Nach  diesem  im 
Verlauf  von  kaum  drei  Tagen  errungenen  Doppelsiege  kehrte 
das  verbündete  Heer  nach  Argos  zurück.  Demosthenes 
wünschte  zwar  gegen  Amprakia  zu  ziehen,  welches,  fast  aller 
wehrhaften  Mannschaft  entblösst,  nicht  widerstehen  konnte. 
Allein  die  Akarnanier  und  Amphilochier  weigerten  sich.  Aveil 
sie  fürchteten,  die  athenische  Herrschaft  möchte  ihnen  nach 
der  Eroberung  Amprakias  drückend  werden.  Nichts  desto 
weniger  war  der  Erfolg  des  Feldzuges  gross.  Denn  der  zweite 
Versuch  der  Peloponnesier,  Akarnanien  zu  erobern,  war  ver- 
eitelt und  die  Macht  Amprakias,    des  Mittelpmiktes  der  pelo- 

Vischer.  Schriften  I.  S 


(50  Athen' s  Kriegssystem 

ponnesischen  Hundesgenossen  jener  Gegend,  gebrochen.  Die 
Zahl  der  Todten.  die  genannt  -«iirde,  hat  Thukydides  nicht  in 
seine  Darstelhmg  aufgenommen,  weil  sie  unglaublich  schien 
im  'S'erhältniss  zur  Grösse  der  Stadt.  Auf  jeden  Fall  war  der 
Verlust  ausserordentlich,  da  Demosthenes  allein  300  vollstän- 
dige Rüstungen  als  Antheil  an  der  Beute  erhielt.  Unbesorgt 
konnte  er  jetzt  nach  Athen  zurückkehren.  —  Nach  seiner  Ab- 
reise schlössen  die  Akarnanier  und  Amphilochier  mit  den  Am- 
prakioten  Friede  und  Bundesgenossenschaft .  wobei  die  Stel- 
lung beider  Theile  zu  den  Peloponnesiern  und  den  Athenern 
Berücksichtigung  fand.  Amprakia  musste  begreiflich  alle  Gei- 
seln und  Plätze  der  Amphilochier,  die  es  noch  hatte,  heraus- 
geben, und  auch  versprechen,  dem  stammverwandten  Anakto- 
rion  keine  Hülfe  zu  leisten  V-  — 

Wirft  man  nun  einen  Blick  auf  das .  was  Demosthenes 
in  diesem  Jahre  gethan  hat,  so  mag  man  gerne  zugeben,  dass  er 
sich  zu  dem  Angriffe  gegen  die  Aitoler  etwas  rasch  hatte  hm- 
rei«sen  lassen,  und  bei  der  Ausführung  nicht  die  nöthige  Vor- 
sicht gezeigt  hatte,  indem  er  den  Messeniern  zu  leicht  glaubte ; 
aber  auf  der  andern  Seite  muss  man  auch  eingestehen,  dass 
der  Plan,  den  er  auf  die  Eroberung  von  Aitolien  basirte.  eben 
so  grossartig  als  wohlberechnet  war.  Das  Unglück,  das  ihn 
betraf,  machte  ihn  für  die  Zukunft  behutsamer.  In  dem  zwei- 
ten Theile  des  Kampfes,  der  ^'ertheidigung  von  Xaupaktos 
und  dem  Krieg  in  Amphilochien,  hat  er  sich  als  einen  eben  so 
thatkräftigen  und  entschlossenen,  als  umsichtigen  und  schlauen 
Feldherrn  gezeigt,  der  im  hohen  Grade  das  Zutrauen  der  Un- 
tergebenen zu  gewinnen  A^msste.  Ihm  verdankte  Athen  die 
Erhaltung  und  Befestigung  der  Hen-schaft  in  jenen  Gegenden, 
und  nur  ungünstige  Verhältnisse,  deren  Beseitigung  nicht  in 
seiner  Gewalt  stand,  hinderten  ihn  an  der  Eroberung  von 
Amprakia . 

Den  Einfluss,  welchen  diese  gelungenen  Kriegsthaten  ihm 
verschafften,  benutzte  Demosthenes  nur,  um  sich  noch  grössere 
Verdienste  zu  erwerben.  Im  Frühling  des  folgenden,  sieben- 
ten  Jahres    sandten   nämlich    die  Athener,    wäln-end  die  Pelo- 


1)   Ueber   den   ganzen   Feldzug   vgl.   man   Thuk.    III.     li'5  — 114.     Sehr 
ungenau  ist  Diodor.  XII.  üO. 


vox  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  kei  Deliox.       67 

ponnesier  ihren  Einfall  in  Attika  machten,  eine  Flotte  um  den 
Peloponnes.  die  zugleich  die  Uestimmung  hatte,  die  Ueberreste 
der  oligarchischen  Partei  in  Kerkyra  zu  vernichten  und  sich 
dann  nach  Sicilien  zu  begeben.  Befehlshaber  waren  Euryme- 
don  und  Sophokles :  ]3emosthenes  aber ,  der  für  dieses  Jahr 
nicht  zum  Feldherrn  gcAvälilt  war,  begleitete  sie  als  Freiwilli- 
ger und  hatte  vom  athenischen  "N'olke  die  Vollmacht  erhalten, 
die  Flotte  an  der  peloponnesischen  Küste  nach  Gutbefinden 
zu  verwenden.  Als  sie  nun  an  der  lakonischen  Küste  Avaren, 
und  vernahmen,  die  Flotte  der  Peloponnesier  sei  bereits  bei 
Kerkyra ,  war  die  Absicht  des  Eur}Tnedon  und  Sophokles ,  so 
schnell  als  möglich  dorthin  zu  eilen.  Demosthenes  aber  ver- 
langte, sie  sollten  zuerst  bei  Pylos,  im  ehemaligen  Messenien. 
anlegen.  Als  die  Feldherren  widersprachen,  zwang  sie  ein 
Sturm,  in  den  Hafen  einzulaufen.  Nun  verlangte  Demosthe- 
nes,  man  solle  den  verödeten  Platz  ^]   sogleich  befestigen,  dazu 


i)  Uas  Vefhältniss  von  Pylos  vind  Koryphasion,  worüber  die  Ausleger 
der  verachiedenen  Schriftsteller  und  die  Geographen  nicht  einig  sind  ,  ist 
ohne  Zweifel  folgendes.  Pylos  hiess  die  altmessenische  Stadt,  die  läpgst 
verödet  war,  und  ursprünglich  nach  Strabo  am  Fusse  des  Aigaleos  lag 
Nach  deren  Zerstörung  hatte  sich  ein  Theil  der  Bewohner  auf  der  Spitze 
■des  Vorgebirges  niedergelassen  [br.b  tüj  Korj'jznz'wj)  und  auch  dieser  Ort 
trug  wohl  den  Namen  Pylos,  war  aber  nach  Thuk.  Worten  auch  nicht 
mehr  bewohnt.  IV,  3:  -/.al  6  At|[ao3H£vtj;  eürtü;  -rfiio'j  XEiyiCsoi^at  to  /(uoiov 
....  xil  d7:l'-faiv£  ttoX/.TjV  eüropiav  ;'j).ujv  te  7.at  Xii)tuv,  7.ai  cp6o£i  icoipTSpov  ov 
xal  ipfjjjiov  a'jTO  t£  xai  Izi  r.o'f.i)  ttj;  ymrjrii.  Diesen  Ort  befestigte 
Demosthenes;  denn  es  ist  ganz  klar,  dass  seine  Befestigung  nur  nach  der 
einen  Seite  an  den  Hafen,  nach  der  andern  aber  an  die  hohe  See  (rfXaYo;) 
stiess.  Er  nannte  ihn  nun  mit  dem  bei  dem  Griechen  historisch  berühm- 
ten, besonders  den  Messeniern  werthen  Namen  Pylos,  der  streng  genommen 
nur  auf  den  Ort  selbst,  nicht  auf  die  Gegend  ging,  und  wenn  Thuk.  V,  35 
sagt,  die  Athener  hätten  Pylos  nicht  zurück  geben  wollen,  obwohl  sie  auch 
die  Umgegend  zurück  geben  sollten,  so  ist  daran  kein  Anstoss  zu  nehmen. 
Indem  sie  ohne  Pylos  selber  das  ganze  Vorgebirge  nicht  behaupten  konn- 
ten. Wie  ungenau  die  Athener  mit  dem  Worte  umgingen ,  beweist  der 
Ausdruck  ot  Ia  O-j/.o'j  }.r^-^%h-z^  Arist.  Wolken,  v.  186  woraus  doch  nie- 
mand schliessen  wird,  auch  Sphakteria  habe  den  Namen  Pylos  gehabt.  — 
Wenn  nun  also  Pylos  eigentlich  nur  die  Stadt  und  Festung  bezeichnet, 
und  ungenau  weiter  ausgedehnt  wird,  so  ist  umgekehrt  Koryphasion  eigent- 
lich das  Vorgebirge,  wie  aus  Strabo,  Pausanias  und  Ptolemäus  hervorgeht ; 
aber  die  Lakedaimonier,  die  kein  Interesse  hatten,  historische  Erinnerungen 
in  den  Messeniern  zu  wecken,   anerkannten  keine  Stadt  Pylo«,   sondern  be- 


6  g  Athex's  Kriegssystem 

sei  er  aus  Athen  mitgekommen,  und  er  zeigte,  wie  vortheilhaft 
die  Lage  und  ganze  Beschaffenheit  des  Ortes  sei,  da  er  von 
Natur  fest.  Steine  und  Holz  in  Fülle  vorhanden  und  keine 
Feinde  in  der  Nähe  seien.  Ohne  Zweifel  hatte  Demosthenes 
im  vorigen  Jahre  die  günstige  Oertlichkeit  wahrgenommen  oder 
war  von  den  Messeniern  in  Naupaktos  darauf  aufmerksam  ge- 
macht Avorden ,  die  sich  auch  nach  der  Heimath  sehnten  und 
von  Demosthenes  als  besonders  tauglich  zu  einem  kleinen 
Krieg  gegen  Sparta  erkannt  worden  waren.  Wiederum  aber 
weigerten  sich  die  Feldherren,  der  Aufforderung  zu  folgen, 
indem  sie  einwendeten,  wenn  man  alle  vorspringenden  Punkte 
der  pelopomiesischen  Küste  besetzen  wollte ,  Avürde  man  die 
Stadt  in  grosse  Unkosten  bringen.  Man  wäre  beinah  versucht, 
die  Ursache  so  grundlosen  Widerstrebens  in  Beschränktheit  zu 
suchen,  allein  Eurymedon  wenigstens  hat  sich  sonst  als  tüchtigen 
FeldheiTti  gezeigt,  und  es  ist  Aiel  wahrscheinlicher,  dass  Neid 
und  Eifersucht  gegen  Demosthenes  der  Beweggrund  waren. 
Man  ist  zu  diesem  Urtheile  um  so  mehr  berechtigt,  da  sie 
bald  darauf  in  Kerkyra  die  Ermordung  der  gefangenen  Oli- 
garchen  auf  schändliche  Weise  veranlassten,  nur  weil  sie  nach 
Sicilien  abgingen,  und  keinem  Andern  die  Ehre  gönnen  woll- 
ten, sie  nach  Athen  zu  führen  i.  Auch  die  Unterbefehlshaber 
und  Gemeinen  an  die  sich  Demosthenes  jetzt  wandte,  nahmen 
anfangs  den  Vorschlag  nicht  günstiger  auf.  Als  aber  der  un- 
günstige Wind  fortdauerte,  gewann  der  gesunde  Sinn  der  Athe- 
ner die  Oberhand.  Aus  eigenem  Antriebe  thaten  sie  jetzt,  was 
sie  vorher  verweigert  hatten ,  und  befestigten  den  schwer  an- 
greifbaren Platz  in  kurzer  Zeit .  obAvohl  der  Mangel  an  den 
nöthigen  Werkzeiigen  die  Arbeit  sehr  erschwerte.  Da  ein 
Theil  der  Lakedaimonier  in  Attika  stand,  die  andern  nach  ge- 
wohnter Weise  ein  Fest  feierten,  Hessen  sie  che  Athener  un- 
gestört  arbeiten.     Nach    sechs   Tagen   war   das  Werk    so    weit 


zeichneten  die  verhasste  Festung  mit  dem  Namen  des  Vorgebirges  an  dem 
sie  lag.  So  erklären  sich  die  Worte  v.i'/.'j'jzi  oi  aÜTT^v  .Vx-Aeoaiixö-noi  Kop-j- 
^pctsiov.  —  Den  Lakedaimoniern  folgt  in  diesem  Sprachgebrauch  der  lakoni- 
sirende  Xenophon  Hellen.  I,  2,   IS. 

';  Thuk.  IV,  46,  47.  Vergleicht  man  damit  III,  Sl,  so  ergiebt  sich, 
dass  Eurj-medon  den  Vorwurf  rücksichtsloser  und  zweckloser  Grausamkeit 
verdient. 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       69 

gefördert,  dass  es  einen  Angriff  von  der  Landseite  aushalten 
zu  können  schien.  Daher  setzte  der  grössere  Theil  der  Flotte 
die  Fahrt  fort,  nur  5  Schiffe  blieben  mit  dem  Demosthenes 
zurück. 

Jetzt  erst  schien  die  Sache  den  Lakedaimoniern  der  Be- 
achtung werth.  Agis,  in  dessen  Heer  ohnedies  Mangel  an 
Lebensmitteln  eintrat .  räumte  Attika :  ein  spartanisches  Heer 
zog  gegen  Pylos,  wohin  auch  die  Bundesgenossen  aus  dem 
Peloponnese  aufgeboten  wiu-den.  Zugleich  näherte  sieh  die 
Flotte,  die  in  den  Gewässern  von  Leukas  war.  Demosthenes 
hatte  eben  noch  Zeit,  zwei  von  seinen  Schiffen  abzusenden, 
um  den  in  Zakynthos  vor  Anker  liegenden  Eurymedon  von  der 
Gefahr  zu  benachrichtigen.  Die  Lakedaimonier  aber,  deren 
Flotte  mittlerweile  in  den  geräumigen  Hafen  von  Pylos  ein- 
gelaufen war,  und  ihn  den  Athenern  sperren  zu  können  hoffte, 
bereiteten  Alles  zum  Sturme  vor,  und  besetzten  die  Insel 
Sphakteria,  die  vor  dem  Hafen  lag  *) .  Demosthenes  verlor  in- 
dessen die  Zuversicht  nicht.  Hatte  die  Anlage  der  Befesti- 
gung von  einer  richtigen  xlnschauung  des  Krieges  und  tiefer 
Einsicht  in  die  Verhältnisse  der  Lakedaimonier  gezeugt,  so 
erscheint  er  bei  der  Vertheidigiuig  derselben  als  ein  Mann  von 
ungewöhnlicher  Geistesgegenwart  und  kaltblütiger  Tapferkeit, 
der  durch  sein  Beispiel  wunderbar  auf  seine  Leute  wirkte.  Er 
zog  die  drei  übrigen  Trieren  dicht  unter  die  Befestigung,  und 
umgab  sie  mit  einer  Verpfählung.  die  Mannschaft  derselben 
aber,  etwa  600  Mann,  bewaffnete  er  so  gut  als  es  ging;  die 
Schilde  waren  meist  nur  aus  Weidengeflecht;  denn  es  waren 
keine  anderen  Waffen  vorhanden,  als  die,  welche  sich  zufällig 
auf  zwei  kleinen  messenischen  Kaperschiffen  fanden,  die  gleich 
nach  Pylos  Besetzung  zu  Demosthenes  gekommen  waren,  und 
ihm  zu  seiner  übrigen  Mannschaft  noch  etwa  40  Hopliten 
brachten.  Ohne  Zweifel  kamen  sie  von  Naupaktos.  Den 
grössten   Theil   der   Mannschaft   stellte   nun    Demosthenes    a\if 


I)  Es  ist  nicht  meine  Absicht,  in  die  Frage,  ob  Sphakteria  das  heutige 
Sphagia  oder  Palseo-Castro  sei,  näher  einzutreten,  da  sie  ohne  eigene  An. 
schauung  nicht  weiter  gefördert  werden  kann ,  als  sie  jetzt  steht :  doch 
bemerke  ich  zum  Verständniss  der  Darstellung,  dass  ich  die  erste  Annahme 
für  richtig  halte  und  befolge,  also  die  Bucht  von  Navarin  für  den  Hafen 
von  Pvlos  ansehe. 


70  Atiien's  Kriegssystem 

der  Laiulseite  auf,  wo  der  Ort  am  besten  befestigt  war,  aber 
ohne  Zweifel  wegen  des  grossem  Umfangs  der  Manem  auch 
mehr  Vertheidiger  als  auf  der  Seeseite  bedurfte :  er  selbst  mit 
sechzig  auserlesenen  Hopliten  und  einigen  ]>ogenschützen  über- 
nahm die  YertheidigTing  der  Seite  gegen  die  hohe  See ,  wo 
man  im  Vertrauen  auf  die  Felsen  und  die  eigene  Flotte  nur 
schwache  Mauern  errichtet  hatte ,  und  die  Feste  nicht  wohl 
länger  Aviderstehen  konnte,  sobald  einmal  der  Feind  auf  dem 
Land  festen Fuss  gefasst  hatte.  Eben  darum  erwartete  Demosthe- 
nes  denselben  nicht  hinter  den  Mauern,  sondern  stellte  sich 
vor  denselben  dicht  am  L'fer  auf,  um  jede  Landung  zu  hindern. 
Nach  diesen  Vorbereitungen  lässt  ihn  Thukydides  eine  kurze 
Anrede  an  seine  Leute  halten,  worin  sich  auf  glänzende  Weise 
die  freiulige  Zuversicht  ausspricht,  die  damals  den  attischen 
Krieger  auszeichnete,  und  die  auf  das  Gefühl  der  Pflicht  gegen 
das  Vaterland,  verbunden  mit  dem  stolzen  Vertrauen  auf  die 
eigene  Kriegserfahrung  und  geistige  Ueberlegenheit,  gegründet 
war.  Es  unterscheidet  sich  diese  £u{)ap3ia  der  Athener  ebenso 
sehr  von  dem  wilden  Muthe  der  Barbaren,  als  von  der  gesetz- 
lich geordneten  Todesverachtung  und  zaudernden  Tapferkeit 
der  Spartiaten.  Sie  ist  wesentlich  bedingt  durch  die  freie  in- 
dividuelle Ausbildung,  die  sich  nirgends  mit  gesetzlicher  Ord- 
nung so  glücklich  verbunden  findet  als  in  Athen. 

Zwei  Tage  lang  vermochte  so  Demosthenes  den  Sturm  der 
Feinde  erfolgreich  zurückzuschlagen,  obwohl  Brasidas  sie  durch 
heldenmüthige  Kühnheit  anfeuerte.  Am  dritten  Tage,  als  die 
Lakedaimonier  eben  Anstalten  treff'en  wollten,  um  Belagerungs- 
maschinen zu  bauen,  zeigte  sich  die  attische  Flotte.  Am  vier- 
ten lief  sie  von  beiden  Seiten  in  den  Hafen,  und  schlug  die 
überraschten  Peloponnesier  aufs  Haupt;  mit  Mühe  wurde  der 
grössere  Theil  der  Trieren  durch  das  am  Ufer  aufgestellte  Land- 
heer gerettet,  die  liesatzung  der  Insel  Sphakteria  Mar  jetzt  ab- 
geschnitten, und  wurde  von  den  Athenern  streng  blokirt.  Dieses 
Unglück  beugte  die  Spartiaten  so  sehr,  dass  sie  vor  Pylos  einen 
Waff'enstillstand  schlössen,  um  in  Athen  Friedensimterhandlungen 
einzuleiten.  Während  desselben  Avurde,  was  noch  von  der  Flotte 
übrig  war,  den  Athenern  übergeben,  die  sie  beim  Ablaufe  des- 
selben wieder  zurück  geben  sollten.  Die  Unterhandlungen 
scheiterten  bekanntlich   an  den  überspannten  Forderungen  der 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Deliox.       71 

Athener,  die  besonders  Kleon  veranlasste.  Als  nun  der  Waffen- 
stillstand zu  Ende  ging,  Aveigerten  sich  die  Athener,  'die 
Schiffe  vertragsgemäss  wieder  herauszugeben,  weil  angeblich 
die  Lakedaimonier  zuerst  dxu'ch  einen  Angriff  auf  Pylos  den 
Vertrag  verletzt  hätten.  Der  Geschichtsschreiber  bezeichnet 
das  aber  sehr  deutlich  als  blossen  Vorwand.  Ob  übrigens  unter 
den  Feldherni  hier  Demosthenes  mitzuverstehen  ist,  bleibt 
dahingestellt,  i) 

Der  Krieg  wurde  nun  mit  neuen  Anstrengungen  geführt, 
und  drehte  sich  jetzt  ganz  um  Sphakteria ,  welches  von  der, 
auf  70  Schiffe  verstärkten,  attischen  Flotte  so  eng  als  möglich 
eingeschlossen  wurde.  Indessen  gelang  es  nicht,  dasselbe  so 
schnell  als  die  Athener  hofften  zur  Uebergabe  zu  zwingen,  da 
die  Spartiaten  immer  Lebensmittel  hinüber  zu  schaffen  wussten. 
Ja,  die  Athener  fingen  selber  an,  Mangel  z\i  leiden,  und  ihre 
Schiffe  hatten  keinen  Platz  zum  Anlegen,  weil  das  spartanische 
Heer  an  der  Küste  stand;  sie  mussten  daher  in  einiger  Ent- 
fernung vom  Ufer  ankern.  ^)  Als  die  Nachricht  von  dieser  be- 
drängten Lage  nach  Athen  kam,  brachte  es  Kleon,  durch  sein 
Poltern  gegen  die  Feldherni,  dahin ,  dass  er  selber  mit  der 
Eroberung  Sphakterias  beauftragt  wurde,  und  versprach,  inner- 
halb zwanzig  Tagen  sie  auszuführen.  Nachdem  er  einmal  die 
Prahlerei  ausgesprochen  hatte,  benahm  er  sich,  das  muss  man 
anerkennen,   sehr  verständig.     Er  hatte  vernommen,   dass  De- 


1  Da  Thuk.  IV,  15  sagt,  es  sei  ttoo;  tou;  ST&are/fCi'j?  "Waffenstillstand 
geschlossen  worden  und  Demosthenes  eigentlich  nicht  aToarrjo;  -war ,  da 
überdiess  die  peloponnesischen  Schiffe  auf  jeden  Fall  unter  die  Bewachung 
der  athenischen  Flotte  gestellt  wurden,  welche  nur  Eurymedon  und  Sophokles 
befehligten,  könnte  man  geneigt  sein,  den  Demosthenes  von  der  Theilnahme 
an  der  Unredlichkeit  freizusprechen.  Allein  beweisen  lässt  es  sich  nicht, 
und  der  erste  Grund  ergiebt  sich  als  nichtig,  wenn  man  VI,  29  vergleicht, 
wo  es  von  Kleon  heisst :  täv  t£  Iv  Rjhvt  OTparr^-f'"'^  ^''^  -pojeXofxivo;  At|Ixo- 

-j  Die  \\  orte :  xal  töjv  veä)-^  oü-/.  ^yo'jswv  opp-v/  bei  Thuk.  IV,  26  müssen 
ohne  Zweifel  so  verstanden  werden:  die  Athener  hatten  auf  dem  Lande 
nur  die  äusserste  Spitze  des  Vorgebirges  in  ihrer  Gewalt,  das  ganze  übrige 
Ufer  des  Hafens  M-ar  in  den  Händen  der  Lakedaimonier;  also  konnten 
auch  die  Athener  den  grössten  und  besten  Theil  des  Hafens  nicht  be- 
nutzen, hatten  keinen  optAo;:  denn  die  Schiffe  der  Griechen  pflegten 
sich  bekanntlich  dicht  ans  Land  zu  legen ,  oder  gar  auf  dasselbe  gezogen 
zu  werden. 


72  Athen's  Kriegssystem 

mosthenes  eben  eine  Landung  auf  der  Insel  bea1)sichtige.  Denn 
die  Ungeduld  der  Soldaten  erlaubte  nicht  länger  zu  warten, 
und  ein  zufällig  entstandener  Brand,  der  den  Wald  fast  auf 
der  ganzen  Insel  verzehrte,  erleichterte  das  Unternehmen. 
Früher  hatte  man  das  Terrain  nicht  übersehen  können,  auch 
die  Zahl  und  Stellung  der  Lakedaimonier  nicht  gekannt,  und 
Demosthenes  hatte,  in  Erinnerung  an  die  in  Aitolien,  aus  Un- 
kenntniss  der  Gegend,  erlittene  Schlappe,  keine  Lust,  sich 
einer  ähnlichen  Gefahr  auszusetzen.  Als  aber  durch  den  Brand 
dieses  Hinderniss  -weggeräumt  worden  war,  da  traf  er  alle  An- 
stalten zum  Angriffe.  Ihn  wählte  nun  Kleon  sich  zum  Bei- 
stande und  Demosthenes  hatte  die  seltene  Selbstverläugnung, 
unbekümmert .  wem  der  Ruhm  zufalle ,  seine  Vorkehrungen 
eifrigst  zu  vollenden.  —  Darauf  erliess  man  zuerst  noch  eine 
Auffordeiiing  an  das  auf  dem  Festlande  stehende  Heer,  der 
Besatzung  der  Lrsel  zu  befehlen,  dass  sie  sich  ergebe.  Als 
eine  abschlägige  Antwort  erfolgte .  ^^'urde ,  kurz  vor  Sonnen- 
aufgang, von  der  hohen  See  und  vom  Hafen  aus.  eine  Schaar 
von  800  Hopliten  auf  die  Insel  gesetzt,  welche  ohne  Hinder- 
nisse festen  Fuss  fasste.  Mit  Tagesanbruch  kam  das  übrige 
Heer,  im  ganzen  wenigstens  12000  Mann '  ,  freilich  dem  grössern 
Theil  nach  schlecht  bewaffnete  Ruderer,  während  die  Lake- 
daimonier, die  Heloten  abgerechnet,  nur  420  Mann  zählten, 
ein  Beweis,  wie  sehr  man  sie  noch  fürchtete.  Sie  -v^iirden  nun 
wie  Wild  umstellt,  nach  der  heldenmüthigsten  Gegenwehr  auf 
die  erhöhte  nördliche  Spitze  der  Insel  getrieben,  auch  da  um- 
gangen, und,  noch  292  Mann,  zxir  Uebergabe  auf  Discretion 
gezwungen.     Uns   kann   diese    Waffenthat   an   sich   nicht    sehr 


1;  Thukydides  l\ ,  31,  '^2  nennt  SOO  Hopliten,  ebensoviel  Bogenschützen, 
dann  die  ]SIann!?chaft  von  etwas  über  70  Schiffen,  mit  Ausnahme  der 
Thalamier,  also  wenigstens  150  Mann  auf  das  Schiff,  zusammen  über  10,-500; 
dazu  kommen  noch  die  Messenier  und  einige  andere  nicht  näher  bezeichnete 
Truppen,  deren  Anzahl  Thukydides  nicht  angiebt.  Zu  den  42U  Lakedai- 
moniern  gehören  nach  Thuk.  IV,  8  auch  ihre  Heloten.  Wie  viele  das 
■waren,  lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen  ,  da  das  Verhältnis?  nicht 
immer  das  gleiche  ist.  Vermuthlich  folgte  aber  gewöhnlich  einem  sparta- 
nischen Hopliten  ein  Helote ,  wie  dem  athenischen  sein  ürTjosTY];.  Man 
vgl.  ausser  Herm.  Lehrb.  d.  Staatsalt.  §.  19,  7  noch  Herod.  VII,  229. 
VIII,  2.5.  Dass  diese  Heloten  sich  aber  eben  nicht  sehr  heftig  gegen  die 
Messenier  wehrten,  lässt  sich  vermuthen. 


VON  Perekles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       73 

bedeutend  erscheinen,  da  der  Ungeheuern  Ueberzahl  auch  die 
tapferste  Schaar  nicht  lange  widerstehen  konnte.  Für  die  da- 
maligen Griechen  aber  war  sie  es.  Aveil  die  Lakedaimonier  bis 
dahin  für  unüberwindlich  gegolten  hatten,  und  man  glaubte, 
sie  würden  weder  durch  Hunger  noch  irgend  welche  Noth  sich 
bewegen  lassen .  die  Waffen  zu  übergeben .  sondern  den  Tod 
vorziehen.  Bedenkt  man  aber,  dass  die  Mannschaft  seit  72 
Tagen,  von  der  Seeschlacht  an  gerechnet,  eingeschlossen  war, 
und,  mit  Ausschluss  der  20  Tage  des  Waffenstillstandes .  sehr 
kärglich  gelebt  hatte .  bedenkt  man .  dass  sie  von  dem  langen 
Kampfe  ermüdet  war  und  von  den  ihnen  Vorgesetzten  auf  dem 
Lande ,  auf  die  Anfrage ,  Avas  sie  thun  solle .  keine  bestimmte 
Antwort  erhielt,  so  wird  man  sich  nicht  länger  über  die  Ueber- 
gabe  wundem. 

So  endete  in  der  Mitte  des  Sommers  425  v.  Chr.  der 
Kampf  um  Pylos,  welches  in  den  Händen  der  Athener  blieb ; 
die  Gefangenen  ^Ao^irden  nach  Athen  geführt.  Das  Volk  be- 
schloss,  sie  in  strenger  Haft  zu  halten,  bis  ein  Friede  zu  Stande 
komme ;  wenn  aber  ein  peloponnesisches  Heer  Attika  betrete, 
sie  hinzurichten.  ^  Somit  machte  man  den  Einfällen  ein  Ende. 
Nach  Pylos  \\airde  eine  Besatzung  von  Messeniem  gelegt,  die 
das  Land  der  Erbfeinde  und  Unterdrücker  verheerend  durch- 
streifte und  allen  unzufriedenen  Heloten  eine  Zuflucht  bot. 
Tief  entmuthigt  zogen  die  Lakedaimonier,  ohne  weiter  an  die 
Eroberung  der  Festung  zu  denken ,  nach  Hause :  ihr  ganzes 
Bestreben  gieng  jetzt  auf  den  Frieden,  den  sie  selbst  unter 
ziemlich  drückenden  Bedingungen  nicht  verschmäht  hätten. 
Diesen  ausserordentlichen  Erfolg  verdankte  Athen  fast  allein 
dem  Demosthenes.  Er  hatte  den  ersten  Plan  entworfen  und 
trotz  vielfacher  Hemmungen  ausgeführt;  er  hatte  Pylos  glück- 
lich vertheidigt  und  endlich  die  Besatzung  von  Sphakteria  ge- 
fangen genommen.  Nur  der  Sieg  der  Flotte  war  nicht  unmittel- 
bar sein  Werk,  wohl  aber  die  Folge  seiner  Massregeln.  Er 
hatte  also  die  Sachen  dahin  gebracht,  dass  die  Athener  den 
Krieg  auf  eine  vortheilhafte   und  ehrenvolle  Weise    hätten  be- 


')   S.  Thuk.  IV,  41.     Ganz  verkehrt  Diodor  XII,  63:   o  os  of|ixo;  i'ltr^- 
0£  T:poxptv(u3t  t6  -oXefXilv,  tote  rdvToc;  to'j;  atyjjiaXtuTOi»;  droxTitvai. 


74  Athex's  Kriegssystem 

endigen   können;    dass    es  nicht  geschah,    war  Kleons  Schuld 
lind  kann  des  Demosthenes  Verdienst  nicht   schmälern.  ^. . 

Aber  auch  so  wirkten  die  Ereignisse  von  Pylos  mächtig, 
und  bestimmten  zunächst  den  weitem  Verlauf  des  Krieges 
wie  sie  nachher  noch  die  Hauptursache  der  günstigen  Be- 
dingungen des  Friedens  des  Nikias  wurden.  Jetzt  hatte  in 
Athen  Jedennann  eingesehen,  wie  zweckmässig  es  sei,  die  Pe- 
loponnesier  in  ihrem  eigenen  Lande  zu  bekriegen ,  und  daher 
wird  die  Anlegung  ähnlicher  Punkte  wie  Pylos  planmässig 
fortgesetzt.  Noch  im  Laufe  des  gleichen  Sommers  besetzte 
Nikias,  nach  einem  Einfall  in  das  korinthische  Gebiet,  Me- 
thone. Diese  Stadt,  von  andern  gleichnamigen  zu  unter- 
scheiden, lag  an  der  argolischen  Küste,  auf  einer  schmalen 
Landenge ,  welche  eine  kleine  Halbinsel  mit  dem  Festlande 
verbindet ,  zwischen  Epidauros  und  Troizen ,  zu  dem  es  ge- 
hörte.-;. Die  Landenge  Avurde  nun  verschanzt,  eine  Besatzung 
zurückgelassen,  und  von  hier  das  Gebiet  der  Troizenier,  Ha- 
lieer  und  Epidaurier  verwüstet.  3 

Im  Frühling  des  folgenden  Sten  Kriegsjahres  Ol.  88.  4.) 
eroberte  dann  derselbe  Nikias,  von  Nikostratos  und  Autokies 
begleitet,  die  lakedaimonische  Insel  Kythera  gegenüber 
Malea.  Diese  war  den  Lakedaimonieni  ungemein  wichtig  für 
den  Handel  mit  Aegypten  und  Libyen,  und  zum  Schutze  der 
lakonischen  Küste  gegen  feindliche  Kaperschiffe.  Eine  starke 
Besatzung  wurde  von  den  Athenern  zurückgelassen,  und  später 
die  Insel  förmlich  in  die  Bundesgenossenschaft  aufgenommen.  *) 
Hierauf  verwüstete  Nikias  die  lakonische  Küste  weit  und  breit, 
ohne  irgendwo  ernsten  Widerstand  zu  finden,  erstürmte  und 
verbrannte  die  Hauptstadt  von  Kynuiia,  Thyrea,  und  fühlte 
die  Reste  der  unglücklichen  Aigineten  gefangen  nach  Athen, 
wo  sie  ein  Opfer  des  alten  Hasses  A^-urden.  ^]     So  war  jetzt  der 


',  Ueber  die  sämmtlichen  Ereignisse  vgl.  man  vor  allen  Thuk.  IV, 
2-6.  8—2:3.  26—41  dann  Diod.  XII,  61-63.     Pausan.  IV,  26  im  Anfang. 

■^)  Man  vergl.  Poppo  in  den  Prol.  za  Thak.  I,  2  p.  220  und  Thuk. 
IV,  45.    V,  IS. 

3)  Thuk.  IV,  40. 

4;    IV,    57. 

5,  Thuk.  IV,  5j— 57. 


VON  Perikles  Tor»  ms  zur  Schlacht  bei  Delion.       75 

Peloponnes  von  drei  Punkten  aiis  thirch  die  Athener  fortwährend 
heiinriihigt,   und  gleichsam  belagert. 

Dabei  blieben  aber  die  Athener  nicht  stehen,  sondern  ver- 
folgten jetzt  wieder  unter  Demosthenes  Leitung  mehr  und 
mehr  den  oben  bezeichneten  Plan,  Mittelgriechenland  vom  Pe- 
loponnese  zu  trennen,  und  es  für  sich  zu  gewinnen.  Zuerst 
wurde  der  dorische  Voiijosten  des  Peloponnesos ,  Megara, 
zum  Angriff  ausersehen.  Dieser  kleine  Staat  befand  sich  damals 
in  grosser  ]?edrängniss.  Zweimal  im  Jahre  verwüsteten  die 
Athener  das  Gebiet  regelmässig  so  arg,  dass  sie  nach  Aristo- 
phanes  selbst  den  Knoblaiich  aus  dem  Boden  kratzten.  Dazu 
kamen  noch  Bürgerzwiste.  Eine  oligarchische  Partei  war  a\is 
der  damals  demokratisch  constituirten  Stadt  vertrieben  Avorden, 
hatte  dann  die  megarische  Hafenstadt  Pegai  am  Meerbusen  von 
Korinth  besetzt,  und  von  dort  die  Vaterstadt  befeindet.  Um 
nun  wenigstens  diesen  Angriffen  ein  Ende  zu  machen,  sprach 
man  davon,  die  Vertriebenen  zurückzuberufen.  Die  eifrigsten 
A'olksführer  aber,  die  das  natürlich  zu  hintertreiben  suchten, 
wandten  sich  jetzt  nach  Athen,  wo  sie  bei  den  Feldherrn 
llippokrates  und  Demosthenes  bereitwilliges  Gehör  fanden.  Es 
wurde  verabredet,  dass  die  Athener  mit  Hülfe  der  Verbündeten 
zuerst  die  S  Stadien  langen  Mauern,  Avelche  Megara  mit  der 
Hafenstadt  Nisaia  verbanden ,  besetzen  sollten,  um  so  die  in 
Nisaia  liegende  peloponnesische  Besatzung  von  Megara  abzu- 
schneiden. Dann  sollte  die  Stadt  selber  genommen  werden. 
Etwa  um  die  Mitte  des  Sommers  führten  die  beiden  Feldherm 
mit  Einbruch  der  Nacht  eine  kleine  Anzahl  Truppen  zur  See 
nach  Minoa.  Hippokrates  legte  sich  mit  600  Hopliten  auf 
diese  durch  seichte  Stellen  mit  dem  Lande  zusammenhängende 
Insel  in  Versteck;  Demosthenes  aber  verbarg  sich  mit  leicht- 
bewaffneten Plataiern  und  athenischen  Grenzwächtern  ^)  auf  dem 

'  Eine  passendere  Uebersetzung  für  die  TTspi-o/.ot  finde  ich  nicht. 
Uebrigens  stimme  ich  durchaas  Böckh  C.  I.  G.  I,  p.  30.3  b.  bei,  dass  diese 
-epi-o/.oi  nicht  Epheben  gewesen  seien,  sondern  eine  Art  Leichtbewaffneter, 
welche  ohne  Zweifel  mit  den  Epheben  die  Burgen  Attikas  bewachten ;  denn 
erstens  ist  höchst  unwahrscheinlich ,  dass  man  so  wichtige  Punkte  blossen 
Rekruten ,  und  das  waren  doch  im  Grunde  die  Epheben ,  anvertraute ; 
zweitens  brauchte  Demosthenes  zu  seinem  Unternehmen  bei  Megara  ver- 
tra.ite  Krieger. 


76  Athen" s  Kriegssystem 

Festlande  selber,  dicht  bei  den  feindlichen  Mauern  in  einem 
Heiligthnme  des  Enyalios.  Vor  Sonnenaufgang  -sAiissten  die 
Verschworenen  ein  Thor  der  langen  Mauern  eine  Zeit  lang  ver- 
abredeter Weise  offen  zu  halten.  Schnell  besetzte  es  De- 
mosthenes  mit  seinen  Leuten,  schlug  die  herbeieilenden  Feinde 
zurück,  und  Hess  die  Hopliten  des  Hippokrates  ein.  Die  Be- 
satzung ,  welche  die  Peloponnesier  theils  in  Nisaia ,  theils  in 
den  langen  Mauern  selber  hatten  i),  zog  sich  erschreckt  nach 
der  Hafenstadt,  wo  sie  nun  durch  die  Athener  von  Me- 
gara  abgeschnitten  war.  —  Mit  Tagesanbnich  erschienen  4uij0 
athenische  Hopliten  und  600  Eeiter  auf  dem  Landwege  von 
Eleusis  her.  Allein  die  Erobemng  der  Stadt  gelang  nicht, 
w^eil  einer  der  mit^  erscliAvorenen  Megarer  den  Plan  verrieth. 
Ohne  Verzug  wandten  sich  nun  die  Athener  zur  Belagerung 
der  Hafenstadt.  Mit  einer  erstaunlichen  Schnelligkeit  wiirden, 
von  den  in  der  Ge^valt  der  Athener  stehenden  langen  MaueiTi 
aus,  Belagerungsmauem  bis  ans  Meer  geführt.  Vor  Ende  des 
zweiten  Tages  war  Nisaia  ganz  eingeschlossen,  und  die  Be- 
satzung ergab  sich.  —  Darauf  schleiften  die  Athener  die  \er- 
bindiingsmauern  mit  Megara.  und  trafen  alle  nöthigen  Vor- 
kehrungen,  um  Nisaia  zu  behaupten. 

Kaum  war  das  geschehen,  so  nahte  Brasidas.  In  Sikyon 
und  Korinth  mit  Ausrüstung  eines  Heeres  beschäftigt,  das  er 
nach  Ihrakien  führen  wollte,  hatte  er  Kunde  von  dem  Angriff 
der  Athener  erhalten,  und  rasch,  wie  Avenige  Spartiaten  seiner 
Zeit,  die  schon  versammelten  Truppen  nebst  3700  Schwer- 
bewaffneten aus  Korinth.  Phlius  und  Sikyon  über  den  Isthmos 
geführt .  zugleich  Boten  nach  Boiotien  geschickt.  Allein .  als 
er  in  dem  megarischen  Orte  Tripodiskos  ankam ,  war  Nisaia 
schon  gefallen,  und  die  Megarer.  die  den  Gang  der  Ereignisse 
abwarten  wollten,  weigerten  sich,  ihm  die  Thore  zu  öffnen. 
Die  Boioter  ihrerseits  hatten  auf  die  erste  Kunde  von  dem  An- 
griffe der  Athener,   noch  ehe  Brasidas  Mahnung  zu  ihnen  kam. 


^)  Haake  zu  IV,  67  erklärt  oi  l-fT'-'"^"'^  UO.o-v/^■r^zuJl  richtig:  Nisacae 
et  haud  dubie  etiatn  muronim  certe  ex  parte  custodes.  Sie  bildeten  eigent- 
lich die  Besatzung  von  Nisaia,  aber  hatten  auch  den  nähern  Theil  der 
langen  Mauern,  der  gewissermassen  dazu  gehörte,  zu  bewachen.  Der  An- 
fang von  c.  68  bestätigt  es,  auch  Diodor  XII,  66,  wenn  nicht  seine  ganze 
Erzählung  so  ungenau  wäre,  dass  sein  Zeugniss  nichts  gelten  kann. 


vox  Perekles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Deliox.        7" 

alle  waffenfähige  Mannschaft  aufgeboten ,  Aveil  sie  einsahen, 
dass  sie  nach  Megara  zunächst  bedroht  seien.  Bei  Plataia 
traf  sie  der  Bote,  Avorauf  sie  2200  SchAverbeAvaffnete  und  600 
Reiter  dem  Brasidas  zusandten,  mit  dem  grössern  Theile  des 
Heeres  aber  heimkehrten.  —  Brasidas  hatte  jetzt  bedeutende 
Streitkräfte,  Avorunter  AAcnigstens  6000  Hopliten,  unter  seinen 
Befehlen,  mit  denen  er  sich  gegen  Megara  und  Nisaia  zog.  Nach 
einem  zAA'eifelhaften  ReitertrefFen ,  besetzte  er  einen  günstigen 
Platz  nicht  AA'eit  \'om  Meere.  Dort  stellte  er  sich  in  Schlacht- 
ordnung auf,  ohne  jedoch  dem  Feinde  entgegen  zu  gehen  :  denn 
er  AAollte  nur  Megara  decken  und  sich  öffnen.  Er  rechnete 
nämlich  ganz  richtig,  AAenn  die  Athener  ihn  nicht  angriffen, 
so  AAÜrden  die  Megarer  ihn  für  überlegen  halten  und  in  die 
Stadt  aufnehmen,  und  so  könne  er  ohne  Kampf  den  ZAA-eck 
seines  Marsches  erreichen.  Diese  kluge  Berechnung  bcAveist 
übrigens,  AA'ie  sehr  das  SelbstA'ertrauen  der  Peloponnesier  ge- 
sunken Avar ;  denn  früher  hätte  ein  an  Zahl  überlegenes  Land- 
heer derselben  scliAAerlich  einen  Angriff  so  sorgfältig  Aermieden. 
Was  Brasidas  erAvartet  hatte,  geschah.  Die  athenischen  Feld- 
herm  stellten  auch  ihre  Truppen  in  Schlachtordnung  ausser- 
halb der  langen  Mauern  auf,  hüteten  sich  aber,  die  bis  dahin 
emmgenen  grossen  Yortheile,  durch  einen  Angriff  auf  den 
zahlreichern  AAohlpostirten  Feind,  aufs  Spiel  zu  setzen,  ein  ]3e- 
Aveis,  dass  Demosthenes  im  passenden  Augenblicke  ebensoAA'ohl 
mit  Bedachtsamkeit  als  mit  kühner  Entschlossenheit  zu  han- 
deln AAiisste.  —  Nach  einiger  Zeit  zogen  zuerst  die  Athener, 
dann  die  Peloponnesier,  in  die  früheren  Stellungen  zurück. 
Die  Megarer  aber  nahmen  den  Brasidas  als  Sieger  auf,  der 
nachher  auch  den  abtrünnigen  athenischen  Bundesgenossen  in 
Thrakien  viel  daAon  zu  erzählen  Avusste ,  AA'ie  die  Athener  mit 
überlegenen  Streitkräften  nicht  gcAvagt  hätten,  die  Schlacht  an- 
zunehmen. \  Bald  darauf  entliess  Brasidas,  ohne  einen  Versuch 
zur  AViedereroberung  Aon  Nisaia  zu  machen,  die  Bundes- 
genossen, und  ging  nach  Korinth.  Auch  das  athenische  Heer 
zog  zurück,  mit  Ausnahme  der  nöthigen  Besatzung  für  Nisaia.  2) 


')  Thuk.  IV,  S5.  108. 

2)  Thuk.  IV,  66—74.     Diod.    XII,   67    ganz   verkehrt     Boacioa;;  -/.axa- 
-XT^Iäjxevo;  -rou;  AÖTjvaio'j;,  touto-j;  jasv  e^eßaÄEv  i/.  xf^;  Nisaia;.     Dass  Nisaia 


78  Athex's  Kriegssystbm 

Wie  bald  darauf  meineidiger  Weise  die  mit  JJrasidas  nach  Me- 
gara  zurückgekehrten  üligarchen  an  den  Demokraten  Rache 
nahmen,   das  zu  erzählen,   gehört  nicht  hieher.  V 

Es  ist  nicht  nöthig.  darauf  aufmerksam  zu  machen,  wie 
bei  dieser  Erobening  von  Nisaia  Demosthenes  wieder  das  Haupt- 
verdienst hatte :  bemerkenswerth  ist  nur .  dass  er ,  den  wir 
schon  mehrfach  im  kleinen  Kriege  ausgezeichnet  gefunden 
haben,  auch  hier  die  Leichtbewaffneten  befehligte,  und  die 
gefährlichere,  aber  wichtigere  Stellung,  dicht  bei  den  feind- 
lichen Mauern,   einnahm. 

Da  nun  die  Eroberung  von  Megara  einstweilen  nicht  mög- 
lich schien,  und  auch  nicht  von  grosser  Wichtigkeit  war.  ging 
Demosthenes .  in  ^.  erbmdung  mit  Hippoki-ates .  weiter .  und 
nahm  den  alten  Plan  gegen  Hoiotien  wieder  auf,  der  diesmal 
mit  grosser  Umsicht  angelegt  wurde.  In  Boiotien  war  seit 
langer  Zeit  eine  Partei,  die  mit  dem  bestehenden  Zustande 
unzufrieden  war .  und  theils ,  statt  der  oligarchischen  Verfas- 
sung. Demokratie,  theils  statt  des  drückenden  Principates  von 
Theoen,  Unabhängigkeit  der  kleinern  Gemeinden  wünschte. 
Diese  besonders  in  den  kleinem  Städten  starke  Partei,  an 
deren  Spitze  ein  vertriebener  Thebaner,  Ptoiodoros.  stand,  trat 
nun  mit  den  athenischen  Feldherrn  in  Verbindung,  und  fand 
williges  Gehör.  Es  -wurde  verabredet,  an  einem  Tage  emen 
dreifachen  Angriff  zu  machen.  Eine  athenische  Flotte  sollte 
bei  der  Hafenstadt  von  Thespiai,  Siphai- ,  landen,  welche  ihr 
durch  Verschworene  übergeben  werden  sollte;  zugleich  sollte 
die  demokratische  Partei  von  Orchomenos  den  wichtigen  Platz 


iu  den  Händen  der  Athener  blieb ,  ergiebt  sich  deutlich  genug  aus  der 
ganzen  Erzählung  und  wird  bestätigt  durch  IV,  IIS  und  V,  17  und  durch 
Diodor  selbst  XIII,  tJ5. 

1;  Schwerlich  ist  je  in  den  vielen  politischen  Händeln  der  griechischen 
Staaten  eine  feierlich  beschworene  Amnestie  so  schamlos  gebrochen  worden, 
wie  hier.  Es  macht  daher  die  Bewunderung  der  Philosophen  z.  B.  Piatons 
im  Kriton  p.  53  b.)  für  die  auf  diese  Schandthat  folgende  stabile  Oligarchie 
ihnen  nicht  viel  Ehre.  "Wie  ganz  anders  handelte  der  verschrieene  athenische 
Demos  nach  dem  Sturze  der  Vierhundert,  und  der  Dreissig  I 

-y  Die  Lage  von  Siphai  ist  am  besten  angegeben  auf  der  Karte  von 
Boiotien,  welche  P.  W.  Forchhammer  dem  ersten  Baude  seiner  Hellenika 
beigefügt  hat. 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       79 

C  h  a  i  r  o  n  e  i  a  ,  an  der  phokischen  Grenze,  nehmen .  Besonders 
thätig  waren  dafür  Orchomenische  Flüchtlinge,  die  sogar  Söld- 
ner ans  dem  Peloponnese  anwarben ,  luid  auch  von  den  Fho- 
kiern,  die  immer  auf  Seite  der  boiotischen  Städte  gegen  Theben 
stehen,  nahmen  einzelne  an  dem  Anschlage  Theil.  Endlich 
sollte  ein  athenisches  Landheer  den  Tempelbezirk  des  de- 
lischen  Apollon  im  Tanagraischen  Gebiete ,  im  Südosten 
des  Landes,  besetzen  und  befestigen.  Durch  die  Gleichzeitig- 
keit dieser  drei  Angriffe  hoffte  man  die  feindlichen  Kräfte  zu 
zersplittern,  den  Freunden  einen  kräftigen  Anhaltspunkt  zu 
geben,  und,  wenn  auch  nicht  sogleich  eine  für  Athen  günstige 
allgemeine  demokratische  Revolution  ausbrechen  sollte ,  doch 
von  den  drei  Funkten  aus  IJoiotien  so  zu  ermüden,  dass  eine 
Stadt  nach  der  andern  genommen  werden  könnte.  Man  wollte 
also  auch  hier  gewissermassen  das  durch  Demosthenes  im  Pe- 
loponnese eingeführte  Kriegssystem  anwenden,  das  hier  nur, 
wegen  der  Verbindung  mit  der  demokratischen  Partei ,  noch 
schnellern  Erfolg  versprechen  musste.  Die  Leitung  des  Ganzen 
wurde  so  vertheilt,  dass  Hippokrates  die  Besetzung  von 
Delion  übernahm,  Demosthenes  aber  mit  40  Schiffen  nach 
Naupaktos  ging,  um  von  da  aus  Siphai  zu  nehmen  >) :  denn 
er  war  daselbst  aus  früherer  Zeit  wohlbekannt,  und  besass  das 
unbedingte  Zutrauen  aller  Bundesgenossen  jener  Gegend.  Die 
kurze  Zeit  zwischen  seiner  Ankunft  und  dem  verabredeten  Ta^e 
benutzte  er,  um  sein  früher  so  erfolgreich  begonnenes  Werk, 
nämlich  die  Vernichtimg  des  peloponnesischen  Einflusses  im 
Westen  Griechenlands,  möglichst  zu  vollenden.  Schon  im 
Herbste  des  vorigen  Jahres  hatten  die  Athener  in  Naupaktos. 
mit  den  Akarnaniern  vereint,  die  wichtige  korinthische  Colonie 
Anaktorion,  am  Eingang  des  amprakischen  Meerbusens, 
erobert,  die  korinthischen  Bewohner  verjagt  und  die  Stadt  mit 
Akarnaniern  besetzt  i)  ,  und  vor  Demosthenes  Ankunft  waren 
eben  auch  noch  die  einzigen  Akamanier,  die  bis  dahin  mit  den 
Peloponnesiern  verbündet  gewesen  waren,  die  Oiniaden,  ge- 
nöthigt  worden,  dem  attischen  Bunde  beizutreten.  Demosthenes 
aber   versammelte   gleich   nach   seiner   Ankunft    ein   Heer  von 


1)  Ueber  den  ganzen  Plan  sehe  man  Thuk.  IV,  76. 

2)  Thuk.  IV,  49. 


80  Athen's  Kriegssystem 

allen    dortigen   Bundesgenossen ,    nnd   zwang    den  Fürsten  des 
aitolischen  Volksstammes  der  Agraier,    Salynthios,    einen 
eifrigen  Freund  Spartas ,    sich   der   attischen  S}Tnmachie  anzu- 
schliessen.  *)    Es  -war  also  in  diesem  Augenblicke  Athens  Macht 
in  dem  westlichen  griechischen  Festlande  zusammenhängender 
und  fester  als  je  zuvor.     Die  einst   so    bedeutende  Macht    von 
Amprakia  war  gebrochen,  Anaktorion,  und  schon  früher  Sollion 
südlich  von  Leukas,    erobert;    nur   Leukas    selber   noch  unbe- 
zwungen.     Alle  Akarnanier,    Amphilochier  und  Agraier  waren 
Bundesgenossen  Athens.     Aitolien  war  fast  von  allen  Seiten  ein- 
geschlossen,  und  besonders  durch  Naupaktos  vom  Peloponnese 
abgeschnitten.     Molykrion  hingegen  scheint  seit  der  Eroberung 
durch  Eurylochos  in  den  Händen  der  Korinthier  geblieben  zu 
sein,   und  auch  die  ozolischen  Lokrer  gehörten  seit  Eurylochos 
Feldzug,  wenigstens  dem  Namen  nach,  zu  dem  peloponnesischen 
Bunde.     Auf  solche  Macht  gestützt,  traf  nun  Demosthenes  die 
nöthigen  Vorbereitungen  für  den  Angriff  auf  Boiotien,   der  auf 
den    Herbst    (nach    Thukydides    Zeitbestimmung    Anfang    des 
Winters,   also  gegen  Mitte  Octobers    festgesetzt  war.     Allein  so 
gut  der  ganze  Plan  angelegt  war.    so  misslang   er  doch  gänz- 
lich,  ohne  Schuld  der  Urheber,   indem  die  Lakedaimonier  durch 
einen  Phokier  aus  Phanoteus  Kunde  davon  erhielten,   und  die 
"Boioter  zur  rechten  Zeit  noch  warnten.  —  Diese  boten  schleu- 
nig ihre   gesammte  Streitmacht   auf  und   besetzten  Siphai  und 
Chaironeia.     Die    Verschworenen    hielten    sich   jetzt    natürlich 
still,   und  Demosthenes,   der  auf  der  Höhe  von  Siphai  erschien, 
musste  un verrichteter  Sache  heimkehren.   Auf  Chaironeia  Avurde 
der  Angriff  gar   nicht  versucht.     Hippokrates   hingegen  rückte 
aus.    aber  erst    später   als  Demosthenes.     Thukydides  sagt,    es 
sei  in  Beziehung  auf  den  verabredeten  Tag   ein  Fehler  vorge- 
gangen;   vielleicht    hatte    Demosthenes    VeiTath    geahnt,    und 
darum  nicht  länger  gewartet.    Wie  dem  auch  sei.   Hippokrates 
führte  alle  waffenfähige  Mannschaft  aus  Athen,   und  befestigte 
ungehindert  den  Tempelbezirk  des  delischen  Apollon.    Um  die 
Mitte  des  fünften  Tages,  nachdem  man  ausgerückt  war,   schien 
die  Befestigung   stark    genug,    und  die  Athener   wollten,    mit 
Ausnahme  einer  Besatzung,   zurückkehren.     Hippokrates  blieb 

',  Thuk.  IV,  77. 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       81 

noch,  Tim  einige  Anordnnngen  zn  treffen,  in  der  neuen  Festung; 
die  Hopliten  lagerten  etwa  eine  Viertelmeile  davon  auf  dem 
Wege  nach  Athen,  der  grosse  Haufe  der  Leicht-  xuid  gar  nicht 
Bewaffneten  war  schon  vorausgeeilt.  Unterdessen  hatten  sich 
aber  die  IJoioter  aiis  allen  Theilen  des  Landes  im  nahen  Ta- 
nagra  versammelt,  und  der  thebanische  lioiotarch.  Pagondas, 
der  an  diesem  Tage  den  Oberbefehl  führte,  bewog  sie,  obgleich 
die  Athener  schon  abzogen,  doch  eine  Schlacht  zti  wagen. 
Schnell  führte  er  dann  sein  Heer  aus  Tanagra.  Nicht  weit 
vom  Feinde,  dessen  Blicken  ihn  ein  Hügel  entzog,  ordnete  er 
es.  erschien  plötzlich  mit  demselben  auf  der  Höhe  des  Hügels 
und  fasste  daselbst  Posto.  Es  waren  7000  Hopliten,  10,000 
wohlgerüstete  Leichtbewaffnete,  500  Peltasten  ^j  und  lOüOPeiter. 
Die  Tiefe  der  Schlachtordnung  war  bei  den  ( 'ontingenten  der 
verschiedenen  Städte  verschieden;  bei  den  Thebanern  betrug 
sie  25  Schilde.  Die  Peiterei  stand  mit  dem  leichten  Fussvolke 
auf  den  Flügeln. 

Hippokrates  hatte  mittlerweile ,  als  ihm  die  Annäherung 
der  Feinde  gemeldet  wurde,  300  Reiter  zur  Beobachtung  der- 
selben bei  Delion  zurückgelassen,  und  war  selbst  zu  dem  Heere 
geeilt.  Er  stellte  die  Hopliten,  den  feindlichen  ungefähr  an 
Zahl  gleich-),  acht  Mann  hoch  auf.  die  Reiter  a\if  die  Flügel; 
Leichtbewaffnete  hatte  er  fast  keine,  da  die  schlechtbeAvaffuete 
landsturmähnliche  Menge  schon  zu  weit  weg  war,  um  am 
Kampfe   Antheil    zu   nehmen.     Nachdem    das  Heer  aufgestellt 


1)  Es  sind  das,  wenn  ich  nicht  irre ,  die  ersten  Peltasten ,  die  in  den 
Staaten  des  eigentlichen  Griechenlands  vorkommen.  Früher  hatten  die 
griechischen  Städte  an  der  thrakischen  Küste  schon  von  dieser  thrakischen 
Waffengattung  Gebrauch  gemacht.  Man  vergl.  Thuk.  IV,  28.  —  Uebrigeng 
giebt  Diodor  XII,  69  die  Zahl  des  boiotischen  Heeres  ungenau  auf  20,000 
Mann  zu  Fuss  und  1000  Reiter  an. 

-)  Thuk.  IV,  94:  rr/re?  :t}.t)i^£i  laoiraXei;  rot;  ivavTtots  ist  nur  auf  die 
Hopliten  zu  beziehen,  gerade  wie  nachher  das  7:o),"/.a7r).«x3ioi  töjv  svav-tcuv 
nur  auf  die  <10jA  geht.  Es  wüi-den  somit  etwa  7000  athenische  Hopliten 
gewesen  sein.  Thukydides  sagt  nun  freilich  II,  13,  Athen  habe  beim  Aus- 
bruch des  Krieges  13000,  ohne  die  zur  Bewachung  der  Stadt  und  der 
Burgen  bestimmten,  gehabt,  und  da  man  nach  Delion  Tciwruiei  ausgezogen 
war,  könnten  TOGO  zu  wenig  scheinen.  Bedenkt  man  jedoch,  dass  die  Pest 
und  der  Krieg  die  Zahl  schon  sehr  vermindert  hatten  (es  waren  allein  von 
den  Hopliten  4400  an  der  Krankheit  gestorben  III,  87),  und  dass  manche 
anderwärts  standen,  so  erscheint  die  Zahl  sehr  passend. 

Vischcr,  Schriften  T.  g 


82  Athbn's  Ejiiegssystem 

war,  ging  Hippokrates  an  der  Fronte  hin.  und  ermahnte  in 
kurzen  bündigen  Worten  znr  Tapferkeit.  Er  war  aber  erst  bis 
in  die  Mitte  gekommen,  als  die  Boioter  unter  Kriegsgesang 
vom  Hügel  heranzogen.  Die  Athener  warteten  den  Angriff 
nicht  ab,  sondern  gingen  in  der.  seit  der  Schlacht  bei  Marathon 
bei  ihnen  üblichen  Weise  ihnen  im  Laufe  entgegen.  Die  äus- 
sersten  Flügel  auf  beiden  Seiten  win-den  durch  Bäche  aus 
einander  gehalten,  aber  der  grössere  Theil  kam  in  ein  furchtbares 
Handgemenge.  Die  Athener,  die  hier  hinlänglich  bewiesen, 
dass  die  Beschäftigung  mit  dem  Seedienste  sie  nicht  zum  Land- 
kriege untüchtig  gemacht,  warfen  den  linken  feindlichen  Flügel, 
umzingelten  einen  Theil  desselben  und  richteten  grosses  Blut- 
vergiessen  an.  Der  rechte  boiotische  Flügel  aber,  wo  die  The- 
baner  standen ,  drängte  die  Athener  zurück ,  die  Schritt  für 
Schritt  den  Boden  vertheidigten :  da  entschied  eine  Täuschung 
der  Athener.  Pagondas  schickte  nämlich,  vom  rechten  Flügel 
aus,  zwei  Reiterabtheilungen  im  Kücken  seines  Heeres  um  den 
Hügel,  um  dem  hart  bedrängten  linken  Flügel  beizustehen.  Als 
diese  plötzlich  erschienen,  glaubten  die  Athener,  es  sei  ein 
neues  Heer,  das  anrücke,  und  wurden  von  Schrecken  ergriffen. 
Das  benutzten  die  Boioter  und  drangen  ein.  Das  athenische 
Heer  wandte  sich  zur  allgemeinen  Flucht,  und  suchte  sich 
theils  über  den  Berg  Panies,  theils  nach  Oropos  und  Delion 
zu  retten.  Die  Niederlage  war  vollkommen,  die  feindliche 
Reiterei,  besonders  eine  lokrische  Schaar,  die  eben  ankam, 
als  die  Schlacht  entschieden  war,  verfolgte  die  Flüchtigen  bis 
zum  Einbruch  der  Nacht.  Bei  tausend  Athenern,  unter  ihnen 
Hippokrates ,  waren  gefallen ,  aber  auch  die  Boioter  hatten 
einen  Verlust  von  500  Mann.  Am  folgenden  Tage  kehrten  die 
athenischen  Flüchtlinge  aus  Oropos  und  Delion  zur  See  nach 
Hause  zurück.  In  letzterem  Orte  blieb  eine  Besatzung.  Die 
Boioter  aber,  durch  mehrere  tausend  Mann  Hülfstnippen  von 
verschiedenen  Bundesgenossen  verstärkt,  griffen  ilin  an,  und 
eroberten  ihn  am  siebenzehnten  Tage  nach  der  Schlacht,  i) 


1)  Ueber  die  Schlacht  bei  Delion  ist  die  Hauptstelle  bei  Thuk.  IV, 
90—97.  Sehr  ungenau  ist  Diodor  XII,  69,  70.  Für  Einzelnheiten  zu  be- 
achten Piaton  im  Sjmpos.  p.  221  a.  b.  Laches.  p.  181  a.  b.  Apolog.  Socr. 
p.  2S.  e.    Plutarch  Alkib.   7.    —   Andokid.    geg.  Alkib.   §.   13   nennt   statt 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       83 

Damit  war  denn  die  ganze  Unternehmung,  von  der  man 
sich  so  Grosses  versprochen ,  misslungen ,  und  die  Athener 
hatten  sogar  eine  Niederlage  erlitten,  wie  noch  nie  in  diesem 
Kriege.  Die  »Sclnild  trifft  dem  grössern  'l'hcile  nach  nicht  die 
betheiligten  Feldhemi ,  da  den  Verrath  zu  hindern  nicht  in 
ihrer  Macht  lag.  Kaum  dürfte  auch  dem  Hijijiokrates  als 
grosser  Fehler  angerechnet  werden,  dass  er  die  Leichtbewaff- 
neten zu  weit  vor  den  Hopliten  hatte  voranziehen  lassen.  Es 
war  aber  dieses  seit  einigen  .Jahren  das  erste  Unglück ,  das 
Athen  betraf:  daher  war  die  moralische  Wirkung  um  so  grösser, 
und  während  man  seit  längerer  Zeit  überall  offensiv  zu  Werke 
gegangen  war,  trat  jetzt  eine  auffallende  Ermattung  ein.  Zu 
gleicher  Zeit  hatte  auch  Ikasidas,  durch  seine  wohlcombinirte 
Diversion  nach  Makedonien  und  (^halkidike,  die  Athener  ge- 
nöthigt.  ihre  Aufmerksamkeit  und  ihre  Anstrengungen  vorzugs- 
weise dorthin  zu  richten.  Verbindet  man  damit  noch  die  etwas 
früher  erfolgte  Kückkehr  der  Flotte  aus  Sicilien,  wo  sie  nichts 
ausgerichtet  hatte,  so  wird  man  begreifen,  dass  das  durch  die 
Gunst  des  Glückes  verwöhnte  ^'olk  missmuthig  und  des  Krie- 
ges überdrüssig  wurde.  Diese  Stimmung  benutzte  die  Friedens- 
partei, und  so  kam  im  folgenden  Frühling  Ol.  S9.  1  ein  Waffen- 
stillstand zu  Stande.  Z^var  brach  nach  dessen  Ablauf  der  Krieg 
von  neuem  los ,  allein  der  Tod  des  Brasidas  und  des  Kleon 
machte  bald  den  Frieden  möglich,  der  Olymp.  89.  'i  abge- 
schlossen wurde  und  den  Namen  des  Nikias  trägt.  Die  in  die 
Zwischenzeit  fallenden  Ereignisse  interessiren  uns  aber  hier 
nicht  weiter,  da  sie  nur  die  Vertheidigung  der  athenischen 
Herrschaft  in  der  Gegend  von  Thrakien  zum  Zweck  hatten. 
Das  oben  bezeichnete  Kriegssystem,  das  dem  Demosthenes  an- 
gehörte, endete  mit  der  Schlacht  bei  Delion,  und  komite  auch 
seiner  Natur  nach  nicht  fortgeführt  werden,  sobald  man  ernst- 
lich an  den  Frieden  dachte.  Wenn  nun  dieses  System,  das, 
wie  ich  glaube,  sich  in  der  gegebenen  Darstellung  deutlich 
herausstellt ,  auch  nicht  zu  den  Resultaten  geführt  hatte,  die 
sich  davon  hoflfen  Hessen,  wenn  auch  die  Herstellung  einer 
Macht,  wie  sie  einst  Athen  nach  Myronides  Sieg  bei  ben  Wein- 
bergen gehabt  hatte,   gänzlich  misslungen  war,    so   kann   doch 

Hippokrates   fälchlich  Hipponikos,    was  Krüger   in    Seebodes  Archiv  I,   3 
S.  8.3  schon  nachgewiesen. 

6* 


84  Athen's  Kriegssystem 

auch  nicht  geleugnet  werden,  dass  diese  Nachtheile  durch  die 
dadurch  gewonnenen  Vortheile  weit  überwogen  wurden,  und 
dass  die  günstigen  r>edingungen ,  welche  Athen  im  Frieden 
erhielt,  einzig  ihm  zuzuschreiben  sind.  Denn  einmal  war  die 
Macht  der  Peloponnesier ,  ganz  besonders  der  Korinthier,  an 
den  Küsten  des  westlichen  Griechenlands,  die  besonders  für 
ihre  Flotte  wichtig  war,  fast  ganz  gebrochen,  und  dadurch  die 
Herrschaft  Athens  in  jenen  Gegenden  erweitert  und  gesichert ; 
dann  war  jedem  Versuch  der  Peloponnesier,  eine  Seemacht 
aufzustellen,  wie  er  in  den  ersten  Kriegsjahren  mehreremal 
gemacht-«*worden  war,  ein  Ziel  gesetzt,  theils  dadurch,  dass 
die  Athener  die  letzte  Flotte  bei  Pylos  vernichtet  hatten,  theils 
dadurch,  dass  sie  eine  Reihe  von  Hafenplätzen  auf  dem  feind- 
lichen Gebiete  oder  in  dessen  Nähe  besetzt  hatten,  und  so 
das  Auslaufen  von  Schiffen  fast  unmöglich  machten.  Femer 
hatte  die  Gefangennehmung  der  Spartiaten  auf  Sphakteria  At- 
tika  vor  ferneren  Einfällen  der  Peloponnesier  bewahrt,  dieselbe 
endlich,  vereint  mit  den  ^  erwüstungen ,  welche  von  Pylos, 
Kythera  und  Methone  aus  gemacht  wurden ,  hatte  bewirkt, 
dass  die  Lakedaimonier  alle  Zuversicht  und  Hoffnung  verloren 
hatten  und  auch  nach  Brasidas  glücklichen  Thaten  zu  drücken- 
den Bedingungen  bereitwillig  blieben.  Es  darf  daher  bestimmt 
behauptet  werden,  dass  es  ein  höchst  zweckmässiger  und  be- 
sonnener Plan  war,  und  dass,  sobald  man  nicht  mehr  unbe- 
dingt an  Perikles  ^'ertheidigungssystem  festhalten  wollte .  der 
Krieg  auf  keine  passendere  Art  geführt  werden  konnte.  Das 
perikleische  System  konnte  aber  nur  von  der  festen  Hand  seines 
Urhebers  mit  Sicherheit  gehandhabt  Averden.  Dass  nun  aber 
auch  Demosthenes  mit  Recht  als  der  eigentliche  Schöpfer  und 
der  gewandteste  Ausführer  des  zweiten  Kiiegsplanes  bezeichnet 
worden  ist.  ist  jetzt  wohl  klar.  Er  hat  von  Naiipaktos  aus  die 
dortige  Bundesgenossenschaft  der  Athener  befestigt  und  er- 
weitert; er  hat  zweimal  den  Angriff  auf  Boiotien  entworfen, 
das  erste  Mal  allein ,  das  zweite  Mal  mit  Hippokrates  ;  er  hat 
mit  demselben  Hippokrates  Nisaia  erobert,  er  endlich,  was  die 
Krone  seiner  Thaten,  hat  Pylos  nicht  in  Folge  eines  augen- 
blicklichen Einfalles,  sondern  nach  reifer  Ueberlegung  besetzt 
und  behauptet.  Wenn  nun  auch  Nikias  Methone  und  Kythera 
besetzte,    so   beweist   das   nur,    wie   sehr  die  Zweckmässigkeit 


VON  Perikles  Tod  bis  zur  Schlacht  bei  Delion.       85 

dieser  Kriegsweise  einleuchtete.  A\'ie  sie  dem  Demosthenes 
recht  eigentlich  angehört,  ergiebt  sich  auch  daraus,  dass  er 
später  bei  ganz  veränderten  Verhältnissen  noch  zwei  solche 
Befestigungen  für  Athen  gewann,  nämlich  das  Ileraion  bei  Epi- 
dauros  im  14.  Kriegsjahre 'i  ,  und  eine  kleine  Landzunge  in 
Lakonika,  gegenüber  Kythera.  im  19.  Kriegs) ahre  bei  der  Fahrt 
nach  Sicilien .  ^^ 

Demosthenes  war  aber  nicht  allein  der  athenische  Feld- 
herr jener  Zeit,  der  am  besten,  ja  vielleicht  allein,  einen  grös- 
sern Kriegsplan  zu  entwerfen  und  festzuhalten  verstand,  son- 
dern er  übertraf  auch  in  den  anderi  Eigenschaften  die  üV)rigen 
Heerführer  dieses  Zeitraumes.  Mit  rastlosem  Unternehmungs- 
geiste  und  glänzender  Tapferkeit  verband  er,  seit  dem  ersten 
Unglücke  in  Aitolien,  umsichtige  Besonnenheit.  INIit  kühner 
Entschlossenheit  und  ungewöhnlicher  Geistesgegenwart  Avusste 
er  den  entscheidenden  Augenblick  wahrzunehmen,  und  jede 
Gunst  der  Verhältnisse  zu  benutzen.  Dass  er  ein  regelmässiges 
Hoplitenheer  in  offener  Schlacht  zu  befehligen  verstehe,  hat  er 
in  den  Kriegen  in  Akarnanien  bewiesen :  ganz  besonders  aber 
war  er  ausgezeichnet  in  der  Anwendung  des  leichten  Fussvolks, 
das  sonst  in  jener  Zeit  gar  oft  eher  eine  Last  als  ein  Nutzen 
für  das  Heer  war.  In  allen  Listen  des  Krieges,  Benutzung 
jeder  Oertlichkeit.  im  Legen  von  Verstecken,  Ueberraschen  des 
Feindes  war  er  ein  Meister;  darin  war  sein  eigentliches  Ele- 
ment, und  wenn  er  nach  einer  Andeutung  in  den  Rittern  des 
Aristophanes  den  Wein  nicht  verschmähte  ■*  ,  so  ist  er  doch 
dadurch  nie  trag  oder  sorglos  geworden.  Auch  sein  persön- 
licher Charakter  erscheint  rein  und  achtimgswerth ;  denn  ab- 
gesehen davon ,  dass  er  das  Zutrauen  seiner  Untergebenen  in 
hohem  Grade  zu  gewinnen  wusste ,  wird  uns  von  ihm  keine 
Grausamkeit  erzählt  und  keine  Treulosigkeit,  Avenn  er  nicht 
vielleicht  am  Zurückhalten  der  peloponnesischen  Schiffe  bei 
Pylos  Theil  hatte,  was,  Avie  oben  bemerkt.  imgCAviss  ist.  Dabei 
war  er  frei  von  der  reissend  um  sich  greifenden  Selbstsucht, 
nie  in  politische  Intriguen  verAvickelt,  nur  bemüht,  das  Wohl 
des  Vaterlandes  zu  fördern,   ohne  Eifersucht  gegen  seine  Amts- 


')  Thuk.  V,  SO  vergl.  mit  75. 

2)  Thuk.  VII,  26. 

3)  vgl.  85  ff. 


86  Athen'sKriegssyst.  V.  Perik.  Tod  b.  z.  Schlacht  b.  Delion. 

genossen,  ohne  ängstliche  Rücksicht  auf  eigene  Ehre  und  eige- 
nen Vortheil ,  und  so  ist  er  sich  gleich  geblieben ,  bis  an 
seinen  unglücklichen  Tod.  Denn  auch  vor  Syrakus  wäre  das 
athenische  Heer  gerettet  worden,  wenn  Nikias  sich  hätte  ent- 
schliessen  können,  sein  egoistisches  und  abergläubisches  Zö- 
gern aufzugeben,  und  dem  Rathe  des  Mitfeldherm  beizustim- 
men. ')  Bei  allen  diesen  Feldherrntalenten  vermochte  aber 
Demosthenes  doch  nicht,  eine  ununterbrochene  consequente 
Leitung  in  die  Kriegführung  zu  bringen,  weil  er  nicht  zugleich 
Staatsmann  war-  .  nicht  in  der  Volksversammlung  den  Einfluss 
hatte  wie  im  Felde ;  daher,  was  er  im  Kriege  gewonnen,  mehr 
als  einmal  durch  die  Thorheit  der  Demagogen  zu  Hause  wieder 
verloren  ging. 

1;  Thuk.  VII,  47,  48. 

2)  Die  Bemerkung  des  Redners  Demosth.  Olynth.  III,  §.  21  beweist 
dagegen  nichts,  so  -wenig  als  die  Stellung,  die  Demosthenes  in  den  Rittern 
des  Aristophanes  einnimmt. 


ALKIBIADES  UND  LYSANDßOS. 

[Rede  gehalten  am  Jahresfeste  der   Universität  zu  Basel  den 
6.  November  1S45.     Basel  1845.1 


W  enn  ich ,  einem  alten  Herkommen  gemäss ,  heute  vor 
Ihnen  auftrete,  so  thue  ich  es  m  mehr  als  einer  Hinsicht  nicht 
ohne  eine  gewisse  Scheu.  Niemand  nämlich  fühlt  besser  als 
ich  selber,  wie  viel  mir  abgeht,  um  den  Ansprüchen,  die  bei 
einer  solchen  Gelegenheit  an  den  Redner  gemacht  werden,  zu 
genügen.  Das  Amt  indessen,  das  mir  meine  Collegen  über- 
tragen haben,  verlangt  es,  dass  ich  spreche,  und  so  liegt  hierin 
meine  Rechtfertigung.  Mehr  Verantwortlichkeit  habe  ich  auf 
mich  genommen  durch  die  Wahl  des  Themas.  Sie  ist  mein 
eigen  und  sollte  sie  misslungen  sein,  so  fällt  der  Tadel  auf  mich 
allein.  In  derThat  liegt  dasselbe  wohl  Manchem  etwas  ferne  und 
mag  daher  zu  einem  Aidass,  wie  der  heutige,  weniger  geeignet 
erscheinen.  Die  mieisten  Redner,  seit  einer  Reihe  von  Jahren, 
haben  den  Vortheil  gehabt,  entweder  allgemeine  Gegenstände 
zu  besprechen,  Avelche  das  Interesse  unserer  Zeit  erregen,  oder 
den  Stoff  in  einem  zwar  engern  aber  auch  nähern  Kreise  ge- 
wählt zu  haben,  Avelcher  die  vaterländische  Theilnahme  in  An- 
spruch nimmt.  Xx\i  diese  \'ortheile  habe  ich  verzichtet  und 
mein  Thema  in  jener  fernen  Vergangenheit  gesucht,  welche 
vielfach  besprochen.  Manchen  allgemein  bekannt,  ja  sogar  er- 
schöpft zu  sein  dünkt,  demjenigen  aber,  der  sie  genauer  zu 
erforschen  bemüht  ist,  als  eine  ewig  sprudelnde  Quelle  immer 
neuer  Belehrung  erscheint  und  geeignet  nicht  nur  den  Gelehr- 
ten von  Fach,  sondern  jeden  zu  fesseln,  der  Sinn  hat  für  den 
Entwickelungsgang  des  Menschengeschlechts.  Ich  meine  die 
Geschichte  des  alten  Griechenlands.  Dorthin  habe  ich  meinen 
Blick  um  so  lieber  gerichtet,  als  gar  zu  oft  jene  Geschichte 
einseitig,  sei  es  im  rosigen  Lichte  eines  Ideals,  sei  es  im  Dun- 
kel  des   Heidenthums   betrachtet   wird.      Der   wahre    Forscher 


88  Alkibiades  ukd  Lysandros. 

wird  den  einen.  Avie  den  andern  Abweg  zu  vermeiden  haben. 
Es  werden  ihm  dabei  manche  Ilhisionen  verloren  gehen,  aber 
die  Wahrheit,  der  er  nachstrebt,  wird  ihn  hinlänghch  entschä- 
digen, lind  die  handelnden  Personen  werden  aus  Schattenbil- 
dern lebendige  Menschen  der  Wirklichkeit,  sie  werden  gleich- 
sam Fleisch  und  Kein  erhalten.  80  wird  dann  erst  die  Ge- 
schichte eine  magistra  vitae  und  fruchtbar  werden  für  das 
Leben.  Und  so  hoffe  ich  auch  Ihre  Aufmerksamkeit  für  einige 
Zeit  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen,  wenn  ich  Sie  bitte  mir 
in  eine  Zeit  zu  folgen,  wo  die  schöne  Blüthe,  welche  das 
hellenische  Leben  entfaltet  hatte ,  zu  welken  begann ,  in  eine 
Zeit,  wo  jenes  geniale  ^'olk  alle  Kräfte  in  furchtbarer  An- 
strengung aufwandte  sich  selbst  zu  vernichten,  in  die  Zeit  des 
peloponnesischen  Krieges.  Ich  gedenke  nämlich  zu  sprechen 
von  zwei  der  hervorragendsten  Charaktere  jener  aiisserordent- 
lichen  Zeit ,  von  Alkibiades  und  Lysandros ,  zwei  Männern, 
welche  mehr  als  irgend  andere  uns  ein  Bild  darbieten  einer- 
seits des  hinsinkenden  und  im  Falle  noch  liebenswürdigen 
Athen,  anderseits  des  aus  der  alten  würdevollen  Beschränkung 
imd  Besonnenheit  in  eine  neue,  ihm  fremdartige  und  trotz  mo- 
mentanen Sieges  verderbliche ,  fast  dämonische  Thätigkeit  ge- 
worfenen Sparta. 

Durch  die  Perserkriege  hatte  Griechenland  eine  völlige 
Umwandlung  erlitten.  Vor  denselben  war  im  Ganzen  noch 
die  aristokratische  Verfassung  vorherrschend,  jedenfalls  noch 
kein  Mittelpunkt  für  die  demokratische  Entwickelimg  da.  Das 
unlängst  erst  durch  Spartas  Hülfe  von  der  Tyrannis  befreite 
Athen,  kaum  den  Innern  Parteiungen,  die  es  zerrissen,  entron- 
nen, stand  noch  ziemlich  schwach  und  isoUrt.  Die  demokra- 
tischen Neuerungen  des  Kleisthenes  hatten  zwar  bereits  das 
Selbstgefühl  des  ^'olks  geweckt  und  befestigt,  aber  noch  hatte 
es  diesem  an  einem  grossen  Anlasse  zur  Entwicklung  seiner 
Kraft  gefehlt ;  noch  war  Athen  nicht  Adel  mehr  als  jeder  an- 
dere griechische  Staat;  war  doch  die  kleine  Insel  Aegina  ihm 
damals  zur  See  überlegen.  Sparta  war  noch  unbestritten  die 
erste  Macht  in  Hellas,  übte  ohne  Widerspiaich  das  Principat 
aus,  und  schien  in  seiner  Stellung  um.  so  sicherer,  als  vor 
seinen  Waffen ,  ja  bisweilen  bloss  seinen  AYorten  die  meisten 
Tyrannen    des    alten    Griechenlands   gefallen  waren.     Dorische 


Alkibiades  und  Lysandros.  89 

Besonnenheit  und  dorischer  Ernst  beherrschten  noch  das  grie- 
chische Lehen  und  fanden  auch  in  künstlerischer  Hinsicht 
ihren  Aiisdruck  theils  in  der  lyrischen  Poesie  (Pindar)  theils  in 
der  dorisch  genannten  Baukunst.  Der  Blick  der  Staaten  und 
Völker  war  noch  mehr  nach  innen  als  aussen  gerichtet;  auf 
einen  kleinen  Kreis  beschränkt,  in  diesem  sicher  und  fest.  Da 
wurde  dieser  Zustand  plötzlich  geändert  durch  den  Versuch 
des  persischen  Königs  auch  Europa  dem  Morgenlande  zu  un- 
terwerfen. —  Einem  solchen  Angriffe  gegenüber  genügten  die 
bisherigen  Einrichtungen  und  Zustände  von  Griechenland  nicht. 
Zwar  überliessen  die  sämmtlichen  dam  Vaterlande  treu  geblie- 
benen Staaten  Sparta  den  Oberbefehl ,  aber  Sparta  hätte  trotz 
seines  Leonidas  Griechenland  nicht  gerettet;  sein  Blick  ging 
nicht  weit  genug,  seine  ganze  Beschaffenheit  entsprach  nicht 
so  grossen  Verhältnissen. 

Athen,  das  bereits  bei  Marathon  allein  den  Feind  geschla- 
gen, gebührt  zum  grossen  Theil  der  Kuhm,  Griechenland  vor 
dem  Schicksal  eine  persische  Provinz  zu  werden  bewahrt  zu 
haben.  Athen  hat  nicht  allein  den  grössten  Feldherrn  und 
die  meisten  Schiffe  zum  Kampfe  gestellt,  es  hat  auch  durch 
freiwilliges  Aufgeben  seines  Landes  und  durch  willige  Unter- 
ordnung unter  Spartas  Oberbefehl  eine  Aufopferung  und  Selbst- 
verläugnung  bewiesen ,  wie  sie  in  der  Geschichte  selten  sind, 
und  dadurch  allein  eine  Spaltung  unter  den  Griechen  gehin- 
dert,  die  unbedingt  ihren  Untergang  herbeigeführt  hätte. 

So  trat  es  ganz  anders  aus  dem  Kampfe  als  es  in  den- 
selben gezogen  war.  mit  dem  stolzen  Bewusstsein  sich  und 
das  Gesammtvaterland  gerettet  zu  haben,  und  anfangs  aner- 
kannt und  gefeiert  von  den  andern  Griechen.  Jene  pindari- 
schen  Worte : 

(o  Tal  XiTTcpai  xai  iooT£<pavot  xai  aoioifxoi 
E^vÄaoo;  £p£ia[xa,  xXsivai  Ai)avai,  oai[x6viov  TTTo^a'sDpov 
»O  du  glänzendes,  veilchenbekränztes,  vielfach  besungenes. 
du  Stütze  von  Hellas,  berühmtes  Athen,  du  göttliche  Stadt,« 
sind  recht  eigentlich  der  Ausdruck  dessen ,  wofür  Athen  sich 
hielt  und  gehalten  ward,  dessen,  was  es  war.  Mit  dieser  Be- 
deutung Avar  aber  die  untergeordnete  äussere  Stellung  im  Wi- 
derspruch, es  musste  eine  höhere  erhalten,  und  was  eine  histo- 
rische   Nothwendigkeit   war,    das   beschleunigte    einerseits    die 


90  Alkibiades  u>d  Lysandros. 

billige  und  freundliche  Art  der  athenischen  Feldherren  Aristei- 
des  und  Kimon ,  anderseits  das  hochfahrende,  herrische ,  bald 
verrätherische  Benehmen  des  Spartaners  Pausanias.  Athen 
stand  an  der  Spitze  der  Bundesgenossen  von  den  Inseln  und 
Küsten,  aller  jener  die  von  persischer  Herrschaft  abgefallen 
waren,  Sparta  überliess  ihm  die  Fortsetzung  des  Krieges  gegen 
Persien,  zog  sich  scheinbar  freiwillig,  doch  im  Innern  erbittert 
zurück;  es  fühlte,  dass  die  weitere  Behauptung  der  Feldherrn- 
schaft gegenüber  Persien  mit  seinem  ganzen  Wesen  nicht  zu- 
sammen passte,  konnte  aber  nur  mit  Neid  das  glückliche  Athen 
an  seinem  Platze  sehen. 

Statt  dass  also  früher  die  Staaten  des  Festlandes,  mit  be- 
deutendem Vorwiegen  des  dorischen  Elements  dem  ruhigen 
aber  entschiedenen  Gebote  des  aristokratischen  Sparta  Folge 
geleistet  hatten,  die  beweglichem  Staaten  Kleinasiens  aber 
durch  ihre  Unterwerfung  unter  Lydien,  dann  Persien,  politisch 
dem  Mutterlande  ziemlich  entfremdet  waren,  ist  nun  plötzlich 
im  Vordergründe  eine  neue  Macht,  zum  grossen  Theil  aus  je- 
nen kleinasiatischen  Staaten ,  in  denen  der  jonische  Stamm 
vorherrscht,  gebildet.  Mit  ihnen  vereint  sind  die  griechischen 
Bewohner  der  thrakisch-makedonischen  Küste  und  der  Inseln, 
an  ihi-er  Sj^itze  steht  das  zu  ausserordentlicher  Thätigkeit  ge- 
weckte, siegesstolze  und  m  seinem  Innern  bereits  ganz  demo- 
kratisch gestaltete  Athen.  ^Yie.  ganz  entsprechend  dem  ernsten 
Sinn  des  dorisch -spartanischen  Charakters,  die  Hauptstärke 
des  alten  Hellas  unter  Spartas  Leitung  in  den  unerschütter- 
lichen, wohlgeordneten,  aber  langsamen  Schaaren  seines  schwe- 
ren Fussvolks  bestanden  hatte  und  fort  besteht,  so  liegt  die 
Kraft  der  neuen  Macht  in  der  beweglichen,  zu  fernem  Unter- 
nehmungen geeigneten  Flotte .  zu  deren  zweckmässiger  An- 
wendung, es  nicht  nur  der  ruhigen  Besonnenheit  und  des 
todesverachtenden  Muthes.  Avelche  der  Hauptzug  der  Spartaner 
waren,  sondern  noch  mehr  grosser  Geschicklichkeit.  Uebung 
und  Unternehmungsgeistes  so  wie  bedeutender  Geldmittel  be- 
durfte. Hier  also  Seemacht  und  Demokratie,  dort  Landmacht 
und  Aristokratie.  Anfangs  zAvar  standen  die  beiden  Mächte, 
Sparta  und  Athen  friedlich  neben  einander,  Athen  schien  nur 
den  Krieg  gegen  Persien  fortzusetzen ,  dessen  Leitung  Sparta 
nicht   wollte;    den    Spartanern   blieben    die    Staaten    des   Fest- 


Alkibiades  und  Lysandros.  91 

landes ,  wenigstens  des  Peloponneses  anhänglich ,  ja  Athen 
selbst  schien  eine  Zeitlang  noch  seine  Suprematie  anzuerken- 
nen. Allein  lange  dauerte  das  nicht;  denn  Athen,  durch  die 
Verhältnisse  dazu  verlockt  und  gedrängt,  wandelte  allmälich 
seine  freie  Bundesgenossenschaft  zu  einer  eigentlichen  Herr- 
schaft um.  Je  mehr  im  Innern  das  A'olk  alle  Erinnerungen 
an  alte  Einrichtungen  und  liechte  vernichtet,  und  iinhedingte 
Herrschaft  der  Masse  verlangt,  xmi  unter  dieser  Form  einem 
gewaltigen  Geiste  zu  gehorchen,  desto  straffer  wird  der  Zügel 
nach  Aussen  hin  gezogen.  Alle  Kräfte  der  ehemals  freien  Hun- 
desstaaten werden  in  der  herrschenden  Stadt  coucentrirt,  und 
nur  dadurch  kann  Athen  <3ine  Thatkraft  und  Macht  entwickeln, 
wie  wir  sie  in  der  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  anstaunen; 
nur  so  erklärt  sich,  wie  es  Kriege  mit  Persien  und  den  Haupt- 
staaten Griechenlands  führt,  Avie  es  Verluste  von  einigen  hundert 
Schiffen  sammt  der  Mannschaft  fast  unbemerkt  verschmerzt, 
und  zugleich  die  Wunderwerke  des  Parthenon,  der  Propyläen 
und  anderer  Tempel  aufführt,  die  gewaltigen  Hafen-  und 
Mauerbauten  zu  Stande  bringt,  und  an  zahlreichen  jährlich 
wiederkehrenden  Festen  eine  Herrlichkeit  entfaltet,  die  in  der 
Geschichte  durchaus  einzig  ist.  Es  ist  nicht  eine  einzelne 
Stadt,  sondern  der  Mittelpunkt  eines  Reiches,  dessen  Kräfte  hier 
zusammenfliessen.  Aber  zugleich  mit  der  Macht  dieser  demo- 
kratischen Herrscherin  wuchs  auch  die  Unzufriedenheit  der 
früher  freien  Bundesgenossen,  die  jetzt  Unterthanen  geworden 
waren ,  und  wurde  vielfach  von  Sparta  und  dessen  Bundesge- 
nossen genährt.  Und  als  nun  Athen  nicht  zufrieden  mit  der 
Herrschaft  über  die  Seestaaten  seine  Gewalt  mit  Hülfe  demo- 
kratischer Sympathien  auch  über  die  Staaten  des  Festlandes 
auszudehnen  suchte,  da  brachen  Kämpfe  aus,  welche  nach 
mehrfacher  Unterbrechung  eigentlich  erst  durch  den  sogenann- 
ten dreissigj ährigen  Frieden  geschlossen  wurden.  —  Musste 
auch  Athen  darin  manchen  weitergehenden  Plan  aufgeben,  so 
trug  es  doch  den  grossen  Gewinn  aus  demselben  davon,  dass 
hier  zum  erstenmal  seine  Bundesgenossenschaft  förmlich  aner- 
kannt Avurde.  Die  beiden  grossen  Symmachien  wurden  gewis- 
sermassen  gegenseitig  garantirt,  es  sollte  dieser  Friede  die 
Grundlage  des  hellenischen  Staatsrechtes  werden.  Auf  der  einen 
Seite  steht  der  peloponnesische  Bund  mit  Sparta  an  der  Spitze, 


92  Alkibiades  und  Lysandros. 

gestützt  auf  den  grössten  Theil  des  Festlandes;  die  Verfas- 
sungen meist  oligarchisch,  die  Bundesglieder  gegenüber  Sparta 
formell  selbständig;  anderseits  Athen  mit  der  Herrschaft  über 
die  Seestaaten ,  im  Innern  der  Einzelstaaten ,  meist  Demo- 
kratie, die  Bundesglieder  gegenüber  Athen  meist  unterthänig. 
Allein  die  Gegensätze  waren  bereits  zu  mächtig  herangewach- 
sen; die  durch  den  Frieden  gebotene  Ruhe  wurde  beiderseits 
benutzt,  sich  zum  Kriege  zu  rüsten,  theils  durch  Herschaffung 
von  Geld  und  Kriegsmaterial ,  theils  durch  Organisation  der 
Symmachien,  Erwerbung  neuer  Bundesgenossen.  Umtriebe  un- 
ter denen  des  Gegners.  Suchte  Sparta  durch  das  Schlagwort 
politischer  Freiheit  gegenüber  Athen  die  Zuneigung  der  Hel- 
lenen zu  gewinnnen,  so  wusste  dagegen  Athen  in  den  oligarchi- 
schen  Staaten  demokratische  Parteien  in  sein  Interesse  zu 
ziehen.  Im  Ganzen  aber  neigte  das  Wohlwollen  der  Hellenen, 
als  der  Krieg  ausbrach,  doch  weit  mehr  zvi  Sparta,  da  hier 
wie  überall  das  Wort  Freiheit  seinen  Zauber  übte,  und  die 
Kurzsichtigen  vermeinten ,  wenn  nur  erst  Athens  Joch  gebro- 
chen sei,   werde  ihnen  das  Glück  nicht  fehlen  können. 

Mit  der  Entwicklung  Athens  nach  Aussen  war  seine  innere 
politische  Avie  intellektuelle  Hand  in  Hand  gegangen.  Dem 
Genius  des  Perikles ,  des  grössten  Demagogen  aller  Zeiten, 
war  es  gelungen  alle  Hemmnisse  zii  entfernen,  welche  die 
athenische  Verfassung  einer  schrankenlosen  Entfaltiuig  der 
Volkskräfte  entgegensetzte,  es  war  ihm  das  Grössere  gelungen 
bloss  durch  die  üeberlegenheit  seines  Geistes  und  seines  Cha- 
rakters jene  entbundenen  Kräfte  zu  ordnen  und  zu  leiten.  Es 
war  dem  Namen  nach  eine  Demokratie .  der  That  nach  eine 
Herrschaft  des  vortrefflichsten  Mannes.  Nichts  fehlte  als  die 
Gewähr  der  Dauer,  die  um  so  sch^verer  war .  weil^  auf  solche 
Anstrengung  aller  Kräfte  Erschöpfung  fast  durch  ein  Naturgesetz 
geboten  war.  Mehr  noch  als  politisch  wurde  Athen  geistig  die 
Metropole  von  Griechenland.  Während  früher  im  Ganzen 
Poesie,  bildende  Künste  und  Philosophie  in  den  verschiedenen 
Ländern  hellenischer  Zunge  schöne  und  mannichfaltige  Blüthen 
trieben,  wird  in  dem  Zeitraum  zwischen  dem  persischen  und  dem 
peloponnesischen  Krieg  Athen  der  geistige  Mittelpunkt.  Hier  ist 
der  Sitz  der  tragischen  und  komischen  Dichtving,  die  aus- 
schliesslich attisches  Produkt  ist;  hier  bildet  sich  unter  Phei- 


Alkibiades  und  Lysandros.  93 

dias  ein  Verein  von  bildenden  Künstlern,  der  anch  aus  dem 
übrigen  Hellas  die  besten  Kräfte  an  sich  zieht,  und  das  Un- 
erreichte leistet;  hier  finden  die  Philosophen  und  Sophisten 
einen  Vereinigungspunkt  und  reichen  Boden  für  ihre  Bestre- 
bungen, welche  die  Geister  in  lebendige  Bewegung  bringen, 
aber  auch  das  l^estehende  in  Staat  und  Religion  vielfach  lockern 
und  erschüttern ;  durch  Sokrates  und  seine  Schüler  wird  Athen 
auf  Jahrhunderte  der  Sitz  der  Philosophie ;  hier  endlich  bietet 
die  freie  Rednerbühne  der  entstehenden  Kunst  der  Beredsam- 
keit ein  fruchtbares  Feld;  und  die  von  Jonien  ausgegangene 
Geschichtschreibung  erreicht  hier  ihre  Vollendung.  Es  war 
Athen  damals  die  'EXXaocc  iraioeuaic ,  die  Bildungsanstalt  ganz 
Griechenlands.  Fürwahr  ein  geistiges  Leben,  wie  es  kaum  zum 
zweitenmal  in  der  Geschichte  sich  zeigt,  ein  Leben,  das  aber 
nur  durch  die  Herrschaft  über  ein  Reich  möglich  war  inid 
zugleich  ein  verderbliches  Element  mit  sich  führte  in  der 
immer  entschiedener  einreissenden  Negirung  alles  dessen,  was 
ehedem  für  gut  und  schön  gegolten  hatte,  in  dem  Bestreben 
überall  an  der  Stelle  des  objectiv  gültigen  Gesetzes  den 
subjektiven  Gelüsten  des  Individuums  Geltung  zu  verschaffen. 
Während  so  Athen  dadurch,  dass  es  allen  Geistesbewegungen 
von  Griechenland  freien  Eingang  gestattet,  und  sich  selbst  an 
die  Spitze  dieser  Bewegung  stellt,  die  höchste  Blüthe  erreicht, 
aber  auch  den  Keim  zu  der  Auflösung  legt,  sucht  Sparta  durch 
strenges  Abschliessen  seinen  Charakter  zu  bewahren.  So  lange 
die  Entwicklung  hellenischer  Kunst  dem  dorisch-spartanischen 
Geiste  entsprechend  war,  hatte  es  lebendigen  Antheil  daran 
genommen;  Lykurgs  Verdienst  um  Homer,  die  Dichter  Tyr- 
taios  und  Alkman,  der  weise  Chilon  sind  sprechende  Beweise 
dafür.  Die  neue  Entwicklung  seit  den  Perserkriegen  war  ihm 
fremdartig,  störte  es  in  seinem  Wesen,  es  veiTnochte  nicht  die- 
selbe sich  anzueignen  und  zu  beherrschen  und  verschloss  sich 
deshalb  derselben.  Das  Gleiche  sehen  wir  im  Staate,  wo  die 
nothwendigsten  Veränderungen  unbedingt  von  der  Hand  ge- 
wiesen wurden.  Starres  Festhalten  am  Alten  zeichnet  von  jetzt 
an  es  aus;  aber  nur  die  Formen  blieben  die  alten;  der  Geist 
und  das  Wesen  veränderten  sich,  kamen  in  mannichfachen 
Widerspruch  mit  jenen  und  erzeugten  so  ein  inneres  Missver- 
hältniss  und  Missbehagen,    wobei   zwar   äusserlich  der  Verfall 


94  Alkibiades  und  Lysandros. 

länger  hinausgehalten  Avard  als  bei  Athen,  später  aber  nur  um 
so  furchtbarer  einbrach.  — 

So  kam  denn  nach  kaum  vierzehnjähriger  nothdürftiger 
Dauer  des  Friedens  der  Kampf  zum  neuen  Ausbruch.  Es  be- 
ginnt der  Krieg,  der  unter  dem  Namen  des  peloponnesischen 
bekannt,  nicht  etwa  als  ein  Krieg  zweier  Städte  zu  betrachten 
ist ,  sondern  als  ein  Krieg  zweier  grossen  Staatenbünde .  an 
deren  Spitze  Athen  und  Sparta  standen.  Gegen  Erwarten 
leistete  Athen  unter  Perikles  weiser  Leitung  glücklichen  Wider- 
stand, und  als  das  weise  ^'ertheidigungssystem  nach  seinem 
Tode  aufgegeben  wurde,  war  im  Ganzen  durch  die  Verdienste 
trefflicher  Feldherren ,  unter  denen  besonders  Phormion .  De- 
mosthenes';  und  Nikias  zu  nennen  sind,  der  Gang  der  Er- 
eignisse glücklich  und  daher  die  Stimmung  unter  Kleons  Lei- 
tung dem  von  Sparta  gebotenen  Frieden  ungünstig,  bis  mehrere 
Unglücksfälle  die  Kriegslust  herabstimmten  und  der  soge- 
nannte Friede  des  Nikias  zu  Stande  kam,  der  keine  der  Fra- 
gen entschied,  um  deren  willen  man  das  Schwert  ergriffen 
hatte,  und  deshalb  keine  Gewähr  für  Dauer  hatte.  In  diesem 
ersten  Abschnitte  des  Krieges  waren  es  zuerst  vorzugsweise 
Perikles  und  Archidaraos  gewesen,  welche  die  Geschicke  von 
Griechenland  geleitet  hatten,  Männer,  die  mehr  noch  einer 
frühem  Zeit  angehörten.  Nach  ihrem  Tode  treten  in  den  Vor- 
dergiaind  der  Polterer  Kleon,  neben  dem  aber  Athen  eine  Reihe 
guter  Feldherren  besass.  anderseits  der  treffliche  Brasidas.  Ihr 
Tod  in  der  Schlacht  bei  Amphipolis  machte  den  Frieden  möglich. 

Diesem  ersten  zehnjährigen  Abschnitte  des  Krieges,  der 
auch  der  archidamische  Krieg  heisst,  folgt  nun  eine  sechs- 
jährige Periode  angeblichen  Friedens,  in  dem  die  sonderbarsten 
Combinationen  eintreten,  im  Ganzen  aber  die  Parteien  ein- 
ander bald  mehr  bald  weniger  verborgen  bekämpfen,  bis  Athen 
im  kecken  Uebermuth  es  unternimmt  Sicilien  zu  erobern. 
Dieser  Zug  führt  den  offenen  Wiederausbnich  des  Krieges  her- 


1)  Ich  habe  im  Schweiz.  Museum  I  p.  372—408  [=  Kleine  Schriften  I 
S.  53 — 86]  über  das  Kriegssystem  der  Athener  nach  Perikles  Tode  gesprochen 
und  dort  nachzuweisen  gesucht,  dass  dasselbe  im  Grunde  nur  eine  durch 
das  Bedürfniss  der  Athener  nach  Thätigkeit  und  den  günstigen  Lauf  des 
Ki'ieges  hervorgerufene  Erweiterung  des  perikleischen  Systems  zur  Offensive 
gewesen  und  vorzüglich   in  Demosthenes  seinen  Vertreter  gehabt  habe. 


Alkibiadks  und  Lysandros.  95 

bei,  der  nach  dem  tragischen  Ausgang  jenes  Unternehmens, 
trotz  des  heldenmüthigsten  Widerstandes,  endlich  mit  Athens 
Demüthigung  endigt. 

Dieser  zweite  Theil  des  Krieges  trägt  einen  ganz  andern 
Charakter  als  der  erste.  Wenn  in  jenem  nocli  gewissermassen 
in  Folge  der  alten  Besoinienheit  nnd  der  verständigen  Politik 
des  Perikles  nnd  Archidamos  eine  gewisse  Mässigung,  ein  vor- 
sichtiges Beschränken  der  Unternehmungen  sich  kund  giebt, 
nirgends  die  ganze  Existenz  aufs  Spiel  gesetzt  A\-ird,  darum 
der  Krieg  auch  noch  mehr  zwischen  den  Staaten  als  den  Völ- 
kern geführt  wird,  mehr  um  Behauptung  oder  Verlust  der 
athenischen  Hegemonie  als  um  Unterwerfung  des  einen  .Staates 
luiter  den  andern,  so  wird  jetzt  auf  einmal  die  Art  des  Kam- 
pfes wie  sein  Ziel  ein  anderes.  Athens  junge  Generation,  nicht 
zufrieden  mit  dem  Vorhandenen,  mühsam  J^ehaupteteu,  will 
eine  Herrschaft  des  mittelländischen  Meeres  begründen,  der 
natürlich  auch  der  Peloponnes  verfallen  sollte;  es  setzt  Alles 
aufs  Spiel,  der  Wurf  misslingt  und  nun  kämpft  es  zwar  helden- 
müthig  und  oft  erfolgreich,  aber  unstät  und  im  Innern  zer- 
rissen, bald  mehr  um  sein  Dasein  als  um  die  Herrschaft. 
Sparta,  diesmal  weit  mehr  im  Rechte  als  im  archidamischen 
Kriege,  greift  durch  die  früheren  Erfahrungen  belehrt  den 
Feind  nun  in  ganz  anderer  Weise  an;  je  mehr  Athen  an  Hal- 
tung und  Besonnenheit  verliert,  desto  consequenter,  aber  auch 
rücksichtsloser  und  unbekümmert  um  alle  Mittel  verfolgt  es 
sein  Ziel.  Durch  persische  Subsidien  unterstützt  stellt  es  Athen 
gewaltige  Flotten  entgegen,  entreisst  ihm  die  Bundesgenossen, 
woher  es  seine  Kräfte  zog ,  blokirt  die  Stadt  zu  Lande ,  und, 
was  das  gefährlichste,  umgarnt  Athen  durch  verrätherische  Yer- 
bindungen.  Fast  überall  treten  oligarchische  Clubs  als  wesent- 
liche Elemente  im  Kriege  auf;  der  Krieg  wird  mehr  und  mehr 
ein  Krieg  zwischen  Oligarchie  und  Demokratie,  wühlt  sich  so 
tief  in  das  Volk  ein  und  erzeugt  furchtbare  Erbitterung.  Zu- 
gleich ist  er  durch  die  Verbindung  mit  Persien  an  geogra- 
phischer Ausdehnung  und  Massenliaftigkeit  der  Streitkräfte  un- 
gemein gewachsen;  am  Ende  Avird  er  ein  Verzweiflungskampf 
von  Seite  Athens.  i)     Fragen  wdr  nun  welche  Ursachen  beson- 


*)  Ich  möchte  das  nicht  als   rhetorische   Floskel    oder   Uebertreibung 


96  Alkibiades  uxd  Lysandros. 

ders  für  eine  solche  Gestaltung  wirkten,  so  finden  wir  sie  zum 
Theil  natürlich  in  der  ganzen  Lage  der  Dinge,  dem  Charakter 
der  Völker  und  in  ihrer  Entwickelung,  zum  grossen  Theil  aber 
auch  in  zwei  hervorragenden  Persönlichkeiten,  welche  uns  den 
Charakter  ihrer  beiden  Vaterstädte  in  ihrem  Verfalle  abspiegeln, 
und  auf  ihre  Schicksale  den  mächtigsten  Einfluss  übten.  Es 
sind  die  bereits  genannten  Alkibiades  und  Lysandros,  von 
denen  der  erstere  bereits  in  früher  Jugend  den  Blick  auf  sich 
gezogen  hatte,  der  letztere  auf  einmal,  wie  ein  deus  ex  ma- 
china,  erst  in  den  letzten  Jahren  des  Krieges  den  Schauplatz 
betritt. 

Alkibiades  entstammte  den  edelsten  und  reichsten  Ge- 
schlechtern Athens,  Sein  Vater  Kleinias  führte  den  Stamm- 
baum auf  Eurysakes ,  den  Sohn  des  Aias  und  somit  auf  Zeus 
zurück,  die  Mutter  Deinomache,  eine  Tochter  des  Megakles, 
gehörte  den  Alkmaioniden  an,  dem  ersten  Geschlechte  Athens  '), 

angesehen,  sondern  wörtlich  verstanden  wissen  und  zwar  selbst  in  der  Zeit, 
wo  die  Athener  wieder  siegreich  waren.  An  das  Schicksal  der  athenischen 
Flotten  in  Asien  war  nämlich  das  von  Athen  selbst  geknüpft ,  während 
Sparta  von  der  seinigen  bei  glücklichem  Erfolg  gänzliche  Ueberwindung 
des  Gegners  in  Aussicht  hatte,  bei  unglückUchem  immer  wieder  auf  dem 
gleichen  Punkte  stand,  wo  früher,  und  nur  für  seine  Hegemonie  über  die 
Seestaaten,  nicht  aber  für  seine  eigne  Sicherheit  Gefahr  lief.  Darum  waren 
die  Niederlagen  bei  Kyzikos  und  den  Arginussen  ziemlich  bald  verschmerzt, 
während  die  bei  Aigospotamoi  dem  Kriege  ein  schnelles  Ende  machte. 

•)  Die  Alkmaioniden  führen  ihren  Stammbaum  auf  Nestors  Geschlecht 
zurück,  Alkmaion  ist  sein  Urenkel.  Müller  Orchomenos  p.  366.  Pausan. 
II,  18,  8  giebt  folgende  Genealogie :  Nestor,  Thrasymedes,  iSillos,  Alkmaion 
—  vgl.  jetzt  meine  Abhandlung  über  die  Stellung  des  Geschlechts  der 
Alkmaioniden.  Basel  1847.  Der  Vater  der  Deinomache  Megakles  war 
ohne  Zweifel  Sohn  des  berühmten  athenischen  Gesetzgebers  Kleisthenes, 
was  aus  Isokrates  de  big.  §.  26,  Boeckh  in  den  Explicat.  ad  Pind.  Pyth. 
p.  303  nachgewiesen,  dem  Nissen  in  der  Zeitschrift  f.  A.  W.  1836  S.  N. 
34,  274  und  Solko  Walle  Tromp  disputatio  historico-literaria  de  Pericle. 
Lugduni-Batavorum  18:i7  beistimmen.  "\^'arum  "VViggers  in  der  Abhand- 
lung de  Cornelii  Nepotis  Alcibiade  'die  ich  aber  nur  aus  Nissens  Anzeige 
a.  a.  O.  kenne  ,  Sintenis  zu  Plutarch.  Pericl.  c.  3  p.  63,  Baehr  zu  Plut. 
Ale.  p.  .57.  Theod.  Bergk  Comment.  d.  reliqu.  Com.  attic.  p.  350  und 
Rinck  Prolegom.  ad  Aemil.  Probum  in  der  Ausg.  von  Roth  p.  XCII  von 
dieser  bestimmten  Angabe  abweichen  und  annehmen,  der  Vater  der  Deino- 
mache, Megakles,  sei  der  Sohn  des  Hippokrates  gewesen  und  also  ein  Neffe 
des  Kleisthenes,  sehe  ich  nicht  ein.  Aus  Herodot  Yl,  131  geht  es  keines- 
wegs hervor.     Die  Annahme,  dass  Isokrates  oder  vielmehr  sein  Klient,  der 


Alkibiades  und  Lysandros.  97 

den  Glanz  des  Stammes  hatte  Kleinias  diiich  eigene  Verdienste 
vermehrt.  Denn  mit  edler  Aufopferung  hatte  er  gegen  die 
Perser  ein  eigenes  Kriegsschiff  ausgerüstet  und  durch  Tapfer- 
keit sich  ausgezeichnet ,  und  im  vorgerückten  Alter '  fiel  er 
bei  Koroneia  als  einer  Jener  FreiA\dlligen ,  die  der  külme  Tol- 
mides  nach  Böotien  geführt  hatte.  So  wurde  damals,  es  war 
im  Jahre  446  v.  Chr.  Alkibiades  etwa  5  — 13  Jahre  alt  eine 
Waise.  2]     Die  Vormundschaft  über  ihn  mid  den  jungem  Bru- 

jüngere  Alkibiades,  das  Geschlecht  des  Vaters  aus  Unwissenheit  falsch 
angegeben ,  ist  mir  unwahrscheinlich ;  dass  ^r  absichtlich  die  Unwahrheit 
gesagt,  um  durch  die  Popularität  des  Kleisthenes  zu  wirken,  ganz  un- 
glaublich, da  er  dabei  Gefahr  lief  der  Lüge  überführt  zu  werden,  und  den 
ganzen  Zweck  zu  verfehlen.  Man  wende  nicht  ein,  dass  auch  Demosthenes 
in  der  Midiana  §.  144  irrige  Angaben  bringe;  denn  zugegeben  sie  seien 
irrig  (Böckh  a.  a.  O.  ist  anderer  Meinung  vergl.  auch  Nissen  a.  a.  O.j  so 
führt  Demosthenes  den  Alkibiades  nur  als  ein  Beispiel  an,  und  ein  Irr- 
thum  war  hier  ohne  alle  weiteren  Folgen.  Man  vergl.  die  als  Beilage  ge- 
gebene Stammtafel. 

'j  Da  Kleinias  bei  Artemision  mit  einer  eigenen  'friere  kämpft,  so  wird 
er  damals  Ol.  75,  1  oder  4S0  kaum  weniger  als  20  Jahre  alt  gewesen,  also 
um  Ol.  70,  1  oder  500  v.  Chr.  geboren  worden  sein.  Bei  seinem  Tode 
Ol.  8.3,  2  oder  446  wird  er  also  nicht  unter  54  Jahren  gezählt  haben.  Wenn 
daher  K.  F.  Hermann  in  der  Abhandlung  de  tempore  convivii  Xenophontei 
pars  II,  p.  12  sagt  Kleinias  sei  »Critoni  fere  aequalis»  gewesen,  so  ist  das 
wohl  ein  Versehen  meines  hochverehrten  Freundes.  Denn  Kriton  war,  wie 
Hermann  selbst  aus  Plat.  Apol.  Socr.  p.  ;J3  d.  nachweist,  ein  Altersgenosse 
des  Sokrates,  also  etwa  in  Ol.  77,  4  oder  4üS  geboren,  und  somit  gewiss 
wenigstens  um  30  Jahre  jünger  als  Kleinias  ^Hermann  in  einem  Briefe  an 
mich  und  in  dem  Vorworte  zu  dem  "VMederabdrucke  der  Abhandlung  de 
tempore  convivii  Xenophontei  in  Jahns  N.  Jahrb.  f.  Phil,  und  Paed.  XII 
Suppltbd.  p.  32t)  sucht  seine  Behauptung  zu  vertheidigen ,  indem  er  zu- 
giebt,  dass  Herodot  damit  im  Widerspruch  stehe,  aber  meint,  Herodot  habe 
den  Sohn  Kleinias  mit  dem  Vater  Alkibiades  verwechselt  oder  man  müsse 
geradezu  AA7.tßtaoT,;  ö  K).£tvio'j  statt  K"/.£i.-/ta;  6  'A).y.i|3tocoo'j  lesen.  Es  lässt 
sich  nicht  läugnen,  dass  es  höchst  auffallend  und  kaum  erklärlich  ist,  falls 
der  ältere  Alkibiades  zur  Zeit  der  Perserkriege  schon  todt  war  und  Kleinias 
bei  Artemision  stritt,  wie  seine  beiden  Söhne  erst  so  lange  nachher  geboren 
wurden ;  noch  mehr  aber  scheint  damit  das  Alter  des  Axiochos  und  seines 
Sohnes  Kleinias  im  Euthydem  und  bei  Athen  XII  pg.  535  a.  zu  streiten. 
Der  Euthydem  wird  gewöhnlich  Ol.  92  oder  93  gesetzt,  wonach  Axiochos 
auch  sehr  spät  Nachkommen  erhalten  hätte;  dach  auch,  wenn  man  ihn 
Ol.   89  setzt,  bleibt  die  Sache  immer  noch  auffallend.] 

2)  Ueber  das  Geburtsjahr  des  Alkibiades  haben  unter  andern  gesprochen 
Letronne  im  Journal    des    Savants    1820  p.    679.     Meier   im    Greifswalder 

Vischer,  Schriften  I.  7 


98  Alkibiades  und  Lysandros. 

der  Kleinias  übemahm  der  von  mütterlicher  Seite  ^j  verwandte 
Perikles^)    mit  seinem  l>ruder  Ariphron.      Während  die  Eltern 

Lektionskatalog  1S2I.  Bahr  zu  Plut.  Ale.  S.  122  und  2G9.  Wiggers  a. 
a.  O.  6'>.  Nissen  Ztschr.  f.  A.  W.  1836.  S.  275,  276.  Stallbaum  zu 
Plut.  Alcib.  I.  Anfang,  vergl.  Krüger  zu  Clinton  fasti  Hell.  p.  72.  Die 
Theilnahme  an  der  Schlacht  bei  Potidaia  Ol.  87,  1  und  die  Stelle  in  Plat. 
Alcib.  1  p.  123  d.  wo  er  Ittj  O'joinm  y^Y^voj;  ocpoopa  eixoaiv  heisst,  weisen 
ziemlich  sicher  auf  Ol.  S2,  2.  Jedenfalls  darf  man  sich  durch  die  Angabe 
des  Cornelius  Nepos  er  sei  annos  circiter  qnadragitita  nutits  umgekommen 
nicht  irre  machen  lassen. 

',  "Wie  Perikles  dem  Alkibiades  verwandt  gewesen  sei ,  vermag  ich 
nicht  zu  entscheiden.  Die  Vermuthung  Nissens,  welcher  auch  Rinck  a.  a. 
O.  folgt,  Perikles  habe  eine  Schwester  der  Deinomache  Namens  Demarete 
zur  ersten  Frau  gehabt,  ist  zwar  ansprechend,  aber  durchaus  nicht  be- 
wiesen. Namentlich  ist  die  Annahme,  Plinius,  der  h.  n.  XXXIV,  19,  88, 
die  Mutter  des  Alkibiades  Demarete  statt  Deinomache  nennt,  habe  die 
beiden  Schwestern  verwechselt,  bedenklich.  Gegen  die  Meinung  von  Pal- 
raerius  und  Bahr  zu  Plut.  Alcib.  1  Deinomache  selbst  sei  des  Perikles 
Gemahlin  gewesen,  haben  Wiggers,  Sinteni.s  u.  a.  verschiedene  zum  Theil 
sehr  triftige  Gründe  vorgebracht,  unter  denen  das  gänzliche  Stillschweigen 
der  altern  Schi'iftsteller,  namentlich  Piatons,  Xenophons  und  des  Isokrates 
mir  entscheidend  sclieint.  Sollte  dennoch  diese  Combination  richtig  sein, 
so  müsste  Deinomache  zuerst  an  Hipponikos,  dann  an  Perikles  und  zuletzt 
an  Kleinias  vermählt  gewesen  sein,  was  Nissen  a.  a.  O.  sehr  richtig  nach- 
weist,  da  Xauthippos  und  Paralos,  die  Söhne  des  Perikles,  nicht  jünger, 
als  Alkibiades  und  sein  Bruder  Kleinias  gewesen  sein  können. 

■2)  Plut.  Alcib.  I  sagt:  xoü  0£  AX-/tßiaoo'j  Wsrn/J.f^^  v.rd  Apicpw/  oi 
Ha-/i}ir:-o'j,  t:oo't,7.ovt£;  xito.  •(i-40z,  lreTp6~£'jov  und  c.  -i:  iv  hk  Tai;  'Avxi- 
cpiuvTo;  Xotooptott;  Y-YP^"''''^''   °~^  t^'^-iz  ojv  ex  tt,?  oiy.ia;  d-£opa  -po;  Ar,[xo->tpaT7] 

TWa    TIOV    £p73-(UV    ßo'jXoiJL£VOU    r/    a'JTOV    dTTO-ftrjpÜlTElV    ' Ap'lZrjO^oZ  ,      nsplV-Xf);    O'JX 

eioLCsv  und  damit  übereinstimmend  Antiphon  bei  Athenaeus  XII  p.  52-5  B 
|-£io'fj  doo7.t[i.otai}Y;;  ü-o  tiov  £-iTp6-(ov  cfr.  Lysias  XIX  über  Ai'istophanes 
Vermögen)  §.  52.  6  o  diro&aNUJv  io-fjX(u3£v  o-i  cjx  aKrj^Vq  -aüxa  t^v.  i\d~Tw 
'(0.0  oüatav  y.a-i'ki~e  toi;  Trai-lv  tj  aÜTo;  rrapa  riüv  i-ixpo-E'jiävTwv  -'y.pcXaßev. 
—  Dagegen  Xenophon  Memor.  I,  2,  40.  Isoer.  de  big.  28.  Plat.  Alcib. 
I  p.  104  b.  Y]epi'A.Xio.  töv  Hav&i-TTO'j,  ov  6  -aTT|p  Irtxpo-ov  ■/.itDatb  cot  -£  vtal 
Tiö  äÖEXcpöj  coli.  122  b  und  Protagor.  p.  320  a.  nennen  immer  nur  den 
Perikles  allein.  Indessen  weist  die  letzte  Stelle  wenigstens  auf  eine  Be- 
theiligung des  Ariphron  bei  der  Erziehung  der  beiden  Brüder.  Sie  lautet: 
ei  0£  ßo'jXet,  KXsrnav,  xov  AXzißiäoou  to'jto'ji  v£«ut£pov  äosXccov,  litt-po^eucuv 
0  auTÖc  o'jTo;  (XVY]p  nepty-XT];,  oeoiuj;  — ept  ot'jxoü  |xt]  otacpftapTJ  otj  b~o  'AXyißiaoou, 
(XTZosizäooLC,  ÖTio  xo'jxou,  -/axaftljxevo;  i^  Apiccpovo;  £7rato£'j£'  -/at  rpiv  £?  ji.7jva? 
YE'i'ovEvai,  d-cOw7.£  xo6xip  o'j7.  £yojv  oxt  /pTjijrjLiTo  a\)-(i).  Und  betrachtet  man 
die  Stellen  genauer  so  sprechen  sie  nicht  gegen  die  Vormundschaft  des 
Ariphron,  sondern  Perikles  ist  als  der  bedeutendere  oder  als  der,  von  dem 
im  Zusammenhange  ohne  dies  die  Rede  war,  allein  genannt. 


Alktbiades  und  Lysandros.  99 

ihm  früher  in  eifriger  Sorge  für  des  Kindes  körperliches  Wohl 
eine  lakonische  Amme,  Namens  Amykla,  gegeben  hatten, 
scheint  Perikles  in  der  Wahl  des  Pädagogen  nicht  ganz  glück- 
lich gewesen  zu  sein'),  indem  er  einen  alten  thrakischen 
Sclaven,  Zopyros  dazu  bestimmte,  der  allerdings  dem  Knaben 
nicht  gcM  achsen  sein  mochte ;  denn  früh  zeigten  sich  in  diesem 
die  Eigenschaften ,  welche  ihn  sein  ganzes  Leben  durch  aus- 
zeichnen. Grosse  Entschlossenheit,  eine  an  Unverschämtheit 
grenzende  Keckheit  und  ein  unbilndiges  Streben  überall  der 
erste  zu  sein,  traten  schon  in  den  Knabenspielen  hervor,  wo- 
von seine  Biographen  manche  Beispiele  erzählen,  ^i  Sie  mach- 
ten ihn  bereits  unter  seinen  Jugendgenossen  zum  ersten,  ge- 
wöhnten ihn  keinen  Widerspruch  zu  ertragen,  und  verursachten 
seinen  A'ormündern  vielen  \'erdruss.  *)  Dabei  aber  erfasste  und 
betrieb  er,  an  Geist  und  Körper  gleichmässig  begabt,  alle 
Gegenstände  der  hellenischen  Erziehung  mit  ausserordentlicher 
Leichtigkeit,  zeigte  aber  auch  hier  seinen  Eigenwillen  in  vollem 
Lichte.  Es  war  nämlich  damals  der  Unterricht  im  Flötenblasen 
in  Athen  gewöhnlich  geworden.  Alkibiades  wies  ihn  als  un- 
edel zurück ,  weil  der  Spielende  entstellt  werde ,  seien  doch 
Athene  und  Apollon  die  Schutzgötter  Athens ,  wovon  die  eine 
die  Flöte  weggeworfen ,  der  andere  den  Flötenspieler  Marsyas 
gezüchtigt  habe.  ^;     Sein  Beispiel  wirkte  so,   dass  die  Flöte  in 

•)  Ich  sage  absichtlich  scheint,  da  die  Nachricht  auf  der  einzigen 
Autorität  Platons  im  Ale.  I  p.  122  a.  b.  beruht,  dessen  Ausdruck:  iTzi^-qui. 
r.aioa'iM-i'j-i  tojv  cixetöjv  tov  ä/pstotatov  uttö  -[riowc,  ich  nicht  allzu  genau 
nehmen  möchte ,  da  es  ihm  an  der  Stelle  darauf  ankommt  die  ganze  Er- 
ziehung des  Alkibiades  gegenüber  der  der  persischen  und  lakedaimoni^eheu 
Könige  möglichst  herabzusetzen ,  und  er  überhaupt  den  Perikles  gerne  als 
schlechten  Erzieher  darstellt.  Ein  sehr  angenehmes  Geschäft  hatte  übrigens 
der  Pädagoge  des  Alkibiades  gewiss  nicht. 

'^;   Plutarch  Alcib.  2. 

■^1   Plut.  Ale.  3.     Plato  Protag.  320  a.     Xenophon  Memor.  I,   2,  40. 

*)  [Athenaeus  IV,  pg.  184  d.  nennt  nach  Duris  in  der  Schrift  über 
Euripides  und  Sophokles  den  Lehrer  des  Alkibiades  in  der  Flötenspieler, 
kunst  Pronomos.  AoOpi?  o'  iv  töj  izerA  EüptTTiör/j  r.a\  Socioy.Xso'j?  'AXxiJii'y.or^v 
'fTjai  jxaSitv  TYjV  'x'jXtjTiv.YjV  o'j  TTotpä  ToD  TuyovToc,  dXXa  n[JOv6|j.o'j  toO  |j.£Y(aTrjv 
da-/Tj-/.oto;  o6;av.  Nach  Pampliila  bei  Gellius  XV,  IT  war  es  der  bei-ühmte 
Antigenidas.  —  Ueber  die  beiden  Flötenbläser  Pronomos  und  Antigeuidas 
vgl.  Wieseler  das  Satyrspiel  S.  21,  wo  das  lietreffende  gesammelt  und  aus 
Athen  der  Name  ripowp-o;  durch  eine  Conjectur  entfernt  werden  soll.] 

7* 


100  Alkibiades  und  Lysandros. 

Athen  aus  der  Mode  kam.  ^j  Kein  Wunder,  dass  sich  so  bald 
die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  ihn  richtete,  indem^  die 
Einen  seine  glänzende  äussere  Stellung,  Andere  seine  Schön- 
heit, noch  Andere  seine  Geistesgaben  anzogen.  Liebhaber  und 
Schmeichler  aller  Art  drängten  sich  bald  vim  ihn,  wurden  aber 
trotzig  und  hochfahrend  behandelt  und  mussten  sich  den  Lau- 
nen des  Knaben  unbedingt  fügen.  Unter  denselben  ist  besonders 
Anytos  zu  nennen,  der  später  als  einer  der  Ankläger  des  So- 
krates  bekannt  geworden  ist.  War  schon  vorher  der  Knabe 
scliAver  zu  bändigen  und  zu  beherrschen,  so  lässt  sich  leicht 
denken,  dass  solche  Schmeicheleien  nicht  dazu  dienten  ihn  zur 
Besonnenheit  zu  bringen.  Er  gewöhnte  sich  allen  seinen 
Leidenschaften  imbedingt  zii  fröhnen  und  so  schien  bald  der 
gewaltigsten  derselben,  dem  Ehrgeiz,  kein  Ziel  zu  hoch.  Selbst 
das  leuchtende  Beispiel  eines  praktischen  Staatsmannes,  das  er 
in  seinem  Vonnunde  vor  sich  hatte ,  wirkte  nur  insofern .  als 
es  ihn  die  Massen  gering  schätzen  lehrte,  selbst  des  Perikles 
Stellung  schien  ihm  ungenügend;  denn  dieser  sann  darüber 
nach ,  wie  er  Rechenschaft  ablegen  wolle ,  Alkibiades  meinte 
er  sollte  darauf  sinnen,  wie  er  keine  abzulegen  gebrauche. 
Um  so  wunderbarer  erscheint  der  Einfluss,  den  Sokrates 
gerade  damals  auf  ihn  gewann.  Derselbe  hatte  bereits  längere 
Zeit  sein  Auge  auf  den  vielversprechenden  Jüngling  gerichtet, 
aber  sich  ihm  nicht  genähert,  so  lange  der  zudringliche  Schwärm 
anderer  Bewunderer  ihn  unempfänglich  für  seinen  Umgang  zu 
machen  schien.  Als  er  aber  etAva  achtzehn  Jahre  alt  Avar,  trat 
er  in  ein  näheres  Verhältniss  zu  ihm  -  / ,  und  gCAvann  durch 
seine  ausserordentlichen  Eigenschaften  eine  fast  unglaubliche 
GcAvalt  über  den  sonst  unbändigen.  Sokrates  wollte  den  hen- 
liclien  Geist  desselben  aus  dem  AAÜden  Taumel  sinnlicher  Ge- 
nüsse und  dem  unklaren  Treiben  des  Alltagslebens  zumi  klaren 


1;  Plut.  Alcib.  2.  Den  Ausdruck  Mode  habe  ich  mit  Absicht  gebraucht, 
indem  er  allein  die  Sache  richtig  bezeichnet.  Auch  auf  die  Kleidermode 
hat  Alkibiades  Einfluss  gehabt,  indem  eine  Ai*t  Schuhe  nach  ihm  'AXy.tßtaoia 
benannt  Avaren.     PoUux  "MI,  S9.     Athen.  XII,  534  c. 

2)  Dass  Alkibiades  ZAvischen  IS  und  20  Jahr  alt  Avar,  als  Sokrates  in 
ein  näheres  Verhältniss  zu  ihm  trat,  geht  aus  dem  Alcibiades  I  von  Piaton 
deutUch  hervor,  man  A'gl.  besonders  p.  Jo3  und  p.  123  d  mit  Stallbaums 
Bemerkungen  und  dessen  Prolesromenis. 


Alkibiades  und  Lysandkos.  101 

Be-svTisstsein  seiner  Bestimmung  und  Pflichten  emporheben  und 
auf  diesem  Wege  auch  einen  Bürger  bihlen,  der  den  Staat 
dem  gegenwärtigen  Verderben  entreissen  und  dem  Ideale  näher 
führen  sollte,  welches  Sokrates  vor  Augen  hatte.  Es  schien 
das  Ziel  nicht  unerreichbar;  denn  bald  entwickelte  sich  das 
schönste  'S'^erhältniss  zwischen  beiden,  ähnlich  dem  zwischen 
Vater  und  Sohn,  und  doch  mit  aller  Freiheit  der  Freundschaft. 
Es  ist  gar  nicht  zii  zweifeln ,  dass  Alkibiades  sich  mit  reiner 
Anhänglichkeit  und  Liebe  dem  altern  Freunde  anschloss.  Be- 
weis dafür  ist  das  gegenseitige  \'erhältniss  der  Männer  in  den 
Schlachten  bei  Potidaia  und  Delion ,  wo  sie  mannhaft ,  mit 
Hintansetzung  des  eigenen  Lebens ,  einander  schützten ;  der 
grösste  Beweis  ferner  die  Art,  wie  Piaton,  nicht  nur  im  Ge- 
spräche Alkibiades,  sondern  besonders  im  Symposion,  uns  das 
Verhältniss  schildert.  Dass,  wie  Xenophon  sagt,  des  Sokrates 
Gewandtheit  in  der  Dialektik  den  Alkibiades  anzog,  das  läugnen 
zu  wollen  wäre  eine  Thorheit;  bestand  doch  gerade  eine  der 
wunderbarsten  Eigenschaften  des  Sokrates  in  der  Kunst,  die- 
jenigen, mit  denen  er  sich  unterredete,  auf  Resultate  zu  bringen, 
die  sie  selbst  am  wenigsten  erwartet  hatten.  Aber  zu  behaup- 
ten, dass  Alkibiades  nur  desw  egen  des  Soki*ates  Umgang  ge- 
sucht, dass  er  bloss  diesen  äusseren  Zweck  der  Redefertio-keit 
bei  ihm  verfolgt,  ohne  Liebe  und  Anhänglichkeit,  ist  eine 
Einseitigkeit  des  Xenophon,  die  sich  nicht  einmal  aus  seinem 
apologetischen  Zweck  ganz  erklären  lässt,  sondern  nur  aus  der 
Unfähigkeit  dieses  nüchternen  Mannes  einen  Charakter,  Avie 
den  des  Alkibiades,   zu  begreifen,  i)      So  rein  aber  des  Sokrates 


1)  Das  Urtheil  mag  vielleicht  Manchen  hart  scheinen,  ist  es  aber  im 
Grunde  nicht.  Xenophon  war  ein  in  vielfacher  Beziehung  sehr  tüchtiger 
Mann,  erscheint  aber  durchweg  auf  das  Nächste,  das  Praktische  und  Nütz- 
liche gerichtet.  Gewöhnliche  Lebensverhältnisse  hat  er  mit  einem  gesunden 
Blicke  beurtheilt,  aber  für  ausserordentliche  Erscheinungen  hatte  er  wenig 
Sinn,  am  allerwenigsten,  wo  sie  auf  gegnerischer  Seite  standen.  Der  deut- 
lichste Beleg  dafür  bleibt  die  Art,  wie  er  von  Epameinondas  spricht  und  — 
nicht  spricht,  welche  man  umsonst  zu  entschuldigen  versucht  hat;  denn 
auch  C.  Peter  comment.  crit.  de  Xen.  Hell.  Hai.  1837  Cap.  III  weist  viel- 
mehr des  Xenophon  Parteilichkeit  nach,  als  er  sie  widerlegt  und  sucht  nur 
zu  aeigen,  dass  sie  nicht  eine  absichtliche,  sondern  eine  durch  eine  gewisse 
Geistesbeschränktheit  [imbeciUitas]  bedingte  war.  Vgl.  S.  106.  Id  igitur 
explicare   profecto    non  possemus    nisi  ingenii  non  voluntatis   Vitium   dicere 


]  02  Alkibiades  und  Lysaxdkos. 

Bestreben,  so  schön  des  Alkibiades  Anhänglichkeit  in  den  ersten 
Jahren  war,  so  war  der  Erfolg  doch  kein  erfreulicher,  we- 
nigstens nicht  nachhaltig.  Einerseits  war  des  Sokrates  Umgang 
an  nnd  für  sich  nicht  geeignet  tüchtige  praktische  Staatsmänner 
zu  bilden.  Seine  freilich  wohlbegründete  Unzufriedenheit  mit 
der  bestehenden  Demokratie .  und  seine  Art ,  Alles  dem  grü- 
belnden Verstände  und  einer  zersetzenden  Kritik  zu  unter_ 
Averfen.  hat  unmittelbar  weit  mehr  die  Folge  gehabt,  die  Ju- 
gend mit  den  Gebrechen  des  Staates  bekannt  zu  machen,  und 
sie  diesen  und  seine  Vorsteher  gering  schätzen  zu  lehren,  als 
seine  Lehre  von  der  Tugend  überhaupt  und  der  Gerechtigkeit 
insbesondere  zu  einer  positiven  Wiedergeburt  zu  führen  ver- 
mochte. Während  seine  negative,  auflösende  Lehre  in  der 
Gegenwart  A\-irkte .  trug  der  positive  Theil ,  zunächst  nur  in 
der  Schule  fortwirkend,  erst  in  der  spätem  Zeit  seine  schönen 
Früchte ;  und  es  bewährte  sich  auch  hier,  dass  zerstören  leichter 
ist  als  aufliauen.  Kein  einziger  guter  athenischer  Staatsmann 
von  Bedeutung  ist  aus  seiner  Umgebung  hervorgegangen,  Avohl 
aber  mancher  verderbliche.  Und  so  hat  denn  auch  Alkibiades 
mehr  das  skeptische.  Alles  anzAveifelnde.  dialektische  Element 
sich  angeeignet.!]     Die  Art  und  Weise,    wie  er  in  der  ersten 


liceret.  Wie  viel  schwerer  aber  war  es  den  Alkibiades  zu  würdigen ,  ihn, 
dessen  Fehler  und  Frevel  so  klar  am  Tage  lagen,  und  wie  viele  unter  seinen 
Zeitgenossen  haben  ihm  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen?  Für  Sokrates  ist 
es  übrigens  weit  ehrenvoller  und  rühmlicher ,  wenn  Alkibiades  ihm  einst 
aufrichtig  anhing,  als  wenn  er  bloss  um  äusserer  Zwecke  willen  seinen  Um- 
gang suchte.  So  verfehlt  also  im  Grunde  selbst  die  apologetische  Absicht 
das  Ziel.  Dass  aber  nicht  sie  allein  den  Xenophon  im  Urtheil  über  Alki- 
biades bestimmte,  geht  aus  der  Auffassung  desselben  in  der  griechischen 
Geschichte  hervor.  Wie  kalt  und  trocken  bleibt  er  bei  Erzählung  seiner 
schönsten  Thaten  überall,  er,  der  doch  für  Agesilaos  und  selbst  für  Kyros 
fast  enthusiastisch  wird. 

1)  In  wie  fern  diese  Erklärung  des  Einflusses ,  den  Sokrates  auf  Alki- 
biades und  die  athenische  Jugend  überhaupt  ausgeübt  hat.  Andern  be- 
friedigend erscheinen  wird,  weiss  ich  nicht.  Dass  Forchhammer,  der  seine 
Ansicht  in  der  geistreichen  Schrift  »die  Athener  und  Sokrates  die  Gesetz- 
lichen und  der  Revolutionär«  ausgeführt  und  neulich  an  dem  Philologen- 
vereine in  Darmstadt  mit  Gewandtheit  verfochten  hat,  mir  viel  zu  weit  zu 
gehen  scheint,  muss  ich,  wie  damals  in  Darmstadt,  so  auch  jetzt  bestimmt 
aussprechen,  das  viele  Wahre  und  Treffliche  aber,  das  er  und  schon  vorher 
Hegel  und  Rutscher  gesagt  haben ,   verkenne  ich  nicht  und  bin  weit  ent- 


AlKIBIADES  UND  Lysaxdros.  103 

Zeit  seines  Umgangs  mit  Sokiates*),  seinen  Vormund  Perikles 
durch  spitzfindige  Fragen  über  den  Begriff  des  Gesetzes  in 
Verlegenheit  zu  bringen  suchte,  zeigt.  Avie  gelehrig  er  für 
diese  Künste  war  und  stellt  ihn  uns  als  llepräsentanten  des 
jungen,  zungenfertigen  Athens  hin  im  Gegensatz  zu  jener  altem 
Generation,  die  mehr  im  Handeln  als  im  Schwatzen  ihre  Tüch- 
tigkeit bewies.  Wenn  also  einerseits  schon  des  Sokrates  Ver- 
fahren zu  grossem  praktischem  Erfolg  nicht  geeignet  war,  so 
wirkte  anderseits  die  ganze  äussere  Stellung  des  Jüugliugs  dem- 
selben entgegen.  Sein  lleichthiun,  sein  Ansehen,  die  von  Ho- 
hen und  Niedern,  von  Männern  und  l'raueu  ihm  dargebrachten 
Huldigungen  und  Schmeicheleien  mussten  des  Sukrates  Lehren 
vielfach  neutralisiren,  namentlich  wo  diese  dem  Alkibiades  un- 
bequem fielen.  Sein  für  Alles  empfänglicher,  aber  veränder- 
licher Sinn  vergass  die  guten  A'orsätze  so  schnell,  als  er  sie 
gefasst  hatte,  ^yie  aber  seine  Liebe  zu  Sokrates  doch  nie  ganz 
erstarb ,  wie  eine  bessere  Stimme  ihn  häufig  daran  erinnerte, 
dass  er  seines  trefflichen  Freundes  Hoffnungen  getäuscht  habe, 
das  zeigt  uns  die  herrliche  Schilderung  im  platonischen  Gast- 
mahl. Er,  der  sonst  vor  Niemanden  in  der  Welt  in  A'erlegen- 
heit  kam,  schämte  sich  im  Bewusstsein  seiner  Fehler  vor  So- 
krates. 2j     Das    engere  Verhältniss    der   beiden  Männer   scheint 


fernt  die  Einseitigkeit  derer  zu  theilen,  welche  Alles  an  Sokrates  gut  und 
schön  finden  und  gar  contra  Meläi  redivivi  culumnius  geschrieben  haben. 
Ein  weiteres  Eingehen  in  den  vielbesprochenen  Gegenstand  gehört  nicht 
hieher,  nur  so  viel  bemerke  ich,  dass  man  wohl  unterscheiden  muss  zwi- 
schen dem  unmittelbaren  Erfolge  der  Lehre  und  Wirksamkeit  des  Sokrates 
und  ihrem  inneren  "Werthe.  Und  für  entschieden  unrichtig  muss  ich  die 
S.  49  von  Forchhammer  ausgesprochene  Behauptung  ansehen,  dass  Sokrates 
unfähig  gewesen  sei  zu  lieben.  Wer  so  verschiedene  Charaktere  an  sich 
zog,  und  an  sich  fesselte,  wer  solche  Liebe  von  Seite  seiner  Freunde  wäh- 
rend seines  Lebens  und  nach  seinem  Tode  genoss ,  der  muss  selber  Liebe 
gehabt  haben,  oder  er  wäre  eine  ganz  einzige  Ausnahme.  Ohne  die  Fähig- 
keit zu  lieben,  hätte  Sokrates  schwerlich  je  des  Alkibiades  Anhänglichkeit 
gewonnen. 

')  Dass  damals  Alkibiades  bereits  mit  Sokrates  in  näherm  Verkehr 
war,  geht  aus  Xenophon  Mem.  I,  2,  39  und  40  hervor:  exi  ^äp  Stoy.paxei 
auvovTEC  oÜtc  dtXXois  Tial  (jiäXXov  iTreyetpouv  otaXe-y-o&at  tj  toTc  p-aXtaxa  TrpaTxo'jat 
xa  TToXixtxa"  'kk'^z.'Zo.\.  y^p  AXxißidoTjV  rpiv  eiTCoatv  sxöiv  eivat  ÜEpiv-Xer  iTrixpoTKp 
(xiv  ovxt  saoxoü,   TTpoixdxTj  os  Tffi  TToXeco;  xoidoe  otaXcy9f,-;7.i  t.z[j\  vo(aojv. 

2]  Plato  Symp.  p.  216  b.  -eviovDa  Se  rpö?  xoüxov  p.6vov  ävOpwTiujv,  o  oüy. 


104  Alkibiades  und  Lysandros. 

gedauert  zu  haben,  bis  Alkibiades  einen  vorwiegenden  Antheil 
an  der  Leitung  der  Staatsgeschäfte  zu  nehmen  begann,  was 
nicht  vor  Kleons  Tod  422  geschah,  ^j  Bereits  aber  erwarb  er 
sich  in  dieser  Zeit  grossen  Ruhm  durch  seine  Tapferkeit,  die 
ihm  gleich  in  der  ersten  Schlacht  den  Preis  verschaffte,  und 
nicht  weniger  zeichnete  er  sich  bei  den  Vergnügungen  und 
Beschäftigungen  der  Jugend  aus.  wo  er  es  Allen  zuvorthat  und 
nicht  minder  durch  Pferdeliebhaberei,  als  Ausschweifungen  und 
Streiche  aller  Art  überall  von  sich  reden  machte.  So  gab  er 
einst  am  hellen  Tage,  auf  offenem  Markte  dem  reichsten 
Athener  jener  Zeit,  Hipponikos,  einen  Faustschlag,  nicht  weil 
er  über  ihn  erbost  war,  sondern  zum  Spasse  in  Folge  einer 
Wette.  In  jugendlich  offener  Weise  ging  er  aber  dann  ins 
Haus  des  Beleidigten,  legte  den  Mantel  ab  und  bot  ihm  den 
Rücken  zu  Schlägen.  Hipponikos  verzieh,  und  später  wurde 
seine  Tochter  Hipparete  des  Alkibiades  Gemahlin,  von  dessen 
Ausschweifungen  sie  aber  viel  zu  leiden  hatte.  2) 


av  Ti?  oTotTo  £v  i[).oi  sveivai  xö  atayjvccöai  övrtvoOv .  ^f*"  ^^  toütov  (xovov 
alT/woinni.  vgl.  Xen.  Mem.  I,   2,  47.  Plut.  Alcib.  4. 

1)  Die  Fortdauer  des  engen  Freundschaftsverhältnisses  ergiebt  sich  aus 
den  Nachrichten  über  die  Schlacht  bei  DeUon  'Plat.  Symp.  p.  221  a  u.  die 
von  den  Auslegern  dort  angeführten  Stellen  u.  aus  den  Wolken  des  Ari- 
stophanes.  Uebrigens  soll  nicht  behauptet  werden ,  Alkibiades  habe  vor 
Kleons  Tod  an  den  Staatsangelegenheiten  keinen  Theil  genommen,  sondern 
bloss  keinen  vorwiegenden.  Selbst  die  durch  Alkibiades  herbeigeführte 
Erhöhung  des  Tributs  der  Bundesgenossen  würde  ziemlich  mit  der  ange- 
gebenen Zeitbestimmung  zusammentreffen,  da  «dieser  Streich  in  den  Anfang 
der  öffentlichen  Laufbahn  des  Alkibiades  kurz  vor  den  Ol.  89,  3  geschlos- 
senen Frieden  des  Nikias  gehört«,  wie  Boeckh  ath.  Staatshaushalt  I  S.  525 
zeigt.  Indessen  hat  Meier  in  der  comment.  de  Andocid.  quae  vulgo  fertur 
oratione  contra  Alcibiadem  V  so  gewichtige  Gründe  gegen  diese  ganze 
Sache  vorgebracht,  dass  darauf  nicht  einmal  viel  ankommt.  Dass  aber 
während  Kleons  Vorsteherschaft  Alkibiades  sich  jedenfalls  mit  einer  sehr 
untergeordneten  Rolle  begnügen  musste ,  ist  begreiflich.  Vgl.  Büttner 
Gesch.  der  polit.  Hetairien  in  Athen.  S.  57. 

2;  Plutarch.  Alcib.  S.  Isoer.  de  big.  §31.  Sie  starb  bald  Plut.  a.a.O. 
Isoer.  a.a.O.  §  45.  Ivtavtu;  f^p  ''^'^^  ^'■'^  -zzdrjrnxai  xay.ü)/,  8?  eüSu;  (i£v  •(s^ö- 
[AEvo?  öpcpavo;  xa-eXeicp&TjV,  toü  ,u.£v  Tratpö;  cp'JY'^"''^'^»'  ""H'  °^  [ATj'pö;  TiXeu-Yjsd- 

07)?,    oÜtTCU    0£    TETXap'    ETTj    feiO-iOti    Ol«     TTjV    ToO    TTaxpö;    Ci'JYTjV    TTEpl   TOÖ    Oa)[J.aTO; 

ei?  ^ivSuvov  xdTeOTTjV.  [Eine 'iTTTrapsTTj 'AXv-iß tdoou  Sy.afAp tuvioo'j  finden 
wir  auf  einem  1870  bei  der  'Ay-  Tpidoa  ausgegrabenen  Grabsteine.  'Eo. 
Tü)v   C)iXo[Aaaa>v    1870  S.  2131    =  Arch.  Ztg.   1872   S.  25,  nach   der  wahr- 


Alkibiades  und  Lysandros.  105 

Kleons  Tod  eröffnete  dem  jungen  Manne  günstige  poli- 
tische Aussichten.  Kein  Staatsmann  ersten  Ranges  wie  Perikles 
lenkte  das  Gemeinwesen,  kein  frecher  Demagoge  von  der  Be- 
deutung des  Kleon  beherrschte  mehr  die  Versammlung;  der 
ängstliche  Nikias  ist  die  hervorragendste  politische  Persönlich- 
keit. Da  tritt  rasch  Alkibiades  in  den  Vordergrund,  ausge- 
rüstet mit  allen  Eigenschaften ,  die  ihm  überall ,  Avie  vielmehr 
bei  dem  empfänglichen  athenischen  Volke ,  eine  glänzende 
Laufbahn  sichern  mussten.    Der  schönste  Mann  in  Athen  M,  von 


scheinlichen  Vermuthung  von  Ehusopulos  eine  Tochter  des  Jüngern  Alkibia- 
des ,  Enkelin  des  berühmten.  —  Unter  andrem  ist  besonders  bemerkens- 
werth,  wie  Alkibiades  den  Dichter  Hegemon  gegen  gesetzliche  Verfolgung 
willkürlich  schützte.  Athenaeus  IX  p.  407  b  c.  —  Die  yprjfxäxüjv  dTrtooa«; 
und  die  Geschichte  mit  der  Wachtel  setzt  Grote  bist,  of  Greece  V,  p.  31 
mit  Pliit.  Ale.  10  als  das  erste  Auftreten,  dagegen  die  Siege  in  Olympia 
V,  p.  49  in  die  90ste  Olympiade ,  wo  die  Athener  nach  längei'er  Unter- 
brechung zuerst  wieder  Olympia  besuchten  V,  p.  49  meint  er,  es  seien  in 
den  Wagenrennen  mehrere  Preise  gegeben  wurden  in  verschiedenen  Ab- 
theilungen von  Wettrennen  ,  sodass  Lichas  und  Alkibiades  in  der  gleichen 
Olympias  Sieger  sein  konnten ;  dann  hätten  ohne  Zweifel  die  Sieger  in  den 
einzelnen  Läufen  zuletzt  mit  einander  um  den  Hauptpreis  gekämpft.] 

1)  [Ueber  Alcib.  Schönheit  ausser  Plutarch  besonders  Clemens  Alex. 
Protr.  p.  35.  Sylb.  47  Potter.  w^iiep  aü  xal  ol  AiÖogöot  zobz  'Ep[j.ä;  'AftTjvTjotv 
Ttpo;  AXxißiaOTjv  (XTreiy-aCov.  Px-ocl.  comment.  zu  Plat.  Ale.  c.  38.  Plinius 
XXXVI,  4,  28:  id  demum  affumatnr  ^Ucibiadem  esse  principem  forma 
ea  aetate.  —  Dio  Chi-ysost.  or.  XXXVII,  p.  465.  (532  ed.  Emp.)  :  efteotaa- 
\i.rp  f-oX  AXxtßiao'rjv  xov  v-aXo-;  tov  KXeivio'j  ,  O'jx  oio  ottou  7cX-fjv  dile'/.^ajj.TjV  £v 
TtaXu")  T-^?  EXXaoo?.  i~tYpot'fT,v  syovxa  y/Xy.oTrcuYiovo?,  sxepov  hz  7rept7.£7.oij.[X£'vov 
x«b  yeipe  ö?  £/.£Y£xo  xf|;  rio).'j7.)io'ji;  it/^n^z,  eivat.  —  Alle  diese  Stellen  angef.  v. 
K.  F.  Hermann  d.  Studien  der  griech.  Künstler  p.  ö5,  66  n.  148  u.  157. 
—  E.  Q,.  Visconti  Iconographie  Grecque  pl.  X\T  u.  XVI a  und  Text  t. 
1.  p.  19; — 203  giebt  drei  Bilder  des  Akibiades :  1)  Eine  Herme  im  Garten 
des  Herrn  Fonseca  auf  dem  Caelius  ausgegraben,  jetzt  im  Vatican  u.  zuerst 
publicirt  durch  Visconti  im  Pio -Clementin.  VI.  pl.  31.  mit  der  Unter- 
schrift 'AXxtß  ....  2)  Ein  geschnittener  Stein  ehedem  im  Besitze  von 
Fulvius  Ursinus,  zuerst  publicirt  durch  Faber  imagg.  ex  bibl.  Fulv.  Ursini 
n.  4.  3)  Eine  Herme  nur  »ebauche«  aus  dem  Musee  Napoleon,  die  wenn 
ausgeführt  den  Alkibiades  in  der  Blüthe  der  Jugend  gegeben  hätte,  während 
n.  1  ihn  in  einem  höhern  Alter  darstellt  und  von  sehr  mittelmässigem 
Kunatwerth.  Doch  lässt  auch  sie  sich  mit  den  Nachrichten  von  seiner 
Schönheit  in  Einklang  bringen.  —  Ueber  .seine  Bildnisse  im  Alterth.  ebenda 
p.  198  ff.  namentl.  Athenaeus  XII,  p.  534  u.  Pausan.  VI.  3,  15.  Plinius 
XXXIV.  §  19,  80.   XXXVI.  §  4.  28.  XXXIV.  §  12,  26.     Visconti  verweist 


106  Alkibiades  und  Lysandros. 

hohem   Wüchse    und   unverwüstlicher  Körperkraft,  ein  ebenso 
tapferer  Krieger  als  einsichtsvoller  FeldheiT,  von  unwidersteh- 
licher persönlicher  Liebenswürdigkeit,   wo  er  gewinnen  AvoUte, 
an   Beredsamkeit   den   meisten    Zeitgenossen   überlegen    (selbst 
dass  er  gewisse  Buchstaben  nicht  aussprechen  konnte,   erschien 
bei  ihm  nur  als  ein  l)esonderer  Vorzug; ,   in  diplomatischen  V er- 
handhingen fein  und  gewandt,   prachtliebend  und  freigebig  bis 
zur  äussersten  Verschwendung,  hochfahrend  und  trotzig  gegen 
Gleiche  und  Höherstehende,   gegen  Niedere,   v>o  sie  ihm  nicht 
in  den  Weg  traten,  wohlwollend    und  freundlich  ') ,   so  musste 
Alkibiades  bald  der  Liebling   des    athenischen  Volkes  w^erden, 
und  die  höchste  Stellung  konnte  ihm,   so  schien  es ,   so  wenig 
entgehen  als  einst  dem  Perikles.     Aber    eines  fehlte  ihm,    die 
Besonnenheit,   aiu'fpojuvrp  jene  ächthellenische  Tugend,   welche 
in  Perikles    in   ihrem    vollen    Glänze   uns   entgegenstrahlt,    sie 
fehlt  dem  Alkibiades  wie  seiner  Zeit.     Er   hatte   nicht  gelernt 
sich  selbst  zu  beherrschen.    Ein  unwiderstehlicher,  man  möchte 
sagen  dämonischer  Drang   zum  Herrsclien ,    genährt   durch  die 
Schmeicheleien    des  A'olkes    und    mancher    ^'ornehmen,    durch 
keine  wohlthätigen  Schranken  gehemmt,   nur  gereizt  durch  die 
Intriguen  von  Gegnern .    denen  er  sich  weit   überlegen  fühlte, 
reisst   ihn   unaufhaltsam   fort,    und    artet   zu    einer   unerhörten 
Willkühr  und  Eigenmächtigkeit  aus.    Alkibiades  wurde  ein  für 
einen  Freistaat  unerträglicher  Bürger.    Einen  Gleichen  duldete 
er  nicht  neben  sich.    Er  wollte  der  erste  sein,   wollte  herrschen 
in  Athen,    in    Griechenland,    in   der   damals  bekannten  AVeit; 
darum    sollte    auch   Athen   zu    hoher   Macht   erhoben    werden. 
Und  diese  hohe  Stellung  erstrebte  er  nicht   in  ruhiger,   conse- 


ferner  auf  d.  Mus.  Pio-Clem.  wo  er  Vol.  II.  pl.  42  eine  Statue  deren  Ge- 
sicht grossentheils  fehlt  mit  der  Vermuthung  giebt,  es  sei  eine  Copie  des 
von  den  Römern  aufgestellten  Alkibiades  und  Vol.  VI.  pl.  A.  n.  1.  wo  er 
eine  neuerdings  in  Aricia  gefundene  Büste  des  Alkibiades  giebt,  die  der 
Cardinal  Despuig  besass.j 

';  Vgl.  unter  andern  die  Anekdote  bei  Plutarch  Alcib.  5.  Für  die 
ganze  Characterschilderung  sind  einzelne  Belege  unnöthig.  Die  Haupt- 
stellen der  alten  und  neuen  Schriftsteller  finden  sich  bei  Hermann  Lehrb. 
d.  gr.  Staatsalt.  §  163,  1.^,  wo  man  allenfalls  noch  den  Artikel  »Alkibiades« 
in  der  Hallischen  Encyklopädie  von  Hand  hinzusetzen  kann,  der  aber  viele 
Ungenauigkeiten  enthält,  zu  denen  der  Verfasser  jetzt  wohl  nicht  mehr 
stehen  würde. 


Alklbiades  und  Lysandros.  107 

quenter  Anwendung  seiner  Mittel,  er  wollte  sie  gleichsam  im 
Sturm  erobern,  und  daneben  seinen  Launen  und  Leidenschaften 
keinen  Zwang  anthun.  Unter  welcher  Form  das  Ziel  erreicht 
werde,  galt  ihm  gleich.  Darum  gehört  er  im  Grunde  weder 
der  demokratischen,  noch  der  sich  allmählich  erhebenden  oli- 
garchischen  Partei  an;  nach  Bedürfniss  sucht  er  die  eine  wie 
die  andere  zu  benutzen,  steht  aber,  da  im  Ganzen  die  Demo- 
kratie weit  mehr  Vortheile  darbot,  meist  auf  ihrer  Seite,  i) 
Gerade  dadurch  aber,  dass  er  keiner  Partei  aufrichtig  angehört, 
bereitet  er  sich  hauptsächlich  seinen  Sturz  '^, ,  um  so  mehr,  als 
er  durch  sein  rücksichtsloses  Verfahren  sich  zahlreiche  persön- 
liche Feinde  machte.  Keine  Partei  traute  ihm,  es  fehlte  ihm 
an  einer  festen  IJasis,  die  P)eleidigten  warfen  einen  unversöhn- 
lichen Hass  auf  ihn,  Oligarchen  wie  Demokraten  arbeiteten 
vereint  ihm  entgegen  und  zweimal  sehen  vnr  ihn  stürzen,  wo 
er  gerade  dem  Ziel  seiner  Wünsche  am  nächsten  zu  stehen 
scheint.  Man  traut  ihm  selbst  da  nicht,  wo  er  es  redlich 
meint;  denn  als  er  durch  Erfahrung  belehrt,  durch  Unglück 
geläutert,  jenen  Ehrgeiz  bändigte,  als  Besonnenheit  an  die 
Stelle  der  Leidenschaften  trat,  da  war  es  bereits  zu  spät  um 
bleibendes  Zutrauen  zu  gewinnen. 

Die  politische  Laufbahn  des  Alkibiades  zerfällt  in  drei 
Stadien,  welche  wir  hier  natürlich  nicht  im  Einzelnen  durch- 
gehen, sondern  nur  in  ihren  Hauptzügen  schildern  können. 
Das  erste  geht  bis  zu  seiner  Flucht;  das  zweite  umfasst  seine 
Thätigkeit  gegen  Athen  415 — 411,  das  dritte  die  Zeit  von  seiner 
Rückkehr  zum  Heer  bis  zu  seuier  Entfernung  vom  Oberbefehle 
411—407. 

In  dem  ersten,  welche  grösstentheils  in  die  Zeit  des  so- 
genannten Friedens  des  Nikias  fällt,   entwickelt  Alkibiades  vor- 

1)  Vgl.  Büttner  Gesch.  der  Hetairien  S.  00  ,  der  über  dieses  Verhält- 
niss  des  Alkibiades  sehr  gut  spricht.  Ich  kann  daher  der  Aeusserung  von 
K.  F.  Hermann  in  den  Jahrb.  für  wissensch.  Kritik  Ib42.  17  S.  132  Al- 
kibiades sei  die  grösste  aller  politischen  Wetterfahnen  gewesen,  nur  inso- 
fern beipflichten,  als  er  die  herrschenden  Parteien  für  seine  Zwecke  zu  be- 
nutzen suchte. 

2;  Damit  steht  nicht  in  Widerspruch,  dass  er  eine  Hetairie  hatte,  vgl. 
Büttner  Gesch.  der  Hetairien  S.  60,  70  und  meine  Schrift  über  die  ölig. 
Partei  und  die  Hetairien  S.  IS.  Wachsmuth  Hellen.  Alterthumsk.  1,2. 
S.  191. 


108  Alkibiades  UjS'd  Lysandros. 

zugsweise  sein  diplomatisches  Talent  und  übt  einen  grossen 
aber  nicht  erspriesslichen  Einfluss  auf  Griechenlands  Geschicke. 
Durch  den  Vorzug ,  welchen  die  Lakedaimonier  dem  älteren 
Nikias  vor  ihm  gegeben,  beleidigt,  hat  er  zuerst  den  Abschluss 
des  Friedens  zu  hintertreiben,  dann  aber,  als  er  doch  zu 
Stande  kam,  mit  desto  mehr  Erfolg  ihn  zu  untergraben  ge- 
sucht. Auf  eine  zahlreiche  Genossenschaft  gestützt  und  von 
dem  Unbehagen,  das  der  Friedenszustand  nach  langem  Kriege 
mit  sich  brachte,  begünstigt,  gelang  es  ihm  leicht  ein  ge- 
spanntes Verhältniss  herbeizuführen  und  durch  einen  argen 
Betrug  das  athenische  Volk  gegen  Sparta  zu  erbittern,  i)  Mit 
grosser  Schlauheit  hat  er  dann  durch  Begründung  eines  Bun- 
des, an  dessen  Spitze  xlrgos  stand,  Spartas  Macht  dem  Sturze 
nahe  gebracht.  2)  Der  Tag  von  Mantineia ,  wo  das  Schicksal 
des  Peloponneses  auf  dem  Spiele  stand,  vereitelte  für  diesmal 
seine  Pläne  und  stellte  das  Uebergewicht  Spartas  her.  Durch 
dies  Misslingen  aber  mehr  gereizt  als  entmuthigt.  brachte  er 
durch  kluge  Unterhandlungen  die  Spartaner  bald  um  die  Früchte 
ihres  Sieges  und  riss  Athen,  das  in  frevelhaftem  Leichtsinn 
ihm  folgte ,  trotz  des  beschworenen  Friedens  zu  fast  offenem 
Kriege  hin.  Denn  in  der  Vaterstadt  hatte  er  sich  indessen 
zum  höchsten  Gipfel  der  ^  olksgunst  emporgeschwungen.  Zwar 
versuchte  die  noch  immer  starke  Frieden.spartei,  den  Nikias  an 
der  Spitze ,  durch  den  Ostrakismos  ihn  zu  entfernen ,  und  es 
handelte  sich  darum,  oh  er  oder  Nikias  das  Vaterland  für 
einige  Zeit  meiden  sollte.')  Da  suchte  zum  Unglück  Athens 
der  nichtswürdige  Hyperbolos  von  diesem  Kampfe  Gemnn  zu 


«)  Thucyd.  V,  45.  46.  Plut.  Alcib.   14.  Nie.   10. 

2)  [Im  13.  Kriegsjahre  scheint  Alkibiades  zum  ersten  Male  Stratege 
gewesen  zu  sein.  Thucyd.  V,   52  itnd  dazu  Bloomfield.   — 1 

3)  Plutarch  Nie.  11.  Alcib.  13.  Theophrast  nannte,  wie  Plutarch  sagt, 
bekanntlieh  den  Phaiax  als  Gegner  des  Alkibiades,  und  dazu  kommt  nuch 
Andokides  nach  der  angeblichen  Rede  desselben  gegen  Alkibiades,  Büttner 
S.  61  vereinigt  die  Nachi-ichten  und  sagt:  »In  Gefahr  dem  Ostrakismos  zu 
unterliegen,  befanden  sich  Alkibiades,  Nikias,  Phäax  und  AndokideS",  wo- 
gegen sich  aber ,  namentlich  in  Hinsicht  auf  Andokides ,  sehr  gewichtige 
Bedenken  erheben.  AVie  dem  gewesen  sein  mag,  auf  jeden  Fall  war  Nikias 
der  ohne  Vergleich  bedeutendste  Gegner ,  den  ich  deshalb  allein  genannt 
habe.  Nur  seine  Verbannung  wüi-de  auf  den  Gang  der  Ereignisse  einen 
Einfluss  geübt  haben. 


Alkibiades  und  Lysandros.  109 

ziehen  und  beide  zu  entfernen.  Darüber  entrüstet  vereinigten 
sich  die  Parteien  des  Nikias  nnd  Alkibiades  und  verbannten 
Jenen.  Es  war  eine  unverdiente  Ehre;  denn  nicht  für  Män- 
ner solchen  Gelichters  war  die  Scherbe  erfunden,  wie  der  Ko- 
miker sagt.  1)  Zum  Unglücke  Athens  habe  ich  gesagt; 
denn  hätte  der  Ostrakismos  den  Alkibiades  getroffen,  so  hätte 
die  Friedenspartei  festen  Fuss  fassen  können;  wäre  Nikias 
unterlegen ,  so  wäre  zwar  ohne  Zweifel  Athen  bald  in  den 
Strudel  des  Krieges  gerissen  Avorden,  hätte  aber  zugleich  mehr 
Einheit  und  Consequenz  in  der  Führung  erhalten,  als  später 
geschah .  Aber  auch  zum  Unglücke  des  Alkibiades,  den 
eine  ehrenvolle  Verbannung  vielleicht  zur  Hesonnenheit  geführt 
hätte,  dem  ein  entschiedener  Sieg  über  die  Gegner  wohl  eine 
festere  Grundlage  seiner  Macht  verschafft  hätte.  Jetzt  schien 
freilich  zunächst  auch  dem  Alkibiades  vorzugsweise  der  durch 
die  Coalition  gewonnene  Sieg  zti  Gute  zu  kommen.  Nikias, 
der  nicht  populär  war,  tritt  offenbar  etwas  zurück,  und  die 
zahlreichen  weniger  ehrenhaften  Gegner  arbeiteten  nur  im 
Stillen.  Alkibiades,  der  allen  Launen  und  Leidenschaften  des 
Pöbels  Befriedigung  versprach,  der  im  Peloponnes  als  Schirm- 
herr der  Demokratie  auftrat,    der   die    willkührlichste  Behand- 


1)  Plato  Comic,  bei  Plut.  Nie.   11. 

Ueber  die  Abschatt'ung  des  Ostrakismos  oder  richtiger  über  die  Gründe, 
wesshalb  er  nicht  mehr  ausgeübt  wurde,  denn  förmlich  abgeschafit  hat  man 
ihn  schwerlich ,  sprechen  Büttner  S.  62  und  Röscher  Thukyd.  S.  3Sü  ff". 
Anm.  4  sehr  gut.  Nur  glaube  ich  geht  der  letztere  zu  weit,  wenn  er  aus 
dem  Benehmen  des  Alkibiades  während  seiner  Flucht  einen  Schluss  auf  die 
Wirkung  des  Ostrakismos  macht.  Was  der  zum  Tode  Verurtheilte,  seines 
Vermögens  Beraubte  that,  das  hätte  der  ehrenvoll  auf  beschränkte  Zeit 
Entfernte  schwerlich  gethan.  üebei'dies  liegt  doch  off'enbar  jener  Nach- 
richt Plutarchs,  man  habe  den  Ostrakismos  aus  Scham  darüber,  dass  man 
ihn  auf  den  unwürdigen  Hyperbolos  angewandt  hatte,  abgeschafft,  etwas 
Wahres  zu  Grunde ,  und  sie  ist  wohl  mehr  als  eine  erfundene  Anekdote. 
Die  Athener  haben  wirklich  gefühlt,  dass  sie  ihn  unwürdig  angewandt  hat- 
ten, das  geht  aus  den  angeführten  Worten  des  Piaton  hervor  und  selbst 
aus  Thucyd.  \Tll,  73  xal  'YitcpßoXov  xi  xwa  twv  'A&Yjvaicuv,  (j.oy5)-r]p6v  av&poj- 
TTO'^ ,  (üaxpaziafASvov  oü  ota  SuvotfAScu;  xai  (i^ieofJiaTOi;  cooßov,  aX\ä  otd  7rov7]pi(xv 
xal  abyuvTjv  ttj?  TroXeco;.  Was  die  Zeit  des  Ereignisses  betrifft,  so  macht 
Cobet  observ.  crit.  ad  Plat.  Com.  reliqu.  p.  143  sehr  wahrscheinlich,  dasq 
es  in  Ol.  90  ^/^  oder  417  zu  setzen  sei. 


{{{)  Alkibiades  und  Lysaxdros. 

lung  der  Uiiterthanen  förderte',,  Aviirde  der  Abgott  des  Volks. 
.Sein  mit  festlichem  Glänze  verbundenes  Auftreten  in  Olympia, 
seine  unerhörten  Siege  daselbst,  brachten  ihn  in  eine  höhere 
Stellung ,  als  sie  dem  lüirger  eines  Freistaates  gebührte ;  die 
Bundesgenossen  buhlten  um  seine  Gunst  wie  um  die  eines 
souveränen  Fürsten,  und  er  gelirauchte  seine  Gewalt  nicht  mit 
schonender  \'orsicht,  sondern  übte  alle  Willkühr  eines  Ty- 
rannen,  dessen  Name  allein  ihm  noch  zu  fehlen  schien. 

Da  eröffneten  ihm  die  \'erhältnisse  Siciliens  die  Aussicht 
auf  weitere  Hen-schaft.  Es  ist  bekannt,  wie  die  Streitigkeiten 
der  sicilischen  Städte  Selinus  und  Egesta,  'den  Athenern,  welche 
längst  ein  lüsternes  Auge  auf  die  reiche  und  mächtige  Insel 
geworfen  hatten,  im  Jahre  415  eine  Veranlassung  wurden  zu 
einer  grossen  Unternehmung.  Umsonst  hatte  Nikias  alle 
Schwierigkeiten  und  Gefahren  eines  solchen  Kriegs  hervorge- 
hoben; die  kriegslustige  Jugend,  das  gesammte  herrschbegie- 
rige Volk  verschmähten  seinen  besonnenen  Rath  und  liessen 
sich  durch  die  lockenden  Darstellungen  des  Alkibiades  hin- 
reissen,  der  Euhm,  Macht  und  Reichthümer  durch  diesen 
Krieg  zu  gewinnen  hoffte.  Mit  Nikias  und  Lamachos  wTirde 
Alkibiades  zum  unumschränkten  Feldhemi  ernannt,  und  Streit- 
kräfte zu  ihren  Verfügungen  gestellt,  wie  sie  Athen  seit  langem 
nicht  aufgeboten  hatte.  Die  höchsten  Wünsche  des  Ehrgeizes 
schienen  sich  verwirklichen  zu  sollen.  Denn  da  Alkibiades 
die  Seele  des  ganzen  Eroberungszugs  und  vor  Allem  befähigt 
war  ihn  zu  glücklichem  Ende  zu  führen,  so  musste  aiich  ihm 
der  Hauptgewinn  aus  demselben  zufallen.  Und  Sicilien  sollte 
nur  der  Anfang  sein ;  Unteritalien,  Karthago ,  ganz  Griechen- 
land sah  er  bereits  im  Geiste  erobert,  sich  selbst  als  den  Len- 
ker eines  mächtigen  Reiches  am  Mittelmeer.  Schon  lag  die 
Flotte  zur  Abfahrt  bereit ,  welche  ihn  dem  Ziele  seiner 
Wünsche  entgegentragen  sollte,  eine  Flotte  so  herrlich  ausge- 
rüstet, dass  es  schien,  als  ob  sie  eine  Schaustellung  der  athe- 
nischen Macht  sein  sollte.    Da  ^^irde  plötzlich  gegen  ihn,   der 


1)  Auch  abgesehen  von  der  oben  berührten  Erhöhung  des  Tributes 
ergiebt  sich  das  aus  manchen  Nachrichten.  So  Andoc.  contra  Alcib.  §  30 
wo  wir  keinen  Grund  haben  an  der  Wahrheit  der  Erzählung  zu  zweifeln. 
Plut.  Ale.  12,  der  ohne  Zweifel  aus  jener  Rede  geschöpft  hat,  Athenaeus 
XII  p.   534 d,  der  hingegen  andere  Quellen  benutzt  hat. 


Alkibiades  und  Lysandros.  111 

bisher  aller  Gesetze  spotten  zu  können  schien ,  die  furchtbare 
Anzeige  gemacht,  dass  er  die  Mysterien  d\irch  freventliche 
NachäfFung  entweiht,  und  Pläne  ziim  Sturze  der  Demokratie 
betreibe ') .  Schon  zuvor  waren  die  Gemüther  durch  Ver- 
stümmlung der  Herraenbikler  in  ängstliche  Aufregung  gebracht, 
die  Einen  von  religiösen  Hedenkeu  beimruhigt.  Andere  für  die 
Demokratie  in  IJesorgniss.  So  viel  Dunkel  über  diesem  gan- 
zen, unter  dem  Namen  des  Hermokopidenprozesses  bekannten, 
unseligen  \'organge  liegt,  das  scheint  sicher,  dass  oligarchi- 
sche  und  demokratische  Feinde  des  Alkibiades  ihn  mit  grossem 
Geschicke  benutzten,  den  verhassten  Gegner  zu  stürzen,  dem 
sie  sonst  nicht  beizukommen  wussten.  und  bei  dieser  Gelegen- 
heit zeigte  sich ,  wie  unkhig  er  gehandelt  hatte  in  seinem 
üebermuthe  Andere  zu  wenig  zu  schonen.  /Avar  trat  er.  be- 
sonders aTif  die  Gegenwart  der  ihm  anhänglichen  bündischen 
Truppen  und  auf  seinen  persönliclien  Einfiuss  vertrauend,  kühn 
der  Beschuldigung  entgegen  und  verlangte  Untersuchung.  Aber 
die  schlauen  Feinde  wussten  unter  dem  Schein  des  Wohlwol- 
lens durchzusetzen,    dass    er  einstweilen   mit  dem  Heere  nach 


1)  In  eine  genauere  Darstellung  des  Prozesses  einzugehen  kann  hier 
meine  Absicht  nicht  sein.  Man  vergleiche  über  denselben  besonders  Droy- 
sen  des  Aristoph.  Vögel  und  die  Hermokopiden ,  Büttner  S.  05  fg.  auch 
meine  Schrift  über  die  Hetairien  S.  19fi'.  und  Röscher  Thucyd.  S.  426 ff. 
Büttner  stellt  mit  Recht  den  Androkles  mehr  in  den  Vordergrund ,  als 
Uroysen  und  ich  gethan  hatten ;  doch  ist  das,  was  er  S.  69  über  die  He- 
tairie  desselben  sagt,  nicht  hinlänglich  erwiesen;  auch  Röscher  sucht  nach- 
zuweisen ,  dass  man  diese  Vorgänge  nicht  bloss  als  ein  R,änkespiel  der 
oligarchischen  Partei  betrachten  darf.  Iligenthümlich  ist  ihm  besonders 
die  Ansicht,  dass  die  Mysterienauffühning  in  Privathäusern  nicht  ein  Spass 
gewesen  sei,  sondern  dass  die  vornehmen,  zugleich  philosophisch  gebildeten 
Leute,  die  dabei  betheiligt  waren,  diese  religiöse  Handlung  von  dem  grossen 
Haufen,  den  sie  verachteten,  getrennt  hätten  begehen  wollen.  Gegen  diese 
Auffassung  spricht  aber  offenbar  Thuk.  VI,  2S,  wie  ich  bereits  in  der  An- 
zeige von  Roschers  Schrift  in  der  Zeitschrift  f.  A.  W.  Ib4:}  S.  800  ff.  ge- 
zeigt habe.  Ganz  zu  verwerfen  ist  natürlich  die  Ansicht  Chambeau's  de 
Alcibiade  p.  :iil ,  dass  Nikias  hinter  der  ganzen  Sache  gesteckt  habe,  lun 
den  Alkibiades  verhasst  zu  machen.  Ich  bemerke  hier  übrigens,  dass  mir 
Chambeau's  Schrift  leider  nicht  zur  Hand  ist  und  ich  diese  Notiz  nur  aus 
Hermanns  Lehrbuch  entnommen  habe.  [Kurz  berührt  den  Hermokopiden- 
prozess  und  die  Confiscation  von  Alkibiades  Vermögen  Meier  d.  bon.  dam- 
nat.  p.   179  —  181   besonders  in  der  Note  67.] 


112  Alkibiades  und  Lysandros. 

Sicilien  unter  Segel  gehen  sollte;  erst  nach  vollendetem  Feld- 
zug sollte  dann  der  Prozess  beginnen.  Damit  war  er  verloren. 
Denn  kaum  war  er  mit  der  Flotte  entfernt,  als  alle  Mittel  ge- 
gen ihn  in  Bewegung  gesetzt  wurden.  Als  eben  von  den  drei 
Feldherren  ein  Plan  für  den  Krieg  angenommen  worden  war, 
den  er  allein  durchziiführen  im  Stande  war'^,  wurde  er  gegen 
das  gegebene  Versprechen  vor  Gericht  gefordert.  Dem  Be- 
fehle zu  trotzen  wagte  er  noch  nicht,  sondern  folgte  der  sala- 
minischen  Triere,  die  ihn  nach  Athen  bringen  sollte,  auf  sei- 
nem eigenen  Schiffe.  Aber  in  Thurioi  entA\ich  er.  Die  Athener 
venirtheilten  ilin  zum  Tode ,  confiscirten  sein  Vermögen,  und 
Priester  sprachen  den  Fluch  über  ihn  aus.  — 

So  war  er  plötzlich  vom  höchsten  Gipfel  der  Macht,  in 
das  tiefste  Unglück  gestürzt,  seine  glänzendsten  Hoffnungen 
aufs  schnödeste  vereitelt.  Wie  weit  seine  Schuld  oder  Un- 
schuld gegangen,  das  zu  entscheiden  wagt  Thukydides  nicht, 
auch  uns  wird  es  nicht  gelingen.  Höchst  wahrscheinlich  war 
er  bei  dem  Mysterienfrevel  betheiligt ,  aber  dass  damit  Pläne 
zum  Umstürze  der  Demokratie  verbunden  gewesen,  womit  man 
besonders  das  A'olk  aufregte,  war  sicherlich  unbegründet.  Kön- 
nen wir  ihn  also  hier  von  einem  Vergehen  auch  nicht  ganz 
freisprechen,  so  lastet  doch  unendlich  grössere  Schuld  auf  den 
Gegnern,  welche,  nur  um  ihre  eigene  Macht  besorgt  und  un- 
bekümmert um  das  Wohl  des  Staates,  den  religiösen  Sinn  des 
Volks  und  die  ängstliche  Scheu  desselben  vor  Oligarchie  und 
Tyrannis  missbrauchten ,  welche  im  wichtigsten  Momente  den 
besten  Feldhemi  entfernten  und  so  unzweifelhaft  den  Unter- 
gang der  athenischen  Macht  herbeiführten.  Sie  haben  ihren 
Feind,   aber  auch  sich  selber  ins  Verderben  gestürzt. 

Alkibiades  aber,  wie  er  vorher  auf  der  schwindelnden 
Höhe  des  Glücks  keine  ^lässigung  gekannt,  verlor  jetzt  vol- 
lends alle  Besonnenheit,  allen  sittlichen  Halt.  Im  wohllie- 
gründeten  Gefühl  erlittenen  Unrechts,  und  tieferbittert  von 
Mäiuiem  gestürzt  zu  sein,  die  er  weit  unter  sich  sah  und  ver- 
achtete ,  kannte  er  für  den  Augenblick  nur  das  eine  Gefühl 
der  Rache.    Rächen  wollte  er  sich  an  denen,  die  ilm  gestürzt, 


')  Thucyd.  VI,  50.    Röscher  Thuk.  S.  475.     An  und  für  sich  war  ge- 
wiss der  von  Lamachos  vorgeschlagene  Plan  der  beste. 


Alkibiades  und  Lysandros.  113 

rächen  an  dem  Volke  das  ihn  einst  vergöttert  und  dann  plötz- 
lich verdammt.  Ol)  er  seine  eigene  Vaterstadt,  die  Wiege 
seines  Ruhms  und  seiner  Macht,  den  herrlichen  Schauplatz 
aller  seiner  bisherigen  Thätigkeit  vernichtete,  galt  ihm  für  den 
Augenblick  gleich  *) .  Jenes  eine  Gefühl  überwog  alle  Rück- 
sichten. So  warf  er  sich  dem  Staate  in  die  Arme,  dessen 
Demüthigimg  seit  Jahren  sein  Ziel  gewesen  war,  Sparta  miisste 
ihm  dienen,  um  seine  Hache  an  Athen  zu  sättigen  und  es  ge- 
lang ihm  nur  zu  gut 2).  Avif  seinen  Rath  schickten  die 
Spartaner  den  Gylippos  nach  Sicilien,  auf  seinen  Rath  be- 
festigten sie  Uekeleia  in  Attika  Jenes  führte  den  Unter- 
gang des  ganzen  attischen  Heeres  und  der  Flotte  mit  der 
Blüthe  der  athenischen  Jugend  herbei,  dies  brachte  Athen  in 
einen  Blokadezustand ,  bei  dem  es  nicht  über  die  Mauern  der 
Stadt  hinaus  sicher  war.  Alkibiades  riss  die  mächtigsten 
Bundesstaaten  von  Athen  los  und  nahm  ihm  damit  seine  reich- 
sten Hülfsquellen ,  seinen  Bemühungen  endlich  gelang  es 
einen  Subsidienvertrag  zwischen  Tissaphenies,  dem  persischen 
Satrapen,  und  Sparta  zu  Stande  zu  bringen,  wodurch  es  letzte- 
rem  möglich  wurde  Flotten  zu  halten.  —  So    hat   er   in    dem 


1)  Ich  glaube,  dass  man  Unrecht  thut,  wenn  man  annimmt,  Alkibiades 
habe  gleich  von  Anfang  an  mit  besonnener  Berechnung  Athen  nur  soweit 
schwächen  wollen,  als  nöthig  war,  um  seine  Heimkehr  zu  erzwingen,  dazu 
wäre  er  viel  zu  weit  gegangen.  Die  "Worte,  die  ihm  Thuk.  VI,  92  in  den 
Mund  legt :  v-ai  cpiX6-o/.t;  oGio;  opDöJ;,  oö/  o;  av  ttjv  ta'izr/j  äoiy.w;  äitoXiSa; 
(i.Tj  STT'-V),  äXX'  8;  av  i/.  -nuTot  TpoTro'j  oia  xö  £t:ii)u[j.£Tv  -etpai)?]  aÜTT^v  ävct^cißsTv 
beweisen  dafür  nichts,  enthalten  vielmehr  nur  einen  sophistischen  Verthei- 
digungsgrund  gegen  den  Vorwurf,  er  sei  ein  Landesverräther.  Die  schöne 
Theorie,  dass  nicht  der  der  wahre  Vaterlandsfreund  sei,  der  aus  dem  Va- 
terland vertrieben  nichts  dagegen  thue ,  sondei-n  der,  welcher  auf  jede 
Weise  es  wieder  zu  gewinnen  suche,  die  bekanntlich  auch  in  unserer  Zeit 
zahlreiche  Anhänger  hat,  war  übrigens  damals  ziemlich  allgemein  verbrei- 
tet, wie  unter  andern  das  Beispiel  des  sonst  so  trefflichen  Syrakusaners 
Hermokrates  zeigt.     Diodor  XIII,  "5. 

2)  [Thucyd.  VT,  88.  xai  o'i  -e  iv.  r?];  Kop(v9o'j  -psaßsi;  -«pf^oav  I;  ttjv 
AaxeSaifxova  %a\  'AX-iiißiaOT];  \i.e-a.  töjv  c'j|j.'i'JYa5«w  TrepattodEi;  tot  z'j%'jc,  im 
ttXoiou  cpopTTjYiv-oö  iv.  Tfii  6o'Jpta;  ii  K'J/J/rjvTjV  t^;  'HXeia;  TipwTOv,  eTreira 
ÜGTEpov  i;  t:^v  Aa'iCEOaifAOva,  a'jxtuv  twv  Aaxeoatixo'nojv  [i.£Ta7T£[x'iiavT(o  v  'jtcö- 
o-o>^o?  eX&tov.  Damit  ist  nicht  im  Widerspruch ,  dass  er  zuerst  von  Elis 
sich  nachArgos  begeben  habe.  Isoer.  de  big.  §  9.  Plut.  Ale.  23.  Polyaen. 
1,  40,  6.  Justin.  V,  1,  2.  Nep.  Ale.  4  lässt  ihn  erst  nach  Elis,  dann  nach 
Theben  gehen.] 

Vis  eher,  Schriften  I.  § 


114  Alkibiades  und  Lysandros. 

Zeitraum  von  nicht  drei  Jahren  seine  Vaterstadt  von  hoher 
Macht  an  den  Rand  des  ^'erderbens  gebracht,  sie  die  eben  noch 
als  Königin  der  Meere  unbestritten  dastand  und  kaum  wvisste, 
wo  sie  ihren  Eroberungsplänen  Ziel  setzen  solle,  sie  stritt  jetzt 
der  besten  Bürger  beraubt,  fast  ohne  Bundesgenossen,  fast 
ohne  Land  und  Schiffe  ^^ ,  um  ihre  Existenz.  Das  verdankte 
sie  einem  verblendeten  Sohne,  den  sie  selbst  in  arger  Ver- 
blendung von  sich  gestossen  hatte. 

Aber  Athen  verzweifelte  nicht.  Mit  einem  bewunderungs- 
würdigen Heldenmuthe  der  mit  frühem  Freveln  versöhnt,  wi- 
derstand es  des  Feindes  überlegener  Macht :  noch  einmal  erhob 
es  sich  zu  glänzenden  Hoffnungen  und  der  gleiche  Alkibiades 
führte  es  von  Sieg  zu  Sieg.  Denn  er,  dem  die  Spartiaten 
alles  verdankten,  hatte  sich  den  König  Agis  zum  persönlichen 
Feinde  gemacht  2  ;  sein  Einfluss  bei  den  Ijundesgenossen  und 
dem  Persersatrapen  erregte  den  Neid  und  Argwohn ,  man 
glaubte  aus  ihm  den  möglichen  Nutzen  gezogen  zu  haben  und 
ihn  nun  auf  die  Seite  werfen  zu  können.  Es  war  ihm  auch 
hiei  begegnet  was  früher  in  Athen.  Niemand  traute  ihm  recht, 
weil  man  wusste,  dass  er  nur  persönliche  Absichten  habe.  Und 
in  der  That  scheint  es ,  dass  der  freventlich  unternommene 
Schritt  ihn  zu  gereuen  begann.  Er  musste,  sobald  das  erste 
Gefühl  der  Rache  vorüber  war,  fühlen,  dass  in  Sparta  er  im- 
mer blos  ein  geduldeter,  argwöhnisch  beobachteter  Flüchtling 
bleiben,  dass  er  vor  spartanischem  Stolze  sich  demüthigen 
müsse,  und  nie  eine  Avahrhaft  ehrenvolle  Stellung  einnehmen 
könne,  dass  Athen  allein  ihm  Ruhm  und  Macht  zu  gewähren 
vermöge  und  er  also  mit  diesem  auch  die  Bedingung  eigener 
zukünftiger  Grösse  zerstöre.  Und  fügen  wii"  hinzu,  wohl  hat 
sich  auch  die  Liebe    zur  Vaterstadt  wieder   in    ihm  geregt.  — 


1)  Diese  "Worte  bitte  ich  nicht  zu  urgiren.  Leere  Schiffe  hatten  die 
Athener  in  ihrem  Seearsenal  allerdings  noch  eine  ziemliche  Anzahl ;  aber 
es  war  eine  bedeutende  Zeit  zur  Ausrüstung  und  Bemannung  erforderlich, 
wie  sich  aus  dem  Anfang  des  achten  Buches  des  Thukydides  ergiebt ,  Dr. 
Herbst  in  der  schönen  Abhandlung,  die  Rückkehr  des  Alkibiades.  Ham- 
burg 1S43.  handelt  sehr  gut  über  die  damalige  Seemacht  der  Athener 
S.   50—56. 

2)  Zunächst  wegen  seines  Verhältnisses  zu  der  Frau  des  Agis,  Timaia. 
Plut.  Alcib.  23.  Agesil.  3.  de  tranquill,  animi,  p.  467.  f.  Athenaeus  XII. 
p.  535  b.  Thucyd.  VIII,  45. 


Alkibiades  und  Lysandros.  115 

Der  Argwohn  der  Spartaner  stieg  bis  zu  dem  Grade,  dass  Be- 
fehl kam  ilin  aus  dem  Wege  zu  räumen.  Den  Nachstelhmgen 
zu  entgelien,  begab  er  sich  zu  dem  Satrapen  Tissaphcnies.  AVie 
er  vermöge  seiner  ausserordentlichen  Vielseitigkeit  in  Sparta 
durch  Strenge  der  Le1)ensweise  und  Tüchtigkeit  in  g\Tnnasti- 
schen  Uebungen  ^es  allen  zuvor  gethan  hatte,  so  Maisste  er  hier 
durch  Annahme  persischer  Art  und  den  unwiderstehlichen  Reiz 
seines  persönlichen  ÜHflganges,  des  tückischen  Satrapen  Gunst 
bald  in  hohem  Grade  zu  gewinnen  und  seine  Politik  eine  Zeit- 
lang fast  unbedingt  zu  leiten.  Er  gab  ihm  den  allerdings  dem 
persischen  Interesse  ganz  angemessenen  Rath ,  Sparta  nicht 
unbedingt  zu  unterstützen ,  sondern  die  beiden  Hauptmächte 
Griechenlands  im  Gleichgewicht  zu  halten,  um  so  immer  eine 
gegen  die  andere  benutzen  zu  können  imd  keine  fürchten  zu 
müssen.  Durch  diesen  llath  wurde  er  aber  im  gegenwärtigen 
Augenblicke  auch  der  Ivetter  Athens.  Tissaphernes  Hess  eine 
erwartete  phönicische  Flotte  nicht  zu  den  Peloponnesiern  stossen 
und  zahlte  den  Sold  nicht  aus.  Die  lÜldung  einer  pelopon- 
nesischen  Seemacht  wurde  gehemmt ,  die  Athener  erhielten 
Zeit  in  Samos  bedeutende  Streitkräfte  zu  concentriren  und  ihr 
gesunkenes  Ansehen  Avieder  zu  heben.  Zugleich  trat  Alkibia- 
des  mit  ihnen  in  Verbindung. 

Seit  dem  sicilischen  Missgeschicke  war  nämlich  in  Athen 
ein  bedeutendes  Hinneigen  zu  einer  Modifizimng  der  Demo- 
kratie   sichtbar^  .   besonders  wünschte  im  Heere  in  Samos  ein 


•,  Das  zeigte  sich  bereits  in  der  Niedersetzung  der  Behörde  der  Proba- 
ien ,  welche  der  spätem  Oligarchie  vorgearbeitet  haben.  Vgl.  Hermann 
Lehrb.  der  gr.  Staatsalterthümer  §.  lOG,  11.  12.  Schömann  antiquit.  jur. 
publ.  Graecorum  p.  181  ,  meine  Schrift  über  die  Hetairien  S.  24.  Neuer- 
dings hat  freilich  Büttner  a.  a.  O.  S.  75  es  in  Abrede  gestellt  und  geradezu 
behauptet,  die  Einrichtung  der  Probulen  sei  bald  wieder  verschwunden 
und  das  alte  demokratische  Wesen  habe  wieder  die  Oberhand  gewonnen, 
w^as  er  einzig  darauf  begründet ,  dass  nach  Thuk.  VIII ,  65  Androkles  an 
der  Spitze  des  Volks  stand.  Auch  Wattenbach  de  quadringentorum  Athenis 
factione  spricht  eine  ähnliche  Meinung  aus.  [Mit  Wattenbach  stimmt  überein 
sein  Recensent  E.  Curtius  in  den  Berl.  Jahrb.  1S43  n.  95  S.  759.]  Allein 
K.  F.  Hermann  hat  bereits  in  der  Ilecension  von  Büttners  Schrift  in  den 
Je^hrbüchern  für  wissenschaftl.  Kritik  1842  S.  140,  141  schlagend  nachge- 
wiesen, wie  unbegründet  diese  Ansicht  ist,  da  die  Stelle  aus  Aristot.  ühetor. 
III,  18,  6  allein  für  die  Thätigkeit  der  Probulen  bei  Einführung  der  Vier- 

8* 


116  AXKIBIADES   UND    LySANDROS. 

grosser  Theil  der  Führer  eine  Oligarchie.  Alkibiades,  der  sein 
früheres  Unglück  zum  grossen  Theil  der  Demokratie  zuschrieb 
nnd  durch  eine  ^'erfassungsverändening  namentlich  einen  sei- 
ner Hauptgegner,  den  Demagogen  Androkles.  zu  entfernen 
hoffte ,  sprach  nun  seine  Bereitwilligkeit  aus ,  wieder  zurück- 
zukehren und  versprach  den  Tissaphenies  auf  die  Seite  von 
Athen  zu  bringen,  wenn  eine  Oligarchie  eingeführt  werde.  Die 
oligarchisch  gesinnten  Männer  gingen  gerne  darauf  ein,  die 
sehr  triftigen  Einwendungen  des  Feldherrn  Phrynichos  wurden 
nicht  beachtet,  die  Masse  liess  sich  durch  Hoffnung  auf  eine 
glückliche  Wendung  des  Kriegs  bethören,  und  alle  Einleitungen 
zu  einer  UmAvälzung  wurden  getroffen.  Als  aber  die  Verspre- 
chungen der  persischen  Hülfe  durch  des  Tissaphemes  verän- 
derte Stimmung  sich  bald  als  nichtig  zeigten,  und  ein  Zer- 
würfniss   zwischen  Alkibiades   und  den  Oligarchen  eintrat,   da 


hundert  entscheidet.  Nicht  weniger  bestimmt  ist  aber  ohne  Zweifel  die 
sowohl  von  Hermann  als  von  mir  a.  a.  O.  angeführte  Stelle  Lys.  adv.  Erat. 
§.  6.5,  welche  Büttner  S.  76  Anm.  etwas  rasch  abweist  und  unrichtig  auf- 
fasst,  dieselbe  lautet  nach  der  Lesart  der  Hdsch.  o;  '0r,pau.£VT,;)  zoöjtov  |jl£v 
TTJ;  TTooTcpa;  rj'/.i-fxoy'im  aiTKutaTo;  i'(Vie-o,  -s'.aa;  'Ju.ä?  tt^v  i~\  twv  -z-pav.o- 
oicuv  zoXiTiiav  i\i'j%ai.  7.ai  6  ijl£v  —otTTjp  aCiToö  tGjv  "poßo'jXcuv  üjv  tocjt  Irpar- 
T£v,  aÜTÖ?  0£  ooxöJv  E'jvo'jOTaTO?  £ivat  TOI?  -pd-iiJ.i'j'.  37paTT,YÖ;  b-'  a'jToü  Tjp£&r,. 
Büttner  sagt  nun,  aus  dieser  undeutlichen  und  wahrscheinlich  verdorbenen 
Stelle  könne  man  nichts  Anderes  ersehen,  als  dass  Theramenes  Vater  zu 
den  Probulen  gehört  und  seinen  Sohn  zum  Feldherrn  ernannt  habe.  Ueber- 
dies  führte  Lysias  selbst  als  Grund  an ,  dass  Theramenes  von  guter  Ge- 
sinnung gegen  den  Staat  beseelt  erschienen  sei  (ooy.tüv  £'jvo'jaTa-&;  ehai  toi; 
T.pd-jij.'y.zi].  Allein  die  Worte  -cl'jz  £-paTT£v  sagen  ganz  deutlich,  es  habe 
Hagnon  die  Einführung  der  Oligarchie  betrieben,  indem  Tajta  auf  tt^v  iizl 
T(üv  T£Tp(xxo3ituv  7:oXiT£iav  £/,£3&ai  geht  und  rpaTTSiv  die  bekannte  Bedeutung 
des  ränkevollen  Betreibens,  Machinirens  hat.  Die  Worte  Ejvo'joTaTo?  tou 
-pdY.actat  besagen  aber  nicht,  er  sei  der  Demokratie,  sondern  der  Sache  der 
Oligarchie  wohlwollend  gewesen.  Ein  Verderbniss  endlich,  das  jedoch  auf 
den  ersten  Theil  des  Satzes  keinen  Einfluss  hat,  scheint  allerdings  in  der 
vulgata  zu  sein ,  nämlich  aÜToij ,  wofür  Sauppe  ohne  Zweifel  richtig  (x'jtiuv 
aufgenommen  hat ,  womit  jede  Schwierigkeit  schwindet.  Also  Lysias  sagt 
jedenfalls,  Hagnon  habe  als  Probule  die  Einführung  der  Oligarchie  betrie- 
ben. Eine  andre  Frage  ist,  ob  Lysias,  der  sehr  oft  aus  Parteileidenschaft 
Unwahres  berichtet,  hier  glaub^n-ürdig  sei,  und  dies  wird  durch  die  Ueber- 
einstimmung  mit  den  andern  Nachrichten  sehr  wahrscheinlich.  Für  die 
Fortdauer  der  Probulen  spricht  übrigens  auch  deutlich  genug  die  Lysistrata 
des  Ai'istophanes. 


Alkibiades  und  Lysandros.  117 

gaben  diese,  die  bereits  zu  weit  gegangen  waren,  nm  sicher 
zurücktreten  zu  können,  ihre  Pläne  doch  nicht  auf,  sondern 
machten  eine  Revohition,  ohne  dadurch  für  Athen  irgend  einen 
äusseren  Yortheil  zu  gewinnen.  Aber  das  Heer  in  Samos  er- 
klärte sich  für  die  Demokratie ,  constituirte  sich  selbst  als 
souveränes  ^^olk,  rief  den  Alkibiades  zurück  und  ernannte  ihn 
zum  Feldherrn.  Die  Rolle,  die  hier  xllkibiades  gespielt,  er- 
scheint auf  den  ersten  Anblick  sehr  zweideutig,  erklärt  sich  aber 
leicht  i) .  Ihm  war  es  vor  Allem  um  die  Rückkehr  zu  thun, 
dann  aber  darum  Athen  wieder  so  mächtig  zii  machen,  als 
möglich.  Beides  mochte  ihm,  der  eigentlich  weder  Demokrat 
noch  Oligarch  war,  unter  den  damaligen  Verhältnissen  zuerst 
bei  einer  Beschränkung  der  Demokratie  leichter  erreichbar 
scheinen.  Als  nun  aber  gerade  in  der  Oligarchie  seine  Feinde 
zu  grossem  Ansehen  kamen  und  statt  dass  grössere  Ruhe  ein- 
trat, Zwietracht  inid  Bürgerkrieg  den  Staat  zu  zerreissen  droh- 
ten ,  da  folgte  er  gern  dem  Rufe  des  demokratischen  Heeres 
in  Samos.  Diesen  Wechsel  dürfen  wir  ihm  um  so  eher  ver- 
zeihen, als  er  seine  neue  Stellung  sofort  aufs  löblichste  be- 
nutzte. Er  hielt  das  Heer  ab,  wie  es  im  ersten  Ingrimme  be- 
absichtigte, gegen  Athen  zu  ziehen ,  und  rettete  dadurch  den 
Staat  von  unvermeidlichem  Untergang;  er  forderte  auch  von 
den  Oligarchen  keineswegs  vollständige  Herstellung  der  un- 
umschränkten Demokratie ,  sondern  nur  AbschafFimg  des  ver- 
hassten  neuen  Rathes,   und  mahnte  dringend  beide  Theile  dem 


1)  In  dieser  ganzen  Sache  haben  sehr  verschiedene  Motive ,  meist  per- 
sönlicher Art,  zusammengewirkt ;  namentlich  wollte  Alkibiades,  als  er  den 
Tissaphernes  nicht  auf  die  Seite  der  Athener  bringen  konnte ,  doch  den 
Schein  seines  Einflusses  bei  dem  Satrapen  retten  und  stellte  daher  den  Ab- 
geordneten der  Oligarchen  so  drückende  Bedingungen ,  dass  die  Unter- 
handlungen scheitern  mussten.  Thucyd.  VIII,  56.  Allein  andrerseits  hat- 
ten auch  die  Oligarchen  den  Alkibiades  nie  aufrichtig  gewünscht,  sondern 
nur  als  Werkzeug  gebrauchen  wollen,  wie  das  Thucyd.  VIII,  63  deutlich  aus- 
spricht ■ml  fap  o'jx  drtT-fjO£iov  aütov  eivat  I?  «^iXt^apytav  IXi}£rv  vgl.  c.  47.  48. 
Hingegen  scheint  Alkibiades  jetzt  wirklich  eine  massige  Beschränkung  der 
Demokratie  für  heilsam  angesehen  zu  haben.  Ueber  die  sämmtlichen  Er- 
eignisse vom  Herbst  412  bis  zur  Rückkehr  des  Alkibiades  nach  Athen 
selbst  ist  jetzt  die  Schrift  von  Herbst,  die  Rückkehr  des  Alkibiades.  Ham- 
burg 1843.  zu  vergleichen.  Ueber  die  Thätigkeit  der  Hetairien  bei  diesen 
Vorgängen  Büttner  a.  a.  O.  S.  72  ff. 


118  Alkibiades  und  Lysandkos. 

ävisseren  Feinde  sich  unverzagt  entgegenzTistellen,  sei  man  ein- 
mal gegen  den  gesichert,  so  werde  sich  wohl  die  Eintracht  im 
Innern  wieder  geben  ^) .  Mit  einem  Worte ,  er  bewies  jetzt 
solche  Besonnenheit  und  so  kluge  Fürsorge  für  das  Wohl  des 
Staates ,  dass  man  darüber  fast  vergisst ,  wie  er  zumeist  das 
Unglück  herbeigeführt  hatte ,  aus  dem  er  ihn  jetzt  zu  retten 
bestrebt  ist.  Ueberhaupt  beginnt  jetzt  der  schönste  Theil  sei- 
ner LaTifl)ahn,  so  schön,  dass,  wenn  er  nichts  anderes  gethan 
hätte,  wir  ihn  zu  den  trefflichsten  Bürgern  rechnen  müssten. 
Die  Schule  des  Unglück  hatte  ihn  geläutert. 

In  Athen  hatte,  wie  er  es  Avünschte.  die  Oligarchie  nach 
kaum  viermonatlicher  Dauer  einer  gemässigten  Demokratie 
Platz  gemacht.  Eine  der  ersten  Handlungen  dieser  war  die 
Zurückberufung  des  Alkibiades ,  der  nun ,  an  der  Spitze  der 
athenischen  Streitkräfte,  Talente  entwickelt,  die  ihm  einen 
Platz  unter  den  Feldherren  ersten  Ranges  anweisen.  Die  Liebe 
und  das  Zutrauen  seiner  Leute  gewinnt  er  im  vollsten  Masse, 
ebensowohl  durch  eifrige  Sorgfalt  für  ihr  Wohl  und  durch 
reichliche  Beute,  als  durch  seine  Siege;  sie  halten  sich  bald 
unter  seiner  Führung  für  unüberwindlich  -  .  Mit  grosser  Um- 
sicht und  Klugheit  verbindet  er  eine  Kühnheit  und  Schnellig- 
keit in  seinen  Unternelimungen ,  wie  sie  sonst  im  peloponne- 
sischen  Kriege  nicht  vorkommt,  nöthigenfalls  auch  eine  an 
Tollkühnkeit  gränzende  persönliche  Tapferkeit  ^l .  Seine  Kriegs- 
führung ist,  dem  athenischen  Volkscharakter  ganz  angemessen, 
durchweg  offensiv,  in  einer  Stellung  nach  der  andern  greift  er 
den  Feind  an  und  lässt  ihm  keine  Zeit,  die  geschlagenen, 
zerstreuten  Streitkräfte  zu  sammeln.  Kluge  Unterhandlungen 
kommen  seiner  strategischen  Thätigkeit  zii  Hülfe.  Keinen 
seiner  Erfolge  hat  er  dem  Zufall  verdankt. 

Als  nämlich  Tissaphernes  den  Peloponnesiem  gegenüber 
immer  zaudernder  und  unzuverlässiger  Avurde,  wandte  sich  (im 
Sommer  111  j  der  spartanische  Admiral  (Xauarchos  Mindaros 
nach  dem  Hellespont,  um  mit  Hülfe  des  zuverlässigem  Satra- 
pen Pharnabazos  die  dortigen  mächtigen  und  reichen  Bundes- 


1)   [In  dieser  Zeit  stellten  ihm  die  Samier  eine  eherne  Bildsäule  im  He- 
raion auf.  Pausan,  ^^,  3,   15.] 

3)  Xenoph.  Hell.  I,  2,  15—17.    Plut.  Alcib.  29. 

■')  Dies  besonders  bei  der  Eroberung  von  Selybi-ia.  Plut.  Alcib.  30. 


Alkibiades  und  Lysandros.  119 

Städte  Athens  diesem  gänzlich  zu  entreissen,  und  seine  Ver- 
bindung mit  dem  Pontos  zu  Tinterbrechen.  Die  Athener  folg- 
ten ihm.  und  gewannen  zuerst  durch  das  glückliche  Gefecht 
bei  Kynossema  ihr  altes  Vertrauen  auf  die  Ueberlegenheit  zvir 
See  wieder.  Entschieden  aber  wurde  ihr  Ueberge^A  icht,  nach- 
dem bald  darauf  Alkibiades  selbst,  der  bei  jener  Schlacht  nicht 
zugegen  gewesen  war.  in  den  Hellespont  einlief.  Seiner  An- 
kunft verdankte  man  zuerst  den  Sieg  bei  Abydos.  Bald  aber 
führte  er  grösseres  aus.  Von  trefflichen  Unterbefehlshabeni*), 
namentlich  Thrasyllos .  Thrasybulos  iind  Theramenes .  unter- 
stützt, griff  er  nach  einem  wohlangelegten  Plane  die  vereinig- 
ten Streitkräfte  der  Peloponnesier  und  des  Pharnabazos  bei 
Kyzikos  an ,  eroberte  oder  vernichtete  die  ganze  feindliche 
Flotte .  schlug  das  Landheer  und  nahm  die  mächtige  Stadt 
Kyzikos.  Es  war  das  der  schönste  Sieg,  den  die  Athener  im 
ganzen  Kriege  davon  getragen  hatten.  Die  Spartaner,  welche 
sich  die  Früchte  ihrer  bisherigen  Anstrengungen  entrissen  sahen 
und  sich  überzeugten ,  dass  Athen  noch  nicht  erschöpft  sei, 
boten  ehrenvollen  Frieden,  dessen  Annahme  zu  Athens  Unheil 
der  Demagoge  Kleophon  hintertrieb  2) .  Der  Krieg  wurde  fort- 
gesetzt.    Alkibiades    gewann    eine    abgefallene  Stadt   nach  der 


')  Wenn  ich  Unterfeldherrn  sage,  so  bezeichne  ich  damit  das  factische 
Verhältniss,  man  vergleiche  nur  den  dem  Alkibiades  nicht  günstigen  Xeno- 
phon  Hell.  I,  1,  4;j  fF.  Alkibiades  war  vom  Heere  in  Samos  zum  Feld- 
herrn ernannt  worden  mit  den  frühern  \xtxa  rojv  TTpoisptuv,  aber  doch  gleich 
so ,  dass  man  ihm  die  Leitung  des  Kriegs  übertrug  v.oii  ta  -pdYH^cxTa  Travxa 
ävettÖEGav.  Thucyd.  VHI,  82.  Dass  diese  Ernennung  nach  dem  Sturze  der 
Vierhundert  in  Athen  selbst  bestätigt  worden  sei ,  sagt  zwar  Thukydides 
nirgends  ausdrücklich ;  doch  liegt  wenigstens  eine  faktische  Bestätigung  der 
vom  Heere  vorgenommenen  Wahl  in  den  Schlussworten  des  Kap.  97.  i'bi)- 
cpluftvTo  o£  7.ai  AXy.tßiao-^^  -/.al  atXoMc,  [kzt  auToü  xaTtIvat  xat  Trapa  t£  exeivov 
■/at  rapd  xö  hi  Sapiii)  aTpaxörreoov  r£(i.iWvx£c  otsxeXeucivxo  dvSdTTxeodat  xwv  TrpaY- 
[xdxwv,  womit  übereinstimmt,  Diod.  XIII,  42.  eoo^c  xöj  o-r][j.qj  xöv  dvopa  xcwv 
eY"/-)-Tj|j.7.x(uv  ä-oXiJoat  xai  [AsxaSoiivai  xtj;  oxpaxYjY^'^C  Lys.  pro  bon.  Aristoph. 
52.  Corn.  Nep.  Alcib.  5.  Die  erste  förmliche  in  Athen  vorgenommene 
Wahl  des  Alkibiades  zum  Feldherrn  scheint  die  von  Xenophon.  Hell.  I,  4, 
lü  erwähnte  zu  sein,  worauf  der  Beisatz  'AXxißidorjv  p.£v  cfeuYovxa  hindeutet. 

2)  Diodor.  XIII,  52.  53.  Die  von  Sparta  gebotenen  Bedingungen 
machten  freilich  eine  Herstellung  der  athenischen  Herrschaft  unmöglich,  da 
es  wollte,  dass  alle  Städte  der  Macht  bleiben  sollten  in  deren  Besitze  sie 
damals  waren.      Darum  darf  man   den   Widerstand,     den   Kleophon    dem 


120  Alkibiades  und  Lysakdros. 

andern  wieder  und  wusste,  theils  durch  Einrichtung  einer  Zoll- 
stätte bei  Chrysopolis  \i  ,  theils  durch  Contributionen  uiid 
Streifzüge  im  Lande  des  Phamabazos,  sich  die  Mittel  zur  Er- 
haltung seiner  Streitkräfte  zu  verschaffen.  Dann  schlug  er  den 
Pharnabazos  und  die  Peloponnesier  bei  Abydos,  machte  durch 
Vertrag  C'halkedon  wieder  tributpflichtig,  eroberte  Selybria  und 
das  feste  Byzanz.  Milde  gegen  die  Bezwungenen  und  gewis- 
senhafte Beobachtung  der  Verträge  gewannen  die  Herzen  der 
Bundesgenossen.  Am  Ende  des  Jahres  409  2|  war  der  ganze 
Hellespont,  die  Propontis  und  der  Bosporos  mit  Ausnahme  der 
Stadt  Abydos  in  den  Händen  der  Athener,  ihre  Herrschaft  in 
jenen  Gegenden  hergestellt  und  die  Seestrasse  in  den  Pontos 
ihrem  Handel  geöflnet. 

In  Alkibiades  aber  regte  sich  die  Sehnsucht  nach  der  Vater- 
stadt, die  er  seit  sieben  Jahren  nicht  mehr  gesehen  hatte.  Nach- 
dem er  alle  Vorkehrungen  getroffen  hatte  die  Eroberungen  zu 
behaiipten .  und  andere  abgefallene  Bundesgenossen  zum  Ge- 
horsam zurückzuführen,  wandte  er  sich  im  Frühling  408  end- 
lich der  Heimath  zu,  wo  seine  Siege  ihm  einen  günstigen  Em- 
pfang sichern  mussten.  Sein  Einlaufen  in  den  Peiraieus  im 
Monat  Juni   (25  Thargelion)   war  ein  wahrer  Triiimph^  ,   seine 


Frieden   entgegenstellte ,    ihm   nicht  zu  schwer  anrechnen ,    wenn   auch   die 
Verwerfung  im  HinbHck  auf  die  spätem  Ereignisse  als  ein  Unglück  erscheint. 
')    [Ueber  die  Zollstätte  in  Chrysopolis   vgl.  ausser  Xenophon  Hellen. 
I,   1,  22.  noch  Polyb.  IV,  44,  4.] 

2)  Raum  und  Zeit  gestatten  mir  nicht  in  eine  chronologische  Unter- 
suchung hier  einzutreten.  Ich  halte  aber  die  Annahme  von  Krüger  zu 
Clinton ,  auf  die  auch  ich  durch  eigene  Forschung  gekommen  bin ,  trotz 
manchen  entgegenstehenden  Nachrichten  für  richtig.  Die  Einnahme  von 
Byzanz  wird  also  in  das  Ende  des  Jahres  409  ,  des  Alkibiades  Rückkehr 
nach  Athen  in  den  Juni  408 ,  die  Absetzung  des  Alkibiades  in  das  Jahr 
407,  wahrscheinlich  im  Laufe  des  Sommers,  fallen.  Auch  die  neuesten 
Untersuchungen  von  Herbst  a.  a.  O.  50 — 61  haben  mich  nicht  eines  andern 
überzeugen  können:  da  er  die  Einnahme  von  Byzanz  auch  409,  die  R.ück- 
kehr  des  Alkibiades  407  setzt ,  so  möchte  ich  hier  bloss  fragen,  was  denn 
dann  Alkibiades  während  eines  ganzen  Jahres  gethan  hätte?  Hier  wäre 
wohl  der  Vorwurf  der  Unthätigkeit  begründet  gewesen.  In  den  AVorten 
Xenophons  I,  -5,  1.  -pÖTepov  to'jtoov  ou  ttoXXw  ypovu)  bezieht  sich  to'jtcmv  nach 
meiner  Meinung  nur  auf  das  in  den  §§.  21—23  Erzählte,  nicht  wie  Herbst 
erklärt,  auf  Alles  vom  §.  S  an. 

3)  Ueber  die  Rückkehr  des  Alkibiades  sind  die  Angaben    des  Xenoph. 


Alkibiades  und  Lysandros. 


121 


Trieren  prangten    mit.  Trophäen  aller  Art ,    waren   belastet  mit 
grossen  Geldsummen,  mit  mannigfaltiger  Beute  und  vielen  Ge- 


Hell.  I,  4,  8  ff.  Dioclor.  XIII,  68.  G9.  Plut.  Alcib.  32.  33.  34.  Athenaeus 
XII,  p.  535  c  ff.  im  Einzelnen  etwas  abweichend,  in  der  Hauptsache  stimmen 
sie  überein.  Die  200  eroberten  oder  zerstörten  feindlichen  Schiffe  sind  na- 
türlich als  runde  Zahl  zu  fassen.  Herbst  rechnet  a.  a.  0.  S.  56  nach,  dass 
die  Zahl  der  eroberten  Schiffe  mit  Abzug  der  wiederverlorenen  14  betrug. 
Zu  diesen  sind  aber  noch  die  zerstörten  zu  rechnen,  Avie  z.  IV  die  sämmt- 
lichen  20  syrakusischen,  welche  die  Mannschaft  nach  der  Schlacht  bei  Ky- 
zikos  in  Brand  steckte,  von  denen  aber  die  Athener  gewiss  auch  Ueberreste 
als  Siegeszeichen  mitnahmen.  Ueberdiess  möchte  ich  bezweifeln,  dass  jedes 
genommene  oder  zerstörte  feindliche  Schiff  uns  bekannt  sei.  [Grote  V,  p.  478 
behauptet ,  Alkibiades  sei  Mai  407  nach  Athen  gekommen ,  die  Eroberung 
von  Selybria,  Byzanz  und  Chalkedon  setzt  er  408,  Dec.  408  oder  Jan.  407 
kommt  Lysander  nach  Asien,  Kyros  bald  nachher  in  die  ionische  Provinz, 
cf.  Fritzsche  zu  Aristoi)h.  Frösche  1431.  Wagner,  de  Aristoph.  Ran.  spec. 
I,  p.  9.  Welcker  kl.  Sehr.  I,  p.  360.  Ueber  die  ganze  Zeitrechnung  hat 
Aemilius  H.  O.  Müller:  de  Xenophontis  Historiae  graecae  parte  priore  1856 
gehandelt.  Hauptresultat  ist,  daas  das  erste  Capitel  nicht,  wie  Haake 
meinte,  blos  ein  halbes  Jahr,  sondern  die  zweite  Hälfe  des  21.  Kriegsjahres 
und  das  ganze  22.   enthalte. 

Danach  ergeben  sich  folgende  Resultate  : 


Krieg sj  ah re 

XXI 

411  Octob. 

Nov. 

XXII 

Anfang     etwa 
17.  März   410 

Mai? 

Aug.  ? 

Febr.  409? 

XXIII 

c.  5.  Apr.   409 
c.  20.  Juni 
Herbst 

Winter  409/8 

XXIV 

c.  25.  März  408 
Herbst 


Agesandridas  Flotte  schiffbrüchig. 
Schlacht   bei  Abydos.     Thrasyllos   in 
Athen. 

Tissaphernes    am    Hellespont    nimmt 

Alkibiades  gefangen  (?) 
Schlacht  bei  Kyzikos. 
(Euripos  überbrückt.) 
Pasippidas  abgesetzt.    Agis  vor  Athen 

von  Thrasyllos  geschlagen. 

Thrasyllos  geht  nach  lonien  und  wird 

bei  Ephesos  geschlagen. 
Thrasyllos  am  Hellespont. 
Sieg  der  Athener  über  Pharnabazos. 
Pylos  V.  d.  Lakedämoniern  genommen. 

Sieg  der  Athener  bei  Chalkedon. 
Belagerung  von  Byzanz. 


Jahr  des  Theopom- 
pos.  (Ol.  92,  2) 
Anfang  um  24. 
Juni  411. 


Glaukippos   Ol.  92, 
3  etwa  13.  Juli  4 10. 


Diokles.    Ol.  92,  4. 
etwa   2.  Juli  409. 


Euktemon.Ol.  93,1. 
etwa  21.  Juni  408. 


122 


Ax,KIBIADES    UND    LySANDROS. 


fangenen.  Ihr  schönster  Schnnick  aber  waren  die  Insignien 
von  nah  an  zweihundert  eroberten  oder  zerstörten  feindlichen 
Schiffen.  Zahllose  Aolksmassen  bedeckten  das  Ufer,  wie  einst, 
da  er  als  Feldherr  die  Stadt  verliess  um  Sicilien  zu  erobern. 
Jedermann  wollte  den  Retter  sehen.  Noch  aber  Avar  das  Ver- 
trauen auf  seine  Mitbürger  bei  Alkibiades  nicht  ganz  zurück- 
gekehrt. Vom  Verdecke  aus  spähte  er  so  lange  nach  dem 
Ufer,  bis  er  seinen  Vetter  Euryptolemos  und  seine  übrigen 
Bekannten  erblickte.  Jetzt  erst  betrat  er  das  Land  und  zog 
unter  dem  Jubel  der  Men^e.   von  Kränzen  bedeckt,   zur  Stadt 


Kriegs]  ahre 

XXV 
etwa    13.  März 

407? 


Mai 

c.  27.  Sept. 
Octob. 
4U6  Febr. 
etwa  4.  März 


XXVI 

c.  2.  Apr.   406 
c.  20.  Juli 

c.   15.  Sept. 
c.  25.   Sept. 

c.    13.   Oct.  (?) 

XXVII 
c.  22.  März 
405  Aug.? 

Oct. 

404  Jan. 

c.  15.  Apr. 

c.  22.  Apr. 
Sommer 
October 


Alkibiades  erobert  Byzanz. 

Alkibiades ,  Thrasybulos ,  Konon  an 
den  Archhäresien  gewählt.  Pharna- 
bazos  trifft  mit  den  athenischen  Ge- 
sandten in  Phrygien  den  Kyros.  — 
Lysandros  Nauarch. 

Alkibiades  Rückkehr  nach  Athen. 

Mysterienfeier  durch  Alkibiades. 

Alkibiades  in  Andros,  dann  in  Samos. 

x\ntiocbos  vor  Ephesos  geschlagen. 

Thrasyllos,  Erasinides  u.  s.  w.  an  den 
Archhäresien  gewählt.  —  Alkibiades 
verlässt  das  Heer. 

Kallikratidas  Nauarch. 

Kallikratidas  erobert  Methymna.    Sieg 

über  Konon. 
Arginusenschlacht. 
Die   Feldherrn    abgesetzt.     Philokles, 

Adeimantos,  Collegen  des  Konon. 
An  den  Apaturien  die  Feldherrn  ver- 

urtheilt  (??). 

Lysandi'os  im  Frühling  wieder  Admiral. 
Schlacht  bei  Aigospotamoi.  — 
Athen  belagert. 

Theramenes  an  Lysandros  geschickt. 
Die    athenischen    Gesandten    erhalten 

Frieden. 
Uebergabe  Athens. 
Die  30  eingesetzt. 
Lysandros  kehrt  nach  der  Eroberung 

von  Samos  nach  Sparta  zurück.] 


Antigenes  Ol.  93,  2. 
10.  Juli  407. 


KalUas  Ol.  93,  3, 
c.  29.  Juni  406. 


Alexias 
c.   18. 


Ol.    93,    4. 
Juni  405. 


Alkibl\des  und  Lysaxdros.  123 

hinauf.  In  einer  VolksversammlunäJ^  rechtfertigte  er  sich  gegen 
alle  früheren  Beschuldigungen,  beklagte  sein  Missgeschick  und 
schob  in  versöhnlicher  Weise  die  Schuld  mehr  auf  einen  nei- 
dischen Dämon .  als  auf  das  Volk.  Dann  zeigte  er,  dass  bei 
besonnenem  Betragen  Hoffnung  zu  siegreicher  Beendigung  des 
Krieges  da  sei,  und  mahnte  zu  Zuversicht  und  Ausdauer. 
Ungeheuer  war  die  Wirkung  der  Worte  des  siegreichen  Feld- 
herrn .  um  so  grösser ,  als  das  "S'olk  fühlte  ihm  Unrecht  ge- 
than  zu  haben  und  nur  durch  ihn  allein  gerettet  zu  sein.  Was 
er  gefehlt,  war  in  diesem  Augenblick  vergessen.  Mit  goldenen 
Kränzen  wurde  er  geschmückt  und  zum  unumschränkten  Feld- 
herrn zu  Wasser  und  Land  ernannt.  Es  wmde  beschlossen 
ihm  sein  confiscirtes  Vermögen  wieder  zurückzugeben  \)  und 
die  Priester  aufgefordert  die  über  ihn  ausgesprochenen  Flüche 
zurückzunehmen.  Kurz  Alkibiades  stand  auf  dem  Gipfel  der 
Macht,  die  Gunst,  die  er  beim  Volke  genoss,  schien  fester 
als  je,  sein  Wille  war  dem  eines  unumschränkten  Herrschers 
gleich  und  Manche  meinten  er  werde  die  Tyrannis  ergreifen.. 
Er  aber  that  keinen  ungesetzlichen  Schritt.  Mit  Eifer  rüstete 
er  eine  zahlreiche  Kriegsmacht  aus  und  blieb  mit  Absicht  bis 
in  den  September  in  Athen,  um  seinen  Landsleuten  ein  lang 
entbehrtes  Fest  zu  bereiten.  Seit  der  Befestigung  von  Dekeleia 
war  die  Feier  der  eleusinischen  Mysterien  nur  mangelhaft  mög- 
lich gewesen.  Die  Anwesenheit  eines  peloponnesischen  Heeres 
hatte  die  grosse  Procession,  die  sonst  auf  der  heiligen  Strasse 
zu  Lande  von  Athen  nach  Eleusis  zog,  unmöglich  gemacht, 
und  mau  pflegte  zu  Schiffe  sich  dorthin  zu  begeben.  Jetzt 
stellte  Alkibiades  die  nöthigen  Posten  aus,  und  begleitete  mit 
glänzend  ausgerüstetem  Heere  die  Procession  nach  Eleusis  und 
zurück.  König  Agis  Avagte  nicht  sie  zu  beunruhigen.  Die 
kriegerische  Begleitung  in  feierlicher  Stille  erhöhte  den  Glanz ; 
die  Göttinnen,  an  welchen  einst  Alkibiades  sich  versündigt 
haben   sollte,    schienen   versöhnt,    das    athenische  Heer  unter 


1)  [Ueber  die  Art  der  Restitution  Meier  de  bonis  damnatorum  p.  231. 
Sic  Alcibiadi  reverso  magnisque  plausihiis  a  popitlo  de  rebus  gestis  ipsi  f/ra- 
tulante  excej)io  bona  restituta  esse  plerique  (Plut.  Alcib.  33.  Diod.  XIII,  69) 
tradunt,  ipse  aiifem  Alcibiadis  ßlius  cui  et  ipsi  Alcibiadis  nomen  erat,  agrwn 
quendatn  a  populi  patri  pro  jmblicatis  bonis  datum  dicit  esse.    (Isoer.  de  big. 


124  Alkibiades  und  Lysa^'dros. 

seiner  Führung  auch  zu  Lande,  gegenüber  einem  spartanischen 
Könige,  unangreifliar.  Die  Eückkehr  von  Eleusis  mag  wohl 
der  schönste  Moment  im  Lehen  des  Alkibiades  gewesen  sein. 
Unter  solchen  Eindrücken  verliess  er  im  Herbst  ^j ,  viel- 
leicht später  als  gut.  mit  einer  Flotte  von  100  Schiffen  die 
Stadt.  Er  sollte  sie  nie  mehr  sehen.  Sein  Glück,  und  mit 
ihm  das  von  Athen,  sank  in  raschem  Wechsel  dahin.  Auf 
ängstliche  Gemüther  hatte  es  bereits  einen  üblen  Eindruck 
gemacht,  dass  sein  Einlaufen  in  den  Peiraieus  an  dem  Tage 
des  Plynterienfestes  stattgefunden  hatte .  einem  Tage .  wo  das 
Bild  der  Stadtgöttin  Athene  verhüllt  war,  und  niemand  ein 
wichtiges  Geschäft  vorzunehmen  pflegte;  es  hatte  sie  beun- 
ruhigt, dass  der  Hierophant  Theodoros  sich  weigerte  den  aus- 
gesprochenen Fluch  zurückzunehmen.  Gefährlicher  als  diess 
waren  ihm  bald  die  erneuten  Umtriebe  seiner  politischen  Gegner, 
meist  Oligarchen.  welche  durch  seinen  Ruhm  und  seine  Macht 
sich  verdunkelt  und  zur  ]3edeutungslosigkeit  veiairtheilt  sahen. 
Sein  gefährlichster  Feind  AVTirde  aber  sein  grosser  Ruhm.  2) 
Ihm ,  meinte  das  leichtbewegliche  athenische  Volk ,  sei  Alles 
möglich,  und  wo  der  Erfolg  nicht  den  ungemessensten  Hoff- 
nungen entsprach,  suchte  man  die  Schuld  bei  ihm.  Als  er 
daher  zuerst  die  Bewohner  von  Andros .  welche  abgefallen 
waren,  ausserhalb  der  Mauern  schlug,  aber  die  Stadt  nicht 
gleich  eroberte .  stimmte  die  Nachricht  davon  in  Athen  sein 
Ansehen  bereits  herab  und  wiirde  von  den  Gegnern  geschäftig 
zu  seinem  Nachtheil  ausgebeutet.  Noch  weniger  entsprach 
der  Erfolg  in  Asien  den  Erwartungeii.  Nachdem  nämlich  der 
Hellespont  und  die  Propontis  den  Gegnern  entrissen  waren, 
wurde  lonien  wieder  der  Hauptschauplatz  des  Kriegs.  Samos 
war  hier  der  Operationspunkt  der  Athener.  In  Ephesos  war 
das   Hauptquartier    der   peloponnesisch- persischen  Macht,    die 


')  Schon  Clinton  fast.  hell,  zum  Jahr  4ü7  hat  gezeigt,  dass  die  Worte 
bei  Xenoph.  I,  4,  21  [it-a  töv  y.a-d-ko'rj  toiti;)  [j-TjvI  rX-nf/yS-r^  im  ^A'iderspruche 
mit  Xenophons  Erzählung  gelbst  sind,  der  ihn  am  2.5.  Thargelion  einlaufen 
und  bei  der  lakchosprocession  also  am  20.  und  21.  Boedromion  noch  in 
Athen  verweilen  und  erst  dann  sich  für  die  Abfahrt  rüsten  lässt.  Es  ist 
statt  -rpiTuj  ohne  Zweifel  -reTapTw  zu  lesen. 

2)  Darauf  weisen  bereits  Cornel.  Nep.  vit.  Ale.  7.  Plut.  Alcib.  3.5  ohne 
Zweifel  aus  der  nämlichen  Quelle,  wahrscheinlich  Ephoros,  schöpfend  hin. 


Alkibiades  und  Lysaxdros.  125 

sich  von  den  früheren  ^'erlusten  durch  zwei  neu  auf  den 
Schauplatz  tretende  Männer,  Kyros  und  Lysandros,  zu  erholen 
begann.  Gegenüber  den  neunzig  wohlgerüsteten  und  wohl- 
besoldeten Schiffen  tlieses  letztem  musste  Vorsicht  beobachtet 
werden,  und  es  kann  nicht  befremden,  dass  der  Winter  ohne 
grossere  Thaten  unter  Zurüstungen  für  den  Frühling  verlief. 
Als  nun  aber,  (wie  es  scheint  im  Sommer  407;  'j,  in  Alkibiades 
Abwesenheit  imd  gegen  seinen  bestimmten  liefehl  sein  Steuer- 
mann Antiochos  sich  in  ein  Gefecht  mit  Lysandros  einliess 
und  eine  Schlappe  erlitt,  war  der  Sturz  des  erstem  entschie- 
den. Der  Verlust  an  und  für  sich  Avar  ganz  unbedeutend,  die 
Athener  blieben  zur  See  fortwährend  überlegen ;  denn  vim- 
sonst  bot  Alkibiades  dem  Lysandros  vor  Ephesos  eine  Schlacht 
an;  dieser  hütete  sich  wohl  sich  durch  falsches  Ehrgefühl  hin- 
reissen  zu  lassen,  er  hielt  sich  still  im  sichern  Hafen.  Die 
Athener  aber  gaben  den  Auflietzungen  der  Feinde  des  Alkibiades 
nur  zu  leicht  Gehör,  sie  setzten  ihn  ab  und  wählten  an  seine 
Stelle  neue  Feldherm.  ^ 

Hatte  in  dem  Hermokopidenprocess  das  Verfahren  der 
Athener  sich  wenigstens  einigermassen  entschuldigen  lassen, 
so  war  es  diesmal  so  verkehrt  als  ungerecht  und  ohne  alle 
Entschuldigung.  Der  Unfall  war,  wie  gesagt,  ganz  unbedeu- 
tend und  Alkibiades  trug  keine  Schuld  daran.  ^)    Das  Schwerste 


1',  Kallikratidas  folgt  dem  Lysandros  im  Flotlenbefehl  im  Herbst; 
einige  Zeit  vor  ihm  scheinen  die  zehn  Feldherrn  ihr  Amt  angetreten  zu 
haben.  Demnach  wird  die  Schlacht  bei  Notion  wohl  in  den  Anfang  des 
Sommers  407  zu  setzen  sein,  da  zwischen  derselben  und  der  Ankunft  der 
zehn  Feldherrn  noch  einige  Zeit  verging,  was  sich  besonders  aus  Plut. 
Ale.  36  ergiebt. 

-j  [Auf  diese  Absetzung  und  nicht  auf  die  Abberufung  aus  Sicilien 
beziehen  sich  die  Worte  des  Thukyd.  VI,  15:  cjo^t^^sv-;;  y*P  ci'jtoü  oi 
TzoKKrA  t6  [i-ife^oz  "^i  X£  xa~a  t6  sa'jxoü  oü)(j.a  ~apavo[Jiia;  i^  ttjv  öicttxav,  -/at 
TTJ;  oioivotac  oJv  ^aft'  £V  e-iCasTov ,  ev  otw  f^Y^'oi'O  >  s-rpauoev ,  (b;  T'jpavviöoc 
dn&'jpiciüVTi  7:oXe[Aioi  xa&£3Taaav,  7.ai  or^ii-oaia  xpaTtaxa  oict&svTt  xd  xoü  TtoXspiou, 
ioia  i-Aac-rji  zolc,  £-txTjoeu[xaaiv  aüxoü  äyftsa&evxe;,  xai  a/.Xoi;  s-ixpä'iiavxe; ,  ou 
oid  (jL7.7.poö  l'ücprjXav  x-r^v  -oXtv.  Aem.  H.  O.  Müller:  de  Xenoph.  Histor. 
graecae  parte  priore  S.  39  sucht  zu  zeigen,  dass  Alkibiades  nicht  abgesetzt 
worden  sei ,  sondern  dass  nur  bei  den  regelmässigen  Archhaeresien  andre 
Feldherrn  gewählt  worden  seien,  seine  Feldherrnschaft  also  noch  bis  Ende 
des  Amtsjahres  lief.] 

3)  Die  bei  verschiedenen  alten  Schriftstellern  erwähnten  Vorwürfe,  die 


126  Alkibiades  und  Lysandros. 

was  man  iliin  vorwerfen  konnte,  war,  einem  eiteln,  unbedeu- 
tenden Mann,  wie  Antiochos,  den  Oberbefehl  während  seiner 
Abwesenheit  anvertraut  zu  haben,  bei  seinen  bestimmt  und 
klar  ausgesprochenen  Instruktionen  musste  er  das  aber  für  ge- 
fahrlos halten.  Jedenfalls  war  er  fähig  den  erlittenen  Nach- 
theil bald  wieder  gut  zumachen  und  allein  dem  furchtbaren 
Gegner  Lysandros  gewachsen. 

K.uhig  verliess  Alkibiades  die  Flotte  und  zog  sich  nach 
seinem  Schlosse  auf  dem  thrakischen  Chersonese  zurück.  Ohne 
Eachegefühl  gegen  seine  bethörten  Mitbürger  lebte  er  hier 
fern  von  dem  politischen  Treiben  der  Heimath;  einem  unab- 
hängigen kleinen  Fürsten  gleich  führte  er  mit  den  wilden 
Stämmen   der   benachbarten    Thraker   Kriege    und    wurde    den 


man  dem  Alkibiades  machte ,  sind  alle  höchst  unbedeutend  und  konnten 
ihm  ebenso  gut  früher  gemacht  werden,  wo  man  ihn  vergötterte.  Sein 
Umgang  mit  Hetaeren  und  dergl.  konnte  nach  den  Begriffen  jener  Zeit 
keinen  hinlänglichen  Grund  zu  Klagen  geben,  sobald  er  sich  dadurch  von 
der  Erfüllung  seiner  Feldherrnpflicht  nicht  abhalten  Hess ,  was  durchaus 
unerwiesen  ist.  Die  Klage  hinsichtlich  Kyme,  welche  Diodor  XIII,  73 
erwähnt  und  Corn.  ISTep.  Ale.  7  ziemlich  abweichend  erzählt ,  wäre  aller- 
dings, wenn  ganz  constatirt,  bedeutender.  Allein  ähnliche  Erpressungen 
auch  bei  befreundeten  Städten  kamen  doch  im  Drange  des  Kriegs  oft  vor, 
und  wäre  die  Sache  in  der  That  so  bedeutend  gewesen ,  so  würde  gewiss 
bei  Xeuophon  und  gar  bei  dem  ihm  so  sehr  übel  wollenden  Lysias  der- 
selben Erwähnung  gethan  sein.  [Grote  hist.  of  Gr.  V,  pg.  4S7  Anm.  1 
hält  die  ganze  Geschichte  des  Diodor  hinsichtlich  Kyme  für  glaubwürdig, 
indem  er  sie  auf  Ephoros  zurückführt.  Diesen  halte  ich  auch  für  die 
Quelle,  aber  gerade  deshalb  die  Sache  für  übertrieben,  da  der  Kymaeer 
natürlich  alle  Schuld  auf  Alkibiades  schob.]  Auffallend  ist  aber,  dass  er 
damals  beim  Heere  nicht  mehr  Anhänglichkeit  gefunden  hat.  Vgl.  Xen. 
Hell.  I,  5,  17.  'A/.y-i,jLaoTj;  (j.£v  oüv  -o^TjOtu;  y-ott  bi  Tr^  Q-po.-ii.  cp£pp!j|j.£vo? 
ä-£-/.£'j3£v.  Es  scheint,  dass  theils  der  höhere  Sold,  den  Lysandros  durch 
die  Unterstützung  des  Kjtos  zu  zahlen  vermochte,  theils  die  Umtriebe 
seiner  Gegner  ihm  beim  Heere  geschadet  hatten.  Wie  die  Verständigen 
und  vaterländisch  Gesinnten  in  Athen  urtheilten,  zeigen  die  Frösche  des 
Aristophanes.  Sonderbar  ist  übrigens,  wie  Hand  in  der  Hall.  Encyclopädie 
sagt :  »er  musste  sich  der  Feldhermwürde  entsetzt  halten.«  Er  war  es  in 
der  That.  Xen.  Hell.  I,  5,  Iti.  Diod.  XIH,  74.  Plutarch  Alcib.  36. 
Plut.  Lys.  5:  tov  A?.v.t|3iaoY)v  6  [xev  dv  aorei  o'?ifJi.o;  öpYt^&Ei?  är£y_£tpoT6-;7)a£V. 
Corn.  Nep.  7.  Die  vollkommen  unwahren  Verläumdungen  des  Lysias  in  der 
Rede  gegen  Alkibiades  hinsichtlich  seines  Benehmens  bei  Aigospotaraos 
habe  ich  natürlich  gar  nicht  berücksichtigt. 


Alkibiades  und  Lysandros.  127 

umwohnenden  Griechen  ein  Schutz  und  Hort.  Und  als  nach 
zAvei  Jahren  der  Krieg  sich  wieder  in  den  Hellespont  zog,  und 
die  athenische  Flotte  unter  theils  verrätherischen ,  theils  un- 
fähigen Befehlshabern  in  der  Nähe  seiner  Besitzungen  am 
ZiegenÜuss  eine  schlechte  Stellung  genommen  hatte ,  da  trieb 
ihn  die  Liebe  zur  Vaterstadt  sie  zu  warnen.  Er  ritt  in  das 
Lager  hinatis ,  zeigte  den  Feldherrn  das  Nachtheilige  ihrer 
Stellung  und  bat  sie  bei  der  Stadt  Sestos  vor  Anker  zu  gehen. 
Er  beabsichtigte  mit  Hülfe  seiner  Leute  den  Athenern  den 
Sieg  zu  verschaffen.  Aber  schnöde  schickten  ihn  die  Feldherrn 
weg;  sie  hätten  zu  befehlen,  nicht  er.  Es  war  ihm  nicht  ver- 
gönnt noch  einmal  das  \'aterland  zu  retten.  Traurig  entfernte 
er  sich.  Nach  Avenigen  Tagen  war  die  Flotte  vernichtet  und 
Athen  musste  sich  den  Feinden  ergeben. 

Jetzt  war  auch  Alkibiades  im  (Jhersones  nicht  mehr  sicher; 
er  ging  hinüber  nach  Bithynien,  und  wollte  zum  Könige  Arta- 
xerxes  reisen  um  dort  Hülfe  gegen  Sparta  zu  suchen.  Aber 
vorher  ereilte  ihn  die  iiache  seiner  unversöhnlichen  Feinde, 
der  athenischen  Oligarchen,  die  in  den  Dreissigen  zur  Herr- 
schaft gelangt  waren.  So  lange  er  lebte,  schien  in  Athen  die 
Oligarchie  nicht  gesichert,  wie  ein  Gespenst  ängstigte  er  sie, 
sie  verfolgten  ihn,  wie  später  die  Körner  den  Ilannibal.  So 
lagen  sie,  vor  allen  Kritias,  dem  Lysandros  an,  ilin  aus  dem 
Wege  zu  schaffen.  Erst  als  von  Sparta  Befehl  dazu  kam,  gab 
dieser  nach.  Der  persische  Satrap  Pharnabazos  erniedrigte  sich 
zum  Schergen  Spartas.  Sein  Bruder  und  Oheim  überfielen  in 
einem  phrygischen  Dorfe  bei  Nacht  das  Haus,  in  welchem  der 
Flüchtling  weilte,  zündeten  es  an  und  als  er,  aus  dem  Schlafe 
aufgeschreckt,  hinausstürzte,  wurde  er  aus  der  Ferne  mit 
Pfeilen  und  Wiirfspiessen  erschossen.  Seine  Gefährtin  Ti- 
mandra,  nach  andern  Theodote ,  that  ihm  die  letzte  Ehre  der 
Bestattung  an.  'j  So  endete  einsam  und  verlassen  der  Mann, 
dessen  Jugend  glänzender  als  die  irgend  eines  Hellenen  ge- 
wesen war,  der  viele  Jahre  lang  Griechenlands  Geschicke  ge- 
leitet und  erschüttert  hatte.     Grosse  Fehler   hat   er  begangen, 


1)  lieber  seinen  Tod  weichen  die  Nachrichten  in  Einzehiheiten  von 
einander  ab,  vergl.  Plutarch  Ale.  .'iS.  39.  Xep.  Ale.  9.  10.  Diodor  XIV, 
11.     Athenaeus  XIII,  p.  574,  d.  e.  f.  Justin.  V,  8,   12.  13. 


128  Alkibiades  und  Lysandros. 

wer  möchte  das  läiigneii;  er  hat  sich  schwer  versündigt  an 
seiner  Vaterstadt ,  aber  dennoch  möchten  wir  ihn  nicht ,  wie 
so  oft  geschieht,  unbedingt  verdammen.  Eine  wTinderbare 
Mischung  von  Gutem  und  Schlechtem  tritt  uns  in  ihm  ent- 
gegen und  zieht  wie  einst  den  Sokrates,  so  noch  jetzt  den, 
der  ihn  betrachtet,  unwiderstehlich  an.  Er  gehört  zu  jenen 
hie  und  da  in  der  Geschichte  auftretenden  dämonischen  We- 
sen, welche  die  herrlichsten  Eigenschaften  mit  einer  unbezwing- 
baren HeiTSchsucht  verbinden,  denen  nur  die  nöthige  Be- 
sonnenheit fehlt,  um  das  Grösste  und  Schönste  zu  vollbringen. 
Nicht  kleine  Schuld  an  seinen  Verirrungen  tragen  die  ^  er- 
hältnisse  und  trägt  Athen.  Nachdem  es  den  Löwen  gross  ge- 
zogen, durfte  es  nicht  ihn  plötzlich  von  sich  stossen.  Und 
seine  Sünden  hat  er  gebüsst,  sein  Unglück  hat  ihn  zur  Be- 
sonnenheit gebracht,  der  spätere  Theil  seiner  politischen  Lauf- 
bahn war  gross  und  tadellos.  Gleich  dem  Helden  der  Tragödie, 
der  trotz  seiner  Schuld  unser  ganzes  Interesse ,  unser  Mitleid 
in  Anspruch  nimmt,  sühnt  auch  er  durch  seine  letzten  Schick- 
sale die  früheren  Frevel. 

Einen  schroffen  Gegensatz  bildet,  trotz  vieler  Aehnlich- 
keiten,  der  zweite  Charakter,  der  Griechenlands  Geschicke  in 
jener  Zeit  bestimmt,  der  glücklichere  Gegner  des  Alkibiades, 
Lysandros.  ij  Konnten  -sWr  des  Alkibiades  Entwicklung  von 
der  Wiege  an  verfolgen,  so  tritt  er  dagegen  aus  dem  Dunkel 
auf  einmal  als  gereifter  Mann,  als  spartanischer  Flottenbefehls- 
haber  auf.  Nur  so  viel  wissen  wir,  dass  sein  Vater  Aristo- 
kritos"-j  von  heraklidischem  Stamm  war,  ohne  jedoch  dem 
königlichen  Geschlechte  anzugehören.  Seine  Mutter  dagegen 
scheint  geringer  Herkunft  gewesen   zu  sein .    da    er   ein  [ioöa? 


1)  [lieber  Lysandros  jetzt  Otto  Henr.  Imm.  Nitzsch :  de  Lysandro  Lace- 
daemoniorurn  imperatore  dissertatio.  Bonnae  1S47  eine  ziemlich  vollständige 
Darstellung,  aber  ohne  neue  Resultate,  in  den  meisten  Hauptpunkten  mit 
mir  zusammentreffend,  ohne  meine  Arbeit  zu  nennen,  lieber  Lysandros 
Geburt  stimmt  Nitzsch  pg.  9  im  Ganzen  mit  mir  überein.  Als  Zeit  der 
Geburt  bestimmt  er  p.  10  einige  Jahre  vor  Ol.  84,  4,  dem  Geburtsjahre 
des  Agesilaos,  der  als  sein  Liebling  einige  Jahre  jünger  gewesen  sein  muss. 
Hermann  Stedefeldt  de  Lysandri  Plutarchei  fontibus.  Bonn  1867.1 

-)  Dass  der  Vater  des  Lysandros  Aristokritos  und  nicht,  wie  Plutarch 
wenigstens  nach  dem  jetzigen  Text  ihn  nennt,  Aristokleitos  hiess,  beweisen 


Alkibiades  und  Lysandros.  129 

genannt  wird.  ^]  So  viel  steht  sicher,  er  befand  sich  in  seiner 
Jngend  in  einer  niedrigen  Stelhmg,  genoss  aber  die  lykurgische 
Erziehung.  Beides  war  von  wichtigen  Folgen.  Er  gewöhnte 
sich,  wenn  irgend  einer,  an  eine  strenge  Lebensart  und  lernte 
alle  Leidenschaften  bemeistem  bis  auf  eine  einzige,  welche  die 
lykurgische  Erziehung  nicht  unterdrückte,  vielmehr  pflegte  \ind 
entwickelte.  Ein  unbändiger  Ehrgeiz  bemächtigte  sich  früh 
seiner,  der  um  so  gefährlicher  wurde,  je  weniger  die  äusseren 
Verhältnisse  ihm  günstig  schienen.  Zugleich  lernte  er,  wie 
wenige  Spartiaten.  sich  den  Mächtigen  gefällig  erzeigen,  auch 
Avenn  er  sie  hasste  und  verachtete ,  weil  sie  ihm  zu  seinen 
Zwecken  nothwendig  waren.  Auf  der  andern  Seite  aber  er- 
zexigte  seine  Stellung  bei  ihm  einen  tiefen  Hass  gegen  das 
Bestehende,  er  fühlte  in  sich  Kraft  und  'S'erdienste,  die  er  bei 
Höherstehenden,  bei  den  Königen  selbst  vermisste,  daher  seine 
revolutionäre  Tendenz .  2) 

Als  nun  nach  den  glänzenden  Siegen  des  Alkibiades  die 
Spartaner  einen  tüchtigen  Feldherrn  mehr  als  je  bedurften, 
da  erhoben  sie  den  bisher  nie  genannten  Lysandros  zum  Nau- 
archen,  welche  Würde,  abgesehen  von  der  blos  einjährigen 
Dauer,    an  Macht    fast   über   der   königlichen    stand.     Und  da 


Inschriften.     Vgl.  Eöckh  im  C.  I.  G.  p.  86  und  die  Inschriften  150.  151. 
152.     C.  Keil  Analecta  Epigr.  et  Onomat.  p.  61. 

1)  Plutarch.  Lysand.  2.  Aelian.  v.  h.  XII,  43.  Phylarch.  bei  Athen. 
VI,  p.  271  e  f.  Höchst  wahrscheinlich  war  die  Mutter  des  Lysandros  eine 
Helotin  und  er  von  dem  Vater  als  ajvTf/0'i;o;  des  Libys,  seines  Halbbruders, 
erzogen  und  von  Aristokritos  adoptirt  worden.  Müller  Dorier  II,  S.  40, 
C.  F.  Herman  Antiqu.  Lac.  p.  132.  133,  welcher  die  von  Sievers  Gesch. 
Griechenlands  vom  Ende  des  pel.  Kriegs  S.  29  erhobenen  Zweifel  wider- 
legt. Wenn  Böckh  im  Corp.  Inscr.  p.  86  die  Nachrichten,  dass  Lysandros 
von  Herakleidischem  Geschlecht  und  dass  er  Mothax  gewesen,  so  vereinigen 
wollte,  dass  er  wegen  seiner  Verdienste  in  die  hylleische  Phyle  aufgenommen 
worden  sei,  so  hat  er  dabei  übersehen,  dass  nicht  erst  er,  sondern  bereits 
sein  Vater  dem  Geschlechte  der  Herakleiden  beigezählt  wird,  von  dessen 
Verdiensten  sonst  nichts  bekannt  ist.  Man  vergl.  auch  K.  H.  Lachmann 
die  spartan.   Staatsverf.  S.  295  und  Schömann  antiq.  p.   112. 

2)  lieber   Lysandros    handelt   im    Ganzen   sehr    gut    Sievers    a.    a     O 
S.  28  ff.     Vgl.  K.  H.  Lachmann  a.  a.  O.   S.  290.     Wenn  ich  ihm  vorzugs- 
weise eine  revolutionäre  Tendenz  zuschreibe ,    so    denke   ich   damit  keines- 
wegs nur   an   seine  Pläne   in  Sparta ,    sondern   auch   an  sein  oligarchisches 
Umwälzungssystem  in  den  übrigen  griechischen  Staaten. 

Vi  scher,  Schriften  I.  9 


130  AlKIBIADES  TIN'D  Lysakdros. 

tritt  er  uns  gleich  mit  vollkommen  ausgebildetem  Charakter 
entgegen .  scharf  ausgeprägt  wie  Wenige  und  doch  mit  einer 
merkwürdigen  Doppelseitigkeit.  Für  seine  Person  war  er  der 
altspartanischen  Sitte  treu ,  das  zeigte  schon  äusserlich  das 
herabwallende  Haupthaar  und  der  lange  Bart.  Er  war  sehr 
arbeitsam,  wachsam,  massig  und  keinen  Lüsten  ergeben,  und 
selbst  als  er  wie  ein  König  über  ganz  Griechenland  gebot, 
allen  Schwelgereien  feind ,  zu  denen  sich  in  den  eroberten 
Städten  Gelegenheit  genug  darbot.  ^  Was  ihm  aber  zu  noch 
grösserem  Ruhme  gereicht,  er  war  zu  jener  Zeit,  wo  Könige 
und  Feldherm  in  Sparta  den  Lockungen  des  Goldes  nicht  zu 
widerstehen  vermochten .  über  das  Laster  der  Habsucht  voll- 
ständig erhaben.  Nicht  allein  war  er  keiner  Bestechung  zu- 
gänglich, sondern  während  er  ^lillionen  nach  Sparta  brachte, 
blieb  er  aiin,  wie  sich  nach  seinem  Tode  zeigte.  Die  Freier, 
welche  in  Hoffnung  reicher  Erbschaft  um  seine  Töchter  ge- 
worben hatten,  traten  in  ihren  Erwartungen  getäuscht  zurück, 
wofür  sie  nach  spartanischem  Gesetz  bestraft  wurden.^  Mit 
eiserner  Festigkeit  und  unerschütterlicher  Charakterstärke  ver- 
folgte Lysandros ,  was  er  einmal  begonnen .  und  nichts  ver- 
mochte ihn  in  seinem  Gange  irre  zu  machen.    Zu  diesen  Eigen- 


I 


')  Theopomp.  bei  Athen.  XII,  p.  543  b.  ©io-oa-o;  os  iv  -f^  ItvAzr^ 
rSi'i  EX/,Tjviy.(I)v  TavavTia  '-p'/jil  repl  toü  A'Jia-^ooo'j,  oti  '^i/.6-ovo;  f,v  -/.al  t^epare'jitv 
O'jvafiEvo;  7.ai  lOicuTa;  v-al  ßastXei;,  stu'^ptuv  wv  xai  xwv  TjOrjvöiv  ärraocüv  7.p£iTTtt)V 
^evojAevo;  -^o^'/  tt,;  E/./äoo;  oyeoov  a-aor);  xOptoj  ev  o'jo£|xiä  cpav-fjae-ai  -ojv 
■jtoXeojv  o!jti  -pö;  Ta:  ä'^pooiiia;  TjOova;  6p(i.T;aac,  oÜte  ai^at;  y.ai  roxot;  dy.aioot; 
ypT)acEu.Evo;.  Ganz  übereinstimmend  Plutarch.  Lys.  2.  Und  es  lässt  sich 
keine  einzige  Thatsache  anführen ,  welche  auch  nur  von  ferne  damit  in 
AViderspruch  stände.  Athenaeus  1.  1.  sagt  nun  freilich  Dayiaviav  os  7.al 
A'j3avopov  j-l  Tp'j'f^  citajjOTiTO'j;  -{Vti'jii'j.i  'ysoov  ravTj;  t-TopoJ'Jt,  er  nennt 
aber  von  diesen  tj-.wi  -A-nt',  keinen,  führt  auch  kein  Beispiel  an,  er  der 
doch  mit  so  grossem  Behagen  jedem  ungewöhnlichen  Manne  seine  mensch- 
lichen SchM-achheiten  nachrechnet.  Die  Zusammenstellung  mit  Pausanias 
macht  mir  daher  wahrscheinlich,  dass  jene  z/tw»  -avTs;  mehr  das  Geschick 
des  Lysandros  sich  den  Sitten  der  Asiaten  und  asiatischen  Griechen  anzu- 
bequemen und  sein  despotisches  Wesen  im  Auge  hatten,  als  eigentliche 
SchAvelgerei. 

2,  Plut.  Lys.  2.  1(3.  17.  IS.  30.  vgl.  Xenoph.  Hell.  I,  .5,  6.  Dass  die 
bei  Plutarch  erhaltene  Erzählung  des  Anaxandridas  über  eine  kleine  in 
Delphi  niedergelegte  Summe ,  auch  wenn  sie  wahr  ist ,  dagegen  nicht  in 
Betracht  kommen  kann,  hat  Sievers  a.  a.  O.  S.  29  schon  bemerkt. 


Alkibiades  iTND  Lysandros.  131 

Schäften,  wie  sie  einen  Spartaner  der  schönsten  Zeit  geziert 
hätten,  treten  nun  aber  andere,  in  denen  Avir  das  Kind  seiner 
Zeit  in  ihrer  ganzen  Zerrissenheit  erkennen.  Gewandt,  schlau, 
ja  hinterlistig  und  treulos,  je  nach  Bedürfniss  schmiegsam  und 
stolz,  geleistete  Dienste  wie  Beleidigungen  nie  vergessend,  und 
rachsüchtig  bis  aufs  Aeusserste ,  wusste  er  alle  Mittel  anzu- 
wenden, jede  Gelegenheit  wahrzunehmen.  Wie  Wenige  ver- 
stand er  es  mit  den  Menschen  umzugehen,  durch  Dienst- 
leistungen und  freundliches  Wesen  Privatleute  und  Fürsten 
zu  gewinnen,  und,  was  schwerer,  ihr  Wohlwollen  und  ihre 
Gunst  zu  bewahren  und  im  rechten  Momente  zu  benutzen. 
Wie  er  aber  Freunde  und  Genossen  auf  jede  Weise  zu  fesseln 
wusste,  so  bekämpfte  er  rücksichtslos  seine  Feinde.  ^)  Da  galt 
ihm  jedes  Mittel  gleich.  Treue,  Glauben,  Gottesfurcht  und 
Heligiosität  waren  ihm  nur  leere  Worte,  die  ein  guter  Politiker 
schlau  benutzen  müsse  :  darum  meinte  er,  wie  Knaben  mit 
Würfeln,  so  müsse  man  Männer  mit  falschen  Eidschwüren  be- 
trügen, und  das  hat  er  nach  Kräften  gethan.  So  schwor  er, 
um  nur  ein  Beispiel  anzuführen ,  den  Demokraten  in  Milet, 
welche  sich  theils  verborgen  hielten ,  theils  zur  Fhicht  an- 
schickten, dass  ihnen  nichts  Böses  geschehen  solle.  Als  sie 
nun  aber  seinem  Eid  vertrauten,  überlieferte  er  mehrere  Hun- 
derte der  oligarchischen  Partei,   um  sie  zu  ermorden,  ^j    Aehn- 


1)  [Sehr  bezeichnend  ist  auch  die  von  Piut.  Apophth.  Reg.  et  Imp.  v. 
Auaavopci;  n.  3  p.  190  e  erzählte  Anekdote:  Trpo;  Se  'ApYsto'j;  ötxatoTepa  xiüv 
Aaxeoaifxoviwv  /.i-^etv  Tiept  ttj?  ä[J.tpi;ßTr)tO'j[A£>;ir];  •/^(upa;  oov.oüvxa;  aTiaaajj.evo; 
TYjv  [Aayaipav ,  6  TaoTTj;  e'cpY)  -/.paTcöv  ß-'XxiaTa  TTspl  ffji;  opoiv  iiaKi-fZTai.  cf. 
S.   142  A.  3.] 

~]  Diodor  XIII,  104.  Phitarch.  Lysand.  8.  19.  Apophthegm.  Lacon. 
pg.  229  e.  Polyaen.  I,  45,  1.  Nach  IJiodor  würde  das  Ereigniss  vor  die 
Schlacht  bei  Aigospotamoi  fallen.  Plutarch  im  c.  19  scheint  es  nach  der- 
selben zu  setzen ;  denn  trotz  der  abweichenden  Zahlen  ist  ohne  Zweifel  bei 
beiden  dasselbe  gemeint.  [Nitzsch  setzt  die  Metzeleien  in  Milet  bald,  nach- 
dem Lysander  seine  zweite  Oberbefehlshaberschaft  als  dTcioxoXeu;  angetreten 
hatte,  indem  Uiodor  die  Zeitfolge  beobachte ,  Plutarch  nicht.]  Aehnliche 
Treulosigkeit  hat  er  in  Thasos  gezeigt.  Polyaen.  I,  45,  4.  Nep.  Lys.  2 
[vgl.  über  die  Eroberung  von  lasos  Nitzsch  pg.  22.  23.  Er  will  auch  bei 
Polyaen.  I,  45,  4  statt  0aoiojv  und  Baatot;  lesen  'laaiwv  und  'laatot;,  ebenso 
bei  Xenophon  Hell.  I,  1,  32  Iv  'Ma^w  anstatt  iv  Bdacw  und  meint,  der  bei 
Xenophon  II,  1,  15  von  Kedreia  erzählte  Vorgang  sei  derselbe,  den  Diodor 
von  laaos   erzähle ,    indem   vielleicht  Kedreia  die  Burg  von  lasos  sei  oder 

9* 


132  Alkibiades  und  Lysandros. 

liches  hat  er  auch  anderwärts  oft  gethan.  Darum  hat  er  sich 
nicht  gescheut  den  Versuch  zu  machen  die  Orakel  zu  be- 
stechen ,  dies  freiUch  ohne  Erfolg.  Mit  kaltem  Bhite  opferte 
er  Tausende  hin,  ein  Hang  zur  Grausamkeit  tritt  offenbar  bei 
ihm  hervor  und  treibt  ihn  weiter,  als  seine  politischen  oder 
strategischen  Zwecke  forderten.  So  lässt  er  nach  Erobening 
der  asiatischen  Stadt  lasos  achthundert  Männer  morden;  nach 
dem  Siege  bei  Aigospotamoi  fallen  seiner  Rachsucht  dreitausend 
gefangene  Athener.  Musste  ihn  ein  solcher  Charakter  zum 
Politiker  in  einer  Avild  bewegten  Zeit  vor  vielen  Bessern  be- 
fähigen, so  verband  er  damit  ungewöhnliche  FeldheiTntalente. 
Lysandros  gehört  nicht  zu  den  glänzenden  FeldheiTngenien, 
er  hat  nie  einen  ausgezeichneten  Gegner  besiegt,  kaum  eine 
Schlacht  in  offenem  Kampfe  gewonnen,  aber  dennoch  hat  er 
den  peloponnesischen  Krieg  zvi  einem  siegreichen  Schlüsse  für 
Sparta  geführt,  und  diesen  Erfolg  nicht  dem  Ziifall  verdankt. 
Zweimal  hat  er  mächtige  Flotten  geschaffen ,  ausgerüstet  und 
trefflich  bemannt.  Er  hat  die  Mannschaft  derselben  durch  gute 
Yei'pflegung  und  Besoldung  stets  willig  und  schlagfertig  ge- 
halten, und  eine  Mannszucht  behauptet,  die  leider  den  demo- 
kratischen Athenern  unbekannt  war.  Sein  Talent  bestand  nicht 
sowohl  darin,  ungefähr  gleiche  Streitkräfte  durch  überlegene 
Taktik  zu  überwinden,  als  darin,  stets  gerüstet  und  wachsam 
zu  sein ,  jedes  Gefecht  zu  vermeiden .  wo  der  Erfolg  unsicher 
war,  rasch  den  Moment  zu  erlauschen ,  wo  der  Feind  schwä- 
cher oder  unvorbereitet  war,  da  über  ihn  herzufallen  und  ihn 
zu  überraschen.  Darum  hat  er  weislich  jedes  Ziisammentreffen 
mit  Alkibiades  vermieden,  darum  als  er  den  Flottenbefehl  an 
Kallikratidas  übergab ,    sich  durch  dessen  Spott  zu  keiner  un- 


vielleicht  die  Stadt  zwei  Namen  geführt  habe.  Das  ist  aber  falsch;  denn 
in  den  Tributinschriften  kommen  K£opif,Tai  und  lasfj;  neben  einandei-  vor. 
Aber  aufiallend  bleibt,  dass  Lysandros  lasos  erobert  haben  soll,  da  bereits 
411  die  Peloponnesier  unter  Theramenes  den  Ort  erstürmt  und  verwüstet 
hatten,  worauf  er  dem  Tissaphernes  war  übergeben  und  mit  einer  Besatzung 
versehen  worden.  Thuc.  VIII,  28.  29.  Er  müsste  also  wieder  abgefallen 
sein,  wovon  nichts  gemeldet  wird.  Es  dürfte  also  wohl  das  frühere  Blut- 
bad von  lasos  durch  Diodor  mit  dem  spätem ,  in  Kedreia  verübten  ver- 
•wechselt  sein.  Ueberdies  lag  Kedreia  nach  Xenophou  am  keramischen 
Meerbusen.] 


Alkibiades  uxd  Lysandros.  133 

besonnenen  That  hinreissen  lassen,  bei  Aigospotamoi  die  an- 
gebotene offene  Schlacht  nicht  angenommen,  um  gleich  nach- 
her den  sorglosen  Feind  um  so  sicherer  zu  vernichten.  Er 
wich  also  darin  ganz  und  gar  von  der  altspartanischen  Ansicht 
ab,  welche  im  Kriege  eine  Art  von  Gottesgericht  sah,  und  ihn 
darum  mit  gleichen  Waffen  geführt  haben  wollte.  Dass  aber 
seine  Kriegsführung  sicherer  zum  Ziele  führte,  hat  das  Schick- 
sal des  weit  edlern  aber  lange  nicht  so  klugen  Kallikratidas 
bewiesen.  Wollte  man  dem  Lysandros  deshalb  den  Feldherrn- 
nihm  streitig  machen,  so  wäre  das  wohl  ungefähr  eben  so  ver- 
kehrt, als  das  Bestreben,  ihn  dem  grossen  englischen  Feld- 
herm  unserer  Zeit  zu  entreissen.  ^ 

Bei  solchen  Eigenschaften  sehen  wir  nun  den  Lysandros, 
von  seinem  ersten  Auftreten  an,  einen  LebenszAveck  verfolgen 
der  klar  vor  ihm  lag,  und  den  er  mit  eiserner  Consequenz 
festhielt :  die  Herrschaft  Spartas  über  Griechenland,  und  seine 
eigene  Herrschaft  in  Sparta,  ^'i  Dieses  unverrückte  A'erfolgen 
eines  Lebenszieles  hat  ihn  besonders  so  bedeutend  gemacht, 
und  ihn  über  den  ebenso  ehrgeizigen,  aber  viel  unbestän- 
digeren Alkibiades  gehoben.  Zunächst  kam  es  also  darauf  an, 
Athen  zu  demüthigen,  als  das  geschehen  war,  keinen  andern 
Staat  neben  Sparta  aufkommen  zu  lassen,  daher  sein  fast 
leidenschaftliches  Losbrechen  gegen  Theben ,  das  ihm  die 
Früchte  langer  Bemühungen  zu  entreissen  drohte.  Zwei  Mittel 
hat  er  nun  besonders  angewandt ,  um  sein  Ziel ,  zunächst  die 
Unterjochung  Athens,  zu  erreichen.  Einmal  nämlich  hat  er 
die  Nothwendigkeit  erkamit,  über  grosse  Geldmittel  zu  ge- 
bieten, um  der  athenischen  Flotte  mit  Erfolg  entgegentreten 
zu  können.  Diese  waren  aber  kaum  anderswo  zu  erhalten, 
als  bei  Persien;  darum  ist  er  in  die  engste  A'erbindung  mit 
dem   neuen    Statthalter  Vorderasiens,    mit   dem  jungen   Kyros 


')  Dass  es  übrigens  dem  Lysandros  nicht  an  persönlicher  Tapferkeit 
fehlte,  brauche  ich  kaum  zu  erwähnen.     Er  hat  es  bei  Haliartos  bewiesen. 

2)  Wenn  ich  sage,  er  strebte  nach  eigener  Herrschaft  in  Sparta,  so 
bitte  ich  das  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  er  von  Anfang  an  an  eine  Um- 
wälzung gedacht  hätte.  Zuerst  genügte  ihm  wohl  die  auf  seiner  persön- 
lichen Bedeutung  und  den  Hetairien  beruhende  faktische  Herrschaft,  und 
erst  als  er  sehen  musste,  wie  prekär  diese  sei,  bildete  sich  der  Plan  zur 
Erringung  der  Königswürde  aus. 


134  Alkibiades  rxD  Lysaxdros. 

getreten,  und  hat  durch  dessen  Subsidien  Spartas  Seemacht 
gegründet  und  befestigt i.  Das  zweite  Mittel  waren  die  oli- 
garchischen  Clubs.  ■^^  Schon  vor  seinem  Auftreten  be- 
standen nicht  nur  in  Athen ,  sondern  in  den  meisten  Bundes- 
städten solche  Clubs  oder  Hetairien,  welche  den  von  Athen 
unterstützten  demokratischen  Verfassungen  entgegenarbeiteten 
und  Verbindungen  mit  Sparta  hatten.  Sie  hatten  meist  den 
Abfall  der  Städte  von  Athen  betrieben,  wie  ja  in  Athen  selbst 
damals  diese  Hetairien  entschlossen  waren,  im  äussersten  Falle 
die  Stadt  an  Sparta  zu  überliefern.  Doch  waren  diese  Clubs 
bis  auf  Lysandros  meist  isolirt  gewesen.  Er  führt  nun  den 
grossartigen  Gedanken  durch,  sich  an  die  Spitze  aller  zu 
stellen,   da,   wo  noch  keine  waren,   solche  zu  stiften,  und  ganz 


1)  [Wenn  Nitzsch  meint  (pg.  12  Lysandrog  habe  wohl  des  Kyros  Gunst 
bereits  durch  Versprechungen  von  Hülfe  für  seine  spätem  Pläne  gewonnen, 
so  ist  das  zwar  sehr  möglich  und  wahrscheinlich,  aber  nicht  zu  beweisen. 
Dass  aber  Kyros  es  bereits  darauf  absah,  ist  kaum  zu  bezweifeln,  cf.  unten 
pg.   136.] 

2)  Die  Verbindung  des  Lysandros  mit  den  Clubs ,  und  seine  ganze 
clubistische  Thätigkeit  kann  kaum  genug  hervorgehoben  werden.  Sie  hat 
wesentlich  dazu  beigetragen,  dass  der  peloponnesische  Krieg  in  den  letzten 
Jahren  einen  so  wilden  und  grausamen  Charakter  angenommen  hat.  Was 
von  Athen  kurz  vor  der  Revolution  der  Vierhundert  Thukydides  erzählt, 
dass  Niemand  dem  Anderen  mehr  traute,  das  wird  mehr  und  mehr  in  allen 
Bundesstädten  der  Fall,  und  die  durch  Lysandros  herbeigeführten  Oligar- 
chien sind  die  rücksichtslosesten  Gewaltherrschaften  gewesen ,  welche  wir 
in  der  griechischen  Geschichte  kennen.  Vgl.  meine  Schrift  über  die 
Hetairien  S.  32.  33.  Büttner  hat  die  Gestaltung,  welche  das  Hetairien- 
wesen  seit  Lysandros  Auftreten  annimmt,  in  seiner  Schrift  zu  wenig  be- 
rücksichtigt, die  Hauptstellen  sind  bei  Plut.  Lys.  5.  13.  26.  Diod.  XHI, 
70.  Ueber  den  Athener  Aristoteles  vgl.  Xen.  Hell.  11,  2,  18.  3,  2.  13,  46. 
Ob  mit  diesem  der  bei  Thuc.  III,  105  genannte  Feldherr,  der  ein  Sohn 
des  Timoki'ates  heisst,  und  der  bei  Andoc.  d.  myster.  §-17  genannte  Vater 
eines  Charmides  ein  und  derselbe  ist,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden.  Der 
Oligai-che,  später  ein  Mitglied  der  Dreissig,  war  wie  die  meisten  seiner 
Meinungsgenossen  ein  philosophisch  gebildeter,  geistreicher  Mann.  Plato 
Parmen.  p.  127  d.  Diog.  Laert.  V,  I,  14,  35.  Proklos  zum  Parmenides  giebt 
nichts.  [Etwas  einseitig  urtheilt  Nitzsch  p.  15  über  die  Anhänger  Lysan- 
dros' in  den  Hetairien,  und  nur  auf  Plutarch.  Lys.  5  und  13  gestützt,  be- 
hauptet er,  sie  seien  f/eneris  vel  divitiarum  auctoritate  ilestituti  gewesen. 
Lysandros  sah  allerdings  vorzugsweise  auf  entschlossene  rücksichtslose  Ge- 
sinnung ;  allein  dies  schliesst  das  genus  und  die  divitiae  nicht  aus.  Seine 
Freunde  in  Athen  beweisen  das.] 


Alkibiades  und  Lysandros.  135 

Hellas  mit  einem  gewaltigen  oligarchischen  Netz  zu  umgarnen, 
dessen  Fäden  nicht  die  spartanischen  Behörden,  sondern  er  in 
den  Händen  hatte.  ')  Von  Athen  bis  zum  kleinsten  Bundes- 
staate, überall  verschafft  er  sich  solche  Genossen,  Avelche  seinen 
Winken  gehorchen,  deren  oligarchisches  Wirken  er  leitet.  Die 
Verbindungen  mit  denselben  wurden  auf  mannichfaltige  Weise 
unterhalten,  in  noch  feindlichen  Staaten  besonders  durch 
Flüchtlinge,  wie  z.  B.  Aristoteles  aus  Athen,  der  seit  dem 
Sturze  der  Vierhundert  aus  Athen  geflohen  war,  sich  in  Ly- 
sandros  Gefolge  befand.  Diese  Genossen  hegt  und  pflegt  er 
nun  auf  alle  Weise,  sie  können  bei  allen  Gewaltthaten  und 
Verbrechen  auf  seine  Unterstützung  rechnen ,  ihnen  gestattet 
er,  ihrer  Privatrachsucht  und  allen  Begierden  ungestraft  Ge- 
nüge zu  thun,  er  kettet  sie  an  sich  nicht  nur  durch  die  Hoff- 
nung, durch  ihn  Macht  und  Keichthum  zu  gewinnen  und  zu 
behaupten,  sondern  auch  durch  das  Bewusstsein  gemeinsamer 
Verbrechen.  Und  als  Athen  gefallen  war,  da  übergab  Ly- 
sandros  den  Mitgliedern  dieser  Verbindungen  und  nur  ihnen 
die  Herrschaft  in  ihren  Staaten  als  Zehnmännern,  Dekadar- 
chen, und  ein  lakonischer  Befehlshaber,  Harmoste,  unterstützte 
sie  mit  bewaffneter  Macht.  Auf  ihnen  beruhte  seine  Macht, 
welche  eine  Zeitlang  der  eines  unumschränkten  Königs  glich. 
Darum  ist  auch  Lysandros  immerfort  ein  consequenter  Oligarch 
gewesen. 

Dieser  Mann  also  war  im  Herbste  408  an  die  Spitze  der 
spartanischen  Seemacht  getreten.  2  Sein  erstes  war,  die  zer- 
streuten Schiffe  zu  sammeln,  Ephesos,  dessen  Bedeutung  von 
jetzt  an  beginnt,  zu  einem  grossen  Waffenplatze  zu  machen, 
und  überall  Verbindungen  mit  den  Oligarchen  anzuknüpfen. 
Dann  begab  er  sich  nach  Sardes ,  wo  zu  seinem  Glücke  Ky- 
ros  als  Vicekönig  eingetroffen  war.  Dieser  ehrgeizige,  durch 
Xenophons  parteiische  Lobsprüche  zu  unverdientem  Ruhm 
gekommene  Fürst  liess  sich  durch  Lysandros  feine  Schmeiche- 


')  [Nitzsch  pg.  23  meint,  es  sei  die  Umwandlung  in  Oligarchien  schon 
während  Lysandros  zweiter  Feldherrnschaft  vorgegangen;  doch  wohl  nur 
theilweise.l 

2)  Ueber  die  Zeit  vgl.  S.  120  A.  3  und  Krüger  zu  Clinton  fast.  hell. 
409  [anders  Aemil.  H.  O.  Müller,  de  Xenophontis  hist.  gr.  parte  priore 
p.  61]. 


136  Alkibl^des  ukd  Lysaxdros, 

leien,  ohne  Zweifel  auch  schon  mit  Eücksicht  auf  seine  später 
ins  Werk  gesetzten  hochverrätherischen  Pläne  bewegen,  das 
wahre  Interesse  Persiens  hintanzusetzen  und  die  Lakedaimonier 
nach  Kräften  zu  unterstützen.  ^)  Lysandros  erhielt  so  bedeutende 
Svibsidien ,  dass  er  seine  Mannschaft  besser  besolden  konnte 
als  die  Athener,  bei  denen  daher  Unzufriedenheit  und  Desertion 
eintraten.  Er  schlug  den  unvorsichtigen  Antiochos,  und  zog 
sich  wieder  in  seine  sichere  Stellung  zurück.  Nach  Verfluss 
seines  Amtsjahres  hatte  er  zwar  noch  keineswegs,  Avie  er 
gegen  seinen  Nachfolger,  den  edeln  Kallikratidas,  prahlte,  die 
Herrschaft  über  die  See  gewonnen,  aber  Spartas  Ansehen  hatte 
er  hergestellt,  Athen  durch  Yerrath  untergraben,  des  Alkibiades 
Sturz  herbeigeführt.  —  Diese  Yortheile  auszubeuten  gönnte  er 
keinem  andern  und  intriguirte  daher  nach  Kräften  gegen 
Kallikratidas.  So  schickte  er  schon  A'or  dessen  Ankunft  alle 
vorräthigen  Gelder  an  Kyros  zurück ,  und  Hess  durch  seine 
Anhänger  überall  ausbreiten,  es  sei  eine  Thorheit,  dass  Sparta 
die  Flottenbefehlshaber  jährlich  wechsle.     Die   Widerspenstig- 


1)  Anfangs  handelte  Kyroa  allerdings  im  Auftrage  seines  Vaters,  aber 
bereits  beim  ersten  Besuche  wusste  Lysandros  ihn  zu  weitern  Unter- 
stützungen zu  bringen.  Xenoph.  I,  5,  6.  7.  Plut.  Lys.  4,  5.  Diod.  XIII, 
70.  Im  Anfange,  als  die  Athener  so  bedeutende  Erfolge  am  Hellespont 
gehabt  hatten,  lag  es  auch  im  persischen  Interesse  ihnen  entgegenzutreten ; 
die  Spartaner  aber  so  zu  unterstützen  wie  Kyros  that,  war  entschieden 
gegen  dasselbe,  wie  der  Erfolg  bald  gezeigt  hat,  das  sah  Kyros  ohne 
Zweifel  selbst  ein,  er  wollte  sich  aber  die  Hülfe  Sparta's  für  die  Empörung 
gegen  seinen  Bruder  sichern.  Offenbar  haben  aber  auch  die  feinen  Schmeiche- 
leien des  Lysandros  viel  gewirkt  (Plut.  1.  1.),  sonst  hätte  er  nicht  dessen 
Nachfolger,  den  Kallikratidas,  ohne  Unterstützung  gelassen.  Auf  den  acht 
orientalischen  Despotenstreich ,  die  Ermordung  zweier  leiblicher  Vetter, 
Autoboisakes  und  Mitraios,  weil  sie  ihm  nicht  eine  dem  Könige  allein  ge- 
bührende Ehre  erwiesen  (Xen.  Hell.  II,  1,  8.  9),  hat  bereits  Forchhammer 
die  Athener  und  Sokrates  S.  33  aufmerksam  gemacht.  Was  den  Ruhm 
des  Kyros  hauptsächlich  begründet  hat,  ist  ohne  Zweifel  eine  gewisse  per- 
sönliche Liebenswürdigkeit  gewesen,  mit  der  er  Untergebene  und  Bekannte 
zu  gewinnen  und  an  sich  zu  fesseln  wusste  und  mit  der  er  auch  den 
Xenophon  bestach ;  und  bei  der  grossen  Versunkenheit  des  persischen  Hofes 
in  jener  Zeit,  mochten  die  Eigenschaften,  die  an  ihm  gerühmt  werden, 
bedeutender  scheinen,  als  sie  es  in  der  That  waren ;  diesen  Eindruck  macht 
die  bekannte  Lobrede  des  Xenoph.  Anab.  I,  9.  Es  fallen  einem  dabei  fast 
unwillkürlich  die  von  verschiedenen  europäischen  Reisenden  einem  auf- 
rührerischen Satrapen  unserer  Zeit  gespendeten  Lobsprüche  ein. 


Alkibiades  und  Lysa>dros.  137 

keit  schlug  nun  zwar  Kallikratidas  durch  entschiedenes  Auf- 
treten nieder,  da  er  aber  bei  Kyros  nicht  um  Unterstützung 
betteln  wollte ,  sah  er  sich  genöthigt  bei  den  Bundesgenossen 
sich  Geld  zu  verschaffen  iind  so  bald  als  möglich  eine  Entschei- 
dung herbeizuführen.  In  ruhmvollem  Kampfe  verlor  er  bei 
den  Arginnsen  Flotte  und  Leben.  Noch  einmal  schien  Spartas 
Seeherrschaft  zertrümmert.  Athen  als  Siegerin  aus  dem  Kriege 
hervorgehen  zu  sollen.  Aber  während  dieses  seine  siegreichen 
Feldherrn  zum  Tode  verurtheilt,  und  sich  so  der  besten  Führer 
beraubt,  stellt  Sparta  ihm  wieder  den  Lysandros  entgegen. 
Der  war  bereits  unentbehrlich  geworden,  die  Bundesgenossen 
hatten  sich  in  Ephesos  versammelt,  und  beschlossen  durch  eine 
Gesandtschaft  ihn  als  Flottenbefehlshaber  zu  verlangen,  Ge- 
sandte des  Kyros  schlössen  sich  ihnen  an ,  und  Sparta  will- 
fahrte. Zwar  verbot  ein  Gesetz,  zweimal  denselben  zum  Nau- 
archen  zu  ernennen ,  aber  man  half  sich .  indem  man  einen 
blossen  Strohmann .  den  Arakos ,  dem  Namen  nach  dazii 
machte,  den  Lysandros  aber  zum  s-'.aroXsuc,  Viceadmiral. 
Reiche  Geldbeiträge  des  Kyros  und  thätige  Hülfe  seiner  poli- 
tischen Freunde ,  machten  es  ihm  möglich  in  Kurzem  wieder 
eine  grosse  Flotte  aufzustellen.  Um  dem  König  Agis,  der  bei 
Dekeleia  stand ,  zu  imponiren ,  führte  er  sie  an  die  attische 
Küste ,  und  prahlte  in  einer  Zusammenkunft  mit  demselben 
wieder  mit  seiner  Herrschaft  zur  See. ')  Als  aber  die  athenische 
Flotte  ihn  aufsuchte ,  eilte  er  auf  einem  andern  Wege  so 
schnell  als  möglich  nach  Asien,  und  lief  in  den  Hellespont 
ein,  wohin  die  Athener  ihm  folgten.  Nach  sorgfältiger  Ver- 
meidung jedes  offenen  Zusammentreffens  vernichtete  er  hier, 
bei  Aigospotamoi.   durch  Ueberraschung  und  Yerrath  die  letzte 


1)  Plut.  Lysand.  9.  Diod.  XIII,  104.  Xenophon  sagt  von  der  Fahrt 
des  Lysandros  nach  Attika  kein  AVort,  ohne  'ZAveifel  weil  sie  ohne  alle 
Folgen  war.  Scheibe  die  oligarch.  Umwälzung  will  diesen  ganzen  Zug  als 
auf  Missverständniss  des  Plutarch  beruhend  beseitigen,  hat  aber  dabei 
übersehen,  dass  Diodor  an  der  auch  von  ihm  citirten  Stelle  ihn  ebenfalls 
vor  das  Einlaufen  in  den  Hellespont  und  die  Schlacht  bei  Aigospotamoi 
setzt.  [Nitzsch  pg.  25  hält  Plutarch's  Angabe  für  richtig,  wenn  auch  für 
vielleicht  nicht  ganz  genau.  —  Er  meint,  Lysandvog  sei  aus  Attika  zuerst 
nach  seiner  frühem  Stellung  zurückgekehrt  und  da'in  längs  der  Küste  nacii 
dem  Hellespont  gefahren,  wie  Xenophon  sage.] 


1  38  Alkibiades  u>'d  Lysandros. 

HofFiiiing  der  Athener,  die  hundertimdachtzig  Schiffe  starke 
Flotte.  Der  Krieg  -war  entschieden.  Athens  Macht  vernichtet.  ^\ 
Die  Stadt  selbst,  zn  Lande  von  den  Königen  Agis  und  Pau- 
sanias,  zur  See  von  Lysandros  eingeschlossen,  im  Innern  von 
Zwietracht  und  A'errath  geschwächt,  musste  sich  ergeben,  Ly- 
sandros zog  als  Sieger  ein.  —  Ueberall  Avurden  jetzt,  wo  noch 
Demokratien  bestanden,  unter  Mord  und  gewaltsamer  Verban- 
nung statt  dieser  streng  geschlossene  Oligarchien  eingeführt, 
bekannt  unter  dem  Namen  der  Dekarchien,  in  Athen  selbst 
die  der  Dreissig.  Die  Anhänger  des  Lysandros  führten  in 
diesen  die  Herrschaft ,  er  war  ihre  Stütze ,  er  herrschte  durch 
sie  fast  in  allen  ehemals  athenischen  Städten.  Ja  so  eigen- 
mächtig schaltete  er,  dass  er  die  Stadt  Sestos,  Avelche  die 
Athener  den  alten  Bewohnern  entrissen  hatten,  nicht  diesen 
zurückgab,  sondern  Leuten,  die  auf  seiner  Flotte  gedient  hatten. 
Hier  aber  traten  ihm  die  Lakedaimonier  entgegen  und  setzten 
die  Sestier  wieder  in  den  Besitz  ihrer  Stadt.  Auch  der  letzte 
Staat,  welcher  Widerstand  leistete,  die  Lisel  Samos,  seit  dem 
Jahr  4 1 1  der  Waffenplatz  von  Athen  und  das  festeste  Boll- 
werk der  Demokratie ,  musste  sich  nach  dem  hartnäckigsten 
Widerstände  ergeben ,  2  die  sämmtlichen  Bürger  mussten  aus- 
wandern, die  Lisel  wurde  den  früher  flüchtig  gewordenen  011- 
garchen  übergeben. 

Lysandros  feierte  jetzt  Triumphe ,  wie  sie  noch  keinem 
Hellenen  zu  Theil  geworden  waren.  Er  war  nicht  nur  der 
allmächtige  Gebieter,  neben  dem  die  Könige  ins  Dunkel  zu- 
rücktraten, sondern  er  Avurde  von  seiner  Partei  als  Heros  und 
Befreier  Griechenlands  verherrlicht.  Dichter  wetteiferten  ihn 
zu  besingen,  und  er  war  für  ihre  Schmeicheleien  so  empfäng- 
lich ,  dass  er  dem  Antilochos  für  einige  mittelmässige  Verse 
den  Hut  mit  Gold  füllte.  3)     Die  Samier  setzten  an  die  Stelle 


I 


1)  [Ueber  die  Zeit  der  Schlacht  bei  Aigospotamoi  J.  Th.  Voemel :  quo 
tempore  apud  Aegospotamog  Athenienses  a  Peloponnesiis  victi  sint,  definitur. 
1848.  Er  setzt  sie  in  den  November  405,  in  den  Monat  Pyanepsion  unter 
Archen  Alexias.] 

2)  Xen.  Hell.  11,  2,  (j.  3,  6.  7.  Plat.  Lys.  14.  Sievers  Gesch.  Griechenl. 
S.  20.    Scheibe  die  oligarch.   Umwälzung  zu  Athen.  S.  60. 

3)  Plut.  Lys.  18  nennt  den  Choirilos,  Antilochos,  Antimachos  aus  Ko- 
lophon  und  Nikeratos  aus  Herakleia ,  so  wie  den  Kitharoden  Aristonus. 
Vgl.  Athen.   XV,  p.  696  e. 


Alkibiades  umd  Lysandros.  139 

des  bisherigen  Hauptfestes  der  Heraien,  die  Lysandria,  und  zu- 
erst von  allen  Griechen  wurden  ihm  während  seines  Lebens 
Altäre  errichtet,  Opfer  zu  seiner  Ehre  dargebracht,  Hymnen 
gesungen.  1)  Von  Samos  segelte  er  dann,  nachdem  er  die 
Bundesgenossen  entlassen,  mit  den  lakonischen  Schiffen  nach 
Lakedaimon.  Er  führte  mit  sich ,  ausser  grossen  Summen 
Geldes  und  reicher  Beute,  die  Insignien  aller  eroberten  Schiffe, 
die  den  Athenern  im  Peiraieus  abgenommene  Flotte,  und  Adele 
Kronen,  die  ihm  von  den  Städten  als  Ehrengeschenke  über- 
reicht worden  waren .  2) 


1)  Plut.  1.  1.  npöjTOV  p.ev  YÖtp ,  (b;  loTopei  Aoüpi;,  'EXXyjvojv  Ixeivio 
ßtu[j-o'j;  ai  —oXet;  ävsaxrjOav  tu?  fteü)  xotl  O'joia?  eft'jtiav  ,  e[;  -ptuTov  ok 
TTaiävs;  Tj'i&Trjoav  y..  t.  >,.  Athen.  1.  1.  Danach  ist  Bernhardy  zu  berichtigen, 
der  im  Grundriss  der  griech.  Litteratur  II,  S.  450  sagt,  der  Missbrauch 
Päane  auf  Menschen  zu  dichten,  beginne  erst  mit  den  Diadochen.  [berich- 
tigt 2.  Bearbeitung  11,  S.  5.51.  3.  Bearbeitung  II,  S.  554  Pausanias  VI,  3, 
14,  15.  Eine  Statue  des  L3'sandros  war  von  den  S amiern  in  Olympia 
aufgestellt  mjt  Epigrammen,  die  Pausanias  anführt.  Die  Ephesier  hatten 
ihm  eine  in  den  Tempel  der  Artemis  geweiht.  In  Delphi  standen  die 
Bildsäulen  aller  peloponnesischen  Feldherrn,  die  bei  Aigospotamoi  gesiegt 
hatten,  Lysandros  von  Poseidon  bekränzt,  daneben  sein  Seher  Abas  und 
der  Steuermann, des  Admiralschiffs  Hermon.  Pausan.  X,  9,  7.  9.  Ueber 
heroische  und  göttliche  Ehren,  welche  Menschen  erwiesen  werden, 
cfr.  C.  Keil  analecta  epigraphica  pg.  39  ff.  und  L.  Ross  Hellenica  I,  p. 
55.  —  Den  Lysandros  berührt  Keil  nicht,  weil  er  nur  von  den  Ehren  han- 
delt, die  nach  dem  Tode  eintraten.] 

2)  Ueber  die  Thätigkeit  des  Lysandros  und  die  Orte  seines  Aufenthaltes 
zwischen  der  Schlacht  bei  Aigospotamoi  und  der  Herstellung  der  Demo- 
kratie in  Athen  giebt  uns  kein  Schriftsteller  vollständige  Nachrichten,  da- 
gegen ergänzen  Xenophon ,  Diodor ,  Plutarch  und  Lysias  einander  gegen- 
seitig ,  und  trotz  einiger  Widersprüche  und  der  etwas  verwirrten  Angaben 
des  Plutarch,  der  besonders  Lysand.  14  offenbar  Späteres,  wie  die  Erobe- 
rung von  Samos ,  gleich  vorweg  erzählt ,  lässt  sich  wohl  ziemlich  sicher 
Folgendes  annehmen.  Nach  der  Schlacht  bei  Aigospotamoi  nimmt  Lysan- 
dros Sestos  Diod.  XIII,  106.  Plut.  Lys.  14.  Byzanz  und  Chalkedon  Xen. 
Hell.  II,  2,  2.  Dann  fährt  er  nach  Lesbog,  bringt  Mitylene  auf  sparta- 
nische Seite  und  schickt  den  Eteonikos  mit  zehn  Schiffen  in  die  Gegend  von 
Thrakien,  ic,  xa  ir.l  Bpcty.T]?  ymrArj..  Alle  bis  dahin  zum  attischen  Bund  ge- 
hörigen Städte  treten  zu  Sparta  ausser  Samos.  Hier  schlug  das  Volk  viel- 
mehr einen  Versuch,  sich  an  Sparta  anzuschliesen,  nieder  und  hielt  sich  in 
der  festen  Stadt.  Es  scheint  nun ,  dass  Lysandros  bereits  jetzt  die  Stadt 
zu  nehmen  versuchte.  Diodor  XIII,  106.  Auf  jeden  Fall  aber  verweilte 
er  nur  kurz  davor;  denn  er  hatte  bereits  nach  Dekeleia  au  Agis  und  nach 
Sparta  berichtet,  dass  er  mit  der  Flotte  vor  den  Peiraieus  kommen  werde, 


140  Alkibiades  und  Lysandros. 

Er  stand  aiif  dem  Gipfel  seiner  Grösse  und  schien  das 
Ziel  eiTeicht  zu  haben,  allein  seine  ungeheure  Macht  erregte 
natürlich   Eifersucht.     Die   Könige   Pausanias   und   Agis,    die 

und  deshalb  die  Könige  Athen  zu  Lande  e'nschliessen  möchten.     Vielleicht 
hatte  er  mit  dieser  Nachricht  bereits    den  Gylippoa   mit   einem  Theil    der 
Beute  nach  Sparta  gesandt,  wofür  DiodorXIII,  106  spricht,  während  Plutarch. 
Lys.  16    das    erst    nach    der   Uebergabe    von  Athen  geschehen  lässt.     Vor 
Samos  liess  Lysandros  ohne  Zweifel  jetzt  gleich  eine  Flottenabtheilung  zur 
EinSchliessung  oder  doch  Beobachtung  zurück ;   denn  während  er  berichtet 
hatte,  er  werde  mit  200  Schiffen  kommen,  kommt  er  wirklich  nur  mit  150. 
Xen.  Hell.  II,  2,  7.  vgl.  mit  II,  2,  9.     Die   50    zurückgebliebenen  werden 
also  wohl  zum  grössten  Theil   gegen  Samos  verwendet   worden   sein.     Mit 
den  150  Schiffen   nimmt  Lysandros  dann   Aigina,    verwüstet  Salamis  und 
legt  sich  vor  die  Häfen  Athens.  Xen.  a.  a.  O.  §  9.    Nach  Xenophon  scheint 
es  nun,  als  oV   Lysandros  die  ganze  Zeit  bis  zur  Uebergabe  der  Stadt,    in 
der  Nähe   derselben  geblieben   sei ,    da   Theramenes  um  die  Stadt  zu   be- 
obachten,   über  drei  Monate  bei  ihm  verweilt.    Xen.  a.  a.  O.  §  26.     Nach 
Plutarch   c.  14  wäre  er  dagegen,  während  die  Athener  Widerstand  leisteten, 
wieder  nach  Aaien  gegangen;  doch  verdient   hier  Plutarch  kaum  Glauben, 
da  er  die  Uebergabe  von  Samos  in  diese  Zeit  setzt,  die  ganz  bestimmt  erst 
später   statt  hatte.     Auf  jeden  Fall   ist  Lysandros   bei  der  Uebergabe  der 
Stadt  zugegen,  am  10.  Munychion.  Xen.  a.  a.  O.  §23.  Plut.  Lys.  15.    Aber 
er  verweilt   nicht   lange   dort ,    sondern  begiebt  sich,  natürlich  nachdem  er 
sich  der  Stadt  hinlänglich  versichert,   nach  Samos,  von  wo  ihn  vor  der  Er- 
oberung später  die  Oligarchen  nach  Athen  holen  lassen,  damit  er  die  Ver- 
fassungsfrage entscheide.  Lys.  adv.  Erat.  71—75.    Wenn  Diod.  XIV,  2.  3. 
ihn  erst  nach  der  Eroberung  von  Samos  nach  Athen  gehen  lässt,  so  ist  er 
im  offenbaren  Widerspruch  mit  Xenophon.     In   Athen   angekommen  lässt 
Lysandros  jetzt   die  Mauern   schleifen   und  bleibt   bis   die    Dreissig   einge- 
setzt sind.   Xenoph.  II,   3,   3      G.  Grote  bist,  of  Gr.   V,  p.  555  meint,    die 
Schleifung  der  Mauern  habe  gleich  bei  der  Uebergabe  begonnen  ,    sei  aber 
von   den   Athenern  nicht    zur    gehörigen   Zeit    beendigt    gewesen,  j     Darauf 
kehrt  er  nach  Samos  zurück,  das  sich  nun  ergiebt.  Xen.  II,  3,  6.  Plutarch 
c.  16    lässt   ihn    wohl   irrig    nach  Einsetzung  der  Dreissig  nach  Thrakien 
gehen.     Nach  der  Feier  von  mancherlei  Siegesfesten   in  Samos  entlässt  er 
die  Flotte  der  Bundesgenossen,  und  führt  die  lakedaimonischen  Schüfe   in 
die  Heimath,    indem   er   nun   die   noch   im  Peiraieus  befindlichen  attischen 
Schiffe  mitnimmt,  die  bereits  früher  übergeben   waren.    Xenophon  a.  a.  O. 
§.  8.     Bei  seinem  nunmehrigen  Aufenthalt  in  Sparta   hat  er  das  Ansuchen 
.  der  Dreissig  um  eine  Besatzung  unterstützt  und  bewirkt,  dass  sie  gewährt 
T^-urde.     Er  blieb  aber  wieder  nicht  lange  daselbst,    sondern  wurde   ausge- 
sandt, um  die  Verhältnisse  der  Bundesstädte  zu  ordnen.  Diod.  XIV,  3,  10. 
Nitzsch  p.  40  setzt  die  Einrichtung  der  Dekarchien  in  den  Bundesstädten 
auch  während   der  Anarchie   und   zwar  erst,    nachdem   die   Dreissig   durch 
Aischines  und  Aristoteles   die   Besatzung   erhalten   hatten;    ich   nehme    die 


Alkibiades  und  Lysaxdros.  141 

nur  ungern  seine  Stellung  ertrugen ,  fassten  daher  den  Plan, 
die  von  Lysandros  eingeführten  Oligarchien  zu  stürzen,  und 
auch  die  Ephoren.  über  seine  Anraassung  erbittert,  schlössen 
sich  ihnen  an.  So  traten  die  verfassungsmässigen  Behörden 
Spartas  dem  Lysandros  feindlich  entgegen.  >^  Daher  fanden 
bereits  bald  nach  dem  Schlüsse  des  Krieges  Klagen  des  Pharna- 
bazos  über  sein  -willkürliches  Benehmen  geneigtes  Gehör,  und 
er   entzog   sich   weitem    Unannehmlichkeiten    nur    durch    eine 


Einsetzung  der  Dekarchien  theilweise  schon  unmittelbar  nach  der  Schlacht 
bei  Aigospotaniüi  an.;  In  diese  Zeit  fallen  seine  ^^'illk.ürlichkeiten  und 
Gewaltthaten  in  Asien  und  seine  Streitigkeiten  mit  Pharnabazos,  wovon  Plut. 
Lys.  19.  erzählt.  Dass  diese  Dinge  nicht  früher  zu  setzen  geht  ganz  sicher 
aus  der  Hinrichtung  des  Thorax  hervor ,  den  Lysandros  zum  Harmosten 
über  Samos  gesetzt  hatte  und  der  also  nicht  schon  früher  hatte  hingerich- 
tet werden  können.  I-ysandros  wurde  nun  zurück  berufen,  und  reiste,  nach 
einem  Aufenthalte  von  wenigen  Tagen  in  Sparta  zum  Orakel  des  Ammon. 
Plut.  Lys.  20.  Von  da  nach  Sparta  zurückgekehrt  bewirkt  er,  dass  man  die 
Dreissig  gegen  den  zurückkehrenden  Thrasybul  unterstützt  und  ihn  selbst  als 
Feldherrn  aussendet.  Das  geschah  erst  nachdem  die  Dreissig  Athen  verlassen 
und  sich  in  Eleusis  festgesetzt  hatten.  Xenoph.  Hell.  II,  4,  28.  29.  also 
im  Frühling  (?)  403.  Auf  eine  speciellere  chronologische  Auseinandersetzung 
kann  ich  mich  hier  nicht  einlas.sen.  Man  vergl.  Scheibe,  die  ölig.  Um- 
wälzung S.  2s  ff.  und  S.  106.  Peter  comment.  critica  in  Xen.  Hell.  p.  42. 
H.  Weissenborn  Hellen.  S.  197  fg.  Sievers  S.  379.  denen  ich  jedoch  in 
manchen  Punkten  nicht  beistimmen  kann.  ^Da  Xenophon  sagt,  die  aus 
dem  Peiraieus  hätten  schon  in  den  ersten  10  Tagen  nach  der  Schlacht  bei 
ihren  Streifzügen  ^uXa  -/.al  ö-cupotv  genommen,  so  ist  eine  Vereinigung  mit 
den  übrigen  Angaben  kaum  anders  möglich,  als  dass  man  hier  bei  der  »jrwpa 
nicht  an  Früchte  auf  dem  Felde,  sondern  in  den  Vorrathshäusern  denkt, 
wie  AVeissenborn ;  doch  ist  mir  eine  analoge  Stelle  nicht  bekannt.  Die  8 
Monate  der  Dreissiger-Herrschaft  bis  zur  Schlacht  im  Peiraieus  lassen  sich 
statt  von  der  Einsetzung,  vielleicht  von  der  Ankunft  der  spartanischen  Be- 
satzung datiren,  wo  erst  die  Gewaltthätigkeiten  anfiengen  cfr.  Xen.  Hell. 
II,  3,  13.  Dann  kommt  man  aber  wieder  mit  dem  Schnee  bei  Phyle  in 
Verlegenheit ;  man  müsste  denn  den  ersten  Angriff  der  30  auf  Phyle  und 
den  Sieg  Thrasybuls  über  die  Reiter  der  Lakedaimonier  sehr  weit  aus  ein- 
ander legen.] 

*)  Plut.  Lys  27.  Ol  oe  ßaat/.si;  ä7:oor,ij.T,5a';TO?  ctO-oO  cjix'.ppovriaav'rs; ,  oti 
Tat?  iratpEiat;  xd;  ttoXei;  v.aTeytuv  oia  Travxo;  apyei  xrd  xupto?  daxt  x-fj;  E/.Xaöo?, 
£-paacov  orw;  ä-ooo'jio'jsi  xoT;  07](Aoxai;  xa  -paYfxaxa.  Das  ist  während  der 
Reise  zum  Ammon,  dass  aber  bereits  vorher  sich  eine  starke  Opposition 
gegen  ihn  gebildet  hatte,  geht  aus  der  Hinrichtung  seines  Freundes  Thorax 
hervor.  Plut.  Lys.  19.  lieber  des  Pau.sanias  Neid  Xenoph.  Hell.  II,  4,  29. 
Sievers  Geschichte  von  Griechenland  S.  31  ff. 


142  Alkibiades  und  Lysaxdrüs. 

Reise  zum  Tempel  des  Ammon.  '  lUild  wurde  aber  auch  das 
Gebäude  seiner  Politik  erschüttert.  Die  Demokraten  Athens 
unternahmen  es,  die  Dreissig  zu  stürzen.  Als  nun  die  Oli- 
garchen  in  Sparta  Hülfe  suchten,  da  bewirkte  der  mdess  heim- 
gekehrte Lysandros .  dass  er  als  ]>ef ehlshaber  zu  Lande .  sein 
Bruder  Libys  als  Xauarch  ihnen  zu  Hülfe  gesandt  Avurden. 
Denn  ihm  lag  alles  daran ,  ein  so  gefährliches  Beispiel ,  das 
seine  Macht  in  ihren  Grundlagen  erschütterte,  schnell  zu  unter- 
drücken. Aber  auch  König  l'ausanias  im  Einverständniss  mit 
Agis  und  der  Mehrzahl  der  P^ihoren ,  zog  mit  einem  Heere 
gegen  Athen,  und  führte  unter  dem  Schein  sie  zu  bekämpfen, 
die  Herstellung  der  Demokracie  herbei.  -  Dies  war  für  Lysan- 
dros ein  harter  Schlag.  Li  Sparta  war  sein  Einfliiss  nicht  mehr 
herrschend ,  im  übrigen  Griechenland  eine  Hauptstütze  ihm 
entzogen.  Er  tritt  für  einige  Jahre  durchaus  in  den  Hinter- 
grund,  und  kaum  wird  sein  Name  einmal  genannt.  ^)     In  dieser 


ij  lieber  die  Klagen  des  Pharnabazos  und  die  Heise  zu  Ammon  Plut. 
Lys.  19.  20.  Schon  bei  diesei*  Reise  hat  Lysandros  das  Orakel  des  Am- 
mon zu  gewinnen  gesucht,  wenn  Ephoros  Angaben  richtig  sind.  Die  Ver- 
suche bei  den  Orakeln  in  Delphi  und  Dodona  sollen  nach  demselben  schon 
vorher  stattgefunden  haben.  Plutai'ch  a.  a.  O.  und  c.  25  und  Diodor  XIV, 
13.  vgl.  S.  144  A.  2  u.  A.  3.  S.  147  A.  2.  Xen.  Hell.  II,  1,  39.  Plut.  Lys.  26. 
[Lysandros  stand  auch  sonst  in  Verbindung  mit  Ammon.  Eine  Erscheinung 
desselben  bewog  ihn  einst  von  der  Belagerung  von  Aphj-tis  in  Pallene  ab- 
zustehen. Paus.  III,  18,  2.  Plut.  Lys.  20.  Ueberhaupt  ist  möglich,  dass 
er  von  Aberglauben  nicht  ganz  frei  war,  wenn  er  schon  die  Religion  im 
Ganzen  nur  als  Mittel  brauchte.  In  Delphi  stand  neben  seiner  Bildsäule 
die  des  Sehers  Abas.  Paus.  X,  9,  7.  Derselbe  III,  11,5,  nennt  Agias  einen 
lamiden,  Sohn  des  Agelochos,  Enkel  des  Tisamenos,  als  Seher  des  Lysan- 
dros bei  Aigospotamoi.  —  Ohne  Zweifel  muss  auch  X,  9,  7.  A,3a;  in  A-fii; 
umgeändert  werden.] 

2;  Scheibe  a.  a.  O.  S.  126—132.  Pausan.  III,  5,  1.  2.  Agis  tritt  nach 
der  Rückkehr  des  Pausanias  aus  Attika  ihm  entgegen. 

3)  Sievers  a.  a.  O  S.  32.  Wenn  er  bemerkt,  Plutarch  (Lysand.  21  vgl. 
Apophth.  reg.  et  imp.  p.  190e.  Apophthegm.  Lacon.  229  c.  d)  suche  diese 
Lücke  in  der  Geschichte  des  Lysandros  zu  füllen,  durch  übermüthige  Aus- 
sprüche ,  welche  er  sich  gegen  die  x\rgeier ,  Megarer ,  Boioter  und  Korin- 
thier  erlaubt  habe  und  dann  fragt,  wann  aber  Lysandros  in  dieser  Zeit 
durch  das  Gebiet  der  Boioter  gegangen  sei  und  wann  er  einen  Angriff  auf 
Korinth  gemacht  haben  könne,  so  thut  er  offenbar  Unrecht  die  Anekdoten 
gerade  in  diese  Zeit  zu  verlegen,  davon  sagt  Plutarch  nichts.  Von  einem 
Angriff  auf  Korinth  unter  des  Lysandros  Führung  wissen  wir  freilich  auch 


Alkibiades  und  Lysaxdros.  143 

Zeit  stürzt  das  ganze  kunstreiche  Gebäiide  seiner  Politik  zu- 
sammen. Der  Bund  mit  Persien  wird  durch  des  Kyros  Em- 
pönmg  imd  Tod  aufgelöst,  Sparta  wird  in  Krieg  mit  dieser 
Macht  verwickelt,  und  übernimmt  im  Gegensatz  zu  seiner 
früheren  Pohtik  die  Befreiung  der  Griechen  Vorderasiens.  Es 
hebt  die  Dekarchien  auf  und  stellt  die  alten  ^'erfassungen  her.^) 
Mit  welchen  Gefühlen  Lysandros  in  dieser  Zeit  sich  eine 
Stütze  nach  der  andern  entfallen,  und  sich  selber  bei  Seite 
geschoben  sah ,  das  lässt  sich  leicht  denken .  und  auf  diese 
Zeit  haben  wir  zu  beziehen,   was  Aristoteles  von  ihm  berichtet, 


sonst  nichts,  doch  könnten  töjv  KoptvSiwv  xei/-/)  auch  andre  Befestigungen 
der  Korinthier  sein,  und  es  lässt  sich  dabei  an  die  Zeit  denken,  wo  Lysan- 
dros den  athenischen  Oligarchen  zu  Hülfe  zog,  oder  wo  er  mit  Agesilaos 
nach  Asien  ging.  Beidemal  weigerten  die  Korinthier  und  Boioter  sich 
Theil  7.U  nehmen.  Auf  einem  blossen  Durchzug  durch  das  korinthische  Ge- 
biet lässt  auch  der  in  den  Apophth.  Lac.  gebrauchte  Ausdruck  ot£p/o|j.£vo; 
schliessen. 

1)  Hauptstelle  ist  dafür  Xen.  Hellen.  HI,  4,  2.  rpo;  os  touko  töj  Xoyiojj.«) 
-/.ai  cfjTo;  0'jv£;£/.5}£tv  ctürw  i^w'/szo  OTttu;  t«;  OExapyia;  rd;  -/aTaaraftetaa;  'jk 
h.dsvj  £v  Tai?  -oXeatv,  i-A-tr^'w/jAoLi,  oe  5ta  to'j;  icpopo'j; ,  oi  t«;  Trotxpio'j; 
TToXiTEia?  zapTjYYEiXav  ,  za>av  x'x-'x's~r\<szie  jj.£t'  'ÄYTjitXao'j.  Plut.  Ages.  6.  Sie- 
vers S.  22.  sucht  aus  Xenoph.  Hell.  HI,  2,  9.  nachzuweisen,  dass  kurz 
vor  Agesilaos  Zug  nach  Asien,  als  Derkyllidas  befehligte,  die  Dekarchien 
noch  bestanden  hätten,  und  vermuthet,  ihre  Auflösung  habe  in  Zusammen- 
hang gestanden  mit  der  Forderung  des  Tissaphernes  und  Pharnabazos,  dass 
die  Harmosten  entfernt  werden  sollten  Allein  seine  Gründe  sind  nicht 
überzeugend,  vielmehr  war  dies,  als  Reaction  gegen  die  Macht  des  Lysan- 
dros, wahrscheinlich  früher  geschehen,  vgl.  S.  142  A.  1.  [Auffallend  ist, 
dass  Xenophon  III,  5,  13  die  thebanischen  Gesandten  in  Athen  sagen  lässt: 
\i~'j  ~e  Yoip  T(üv  dpaoiTtüv  T'jpot'^vo'J-^Tat  "/ctl  'jt.'j  olxa  ävopwv  oO;  AuaavSpo; 
7.aT£5TY]3ev  Iv  iyÄrj-T^  r.ö\t\.  Diese  Gesandtschaft  fällt  in  den  Anfang  des 
korinthischen  Kriegs  395  Ol.  96,  2.  Aber  mehr  als  ein  Jahr  früher  396 
Ol  95,  4.  war  Lysandros  mit  Agesilaos  nach  Asien  gegangen,  um  die  von 
den  Ephoren  aufgehobenen  Dekarchien  herzustellen.  III,  4,  2.  vgl.  III, 
4,  8.  Die  Herstellung  ist  ihm  aber  bei  seinem  Verhältniss  zu  Agesilaos 
schwerlich  gelungen.  Die  Worte  III,  4,7:  a'jvT£-apaY[i-£V(»v  iv  xai;  ttoXeci  xinv 
7roX'.T£itt)v  v.otl  oüxe  5T,[Aoy.pax{a;  ext  o'jitjc,  uji-ep  It:  'A&Tjvaicuv,  oüxe  Sexapyia? 
iu-inEp  irX  A'jsdvopo'j  scheinen  nun  allerdings  darauf  zu  weisen,  dass  die 
Dekarchien  bei  Lysandros  Ankunft  noch  nicht  lange  gestürzt  waren,  und 
könnten  für  Sievers  Vermuthung  sprechen.  —  Deutet  etwa  Isoer.  Philipp. 
§.  86.  87.  auf  eine  Herstellung  der  Dekarchien  durch  Agesilaos,  wo  der 
Redner  das  Einführen  seiner  sxaipoi  als  ein  Haupthinderniss  des  Gelingens 
im  Krieg  gegen  Persien  anführt?] 


144  Alkibiades  und  Lysaxdros. 

dass  in  spätem  Jahren  eine  finstere  Melancholie  hei  ihm  her- 
vorgetreten sei.  'j  Wiewohl  ihm  aber  kein  äusserer  Anlass  zur 
Thätigkeit  geboten  war,  so  hat  er  inzwischen  sicherhch  auch 
nicht  gerastet.  Es  scheint,  dass  er  die  Mnsse  benutzte,  um 
in  Sparta,  wo  ihm  verfassungsmässige  Macht  nicht  länger  über- 
tragen wurde ,  sich  einen  geheimen  Anhang ,  eine  Hetairie  zu 
bilden,  und  dass  jetzt  Pläne  zu  Veränderungen  der  Verfassung 
seinen  Geist  beschäftigten. 2  Die  unabhängige  Stellung,  welche 
Athen  Sparta  gegenüber  bald  einnahm .  kam  ihm  dabei  zu 
Hülfe,  sein  Ansehen  wieder  zu  heben  und  seine  Politik  als  die 
für  Sparta  wahrhaft  erspriessliche  darzustellen.  Und  als  nun 
397  Agis  starb,  da  stellte  Lysandros,  dem  Sohne  desselben, 
Leotychides,  dessen  rechtmässige  Geburt  bestritten  wurde,  den 
Bruder  des  Agis,  Agesilaos.  zu  dem  er  längst  in  eng  befreun- 
detem Verhältnisse  stand  als  Thronbe^vverber  entgegen ,  und 
verhalf   ihm    durch    sein    Ansehen    zur    Herrschaft.  ■')      Durch 


')  Phit  Ly.-?.  2.  vgl.  Sievers  S.  32. 

-)  Ueber  den  Plänen  dei?  I.ysandros  liegt  bekanntlich  grosses  Dunkel, 
Mas  nicht  zu  vei'wundern  ist,  da  sie  nie  zur  Ausführung  kamen,  und  überdies 
solche  Dinge  in  Sparta  mit  grosser  Sorgfalt  verheimlicht  wurden,  daher  sagt 
Aristoteles  Polit.  VIII,  p,  194,  .30  Bekker:  wirsp  dv  AaxEoat[jiovi  «aoi  Ausav- 
Sprj-v  Tive;  d-i/Eip-^aii  ■Ao.-rCtJjzai  ttjv  'jjo.'zCl-A'jm ,  aber  die  Zusammenstellung  mit 
Pausanias  zeigt,  dass  er  bei  aller  Dunkelheit  im  Einzelnen  die  Umwälzungs- 
pläne im  Ganzen  für  begründet  hielt.  Dass  die  uns  erhaltenen  Nachrich- 
ten bei  Plutarch  und  Diodor  hauptsächlich  aus  Ephoros  entnommen  sind, 
hat  Sievers  S.  2'^.  29.  Anm.  25  gut  nachgewiesen.  Doch  hat  Plutarch 
mehrere  Quellen  benutzt ,  wie  die  Anführung  abweichender  Nachi-ichten 
darüber  ob  er  nur  allen  Herakleiden  oder  allen  Spartanern  das  Königthum 
habe  eröffnen  wollen,  beweist.  Lys.  24.  Wie  schon  oben  S.  142  A.  1  an- 
geführt worden  ist,  soll  Lysandros  bereits  zwischen  der  Eroberung  von 
Athen  und  der  Rückkehr  des  Thrasybul  die  Orakel  zu  bearbeiten  unter- 
nommen haben,  es  versteht  sich  aber  wohl  von  selbst,  dass  er  in  dieser 
Zeit  der  Zurücksetzung  nur  um  so  mehr  über  seinen  Plänen  brütete. 

3)  Dass  Lysandros  nicht  allein  den  Agesilaos  in  seinen  Ansprüchen 
unterstützt,  sondern  zu  denselben  veranlasst  habe,  sagt  ganz  bestimmt 
Plut.  Lys.  22  :  ir.zi  oe  ^Aft;  6  ßaaiXs-JC  It£X£utt,3£v  aosÄ^ov  (i.£v  'Ayt^^iXiov  xa- 
TaXiTTwv,  uiov  Se  vo}ii^6[i.£vov  A£co-'jyio'av ,  EpaoTTj;  toü  'AY'r^aiXao'j  YSP'""?  ^ 
A'joavopo;  Itteiüev  aOrov  ävTi/.otaßäv£3i}at  tt^^  ßasiXEia;  w;  'HoavcXEior^v  o-^Ta  Y"^"^" 
Giov.  Ages.  3 :  tov  'AY^^oiXaov  Irl  tt,v  ßaatXEiav  -pofjev.  vgl.  Pausan.  III,  8, 
10  :  Aa*A£5at,a6viot  os  v.atr:£p  irii  ccpiaiv  ov  o'jy.  irav-f)Y0tYOv  tö  d[J.'f  i3ßf|TYjij.a  I? 
A£XcfO'j;'  a'itio;  o  caot  oox£rj  Ausavopo;  ifhzzo  b  Apiatovtpixo'j  'A'jrpOAu)  au- 
OTüeuStuv  Ig  a-a^^To;  tyj-^  ßoiiiXeiav  y^'^^^'^'^'-   Xen.  Hell.  III,  3,  3.    Dass  dieser 


Alkibl^des  und  Lysandros.  145 

Agesilaos  hoffte  er  wieder  zur  Gewalt  zu  kommen,  indem  er 
ihm  die  Führung  des  asiatischen  Krieges  verschaffen  wollte, 
und  dort  als  sein  Begleiter  das  alte  Ansehen  herzustellen  ge- 
dachte ;  er  dachte  wohl,  dass  ein  König,  der  nicht  sowohl  dem 
gesetzlichen  Erbrechte  als  ihm  die  Herrschaft  verdankte,  weni- 
ger unabhängig  sein  werde,  als  einer,  dessen  Macht  sich  nur 
auf  das  Recht  stützte ;  er  dachte  vielleicht  auch  einen  solchen 
eher  stürzen  zu  können.  Also  veranlasste  Lysandros  seine 
immer  noch  zahlreichen  Anhänger  in  Asien,  den  Agesilaos  von 
Sparta  als  Heerführer  gegen  Persien  zu  verlangen.  Gerne 
verstand  sich  der  König  dazu,  und  jjerne  AAo^irde  ihm  das  Unter- 
nehmen gegönnt.  Nur  dreissig  Spartiaten  begleiteten  ihn  als 
eine  Art  von  Generalstab ,  unter  ihnen  war  Lysandros,  dessen 
Absicht  zunächst  darauf  ging,  die  Dekarchien  herzustellen. 
Auch  war  er  kaum  in  Asien ,  als  von  allen  Seiten  her  seine 
Anhänger  ihm  zuströmten,  ihn  überall  umgaben,  ihm  ihre  Auf- 
merksamkeit und  Verehrung  bezeugten,  um  seine  Gunst  buhl- 
ten. Er  schien  der  wahre  König  zu  sein,  Agesilaos  nur  ein 
Schattenbild.  Allein  Lysandros  hatte  sich  in  der  Person  des 
Agesilaos  geirrt.  Weit  entfernt  ein  solches  Yerhältniss  ruhig 
zu  ertragen,  fand  dieser  sich  durch  die  Zurücksetzung  tief 
gekränkt  und  Hess  den  Lysandros  seinen  Aerger  in  kleinlicher, 
ja  elender  Weise  fühlen.  Wer  von  diesem  ihm  empfohlen  war, 
konnte  sicher  sein  in  seinem  Begehren  abgewiesen  zu  werden, 
ja  er  ernannte  denselben  zum  Hohn  zu  seinem  xpsaioat-TjC, 
Speisemeister ,  und  sagte  spottend  zu  den  loniern ,  die  des 
Lysandros  Gunst  suchten,  jetzt  möchten  sie  seinem  Speise- 
meister die  Aufwartung  machen. ')      Lysandros   verlangte  nach 


im  Agesil.  1,  5.  von  Lysandros  kein  Woi't  sagt  ist  begreiflich.  Corn.  Nep. 
Ages.  1.  Ueber  die  Geburt  des  Leotychides  vgl.  Xen.  III,  3,  2.  Plutarch 
Lys.  u.  Ages.  1. 1.  Alcib.  23.  de  tranquill,  animi  467  f.  p.  567  Dübner.  Pausan. 
III,  8,  7.  der  am  günstigsten  für  Leotychides  ist,  Athen.  XII,  p.  535  f.  —  Mit 
Recht  macht  Sievers  S.  32.  auf  die  Hinneigung  des  Agesilaos  zu  dem  He- 
tairienwesen  aufmerksam,  das  cpiXexatpov  desselben  tritt  auch  in  Xenophons 
Enkomion  sehr  hervor.  Dass  Lysandros  die  Haupttriebfeder  der  Absen- 
dung des  Agesilaos  nach  Asien  war,  spricht  auch  Xenophon  sehr  bestimmt 
aus  Hell.  III,  4,  2.  vgl.  Pausan.  III,  9,   1.  Plut.  Lys.  23.  Ages.  6. 

>     1)  Xen.  III,  4,  7     10.  Plutarch.  Ages.  6,  7.  8.  Quaest.  conviv.  p.  644  B. 
p.  781  Dübner.  Lysand.  23.  24.  —  Dass  Xenophon  im  Agesilaos  von  diesen 

Vischer,  Schriften  1.  10 


146  Alkibiades  und  Lysandros. 

einer  kurzen  Erklämn^,  die  nicht  sehr  ehren  voll  für  Agesilaos 
erscheint,  i)  anderswo  verwendet  zu  werden ,  und  leistete  am 
Hellespont  dem  Staate  und  dem  Agesilaos  sehr  wesentliche 
Dienste.  Es  scheint  aber  auch  das  des  Königs  Neid  erregt 
zu  hahen,  er  benutzte  seine  ausgezeichneten  Talente  weiter 
nicht  mehr.  ^ 

Empört  über  solch  schnödes  Vei-fahren  des  Mannes,  der 
ihm  alles  verdankte,  ohne  irgend  eine  seiner  Absichten  eireicht 
zu  haben,  kehrte  Lysandros  nach  Verfluss  des  Jahres  nach 
Sparta  zurück.  Seine  auf  Agesilaos  gebauten  Pläne  waren 
vollkommen  gescheitert.  Man  mag  sagen,  er  hatte  es  verdient. 
Da  er  die  Menschen  nur  als  Werkzeuge  seiner  ehrgeizigen 
Pläne  ansah,  durfte  er  auch  von  ihrer  Seite  auf  nichts 
Besseres  Anspruch  machen.  Aber  dennoch  erscheint  das  Be- 
nehmen des  Agesilaos  gegenüber  dem  Manne .  ohne  den  er 
selbst  ein  kaum  genannter  Privatmann  geblieben  wäre ,  dem 
Sparta  die  Herrschaft  über  Griechenland  verdankte,  der  immer 
noch  Spartas  grösster  Staatsmann  war .  als  höchst  unedel, 
es  war  auch  unklug;  denn  solche  Beleidigungen  reizten,  ohne 
irgend  etwas  zu  nützen. 

In  der  That  gediehen  bei  Lysandros  Jetzt  Pläne  zur  Reife, 
die  früher  schon  ihn  beschäftigt,  aber  noch  nicht  so  feste  Ge- 
stalt gewonnen  hatten.  Während  des  peloponnesischen  Krieges 
und  unmittelbar  nach  demselben,  stand  er  so  hoch,  dass  eine 
Aendemng  der  ^'erfassung  ihm  schwerlich  nöthig  schien,  er 
hatte  factisch  alle  Macht.  Als  dann  sein  Einfluss  erschüttert 
wurde,  da  entwickelte  sich  ohne  Zweifel  der  Gedanke  an  eine 
Yerfassungsveränderung.  Noch  aber  machte  er  keinen  Ver- 
such  zur   Ausführung,    sei   es,    dass    er   noch  auf  andere  Art 


Dingen  ganz  schweigt  ist  ein  Beweis,  dass  selbst  er  an  dem  Benehmen  des 
Agesilaos  nichts  zu  rühmen  fand. 

1)  Xen.  Hell.  III,  A,  <K  Plut.  a.  a.  O. 

-)  Er  bewog  den  vornehmen  Perser  Spithridates  mit  bedeutendem  An- 
hange zum  Abfalle  von  Pharnabazos  Xen.  Hell.  HI,  4,  10.  Plut.  Ages.  8. 
Lys.  24.  Im  Agesilaos  macht  Xenophon  dem  Agesilaos  aus  dieser  Sache  ein 
grosses  Verdienst,  ohne  ein  "Wort  von  Lysandros  zu  sagen.  Nach  Plutarch 
a.  a.  O.  scheint  es,  als  ob  er  nach  diesen  Dienstleistungen  nach  Sparta 
z-irückgegangen  sei ,  ohne  Zweifel  Hess  Agesilaos  ihn  nicht  gerne  in  einer 
ziemlich  unabhängigen  Stellung  wirken. 


Alkibiades  und  Lysandros.  147 

seine  Macht  herzustellen  hoffte ,  sei  es,  was  wahrscheinlicher, 
dass  ihm  die  Verhältnisse  noch  nicht  günstig  schienen.  Jetzt 
aber  wollte  er,  dem  die  Könige  überall  im  Wege  standen  i), 
die  Königswürde ,  die  in  dem  Geschlechte  der  Eurypontiden 
lind  Agiaden  erblich  war,  allen  Herakleiden,  zn  denen  auch  er 
gehörte .  nach  andern  ]>erichten ,  allen  Spartiaten  zugänglich 
machen"^).  Dem  \'erdienste  iind  nicht  der  Geburt  sollte  sie 
gehören.  War  das  diirchgesetzt,  so  zweifelte  er  nicht,  selbst 
zum  Könige  gewählt  zu  werden.  Dass  er  zugleich  eine  Be- 
schränkimg des  Ephorats  beabsichtigte,  wird  zwar  nicht  berich- 
tet ,  ist  aber  höchst  wahrscheinlich ;  denn  die  Ephoren  hatten 
seine  Entwürfe  vielfach  durchkreuzt,  und  eine  Königswürde 
unter  den  damals  von  den  Ephoren  geübten  Beschränkungen 
konnte  seinem  Ehrgeize  kaum  genügen  ^  .  Zur  Erreichung 
dieses  Zweckes  bereitete  er  verschiedene  Mittel  vor.  ^'orzüglich 
suchte  er  durch  die  Orakel,  welche  damals  in  Sparta  noch  viel 
galten,  zu  wirken.  Allein  Delphi  und  Dodona  wiesen  seine 
Zumuthungen  ab,  und  die  Priester  des  Ammon  machten  sogar 
Anzeige  in  Sparta,  doch  ohne  Glauben  zu  finden  ^) .  Ein  fein 
angesponnener  Plan ,  durch  einen  vermeintlichen  Sohn  des 
ApoUon  zu  wirken,  scheiterte  an  dem  unerwarteten  Zurück- 
treten eines  Eingeweihten.     Merkwürdig   zur  Beurtheilung  der 


')  Plutarch.  a.  a.  O.  bringt  die  völlige  Ausbildung  der  Revolutions- 
pläne in  bestimmte  Verbindung  mit  dem  Zerwürfniss  zwischen  ihm  und 
Agesilaos,  wofür  auch  der  natürliche  Zusammenhang  spricht. 

2,  Diodor  XIV,  13.  Plut.  Lys.  24.  Com.  Nep.  Lys.  3.  die  oben  an- 
geführten "Worte  des  Agesilaos  v.ctTotXösat  ttjv  ßaatXe'i'/v  besagen  nichts  an- 
deres und  finden  ihre  Erklärung  in  denen  des  Diodor  T.a-zoJJjzo.i  tyjv  töjv 
'Hpa-/.Ä£io(7)v  [iaziKtw^.  [Nitzsch  sucht  die  ganze  Erzählung  von  Lysandros 
Revolationsplänen  zu  verdächtigen,   aber  mit  schwachen  Gründen.] 

•^,  Sievers  Gesch.  von  Griechenland.  S.  34  ff.  die  Ej^horen  waren  ihm 
in  Attika  und  bei  den  Bundesgenossen  feindlich  entgegengetreten,  vgl. 
S.    !4J  A.   2  Xen.  Hell.  11,  4,   29.   36.  38. 

■*,  S.  142  A.  1.  Corn.  Nep.  Lys.  3.  Er  stellt  die  Sache  so  dar,  als 
ob  der  Versuch  bei  Ammon  kurz  vor  der  Schlacht  bei  Haliartos  gefallen 
wäre,  eine  Annahme  für  die  allerdings  mehreres  anzuführen  ist,  wenn  nur 
nicht  Plutarch  und  Diodor  so  bestimmt  dagegen  wären.  Es  wäre  aber 
möglich  dass  Lysandros  bei  seiner  ersten  Anwesenheit  beim  Orakel  des 
Ammon  dort  nur  Verbindungen  angeknüpft  und  erst  später  den  missglück- 
ten Versuch  gemacht  hätte. 

10* 


148  Alkibiades  und  Lysaxdros. 

spartanischen  Zustände  ist  aber,  dass  er  sich  von  einem  gewis- 
sen Rhetor,  Kleon  ans  Halikarnass.  eine  Rede  ausarbeiten 
Hess,  mit  der  er  die  Spartaner  für  seine  Reform  zu  gewinnen 
hoffte'  .  Dass  dabei  seine  Genossen  ihm  besonders  Unter- 
stützung gewähren  sollten,  versteht  sich  von  selbst.  Und  der 
Boden  war  damals  für  Revolutionen  in  Sparta  nicht  ungünstig  2. 
Aber  mitten  aus  seinen  Plänen  raffte  ihn  der  Tod  weg.  Seit 
dem  pelo])onnesischen  Kriege  nämlich  hatten  sich  die  ehema- 
ligen Hundesgenossen  Spartas  auf  dem  Festlande,  besonders 
Theben,  diesem  sehr  entfremdet,  weil  Spartas  herrisches  We- 
sen sie  verletzte  und  in  ihrer  Unabhängigkeit  bedrohte.  Im 
Jahre  395  endlich  brach  die  Unzufriedenheit,  von  Persien  her 
noch  angeschürt,  in  offenen  Krieg  aus.  In  dieser  drohenden 
Gefahr  wandte  man  sich  wieder  an  Lysandros.  Mit  einem  im 
Norden  von  Boiotien  geworbenen  Heere  sollte  er  in  dieses  Land 
eindringen  und  bei  Haliartos  sich  mit  dem  von  Süden  vor- 
rückenden König  Pausanias  vereinigen,  um  so  Theben  zu  iso- 
liren  und  zu  erdrücken.  Mit  grosser  Thatigkeit  führte  er 
seine  Aufgabe  aus,  es  galt  ja  die  Behauptung  von  Spartas 
Herrschaft  über  Griechenland ,  unternahm  aber ,  da  er  den 
Pausanias  bei  Haliartos  nicht  antraf,  ganz  gegen  sein  früheres 
Kriegssystem  in  Ungeduld  einen  Sturm  auf  die  Stadt.  \'on 
zwei  Seiten  angegriffen  fiel  er  selbst  und  seine  Leute  wichen 
mit  ansehnlicliem  \'erlust  •'  .  Pausanias  schloss  bald  darauf 
einen  Waffenstillstand  und  räumte  Boiotien.  —  Spartas  Macht 
war  in  ihren  Grundlagen  erschüttert ,  der  Tod  des  Lysandros, 
dessen  Politik  man  nach  der  Vereinigung  Athens  mit  Theben 
wieder  volle  Gerechtigkeit  wiederfahren  liess ,  machte  tiefen 
Eindruck  in  Sparta .     und    sein  Ansehen    war    so   gross ,    dass 


I 


'j  Plut.  Lysand.  26.  Diese  Geschichte  beweist,  wenn  sie  wahr  ist, 
dass  Lysandros  seinen  Plan  Jahre  lang  verfolgte.  —  Plut.  Lys.  25.  Com. 
Nep.  Lys.  4. 

2;  Den  ganzen  bereits  sehr  unterhöhlten  inneren  Zustand  des  damali- 
gen Sparta  stellt  Sievers  S.  23  ff.  gut  dar.  vgl.  C.  F.  Hermann  antiquitat. 
Laconic    III.  u.  IV. 

3)  Das  ungeduldige  Angreifen  des  Lysandros  hatte  seinen  Grund  wohl 
theils  in  dem  persönlichen  Grolle  gegen  Boiotien ,  das  seit  der  Ueberwin- 
dung  Athens  ihm  überall  in  den  Weg  getreten  war,    theils  in  der  Absicht 


AlKIBIADES    und    LYSA^*DROS.  149 

Pausanias ,  auf  den  Tod  angeklagt ,  nicht  wagte  sich  vor  Ge- 
richt zn  stellen,  sondern  nach  Tegea  in  \'erbannnng  ging,  wo 
er  sein  Leben  beschloss  M .  Im  Hause  des  Ijysandros  aber 
fand  man  nach  seinem  Tode  jene  obenerwähnte  Rede ,  die 
seine  Absichten  enthüllte.  Agesilaos  wollte  dieselbe  den  Spar- 
tanern vorlegen,  um  das  Andenken  des  mächtigen  Mannes 
dem  Abscheu  Preis  zu  geben.  Aber  der  Ephore  Lakratidas 
war  verständiger,  er  rieth  dem  Agesilaos  den  Lysandros  nicht 
aus  dem  Grabe  zu  erwecken ,  sondern  die  Rede  mit  ihm  zu 
bestatten ,  die  so  überzeugend  und  schlau  abgefasst  sei.  Und 
Agesilaos  Hess  von  seinem  thörichten  Vorhaben  ab  ■^  . 

Ein  schönes  Ende  Avurde  so  dem  Lysandros  zu  Theil ,  er 
fiel  für  sein  Vaterland ,  das  er  w^  ährend  seines  Lebens  gross 
gemacht  hatte,  das  mit  seinem  Tode  schweren  Demüthigungeu 
entgegenging.  Tief  wurde  er  betrauert  und  in  den  folgenden 
Kämpfen  vermisst.  Aber  dennoch  macht  die  Betrachtung  sei- 
nes Lebens  einen  düsteren  Eindruck ,  und  sein  Tod  übt  nicht 
die  versöhnende  Kraft,  wie  der  des  Alkibiades ;  denn  noch 
stehen  grosse  revolutionäre  Pläne  im  Hintergrunde,  und  Avenn 
er  auch  nirgends,  wie  jener,  das  Vaterland  bekämpft  hat,  wenn 
er  sich  vielmehr  die  grössten  Verdienste  um  dasselbe  erworben 


die  Stadt  vor  der  Ankunft  des  Pausanias  zu  erobern ,  der  in  Folge 
der  Auffangung  eines  Boten  durch  die  Thebaner  nicht  zur  rechten  Zeit 
eintraf. 

V)  Der  Eindruck  den  der  Tod  des  Lysandros  und  die  schmähliche 
Kückkehr  des  Pausanias  in  Sparta  machten,  war  ausserordentlich  stark, 
und  wie  sehr  zu  Gunsten  des  Lysandros  erkennt  man  daraus ,  dass  gegen 
Pausanias  wieder  sein  Benehmen  bei  der  Herstellung  der  athenischen  De- 
mokratie, in  Hinsicht  auf  welches  er  freigesprochen  worden  war,  unter  die 
Klagepunkte  aufgenommen  wurde.  Xenoph.  Hell.  III,  5,  25.  Vgl.  Plut. 
Lys.  ao.  Pausan.  III,  4,  5.  Diod.  XIV,  81.  Den  Nachrichten  dieser 
Schriftsteiler  zufolge  erscheint  der  König  ziemlich  unschuldig.  Nach  Plutarch 
war  ein  Bote  von  den  Thebanern  aufgefangen  worden  und  nach  der  Schlacht 
bei  Haliartos  war  die  Stellung  der  Spartaner  zwischen  den  an  Zahl  über- 
legenen Thebanern  und  Athenern  höchst  bedenklich.  Aber  freilich  stan- 
den Spartas  Heere  zu  Lande  noch  im  Rufe  der  Unüberwindlichkeit  und 
der  Abzug  des  Pausanias  erschütterte  den  Kriegsruhm  und  damit  die  Macht 
Spartas  mehr,  als  irgend  ein  früheres  Ereigniss.  vgl.  Sievers  S.  6-5. 

2)  Plut.  Lys.  30.  der  sich  auf  Ephoros  bezieht.  Apophth.  Lacon.  p. 
212  c  und  229  e. 


150  Alkibiades  irsD  Lysandros. 

hat,  so  ist  doch  sein  besonnener,  kalter  Egoismus,  der  ihn 
zwar  vor  leidenschaftlichen  Schritten  bewahrte,  aber  anch  ohne 
Sehen  vor  irgend  einem  Mittel  das  Ziel  verfolgen  liess,  nicht 
geeignet  ihm  die  Liebe  des  Betrachters  zu  ge"v^-innen.  Ich  sage 
die  Liebe ;  denn  Interesse,  ja  Bewunderung  werden  wir  einem 
Mann  nicht  versagen  können ,  der  wie  er .  aus  ungünstiger 
Lage  sich  durch  seine  Tüchtigkeit  zu  solcher  Höhe  emporge- 
schwungen hat,  und  wenn  es  genügte,  dass  man  die  Bestre- 
bungen seiner  Zeit  begreife  und  sie  zu  beherrschen  verstehe, 
um  ein  grosser  Mann  genannt  zu  werden,  so  würde  Lysandros 
diesen  Namen  verdienen ;  jedenfalls  war  er  ein  ungewöhnlicher, 
gewaltiger  Mann,  und  nichts  ist  verkehrter,  als  das  Urtheil  des 
Nepos ,  oder  wer  immer  es  ausgesprochen :  Lysander  magnam 
reliquit  sui  famam,   magis  felicitate  quam  virtute  partam^  . 

Sie  beide .  Alkibiades  und  Lysandros .  sind  ächte  Kinder 
ihrer  Zeit ;  nur  Avenn  wir  das  beachten ,  werden  wir  ein  ge- 
rechtes Urtheil  über  sie  fällen.  Der  alte  Glaube,  die  alte  Sitte, 
die  alte  Geltung  der  Gesetze  waren  in  ganz  Griechenland  er- 
schüttert und  untergraben,  hier  offener  und  anerkannter,  dort 
unter  dem  Scheine  alter  Strenge  nicht  minder  tief;  laut  wurde 
der  Egoismus,  der  ^  ortheil  des  Einzelnen  als  höchstes  Gesetz 
gepredigt,  überall  ist  ein  Drängen  nach  Macht,  nach  Reich- 
thum  und  Ehre,  viel  Glänzendes  und  Grosses  kommt  dabei 
zu  Tage,  aber  das  grösste  fehlt,  die  feste  ethische  Grundlage, 
die  allem  Uebrigen  erst  die  höhere  Weihe  giebt,  und  die  fehlt 
auch  bei  allen  ihren  herrlichen  Anlagen  den  beiden  Koryphäen 
der  Zeit,  sie  fehlt  ihnen  in  besonders  hohem  Grade.  Bei 
Alkibiades  tritt  das,  ganz  entsprechend  dem  mehr  äusserlichen, 
heitern  Charakter  seiner  Vaterstadt,  mit  einer  gewissen  Naive- 
tät  hervor  in  einem  kecken,  leichtsinnigen,  selbst  liebenswürdi- 
gen Uebennuthe,  in  einer  unbändigen  Genusssucht,  treibt  un- 
stät  ihn  von  Einem  zxim  Andern,  reisst  ihn  hin  frevelhaft  die 
Hand  gegen  die  Vaterstadt  zu  erheben .  und  unterhöhlt  ihm 
den  Boden  zu  heilsamem  Wirken  2  ;  bei  Lysandros,  dem  Bür- 


^   Cornel.  Nep.  Lys.   1. 

^;  In  dieser  Beziehung  wird  man  fast  unwillkürlich  an  den  Koryphäen 
der  französischen  Revolution,  an  Mirabeau ,  erinnert,  der  den  sprechend- 
sten Beleg  dafür  abgiebt,  wie  ausserordentlich  hinderlich  selbst  dem  genial- 


Alkibiades  ukd  Lysaisdkos.  151 

ger  jenes  in  dorischer  Weise  mehr  nach  innen  gerichteten 
Sparta,  das  anch  bei  ganz  verändertem  Geiste  streng  bei  den 
alten  Formen  beharrte ,  äussert  es  sich  in  finsterem  Hasse 
gegen  Alles,  was  ihm  im  Wege  steht,  in  wohlberechnetera, 
ruchlosem  Missbraiiche  dessen ,  was  Andern  für  heilig  galt ; 
es  lässt  ihn  unverrückt  inid  rücksichtslos  das  Ziel  seines  Ehr- 
geizes verfolgen  und  als  dazu  die  gesetzliche  Ordnung  nicht 
mehr  genügte,  einen  Umsturz  der  lykurgischen  Verfassung  vor- 
bereiten. 

So  zeigt  uns  also  auch  die  Geschichte  dieser  zwei  merk- 
würdigen, von  der  Natur  herrlich  ausgestatteten  Männer,  wie 
wahre  historische  Grösse  ohne  eine  höhere  sittliche  Weihe 
nicht  möglich  ist;  sie  zeigt  uns,  wie  Freistaaten,  deren  Bürger 
und  wenn  sie  die  ersten  waren ,  mehr  sich  als  das  AYohl  des 
gemeinen  Wesens  im  Auge  haben,  ihrem  Verderben  zugeführt 
werden. 

Möge  Gott  vor  ähnlichen  Erfahrungen  uns  gnädig  be- 
wahren ! 


sten  Staatsmanne  bei  den  besten  Absichten  der  »schlimme  Ruf  einer  wüsten 
Jugend«  und  der  »Mangel  einer  völlig  reinen  Lebenslage«  ist.  Zu  einer 
völlig  reinen  Lebenslage  konnte  auch  Alkibiades  es  nie  bringen,  vgl. 
Dahlmann  Geschichte  der  französischen  Revolution  S.  245,  322  und  beson- 
ders die  schöne  Würdigung  des  grossen  Mannes  S.  325,  326. 


]52 


Alkibiades  und  Lysandros. 


Stammtafel  des  Alkibiades  von  väterlicher  und 
mütterlicher  Seite. 


Alkibiades  6  Tta/onoc 


Deinomache--  ^Kleinias 


Axiochos 


Alkibiades  Kleinias                  Kleinias 

I  der  in  Piatons  Euthydem 

Alkibiades  vorkommt    als    aör-yvc-i^ioi 

der  jüngere.  toO  vöv   ovto;  'AX-/.ip'.c>.^>o'j. 


11. 


Alkmaion 

I 

Megakles 
vermählt  mit  Agariste  aus  Sikyon 


Kleisthenes 
der  Gesetzgeber 


Hippokrates 


Megakles 


Deinomache 
vermählt  mit  Kleinias 

Alkibiades. 


Megakles 


Agariste 
verm.  mit  Xan- 

thippos 
,1 

Ariphron     Perikles     Euryptolemos 
der  ältere. 


DIE  OLIGARCHISCHE  PARTEI  UND  DIE  HETAIRIEN 

IN  ATHEN 

von  Kleislheiies  bis  ans  Ende  des  peloponnesischen  Krieges. ') 

[Eine  academische  Gelegenheitsschrift.     B"sel.     Schweighauser .      1836.] 

Von  Anfang  an  haben  die  Hellenen  in  ihrer  Staatsent- 
wicklung, wenn  auch  unbewusst,  den  Gnnidsatz  befolgt,  den 
Aristoteles  mit  klaren  Worten  ausgesprochen  hat,  dass  der 
einzelne  Mensch  nvir  als  ein  Theil  des  Staates  zu  betrachten 
sei,  dass  er  nur  durch  ihn  und  in  ihm  seine  Existenz  haben 
könne.  2]  Es  gebührt  demnach  dem  Staate  oder  seinem  aus- 
gesprochenen ^Villen,  dem  Gesetze,  der  unbedingteste  Gehorsam 
von  Seite  der  Bürger;  ihr  Wille  geht  in  dem  der  Gesammt- 
heit  auf.  Die  Idee  eines  solchen  Staates  ist  ihrer  Verwirk- 
lichung nahe  gebracht  worden  in  Sparta,  avo  das  Gesetz 
das  Leben  des  Einzelnen  bis  in  seine  kleinsten  Verzweigungen 
regelte  und  bestimmte  und  der  persönliche  Wille  vor  dem 
allgemeinen  durchaus  verschwand.  Jede  Handlung  des  Spar- 
tiaten  der  alten  Zeit,  jede  löbliche  That  war  nicht  sowohl  ein 
Ergebniss  der  Tugend  des  einzelnen  Bürgers,  als  vielmehr  des 
Gesetzes.     Von    diesem    Standpunkte    aus    fassten    die    Zeit- 


1)  [vergl.  jetzt  auch:  Büttner:  Geschichte  der  politischen  Hetärien  in 
Athen.  Leipzig  1840.  Diese  Abhandlung  hat  viel  Gutes,  verliert  aber  zu- 
viel Mühe  damit,  nach  Hegel' scher  Art  zu  zeigen,  dass  die  Hetairien  etwas 
nothwendiges  gewesen  seien.     G.  Wattenbach:   de  quadringentoriim  Athenis 

foctione.  Berlin  1842.  G.  R.  Sievers:  comuientationes  historicae  de  Xeno- 
phontis  Helletdcis.  pars  prior.  Quaestiones  de  libr.  I et  II.  Berlin.  Reimer. 
1833.  J.  J.  Rospatt:  Die  politischen  Parteien  Griechenlands,  ihre  Stellung 
und  Einwirkung  auf  die  Angelegenheiten  des  Landes  bis  zum  Untergange 
durch  die  Makedonier.] 

2)  Aristot.  Polit.  I,  2  pg.  3,  31  ff.  Bekker  vergl.  Hermann  Lehrbuch 
der  griech.  Staatsalterthümer  §.  51  folg. 


1  54       1)I^;    0].IGARCU ISCHE  PaRTEI  UND  DDE  HeTAIRIEN  IN  AthEN. 

genossen  seihst  den  Heldentod  des  Leonidas  und  seiner  Schaar 
anfij,  wie  es  in  der  ihnen  gesetzten  Inschrift  so  schön  und 
einfach  ausgedrückt  ist. 

Diese  Ansicht  vermochte  sich  aber  nur  so  lange  zu  halten 
als  überhaupt  die  alte  Sitte  und  der  alte  Glaube  feststanden ; 
denn  frühe  schon  trat  mit  ihr  in  feindliche  Berührung  das 
Bestreben  des  Individuums  sich  Geltung  und  Ansehen  zu  ver- 
schaifen,  ein  Streben  Avelches  bei  dem  hellenischen  Volke  un- 
gewöhnlich stark  war,  und  sich  in  den  allgemeinen  Staaten- 
verhältnissen Avie  in  den  einzelnen  Gemeinwesen  überall 
äusserte.  -  Es  liegt  in  demselben  einerseits  der  Grund  der 
unendlich  reichen  Lebensfülle  jenes  A'olks ,  während  es  an- 
derseits jeder  dauernden  Vereinigung  der  verschiedenen  Staaten 
entgegentrat,  und  die  Quelle  der  Eifersucht  ward,  welche  die 
Hellenen  ihre  edelsten  Kräfte  in  wechselseitigem  Kampfe  ver- 
zehren Hess;  denn  so  wie  einmal  das  alte  Herkommen  gebro- 
chen war,  Avollte  jede  Stadt  herrschen,  wenigstens  keine  Ober- 
hoheit einer  mächtigeren  anerkennen ,  und  diesem  Z^vecke 
wurde  selbst  das  Heil  des  Gesammtvaterlandes  nachgestellt. 
Darum  scheuten  sich  die  ersten  Staaten  schon  vor  den  Perser- 
kriegen nicht ^;,  den  Beistand  Persiens  zu  suchen,  und  mit 
welcher  Schamlosigkeit  später  die  Lakedaimonier  die  Freiheit 
der  Hellenen  an  die  Barbaren  verkauften  bedarf  keiner  Erwäh- 
nung. ^;  Dieselbe  Erscheinung  im  einzelnen  Staate.  Jeder 
J^ürger  will  seine  Persönlichkeit  geltend  machen;  wo  es  nicht 
aiif  gesetzlichem  Wege  möglich  ist.  wird  der  ungesetzliche 
nicht  verschmäht.  Das  Princip ,  dass  der  Einzelne  nur  im 
Staat  seine  Existenz  habe,  wird  zwar  beibehalten,  aber  umge- 
kehrt; denn  anstatt  dass  der  einzelne  Wille  sich  dem  allge- 
meinen unterordnet,   in  ihm  verschwindet,   soll  jetzt  der  Staat 


')  cf.  Herodot.  VII,  228.  —  Darin  liegt  eben  der  grosse  Unterschied 
der  Helden  von  Thermopylai  und  derer  von  St.  Jacob,  erstere  fielen,  weil 
sie  dem  Befehle  des  Staates  durchaus  nachkommen  wollten ,  letztere  weil 
sie  die  Weisungen  ihrer  Oberen  verletzten. 

2)  Vergl.  Krüger  Comment.  Crit.  et  Histor.  hinter  Dionys.  Hai.  Histor. 
p.  362  Anm.  1. 

3)  Herod.  V,  73. 

*)  Ausser  dem  antalkidischen  Frieden  sind  besonders  bemerkenf^werth 
die  im  peloponnesischen  Kriege  geschlossenen  Verträge.  Thucyd.  \1II, 
18.  37.   58. 


Die  oligarchische  Partei  ukd  die  Hetairien  in  x\then.      155 

das  Werkzeug  sein,  dem  einzelnen  AVillen  Geltung  nnd  Macht 
zu  verschaffen;  war  nach  jener  ursprünglichen  Ansicht  die 
Gesammtheit  Zweck,  so  wird  sie  jetzt  Mittel.  Nur  im  Staate 
kann  der  Hellene  Ansehen  gewinnen,  darum  liebt  er  ihn  auch 
noch  wo  er  ihm  bloss  Mittel  für  seine  ehrgeizigen  Zwecke  ist, 
er  ist  grosser  Aufopferung  dafür  fähig,  die  Verbannung  ist  ihm 
eine  furchtbare  Strafe;  aber  höher  als  der  Staat,  steht  ihm 
seine  Macht  im  Staate ,  dieser  opfert  er  in  Ermangelung  an- 
derer Wege  den  Staat  selber  auf.  ^;  Diese  Richtung  brachte 
eine  Menge  von  Parteikämpfen  hervor,  welche  alle  griechischen 
Freistaaten  mit  mehr  oder  weniger  Unterbrechung  aufzuweisen 
haben;  denn  so  wie  ein  Theil  der  Bürgerschaft  zum  Bewusst- 
sein  kam  zurückgesetzt  zu  sein,  oder  auch  nur  sich  zurück- 
gesetzt glaubte,  erhob  sie  sich  gegen  den  bestehenden  Zustand 
mit  allen  ihr  zu  Gebote  stehenden  Mitteln.  So  stand  gegen 
die  althergebrachte  Aristokratie ,  als  sie  zur  Oligarchie  ward, 
das  heisst,  ihr  Wohl  an  die  Stelle  des  Gesammtwohls  setzte, 
der  Demos  auf;  und  aus  diesem  Kampfe  gingen  zuerst  die 
Tyrannen  hervor,  die  man  als  die  höchste  Spitze  der  in- 
dividuellen Geltung  betrachten  kann.  Hier  hat  der  Wille  eines 
Einzelnen  die  Stelle  des  Gesetzes  eingenommen,  darum  be- 
kämpft sie  eben  Sparta  überall  und  stürzt  sie.  ^j  Verschiedene 
Verfassungen  folgen  in  den  verschiedenen  Staaten,  je  nach 
dem  Uebergewichte  der  einen  oder  andern  Partei.  Meist  ent- 
steht, wenigstens  auf  einige  Zeit,  Demokratie.  In  wenigen 
Staaten  aber  finden  sich  alle  mit  der  neuen  Ordnung  zufrieden, 
mancher  fühlte  sich  auch  abgesehen  von  der  Verfassung  nicht 
hinlänglich  geehrt,  andere  bevorzugt.  Dies  Gefühl  der  Zu- 
rücksetzung wurde  besonders  in  demokratischen  Staaten  bei 
vielen  den  ehemaligen  oligarchischen  Geschlechtern  angehö- 
rigen  Männern  rege;  während  es  den  einen  gelang  als  Volks- 
führer zu  Macht  und  Ehre  zu  gelangen,  sahen  die  andern  täg- 
lich ihr  altes  Ansehen  dahinschwinden.  Emporkömmlinge  höher 
steigen.  Solche  Unzufriedene  vereinigten  sich  nun  mit  Gleich- 
gesinnten zu  engeren  Genossenschaften,   (sTaipsia,  sratpia^) 


1)  cf.  Thucyd.  VIII,  91. 

2j  Thucyd.  I,   18.     Hermann  Lehrb.  d.  g.  St.  §.  '.VI.     Müller  die  Dorier 
I,   S.   160.     II,  S.   73. 

3)  Beide  Formen  scheinen  im  Gebrauch  gewesen  zu  sein ,  die  Behaup- 


156       UlE    OLIGARCHISCIiE  I'aRI'EI  UND  DIE  HeTAIRIEN  IN  AthKN. 

auv«>[i.oaia)  sich  mit  Rath  und  That  im  politischen  Leben  zu 
unterstützen,  und  auch  Männer,  die  nicht  mit  dem  politischen 
Zustande  unzufrieden  -waren .  aber  sich  persönlich  geltend  zu 
machen  strebten,  folgten  oft  ihrem  Beispiele.  Diese  Genossen- 
schaften finden  sich  über  alle  griechischen  Staaten  verbreitet, 
obwohl  in  verschiedenen  Formen.  Meist  haben  sie  oligarchische 
Tendenz ,  Aviewohl  das  nicht  absolut  nothwendig  ist ;  denn 
auch  die  Demokraten  können  sich  in  Hetairien  verbünden  und 
haben  es  gethan ;  und  der  gemeinsame  ( 'harakterzug  ist  nur 
den  Genossen  Macht  und  Ehre  zu  verschaffen.  Die  schönste 
Erscheinung  einer  solchen  politischen  "Verbrüderung,  welche 
die  Macht  mehrerer  Staaten  in  ihre  Hände  brachte,  bildet  der 
pythagoreische  Bi;nd.  ^)  Allein  das  zum  blinden  Gehorsam 
unter   die   Aristokraten   bestimmte    ^  olk   machte    diesem    Ver- 


tung,  dass  i-iir/rx  die  Freundschaft,  etaipeia  die  Genossenschaft  im  politi- 
schen Sinne  bedeute,  wie  sie  unter  andern  Bremi  zu  Isocrat.  exe.  I  auf- 
stellt, scheint  mir  schon  darum  unbegründet,  weil  i-ratpo;  sehr  oft  in  poli- 
tischem Sinne  vorkommt,  z.  B.  Thuc.  VIII,  65.  Die  Stellen,  welche  von 
der  Bedeutung  des  "Wortes  handeln,  sehe  man  bei  Krüger  1.  c.  p.  363. 
Auch  Schneider  zu  Plat.  Civit.  p.  365  d.  anerkennt,  wie  ich  sehe,  die  Form 
ixairAn.  in  der  politischen  Bedeutung.  [eTvipia  erscheint  als  allgemeiner 
Name  für  jede  Art  von  Genossenschaft.  Gaius  in  Dig.  XL VII,  22,  4. 
Sodales  sunt  qui  eiusdem  colleffü  sunt,  quam  Graeci  ETaipiotv  vocant.  Schoe- 
mann  Antiqu.  p.  lÜJ,  8.  350,  3.  Herod.  V,  71.  K'j>.uiv)  TTposzoiTjodij-evo; 
£TaipT,tr|V  TdJv  ■t[/.iv.H)ni(o'^  xaTaXaßjiv  tt,v  dv.pör.o'/.Vi  iT.z<.r/rf%T^.  Plato  Rep.  IV, 
pg.  443  a.  O'j'/ojv  -/.al  iepo3j"/.tü)v  y.ctt  xXo-tt»-^  -/.ai  -pooosiöjv  tj  ioia  eraiptuv  tj 
OY)|i.oaia  -oXscuv  sxto;  av  o-jto;  eirj ;  Dio  Chrys.  orat.  XXXII  §.  "0  pg.  440 
ed.  Emper.  erwähnt  in  Alexandrien :  2£t[ji7piaT0t  xai  xotaüi^'  sxEpa  i-zaioeitb'j 
6v6[jLaTa  {^TaipiJjv  M.)  idem.  orat.  XXXVIII,  §.  30.  pg.  548  ri  fäp  tttJ  Nixasojv 
EToitpeia  TcpooTide-ai.  idem.  or.  XLV,  §.  8.  pg.  589  xa&'  etaipeia;  TroXiTc-jeaS^a' 
(exaipias  M.)  id.  orat.  L,  §.  3.  pg.  620  oTt  [j.tjt£  eTaioeia  (Etatpia  m.)  -tvl 
■jreTrotBd);  .  .  ,  ebepyofxai.  In  der  ersten  Ausgabe  des  Ajas  zu  v.  682 
S.  322  sagt  Lobeck :  es  sei  sxaipei'/  und  eTctipia  so  gleich  gebraucht, 
ut  omnis  intemoscfndi  nota  sublata  sit ,  in  der  zweiten  Ausgabe  S.  256: 
nee  jj«<o  accttrafe  deßniri  posse,  lihruriine  peccaverint  an  scriptores  ipsi 
äiscrimina  a  j'j/erisg'?<e  servafa  interdmn  neglexerint.  L.  Lange  :  de  Ephe- 
tarum  Atheniensium  nomine  commentatio  Lips.  1ST3  leitet  pg.  22,  23 
ETodpta  und  STatpeta  von  eTocTpo;  =  ett^;  im  Sinne  von  Stammgenossen  ab 
';md  ändert  in  der  Stelle  Herodot  V,  71  r).<.-/.\i»-ii}yt  in  stwv  oder  cuveTtuv.] 
')  Herrn.  Lehrb.  d.  griech.  Staatsalt.  §.  9o.  —  Bernhardus  Krische 
de  societatis  a  Pythagora  in  urbe  Crotoniatarum  conditae  scopo  politico 
commentatio.  Gott.  1831.  [Gut  spricht  darüber  Grote  bist,  of  Gr.  III, 
p.   346  ff.] 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.      |  57 

suche,   ein  philosophisches  Ideal  zu  realisiren,   ein  furchtbares, 
blutiges   Ende. 

Besondere  l^edeutung  erhielten  aber  die  Genossenschaften 
oder  Hetairien  in  den  griechischen  .Staaten,  als  die  Demokratie 
und  Oligarchie  im  peloponnesischen  Kriege  den  offenen  Kampf 
gegen  einander  bestanden.  Sie  wurden  besonders  von  der 
höchsten  Wichtigkeit  für  das  Schicksal  Athens,  welches  ohne 
Würdigung  derselben  nicht  verstanden  Averden  kann ;  denn 
wiewohl  auch  von  den  Demokraten  nicht  ganz  verschmäht, 
wurden  sie  hier  das  Werkzeug,  dessen  sich  die  oligarchische 
Faktion  bediente,  um  die  Demokratie  zu  stürzen.  Die  Um- 
triebe der  Oligarchen  und  die  Genossenschaften 
Athens  von  Kleisthenes  bis  zum  Schlüsse  des  pe- 
loponnesischen Krieges  mögen  daher  hier  eine  kurze 
Darstellung  finden. 

Die  Verfassung,  durch  welche  Solon  den  athenischen 
Staat  zu  fester  Ordnung  zti  bringen  versucht  hatte,  und  worin 
sämmtliche  Classen,  doch  nach  Verhältniss  ihrer  Vermögens- 
leistungen ,  Theil  an  der  Regierung  erhielten ,  hatte  die  Par- 
teien nicht  zu  zügeln  vermocht;  denn  wahrend  die  früher  Be- 
vorrechteten sich  dadurch  beeinträchtigt  glaubten,  meinten  die 
untern  Classen  noch  zu  wenig  Rechte  erhalten  zu  haben ;  Pe- 
dieer,  Paralier  und  Diakrier  befeindeten  sich  nach  wie  vor, 
und  bereiteten  dem  schlauen  Peisistratos  den  Weg  zur  Ty- 
rannis  (560  v.  Chr.],  welche  er  mit  weiser  Mässigung  führte, 
und  auf  seinen  Sohn  Hippias  vererbte.  Diesen  stürzte  im 
Jahr  5 1 0  nicht  das  tollkühne  NVagniss  des  Harmodios  und 
Aristogeiton,  die  durch  persönliche  Beleidigung  gereizt  waren, 
sondern  die  Thätigkeit  der  damals  noch  aristokratischen  Alk- 
maioniden  und  die  Macht  Spartas.  ^]  Kaum  war  die  Tyrannis 
vernichtet,  als  sich  verschiedene  Parteihäupter  die  höchste  Ge- 
walt streitig  machten,  Isagoras  stand  an  der  Spitze  einer 
oligarchischen  Faktion;  Kleisthenes  hingegen,  dem  be- 
rühmten Geschlechte  der  Alkmaioniden  entsprossen,  und  erst 
durch  Isagoras  Uebergewicht  den  Oligarchen  entfremdet,  er- 
kannte ,  dass  Athens  Bestimmung  die  Demokratie ,  und  blei- 
bendes Ansehen  und  Macht  nur  durch  diese  und  in  dieser  zu 


1)  Thucyd.  VI,   54—59.     Herod.  V,   62  folg. 


j  58     Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  ix  Athen. 

gewinnen  sei.  Er  hob  danim  mehrere  Beschränkungen  der 
solonischen  Verfassung  auf,  und  vernichtete  besonders  diu'ch 
Errichtung  von  1 0  Phylen  anstatt  der  ehemaligen  4 ,  die  Er- 
innerung an  die  alten  Verhältnisse.  Nun  wandte  sich  Isagoras 
an  Sparta,  damit  es,  wie  früher  die  Tyrannis,  so  jetzt  die  De- 
mokratie stürze;  und  gab  somit  der  oligarchischen  Partei  ein 
Beispiel,  welches  dieselbe  unverrückt  befolgt  hat,  bis  sie  end- 
lich durch  Lysandros  das  Ziel  erreichte.  Isagoras  verfehlte 
aber  seine  Absicht ;  denn  Kleomenes  besetzte  zwar  Athen  und 
vertrieb  nebst  Kleisthenes  700  Familien,  welche  jener  angab. 
Als  er  aber  den  Rath  aufheben  und  alle  Gewalt  dem  Isagoras 
und  300  Männern  seiner  Partei  übergeben  wollte ,  da  erhob 
sich  die  Bürgerschaft.  Die  Spartiaten  wurden  zum  Abzug  ge- 
zwungen, die  Athener  aber ,  welche  sich  mit  ihnen  verbündet 
hatten,  hingerichtet.  Kleisthenes  kehrte  zurück  ^  ;  die  Demo- 
kratie war  jetzt  fest  und  entschieden  begründet,  die  Oligarchie 
nicht  nur  im  Principe  sondern  auch  in  ihren  Häuptern  ver- 
nichtet .  und  zugleich  ihr  altes  Ansehen  gebrochen .  weil  sie 
eigener  Herrschsucht  das  Wohl  des  Staates  aufgeopfert  hatte. 
Zugleich  hatte  iVthen  das  Gefühl  seiner  eigenen  Kraft  gegen- 
über Lakedaiinon  gewonnen  und  tritt  fortan  selbstständig  neben 
demselben  auf.  —  Rasch  und  fest  entwickelt  es  sich  darum 
nach  innen  und  aussen.  Der  Ostrakismos  setzt  dem  Besti"eben 
des  Einzelnen,  sich  über  den  Staat  zu  erheben,  ein  Ziel;  die 
Einführung  des  Looses  zur  Besetzung  der  meisten  Aemter 
spricht  den  Grundsatz  aus,  dass  für  diejenigen  Stellen,  die 
nicht  besonderer  Geschicklichkeiten  bedürfen,  alle  Bürger  gleich 
tüchtig  seien  ^  .  die  glücklichen  Kriege  mit  Boiotien ,  Euboia, 
Aigina  wecken  und  kräftigen  den  kriegerischen  Sinn. 

In  diesen  Parteikämpfen  des  Kleisthenes  und  Isagoras 
finden  wir  nun  schon  die  Elemente  der  attischen  Geschichte 
bis  zum  Ende  des  peloponnesischen  Krieges.  Auf  der  einen 
Seite  die  Masse  des  Volks,  schon  verschmolzen  mit  manchen 
adeligen  Geschlechtern,   und  geleitet  von  Männern  aus  diesen. 


1;  Ueber  diese  Unruhen,  die  -n-eiter  zu  entwickeln  nicht  hieher  gehört, 
vergl.  Herodot.  V,  06.  6S  folg.  VI,  131.  Hermann  Lehrb.  d.  gr.  Staats- 
alt. §.   111. 

2)  Ueber  diesen  Grundsatz  der  griechischen  Demokratie  vergleiche  man 
besonders  Aristot.  Polit.  VI,  9  pg.   160,  24  ff.  Bekker.. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairiex  in  Athen.      J  59 

Sein  Streben,  auf  wirkliche  Tüchtigkeit  begründet,  ist  jeder 
Bevorrechtung  ein  Ende  zu  machen ,  jedem  Einzehien ,  nicht 
nur  in  den  gewöhnUchen  bürgerlichen ,  sondern  auch  in  den 
politischen  ^Verhältnissen ,  das  gleiche  Recht  einzuräumen, 
Athens  Macht  zu  erweitern  und  mit  Sparta  zu  wetteifern.  Auf 
der  andern  Seite  stehen  die  Ueberbleibsel  der  alten,  einst  ehr- 
würdigen Aristokratie ,  durch  Zerrissenheit  geschwächt ,  aber 
noch  als  offene  Partei  (araaic ,  arajicLrai; .  Sie  stemmen  sich 
mit  aller  Macht  der  demokratischen  Entwicklung  entgegen, 
durch  welche  sie  den  alten  Einfluss  zu  verlieren  fürchten  ;  da 
eigene  Kraft  nicht  mehr  zum  Ziele  ^ührt,  wenden  sie  sich  an 
die  damaligen  Hegemonen  von  Hellas ,  an  die  Schirmherren 
aller  Aristokratien,  die  Spartiaten,  beschleunigen  aber  dadurch 
nur  den  Untergang  ihrer  Macht.  Hat  auch  das  Anrufen  spar- 
tanischer Hülfe  damals  noch  nicht  das  Gehässige  wie  später, 
weil  Sparta  noch  im  unbestrittenen  Besitz  der  Hegemonie  war, 
und  so  sich  in  die  Verhältnisse  der  meisten  Staaten  einmischte, 
so  bezeichnet  es  dennoch  schon  die  Richtung,  welche  hinfort 
die  Oligarchen  nahmen.  Ihr  Streben  ist  die  eigene  Herrschaft 
herzustellen,  die  Demokratie  zu  hemmen,  zu  stürzen,  wo  eigene 
Kräfte  nicht  genügen,  mit  Hülfe  der  Feinde.  Und  da  das 
nicht  mehr  offen  wie  unter  Isagoras  geschehen  konnte,  so 
nahmen  diejenigen,  welche  sich  durchaus  nicht  mit  der  neuen 
Ordnung  versöhnen  konnten,  ihre  Zuflucht  zu  geheimen  Ver- 
bindungen und  Umtrieben,  welche  Anfangs  ohne  feste  Orga- 
nisation, am  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  nach  einem 
zusammenhängenden  Plane  Athen  und  die  Bundesstädte  um- 
garnten \ind  in  der  Herrschaft  der  Dreissig  ihren  kurzen  aber 
blutigen  Triumph  feierten.  Dadurch  erhält  ihr  ganzes  Wesen 
den  Charakter  des  \'olksfeindlichen  und  ^'errätherischen.  Doch 
gilt  das  nicht  von  allen  Einzelnen,  welche  den  alten  Ge- 
schlechtern angehörten.  Vielmehr  finden  wir,  dass  die  edleren 
unter  diesen,  und  zwar  in  grosser  Zahl,  sich  bald  gänzlich 
der  Demokratie  anschliessen ,  bald  eine  ehrliche  und  offene 
Opposition  bilden ,  welche  nicht  dahin  zielte ,  die  Oligarchie 
herzustellen,  sondern  bloss  dem  übermässigen  Ueberhandneh- 
men  des  demokratischen  Princips  einen  Damm  entgegen  zu 
stellen.  Charakteristisch  ist  aber  selbst  für  diese  Männer  ein 
Hinneigen  zu   Sparta,    welches   ihrem  Ansehen  sehr    oft  scha- 


lÜO       l^IE   ÖLIG  ARCHISCHE  PaRTEI  UND  DIE  HeTAIRIEX  IN  AthEN. 

dete.  Einfliissreich  und  angesehen  bis  zur  Zeit  der  Allgewalt 
des  Perikles ,  wird  dieser  ehrenwertlie  Theil  der  alten  Aristo- 
kratie im  peloponnesisclien  Kriege  erst  ohnmächtig  und  ver- 
schwindet bald  ganz.  Denn  der  auf  Leben  und  Tod  zwischen 
dem  Volk  und  jener  im  Geheimen  arbeitenden  oligarchischen 
Faktion,  zwischen  der  Demokratie  und  den  oligarchischen  Hetai- 
rien  geführte  Kampf  erlaubte  keine  Stellung  in  der  Mitte  mehr. 

Durch  die  Aorhergehenden  K'dm])fe  gestählt  trat  nun  Athen 
mit  einer  Entschlossenheit  und  einer  Aufopferung  in  den 
Perserkrieg,  Avelchen  Hellas  die  Rettung  und  es  selbst  seine 
Grösse  verdankte.  Mit  Recht  l)licken  die  Xachkominen  mit 
höchster  Bewundening  auf  jene  Kämpfer  bei  Marathon,  die 
beinahe  Halbgöttern  gleich  geachtet  wurden.  \ 

Eine  gleiche  Gesinnung,  dasselbe  Streben,  Alles  für  das 
Vaterland  aufzuopfern,  beseelte  jetzt  Alle;  neben  Miltiades 
ficht  Themistokles,  Aristeides  vergisst  seinen  Hader  mit  diesem 
und  der  aristokratische  Kimon  geht  mit  dem  edlen  Beispiele, 
auf  Themistokles  Rath  die  Stadt  zu  verlassen  ^i,  voran.  Es 
ist  jene  Zeit,  von  der  Isokrates  sagt^  :  »Sie  liebten  so  sehr 
den  Staat,  dass  sie  selbst  Parteizwiste  nicht  darum  erhoben, 
welche  von  beiden  die  Gegner  verderben  und  über  die  Uebiigen 
herrschen  sollten,  sondern  welche  der  Stadt  mehr  Gutes  er- 
weisen könnten,  und  die  A  ereine  stifteten  sie  nicht  zum  eige- 
nen Nutzen,  sondern  zum  Besten  des  Volks.«  Bei  solchem 
Sinne  Aller,  und  geleitet  von  solchen  Männern,  vermochten 
die  Athener  bei  Marathon  allein  die  Feinde  zu  schlagen,  in 
Verbindung  mit  den  übrigen  dem  \'aterlande  getreuen  Helle- 
nen, die  Siege  von  Salamis  und  Plataia  zu  eningen,  und  bald 
darauf  die  Herrschaft  der  Perser  in  Vorderasien  zu  erschüttern. 
Und  leicht  erklärt  es  sich ,  dass  unter  solchen  Umständen 
Aristeides  selbst  allen  Athenern  den  Weg  zum  Archontat 
eröffnen  konnte.  *] 


1)  Isoer.  Paneg.  §.  82  squ.  Aristoph.  Wolken  985  u.  a.  a.  O.  dW' 
O'jv  TctÜT    £3tIv  i-it£tvct  i^  (wv  cxvCipa;  Mapai}cuvo|i.a/(x;  f/    [if^   raioeuat?    IftpeJ/ev. 

2j  Plut.  Cimon.   c.  5. 

3)  Paneg.  §.79. 

*)  Plutarch.  Arist.  22.  Ueber  die  verschiedenen  Ansichten  hinsichtlich 
dieser  Massregel  vgl.  Hermann  Lehrbuch  der  griech.  Staatsalterth.  §  112. 
Anm.  S. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen  .     161 

Doch  selbst  in  diesen  Zeiten,  wo  mehr  als  je  Athen  den 
Satz  verwirklichte,  dass  der  Einzelne  nur  für  die  Gesammt- 
heit  dastehe,  finden  sich  Spuren  besonderer  Verbindungen  ver- 
schiedener Art.  Die  Worte  des  Isokrates  an  der  angeführten 
Stelle':  tragen  zwar  zu  sehr  das  Gepräge  einer  rhetorischen 
Wendung  und  sind  zu  unbestimmt,  als  dass  man  daraus  allein 
auf  das  wirkMche  Dasein  von  Hetairien  schliessen  dürfte.  Be- 
stimmter aber  ist  schon  die  Nachricht  Plutarchs^),  dass  The- 
mistokles  einer  Hetairie  nicht  wenig  von  seiner  Macht  ver- 
dankte; der  Charakter  dieses  Mannes,  so  wie  seine  ganze  po- 
litische Laufbahn ,  giebt  derselben  sehr  viel  Wahrscheinlich- 
keit; nähere  Angaben  darüber  fehlen  uns  ganz,  docli  lässt  sich 
mit  einigem  Grunde  annehmen,  dass  Epikrates  von  Acharnai^), 
welcher  später  die  Familie  des  Themistokles  zu  diesem  nach 
Epeiros  führte,  und  dafür  auf  Kimons  Anklage  mit  dem  Tode 
bestraft  wiirde,  dazu  gehörte.  Der  Zweck  dieser  Verbindung 
Avar  aber  durchaus  nur  die  Macht  des  Themistokles,  und  in- 
sofern diese  auf  Athens  Grösse  und  Freiheit  beruhte ,  un- 
tadelhaft. 

Hingegen  stossen  wir  im  entscheidendsten  Momente  des 
Perserkrieges ,  unmittelbar  vor  der  Schlacht  bei  Plataia ,  auf 
eine  ■v\'irkliche  Verschwörung.  Mehrere  Männer  nämlich  aus 
angesehenen  und  ehedem  reichen  Geschlechtern,  welche  durch 
den  Krieg  arm  geworden  waren,  und  mit  ihrem  Keichthume 
auch  ihre  Macht  in  der  Stadt  dahinschwinden  sahen,  während 
andere  geehrt  und  zu  Aemtern  erhoben  wurden,  versammelten 
sich  heimlich  in  dem  Hause  eines  Plataiers ,  und  verbanden 
sich  eidhch  die  Demokratie  zu  stürzen,  nöthigenfalls  selbst 
durch  Verrath  der  Vaterstadt  an  die  Perser.    Aber  als  sie  schon 


1)   Panegyr.  §.  "9 :  v.ai  ~az  sTct'.peia;  vj^tff[<j't  o'jy  ürsp  töjv  tota  cjacp epov- 

-j  Plutarch.  Arist.  2 :  ö  [aev  o'jv  0£u.t3TO-/.).-/i;  £i;  £-atp£iav  £[Ji.ßaA(uv 
ea'jTÖv,  z\/z  -poßXrjji.ct  -/ai  o'jva[jiiv  o'jvc  £-j7,aTacpp6vr,tov ,  woie  y.ai  r.ohz  töv 
etzovTa  TtaXü);  cxvtöv  ap?£tv  'A9r|'/a[u)v  ä'vrep  i'c;&;  t)  v.al  y.otvo;  o.~azi..  Mr,0£T:oT£ 
£i:r£N  eii;  toijtov  i-^ia  7,a&iaai[j.i  tov  ftpovov,  dv  tu  rXio^i  O'josv  e;0'j3i  oi  cpiAo'. 
zap'  l[xot  Ttt»v  ÄÄXoTpitov.  Darauf  gründet  sich  wohl  was  mein  verehrter 
Lehrer  Herr  Prof.  Kortüm  in  der  Inauguralrede :  die  Stellung  des  Thuky- 
dides  zu  den  Parteien  Griechenlands.  Bern  1833.  p.  11  über  die  Stiftung 
der  Vereine  durch  Themistokles  sagt. 
3)  Plutarch.  Them.  24. 
Vis  eher,  Schriften  I.  11 


162     Die  ölig  archische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen. 

zahlreiche  Anhänger  gewonnen,  vereitelte  die  Weisheit  des 
Aristeides  das  Beginnen.  Sobald  er  nämlich  Kunde  davon 
bekam,  liess  er  nur  acht  A'erschworne  verhaften  und  stellte 
sich  als  ob  er  von  den  Uebrigen  nichts  wisse.  Den  beiden 
schuldigsten,  Aischines  von  Lamptrai  und  Agesias  aus  Achar- 
nai ,  gelang  es  zu  entkommen ,  die  andern  sechs  setzte  der 
Feldherr  wieder  in  Freiheit,  indem  er  sie  auf  die  Schlacht 
hinwies,  als  die  schönste  Gelegenheit  das  Vergehen  zu  sühnen. 
So  blieb  dieses  frevelhafte  Unternehmen  ohne  Erfolg  ^) . 

Nach  der  Wiederherstellung  Athens  nahm  gleichzeitig  mit 
der  Gründung  der  Seeherrschaft  und  der  steigenden  Spannung 
gegen  Sparta,  der  demokratische  Geist  immer  mehr  überhand. 
Diesem  widersetzte  sich  eine  aristokratische  Partei,  an  deren 
Spitze  Kimon,  der  Sohn  des  Miltiades,  stand,  und  zwar 
scheint  nicht  bezweifelt  werden  zu  dürfen,  dass  dieselbe  nicht 
blos  der  Erweiterung  der  Demokratie  entgegen  arbeitete,  son- 
dern auch  die  frühere  Verfassung,  wenigstens  wie  sie  durch 
Kleisthenes  geordnet  worden  war,  herzustellen  trachtete 2^. 
Eigenthümlich  und  ehrenwerth  ist  bei  dieser  Partei,  die  wahr- 
scheinlich in  einer  Hetairie  des  Kimon  ihren  Mittelpunkt 
hatte  3) ,  das  Bestreben,  durch  Fortsetzung  des  Perserkriegs  den 
beweglichen  Sinn  des  attischen  Volks  nach  Aussen  zu  leiten ; 
aber  damit  war  ein  übertriebenes  Hinneigen  zu  Sparta  ver- 
bunden. Anfangs  neigte  sich  das  Glück  auf  ihre  Seite ;  denn 
durch  Spartas  Hass  unterstützt,  gelang  es  ihr,  den  Themisto- 
kles    zu    stürzen '') ,    und   Kimons    Stellung   an    der    Spitze    des 


1)  Plutarch.  Arist.  13.  Wahr.scheinlich  hatte  das  nahe  Beispiel  von 
Theben,  wo  die  Oligarchie  sich  an  die  Perser  anschloss,  auf  diese  Athener 
gewirkt.  Vergl.  ausser  Herodot  VI,  86—88  Thucyd.  III,  62.  Dass  Hero- 
dot  der  Verschwörung  nicht  erwähnt ,  erklärt  sich  vielleicht  daraus ,  dass 
die  ganze  Sache  sehr  lange  geheim  blieb. 

'-)  Demosth.  c.  Aristocr.  p.  688 :  v.al  KtfAU)',/a,  ÖTt  tt^v  Tra-ptiv  p-e-i'/Ä-^r^'^t 
roXixefav  £cp'  sauioj  Ttapa  xpEic  [as-j  d-'f^aa^  'hr^'fO'jc,,  t6  (atj  ftavano  C^p-twoat, 
■7T£VTT]"/CovTa  0£  TaXct^Ta  siclrpalav,  —  das  ist  wohl  auf  den  Prozess  nach  der 
Rückkehr  von  Thasos  zu  beziehen.  —  Man  vergl.  Plutarch.  Cim.  15.  Demo- 
sthenes  verwechselt  Kimon  und  Miltiades.  vgl.  jetzt  Schriften  I  S.  35  A.  1 . 

3)  [cpiXot  oder  sxaipoi  des  Kimon  werden  oft  genannt,  namentlich  in  der 
Schlacht  bei  Tanagra  und  da  besonders  Euthippos  der  Anaphlystier.  cfr. 
Plut.  Cimon  17.     Pericles  10.  vgl.   Schriften  I  S.  47.] 

*)  Ueber  Themistokles  Sturz  vergl.  Thucyd.  I,   135  folg.  Kimons  Theil- 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.      163 

Staates  schien  durch  den  herrlichen  Sieg  am  Eurymedon  469) 
befestigt.  Allein  sein  zweideutiges  Benehmen  gegen  Makedo- 
nien (463?)^/,  brachte  ihn  bald  darauf  vor  Gericht 2],  und  wie- 
wohl er  freigesprochen  ^^•urde,  wurde  sein  Ansehen  doch  sehr 
dadurch  erschüttert,  besonders  da  er,  nicht  vorsichtiger  ge- 
macht, der  Demokratie  immer  entschiedener  entgegentrat.  Als 
er  daher  nach  dem  Abfalle  der  messenischen  Heloten  von 
Sparta  das  Volk  dazu  bewog,  ihn  mit  einem  Heere  den  Lake- 
daimoniern  zu  Hülfe  zu  senden,  bald  aber  dasselbe  durch  die 
schnöde  Behandlung,  die  es  vor  Ithome  erfuhr,  erbittert  zu- 
rückführen musste  461  ,  war  sein  Sturz  entschieden  3;  ,  den 
überdies  ein  mächtiger,  ihm  an  Geist  überlegener  Widersacher 
beschleunigte . 

Perikles  nämlich,  der  Sohn  des  Xanthippos,  welcher 
zuerst  in  dem  Prozess  wegen  Einverständnisses  mit  Makedo- 
nien gegen  Kimon  aufgetreten  war,  hatte  dessen  Abwesenheit 
im  Peloponnese  benutzt,  seine  eigene  Macht  fester  zu  begrün- 
den, so  dass  jener,  kaum  zurückgekehrt,  als  lakonisch  und 
dem  Volke  feindlich  gesinnt,  durch  den  Ostrakismos  aus]Athen 
entfernt  wurde  *  .  Fast  gleichzeitig  gelang  es  Perikles .  den 
politischen  Einfluss  des  Areiopagos ,  die  letzte  verfassungs- 
mässige Stütze  der  Aristokratie,  zu  vernichten  ^j ,  wobei  er  je- 
doch nicht  selber  hervortrat,  sondern  seinen  Freund  Ephialtes, 
den  Sohn  des  Sophonides .  den  Antrag  stellen  Hess ,  einen 
durchaus  edeln  unbescholtenen  Mann,  der  aber  durch  seine 
demokratische  Gesinnung  den  unversöhnlichen  Groll  der  Gegner 
auf  sich  lud.  —  In  dem  Verhältnisse  des  Perikles  zu  diesem 
Ephialtes.   zu  D  e  m  o  n i  d  e  s  von  O  i  e  6'    und  andern  Männern, 


nähme  geht  besonders  aus   der  unedeln  Verfolgung  des  Epikrates   hervor. 
Vergl.  oben  p.  25  u.   161.     Plut.  Them.  24. 

1)  [46.3,  da  es  nach  der  Eroberung  von  Thasos  geschah.] 

2)  Plut.  Cim.  14.     Pericl.   10. 

3)  [Nach  Krüger  464.]     Thucyd.  I,   102.     Plut.  Cim.   16.  17. 
4;,   Plut.   Pericl.  9.     Cim.   17.  " 

°,  Vergl.  besonders  Forchhammer  de  Areopago  non  privato  per  Ephialtem 
homicidii  iudicüs  contra  Boeckhium  disputatio  Kil.  1S28.  Ariatot.  Polit. 
II,  12  pg.  .56,  20  Bekker. 

6)  [cf.  Sintenis  zu  Plutarch  Pericl.  9  vielleicht  war  dieser  Demonides 
derselbe  mit  dem  Damonides ,  den  Steph.  Byz.  s.  v.  "Oa  anführt  Adji-wv 
A-/[xa)vioo'j  "LIoii)£v.     Üebrigens   ist    Ija  zu   unterscheiden   von  OtiTj  oder   Ov] ; 

11* 


164     Die  oligarchische  Partei  uxd  die  Hetairiex  in  Athen. 

und  in  seiner  Gewohnheit,  selten  selber  aufzutreten,  sondern 
durch  vertraute  Freunde  seine  Pläne  vor  das  Volk  zu  bringen  M, 
lässt  sich  eine  Hetairie  nicht  verkennen ,  Avelche  er  aber  nur 
so  lange  gebraucht  zu  haben  scheint,  bis  er  die  entgegen- 
stehenden aristokratischen  Hetairien  des  Kimon  und  Thuky- 
dides  gebrochen  hatte  ^  .  Sie  trägt  aber  wie  die  gleich  zu  er- 
wähnende des  Thukydides  und  die  des  Themistokles  einen  ge- 
setzlichen Charakter,  soweit  er  bei  solchen  YerT)indungen 
überhaupt  möglich  ist. 

Die  OHgarchen  hingegen,  durch  Kimons  Verbannung  eines 
Führers  beraubt  und  unfähig,  Perikles  offen  entgegenzuwirken, 
suchten  jetzt  im  Geheimen  durch  Verbmdung  mit  Sparta  die 
Verfassung  zu  stürzen.  Genauere  Nachrichten  fehlen  uns  lei- 
der über  die  nächsten  Ereignisse,  und  die  Erzählungen  des 
Thukydides  und  Plutarch ,  der  hier  wohl  aus  guter  Quelle 
schöpfte,  sind  auf  den  ersten  Blick  scheinbar  in  Widerspruch. 
Bald  nach  der  Entfernung  des  Kimon  nahmen  nämlich  die 
Athener  offen  eine  feindselige  Stellung  gegen  Sparta.  Im  Jahr 
458  brach  ein  Krieg  mit  einigen  lakedaimonischen  Bundesgenos- 
sen, den  Aigineten,  Epidauriem  und  Korinthern  aus,  in  welchem 
die  Athener  zur  See  und  zu  Lande  unter  Leokrates  und  My- 
ronides  siegreich  waren.  Während  desselben,  457,  zogen  die 
Spartiaten  mit  einem  Heere  von  11500  HopHten  den  Doriem 
in  der  Tetrapolis  zu  Hülfe  gegen  die  Phokier,  welche  densel- 
ben eine  Ortschaft  entrissen  hatten.  Nachdem  sie  aber  diese 
genöthigt  hatten  die  Erobenmg  ^^•ieder  herauszugeben,  verweil- 
ten sie  längere  Zeit  in  Boiotien,  weil  ihnen  weder  der  Rück- 
weg: über  den  Isthmos   noch  der   über  den   krisaiischen  Meer- 


ersteres  gehört  zur  Phyle  Pandionis ,  letzteres  zur  Oineis ,  und  Demonides 
heisst  von  Oie.     O'iVj&ev.] 

ij  Plut.  Pericl.  1 :  b  ok  -Aal  -oü  OT,fiO'j  t6  a'jveyi;  cie'jyojv  v.ai  tov  v.öpov, 
olov  iy.  oia/.£(ji.ii.äT(uv  s-X-rjaia^ev,  oüx  iril  -rf^zi  -pd'(\j.'x-i  XsYtuv,  o'jo  dzi  -ao'.duv 
ei;  TÖ  -Xfjöoi;,  düX'  ioLu-ö^,  iua-ep  ttjv  2aXa[Atviav  xpiTjOT],  cpr^si  Kp'-'jXao;,  -ooj 
Ta;  it.S'(aKai  xpeta;  £7:t8too'j;,  xäXXa  0£  cctXous  v.ai  pTjtopa;  etatpou;  [Geel: 
STEpo'Jc]  •/.a9'.£i;  erpa-TsV  wv  eva  cpaol  Y^^'^a&ai  'E'ftä/-T,v.  Vergl.  c.  9. 
[Ueber  die  Hetairie  des  Perikles  vgl.  man  noch  Plut.  Pericl.  16  :  ol  x(u[jir/ot 
Iltizii-pa'io'xz  ix£v  veo'ji;  to'j?  -ept  aüiöv  £-a(po'j;  -AaXoüvTE;.  Plut.  praec.  reip. 
ger.  15.  pg.  991  Dübner.  Pyrilampes  wird  iraipo;  vom  Perikles  genannt,  ob- 
gleich es  weniger  im  politischen  Sinne  gemeint  scheint.     Plut.  Pericl.  c.  13.] 

2)   ^Diess  ist  irrig.] 


Die  ölig  archische  Partei  und  die  Hetairibn  in  Athen.     165 

busen  sicher  schien ;  denn  die  Athener  beherrschten  diesen  mit 
ihrer  Flotte,  während  sie  jenes  durch  den  Besitz  von  Megara 
Tind  Pegai  Meister  waren.  Dazu  kam  aber,  dass  die  Lake- 
daimonier  auch  heimlich  von  athenischen  Männern  herbeigre- 
rufen  wurden,  welche  hofften  durch  sie  der  Demokratie  und 
dem  ]iau  der  langen  Mauern  ein  Ende  zu  machen  i) .  Da  zo- 
gen ihnen  die  Athener  mit  ihren  Bundesgenossen  14000  Mann 
stark  entgegen ,  um  ihnen  den  RückAveg  abzuschneiden  und 
weil  sie  Argwohn  wegen  eines  Anschlages  auf  ihre  Verfassung 
hatten,  erlagen  aber  in  einer  blutigen  Schlacht  bei  Tanagra  in 
Boiotien.  Mitten  im  Gefechte  ging  die  von  den  Bundesgenos- 
sen in  Thessalien  geschickte  Reiterei  zum  Feinde  über,  die 
Feloponnesier  aber  verheerten  das  Gebiet  von  Megara  und 
zogen  dann  über  den  Isthmos  nach  Hause.     So  Thukydides. 

Plutarch^)  erzählt  Folgendes.  Als  sich  das  athenische 
Heer  versammelte,  erschien  auch  Kimon,  und  stellte  sich 
unter  die  Reihen  seines  Stammes ;  der  Rath  gebot  aber  den 
Feldherrn,  ihn,  den  Verbannten  nicht  aufzunehmen;  denn  es 
hiess,  er  wolle  das  Heer  in  Unordnung  bringen  und  die  Lake- 
daimonier  gegen  die  Stadt  führen.  Kimon  leistete  dem  Be- 
fehle ungesäumt  Folge,  forderte  aber  seine  Genossen,  nament- 
lich Euthippos  von  Anaphlystos,  auf,  die  Beschuldigung  des 
Lakonismus  durch  die  That  von  sich  zu  weisen.  Diese  nah- 
men die  Waffenrüstung  des  Kimon  in  ihre  Mitte,  und  hundert 
an  der  Zahl  fanden  sie  alle  den  Heldentod,  einer  neben  dem 
anderen.  Von  Reue  ergriffen  riefen  darauf  die  Athener,  auf 
Perikles  eigenen  Antrag,   den  Kimon  zurück. 

P>etrachtet  man  diese  Erzählungen  unbefangen,  so  ergiebt 
sich  wohl  folgendes  Resultat.  Wähi-end  Kimons  Verbannung 
waren  ohne  sein  Mitwissen  einige  Oligarchen ,  die  früher  sich 
an  ihn  angeschlossen  hatten,  in  Verbindung  mit  den  Feinden 
getreten.  Diese  Umtriebe  waren  aber  zu  früh  ruchbar  gewor- 
den, um  zu  einem  Ziele  zu  führen.  Kimon  war  in  warmem 
Eifer   für   Athens   Wohl   herbeigeeilt,    seine   Anhänger    hatten 


ij   Thucj-d.  I,  107  :  tö  oi  tt  v.al  avops?  xwv  'ASr^vaituv  Itttjyov  aÜTOö;  xpucpa' 

2j  Plut.  Pericl.  10.     Citn.   17.     [Im  Pericl.  10  sagt  Plutarch ,  die  cpiXoi 
des  Perikles  hätten  den  Kimon  vertrieben.] 


166      I^IE   OLIGARCHISCHE  PaRTEI  UND  DIE  HeTAIRIEX  IN  AthEN  . 

zum  Theil  dieselbe  Gesinnung,  die  Schuldigen  aber  benutzten 
eben  die  Schlacht,  um  die  Avirkliche  Schuld  dadurch  zvi  sühnen, 
wie  22  Jahre  früher  jene  Männer  in  Plataia.  Ohne  Z^veifel 
Avar  der  Uebergang  der  thessalischen  Reiterei  nicht  zufällig. 
Was  aber  vollends  das  Dasein  eines  oligarchischen  Complottes 
ausser  allen  Zweifel  setzt,  ist  die  gleichzeitige  Ermordung  des 
Ephialtes ,  -welche  seine  Feinde  durch  den  Tanagraier  .\risto- 
dikos  hatten  ausführen  lassen  ^^ ,  Wie  sehr  die  ganze  Sache 
in  Dunkel  gehüllt  war.  geht  daraus  hervor,  dass  noch  zu  Anti- 
phons Zeiten  der  Mörder  nicht  bekannt  war  ^  . 

Nach  seiner  Zurückberufung  ist  Kimon  nicht  mehr  als 
Parteihaupt  thätig  gewesen,  wohl  aber  wandte  er  seinen  Ein- 
fluss  wieder  dafür  aii,  Sparta  und  Athen  zu  versöhnen  imd  die 
hellenischen  Streitkräfte  noch  einmal  gegen  die  Perser  zu 
führen.  Es  gehört  nicht  hieher  zu  erzählen ,  wie  er  im  Jahre 
450  3  einen  fünfjährigen  Frieden  zwischen  den  beiden  Staaten 
zu  Stande  brachte^),  und  dann  bei  der  Belagerung  von  Kition 
in  Kypros  sein  Leben  beschloss  ^  .  Mit  seinem  Tode  endigte 
der  Heldenkampf  der  Athener  gegen  die  persische  Macht. 

Aber  der  Kampf  der  Parteien  im  Innern  hörte  nicht  auf. 
Vielmehr  stellt  sich  jetzt  als  Gegner  des  Perikles  an  die  Spitze 
der  Aristokraten  Thukydides,  der  Sohn  des  Melesias.  aus 
Alopeke  ^) .  Dieser  Mann ,  dem  Kimon  nahe  venvandt ,  und 
unter  die  edelsten  Männer  Athens  gerechnet "  .  suchte  dadurch 
mit  mehr  Entschiedenheit  den  Demokraten  entgegenzuwirken, 
dass  er  die  in  der  letzten  Zeit  zerstreuten  Aristokraten  alle  zu 


1)  Aristoteles  bei  Plutarch  Perikles  10.  K.  F.  Hermann  in  der  Ee- 
cension  von  Scheibe  und  Büttner  -wollen  die  einzelnen  oligarchischen  Com- 
plotte  von  den  Hetairien  als  solchen  -wohl  geschieden  haben. ^ 

■-.  Antipho  de  caede  Herodis  c.  6S  'also  nach  der  Eroberung  von 
Mj-tilene  durch  Faches.^ 

3j   [oder  4.51  nach  Krüger.] 

*)  Thuc.  I,  112. 

5)  Flut.  Cim.  c.   19.     Thuc.  1.  1. 

6;  [Von  Thukydides  sagt  der  Scholiast  zu  Aristid.  örrsp  twv  T£~apwv. 
vol.  III  pg.  446  Dindorf.  :  oj  tön  c-j-pfp^'f ^'^  '-£7-''  ^''•'■^  a/.).ov  -tv«  ?pta3-:po'.fCiv 
TT,;  t:ö/.£(u;,  w  y.ai  6  or,ao;  ara;  i-d%tzo.  Thukydides  heisst  -/.rfiecxr^z  auch 
^aijiflciö;  Kimons.     cf.  Flut.  Fericl.   11  und  Sintenis  dazu.[ 

'';  Aristot.  bei  Flut.  Xicias  2. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen  .     167 

einer  Partei  oder  Genossenschaft  organisii'te  ^  ,  welclie 
nach  bestimmter  Verabredung  und  einem  festen  Plane  handelte. 
Von  geheimen  Umtrieben  und  Verbindungen  mit  den  Feinden, 
wozu  es  an  Gelegenheit  nicht  gefehlt  hätte,  finden  wir  aber 
unter  seiner  Leitung  keine  Spur,  und  seine  Hetairie  erscheint 
darum  nur  als  eine  kompakte ,  wohl  organisirte  Opposition, 
welche  aber  die  Ehre  und  die  Wohlfahrt  des  Vaterlandes  über 
den  eigenen  Vortheil  stellte.  Ihre  Dauer  war  aber  kurz;  die 
blutigen  Kämpfe ,  Avelche  Athen  mit  Sparta  und  mit  den  Oli- 
garchen  von  Boiotien,  Megara  und  Phokis  zu  führen  hatte,  und 
welche  mit  dem  Verlust  seiner  Macht  auf  dem  Festlande  en- 
deten -]  ,  waren  nicht  geeignet .  der  aristokratischen  Partei  in 
der  Stadt  Einfluss  und  Zutrauen  zu  verschaffen,  die  schnelle 
Wiedereroberung  des  abgefallenen  Euboia  und  die  durch  Be- 
stechung bewirkte  Entfernung  des  spartanischen  Königs  Plei- 
stoanax  aus  Attika  befestigten  nur  die  Macht  des  Perikles.  Der 
dreissigj ährige  Friede,  445  geschlossen,  endete  einstweilen  die 
äusseren  Kämpfe,  und  nun  entledigte  sich  Perikles  auch  seines 
Gegners  im  Innern;  denn  444  Avurde  Thukydides  durch  den 
Ostrakismos  entfernt,   und  seine  Hetairie  aufgelöst 3) . 

Somit  Avar  die  Allgewalt  des  Perikles  entschieden,  der 
nicht  mehr  als  Parteihaupt  zu  betrachten  ist,  sondern  sich  jetzt 
über  alle  Parteien  erhebt  und  nur  den  Staat  selbst  ins  Auge 
fasst.  Während  der  ganzen  Zeit,  welche  hinfort  dieser  grösste 
Staatsmann,     den   Hellas   hervorgebracht,    an    der    Spitze    des 

1)  Plut.  Pericles  11.   14.' 

2)  Thucyd.  I,  111—115. 

3)  Plut.  Pericl.  14:  tiXo;  hk  ttoö;  tov  0o'jy.'joior|V  el;  ä-cöiva  7i£pt  toj 
ooTpäy.O'j  ■/ataG-d;  -/at  oiaxtvo'jveuaa;  exeivov  [j.£v  i^i'^at.z ,  vcatiX'jii  oe  tT|V 
(xvTtT£TaY[J-£VT,v  £Tatp£t7.v.  [Roschcr :  Thukj-dides  pg.  273  meint,  Thukydides 
sei  bald  nach  Samos  Unterwerfung  exostrakisirt  worden.  K.  W.  Krüger : 
Epikritischer  Nachtrag  zu  den  Untersuchungen  über  das  Leben  des  Thuky- 
dides Berlin  1829  meint,  Thukydides  des  Melesins  Sohn  sei  ganz  kurz  vor 
dem  peloponnesischen  Kriege  erst  verbannt  worden  und  in  der  Verbannung 
gestorben,  pg.  24  squ.  seine  Gründe  genügen  aber  nicht.  Anonymus  vita 
Thucyd.  §.  G  spricht  von  einer  Anklage  des  Pyrilampes  durch  Perikles  und 
einer  trefflichen  Vertheidigung  durch  Thukydides ,  wobei ,  wenn  etwas  an 
der  Sache  ist ,  man  an  den  Sohn  des  Melesias  denken  muss.  cf.  Meier : 
über  die  Blutsgerichtsbarkeit  des  areopagitischen  Raths.  Pihein.  Mus.  1828. 
pg.  265  ff.  Krüger :  Thukydides  Leben  pg.  42.  Dryander  comm.  de 
Antiph.  pg.  42.] 


168     Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairiex  in  Athen. 

athenischen  Staates  stand,  finden  sich  keine  Spuren  von  ari- 
stokratischen Umtrieben,  oder  von  Hetairien  irgend  einer  Art. 
Es  ist  zwar  nicht  zu  zweifehi.  dass  im  Verborgenen  auch  da- 
mals sie  bestanden,  allein  die  Geistesgrösse  des  Perikles,  seine 
unbedingte  Herrschaft,  erlaubte  ihnen  nicht,  ihr  gefährliches 
Spiel  zu  treiben,  und  darum  handeln  von  jetzt  bis  zum  Aus- 
bruch des  peloponnesischen  Krieges  die  Athener  mit  einer 
Festigkeit  und  Consequenz,  wie  sie  sonst  in  ihrer  Geschichte 
selten  gefunden  wird. 

Auch  die  baldige  Zurückberufung  des  Thukydides,  wel- 
chen wir  im  samischen  Krieg  als  Mitfeldherm  des  Perikles 
erblicken'  .  hatte  jetzt  nicht  mehr  Einfluss  als  einst  die  des 
Kimon;   denn  seine  Partei  bestand  nicht  mehr. 

Aber  anders  gestalteten  sich  die  Dinge  nach  dem  Aus- 
bruche des  peloponnesischen  Krieges,  431.  Zu  diesem  Kriege 
hatte  Perikles  den  Athenern  gerathen;  denn  er  hatte  einge- 
sehen, dass  er  unvermeidlich  sei,  und  für  Athen  besser,  ihn 
mit  unversehrter  Macht  zu  l)eginnen,  als  erst  unbilligen  An- 
forderungen Zugeständnisse  zu  machen,  um  nachher  die  näm- 
lichen Gefahren,  aber  mit  weniger  Hoffnung  auf  Erfolg,  zu 
bestellen.  Freudig  hatte  die  grosse  Masse  seinem  Rathe  Folge 
geleistet,  und  mit  einer  Aufopferung,  wie  einst  zur  Zeit  der 
Persernoth,  das  Land  preisgegeben.  Aber  als  ein  feindliches 
Heer  in  der  Nähe  stand,  als  Perikles  weise  eine  Hauptschlacht 
vermied ,  als  zu  den  vielen  Unbequemlichkeiten  und  Unan- 
nehmlichkeiten des  zusammengedrängten  Lebens  in  der  Stadt 
die  schrecklichen  A'erAvüstungen  der  Pest  kamen,  da  vergassen 
die  Athener  die  Mahnungen  ihres  Vorstehers,  und  wie  es  der 
grosse  Haufe  zu  thun  pflegt,  schoben  sie  die  Schuld  aller 
Uebel  auf  ihn,  als  ob  nicht  sie  selber  die  Forderungen  Spar- 
tas abzuweisen  beschlossen  hätten,  und  sie  ruhten  nicht,  bis 
sie  Perikles  um  eine  beträchtliche  Summe  gebüsst  hatten,  um 
ihn  unmittelbar  nachher  wieder  zum  Feldherrn  zu  wählen  2. 
Kaum  aber  hatte  das  Volk  seinen  Fehler  wieder  gut  gemacht, 


1)  Thucyd.  I,  117,  Dass  der  daselbst  genannte  Thukydides  der  Sohn 
des  Melesias  sei,  und  nicht  etwa  der  Geschichtschreiber,  darf  nicht  bezwei- 
felt werden,     [cfr.  vita  Sophocl.  init.j 

2)  Thucvd.  II,  65. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.     169 

als  die  Pest  den  grossen  Demagogen  -vvegraiFte.  und  den  Staat 
im  eigentlichsten  Sinne  verwaist  Hess;  denn  Niemand  ver- 
mochte seine  Stelle  einzunehmen. 

Unter  der  grossen  Anzahl  talentvoller  jüngerer  Männer, 
welche  damals  emporstrebten,  war  kein  einziger  Perikles  an 
umfassendem  Geiste  ähnlich,  keiner  vermochte  es,  sich  über 
die  Parteien  zu  stellen,  sondern  sie  wurden  alle  von  denselben 
bestimmt,  oder  svichten  wenigstens  in  ihnen  ihre  Stütze,  und 
den  meisten  fehlte,  was  Perikles  vor  Allem  gross  machte,  die 
imerschütterliche  Rechtlichkeit,  und  die  Unterordnung  aller 
persönlichen  ZAvecke  unter  den  grossen  einen,  Athens  Grösse 
und  Wohlfahrt . 

So  erhoben  sich  denn  unmittelbar  nach  seinem  Tode,  429, 
die  15  Jahre  lang  unterdrückten  Parteien  Avieder,  aber  in  be- 
deutend veränderter  Gestalt.  Mit  einer  Frechheit,  die  beinahe 
zur  Bewunderung  nöthigt,  trat  auf  der  demokratischen  Seite 
der  Gerber  Kleon  hervor,  um  die  entstandene  Lücke  auszu- 
füllen, und  spielte  seine  Rolle  als  Demagoge  gemeiner  Art  so 
meisterUch,  dass  er  bis  422  vmbezweifelter  Vorsteher  des  athe- 
nischen Demos  blieb ,  und  es  gewiss  noch  länger  geblieben 
wäre,  wenn  ihn  nicht  der  glückliche  Erfolg,  den  er  unter  De- 
mosthenes  Beistand  in  Pylos  hatte,  zu  dem  wunderlichen  Ge- 
danken gebracht  hätte,  er  sei  ein  grosser  Feldherr  ^  .  Er  büsste 
diese  Eitelkeit  mit  dem  Tode  in  der  Schlacht  bei  Amphipolis. 
Unter  Kleon  beginnt  nun  in  Athen  die  Tp-annei  der  Mehrzahl 
gegen  die  Minderzahl,  eine  Tyrannei,  welche  die  eines  Einzel- 
nen um  so  \iel  an  Unerträglichkeit  übertrifft,  als  die  l^egier- 
den  der  Menge  unersättlicher  sind.  Diese  entartete  Demokratie, 
deren  Darstellung   nicht  hieher  gehört,    rief  natürlich  Gegen- 


1)  Thucyd.  V,  7  :  -mi  eyp-r.aot-o  töj  -rporw  (prep  v.al  I;  ttjv  II'jXo^  eÜTj/Tiaa? 
£7:i3T£'ja£  -Li  cppovelv.  Ueber  Kleon  überhaupt  vergl.  man  besonders  F.  Kor- 
tüms  Aufsatz:  der  Demagog  Kleon,  in  den  philolog.  Beiträgen  aus  der 
Schweiz  p.  35  folg.  [Grote  hist.  of  Greece  IV,  pg.  3S9  ff.  stellt  die  Sache 
dar,  als  ob  bis  zur  Feldherrnschaft  von  Sphakteria  Nikias  gleichsam  Mini- 
ster gewesen  und  Kleon  nur  Führer  der  Opposition,  indem  Nikias  sich 
hauptsächlich  auf  die  Clubs  gestützt  habe.  Gewiss  nicht  richtig.  Dass 
Kleon  seinen  Freunden  und  Genossen  förmlich  absagte,  als  er  begann  sich 
mit  Staatsgeschäften  zu  befassen,  berichtet  Plutarch  praec.  reip.  ger.  c.  13. 
pg.  S07  a  pg.  985  Dübner ;  er  hatte  also  wohl  nie  eine  Hetairie.  Merkwür- 
dige Folgerungen  zieht  daraus  Oncken :  Athen  und  Hellas  II  S.  206.] 


170       I^IE   OLIGARCHISCHE  PaRTEI  UXD  DIE  HeTAIRIEN  IN  AtHEN. 

anstrengungen  hervor.  —  Zuerst  versuchten  die  gemässigten 
Aristokraten  von  altem  Schlage  Nikias,  den  Sohn  des  Ni- 
ke r  a  t  o  s ,  dem  Kleon  entgegen  zu  stellen ,  um  avo  möglich 
die  Demokratie  in  den  gesetzlichen  Schranken  zu  halten,  und 
den  Frieden  mit  Sparta  herzustellen  ^j . 

Auch  hier  bildet  den  Mittelpunkt  der  Partei  eine  Hetairie, 
von  der  wir  jedoch  sehi*  wenig  wissen.  2j  Wahrscheinlich  sind 
dazu  einige  Zeichendeuter  und  Frömmler  zu  rechnen ,  und 
zwar,  wie  mich  dünkt,  mit  Sicherheit  Stilbides '^  ,  Diopeithes*) 
und  Hieron  ^) ,  vielleicht  auch  Lampon^)  und  Hierokles. ') 
Allein  so  wenig  als  diese  Leute  dem  einbrechenden  Unglauben 
einen  Damm  zu  setzen  vennochten,  war  der  schüchterne,  ängst- 
liche Nikias  zum  Parteihaupte ,  besonders  gegenüber  einem 
Kleon  geeignet;  dämm  blieb  sein  Einfluss  bis  zur  Schlacht 
von  Amphipolis  unbedeutend,  und  erst  nach  dem  Tode  des 
Demagogen  gelang  es  ihm,  durch  den  Frieden  mit  Sparta, 
welchen  das  des  Krieges  überdrüssige  Volk  heftig  begehrte, 
eine  kurze  Zeit  hindurch  auf  die  Angelegenheiten  der  Stadt 
bedeutend  einzuwirken. 

Allein  nicht  alle  oligarchisch   gesinnten  Mäimer  schlössen 
sich  dieser   Avohlgemeinten ,   jedoch   schwachen  Opposition  des 


1 


1)  Plutarch.  Nie.  2:  nepr/.Xeo'j;  droSavövToi;  e-iSui;  eU  -ö  rowtiu^iv 
■nrjorf/ßf] ,  [jiaXiSTa  (asv  y-o  xwv  -Xo'jaiwv  xat  ■p'«Jp'^'-«'v  ävTiTcccu-ct  roiO'jfxEvcuv 
ctÜTüv  Trpos  TTjv  K^icuvo?  ßSeX'jpittv  -icat  toXijlchv.  —  Thuc.  IV,  27.  [C.  F.  Her- 
mann: disputatio  de  equitibus  Atticis  Marb.  1835  behauptet,  zu  Anfang 
dei5  peloponnesischen  Krieges  seien  besonders  die  Ritter  ^als  Reiterei;, 
welche  damals  durch  ihre  Gefechte  mit  den  Peloponnesiern  eine  besondere 
Bedeutung  ge\\'annen ,  bei  den  Clubs  thätig  gewesen ,  ,worauf  iKleons  Be- 
schuldigung deute  Arist.  Ritter  235  ff.  452.  475  ff.,  wie  sie  auch  später 
eine  Hauptstütze  für  die  Macht  der  Dreissig  gewesen  seien.  Xen.  Hell. 
II,  4,  2  und  24.] 

2)  Droysen  in  dem  Aufsatze  des  Aristophanes  Vögel  und  die  Hermo- 
kopiden.  Rhein.  Museum  für  Philologie,  4.  Jahrg.  1836  S.  41  glaubt  es 
können  von  Nikias  Hetairen  keine  nachgewiesen  werden,  doch  scheinen 
mir  die  folgenden  drei  ersten  sicher. 

3j  Plutarch.  Nie.  23  vergl.  Arist.  Fried.  1031. 

*)  Schol.  zu  Ai-istoph.  Ritter  1083  t,v  oe  -au  Ntxto'j  sTaioo;  vgl.  Arist. 
Vögel  988.  Schol.  dazu. 

5)  Plutarch.  Nie.  5. 

6)  Kortüm  Beiträge  zur  Gesch.  hell.  Staatsverf.   S.  185.   186. 
")  Arist.  Frieden  1046  und  Schol.  dazu. 


Die  ölig  archische  P.uitei  und  die  Hetalrien  in  Athen.     171 

Nikias  an.  Vielmehr  zersplittern  sich  jetzt  die  Gegner  der 
Demokratie  in  eine  Keihe  einzelner  Genossenschaften ,  welche 
nicht  ein  gememsames  Ziel  verfolgen,  sondern  nur  jede  den 
eigenen  Yortheil  und  die  eigene  Macht,  und  welche  sich  bald 
befeinden,  bald  augenblicklich  zu  irgend  einem  Zwecke  ver- 
einigen. Es  entwickeln  sich  jetzt  diejenigen  Iletairien,  welche 
mit  ihrem  wahren  Namen  ouvu)jj,o3i'ai  £-'  cxp/aT;  xai  oi'xaic, 
Verschwörungen  zu  gegenseitiger  Unterstützung  bei  Aemter- 
bewerbungen  und  bei  Processen  heissen.  ^)  Es  gab  derselben 
bald  sehr  viele ,  indem  fast  jeder  bedeutende  Mann  eine  um 
sich  vereinigte.  Die  durch  die  überhandnehmende  Sykophantie 
immer  zahlreicheren  Processe,  welche  das  Vermögen  und  das 
Leben  der  Reichen  täglich  bedrohten,  und  die  Vortheile  der 
nicht  durch  das  Loos ,  sondern  durch  Handmehr  besetzten 
Feldherrnstellen  beförderten  ihre  schnelle  Ausbildung  sehr. 
Sie  erhielten  eine  förmliche  Organisation,  und  hatten  nament- 
lich alle  das  gemein,  dass  sie  durchaus  geheim  gehalten  Avur- 
den.'^  Wie  schon  der  Name  Verschworene  zeigt,  verpflich- 
teten sich  die  Theilnehmer  eidlich  zu  Hülfeleistung  mit  Rath 
und  That,  mit  Gut  und  Blut,  '■^j  Die  Einwirkung  auf  Wahlen 
und  Gerichte  geschah  auf  verschiedene  Weise.  Erstens  A^iirde 
besonders  der  persönliche  Einfluss  auf  alle  Art  geltend  gemacht ; 
während  man  durch  Schmeicheleien ,  Drohungen ,  Verspre- 
chungen Stimmen  zu  gewinnen  "VNTisste,  unterstützte  man  ferner 
den  Hetairen  vor  Gericht  auch  noch  besonders  dadurch ,  dass 
man  als  sein  Vertheidiger  oder  Mitankläger   (ouvrjYopo?)   auftrat, 


*)  Dass  ihre  Entwicklung  dem  Zeitabschnitte  nach  Pei'ikles  angehört, 
beweist  ihre  vollständige  Organisation  zur  Zeit  des  Hermokopidenprozesses. 
Auch  spricht  dafür  was  Thukydides  III  82 — So  über  das  Verbindungswesen 
im  Allgemeinen  sagt.  Ueber  den  Namen  vergleiche  man  unter  andern 
Thuc.  \T;II,  54.  — Hüllmanns  hiehergehörige  Gelegenheitsschrift  de  Athenien- 
sium  a'jv(i)ji.03iau  Königsberg  1S14  habe  ich  mir  nicht   verschaffen  können. 

-;  Plato  de  Rep.  p.  365  d :  i~\  y^P  "Ö  /.av8äv£iv  ;'jva)ij.03ia;  ~z  v.at  STatpeia; 
G'jva^Ofxsv.  [Der  Führer  der  Hetairie  heisst  äp-/r,YÖ;  oder  itaiosfap/o;. 
K.  F.  Scheibe :  Die  oligarchigche  Umwälzung  zu  Athen  am  Ende  des 
peloponnesischen  Krieges  und  das  Archontat  des  Eukleides  nach  den  Quellen 
dargestellt.     Leipzig  1S41.  pg.  4.] 

3  Der  von  Arist.  Pol.  VIII,  S.  215,  24  Bekker  angeführte  Oligarchen- 
eid:  y.at  tw  or,[jiw  y.a-Aovo'Ji  l'otjLai,  xcti  ßo'j"/,£'jouj  oTi  av  iyja  icaxov,  darf  wohl 
noch  nicht  auf  diese  Zeiten  bezogen  werden. 


172     Die  oligarchische  Partei  uxd  die  Hetairien  in  Athen. 

Zeugen  herbeischaffte,  den  Ankläger  durch  Geld  abfand  u.  d.  g. 
Wirkliche  Bestechiuig  der  Richter  aber  fand,  das  muss  zur 
Ehre  Athens  gesagt  werden,  lange  keinen  Eingang.  Das  erste 
Beispiel  gab  der  Demagoge  Anytos,  der  Sohn  des  Anthemion, 
als  er  im  Jahre  409  angeklagt  wurde ;  Pylos  den  Lakedaimo- 
niern  preisgegeben  zu  haben  ^) ;  es  fand  leider  sehr  schnell 
Nachahmung,  und  wurde  bald,  man  möchte  sagen,  methodisch 
betrieben,  indem  sich  Bestechinigsgesellschaften  bildeten,  welche 
den  Erfolg  garantirten.  ^j  Kann  aber  jenes  erste  Zusammen- 
treten zu  dem  Zwecke,  in  Wahlen  und  Processen  einander  zu 
unterstützen,  noch  einigermassen  entschuldigt  werden,  indem 
die  Pöbelherrschaft  zu  solchen  Schritten  nöthigen  mochte ,  so 
nahmen  doch  sehr  schnell  diese  Hetairien.  wie  die  meisten 
ähnlichen  Gesellschaften,  eine  weit  verderblichere,  ja  bald  ge- 
radezu eine  hochverrätherische  Tendenz  an.  Denn  nicht  mehr 
zufrieden  mit  Aemtem  und  Ehren  in  der  bestehenden  ^'er- 
fassung,  suchten  sie  auch  gegen  die  Gesetze  Macht  und  Ge- 
wiini^j,  und  verfolgten  dieses  Ziel  rücksichtslos.  Kein  Mittel 
schien  mehr  unerlaubt,  Bestechung,  falsche  Anklage,  unwahres 
Zeugniss,  AvideiTechtliche  Yenirtheilung ,  Mord.  Herbeirufung 
des  Feindes,  das  alles  galt  gleich,  und  die  heiligsten  Bande 
wurden  der  hetairistischen  Verbrüderung  nachgesetzt.  Tugend, 
Redlichkeit,  Gesetzlichkeit,  Frömmigkeit  wurden  unter  diesem 
Treiben  eitler  Wortklang.  AVer  am  verwegensten  und  schlau- 
sten handelte,  gewann  das  meiste  Ansehen,  die  eigene  Macht, 
die  eigene  Ehre,  der  eigene  Gewinn  wurden  der  Massstab  zur 
Beurtheilung  aller  Handlungen. 


1)  Aristot.  fr.  72  bei  C.  Müller  F.  H.  G.  II  p.  127.  Harpocration  s.  v. 
Be-iCa^wv.  Diodor.  XIII,  64.  Dieser  Anj-tos  ist  übrigens  der  spätere  Mitankläger 
des  Sokrates.  In  diese  Zeit  fällt  das  Gesetz  bei  Demosth.  c.  Stephanum  II, 
p.  1137:  lav  Tt;  ajvta-Tjtat ,  r,  cuvojv-qE^t;  tt,v  T,"/.iaiav,  r,  tü)v  o'./.a3TT,piu)v  ti 
Tüiv  'A87]V7iaiv ,  T,  Tr,v  ßo'JÄTjV  £7:1  0(upooo7.'.a  ypT)aaTa  oiSoü;  r^  OEyoixsvo;,  r, 
etaipiav  ouvioxr;  i-\  -/.aTaXuaei  toü  otjjjlo'j,  r,  O'jvTjopo;  cuv  ),a[j.,3a'^i[j  y_pT,ix7Ta 
i~l    Tai;    or/.at;  'Tal;    toiai?   r,    OTjUioaiai;,    toÜtiov    £ivai  t«;   Ypacpi;    "po;    to'j; 

Ö£3[J.0&£Tac. 

",  Vergl.  Hüllmanns  Staatsrecht  des  Alterthums  S.  144.  145  die  Lexiko- 
graphen unter  rjv/.d^en. 

3j  Thucyd.  III,  82 :  ti'j  y«?  [J-STä  xtüv  •/£iij.£V(w;  votAwv  u)'j£).ia;  ai  TO'.a'Jta'. 
^•jvoooi,  dl).).d  rapd  toj;  ■/.a&£3T(I)ia;  -/.£ov£;'.a.  Ueberhaupt  vergleiche  man 
c.  81.  82.  83.   84. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.      173 

Doch  trat  diese  schreckliche  Entartung  des  attischen 
Volks  nnd  der  Ueberreste  der  alten  Aristokratie  nicht  mit 
einem  Mal  ein,  vielmehr  erreichte  sie  ihren  Höhepunkt  erst 
mit  dem  Ende  des  peloponnesischen  Krieges ,  und  vermochte 
selbst  da  nicht  auf  die  Dauer  den  bessern  Geist  der  Bürger- 
schaft zu  überwältigen. 

Die  Wichtigkeit  der  Hetairien  nahm  zu,  als  der  Krieg 
mehr  und  mehr,  nicht  bloss  um  die  Hegemonie  Spartas  oder 
Athens  geführt  Avurde,  sondern  sich  zum  Kampfe  auf  Leben 
und  Tod  zwischen  der  Oligarchie  und  Demokratie  gestaltete; 
denn  jetzt  verbreiteten  sich  die  oligarchischen  Verbindungen 
über  ganz  Griechenland,  namentlich  alle  athenischen  Bundes- 
staaten, stets  bereit,  mit  Spartas  Hülfe  die  demokratische 
Verfassung  zu  stürzen  und  von  Athen  abzufallen,  während 
dieses  umgekehrt  überall  der  demokratischen  Partei  Vorschub 
leistete. 

In  Athen  selber,  dem  Mittelpunkte  der  hellenischen  De- 
mokratie, trat  die  entschieden  revolutionäre  und  verrätherische 
Richtung  langsamer  als  in  den  Bundesstaaten  hervor,  weil  bei 
der  grossen  Eifersucht  des  Volks  auf  seine  Eechte  grössere 
Vorsicht  nöthig  war,  und  weil  selbst  die  Oligarchen,  wo  mög- 
lich, wünschten  über  einen  mächtigen  Staat  zu  herrschen,  Avas 
bei  einer  Uebereinkunft  mit  Sparta  nicht  leicht  zu  erhalten 
Avar.  Erst  als  die  Ereignisse  die  Unmöglichkeit  bcAviesen, 
dieses  Ziel  zu  erreichen,  entschlossen  sie  sich,  die  Macht  und 
Grösse  der  Vaterstadt  aufzuopfern. 

Nach  Kleons  Tode  stand  hier,  AA'ie  oben  bemerkt,  Nikias 
im  höchsten  Ansehen.  Ihm  gegenüber  erhob  sich  nim  aber, 
AvicAvohl  nicht  minder  edler  Abstammung,  der  jugendliche  Al- 
kibiades,  der  Sohn  des  Kleinias,  der  das  damalige  Athen 
in  allem  Guten  und  Bösen  repräsentirt,  Avie  bald  nachher  Ly- 
sandros  das  entartete  Sparta.  Die  herrlichsten  Naturanlagen, 
die  glücklichsten  äusseren  Verhältnisse  Avaren  in  ihm  mit  einem 
unAviderstehlichen  Drange  zum  Herrschen  verbunden,  der  durch 
die  Schmeicheleien,  w^elche  ihm  von  Jugend  auf  in  vollem 
Maasse  gespendet  Avurden,  zur  grenzenlosesten  Willkühr  und 
Eigenmacht  ausartete.  Er  Avollte  herrschen  und  unbedingt, 
unverantAvortlich ,  daher  ihm  selbst  die  Stellung  seines  Vor- 
mundes Perikles  nicht  genügend  schien ;   darum  Avard  er  Aveder 


174     Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairiex  ix  Athen. 

Oligarch  noch  Demokrat,  vielmehr  bediente  er  sich  nur  nach 
Umständen  der  einen  oder  andern  Partei,  deren  Häupter  ihm 
deshalb  unversöhnlich  grollten ;  aber  viel  MÜthender  und  con- 
sequenter  als  die  exaltirtesten  Demagogen  verfolgten  ihn  die 
Oligarchen,  deren  letzte  Rache  ihn  unter  den  Dreissig  erreichte. 
Er  war  ein  Charakter,  wie  ein  Freistaat  ihn  nicht  leicht  er- 
tragen kann,  und  auf  ihn  angewendet  hätte  der  Ostrakismos 
sicherlich  schöne  Früchte  getragen;  denn  er  wäre  ohne  Zweifel 
nach  einigen  Jahren  besonnener  und  ruhiger  zvirückgekehrt . 
Dass  er  ihn  von  sich  abzuwenden  vermochte,  war  für  ihn 
selbst  das  grösste  Unglück,  i). 

Dass  dieser  Mann  zur  Beförderung  seiner  Absichten  sich 
einer  Hetairie  bediente,  könnten  Avir  annehmen,  wenn  es  uns 
auch  nicht  ausdrücklich  überliefert  wäre;  doch  haben  wir 
sichere  Nachrichten  darüber-  ,  welche  uns  indessen  nicht  ge- 
statten, die  Genossen  näher  zu  bestimmen.  ^lit  Wahrschein- 
lichkeit lässt  sich  annehmen,  dass  der  vornehme  Pulytion^) 
darunter  war.  vielleicht  selbst  sein  nachmaliger  Feind  Kritias  ^i , 
der  Sohn  des  Kallaischros ;  mehrere  andere,    auf  die  sich  aus 


';  Thucyd.  VIII,  4S  wo  Phrynichos  sehr  gut  über  ihn  urtheilt.  Auf 
Alkibiades  lässt  sich  grossentheils  anwenden,  was  mein  unvergesslicher 
Lehrer,  der  selige  Niebuhr,  von  M.  Manlius  Capitolinus  sagt,  Rom.  Gesch. 
Thl.  II,  S.  677,  und  ähnlich  hat  er  ihn  auch  in  den  Vorträgen  über 
griechische  Geschichte  beurtheilt.  Vergl.  Droysen,  die  Vögel  des  Aristo- 
phanes  und  die  Hermokopiden,  im  Hhein.  Museum  3.  1835  p.  183.  — Von 
den  Zeitgenossen  hat  ihn  wohl  keiner  richtiger  verstanden  als  Aristophanes. 
Vergl.  Frösche  1422  folg.  besonders  1431.  1432:  p-ci/.'.-Ta  [jlev  XsovTa  jat/v 
t:6).£i  xpi'-peiv,  t,>;  o'£V.Tp£cp7]  ti;  toT;  Tpörot;  'j-r^peTsTv. 

2)  Plut.  Alcib.  13.  22.  Isoer.  d.  big.  §.  6.  pg.  348  Steph.  Vergl. 
Droysen  Rhein.  Mus.  4.  1S36.  S.  40.  Andocid.  c.  Alcib.  §.  4:  e-ta  iv 
Toi;  Toto'jToi;  ot  toJ;  ETaipO'j;  y.ai  a'jviuiAOTai;  'A£7.~r^[>.hiOi  tz/.eov  'tpipovrat  tüjv 
aXXtuv.  [Büttner  Gesch.  d.  polit.  Hetärien  S.  60.  70.  Alkibiades  führt 
seine  Frau  die  ihn  verlassen  will,  gewaltsam  zurück  -apoty.a/isa;  toJ;  itaipoo;, 
wo  es  freilich  auch  im  weitern  Sinne  verstanden  werden  kann.  .Andoc. 
c.  Alcib.  §.  14.  Man  vergl.  ferner  Thucyd.  \'I,  13  wo  die  von  Xikias 
angeführten  -apa-/.£/.£j3T0i  des  Alkibiades  offenbar  auch  izalpoi  sind  und 
zwar  untergeordnete.] 

3j  Andoc.  d.  myst.  §.  12.  Plut.  Alcib.  19.  22.  [Vielleicht  gehören 
die  sämmtUchen  von  Andromachos  genannten  Theilnehmer  an  der  Ent- 
M-eihung  der  Mysterien  hierher,  namentlich  Meletos  und  Nikiades.] 

4,  Kritias  war  anfangs  Alkibiades  wohl  befreundet,  und  hat  überhaupt 
mehr  als  einmal  Rolle  gewechselt.     Vergl.  Xenoph.  Hell.  II,  3.  36. 


Die  üligarchische  Partei  und  die  Hetairiex  ix  Athen.     175 

dem  Hermokopidenprocess  schliessen  lässt  *)  .  Avaren  ohne  po- 
litische Bedeutung.  Ueberhaupt  muss  man  aber  bedenken,  dass 
diese  Hetairien  keineswegs  immer  sich  gleich  blieben,  sondern 
nach  Zeit  und  Verhältnissen  ihre  Mitglieder  wechselten. 

Neben  Alkibiades  und  Nikias  ist  aus  jener  Zeit  als  Führer 
einer  Hetairie  auch  Phaiax.  der  Sohn  des  Erasistratos ,  zu 
erwähnen;  sie  vermochte  jedoch  den  zwar  vornehmen,  aber 
persönlich  unbedeutenden  Mann  nicht  lange  in  Ansehen  zu 
erhalten.  2)  Eine  vierte  glaubt  Droysen,  in  der  Schrift  über 
die  Hermokopiden,  in  Aristophanes  Wespen  Y.  13ü0.  folg.  zu 
erkennen,  und  zwar  keine  unbedeutende,  da  Antiphon  der 
Khamnusier  dabei  genannt  ist.  Jedesfalls  lässt  sich  aber  Avenig 
darüber  sagen.  '^] 

Bald  erhob  sich  nun  Alkibiades  Ansehen,  durch  die  He- 
tairie vmt erstützt,  über  das  des  Nikias.  Er  schlug  gerade  den 
entgegengesetzten  Weg  ein  um  die  Gunst  der  Athener  zu  ge- 
winnen. Hatte  Nikias  das  Zutrauen  der  Spartiaten  zu  gewin- 
nen gewusst,  und  es  benutzt,  um  den  Frieden  zu  Stande  zu 
bringen,  der  nicht  mit  Unrecht  seinen  Namen  trägt,  hatte  er 
überhaupt  gemässigtem  Gesinnungen  in  Athen  Eingang  zu  ver- 
schaffen gestrebt,  so  trat  Alkibiades  als  Feind  der  Spartiaten 
und  als  Freund  der  Argeier  und  anderer  demokratischen  Staaten 
im  Peloponnese  auf,  suchte  auf  jede  Weise  den  Krieg  Avieder 
zum  Ausbruch  zu  bringen  und  beförderte  in  xVthen  selbst  die 
ungezügeltste  Volksherrschaft,  nach  Aussen  die  willkührlichste 
Behandlung  der  Bundesgenossen.  Diese  Politik  musste  ihn 
für  den  Augenblick  leicht  auf  die  höchste  Stufe  der  Volks- 
gunst   bringen,     welche    niemals    gegen    einen    Vorsteher    so 


•j  Andoc.  d.  myst.  §.  13.  vergl.  mit  §.  47.  [Hieher  vielleicht  auch  die 
von  Agariste  wegen  Mysterienverletzung  angegebenen  in  Charmides  Hause, 
Adeimantos  und  Axiochos,  eine  vornehme  Gesellschaft.] 

-]  Plut.  Alcib.  13.  Nie.  11.  Valckenarius  in  Sluiter.  Lact.  Andoc. 
p.  10  f.  ed.  Schiller.  [Scheibe  ölig.  Umwälz.  S.  4  spricht  von  Hetairien 
des  Phaiax,  Euphiletos,  Ismenias ,  Leontiädes ,  Alkibiades  u.  A.  ohne  Be- 
weisstellen. —  Von  Ismenias  und  Leontiädes  ist  mir  nichts  bekannt,  und 
ich  vermuthe  Verwechslung  mit  den  thebanischen  Männern  dieses  Namens, 
von  denen  Hetairien  bei  Plutarch  vorkommen,  cf.  Plutarch  Pelop.  V. 
Xen.  Hell.  V,  2,  2.5.  Krüger  Dion.  Hist.  pg.  363  not.  4.  Ueber  Euphi- 
letos Hetairie  cf.  unten  pg.  22.1 

3j   Rhein.  Museum  für  Philologie,  4.  Jahrg.   lS3ü  S.  41. 


176     Die  oligarchische  Partei  u^'D  die  Hetairien  ix  Athen. 

gränzenlos  verschwendet  A^nirde.  So  stieg  denn  mit  seiner 
Macht  anch  seine  Anmassung  und  HeiTSchsucht  von  Tage  zu 
Tage,  und  flösste  nicht  mit  Unrecht  auch  vielen  wohlgesinnten 
Bürgern  Besorgnisse  ein.  Dem  Ziele  seiner  Wünsche  schien 
er  nahe  zu  stehen,  als  er  415  das  leichtsinnige  Volk  zum  Krieg 
gegen  Syrakus  bewog,  und  nebst  Xikias  und  Lamachos  zum 
Feldherm  gewählt,  sich  schon  als  Eroberer  von  ganz  Sicihen, 
Karthago  und  andern  Ländern  im  Siegeszuge  keimkehren  sah. 
Allein  er  hatte  die  Gegner  durch  sem  hochfahrendes  We- 
sen, durch  seine  Geringschätzung  und  seinen  Uebermuth  zu 
tief  beleidigt,  als  dass  sein  Glück  von  Bestand  sein  konnte. 
Der  redliche  Nikias  zwar  trat  ihm  nur  offen  entgegen ,  und 
hatte  deshalb  eben  wenig  Gehngen.  Aber  eine  Reihe  anderer 
Aveniger  gewissenhafter  Männer  arbeiteten  längst  an  seinem 
Sturze  lind  lauerten  nur  auf  den  günstigen  Moment  um  los- 
zubrechen. 1)  Wie  schon  oben  bemerkt  gehörten  zu  diesen 
Oligarchen  und  Demokraten;  denn  beide  hatte  Alkibiades  in 
Schatten  gestellt;  die  gefährlichem  aber  waren  die  erstem, 
weil  sie  nach  einem  wohlüberlegten,  genau  auf  den  Charakter 
des  athenischen  Volks  berechneten  Plan  handelten.  Wer  die 
Hauptlenker  desselben  waren,  ist  nicht  mehr  zu  erkennen,  es 
lässt  sich  aber  mit  Sicherheit  annehmen,  dass  yvie  später  bei 
der  En-ichtung  der  Oligarchie,  so  auch  hier  Männer  von  Be- 
deutung im  Hintergi-unde  standen.  Offen  traten  vor  allen  her- 
vor, Peisandros,  namhaft  als  einer  der  thätigsten  bei  Ein- 
fühnmg  der  HeiTschaft  der  Vierhundert,  und  Charikles 
Sohn  des  Apollodoros  unter  den  Dreissig  neben  Kiitias 
am  berüchtigtsten,  beide  also  Oligarchen,  welche  aber  damals 
die  Maske  der  eifrigsten  Volksfreunde  annahmen  -  .  Unter  den 
aufrichtigen  Demagogen  waren  Alkibiades  wüthendste  Feinde 
Androkles  3)  und  Kleonymos.  ^j 


1)  Thucyd.  VI,  28.  61.  Xenoph.  Hell.  I,  4.  13.  [Büttner  S.  65  ff. 
läisst  namentlich  auch  den  Demagogen  Androkles  in  den  Vordergrund  treten 
und  schreibt  ihm  eine  besonders  zahlreiche  Hetairie  zu.] 

-)  Isocrat.  d.  big.  §.  4:  arav-s;  -[ao  i'saaw,  ort  oia  to'j;  ajTO-j;  avopa; 
■?^  T£  hr^ao-AoaTioL  -/aTeX-jÖY),  -/.dv.iTvo;  iv.  tt,;  röÄsuj;  izir.-.zfi. 

3j  Thucyd.  VIII,  6.5. 

*    Andoc.  d.  myst.  §.   27. 


Die  oLiGARCHisctLE  Partei  und  die  Hetairiex  ix  Athen  .     177 

Den  bestimmten  Anlass  gab  die  bekannte  Verstümmhing 
der  meisten  Hermen  in  Athen,  während  der  Nacht  vom  10. 
auf  den  11.  Mai  415.')  Es  war  dies  unbedingt  nichts  anderes 
als  ein  höchst  strafljarer  Muthwille  einer  fröhlichen  Gesell- 
schaft, die  sich  beim  ^yeine  vergessen  hatte,  und  wie  er  auch 
früher  nur  nicht  in  so  grosser  Ausdehnung  schon  geübt  worden 
war.  So  sahen  es  denn  auch  Anfangs  manche  an,  während 
viele  andere  erschraken  über  das  böse  Omen  für  den  bevor- 
stehenden Feldzug,  oder  die  grosse  Anzahl  der  frevelhaften 
Gesellen,  welche  hier  offenbar  in  Uebereinstimmung  gehandelt 
hatten.  Aber  als  der  Rath  wegen  des  Ereignisses  zusammen- 
berufen wurde,  traten  Peisandros  und  Charikles  auf  und 
behaupteten,  es  sei  dies  nicht  ein  gewöhnlicher  Frevel,  son- 
dern offenbar  in  der  Absicht  geschehen,  die  Demokratie  zu 
stürzen"^  und  eine  neue  Ordnung  zu  begründen.  Uns  mag  es 
sonderbar  vorkommen,  wie  die  Verstümmlung  von  Bildsäulen 
auf  einen  Umsturz'  der  Verfasstmg  hiuAveisen  sollte ;  aber  das 
athenische  Volk,  welches  seit  Hippias  Zeiten  von  dem  Schreck- 
bilde der  Tyrannis  und  der  wunderlicher  Weise  von  ihm  damit 
verwechselten  Oligarchie  überall  beängstigt  wurde,  ging  eifrig 
auf  diese  Ansicht  ein,  setzte  hohe  Preise  auf  die  Entdeckung 
der  Thäter,  und  ernannte  ausserordentliche  Untersuchungs- 
richter, unter  denen  wir  Peisandros ,  Charikles  und  den  we- 
niger  bekannten   Diognetos    finden.^      Zugleich   wurde  Jeder- 


1;  Ueber  den  Hermokopidenprocess  ist  vor  Allem  zu  vergleichen: 
Droysens  schon  oben  genannte  Abhandlung,  im  Khein.  Museum  für  Philo- 
logie, 3.  Jahrg.  1S35  S.  161— 20S,  und  4.  Jahrg.  1S;^6  S.  27—62.  [Sehr 
ausführlich  und  gut  behandelt  G.  Grote  im  V.  Bande  146  if.  171  ff.  der 
hist.  of  Gr.  den  Hermenprocess,  den  er  im  Ganzen  auch  hauptsächlich  als 
eine  auf  Alkibiades  Sturz  berechnete  [oligarchische  Intrigue  ansieht,  der 
sich  aber  z.  Th.  auf  wahre  Vergehen  begründete.  In  der  grossen  Hermen- 
verstümmlung selbst  sieht  er  eine  in  solcher  Absicht  begangene  Hand- 
lung, bestimmt  den  sicilischen  Krieg  und  Alkibiades  Feldherrnschaft  zu 
hintertreiben.] 

^    [Dies  ist  zu  bestimmt  gesprochen.] 

3)  Thucyd.   VI,  27.     Andoc.  d.  myst.  §.  36.     Plut.  Alcib.  18.  19. 

*)  Andoc.  d.  myst.  §.  14.  §.  36.  [Der  Rath  erhielt  Vollmacht,  wurde 
n'jzo-AodroiO.  Andoc.  d.  myst.  §.  15.  Durch  einen  Beschluss  nach  Andoc. 
d.  myster.  §.  20  scheint  bestimmt  gewesen  zu  sein,  dass  jeder  Ueberwiesene 
den  Tod  leide,   ebenso   aber  auch,    wer  eine  falsche  Denunciation  mache. 

Vis  eher,  Schriften  I.  ]2 


178       I^IE   OLIGARCHISCHE  PaRTEI  UND  DIE  HeTAIRIEN  IX  AtiIEX. 

mann  aufgefordert  auch  anzugeben,  was  ihm  sonst  von  Reli- 
gionsfreveln bekannt  sei.  'y  Damit  war  nun  jeder  Angeberei 
die  Thüre  geöifnet.  jeder  Piivatfeindschaft  der  weiteste  Spiel- 
raum gegeben,  und  das  hatten  die  Gegner  des  Alkibiades  ge- 
wollt. Eine  Zeitlang  kam  keine  Anzeige,  erst  als  die  Flotte 
schon  zur  Abfahrt  nach  Sicilien  bereit  lag.  trat  ein  gewisser 
Pythonikos  in  der  Volksversammlung  auf,  indem  er  an- 
zeigte ein  Sclave.  Andromachos,  werde  Zeugniss  ablegen,  dass 
Alkibiades  mit  mehrern  Genossen  in  Pulytions  Hause  die 
Mysterien  zum  Spotte  und  in  Beisein  Ungeweihter  aufgeführt 
habe.  ^  Als  dem  Sclaven  selbst  Sicherheit  versprochen  Avurde, 
machte  er  vor  versammeltem  Volke  seine  Angabe ;  und  jetzt 
folgten  schnell  andere  Denuntiationen .  des  Metöken  Teii- 
kros.  der  Agariste,  Frau  des  Alkmaionides.  und  des  Sclaven 
L  y  d  o  s  '  i  ,  theils  über  die  Hermenverstümmlung  ^) ,  theils  über 
die  Entweihung  der  Mysterien,  und  in  allen  mit  Ausnahme 
derjenigen  des  Teukros  kam  Alkibiades  Name  vor.  Die  we- 
nigsten der  zahlreichen  Angegebenen  Avarteten  die  Vorladung 
vor  Gericht  ab.  meist  entzogen  sie  sich  durch  Flucht  dem 
Urtheile  des  von  den  wildesten  Leidenschaften  aufgeregten 
Volkes.  Einen  Beweis  der  Schuld  darin  suchen  zu  wollen  wäre 
ungerecht.  ■^) 


co)ft£-/Ti  ii).k  ärov.TsIvai.  6  '[ä^  v6|j.o;  oux«;  er/ev ,  ei  jaev  -ä/.r^df,  ar^^rj-jzii  xt?, 
ehv.  TT,v  äos'.av,  et  oe  xd  •bvjof^,  xs^vavai.  Ein  'W/^'.3ij.a  dei5  Kleominos 
(Demagog  der  demokratischen  Art  bestimmte  dem  Angeber  lOuO  Drachmen, 
ein  zweites  des  Peisandros  oligarchischer  Demagog  lüHOU.  Letztere  erhielt 
Andromachos,  erstere  Teukros.  Andoc.  d.  myst:  §.  27.  28.  40.} 
._i}  Thucyd.  VI,  27.  "  -    - 

r  .»  4  Andoc.  d.  myst.  §.  11.  seq.  Thucyd.  VI,  2S.     Plut.  Alcib.  19. 
.  **)  Andoc.  d.  myst.  §.   15  seq. 

*)  Thucyd.  VI,  2S  sagt  aber,  es  sei  vor  Alkibiades  Abfahrt  nichts 
über  die  Hermen  berichtet  worden ;  daher  auch  Wachsmuth  die  Anklagen 
des  Teukros,  der  Agariste,  des  Lydos  nach  Alkibiades  Abgang  setzt.  — 
AUein  Thukydides  sagt  deutlich,  es  sei  d~o  |j.£xot7.(uv  x£  xiviav  v.il  ä-/.oAo6^ajv 
Anzeige  geschehen,  also  mehrere;  nun  haben  Agariste  und  Lydos  nach 
Andokides  hur  von- Mysterien  Anzeige  gemacht,  Teukros  aber  repi  fi'jcxTjpiojv 
Y.al  r.zol  tü)v  'EoiAÖJv  XT,;  rEpixoTtf,;  a  elosv.  Es  wird  aber  nicht  gesagt,  da.ss 
das  auf  die  grosse  Hermenverstümmlung  geht ,  weit  eher  möchte  es  wohl 
mit  den  a/J.tuv  Ik  äYa'/.ixaxcuv  -spixoTTcü  bei  Thukydidas  zusammenzustellen 
sein,  da  wir  sonst  nichts  der  Art  fänden. 

S)    I^Grote  V,   pg.  15.5  A.  2    glaubt,    des  Andokides  Angaben  §.  13  ff., 


Die  oligarchische  Partei  uxd  die  Hetairien  ix  Athex.      179 

Sie  wurden  abwesend  zum  Tode  verurtheilt  und  ihre  Güter 
confiscirt;  die  in  Athen  zurückgebliebenen  erlitten  alle  mit 
Ausnahme  des  Leogoras,  den  Tod.  Gegen  Alkibiades  den 
Feldherrn  aber,  der  sich  nicht,  wie  es  seine  Gegner  wünschten, 
flüchtete,  konnte  nicht  das  gleiche  Verfahren  wie  gegen  einen 
Privatmann  eingeschlagen  werden.  Es  wurde  daher,  ■s^-ie 
Droysen  nicht  ohne  Grund  vermuthet.  durch  Androkles  eine 
Eisangelie  gegen  ihn  beim  ßathe  eingereicht,  welche  laiitete  : 
xVlkibiades  habe  eine  Hetairie  gebildet  um  Neuerungen  zu 
machen;  und  die  Hetairen  haben,  im  Hause  des  Pulytion 
schmausend,  die  Mysterien  aufgefiihrt.  ^  Eine  Volksversamm- 
lung wurde  veranstaltet  um  über  diese  Eisangelie  zu  berathen. 
Als  nxm  aber  Alkibiades  wider  Erwarten  keineswegs  auf  Ab- 
weisung derselben  antrug,  sondern  das  \oYk  aufforderte,  gleich 
die  Sache  zu  untersuchen  und  ihn  entweder  zu  verurtheilen, 
oder  frei  zu  sprechen,  fürchteten  seine  Feinde  ihr  Plan  könnte 
misslingen;  sie  bewogen  also  einige  scheinbare  Freunde  des 
Alkibiades,  die  ilin  aber  hassten.  anzutragen,  er  solle  jetzt  als 
Feldherr  nach  Sicilien  gehen  und  erst  nach  seiner  Heimkehr 
die  Beurtheilung  statt  finden.  Umsonst  widersetzte  sich  diesem 
Verfahren  der  ISeklagte;  es  beliebte  dem  Volke  den  Antrag 
anzunehmen.  2  Leber  die  Triebfedern,  welche  den  Alkibiades 
bcAvogen  selbst  auf  Entscheidung  zu  dringen,   stimme  ich  durch- 


das3  die  von  Andromachos  Angezeigten  zum  Tode  verurtheilt  und  die  An- 
wesenden hingerichtet  worden  seien,  seien  nicht  wahr;  denn  Alkibiades,  der 
damals  angegeben  worden,  sei  zu  jener  Zeit  nicht  verurtheilt  worden  und 
nicht  geflohen.  Allein  er  war  Feldherr,  und  dag  Verfahren  gegen  ihn 
konnte  nicht  das  gewöhnliche  sein.  Ferner  Panaitios ,  der  gleich  geflohen 
sein  soll ,  wird  §.  52  und  6"  als  nicht  geflohen  genannt.  Polystratos  ist 
von  Harpokration  aus  Lj-sias  genannt  als  getödtet  wegen  der  Hermenver- 
stümmlung [s.  V.  rioXusTpaTo;  p.  1.56  Bekker  ,  während  es  nach  Andokides 
wegen  der  Mysterien  wäre.  Er  ist  daher  wahrscheinlich  einer  der  von 
Andokides  angegebenen  und  später  hingerichteten.  Auf  die  Unterscheidung 
der  Mysterien  und  der  Hermen  gebe  ich  nichts ,  da  die  beiden  Frevel  eng 
verwoben  und  auch  verwechselt  wurden.  Auch  die  Angabe  des  Andokides, 
dass  die  von  Teukros  denuncirten  hingerichtet  worden  seien,  verwirft  Grote 
als  im  "Widerspruche  mit  Thukydides ,  der  vor  des  Andokides  Angabe 
durchaus  nur  von  Verhaftung  der  besten  Männer  rede.] 

1]   Isoer.  de  big.  §.  6. 

■■2    Thucyd.  M.,  29.     Plut.  Alcib.   19.  20. 

12* 


ISO     Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen. 

aus  Droysen  bei ;  er  hoffte  nämlich ,  ^vie^vohl  er  sicherlich  in 
die  MysterienentAveihxmg  verwickelt  war,  durch  seinen  persön- 
lichen Einfluss,  durch  Hülfe  seiner  Hetairen,  und  die  Gegen- 
Avart  des  Heeres  die  Lossprechung  zu  bcAvirken ,  Avährend  er 
einsah,  dass  seine  AbAvesenheit  nur  den  Gegnern  Gelegenheit 
zu  neixen  Intriguen  und  Bearbeitung  des  Volks  geben  könne. 
So  geschah  es  denn  auch.  Kaum  Avar  die  Flotte  Anfang 
Juli  415V  von  Athen  abgesegelt,  als  die  Untersuchungen  von 
neuem  begannen,  und  besonders  auf  Peisandros  und  Chaiikles 
Betrieb  mit  solchem  Eifer  geführt  Avurden,  dass  Schrecken  alle 
Bürger  ergriif.  Niemand  glavibte  sich  mehr  sicher;  Avenn  der 
Herold  das  Zeichen  zum  Zusammentreten  des  Ilathes  gab, 
flohen  von  dem  Markte  alle  Bürger  aus  Furcht  v^erhaftet  zu 
AA'erden.-)  Da  brachte  etAAa  14  Tage  nach  der  Abfahrt  der 
Flotte  ein  gcAAisser  Diokleides,  eine  Eisangelie  gegen  42 
Personen  ein,  AA^elche  er  unter  einer  Anzahl  A-on  etAva  300  Män- 
nern in  jener  Nacht  als  HeiTaenverstümmler  erkannt  haben 
Avollte.  3  Unter  den  genannten  befanden  sich  zAvei  Mitglieder 
des  Käthes  Mantitheos  und  Aphepsion.  AAclchen  es  zu  entfliehen 
gelang,  die  andern,  unter  ihnen  Kritias  und  des  Leogoras 
Sohn  Andokides  Avurden  ins  Gefängniss  gesetzt.  Zugleich 
hiess  es,  die  Feinde  bedrohten  die  Stadt;  denn  ein  kleines 
lakedaimonisches  Heer,  Avar  Avegen  Unruhen  in  Boiotien  bis 
zum  Isthmos  gerückt-*  ,  und  die  Boiotier  selbst  hatten  die  Gränze 
gegen  Attika  besetzt.  Dies  erbitterte  das  misstrauische  Volk 
noch  mehr;  ganz  Athen  stand  einen  Tag  und  eine  Nacht  durch 
unter  den  Waffen.  Gleichzeitig  hatte  man  die  Oligarchen  in 
Argos  im  Verdacht,  einen  Anschlag  auf  die  Demokratie  ge- 
macht zu  haben,  und  auch  daran  sollte  nun  Alkibiades  Schuld 
sein  und  dies  im  Zusammenhang  stehen  mit  den  Mysterien  und 
dem  spartiatischen  Heere.  Darum  gaben  die  Athener  die 
Geissein,  Avelche  sie  von  der  oligarchischen  Partei  in  Argos 
hatten,  den  Demokraten  heraus  sie  hinzurichten.  5.  In  dieser 
Noth  und  Bedränsrniss  machte  endlich  Andokides  dem  Process 


1)  Ende  Skü-ophorion  Ol.  91.  I.     Archontat  des  Arimnestos  cf.  Droysen 
Ehein.  Mus.  3,  1S36  p.   170.     Isaeus  de  Philoctem.  haer.  §.   14. 

2)  Andoc.  d.  myst.  §.   36.  3)   Andoc.  d.  myst.  §.  37 — 42. 
4j  Thucyd.  Vl/ci.     Andoc.  d.  myst.  §.  45. 

5)  Thucvd.  VI,  62. 


Die  oligarchische  Partei  tnd  die  Hetairien  in  Athen.     181 

gegen  die  Hermenverstümmler  dadurch  ein  Ende ,  dass  er  auf 
die  Versicherung  eigener  Straflosigkeit  anzeigte,  was  er  selbst 
von  der  Sache  wusste.  Er  er\^-ies  die  Lügenhaftigkeit  der  An- 
gabe des  Diokleides  ^) ,  der  mit  dem  Tode  büsste,  und  gab  hin- 
gegen die  Hetairie  des  Euphiletos,  zu  der  er  selber  ge- 
hört zu  haben  scheint,  als  Urheberin  der  Hennenverstümmlung 
an.  ■-)  Die  meisten  Mitglieder  derselben  Avaren  schon  früher, 
durch  Teukros  verzeigt,  theils  entflohen,  theils  hingerichtet 
worden.  Nur  vier  neue  fügte  Andokides  hinzu.  Panaitios^j, 
C'hairedemos,  Diakritos  und  Lysistratos,  Avelchen  es 
jedoch  auch  gelang  zu  entkommen.  ■*;  Auf  diese  Anzeige  hin, 
deren  Werth  wir  nicht  näher  zu  beurtheilen  vermögen,  wurden 
die  Genannten  zum  Tode  verurtheilt ,   ein  Preis  auf  den  Kopf 


1)  Diokleides  ■svar  von  Alkibiades  dem  Phegusier  und  Amiantos  aus 
Aegina  für  die  falsche  Angabe  gewonnen  -worden.  Wahrscheinlich  gehörten 
sie  auch  der  oligarchischen  Partei  an,  wiewohl  dieser  Alkibiadas  ohne 
Zweifel  ein  Vetter  des  andern  war.  Vergl.  Droysen  Rhein.  Mus.  Jahrg.  4. 
1S36  S.  32.  [Bekanntlich  sagen  Plutarch.  Alcib.  20  und  Diod.  XIII,  2, 
es  sei  an  dem  Tage  der  Hermenverstümmlung  nicht  Vollmond  gewesen, 
wie  Diokleides  angab,  sondern  Neumond.  Das  bezweifelt  Grote  V,  pg.  173 
A.  3  weil  bei  einem  so  schlau  und  boshaft  angelegten  Complott  man  nicht  so 
dumm  gelogen  haben  werde  und  namentlich,  weil  Andokides  bei  aller 
Ausführlichkeit ,  die  er  der  Widerlegung  von  Diokleides  Angabe  widmet, 
nichts  davon  sage.] 

-)  Andoc.  d.  myst.  §.  61.  [Grote  meint  wohl  mit  Recht,  was  Andokides 
wirklich  angegeben,  sei  abweichend  von  dem,  was  er  später  in  der  Rede 
sage,  wo  er  sich  so  inoffensiv  als  möglich  stelle.  Büttner  und  K.  F.  Her- 
mann nennen  die  Hetairie,  die  Droysen  die  des  Euphiletos  genannt,  lieber 
die  des  Andokides,  was  am  Ende  ziemlich  gleichgültig.] 

3)  [Panaitios  erscheint  in  der  Denuntiation  des  Andromachos,  Andoc. 
d.  myst.  §.  13,  wahrscheinlich  ein  andrer,  als  der  später  genannte.] 

4)  Andoc.  d.  myst.  §.  52.  .58  seq.  Aus  den  bei  Andoc.  d.  myst.  §.  35 
angeführten  Namen  in  Verbindung  mit  den  vier  §.  52  genannten,  lässt  sich 
wohl  mit  einiger  Sicherheit  die  Hetairie  des  Euphiletos  zusammenstellen. 
Namentlich  scheint  nebst  Euphiletos ,  der  spätere  Ankläger  des  Sokrates, 
Meletos  [verschieden  vom  Ankläger  nach  Forchhammer  die  Athener  und 
Sokrates  pg.  81  Anm.  29  und  Scheibe  die  ölig.  Umw.  pg.  82  Anm.  25.] 
an  der  Spitze  der  Verbindung  gestanden  zu  haben  cf.  §.  63  weshalb  er 
später  als  Mitankläger  des  Andokides  auftrat.  —  Nach  Thucyd.  VI,  60 
sind  indess  doch  einige  vorher  schon  Eingekerkerte  auf  Andokides  Angabe 
hingerichtet  worden,  was  dieser  in  seiner  Vertheidigung  §.  52.  53.  67.  68. 
läugnet. 


182     Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairiex  in  Athen. 

der  Entwichenen  gesetzt,   die  übrigen  Eingekerkerten  entlassen, 
und  so  der  Stadt  endlich  die  Ruhe  wieder  zurück  gegeben. 

Aber  gegen  Alkibiades ,  obgleich  er  nicht  von  Andokides 
genannt  war,  hatte  sich  das  Misstrauen  nur  gesteigert,  das 
Volk  glaubte  sichere  Beweise  in  Händen  zu  haben,  dass  er 
an  dem  Umsturz  der  Verfassung  gearbeitet;  da  reichte  Thes- 
salos,  der  sonst  unberühmte  Sohn  des  Kimon,  also  schon 
seiner  äusseren  Stellung  nach  ein  Oligarch  und  Avahi'scheinlich 
nur  ein  Werkzeug  von  Alkibiades  Feinden,  folgende  Eisangelie 
ein:  »Thessalos,  Kimons  Sohn,  der  Lakiade,  zeigt  an,  dass 
Alkibiades,  Kleinias  Sohn,  aus  Skambonidai,  sich  gegen  die 
beiden  Göttinnen,  die  Demeter  und  Kora  versündigt,  indem 
er  die  Mysterien  nacligemacht ,  und  sie  seinen  Genossen  ge- 
zeigt in  seinem  eigenen  Hause ,  bekleidet  mit  dem  Gewände, 
das  der  Hierophant  trägt ,  Avenn  er  die  Heiligthümer  zeigt, 
und  indem  er  sich  selbst  den  Hierophanten  nannte,  Pulytion 
den  Fackelträger,  Theodoros  aus  Phegai  aber  den  Herold,  und 
die  übrigen  Genossen  als  Mysten  und  Epopten  anredete,  gegen 
die  herkömmlichen  Gesetze  und  die  Verordnungen  der  Eumol- 
piden  und  Keryken  und  der  Priester  in  Eleusis.  \, 

Ohne  Rücksicht  auf  das  gegebene  Versprechen,  ohne  zu 
bedenken,  Avelchen  Übeln  Einfluss  die  Entfernung  des  Alkibia- 
des auf  den  Krieg  in  Sicilien  haben  müsse,  wurde  das  sala- 
minische  Schiff  abgesandt,  um  Alkibiades  nebst  mehreren  Mit- 
angeklagten seiner  Hetairie  nach  Athen  zu  bringen.  Er  wei- 
gerte sich  nicht  zu  folgen,  aber  in  Thurioi  entfloh  er,  und  ging 
nach  dem  Peloponnese,  wo  er  bald  darauf  von  Sparta  aus  seiner 
Vaterstadt  unendlichen  Schaden  zufügte.  Die  Athener  aber 
verurtheilten  ihn  in  contumaciam  zum  Tode ,  zogen  sein  Ver- 
mögen ein  und  Hessen  durch  die  Priester  über  ihn  den  Fluch 
aussprechen  -) . 

Dieses  Ende  nahm  der  Hermokopidenprocess,  in  welchem 
mehr  als  je  zuvor  die  Thätigkeit  der  Hetairien  sichtbar  wird. 
Es  war    den   Oligarchen   gelungen,    ihren    furchtbarsten  Feind 


1)  Plut.  Alcib.  22.  Droysen  Rhein.  Museum  Jahrg.  -4.  1836  S.  38 
nimmt  an  es  sei  dieser  Klage  eine  neue  Denuntiation  vorangegangen,  was 
von  keinem  alten  Schriftsteller  erzählt  wird  und  auch  nicht  nöthig  war. 

^   Plut.  Alcib.   20.   22.  23. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.      1  83 

aus  Athen   zu    vertreiben ;    jetzt   konnten    sie   ungestörter   ihre 
weiteren  Pläne  verfolgen  i) . 

ZAvei  Jahre  hindurch  ruhten  indess  in  Athen  wenigstens 
scheinbar  die  Parteikämpfe;  denn  der  Krieg  in  Sicilien  nahm 
alle  Kräfte  und  alles  Interesse  des  Staates  in  Anspruch.  Als 
aber  im  Herbste  des  Jahres  413  die  schreckliche  Kunde  von 
dem  Untergange  des  Heeres  kam,  regten  sich  von  neuem  die 
Oligarchen,  nicht  nur  in  Athen,  sondern  in  allen  Bundesstädten 
zugleich.  Die  Erbitterung  des  Volks  gegen  jene  Demagogen, 
welche  besonders  den  Feldzug  angerathen,  die  allgemeine 
Rathlosigkeit  und  Angst  A\'urde  von  den  Gegnern  der  Demo- 
kratie trefflich  benutzt.  Während  man  sich  mit  unglaublichen 
Anstrengungen  rüstete ,  einen  Angriff  der  verbündeten  Feinde 
zurückzuweisen,  wurde  zugleich  beschlossen,  in  Zukunft  die 
■Staatsausgaben  möglichst  einzuschränken,  und  eine  vorbera- 
thende  Behörde  von  altern  Männern  niederzusetzen. -i  Schon 
der  Name  dieser  Behörde  irpoßouXoi  deutet  auf  einen  oligarchi- 
schen  Charakter  ^] .  Uebrigens  ist  das  Wirken  derselben  uns 
Avenig  bekannt;  nur  soviel  wissen  wir,  dass  sie  der  Oligarchie 
thätig  vorarbeitete  ^) .  Mit  dieser  Einrichtung  begnügte  man 
sich  einstweilen;    bald   bot    sich  Gelegenheit  weiter  zu  gehen. 


■*)  [Grote  zeigt  in  der  ganzen  Darstellung,  wie  verhältnissmässig  gesetz- 
lich und  mild  das  athenische  Volk  verfahre,  wenn  man  es  vergleiche  mit 
einer  Reihe  ähnlicher  Fälle  in  der  neuern  Geschichte.  Aber  er  beachtet 
nicht  genug  die  schrecklich  unpolitische  Seite  des  Verfahrens  gegen  Alki- 
biades.] 

-)  Thuc.  VIII,  1  :  dooxet  .  .  .  äpy-r]v  "civa  rpeafl'jxepwv  Ävopwv  sXsci^at  rn 
Ti^e?  Tiepi  Ttöv  -apovTiuv ,  tu;  av  xatpci;  ^,  rpo^ouXeuJO'jsi.  Vergl.  Krüger 
Commentat.  Grit,  et  Hist.  hinter  Dionys.  Historiogr.  p.  273.  Hermann 
Lehrb.  d.  gr.  St.  §.  165,   10,   11. 

3)  Arist.  Polit.  VI,  pg.  174,   13  ff.  VII,   193,   16  Bekker. 

*)  Nach  Lysias  c.  Eratosth.  §.  65.  Unter  den  Probulen  war  auch 
Hagnon,  Adoptivvater  des  Theramenes.  Eine  Verwechslung  mit  den 
spätem  Proedren  und  den  Syngrapheis  anzunehmen  sehe  ich  keinen 
Grund.  [?]  [Die  Thätigkeit  der  Probulen  für  die  Oligarchie  hat  Büttner 
bestimmt  abgeleugnet,  obwohl  die  von  K.  F.  Hermann  angeführte  Stelle 
aus  Arist.  Rhetor.  III,  18,-  6:  ei  eoo^ev  aÜTw  (Socpo/cXei)  ücizep  v.ru  toT; 
ä7iXou  rpoßoüXotc  -iCa-aaTfioat  to-j?  xsxpaxoaio'j;  allein  die  Sache  entscheidet. 
In  der  Recension  von  Büttners  Werk,  meint  dann  Hermann,  es  sei  die 
Nachricht  von  den  30  O'JYypactEi?  bei  Philochoros  und  Androtion  mit  den 
10   (jL»YYp'3'^ei?   a'jTOxpa-opsc  in  der  Weise  zu  vereinigen,    dass   den   10  be- 


184     Die  oligarchische  Partei  uxd  die  Hetalreen  in  Athen. 

Mit  dem  Frühling  des  Jahres  412  nämlich  war  der  Kjieg 
in  Hellas  mit  erneuter  Wuth  losgebrochen,  und  wurde,  wäh- 
rend ein  peloponnesisches  Heer  von  Dekeleia  aus  Athen  blo- 
kirte,  vorzüglich  an  der  Küste  Yorderasiens  geführt,  wo  beson- 
ders auf  Alkibiades  Antrieb  die  persischen  Satrapen  Sparta 
unterstützten,  und  die  Oligarchen  eine  athenische  JJundesstadt 
nach  der  andern  auf  dessen  Seite  brachten,  besonders  (^hios  ^] , 
Miletos  2 ; .  bald  auch  Rhodos  3]  und  Byzanz ''; .  Lakedaimoni- 
sche  Befehlshaber,  Harmosten  genannt,  gaben  der  oligarchisch- 
lakonischen  Partei  einen  festen  Halt ,  so  dass  es  schwer  war, 
später  eine  solche  Stadt  Avieder  auf  athenische  Seite  zu  bringen  ^] . 
Nichts  desto  weniger  leisteten  die  Athener  einen  unerwarteten 
Widerstand,  und  gewannen  bald  durch  einige  glückliche  Waf- 
fenthaten  das  alte  Vertrauen  auf  ihre  Ueberlegenheit  zu  See 
wieder.  Sie  machten  zum  Mittelpunkt  ihrer  Operationen  Sa- 
mos,  auf  dessen  Treue  sie  sicher  zählen  durften.  Während 
nämlich  in  den  meisten  Städten  loniens  sich  die  lakonische 
Partei  rührte,  scheint  ähnliches  auch  in  Samos  geschehen  oder 
wenigstens  beargwöhnt  worden  zu  sein.  Darum  erhob  sich  im 
Sommer  412,  in  Gegenwart  einiger  athenischer  Schiffe,  das 
Volk  gegen  die  Vornehmen,  welche  hier  Geomoren  hiessen, 
und  \s-ie  es  scheint  bedevitende  politische  Vorzüge  besassen. 
Zweihundert  derselben  wurden  getödtet,  vierhundert  vertrieben, 
die  Epigamie  ius  connubii]  mit  ihnen  aufgehoben,  und  alle 
Gewalt   in  die  Hände   des  Demos    gelegt  ^  .     Hierauf  eitheilte 


stehenden  Probulen  für  den  besondern  Zweck  ausserordentliche  Vollmacht 
ertheilt,  und  20  weitere  c^YTr^'^r-'^'  ^^^  Beisitzer  zugeordnet  seien.  Wenn 
das  nicht  genüge ,  so  möchte  er  lieber  annehmen ,  es  sei  bei  Thukydides 
A  tptäv.ovTa;  in  Aoly-cr.)  übergegangen,  cf.  meine  Bemerkung  in:  Alkibiades 
und  Lysandros.  Sehr.  I  S.  115  A.  1.  Büttner  behauptet  sogar,  die 
Einrichtung  der  Probulen  sei  bald  wieder  verschwunden.  Wenn  er  dar- 
unter versteht,  schon  vor  der  Einsetzung  der  400,  so  widerlegt  ihn 
schon  hinlänglich  die  Lysistrata,  welche  unter  Archon  Kallias  also 
Winter  412/11  aufgeführt  ist  und  wo  die  Probulen  eine  so  grosse  Rolle 
.spielen.] 

1)  Thucyd.  MII,  5.  9.  10.  14.  24. 

2]  Thucyd.  \lll,   17.  3j  Thucyd.  MII,  44. 

4]  Thucyd.  Vni,  80.  5    Thucyd.  YHl,  38. 

6)  cf.  Thucyd.  \T^II,  21.  Krüger  Commentat.  Grit,  et  Hist.  hinter 
Dionys.  Historiogr.  p.  327 — 330.    [Bezieht  sich  vielleicht  auf  diese  Zeit  die 


Die  oligarchische  Partei  und  uie  Hetairien  in  Athen.     185 

Athen  den  Samiern  die  unter  Perikles  entrissene  Autonomie 
wieder,  und  fand  in  ihnen  so  treue  Bundesgenossen,  dass  sie 
selbst  nach  der  Schlacht  bei  Aigos  Potamos  nicht  abfielen, 
sondern  erst  durch  eine  harte  Belagerung  zur  Uebergabe  an 
Lysandros  gezwungen  Avurden  i; . 

Indessen  hatte  Alkibiades,  der  immer  auf  llückkehr 
nach  Athen  sann,  das  Misstrauen  der  Lakedaimoiiier  auf  sich 
gezogen  und  sich  darum  zu  dem  persischen  Satrapen  Tissa- 
phernes  begeben.  Von  da  trat  er  im  folgenden  Winter  mit 
den  angesehensten  Männern  auf  der  athenischen  Flotte  bei 
Samos  in  Verbindung  untl  liess  sich  verlauten,  er  wünsche  in 
seine  Vaterstadt  zurück  zu  kehren  und  werde  ihr  die  Freund- 
schaft des  Tissaphernes  verschaffen,  wenn  statt  der  Demokratie, 
welche  ihn  vertrieben ,  eine  Oligarchie  eingerichtet  werde  ^] . 
Mehr  noch,  als  auf  Alkibiades  Wiuisch,  suchten  die  ange- 
sehensten Athener  aus  eigenem  Antrieb  die  Demokratie  zu 
stürzen  ^) .  Darum  gingen  einige  von  ihnen  zii  Alkibiades. 
verabredeten  das  Nähere ,  und  bildeten ,  nach  Samos  zurück- 
gekehrt, eine  Verschwörung  aus  den  Leuten,  welche  sie 
dafür  tauglich  hielten.  Zugleich  verbreiteten  sie  das  Gerücht 
von  der  bevorstehenden  A  eränderung  unter  das  Heer,  welches 
zwar  darüber  murrte,  aber  sich  doch,  in  Erwartung  des  Soldes, 
der   durch  die   Bundesgenossenschaft  des  Tissaphernes   reich- 


räthselhafte  Geschichte  bei  Heraclid.  Ponticus  c.  10?  0£OY£vr^;  os  twv 
SafAituv  Ti;,  eü'f'JYj?  p.£v,  aXXcu;  oe  asojTo;  7.at  zovTjpo?  cfS'JYwv  tt,v  -aTpioct, 
öiaTpißcuv  6s  'A&-rivTj3i  zap'  Eiipizioirj  vm  tö  '{'js'xwt  aüioO  ot^/fÖEipiov,  auvepYOV 
a'jTÖv  /.aß(juv,  TTiiSei  to'j;  'Ai^T^vaio'j;  6t3yt}.iov»;  et;  2äij.ov  ärrosxED.ar  ot  0£ 
e).9ovt£;  -avToi;  £^£;3a/.ov.] 

1;  Xen.  Hell.  II,  2.  6;  3.  6  und  T.  [Archäolog.  Mittheilungen  aus 
Griechenland  nach  Otfr.  Müllers  hinterlass.  Papieren,  herausgeg.  von  Ad. 
Scholl  p.  58.  59.] 

2,  Ueber  die  Herrschaft  der  Vierhundert  vgl.  man  besonders  Krüger 
Comment.  Grit,  et  Histor.  c.  7.  p.  362  seq.  hinter  Dionys.  Historiogr.  Dass 
Alkibiades  sich  an  die  Oligarchen  wandte  und  Einführung  einer  gemässig- 
ten Oligarchie  wünschte ,  hat  seinen  Grund  wohl  darin ,  dass  er,  so  lange 
Androkles  und  ähnliche  Demagogen  an  der  Spitze  des  Volkes  standen,  die 
Heimkehr  nicht  erwarten  durfte. 

3j  Thucyd.  VIII,  47  :  tö  os  ttXeov  xat  dro  acpcüv  «ütöjv  ol  iv  tt^  2ä(j.oj 
TpiT|papyot  TS  Töjv  'AftrjVcitojv  y.al  O'jvaTOJTOtTOi  öjppi7;N-o  ic,  t6  -/.aTaXüoat  rr^-t  or- 
[jioy.paTtav. 


186       ^^   OLIGÄUCHISCHE  PaRTEI  UND  DIE  HeTAIRIEN  IX  AtHEX. 

licher  und  regelmässiger  ausbezahlt  -werden  sollte,  einstAveilen 
beiiihigte.  Als  ihr  keine  Schwierigkeiten  im  Wege  zu  stehen 
schienen,  hielten  die  Anstifter  der  Verschwörung  noch  eine 
Berathung  mit  dem  grössten  Theile  der  Genossen  V .  Hier  be- 
urtheilte  der  Feklherr  Phrynichos.  ein  Mann  von  gemeiner 
Herkunft,  der  sich  durch  Sykophantie  emporgesclnvungen -^ , 
die  Absichten  des  Alkibiades  aufs  richtigste.  Er  zeigte,  Avie 
demselben  an  der  OHgarchie  so  wenig  hege,  Avie  an  der  De- 
mokratie, und  er  für  jetzt  nur  mit  allen  Mittehi  seine  Rück- 
kehr betreibe,  und  welchen  Nachtheil  in  den  JiundesAerhält- 
nissen  die  Umwälzung  her\'orbringen  Averde,  AAesAACgen  er  sich 
den  Vorschlägen  AAidersetzen  müsse  •-'i .  Allein  die  ^'erbünde- 
ten"*)  beschlossen  vielmehr,  in  dem  angefangenen  Unternehmen 
fortzufahi-en ,  und  sie  schickten  den  Peisandros,  der  aus 
dem  Hermesprocess  uns  bekannt  ist.  mit  einigen  andern  Ab- 
geordneten nach  Athen,  dort  des  Alkibiades  Zurückberufung 
und  den  Sturz  der  Demokratie  einzuleiten.  Aus  Furcht  vor 
Alkibiades  machte  darauf  Phrynichos  einen  A' ersuch  die  ganze 
athenische  Flotte  den  Lakedaimoniern  durch  Verrath  in  die 
Hände  zu  spielen,  Avas  mxr  an  der  ebenso  grossen  Schlechtig- 
keit und  Verrätherei  des  lakedaimonischen  Admirals  Astyochos 
scheiterte  ^) ;  Peisandros  aber  kam  mit  seiner  Gesandtschaft  nach 
Athen,  avö  er,  trotz  des  anfänglichen  Widerstrebens  Vieler, 
sich  auf  geschickte  Weise  seines  Auftrages  entledigte,  indem 
er  die  Rückkehr  des  Alkibiades  und  die  Hülfe  Persiens  als 
das  einziore  Rettuno^smittel  darstellte.  Er  AA-urde  mit  zehn  an- 
dern  Männern  bevollmächtigt,  die  Unterhandlungen  mit  Alki- 
biades und  Tissaphernes  nach  Gutdünken  zu  leiten ;  zugleich 
bcAvirkte  er  die  Abberufung  des  damals  den  Oligarchen  ver- 
dächtigen   Phrynichos    und    des    Skironides.      Was    aber    das 


1)  Thucyd.  VIII ,  48 :  oi  hk  ^-jvta-ä-.-e;  ttjv  oUyxpyiw ,  e-eiOYj  -tu  TiÄTjöei 
^-/cotvtt)vr,aav ,  aO&i;  xal  cccfatv  a'jxoi;  "/.al  toj  ^xaipixoü  tuj  -\io-n  -a.  d~b  xoü 
'AXvtißici5o'j  Itaöt.o'J'k 

2)  Lysias  pro  Polystrato  §   11.   12. 

3)  Thucyd.  VIU,  48. 

*)  Thucyd.  VIII,  49:  oi  oe  I'jÄXeyevtec  twv  h  zr^  |'j[j.ij.a-/ta,  Avelche  er 
dem  Phrynichos  entgegensetzt,  der  nicht  von  Anfang  an  bei  der  Sache  Avar. 
[Dobree  Avill  xöjv  iv  xrj  l'jvwtxosta  lesen.] 

5,  Ueber  diese  merkwürdige  Geschichte  cf.  Thucyd.  \^^,  50.  51. 


Die  oligarchische  Partei  uxd  die  Hetairiex  in  Athen".     IST 

wichtigste  von  allem  "war ,  er  b e w o g  alle  Verschwörun- 
gen, welche  bis  dahin  in  Athen  für  Wahlen  und 
Processe  bestanden  hatten  sich  zu  vereinigen  zu 
dem  gemeinsamen  Z  wecke ,  die  Demokratie  zu  stür- 
zen 1 1 .  So  finden  wir*  jetzt  seit  den  Zeiten  des  Thukydides 
zum  ersten  Mal  alle  mit  der  bestehenden  Ordnung  Unzufrie- 
denen zu  einer  grossen  Genossenschaft  verschworen,  Avelche 
diesmal  kein  Mittel  scheut ,  und  bald  den  ganzen  Staat  ihrem 
Einiluss  unterwirft. 

Wiewohl  sich  nun  bald  die  Unterhandlungen  mit  Alkibia- 
des  und  Tissaphernes  an  den  überspannten  Forderungen  dieser 
zerschlugen,  beschlossen  die  Häupter  der  oligarchischen  Fak- 
tion dennoch  nicht  von  der  Einrichtung  der  Oligarchie  abzu- 
stehen; und  das  liefert,  Avenn  es  irgend  nöthig  wäre,  den 
besten  Beweis,  dass  sie  den  Alkibiades  eben  so  sehr  zum  Yor- 
Avande  gebraucht  hatten,  wie  dieser  in  ihnen  nichts  anders  als 
ein  Werkzeug  zur  Rückkehr  gesucht  hatte  2].  Sie  beredeten 
also  die  angesehensten  Samier,  auch  in  Samos  die  Demo- 
kratie zu  stürzen,  sandten  Peisandros  mit  fünf  der  Abgeord- 
neten nach  Athen,  mit  dem  Auftrag,  auch  unterwegs  in  den 
Bundesstädten  Oligarchien  einzurichten,  die  übrigen  fünf  nebst 
einigen  andern  Männern  in  die  andern  Städte  der  Bundesge- 
nossenschaft.  Diese  Politik  rächte  sich  aber  bald;  denn  wo, 
wie  in  Thasos  durch  Diotrephes  geschah,  wirklich  die  Oligar- 
chie eingeführt  AAtirde ,  folgte  auch  auf  dem  Fusse  der  Abfall 
von  Athen ,  das  in  seiner  impro\dsirten  oligarchischen  Gestalt 
den  Feinden  der  Demokratie  nicht  mehr  Zutrauen  einfiösste 
als  früher  3  . 

Unterdessen  Avar  Peisandros  nach  Athen  gekommen,  be- 
gleitet A'on  einer  Schaar  Hopliten ,  die  er  aus  gleichgesinnten 
Männeni  mehrerer  Inseln  gebildet  ^  .  Hier  fand  er  Alles  durch 
dieHetairen  aufs  trefflichste  A'orbereitet.  Diese  hatten  nicht 
nur  den  Demagogen  Androkles,  der  aus  dem  Hermokopi- 
denprocess  bekannt  ist,  durch  Mord  Aveggeräumt,  und  schon 
offen  das  Gerücht  ausgestreut ,  aller  Sold ,  Avelcher  den  Rich- 
tern,  dem  Rathe  und  dem  Volke  ausbezahlt  ward,  müsse  hin- 


1)  Thucyd.  VIII,  54.  2)  Thucyd.  VIII,  63. 

3,  Thucyd.  Ylll,  64.  *)  Thucyd.  VIII,  65.  69. 


188       I^IE   OLIGARCHISCHE  PaRTEI  UND  DIE  HeTAIRIEN  IN  AthEX. 

fort  aufliören  und  die  Souveränetät  an  5000  der  begütertsten 
Bürger  übergehen;  sie  hatten  auch  schon  eine  solche  Macht 
gewonnen,  dass.  wiewohl  noch  die  demokratischen  Behörden 
bestanden,  dennoch  nichts  ohne  oder  gegen  ihren  Willen  ge- 
schah. Niemand  wagte  mehr  zu  widersprechen,  nur  Redner 
aus  der  Mitte  der  Hetairen  traten  auf,  und  alle  Massregeln 
wurden  zuvor  in  dem  (ylub  besprochen  und  vorbereitet.  Er- 
hob je  einer  seine  Stimme  gegen  sie,  so  wurde  er  auf  eine 
angemessene  Weise  hinweggeräumt,  und  niemand  dachte  an 
Untersuchung  und  Bestrafung  der  Thäter.  Weil  niemand 
wusste ,  AVer  der  Verschwörung  angehöre ,  Aver  nicht ,  und  die 
meisten  sie  für  zahlreicher  hielten,  als  sie  wirklich  war,  wurde 
jede  Vereinigung  zum  Schirm  der  Verfassung  unmöglich  und 
die  eifrigsten  Demokraten  misstrauten  einander,  weil  man 
Männer  mit  an  der  Spitze  der  oligarchischen  Bewegung  sah. 
denen  man  es  nie  zugetraut  hatte ^i. 

So  war  es  dem  Peisandros  leicht  das  Ziel  zu  erreichen. 
Nach  seiner  Ankunft  -sATirde  zuerst  in  der  ^'olks Versammlung 
vorgeschlagen  und  angenommen,  zehn  Männer  Syngrapheis) 
zu  wählen,  welche  dem  A'olke  an  einem  bestimmten  Tage  einen 
Vorschlag  bringen  'sollten,  auf  welche  Weise  die  Verfassung 
am  besten  eingerichtet  werden  könne  '^\ .  An  dem  bestimmten 
Tage  (27.  Febiiiar  411  3  wurde  das  Volk  nicht  an  dem  ge- 
wöhnhchen  Orte,   in  der  Pnyx,  oder  dem  Theater  versammelt. 


))  Thucyd.  VIII,  66. 

2)  Thucyd.  VIII,  67  :  el-ov  •(^ith\).r;'i  or/.ot  ä'vooa;  £/ia&at  ^'jyyP^?^^'  oiÜto- 
xpatopa? ,  TO'JTO'J;  0£  ;'JYYp<i']'^"'~Ä;  -^-iötiKr^')  izt^if^xzl't  I;  tov  of,aov  I;  r,[j.£pav 
^TjT-fjv ,  •/.a»}'  0  Ti  apiarot  Tj  zoXi;  otv.T,a£Tat.  Diese  Syngrapheis  scheinen  von 
den  10  Phylen  gewählt  worden  zu  sein.  cf.  Lysias  pro  Polystr.  §  2.  Her- 
mann Lehrb.  d.  g.  A.  p.  637.  und  die  nämlichen  zu  sein,  welche  auch 
v.axa^.oYEi;  heissen  insofern  sie  die  5000  regimentsfähigen  Bürger  verzeich- 
nen sollten,  cf.  Krüger  1.  c.  p.  375.  A.  58.  [Schömann  Antiqu.  p.  181.  2. 
versucht  aus  Harpokration  s.  v.  o'jyyP^j'^si?  und  aus  Suidas  rpoi^o'j/.oi  nicht 
ohne  "Wahrscheinlichkeit  zu  zeigen,  dass  die  10  rpoßo-j/.oi  zu  a'jY7P''''r-^?  ß'"" 
nannt  wurden  und  noch  20  zu  sich  wählten,  also  im  ganzen  30.  Krüger 
1.  c.  meint,  Harpokration  verwechsle  die  o'jYYP''T'^^i  ^^  den  30  Männern.] 

3)  [Die  Zeitbestimmung  nach  Dodwell.  Ich  weiss  aber  nicht,  worauf 
sich  dieser  27.  Februar  gründet,  der  mir  überdies  etwas  früh  scheint. 
Höchst  merkwürdig  ist  aber ,  wie  bei  Poppo'  in  den  tabulae  chronol.  die 
Zusammenkunft  der  Gesandten  mit  Tissaphernes  c.  56.  in  Anfang  März 
gesetzt  wird,    die   Volksversammlung  bei  Kolonos,  die  später   statt  hatte. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.      189 

sondern  ausserhalb  der  Stadt  beim  Heiligthum  des  Poseidon 
in  Kolonos,  und  dort  trugen  die  Syngrapheis  nichts  anders 
vor,  als  dass  jeder  Athener  reden  möge,  wie  er  es  für  gut  finde, 
ohne  der  GesetzA\4drigkeit  belangt  werden  zu  können.  Da  stellte 
Peisandros  den  Antrag:  es  sollen  die  alten  Behörden 
aufgehoben  werden,  fortan  keine  mehr  Sold  (Tag- 
gelder erhalten,  fünf  Proedren  (Vorsitzer)  ernannt 
werden,  welche  hundert  Männer  erwählen,  von 
denen  wieder  jeder  drei  bezeichnen  solle.  Diese 
Vierhundert  s o  1 1  e n  m i t  u n b e d i n g t e r  A' o  1 1  m a c h t  re- 
gieren und  die  fünftausend  zusammenberufen  so 
oft  es  ihnen  beliebe  ^j. 

Ohne  Widerspruch  nahm  die  Gemeinde  den  Vorschlag  an, 
die  Vierhundert  wurden  ernannt,  und  drangen  jeder  mit  einem 
Dolche  bewaffnet,  von  120  entschlossenen  Jünglingen 2)  beglei- 
tet, in  das  Kathhaus,  wo  sie  den  bisherigen  verfassungsmässi- 
gen Rath  der  Fünfliundert  nach  Hause  gehen  hiessen,  nach- 
dem sie  ihm  noch  den  Sold  für  den  Rest  der  Amtszeit  ausge- 
zahlt 3) .  Darauf  installirten  sie  sich  förmlich ,  begingen  die 
gebräuchlichen  Opfer,   ernannten  neue  Beamte^)   u.  s.  w. 


auf  den  27.  Febi'uar !  !  Dodwells  Annahme,  dass  die  Oligarchie  noch  unter 
Kallias  Archontat  gestüi'zt  worden  sei,  wird  widerlegt  durch  vitae  X 
oratorum  p.  833e  p.  1016  Dübner:  i~i  Beo-öfJizou  ap/ovro?  Icp'  o'j  ol 
T£tpaxo3tot  xateXüOrjoav.  Hingegen  eingesetzt  wurden  sie  unter  Kallias  cf. 
ibid.  p.  835  e  p.  1018  Dübner.  ^::t  KaXXio'j  roü  fiExd  KXsoxptTov  apyovxoi; 
ffi-i]  Töjv  T£Tp'axo3tojv  v.aT£y6vTwv  JTT,v  "oXtv.  Dass  sie  vier  Monate  währte, 
sagt  Aristoteles  bei  Harpokration  s.  v.  zz-pa-AÖ'zioi ,  Suidas  und  Photius 
s.  V.  cf.  Clinton  zum  J.  411.] 

1    Thucyd.  \T:II,  (IT. 

-I  Diese  120  Jünglinge,  die  nach  Wasse  und  Krüger  zum  Unterschiede 
der  Skythen  'EXXr^ve;  heissen,  sind  offenbar  nichts  anders  als  eine  Art  frei- 
williger Leibwache  der  Oligarchen,  wie  sie  unter  den  Dreissig  wieder  vor- 
kommt, (cf.  Xenoph.  Hell.  II,  3,  23.  50.  Thucyd.  VIII,  69.)  wie  Krüger 
I.  c.  p.  377.  A.  63.  schon  vermuthet.  Vielleicht  deutet  der  Beisatz  "EXXr,vec, 
falls  er  acht  ist,  aber  auch  darauf,  dass  die  Männer  nicht  lauter  Athener 
Avaren,  sondern  auch  andern  Staaten ,  in  denen  Peisandros  vorher  die  De- 
mokratie gestürzt  hatte,  angehörten. 

3,  Dies  scheint  mir  die  richtige  Erklärung  der  Stelle,  worauf  besonders 
■zn^-öi  hinweist,  cf.  Böckh,  athen.  Staatsh.  I,  p.  250  erste  Ausgabe,  [pg. 
327  zweite  Ausgabe  ;  ebenso  erklärt  diese  Stelle  der  treffliche  Vischer  A.d.H.] 
Anders  Krüger  1.  c.  p.   j77  A.  04. 

*)  cf.  Krüger  1.  c.  p.  377  A.  65. 


190     Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen. 

So  Avar  mit  einer  unerwarteten  Schnelligkeit  den  Ver- 
schworenen gelungen,  die  alte  Demokratie  zu  stürzen,  und 
sich  der  Gewalt  zu  bemächtigen ;  dass  es  so  gegangen  war, 
findet  seine  Erklärung  besonders  in  dem  Umstände ,  dass  die 
kräftigsten  und  tüchtigsten  Männer  der  Demokratie  im  Felde 
standen,  und  in  der  grossen  Besonnenheit  und  Schlaulieit  wo- 
mit gegenüber  dem  führerlosen  Demos  die  Oligarchen  handelten. 

Unter  den  Führern  der  Letztern  tritt  zwar  offen  besonders 
Peisandros  hervor;  allein  die  Seele  der  ganzen  Unterneh- 
mung war  Antiphon  der  Rhamnusier  1  ,  bekannt  als  aus- 
gezeichneter Redner,  und  an  persönlicher  Tüchtigkeit  von 
keinem  Zeitgenossen  übertroffen  2  .  Ferner  entmckelte  eine 
ausserordentliche  Thätigkeit  Phrynichos;  denn  wiewohl  an- 
fänglich Demokrat  und  den  Oligarchen  verdächtig,  trat  er. 
sobald  diese  mit  Alkibiades  abgebrochen  hatten,  auf  ihre 
Seite,  weil  er  sich  so  vor  der  Rache  des  beleidigten  Mannes 
am  ehesten  zu  sichern  glaubte  ^  .  Nicht  minder  eifrig  war 
Theramenes  der  Adoptivsohn  Hagnons ,  einer  der  gewandte- 
sten Staatsmänner  jener  Zeit,  der  aber  wegen  seiner  Cha- 
rakterlosigkeit mit  Recht  schon  von  seinen  Zeitgenossen  ver- 
achtet wurde  •*  .  Ausserdem  sind  noch  besonders  zu  nennen 
Kallaischros  und  sein  Sohn  Kritias^  .  Archeptolemos ''y .  Aristo- 


1)  [Ueber  Antiphon,  Pythodoros,  einen  der  400  nach  Diog.  Laert.  IX, 
VIII,  5.  54,  Kallaischros,  Polygtratos  und  Aristoteles,  die  alle  über  Tu 
Jahre  gewesen  sein  sollen,  cf.  Dryander  de  Antiphonte  p.  S.  9.  Mit  Recht 
verwirft  Dryander  die  Annahme  Droysens,  Rh.  Mus.  3.  1S3.5.  p.  197,  es 
sei  Kallaischros  der  Sohn  des  Kritias,  nicht  sein  Vater. j 

2j  Thucyd.  YIll,  6S.  Krüger  1.  c.  p.  373.  A.  54. 

3)  Thucyd.  VIII,  6S.  Lysias  c.  Agor.  §  73:   or|ij.o'j  ■/aT'//.'jG£oj;  d-o)..  §  9. 

*)  Am  richtigsten  beurtheilt  ihn  Lysias  adv.  Eratosth.  §  63  S.  squ. 
Andere  Urtheile  anzuführen  wäre  zu  weitläufig',  ich  verweise  daher  auf 
"NVachsmuth  hellen.   Alterthumskunde  I,   2.  p.  200. 

°,  Lysias  adv.  Eratosth.  §  66.  Demosth.  in  Theocrinem  p.  1343.  Krü- 
ger 1.  c.  p.  374.  A.  55.  [Funckhänel  über  die  Redner  als  historische  Quelle, 
Ztschr.  f.  Alterthumwissensch.  1836  n.  130.  S.  1047  meint  der  Verfasser 
der  Rede  gegen  Theokrines  nenne  Kritias  unter  den  400,  nur  durch  Ver- 
wechslung der  30  mit  den  400  statt  seines  Vaters  Kallaischros ,  was  aber 
doch  des  Beweises  ermangelt,  besonders  wenn  wir  uns  der  Nachricht  des 
Lysias  c.  Agorat.  erinnern,  dass  alle  Dreissiger  früher  zu  den  4u0  gehört 
hatten.] 

6j  Lysias  c.  Eratosth.  §  67.    Archeptolemos  war  Sohn  des  Hippodamos 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairiex  iis*  Athen.     191 

teles^,,   Eratosthenes^  ,   Aristokrates .    der  Sohn  des  Skellias^j, 
Aristarchos  ^)  und  Alexikles  -^i .     Andere  übersehe  ich  hier  ^) . 

Allein  so  schnell  die  Oligarchie  eingeführt  war,  ehen  so 
schnell  stürzte  sie  wieder  zusammen ;  und  zwar  ging  ihr  Sturz 
eben  von  da  aus .  avo  sie  ihren  Anfang  genommen  hatte ,  von 
S  a  m  0  s .  Kaum  eingesetzt  nämlich ,  versuchten  die  A'ierhun- 
dert,  Aviewohl  ohne  Erfolg,  mit  Sparta  Frieden  zu  schliessen '') , 
und  schickten  zugleich  zehn  Gesandte  um  das  Heer  in  Samos 
zu  gewinnen.  Allein  hier  hatten  sich  die  Sachen  geändert, 
die  300  Samier  nämlich,  welche  Peisandros  zu  einer  oligarchi- 
schen  Eevolution  auf  ihrer  Insel  gewonnen  hatte .  Avaren  von 
den  Demokraten  mit  Hülfe  der  Athener  überwältigt  worden^  ; 
die  zurückgebliebenen  Führer  Leon,  Diomedon,  Thra- 
syllos  und  Thrasybulos  stimmten  das  Heer  durchaus  ge- 
gen die  Oligarchie,  und  als  n\in  übertriebene  Kunde  von  der 
Tyrannei  der  Merhundert  anlangte^,  ,  verbündeten  sich  die 
Athener  in  Samos ,  mit  den  Samieiii  durch  schwere  Eide  zu 
standhaftem  Kampfe  gegen  die  Oligarchie  \nid  gegen  Lake- 
daimon^o  .  Dann  beschloss  das  Heer,  das  sich  als  Demos 
constituirte.  A 1  k  i b  i  a  d  e  s  solle  zurückberufen  werden.  (Ende 
April  4 1 1 .  Kaum  in  Samos  angelangt ,  Avurde  er  zum  Feld- 
herrn ernannt  und  rettete  Athen  dadurch,  dass  er  das  erzürnte 
Heer  von  einer  Fahrt  gegen  die  A'aterstadt  abhielt;  durch  die 
Boten   aber,    welche   von    den   Yierhuiulert   geschickt    worden 


aus  A^rj^le.  Arist.  Ritter  v.  327  und  Scholien  dazu,  üb  er  aber  des  be- 
rühmten ^lilesiers  Sohn,  ist  höchst  zweifelhaft.  C.  F.  Hermann  de  Hippo- 
damo  Milesio  p.   5  squ.  Plut.  Aatae  X  orat.  p.  S33  f.   p.   lOK)  Dübner. 

1)  Xenophon  Hell.  II,  3,  46.  2,   18.  Plato  Parm.  p.   127  d. 

-)  Lysias  c.  Eratosth.  §  43. 

3)  Thucyd.  VIII,  89.  92. 

4)  Thucyd.  VIII,  90.  98.  Xenophon  Hell.   II.  3,  46. 
5]  Thucyd.  VIII,  92.  93. 

6;  Ausser  den  von  Taylor  in  Lysias  Leben  p.  121.  genannten  sind  noch 
anzuführen  die  übrigen  Männer,  welche  später  unter  den  Dreissig  erscheinen, 
da  diese  nach  Lysias  c.  Agorat.  §  74.  alle  den  Vierhundert  angehört  hatten; 
also  namentlich  auch  Charikles.  Vgl.  Isocrat.  d.  big.  §  42.  Ferner  lassen 
sich  noch  dazu  rechnen  latrokles  nach  Lysias  adv.  Eratosth.  §.  42.  und 
wahrscheinlich  Diotrephes  nach  Thucyd.  VIII,  64. 

7)  Thucyd.  VIII,  70.  71.  '        «;  Thucyd.  \'TII,  73. 

9;  Thucyd.  VIII,  74.  'o^  Thucyd.  VIII,  75. 


192       DiB  OLIGARCHISCIIE  PaRTEI  UXD  DIE  HeTAIRIEN  IX    AthEN. 

waren,  liess  er  diesen  zurückmelden,  sie  sollen  dem  alten 
Rathe  Platz  machen,  hingegen  möge  die  höchste  Gewalt  bei 
den  Fünftausend  die  übrigens  nie  erwählt  worden  waren) 
bleiben,  die  Einscliränkungen,  die  man  in  den  Ausgaben  ein- 
geführt,  seien  löblich  'j . 

Die  Nachricht  brachte  in  Athen  Unruhen  hervor,  die 
um  so  gefährlicher  wurden,  als  sich  bereits  unter  den  Herr- 
schenden Spaltungen  zeigten;  denn  Theramenes  und  Ari- 
stokrates  und  einige  Andere,  welche  ihren  Ehrgeiz  nicht 
genug  befriedigt  fanden,  auch  voraussahen,  dass  die  Oligarchie 
nicht  von  langer  Dauer  sein  könne ,  neigten  sich  wieder  auf 
die  Seite  des  Demos  '^] ,  und  schürten  das  Feuer  gegen  die  neue 
Regierung.  Die  entschlossenen  Führer  der  Vierhundert  aber 
versuchten  nun  um  jeden  Preis  mit  Sparta  einen  Frieden  zu 
schliessen,  Avährend  sie  zugleich  auf  einer  Landzunge  des  Pei- 
raieus,  Eetioneia,  eine  Befestigung  bauten,  um  der  Einfahrt  in 
den  Hafen  Meister  zu  sein^  .  Die  zu  genanntem  Zwecke  nach 
Sparta  abgeordneten  Gesandten ,  unter  denen  sich  Antiphon 
und  Phrynichos  befanden,  kamen  nun  zwar  ohne  einen  Frie- 
den für  die  gesammte  Stadt  zurück,  allein  sie  hatten  mit  dem 
Feinde  eine  geheime  Uebereinkunft  geschlossen,  ohne  Zweifel 
ihm  die  Stadt  zu  übergeben,  unter  der  Bedingung,  dann  die 
höchste  Gewalt  in  derselben ,  unter  Lakedaimons  Schutz ,  zu 
erhalten^  .  Denn  sie  wollten  zwar  am  liebsten  mit  einer 
oligarchischen  Verfassung  auch  über  die  Bundesgenossen 
herrschen,  wo  aber  das  nicht  möglich  wäre,  mit  Beibehaltung 
der  Flotte  und  der  Mauern  autonom  sein,  wenn  aber  auch  das 
nicht  gewährt  würde,  lieber  die  Feinde  herbeiiiifen  und  ihnen 
Flotte  und  Mauern  preis  geben ,  als  die  Gefahr  erwarten ,  die 
ihnen  bei  der  Herstellung  der  Demokratie  drohte  s. 


1)  Thucyd.  VIII,  86. 

2)  Thucyd.  VIII,  89.  Lys.  c.  Erat.  §  66  ff.  Xenoph.  Hell.  II,  3,  30.  46. 

3)  Thucyd.  VIII,  90. 

*)  Das  liegt  ganz  klar  in  den  Worten  des  Thucyd.  \T!1I,  91  :  ol  rpssßtt; 
o'joev  7:pa|avT£;  dveywpTjiav  toi;  ;'j(i.7:aot  |'j[x^a~iiiciv  verglichen  mit  r^-t  hi  ti 
y.at  ToioÜTOv  a.~o  tü)v  tt,v  7.aTr,YCip'.av  iyö'i'w^,  v.al  oj  r.dvj  ?ta^o/.T,  uovov  toü 
XofO'j.     Vgl.  Xenophon  Hell.  II,  3.  46. 

5)  Thucvd    1.  c. 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.     193 

AVährend  mm  die  Gährung  von  Tag  zu  Tag  stieg,  wurde 
Phrynichos  auf  ofFenem  Markte  am  hellen  Tage  ermordet, 
ohne  dass  es  gelungen  wäre,  des  Mörders  habhaft  zu  werden; 
hingegen  Avurde  ein  Mitschuldiger  desselben  ergriffen ;  als  aber 
dieser  angab,  es  fänden  häufige  Zusammenkünfte  statt,  wagten 
die  Vierhundert  keine  Untersuchung,  so  war  ihre  Macht  schon 
gesunken^).  Hierauf  erhob  sich  im  Peiraieus  unter  der  ge- 
heimen Leitung  des  Theramenes  und  Aristokrates  offener  Auf- 
mhr,  die  neue  Befestigung  Eetioneia  wurde  zerstört,  unter 
lauter  Anklage  gegen  die  Verrätherei  der  Vierhundert  2) .  Die 
Empörten  zogen  bewaffnet  in  die  Stadt,  wo  sie  der  üath  einst- 
weilen durch  das  Versprechen  beschwichtigte,  die  Fünftausend 
bekannt  zu  machen,  aus  denen  dann  der  Keihe  nach  der  Rath 
der  Vierhundert  genommen  werden  sollte.  Als  aber  an  dem 
zur  Bekanntmachung  der  Fünftausend  bestimmten  Tage  sich 
die  Athener  im  Theater  des  Dionysos  versammelten,  wurde 
plötzlich  gemeldet ,  dass  der  Spartiate  Agesandridas  mit  42 
Schiffen  von  Megara  heransegle.  Da  stürzten  alle,  indem  sie 
nicht  ohne  Grund  glaubten,  es  handle  Agesandridas  in  Ueber- 
einstimmung  mit  den  Vierhundert,  in  den  Hafen,  um  auf  jede 
Weise  eine  Landung  zu  verhindern ;  die  peloponnesische  Flotte 
fuhr  aber  am  Peiraieus  vorbei,  umsegelte  Sunion,  schlug 
eine  eilend  nach  Eretria  gesandte  athenische  Eskadre  und 
brachte  Euboia  zum  Abfall  von  Athen,  mit  einziger  Ausnahme 
der    Stadt    Oreos  ^i .       Die    Nachricht    von    diesem    Unglücke 


1)  Darüber  cf.  Krüger  1.  c.  p.  384.  A.  97,  der  mit  Recht  bemerkt,  dass 
Lysias  Autorität  (c.  Agorat.  §.  71  ff.)  hier  der  des  Thucyd.  VIII,  92.  wohl 
vorzuziehen,  weil  er  sich  auf  Psephismata  bezieht,  [cf.  Scheibe  ölig.  Um- 
wälzung p.  50.  Lycurg  ctr.  Leocrat.  §  112  nennt  Apollodor  und  Thrasy- 
bul  als  Mörder,  die  verhaftet  und  dann  wieder  freigelassen  wurden.  Bergk 
Ztschr.  f.  A.W.  10.  1847.  n.  137.  138.  139.  S.  1099ff.  sucht  in  einer  von 
Ussing  mitgetheilten  Inschrift  das  Psephisma  nachzuweisen,  in  welchem  dem 
Mörder  des  Phrynichos,  Thrasybulos  von  Kalydon,  Belohnungen  gegeben 
wurden.  Vgl.  jetzt  Kirchhoff  Monatsb.  d.  Berl.  Akad.  1861.  S.  601  ff. 
C.  I.  A.  I,  59.] 

2)  [Dabei  wurde  Alexikles  verhaftet  und  Hermon  Thucyd.  VIII,  92. 
Dieser  ist  Befehlshaber  der  -sptTroXot  in  Munychia,  nach  Böckh  derselbe, 
der  in  der  Inschrift  C.  I.  G.  147  vorkommt  als  Befehlshaber  der  Truppen 
die  nach  Pylos  geführt  wurden  im  J.  Ol.  92,  3.  kurz  vor  Verlust  des  Ortes 
cf.  C.  I.  G.  I,  p.  221.] 

3)  Thucyd.  VIII,  95. 

Vi  seh  er,  Schriften  I.  13 


194       l^IB   OLIGARCHISCTIE  PaKTEI  UND  DIE  HeTAIRIEN  IN  AtHEN. 

brachte  ganz  Athen  in  noch  grössere  Bestürzung,  als  einst  die 
Kunde  von  der  Niederlage  in  Sicilien,  und  hätten  die  Lake- 
daimonier  diesen  Augenblick  benutzt,  so  hätten  sie  dem  Kriege 
ein  plötzliches  Ende  gemacht;  aber  ihre  geAvöhnliche  Lang- 
samkeit schob  die  Entscheidung  noch  um  einige  Jahre  hinaus. 
Die  Athener  aber  versammelten  sich,  seit  Peisandros  Ankunft 
zum  erstenmal,  (ungefähr  Mitte  Juni  411),  wieder  in  der  Pnyx, 
machten  der  Herrschaft  der  Vierhundert  ein  Ende,  beschlossen, 
dass  die  höchste  Gewalt  bei  den  Fünftausend  sein  solle,  zu 
denen  gehöre ,  wer  sich  bewaffnen  könne  ^)  ,  und  dass  keine 
Behörde  besoldet  werden  solle.  In  spätem  Versammlungen 
ordneten  sie  den  zerrütteteten  Staat  auch  im  Einzelnen,  und 
bewiesen  überhaupt  hier  eine  seltene  Besonnenheit,  welcher 
sie  besonders  den  in  der  nächsten  Zukunft  glücklichen  Gang 
des  Kriegs  verdankten.  Jetzt  erst  wurde  auch  in  der  Stadt 
die  Rückkehr  des  Alkibiades  und  anderer  Verbannten 
beschlossen  '^) .  Gegen  die  gestürzten  Oligarchen  wurde  im 
Ganzen  Mässigung  beobachtet.  Peisandros,  Alexikles^i,  Ari- 
stoteles *)  und  andere  besonders  Schuldige  entwichen  nach  De- 
keleia.  Aristarchos  führte  eine  Abtheilung  der  barbarischen 
Polizeiwache  mit  sich  und  brachte  O  i  n  o  e  auf  der  Gränze  At- 
tikas  in  die  Hände  der  Boiotier-''^ .  Antiphon  und  Archeptole- 
mos  wurden  und  zwar  wie  Lysias  berichtet,  auf  Theramenes 
Anklage,  als  Landesverräther  zum  Tode  verurtheilt  und  hin- 
gerichtet'\, ,   ihr  Vermögen,  wie  das  der  Flüchtigen,  confiscirt'), 


1)  Es  sind  Thucyd.  Worte  VIII,  97:  elvat  he  aOtöJv  ö-oaot  -/.cti  ZrJ.a  r.n- 
plyovTai  so  zu  verstehen,  dass  jeder  Bürger,  der  eine  vollständige  Hopliten- 
rüstung  hatte,  zu  den  Fünftausend  gehärte,  deren  Name  nur  ungefähr  der 
unbestimmten  Zahl  entsprach. 

2;  Thucyd.  VIII,  UT. 

3)  Thucyd.  VIII,  9S.  [cf.  Lycui-g.  ctr.  Leoer.  §  112  und  Sauppe  dazu, 
p.  1-16.  Peisandros  und  Alexikles  scheinen  später  sich  gestellt  zu  haben 
und  hingerichtet  worden  zu  sein.] 

4)  Xenoph.  Hell.  II,  2.  18. 

5)  Thucyd.  VIII,  9S.  Xenoph.  Hell.  I,  7,  28  [u.  Lycurg.  c.  Leoer.  1.  c. 
u.  Sauppe  dazu.] 

6)  Lys.  c.  Eratosth.  §  67.  Thucyd.  VIII,  68.  Plutarch  vita  Antiph.  p. 
833  a.  p.  1015  Dübner.  [Dieser  hat  das  Psephisma  gegen  Archeptolemos 
und  Antiphon.  833  e.  p.   1016  Dübner. 

'')   [Ueber  die  Confiscation  des  Vei-mögens  des  Phrynichos,  Archeptole- 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.     195 

die  Namen  auf  Säulen  eingegraben.  Die  Meisten  aber  blieben 
ungestraft  in  Athen  ^ ) .  So  endete  nach  viermonatlicher  Datier 
die  erste  durch  die  Hetairien  en'ichtete  Oligarchie,  um  die 
Mitte  des  Jahres  4 1 1  unter  Archon  Theopompos ,  um  nach 
sieben  Jahren  wieder  in  den  Dreissig  aufzuleben  2) . 

Denn  im  Geheimen  dauerten  die  Verbindungen  und  Um- 
triebe zum  Sturz  der  Demokratie  fort,  und  besonders  finden 
wir  den  abtrünnigen  Theramenes^i  bald  wieder  thätig. 
Dieser  hatte  zwar  anfänglich  nach  dem  Sturze  der  400  das 
höchste  Ansehen  in  Athen,  allein  bald  verdunkelte  ihn  Alki- 
biades,  welcher  im  Jahre  408  nach  einer  Reihe  der  glänzend- 
sten Siege  unter  allgemeinem  Jubel  in  seine  Vaterstadt  zurück- 
kehrte. Darum  erhob  sich  gegen  ihn,  wiewohl  seit  seiner 
Entfernung  von  Tissaphernes  ihm  in  keiner  Beziehung  ein 
Vorwurf  gemacht  werden  kann ,  und  er  vielmehr  durch  seine 
frühern  Schicksale  zur  Besonnenheit  gebracht,  mit  weiser  Um- 
sicht und  reinem  Eifer  für  Athen  handelte,  doch  schnell  wieder 
aus  Neid  eine  mächtige  Partei,  in  der,  wie  zur  Zeit  des  Her- 
mokopidenprocesses ,    Demokraten   und  Oligarchen    vereint  ge- 


mos,  Antiphon,  Onomakles  u.  a.  vgl.  Meier  de  bonii?  damnatorura  S.  ISI 
—  184.  Aber  nicht  alle  von  den  400  wurden  von  dieser  Strafe  betroffen, 
wie  unter  andrem  die  Rede  des  Lysias  für  Polystratos  zeigt.] 

1)  [So  ganz  unbestraft  blieben  die  400  doch  nicht,  denn  nach  der  Pa- 
rabase  der  Frösche  waren  sie  atim.  cf.  v.  693  squ.  u.  Scholion.]  —  Unter 
ihnen  ist  besonders  Kritias  zu  nennen ,  der  in  den  ersten  Versammlungen 
nach  dem  Sturze  der  Vierhundert  sehr  thätig  gewesen  zu  sein  scheint. 
Vgl.  Lycurg.  c.  Leocrat.  p.  164.  §  112.  und  Sauppes  Anmerkung  dazu. 
Man  ist  versucht  anzunehmen,  er  habe  der  Fraktion  des  Theraraenes  und 
Aristokrates  angehört;  dem  widerspricht  aber  Xen.  Hell.  II,  'ä,  30.  Lys. 
c.  Eratosth.  §.  43  ff.  §.  55. 

2)  [lieber  die  Zeit  vgl.  S.  188  A.  3.  —  Wahrscheinlich  wurde  die 
Oligarchie  im  Spätsommer  aufgehoben.  Sie  dauerte  nach  Aristoteles  vier 
Monate  und  nicht,  wie  ich  nach  Poppo  fälschlich  gesagt:  »nicht  ganz 
vier  Monate.«  —  Vergleicht  man,  dass  nach  Thukydides  Alkibiades  nicht 
lange  nach  der  Schlacht  bei  Kynossema  nach  Kos  und  Halikarnass  ging, 
dann  Trept  -ö  [JieTOTKupov  t^otq  (etwa  9.  August)  nach  Samos  zurückfuhr,  so 
möchte  wohl  die  Auflösung  der  400  ziemlich  in  den  Anfang  des  Archontats 
des  Theopompos  zu  setzen  sein,  etwa  in  den  Juli.  —  Das  Jahr  des  Theo- 
pomp fängt  nach  dem  metonischen  Cyclus  mit  deni  25.  Juni  an;  da  aber 
dessen  Gültigkeit  nicht  erwiesen  ist,  so  kann  man  darauf  nichts  geben.] 

3)  Lys.  c.  Agorat.  §  9  ff. 

13* 


196       r)rK  OLIGARCHISCHE  PaRTP:I  UND  DIE  HeTAIRIEN  IN  AthEN. 

wesen  zu  sein  scheinen.  Das  unglückliche  Gefecht,  das,  gegen 
seinen  ausdrücklichen  }>efehl,  sein  Steuerraaim  Antiochos  wäh- 
rend seiner  Abwesenheit  lieferte  und  verlor,  gab  die  Veran- 
lassung, ihn  vom  Oberbefehle  der  Flotte  abzurufen,  worauf  er, 
ohne  auf  Rache  zu  sinnen,  sich  auf  seine  Besitzungen  im  thra- 
kischen  Chersones  zurückzog.  ^) 

Indessen  hatten  die  Spartiaten  den  Lysandros  als  Ad- 
miral  nach  lonien  geschickt.  Dieser  schlaue  Mann,  dem  alle 
Mittel  gleich  galten ,  wusste  nicht  nur  die  Freundschaft  des 
Jüngern  Kyros  zu  gewinnen  iind  die  Waffen  aufs  glücklichste 
zu  führen,  sondern  er  verschaffte  den  Lakedaimoniem  einen 
sichern  Rückhalt,  und  untergrub  die  Macht  der  Athener  da- 
durch, dass  er  sich  mit  den  Oligarchen  aller  Städte  in  eine 
engere  Verbindung  setzte,  als  seine  Vorgänger.  Er  forderte 
sie  überall,  wo  es  noch  nicht  geschehen  war,  auf,  sich  in 
Hetairien  zu  organisiren,  und  zugleich  mit  dem  Abfalle  von 
Athen,  auch  die  Demokratie  zu  stürzen ,  und  er  umgarnte  so 
ganz  Hellas  mit  einem  Gewebe,  in  dessen  Mittelpunkt  er  alles 
leitend  und  beaufsichtigend  stand.  2]  Sehr  wahrscheinlich  trat 
er  schon  jetzt  auch  mit  den  athenischen  Oligarchen  in  ein  Ein- 
verständniss ,  was  ihm  um  so  leichter  wurde,  da  er  einige 
Flüchtlinge  derselben  in  seinem  Gefolge  hatte.  ^)  Daher  nahm 
Lysandros  in  seiner  Verfolgung  der  Demokraten  keine  Rücksicht 
darauf,  ob  die  Städte  schon  auf  der  Seite  der  Lakedaimonier 
standen  oder  nicht ;  Gewaltthaten  fanden  unter  seinen  Augen, 
iinter  seiner  Leitung  statt,  wogegen  die  früheren  Aufstände  und 
Eürgerfehden  als  Kleinigkeiten  erscheinen.  So,  um  nur  eines  zu 
erwähnen,  hetzte  er  seine  Freunde  in  Miletos,  das  längst  von 
Athen  abgefallen  war,  auf,  einen  Anschlag  auf  das  Volk  zu 
machen,  eilte,  als  dieser  ausgeführt  wurde,  herbei,  angeblich 
um  die  Ruhe  herzustellen.  Aber  damit  bezweckte  er  nichts 
anders  als  die  Männer  des  Volks  zu  täuschen;    als  sie  seinem 


>)  Plut.  Alcib.  36.  Xen.  Hell.  I,  5,  11—18. 

2]  Plut.  Lysand.  5  und  13. 

3)  Xenoph.  Hell.  H,  2,  18.  Dort  wird  Aristoteles  in  seiner  Umgebung 
genannt,  der  überhaupt  in  den  Unterhandlungen  mit  Sparta  überall  her- 
vortritt und  zu  den  rücksichtlosesten  Volksfeinden  gehört  haben  mugs.  Vgl. 
Xenoph.  Hell.  H,  3,  2;   13;  46. 


Die  ölig  archische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen.     197 

Worte  vertrauend,  sich  sicher  glaiihten,  Hess  er  sie  bei  800  an 
der  Zahl  ermorden.  *)  Auch  während  sein  Nachfolger,  der 
edle  Kallikratidas,  den  Flottenbefehl  führte,  gab  Lysandros 
seine  Verbindungen  mit  den  Hetairien  nicht  auf;  vielmehr  ge- 
lang es  ihm  eben  durch  dieselben,  jenem  mancherlei  Verlegen- 
heiten zu  bereiten,  und,  nach  der  Schlacht  bei  den  Arginusen 
(406),  wieder  an  die  Spitze  der  Flotte  zu  kommen.  2) 

In  dieser  Zeit  hatten  auch  in  Athen  die  Verbündeten  nicht 
geruht.  Es  scheint,  dass  nach  den  glücklichen  Kriegsthaten 
des  Alkibiades,  die  alte  Demokratie  daselbst  wiederhergestellt 
worden  war,  obwohl  Xenophon,  der  leider  für  diese  Zeit 
Hauptquelle  ist,  davon  nichts  meldet,  ^j .  Dieser  Zustand  ge- 
währte den  Oligarchen  weit  mehr  Gelegenheit  für  ihre  Um- 
triebe, als  die  gemässigte  Verfassung,  die  unmittelbar  nach  dem 
Sturze  der  Vierhundert  eingeführt  worden  war,   und  es  begün- 


')  Plut.  Lys.  8.  Diodor.  XIII,  104.  [Plut.  Lys.  19  nennt  800,  da- 
gegen Diodor  .'MO,  während  1000  zu  Pharnabazos  entfliehen.  SOO  richtet  er 
dagegen  nach  Diodor  1.  c.  in  lasos  hin.]  Es  fällt  dies  Ereigniss  übrigens 
erst  in  den  Frühling  405,  als  Lysandros  zum  zweiten  Mal  den  Oberbefehl 
hatte.  [Nach  Scheibe  fällt  das  Blutbad  in  Milet  erst  nach  der  Eroberung 
Athens  S.  64.  Plut.  Lys.   19  scheint  dafür  zu  sprechen,    hingegen  Diodor 

1.  c.  bestimmt  dagegen.] 

2)  Plut.  Lys.  5.  6.  7.  Xenoph.  Hellen.  I,  6.  4;  5.  II,  1,  6;  7.  [Wäh- 
rend des  Winters  406—405  rüstete  Lysandros  und  versammelte  die  Oligar- 
chen der  Bundesstädte  in  Ephesos,  um  sie  zur  Bildung  von  Clubs  und 
zum  Sturz  der  Demokratie  zu  bewegen,  wenn  Athen  genommen  wäre.  cf. 
Scheibe  ölig.  Umwälz.  S.  14.] 

3)  cf.  Hermann  Lehrb.  d.  gr.  St.  p.  639,  642.  §  166  A.  13.  [Ausser 
Hermann  auch  Chr.  Guil.  Volke  de  factionibus  in  Atheniensium  republica. 
Rotterdam  1841.]    Anders  dagegen  Wachsmuth  hellen.  Alterthumskunde  I, 

2,  p.  205.  [Auch  Scheibe  ölig.  Umw.  p.  7  erklärt  sich  gegen  die  An- 
nahme der  Herstellung  der  unumschränkten  Demokratie  und  meint ,  der 
Demos  habe  sich  auch  bei  der  neuen  Staatsform  gerade  ebensogut  auf- 
rührerisch zeigen  können.]  Sicher  weist  auf  Herstellung  der  Demokratie 
das  tolle  Geschrei:  öeivov  el-vat,  ti  [ji-fj  xi?  laaei  xov  ofjfxov  TcpatTEiv  ö  av  pou^Tj- 
xat.  Xen.  Hell.  I,  7,  13.  [K.  F.  Hermann  führt  in  der  Recension  von 
Scheibe  auch  die  Inschrift  auf  dem  Grabe  des  Kritias  an : 

fjivT,[i.a  xoo'  eax'  ävoptü^  aYoiöwv,   ot  xov  y.a-apaTov 

S-^jjLOv  'A^Tj^awi^  öXi-^ov  ypovov  ußpto?  tT/rri. 
aus  Schol.  des  Aeschines  bei  Bekker  Abhandl.  d.  Berl.  Akad.  1836  S.  230. 
er  bringt  es  als  weiteren  Beweis  für  die  Herstellung  der  Demokratie.] 


198        l^IE  OLIGARCHISCHE  PaRTP]!  UND  DIE  HeTAIRIEN  IN  AtHEN. 

stigte  sie  auch  jetzt  wieder  der  Umstand,   dass  die  tüchtigsten 
Männer,   der  Kern  der  Bürgerschaft,   auf  der  Flotte  waren. 

So  konnten  sie  Hand  in  Hand  mit  tollen  Demagogen, 
welche  geschickt  vorangeschoben  wurden,  Athen  dem  Unter- 
gang entgegenführen.  War  dies  Verfahren  in  der  Absetzung 
des  Alkibiades  weniger  klar  nachzuweisen,  so  tritt  es  desto 
greller  in  dem  verruchten  Processe  gegen  die  Sieger  bei  den 
Arginusen  hervor.  Diese  waren,  wie  Leon,  Diomedon,  Thra- 
syllos  und  Perikles,  grösstentheils  eifrige  Demokraten,  welche 
aber  im  Feldlager,  und  nicht  in  der  Volksversammlung  ihre 
Gesinnung  bewiesen.  Sie  Avurden  bekanntlich  angeklagt,  die 
Todten  \nid  die  auf  SchifFstrümmeni  herumtreibenden  Leben- 
den nach  der  Seeschlacht  nicht  gesammelt  und  gerettet  zu 
haben.  Sie  hatten  zwar  den  Unterbefehlshabern  Theramenes 
und  Thrasybulos  den  Befehl  dazu  gegeben,  aber  ein  heftiger 
Sturm  die  Vollziehung  unmöglich  gemacht.  Nun  trat  der  näm- 
liche Theramenes  als  Ankläger  derselben  auf;  er  und  seine 
Anhänger  Hessen  gedungene  Menschen  in  Trauerkleidem  an 
dem  Feste  der  Apaturien  den  Zorn  des  Volkes  aufregen;  er 
überredete  den  Demagogen  Kallixenos  im  Rathe  gegen  die  Feld- 
herrn zu  sprechen,  und  durch  solche  schändliche  Künste  ge- 
lang es  ihm,  die  Venirtheilung  und  Hinrichtung  derselben  zu 
bewirken.  ^) 

An  ihre  Stelle  wurden  Adeimantos^j  und  Philokles  ge- 
sandt, zu  denen  bald  darauf  noch  Menandros,  Tydeus  und 
Kephisodotos  kamen.  Umsonst  warnte  diese  Alkibiades,  als 
sie  die  schlechte  Stellung  bei  Aigos  Potamoi  einnahmen.  ^)    Sie 


»)  Xenoph.  Hell.  I,  7,  7.  II,  3,  32;  35.  Plato.  Apol.  Socr.  p.  32  B. 
Xen.  Memor.  Socr.  1,  1,  18.  Diod.  Sic.  XIII,  74.  Plat.  Axioch.  p.  368 D. 
[Auf  Seite  des  Theramenes  werden  bei  Xenophon  genannt:  Kallixenos, 
Archedemos,  Timokrates,  Lykiskos.] 

2)  Der  Sohn  des  Leukolophides.  Vgl.  Xenoph.  Hell.  I,  4,  21.  Schol. 
zu  Arist.  Fröschen  1561.  Plato  Prot.  p.  315  E.  Ueber  den  Namen  Hem- 
sterh.  zu  Lucian  Timon.  c.  44,  t.  I,  p.  157.  [Ueber  die  Feldherrn  cf. 
Scheibe  p.  17.  Er  meint,  Konon  sei  gemässigt  aristokratisch  gewesen,  wie 
Nikias,  Strombichides,  Kalliades  und  Dionysodoros ;  Philokles  demagogisch, 
Adeimantos  offener  Verräther,  Tydeus  und  Menandros  der  oligarchischen 
Partei  angehörig.] 

3)  Xenoph.  Hell.  II,  J,  25.  Plut.  Alkib.  36.  37.  Lys.  10.  11.  Die  An- 
gabe des  Lysias   c.  Alcib.  I,   §  38.,   dass  Alkibiades  mit  Adeimantos  die 


Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetaieien  iis  Athen.     199 

wiesen  ihn  schnöde  ab ;  denn  Adeimantos  und  T y d e u s 
hatten  sie  absichtlich  gewählt  nm  die  Flotte  dem  Lysandros 
zu  überliefern,  und  sie  wurden  unterstützt  von  einer  Anzahl 
Hetairen,  die  in  untergeordneter  Stellung  beim  Heere  waren. ^) 
So  wurde  durch  Verrath  die  athenische  Flotte  im  Sommer  des 
Jahres  405  vernichtet.  2] 

Darauf  segelte  Lysandros  langsam  gegen  Athen.  Wo  er 
hinkam  löste  er  die  Demokratien  auf,  und  übergab  die  Regie- 
rung zehn  Männern,  welche  er  aus  seinen  Getreuen  auswählte.  3) 
Diess  sind  die  berüchtigten  D  e  k  a  r  c  h  i  e  n  oder  D  e  k  a  r  d  a  - 
chien,  durch  welche  er  beinah  wie  ein  unumschränkter 
Herrscher  über  die  meisten  hellenischen  Staaten  gebot.  Alle 
Athener,  welche  er  unterwegs  antraf,  schickte  er  in  die  Stadt, 
um  die  Noth  daselbst  zu  steigern,  und  bald  schloss  er  mit 
150  Trieren  den  Hafen,  während  ein  zahlreiches  Heer  unter 
Agis  [und  Pausanias]   von  der  Landseite  Athen  belagerte.     In 


Flotte  verrathen,  ist  offenbar  nur  dem  Hasse  des  Lysias  gegen  Alkibiade9 
zuzuschreiben,  [cf.  Diod.  XIII,  105,  der  noch  beifügt,  er  habe  angeboten, 
thrakische  Truppen  zu  ihnen  stossen  zu  lassen.] 

»)  Xenoph.  Hell.  II,  1,  32.  Plut.  Lys.  u.  Alcib.  1.  c.  Lysias.  c.  Erat. 
§  36.  [Paus.  IV,  17,  3:  cpatvovtai  os  oi  Aay.eijo.<ix6^noi  xal  usxepov  ,  Tjviv.a  stii 
Alyos  TTOTotjAor;  Tai;  AÖTjvoticuv  vx'jstv  äv&(op[i.o'jv,  aXXo'j;  T£  tcü^  oxpaTTjYOUVTojv 
'AiVi^^aiot;  y.al  'AoetijLavxov  i;w>;7)aa[j.£vot.]  Pausan.  X,  9,  11.  [tt]v  oe  ttÄTjYTjv 
'Aft'fjvaTot  TTjV  iv  Alf 0?  Tio-aiioli  oü  [t-tTO,  Toü  oixaiou  cu(xß-^vai  acptaiv  ofj.oXoYOÜai  • 
Trpooo&fjvai  fdip  iizi  ypTjfiaoiv  ut:6  täv  OTpctxTjfriaavToov,  TuBsa  6e  eivctt  -mi  'ASei- 
(xa^Tov,  0?  xd  8ü>pa  ihi^aszo  Tiapa  Auad^opou.  Von  den  a.  a.  O.  citirten  Ora- 
keln hat  das  angebliche  des  Musaios  Eniperius  eniendirt  in  Zeitschr.  f.  Alt. 
AViss.  1S38  No.  101.  mit  Berücksichtigung  des  Codex  Moscov.  der  statt  der 
vulg.  '/]xxaXoio'  TjfA'jao'joi  giebt :  f|ix'  o'jXf|30'jai  sehr  plausibel  folgendermassen  : 

TTapaicfaaiY]  oe  xi;  eaxai 
Tjxxri?'  oü  ATjaouai  TtoXtv,  xioouoi  os  — owyjv. 
cf.  Demosth.  Tiept  -apai^p.  p.  401  §.  191.  Euandros   als  Verräther  genannt. 
Lysias  c.  Euandr.  §  23.] 

-)  [Im  Anfang  des  Archontats  des  Alexias.  Clinton,  fast.  hell.  ed.  Krü- 
ger append.  p.  2S1  cfr.  Voemel:  quo  tempore  apud  Aegospotafnos  Athe- 
nienses  a  Peloponnesiis  vidi  sint ,  deßnitur.  Er  setzt  die  Schlacht  in  den 
Pyanepsion  unter  Archon  Alexias,  also  November  405.  H.  Weissenborn; 
Hellen.  IV.  das  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  und  die  dreissig  Ty- 
rannen S.  196  —  219;  den  Resultaten  seiner  chronologischen  Untersuchungen 
kann  ich  aber  nur  theilweise  beistimmen.] 

3)  Plut.  Lys.  13,  21.  Xenoph.  Hell.  II,  2,  5. 


200     Die  oligarchische  Partei  und  die  Hetairien  in  Athen. 

der  unglücklichen  Stadt  aber  thaten  die  ölig  archischen 
Hetairen,  an  ihrer  Spitze  Kritias  und  Theramenes, 
ihr  Möglichstes,  den  letzten  Widerstand  zu  brechen.  Gleich 
nach  der  Niederlage  ernannten  sie  einen  Ausschuss  von 
fünf  Mitgliedern  (Ephoren  genannt,  comite  directeur,  pro- 
visorische Regierung)  aus  ihrer  Mitte,  unter  welchen  Kritias  und 
Eratosthenes  waren,  ^j  Diese  leiteten,  auf  ihre  Verschworenen 
gestützt,  bald  ganz  die  Angelegenheiten  des  Staates;  sie  be- 
stimmten, was  im  Rath  beschlossen  werden  sollte;  sie  ernann- 
ten Befehlshaber;  der  Rath  der  Fünfliundert ,  übrigens  schon 
zum  grossen  Theil  für  die  Verschwörung  gewonnen,  war  bald 
ihr  blindes  Werkzeug.  2)  Dennoch  widersetzten  sich  noch 
manche  wohlgesinnte  Männer  einem  schmachvollen  Frieden^) 
und  Boten  wurden  nach  Lakedaimon  abgeschickt,  welche  an- 
bieten sollten,   Athen  wolle,   mit  Beibehaltung  der  Mauern  und 


')  Lys.  c.  Erat.  §  43 ;  44  :  d-etOT]  hk  Y)  vauiAoiyia,  vcal  tj  oujxcpopa  x-^  z6- 
Xei  i'^b^eTO ,  OTjfxoxpaTia;  8Tt  oj3t];  ,  o&£v  Tf|;  zziaewi  T^p^av,  -vtTt  avooe; 
scpopoi  xaxeoTTjaav ,  utto  twv  xaXo'jfxEvcuv  etaiptuv,  o'rt'Xfoi-jzli  (aev  töjv  ttoXitöjv, 
apyovTEi;  os  twv  3uvco[ao~(wv,  dvavTta  oe  toj  'jixsTepiu  rX-r^Sei  TipaTTOvTe;,  tuv  'Epa- 
ToaSevT)!;  xai  KpiTia;  -fiaav  •  o'jtoi  oe  cpuXapyo'j;  te  iz\  Ta;  'fjXaxd;  xaTsaTTjoav 
^ai  8  Tt  oeot  yeiprjTOV£To8at  yii  O'jOTiva?  ypetTj  apyetv  r.ap-q-^feWo^ ,  xal  et  ti 
aXXo  TTpatretv  ßou/.otvTo,  xOpioi  r^aav.  [Mit  den  hier  erwähnten  O'jvafiufeT; 
lassen  sich  einigermassen  vergleichen  die  cj/.Xoy^;  toü  otjIao'j  bei  Böeckh 
C.  I.  G.  n.  99  cf.  Lexicon  Khetor.  ed.  Bekker  p.  304.  Harpokration  8.  v. 
ou).Xoi"fi.  cf.  Böckh  Staatshaush.  II,  p.  127.  lieber  die  Frage,  ob  die 
Ephoren  eine  bloss  geheime ,  von  den  Oligarchen  eingesetzte  oder  eine  öf- 
fentliche durch  oligarchischen  Einfluss  vom  Volk  bestellte  Behörde  waren, 
cf.  Büttner  p.  86  A.  75  ,  der  sich  mit  Recht  für  ersteres  entscheidet,  um- 
gekehrt Scheibe  p.  85  und  Vindiciae  Lysiacae  p.  47,  48.  cf.  p.  113.  Meine 
Recension  von  Scheibe  Zeitschr.  f.  A.  W.  1844  S.  1019.  1020.  cf.  Herm. 
Frohberger  Philol.  XIV,  32ü  ff.  Er  meint ,  die  Ephoren  seien  erst  nach 
Uebergabe  der  Stadt  eingesetzt  worden.  Sonderbarerweise  verwechselt  er 
S.  325  A  24  mich  mit  Büttner,  dem  er  die  Recension  von  Scheibe  in  der 
Zeitschr.  f.  d.  A.  W.  zuschreibt.] 

2)  Lysias.  c.  Agorat.  §.  20  :  q  oe  ßo'jX-r]  tq  rpö  twv  -piaxovTct  ßo'jXe'JOuaa 
ot£cf&cxpTo  -icai  öXt-fapyia;  ir.e^'jaei,  w;  laxe,   (j.aXi5Ta. 

3)  [Archestratos,  der  in  der  Volksversammlung  für  den  Frieden  spricht, 
wird  ins  Gefängniss  geführt.  Er  ist  verschieden  von  dem  Archestratos, 
der  bei  den  Arginusen  Feldherr  war.  Scheibe  p.  40.  Zu  bemerken  ist 
auch,  dass  während  der  damaligen  Unruhen  auch  die  Anstifter  des  Urtheils 
gegen  die  Sieger  bei  den  Arginusen  aus  der  Gefangenschaft  entkamen,  was 
beweist,  dass  sie  Oligarchen  waren.     Xenoph.  Hell.  I,  7,  34.] 


Die  oLiGARCHiscHE  Paktei  und  die  Hetairien  in  Athen.     201 

des  Peiraieus,  der  Bimdesgenossenschaft  Spartas  beitreten,  das 
heisst  auf  seine  eigene  Herrschaft  verzichten  und  die  Hege- 
monie Spartas  anerkennen.  Aber  diese  Gesandten  wiesen  die 
Ephoren  in  Sellasia  an  der  lakonischen  Gränze  zurück :  wenn 
sie  Avieder  kommen  wollten,  möchten  sie  bessere  Bedingungen 
vorschlagen  1) ;  denn  sie  forderten,  dass  wenigstens  eine  10 
Stadien  lange  Strecke  der  langen  Mauer  geschleift  werden  solle, 
wodurch  Athen  vom  Peiraieus  abgeschnitten  wurde,  ^j  Diese 
Zumuthung  empörte  damals  noch  das  athenische  ^'olk,  und 
besonders  ^Aidersetzte  sich  der  Demagoge  Kleophon,  der  zwar 
ein  wilder  Polterer  und  unvernünftiger  Gegner  des  Friedens 
Avar,  aber  dabei  doch  ehrlich  und  nie  gegen  seine  A'aterstadt 
verschworen.  3)  Da  trat  Theramenes  auf  und  bot  sich  an  zu 
den  Lakedaimoniern  zu  gehen,  um  einen  bessern  Frieden  zu 
erhalten.  '*)  Die  bethörte  Gemeinde  sandte  ihn  ab ,  er  aber 
verweilte  über  3  Monate  bei  Lysandros,  um  durch  die  täglich 
steigende  Noth  die  Athener  nachgiebiger  zu  machon. 5)  In- 
dessen schaiften  die  zurückgebliebenen  Hetairen  durch  eine 
falsche  Anklage  Kleophon  bei  Seite,  ^j  Endlich  kam  Thera- 
menes wieder,  gab  vor,  Lysandros  habe  ihn  so  lange  zurück- 
behalten, und  wurde  jetzt  mit  zehn  anderen  mit  unbedingten 
Vollmachten  nach  Sparta  gesandt,  von  wo  er  als  Friedens- 
bedingungen die  Schleifung  der  langen  Mauern  und 
der    Mauer    des    Peiraieus''],     die    Herausgabe    der 


1)  Xenoph.  Hell.  II,  2,   11-14. 

2)  Xenoph.  Hell.  II,  2,  15.     Lys.  c.  Agorat.  §.  8. 

3)  lieber  Kleophons  damaliges  Benehmen  cf.  Lys.  c.  Agorat.  §.  12. 
c.  Nicomach.  §.  12  fF.  über  Aristoph.  Güter  §.  48  [ferner  Aeschin.  de  falsa 
leg.  §.  7(3,  welche  Stelle  sich  auf  diese  Zeit  bezieht  und  nicht  auf  die  Zeit 
nach  der  Schlacht  bei  den  Arginusen  vgl.  Krüger  zu  Clinton  fast,  hellen, 
p.  88.  Meier  de  bon.  damn.  p.  218.  219  Anm.  211.  Willkürlich  ist  die 
Annahme,  Kleophon  habe  beim  Process  gegen  die  Sieger  bei  den  Arginusen 
eine  bedeutende  Rolle  gespielt.] 

*)  Xenoph.  Hell.  II,  2,  16.     Lysias  c.  Agorat.  §.  9. 

5)  Selbst  Xenophon  sagt  II,  2,  16 :  Tr£(j.<ß&ci;  U  oi^xpiße  Tiapa  Auaavoptp 
xpei;  [ATjvai;  xai  TiXeiov,  inizripöi^,  orMe  'A^Tjvaiot  l(x£XXov,  oid  xö  iTitXeXoiTOvat 
xov  aiTov  aTia^Tct,  o  xi  xtc  Xsfot  fj\i.okrjj^<:tvi.     Vergl.  Lysias  c.  Agorat.  §.11. 

^)  Lys.  c.  Agor.  1.  c.  c.  Nicomach  1.  c.  [Die  nähere  Ausführung  bei 
Scheibe  pg.  42  und  43.] 

■'j   [Lysias  c.  Erat.  §.  70.     c.  Agorat.  §.  14.     Xen.  Hellen.  II,  3.  11.] 


202       I^IB  OLIGARCHISCHK  PARTEI  UND  DIE  HeTAIRIEN  IN  AtHEN. 

Flotte  bis  auf  12  Schiffe,  die  Anerkennung  der 
gleichen  Feinde  und  Freunde  mit  Lakedaimon,  und 
die  Zurückberufung  aller  Verbannten  (meist  Oli- 
garchen)  brachte.  —  Ueber  diesen  Ausgang  murrte  nicht 
nur  das  Volk,  sondern  auch  angesehene  Männer,  Avie  der  vor- 
malige Feldherr  Strombichides ,  und  andere  Befehlshaber  und 
Hauptleute,  sprachen  ihre  Unzufriedenheit  aus.  Aber  auch 
gegen  sie  wurde  schnell  eine  falsche  Anklage,  als  ob  sie  auf 
Verrath  sännen,  erhoben,  und  so  wohl  eingeleitet,  dass  in  der 
A  olksversammlung,  die  im  Theater  in  Munychia  gehalten  wurde, 
ihre  Verhaftung  beschlossen  wurde.  V  Sodann  nahm  die  Ge- 
meinde den  Frieden  an,  und  Lysandros  lief  am  25.  April  404, 
16.  Munychion  Ol.  93,  4.  mit  der  Flotte  in  den  Peiraieus  ein 2], 
zur  Vollziehung  desselben. 

Nach  der  Zerstörung  der  Mauern  ^j  wurde  in  seiner  vind 
anderer  feindlichen  Heerführer  Gegenwart  eine  Volksversamm- 
lung über  die  Verfassung  gehalten.  Drakontides,  einer  der 
Verschworenen,  schhig  vor,  es  sollen  30  Männer  ernannt 
werden,  um  die  V e r f a s s u n g  zu  entwerfen,  Theramenes 
unterstützte  diesen  Vorschlag.  Kein  Redner  wagte  dagegen 
aufzutreten;  aber  dennoch  tobte  das  Volk,  dem  jetzt  erst  die 
Augen  recht  aufgingen ;  Theramenes  liess  sich  indess  nicht  irre 


1)  Lys.  c.  Agorat.  §.  13.  Unter  den  Dreissig  wurden  sie  dann  hinge- 
richtet. [Das  genauere  über  diesen  Process  hei  Scheibe  p.  52  squ.  Einige 
wie  Eukrates,  Aristophanes  von  Cholleidai  wurden  gleich  getödtet,  wenig- 
stens nach  Scheibe ;  aber  von  Eukrates  gilt  dies  schwerlich  mit  Recht. 
Der  Process  gegen  die  Feldherrn  und  Trierarchen,  den  ich  vor  die  Ueber- 
gabe  gesetzt,  ist  zwischen  diese  und  die  Einsetzung  der  Dreissig  von  Scheibe 
gesetzt;  dagegen  spricht  Lysias  c.  Agoracr.  §.  17:  -piv  ttjv  lx-/.XTj3iav  -tjv 
Trepl  rffi  EipTjVTjs  ftsis^ai.  Den  Strombichides,  Dionysodoros ,  Kalliades 
(Lys.  c.  Nicom.  §.  14)  und  ihre  Partei  nennt  Scheibe  p.  48  Aristokraten; 
richtiger  bezeichnet  man  sie  als  gemässigte  Demokraten.  Strombichides 
ist  Sohn  des  Diotimos  nach  Thucyd.  MII,  15,  dieser  letztere  ohne  Zweifel 
derselbe,  der,  mit  Lakedaimonios  und  Proteas  die  10  Schiffe  befehligte, 
welche  vor  dem  peloponnesischen  Kriege  nach  Kerkyra  gesandt  wurden. 
Thucyd.  I,  45.     Bremi  zu  Lysias.  adv.  Nicom.  §.  14.] 

2)  Lys.  c.  Agorat.  §.  34.  c.  Erat.  §.  72.  Xenoph.  Hell.  II,  2,  23. 

3)  [Es  ist  das  nicht  richtig.  Die  Athener  sollten  eigentlich  die  Mauern 
selbst  schleifen;  aber  es  scheint  nicht  gleich  geschehen  zu  sein.  Darum 
sagt  Lysandros  bei  Lysias  c.  Eratosth.   §.  74:    oti  zapaoTrovcou;  üjxä;  s/ot.] 


Die  OLiGARCHiscHE  Partei  und  die  Hetaireek  in  Athen.     203 

machen ,  sondern  äusserte  kalt ,  es  sei  ihm  das  Toben  des 
Volks  gleichgültig,  da  viele  Athener  auf  seiner  Seite  ständen 
und  er  mit  Lysandros  und  den  Lakedaimoniern  im  Einver- 
ständniss  handle.  Darauf  erhob  sich  Lysandros  selbst  und  er- 
klärte drohend,  dass  es  sich  hier  nicht  sowohl  um  die  \'er- 
fassung ,  als  um  die  Existenz  von  Athen  handle ,  wenn  man 
dem  Antrag  nicht  folge.  Da  verliessen,  der  Gewalt  weichend, 
die  bessern  Bürger  die  Versammlinig .  die  zurückgebliebenen 
aber  erhoben  die  Vorschläge  zum  Beschluss ,  und  erwählten 
die  d  r  e  i  s  s  i  g  mit  \i  n  b  e  d  i  n  g  t  e  r  ^'  o  1 1  m  a  c  h  t  v  e  r  s  e  h  e  n  e  n 
Gesetzgeber,  u  n  d  z  w  a  r  z  e  h  n  welche  T  h  e  r  a  m  e  n  e  s 
bezeichnete,  zehn,  welche  die  fünf  früher  genann- 
ten Ep  hören  angaben,  und  zehn  nach  eigenem  Gut- 
dünken aus  den  Anwesenden.')  Sämmtliche  Dreissig 
hatten  früher  den  Vierhundert  angehört. ^i 

]Mit  der  gesetzgebenden  Vollmacht  begnügten  sich  aber 
diese  nicht,  sondern  sie  constituirten  sich  bald  unter  dem 
Schutze  der  lakonischen  Waffen  zur  höchsten  Regierungsbe- 
hörde, setzten  nach  eigenem  Gutdünken  einen  Rath  und  an- 
dere Beamte  ein,  beschränkten  das  BürgeiTecht  und  das  Recht 
Waffen  zu  tragen  auf  3000  Bürger,  verboten  endlich  sogar 
allen  andern  die  Stadt  zu  bewohnen,  ^j  So  hatte  denn  endlich 
die  oligarchische  Faktion  durch  das  Mittel  der  Hetairien  und 
des  Verrathes  ihr  Ziel  eiTeicht,  sie  hatte  auf  den  Trümmern 
von  Athens  Demokratie,  Macht  und  Selbstständigkeit,  auf  den 
Ruinen  des  Hafens  und  der  Flotte,  wodurch  Themistokles 
seine  Vaterstadt  gross  gemacht,  ihre  eigene  Herrschaft  errich- 
tet, eine  Herrschaft,  welche  sich  durch  ihre  Gewaltthätigkeit 
auf  ewige  Zeiten  gebrandmarkt  hat.    Wie  die  Tyrannei  täglich 


1)  lieber  diese  Versammlung  vergl.  Lys.  c.  Eratost.  [§.  73 :  ävaaTä? 
oe  0Tf]pafj.ev7]?  exeXeuaev  ujaö?  xpiäxovTci  ävSpaow  i-iznpi'hai  ttjv  tioXiv,  %a\  tt^ 
TToXiTeict  yp-^a&ctt  f^v  Apay.ovTiOT]?  ä-l'faivev.]  Xenoph.  Hell.  II,  3,  11  [vgl. 
über  die  Einsetzung  der  Oligarchie  auch  H.  Usener  Lysias  über  die  "Wie- 
derherstellung der  Demokratie,  N.  Jahrb.  f.  Philol.  Bd.  107  S.  145  ff.  mit 
dem  ich  aber  darin  durchaus  nicht  übereinstimme,  dass  er  die  p.e-r/ovte'; 
•rij;  7ro)aT£ia;  von  den  3000  unterscheidet.] 

2)  Lys.  c.  Agorat.   §.   74. 

3)  Xenoph.  Hell.  II,  3,  11;   19;  3S.  II,  4,  1. 


204       l^IK  OLIGARCHISCHE  PaRTEI  UND  DIE  HeTAIRIRN  IN  AtHEN. 

stieg,  wie  bald  unter  den  Gewalthaheni  selbst  Zwietracht  aus- 
brach, wie  sie  dann  theils  durch  die  zurückkehrenden  Demo- 
kraten, theils  durch  die  Eifersucht  der  lakedaimonischen  Kö- 
nige auf  Lysandros  gestürzt  wurden  und  einer  gemässigten 
\'olksherrschaft  Platz  machten,  das  zu  erzählen,  liegt  ausser 
den  Grenzen  gegenwärtiger  Arbeit. 


UNTEESUCHTOCtEN  über  die  VERFASSUNG 
VON  ATHEN 

in  den  letzten  Jahren  des  Peloponnesischen  Krieges. 

[Academische  Gelegenheitsschrift.     Basei.     Schweighauser.      1844.] 


Jbo  klar  die  Geschichte  Athens  während  seiner  Blüthezeit 
vor  uns  entfaltet  zu  liegen  scheint,  so  mannichfaltige  Arbeiten 
über  die  verschiedensten  Theile  seiner  staatlichen  Einrichtun- 
gen Licht  zu  verbreiten  gesucht  haben  und  noch  suchen,  so 
ist  doch  dem  mit  diesem  Gebiete  der  Alterthumswissenschaft 
nur  einigermassen  Vertrauten  wohl  bekannt,  dass  noch  manche 
Punkte  nichts  weniger  als  aufgeklärt  sind.  Sei  es,  dass  über 
manche  Verhältnisse  und  Ereignisse  die  Quellen  schweigen, 
oder  dass  sie  sich  zu  widersprechen  scheinen,  nicht  selten 
sieht  sich  der  Forscher  in  die  Unmöglichkeit  versetzt,  sichere 
Ergebnisse  zu  gewinnen  und  genöthigt,  sich  mit  Wahrschein- 
lichkeiten zu  begnügen.  Dass  in  solchen  Fällen  aber  die  An- 
sichten selbst  der  gründlichsten  Gelehrten  oft  sehr  weit  aus- 
einandergehen, ist  nicht  zu  verwundern.  Gegenstände  dieser 
Art  nun,  worüber  noch  die  verschiedensten  Ansichten  herr- 
schen, wiederholter  Prüfung  zu  unterwerfen  und  sie  wo  mög- 
lich von  dem  Gebiete  der  Wahrscheinlichkeit  auf  das  der 
Gewissheit  hinüberzuführen ,  kann  daher  nicht  anders  als  an- 
gemessen erscheinen.  Zu  den  wichtigsten  Fragen,  welche 
noch  immer  Gegenstand  lebhafter  Controverse  sind,  gehört  aber 
die  über  die  Verfassung  Athens  zwischen  dem  Sturze  der  Vier- 
hundert und  der  Einsetzung  der  Dreissig.  Dass  die  richtige 
Lösung  dieser  Frage  von  der  grössten  Bedeutung  für  das  Ver- 
ständniss  der  Vorgänge  in  den  letzten  sechs  Jahren  des  Pelo- 


206     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

ponnesisclien  Krieges  sei ,  wird  Niemand  leugnen ,  tmd  somit 
ein  neuer  Versuch  eine  solche  herbeizuführen  oder  wenigstens 
zu  fördern,  gerechtfertigt  sein. 

Als  die  athenische  Macht  in  Sicilien  gehrochen  war,  glaubte 
ein  grosser  Theil  der  Bürgerschaft  die  Ursachen  des  Unglücks 
in  dem  zügellosen  Walten  der  Demagogen  zu  finden.  Eine 
Hinneigung  zu  einer  gemässigtem,  besonnenem  Leitung  des 
Staates  machte  sich  geltend,  und  ihre  erste  Folge  war  die 
Einsetzung  einer  vorberathenden  Behörde  unter  dem  Namen 
Probulen.^j  Damit  begnügten  sich  aber  die  Feinde  der  De- 
mokratie nicht  lange,  sondern  untergruben,  zuerst  besonders 
auf  Alkibiades  gestützt,  durch  das  Mittel  der  Hetairien,  die 
bestehende  Verfassung  und  führten  fast  ohne  Widerstand  eine 
neue  Ordnung  der  Dinge  ein.  Angeblich  sollte  es  eine  Politie 
sein,  gestützt  auf  fünftausend  der  begütertsten  Bürger,  welche 
an  die  Stelle  der  frühern  Volksversammlung  treten  sollten. 
In  der  That  war  es  eine  Oligarchie,  da  die  Fünftausend  nie 
bezeichnet  wurden ,  sondern  die  ganze  Macht  in  den  Händen 
des  durchaus  oligarchisch  erwählten  Rathes  von  vierhundert 
Mitgliedern  ruhte.  2,  Die  gemässigten  Bürger  Avaren  getäuscht, 
ihre  Hoffnungen  betrogen.  Daher  war  denn  auch  der  Bestand 
dieser  Ordnung  von  sehr  kurzer  Dauer,  um  so  mehr  als  Al- 
kibiades sich  schon  vor  dem  Sturze  der  Demokratie  von  den 
Verschworenen  losgesagt  und  mit  der,  besonders  im  Heere  zu 
Samos  mächtigen  demokratischen  Partei  verbunden  hatte.  Nach 
vier  Monaten  wurde  die  Oligarchie  unter  Theopomps  Archon- 
tat  Ol.  92,  2  im  Spätsommer  411  gestürzt.  Es  war  aber  nicht 
sowohl  eine  extrem  demokratische  Gesinnung,  als  vielmehr  der 
Abscheu  vor  der  AVillkürherrschaft  der  Vierhundert  und  na- 
mentlich ihrem  veiTätherischen  Treiben,  das  diesen  Erfolg 
herbeigeführt   hatte.      Noch    immer    war    eine    besonnene    ge- 


1)  Büttners  Behauptung  (Geschichte  der  polit.  Hetairien  in  Athen  S.  75. 
76)  die  Probulen  hätten  keine  aristokratische  Tendenz  gehabt ,  fällt  durch 
die  von  K.  F.  Hermann  (Berlin.  Jahrb.  1842,  16—19)  angeführte  Stelle 
aus  Aristoteles  Rhetor.  III,   IS,  6  anderer  Gründe  nicht  zu  gedenken. 

2)  Ueber  die  Vierhundert  vergleiche  man  jetzt  besonders  Guil.  Watten- 
bach de  quadringentorum  Athenis  factione,  Berol.  1842,  dem  ich  übrigens 
auch  jetzt  noch  nicht  zugeben  kann,  dass  es  bis  zu  der  Verschwörung  der 
Vierhundert  keine  volksfeindlichen  Hetairien  gegeben  habe. 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     207 

mässigte  Stimmung,  bei  manchen  ein  Hinneigen  zu  aristokra- 
tischen Einrichtungen  vorrherrschend .  Dies  ergibt  sich  unter 
anderm  aus  den  Massregeln,  die  unmittelbar  nach  der  Auflö- 
sung der  Vierhundert  ergriffen  wurden.  Weit  entfernt,  wie  es 
sonst  bei  Reaktionen  so  häufig  geschieht,  die  alte  Ordnung 
mit  allem  Guten  und  Schlechten  herzustellen,  behielt  man  die 
Grundlage  bei,  welche  die  kurze  Oligarchie  hätte  haben  sollen, 
aber  zu  ihrem  eigenen  Verderben  zu  legen  verabsäumt  hatte, 
ich  meine  die  Fünftausend  als  Träger  der  höchsten  Gewalt. 
Nur  wurde  sie  in  sofern  modifizirt,  dass  der  Name  der  »Fünf- 
tausend« kein  genauer  mehr  war,  sondern  unter  diesem  alle 
die  begriffen  werden  sollten,  welche  sich  selbst  volle  Waffen- 
rüstung verschafften.  Ebenso  hielt  man  die  höchst  Avichtige 
Bestimmung  fest,  dass  keine  Behörde  besoldet  werden  sollte. 
Auf  diesen  Grundlagen  Avurde  dann  durch  Aveitere  Beschlüsse 
und  Verordnungen  fortgebaut,  und  namentlich  auch  Nomothe- 
ten niedergesetzt.  Auch  gegenüber  den  Personen  zeigte  sich 
anfangs  eine  rühmliche  Mässigung,  so  dass  Thukydides,  ge- 
wiss hier  ein  vollgültiger  Zeuge,  lobend  anerkennt,  dass  da- 
mals der  Staat  vortrefflich  regirt  Avorden  und  die  Verfassung 
eine  gemässigte  Mischung  aou  Demokratie  und  Oligarchie  ge- 
wesen sei.  So  viel  ist  allgemein  anerkannt  und  unbestritten. 
Die  ScliAvierigkeit  beginnt  aber  mit  der  Frage,  Avie  lange  diese 
massige  Mischung,  diese  mit  aristokratischen  oder  timokrati- 
schen  Elementen  temperirte  Demokratie  bestanden  habe.  Die 
Einen  nämlich  sind  der  Meinung,  es  habe  dieselbe  bis  ans 
Ende  des  Peloponnesischen  Krieges  fortgedauert  und  erst  der 
Oligarchie  der  Dreissig  Platz  gemacht.  Sie  stützen  sich  be- 
sonders darauf,  dass  kein  Schriftsteller  die  Veränderung  der 
Verfassung  berichte.  Diese  Ansicht  haben  namentlich  W. 
Wachsmuth,  P.  W.  Forchhammer,  C.  Peter,  K.  F.  Scheibe 
und  W.  Röscher  vertheidigt.  ')  Die  andern  dagegen  glauben 
zu   erkennen,    dass    die   gemässigte   Mischung   der  Verfassung 


1)  W.  Wachsmuth  Hellen.  Alterthumskunde  1,  2.  S.  205  erste  Ausg. 
P.  W.  Forchhammer  die  Athener  und  Sokrates  S.  29.  Peter  Comment. 
crit.  de  Xenoph.  Hellen,  p.  54.  K.  F.  Scheibe  die  oligarch.  Umwälzung 
zu  Athen  am  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  und  das  Archontat  des 
Eukleides,  S.  7.  W.  Röscher  Leben,  Werk  und  Zeitalter  des  Thukydidea 
S.  443. 


208     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

nicht  so  lange  bestanden ,  sondern  bald  wieder  der  frühern 
vollständigen  Demokratie  gewichen  sei.  Diese  Meimmg  stützt 
sich  ganz  vorzüglich  auf  das  Verfahren  des  athenischen  Vol- 
kes und  den  Einfluss  der  Demagogen,  welche  bald  nach  dem 
Sturze  der  Vierhundert  keine  Spur  von  jener  bei  Thukydides 
gerühmten  Mässigung  mehr  zeigen,  sondern  eine  ungezügelte 
Volksherrschaft  verrathen.  Für  sie  haben  sich  besonders  aus- 
gesprochen, Freret,  A.  Böckh,  K.  F.  Hermann,  G.  F.  Schö- 
mann,  G.  R.  Sievers,  Th.  Arnold,  L.  Preller,  Chr.  G.  Volke, 
Bendixen,  so  wie  der  Verfasser  dieser  Abhandlung  selbst.  i) 
Von  den  genannten  Gelehrten  ist  aber  die  Frage  mehr  im 
Vorbeigehen  berührt,  als  allseitig  erörtert  und  erschöpft  worden. 


n. 

Betrachten  wir  zuerst  die  Gründe,  welche  für  die  Mei- 
nung geltend  gemacht  werden,  es  habe  die  gemässigte  Ver- 
fassung sich  bis  zu  Ende  des  Krieges  behauptet.  Hier  fällt 
gleich  auf,  dass  die  Vertheidiger  derselben  sich  keineswegs 
ganz  klar  gemacht  zu  haben  scheinen,  was  unter  dieser  Ver- 
fassung zu  denken  sei,  auch  in  Einzelnem  ihi-e  Ansichten  sehr 
weit  von  einander  abweichen.  Forchhammer  geht  so  weit, 
dass  er  annimmt,  der  Rath  sei  nicht  mehr  durch  das  Loos, 
sondern  durch  Wahl  besetzt  worden.  »Ein  Rath«  sagt  er  »be- 
stand, aber  sicher  kein  durchs  Loos  -s^ie  früher,  sondern  durch 
Wahl  ernannter.    In  dieser  Zeit  erscheint  Sokrates  zum  ersten- 


1)  Freret,  Memoires  de  l'Academie  des  inscriptions  t.  XLV.  p.  243. 
A.  Böckh  Staatsh.  I,  S.  305.  K.  F.  Hermann  Lehrb.  d.  griech.  Staats- 
alterthümer ,  §.  166,  und  in  der  Recension  der  erwähnten  Schrift  von 
Scheibe  Berl.  Jahrb.  1842,  16—19.  G.  F.  Schömann  antiq.  juris  publ. 
Graec.  p.  183.  G.  E..  Sievers  Comment.  bist,  de  Xenoph.  Hellenicis  p.  18. 
Th.  Arnold  zu  Thukydides  MIX,  97.  L.  Preller  Allgem.  Litteraturzeitung 
1838,  Nro  88.  2.  Bd.  S.  98.  Chr.  G.  Volke  de  factionibus  in  Athenien- 
sium  republica.  Bendixen  über  die  Tendenz  des  revolutionären  Sokrates 
nebst  Andeutungen  über  Sokrates  Stellung  zur  Demokratie.  Diese  beiden 
letztern  Schriften  kenne  ich  nur  aus  Anzeigen.  Ich  selbst  hatte  mich 
darüber  ausgesprochen  in  der  Schrift  über:  Die  oligarchische  Partei  und 
dieHetairien  in  Athen  S.  33  (=  Sehr.  I,  S.  197  A.  3).  Wegen  einer  Be- 
merkung Peter's  S.  54  füge  ich  bei,  dass  auch  Niebuhr  in  seinen  Vor- 
lesungen über  alte  Geschichte  dieselbe  Meinung  vorgetragen  hat. 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     209 

mal  in  politischer  Thätigkeit.  Die  Oligarchen  hatten  ihren 
politischen  Glaubensgenossen  in  den  Rath  erwält.«  Oifenbar 
hat  sich  hier  aber  Forchhammer  durch  seine  Ansicht  über  die 
politische  Stellung  des  Sokrates  irre  leiten  lassen ;  denn  die  von 
ihm  selbst  citirte  Stelle  aus  Platon's  Gorgias,  p.  473  d.  ent- 
hält   den    bestimmten    Gegenbeweis.     Sie    lautet    nämlich:    (o 

IluiAc,    OUX    £l[J.t  TWV  TToAlTlXOJV  Xai    -£pU3l    ßouXcUSlV    A.  tt  ^  OJ  V  ,     STTSlOl^ 

r  cpuÄYj  £-pu-av£U£  xat  £0£i  \ik  £Kt'j/r/ji!l£iv,  YsAfota  7:ap£t;(ov  xat  oux 
r^TrioTajxr^v  irnj^rjCpi'Csiv.  Da  sagt  also  der  Platonische  Sokrates 
sehr  deutlich,  dass  er  durchs  Loos  Mitglied  des  Käthes  gewor- 
den sei.  Auch  zeigt  die  ganze  E: Zählung  Platon's  hier  und 
in  der  Apologie,  dass  die  Einrichtung  des  Rathes  die  bekannte 
demokratische  war.  Die  Erloosimg  wird  überdies  aufs  be- 
stimmteste bestätigt  durch  das  Psephisma  des  Demophantos, 
wo  die  7r£VTaxo3ioi  oi  Aayovis?  tw  xuotjjiu)  vorkommen  und  durch 
Philochoros  beim  Scholiasten  zu  Aristoph.  Plutos  v.  972.  ^) 
Somit  wäre  diese  Annahme,  die  ohne  Zweifel  von  keinem  der 
andern  genannten  Gelehrten  getheilt  wird,  widerlegt.  Weiteres 
aber  hat  Forchhammer  über  die  Yerfassung  nicht  gesagt. 
Wachsmuth,  der  ausdrücklich  einen  erloosten  Rath  annimmt, 
spricht  im  TJebrigen  an  der  angeführten  Stelle  ganz  unbe- 
stimmt von  einem  Zwischenzustande,  wo  nothdürftig  eine  ge- 
mässigte Demokratie  auf  dem  Grunde  Solonischer  und  Kleisthe- 
nischer  Einrichtungen  aufrecht  erhalten  worden  sei.  Vieles 
sei  nur  zu  vermuthen,  Manches  bleibe  ganz  dunkel.  Ausge- 
macht sei,  dass  vollständige  Herstellung  der  Demokratie  erst 
unter  Eukleid's  Archontat  erfolgt  [sei.  Beweise  .für  diese  Be- 
hauptung hat  er  aber  so  wenig  beigebracht,  als  eine  bestimmte 
Erklärung,  was  er  sich  unter  jenem  Zwischenzustande  denkt. 
Dagegen  sucht  Peter  am  angeführten  Orte  S.  50 — 56  den 
Gegenstand  schärfer  aufzufassen.  Wir  lernen,  sagt  er,  über 
die  unmittelbar  nach  dem  Sturze  der  Vierhundert  eingeführte 
Verfassimg  aus  Thukydides  nichts  kennen,  als  dass  die  höchste 
Gewalt  fünftausend   Bürgern   übergeben   worden ,    die   an    die 


1)  Die  Stelle  lautet :  oxt  oe  -/.ara  YpafA[i.aTa  sxXrjpoOvTO  r.rjoe'i^r^Tni.  oO  [jltjv 
äXXa  7.al  eßouXsuov  o'jtoi  tw  Tipo  to'jtou  irei  dp?aji.£>;ot.  OTjal  y^P  ^tXoyopo;.  'Ezi 
O^aujci-TTOU  v.al  tj  ^ci'jÄtj  y-axa  Ypa[jL[j.a  tote  TipcüTov  iv.'x^i'^e-o  7.at  e'-t  vüv  ofAvuai 
ttTi'  £vt£ivo'j  y.aöeoeia&ai  dv  xü)  YpafJ'-fActTi  oj  äv  Xaywai.  Der  erste  Plutos  war 
unter  Diokles,  der  nach  Glaukippos  Archon  war,  aufgeführt  worden. 

Vischer,  Schriften  I.  J4 


210     Untersuchungen  über  die  ^'Erfassung  von  Athen. 

Stelle  der  früheren  Ekklesia  getreten  seien.  Vom  Senate,  von 
den  Archonten.  von  den  übrigen  Magistraten  vernehmen  wir 
nichts,  nur  das  füge  Thukydides  bei,  dass  Nomotheten  ge- 
wählt worden  seien,  i)  Aus  der  Niedersetzung  dieser  Nomo- 
theten sucht  er  dann  mit  Beiziehung  von  Lysias  gegen  Niko- 
machos  §.  2—^5  und  Andocid.  de  myster.  §.  Sl  zu  beweisen, 
dass  bis  ans  Ende  des  Krieges  nichts  geändert  worden  sei. 
Denn  aus  Andokides  gehe  hervor,  dass  keine  Aendennigen 
gemacht  worden  seien,  bis  die  Gesetze  gegeben  gewesen  seien. 
donec  leges  latae  fuissetit  nihil  novatum  esse,  aus  Lysias  aber 
ergebe  sich,  dass  die  Nomotheten  bis  zu  Ende  des  Krieges 
im  Amte  geblieben;  also  sei  ihre  Gesetzgebung  nicht  vollendet 
und  consequenter  Weise  Veränderungen  in  der  Verfassung  un- 
möglich gewesen.  Gegen  diese  lieweisfülu'ung  ist  aber  man- 
cherlei einzuwenden.  Zuerst  hat  Peter  den  liericht  des  Thu- 
kydides über  die  Verfassung  gleich  nach  dem  Sturze  der 
Vierhundert  sehr  ungenau  und  unvollständig  angegeben.  Denn 
dieser  fügt,  wie  bereits  oben  erwähnt,  nachdem  er  berichtet, 
die  höchste  Gewalt  sei  den  Fünftausend  übergeben  worden,  bei, 
Eivat,  Zt  oLiiTÜ'f  o-oaot,  07:/.a  -aps/ovrai,  und  er  meldet  femer, 
dass  keine  Behörde  besoldet  sein  sollte,  tj.t.ai>ov  [jirjoiva  'fspiiv 
{XTjOcU'.a  i^'/Ji'  Auf  diese  zwei  Punkte  kommt  aber  sehr  viel 
an.  Die  erste  Bestimmung  gab  dem  timokratischen  Principe 
eine  sehr  breite  Basis,  hob  die  Möglichkeit  einer  oligarchischen 
Abgeschlossenheit,  wie  sie  bei  der  bestimmten  Zahl  von  Fünf- 
tausenden nahe  lag,  auf;  die  zweite,  dass  keine  Behörde  be- 
soldet werden  sollte,  darf  man  nicht  bloss  als  eine  finanzielle 
Massregel  ansehen,  sondern  auch  als  eine  wesentlich  politische. 
Wie  einst  Perikles  und  nach  ihm  andere  Volksführer  durch 
Einführung  der  verschiedenen  Solde  die  Masse  des  Volks  zur 
Theiluahme  an  den  Staatsgeschäften  herbeigezogen  hatten,  so 
sollte  jetzt,  durch  Abschaffung  derselben,  der  gleiche  niedrige 
Theil   der   Bevölkerung   entfernt  gehalten  werden,    wenn  auch 


1)  S.  51 :  ^ec  vero  de  hac  democratia  quidquam  ex  Thucydide  discimus, 
quam  qiiod  rerum  summa  quinquies  mille  civibus  tradda  est,  qui  'profecto 
nihil  aliud  poteratit,  quam  comitia  hahere,  pristinaeque  populi  concionis  (tt,; 
e7.x).Tj3ta;;  locum  ohtinere.  Xihil  igitur  de  senatu,  nihil  de  arcliontihus,  fiihil 
de  uüo  magistratu  discimus,  id  unum  adiicit  nomothetas  creatos  esse.  Haec 
enim  ejus  verba  slint :  voijio&iTa;  -^a'.  TaÄXa  e-Lr/^'-^avTC  i;  rr,v  7:o/.iT£iav. 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     211 

das    nicht    gerade    zu    ausgesprochen,    sondern    als   ostensibler 
Grund   mehr    die  allerdings    drückende  Finanzverlegenheit  ge- 
nannt wurde.     Das  gänzliche  Uebersehen    dieser  zwei  Bestim- 
mungen hat  nun  auf  Peter"  s  Darstellung  sehr  nachtheilig  ein- 
gewirkt,   da   A'eränderungen   in    dieser  Hinsicht  von  ihm  jetzt 
unbeachtet  bleiben   mussten   und  auch   in  der  That  geblieben 
sind.     Aber  auch  seine  übrige  Beweisführung,    namentlich  die 
Art,  Avie  er  von  den  Nomotheten  handelt,  und  zu  dem  »Schlüsse 
kommt,    so   lange    sie   im  Amte   gewesen,    sei   nichts  geändert 
worden,  ist  durchaus  nicht  stichhaltig.     Er  geht  von  der  An- 
nahme   aus,    die    Th.  Bergk   in    der   epistola   hinter  Schiller's 
Andokides   aufgestellt   hat,   Nikomachos  sei  zuerst  vom  Sturze 
der  Vierhundert   bis    zum   Ende   des    Peloponnesischen  Kriegs 
und  dann  ein  zweites  Mal  nach  der  Wiederherstellung  der  De- 
mokratie unter  Eukleides,   vier  Jahre  lang  Nomothet  gewesen. 
Ich  will  diese  Annahme,   obwohl  ich  sie  nicht  für  richtig  halte, 
hier  einstweilen  gelten  lassen,   indem  ich  mir  vorbehalte,   unten 
darauf  zurückzukommen,     ^^'eil  nun  in  diesen  zwei  Perioden, 
■\or  und   nach   dem   Ende    des   Krieges  Nomotheten  ähnlicher 
Art  niedergesetzt  gcAvesen  seien,    so,   folgert  Peter,   gelten  Be- 
stimmungen,  die  für  die  einen  gemacht  wurden,   ohne  weiteres 
auch    für    die    andern,    und    so    wendet   er   unbedenklich    das 
Psephisma  des  Tisamenos,   das  sich  bei  Andoc.  d.  myst.  §.  83, 
84  findet,  und  sich  auf  die  zweiten  Nomotheten  bezieht,   auch 
auf  die  ersten  an.     f>De  his  igitur  nomothetisu^  heisst  es,   ^)quos 
et  ante  ßnem  belli  et  i^ost  hellum  ejusdem  gencris  fuisse  demon- 
stram,    hoc  apud  Andocidem  psephisma   exstat.<t      Das  ist  aber 
eine  durchaus  willkürliche  und  unbegründete  Folgerung;   denn 
die  Verhältnisse    nach   dem  Sturze    der  Vierhundert  und  nach 
dem  der  Dreissig  waren  verschieden  und  mussten  darum  auch 
verschiedene  Bestimmungen  hervorrufen.     So,  um  auf  Einiges 
aufmerksam  zu  machen,   hatte  Nikomachos  das  erste  Mal  den 
Auftrag   erhalten,    seine   avaypacpTj   vo[jLa)v   binnen  vier  Monaten 
zu  vollenden,    das   zweite  Mal  scheint  ihm  ein   noch    kürzerer 
Termin    gegeben    worden    zu    sein,  ^'j      Nach    dem   Sturze   der 


1)  Lys.  adv.  Jsicom.  §.  2:  ~[Ajz-.'x-/'i)bi  o:j-w  Tsacaoojv  [j.tj>;üjv  äv^Ypc'.'i/ai 
Tou;  voiAO'j;  tou;  Xo"/.ojvo:.  §.  4:  d;öv  aütw  xpiaxo^^xa  Tjjj.£pwv  äTTaXXaYTJvott. 
Da  der  erbitterte  Redner  nur  £;öv  sagt,  scheint  es  als  seien  die  30  Tage 
nicht  bestimmt  vorgeschrieben  gewesen. 

14* 


212     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

Dreissig  Avurde  ferner  eine  Art  provisorischer  Regierung,  die 
Zwanzigmänner,  aufgestellt,  während  im  Jahre  4 1 1  von  solchen 
nirgend  die  Rede  ist  fAndoc.  de  myst.  §.  81\  Ausserdem 
enthält  das  Psephisma  des  Tisamenos  noch  eine  Bestimmung, 
die  wir  nach  Peter's  Annahme  consequenter  Weise  auch  auf 
die  frühere  Zeit  anwenden  müssen,  ohne  dass  wir  im  Gering- 
sten dazu  berechtigt  sind,  ich  meine  die  Aufsicht  des  Areo- 
pags  über  die  Gesetze.  Von  einer  Einsetzung  des  Areopags 
in  seine  alten  durch  Ephialtes  und  Perikles  ihm  genommenen 
Befugnisse  vor  dem  Archontat  des  Eukleides  verlautet  aber 
nirgend  etwas.  Das  hätte  daher  also  auch  erst  bewiesen  wer- 
den müssen,  ehe  man  so  ohne  weiters  das  Psephisma  auf 
frühere  Verhältnisse  anwandte.  Es  muss  diese  Anwendung 
also  durchaus  verworfen  werden.  Ueberdiess  aber  legt  Peter 
in  die  Stellen  des  Andokides  Dinge,  die  nicht  darin  sind. 
Aus  der  §.  Sl  genannten  Bestimmung,  bis  die  Gesetze  gege- 
ben seien  (sw;  au  oi  voaoi  rsösTsv  sollen  zwanzig  Männer  die 
Aufsicht  über  den  Staat  führen,  folgert  er,  es  habe  also  in 
dieser  Zeit  nichts  Neues  beschlossen  werden  können,  und  da 
ihm  Nikomachos  Nomothet  ist,  so  findet  er  also  darin  ent- 
halten, dass  nach  Eukleides  viev  Jahre  lang  keine  Aenderung, 
kein  neues  Gesetz  gemacht  worden  sei.  Eine  unbefangene 
Betrachtung  des  Andokides  hätte  ihn  des  Gegentheils  belehrt. 
Denn  §.  S5  zeigt,  dass  die  Gesetze  bald  nach  dem  Beschlüsse 
über  die  Revision  aufgestellt,  geprüft  und  angenommen,  über- 
dies durch  neue  vermehrt  wurden.  Wir  finden  also  nach  dem 
Archontate  des  Eukleides  die  Gesetzgebung,  weit  entfernt  \4er 
Jahre  lang  gehemmt  zu  sein,  Adelmehr  in  voller  Thätigkeit, 
obwohl  das  Psepliisma  des  Tisamenos  sich  auf  die  damaligen 
Nomotheten  bezog.  Ebenso  war  die  avaYpacpT,  voaojv,  die  Peter 
mit  der  vou.oi)£3ia  für  identisch  ansieht,  theilweis  beendigt,  ^vie 
aus  Lysias  gegen  Nikomachos  deutlich  hervorgeht.  '  In  der 
Zeit  zwischen  den  Vierhundert  und  den  Dreissig  aber  lässt 
sich  die  gesetzgeberische  Thätigkeit  mit  der  gleichen  GeAA-iss- 
heit   nachweisen.     Denn   um  nur   eines    anzuführen,  gehört  in 


')  Ueberdies  geht  aus  Lys.  adv.  Nicom.  hervor,  dass  Nikomachos  zu 
verschiedenen  Zeiten  Gesetze  als  gühig  mittheilte,  Avas  ja  auch  gegen  die 
Annahme  Peter's  streiten  A\-ürde. 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     213 

diese  Zeit    das   höchst   wichtige  Gesetz  des  Demophantos,   das 
bereits   Barthelemy   Mem.    de   l'Acad.    des    Inscr,    t.    XLYIII, 
p.   337  sq.  dem   Böckh  Staatshaushaltimg,    II.   S.   5  und  Meier 
de   bonis    damnatorum    p.   3  beistimmen,    unwiderleghch    dem 
Jahre  des  Glaiikippos,    Ol.   92,   3  od.   410  v.   Chr.  zugewiesen 
hat.     Es   war   überhaupt   ein   eigener    Gedanke,   dass  vor  dem 
Ende   des   Peloponnesischen   Krieges    6  Jahre   lang,    nach  der 
Anarchie  4  Jahre  lang,    alle   gesetzgeberische   Thätigkeit    sus- 
pendirt   gcAvesen   sei,    und    das    nur    wegen    der    hartnäckigen 
Gewissenlosigkeit   eines    einzigen   Mannes.     Schwerlich  würde 
sich  in    der   ganzen    Geschichte    ein   ähnlicher   Fall  entdecken 
lassen,    und  es  müssten   daher   die    klarsten   Beweise   für  eine 
so    ausserordentliche   Erscheinung   beigebracht   werden.      Statt 
deren    finden    wir    aber    eine    unrichtige    Auffassung  'Andoki- 
deischer  Stellen,    \uu\  willkürliche    Anwendung   der  in  diesen 
enthaltenen   Bestimmungen,   die  in  das  Jahr  403  gehören,   auf 
das  Jahr  411.    Endlich  muss  noch  erinnert  werden,  dass  selbst 
wenn  keine  eigentlichen  Gesetze  hätten  gegeben   werden  kön- 
nen,   immer  noch    ein   anderer   Ausweg,    die  bestehende  \  er- 
fassung   zu   ändern,    da   war.     Die  Yerfassungsbestimmungen, 
um  die  es  sich  hier  handelt,  konnten  nicht  nur  durch  Gesetze 
(vofjLoi.),    sondern    auch    durch   Dekrete    {<'^r^'^h\l'■/.-aj    aufgestellt 
werden.     Durch    ein    (j^Y^iajxa    waren    die    Vierhundert    einge- 
setzt,   durch   ein    solches   gestürzt   worden,    durch  ein  '^ir^oiiiia 
war  der  Staat  in  die  Hände  derjenigen,  die  sich  selbst  bewaff- 
neten,  gelegt,   und  die  Bestimmung   festgehalten  worden,   dass 
keine  Behörde   Sold  empfangen  solle,   durch  Psephismen  wur- 
den verschiedene  andere    wichtige,    die  Verfassung   betreffende 
Gegenstände   geordnet,  i)     Es    genügt,    die    Worte  des  Thuky- 
dides  VIII,  97  anzuführen:   syi'yvovto  os  xat  aXXai  uarspov  7:uxval 
£y.-/XT,3iai  acp'  tuv  xat  vojjLoös-a;  xat  -aXha  i'^^rjCpiaavro  sc  tt^v  TroXirsiav, 
um  zu  beweisen,  dass  damals  die  constituirende  Thätigkeit  nichts 
weniger   als   gehemmt   war   und   nichts    im   Wege    stand,    die 
durch   die    sx/Xr^sia   früher    gegebenen   Beschränkungen    durch 
dieselbe    wieder  aufzuheben.     Nachdem   also  die  von  den  No- 
motheten  hergenommenen   Gründe   für    das    Fortbestehen    der 
gemässigten   Verfassung   bis    zu   Ende    des    Krieges    widerlegt 


1)  Hieher  gehört  ohne  Zweifel  das  tLTi'ftajxa  Ka^vcuvou. 


214     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

worden  sind,  müssen  noch  die  AYorte  des  Thukydides  VIII,  97 
ou/  r^y.iota  oy)  tov  KpwTov  yf/ovov  i-i  ys  £[J-oü  'AUr^vaToi  cpai'vovtcc. 
£u  7roXiT£uaavT£c ,  betrachtet  werden,  welche  Peter  zu  seinem 
Zwecke  anführt,  indem  er  den  Sinn  darin  findet,  die  Athener 
hätten  nur  in  der  ersten  Zeit  der  gemischten  Verfassung  den 
Staat  gut  regiert,  später  sei  Thukydides  mit  dem  Gange  der 
Dinge  weniger  zufrieden  gcAvesen.  Diese  Erklärung  aber,  ob- 
wohl ihr  auch  Scheibe  S.  7,  Anm.  16  beistimmt,  lässt  sich 
schwerlich  rechtfertigen,  Avie  sich  klar  ergibt,  sobald  man  die 
Stelle  in  ihrem  ganzen  Ziisammenhange  betrachtet.  Thuky- 
dides berichtet  zuerst,  wie  die  Vierhundert  abgesetzt,  den  so- 
genannten Fünftausenden  die  Macht  übergeben  und  die  Ab- 
schaffung jeder  liosoldung  der  Behörden  beibehalten  worden 
sei.  Dann  fährt  er  fort:  »es  hatten  aber  auch  später  noch 
andere  zahlreiche  Volksversammlungen  statt,  in  Folge  derer 
sie  Nomotheten  einsetzten  inid  die  andern  Bestimmungen  in 
Betreff  der  Verfassung  machten.  Vnd  es  scheinen  die  Athener 
in  der  ersten  Zeit,  wenigstens  während  meines  Lebens,  ihren 
Staat  am  besten  geleitet  zu  haben.  Denn  es  war  eine  massige 
Verbindung  von  Oligarchie  und  Demokratie,  und  das  hat 
zuerst  den  Staat  aus  der  traurigen  Lage,  in  der  er  war,  wieder 
herausgezogen.«  Ofienbar  enthält  der  Satz,  es  sei  die  Ver- 
fassiing  eine  massige  ^üschung  gewesen  ({Xc-pia  -'^•P  —  ttoAiv), 
die  Erklärung  zu  dem  vorhergehenden  Urtheil,  dass  in  der 
ersten  Zeit  der  Staat  vorzüglich  gut  geleitet  worden  sei,  der 
Grund  des  eu  TroXtrsustv  liegt  darin.  Eine  unbefangene  Be- 
trachtuiig  führt  also  zu  der  natürlichen  Folgerung,  später  habe 
die  u-cTpia  |uY-/pa3tc  nicht  mehr  statt  gefunden.  Ein  Gegen- 
überstellen der  ersten  Zeit  der  gemässigten  A  erfassung  gegen 
die  spätere  Zeit  derselben  A  erfassung  ist  nirgend  angedeutet. 
Sollte  das  sein,  so  würde  allerwenigstens  die  Erwähninig  der 
Verfassung  dem  Satze :  xat  ou/  r^v.io-a  —  -oAiTsujavTsc  voran- 
gehen müssen.  ^]    '0  zpÄTo;  Xpovoc  ist  also  die  erste  Zeit  nach 


>)  Das  Missliche  von  Peter's  Erklärung  hat  Scheibe,  ob-wohl  er  sie 
adoptirt,  offenbar  gefühlt.  Das  zeigen  seine  Worte  S.  "  Anm.  16:  »Zur 
grössern  Erhärtung  seiner  Ansicht  fügt  er  (Peter,  die  Stelle  aus  Thukydides 
VIII,  97  hinzu,  welche  zeigt,  dass  Thukydides  mit  der  Verfassung  (d.  h.  mit 
derselben)  in  spätem  Jahren  weniger  zufrieden  war.«  Ohne  dieses  beige- 
fügte »d.  h.  mit  derselben«  würde  Jedermann  den  Grund  der  Unzufrieden- 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     215 

dem  Sturze  der  Vierhundert,  imd  die  Stelle  wird,  so  gefasst, 
weit  entfernt  für  unveränderten  liestand  der  Verfassung  zu 
sprechen,  vielmehr'  auf  Aendeioingen  hinweisen,  welche  der 
Grund  sind,  warum  Thukydides  sein  Loh  aiif  die  erste  Zeit 
Deschränkt. 

Scheibe  stützt  sich,  neben  dem  Stillschweigen  der  Schrift- 
steller, durchaus  auf  die  Gründe  Peters,  giebt  aber  eine  Be- 
schreibung des  unter  der  gemischten  Verfassung  emgetretenen 
Zustandes.  welche  billig  Zweifel  erregt,  ob  er  sich  zuerst  klar 
gemacht,  was  denn  der  Unterscliied  dieser  gemischten  Verfas- 
sung von  der  Demokratie  gewesen  sei.  Seine  Worte  sind  fol- 
gende :  »Jene  aus  Demokratie  und  Oligarcliie  gemischte  Ver- 
fassung der  Fünftausend  ist  sicherlich  vor  der  Herrschaft  der 
Dreissig  nicht  abgeschafft  worden,  was  Einige  fälschhch  be- 
haupten, wohl  aber  artete  sie  allmälich  so  aus,  dass  sie,  auch 
ohne  die  Fonnen  einer  absoluten  Demoki'atie,  doch  dem  Wesen 
nach  sich  als  Ochlokratie  erwies.  Gerade  diese  unge- 
zügelte V  0 1  k  s  h  e  r  r  s  c  h  a  f  t  sollte  ein  Werkzeug  und  Förde- 
rungsmittel für  die  Oligarchie  werden.  Und  wie  zwei  sich  gänz- 
lich entgegenstehende  Parteien  meistens  sich  verbinden,  wenn 
sie  als  gemeinschaftliches  nächstes  Ziel  den  Sturz  einer  dritten, 
ihnen  beiden  feindlichen  Macht  betreiben,  um  nach  Erreichung 
dieses  Zieles  sich  selbst  zu  bekämpfen,  so  bildete  sich  auch 
hier  diese  sonderbare  Coalition  der  Oligarchen  und  Demago- 
gen.    Nach   der   Seeschlacht   bei   den  Arginusen  nämlich,  im 


heit  eben  darin  gefunden  haben,  dass  sie  nicht  mehr  dieselbe  gewesen  sei. 
K.  F.  Hermann  in  der  Recension  von  Scheibe"s  Schrift  Berlin.  Jahrb. 
1S42,  Nro.  16 — 19  S.  144  hat  diese  Erklärung  ebenfalls  verworfen,  die 
Stelle  aber  so  aufgefasst,  dass  es  eine  abgekürzte  Construktion  sei  für :  zai 
ö  TrpöJTo;  ypovo;  r^v  o-i  7..  x.  X.  es  war  dies  wenigstens  während  meines 
Lebens  die  erste  Zeit,  wo  die  Athener  ihren  Staat  gut  einrichteten.  Gegen 
diese  Erklärung  spricht  aber  das  ojy  r^v.izzn,  das  daher  auch  in  der  Ueber- 
setzung  nicht  ausgedrückt  ist.  In  diesem  liegt  eine  Vergleichung  mit  an- 
dern Zeiten,  man  kann  nicht  sagen :  »sie  haben  ihren  Staat  zum  erstenmal 
am  besten  oder  wörtlich  :  nicht  am  wenigsten  gut  eingerichtet,«^  wohl  aber: 
»sie  haben  ihren  Staat  in  der  ersten  Zeit  am  besten  seit  einem  Menschen- 
alter eingerichtet.«  Ueberdies  würde  Hermann's  Erklärung  auch  in  die 
Worte  des  Thukydides  den  Sinn  bringen,  dass  der  Staat  früher  während 
seiner  Lebenszeit  nie  gut  eingerichtet  oder  geleitet  worden  sei ,  was  nicht 
wohl  mit  dem  II,  65  über  die  Staatsverwaltung  des  Peiikles  ausgesprochenen 
Urtheil  zusammenpassen  würde. 


216     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

Jahre  406,  wurden  die  grösstentheils  demokratischen  Sieger, 
Avie  Leon,  Diomedon,  Thrasyllos  und  Perikles  angeklagt,  die 
Todten  nicht  aufgefangen  und  begraben  zu  haben,  eine  KJage, 
Avelche  von  Theramenes,  dem  Mitfeldherm  und  Oligarchen 
ausging,  und  von  Kallixenos,  einem  Demagogen,  den  jener  dazu 
überredet  hatte,  unterstützt  wurde.  Diese  erlangten  denn  auch 
den  Beschluss  der  Hinrichtung  jener  FeldheiTn.  Da  aber  be- 
sonders hiebei  und  bei  andern  Gelegenheiten  die  Sykophantie 
der  Demagogen  sich  in  ihrer  ganzen  Nichtswürdigkeit  zeigte, 
so  wurde  bei  Melen  der  Demokraten  selbst  Widerwille  gegen 
die  Demokratie  überhaupt  und  ein  ^  erlangen  nach  einer  Staats- 
reform erzeugt,  in  welcher  sie  eine  festere  Stütze  und  Gewälir 
zu  finden  hofften,  als  in  dem  meist  güterlosen  und  neue- 
rungssüchtigen Pöbel.«  In  der  Anmerkung  16  heisst  es: 
»Allein  dies  (die  Yeiiirtheilung  der  Sieger  bei  den  Arginusen) 
konnte  auch  geschehen  in  Folge  der  Entartung  jener  ge- 
mässigten Form  der  Demokratie,  der  Pöbel  Avird  durch  keine 
Staatsform  in  semem  Thun  und  Treiben  bestimmt.  —  Auch 
das  von  Yischer  S.  33  angeführte  Geschrei  des  Demos:  oöivov 
eivai  £1  [XTj  TU  £«331  Tov  OT^ixov  r:pa"£iv  o  av  [jry'Ar,xat  bcAveist 
nur,  dass  der  Demos  sich  aufrührerisch  Avie  früher  betragen 
habe.«  Hier  finden  AAir  also  eme  Ochlokratie,  eine  ungezügelte 
Tolksherrschaft,  welche  den  Oligarchen  in  die  Hände  arbeitet, 
WiderAvillen  der  Demokraten  selbst  gegen  eine  so  nichtsAvür- 
dige  Demokratie,  die  Macht  bei  einem  meist  güterlosen  und 
neuerungssüchtigen  Pöbel,  einem  Pöbel,  der  sich  durch  keine 
Staatsform  in  Schranken  halten  lässt,  imd  einen  Demos  auf- 
rührerisch Avie  früher.  Alles  dies  ist  aber  kein  Beweis  voll- 
ständiger Demokratie,  sondern  nur  der  Entartung  jener  ge- 
mässigten Foiin  der  Demokratie.  Worin  bestand  denn  aber 
diese  Ausartimg?  Jene  gemässigte  Fonn  unterschied  sich  ja 
gerade  dadurch  von  der  absoluten  Demokratie,  dass  die  Aus- 
übung der  höchsten  Gewalt  in  den  Händen  einer  beschränkten 
Zahl  A'on  Bürgern  war.  der  o-oaoi  oTzXa  Trapi/ovrat ,  und  dass 
kein  Sold  ausbezahlt  wurde,  mit  andern  Worten,  dass  der 
güterlose  Pöbel  A'on  der  Theilnahme  an  der  höchsten  Gewalt 
ausgeschlossen  war.  Hatte  er  Avieder  Zutritt  zu  derselben  er- 
halten, so  Avar  die  beschränkte  Form  der  Demokratie  nicht 
entartet,     sondern    aufgehoben,     die    wohlthätigen    Schranken 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     217 

waren  gefallen.  So  lange  jene  beschränkte  Form  in  Kraft 
war,  hatten  die  gemässigten  Demokraten  imd  Aristokraten,  die 
in  ihren  politischen  Ansichten  sich  nahe  standen  und  eben  so 
wenig  eine  schrankenlose  Demokratie  als  eine  Avillkürliche 
Oligarchie  -svollten,  einen  festen  Anhalt,  und  auf  ihren  Sturz 
müssen  darum  ültrademokraten ,  wie  Ultraoligarchen ,  hinar- 
beiten. Mit  einem  Worte,  ein  Zustand,  yvie  ihn  Scheibe  dar- 
stellt ,  und  wie  er  der  Hauptsache  nach  allerdings  existirte, 
ist  mit  der  Annahme  des  Fortbestehens  der  beschränkten  Fonn 
der  Demokratie,  oder,  wie  es  Thukydides  nennt,  der  gemässig- 
ten Mischtmg  von  Oligarchie  und  Demokratie  nicht  möglich. 
Scheibe  hat  also  seine  Ansicht  durch  seine  eigene  Darstellung 
mehr  erschüttert  als  begründet. 

W.  Koscher  endlich  geht  Thukydides  S.  443.  Anm.  in 
eine  tiefere  Begründung  der  Sache  nicht  ein,  sondern  indem 
er  sich  an  Scheibe  anschliesst,  sucht  er  nur  noch  für  das 
Fortbestehen  der  gemischten  Verfassung  den  Umstand  geltend 
zii  macheu.  dass  in  dem  ganzen  Zeiträume  sich  immer  Feld- 
herm  von  verschiedenen  politischen  Parteien  nachweisen  lassen, 
was  aber  gar  nichts  beweist,  da  wir  in  der  Ernennung  der 
FeldheiTu  auch  sonst  kein  Aiisschliessungssystem^befolgt  finden. 

Werfen  wir  nun  einen  Rückblick  auf  die  Gründe,  welche 
für  den  Fortbestand  der  gemässigten  Verfassung  geltend  ge- 
macht worden  sind,  so  finden  A^ir,  dass  kein  einziger  Beweis- 
kraft hat,  die  positiven  Gründe  sind  alle  geradezu  nichtig, 
und  es  bleibt  nur  der  negative  von  dem  Stillschweigen  der 
sämmtlichen  Schriftsteller,  namentlich  des  Xenophon, 
übrig,  den  ich  absichtlich  bisher  noch  unbesprochen  gelassen 
habe.  Dieses  Schweigen  erscheint  nun  allerdings  auf  den  ersten 
Augenblick  auffallend.  Die  oligarchische  Umwälzung  der  Vier- 
hundert und  ihr  Sturz  haben  eine  so  weitläufige  Beschreibung 
bei  Thukydides  gefunden ,  er  giebt  bestimmt  an ,  dass  an  die 
Stelle  der  Oligarchie  nicht  eine  unbeschränkte  Demokratie, 
sondern  eine  gemässigte  Verfassung  getreten  sei.  Wäre  es 
nun  nicht  natürlich,  dass  das  Aufhören  dieser  gemischten  Ver- 
fassung .  wenn  es  '«'irklich  statt  hatte ,  berichtet  würde  ?  Bei 
der  Antwort  darauf  muss  man  zwei  Pimkte  ins  Auge  fassen, 
die  Art  des  Ereignisses  selbst,  und  die  Beschaffenheit  der 
Quellen.    Die  Veränderung  konnte  nämlich  unter  bedeutendem 


218     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

Widerstände  auf  mehr  oder  weniger  gewaltsamem  AVege  ge- 
schehen, so  dass  sie  sich  auch  als  ein  äusseres  Ereigniss  dar- 
stellte. In  diesem  Falle  Avürde  das  Verschweigen  derselben 
allerdings  schwer  zu  erklären  sein,  Sie  konnte  aber  auch  auf 
eine  ziemlich  unmerkliche  Art  vorgehen,  so  dass  sie  unter  den 
lauten  Ereignissen  des  Krieges  fast  verschwand  und  keinen 
unmittelbaren  Einfluss  auf  den  Gang  desselben  ausübte.  Dann 
begreift  man  bei  der  Beschaffenheit  unserer  Quellen  das  Ueber- 
gehen  derselben  leicht.  Was  nämlich  diese  anbetrifft,  so  hört 
bekanntlich  Ihukydides  unmittelbar  nach  dem  Sturze  der  Vier- 
hundert auf.  Von  seiner  Darstellung  der  oligarchischen  Um- 
wälzung dürfen  wir  aber  keinen  Schluss  ziehen  auf  die  Art 
und  Weise,  wie  sein  so  sehr  verschiedener  Fortsetzer  die  Sache 
beschreiben  musste.  Aber  noch  mehr.  Es  fragt  sich  sehr, 
ob  Thukydides  selbst  sich  veranlasst  gefunden  hätte,  die  \ei- 
änderung  zu  erzählen.  Er  hat  eine  Geschichte  des  Pelopon- 
nesischen  Krieges  geschrieben,  nicht  eine  Geschichte  Athens. 
Vorgänge  im  Innern  dieses  Staates  kommen  nur  in  so  weit  in 
Betracht,  als  sie  aiif  den  Gang  des  Krieges  selbst  einen  Ein- 
fluss haben.  In  wie  hohem  Grade  das  bei  der  oligarchischen 
Revolution  411  der  Fall  war,  braucht  nicht  bemerkt  zu  wer- 
den, daher  die  ins  Einzelne  gehende  Darstellung.  War  hhi- 
gegen  der  Uebergang  der  beschränkten  Demokratie  zu  der 
unbeschränkten  auf  eine  ziemlich  unmerkliche,  nach  Aussen 
im  Augenblick  wenig  fühlbare  Weise  geschehen,  so  konnte  sie 
von  dem  Geschichtschreiber  übergangen  oder  nur  gelegentlich 
im  Vorbeigehen  erwähnt  werden.  Hat  doch  Thukydides  auch 
in  den  frühem  Zeiten  von  den  Vorgängen  im  Innern  Athens 
wenig  berichtet,  so  lange  sie  nicht  nach  Aussen  wirkten. 
Würden  wir  nun  selbst  bei  Thukydides  uns  nicht  wundem 
dürfen,  eine  solche  Veränderung  kaum  angedeutet  oder  still- 
schweigend übergangen  zu  finden,  so  ist  das  in  weit  höhenn 
Grade  bei  Xenophon  der  Fall,  der  selbst  äussere  Ereignisse 
oft  in  einer  Kürze  und  Flüchtigkeit  erzählt,  dass  Avir  durch 
ihn  allein  eine  unrichtige  Anschauung  von  denselben  erhalten 
müssten.  Die  anderen  Schriftsteller  kommen  kaum  in  Be- 
tracht. 1;  Für  Diodor  gilt  das  Nämliche ,  was  von  Xenophon 
1)  Die  Stelle  Aelians  v.  h.  V,  13:   äpiSToy-pa-ria  os  'o!  'AJ^r^vaioi;  t/or^Z'j.-i-o 


TJXTERSIICHUNGEN    ÜBER    DIE    VERFASSUNG    VON    AXHEN .       219 

gesa-t  Avurde.  bei  den  Rednern,  den  Komikern  und  andern 
solchen  gelegentlichen  Quellen  hängt  es  ganz  davon  ab,  ob 
sie  Veranlassung  hatten,  von  irgend  etwas  zu  reden  Aus 
ihrem  StillschAveigen  schliessen,  dass  etwas  nicht  geschehen 
sei  darf  man  nur  mit  der  grössten  Behutsamkeit.  Endhcli  ist 
zu'bedenken.  wie  viel  aus  jener  Zeit  für  uns  verloren  gegan- 
gen ist  Das  Schweigen  unserer  Quellen  über  eine  Verän- 
derung lässt  also  die  Frage  durchaus  unentschieden  und  spncht 
nur  dafür,  dass  dieselbe  ohne  grosses  Geräusch  vor  sich  ge- 
gangen sei.  Können  «Nvir  anderweitig  den  veränderten  Zustand 
nachweisen,   so  fällt  jener  Eimvurf  von  selber. 

III. 

Da  nun  eine  Fortdauer  der  gemässigten  Verfassung  bis  zu 
Ende  des  Krieges  nicht  erwiesen  ist,  die  Abschaffung  derselben 
aber  nicht  erzählt  wird,  so  ist  der  einzige  AVeg  der  eingeschla- 
gen werden  kann,  um  zu  einem  Ergebnisse  zu  kommen,  der, 
nachzuforschen,  ob  sich  bestimmte  Spuren  der  hergestellten 
vollen  Demokratie  finden  lassen.  Ist  dies  der  Fall,  so  bleibt 
dann  noch  die  weitere  Frage,  wann  und  wie. die  Herstellung 
statt  gefunden  habe.  Bei  diesem  positiven  Theile  der  Abhand- 
luncr  werde  ich,  um  den  Gang  der  Untersuchung  nicht  zu 
stören,  nun  nicht  die  Gründe  der  Reihe  nach  durchgehen, 
welche  bereits  von  den  obengenannten  Gelehrten  für  die  Her- 
stellung der  Demokratie  vorgebracht  worden  sind.  Es  genügt 
um  so  eher,  beiläufig  darauf  hinzuweisen,  als  kein  emziger 
den  Gegenstand  erschöpfend  behandelt  hat,  sondern  in  der 
Regel  nur  aus  dem  anerkannt  zügellosen  Zustande  Athens  aut 
Abschaffung  der  Beschränkungen  geschlossen  wurde. 

Um  nun  ein  über  Zweifel  erhobenes  Resultat  zu  erhalten, 
und  namentlich  nicht  dem  bisher  stets  wiederholten  Einwurfe 
Raum  zu  gestatten,  es  habe  Alles,  was  Folge  absoluter  Demo- 
kratie zu  sein  scheine,  eben  so  gut  durch  blosse  Entartung 
jener  o-emässigten  Verfassung  statt  finden  können,  müssen  wir 
uns  e?st  recht  klar  machen,  worin  denn  die  Beschränkungen 
der  Demokratie  nach  dem  Sturze  der  Vierhundert  bestanden 
-h'  rQ^i»-  -XeoTaiov  0£  l-'£v£to  dvapyia  r.t^l  ttjV  töv  xpiav-ovTa  xardaxaaiv,  ist 
ihJem  ganzen  Inhalte  nach  so  confus,  dass  nichts  daraus  gemacht  werden  kann. 


220     Untersuchuxgex  über  die  Verfassung  von  Athen. 

haben,  und  dann  zusehen,  ob  diese  sich  erhalten  haben  oder 
nicht.  Ueber  dieselben  erfahren  wir  aber  nichts,  als  was  Thu- 
kydides  VIII,  97  berichtet,  sie  bestehen  in  den  zwei  bereits 
oben  mehrfach  genannten  Massregeln,  wonach  die  höchste  Ge- 
walt nicht  in  den  Händen  des  gesammten  Demos  ruhen  sollte, 
sondern  in  denen  der  Fünftausend,  zu  Avelchen  Alle  gehören 
sollten,  welche  sich  selbst  vollständig  bewaffneten,  und  keine 
Behörde  Sold  erhalten  sollte.  Das  sind  die  einzigen  uns  be- 
stimmt überlieferten  Bestimmungen,  die  eine  Beschränkung  der 
Demokratie  zum  Zweck  hatten;  finden  wir  sie  aufgegeben,  so 
müssen  wir  annehmen,  dass  die  gemischte  Verfassung  ihr  Ende 
erreicht  habe.  Daneben  weist  Thukydides  allerdings  noch  auf 
andere  Anordnungen  hin,  ohne  aber  etwas  Näheres  darüber  zu 
sagen,  nur  die  Niedersetzung  von  Nomotheten  bezeichnet  er 
besonders,  die  daher,  auch  nach  dem  oben  bereits  Gesagten, 
noch  Berücksichtigung  fordern. 

1.  Zuerst  also  die  Beschränkung  der  höchsten  Ge- 
walt auf  diejenigen,  welche  oT.ho.  T.ci.rjiyov-ii.  Unter  dem 
Ausdrucke  ra  TTpctyiActTa  i) ,  den  Thukydides  hier  hat  und  der  auch 
sonst  bei  ihm  und  andern  Schriftstellern  häufig  für  die  Staats- 
gewalt vorkommt,  ziemlich  entsprechend  dem  lateinischen  res 
publica  und  dem  anderwärts,  z.  B.  VIII,  66.  76.  gebrauchten 
-koXic  und  -oXiTsia,  ist  hauptsächlich  die  Theilnahme  an  der  höch- 
sten ^'ersammlung.  der  tAy.kr^zia.  ausserdem  aber  auch  die  Be- 
fähigung, zu  Aemtern  gewählt  zu  werden,  und  gewiss  auch  die 
Theilnahme  an  der  richterlichen  Gewalt  zu  verstehen.  Denn 
es  ist  undenkbar,  dass  man  z.  B.  die  Entscheidung  über  eine 
vpacsTj  TiapavoacDV  Gerichten  überlassen  hätte,  die  aus  Männern 
gebildet  waren ,  welche  man  von  dem  vollsten  Bürgerrechte 
ausgeschlossen  hatte.     Darüber   herrscht  wohl  kein  Zweifel. 

Als  man  vor  der  Einsetzung  der  Vierhundert  zuerst  den 
Gedanken  gefasst  hatte,  an  die  Stelle  des  gesammten  Demos 
eine  kleinere  Körperschaft  zu  setzen,  war  man  von  einer  be- 
stimmten Zahl  ausgegangen.  Fünftausend  Bürger  soUten  aus- 
gewählt werden  und  zwar  diejenigen,  welche  durch  ihr  Vermö- 
gen und  ihre  Person  am  meisten  zu  leisten  vermöchten  -  .    Yon 

1)  Vgl.  Krüger  Commentat.  p.  269. 

-)  Thuc.  \T^II,  65  :   o'jT£  ijLeDezTSov  töjv  -onftxi~m-j  T/.eiostv  tj  -ivTay.'.;-/!/.''^!; 
y.ai  TOUTOt;  o'i  äv  [i-aXicca  toI;  te  yprjAaat  y.a'i  toT;  ccua'/ctv  üj'iE/.eiv  oloire  (u3tv. 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     221 

genaueren  Bestimmungen  erfahren  wir  nichts,  höchst  wahr- 
scheinlich hat  es  auch  gar  keine  solchen  gegeben,  sondern  es 
blieb  den  mit  Verfertigung  der  Listen  beauftragten  y<.azako'(zic. 
überlassen,  die  geeigneten  Leute  auszuwählen.  Ein  Verzeich- 
niss  der  Fünftausend  sollte  baldigst  veröffentlicht  werden^  kam 
aber  nie  zum  Vorschein,  weil  die  Vierhundert  einestheils  nicht 
mit  so  vielen  die  Gewalt  theilen,  andemtheils  aber  durch  die 
Erwartung,  unter  die  Fünftausend  aufgenommen  zu  werden, 
möglichst  Viele  in  ihr  Interesse  ziehen  und  unter  dem  Volke 
gegenseitiges  Misstrauen  en'egen  wollten.  So  ^del  ist  sicher, 
dass  die  lu-sprüngliche  Absicht  war  im  Ganzen  nicht  mehr  als 
Fünftausend  in  den  Katalog  aufzunehmen,  welche  einen  bevor- 
zugten Theil  der  Bürgerschaft,  das  eigentliche  TcoXi'-sutxa,  bilden 
sollten  ^] .  Bei  dem  Sturze  der  Vierhundert  war  nun  in  Athen 
noch  immer  eine  Abneigung  gegen  die  unumschränkte  Demo- 
kratie vorherrschend,  man  hatte  nur  das  andere  Extrem,  die 
eigentliche    Oligarchie,    wie    sie    sich   in  den  Vierhundert  ver- 


1;  Gegen  diese  Ansicht  kann,  wie  ich  wohl  weiss ,  zweierlei  angeführt 
werden,  erstens  die  Worte  der  Gesandten  beim  Heei'e  in  Samos,  Thuk. 
VIII,   86 :    Ol    o"    d~r^yiz'kXo't    cw;    o'jt'    i~i    oia'^rJopä   tt^;    -oAecu;   y]  jjLETa'xaat; 

YevoiTO ,    äXX'    i-\    GtuTYjpta ,    o'j9'    ha   tou   itoXsfAioi;    Trapaoo&rj twv  -.e 

-EvTaxir/tXiujv  oTt  -dvt£;  £v  tw  fjifpet  |i.£i}£^o'JOtv.  Erklärt  man  die  Stelle  mit 
Bauer,  Goeller,  Poppo  und  Arnold  so,  dass  xtüv  -£VTa7,i;/iX(iuv  von  [A£i}£?o'ja[ 
abhängt,  so  ist  der  Sinn  allerdings,  die  sämmtlichen  Bürger  sollen  der 
Reihe  nach  unter  die  Fünftausend  gewählt  werden ;  allein  die  Nothwendig- 
keit  dieser  Erklärung  ist  doch  noch  nicht  erwiesen ,  und  es  lässt  sich  aus 
dem  Vorhergehenden  recht  wohl  t^;  ttöäew;  ergänzen,  und  tüjv  -£v-a7,i;yt/a'(uv 
von  -avTEs;  abhängig  fassen.  So  hat  auch  F.  Haase  in  der  Pariserausgabe 
die  Stelle  genommen.  Aber  selbst  zugegeben ,  die  andere  Erklärung  sei 
die  wahi-e,  so  wäre  das  ein  blosses  betrügerisches  Vorgeben  der  Gesandten 
zur  Beschwichtigung  des  Heeres ,  das  in  bestimmtem  AViderspruche  steht 
mit  AIII,  65.  72  und  besonders  93,  wo  die  Vierhundert  versprechen:  to'j; 
7:£VTa7.i?ytXto'j;  ä-o'-iavet>;  -Arn  iv.  toütojv  £v  jj.£p£t ,  tj  av  Tot;  7:£VTcc/.'.;"/tXiot; 
007.1^  TO'j;  T£TpoL-/to3io'j;  £(j£ai}cti.  Das  Andere,  was  man  meiner  Ansicht  ent- 
gegenhalten könnte,  ist  die  Stelle  bei  Lysias  für  Polyatr.  §.  13,  wo  gesagt 
wird,  Polystratos  habe  9000  Bürger  in  den  Katalog  aufgenommen.  Aber 
auch  wenn  sich,  was  ich  für  das  richtige  halte,  die  Stelle  auf  die  Zeit  der 
Oligarchie,  nicht,  wie  andere  meinen ,  auf  die  nach  dem  Sturze  der  Vier- 
hundert bezieht ,  so  beweist  sie  doch  nichts  anders ,  als  dass  der  einzelne 
Polystratos  mehr  als  Fünftausend  in  den  Katalog  aufnahm ,  von  denen 
wieder  einen  Theil  zu  streichen  seinen  Collegen  oder  den  Vierhunderten 
zustehen  musste. 


222     Untersuchungen  über  die    Verfassung  von  Athen. 

köipert  hatte,  stürzen  wollenst.  Darum  behielt  man  vorerst 
das  timokratische  l^rincip ,  welches  der  Aufstellung  der  Fünf- 
tausend zu  Grunde  lag,  und  zugleich  ihren  Namen  bei,  um 
eben  sowohl  einen  bestimmten  Gegensatz  zu  den  vorher  allein 
regierenden  A'ierhunderten  als  zu  dem  ganzen  Demos  zu  bilden. 
Wären  sie  verzeichnet  gewesen,  so  hätte  man  ohne  Zweifel  sie 
zur  Ekklesia  versammelt.  Weil  das  aber  nicht  der  Fall  war 
und  man  ihre  Constituirung  nicht  von  neuem  auf  unl)estimmte 
Zeit  hinausschieben  wollte,  beschloss  man,  dass  alle  diejenigen 
liürger  dazu  gehören  sollten,  welche  oTrXa  Tiafis/ovrai, ,  d.  h. 
Avelche  auf  eigene  Kosten  sich  mit  voller  WaiFenrüstung  ver- 
sehen 2] .  Es  gehörten  demnach  ungefähr  die  drei  ersten  so- 
lonischen  Classen  dazu,  von  denen  die  erste,  die  der  Penta- 
kosiomedimnen,  besonders  die  Trierarchen-  und  andere  Befehls- 
haberstellen besetzte ,  die  zweite  meist  lleiterdienste  that .  die 
dritte  endlich  die  Masse  der  regelmässigen  Hopliten  oi  iv.  tou 
y.oi-rjl6'[o<j  lieferte  ^  .  Ausgeschlossen  waren  hingegen  alle  die. 
welche  als  Leichtbewaffnete  ('V.Aoi  oder  als  Kuderer  und  Ma- 
trosen Dienste  thaten,  oder  in  besonderen  Fällen  vom  Staate 
als  Hopliten  ausgerüstet  wurden,  also  hauptsächlich  die  Theten. 
Diese  Bestimmung  lässt  sich  leicht  begreifen ,  Avenn  man  er- 
wägt, dass  die  Reaktion  in  der  Stadt  hauptsächlich  von  den 
Hopliten  ausging,  die  unter  gemässigten  Führern  standen, 
Avährend  dagegen  das  Seevolk,  der  vaurix-oc  oyj.ot  des  Thuky- 
dides,  unter  entschieden  demokratischen  Führern  grösstentheils 
auf  der  Flotte  in  Samos  war.  Immerhin  war  jetzt  der  Name 
der  Fünftausend  ein  ganz  ungenauer,  und  die  Basis  der  Ver- 
fassung eine  "\iel  breitere,  der  vollen  Demokratie  nähere.  Denn 
man  darf  nicht  glauben  es  sei  damals  die  Zahl  der  athenischen 
Hopliten  auf  5000  herabgesunken  gewesen,  oder  auch  nur 
dieser  Zahl  nahe  gekommen.  Bedenken  wir,  dass  im  Anfang 
des    peloponnesischen  Krieges    nach  Thuk.  '11 ,    13    Athen   mit 

1;  Besonders  bemerkenswerth  sind  in  dieser  Hinsicht  die  Worte  des 
Thukyd.  VIII,  92:  t,v  oe  -po;  töv  oyAov  t]  rapav-ATjCi; ,  <b;  ypr,  o;Tt;  To-j; 
7tiVTaxt;-/iX(o'j;  ßo'jXeTat  apy£t>^  ävTi  tü)v  TEToav-ooimv ,  Uvai  ItI  t6  z^j-(0^' 
dTtexp'j-TOVTO  '[o.^  3}i.(u;  Ixt  Ttbv  Trevxavusyi/atuv  tw  Qv6[j.aTt  ji.rj  avtiv.p'j;  ofj[i.ov 
öcTi;  ßo'j).£Tai  apyeiv  övO[i.aCstv,  cpoßo'jaEvoi  [jltj  tiu  ovti  v)Zi  -/.ai  -pö;  t'.va  si-cuv 
tt;  Tt  «Yvoicf.  c^aXrj. 

-)  Krüger  Commeut.  p.  254  und  die  Ausleger  zu  Thucyd.  VIII.  97. 

3)  Böckh,  Staatshaush.  I  S.  65Ü. 


Untbrsuchukgen  über  die  Verfassung  von  Athen.     223 

Inbegriff  der  Metöken  nicht  -weniger  als  29,000  Hopliten  zählte, 
dass  nach  dem  Frieden  des  Nikias  sich  die  durch  Pest  und 
Schwert  erlittenen  "S'erluste  wieder  vollkommen  ersetzt  hatten, 
so  finden  wir  selbst  nach  der  ungeheuren  Niederlage  in  Sici- 
lien  immer  noch  weit  mehr  als  das  Doppelte  jener  Zahl.  Denn 
von  den  mehr  als  60,000  Mann,  die  Athen  gegen  Syrakus  ge- 
schickt hatte ,  waren  höchstens  3000  eigentlich  athenische 
Hopliten  gewesen.  Auch  hatten  selbst  die  Vierhundert  nie 
behauptet,  dass  sämmtliche  Ho])liten  unter  den  Fünftausenden 
Aufnahme  finden  würden,  sondern  sich  bloss  darauf  berufen, 
dass,  wegen  der  fortwährenden  Vbwesenheit  einer  grossen 
Zahl  von  Bürgern ,  selten  sich  Fünftausend  bei  der  A'olksver- 
sammlung  einfänden.  Also  war  mit  der  Bestimmung  o-oaoi 
oüÄa  -aps/ovrai  die  Zahl  der  Fünftausend  dem  Wesen  nach 
aufgehoben.  Dies  hat  Veranlassung  gegeben,  dass  man,  um 
den  Namen  der  Fünftausend  im  eigentlichen  Sinne  zu  retten, 
die  Vermuthung  aufgestellt  hat,  es  seien  die  sämmtlichen  Bür- 
ger, welche  sich  vollkommen  bewaffneten,  als  em  grosser 
gleichberechtigter  Körper  betrachtet  worden,  aus  dem  man 
dann  die  Fünftausend  abwechselnd  genommen  habe,  sei  es 
durchs  Loos  oder  auf  andere  Weise''.  Allein  diese  Annahme 
ist  im  Widerspniche  mit  dem  klaren  Wortlaute  der  Thukydi- 
deischen  Stelle,  der  einzigen,  die  uns  über  diesen  Punkt  Nach- 
richt giebt.  Auch  die  Rede  für  Polystratos  beweist  nichts. 
Denn  angenommen,  Polystratos  sei  nach  dem  Sturze  der  Vier- 
hundert Katalogeus  gewesen 2,    so  ist  in  der  Behauptung,    er 

1)  Das  ist  die  Meinung  Arnolds,  dessen  Worte  bei  Poppo  zu  Thuc. 
YlII,  97  folgendermassen  laiiten :  Nuvierum  civium ,  qui  (/ravi  armatura 
instruere  se  poterant,  multo  major  quinque  'millibus  fiierit  oportet  atque  ad 
defendendum  Polystratum  imum  e  quadringentis  Lysias  l.  d.  ab  eo  indicem 
novem  millimn  yraviter  armatorum  confectum  dicit.  Sed  existimemus  oportet, 
omnes  qui  grave^n  armaturam  exhiherent ,  legi  potuisse  in  numerum  quinque 
millium  ,  sive  sortitione,  sive  electione ,  sive  2)er  vices  sicut  projjositum  erat, 
ut  quadringenti  per  vices  ex  toto  numero  quinque  millium  constitunrentur . 

-]  Ich  habe  mit  Absicht  die  beiden  Möglichkeiten  berücksichtigt,  dass 
Polystratos  während  der  Regierung  der  Vierhundert  oder  nach  ihrem  Sturze 
Katalogeus  gewesen  sei,  um  zu  zeigen,  dass  weder  das  eine  noch  das  andere 
die  aus  der  klaren  Darstellung  des  Thukydides  entwickelte  Ansicht  ei-- 
schüttere.  Die  Rede  selbst  ist  so  kurz  über  den  Geger.stand,  dass  man  in 
üngewissheit  bleiben  kann.  Die  "Worte  §.  J  ^  :  oGto;  oe  o'jts  (Jii.ocai  fj&j/.Ev 
o'jTi    iCaTotXc"c£'.v ,    alM    ocjtÖv    r^-iö.-f/.o.'i.o^    und   ir.il   oi  T,vaY'/-äj8r,  •/.ctl  öjjj.OjE 


224     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

habe  jetzt  neuntausend  Bürger  statt  fünftausenden  in  den  Ka- 
talog aufgenommen,  nichts  anders  zu  finden,  als  ein  in  seinem 
Interesse  urgirtes  Geltendmachen  des  Volksbeschlusses  -oT; 
7r£VTaxi?}(iXiot<;  Tcapaooovai  xa  -paYfiara.  Es  würde  sich  das  auch 
darin  zeigen ,  dass ,  Avährend  bei  Thukydides  der  Artikel  vor 
7rcVTay.i;)^iÄiot;  steht,  die  dadurch  als  ein  ganzer  Körper  be- 
zeichnet werden,  es  hingegen  in  der  Rede  für  Polystratos 
ohne  Artikel  blos  TtcVTa/ic/iXioi;  heisst  und  also  der  blosse 
ZahlbegrifF  ausgedrückt  ist.  Für  ein  Auswählen  von  je 
Fünftausenden  aus  einer  grossem  Zahl  sagen  aber  diese  Worte 
gar  nichts.  AVir  sehen  also  nach  dem  Sturze  der  Vierhundert 
die  Gewalt,  welche  früher  bei  dem  ganzen  A'olke  gestanden  hatte, 
in  den  Händen  eines  Theils  desselben,  aber  eines  sehr  ansehn- 
lichen, welcher  der  Gesammtheit  des  A'olks  ohne  Zweifel  näher 
stand  als  der  unter  den  Vierhunderten  beliebten  Zahl  von  Fünf- 
tausenden. Man  sieht,  ein  Uebergang  von  diesem  Körper  zu  der 
Gesammtheit  des  Volks,  dem  alten  orjjjio;,  war  kein  sehr  schroffer. 
Durchmustern  AA-ir  nun  die  verschiedenen  Schriftsteller, 
Geschichtschreiber  und  Kedner.   Komiker  und  Philosophen,   so 


TÖv  ooxov  sprechen  dafür,  dass  er  unter  den  Vierhunderten  zum  Katalogeus 
ernannt  worden  sei.  Der  Umstand,  dass  die  Vierhundert  nie  die  Namen 
der  Fünftausend  bekannt  machten,  beweist  nicht,  dass  die  Katalogeis  sich 
nicht  mit  Abfassung  des  Verzeichnisses  beschäftigten.  Polystratos  konnte, 
wie  bereits  gesagt,  mehr  als  Fünftausende  vorschlagen.  Wäre  er  nach  dem 
Sturze  der  Vierhundert  Katalogeus  geworden  ,  so  würde  das  der  Redner 
sicherlich  als  Beweis  seiner  volksfreundlichen  Gesinnung  geltend  machen. 
Dass  es  nicht  der  Fall  gewesen  ,  wird  sehr  wahrscheinlich  aus  dem  Um- 
Stande, dass  er  gleich  bei  Veränderung  der  Verfassung  in  eine  Geldstrafe 
verfällt  wurde,  §.  14:  -a^xX  TjOt,  ijl£T£-£7:-:c()-/.£1  -d  -[jd-^^Liia  -/.oX  ojto;  [aev  ojt' 
£i-(uv  '[^(a\).T^''i  oüo£[i.iav  ojte  r Xeov  dxTuj  •^fjiEpÄv  Ia&ujv  ei;  t6  ßoüXEUTTjpiov  m'-^\z 
■/ry'r^ixa-^x  T03aü-a.  Ausserdem  war  er  abwesend.  Es  ist  bemerkt  worden, 
in  acht  Tagen  hätte  diese  Arbeit  nicht  gemacht  werden  können  'Watten- 
bach de  quadringent.  Athenis  factione  p.  41".  Allein  die  acht  Tage  be- 
ziehen sich  nur  auf  das  Besuchen  des  Rathhauses.  Ich  verhehle  mir  dabei 
keineswegs,  dass  sich  auch  einige  Gründe  für  die  andere  Meinung  geltend 
machen  lassen,  und  namentlich  die  Worte  §.  13:  'jjxwv 'l<7jcpia<x[X£v(uv -Evtav.'.;- 
yiÄiot;  TTapaöoüvai  xd  r.^i'^^io.-'x  denen  des  Thukydides :  toic  rEVTavctcyiXioi; 
EdiYjcobavTo  td  -paYtAa-ra  -apaooiJvat  mit  Ausnahme  des  Artikels  genau  ent- 
sprechen. Doch  hatten  ja  auch  bei  der  Einsetzung  der  Vierhundert  die 
Athener  beschlossen ,  Fünftausenden  die  Gewalt  zu  übergeben ,  und  hier 
passt  7:EVTa-At;-/iXtot;  ohne  Artikel  besser,  weil  sie  noch  gar  nicht  existirten 
und  Niemand  glaubte,  sie  existirten. 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     225 

muss  uns  zuerst  auffallen ,  dass,  während  unter  der  kurzen 
Herrschaft  der  Vierlnnidert  und  vmmittelbar  nach  ihrem  Sturze, 
so  viel  von  den  Fünftausenden  die  Rede  ist,  nun  nicht  bloss 
dieser  Name  ganz  verschwindet,  sondern  auch  nirgend  von 
einer  \'ersammlung  der  or^Xa  T^a^zy6\iz^oi  sich  eine  Erwähnung 
findet.  Es  Avird  oft  genug  vom  otjjjlo?,  vom  irXrj&o;,  von  der 
£xxArj3i'a  gesprochen,  kein  einziges  Mal  aber  mit  einem  Beisatze, 
der  auch  nur  von  ferne  an  eine  Beschränkung  der  Zahl  erin- 
nerte. Dieses  Stillschweigen  dürfte  also  wohl  mit  demselben 
Rechte  geltend  gemacht  werden,  als  dasjenige  über  die  Ver- 
änderung der  Verfassvmg.  Denn  es  ist  doch  nicht  Avahrschein- 
lich ,  dass  für  einen  Zeitraum  von  sechs  Jahren ,  für  dessen 
Geschichte  uns  zwar  nicht  vollständig  befriedigende,  aber  doch  • 
sehr  mannichfaltige  Quellen  zu  Gebote  stehen,  nicht  ein  ein- 
ziges Mal  die  Ijehörde  genau  bezeichnet  sein  sollte,  welche  die 
höchste  Gewalt  ausübte.  Allein  so  sprechend  dieses  Still- 
schweigen sein  mag,  so  will  ich  gar  kein  Gewicht  darauf 
legen,  weil,  wie  oben  gesagt,  das  Folgern  aus  dem  Stillschwei- 
gen unserer  Quellen  etwas  Missliches  hat  und  ich  mich  nicht 
dem  ^^orwurf  aussetzen  möchte,  für  mich  ein  A'erfahren  anzu- 
wenden, das  ich  bei  den  ^'erfechtern  der  entgegengesetzten  Mei- 
nung verworfen  habe.  Auch  will  ich  nicht  darauf  hinweisen, 
dass,  wie  Einschleichungen  ins  Bürgerrecht  ausserordentlich  oft 
vorkamen,  so  jetzt  noch  viel  leichter  Eindringung  Unberech- 
tigter unter  die  Zahl  der  zur  Theilnahme  an  den  Staatsge- 
schäften Berechtigten  stattfinden  konnte,  wodin-ch  dann  all- 
mählich  die  Beschränkung  des  N'ollbürgertlmms  faktisch  aufge- 
hört hätte.  Das  wäre  dann  allerdings  nicht  sowohl  eine 
Aufhebung  der  gemässigten  Verfassung,  als  eine  Entartung 
derselben.  Auch  haben  wir  keine  Nachrichten,  die  ims  darauf 
schliessen  lassen.  Bestimmte  und  positive  Zevignisse  sollen 
die  Frage  entscheiden.  Diese  bietet  uns  dasselbe  Ereigniss 
dar,  dessen  Erwähnung  uns  schon  oben  gegen  Forchhammer 
den  Beweis  an  die  Hand  gegeben  hat,  dass  der  Rath  erloost 
worden.  Es  ist  der  Process  gegen  die  unglücklichen  Sieger 
bei  den  Arginusen.  Man  wollte  dem  Geschrei  des  Volks  osi- 
vov  sivai  £1  [XTj  Ti;  eaasi  tov  o9jij.ov  npaTTSiv  o  av  ßouXrjxai,  von 
dem  ich  noch  immer  glaube ,  dass  es  für  die  unbeschränkte 
Demokratie    entscheidend    ist,    keine    Beweiskraft   zuerkennen. 

Vi  sc  her,  Schriften  1.  15 


226     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

Ich  will  darum  kein  Gewicht  darauf  legen ,  hoffe  aber ,  dass 
man  nicht  so  leicht  über  die  folgenden  Thatsachen  wegkom- 
men werde,  die  unmöglich  bloss  auf  aufrührerisches  Geschrei 
des  Volks  zurückgeführt  werden  können.  Nachdem  in  der 
ersten  Ekklesia,  die  sich  mit  dem  Gegenstande  beschäftigt 
hatte,  beschlossen  worden  war,  die  Entscheidung  auf  einen 
spätem  Tag  zu  verschieben ,  erhielt  der  Rath  den  Auftrag, 
einen  Vorschlag  (irpo^ouXeujxa)  zu  bringen.  Dieser,  von  dem 
Demagogen  Kallixenos  abgefasst,  enthält  folgende  Bestimmung  : 
da  man  in  der  ersten  Versammlung  die  Ankläger  der  Feldherni 
und  die  Vertheidigung  dieser  gehört  habe,  so  sollen  die  Athe- 
ner alle  nach  Stämmen  ihre  Stimmen  abgeben  und  in  jeder 
Phyle  soll  man  zwei  Urnen  aufstellen:  oia']>r,<ptaa3i>ai  'Ai}-/j- 
vai'ouc  ctTravTa?  xata  cpuXa;,  ilsTvai  os  £i?  ttv  c^uAirjv  i/.aar/jv 
O'jo  uopiotc.  Xen.  Hell.  I,  7,  9.  Hier  haben  wir  also  bestimmt 
und  unzweideutig  die  Theilnahme  des  ganzen  Volks  an  der 
Ekklesia.  Man  wende  ja  nicht  ein,  das  sei  Missbrauch,  Ent- 
artung oder  Verletzung  der  bestehenden  Gesetze  gewesen.  Es 
wird  zwar  Anelfach  das  gesetzwidrige  Verfahren  in  diesem  Pro- 
cesse  bitter  gerügt,  aber  es  liegt  nicht  in  der  Theilnahme  des 
gesammten  Volks  an  der  Ekklesia  statt  nur  eines  Theiles,  son- 
dern darin ,  dass  man  den  Feldherni  die  Vertheidigimg  nicht 
erlaubte  und  dass  man,  statt  nach  dem  '|ir/.pi3[ia  Kavvuivou  über 
jeden  einzeln  zu  stimmen,  über  alle  auf  einmal  entscliied. 
Diese  Punkte  werden  in  der  Rede  des  Euryptolemos  bei  Xe- 
nophon  und  sonst  hervorgehoben.  Die  Theilnahme  sämmt- 
licher  Athener  an  der  Abstimmung  wird  nirgends  als  etwas 
Gesetzwidriges  berührt.  Sie  war  also  ganz  in  der  Ordnung. 
Zum  Ueberfliisse  wird  Xenophons  Angabe  noch  bestätigt  durch 
eine  Stelle  im  Axiochus  p.  36S  d.  369:  oi  o£  Trspt  H-/;pa}x£vr,v 
xai  KotXXi;svov  xq  usröpaia  -posopou;  iy/.a\ii-ooc  u<p£VT£c  xa~£- 
)^ci.poTovr(aav  tujv  avoptuv  a/pitov  Davatov.  xotircii  -£  3U  [j.ovoc  auToi; 
rixuv£;  xai  EupUKToA£ijLo?  tpi^fiupitov  Exy.ÄTjaiailovT(uv.  So  wenig 
Autorität  der  Verfasser  des  Axiochos  besitzt,  so  hyperbolisch 
die  dreissigtausend  Theilnehmer  an  der  Volksversammlung 
sein  mögen,  so  viel  geht  aus  dieser  Stelle  immer  hervor,  dass 
man  die  Verurtheilung  der  Feldherm  als  das  Werk  einer  Ek- 
klesia betrachtete,  an  der  sämmtliche  Athener  und  zwar  be- 
sonders vollzählig  zugegen  waren.     Hatte    aber   das   gesammte 


Untersuchuxgen  über  die  Verfassung  von  Athen.     227 

Volk  wieder  Zutritt  in  der  Volksversammlung,  so  war  die 
höchste  Gewalt  nicht  mehr  auf  einen  Theil  des  Volks,  auf  die 
welche  sich  selbst  schwer  bewaffneten,  beschränkt.  Dass  mit 
der  Theilnahme  an  der  Volksversammlung  aber  auch  der  Zu- 
tritt zu  Aemteni  und  Gerichten  wieder  Allen  geöffnet  wurde, 
wie  vor  der  Zeit  der  Vierhundert,  versteht  sich  wohl  von  selbst. 
So  wäre  also  bestimmt  erwiesen,  dass  die  eine  Beschränkung 
der  Demokratie  zur  Zeit  der  Veiiirtheilung  der  Sieger  bei  den 
Arginusen  d.  h.  im  Herbste  406,  Ol.  93.  3.  nicht  mehr  existirte. 

2.  Wenden  wir  uns  zu  dem  zweiten  Punkte,  fita&ov 
[ir^oeva  cpipsiv  {xr^osixia  ap/r^,  welcher  seine  Erläutei-ung 
erhält  durch  die  Worte  (i>;  outs  {j.i3J>o9opT,Tsov  £iT|  aXXooc  yj  tou; 
a-paT£uo}x£vou?  (Thuc.  A'III,  65.),  aus  denen  man  ersieht,  dass 
aller  und  jeder  Sold  für  bürgerliche  Verrichtungen,  also  der 
Richtersold  sowohl,  als  der  Raths-  und  Versammlungssold, 
abgeschafft  sein  sollte.  Ueber  die  Bedeutung  dieser  Massregel 
ist  schon  oben  gesprochen  worden.  Sie  war  ebensogut  durch 
den  zerrütteten  Zustand  der  Finanzen  Athens  geboten,  als  ein 
erwünschtes  Mittel  für  den  Wohlhabendem,  den  besitzlosen 
Pöbel,  der  hauptsächUch  wegen  des  Soldes  an  den  Staatsan- 
gelegenheiten Theil  nahm,  von  diesen  ferne  zu  halten.  Es 
war  also  die  Massregel  mit  der  ersten  in  vollkommenster  Ueber- 
einstimmung.  Bekam  man  seine  drei  Obolen  im  Gerichte, 
seinen  Obolos  in  der  Volksversammlung  nicht  mehr,  so  mochte 
sich  der  arme  Bürger,  der  von  der  Theilnahme  daran  ausge- 
schlossen war,  weit  eher  trösten;  war  ihm  auch  Theilnahme 
wieder  gestattet,  so  hatte  sie  doch  weit  weniger  Interesse  für 
ihn,  so  lange  die  Besoldung  nicht  wieder  eingeführt  war.  Es 
lässt  sich  daher  fast  mit  Sicherheit  voraussetzen,  dass  mit  der 
Theilnahme  sämmtlicher  Bürger  an  den  Staatsgeschäften  auch 
die  Wiedereinführung  des  Soldes  ziemhch  zusammenfällt,  wenn 
es  die  Finanzen  irgend  erlaubten.  Beides  bedingte  sich  gegen- 
seitig. Es  ist  daher  bereits  von  Andern 'j  darauf  hingewiesen 
worden,  dass  die  glänzenden  Siege  des  Alkibiades,  welche  für 
einige  Zeit  die  Macht  und  die  Hülfsquellen  Athens  wieder  auf 
eine  unerwartete  Höhe  brachten,  ohne  Zweifel  die  ^Viederein- 
fühmng   des  Soldes   veranlassten.     So   viel  WahrscheinHchkeit 

ij  Ganz  besonders  von  K.  F.  Hermann  in  der  erwähnten  Recension 

von  Scheibe's  Schrift. 

15* 


228     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

das  hat,  so  ist  es  indess  doch  nur  Verraiithung.  Schon  be- 
stimmter führt  zu  dem  gleichen  Resuhate  die  Wahrnehmung, 
dass  um  dieselbe  Zeit  ausserordentliche  Summen  für  Festver- 
gnügungen ausgegeben  wurden.  Dafür  liefern  uns  Inschriften 
den  schlagendsten  IJeweis.  Die  Nummern  147.  148.  149.  des 
Corpus  Inscriptionum  [C.  I.  A.  I,  188.  189  a,  b.],  von  denen  die 
erste  Rechnungen  des  Jahres  410/9,  Ol.  92.  3,  als  Glaukippos 
Archon  war,  enthält,  zeigen  dass  das  Theorikon  zwischen  dem 
Sturze  der  Vierhundert  und  den  Dreissigen  in  vollem  Masse 
gespendet  wurde  i) .  Das  Theorikon  war  aber  von  allen  Aus- 
gaben ,  mit  denen  das  athenische  Volk  sich  selbst  bezahlte, 
gewiss  diejenige,  die  sich  am  w^enigsten  rechtfertigen  lässt  und 
die  bedeutenden  Summen,  die  man  damals  darauf  verwendete, 
zeigen  dass  man  von  der  weisen  Sparsamkeit,  die  man  sich 
nach  der  sicilischen  Niederlage  und  nach  dem  Sturze  der  ^  ier- 
hundert  vorgenommen  hatte,  sehr  bald  zurückgekommen  war. 
LäS8t  sich  nun  daraus  schon  mit  einiger  Vv'ahrschein- 
lichkeit  auf  Herstellung  des  Soldes  für  bürgerliche  \  errich- 
tungen  schliessen ,  so  spricht  noch  mehr  dafür  die  Art ,  wie 
Aristophanes  in  den  Ekklesiazusen ,  also  etwa  Ol.  96,  4  oder 
392  von  diesem  redet.  Indem  er  den  Sold,  der  bekanntlich 
nach  dem  Sturze  der  Dreissig  mit  der  Demokratie  bald  wieder 
eingeführt  wurde,  scharf  tadelt,  sagt  er  v.  302  »Als  der  edle 
Myronides  an  der  Spitze  des  Staates  stand,  da  hätte  keiner  es 
gewagt  für  die  ^  erwaltung  der  Staatsgeschäfte  Geld  zu  neh- 
men« ^i.  Die  Bedeutung  des  Myronides  fällt  in  die  frühere 
Zeit  des  Perikles  um  450.  Wäre  nun  zwischen  ihm  und  dem 
Jahre,  wo  die  Ekklesiazusen  aufgeführt  wurden,  einmal  sieben 
Jahre  hindurch  der  Sold  ganz  axifgehoben  gewesen,  hätte  dann 
wohl  Aristophanes  ganz  davon  geschwiegen !  Ich  glaube  kaum, 
vielmehr  scheint  in  der  Stelle .  wenn  man  sie  im  Zusammen- 
hang betrachtet,  zu  liegen  dass  seit  der  Einführung  des  Sol- 
des derselbe  im  Ganzen  immerfort  ausbezahlt  worden ,  und 
zwar  das  Ekklesiastikon  in  der  frühem  Zeit  mit  einem,  zur  Zeit 
der  Ekklesiazusen  selbst  mit  drei  Obolen.  Kurze  Unterbre- 
chungen kommen  dabei  nicht  in  Betracht. 

M   Darauf  hat  mit   Recht   bereits   Sievers   Comment.    p.  76.  Anm.   IUI 
aufmerksam  gemacht. 

-)   Vergl.   über  diese  Stelle  Böckh  Staatsh.  I,  S.  320. 


Untersuchungen   über  die  Verfassung  von  Athen.     229 

Noch  beachtenswerther  ist  eine  Stelle  in  den  im  Anfang 
des  405,  Ol.  93.  3  unter  Archon  Kallias  aufgeführten  Fröschen 
V.    139  folg.     Sie  lautet: 

HPAKAHIi:. 
£V  TrXoiapi'o)  tuvvoutoji  a'avrjp  yapiov 
vrxütTjC  hialzi  ou'    oßoXm  [xiai>ov  Xaßcov. 

AlONTSO:^. 
cpso,   u)?  |A£Ya  Suvaaöov  Traviaj^oü  tu)  ou'    oßoXoi. 
TTtoc  7jXi}£Tr,v  xaxsTas: 

HPAKAU^. 

Der  Scholiast  hat  die  Stelle  auf  den  Richtersold  bezogen, 
welcher  damals  zwei  Obolen  betragen  habe.  Höckh  athen. 
Staatshaush.  I.  S.  330  hat  dagegen  eingewendet,  es  sei  von 
einem  Richtersold  von  zwei  Obolen  sonst  nirgends  die  Rede. 
Besonders  macht  er  auch  geltend,  dass  derselbe  bereits  früher 
drei  Obolen  betragen  habe,  und  so  werde  niemand  glauben, 
dass  die  Athener  ihn  zum  Schaden  ihres  Reutels  Avieder  herab- 
gesetzt hätten.  Darum  meint  er,  es  beziehen  sich  die  Worte 
unfehlbar  auf  die  Diobelie  d.  h.  auf  das  zwei  Obolen  starke 
Theorikon.  Am  Bestände  des  Richtersoldes  in  jener  Zeit  zwei- 
felt also  Böckh  nicht  von  ferne,  vielmehr  will  er  nur  darum 
unsere  Stelle  nicht  auf  diesen  bezogen  wissen,  weil  er  mehr 
als  zwei  Obolen  betragen  habe.  Ich  kann  indessen  seinem 
dafür  angeführten  Grunde  nicht  volle  Beweiskraft  zuerken- 
nen. Ich  stimme  zwar  vollkommen  bei,  dass  die  Athener 
nicht  unmittelbar  von  drei  Obolen  aiif  zwei  herabgingen. 
Dagegen  lässt  sich  sehr  wohl  denken,  dass,  nachdem  einige 
Zeit  hindurch  gar  kein  Sold  bezogen  worden  war,  man 
bei  der  Wiedereinführung  ihn,  um  wenigstens  etwas  zu  er- 
sparen ,  nur  auf  zwei  statt  der  frühern  drei  Obolen  festsetzte. 
M.  H.  E.  Meier  (Allgem.  Literaturzeitung  1S36,  Nr.  119 
II.  Bd.  S.  330.;  meint  freilich,  es  sei  einleuchtend,  dass  man 
nur  ans  Eintrittsgeld  ins  Schauspiel  denken  könne.  Allein  so 
ausgemacht  ist  die  Sache  doch  nicht.  Der  Ausdruck  [iiaÖo? 
und  die  Worte  0T|C5Su<;  T-ya^ev  scheinen  vielmehr  auf  einen 
eigentlichen  Lohn  oder  Sold  zu  weisen.  Es  ist  nicht  die  Rede 
von  einem  Vortheil  den  Dionysos  empfängt  und  der  sich  mit 
dem  Östüpuov  vergleichen   Hesse,    sondern   von   der  Belohnung 


230     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

des  Charon  für  seine  Mühe  die  er  nach  des  Dichters  Fiktion 
bis  zu  Theseiis  Ankimft  umsonst  verrichtet  hatte,  und  diesen 
Lohn  vergleicht  man  gewiss  natürlicher  mit  dem  >Solde  oder 
Lohn,  den  der  ]3eamte  oder  Richter  erhielt,  als  mit  dem  Fest- 
gelde  das  der  athenische  liürger  zu  seinem  Vergnügen  empfieng. 
]^as  Volksfrevindliche  des  Uscupixov,  und  von  einer  volksfreund- 
lichen Massregel  des  Theseus  scheint  doch  die  Rede  zu  sein, 
lag  darin,  dass  der  liürger  es  erhielt,  nicht  aber  darin,  dass 
er  zwei  Obolen  Eintrittsgeld  in  das  Theater  zahlen  musste. 
Indessen  gebe  ich  zu ,  dass  die  Nothwendigkeit  an  den  Rich- 
tersold zu  denken  nicht  ganz  erwiesen  werden  kann,  und  da- 
rum giebt  auch  diese  Stelle  immer  noch  keinen  vollständigen 
l^eweis  für  die  Wiedereinführung  des  Richtersoldes,  wohl  aber 
eine  andere  desselben  Stückes. 

V.  1463  nämlich  hat  Aeschylos  ausgesprochen,  dass  Athen 
nur  dann  gerettet  werden    könne,    wenn   es  des  Feindes  Land 
für  eigenes  ansehe,   das  eigene  dem  Feind  preisgebe,   wenn  es  in 
der  Flotte  sein  Heil  erkenne,  andeni  Gewinn  aber  für  Verderben 
ansehe.     Doch  setzen  wir  die  Worte  des  Textes  selber  her: 
TTjV  YV  '^"'^'^  voixi'awai  ttjv  täv  tuoXsijlicdv 
sivai  ocpexspav,  tt^v  os  a<p£T£pav  täv  ttoXsixiojv, 
TTopov  OS  tac  vauc,   aTropi'av  ok  tov  Tiopov. 
Bei  dem  iropo?  der  Einnahme,   die  sie  für  aTropia  Mangel,  Ver- 
derben ansehen  sollen,    denkt  der  Scholiast  mit  Recht  an  das 
Festgeld,  den  Richter-  und  Volksversammlungssold.    Auf  diesen 
patriotischen  Rath  antwortet  Dionysios 

£ü,  irXrjv  y'  0  oixaaTifjc  auxa  xaraTrivst  [lovoc. 
»Gut,  nur  verschlingt's  der  Richter  allein«  d.  h.  wenn  die 
Hülfsquellen  Athens  auch  ergiebiger  werden,  so  nützt  das  we- 
nig; denn  der  Richter  verschlingt  doch  alles.  Das  konnte 
doch  offenbar  nur  von  einer  Zeit  gesagt  werden,  wo  Richter- 
sold bezahlt  wurde  und  einen  grossen  Theil  der  Staatseinkünfte 
in  Anspruch  nahm.  An  Confiskationen ,  die  einem  einfallen 
könnten,  darf  man  darum  nicht  denken,  weil  diese  dem  Staate 
und  nicht  dem  Richter  anheim  fielen.  Es  ist  also  erwiesen, 
dass  unter  Archon  Kallias  Ol.  93.  3.  der  Richtersold  bezahlt 
wurde.  Das  Festgeld  haben  wir  schon  \ie\  früher  wieder  in 
sehr  ansehnlichen  Summen  ausbezahlt  gefunden.  Niemand 
wird  zweifeln,  dass  auch  das  ßouXeunxov  und  exxXrjOiaoTixov,  der 


ÜMTEKSUCHUNGEN    ÜBER    DIE    VERFASSUNG    VON    AtHEN.       231 

Kaths-  und  ^^olksversammlungssold,  wie  sie  mit  dem  Richter- 
sold abgeschafft  -worden  waren ,  so  auch  mit  ihm  Avieder  ein- 
geführt wurden,  ganz  abgesehen  von  den  Zeugnissen  der  Scho- 
llen, die  zu  den  Fröschen  v.  1465  die  Existenz  des  Ekklesia- 
stikon  bestimmt  annehmen. 

Halten  wir  demnach  fest ,  dass  vor  dem  Ende  des  pelo- 
ponnesischen  Kriegs,  die  beiden  Hauptbestimmungen,  auf  denen 
die  gemischte  Verfassung  beruhte,  die  einzigen  Beschränkungen 
der  Demokratie,  die  uns  wirklich  überliefert  sind,  nämlich  die 
Ausschliessung  der  niedrigsten  ]iürgerklasse  von  der  höchsten 
Gewalt  und  die  unbesoldete  Verrichtung  der  Staatsgeschäfte, 
verschwunden  waren. 

3 .  Es  bleibt  uns  noch  übrig  zu  betrachten  in  welchem  Ver- 
hältnisse zur  Verfassung  die  Nie  der  Setzung  der  Nomothe- 
ten stand,  woran  sich  die  Frage  über  die  Zeit  der  Verfassungs- 
änderung knüpfen  Avird.  Dass  diesen  Nomotheten  eine  viel 
zu  grosse  Bedeutung  zugeschrieben  Avorden  ist,  haben  Avir  be- 
reits oben  gesehen.  Wir  Avissen  über  sie  mit  Bestimmtheit 
nichts  anders,  als  was  Thukydides  VIH,  97  sagt,  der  unter 
den  verschiedenen  damals  ergriffenen  Massregeln  auch  ihre 
Einsetzung  hervorhebt.  Dass  Thukydides  ihrer  besonders  er- 
Avähnt,  scheint  dafür  zu  sprechen,  dass  sie  als  ausserordentliche 
zu  betrachten  seien,  von  denen  Schömann  de  comit.  Ath. 
p.  27  0  handelt,  und  in  dem  Sinne  sind  sie  von  Peter  comment. 
p.  52  gefasst  Avorden.  Indessen  Hesse  sich  auch  denken,  dass 
Thukydides  A^on  ihrer  Einsetzung  darum  rede,  weil  sie  zu  einer 
ungeAvöhnlichen  Zeit  statt  fand  und  vielleicht  längere  Zeit  das 
Institut  der  ordentlichen  Nomotheten  faktisch  A'ernachlässigt 
worden  Avar.  Sonst  wurden  die  Nomotheten  im  Anfang  des 
Jahres  gewählt,  unter  den  Vierhunderten  Avar  das  natürlich 
nicht  geschehen,  es  Avar  bei  ihrem  Sturze  aber  um  so  nöthiger 
solche  zu  ernennen,  als  durch  die  oligarchische  Revolution 
vielfache  Verwirrung  in  die  Gesetze  gekommen ,  mancherlei 
Bestimmungen  nöthig  gcAvorden  waren.  Es  ist  darum  möglich, 
dass  ihr  Unterschied  von  den  ordentlichen  Nomotheten  nur  in 
der  Zeit  der  Niedersetzung,  und  ihre  besondere  Bedeutung  nur 
darin  lag,  dass  jetzt  zahlreiche  und  Avichtige  Gegenstände  ihnen 
zur  Entscheidung  übergeben  AA'urden,  Avährend  man  früher  den 
besonnenen    Weg    der    Gesetzgebung    verschmähte    und    miss- 


232     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

hräiichlich  durch  blosse  Dekrete  oder  Ordonnanzen  (']^r/f  t'a[xaTa) 
die  gesetzgebende  Gewalt  ausübte  ') .  Im  einen  vne  im  andern 
Falle  war  der  ZAveck  ihrer  Einsetzung  im  Ganzen  der- 
selbe, die  zerrüttete,  nur  durch  einige  tumultuarisch  gefasste 
Heschlüsse  in  ihren  Ha\iptzügen  festgestellte  Verfassung  zu 
ordnen ,  die  vielfach  verwirrten  Gesetze  zu  revidiren ,  Wider- 
sprüche zu  beseitigen,  Ordnung  und  Uebereinstimmung  in  der 
Art  herzustellen,  wie  es  eigentlich  jährlich  in  der  ersten  und 
dritten  Volksversammlung  eingeleitet  und  dann  von  den  ordent- 
lichen Nomotheten  ausgeführt  werden  sollte.  In  diesem  Sinne 
niedergesetzte  Nomotheten  haben  nun  aber  in  keiner  Weise 
die  Thätigkeit  der  übrigen  liehörden  gehemmt,  etwaigen  \er- 
änderungen  der  Verfassung  auch  gar  nicht  im  Wege  gestanden, 
sondern  solche,  sobald  man  sie  auf  dem  Wege  der  eigentlichen 
Gesetzgebung  machen  wollte ,  selbst  veranlassen  oder  be- 
schliessen  können.  Auch  ist  gar  nicht  nöthig  anzunehmen, 
dass  dies  erst  bei  vollkommener  Abschliessung  ihrer  Geschäfte 
geschehen  konnte ;  denn  nirgends  wird  berichtet,  dass  sie  alle 
Gesetze  auf  einmal  hätten  erlassen  müssen. 

Wollte  man  aber  die  Aenderung  auf  dem  Wege  der  Pse- 
phismen  machen,  so  hatten  sie  gar  nichts  dazu  zu  sagen.    Bei 

1)  Schömann  antiquit.  juris  publici  Graecorum  p.  229:  ac  posteris 
temporibus  uhi  libertas  paullatim  in  licentiam  degeneravit,  nimis  saepe  leges 
non  uliter  quam  psejMsmata  et  ferri  quovis  tempore  ad  populum  et  accipi  a 
populo  in  comitiis  solehant,  nulla  nomothetarum  mentione.  Man  kann  nicht 
genug  auf  diesen  Umstand  aufmerksam  machen,  da  hiedurch  besonders  die 
Entartung  der  athenischen  Demokratie  statt  fand.  Dass  man  besonders  im 
peloponnesischen  Kriege  vielfach  Psephismen  an  die  Stelle  der  Gesetze 
treten  Hess,  geht  besonders  aus  dem  unter  Eukleid's  Archontat  gegebenen 
Gesetze,  das  Andokides  de  myst.  §.  87  anführt,  hervor,  worin  ausdrücklich 
festgesetzt  wird ,  dass  kein  Psephisma  des  Raths  oder  Volks  über  einem 
Gesetz  stehen  sollte.  Es  musste  das  also  vorher  geschehen  sein.  Dürfte 
man ,  wofür  ich  freilich  keine  Beweise  habe ,  annehmen ,  die  Aufstellung 
ordentlicher  Nomotheten  sei  in  der  Zeit  vor  den  Vierhunderten  faktisch 
ausser  Uebung  gekommen  und  jetzt  seit  längerer  Zeit  wieder  zum  ersten- 
mal erfolgt,  so  läge  darin  ein  Hauptmoment  der  Mässigung  und  Besonnen- 
heit, welche  Thukydides  der  ersten  Zeit  nachrühmt.  Eine  Beschränkung 
der  gesetzmässigen  Demokratie  wäre  es  aber  nicht ,  sondern  ein  blosses 
Zurückgehen  in  die  Bahn  der  Gesetzlichkeit.  Wie  früher  konnte  aber  auch 
jetzt  wieder  das  Regieren  durch  Psephismen  faktisch  aufkommen.  "War 
einmal  der  Sold  wieder  eingeführt  und  die  Volksversammlung  allen  Bürgern 
eröffnet,  so  Hess  das  auch  schwerlich  lange  auf  sich  warten. 


Unteksuchungen  über  die  A'erfassung  von  Athen.     233 

dem  Wenigen,  was  uns  Thukydides  über  die  Nomotheten  be- 
richtet, können  wir  also  nicht  bestimmt  entscheiden  welchen 
Antheil  sie  an  einer  Verfassungsänderung  hatten ,  erkennen 
aber  ganz  klar,  dass  sie  eine  solche  nicht  im  geringsten  hin- 
derten. —  Man  hat  nun  freilich  geglaubt  in  Lysias  weitere 
Aufschlüsse  über  diese  Nomotheten  zu  finden,  indem  man  das 
in  der  Rede  gegen  Nikomachus  erwähnte  Amt  eines  avaypa- 
<p£u?  vojxmv  für  das  gleiche  mit  dem  eines  vojjloUstTjC  hielt  und 
nun,  was  von  Nikomachus  als  avaypacpsuc  gesagt  wird,  auf  das 
ganze  Collegium  der  Nomotheten  bezog.  Man  nahm  also  an, 
die  Nomotheten  seien  beauftragt  worden,  eine  Revision  der 
Solonischen  Gesetze  zu  besorgen  und  dafür  sei  ihnen  eine 
Frist  von  vier  Monaten  gegeben  worden,  sie  aber  hätten  will- 
kürlich ihr  Amt  sechs  Jahre  lang  beibehalten  und  zwar  ohne 
etwas  zu  Tage  zu  fördern.')  Diese  ganze  Sache,  aus  der  dann, 
wie  wir  oben  gesehen,  noch  weitere  unhaltbare  Schlüsse  ge- 
zogen wurden,  fällt  aber  zusammen,  sobald  wir  den  avaypacpsu? 
vo[i-(yv  von  dem  vojj-o&eTrjC  unterscheiden  und  in  seiner  wahren 
Bedeutung  nehmen.  Es  ist  derjenige,  der  die  Gesetze  auf- 
zeichnen (avaypacpctv)  d.  h.  auf  Stein  einhauen  lassen  sollte. 
Nikomachos  hatte  also  den  Auftrag  die  Solonischen  Gesetze 
zur  öffentlichen  Aufstellung  niederschreiben  zu  lassen,  die 
Wichtigkeit  des  Geschäftes  ist  darin  zu  suchen,   dass  auf  eine 


')  Diese  Ansicht  hat  namentlich  Theodor  Bergk  in  der  epistola  hinter 
Schiller's  Andokides  aufgestellt.  Der  unumstösslich  richtige  und  trefflich 
durchgeführte  Beweis,  dass  Nikomachos  zweimal  mit  der  äMctYpa'fTj  vojaoiv 
beauftragt  gewesen  sei,  einmal  sechs  Jahre  lang  vor  den  Dreissigen,  dann 
vier  Jahre  lang  nach  denselben,  hat  gemacht,  dass  man  auch  der  Annahme 
vielfach  beigepflichtet  hat,  rhi'ipa(f.z\jc,  v6[j.ojv  und  voiaoÖettj;  bedeute  dasselbe, 
wie  es  unter  andern  auch  mir  früher  gegangen  ist.  Dagegen  hat  H.  G, 
Hamaker  quaestiones  de  nonnullis  Lysiae  orationibus  S.  76  folg.  wie  ich 
glaube  mit  vollem  Recht  P^inspruch  gethan.  Als  ein  Hauptgrund  für  die 
Unterscheidung  der  beiden  Aemter  ist  noch  anzuführen,  dass  Lysias  immer 
nur  davon  spricht,  Nikomachos  sei  so  lange  im  Amte  gewesen,  nirgends 
aber  die  Rede  davon  ist ,  dass  ein  ganzes  Collegium  so  viele  Jahre  den 
Missbrauch  fortgetrieben  habe.  Auch  Poppo  zu  Thukyd.  VIII,  97  spricht 
dieselbe  Ansicht  aus.  Schömann  hat  eine  zwischen  beiden  in  der  Mitte 
liegende  Ansicht,  die  aber  jedenfalls  nie  der  Folgerung  Raum  geben  kann, 
als  ob  durch  die  lange  Verzögerung  der  ävaYJ^occf-ri  vöawv  irgendwie  der  ge- 
wöhnliche Gang  der  Gesetzgebung  behindert  worden  wäre.  De  Comit.  Ath. 
p.  267.     Ath.  Process  S.  660. 


234     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

getreue  Abschrift  Alles  ankam.  Wenn  Lysias  gegen  Niko- 
machos  §  2  sagt,  Nikomachos  habe  sich  selbst  statt  Solons 
zum  Gesetzgeber  gemacht  avtt  ]i!oAo>voc  aurov  vo[j,oi>£tt,v  xats- 
oTYjas),  so  will  er  damit  ohne  Zweifel  bloss  ausdrücken,  das  Ni- 
komachos sich  Avillkürlichc  Aenderungen  erlaubte.  Ob  nun 
einer  die  avayp7/frj  voatov  in  der  vorgeschriebenen  Frist  aus- 
führte oder  lange  verzögerte,  hatte  auf  den  Gang  der  Gesetz- 
gebung keinen  Einfluss ,  so  nachtheilig  die  Verzögerung  auch 
für  die  bürgerlichen  und  politischen  Verhältnisse  dadurch 
■wirkte,  dass  kein  offiziell  anerkanntes  Exemplar  der  gültigen 
»Solonischen  Gesetze  öffentlich  aufgestellt  war.  Wir  werden 
uns  demnach  der  Anwendung  jener  Stellen  des  Lysias  auf  die 
Nomotheten  des  Jahres  4  1 1  enthalten  und  gestehen  müssen,  dass 
wir  von  ihrer  Thätigkeit  im  einzelnen  nichts  bestimmtes  wis- 
sen,  und  höchstens  Vermuthungen  aussprechen  können. 

Sollten  nun  aber  vielleicht  die  von  Thukydides  erw^ähnten 
Nomotheten  selbst,  deren  Amt  über  ein  Jahr  auszudehnen  wir 
keine  Ursache  haben,  bereits  Aenderungen  in  den  unmittelbar 
nach  dem  Sturz  der  Vierhundert  beschlossenen  Verfassungs- 
bestimmungen herbeigeführt  haben  ?  ^)  Diese  Frage  hängt  eng 
zusammen  mit  derjenigen  über  die  Zeit  in  der  die  Aenderun- 
gen statt  fanden.  Die  bestimmten  lieweise  für  den  veränderten 
Zustand  halien  wir  nun  zwar  oben  erst  für  die  Zeit  der  Ar- 
ginusenschlacht  Kiü  gefunden,  aber  alle  Umstände  leiten  da- 
rauf, dass  er  weit  früher  eingetreten  sei.  Freret  und  K.  F. 
Hermann  haben  an  die  triumphirende  Rückkehr  des  Alkibiades 
im  Jahre  407  gedacht  ^i  und  dafür  würde  besonders  sprechen, 
dass  damals  die  von  diesem  Feldherrn  eröffneten  Hülfsquellen 
reichlich  fliessen  mochten.  Allein  verschiedene  Gründe  be- 
wegen mich  mit  Sievers  auf  eine  noch  frühere  Zeit  zurück- 
zugehen. J^ereits  im  Jahre  des  Archon  Glaukippos  Ol.  92,  3. 
V.   Chr.   410/9  finden  wir,    wie    oben  erwähnt,   das  Gesetz  des 

1)  Das  ist  Arnold's  Meinung  zu  Thukyd.  VIII,  97  :  verum  est  quülem 
quadringentos  eam  {potesfatem) ,  quum  munere  se  ahcUcarent ,  Ulis  [quinque 
tnillibus]  trudidisse ,  sed  a  vo[j.o&£Tat;  qui  novani  reipidjlicae  forniam  con- 
sif/nanint,  hoc  iustitatum  servatum  esse,  tion  est  dictum.  Die  Ungenauig- 
keiten  im  ersten  Theil  dieses  Satzes  fallen  in  die  Augen,  ohne  dass  man 
besonders  darauf  aufmerksam  macht. 

2)  Die  Kückkehr  des  Alkibiades  fällt  übrigens  nicht,  ^vie  es  bei  Freret 
und  Hermann  heisst,  in  das  Jahr  407,  sondern  in  den  Sommer  4U8. 


Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen.     235 

Demophantos,  Avelches  bestimmt  war  die  Demokratie  zu 
schützen  und  jeden  Versuch  des  Umsturzes  mit  den  strengsten 
Strafen  belegte.  Dieses  Gesetz,  worin  der  Ausdruck  or|[xozpaTi'a 
mehrfach  vorkommt,  von  einer  Beschränkung  aber  nirgend 
die  Rede  ist,  deutet  auf  eine  Zeit,  wo  man  die  A'erfassung 
neu  geordnet  hatte,  aber  noch  in  Furcht  wegen  früherer 
Umtriebe  dagegen  war.  In  dieser  Beziehung  hat  es  Sievers 
S.  18  schon  geltend  gemacht  für  die  Herstellung  der  vollen 
Demokratie,  die  er  bald  nach  der  Schlacht  bei  Kyzikos,  Ende 
Februar  410,  Ol.  92,  2  setzt.  Dieser  glänzende  Sieg,  meint 
er,  habe  besonders  dazu  beigetragen,  den  gesunkenen  Muth 
der  Athener  und  damit  ihre  demokratische  Gesinnung  neu  zu 
beleben,  und  das  zeigt  sich  in  der  That  deutlich  genug  in  der 
nach  Diodor  XIII,  53  hauptsächlich  von  Kleophon  bewirkten 
Verwerfung  des  von  den  Lakedaimoniern  angebotenen  Frie- 
dens, wo  gegenüber  den  iTrisixsa-aToi  schon  Mieder  ein  sehr 
starkes  demagogisches  Element  sich  kundgibt.  Ueberhaupt 
lässt  sich  eine  demokratische  Reaktion  in  dieser  Zeit  nicht 
verkennen,  i)  Die  anfangs  beobachtete  Mässiginig  verschwin- 
det, Verfolgung  derer,  die  bei  der  Revolution  der  Vierhundert 
betheiligt  gewesen  war^n,  tritt  ein,  die  Atimie  wird  auf  eine 
grosse  Zahl  derselben  angewendet,  worüber  Aristophanes  in 
der  herrlichen  Parabase  der  Frösche  so  patriotische  Klagen 
ausstösst.  Die  Betrachtung  aller  dieser  Umstände  macht  daher 
auch  mir-  sehr  wahrscheinlich,  dass  bereits  damals,  sei  es  in 
dem  letzten  Theil  von  Theopomps  Amtsjahr,  sei  es  im  An- 
fange desjenigen  des  Glaukippos,  die  Beschränkungen,  die  man 
anfangs  noch  hatte  bestehen  lassen,  wenigstens  theilweise  auf- 
gehoben wurden.  Mit  dieser  Annahme  stimmt  nun  sehr  gut, 
dass  gerade  zu  jener  Zeit  Thrasyllos,  dessen  demokratische 
Gesinnungen  bekannt  genug  sind,  einen  längern  Aufenthalt 
in   Athen   machte    und    sich    in   hohem    Grade    der  Gunst  des 


1)  Auf  diese  Zeit  scheint  auch  die  Stelle  des  Lysias  für  Polystratos 
§.  IT  zu  gehen:  vOv  0£  rjvty.a  aüxö?  ea'JTÖj  s'jvo'jaxaxQ;  daxw  ö  ofj[j.o;,  ßoYj&o'Jat 
tif)  ji-Ev  ovöfxati  'j|A^''i  f<i^  ^J^  ^PTM-"  3^'^t''  aiiToT;.  Dass  die  Rede  in  die  Zeit 
nach  dem  Sturze  der  Dreissig  gehöre,  kann  ich  durchaus  nicht  glauben, 
sondern  bin  fest  überzeugt,  dass  sie  nicht  sehr  lange  nach  dem  Sturze  der 
Vierhundert,  im  Jahre  410,  wohin  sie  auch  Krüger  und  Alexander  Falck. 
in  seiner  Uebersetzung  weisen,  gehalten  worden  sei. 


236     Untersuchungen  über  die  Verfassung  von  Athen. 

Volkes  erfreute.  Er  führte  dem  Agis,  der  einen  Streifziig 
gegen  Athen  machte,  alles  streitbare  \oYk  der  Stadt  entgegen, 
(tou?  AÜTjVaiou?  X7.1  Tou?  äkXooi,  Too;  sv  tf^  ttoXsi  oviac  a-a-vtac. 
Xenophon  Hellen.  I,  1,  33.)  Ohne  Zweifel  machten  nun  zu 
einer  Zeit ,  wo  nicht  allein  die  Hopliten ,  sondern  auch  die 
Seeleute  und  die  Bürger  aller  Classen,  so  grossen  Heldenmuth 
für  die  ^  ertheidigung  des  Staates  entwickelten,  dieselben  auch 
Anspruch  wieder  volle  Theilnahme  an  seinen  Angelegenheiten 
zu  erhalten.  In  ähnlicher  Weise  also,  wie  einst  Aristeides, 
nach  den  Perserkriegen,  an  denen  alle  gleiche  Tugenden  ent- 
wickelt hatten,  allen  die  höchsten  Ehren  eröffnete,  wurde, 
glaube  ich,  auch  damals  die  Beschränkung  auf  die  o~oaoi  o-Äa 
■jrapej^ovtai  aufgehoben  und  allen  wieder  gleiche  politische  Be- 
rechtigung gegeben.  Der  Zeit  nach  konnte  es ,  bei  dieser 
Annahme,  noch  von  den  Nomotheten,  die  Thukydides  er- 
wähnt, ausgehen,  ob  es  aber  der  Fall  gewesen  bleibt  ganz 
ungewiss  und  lässt  sich  sogar  dämm  bezweifeln,  Aveil  dann 
Thukydides  ihre  Niedersetzung  schwerlich  unter  den  Massre- 
gelu  der  Mässigung  besonders  hervorheben  würde.  Eher  lässt 
sich  daher  an  einen  A'olksbeschluss  denken.  Ob  die  Besol- 
dung der  Behörden  gleichzeitig  wiedereingeführt  wurde ,  ist 
nicht  sicher  zu  ermitteln,  nothwendig  war  sie  nicht  mit  der 
ersten  Massregel  verbunden.  Im  Gegentheil  lässt  sich  denken, 
dass  mancher  für  die  Theilnahme  Aller  an  Staatsgeschäften 
stimmte ,  Aveil  er  voraussetzte ,  sobald  nur  kein  Sold  bezahlt 
werde,  werde  der  gemässigte,  wohlhabendere  Theil  der  Bürger 
von  selbst  die  Mehrzahl  bilden.  Hingegen  begreift  man  leicht, 
dass,  sobald  einmal  die  ärmern  Ijürger  wieder  mitzusprechen 
hatten,  sie  auf  Herstellung  des  Soldes  gedrungen  haben  wer- 
den ,  welcher  damals  um  so  mehr  Bedürfniss  geworden  war, 
als  seit  der  Befestigung  von  Dekeleia,  der  Ackerbau  von  Attika 
fast  ganz  vernichtet  war  und  taiisende  von  Bürgern  sich  er- 
werblos in  der  Stadt  umhertrieben.  Die  Wiedereinführung  des 
Soldes  war  aber  zum  grossen  Theil  auch  eine  finanzielle  Frage. 
Da  nun  in  dieser  Hinsicht  die  Siege  des  Alkibiades  wieder 
erfreuliche  Aussichten  eröffneten  und  man  unter  Archon  Glau- 
kippos  bedeutende  Summen  für  das  Theorikon  verwenden 
konnte,  so  hat  man  gewiss  die  verschiedenen  Besoldungen, 
wenn  nicht  ganz  gleichzeitig,  doch  bald  nach  der  Ausdehnung 


ÜNTERSUCHUNGEK    ÜBER    DIE    A'eRFASSUNG    VON    AtHEN.       237 

der  Theilnahme  an  der  höchsten  Gewalt  anf  alle  Bürger, 
wieder  eingeführt. 

Ich  bemerke  indessen  ausdrücklich  dass  diese  Frage,  wann 
die  vollkommene  Demokratie  hergestellt  worden  sei,  für  den 
Beweis,  dass  dies  überhaupt  geschehen,  von  keinerlei  Bedeu- 
tung sei;  können  wir  jenes  auch  nicht  mit  Sicherheit  nach- 
weisen,  so  steht  dieses  doch  fest. 

4.  Nachdem  nun  also  nachgewiesen  Avorden  ist,  dass  die 
uns  bekannten  Beschränkungen  der  Demokratie  nicht  bis  zu 
Ende  des  Krieges  fortbestanden,  sondern  sei  es  früher  oder 
später ,  gefallen  waren ,  so  mögen  noch  einige  Belege  dafür 
folgen,  dass  die  ^  erfassinig  in  den  letzten  Jahren  des  Krieges 
allgemein  als  Demokratie ,  nicht  als  eine  aus  verschiedenen 
Elementen  gemischte  betrachtet  wurde.  Ich  will  dafür  nicht 
die  zahllosen  Stellen  anführen,  wo  von  einem  TiÄrilo;  oder 
ori[j.oc  die  Hede  ist,  sondern  nur  einige  hervorheben,  wo  aus- 
drücklich der  Demokratie  gegenüber  einer  andern  Verfassung 
erwähnt  wird.  Eine  solche  ist  bei  Piaton  Apol.  Socr.  p.  ;5'2.  c. 
Nachdem  Sokrates  erzählt,  wie  er  sich  bei  dem  Process  der 
Feldherni  benommen,  also  406,  fährt  er  fort:  xai  xaoxa  jj-ev 
TjV  In  orj[xoxpaTou[i£vrj?  xrjc  TroAstoc"  £~£ior^  hk  oXi^apy^ia  s^eveto  x. 
T.  X.  Damit  man  aber  nicht  einwende ,  in  der  Ansicht  des 
aristokratischen  Piaton  habe  auch  jene  gemässigte  Verfassung 
als  Demokratie  gegolten,  so  vergleiche  man  eine  ähnliche  des 
gut  demokratisch  gesinnten  Lysias,  der  gegen  Eratosth.  §.  4 
sagt:  ouTuj;  tuxoü[i.£v  OTj;i.oxpaToutx£voi  (ucts  \lr^^zt  si;  tou;  aXXou? 
£?a[i.apiTav£iv,  [xt^te  uüo  tu)v  aAAwv  aoixsTsDai'  etteiot^  ö'  oi  rpiaxovta 
xaTsaTT^aav  x.  t.  k.  Von  ganz  besonderer  Bedeutung  erscheint 
aber  noch  die  E.ede  des  Theramenes  bei  Xenoph.  Hell.  II, 
3,  48.  Auf  den  Vorwurf  des  Kritias,  sich  jeweilen  nach  den 
Umständen  gerichtet,  jedesmal  der  stärkern  Partei  angeschlos- 
sen zu  haben,  antwortet  Theramenes  er  habe  immer  dasselbe 
Ziel  verfolgt,  eine  gemässigte  V  ertassung  und  darum  sich  den 
Extremen,  demokratischen  wie  oligarchischen  auf  gleiche 
Weise  entgegengesetzt.    Seine  Worte  lauten:  e-jU)  o',   tu  Kpiriot, 

IxEl'vOt?     [i.£V     a£t     TTOTE    TToXEfJKO,    toTc    0\)    TTpOO^EV    010|J.£V01C    XaXr|V    ttV 

6rj{xoxpaTi'av  £tvat  rcpiv  xai  oi  oouXoi  xal  oi  3t'  airopiav  opay^^ir^c,  av 
airoo6[x£voi  tr^v  iroÄtv  opayjiir^c,  |X£T£/oi£V  xat  toT^Se  -(  au  «Et  evav- 
Ti'o?  Eifxt  0^   oux   olovrai    xaXr^v  av    s.y^a'^ijtioii  oXiYapy(i'av,    Trpiv  ei? 


238     Untersitchungen  über  die  Verf'assiing  von  Athen. 

To  uk'  oÄi'yojv  TupavvcTsiiai  ty^v  -oXiv  y.ix-rj.sirpti'j.v .  .Soll  diese 
Vertheidiguiig  irgend  welche  Schärfe  haben,  so  mnss  zwischen 
der  gemischten  Verfassung,  die  vorzüglich  durch  Theramenes 
herbeigeführt  wurde,  und  zMdschen  der  Oligarchie  der  Dreissig, 
die  wdedenim  ihm  besonders  ihre  Entstehung  verdankte,  aber 
weiter  ging  als  er  wollte,  der,  wie  er  sagt,  von  ihm  bekämpfte 
ultrademokratische  Zustand  geherrscht  haben.  Eine  gemischte 
Verfassung  wäre  ja  gerade  dem  von  ihm  erstrebten  Ideale  am 
nächsten  gekommen. 

Doch  ich  will  nicht  Aveiter  durch  solche  Stellen  zu  be- 
kräftigen suchen,  was  oben  bewiesen  worden  ist.  Wem  jene 
Beweise  nicht  genügen,  der  wird  diese  und  ähnliche  Stellen 
alle  nur  als  Belege  für  eine  innerhalb  der  Verfassung  der 
Fünftausend  eingerissene  Ochlokratie  und  zügellose  Demo- 
kratie ansehen. 

IV. 

Werfen  wir  nun  zum  Schluss  einen  Rückblick  auf  die 
gewonnenen  Resultate,  so  ergibt  sich  folgendes.  Unmittelbar 
nach  dem  Sturze  der  Vierhundert  wurde  eine  Verfassung  ein- 
geführt ,  die  sich ,  so  weit  wir  Nachrichten  haben ,  von  der 
vollen  Demokratie  dadurch  unterschied,  dass  die  Theilnahme 
an  der  höchsten  Gewalt  auf  die  beschränkt  war,  Avelche  sich 
selbst  bewaffneten  und  dass  keinerlei  Sold  für  irgendwelche 
staatsbürgerliche  Verrichtungen  bezahlt  wurde.  Die  Einsetzung 
der  Nomotheten,  seien  sie  ordentliche  oder  ausserordentliche 
gewesen,  Avar  keine  Beschränkung  der  gesetzlichen  Demokratie 
und  hat  einer  Verfassungsänderung  nicht  im  Wege  gestanden. 
Jene  beiden  Beschränkungen  sind  entschieden  aufgehoben 
worden,  denn  sie  bestehen  nicht  mehr  Ol.  93.  3  unter  Archon 
Kallias.  Wann  und  wie  sie  aufgehoben  worden  sind,  ist  nach 
den  vorhandenen  Nachrichten  nicht  mit  Sicherheit  auszumit- 
teln,  wahrscheinlich  geschah  es  aber  schon  unter  Archon  The- 
opompos  oder  Glaukippos  Ol.  92,  2  oder  3.,  v.  Chr.  41U. 
Jedenfalls  ist  die  vollständige  Demokratie  vor  dem  Schlüsse  des 
Krieges  hergestellt  gewesen,  begleitet  von  allen  ihren  Uebeln, 
Demagogen,  Sykophanten  und  den  als  Gegensatz  dadurch  fast 
nothwendig  hervorgerufenen  oHgarchischen  Verschwörungen. 


PERDIKKAS  II.  KÖNIG  VON  MAKEDONIEN. 

[Schweizerisches  3Iuseum  I.     18:57.     S.   1 — 36.] 

Obwohl  die  Geschiclvre  Makedoniens  ihre  welthistorische 
Bedeutung  erst  mit  Philipp  II.  erhält,  so  ist  es  dennoch  nicht 
uninteressant,  auch  die  früheren  Schicksale  dieses  Reiches  und 
seiner  Fürsten  zu  betrachten.  ^)  Ja  es  kann  die  spätere  rasche 
Entwicklung  nicht  vollständig  verstanden  werden  ohne  Kennt- 
niss  der  vorausgegangenen  Zustände  und  Ereignisse.  Haben 
auch  die  zerrüttenden  Schicksale,  welche  seit  dem  Tode  des 
Königs  Archelaos  das  Fürstenhaus  der  Temeniden  betroffen, 
vieles  zerstört,  was  die  Anstrengungen  der  Vorgänger  aufge- 
baut hatten,  musste  sich  auch  Philipp  sein  Reich  so  zu  sagen 
erst  schaffen,  so  beruht  doch  selbst  seine  Thätigkeit  vielfach 
auf  den  Vorarbeiten  der  älteren  Fürsten,  und  sie  stellt  sich 
dem  gründlichen  und  imbefangenen  Beobachter  nicht  als  eine 
zufällige,  früheren  Erscheinungen  fremdartige  dar,  sondern 
vielmehr  als  die  consequente  Fortbildung  eines  längst,  wenn 
auch  nicht  immer  mit  klarem  Bewusstsein  befolgten  Strebens. 
Leider  fliessen  die  Quellen,  die  uns  für  die  ältere  Geschichte 
Makedoniens  zu  Gebote  stehen,  oft  gar  spärlich,  so  dass  die 
wichtigsten  Ereignisse  mehr  errathen  werden  müssen,  als  sie 
sich  durch  unmittelbare  Zeugnisse  beglaubigen  lassen.  In- 
dessen hat  ein  günstiges  Geschick  uns  auch  hier,  wie  in  so 
manchen  andern  Theilen  der  Alterthumskunde,  gerade  so  viel 
erhalten,    dass   im   Allgemeinen    sich    eine    ziemlich    deutliche 

1)  [vgl.  jetzt  auch:  Otto  Abel,  Makedonien  vor  König  Philipp.  Leip- 
zig 1847.  Seine  Darstellung  von  Perdikkas  Regierung  stimmt  auffallend 
mit  diesem  Aufsatz  oft  in  den  Worten  überein,  ohne  dass  er  ihn  aber 
nennt.  1 


240  Perdikkas  II.  König  von  Makedonien. 

Anschauung-  gewinnen  lässt,    und    das   plötzliche  Hervortreten 
des    kräftigen    ^'ülkes   auf    den    \'ordergrund    der    liühne    der 
Weltgeschichte  nicht  räthselhaft  bleibt.     Wiewohl  nun  in  neu- 
erer Zeit  diese  Geschichte  ihre  selbständige  sehr  verdienstvolle 
Bearbeitung  gefunden  hat,   so  mag  es  doch  nicht  ganz  unnütz 
erscheinen,   die  verschiedenen  Theile  derselben  einer  nochma- 
ligen Prüfung  zu  unterwerfen  und  im   Einzelnen  ausführlicher 
darzustellen,    als   bei    einer    Gesammtgeschichte    gestattet    ist. 
Von  besonderer  Wichtigkeit  erscheint  mir  aber  die  Regierung 
Perdikkas  des  zweiten.     Denn  dieser  Fürst  lebte  in  der- 
jenigen Zeit,    in   welcher  die  griechischen  Staaten  den  Höhe- 
punkt ihrer   Macht   erreicht   hatten   und    ihre  Herrschaft  auch 
über  die    Grenzen  ihres   Landes   auszudehnen   strebten,   in  der 
Zeit,    welche    den   Wendepunkt   für  die  ganze  hellenische  Ge- 
schichte   bildet,     einer    der    merkwürdigsten    der    gesammten 
AVeltgeschichte :  er  war  Zeitgenosse  des  peloponnesischen  Krie- 
ges.    Makedonien   und   die    angrenzenden    Gegenden   sind    oft 
der   Schauplatz,    wo    der   grosse    Kampf   gefochten    wird.     Es 
muss  daher   schon  aus  diesem  Grunde   anziehend  sein,   zu  be- 
trachten ,    was    für  eine  Stellung  es  damals  einnahm ,   welchen 
Einüuss  es  auf  den  Gang  der  Hegebenheiten   ausübte,   welche 
Eindrücke  es  selbst  durch  denselben  empfing.    Her  Heiz  dieser 
Betrachtung  wird  aber  ungemein  erhöht  durch  die  Persönlich- 
keit des  genannten   Königs;    denn    er    bleibt    nicht  wie  andere 
Fürsten   nichtgriechischer   Völker   ein  müssiger  Zuschauer  der 
Ereignisse,    er   tritt    auch  nicht  planlos    hie    und  da  in  Raub- 
zügen auf  den  Schauplatz  des  Krieges,   oder  lässt  sich  die  Be- 
leidigungen  überlegener   Feinde   in    Geduld   gefallen,   sondern 
von  einem    bestimmten    Gedanken    während  seiner  langen  Re- 
gierung geleitet ,    greift  er  überall  thätig  ein,   lässt  sich  durch 
die  ungünstigsten  Verhältnisse  nicht  abschrecken  und  erreicht 
auch  in  der   That  sein    Ziel  so,    dass  er  als  nicht  unwürdiger 
Vorgänger  Philipps  des  zweiten  bezeichnet  werden  kann.    Da- 
rum habe   ich    seine    Regierung  und   sein    Leben  zum  Gegen- 
stand einer  Bearbeitung  gewählt,   welche  keinen  Anspruch  auf 
Benutzung  bis  dahin  verborgener  oder  vernachlässigter  Quellen 
macht,    sondern   nur    den    Zweck  verfolgt,   durch  genaue  Zu- 
sammenstellung   der    zerstreuten    einzelnen    Nachrichten    eine 
möglichst  zusammenhangende   Skizze   zu   geben;    denn    nichts 


PeRDIKKAS    II.    KÖNIG    VON    MAKEDONIEN.  241 

ist   der   altern  Geschichte   Makedoniens   nachtheiliger,  als  der 
Umstand,    dass    alle    sie   betreffenden   Angaben    sich    zerstreut 
bei   griechischen   Schriftsteilern   finden,    welche    eben   nur    da 
von    dem   halbbarbarischen   Lande    sprechen,    wo   es   mit    den 
Hellenen  in  unmittelbare  Berührung  kommt.     Die  Avichtigsten 
Ereignisse  werden    oft  gar  nicht  angedeutet,    oder  müssen  mit 
Mühe  aus  einzelnen  Winken  errathen  werden,  während  Unbe- 
deutenderes  mit   Ausführlichkeit  dargestellt  wird.     Darum  er- 
scheint auf  den  ersten  Anblick  Alles  so  planlos,   so  vereinzelt. 
Vereinigt   man    aber   das    Zerstreute,    und   stellt  sich  auf   den 
makedonischen  Standpunkt,  so  gcAA-innt  Alles  ein  anderes  Licht, 
und   es    lässt   sich   bei   den   Fürsten    des  fünften  Jahrhunderts 
eine  sehr  verständige    und   kluge    Politik  nachweisen,    welche 
besonders  an  Perdikkas  anerkannt  werden  muss,   da  seine  Lage 
die  schwierigste  war.     Gerade  er  aber  hat  hie  und  da  minder 
günstige  Beurtheilung  gefunden.     Man   hat   ihm  Treulosigkeit 
und   Wankelmuth   vorgeworfen,  i)    ihn   als   bloss    von  momen- 
tanen Leidenschaften   bestimmt  aufgefasst,    unfähig,   einen  hö- 
heren zusammenhangenden  Plan  festzuhalten.    Was  das  Letztere 
anbetrifft,    so   hoffe   ich,    durch    die  folgende  Darstellung    das 
Gegentheil   zu   beweisen;    die   Treulosigkeit   dagegen  mag  auf 
ihm  haften,   sobald  man  zugiebt,   dass  auch  die  übrigen  Staaten 
jener  Zeit    denselben  Vorwurf  verdienen,   dass  das  Gebot  der 
Selbsterhaltung   Perdikkas    zu   manchem  Schritte    zwang,    den 
er  unter  günstigem  Verhältnissen  nicht  gethan  hätte,   und  dass 
überhaupt    in    der    Politik    aller    Zeiten   die   Treue   eine    sehr 
zweideutige    Stellung    einnimmt.     Man   darf    dem    Könige    die 
Leichtigkeit,    womit    er   Verträge    schloss    und   auflöste,    nicht 
zu  sehr  verargen,  wenn  man  bedenkt,   dass  zu  seiner  Zeit  fast 
kein   einziger   Friede   bis   an   das   beschworene   Ende  gehalten 
wurde,   dass  Athen  offen  das  Recht  des  Stärkeren  proklamirte, 
und  dass    er  an  der   Spitze   eines    schwachen  Staates  zwischen 
verschiedene  überlegene  Mächte  auf  höchst  bedenkliche  Weise 
hineingeschoben  war.     Auch  würde  uns  bei  genauerer  Kennt- 
niss  der  Motive  und  Veranlassungen  wohl  manche  seiner  Hand- 


1)  [Auf  Perdikkas  Treulosigkeit  spielt  stark  an  Hennippos  in  den 
(popao'xopoi  fr.  1  v.  S  y.al  t.iool  n£poi7.7.ou  'lit-jlr,  vajotv  ravj  r.ol'/.^Xi.  Meineke 
Fragm.  Com.  G.  II,  1  p.  407  ff.     Athen.  I,  27  e.] 

Vi  scher,  Schriften  I.  16 


242  Perdikk.\s  II.   König  von  Makedoniex. 

hingen   selbst   vom   moralischen    Standpunkte    aus  Aveniger  ta- 
delnswerth  erschemen. 

Um  die  Geschichte  des  Perdikkas  gehörig  zu  verstehen, 
ist  es  nothwendig,  eine  kurze  Uebersicht  des  Zustandes  von 
Makedonien  voranzuschicken .  -wie  er  sich  bei  seinem  Re- 
gierungsantritte gestaltet  hatte.  ^^  Unter  Makedonien  verstand 
man  damals  das  Land  -welches  von  dem  hohen  kandavischen 
Gebirge  östlich  nach  der  Meeresküste  und  dem  Str\-mon  sich 
hin  erstreckt.  Im  Süden  hatte  es  die  IJergkette  des  Olympos 
zur  Gränze,  im  Norden  einen  Ann  des  kanda\äschen  Gebirges, 
der  nach  Südosten  läuft  und  die  Wasserscheide  zwischen  den 
Gewässern  des  obern  Axios  und  dem  Erigon  bildet,  dann  jen- 
seits des  Axios  das  Gebirge  Kerkine.  Doch  lässt  sich  diese 
Nordgränze  nicht  so  scharf  ziehen,  als  die  südliche.  ^  Im 
Osten  endlich  stiess  Makedonien  an  den  untern  Str}-mon,  oline 
aber  dessen  Mündung  schon  zu  beherrschen.  Innerhalb  der 
genannten  Gränzen  wird  endlich  nicht  unter  dem  Namen  Ma- 
kedonien inbegriffen  die  chalkidische  Halbinsel,  gewöhnlich 
ta  1-1  0paxr,;  genannt,  ^j  und  die  hellenische  Stadt  Methone.*) 
Aber  auch  die  übrigen  Theile  waren  keineswegs  immer  make- 
donisch gewesen,   sondern  in  früheren  Zeiten  von  verschieden- 


1;  Es  braucht  nicht  bemerkt  zu  werden,  dass  hier  M'eder  eine  ausführ- 
liche Entstehungsgeschichte  des  Makedonischen  Reiches ,  noch  ethnogra- 
phische Untersuchungen  über  die  verschiedenen  Stämme  gegeben  werden 
sollen.  In  letzterer  Hinsicht  verweise  ich  auf  K.  O.  Müllers  vortreffliche 
Schrift:  Ueber  die  Makedoner,  Berlin  182-5.  Eine  Uebersicht  der  Reichs- 
gränzen  war  aber  um  so  nothwendiger ,  als  sich  selbst  in  Schlossers  Uni- 
versalhistor.  Uebersicht  der  Geschichte  der  alten  Welt,  1.  Th.  3.  Abth. 
S.  39,  40  die  Angabe  findet,  Perdikkas  II.  Gebiet  habe  sich  westlich  bis 
an  den  Axios .  östlich  bis  an  den  Xestos  erstreckt ,  und  an  der  Gränze 
Thessaliens  habe  er  Dion  besessen. 

2)  Die  Nordgränze  lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  angeben ,  um  so 
weniger,  da  die  makedonischen  Völkerschaften  jener  Gegend,  namentlich 
die  Lynkester,  in  sehr  schwankenden  Vei-hältnissen  zu  den  Temeniden 
standen.   Das  Gebirge  Kerkine  erscheint  bestimmt  als  Gränze.    Thuk.  II,  98. 

3,  Auch  die  Städte,  die  an  der  Küste  zwischen  der  Halbinsel  Akte  und 
der  Mündung  des  Strymon  liegen,  wie  Stageiros ,  Aigilos  u.  a.  werden  zu 
Ta  i-\  Qyj.v.r^t  gerechnet,  und  waren  nicht  makedonisch.  Thuk.  V,  1"?. 
Poppo  Prolegom.  zu  Thuk.  I,  2  p.  344  ff. 

*;  Thuk.  \1,  ' :  y.al  i;  M^iJwvT;/  rf,v  oijiopov  Mocz-socvta  i-rfa;  v-i-i 
?}a).a33av  y.ouisavTE;  "Ai}r,-;aioi  ■/..  t.   /.. 


Perdikkas  II.  König  von  Makedonien.  243 

artigen  Völkerschaften  bewohnt,  welche  in  keinem  politischen 
Zusammenhange  standen.  ^]  Die  bedeutendsten  unter  densel- 
ben waren,  nördlich  vom  Olymp  an  der  Meeresküste  hin  bis 
an  den  Haliakmon  die  Pierer,  deren  Name  mehr  in  den 
Mythen  glänzt,  als  in  der  Geschichte;  dann  im  Norden,  na- 
mentlich am  Axios  und  zAvischen  diesem  und  dem  Strymon, 
die  Paioner,  endlich  zwischen  beiden  in  dem  Gebiete  der 
Flüsse  Erigon,  Lydias  und  Haliakmon  die  Makedonier. 
Die  Makedonier  selbst,  über  deren  Ursprung  und  Abstammung 
zu  sprechen  ausser  den  Gränzen  dieser  Arbeit  liegt,  zerfielen 
Avieder  in  verschiedene  Zweige .  welche  im  Allgemeinen  nach 
ihren  geographischen  Wohnsitzen  als  die  imtern  und  die 
obern  von  einander  geschieden  werden.  Die  untern  Make- 
donier bewohnten  das  alte  Emathien  bis  an  die  Meeresküste, 
und  scheinen  früh  ächthellenische  l^estandtheile  in  sich  auf- 
genommen zu  haben;  den  obern  gehörten  die  Thäler  am  Ab- 
hänge des  kandavischen  Gebirges,  wo  sie  als  Elimio  tische , 
O  r  e  s  t  i  s  c  h  e  und  L  y n  k  e  s  t  i  s  c  h  e  Makedonier  erscheinen .  2) 
—  Ausser  diesen  Hauptvölkern  Averden  aber  noch  Almoper, 
Eorder,  Bottiaier,  Edoner,  Anthemuntier  und  Grestonaier  ge- 
nannt. Avelche  verschiedenen  Stämmen  angehörten.  Endlich 
hatten    sich   an   der   Küste    früh   griechische  Ansiedler  nieder- 


1  Vgl.  Thuk.  II,  99  an  dessen  Beschreibung  ich  mich  fast  ausschliess- 
lich halte.  Strabos  Angaben  sind  weit  -weniger  brauchbar,  da  er  nicht  eine 
bestimmte  Zeit  im  Auge  hat. 

-j  Thuk.  II,  99 :   Töjv   fap   Ma7.£oovoj-/   eist  %al  A'jy"'-''!'"''-''^  "''•'^^  'E/ap-tiüTai 

lyst  xa»l'  a'j-a.  Gegen  dies  bestimmte  Zeugniss  scheinen  neuere  Versuche 
die  obern  Makedonier  von  den  untern  der  Abstammung  nach  zu  unter- 
scheiden, nicht  hinlänglich  begründet,  z.  B.  bei  Flathe  I,  S.  14,  15.  Ueber 
die  Orester  vergl.  Polyb.  XVIII,  47,  6.  Ma7.£oova)v  ixvi  ouv  tou;  'Opssxct; 
y.aXo'j[j.£vo'j;.  Liv.  XXXIII,  34.  XLII,  38.  K.  O.  Müller,  Ueber  d.  Mak. 
S.  14.  Dagegen  lasse  ich  die  nur  auf  den  Namen  begründete  Behauptung 
Uscholds  Gesch.  d.  Troj.  Kriegs  S.  190,  die  Orester  seien  Thraker,  dahinge- 
stellt, selbst  auf  die  Gefahr  hin,  deshalb  für  befangen  zu  gelten.  Strabo  VII, 
p.  326  C:  xal  oyj  vcctl  tä  t.z[A  A'J'(V-^j'^  v.al  nsXotYo^^iav  ■/.nX  'Ope^Tiaoa  -/.cd  'E)a|j.e'.av 
TTjV  avw  Mnv.clov'.a'i  ivAX'j'j^ ,  oi  h'  üCTSpo-;  -/.al  ^Xe'j&spav.  Die  paionischen 
Pelagonier,  welche  aber  bei  Herodot  und  Thukyd.  noch  nicht  vorkommen, 
gehören  zu  Perdikkas  Zeit  noch  nicht  zu  Makedonien.  —  K..  0.  Müllers 
über  d.  M.  S.  43  ff. 

16* 


244  Perdikkas  II.  König  von  ^Makedonien . 

gelassen.  Sie  hatten  nicht  nur  den  grössten  Theil  der  Halb- 
insel, die  sich  zwischen  dem  Axios  und  Strymou  nach  Süden 
erstreckt,  in  Besitz  genommen,  und  ihr  nach  dem  euboiischen 
Chalkis,  dem  sie  meist  entstammten,  den  Namen  der  Chal- 
kidischen  gegeben,  sondern  auch  durch  die  bedeutenden 
Städte  Therme,  Pydna  und  Methone  die  altem  Bewohner  des 
Landes  fast  ganz  von  der  See  ausgeschlossen.  Unter  diesen 
verschiedenen  Völkerschaften  war  es  aber  den  Fürsten  von 
Edessa  oder  Aigai  in  Emathien,  -welche  sich  herakleidischer 
Abkunft  aus  Argos  rühmten,  allmälich  gelungen,  ihrer  Hen- 
schaft  ein  Uebergewicht  zu  verschaffen,  und  mit  derselben 
auch  den  eigentlichen  Makedoniern  weitere  Gränzen  anzu- 
weisen. Sie  hatten  im  Süden  die  Pierer  vertrieben,  welche 
sich  darauf  am  Fusse  des  Pangaion  in  Thrakien  niederliessen, 
aus  Almopia  am  Olympos  die  Almopen,  aus  der  Gegend 
westlich  vom  Axios,  welche  aiich  später  noch  den  Namen 
Bottiaia  bewahrte,  die  Bottiaier,  die  auf  Chalkidike  neue  Wohn- 
sitze fanden.  ^]  Femer  hatten  sie  einen  Strich  von  Paionien 
am  Axios  erobert,  und  das  Gebiet  des  obem  Lydias  den  Eor- 
dem  entrissen,  von  welchen  die  meisten  zu  Gmnde  gingen 
und  nur  wenige  in  Physka  in  Mygdonia  eine  Zufluchtsstätte 
fanden.  2)  Darauf  waren  aber  auch  östlich  vom  Axios  die 
Edoner  aus  Mygdonia  vertrieben,  die  Landschaften  Bisaltia, 
Anthemus  imd  Grestonia  erobert  worden,  so  dass  sich  das 
makedonische  Gebiet  bis  an  den  Strymon  erstreckte.  Endlich 
hatten  die  griechischen  Städte  mit  Ausnahme  derer  auf  Chal- 
kidike und  Methones  die  Makedonische  Herrschaft  anerkennen 
müssen.  Wann  jede  dieser  Eroberungen  gemacht  wurde,  wird 
nicht  berichtet,  und  ist  für  unsem  Zweck  auch  ziemlich 
gleichgültig ;  aber  mit  Sicherheit  dürfen  sie  dem  grössten  Theil 
nach  vor  den  Zug  des  Xerxes  gesetzt  werden.     Denn  die  Pierer 


1)  Diese  neuen  Wohnsitze  der  Bottiaier  heissen  -'q  Bomvc-r;,  Thuk.  II, 
101,  während  das  ursprünglich  von  ihnen  bewohnte  Land  auch  später  den. 
Namen  Bo-li  Thuk.  II,  99.  [Polyb.  V,  97,  4]  oder:  BoTTtata  Thuk.  II, 
100  oder  Bo—wü;  Herod.  \T;I,  123  führte,  wonach  Bährs  Anmerkung  zu 
dieser  Stelle  zu  berichtigen. 

-;  So  Thukydides  a.  a.  O.  "Wenn  also  später,  wie  bei  Livius  XLV, 
30.  Eordaier  angeführt  werden,  so  sind  das  die  Makedonier,  welche  von 
dem  Lande  der  Eorder  Besitz  genommen  hatten. 


Perdtkkas  II.  König  von  Makedonien.  245 

wohnen  während  desselben  schon  in  Phagres  und  Pergamos 
am  Fusse  des  Pangaion.  die  Edoner  sind  schon  ans  Mygdonia 
über  den  Strymon  gedrängt,  Bottiaia  hat  seine  ursprünglichen 
Bewohner  verloren,  und  Amyntas  I.  hat  schon  früher  den  ver- 
triebenen Peisistratiden  Anthemus  anbieten  können.  ^  So  hatte 
also  damals  schon  Makedonien  die  oben  bezeichneten  Gränzen ; 
die  Fürsten  von  Edessa  herrschten  vom  Olympos  bis  an  den 
Str)'mon.  Wie  damals  ihr  A'erhältniss  zu  den  obern  Makedo- 
nien! war,  ist  schwer  zvi  bestimmen;  doch  scheinen  sie  schon 
eine  gewisse  Oberherrlichkeit  über  sie  geübt  zu  haben.  Dafür 
zeugt  die  Art,  wie  Amj-ntas  I.  und  sein  Sohn  Alexandros  bei 
Herodot  erscheinen.  Und  es  ist  nicht  im  wahrscheinlich,  dass 
das  Fürstenhaus  der  Elimioten  ein  Nebenzweig  der  Temeniden 
war.  der  in  Folge  von  Eroberungen  diese  Herrschaft  erhalten 
hatte.  2^ 

Die  Ausdehnung  der  persischen  Macht  konnte  auch  für 
Makedonien  nicht  ohne  Folgen  bleiben.  Amyntas  hatte  ohne 
Zögern  den  Boten  des  Satrapen  von  Thrakien ,  Megabazos, 
Erde  und  Wasser,  die  Zeichen  der  Huldigung,  gegeben;  3) 
Mardonios  hatte  auf  seinem  sonst  verunglückten  Zuge  die  Un- 
terwerfung des  Landes  vollendet.  *)  Aber  die  Temeniden  blie- 
ben nach  der  Weise  der  persischen  Reichsverfassung  Für- 
sten des  Landes,  nur  zu  Tribut  und  Heeresfolge  verpflichtet. 
Diese  leistete  auch  bekanntlich  Alexandros ,  so  sehr  seine 
Freundschaft  für  die  Hellenen,  besonders  für  die  Athener, 
widerstreben  mochte.  Justins  Nachricht,  '")  dass  Xerxes  ihm 
alles  Land  zwischen  dem  Olymp  und  Hämus  geschenkt  habe, 
hat  gar  nichts  Umvahrscheinliches ;  nur  mochte  Alexandros 
selber  sorgen,  die  geschenkten  Länder  in  seine  Gewalt  zu 
bringen;  denn  imi  die  Verwirklichung  solcher  Geschenke  von 
Ländern,  die  ihnen  nicht  gehörten,  bekümmerten  sich  die 
Grosskönige  in  Susa  so  wenig  als  die  römischen  Bischöfe  im 
Mittelalter.  Die  Vernichtung  der  persischen  Herrschaft  in 
Europa  schien  anfänglich  nur  die    alten  Verhältnisse  in  Thra- 


1)  K.  0.  Müller  üb.  d.  Mak.  S.  25  ff. 

2)  K.  O.  Müller  über.  d.  Mak.  S.  32.     vergl.  unten  S.  247. 
»j  Herodot  V,   17.   IS.  *i  Herodot  YL,  44. 

5j  Justin  MI,  4,  1. 


246  Perdikk.\s  II.  KöxiG  VON  Makedonien. 

kien  und  Makedonien  Aviederhergestellt  zu  haben.  Alexandros 
A\iirde  aus  einem  Lehenkönige  wieder  souveräner  Fürst  seiner 
ererbten  und  eroberten  Länder. 

Er  stand  in  freundschaftlichen  Verhältnissen  mit  den  sieg- 
reichen Hellenen,  welche  seine  wohlwollend  geleisteten  Dienste 
dankbar  anerkannten.  Es  scheint  auch,  die  Makedonier  haben 
den  Hellenen  Beistand  zur  gänzlichen  Ueberwindung  ihrer 
Feinde  geleistet.''  Aber  bald  änderten  sich  die  Verhältnisse ; 
denn  die  alten  Gastfreunde  des  Alexandros,  die  Athener,  wur- 
den dem  schwachen  Reiche  gefährlicher,  als  der  entfernte 
König  der  Perser.  Die  Bildung  der  attischen  Symmachie 
musste  bange  Besorgnisse  erregen.  Denn  die  Inseln  im  aegae- 
ischen  Meere,  die  Pflanzstädte ,  welche  von  dem  triopischen 
A'orgebirge  die  Küste  Kleinasiens  entlang  und  über  den  Hel- 
lespont  an  dem  Saume  Thrakiens  und  Makedoniens  bis  Me- 
thone hin  Athens  Hegemonie  anerkannten,  umschlangen  auch 
gleich  einem  Netze  das  Reich  der  Temeniden  und  drohten, 
es  ganz  vom  Meere  abzuschneiden.  Damm  kann  es  nicht  ver- 
Avundern,  in  den  letzten  Jahren  seiner  Herrschaft  Alexandros 
in  feindseliger  Stellung  zu  den  Athenern  zu  sehen.  Er  scheint 
nicht  unbetheiligt  gewesen  zu  sein  bei  dem  Abfalle  der  Insel 
Thasos  Olymp.  7S  ^\  465.  a.  Ch.  n.  und  nur  der  Freund- 
schaft des  Kimon,  die  vielleicht  durch  Geschenke  neu  belebt 
ward,  verdankte  er  es,  dass  sein  Land  einer  verwüstenden 
Landung  der  athenischen  Flotte  entging.  Das  athenische  ^'olk 
sah  aber  darin  von  Seite  Kimons  Verrath,  so  dass  er  nur  mit 
Mühe  eine  Strafe  von  sich  abzuwenden  vermochte.  2,  Der  un- 
gefähr gleichzeitige  Versuch  der  Athener,  an  den  neun  Wegen 
am  Strymon  eine  mächtige  Kolonie  anzulegen  Ol.  78.  4) 
musste  die  Besorgnisse  steigern,  ^  welchen  indess  diesmal  die 
Edoner   durch    die   Vernichtung    der    Kolonen    bei    den   Orten 


1,  Demosth..  g.  Aristokr.  p.  6S7,  wo  der  Redner  statt  Alexandros  seinen 
Sohn  Perdikkas  nennt.  Vergl.  Schlosser  Univ.  Uebers.  u.  s.  w.  I,  3.  S.  40. 
Funkhänel  über  die  Redner  als  geschichtliche  Quelle  in  der  Ztsch.  f.  Alt. 
1S36.  Nr.   130.  S.   1047. 

2  Plutarch.  Cim.   14.     Pericl.  10. 

3  Thukyd.  IV,  102.  vergl.  Clinton  fast.  hell.  conv.  a  C.  G.  Kruegero 
Append.  in  1.   X.  p.  27.5. 


PeRDIKKAS    II.    KÖNIG    AON    MAKEDONIEN.  247 

Drabeskos  und  Datos  ein  Ende  machten,  i)  während  nach  Tha- 
sos  Eroberung  die  Aufmerksamkeit  der  Athener  einige  Jahre 
hindurch  von  jenen  Gegenden  weg  auf  die  benachbarten  hel- 
lenischen Staaten  gerichtet  Avurde. 

Vnter  solchen  Lmständen  starb  Avahrscheinlich  Ol.  Sl  '■^/■^ 
454  a.  Ch.  n.  2)  Alexandros.  Ihm  folgte  sein  Sohn  Perdik- 
kas  auf  dem  Throne  Makedoniens,  der  von  Gefahren  iimringt 
war;  denn  mit  Alexandros  Tode  mehrten  sich  die  Bedräng- 
nisse. Was  zuerst  die  Kraft  des  Reiches  lähmte,  Avaren  die 
innern  Verhältnisse.  Es  ist  schon  oben  bemerkt  Avorden,  dass 
die  Stellung  der  obern  Makedonier  zu  den  Fürsten  Aon  Edessa 
eine  ziemlich  unbestimmte  Avar.  Was  nun  die  Zeit  des  Per- 
dikkas  anbetrifft,  so  finden  Avir  die  Elimioten  etwa  zAvanzig 
Jahre  nach  Alexandros  Tod  unter  Derdas,  der,  Avenn  man  dem 
Scholiasten  des  Thukydides  trauen  darf,  ein  Sohn  des  Aridaios 
und  Vetter  des  Perdikkas  Avar.  3)  Da  nun  der  Name  Aridaios 
auch  sonst  in  der  makedonischen  DjTiastie  sich  findet,  so  ist 
es  Avahrscheinlich ,  dass  der  Vater  des  Derdas  ein  jüngerer 
Bruder  des  Alexandros  Avar,  dem  als  ein  Lehenfürstenthum 
Elimia  übertragen  Avorden  Avar.  Ob  bei  Perdikkas  Regierungs- 
antritt schon  Derdas  herrschte,  oder  noch  sein  Vater,  Avird 
nicht  gemeldet.     Wie    Aviderstrebend   aber   diese  Elimiotischen 


*)  Thuk.  IV,  102  und  Poppo  dazu  vergl.  mit  Isokrates  üb.  d.  Frieden 
§.  86  und  Baiter  praef.  zu  Isoc.  Paneg.  p.  IX. 

-j  Die  Angaben  der  Alten  weichen  bekanntlich  gana  ausserordentlich 
über  Perdikkas  Regierungszeit  ab.  Man  vergl.  Athenäus  V,  p.  217  d.  e. 
Porphyrios  bei  Syncell.  p.  500  Dind.  u.  d.  Marm.  Par.  Ich  halte  mit 
Dodwell,  Annal.  Thuc.  p.  92  und  Clinton  fast.  hell.  conv.  a  Krueg.  p.  238 
die  Angabe  des  Parischen  Marmors,  dass  er  41  Jahre  regiert,  für  die  rich- 
tige. Vielleicht  erklären  sich  die  verschiedenen  Zahlen  aus  den  Thron- 
ZTvisten,  in  Folge  derer  Perdikkas  nicht  überall  anerkannt  ward.  Casaubonus 
Vermuthung  zu  Athen,  a.  a.  O.  steht  im  bestimmtesten  "Widerspruch  mit 
Thukydides. 

3  Thukyd.  I,  57  u.  d.  Schol.  dazu,  vergl.  I,  59.  —  Thukydides  sagt 
zwar  nicht  bestimmt,  dass  Derdas  Fürst  der  Elimioten  gewesen,  sondern 
nur  dass  er  im  obern  Makedonien  herrschte.  Allein  durch  Vergleichung 
von  Xenoph.  Hell.  V,  2,  38  hat  K.  O.  Müller  a.  a.  0.  S.  32  mit  Recht 
Elimia  als  das  Fürstenthum  des  Derdas  nachgewiesen.  Nirgends  aber 
lieisst  Derdas  Fürst  von  Orestis,  wie  Droysen  Gesch.  Alex.  d.  Gr.  S.  43 
behauptet.     Vielmehr  ist  Antiochos  Fürst  der  Orester. 


248  Perdikxas  II.  KÖMG  VON  Makedonien. 

Temeniden  die  Überhoheit  des  Hauptstammes  anerkannten, 
werden  wir  bald  sehen. 

Der  zweite  Hauptzweig  der  obem  Makedonier.  die  Be- 
wohner des  Landes  Lynkos,  treten  später  unter  einem  Für- 
sten An-hibaios,  Sohn  des  Bromeros,  im  Kampfe  gegen  Per- 
dikkas  auf.  und  es  ist  nicht  zu  glauben,  dass  sie  vorher  in 
grosser  Abhängigkeit  von  demselben  standen,  wenn  sie  auch 
den  Namen  von  Bundesgenossen  trugen,  und  vielleicht  einen 
Tribut  bezahlten.  ^) 

In  ähnlicher  Lage  mochten  die  O rester  sein,  deren  Kö- 
nig Antiochos  wenigstens  im  peloponnesischen  Kriege  ganz 
selbständig  handelt.  2 

Zu  diesen  Spaltungen,  die  in  altem  Stammverhältnissen 
ihren  Grund  hatten,  kamen  aber  noch  neue  in  Folge  der  Fa- 
milienverhältnisse des  Perdikkas.  Dieser  hatte  nämlich 
mehrere  Brüder.  Dem  einen,  Alketas.  hat  er  nach  Piaton 
die  HeiTSchaft  entrissen.  Da  wir  nicht  wissen  ob  Alketas  älter 
oder  jünger  als  Perdikkas  war,  so  lässt  sich  nicht  bestimmt 
entscheiden,  ob  das  so  zu  verstehen  sei,  dass  Perdikkas  den 
Alketas  vom  Throne  ganz  Makedoniens  gestossen.  oder  ob 
dieser,  wie  der  zweite  Bruder,  Philippos,  nur  einen  Theil  des 
Landes  erhielt,  der  ihm  dann  von  Perdikkas  entrissen  wurde. 
Doch  scheint  in  Piatons  Erzählung  das  erstere  zu  liegen.  Be- 
merkenswerth  ist,  dass  er  in  allen  Kämpfen  des  Perdikkas 
nie  genannt  wird.   Aviewohl    er  nach  dessen   Tod  noch  lebte.  3) 


1)  Thuk.  IV,  79.  Aristot.  Polit.  VIII,  p.  219,  2o  Bekker  nennt  ihn 
Arrhabaios,  so  auch  Strabo  VII,  S.  326 C,  der  überdies  sagt,  er  habe  dem 
Geschlecht  der  liakchiaden  angehört.  —  Thukydides  sagt  zwar  nirgends 
ganz  bestimmt,  dass  die  Lj-nkesten  die  Oberhoheit  der  untern  Makedonier 
anerkannten,  oder  ihre  Bundesgenossen  waren ,  da  man  II,  99  die  Worte : 
et  ;j[j.|j.aya  [i£v  dort  to'jtoi?  •au  \j~r{x.oa,  ßaaiXeiot;  0  v/zi  7li%'  a-jTd  allenfalls 
bloss  auf  a/Xn  I&vt,  beziehen  kann.  Allein  es  ist  wohl  viel  natürlicher,  es 
auch  auf  die  Lj-nkesten  und  EUmioten  zu  beziehen.  Dazu  kommt,  die 
nachherigen  Feindseligkeiten  zwischen  Perdikkas  und  Arrhibaios  beweisen 
gar  nichts  für  frühere  völlige  Unabhängigkeit  der  Lynkester,  vielmehr 
tragen  sie  durchaus  den  Charakter  eines  Versuchs  des  Arrhibaios,  sich  von 
der  lästigen  Oberherrschaft  zu  befreien  [vgl.  Poppo  Prol.  in  Thucyd.  I,  2 
S.  418.  421.] 

2}  Thuk.  II,  SO.  3    piaton  Gorg.  S.  471  a. 


Perdikkas  II.  König  von  ]Makedonien.  249 

Einem  zweiten  Binder,  Philippos.  musste  der  König 
einen  Theil  des  Reichs  abtreten ;  *)  unter  was  für  IJedingungen, 
wird  nicht  gemeldet.  Die  Herrschaft  Philipps  lässt  sich  nach 
Thukydides  ziemlich  genau  bestimmen.  Sie  lag  im  nordöst- 
lichen Theile  des  Reiches,  südlich  vom  Gebirge  Rerkine  und 
östlich  vom  Axios,  und  umfasste,  wie  es  scheint,  den  grossem 
Theil  des  Landes,  welches  den  Paionern  abgewonnen  worden 
war.  Als  Ortschaften  darin  werden  Eidomene,  Gortynia.  Ata- 
lante  und  Europos  genannt,  -j  Hatte  so  auch  wahrscheinlich 
PhiKpps  Gebiet  eben  keinen  grossen  Umfang,  so  war  es  doch 
nicht  ohne  Bedeutung,  als  der  Schlüssel  für  den,  der  aus  dem 
obern  Thrakien  nach  Makedonien  kommen  wollte.  Wer  es 
besetzt  hatte,  dem  lag  alles  Land  zwischen  dem  Axios  und 
StrjTnon  offen. 

Ein  vierter  Sohn  des  Alexandros,  mit  Namen  Amyntas, 
wird  von  Porphyrios  genannt.  Er  greift  aber  nirgend  in  die 
Ereignisse  ein.  ^/ 

Nach  innen  musste  also  Perdikkas,  einer  natürlichen  Po- 


1)  Thuk.  I,  57. 

-]  Thuk.  II,  100.  Wenn  Thukydides  sagt,  die  Thrakier  seien  nur  in 
den  Theil  von  Makedonien  eingedrungen,  der  links  von  Kyrrhos  und  Pella 
lag  und  hätten  Bottiaiis  nicht  betreten,  so  dürfen  wir  wohl  mit  Bestimmt- 
heit annehmen,  dass  sie  den  Axios  nicht  überschritten.  Das  auf  dem  Wege 
zwischen  Edessa  und  Pella  liegende  Paläo-Castro,  in  dem  K.  O.  Müller  in 
der  Anzeige  von  Cousinerys  Reise,  Gott.  G.  A.  1S33.  S.  126u,  Kyrrhos 
oder  Gortynia  finden  wollte ,  wird  darum  nur  Kyrrhos  sein  können ,  da 
Gortynia  auf  dem  linken  Ufer  des  Axios  gesucht  werden  muss.  [Abel- 
Makedonien  S.  179  Anm.  1  setzt  Kyrrhos,  auf  Polyaen.  III,  4,  1  gestützt, 
ans  Meer.  AVoelfTlin  hat  die  verfehlte  Vermuthung  von  Hemsterhuys 
S-A'jpw  in  den  Text  aufgenommen.]  —  Im  Süden  werden  Mygdonia,  Grestonia 
und  Anthemus  der  Herrschdft  Philipps  bestimmt  entgegengestellt. 

3;  Sync.  500  Dind.  :  oOto;  ;'A/.£;avopo;;  ZT/e  o6o  uio'j;,  n£[i^i7.7.av  y.al 
'Atfjvtav,  «UV  n£poiy.y.a;  (j.£v  efJasf/.S'jaäv  e'xyj**  'AfxuvTa;  oe  ravTa  xov  ß'.ov 
ioKoTtxöj;  Cr^aa;  'Ai-iu-t-j  utov  'Apioaiov.  —  Da  Philippos  von  Porphyrios 
nirgends  erwähnt  wird,  könnte  man  beinahe  vermuthen,  es  sei  dieser  Amyn- 
tas derselbe,  der  bei  Thukydides  Sohn  des  Philippos  heisst;  allein  dagegen 
sprechen  die  Worte  zavta  -röv  ßtov  ioiujTr/.(5j;  C^act;.  Noch  weit  weniger  darf 
man  aber  mit  Poppo  dem  Scholiasten  [bei  Poppo  III,  2  S.  449]  zu  Thuk. 
II,  95  folgen,  welcher  den  Sohn  des  Philippos  mit  König  Amyntas  II.  ver- 
wechselt und  zum  Vater  Philipps  des  zweiten  macht. 


250  Perdikkas  II.  König  von  ^L\kei>onien. 

litik    zufolge,    nach    grösserer   Einheit    des    Reiches    trachten, 
■was  er  auch  mit  Erfolg  gethan  hat. 

Gegen  aussen  Avaren,  Avie  schon  oben  bemerkt,  die  Athe- 
ner an  der  Küste  seine  Nachbarn.  War  er  aber  auch  selbst 
athenischer  Bürger,  so  hatte  doch  diese  Verbindung  auf  die 
Politik  beider  Theile  wenig  Einfluss  geübt,  und  umsonst  sucht 
man  die  freundlichen  Verhältnisse,  welche  den  gi-össem  Theil 
der  Regierung  des  Alexandros  hindurch  zAvischen  Athen  und 
Makedonien  bestanden  hatten,  wiederzufinden.  Die  auf  Tha- 
sos  Eroberung  folgenden  Schritte  Athens  waren  nicht  geeignet 
gewesen,  dem  Könige  Ziitrauen  einzuflössen.  Denn  wenn 
auch  wegen  andenvärtiger  Beschäftigung  einige  Jahre  hindurch 
keine  unmittelbaren  Versuche  gemacht  Avurden,  sich  in  der 
Nähe  Makedoniens  weiter  aiiszudehnen ,  so  fällt  doch  gerade 
in  die  letzten  Jahre  des  Alexandros  und  die  ersten  des  Per- 
dikkas die  Umbildimg  der  hellenischen  Bundesgenossenschaft 
iinter  attischem  Vorstande  in  eine  strenge  Herrschaft  Athens 
über  die  Bundesgenossen.  Dadurch  Avurde  jede  Ausdehnung 
makedonischer  Macht  an  der  Küste  unmöglich  gemacht ;  denn 
AAährend  bei  der  Isolining  der  hellenischen  Kolonien  leicht 
ein  Ort  nach  dem  andern  durch  GcAAalt  oder  Unterhandlung 
Aon  dem  überlegenen  Makedonien  in  Abhängigkeit  gebracht 
AAcrden  konnte,  Avie  das  früher  mit  Pydna.  Therme  und  an- 
dern AA'eniger  bedeutenden  Niederlassungen  geschehen  Avar.  so 
hätte  jetzt  ein  Versuch,  zinspflichtige  Städte  Athens  zu  unter- 
AAcrfen,  die  Existenz  des  Reiches  gefährden  können.  Ja  es 
drängt  sich  die  Vennuthung  auf,  Athen  habe  sogar  Städte, 
die  Makedonien  gehorchten,  zu  seiner  Herrschaft  zu  ziehen 
gesucht.  Ueberhaupt  setzten  die  Athener  einen  hohen  Werth 
auf  die  Besitzungen  an  der  Küste  Makedoniens  und  Thrakiens 
Avegen  der  reichen  Hülfsquellen ,  Avelche  sie  boten.  Aus  dem 
Bestreben,  sie  sicher  zu  stellen  und  daselbst  einen  zuver- 
lässigen Mittelpunkt  zu  gCAvinnen,  ging  die  Aviederholte  An- 
lage A'on  Amphipolis  an  den  neun  Wegen  am  Strymon  hervor. 
Im  29ten  Jahre  nach  dem  oben  erAvähnten  durch  die  Edoner 
vereitelten  Versuche  gelang  es  Ilagnon.  dem  Sohne  des  Ni- 
kias ,  der  zahlreiche  Ansiedler  mit  sich  führte ,  daselbst  eine 
mächtige  Stadt  zu  gründen .  Avelche  den  Strymon  beherrschte 
und  die    Städte   Chalkidikes    mit    denen    östlich   vom  StrATnon 


PbRDIKKAS    II.    KÖNIG    TON    M.\KEDOXIEN.  251 

verband.  1)  fOl.  S5.  4  .  Dieser  Punkt  gab  den  Athenern 
einestheils  die  Mittel,  die  übrigen  Städte  jener  Gegend  ni 
strenger  Abhängigkeit  zu  halten,  anderntheils  hielt  er  Ihra- 
kien  und  Makedonien  von  der  Avichtigen  Mündung  des  Stry- 
mon  entfernt  und  musste  in  Perdikkas  auch  jeden  Gedanken 
entfernen,  sich  über  den  Fluss  auszudehnen.  Darum  hat 
auch  später   Philipp  II.    so  grossen  Werth  auf  den  Besitz  der 

Stadt  gelegt. 

Gerade  aber  dasjenige,  Avas  anfangs  den  König  am  meisten 
beunruhigen  musste,  nämlich  die  Gründung  einer  eigenthchen 
Herrschaft  Athens  gab  ihm  bald  die  Mittel  in  die  Hände,  den 
gefährlichen  Feind  zu  bekämpfen.  Der  stets  zunehmende  Druck, 
den  das  athenische  Volk  gegen  seine  Bundesgenossen  auch  m 
den  makedonischen  Gegenden  übte,  brachte  diese  dermassen 
auf,  dass  es  den  Aufreizungen  des  Perdikkas  in  \  erbmdung 
mit'  den  Machinationen  der  Peloponnesier  gelingen  konnte, 
Athens  Macht  hier  zuerst  zu  erschüttern.  Ehe  wir  aber  zu 
der  Darstellung  dieser  Ereignisse,  die  kurz  vor  dem  pelopon- 
nesischen  Kriege  ihren  Anfang  nehmen,  übergehen,  müssen 
Avir  noch  einen  Blick  auf  einen  andern  drohenden  Femd  des 
Perdikkas  Averfen. 

Nach  der  Vernichtung  der  persischen  Macht  in  Europa 
hatte  sich  nämlich  unter  den  thrakischen  Stämmen  Teres,  der 
Fürst  der  Odrysen,  zu  bisher  nicht  gekanntem  Ansehen  erhü- 
ben. Obwohl' unbekannt  ist,  wann  er  seine  Regierung  ange- 
treten, und  wie  weit  er  die  Gränzen  seines  Reiches  ausgedehnt 
hatte,  als  er  es  auf  seinen  Sohn  Sitalkes  vererbte,  so  ist  doch 
so  viel  gewiss,  dass  es  in  der  Zeit  von  Alexandros  Tode  bis 
zum  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges  sich  drohend  im 
Osten  und  Nordosten  von  Makedonien  ausbreitete,  und  die 
Verlegenheiten  des  Perdikkas  vermehren  musste  2; . 

Diesen  Femden  gegenüber  hatte  Perdikkas  sehr  beschränkte 
Hülfsmittel.     Das  kräftige  makedonische  Volk    erscheint   zwar 


1,  Vergl.  oben  Anmerkung  3  S.  246.  Amphipolis  lag,  wo  jetzt  das  Dorf 
Jeni-Keui,  nach  Cousinery. 

2  Vergl.  unten.  Thukvdides  beschreibt  daS  Odrysenreich  erst  unter 
Sitalkes.  Daher  Avir  nicht"  bestimmen  können,  Avie  gross  es  schon  bei 
Perdikkas  Thronbesteigung  unter  Teres  w-ar. 


252  Perdikkas  II.  König  von  ^VL^kedonien. 

durchweg  seinen  Fürsten  anhänglich.  Aber  gerade  damals  war 
das  Land,  wie  oben  bemerkt,  zerrissen,  die  Fürsten  der  krie- 
gerischen Bewohner  der  obern  Thäler  standen  dem  Könige 
feindlich  gegenüber.  Dann  fehlte  es  auch  für  den  Theil,  der 
unbestritten  Perdikkas  Herrschaft  anerkannte ,  noch  an  einer 
ordentlichen  Organisation  i^,  ohne  welche  auch  die  ausgezeich- 
netste Tapferkeit  nichts  bedeutendes  leisten  konnte,  und  die 
%'ielfachen  Bedrängnisse  nach  innen  und  aussen  scheinen  dem 
Könige  nicht  hinlängliche  Müsse  gewährt  zu  haben,  eine  solche 
fest  zu  begründen.  Ein  stehendes  Heer,  wie  Philipp  und 
Alexandros  es  führen,  existirte  noch  nicht,  sondern  so  weit 
die  Nachrichten  uns  hierüber  Licht  gewähren,  zog  jeder  wehr- 
hafte Mann  im  Fall  des  Krieges  aus,  und  kehrte  nach  beendig- 
tem Feldzug  in  die  Heimath  zurück. 

Als  die  vorzüglichste  Waffengattung  der  Makedonier  er- 
scheinen damals  die  geharnischten  Reiter,  die,  der  Natur  der 
Sache  nach  hauptsächlich  aus  dem  Adel  gebildet,  sich  durch 
ihre  Kühnheit  auszeichneten.  Sie  scheinen  gewöhnlich  unter 
den  Waffen  gewesen  zu  sein  und  die  unmittelbare  Umgebung 
des  Königs  gebildet  zu  haben  2  .  Schwerbewaffnetes  Fussvolk 
stellten  besonders  die  hellenischen  Städte  des  Reiches  3' .  Auch 
die  L}"nkester  erscheinen  im  Laufe  des  Krieges  mit  einem  be- 
deutenden Hoplitenheere  im  Felde  ^.  was  beweist,  dass  schon 
damals  auch  den  eigentlichen  Makedonien!  diese  Waffengat- 
tung durchaus  nicht  fremd  war.  Wie  sehr  sie  ihrem  Charak- 
ter entsprach,  hat  Philipp  durch  die  Gründung  der  Phalanx 
bewiesen.  Der  grössere  Theil  des  Fussvolks  bestand  aber  zu 
Perdikkas  Zeit  noch  aus  Leichtbewaffneten,  die  ohne  Zweifel 
den  kleinen  thrakischen  Schild  -iÄtr,  trugen,  und  im  Felde 
brauchbarer  waren,  als  die  griechischen  'lihoi.  Befestigte  Städte 
gab  es  für  die  Grösse  des  Landes  nicht  eben  ^dele;  die  be- 
deutendem Orte  waren  Dion,  die  Gränzstadt  gegen  Thessalien^), 


»;  Thuk.  II,  100,  1. 
2,  Thuk.  I,  61.  II,  100.  IV,  124. 
3;  Thuk.  IV,  124.  4    Thuk.  a.  a.  O. 

5;  Thuk.    IV,   78,    6.     Vergl.   Poppo   z.   Thuk.    1.  Th.    2.  B.    S.  429. 
K.  O.  Müller  über  die  Maked.  S.   I2'. 


Perdikkas  II.  König  von  ^VLajcedoxien .  253 

dann  Pytlnai),  Beroia^).  Aigal'^',  Thermal)  Pella^],  Ichnai*^), 
Kyrrhos  '  ,  Amissa^),  nnd  im  Gebiete  Philipps  werden  als  be- 
festigte Orte  Europos,  Eidomena,  GortjTiia  und  Atalante  ge- 
nannt^). Die  obem  Makedonier  Avohnten  meist  in  offenen 
Flecken  'o) .  Grosse  Verbindungsstrassen  waren  noch  nicht  ge- 
baut. Eine  Flotte  fehlte  ganz.  Hingegen  können  die  Ein- 
künfte Makedoniens  schon  damals  verhältnissmässig  bedeutend 
genannt  Averden;  denn  das  Land  war  reich  und  fruchtbar. 
Pydna  und  Therme  waren  ansehnliche  Seestädte,  die  ohne 
Zweifel  Hafenzölle  hatten.  Endlich  besass  schon  damals  Ma- 
kedonien Bergwerke,  die  reichlichen  Ertrag  abwarfen.  Herodot 
berichtet  11),  dass  Alexaiidros  aus  den  Minen,  die  zunächst  dem 
See  Prasias  lagen,  täglich  ein  Talent  Silbers  gewann.  Andere 
sind  mir  aus  der  damaligen  Zeit  nicht  bekannt;  denn  diejeni- 
gen, welche  Philipp  II.  mit  so  vielem  Erfolge  ausbeutete,  lagen 
östlich  vom  Strymon  in  Ländern,  die  erst  er  mit  Makedonien 
vereinigte.  Jedenfalls  aber  hatte  Perdikkas  bedeutende  Geld- 
mittel zu  Gebote,  und  fand  auch  in  der  Anwendung  derselben 
eine  HauptwafFe,  indem  er  sich  dadurch  bald  Anhänger  zu 
gewinnen  wusste,  bald  fremde  Krieger  in  Sold  nahm. 

Aus  dem  Gesagten  erhellt  zur  Genüge,  dass  die  Lage  des 
Königs  eine  schwierige  war.     Es  bedurfte  einer  grossen  Fein- 


'  Thuk.  1,  lii",  61.  Das  Pydna  des  Perdikkas  wurde  von  Archelaos 
zerstört  und  20  Stadien  landeinwärts  verlegt.  Diodor  XIII,  49.  Dieses 
zweite  Pydna  ist  wohl  das  spätere  Ki-o'jv.     Strabo  VII  p.  .^30,  22.  C. 

2}  Thuk.  I,  61. 

3)  Kommt  bei  Thuk.  nicht  vor.  —  Jetzt  Vodina  am  Vistritza ,  dem 
obern  Lydias.  Vergl.  K.  O.  Müller  in  der  Anz.  v.  Cousinerys  Reise  a. 
a.  O.  S.'l260. 

^;  Thuk.  I,  61.     Bekanntlich  jetzt  Salonichi. 

^1  Thuk.  II,  99.  100.     Jetzt  Allah-Klissa.     Müller  a.  a.  O. 

6)  Herodot.   VII,   123.     Steph.  Byz.   s.  v.  "lyyxi. 

'^)  Jetzt  ohne  Zweifel  Paläo-Castro.  vergl.  Anm.  2  S.  249. 

8)  Thuk.  IV,   128.     Gränzort  gegen  Lynkos. 

9)  Thuk.  II,  100.  Die  Lage  dieser  Orte  lässt  sich  nicht  mit  Sicher- 
heit bestimmen. 

10)  Thuk.   IV,   124. 

11)  Herodot.  V,  17.  Ueber  den  Reichthum  der  makedonischen  Gebirge 
an  edlen  Metallen  vergl.  man  noch  Strabo  VII,  S.  330,  34  C.  und  XIV, 
S.  680  C. 


254  Perdikkas  II.  König  von  Makedonien. 

heit  und  l^eharrliclikeit.  sich  aus  derselben  so  zu  ziehen,  dass 
Makedonien  an  Kraft  und  Einheit  gewann,  und  das  ist  Per- 
dikkas gehingen,  ohne  dessen  Anstrengungen  Archelaos  dem 
Reich  nicht  den  Glanz  hätte  geben  können,  welchen  die  Zeit- 
genossen rühmen. 

In  dem  Zeiträume  von  mehr  als  20  Jahren  vom  Regie- 
rungsantritte des  Königs  bis  Ol.  86.  4.  a.  Ch.  432.  wird  Per- 
dikkas Name  kaum  genannt,  weil  keine  bedeutenden  Ereignisse 
die  Hellenen  mit  ihm  in  Berührung  brachten.  Er  stand  äusser- 
lich  im  Bündnisse  mit  Athe^i,  dessen  Macht  er  jedoch  eifer- 
süchtig beobachtete.  Yerl)indungen  in  den  attischen  lUindes- 
städten,  die  Avir  später  vorfinden .  mögen  damals  schon  ange- 
knüpft Avorden  sein,  Fehden  mit  seinen  Brüdern  und  den  andern 
Fürsten  der  Makedonier  vielleicht  schon  statt  gehabt  haben. 
Wenigstens  finden  wir-  Ol.  S6.  4.  a.  Ch.  432  Philippos  und 
den  muthmasslichen  Fürsten  der  Elimioten,  Derdas,  in  offenem 
Kriege  gegen  Perdikkas ,  und  so  schwach  Maren  die  Bande, 
welche  den  König  mit  den  Athenern  verknüpften,  dass  diese 
mit  jenen  beiden  ein  Bündniss  schlössen,  einer  sehr  natürlichen 
Politik  zu  Folge.  Makedonien  zu  keiner  Einheit  kommen  zu 
lassen  ^) .  Unter  Avelchen  Bedingungen  die  Athener  den  Fein- 
den des  Perdikkas  Beistand  leisteten,  Avird  leider  nicht  gemel- 
det. Auf  jeden  Fall  war  es  aber  für  diesen  eine  tiefe  Krän- 
kung, zu  der  er  keinen  Anlass  gegeben  zu  haben  scheint. 
Athen  lud  dadurch  die  Schuld  des  ersten  unredlichen  Han- 
delns auf  sich.  Perdikkas  aber  setzte  sich  jetzt,  da  er  keine 
Rücksichten  mehr  gegen  seine  ehemaligen  Bundesfreunde  zu 
beobachten  hatte .  mit  ihren  offenen  und  heimlichen  Gegnern 
in  Verbindung,  avozu  ihm  die  Verhältnisse  der  hellenischen 
Städte  in  seiner  Nähe  Gelegenheit  darboten.  Die  Athener 
hatten  nämlich  in  Folge  ihrer  EntzAAciung  mit  den  Korinthiern 
und  zugleich  aus  Besorgniss  vor  Perdikkas  an  die  korinthische 
Colonie  Potidaia  auf  Pallene.  Avelche  dem  Bunde  als  tribut- 
pflichtiges Glied  angehörte,  die  Forderung  gestellt,  einen  jähr- 
lich aus  der  Mutterstadt  bestellten  Magistrat  fortan  nicht  mehr 
aufzunehmen  und  einen  Theil  ihrer  Mauern  einzureissen.  Die 
dadurch    in  Potidaia    und   den   benachbarten  Städten   rege  ge- 

')  Thuk.  I,   57. 


I 


PeRDIKK.\.S    II.    KÖNIG    VON    MAKEDONIEN.  255 

woidene  Unzufriedenheit  benutzte  der  König  sogleich.  Er  trat 
in  Unterhandhmg  mit  den  Spartiaten.  um  sie  zur  Erklärung 
des  Kriegs  an  Athen  zu  bewegen,  schloss  mit  den  Korinthiern 
ein  Bündniss  und  wandte  Alles  an,  um  die  chalkidischen 
Städte  und  Potidaia  zu  offenem  Abfalle  zu  bringen.  Als  nun 
eine  potidaiatische  Gesandtschaft  umsonst  in  Athen  Zurück- 
nahme des  Befehls  zu  erwirken  suchte,  vielmehr  eine  Flotte 
von  30  Schiffen  zur  Vollziehunar  desselben  inid  zur  Bekriesrun» 
Makedoniens  ausgesandt  wurde,  als  hinwiederum  die  l^ehörden 
Spartas  verhiessen.  den  Aufstand  der  Städte  durch  einen  Ein- 
fall in  Attika  zu  unterstützen,  di  fielen  die  Potidaiaten  und 
die  mit  ihnen  eidlich  verbündeten  Chalkidier  und  Bottiaier  ab. 
und  Perdikkas,  der  den  Athenern  einen  harten  Widerstand 
bereiten  wollte ,  bewog  die  Chalkidier  dazu .  ihre  kleineren 
Städte  an  der  Küste  zu  zerstören  und  nach  Olynth  zu  ziehen. 
Zur  Entschädigung  für  das  verlassene  Land  wies  er  ihnen  auf 
die  Dauer  des  Krieges  Ländereien  in  seinem  Gebiete  in  Myg- 
donia  am  See  Bolbe  an  ^] .  Aon  diesem  Synoikismos  der  Chal- 
kidier schreibt  sich  die  Bedeutung  Olynths  her,  und  es  bleibt 
bemerkenswerth,  dass  ein  makedonischer  Fürst  der  eigentliche 
Gründer  der  Stadt  ward.  Avelche  später  das  Reich  dem  Unter- 
gange nahe  brachte  und  erst  nach  dem  hartnäckigsten  Wider- 
stände von  Philipp  unterworfen  wurde.  Ohne  die  schrecklichen 
Thronzwiste  aber,  welche  nach  Archelaos  Tod  Makedonien  tief 
erschütterten,  wäre  Olynth  nie  zu  solcher  Macht  gekommen, 
und  zu  Perdikkas  Zeit  war  ein  Vereinigungspunkt  gegen  Athen 
nöthig.  Die  Art.  wie  der  König  den  zu  schaffen  wusste.  nicht 
ohne  eigene  Opfer,  ist  ein  15eweis  für  seine  Umsicht,  und  man 
thut  Unrecht,  ihn  dabei  einer  kurzsichtigen  Politik  zu  zeihen. 
Indessen  war  das  attische  Heer  auf  den  30  Schiffen  an- 
gekommen, und  da  es  sich  zu  schwach  fand,  um  die  verschie- 
denen Feinde  zugleich  zu  bekämpfen,  wandte  es  sich  nach 
^Makedonien  und  vereinigte  sich  mit  den  Streitkräften,  die  unter 
Philippos  und  den  Brüdern  des  Derdas.  unter  denen  Pausanias 
genannt  wird,  in  das  untere  Land  eingefallen  waren.  Die  Ma- 
kedonier  des  Perdikkas  suchten  hinter  den  Mauern  der  Städte 


')  Thuk.  I,  58.     Diodor  XII,    34,  der  seine  Erzählung    aus  Thukyd. 
geschöpft  hat. 


256  Perdikk-^s  II.  König  von  Makedonien. 

Schlitz.  Die  Athener  aber  eroberten  Theraie,  dann  zogen  sie 
vor  Pydna.  Mittlerweile  hatte  Potidaia  eine  Besatzung  von 
2000  Peloponnesiem  unter  dem  Korinthier  Aristeus  erhalten, 
und  auch  von  Athen  aus  hatte  Kallias  noch  40  Schiffe  und 
2000  SchAverbewafFnete  herbeigeführt.  Er  vereinigte  sich  mit 
dem  frühem  Heere  vor  Pydna,  und  zwang  den  König  zu  einem 
Vertrage  und  Bündnisse.  Darauf  zog  er  zu  Lande  gegen  Po- 
tidaia. Unterwegs  wurde  ein  vergeblicher  Versuch  gemacht, 
Beroia  zu  erobern ' ; .  Man  hat  daraus  schliessen  wollen,  diese 
Stadt  habe  damals  nicht  zu  Makedonien  gehört,  allein  wohl 
mit  Unrecht.  Zwar  ist  kaum  glaublich,  dass  schon  bei  der 
Ankunft  der  Athener  vor  Beroia  Perdikkas  ihnen  wieder  die 
Freundschaft  aufgekündet  hatte;  aber  sehr  wohl  möglich,  dass 
die  Stadt  aus  eigenem  Entschlüsse  die  Tbore  verschloss.  Es 
lässt  sich  hier  um  so  weniger  jener  Schluss  machen,  da  uns 
die  Friedensbedingungen  ganz  unbekannt  sind;  ja  es  hat  nichts 
Unwahrscheinliches,  dass  Perdikkas,  der  auf  jeden  Fall  schon 
wieder  auf  Abfall  sann,  Beroia  heimlich  zum  Widerstand  ver- 
anlasst hatte.  —  Sobald  nämlich  die  Feinde  entfernt  waren, 
erklärte  der  König  die  ihm  abgenöthigte  Uebereinkunft  für 
aufgelöst  und  unterstüzte  die  Potidaiaten  von  neuem,  indem 
er  ihnen  unter  anderm  200  Reiter  sandte.  Dafür  wählten  ihn 
die  versammelten  Bundesgenossen,  während  sie  dem  Korinthier 
Aristeus  den  Oberbefehl  über  das  Fussvolk  übertrugen,  zum 
Anführer  der  gesammten  Reiterei.  Perdikkas  aber,  der  wohl 
seine  eigenen  Lande  nicht  verlassen  konnte  oder  mochte,  setzte 
an  seine  Stelle  einen  gewissen  lolaos.  Nichtsdestoweniger  er- 
rangen die  Athener  unter  Mitwirkung  600  makedonischer  Rei- 
ter, welche  ihnen  Philippos  und  Pausanias  zugeführt  hatten, 
einen  entscheidenden  Sieg  vor  Potidaia  und  schlössen  bald, 
durch  ein  neues  Heer  unter  Phormions  Befehlen  verstärkt,   die 


1)  iGrote  hist.  of  Greece  IV  p.  205  Anm.  1  meint,  es  sei  nicht  die 
bekannte  makedonische  Stadt  Beroia,  die  von  der  Küste  entfernt  lag,  son- 
dern eine  Stadt  an  der  thrakischen  Küste,  nicht  sehr  weit  von  Gigonos 
und  verweist  auf  Steph.  s.  v.  Bspr,;  und  Tafel,  Thessalonica.  Index,  sehr 
zweifelhaft.  Mit  Recht  wird  jetzt  nach  Pluygers  anstatt  IrAaTpi-ba^zt^  ge- 
lesen :  i-\  StpE'Lav ,  wonach  dann  der  Eroberungsversuch  Strepsa  nicht 
Beroia  betrifft.  —  Classen  ikrit.  Bern,  zu  Thuk.  I,  61)  vermuthet  anstatt 
£;  Bsooiav  sei  £i  Beoarv  zu  lesen.] 


Perdikkas  II.  KöxiG  VON  Makedonien.  257 

Stadt  eng  ein.  Dann  durchzog  dieser  Heerführer  verwüstend 
das  Land  der  Bottiaier  und  Chalkidier  und  nahm  einige  kleine 
Ortschaften,  während  dagegen  Aristeus.  der  ans  dem  belager- 
ten Potidaia  zu  entwischen  Avusste ,  mit  Erfolg  einen  kleinen 
Krieg  gegen  die  Athener  führte  und  zugleich  die  Absendung 
neuer  Hülfe  aus  dem  Peloponnes  betrieb  ij. 

So  war  zwar  der  erste  Versuch,  Athens  Macht  in  der  Ge- 
gend von  Thrakien  und  Makedonien  zu  brechen,  nicht  ganz 
gelungen;  allein  nichts  destoweniger  war  die  Republik  an 
einer  sehr  empfindlichen  Stelle  verwundet.  War  auch  Potidaia 
eingeschlossen,  so  befanden  sich  doch  die  chalkidischen  und 
bottiaiischen  Orte  fast  alle  im  Aufstande ,  und  die  Herrschaft 
Athens  Avar  dort  in  ihren  Grundpfeilern  erschüttert.  Darum 
die  grossen  Anstrengungen  zur  Wiederherstellung  derselben, 
welche  auch  nach  dem  Ausbruch  des  peloponnesischen  Kriegs 
im  Frühling  431'  fortgesetzt  Avurden.  Denn  obgleich  die  Pe- 
loponnesier  im  Sommer  dieses  Jahres  mit  grosser  Heeresmacht 
in  Attika  einfielen,  so  machte  das  von  Perikles  befolgte  Ver- 
theidigimgssystem  es  dennoch  möglich,  ohne  die  Sicherheit 
Athens  zu  gefährden,  bedeutende  Streitkräfte  nach  Chalkidike 
zu  senden.  Das  hatten  die  Feinde  nicht  erAvartet.  daher  Lau- 
heit bei  den  Peloponnesiern .  Avie  bei  Perdikkas.  Dieser 
Avünschte  den  Frieden  um  so  mehr,  als  ein  neuer  Bundesge- 
nosse Athens  Macht  in  seiner  Nähe  ein  unbedingtes  Ueberge- 
Avicht  zu  geben  schien.  Sitalkes  nämlich,  der  Sohn  des 
Teres,  war  seinem  Vater  in  der  HeiTschaft  über  die  Odrysen 
gefolgt  und  hatte  das  Reich  über  die  meisten  thrakischen 
Stämme  ausgedehnt.  Wenigstens  herrscht  er  zAvei  Jahre  spä- 
ter über  alle  Länder  zAvischen  dem  ägäischen  Meere  im  Süden, 
dem  Istros  im  Norden,  dem  Pontos  im  Osten  und  einer  Linie, 
die  A^on  Abdera  aus  nördlich  nach  dem  obern  Strymon,  dein 
Oskios  (Isker)  und  dem  Istros  führt,  im  Westen  -  .  Mit  diesem 
Fürsten  schlössen  die  Athener  schon  im  ersten  Jahre  des  Krie- 


1)  Thuk.  I,  58-65. 

2'  Thuk.  II,  95,  96,  vergl.  Kortüm  zur  Gesch.  hellen.  Staatsverfassungen 
S.  164  folg.  Gaus  Sitalkes  in  dem  Philol.  1818  p.  352  ff.  und  bei  Popi^o 
Thuk.  I,  2.  S.  408.  Gail  stellt  indessen  den  Odrysenkönig  wohl  etwas  zu 
hoch.  Interessant  wäre,  genauer  zu  erforschen,  in  welchem  Verhältnis»  die 
hellenischen  Küstenstädte  zu  Sitalkes  standen. 

Vis  eher,  Schriften  I.  27 


•258  Perdikkas  II.  KÖNIG  vox  INL\ki;dünien. 

ges  ein  Bündniss  ab ,  durch  Vermittlung  des  Abderiten  Xym- 
phodoros.  der  eine  Tochter  desselben  zur  Frau  hatte  \.  Mit 
seiner  Hülfe  hofften  sie  die  abtrünnigen  Bundesstädte  und  den 
Perdikkas  zu  züchtigen.  Die.  Gefahr  war  für  diesen  um  so 
dringender,  als  sein  Bruder  Philippos  sich  bei  Sitalkes  befand 
und  von  ihm  Wiedereinsetzung  in  sein  Fürstenthum.  im  gün- 
stigsten Falle  selbst  die  HeiTschaft  über  alle  Makedonier.  er- 
wartete. Aus  diesem  Umstände,  den  Thukydides  berichtet 2. 
folgt .  dass  Perdikkas  den  Philippos  vertrieben  und  ihm  sein 
Gebiet  genommen  hatte,  ein  höchst  wichtiges  Ereigniss.  das 
nur  darum  nicht  von  Thukydides  gemeldet  Avird.  weil  es  keinen 
unmittelbaren  Einfluss  auf  den  Gang  des  peloponnesischen 
Krieges  übte.  Das  Unheil  aber,  welches  die  Verbindung  Athens, 
des  Sitalkes  und  d^  flüchtigen  Bnulers  drohte.  A^-usste  der 
schlaue  Makedonier  abzuwenden.  Er  gewann  durch  A'erspre- 
chungen,  die  ^vir  leider  nicht  kennen,  den  Odrjsenkönig,  dass 
er  den  Philippos  nicht  zurückführe  und  den  Frieden  zwischen 
Makedonien  und  Athen  vermittle.  Dieser  kam  in  der  That 
zu  Stande,  und  zAvar  unter  sehr  günstigen  Bedingungen  für 
Perdikkas.  Denn  er  erhielt  Thenne  zurück,  das  die  Athener 
seit  einem  Jahre  in  Händen  hatten.  So  war  das  Reich  ge- 
rade im  sch^Aierigsten  Zeitpunkte  -vWeder  vereinigt,  die  wich- 
tige Hafenstadt  wieder  gewonnen  worden,  und  da  Derdas  und 
seine  Brüder  später  nicht  mehr  erscheinen,  so  darf  mit  Sicher- 
heit angenommen  werden,  dass  auch  sie  die  Oberhoheit  des 
Königs  wieder  anerkannten.  Für  diese  Vortheile  musste  Per- 
dikkas freilich  den  Athenern  Hülfe  gegen  die  einst  von  ihm 
selbst  zum  Aufstande  verführten  Chalkidier  leisten,  und  er 
zog  auch  wirklich  mit  Phormion  gegen  sie  zu  Felde,  ohne  dass 
indess  etwas  Namhaftes  erreicht  worden  wäre.  Gegenüber  dem 
grossen  Gewinn ,  den  ihm  der  Friede  brachte ,  mochte  ihm 
dies  Opfer  eben  nicht  schwer  erscheinen. 

Der  Krieg   zwischen    den  Athenern   und  den  abgefallenen 
Bundesstädten    ^Aiirde    mit    wechselndem    Glücke    fortgeführt. 


ij  Thuk.  II,  29. 

-)   Thuk.   II,  95:    0   zt   -(äo    Wiw.y./.rj.%    ctuTÖj  'j-'jZ/i\>.-.-i^j;,  et  ' k^r^-i'v.v.^  -i 

vergl.  mit  II,  20. 


Perduvkas  II.  KöxiG  VON  Makedonien.  259 

Zwar  ergab  sich  Potidaia  unter  der  Bedingung  freien  Abzuges 
für  Besatzung  und  EinAvohner  im  Winter  des  zweiten  Kriegs- 
jahres i)  (Munychion  Olymp.  87.  3.  429),  hingegen  errangen 
die  [Chalkidier  und]  Bottiaier  im  folgenden  Sommer  einen  be- 
deutenden Sieg  bei  Spartolos^).  Nirgend  wird  Perdikkas  er- 
wähnt, dessen  Bundesgenossenschaft  den  Athenern  wenig  nützte. 
Ja  im  gleichen  Jahre  schickte  er  heimlich  1000  Mann  dem 
Spartiaten  Knemos  zu  Hülfe,  der  von  Amprakia  aus  eine  Un- 
ternehmung gegen  die  mit  Athen  verbündeten  Akarnanier  ver- 
suchte 3) . 

Nicht  geAvissenhafter  als  gegen  die  Athener  handelte  Per- 
dikkas gegen  Sitalkes ,  indem  er  seine  ^  ersprechuiigen  nicht 
erfüllte.  Fast  möchte  man  glauben,  es  sei  ihm  das  unmöglich 
gewesen,  da  nachher  der  Odryse  trotz  seiner  grossen  Anstren- 
gungen nicht  darauf  bestand.  Erzürnt  versammelte  dieser  im 
Herbste  des  dritten  Kriegsjahres  ein  zahlreiches  Heer,  um  den 
König  von  Makedonien  zu  züchtigen  und  die  chalkidischen 
Städte  für  Athen  zu  unterwerfen.  An  seinem  Hofe  befand 
sich  Amyntas,  der  Sohn  jenes  flüchtigen  Philippos,  der  in  der 
ZAvischenzeit  gestorben  sein  muss.  Diesen  wollte  er,  durch 
Perdikkas  Verfahren  selbst  seines  frühern  ^'ersprechens  entbun- 
den, nun  nicht  nur  in  die  Herrschaft  seines  Vaters  wieder  ein- 
setzen, sondern  ihn  zum  Könige  von  ganz  Makedonien  machen. 
Von  Athenischer  Seite  befand  sich  bei  ihm  Hagnon  an  der 
Spitze  einer  Gesandtschaft.  Eine  attische  See-  und  Landmacht 
sollte  die  Thrakier  in  C'halkidike  unterstützen.  Mit  einem 
Heere,  das  auf  etwa  100,000  Mann  zu  Fuss  und  50,000  zu 
Pferd  geschätzt  wurde,  drang  nun  Sitalkes  durch  das  Gebirge 
Kerkine,  über  die  paionische  Stadt  Doberos,  auf  einer  Kunst- 
strasse, die  er  bei  einem  frühern  Feldzuge  hatte  bauen  lassen, 
in  den  Theil  Makedoniens  ein,  welcher  früher  die  Herrschaft 
des  Philippos  gebildet  hatte.  Im  offenen  Felde  fand  er  keinen 
Widerstand;  denn  die  Makedonier  des  Perdikkas  hatten  sich 
in  die  Avenigen  festen  Plätze  des  Reiches  eingeschlossen.  Die 
Thrakier  aber  eroberten  in  Philippos'  ehemaligem  Gebiete 
Eidomene  mit  Sturm,    während  die  Anhänglichkeit  an  Amyn- 


1)  Thuk.  II,  70. 

■2;  Thuk.  II,  79.     Diodor  XII,  47.  3;  Thuk.  II,  80. 

17* 


2G0  Perdikkas  II.  König  von  Makedonien. 

tas,  den  Sohn  des  früheren  Landesfürsten,  andere  Ortschaften, 
namentlich  Gortynia  und  Atalante,  durch  Uebereinkunft  in  ihre 
Hände  brachte.  Nur  die  Stadt  Europos  -widerstand  in  dieser 
Gegend  dem  Feinde,  der  zur  Belagerung  nicht  geschickt  war. 
Ohne  sich  dadurch  aufhalten  zu  lassen,  drang  Sitalkes  in  das 
untere  Makedonien,  soweit  es  östlich  von  den  Städten  Pella 
und  KyiThos  lag,  vor,  und  plündernd  und  sengend  breiteten 
sich  die  Karbaren  zwischen  dem  Axios  vind  Strymon  aus  i) . 
Die  Makedonier  hatten  auch  hier  auf  allen  Widerstand  mit 
dem  Fussvolke  verzichtet,  suchten  hingegen  durch  ihre  Reiterei, 
welche  durch  Zuzug  von  den  Bundesgenossen  im  obem  Lande 
verstärkt  worden  war,  dem  Feinde  Abbruch  zu  thun.  Unter 
diesen  Bundesgenossen  haben  wir  uns  ohne  Zweifel  besonders 
die  Elimioten  und  Lynkesten  zu  denken,  welche  sonach  da- 
mals die  Oberhoheit  der  unteni  Makedonier  anerkannt  hätten. 
Die  nach  Landesbrauch  gepanzerten  Reiter  griifen  anfangs  kühn 
die  Feinde  an,  mussten  aber  bei  der  vielmal  überlegenen  An- 
zahl derselben  bald  den  Kampf  als  erfolglos  aufgeben.  Nach 
Verheerung  von  Mygdonia,  Grestoneia  und  Anthemus  wandte 
sich  ein  Theil  des  thrakischen  Heeres  gegen  die  Bottiaier  und 
Chalkidier,  musste  sich  aber  auch  hier,  da  die  erwartete  athe- 
niche  Hülfe  nicht  erschienen  war,  mit  Verwüstung  des  flachen 
Landes  begnügen.  Die  Städte  blieben  unversehrt.  Wurde 
also  hier  der  eine  Zweck  des  Feldzuges,  die  Beendigung  des 
chalkidischen  Krieges ,  verfehlt ,  so  gelang  es  anderseits  dem 
Sitalkes  eben  so  wenig,  seine  Absichten  gegen  Perdikkas 
durchzusetzen.  Dieser  half  sich  vielmehr  auch  jetzt  wieder 
durch  Lnterhandlungen  aus  der  Noth.  Er  gewann  den  Neffen 
des  Odrysenkömgs,  Seuthes,  den  Sohn  des  Spartakos,  den  ein- 
flussreichsten Mann  im  Reich  nach  dem  Könige  selbst,  durch 
das  Versprechen,  ihm  seine  Schwester  Stratonike  und  reiche 
Mitgift  zu  geben.  Der  einbrechende  Winter.  Mangel  an  Le- 
bensmitteln für  das  ungeheure  Heer,  wohl  auch  Missmuth  über 
das  Ausbleiben  der  Athener  kamen  hinzu,  und  so  zog  Sitalkes, 
nachdem  er  im  Ganzen  dreissig  Tage  in  Makedonien  und  Chal- 
kidike  verweilt,   schnell  nach  Hause 2.     Der   furchtbare  Feld- 


1)  Vergl.  oben  S.  249  Anm.  2. 

-]  Thuk.  II,  9.5 — 101.     Diod.  XII,  50,  .51    der  übrigens   sehr  un-v\ahr- 


Perdlkkas  II.  König  von  Makedonien.  261 

zug  war  also  für  Perdikkas  ohne  üble  Folgen  vorübergegangen, 
ja  hatte  ihm  den  Vortheil  gebracht,  sich  durch  Blutsbande  mit 
dem  Fürstenhause  der  Odrysen  zu  verbinden.  Denn  diesmal 
erfüllte  er  sein  Versprechen  ungesäumt.  Das  Bündniss  der 
Odrysen  mit  den  Athenern  aber  ging  seiner  Auflösung  entge- 
gen. Yv'enigstens  unterstützt  Sitalkes  sie  nie  mehr  durch 
Heeresmacht.  Zugleich  scheint  auch  der  Prätendent  Amyntas 
aufffeoreben  worden  zu  sein,  und  als  im  Sten  Jahre  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges  Ol.  S9.  1.  a.  Ch.  424.  Sitalkes  in  einem 
Feldzuge  gegen  die  Tiiballer  fiel,  folgte  ihm  Seuthes,  der 
Schwager  des  Perdikkas,  und  die  Verbindung  mit  Athen  hörte 
ganz  auf.  ^] 

Ohne  bedeutende  Ereignisse  vergingen  für  Makedonien  die 
nächsten  vier  Jahr-e.  Der  König  stand  in  friedlichen  Verhält- 
nissen zu  Athen,  ohne  jedoch  der  Stadt  Hülfe  zu  leisten. 
Gegen  die  chalkidischen  Städte  w^urde  der  Krieg  lau  und  mit 
wechselndem  Erfolge  geführt.  Denn  die  Hauptaufmerksamkeit 
der  Athener  war  in  dieser  Zeit  nach  Lesbos,  nach  Akarnanien 
und  Aitolien,  auch  schon  nach  Sicilien  und  ganz  besonders 
nach  dem  Peloponnese  selbst  gerichtet,  wo  die  Befestigung  von 
Pylos  und  die  Eroberung  von  Kythera  dem  Kriege  eine  ent- 
scheidende Wendung  zu  geben  versprachen.  Die  reissenden 
Fortschi-itte  der  athenischen  Waffen,  die  unerhörte  Kunde,  dass 
sich  292  Spartiaten  den  Athenern  als  Kriegsgefangene  ergeben, 
erregte  mit  Eecht  auch  wieder  die  Besorgnisse  des  Perdikkas 
und  der  benachbarten  Städte.  Die  Erhöhung  der  Tribute, 
welche  in  diese  Zeit  fällt  2,  ,  erfüllte  auch  die  noch  treu  ge- 
bliebenen Bundesgenossen  Athens  mit  Unzufriedenheit.  Zu- 
gleich sann  Perdikkas,  der  fortwährend  die  Vereinigung  aller 
Makedonier  unter  semem  Scepter  im  Auge  behielt,  darauf, 
den  Fürsten  der  Lpikester.  Arrhibaios,  der  sich  gegen  ihn 
auflehnte,  sich  zu  unterwerfen,  und  da  eigene  Macht  dazu  un- 
genügeird  schien,   warf  er  seinen  Blick  auf  Sparta. 

So  geschah  es  denn,  dass  Ol.  89.  1.  a.  Ch.  424  der  ma- 
kedonische König    und    die  Chalkidier,    denen    sich    heimhch 


scheinlich  die  Thrakier  aus  Furcht  vor  den  Rüsrungen  der  Chalkidier  und 
Thessalier  zurückkehren  lässt. 

1    Thuk.  IV.  101.  -]  Böckh,  ath.  Staatsh.  I,  S.  52.5. 


262  PeRDIKKAS    II.    KÖNIG    VON    M.VKEDONIEN. 

auch   mehrere   noch   nicht   von  Athen    abgefallene    Städte   an- 
schlössen, von  Sparta  die  Absendung  eines  Heeres  verlangten, 
um  Athens  Herrschaft  in  ihren  Gegenden  vollends  zu  brechen. 
Bereitwillig  entsprachen  die  Spartiaten,    weil    sie    durch  einen 
solchen  Feldzug  den  Feind  aus  ihrem  Lande  zu  ziehen  hoiFten 
und  zugleich  Gelegenheit  erhielten,   sich  der  gefährlichen  He- 
loten zu  entledigen  und  dem  thatkräftigen  Brasidas  einen  Wir- 
kvingskreis  ausserhalb  Lakonien  zu  verschaffen.     Dieser  Heer- 
führer,   ohne  ZAveifel    der   grösste  Mann  den  Sparta  im  Laufe 
des    peloponnesischen    Krieges    hervorbrachte,     zog    mit    1700 
Hopliten,   -worunter  700  Heloten,    über  Megara  nach  dem  tra- 
chinischen  Herakleia.     Yon    da   führten   ihn  angesehene  Män- 
ner aus  Pharsalos   und  Larissa,    meist  Freunde    des  Perdikkas 
und  der  C'halkidier,   gegen  den  Willen  des  Volkes  in  Eilmär- 
schen durch  Thessalien,  und  im  Spätsommer  des  Jahres  424  kam 
er  in  der  ersten  Stadt  des  Perdikkas  in  Dion  in  Pierien  an  ^  j . 
Inzwischen  hatten  die  Athener  dem  Könige,   welchem  sie 
mit  Recht  die  Herbeiziehung  der  Lakedaimonier  beimassen,  den 
Krieg  erklärt  und  ihre  Besatzungen  in  jenen  Gegenden  verstärkt. 
Perdikkas  aber  vereinigte  seine  Streitkräfte  mit  denen  des  Bra- 
sidas,  deren  Verpflegung ^    er  zur  Hälfte  übernahm,    während 
wahrscheinlich  den  C'halkidiern  die  andere  Hälfe  zur  Last  fiel. 
Das  Heer  rückte  gegen  Lpikos  vor.   dessen  Unterwerfung  Per- 
dikkas sich  versprach.     Als    er  aber  am  Eingange  des  Landes 
angekommen   Avar,    Avollte    Brasidas   vor  Eröffnung  der  Feind- 
seligkeiten versuchen,    den  Arrhibaios  durch  Unterhandlungen 
zum  Bundesgenossen  Spartas    zu   machen.     Denn  dieser   hatte 
ihm  entbieten  lassen,   er  sei  bereit,  ihn  als  Scliiedsrichter  zwi- 
schen   sich   und   Perdikkas    anzunehmen.     Auch    die   chalkidi- 
schen  Abgeordneten,   die  beim  Heere  waren,   riethen.  den  Per- 
dikkas nicht  durch  Unterwerfung  der  Lynkester  zu  mächtig  zu 
machen ;  man  müsse  ihm  vielmehr  einen  gefährlichen  Xachbar 
lassen,   wodurch  ihm  ihre  Bundesgenossenschaft  unentbehrlich 
werde.     Dazu  kam,   dass  während  ihrer  Anwesenheit  im  Pelo- 


1)  Thuk.  IV,  TS.     Diod.  XII,  67. 

-]  Unter  -c^o^■■q  ist  nur  der  eigentliche  Unterhalt  des  Heeres  zu  ver- 
stehen, das  3tTT,pi5iov.  Sold  'aniiöv;  empfingen  die  Leute  des  Brasidas  wohl 
schwerlich. 


Perdikkas  II.  König  von"  MaivJ^doxien .  263 

ponnese    die   Gesandten   des  Königs   den  Spartiaten  die  HulF- 
nung    eröffnet    hatten,    leicht    zaHreiche    Bundesgenossen    zu 
gewannen.    Brasidas  glaubte  sich  also  dadurch  berechtigt,  hier 
gleich  den  Anfang  zu  machen,    und   offenbar  war   es  vortheil- 
liafter,    den  Perdikkas    und  den  Arrhibaios  sich  zu  verbünden 
und  so  den  einen  durch  den  andern  im  Schach  zu  halten,   als 
die   Macht   des    erstem    zu   verstärken.     Umsonst   widerstrebte 
dieser  einem  solchen  Verfahren    und  stellte  dem  Brasidas  vor, 
dass  er  ihn  nicht   halie  kommen  lassen,    um  einen  Richter  zu 
erhalten,    sondern  damit  er  diejenigen  bekämpfe,   gegen  die  er 
ihn  führe;    da  er  die  Hälfte  des  Heeres  besolde,    sei  Brasidas 
nicht  befugt,   sich  allein  mit  dem  Feinde  abzufinden.     Es  war 
fruchtlos.    Der  spartanische  Heerführer  schloss  ein  Abkommen 
mit  Arrhibaios    und   führte    das   Heer   zurück.     Tief   beleidigt 
gab  Perdikkas,  der  allein  nichts  ausrichten  konnte,  hinfort  nur 
noch  dem  dritten  Theile    des  Heeres  Unterhalt  i) .     Dieses  Er- 
eigniss  zeigt  deutlich  das  Verhältniss  des  Makedoniers  zu  Sparta, 
die  Absichten   des   Perdikkas   imd   des   Brasidas.      Beide   ver- 
einigte bloss  die  Feindschaft  gegen  Athen,   das  Bestreben,   die 
HeiTSchaft   des    gefürchteten   Staates   zu  brechen;    die  übrigen 
Interessen  waren  durchaus  verschieden.     Perdikkas  wollte    die 
Spartiaten,    die    er   als    seine    Miethtmppen    betrachtete,     als 
AVerkzeuo-  gegen  seine  Feinde  brauchen  und  durch  sie  seinem 
Reiche    die   gewünschte   Einheit   geben;    sie   sollten    nicht   als 
selbständige   Macht   in   Makedonien   auftreten.      Brasidas    aber 
war  zu  stolz  und  klug,   er  war  zu  sehr  Hellene,    um  in  diese 
Pläne  einzugehen.     Auch  er  betrachtete  seinerseits  den  make- 
donischen  Fürsten  mir   als  ein  Mittel,   die  Athener  zu  demü- 
thigen  und  für  Sparta  in  jenen  Gegenden  eine  mächtige  Bun- 
desgenossenschaft zu  stiften.     Eben  darum  durfte  seine  Macht 
nui"  so  weit  befestigt  werden,  dass  sie  einen  Kern  für  die  Ver- 
einigung   gegen   Athen    bot;    ihre    selbständige    Entwickelung 
musste  gehemmt  Averden,  die  verschiedenen  Fürstenthümer  und 
die  hellenischen  Städte  vom  Olymp   bis  an  den  Strymon   soll- 
ten in  Sparta  ihren  Schirmherrn  und   ihr  Bundeshaupt  erken- 
nen.   Die  Anhänglichkeit  der  hellenischen  Städte  an  den  edeln 
Spartiaten  machte  auch  in  der  That  dieseil  in  kurzem  so  mäch- 

1)  Thuk.  IV,  S3. 


2G4  Perdikkas  II.  KöxiG  vox  Makedonien. 

tig,  dass  Perdikkas  in  dem  herV)eigenifenen  ]iundesgenosseii 
einen  furchtbareren  Feind  fand,  als  in  dem  jetzt  in  seiner 
Xähe  geschAvächten  Athen;  daher  sein  l)akliger  Bruch  mit 
Sparta,  sein  neues  Hinneigen  zu  Athen,  wozu  die  Ereignisse 
leicht  einen  Anlass  boten. 

Nachdem  der  erste  Zug  gegen  Arrhibaios  durch  einen 
Vertrag  beendigt  war.  Avandte  sich  nämlich  Brasidas  gegen 
die  hellenischen  Städte  in  C'halkidike  und  am  Strymon  und 
brachte  mit  reissender  Schnelligkeit  die  bedeutendsten  dersel- 
ben theils  durch  Eroberung,  theils  durch  Unterhandlung  in 
seine  Gewalt.  Am  wichtigsten  war  die  Einnahme  von  Am- 
phipolis .  zu  welcher  vorzüglich  die  Anhänger  des  Perdikkas 
und  der  Chalkidier  in  der  Stadt  beitrugen  V-  Ja  selbst  über 
den  Strymon  breitete  sich  des  Spartiaten  Macht  aus;  denn  die 
Hauptstadt  der  Edoner  Myrkinos  und  die  thasischen  Pflanz- 
städte Galepsos  und  Oisyme  traten  ihm  bei  2  .  Auch  dabei 
war  Perdikkas  wieder  thätig.  der  offenbar  durch  diese  Dienst- 
leistungen seine  Bedeutung  zeigen  und  den  Brasidas  zu  einem 
zweiten  Zug  gegen  Arrhibaios  gewinnen  Avollte. 

AVährend  so  die  Unternehmung  mit  dem  glänzendsten  Er- 
folge gekrönt  wurde  imd  Athens  Henschaft  in  jenen  Gegen- 
den ihrem  Ende  entgegenging,  schlössen  im  Frühling  423  Ol. 
89.  1.  die  Athener  und  Spartiaten  einen  Waffenstillstand  auf 
ein  Jahr,  welcher  einen  Frieden  einleiten  sollte.  Er  bestimmte, 
dass  Alles  in  der  Lage  bleiben  sollte .  in  der  es  am  Tage  des 
Abschlusses  sei  ^) .  In  der  thrakisch-makedonischen  Gegend, 
wo  Brasidas  sich  nur  ungern  in  semer  Siegeslaufljahn  gehemmt 
sah,  kam  er  aber  nie  zu  seiner  vollständigen  Ausführung. 
Skione.  das  zwei  Tage  nach  dem  Abschlüsse  des  Waffenstill- 
standes .   und  Meude ,   das  sogar  nach  Verkündigung  desselben 


1)  Thuk.  IV,  SS,   102-106.  2.  Thuk.  IV,   107. 

3)  Thuk.  IV,  11s.  119.  Als  der  Anfangstag  Avurde  der  14  Elaphebolion 
erklärt  ,'22.  März/.  Die  Schwierigkeit  diese  Angabe  mit  der  andern  zu 
verbinden,  wonach  er  in  Sparta  am  12.  Gerastios  von  den  Bundesgenossen 
bestätigt  ward,  hat  Goeller  zu  der  Stelle  sehr  gut  gelöst ,  indem  er  zeigt, 
dass  es  verschiedene  Tage  Avaren ,  und  in  Sparta  nur  der  zwischen  den 
Bundeshäuptern  schon  in  Athen  geschlossene  Waffenstillstand  seine  Be- 
stätiguna:  durch  die  Bundesgenossen  erhielt. 


Perdikkas  II.  König  von  JVIakedoniek.  265 

abgefallen  war,  fanden  bei  Brasidas  Schutz  ^] ,  der  auf  die  Kla- 
gen der  Athener  ihnen  seinerseits  Verletzungen  des  Vertrags 
vorwarf.  Ergrimmt  rüsteten  diese  nun  eine  ansehnliche  Macht, 
die  Abtrünnigen  zu  strafen.  Brasidas  aber,  nachdem  er  alle 
Yorkelu'ungen  zu  einer  hartnäckigen  Vertheidigung  der  beiden 
bedrohten  Städte  getroffen,  willfahrte  endlich  Perdikkas  und 
unternahm  einen  zweiten  Zug  gegen  die  Lynkester  (Spätsom- 
mer 423  Ol.  S9.  2\ .  Eine  beträchtliche  Heeresmacht  -war  dazu 
versammelt.  Denn  Perdikkas  hatte  alle  Makedonier,  über  die 
er  gebot,  und  die  unter  seiner  Herrschaft  lebenden  Hellenen 
aufgeboten ,  Brasidas  aber  führte  neben  den  Peloponnesiern, 
soweit  diese  nicht  zu  Besatzungen  der  Städte  verwendet  worden 
waren,  eine  beträchtliche  Anzahl  Chalkidier,  Toronaier  und  an- 
dere Hellenen  jener  Gegend.  Es  waren  im  Ganzen  etwa  300 U 
hellenische  Schwerbewaffnete,  bei  tausend  grössten  Theils  ma- 
kedonische Reiter,  und  ausserdem  zahlreiche  Barbaren  in 
ihrer  eigenthümlichen  Bewaffnung  -  .  Femer  erwartete  Perdik- 
kas illyrische  Söldner,  Avelche  er  angeworben  hatte.  Nachdem 
dies  Heer  durch  die  Pässe  3)  in  Lynkos  eingerückt  war ,  traf 
es  auf  Arrhibaios  Macht,  die  aus  Reitern  und  Hopliten  bestand, 
und  schlug  sie  mit  beträchtlichem  A'erluste  zurück.  Die  Lpi- 
kester  zogen  sich  auf  die  Berge  zurück.  Anstatt  nun  aber  den 
Vortheil  rasch  zu  verfolgen,  Avarteten  die  Verbündeten  einige 
Tage  auf  die  Illyrier.  Als  sich  deren  Ankunft  verzögerte, 
wollte  Perdikkas  auch  ohne  sie  vordringen,  und  die  Flecken 
des  Arrhibaios  verheeren;  aber  Brasidas  weigerte  sich,  weiter 
zu  ziehen,  weil  er  die  Ankunft  der  Athener  vor  Mende  fürch- 
tete.    Als   so   die  beiden  Führer  ^vieder  in  Zwietracht   waren, 


1)  Thuk.  IV,   120—123. 

2)  Thuk.  IV,  124  die  Worte:  y-ai  aXXo;  o[xtXo;  twv  ßapjBäpoj';  toX'j?  sind 
ohne  Zweifel  hauptsächlich  auf  die  Bewaffnung  zv.  beziehen ;  Thukydides 
bezeichnet  damit  das  nicht  auf  hellenische  Weise  ausgerüstete  leichte  make- 
donische und  thrakische  Fussvolk. 

3;  Diese  Pässe,  die  nämlichen  die  nachher  die  Lynkester  dem  Brasidas 
zu  versperren  suchten,  lassen  sich  ohne  genaue  Kenntniss  des  Landes,  die 
bisher  noch  fehlt,  nicht  sicher  bestimmen.  Sie  scheinen  das  alte  Land  der 
Eorder  mit  Lynkos  verbunden  zu  haben,  und  wahrscheinlich  führte  später 
die  Via  Egnatia  durch  dieselben.  Vergl.  K.  O.  Müller  über  die  Maked. 
S.   16  die  Ausleger  zu  Thuk.  IV,   124,   12S. 


266  Perdikkas  II.  KÖNIG  VON  Makedonien. 

kam  die  Kunde ,  die  Illyrier  hätten  sich  mit  dem  Feinde  ver- 
eint. Jetzt  fügte  sich  auch  Perdikkas  zum  Rückzuge.  Aber 
nichts  wurde  gemeinsam  verabredet.  Die  beiden  Heere  lager- 
ten in  bedeutender  Entfernung.  In  der  Nacht  ergriff  Schrecken 
vor  den  über  Gebühr  gefürchteten  Illyrieni  die  Makedonier.  Sie 
wandten  sich  ohne  Befehl  zur  schleunigen  Flucht  und  zwangen 
auch  den  Perdikkas  wider  Willen  mitzuziehen,  ohne  dem  PJra- 
sidas  eine  Anzeige  zu  machen.  Als  dieser  am  Morgen  sah, 
dass  die  Bundesgenossen  ihn  im  Stich  gelassen  hatten,  Arrhi- 
baios  aber  mit  den  Lynkestern  und  Illyi-iern  heranrückte,  stellte 
er  seine  Schwerbewaffneten  in  eine  viereckige  Marschkolonne 
auf,  in  deren  Mitte  die  Leichtbewaffneten  genommen  wurden, 
bestimmte  eine  Schaar  aus  der  jüngsten  Mannschaft  zu  Aus- 
fällen, und  deckte  selbst  mit  300  Auserwählten  den  Rücken. 
So  wies  er  mit  Erfolg  die  Angriffe  der  Feinde  zurück.  Diese 
wandten  sich  nun,  während  eine  Abtheilung  der  Colonne  folgte, 
mit  dem  übrigen  Heere  zur  Verfolgung  der  flüchtigen  Make- 
donier. deren  sie  viele  niedermachten,  und  besetzten  den  Eng- 
pass,  durch  den  Brasidas  ziehen  musste.  Aber  dieser  bemäch- 
tigte sich  durch  einen  raschen  Angriff  des  Hügels .  der  den 
Pass  beherrschte,  führte  die  Seinigen  unversehrt  hindurch  und 
eiTeichte  am  gleichen  Abende  Amissa,  die  erste  Stadt  des  Per- 
dikkas ,  von  Arrhibaios  nicht  über  die  Gränzen  seiner  Herr- 
schaft verfolgt.  Wo  seine  Leute  etwas  antrafen,  das  die  Make- 
donier  auf  ihrer  eiligen  Flucht  zurückgelassen  hatten ,  betrach- 
teten sie  es  als  gute  Beute,  waren  es  Zugthiere.  so  hieben  sie  sie 
nieder;  so  gross  war  die  Erbitteiimg.  Von  diesem  Augen- 
blicke betrachtete  Perdikkas  den  Brasidas  als  seinen  erklärten 
Feind  und  suchte  auf  jede  AVeise  sich  mit  den  Athenern  aus- 
zusöhnen, hingegen  der  Peloponnesier  sich  zu  entledigen.  Und 
offenbar  hatte  er  dazu  guten  Giamd;  denn  auch  in  diesem 
Feldzuge  hatte  Brasidas  durch  seine  Weigerimg,  nach  der 
Schlacht  vorzurücken,  den  Erfolg  vereitelt  und  gezeigt,  dass 
Perdikkas  sich  von  ihm  keinerlei  Vortheil  versprechen  dürfe. 
Selbst  die  Flucht  darf  nach  Thukydides  Erzählung  nicht  dem 
Perdikkas  zur  Last  gelegt  werden;  er  wurde  wider  Willen  in 
dieselbe  verwickelt,  und  wäre  der  Sieg  früher  verfolgt  worden, 
wie  er  es  verlangte ,  so  wäre  der  Rückzug  überhaupt  nicht 
nöthig  geworden.    Aber  Brasidas  sah  von  seinem  Standpunkte 


PerdiivKas  II.  König  von  Makedonien.  2G7 

ans  allerdings  mit  Recht  die  Beschirmung  der  von  den  Athe- 
nern bedrohten  Städte  für  wichtiger  an,  als  die  Bezwingung 
von  Lynkos  für  Perdikkas.  Die  Verbindung  zwischen  Make- 
donien und  Sparta  löste  sich  also  auf,  weil  kein  gemeinsames 
Interesse  sie  mehr  zusammenhielt.  So  wie  Athens  Ueberge- 
wicht  gebrochen  war  und  Sparta  dessen  Stelle  einzimehmen 
strebte,   waren  sie  natürliche  Feinde  *) . 

Indessen  war  während  des  Zuges  gegen  Lynkos  eine  be- 
trächtliche athenische  Streitmacht  unter  Xikias,  dem  Sohne 
des  Nikeratos,  und  Nikostratos,  dem  Sohne  des  Diotrephes, 
in  Pallene  angekommen,  hatte  Mende  genommen  und  Skione 
eingeschlossen,  so  dass  Brasidas  den  Gedanken  an  die  Ent- 
setzung dieser  Stadt  aufgeben  und  sich  auf  die  Deckung  To- 
rones  und  der  übrigen  Städte  beschränken  musste.^;  Perdikkas 
aber  schloss  nach  einigen  Unterhandlungen  eine  Uebereinkunft 
mit  den  athenischen  Feldherrn  und  fand  sogleich  Gelegenheit 
sich  ihnen  nützlich  zu  erweisen.  Der  Lakedaimonier  Ischa- 
goras  nämlich  Avollte  eben  damals  dem  Brasidas  durch  Thes- 
salien und  Makedonien  Hülfe  zuführen.  Der  König  aber,  dem 
eben  soviel  daran  lag,  sein  Land  vor  einem  solchen  Durchzug 
zu  bewahren,  als  den  Athenern,  die  er  so  oft  getäuscht,  einen 
Beweis  seiner  Gesinnung  zu  geben,  wandte  seinen  Einfluss 
bei  den  Mächtigen  Thessaliens  jetzt  dahin  an ,  den  Lakedai- 
moniern  ihr  Land  zu  versperren.  Das  Heer  blieb  daher  zu- 
rück, nur  die  Führer  Avussten  zur  See  den  Weg  zu  Brasidas 
zu  linden,  ^j  Hingegen  scheint  Perdikkas  den  Athenern  in 
dem  Kriege  selbst  nicht  die  Hülfe  geleistet  zu  haben,  die  sie 
von  ihm  erwarteten.  Wenigstens  warfen  sie  später  ihm  vor, 
dass  durch  seine  Schuld  eine  Unternehmung  des  Nikias  gegen 
die  Chalkidier  nicht  zu  Stande  gekommen  sei.^)  Ohne  be- 
deutende Ereignisse  ging  der  Winter  vorüber.  Der  Waffen- 
stillstand zwischen  Athen  und  Sparta  lief  ab  ohne  zu  einem 
Frieden  zu  führen.  Im  Frühling  des  Jahres  422  Ol.  S9,  2 
führte  Kleon  ein  neues  Heer  nach  den  an  Thrakien  stossenden 
Gegenden,  um  Brasidas  zu  bekämpfen  und  die  abtrünnigen 
Städte  zu  unterwerfen.    Er  eroberte  Torone  und  Galepsos  und 


'    Thuk.  IV,  124-1 2S.  2,  Thuk.  IV,  129-131. 

3    Thiik.  IV,   132.  4;  Thuk.  V,  83. 


268  PeRDIKKAS    II.    KÖXIG    VON    MaK£DO>'IEN. 

nahm  dann  eine  Stellung  in  Eion.  -wohin  er  den  Perdikkas 
und  den  Fürsten  des  thrakischen  Stammes  der  üdomanten 
entboten  hatte,  der  ihm  zahlreiche  Söldner  zufuhren  sollte. 
Durch  die  Ungeduld  seiner  Leute  genöthigt.  unternahm  er  aber 
vor  der  Ankunft  dieser  Hülfe  eine  llecognoscirung  gegen 
Amphipolis,  wobei  er  in  Folge  seiner  strategischen  Unfähig- 
keit gänzlich  geschlagen  -wurde  und  selbst  fliehend  den  Tod 
fand.  Aber  auch  Brasidas  hatte  den  Sieg  mit  dem  Leben  er- 
kauft. 1)  Bald  nach  der  Schlacht  wurde  wieder  ein  sparta- 
nisches Herr  in  Thessalien  zurückgcAviesen.  unzweifelhaft  auch 
diesmal  durch  Perdikkas  Einfluss.2  Die  Befehlshaber  dessel- 
ben scheuten  sich  aber  um  so  weniger  umzukehren,  als  alles 
sich  dem  Frieden  zuneigte .  der  denn  wirklich  im  Frühling 
des  folgenden  Jahres  (Ol.  S9,  3  im  J.  421  zu  Stande  kam. 
Die  Schlacht  bei  Amphipolis  hatte  indess  nicht  nur  die  wich- 
tige Folge,  dass  sie  die  Abschliessung  des  Friedens  sehr  er- 
leichterte ,  sondern  sie  hat  auch  den  letzten  grossartigen  An- 
strengu^ngen  Athens,  die  Herrschaft  in  jenen  Gegenden  her- 
zustellen, ein  Ende  gemacht,  und  war  dadurch  besonders  für 
Makedonien  von  Ijedeutung.  Es  wurde  zwar  in  dem  Frieden 
bestimmt,  dass  Amphipolis  den  Athenern  zurückgegeben  wer- 
den sollte,  und  dass  die  übrigen  Städte,  namentlich  Akanthos 
und  Olynthos  bei  sonst  autonomer  Stellimg  Avenigstens  den 
Beitrag  bezahlen  sollten,  den  Aristeides  festgesetzt  hatte ;  allein 
dieser  Theil  desselben  wurde  nie  in  Ausfühi-ung  gebracht.  ^] 
Der  lakedaimonische  Befehlshaber  Klearidas.  der  nach  Brasi- 
das Tode  an  seine  Stelle  getreten  Avar.  führte  z-svar  nach  einigem 
Zögern  die  peloponnesischen  Truppen  aus  Amphipolis  und 
allen  jenen  Städten  zurück ;  ■*,  aber  diese  vemarfen  den  Frie- 
den und  suchten  eine  selbständige  Stellung  zu  behaupten,  was 
ihnen  auch  vollkommen  gelang.  Daher  sehen  wir-  schon  421 
Ol.  S9,  3  die  Chalkidier  als  unabhängige  Macht  sich  dem 
korinthisch-argeiischen  Bunde  anschliessen  und  den  Krieg  nicht 
ohne  Erfolg  gegen  Athen  fortführen.  '">  Auch  die  Eroberung 
und  furchtbare  Bestrafung  Skiones  hatte  für  Athen  keine  Avei- 


ly  Thuk.  V,  2,  6-11.     Diodor  XII,  73,  74. 

2j  Thuk.  V,  12,   13.  3    Thuk.  V,   IS,  21.     Diod.  XII,  74. 

4)  Thuk.  V.  34.  5    Thuk.  V,  26,  30,  31—3-5,  39,  82. 


Perdikk.\s  II.  König  von  M.\jvedonien.  269 

tere  Folge,  als  dass  die  Halbinsel  Pallene  ganz  gesichert  wurde, 
die  ohnehin  ihrer  inselartigen  Beschaffenheit  wegen  sich  nie 
mit  Glück  gegen  die  Beherrscher  des  Meeres  erhoben  hatte. 

Für  Perdikkas  hatten  sich  auf  diese  Weise  die  Verhält- 
nisse seit  dem  Abschlüsse  des  Friedens  sehr  verändert.  Die 
gefürchteten  Spartiaten  und  der  gehasste  Brasidas  waren  nicht 
mehr  da,  der  BcAveggriind  für  eine  Verbindung  mit  Athen, 
dem  er  sich  ungern  angeschlossen,  also  entfernt.  Die  helle- 
nischen Städte  in  seiner  Nähe  kämpften  um  ihre  Unabhängig- 
keit, welche  wie  oben  gezeigt  im  Interesse  Makedoniens  liegen 
musste,  dem  überdies  durch  die  Entfernung  der  Athener  die 
See  geöffnet  wurde.  Kein  Wunder  daher,  dass  er,  obwohl 
noch  im  Bündnisse  mit  Athen,  doch  im  Jahre  418  Ol.  90,  3 
auf  die  Einladung  der  Argeier  und  Lakedairaonier  dem  Bunde 
beitrat,  den  diese  nach  der  Schlacht  bei  Mantineia  geschlossen 
hatten  und  der  auch  die  Chalkidier  umfasste.  Jedoch  kün- 
dete er  nicht  sogleich  den  Athenern  die  Freundschaft  auf,  son- 
dern wartete  dazu  aiif  einen  günstigen  Moment.  ')  Die  baldige 
Auflösung  des  genannten  Bundes  nach  der  Wiederherstellung 
der  argeiischen  Demokratie  entzog  ihm  jedoch  die  erwarteten 
Vortheile.  ^1  Die  Athener  aber,  über  sein  Verfahren  erzürnt, 
erklärten  ihm  im  Winter  417 — 416,  Ol.  90,  4  den  Krieg,  ohne 
ihn  gleich  mit  Nachdruck  z\i  führen.  ^]  Erst  ein  Jahr  nach- 
her, Ol.  91,  1,  am  Ende  des  Winters,  schickten  sie  eine  Rei- 
terschaar  nach  Methone,  ^  welche  von  da  aus  in  Verbindung 
mit  makedonischen  Flüchtlingen  verwüstende  Einfälle  in  Per- 
dikkas Gebiet  machte.  Bei  welchem  Anlasse  diese  Flüchtlinge 
das  Land  hatten  meiden  müssen  und  welcher  Partei  sie  ange- 
hörten,  wird  nicht  erzählt ;  doch  lässt  sich  vermuthen,  dass  es 
Anhänger  des  Prätendenten  Amyntas  waren.  Die  Lakedaimo- 
nier  forderten  die  Chalkidier,  welche  damals  mit  den  Athe- 
nern in  einem  Waffenstillstände  lebten,  der  von  1  ü  zu  1 0  Tagen 


ij  Thuk.  V,  76- SO.  21  Thuk.  V,  63. 

3)  Die  schwierige  Stelle  Thuk.  V,  83:  7.aT£-iC>.Y;a'xv  oe  -oü  aJxoj  -/EtixÄvo? 
7.al  M7.7.i00'nac  'A9r,vatot  nspofy.y.av ,  die  ich  so  auch  nicht  passend  zu  er- 
klären vermag,  hat  neuerdings  Goeller  nach  handschriftlichen  Spuren  emen- 
dirt,  indem  er  liest :  -/.a~i7.'AYjGav  ot  xo^  aO-oö  yEiu-Avoi  May.iOov«;  'Ai^TjV/roi, 
Utrjliv.y.rj.  ir.v/.'xl.'/ri-z;,  /..  t.  X.  was  wenigstens  einen  Sinn  giebt. 

"^  Thuk.  VI,  7. 


270  Perdekkas  II.  KöxiG  vox  Makedomex. 

erneuert  -werden  musste,  auf.  dem  Könige  Hülfe  zu  leisten. 
Aber  sie  entsprachen  nicht.  ^  ielleicht  erklärt  sich  dadurch, 
dass  Perdikkas  sich  von  neuem  den  Athenern  anschloss  und 
am  Ende  des  Jahres  414.  Ol.  91.  3  mit  dem  Feldherrn  Eue- 
tion  einen  Versuch  machte.  Amphipolis  zu  erobern.';  Die 
steigende  Macht  der  C'halkidier,  die  seiner  nicht  mehr  zu  be- 
dürfen glaubten,  beunruhigte  ihn  mit  Recht.  Dieser  Zug  gegen 
Amphipolis  ist  die  letzte  Handlung  des  Perdikkas,  die  erwähnt 
Avird.  Ueberhaupt  sind  die  Nachrichten  seit  dem  Abschlüsse 
des  Friedens  des  Nikias  ungemein  dürftig,  weil  Makedonien 
in  weniger  l^erührung  mit  den  Hellenen  kam.  Es  wird  nichts 
über  Perdikkas  Verhältniss  zu  den  Lynkestem  und  Elimioten 
berichtet,  es  wird  nicht  angedeutet,  Avie  und  wann  er  sich  mit 
den  Athenern  aiisgesöhnt  hatte ;  denn  die  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit hatte  sich  gerade  nach  der  entgegengesetzten  Seite, 
nach  Sicilien,  gewandt. 

Neben  der  kriegerischen  Thätigkeit  des  Königs  ist  aber 
auch  noch  ein  anderes  ]3estreben  zu  erwäluien.  Schon  er  hat 
nämlich  erkannt,  dass  dem  kräftigen  makedonischen  A'olke 
höhere  l^ildung  eine  nothwendige  Bedingung  grösseiii  Ein- 
flusses bei  den  Nachbarstaaten  sei.  Darum  hat  er  mitten  un- 
ter den  Stürmen  des  Krieges  versucht,  griechischer  Bildiuig 
Eingang  zu  verschaffen,  und  Avenn  es  ihm  bei  ungünstigen 
Verhältnissen  noch  nicht  gelang,  wie  später  Archelaos  und 
Philipp,  so  verdient  doch  der  Versuch  immerhin  Anerkennung. 
Der  Arzt  Hippokrates  aus  Kos  lebte  lange  in  ^Makedonien  und 
Avird  ein  Freund  des  Perdikkas  genannt.  2  An  seinem  Hofe 
starb  der  jüngere  Melanippides ,  ein  berühmter  Dithyramben- 
dichter; ja  nach  einer  allerdings  ziemlich  unzuverlässigen 
Nachlicht.  ^  die  avoIü  auf  VerAA'echslung  mit  seinem  Sohne 
beruht,   hatte  er  den  Sokrates  zu  sich  eingeladen. 


1)  Thuk.  M^I,  9.  'Demostheues  c.  Aristocratem  pg.  6S6  wird  von  Meier 
de  bon.  damnator.  pg.  öl  angeführt  als  Beleg  dafür,  dass  Perdikkas  den 
Athenern  mit  300  Reitern  ad  bellum  circa  Amphipolin  zu  Hülfe  gekommen. 
Allein  es  spricht  Demosthenes  nicht  von  Perdikkas ,  sondern  von  Menon 
dem  Pharsalier  und  von  einem  Krieg  gegen  Eion.l 

-]  Suidas  s.  v.  'Irroy-oarr,;  o'iTjit'is  os  hi  Maxsoovia,  cii'/.oc  wv  ctpö^^oa  tw 
[iazO.sl  nepoiy-v-a.  —  s.  v.  Ms/.'y.vv.-TTt^r,;.  vergl.  Ulrici  Gesch.  d.  hell.  Dicht- 
kunst II,  S.  590.     iLorenz  Epicharmos  S.  Sl  Anm.  5.^ 

3j  Antonin.  de  se  ipso.  XI,   25. 


Pekdikkas  II.  Kö^-IG  vox  Makedonien.  271 

Im  Jahre  413  Ol.  91,  4  endete  er  in  holiem  Alter  sein 
bewegtes  Leben  und  hinterliess  seinem  Soline  Archelaos  i)  das 
Keich.  das  er  aus  den  grössten  Gefahren  mit  Umsicht  und 
Schlauheit  gerettet  hatte.  Weder  die  Theilung  nach  dem  Tode 
des  Vaters,  noch  die  drohende  Macht  der  Athener,  weder  die 
mächtigen  Odrvsenfürsten,  noch  der  stolze  Brasidas  hatten  ihm 
bleibenden  Schaden  gebracht,  üer  König  scheint  keine  einzige 
Ortschaft  verloren  zu  haben,  während  er  die  Herrschaft  des 
Philippos  wieder  an  sich  gezogen  und  die  obeni  Stämme  we- 
nigstens theilweise  in  Abhängigkeit  gebracht  hatte.  Archelaos 
erhielt  ein  kräftigeres,  einigeres  Reich,  als  einst  sein  ^'ater, 
und  die  glücklichern  äussern  Verhältnisse  erlaubten  ihm,  mehr 
für  die  ümere  Entwicklung  zu  thun.  als  alle  acht  frühern  Fürsten 
zusammen. 


1)  Es  ist  bekannt,  dass  Archelaos  auf  unrechtmässige  und  geTvaltthätige 
Weise  das  Reich  an  sich  riss.  Er  TN-ar  nämlich  bloss  der  Sohn  einer  Sklavin, 
xvährend  Perdikkas  einen  siebenjährigen  Sohn  von  seiner  rechtmässigen 
Gemahlin  Kleooatra  hinterliess.  -  Diesen  so  wie  seinen  Oheim  Alketas 
und  dessen  Sohn  Alexandros  Hess  Archelaos  ermorden.  Plato.  Gorg. 
S.  471  a.  b. 


EPAMEINONDAS. 

Wenn  es  eine  besondere  Befriedigung  gewährt  grosse 
Männer  zu  betrachten,  welche  gleichsam  nur  als  die  höchsten 
Spitzen  ihres  Volkes  und  Standes  erscheinen,  weil  wir  in  dem 
Individuum  zugleich  die  Gesammtheit  erkennen  und  uns  ihrer 
erfreuen,  so  hat  es  andrerseits  einen  besonderen,  wenn  auch 
verschiedenen  Reiz ,  ungewöhnlichen  Persönlichkeiten  seine 
Aufmerksamkeit  zuzuwenden ,  welche  fast  im  Widerspniche 
zu  sein  scheinen  mit  dem  Ijoden  aiif  dem  sie  erwachsen  sind, 
und  es  steigert  sich  das  Interesse ,  wenn  wir  in  ihnen  eine 
Grösse  entdecken,  welche  selbst  unter  günstigem  Verhältnissen 
die  höchste  Bewunderimg  erregen  Aviirde.  Während  in  jenem 
ersteren  Falle  Volk  und  Individuum  gleichen  Anspruch  auf  den 
Ruhm  besitzen,  scheint  hier  derselbe  ganz  dem  letztem  zuzu- 
fallen, und  Avir  sind  um  so  mehr  aufgefordert  nach  den  Mit- 
teln zu  forschen,  die  ihm  so  grosses  möglich  machten;  wobei 
wir  dann  freilich  in  der  Regel  finden  werden,  dass  auch  hier 
die  Persönlichkeit  doch  nicht  so  isolirt  steht,  sondern  wenn 
auch  in  anderer  Weise  ein  Produkt  ihres  Volkes  und  ihrer 
Zeit  ist. 

Einen  Mann  dieser  Art  habe  ich  zum  Gegenstande  meines 
heutigen  Vortrages  gewählt,  den  Epameinondas,  dessen  Vater- 
stadt Theben,  trotz  ihres  grossen  Dichters  Pindar,  doch  den 
alten  Schimpf  des  ))boiotischen  Sch^veins«  nie  loszuwerden  ver- 
mochte, und  am  allerwenigsten  unter  den  bedeutendem  Staa- 
ten Griechenlands  geeignet  scheinen  möchte  einen  Charakter 
hervorzubringen,    der  an  makelloser  Remheit  und  Grösse  fast 


EpaMEINONU  AS .  273 

einzig  dasteht.  Denn  über  keinen  Staatsmann  nnd  Feldherm 
des  Alterthums  sind  die  Urtheile  der  Geschichte  in  der  An- 
erkennung nnd  BeMTindening  so  übereinstimmend.  Freilich 
ist  bei  den  verhältnissmässig  dürftigen  Nachrichten  über  ihn 
es  eben  darum  nicht  leicht,  seinem  Leben  und  Wirken  neue 
Seiten  abzugcAvinnen,  und  wenn  das  mir  nicht  gelingen  sollte, 
so  mag  die  Wahl  des  Gegenstandes  ihre  Entschuldigiing  darin 
finden,  dass  die  Bilder  wahrhaft  edler  und  grosser  Männer 
nicht  zu  oft  dem  Geiste  vorgeführt  Averden  können. 

Es  war  an  einem  trüben  Wintertage  des  Jahres  379  v. 
Chr.  Ol.  100,  1,  dass  eine  kleine  Anzahl  flüchtiger  theba- 
nischer  Demokraten  von  Athen  aus  sich  heimlich  in  ihre 
Vaterstadt  einschlichen  um  diese  von  der  drückenden  Gewalt- 
herrschaft einer  oligarchischen  Faktion  zu  befreien.  Ein  küh- 
nes Unternehmen,  das  die  Urheber  iind  Theilnehmer  den  gröss- 
ten  Gefahren  aussetzte  und  weniger  zuversichtlichen  Männern 
keine  Aussicht  auf  Erfolg  zu  haben  schien.  Denn  die  herr- 
schenden Machthaber  Avaren  entschlossene  Männer,  die  kein 
Mittel  zur  Erhaltung  ihrer  Stellung  scheuten,  und  eine  Be- 
satzung von  1500  Mann,  die  unter  spartanischen  Befehlshabern 
die  feste  Burg  der  Kadmeia  inne  hatte,  gab  ihnen  einen 
schwer  zu  übenvältigenden  Rückhalt.  Aber  so  vortreff'lich  Ava- 
ren  die  Massregeln  von  den  Flüchtlingen  und  ihren  Freunden 
in  der>-  Stadt  eingeleitet ,  so  gross  Avar  die  Sorglosigkeit  der 
Herrscher,  dass  der  Schlag,  Avenn  auch  mehr  als  einmal  dem 
Scheitern  nahe,  vollständig  gelang.  Die  üppigen  Polemarchen 
Archias  und  Philippos  Avurden  halbberauscht  beim  Gelage 
durch  Charon  und  Melon  erschlagen,  der  achtungswertheste 
der  Oligarchen,  der  energische  Leontiades,  erst  nach  A^erzwei- 
felter  Gegenwehr  im  eigenen  Hause  A-on  Pelopidas  überAväl- 
tigt.  Mehrere  andere  Aveniger  bedeutende  Männer  traf  ein 
gleiches  Schicksal.  Die  Bürger  wiirden  noch  in  der  Nacht 
zur  Freiheit  aufgerufen,  strömten  zusammen  und  beAvaifneten 
sich.  —  Der  Morgen  sah  die  Unterstadt  in  den  Händen  der 
Befreier;  die  seit  langem  zum  erstemnal  bemfene  Gemeinde 
stellte  das  unter  der  oligarchischen  Herrschaft  abgeschaffte  Amt 
der  Boiotarchen  her  und  berief  zu  demselben  die  Hauptleiter 
der  glücklich  ausgeführten  YerscliAvönrng ,  den  Pelopidas  und 
den  Melon  aus  der  Zahl  der  ziirückgekehrten  Flüchtlinge  und 

A'ischer,  Schriften  I.  18 


274  Epameixoxdas. 

den  besonnenen    Charon.    in    dessen  Haus  die  Verschworenen 
sich  versammelt  hatten. 

Aber  noch  war  das  Werk  nicht  vollendet ;  denn  die  feind- 
liche Besatzung  bedrohte  von  der  Burg  aus  die  Unterstadt, 
und  die  umliegenden  boiotischen  Städte  waren  zum  Theil 
Sparta  befreundet  und  von  spartanischen  Heeresabtheilungen 
bewacht,  die  leicht  der  Besatzung  der  Kadmeia  die  Hand  bieten 
und  mit  ilu*  vereint  die  Erhebung  erdrücken  konnten.  Zum 
Glück  für  Tlieben  war  unter  den  spartanischen  Befehlshabern 
in  und  ausser  der  Stadt  kein  Mann  von  der  nöthigen  Geistes- 
gegenwart und  Umsicht.  Ein  Versuch  von  Plataiai  aus  der 
spartanischen  Besatzung  Hülfe  zu  bringen,  MTirde  von  der 
thebanischen  Reiterei  zurückgeschlagen .  und  als  niui .  von 
herbeigeeilten  athenischen  Freischaaren  unter  zwei  Feldherrn 
unterstützt,  die  Thebaner  Anstalten  machten,  die  Kadmeia  zu 
stünnen ,  verloren  die  spartanischen  Befehlshaber  vollständig 
den  Kopf  und  übergaben  die  l^nrg  unter  der  Bedingung  ehren- 
vollen Abzugs  mit  den  Waffen. 

So  war  Theben  vollständig  befreit,  aber  auch  nur  The- 
ben und  seine  Stellung  eine  im  höchsten  Grade  gefährliche, 
wie  ein  Blick  auf  die  Verhältnisse  von  Griechenland  lehi'en 
wird . 

Durch  den  acht  Jahre  früher  abgeschlossenen  sogenannten 
antalkidischen  Frieden  hatte  Sparta ,  das  kurz  vorher  Jahre 
lang  m  Kleinasien  Kj'ieg  gegen  Persien  geführt  hatte,  um  den 
Preis  der  asiatischen  Hellenen-Städte  sich  die  Herrschaft  in 
Griechenland  gesichert.  Alle  Staaten,  grosse  und  kleine, 
sollten  nach  diesem  autonom  sein,  wer  sich  dem  Frieden  wi- 
dersetze, wurde  für  einen  Feind  des  grossen  Königs  erklärt, 
den  dieser  mit  den  übiigen  dem  Frieden  beigetretenen  Staaten 
bekriegen  werde,  und  Sparta  war  mit  der  Haudliabung  des 
Friedens  in  Giiechenland  beauftragt.  \,  Es  ist  bekannt  wie 
es  diese  Aufgabe  verstanden  und  benutzt  hat.  Unter  dem 
Scheine  die  Selbständigkeit  der  kleinen  Staaten  zu  beschützen 
wusste  es  jede  Verbindimg  zu  lösen,  jede  freie  Bewegung  zu 
unterdrücken,   und    dafür  die  Zügel    seiner  eigenen  Herrschaft 


1)  Xeuoph.  Hell.  V,   1,  36;    rposTaTa-.  -p"i|j.r/oi  tt,;   j-o    Sait/icu;  v.'j.-o.- 


Epameinondas.  275 

straffer  denn  je  zu  ziehen ,  so  dass  wohl  dieser  Friede  und 
seine  Handhabung  eines  der  grössten  Meisterstücke  macchia- 
vellistischer  Politik  genannt  werden  darf.  Die  eigentliche 
Seele  dieser  Politik  war  jetzt  derselbe  Mann,  der  noch  kurz 
zuvor  den  persischen  Thron  zu  erschüttern  sich  unterfangen 
hatte,  der  sogenannte  grosse  Agesilaos.  Zwar  wird  berichtet, 
dass  Antalkidas  zur  Gegenpartei  des  Königs  gehörte  und  der 
Friede  eine  politische  Niederlage  für  diesen  war,  und  wir  ha- 
ben keinen  Grund  es  zu  bezweifeln,  ^j  Aber  wenn  es  ihn  auch 
vorerst  kränkte  seine  ehrgeizigen  Kriegspläne  aufzugeben,  so 
hat  doch  e  r  eigentlich  erst  die  günstigen  Bedingungen  gegen- 
über den  griechischen  Staaten  recht  auszubeuten  und  den- 
selben eine  Tragweite  zu  geben  gewusst,  die  vielleicht  der 
geschmeidige  Unterhändler  selbst  nicht  geahnt  hatte.  Als  Je- 
mand tadelnd  bemerkte  die  Lakoner  seien  persisch  gesinnt 
geworden,  erwiderte  Agesilaos  in  seiner  kurzen  Weise :  nein, 
sondern  vielmehr  die  Perser  ljakonisch.2  Und  die- 
sem Ausspruch  gemäss  hat  er  hinfort  gehandelt  und,  was 
zuerst  ein  Schlag  für  seine  Politik  sein  mochte,  bald  zum 
wirksamsten  Mittel  derselben  gemacht.  Hatten  ihn  einst  die 
grössern  griechischen  Staaten  in  seinen  Unternehmungen  gegen 
Persien  nicht  nur  nicht  unterstützt,  sondern  sogar  in  seinem 
Siegeslaufe  unterbrochen,  so  mochten  sie  jetzt  fühlen,  was 
Sparta,  auf  Persien  gestützt,  gegen  sie  vermochte.  Und 
nicht  allein  auf  den  persischen  Despotismus  im  Osten  stützte 
es  sich,  in  gleicher  Weise  war  es  im  Westen  mit  dem  mäch- 
tigen Gewaltherrn  von  Syrakus,  mit  Dionys  verbündet,  der 
über  Sicilien  und  Italien  Jammer  und  Elend  verbreitete  und 
gegen  jede  freiere  Regung  seiner  ehemaligen  Mitbürger  bei 
Sparta  Hülfe  fand.  Dieser  wohlbegründeten  Macht  vermochte 
kein  griechischer  Staat  erfolgreich  entgegen  zu  treten.  Athen 
stand  isolirt  zur  Seite,  ^j  Sparta  konnte  die  peloponnesischen 
Städte  dem  Namen  nach  als  autonome  der  That  nach  als  un- 
terworfene Bundesgenossen  unter  seinem  Vorstände  vereinigen 
und  für  frühere  Widerspenstigkeit  züchtigen.  Das  grösste 
Verbrechen    war    jetzt   ihm   die   Heeresfolge    verweigert,    oder 


1,   Plut.  Ages.  23. 

■•2;  Plut.  1.  c.  3y  Xenophon  Hell.  V,  3,  27. 

18* 


276  Epameixondas. 

seinen  Truppen  die  Thore  verschlossen  zu  haben.  Die  feste 
blühende  Stadt  Mantineia  wurde  in  vier  (oder  fünf  \  souve- 
räne Flecken  ohne  Mauern  zerlegt,  Phlius  nach  heldenmü- 
tigstem Widerstand  gezwungen  seine  Verfassung  im  Interesse 
Spartas  und  seiner  Anhänger  zu  verändern,  und  spartanische 
Besatzung  aufzunehmen,  die  ganze  IJundesgenossenschaft  mili- 
tärisch strenger  als  früher  organisirt.  Aber  man  beschränkte 
sich  nicht  auf  den  Peloponnes.  Ueber  Mittel-  und  Nord- 
griechenland  reichte  Spartas  Arm  hinaus,  an  der  thraki- 
schen  Küste  wurde  der  blühende  Staatsverband,  der  in  Olynth 
seinen  Mittelpunkt  hatte  2  ,  zerstört  und  die  einzelnen  Städte 
dann  als  souveräne  Glieder  in  die  spartanische  Symmachie  ein- 
gereiht. Auch  hier  waren  besonders  begünstigte  und  thätige 
Freunde  der  Beschützerin  hellenischer  Autonomie  die  Fürsten 
Amyntas  von  Makedonien  und  Derdas  von  Elimiotis ,  denen 
die  olynthische  Macht  im  "Wege  stand  und  auch  für  die  Zukunft 
Gefahr  drohen  konnte.  Ganz  besonders  schwer  lastete  der 
Druck  spartanischer  Herrschaft  auch  auf  Theben,  das  durch 
bittere  Beleidigung  den  unversöhnlichen  Groll  des  Agesilaos 
sich  zugezogen  hatte.  Nach  den  Perserkriegen,  so  lange  Athen 
auf  der  Höhe  seiner  Macht  stand,  genoss  Theben  Spartas  volle 
Gunst.  Gleiche  Furcht  vor  Athen  verband  sie  eng,  und  wie 
es  damals  Spartas  Interesse  war,  in  Theben  einen  möglichst 
starken  Feind  an  die  Seite  von  Athen  zu  setzen,  so  förderte 
es  nach  Kaäften  dessen  Bestrebungen  die  boiotischen  Städte 
unter  seiner  Leitung  zu  vereinigen.  Ueberliess  es  ihm  doch 
sogar  nach  der  endlichen  Uebergabe  von  Plataiai  dessen  Ge- 
biet. Aber  schon  im  Frieden  des  Xikias  hatte  Theben  über 
Hücksichtslosigkeit  Spartas  zu  klagen,  und  als  Athen  nach  der 
Schlacht  bei  Aigospotamoi  gedemüthigt  und  seine  Macht  ge- 
brochen war,  trat  an  die  Stelle  der  frühern  Freundschaft  erst 
Unzufriedenheit  und  Spannung,   bald  offene  Feindschaft;   denn 


I)  TEToof/T]  Xen.  Hell.  V,  2,  T.  Mav-riveia  iaev  i'A  -evte  ot,u.(uv  .  .  .  s'jvw- 
7.(a&7).  Strabo  \TLII,  pg.  337  C.  eU  ti;  äpyata;  -evte  y.wixa;  Diod.  XV,  5. 
vgl.  Curtius  Peloponnes  I  S.   26S. 

-]  Das  Verhältniss  des  OljTithischen  Staates  fasst  Grote  hist.  of  Greece 
VII,  43  ff.  ganz  unrichtig  auf.  Er  spricht  immer  von  einer  confederacy , 
confederute  cities  u.  s.  f.  —  Es  war  aber  eine  Sympolitie,  eine  city, 
ein  Staat  geworden. 


Epaiheixondas.  277 

Sparta  wollte  die  Früchte  des  Sieges  für  sich  allein  geniessen 
und  den  früher  unentbehrlichen  IJundesgenossen  in  unterge- 
ordnete Stellung  hinabdrücken,  die  dieser  sich  gefallen  zu  lassen 
keineswegs  gewillt  war.  Das  neue  Verhältniss  zeigte  sich  zu- 
erst, als  die  Dreissig  in  Athen  Tausende  ihrer  Mitbürger  in 
Flucht  und  Verbannung  trieben.  Gegen  Spartas  Verbot  gab 
Theben  ihnen  sichern  Aufenthalt,  und  von  Theben  aus  führte 
Thrasybul  den  glücklichen  Handstreich  auf  Phyle  aus,  wel- 
cher der  Anfang  der  Befreiung  Athens  ward,  und  als  ein  pe- 
loponnesisches  Heer  gegen  Athen  ausnickte,  weigerte  Theben 
sich  sein  Contingent  dazustossen  zu  lassen.  Denn  dass  xlthen 
ganz  unter  spartanischer  Herrschaft  stehe,  konnte  dem  Nach- 
barstaate so  wenig  genehm  sein,  als  es  zu  allzugrosser  Macht 
kommen  zu  lassen,  w^as  einstweilen  nicht  zu  fürchten  Avar. 
Aber  wo  möglich  noch  offener  trat  der  Riss  hervor,  als  Age- 
silaos  im  Jahre  397  sich  zum  Zuge  gegen  Asien  anschickte 
und  von  Geraistos  auf  Euboia  nach  Aulis  fuhr,  um  dort,  wie 
einst  Agamemnon,  vor  der  Erobeiimg  Trojas,  der  Artemis  zu 
opfern.  Als  er  eben  mit  dem  Opfer  begonnen  hatte,  spreng- 
ten .  von  den  l^oiotarchen  geschickt .  boiotische  Reiter  heran, 
verboten  ihm  das  Opfer  darzubringen ,  warfen  die  schon  auf- 
gelegten Opferstücke  vom  Altar  und  zwangen  ihn  unvemchte- 
ter  Sache  sein  Schiff  zu  besteigen,  ein  Schimpf,  den  der 
tief  beleidigte  König  nie  vergessen  hat.  Aber  das  Alles  war 
gleichsam  nur  das  Vorspiel  zu  dem  was  folgte.  Denn  im 
nächsten  Jahre  veranlasste  Theben  voniämlich  den  Ausbruch 
des  sogenannten  korinthischen  Kriegs,  bei  dessen  Eröffnung 
gleich  es  den  Lysandros  im  Treffen  von  Haliartos  erschlug, 
den  König  Pausanias  zu  schmählichem  Abzug  zwang  und 
Sparta  nöthigte,  den  Agesilaos  aus  Asien  zurückzurufen.  Und 
in  der  blutigen,  nur  halb  entschiedenen  Schlacht  bei  Koroneia 
w-aren  es  wieder  die  Thebaner,  welche  dem  Könige  den  Sieg 
streitig  machten  und  ihm  selbst  eine  schwere  Wunde  bei- 
brachten. 

So  begreift  sich  leicht,  dass,  als  nach  achtjähriger  wech- 
selnder Dauer  der  Krieg  durch  den  Frieden  des  Antalkidas 
beendigt  wurde,  Theben  vor  allen  den  Zorn  Spartas  zu  fühlen 
hatte,  und  wenn  Agesilaos  sein  persönliches  Rachegefühl  über 
Gebühr  zu  befriedigen  trachtete,   so  konnte  er  anfangs  gewiss 


278  Epameixondas. 

auf  volle  Zustimmimg  der  Mehrzahl  seiner  Landsleute  rechnen. i) 
Einer  der  leitenden  Gedanken  der  Politik  Spartas  ist  jetzt  die 
Demüthigung  Thebens,  yvie  das  sich  gleich  beim  Abschluss  des 
Friedens  zeigte,  oder  richtiger  bei  der  Beitrittserklärung  der 
griechischen  Staaten  zu  den  vom  Grosskönige  dictirten  Be- 
dingungen. Als  nämlich  Theben  als  Vorort  des  boiotischen 
Bundes  den  Frieden  im  Namen  Boiotiens  beschwören  wollte, 
erklärte  Agesilaos,  der  durchaus  unbeschränkt  die  Verhand- 
lungen leitete,  diese  Eide  nicht  anzunehmen  und  schickte  die 
sich  auf  ihre  Instruktionen  berufenden  thebanischen  Gesandten 
nach  Hause,  bessere  zu  holen  oder  Krieg  zu  gewärtigen.  Und 
wie  ernst  es  ihm  mit  der  Drohung  war,  zeigte  er  dadurch, 
dass  er  schon  mit  einem  Heer  die  Gränze  überschritten  hatte, 
als  die  Thebanischen  Gesandten  zurückkamen,  und  sich  füg- 
ten. Alle  boiotischen  Städte  Avurden  autonom  erklärt,  das 
heisst  die  bisherige  Bundesverfassung  wurde  aufgelöst;  Theben, 
auf  sein  Stadtgebiet  beschränkt ,  sollte  nicht  mehr  sein  als 
jede  andere  Landstadt;  das  Amt  der  Boiotarchen  hörte  auf. 
Aber  auch  damit  begnügte  man  sich  nicht.  Plataiai,  das  einst 
von  den  Peloponnesiern  erobert  und  zerstört  worden  Avar,  des- 
sen ehemaliges  Land  seit  40  Jahren  einen  Theil  des  thebani- 
schen Stadtgebietes  ausmachte ,  wurde ,  ohne  dass  selbst  der 
AVortlaut  des  Friedens  dafür  einen  Anhalt  gab,  wieder  herge- 
gestellt .  dadurch  ein  ergebener  spartanischer  Vorposten  ge- 
wonnen und  mit  schlauer  Berechnung  ein  fortwährender  Ge- 
genstand des  Streites  zwischen  Theben  und  Athen  geschaffen. 
Besatzungen  wurden  in  mehrere  der  boiotischen  Städte  gelegt 
und  endlich,  als  der  zähe  Charakter  der  Thebaner  immer  noch 
widerstrebte ,  veniitherisch  die  Burg  von  Theben  besetzt ,  die 
Pegierung  ausschliesslich  in  die  Hände  der  philolakonischen 
Partei  gelegt;  die  Führer  der  Gegenpartei  wurden  hingerichtet 
oder  zur  Flucht  gezwungen.  Denn  mag  auch  wirklich,  wie 
man  in  Sparta  behauptete  und  wir  gerne  glauben  mögen, 
Phoibidas  zuerst  auf  seine  Faust  gehandelt  haben,  so  nahm 
doch  die  ßegieiiing  durch  die  Art .  wie  sie  die  Früchte  der 
Frevelthat  sich  aneignete,  die  ganze  Verantwortlichkeit  auf  sich. 

'  Grote  history  of  Greece  VII,  24  bezieht  unrichtig  schon  hieher  die 
AA'arnung  des  Antalkidas.  Plat.  Ages.  26,  die  Plutarch  ausdrücklich  nach 
der  Befreiung  ansetzt,     cf.  Plut.  Lyc.   13  und  Pelop.   15. 


EPAMEIXO^'DAS.  279 

Erklärte  doch  Agesilaos  selbst.  Avenn  die  That  für  Sparta  vor- 
tlieilhaft  sei,  so  sei  es  alter  Regieniiigsgrundsatz ,  dass  es  er- 
laubt sei,  dergleichen  auf  eigene  Verantwortlichkeit  zu  unter- 
nehmen. In  nacktester  AVeise  wurde  so  der  Vortheil  Spartas 
für  das  leitende  Princip  seiner  Politik  erklärt.  —  Als  bald 
darauf  Olynth  sich  ihm  ergeben  musste,  schien  seine  Macht  in 
ganz  Griechenland  unerschütterlich  befestigt. 

Natürlich  dass  selbst  erklärte  Anhänger  Spartas  in  dem 
jetzt  gerade  hereinbrechenden  Sturze  desselben  die  gerecht 
waltende  Hand  der  Götter  erkannten.  Die  Nachricht  von  der 
Befreiung  Thebens  durch  die  Verschworenen  wirkte  in  Sparta 
wie  ein  Donnerschlag  aus  heiterm  Himmel.  Ein  Heereszug  nach 
Boiotien  wurde  sogleich  beschlossen ;  aber  deutlich  trat  die  all- 
mähch  trotz  aller  Erfolge  entstandene  Unzufriedenheit  mit  der  Po- 
litik des  Agesilaos  hervor,  und  der  König  lehnte  unter  Berufung 
auf  sein  Alter  den  Befehl  über  das  ausrückende  Heer  ab,  weil  der 
Krieg  zu  unpopulär  Avar.i  Sein  College,  der  erst  kürzlich  zur  Re- 
gierung gekommene  Kleombrotos,  musste  die  undankbare  Auf- 
gabe übernehmen.  Aber  schon  hatte  die  Kadmeia  capitulirt ;  in 
der  strengen  Winterzeit  war  an  weitere  Erfolge  kaum  zu  denken. 
Kleombrotos  beschränkte  sich  auf  eine  blosse  Demonstration 
gegen  Theben,  die  den  boiotischen  Städten  zeigen  sollte,  dass 
Sparta  den  Schutz  ihrer  Souveränetät  nicht  aufzugeben  gedenke, 
und  Hess  dann  eine  beträchtliche  Heeresmacht  unter  dem  Har- 
mosten Sphodrias  in  Thespiai  zurück.  Die  nächste  Gefahr  war 
für  den  Augenblick  an  Theben  vorüber  gegangen;  aber  es 
handelte  sich  nun  darum,  die  wiedergewonnene  Freiheit  zu 
wahren  und  zu  sichern,  und  das  war  keine  leichte  Auf- 
gabe, da  Spartas  Macht  sonst  noch  überall  unerschüttert  fest 
stand  und  seine  Besatzungen  in  Boiotien  fast  bis  an  die  Thore 
Thebens  reichten.  Der  Kampf  der  isolirten  Stadt  gegen  die 
unter  Sparta  vereinigte  Macht  von  nahezu  ganz  Hellas  musste 
fast  unmöglich  erscheinen.  Und  wir  haben  in  der  That  Ur- 
sache anzunehmen,  dass  dieses  Gefühl  nicht  nur  im  übrigen 
Griechenland ,  sondern  in  Theben  selbst  das  allgemeine  war ; 
Athen  bestrafte  auf  die  Beschwerden  Spartas  hin,  von  den 
zwei  Feldherrn,   die  ohne  Auftrag  der  Regierung  den  thebani- 

'    Plut.  Ages.  24  :    ai;-/;j-,o;j.-:'-o;  -:i  .  .  .   -/jÖ'.;   ö'i&T.ri-ai  ör.ßaioj;  ■/.'j.7.!ä%, 
T.'Awi  0  '.  a  T  0  'j  :  T  'j  0  a  vv  0  j  ; . 


2S0  Epameinondas. 

sehen  Verbannten  Hülfe  geleistet  hatten,  den  einen  mit  dem 
Tode  den  andern  mit  A'erbannung.  und  Theben  soll  nach  einer 
nicht  unzuverlässigen  Nachricht  Versöhnung  mit  Sparta  gesucht 
und  Anerkennung  der  spartanischen  Hegemonie  mit  Heeres- 
folge angeboten  haben.  An  den  zu  hochgespannten  Forderun- 
gen Spartas,  das  Wiederaufnahme  der  philolakonischen  Flücht- 
linge und  Entfernung  der  Tyrannenmörder  verlangte,  scheiter- 
ten die  Unterhandlungen. 

So  war  man  auf  die  eigene  Ki-aft  und  Einsicht  gewiesen, 
und  ein  günstiges  Geschick  hatte  Theben  in  diesem  Augen- 
blicke Männer  gegeben,  welche  der  scliAveren  Aufgabe  gewach- 
sen waren.  Unter  den  Führern  der  Verschwörung  hatten  sich 
Melon  und  Charon  durch  Kühnheit  und  ]jesonnenheit  einen 
rühmlichen  Namen  gemacht;  aber  alle  wurden  weit  überragt 
durch  Pelopidas.  Aus  vornehmer  Familie,  mit  Glücksgütern 
reichlich  gesegnet,  stand  er  damals  in  der  Blüthe  der  Jahre. 
Von  kräftigem  Körper  hatte  er  mit  besonderer  Vorliebe  die 
bei  den  Thebanern  in  hohem  Ansehen  stehenden  gymnastischen 
Uebungen  gepflegt,  in  der  Palästra  und  auf  der  Jagd  brachte 
er  am  liebsten  seine  Mussestunden  zu ;  von  seinem  Reichthum 
machte  er  den  edelsten  Gebrauch,  indem  er  ihn  seinen  Freun- 
den zur  freien  Verfügung  stellte,  und  dürftige  Mitbürger  un- 
terstützte, Avährend  er  selber  in  Kleidung  und  Nahrung  die 
grösste  Einfachheit  beobachtete.  Mit  glühender  Freiheitsliebe 
und  allen  Tugenden  des  Bürgers  verband  er  ebensowohl  die 
in  einer  griechischen  Demokratie,  wohl  selbst  der  thebanischen, 
dem  Staatsmanne  unerlässliche  Gewandtheit  der  Rede  als  die 
Eigenschaften  des  Kriegers  und  Feldherrn ;  nur  dass  sein  stür- 
mischer Muth  ihn  Avohl  die  dem  Heerführer  zukommende  "S'or- 
sicht  ausser  Augen  setzen  liess,  und  er  melu-  zur  kühnen, 
raschen  That  als  zur  berechneten  überlegten  Leitung  eines 
Feldzuges  geschickt  war,  wie  denn  überhaupt  eine  gewisse 
Leidenschaftlichkeit,  die  aber  nie  in  Härte  und  Grausamkeit 
ausartete,  das  heisse  aiolische  Blut  nicht  verläugnete.  Alle 
diese  Eigenschaften,  die  in  Pelopidas  uns  den  Typus  des  The- 
baners  im  besten  Sinne  erkennen  lassen,  mit  dem  Ruhme  ver- 
bunden, die  eigentliche  Seele  der  Befreiung  gewesen  zu  sein, 
machten  ihn  zum  populärsten  Manne  in  seiner  Vaterstadt,  den 
bis    an    sein   Lebensende    die    Volksgunst   nie   verliess ,    dessen 


Epamelxondas  .  2  S  l 

Ted  von  Bürgern  und  Bundesgenossen  als  der  sch^verste  Schlag 
betrauert  wurde.  Aber  der  schönste  und  für  Thebens  Wohl- 
fahrt wohlthätigste  Zug  seines  Charakters,  ist  die  unveränderliche 
Treue  und  Xeidlosigkeit.  mit  der  er  sein  Lebenlang  sich  dem 
grössern,  aber  -weit  Aveniger  populären  Freunde  Epameinondas 
anschloss  und  freudig  unterordnete. 

Dieser  hatte  sich  an  der  Verschwörung  nicht  unmittelbar 
betheiligt  und  war  überhaupt  bis  dahin,  ob^vohl  schon  ungefähr 
vierzig  Jahre  alt,  nirgend  hervorgetreten,  eine  so  merkwürdige 
Erscheinung,  dass  sie  uns  dringend  auffordert  zu  forschen,  wie 
er  sich  denn  zvi  der  spätem  grossen  Laufljalui  befähigt  hatte. 
Sein  Geschlecht  gehörte  zu  dem  alten  Adel,  jener  aus  den 
von  Kadmos  gesäeten  Drachenzähnen  entsprossenen  Sparten, 
und  es  ist  wohl  nicht  zufällig,  dass  die  beiden  in  verschiede- 
nen Eichtungen  grössten  Geister,  die  Theben  hervorgebracht 
hat  nicht  zum  boiotisch-aiolischen  Stamme  zählten ,  sondern 
aus  jener  altem  phönikischen  oder  Aaelleicht  ionischen  Bevöl- 
kerung hervorgegangen  sind.  Denn  auch  Pindar  stammte,  als 
Aigide,  von  den  alten  Kadmeionen.  Obwohl  des  Epameinondas 
Vater  Polymnis  wenig  Vermögen  besass.  erhielt  der  Sohn  doch 
eine  vortreffliche  Erziehung.  Von  den  vorzüglichsten  Lehrern 
wurde  er  nach  Landesübung  in  Musik  und  Tanz  unterrichtet 
und  lernte  ebensowohl  die  Flöte,  die  in  Boiotien  in  grossem 
Ansehen  stand  ^j ,  spielen,  als  die  Laute  schlagen  und  mit  Ge- 
sang begleiten,  und  dass  er  die  Leibesübungen  nicht  vernach- 
lässigte verstünde  sich  bei  einem  Thebaner  von  selbst,  wenn 
es  uns  auch  nicht  ausdrücklich  berichtet  würde;  nur  unter- 
schied er  sich  dadurch  von  den  meisten  seiner  Landsleute, 
dass  er  mehr  auf  Gewandtheit  imd  Schnelligkeit,  als  auf  blosse 
Leibeskraft  hielt  und  die  athletische  Wohlgenährtheit  als  zum 
Kriege  unbrauchbar  verwarf  ^  .  Neben  diesen  Gegenständen 
der  Jugendbildung,  die  kein  freier  Bürger  von  edelm  Ge- 
schlechte zu  vernachlässigen  pflegte ,  widmete  sich  eben  Epa- 
meinondas ganz  besonders  der  Philosophie.  Auch  Theben, 
obwohl  sonst  das  sinnlich  körperliche  Leben  über  das  geistige  das 

^  Athenaeus  IV,  pg.  1S4  e.  'Aotsro^svo;  0£  v.'xi  'EraiAivcuvoa-^  tc,v 
9T,|iatov  a'j/.Eiv  [j-aöetv  -apd  'OX'jfxrtootuow  y.al  'OpSaYOoa.  cfr.  Com.  Nepos 
Epamin.  II,  1. 

-)  Corn.  Nep.  Epam.  II,  4,  5. 


252  Epamei>-oxdas. 

Uebergewicht   hatte,    blieb   von    der  Bewegung,    die    sich    der 
Geister  damals  bemächtigte,  nicht  unberührt.    Der  Pythagoreer 
Philolaos  hielt  etwa  gegen  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  sich 
längere  Zeit  dort   auf  und  sammelte  eine  Anzahl  von  streben- 
den  Männern  und  Jünglingen  um  sich,   und  nach  Beendigung 
des   peloponnesischen   Krieges    traten    einzelne   Männer   dieses 
philosophischen  Kreises    mit  Sokrates  und  seinen  Freunden  in 
Athen  in  Verbindung,  wie  wir  ja  in  Piatons  Phaidon  den  Kebes 
und    Simmias   bei  Sokrates  Tod    als  Haupttheilnehmer  an   der 
Tnterredung  finden.     Auch  nach  Philolaos    fand  die  Pythago- 
reische   Schule   in  Theben    einen   würdigen    A'ertreter   an    dem 
Lvsis  aus  Tarent  \  ,     der  wie  jener  sich  aus  Italien  hieher  zu- 
rückgezogen und  im  Hause  des  PohTnnis  eine  gastliche  Stätte 
gefunden   hatte,    wo  er   bis  an  sein  Lebensende  weilte.     Dem 
ernsten  greisen  Denker   schloss  sich  der  jugendliche  Sohn  des 
Gastfreundes  mit  einer  kmdlichen  Verehrung  an,   ein  "S'erhält- 
niss,    das   bis    zu  dem   kurz   vor  Thebens   Befreiung    erfolgten 
Tode    des  Lysis    fortdauerte.     Während   andere  Altersgenossen 
sich   den   Köi-p erÜbungen    und    den    Vergnügungen    hingaben, 
lauschte   Epameinondas   in   den   Mussestunden    mit    ernstester 
Hingebung  den  Gesprächen  des  Lehrers  und  betheiUgte  sich  an 
den  Unterredungen    des   philosophischen  Kreises.     Die  Pytha- 
goreische Schule  hat   bekanntlich   von  Anfang    an  eine  eigen- 
thümlich  mystisch-religiöse  Tendenz  verfolgt,   sie  hat  zugleich, 
neben   der   reinen    Spekulation,    der  Ethik   einen  bedeutenden 
Raum  gegeben  und  mehr  als  eme  andere  philosophische  Rich- 
tung die  Lehre  mit  dem  Leben  in  Verbinduns^  2:ebracht,    ihre 
Ideale  im  äussern  Leben,   im  Staate  zu  verwirklichen  gesucht. 
Sie   Avar   ihren  Anhängern    eine    das    ganze   Leben  durch- 
dringende Religion.     "Waren  auch   ihre   praktischen  Ver- 
suche in  Italien  blutig  unterdrückt  worden,  so  behielt  sie  doch 
auch    später    im  Ganzen    denselben  Charakter,    Avie    denn    der 
Zeitgenosse  des  Epameinondas  Archytas.   einer  der  ausgezeich- 
netsten Pythagoreer,    lange    Zeit    die   Geschicke    seiner  Vater- 
stadt  Tarent   lenkte.     In   Theben    musste    die   Berührnng    mit 
den    Sokratikern    zugleich    eine    wohlthätige   Erweiterung    des 


1;  Müller  F.  H.  G.  II,  S.  275.  III,  S.  5.     Cicero  de  orat.  III,  34,  139. 
de  offic.  I,  44,   15.5.     Cornel.  Nep.  Epam.  II,  2.     Diodor  X,   11,  2. 


Epameixondas.  283 

Gesichtskreises,  eine  lebendige  dialektische  Entwicklung  her- 
beiführen. Die  Eindrücke  nun  einer  solchen  von  einer  ver- 
ehrten Persönlichkeit  getragenen  Philosophie  nahm  Epamei- 
nondas  früh  mit  der  Innigkeit  eines  tiefen  Gemüthes  und 
zugleich  mit  der  Schärfe  eines  klaren  Verstandes  in  sich  auf. 
Die  strenge  Ethik  der  Schule  eignete  er  sich  im  vollsten  Um- 
fange an,  stellte  in  seinem  ganzen  Leben  das  reinste  Bild  an- 
tiker Sittlichkeit  dar.  Sein  Privatleben  war  so  makellos,  dass 
selbst  die  geschäftige  Klatscherei  der  zahlreichen  Memoiren- 
schreiber, die  sonst  kaum  einen  hervorragenden  Mann  unan- 
getastet Hess,  ihm  nichts  von  einigem  Belang  nachzureden 
wusste  ly  ;  nicht  allein  enthielt  er  sich  in  strenger  Selbstbe- 
herrschung von  Jugend  auf  aller  Lüste  und  Ausschweifungen, 
sondern  nahm  auch  an  erlaubten  Genüssen  und  Vergnügungen 
keinen  Theil :  in  Kleidung  und  Nahrung  befliss  er  sich  einer 
Einfachheit,  die  fast  an  Bedürfnisslosigkeit  gränzte ;  und  weit 
entfernt,  in  der  Dürftigkeit  seiner  Familie  ein  Uebel  zu  sehen, 
wusste  er  Aielmehr  durch  sein  Beispiel  den  reichen  Pelopidas 
zu  gleicher  Einfachheit  nachzuziehen,  und  über  die  Leiden- 
schaft, der  so  viele  sonst  treffliche  Männer  Griechenlands  er- 
lagen, die  Habsucht,  war  er  vollständig  erhaben.  Den  Staats- 
dienst hat  er  nie,  auch  auf  erlaubtem  AVege,  zum  Mittel  der 
Bereicherung  benutzt,  Geschenke  selbst  von  den  vertrautesten 
Freunden  nie  angenommen,  geschweige  denn  von  Machthabern 
oder  sonstigen  Fremden,  mochten  sie  auch  unter  den  zartesten 
Formen  angeboten  werden;  doch  scheute  er  sich  nicht  zur 
würdigen  Bestreitung  einer  mit  einem  öffentlichen  Amt  ver- 
bundenen Leistung,   einer  sogenannten  Leiturgie,   die  Aushülfe 

1;  Wegen  seiner  Massigkeit  wird  Epameinondas  zusammengestellt  mit 
Aristeides,  Phokion  und  Phomiion.  Athen.  X,  pg.  419  a.  —  Dagegen 
führt  Athenaeus  (XIII,  pg.  590  c.)  ,  nachdem  verschiedene  Beispiele  von 
Begünstigung  von  Frauen  vorangegangen  sind,  das  Zeugniss  des  Klearchos 
von  Soloi  über  Epameinondas   an.     'E-'/iJuviuvoa;   6   0T,i3aro;   asii-votEfiov  [/.ev 

ftsiopoiT]  T«  zpayÖEvTa  a-j-tü  Ttepl  ttjV  Adv-tuvo;  -p-til-Aa.  Hängt  das  mit  der 
in  den  Apophtliegmata  und  sonst  überlieferten  Erzählung  zusammen,  dass 
er  ein  Gesuch,  -welches  er  den  Peloponnesiern  abgeschlagen,  der  Geliebten 
gewährt  habe?  Sein  ^ptt)|i.£vo;  Asopichos  erwähnt  bei  Athen.  XIII,  p.  605  a 
nach  Theopomp ;  Kaphisodoros  Plut.  Amator.  XVII  Mor.  pg.  930  Dübner. 
Es  waren  Verhältnisse  d^T  Waffenbrüderschaft. 


284  Epameixoxdas. 

seines  Freundes  Pelopidas  in  Anspruch  zu  nehmen.  Seine 
"Wahrhaftigkeil  ging  so  weit,  dass  er  selbst  im  Scherze  sich 
nie  ein  unwahres  Wort  erlaubte.  Wenn  er  nun  aber  so  gegen 
sich  selber  eine  an  das  Asketische  gränzende  Strenge  übte,  so 
war  er  doch  gegen  andere  milde  und  bescheiden,  gegen  Feinde 
im  Widerspruche  mit  der  älteren  griechischen  Volksmoral  mög- 
lichst schonend  und  zum  Vergessen  erlittenen  Unrechts  ge- 
neigt ;  im  Umgange  nichts  Aveniger  als  pedantisch .  vielmehr 
gewandt  und  fähig  sich  nicht  allein  Achtung  sondern  auch 
Liebe  und  Anhänghchkeit  zu  gewinnen,  und  selbst  von  Humor, 
wie  er  zum  Beispiel  einst  einen  allzviwohlbeleibten  Krieger  mit 
der  Bemerkung  wegschickte,  selbst  drei  Schilde  würden  seinen 
Bauch  nicht  decken  können. 

Aber  die  Sittlichkeit  im  gewöhnlichen  engern  Sinne  des 
Wortes  war  nicht  der  einzige  Gewinn,  den  er  aus  seinen  philo- 
sophischen Bestrebungen  zog.  Die  ernste  methodische  Be- 
schäftigung mit  den  wichtigsten  Problemen  des  Lebens  wii-kte 
in  weiterem  Umfange  auf  die  Ausbildung  seines  Geistes  und 
Charakters.  Es  wird  von  Epameinondas  gerühmt,  dass  er  von 
einer  philosophischen  Untersuchung  nie  abgestanden  hat,  bis 
sie  zu  Ende  geführt  worden ,  was  w'ie  seine  strenge  Sittlichkeit 
und  Wahrheitshebe  an  Sokrates  erinnert  und  nicht  weniger  zur 
Schärfung  seines  Verstandes  als  ziu:  Befestigung  seines  Cha- 
rakters beitragen  musste ,  und  ihn  gewöhnte ,  auch  im  prakti- 
schen Leben  keine  Anstrengung  zu  scheuen,  bevor  das  einmal 
gesteckte  Ziel  erreicht  war.  Zugleich  verschaffte  ihm  die  dia- 
lektische Methode ,  die  damals  unzweifelhaft  auch  in  den  Py- 
thagoreismus  eingedningen  Avar,  die  ihm  stets  zu  Gebote 
stehende  Fertigkeit  in  schlagenden  Repliken  und  überhaupt  die 
für  einen  Thebaner  ungewöhnliche  Beredsamkeit,  durch  die  er 
sich  später  auszeichnete.  Doch  Avird  berichtet,  dass  er  im 
Ganzen  Avenig  sprach  und  mehr  aufmerksam  zu  hören .  als 
selbst  zu  reden  pflegte.  Der  Tarentiner  Spintharos,  der  eine 
Zeit  lang  mit  zu  dem  thebanisch-pythagoreischen  Freundes- 
kreise gehörte,  pflegte  zu  sagen,  er  habe  nie  einen  Menschen 
gesehen,  der  mehr  Avisse  und  Aveniger  spreche  als  Epameinon- 
das. Ueberhaupt  dürfen  wir  ihn  uns  scliAverlich  als  einen 
Redner  nach  attischer  Art  denken.  —  Endlich  aber  schöpfte 
er  aus  seiner  Philosophie  jenen  tiefen  sittlich-religiösen  Halt, 


Epamein  oNDAs.  285 

der  ihn  in  den  verschiedensten  Lagen  des  Lebens  fest  und 
uiierschütterlich  erhielt,  und  ihn  ebensowohl  über  den  gemei- 
nen Aberglauben  der  Zeit  erhob,  als  vor  der  bodenlosen  Ne- 
gation der  Sophistik  und  der  frivolen  Lebensauffassung  und 
dem  crassen  Egoismus  vieler  Zeitgenossen  schützte.  Durch 
tugendhaftes  Leben  sich  innere  Befriedigung  zu  verschaffen, 
war  sein  höchstes  Bestreben.  Darum  legte  er  geringen  Werth 
auf  äussere  Anerkennung  und  Auszeichnung  und  hielt  wenig 
auf  die  Gunst  des  Volkes.  Aber  trotzdem  hat  ihn  seine  philo- 
sophisch-asketische Richtung  nie  gehindert,  seine  Bürgerpflicht 
im  vollsten  Masse  zu  erfüllen.  Er  war  ferne  von  der  in  der 
platonischen  Schule  bemerkbaren  Ueberhebung  über  die  un- 
philosophische Menge  und  hielt  sich  nicht  für  zu  gut,  dem 
Staate,  wie  er  einmal  Avar,  seine  Dienste  zu  widmen,  ohne 
eine  radicale  Reform  nach  idealischen  Principien  zu  fordern. 
Mit  der  gleichen  Hingebung  und  unerschütterlichen  Treue  hat 
er  dem  Vaterland  in  hoher  und  niedriger  Stellung  gedient. 
Bald  nachdem  er  bei  Leuktra  gesiegt  und  Sparta  im  Pelopon- 
nes  gedemüthigt ,  machte  er  mit  gleichem  Pflichteifer  als  ge- 
meiner Soldat  einen  Feldzug  gegen  Thessalien  unter  unfähigen 
Feldherrn  mit,  und  in  der  Zeit  seines  höchsten  Ruhmes  ver- 
sah er  das  ihm  zum  Hohne  übertragene  Amt  eines  Cloaken- 
inspectors  mit  solchem  Ernste ,  dass  es  von  da  an  aus  einem 
verachteten  zu  einem  gesuchten  Ehrenamte  soll  geworden  sein.^) 
—  Wenigen  Staatsmännern  und  Feldherrn  aller  Zeiten,  weni- 
gen grossen  Männern  überhaupt  war  der  persönliche  Ehrgeiz 
so  fremd  wie  Epameinondas ,  seine  einzige  Ambition  war  das 
Vaterland  frei  und  gross  zu  sehen. 

Daher  dürfen  wir  uns  nicht  wundern,  dass  er  bis  in  das 
reife  Mannesalter  nie  genannt  Avird,  und  niemals  ein  eigentlich 
populärer  Mann  wurde. 

Der  korinthische  Krieg,  der  in  die  Zeit  seiner  Jugend  vom 
20.  bis  30.  Jahr  fiel,    mochte   ihm  Gelegenheit  geben  sich  in 


'j  So  wenigstens  wird  uns  berichtet  iPlut.  praec.  ger.  reip.  XV  Moral, 
pg.  990  Dübner.)  Doch  gestehe  ich,  einige  Zweifel  gegen  die  Erzählung  zu 
haben.  Die  griechischen  Städte  haben  in  Folge  der  Lage  und  Beschaffenheit 
ihres  Landes  eine  solche  AVichtigkeit  auf  Wasserleitungen  und  Abzugscanäle 
gelegt,  dass  die  Aufsicht  darüber  schwerlich  je  für  etwas  verächtliches  galt. 


286  Epamelxondas. 

der  Kriegskunst  auszubilden ;  aber  wir  erfahren  nicht  einmal, 
ob  er  an  einer  der  bedeutendem  Schlachten  Theil  genommen  hat 
und  wir  wissen  nicht,  ob  es  in  dieser  Zeit  oder  später  war.  wo 
der  ältere  thebanische  Feldherr  Pammenes  ihn  zu  seinem  grösse- 
ren Schüler  soll  gebildet  haben.  Wichtiger  wurde  ein  späterer 
Feldzug,  weil  er  das  innige  Verhältniss  zu  Felopidas  begrün- 
dete. Als  nämlich  nach  dem  antalkidischen  Frieden  König 
Agesipolis  von  S})arta  an  der  Spitze  eines  Bundesheeres  Man- 
tineia  angriff  und  belagerte,  soll  in  einem  Gefechte  der  Flügel, 
aiif  dem  die  Thebaner  standen,  geworfen  worden  sein.  Von 
sieben  Wunden  getroffen  stürzte  Felopidas  nieder  und  mit 
äusserster  Anstrengung  vertheidigte  Epameinondas  den  todt- 
geglaubten  Gefährten,  selbst  schon  in  die  Brust  und  in  den 
Arm  verwundet,  bis  vom  andern  Flügel  der  König  zu  Hülfe 
kam  und  den  Feind  zurückwarf.  Die  schon  vorher  bestehende 
auf  gleicher  Gesinnung  beruhende  Freundschaft  wurde  dadurch 
für  das  Leben  befestigt  ^  . 

Sonst  lebte  Epameinondas  still  und  zurückgezogen  fort, 
nur  von  den  engern  Freunden  geschätzt  und  gewürdigt.  Als 
die  oligarchische  Faction  mit  Hülfe  des  Phoibidas  sich  der 
E.egierung  bemächtigte  und  die  durch  ihre  antilakonische  Ge- 
sinnung bekannten  tmd  durch  ihre  Stellung  den  Machthabern 
gefährlich  erscheinenden  Männer  in  Athen  eine  Zufluchtstätte 
suchen  mussten,  blieb  er  unangefochten  in  Theben.  Man 
glaubte,  Avegen  seiner  philosophischen  Studien  sei  er  für  Staats- 
geschäfte untauglich,  wegen  seiner  Armuth  ohne  Einfluss,  und 
selbst  unter  den  Freunden  ahnten  wohl  wenige  noch,   was    in 


ij  Grote  bist,  of  Greece  MI,  S.  1Ü5  A.  2  bezweifelt,  dass  das  Gefecht, 
in  dem  Felopidas  von  Epameinondas  gerettet  wurde,  bei  der  Belagerung 
von  Mantineia  durch  Agesipolis  stattgefunden  habe;  denn  1;  habe  damals 
Theben  mit  Sparta  schlecht  gestanden  und  keine  Truppen  geschickt. 
2  scheine  nach  Xenophon  keine  Schlacht  stattgefunden  zu  haben.  Aber 
ersteres  ist  gar  nicht  bewiesen ,  und  in  Bezug  auf  2;  konnten  doch  wohl 
kleine  Gefechte  stattfinden,  indem  die  Mantineer  gewiss  die  Belagerungs- 
arbeit zu  stören  suchten.  —  Freilich  konnte  auch  das  Gefecht,  wo  der 
Vorfall  stattfand,  vor  dem  Antalkidasfrieden  statt  haben.  —  Für  Grote 
spricht  allerdings  der  Umstand,  dass  es  für  die  Boiotier  förmlich  verboten 
war  gegen  Olynth  zu  ziehen  Xen.  Hell.  V,  2,  27,  obwohl  sie  dem  Heere 
den  Durchzug  durch  ihr  Land  nicht  verweigern  konnten. 


Epameixondas.  287 

ihm  verborgen  lag ;  manche  meinten  vielmehr ,  es  fehle  ihm 
an  Muth  und  Entschlossenheit,  als  er  sich  an  dem  Plan  zur 
Ermordung  der  Oligarchie  nicht  betheiligen  wollte.  Denn  er 
hielt  es  gegen  die  allgemeine  griechische  Ansicht  für  uner- 
laubt, Mitbürger,  selbst  wenn  sie  sich  solcher  Gewaltthaten 
schuldig  gemacht  hatten,  wie  Archias  und  Leontiades,  ohne 
richterlichen  Spruch  zu  tödten ,  und  fürchtete  überdies .  Avenn 
einmal  das  Morden  begonnen ,  würde  es  schwer  sein  ihm  ein 
ein  Ziel  zu  setzen.  Er  wusste,  dass  unter  den  Demokraten 
büse  Elemente  waren,  welche  die  einmal  gebotene  Gelegen- 
heit benutzen  würden ,  um  persönliche  Kachegelüste  zu  be- 
friedigen. 

Gleichgültig  gegen  die  Lage  der  "\'aterstadt  war  er  darum 
aber  nie  gewesen.  Längst  hatte  er  die  thebanische  Jugend 
angefeuert,  sich  in  den  Gymnasien  mit  den  Spartanern  zu 
messen,  und  auf  die  Schmach  hingewiesen,  von  Leuten  sich 
knechten  zu  lassen,  denen  sie  in  Körperübungen  überlegen  sei. 
Und  als  nun  die  Tyrannen  gefallen  Avaren  und  es  sich  darum 
handelte,  die  Kadmeia  zu  nehmen,  da  erschien  er  mit  Gorgi- 
das,  der  schon  früher  die  Stelle  eines  Eeiterobersten  versehen 
hatte,  an  der  Spitze  einer  rasch  gesammelten  bewaffneten 
Schaar;  die  beiden,  Gorgidas  und  Epameinondas ,  führten 
die  IJefreier  bekränzt  in  die  Volksversammlung  ein. 

Nachdem  nun  die  Stadt  glücklich  befreit  und  die  ersten 
Angriffe  Spartas  abgcAviesen  Avaren,  kam  es  darauf  an,  die  Er- 
nmgenschaften  zu  Avahren.  Da  Sparta  selbst  sehr  gemässigte 
Friedensanträge  verAvarf,  Avar  Theben  auf  sein  gutes  Recht  und 
sein  SchAvert  gcAA-iesen.  und  manche  Bürger  mochten  mit  Ban- 
gen der  Zukunft  entgegensehen.  Der  Gang  des  Kampfes 
zeigte  aber  bald,  dass  Sparta  es  mit  einem  eben  so  entschlos- 
senen ,  als  klar  und  consequent  seine  ZAvecke  A'erfolgenden 
Feinde  zu  thun  habe.  Sollte  der  Widerstand  auf  die  Dauer 
möglich  sein,  so  musste  vor  Allem  Theben  aus  seiner  Isolirung 
heraustreten,  und  zwar  nach  zwei  Seiten;  einmal  gegenüber 
der  eigenen  Landschaft,  Boiotien  und  dessen  einzelnen  Städten, 
sodann  aber  auch  im  Yerhältniss  zu  den  übrigen  griechischen 
Staaten.  In  letzterer  Beziehung  AAiirde  Theben  unerAvartet 
durch  das  Geschick  und  die  übermüthige  Verblendung  Spar- 
tas begünstigt.     Es   ist   bekannt  Avie  der  spartanische  Befehls- 


28  S  Epameinondas. 

haber  in  Thespiai,  Sphodrias .  den  mchlosen  Versuch  machte, 
mitten  im  Frieden  mit  Athen ,  durch  nächtlichen  Ueberfall 
dessen  Hafenstadt,  den  Peiraieus,  zu  besetzen.  Er  mochte 
denken,  so  gut  als  einst  Phoibidas  zu  einem  solchen  Hand- 
streich berechtigt  zu  sein  und  nach  der  Theorie  des  Agesilaos 
Verzeihung  und  Ruhm  zu  erlangen,  wenn  er  etwas  für  Sparta 
)) Nützliches «  gethan  habe.  Aber  diesmal  kam  zu  der  Ruch- 
losigkeit auch  noch  die  Ungeschicklichkeit.  Der  Schlag  miss- 
lang in  Folge  schlechter  Berechnung.  Athen,  tief  gekränkt, 
verlangte  in  Sparta  Genugthuung  und  erhielt  sie  nicht. 
Agesilaos  wusste  auch  jetzt  Auskunftsmittel,  Sphodrias  war  ein 
wackerer  Soldat,  und  solcher  Leute,  hiess  es,  bedürfe  Sparta. 
Er  wurde  freigesprochen ' ; .  Aber  diesmal  war  der  Schaden 
für  Sparta  doch  gleich  von  Anfang  grösser,  als  der  Nutzen. 
Athen  betrachtete  die  Antwort  als  eine  Kriegserklärung,  schloss 
unverzüglich  ein  Bündniss  mit  Theben,  rüstete  mit  aller  Macht 
zu  Schutz  und  Trutz  und  schritt  zur  Erneuening  seiner  ein- 
stigen Hegemonie  zur  See,  niu*  dass  jetzt  vollkommene  Auto- 
nomie und  Gleichberechtigung  aller  Mitglieder  die  Grundlage 
des  Bundes  Avurde.  Bald  standen  ihm  alle  bedeutenderen  See- 
staaten verbündet  zur  Seite  und  daneben  auch  die  Thebaner, 
die  selbst  zu  den  Gliedern  des  Bundes  zählten. 

Aber  gleichzeitig  Avar  Theben  bemüht,  seine  Stellung  in 
Boiotien  zu  ändern.  Wir  haben  erwähnt.  Avie  durch  den  Frie- 
den des  Antalkidas  der  boiotische  Bund,  dessen  Vorort  Theben 
geAvesen  Avar,  aufgelöst  land  die  einzelnen  Städte  unter  dem 
Titel  der  Souveränetät  zu  Bundesgenossen  Spartas  gemacht 
Avorden  Avaren.  Diese  atomistische  Zerbröckelung  musste  aufge- 
hoben Averden,  und  die  erste  Handlung  des  befreiten  Thebens 
zeigte,  dass  die  Lenker  der  BcAvegung  sich  klar  bcAA-usst  waren, 
AA-ie  die  Freiheit  nur  durch  die  Einigung  Boiotiens  bestehen 
könne.  An  die  Stelle  der  Polemarchen,  die  in  dem  isolirten 
Theben  die  höchsten  Beamten  geAvesen  Avaren,  hatte  man  am 
ersten  Morgen  Boiotarchen  ernannt,    aber  Boiotien,   das 


1)  Grote  hist.  of  Greece  VII,  S.  80  lässt  die  Parteilichkeit  für  Athen 
doch  gar  zu  stark  hervortreten  in  der  Vergleichung  A'on  Sphodrias  Process 
und  dem  der  athenischen  Feldherrn,  die  den  Thebanischen  Verbannten 
ohne  Instruction  Hülfe  geleistet  hatten. 


Epameixoxdas.  289 

sie  regieren  sollten,  mnsste  erst  den  Spartanern  wieder  abge- 
nommen Averden,  darauf  gingen  die  nächsten  Anstrengungen. 
Aber  man  blieb  jetzt  nicht  dabei  stehen ,  eine  ziemlich  lose 
Bundesverfassung,  wie  sie  ehedem  bestanden  hatte,  hinzustel- 
len. Schon  vor  dem  Frieden  des  Antalkidas  hatte  sich  in 
vielen  griechischen  Landschaften  ein  höchst  bemerkenswerther 
Zug  zur  engeren  Verbindiuig,  zur  Centralisation  gezeigt;  die- 
selbe Erscheinung  tritt  uns  jetzt  in  Boiotien  entgegen.  Theben 
sucht  alle  Boiotier  zu  Bürgern  Thebens  zu  machen,  oder  mit 
andern  Worten  ganz  Boiotien  zu  einem  einzigen  demokrati- 
schen Staate  zu  vereinigen,  mit  Theben  als  Sitz  der  Regieruncr. 
Die  übrigen  Städte  kamen  dadurch  in  das  Verhältniss  von 
blossen  Gemeinden ,  ohne  dass  darum  die  einzelnen  Bürger 
weniger  politische  Rechte  besassen  als  die  geborenen  Thebaner. 
Die  »Boiotier  in  T  hebe  na  werden  die  Bürger  des  neuen 
Staates  in  einer  Urkunde  treffend  genannt  i;.  Es  war  in  der 
Hauptsache  das  gleiche  A'erhältniss,  das  seit  Jahrhunderten  in 
Attika  bestand.  Doch  dürfen  wir  uns  nicht  Avundern,  dass  die 
Durchführung  des  Planes  auf  vielfachen  hartnäckigen  Wider- 
stand in  mehreren  Städten  stiess.  Es  kam  die  bisher  mehr 
oder  weniger  souveränen  Orte  hier  wie  überall  in  ähnlichen 
Fällen  schwer  an,  ihre  Selbstherrlichkeit  aufzugeben  und  in 
ein  grösseres  Ganzes  als  blosse  Theile  einzutreten,  um  so  mehr 
als  der  Hauptstadt  ein  unverhältnissmässiger  Einfluss ,  wenn 
auch  nicht  rechtlich,  doch  faktisch  zu  Theil  Avurde.  Denn  der 
griechische  Staatsbegriff  hat  sich  im  Gnmde  nie  über 
den  der  Stadt  erhoben;  die  Staatsverfassung  blieb  auch  bei 
ganzen  Landschaften  Avesentlich  eine  Stadt  Verfassung;  in 
den  häufigen  ^Volksversammlungen  stimmten  aber  die  AnAvesen- 
den,  der  Natur  der  Sache  nach  also  hauptsächlich  die  BcavoIi- 
ner  des  Ortes  wo  sie  stattfanden;  die  unmittelbare  Betheiligung 
an  der  höchsten  GcAvalt,  in  der  allein  dem  Griechen  die  poli- 
tische Freiheit  bestand,  Avar  den  entferntem  Orten  sehr  er- 
scliAvert;  sie  fühlten  sich  also  von  Theben  aus  regiert.  Dazu 
kam  noch  ein  zAveites.  Li  mehreren  Städten,  besonders  The- 
spiai  und  Orchomenos,  herrschte  strenge  Oligarchie.     Die  neu- 


1)  Aeschines  in  Ctesiph.  §.  142. 

Vis  eher,  Schriften  I.  jg 


290  Epameinondas. 

eingeführte  thebanisch-hoiotische  Verfassung  Avar  aber  eine 
demokratische ;  durch  den  Eintritt  in  den  thebanischen  Staats- 
verband  verloren  daher  die  bisher  regierenden  Geschlechter 
vollständig  ihre  Macht,  daher  die  Zähigkeit,  mit  der  Jahre  lang 
mehrere  Städte  an  Sparta  halten  \.  — 

Um  diese  Stellung  Thebens ,  um  die  politische  Freiheit 
Boiotiens  dreht  sich  im  Ganzen  der  Kampf  mit  Sparta  in  den 
ersten  acht  Jahren  nach  der  Befreiung.  Es  kann  nicht  meine 
Absicht  sein,  ihn  im  Einzelnen  darzustellen  so  wenig  als 
zu  erzählen,  wie  gleichzeitig  Athen  durch  glückliche  Führung 
des  Seekrieges  wieder  die  erste  Stellung  als  Seemacht  in  Grie- 
chenland errang.  Nur  soAiel  sei  gesagt,  dass  in  wiederholten 
Feldzügen  Agesilaos  so  wenig  als  Kleombrotos  etwas  Wesent- 
liches gegen  Theben  ausrichteten,  dieses  vielmehr  immer  mehr 
Boden  gewann,  durch  den  Sieg  des  Pelopidas  bei  Tegyrai  den 
Ruf  von  Spartas  Unbesiegbarkeit  erschütterte  und  mit  Ausnahme 
von  Orchomenos  ganz  Boiotien  vereinigte.  In  den  langen 
Kämpfen  war  die  immer  kriegerische  Bevölkerung  trefflich  or- 
ganisirt ,  geübt  und  mit  einem  früher  vinbekannten  Selbstver- 
trauen erfüllt  worden,  so  dass  Antalkidas  dem  Agesilaos  vor- 
werfen konnte,  er  lehre  die  Thebaner  wider  ihren  Willen  den 
Krieg.  Auch  Epameinondas  hat  ihn  gelernt.  In  diesem  Zeit- 
räume wird  er  aber  in  den  uns  erhaltenen  dürftigen  Quellen 
kaum  genannt.  Pelopidas,  Jahr  aus  Jahr  ein  zu  den  höchsten 
Aemtern  berufen,  ist  der  gefeiertste  Name,  neben  ihm  gewan- 
nen als  tüchtige  l)efehlshaber  besonders  Gorgidas  und  Pam- 
menes  Kuhm.  welchen  beiden  in  erster  Linie  die  Organisation 
der  sogenannten  heiligen  Schaar  verdankt  ward.  Aber  trotz- 
dem dürfen  Avir  nicht  anstehen,  dem  Epameinondes  einen 
grossen  Antheil  an  dem  glücklichen  Gange  der  Dinge  zuzu- 
schreiben.   Seine  enge  Befreundung  mit  Pelopidas  würde  schon 


1)  Grote  bist,  of  Greece  VII,  S.  25  versteht  offenbar  das  Verhältniss 
von  Thespiai  und  Orchomenos  zu  Theben  nicht  recht,  da  er  nur  bemerkt : 
yet  Orchomenos  and  Thespiae,  over  wJiom  the  presidency  of  Thehes  appears 
to  have  bee?i  harshly  exercised ,  teere  adverse  to  her,  and  favourable  to 
Spartiun  alliance.  —  Aber  in  Orchomenos  und  Thespiai  bestanden  eben 
mächtige  Oligarchien,  denen  auch  eine  milde  geübte  Centralisirung  mit 
Demokratie  nie  behagen  konnte. 


Epameinondas.  291 

darauf  schliessen  lassen,  dass  er  nicht  ohne  Einfluss  gebUeben, 
noch  deutlicher  erkennen  Avir  es  daraus ,  dass  er  am  Ende 
dieses  Zeitraumes  sowohl  in  den  politischen  Unterhandlungen, 
als  in  der  Leitung  der  Kriegsorganisationen  entschieden  den 
ersten  Platz  einnimmt.  Man  wird  also  schwerlich  irren,  wenn 
man  ihn  schon  seit  der  13efreiung  als  den  wahren  geistigen 
Leiter  von  Thebens  Politik  ansieht,  der  freilich  anspruchslos 
zurückstand  und  auch  wohl  oft  genug  mit  seinen  milden  Rath- 
schlägen  kein  Gehör  fand.  Ganz  besonders  möchte  ich  ihm 
die  entschiedene  Handhabung  der  politischen  Einheit  IJoio- 
tiens  zuschreiben,  die  er  später  mit  aller  Energie  in  Sparta 
vertrat. 

Indessen   trat  noch  einmal  grosse  Gefahr  für  Theben  ein. 
Einer   mächtigen   Partei  in  Athen  war  dessen  Wachsthum  zu- 
wider;  sie  lebte  in  dem  Gedanken,   dass  Sparta  die  Hegemonie 
zu  Lande,    Athen   die  zur  See  von  Hechts  wegen  gehöre.     Um 
Spartas  Uebermacht  in  diese  Schranken  zurückzuweisen,   hatte 
sie  Thebens  Jjefreiung  nicht  ungern  gesehen;    da  das  Ziel  er- 
reicht war,    wollte   sie   eine  weitere  Vergrösserung  des  immer 
halb     gefürchteten,     halb     verachteten    Nachbarstaates    nicht. 
Sie  wollte    sie    um    so    weniger,    als  Thebens  hartes  Verfahren 
gegen  Plataiai,   dessen  BeAvohner  vertrieben  wurden ,    alte  An- 
tipathien   weckte    und    Besorgnisse    erregte.      Die     schweren 
Lasten  des  Seekrieges  kamen    dazu  und  machten,    dass  Athen 
zum    Frieden    neigte.     Ein    Separatfriede    zwar,     den    Athen 
und  Sparta    374  abschlössen,    wurde,    ehe    er  zur  Ausführung 
kam.    wieder   gebrochen.     Aber    371    kam  auf  Athens  Betrieb 
ein  Congress   fast   aller  griechischen  Staaten  in  Sparta  zusam- 
men ,    und   einigte   sich   nach  lebhafter  Verhandlung  zu  einem 
Frieden ,    der  auf  den  Bedingimgen  des  Antalkidischen  fiisste, 
aber  von    diesem    doch  wesentlich    dadurch    sich    unterschied, 
dass    er  Sparta   nicht  zum  Garanten  des  Friedens  machte  und 
keine    Verpflichtung    für    die   Theilnehmer    einschloss,    gegen 
Widerspenstige   Heeresfolge   zu   leisten;    die  Autonomie  sollte 
diesmal  eine  wahre  sein.    Auch  Theben,   dessen  Gesandtschaft 
den   Epameinondes    an    der  Spitze   hatte,    erklärte   sich  dafür, 
aber  beim  Unterschreiben  des  Vertrags  erhoben  sich  Anstände. 
Epameinondas  verlangte ,    dass    die   Unterschrift    der  Thebaner 
für  ganz  Boiotien  gelte.     Agesilaos  dagegen  forderte,   dass  die 

19* 


292  EPAMErN'ONDAS. 

boiotisclien  Städte  einzeln  ihren  Beitritt  erklären,  das  heisst, 
dass  sie  als  einzelne  autonome  Staaten  dem  Frieden  beitreten 
sollten,  ein  Begehren,  das  um  so  anmasslicher  und  unbegrün- 
deter erscheint,  als  die  Spartaner  selbst  sogar  im  Namen  ihrer 
autonomen  Bundesgenossen  unterschrieben  hatten.  Aber  Epa- 
meinondas  blieb  fest  und  warf  das  kühne  Wort  hin ,  dass  er 
erst  dann  die  einzelnen  Städte  unterschreiben  lassen  würde, 
Avenn  dies  auch  von  Seite  der  spartanischen  Periökenstädte 
geschähe.  Agesilaos  dagegen  erklärte,  wenn'Theben  sich  nicht 
füge,  so  sei  es  vom  Frieden  ausgeschlossen,  und  Epameinondas 
nahm  diese  Herausfordenmg  zum  neuen  Kampfe  an  und  ver- 
liess  mit  den  übrigen  Gesandten  Sparta.  Niedergeschlagen, 
sagt  der  philolakonische  Xenophon ,  gingen  sie  heim  ^1 .  Und 
eine  gewisse  Wahrheit  mag  darin  liegen;  denn  auch  Theben 
hatte  durch  den  langen  verheerenden  Krieg  viel  gelitten  und 
gehofft  durch  ehrenvollen  Frieden  seine  Freiheit  und  die  neue 
Gestaltung  Boiotiens  gesichert  zu  sehen.  Jetzt  war  unerwar- 
tet wieder  Alles  in  Frage  gestellt  und  bei  seinen  früheren 
Bundesgenossen  hatte  es  keine  Unterstützung  in  seiner  billigen 
F^ordening  gefunden,  vielmehr  stellten  sie  sich  offenbar  eher 
auf  Spartas  Seite  und  zeigten  Schadenfreude  gegen  Theben. 
Agesilaos  triumphirte.  er  hatte  durch  geschicktes  diplomatisches 
Manoeuvre  Boiotien  isolirt  und  hoffte  endlich  seine  Rache  zu 
sättigen. 

Ein  banges  Gefühl  gegenüber  der  grossen  Gefahr  mag 
also  immerhin  bei  den  thebanischen  Gesandten  sich  geregt 
haben,  -n-ie  es  dem  Besonnenen,  der  die  AVechselfälle  des  Krie- 
ges erwägt,  wohl  ziemt.  Aber  muthlos  Avaren  sie  nicht,  wären 
sie  das  gewesen,  so  stand  immer  noch  in  ilirer  Hand  der  For- 
derung des  Agesilaos  sich  zu  fügen.  Es  geschah  nicht.  Epa- 
meinondas, der  jetzt  als  die  eigentliche  Seele  der  thebanischen 
Politik  auch  äusserlich  erscheint,  hatte  mit  dem  klarsten  Be- 
AA^TSstsein,  um  was  es  sich  handle,  auf  Thebens  Recht  bestan- 
den, mit  gleich  besonnener  Ruhe  leitete  er  jetzt  die  Anstalten 
zur  Vertheidigung,  während  Sparta,  von  Agesilaos  Rachegefülil 
mit  hingerissen,   sich  blindlings  ins  Verderben  stürzte. 


'■  Xenophon.    Hell.  VI,   3,  20 :    aütol    oe    oi  Qr^^atoi    zav-EXw;    d%-ju.wi 


Epameixoxdas.  293 

Der  spartiuiische  König  hatte  Theben  isoUrt;  dem  An- 
schein nach  war  der  Zustand  wiedergekehrt .  der  beim  Ab- 
schkiss  des  Antalkidischen  Friedens  bestanden  hatte,  oder  nach 
der  Befreiung  der  Stadt,  vor  dem  Bund  mit  Athen.  Aber  in 
der  That  war  doch  ein  grosser  Unterschied  da.  Theben  gebot 
über  die  Kräfte  von  fast  ganz  Boiotien ;  eine  lakonische  Partei 
gab  es  ausser  in  Orchomenos  und  Thespiai  nicht  mehr,  ein 
trefFHch  organisirtes ,  wenn  auch  nicht  sehr  zahheiches  Heer 
stand  unter  den  AYaifen  in  Folge  der  glücklichen  Kämpfe  mit 
Selbstgefühl  erfüllt,  unter  tüchtigen  Befehlshabern ,  und  an 
der  Spitze  em  Mann,  der  allgemeines  Vertrauen  genoss,  dessen 
Genie  aber  erst  jetzt  im  vollen  Glänze  hervortrat. 

Sparta  beeilte  sich,   die  gehofften  Früchte  seines  diploma- 
tischen   Meisterstreiches    zu    ernten.      Die    besonnenen    Rath- 
schläge  eines  von  dem  allgemeinen  Schwindel    freigebliebenen 
Mannes  Prothoos ,    der   gewissenhafte  Erfüllung   der  Friedens- 
bedingungen und  Entlassung  der  Truppen  wollte ,   wurden  als 
beschränkte  Thorheit  verspottet:')    der  mit  einem  Heere  noch 
in  Phokis    stehende  König  Kleombrotos    erhielt  Befehl   unver- 
züglich nach  Boiotien  zu  rücken  und.  wenn  Theben  die  Städte 
nicht    aus    seinem    Staatsverbande    entlasse,    anzugreifen.     Ein 
eigenes  "Verhängniss   berief   den  König   zum   Vollstrecker    der 
spartanischen  Politik,    der   mit    derselben  wenig  einverstanden 
war,   während  auf  der  andern  Seite  der  politische  Führer  auch 
mit   dem  Schwerte    für    die  im  ßathe   verfochtenen  Principien 
einstand.     Doch  hat  Kleombrotos  seine  Pflicht  als  braver  Soldat 
vollständig   gethan .    und   mehr   als    das ,    er   hat  durch  semen 
Angrifl'splan  sich  als  tüchtigen,   einsichtigen  Feldherrn  gezeigt. 
Während    der    gewöhnliche    Weg    ihn    aus    Phokis    durch    das 
Kephissosthal  und  zwischen  Helikon  und  der  Kopais  Limne  nach 
Boiotien  geführt  hätte,   wo  mehrere  zur  Veitheidigung  wohl  ge- 
eignete Punkte  sind;   vnid  die  Thebaner  ihn  wirklich  erwarteten, 
marschiite  er  ZMdschen  Parnass  und  Helikon  durch  über  Arabry- 
sos  gegen  die  Küste,   und  dann  um  die  ausserordentlich  rauhe 
unwegsame  Südseite    des  Helikon.     Im  Vorbeiziehen  nahm  er 
den  festen  boiotischen  Hafenplatz  Kreusis  mit  12  dort  liegen- 
den Kriesrsschiffen .    und   von    da   sich   nach  Norden   wendend 


1;   Xenophon.  Hell.   VI,   2,  3  :    t,  o'   iv.y.}:r^'z{'x  dxo'jsaoa  Tciöta  ^-/.stvciv  (xäv 


294  Epamei>*o>'das. 

stand  er  plötzlich  im  Herzen  Boiotiens ,  nur  wenige  Stunden 
von  Theben.  Im  thespischen  Gebiete  bei  dem  kleinen  Orte 
Leuktra,  bei  dem  heutigen  Dorfe  napaTrooYyia  schlug  er  sein 
festes  Lager  auf. 

Indessen  hatten  die  Boiotier,  die  von  seinem  Marsch  Kunde 
erhalten,  sich  vom  kopaischen  See  nach  Süden  gewandt  und 
dem  Kleombrotos  gegenüber  eine  Stellung  genommen.  Nur 
eine  kleine  Thal  ebene  trennte  die  beiden  Heere.  Von  den 
sechs  im  Lager  anwesenden  Boiotarchen  Avollte  Epameinondas 
mit  noch  zwei  andern  dem  Feind  im  offenen  Felde  die  Spitze 
bieten,  die  drei  übrigen  dagegen  waren  der  Meinung,  man  müsse 
das  Heer  nach  Theben  führen  und  sich  defensiv  verhalten. 
Es  wird  sogar  berichtet,  sie  hätten  Weib  und  Kind  nach  Attika 
in  Sicherheit  schaffen  und  mit  der  kriegsfähigen  Mannschaft 
allein  in  der  Stadt  eine  l^elagening  aushalten  wollen. ',  Wahr- 
scheinlich dachten  sie  an  eine  ähnliche  Vertheidigung,  Avie  sie 
früher  gegen  Kleombrotos  und  Agesilaos  nicht  ohne  Erfolg 
geführt  worden  Avar,  und  unter  gewöhnlichen  Feldherm  wäre 
das  auch  wohl  rathsamer  gewesen,  als  durch  die  Schlacht  gegen 
das  an  Zahl  überlegene  Heer  Spartas  Alles  aufs  Spiel  zu  setzen. 
Doch  waren  die  ^'erhältnisse  allerdings  ganz  verändert.  Zur 
Zeit  jener  Einfälle  stand  Theben  noch  allein,  und  es  kam  zu- 
nächst nur  darauf  an,  dieses  zu  halten.  Jetzt  wäre  das  Zurück- 
gehen hinter  die  Mauern  ein  vollständiges  Aufgeben  Boiotiens 
gewesen,  ein  Verzichten  auf  das  in  Jahre  langem  Kampf  Er- 
rungene. Es  wäre  abgesehen  von  den  weitern  Folgen  einer 
Niederlage  ohne  Kampf  gleich  gekommen.  Das  sah  Epameinon- 
das ein,  und  er  vertraute,  der  Lebermacht  gegenüber,  auf  sein 
Genie.  Es  betrog  ihn  nicht.  Glücklicher  Weise  stiess  der 
siebente  Boiotarch,  der  an  den  Kithaironpässen  gestanden 
hatte ,  mit  seiner  Truppenabtheilung  noch  zur  rechten  Zeit 
zum  Heere  und  entschied  durch  seine  Stimme  für  den  Kampf, 
auch  Pelopidas,  der  damals  Befehlshaber  der  heiligen  Schaar 
Avar,  legte  das  moralische  Gewicht  seiner  Beistimmung  in  die 
AVagschale.  Es  kann  hier  nicht  erzählt  werden,  A\-ie  Epamei- 
nondas seine  Mannschaft  zum  höchsten  Vertrauen  auf  die 
Hülfe   der   Götter   und    den    Sieg   ihrer   guten    Sache   zu   ent- 

1)  Diod.  XV,  52. 


Epameixondas.  295 

flammen  -vrusste  und  dann,  durch  die  ganz  neue  geniale  Con- 
centrirung  des  Angriffs  auf  einen  einzigen  Punkt,  den  Sieg 
erfocht.  Mit  den  tiefen  Colonnen  seines  linken  Flügels,  von 
Pelopidas  im  rechten  Augenblicke  durch  eine  rasche  Bewegung 
mit  der  heiligen  Schaar  in  der  Flanke  gedeckt,  schmetterte  er 
den  rechten  lakedaimonischen  Flügel  nieder,  und  nach  dem 
Tode  des  tapferen  Königs  und  der  meisten  andern  Oberoffiziere, 
zog  sich  das  ganze  feindliche  Heer,  zwar  mit  schwerem  Ver- 
luste, aber  doch  den  Leichnam  des  Königs  mit  sich  führend 
in  das  nahe  Lager  zurück.  ')  Nach  Avenigen  Tagen  trat  es 
unter  dem  Schutz  eines  von  den  Thebanern  nicht  verweigerten 
Waffenstillstandes,  den  Rückzug  in  den  Peloponnes  an.  Nur 
20  Tage  waren  zwischen  dem  Friedensschlüsse  in  Sparta  und 
der  Entscheidung  bei  Leuktra  vei*flossen. 

Es  sind  viele  grössere  Schlachten  geschlagen  Avorden,  aber 
wenige  in  denen  das  LebergcAA-icht  des  Genius  über  die  mit 
taktischer  Tüchtigkeit  und  grosser  Tapferkeit  verbundene  nume- 
rische Uebermacht  sich  so  glänzend  bewährt  hat,  Avenige  die 
so  verhängnissvolle  Folgen  hatten.  Um  die  Existenz  des  the- 
banisch-boiotischen  Staates  war  gekämpft  Avorden,  durch  den 
Ausgang  aber  Aveit  Grösseres  erreicht,  Spartas  Macht  AA-ar  in 
Folge  eigenen  Fre\'els  gebrochen,  um  sich  nie  mehr  zu  er- 
holen. ' 

Wurde  auch  die  Nachricht  von  der  Niederlage  in  Sparta 
mit  bcAA-undeniSAverther  Festigkeit  und  Ruhe  aufgenommen  und 
mochte  AÜelleicht  im  ersten  Augenblick  die  TragAveite  derselben 
noch  von  Wenigen  erkannt  Averden.  so  traten  doch  rasch  die 
Folgen  an  den  Tag.  Mit  scharfem  P>licke  versuchte  Athen  so- 
gleich die  Staaten  zu  vereinigen,  Avelche  so  wenig  Sparta  fer- 
ner folgen,  als  Theben  noch  mächtiger  sehen  wollten,  die 
Staaten,  welche  mit  Ernst  den  kurz  vorher  geschlossenen  Frie- 
den zu  behaupten  gesonnen  Avaren.  Allein  der  Status  quo  er- 
AA-ies  sich  bald  als  inihaltbar. 

Unmittelbar  nach  der  Schlacht  befestigte  zunächst  Theben 
seine  Stellung  in  Boiotien  durch   gänzliche  Einverleibung  von 


V  Mit  sehr  guten  Gründen  Arird  von  Grote  VII,  pg.  167  Anm.  1. 
Xenophons  Erzählung  über  die  Schlacht  bei  Leuktra  der  des  Diodor  vor- 
gezogen. 


296  Epameinoxdas. 

Thespiai  und  Orchomenos  in  den  Gesammtstaat,  und  zugleich 
wurden  mit  den  meisten  mittel-  und  nordgriechischen  Staaten 
Bündnisse  abgeschlossen.  \  Im  Peloponnese  aber  tnig  das 
frühere  gewaltthätige  Schalten  Spartas  seine  Früchte.  ^  Zu- 
erst traten  die  Mantineer  wieder  aus  ihren  vier  Dörfern  in 
eine  Stadt  zusammen,  die  unter  lieihülfe  befreundeter  Staaten 
trefflich  befestigt  wurde.  Aber  Mantineias  Herstellung  war  nur 
das  Vorspiel  von  Grösserem.  Bisher  hatte  Arkadien  trotz  sei- 
ner Grösse  und  seiner  starken  kriegerischen  Jjevölkening  nie 
einen  bedeutenden  politischen  Einfluss  in  Griechenland  geübt. 
Aveil  es  in  eine  Menge  kleiner  Staaten  mit  verschiedenen,  zum 
Theil  streng  oligarchischen  Verfassungen,  zersplittert  war. 
Jetzt  fassten  einflussreiche  Männer  der  demokratischen  Partei 
den  Plan,  die  ganze  Landschaft  zu  einem  Staate  mit  demo- 
kratischer Verfassung  zu  vereinigen,  wie  Boiotien  es  bereits 
war.  Aber  eine  Stadt  fehlte  die  wie  dort  Theben  durch  Ge- 
schichte, Lage  und  Grösse  den  Vorrang  vor  den  übrigen  be- 
sass.  So  kam  man  auf  den  Gedanken  eine  neue  Stadt  als 
Mittelpunkt  des  neuen  Gesammtstaates  zu  gründen,  und  führte 
ihn  rasch,  wenn  auch  nicht  ohne  vielfachen  Widerstand  zu 
finden,  ins  Werk.  Im  südwestlichen  Theile  des  Landes,  un- 
weit der  lakonischen  Gränze .  wo  keine  grösseren  Ortschaften 
lagen,  nicht  allzuferne  von  dem  uralten  arkadischen  Stammes- 
heiligthum  auf  dem  Lykaiongebirge  erhob  sich  durch  das  Zu- 
sammenwirken der  meisten  bisherigen  Städte  die  )/grosse  Stadt« 
Megalopolis.  Als  der  eifrigste  Förderer  dieser  Bewegung  in 
Arkadien  selbst  erscheint  ein  Mantineer  Lykomedes,  ein  von 
Ehrgeiz  für  die  Grösse  seiner  Landschaft  glühender  Mann,  voll 
Talent  und  Energie.  Aber  Lykomedes  und  die  Arkadier  han- 
delten nicht  allein.     Als  Urheber  der  Idee  wird  Epameinondas 


ij  Grote'g  Parteilichkeit  für  Theben  zeigt  sich  VII,  S.  169 ,  da  er 
Xenophon  VI,  -5,  2.3  citiren  kann  für  die  Bundesgenossenschaft  von  Phokis 
mit  Theben ,  während  doch  deutlich  dasteht ,  sie  seien  üttt/z-ooi  gewesen. 
Etwas  anders  freilich  Diod.  XV,  b~  :  oO.o'j;  -c.'-r,^aa£vo'..  —  Unter  .W/ml 
ä;j.9ÖT£poi  'Xen.  1.  c.)  verstehe  ich  nicht  mit  Grote  Epiknemidische  und 
Opuntische,  sondern  östliche  und  westliche. 

-;  VII,  S.  ITIj  spricht  Grote  von  Dekarchien  im  Peloponnes;  die  aber 
hat  es  nie  gegeben,  wohl  aber  andre  Oligarchien  im  Sinne  Spartas. 


Epameixoxdas.  297 

genannt,  er  soll  die  getrennten  Städte  znr  Einigung  bewogen 
haben,  er  schickte  znr  Sicherung  des  Baues  gegen  etwaige 
Störung  von  lakedaimonischer  Seite  ein  thebanisches  Cori)s 
unter  der  bewährten  Führung  des  Pammenes  nach  Arkadien, 
und  in  der  zu  Schutz  und  Trutz  gegen  Sparta  meisterhaft  ge- 
wählten Lage  des  neuen  Bollwerkes  erkennt  man  den  strate- 
gischen Schart"blick  des  grossen  Thebaners.  Man  darf  ihn  mit 
einem  alten  Schriftsteller  i)  mit  Eecht  als  den  iwahren  Stifter 
von  Megalopolis  und  damit  als  den  Gründer  des  arkadischen 
Gesammtstaates  betrachten,  der  freilich  nie  vollständig  durch- 
geführt wurde.  Es  war  eine  Idee,  die  ganz  auf  Spartas  Schwä- 
chung berechnet  war,  wohl  mehr  im  Interesse  von  Theben 
als  von  Arkadien  selbst.  —  So  hatte  also  Epameinondas 
den  Blick  bereits  von  Boiotien  und  Mittelgriechenland  nach 
dem  Peloponnes  gerichtet;  es  war  der  Uebergang  von  der 
Defensive  im  eigenen  Gebiete  zur  Offensive  im  Feindesland 
gemacht. 

In  Arkadien  Aviderstrebte  aber  eine  starke  Partei  der  neuen 
CentraUsation.  Sie  suchte  und  fand  Hülfe  in  Sparta,  dessen 
greiser  Lenker  Agesilaos  den  alten  Einfluss  im  Nachbarlande 
herstellen  wollte.  Der  unter  Athens  Anspielen  beschworene 
Bund  der  Staaten,  die  im  Kampfe  zAvischen  Theben  und  Sparta 
neutral  ihre  volle  Autonomie  inid  den  Frieden  bewahren  woll- 
ten, erwies  sich  als  ohnmächtig ;  nur  von  Theben  konnte  Hülfe 
kommen,  und  dahin  richteten  die  Arkadier  und  ihre  mitver- 
bündeten Peloponnesier  den  Blick  nicht  umsonst.  Während 
Agesilaos  in  Arkadien  stand ,  ohne  dass  die  Feinde  ihm  die 
Spitze  boten,  sammelte  Epameinondas  die  Contingente  der 
Bundesgenossen  im  mittleren  und  nördlichen  Griechenland  und 
rückte  mit  einem  Heere  über  den  Isthmos,  wie  die  Peloponne- 
sier noch  keines  ihre  Gränzen  hatten  überschreiten  sehen.  In- 
dessen war  Agesilaos,  nachdem  er  umsonst  den  Gegnern  die 
Feldschlacht  angeboten  hatte  und  dadurch  das  Selbstvertrauen 
seiner  Leute  wieder  etwas  hergestellt  hatte,  ruhig  nach  Sparta 
zurückgezogen;  denn  man  stand  im  Anfang   des  Winters,   der 


ij  Pausan.  VIII,   27,  2  :  r?i;  -ö'/.eia;  li  otv-tarrj;  'E-a[jiiiv(wvcia;  6  ör^ßaTo; 


298  Epameixoxdas. 

in  jenem  Berglande  rauh  genug  zu  sein  pflegt.  Die  äussere 
Veranlassung  zum  Feldzug  der  Thebaner  war  demnach  nicht 
mehr  da,  das  ostensible  Ziel  erreicht,  ehe  sie  anwesend  waren. 
Ausserdem  Avar  die  Jahreszeit  ungünstig,  und  das  Ende  des 
boiotischen  Jahres  nahe .  über  das  den  Heerbefehl  zu  verlän- 
gern den  Boiotarchen  bei  Todesstrafe  verboten  war.  Ein  ge- 
wöhnlicher Mann  wäre  zurückgekehrt  und  hätte  sich  mit  dem 
Resultate  begnügt.  Aber  zu  so  wohlfeilem  Triumphe  hatte 
Epameinondas  nicht  die  Streitkräfte  von  halb  Griechenland 
aufgeboten.  Nachdem  Boiotien  gerettet  war,  hatte  er  ein  wei- 
teres Ziel  ins  Auge  gefasst.  Spartas  Hegemonie  sollte  gebrochen 
und  für  alle  Zeiten  unmöglich  gemacht,  seine  Macht  so  herab- 
gedrückt werden,  dass  es  den  andern  Griechen  ungefährlich 
würde,  und  Theben  als  Beschützer  gemeinhellenischer  Freiheit 
an  die  Spitze  der  verbündeten  Staaten  ti'eten.  Mit  der  An- 
wesenheit des  thebanischen  Heeres  im  Peloponnes  beginnt  der 
zweite  Theil  des  grossen  Dramas,  der  Kampf  für  Thebens 
Hegemonie.  Aus  diesem  Gesichtspunkte  hatte  Epameinon- 
das die  mittel-  und  nordgriechischen  Staaten  zum  Bunde  mit 
Theben  gewonnen,  und  aus  demselben  die  Vereinigung  ganz 
Arkadiens  mit  dem  Mittelpunkt  in  Megalopolis  betrieben ;  die 
dritte  gCAvaltigste  Massregel  zur  Erreichung  des  Zieles  war  die 
Losreissung  der  westlichen  Hälfte  von  Lakonien,  die  einst 
Messenien  geheissen  hatte  und  die  Gründung  eines  neuen 
Staates  daselbst,  der  in  Sparta  seinen  Todfeind,  in  Theben 
seinen  Wiederhersteller  und  Hort  erblicken  sollte.  Und  um 
diesen  grossartigen  Plan  durchzuführen,  scheute  Epameinondas 
nicht  die  Beschwerden  eines  Winterfeldzuges ,  und  nahm  er 
die  in  einer  Demokratie  schwere  Verantwortlichkeit  der  Ueber- 
schi-eitunsr  des  Gesetzesbuchstabens  zum  Besten  des  Vater- 
landes,   auch  für  seine  Amtsgenossen  auf  sich  allein. 

Der  Angrifi'  auf  Sparta  selbst  hat  schwerlich  in  dem  ur- 
sprünglichen Plane  des  Epameinondas  gelegen,  und  wir  mögen 
gerne  dem  Xenophon  •  Glauben  schenken,  dass  er  erst  auf 
das  Drängen  der  verbündeten  Peloponnesier  und  dringende 
Einladungen   unzufriedener   Periöken    sich    zum   Einbrüche   in 


1)  Xenophon.  Heil.  VI,  V,  23.  25. 


Epameinoxdas.  299 

das  eigentliche  Lakonien  entschied.  In  drei  Heersänlen  dran- 
gen die  Verbündeten  durch  die  im  Ganzen  schlechtvertheidigten 
Engpässe  ins  Eurotasthai  inid  wälzten  sich  dann  sengend  und 
raubend  in  die  herrliche  Ebene  vor  der  Stadt,  deren  Bewohner 
sich  rühmten,  nie  den  Rauch  feindlicher  Lagerfeuer  gesehen 
zu  haben.  In  dieser  äussersten  Gefahr,  wo  alle  Pläne  eines 
langen  ehrgeizigen  Lebens  zertrümmert  erschienen,  bewies  der 
zweiundsiebzigj ährige  Agesilaos  eine  Ruhe  und  Geistesgegen- 
wart, die  ihn  weit  höher  stellen,  als  alle  seine  früheren  Siege. 
Seiner  Kaltblütigkeit  und  dem  Heldenmuthe  der  Bürger  ge- 
lang es  alle  Angriffe  auf  die  maueilose  Stadt  zurückzuschlagen 
und  Sparta  zu  retten,  i) 

Nachdem  die  ganze  Gegend  ausgeplündert  und  schrecklich 
verheert,  und  ein  längeres  Verweilen  in  dem  öden  Lande  bei 
Winterszeit  zwecklos  und  nicht  wohl  thunlich  war,  zog  Epa- 
meinondas  zuerst  nach  Arkadien,  um  den  Bau  der  neuen 
Hauptstadt  zu  fördern,  dann  von  dort  weiter  nach  Süden  in 
das  ehemalige  messenische  Land.  Von  Widerstand  der  Spar- 
taner war  nirgend  die  Rede,  sondern  die  ganze  Landschaft  be- 
fand sich  im  Aufstande ,  den  thebanischen  Wiederhersteller 
erAvartend.  Auch  hier  sollte  der  neue  Staat  in  einer  Stadt 
sich  concentriren;  auch  hier  war  diese  Stadt  erst  zu  schaffen . 
Dazu  wurde  nicht  die  verödete  Stätte  einer  der  früheren  Haupt- 
städte Andania  oder  Stenyklaros  ausersehen,  sondern  mit  treff- 
lichem Blicke  wählte  Epameinondas  einen  ganz  neuen  Platz 
mitten  im  Lande,  ganz  neu  für  die  Hauptstadt  und  doch  mit 
der  alten  Geschichte  und  dem  Cultus  des  Landes  aufs  engste 
verwoben.  Die  Stadt  Messene  wurde  erbaut  am  Abhänge  und 
Fusse  des  prächtigen,  kühn  aus  der  Ebene  sich  erhebenden 
Ithome ,  auf  dessen  höchstem  Gipfel  der  ithomatische  Zeus 
seit  uralten  Zeiten  verehrt  wurde,    in    dessen  Burg  in  frühem 


1)  Polyaen.  II,  3,  5  berichtet,  Epameinondas  soll  im  Stande  gewesen 
sein  Sparta  zu  nehmen,  aber  darauf  verzichtet  und  den  Mitfeldherrn  gesagt 
haben,  sie  würden  es  sonst  mit  den  Arkadiern,  Messeniern  und  Argivern 
zu  thun  haben.  Augenscheinlich  ist  das  eine  späte  Erfindung.  Epamei- 
nondas konnte  Sparta  nicht  nehmen ;  dazu  gab  es  beim  ersten  Zuge  kein 
Messenien.  Beim  zweiten  vor  der  Schlacht  bei  Mantineia  setzte  er  Alles 
daran  es  zu  nehmen. 


300  Epamees'oxdas. 

Jahrhunderten  wiederholt  die  Messenier  den  Spartanern  Jahre 
lang  getrotzt  hatten.  Die  alte  Bergfeste  wurde  die  Akropolis 
der  neuen  Stadt,  diese  selbst  dehnte  sich  m  einem  Umfang 
von  drei  Stunden  bis  gegen  die  Ebene  aus,  ein  Meisterwerk 
der  Kriegsbaukunst,  wie  sie  unter  dem  Einfluss  des  Epamei- 
nondas  sich  entAvickelte .  ^]  Aus  dem  bisherigen  spartanischen 
Unterthanenland,  und  aus  fernen  Gegenden,  wo  immer  Ueber- 
reste  der  Messenier  lebten,  strömte  die  Bevölkerung  in  die  neue 
Hauptstadt  zusammen,  und  unter  feierlichen  Gebeten  und 
Opfern  wurde  diese  eingeweiht.  Als  gegen  Ende  des  Winters 
Epameinondas  den  Rückmarsch  autrat.  hatte  er  so  Grosses 
vollbracht,  wie  noch  nie  ein  griechischer  Feldherr  in  gleicher 
Zeit.  Spartas  Gebiet  war  bis  an  die  Stadt  verheert,  viele  Städte 
im  Aufstande,  die  schönere  Hälfte  des  Landes  ihm  auf  immer 
entrissen,  seine  Herrschaft  im  Peloponnes  gebrochen,  dazu  ein 
Gürtel  von  mächtigen  unter  Thebens  Einfluss  stehenden  Festun- 
gen um  dasselbe  gelegt,  der  jede  freie  Bewegung  hemmte; 
Sparta  war  soweit  gedemüthigt,  dass  es  Athen  dringend  um 
Hülfe  bat.  Sie  wurde  nicht  versagt;  ein  Bürgerheer  rückte 
unter  Iphikrates  über  den  Isthmos,  vermochte  aber  nicht  den 
Durchmarsch  des  Epameinondas  zu  hindern.  Als  dieser  nach 
Theben  zurückgekehrt  war,  hatte  er  wegen  der  Verlängerung 
des  Heerbefehls  sich  bei  der  Rechenschaftsablegung  zu  ver- 
theidigen.  Er  hatte  off"enkundig  und  mit  vollem  Bewusstsein 
eine  Gesetzesverletzung  begangen,  auf  welcher  der  Tod  stand. 
Aber,  ohne  sich  auf  eine  Vertheidigung  einzulassen,  wies  er 
mit  stolzem  Selbstgefühl  auf  die  Thaten  hin,  die  er  mit  seinen 
Amtsgenossen  vollbracht,  und  forderte  die  Richter  auf.  nun 
das  Urtheil  zu  fällen.  Er  wurde  freigesprochen,  ohne  dass 
eine  förmliche  Abstimmung  stattfand,  und  wie  es  scheint,  für 
das  laufende  Jahr  wieder  zur  Boiotarchie  berafen.     Es  war  die 


1,;  Im  Asklepiosheiligthum  zu  Messene  war  eine  Bildsäule  des  Epamei- 
nondas aus  Eisen  von  unbekanntem  Meister,  daneben  die  der  Stadt  Theben. 
Pausan.  IV,  31,  10:  ro/.i;  t£  r,  0rj,3aia)v  /.al  'ETtaaJivwvoa?  6  K/.£oau.too:. 
Ebenso  stand  im  Hierothysion  eine  eherne  Statue  desselben.  Paus.  IV, 
32,  1.  Er  war  also  wohl  als  Oikistes  verehrt,  da  neben  ihm  nur  Götter- 
bilder erwähnt  werden.  Bestimmt  giebt  dies  Pausanias  IX,  14,  5  an : 
0'.7.istt;  Miaar.vfo'.;  toT;  -öv  sstIv  'ErafAe'.vojvov.;. 


Epameinondas.  301 

einzige   Ungesetzlichkeit,    die    er   in    seinem   Leben    begangen 
hat,   und  sie  trug  Theben  reichliche  Früchte. 

Durch  diesen  Feldzug  war  Theben  entschieden  jeder  an- 
dern Macht  in  Griechenland  überlegen  geworden,  es  schien 
unbestritten  zur  Hegemonie  des  grössten  Theils  der  Festland- 
staaten emporgestiegen  zu  sein.  Fast  alle  Staaten  Nord-  und 
Mittelgriechenlands,  ausser  Athen,  anerkannten  seine  Ober- 
leitung .  und  leisteten  ihm  Heeresfolge ,  die  grössten  Staaten 
des  Peloponneses ,  Argos ,  Arkadien .  Messenien ,  Elis  hatten 
seinen  Feldherren  sich  gerne  untergeordnet.  Aber  die  Stel- 
hnig  beruhte  auf  dem  glücklichen  Erfolge  der  Kriegführung 
und  im  Peloponnes  auf  dem  momentanen  liedürfniss  der  Staa- 
ten einen  Rückhalt  gegen  Sparta  zu  haben ;  sie  Avar  nicht 
bleibend  organisirt.  \\m\  die  Verhältnisse  konnten  sich  ändern. 
Es  blieb  die  Aveitere  Aufgabe  die  errrungene  Stellung  zu  be- 
festigen, ihr  einen  Organismus  zu  geben,  eine  Aufgabe,  der 
ungeheure  Schwierigkeiten  ausserhalb  und  innerhalb  Thebens 
sich  entgegenstellten.  Nicht  nur  strengte  das  niedergeworfene 
Sparta  alle  Kräfte  an,  seinen  Einfluss  im  Peloponnes  Avieder 
herzustellen,  Avorin  es  durch  Dionys  A'on  Syrakus  AA-irksam  un- 
terstützt AAiirde,  sondern  Athen,  auf  zahlreiche  A'erbündete  See- 
staaten gestützt,  stand  jetzt  entschieden  in  der  Eeihe  von 
Thebens  Feinden.  Sodann  erAAnchs  unerAA^artet  in  dem  durch 
Thebens  Beistand  gekräftigten  Arkadien  ein  erst  unbequemer, 
zuletzt  gefährlicher  Nebenbuhler.  Zum  Gefühl  ihrer  Kraft  ge- 
kommen, fanden  die  Arkadier  es  bald  ihrer  unAvürdig  unter 
Thebens  Oberleitung  zu  stehen,  sie  erstrebten  wenigstens 
gleiche  Stellung  mit  diesem  und  AerAAarfen  dessen  Hegemonie, 
und  der  Vertreter  dieser  Tendenz  Avar  derselbe  Lykomedes,  der 
A'Orher  im  Einklang  mit  Epameinondas  die  Centralisation  des 
Landes  betrieben  hatte.  Dazu  kamen  Ansprüche  der  Eleer 
gegenüber  Arkadien,  die  zu  Streit  und  Krieg  unter  den  frühern 
Bundesgenossen  führten.  Endlich  aber  lag  die  HauptschAAie- 
rigkeit  für  die  glückliche  Durchführinig  der  Hegemonie  in 
dem  Charakter  und  der  Handlungsweise  der  Thebaner  selbst, 
die  durch  hartes  rohes  Auftreten  sich  oft  genug  die  Bundes- 
genossen    entfremdeten  ^) ,     vielfach     die    Bestrebungen     ihres 


1)  Auffallend  ist  Grote's  VII,    pg.  233,  Unganst  gegen   die  Arkader. 


302  Epameen'ondas. 

grossen    Mitbürgers    hemmten    und    durchkreuzten,    mehr    als 
einmal  ihn  aus  Neid  und  Eifersucht  bei  Seite  schoben. 

Trotzdem  hat  Epameinondas ,  so  weit  die  äusserst  dürf- 
tigen Nachrichten  uns  ein  Urtheil  erlauben,  mit  klarem  Blicke 
sein  Ziel  verfolgt,  und  man  thut  Unrecht  die  hegemonischen 
Bestrebungen  Thebens  nur  ein  Nachäffen  von  Spartas  und  Athens 
System  zu  nennen,  so  Aveit  Avenigstens  Epameinondas  sie  leitete. 
Mag  man  allenfalls  den  nur  theilweis  gelungenen  Versuch.  Per- 
siens  Hülfe  dafür  in  Anspruch  zu  nehmen,  so  ansehen,  so 
ist  doch  nicht  zu  verkennen,  dass  durch  denselben  Messenien 
vom  grossen  König  anerkannt ,  und  Sparta  ganz  und  gar  der 
Rückhalt  entzogen  wurde,  den  es  im  antalkidischen  Frieden 
an  Persien  gehabt  hatte.  Ob  übrigens  Epameinondas  dabei  be- 
theiligt war,  wissen  Avir  nicht ;  er  wird  gar  nicht  genannt ;  wir 
Avollen  es  aber  nicht  in  Abrede  stellen,  da  Pelopidas  die  Unter- 
handlungen führte.  Im  Uebrigen  hat  offenbar  Epameinondas 
für  Thebens  Hegemonie  eine  andere  Basis  gesucht,  als  Sparta. 
Zwar  suchte  er  sie.  wie  jenes  auf  die  Vereinigung  der  Fest- 
landstaaten .  zu  gründen ,  aber  während  Sparta  die  einzehien 
Stadtgemeinden  möglichst  trennte  und  schwächte,  hat  Epamei- 
nondas umgekehrt  die  Landschaften  vereinigt  und  durch  Cen- 
tralisation  gestärkt ;  während  jenes  oligarchische  Verfassungen 
oft  mit  Waffengewalt  einführte,  hat  er  gemässigte  Demokratie 
auf  friedlichem  Wege  begünstigt;  während  jenes  eine  Schein- 
autonomie zum  Vortheil  Spartas  schützte,  hat  er  dagegen  sie 
bei  wahrer  Autonomie  durch  ihr  eigenes  Interesse  an  Theben 
zu  ketten  getrachtet.  Die  Bundesstaaten  sollten  in  Theben 
den  Beschützer  ihrer  Freiheit  sehen.  Freilich  fand  er  dabei 
oft  Avenig  Unterstützimg.  So  hatte  er  die  gemässigt  aristokra- 
tischen Städte  Achaias  in  den  Bund  mit  Theben  aufgenommen, 
ohne  Veränderung  ihrer  Verfassung  zu  verlangen.  Aber  die 
biaitaldemokratische  Partei  in  Achaia  und  Arkadien  verklagte 
ihn  m  Theben ;  er  wuixle  desavouirt.  gewaltsam  Demoki-atie  in 
Achaia  eingeführt  und  in  kurzer  Zeit  Avar  das  ganze  Land  für 
Theben  verloren  und  mit  Sparta  verbündet.    S  o  Avar  sein  Streben 


So  offensive  had  been  the  insolence  of  the  Arcadians ,  that  the  neics  of  their 
,  defeat  was  not  umcelcome  even  to  their  ullies  the  Thebans  and  Eleians.  Hier 
ist  Xenophon    Hell.  All,   1,  32    gut  genug! 


Epameinondas.  303 

auf  dem  Festlande  und  gegenüber  Sparta.  Aber  dabei  blieb 
er  nicht  stehen.  Als  Athen  fortwährend  Sparta  unterstützte 
xmd  Thebens  Einfluss  auch  im  Norden  in  Thessalien  und  Ma- 
kedonien entgegenwirkte ,  da  versuchte  er  ihm  zur  See  seine 
Kräfte  zu  entziehen  und  sprach  das  kühne  Wort  aus,  die  Propy- 
läen der  Akroplis  von  Athen  müssten  an  den  Eingang  der 
Kadmeia  versetzt  werden ')  ;  das  heisst  Theben  auch  in  Glanz  und 
Herrlichkeit  Athens  Stelle  einnehmen.  Man  hat  fast  allgemein 
diesen  Versuch  getadelt,  und  ihn  aus  blosser  Eifersucht  gegen 
Athen,  also  kleinlichen  Motiven,  abgeleitet  -j .  Ich  erlaube  mir 
auch  hier  abweichend  zu  urtheilen.  Allerdings  Aväre  wohl  das 
Beste  gewesen,  wenn  es  Epameinondas  gelungen  wäre,  Athen 
und  Theben  zur  Oberleitung  der  freien  Staaten  von  Griechen- 
land zu  vereinigen.  Allein  das  stand  nicht  in  seiner  Macht. 
Athen  hatte  schon  durch  den  schnöden  Empfang  des  Heroldes, 
der  den  Sieg  von  Leuktra  berichtete ,  deutlich  ausgesprochen, 
dass  es  ein  mächtiges  Theben  nicht  wollte  ^  ;  es  hat  nachher 
Jahre  lang  in  offenem  Kriege  dieselbe  Gesinnung  gegen  Theben 
bethätigt;  es  blieb  diesem  nichts  übrig,  als  es  in  seinem  Le- 
bensnerv anzugi-eifen ;  auch  Sparta,  obwohl  selbst  so  wenig  als 
Theben  eine  Seemacht,  hatte  nur  auf  dem  eigenen  Elemente 
Athen  bezwungen  und  der  erste  Versuch  des  Epameinondas 
scheint  erfolgreich  genug  gewesen  zu  sein,  um  den  Plan  nicht 
als  unausführbar  erscheinen  zu  lassen.  Eine  eigentliche  See- 
macht aus  Theben  zu  machen  war  schwerlich  je  seine  Absicht. 
Mit  wechselndem  Erfolge  und  manchen  unerwarteten  Wen- 
dungen wurde  der  Krieg  über  7  Jahre  lang  seit  dem  ersten 
peloponnesischen  Feldzug  geführt;  im  Norden  wurde  die  Macht 
Thebens  trotz  mancher  Schwankungen  immer  weiter  ausgedehnt 
und  zuletzt  dadurch  befestigt,  dass  Alexandros  von  Pherai  ge- 
nöthigt  wurde,  Theben  Heeresfolge  zu  leisten,  aber  freilich 
um  einen  theuem  Preis.  Pelopidas  war  im  Kampfe  mit  dem 
Fürsten  Alexandros  von  Pherai  gefallen.    Aber  im  Peloponnese 


1)  Aeschines  Trspl  rapa-ptoßsia;  §.  105:  'E7raij.£tv(«';oac  oü/  Ü7:o7:TYj|a;  xö 
TÄv  'Ai}r|vaiwv  ä;iaj[jia,  zlr.e  otappT,orjV  iv  tüj  -'kri^ei  twv  0fjßa'.ojv  ,  w;  oei"  ta 
xfj;  'A&rj^aiojv  äxpo-o/.stu;  rpoTT'j/.aia  i).t-fjB-[-^eT\  eic,  ttjv  zpoira^iav  ttj? 
Kci5[jL£t7.;. 

2;   Grote  hist.  of  Greece  \1I,  pg.  267,  268. 

3,  Xenoph.  Hellen.   VI,  4,    19. 


304  Epameixoxdas. 

traten  gefährliche  Verwinimgen  ein.  Arkadien  war,  je  mehr 
es  sich  Theben  entfremdete,  desto  mehr  desorganisirt  Avorden; 
Lykomedes  Avar  ermordet,  eine  starke  Reaction  gegen  den  de- 
mokratischen Gesammtstaat  und  die  Thebaner  eingetreten ; 
eine  Spaltung  trat  henor,  die  so  -weit  führte,  dass  im  Jahre 
362  ein  grosser  Theil  des  Landes,  die  Stadt  Mantineia  an  der 
Spitze,  ein  Kündniss  mit  Sparta  und  Athen  abschloss,  während 
die  andern  Theben  dringend  um  Hülfe  baten.  —  Eparaeinon- 
das,  der  nach  dem  früher  entAvickelten  Principe  der  Autonomie 
der  Staaten,  lange  die  Arkadier  ihre  Streitigkeiten  unter  sich 
hatte  ausmachen  lassen,  erkannte,  dass  jetzt  nicht  länger  ge- 
zögert AAerden  dürfe,  AA'enn  nicht  alles  Errungene  verloren  AA-er- 
den  sollte.  OiFenbar  berechtigten  die  Verhältnisse  ihn  voll- 
ständig dazu,  er  Hess  sich  durch  den  Protest  der  lakonisirenden 
Partei ,  die  sich  als  Gesammtarkadien  geltend  machte ,  nicht 
abhalten.  Mit  einem  starken  Heere  aus  den  Bundesstaaten  des 
nördlichen  und  mittleren  Griechenlands  zog  er  über  den  Isth- 
mos  und  rückte  in  die  arkadische  Hochebene  vor.  ]>ei  Man- 
tineia  stand  ein  zahlreiches  feindliches  Heer,  zu  dem  aber  noch 
die  Athener  und  Spartaner  stossen  sollten.  Er  selbst  nahm 
in  Tegea  Quartier  und  zog  dort  die  Truppen  der  peloponnesi- 
schen  Bundesgenossen  an  sich.  Im  vollen  Gefühl,  dass  dieser 
Feldzug  entscheiden  müsse,  ob  Theben  im  Peloponnes  noch 
ein  Wort  mitzusprechen  habe,  entAAickelte  er  eine  unglaubliche 
Thätigkeit,  und  nie  hat  sein  strategisches  Genie  sich  grösser 
gezeigt,  nie  seine  unbedingte  Herrschaft  über  die  unter  seinen 
Befehl  gestellte  Mannschaft  sich  glänzender  bcAvährt  als  jetzt, 
AA'o  doch  alle  Umstände  sich  gegen  ihn  verscliAvoren  zu  haben 
schienen.  Selbst  Xenophon,  der  ihn  in  der  Schlacht  bei  Leuktra 
gar  nicht  nennt,  kann  seine  BeAA-underung  nicht  unterdrücken  i  . 
Nachdem  ein  Avohlangelegter  Versuch,  durch  nächtlichen 
Eilmarsch  Sparta  zu  überraschen,  und  ein  Handstreich  auf 
Mantineia  an  nicht  A^orher  zu  berechnenden  Umständen  geschei- 
tert Avaren,  ohne  ihn  aus  der  Fassung  zu  bringen  oder  das 
Heer  zu  entmuthigen,  beschloss  er  den  vor  Mantineia  stehen- 
den ,  jetzt  vereinigten  Feinden  die  Schlacht  zu  liefern .  und 
führte  das  Heer  ihnen  entgegen.    Durch  ein  meisterhaftes  Ma- 


li Xenophon.  Hellen.  VII,  V,  8  ff. 


Epameinondas.  305 

noeuvre  Aviisste  er  dieselben  zu  täuschen,  dass  sie  glaubten  er 
werde  an  diesem  Tage  nicht  mehr  angreifen  und  nachlässig 
ihre  Linien  aufgelöst,  zum  Theil  die  Waffen  abgelegt,  die 
Pferde  abgezäumt  hatten;  als  er  plötzlich  mit  einer  Seiten- 
bewegung mit  seiner  ganzen  Macht  auf  sie  anrückte.  Auch 
hier  ähnlich,  wie  bei  Leuktra,  hat  er  die  ganze  Wucht  des 
Angriffs  auf  seinen  linkenFlügel  gelegt,  mit  dessen  tiefen  Co- 
lonnen  er  wie  mit  einem  Keil  auf  den  rechten  Flügel  der 
Feinde  anstürmte.  Trotz  der  Ueberraschung  leisteten  die  Feinde 
tapfern  Widerstand.  Ein  hartnäckiger  Kampf  entbrannte;  aber 
der  ungestüme  Angriff  der  Thebaner  brachte  endlich  die  Feinde 
zum  Weichen,  als  Epameinondas  selbst  tödlich  verwundet  fiel 
und  aus  dem  Gefecht  auf  eine  Anhöhe  getragen  wurde,  von 
wo  er  den  Gang  der  Schlacht  übersehen  konnte.  Als  ihm 
gemeldet  wurde,  dass  die  Seinigen  Sieger  seien,  Hess  er  die 
Lanzenspitze  aus  der  Wunde  ziehen  und  hauchte  heiter  den 
Heldengeist  aus.  Die  Nachricht  war  nur  halb  richtig.  Wie 
betäubt  blieben  die  führerlosen  Truppen  im  entscheidenden 
Augenblicke  stehen,  unfähig,  den  Sieg  vollständig  zu  machen. 
Die  Schlacht  blieb  nur  halb  entschieden ,  unentschiedener  denn 
je  die  Stellung  der  streitenden  Staaten,  die  aus  Ermattung  die 
Waffen  niederlegten,  ohne  dass  die  JIau})tfrage  gelöst,  das 
griechische  Staatensystem  zu  einem  sichern  Halt  gekommen 
war.     Thebens  hervorragende  Stellung  liatte  ein  Ende. 

Mitten  aus  dem  Heldenlaufe  war  Epameinondas  hinweg- 
gerissen worden,  in  dem  Augenblicke,  wo  die  Anstrengungen 
vieler  Jahre  eben  im  F>egriff  standen  mit  vollem  Erfolge  ge- 
krönt zu  werden;  denn  alle  Nachrichten  sind  darüber  einig, 
dass,  Avenn  er  am  Leben  geblieben,  der  vollständigste  Sieg  ei- 
rungen  gewesen  wäre.  Aber  wenn  es  ihn  auch  schmerzen 
mochte,  seine  Pläne  unvollendet  zu  sehen,  so  Avar  ihm  doch 
der  Tod  zu  Theil  geworden,  den  er  als  den  schönsten  zu  be- 
zeichnen pflegte,  der  Tod  auf  dem  Schlachtfelde.  Und  viel- 
leicht ist  es  auch  für  seinen  Ruhm  kein  Unglück,  dass  er  im 
Momente  des  Sieges  dahinschied.  Ich  habe  oben  die  Gedan- 
ken, die  seine  Politik  leiteten,  anzudeuten  gesucht  und  gezeigt, 
dass  er  mit  klarem  BcAvusstsein  und  grosser  Umsicht  sein  Ziel 
verfolgte.  Eine  andere  Frage  ist  ob  jene  Politik  eine  richtige, 
ob    das   Ziel   ein   erreichbares   war.     In   der   engeren  Heimath 

Vischer,  Schriften  I.  20 


306  Epameinondas. 

war  die  Centralisation  des  gesammten  Boiotiens  damals  durch- 
aus den  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  angemessen  und  die 
Bedingung  der  Kraft  des  Staates,  und  sie  hat  Epameinondas 
mit  Hülfe  seiner  Freunde  vind  Gesinnungsgenossen  glücklich 
durchgeführt  und  siegreich  behauptet.  Anders  verhält  es  sich 
mit  der  äussern  Pohtik,  mit  der  Stellung  welche  er  Boiotien 
im  griechischen  Staatensystemi  anzuweisen  strebte.  Diese  Stel- 
lung war  ohne  Zweifel  zu  hoch  für  Boiotien,  dem  weniger  die 
materiellen,  als  die  geistig-sittlichen  Kräfte  dafür  fehlten.  — 
Durch  strenge  Zucht  und  Ordnung  hatte  einst  Sparta  in  langen 
Kämpfen  seine  Hegemonie  begründet,  durch  glänzende  Auf- 
opfenmg  für  das  Gesammtvaterland  und  unerhörten  geistigen 
AufschAvung  Athen  seine  Hegemonie  errungen ;  die  Boiotier 
als  Völkerschaft  haben  nie  diircli  etwas  anderes  als  körperliche 
Kraft  und  stürmische  Tapferkeit  Ucdeutung  gehabt.  Epamei- 
nondas und  die  wenigen  Männer,  die  in  seinem  Sinne  mit- 
AA-irkten,  konnten  für  Augenblicke  dieser  Kraft  eme  grossartige 
Richtung  geben,  momentan  sie  durch  ihren  Geist  veredeln, 
aber  ihr  Wesen  zu  verändern  war  zumal  in  so  kurzer  Zeit  nicht 
möglich;  konnte  doch  Epameinondas  auf  dem  Höhepunkte 
seines  Ruhmes  nicht  ungeschickte  Bnitalitäten  verhindern  und 
seine  gemässigte  Politik  consequent  durchführen.  —  Das  Herab- 
drücken Spartas  und  Athens  zu  Staaten  zweiten  Ranges  hätte 
höchstens  dann  wohlthätig  werden  können,  wenn  ein  anderer 
Staat  da  gewesen  wäre,  der  ihre  Stelle  ganz  einzunehmen 
vermocht  hätte,  und  der  war  weder  in  Boiotien  noch  anderswo 
vorhanden .  —  In  so  fern  ist  dann  allerdings  das  Ziel ,  das 
Epameinondas  sich  stellte,  ein  zu  hohes  gewesen,  das  Streben 
ein  unrichtiges.  Allein  so  Aveit  wir  urtheilen  können,  lag  die 
Schuld  nicht  sowohl  an  ihm,  als  an  den  Gegnern.  Des  Age- 
silaos  unversöhnlicher  Hass  und  die  Gewaltthätigkeit  Spartas 
machten  die  Demüthigung  dieses  Staates  zur  Bedingung  der 
Existenz  Aon  Boiotien,  und  Athen  hatte,  Avie  bemerkt,  die  An- 
näherungSA'ersuche  Thebens  kurz  von  der  Hand  gewiesen.  So 
blieb  denn  Epameinondas  nichts  anderes  übrig  als  was  er  that, 
obAvohl  die  Zeit  der  Hegemonie  für  Griechenland  A'orüber  Avar, 
weil  kein  Staat  mehr  zugleich  die  nöthige  materielle  und  gei- 
stige Kraft  besass,  um  sie  kräftig  und  würdig  zu  führen.  Eine 
andere  Form  der  politischen  Vereinigung  der  Staaten  war  aber 


Epametnondas.  307 

damals  dem  griechischen  Geiste  noch  fremd.  Oh  nach  dem 
Siege  von  Mantineia  Epameinondas  sie  gefunden  hätte .  steht 
sehr  zu  bezweifehi.  Sieht  man  aber  von  dem  Missverhältniss 
des  Zieles  zu  den  Kräften  Thebens  ab,  die  Epameinondas  wohl 
durch  sein  Genie  ersetzen  zu  können  hoffte ,  so  liat  er  seinen 
Plan  in  meisterhafter  Weise  verfolgt,  und  die  erste  Bedingung 
derselben,  die  Herabdrückung  Spartas,  vollständig  erreicht,  da- 
durch aber  ohne  es  zu  wollen  und  zu  ahnen  nur  zur  wei- 
tei'en  Abschwächung  Griechenlands  gemrkt  und  den  makedo- 
nischen Fürsten  den  Weg  gebahnt.  —  Wenn  demnach  sein 
Wirken  als  Staatsmann  mehr  in  Folge  der  Gewalt  der  Um- 
stände, als  eigener  Feliler,  in  seinen  llesultaten  niclit  befrie- 
digend erscheint,  so  steht  er  dagegen  als  Feldherr  in  selten 
erreichter  Grösse  da.  Mit  allen  persönlichen  Eigenschaften 
eines  Soldaten  und  Führers  ausgerüstet  verstand  er  es ,  das 
unbedingte  Zutrauen  seiner  Untergebenen  zu  gewinnen ,  auch 
in  den  verzweifeltsten  Lagen  ihnen  Muth  und  Zuversicht  ein- 
zuflössen und  unter  allen  Umständen  rasch  das  Richtige  zu 
erkennen.  Als  Taktiker  hat  er  sich  auf  alle  Zeiten  berühmt 
gemacht  durch  Ei-findung  der  sogenannten  schiefen  Schlacht- 
ordnung, welche  die  ganze  Wucht  des  Angriffes  auf  einen 
Flügel  concentrirte ,  und  seine  Feldzüge  legen  hinlängliches 
Zeugniss  ab  von  seinem  strategischen  Scharfblick ,  als  dessen 
Denkmäler  noch  heute  die  Ruinen  der  durch  ihn  gegründeten 
gewaltigen  Festungen  stehen.  Erinnern  wir  uns  nun  dazu  noch 
seiner  früher  erwähnten  bürgerlichen  und  rein  menschlichen 
Tugend,  so  dürfen  wir  avoIiI  in  das  Urtheil  mit  einstimmen, 
dass  Griechenland  einen  grossem  Mann  nicht  gehabt  hat;  es 
lehrt  uns  aber  zugleich  sein  Beispiel  eindringlich ,  wie  auch 
die  grösste  Persönlichkeit  nur  ein  Glied  ist  in  der  grossen 
Kette  geschichtlicher  Entwickelung,  und  wie  über  dem  Wirken 
des  Einzelnen  mit  unabweisbarer  Macht  eine  höhere  göttliche 
Weltordnung  waltet.  Und  fragen  wir  schliesslich,  wie  es  denn 
möglich  war,  dass  das  boiotische  Theben  einen  solchen  Mann 
hervorbrachte,  so  lautet  die  Antwort,  dass  er  nicht  nur  The- 
baner,  sondern  vor  allem  Hellene  war,  und  auch  in  Theben 
die  ganze  Tiefe  und  Herrlichkeit  des  hellenischen  Geistes  in 
sich  aufnahm. 


20* 


UEBEß  DIE  BILDUNG  VON  STAATEN  UND  BÜNDEN 

oder  Centralisatioii  iiiul  Fooderation  im  alten  Griecheiilaud. 

[Propramn  des  Paedayogiiims  zu  Basel.     Basel  1849.] 

In  der  Geschichte  aller  Völker  und  Staaten  treten  zwei 
Principien  hervor,  welche  gleichberechtigt  sich  geltend  zn  ma- 
chen streben  und  in  deren  richtiger  Anerkennung  und  Stellung 
eine  der  höchsten  aber  eben  darum  auch  schwierigsten  Auf- 
gaben des  Staatslebens  liegt.  Es  ist  das  einerseits  die  freie 
Stellung  der  einzelnen  Theile  des  Volks,  grösserer  und  klei- 
nerer, anderseits  die  Einheit  des  Ganzen.  Das  erstere  bedingt 
die  Freiheit  und  den  Reichthum  des  iimeren  Lebens,  das  letz- 
tere die  Macht  und  die  JJedeutung  des  Volks,  seine  Unabhän- 
gigkeit und  den  Einfluss  nach  Aussen.  Keines  aber  kann  zu 
wahrhaftem  Gedeihen  kommen  ohne  das  andere.  Das  aus- 
schliessliche Vorherrschen  des  erstem  führt  zu  Anarchie,  Ohn- 
macht, Abhängigkeit  von  Aussen,  der  natürlich  auch  bald  die 
innere  Knechtschaft  folgt,  die  einseitige  Ausbildung  des  andern 
zur  Unterdrückung  der  inneren  Freiheit,  zu  Rechtlosigkeit  und 
Despotismus,  wofür  das  Phantom  äusserer  Bedeutung  nur  einen 
trügerischen  und  vorübergehenden  Ersatz  giebt.  Die  Stellung 
der  beiden  Principien  zu  einander  giebt  der  Staatsgeschichte 
der  Völker  ihren  ('harakter.  Wo  das  erstere  vorheiTScht,  da 
tritt  das  Volk  in  der  Fonn  zahlreicher  loser  oder  fester  ver- 
bundener Staaten  ins  Leben,  wo  das  letztere  sich  vorzugsweise 
Geltung  verschafft,  als  Einheitsstaat  mit  mehr  oder  weniger 
freier  Bewegung  der  einzehien  Glieder  bis  zu  deren  gänzlicher 
Erdrückung.  Dort  ist  Gefahr  des  Auseinanderfallens  der  ein- 
zelnen Theile  in  Atome ,    des  A  erlustes  der  Macht  und  Unab- 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       309 

hängigkeit,    hier    droht    Ersterben    des    individuellen    Lebens, 
Stagnation,   Verlust  der  wahren  Freiheit. 

Wenn  irgendwo,  so  hat  das  erstere  Princip,  das  der  Frei- 
heit der  einzelnen  Glieder  des  Volks  sich  geltend  gemacht  bei 
den  Griechen,  welche  auch  dadurch  als  die  ersten  Vertreter 
europäischer  Freiheit  gegenüber  asiatischem  Despotismus  er- 
scheinen. Dieser  Trieb  nach  der  Freiheit  und  Selbständigkeit 
der  einzelnen  Theile ,  die  Ausbildung  kleiner  politischer  Ge- 
meinschaften, welche  in  sich  gleichsam  künstlerisch  abgeschlos- 
sen sind,  bildet  die  wesentliche  Eigenthümlichkeit  des  griechi- 
schen Volks  und  aus  ihr  erklären  sich  eine  Menge  anderer 
Erscheinungen,  sie  ist  die  Quelle  der  unendlich  reichen  Man- 
nichfaltigkeit ,  w^orin  sich  sein  Leben  entfaltet,  zugleich  auch 
seiner  Zerrissenheit.  Aber  von  Anfang  geht  neben  dem  Ab- 
sondennigstriebe  auch  das  Bedürfniss  nach  Einigung  der  zer- 
splitterten, nebeneinanderstehenden  und  oft  auseinanderstreben- 
den Einzeltheile.  Das  Streben,  diesem  Bedürfnisse  Befriedigung 
zu  verschaffen,  tritt  in  verschiedener  Form  in  kleineren  und 
grösseren  Ki-eisen  hervor,  bald  bestimmter  bald  unbestimmter. 
In  kleineren  Kreisen  oft  erfolgreich  und  dann  von  überraschen- 
der Wirkung,  vermag  es  für  die  Gesammtheit  des  Volks  nicht 
den  Sonderbestrebungen  auf  die  Dauer  das  Gleichgewicht  zu 
halten,  es  gelingt  nicht  zur  rechten  Zeit  die  Form  zu  finden, 
in  der  beide  Principien  die  gebührende  Anerkennung  finden 
und  an  diesem  vergeblichen  Ringen,  an  dem  Mangel  einer  ge- 
gliederten Einheit  geht  das  Volk  zuletzt  unter,  zuerst  die 
äussere  Unabhängigkeit,  allmälich  auch  die  innere  Freiheit.  Den 
vielfachen  Versuchen  dieses  Bedürfniss  zu  befriedigen,  kleinere 
oder  grössere  Staatsverbände  hervorzubringen,  mit  einem  Worte 
den  Einigungsbestrebungen  der  griechischen  Staaten  nachzu- 
gehen ,  ihre  Entwickelungen  zu  erforschen  und  zu  verfolgen 
ist  eine  ebenso  anziehende  als  lehrreiche  Aufgabe.  Li  ihrem 
ganzen  Umfange  gelöst  müsste  sie  die  Bildung  fast  aller  grie- 
chischen Verfassungen  in  Betracht  ziehen  und  die  gesammte 
griechische  Geschichte  von  einer  bestimmten  Seite  her  in  sich 
begreifen.  Dass  ich  diese  hier  zu  lösen  nicht  unternehme,  ist 
schon  durch  die  Beschränkung  des  Raumes  geboten.  Wohl 
aber  möchte  ich  einen  Theil  derselben  behandeln  und  in  mög- 
lichster Kürze    nachzuweisen    versuchen ,    welches   die  Haupt- 


310      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

momente  sind,  die  wir  in  der  Entwicklung  der  Einignngshe- 
strebungen  der  griechischen  Staaten  unterscheiden  können, 
welches  die  verschiedenen  Arten,  in  denen  das  griechische  Volk 
versucht  hat,  aus  der  Isolirtheit  des  Einzelstaates  zu  grösserer 
politischer  Gemeinschaft  zu  kommen.  Es  ist  also  durchaus 
nicht  auf  Vollständigkeit  des  historischen  Materials  abgesehen, 
sondern  dieses  nur  so  weit  herbeigezogen,  als  es  zur  Nach- 
weisung der  aufgestellten  Sätze  nothwendig  ist.  Wenn  auf  der 
andern  Seite  die  Darstellung  sich  nicht  auf  die  eigentlichen 
Staatenbünde  und  Bundesstaaten  beschränkt,  so  wird  sich  das 
aus  der  Sache  selbst  rechtfertigen ,  indem  sich  ergeben  wird, 
dass  auch  die  meisten  bedeutendem  Einzel  Staaten  erst  durch 
Vereinigung  noch  kleinerer  Bestandtheile  geworden  sind.  Aus- 
schliessen  werde  ich  von  der  Betrachtung  die  Vereinigungs- 
mittel, die  nicht  eigentlich  politischer  Art  sind ,  wie  Orakel, 
Agonen  und  dergleichen,  und  auch  der  Amphiktyonen  nur  mit 
wenigen  Worten  gedenken,  sofern  in  ihnen  der  politische  Ge- 
sichtspunkt dem  religiösen  durchaus  untergeordnet  war '  . 

Die  griechischen  Staaten,  wie  sie  sich  uns  in  der  Blüthe 
der  historischen  Zeit  etwa  im  sechsten  und  fünften  Jahrhim- 
dert  vor  unserer  Zeitrechnung  darstellen,  sind  keineswegs  von 
Anfang  an  politische  Einheiten  gewesen.  Es  gab  eine  Zeit, 
wo  Attika  eine  Mehrzahl  von  Staaten  enthielt,  wo  in  Lakonika 
unabhängige  Gemeinwesen  nebeneinander  bestanden  und  von 
andern  Landschaften,  die  man  gewohnt  ist,  als  zusammenge- 
hörig zu  betrachten,  ist  bekannt,  dass  sie  auch  in  der  spätem 
Zeit  nur  durch  lose,  oder  auch  durch  gar  keine  politische 
Bande  zusammenhingen.  Beispiele:  Thessalien,  Aitolien,  Ar- 
kadien, Argolis.  Je  weiter  wir  in  die  Anfänge  des  eigentlich 
hellenischen  Lebens  zurückgehen .  desto  grösser  erscheint  die 
Zersplitterung  tmd  wir  dürfen  unbedenklich  den  Satz  aufstellen, 
dass    der   griechische    Staat   hervorgegangen   ist   aus    den  Ge- 


')  Ausser  den  hiehergehörigen  Abschnitten  der  Werke  von  Fr.  Wilh. 
Tittmann,  W.  Wachsmuth ,  K.  Fr.  Hermann,  Georg  Friedr.  Schömann, 
handelt  von  den  Bundesverfassungen  der  Alten  ausführlich:  Sainte-Croix 
des  anciens  go?ivernemens  federatifs  et  de  la  legislation  de  Crete  consideres 
sous  les  1-apports  et  resuUats  de  toutes  associations  polifiqiies.  Paris  1804. 
Eine  neue  dem  gegenwärtigen  Standpunkte  der  Alterthumswissenschaft  ent- 
sprechende Behandlung  wäre  sehr  wünschenswerth. 


ÜEBER  DIE  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      311 

mein  den  (/u)ixai,  or^fi-oi)  und  aus  diesen  durch  fortAvährendes 
Zusammentreten,  Centralisiren ,  sich  aUmählich  grossere  Staa- 
ten bikleten ') . 

Ueberreste  jener  ältesten  Form  des  Staates  finden  sich 
noch  in  späteren  Zeiten  in  Arkadien,  wo  mehrere  Dorfschaften, 
ohne  eme  Stadt,  Gauverbindungen  mit  besonderer  staatlicher 
Existenz  bilden -j.  Auch  die  Aitoler  wohnten  noch  spät  in 
offenen  Dorfschaften,  die  nur  durch  sehr  lockere  politische 
Bande  mit  einander  vereinigt  waren  ■^j. 

Diese  Gemeinden  trieb  aber  früh  ein  natürliches  Bedürf- 
niss  der  Sicherheit  zu  näherer  Verbindung,  Avelche  in  älterer 
Zeit  bisweilen  in  der  Art  der  Gauverfassung  (c3uaTr^[xa  or- 
tjLa)v  von  Strabo  genannt),  später  gewöhnlich  in  der  Weise  der 
Stadt,  der  roXic  geschah,  der  regelmässigen  Form  der  grie- 
chischen Staatonbildung,  durch  sogenannten  Synoikismos.  Nur 
dürfen  wir  uns  bei  dieser  ttoXi?  nicht  irre  machen  lassen  durch 
den  Begriff,  den  die  Stadt  im  Mittelalter  und  der  neueren  Zeit 
gegenüber  dem  Lande  gewonnen  hat,  wo  er  nur  die  innerhalb 
der  Mauern  oder  doch  des  Weichbildes  wohnende  Bürgerschaft, 


')  Ich  wünsche  hier  nicht  missverstanden  zu  werden,  als  ob  ich  meinte, 
jede  griechische  Gemeinde  habe  einmal  einen  besondern  Staat  gebildet. 
Meine  Meinung  ist  nur,  dass  wir  die  Biklung  der  Staaten  bis  zur  Dorf- 
gemeinde hinauf  verfolgen  können,  und  dass  diese  von  Anfang  an  als  or- 
ganisirter  Körper  erscheint.  ])ie  einzelnen  Familien  oixiixi,  aus  denen 
Aristoteles  die  vctujj.r|  entstehen  lässt,  liegen  jedenfalls  als  älteste  politische 
Gemeinschaft  über  alle  historische  Kunde  hinaus,  nicht  so  aber  die  -Adurq. 
Auch  das  Vorkommen  grösserer  Königthümer  an  einigen  Orten  in  der 
Hcroenzeit  spricht  nicht  gegen  den  Satz,  da  diese  bereits  durcli  Vereinigung 
von  einzelnen  Gemeinden  entstanden  sein  konnten,  und  an  mehreren  Orten 
nach  dem  Aufhören  des  Königthums  die  Gemeinden  wieder  in  ihre  ur- 
sprüngliche Isolirtheit  zurückfielen,  wie  z.  B.  in  Arkadien,  wo  wenigstens 
der  Mythos  einen  grösseren  monarchischen  Staat  voraussetzt.  Sehr  bestimmt 
spricht  sich  Aristoteles  aus  Polit.  1,  1,  7  pg.  2,  2l>  Bekker  q  o'  ir.  tcXeiövojv 
omtüv  -/oivtuvra  -püuxTj,  ypr^asmc,  evexev  irrj  £cp7]|j.£po'j,  VM[i.q,  8  pg.  3,  7  Bekker, 
T]  0  ix  rÄ£iovtov  y.tujjLwv  ■icowwvta  xsXeio;  z6).t;.  Vergl.  Thucyd.  I,  5.  K. 
F.  Hermann.  Lehrb.  der  Gr.  Staatsalter th.  §.  5. 

-)  F.  Kortüm  zur  Geschichte  Hellenischer  Staatsverfassungen.  S.  128  ff. 
Ed.  Kuhn  die  griechische  Komenverfassung  als  Moment  der  Entwicklung 
des  Städtewesens  im  Alterthum,  in  der  Zeitschrift  für  Geschichtswissenschaft 
von  Ad.  Schmidt  Band  4,  S.  69  ff.  Strabo  VUI,  p.  337  C. 

3)  Thucyd.  HI,  94. 


312      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

die  sich  zum  grössten  Theile  mit  Gewerben  und  Handel  be- 
schäftigt, umfasst.  Das  Wort  tcoäic  kommt  nämhch  in  einem 
engeren  und  weiteren,  einem  bloss  räumlichen  und  einem  staat- 
lichen Sinne  vor.  Im  erstem  bezeichnet  es,  unserer  Stadt  so 
ziemlich  ensprechend,  in  älterer  Zeit  die  meist  auf  einem  Hü- 
gel gebaute  feste  Burg,  den  ältesten  Kern  der  Städte,  Avelche  erst 
dann,  als  sich  am  Fusse  derselben  eine  gewöhnlich  viel  aus- 
gedehntere Unterstadt  gebildet  hatte,  axpo-oXic  genannt  wurde. 
Später  wird  dann  die  ganze  Masse  von  Wohnungen,  die  sich 
so  angehäuft  mit  tcoXic  bezeichnet,  das  in  diesem  Gebrauche 
also  dem  anderen  Ausdrucke  für  Stadt,  aoxu,  dem  lateinischen 
urbs ,  oppidum  entspricht.  Dass  die  griechische  Stadt  nicht 
nothwendig  ummauert  zu  sein  brauchte ,  beweist  das  Beispiel 
von  Sparta,  dass  sie  es  aber  in  der  Regel  war,  ist  ebenso  be- 
kannt. Im  andern  weitem  Sinne  bezeichnet  aber  -oXtc  die  um 
eine  solche  Burg  oder  Stadt  vereinigte  kleinere  oder  grössere 
staatliche  Gemeinschaft,  deren  Angehörige  in  jener  Stadt  oder 
Burg  ihre  Regierung,  ihren  administrativen  und  richterlichen 
Mittelpunkt  haben ,  die  um  einen  echt  gincchischen  Ausdruck 
zu  gebra\ichen.  dort  ihr  einziges  Rathhaus  und  Regierungsge- 
bäude haben  1)  (Sv  ßooXsuTTJpiov  xoü  TTputavEtov) .  Die  einzelne 
TToXic  in  diesem  Sinne  braucht  also  durchaus  nicht  aus  einem 
einzigen  Orte  zu  bestehen,  vielmehr  umfasst  sie  meist  mehrere 
Ortschaften,  welche  aber  im  Gegensatze  zu  dem  Regienmgs- 
orte,  Dörfer  oder  Gemeinden  [yM\iai  oder  ot,[xoi;  heissen  und 
deren  bisweilen  selbst  mehrere  die  Stadt  im  engeren  Sinne  des 
Wortes  bilden  ^] .    So  bestand  Sparta  aus  vier  oder  fünf  offenen 


')  Thucyd.  II,  15.  Herod.  I,  170.  An  letzterer  Stelle  wird  der  Gegen- 
satz der  -oXt;  zum  ofjjjio;  recht  klar. 

2)  Ed.  Kuhn  in  der  angeführten  Abhandlung  8.  öO  ff.  nimmt,  wenn 
ich  ihn  recht  verstehe,  an,  es  sei  das  Land  zu  der  Zeit  der  Städtebildung 
gegenüber  diesen  Städten  ganz  oder  grösstentheils  unbewohnt  geworden 
und  stützt  sich  dabei  vorzüglich  auf  eine  alte  Etj-mologie  von  -/.tt)(j.T,,  in  der 
er  »das  Gepräge  einer  jener  auf  sich  beruhenden  authentischen  Traditionen 
findet,  denen  wir  oft  gerade  die  schärfste  Beleuchtung  dunkler  Gegenstände 
des  Alterthums  verdanken.«  Allein  abgesehen  davon ,  dass  er  dieser  Her- 
leitung des  Wortes  gewiss  einen  viel  zu  hohen  "VVerth  beilegt,  kann  höchstens 
in  der  Stelle  des  Stejihanus  Byzantius  die  Voraussetzung  gefunden  werden, 
dass  das  Land  unbewohnt  sei.  Die  andern  von  ihm  angeführten  Stellen  aus 
dem  Etymologicum  magnum  besagen  eben  nur,  dass  die  xtu[i.T)  so  geheissen 


Uebbr  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      313 

Komen    und  Athen    hatte    innerhalb    seiner   Ringmauern   eine 
noch  grössere  Zahl  von  Demen ') . 

Gleich  bei  der  Entstehung  der  ttoXi;  können  wir  zwei 
Hauptarten  unterscheiden ,  welche ,  wie  wir  unten  sehen  wer- 
den, bei  dem  gesammten  ("entralisationsbestreben  der  griechi- 
schen Staaten  immer  wieder  zum  Vorschein  kommen.  Ent- 
weder werden  die  sämmtlichen  Gemeinden  ganz  gleichberech- 
tigt in  eine  Stadtgemeinschaft,  ttoXic  zusammengezogen,  so  dass 
alle  Angehörigen  tzoXitou  Staatsbürger  werden,  ohne  Unterschied, 
ob  sie  ihren  Wohnsitz  in  der  Stadt  haben  oder  nicht.  So  sind 
nach  Strabo  die  meisten  Städte  von  Arkadien  aus  Vereinigung 
von  mehr  oder  weniger  Demen  entstanden,  namentlich  Manti- 
neia ,  Tegea,  Heraia,  so  die  achaiischen  Städte  Aigion,  Pa- 
trai,  Dyme,  ferner  Elis  und  andere.  In  demselben  Sinne,  be- 
richtete Philochoros,  habe  Kekrops  das  früher  den  Einfällen 
und  Plündennigen  der  Nachbarn  ausgesetzte  Attika  in  zwölf 
Städte  zusammengezogen  2) . 

.Oder  ein  Ort  gewinnt  ein  Uebergewicht  der  Art  über  die 
Nachbarorte,  dass  diese  in  Abhängigkeit  von  ihm  gebracht  und 
als  x(o[xai  oder  xcoXsi?  Trspioixi'osc  beherrscht  werden.  Dies  scheint 
besonders  da  eingetreten  zu  sein,    wo  erobernde  Stämme    sich 


habe ,  weil  Menschen  und  Thiere  nach  der  Arbeit  auf  dem  Felde  dort 
ruhten,  was  gewiss  nicht  voraussetzt,  dass  das  Land  unbewohnt  sei,  son- 
dern auf  jedes  eigentliche  Dorf  ganz  wohl  passt.  Dazu  noch  Etymol.  Gud. 
lind  Suidas  :  y.iöfxvj  ei;  •J^v  |-iCoi(j.tövTO  aTto  xöiv  £pY"->''  ä^'jovxec  (äviovrei).  Ge- 
gen die  Sache  selbst  aber,  als  ob  mit  dem  !J'jvoty.ia[i.6<;  das  Land  verlassen 
worden  wäre  und  die  ganze  Bevölkerung  sich  in  die  Stadt  gezogen  hätte, 
spricht  aufs  allerbestimmteste  und  unzweideutigste  Thucyd.  II,  15.  16,  dem 
zufolge  nach  dem  athenischen  Synoikismos  des  Theseus  die  meisten  Bewohner 
des  Landes  mit  ihrer  ganzen  Haushaltung  izwoixr^a'ia  auf  dem  Lande  blie- 
ben. Ebenso  aber  geht  aus  derselben  Stelle,  wie  aus  der  Natur  der  Sache 
hervor,  dass  durch  einen  solchen  cjvotxiajxo;  die  Grösse  und  Bevölkerung 
der  eigentlichen  Stadt  sehr  zunehmen  musste ,  und  besonders  da  wo  aus 
Gründen  der  Sicherheit  gegen  äussere  Feinde  derselbe  vorgenommen  wurde, 
zog  oft  ein  grosser  Theil  der  Bewohner  des  Landes  nun  in  den  Raum 
innerhalb  der  Ringmauern.  Uebrigens  brauche  ich  kaum  zu  bemerken, 
dass  der  Ausdruck  tioXi;  auch  oft  in  sehr  weitem  Sinne,  fast  für  jeden  Ort, 
vorkommt.     Vgl.  Kuhn  a.  a.   O.  S.  50. 

')  Hermann  Sauppe  de  demis  urbanis  Athenarum.     Weimar  1846. 

2)  Strabo  VIII,  3  p.  336.  337  C.  vgl.  Pausan.  V,  4,  3.  Ueber  Attika 
Philochoros  bei  Strabo  IX,   1  p.  397  C. 


314      Ueber  die  Bildung  aon  Staaten  und  Bünden. 

in  festen  Plätzen  niederliessen.  Die  Bewohner  der  kleinen 
Orte  sind  wohl  Angehörige  der  iroXi;,  aber  Unterthanen,  nicht 
gleichberechtigte  Bürger.  Beispiele  dieser  8taaten])ildung  bie- 
ten Kreta,  Thessalien,  vielleicht  Boiotien  und  andere  Land- 
schaften. 

Aus  den  einzelnen  Gemeinden  also  bilden  sich  Staaten, 
sei  es  durch  Gauverfassung,  sei  es  durch  Städtegründung  and 
politischen  Synoikismos.  Mit  diesem  ersten  Schritte  ist  aber  erst 
eine  immer  noch  sehr  grosse  Anzahl  unabhängiger  politischer 
Individualitäten  neben  einander  da,  Avelche  weder  für  die  Ge- 
fahren des  Krieges ,  noch  für  die  Bedürfnisse  des  friedlichen 
Verkehres  in  engerer  Verbindung  stehen.  Die  Isolinnig  tritt  um 
so  schroffer  hervor,  als  nach  den  staatsrechtlichen  Begriffen  des 
Alterthums  nur  der  Angehörige  des  eigenen  Staates  den  Rechts- 
schutz geniesst,  der  des  fremden  Staates  davon  ausgeschlossen 
ist,  sofern  nicht  bestimmte  Staatsverträge  darüber  anders  be- 
stimmen. Das  Bedürfniss  einer  grösseren  Vereinigung  zwischen 
den  verschiedenen  Staaten  musste  desshalb  natürlich  hervor- 
treten und  sich  je  nach  den  Verhältnissen  bald  schwächer,  bald 
entschiedener  äussern.  Wie  die  Vereinigmig  zu  Gaugenossen- 
schaften oder  Städten  durch  eine  natürliche  stammverwandt- 
schaftliche oder  geographische  Zusammengehörigkeit  bedingt 
ist,  so  steht  über  diesen  Staaten  nun  wieder  eine  höhere  Ein- 
heit, innerhalb  deren  jener  Trieb  zunächst  seine  Befriedigung 
sucht.  Es  ist  das  die  der  Völkerschaft  oder,  wie  man  viel- 
leicht richtiger  sagen  würde,  der  Landschaft.  Ich  meine 
damit  die  innerhalb  gewisser  geographischer  Gränzen  zur  be- 
sondern Entwicklung  gekommenen  Bruchtheile  des  griechischen 
Volkes,  deren  Wesen  theils  durch  Stammesverhältnisse,  theils 
und  ebenso  sehr  durch  historische  und  geographische  Be- 
dingungen begründet  ist.  Durch  erstere.  sofern  die  Stammes- 
verschiedenheit die  Grundlage  der  hellenischen  Völkerschaften 
bildet,  durch  letztere,  sofern  durch  die  Verbindung  oder  Ver- 
mischung verschiedener  Stämme  und  durch  den  bekanntlich 
scharf  ausgeprägten  Charakter  der  einzelnen  Landschaften  wie- 
der besondere  Eigenthümlichkeiten  hervorgebracht,  und  eine 
unglaubliche  Mannichfaltigkeit  geschaffen  worden  ist*).    Inner- 

')  So  bildet  z.  B.  Lakonika  mit  seiner  nie  verschmolzenen  achaiischen 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      315 

halb  dieser  Landschaften  also  sncht  der  Einheitstrieb  sich  zu- 
nächst geltend  zn  machen,  sei  es  dass  er  gleich  dieselbe  ganz 
umfasst ,  wie  das  in  Lakonika ,  Attika ,  Boiotien  der  Fall  ist, 
sei  es,  dass  er  auch  innerhalb  derselben  kleinere  Gemeinschaf- 
ten hervorbringt  und  gleichsam  auf  der  Mittelstufe  zwischen 
der  ersten  Städtebildung  und  der  Gestaltung  der  Völkerschaft 
zum  politischen  Körper  stehen  bleibt,  Avic  in  Arkadien,  in  Ar- 
golis,  auf  Kreta.  Bei  dieser  Vereinigung  der  Völkerschaften 
lassen  sich  zwei  Hauptarten  unterscheiden,  die  des  Einheits- 
staates und  die  des  Bundesstaates,  welche  aber  viele 
Uebergänge  und  Berührungspunkte  darbieten.  Wir  wollen  die 
erstere,  die  nur  eine  Wiederholung  der  Demenvereinigiing  zur 
Stadt  im  weitern  Kreise  ist.  zuerst  betrachten,  iiier  wird  die 
ganze  Völkerschaft,  oder  wo  sich  der  Einheitstrieb  auf  einen 
Theil  derelben  beschränkt ,  dieser  Theil  um  den  Mittelpunkt 
einer  Hauptstadt,  vollständig  in  einen  Staat  verbunden,  sie 
wird  zu  einer  rzoXiq,  die  früheren  Einzelstädte  TtoXsi?  verschAvin- 
den  als  selbständige  Gemeinwesen ,  sie  treten ,  Avenn  sie  auch 
den  Namen  7:0X1?  nicht  überall  verlieren,  doch  in  das  Verhält- 
niss  von  Komen  oder  Demen  zu  dem  Gesammtstaate.  Diese 
Vereinigung  Avird  vollzogen  entAveder  durch  Auflösung  der 
sämmtlichen  Einzelstaaten  in  einen  Gesammtstaat ,  mit  gänz- 
licher Gleichberechtigung  der  BeAvohner  der  früher  ge- 
trennten Staaten,  wobei  die  Hauptstadt  allein  den  Vorzug  hat, 
der  Mittelpunkt  des  Staates,  der  Sitz  der  Behörden  zu  sein^), 
oder  auf  dem  Wege  der  Unterordnung  unter  die  Haupt- 
stadt, so  dass  die  Bewohner  dieser  die  Herrschaft  führen  über 
die  BcAvohner  der  früher  selbständigen  übrigen  Staaten. 

Die  erstere  Art  der  A  ereinigung  tritt  in  Landschaften  ein, 
wo  die  Bevölkerung  eine  im  Ganzen  gleichartige  ist,  tnid  nicht 
verschiedene  Theile  sich  als  Sieger  Tind  Besiegte  schroff  gegen- 
überstehen. Das  vollkommenste  Beispiel  bietet  Attika  dar. 
In  der  früheren  Zeit  Avaren  hier  Avenigstens  ZAVölf  verschiedene 


und    dorischen   Bevölkerung    im   Grunde    nur    eine    landschaftliche ,    keine 
völkerschaftliche  Einheit. 

')  Natürlich  ist  darunter  nicht  eine  demokratische  Gleichberechtigung 
aller  Stände  verstanden.  In  Athen  bestand  lange  trotz  diesem  Synoikisraos 
die  strengste  Oligarchie ;  aber  der  Gegensatz  war  nicht  der  der  Hauptstadt 
und  der  Landschaft. 


316      Ueber  die  BiLnuxG  von  Staaten  und  Bünden. 

Staaten  mit  hesondem  Regierungen  gewesen ') .  Zwar  nahmen 
wohl  früh  die  Herrscher  von  Kekropia  'dem  späteren  Athen) 
eine  gewisse  Oberherrlichkeit  in  Anspruch;  aber  jedenfalls  war 
das  Band  ein  sehr  loses,  so  dass  selbst  Kriege  zwischen  ihnen 
geführt  wurden.  Diesem  Zustande  machte  die  grossartige 
Massregel  ein  Ende,  welche  auf  Thesen s  zurückgeführt  wird, 
den  man  desshalb  mit  vollem  Rechte  als  den  eigentlichen  Be- 
gründer des  athenischen  Staates  und  der  athenischen  Freiheit 
betrachten  darf.  Er  hob  nämlich  die  Rathhäuser  und  die  Re- 
gierungen aller  andern  Städte  auf,  wies  ihnen  eine  einzige  Re- 
gierung in  Athen  an  und  nöthigte  sie  dieses  allein  als  Stadt 
anzuerkennen,  obwohl  sie  ihr  Eigen thum  wie  zuvor  bewohnen 
konnten  2) .  Mit  Recht  feierten  die  Athener  bis  in  späte  Zeiten 
zur  Erinnerung  an  dieses  wichtige  Ereigniss  das  Fest  der  Sy- 
noikien  ^uvoixia  oder  ^jvoixsaia; .  Von  einer  Unterordnung  eines 
Landestheiles  unter  den  andern  war  keine  Rede,  es  gab  keine 
unterthänigen  Umwohner  (-spioixoi)  im  Gegensatz  zu  den  Stadt- 
bürgern, sondern  die  Bewohner  von  ganz  Attika  wurden  Bür- 
ger  von    Athen    (Ai>T,vaToi) .     Mochte   einer   bisher   Bürger  von 

')  Strabo  IX,  1  pag.  397  C:  Tocaüt'  ouv  d-6ypr]  -po^Sleiitv ,  ort  cpT)3t 
OtXoyopos  .  .  Ksxpoza  TipüäTov  elz  oiooexa  Tzokeiq,  (3i)voi/.taat  to  7:Xfj8ot ,  ojv 
6v6|jLaTa  KexpoTiia,  Tetpa-oXt?,  'E-av-pia,  Aev-IXeia,  'EXe'jai;,    Acptova,   Bopr/.o;, 

Bpci'jpojv  ,    K'j&Tjpo; ,    2tfr,XT6; ,  Kr^'^tcia zaXtv  o 'jarepov  eU  p^iav  roXtv 

ojv^Y^YSiv  Xi-fSTai  ttj>;  vüv  t«;  ocuoey.a  0r,a£'j;. 

'-)  Thucyd.  II,  15,  I  flf.  :  £-1  -fap  Ki/.oor.nz  '^'^i  töjv  TtpojTojv  ßaatXsor^  tj  'Attixt; 
e;  9irjaea  dti  'aitol  izoXet;  (uxetTO  "p'jxaveia  xe  iyv'jo'i^  -/.rii  apyovxot;,  '/.rn  öroxe 
(J.T)  XI  oeiastav  oü  ^'j-jfjeaav  ßo'jXeuo6|xevot  w;  xöv  ßaaiXsa,  äXX'  aüxot  exaaxoi  STioXi- 
xEuovxo  xal  Ißo'jXeuovxo.  %at  xive?  xal  d-oXEjxTjaav  zoxe  aüxiüv  wsirep  xai  EXeuaivtoi 
(AEx'  E'j|a6X-ou  Ttpö;  'Epey^ia.  e-eiotj  oe  Ötj^e-j;  eßaoiXe'JCe  y^'"^H^^''''''  r'-E'^«  ^oü 
^'jvexoü  '/.fX  o'jvaxo?  xa  xa  a).Xa  oi£Xos(xtj5£  xr|V  ywpav  v.oii  y.axaXjoa;  xräv  a).).(uv 
tioXeojv  x7.  x£  ßo'jXi'jxfipiot  -/.Ott  xa;  äpyi;  £;  xf,v  v\iv  roXiv  o'jaav  £v  ßo'jXs'JXTjptov 
ärooei^ot?  -Aal  -p^xaveiov  l'jvor/.ise  -avxa;  v-ai  v£(xo[X£vo'Ji  xa  a'jxwv  iraoxo'j? 
a-ep  -/.ai  Trpo  toü  TjvaYxaos  [j.tä  ttoXei  xauxr,  yp-^sftai,  f,  ocTtävxwv  t^otj  IuvxeXo'jv- 
xojv  £?  aiixTjV  [AEY^Xr,  Y^'^^fJ^''''']  <:ap£o6&Tj  'jtto  ftr^aEf«?  toTc  Ireixa.  Plut.  The- 
seus  24.  Pausan.  1,  22,  3.  Steph.  Byz.  s.  v.  'A&fjvai.  Isoer.  Hei.  Enc.  §.  35. 
Wenn  Cicero  d.  legg.  II,  2,  5  sagt:  Theseus  Atticos  demigrare  ex  agris  et 
in  astu  qiiod  appcllattir  omnes  se  conferre  Jusstt,  so  ist  das  entweder  ein 
ungenauer  Ausdruck,  wie  er  auch  bei  Isokrates  a.  a.  O.  vorkommt,  oder 
ein  Missverständniss  des  griechischen  auvoixiCsiv ,  £'-C  [J-i'^i''  -öXw  äfei'^ ,  wo- 
gegen der  Scholiast  den  Thukydides  schon  ganz  gut  erklärt  hat,  xo  ^'jvor/.ioev 
o'J-A  £axtv  £7:i  xdO  ^'j>;oi7.ia&f,vat  dzoiT|5£v  äXX'  srrt  roö  jaiocv  zöXiv  xouxEOxt  [iTjxpo- 
TioXiv  ey£iv  ci'JxT|V. 


Udber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      317 

Eleusis ,  oder  der  Tetrapolis ,  von  Brauron  oder  Thorikos  ge- 
Avesen  sein,  in  Folge  des  durch  Theseus  durchgeführten  Synoi- 
kismos  hatte  er  die  gleichen  Rechte  wie  der  Bürger  der  alten 
Kekropia.  Jeder  politische  Unterschied  zwischen  Attika  und 
Athen  verschwand  ^j ,  ein  Gegensatz  wie  zwischen  Spartiate 
und  Lakedaimonier,  wie  zwischen  Thebaner  und  Boiotier  exi- 
stirte  nicht.  Vielmeiu'  lebten  gerade  in  Attika  bis  zur  Zeit 
des  peloponnesischen  Krieges  die  Vornehmsten  vorzugsweise 
auf  ihren  Landgütern  und  hatten  eine  besondere  Anhänglich- 
keit au  das  Landleben,  so  dass  die  Uebersiedhnig  in  die  Stadt 
beim  lieginn  jenes  Krieges  sie  schwer  ankam  2] .  Das  bestätigt 
sich  auch  bei  verschiedenen  Gelegenheiten.  Als  Kylon  612 
Ol.  42  die  Burg  besetzt  hatte,  um  sich  der  Tyrannis  zu  be- 
mächtigen, da  eilten  die  Athener  vom  Lande  herbei  3)  und 
belagerten  ihn.  Als  bald  nachher  sich  drei  verschiedene  Par- 
teien bildeten,  eine  adelich-aristokratische,  eine  rein  demokra- 
tische und  eine  Mittelpartei,  da  ist  keine  Spur  von  Gegensatz 
zwischen  Stadt  und  Land,  keine  derselben  hat  ihren  Sitz  vor- 
zugsweise in  der  Stadt,  vielmehr  weisen  sie  auf  die  drei  Ilaupt- 
theile  des  ganzen  Landes ,  die  fruchtbare  Ebene  nördlich  der 
Stadt  gegen  Eleusis  hin,  das  gebirgige  Weideland  im  nord- 
östlichen Theile  Boiotien  zu  und  das  Küstenland,  das  die 
Südspitze  der  Halbinsel  bildet:  danach  hiessen  sie  l^edieer, 
Diakrier  und  Paralier.  Viele  der  vornehmsten  Adelsgeschlech- 
ter zeigen  durch  die  Namen  der  Demen,  denen  sie  angehör- 
ten, dass  sie  wenigstens  noch  zu  Kleisthenes  Zeiten  ihren 
regelmässigen  Wohnsitz   auf  dem  Lande   hatten.     Diese  dinch 


1)  Der  spätere  Unterschied  zwischen  'A~i-Aot  und  ' A\)rfialoi  ist  durchaus 
nicht  politischer  Art  und  gehört  nicht  hieher.  vgl.  Dicaearch.  ßio;  'EXXaöo; 
p.  141  bei  Fuhr  und  dessen  Bemerkungen  p.  188  squ.  [C.  Müller  F.  H. 
G.  II,  S.  255. J 

'-)  Die  Definition  des  Etymologicum  magnum :  IvjroiTpiciai  IxoiXoövto  oi 
aÜTÖ  Tc»  aaxu  oi-iCoüvxec  xal  [j.£T£)^ovt£C  ßaatXiy.oü  fi-JO'Ji  ttjv  töjv  kptöv  l7rt[x£X£tav 
roio6[i.£vot  ist  in  jeder  Hinsicht  eine  viel  zu  enge  und  darf  uns  nicht  irre 
machen.  Der  Gegensatz  in  Aristophanes  Wolken  v.  47  ä'^poi^fj;  tuv  i'^ 
aaxeu);  bezieht  sich  nur  auf  die  Einfachheit  des  ländlichen  und  die  Ueppig- 
keit  des  städtischen  Lebens. 

3)  Thucyd.  I,  126,  7.  Aehulich  strömen  später  dem  Peisistratos  seine 
Anhänger  aus  den  Demen  zu,  Herod.  I,  62. 


318      Ueber  die  Bildung  von  »Staaten  und  Bünden. 

Theseus  begründete  völlige  Einheit  von  Stadt  und  Land  erhielt 
ihre  höchste  Vollendung  durch  Kleisthenes,  der  das  gesanimte 
athenische  Volk  anstatt  der  vier  Stämme,  in  die  es  bis  dahin 
zerfiel,  in  zehn  Stämme  theilte.  üiese  Stämme  ((coXai)  ent- 
hielten wieder  174  Gemeinden  (otjjxoi)  und  bildeten  keine  geo- 
graphisch abgerundeten  Bezirke,  sondern  die  ] Jemen  aller 
Stämme  lagen  über  das  ganze  Land  zerstreut  unter  einander 
und  fanden  ihren  Einigungspunkt  in  der  Stadt.  Diese  selbst 
nämlich  enthielt  nach  einer  Avahrscheinlichen  Veiinutlnnig  zehn 
Demen,  je  einen  aus  jeder  JMiyle,  so  dass  in  der  Stadt  alle  zehn 
Stämme  vertreten  waren '  .  Damit  war  die  gänzliche  Ver- 
schmelzung von  ganz  Attika  zu  einer  Einheit,  ghüchsam  zu 
einer  grossen  Stadt,  vollendet  und  in  einem  Grade  wie  kaum 
sonst  irgendwo.  Früh  war  auch  in  Attika  der  Name  -oXic  für 
die  einzelnen  Orte  mit  Ausnahme  der  Hauptstadt  ganz  ausser 
Uebung  gekommen  und  für  sie  die  Benennung  Demen  üblich 
geworden,  obwohl  viele  von  diesen  Orten  äusserlich  alle  Eigen- 
schaften von  Städten  besassen,  befestigt  waren  und  zum  Theil 
von  ansehnlichem  Umfange.  Weil  aber  der  Name  ttoXic  vor- 
zugsweise im  politischen  Sinne  gefasst  wurde  und  örtlich 
überdies  der  älteste  Theil  der  Stadt,  die  Burg,  diesen  Namen 
tmg,  so  kam.  für  Athen  als  Ort  die  Bezeichnung  aaru  auf, 
dem  nie  der  Begriff  des  Staates  inwohnt ,  so  wenig  als  dem 
lateinischen  urbs  oder  oppidum  im  Gegensatz  zu  civitas.  Diese 
gänzliche  Verschmelzung  Attika  s  zu  einem  Staate,  wobei  aber 
den  Demen  völlig  freie  Bewegung  in  ihren  eigenen  Gemeinde- 
angelegenheiten belassen  wurde,  ist  eine  der  Hauptursachen 
davon,  dass  diese  Landschaft,  eine  der  kleineren  in  Griechen- 
land, eine  Kraft  entwickelte,  die  ans  Unglaubliche  gränzt,  und 
wie  sehr  sie  dem  l^edürfnisse  entsprach  ergiebt  sich  am  schla- 
gendsten daraus,  dass  bei  den  mannichfaltigsten  Bewegungen 
und  Umwälzungen,  durch  die  der  athenische  Staat  geht,  uns 
nie  ein  Versuch  begegnet,  einzelne  Landestheile  von  der  Stadt 
loszureissen  2) .     Sie  war  vielmehr  die  Zierde   des  Landes ,    auf 


1)  Herrn.  Sauppe  de  demis  urbanis  Athenarum.     Weimar  1S46. 

■-)  Die  einzige  Stelle,  aus  der  man  etwas  derartiges  schliessen  könnte, 
ist  bei  Herod.  I,  30:  Y£''op-£VTjc  'ASr^vaioiat  [td/q;,  Tpo;  to'j;  äarj-f^tTova;  h 
EXE'jaivi.     Allein  ohne  Zweifel  ist  dv  'EXeuoivi   mit  fJ-ä/Tj;  •(tyoubtTjZ,  zu  ver- 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  itnd  Bünden.      319 

(lio  ein  jeder  mit  Stolz  blickte:  war  er  doch  so  gut  Athener 
als  wenn  er  darin  gewohnt  hätte. 

Weit  unvollständiger  und  mir  in  kleinem  Kreisen  als  in 
Attika,  geschah  an  andern  Orten  der  Synoikismos.  Auf  einige 
spätere  mit  mehr  oder  weniger  Erfolg  unternommene  Versuche 
werden  wir  unten  kommen.  Früh  aber  scheint  das  Ländchen 
der  opuntischen  Lokrer  mit  der  Hauptstadt  Opus  einen 
vollständig  geeinigten  Staat  gebildet  zu  haben  ^) .  Allerdings 
ist  das  Verhältniss  der  Stadt  zum  Lande  nicht  näher  bekannt, 
aber  neben  andeiin  deutet  schon  die  Henennung  des  ^  olkes 
nach  der  Stadt,   Opuntier,   auf  eine  solche  Einheit"^). 

Einen  ganz  erfolglosen  Versuch,  die  lonier  in  Kleinasieu 
auf  gleiche  Weise  zu  einem  Staate  zu  vereinigen,  machte  Tha- 
ies, der  sie  aufforderte  eine  gemeinsame  Kegierinig  in  dem  in 
der  Mitte  L)uieus  gelegenen  Teos  einzusetzen,  die  übrigen 
Städte  zwar  wie  bis  dahin  fortzubewohnen,  aber  ihnen  nur  die 
Hedeutung  von  Uemen  zu  lassen  ^j. 

Der  zweite  Weg  der  Vereinigung  einer  Landschaft  zu  einem 
Staate,  durch  U  n  t  e  r  o  r  d  n  u  n  g  unter  die  H  a  u  p  t  s  t  a  d  t ,  wird 
in  der  Regel  da  betreten,  wo  eine  verhältnissmässig  kleine 
eingewanderte  Bevölkeiaing  einer  zahlreichen  älteren  über  das 
Land  verbreiteten   gegenüber   tritt :    das    erobernde  Volk   steht 


binden  und  die  äaTUY^iTovei;  sind  die  Megarer.  Vgl.  Müller  üorier  1,  ITH. 
Schümann  antiquit.  p.  165,  2.  Und  selbst  wenn  die  Eleusinier  damals  von 
Athen  getrennt  gewesen  wären,  möchte  man  die  Ursache  dnoon  in  der  da- 
maligen Macht  von  Megara  suchen,  das  sich  ja  auch  die  Insel  Salamis 
angeeignet  hatte. 

•)  Tittmann  griech.  Staatsverf.  S.  710  ff.,  der  ohne  Grund  in  einer 
Stelle  des  Polybius  XII,  10  (11),  3.  Selbständigkeit  einzelner  der  östlichen 
Lokrer  angedeutet  zu  sehen  glaubt.  Böckh  explicat.  zu  Pindar.  Ol.  IX. 
[In  der  Kassandrosinschrift  Archaeol.  Ztg.  1S.55  S.  40  kommt  neben  dem 
xotv'jv  der  Aitolier,  Dorier,  Ainianen,  Epeiroten  aus  Phoinike,  Oitaier  und 
Athamanen  auch  xo  y.oivov  tüjv  Aoy.pü)v  töjv  tjoicuv  vor,  was  für  diese  (make- 
donisch-achaiische)  Zeit  eine  Art  von  Bund  voraussetzen  lässt.  Vgl.  W. 
Vischer.  Lokrische  Inschrift  von  Naupaktos  im  Rhein.  Mus.  XXVI,  1871. 
Ueber  einen  Bund  der  opuntischen  Lokrer  mit  Athen  Bruchstücke  einer 
Urkunde  bei  U.  Koehler  Hermes  V,  2  und  3.     Sie  heissen  nur  Ao-^poi.] 

2)  Strabo  IX,  c.  3  u.  4.  p.  425  C. 

3)  Herod.  1,  170:  ö;  t^.i'Ke'js  sv  ßo'jXe'jT'/jptov  "Itovot?  dxTfjiiyat,  to  ok  thai 
bi  Teo).  Tstov  -(ä^j  [AECov  eivcd  lojvt'fj;.  xa;  0£  äkXac,  tcoXiok;  oiy.eofj.Evai;  (ATjOev 
eaaoN  vo(i.iC£oi>at  xaTazep  ei  öfj{iot  eiev. 


320      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden 

von   vorne   herein  dem   bezwungenen   als   ein   feindseliges   ge- 
genüber, welches  im  Gefühle  seiner  Ueberlegenheit  die  Herr- 
schaft nicht  leicht  aus  den  Händen  geben  mag  und  kann.    Die 
Unterworfenen    sind    überdies    von    den  Siegern   in   der  Regel 
durch    Stammesverschiedenheit    getrennt,    wodurch    eine   Ver- 
schmelzung  noch   mehr   erschwert  wird.     Die  Eroberer  setzen 
sich  in  einer  oder  mehreren  Hauptstädten  fest  und  halten  von 
hier  aus  die  Zügel  der  Herrschaft  über  die   umliegenden  Ort- 
schaften.    Das  vollkommenste  Beispiel  einer  in  solcher  Weise 
zum    Einheitsstaate    gewordenen    Landschaft    ist    Lakonika. 
Nach  lange  dauernden,   durch  Jahrhunderte  sich   hinziehenden 
Kämpfen  mit  den  alten  Bewoluiern  des  Landes  von  achaiischem 
Stamme   war    es    endlich   den    dorischen   Eroberern    gelungen, 
sich  das  ganze  Land   zu  unterwerfen  und   die  politische  Selb- 
ständigkeit der  Einzelstädte  zu  brechen.    Lykurg  gab  dem  Ge- 
sammtlande  eine  solche  Verfassung,   dass  es  hinfort  viele  Jahr- 
hunderte ungetrennt  zusammenhielt,    aber  die  Einheit  beruhte 
auf  dreifacher  Abstufung.     Der  Mittelpunkt,  in  dem  das  poli- 
tische Leben  des  Staates  allein   ins  Dasein   trat,   von  dem  die 
ganze  Regierung  ausgmg,  bildete  die  verhältnissmässig  kleine 
dorische  Bevölkerung,    sesshaft  in  den  vier  oder  fünf  Komen, 
aus  denen  die  Stadt  Sparta  bestand  und  im  unmittelbaren  Be- 
sitz   des   grösseren   Theils    des    Grund   und   Bodens.     Nur   sie 
hatten  Theil  an  der  Staatsleitung,  der  -oXiTSi'a,  Sparta  war  die 
einzige  ttoXu  im  vollen  Sinne  des  Wortes  und  nur  die  Bewoh- 
ner dieser  Stadt,    auch  räumlich   gefasst,    waren   ihre  Bürger, 
TroXTxai  und  — Trapnatai.     Unter   ihnen  zunächst   stehen  die  Pe- 
rioiken.    Diese  wohnten  in  den  ehemals  achaiischen  Städten  des 
Landes,   deren  es  eine  sehr  grosse  Anzahl  gab ') .     Sie  heissen 
zwar  auch  Städte,  toAsi;,  Avaren  es  aber  nur  in  untergeordnetem 
Sinne.     An   der  Leitung   des  Gesammtstaates   hatten   ihre  Be- 
wohner  gar   keinen   Antheil,    dagegen    besassen   sie   eine   Art 
Municipalverfassung  -] ,    wodurch   sie   ihre  besonderen  Verhält- 
nisse verwalteten    und  worin    sie  einige  Entschädigung  für  die 


•)  Stephan.  Bj-z.  :  'Av&ava  ttoXi;  AaxiuvtxYj  (j.ia  twv  r/.axov.  [Vgl.  Steph. 
8.  V.  AiOatot,  AjJi'jxXat,  AüXcüv,  ,'Aa.rj&ot!:iä; ,  A'jppocyiov,  'E-'ioa'jpo;  Atij.Y,fid, 
Kpo->t£ctt,  Tf;vo;.]     Strabo  VIII,  4  p.  362  C     AlüUer  Dorier  II,   S.  23. 

2)  Müller  Dorier  II,  S.  29.     Schömann  antiqu.   p.   113. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       321 

völlige  politische  Nichtigkeit  fanden.  Ihren  Vereinigungspunkt 
fanden  sie  nur  in  der  Landesregierung  in  Sparta.  Eine  Ein- 
theilung  in  Bezirke  ' )  ,  über  die  wir  nicht  näher  unterrichtet 
sind ,  hatte  jedenfalls  nicht  den  Zweck ,  unter  ihnen  selber 
nähere  Bande  zu  knüpfen,  sondern  nur  ihre  Beziehung  zu  der 
Centralregierung  zu  vereinfachen.  Die  Lage  der  Periöken  war 
übrigens  keine  sehr  gedrückte,  vielmehr  befanden  sie  sich  in 
materieller  Hinsicht  wohl ,  daher  sie  bis  in  die  späten  Zeiten 
der  herrschenden  Stadt  ziemlich  treu  waren  und  die  Spartiaten 
wenig  Misstrauen  gegen  sie  zeigten. 

Die  dritte  Classe  der  Bevölkerung,  die  Heloten,  bestellten 
als  Leibeigene  die  Güter  der  S])artiaten  und  kommen  für  un- 
seren Zweck  kaum  weiter  in  lietracht,  da  wir  keine  Spur  da- 
von haben .  dass  sie  irgend  welchen  Gemeindeverband  gehabt 
hätten.  Um  so  feirullicher  standen  sie  fortwährend  ihren  Her- 
ren gegenüber,  welche  kein  Mittel  der  List  und  Gewalt  scheu- 
ten ,  sich  ihrer  zu  erwehren.  Einzelne  uns  wenig  bekannte 
besondere  Bestandtheile  der  Bevölkerung,  Skiriten,  Neodamo- 
den  und  wie  sie  sonst  heissen,  standen  in  einem  dem  Periöken 
ähnlichen  Unterthanenverhältniss  2) . 

Hier  also  war  die  Centralisirung  der  Landschaft  durch 
Unterordnung  unter  die  Herrschaft  der  Stadt  erreicht ;  aber 
dieses  Verhältniss  so  treft'lich  organisirt,  dass  die  höchste  Macht- 
entmcklung  stattfinden  konnte  und  der  so  befestigte  Staat 
lange  allen  andern  \  ölkerschaften  überlegen  war  :  das  zeigten 
die  bald  nach  Lykurg  gegen  Messenien ,  Argos  und  Arkadien 
geführten  Kriege ,  wo  eine  gleiche  Concentration  der  Kräfte 
entweder  gar  nicht  unternommen  oder  doch  nicht  vollständig 
durchgeführt  war. 

Aehnlicher  Staatenbildung  begegnen  wir  in  den  übrigen 
dorischen  Staaten  des  Peloponneses ,  nur  dass  sie  meist 
weit  kleinere  Gebiete  umspannten,  weil  sich  die  Eroberer  gleich 
anfangs  in  einer  grösseren  Anzahl  von  Städten  niedergelassen 
hatten,  welche  sich  jede  ihr  besonderes  Gebiet  unterwarfen, 
selbst   aber  von   einander  unabhängig   waren  ^) .     So   besonders 


»)  Ephorus   bei  Strabo  YIII,  5  p.  364  C.  Müller  Dorier  I,  S.  94.   II, 
24.     [E.  Curtius  Gr.  Geach.  I*  S.   166.] 
2j  Müller  Dorier  II,  242.  45. 
3)  Ueber  diese  Staaten  vgl.  Müller  Dorier  I,  S.  "8  fi'.  und  II,  S.  55  ff. 

Vischer,  Schriften  I.  21 


322       Uebkr  T)ik  I>ii-DUNf;  vox  Staatkn  uxd  Hüxdkn. 

inArfrolis,  wo  mehrere  kleine  Staaten  sich  hihleten,  die  eine 
Verhindung  der  ganzen  Landschaft  verhinderten,  dann  in  Me- 
gara,  ferner  in  Eli s^),  avo  die  Bewohner  des  hohlen  Elis 
(xot'Xv]  ~HXt<;)  mit  der  gleichnamigen  Hauptstadt  die  eigentliche 
TtoXic  den  Staat  hildeten  und  über  die  zwei  anderen  Theile  der 
Landschaft,  die  Fisatis  nnd  Triphylien,  als  Unterthanen  herrsch- 
ten. Nur  dass  in  diesen  Staaten  die  consequente  und  kraft- 
volle Durchführung,  die  in  Sparta  statt  hatte,  fehlt  und  daher 
vielfache  Aenderungen  und  Umwälzungen  vorkommen,  dass  na- 
mentlich in  Elis  nicht  gelang,  das  Verhältniss  zu  einem  festen 
unbestrittenen  zu  macheu  ,  indem  in  günstigen  Momenten  die 
Unterthanen  ihre  Unal)hüngigkeit  jeweilen  wieder  geltend 
machten  uud  zu  Zeiten  dabei  von  Sparta  selber  unterstützt 
wurden .  Auch  einige  arkadische  Staaten  lassen  sich  ver- 
j^leichen,  sofern  sie  nicht  nur  durch  Zusammenziehen  (auvoi- 
xiofjLoc)  von  Komen  einen  Staat  iroXtc  bildeten,  sondern  diesen 
nun  dadurch  vergrösserten,  dass  sie  umliegende,  früher  gleich 
freie  Landstriche  zu  Unterthanen  machten,  so  die  Mantineer 
die  Landschaft  Panhasia  ^) .  Ferner  vergleichen  M'ir  damit  die 
Stellung  der  Th essaier  zu  den  unterworfenen  Völkerschaften 
Thessaliens.  Weil  aber  hier  das  herrschende  A  olk  sich  nicht 
in  einer  einzigen  Stadt  concentrirte,  sondern  in  mehreren  über 
das  Land  verbreitete,  denen  aber  die  Unterthanen  allen  zu- 
sammen gehörten ,  so  entwickelte  sich  eine  ganz  eigenthüm- 
liche  Föderativverfassung  heiTSchender  Staaten  mit  gemeinsamen 
Unterthanen,   worauf  wir  unten  zurückkommen  werden. 

So  sehen  wir,  dass  die  Landschaften,  die  es  dazu  gebracht 
haben,  einen  vollständigen  Einheitsstaat  zu  bilden,  sei  es  durch 
völliges  Verschmelzen  und  Aufgehen  in  einer  Stadt  (710X1?),  sei 
es  durch  Unterordnung  des  übrigen  Landes  unter  die  Haupt- 
stadt, die  grösste  Kraft  gewannen.  Der  eine  dieser  Staaten, 
Lakedaimon,  wurde  die  aristokratische  Hauptmacht  von  Grie- 
chenland,  deren  Einrichtungen  Jahrhunderte  lang  unverändert 


»)  Thucyd.  11,  25.  V,  31.  Xenoph.  Hellen.  III,  2,  21  fF.  IV,  5,  1. 
VII,  4,  12  ff.  Strabo  VIII,  .3  p.  355  C.  [Diodor  XI,  54,  1.  Ueber  Argolis : 
Guil.  Lilie:  Quae  rutio  intercesserit  inter  singulas  Argolidis  civitates.  Vratisl. 
1862  (Dissert.)] 

2)  Thucyd.  V,  29,  1.  33,  1.  58,  1,  [so  Orchomenos  die  Städte  der 
Nebenthäler  des  Ladon :  Methydrion,  Theisoa,  Teuthis.    Pausan.  VIII,  27,  4.] 


Uebkk  niE  liir-nuNo  ao\  Staaten  und  Bünden.       323 

fest  bestanden ,  der  andere ,  nachdem  er  alle  Formen  griechi- 
scher Verfassungen  durchlaufen .  erreichte  die  höchste  Blüthe 
in  der  vollendeten  Demokratie. 

Während  also  diese  Völkerschaften  sich  um  eine  Stadt  zu 
einem  einzigen  Staate  centralisirten ,  war  in  andern  die  Kraft 
der  Einigung  w<Miiger  stark  und  äusserte  sich  bei  mehr  oder 
weniger  Selbständigkeit  der  Einzelstaaten  nur  durch  eine 
B  u  n  d  e  s  V  e  r  fa s  s n  n  g  ^) . 

Kaum  den  Namen  einer  solchen  verdienen  die  Verbin- 
dungen der  Völkerschaften,  die  sich  auf  regelmässige  Zusam- 
menkünfte bei  dem  Tempel  eines  Stammgottes  beschränken, 
weini  wir  auch  in  solchen  häufig  die  Anfänge  weiterer  Ver- 
einigung finden.  So  ist  die  /usanimenkunft  der  asiatischen 
lonier  beim  Panionion  auf  dem  Vorgebirge  Mykale^), 
später  in  Ephesos  *i  nur  ein  sehr  schwacher  Anfang  einer  Con- 
föderation.  Eine  stehende  Bundesbehörde  hat  so  wenig  existirt. 
als  eine  vorörtliche  Vertretung  der  sämmtlichen  Städte  durch 
eine  derselben.  Nur  bei  den  jährlichen  Zusammenkünften 
wurden  hier  und  da  Beschlüsse  über  geraeinsame  Angelegen- 
heiten gefasst.  oder  in  ausserordentlichen  Zeiten  dort  Zusam- 
menkünfte von  Abgeordneten  der  Städte  veranstaltet*).  Eine 
Verpflichtung,  die  Versammlung  zu  beschicken,  scheint  aber 
so  wenig  bestanden  zu  haben,  als  eine  allgemeine  Verbindlich- 
keit der  Beschlüsse-^).     Daher   führten  die  Städte    nicht  allein 


')  Der  Ausdruck  für  einen  Bundesataat  als  Geaammtheit ,  namentlich 
für  die  den  Bund  vertretenden  Behörden  ist  to  -/.otvov  z.  B.  Thuc.  IV,  78, 
3.  Tu  HEcaaXüjv  /.oiviv  und  sonst  oft,  doch  wird  dasselbe  Wort  auch  für  die 
Behörden  eines  Einzelstaats  gebraucht,  z.  B.  Thuc.  1,  89,  3.  In  späterer 
Zeit  wurde  auoTTjjxa  für  den  Bundesstaat  üblich. 

2)  Herod.  I,   143.  148. 

3)  Dionys.  Halic.  Antiqu.  Rom.   IV,  25. 

*j  Herod.  1,  141.  170.  Vi,  7:  wo  -poßo'j/.ot  der  Städte  erwähnt  sind. 
[Vgl.  V,  109  die  lonier  in  Kyproa  sagen:  rj|x£a;  dT:£Tre(A'|»i  t6  7toiv6v  twv 
'I(uv(uv  ci'j>.a^o/Ta;  ttjV  fta/.aaaav.  Eine  interessante  Inschrift  aus  Smyrna  im 
Bullet,  dell  Instit.  1872  S.  248  aus  Lysimachos  Zeit  enthält  einen  Beschluss 
des  Ituvojv  TO  xoivov  Ttt)v  Tpeiaxaioexa  :i6/.£tuv  zu  Ehren  eines  Hippostratos, 
Sohnes  des  Hippodemos  aus  Milet,  OTpaxTjYo;  ini  t&v  ttöXemv  täv  'Idoojv 
xaToaTaäeU.  Es  sind  ßo'jXe'jTai  der  Bundesversammlung  genannt.  Eine 
Statue  zu  Pferd  soll  im  Panionion  errichtet  werden.] 

ä,  So  nimmt  Milet  keinen  Theil  an  den  Berathungen  über  die  Ver- 
theidigung  gegen  Kjtos.     Her.  I,    141. 

21* 


324      Ubber  die   Bildung  von  .Staaten  und  Bünden. 

häufig  unter  sich  Kriege  seihst  in  Verhindung  mit  auswärtigen 
Bundesgenossen ') ,  sondern  sahen  auch  ganz  ruhig  zu  wie  die 
Lydier  eine  nach  der  andern  unterwarfen.  [Erst  Artaphernes 
ZAvang  die  lonier  durch  A  ertrage  sich  üher  gegenseitiges  Rechts- 
verfahren hei  Streitigkeiten  zu  verständigen  2) .] 

Aehnlich  verhielt  es  sich  mit  der  Festversammlung  der 
dorischen  Hexapolis  (später  nach  dem  Ausschlüsse  von 
Halicamass  Pentapolisi    auf   dem    triopischen,  Vorgebirge ^) . 

Noch  weniger  Bedeutung  hatte  die  Vereinigung  der  Aio- 
1er  bei  dem  Tempel  des  gryneischen  Apollon.  die  überhaupt 
zweifelhaft  ist^).  Doch  scheint  eine  Verbindung  der  Aioler 
gegenüber  den  Worten  des  Ilerodot  1.  149  nicht  ganz  in  Ab- 
rede gestellt  werden  zu  können.  Denn  wenn  er  sagt,  es  sei 
Smyrna  durch  die  lonier  von  den  Aiolern  abgerissen  worden 
und  es  seien  fortan  statt  der  früheren  zwölf  nur  elf  Städte  ge- 
wesen, so  lässt  sich  das  nur  durch  die  Annahme  einer,  wenn 
auch  noch  so  losen  Verbindung  erklären ,  die  bestätigt  wird 
durch  die  darauf  folgende  Bemerkung ,  die  aiolischen  Städte 
am  Ida  seien  von  jenen  getrennt  gewesen^). 

Unsicher  ist  die  Annahme  gemeinsamer  Fest  Versammlungen 
der  Arkader  bei  dem  Heiligthum  des  lykaiischen  Zeus  zu  Ky- 
nosura^j).     Die    politische   Vereinigung   der   Arkader ,    auf   die 


1)  Herod.  V,  99.     Hermann  Griech.  Staatsalterth.     5.   Aufl.  §.  77,   30. 

2)  [Herod.  VI,  42  :  cuv&T]xa;  acptci  aÜToTai  tou;  loiva;  vjv/Yv^aae  Ttoieea&ai, 
iva  ocoaicii-icoi  ekv  -xat  [atj  dX}/q\oi>i  cpepoisv  te  xal  ayoiev.j 

3)  Herod.  I,  144.  Dionys.  Halic.  a.  a.  O. 

*j  Wachsmuth,  I,  1,  S.  115.  1.  Ausg.  K.  F.  Hermann  Lehrb.  §.  76. 
13.  Schömann  antiqu.  p.  412. 

5)  Die  Zusammenkunft  beim  Tempel  des  gryneischen  Apollo ,  die  St. 
Croix.  p.  15()  annahm,  entbehrt  hinlänglicher  Begründung;  aber  es  ist  zu 
weit  gegangen,  wenn  man  damit  jedes  Band  zwischen  den  zwölf  Städten 
verwirft,  das  mir  vielmehr  nach  Herod.  I,  149 — 151  existirt  zu  haben 
acheint. 

6)  Schol.  zu  Pindar.  Olymp.  VII,  153.  Tittmann  S.  689.  Schömann 
antiqu.  p.  409:  K.  F.  Hermann  gottesdienstl.  Alterth.  §.  27.  5.  §.  51.  12, 
der  die  A'j-/.aict  wohl  mit  Recht  geradezu  ein  Lokalfest  nennt.  [Die  Frage, 
ob  vor  der  Schlacht  bei  Leuktra  gemeinsam  arkadische  Münzen  geschlagen 
wurden,  verneint  Boeckh  Metrol.  Unters.  S.  92.  E.  Curtius  Beiträge  zur 
älteren  Münzkunde.  Berl.  1S51.  S.  S5— 90.  Monatsber.  d.  Berl.  Akad. 
1869,   S.  472  ff.  schreibt  Curtius  die   ältesten   arkadischen  Münzen   mit  der 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      325 

wir  unten  zurückkommen  werden ,  ist  verhältnissmässig  spät. 
Andere  solcher  Panegyieis  übergehe  ich  ganz. 

Von  einem  eigentlichen  Bundesstaate  kann  erst  da  die 
Rede  sein,  avo  gemeinsame  Behörden  vorhanden  sind,  welche 
in  allgemeinen  Angelegenheiten  für  alle  Bundesglieder  bin- 
dende Beschlüsse  fassen  und  ausfühien,  welche  namentlich  auch 
die  Gesammtheit  des  Bundes  nach  Aussen  als  eine  Einheit 
vertreten.  Er  stellt  sich  in  den  verschiedensten  Formen,  bald 
mehr  bald  Aveniger  ausgebildet  dar,  bald  mit  ganz  gleichbe- 
rechtigter »Stellung  aller  Glieder,  bald  mit  Bevorzugung  eines 
Hauptstaates,  so  dass  er  in  verschiedenen  Abstufungen  zwi- 
schen jenen  hauptsächlich  religiösen  Vereinigungen  und  dem 
Einheitsstaate  in  der  Mitte  lag.  Einzelne  Landschaften  hatten 
einen  Föderativverband  soweit  die  Geschichte  hinaufreicht,  an- 
dere dagegen ,  früher  nur  ganz  locker  verbunden  ,  traten  erst 
später  PTiger  zusammen,  und  es  lässt  sich  ein  allmälicher  Entwick- 
lungsgang des  Föderationsprincips  verfolgen ,  das  seine  vollkom- 
menste Stufe  erst  in  den  Zeiten  erreichte ,  wo  die  Kraft  der  Na- 
tion erschöpft  war,  und  vielleicht  gerade  darum,  weil  die  Kraft 
der  Nation  erschöpft  war.  Denn  in  früheren  Zeiten  hatte  die 
kräftige  Herrschsucht  einzelner  mächtigerer  Staaten  sich  nicht 
leicht  dazu  verstanden ,  den  minder  starken  gleiches  Recht 
einzuräumen,  was  um  so  begreiflicher  ist,  da  die  Form  noch 
nicht  gefunden  war ,  welche  Rechte  und  Leistungen  in  ein 
billiges  Gleichgewicht  brachte.  Es  steht  dieser  Entwickhings- 
gang  natürlich  mit  der  übrigen  innern  und  äussern  Geschichte 
im  engsten  Zusammenhange. 

In  den  ersten  Zeiten  beruhte  die  meist  ziemlich  lose  Ver- 
einigung dieser  Bundesstaaten  nebst  den  gemeinsamen  Heilig- 
thümern  auf  dem  noch  frischen  Gefühl  der  Stammverwandtschaft 
und  dem  Bedürfniss  des  nothdürftigsten  Schutzes.  Beides 
musste  in  den  Zeiten  unmittelbar  nach  der  dorischen  Wande- 
rung besonders  lebhaft  sein,  da  damals  fast  überall  kriegerische 
Stämme  sich  neue  Wohnsitze  eroberten,  der  Landesbesitz  sich 
neu  gestaltete,  und  der  Bestand  der  aus  den  Umwälzungen 
hervorgehenden  Verhältnisse  von  allen  Seiten  gefährdet  sein 
musste.     Darum    sehen   wir   denn   auch   mehrere   jener    durch 

Umschrift  »Arkadikon«  dem  Heiligthum  des  lykaiischen  Zeus  zu.  Es  ist 
«eine  Müuze  ohne  Staat.«] 


326      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Eroberung  in  neue  Wohnsitze  eingedrungenen  Völkerschaften 
unter  den  ältesten  griechischen  Föderativstaaten  auftreten.  So 
die  Thessalier,  Boiotier,  Achaier  in  Aigialeia  i) .  Andere  wur- 
den zum  Zusammenhalten  genöthigt,  um  sich  der  Uebergriffe 
eben  dieser  erobernden  Stämme  zu  erwehren,  wie  die  Phoker. 
Je  unsicherer  die  Zustände  in  Griechenland  noch  waren,  desto 
mehr  Avaren  die  Völkerschaften  angewiesen,  zum  gemeinsamen 
Schutze  zusammenzustehen.  Je  mehr  sie  sich  aber  im  Ganzen 
befestigten,  und  auch  die  einzelnen  Staaten  einer  Völkerschaft 
zu  einer  sich  selbst  genügenden  Kraft  kamen,  desto  loser 
wurde  der  Verein.  Die  Entwicklung  der  Verfassungen  der  Ein- 
zelstaaten einerseits,  die  Ausbildung  grösserer  Bundesgenossen- 
schaften (Symmachien)  mit  Hegemonie  andrerseits  wirkten  sehr 
auf  die  grössere  oder  geringere  Festigkeit  der  Bundesstaaten. 
Verschiedene  Verfassungen  entfremdeten  einander  die  Einzel- 
staaten, und  die  politischen  Sonderinteressen,  Sympathien  und 
Antipathien  überwogen  oft  das  Bewusstsein  der  völkerschaft- 
lichen Zusammengehörigkeit.  Im  Interesse  der  Hegemonen 
war  es ,  keine  Bundesstaaten  zu  ansehnlicher  Macht  kommen 
zu  lassen,  sondern  selbst  den  Anhaltspunkt  für  schwächere 
Staaten  zu  bilden  und  so  keine  Machtentwicklung  zu  gestatten, 
die  der  Hegemonie  gefährlich  werden  konnte,  eine  Politik,  die 
besonders  Sparta  consequent  verfolgt  hat.  Darum  erscheinen 
diese  Bundesstaaten  gerade  in  der  Zeit  von  Griechenlands 
grösster  Blüthe,  im  fünften  Jahrhundert  vor  unserer  Zeitrech- 
nung, am  wenigsten  bedeutend .  Der  auf  dem  höchsten  Punkte 
stehende  Gegensatz  zwischen  Demokratie  und  Oligarchie  lähmte 
sie  im  Innern,  Sparta's  und  Athen's  Macht  beschränkten  ihre 
EntA\äcklung  von  Aussen,  die  Trennung  ganz  Griechenlands 
in  zwei  grosse  Heerlager  verschlang  die  Interessen  der  einzel- 
nen Völkerbünde. 

Erst  als  durch  den  pelopoimesischen  Krieg  die  Herrschaft 
Athens  gebrochen  war,  dagegen  Sparta  seine  Hegemonie  zur 
drückenden  Tyrannei  auszubilden  sich  bemühte,  und  unter 
dem  Vorgeben    die  Autonomie    der   Einzelstaaten  zu  schützen, 


1)  Eine  auffallende  Ausnahme  bilden  die  dorischen  Staaten  in  Argolia 
und  auf  dem  Isthmos,  vielleicht  in  Folge  der  verschiedenen  Stellung,  in 
welche  die  Eroberer  von  Anfang  an  zu  den  alten  Bewohnern  traten. 


Ueber  die  Bildung  von  Siaatkn  und  Bünden.       327 

jeden  Staatenverband  zu  lösen  trachtete ,  da  regte  sich  der 
völkerschaftUche  Einigungstrieb  wieder  lebendiger  und  brachte, 
theils  bei  den  vorgenannten,  theils  bei  andern  Völkerschaften 
Erscheinungen  hervor,  die,  wenn  sie  auch  noch  zu  wenig 
bleibenden  Resultaten  führten ,  nichts  desto  weniger  eine 
neue  Stufe  in  der  Entwicklung  des  Bundesstaates  bilden  und 
die  volle  Beachtung  des  Geschichtsforschers  verdienen.  Es 
tritt  nämlich  in  dieser  Zeit  zwischen  dem  peloponncsischen 
Krieg  und  dem  Auftreten  IMiilipps  von  Makedonien  das  Streben 
hervor,  (birch  (Zentralisation  in  einer  bedeutenden  Hauptstadt 
die  Kräfte  der  Völkerschaft  zu  stärken,  die  Einzelstaaten  in 
dem  in  der  Hauptstadt  centralisi^ten  Einheitsstaate  und  zwar 
mit  demokratischer  Verfassung  aufgehen  zu  lassen.  Es  ist  das 
Bestreben  die  Synipolitie  an  die  Stelle  der  bis  dahin  auch  in- 
nerhalb der  Föderation  bestehenden  Autopolitie  zu  setzen.  Am 
Widerstände  der  gefährdeten  Einzelstaaten,  die  besonders  bei 
Sparta  Hülfe  finden,   scheitert  es. 

Das  letzte  Stadium  der  Entwicklung  des  l'\)derativstaates 
tritt  endlich  mit  dem  dritten  Jahrhunderte  ein,  nachdem  die 
alten  Hauptmächte  Griechenlands  sich  entweder  gegenseitig 
entkräftet  hatten  oder  durch  Makedonien  niedergeworfen  waren. 
Da  erhebt  sich  in  zwei  früher  ziemlich  bei  Seite  stehenden 
Landschaften,  in  Aitolien  und  Achaia  der  Bundesstaat  mit 
neuen  Grundsätzen,  indem  nun  C'entralmacht  und  Freiheit  des 
Einzelstaates  in  ein  richtiges  \  erhältniss  gebracht  wurden  und 
dehnt  sich  über  die  Gränzen  der  \'ölkerschaft  Aveithin  aus.  Es 
wird  uns  das  daher  von  den  Bundesstaaten  einzelner  Völker- 
schaften hinüberleiten  zu  den  allgemein  hellenischen  Ver- 
einigungen. 

Neben  den  bereits  genannten  Verschiedenheiten  der  Bun- 
desverfassungen Avird  nun  aber  die  Mannichfaltigkeit  noch  ge- 
steigert durch  die  ^  erhältnisse  der  verbündeten  Staaten ,  die 
entweder  nur  aus  einer  gleichartigen  Bürgerschaft  bestehen, 
oder  aus  einer  herrschenden  Bürgerschaft  und  Unterthanen, 
und  eine  weitere  Modification  ist  die,  wo  der  Bundesstaat  im 
Ganzen  wieder  Unterthanen  hat. 

Betrachten  wir  zuerst  die  einfachste  und  älteste  Art  der 
Conföderation,  wo  die  verschiedenen  Staaten  einer  Völkerschaft, 
ohne  eine  Hauptstadt  und  ohne  Unterthanen,  in  einem  gleich- 


328      ITeber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

rechtlichen  Verbände  stehen .  der  weniger  durch  positive  Be- 
stimmungen,  als  durch  das  Gefühl  der  Stammeseinheit  und 
Zusammengehörigkeit  gegeben  ist.  Davon  finden  Avir  ein  Bei- 
spiel in  P  h  o  k  i  s ,  das  wenigstens  um  die  INIitte  des  vierten 
Jahrhunderts  vermuthlich  zwei  und  zwanzig  Städte  umfasste  ^) . 
Dass  diese  tStaaten  in  einer  ziemlich  engen  Verbindung  stan- 
den, ergiebt  sich  nicht  sowohl  daraus,  dass  Strabo  von  einem 
Bvindesstaate  der  Phoker  2 1  und  Demosthenes  von  einem  Demos  ^) 
derselben  spricht,  sondern  noch  mehr  daraus,  dass  die  Phoker 
in  der  Geschichte  fast  immer  als  Gesammtheit  erscheinen,  von 
der  ersten  Erwähnung  ihres  tapfem  Widerstandes  gegen  die 
von  Norden  herandrängenden  Thessaler  bis  in  die  Zeiten  des 
unseligen  dritten  sogenannten  heihgen  Krieges  und  über  die- 
sen hinaus  in  die  makedonischen  und  römischen  Zeiten.  Ueber 
die  Bundesverfassung  selbst  aber  sind  wir  nur  sehi'  wenig  un- 


1)  [Herodot  M^II,  33 — 35  nennt  15  von  Xerxea  zerstörte  Städte  in 
Phokis :  Dryinos,  Charadra,  Erochos,  Tethronion,  Amphikaia,  Neon,  Pedieis, 
Triteis,  Elateia,  Hyampolis,  Parapotamioi,  Abai,  Panopeus,  Daulis,  Aiolideia. 
Nach  dem  heiligen  Kriege  (Pausan.  X,  .3,  2)  wurden  zerstört:  Lilaia, 
Hyampolis,  Antikyra,  Parapotamioi,  Panopeus,  Daulis,  Erochos,  Charadra, 
Amphikleia,  Neon,  Tithronion,  Urj-maia.  Elateia,  Trachis ,  Medeon,  Eche- 
dameia,  Ambrosos,  Ledon,  Phlygonion,  Steiris.  Geschont  wurde  nur  Abai. 
Es  ergiebt  dies  21  Städte,  während  Demosthenes  (Trepi  T-rj;  TrapaTrpecßeias 
§.  123)  von  22  Städten  spricht  (öüo  aoi  eiV-oaiv  eiatv  äpi^fAui).  Die  zweiund- 
zwanzigste war  vielleicht  Daphnus  Strabo  IX,  3,  416  und  424  C.  Vischer : 
lokrische  Inschrift  von  Naupaktos  S.  47  des  Separatabdrucks.  Von  den 
herodoteischen  fehlen  Pedieis ,  Triteis  und  Aiolideis ,  die  vielleicht  nach 
Xerxes  Zerstörung  nicht  wieder  aufgebaut  wurden.  (Bursian  Geographie 
von  Griechenland  I,  S.  1G3  u.  170).  Für  den  Bundesstaat  von  Phokis  der 
spätem  Zeit  ist  wichtig  das  Werk  von  Wescher  und  Foucart :  inscriptions 
recueillies  ä  Delphes.  Folgende  Städte  erscheinen  dort  urkundlich  als  be- 
stehend:  Lilaia  35.  50.  53.  63  u.  ö.  Hyampolis  82,  212.  Phanateus  (so!) 
50.  105.  Daulis  21.  304.  Charadra  429.  Tithorra  (=  Neon)  35.  105. 
Teithron  128.  31^.  Drymia  47.  Elateia  47.  53.  319.  Medeon  392.  402. 
'E-/£Öa[j.i£t?  £v  Teidpwvi  icaToiy,£o-JT£;  318.  Ambryssos  358.  412.  437.  Plygonion 
(bisher  nur  als  Phlygonion  Paus.  1.  c.  oder  Phlygonia  Stephan,  s.  v.  be- 
kannt, in  den  Inschriften  stets  nXjYo--£i;)  328.  337.  346.  3S0.  3S5.  404. 
407.     Stiris.  62.] 

2)  t6  xoivöv  a6aTT)(i.a  xtüv  Ooiy-ecuv.  Strabo  IX,  3  p.  423  C.  [tö  xotvov 
<l)(«7.£(uv  Inschrift  aus  Hadrians  Zeit)  fxö  -/.oijvrjv  täv  0(u7.£(ov  Keil  Sylloge 
inscriptionum  Boeoticarum.   S.   109.] 

3)  6  ofjfAo;  6  Tüjv  Oojxewv  Demosth.   rept  t-^;  7Tapa7tp£ap,  §.  81. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      329 

terrichtet,  und  wissen  überdies  nicht,  ob  das,  was  wir  aus 
spätem  Zeiten  erfahren .  auch  in  früheren  galt.  In  gemein- 
samen Angelegenheiten,  namentlich  über  Krieg  und  Frieden, 
scheint  eine  allgemeine  Landsgemeinde  entschieden  zu  haben  ^] . 
So  Avar  es  wenigstens  zur  Zeit  des  sogenannten  heiligen  Kriegs. 
Ohne  Zweifel  müssen  wir  uns  dazu  auch  einen  engem  Aus- 
schuss,  einen  Bundesrath  denken.  Das  Phokikon  genannte 
Gebäude,  das  Tansanias  in  der  Nähe  von  Daulis  sah 2)  und 
das  zur  Abhaltung  von  Bundesversammlungen  diente,  fällt 
freilich  wohl  erst  in  ganz  späte ,  Aielleicht  römische  Zeit ,  so 
wie  auch  die  Behörde  der  Phokarchen  3| .  Hingegen  kommen 
früh  gemeinsame  Feldherm  vor,  die  die  Leitung  des  Krieges 
hatten  und  wenigstens  später  auch  die  höchste  Magistratur  in 
innem  Angelegenheiten  waren.  |ln  den  delphischen  Inschriften 
erscheinen  Strategen  ^ ,  als  Bundesbeamte,  daneben  in  den  ein- 
zelnen Städten  Archonten^j.l  Ueber  ihre  Zahl,  Amtsdauer  und 
Befugnisse    sind  wir  aber  sehr  im  Dunkeln.     In   den  früheren 


'*  Diodor  XVI,  32,  2:  ol  02  «Pujxei;  (xr:oX'j8£vTe;  toö  -oXipio'j  v.n.Ta  zb 
Trapov  ^zavTjXftov  ei;  AeXcpo'j;  xal  !J'jv£>.i)6vte;  [itza.  tüjv  a'j(ji(i.a/u)v  el;  xoivi^v 
dxxXTjOtotv  ißo'jXeuo'JTO  irept  xoü  r.o}.i[).0'j . 

-]  Pausan.  X,  5,  1  :  'E;  hk.  tt)v  ir.'i  A£X',p<jjv  eöfteiav  ävaaTp£'|)avTi  iv. 
Aa'jXiOo; ,  xai  {<5vti  int  to  Trpootu ,  iarh  oixoo6txir)[AC(  £v  äptOTepä  xfj?  ööoO 
%aXo6(x£';o-^  Oujxf/.öv,  i;  ö  d-'i  i/Ä'^rr^^  roXeto;  aj-nasiv  oi  'Piuv-ei;.  [Hier  sind 
Abgeordnete,  keine  Landsgemeindc  zu  verstehen.  Avisdrücklich  sagt  Pau- 
sanias  fX,  4,  ^  von  den  Panopeern :  ^c  xov  o'jK/.ofou  ajvEopo-j;  y.al  ojtoi 
r.i[j.Tio'j<3i  tÖv  Ow/.iviov.] 

3j  C.  I.  G.  1738.  Dass  die  Inschrift  jedenfalls  nicht  älter  ist,  als 
au.s  Hadrians  Zeit,  zeigt  Boeckh.  |Le  Bas  831  wird  ein  äY«Jvoi>£TT);  Ootj-z-ap/T); 
erwähnt.] 

*)  [^TpaTTjfö;  Tw'^  <P(u-/.£ajv  3.5,  47,  .50,  53  u.  8.  f.  oxpoiTTjYÖ;  iv  <I)(u7.£0i; 
122.  212  und  zwar  kommen  solche  vor  aus  Hjampolis  82.  212.  Phanateus 
50.  105.  Tithorra  35.  Teithronion  128.  312.  368.  383.  Brj-mia  47.  Elateia 
53.  Ambryssos  122.  222.  412.  Die  Nennung  des  aitolischen  Strategen 
(304.  318.  3S0.  384.  385.  404)  deutet  auf  zeitweisen  Anschluss  an  den 
aitolischen  Bund.  Die  Jahresbezeichnung  in  diesen  Inschriften  durch  den 
Strategen  beweist  natürlich  nichts  für  die  Zahl,  da  der  erste  des  CoUegiums 
genannt  sein  kann,  wie  bei  den  athenischen  Archonten ,  bei  den  spartani- 
schen Ephoren  u.  s.  f.,  ja,  wie  in  einer  Inschrift  424  sogar  ein  athenischer 
Stratege  zur  Jahresbezeichnung  gebraucht  ist.  ev  'AtlTjvat;  aTpaTa-fsovTo; 
HsvoTtXeo?.] 

5)   [so  in  Charadra  420,  Teithron  318,  Ambryssos  274.   437.] 


330      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Zeiten  werden  einmal  in  den  Kriejä^en  mit  den  Thessalem  zwei 
Bnndesfeldherrn  erwähnt,  deren  einer  das  Fussvolk,  der  andere 
die  Reiterei  befehligt  *  ,  ähnlich  dem  Strategen  und  Hipparchen 
der  Achaier  und  Aitoler.  In  dem  heiligen  Kriege  steht  ein 
einziger  Feldherr  mit  unumschränkter  Vollmacht  ioTpatT^Yo: 
auToxpotTtup)  an  der  Spitze  der  Phoker.  Er  scheint  auf  unbe- 
stimmte Zeit  gewählt  oder  wenigstens  die  Würde  nach  dem 
Amtsablauf  jeweilen  erneuert  worden  zu  sein.  Philomelos, 
Onomarchos,  Phayllos  sind  bis  an  ihren  Tod  Feldherrn.  Ueber- 
dies  erscheint  das  Amt  damals  faktisch  fast  erblich,  da  sich 
nach  einander  drei  Brüder  folgen  und  dann  der  noch  unmün- 
dige Sohn  des  Ünomarch  oder  Phayllos,  Phalaikos  ^i .  Diesem 
freilich  wurde  ein  zweiter  Feldherr  und  \  orinund  zur  Seite 
gesetzt'^;,  und  als  er  zu  Klagen  Veranlassung  gab,  setzte  man 
ihn  ab  und  ernannte  drei  Feldherm  Deinokrates ,  Kallias  und 
Sophanes  ^) .  Es  ist  daher  die  diktatorische  Gewalt  in  dem 
Hause  des  Pliilonielos  als  eine  ganz  ausnahmsweise,  zum  Theil 
usurpirte  zu  betrachten,  weshalb  auch  die  Gegner  nicht  ganz 
ohne  Grund  diese  Strategen  Tyrannen  der  Phoker  nannten^). 
Möglich  ist  auch ,  dass  damals  wie  in  anderen  Landschaften, 
so  auch  in  Phokis  die  Bande  der  Conföderation  straffer  gezo- 
gen Avvirden. 

Von  hegemonischen  Rechten  oder  auch  nur  Ansprüchen 
einer  grösseren  Stadt  findet  sich  keine  Spur,  es  müsste  denn 
etAva  die  frühe  Lostrennung  Delphi's  vom  übrigen  Lande  durch 
solche  veranlasst  worden  sein.     Von  den  übrigen  Städten  war 


1)  Paus.  10,  1,  8. 

2]  Diodor  XM,  23,  6.  31,  .5.  36,  1  von  Phalaikos  sagt  er  38,  6  ge- 
radezu :  Phayllos  habe  ihn  als  Feldhern  hinterlassen.  ^d'M.oz.  ....  /.ata- 
XiTtdjv  T«bv  <I)(«y.Eaiv  nTpnrrifO-^  ^ö./.'Xir.o^  tov  'Üvop.äpyo'j    'Jiov   und  Pausan.  X, 

3)  [Diodor  XVI,  38,  ß  :  zapa-z-aTEaTr^as  o  a'jxöj  i-ixrjor.n-j  o.\i.'j.  v.v.  aTpa-TjYOv 
Mva^sav,  iva  tujv  eot'JTO'j  cpiXt»;.  Uebrigens  erscheint  schon  neben  Philomelos 
Onomarchos  als  auvapyiuv  atpaTTjYo;  Diodor  X\T,  31,  5.] 

*)^  Diodor  XVI,  56,  3.     Pausan.  X,  2,  7. 

5)  Aeschin.  -epi  -apaTrpeaßsia;  §.  130  ff.  Athenaeus  VI,  19  p.  231  d. 
Pausan.  X,  7.  1  nennt  sie  gut  O'jväoxat.  Aeschines  a.  a.  O.  spricht  auch 
von  einer  Veränderung  der  Verfassung  durch  die  Tyrannen,  mit  Hülfe 
ihrer  Söldner. 


Ueber  die  Bildung  vo>>'  Staaten  und  Bunden.       331 

Elateia  die  bedeutendste  ohne  desshalb  politische  Vorzüge  ge- 
habt zu  haben.  Ebensowenig  hatten  die  Orte,  welche  den 
Hund  bildeten,  ünterthanen,  sondern  das  ganze  Land  besass 
gleiche  Rechte  und  Freiheiten  :  da  überdies  bis  auf  die  Zeiten 
des  diitten  heiligen  Krieges  es  in  l'hokis  auch  gar  keine 
Sklaven  gab ,  so  ist  es  wohl  das  freiste  Land  in  ganz  Hellas 
gewesen. 

Hingegen  war  die  Bundesverfassung  nicht  so  fest,  dass 
sie  einer  Spaltung  ganz  hätte  begegnen  können.  Das  geht  aus 
der  Trennung  Delphi's  ')  hervor  und  auch  später  nimmt  Abai"^) 
an  den  Handlungen  der  übrigen  Phoker  nicht  Theil.  Haupt- 
zweck der  Conföderation  war  wchl  immer  die  Landesver- 
theidigung. 

[In  ähnlicher  freier  \nid  gleichberechtigter  Vereinigung, 
wie  die  Phoker.  standen  einige  Nachbarvölker,  so  die  Lokrer, 
getheilt  in  östliche  und  Avestliche  Lokrer.  Officiell  heissen  die 
erstem  in  der  älteren  Zeit  Ao9poi  tot  TTioxvajxiOioi,  aber  auch 
'OTtovTtoi,  Aveil  sie  damals  einen  aristokratischen,  von  Opus  aus 
beheiTschten  Einheitsstaat  bildeten^  .  Eine  municipale  Selbst- 
regierung der  einzelnen  Städte  ist  hierdurch  nicht  ausgeschlos- 
sen^,. In  der  Zeit  nach  Alexandros  war  das  Land  zeitweise 
politisch  mit  Aitolien  vereinigt  ^  .  Im  Ehrendecret  des  Kassandros 
erscheint  aber  wieder  ein  xoivov  ttov  Ao/pwv  tu)v  tjoicuv ^) ,  und 
ebenso  erscheinen  sie  in  den  Amphiktyonendecreten  als  Aoxpot 
'Tttoxvtjiiiöioi  ").  In  dieser  Epoche  Avaren  die  einzelnen  Bundes- 
städte wohl  gleichberechtigt. 

Für    das  Avestliche  Lokris    der    altem   Zeit   ist   bedeutend 


1)  Strabo  IX,  3  pg.  423  C.   [Doch  geschah  diese  Trennung  durch  Sparta.] 

2)  Pausan.  X,   3,  2. 

3)  [W.  Vischer:  Lokrische  Inschriften  von  Naupaktos  S.  42  ff.] 
*]  [a.  a.  O.  S.  44.] 

5)  [Aitolisch  datiren  bei  ^^''escher  und  Foucart:  inscriptions  recueillies 
ä  Delphes.  Thronion  320  (ä  ßouXa  xai  6  öäfiOi;  öpovistuv  C.  I.  G.  1751), 
Skarphe  91,  Opus  321.  Ueber  die  'Oroü^xiot  xai  Aoxpot  (Aexä  'Oro'jvtftuv 
vgl.  R.  Weil ;  archäol.  Ztg.  1874  vS.  140  ff.  und  Stark  zu  K.  F.  Hermann 
Handbuch  d.  Staatsalterth.  I,  S.  877.] 

6)  Archäol.  Ztg.   1855  S.  39,  40. 

')  [Memoires  presentes  par  divers  savants:  I.  Serie,  sujets  divers 
d'erudition.  I.  VIII.  C.  Welcher:  F.tude  sur  le  monumens  bilingue  de 
Delphes  S.  56  A.  z.  55  und  S.  74.] 


332      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

die  Bronzetafel  in  Korfn  mit  dem  Vertrage  zwischen  Chaleion 
und  Oiantheiai).  Die  einzelnen  Städte  hatten  Geschlechter- 
herrschaft und  besassen  volle  Souveränetät.  In  der  makedo- 
nisch-achaiischen  Zeit  erscheinen  als  Bundesbeamte  der  Aoxpot 
'EoTTEpioi  x\gonotheten2i,  manchmal  neben  dem  aitolischen  Stra- 
tegen^), einmal  ein  ßouÄap/iiuv  xoh  Aoxpuoü  xilzo:^*!.  Die  Ver- 
waltung der  einzelnen  Städte  ist  meist  in  den  Händen  von 
Archonten"»). 


*)  [Oikonomides :  Aoy.piY.-^;  <xvEy.o6TO'j  irtYpa'frj;  otoc«pu)tioi;  [lexa  -cifJ.iy.f^i 
(j.£Ta«ppaaett);  y-o  **,   hi  Kepy.upqt  1S5().] 

'-)  [Wescher  und  Foucart  186:  d-fwio^zzio^TO-  tüjv  Aoy.püjv  Ajxojvoi; 
<I)'j'37.co;.  177:  äYoJVoSetcOvxo;  Ot),oviy.o'j  A'j(j.ävoi.  213:  äp/ovxo?  £v  AsX'^ot; 
MevEOTpdxo'j  ...  i'^  0£  Aoy.poi;  aYiovofteteovto;  (E'j)0'jcid(i.O'j  ^jt/Aoz.  289: 
d.fm^o%£zeo'iToz  tüjv  Aoxpd)^  Ntv.ea  toü  Aa(JLC.p(A£vo'j  UiavÖEo;.] 

3)  [1.  c.  243  :  OTparaYEOVTo?  töjv  Adw^.wv  'A).£|avopo'j  KaX-jotuviou,  tüjv  oe 
Ao'vtpäJv  äYiovo&ETeo^Toe  TeXsaapyou  toü  AafxoxcXeo;.] 

*)  [1.  c.  405.  Curtius  G.  G.  N.  1864  S.  172  denkt  an  einen  militärischen 
Bezirk  des  aitolischen  Bundes.  Allein  dazu  passt  der  Titel  ßoö>.7.p/o;  nicht. 
Bezeichnet  es  etwa  den  ersten  der  Buleuten  dieser  Provinz?] 

^)  [In  den  Inschriften  bei  Wescher  und  Foucart  werden  folgende 
lokrische  Gemeinden  erwähnt.  1)  Amphissa  mit  aitolischen  Beamten  und 
Monaten  359.  371.  377.  379.  386.  388.  403.  417.  Aber  auch  mit  städti- 
schen Archonten  und  Monaten  19.  92.  163.  164.  215.  224.  247.  248.  256. 
256.  426.  428.  2)  Antikyra  mit  eignen  Archonten  442.  3)  Axia  mit  aito- 
lischen Strategen  286 ,  sonst  nur  aus  Steph.  Byz.  bekannt.  4)  Chaleion 
nach  aitolischen  Strategen  datirend  64,  372.  nach  eignen  Ai-chonten  69,  262. 
5  Isioi  284.  328.  346  etwa  die  bei  Thukyd.  III,  lol  genannten  "Haiioi. 
Steph.  Byz.  "Haotot.)  6  Kyra  datirt  177  nach  lokrischen  Agonotheten  und 
Archonten  von  Physkos,  gehörte  also  gewiss  zu  dieser  Stadt.  Kyra  ist 
sonst  unbekannt.  7)  Myon  (Muaveuc)  [datirt  nach  lokrischen  Agonotheten 
213  oder  nach  aitolischen  Strategen  323.  411.  8^  Naupaktos  datirt  aito- 
lisch  75,  285.  Einmal  erscheint  ein  Naupaktier  als  aitolischer  Stratege  223. 
9)  Oiantheia  (F/ja\i)£u;  286.  346)  243  axpaxaY£ovxo;  xtuv  Aixoj/.wv  —  tüjv  oe 
Aoy.pöj-^  äY«uvoi)£X£ovxo?  —  Iv  o'  ( Uav&eiot  äpyo-^xo?.  Lokrische  Agonotheten 
aus  Oiantheia  236.  289.  10)  Oinoe  276  (=  Oineon)  datirt  nach  aitolischen 
Strategen  410.  (11)  SxiEt?  datiren  nach  Archonten  von  Amphissa  209, 
gehören  also  wohl  zu  dessen  Gebiet,  sonst  unbekannt.)  12)  Physkos  er- 
scheint als  eine  der  bedeutendsten  Städte.  Im  Praescript  nennt  es  den 
lokrischen  Agonotheten  allein  186.  354.  verbunden  mit  dem  einheimischen 
Archonten  432,  aitolische  Strategen  74.  189.  432  erwähnt  eine  Volksver- 
sammlung £vvo[i.o;  iv.f.y.ri'zia ,  drei  apyovxec  und  einen  toiüiz.  Besonders 
interessant  ist,  dass  viele  lokrische  Agonotheten  aus  Physkos  sind.  13)  Tol- 
phonia  339,  363  datirt  nach  lokrischen  Agonotheten  und  eignen  Archonten 
289,    nach    aitolischen    Strategen  80.      14)    Triteia  datirt    nach   lokrischen 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       333 

Bei  dem  xotvov  ttuv  'Axapvavcov  erscheint  als  Eponjine  ein 
'  IspairoXoc  toT  'ATToXXoivi  toT  'Axtioi,  dann  ein  '(^a.\i\iOLTZu:;,  Ta  ßouXot, 
ein  npo}jLva[ji«)v  und  drei  ^u}x-po[i.vaaovsc*! .  In  Pyrrhos  Zeit  wird 
eine  Versammlung  der  /iXioi  erwähnt-). 

Mit  diesen  Landschaften  ist  endlich  auch  Epeiros  nach  dem 
Sturze  der  Aiakiden  zusammenzustellen.  Es  bildete  damals 
einen  Bundesstaat,  ein  xotvov  mit  der  Hauptstadt  Phoinike'^), 
welche  Polybios  als  eine  blühende .  mächtige ,  wohlbefestigte 
Stadt  schildert  *).  Alle  Nachrichten  bei  I*olybios  und  Li\ius 
stimmen  dafür,  dass  der  Bundesstaat  ganz  Epeiros  (Molosser, 
Thesproter,  Chaoner)  iimfasste^).  Als  Bundesbeamte  werden 
einmal  drei  Strategen,  an  einer  zweiten  Stelle  ein  Stratege  und 
ein  Hipparch  erwähnt  ^) .  Die  allgemeine  epeirotische  Volks- 
versammhnig  fand  in   Phoinike  statt ") . 

Auf  eine  ähnliche  Organisation  Euboias  im  demosthe- 
nischen  Zeitalter  deutet  wohl  das  Eüßoscuv  auvsopiov*). 


Agonotheten  236,  363,   nach   eignen   Arthonten  148   und  aitolischen   Stra- 
tegen 65.] 

»j  [Bullet,  deir  Inst.  1873  S.  186  (=  Foucart  bei  Le  Bas  explicatiou 
des  inscriptions  II  me  partie  194  d.)  Die  Organisation  des  Bundes  ist  schon 
von  Boeckh  C.  I.  G.  II  1793  erörtert  (vgl.  auch  Foucart  a.  a.  O.  S.  144  ff'.) 
Ein  Stratege  vielleicht  C.  I.  G.  1793  C.  vgl.  Livius  XXXVI,  11,  wenn 
nicht  die  Lesart  falsch  und  statt  ITPA  ...   zu  lesen  ist  IFPA  .  .  .] 

-)  [Foucart:  memoire  sur  un  decret  inedit  de  la  ligue  Arcadienne  1870 
S.  27  Anm.  2  sagt  in  einer  unedirten  Inschrift  aus  Pyrrhos  Zeit  werde  in 
Akarnanien  eine  Versammlung  oi  /tXioi  erwähnt.] 

3)  [Archäol.  Ztg.  185.5  S.  39/40  -6  -icoivov  xwv  H-eipuitiüv  [töjv  Ttjepi 
^oivixtq[v]  und  dazu  Curtius  S.  38.] 

*)   [Polyb.  II,   5,  4  um  230  a.  Chr.] 

5)  [vgl.  bes.  Polyb.  XXXII,  21.  26,  wo  deutlich  Phoenike  als  Haupt- 
stadt erscheint,  auch  II,  5  wo  eine  Besatzung  von  800  Galliern  darin  liegt.] 

C)  [Livius  XXIX,  12  führt  204  v.  Chr.  drei  praetores  (oTparr^Y^^')  ^^> 
mit  denen  König  Philipp  in  Phoinike  zusammen  kommt;  aber  XXXII,  10 
nennt  er  einen  praetor  i3Tf<aTf|Yo;)  und  einen  magister  equitum  (iTtTrop/o?) , 
was  freilich  nicht  nothwendig  andre  Strategen  ausschliesst ,  aber  vielleicht 
doch  auf  veränderten  Einrichtungen  beruht.  Vgl.  Freenian  history  of 
federal  Government  I,  S.  152  der  aber  die  Inschrift  nicht  kennt  und  dai-um 
sehr  unsicher  ist.) 

'j   [Polyb.  XXXII,  21  :  oi  0£  -oXXoi  tösv  ev  ttJ  «Poivixr,  und  vorher  ebfjYov 

£{;    TO'^    OYJfAOV.] 

8)  [Aesch.  c.  Ctesiph.  §.  89,  94.  Indess  war  hier  die  Unabhängigkeit 
der   Städte   grösser.     Schon  in  Epameinondas   Zeit   kommen   die    Euboier 


334      Ueber  IHK  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Endlich  kommen  solche  xotva  vor  bei  den  Achaiern,  Avahr- 
scheiiilich  auch  bei  den  Aitolern ,  den  Ainianen ,  Oitaiern, 
Athamanen ')   und  den  Doriern  der  Tetrapolis.  2,] 

Doch  waren  sie  wohl  alle  weniger  eng  als  Phokis  ver- 
bunden ;  daher  sie  in  der  früheren  Zeit  nicht  nur  überhaupt 
keine  Bedeutung  unter  den  griechischen  .Staaten  erlangen, 
sondern  auch  nicht  selten  einzelne  Theile  derselben  eine  be- 
sondere Politik  befolgen,  z.  B.  das  achaiische  Pellene  3)  im 
peloponnesischen  Kriege,  die  akarnanischen  Städte  Astakos  und 
Oiniadai  zu  derselben  Zeit  *) . 

Diese  und  andere  ähnliche  Bundesstaaten  gehörten  zu  den 
Theilen  Griechenlands,  die  am  wenigsten  be^Aiisstes  politisches 
Leben  entwickelten  und  in  keiner  Beziehung  in  die  Geschicke 
des  Landes  entscheidend  eingriffen.  Als  Aitolien  und  Achaia 
in  den  Aordergi-und  traten,  geschah  es  in  Folge  einer  ganz 
neuen  Organisation.  Wir  können  daher  bei  den  mangelhaften 
Nachrichten  mit  ziemlicher  Sicherheit  sagen,  dass  die  Bundes- 
verfassung sich  nebst  gemeinsamer  religiöser  Feier  auf  Bei- 
legung von  Zwistigkeiten  im  Innern  und  gemeinsame  Mass- 
regeln zur  Vertheidigung  gegen  äussere  Angriffe  beschränkte, 
oft  genug  aber  auch  dafür  nicht  genügte.  Von  einer  kräf- 
tigen Bundesregierung,  die  diesen  Staaten  eine  bestimmte 
Richtung  gegeben   hätte ,    findet    sich   nichts ,    und    selbst    das 


stets  als  Gesammtheit  vor.  Plass  Tyrannen  II,  76.  In  der  römischen  Zeit, 
erstes  Jahrh.  p.  Chr.  wird  xo  Eüßoeojv  y.oivov  erwähnt.  Keil  Inscript. 
Boeot.  XXXI. j 

1)  [Archäol.  Ztg.  185.5  S.  39  4ü  bezeugt,  für  die  spätere  Zeit:  tö 
"Aowov  Ttüv  AftouAiüv ,  TÖ  xoivöv  Töjv  OiTaiiOJv  (über  diese  vgl.  R.  WeU:  die 
Oetaea  Hermes  \T^I  S.  380  ff.)  to  tcoivöv  twv  KpTjxaiojv,  tö  y.otvö-/  töjv  'A/atwv 
und  TÖ  xoi-vöv  t(I)v  ASa|j.dvtu\i  (das  von  Li\-ius  XXXVIII,  1  erwähnte  Argithea, 
Caput  Athamaniae  kommt  inschriftlich  bei  Wescher-Foucart  24  als  Ap-^e-^ia 
vor.)] 

■-)  [Archaeol.  Ztg.  a.  a.  O.  tö  /.otvöv  tö»-/  Aiupiswv.  In  den  Inschriften 
von  Delphi  kommen  als  dorische  Städte  Erineos,  Boion  und  Dryope  (198 
Ap'jo-aioc,  362  ApuTraTo;)  vor.  Als  Magistrate  werden  vorangestellt  bei 
Erineos  (121,  223,  284)  Boion  (409)  und  Dryope  (198,  362)  der  aitolische 
Stratege,  in  Erineos  wird  aber  auch  nach  dem  städtischen  Archonten  da- 
tirt  54.  In  365  wird  der  Stadtbeamte  Doriarchos  genannt.  ap/ovTo; 
'E[x[ji£vtöa  TOJ  KaXXict  (XTj-^ö;  Boadüou,  h  hk  EptvEÜ)  ö(uptaf--/£OvTci;  ^iXoxpaxeoi; 
Toü  KaXXi-icpaT£o?  xtX.] 

3)  Thucyd.  n,  9.  4^  Thucyd.  II,.  9.  30.   102. 


Ueber  dfe  BiLmTXG  vox  Staaten  und  Bünden.       335 

Zusammenhalten  der  Phoker  ist  wohl  grossentheils  den  vielen 
Angriffen  zuzuschreiben,  die  sie  von  den  Thessaleru  und  Boi- 
otiern  zu  erleiden  hatten.  Es  mochten  alle  diese  Hundes- 
verfassungen genügen  für  untergeordnete  Verhältnisse,  deren 
höchstes  Ziel  ein  abgeschlossenes  von  den  Nachbarn  ungestörtes 
Leben  Avar,  einer  höheren  politischen  Stellung  waren  sie  nicht 
gewachsen. 

Ein  künstlicherer  Bmulesorganisnius  mit  verschiedenen  Ab- 
stufungen der  Angehörigen  und  einer  obersten  Hundesgewalt, 
die  zu  Zeiten  eine  starke  Macht  entfaltete,  war  in  Thessalien, 
obwohl  auch  hier  die  Centralgewalt  sich  nicht  in  der  Art  aus- 
gebildet hat,  dass  eine  eigentliche  Bundesregierung  sich  als 
stehende  Hehörde  behauptet  hätte.  Das  vereinigende  Element 
lag  hier  nebst  der  gemeinsamen  Abstammung  besonders  in  dem 
Bedürfniss  der  herrschenden  Staaten  sich  gegen  die  Unter- 
gebenen zu  sichern  und  in  dem  Hesitze  gemeinsamer  Unter- 
thanen,  den  gemeinen  HeiTschaften  der  alten  Schweizerkautone 
vergleichbar.  Bekanntlich  hatte  das  epeirotische  Volk  der 
Thessaler  sechzig  Jahre  nach  dem  troischen  Krieg  das  Land 
mit  Waffengewalt  erobert,  einen  Theil  der  Bevölkerung  ver- 
trieben ,  den  anderen  grösseren  unterworfen  ^) .  Die  Eroberer 
Hessen  sich  in  den  Städten  des  mittleren  eigentlichen  Thessa- 
liens nieder,  unter  denen  Larissa.  Pharsalos,  Krannon,  Pherai 
die  bedeutendsten  waren.  Die  Bewohner  des  zunächst  um- 
liegenden Landes  wurden  in  ein  strenges  Abhängigkeitsver- 
hältniss  gebracht,  indem  sie  als  sogenannte  Penesten  den 
lakedaimonischen  Heloten  ähnlich  die  Ländereien  der  Sieger 
bestellten.  In  diesem  Verhältnisse  stand  hauptsächlich  der 
fruchtbarste  Theil  des  Landes,  von  Peneios  südlich  gegen  das 
Othrysgebirge  hin."^)     Die  in  den    entfernteren  Gegenden  und 


')  [Ueber  Thessalien  vgl.  G.  Grote  history  of  Greece  II  S.  55  ff.  die 
epeirotischen  Thessaler  hält  er  für  Avenig  zahlreich,  mit  Recht ;  nur  ist  der 
Grund  nicht  beweisend ,  dass  der  Thessalerdialect  ein  Zweig  des  aiolischen 
gewesen  sei,  sie  also  ihre  Sprache  bald  aufgegeben  haben  müssen,  weil  sie 
sicherlich  von  Anfang  an  einen  dem  aiolischen  Dialect  nahestehenden 
sprachen.  S.  58:  we  must  sitppose  them  to  have  been  viore  warlike  than 
numerous,  and  to  have  gradually  dropt  their  primitive  language.\ 

2)  [Die  Penesten  waren  nach  Theopomp  Perrhaiber  und  Magneten, 
nach  andren  Pelasger  (d.  h.  wohl  dasselbe)  ,  nach  Archemachos  Boiotier 
aus  Arne.     Athenaeuä  Yl,  86  pg.  264  a.  8S  pg.  265  b.] 


336      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

zwar  im  Norden,  Osten  und  Süden  wohnenden  Völkerschaften, 
Perrhaiber ,  Magneter,  achaiische  Plithioter ,  Ainianen ,  Melier 
und  andere  hingegen  hatten  zwar  vollständige  Freiheit  der 
Personen  und  des  Eigenthums  bewahrt,  waren  aber  als  Völker- 
schaften in  ein  Ünterthanenverhältniss  zu  den  Thessalem  ge- 
bracht worden,  denen  sie  Heeresfolge  leisten  und  Tribut  be- 
zahlen mussten,  besonders  in  Kriegszeiten,  i)  Wenn  auch  die 
Perrhaiber  im  Norden  des  Landes  als  Unterthanen  der  Larissaier 
genannt  werden  -i ,  so  smd  doch  die  meisten  dieser  ^  ölker  nicht 
einer  einzelnen  Stadt,  sondern  der  Gesammtheit  der  Thessaler 
unterthänig  gewesen.  Das  ergiebt  sich  nicht  sowohl  daraus, 
dass  sie  Thukydides  Unterthanen  der  Thessaler  o7rr]xooi  tuiv 
össaaXuiv)  nennt  ^'j ,  was  sich  allenfalls  so  fassen  Hesse ,  dass 
sie  verschiedenen  thessalischen  Städten  unterworfen  gewesen 
wären,  als  aus  des  Xenophon  Nachricht,  dass  bei  dem  Ein- 
treten der  Tageia  (Tayeta)  alle  umliegenden  Völker  Tribut  be- 
zahlt hätten.  Da  nun  die  Tageia  eine  Bundesfeldherrnschaft 
war,  so  müssen  auch  die  umliegenden  Völkerschaften  Bundes- 
unterthanen  gewesen  sein.  Es  wird  bestätigt  durch  fernere 
Angaben  desselben  Schriftstellers .  dass  der  Tagos  lason  von 
den  Unterthanen  den  Tribut  forderte,  den  früher  Skopas  ihnen 
auferlegt  hatte.  ^;  Also  bestand  Thessalien  jo  BsTra/.uiv  sustr^ixa 
aus  einer  Anzahl  regierender  Städte,  die  jede  im  Stadtbezirke 
besondere  Unterthanen.  die  grösseren  vielleicht  auch  noch 
unterthäuige    Völkerschaften   hatten .    und    die    dann    alle    mit- 


1;   [Xen.  Hellen.  VI,  1,  7.] 

-)  Strabo  IX,  19  pg.  440  C.  oütoi  (oJ  Aaptsaiot)  5"  oyv  xa-ei/ov  teou;  — ?jv 
Ileppatßiotv  -^ai  ctopccj;  ETcpaTtovro  scui  tPiÄniTro?  "xaTeaTTj  xupio;  töjv  TTpaYiAdtTojv. 

^j  Thucyd.  II,  101.  IV,  7S.  VIII,  3.  Aus  den  zwei  letzten  Stellen 
geht  übrigens  hervor,  dass  damals  nicht  alle  Völker  bis  zu  den  Thermo- 
pylen  Unterthanen  der  Thessaler  waren',  was  durch  III,  92  bestätigt  wird. 
[Niebuhr  Vorlesungen  über  alte  Gesch.  I,  S.  294  nennt  als  gemeine  Herr- 
schaften die  Perrhaiber,  Magneten  und  phthiotischen  Achaier.  —  Die 
Ainianen ,  Oitaier ,  Malier ,  Doloper  unterscheidet  er  als  nur  zeitweise  ab- 
hängig, was  allerdings  durch  die  oben  angeführten  Stellen  des  Thukydides 
sich  bestätigt.] 

*l  Xenoph.  Hellen.  VI,  1,  9:  rXotT'jTä-rj;  -(t  |xTj-<  oüar^;  ©ErraÄiac  -i'i-a 
~a.  -A'j-AKui  i'&vTj  'jT.r^v.oa  [xvt  saxtv,  Stav  tciyo;  bt^äot  -/.a-ao-r^  .  .  .  12:  t.ö.-iX'j. 
Yap  o-fj-o'j  xd  x'jy.Xiu  cpopov  cpspei  Stav  za-(Vjr^7ai  td  -Aatd  BsttaXiav  19  :  -poei-e 
0£  xal  ToT?  -£01017.01?    -äzi   TÖv    '.;6pov    cujttso    irX   Sv.oroi  tz-a'^^isoi  r,v  «ipeiv. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      337 

einander  eine  Herrschaft  über  die  umliegenden  kleineren  Völker 
ausübten.  Diese  gemeinen  Herrschalten  allein  würden  schon 
eine  Verbindung  der  Städte  voraussetzen  lassen,  welche  sicher- 
lich seit  den  Zeiten  der  Eroberung  bestand'  ,  und  die  gemein- 
samen Heereszüge,  welche  schon  früh  besonders  gegen  Phokis 
häufig  statt  fanden,  bestätigen  sie.  Die  inneren  Verhältnisse 
der  einzelnen  regierenden  Staaten ,  in  denen  streng  oligarchi- 
sches  oder  dynastisches  Adelsregiment  herkömmlich  war,  scheint 
dieselbe  freilich  wenig  berührt  zu  haben,  2  wohl  aber  Avar  sie 
berechnet  auf  die  Erhaltung  der  Herrschaft  über  die  Unter- 
thanen  und  EinigTing  der  Streitkräfte  des  Landes  zu  Angriff 
und  A'ertheidigung.  Wie  freilich  in  gewöhiüichen  Zeiten  die 
Ijundesverfassung  der  Thessaler  beschaffen  war,  in  Avelcher 
Form  die  Beschlüsse  der  Gesammtheit  gefasst  wurden  und  Avas 
für  Behörden  da  waren ,  darüber  sind  wir  niclit  unterrichtet. 
Dass  aber  ein  gemeinsames  Bundesorgan  bestand,  das  über 
Gegenstände,  die  alle  betrafen,  l>eschlüsse  fasste,  geht  her- 
vor [aus  Herodot  •) ,  nach  dem  die  Thessaler  nach  gemeinsamem 
Beschlüsse  den  Peisistratiden  tausend  Reiter  unter  ihrem  Könige 
Kineas  zu  Hülfe  schicken  und^  aus  Thukydides  •*) ,  der  erzählt, 
dass  bei  dem  Durchmarsche  des  Brasidas  423  ihm  von  der  den 
Athenern  befreundeten  Partei  vorgeworfen  worden  sei,   dass  er 


'  Später  zog  ganz  Thessalien,  wie  es  scheint,  die  Hafeneinkünfte  von 
Pagasai   ein.     Demosth.  Olynth.   I,  22 .-    y/.ojov  0'  zfwfi   -tvor/  w;  cüoi  toj; 

d-6  ToJTwv  o£cn  otoi7.£Tv.  Vgl.  Niebuhr  Vorl.  über  alte  Gesch.  II,  p.  334 
vgl.  42(3. 

-;  Vielleicht  waren  auch  die  kleineren  Städte  der  Thessaler  in  einem 
Abhängigkeitsverhältniss  zu  den  mächtigern,  wie  Schömann  antiqu.  p.  4(^2 
aus  den  AVorten  des  Xenophon  VI,  1,  8:  twv  iz  'Jtj.ü)v  (xwv  (Dv.pact/.iojv) 
r,^TT,!i.£viov  -oAetov  schliesst.  Doch  können  diese  auch  eine  bloss  faktische 
Abhängigkeit  bezeichnen. 

3  [Herodot  V,  03 :  i-t-oir^-o  -[do  O'it  loaaayir,  roo;  a-jTO'j?.  0£aoa"/.oi 
hi  GCfi  O£0[j.cvo[at  d7t£-£(x'i;av,  7.oivi^  -[^önj-r^  y  p  eiu  [ji£voi,  yt/.iTjV  t£  '{--ov  ym 
Tov  ßasiÄEa  TÖv  ocpEXEpov  KivEr^v  dvorjct  Koviaiov  ,  wo  Larcher  und  Baehr  an 
Conium  in  Phrygien  (Plinius  N.  H.  V,  32,  14.5;  denken,  woher  dann  Kineas 
gekommen  wäre,  etwa  wie  die  Venetianer  fremde  Feldherrn  zu  nehmen 
pflegten,  was  ganz  unglaublich  ist.  Herodot  hätte  dann  jedenfalls  O^'j-^itj; 
beigesetzt.  "Weit  eher  wäre  mit  Wesseling  an  Pöv^ot  zu  denken  oder  ist 
etwa  Kpavveuvtov  zu  lesen?  cf.  AVachsmuth  hell.  Alterthumsk.  I,  p.   129.] 

*,  Thücyd.  IV,  TS  :  -/.ai  doiv-clv  v^xza^i  d'v£'j  tcü  -dvtujv  y.oivoü  TTOp£'JÖ[jL£vov. 
Vi  sc  her,  Schriften  I.  22 


338      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

ohne  Erlaubniss  der  Gesammtheit  der  Thessaler  das  Gebiet 
betreten  habe.  Allerdings  zeigt  der  dort  erwähnte  A'orfall  und 
der  ungehinderte  Durchmarsch,  dass  gemeinsame  Massregeln 
nicht  eben  mit  Schnelligkeit  getroffen  wurden  und  die  Parteien 
nach  ihrem  Gutdünken  verfuhren,  ohne  sich  an  die  Bundes- 
behörden zu  kehren.  Mehr  als  von  der  gewöhnlichen  Organi- 
sation wissen  wir  von  einer  ausserordentlichen  Behörde.  Wo 
nämlich  die  Verhältnisse  ein  kräftiges  gemeinsames  Handeln 
erforderten,  Avurde  bisweilen  ein  gemeinsamer  Heerfürst  ernannt, 
der  den  Namen  Tagos  trug,  und  in  älteren  Zeiten  auch  Avohl 
König  hiess  i- .  Die  Würde  wurde  auf  längere  Zeit,  selbst  auf 
Lebensdauer  bekleidet,  so  wenigstens  in  der  Zeit  nach  dem 
peloponnesischen  Krieg,  wo  die  Fürsten  von  Pherai  sie  er- 
langten, und  erscheint  bisweilen  fast  erblich  in  einem  Ge- 
schlechte ^j.    Im  Jahre  3 TU  nach  der  Ermordung  des  lason  von 


1)  Die  frühern  Bundesfürsten  werden  von  Herodot  V.  63  ,  Thukydides 
(I,  111)  u.  a.  gewöhnlich  Könige  genannt,  mögen  .sie  nun  wirklich  diesen 
Titel  (ßas'./.E'j;,  getragen  haben  oder  die  Schriftsteller  nur  statt  des  sonst 
ungewöhnlichen  Ta-fö;  den  gewöhnlichen  Ausdruck  gesetzt  haben.  Dionys. 
Halic.  sagt  Antiqu.  Rom.  V,  TS  dafür  äoyo;  vgl.  Buttmann  Mytholog.  II, 
S.  2T5.  Der  Ausdruck  ßa3'.>.fj£;  Bsa^aZ-iTj?,  den  Herodot  VII,  T  von  den 
Aleuaden  gebraucht,  ist  auf  jeden  Fall  nicht  streng  wörtlich  zu  nehmen, 
wie  schon  der  Plural  zeigt. 

-  lason  war  bis  an  seinen  Tod  Tagos ,  ebenso  die  Brüder  Polydoros 
und  Polyphron ,  die  allerdings  nur  ganz  kurz  regierten ,  und  Alexandros 
verlor  seine  Herrschaft  über  ganz  Thessalien  nur  durch  die  AVafFen  der 
Thebaner.  Xenoph.  Hellen.  VI,  1,  9,  12,  IS,  19.  4,  2T  ff.  33.  36.  Plu- 
tarch  Pelop.  35.  Von  den  früheren  Könige  genannten  Heerfürsten  ist  die 
Lebenslänglichkeit  auch  kaum  zu  bezweifeln.  Von  der  Thargelia,  welche 
dem  Könige  aller  Thessaler  Antiochos  vermählt  war,  sagt  Suidas ,  freilich 
etwas  auffallend,  sie  sei  30  Jahre  lang  Königin  von  Thessalien  gewesen. 
Philostr.  epist.  T3,  II,  pg.  25T  ed.  Kayser.  Lips.  ISTl.  Suidas  s.  v.  9apYY)/aa. 
^^'oher  Kortüm  zur  Gesch.  Hellen.  Staatsverf.  S.  83  die  Nachricht  hat, 
dass  die  Gewalt  des  Tagos  mit  dem  Kriege  aufgehört  habe ,  ist  mir  unbe- 
kannt. Am  ehesten  Hesse  sich  Dionys.  Halic.  a.  a.  O.  dafür  citiren,  da 
er  den  äpyo;  der  Thessaler  mit  dem  römischen  Dictator  vergleicht.  Da 
aber  die  10 jährige  Aisymnetie  des  Pittakos  und  die  Harmosten  der  Lake- 
daimonier  zugleich  angeführt  werden,  so  lässt  sich  nichts  bestimmtes  fol- 
gern. Mag  auch  einmal  die  Tageia  nur  auf  die  Zeit  eines  Krieges  be- 
schränkt gewesen  sein,  so  ist  uns  doch  keiner  bekannt,  der  wieder  wie  ein 
römischer  Dictator  in  den  Privatstand  zurückgetreten  wäre. 


Ueber  die  Bildung  vüx  Staaten  und  Bünden.       339 

Plierai .  wurden  imgewöhnlicher  Weise  zwei  Tagoi  eingesetzt^) . 
Immer  Avird  das  Heerfürstenthum  Männern  übertragen.  Avelche 
ohnedies  an  Macht  und  Ansehen  hervorragten .  den  Dynasten 
und  Tyrannen  der  grösseren  Städte.  In  der  älteren  Zeit  sind 
daher  die  Tagoi  gewöhnhch  aus  dem  adelichen  Geschlechte  der 
Aleiiaden  in  Larissa  und  Pharsalos^],  oder  der  Skopaden  in 
Krannon.  in  der  späteren  Zeit  wissen  die  Tyrannen  von  Pherai, 
lason  und  seine  ^  erwandten  sich  dazu  erwählen  zu  lassen. 
Die  Macht  des  Tagos  beschränkte  sich  aber  nicht  bloss  auf  die 
Ileerführung,  sondern  erstreckte  sich  auch  auf  die  inneren  Ver- 
hältnisse. So  hatte  Aleuas  der  Rothkopf  Avahrschcinlich  nicht 
lange  vor  den  Perserkriegen  das  ganze  Land  in  Bezirke  gethoilt 
und  die  Contingente  an  Fussvolk  und  Reiterei  bestimmt,  die 
jeder  zu  stellen  hatte  3'.  so  Skopas  vielleicht  nicht  viel  später 
die    Tribute    der   Unterthanen   geordnet  ^  ,    Einrichtungen ,    die 


1)  Xenoph.  Hell.  VI,  4,  33. 

-)  Schneider  zu  Aristot.  Polit.  p.  490  squ.  Buttmann  Mytholog.  II, 
S.  246  ff.  Abhandlungen  d.  Berlin.  Akademie  1S23.  Böckh  zu  Pindar 
Pyth.  X,   1. 

3]  Aristot.  bei  Harpocration  g.  v.  TcTpao/ta.     Schob  in  Rhesum  v.  311 

I,  S.  2S.  Dind.  Schneidewin  zu  Heraclid.  Pont.  p.  VIII,  LXIX.  Preller  im 
Philül.  III,  S.  13S  ff.  Mit  Boeckh  a.  a.  0.  und  Schoemann  antiqu.  p.  401. 
Aleuas  den  Rothkopf  (6  rruppö;)  in  die  Zeit  vor  den  Perserkriegen  zu  setzen 
und  nicht  mit  Buttmann  in  fast  mythische  Zeiten,  bewegt  mich  die  ihm 
von  Aristoteles  zugeschriebene  Kriegsorganisation  und  besonders  die  Er- 
wähnung der  tAktt^.  Niebuhr  Vorlesungen  über  alte  Gesch.  II,  S.  333 
nennt  ihn  Sohn  des  Pyrrhos,  Enkel  des  Achilles.  Er  führt  noch  an  Schob 
z.  Apollon.  Rhod.  III,  1090.  Grote  II,  S.  60  sieht  in  ihm:  the  ancestor 
[real  or  imjthical]  of  the  jjowerful  Aleiiachie.  Für  die  Eintheilung  Thessaliens 
in  die  vier  Landschaften  Pelasgiotis ,  Phthiotis ,  Thessaliotis ,  Hestiaiotis 
und  deren  Beamte  aTpa-YjYOi  /je  einer  und  -oXsaap/oi  {je  vier  oder  fünf?) 
vgl.  ein  athenisches  Psephismafragment ,  im  Hermes  V,  S.  8.  9.  von 
U.  Koehler  besprochen.  Es  enthielt  einen  Vertrag  zwischen  den  Thessalern 
als  Gesamnitheit  und  Athen.  Von  Seite  der  Thessaler  beschworen  ihn 
Strategen  ?  und  Polemarchen  der  vier  Völkerschaften.  —  Ein  Stratege  der 
Pelasgioten  wird  auch  erwähnt   in   der  Inschrift  bei  Ahrens  d.  gr.  1.  dial. 

II,  p.  529  und  Keil:  Inscr.  Thessal.  tres.   p.  6  ff.j 

*)  Xenoph.  Hellen.  VI,  1,  19:  -posirs  oe  -a^i  toI;  Trepioty.oi;  -äzi  tov 
'.iopov,  üzT.so  i-i  Sxörra  -erafixi^oi  r,v  cpipsw.  Buttmann  meint  dieser  Skopas 
sei  der  gleiche  den  Aelian  v.  h.  XII,  J,  24  als  Zeitgenossen  des  Jüngern 
Kyros  nennt.  Da  aber  bereits  Ol.  94,  1  v.  Chr.  404  der  Pheraier  Lyko- 
phron,  der  nach  der  Herrschaft  über  ganz  Thessalien  trachtete,  seine  Gegner 

22* 


340      Uebp:r  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

noch  lange  nachher  fortbestanden.  Welche  Kräfte  Thessalien 
nnter  einem  tüchtigen  Tagos  entwickeln  konnte,  das  hat  lason 
von  Pherai  gezeigt,  der  vielleicht  die  Kolle  Philipps  von  Ma- 
kedonien schon  vor  diesem  übernommen  hätte,  wenn  er  nicht 
mitten  in  seinen  kühnen  Entwürfen,  OhTnp.  102,  3.  vor  Chr. 
370  ermordet  Avorden  wäre:  da  aber  die  Tageia  mir  etwas 
Ausserordentliches  war  und  der  Bund  (t6  xolvov)  in  gewöhn- 
lichen Zeiten  nur  sehr  lose  zusammenhing,  und  Parteiungen 
die  Einzelstaaten  zerrissen,  hat  Thessalien  nie  auf  längere  Zeit 
die  Stellung  in  dem  griechischen  Staatensystem  eingenommen, 
die  es  vermöge  seiner  Grösse  und  Bevölkerung  hätte  einnehmen 
können.  Bei  der  mannichfachen  politischen  Abstufinig  der 
Landesbevölkerung  hätte  es  dazu  einer  consequenten .  festen 
Regierung  bedurft,  wie  sie  in  Sparta  durch  Lykurg  war  ge- 
gründet Avorden.  Die  fehlte.  Die  Tageia  selbst  Avurde  nicht 
viel  anders  als  die  gesetzliche  Form ') ,  in  der  ehrgeizige  und 
thatkräftisre  Dvnasten  eine  tyrannenähnliche  Macht  über  das 
ganze  Land  ausdehnten. 

Hatte  in  Thessalien  eine  gleichrechtliche  Bundesverfassung 
sich  nicht  entAAickeln  können,  so  AAar  doch  die  CentralgeAAalt 
nicht  an  eine  bestimmte  Stadt  gebunden,  ^'on  einem  vor- 
örtlichen Systeme,  von  einer  bcA'orzugten  Hauptstadt  ist  nichts 
zu  finden.  Denn  AA-enn  auch  Larissa^)  oft  besonders  hervor- 
ragt,  so  ist  das  doch  nur  faktisch  als  mächtigster  Staat  und  Sitz 


schlug,  so  ist  mir  nicht  wahrscheinlich,  dass  um  dieselbe  Zeit  Skopai? 
Tagos  gewesen  sei,  und  eine  so  allgemeine  Anordnung  getroffen  habe. 
Auch  nennt  kein  Schriftsteller  ihn  als  Tagos,  ein  Stillschweigen,  das  in 
dieser  Zeit  viel  auffallender  wäre  als  in  einer  früheren.  In  Xenophons 
"Worten  kann  ich  kein  Hinderniss  finden,  es  auf  jene  frühere  Zeit  zu  be- 
ziehen und  es  Aväre  ganz  angemessen,  Avenn  die  kriegerische  Organisation 
und  die  Festsetzung  der  Tribute  ungefähr  in  dieselbe  Zeit  gefallen  wären. 
Ob  nun  an  Skopas  I  oder  II  zu  denken,  das  lasse  ich  dahingestellt. 

1)  Xenoph.  Hellen.  VI,  4,  28:  ^'laaoiv)  [Asya;  [asv  r^v  v.otl  oid  -6  Tt{)vo[x(j> 
SerraXöJv  taYo;  •/a&£3Tdv'xi,  -a..  t.  X.  34:  6  o'ct'j  lIoX'jcpocov  fjOcs  |i.£v  cv'.ocjtöv 
•^axea/e'ja^aTo  os  tt,v  z'xfdi'^  -upawiot  6fJioiav  und  A'on  Alexandros  §.  35:  intl 
o'aÜTÖi;  Tcap^Xotße  tTjV  äpyr,-;  yaÄ£-6;  |i.£v  0iTTa).oT;  ra-fo;  £y£v£to. 

'-)  Dass  Poppo  prolegg.  zu  Thucyd.  1  ,  2  p.  307  mit  Unrecht  aus 
ThucA'd.  II,  22  den  Schluss  zieht:  Pharsaliis  et  Larissaeis  summum  imperium 
f lasse,  hat  schon  K.  F.  Hermann  Lehrb.  der  Staatsalterth.  §.  178,  .S 
bemerkt. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       341 

des  Aleuadengeschlechtes,  zu  anderen  Zeiten  Avar  es  Pharsalos, 
Krannon  nnd  namentlich  ]-*lierai.  Daofegen  finden  wir  das  vor- 
örtliche System  ausgebildet,  wenn  anch  vielfach  bestritten  in 
Boiotien.i)  Hatte  anch  die  boiotische  Völkerschaft  in  ähn- 
licher Art  Avie  die  thessalische  durch  Eroberung  das  Land  in 
Besitz  genommen,  so  waren  doch  Unterthanen-  und  Leibeigen- 
schaftsverhältnisse wie  in  Thessalien  nicht  entstanden ,  indem 
keine  verschiedenen  "N'ölkerschaften  nebeneinander  fortexistirten, 
sondern  die  sämintlichen  BcAvohner  des  I^andes  (viele  der  alten 
waren  ausgewandert)  zu  dem  einen  A  olke  der  Boiotier  ver- 
schmolzen. Theben,  mit  der  alten  Burg,  der  Kadmeia,  wurde 
der  Mittelpunkt-^;  .  in  dem  sich  die  Macht  der  EinAvanderer 
concentrirte  und  von  avo  aus  das  Land  allmählich  besetzt  und 
neu  bevölkert  AAurde.  aber  nicht  zu  einem  Einheitsstaate,  son- 
dern zu  einem  Bundesstaate  sich  gestaltete,  in  dem  unabhängige 
Städte  neben  einander  traten.  Wahrscheinlich  vierzehn  ^  solche 
theilten  ursprünglich  das  Gebiet  des  ganzen  Landes  unter  sich 
und  zAvar  so.  dass  Avenigstens  zu  den  bedeutenderen  Aon  ihnen 
je  eine  Anzahl   kleinerer  Städte   und    Orte    gehörten.  *]     Diese 


')  G.  A.  Klütz  de  fcedere  Boeotico  Berl.  1821.  Kortüm  zur  Gesch. 
Hell.  Staatsv.  S.  83  ff.  K.  O.  Müller  Orchomeuos  S.  402  ff.  und  in  der 
Hallischen  Encyclop.  XI,  S.  271.  Böckh  im  Corpus  Inscr.  I  p.  726.  Die 
Schrift  von  H.  Francke  der  böotische  Bund.  "Wismar  1843  kenne  ich 
nur  aus  Anzeigen.  Auch  Raoul  Rochette's  Abhandlung  sur  la  forme  et 
Tadministration  de  l'etat  federatif  des  Beotiens  ist  mir  nicht  zur  Hand. 

2]  Thucyd.  Hl,  Ü!. 

3)  Hermann  Lehrb.  d.  Staatsalt.  §.  179.  [Vgl.  Grote  history  of  Greece 
II.  S.  73,  der  zehn  Städte  annimmt.] 

*]  Ich  sage  absichtlich  nur  dass  kleinere  Städte  zu  den  Bundesstaaten 
gehörten,  ohne  zu  entscheiden  in  Avelcher  "Weise  Man  nimmt  jetzt  ge- 
A\-öhnlich  an ,  es  seien  den  Bundesstädten  die  kleinern  unterthänig  ge- 
we-fen.  Namentlich  hat  das  Müller  Orchomenos  S.  403  und  Böckh  zu 
C.  I.  p.  728  aufgestellt,  und  letzterer  unterscheidet  ein  dreifaches  Verhält- 
niss,  indem  er  sagt :  Ccterum  quae  oppida  et  vici  Boeotiae  foederi  non  erant 
adscri^iti  (tut  in  TtoufjiöJv  qui  Atheniensibus  ofj[jioi  numet'o  censentur  ac  partem 
civitatis  constiiuunt,  ad  quam  pertinent ,  ut  Cynoscephalae  Thehaimm ,  aut 
cleruchis  ohtinentur  qnod  de  Orchomeno  a  Thebanis  aliquod  per  temjnis 
possessa  dicendum,  aut  stmt  subditi  et  vecti(/ales ,  de  quibus  vide  7ws  Oecon. 
civ.  Ath.  II,  p.  370  et  maxime  Müller  Orchom.  p.  403.  Wiewohl  ich  nun 
nicht  in  Abrede  stellen  will ,  dass  einzelne  Orte  unterworfen  worden  sein 
mögen,  so  kann  ich  doch  den  dafür  angeführten  Stellen  keine  Beweiskraft 


342      Ueber  die  Kilduxg  von  Staaten  und  Bünden. 

Städte  Avaren  mit  einander  vereinigt  nicht  nur  durch  den  aus 
den  früheren  Wohnsitzen  mitgebrachten  Cuhus  der  itonischen 
Athene,  zu  dem  sie  sich  an  den  Pamboiotien  zwischen  Koro- 
neia  und  Alalkomenai  versammelten,  sondern  durch  eine  ur- 
alte Bundesverfassung.  Die  gemeinsamen  Verhältnisse  wurden 
herathen  durch  die  vier  Räthe  der  r>oiotier.  ^)  über  deren  Zu- 
sammensetzung und  den  Grund  der  Benennung  Avir  aber  nichts 
als  Vermuthungen  haben.  Sie  hatten  namentlich  über  Krieg, 
Frieden,  Bündnisse  und  dergl.  die  höchste  Entscheidung. 
Als  vollziehende  Beamte  und  Bundesfeldherrn  stehen  an  der 
Spitze  des  Bundes  die  Boiotarchen.  Zur  Zeit  des  peloponne 
sischen  Krieges,  wo  die  Zahl  der  Bundesstaaten  sich  schon 
vermindert  hatte,  waren  es  elf,  zwei  aus  Theben,  aus  jeder 
der  anderen  einer.  -  Die  Bevorzugung  Thebens  hat  man  da- 
durch erklären  wollen,  dass  es  einen  der  früher  selbständigen 
Staaten  sich  incorporirt  xuuX  damit  eine  Stimme  übernommen 
habe.     Dann  fällt  aber  auf,    dass   es  nur   elf  Boiotarchen    gab 


zugestehen,  namentlich  mich  nicht  üherzeugen,  dass  die  Ausdrücke  a'jvTe/.siv, 
ajvTJ/.sT;  und  cjij.u.ooot  Thucyd.  IV,  7ö.  93  ein  Unterthänigkeitsverhältniss 
bezeichnen  sollen.  In  diesen  Ausdrücken  liegt  dui-chaus  nur  der  Begriff' 
der  Zusammengehörigkeit  zum  Tragen  gewisser  bürgerlicher  Pflichten,  nicht 
der  der  Unterthänigkeit ,  daher  die  bekannte  Anwendung  in  den  spätem 
athenischen  Steuerklassen,  daher  Sjoitelien  im  achaiischen  Bunde,  Agl. 
Philolog.  II,  p.  469  und  sonst  oft;,  der  keine  Unterthanen  kannte.  Hätte 
nicht  auch  Thukydides,  wenn  er  Chaironeia  als  Unterthanenstadt  von  Orcho- 
menos  bezeichnen  wollte,  sich  des  ihm  sehr  geläufigen  und  bestimmten 
'j-rjTtK-'ffi  oder  'j-fiZoo;  bedient,  wie  er  II,  2'.i  die  Oropier  'j-r.r-/.'j'ji  der  Athener 
nennt,  oder  V,  33  die  Parrhasier  üttTj-z-ooi  der  Mantineer?  Ich  glaube  daher 
eher,  dass  die  a-j^-z'/.zlz  genannten  Orte  zu  den  Bundesstaaten  im  Verhält- 
niss  von  freien  Komen  oder  Demen  standen.  [Strabo  VIII,  pg.  365  C. 
freilich  gebraucht  G-jv-reÄEiv  deutlich  im  Sinne  von  Unterthänigkeit.] 

1  Thucyd.  V,  38 :  Ttoiv  oe  to'j;  opvto'j;  •(e^d'j^'xi,  oi  ßoiojTaoyai  d-^coivcusav 
Tal:  TiScapst  ßooXat?  -öJv  Bo'.wtöjv  zi'jza,  a'i-Ep  arav  t6  v.öpo;  lyo'jsi.  [M. 
H.  E.  Meier:  Die  Privatschiedsrichter  und  die  öffentl.  Diaeteten  Athens 
S.  39  hält  es  für  möglich,  dass  die  vier  Räthe  die  Streitigkeiten  der  Bun- 
desstädte unter  einander  geschlichtet  haben.  Unterscheidet  er  aber  mit 
Eecht  davon  xö  -/.oivov  nau.,io[cuTä)v  auvsoptov?  Es  ist  genannt  in  der  Inschrift 
von  Akraiphia  C  I.  G.  1625,  30  aus  der  Zeit  nach  Hadrian  nach  Boeckh 
oder  richtiger  aus  der  Mitte  des  ersten  Jahrhunderts  p.  Chr.  nach  Ulrichs 
Pveisen  S.  249.     Keil  Inscr.  Boeot.  S.  120.] 

2;  Thucyd.  IV,  91.  Boeckh  a.  a.  O.  S.  729.  Boiotarchen  ohne  An- 
gabe der  Zahl.     Herod.  IX,  15. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      343 

\uu\  dass  nicht  auch  die  der  anderen  aus  der  Reihe  der  selb- 
ständigen BundesgUeder  verschwundenen  Städte  in  ähnlicher 
Art  an  andere  übergegangen  sind.  ']  Jedenfalls  kann  ich  The- 
bens Anspruch  auf  hegeraonische  Vorzüge  nicht  als  blosse  An- 
massung  ansehen.  Nur  beruhte  sie  Avohl.  Avie  das  bei  Mutter- 
städten gegenüber  Pflanzstädten  in  Griechenland  überhaupt  der 
Fall  war,  mehr  auf  Herkommen  als  positiven  Bestimmungen.  2) 
Dass  die  vier  Käthe  sich  in  Theben  versammelten  oder  die 
Boiotarchen  hier  ihren  Sitz  hatten,  wird  zwar  nicht  ausdrück- 
lich berichtet,  ist  aber  wohl  mit  Sicherheit  anzunehmen.  So 
viel  ist  gewiss,  dass  Thebens  Bestreben  ganz  Boiotien  zu  leiten 
\uu\  das  Widerstreben  einzelner  anderer  Staaten  fortwährenden 
Hader  und  Bürgerkrieg  herbeiführten  \nid  die  Veranlassung 
zum  Abfalle  mehrerer  Orte  Avurden.  Trotz  Avechselnden  Schick- 
salen und  vorübergehender  A^iflösung^  ,  Avusste  aber  Theben 
den  Bund  immer  Avieder  herzustellen  und  besonders  nach  dem 
peloponnesischen  Kriege  straffer  zu   ziehen,    bis    er  durch  den 


1;  Es  lässt  sich  freilich  einwenden,  Plataiai,  Oropos  und  Eleutherai, 
die  vielleicht  zu  den  14  Staaten  gehöi-ten ,  seien  zur  Zeit,  da  es  11  Boio- 
tarchen gegeben ,  nicht  boiotisch  gewesen ,  ihre  drei  Boiotarchen  müssten 
daher  wegfallen,  und  so  hätten  wir  die  11  erwähnten.  Wenn  man  hin- 
gegen, wie  Boeckh,  annimmt,  Chaironeia  sei  eine  der  14  ursprünglichen 
Städte  gewesen,  so  entsteht  die  Frage,  warum  denn  Orchomenos  nicht  zwei 
Boiotarchen  gegeben  habe. 

-  [In  der  allerdings  sehr  advokatisch  und  sophistisch  gehaltenen  Rede 
der  Thebaner  bei  Thuc.  III,  61  heisst  es  doch  wohl  nicht  ganz  ohne  Grund : 
-^jjjieTc  0£  aÜToT;  Stacpopot  i^(v^6l^.z\^'■^  -pöü-ov,  oti  Yjtxcüv  xitcaviouv  n^dratav 
'j'jTt&ov  rfj5  aXÄTj;  BoKotta;  v.a\  ä'/.Xa  /wpia  {xet  aj-r^i,  a  ^'jp.[xiXTO'JC  ävöpcuro'j; 
ezeXäsavTs;  ssyofjisv,  o'jx  T,;tO'Jv  o'jtoi,  (tiarzto  izd/  %r^  to  zpiöTOv,  ■tl^[Sli.rr^i•JZ':\)rxl 
ütf'  TjjJLwv,  l?(o  Se  Ttt)v  ä'X/v(uv  BotwTwv  rotpaßaivovTE;  td  -drpta ,  i-tio-ri  r:po3- 
r,-/aYV.ot^'jvTO,   rpoasyiuprjaav  -pör    AitT|Va''o'j:.j 

^  Besonders  merkAvürdig  ist  die  Stelle  Herod.  VI,  lOS.  Nachdem  Pla- 
taiai A-on  Boiotien  abgefallen  war  und  sich  mit  Athen  verbündet  hatte, 
stand  bei  Plataiai  eine  Schlacht  bcA'or.  Da  vermitteln  die  Korinther  und 
sprechen  als  Schiedsrichter  £:riTp£<}idvTO)v  «[x'^OTSptov  o'jpiaav  -z-i]-/  ytuprjv  ^ttI 
ToTaoc,  iäv  Orjßaio'jj  Bohotöjv  toj;  [xt;  ßo'jXojjievo'JC  ic.  Boicoto'j;  teXscIv.  Da- 
mit Avar  dem  Grundsatz  nach  ein  Bundesstaat  aufgehoben,  da  jeder  austreten 
konnte,  Avenn  er  Avollte.  Da  aber  in  Folge  des  verrätherischen  Angriffs  der 
Thebaner  die  Athener  sie  schlugen  und  die  Gränzen  Aveiter  ausdehnten, 
mochte  später  überhaupt  diese  Bestimmung  als  nicht  mehr  geltend  betrach- 
tet werden.  Der  nach  den  Perserkriegen  aufgelöste  Bund  wurde  durch 
Sparta  wieder  hergestellt.  Diod.  XI,  81,  3.  Justin.  III,  0,   10.] 


344      Uebek  die  Bildung  von  .Staaten  und  Bünden. 

Frieden  des  Antalkidas  Ol.  98.  2.  v.  Chr.  387  aufgelöst  wurde ^j , 
Nach  diesem  schmählichen  Frieden,  in  dem  allen  boiotischen 
Städten  Autonomie  oder  volle  Souveränetät  gegeben  Avurde, 
gab  es  in  Theben  als  höchste  Beamte  nur  noch  Polemarchen  2] , 
kerne  Boiotarchen  mehr.  Avas  deutlich  spricht.  Als  aber  we- 
nige Jahre  darauf  Spartas  Joch  gebrochen ,  und  an  die  Stelle 
der  von  ihm  geschützten  Oligarchie  Demokratie  gesetzt  "«Tirde, 
da  Avurde  nicht  die  alte  J^undesverfassung  hergestellt,  sondern 
das  Bedürfniss  grösserer  Kraftentwicklung  und  der  Einflviss  der 
Zeit  machten  sich  geltend  und  drängten  zu  einer  neuen  Ge- 
staltung-^ .  Theben  sucht  jetzt  das  ganze  Boiotien  in  der 
Weise  zu  einigen,  dass  es  nicht  mehr  einen  Bund,  sondern 
einen  einzigen  Staat  bilden  soll,   der  in  Theben  seine  Haupt- 


1;  Xenoph.  Hell.  V,  1,  32.  Theben  musste,  indem  es  die  boiotische 
Bundesverfassung  auflöste,  auf  die  Hegemonie  verzichten.  Vgl.  Xenoph.  VI, 
3,  9.  Andoc.  über  den  Frieden  §.  20.]  Fast  könnte  man  aus  Xenophons 
Erzählung  schliessen,  es  habe  schon  vor  dem  antalkidischen  Frieden  Theben 
die  boiotische  Bundesverfassung  geändert,  vielleicht  während  des  korinthi- 
schen Krieges.  Tür  eine  dergestalt  gewonnene  Einheit  spricht  auch  Xen. 
V,  2,  16.  -öj;  E17.Ö;  'jaä;  rr,;  ;j.£v  BoitHTia;  lT:'.iXi'/,7;&f,^at  oroj;  ij.r,  -/.ai}' 
S^  eiYj.] 

2)  Xenoph.  Hellen.  V,   2,  2-5.  4,   2  ff . 

3)  [Während  Thukydides,  wo  vom  Gesammtbunde  die  Rede  ist ,  immer 
BoiiuTof  sagt,  wechselt  bei  Xenophon  ßoiojToi  und  9T||37iot  bis  zum  Frieden 
des  Antalkidas ;  nachher,  wo  vom  Staate  die  Rede  ist,  gebraucht  er  immer 
örißctio'..  Bei  den  Rednern  heisst  es  immer  örißctToi  ausser  der  einzigen 
Stelle  bei  Aesch.  c.  Ctesiph.  142  Boitutol  *v  0T,ijat;,  was  Aeschines  als  einen 
"Worttrug  darstellt.  Die  obersten  Beamten  heissen  aber  bis  zuletzt  Boitu- 
■zärjfo.'.  ibid.  §.  14-5,  was  deutlich  beweist,  dass  alle  Boiotier  Thebaner  ge- 
worden waren,  soweit  sie  nicht  abgefallen  waren.  §.  149.  151.  Ein  Bruch- 
stück des  Bundesvertrags  zwischen  Athen  und  den  «Boiotiern«  aus  Olvmp. 
96,  2  vor  der  Schlacht  bei  Haliartos  wird  behandelt  von  U.  Köhler  Hermes 
V  S.  1.  (Ephim.  Archaeol.  1072.  Rhang.  623  und  2331.;  In  dem  Ver- 
zeichnisse der  dem  unter  Nausinikos  abgeschlossenen  Bunde  ;Rhangab.  äSl; 
beigetretenen  Bundesgenossen  stehen  0T,ßoLto'.  nicht  BoituTot,  auch  ein  deut- 
licher Beweis ,  dass  nicht  ein  Bundesstaat  hergestellt  war ;  die  Benennung 
ist  bemerkenswerth  wegen  des  Streites  über  0r,ßatoi  oder  Boituto*  beim 
Congress  in  Sparta.  Vielleicht  gehört  hieher  auch  Rhang.  3S0 ;  doch  ist 
nicht  deutlich,  ob  hier  schon  STj^aloi  im  weitern  Sinne  gemeint  sei.  ^U. 
Köhler  dagegen  nimmt  an,  im  Vertrage  unter  Xausinikos  seien  9-f,,3aTo'.  ge- 
nannt, weil  noch  die  Bestimmungen  des  Antalkidasfriedens  gegolten  hätten. 
Hermes  V,   l.i] 


Ueber  die  -Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       345 

Stadt  hat^).  es  sollte  also  ein  ähnlicher  Zustand  herbeigeführt 
■werden,  wie  er  in  Attika  war.  Insofern  sind  die  wiederher- 
gestellten Boiotarchen ,  deren  es  jetzt  sieben  giebt .  zugleich 
thebanische  Behörde ,  darum  treten  jetzt  die  Thebaner  überall 
als  Boiotier  auf  und  finden  wir  selbst  in  athenischen  Volks- 
beschlüssen   den  Ausdruck   «die    Boiotier   in   Theben«."^      Der 


')  So  allein  kann  ich  mit  K.  F.  Hermann  I.ehrb.  d.  Staatsalterth.  §. 
ISl,  3  die  Nachrichten  bei  Xenophon,  Diodor,  den  Rednern  über  Thebens 
damalige  Stellung  fassen,  namentlich  Diodor  XV,  38,  3.  ÖTjßaiojv  .  .  .  tt;j 
BoituTiav  är.nzoM  Orrö  tt^v  töjv  6r,,3aia)v  j'jvTS/.iiav  -axTovTojv.  3S,  4.  otOTtip  tt,v 
i%  Tpito'J  zpotJcuro'j  äva'^sr^ojjLiVT,-/  T(Y£[aovioiv  yotXsröj;  i'izijVi  y.al  tcx;  v.o.~7.  Bo'.oj- 
Tiav  ToÄei;  ärsartu^  ttj;  twv  Br^ßatouv  ojv-reXi^a;.  Aeschin.  adv.  Ctesiph.  §. 
142  -.r/jz^i  0£  -poXaßwv  iVooTOV  [X£v  TT,v  BoiojTiav  -äaav  £roir,3e  97;ßaioi;,  Yp^" 
'ioi;  dv  Toj  i|)rj'fia(j.aTi  iav  Tt;  ä^brr^T'jti  roXt;  äro  0T,ß';tiajv,  ßoTj&iiv  'Ai}r,v7.'.'j'j; 
BoituToii;  Toi;  dv  0T,^at;.  Am  schlagendsten  aber  spricht  Isocrat.  Plataic. 
§.  S.  lvtOT£  Y^P  iTTiyiipoöoi  Xs-fEw,  (o't  9r,^aioi;,  w;  otd  to^to  ~pö;  r;[j.ä;  o'jTtu 
rp&3T,Vi"/<)r|aav ,  ot».  au-ztiXeiv  a'jToT;  ojy.  T,öi).o[j.£v.  'j|X£t;  o  lvi)'j[j.irai}£  -pöjTov 
(ji£v,  el  oiv-aiöv  dsTiv  'j-£p  tTjAi-aoutojv  iY'*''''iF'-^~"'''  o'jtoo;  ävöp-O'j;  y.ai  Oitvd; 
ro'.ilo&ai  td;  Tt[i.a)pta;,  etteit'  ei  7rpoaT,-/£iv  Oaiv  w/.zl  [xf,  reiaöeisa"^  tTjV  !!).'/• 
Ta'.ituv  ro/.f/  dXXd  ß'.a3d£taav  STj^aicii;  Q'rnit.tvi.  iyä)  [i.£v  ydp  o'josvot;  ^yyjixi'. 
ToXijLTjpoTepo'j;  elvai  to'jtujv,  oiti^/e;  rd;  [aev  ioia;  rj[ji.üjv  IxdoTUJv  7:0). ei; 
äcfavtCo'JOt,  TTj?  oe  ocpetepoi;  aötcüv  ro). tTei'a;  o'ioev  oeoixsvo'j; 
%oivu)V£iv  dv/YV-d^o'j  3iv.  Vgl.  auch  Xenoph.  Hellen.  VI,  3,  10.  20. 
Sievers  Geschichte  Griechenlands  vom  Ende  des  peloponnesischen  Krieges 
bis  zur  Schlacht  bei  Mantineia  S.  212.  So  begreift  man,  wie  von  einem 
Unterwerfen  der  boiotischen  Städte  die  Rede  sein  kann  z.  B.  Xenophon 
Hellen.  VI,  1,  1.  ohne  dass  es  sich  um  Unterthänigkeit  handelte.  [Auch 
die  Antwort  des  Epameinondas  in  Sparta,  Theben  werde  die  boiotischen 
Städte  frei  geben,  wenn  Sparta  dasselbe  mit  den  Periöken  thue,  spricht  für 
diese  Auffassung  (s.  meine  Erklärung  des  Vorgangs  in  Sparta  Neues 
Schweiz.  Mus.  IV,  303.)  Scheinbar  widersprechen  Diodor  XV,  8ü  u.  XVI, 
85,  wo  -f\  y.oivT|  GJvooo;  töjv  Boicutojv  und  tö  y.oivov  tojv  Boiiotwv  erwähnt  sind. 
Allein  da  der  nämliche  Diodor  in  der  oben  angeführten  Stelle  sagt ,  dass 
die  Tkebaner  ganz  Boiotien  b-h  tt,v  twv  örj^aiojv  ouv-sÄetctv  gebracht  hätten, 
kann  er  unmöglich  an  eine  eigentliche  Versammlung  von  Bundesabgeord- 
neten denken ,  vielmehr  muss  die  auvooo;  eben  nur  die  aus  ganz  Boiotien 
zusammengetretene  Versammlung  des  Volkes  bezeichnen.  Bei  dem  ersten 
Anlass  XV,  SO,  sagt  übrigens  Plutarch.  Pelop.  31  ,  die  Thessaler  hätten 
nach  Theben  Gesandte  geschickt  und  'Vfjtttiaixivojv  -zwt  0r,,3atojv.  Die  zweite 
Stelle  ist  jedenfalls  nichts  werth,  da  Diodor  das  von  Demosthen.  XVIII, 
§.  136  erzählte  mit  .seiner  Gesandtschaft  nach  Theben  vor  der  Schlacht  bei 
Chaironeia  zusammenwirft.  Das  Richtige  hat  auch  A.  Schäfer:  Demosthe- 
nes  I  S.  62.! 

-)  [Vgl.  auch  die  Inschrift  C.  1.  G.  25.  Bo'.wtio;  d; 'Epyoa'evü)".  Kirch- 
hoff  z.  Gesch.  d.  griech.  Alph.  3.  Aufl.  S.  130  A.   11.] 


346      1-EBER  DIE  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

hartnäckige  Widerstand  einiger  boiotischer  Städte  nnd  das 
grausame  Verfahren  Thebens  gegen  sie.  namentlich  Orchome- 
nos.  Thespiai  nnd  Plataiai,  darf  uns  nicht  beirren  und  zu  der 
Meinung  verleiten,  als  ob  es  sich  um  ein  bleibendes  Unter- 
thanenverhältniss  gehandelt  hätte.  Aber  diese  Städte  -wollten 
nicht  zu  Demen  herabsinken,  sie  AA'ollten  ihre  Selbstherrlich- 
keit und  Souveränetät  behaupten  und  hatten  dazu  um  so  mehr 
Veranlassung,  als  wenigstens  Thespiai  und  Orchomenos  streng 
oligarchisch  waren  und  also  an  dem  Aufgehen  in  der  boiotisch- 
thebanischen  Demokratie,  die  überdies  durchweg  roh  imd  brutal 
auftrat,  wenig  Gefallen  haben  konnten.  So  lange  Theben 
unter  Epameinondas  Leitung  gross  dastand,  hielt  das  neue  Ver- 
hältniss ,  in  den  unmittelbar  darauf  folgenden  Zeiten  suchten 
die  Thebaner  es  zu  behaupten  unter  dem  heftigen  Widerstreben 
mehrerer  Städte .  die  an  Phokis  einen  Anhaltspunkt  fanden : 
daher  die  furchtbare  Erbitterung  zAA'ischen  Theben  und  Phokis 
im  heiligen  Kriege.  Die  Schlacht  bei  Chaironeia  und  vollends 
die  Zerstörung  von  Theben  durch  Alexandros  löste  den  Staat 
auf.  Der  später  hergestellte^  in  makedonischen  und  römischen 
Zeiten  fortexistirenden  Bund  hat  zu  wenig  Bedeutung,  um  uns 
hier  femer  zu  interessiren  ^j . 

In   Boiotien   haben   wir   also    einen   Bundesstaat,     wo   bei 
Bundesrath  und  obersten  Bundesbeamten,   die  von  sämmtlichen 


1)  [tö  -xo'.vÖv  Töjv  Bo'.ujTüiv  XL.  a.  erwäiint  bei  Rang.  450  unter  Archon 
0£fjc[/.o-/o:  etwa  269.  Ein  iy/ta'/  kommt  als  Bundesbeamter  neben  den 
Archonten  der  einzelnen  Städte  in  Inschriften  häufig  vor  cf.  Boeckh  C.  I. 
G.  I,  S.  729  der  aber  schon  die  Meinung  ausspricht,  er  sei  vielleicht  spätem 
Ursprungs,  während  Freeman  history  of  federal  government  S.  165  meint, 
er  stamme  aus  der  ältesten  Zeit.  Aber  seine  Gründe  passen  nur  für  den 
thebanischen  Archon,  nicht  für  den  boiotischen.  Vielleicht  stammt  er  erst 
aus  der  Zeit  der  "Wiederherstellung  des  Bundes  in  römischer  Zeit.  In  der 
makedonischen  Zeit  dehnte  sich  der  boiotische  Bund  eine  Zeitlang  über 
Megaris  aus.  Megara  trat  nach  Polyb.  XX.  6,  7  im  Jahr  22-3  aus  dem 
achaiischen  in  den  boiotischen  und  zwar  in  die  SjTitelie  von  Onchestos. 
(Le  Bas  voyage  exjDÜcat.  d.  inscr.  t.  II,  S.  19.  34  a  und  ebenso  Aigosthena 
{Le  Bas  a.  a.  O.  S.  3  fF.  3 — 11.  Beide  führen  neben  dem  eignen  Archon 
den  von  Onchestos  als  Eponymen  an.  An  die  Stelle  des  Basileus  tritt  ein 
Archon ,  an  die  der  5  Strategen  5  Polemarchen ,  wie  in  den  boiotischen 
Städten.  Mehreres  über  die  Verfassung  des  spätem  Boiotiens  Stark  bei 
Hermann  a.  a.  O.  6.   1S2.1 


Uebek  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       347 

Bundesstaaten  bestellt  Avnrden,  doch  faktisch  die  Centralgewalt 
in  den  Händen  eines  mächtigen  A'ororts  lag,  avo  aber  eben  ans 
dieser  Stellung  fortAvährende  Reibungen  und  Kämpfe  hervor- 
gingen, bis  der  Bundesstaat  zum  Einheitsstaat  umgeschmolzen 
oder  ihm  doch  sehr  angenähert  wurde.  Das  Gefühl  der  Selb- 
ständigkeit Avar  aber  noch  zu  lebendig  in  vielen  Einzelstädten, 
ihr  WiderAville  gegen  Theben  zu  tief  gcAvurzelt,  als  dass  sie 
sich  Avillig  dieser  neuen  Stellung  gefügt  hätten.  Sie  fanden 
für  den  Verlust  ihrer  städtischen  Selbständigkeit  keine  Ent- 
schädigung in  dem  allgemeinen  boiotischcn  Bürgerrechte,  und 
das  faktische  UebergCAvicht  der  Hauptstadt,  AA^enn  sie  auch 
rechtlich  nur  gleichgestellt  Avar.  machte  sich  um  so  drückender 
fühlbar,  als  das  \'olk  roh  und  zu  GeA\altthätigkeiten  stets  ge- 
neigt Avar.  Man  trug  das  Verhältniss  als  ein  schAveres  Joch, 
so  lange  man  musste.  und  entledigte  sich  desselben  bei  der 
ersten  Gelegenheit. 

Wie  Avir  nun  gesehen  haben,  dass  in  Thessalien  nach  dem 
peloponnesischen  Kriege  die  Tageia  fast  z\ir  erblichen  Gesammt- 
monarchie  A\urde.  und  dass  Boiotien  sich  zum  demokratischen 
Einheitsstaate  umgestaltete,  so  traten  in  der  gleichen  Zeit  auch 
an  sehr  verschiedenen  anderen  Orten  ähnliche  Einigungsver- 
siiche  meist  in  l^jegleit  demokratischer  Verfassungen  auf,  und 
überschritten  selbst  die  Gränzen  der  einzelnen  ^'ölkerschaft. 

Das  erste  Beispiel  ist  die  Vereinigung  von  Argos  und 
Korinth  Avährend  des  korinthischen  Krieges.  Man  begnügte 
sich  nicht  ein  enges  Bündniss  zu  schliessen,  sondern  im  Jahre 
392,  Ol.  96,  4  trat  Korinth  auf  Betrieb  der  demokratischen 
Partei  als  ein  integrirender  Theil  in  den  argeiischen  Staat  ein  i) . 
Die  Gränzsteine  Avurden  entfernt,  die  Korinther  argeiische 
Staatsbürger,  der  Gesammtname  des  Staates  Argos.  Dieser 
Zustand,  gegen  den  die  Oligarchen  von  Korinth  x\lles  aufboten, 
nahm  sein  Ende  mit  dem  antalkidischen  Frieden  3S7  2). 


ij  [vgl.  Niebuhr  Yorles.  über  alte  Gesch.  II,  S.  250  und  bes.  251. 
Grote  VI,  S.  4S2  bezweifelt  ohne  allen  Grund  die  Einverleibung  Korinths 
in  Argos.  Er  versteht  offenbar  den  Sinn  der  "Worte:  'Ap-fo;  «vtI  Koptvi^ou 
TT,v  -o-rAln  a'jzün  övofxä^E-iJai  nicht  recht.  —  Diess  war  nicht  so,  dass  die 
Stadt  Korinth  Argos  genannt  wurde,  sondern  der  Staat,  zu  dem  Argos 
und  Korinth  jetzt  gehörten,  hiess  Argos.] 

2)  Xenoph.  Hellen.  IV,  4,  6:    öpöjvTs?     die  Aristokraten   von  Korinth) 


348      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Aehnliches  -svar  in  demselben  Kriege  zwischen  der  ursprüng- 
lich aitolischen  Stadt  Kai  yd  on  und  Achaia  geschehen  i). 
Die  Kalvdonier  Avaren  zn  achaiischen  Bürgern  gemacht  -worden. 
Avas  uns,  wenn  Xenophon  genau  ist.  zugleich  zeigt,  dass  die 
Achaier  selbst  bereits  damals  in  ein  Yerhältniss  von  Sympolitie 
getreten  waren,  von  dem  uns  sonst  nichts  berichtet  wird,  und 
das  ohne  Zweifel  auch  mit  dem  antalkidischen  Frieden  auf- 
hörte. 

Weit  erfolgreicher  aber  wurde  die  gleiche  Centralisations- 
poHtik  an  der  Gränze  Thrakiens  von  Olynthos  durchgefülm . 
Diese  auf  der  chalkidischen  Halbinsel  gelegene  Stadt  war  beim 
zweiten  Perserkriege  nach  Vernichtung  der  früheren  Bewohner 
den  Chalkidiern  eingeräumt  Morden 2  ,  die  seit  alter  Zeit  in 
jenen  Gegenden  zahheiche  Niederlassungen  hatten.  Beim  Be- 
gmn  des  peloponnesischen  Krieges  war  sie  dadurch  stark  ge- 
worden, dass  die  liewohner  einer  Anzahl  kleinerer  chalkidischer 
Städte  an  der  Küste  nach  derselben  übersiedelten  um  den 
Athenern,  von  denen  sie  abgefallen  waren,  wirksameren  Wider- 
stand zu  leisten  ^'j .  Der  König  Perdikkas  von  Makedonien,  der 
sie  dazu  veranlasste,  hatte  nicht  gedacht,  dass  er  damit  seinem 
Reiche  eine  gefährliche  Nebenbuhlerschaft  begründe.  Seine 
Nachfolger    sollten   das    aber    bald    erfahren.      Als    die    Macht 


OGO'j;  äva3-äai)ai  7,at  "Ao^o;  d-tzi  KoptvOo'j  Tr;v  rarpioa  aÖToI;  övofJ.cx^£a&ai  xal 
ToXtxeiac  [J.£v  ävaY"/.a^6ijL£vo  t  tf, ;  £v  "Ap-fst  ij.£te-/£Iv  r^i  oöosv 
£0£OVTO,  h  rik  tt,  t.ö'/.zi.  [i.£-:oi.-/.ojv  T/.aTTOv  O'jvdfjisvo'.  £Y£vovt6  tive;  aÖTöJv  o't 
£-;oataav  oOttu  [xiv  d|j'.ajTOv  eh'xi,  T:£tpoja£>>o'j;  os  tt,v  raTpioa,  Sjz-to  f,-/  -/.rn  d; 
doyf,;  K6pW)}ov  -otf,aai  •a'jX  £>.£'Ji}£pav  ä-oo£T;ai  ■/..  t.  /..  vgl.  V,  I,  34.  Man 
beachte  die  Aehnlichkeit  mehrerer  Ausdrücke  mit  der  obigen  Stelle  des 
Isokrates.     Es  waren  das  offenbar  damals  übliche  politische  Parteiiihrasen. 

1,  Xenoph.  Hellen.  IV,  6,  1 :  |i.£Td  0£  toüto  o't  'Ayaiol  I/ovte;  Ka'/.'joüiva 
T  TÖ  T.rAawi  AiTOJ/.ta  T,v  y.al  tto/.it'z;  r:£r:otr,ij.£vot  toj;  K'//.uo(mviou;  üpo'jOiiv 
'/^ivaY%dCovTO  iv  a'JTfj. 

2;  Herod.  VIII,   127. 

3)  Thucyd.  1,  58,  2.  ^Eine  auf  den  Anfang  der  Olynthisch-Chalki- 
dischen  Einigung  bezügliche  wichtige  Inschrift  bei  Sauppe  Inscript.  Maced. 
quatuor.  2.  ^Inscriptio  Olynthiaca  enthält  ein  Schutz-  und  Trutzbündniss 
des  Amyntas,  Sohnes  des  Erridaios  und  der  Chalkidier  auf  50  Jahre,  nach 
Sauppe  aus  394/3  I.  c.  S.  16.  OljTith  wird  nicht  genannt,  sondern  nur 
Ol  XaX7.iof,;.] 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       349 

Athens  in  jenen  Gebenden  gebrochen  war  und  also  kein  ge- 
meinsames Interesse  mehr  Makedonien  und  die  Chalkidier  ver- 
einte, als  Sparta  durch  den  korinthischen  Krieg  vollständig 
beschäftigt  und  Makedonien  selbst  durch  Thronzwiste  und  Ein- 
fälle der  Illyrier  zeniittet  Avar.  wusste  Olynthos  in  kurzer  Zeit 
sich  zu  einer  solchen  Macht  zu  erheben,  dass  es  einen  grossen 
Theil  von  Makedonien  an  sich  riss  und  das  ganze  Eeich  in 
seiner  Existenz  bedrohte.  Diese  Macht  geMann  es  dadurch, 
dass  es  sich  nicht  bloss  zum  Hegemonen  einer  Symmachie, 
sondern  zum  Mittelpunkte  eines  neuen  Staates  machte ') .  Es 
lud  nämlich  die  benachbarten  Städte  ein ,  sich  mit  ihm  zu 
einem  Gesammtstaate  zu  vereinen,  and  nachdem  eine  Anzahl 
kleinerer  Orte  dies  freiwillig  gethan  hatten,  bekam  es  ein  sol- 
ches Uebergewicht  über  die  isolirten  Xachbaren.  dass  einer 
nach  dem  andern  dem  Staate  einverleibt  wurde.  Dass  es  sich 
liier  in  der  That  um  einen  Einheitsstaat  und  nicht  bloss  um 
eine  Symmachie  oder  gar  eine  Unterthänigkeit  der  übrigen 
Orte  handelte,  geht  aufs  entschiedenste  hervor  aus  der  liede, 
welche  die  Abgeordneten  der  widerstrebenden  Städte  Akanthos 
und    Apollonia    in    Sparta    hielten  2).      Die    sämmtlichen    Orte 


•  [iTeber  Olynth  vgl.  Boehneke  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der 
attischen  Redner.  Ueber  den  chalkidischen  Städtebund  bis  zu  seiner  Ver- 
nichtung durch  Philipp  und  über  die  olynthischen  Reden  des  Demosthenes 
1.   S.  95—222.; 

-;  Xenoph.  Hellen.  V.  2,  12  ff.  die  bedeutendsten  Stellen  daraus  hebe 
ich  hier  heraus : 

§.  12:  o'jTOi  TöJv -6).£(uv  zpo;rjaYOv-o  IotIv  a?,  i'-i  wzt  toi?  aütoi;  yo-rjcUat 
voaoi;  --tal  3jix7:oX'.T£6eiv,  £-£iTa  oe  xal  twv  (aeiCovcov  T:po;£/.aß6v  xtva;. 

§.  14:  r;ix£i;  oe  tu  avop£;  AaxeoctifAÖvioi  ßo'jXö}i.£&a  (xev  toi;  Ttatpiot?  voar»'.; 
ypfjCiJai  7.al  aJTOTro/.rxai  £iv'at. 

§.  18  :  ai  '[d-fj  av.O'joai  töjv  r:ö/.£Mv  tt,;  rro/.tTEia;  •/.oivojvoj^ai  ct'JTat  äv  tt 
locoaiv  ävTiraXciv  xayj  äzoatTiOo-^Tcd"  £'.  [xevtoi  3'jY"'t'.£t38r,aovTa'.  Tai;  T£  i-iya- 
[xiai;  y.'xX  iY"'^rr,3£3i  -irj  i'/J-r^'/oii  ä;  £6r^'.;t3ix£voi  £tai  y.al  ■('itüzo'i-'xi  Sri  [j.£Ta 
ttuv  -/.paTOuvTtuv  £-£3Öat  7.£poa/.£ov  i'j-h  .  .  .   13(1);  o'JxiW    oiaoioj;    £'j>,'jTa  iz-ni. 

Wenn  es  dagegen  §.  15  heisst:  i-t:  0£  -/.ai  Ilo-toatav  £-/o'j3tv  £-1  t(j> 
io&[j.w  t7j%  naXXTjvTj;  o'J3av  vo|j.i^£T£  zal  xä;  ^vto;  TauTTj;  -6X£t;  Ü7iry7t6o'j; 
£0£0&ai  a'jtüjv  so  ist  ohne  Zweifel  mit  •jt.t^-aövjz  £ivat  nichts  anderes  bezeich- 
net als  §.  18  mit  rr,;  ro/.itsia;  y.o'.vwvET-/ ,  -was  vom  Standpunkte  der  Auto- 
politie  aus  als  eine  Unterthänigkeit  betrachtet  ward.  Gehört  vielleicht  in 
diese  Zeit  die  Gesetzgebung  des  Androdamas?  Arist.  Polit.  II,  9,  9  pg.  58 
Bekker.) 


350      Ueber  die  Bildung  vox  Staaten  lnd  Bünden. 

hatten  dieselben  Gesetze,  gegenseitige  Epigamie  connubium; 
lind  das  Recht  überall  Grundeigenthum  zu  erwerben,  die  wider- 
strebenden Orte  weigern  sich  an  dem  olynthischen  Bürger- 
rechte Theil  zn  nehmen  (trjc  roXirsia;  y.oivwvslv  und  wollen 
souveräne  Städte  bleiben  (auro-oXlTai; .  Besonders  beachtens- 
Averth  ist,  was  zum  Schluss  gesagt  wird,  man  müsse  gleich 
einschreiten,  da  jetzt  noch  manche  Städte  ungern  in  dem  Staate 
seien ,  lasse  man  denselben  aber  eine  Zeit  lang  bestehen ,  so 
würden  die  neubegründeten  Interessen  machen,  dass  er  nicht 
mehr  leicht  aufzulösen  sei.  Das  konnte  nur  bei  einem  Yer- 
hältniss  geschehen,  avo  alle  vollberechtigte  ]5ürger  waren.  Wie 
weit  neben  dem  gemeinsamen  Staatsverbande  den  Städten  eine 
besondere  Municipalverwaltung  blieb,  ist  uns  hier  so  wenig  als 
bei  l^oiotien  bekannt,  auch  wäre  möglich,  dass  neben  dem 
eigentlichen  olpithischen  Staate  entferntere  Orte  in  einem 
blossen  Bundes  Verhältnisse  gestanden  hätten.  Doch  sprechen 
die  dürftigen  Berichte  eher  dagegen  1 1 .  Dass  Olynthos  in  seiner 
Macht  keine  Mässigung  gekannt  habe  und  dadurch  den  Wider- 
stand der  Städte  Akanthos  und  Apollonia  hervorgerufen ,  ist 
eine    ganz   unbewiesene   Behauptung 2) .      Zur   Erklärung  jenes 


1)  [In  der  Inschrift  über  den  attischen  Seebund  unter  Nausinikos  er- 
scheinen unter  den  Beigetretenen  ....  ofj;  d-o  .  .  was  man  ergänzt  XotX- 
-/.tOTj;  aro  0pa-/.r;;.  Meier  comm.  epigr.  S.  56  Schaefer  de  soc.  Athen.  S.  14 
und  15  bemerkt,  es  könne  nicht  der  chalkidische  Bund  sein,  da  später  noch 
olynthische  Reiter  bei  den  Lakedaimoniern  dienen  i'Xen.  Hell.  V,  4,  54). 
Es  seien  also  wohl  die  Bürger  der  Stadt  Chalkis  am  Athos.  "?)  Beachteng- 
werth  ist  auch  die  Stelle  aus  Theopomps  2:j.  Buche  F.  H.  G.  I,  S.  304. 
Steph.  Byz.  s.  v.  'Ai6).£iov)  Aio'/.v.rri  rf^;  Opay-r^;  ycp3ovTj30'j  -o).i;  .  .  .  dropc'j&r^ 
£t;  z6).tv  AtoXeiov  Tqi,  'AxTf/.fi;  jj.£v  o'Jca^ ,  -oX  tTe'JOfisvr^v  0£  fASrä  twv 
XaX-/.  tO£(MV.  Sollte  nicht  statt  'Atti-/.-?];  zu  lesen  sein  'Av-ttj?  oder  vielleicht 
'AxTiv-fic?  Meineke  vermuthet  rrj?  BoTTixfj?  und  bemerkt  schon,  dass  die 
Stadt  nicht  auf  dem  thrakischen  Chersonnes  liegen  könne.  Auf  einen  ein- 
heitlich centralisirten  Staatsverband  deutet  auch  Demosth.  r.efi  -wirs^. 
§.  203:  iX£i>;ov  Y^P  I  't^Ay.n.  ij.£v  T£Tp'a7.oai.o'j;  [-rrict;  i-/,i't.xr^)~ri  [j.6vov  v.al  cjja- 
7:avT£?  o'jÖev  r^oav  -rXz'wiz,  -vi-r>:/.KT^ü.[üi^i  töv  äp'.i)[ji6v,  o'jttuj  XaXxiOEtwv 
-avTwv  Et;  'i^t  a'jMtijy.iaixiv  tuv,  7ct),.  Er  nimmt  also  zu  Philipps  Zeiten 
einen  noch  vollständigeren  Sj-noikismos  an ,  als  zur  Zeit  des  Kriegs  mit 
Sparta,  cfr.  Polyb.  IX,  28,  2  :  t,v  ti  a'j3Tr,aa  tüjv  ezI  Spoizr^S  'EXXTivwv.  oO; 
d-(u7.iGa^  'A9r|>JaToi  v.al  Xa"/.7.i.5£T; ,    wv    \y.i'(i'z-.vt    t\yz   rsJiTi-r^\i.o.   y.'/i    ö6v7a'.v  -fj 

2)  Otto  Abel,  Makedonien  vor  König  Philipp.  S.  211  :  'das  neue  Athen 


Ueber  die  Bildung  vox  Staaten  und  Bünden.      351 

Widerstandes  genügt  vollkommen  die  Vorliebe  der  Griechen 
für  die  Städtesouveränetät  oder  Autopolitie.  Und  diese  auf- 
zugeben und  in  die  Politie  des  neuen  Staates  einzutreten, 
dazu  wollte  sie  allerdings  Olynthos  nöthigen.  Dieser  mäch- 
tige, auf  die  Frincipien,  welche  sich  damals  in  ganz  Griechen- 
land geltend  machten,  begründete  Staat  wurde  nun  freilich 
durch  äussere  Uebermacht ,  durch  die  mit  den  unzufriedenen 
Nachbarstädten  vereinigten  spartanisch-makedonischen  Waffen 
nach  dem  heldenmüthigsten  vierjährigen  Kampfe  im  Jahre  380 
gebrochen ;  und  als  später  der  \'ersuch  noch  einmal  mit  Glück 
erneuert  wurde,  Olynthos  selbst  347  von  Philipp  von  Makedo- 
nien zerstört  1).  Aber  er  bewies,  was  auf  diesem  Wege  erreicht 
werden  konnte. 

Der  gleiche  Trieb  zur  Bildung  grösserer  Staaten  wurde 
zehn  Jahre  nach  der  Bezwingung  von  Olynthos  die  Veranlas- 
sung der  Gründung  von  Megalopolis.  Wir  haben  oben  be- 
merkt, wie  Arkadien  früher  nie  zu  einem  wahren  Bundesstaat 
geeinigt  war,  sondern  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  Städten 
und  Gaugenossenschaften  unabliängig  neben  einander  staiulen. 
Als  Nachbaren  Spartas  hatten  die  Arkader  von  jeher  dessen 
Uebermacht  zu  fühlen  gehabt,  noch  in  der  letzten  Zeit  385 
durch  die  Zerstörung  und  politische  Spaltung  von  Mantineia. 
Nach  der  Schlacht  bei  Lcuktra  suchte  nun  auch  Arkadien  sich 
von  der  bisherigen  Abhängigkeit  von  Sparta  zu  befreien,  und 
ein  ausgezeichneter  Staatsmann  Lykomedes  aus  Mantineia 
erkannte  das  Mittel  dazu  in  einer  engen  Verbindung  der  säramt- 
lichen  Landestheile,  wobei  er  von  Epameinondas  unterstützt 
wurde.  Auf  seine  Anregung  beschlossen  die  Arkader.  oder 
wenigstens    der   grössere    Theil    derselben,     einen   geraeisamen 


kannte  so  wenig  wie  das  alte  Mässigung:  Olynth  zog,  je  weiter  sich  sein 
Bund  ausdehnte,  desto  straffer  die  Zügel  an,  mit  welchen  es  als  Haupt  des 
Bundes  die  gemeinsamen  Angelegenheiten  zu  leiten  hatte,  immer  mehr  trat 
die  Stadt  in  befehlendem  Herrschertone  gegen  die  Bundesgenossen  auf.« 
Woher  diese  Nachrichten? 

i)  Demosth.  -£oi  -apa-p.  §.  264  behauptet,  die  Macht  von  Olynth  sei 
zu  Philipps  Zeit  viel  grösser  gewesen,  als  zur  Zeit  des  Kriegs  gegen  Sparta. 
Wie  wenig  aber  sein  Zeugniss  hier  auf  historische  Genauigkeit  Anspruch 
machen  kann,  ergiebt  sich  zur  Genüge  daraus ,  dass  er  sagt ,  Olynth  habe 
den  Krieg  gegen  Sparta  beigelegt,  wie  es  gewollt. 


352         TJeBER    die    KlLDU^G    YOIS    STAATEN    VXD    BÜNDEN'. 

Staat  (-0  xoivov  'Apxaoojv,  to  'Ar/x.aoiv.ovi  mit  einer  gemeinsamen 
Regierung,  einer  gesetzgebenden  Ge-walt,  und  einem  Heere 
des  Gesammtstaats  zu  gründen.  Um  einen  festen  Anhaltspunkt 
gegen  Sparta  zu  haben,  vielleicht  auch,  Aveil  man  keiner 
der  bisherigen  grösseren  Städte  den  Vorrang  geben  mochte, 
Tvurde,  gewiss  unter  dem  Einfluss  von  Epameinondas  Feldhenn- 
blick, eine  neue  Stadt  im  südwestlichen  Theile  des  Landes  am 
Helisson  gegründet,  Megalopolis,  und  die  Einwohner  von 
neini  und  dreissig  oder  vierzig  .kleinen  Städten  und]  offenen 
Orten,  zum  Theil  nach  grossem  Widerstreben,  genöthigt  sie 
zu  bevölkern  ^ , .     Sie  gehörten  sehr  verschiedenen ,    bisher  von 


'  Hauptstelle  Pausan.  YIII,  27,  2.  vgl.  Diodor  XV,  "2.  Den  ersten 
Gedanken  einer  Vereinigung  von  Arkadien  schreibt  Xenophon  Hellen.  VI, 
5,  6  den  Tegeaten  Kallibios  und  Proxenos  zu.  [twv  os  Tt-iza-öi-t  oi  [xk■^^ 
-£pl  -zb'/  Kn'/jAp'.o-i  v.a'.  FloöcE-zCiv  z'rrr^-ivi  i-rX  -h  3'j-nevai  t^  -äv  -o  'Ap7.aoi-/.ov, 
v.'A  0  Ti  vr/.iur,  äv  -ü>  v.ciivüj,  -'jÜto  •/•Joiov  dvai  -/.at  tüjv  -Q-twi'  oi  0£  -z[A  tov 
ETaaiTTTTov  £-pa~ov  iäv  -z  y.'xzb.  ydjpav  -A^^i  roXiv  v.cil  toT;  -aTpioic 
voiAoi«  yf/fjodat.]  Ueber  Lykomedes  vgl.  Diodor  XV,  59  u.  62.  Xenoph. 
Hell.  VII,  1,  23.  Sievers  Gesch.  Griechenlands  S.  25.5.  ^vgl.  Xiebuhr, 
Vorl.  über  alte  Gesch.  II,  S.  291.  Freeman  history  of  federal  govern- 
ment  I,  S.  197  ff.  Curtius  Peloponnes  I,  S.  17G  nimmt  an,  es  habe  da- 
mals drei  Gattungen  von  arkadischen  Staaten  gegeben.  »Erstens  solche, 
welche  sich  an  dem  Synoikismos  gar  nicht  betheiligt  hatten.  Die  bedeutend- 
sten derselben  waren  Orchomenos  und  Heraia;  beide  waren  die  heftigsten 
Widersacher  der  neuen  Gründung,  welche  ihren  Einfluss  beeinträchtigte. 
Ferner  blieben  die  nördlichen  Stadtgebiete  von  Pheneos,  Stymphalos, 
Psophis ,  Kynaitha ,  Thelpusa  unberührt  von  der  Neugestaltung  der  süd- 
lichen Landschaft«  Indessen  erscheint  Aineas  von  Stymphalos  als  arkadi- 
scher Feldherr.  Xen.  Hell.  VII,  a,  I .  Nonakris  gab  seine  Bewohner  an 
Megalopolis  ab;  denn  an  ein  andres,  als  das  stygische,  das  deshalb  Pausanias 
ganz  verlassen  fand,  ist  nicht  zu  denken.  »Zweitens  gab  es  solche  Staaten, 
welche  an  der  Gründung  der  neuen  Hauptstadt  Theil  nahmen,  aber  ein 
besondres  Gemeinwesen  behielten ;  so  Mantineia,  Tegea,  Kleitor,  aus  denen 
je  zwei  Bürger  zu  den  Zehnmännern  gewählt  wurden ,  welche  die  Stadt- 
gründung leiteten.  Daraus  können  wir  schliessen,  dass  auch  eine  Anzahl 
von  Bürgern  aus  diesen  Städten  nach  Megalopolis  übersiedelte.  Endlich 
die  Ortschaften,  welche  vollständig  in  Megalopolis  hineingezogen  wurden." 
Bei  der  Aufzählung  dieser  meint  Curtius,  die  Lage  der  Tripolis  Kalliai, 
Dipoina,  Nonakris  sei  noch  unermittelt,  offenbar,  weil  er  sie  im  südwest- 
lichen Arkadien  sucht.  Ich  zweifle  aber  nicht,  dass  Nonakris  die  Stadt 
an  der  Styx  ist,  die  Pausanias  verödet  sah ,  und  also  die  Tripolis  ebenda, 
ohne  Zweifel  die  heutigen  Glukinaes.] 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      353 

einander  iinabliängigen  Gaugenossenschaften  und  Stadtgebieten 
an.  Die  sämmtlichen  arkadischen  Staaten,  war  der  Phin,  sollten 
fortan  nur  eine  gesetzgebende  Gewalt  haben  und  denselben 
Gesetzen  gehorchen ') .  Die  höchste  Gewalt  sollte  bei  einer 
grossen  Volksgemeinde  suvsopiiov,  ouvooo;  nicht  sx/Xr^aia)  den 
Zehntausenden  (jj-upioi)  stehen,  welche  sich  in  Megalopolis  aus 
ganz  Arkadien  versammelten '-] .  Wie  diese  grosse  Gemeinde 
bestellt  wurde,  wissen  wir  nicht.  Sie  haben  ausser  der  gesetz- 
gebenden Gewalt  den  Entscheid  in  allen  Fragen,  die  die  Stel- 
lung des  Staates  zu  anderen  Staaten  betreffen,  sie  beschliessen 
Krieg  und  Frieden,  Bündnisse,  schicken  Gesandte,  lassen  sich 
von  ihnen  Bericht  erstatten,  kurz  sie  haben  ungefähr  die  Be- 
fugnisse der  Ekklesia  in  einer  reinen  Demokratie,  von  der  sie 
aber  ohne  Zweifel  dadurch  unterschieden  sind,  dass  nicht  alle 
Bürger  Arkadiens  zur  Theilnahme  berufen  waren,  wie  das  aus 
dem  Namen  der  Behörde  hervorgeht  '■'] .     Die  Leitung  der  Ge- 


'j  Die  Hauptbelegstellen  dafür,  dass  Arkadien  zu  einem  einzigen  Staate 
geworden ,  oder  vielmehr  hätte  werden  sollen ,  hat  Sievers  Geschichte 
Griechenlands  S.  25S  und  37  gesammelt,  wiewohl  er  S.  2.55,  256  selber 
dagegen  polemisirt,  weil  er  die  Begriffe  von  Stadt  und  Staat  nicht  gehörig 
unterscheidet  [eigentlich  polemisirt  er  nicht  gegen  die  Annahme  eines  Ge- 
sammtstaates.]  vgl.  Xen.  Hell.  VI,  5,  Ü.  \1I,  4,  12.  33,  36,  39. 

-)  Xenophon.  Hellen.  \1I,  4,  34.  [üb;  os  -/.al  i-j  tw  -/.otviö  offenbar  der 
ixjpicii  äniho^e  |jiTj-it£Tt  ypf^a&ai  toi;  lepoi;  y(p-f][xao[.  35 :  oi  Ik  xa  xpdTioTa, 
TTj  IleXozovvTjOU)  ^ouX£'j6jj.£\o'.  ereioav  to  xot^ov  täv  Apxootuv.  38:  i'/le-pv 
(MavTtvEii;)  EraY'fjXÄovTe;,  Ott  -^  twv  MavTtvstuv  zoXt;  iffjwzo  r^  \).r^s  Ttaps^eiv 
£1?  TÖ  xotvöv  Tttiv  Ap-/aotDV,  ö-Ö50'j;  Ti;  -pooxaXoiTO.  VH,  5,  1  •  «w;  0£  za'j-.n 
dzrjYsXÖTj  -po;  t£  to  y.o'.vov  tüüv  Apy.docuv  y.ai  aizo.  toXei;.  "Wiederholt  wird 
das  vtc'.vov  töjv  Apy.doa)v  in  einer  Inschrift  Rang.  Ant.  Hell.  II,  n.  959 
genannt.  Harpokration  s.  v.  jji'jptoi  Müpiot  i-i  Me-fäXifj  t:6X£1'  At^jaooSevt];  vi 
tu)  y.at'  Aiu/ivoj.  S'jvEopiov  £ati  vtotvov  Apxdowv  ä:rdvttov,  oG  -oXXdxt; 
|j.vrj[jLOv£'Jouotv  Ol  iatopiy.01.  Ai£iX£-iCtat  os  rEpl  aOtwv  xal  'ApiototsXiQ;  £v  tV] 
xoivi^  Apy.doojv  -oXttEta,  äp/6iA£vo;  toö  ßißXio-j.]  Diodor  XV,  59.  Dass 
damals  Megalopolis  der  Versammlungsort  gewesen,  ist  freilich  nicht  ganz 
sicher,  da  es  erst  bei  Demosth.  -zcA  -nrjrxr.o.  §.  1 1  ah  solcher  genannt  ist, 
damals  aber  bestand  der  arkadische  Einheitsstaat  nicht  mehr,  sondern  die 
Myrioi  waren  eine  megalopolitanische  Versammlung  geworden.  Auch 
Pausanias  VIII,  32,  1  kann  natürlich  für  die  frühere  Zeit  nicht  entscheiden. 

3)  Sievers  a.  a.  0.  S.  259.  War  die  Bezeichnung  [Auptot  eine  genaue, 
wie  Diodor  XV,  59  sie  nimmt?  Schömann  antiqu.  p.  410  bezweifelt  es  wohl 
mit  Recht  und  will  fx'jptoi  lesen. 

Vischer,  Schriften  I.  23 


354      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Schäfte  konnte  natürlich  nicht  bei  dieser  grossen  Yersammhing 
sein,  sondern  war  in  den  Händen  besonderer  Behörden .  die 
uns  nicht  näher  bekannt  sind.  Sie  werden  nur  mit  dem  all- 
gemeinen Ausdrucke  Magistrate  der  Arkader  erwähnt  i^.  Viel- 
leicht standen  an  ihrer  Spitze  die  Strategen 2  .  die  jedenfalls 
den  Oberbefehl  über  das  Heer  hatten.  ^  on  Wichtigkeit  war. 
dass  eine  stehende  Truppe  als  Kern  der  Streitkräfte  aufgestellt 
wurde .  die  sogenannten  Epariten  ^  .  welche  namentlich  auch 
für  Vollziehung  der  Beschlüsse  im  Innern  bestimmt  waren. 
Sie  wurden  Anfangs  besoldet,  später  wurde  der  Sold  abgeschafft 
und  die  Folge  davon  war.  dass  sie  nun  nur  aus  Wohlhabenden 
bestanden  und  der  ganzen  Politik  eine  mehr  aristokratische 
Richtung  gaben.  Die  Einzelstädte  des  Landes  sollten  nach 
diesem  Plane  offenbar  in  das  Verhältniss  von  blossen  Munici- 
palitäten  or^\xoi  treten  und  so  die  ganze  Kraft  Arkadiens  unter 
einer  einheitlichen  Leitung  stehen.  Allein  gleich  Anfangs  er- 
hoben sich  Hindernisse.  Die  Städte  Orchomenos  und  Heraia 
weigerten  sich  beizutreten  *  :  sie  wollten  souverän  bleiben,  ge- 
rade wie  die  Akanthier  und  Apolloniaten  gegenüber  Oh-nth, 
und  auch  sie  fanden  eine  bereit\^illige  Stütze  in  Sparta.  Es 
war  kein  hinlänglicher  Ersatz,   dass  mehrere  Orte  von  Elis  sich 


1;  apyovT£;  twv  Av/.aotuv  Xenoph.  Hell.  VII,  4,  33.  TDaselbst  werden 
T.po'j-d-'xi  der  Mantineer  erwähnt  gegenüber  den  apyov";  der  Arkader ,  die 
als  sehr  abhängig  erscheinen.  —  §-36  sind  die  r.Q.tii  o.-.a'zai  tü)-<  'Apv-aocuv 
in  Tegea  anwesend.; 

^,  Xenoph.  Hell.  VII,  3,  1.  Diod.  XV,  6.  7.  [Bei  Xenophon  wird 
Aineas  der  Stj-mphalier  als  Stratege  genannt,  bei  Diodor  Lykomedes,  woraus 
aber  nicht  folgt,  dass  es  nur  einen  gab.[ 

3)  ol  d-apiTot  Xenoph.  Hell.  VII,  4,  22.  33.  34.  i-aporjoi  bei  Hesych. 
[zd-iixa  'Apy.ao'.icov  [Aa/iacuTaTov.  y.al  ot  rapa  Ap7.a"t  or^aostoi  cp'jXaxe;.]  vgl. 
Diod.  XV.  ö2.  67.  [Steph.  Byz.  p.  272,  8  Meinek.  'EzapiTat  •  l&vo;  'Ap-/,a- 
o'imt.  T]  0£  7:6).'.;  aÜTwv  "Eüapi;  eoii,  oöy  z-jyr^-n'.  0£.  —zrA  r>k  zo'j  e&vou;  rsvo- 
ccwv  -ical  "E^opo;  7cal  AvoooTttuv  oaai-^.  Offenbar  ganz  falsch. j 

*)  Xenoph.  Hell.  VI,  5,  11  ff.  22,  die  in  Tegea  der  Bildung  eines  Ge- 
sammtstaates  entgegentretende  Partei  will ,  dass  die  Städte  toi;  -atp'iot; 
v6(Aoi;  ypfja&cti  sollen.  [Bezeichnend  ist  der  Ausdruck  bei  Xenophon  \1,  5, 
11:  oe  fi.£v  o'jv  aKLoi  et;  Aoeav  guve/.eyovto  ,  'Opyo;j.£vi(uv  o£  o'jx  IfteXovTcuv 
y. oiveovitv  toj  'Apxaotxoü  cid  tt,v  -pö;  Mav-'.vea;  i'y^pav  und  §.  22  SToa- 
-£jo'j3i  £-1  Toj; 'Hpatsa;,  OTt  T£  oüv.  f,i}£/.ov  Toij 'Ap-/.aoncoü  (xete/eiv.  VII, 
4,   12.    Aacitüva  -h  (Ji£v  rotXaiov  Eau-öjv  ovta ,   iv  o£  Ttü  zapovxt  ouvtcXo  jvxa 

£'.  ;    TO   'Ap-/.7.0t7.6v.l 


UeBER    die    IJlLDUNG    VON    »STAATEN    UND    liÜNDEN.         355 

dem  arkadischen  Gesammtstaate  freiwillig  anschlössen  V  .  liald 
brach  nnter  den  beigetretenen  »Städten  selbst  Streit  ans.  indem 
sich  gegenüber  der  demokratischen  zu  Theben  hinneigenden 
Partei  eine  mehr  aristokratische  lakonisirende  bildete.  Die 
Ereignisse,  die  in  den  zwei  Jahren  vor  der  Schlacht  bei  Man- 
tineia  sich  zutrugen  und  den  letzten  Feldzug  der  Thebaner 
veranlassten,  weisen  aiif  einen  sehr  starken  Widerstand  gegen 
die  Centralgewalt.  der  vorzugsweise  von  der  mächtigsten  der 
Städte .  von  Mantineia .  ausging  2) .  Es  gelang  dieser  Partei 
ihren  Absichten  auch  bei  den  Bundesbehörden  den  Sieg  zu 
zu  verschaffen.  Aber  jetzt  setzte  sich  die  demokratisch-theba- 
nische  Partei  in  ()j)position  und  rief  die  Thebaner  ins  Land : 
und  in  diesem  Feldzuge,  der  mit  der  Schlacht  bei  Mantineia 
endete .  stehen  die  Arkader  in  beiden  Lageni :  Megalopolis, 
Tegea  und  eine  Anzahl  kleinere  Orte  bei  Epameinondas ,  die 
übrigen  mit  Mantineia  an  der  Spitze  bei  den  Spartanern.  In 
dem  darauf  geschlossenen  Frieden  w\irde  die  Verbindung  von 
ganz  Arkadien  als  Einheitsstaat  aufgegeben  '■^i   und  es  blieb  als 


1]  Xenoph.  Hell.  VII,  1,  3:i.  4,   12.  Pausan.  VI,  3,  4. 

■-)  Ueber  diese  Ereignisse  vgl.  Xenoph.  Hell.  VII,  4,  33  S. 

3;  Diodor  XV,  94.  Aeschines  rsp't  raparo  §.  79.  Demosth.  rept  -aoarp. 
§.  11.  [Diese  beiden  Stellen  beweisen  nichts  tür  meine  Annahme.  An 
beiden  ist  nur  die  Rede  von  den  [ajoioi  in  Megalopolis.  Dagegen  Diudor 
1.  c.  zeigt,  dass  von  einem  Zusammenhang  ganz  Arkadiens  die  Rede  nicht 
mehr  war,  und  sogar  die  mit  Megalopolis  vereinten  kleinen  Städte  wieder 
ihre  Gemeinwesen  herstellen  wollten.]  cfr.  die  ganze  Rede  für  die  Megalo- 
politen,  wo  namentlich  §.  11  deutlich  spricht:  ääv  -o'.ojaeUa  3'jjjiij.a/o'j:  "Ap- 
raotuv  TO'j;  jiio'j/.oaEvo'j;  T|U.rv  eivoii  cii/.o'j;.  Andrer  Meinung  ist  freilich  Schö- 
mann  antiqu.  p.  411,  aber  die  von  ihm  angeführten  Stellen  Demosth.  -spl 
rapaTTp.  p.  344  (§.  10,  11)  und  403  §.  19S  beweisen  nichts.  [Hingegen 
scheint  einigermassen  für  ihn  zu  sprechen  Hyperides  frgm.  y.a-d  Ar,ao3S}. 
§.  14  (fr.  M^II  Blass)  t«  o'  iv  n£/.orovvT,ow  xal  zf^  aü.r,  'FX/Aoi  rrürej; 
r/ovTa  -iCaTS/.aßev  b~'j  rffi  ä'f  i|£iu;  ttj?  Niv.avopo?  -/.a'i  tcwv  l-iTaYf^aTcov .  wv  f- 
Y.eu  ci£p(uv  TTotp  A"/.£;avopo'j  7:£p{  zt  -wv  cp-JY^^^"^''  ''-'^'  "£?•  TO>y)TO'j;  y.oivo'j;  5'j;/.  /,o- 
-fO'j;  Ayaiwv  t£  v,  a;i  'Apy.a'owjv  ....  wo  dem  Sinne  nach  etwa  zu  ergänzen 
ist  u.T|  •([•(^z's'^ii  oder  [at;  cjX/.£Y£ai}at.  Also  hatten  solche  Versammlungen 
bis  dahin  statt  und  zwar  ähnliche  bei  Arkadern  und  bei  Achaiern.  Auf 
Aenderungen  in  Arkadien  deutet  Demosth.  -epi  -otparp.  §.  261.  Im  Kriege 
des  Agis  steht  dann  ganz  Arkadien  ausser  Megalopolis  auf  Seite  der  Spar- 
taner. Aeschin.  c.  Ctesiph.  §.  165.  Eine  gänzliche  Auflösung  des  geeinig- 
ten Arkadiens  zeigt  die  Inschrift   bei  Rang.  4-53.     Ein  Bündniss  wird   ab- 

23* 


356      Ueber  die  ]3ildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Frucht  des  ganzen  vielversprechenden  Versuches  nur  der  neue 
Staat  MegalopoHs  und  auch  dieser  wurde  nur  mit  Mühe  er- 
halten. Die  Gemeinde  der  Myrioi  scheint  hinfort  eine  bloss 
megalopolitische  Versammlung  gewesen  zu  sein.  Aber  auch 
so  Avar  wenigstens  der  BeAveis  geliefert,  was  aus  dem  vereinig- 
ten Arkadien  hätte  werden  können.  Denn  Megalopolis  haupt- 
sächlich hat  verhindert,  dass  Sparta  sich  wieder  zur  Hege- 
monie in  dem  Peloponnese  erhob. 

Schliesslich  erwähne  ich  noch,  dass  auch  bei  der  Wieder- 
herstellung von  Messenien  sich  die  angegebene  Zeitrichtung 
zeigt,  indem  die  ganze  von  Lakonika  abgerissene  Landschaft 
nun  zu  einem  Staate  mit  einer  Hauptstadt  gemacht  wurde, 
was  freilich  hier  um  so  nöthiger  war,  als  sie  nur  durch  Zu- 
sammennehmen aller  Kräfte  die  Freiheit  gegen  Sparta  behaup- 
ten Jkonnte. 

So  waren  also  in  dem  Zeitraum  zwischen  dem  pelopon- 
nesischen  Kriege  und  dem  Auftreten  Philipps  eine  Reihe 
von   Versuchen   gemacht   worden,    früher   nur   lose    vereinigte 


geschlossen  zwischen  Athen,  Sparta,  Elis,  Achaia,  dem  König  von  Aegj-p- 
ten ,  den  Tegeaten,  Mantineern,  Orchomeniern,  Phigaleern 
($iaX-?i;,',  Kaphyeern  und  Kretern.  Rangabe  setzt  sie  Ol.  127,  3  a.Chr. 
270.  Als  Archon  wird  genannt  Peithidemos ,  wofür  Rangabe  Peithodemog 
will,  ich:  Peisidemos.  Redner  ist  Chremonides.  cf.  Meier  comm.  epigr.  II 
S.  89.  K.  Fr.  Hermann  Ztschft.  f.  Alterth. -Wissensch.  1845  S.  594,  der 
Peithodemos  Ol.  12S,  2  a.  Chr.  287  ansetzt,  Foucart  setzt  die  Inschrift  zwischen 
265  und  242.  Dass  später  der  Bund  doch  wieder  bestand,  obgleich  er  nicht 
alle  Orte  umfasste,  beweist  eine  höchst  interessante  in  Piali  beim  Tempel 
der  Athene  Alea  gefundene  Inschrift,  herausgegeben  von  P.  Foucart  'tom. 
VIII,  2  des  Memoire«  presentes  par  divers  savants  a  l'Academie  des  Inscrip- 
tions  et  Belles-Lettres  1874  S.  9:5ff.;.  Es  ist  ein  Decret  der  Bule  und  der 
jjL'jpioi,  wodurch  der  Athener  Phylarchos  zum  rpo^evo;  ■/.nx  z-jz^'{i-r^^  'Apy-aoojv 
rävTiov  ernannt  wird.  Dann  folgt  ein  Verzeichniss  der  üamiorgoi,  nämlich 
5  von  Tegea ,  3  Mainalier,  2  Lepreaten,  10  von  Megalopolis,  5  von  Man- 
tineia,  5  Kynurier,  5  von  Orchomenos,  5  von  Kleitor,  5  von  Heraia,  5  von 
Thelphusa,  also  50  Mitglieder,  die  wohl  die  x-'VJi.'r^  bildeten.  Die  andern 
Städte  fehlen.  Hier  zeigt  sich  eine  merkwürdige  Abstufung.  Megalopolis 
hat  10  Vertreter,  die  andern  Städte  je  5,  Mainalier  und  Lepreaten  3  +  2 
=  5.  Foucart  setzt  die  Inschrift  in  den  Anfang  des  J.  224  und  erklärt 
gut  die  Theilnahme  von  Megalopolis.  Die  Versammlung  der  [j.jptot  ist 
nach  seiner  Annahme  in  Tegea  abgehalten,  vgl.  auch  Rangabe  n.  909  wa 
Stymphalos  und  Alea  getrennt  vom  -/.oivöv  täv  "Apv-äotuv  erscheinen.] 


Ueber  die  ]Jilduxg  von  Staaten  lnd  Künden.       357 

Völkerschaften  oder  ganz  getrennte  Staaten  zn  Einheitsstaaten 
zu  verbinden,  durch  demokratische  SympoHtie.  Fast  überall 
hatten  diese  Versuche  überraschende  Resultate  gehabt  und  für 
den  Augenblick  glänzende  Kraftentwicklung  hervorgebracht; 
aber  keiner  dieser  Staaten  hielt  sich  auf  die  Dauer.  Die 
Gründe  waren  verschiedene,  innere  und  ävissere.  Zuvörderst 
wirkte  die  oft  hervorgehobene  Vorliebe  des  Griechen  für  selb- 
ständige Stellung  in  kleineren  Staaten.  Er  war  in  der  Regel 
lieber  in  seinem  kleineren  Kreise  selbständig,  sogar  auf  Kosten 
der  äusseren  Unabhängigkeit,  als  dass  er  seine  besondere  Frei- 
heit an  ein  grösseres  Ganze  abtrat,  um  sich  dann  als  Theil 
des  Ganzen  stark  und  unabhängig  zu  fühlen.  Denn  er  ver- 
stand die  Freiheit  nur  als  unmittelbare  persönliche  Betheiligung 
an  den  Staatsangelegenheiten,  und  je  kleiner  der  Staat,  desto 
stärker  konnte  sich  natürlich  der  Einzel wille  geltend  machen. 
Die  korinthische  Partei .  welche  der  Vereinigung  mit  Argos 
widerstrebte,  wollte  nicht  ertragen,  dass  Korinth  Argos  heisse : 
die  Akanthier  und  Apolloniaten  wollten  souverän  (auTOTToÄTrat) 
bleiben  und  ihre  von  den  Vätern  ererbten  Gesetze  behalten; 
sie  wollten  lieber  mit  dieser  Souvcränetät  unter  makedonischem 
und  spartanischem  Schutze  stehen,  als  blosse  Glieder  des  olyn- 
thischen  Staates  sein;  die  der  Centralisation  in  Arkadien  feind- 
liche Partei  wollte  ebenfalls  lieber  initer  spartanischem  Schutze 
leben,  als  die  von  den  Vätern  ererbte  Freiheit  an  eine  arka- 
dische Gesammtversammhmg  abtreten.  Dieses  Widerstreben 
war  um  so  begreiflicher,  wenn  im  Einzelstaate,  wie  das  oft 
der  Fall  war.  Oligarchie  henschte.  im  Gesammtstaate  aber 
demokratische  Verfassung  eingeführt  wurde.  Es  lag  ihm  aber, 
auch  davon  abgesehen,  etwas  Wahres  zu  Grunde,  es  war  nicht 
bloss  Vorurtheil.  dass  ein  Theil  der  Freiheit  eingebüsst  werde. 
Der  Grieche  kannte  durchaus  nur  die  unmittelbare  Betheiligung 
an  dem  Staatsleben,  die  persönliche  Ausübung  der  politischen 
Rechte.  Die  höchste  Gewalt  in  der  Demokratie  wurde  von 
dem  in  der  Ekklesia  versammelten  gesammten  Volke  ausgeübt, 
eine  Vertretung  kannte  man  nicht.  So  war  es  nun  auch  in 
den  durch  Sympolitie  gebildeten  neuen  Staaten,  höchstens  in 
den  Myrioi  in  Arkadien  mag  vielleicht  eine  Art  von  Reprä- 
sentation erstrebt  worden  sein.  Bei  einer  solchen  Verfassung 
war  der  Ort .    avo  der  Sitz  der  Regierung  war.   sehr  bevorzugt 


358      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

lind  in  den  häufigen  Volksversammlungen  hatten  seine  Be- 
wohner ein  grosses  Ueh ergewicht;  sein  Vorzug  war  um  so 
grösser,  je  ausgedehnter  das  Gebiet  war.  Dazu  kommt,  dass 
die  Gesammtregiemng,  wie  es  scheint,  zugleich  Regierung  der 
Hauptstadt  war,  oder,  da  die  Centralisinnig  von  dieser  aus- 
ging, im  Giimde  eher  die  Stadtregierung  zur  Gesammtregiemng 
ward.  Es  war  daher  in  der  That  die  Ansicht,  dass  man  durch 
das  Anschliessen  an  einen  solchen  Staat  Unterthan  werde,  so 
unbegründet  nicht  imd  besonders  da  natürlich,  wo  die  Haupt- 
stadt den  übrigen  Orten  sehr  überlegen  war  oder  auch  früher 
schon  Ansprüche  auf  Vorrechte  und  Herrschaft  gemacht  hatte. 
So  werden  Avir  uns  also  nicht  wundern  dürfen,  wenn  z.  B.  die 
Oligarchen  von  Orchomenos  und  Thespiai  nach  der  Freiheit 
nicht  lüstern  waren,  die  sie  bei  dem  Eintritt  in  den  boiotisch- 
thebanischen  Staat  bekamen  und  die  ihnen  als  eine  Unter- 
werfung unter  den  Demos  von  Theben  erschien.  Ueberdies 
war  der  Uebergang  von  der  alten  Städteautonomie  zu  der  neuen 
Ordnung  oft  ein  ziemlich  schroffer,  der  sich  freilich  nicht  ganz 
beurtheilen  lässt.  weil  wir  nicht  wissen,  wie  die  in  das  Ver- 
hältniss  von  Demen  getretenen  früheren  Staaten  nun  ihre  Mu- 
nicipalverhältnisse  verwalteten.  Deutlich  aber  hen-scht  das 
Streben  vor,  das  autopolitische  Princip  dem  sympolitischen 
ganz  unterzuordnen.  Dennoch  hätten  sich  diese  Staaten  wohl 
consolidiren  können.  Avenn  sie  in  ihrer  Entwicklung  ungestört 
geblieben  wären.  Das  war  ihnen  aber  nicht  vergönnt.  Mäch- 
tige Nachbarstaaten,  ganz  besonders  Sparta  und  Makedonien, 
hatten  das  Interesse  ihre  Erstarkung  zu  hemmen :  nach  einer 
ziemlich  natürlichen  Politik  warfen  sie  sich  zu  Vertheidigem 
der  sogenannten  Freiheit  der  klemeren  Staaten  auf  und  wussten 
so  überall  die  Vereinigung  der  genannten  Völkerschaften  zu 
lösen  oder  zu  sprengen.  Nach  der  Schlacht  bei  Chaironeia 
waren  die  A  ölkerschaften  Griechenlands  zum  grossen  Theil  in 
einem  Zustande  völliger  Auflösung,  der  von  Makedonien 
längere  Zeit  mit  Erfolg  erhalten  AAiirde.  Erst  als  dieses,  selber 
anderweitig  beschäftigt  oder  von  ThronzAvisten  erschüttert,  sein 
Augenmerk  weniger  auf  Griechenland  richten  konnte,  erhoben 
sich  aus  den  Trümmern  der  alten  Verhältnisse  zwei  neue 
Bundesstaaten  zu  längerem  Bestände.  Da  sie  aber  bald  sich 
über  die  völkerschaftliche  Gränze    ausdehnten,    so    leiten   uns 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      359 

diese  beiden  Conföderationeii ,  die  aitolische  und  achaiische, 
hinüber  zn  der  Betrachtung  der  Verbindungen,  die,  nicht  auf 
eine  Landschaft  oder  Völkerschaft  beschränkt,  ganz  Griechen- 
land oder  Aveniarstens  srrosse  Theile  desselben  zu  umfassen 
trachteten. 

Während  wir  auf  den  zwei  früheren  Stufen  zwei  Haupt- 
arten der  Vereinigung,  den  Einheitsstaat  und  die  Föderation 
gefunden  haben,  ist  auf  dieser  dritten  und  ^letzten  Stufe  voll- 
ständige Centralisation  zu  einem  eigentlichen  Einheitsstaate 
nicht  vorgekommen.  Avohl  aber  die  verschiedensten  Abstufungen 
der  Föderation  von  dem  losesten  nur  auf  die  Abwehr  äusserer 
Feinde  gerichteten  Staatenbunde  bis  zu  dem  engsten  an  den 
Einheitsstaat  gränzenden  Bimdesstaate.  Vorherrschend  ist  aber 
die  A'ereinigung  durch  Symmachie  unter  einer  vorörtlichen 
Leitung,  unter  Hegemonie.  Das  Wesen  dieser  liegt  haupt- 
sächlich darin,  dass  ein  mächtiger  Staat  als  solcher  den  Ober- 
befehl im  Kriege  xmd  die  Leitung  der  gemeinsamen  Angelegen- 
heiten hat,  dass  also  nicht  neben  der  Kegierung  dieses  Staates 
eine  besondere  Bundesregierung  besteht,  sondern  der  hegemo- 
nische Staat  seine  eigenen  ])eamten.  die  nur  er  bestellt,  an 
die  Spitze  des  Bundes  setzt :  darin  liegt  einerseits  die  Kraft 
dieser  Bimdesform,  indem  die  Bundesbehörde  immer  den  mäch- 
tigsten Staat  für  sich  hat.  andrerseits  aber  auch  die  Gefahr  für 
die  übrigen  Bundesglieder,  da  für  den  hegemonischen  Staat 
die  Versuchung  nahe  liegt,   sie  als  Lnterthanen  zu  behandeln. 

Die  älteste  und  bis  in  die  spätesten  Zeiten  dauernde  Form 
der  Staatenvereinigung,  die  über  eine  Völkerschaft  hinaus- 
reicht, stellt  sich  dar  in  den  Amphiktyonien  (oder  eigent- 
lich Amphiktionien  ^  ,  und  unter  diesen  ist  wieder  die  be- 
rühmteste und  bedeutendste  die  delphisch-pylaiische. 
Indessen  ist  es  jetzt  hinlänglich  erwiesen,  dass  diese  Am- 
phiktyonien nicht  eigentliche  Staatenbünde,  noch  weniger 
Bundesstaaten  gewesen  sind,  die  gemeinsame  politische  Zwecke 
verfolgten,  sondern  vielmehr  nur  Verbindungen  zum  Schutze 
gewisser  Heiligthümer  und  allenfalls  zur  Beobachtung  gewisser 
völkeiTechtlicher  Gnuidsätze  und  Vorkommnisse.  Die  ihnen 
angehörigen  Staaten  führen  Kriege  miteinander,   ohne  dadurch 


1)  Böckh  notae  crit.  zu  Pindar.  p.  535.  C.  I.  G.  I,  p.  808.  II,  p.  312. 


360      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

ihre  Pflichten  zu  verletzen,  -wie  sie  z.  B.  in  den  Perserkriegen 
und  im  peloponnesischen  Kriege  auf  beiden  Seiten  stehen. 
Wo  sie  wie  Staatenbünde  auftreten,  ist  es  nur  in  Folge  jener 
religiösen  Zwecke  und  nicht  zum  Heile  der  Völker  geschehen, 
wie  es  der  letzte  sogenannte  heilige  Krieg  zur  Genüge  bewie- 
sen hat.     Wir  treten  daher  auf  sie  nicht  näher  ein^). 

Ebenso  wenig  berühren  wir  einzelne  vorübergehende  Bünd- 
nisse .  werden  ^-ielmehr  nur  von  den  grossen  politischen  Ver- 
einen reden,  die  eine  dauernde  Verbindung  der  griechischen 
Nation  oder  eines  grossen  Theils  derselben  bewirkten  oder  doch 
erstrebten. 

Die  älteste  von  diesen  erscheint,  wenn  auch  noch  vielfach 
in  mythischer  Einkleidung,  in  der  Hegemonie  der  Atrei- 
den  in  Mykenai.  Denn  mit  Recht  sagt  Thukydides.  es 
seien  nicht  die  Eide  der  Freier  der  Helena  gewesen,  welche 
die  Fürsten  von  ganz  Griechenland  zum  Heereszuge  gegen 
Troia  vereint,  sondern  die  Macht  Agamemnons '-) .  Die  sämmt- 
lichen  griechischen  Fürsten  erkennen  in  ihm  ihren  Heerführer 
und  Oberkönig  an,  dem  sie.  wenn  auch  mehr  in  Folge  seiner 
faktischen  Uebermacht.  als  einer  rechtlichen  Verjjflichtung, 
Heeresfolge  leisten.  Ueber  die  Kriegfühi-ung  hinaus  erstreckt 
sich  aber  seine  Oberherrlichkeit  nicht,  nirgends  ist  von  einer 
Herrschaft  in  Zeiten  des  Friedens .  von  einem  Eingreifen  in 
innere    Verhältnisse    die    Rede.     Es    ist    eine    Hegemonie    im 


1)  Es  genügt  auf  K.  F.  Hermann  Lehrb.  d.  gr.  Staatsalterth.  §.  11  — 14. 
und  Schömann  antiqu.  p.  3S5  fF.  zu  verweisen,  wo  die  besondere  Litteratur 
sich  angegeben  findet.  Dazu  vgl.  noch  Cnrtius  anecdota  Delphica  p.  47  sq. 
M.  H.  E.  Meier  die  Privatschiedsrichter  und  die  öffentlichen  Diäteten  Athens, 
so  wie  die  Austrägalgerichte  in  den  griechischen  Staaten  des  Alterthums. 
S.  35  ff.  'ferner:  C.  Wescher  Etüde  sur  le  monument  bilingue  de  Delphes 
in  den  Memoires  presentes  par  divers  savants  ä  l'Academie  des  Inscriptions 
et  Belles-Lettres  de  l'Institut  Imperial  de  France.  Premiere  Serie:  Sujets 
divers  d'Erudition.  Tom.  VIII.  Paris  1S69  p.  1 — 218.  H.  Sauppii  com- 
mentatio  de  amphictionia  Delphica  et  hieromnemone  Attico.  vor  dem  Göt- 
tinger Lectionskatalog ,  Sommersemester  1S73.  C.  Bücher  quaestionum 
amphictionicarum  specimen.  Bonnae  1ST3,  der  das  von  Wescher  in  190 a.Chr. 
gesetzte  Decret  S.  54  ff.  erst  nach  160  gegen  130  a.  Chr.  wegen  der  Rück- 
sicht auf  Rom  setzt.  R.  Weil  De  Amphictionum  Delphicorum  suffragiis 
capita  duo  priora  Berol.  1S72.] 

2)  Thucyd.  I,  9. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  üünden.       361 

engsten  Sinne  des  Wortes.  Ihr  machten  die  Umwälznngen. 
die  in  Folge  des  Krieges  und  bald  darauf  durch  die  Wande- 
rungen eintraten,  ein  Ende,  und  längere  Zeit  verging,  ohne  dass 
die  neuen  Staaten  in  grössere  Vereinigungen  zusammentraten. 
Sie  waren  mit  ihrer  Gestaltung  in  engeren  Kreisen  beschäftigt 
und  bedurften  einer  weiteren  Vereinigung  um  so  weniger,  als 
kein  äusserer  Feind  zu  bekämpfen  war.  Erst  als  die  dorischen 
Staaten  im  Peloponnese  sich  mehr  ausgebildet  hatten,  trach- 
teten zwei  derselben,  Argos  und  Sparta,  nach  Ausdehnung 
ihres  Einflusses.  In  früherer  Zeit  war  Argos  dem  Nebenbuhler, 
wenigstens  vorübergehend,  überlegen,  bis  es  diesem  nach  der 
Bezwingung  von  Messenien  gelang  entschieden  das  Ueber- 
geAvicht  im  Peloponnnese  zu  bekommen.  Wir  übergehen  hier 
die  argeiische  Hegemonie  des  Pheidon.  obgleich  sie  bleibende 
Spuren  hinterlassen  hat :  denn  Pheidon  hat  nicht  nur  als 
Kriegsfürst  an  der  Spitze  der  meisten  peloponnesischen  Staaten 
gestanden,  sondern  auch  in  die  inneren  Verhältnisse  einge- 
griffen ,  indem  er  unter  anderem  gleiche  Münze ,  Masse  und 
Gewichte  einführte.  Aber  seine  Geschichte  ist  zu  sehr  in 
Dunkel  gehüllt,  iim  zu  sicheren  Resultaten  zu  führen,  und 
zudem  war  seine  Macht  nur  eine  vorübergehende ') .  Sparta 
aber  hat  dann  entschieden  die  Leitung  des  Peloponneses  über- 
nommen und  bald  seinen  Einfluss  über  dessen  Gränzen  hinaus- 
getragen 2) .  Dazu  hat  besonders  die  Haltung  beigetragen,  die 
es  im  sechsten  Jahrhundert  gegenüber  den  Tyrannen  annahm, 
welche  es  fast  überall  durch  Waffen  oder  Unterhandlungen 
stürzte  und  damit  die  Rolle  eines  Beschützers  hellenischer 
Freiheit  übernahm.  So  hatte  es  zur  Zeit  des  Perserkriegs  fast 
alle  Staaten  des  Peloponneses  und  einige  ausser   desselben  zu 


')  Ueber  Pheidon  vgl.  Müller.  Aeginetica  p.  51 — 63  die  Dorier  S.  156  fF. 
und  K.  AVeissenborn  Hellen.  S.  1 — 86,  wo  alles  zusammengestellt  ist. 

-]  Ueber  die  spartanische  Hegemonie  und  die  peloponnesische  Sym- 
machie  vgl.  K.  F.  Herrmann  Lehi'b.  d.  griech.  Staatsalterth.  §.  31  fF.  Schü- 
mann antiqu.  p.  424  ff.  und  die  daselbst  angeführten  Schriften  und  Beweis- 
stellen. "Kortüm  Beiträge  S.  35  und  Grote  HI,  p.  144,  bemerken,  dass 
der  Zug  des  Kleomenes  gegen  Athen  Herodot  V,  74  ff.  der  erste  sei ,  der 
Sparta  als  Hegemon  as  head  of  an  ohlifjatory  Pelo2}onvesian  allimice  unter- 
nommen habe  (?).  Es  sei  der  erste  Fall,  wo  die  theoretische  Hegemonie 
in  Praxis  übergehe. 


362      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Bundesgenossen  gemacht,  und  auch  bei  den  übrigen  war  sein 
Ansehen  so  gross,  dass  ihm  in  dem  Kriege  alle  ohne  Wider- 
streben den  Oberbefehl  zii  Land  und  zu  Wasser  übertrugen, 
und  dass  es  nach  demselben  anerkannt  an  der  Spitze  fast  aller 
griechischen  Staaten  des  Festlandes  und  eines  grossen  Theils 
der  Inseln  und  der  Städte  in  Thrakien,  am  Hellespont  und  in 
Asien  stand.  Der  Bundesrath  nannte  sich  den  gemeinsamen 
Rath  der  Hellenen  -o  y.oivov  tuiv  'EXÄTvtuv  soviop'.ov  i),  \ind  es 
ist  vielleicht  aus  dieser  Zeit  zu  leiten,  dass  die  Kj-iegsrichter 
Hellanodiken  f  EXXavoor/ai)  heissen^).  Nach  der  Schlacht  von 
Plataiai  wurde  der  Bimd  von  allen  denen,  die  am  Kampfe 
Theil  genommen  hatten,  neu  bekräftigt  -^  und  bald  darauf  die 
asiatischen  Griechen    darein   aufgenommen  *] .     Diese    Stellung 


1)  Oft  und  schon  von  Alten  mit  dem  Rathe  der  Amphictyonen  verwechselt. 
Vgl.  Müller  Prolegg.  S.  406.  Dass  ein  Unterschied  zwischen  den  altern 
zu  Sparta  gehörigen  BundeBgenossen  und  den  neuen  beabsichtigt  wurde,  ist 
mir  nicht  so  evident  als  Schömann  antiqu.  p.  428  annimmt.  AVenigstens 
wird  sich  schwer  erweisen  lassen ,  dass  die  Bundesgenossenschaft  nur  als 
eine  vorübergehende  betrachtet  wurde ,  wenn  sie  auch  zunächst  gegen  den 
Perser  gerichtet  war.  Schicken  doch  die  Athener  noch  im  dritten  messe- 
nischen Krieg  den  Spartanern  in  Folge  dieser  Symmachie  Hülfe  und  kün- 
digen sie  erst  nach  dem  beleidigenden  Benehmen  der  Spartaner  vor  Ithome 
auf.  Thucyd.  1,  102.  Ferner  finden  wir,  dass  andre  ausserpeloponnesische 
Bundesgenossen  gerade  in  dem  gleichen  Verhältnisse  zu  Sparta  stehen,  wie 
pelopounesische,  namentlich  Boiotien  gerade  wie  Korinth.  Ja  bei  dem  An- 
fang des  peloponnesischen  Krieges  wird  den  Städten  in  Sicilien  und  Italien 
Schifte  zu  stellen  befohlen  wie  andern,  freilich  thun  sie  es  nicht.  In  den 
Verträgen  mit  Argos  V,  TS.  79  werden  die  Bundesgenossen  ausser  dem  Pe- 
loponnes  denen  in  demselben  ausdrücklich  gleichgestellt.  Wir  werden 
wohl  nur  einen  faktischen  Unterschied  annehmen  dürfen,  indem  Sparta 
über  die  näheren  und  meist  schwächeren  peloponnesischen  Bundesglieder 
eine  grössere  Gewalt  übte,  als  über  entferntere  und  mächtigere.  Aber  auch 
jene  blieben  nicht  immer  Sparta  treu,  wie  ja  nach  dem  Frieden  des  Xikias 
Elis  und  Korinth  sich  eine  Zeit  lang  trennten.  [Zu  beachten  bleibt  indess 
der  Ausdruck  IleXo-ovvTjsioi  -ical  ot  c-jfifAayoi  öfters  bei  Thucyd.  z.  B.  IV, 
2.  II,  1.  II,  11,  sonst  auch  Aa^eoaijAV/ioi  xctl  ol  l'jfjifjiayoi  II,  7.  Den  Ge- 
gensatz bilden  die  Ausdrücke  -i]  n£Xo-o'/VT,3ci;  xat  •/]  s'Itu  |'j[A[jLayia  II,  10 
oder  bloss  IkÄoTrowfjCtoi.  z.  B.  II,  59. j 

2)  Xenoph.  rep.  Lac.  XIII,  11. 

3)  Thucyd.  III,  6S.  Plutarch.  Arist.  21.  Dagegen  sind  freilich  Beden- 
ken erhoben  worden  vgl.  Krüger  Hist.  phil.  Schriften  S.  192  ff. 

4)  Herod.  IX,  106. 


Veber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      363 

behauptete  nun  freilich  Sparta  nicht  lange,  da  kaum  einige 
Jahre  darauf  fast  alle  Seestaaten  ihm  den  Gehorsam  aufkün- 
deten und  den  Oberbefehl  im  Kriege  den  Athenern  übertrugen. 
Selbst  auf  dem  Festlande  verlor  es  einen  Theil  seiner  Bundes- 
genossen, und  nach  verschiedenen  Wechseln  anerkannte  es  in 
dem  dreissigj ährigen  Frieden  445  Ol.  S3,  3  die  Hegemonie 
Athens  über  die  Seestaaten.  Durch  fönnliche  Traktate  war 
jetzt  Griechenland  in  zwei  grosse  Staatenbünde  gctheilt.  Erst 
das  siegreiche  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  stellte  Sparta 
wieder  an  die  Spitze  aller  Griechen  und  Avieder  nur  für  kurze 
Zeit.  Der  korinthische  Krieg  bedrohte  selbst  im  Peloponnese 
seine  Bedeutung  und  brachte  es  in  grosse  Bedrängniss,  aus  der 
es  sich  durch  den  antalkidischen  Frieden  387  Ol.  98,  2  zog. 
Jetzt  übte  es  einige  Jahre  seine  Hegemonie  drückender  als  je, 
als  eigentliche  Gewaltherrschaft,  bis  Thebens  Erhebung  und 
das  Feldhermgenie  des  Epameinondas  seine  Macht  auf  immer 
brachen.  In  den  verschiedenen  Perioden  hat  aber  Sparta  seine 
Hegemonie  auf  dieselben  Principien  gestützt  und  der  Bund  im 
Grunde  die  gleiche  Verfassung  gehabt,  nur  dass  Sparta,  je 
nachdem  es  Bundesgenossen  bedurfte,  sie  beobachtete  oder 
nicht . 

Wie  das  der  Name  Symmachie  ausdrückt,  Avar  der  Bund 
eigentlich  nur  auf  Einigung  gegen  Aussen,  auf  gemeinsame 
Kriegfühning  unter  der  Oberleitung  von  Sparta  berechnet. 
Beschlüsse  in  gemeinsamen  Angelegenheiten  wurden  durch  die 
in  der  Regel  nach  Sparta,  seltener  an  andere  Orte,  berufene 
Bundesversammlung  Tagsatzung)  gefasst.  Sie  war  gebildet 
von  Abgeordneten  der  sämmtlichen  eigentlichen  Bundesstaaten, 
welche,  wie  es  scheint,  in  der  Regel  nach  Instruktion  stimmten 
und  jeder,   gleichviel  ob  gross  oder  klein,   eine  Stimme  hatte  ^) . 


'  Herodot  V,  91 — 93.  Auf  die  Wichtigkeit  üer  von  Herodot  erzähl- 
ten Verhandlung,  der  ersten  bekannten  macht  Grote  III,  148  ff.  aufmerk- 
sam.^ Thucyd.  I,  66.  67.  S7.  119.  125.  Es  ist  die  Darstellung  des  Thuky- 
dides  oft  missverstanden  worden,  obwohl  sie  ganz  klar  und  deutlich  ist. 
Zuerst  kommen  Abgeordnete  der  Bundesgenossen  auf  Betrieb  der  Korinther 
nach  Sparta ,  um  dieses  zum  Kriege  zu  treiben ,  die  Spartaner  veranstalte- 
ten eine  Ekklesia  ';v/.),oyov  i^wv  aOttuv  rot-fj^avTe;  -öv  eiw&o-ra  }.i'(ti\  Iv.ü.e'jo^ 
c.  67)  und  Hessen  die  Abgeordneten ,  wie  auch  athenische  Gesandte  reden, 
darauf  aber  mussten  alle  diese  abtreten    c.  79)  und  die  Spartaner  berathen 


364      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Die  Competenz  derselben  erstreckte  sich  auf  Krieg.  Frieden, 
Verträge  und  was  damit  zusammenhing,  sie  hatte  daher  ohne 
Zweifel  die  Contingente  der  l^undesglieder  an  Mannschaft  und 
Geld  festzusetzen.  Die  Berufung  dieser  Versammlung  stand 
bei  Sparta,  das  auch  den  Vorsitz  darin  und  die  ganze  Leitung 
derselben  hatte ,  und  in  den  Zeiten ,  "svo  sie  nicht  beisammen 
war,  im  Namen  des  Bundes  handelte.  Sparta  stellte  femer 
nicht  bloss  den  Oberbefehlshaber,  sondern  ordnete  und  leitete 
die  gesammte  Kriegsführung,  es  bestimmte,  welche  Theile  des 
Contingentes  auszurücken  hatten  und  setzte,  ausser  den  beson- 
deren Befehlshabern  der  Bundesgenossen.  Führer  über  dieselben 
(^sviayoi  .  Sehr  oft  handelte  aber  Sparta  nicht  bloss  in  der 
Kriegführung  nach  eigenem  Ermessen,  sondern  fing  auch  eigen- 
mächtig Krieg  an.  schloss  Friede  und  Bündnisse,  freilich  nicht 
ohne  Widerstreben  der  mächtigeren  Bundesglieder  \  .  Im  In- 
nern aber  sollten  die  einzelnen  Staaten  vollständig  autonom 
oder  selbstherrlich  sein  2  .   weder  durch  die  Bundesversammlung 


unter  sich  und  geben  die  Erklärung  ab ,  ihnen  scheine  von  den  Athenern 
der  Friede  gebrochen  zu  sein :  es  ist  das  gleichsam  die  Instruktion  Sparta's. 
Ein  Bundesbeschluss  aber  war  noch  nicht  gefasst ,  sondern  jetzt  wurden 
die  Anwesenden  beschieden  in  späterer  Zeit  wieder  zu  kommen  zu  einer 
allgemeinen  Bundesversammlung,  c.  ST.  Erst  auf  dieser  wird  nun,  nach- 
dem sich  ohne  Zweifel  die  höchsten  Behörden  der  einzelnen  Staaten  darüber 
wie  die  in  Sparta  ausgesprochen  hatten  ,  ein  Bundesbeschluss  gefasst :  tö 
7:>.f,\}o;  i'br^'z.hnu-o  rroXiasiv  c.  120,  die  eigentliche  Bundesversammlung  ist 
also  von  der  spartanischen  Ekklesia  wohl  zu  unterscheiden.  [Grote  hist.  of 
Greece  IV,  p.  223  if.  hat  den  Unterschied  der  spartanischen  Versammlung 
von  der  Bundesversammlung  ganz  richtig  aufgefasst ,  scheint  aber  irrig  zu 
meinen,  in  der  Bundesversammlung  hätten  sie  dann  nicht  mehr  gestimmt.] 

1)  Herodot.  V,  7.5.  Xenoph.  Hellen.  II,  4,  30.  Bisweilen  fügten  sich 
mächtige  Bundesgenossen  auch  den  Mehrheitsbeschlüssen  nicht,  so  weiger- 
ten sich  Boiotier,  Korinther,  Eleier  und  Megareer  den  Frieden  mit  Athen 
anzunehmen,  den  die  Mehrheit  beschlossen  hatte.  Thucj^d.  V,  17.  [Die 
Verpflichtung  der  Minderheit,  sich  den  Beschlüssen  der  Mehrheit  zu  unter- 
ziehen, geht  am  bestimmtesten  hervor  aus  Thucyd.  V,  30 :  (AaxioaifAovtoi) 
rapaßTjoeo&ai  te  gcpaoav  «iito'j;  (to'Ji  Koptvi^iou?;  tou;  opxo-j;,  -/.al  r^hr^  doivcetv, 
OTi  o'j  or/ovrai  -a;  'Aftr^-^aiojv  orovSa;,  £lpr,a£^ov  x'jptov  slvai  0  ti  av  ro  7T).f;&o; 
TöJv  |'j[j.ij.ay(uv  tl/Yj'fbTjTit,  tjv  [itj  ti  %zwt  r^  TjOwuj-^  v.(u/.'j[jl7.  tJ.  Zugleich  freilich 
beweist  die  Stelle,  dass  die  Mächtigen  sich  nicht  dran  kehrten.] 

-;  Unter  vielen  Stellen  vgl.  besonders  Thucyd.  I.  144.  V,  77.  -ra;  oe 
ro/.ta;  t«;  Iv  riiZ-o-owaauj  xai  (j.ixpa;  y.'xi  ii£'(i}.'x^  a'jT0v6[J.tu;  tliizv  räia;  xotTTa 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.       365 

noch  durch  den  Vorort  beschränkt.  In  gewisser  Hinsicht  -war 
das  auch  in  sehr  ausgedehntem  Masse  der  Fall,  wie  denn  ein- 
zelne Bundesglieder  Avieder  engere  Bundesgenossen  und  Unter- 
thanen  hatten,  ja  selbst  Kriege  zwischen  spartanischen  Bundes- 
genossen geführt  wurden  und  geführt  Averden  durften,  sobald 
nur  dadurch  der  Bundespflicht  kein  Eintrag  geschah  >) .  Daher 
während  eines  Bundeskrieges  solche  besondere  Fehden  ein- 
gestellt werden  rnussten,  wo  dann  die  Truppen,  die  sich  eben 
im  Felde  gegenüber  gestanden  hatten,  unter  Sparta's  Befehl 
vereinigt  auszogen.  Doch  war  die  Eegel,  dass  Streitigkeiten 
unter  den  Bundesgenossen  diirch  Austrägalgerichte  geschlichtet 
werden  sollten  ^l.  Diese  scheinbare  Freiheit  der  Einzelstaaten 
bei  gleichem  Stimmrechte  gab  aber  Sparta  ein  grosses  Ueber- 
gewicht,  indem  es  besonders  die  zunächst  gelegenen  kleineren 
Orte  in  faktischer  Abhängigkeit  zu  halten  wusste  und  dadurch 
der  Stimmenmehrheit  im  Bundesrath  meist  gewiss  war,  auch 
zu  allen  Zeiten  dafür  sorgte,  dass  die  Verfassungen  der  »auto- 
nomen« Städte  seinen  Interessen  angemessen ,  das  heisst  oli- 
garchisch  eingerichtet  waren.  Daher  die  Antw^ort,  welche  vor 
dem  peloponnesischen  Kriege  die  Athener,  auf  Perikles  An- 
trag, den  Spartanern  gaben,  sie  wollten  a\if  einige  der  gestell- 
ten Forderungen  eingehen,  wenn  auch  Sparta  seinen  Bimdes- 
genossen  gestatte  zii  ihrem  eigenen  Nutzen  und  nicht  bloss 
im  Interesse  der  Spartaner  autonom  zu  sein  '^^ .  Die  Abhängig- 
keit der  schwächeren  Staaten  wiirde  noch  dadurch  erhöht, 
dass  Sparta  noch  besondere,  bloss  ihm  zur  Heeresfolge  ver- 
pflichtete   Bundesgenossen    erwarb,     die    in   dem   Bundesrathe 


-arpta.  79.  Tctl  0£  aXXa'.  roXti;  xai  h^  ni/.orov<a;io  y.owavtovTojv  räv  cro'-oäv 
vcai  tä;  |'j[i.txayia;  ct-jTovofxoi  vtctl  a'jTO-öXi£c. 

1)  Xenoph.  Hell.  V,  4,  36. 

2;  Thucyd.  V,  79.  ai  os  -.i-n  -äv  zo'/.i'ujv  ^  ä[j.ctiXoYa  -Tj  täv  ivro;  rj  xäv 
i'AT'ji  neÄo-ovväcu) ,  aiT£  z£pl  opojv  aiT£  Tiepl  ä7v}.o'j  tivo;,  oiay.ptSfjULEv.  ai  oe 
Tt;  TU)-/  ^'jaij-a/ojv  -6/.K  ~öX£i  £p'-C'J')  ^i  "oÄw  t).&£iv,  äv  xiva  i'^av  ä[j.a.oIv  xai; 
~o)Ätazi  0'jX£(o[. 

3j  Thucyd.  I,  141.  [Aus  Thucyd.  V,  31  scheint  hervorzugehen,  dass 
vor  dem  peloponnesischen  Kriege  festgesetzt  ward,  dass  während  dieses  die 
Unterthanen  keinen  Tribut  zahlen  sollten  [so  Lepreon  an  Elis),  dass  aber 
nach  Beendigung  des  Kriegs  Alles  ins  alte  Verhältniss  zui-ücktreten  sollte : 

XCtt  TTjV  5'Jv9tjV.TjV  :rpO'X£p(JVT£C  ,  £V  Tj  ElpTjTO  a  £/_ovt£;  £;  TOV  'At-17.6v  -o/,£[JLOV 
■/.ai^ictavTo  Tiv£?,  taÖTCt  i'yovta;  vm  £;£).8£tv.] 


366      ÜEBER  DIE  Bildung  vox  Staatex  uxd  Bünden. 

keinen  Sitz  hatten  und  bei  denen  es  die  angebliche  Autonomie 
durch  Harmosten,  Dekarchien  und  ähnliche  Eingriffe  zeiten- 
weise aufs  schnödeste  verletzte,  wie  denn  überhaupt  die  mäch- 
tige Stellung  des  hegemonischen  Staates  es  mit  sich  brachte, 
dass  dieser  häufig  statt  des  Bundes  handelte ,  und  seine  spe- 
ciellen  Interessen  an  die  Stelle  der  Bundesinteressen  setzte. 
Als  endlich  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  die  in  ihren 
Hoffnungen  vielfach  getäuschten  Griechen  der  spartanischen 
Anmassung  hier  und  da  entgegenzutreten  Avagten,  fand  es.  um 
keine  mächtigen  Staaten  gegen  sich  aufkommen  zu  lassen,  in 
seinem  Interesse  den  Grundsatz  der  Autonomie  seiner  Bundes- 
genossen so  auszulegen,  dass  keiner  derselben  mehr  Unter- 
thanen  haben  dürfe  ^j  ,  und  da  in  dem  korinthischen  Kriege 
die  Hinneigimg  za  gleichrechtlichen  Staatenvereinen  ihm  ge- 
fährlich wurde ,  trieb  es  im  antalkidischen  Frieden  ihn  voll- 
kommen auf  die  Spitze.  Dieser  Friede  bestimmte  nämlich, 
dass  in  ganz  Griechenland  alle  Städte,  gross  und  klein,  avito- 
nom  sein  sollten:  Sparta  und  Persien  waren  Garanten  des 
Friedens  und  alle  Städte  verpflichtet,  gegen  den  Dawider- 
handelnden  unter  Sparta' s  Befehl  zu  Felde  zu  ziehen  2. .  Wer 
dawider  handle,  entschied  aber  Sparta  allein.  Somit  war  es 
jetzt  vertragsgemäss  und  faktisch  Hegemon  von  ganz  Griechen- 
land, dessen  Staaten  jedes  anderen  Haltpunktes  beraubt,  nur 
in  ihm  ihren  Mittelpunkt  sehen  sollten.  Es  ist  bekannt .  wie 
es  den  Vertrag  ausgelegt,  jede  Conföderation  und  sympolitische 
Vereinigung  bis  nach  Thrakien  hin  aufhob,  ja  sogar  das  längst 
aus  vier  Komen  synoikisirte  Mantineia  wieder  in  vier  »autonome« 
Dörfer  zerriss.  Es  hätte  mit  demselben  Recht  Athen  wieder 
in  zwölf  Staaten  theilen  dürfen.  Allein  dieser  Uebermuth 
brachte  es  zum  Falle    und  wurde  Veranlassung   der   oben   be- 


ij  Schon  im  peloponnesischen  Kriege  kommt  ähnliches  vor  (vgl.  Anm. 
3.  S.  35.,  aber  weil  man  den  guten  Willen  der  Bundesgenossen  brauchte, 
schonte  man  sie.  Ja  in  Boiotien  hat  Sparta  zu  jener  Zeit  durchweg  The- 
bens Ansprüche  auf  Hegemonie  unterstützt,  um  dadurch  Athen  einen  star- 
ken Nachbarn  an  die  Seite  zu  stellen.  In  gewaltthätiger  Weise  wurde  nach 
dem  peloponnesischen  Kriege  der  Grundsatz  zuerst  gegen  Elis  ins  Werk 
gesetzt.     Xenoph.  Hell.  IH.  2,  21  ff. 

2)  Xenoph.  Hellen.  V,  1,  31  ff.  Sievers  Gesch.  von  Griechenland. 
S.  141  ff. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      367 

trachteten  Centralisationsversuehe  in  Boiotien .  Arkadien  und 
an  anderen  Orten.  Hatten  sie  auch  keinen  Bestand,  so  er- 
holte sich  doch  Sparta  von  dem  Schlag,  der  es  durch  die 
Schlacht  bei  Leuktra  und  die  Herstellung  Messeniens  traf, 
nicht  mehr ,  und  seine  späteren  Versuche .  die  Hegemonie  zu 
zu  erneuern,  kommen  hier  nicht  in  Betracht.  In  Sparta  und 
seinem  Bunde  also  haben  Mir  das  Beispiel  einer  hegemoni- 
schen  Symmachie  mit  nominell  autonomen  Bundes- 
genossen. Sie  war  zuletzt  zur  unerträglichen  Herrschaft 
geworden .  lohne  dafür  durch  grosse  Kraftentwicklung  gegen 
das  Ausland  oder  sonstige  ungewöhnlichen  Leistungen  zu  ent- 
schädigen. 

Anders  und  offener  aber  nicht  minder  gewaltthätig  ging 
A  t  h  e  n  zu  Werke  \i .  Wiewohl  es  schon  früher  einzelne  freie 
Bundesgenossen  und  Unterthanen  sich  erworben  hatte,  so  fällt 
doch  die  Begründung  seiner  Hegemonie  erst  in  den  zweiten 
Perserkrieg.  Ihm,  dem  das  Hauptverdienst  des  Befreiungs- 
kampfes gehörte,  übertrugen  die  neuen  Hundesgenossen,  be- 
sonders aus  den  ionischen  Städten  Kleinasiens,  den  Oberbefehl 
gegen  Persien ,  als  der  Hochmuth  des  Pausanias  sie  gegen 
Sparta  empört  hatte.  Das  Bedürfniss  der  Einigung  für  kräf- 
tige Fühmng  des  Krieges  zur  Erwerbung  der  Freiheit  gegen 
den  Perser  oder  zur  Behauptung  der  eben  erworbenen  rief  den 
Bund  ins  Dasein  und  stellte  den  mächtigsten  Staat  an  die 
Spitze  2) .  Ein  anderer  Zweck  war  ursprünglich  damit  nicht  ver- 
bunden. Zu  diesem  Behufe  versammelten  sich  Abgeordnete  der 
sämmtlichen  Städte  des  Bundes ,  welcher  sich  bald  von  der 
Grenze  Pamphyliens    über  Lykien  ^  ,    Karlen ,    lonien ,    Aiolis, 


')  K.  F.  Hermann  §.  36.  3".  156.  1.57  Schömann  antiqu.  VI,  7.  §. 
XXX  ff.  Kortüm  zur  Geschichte  hell.  Staatsv.  S.  46  ff.  Böckh  Athen. 
Staatsh.  I,  520  ff.  Der  reiche  Stoff  ist  durch  die  in  den  zwei  letzten  Jahr- 
zehnden  entdeckten  Inschriften,  die  sich  meist  bei  Rangabe,  Antiquites 
Helleniqu.  Athenes  1842  mitgetheilt  finden,  noch  .sehr  vermehrt  worden. 
^Jetzt  Hauptschrift :  U.  Köhler  Urkunden  und  Untersuchungen  zur  Ge- 
schichte des  attisch -delischen  Bundes.  Abh.  d.  Berl.  Akad.  der  Wissen- 
schaften 1&70.J 

2)  Thucyd.  I,  95—99. 

3]  Rangabe  n.  199  u.  a.  Phaseiis  war  eine  rro).'.;  '^opoj  yno-sÄr,;.  ebenda 
No.  135.   137  u.  a.     [Köhler  1.  c.  S.  195.  C.  I.  A.  I,"  226  ff. :    Es  war  von 


36 S      ÜEBER  DIE  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

den  Hellespont,  die  Küste  Thrakiens  und  fast  alle  Inseln  des 
ägäischen  Meeres  erstreckte,  im  Heiligthum  des  Apollon  auf 
Delos  unter  dem  Vorsitze  von  Athen,  um  die  gemeinsamen 
Angelegenheiten  zu  berathen.  Von  dieser  Versammlung  wur- 
den die  Leistungen  für  den  Krieg,  nach  dem  Vorschlage  des 
Aristeides,  festgesetzt :  die  einen  hatten  .Schiffe  zu  stellen,  die 
andern  Geldbeiträge  zu  entrichten.  Landtruppen  wurden  wohl 
nach  Bedürfniss  von  allen  gefordert '] .  Der  Schatz  ward  in 
Delos  niedergelegt  und  unter  die  Verwaltung  einer  aus  Athe- 
nern und  in  Athen,  wahrscheinlich  durch's  Loos,  gewählten 
Behörde,  der  zehn  Hellenotamien  gestellt.  Ein  Unterschied 
zwischen  den  Bundesgenossen,  die  Schiffe  stellten  und  denen, 
die  Geld  zahlten,  bestand  durchaus  nicht,  die  einen  wie  die 
anderen  waren  autonom  und  beschickten  den  Ijundesrath. 
Streitigkeiten  zwischen  den  Bundesgliederu  Avurden  wie  bei  dem 
spartanisch -peloponnesischen  Bunde  nicht  durch  den  Bundes- 
rath,   sondern  durch  ein  Austrägalgericht  entschieden  2j ,   später 


Kimon  beim  Zuge  gegen  die  Perser  vor  der  Schlacht  am  Eurymedon  ge- 
vronnen.] 

'j  Es  ist  das  gegen  die  gewöhnliche  Ansicht  und  im  Widerspruch  mit 
Plutarch  Pericl.  12  ev-octrAEv  ojv  ö  rieofit/.f;;  tov  of,[jLov  Stt  ypr,(i.a-ajv  [xev 
o'Jv.  ö'fEiXo'JSi  toi;  a'jfifidyoic  Aö-fov  zpo~o/.£[i.oüv:£?  a'jTwv  -/.ai  tou;  ßapßapo'j; 
äv£[pY^''~£>  0"j-/  iTizov  o'J  vaüv  oüy  ö::/.  irr^v,  dXXa  ypTj[j.aTa  jxovov  teXo-jv-oj-^. 
Allein  im  peloponnesischen  Kriege  hoben  wenigstens  die  Athener  sehr 
häufig  Truppen  unter  den  Unterthanen  aus ,  wie  z.  B.  Xikias  im  achten 
Kriegsjahre  bei  der  Unternehmung  gegen  K)"thera  nicht  weniger  als  2000 
Milesier  und  dazu  noch  andere  bündische  Truppen  hat,  nach  Thucyd.  IV, 
.53.  54  und  II,  9  sagt  derselbe  Schriftsteller  des  bestimmtesten,  dass  die 
Unterthanen  -s^ov  xai  yp-rjaaTa  gaben.  Für  diese  Zeit  ist  also  die  Sache 
sicher,  ich  glaube  aber  auch  früher  war  es  nur  insofern  anders,  als  Athen 
meist  nur  Seekriege  führte  und  daher  die  regelmässigen  Leistungen  meist 
auf  Schiffe  beschränkt  waren.  Thucyd.  1 ,  99  spricht  nicht  gegen  diese 
Auffassung  und  Plutarch  hat  sich  in  seiner  rhetorisirenden  Weise  ungenau 
ausgedrückt,  wie  auch  im  Kimon  11.  Denkbar  wäre  übrigens  auch,  dass 
die  welche  gleich  anfangs  für  Geld  angelegt  wurden,  nicht  zu  Truppen  ver- 
pflichtet waren,  hingegen  die,  welche  erst  später  sich  durch  Tribut  von 
dem  Stellen  der  Schiffe  freimachten  oder  gewaltsam  in  Unterthänigkeit  ge- 
bracht wurden,  auch  nöthigenfalls  Mannschaften  stellen  mussten.  Thucyd. 
11,  9  spricht  aber  nicht  für  einen  solchen  Unterschied.  Auch  Andoc.  über 
den  Frieden  §.  3S  ist  nicht  gegen  meine  Auffassung. 

2;  [Diess  ist  sehr  fraglich;  M.  H.  E.  Meier:  Die  Privatschiedsrichter 
und  die  öffentl.  Diaeteten  Athens  pg.  39  sagt  es  auch,  doch  ohne  Beweise.] 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      369 

Avohl  auch  durcli  liefehle  von  Athen,  doch  kommen  anch 
Kriege  zwischen  l^>nndesgenossen  vor  ') .  Aber  von  Anfang  an 
war  Athens  Macht  gross  und  seine  Stelhmg  verführerisch. 
Es  wurde  zur  Erweiterung  seiner  Befugnisse  um  so  mehr  ge- 
trieben, als  eine  Biindesversammhmg  mit  einigen  himdert 
Stimmen  zum  Theil  ganz  kleiner  Orte  zur  Leit\ing  der  wich- 
tigen Interessen,  um  die  es  sich  handelte,  offenbar  ganz  un- 
geeignet war ■-■ .  Athen  musste  fast  unwillkürlich  ihre  Rechte 
an  sich  reissen.  Als  nun  viele  Staaten  aus  Bequemlichkeit 
ihre  Leistinigen  an  Schiffen  in  Geldbeiträge  verAvandelten, 
wofür  Athen  Schiffe  baute ,  stieg  natürlich  die  Macht  des 
Bundeshauptes  in  demselben  !Masst ,  wie  die  Wehrfähigkeit 
der  ])undesgenossen  abnahm .  und  als  einige  sich  mit  den 
AV^affen  der  lästigen  Stellung  entziehen  wollten,  wurden  sie 
zum  Gehorsam  gezw\nigen  inid  zu  Unterthanen  gemacht,  die 
kein  Stimmrecht  mehr  hatten.  15ald  darauf  (um  460  Ol.  80) 
wurde  der  Binadesschatz  durch  einen  Beschluss  der  IJundes- 
versammlung  und  auf  Antrag  der  Samier  nach  Athen  verlegt 
und  damit  eine  entschiedene  Verwandlung  der  Symmachie 
herbeigeführt '  .  Es  scheint ,  dass  von  jetzt  an  keine  Ver- 
sammlungen der  Bundesgenossen  mehr  statt  fanden,  jedenfalls 
haben  sie  nichts  Bedeutendes  mehr  beschlossen  und  bald  ganz 
aufgehört.  Athen  verfügt  hinfort,  wie  es  allein  über  Krieg 
und  Frieden  entscheidet,  so  auch  frei  über  den  J^>undesschatz. 
Die  Bundesgenossen  haben  über  die  Verwendung  ihrer  Geld- 
beiträge. Truppen  und  Schiffe  nichts  mehr  zu  reden.  Damit 
war  in  Wirklichkeit  der  Beitrag  in  Tribut  verwandelt,  dessen 
Entrichtung  nach  fünf  Provinzen,  wenn  Avir  den  Ausdruck 
anwenden  dürfen,   geschah  ^).    Die  dazu  veqjflichteten  Bundes- 


1    Thucyd.  I,   115. 

2;  Die  Städte  hatten  in  der  Versammlung  gleiches  Stimmrecht,  waren 
i<:6'lT,^,oi.  Thucyd.  III,   1!. 

3)  [Den  Versuch  eines  Panhellenischen  Congresses  Plut.  Perikl.  17  setzt 
Müller  de  Phidiae  vita  p.  0  Ol.  SO,  3,  Grote  hist.  of  Gr.  IV,  S.  165  kurz 
vor  den  peloponnesischen  Krieg.  Ersterer  Ansatz  ist  entschieden  der  rich- 
tige; denn  damals  war  die  Erinnerung  an  die  Perserkriege  noch  ziemlich 
frisch  und  in  der  Zeit  nach  dem  dreissigjährigen  Frieden  wäre  es  geradezu 
ein  Spott  gegen  Sparta  gewesen.] 

*)  ö  0pay,to;  oder  6  e-i  0pa-/r,c  oder  ä-o  0pa-/.r,;  cfopo;,  6  'E).Xr|a7t&vTto? 
Vischer,  Schriften  I.  24 


370      Veber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

genossen  werden  aber  auch  bald  sonst  als  Unterthanen  be- 
handelt, tributpflichtig  cpopo'j  u-otöXt];)  und  unterthänig  ütttj/ooc) 
wird  gleichbedeutend.  Athen  mischt  sich  nun  auch  in  ihre 
inneren  Verhältnisse :  nicht  nur .  dass  es  sie  durch  besondere 
Beamte  in  allen  ihren  Bewegungen  beaufsichtigt  und  für  de- 
mokratische Verfassung  sorgt,  es  entzieht  ihnen  auch  den 
grössten  Theil  ihrer  Gerichtsbarkeit  und  nöthigt  sie  in  Athen 
Recht  zu  suchen  ^  .  Bald  ging  es  noch  weiter,  setzte  die  Tri- 
bute nach  eigenem  Gutdünken  an  inid  verwendete  die  einge- 
gangenen Gelder  nicht  mehr  zu  Bundeszwecken,  sondern  zu 
seinen  eigenen .  namentlich  zu  den  Prachtbauten .  mit  denen 
damals  die  Stadt  geschmückt  wurde.  Aber  selbst  die  nicht 
zu  Tribut  veq^flichteten  sogenannten  Autonomen,  die  auf  we- 
nige herabschmolzen .  kamen  in  ein  sehr  abhängiges  Verhält- 
niss ,  da  sie  zu  allen  Kriegen  Athens  Schiff'e  stellen  mussten. 
ohne  etwas  dazu  sagen  zu  dürfen.  Athen  behauptete  seine 
Verpflichtung  sei  nur  die  Bundesgenossen  gegen  Aussen  zu 
schützen,  auf  welche  Weise  das  geschehe,  gehe  diese  nichts 
an.  erfülle  es  diese  Verpflichtung,  so  habe  es  über  den  Bundes- 
schatz nach  Gutdünken  zu  verfügen .  ohne  Rechenschaft  ab- 
legen zu  müssen  -) .  Auf  Kosten  der  Bundesgenossen  gewinnt 
es  also  eine  solche  Macht,  dass  jeder  Widerstandsversuch  um- 
sonst wurde .  Durch  Kleruchien .  die  gleichsam  als  stehende 
Besatzungen  das  weite  Ijundesgebiet  hüteten,  und  durch  be- 
sondere Bündnisse  mit  anderen  Staaten  befestigt  es  seine 
Stellung,    und    seine    sogenannte    Symmachie   ist   in    der  That 

(f.,  h  Kapi.-/.o;  cp.,  6  Nr,3'.tuTi7.ö;  cp.  in  den  Inschriften  bei  Rangabe  [C.  J.  A. 
I,  237ff.i. 

1)  Xenoph.d.  rep.  Athen.  I,  U— IS.  ^Grote  bist,  of  Gr.  IV,  172  ff.  181  ff. 
nimmt  an,  die  Gerichtsbarkeit  Athens  über  die  Bundesgenossen  habe  ihren 
Anfang  schon  in  dem  delischen  SjTiedrion  gehabt.  Streitigkeiten  zwischen 
Bundesgenossen ,  zwischen  Bundesgenossen  und  Bürgern  seien  durch  die 
delische  Ver.<ammlung  entschieden  worden,  und  dann  an  Athen  überge- 
gangen. Das  ist  aber  ganz  zweifelhaft ,  und  der  Krieg  ,  den  Samos  gegen 
Milet  fühi-t,  spricht  dagegen.  Die  oiv.at  ;-)[j.3o"/.aTat  bei  Thucyd.  I,  TT  leitet 
er  von  ;'j[j.ß6Xa'.aL,  nicht  von  ;'jaßoXa  ab  und  will  sie  nicht  mit  oiv.at  i-o 
^•jfjißöXtuv  gleichsetzen,  wie  ich  glaube,  mit  Unrecht.  Die  athenische  Gerichts- 
barkeit über  Bundesgenossen  ist,  wie  er  ja  selbst  sagt,  aus  einer  ursprüng- 
lich auf  A^erträgen  beruhenden  hervorgegangen. J 

-)  Perikles  soll  diese  Theorie  zuerst  aufgestellt  haben  nach  Plutarch. 
Perikles  12. 


1 


Ueber  die  Bildung  vox  Staaten  und  Bünden.      371 

eine  fast  unbeschränkte  Herrschaft  über  die  Bundesgenossen  ^) . 
Der  Besitz  derselben  hat  Athen  eine  unglaubliche  Kraftent- 
wicklung möglich  gemacht,  und  einige  Zeit  um  die  Mitte  des 
fünften  Jahrhunderts  anerkannte  auch  ein  grosser  Theil  des 
Festlandes  seine  Hegemonie,  es  schien  sich  dieselbe  über  ganz 
Griechenland  ausdehnen  zu  sollen  -] .  Das  wurde  nun  freilich 
durch  die  Schlacht  bei  Koroneia  (4-16  Ol.  S3,  2)  und  den 
dreissigjährigen  Frieden  (445  Ol.  83,  3]  verhindert,  durch  den 
Frieden  aber  zugleich  die  Herrschaft  über  die  Seestaten  förm- 
lich von  Sparta  anerkannt.  Allein  trotzdem  hielt  sie  nicht 
auf  die  Dauer:  das  A'erliältniss  war  zu  hart,  um  ohne  Gewalt 
behauptet  werden  zu  können,  und  die  athenische  Demokratie 
seit  Perikles  Tod  nicht  consequent  und  ruhig  genug,  um  das 
System  durchzuführen.  Kein  Wunder,  dass  die  Bundes- 
genossen fast  alle  gegen  Athen  feindselig  gestimmt  waren  und 
dem  Rufe  Sparta's  zur  Freiheit  ein  geneigtes  Ohr  liehen.  Der 
Ausgang  des  peloponnesischen  Krieges  hat  diese  glänzende 
Herrschaft  gestürzt,  aber  ohne  etwas  Besseres  an  ihre  Stelle 
zu  setzen,  ja  umgekehrt  härteren  Druck  gebracht  und  die 
Freiheit  der  kleinasiatischen  Städte  dem  Ferser  preisgegeben^] . 
Die  Betrachtung  der  athenischen  Herrschaft  bietet  Av^enigstens 
die  Befriedigimg,  dass  sie  die  Unabhängigkeit  und  Ehre  aller 
Griechen  gegen  den  Barbaren  siegreich  und  ruhmvoll  gewahrt 
und  dass  sie  Athen  selbst  befähigt  hat  in  allen  Gebieten  des 
Geistes  das  Höchste  zu  erreichen,  was  dem  Menschen  beschie- 
den war.  Athens  eigenthümliche  Bildung  und  geistige  Elasti- 
cität  hat  einigermassen  den  politischen  Druck  gemildert  und 
über  dem  grossartigen  Glänze  der  Hauptstadt ,  der  auch  auf 
die  Unterthanen  zurückstrahlte,   vergessen  lassen  *] . 


'J  Thucyd.  bezeichnet  sie  gewöhnlich  als  äo/T]  und  II,  63  in  Periklea 
Rede  als  Tupav>n;.   [III,   37.] 

-)  [Grote  IV  S.  91  macht  mit  Recht  auf  den  Unterschied  zwischen  den 
ursprünglichen  Mitgliedern  des  delischen  Bundes  und  den  spätem  atheni- 
schen Bundesgenossen  besonders  auf  dem  Festland  aufmerksam.] 

3  Bekanntlich  geschah  das  z.  Th.  schon  durch  die  Verträge,  die  Sparta 
im  peloponnesischen  Kriege  mit  Persien  schloss.  Die  Feldzüge  des  Thibron, 
Derkyllidas  und  Agesilaos  änderten  die  Sache  wieder  auf  einige  Zeit ,  der 
Friede  des  Antalkidas  vollendete  die  Schmach. 

*)  Es  ist  das  schön  ausgedrückt  in  der  Rede  des  Periklea  Thucyd.  IT, 
42  und  der  des  Nikias  VII,  63. 

24* 


372      Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden. 

Die  wiederholten  späteren  Versuche  Athens  die  Symmachie 
herzustellen,  haben  zu  keinen  bleibenden  Erfolgen  geführt, 
waren  übrigens  ziemlich  auf  die  gleichen  Grvmdsätze  gestützt, 
auf  denen  bei  der  Stiftung  die  erste  Symmachie  beruhte  und 
zeigten  auch  in  ihrer  Entwicklung  einen  ähnlichen  ^'erlauf. 
Dass  man  die  Beiträge  statt  (popoi  jetzt  auvta^si;  nannte,  hat 
in  ihrem  Wesen  nichts  verändert.  War  auch  die  Autonomie 
aller  Bundesglieder  ausdrücklich  garantirt  und  eine  Versamm- 
lung der  Bundesgenossen  a'jvsopiov)  in  Athen,  jener  alten  Be- 
hörde in  Delos  entsprechend,  eingesetzt,  so  neigte  doch  Athen, 
sobald  es  ihm  seine  Macht  erlaubte,  immer  Avieder  zu  will- 
kürlicher Bedrückung  der  Bundesgenossen.  Für  immer  wurde 
seine  Macht  durch  Philipp  von  Makedonien  gebrochen :  nach- 
her hat  es  keinen  Versuch  mehr  gemacht  die  Hegemonie  her- 
zustellen, mit  einziger  Ausnahme  des  schnell  beendigten 
lamischen  Kriegs.  Auch  in  dem  hegemonischen  Bunde 
von  Athen  mit  seinen  Untevthanen  war  demnach  nur 
die  Macht  des  ]iundeshauptes  auf  Unkosten  der  übrigen  Glie- 
der zu  einer  ausserordentlichen  Höhe  gebracht  worden :  die 
Freiheit  des  Einzelstaates  mit  der  Kraft  der  Gesammtheit 
dauernd  zu  verbinden,   war  nicht  gelungen  i;. 

Zu  vorübergehend  und  unausgebildet,  um  hier  Beachtung- 
zuverdienen,  Avar  die  Hegemon.ie  Thebens,  oder  A-ielmehr 
sein  ^'ersuch  sie  zu  gcAvinnen .  Die  makedonische  Hege- 
monie Avar  fremde  Herrschaft  2; .  Erst  in  der  späteren  make- 
donischen   Zeit    haben    der    aitolische    und     achaiische 


')  [Ueber  die  Erneuerung  des  Bundes  unter  dem  Archontat  des  Nau- 
sinikos  Ol.  100,  3  ist  seither  die  wichtige  Urkunde  gefunden  worden,  welche 
von  Eustratiades ,  Rangabe,  Meier,  Schäfer  behandelt  ist.  Vgl.  auch 
U.  Köhler  Hermes  V,   11. j 

-)  Ich  gestehe,  trotz  aller  Bewunderung  der  Grösse  der  makedonischen 
Könige  Philipp  und  Alexandros,  mich  nicht  «über  die  Sympathien  für  den 
attischen  Particularpatriotismus  zu  dem  hellenischen  Standpunkt  der  Be- 
trachtungen« A'on  Droysen  erheben  zu  können,  Avonach  Demosthenes  als 
eine  traurige  Gestalt  erscheint.-  Vgl.  Rhein.  Museum.  Neue  Folge  IV,  438 
und  Geschichte  Alexanders  d.  Gr.  Makedonien  musste  nothwendig  dem 
Hellenen  als  fremd  erscheinen,  da,  wenn  auch  das  Königsgeschlecht  und 
ein  Theil  der  Makedonier  hellenisch  oder  hellenisirt  waren,  doch  auch  eine 
Menge  illyrischer ,  thrakischer  und  anderer  barbarischer  Stämme  dazu 
gehörten. 


Ueber  die  Bildung  von  Staaten  und  Bünden.      373 

Bund  eine  Zeit  lang  mit  Erfolg  eine  kräftige  Bundesregierung 
ohne  Hegemonie  mit  Freiheit  der  Einzelstaaten  vereint.  Das 
Oeheimniss  lag  darin,  dass  in  diesen  ]>ünden  eine  besondere, 
von  keinem  Einzelstaate  abhängige  ]^undesregierung  aufge- 
s.tellt  wurde,  die  stark  genug  war,  um  über  den  Einzelnen  zu 
stehen  und  kein  Interesse  hatte  sie  zu  unterdrücken.  Ein 
■wesentlicher  Grund  davon  lag  gewiss  in  dem  Umstände ,  dass 
in  den  beiden  Landschaften,  von  denen  diese  Bünde  gestiftet 
wurden,  keine  Hauptstadt,  überhaupt  kein  an  Macht  hervor- 
ragender Staat  war.  und  dass  den  neuen  Bundesgenossen  bei 
ihrem  Eintritt  ganz  gleiche  Rechte  mit  den  alten  gegeben 
Avurden. 

Die  Aitoler'  .  früher,  wie  oben  bemerkt,  in  einem  ganz 
losen  Verbände,  der  kaum  den  Namen  eines  Ihindes  verdient, 
traten  erst  recht  in  die  griechische  Geschichte  ein,  als  die  frü- 
heren Hauptstaaten  geschwächt  und  zurückgetreten  waren, 
gegen  das  Ende  des  vierten  Jahrlmnderts.  Rühmlich  werden 
sie  genannt  im  lamischen  Kriege  323  und  322  und  waren 
vielleicht  schon  damals  zu  einem  engeren  Ijunde  zusammen- 
getreten. Von  da  an  dauert  ihre  Bedeutung  bis  zum  Kiiege 
der  Römer  mit  Antiochos.  der,  durch  sie  veranlasst,  sie  ins 
Verderben  riss.  Haiiptgrundsatz  der  Bundesverfassung,  über 
die  wir  nur  sehr  dürftig  unterrichtet  sind.  war.  dass  alle 
Staaten  soAvohl  des  eigentlichen  Aitoliens  als  andere  ohne 
Unterschied  die  gleichen  Rechte  haben  sollten-  ,  dass  über 
Krieg  und  Frieden  und  andere  auswärtige  Verhältnisse  nur 
durch   die    Gesammtheit    des    l^undes    entschieden   Averde.    nie 


1)  Ausser  Hermann  Lehrb.  d.  gr.  Staatsalterth.  §.  1S3  ff.  Schömann 
antiqu.  S.  442  fF.  und  der  daselbst  angeführten  älteren  Litteratur  vgl.  man 
jetzt  noch  F.  A.  Brandstätter  die  Geschichten  des  Aetoliscken  Volkes  und 
Landes,  Berl.  1844  besonders  29S — 31.5  und  Droysen  Gesch.  d.  Hellenismus 
II,  S.  403  ff.  Sieht  dieser  in  den  Aitolern  nichts  als  einen  Klephtenstaat, 
so  geht  offenbar  jener  in  ihrer  Vertheidigung  zu  Aveit. 

-j  AVas  Droysen  a.  a.  0.  für  seine  Behauptung,  dass  der  Bund  nicht 
bloss  gleichberechtigte,  sondern  auch  tributpflichtige  Mitglieder  gehabt  habe, 
A^orbringt,  beAveist  gar  nichts.  "Wie  er  die  Ausdrücke  a'jvTiXelv  st;  -ö  Aitoj- 
>.'.7.6v  dafür  anführen  mochte,  ist  kaum  begreiflich.  Dagegen  soll  nicht  in 
Abrede  gestellt  Averden ,  dass  entferntere  Staaten  in  ein  blosses  Bündniss 
und  SchutZA-erhältniss  ti'aten.  [Ueber  die  Sympolitie  auch  der  durch  ZAvang 
beigetretenen  Glieder  A'gl.  Polyb.  IV,  25,  ".] 


374      Ueber  die  Bildu>-g  von  Staaten  und  Bünden. 

durch  einzelne  Staaten.  Die  Gewalt  übten  folgende  Bundes- 
behörden. Eine  allgemeine  Bundesversammlung,  das  Panäto- 
licum  [-0.  -avaiTwXixcf/  ,  ander  alle  }]ürger  der  Bundesstaaten 
Theil  nehmen  konnten ,  versammelte  sich  ordentlicher  Weise 
jährlich  im  Herbst  zu  Thermon.  doch  kommen  auch  ausser- 
ordentliche Versammlungen  an  anderen  Orten  vor.  Wie  darin 
abgestimmt  wurde ,  Avird  nicht  gemeldet ;  doch  scheint  wahr- 
scheinlicher,  dass  es  nach  Köpfen  als  nach  Staaten  geschah. 
Sie  entschied  über  Krieg,  Frieden  und  andere  wichtige  Ge- 
genstände, namentlich  wohl  über  die  F)undesgesetzgebiing.  und 
wählte  die  Bundesbeamten.  Ein  engerer  Ausschuss,  wie  es 
scheint  von  Delegirten  der  Staaten  gebildet .  leitete  als  stän- 
diger Bundesrath  die  laufenden  Geschäfte,  entschied  minder 
wichtige  selbst,  brachte  wichtigere  vor  die  grosse  Versamm- 
lung.   Sein  Name  war  die  Apokleten    /j-oy.Xr^-oi)  2  .    Ein  Stra- 


I,  C.  I.  G.  n.  3U46.  Livius  XXXI,  29. 

2}  Livius  XXXM,  28.  Polyb.  XX,  10,  11.  Die  gleichen  scheinen  als  Sy- 
nedren  bezeichnet  zu  sein  in  C.  I.  G.  n.  235Ü,  2352,  3046 ,  wo  Böckh  zu 
vergleichen.  [Für  den  aitolischen  Bund  ist  von  besonderer  "Wichtigkeit 
eine  Inschrift  aus  Melitaia  in  Thessalien  bei  J.  L.  Ussing:  inscript.  gr.  ined. 
n.  2  S.  2  ff.  Sie  zeigt,  dass  die  Staaten  nach  der  Grösse  eine  verschiedene 
Zahl  von  Buleuten  hatten  1.  18.  —  Die  Schiedsrichter  in  einer  Sache  zwi- 
schen den  Meliteern  und  Pereern  sind  von  den  Aitolern  gewählt.  —  Dem 
SjTiedrion  standen  zp&G-dToti  vor,  deren  sieben  genannt  werden :  zuerst  zwei 
ohne  weitern  Amtstitel ,  dann  der  Schreiber  des  Synedrions  (verschieden 
vom  Bundesschreiber  ,  der  Hipparch  und  noch  drei  ohne  besondern  Titel. 
Diese  Aufzählung  ist  gewiss  keine  zufällige.  Interessant  ist  auch  der  Aus- 
druck är:oro"/.iT£'j£tv  1.  16  aus  dem  Staatsverbande  ausscheiden,  Gegensatz 
von  o'jiA-oÄtT£'J£iv.  —  Die  Inschriften  C.  I.  G.  2350,  2351,  2352  aus  Keos 
und  3046  :aus  Teos)  erwähnen  gleichfalls  der  Synedren  und  zwar  2350, 
2351,  3046  als  richterlicher  Behöi'de  in  Fällen  von  Seeraub,  3252  aber,  wie 
es  scheint,  als  eigentlicher  Regierungsbehörde,  ähnlich  den  achaiischen  Da- 
miorgen.  Böckh  zu  3046  hält  die  Synedren  für  identisch  mit  den  Buleuten 
(Apokleten;;  allein  dagegen  spricht  die  Inschrift  bei  Ussing,  obwohl  dieser 
selbst  die  Synedren  mit  dem  Rathe  identificirt.  Die  sieben  npooTottai  weisen 
auf  ein  zahlreiches  Collegium.  Vgl.  noch  Polyb.  XX,  1.  Toiav.ovTa  twv  d-o- 
7.).T,Tojv  7:pci£y£tp(ac/VTCi  TO'j?  s'jveo&s'j'ovTct?  [j.£Td  TOJ  p'j.jO.iwi.  Diese  darf  man 
wohl  nicht  für  das  regelmässige  SjTiedrion  halten.  Livius  XXXV,  45,  tri- 
(ji)da  principes  cum  quibus ,  si  qua  teilet,  consultaret,  delegerunt.  Endlich 
gehört  hieher :  aus  Wescher  und  Foucart  Inscriptions  recueillies  ä  Delphes 
n.  1  :  CTf-aTaYSovTo;  'Aoxioiovo;  £5o;£  toi;  ouvsofioi;  1.  7.  elfXiV  aO-Jj  xötv  a.'zzi- 
/.£iav  -/.ciiJu);  7.a  oL  Gjvtopo'.  y.al  6  doy t-ex-tuv  o'jv-daaoiev,  7.ai  ei  *xa  tu  ajTov 


Ueber  die  BiLinwG  von  Staaten  und  Bünden.       375 

tege .  jährlich  gewählt ,  hatte  nicht  nur  das  Heerwesen  unter 
sich,  sondern  auch  den  Vorsitz  im  Ihmdesrath  und  der 
Bundesversammlung,  brachte  die  Gegenstände  zur  Berathung 
und  leitete  diese.  Er  selbst  hatte  Avenigstens  über  Krieg  keine 
Stimme ') .  Ihm  zunächst  stand  der  Hipparch,  der  die  Eeiterei 
befehligte.  Ein  Schreiber  ypajxjxa-öu;)  versah  die  Geschäfte 
eines  Kanzlers  oder  Staatssecretärs.  Die  innere  Selbständigkeit 
der  einzelnen  Staaten,  Avenn  auch  in  einzelnen  Fällen  durch 
Beschlüsse  der  Bundesbehörden  beschränkt  2,  scheint  doch  im 
Ganzen  ziemlich  gesichert  gewesen  zu  sein.  Daher  finden  wir, 
dass  nicht  nur  benachbarte  A  ölker ,  sondern  auch  Städte  des 
Peloponneses,  ja  des  Hellespontes  sich  dem  Ihmde  anschlössen, 
wenn  nicht  letztere  vielleicht  in  einem  blossen  Bündniss  stan- 
den ,  was  auch  vorkam  ^  :  aiulere  freilich  wurden  auch  durch 
Waffengewalt  zum  Beitritt  genöthigt.  Ueber  ein  Jahrhundert 
ist  der  aitolische  Binid  so  die  Hauptmacht  des  mittleren  Grie- 
chenlands, die  gegenüber  Makedonien  \uu\  Kom  eine  nicht 
verächtliche  Stellung  einnahm  mid  vielleicht  für  Griechenlands 
Unabhängigkeit  noch  mehr  geleistet  hätte,  wenn  nicht  die  an- 
geborene Eohheit  der  Aitoler  und  ihre  feindselige  Stellung  zu 
den  Achaieru  verderblich  gewirkt  hätte.  Ein  Hauptmangel 
der  Bundesverfassung  lag  ohne  Zweifel  in  der  Einrichtung  der 
grossen  Versammlung,  die  wegen  der  weiten  Ausdehnung  des 
Bundesgebiets  kaum  eine  wahre  Vertretung  der  Gesammtheit 
war  und  ehrgeizigen  und  kriegslustigen  Führern  leicht  Gele- 
genheit gab,   unbesonnene  Beschlüsse  zu  veranlassen. 

Etwas  genauer   unterrichtet   sind   wir  über   den    acha ii- 
schen Bund^j,   der  auch  ausgebildeter  erscheint.     Nachdem 


Die  Inschrift  ist  unter  die  amphiktjonischen  Decrete  gestellt ;  allein  dann 
wären  nicht  ouveopot,  sondern  'kooavfjaove;  genannt.  Vgl.  jedoch  Curtius 
anecd.  Delph.  p.  5U,  wo  er  die  a6v£opot  der  Amphiktyonen  mit  den  Hiero- 
mnemonen  für  identisch  hält.  Hier  entscheidet  aber  wohl  der  Stratege 
der  Aitolier  an  der  Spitze.] 

1    Liviiis  XXXV,  25. 

-  Die  Gesetzgebung  des  Dorimachos  und  Skopas  scheint  in  eigentlich 
innere  Verhältnisse  eingegriffen  zu  haben.  Polyb.  XIII,   1. 

3j  Vgl.  die  oben  angeführten  Inschriften. 

4.   Ausser  Hermann  Lehrb.  d.  gr.  Staatsh.  §.  lS5fi\  Schümann  antiqu. 


376      Ueber  die  Bildlxg  von  Staaten  und  Bünden. 

Achaia  iii  früheren  Zeiten  eine  mehr  oder  -weniger  geeinigte 
Conföderation  gebildet  hatte,  "svar  es  in  den  ersten  makedoni- 
schen Zeiten  fast  ganz  auseinandergefallen.  Erst  2 SO  traten 
vier  Städte ,  Pliarai .  Tritaia .  Patrai  und  Dyme  wieder  in  einen 
engeren  Verband,  dem  sich  bald  die  anderen  anschlössen.  Aber 
erst  fünf  und  zwanzig  Jahre  nachher  gewann  der  Bund  durch 
eine  neue  Verfassung  mehr  Festigkeit,  indem  jetzt  unter  an- 
derm  an  die  Stelle  der  früheren  zwei  Feldherrn  nur  einer  ge- 
setzt -wurde.  Wenige  Jahre  nachher  schloss  sich  ihm  Sikyon. 
die  erste  nicht  achaiische  Stadt  an  (251) ,  Avas  von  den  Avich- 
tigsten  Folgen  war.  da  jetzt  der  kluge  Aratos  der  Lenker  der 
Bundespolitik  wurde.  Eine  Stadt  nach  der  andern  wurde  zum 
Beitritt  bewogen.  Zwar  zerstörte  der  unglückliche  kleomenische 
Krieg  mit  Sparta  imd  später  der  J^undesgenossenkrieg  gegen 
Aitolien  die  kühnen  Hoffnungen .  die  sich  eröffnet  hatten,  und 
brachten  den  Bund  in  eine  traurige  Abhängigkeit  von  Make- 
donien .  doch  gelang  es  nach  dessen  Demüthigung  durch  die 
Römer,  unter  Philopoimens  Leitung  fast  den  ganzen  Peloponnes 
und  auch  ausserhalb  dieses  gelegene  Staaten  mit  demselben 
zu  A'eremigen.  Allein  bereits  hatte  Rom  eine  solche  Stellung 
zu  Griechenland  eingenommen,  dass  auch  der  achaiische  Bund 
ihm  nicht  mehr  einen  Damm  zu  setzen  veimochte.  Mit  der 
Besiegung  des  Perseus  durch  L.  Aemilius  Paulus  war  im 
Grunde  auch  die  Freiheit  der  Achaier  gebrochen ,  die  dann 
durch  Mummius  gänzlich  vernichtet  wurde.  Die  Verfassung 
des  achaiischen  Bundes  hatte  sehr*  viel  Aehnlichkeit  mit  der 
aitolischen.  war  aber  weit  klarer  durchgebildet.  Vollständige 
Gleichberechtigung  aller  Glieder  hen-schte  auch  hier.  Eine 
grosse  Versammlung  auvooo;,  h.y.Krpio. ,  ayopa  z.  B.  Polyb. 
XXVIII.  7,  3  .  an  der  alle  Bürger  von  Bundesstaaten  nach 
zurückgelegtem  dreissigsten  Jahre  Theil  nehmen  konnten,  fand 
ordentlicher  Weise  zweimal  jährlich  bei  Aigion  statt  ^j.  Sie 
entschied    über    Krieg,     Frieden.    Aufnahme    neuer    Bundes- 


p.  441.    Tgl.    noch  Droysen   Gesch.    d.  Hellenismus   II   S.    1S2.    297.   402. 
441  fF.  45Sff. 

1;  Deswegen  hatte  aber  die  kleine  Stadt  Aigion  keinerlei  Vorrechte 
und  mit  Unrecht  nennt  sie  Helwing  Gesch.  d.  achäischen  Bundes  mehrmals 
Vorort. 


UeBER    die    JilLUUNG   VON    STAATEN    UND    BÜNDEN.         377 

genossen  und  liundesgesetze,  schlichtete  Streitigkeiten  zwischen 
Städten,  übenvies  Vergehen  gegen  den  liund  einem  Bundes- 
gerichte und  wähhe  (im  Frühjahre  die  Bundesbeamten  ^) . 
Ausserordentliche  A'ersammlungen  konnten  nöthigenfalls  auch 
hier  berufen  werden,  und  ausnahmsweise  auch  an  anderen 
Orten  als  Aigion  zusammenkommen  2  .  Die  Abstimmung  ge- 
schah ohne  Zweifel  nach  Städten,  so  dass  es  gleichgültig  war, 
ob  aus  einem  Bundesstaat  viele  oder  wenige  zugegen  waren, 
aber  streitig  ist.  ob  nur  bestimmte  Abgeordnete  oder  alle  zu- 
fällig anwesenden  für  iliren  Staat  stimmten ;  das  letztere  scheint 
jedoch  das  Richtige.  Den  aitolischen  Apokleten  entsprach  der 
Rath  ^ou^vt]  :  Avie  dort  hatte  ein  Stratege  die  Leitung  des 
Kriegswesens  ^  und  der  gesammten  Regierung,  leitete  die  Xex- 
handlungen    des    Raths    mid    die    Volksversammlung.     Neben 


ij  Nach  Niebuhr.  röm.  Gesch.  II,  S.  94  nimmt  man  jetzt,  vorzüglich 
mit  Beziehung  auf  Livius  XXXII,  22.  23  und  XXXVIII,  32  mit  Recht 
gewöhnlich  an,  die  Abstimmung  habe  nach  Städten  statt  gefunden.  Es  ist 
das  jedenfalls  aus  den  von  Niebuhi*  angeführten  Gründen  ein  grosser  Vor- 
zug vor  der  Abstimmung  nach  Köpfen  gewesen  ,  wenn  auch  die  ungleiche 
Bedeutung  der  Städte  mit  der  gleichen  Stimmberechtigung ,  die  dann  an- 
zunehmen ist,  wenig  im  Einklang  war.  Druysen  S.  404.  Beiläufig  hier 
die  Bemerkung,  dass  mir  aus  dem  Alterthum  nur  ein  Bundesstaat  bekannt 
ist,  wo  die  Städte  nach  ihrer  Grösse  mehr  oder  weniger  Stimmen  hatten. 
Es  ist  das  Lykien,  wo  die  grössten  Städte  3 ,  die  mittleren  2 ,  die  kleinen 
1  Stimme  besassen.  Strabo  XIV,  3,  3  pg.  664  C.  [cf.  Freeman  history  of 
federal  government  I  p.  2US  fi".  Schorn  Geschichte  Griechenlands  p.  211  — 
215  sucht  zu  zeigen,  dass  die  Strategen  nur  bis  Ol.  14u,  4  im  Frühling 
um  die  Zeit  des  Aufgangs  der  Pleias  fMai  gewählt  worden  seien ,  von  da 
an  im  Herbst.   Aratos  sei  damals  nur  sechs  Monate  lang  Stratege  gewesen.?] 

-)  [Später  kommen  die  Landsgemeinden  auch  ordentlicher  Weise  in  an- 
dern Städten  zusammen  z.  B.  Polyb.  XXIII,  16,  12.  1S2  a.  Chr.  —  Philo- 
poimen  hatte  das  Gesetz  durchgesetzt,  dass  die  A'ersammlungen  abwech- 
selnd in  den  verschiedenen  Städten  stattfinden  sollten.  Livius  XXXM^II,  30.] 

3;  [Die  Bundestruppen  bestehen  1,  aus  Contingenten  der  einzelnen 
Städte,  namentlich  C'halkaspiden  nach  makedonischer  Art  bewaffnet.  Polyb. 
II,  6.5  u.  a.  2;  A/7.iä)v  £-("/.=;-/,Tot  Pol.  II,  65.  V,  92.  95  u.  a.  einer  Art 
Bundeselite  und  3)  den  ijn^öocp^^poi ,  vom  Bunde  geworbenen  Soldtruppen. 
Polyb.  V,  92  u.  oft.  Befehlshaber  sind  1)  der  Stratege,  2  der  Hipparch, 
3;  wird  öfters  ein  vajctpyo;  genannt,  z.  B.  Polyb.  V,  94,  4;  wahrscheinlich 
mehrere  Unterfeldherren  'jroaTpotrrjYOt.  Allerdings  kommt  mehrmals  nur 
6  'l/7:o3TpaTT,Yo;  vor ,  aber  V,  94  6  ürooTpcttriYÖ;  ttj;  au-^Ts/.sta;  tT^^  riaTptxTj; 
(lies  Tr-    riaToaty.f;;.] 


378      TJeber  die  Bildu>"g  von  Staaten  und  Bünden. 

ihm  stand  der  Hipparch  und  der  Staatsschreiber  (vpaii-fia-cuc), 
femer  zehn  Damiiirgen.  die  namentlich  bei  Berufung  und  Lei- 
tung der  A  olksversammhmg  thätig  ■waren  iind  mit  den  ge- 
nannten ])eamten  die  oberste  Regierungsbehörde  bildeten  ^; . 
Die  Einzelstaaten  mussten  alle  demokratische  Verfassung  viel- 
leicht durch  einen  Census  et-^as  beschränkt  haben 2  ,  sie  hat- 
ten nach  Polybios  dieselben  Gesetze,  gleiches  Maass,  Ge"vvicht 
und  Münze.  Von  richterlichen  Entscheidungen  derselben  konnte 
an  ein  Bundesgericht  appellirt  werden,  an  die  liundeskasse 
entrichteten  sie  bestimmte  Beiträge  ^. .    Innerhalb  dieser  Schran- 


V  [Von  2S0 — 255  erscheinen  als  Obei'behörden  ein  ■(Ci'xiJ.ixa-z'Ji  und  zwei 
Strategen.  Polyb.  II,  43  Strabo  MII  pg.  aS5  C.  Nicht  ganz  klar  ist  die 
Weise,  in  Tvelcher  bei  Berufung  und  Leitung  der  Volksversammlung  Stra- 
tege und  Pamiorgen  betheiligt  sind.  Polyb.  V,  1,  7.  XXIII,  17,  5.  XXIV, 
10,  1.  XXIII,  5,   16.  XXXVIII,  9-11.  Livius  XXXII,  22.; 

2)  Droysen  a.  a.  O.  nimmt  ein  sehr  starkes  timokratisches  Element  an, 
u.  allerdings  sprechen  Stellen,  wie  Plutarch  Philop.  7,  IS  dafür,  [^gl-  auch 
die  Inschrift  von  Megara  bei  Le  Bas-Foucart  Megaride  n.  17  S.  S  ff.,  wo 
-Xo'jTivoot  7.al  äpt"'Soa  Abgeordnete  gewählt  werden.  Dass  aber  die  achaii- 
schen  Staaten  nicht  immer  seit  dem  Sturze  der  Könige  Demokratien  waren, 
wie  Polyb.  sagt,  ergiebt  sich  aus  vielen  Stellen  der  Alten  z.  B.  Thucyd.  V, 
82  und  Xenoph.  Hellen.  VII,  1,  41,  wo  die  »achaiische  Verfassung«  sogar 
für  eine  Art  von  Oligarchie  terminus  technictis  ist.  Hinsichtlich  der  timo- 
kratischen  Gleichberechtigung  ist  die  Stelle  Polyb.  XXXIV,  6  auffallend, 
wo  Polybios  und  seine  Freunde  in  Piom  nach  erlaubter  Heimkehr  wieder- 
zuerhalten trachten  a;  -oÖTiOov  ir/ov  iv  'Ayata  T'.aa;.  Was  sind  das  für 
Ehren  ?  j 

3;  [lieber  Geldbeiträge  oder  Abgaben  an  die  Bundesregierung  vgl. 
Polyb.  IV,  6Ü.  Die  Städte  Djnne,  Pharai,  Tritaia,  vom  Bunde  im  Stiche 
gelassen,  kommen  überein  ihre  e'U'-fooai  an  den  Bund  nicht  abzuliefern, 
sondern  für  ihre  eigene  Vertheidigung  zu  verwenden.  Polybios  tadelt  dies 
sehr,  Öl/./.iu;  t£  ot,  v.ai  -/.oaiof,;  ürraoyo'j^T,;  aoia-TioTO'j  y.aTol  t&'j;  y.otvoj;  voao-j; 
d  h.  da  ihnen  unfehlbar  die  Kosten  für  ihre  Vertheidigung  nach  den  gemein- 
meinsamen  Gesetzen,  zurückerstattet  worden  wären.  Derselbe  V,  30,  5  ai -0- 
Xit;  y.av.ora&oüaai  y.at  ar^  -■j-c/'i''0'J'JOii  ßor,&£ia;  o'JT/eoöJ;  eiyov  -poiT«;  zi^zopi^. 
V,  91,  1.  ApaTo;  r,t  -<xoe0.r^'x.si  to  te  ^t\iv.m  to  twv  'Ayatwv  7ia~£c9op(XEvov,  ta; 
t£  tA'/.zh  öXtY«up(»;  o'.ay.£i}XiV7;  -yj^  ta;  jt;  -o'jzo  t6  [Aspos  Eiaccopd;.  V,  94,  9. 
O'jvopaaovTOJv  0£  tü)v  t£  7.'j.~ä.  -jf^^^  y.al  twv  y-ot-rd  öäXassav  Xaoupwv ,  rrepl  tov); 
aÜTO'j;  y.aip&u:,  xal  auvay&EtSTj;  d-o  tojtiov  -posoooj  xal  yopT,Yi'^?  i-xavfj;  i-ji- 
v£-o  Toi;  T£  5Tpa~ttt)Tat;  &äp'o;  ÜTTEp  TT,;  -(üv  fj'lvy/'.wv  y.ouL'.of,:,  rai;  t£  "o/.Jiiv 
£>.-U  'J~£p  Toü  u.r,  ßap'jv&T,3£Gi}ai  Tal;  Etitfopai?.  Ebenso  wird  den  nach  ihrem 
Abfalle  unter  Deinokrates  1 S2  v.  Chr.  wieder  zum  Eintritte  in  den  Bund 
genöthigten  Messeniern  dreijährige  Steuerfreiheit  gewährt.  XXI^  ,  2,  3.  g'jvs- 
&E>JTo  TT|V  -po;  Messtjvio'j;  OT-f;).T,v,   G'JYywp'r,3avT£:  aÜToT;    "pö;  toTc  aiJ.v.t  '^i- 


ÜEBER    DIE    BiLDTJXG    VOX    StAATEX    UlSD    BÜNDEN.         379 

ken  aber  hatten  sie  für  die  A'erAvaltinig  ihrer  besonderen  Ver- 
hältnisse freie  IJeAvegung  'j . 


},avi)pu)rot;  -Arn  xp'.wv  etwv  ä-iÄeiav.  Ganz  klar  ist  danach  nicht,  ob  der 
Bund  nur  von  den  Städten  Geldcontingente  erhob ,  oder  ob  er  von  den 
Bürgern  direct  Steuern  ei'hob.  Nach  attischem  Sprachgebrauch  wären  die 
£iacfop7.i  eher  letztere ;  aber  sonst  sprechen  die  Stellen  mehr  für  die  erstere 
Ansicht.  Für  die  Existenz  eines  eigentlichen  Bundesschatzes  spricht  auch 
das  Anerbieten  des  Eumenes  ]20  Talente  für  die  Besoldung  des  Rathes  zu, 
schenken.  Polyb.  XXII,  10  u.  11.  Lykortas  und  seine  Mitgesandten  bringen 
von  Ptolemaios  6000  eherne  Peltastenrüstungen,  5ta7.öoia  oe  täXavTa  vo[i.[a(i.aTo; 
i-'.(i-'r^\t.'j'j  ycüXvcoü.  AVenn  Wähner  de  Achaeorum  foederis  origine  atque  insti- 
tutis.  Glogau  1854  S.  23  behauptet,  dass  kein  Bundesschatz  nachweislich 
sei  und  C.  F.  Hermann  Staatsaherth.  §.  186,  17  ihm  beizustimmen  scheint, 
so  begreife  ich  das  nicht.  Denn  die  eiocpopctt,  mochten  sie  sein,  wie  sie 
wollten,  mussten  doch  irgendwie  verwaltet  werden.  Es  fragt  sich  also 
nur ,  ob  die  Bundescasse  directe  Einkünfte  hatte ,  oder  ob  sie  nur  durch 
Geldcontingente  der  Staaten  gespeist  wurde.  Auffallend  bleibt ,  dass ,  so 
viel  ich  weiss,  keine  Tci[Atai  des  Bundes  erwähnt  werden;  vielleicht  hatte 
einer  oder  mehrei'e  der  Damiorgoi  das  Geschäft  zu  versehen.] 

•  Hie  und  da  kommen  freilich  starke  Eingriffe  vor,  wie  z.  B.  die  durch 
Diaios  veranlasste  Freilassung  von  Sklaven  Polyb.  XXXIX,  8.  Wenn  aber 
derselbe  Schriftsteller  II,  37  sagt,  es  habe  dem  Peloponnese  zur  Zeit  seiner 
Vereinigung  im  Bunde  nichts  gefehlt  zu  einer  Stadt,  als  von  einer  Mauer  um- 
geben zu  sein,  so  ist  das  eine  von  dem  griechischen  Standpunkte,  dem  Bun- 
desstaaten etwas  ungewohntes  waren,  zu  erklärende  Hyperbel.  Beispiele  von 
einer  sehr  freien  Bewegung  kommen  aber  nicht  selten  vor,  vgl.  Polyb.  IV, 
60.  Die  Staaten  hatten  ihre  eigenen  Räthe ,  Ekklesien  u.  s.  w.  Livius 
XXXII,  19.  Polyb.  XXX\1II,  9,  7  u.  a.  [Ueber  die  Einmischung  des  Bundes 
in  die  Verhältnisse  der  Einzelstädte  ist  interessant  Polyb.  V,  93,  wo  Ara- 
tos  d.  ä.  damals  Feldherr  eine  Versöhnung  und  Ordnung  in  Megalopolis 
nach  der  Zerstörung  zu  Stande  bringt,  deren  Bestimmungen  beim  Hestia- 
Altar  im  Homarion  aufgestellt  werden.  Es  trat  also  wohl  eine  Art  Garan- 
tie durch  den  Bund  ein.  Eine  fortwährende  Einmischung  der  Bundesgewalt 
in  die  Verfassungsverwaltung  fand  bei  Sparta  statt.  Philopoimen  schafi't 
sogar  von  Bundeswegen  die  lykurgische  Verfassung  ab.  Vgl.  Polyb.  XXIV, 
7  die  Einmischung  gegen  Chairon ,  der  durch  den  Strategen  vor  ein  Ge- 
richt gestellt  wird.  AVas  sind  bei  Polyb.  XXVIII,  7,  9  rA  r.t[j\  liurjvii-i-i] 
y.at  Aio-£'.9tj  Pooto'j;  i'oder 'Pooiot)  5i-<taGTai  'j-äpyov-£c  -/.ax' ev.eivov  tov  y.atpov, 
welche  die  Ehren  des  Eumenes  über  die  Massen  beschränkt  hatten?  Wie 
kommen  die  Rhodier  dazu  in  Achaia  Richter  zu  sein  über  die  Auslegung 
einer  Decrets  zu  entscheiden?  Für  achaiische  Bundesgerichtsbarkeit  ist 
wichtig  Pausan.  VII,  9,  5,  wonach  die  Spartaner  hinsichtlich  der  Bluts- 
gerichtsbarkeit von  Rom  die  Begünstigungen  erhielten  ;£vt-/.a  or/.aaTTjpict  zu 
erhalten ;  sonst  aber  dv  -w  'Ayaiy.u)  Recht  suchen  sollten.  Uebrigens  nennt 
auch  Polyb.   II,  37  Bundesrichter.     Für  die  Frage,  ob  die  einzelnen  Bun- 


380      Uebek  die  Bildu>'g  von  St.vaten  uxd  Bünden. 

In  diesen  beiden  Bundesstaaten,  zu  deren  genauerer  Be- 
trachtung es  uns  leider  an  Raum  gebricht .  besonders  in  dem 
achaiischen.  sehen  wir  in  einer  früher  nicht  eiTeichten  AVeise 
Centralisation  und  freie  Bewegung  des  Einzelstaates  vereint, 
durch  eine  von  jedem  Einzelstaate  unabhängige  Centralregie- 
rung.  Die  Unterordnung  unter  diese  erschien  nicht  als  Unter- 
Averfung  unter  einen  anderen  Staat  und  wurde  darum  auch 
von  emzelnen  bedeutenden  Staaten  nicht  unwillig  angenommen, 
während  andere  freilieh  auch  hier  widerstrebten.  Eine  grosse 
Unvollkommenheit  war  allerdings  auch  hier  in  der  Volks- 
versammlung, mag  nach  Köpfen,  was  das  schlimmere  war, 
oder  nach  Städten  abgestimmt  worden  sein,  hier  tritt  der 
Mangel  einer  zu  den  Leistungen  im  Verhältniss  stehenden  \er- 
tretung  hervor.  Alier  auch  so  dürfen  wir  wohl  den  achaiischen 
Bund  die  vollkommenste  Erscheinung  dieser  Art  in  Griechen- 
land nennen.  Dass  auch  diese  l^ünde  den  Untergang  nicht 
hindern  konnten,  ist  nicht  Schuld  der  Verfassung,  da  auch 
die  beste  nicht  ausreicht,  wo  der  Geist  und  die  Kraft  von 
einem  Volke  gewichen  sind,  und  wo  die  äusseren  Verhält- 
nisse so  ungünstig  sind,  wie  hier.  Die  unselige  Feindschaft 
zwischen  dem  achaiischen  Bunde  einerseits,  dem  aitolischen 
Bimde  und  Sparta  anderseits,  zerrissen  auch  damals  Griechen- 
land und  trieben  es  in  die  Abhängigkeit  erst  von  Makedonien, 
dann  von  dem  weit  gefährlicheren  Rom.  Wäre  es  möglich 
gewesen  zur  rechten  Zeit  Sparta  und  Achaia  zu  vereinen,  oder 
gar  die  ganz  analogen  achaiischen  und  aitolischen  Bünde  zu 
einem  zu  verschmelzen,  so  hätten  "s-ielleicht  noch  damals  Grie- 
chenlands Geschicke  eine  andere  Wendung  erhalten  können. 

Werfen  wir  auf  die  gesammten  Einigungsbestrebungen 
einen  Blick  zuriick,  so  müssen  wir  uns  dahin  aussprechen, 
dass  die  Griechen  mit  Ausnahme  der  letzten  Zeiten  grössere 
Macht    auf   längere   Zeit    nur    durch  Vereinigung    in    einem 


desstädte  auch  abhängige  Gebiete  und  Unterthanen  hatten ,  was  besonders 
von  Megalopolis  und  Korinth  Freeman,  freilich  ohne  Beweise,  statuirt, 
Tgl.  auch  Polyb.  IV,  TS ,  wo  Alipheira  früher  'jt:  'Ap7.aoiav  v.al  ^^U'/iz-r^i 
rJi'/.i'i  stehend  genannt  ist.  Ein  ungenauer  Ausdruck  ist  offenbar ,  wenn 
Pausanias  ATI,  13,  7  lasos  in  Lakonika  tots  ok  'A/aiwv  •jrT,y.oov  nennt.  — 
Ueber  das  -/.otvov  twv  'AyatöJv  in  der  römischen  Kaiserzeit  vgl.  u.  a.  Lenor- 
mant  Recherches  archeol.  ä  Eleusis  recueil  des  Inscriptions  n.  16  p.  42  ff.] 


Ueber  dip:  Bildung  von  Staaten  und  ]5ünden.       381 

Staate,  oder  durch  Unterwerfung  unter  einen  Staat,  mochte 
diese  auch  formell  als  IJundesgenossenschaft  auftreten,,  zu  er- 
reichen wussten,  dass  dagegen  die  eigentlichen  Bundesstaaten 
nirgends  mit  der  Freiheit  der  Glieder  auch  bleibende  Stärke 
des  Ganzen  zu  gewinnen  wussten.  Als  man  sich  dem  anzu- 
nähern schien,  war  die  Kraft  der  Nation  bereits  im  Dahin- 
schwinden. Gegenüber  neueren  Verhältnissen  entbehrt  das 
griechische  Alterthum  namentlich  eine  ausgebildete  föderative 
Repräsentatiwerfassung ,  wenn  auch  Versuche  einer  solchen 
da  gewesen  sind.  Das  Haupthinderniss  aber  für  die  Stärke 
der  ganzen  >sation  war,  dass  immer  mehrere  Staaten  auf  den 
ersten  Rang  und  die  Herrschaft  Anspnich  machten.  So  musste 
sie  auf  eine  gebietende  Stellung  gegenüber  den  sogenannten 
Barbaren,  zu  der  sie  vennöge  innerer  Kraft  wohl  befähigt  ge- 
wesen wäre,  verzichten.  Wenn  aber  in  dieser  Beziehung  der 
Partikularismus  des  griechischen  A'olkes  eine  traurige  Erschei- 
nung ist ,  so  dürfen  wir  andererseits  nicht  vergessen ,  dass 
diesem  gleichen  Geiste  das  unendlich  mannichfaltige  Leben 
entsprosste,  das  in  Kunst  und  Wissenschaft  die  herrlichen 
Blüthen  trieb,  welche  zu  allen  Zeiten  Gegenstand  der  Bewun- 
derung sein  werden ,  und  welche  vollen  Ersatz  geben  für  den 
Mangel  im  Staatsleben. 


TEBER  DIE  STELLUXG  DES  CxESCHLECHTS  DER 
ALKMAIONIDEN  IN  ATHEN. 

[Einladung  zur  Rectoratsrede.     Basel.     Schweighauser.     1847.] 

Die  Alkmaioniden  sind  bekanntlich  das  Geschlecht,  wel- 
ches den  grössten  Einfluss  auf  die  Entwickhing  der  Geschichte 
von  Athen  ausgeübt  hat.  Alkmaioniden  bekämpfen  schon  vor 
Solon  den  A'ersuch  des  Kylon  sich  der  Gewaltherrschaft  zu 
bemächtigen  und  laden  durch  die  frevelhafte  Art,  wie  sie  die 
zur  Uebergabe  gezwungenen  Anhänger  Kylons  trotz  des  gött- 
lichen Schutzes,  unter  dem  sie  standen,  niederhauen  lassen, 
schwere  Blutschuld  auf  sich.  Alkmaioniden  stehen  in  den 
Parteizwisten  zu  Solons  und  Peisistratos  Zeit  an  der  Spitze 
der  Mittelpartei,  der  Paralier.  Alkmainoiden  bauen  den  abge- 
brannten delphischen  Tempel  mit  freigebigem  Aufwände  wie- 
der auf  und  bewirken,  von  dem  Orakel  unterstützt,  dass  Sparta 
die  Peisistratiden  aus  Athen  vertreibt,  der  Alkmaionide  Klei- 
sthenes  giebt  durch  Aufliebung  der  alten  4  Phylen  und  die 
Eintheilung  sämmtlicher  Bürger  in  10  neue,  so  wie  durch  eine 
Reihe  anderer  Einrichtungen  der  athenischen  Verfassung  eine 
entschieden  neue  Gestalt  und  ist  als  der  Gründer  der  Demo- 
kratie zu  betrachten.  Von  mütterlicher  Seite  endlich  gehören 
diesem  Geschlechte  der  gi-össte  der  athenischen  Staatsmänner. 
Perikles,  und  der  geniale  Alkibiades  an.  Kein  anderes  Ge- 
schlecht in  Athen,  selbst  das  der  Medontiden  nicht,  kann  sich 
einer  Reihe  solcher  Männer,  eines  so  mächtigen  und  so  lange 
andauernden  Einflusses  rühmen.  Es  ist  daher  zur  richtigen 
Beurtheilung  desselben  von  grösster  Bedeutung  zu  wissen, 
welcher  Classe  der  Bürgerschaft  es  angehörte,    ob  es  altadeli- 


Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden.     383 

eher,  eiipatridischer  x\.bstammung  war  oder  nicht,  liis  in  die 
neneste  Zeit  scheint  man  nun  allgemein  der  Meinung  gewesen 
zu  sein,  dass  ersteres  der  Fall  gewesen  sei^l .  In  der  neuesten 
Zeit  dagegen  ist  das  mit  der  grössten  Bestimmtheit  in  Abrede 
gestellt  worden  und  zwar  von  einem  ebenso  gelehrten  als 
scharfsinnigen  Kenner  der  attischen  Altherthümer  und  Ge- 
schichte. Als  nämlich  an  der  neunten  'S'ersammlung  der  Phi- 
lologen und  tSclmlmänner  zu  Jena,  Herr  Theodor  Bergk  in 
seinem  Vortrage  über  die  Geschwornengerichte  zu  Athen 
die  Meinung  aussprach ,  erst  Kleisthenes  habe  den  Be- 
amten die  Entscheidung  in  Rechtsfällen  genommen  und  an 
die  Geschwomen  übergeben,  äussert**  Göttling.  der  diese  Be- 
hauptung bestritt ,  \niter  anderm .  Kleisthenes  sei  ursprünglich 
Aristokrat  gewesen  und  erst  weil  er  mit  seiner  Partei  zu  un- 
terliegen fürchtete,  umgeschlagen  und  Demokrat  geworden. 
(Verhandlungen  S.  41.)  Dagegen  erhob  sich  nun  aufs  nach- 
drücklichste mein  verehrter  Freund,  Herr  Direktor  Sauppe  in 
Weimar  und  bemerkte   (S.   43   : 

))Was  Professor  Bergk  über  Kleisthenes  vorgebracht,  ist 
mir  aus  der  Seele  gesprochen ,  nur  gegen  die  Bemerkiuig  des 
zweiten  Herrn  Präsidenten,  als  sei  Kleisthenes  früher  Aristokrat 
gewesen  und  dann  zu  den  Demokraten  übergegangen .  muss 
ich  seine  Ehre  retten.  Kleisthenes  gehörte  zu  den  Alkmaio- 
niden, einer  Familie,  die  nie  auf  der  Seite  der  Aristokraten 
war,  nie  zu  den  Eupatriden  gehört  hatte.  Das  beweist  eine 
Stelle  des  Isokrates  Trspl  l^soyouc,  wo  es  von  Alkibiades  heisst, 
er  stamme  väterlicher  Seits  von  Eupatriden.  mütterlicher  aber 
von  den  Alkmaioniden ;  also  gehörten  diese  nicht  zu  den 
Eupatriden . 


')  Man  vgl.  u.  a.  Schömann  de  comit.  Athen,  p.  M^II.  sed  horum  co- 
nattts  cupidius  ut  videtur  quam  cautius  suscepti,  ceteroriim  ^iatriciorum,  Alc- 
maeonidarum  maxime  opera  repressi  sunt.  Meier  de  gentilit.  attica.  p.  38. 
de  nohilissima  gente,  quae  orta  ex  regia  prosapia  et  opibus  et  pntentia  et 
rerum  gestarwn  gloria  inter  Atticas  gentes  facilc  principatnm  tenehat, 
tyrannidis  autem  perpetmiin  prae  se  ferebat  odium ,  et  multi  dixerunt  et 
Boeckhius  egregia  quaedum  commentatus  est.  Wachsmuth  Hellen.  Alter- 
thumsk.  I,  1.  S.  269.  1.  Ausg.  Reiner  Sinn  für  Demokratie  ist  ihm 
;dem  Kleisthenes)  einem  Sprössling  des  königlichen  Adels  schwerlich  bei- 
zulegen. 


3S4     I.EBER  D.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden. 

Nach  der  Vertreibung  der  Peisistratiden  machte  die  Adels- 
partei Anstrengungen  die  ganze  Verfassung  Solons  umzustürzen; 
sie  galt  es  zu  retten,   das  ist  Kleisthenes  Verdienst.« 
Ich  entgegnete  darauf    S.   45   : 

«Ich  habe  die  Stelle  im  Isokrates  bisher  immer  umgekehrt 
verstanden.  Das  väterliche  Geschlecht  des  Alkibiades  war  nicht 
so  berühmt,  dass  es  gut  mit  seinem  besondem  Namen  bezeich- 
net werden  konnte,  daher  heisst  es  allgemein:  von  väterlicher 
Seite  stammt  er  von  Eupatriden;  von  mütterlicher  Seite  aber 
stammt  er  nicht  bloss  von  Eupatriden  im  Allgemeinen,  sondern 
von  einem  der  ersten  und  berühmtesten  Adelsgeschlechter,  von 
den  Alkmaioniden.  So  hat  es  offenbar  auch  Aristophanes  in 
den  Wolken  angesehen,  wenn  er  zur  Bezeichnung  der  vorneh- 
men Abkunft  der  Frau  des  Strepsiades  sagt:  £-,"/; [xa  MsYav.Xsou; 
Tou  yh-;aA/,irj\Jc  ao£//fioT(V,  man  mag  die  beiden  Genetive  an- 
sehen wie  man  will.« 

Herr  Sauppe  replicirte : 

»Nur  über  die  Alkmaioniden  noch  ein  Wort.  Eine  ein- 
fache Betrachtung  der  Stelle  des  Isokrates  lässt  nur  meine 
Erklärung  zu.  Man  müsste  sich  allenfalls  die  des  Herrn  Pro- 
fessor Vischer  gefallen  lassen,  wenn  die  Stelle  sich  mit  sonsti- 
ger Ueberlieferung  nicht  anders  vereinigen  Hesse.  Wenn  aber 
gerade  durch  eine  einfache  Hinnahme  des  Wortlautes  die  sonst 
nicht  aufzuklärende  Stellung  der  Alkmaioniden  gegenüber  den 
Aristokraten  in  ihr  rechtes  Licht  gestellt  wird,  so  darf  man  das 
nicht  wegdeuten  wollen.  Die  Stelle  des  Aristophanes  beweist 
nichts;  denn  dass  die  Alkmaioniden,  wenn  auch  nicht  durch 
Adel,  doch  durch  grossen  Reichthitm,  glanzvolle  Thätigkeit  und 
Gc^chichte.  hervorragende  Persönlichkeiten  sich  in  Athen  eine 
hohe  Stellxmg  errungen  hatten,  leugnet  Niemand;  weiter  liegt 
auch  in  Aristophanes  Worten  nichts,  in  dessen  Zeit  überhaupt 
die  Bedeutung  des  Adels  schon  andern  Potenzen  gewichen  war.« 
Herr  Sauppe  stellt  also  aufs  bestimmteste  den  Satz  auf, 
die  Alkmaioniden  seien  nie  auf  Seite  der  Aristo- 
kraten gewesen,  hätten  nie  zu  den  Eupatriden  ge- 
hört. Er  gründet  diese  Behauptung  auf  die  Stelle  des  Iso- 
krates, -cpl  Tou  C^oyouc  §.  25  0  Y^tp  ~aTr,p  Tzpo?  [X£V  avopeuv  rv 
EuTra-piO(uv.  (UV  -r,v  £u7£V3iav  sE  aurr^c  zr^z  e-tuvuixiotc  paoiov  Yvui- 
vai,    Kpo?   Y'-^''^-''-"^''    ^'    'A/.7.aa'.cüV'.6(j5v    o"  tou   jxiv  rXouto'j  a£Yi3Tov 


Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden.     385 

avTitisTov  zaTsXtTTOv  T~:tu)V  y^p  C-uyst  "puitoc  AXxfiai'fuv  tuiv  k^/Xi- 
Ttuv  'ÜX'ju.T:i'a3iv  ivuTj3£;  TTjV  o'  suvoiav  T^V  3i//jV  ilC  70  TTÄrjiloc  3V 
ToTc  Tupavvtxol;  i-sSet'lavTo.  au-'Yävsi;  y^^P  ovts;  riciaisTparou  xal 
-piv  cic  TTjv  ap/7;v  xaTaatr^vai  aaXiar  aurw  /owasvoi  tu)v  TcoA'.roiv, 
oux  r^;i'a>3av  aitotj/siv  tt^;  sxsivoo  lupawioo;  otXX'  siAovTo  cpuYsTv 
p,aXXov  T^  Tou?  -oAiTac  losiv  oouXsuovtoic.  In  dieser  Stelle  wird 
allerdings  hauptsächlich  die  Volksthümlichkeit  und  tyrannen- 
feindliche Gesinnung  der  Alkmaioniden  hervorgehoben,  weil  es 
dem  Sprecher,  dem  Sohne  des  berühmten  Alkibiades,  darauf 
ankam,  zu  zeigen,  dass  seine  Familie  von  jeher  es  mit  der 
Freiheit  Athens  gut  gemeint  habe,  es  treten  auch  die  .Vlkmaio- 
niden  in  einen  wenigstens  scheinbaien  Gegensatz  zu  den  Eupa- 
triden.  Allein  dieses  Gegenüberstellen  wird  durch  meine  Auf- 
fassung erklärt,  ohne  die  Alkmaioniden  von  den  Eupatriden 
auszuschliessen.  Die  Stelle  zwingt  luis  also  nicht  anzunehmen, 
dass  Isokrates  oder  der  Sprecher  aussage  die  Alkmaioniden 
seien  keine  Eupatriden  gcAvesen.  Herr  Sauppe  giebt  selber  zu, 
dass  man  sich  allenfalls  meine  Erklärung  gefallen  lassen  müsste, 
wenn  sich  die  Stelle  mit  sonstiger  Ueberlieferung  nicht  anders 
vereinigen  Hesse.  Es  kommt  demnach  darauf  an  dies  zu  be- 
weisen, und  das  will  ich  in  folgendem  versuchen,  wobei  ich  nun 
freilich  eigentlich  Neues  nicht  beibringen  kann .  da  das  Ge- 
schlecht der  Alkmaioniden  bereits  mehreremal  Gegenstand  ge- 
lehrter und  gründlicher  Untersuchiuigen  gewesen  ist  \  .  Da  aber 
trotz  diesen  seine  hochadeliche  Abstammung  so  bestimmt  be- 
stritten worden  ist.  wird  eine  Zusammenstellung  der  l^eweise 
für  dieselbe  hinlänglich  gerechtfertigt  sein.  Zugleich  wird  sich 
daran  die  Frage  knüpfen,  ob  die  Alkmaioniden  nie  auf  Seite 
der  Aristokraten  gestanden,  eine  Frage,  welche  mit  der  ersten 
keineswegs  identisch  ist.     Es    konnte    auch   ein  Eupatridenge- 


•)  Palmerius  exercit.  p.  632  ff.  Leyden  166S.  Böckh  Explicat.  ad  Pindar. 
Pyth.  p.  300  squ.  Döderlein  in  der  Hallischen  Encyklopädie,  Kraft  in  Pauly's 
Realencyklopädie.  Art.  Alkmäon.  Meier  de  gentil.  Attica  p.  3S.  Ich  be- 
merke hier  gelegentlich,  dass  es  ein  Irrthum  ist ,  wenn  Döderlein  das  Ge- 
schlecht der  Kallias  und  Hipponikos  zu  einer  Nebenlinie  der  Alkmaioniden 
macht;  die  Verschiedenheit  der  Geschlechter  :ergiebt  sich  schon  aus  dem 
Gegensatz,  in  den  sie  Herod.  \1,  121  und  Demosth.  g.  Midias.  §.  144 
bringen.  Die  Familie  der  Kallias  und  Hipponikos  gehört  vielmehr  zum 
Geschlechte  der  Keryken  vgl.  Meier  de  gentil.  p.  44. 

Vischer,  Schriften  I.  25 


386     Ueber  d.  Stelling  d.  Geschlechts  d.   Alkmaioniden. 

schlecht  von  der  Zeit  an .  wo  eme  demokratische  Partei  sich 
erhob,  fortwährend  bei  dieser  stehen.  Dass  es  bei  den  Alk- 
maioniden nicht  der  Fall  gewesen  sei.  dass  sie  nicht  nur 
Eupatriden  von  Geburt,  sondern  eine  Zeitlang  auch  Aristokra- 
ten von  Gesinnung  gewesen .  das  hoffe  ich  klar  und  überzeu- 
gend darzulegen. 

Die  Stelle  des  Aristophanes ,  welche  ich  gegen  Herrn 
Sauppe  angeführt  habe,  hat  nun.  das  gebe  ich  zu.  nicht  volle 
Beweiskraft.  Es  Avird  in  derselben  nur  das  Geschlecht  der 
Alkmaioniden  als  ein  äusserst  vornehmes  und  üppiges  der  ein- 
fachen ländlichen,  ja  1)äurischen  Familie  des  Strepsiades  ent- 
gegengestellt:   V.   47. 

s'-c'.t'  £77,1x7.   MsYa/.Äio'j;  tov»   Mv^a/.Ki'j'jt 

osavrjv.    Tpucpu)37.v.    iyxsy.oiaopoiixavrjV. 

Doch  bemerke  ich.  dass  die  Einwendung,  in  Aristophanes 
Zeit  habe  der  Adel  bereits  anderen  Potenzen  Raum  gemacht, 
nicht  zutrifft,  weil  die  Frau  des  Strepsiades  dargestellt  ist  als 
stolz  auf  ihre  Abkvinft.  auf  ihre  A'erwandtschaft  mit  dem  Me- 
gakles,  der  ihr  Oheim  genannt  wird,  und  Ahnenstolz  mit  An- 
sprüchen, welche  das  Vermögen  überschreiten  und  zu  Grunde 
richten,  wie  es  Aristophanes  hei  der  Frau  des  Strepsiades  schil- 
dert, findet  man  ja  überhaupt  meist  in  den  Zeiten,  wo  die  Be- 
deutung des  Adels  im  Sinken  begriffen  ist.  Die  Stellung  des 
Geschlechts,  um  die  es  sich  handelt .  fällt  also  längst  vor  die 
Zeit  des  Aristophanes.  und  unbefangen  betrachtet,  weist  gewiss 
diese  Stelle  auf  altadeliches  Geblüt.  Ich  will  aber  dennoch 
keinen  Aveitem  Werth  darauf  legen. 

Schwieriger  schon  möchte  es  sein  bei  nicht  adelicher  Ab- 
stammung das  Lob  zu  erklären.  Avelches  Pindar  Pyth.  ^'11.  der 
Familie  giebt : 

V.    l.   KaÄAi-Tov  0.1  [jLSYaÄo-To/.ic:  AOavoi'. 

TTpooiaiov  'AÄy.jj.ctvioav  S'jp'ja!>£V£v  -^zviol 
•    y.pTjTcTo'   ao'.oav 

£-£1  riva  TtaTpav.   Tiva  r    oixov 

Äatov   ov'jjxacoixa'. . 

ir:i'iav£jT£oov    E/.Äaoi  -'jOisiia'. ; 


ÜEBER  D.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden.     387 

V.  13.  ayovTi  8s  [xs  rsvTS  [xiv  'Iai)p.oT 
vlxai,   [xta  8'    ix~[jnzr^z 
Aio;  'OXuixTCia;, 
8uo  o'    aTTO  Ki'ppa;, 
(u  McyaxXöcc  ufiai  rs  xal  TrpoYovouv. 

Zu  Piiidars  Zeit  war  auf  jeden  Fall  die  Bedeutung  des 
Adels  noch  nicht  andern  Potenzen  gewichen,  schwerlich  hätte 
er  in  einem  kurzen  Gedichte  bei  einer  nicht  adelichen  Familie 
mit  solchem  Nachdrucke  die  weithinreichende  Macht  und 
den  unübertroffenen  Ruhm  des  Geschlechts  hervorgehoben. 
Und  die  Wettkämpfe  an  den  grossen  Agonen.  besonders  mit 
Pferden  und  Wagen  Avaren  überhaupt  so  sehr  gleichsam  ein 
Privilegium  adelicher  Familien ,  dass  noch  Themistokles  nach 
Plutarch  Tliem.  5  getadelt  wurde,  dass  er  mit  Kimon  in  Olpu- 
pia  an  Glanz  wetteifern  wollte.  Es  würde  also  auch  diese 
Anführung  uns  mit  Wahrscheinlichkeit  auf  die  adeliche,  eupa- 
tridische  Abstammvnig  der  Alkmaioniden  schliessen  lassen. 
Volle  Beweiskraft  enthält  sie  aber  allerdings  auch  nicht. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  mehreren  Stellen  Herodots, 
in  denen  er  den  alten  Glanz  des  Geschlechtes  hervorhebt.  V, 62. 
'AAx[jLcu>vioai  ....  sovTsc  avops;  6oxitj,oi  av3xai>£v  sri.  VI.  125  oi 
02  'AXxp-iiovi'oai  T,aav  [jlsv  y.al  ta  avixaUcv  Äoiix-pot  Iv  -yjai  Aör^vifjai, 
dro  ok  'AAx[j.iwvo;  xal  aün;  Mc-j'axÄso:  sysvovto  x7.'.  xapra  Xafxirpoi. 
Danach  Avar  also  bereits  vor  Alkmaion  dem  Zeitgenossen  des 
Kroisos  und  Solon  das  Geschlecht  in  glänzender  Stellung.  Wie 
aber  in  Athen  schon  zu  Solons  Zeit  ein  Geschlecht  berühmt 
sein  konnte,  ohne  den  Eupatriden  anzugehören .  lässt  sich 
schAver  begreifen,  da  ja  bis  auf  ihn  alle  höhern  Aemter  allein 
den  Eupatriden  zugänglich  Avaren. 

Damit  stimmt  überein  die  Aussage  Plutarchs,  dass  Perikles 
A'on  väterlicher  und  mütterlicher  Seite  den  ersten  Geschlech- 
tern angehört  habe.  Plut.  Pericl.  3.  Utpiv.lr^c  yap  t^v  twv  [xsv 
ouAÄv  AxajjLavTi'oTjC,  täv  os  orjjxcDv  XoXapYSü';,  oi'xou  os  xal  "i'ivou; 
.Tou  irptüTou  xat  aij-cporspouc.  Seine  Mutter  Agariste  Avar  bekannt- 
lich eine  Alkmaionidin. 

Sodann  mache  ich  darauf  aufmerkam.  dass  in  den  Partei- 
zAA^sten  zu  Solon's  Zeit  die  beiden  Führer  der  strengaristokra- 
tischen und  der  demokratischen  Partei.  Lykurg  und  Peisistratos 
Eupatriden  Avaren,   es  also  darum  schon  höchst  Avahrscheinlich 

25* 


388     Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioxiden. 

ist,  dass  auch  der  dritte,  Megakles  der  Alkmaioiiide,  demselben 
Stande  angehörte.  Endlich  mag  auch  erwähnt  werden,  dass 
der  Fürst  von  Sikyon  Kleisthenes,  den  Megakles  schwerlich 
nnter  den  zahlreichen  Freiern,  die  aus  ganz  Griechenland  sich 
bei  ihm  versammelt  hatten,  bevorzugt  und  ihm  seine  Tochter 
Agariste  gegeben  hätte,  wenn  er  sich  nicht  durch  adeliche  Ab- 
stammung ausgezeichnet  hätte.  Denn  Kleisthenes  fragte  zuerst 
nach  eines  jeden  Freiers  Vaterland  und  Geschlecht  Trpuita  \ikv 
ta;  -atoa?  ts  au-u)v  avöTiuilöTo  xai  -[hoc  s/aaiou  und  hatte  zuerst 
den  Hippokieides  auserkoren  wegen  seiner  Tüchtigkeit  und  sei- 
ner Verwandtschaft  mit  den  K^^Dseliden  in  Korinth,  y.ai  y.ar 
(XvSoaYaüirjV  xai  ort  ~a.  avexailsv  iciTai  sv  Kopi'vüfu  Ku'I^cXtOTjai  r^v 
KpoaTjXOiV,  Herod.  VI,    128. 

Diese  und  andere  ähnliche  '  Nachrichten  stellen  zwar  das 
Alkmaionidengeschlecht  so  dar,  dass  sich  nicht  daran  zweifeln 
lässt,  es  habe  zu  den  vornehmsten  in  Athen  schon  zu  Solons 
Zeit  und  früher  gehört,  und  da,  wie  bereits  bemerkt,  in  jener 
Zeit  der  Glanz  einer  Familie  oder  eines  Geschlechtes  ^  eines 
oly.oz  oder  eines  ysvoc)  mit  nicht  adelicher  Abstammung  sich 
kaum  vereinigen  lässt,  so  Aväre  auch  bewiesen,  dass  die  Alk- 
maioniden  zu  den  Eupatriden  gehörten.  Jene  Stelle  des  Iso- 
krates,  auf  die  Herr  Sauppe  seine  Behauptung  allein  stützt, 
verliert  dagegen  alle  Bedeutung,  weil  sie  sich  anders  erklären 
und  mit  der  gewöhnlichen  Ansicht  in  Uebereinstimmimg 
bringen  lässt.  Ich  gestehe,  dass  für  mich  es  keiner  w^eitem 
Beweise  bedürfte  und  ich  in  vielen  zweifelhaften  Fällen  froh 
wäre,  so  bestimmte  Belege  zu  besitzen.  Die  Bedeutung  der- 
selben tritt  um  so  mehr  hervor,  wenn  man  bedenkt,  wie  selten 


1)  So  Argum.  II  zu  Arist.  AVolken.  rOiS^örr,;  -(dr,  icTtv  ä/8o,u.evo;  raiol 
dn-v/.o'j  'ipovr^aaTo;  -fiii-C/vt'.  y.ai  -qz  £ ü Y £''£'•'-' ?  ^h  "o/.'JTsXsiav  äTTO/.E/.a'jy-ott, 
r,  f<ip  "öJv  'A"/.y.u.a'.(uv'.ott)v  oiy.ict  5&£v  t,v  t6  -pö;  [jivjTpö?  ^jvo;  6  [A£tpay.ir/.o;  i^ 
äp/fj;  (u?  cfr|Siv  'HpoooTo;  T£&p'.r:7:oTp6cfo;  r,v  •/.  t.  )..  Suid.  s.  v.  'A"/.xij.auijvioat 
7£vi;  iz-h  £T:'.cpcf/£;  A8r,v-^3'.v,  d-b  'A>.v.ixoii(uvoc,  ebenso  Harpocration.  Plu- 
tarch  de  malign.  Herod.  c.  27. 

-,  Meier  de  gentilit.  pag.  3S  hat  einige  Zweifel,  ob  die  Alkmaioniden 
eines  von  den  36U  Geschlechtern  eine  -[vtzd,  fi-iOi  im  engern  Sinn  des 
"Wortes  gewesen  oder  nur  ein  oty.r>;  eine  Familie.  Für  unsere  Frage  ist 
die  Sache  gleichgültig,  indessen  scheinen  mir  die  von  ihm  selbst  angeführ- 
ten Stellen  für  ein  -(ho^  zu  sprechen. 


Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  Dj  Alkmaionidex.     389 

verhältnissmässig  das  Wort  Eiipatride  bei  den  alten  Schrift- 
stellern vorkommt';,  nnd  meistens  dafür  Ansdrücke  stehen  wie 
-j'svo?  XajxTrpdv,  Inicpavsc,  zpÄTov ;  rXouaiot  n.  dgl.  Trotz  dem  aber 
gebe  ich  zu ,  dass  man  ganz  vollständige  Gewissheit  daraus 
nicht  erhält,  sondern  nur  grösste  AVahrscheinlichkeit ,  -womit 
man  sich  aber  in  historischen  Dingen  oft  begnügen  muss.  und 
darum  will  ich  ihnen  keine  IJedeutung  beilegen,  da  wir  gerade 
bei  den  Alkmaioniden.  wie  bei  wenigen  andern  Geschlechtern 
im  Stande  sind  mit  fast  mathematischer  Bestimmtheit  nachzu- 
weisen,  dass  sie  zu  den  Eupatriden  gehörten. 

Einen  vollkommenen  lieweis  hätten  wir,  wenn  der  sechste 
lebenslängliche  Archon  Megakles  und  der  letzte.  Alkmaion.  wie 
Döderlein  und  A.  Avegen  der  Namen  angenommen  haben, 
Alkmaioniden  gewesen  wären.  Allein  bereits  Böckh  zu  Pindar 
S.  501  hat  gezeigt,  dass  dies  nicht  glaublich  sei.  weil  die  le- 
benslänglichen Archonten  alle  aus  dem  Geschlechte  der  Me- 
dontiden  genommen  wurden,  vielmehr  seien  sie  wohl  nur  nach 
Megakliden  genannt,  weil  ihre  Mütter  diesem  Geschlechte  an- 
gehört hätten.  Also  Avären  die  Alkmaioniden  dem  Königsge- 
schlechte  frühzeitig  verschwägert  gewesen,  was  gewiss  nur  der 
Fall  gewesen  sein  kann .  wenn  sie  adelich  waren  '^. .  Allein 
auch  dies  ist  Vermuthung.  Avird  man  einwenden.  Allerdings, 
und  so  wahrscheinlich  sie  ist.  kann  sie  doch  nicht  auf  voll- 
ständige Gewissheit  Anspruch  machen. 

Unwiderlegbar  sprechen  aber  folgende  Thatsachen.  Ein 
Megakles  war  Archon,  als  Kylon  den  ^'ersuch  machte  sich  der 
Tyrannis  zu  bemächtigen,  einige  Zeit  vor  Solon.  wahrscheinlich 
Ol.  42,  1  oder  612  v.  Chr.  Dieser  Megakles  gehört  der  Fa- 
milie der  Alkmaioniden  an.  welche  überhaupt  die  entschieden- 
sten Gegner  der  Kylonischen   Faktion  Avaren  3) .     Dem  Archon 


1)  Von  den  wenigsten  athenischen  Adelsgeschl echtem  wird  mau  Stellen 
aufweisen  können,  wo  sie  geradezu  Eupatriden  genannt  werden. 

-j  Schoemann  de  comit.  p.  IV :  (äqi(e  Eupatridas  quidem  eos  fuisse 
qui  aut  regio  generi  cognati  aut  stirpis  vetustate  et  nohilitate  clari  essetit  et 
ratio  vincit  et  veteittm  scriptoriim  testimonia  docent,  qui  eos  fuisse  dicunt 
fxe-csy^ovxa;  ßaotXtxoD  fi-^o'Ji  aut  xou?  £7.  tüiv  d-icpavwv  oiV-ujv  -/.od  ypT,[Aaoi 
O'jvaTO'j;. 

3;  Plut.  Solon  12.  Pausan.  VII,  25,  3.  Herod.  V,  70,  Tl.  Thucyd. 
I,   126.     Heraclid.  Polit.  I,  S.  4  ed.  Schneidew. 


390    Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden  . 

Tind  seiner  Familie  Avurde  die  Ei-mordiing  der  Anhänger  Kylons, 
die  sich  in  den  Schntz  der  Götter  begehen  hatten,  Schuld  ge- 
geben* lind  z-\vei  Jahrhunderte  lang  lastet  von  da  an  der  Fluch 
auf  dem  Geschlechte,  der  von  Zeit  zu  Zeit  von  politischen 
Gegnern  wieder  als  ParteiwafFe  gebraucht  wird^),  wie  nach 
der  Vertreibung  der  Peisistratiden,  von  Isagoras  und  Kleome- 
nes,  vor  dem  Ausbruch  des  peloponnesischen  Kriegs  von  den 
Spartanern  und  der  oligarchischen  Partei  in  Athen  gegen  Pe- 
rikles.  Bis  auf  Solon  war  aber  das  Archontat  wie  alle  höhern 
Staatsämter  ausschliesslich  und  ohne  irgend  eine  Ausnahme 
bloss  den  Eupatriden  zugänglich  2  .  Also  muss  Megakles  ein 
Eupatride.  und  da  er  ein  Alkmaionide  war,  das  Geschlecht  der 
Alkmaioniden  ein  Eupatridengeschlecht  gewesen  sein.  Diese 
Thatsache  allein  ist  genügend,  wer  sie  bestreiten  wollte,  müsste 
den  Peweis  führen ,  dass  das  Archontat  schon  damals  Nicht- 
adelichen  offen  gestanden  habe. 

Ferner  aber  Avissen  wir  nicht  nur  im  Allgemeinen ,  dass 
die  Alkmaioniden  den  Eupatriden  angehörten,  sondern  können 
auch  ihr  Geschlecht  bis  auf  die  Einwanderung  in  Attika  zu- 
rückverfolgen. Es  ist  nämlich  durchaus  irrig,  wenn  man.  was 
die  Meinung  der  Scholiasten  zu  Pindar.  Pyth.  ^"11.  zu  sein 
scheint  -^  ,  glaubt,  sie  hätten  ihren  Namen  erst  von  dem  Sohne 
des  Megakles,  dem  Zeitgenossen  des  Kroisos,  erhalten.  Sie 
waren  vielmehr  schon  vor  ihm  berühmt  und  mächtig,  nur 
wurde  durch  ihn  der  Glanz  des  Geschlechts  noch  erhöht,   wie 


ij  Man  vergleiche  ausser  den  bereits  angeführten  Stellen  Herodot.  I^ 
61,  der  ei-zählt  Peisistratos  habe  mit  der  Tochter  des  Megakles  desshalb 
keine  Kinder  erzeugen  wollen,  weil  die  Alkmaioniden  fluchbelastet  gewesen 
seien  und  Aristoph.  Ritter.  445,  wo  Kleon  dem  "Wursthändler  droht ,  ihn 
als  einen  Abkömmling  der  Schuldbefleckten  'ä/.'.Tr,pto'.;  zu  verzeigen,  und 
dazu  den  Scholiasten. 

2)  Hermann  Lehrb.  der  Staatsalterth.  §.  103.  Schoemann  de  comit. 
p.  VIII.     Antiquit.  p.  ]69. 

3j  Die  Worte  des  Schol.  lauten:  ■(i-[oi--'xi  [xb  -q  wot,  MeYay.Xei 'A9r,-/aiu> 
ävctcpepovTt  t6  'fivo;  ei;  'A).7.[j.0Ltt«'^a  tov  ycvöijl£vov  a-^av  rXo'jaKÜT'jCTOv.  Es  folgt 
die  Erzählung  von  Alkmaions  Abenteuer  bei  Kroisos,  darauf  fährt  er  fort : 
oia  TOt  toÜTO  e-tciotviiTaro;  7.c.Ta  tt,v  'Attiv.TjV  'jZ'ii\r^-'xi,  «ü;  T.-i'i't  tuv  T).o'J3ta)- 
Taxo;  d'x'o'J  'Aoli  01  "A/.x[jia'.(uv''i'jti,  01  vm  -t,v  t&v  IletS'.STpaTioiüv  rjpctvvtoa 
xctT^A'joav,  und  zu  v.  1  :  e'JO'JoBivfj  ok  eTtte  T-r|V  '(v^^6.•^  a'jTöiv  ota  t6  tov 
A"A"/[j.a'.«jva   ävooeio-;    xiva    ■/.ni   enctav-r,  ■lt\i^%n.l ,    dtp    oG  v.al  ot    AAxaatwvioat. 


Ueber  d.  Stellung  d.   Geschlechts  d.  Alkmaioniden.     391 

Herodot  sagt.  Auch  von  dem  Sohne  des  Araphiaraos  ^; ,  wie 
Nielnihr  in  den  Vorlesungen  über  alte  Geschichte  S.  354 
meinte,  leiteten  sie  sich  nicht  ab.  sondern  ihr  Stammvater  war 
Alkmaion,  der  Sohn  des  Sillos .  Enkel  des  Thrasyraedes .  Ur- 
enkel des  Nestor.  Als  die  Herakleiden  den  Peloponnes  erober- 
ten lind  das  Pylische  Reich  gestürzt  A\'nrde.  flohen  die  Neleiden 
Melanthos .  Peisistratos .  Alkmaion  und  die  Söhne  des  Paion, 
eines  Sohns  des  Antilochos,  nach  Athen.  Alle  fanden  daselbst 
gastliche  inid  ehrenvolle  Aufnahme.  Melanthos  gewann  das 
Königthum  und  vererbte  es  auf  seine  Nachkommen .  Avelche 
auch  nach  der  Umwandlung  der  Monarchie  in  eine  Aristokratie 
eine  mächtige  und  angesehene  Familie,  die  Melanthiden ,  Ko- 
driden  oder  Medontiden  genannt,  blieben.  Die  andern,  in  den 
athenischen  Adel  aufgenommen ,  wie  später  Appius  Claudius 
in  den  römischen,  wurden  Stammväter  der  Peisistratiden .  der 
Paioniden  imd  Alkmaioniden '^  .  Diese  drei  Familien  standen 
demnach  der  königlichen  zunächst .  und  es  findet  sich  bestä- 
tigt, was  oben  über  das  nahe  \  erhältniss  der  Alkraaioniden  zu 
den  Kodriden  als  sehr  wahrscheinlich  aufgestellt  worden  war. 
Es  steht  also  fest,  dass  die  Alkmaioniden  ein  altadeliches 
Eupatridengeschlecht  imd  zwar  eines  der  allervornehmsten 
waren.  Die  von  Herrn  Sauppe  gegebene  Erklärung  der  Iso- 
kratischen    Stelle    lässt    sich    daher    mit    bestimmter    sonstiger 


1)  An  diesen  Alkmaion,  der  weit  berühmter  als  der  Neleide  war,  dachte 
wahrscheinlich  auch  die  Quelle,  aus  der  Hesych.  und  Suidas  die  Nachricht 
entnommen  haben,   die  Alkmaioniden  stammten   ä-'   'A/.y.p.aiojvj;  toü  ■/.r-Jx 

ÖT]3£a. 

'^)  Pausan.  II,  18,  8:  ixßaXXousiv  ('Hp'av./.eToai)  o-jv  k-/.  jaev  Aaxsoatu-ovoc 
xai  Ap^fO'j;  Ttoafxevöv  it.  oe  tt^i;  MeasTjvia;  to-j;  Nea-ropo;  äzo^ovo-j:,  'AXv.[j.a[cijva 
SiXXo'j  Toü  öpas'jfXTjOO'j;  xal  nstoiaTpatov  tov  flststSTpaTOu  '/.v.  "oj;  Ilaiovo? 
Toä  AvTtXo/^O'j  7:cä5a; ,  3jv  oe  ajTOi;  Ms/.iv&ov  tov  Avciporoa~o'j  toü  Bwpo'j 
TOJ  riEv&tXc'j  Toij  nepi7,/.'jjj.£vo..>.  T'-3aix£v6c  \ik-i  O'jv  fjX&t  ojv  T1^  OTpaTtä  y.oc^ 
ol  Traloec  eic  -t,v  vüv  'Ayatav.  oi  0£  NT,).£Toat  -Xt,-;  Ilsiat^TpaTO'j  (toötov  y^P 
o'jy.  oloa  Trap'  o'j;-tva;  dreycupTjSöv)  i;  'A&T,va;  d'-^iv-o-no  ot  Xot-rol  y.ai  xö 
OatoviOcäv  •(i'toi  vtal  AXx[jiata)-noü)v  d-o  tojtcuv  («voii.ot38r;aa-;.  McXavi^o;  o£  y.a't 
TTjV  flctsiXeiav  et/ev,  äc.£/.ö[i.£vo;  0'jfxoirr,v  tov  '0;'jvto'j.  "Wenn  Pausanias  nicht 
weiss,  wohin  Peisistratos  geflohen  sei,  so  sehen  wir  dagegen  aus  Herodot. 
V,  65,  dass  entweder  er  oder  seine  Nachkommen  ebenfalls  in  Athen  eine 
Zuflucht  gefunden  hatten,  indem  der  Vater  des  Tyrannen  Peisistratos  sein 
Geschlecht  auf  ihn  zurückführte  und  seinen  Sohn  nach  ihm  benannt  hatte. 


392   Ueber  d.  Stelluxg  d.    Geschlechts  d.  Alkmaioxiden. 

Leberlieferung  nicht  vereinigen,  und  wenn  man  nicht  anneh- 
men will  Isokrates  oder  vielmehr  der  jüngere  Alkibiades .  der 
die  E-ede  hielt,  habe  geradezu  etAVas  Unrichtiges  gesagt,  so 
bleibt  nur  zweierlei  übrig.  EntAveder  muss  man  unter  Eura- 
Tp'-oai,  Avie  einige  Avollen.  ein  besonderes  Geschlecht  A-erstehen ; 
AA'ie  uiiAvahrscheinlich  das  ist.  hat  Meier  de  gentil.  attica  p.  37 
hinreichend  nachgeAviesen.  Gesetzt  aber  auch  es  Aväre  so  zu 
fassen,  so  Avürden  dann  die  Alkmaioniden  nur  den  Gegensatz 
zu  dem  Ge schlechte  der  Eupatriden  bilden,  nicht  zu  dem 
Stande  derselben,  und  die  Folgerung,  die  Herr  Sauppe  aus 
der  Stelle  zieht,  könnte  nicht  mehr  daraus  gezogen  Averden. 
Oder  man  Avird  sich  meine  Erklärung  gefallen  lassen  müssen. 
Avelche  ohne  ZAveifel  allein  richtig  ist  und  sehr  natürlich  er- 
scheinen wird,  sobald  man  sich  der  nachgCAviesenen  hohen 
Stellung  der  Alkmaioniden  erinnert. 

Dass  nun  aber  die  Stellung  der  Alkmaioniden  gegenüber 
den  Aristokraten  ohne  Hemi  Sauppe's  Erklärung  eine  nicht 
aufzuklärende  sei.  Avie  er  meint,  kann  ich  in  keiner  AVeise  zu- 
geben und  AA'ill  sie  daher,  ohne  ihre  Geschichte  ausführlich 
zu  erzählen,  kurz  zu  beleuchten  suchen ,  Avomit  zugleich  die 
Frage  ihre  Lösung  finden  wird,  ob  sie  nie  auf  Seite  der  Aristo- 
kraten gestanden  haben. 

Die  Alkmaioniden,  als  vornehmstes  Adelsgeschlecht  und 
der  königlichen  Familie  zunächst  stehend,  traten  schon  darum 
in  eine  natürliche  Opposition  zu  dieser,  Avie  wir  das  fast  überall 
bei  den  Nebenlinien  regierender  Häuser  finden  V-  Sie  hatten 
zunächst  Ansprüche  auf  Theilnahme  an  den  Prärogativen  des 
Königthums.  Als  das  Archontat  aufliörte  ausschliesslich  den 
Medontiden  anzugehören  und  allen  Eupatriden  eröffnet  Avurde 
(712.  a.  Gh.;  und  als  später  6S2)  neun  einjährige  Archonten 
statt  eines  zehnjährigen  eingesetzt  Avurden.  und  damit  die 
Aristokratie  A'ollendet  Avar.  da  Avaren  sie  durch  Adel  und  Reich- 
thum  A"or  allen  andern  berufen  an  die  Spitze  derselben  zu  tre- 
ten,  sie  sind  die  natürlichen  Vertreter  der  AdelsheiTschaft  ge- 


1;  Niebuhr  Vorträge  über  alte  Geschichte  I,  S.  354.  »Die  entschieden- 
sten Gegner  der  Pisistratiden  Avaren  die  Alkmaeoniden,  ein  Geschlecht  das 
schon  von  sehr  alter  Zeit  her  in  Nebenbuhlerschaft  mit  den  Xeliden  (sollte 
heissen  Melanthiden    gestanden  zu  haben  scheint.« 


Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaionidex .     393 

gen  demokratische  und  tyrannische  Gelüste,  die  in  jener  Zeit 
ziemlich  synonym  sind.  So  erscheinen  sie  in  der  Tliat  als 
leidenschaftliche  Vorkämpfer  der  bestehenden  zur  drückenden 
Oligarchie  gewordenen  Ordnung,  welche  kurz  zuvor  durch 
Drakons  Gesetze  nur  noch  härter  geworden  war.  gegenüber 
Kylon  und  seinem  sehr  bedeutenden  Anhange.  Sie  siegten 
für  den  Augenblick  und  drückten  mit  Energie  die  demokrati- 
schen Regungen  nieder.  Allein  die  Zustände  waren  so.  dass 
sie  auf  die  Dauer  sich  nicht  behaupten  Hessen.  Die  Härte  der 
Adelsherrschaft,  die  Strenge  der  Schuldgesetze,  die  Verschuldung 
und  daherige  A'erknechtung  des  niedrigen  Volks  forderten  ge- 
bieterisch Abhülfe.  Daher  erstarkte  bald  wieder  die  Kylonische 
Partei,  das  heisst  jetzt  die  Partei,  welche  Hebung  dieser  Miss- 
stände. Erleichteriuig  des  auf  dem  Volke  lastenden  Dnickes  \nu\ 
dahm  zielende  "S'eränderungen  in  V'erfassung  und  Gesetz  wollte. 
Sie  bestand  wie  natürlich  zum  grössern  Theil  aus  den  niedern 
Volksklassen ;  allein  es  schlössen  sich  ihren  Betrebungen  auch 
Männer  aus  den  hohem  Ständen,  selbst  Eupatriden  an .  wozu 
das  UebergcM-icht  und  der  vorwiegende  Einfluss  der  Alkmaio- 
niden  gewiss  mitgewirkt  hat.  Die  Gleichheit  unter  den  Oligar- 
chen  selbst  mochte  manchen  bedroht  scheinen,  ein  Umstand  der 
von  Aristoteles  Polit.  VUI.  G  p.  205.  i:Ui.  205.  30  ff.  liekkermit 
Recht  unter  die  Gründe  gezählt  wird,  wesshalb  die  Oligarchien 
erschüttert  Averden.  So  wurde  etwa  15  Jahre  nach  dem  Ky- 
lonischen  Frevel  auf  Antrag  des  Kodriden  Solon  ein  Adels- 
gericht von  300  Männern  niedergesetzt,  vor  dem  sich  die  Alk- 
maioniclen  stellen  mussten;  sie  wurden  venirtheilt  das  Land 
zu  meiden,  angeblich  wegen  ihrer  religiösen  Befleckung,  gewiss 
aber  eben  so  sehr  wegen  ihrer  politischen  Stellung.  Zwar 
dauerten  die  Zwiste  noch  einige  Zeit  fort,  indem  sich  die  drei 
Parteien  der  Pedieer.  der  Diakrier  und  der  Paralier  jetzt  bil- 
deten, doch  veimochte  bald  darauf  Solon  sein  Verfassungswerk 
durchzusetzen,  Avelches  seine  bisherige  politische  Thätigkeit 
krönte,  die  gedrückte  Stellung  der  untern  Classen  aufliob  und 
an  die  Stelle  der  alten  Geschlechterherrschaft  den  Gnindsatz 
des  Census  setzte.  Die  Entfernung  der  Alkmaioiiiden  scheint 
eine  nothAvendige  Bedingung  für  das  Gelingen  desselben  gCAve- 
sen  zu  sein. 

Bald   nachdem   Solons  Verfassung  in  Kraft  getreten  Avar, 


394    Ueber  I).  Stellung  d.  Geschlechts  d.   Alkmaioniden. 

müssen  die  Alkmaioniden  zurückgekehrt  sein.  Avorin  der  deut- 
lichste Beweis  Hegt,  dass  ihre  Entfernung  mehr  poHtischen  als 
religiösen  Motiven  zuzuschreiben  ist.  In  dem  sogenamiten  hei- 
ligen Kriege  gegen  Kirrha,  der  in  diese  Zeit  fällt,  führte  Alk- 
maion,  wahrschemlich  der  Sohn  des  Megakles.  die  athenischen 
Truppen  1  ,  und  in  den  Zwistigkeiten .  welche  bald  nach  So- 
Ions  Gesetzgebung  wieder  ausbrachen,  finden  wir  Alkmaions 
Sohn  Megakles  wieder  als  Parteiführer.  Aber  jetzt  steht  dieser 
Alkmaionide  nicht  mehr  an  der  Spitze  der  eigentlichen  aristo- 
kratischen Partei .  welche  von  Lykurg  geführt  wird ,  sondern 
an  der  der  Paralier,  der  Mittelpartei.  Diese  auf  den  ersten 
Augenblick  auffallende  Erscheinung  erklärt  sich  folgender- 
maassen.  Die  Solonische  Verfassung,  welche  eine  bilUge  Ver- 
mittlung der  bestehenden  Gegensätze  erstrebte,  hatte  eben  da- 
rum Aveder  die  Oligarchen.  welche  Befestigung  ihrer  wankend 
gewordenen  Macht  erwarteten,  noch  die  untersten  Volksklassen, 
welche  noch  vollständigere  materielle  Erleichterung  wünschten, 
befriedigt.  Daher  traten  auch  bald  wieder  diese  zwei  Gegen- 
sätze hervor.  Die  ersten  bilden  die  Partei  der  Pedieer,  meist 
begüterter  Landbesitzer ;  die  zweiten  die  der  Diakrier  oder  Hy- 
perakrier.  zum  grossen  Theil  Hirten  und  kleine  Bauern  aus 
den  gebirgigen  Gegenden  des  Landes.  Die  Pedieer  enthalten 
also  zum  grossen  Theil  diejenigen  Bestandtheile,  welche  früher 
die  Oligarchie  gebildet  hatten  und  von  den  Alkmaioniden  ge- 
führt worden  waren.  Allein,  wenn  auch  die  Bestandtheile 
dieselben  waren,  so  war  doch  die  alte  Partei  desorganisirt  und 
hatte  neuen  Verhältnissen  Raum  gemacht.  Der  alte  Adel  selbst 
hatte,  wie  oben  bemerkt,  ohne  Zweifel  aus  Eifersucht  auf  die 
Macht  jenes  hervorragenden  Geschlechts  zu  dessen  Entfernung 
gewirkt,  sich  dann  während  der  Abwesenheit  desselben  unter 
neuen  Führern  vereinigt  und  sich  so  natürlich  die  Alkmaioni- 
den entfremdet.  Dazu  kam  aber  noch,  dass  in  Folge  der  So- 
lonischen   Schnlderleichtemng.     Seisachtheia,    der    Besitzstand 


1  Plutarch  Solon  11.  Böckh  a.  a.  O.  S.  301.  Einige  Chronologen 
setzen  freilich  den  Anfang  des  Krieges  vor  Solons  Gesetzgebung.  Doch 
fällt  wenigstens  die  Eroberung  von  Kirrha  ziemlich  sicher  nach  derselben, 
vgl.  E.  W.  Fischer  griech.  Zeittafeln'.  S.  114,  115.  Ich  vermuthe,  dass, 
nachdem  Solons  Gesetze  angenommen  waren,  allen  Verbannten  die  Rück- 
kehr gestattet  worden,  also  eine  Art  von  Amnestie  erlassen  worden  sei. 


Ueber  1).  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden.     395 

sich  sehr  verändert  hatte.  Im  Adel  selbst  waren  Familien 
reich  und  dadurch  einflussreich  geworden,  die  früher  unbe- 
deutend waren,  andere  gesunken.  Es  ist  also  sehr  leicht  be- 
greiflich, dass  die  Alkmaioniden  nicht  an  die  Spitze  dieser 
Partei  treten  wollten  inid  konnten,  von  deren  Mitgliedern  sie 
früher  Verstössen  worden  waren,  und  Avelche  jetzt  den  Lykurg 
zum  Führer  hatten,  dem  die  stolzen  Alkmaioniden  sich  auch 
unter  andern  Verhältnissen  schwerlich  untergeordnet  hätten. 
An  der  Spitze  der  entgegengesetzten  Partei  der  Diakrier  stand 
bereits  der  geschmeidige,  populäre  Peisistratos ;  überdies  wird 
es  nicht  befremden ,  dass  diese  Partei ,  die  man  als  die  Fort- 
setzung der  Kylonischen  betrachten  kann,  gerade  zu  den  Alk- 
maioniden kein  sonderliches  Zutrauen  hatte.  Sehr  natürlich 
also,  dass  diese,  die  mit  einer  untergeordneten  Rolle  sich  nicht 
begnügten ,  ihre  Stärke  bei  den  Paraliern  suchten ,  welche  in 
Athen  selbst,  in  Phaleron  und  den  benachbarten  Küstenorten 
gegen  Sunion  zu.  ihre  Wohnsitze  hatten  und  ebensowenig  die 
alte  Oligarchie  Avollten,  bei  der  sie  nichts  zu  bedeuten  hatten, 
als  die  von  den  Diakriern  erstrebte  Demokratie,  die  alle  Unter- 
schiede auflieben  sollte.  Bei  dem  bedeutenden  Reichthum, 
den  die  meist  Handel  und  Gewerbe  treibenden  Paralier  be- 
sassen,  mxisste  ihnen  die  Solonische  Censusverfassung  beson- 
ders zusagen,  und  wenn  es  heisst,  sie  hätten  eine  Mischung 
von  Demokratie  und  Aristokratie  gewollt,  so  dürfen  wir  wohl 
annehmen ,  dass  sie  durch  Solons  Anordnungen ,  die  diesen 
Wünschen  entsprachen,  im  Ganzen  befriedigt  waren.  So  sehen 
wir  jetzt  also  die  Alkmaioniden  bereits  von  der  strengen  Adels- 
partei gleichsam  unAvillkürlich  herübergedrängt  zu  der  beweg- 
lichen Partei  des  Mittelstandes,  dem  Athens  Zukunft  grossen- 
theils  angehörte.  Sie,  deren  Gegenwart  mit  der  Einführung 
von  Yerfassinigsreformen  unverträglich  schien ,  sind  jetzt  die 
Führer  der  Partei,  der  eben  diese  Reformen  am  meisten 
zu  gute  kamen.  Wie  früher  an  der  Spitze  der  Adelspartei, 
traten  sie  jetzt  an  der  Spitze  dieser  Paralier  der  demago- 
gischen Tyrannis  entgegen ,  die  ihnen  jetzt  so  wenig  als  da- 
mals zusagen  konnte.  Allein  diesmal  war  der  Erfolg  für 
den  Anfang  weniger  glücklich ,  weil  die  Gegner  der  Tyrannis 
selbst  getrennt  waren.  Peisistratos  erlangte  die  Gewaltherr- 
schaft.    Einer  vorübergehenden  Vereinigung  der  Lykurgischen 


396     L'eber  d.  Stelll'xg  d.  Geschlechts  d.  Alk>luonii)ex. 

lind  Alkmaionidisclien  Partei  gelang  es  zwar  ihn  wieder  zu 
vertreiben;  aber  der  Zwiespalt  trat  nach  gewonnenem  Siege 
gleich  Avieder  her^'or.  und  wie  wenig  Anhang  die  Alkmaioniden 
mehr  beim  Adel  besassen.  zeigt  sich  daraus,  dass  sie  den  kur- 
zem zogen.  Jetzt  söhnte  sich  Megakles  mit  Peisistratos  aus 
und  half  ihn  wieder  zum  Tyrannen  emsetzen.  ein  Beweis,  dass 
Avir  ihn  uns  nicht  als  uneigenützigen  Tp-annenfeind  zu  denken 
haben,  wiewohl  andrerseits  nicht  geläugnet  werden  kann,  dass 
für  Athens  Freiheit  und  ganze  Zukunft  die  Tyrannis  des  Pei- 
sistratos Aveit  weniger  gefährlich  war  als  ein  unbedingter  Sieg 
der  Lykurgischen  Partei.  Allein  auch  diese  Verbindung  war 
nicht  von  Dauer.  Wegen  eines  persönlichen  Schimpfes .  den 
ihm  Peisistratos  in  seiner  Tochter,  die  er  geehelicht  hatte,  an- 
that.  vereinigte  sich  Megakles  Avieder  mit  Lykurg.  Peisistratos 
musste  zum  ZAveitenmal  Aveichen.  und  zehn  Jahre  blieb  Athen 
frei,  ohne  dass  Avir  die  Stellung  der  Parteien  genauer  kennen. 
Doch  haben  T^-ir  keinen  Grund  zu  zAveifeln.  dass  in  dieser  Zeit 
die  Solonische  Verfassung  unangetastet  geblieben  sei.  und  die 
Alkmaioniden  scheinen  in  höchstem  Ansehen  gestanden  zu 
haben.  Aber  im  eilften  Jahre  geAvann  Peisistratos  mit  bcAvaff- 
neter  Hand  die  Tyrannis  AA-ieder.  die  er  nun  bis  an  seinen  Tod 
behauptete  und  auf  seinen  Sohn  Hippias  A-ererbte.  Diese 
ganze  Zeit  brachten  die  Alkmaioniden.  Avelche  gleich  bei  Pei- 
sistratos Sieg  die  Stadt  verlassen  hatten,  im  Exil  zu^  .  Aber 
hier  Avaren  sie  nicht  unthätig.  Durch  die  Freundschaft  des 
Alkmaion  mit  Kroisos  und  durch  die  A'ennählung  des  Megakles 
mit  der  Tochter  des  mächtigen  Fürsten  Kleisthenes  Aon  Sikyon 
hatte  das  Geschlecht  ebenso  bedeutend  an  Reichthum  als  an 
Ruhm  und  Einfluss  in  ganz  Griechenland  gCAvonnen.  Diesen 
Avandten  sie  mit  grossartiger  Freigebigkeit  und  unausgesetzter 
Thätigkeit  gegen  die  Gewaltherrschaft  der  Peisistratiden  an.  Ein 
Versuch  in  Verbindung  mit  den  übrigen  Flüchtlingen  die 
Rückkehr  mit  beAvaffneter  Hand  zu  erzwingen  missglückte  zwar. 
Aber   sie    Hessen   sich   dadiuch   nicht   abschrecken.     Mit    dem 


ly  Herod.  I,  64:  'A)}T,voi''a)v  ii  oi  [xsv  £•/  ~f^  ^-''J-'/Ti  ^"^""'"''•-^av,  ot  os 
a'jTwv  tj.£T  AA7.u.£wv'.o£o)  i'j^Z'jyi't  iv.  tt,;  riiv.r^lr^i.  vro  ich  mit  "Wesseling  statt 
'A).y.fxiojviO£(M  lesen  möchte  'A).v.ij.£tuv'.02ojv  da  Herodot,  Avenn  er  den  einen 
Megakles  gemeint  hätte,  gewiss  wenigstens  den  Artikel  gesetzt  hätte. 


Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden,     397 

Delphischen  Orakel  schon  durch  Alkniaion's  frühere  Feldherrn- 
schaft in  Verbindung  gewannen  sie  jetzt  dessen  Gunst  in  vol- 
lem Maasse  durch  die  glänzende  Art.  in  der  sie  den  abgebrann- 
ten Delphischen  Tempel  Avieder  aufliauten  '^ .  Denn  während  sie 
nach  dem  Accorde  sich  nur  verpflichtet  hatten  ihn  in  einer 
geringern  Steinart  zu  bauen,  führten  sie  die  Vorderseite  in 
Parischem  Marmor  auf.  Diirch  das  Orakel  wurden  die  Spar- 
taner, deren  Politik  bekanntlich  ohnedies  den  Tyrannen  feind- 
lich war,  bewogen  gegen  die  Peisistratiden  aufzutreten.  Hip- 
pias,  dessen  Herrschaft  in  den  letzten  drei  Jahren,  in  Folge 
von  Hipparchs  Ermordung,  hart  geworden  war,  musste  Athen 
verlassen.  Die  Befreiung  der  Stadt  war  wesentlich  das  Werk 
der  Alkmaioniden .  wie  denn  Thukydides ,  der  von  dem  Ver- 
dienst des  Harmodios  und  Aristogeiton  nichts  wissen  will, 
VI,  59  geradezu  sagt,  Hippias  sei  von  den  Lakedaimoniern 
und  den  Alkmaioniden  gestürzt  worden -j. 

Bis  hieher  war  nun  auch  der  übrige  athenische  Adel  mit 
den  Alkmaioniden  einig  gegangen,  wie  er  sich  bereits  im  An- 
fang von  Peisistratos  Herrschaft  mit  ihnen  vereinigt  hatte.  Nach- 
dem aber  der  Sieg  gewonnen  war,  trennten  sich  die  Interessen 
bald  wieder.  Die  altadeliche  Partei,  ohne  Zweifel  zum  grossen 
Theil  den  ehemaligen  Pedieern  entsprechend,  schloss  sich  an 
Isagoras  an  und  ihr  Streben  ging  auf  Herstellung  oligarchi- 
scher  Einrichtungen,  wie  das  fast  überall  der  Fall  Avar,  wo  die 
Lakedaimonier  Tyrannen  stürzten.  Kleisthenes  dagegen,  seit 
seines  Vaters  Megakles  Tod  das  Haupt  der  Alkmaioniden, 
beim  Adel  an  Einfluss  dem  Isagoras  unterliegend,  stellte  sich 
jetzt  entschieden  an  die  Spitze  der  Volkspartei,  in  der  die  alten 
Paralier  und  Hyperakrier,  die  als  solche  nicht  mehr  existirten, 
vereinigt  waren,   und  befestigte  die  freie  Verfassung  durch  eine 


'  Herod.  V,  62.  "Wenn  Philochoros  nach  dem  Schob  zu  Pindar. 
Pyth.  Yll,  'J  berichtete,  die  Alkmaioniden  hätten  den  Tempel  erst  nach 
ihrer  Rückkehr  aufgebaut,  so  ist  das  wohl  nur  so  zu  verstehen,  dass  bei 
der  Rückkehr  der  Bau  noch  nicht  ganz  vollendet  war,  womit  Aeschines 
gegen  Ktesiph.  §.  116  und  der  Schob  daselbst  übereinstimmt.  Vgl.  Müller 
Handbuch  der  Archäol.   S.  58,  5. 

-)  Die  Redner  pflegen  nach  Bedürfniss  den  Alkmaioniden  allein  die 
Befreiung  zuzuschreiben,  so  Isokr.  tteoI  toj  C^'jvo'j;  §.  25,  26.  Demosth. 
g.  Midias  §.   144. 


398     Ueber  d.   Stellung  d.    Geschlechts  d.  Alkmaioniden. 

Reihe  grossartiger  Massregeln .  unter  denen  die  neue  Einthei- 
lung  des  gesammten  ^  olkes  in  Phylen  und  Demen  den  ersten 
Rang  einnimmt  und  ihm  den  Ruhm  eines  tiefblickenden  Staats- 
mannes sichert.  Dass  nun  die  Oligarchen  gegen  das  Volk 
Sparta's  Hülfe  suchten  und  unter  Kleomenes  Schutz  gegen 
Kleisthenes  und  seme  Anhänger  auf  die  unverantwortlichste 
und  kurzsichtigste  Weise  Gewalt  ühten.  machte  diese  nur  um 
so  mehr  zur  eigentlichen  athenisch-nationalen  Partei  gegenüber 
der  oligarchisch-lakonisirenden.  Isagoras  und  sein  Anhang  unter- 
lagen, und  Sparta  vermochte  nicht  mehr  ihnen  zu  helfen.  Die 
streng  oligarchische  Partei  ist  gänzlich  gebrochen,  ihre  Trüm- 
mer, wohl  zu  unterscheiden  von  den  gesetzlichen  Aristokraten, 
erscheinen  nur  noch  hie  und  da  als  scliAvache  Faktion,  die 
Demokratie  wird  als  die  natürliche  Verfassung  Athens  be- 
trachtet, und  demokratisch  und  athenisch  so  zu  sagen  synonym. 
Und  diese  feste  Begründung  der  Demokratie,  diese  Sicherstel- 
lung gegen  alle  Reaktion  war  das  A^'erk  des  Kleisthenes  i  . 

Welche  persönlichen  Motive  ihn  dabei  geleitet,  darüber  zu 
urtheilen  sind  wir  nicht  völlig  im  Stande.  Aus  Herodot's  Er- 
zählung geht  nur  das  hervor,  dass  er  erst,  als  Isagoras  an  An- 
sehen ihm  den  Yorsprung  abgewann,  sich  mit  dem  ^'olke 
enger  verbündete .  und  das  nach  einem  willkürlich  von  Klei- 
sthenes gemachten  Ideale  zu  bezweifeln  sind  Avir  durchaus  nicht 
berechtigt.  Dagegen  wird  uns  nicht  berichtet  wodurch  es  dem 
Isagoras  gelang,  seinen  Einfluss  zu  begründen.  Sehr  wahrschein- 
lich ist  aber,  dass  er  eben  durch  streng  oligarchische  Tendenz 
beim  Adel  mein-  Gunst  gewann,  während  Kleisthenes  gleich 
von  Anfang  an  eine  Aveniger  engherzige  Politik  befolgte,  wozu 
denn  auch  das  alte  Misstraiien  ^egen  dies  Geschlecht  kommen 
mochte.  Als  nun  Kleisthenes  seine  Richtung  von  den  Stan- 
desgenossen aus  Besclrränktheit  verworfen  und  die  Solonische 
A'erfassungr  selbst  bedroht  sah.   da  stellte  er  sich  ohne  Z^veifel 


1)  Auf  eine  Darstellung  der  Kleisthenischen  Verfassung  habe  ich  natür- 
lich hier  nicht  einzugehen.  Sie  ist  von  K.  F.  Hermann.  Schömann,  "\^"ach3- 
muth  in  ihren  bekannten  Werken .  überdies  von  J.  Th.  Voemel  und 
A.  Dietrich  in  Monographien  genau  behandelt  ■«'orden.  —  Was  die  Zeit 
ihrer  Einführung  betrifft,  so  sehe  ich  nicht  liinlänglichen  Grund  um  mit 
Sauppe  de  demis  urbanis  Athenarum  §.  4  von  Herodots  Erzählung  abzu- 
•weichen. 


Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden.     399 

entschieden  an  die  Spitze  des  'S'olkes  und  traf  jene  erwähnten 
Einrichtungen,  um  dadurch  jedes  Zurückkehren  zu  einer  Oli- 
garchie zu  verhindern.  Es  ist  das  der  gewöhnliche  Weg  aristo- 
kratischer Volksführer,  welche  in  der  Regel  von  ihrem  eigenen 
Stande .  der  nichts  einräumen  will ,  zu  dem  ^'olke  gedrängt 
werden  und  dann  weiter  gehen  müssen .  als  zuerst  ihre  x\h- 
sicht  war. 

So  sehen  wir  die  Alkmaioniden  über  ein  Jahrhundert  hin- 
durch die  erste  Stellung  unter  den  athenischen  Geschlechtern 
einnehmen  und.  zuerst  die  entschiedensten  Vertreter  der  Adels- 
herrschaft, allmählich  und  sehr  natürlich  auf  die  demokrati- 
sche Seite  kommen.  In  höchst  merkwürdiger  Weise  stehen 
sie  immer  da,  avo  in  dem  Entwicklungsgange  der  athenischen 
Verfassung  der  Schwerpunkt  des  Staates  lag.  So  lange  die 
Aristokratie  lebensfähig  war.  sind  sie  an  der  Spitze  derselben, 
und  treten  kühn  den  Versuchen  entgegen  sie  zu  stürzen;  als 
durch  Solon  statt  des  Adels  die  begüterte  Mittelklasse  zu  Be- 
deutung erhoben  ward ,  sind  sie ,  die  fast  gleichzeitig  durch 
Kroisos  zu  grossem  Reichthum  gelangt  waren .  deren  Führer, 
und  bekämpfen  fast  50  Jahre  lang  die  Tyrannis.  Dass  sie  an 
dieser  keinen  Antheil  hatten,  sondern  ihr  eine  geraume  Zeit 
weichen  mussten.  war.  wenn  sie  auch  für  den  Augenblick  ihre 
Stellung  in  Athen  verloren  hatten,  die  Bedingung  der  spätem 
Bedeutung.  Die  Herstellung  der  Freiheit  und  die  letzte  grosse 
Verfassungsänderung,  welche  die  Demokratie,  wenn  auch  noch 
immer  mit  gcAA'issen  weisen  Beschränkungen,  feststellte ,  war 
ihr  Werk.  Zu  einer  solchen  Wirksamkeit  waren  sie  neben 
den  ausgezeichneten  Persönlichkeiten,  an  denen  die  Familie 
reich  war,  durch  die  hochadeliche  Stellung  vorzugsweise  be- 
fähigt und  berufen.  Denn  vermöge  dieser  genossen  sie  schon 
so  grosses  Ansehen  und  hatten  einen  so  mächtigen  xinhang, 
dass  sie  nicht  nöthig  hatten  sich  den  Standesinteressen  der 
übrigen  Eupatriden  unterzuordnen.  Darum  waren  sie  von  dem 
Adel  zum  grossen  Theil  eifersüchtig  und  misstrauisch  angesehen, 
und  in  der  That  wäre  der  Gedanke  an  die  Gründung  einer  Fa- 
miliendynastie, wie  wir  sie  in  Korinth  bei  den  Bakchiaden,  an 
andern  Orten  bei  andern  Geschlechtern  finden,  nicht  so  ferne  ge- 
legen. Die  Eifersucht  des  Adels  aber  hinderte  das  und  nöthigte 
die  Alkmaioniden  seit  der  Zeit  ihrer  ersten  Verbannung  nach  dem 


400     Ueber  d.  Stelllng  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioxiden. 

Kylonischen  Aufstände  ihre  Kraft  beim  Volke  zu  suchen  und 
ihrerseits  wieder  diesem  Haltung  und  Sicherheit  zu  geben.  So 
hat  also  dieses  Misstrauen  wesentlich  mitgewirkt  zur  Entwick- 
lung der  athenischen  Yolkshenschaft.  Dass  aber  auch  nach 
des  Kleisthenes  ^'erfassungsändeiiingen  es  nicht  ruhte,  sondern 
die  Persönlichkeit  dieses  Mannes  und  die  Bedeutung  des  Ge- 
schlechts Besorgnisse  einflösste ,  ergiebt  sich  daraus .  dass  er 
selbst  als  eines  der  ersten  Opfer  des  damals  eingeführten 
Ostrakismos  genannt  Avird,  und  dass  sein  Sohn  Megakles  von 
dem  gleichen  Schicksale  betroffen  Aviuxle ;  es  ergiebt  sich  aufs 
deutlichste  aus  dem  Gerüchte,  dass  nach  der  Schlacht  bei  Ma- 
rathon die  Alkmaioniden  mit  den  Persern  in  verrätherischem 
Verkehr  gestanden  hätten'  und  aus  dem  Schlüsse  der  7ten 
pythischen  Ode  Pindars-  . 

Weiter  die  Stellung  des  Geschlechts  zu  verfolgen  ist  hier 
meine  Aufgabe  nicht.  Seine  männlichen  Mitglieder.  Avenn  auch 
zum  Theil  noch  da  und  dort  mit  Auszeichnung  genannt,  haben 
nicht  mehr  als  Staatsmänner  ersten  Ranges  gewirkt,  wohl  aber 
sind  ihm  die  ersten  Staatsmänner  und  Feldherren  Athens  noch 
ein  Jahrhundert  lang  durch  Verschwägerung  verbunden,  und 
.der  hohe  Geist  der  Alkmaioniden  tritt  in  den  Abkömmlingen 
von  weiblicher  Seite ,  in  Perikles  imd  Alkibiades  aufs  glän- 
zendste hervor. 

So  habe  ich  die  Aufgabe,  die  ich  mir  gestellt,  gelöst  und 
nachgeAviesen ,  li  dass  die  Alkmaioniden  ein  Eupatridenge- 
schlecht  und  ZAvar  eines  der  vornehmsten  3)   Avaren.   2    dass  sie 


ij  Herod.  VI,  115  fg.  Neuerdings  hat  Tycho  Mommsen  in  seiner  Schrift 
>'Pindaros«  S.  -10  flg.  die  Anklage  gegen  die  Alkmaioniden  wieder  aufge- 
nommen, Avie  mir  aber  scheint,  in  sehr  einseitiger  und  nicht  überzeugender 
AV'eise. 

2)   VII,    16.  TÖ  o'  i'yvjaai, 

cpavTt  fz  [j.av  o'JTio  v.z't  ivool  TTapj-KJvtjxav 

ftaÄXoicav  £'joataov(av 

"d  v.ai  xd  tt£p£0&a'.. 

3j   [Vgl.  Schoemann  de  iudic.  heliast.  p.   10  Opusc.  I,  236,  A\^elcher  bei 

Isokrates  anstatt  E'J-aTpiowv  lesen  Avill:  E'jp-jaav.toöiv,  was  AÜel  für  sich  hat, 

nar  dass  der  Beisatz  ujv  ttjv  EJ-'svj'.ctv  i;  ct'jTf,;  rr,;    ircuvjaia;   paoiov   püJvat 

nicht  A\-ohl  passt.     K.    F.    Hermann  Ztsch.    f.    Alt.    Wiss.  184S   S.  317  ff. 


Ueber  d.  Stellung  d.  Geschlechts  d.  Alkmaioniden.     401 

vor  Solons  Zeit  die  Vorkämpfer  der  Aristokraten  waren,  darauf 
erst  an  die  Spitze  der  Mittelpartei  traten ,  und  zuletzt  unter 
Kleisthenes  die  entschiedenen  Führer  der  Demokratie  wurden. 


findet  in  den  Worten  Euza-oiotüv  den  Gegensatz  der  echt  autochthonischen 
Eupatriden  zu  den  eingewanderten  pylischen  Alkmaioniden ,  die  nie  eine 
völlig  historische  Gleichstellung  und  Verschmelzung  mit  der  eingebornen 
und  von  Theseus  festgestellten  Aristokratie  erlangt  haben  sollen.  Dies  zu 
beweisen  ist  ihm  aber  nicht  gelungen.  Westermann  in  Pauly's  Realency- 
clopädie  stimmt  Hermann  bei  ohne  neue  Gründe.  Für  die  Ansicht  aber, 
dass  gerade  die  Neleiden  in  Athen  als  besonders  vornehmer  Adel  gelten, 
spricht  das  in  Athen  cursirende  Sprichwort  ejY^vsti-repo;  Koopou  Zenob. 
IV,  3  und  die  dort  von  Leutsch  angeführten  Stellen,  besonders  der  Scholiast 
zu  Plato  Sympos.  p.  2(»8  d.] 


Vis  eher,  Schriften  I.  26 


SITZEN  ODER  STEHEN  IN  DEN  GRIECHISCHEN 
VOLKSVERSAMMLUNGEN. 

[Hhemisches  Museum.     N.  F.  XXVIII.   1873.     S.   380— 390.j 

Uie  aristokratischen  Römer  in  Ciceros  Zeit  heben  nicht 
ohne  Geringschätzung  als  Eigenthümlichkeit  der  griechischen 
Staaten  hervor,  dass  man  in  den  ^  olksversammhmgen  sass. 
Cicero  pro  Flacco  7,  16:  Graecorum  autem  totae  respublicae 
sedentis  contionis  temeritate  administrantur.  —  —  Cum  in 
theatro  imperiti  homines  rerum  omnium  rüdes  ignarique  con- 
sederant.  tum  bella  inutilia  suscipiebant ;  tum  seditiosos 
homines  reipublicae  praeficiebant ;  tum  optime  meritos  cives  e 
ci"\dtate  eiiciebant.  Roms  Weisheit  dagegen  hat  der  Volks- 
versammking  keine  Macht  eingeräumt :  Xullam  enim  ilU  nostri 
sapientissimi  et  sanctissimi  viri  vim  contionis  esse  voluerunt. 
Es  kommt  uns  hier  nicht  darauf  an.  die  Richtigkeit  des  cice- 
ronischen  Urtheils  zu  prüfen.  Wir  halten  nur  fest,  dass  bei 
den  Griechen  das  Volk  in  den  Versammlungen  sass.  Diese 
Thatsache  bestätigt  sich,  so  weit  wir  die  griechische  Geschichte 
in  ihre  Anfänge  verfolgen  können. 

Homer  kennt  nur  sitzende  Versammlungen  (ayopai; .  In 
Ithake  ist  ein  wohleingerichteter  Platz.  Der  König  und  die 
Geronten  haben  ihre  Ehrensitze,  i^w-zoi,  Od.  IL  14.  Aber 
auch  das  übrige  Volk  sitzt.  Od.  IL  240.  Der  Sprechende 
steht  auf  vnid  setzt  sich  wieder,  nachdem  er  gesprochen.  Od. 
II;  224.  Telemachos  tritt,  wie  er  sprechen  will,  in  die  Mitte 
der  A'ersammlung.  das  heisst  doch  wohl  in  die  iVIitte  vor  den 
Halbkreis,   in  dem  wir  uns  das  Volk  sitzend  zu  denken  haben. 


Sitzen  od.  Stehen  in  den  griech.  Yolks^-ersammlungen.    403 

Im  Phaiakenland  Scheria  ist  der  Platz  der  "S^ersammlung, 
die  Agora,  am  Ufer  bei  den  Schiffen  angelegt  und  mit  geglät- 
teten steinernen  Sitzen.  b^toTai  Xiöotai,  versehen,  auf  denen 
sich  Alkinoos  und  seine  Begleiter  niederlassen.  Od.  VIII,  6. 
Etwas  einfacher  mögen  die  ISpai  zu  denken  sein.  Vielehe  die 
Volksmasse  anfüllt,  Od.  VIII.  16.  Der  gleiche  Platz  dient 
auch  für  Spiele  und  Wettkämpfe.  Od.  Till.  HO.  156.  Das 
heisst  die  Agora  im  weiteren  Sinne  umfasste  den  mit  Sitzen 
versehenen  Platz  für  das  versammelte  Volk,  den  davor  sich 
ausbreitenden  Raum  für  die  Spiele  und  sicherlich  auch  den  für 
Kauf  und  Verkauf.  Darum  war  sie  am  Hafen.  In  ähnlicher 
Weise  müssen  wir  es  uns  in  anderen  Städten  denken. 

Aber  nicht  nur  in  den  Städten  der  Heimath,  wo  bleibende 
Vorrichtungen  getroffen  waren,  auch  im  Felde  sitzen  die 
Achaier  in  ihren  Versammlungen. 

Es  genügt  auf  die  Schilderung  der  Heeresversammlung 
im  ersten,  zweiten  und  neunzehnten  Buch  der  Ilias  hinzu- 
weisen, II.  I,  58.  68.  101.  246.  305.  IL  95.  190  —  211.  398. 
XIX,  50.  255.  Man  sieht,  der  Dichter  kann  sich  eine  Volks- 
versammlung gar  nicht  anders  als  sitzend  denken. 

Nur  einmal  finden  wir  eine  Ausnahme,   aber  sie  ist  gerade 
recht  geeignet,   die  Regel  zu   bestätigen.     Nach  der  Schlacht, 
in  der  Patroklos  gefallen  ist .    schreckt  Achilleus  die  hart  an- 
drängenden  Troer   durch    dreimaligen    Ruf  vom   Walle   herab 
zurück.     Die   Leiche    des  Patroklos   wird   gerettett,    die  Troer 
weichen  von  Furcht  ergriffen  zurück.   II.  XVIII,   243  : 
Tpois?  5'    au^'   £T£pa>i>£V   a:ro  y.patcpT,;  U3|xtvr^c 
j((i)pT^3avT£c  iXuaav  ucp'   apixaaiv  «ozia;  Ttctcou;" 
£?  0    ayoprjV  dcYipovro,   rcapo?  oopTcoto  [i.£0£a\)ar 
6p{}u)V  o'   IsraoTojv  ayopTj  y£V£T    ouO£  xic,  etXtj 
fCö^dai.  TravT«;  yap  iyt  -potj-o:,   ouv£x'  'AyiÄXsu? 
£^£cpavT,,   8T,pov  OS  [xa/r^;  i-ir.oinr    aA£Y£ivTj;. 
Nicht  dass  es    von  Troern   sich   handelt,    begründet   etwa    die 
Ai;snahme .    diese    stehen   in    der  Art .    Avie  sie   ihre  ^  olksver- 
sammlungen  abhalten,   den  Achaiem  ganz  gleich,  II.  III,  209  ff. 
Der  Grund,   warum  sie  stehen,   ist  vielmehr  allein  die  Furcht, 
die  ilinen  nicht  Ruhe  zum  Sitzen  lässt,   und  der  Dichter  findet 
sich    veranlasst,     diese    stehende   Agora    als    etwas    ganz   Be- 
sonderes zu   erwähnen    und    zu   erklären.     Und   man   beachte, 

26* 


404    Sitzen  od.  Stehen  in  den  griech.  Yolks\'ersammlungen. 

dass  die  Sache  nicht  in  der  Stadt  vorgeht,  sondern  im  freien 
Felde,  wo  von  einem  künstlich  hergerichteten  Platze  keine 
Rede  sein  kann.  Selbst  da  also  war  es  etwas  Ausserordent- 
liches,  dass  man  stand. 

AVie  nun  in  der  heroischen  Zeit  nach  Homer  das  Sitzen 
in  der  Agora  allgemeine  Regel  war,  so  linden  wir  es  auch  in 
der  historischen  Zeit  überall,  wo  wir  etwas  Genaueres  wissen, 
ganz  übereinstimmend  mit  Ciceros  Worten. 

Nur  eine  Ausnahme  hat  man  in  neuerer  Zeit  aufstellen 
zu  müssen  geglaubt,   Sparta. 

Cur  tili  s  Griech.  Gesch.  I^  S.  172  sagt:  »Die  Versamm- 
lungen waren  möglichst  kurz,  sie  wurden  stehend  abgemacht.« 
Schömann,  der  in  den  Antiquitates  iuris  publici  Graecorum 
noch  nichts  darüber  hat,  scheint  später  die  gleiche  Ansicht 
gewonnen  zu  haben.  Denn  in  den  griechischen  Alterthümem 
I^  S.  235  oder  I^  S.  247  liest  man:  »Vor  Alters  aber  war  der 
Versammlungsplatz  im  Freien  ohne  allen  architektonischen 
Schmuck,  und,  anders  als  in  den  meisten  anderen  griechischen 
Staaten ,  ohne  Plätze  zum  Sitzen ,  y\-\e  auch  bei  den  Römern, 
das  Volk  in  den  Comitien  nicht  sass,   sondern  stand.« 

Fragt  man  aber  nach  Belegen  für  diese  Ansicht,  so  findet 
man  gar  nichts.  Doch  lässt  sich  allerdings  erkennen,  was  zu 
derselben  veranlasst  hat.  Es  ist  die  Stelle  Plutarchs  im  Lykurg 
c.  6:  Ev  |x£3(p  6s  TO'jTcuv  Ba,3uy.ac  ~z  /.cd  Kvaxtuivo;^  toc;  i•/.•/.).r^- 
3iac  r^'^r^ ,  outs  rasraotuv  ouauiv,  oure  aXXr^?  xivoc  v.a-a3y.£uf|?* 
ouösv  -ctp  (Uc7o  raüra  rrpo;  sußouXiav  slvai,  [laXXov  0£  ,3Äa7:-£iv, 
cpXuctpcuocic  a-ipY«^<^|J-£va  xai  }(auvou;  (ppovrjj.aTi  y.svw  tac  oiavoi'a; 
Ttuv  3'ju7:op£uou,£va>v ,  oTttv  cic  «Yot/.uaTa  xoü  Ypacpa;  r^  Trposxrjvia 
ÖsctTpüjv  Tf  3T£Ya;  ,3o'jX£'jTr,pi(uv  T(3XT,u,£va;  -ipitttüc  sxxXTjSiaCovTs; 
,a::o^A£~u)3!.. 

Es  war  für  die  Volksversammlung  kein  Platz  mit  den 
Mitteln  der  Architektur  und  Skulptur  künstlich  hergerichtet. 
Offenbar  denkt  dabei  Plutarch  oder  der  Schriftsteller,  dem  er 
die  Notiz  entnommen,  an  die  später  regelmässig  zu  den  Ver- 
sammlungen benutzten  Theater,  wie  dasselbe  bei  Cicero  an  der 
oben  angeführten  Stelle  der  Fall  ist.  Die  AVorte  ou-£  aXXr,; 
nvo?  xaTa3X£UT(?  scheinen  namentlich  Schömann  zu  der  Annahme 
geführt  zu  haben,  es  seien  keine  Plätze  zum  Sitzen  dagewesen. 
Allein  das  hat  Plutarch  schwerlich  gemeint,   sondern,   wie  die 


Sitzen  ou.  Stehen  in  den  griech.  Volksversammlungen.    405 

folgenden  Worte  deutlich  zeigen,  neben  den  Säulenhallen 
;-aaTaoö;  anderen  architektonischen,  plastischen  oder  maleri- 
schen Schmuck  (ayocXp-a-a ,  -(pacpat .  TrpoaxTjVia  i>£7.Tpu)v' .  Aber 
selbst  zugegeben,  es  seien  keine  bleibenden  steinernen  Plätze 
zum  Sitzen  eingerichtet  gewesen,  konnten  denn  nicht  für  die 
jedesmalige  Versammlung  hölzerne  Bänke  aufgestellt  werden? 
Scheinen  doch  selbst  auf  der  athenischen  Pnyx  solche  gebraucht 
■worden  zu  sein.  Arist.  Acharn.  25.  Poll.  VIII.  133.  Und  wie 
Avaren  denn  die  oLyopai  der  Achaier  und  der  Troer  im  Felde  ? 
Auch  da  Avaren  weder  -a^raos;  noch  aXXr^  ri;  xa-ra-xsur] ,  und 
doch  sass  das  versammelte  Volk.  Ja  selbst  der  Platz,  wo  der 
mächtigste  Demos  waltete,  die  Pny.v  in  Athen,  hatte  von  allem 
jenem  nach  Plutarch  zerstreuenden  Schmucke  nichts.  Sie  v.ar 
ein  )ra)&i'ov  .  .  .  xa~S3XiUa3[X£vov  xaToi  trjv  raÄaiav  a-Äorr^Ta ,  oux 
SIC  i>£ctTpo'j  TToAoTrpayfxoauvTjV.   Poll.   A  III.    132. 

Aus  der  Einfachheit  und  Schmucklosigkeit  des  Platzes 
kann  daher  durchaus  nicht  geschlossen  werden,  dass  man  in 
den  Volksversammlungen  stand  und  nicht  sass.  Diese  Frage 
bleibt  ganz  unabhängig  davon .  wir  müssen  uns  zu  ihrer  Lö- 
sung nach  anderen  Mitteln  umsehen. 

Glücklicher  Weise  besitzen  Avir  die  Beschreibung  einer 
spartanischen  Volksversammlung,  die  merkwürdig  genug  von 
Schömann  und  Curtius  für  die  vorliegende  Frage  ganz  unbe- 
achtet geblieben  ist.  Vnd  zwar  giebt  sie  ein  Schriftsteller, 
dessen  Zuverlässigkeit  und  Genauigkeit  Niemand  bestreitet. 
Es  ist  Thukydides.  der  1.  67 — S7  die  wichtigen  Verhandlungen 
der  Volksversammlung  darstellt,  welche  schliesslich  den  Ent- 
scheid aussprach,  dass  Athen  den  Frieden  gebrochen  habe. 
Den  grössten  Theil  der  Darstellung  nehmen  freilich  die  meister- 
haften Reden  der  Korinthier  und  Athener,  des  Archidamos  und 
Sthenelaidas  ein.  Aber  doch  erfahren  wir  auch  nicht  Un- 
Avichtiges  über  den  Geschäftsgang.  Nachdem  die  fremden 
Gesandten  gesprochen ,  treten  sie  ab ,  und  die  Lakedaimonier 
berathen  nun  unter  sich  allein.  Eine  Anzahl  A'on  Sprechern 
tritt   auf.    A'on   denen    die  Mehrzahl   für   den  Krieg  ist^  .     Da 


1)  ■x.tX  tü)v  [i.£v  TT/.etovoiv  d-t  t6  laÜTO  ai  y'^«»F'-0'i  i'cpepo^ ,  äoiv.£Tv  xe  tou? 
lA&Tjvaio'j;  fjOTj  xal  7:oX£jj.TfjTea  eivai.  at  •(-^v)^).on.  sind  die  A'or  der  Versamm- 
lung ausgesprochenen  Meinungen.     Es  treten  also   ziemlich  viele  Redner 


406    Sitzen  od.  Stehen  in  den  griech.  Volksmbrsammlungen. 

erhebt  sich  König  Archidamos  und  warnt  mit  staatskhiger 
Besonnenheit  vor  Uebereihmg.  Den  Eindruck  seiner  Rede 
verwischt  aber  der  Ephore  Sthenelaidas ,  der  in  kurzen  schla- 
genden Worten  an  die  Leidenschaften  der  Versammhing  appel- 
lirt.  Dann  lässt  er  als  Ephore  abstimmen.  Das  pflegte  durch 
Zuruf  zu  geschehen.  Sthenelaidas  aber,  der  eine  entschiedene 
Mehrheit  für  sich  haben  wollte,  erklärt,  er  könnte  nicht  ent- 
scheiden, welcher  der  beiden  Anträge  die  Mehrheit  habe. 
Off'enbar  waren  also  die  beiden  Parteien  einander  ziemlich 
gleich.  Er  weist  nun  einen  Platz  an,  auf  den  alle  die  treten 
sollen .  welche  der  Meinung  sind ,  der  Friede  sei  gebrochen, 
einen  anderen,  wohin  die  gehen  sollen,  die  das  nicht  meinen. 
Und  als  die  Versammlung  auseinander  trat,  war  die  Zahl  derer, 
die  den  Frieden  für  gebrochen  erklärten,  weit  grösser  als  die 
der  anderen.  Viele,  die  im  Grunde  den  Frieden  wollten, 
fürchteten  ohne  Zweifel,  wenn  sie  offen  dafür  einständen,  für 
feig  oder  für  schlechte  Patrioten  zu  gelten.  Der  spartanische 
Ephore  zeigt  sich  in  den  Demagogenkünsten  trefflich  erfahren. 

Die  Worte,  mit  denen  Sthenelaidas  zu  der  Scheidung  auf- 
fordert, sind :  »orco  txsv  uu.u)v,  tu  Aa/cootiaovtoi.  ooxousi  XeXuaöai 
ai  OTTOvoai  xai  oi  AUtjVxToi  aöiXcTv,  c/.va3TrJTa)  s;  sxsTvo  to  ycupi'ov, 
OTco  0£  iir  00X0U31V ,  e;  ta  £-1  batepa.« ')  Dann  folgt:  »ava- 
oTavTcc  0£  öi£3-r,aav«,  nachdem  sie  aufgestanden,  traten  sie  aus- 
einander. Wollte  man  das  ava3TTJTü>  i;  ixslvo  ~o  )^(üpiov  un- 
deutlich finden,  die  Worte  avaatavTc;  öieoTr^oav  lassen  nur  eine 
Auffassung  zu.  Ehe  die  Spartaner  auseinander  traten,  standen 
sie  auf.  Demnach  müssen  sie  vorher  gesessen  haben.  Zur 
Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  also  sassen  die  Spartaner 
in  ihren  Versammhmgen . 

Nun  ist  aber  diese  Versammlung  die  einzige,  über  die  wir 
genauer  unterrichtet  sind.  Was  wir  von  ihr  Avissen.  muss  also 
zur  Grundlage  der  Forschung  gemacht   werden.     Nur   wo  be- 


auf,  und  man  darf  nicht  glauben,  nur  Archidamos  und  Sthenelaidas  hätten 
gesprochen. 

\.  Curtius  I-  S.  326  sagt :  »Ja  schon  in  der  Fragestellung  des  Ephoren, 
'ob  Athen  den  Peloponnesiern  Schaden  zufüge  und  die  Verträge  ge- 
brochen habe',  lag  eine  absichtliche  Unklarheit«.  Es  steht  aber  ausdrück- 
lich äciixeiv ,  nicht  S/.arteiv ,  y.ay.ü);  zotEiv  oder  etwas  ähnliches ,  und  auf 
jenes  passt  die  folgende  Ausführung  bei  Curtius  durchaus  nicht. 


Sitzen  od.  Stehen  in  den  griech.  Volksversammlungen.    407 

stimmte  Zeugnisse  AbAveichendes  berichten,  dürfen  wir  anneh- 
men, dass  es  anders  geAvesen  sei.  Kein  einziges  Zeugniss  ist 
aber  dafür  vorhanden,  dass  jemals  die  Spartaner  ihre  Volks- 
versammlungen stehend  abgehalten  haben.  Weit  eher  kann 
für  das  Entgegengesetzte  geltend  gemacht  werden,  dass  in 
späterer  Zeit,  wir  wissen  nicht  seit  Avann,  die  Versammlungen 
in  der  Skias,  einem  wohl  ursprünglich  für  musikalische  Auf- 
führungen bestimmten  Rnndgebäude  stattfanden,  wo  sicherlich 
nur  an  Sitzen  zu  denken  ist,  Paus.  III,  12,  8.  Schömann 
Alterthümer  I^  S.  24  7.  Ich  Avill  aber  darauf  kein  GcAvicht 
legen,   weil  wir  zu  wenig  darüber  unterrichtet  sind. 

Das  grösste  GcAvicht  aber  lege  ich  auf  die  Analogie  aller 
anderen  griechischen  Staaten  und  Völkerschaften.  Das  Sitzen 
war  so  sehr  die  Regel,  dass  es  nicht  nur  in  den  ordentlichen 
politischen  Versammlungen  stattfand,  sondern  auch  bei  ausser- 
ordentlichen Versammlungen  der  Krieger  im  Lager.  Als  im 
Jahre  4 1 1  die  athenischen  Soldaten  zu  Samos  zusammentraten, 
Sassen  sie,  wie  sich  aus  den  Worten  des  Thiikydides  VIII,  76 
)ixat  zapaivsaöu  aÄÄa;  t  skoioüvto  ev  acpi'aiv  auroTi;  aviatafis- 
voi«  deutlich  ergiebt.  Und  wollte  Jemand  ein av enden,  das 
seien  eben  Athener  gewesen  und  von  der  Pnyx  her  daran  ge- 
Avöhnt,  so  ist  dagegen  das  merkAAÜrdige  Beispiel  der  griechi- 
schen Söldner  anzuführen,  die  mit  Kyros  nach  Oberasien  zo- 
gen. Denn  auch  die  »Zehntausende«  pflegten  in  ihren  Ver- 
sammlungen, die  Xenophon  nicht  nur  ixxXTjaia  Anab.  I,  3. 
2.4.  12  .  sondern  auch  mit  dem  alten  Namen  ayopcx  (V,  7,  3) 
nennt,  zu  sitzen.  Nicht  nur  A\ird  das  Auftreten  der  Sprecher 
in  der  Regel  mit  avia-aoöai  bezeichnet  z.  B.  V,  6,  34),  son- 
dern auch  beim  Auseiandergehen  der  Versammlung  heisst  es 
avi'oTavTo  oder  aveatr|oav ,  und  nicht  oisXu^r^aav  III,  3,  1. 
V,  8,  26.  Ja  ZAveimal  findet  sich  geradezu  '/.abr^Qbal,  VI,  2.  5. 
VII,  1,  33.  In  diesen  Versammlungen,  avo  selbstA-erständlich 
ein  eingerichteter  Platz  nicht  da  war,  müssen  wir  uns  die 
Soldaten  auf  dem  Boden  oder  auf  Waffen-  und  Gepäckstücken 
sitzend  denken,  gerade  wie  bei  dem  Zusammentritt  von  etAva 
hundert  Hauptleuten,  III,  1,  33.  Da  heisst  es:  »sTrst  os  iravts? 
aovTjX^ov,  SIC  70  TTposOsv  Ttuv  'o7rXo)v  £xa{^sCovTo.«  Das  Heer 
der  Kyreer  AAar  aber  in  spartanischer  Weise  organisirt,  mehrere 
der  bedeutendsten  Führer  waren  Spartaner. 


408    Sitzen  od.  Stehen  in  den  greech.  Volksversammlungen. 

Ueberclies  haben  "svir  oben  gesehen,  dass  Homer  die  ^'er- 
sammlungen  nur  sitzend  kennt,  wo  nicht  ganz  ausserordent- 
liche Umstände  das  Stehen  veranlassten.  Sollte  nun  in  Sparta, 
wo  mehr  als  irgendwo  sonst  Gebräuche  der  von  Homer  dar- 
gestellten Heroenzeit  sich  erhielten,  nicht  auch  die  alte  Art 
der  Volksversammlungen  fortgedauert  haben  ?  Alles  spricht 
für  die  Annahme,  dass,  wie  die  Spartaner  im  Jahre  432  v.  Chr. 
ihre  Versammlung  sitzend  abhielten,  sie  so  es  auch  früher  und 
später  gethan  haben. 

Hier  drängt  sich  nun  aber  noch  die  Frage  auf,  ob  denn 
überhaupt  das  Sitzen  in  der  Volksversammlung  die  pohtische 
Bedeutung  gehabt  habe,  welche  Curtius  gegenüber  dem  Stehen 
ihm  beimisst.  Er  hat  sich  darüber  mit  Scharfsinn  eine  voll- 
ständige Theorie  ausgedacht,  die  er  nicht  nur  in  seiner  grie- 
chischen Geschichte,  sondern  auch  in  den  Arbeiten  über  die 
Topographie  von  Athen  mit  Consequenz  anwendet.  Wenn  das 
versammelte  ^  olk  stand,  war  es  nach  seiner  Meinung  nur  zu- 
sammenberufen.  um  die  Erlasse  der  regierenden  Behörde  zu 
vernehmen  und  dann  nach  Hause  zu  gehen,  allenfalls,  was 
bei  Sparta  zugegeben  wird,  über  wichtige  Fragen  mit  Ja  oder 
Nein  zu  entscheiden  und  Beamtenwahlen  zu  treffen.  Solche 
stehende  Versammlungen  gehören  monarchischen  oder  aristo- 
kratischen Zuständen  an.  Sitzende  ^  olksversammlungen  sind 
ein  demokratisches  Institut,  zu  längeren  Verhandlungen  be- 
stimmt, Griech.  Gesch.  HI  S.  26.  Attische  Studien  1  S.  56.  57. 

Diese  Theorie  hat  etwas  Bestechendes,  aber  historisch 
nachweisen  lässt  sie  sich  bei  den  Griechen  nicht,  sondern  die 
Thatsachen  stehen  ihr  entschieden  entgegen.  In  der  heroischen 
Zeit  wird  das  Volk  nur  berufen  um  anzuhören,  was  die  Fürsten 
und  Edlen  ihm  mitzutheilen  haben,  allerdings  so,  dass  diese 
seinen  guten  Willen  zu  gewinnen  bemüht  sind.  Nur  die  Fürsten, 
Edlen  und  Priester  sprechen.  Wenn  Thersites  Aufti-eten  da- 
gegen angeführt  wird ,  so  darf  man  nicht  vergessen .  dass  er 
keineswegs  aus  der  sitzenden  Versammlung  sich  erhebt .  son- 
dern umgekehrt,  während  die  durch  Agamemnons  Rede  auf- 
geregte Menge  wieder  zum  Sitzen  gebracht  ist.  stehen  bleibt 
rmd  fortschimpft.  Das  Sitzen  bezeichnet  die  Ordnung  und 
Ruhe.  Auch  der  Vorgang  in  Od.  II.  229  ff.  spricht  durchaus 
nicht  für   eine   in   die    Handlung    eingreifende   Versammlung. 


Sitzen  od.  Stehen  in  den  griech.  Volksa'ersammlungen.    409 

Mentor  macht  allerdings  dem  Volke  Vorwürfe .  dsss  es  dem 
Treiben  der  Freier  ruhig  zusehe.  'Aber  dieses  rührt  sich  nicht, 
weil  es  eben  in  die  Handlung  einzugreifen  nicht  gewohnt  war. 
Auf  die  Aufforderung  des  Leiokritos  geht  es  ruhig  auseinander. 
Wenn  Curtius  I'^  S.  130  sagt:  »Freilich  genügen  Avenige  Worte 
der  Freier,  um  sofort  die  sich  [zusammenschaarende 
Menge  zu  zerstreuen. u  so  hat  er  das  jedenfalls  nicht  in  Homer 
gefunden,  bei  dem  von  keinerlei  Bewegung,  geschweige  von 
einem  Zusammenschaaren  die  Rede  ist.  In  der  vierundzwan- 
zigsten Rhapsodie  v.  420  aber  werden  ganz  revolutionäre  Er- 
eignisse erzählt ,  aus  denen  sich  für  die  regelmässigen  \'er- 
hältnisse  ein  Schluss  nicht  machen  lässt. 

Ist  also  historisch  nachgewiesen .  dass  sitzende  "S'ersamm- 
lungen  bei  den  Griechen  keineswegs  schon  eine  selbständige 
Stellung  des  Volkes  bedingen,  so  lässt  sich  ebenso  w^enig  be- 
weisen, dass  die  stehenden  ^'ersammhuigen  nur  zum  Anhören 
und  schnellen  Auseinandergehen  bestimmt  waren,  aus  dem 
einfachen  Grunde,  weil  wir  von  solchen  gar  nichts  wissen, 
mit  einziger  Ausnahme  jener  oben  erwähnten  Troerversamm- 
lung, und  gerade  in  der  erscheint  das  A  olk  wenigstens  so 
selbständig,  ja  selbständiger  als  in  den  sitzenden  der  Heroen- 
zeit. Denn  es  entscheidet  durch  Zuruf  für  Hektors  Meinung 
gegen  Polydamas. 

Bei  dem  gänzlichen  Mangel  an  Nachrichten  aus  dem  grie- 
chischen Alterthum  mag  es  aber  gestattet  sein,  eine  Analogie 
aus  der  neueren  Zeit  herbeizuziehen.  In  den  demokratischen 
Cantonen  der  Schweiz  steht  durchweg  das  Volk  in  den  Lands- 
gemeinden ij .     Die  Magistrate  sitzen  auf  der  Tribüne  und  um 


V  Eine  Notiz  über  zwei  Landsgemeindeplätze  interessirt  vielleicht  auch 
den  philologischen  Leser.  In  Schwyz  wurden  früher  die  Landsgemeinden 
(jetzt  giebt  es  dort  keine  mehrl  und  jetzt  noch  die  Bezirksgemeinden  'bei 
Ibach  an  der  Brücke'  abgehalten.  Der  Platz  liegt  am  linken  Ufer  der 
Muotta,  ganz  nah  der  Brücke ,  offenbar  so  gewählt ,  um  den  Bewohnern 
von  beiden  Seiten  des  reissenden  '^^'assers  den  Zugang  leicht  zu  machen. 
Ein  dem  Kreis  sich  annäherndes  Oval,  3S  Schritte  lang,  34  Schritte  breit, 
ist  von  einer  aus  rohen  Steinen  errichteten  etwa  3  Fuss  hohen  Mauer  um- 
gränzt.  Der  Boden  des  innern  Raumes  reicht  ringsum  bis  an  die  Höhe 
dieser  Mauer,  senkt  sich  aber  nach  der  Mitte  zu.  Fünf  oder  sechs  schmale 
Eingänge  führen  von  aussen  in  den  Kreis  hinein.  —  Auf  dem  Landenberg, 


410    SiTZEX  OD.  Stehen  in  den  griech.  Volksversammlungen. 

dieselbe.  Höchstens  werden  dieser  zunächst,  also  im  innersten 
Theil  des  ganzen  Platzes ,  eine  Anzahl  Bänke  aufgestellt .  wo 
die  zuerst  ankommmenden  Gemeindemänner  sich  hinsetzen. 
So  in  Glarus.  -Jedermann  Aveiss  aber,  dass  in  diesen  Lands- 
gemeinden das  Volk  durchaus  nicht  bloss  zum  Anhören  zu- 
sammenkommt, sondern  oft  sehr  energisch  den  Anträgen  der 
Regierung  entgegentritt,  sie  auch  amendirt.  und  dass  Unter- 
brechung der  Redner  so  gut  vorkommt,  wie  einst  bei  der 
sitzenden  Ekklesia  in  Athen. 

Andererseits  ist  auch  daran  zu  erinnern,  dass  im  Alter- 
thum  wie  heutzutage  gerade  die  nur  zum  Hören  und  Sehen 
versammelte  Menge  zu  sitzen  pflegte,  im  Theater,  Odeion, 
Stadion  und  Hippodrom.  Warum  sollte  nun  das  Volk  nicht 
ebenso  ruhig  gesessen  haben,  um  die  Mittheilungen  seiner 
Vorgesetzten  anziihören?  Ich  kann  daher  den  politischen  Ge- 
gensatz von  stehenden  und  sitzenden  Volksversammlungen 
nicht  als  begründet  ansehen  und  finde  bei  den  Griechen  über- 
all nur  sitzende. 

Eine  nothwendige  Folge  davon  ist.  dass  ich  auch  der  An- 
wendung, die  Curtius  von  seiner  Theorie  auf  die  Pnyx  macht, 
nicht  beistimmen  kann.  Natürlich  meine  ich  dabei  nicht  die 
Lage  dieser,  sondern ,  ohne  mich  über  diese  Frage  auszuspre- 
chen ,  gehe  ich  von  der  von  Curtius  als  Pnyx  gesetzten  Oert- 
lichkeit  aus.  Sie  liegt  bekanntlich  am  Abhänge  des  Museions 
gegenüber  der  Akropolis.  Hier  sollen  die  halbkreisförmigen 
Sitze  hintereinander  aufgestiegen  sein  \ind  unten,  etwa  in  der 
Mitte  der  Kreissehne,  die  Rednerbühne  gestanden  haben,  so 
dass  der  Redner  mit  dem  Rücken  gegen  die  Akropolis  gewandt 
war,  mit  dem  Gesichte  gegen  das  Museion.  Dies  ist  auch, 
sobald  man  die  Pnyx  hierher  setzt,  das  einzig  Denkbare.  Allein 
dabei  bleibt  Curtius  nicht  stehen,  sondern  behauptet  in  ältester 
Zeit  habe  der  Redner  nach  der  Akropolis  zvi  gewendet  zu  dem 
auf  der  alten  Agora  stehenden  Volke  gesprochen,  bei  der 
Ausbildung  der  Demokratie  erst  seien  die  Sitze  am  Bergabhang 


wo  Obwalden  seine  Landsgemeinden  hält,  steigen  an  einer  Seite  des  vier- 
eckigen Platzes  einige  Stufen  hinter  einander  auf.  Bei  etwas  starkem  Be- 
suche der  Landsgemeinde  fassen  sie  aber  die  Menge  nicht,  die  dann  auch 
den  Platz  daneben  einnimmt. 


Sitzen  od.  Stehen  in  den  griech.  Volks\'ersammlungen .    411 

eingerichtet  und  das  Kema  nach  Süden  gestellt  worden,  und 
nach  dem  Sturze  der  Demokratie  hätten  die  Ureissig  wieder 
die  ßednerbühne  nach  der  anderen  Seite  gekehrt.  »Das  Local 
der  A'olksversammhmg « ,  sagt  er ,  >>  Avurde  umgestaltet ;  denn 
man  wollte  nicht,  dass  die  Bürgerschaft  Avie  bisher  auf  den 
theaterförmig  aufsteigenden  Sitzstufen  der  Pnyx  ihren  Platz 
behalte :  man  wollte  überhaupt  keine  sitzende  Bürgerversamm- 
lung, Avelche  zu  längeren  A'erhandlungen  ziisammen  bleibe; 
man  schloss  also  die  alte  Pnyx,  indem  man  die  Rednerbühne 
umdrehte,  so  dass  der  Redner  nun  mit  seinem  Gesichte  nach 
der  Burg  gerichtet  Avar,  Avie  es  in  ältester  Zeit  gewesen  AAar, 
ehe  die  Pnyx  für  die  Sitzungen  einer  berathenden  Bürgerschaft 
eingerichtet  Avorden  Avar.  Nun  konnten  die  Bürger  nur  stehend 
anhören.  AAas  ihnen  A^om  Rednerstuhle  aus  an  Erlassen  der 
regierenden  Behörde  mitgetheilt  AAerden  sollte,  damit  sie  dann 
nach  kurzem  VerAAeilen  ihren  Geschäften  wieder  nachgehen 
könnten.  Es  Avar  also  diese  Umdrehung  eine  echt  reactionäre 
Maassregel.  AA-elche  mit  einem  Schlage  den  Unruhen  der  Ver- 
sammlungen ein  Ende  machen  sollte,  und  es  AA-ar  nur  eine 
AA'itzige  Ausschmückung  dieser  Maassregel,  aacuu  man  ihr  die 
Absicht  unterschob .  dass  die  Redner  nicht  mehr  AA"ie  früher 
nach  der  See  hinweisen  und  damit  a\if  die  frühere  Macht 
Athens  sollten  hindeuten  können.  Denn  dafür,  dass  der 
Athener  nicht  mehr  an  See  und  Flotte  denken  sollte ,  AAar 
schon  in  wirksamerer  Weise  gesorgt  AA'orden,«  Griechische  Gesch. 
III  S.  26.  27.  Vgl.  Attische  Studien  I  S.  56.  wo  überdies 
noch  beigefügt  Avird.  dass  der  Stein  der  Rednerbühnen  jedes- 
falls  bcAveglich  gcAAesen  sei.  Wie  man  sich  das  denken  soll, 
ist  schAAcr  zu  ersehen. 

Für  diese  ganze  Darstellung  ist  nun  aber  kein  einziges 
Zeugniss  A'orhanden.  Curtius  folgert  sie  nur  mit  Hülfe  seiner 
Theorie  aus  der  Erzählung  des  Plutarch  Themist.  19),  die 
Dreissig  hätten  die  früher  nach  der  See  schauende  Redner- 
bühne nach  dem  Binnenlande  gedreht.  Weil  von  keinem 
Punkte  an  der  inneren  Seite  der  südlich  von  der  Burg  hin- 
ziehenden Hügelkette .  an  der  nach  allgemeiner  Annahme  ir- 
gendwo die  Pnyx  gelegen  haben  muss,  die  See  gesehen  Averden 
kann ,  hat  man  die  ganze  Erzählung  für  einen  Irrthum  ange- 
sehen.    Curtius  aber  glaubt  sie  als  eine  AA-itzige  Ausschmückung 


412    Sitzen  od.  Stehen  in  den  griech.  Volksversammlungen. 

des  in  Wirklichkeit  Geschehenen  retten  zu  können.  Wo  der 
Witz  liegt,  sehe  ich  nicht.  Denn  ge%Aiss  pikanter  als  die 
Beziehung  auf  die  See  wäre  das  gewesen,  dass  der  attische 
Demos,  der  früher  behaglich  oben  sass,  jetzt  schweigend  unten 
stand.  Aber  Curtius  begründet  seine  Meinung  (Att.  Studien 
a.  a.  O.;  mit  folgenden  Worten:  »So  lange  die  Redner  mit 
dem  Gesichte  gegen  das  Museion  standen,  konnten  sie  mit  der 
rechten  Hand  nach  dem  Peiraieus  zeigen,  und  dieser  Gestus 
mit  den  entsprechenden  Hinweisungen  auf  die  meerbeherr- 
schende Macht  des  attischen  Demos  war  ohne  Zweifel  ein  sehr 
gewöhnlicher  ( ? ) .  Diese  Wendung  wurde  nun  unmöglich  und 
insofern  konnte  also  mit  Recht  von  den  Tyrannen  gesagt  wer- 
den:   a~£aT[i£'{>av  to   ßr^jxa  rpoc  ttjv  j^cupav.« 

Est  ist  wahr,  mit  der  rechten  Hand  konnten  nach  Lm- 
drehung  des  Bema  die  Redner  nicht  gut  nach  der  Richtung 
des  Peiraieus  weisen,  ganz  gut  aber  mit  der  linken,  gewiss 
ebenso  gut.  als  der  der  Akropolis  den  Rücken  kehrende  Redner 
der  demokratischen  Zeit  auf  die  Propyläen  (Demosth.,  rspl  auv- 
TaicO):  §.  2S  1  .  Da  man  die  See  in  einem  Falle  so  wenig  als 
im  anderen  sah.  war  es  für  einen  oratorischen  Gestus  ganz 
gleichgültig,  nach  welcher  Seite  der  Sprechende  gerichtet  war. 
Daher  kann  man  aus  dieser  Erzählung  Plutarchs  gewiss  nicht 
aiif  die  Umkehrung  des  Bema  schliessen;  oder  mit  anderen 
Worten,  die  Umkehrung  des  Bema,  von  dem  man  in  keiner 
Weise  auf  die  See  sah ,  w^äre  nicht  geeignet ,  die  Entstehung 
jener  Erzählung  zu  erklären  2j , 


1)  Ich  weiss  -wohl ,  dass  bei  Harpokration ,  Suidas ,  Photius  unter 
rporuXaia  -a^Ta  die  Erklärung  vorgezogen  wird,  wonach  es  nur  heissen 
solle,  jene  bekannten  Propyläen.  So  zulässig  diese  Erklärung  auch  sprach- 
lich ist ,  so  glaube  ich  doch ,  dass  sobald  an  einem  Platze ,  von  dem  aus 
man  die  Propyläen  sah,  -ooTtj/.aia  Taj-a  gesagt  wurde,  dies  gar  nicht  anders 
als  hinweisend  gefasst  werden  konnte,  auch  wenn  der  Redner  selbst  sie  im 
Rücken  hatte.  Die  versammelte  Menge  musste  den  Blick  unwillkürlich 
dorthin  richten. 

2j  Die  Erzählung  des  Plutarch  a.  a.  O.  otö  xal  tö  ßf,|j.a  t6  h  li^'j'/X 
7:e7Tonfj[jievov  mzz  droßXsreiv  tt^o;  tt,'j  daXascav  SsTepov  oi  Tptaxov-a  zoö;  tTjV 
yöjrjfxs  6.-iz^:p^<\l'X'^  liesse  sich  am  ehesten  halten,  wenn  man  annähme,  dass 
ä-oßXsretv  bloss  die  übertragene  Bedeutung  habe:  irgendwohin  gerichtet 
sein,  spectare,  auch  ohne  dass  der  Gegenstand,  nach  dem  etwas  gerichtet 
ist ,    wirklich    gesehen   wird.     In  diesem  Falle    würde    die  Erzählung    zur 


Sitzen  od.  Stehem  in  den  griech.  Volksversammlungen.    413 

Es  lässt  sich  aber  auch  kein  Grund  absehen,  warum  die 
Dreissig  die  Bühne  hätten  umdrehen  sollen,  selbst  -wenn  man 
meint,  eine  stehende  Menge  sei  zahmer  als  eine  sitzende. 
Denn  dafür,  dass  keine  Unruhen  in  der  Versammlung  ent- 
ständen, war,  um  mit  Curtius  zu  reden,  »schon  in  wirksamerer 
Weise  gesorgt  Avorden«.  Und  es  lässt  sich  wohl  fragen,  ob 
unter  den  Dreissig  überhaupt  je  eine  Ekklesia  auf  oder  an  der 
Pnyx  abgehalten  worden  sei.  Kein  Schriftsteller  berichtet 
davon,  und  nöthig  war  es  keineswegs ;  denn  ihre  Erlasse  konn- 
ten die  Regenten  durch  Heroldsruf  oder  Anschläge  hinlänglich 
bekannt  machen. 

Aber  einmal  kommt  doch  eine  ^  ersammlung  der  im  Bürger- 
recht belassenen,  d.  h.  der  dreitausend  Hopliten  aus  dem  Ka- 
talog und  der  Reiter  vor,  nur  nicht  auf  der  Pnyx  oder  in 
deren  Nähe,  sondern  im  Odeion,  wo  man  natürlich  sass. 
Dorthin  Avurden  sie  von  den  Dreissig  berufen ,  um  die  aus 
Eleusis  herübergeschleppten  dreihundert  Verhafteten  zu  ver- 
urtheilen.  Das  geschah  in  offener  Abstimmung  unter  den 
Augen  der  Dreissig,  in  GegeuAvart  der  lakonischen  Besatzungs- 
truppen, Xen.  Hell.  II,  4,  9.  Das  ganze  Verfahren  zeigt,  Avie 
Avenig  die  Dreissig  diese  Bürgerschaft  fürchteten.  Von  einem 
eigentlichen  gerichtlichen  Verfahren  Avar  keine  Spur  vorhanden. 
Die  Versammelten  sind  nicht  als  Gerichtshof  zu  betrachten, 
sondern  in  scheusslichem  Zerrbilde  als  die  souveräne  Bürger- 
schaft, wie  in  der  Demokratie  die  Versammlung  aller  volljähri- 
gen Bürger  auf  der  Pnyx. 

Ausser  dieser  Versammlung  im  Odeion  ist  die  erste,  von 
der  wir  vernehmen,  die  nach  der  Niederlage  der  Dreissig  im 
Peiraieus  und  nach  dem  Tode  des  Kritias,  Xen.  Hell.  II,  4,  23. 
Leider  sagt  uns  Xenophon  nicht,  avo  sie  statt  fand,  AA^ahr- 
scheinlich  doch  Avohl  auf  der  Pnyx.  Sie  setzte  die  Dreissig 
ab    und    die    Zehn    ein.      Sie    begnügte    sich    also    nicht    mit 


Hypothese  von  Curtius  sehr  wohl  passen ,  aber  dafür  nicht  in  den  Zu- 
sammenhang der  Stelle  Plutarchs  selbst,  avo  es  gerade  auf  das  Sehen  des 
Meeres  ankommt.  Man  müsste  sich  mit  der  Annahme  behelfen,  Plutarch 
habe  irgendwo  die  Nachricht  gefunden,  das  früher  in  der  Richtung  nach 
dem  Meere  orientirte  Bema  sei  A'on  den  Dreissig  nach  dem  Binnenlande 
gerichtet  worden  und  habe  dies  missverstanden,  als  ob  man  früher  das 
Meer  von  dort  aus  gesehen  hätte. 


414    Sitzen  od.  Stehen  ix  den  griech.  Volks%'ersammlungen. 

"blossem  Anhören.  Aber  von  einer  Verändening  des  Platzes 
hören  wir  nichts  und  ebenso  wenig  später,  als  bald  nachher 
die  Demokratie  hergestellt  A\nirde  und  die  Ekklesien  auf  der 
Pnyx  wieder  ihren  regelmässigen  Verlauf  nahmen.  Und  hätte 
wohl  Lysias  bei  seiner  Schilderung  des  Gewaltregiments  von 
der  lächerlichen  volksfeindlichen  Maassregel  geschwiegen  ?  Ich 
kann  daher  der  ganz  vereinzelten  Erzählung  des  Plutarch,  von 
der  durchaus  nicht  erwiesen  ist.  dass  sie  in  Athen  verbreitet 
war,  keinen  Werth  beimessen. 

Schliesslich  fasse  ich  das  Ergebniss  meiner  Untersuchung 
dahin  zusammen,  dass  die  Griechen  zur  Zeit  ihrer  Unabhängig- 
keit unter  den  verschiedensten  Verfassungen  in  ihren  A'olks- 
versammlungen  immer  sassen,  und  dass  Ausnahmen  von  dieser 
Regel  ebenso  wenig  in  Sparta  als  in  Athen  nachweisbar  sind. 


UEBER  DAS  HISTOEISCHE  IN  DEN  REDEN  DES 
THUKYDIDES. 

[Schweizerisches  Museinn.     1S39.     III.     S.   1 — 49.] 

Dei  dem  eifrigen  Studium ,  welches  in  unserer  Zeit  allen 
Theilen  besonders  der  alten  Geschichte  zugewendet  worden  ist, 
muss  es  als  eine  sehi-  natürliche  Erscheinung  angesehen  wer- 
den, dass  manche  Punkte,  welche  für  ausgemacht  galten,  be- 
zweifelt, manche  Charaktere,  über  welche  nur  eine  Stimme  zu 
heiTschen  schien,  von  neuen  Seiten  betrachtet  und  oft  in  einem 
ganz  von  dem  früheren  abweichenden  Lichte  dargestellt  wur- 
den. So  wohlthätig  und  achtungswerth  nun  an  und  für  sich 
das  Bestreben  ist,  sich  nicht  vom  Glänze  der  Tradition  be- 
stechen zu  lassen,  sondern,  unbekümmert  um  den  Schein,  dem 
Wesen  jeder  historischen  Erscheinung  nachzugehen  und  es  in 
seiner  ganzen  Objektivität  zu  erfassen,  so  leuchtet  doch  eben 
so  leicht  ein .  dass  dabei  mit  grosser  Vorsicht  zu  Werke  ge- 
gangen werden  muss.  ^'orzüglich  gilt  das  da.  wo  ein  bis  da- 
hin in  der  Geschichte  hochgestellter  Mann  seines  Ruhmes  be- 
raubt und  herabgesetzt  werden  soll ;  denn  wo  das  ohne  genü- 
gende Gründe  geschieht,  wird  offenbar  ein  eigentliches  Unrecht 
geübt,  da  der  historische  Name  ein  Besitzthum  ist,  welches  so 
wenig  als  die  Ehre  des  Lebenden  leichtsinnig  angetastet  wer- 
den sollte.  Es  dürfte  Behutsamkeit  hier  um  so  mehr  erwartet 
werden,  als  sich  in  der  Regel  das  L'rtheil.  welches  sich  im 
Laufe  der  Zeiten  gebildet  hat .  auch  bei  genauerer  Forschung 
bestätigt.  Allein  die  Leichtigkeit,  mit  einigem  Scheine  der 
Wahrheit  vom  Gegebenen  abzuweichen,  kam  gerade  hier  der 
allgemeinen  Sucht,  Neues  und  Pikantes  aufzustellen,   allzuver- 


416  Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

führerisch  zu  Statten,  und  daraus  erklärt  es  sich  ohne  Zweifel, 
dass  besonders  eine  Eeihe  von  Arbeiten  jüngerer  Männer  sich 
durch  die  Tendenz  bemerklich  machen,  das  Hochstehende 
herabzuziehen  und  das .  was  bis  dahin  für  verworfen  galt,  zu 
erheben.  Und  weil  in  der  Regel  dieser  schiefen  Auffassung 
etwas  Wahres  zu  Grunde  liegt,  so  findet  sie  nur  gar  zu  oft 
vorschnelle  l^illigung.  So  sind  in  neuerer  Zeit  Versuche  ge- 
macht worden,  dem  Sokrates  die  durch  Jahrhunderte  gezollte 
Bewunderung  zu  entziehen;  so  hat  man  sich,  im  Gegensatz 
zu  übertriebenem  Lobe,  nicht  gescheut,  den  Demosthenes  die 
traurigste  Gestalt  der  Geschichte  zu  nennen;  man  hat  Cicero 
als  einen  erbärmlichen  Menschen  dargestellt,  dagegen  allen 
Scharfsinn  aufgewandt,  um  axis  Tiberius  einen  grossen  Mann  zu 
machen.  Leicht  könnten  die  Beispiele  vervielfältigt  werden, 
es  genügt  aber,  auf  die  ganze  Richtung  aufmerksam  gemacht 
z\i  haben.  Bei  dieser  kann  es  nun  nicht  auffallen,  auch  den 
Thukydides,  der  Jahrtausende  hindurch  als  ein  »rerwm 
gestarum  pronunciator  sincerus  et  grandisv^,  als  ein  werum  ex- 
plicator  prudens^  severus  et  gravis«  galt,  von  verschiedenen  Sei- 
ten angegriffen  zu  sehen.  Höchst  bemerkenswerth  ist  aber, 
dass,  während  alle  wirklichen  Historiker  in  seinem  Werke  das 
Höchste  erreicht  sahen,  was  dem  Historiker  zu  eiTeichen  ver- 
gönnt sei,  es  in  neuerer  Zeit  einige  jüngere  Philologen, 
die  sich  einen  gewissen  philosophischen  Anstrich  geben, 
gewesen  sind,  welche  ihn  herabzuziehen  bemüht  Avaren.  An 
Tadlern  des  grossen  Historikers  hatte  es  zwar  nie  ganz  gefehlt, 
allein  bis  dahin  hatten  diese  mehr  die  Form  als  das  innere 
Wesen  seines  Werkes  angegriffen.  Den  Ruhm  der  Unpartei- 
lichkeit, der  unbedingtesten  Wahrheit,  so  weit  sie  menschlichen 
Kräften  erreichbar  ist,  hatten  sie  unangetastet  gelassen,  ja 
eigentlich  ist  es  gerade  diese  über  die  Vaterstadt  und  über  das 
Vaterland  erhabene  Wahrheitsliebe,  welche  dem  ersten  und 
heftigsten  Tadler.  dem  Dionysios,  Stofi"  zu  seinen  Angriffen 
gegeben,  da  es  dem  eitlen  Rhetor  verwerflich  schien,  einen 
Krieg  zum  Gegenstand  historischer  Darstellung  zu  Avählen, 
welcher  nicht  zum  Ruhme  des  Landes  gereiche.  Wurden  hie 
und  da  in  einzelnen  Punkten  Zweifel  über  des  Historikers  Un- 
parteilichkeit erhoben,  z.  B.  in  Betreff  der  Peisistratiden ,  so 
war  das  doch  nur  ausnahmsweise  xind  brachte  dem  Gesammt- 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.    417 

Tirtheil  keinen  Eintrag,  oder  es  A\iirde  nachgewiesen,  dass  sie 
auf  unrichtigen  Voraussetzungen  beruhten.  Dem  Thukydides 
l)Heb  fortwährend  der  Name  des  ersten  Historikers  des  Alter- 
thums.  So  mussten  also  l^ehauptungen,  av eiche  des  Thukydi- 
des Zuverlässigkeit  nicht  nur  in  Zweifel  zogen ,  sondern  ge- 
radezu in  Abrede  stellten ,  Aufsehen  erregen ,  und  beinahe 
möchte  man  versucht  sein,  darin  einen  l^eweggrund  mehr  für 
das  Aufstellen  derselben  zu  finden.  AVenigstens  erregt  die  Art, 
wie  man  sich  zum  Theile  nicht  einmal  die  Mühe  gegeben  hat, 
dergleichen  Urtheile  zu  begründen ,  leicht  diesen  Argwohn . 
Damit  man  uns  nicht  vorwerfe,  selber  leichthin  Beschuldi- 
ginigen  zu  erheben,   mögen  hier  einige  Beispiele  folgen. 

Das  erste  nehmen  wir  von  Herrn  Adolf  Schmidt  in  l^erlin. 
aus  seiner  Eecension  des  Brücknerischen  Werks  über  Philipp 
AmyTQtas  Sohn,  König  von  Makedonien,  in  Zimmerm.  Zeitschr. 
f.  Alterth.  W.  1837.  Nr.  94.  S.  763.  Herr  Schmidt  behauptet 
dort,  Theopomp  sei  trotz  seiner  krassen  Parteilichkeit  würdiger, 
der  Geschichte  Philipps  zu  Grunde  gelegt  zu  werden,  als  Thu- 
kydides der  des  peloponnesischen  Krieges.  »Denn«  sagt  er  »wer 
den  Thukydides  für  unparteiisch  hält,  ist  in  einem  entschiedenen 
Irrthume  befangen,  wie  er  sich  leider  durch  alle  Zeiten  hin- 
durch fest  gehalten  hat.  Nun  erhellt  aber  aus  allem,  was  wir 
von  Theopomp  wissen  und  kennen,  dass  seine  Parteilichkeit 
sehr  grobartig  Avar.  wogegen  dieselbe  bei  Thukydides  so  ge- 
schickt versteckt  und  überbaut  ist,  dass  man  ihrer  nur  ent- 
weder durch  eine  ausserordentliche  Mühe  der  Forschung  oder 
durch  einen  glücklichen  Zufall  geAvahr  wird.  Je  schwieriger 
die  Controlle,  je  verführerischer  ist  die  Kunst,  welche  es  ver- 
steht ,  geheim  geschürzte  Knoten  auf  feine  und  unmerkliche 
Weise  in  das  Gewebe  der  Fäden  hineinzuschlingen.  Gerade 
aber  eine  handgreifliche  Parteisucht,  eine  gi'obkörnige  Lüge 
wird  den  gesunden  Forscher  nie  in  Versuchung  führen,  nie  im 
Stande  sein,  ihn  zu  bestechen,  und  vorausgesetzt,  wie  dies  bei 
Thukydides  und  Theopomp  vorausgesetzt  werden  darf,  dass 
Avenigstens  das  rein  Faktische  nicht  geradezu  umgedreht  ist, 
müssen  die  krassen  Schattirungen  jederzeit  dem  Historiker 
AA'illkommener  sein,  als  die  zarten  unmerklich  in  einander  über- 
gehenden. Denn  jene  sind  leichter  zu  erkennen,  die  offene 
Falle   leichter   zu   vermeiden,    als  das    versteckte  Netz«.     Also 

A'ischer,  Schriften  I.  07 


418   Ueber  das  Historische  ix  dex  Redex  des  Thukydides. 

Thiikydides  hat  nicht  geradezu  das  Factische  verdreht,  so  viel 
bleibt  uns  noch  von  ihm  übrig,  wir  können  ihn  etwa  dazu 
brauchen,  um  zu  erfahren,  wie  viele  Schiffe  in  einer  Seeschlacht 
einander  gegenüber  standen,  den  politischen  Zustand  Griechen- 
lands aber,  den  wir  bis  dahin  mit  Meisterhand  von  ihm  ge- 
zeichnet glaubten,  sei  keiner  mehr  so  thöricht.  aiis  ihm  ken- 
nen lernen  zu  wollen.  Leider  hat  Hen*  Schmidt  nicht  für  gut 
befunden,  uns  mit  "der  ausserordentlichen  Mühe  der  Forschung« 
oder  mit  »dem  glücklichen  Zufalle«  bekannt  zu  machen .  avo- 
diu'ch  er  entdeckte,  dass  das  Urtheil  von  Jahrtausenden  ein 
verkehrtes  sei .  indem  er  meint .  es  sei  jene  Eecension  nicht 
der  Ort  dazu.  Ganz  recht,  aber  noch  viel  Aveniger  Avar  es  am 
Platze  eine  solche  Behauptung  ohne  allen  Beweis  hinzuAverfen, 
da  Thukvdides  mit  Philipp  und  Theopomp  gar  nichts  zu 
schaifen  hat.  Billiger  Weise  Avird  das  Urtheil  als  grundlos  und 
jeder  Berücksichtigung  uiiAverth  betrachtet,  bis  Beweise  dafür 
vorgebracht  Averden . 

Was  Herr  Schmidt  sagt ,  ist  aber  eine  Kleinigkeit  gegen 
die  llaisonnements ,  welche  Herr  Dr.  Immanuel  Ogienski,  in 
seiner  1837  zu  Breslau  erschienenen  Schrift  »Pericies  et  Plato, 
inquisitio  historica  et  philosophicm^  führt.  Der  Verfasser  hat 
die  Absicht,  zu  zeigen,  dass  Perikles  keineswegs  ein  trefflicher 
Staatsmann .  sondern  nichts  mehr  und  nichts  Aveniger  als  ein 
—  gemeiner  »routinier«  gcAvesen.  Da  dieses  Lrtheil  im  schnur- 
geradesten Widerspruche  mit  den  Aussprüchen  aller  Historiker 
von  Bedeutung  steht,  so  werden  die  neuern.  z.  B.  Schlosser, 
mit  einigen  hochmüthigen  Bemerkungen  bei  Seite  geworfen, 
und  dann  alle  Anstrengung  darauf  verAvendet.  zu  beweisen  — 
doch  nein,  nur  zu  behaupten,  dass  Thukydides  kein  Avahrer 
Geschichtsschreiber,  sondern  ein  parteiischer  Memoirenverfas- 
ser sei ,  wie  es  deren  in  Franki'eich  so  viele  gebe :  denn  das 
hat  Herr  Ogienski  erkannt,  dass  Perikles  nicht  nach  seiner 
Weise  beurtheilt  Averden  könne,  so  lange  Thukydides  Glauben 
verdiene.  Ist  Thukydides  ein  Avalu-er  Historiker,  so  bleibt 
auch  Perikles  ein  grosser  Staatsmann ;  verdient  Perikles  die 
Geringschätzung  der  XachAvelt.  so  ist  auch  Thukydides  Ruhm 
vernichtet.  Darum  eben  Avird  nun  S.  59 — 70  alles  Mögliche 
zTisammengeführt.  um  den  Thukydides  von  der  bisherigen  Höhe 
seines  Ansehens  recht  eigentlich  in  den  Koth  heninterzureissen. 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.    419 

Er   wird   nicht   etwa   mir   z\im  vollkommenen  Parteimann    ge- 
macht, nein,   er  wird  ein  charakterloser,   durch  iinstäten  Ehr- 
geiz von  einem  ]^ernfe  in  den  andern  geworfener  Mensch  ohne 
Sinn  für  Recht  inid  Sitte,   für  Glauben  iind  Religion,  ein  Yer- 
räther   nnd   Feigling  genannt.     Und  dies    alles  gieht  der  Ver- 
fasser mit  einer  Sicherheit,    als    ob  daran  gar  nicht  gezweifelt 
werden  dürfte,  nnd  bekümmert  sich  weder  nm  die  Widerlegung 
entgegenstehender  Nachrichten,   noch  um  die  Begründung  sei- 
ner Behauptungen.     So  z.  15.   stand  ihm  höchst  unbequem  der 
von  Krüger  unumstösslich  bewiesene  Umstand  im  Wege,   dass 
Ihukydides  sein  Werk  erst  nach  Beendigung  des  Kriegs  aus- 
gearbeitet habe.    Anstatt  aber  eine  Widerlegung  wenigstens  zu 
versuchen,   glaubt  Herr  Ogienski  in  Avegwerfender  Manier   mit 
einigen   Frage-   und  Ausrufungszeichen    die    Sache    abthun  zu 
können.     Und  es  darf  noch  verhältnissmässig  als  viel  betrach- 
tet werden,   dass  er  nur  diess    thut;    denn    andere   unliebsame 
Punkte  ignorirt  er  ganz.     So  kommt  ihm  viel  darauf  an,   dass 
Thukydides  beim  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges  noch 
ein  Jüngling  gewesen  sei.    womit  bekanntlich  die  Angabe  der 
Pamphila   in   starkem  Widerspruche   steht.  ^Er    schweigt    also 
ganz  von  dieser  und  nimmt  von  vorne  herein  die  andere  Nach- 
richt bei  Markellinos    als  die  wahre  an.     Ein   eigenthümliches 
Talent  zeigt  er  aber  besonders  darin  in  die  Worte  alter  Schrift- 
steller Dinge  zu  legen,    die  auch  von  ferne  nicht  darin  liegen 
können.     Ein  glänzendes  Muster  dieser  Hermeneutik  giebt   er 
an  den  Worten  des  Diogenes  Laert.  H.   57,   wo  es  von  Xeno- 
phon  heisst:    Asye-ai    o'   ort   xai  ra  Oouxuoioou  ßißXi'a  Xav^avovta 
oozXijbai  ouvotfi-svoc  auToc  sie  o6;av  tJ-|'oiy£v.    Diese  Worte  können 
nach  vernünftiger  Auslegung  nichts  Anderes  heissen  als.    Xe- 
nophon  habe  die  bis  dahin  noch  nicht  ins  Publikum   gekom- 
menen   Geschichtsbücher    des    Thukydides    bekannt    gemacht; 
offenbar  aber  Avaren  sie  noch  nicht   in's  Publikum  gekommen, 
also  noch  Xavilavovra,  weil  Thukydides  voi   der  Vollendung  ge- 
storben Avar.     Herr  Ogienski  aber  erklärt  AavDctvovra ,  prae  ti- 
more    celata,h    und  findet   in  diesen  Worten  den  BcAveis  dafür, 
dass  Thukydides  aus  Furcht  vor  den  Parteien  sein  Werk  nicht 
vollendet    habe.     Trotz    aller    der  Sicherheit    fühlt   indess    der 


•)  [Ogiensky  1.  c.  S.  6S.] 


420   Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

Verfasser,  wie  es  scheint,  doch,  dass  seine  Urtheile  -wenig  An- 
klang finden  werden,  und  schliesst  daher  seine  üiatiibe  in 
sehr  naiver  Weise  mit  folgenden  Worten:  Qui  hoc  de  Thucy- 
dide  iudiciwm  indignum  putat,  ex  eo  quaerimus^  quo  iure  libera- 
lius  et  honestius  sibi  postulet ,  qui  ipse  de  natura  humana  illi- 
beraliter  et  inhoneste  iudicat?^) 

Doch  ich  habe  mich  nur  zu  lange  schon  bei  dieser  Schrift 
aufgehalten,  welche  auf  recht  augenscheinliche  Weise  zeigt, 
auf  welche  Abwege  das  Bestreben  führt,  selbst  auf  Kosten  der 
Wahrheit  originell  sein  zu  wollen.  Eine  Widerlegung  dersel- 
ben zu  unternehmen .  Aväre  verlorene  Zeit  und  Mühe ;  denn 
Beifall  ^\'ird  sie  bei  keinem  besonnenen  Alterthumsforscher 
finden,  und  den  Verfasser  eines  Andern  zu  überzeugen  möchte 
schwerlich  gelingen,  da  er  bei  seiner  Interpretationsmethode 
Alles  aus  Allem  machen  kann. 

Weit  besonnener  ist  Herr  J.  A.  l^fau  zu  Werke  gegangen 
in  einer  IS 36  zu  Quedlinburg  u.  Leipzig  erschienenen  Schrift, 
betitelt:  »Meditationes  criticae  de  orationibus  Thucydideis«. 
Namentlich  stellt  er  nirgends  gewagte  Behauptungen  axif.  ohne 
den  Beweis  dafür  %wenigstens  zu  versuchen.  Indessen  scheint 
auch  er  in  seiner  negativen  Kritik  die  richtigen  Gränzen  weit 
überschritten  zu  haben  und  zu  einem  Kesultate  gekommen  zu 
sein,  welches  sich  nicht  behaupten  lässt.  Nachdem  er  näm- 
lich dem  Thukydides  gleich  auf  der  ersten  Seite  das  höchste 
Lob  gespendet,  als  streng  wahrheitsliebendem,  nicht  weniger 
durch  seinen  Geist  als  seine  Unparteilichkeit  bewundernswer- 
them  Historiker,  sucht  er  zu  zeigen,  dass  man  eben  desswegen 
seinem  Werke  in  Betreff  der  Reden  Eigenschaften  beigemessen 
habe,  die  es  in  der  That  nicht  besitze.  Man  habe  nämlich 
allgemein  angenommen,  es  seien  seine  Reden  zwar  nicht  wört- 
lich Avieder  gegeben,  w^ie  sie  gehalten  worden,  aber  doch  habe 
Thukydides  überall  die  Gedanken  und  den  Charakter  der 
wirklich  gehaltenen  Reden  so  genau  als  möglich  wiederzugeben 
gesucht,  und  namentlich  seien  alle  seine  Reden  auf  wirklich 
gehaltene  begründet. 

Dieser  Ansicht  tritt  nun  Herr  Pfau  entgegen  und  stellt  die 
Meinung  auf,   dass  die  Reden,   Avelche  Thukydides  seiner  Ge- 


1)   iOgienf3ky  S.   70. 


Ukber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.    421 

schichte  eingeflochten  habe,  nicht  nur  frei  behandelt,  sondern 
zvim  grossen  Theile  auch  ohne  alle  historische  Basis ,  vom 
Redner  nnr  erfunden  seien.  Im  Grunde  ist  diese  Meinung 
schon  sehr  alt,  Dionysios  sagt  bereits.  Perikles  habe  im  pelo- 
ponnesischen  Kriege  keine  Leichenrede  gehalten.  Neuere  Ge- 
lehrte haben  sich  mehr  oder  weniger  entschieden  ähnlich 
ausgesprochen;  Heilmann  in  den  »Kritischen  Gedanken  von 
dem  Charakter  und  der  Schreibart  des  Ihukydides«  S.  25 
[Üebersetznng  HI.  Ausgabe.  Lemgo  1S23  I.  S.  LXXXV] 
sagt:  »so  sind  die  eingeschalteten  Reden  beim  Thukydides, 
Avie  es  scheint,  grossentheils  zu  diesem  Ende  erfunden,  ^^^e- 
nigstens  sehr  vortheilhaft  genutzet  worden « ,  ungefähr  ebenso 
Meierotto  in  dem  »Memoire  sur  Thucydide« :  (Memoires  de 
lAcademie  Royale  des  sciences  et  belles-lettres  l7!Jü — 1791 
S.  518 — 538)  und  neuerdings  spricht  Hermann  Llrici  in  seiner 
Charakteristik  der  antiken  Historiographie  von  »langen,  oft  rein 
erdichteten  Reden«  des  Thukydides  und  von  seiner  GeAvohn- 
heit,  »Reden  nach  Belieben  einzuschalten.«  Niemand  hat  aber 
den  Gedanken  mit  solcher  Bestimmtheit  hingestellt  und  ihn 
auch  aus  dem  Historiker  selber  zii  bcAveisen  gesucht,  wie  Herr 
Pfau.  Da  nun  die  Reden  in  Thukydides  Werk  einen  so  we- 
sentlichen Theil  ausmachen,  und  durch  ihre  richtige  Beurthei- 
lung  das  Gesammturtheil  über  Thukydides  grossentheils  be- 
dingt wird,  so  ist  es  Avohl  der  Mühe  werth.  sie  mit  sorgfältiger 
Beachtung  aller  gegen  die  gewöhnliche  Meinung  gemachten 
Einwürfe  einer  neuen  Prüfung  zu  unterwerfen  und  vor  Allem 
nachzuforschen,  in  welchem  Verhältnisse  zu  der  Wirklichkeit 
sie  stehen.  Der  richtigste  Gang,  der  dabei  zu  befolgen  ist, 
scheint  der,  dass  zuerst  untersucht  Averde,  als  was  Thukydides 
selber  diese  Reden  giebt.  und  dann  das  gewonnene  Resultat 
mit  den  einzelnen  Reden  zusammengehalten,  und  geprüft 
werde,  in  wie  fern  es  mit  denselben  in  Uebereinstimmung  stehe. 
Für  die  Beantwortung  der  ersten  Frage  haben  wir  zuerst 
die  bekannte  Stelle  des  Thtikydides  I.  22  zu  betrachten.  Sie 
lautet:   Kai  osa  [xsv  X6'((o  siirov  ex7.3Toi  r^   [xsXXovtc;  KoXsjxr^asiv  r^ 

£V    aUT(p    TjOTj     0V-£?    J^aXsTTOV    TTjV    aXplßöiaV   aUTTjV   TU)V  Äc/OivTOJV   017.- 

}i.VT,jj.0Viuaai  t^v  efioi  xs  aiv  auro?  TJ/.ouaa  xal  roic  aXÄof^sv  7:oi>£v 
etxol  7.7ra-j"|'£XÄou3iv  •  (oc  5'  av  sooxouv  i\i.oi  fxaaTot  Trspi  tu>v  asi 
~apovTu)v  xa  oiovta  ficiXtsr    sittsTv  iyo\iB'iio  oti  syyuTaTa  ~rc  EujxTra- 


422   Ueber  das  Historische  i>'  den  Reden  des  Thukydides. 

(jT^c,  Yvojix"/;;  täv  aXrfiijK  ÄsyiisvToJV,  o'jtoj;  cl'prj-at.  Darin  fand  man 
bis  dahin  ziemlich  allgemein  die  Erklärung  des  Thukydides,  dass 
er  die  Reden  nicht  wörtlich  wiedergebe,  sondern  die  Redner 
das  sagen  lasse,  was  in  den  jeweiligen  Verhältnissen  ihm  am 
passendsten  geschienen  habe,  doch  so,  dass  er  sich  bei  dieser 
freien  Behandhing  immer  so  nahe  als  möglich  an  den  Haupt- 
inhalt der  wirklich  gehaltenen  Reden  halte.  Eine  nothAvendige 
Folge  dieser  Erklärung  war  die  Annahme,  dass  also  jeder  thu- 
kydideischen  Rede  eine  historisch  wahre  zu  Grunde  liege ;  denn 
an  den  Gesammtinhalt  einer  Rede  konnte  er  sich  nicht  halten, 
Avenn  eine  solche  gar  nie  existirt  hatte.  Darum  sagt  Poppo 
zu  dieser  Stelle  ganz  richtig :  IIi?ic  conciones  tales  fecit.  quales, 
ut  ipse  quidem  iuclicabat^  si  habitae  essent ,  singulis  locis  atque 
temporihus  maxime  consentaneae  fuissent.  Noluit  tarnen  eas,  ut 
ah  aliis  Jiistoricis  factum  est,  proratts  confingere ,  sed  etiam  hic^ 
quantum  ßeri  poterat,  Verität is  studio sus ,  quum  verba  ipsa  ora- 
torum  reddere  neque  passet  et  fortassis  interdum  etiam  nollet, 
certe  uniter sam  sententiam  s.  argumentum  den  Hauptinhalt,  die 
Hauptgedanken)  orationum  vere  habitarum  quam  maxime  serva- 
vit.  Dieser  Auffassung  der  Stelle  ist  nun  Herr  Pfau  entgegen- 
getreten. Er  sagt,  1  ta  aXr,i>u)c  Xs/fiivTa,  orationes  reveru  habi- 
tae, stehen  entgegen  den  oox  aÄr^tlu);  Iv/pv/ra  i.  e.  ficta  vel  a 
scriptore  sie  instituta ,  Lz,  av  sooxouv  cutä  £7.7.3701  -col  tu)v  7.31 
7:apovTtt)v  -a  oirj^)~>j.  jj-aAisT  sitccTv.  Dieser  Satz  heisse  aber :  yjroz<^ 
singuli  mihi  videbantur  maxime  consentanea  dicturi  fuisse  [seil, 
si  dixissent]  sie  dixi.  Also  Avolle  Thukydides  mit  diesen  Wor- 
ten nichts  Anderes  bezeichnen  als  seine  eigene  Erfindung,  oder 
die  für  die  jcAveiligen  Verhältnisse  passend  erdichteten  Reden, 
orationes  in  res  praesentes  aptissime  fictas.  txaXi3Ta  fasse  man 
am  richtigsten  Avie  unser  deutsches  »immerhin,  meinetAA'egen», 
der  Sinn  der  ganzen  Stelle  sei  dann  folgender  ^j  :  ^^Ad  singu- 
lorum  quod  attinet  conciones  historiae  meae  interpositas  difßcile 
erat  accuratissime  recordari  et  memorare,  quae  dicebayitur  quare 
facere  non  studui).  Mea  vera  orationum  compone7idarum  ratio 
sie  est  instituta  ourto;  sipr^xa)  prout  singulos  putabam  dicturos 
forte  fuisse  i.  e.  AAie  ich  glaubte,  dass  sie  etwa  gesprochen 
haben  AAÜrden  sc.  si  dixissent.    Parvi  autefn  refert,  eos  fortasse 

1;   iPfau  1.  c.   S.   5.1  2j   iPfaa  1.  c.  S.  6.^ 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.    423 

aliter  dixisse  per  suam  cUcencli  facultatem  a  mea  dwersam  in  res 
personasque  praesentes  consentanea ,  consectans  seu  consectahar 
tarnen  ubi  revera  habehantur  orationes,  quam  proxime 
universam  se^itentiam  seu  argumentum.  Quare  quae  in  his  nos 
docet  Thucydides  tria  sunt:  accuratissime  non  servasse  dicta  ob 
difficidtatem  quandam:  alias  concioties  exhibuisse  quo- 
datnmodo  fictas ;  alias  retulissc pro  argumenta  revera 
habitas. 

Er  stellt  also  zwei  Klassen  von  Reden  anf:  1)  rein  er- 
dichtete; denn  das  meint  er,  -vvie  auch  der  Fortgang  seiner 
Abhandhing  zeigt,  wenn  er  sie  hier  schon  sonderbarer  Weise 
bloss  quodammodo  ßctas  nennt;  2j  wirklich  gehaltene,  von 
Thukydides  in  ihrem  Hauptinhalte  wiedergegebene. 

Obwohl  er  nun  selber  Avenig  Gewicht  auf  diese  Erklärung 
legt,  so  ist  es  dennoch  zweckmässig,  sie  zu  untersuchen  und 
genau  zu  prüfen.  Avas  Thukydides  eigentlich  sagt.  Denn,  um 
zu  einem  richtigen  Urtheile  über  die  Reden  überhaupt  zu  ge- 
langen, ist  es  unumgänglich  nothwendig,  zu  wissen,  wie  der 
Geschichtschreiber  selber  sie  angesehen  haben  Avollte. 

Zunächst  ist  nun  allerdings  kein  Zweifel,  dass  den  aK•r^- 
%(}ic  XtyJ}i^-rx  gegenüberstehen  die  oux  aÄrjöu);  Xzyßiv-a,  dem 
wirklich  Gesprochenen  das  nicht  Avirklich  gesprochene ,  son- 
dern von  dem  Histoiiker  nur  dem  Redner  in  den  Mund  Ge- 
legte. Allein  damit  wird  noch  nicht  zugegeben,  dass  es  den 
Gegensatz  ausspreche  zwischen  Reden,  die  wirklich  gehalten 
w'orden  und  Reden,  die  ganz  erfunden  sind.  Das  müsste  Hr. 
Pfau  erst  beweisen,  hat  es  aber  unterlassen;  auch  lässt  es  sich 
in  der  That  nicht  beweisen.  Denn  Thukydides  spricht  nir- 
gends von  zwei  Arten  von  Reden,  sondern  bezeichnet  sein 
\  erfahren  als  ein  allgememes.  durchgängig  angewandtes.  Hätte 
er  jenen  Gegensatz  ausdrücken  wollen,  so  hätte  er  gewiss  nicht 
so  ohne  weiteres  den  Participialsatz  s/otj,£v(u  —  Xä/i>£v-a>v  an- 
geknüpft, sondern  wenigstens  angedeutet,  dass  er  in  gewissen 
Fällen  sich  an  den  Gedanken  der  wirklichen  Reden  gehalten 
habe.  Wie  die  Worte  jetzt  stehen,  bilden  sie  eine  Beschrän- 
kung, die  ganz  allgemein  und  ohne  Ausnahme  zu  dem  Haupt- 
satze gehört,  und  sagen  also  aus,  dass  der  Geschichtschreiber, 
obwohl  er  die  Reden  nicht  wörtlich  Aviedergab,  doch  sich 
immer   so   eng,    als    es   thunlich   war    ;oti   EYYutaTaj ,    an  den 


424  Leber  das  Historische  in  den  Keden  des  Thukydides. 

Hauptinhalt  der  Avirklich  gehaltenen  Reden  anschloss.  folglich 
auch  nur  da  Keden  halten  Hess .  avo  solche  wirklich  gehalten 
worden  waren ,  keineswegs  aber  nach  Belieben  solche  erfand. 
Jetzt  wird  es  auch  klar,  wie  jene  7.ATjI>(u;  Xs/iliv-a  sich  zu  den 
oox  akr^bthc  hzyhvna  verhalten:  ersteres  sind  die  wirklich  von 
den  Rednern  gesprochenen  Worte .  wozu  den  natürlichen  Ge- 
gensatz die  Reden  in  der  Form,  wie  sie  Thukydides  giebt. 
bilden,  und  die  könnte' man  ganz  passend  als  oux  6.\r^\i^^i-  as- 
ybiv-a  bezeichnen.  Dieser  Unterschied  findet  sich  nun  aber 
überall,  ist  ein  durchaus  durchgreifender.  Aviewohl,  wie  Avir 
später  sehen  Averden.  die  einen  der  thukydideischen  Reden  den 
ä/.Tjild);  Xs/üivra  näher,   die  andern  ferner  stehen. 

Die  Hypothesis  in  den  Worten  («;  av  loo/.ouv  .  .  .  eittsTv. 
Avorauf  Herr  Pfau  mit  besonderm  Nachdrucke  hinAveist,  darf 
allerdings  nicht  übersehen  Averden;  aber  nur  darf  man  nicht 
bloss  ergänzen  si  dixissent,  sondern  si  ita  dixissent.  Poppo  hat 
die  Stelle  ganz  richtig  erklärt  in  den  oben  angeführten  Worten : 
qiiules  si  hahitae  essent.  »Ich  habe  sie  so  sprechen  lassen.  Avie 
sie  nach  meiner  Meinung  passend  oder  am  passendsten  gespro- 
chen haben  würden«  enthält  doch  ganz  klar  den  hA-]Dothetischen 
Gedanken :  Avenn  sie  s  o  gesprochen  hätten .  Avie  ich  sie  spre- 
chen lasse.  Avürden  sie  nach  meiner  Meinung  am  passendsten 
oder  passend  gesprochen  haben.  Also  lässt  sich  auch  aus 
diesen  Worten  keinesAvegs  herausdeuten,  dass  Thukydides  Red- 
ner habe  aiiftreten  lassen .  die  in  der  Wirklichkeit  nicht  ge- 
sprochen hatten. 

Die  Erklärung  von  jjL7.Äi3ra  durch  »immerhin«  möchte  ich 
eben  so  Avenig  billigen.  Hr.  Pfau  beruft  sich  auf  zwei  Stellen 
des  Sophokles.  Passender  Aväre  gewesen.  Belege  A'on  ThukA- 
dides  oder  einem  andern  Prosaiker  anzuführen,  was  aber  Avohl 
schAA'ierig  gCAvesen  wäre.  Allein  selbst  mit  jenen  zwei  Stellen 
des  Sophokles  hat  es  eine  eigene  BcAA-andtniss ,  die  eine .  im 
Philoct.  A'.   617,   lautet: 

oloiTo   [xsv   [xaAi3i>'  sy.o'j-iov  Xajiiuv  , 
£1   }iT|    OsAoi  o\    äx^vTa. 

Während  hier  geAA'öhnUch  [xctAista  mit  oIoito  A'erbunden 
AA'urde,  hat  G.  Hermann  es  zu  ixouaiov  gezogen,  wo  dann  A^on 
»immerhin«  gar  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann.  Allein  auch 
zugegeben,   es  gehöre  zu  oioito.   muss  ich  die  Bedeutung  »im- 


Ueber  das  Historische  in  dek  Reden  des  Thukydides.    425 

merliin«  bestreiten  und  die  gewöhnliche  »am  ehesten  am  lieb- 
sten« vindiziren.  Odysseiis  verspricht,  auf  jeden  Fall  den 
Philoctet  ins  Lager  zur  bringen .  am  ehesten  aber ,  oder  am 
liebsten  hoffe  er,  er  Averde  ihn  freiwillig  dazu  bewegen,  avo 
aber  das  nicht  gehe,  sei  er  zu  GeAAalt  entschlossen.  Uebrigens 
ist  es  nur  ^Vex,  der  hier  die  Bedeutung  «immerhin«  hineinlegt, 
AA'ährend  andere  Erklärer  (z.  B.  Ellendt  im  Lex.  Soph.),  auch 
AA-enn  sie  oI'oito  [x£v  [xaXtsTa  zusammennehmen,  doch  das  letztere 
auf  geAAÖhnliche  Weise  fassen. 

Die  zAA'eite  »Stelle  findet  sich  in  der  Antigene  a'.  327. 
Nachdem  Kreon  den  Wächter  mit  dem  Tode  bedroht,  Avenn 
nicht  der  gefunden  Averde,  der  der  Polyneikes  mit  Erde  be- 
deckt,  sagt  dieser: 

aXX'  £upEt)öir,  |j,£v  [xotXiar  ,  iav  os  toi 
Xr^csÖ'^l  T£  X7.1  [xrj.  TouTo  yap  ~'V/(  '/-p'-VcI, 
oux  sjB'  oüto;  o'^ci  au  osup'  eXUovra  [xs. 
Dies  erklärt  Wex .  auf  den  sich  Herr  Pfau  beruft :  »Nun 
meinetAvegen  findet  ihn  immerhin«  oder,  AAde  er  beisetzt,  noch 
bezeichnender  im  Berliner  ^'olksdialekte :  »Nun  findet  ihn  man 
zu«.  Auch  Ellendt  im  Lex.  Sophocl.  s.  y.  jjLctXa  stimmt  hier 
mit  Wex  überein,  indem  er  [xocXiara  durch  utique  sane  übersetzt. 
Indessen  halte  ich  auch  hier  diese  Erklärung  für  unrichtig, 
Aveil  diese  Bedeutung  gar  nicht  nachgeAAiesen  ist,  und  sogar 
die  gewöhnliche  einen  AAeit  bessern  Sinn  giebt:  der  Wächter 
AAÜnscht,  dass  der  Thäter  ertappt  Averde,  das  aaüI  er  am  lieb- 
sten, darum  jj-aXtata.  Aber,  fügt  er  bei,  mag  er  gefangen 
AAcrden  oder  nicht,  mich  soll  Kreon  nicht  mehr  zu  Gesichte 
bekommen .  Das  Ganze  heisst  also :  Am  liebsten  wäre  mir  es 
freilich,  er  AAÜrde  gefunden,  aber  er  mag  gefangen  AA'erden  oder 
nicht,  denn  das  hängt  A^om  Glücke  ab,  so  AA-irst  du  mich  nicht 
mehr  hieher  zurückkommen  sehen^). 


1)  Als  die  ganze  Arbeit  schon  beendigt  Avar,  fand  ich  zufällig,  dass 
Wex  in  seiner  Uebersetzung  der  Antigene  1834  die  frühere  Erklärung  von 
fjLä>aGTot  an  beiden  Stellen,  durch  Neue  A'eranlasst,  zurückgenommen  hat. 
Da  indessen  diese  Uebei'setzung  wohl  Aveit  Aveniger  verbreitet  ist  als  die 
griechische  Ausgabe  der  Antigone ,  und  daher  die  in  dieser  gegebene  Er- 
klärung auch  von  Hrn.  Pfau  als  Beweis  für  seine  Auffassung  von  [j.a)aGT7. 
in  Thukydides  angeführt  worden  ist,  da  überdiess  Andere,  wie  Ellendt, 
immer  noch  in  der  letztern  Stelle  [j.7."/.ist7.  in  der  ungewöhnlichen  Bedeutung 
fassen,  so  glaubte  ich  die  obige  Widerlegung  stehen  lassen  zu  dürfen. 


426   Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

So  sind  also  die  aus  Sophokles  lierbeigezogenen  Stellen 
nicht  geeignet,  die  Bedeutung  »immerhin«  zu  erhärten.  Wozu 
aber  auch  diese  dem  Thukydides  aufdringen,  da  die  geAvöhn- 
liche,  so  bald  man  nicht  einen  bestimmten  Smn  herauszwingen 
will,  vollkommen  passt  i  Man  kann  nämlich  entweder  tiaAi^ra 
unmittelbar  zu  77.  oiovra  ziehen,  dann  heisst  diess,  wie  es  die 
meisten  Erklärer  fassen,  «das  Passendste«,  ist  also  eine  Um- 
schreibung für  den  Superlativ;  oder  man  kann  [loÄiito.  zu  dem 
Gedanken  -a  Siovra  ti-th  ziehen,  dann  heisst  es :  yijiotissimum, 
am  ehesten«,  und  der  ganze  Satz :  »wie  ich  glaubte ,  dass  je- 
gliche am  ehesten  das  Passende  gesagt  haben  Avürden«  oder 
»am  ehesten  passend  gesprochen  haben  würden«.  Im  Ganzen 
bleibt  bei  beiden  Erklärungen  der  Gedanke  derselbe,  und  für 
unsern  Zweck  ist  es  ziemlich  gleichgültig,  welche  man  wählt ; 
doch  halte  ich  die  letztere  für  die  richtige,  weil  ~a  osovra  schon 
genug  aussagt  und  nicht  durch  [iaÄiaroc  gesteigert  zu  werden 
braucht ,  während  nach  der  letztem  Erklärung  auf  eine  sehr 
passende  Weise  die  möglichste  Annäherung  an  das  Richtige 
ausgedrückt  wird.  Demnach  heisst  nun  die  ganze  Stelle:  »Und 
in  Betreff  dessen  niui.  was  jegliche  in  Reden  gesprochen  haben, 
theils,  als  sie  im  Begriffe  standen,  den  Krieg  zu  beginnen, 
theils  in  demselben  selbst,  sich  an  das  Gesagte  genau  zu  er- 
innern, war  schwer,  sowohl  für  mich  da,  wo  ich  selber  es  an- 
gehört hatte,  als  für  die,  welche  mir  anderswoher  Nachrichten 
brachten.  Wie  ich  aber  glaubte ,  dass  der  Einzelne  über  die 
jeweiligen  Verhältnisse  das  Passende  am  ehesten  gesagt  haben 
Avürde,  so  habe  ich.  indem  ich  dabei  so  eng  als  möglich  mich 
an  den  Hauptinhalt  des  wirklich  Gesprochenen  gehalten  habe, 
ihn  sprechen  lassen«. 

Also  Thukydides  hat,  von  der  Unmöglichkeit  überzeugt,  die 
Reden  Avörtlich  wiederzugeben,  nur  so  weit,  als  es  möglich 
war.  den  Hauptinhalt  derselben  zu  Grunde  gelegt  und  auf  die- 
ser Basis  dann  den  Redner  so  sprechen  lassen,  wie  es  ihm 
angemessen  schien.  Er  hat  also  gewissermassen  die  wirklichen 
Reden  idealisirt.  Und  zwar  ist  diess  Verfahren  von  ihm  als 
ganz  allgemein  angegeben.  Die  Erklärung  des  Herrn  Pfau 
und  die  daraus  gezogenen  Folgerungen  fallen  hiemit  zusammen, 
vmd  m  der  Hauptsache  ist  die  Stelle  von  den  frühern  Aus- 
legern ganz  richtig  gefasst  worden. 


Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides.   427 

Ans  dem  Bisherigen  folgt  nun  aber  nnabweislicli : 

1  dass  Thukydides  nur  die  Absicht  hatte,  da  Eeden  hal- 
ten zu  lassen,  avo  wirklich  solche  gehalten  worden  waren, 
keineswegs  aber  nach  Gutdünken  etwa  wie  die  spätem  rheto- 
risirenden  Historiker  solche  einzuschalten ; 

2)  dass  seine  Reden  mehr  oder  Aveniger  von  den  ihnen  zu 
Grunde  liegenden  abweichen  mussten,  je  nachdem  er  diese  mit 
mehr  oder  weniger  Genauigkeit  kannte,  und  je  nachdem  diese 
besser  oder  schlechter  Avaren.  War  seine  Kunde  davon  nur 
gering,  so  blieb  der  freie  Spielraum  für  das  eigene  künstle- 
rische Gestalten  um  so  grösser;  war  sie  ihm  näher  bekannt, 
hatte  er  sie  selber  angehört,  oder  lag  sie  vielleicht  sogar  ge- 
schrieben vor  ihm,  so  waren  demselben  engere  Gränzen  ge- 
steckt. Traf  ferner  die  Avirklich  gehaltene  Rede  die  Haupt- 
punkte, auf  die  es  ankam,  so  konnte  Thukydides  sich  enger 
anschliessen,  als  Avenn  dieselbe  mangelhaft  Avar  und  also  Man- 
cherlei hineingelegt  Averden  musste ,  Avenn  der  Redner  das 
sagen  sollte.  Avas  sich  am  ehesten  zu  den  Verhältnissen 
schickte.  Daraus  folgt  z.  B.,  dass  die  Reden  des  Perikles  ge- 
nauer reproduzirt  sind  als  die  des  Athenagoras  in  Syrakus. 

Ehe  ich  nun  aber  dazu  übergehe,  die  einzelnen  Reden  mit 
dem  gCAVonnenen  Resultate  zusammenzuhalten  und  nachzu- 
sehen, ob  der  Historiker  dem  in  dem  Proöm  ausgesprochenen 
Grundsatze  auch  in  der  Ausführung  treu  geblieben ,  AA'ill  ich 
noch  eine  Bemerkung  hinzufügen,  die  zur  Bestätigung  des  bis 
dahin  gefundenen  dient.  Der  Geschichtschreiber  ist  in  der 
Erforschung  der  Wahrheit  sehr  streng  geAvesen,  er  hat,  AAie 
selbst  die  zugeben.  Avelche  ihm  Parteilichkeit  A^orAverfen,  die 
Thatsachen  mit  möglichster  Genauigkeit  geprüft,  und  diese 
Genauigkeit  giebt  sich  auch  in  den  kleinsten,  oft  scheinbar 
unbedeutenden  Ausdrücken  kund.  Diess  zeigt  sich  nun  be- 
sonders auch  bei  der  Einführung  aou  Reden,  und  hier  un- 
terscheidet sich  Thukydides  von  Herodot  und  Xenophon.  Wo 
diese  Reden  anführen,  da  heisst  es  bald  bloss:  IXc^s,  iXs^av, 
ct-ö.  ci-civ^  bald  ist  vor  der  Rede  -dtos.  nach  derselben  rau-a 
dem  Yerbum  beigegeben,  bald  -oiaos  und  toiaura  \  .    Diese  und 


1    Man   vergleiche    nur   folgende    auf's    GeratheAvohl   herausgegriffene 
Stellen:  Herod.  I,  27:   itra-z-ot  raos  und  KpoTiov  oe  £i-at.    I,  71  :   cjvsßou/.e'j'ji 


428   Leber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thikydides. 

ähnliche  Ausdrücke  wechseln,  ohne  alle  Gründe.  Ganz  anders 
Thnkydides.  \oy  allen  eigentlichen  Reden  hat  er  regelmässig 
die  Formel:  iXzca  oder  ein  entsprechendes  Verbum  -oiaos; 
am  Schlüsse  xoiau-a  sIttsv  oder  ein  ähnliches  Verbum  .  bis- 
weilen, doch  weit  seltener,  -oaauta,  was  aber  bei  vorausgegan- 
genen Toiaos  nicht  bestimmter  ist,  als  Toiaoza.  sondern  vielmehr 
nur  eine  Beziehung,  die  der  Grösse  der  Rede,  bezeichnet.  Es 
kann  daher  dieser  Ausdnick  eben  so  gut  da  stehen,  wo  eine 
Rede  wörtlich  getreu  wiedergegeben  wird,  als  da.  wo  sie  frei 
nachgebildet  oder  idealisirt  ist ') .  Dass  nun  aber  Thukydides 
diese  unbestimmten  Demonstrativa  mit  Absicht  gebraucht,  lässt 
sich  leicht  erkennen  durch  Vergleichung  der  Stellen,  wo  das 
bestimmte  Demonstrativum,  oder  auch  das  blosse  Verbum  mit 
und  ohne  oti  angewandt  ist.  Th\ikydides  bedient  sich  nämlich 
der  Demonstrativa  oos  und  outoc  erstens  überall  da,  wo  er 
Verträge,  Bündnisse,  Friedensschlüsse,  mit  einem  Worte  Akten- 
stücke mittheilt,  also  wo  er  etwas  wörtlich  Gegebenes  anführt. 
Beispiele  davon  finden  sich  besonders  zahlreich  im  fünften 
Buche,  wo  namentlich  das  zwischen  Argos  und  Sparta  ge- 
schlossene   im   dorischen  Dialekte   abgefasste  Verkommniss  je- 


räoe  und  ■zaÜTCi  \i'(m^i.  I,  87:  eipsoftat  -raos  und  6  0£  elr.s.  I,  88:  b  [iks 
TctüTot  0.efz ,  sehr  selten  hat  Herodot  -otcioe ,  wie  VII,  158.  Xenophon  hat 
Totaoe  Hell.  I,  6,  4.  ToiaÜTa  II,  4,  22.  -dos  oder  TaO-a  I,  6,  S  12.  I,  7, 
16,  34.  (x)0£  II,  3,  24.  bloss  d-su  Hell.  II,  3,  51.  r/.£?£v  II,  4,  13.  Diese 
Beispiele  genügen,  wiewohl  sich  eine  Menge  anderer  aus  der  griechischen 
Geschichte  so-\vohl  als  den  übrigen  Schriften  Xenophons  anführen  Hessen. 
1,  Eine  Ausnahme  findet  statt  bei  der  Rede  des  Sthenelaidas,  welche 
I,  85  eingeleitet  wird  mit  den  Worten;  D.iU-'  w^£  ;  nach  Beendigung  aber 
heisst  es  I,  87  :  ToiaO-a  ok  '/.izaz,  der  gewöhnlichen  Formel  conform.  Ueber- 
diess  würde  gerade  bei  Sthenelaidas  Rede  eine  Abweichung  am  wenigsten 
auffallen  können,  da  sie  sich  offenbar  den  gleich  nachher  genannten  Fällen, 
wo  nicht  eigentliche  Reden,  sondern  kurze  Aussprüche,  Aufforderungen 
u.  dgl.  vom  Geschichtschreiber  angeführt  werden,  sehr  nahe  anschliesst.  — 
Eben  so  leicht  erklärt  sich,  warum  in  dem  Gespräche  der  Athenisohen 
Abgeordneten  mit  den  Meliern  es  zuerst  (V,  84,,  heisst  zUfo^  TOtaoe,  am 
Schlüsse  aber  'c.  112;  d-£7.[>ivav-o  -do£  und  (c.  113  oi  AS^viio'.  —  £c;aoav. 
Das  Gespräch  selber  ist  frei  behandelt,  die  letzte  nach  reifer  Ueberlegung 
von  den  Meliern  gegebene  Antwort  wieder  ist,  wenn  auch  nicht  wörtlich, 
doch  dem  Sinne  nach  offenbar  als  rein  historisch  zu  betrachten,  und  ähn- 
lich auch  die  Schlussworte  der  Athener. 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.    429 

den  Zweifel   gegen   Aechtheit   und  wörtliche  Genauigkeit  nie- 
derschlagen muss  1  . 

Der  zweite  Fall  ist  der,  wo  Thukydides  kurze  Schreiben 
anführt,  so  die  zAvischen  Pausanias  und  Xerxes  gewechselten 
IJriefe  I,  128.  129.  ,  wo  er  sich  auf  Entdeckung  dieser  Kor- 
respondenz beruft.  »Es  war«,  sagt  er,  «in  dem  Briefe  Folgen- 
des geschrieben ,  wie  später  'natürlich  bei  dem  Processe'  ge- 
funden wurde«.  Man  könnte  Zweifel  aufwerfen,  ob  denn  dem 
Thukydides  diese  Briefe  bekannt  sein  konnten,  da  die  Spar- 
tiaten  überall  so  geheimnissvoll  thaten .  und  ganz  besonders 
da ,  wo  es  sich  um  das  Capitalverbrechen  eines  Mannes  aus 
königlichem  Geblüte,  eines  sieggekrönten  Feldherrn,  wie  Pau- 
sanias .  handelte ,  kaum  einem  Fremden  die  Aktenstücke  mit- 
theilen mochten.  Allein  diese  Bedenken  verscliAvinden,  sobald 
wir  in  Erwägung  ziehen,  dass  die  Spartiaten  auch  den  The- 
mistokles  in  des  Pausanias  Process  zu  verwickeln  suchten,  dass 
sie  zu  diesem  Zwecke  sicherlich  die  belastenden  Aktenstücke 
den  Athenern  übergaben.  Diese  bewahrten  sie  ohne  Zweifel 
in  dem  Archive,  und  so  gut  als  noch  Phavorinos  die  Anklage 
des  Meletos  gegen  den  Sokrates  daselbst  im  Originale  las, 
mochte  auch  Thukydides  Abschriften  der  Ik-iefe  des  Pausanias 
und  des  Königs  Xerxes  einsehen.  Ein  anderer  Einwurf  mag 
von  dem  attischen  Dialekte  hergenommen  sein,  in  welchem 
diese  Briefe  abgefasst  sind,  und  dieser  hat  mehr  Gnuid,  indem 
von  Pausanias  und  Xerxes  Seite  schwerlich  dieser  angewandt 
Avar.  Zwar  Hesse  sich  eimvenden,  dass  wenigstens  im  pelo- 
ponnesischen  Kriege  derselbe  in  diplomatischen  Gebrauch  ge- 
kommen zu  sein  scheine,  indem  das  zwischen  Tissaphernes  und 
den  Peloponnesiern  abgeschlossene  l^ündniss  darin  abgefasst 
war.  Da  aber  Zeit  und  Verhältnisse  doch  bedeutend  ver- 
schieden, so  möchte  ich  daraus  keinen  Schluss  ziehen  und 
gebe  gerne  zu ,  dass  die  genannten  Briefe  in  den  attischen 
Dialekt  übersetzt  seien.  Da  vielleicht  der  Brief  des  Xerxes 
gar  nicht  in  griechischer  Sprache  geschrieben  war,  mochte  das 
um  so  nöthiger  sein,   und  wahrscheinlich  hatten  ihn  schon  die 


1)  VIII,  59  hat  Bekker  aus  dem  Vatican.  und  Arund.  TotaiiTai  aufge- 
nommen; allein  mit  Recht  haben  Goeller  imd  Poppo  die  von  den  übrigen 
Handschriften  gegebene  vulg.  ctuTai  in  Schutz  genommen. 


430   L'eber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

Athener  in  einer  Uebersetzung  im  Archive ,  wie  sie  ja  auch 
einmal  aufgefangene  l^riefe  des  Königs  an  Sparta  während  des 
peloponnesischen  Krieges  übersetzen  lassen  ^  .  Jedenfalls  aber 
ist  nicht  der  mindeste  Gnind  vorhanden,  anzunehmen,  dass 
Ihukydides  ausser  der  Sprache  irgend  etwas  an  den  beiden 
Schreiben  geändert  habe.  Etwas  mehr  Zweifel  lassen  sich 
gegen  die  Aechtheit  des  Briefes  des  Themistokles  erheben,  da 
sich  nicht  leicht  absehen  lässt.  auf  welche  ^^'eise  ein  von 
Ihemistokles  nach  seiner  Ankunft  in  Asien  an  den  Grosskönig 
geschriebener  Brief  wörtlich  hätte  sollen  in  Griechenland  be- 
kannt Averden.  Aber  hier  hat  auch  Thukydides  den  unbe- 
stimmten Ausdruck  gewählt :  lorjXou  o'  r^  ';o'^J.or^  o~i .  womit  er 
das.  Avas  der  Brief  nach  den  zuverlässigsten  Nachrichten  ent- 
hielt, ausdrückt.  Auch  diesen  Brief  hat  er  sicherlich  nicht 
so  behandelt,  dass  er  eigene  Gedanken  hineingelegt  hat,  noch 
viel  weniger  willkürlich  ersonnen.  Dagegen  ist  der  Brief  des 
Nikias  aus  Sicilien,  Avie  seine  ganze  BeschaiFenheit  zeigt,  frei 
bearbeitet  und  gehört  in  eine  Linie  mit  den  Reden,  wie  mit 
vollem  Rechte  schon  Dionysios  ihn  betrachtet.  Es  wäre  ohne 
Zweifel  wohl  möglich  geAvesen.  den  wirklichen  J>rief  des  Nikias 
zu  erhalten ;  allein  Thukydides  benutzte  die  Gelegenheit .  um 
die  Lage  des  athenischen  Heeres  und  der  Verhältnisse  in  Si- 
cilien allseitiger  darzustellen,  als  es  Nikias  selbst  gethan  haben 
mochte.  Darum  sagt  er  aber  auch  VH  10.  i-iz-okr^w  .  .  .  ot^- 
Xouactv  Toicitoc  2; .  Endlich  führt  Thukydides  in  einer  Reihe  von 
Fällen,  die  gewissennassen  in  der  Mitte  zAA-ischen  diplomati- 
scher Genauigkeit  und  freier  IJearbeitung  stehen,  in  der  Regel 
die  Worte  anderer  auf  eine  Weise  an,  die  ebenfalls  die  Mitte 
hält  zAA'ischen  dem  ganz  bestimmten  oos  und  dem  allgememen 
Toiococ  TCiiouTo;  .  Er  setzt  nämlich  geAvöhnlich  das  blosse 
Verbum  eizs,  scpr,,  oder  dazu  noch  oti.  auch  wohl  to-ovos  sitts 
und  dergleichen  Ausdrücke  da.    avo    er   nicht    eine  eigentliche 


1)  Thuc.  IV,  50 :  7.7.1  aÜTOü  -/.otjua&iv-o;  ot  'Aör^vaio'.  TÖt;  (aev  £7:iaTC/'/.d; 
[ifZ'Xfpccldii.Z'/oi  iy.  töjv  'AsTjpiu)*«  yP^,"-,"-^"'"^  äv^Yvcu-av. 

-)  Diodor  XIII,  S  giebt  den  Inhalt  des  Briefes  etwas  anders  au ,  als 
er  bei  Thukydides  erscheint.  Bei  der  Nachlässigkeit  desselben  möchte  ich 
aber  daraus  nicht  schliessen,  dass  er  das  Avirkliche  Schreiben  des  Nikias 
benutzt  habe. 


Ueber  das  Historische  ix  den  Redex  des  Thukydides.    431 

Rede ,  sondern  einen  kurzen  Ausspruch ,  eine  Aufforderung, 
Antwort  und  Aelniliches  anführt.  Eine  nähere  IJetrachtung 
dieser  Fälle  zeigt ,  dass  der  Geschichtschreiber  hier  nirgends 
eigene  Gedanken  hinzufügte  oder  unterlegte ,  sondern  dass  er 
Aviedergab ,  was  er  als  Thatsache  ausgeniittelt  hatte ,  Avobei  er 
aber  unmöglich  für  jedes  Wort  stehen  konnte,  da  diese  Aus- 
sprüche grösstentheils  ihrer  Natur  nach  nicht  niedergeschrieben 
waren,  sondern  sich  nur  im  Gedächtnisse  derer,  die  sie  selbst 
gehört  oder  aus  Erzählung  kannten,  fort  erhielten.  Da  sie  aber 
in  der  Regel  nur  einen  einzigen  Gedanken  enthalten  und 
keineswegs  irgend  einen  Gegenstand  einlässlich  behandeln,  so 
konnte  der  Historiker  gar  nicht  einmal  in  Versuchung  kommen, 
hier  etwas  Eigenes  beizufügen.  Zum  Beispiel  H,  12.  erzählt 
Tlnxkydides ,  als  der  spartanische  Gesandte  Melesippos  unver- 
richteter  Sache  von  Athen  weggeschickt  Avorden  sei.  habe  er 
an  der  Gränze  die  denkAvürdigen  Worte  gesprochen  «v-os  vj 
T,|j.ipa  ToT;  'EÄXy,ji  «jLSYaÄojv  y.a/.u)v  ap^si.«  Dazu  konnte  er  nichts 
thun,  der  Gedanke  gehört  ganz  und  gar  dem  Melesippos ;  AA'äre 
das  nicht  der  Fall ,  so  Aerlöre  er  allen  Werth :  ob  aber  die 
AVorte  ganz  genau  diese  AAaren,  mochte  Thukydides  selbst  nicht 
AA^ssen  können,  und  darauf  kommt  auch  gar  nichts  an.  Ebenso 
IV,  38.,  da  fragen  die  auf  Sphakteria  eingeschlossenen  Spar- 
tiaten  ihre  Vorgesetzten  auf  dem  Festlande.  AA-as  sie  thun  sollen. 
Nach  mehrmaligem  Hin  -  und  Herschicken  heisst  es  nun : 
0  TsXsoTaToc  oia-Acuaac  czüroT;  a-o  T(ov  kv.  tt,:  rjrsipoo  Aa/soai- 
[lovioiv  aYTjp  d-r]  YYciXcV ,  oTi  oi  Aaxsoctijxovioi  xsAiUO'jaiv  ufiac 
auro'j;  r^zpl  uawv  otuTuiv  ßouXsusai^ai,  |i.TjO£V  aiaypov  -oiouvtac. 
Aehnliches  findet  man  I.  87.  HI,  113.  VHI,  53,  und  das  Näm- 
liche habe  ich  schon  oben  beim  Briefe  des  Themistokles  be- 
merkt. Gerade  aber  AA'eil  solche  angeführte  Reden  Anderer 
sich  mehr  oder  AA-eniger  den  eigentlichen .  frei  bearbeiteten 
Reden  nähern,  kann  es  nicht  aiiffallen,  einigemal  auch  -oidot 
und  ToiauTCt  zu  finden,  AA-ie  diess  der  Fall  ist  I,  53  und  in  den 
ZAvischen  Archidamos  und  den  Plataiern  A'or  der  Belagerung 
der  letzteren  gepflogenen  Unterhandlungen  II,  71  —  75.,  avo 
einigemal  ToictOc  sÄcyov,  anderemal  das  blosse  Verbum.  und  end- 
lich Xsytüv  (uos  steht.  In  beiden  Fällen  liegt  es  in  der  Natur 
der  Sache ,  dass  der  Inhalt  des  Gesagten  rein  historisch  ist ; 
aber   die   Form   kann   wenigstens    wegen    des    etAA-as    grösseren 


432    Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides. 

Umfangs  des  Gesprochenen  von  Thukydides  freier  gehalten 
sein  als  in  den  vorigen  Beispielen. 

Ans  dem  Gesagten  geht  nun  aber,  denke  ich,  zur  Genüge 
heiTor,  dass  der  Historiker  mit  Absicht  roiaos  und  toiauta  sagt, 
um  eben  die  Reden  als  nur  ungefähr  den  wirklich  gehaltenen 
entsprechend  zu  bezeichnen.  Wozxi  aber  diese  fast  scrupulöse 
Genauigkeit  in  der  Anwendung  der  Pronomina,  Avenn  in  dem 
gleichen  »Satze  diirch  das  ^'erbum  entschieden  von  der  histori- 
schen Wahrheit  abgeAvichen  wurde  ?  Und  das  Aväre  doch  offen- 
bar der  Fall.  Avenn  gesagt  Avird :  oi  Kipxopaloi  lXc;av  toiaoe, 
die  Kerkyraier  aber  in  der  That  gar  nicht  gesprochen  hätten, 
oder  wenn  er  die  Korinthier,  die  Athener,  den  Archidamos 
und  den  Sthenelaidas  in  Sparta  reden  lässt,  Reden  aber  in  der 
That  von  allen  diesen  gar  nicht  gehalten  Avorden  Avären. 
Offenbar  kann  diess  in  den  Verben  nicht  liegen,  sondern  wir 
müssen  dem  Thukydides  glauben,  dass  die  Redner,  die  er  auf- 
treten lässt.  Avirklich  gesprochen  haben,  wir  müssten  ihm  denn 
alle  GlaubAvürdigkeit  absprechen,  avozu  wir  trotz  der  Dekla- 
mationen der  Herren  Schmidt  und  Ogienski  gar  keinen  Grund 
haben.  So  AA'ird  uns  also  auch  hier  das  früher  aus  der  rich- 
tigen xVuffassung  A'on  Thukydides  eigener  Erklärung  gCAvonnene 
Ergebniss  bestätigt,  dass  er  keine  Reden  ohne  histori- 
schen Grund  und  Boden  erfunden,  sondern  bloss 
Avirklich  gehaltne  in  freier  idealisirter  Umarbei- 
tung Av  i  e  d  e  r  g  e  b  e  n  av  o  1 1 1  e . 

Ich  gehe  zu  dem  zAveiten  Theile  der  Untersuchung  über, 
in  welchem  geprüft  werden  muss ,  ob  die  einzehien  in  dem 
thukydideischen  Geschichtsw^erke  enthaltenen  Reden  nun  mit 
dem  im  ersten  gewonnenen  Resultate  übereinstimmen,  oder  ob 
irgend  Avelche  Gründe  da  seien,  die  uns  nöthigen,  anzuneh- 
men, bei  der  Ausführung  sei  Thukydides  seiner  Absicht  nicht 
überall  nachgekommen. 

Ehe  ich  zu  der  IJetrachtung  der  einzelnen  Reden  selber 
schreite,  muss  noch  ein  EiiiAA^urf  berücksichtigt  Averden.  der  Aon 
ihrer  grossen  Zahl  und  Länge  im  Vergleich  zu  der  Grösse  des 
ganzen  GeschichtSAverkes  hergenommen  ist.  Meierotto  in  der 
oben  angeführten  Abhandlung  hat  sich  die  Mühe  genommen, 
herauszuzählen,  dass  A'on  den  drei  und  zAvanzig  tausend  neun- 
hundert Zeilen    der   acht   Geschichtsbücher   fünftausend    fünf- 


Ueber  das  Historische  in  den  Kedex  des  Thukydides.    433 

hundert  auf  die  Reden  fallen.  (Nach  der  Ausgabe  des  Ste- 
phauus.)  Derselbe  meint,  Thukydides  habe  die  Gelegenheit, 
Beden  halten  zu  lassen,  «gleich  als  wäre  es  die  Göttin  des 
Glücks  selbst,  an  den  Haaren  herbeigezogen«,  und  bemerkt, 
es  Averde  doch  wohl  niemandem  einfallen ,  zu  glauben ,  dass 
Griechenland  unter  seinen  »Soldaten  und  Piloten«  in  so  kurzer 
Zeit  so  treffliche  Redner  gehabt.  Dagegen  lässt  sich  nun  sehr 
kurz  erAviedern,  dass  etliche  und  vierzig  Reden  in  mehr  als 
2U  Jahren,  und  zwar  in  einer  Zeit,  avo  in  Athen  allein  kaum 
ein  Tag  verging,  an  dem  nicht  in  der  Volksversammlung  oder 
vor  Gericht  Reden  gehalten  wurden,  Avahrlich  nicht  viel  sind, 
dass  femer  keine  Rede  des  Thukydides  so  lang  ist  als  die 
kürzeste  demosthenische ,  dass  endlich  kein  einziger  »Soldat« 
oder  »Pilot«  eine  Rede  halt,  sondern  Feldherrn  und  Admiriile. 
Gerade  aber  die  freie  Umarbeitung,  die  Thukydides  sich  er- 
laubte, machte,  dass  er  ja  auch  Aveiiiger  gute  Reden  den  sei- 
nigen zu  Grunde  legen  konnte.  Ob  endlich  je  die  Gelegen- 
heit »bei  den  Haaren«  herbeigezogen  wird,  Averden  Avir  nachher 
sehen. 

Um  nun  die  einzehien  Reden  leichter  zu  übersehen,  Avird 
es  am  zAveckmässigsten  sein,  sie  in  verschiedene  Klassen  einzu- 
theilen.  Die  Gattungen,  Avelche  spätere  griechische  Rhetoren 
gcAvölinlich  unterscheiden ,  nämlich :  symbuleutische  und  par- 
ainetische  [X6'(oi  aufjLßouXöunxoi  und  TrafiaivsTixoi'j  ,  gerichtliche 
(Xo-jOi  ör/.avixoi'i  und  Prunkreden  ^oyoi  s-iosixTixoi),  Avürden  sich 
hier  nicht  wohl  aiiAvenden  lassen.  Denn  epideiktische  Reden 
existiren  eigentlich  gar  keine  in  dem  ganzen  Yv^erke,  und  auch 
gerichtliche  kommen  im  strengen  Sinne  keine  vor.  Die  ein- 
zigen, Avelche  man  hieher  rechnen  könnte,  die  der  Plataier  und 
Thebaner ,  unterscheiden  sich  so  sehr  davon ,  dass  wir  nicht 
um  ihretAvillen  eine  besondere  Klasse  aufstellen  möchten.  Da- 
gegen drängt  sich  beim  ersten  Anblicke  schon  als  eine  sehr 
natürliche  Unterscheidung  der  thukydidei^  chen  Reden ,  die  in 
politische  und  in  kriegerische  Reden,  auf ;  die  letzteren 
im  Ganzen,  12,  sind  lauter  unmittelbar  Aor  Schlachten  gehal- 
tene Ermahnungen  der  Feldherrn  und  Avürden  also  nach  der 
oben  berührten  Klassification  zur  parainetischen  Gattung  ge- 
hören. Die  ersteren  hingegen,  die  grösstentheils ,  doch  nicht 
ausschliesslich,   dem  symbuleutischen  Genus  angehören,   unter- 

AMscher,  Schriften  I.  28 


434  Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

scheiden  wir  am  passendsten  wieder  in  verschiedene  Unter- 
abtheilungen, nach  den  Personen,  von  denen .  und  den  Gele- 
genheiten, hei  denen  sie  gehalten  wurden,  iind  nach  dem 
Gegenstande,   den  sie  behandeln. 

Zuerst  die  Staats  reden  im  engeren  Sinne  des  Wortes, 
d.  h.  solche,  die  von  den  Rednern  in  der  eigenen  Vaterstadt 
und  in  deren  Angelegenheiten  gehalten  werden.  Dahin  ge- 
hören die  drei  des  Perikles  im  ersten  und  zweiten  Buch ,  die 
des  Kleon  und  Diodotos  im  dritten  Buch,  die  zwei  des  Nikias 
und  die  des  Alkibiades  im  sechsten  Buch,  endlich  die  des 
Hermokrates,  des  Athenagoras  und  des  syrakusanischen  Feld- 
herrn im  sechsten  l)uch,   im  Ganzen  elf. 

Zweitens  Gesandtschaftsreden  oder  diplomati- 
sche, d.  h.  solche,  welche  theils  wirklich  von  Gesandten  in 
fremden  Staaten  oder  bei  Bundesversammlungen  gehalten  wer- 
den, theils  durch  solche  veranlasst  sind  und  sich  auf  sie  be- 
ziehen, obwohl  die  Redner  in  ihrer  Heimath  auftraten .  wie 
z.  1^.  Archidamos  und  Sthenelaidas  in  Sparta.  Ich  weiss  avoIiI, 
dass  die  Gränze  zwischen  dieser  und  der  vorigen  Klasse  sich 
nicht  genau  ziehen  lässt;  und  man  z.  B.  mit  einigem  Rechte 
die  des  Nikias  und  Alkibiades  in  diese  Klasse  stellen  könnte, 
allenfalls  selbst  die  erste  des  Perikles.  Ich  habe  aber  alle  die 
in  die  erste  Klasse  gereiht,  welche  nicht  mit  wirklichen  Ge- 
sandtschaftsreden ein  unzertrennliches  Ganze  bilden.  In  die 
zweite  Klasse  gehören  nun  die  Reden  der  korkyraiischen  und 
korinthischen  Gesandten  in  Athen.  I,  31 — 43,  die  4  Reden  vor 
der  Versammlung  der  Spartiaten.  I,  68 — 86,  die  der  Korinthier 
am  peloponnesischen  Bundestage,  I,  120 — 124.  die  der  myti- 
lenaiischen  Abgeordneten  in  Olympia,  III,  9 — 14,  die  der  lake- 
daimonischen  Gesandten  in  Athen,  IV,  17 — 20,  die  des  Her- 
mokrates in  Gela,  IV,  59  —  64,  des  Brasidas  in  Akanthos. 
IV,  So  —  87  ,  des  Hermokrates  und  Euphemos  in  Kamarina. 
VI,  78  —  87.  Ferner  rechne  ich  noch  hierher  die  des  Alki- 
biades in  Sparta,  VI,  89 — 92,  im  Ganzen  vierzehn.  Auch  das 
eigenthümliche  Gespräch  der  athenischen  Gesandten  mit  den 
Meliern  am  Ende  des  fünften  Buches  gehört  in  diese  Rubrik. 

Eine  dritte  Abtheilung,  die  sich  aber  eng  an  diese 
anschliesst,  bildet  die  Rede  der  Plataier  mit  der  Gegenrede  der 
Thebaner,   III.    53 — 67,   indem  sie  sich  mehr  der  gerichtlichen 


Ukber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.  435 

Gattung  annähert.  In  engem  Zusammenliange  damit  steht  die 
schon  oben  berührte  Aufforderung  plataiischer  Gesandter  an 
Archidamos ,  sich  des  Krieges  zu  enthalten ,  nebst  der  noch 
kürzeren  Antwort  des  Königs,   II,    71   ff. 

Also  zuerst  von  den  Staatsreden.  Hier  treten  uns  zii- 
nächst  die  des  Perikles  entgegen.  Perikles  hat.  Avie  wir  aus 
Plutarch  Avissen,  ziemlich  selten  gesprochen,  indem  er  nur  bei 
sehr  wichtigen  Fällen  selber  auftrat,  sonst  aber  befreundete 
Männer  seine  Ansichten  vertreten  Hess.  Damit  stimmt  überein, 
dass  Thukydides  4  Reden  von  ihm  erwähnt.  Avelche  alle  dxirch 
ungeAvöhnliche  Umstände  veranlasst  sind,  die  zum  Iheil  ge- 
radezu unmöglich  machten,  einen  Anderen  statt  seiner  sprechen 
zu  lassen,  ^'on  diesen  giebt  er  eine  nur  dem  Inhalte  nach 
an  II,  13.  Perikles  sprach  in  derselben  in  dem  Augenblicke, 
als  sich  das  peloponnesische  Heer  auf  dem  Isthmos  versam- 
melte, dem  athenischen  Volke  Muth  und  Zuversicht  zu,  be- 
sonders dadurch,  dass  er  ihm  die  reichen  Hülfsquellen  für  den 
Krieg  schilderte.  Gerade  wegen  dieses  Inhaltes  konnte  diese 
Rede  mit  eben  so  viel  Wirkung  bloss  in  dieser  Weise  ange- 
führt werden,  Avährend  sie  sich  wegen  der  vielen  Zahlen  Ave- 
niger  für  directes  Reproduziren  eignete.  Die  drei  anderen 
Reden  dagegen  giebt  der  Historiker  so.  dass  er  den  Perikles 
direkt  redend  einführt.  Hier  lässt  sich  nun  im  Allgemeinen 
bemerken,  dass  Thukydides  alle  drei  hören  konnte  und  ohne 
Zweifel  gehört  hat,  und  dass  er  auf  jeden  Fall  Mittel  genug 
besass,  ihren  Inhalt  und  Gedankengang  sich  sorgfältig  aufzu- 
schreiben, mag  nun  Avalir  sein  oder  nicht,  Avas  Aristeides  und 
dessen  Schohasten  melden,  dass  er  in  enger  Freundschaft  mit 
Perikles  stand.  Ton  nicht  sehr  grosser  Wichtigkeit  ist  für  uns 
die  Frage,  ob  die  Reden  des  Perikles  schriftlich  existirten  oder 
nicht.  Bekanntlich  berichtet  Plutarch  bestimmt,  dass  er  nichts 
Geschriebenes  hinterlassen  habe,  mit  Ausnahme  Aveniger  A'on 
ihm  abgefasster  A'olksbeschlüsse.  Cicero  freilich  spricht  Aon 
geschriebenen  Reden ;  aber  Quintilian  erklärt  die,  Avelche  seinen 
Namen  tnigen,  für  unecht  ^j .  Hingegen  hat  Suidas  die  Nach- 
richt, es  habe  Perikles  zuerst  vor  Gericht  eine  geschriebene 
Rede  gehalten.     Diese  Angabe  lässt  sich   aber    sehr  wohl    mit 


1)  ac.  de  orat.  U,  23,  93.     Brut.  8,  27.     Quintil.  III,   1,   12. 

2S* 


436  Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

jener  des  Plutarcli  vereinigen ;  denn  es  konnte  Perikles  für 
seinen  Gebrauch  Reden  niederschreiben,  ohne  sie  danim  zu 
veröffentlichen,  oder  aiich  nnr,  wenn  einmal  ihr  Z^veck  eiTeicht 
war,  aufzubewahren.  Mit  einer  schriftlichen  Ausarbeitung- 
■würde  sehr  gut  übereinstimmen  die  grosse  Sorgfalt,  mit  der 
er  Alles  überdacht  haben  soll,  was  er  in  der  Versammlung 
sprechen  wollte,  und  die  fast  ängstliche  Genauigkeit,  mit  der 
er  seine  Ausdrücke  wählte.  Von  Wichtigkeit  ist  aber,  wie 
gesagt,  für  uns  dieser  Punkt  nicht,  da  Thukydides  genug  Ge- 
legenheit hatte ,  den  Inhalt  der  Reden  kennen  zu  lernen ,  sie 
mochten  geschrieben  vorhanden  sein,  oder  nicht.  Also  konnte 
jedenfalls  Thukydides  Perikles  Reden  in  der  Hauptsache,  in 
dem  vom  Redner  befolgten  Gedankengange  wiedergeben ;  aber 
ohne  ZAveifel  AvoUte  er  es  auch;  denn  Grund,  von  dem  ihm 
bekannten  wirklich  Gesprochenen  abzuweichen,  hatte  er,  wie 
Avir  oben  gesehen  haben,  hauptsächlich  nur  da,  wo  die  Redeu 
den  Umständen  nicht  besonders  angemessen,  mit  einem  Worte, 
von  geringerem  Werthe  waren.  Perikles  aber  war  nicht  nur 
der  scharfsichtigste  Staatsmann  seiner  Zeit,  der  mit  einem 
Adlerblicke  die  gesammte  Politik  Griechenlands  überschaute, 
sondern  auch  der  vorzüglichste  Redner,  auf  dessen  Lippen 
nach  Eupolis  die  Beredsamkeit  thronte .  und  der  nach  Aristo- 
phanes  gleich  dem  olympischen  Zeiis  donnerte  und  blitzte. 
Seine  Reden  müssen  daher  Trspi  tuiv  dst  -apovTtuv  xo.  oeovra 
durchaus  enthalten .  und  Thukydides  mochte  seine  Gedanken, 
um  so  eher  reproduzii^en .  als  seine  ganze  Denkweise  mit  der 
des  Perikles  nahe  verwandt  war.  Daher  sind  die  meisten 
Kritiker  darüber  einig,  dass  die  Reden  des  Perikles  bei  Thu- 
kydides uns  ein  ziemlich  getreues  Bild  der  Beredsamkeit  des 
grössten  Demagogen  geben;  und  auch  Herr  Pfau  ist  in  dieser 
Beziehung  vollkommen  mit  uns  einverstanden.  Nur  Eines, 
meint  er.  fehle  denselben,  was  Cicero  den  wirklichen  Reden 
nachrühmt ,  der  anmuthige  Scherz  lepor  ,  welcher  auf  seinen 
Lippen  geruht.  Es  mag  das  sein,  doch  möchte  ich  nicht  zu 
\Aq\  darauf  geben.  Denn  erstens  ist  wohl  Cicero' s  Stelle  auf 
Eiipolis  bei  Diodor  XH,  40.  gegründet,  der  aber  nicht  einen 
dem  lepor  entsprechenden  Ausdruck ,  sondern  TTiit^o) ,  suada, 
hat.  Dann  Avar  aber  bekanntlich  Perikles  ganzer  Charakter 
sehr  ernst  und  AAÜrdevoll,     so    dass    AA'ir  jedenfalls    dem   lepor 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.  437 

keinen  sehr  grossen  Raum  geben  dürfen.  Endlich  dürfte  auch 
•wohl  behauptet  werden ,  dass  gerade  in  den  drei  Fällen ,  wo 
Thukydides  ihn  sprechend  einführt,  wenig  Gelegenheit  zu  an- 
muthiger  Heiterkeit  Avar  ^] .  Indessen  will  ich  darauf  keinen 
Werth  legen  inid  zugeben ,  dass  die  perikleische  Anmuth  den 
Reden  bei  Thukydides  etwas  fehle.  Wenn  dagegen  Kutzen 
über  Perikl.  p.  40  behauptet,  die  ganze  interna  ratio  beweise, 
dass  Perikles  nicht  so  gesprochen  habe ,  weil  das  "S'olk  ihn 
nicht  verstanden  hätte,  so  kann  ich  dies  nur  theilweise  zugeben. 
Allerdings  hat  Thukydides  sicherlich  seine  Reden  etwas  ge- 
drängter wiedergegeben  und  in  so  fern  etwas  schwerer  verständ- 
lich; aber  dass  die  interna  ratio  dabei  aufgegeben  Avorden  sei. 
folgt  daraus  doch  keineswegs.  Der  Grund,  den  Kutzen  da- 
gegen anführt,  verschwindet  theils  eben  durch  diese  Annahme, 
dass  Thukydides  die  wirklichen  Reden  in  eine  etwas  gedrängtere 
Form  gebracht.  Der  Historiker  konnte  für  den  Leser  manche 
Uebergänge  u.  dergl.,  welche  für  den  Zuhörer  nothwendig 
waren,  Aveglassen,  und  doch  den  Geist  des  Ganzen  beAvahren. 
Anderntheils  aber  möchte  ich  bemerken,  dass  wir  das  attische 
Volk  nicht  etAva  nach  dem  unsrigen  beurtheilen  dürfen.  Dieses 
AA-ürde  freilich  die  Reden  des  Perikles ,  Avie  Avir  sie  uns  nach 
Thukydides  vorstellen  müssen ,  nicht  verstehen ;  aber  gerade 
«ben  so  Avenig  auch  die  eines  Isaios,  Demosthenes  und  anderer 
Hedner.  Ein  Volk  dagegen,  das  fast  täglich  in  Gerichten  und 
Versammhingen  sprechen  hörte,  verstand  sicherlich  auf  den 
ersten  Moment  manches ,  Avas  uns  selbst  beim  Lesen  scliAver 
scheint.  Das  bcAveisen  Adele  Reden  des  Demosthenes  und  in 
noch  höherem  Grade  die  Gedichte   eines   Pindaros ,    Aischylos 

')  Cic.  de  orat.  III,  3J,  13S:  Quid  Periclcs?  de  cuiits  dicendi  vi  sie 
acce^nmus ,  ut  cum  contra  voluntatem  Atheniensium  loqueretur  pro  salute 
patriae  severius,  tarnen  id  ipsum  quod  ille  contra  j^opulares  homines  diceret, 
populäre  07n7iibies  et  iucundum  videretnr :  cuius  in  labris  veteres  C'omici,  etiani 
cum  Uli  male  dicere^it  [quod  tum  Athenis  ßeri  Hcebat)  leporem  habitasse 
dixerunt,  tantamqtte  in  eo  vim  fuisse ,  ut  in  eorum  tnentibus ,  qui  audissent, 
quasi  aculeos  quosdam  relinqueret. 

Ganz  nach  Eupolis  bei  Diodor  XII,  40  : 

IletStt)  TU  i~vm%\.^vi  irl  xolq,  yeiXeoiv. 
OUTU)?   IxTjXei  -Aol   [i.6vo;  t<öv   pTjTopcuv 
TÖ  y.bi-rjV)  b^7.'t.-i).z\.T.t  toI;  äxpowj^ivoi;. 
Beispiele  A-on  Scherzen  des  Perikles  finden  sich  bei  Plut.  Pericl.  c.  8. 


438  T^EBER  DAS  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

und  Sophokles.  Wer  dem  Gedankenfliige  aischylischer  Chöre 
folgen  konnte,  war  sicher  auch  im  Stande,  Reden  zu  verstehen, 
die  im  Ganzen  den  Gang  befolgten ,  welchen  Avir  in  den  drei 
des  Perikles  l)ei  Thukydides  finden.  Es  steht  also  nach  all- 
gemeinen Gründen  fest,  dass  der  Historiker  diese  drei  Reden 
nicht  willkürlich  fingirt,  sondern  mit  enger  Anschliessung  an 
die  Wirklichkeit  uns  darin  ein  Abbild  perikleischer  Diktion 
gegeben  hat. 

Die  einzelnen  Reden  enthalten  aber  auch  nichts,  was  da- 
gegen spräche,  l^ei  der  ersten  giebt  Thukydides  mit  grosser 
Genauigkeit  die  verschiedenen  Umstände,  unter  denen  sie  ge- 
halten wurde,  an,  er  nennt  die  drei  spartanischen  Gesandten, 
die  nach  Athen  kamen,  um  die  letzte  Aufforderung  zum  Nach- 
geben zu  überbringen,  mit  Namen,  er  erzählt,  dass  die  Athener 
beschlossen,  eine  definitive  Antwort  zu  geben,  dass  Redner  für 
und  wider  Sparta's  Begehren  sprachen,  bis  endlich  Perikles 
auftrat  und  die  Versammlung  bewog,  nicht  zu  willfahren. 
Fürwahr  eine  Mächtigere  Veranlassung  zum  Sprechen  konnte 
Perikles  nicht  finden.  Die  Rede  ist  dabei  sehr  klar  und  ver- 
ständlich; sie  führt  den  Gedanken  aus,  dass  jedes  Nachgeben 
in  einer  gerechten  Sache  als  Schwäche  ausgelegt  werde  und 
so  zur  Unterjochung  führe,  dass  man  daher  durch  die  Furcht 
vor  dem  Kriege  sich  nicht  dazu  solle  verleiten  lassen,  um  so 
weniger,  als  dieser  Krieg  den  Athenern  bei  verständiger  Füh- 
rung mehr  Aussicht  auf  Erfolg  biete  als  den  Gegnern  ^) .  Eine 
Einwendung  Hesse  sich  hernehmen  aus  Diodor  XII,  39.  40., 
welcher  diese  Rede  und  die  von  Thukydides  II,  13.  ihrem 
Inhalte  nach  erwähnte  in  eine  zusammenwirft.  Allein  Thuky- 
dides giebt  bei  beiden  die  Veranlassung  genau  an :  hier  handelt 
es  sich  um  eine  Antwort  an  Sparta,  dort  aber  versammelt  sich 
nach  Thukydides  das  peloponnesische  Heer  bereits  auf  dem 
Isthmos ,  die  Frage  über  Krieg  oder  Frieden  Avar  schon  ent- 
schieden. Was  Perikles  bei  Thuk.  II.  13  den  Athenern  sagt, 
bezieht  sich  meist  auf  die  Massregeln,  welche  sie  beim  bevor- 


I 


';  In  die  Disposition  im  Einzelnen  einzutreten,  ist  um  so  weniger 
nöthig,  als  darüber  auf  Pfau  p.  29  fF.  verwiesen  werden  kann,  der  nur 
darin  zu  weit  geht ,  dass  er  die  einzelnen  Gedanken  des  Thukydides  von 
denen  des  Perikles  ausscheiden  will,  wofür  es  kein  sicheres  Kriterium  giebt. 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.  439 

stehenden  Einfalle  der  Peloponnesier  zu  ergreifen  hatten;  zu- 
gleich setzt  er  ihnen  ihre  reichen  Hülfsquellen  und  A  erthei- 
digungsmittel  auseinander.  Da  nun  Diodor  in  dem  Inhalt  der 
Reden  offenbar  dem  Thukydides  folgte,  den  er  überhaupt  hier 
als  Hauptquelle  benutzte,  so  geht  klar  hervor,  dass  ihm  in 
seiner  nachlässigen  Weise  hier,  Avie  so  oft,  begegnet  ist.  Ver- 
schiedenes mit  einander  zu  verwechseln.  Selbst  aber  wenn 
man  die  Abweichung  Diodor's  auf  die  Rechnung  des  Ephoros 
bringen  wollte,  den  er  XII,  4 1 .  nennt,  möchte  man  doch  des 
Thukydides  Darstellung  als  die  richtige  ansehen;  oder  nicht 
nur  die  beiden  Reden  verbinden,  sondern  eine  ganze  Reihe 
von  Thatsachen  geradezu  als  verkehrt  annehmen,  Avofür  aber 
keine  Gründe  da  sind.  Es  steht  also  fest,  dass  Periklcs  wirk- 
lich zwei  Reden  gehalten  hat. 

Ueber  die  zweite  Rede,  den  sogenannten  Xo^o?  s-iracpioc 
kann  ich  ganz  kurz  sein,  da  dieses  Meisterwerk  so  oft  behan- 
delt und  besprochen  worden  ist,  dass  ich  mich  auf  frühere 
Untersuchungen,  namentlich  die  Abhandlung  von  Weber ,  be- 
rufen darf;  daraus  stellt  sich  nun  das  nämliche  Resultat  her- 
aus, das  ich  für  die  vorige  Rede  nachgewiesen  habe.  Auch 
Pfau  stimmt  damit  vollkommen  überein.  Die  aus  der  Luft 
gegriffene  Behauptung  des  Dionysios  von  Halikarnass,  Thuky- 
dides habe  die  Rede  ganz  und  gar  erfunden  imd  Perikles  da- 
mals überhaupt  gar  nicht  gesprochen,  ist  bereits  zur  Genüge 
widerlegt  und  erklärt  sich  aus  der  Art,  Avie  zu  seiner  Zeit  die 
Geschichte  von  Rhetoren  seines  Schlages  behandelt  Avurde. 

Die  dritte  Rede  endlich,  II,  60 — 64,  lässt  Thukydides 
den  Perikles  halten  in  einem  Momente ,  avo  das  ^  olk ,  durch 
die  Leiden  des  Krieges  und  der  Pest  fast  in  YerzAveiflung  ge- 
bracht, seinen  ganzen  Unmuth  gegen  ihn  als  den  venneinten 
Urheber  des  Unglücks  richtete.  Thukydides  erzählt,  Perikles 
habe  das  Volk  versammelt ,  und  fügt  erklärend  bei ,  er  sei 
Stratege  gewiesen.  Die  Strategen  hatten  nämlich  bekanntlich 
das  Recht,  die  Ekklesia  zu  berufen.  Er  sagt,  die  Rede  habe 
den  Erfolg  gehabt,  dass  die  Athener  sich  von  ihrem  Klein- 
muthe  erholten  und  nicht  mehr,  Avas  sie  vorher  gethan,  Unter- 
handlungen mit  Sparta  versuchten ,  aber  doch  ihren  persön- 
lichen Missmuth  gegen  Perikles  nicht  aufgaben,  bis  sie  ihn  in 
eine  Geldstrafe    verfällt   hatten.     Eine  Rede   hat   er  also  ganz 


440  T-Ei'EK  DAS  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides. 

gewiss  gehalten,  womit  auch  Phitarch  c.  35  übereinstimmt. 
Aber  die  Beschaffenheit  derselben,  wie  sie  bei  Thukydides  er- 
scheint, hat  Dionysios  hart  angegriffen.  Es  spricht  nämlich 
darin  Perikles  mit  hohem  Selbstgefühle  von  sich  selber  und 
trachtet  nicht  sowohl,  das  Volk  sich  zu  versöhnen,  als  viel- 
mehr, demselben  zu  zeigen,  dass  es  im  Unrechte  sei,  dass  seine 
Staatsverwaltung  imtadelhaft  und  nur  auf  Athens  Grösse  und 
Wolilfahrt  berechnet  sei.  Das  hat  dem  Khetor  nicht  gefallen. 
Er  tadelt  dieses  Selbstvertrauen  als  ganz  unpassend  und  meint, 
so  hätte  Perikles  durchaus  nicht  sprechen  können ;  denn  er 
sei  in  einer  Lage  gewesen,  wo  es  vielmehr  unzähliger  Thränen 
und  fielen  Jammers  bedurft  hätte.  •  Allein  wie  wir  den  Perikles 
nicht  nur  aus  Thukydides ,  sondern  auch  aus  andern  Quellen 
und  namentlich  aus  den  Komikern  kennen.  Avar  er  nicht  der 
Mann,  sich  vor  dem  A'olke  zu  erniedrigen,  und  hätte  Thuky- 
dides ihn  so  sprechen  lassen,  wie  Dionysios  es  wünschte,  dann 
gerade  müsste  ihn  der  YorAvurf  treffen,  der  spätem  Historikern 
mit  Recht  gemacht  wird,  ohne  Rücksicht  auf  die  einzelnen 
Charaktere  und  besondern  Verhältnisse.  Reden  als  blosse  Schau- 
stücke einer  müssigen  Rhetorik  eingeflochten  zu  haben.  Ge- 
rade der  Umstand,  dass  das  Volk  in  Betreff  des  politischen 
Benehmens  sich  eines  ]iessern  besann .  aber  seinen  Unmuth 
gegen  Perikles  nicht  aufgab,  beweist  uns  deutlich,  dass  dieser 
mehr  darauf  bedacht  Avar,  sein  politisches  System  zu  erhalten, 
als  seine  eigene  Person  zu  schützen,  und  diesen  ZAveck  hat  er 
erreicht.  Also  dürfen  wir  wohl  mit  Sicherheit  annehmen,  dass 
auch  diese  Rede  sich  nicht  nur  auf  eine  Avirklich  gehaltene 
basirt,  sondern  auch  deren  Inhalt  in  den  Hauptzügen  Avieder- 
giebt. 

Nicht  ganz  so  leicht  ist  das  Urtheil  über  die  meisten  übri- 
gen Staatsreden,  Aveil  uns  die  Redner  und  deren  Beredsamkeit 
Aveniger  bekannt  sind;  doch  kommen  Avir  Avenigstens  bei  den 
athenischen ,  imd  diese  bilden  die  Mehrzahl ,  mit  ziemlicher 
Sicherheit  ungefähr  zu  dem  gleichen  Resultat. 

Die  nächsten  sind  die  Rede  des  Kleon  und  die  Gegen- 
rede des  ])iüdotos  über  das  Schicksal  der  Mytilenaier,  die 
sich  an  Paches  ergeben  hatten,  HI.  37 — 40  und  42 — 4S.  Die 
nähern  Umstände,  welche  über  deren  Veranlassung  Thukydides 
angiebt.    bcAveisen    A'ollkommen.    dass    die   beiden    genannten 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.   441 

Männer  damals  -wirklich  gesprochen  haben.  lii  einer  ersten 
^'ersammlnng  hatten  die  Athener  in  der  Erbitterung  des  Angen- 
blicks  besonders  auf  Kleons  Betrieb  beschlossen,  sämmtliche 
erwachsene  Mytilenaier  zu  tödten,  Weib  und  Kind  in  Sklaverei 
zu  bringen.  Ein  Schiif  ging  ab,  diese  Nachricht  an  Faches 
zu  bringen.  Aber  nachdem  die  Leidenschaft  verrauscht  war, 
ergriff  Reue  das  athenische  A'olk.  Eine  zweite  Versammlung  kam 
am  folgenden  Tage  zusammen,  verschiedene  Redner  traten  auf. 
Kleon  eiferte  für  die  Aufrechterhaltung  des  Beschlusses,  den 
er  vorzüglich  am  vorigen  Tage  durchgesetzt  hatte.  Ihm  trat 
Diodotos  entgegen,  der  Sohn  des  Eukrates,  der  ebenfalls  schon 
in  der  ersten  Versammlung  für  Milde  geredet  hatte.  Seinen 
auch  von  andern  Rednej'n  unterstützten  Anstrengungen  gelang 
es.  die  Zurücknahme  des  grausamen  Beschlusses,  wenn  auch 
mit  ganz  geringer  Mehrheit,  zu  bewirken.  Ein  Eilschiff  brachte 
noch  eben  im  rechten  Momente  die  Nachricht  davon  nach 
Mytilene.  Offenbar  hat  sich  hier  Thukydides  wieder  streng 
an  den  faktischen  Hergang  der  Sache  gehalten;  dass  Kleon 
sprach  und  in  diesem  Sinne  sprach,  ist  an  und  für  sich  schon 
sehr  wahrscheinlich.  Die  Angabe  des  Scholiasten  zu  Lucian 
(ed.  Jacobitz  IV,  pg.  47  ,  dass  er  sich  über  Nacht  von  den 
in  Athen  wohnenden  Lesbiern  um  10  Talente  habe  bestechen 
lassen ,  für  Abänderung  des  A'olksbeschlusses  zu  wirken ,  hat 
um  so  weniger  Gewicht,  als  dieser  Scholiast  zum  Gewährs- 
mann den  Thukydides  anführt,  der  gerade  das  Gegentheil  sagt. 
Auch  würde,  im  Falle  Kleon  selber  für  die  Aufliebung  ge- 
sprochen hätte ,  Thukydides  nicht  nur  eine  Rede  erfunden, 
sondern  ein  historisches  Faktum  geradezu  verdreht  haben. 
Ueberhaupt  war  Kleon.  so  verAverflich  er  in  vieler  Beziehung 
erscheint,  doch  im  Ganzen  ein  consequenter  Demagoge  und 
würde  sich  schwerlich  eine  so  grosse  Blosse  gegeben  haben, 
wie  die  von  dem  Scholiasten  ihm  beigemessene.  Endlich  sieht 
man  aber  gar  nicht  ein.  wozu  in  diesem  Falle  Thukydides  von 
der  historischen  Wahrheit  hätte  abAveichen  sollen.  Hätte  er 
die  Frage  selbst  von  beiden  Seiten  beleuchten  wollen,  so  konnte 
er  die  Rede  für  Aufrechterhaltung  des  Beschlusses  einem  an- 
dern Redner  in  den  Mund  legen ,  da  ja  viele  sprachen ,  oder 
er  konnte  auch  die  ^'erhandlungen  des  ersten  Tages  zu  diesem 
Zwecke  benutzen ;  wollte  er  hauptsächlich  ein  Bild  kleonischer 


442  Leber  das  Historische  ix  den  Redex  des  Thukydides  . 

Demagogie  und  Volksberedsamkeit  geben,  so  eignete  sich  da- 
zu ja  ganz  vortrefflich  eine  Rede,  in  der  er  einen  selbst  durch- 
gesetzten Yolksbeschluss  wieder  umstürzen  half.  Die  Stellung 
des  Redners  wäre  höchst  eigenthümlich  und  ungewöhnlich  ge- 
wesen. Da  nun  also  auch  nicht  ein  einziger  vernünftiger 
Grund  für  die  Annahme  einer  reinen  Verkehmng  des  That- 
sächlichen  vorhanden  ist,  so  steht  fest,  dass  Kleon  gesprochen 
hat.  Ebenso  aber  auch  die  Rede  des  Diodotos.  Denn  wie 
hätte  Thukydides  auf  den  Gedanken  kommen  können,  einem 
sonst  ganz  unbekannten  Manne ,  wie  er ,  eine  fingirte  Rede 
beizulegen  ?  Wir  wissen  nicht  einmal,  wer  sein  Vater  Eukrates 
war.  Bloomfield  meint,  es  sei  darunter  der  Bruder  des  Nikias, 
der  diesen  Namen  trägt,  zu  verstehen,  und  es  stimmt  wohl 
mit  Nikias  Charakter  überein ,  dass  von  seiner  Partei ,  zu  der 
der  Neffe  gehören  mochte,  die  Vorschläge  zur  Milde  ausgingen. 
Uebrigens  Hesse  sich  auch  bei  Eiikrates  an  den  ziemlich  be- 
kannten Demagogen  und  Flachshändler  dieses  Namens  denken. 
Was  nun  die  Reden  selbst  betrifft,  so  ist  zunächst  zu  be- 
merken, dass  Thukydides  damals  noch  in  Athen  lebte,  folglich 
sie  hören  konnte ;  sodann  stimmt  der  turbulente  Charakter  der 
kleonischen  und  die  darin  ausgesprochene  rücksichtslose  Con- 
sequenz  zur  Erhaltung  der  Herrschaft  ganz  überein  mit  dem, 
was  Avir  sonst  von  des  Demagogen  Beredsamkeit  wissen ,  und 
ohne  ZAveifel  Avollte  Thukydides  ein  Bild  derselben  hinterlassen. 
Die  vielen  paradoxen  Behauptungen,  die  Art,  Avie  er  die  Reden 
der  Gegner  verdreht .  die  Unverschämtheit ,  mit  der  er  ihnen 
vorAvirft,  sie  seien  bloss  aufgetreten ,  um  mit  ihrer  Beredsam- 
keit zu  glänzen,  oder  Aveil  sie  bestochen  seien,  diess  und  an- 
deres Aehnliches  gehört  offenbar  dem  Avahren  Kleon  an,  und 
so  dürfen  Avir  mit  Bestimmtheit  annehmen ,  dass  hier  Thuky- 
dides sich  eng  an  die  W^irklichkeit  anschloss.  imd  diese  Rede 
eine  derjenigen  ist.  die  am  allerge treusten  Aviedergegeben  sind. 
Die  de.s  Diodotos  lässt  sich  Aveniger  beurtheilen ,  da  Avir  des 
Mannes  ]5eredsamkeit  so  Avenig  als  seine  übrigen  Verhältnisse 
kennen.  Es  liegt  aber  die  Vermuthung  nahe,  dass  der  Ge- 
schichtschreiber Alles,  Avas  für  die  unglücklichen  Mytilenaier 
gesprochen  AA'urde ,  diesem  einen  Redner  in  den  Mund  legt, 
den  er  als  Repräsentanten  dieser  Meiniing  allein  nennt.  Aveil 
er  mit  der  grössten  Entschiedenheit  aufgetreten  AA-ar. 


Ueber  das  Historische  ijv  den  Reden  des  Thukydides.  443 

Es  folgen  die  Reden  des  Nikias  und  Alkibiades  gegen 
lind  für  die  sicilische  Unternehmung  und  die  zweite  des  Nikias 
über  die  dazu  erforderlichen  Mittel.  Auch  hier  erzählt  Thuky- 
dides die  Veranlassung  mit  grosser  Umständlichkeit.  Die 
Athener  hatten,  auf  die  früheren  Bitten  der  Egestaier  um 
Hülfe,  eine  Gesandtschaft  nach  Sicilien  geschickt.  Diese  war 
mit  günstigen  Nachrichten  zurückgekehrt,  mit  ihr  Abgeordnete 
aus  Egesta.  In  einer  Volksversammlung  beschlossen  die  Athener, 
die  nachgesuchte  Hülfe  zu  geAvähren,  inid  ernannten  den  Alki- 
biades, Nikias  und  Lamachos  zu  Eeldherm.  Nach  fünf  Tagen 
Miirde  eine  zweite  Versammlung  gehalten,  um  das  Nähere  über 
die  Expedition  zu  bestimmen.  Nikias  ^i  trat  in  dieser  gegen 
die  ganze  Unternehmung  auf,  die  er  als  viel  bedeutender  und 
gefahrvoller  darstellte,  als  sie  den  meisten  Athenern  vorkommen 
mochte.  Ihm  gegenüber  erhob  sich,  auch  persönlich  durch 
ihn  angegriffen,  Alkibiades  für  den  Krieg.  Wie  Nikias  sieht, 
dass  die  Menge  unbedingt  die  Meinung  dieses  ihres  Lieblinges 
theile,  nimmt  er  zum  zAveitenmal  das  Wort  und  sucht  die 
Athener  von  dem  Vorhaben  dadurch  abzuschrecken,  dass  er 
die  zu  günstigem  Erfolge  nothwendigen  Hülfsmittel  als  imge- 
mein  gross  angiebt.  Allein  das  Resultat  dieser  Rede  war, 
wie  einst  in  einem  ähnlichen  Falle  bei  Pheidias,  gerade  das 
entgegengesetzte  von  dem ,  welches  er  wünschte :  das  Volk 
meinte ,  Avenn  es  alles  aufstelle ,  was  Nikias ,  der  vorsichtige 
und  ängstliche  Heerführer,  fordere,  dann  könne  es  ihm  nicht 
fehlschlagen.  Nach  mehrfachem  Hin-  und  Herreden  fordert 
ein  Bürger  ihn  auf,  zu  sagen,  was  er  alles  brauche,  und  da 
er  antwortet,  darüber  müsse  er  sich  mit  seinen  Mitfeldherrn 
besprechen,  so  wird  den  drei  Heerführern  unbedingte  Voll- 
macht für  die  Aushebung  und  Ausrüstung  von  Heer  und  Flotte 
gegeben.  Hier  sind  nun,  und  zwar  bei  Verhältnissen,  welche 
Athens  Schicksal  entschieden  und  von  Thukydides  durch^veg 
mit  einer  besondern  Genauigkeit  erzählt  werden,  alle  Einzel- 
heiten so  bestimmt  angegeben,  dass  wieder  klar  in  die  Augen 
springt,    Thukydides    konnte   gar   keinen  Personen,    die  nicht 


';  Liest  man  VI,  8  dxouict; ,  was  aber  kaum  richtig  ist,  so  wüi*de 
Thukydides  sagen,  dass  Nikias  der  ersten  Versammlung  nicht  beigewohnt, 
was  an  sich  wahrscheinlich  ist. 


444  Ueber  das  Historische  ik  dex  Reden  des  Thukydides. 

■wirklich  gesprochen  hatten.  Reden  in  den  Mnnd  legen,  wenn 
nicht  die  ganze  Darstellnng  allen  historischen  Werth  verlieren 
sollte.  Die  Reden  sind  so  wichtige  Thatsachen .  greifen  so 
folgenreich  in  den  Gang  des  Ganzen  ein.  dass  diess  mit  ihnen 
steht  und  fällt.  Zufällig  bestätigen  nun  Diodor  XII.  S3  und 
Plutarch  Ale.  17.  18,  Nikias  12,  dass  die  beiden  genannten 
Männer  Mirklich  gesprochen,  und  zugleich  ergiebt  sich,  dass 
wenigstens  der  letztere  dabei  noch  andere  Quellen  als  Thuky- 
dides benutzte;  denn  den  Ijürger,  welchen  dieser  nur  vmbe- 
stimmt  mit  tu  tcLv  'Ai>r,v7.iu>v  anführt,  bezeichnet  er  näher  als 
den  Demagogen  Demostratos.  Allerdings  erwähnen  Diodor 
und  Plutarch  nicht  zwei  Reden  des  Nikias,  sie  erzählen  aber 
überhaupt  diese  Gegebenheiten  weit  Aveniger  genau  als  Thuky- 
dides, und  man  sieht  nicht  em,  Avaiaim  Thukydides  zwei  Reden 
hätte  geben  sollen,  Aveiui  Nikias  nur  einmal  gesprochen  hätte. 
Der  Gang  der  Verhandlungen  ist  im  Gegentheil .  wie  er  ihn 
darstellt,  vollkommen  natürlich  und  sachgemäss.  L'eberdiess 
haben  wir  oben  schon  an  einem  Beispiele  gesehen,  dass  Diodor 
in  dergleichen  Dingen  eben  nicht  genau  ist.  Also  auch  hier 
darf  an  rein  erdichtete  Reden  nicht  gedacht  werden.  Die 
Anlage  und  Ausführung  derselben  entspricht  durchaiis  dem 
Charakter  der  Redner.  Thukydides  hat  sie  zwar  nicht  selber 
gehört,  aber  es  war  ihm  leicht,  darüber  Nachricht  einzuziehen. 
Die  Aengstlichkeit;  mit  der  Nikias  entschuldigt,  dass  er  noch 
einmal  die  ganze  Sache  in  Frage  stelle,  die  Besorglichkeit, 
mit  der  er  vor  dem  Ehrgeize  junger  Männer .  vor  den  Vor- 
spiegelungen der  nur  für  sich  interessirten  Fremden  warnt, 
die  an  Unverschämtheit  gi'änzende  Keckheit,  mit  der  der  ver- 
wöhnte Alkibiades  von  seiner  eigenen  Person  spricht ,  sind 
individuelle  Züge,  die  der  Wirklichkeit  angehören.  Zu  ent- 
scheiden aber,  welche  Theile  der  Reden  im  Einzelnen  den 
Rednern  angehören.  Avelche  dem  Geschichtschreiber,  ist  oben 
schon  im  Allgemeinen  als  unmöglich  bezeiclmet  worden  und 
hier  um  so  unthunlicher ,  als  wir  über  die  Beredsamkeit  des 
Alkibiades  und  Nikias  keine  genauen  Nachrichten  haben.  Als 
bestimmtes  Ergebniss  bleibt  nur ,  dass  diese  drei  Reden  auch 
auf  Avirklich  historischem  Grund  und  Boden  stehen. 

Es  ist  nun  noch  zu  reden  von  den  drei  in  Syrakus  gehal- 
tenen Reden  des  Hermokrates,    Athenagoras    und  eines 


Ueber  das  Historische  in  den  Keden  des  Thukydides.  445 

nicht  mit  Namen  genannten  Strategen  1.  VI,  33 — -41.  Als 
die  athenische  Flotte  bereits  bei  Kerkyra  vor  Anker  lag,  glaub- 
ten die  leichtsinnigen  Syracusaner  noch  immer  nicht  an  die  Ge- 
fahr. In  einer  "S'ersammlnng  Avurde  die  Sache  besprochen,  und 
unter  andern  Kednern,  die  auftraten,  suchte  Hermokrates  sei- 
nen verblendeten  Mitbürgern  die  Augen  zu  öffnen  und  sie  zu 
kräftigen  Massregeln  zu  bewegen.  Gegen  ihn  erhob  sich  der 
Demagoge  Athenagoras,  welcher  behauptete,  es  sei  Alles  eine 
Lüge,  von  den  Aristokraten  ersonnen,  um  die  Volksherrschaft 
zu  stürzen.  Diesem  Streite  machte  einer  der  Strategen  ein 
Ende,  indem  er  nach  einer  kurzen  Erklärung,  es  sei  nicht  recht, 
sich  gegenseitig  zu  verleumden,  die  Feldherni  würden  übrigens 
für  alles  Nöthige  sorgen,  die  Versammlung  auflöste.  Bei  der 
genauen  Kunde,  die  Thukydides  von  den  sicilischen  Verhält- 
nissen überall  zeigt,  ist  kein  Grund  vorhanden,  hier  seine 
Glaubwürdigkeit  zu  bezweifeln.  Die  bestimmte  Bezeichnung 
der  beiden  Redner,  von  denen  Athenagoras  sonst  nie  genannt 
wird,  spricht  ferner  für  historische  Treue,  dass  aber  der  Stratege 
nicht  mit  Namen  angeführt  ist ,  kann  bei  den  paar  Worten, 
die  er  sagt .  nicht  auffallen .  da  es  nur  darauf  ankommt ,  zu 
berichten,  dass  durch  höhere  Autorität  dem  Streite ,  der  ver- 
derblich zu  werden  drohte,  ein  Ende  gemacht  wurde.  Aeussere 
Bestätigung  durch  die  Berichte  anderer  Schriftsteller  fehlt  uns 
hier  freilich;  darin  kann  man  aber  keinen  Grund  finden,  die 
Reden  für  erfunden  zu  erklären ;  denn  es  kommt  nirgend  auch 
nur  das  geringste  vor,  was  gegen  die  Wahrscheinlichkeit  spräche, 
dass  damals  die  genannten  Redner  vor  dem  Volke  aufgetreten 
seien.  Es  würde  aber  die  Geschichtsforschung  eine  wunder- 
liche Wendung  nehmen,  wenn  man  an  dem  zweifeln  wollte, 
was  nur  bei  einem  Schriftsteller  vorkommt,  wenn  auch  keine 
inneren  Gründe  für  die  Un Wahrscheinlichkeit  vorhanden  sind. 
Da  nun  also  auch  gar  kein  x\rgument  gegen  die  Erzählung  des 
Thukydides  angeführt  werden  kann,  so  folgt  daraus,  dass  auch 
diese  drei  Reden  ihre  historische  Basis  haben.  In  der  Aus- 
führung mag  dagegen  Thukydides  hier  freier  verfahren  sein, 
als  bei  den  athenischen  Reden,  da  es  schwerer  war,  genaue 
Kunde  über  das  Gesprochene  zu  erhalten.  Von  der  Bered- 
samkeit der  beiden  Männer  wissen  wir  zu  wenig ,  um  weitere 
Vermuthungen  mit  einiger  Sicherheit  aufzustellen .     Bekanntlich 


446  Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides. 

aber  war  Syrakus  ein  Hauptsitz  der  Redekunst,  und  also  liegen 
selbst  kunstreiche  Reden  in  der  dortigen  A'ersammlung  voll- 
kommen im  Bereiche  der  Möglichkeit ;  der  ausgezeichnete  Staats- 
mann Hermokrates  aber,  den  Thukydides  mehnnals  sprechen 
lässt ,  war  sehr  wahrscheinlich  auch  als  Redner  nicht  unbe- 
deutend. Jedenfalls  hat  Thukydides  diese  Reden  benutzt,  um 
eine  Schilderung  zu  geben  von  dem  damaligen  innern  Zustande 
von  Syrakus. 

Alle  politischen  Reden  stimmen  also  mit  dem  oben  ge- 
wonnenen Resultate  überein;  sie  begründen  sich  auf  wirklich 
gehaltene,  von  denen  sie  nach  äussern  und  innern  Gründen 
in  der  Ausführung  mehr  oder  weniger  abweichen. 

Die  Gesandtschaftsreden  sind  noch  zahlreicher.  Was 
ich  darunter  verstehe,  habe  ich  oben  gesagt.  Hier  müssen 
gleich  von  Anfang  einige  allgemeine  Einwendungen  besprochen 
werden.  Zuerst  sagt  Thukydides  mehrmals,  ohne  die  Gesand- 
ten mit  Namen  zu  nennen .  bloss :  »die  Gesandten«  oder  )'die 
Korinthier.  die  Kerkyraier  u.  s.  f.  sprachen«.  Man  hat  daraus 
Zweifel  abgeleitet  und  behauptet,  wenn  die  Reden  sich  auf 
Thatsachen  gründeten,  so  würden  die  Männer  genannt  sein, 
überdiess  spreche  es  auch  danim  gegen  die  Wirklichkeit  der 
Reden,  weil  ja  nur  einer,  nicht  mehrere  haben  sprechen 
können.  Dagegen  ist  zu  bemerken,  dass  auf  die  Persönlichkeit 
der  Gesandten  wenig  ankam,  sie  sprechen  nicht  als  Individuen, 
sondern  als  Repräsentanten  ihres  Staates,  und  daioim  ist  ganz 
passend ,  dass  sie  eben  meist  mit  dessen  Namen  bezeichnet 
werden.  Gerade  so  heisst  es  heutzutage  auf  der  eidgenössischen 
Tagsatzung  z.  B..  der  Gesandte  von  Bern  bemerkt  u.  s.  w., 
ohne  den  Namen  des  Gesandten.  Dazu  kommt,  dass  Thuky- 
dides sehr  oft  Namen  übergeht,  wo  sie  nicht  von  besonderer 
Wichtigkeit  sind,  wie  wir  vorher  bei  Demostratos  gesehen  haben. 
Des  Plural  bedient  sich  aber  Thukydides.  um  die  Gesandtschaft 
dadurch  als  ein  Ganzes  zu  bezeichnen,  wie  man  auf  äluiliche 
Weise  jetzt  bei  Bundesversammlungen  »die  Gesandtschaft«  spre- 
chen lässt.  Ohne  Zweifel  sprachen  in  solchen  Fällen  oft  meh- 
rere Abgeordnete  nach  emander;  ihre  Reden  fasst  dann  der 
Historiker  in  eine  zusammen,  die  allerdings  gerade  darum  schon 
mehr  idealisirt  sein  mussten  als  die  bisher  behandelten,  beson- 
ders die  des  Perikles.     Ich  will  nun  nicht  alle  der  Reihe  nach 


Ueber  das  Historische  in  den  Reden  des  Thukydides.  447 

durchgehen,  sondern  nur  die  bedeutendsten,  die  des  ersten 
Buches,  -welche  Hr.  Pfau  speciell  angegriffen  hat.  Da  diese 
allgemeiner  gehalten  sind  als  die  meisten  andern,  so  werden 
alle  feststehen,  sobald  wir  für  diese  ihre  historische  Wahrheit 
in  dem  oben  modifizirten  Sinne  nachgeM-iesen  haben. 

Hr.  Pfau  wirft  zuerst  als  Gnind  des  Misstrauens  auf,  dass 
Thukydides  selber  sage,  er  habe  beim  Anfange  des  peloponne- 
sischen  Krieges  angefangen .  denselben  genau  zu  beobachten 
und  Material  für  sein  Werk  zu  sammeln,  der  Anfang  des 
Krieges  falle  mit  der  Ueberrumplung  Plataias  durch  die  The- 
baner  zusammen.  Das  ist  richtig,  aber  nicht,  was  Hr.  Pfau 
daraus  zu  schliessen  scheint,  dass  Th\ikydides  nicht  schon  vor- 
her die  Ereignisse  beobachtete.  Ohne  Zweifel  hat  ein  Mann 
von  seinem  politischen  Sinne  das  gethan .  auch  ehe  er  den 
Plan  fasste.  Geschichtschreiber  zu  werden .  imd  die  Rede  der 
Kerkyraier  und  Korinthier  in  Athen  hat  er  höchst  wahrschein- 
lich selber  gehört.  Selbst  aber  zugegeben,  das  Aväre  nicht  der 
Fall,  so  musste  es  doch  nach  einigen  Jahren  noch  sehr  leicht 
sein,  Nachrichten,  und  zwar  sehr  genaue,  zu  erhalten  über  die 
wichtigen  Unterhandlungen,  die  dem  Kriege  vorangehen.  Ich 
möchte  fragen,  ob  es  für  uns  schwer  wäre,  aus  dem  Munde 
von  Ohrenzeugen  zu  erfahren,  was  seit  dem  Jahre  dreissig  in 
den  verschiedenen  Versammhnigen  der  Schweiz  von  den  Haupt- 
führem  der  Parteien  gesprochen  worden  ist.  Und  in  jener 
Zeit,  wo  noch  verhältnissmässig  so  Avenig  geschrieben  wurde, 
sollte  das  nicht  möglich  gewesen  sein!  Diese  Einwendungen 
fallen  also  in  sich  selbst  zusammen. 

Wir  gehen  nun  zu  den  ersten  zwei  Reden ,  denen  der 
Kerkyraier  u n  d  K  o  r  i  n  t  h  i  e  r .  über.  In  Krieg  mit  Korinth 
verwickelt,  wenden  sich  im  Jahre  4  32  a.  Ch..  Ol.  S6,  4^, 
die  Kerkyraier  um  Bundesgenossenschaft  nach  Athen.  Die 
Korinthier,  davon  untemchtet ,  schicken  gleichfalls  Gesandte, 
und  beide  reden  vor  dem  Volke ;  die  Athener  schwanken  zu- 
erst, in  einer  zweiten  "N'ersammlung  aber  entscheiden  sie  sich 
zu  Gunsten  der  Kerkyraier.  Gegen  diese  Reden  I,  32 — 42, 
sowie  gegen  ähnliche  Antilogien.  wendet  Hr.  Pfau  ein,  es  sei 
doch    wunderbar     miramur  ,    wie  Gesandte    aus    verschiedenen 


1)  Man  vergl.  Krüger  historisch-philol.  Studien  p.  2 IS  ff. 


448  Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides. 

Orten  an  einem  Tage,  zu  einer  Stunde  und  in  einer  Ver- 
sammlung hätten  zusammentreffen  können,  und  wie  die  Heden 
mit  einander  so  genau  correspondirten.  Es  ist  aber  doch  nichts 
Wunderbares ,  wenn  die  Korinthier  erfuhren  zuüotxsvoi.  .  dass 
die  Kerkyraier  in  Athen  Hülfe  suchten,  und  eben  so  wenig, 
dass  sie  dann  auch  ihrerseits  Gesandte  schickten,  um  die  ge- 
fährliche Verbindung  Kerkyra's  mit  Athen  zu  hintertreiben; 
dass  man  sie  aber  in  ein  und  derselben  Versammlung  auftreten 
liess,  das  versteht  sich  von  selber,  und  wunderbar  bleibt  höch- 
stens, dass  man  sich  über  so  etwas  Avundern  kann.  Es  konnte 
das  um  so  eher  geschehen,  als  von  den  drei  regelmässigen 
Versammlungen  jeder  Prytanie  die  dritte  für  die  Verhandlungen 
mit  auswärtigen  Staaten,  also  namentlich  für  das  Auftreten 
fremder  Gesandten,  bestimmt  war'?,  und  warum  sollten  das 
die  Kormthier  und  Kerkyraier  nicht  gewusst  haben  l  dass  die 
Reden  aber  mit  einander  correspondiren,  ist  nicht  bloss  erklär- 
lich, sondern  absolut  nothwendig.  Denn  da  die  koiinthischen 
Gesandten  gekommen  Avaren ,  um  die  Absicht  der  Kerkyraier 
zu  vereiteln,  so  mussten  sie  natürlich  deren  Gründe  widerlegen, 
wovon  die  Folge  war.  dass  die  Reden  genau  correspondirten. 
Dazu  war  aber  gar  nicht  nöthig,  dass  die  Korinthier  die  Rede 
der  Kerkyraier  schon  vorher  studirten.  Haben  wir  doch  täg- 
lich Gelegenheit,  Reden  zu  hören  oder  zw  lesen,  welche  sich 
Stück  für  Stück  auf  einander  beziehen,  ohne  darum  vorher 
ausgearbeitet  zu  sein.  Die  Art.  wie  im  Einzelnen  sich  die 
Sätze  entsprechen,  ist  dann  allerdings  des  Thukydides  Werk ; 
aber  das  beweist  nichts  für  Herrn  Pfau  s  Behauptung.  Dieser 
führt  nun  ferner  als  einen  sehr  gewichtigen  Grund  an,  dass 
Cicero  im  Krutus  c.  13.  50  sagt:  »quis  em?7i  aut  A7'givum  ora- 
torem  aut  Corinthium  aut  Tliehanum  seit  fuisse  Ulis  temporibus<^ . 
Das  ist  denn  aber  doch  gar  zu  leicht,  um  etwas  daraus  zu 
folgern.  Die  Korinthier  konnten  recht  vernünftige  und  schla- 
gende Gründe  für  ihre  Sache  aufführen  iind  diese  auf  eine 
recht  angemessene  Weise  vortragen,  ohne  dass  dennoch  ihre 
Rede  als  Kunstwerk  irgend  in  Betracht  kam.  Die  inneren 
Gründe,  die  Hr.  Pfau  noch  anführt,  sind  wo  möglich  noch 
schwächer   als    die    äussern.     Er   hält  es  für  unmöglich,    dass 


*)   Schömann  antiqu.  p.  219,  coli.  234. 


Ueber  das  Historische  in  l>en  Keden  des  Thukyuides.    449 

die  Kerkyraier  Avirklich  damals  schon  von  dem  bevorstehenden 
Ausbruche  eines  Krieges  zwischen  Athen  und  Sparta  gespro- 
chen haben  sollen»  das  müsse  erst  Thukydides ,  als  der  Krieg 
wirklich  schon  ausgebrochen  war,  ihnen  untergelegt  haben. 
Diese  Behauptung  ist  rein  unbegreiflich,  wenn  man  einen  Blick 
auf  die  Geschichte  Griechenlands  seit  den  Perserkriegen  wirft; 
Avenn  man  erwägt,  dass  der  dreissigj ährige  Friede  im  Grunde 
nur  den  höchst  schwankenden  Status  quo  sanktionirte ,  und 
keine  der  Fragen,  um  die  man  sich  schon  so  oft  blutig  ge- 
schlagen hatte,  entschied;  dass  endlich  bei  Anlass  des  sami- 
schen  Krieges  wenig  daran  fehlte,  dass  der  peloponnesische 
[>und  Partei  für  die  abtrünnige  Pisel  ergriffen  hätte ,  und  so 
der  allgemeine  Krieg  schon  neun  Jahre  früher  ausgebrochen 
Aväre.  als  es  wirklich  geschah.  Sollten  die  schlauen  Kerkyraier 
von  dem  allen  nichts  gemerkt  haben?  Die  ZAveite  Einwendung 
ist  nicht  besser:  die  Kerkyraier  legen  ein  besonderes  Gewicht 
darauf,  dass  ihre  Insel  trefflich  gelegen  sei  für  die  Ueberfahrt 
nach  Italien  und  Sicilien.  Das,  meint  Hr.  Pfau,  hätte  ihnen 
gewiss  nicht  in  Sinn  kommen  können,  den  Athenern  zu  sagen, 
und  noch  weniger  genützt;  denn  wenn  auch  die  Athener  wirk- 
lich bereits  an  die  Erobening  der  Insel  gedacht,  so  habe  doch 
Perikles  diesen  Gedanken  unterdrückt;  es  habe  den  Gorgias 
ausserordentliche  Anstrengung  gekostet,  die  Athener  Ol.  SS,  2 
zur  Hülfeleistung  für  die  Leontiner  zu  bewegen.  Diess  beides 
ist  an  und  für  sich  wahr,  aber  beweist  noch  lange  nicht,  dass 
darum  den  Athenern  auch  unter  Perikles  Leitung  der  Besitz 
dieses  trefflichen  Verbindungspunktes  mit  Italien  und  Sicilien 
nicht  sehr  wichtig  und  erwünscht  sein  musste;  denn  wie  die 
Gesandten  richtig  bemerken,  konnte  von  Kerkyra  aus  beson- 
ders die  Verbindung  der  Peloponnesier  mit  den  sicilischen  und 
italischen  Griechen,  welche  meist  peloponnesischen  Ursprungs 
waren,  gehemmt  werden.  Die  Politik  des  Perikles,  so  sehr 
sie  auch  einen  Krieg  in  jenen  Gegenden,  besonders  seit  ein- 
mal der  peloponnesische  ausgebrochen  war,  vermied,  brauchte 
es  darum  gar  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  auf  anderm  Wege 
Athens  Einfluss  in  jenen  Gegenden  zu  begründen.  Die  An- 
lage von  Thurioi  giebt  den  ersten  Beweis  dafür.  Zufällig  aber 
wissen  wir,  dass  die  Athener  noch  weiter  gingen;  denn  es 
existirt  noch  eine  Inschrift  unter  den  Monumenten  der  Elgini- 

Vi  Seher,  Scliriften  I.  29 


450  Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides. 

sehen  Sammlung,  welehe  einen  im  Jahre  433.  Ol.  86,  4,  unter 
Archon  Apseudes  zwischen  Athen  und  Rhegion  abgeschlosse- 
nen Vertrag  enthält'  ,  also  fast  zu  derselben  Zeit,  avo  die 
Kerkyraier  Athens  Bündniss  suchten.  Das  beweist  denn  zur 
Evidenz,  dass  die  alten  Politiker  so  blind  nicht  waren,  als 
Hr.  Pfau  möchte  glauben  machen.  —  Was  soll  man  endlich 
dazu  sagen,  wenn  Hr.  Pfau  aus  dem  Umstände,  dass  zur  Zeit 
der  sicilischen  Expedition  nach  Plutarch  die  meisten  Athener 
keinen  Begriff  von  der  Grösse  und  Lage  Siciliens  hatten, 
schliesst:  pleroaque  Athenienses  ante  bellum  peloponnesiacum 
ignorasse  niim  forte  existeret  insula  quaedam  Süilia  nee  7ie! 
Er  scheint  ganz  vergessen  zu  haben ,  dass  athenische  und 
spartanische  Boten  zur  Zeit  des  Perserkrieges  von  Gelon  Hülfe 
verlangten;  ganz  vergessen  zu  haben  den  lebhaften  A'erkehr 
zwischen  den  griechischen  Dichtem  und  den  Höfen  von  Syra- 
kus  und  Agrigent.  imd  der  herrlichen  Schilderung  des  Aetna- 
ausbruchs  bei  Pindaros  und  Aischylos,  um  von  vielem  Andern 
gar  nicht  zu  sprechen.  Es  ist  das  ungefähr,  als  wollte  man 
behaupten,  die  Franzosen  wissen  nicht,  dass  es  ein  Land  Polen 
gebe ,  weil  die  meisten  unter  ihnen  in  eben  so  grosser  Ver- 
legenheit sein  würden,  darüber  nähere  Auskunft  zu  geben,  als 
die  Athener  über  Sicilien.  Das  sind  nun  die  Gründe,  welche 
beweisen  sollen,  die  beiden  Reden  seien  rein  erdichtet.  So 
lange  nichts  Besseres  beigebracht  wird,  müssen  wir  auch  hier 
annehmen,  dass  es  sich  gerade  umgekehrt  verhalte.  Denn 
dass  Gesandte  von  Kerkyra  und  von  Korinth  nach  Athen  ge- 
kommen sind,  steht  fest,  ebenso,  dass  sie  redeten.  Ausser 
Thukydides  berichtet  es  zum  Ueberfluss  axich  noch  Diodor, 
XH,  33;  also  ist  die  Rede  nicht  rein  erfunden.  Die  beider- 
seits angeführten  Gründe  sind  der  Art,  dass  sie  nicht  nur  vor- 
gebracht werden  konnten,  sondern  auch  vorgebracht  werden 
mussten.  sobald  die  Gesandten  ihre  Sache  ordentlich  vertraten. 
Ohne  ZAveifel  hatte  darum  auch  im  Inhalte  Thukydides  keine 
Ursache .  viel  von  dem  Gesprochenen .  das  ihm  bekannt  war, 
abz\igehen.  dagegen  ist  die  Disposition  der  Rede  von  Thuky- 
dides entworfen  und  das  Einzelne  von  ihm  ausgeführt.  Das 
schliesse  ich  besonders  daraus,   dass  er  von  2  Versammlimgen 

1)  Schoell  Gesch.  der  griech.  Litt,  in  der  deutsch.  Uebersetzung  I,  p.  1G3 
nach  Visconti  catalogrue  raisonne  Nr.  39. 


Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides.  451 

erzählt,  aber  nur  einmal  die  Gesandten  reden  lässt .  indem  er 
alles  zusammenfasst.  "was  sie  beidemal  sagten  und  sagen  konnten. 
Ganz  dieselbe  Bewandtniss  hat  es  mit  den  Reden  der  K  o  - 
rinthier.  Athener,  des  Archidamos  imd  des  Sthenelai- 
das  in  Sparta.  I,  6S — S6.  Nachdem  die  Korinthier  durch  die 
Streitigkeiten  über  Kerkyra  und  Potidaia  aufs  höchste  gegen 
Athen  erbittert  waren,  riefen  sie  die  Bundesgenossen  nach 
Sparta,  damit  erklärt  werde,  die  Athener  hätten  den  Frieden 
gebrochen  und  man  müsse  sie  bekriegen.  Die  Spartaner  hiel- 
ten nun  ihre  gewöhnliche  eigene  Versammlung,  zu  der  sie 
auch  die  Gesandten  der  Bundesgenossen  einluden  TTpocrapa- 
y.aA£3(xvTs;] .  Dort  nahmen  nun  nach  verschiedenen  Andern, 
deren  Reden  nicht  ausgeführt  werden,  die  Korinthier  das  Wort 
und  suchten  auf  jede  U  eise  zum  Kampfe  aufzureizen ,  indem 
sie  mit  Heftigkeit  das  träge  und  gleichgültige  Benehmen  des 
Bundesvorortes  Sparta  tadelten.  Ihnen  gegenüber  erbaten  sich 
athenische  Gesandte,  die  zufälliger  Weise  in  andern  Geschäf- 
ten in  Sparta  waren,  die  Erlaubniss,  zu  reden,  und  rechtfer- 
tigten Athens  Verfahren,  indem  sie  zugleich  auf  die  Wechsel- 
fälle eines  Krieges  hinwiesen.  Darauf  Hessen  die  Lakedaimo- 
nier  alle  Fremden  abtreten  und  berathschlagten  unter  sich. 
Während  die  meisten  für  den  Krieg  sprachen,  widersetzte  sich 
der  besonnene  König  Archidamos,  dessen  Rede  Thukydides 
ausführlich  giebt.  Zuletzt  aber  trat  der  Ephore  Sthenelaidas 
auf  und  liess,  nach  einer  kurzen  Ennahnung  zum  Kriege,  ab- 
.stimmen.  Da  bei  der  gewöhnlich  üblichen  Weise  der  Abstim- 
mvmg  durch  Geschrei  er  angeblich  nicht  unterscheiden  konnte, 
wo  das  Mehr  sei.  gebot  er  beiden  Theilen,  auseinander  zu 
treten,  und  da  ergab  sich  eine  grosse  Mehrheit  für  die  Mei- 
nung, der  Friede  sei  gebrochen.  Diesen  l^eschluss  theilten  die 
Lakedaimonier  den  Boten  der  Bundesgenossen  mit  und  eröff- 
neten ihnen  zugleich  ihre  x\bsicht,  in  einer  Versammlung 
sämmtlicher  Bimdesglieder  darüber  abstimmen  zu  lassen,  ob 
der  Krieg  erklärt  werden  solle  oder  nicht.  Darauf  reisten  die 
verschiedenen  Gesandtschaften  nach  Hause ;  auch  die  Athener 
kehrten  bald  zurück,  nachdem  sie  das  Geschäft,  wegen  dessen 
sie  in  Sparta  gewesen  waren,  beendigt  hatten.  Nach  einiger 
Zeit  kamen  nun  aber  wieder  die  sämmtlichen  Biuidesgesandten 
zu  einer  Tagsatzung  in  Sparta    zusammen,    und  jetzt  sprachen 

29* 


452  Uebeh  ])a.s  Historische  ix  den  Reden  des  Thuk'ydides. 

bereits  die  meisten  für  den  Krieg,  am  leidenschaftlichsten  die 
Korinthier,  welche  Thukydides  redend  einführt.  Nachdem  alle 
ihre  Meinnng  ausgesprochen  hatten,  Hessen  die  Lakedaimonier 
als  Bundesvorstand  abstimmen,  mid  die  Mehrheit  entschied  für 
den  Krieg.  Diese  Erzählung  ist  für  den  unbefangenen  Leser 
so  klar,  dass,  was  er  auch  von  den  Keden  denken  mag.  er 
doch  an  dem  ganzen  Hergange  keinen  Augenblick  zweifeln 
kann.  Herr  Pfau  hat  indessen  auch  hier  in  den  äussern  Um- 
ständen eine  Menge  von  Schwierigkeiten  entdeckt,  die  jedoch 
meist  auf  Missverständniss  beiiihen  oder  doch  eben  so  leicht 
zu  heben  sind,  als  die  oben  behandelten  Einwendungen  gegen 
die  Eeden  der  Kerkyraier  und  Korinthier.  Er  behauptet  näm- 
lich zuerst,  Ihukydides  habe,  eben  weil  das  Ganze  seine  Er- 
findung sei.  bei  der  ersten  Anwesenheit  der  Gesandten  in 
Sparta  die  Bundesversammlung,  die  beiden  Ekklesien,  die 
grosse  und  die  sogenannte  kleine,  und  endlich  die  Gerusia 
bunt  durcheinander  geworfen.  Freilich,  wenn  das  wahr  wäre, 
hätte  Thukydides  nicht  nur  willkürlich  Reden  ersonnen,  son- 
dern die  Wahrheit  arg  verletzt  und  sich  dabei  der  gröbsten 
Nachlässigkeit  schuldig  gemacht.  Ohne  ZAveifel  hätte  er  aber 
gerade  bei  Erfindungen  solche  handgreifliche  ^'erstösse  ver- 
mieden. Allein  die  ganze  "Serwirnnig  existirt  nur  bei  Hrn.  Pfa\i. 
Sehr  genau  unterscheidet  Ihukydides  die  Bundesversammhnig 
von  der  spartanischen  Ekklesie.  Bei  der  ersten  Zusammen- 
kimft  nämlich  traten  die  Gesandten  vor  der  spartanischen  Be- 
hörde auf,  und  es  ist  unbegreiflich,  wie  Herr  Pfau  aus 
Thukydides  Worten  c.  b7  .  -apsxaXo'jv  touc  l'jiiii'xyouc,  xnid 
-po:z7.pay.7.Äi3avT£c  rwv  ;uu.u.ay(üv  xai  £i  Tic  Ti  äkho  sot^  r^riiy.r^-j\)'j.<. 
Uko  Ai}r,vc(iüjv  ;oäXoyov  aciwv  a'J7U)v  -oir^-avTs;  7ov  £i(ui>o~a  Äi-siv 
£-/£XiUov  schliesst:  itorationem  der  Korinthier;  ad  sociorum  con- 
cionem  hahitum  legimus.a^  Davon  hätte  ihn  schon  der  Umstand 
abhalten  sollen,  dass  in  diesen  Reden  die  Anrede  (o  Aaxcoat- 
aovioi  lautet,  während  es  c.  120  in  der  zweiten  Rede  der  Ko- 
rinthier heisst  CO  avop£;  cojxixa/^oi,  ein  Beweis,  dass  Thukydides 
sehr  wohl  unterschied.  Die  ganze  Sache  verhält  sich  aber 
ganz  einfach  folgendermassen.  Zuerst  kamen  von  Korinth  ein- 
geladen Boten  der  Bundesgenossen  nach  Sparta,  um  überhaupt 
die  politischen  Verhältnisse  und  die  Stellung  zu  Athen  zu  be- 
sprechen.    Ohne  Zweifel  hatten  sie   hier  auch   ihre  besondere 


I 


Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides.  453 

"N'ersammhing ;  doch  sagt  Thiikydides  nichts  davon .  weil  doch 
nichts  in  derselben  beschlossen  -wnrde.  Dagegen  lässt  er  sie 
in  der  spartanischen  Versammlung  auftreten.  Es  kam  nämlich 
vor  Allem  darauf  an.  dass  das  Bundeshaupt  selber  sich  aiis- 
spreche.  da  die  Stimmen  der  schwächern  Ijundesgenossen 
sich  in  der  Regel  darnach  zu  richten  pflegten.  Die  Spartaner 
aber  lassen  die  Bundesgenossen  selbst  vor  ihrer  competenten 
Behörde  sprechen,  damit  diese  die  Stimm\ing  derselben  genau 
kennen  lerne.  Dass  die  zufällig  in  Sparta  anwesende  atheni- 
sche Gesandtschaft  die  Erlaubniss  zu  reden  begehrt,  ist  sehr 
natürlich.  Die  Einwürfe,  die  Herr  Pfau  dagegen  macht,  sie 
hätten  nicht  eher  wissen  können,  was  die  Korinthier  ge- 
sprochen, als  nachdem  die  Bundesgenossen  entlassen  Avaren, 
fällt  in  sich  selbst  zusammen;  denn  sie  wohnten  begreiflich 
der  Versammlung  von  Anf;\ng  an  bei.  da  sie  erfahren  hatten. 
es  werde  über  die  Frage  gehandelt  werden ,  ob  Athen  den 
Frieden  gebrochen  habe.  Nachdem  nun  die  Fremden  geendet, 
Hess  man  sie  abtreten,  und  es  begann  die  Verhandlung  der 
Sjiartaner  unter  sich,  und  sie.  ohne  die  Bundesgenossen,  spra- 
chen sich  aus.  der  Friede  sei  gebrochen.  HeiT  Pfau  meint 
auch  hier  wieder,  es  sei  höchst  unpassend,  dass  die  Spartaner 
nun  beschlossen  haben  sollten,  der  Friede  sei  gebrochen,  das 
hätten  sie  schon  vorher  gewusst.  Das  ist  zum  wenigsten  eine 
unbesonnene  Aeusserung;  denn  dämm  handelt  es  sich  eben, 
ob  durch  die  Feindseligkeiten  gegen  einige  ]jundesglieder  auch 
der  Friede  mit  dem  Bunde  gebrochen  sei;  der  Ausspriich,  es 
sei  diess  der  Fall,  enthielt  aber  zugleich  die  Kriegserklärung, 
so  weit  diese  von  Sparta  selbst  abhing,  er  enthielt  eine  Mani- 
festation seiner  Gesinnung  und  lässt  sich  den  Resolutionen 
englischer  ^Versammlungen  vergleichen.  —  Immerhin  Avar  das 
aber  nur  noch  der  Ausspruch  emes  einzigen .  wenn  auch  des 
mächtigsten,  Bundesgenossen,  gleichsam  die  Instruction,  die  es 
seiner  Gesandtschaft  gab.  Ein  Bundesbeschluss  ward  noch  gar 
nicht  gefasst;  wahrscheinlich,  weil  die  Gesandten  nicht  bevoll- 
mächtigt waren,  über  Krieg  und  Frieden  zu  entscheiden.  Da- 
rüber Instruktionen  zu  holen ,  schickt  Sparta  sie  noch  einmal 
nach  Hause,  und  bei  ihrer  zweiten  Zusammenkunft  erst  wird 
in  der  Bundesversammlung,  avo  die  Korinthier  ihre  ZAveite  Rede 
halten,   von  Seite  des  Bundes  der  Krieg  beschlossen. 


454  Ueber  das  HisTORiscirc  in  den  Reden  des  Thukydides. 

Aber  die  grosse  und  kleine  Ekklesia  und  die  Gerusia  sind 
nicht  geschieden  ?     Zuerst  die  Gerusia ,    meint  Herr  Pfau ,   sei 
desshalb   mit  jener   verwechselt,    weil    sie   über  jeden  Gegen- 
stand,  der  vor  die  Ekklesia  kam,   zuerst  ein  Probuleuma  geben 
musste.      Davon   sage   Thukydides   nichts,     also    Averfe    er   die 
Thätigkeit  beider  Behörden  unter  einander.    War  es  denn  aber 
nothwendig,  den  ganzen  Geschäftsgang  in  extenso  herzuerzählen  ? 
Auch  in  Athen  sollte    die  Gemeinde    nichts    ohne  Probuleuma 
des  Raths  beschliessen ,    und    doch  erwähnt  Thukydides    nicht 
ein    einzigesmal    des    Raths   und   seines   Vorschlages.     In    dem 
vorliegenden    Falle    konnte   nun   die    Genisia   ihren    Vorschlag 
schon  vor  den  Reden  der  Gesandten  bereit  haben,   diese  aber 
noch  auftreten  lassen,    um    die  Ekklesia   möglichst    selber  ur- 
theilen  zu   lassen  und    die  "S'erantAvortlichkeit  in   dieser   wich- 
tigen Sache  ihr  zu  überlassen.     Wir  haben   nicht   einmal    nö- 
thig,    anzunehmen ,    was   Andere   gethan   haben ,    es    seien   die 
Ephoren  und  der  Rath  uneinig  gewesen,   und  desshalb  sei  kein 
Probuleuma    eingegeben    Avorden,    wiewohl    es    auch    möglich 
ist.      Den    Unterschied    endlich    zwischen    der    kleinen    und 
grossen  Ekklesia  hierher  zu  ziehen,  ist  ganz  unpassend.     Wir 
erfahren  von  der  kleinen  Ekklesia  erst  bei  Xenophon,   längere 
Zeit  nach    dem   peloponnesischen  Kriege,    etwas   und   kennen 
sie  im  Grunde  gar  nicht.     Sie  scheint  beim  Ausbruche  dieses 
Krieges  noch  gar  nicht  existirt  zu  haben.    Es  kann  uns  über- 
diess  für  die  Frage  über  das  A'erhältniss  der  Reden  ganz  gleich- 
gültig sein,  welche  Versammlung  hier  zu  verstehen  sei.    Thu- 
kydides bezeichnet  sie  kurz  und  bündig  als  tov  siojÖora  «uä/.oyov, 
d.  h.  die  in  Sparta  für  solche  Fälle  übliche  Versammlung  oder 
die    competente    Behörde,    und    das   genügt.     Daher   trete    ich 
über   diesen    Gegenstand   nicht   näher   ein,    zumal   da   er   von 
Schömann  in   der :    »dissertatio    de   ecclesiis   Lacedsemoniorum« 
genügend  erörtert  ist.     Fast  spasshaft  ist  endlich,    wenn  Herr 
Pfau  darum  des  Thukydides  Darstellung  für  unhistorisch  hält, 
weil  es  unmöglich  wäre,   über  eine  Frage,   wie  die  vorliegende. 
durch  Geschrei  abzustimmen.     Er  scheint  nämlich  zu  meinen, 
nach  Thukydides    Darstellung    hätten    alle    mit    emander    ge- 
schrieen,   und    da  hätte    man  ja   nicht   unterscheiden  können, 
ob  mehr    für    Krieg    oder    Frieden    schrieen.     Das    wäre    nun 
freilich  wahr ;    aber  wir  trauen  den  Lakedaimoniern  so  viel  ge- 


Ueber  das  Historische  ix  den  Reden  des  Thukydides.  455 

siinde  Vernunft  zu,  dass  sie  eine  Meinung  nach  der  anderen 
zur  Abstimmung  brachten,  wofür  auch  die  Analogie  ihrer 
Gerontenwahlen  spricht.  Zuerst  also  schrieen  die,  welche  für 
einen  Vorschlag,  etwa  hier  für  die  Meinung,  der  Friede  sei 
gebrochen,  waren,  dann  die,  welche  entgegengesetzter  Meinung 
waren,  und  da  Hess  sich  die  Mehrheit,  so  bald  sie  irgend  ent- 
schieden war,  recht  wohl  unterscheiden.  Um  sich  davon  zu 
überzeugen,  braucht  man  nur  an  die  Landsgemeinden  einiger 
schAveizerischer  Cantone  zu  gehen,  wo  das  Handautheben  mit 
lautem  Jubel  begleitet  Mird,  und  man  auch  mit  geschlossenen 
Augen  eine  bedeutende  Mehrheit  vollkommen  sicher  unter- 
scheidet. Nur  bei  ungefähr  gleicher  Stärke  beider  Tlieile  ge- 
nügt dies  Unterscheidungsmittel  nicht  mehr,  iind  darum  liess 
Sthenelaidas  die  Parteien  auseinander  treten,  avo  dann  manche, 
die  vorher  im  Haufen  für  den  Frieden  geschrieen  hatten,  aus 
Scham  sich  auf  die  Seite  des  Krieges  stellten.  Endlich  führt 
Herr  Pfau  noch  gegen  Thukydides  an,  dass  Diodor  nur  eine 
Versammlung  zu  nennen  scheine,  und  dass  bei  Plutarch  die 
Gesandten  nicht  in  derselben  Ordnung  aufgeführt  seien,  Avie 
bei  Thukydides.  Wie  Avenig  darauf  ankommt,  sieht  aber 
Jedermann  ein.  Eben  so  sonderbar  ist,  Avenn  er  sagt,  nach 
Plutarch  hätten  die  Korinthier  die  Athener  hart  beschuldigt, 
bei  Thukydides  dagegen  lobten  sie  dieselben.  Das  Lob,  das 
sie  ihnen  spenden,  gilt  ja  aber  nur  ihrer  Thätigkeit  und  ihrem 
rastlosen  Untemehmungsgeiste  im  Gegensatz  zu  Sparta's  Träg- 
heit und  soll  dazu  dienen,  sie  als  recht  gefährliche  Feinde 
darzustellen. 

Also  ist  die  ganze  Erzählung  des  Thukydides  in  bester 
Ordnung,  und  die  Reden  gründen  sich  auch  hier  auf  Avirklich 
gehaltene.  In  der  Ausführung  aber  hat  er  sich  sicherlich  hier 
mehr  Freiheit  genommen  als  in  den  bisher  behandelten.  Das 
schliesse  ich  einmal  daraus,  dass  es  schAvieriger  für  ihn  Avar, 
den  Inhalt  genau  zu  erfahren ;  dann  aus  ihrer  ganzen  Beschaf- 
fenheit, indem  die  der  Korinthier  und  Athener  eine  scharfe 
Zeichnung  der  beiden  Hauptstaaten  Griechenlands  und  ihrer 
politischen  Stellung  enthalten,  und  die  des  Archidamos  für 
einen  Spartaner  fast  zu  lang  scheint.  Hingegen  tragen  die 
paar  Worte,  die  Sthenelai.das  spricht  (eine  eigentliche  Rede  ist 
es  nicht)   durchaus  den  Charakter  historischer  Wirklichkeit  und 


456  Ueber  das  Historisch?:  ix  den  Reden  des  Thukydides. 

■weichen  daher  höchstens  in  der  Form  etwas  von  dem  wirklich 
Gesprochenen  ab. 

Da  es  so  gelungen  ist.  die  Angriffe  gegen  die  historische 
Basis  dieser  Reden  als  \nibegründet  abzuweisen,  so  begnüge 
ich  mich,  zu  bemerken,  dass  bei  den  übrigen  dieser  Classe 
es  grossentheils  eben  so  leicht  oder  noch  leichter  ist.  zu  be- 
weisen, dass  sie  nicht  aixs  der  Luft  gegriffen  sind.  Und  zwar 
vindizire  ich  die  historische  IJasis  auch  dem  Gespräche  der 
athenischen  Abgeordneten  mit  den  Meliern.  indem  die  ge- 
naue Angabe .  wo  diess  Gespräch  statt  hatte ,  deutlich  dafür 
spricht.  Und  bedenkt  man  den  damaligen  Standpunkt  der 
sophistischen  Rhetorik,  so  wird  man  sich  eben  so  -wenig  über 
die  Form  des  Dialogs  als  über  die  nackt  ausgesprochenen 
Grundsätze  des  Rechtes  des  Stärkeren  wundem.  Es  ergiebt 
sich  also,  dass  auch  die  Gesandtschaftsreden  von  Thukydides 
nur  da  eingeführt  werden,  -wo  wirklich  solche  gehalten  worden 
sind,  dass  er  sie  aber  freier  behandelt  hat  als  die  der  ersten 
Abtheilung,  besonders  wo  nicht  ein  einzelner  namhafter  Mann, 
sondern  Gesandte  in  der  Mehrzahl  sprechend  eingeführt  werden. 

Ganz  dasselbe  gilt  nun  von  der  Vertheidigungsrede  der 
Plataier  und  der  Gegenrede  der  Thebaner  1.  III.  53 — 67. 
Abgesehen  von  der  inneren  Wahrscheinliclikeit.  dass  die  Pla- 
taier sich  nach  der  Uebergabe  zu  rechtfertigen  und  das  Mit- 
leid der  Spartiaten  zu  erregen  suchten,  beweist  der  Umstand, 
dass  Thukydides  zwei  Plataier,  Astymachos.  den  Sohn  des 
Asopolaos,  und  Lakon,  den  Sohn  des  Aeimnestos.  mit  Namen 
als  Redner  anführt,  die  geschichtliche  Giamdlage.  Ebenso 
sprechen  dafür  andere  angeführte  Einzelheiten,  namentlich  dass 
die  Thebaner  sich  dem  Gesuche  der  Plataier,  sprechen  zu  dür- 
fen, M-idersetzten.  Zugleich  liegt  aber  auch  in  der  Zweizahl 
der  Redner  und  darui.  dass  nachher  es  nur  heisst:  »die  The- 
baner sprachen«  angedeutet,  dass  Thukydides  wie  bei  den  Ge- 
sandtschaftsreden frei  zu  Werke  ging,  was  seine  Bestätigmig 
in  der  ausgezeichneten  Vortrefflichkeit  dieser  von  jeher  viel 
bewunderten  Reden  findet. 

Die  zweite  Hauptclasse  der  Reden ,  die  K  r  i  e  g  s  r  e  d  e  n . 
können  wir  sehr  kurz  behandeln.  Dass  im  Allgemeinen  vor 
den  Schlachten  die  Feldhemi  zu  reden  pflegten,  braucht  nicht 
nachgewiesen  zu  werden,   es  liegt  das  in   der  Natur  der  Sache 


UeBER    das    HiSTOPaSCHE    IN    DEN    ReDEN    DES  ThUKYDIDES.    457 

besonders   bei   Heeren    kleiner  Republiken,    wo    der    einzelne 
Krieger  eine  viel  grössere  Bedeutung  hatte    als   bei   stehenden 
Truppen  grosser  Reiche,    und   wo   fast    nur    durch   moralische 
Mittel  gewirkt  werden   konnte.     Es   ist   daher   vorauszusetzen, 
dass  selbst,    avo  Thukydides   keine  Reden    giebt,    doch  solche 
gehalten   worden    waren :    und   in    der  That   bemerkt   er   auch 
einigemal    bloss,    die    Feldherni   hätten   ihre   Leute    ermahnt. 
Besonders  zu  beachten   ist    in    dieser   Hinsicht   die    Erzählung 
der  Schlacht   bei  Mantineia,    avo    sogar  der  Inhalt   der   Reden 
kurz  angedeutet  ist.     Es  Aväre  also  höchst  verkehrt,   Avenn  man 
annehmen  AvoUte .    in    der  Regel    sei   ZAvar  von  den  Feldherrn 
gesprochen  Avorden .   nur  gerade  in  den  Fällen  nicht .   avo  sich 
Reden  in  Thukydides  finden.     Vielmehr  hat  er  nur  eben  die- 
jenigen Fälle    ausgeAvählt.    avo    die  Lage  der  Dinge   besonders 
interessanten  Stoff  darbot,    also    die  Avichtigsten    oder  in  sonst 
einer  Beziehimg  merkAvürdigen  Kämpfe.     Darum  führt  er  eine 
Rede  des  Archidamos  an  bei  dem  ersten  Einfall,   gleichsam  die 
Parodos  zu    dem   blutigen  Drama ,    das    sich    entfaltet ;    darum 
redet   Phormion,    der   grösste  Admiral    der  Athener,    zu   jener 
Zeit .   AVO  er  im  l^egriffe  steht .    mit  zAvanzig  Schiffen  fünfund- 
siebenzig  feindlichen  ein  Treffen  zu   liefern;    darum  ermuntert 
mit  Avenigen  Worten   Demosthenes    seine  Leute,    nachdem    er 
Pylos  besetzt  hat  inid  von  den  Lakedaimoniern  mit  Aveit  über- 
legenen Streitkräften  zu  Land  und  See  angegriffen    Avird;    da- 
rvim  spricht  Brasidas    mehreremal   und    am   meisten  Nikias    in 
dem  verhängnissvollen  Kampfe  vor  Syrakus.     Dass   aber  Thu- 
kydides sich  dabei  auf  Thatsachen  stützte.   beAveist  besonders. 
Avas    er   von   Hippokrates    IV.   95    sagt.     Dieser   ermahnt   dort 
A'or  der  Schlacht  bei  Delion  in  kurzen ,    kräftigen  Worten  die 
Athener  zum  m\ithigen  Kampfe.     Dabei,    erzählt  Thukydides, 
sei  er  der  Front  entlang  gegangen  und    erst   bis    in    die  Mitte 
gekommen ,    als  das  Anrücken  der  Boioter  ihn  nothigte .    auf- 
zuhören und   seine  Leute    auch   zum  Angiiff  zii    führen.     Das 
kann  nicht  erfunden  sein  und  lehrt  uns  zugleich,   dass  Thuky- 
dides,  Avas  die  Feldherrn  zu  einzelnen  Abtheilungen  sprachen, 
in  einer  Rede  zusammenfasse.    Ebenso  ergiebt  sich  ganz  sicher 
das    Thatsächliche   bei    der   Rede    des    Nikias    vor    der    letzten 
Seeschlacht  im  Hafen  A^on  Syrakus  VII,    61 — 64.     Da.   erzählt 
Thukydides ,    habe   zuerst  Nikias    das    ganze  Heer    zusammen- 


45S  Ueber  das  Historische  in  den  Keden  des  Thukydides. 

heriifen  und  zxi  demselben  gesprochen ,  dann  aber,  als  bereits 
die  Schiffe  bemannt  gcAvesen,  habe  er  noch  die  einzelnen 
Trierarchen  mit  ihrem  und  ihres  "S'aters  und  ihrer  Phyle  Na- 
men angeredet,  ihnen  ihre  eigenen  und  ihrer  ^'orfahren  Thaten 
ins  Gedächtniss  gerufen,  kurz  auf  alle  Art  sie  zu  ermuthigen 
gesucht.  Auch  das  ist  nicht  erfunden,  wenn  nicht  etwa  Thu- 
kydides ganzes  Werk  ein  Roman  ist.  Wir  können  also 
schliessen,  dass  es  sich  ähnlich  auch  mit  den  übrigen  verhalte. 
Wenn  wir  nun  aber  auch  für  diese  Reden  mit  Sicherheit 
eine  historische  Jiasis  gewonnen  haben,  so  liegt  andrerseits  in 
der  Natur  der  Sache,  dass  die  Form,  in  der  wir  sie  haben, 
vielleicht  einige  ganz  kurze,  wie  die  des  Demosthenes  IV,  10, 
ausgenommen,  durchaus  dem  Geschichtschreiber  angehört. 
Denn  solche  Reden  wurden  meist  aus  dem  Stegreife  gehalten, 
wurden  also  weniger  ausgearbeitet,  über  manche  musste  es  fast 
unmöglich  sein ,  Näheres  zu  erfahren ,  und  wo  der  Feldherr, 
Avie  Ilippokrates ,  nicht  eine  eigentliche  Rede  hielt,  sondern 
an  der  Front  hingehend  die  Leute  ermunterte,  da  war  enges 
Anschliessen  an  die  Form  des  Gesprochenen  unmöglich. 

Blicken  wir  nun  auf  die  ganze  Untersuchung  der  einzelnen 
Reden  zurück,  so  bestätigt  sie  vollkommen  das  aus  Thvikydides 
eigener  Aussage  gewonnene  Resultat.  Wir  haben  auch  nicht 
bei  einer  einzigen  Ursache  sie  als  rein  erfunden  anzunehmen, 
sondern  alle  stehen  auf  historischem  Boden.  Zugleich  aber 
weichen  sie  alle  in  der  Form  von  den  wirklich  gehaltenen  ab, 
denen  sie  stufenweise  näher  oder  ferner  stehen :  am  nächsten 
ohne  Zweifel  die  des  Perikles.  weiter  schon  die  übrigen  Reden 
athenischer  Staatsmänner,  noch  weiter  die  Gesandtschaftsreden ; 
unter  diesen  wieder  die  näher,  welche  einzelnen  Personen  ge- 
hören, als  die,  welche  ganzen  Gesandtschaften  zugeschrieben 
sind.  Am  freiesten  scheinen  endlich,  mit  einigen  Ausnahmen, 
die  Kriegsreden  behandelt. 

Zum  Schlüsse  bemerke  ich,  dass  ich  die  Untersuchung 
über  die  Zulässigkeit  oder  Unzulässigkeit  solcher  Reden  in 
Geschichtswerken  absichtlich  ganz  bei  Seite  gelassen  habe, 
indem  sie,  eng  zusammenhängend  mit  der  Frage,  ob  die  Ge- 
schichtschreibung ein  Kunstwerk  sein  soll,  hier  viel  zu  weit 
geführt  haben  würde.  — 


ÜEBER  DIE  BENUTZUNG  DER  ALTEN  KOMÖDIE 

als  geschichtliolier  (Quelle. 

[Einladungsschrift  zur  Eröffnung  des  Jihrescurses  des  Paedagogiums. 
Basel.     Schweighauser  1840.] 

tpavepöv  oTi  O'J  tÖ  to:  yevo,u.tva  Xi-^tvi ,  to'jto  ;i&tT,TO'J  epyov 
sa-fv,  ä).X'  Ol«  ov  ydvoiTO  xai  tÄ  CüvaTot  xocxä  to  eixo? 
7;  TO  ävoYXoiov. 

Aristot.  Poet.  9. 

iLs  ist  allgemein  anerkannt,  dass  zur  richtigen  und  tiefem 
Erkenntniss  der  athenischen  und  somit  der  griechischen  Ge- 
schichte überhaupt,  die  alte  Komödie  von  besonderer  Wich- 
tigkeit sei.  Alte  v:\e  neue  Historiker  haben  in  ihr  eine  Haupt- 
quelle gefunden,  und  sie  aufs  mannichfaltigste  benutzt.  Es 
fragt  sich  aber,  ob  dies  in  der  richtigen  Art  geschehen  und 
ob  dabei  immer  bestimmte  Grundsätze  befolgt  worden  seien. 
Das  glaube  ich  in  Abrede  stellen  zu  müssen  und  weise  in 
dieser  Hinsicht  unter  andern  nur  auf  Diodor  von  Sicilien  und 
Plutarch,  welche  öfters  Stellen  der  Komiker  so  als  Zeugnisse 
anführen,  als  wären  die  Dichter  Historiker  gCAvesen ;  und  auch 
neuere  Schriftsteller  scheinen  oft  die  Scherze  des  Aristophanes 
gar  zu  Avörtlich  genommen  zu  haben.  Es  ist  daher  wohl  der 
Mühe  werth  zu  untersuchen,  in  welcher  Weise  denn  die  alte 
Komödie  wirklich  als  historische  Quelle  zu  benutzen  sei.  Meine 
Absicht  ist  nicht,  diesen  Gegenstand  hier  ganz  zu  erschöpfen, 
indem  dazu  der  Umfang  eines  Programmes  nicht  hinreichen 
würde,  sondern  nur  einige  Hauptgrundzüge  aufzustellen,  welche 
sich  meiner  Ansicht  nach,  aus  dem  Wesen  der  Komödie  selbst 
ergeben  und  sich  mir  bei  der  Yergleichung  mit  anderweitigen 
Quellen  bestätigt  haben.  Dabei  will  ich  mich  durchaus  auf 
Aristophanes  beschränken.   Aveil  wir  nur  von  ihm  vollständige 


460  Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

Stücke  haben,  und  die  Betrachtung  solcher  nöthig  ist,  um  zu 
einem  genügenden  Resultate  zu  kommen.  "Was  sich  hei  ihm 
als  Ergehniss  herausstellt,  das  -wird  im  Ganzen  auch  für  die 
übrigen  alten  Komiker  gültig  sein. 

Das  Wesen  der  alten  Komödie  war  durch  und  durch  po- 
litisch. Das  Staats-  und  Volksleben  in  allen  seinen  Kreisen 
war  ihr  Gegenstand.  Dass  gerade  Aristophanes  dies  in  seinen 
Stücken  im  weitesten  Umfange  dargestellt  hat.  ist  von  Rötscher, 
in  seiner  geistreichen  Schrift  über  diesen  Dichter,  sehr  schön 
gezeigt  worden.  Es  versteht  sich  nun  aber  von  selber,  dass 
die  Komödie,  welche  Heiterkeit  und  Gelächter  unter  den  Zu- 
hörern und  Zuschauern  zu  erregen  hatte,  ihren  Gegenstand 
von  derjenigen  Seite  auffassen  musste,  welcher  zum  Spott  und 
Scherz  Anlass  gal).  Sie  konnte  also  die  Erscheinungen  nicht, 
wie  der  Historiker,  unparteiisch  und  allseitig  aufnehmen,  son- 
dern musste  ihre  Kehrseite  herausheben,  und  diese  in  ihrer 
Schwäche  dem  Gelächter  preisgeben.  Sie  musste  also  ihrer 
Natur  nach  zu  dem  Bestehenden  in  eine  gcAvisse  Opposition 
treten  und  eine  mehr  negative  als  positive  Stellung  annehmen. 
In  jeder  hervortretenden  Richtung  ihrer  Zeit,  mochte  sie  sein 
von  welcher  Art  sie  wollte ,  musste  sie  ihren  Stoff  suchen, 
nur  dadurch  konnte  sie  Interesse  erregen.  Jedes  bedeutende 
Individuum  im  Staate,  in  der  Wissenschaft  und  der  Kunst, 
jede  politische,  religiöse  oder  philosophische  Erscheinung,  kurz 
Alles  was  in  Athen  sich  Geltung  zu  verschaffen  -«-usste,  hatte 
ihren  Angriff  zu  gewärtigen.  Ob  dies  für  Athen  nützlich  oder 
schädlich  war.  das  geht  uns  hier  nichts  an,  es  genügt  es  als 
Thatsache  aufzustellen.  Der  Behauptung  von  der  angreifenden 
und  negativen  Richtung  der  Komödie  könnte  nun  aber  der 
Umstand  zu  widersprechen  scheinen,  dass  sie,  und  auch  hier 
wieder  besonders  Aristophanes ,  eine  entschieden  feindselige 
Richtung  gegen  alle  Neuerungen  nahm.  Perikles  und  die 
ganze  streng  demokratische  Entwicklung.  Exiripides  mit  den 
übrigen  neuen  Tragikern.  Sokrates  und  die  Philosophen  über- 
haupt, werden  von  ihr  oft  mit  furchtbarer  Energie  angegiiffen. 
die  gute  alte  Zeit  eines  Aristeides  und  Myronides.  eines  Aischy- 
los  und  Simonides  wird  gelobt  und  gefeiert.  Allein  diese 
Stelhmg  ist  nur  scheinbar  conservativ,  um  diesen  modernen 
Ausdruck  zu  gebrauchen.     Athens  innerstes  Wesen  zur  Zeit  der 


I 


Ueber  die  Benutzu>:g  der  alten  Komödie.  461 

alten  Komödie  war  eben  die  freieste  Entwicklnng  des  Geistes  nach 
allen  Seiten.  Die  Komödie  selbst  ist  dafür  der  beste  Beweis; 
denn  ohne  eine  solche  Ungebnndenheit  hätte  sie  nicht  existiren 
können.  Diese  allerdings  oft  bis  znm  Ungestüm  hervortretende 
Natur  zu  zügeln  und  in  die  rechte  Bahn  zu  leiten,  das  war 
die  freilich  unendlich  schwierige  Aufgabe  derjenigen,  die  im 
Ernste  dem  einreissenden  Verderben  Einhalt  thun  wollten. 
Zurückhalten  Hess  sie  sich  nicht.  Die  Komödie  aber  trat  un- 
bedingt gegen  sie  in  die  Schranken ,  und  als  Gegensatz  feiert 
sie  die  gute  alte  Zeit.  So  herrlich  aber  diese  war,  so  begei- 
sternd auf  jeden  Athener  die  Erinnerung  an  die  Heldenkämpfe 
gegen  Persien  wirkte,  so  konnte  doch  ein  Zurückrufen  der- 
selben ebensowenig  der  Komödie  Ernst  sein,  als  es  überhaiipt 
möglich  gewesen  wäre.  Hätte  jene  alte  Zeit  sich  wieder  er- 
neuern können,  und  der  Komödie  ihre  Zügellosigkeit  gelassen, 
diese  hätte  sie  eben  so  heftig  bekämpfen  müssen,  als  sie  sie 
wirklich,  im  Gegensatz  zu  der  neuen  Zeit,  gelobt  hat.  Die 
scheinbar  erhaltende  und  das  Bestehende  schützende  Stellung 
der  Komödie  ist  daher  im  Grunde  nur  eine  Folge  ihres  angreifen- 
den Wesens.  So  erklärt  sich,  wie  sie  mit  anscheinender  Un- 
parteilichkeit alle  politischen  Parteien.  Demokraten  und  Oli- 
garchen,  Demagogen  und  mit  Sparta  heimlich  verbündete 
Clubmänner ,  geisselt ;  denn  sie  selbst  gehörte  keiner  positiven 
Partei  an.  So  löst  sich  die  sonst  unerklärliche  Schwierigkeit, 
dass  einerseits  so  heftig  gegen  Philosophen  und  Sophisten,  als 
Peligionszerstörer  und  Götterverächter  geeifert  wird,  Avährend 
andrerseits  diese  Götter  des  A'olks  mit  ihrem  Cultus  oft  genug 
dem  Gespötte  preisgegeben  werden.  Damit  ist  gar  nicht  ge- 
sagt, dass  nicht  der  Dichter  auf  einem  sittlichen  Standpunkte 
stehen,  oder  dass  nicht  eine  sittliche  Idee  einer  ganzen  Ko- 
mödie zu  Grunde  liegen  konnte.  Die  Zustände  der  Zeit  boten 
genug  Stoff  zu  Tadel  und  zu  Entrüstung ,  um  auch  edle  Ge- 
müther zu  veranlassen,  sie  mit  der  Geissei  des  Spottes  zu  ver- 
folgen. Nur  thut  man  sicherlich  Unrecht,  wenn  man  dieses 
als  das  Grundwesen  der  Komödie  ansieht  und  bei  allen  ihren 
Erzetignissen  immer  tief  sittliche  Triebfedern  erkennen  will. 

War  nun  also  der  Komödie  die  Bekämpfung  der  herr- 
schenden Zustände  und  Richtungen  eigenthümlich ,  so  geht 
daraus  hervor,    dass    sie  diese  auf  eine  Art  darstellen  musste, 


462         Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

wodurch  sie  kenntlich  wurden.  Wären  sie  nicht  kenntlich 
gewesen,  so  hätte  auch  der  ganze  Angriff  nicht  getroffen.  Um 
sie  kenntUch  zu  machen,  mussten  also  wahre  Züge  zu  Grunde 
gelegt  werden,  und  insofern  steht  eben  die  alte  Komödie 
immer  auf  historischem  Grund  und  Boden.  Es  ist  aber  auch 
zugleich  klar,  dass  der  Dichter  nicht  die  Pflichten  des  Histo- 
rikers hat,  er  bleibt  Dichter,  auch  wenn  er  den  Stoff  aus  der 
Gegenwart,  aus  der  Wirklichkeit  nimmt.  Er  wählt  nur  das- 
jenige, was  zu  seinem  Zwecke  taugt;  der  Komiker  also  die 
Kehrseite;  er  gestaltet  sich  dann  seinen  .Stoff  mit  schöpferi- 
schem Geiste  zu  einem  poetischen  Kunstwerke .  dessen  ganze 
Handlung  dem  Gebiete  der  Phantasie  angehört.  Es  bildet 
auch  hierin  die  Komödie  den  Gegensatz  zur  Tragödie.  Diese 
nimmt  ihren  Gegenstand  in  der  ßegel  aus  dem  rein  idealen 
Kreise  cfer  Mythenwelt,  ist  aber  in  der  Handlung  mehr  oder 
weniger  an  die  Tradition  gebunden .  die  Komödie  findet  die 
Grundlage  ihrer  Dichtungen  in  der  reellen  Gegenwart,  ist  aber 
in  der  künstlerischen  Composition  ihrer  Handlung  durchaus 
ungebunden . 

Es  ist  demnach  nothwendig.  dass  die  Komödie  insofern 
einen  wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  ihi-er  Zeit  liefere,  als 
sich  die  Zustände  im  Ganzen  in  ihr  spiegeln,  allein  selbst 
diese  nicht  rein  und  unparteiisch,  sondern  vielmehr  bedingt 
durch  den  Standpunkt  des  Dichters,  also  von  ihrer  schwachen 
und  lächerlichen  Seite.  Und  auch  in  der  Darstellung  dieser 
schwachen  Seite  müssen  wir  uns  auf  Uebertreibungen  und  Ver- 
zerrungen überall  gefasst  machen,  die  ganz  am  Platze  sind, 
sobald  sie  nicht  verhindern,  den  Gegenstand  wirklich  als  den 
zu  erkennen,  den  der  Dichter  lächerlich  machen  will;  ja  sol- 
ches Uebertreiben  und  auf  die  Spitze  Treiben  war  geradezu 
nöthig,  wenn  die  Verhältnisse  aus  der  Wirklichkeit  zu  poeti- 
schen Schöpfungen  erhoben  werden  sollten.  Der  Dichter  musste 
nur  dafür  sorgen,  dass  in  diesen  der  historische  Kern  sichtbar 
blieb.  Man  betrachte  das  erste  beste  Stück,  z.  B.  die  Wespen, 
wo  die  nur  allzubegründete  athenische  Richtwuth  gleichsam 
ins  Komische  idealisirt  ist. 

Ist  nun  also  schon  zur  Beurtheilung  der  allgemeinen  Zu- 
stände bei  der  Benutzung  der  Komiker  Vorsicht  anzuwenden, 
so  gilt   dies    noch   weit   mehr   für    die   Einzelheiten;    denn    da 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.  463 

der  Dichter  in  der  Composition  der  Ilandhmg  durchaus  frei 
schaltet,  so  sind  ihm  darin  keine  anderen  Schranken  als  die  der 
Kunst  gezogen;  AVirkliches  und  Erfundenes,  Züge  der  Gegen- 
wart und  die  freiesten  Schöpfungen  der  Phantasie  laufen  hier 
bunt  durch  einander,  und  scheinen  der  Eingriffe  des  Historikers 
zu  spotten,  welcher  die  Meisterwerke  des  menschlichen  Witzes 
zu  Hiilfsmitteln  für  seine  Wissenschaft  anwenden  will.  Nichts 
destOAveniger  wird  sich  auch  hier  ein  nicht  ganz  imsicheres 
Kriterium  auffinden  lassen  zur  Unterscheidung  desjenigen,  was 
auf  Thatsachen  beruht  und  des  reinen  Erzeugnisses  der  dich- 
terischen Phantasie.  Und  dieses  Kriterium  ist  dasselbe,  das 
ich  schon  oben  aufgestellt  habe  zur  richtigen  Beurtheilung  der 
allgemeinen  Zustände.  Der  Dichter  muss  wie  jene,  so  auch 
das  Einzelne,  welches  er  angreift,  auf  eine  Art  zeichnen,  welche 
der  Wirklichkeit  so  weit  entspricht,  dass  der  Zuschauer  den 
Angriff  versteht.  Die  Einzelheiten  sind  nun  aber  theils  solche, 
wodinch  Personen  charakterisirt  werden,  theils  solche,  welche 
auf  Sachen  gehen,  ohne  dass  die  Persönlichkeiten,  wenn  auch 
solche  dabei  vorkommen,  von  Bedeutung  sind.  So,  iim  es 
durch  ein  Beispiel  zu  erläutern,  wird  in  den  Wolken  des  So- 
krates  Persönlichkeit  vorgeführt,  es  werden  gelegentlich  dem 
Kleonymos .  Theoros ,  Simon ,  Kleisthenes  und  Andern  Hiebe 
gegeben,  es  wird  aber  auch  v.  607  u.  folg.,  die  damalige 
Kalenderverwirrung  in  Athen  verspottet.  Sehr  häufig  sind 
natürhch  Sachen  und  Personen  auch  zu  gleicher  Zeit  mit  ein- 
ander verbunden.  Bei  den  Personen  müssen  wir  nun.  wie  der 
erste  Blick  lehrt,  zwei  Fälle  wohl  unterscheiden.  Entweder 
führt  der  Dichter  sie  in  seinem  Stücke  handelnd  auf.  oder  er 
erwähnt  sie  nur  gelegentlich. 

Zuerst  von  den  Personen,  so  weit  sie  selbst  auftreten. 
Es  ist  schon  oft  darauf  aufmerksam  gemacht  worden,  dass  die 
Komödie  es  mehr  mit  allgemeinen  Charakteren .  die  Tragödie 
dagegen  mit  Individuen,  wenn  auch  idealisirten.  zu  thun  habe';. 
Auf  den  ersten  Blick  könnte  es  scheinen,   als  gehe  das  nur  auf 


1]  Schon  Aristoteles  Poet.  IX,  5  ,  welcher  im  Allgemeinen  als  Unter- 
schied der  Geschichte  und  Poesie  hervorhebt,  dass  erstehe  das  Geschehene, 
Einzelne,  letztere  das  was  geschehen  könne,  das  Allgemeine,  darstelle,  be- 
merkt, dass  dies  vorzüglich  in  der  Komödie  der  Fall  sei. 


464  Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

die  mittlere  und  neuere  Komödie,  von  Aristophanes  Stücken 
also  höchstens  auf  den  Plntos  und  die  Ekklesiazusen.  Treten 
doch  in  den  übrigen  häufig  historische  Personen,  ein  Kleon, 
Lamachos,  Demosthenes,  Nikias,  Euripides,  Sokrates  u.  a.  auf. 
Allein  schon  in  mehreren  früheren  Stücken  tragen  alle  oder 
doch  die  Hauptpersonen  erdichtete  Namen,  wie  z.  1>.  im 
Frieden .  in  den  Wespen ,  den  Vögeln ,  ohne  dass  sich ,  diese 
Aeusserlichkeit  abgerechnet,  ein  durchgreifender  Unterschied 
zwischen  diesen  Stücken  und  den  Kittern .  den  Wolken ,  den 
Thesmophoriazusen  entdecken  Hesse.  Uas  hat  seinen  Grund  aber 
darin,  dass  jene  aus  der  Wirklichkeit  herausgegriffenen  drama- 
tischen Personen  nicht  ganz  diejenigen  vorstellen,  deren  Na- 
men sie  tragen,  dass  sie  nicht  blosse  Individuen  als  solche 
sind ,  sondern  vielmehr  diese  Individuen  als  Vertreter  einer 
ganzen  Richtung,  einer  Idee,  mit  einem  Worte  allgemeine 
Charaktere.  Insofern  treffen  sie  also  mit  denen  zusammen, 
welche  ganz  erfundene  Namen  tragen,  inid  Avie  diese  sehr 
oft,  trotz  der  unhistorischen  Namen,  einzelne  Züge  von 
historischen  Personen  haben,  z.  V>.  I'heidippides  unläugbar 
manches  von  Alkibiades,  so  umgekehrt  jene,  trotz  der  histori- 
schen Namen ,  manche  unhistorische  Züge.  Wozu  nun  aber 
diese  Verschiedenheit  ?  Wenn  Aristophanes  allgemeine  Eich- 
tungen personifiziren  wollte,  warum  hat  er  denn  nicht  so  gut 
als  einen  Dikaiopolis,  als  einen  Kleonsfreund  und  Kleons- 
verabscheiier ,  einen  Strepsiades.  Pheidippides ,  eine  Lysistrate 
und  Praxagora .  für  die  in  seinen  Stücken  vorkommenden 
historischen  Namen  eigene  erfunden .'  Vielleicht  aus  persön- 
lichem Hasse  ?  Der  mag  hier  und  da  mitgewirkt  haben,  allein 
die  Ursache  ist  er  nicht  gewesen  .  da  ein  solcher  noch  nicht 
diese  Leute  zxi  passenden  Personen  eines  Schauspiels  gemacht 
hätte.  Der  wahre  Grund  liegt  tiefer,  in  der  Bedeutung  dieser 
Leute  selber,  oder  wenigstens  der  ^'orstellung ,  welche  sich 
Aristophanes  von  derselben  gemacht  hatte.  Sie  erschienen  in 
irgend  einer  Beziehung  in  der  Wirklichkeit  als  Führer  und 
Leiter  einer  ganzen  Richtung,  als  die  hervorstechendsten  Per- 
sonen irgend  einer  Tendenz,  so  dass  sie  um  der  grösseren  An- 
schaulichkeit Avillen  mit  ihren  Namen  oder  doch  in  allgemein 
keinitlichen  Zügen  auf  die  Bühne  gebracht  wurden.  Dies  gilt 
von  den  Hauptpersonen.     Andere  aber   standen   mit  diesen  in 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.  465 

so  enger  Beziehung ,  dass  sie  "weniger  xim  ihrer  seihst  Avilleii, 
als  znr  Vervollständigimg  und  Ergänzung  jener,  ebenfalls  mit 
in  das  Stück  aufgenommen  wurden.  Bei  sehr  vielen  kam  dann 
noch  der  gihistige  Umstand  dazu,  dass  ihr  ganzes  Wesen  leicht 
Anlass  zu  komischer  Auffassung  gab.  So  Kleon.  Er  Avar  der 
eigentliche  Typus  der  Demagogie  nach  Perikles  Tode.  Sein 
polterndes,  zwischen  Frechheit  und  Feigheit  in  der  Mitte  lie- 
gendes Wesen,  sein  gemeines  Herkommen  und  seine  niedrigen 
Sitten  im  Contrast  zu  der  hohen  Stellung,  die  er  im  Staate 
einnahm  und  an  der  man  erst  kurz  noch  den  Perikles  zii  sehen 
gewohnt  war,  erscheinen  selbst  bei  dem  ernsten  Thukydides 
komisch.  Und  wollte  nun  Aristophanes  diese  Demokratie  an- 
greifen mit  den  Waffen  seines  Spottes,  sollte  er  da  ihn  bei 
Seite  lassen  und  sich  eine  Person  dafür  erfinden,  während  der 
blosse  Gedanke  an  Kleon  schon  von  vorne  herein  ein  leben- 
diges Bild  gab?  Und  wie  köstlich  sind  nun  im  Gegensatze 
zu  ihm  ein  Nikias  und  Demosthenes,  wie  anschaulich  stellt 
sich  in  der  ängstlichen  Behutsamkeit  des  ersteren,  eines  der 
reichsten  und  edelsten  Männer  Athens ,  und  in  den  schlauen 
Einfällen  des  anderen,  des  ersten  Feldherrn  seiner  Zeit,  der 
Druck  dar,  in  dem  die  vornehmen  Klassen  Athens  damals  von 
dem  Gerber  gehalten  wurden'  !  Oder  um  ein  anderes  Bei- 
spiel zu  nehmen .  wie  hätte  die  neuere  Tragödie  besser  ange- 
griffen werden  können,  als  in  ihren  wirklichen  Repräsentanten, 
dem  reflektirenden  Euripides  mit  Kephisophon  und  Mnesilochos, 
und  dem  üppigen  Agathon?  Dasselbe  springt  bei  Lamachos, 
Sokrates,  Aischylos  in  die  Augen,  und  Hesse  sich  ohne  grosse 
Schwierigkeiten  auch  bei  Anderen  nachweisen.  Unmöglich 
hätten  Avillkürlich  erfinidene  Namen  dieselbe  Wirkung  haben 
können.  Aristophanes  hat  also  diese  Personen  gewählt,  weil 
sie  eine  solche  Bedeutung  hatten,  dass  sie  ganze  allgemeine 
Zeitrichtungen  repräsentiren  konnten.    Man  Avird  bei  genauerer 


1  Kleon,  Demosthenes  und  Nikias  werden  allerdings  in  den  Rittern 
als  handelnde  Personen  nicht  ausdrücklich  so  genannt,  sondern  erscheinen 
als  Diener  des  Demos ,  und  zwar  ersterer  unter  dem  Namen  des  Paphla- 
goniers ;  auch  trug  er  keine  Portraitmaske.  Allein  sie  waren  vom  Dichter 
so  gezeichnet,  dass  man  sie  auf  den  ersten  Moment  erkennen  musste,  wie 
es  sogar  von  Kleon  v.  233  bestimmt  gesagt  wird.  Darum  habe  ich  nicht 
angestanden  sie  als  Beispiel  zu  gebrauchen. 

Vi  scher,  Schriften  I.  30 


466  Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

Betrachtung  finden,  dass  in  den  meisten  Fällen,  wo  wirklich 
ein  historisches  Individuum  mehr  oder  Aveniger  als  Vertreter 
einer  solchen  Richtung  angesehen  -werden  kann ,  Aristophanes 
dasselbe  in  seine  Stücke  aufnahm.  Avährend  dagegen  erdichtete 
Namen  gebraucht  werden,  wo  ein  solches  fehlte.  Darum  sind 
fast  alle  neueren  Bestrebungen  durch  historische  Namen  ver- 
treten. Avährend  dagegen  die  alte  Zeit,  oder  richtiger  der  Ge- 
gensatz gegen  das  neuere  Treiben,  welcher  sich  mehr  in  der 
Gesammtheit  als  in  einzelnen  hervorragenden  Männern  aus- 
prägt, mehr  in  fingirten  Namen  auftritt.  Ueberhaupt  finden 
wir  diese  überall  da.  wo  Charaktere  des  niedrigeren  Volkes 
dargestellt  werden  sollen.  Dass  diese  Wahrnehmung  auch 
einzelne  Ausnahmen  erleide,  und  hervorragende  Männer  hier 
und  da  geschont  werden,  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen, 
und  hat  ohne  Zweifel  seinen  Grund  in  persönlichen  "S'erhält- 
nissen.  Ueber  manches  würden  wir  übrigens  auch  noch  be- 
stimmter urtheilen  können,  wenn  uns  alle  aristophanischen 
Komödien  erhalten  wären.  Hat  nun  Aristophanes  die  histori- 
schen Personen  aus  den  angegebenen  Gründen,  statt  fingirter 
gewählt,  so  ergiebt  sich  daraus,  dass  er  sie  nicht  in  ihrer 
reinen  Individualität  darstellen  konnte,  sondern  dass  er  diese 
erweiterte,  statt  des  Besonderen  das  Allgemeine,  statt  des  Wirk- 
lichen ta  YsvotXiVa;  das  Mögliche  [olrj.  av  y^voito  y.ara  to  zv/sjz 
r^  70  avayxaTov  setzte.  In  welcher  Weise  dies  geschah,  wollen 
wir  am  Beispiele  des  Sokrates  betrachten.  Denn  so  vielfach 
auch  über  dessen  Darstellung  bei  Aristophanes  gestritten  Mor- 
den  ist ,  so  eignet  sich  doch  gerade  er  von  allen  aristophani- 
schen Personen,  die  aus  der  Wirklichkeit  gegriffen  sind,  darum 
am  besten  für  diese  Betrachtung,  weil  ims  über  seine  Persön- 
lichkeit von  anderer  Seite  her  weit  mehr  Züge  bekannt  sind 
als  bei  allen  übrigen. 

Aristophanes  hat  den  Sokrates  zimächst  in  seinem  Aeusseni 
so  dargestellt,  dass  auf  den  ersten  Anblick  jeder  Athener  ihn 
erkennen  musste.  Abgesehen  von  der  Maske,  die  ohne  Zweifel 
seine  Gesichtszüge  wieder  gab  Pollux  IV.  147  ,  finden  wir 
seine  strenge  LebensAveise.  Er  erscheint  unbeschuht,  yvie,  mit 
seltenen  Ausnahmen,  der  Avahre  Sokrates.  er  schreitet  stolz 
einher  (ßocvöostai  und  wirft  die  Augen  stier  um  sich,  gerade 
AA'ie  das  Alkibiades  in  Piaton"  s  Gastmahl .    mit   ausdrücklicher 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.         467 

Beziehung  aiif  die  Wolken .  von  seinem  Freunde  und  Lehrer 
als  Thatsache  erzählt.  Die  Enthaltsamkeit  jeder  Art,  das  stand- 
hafte Ertragen  der  Kälte,  stimmen  ganz  mit  der  Wirklichkeit 
iiberein.  und  wenn  Strepsiades  sagt,  weder  Sokrates  noch  seiner 
Schüler  einer  salbe  sich  je.  oder  gehe  in  ein  Bad.  so  ist  auch 
dieses  mit  einer  kleinen  Uebertreibung  vom  Avahren  Sokrates 
genommen,  der  nach  Piaton  sich  nur  bei  besonderen  Anlässen 
zu  baden  pflegte.  Zu  diesen  und  noch  mehreren  äluilichen 
Zügen,  die  den  Philosophen  äusserlich  charakterisiren,  hat  der 
Dichter  nun  aber  auch  Manches  von  seinen  geistigen  Eigen- 
schaften .  von  seiner  Lehrmethode  und  seinen  philosophischen 
Forderungen  mit  solcher  JJestimmtheit  aufgenommen,  dass  sich 
derselbe  keinen  Augenblick  verkennen  Hess.  Die  dialektische 
Ausbildung,  welche  er  als  Grundlage  jeder  Erkenntniss  be- 
trachtete, tritt  in  dem  ganzen  Stück  mit  Entschiedenheit  her- 
vor; das  Gewicht,  welches  er  auf  ein  gutes  Gedächtniss  und 
eine  leichte  Fassungsgabe  legte,  wird  mehr  als  einmal  nach- 
drücklich herausgehoben;  die  Hinweisung  auf  Selbsterkennt- 
niss,  worauf  Sokrates  so  sehr  drang,  ist  nicht  vergessen,  und 
die  A'ergleichung  der  Gedankenentwicklung  mit  der  Entbin- 
dungskunst, ein  Lieblingsbild  desselben,  hat  der  Dichter  gleich- 
falls auf  komische  Weise  benutzt.  Und  so  Hesse  sich  noch 
ein  und  anderer  Zug  anführen,  den  der  Dichter  für  die  Person 
seines  Sokrates  von  dem  historischen  entlehnt  hat,  um  ihn 
deutlich  zu  zeichnen.  Er  hat  aber  mit  diesen  wahren  Zügen 
eine  Reihe  rein  unhistorischer  verbunden.  So  gleich  die  Exi- 
stenz einer  geschlossenen  Schule,  in  die  man  durch  allerlei  my- 
stische Ceremonien  aufgenommen  wurde,  während  Sokrates  mit 
Leuten  aller  Alter  und  Stände  täglich  an  den  öffentlichen  Orten 
zu  verkehren  pflegte.  So  Avird  von  seinen  Schülern  gefordert, 
sie  sollen  sich  der  Gymnasien  enthalten  und  keinen  Wein 
trinken,  während  der  Avahre  Sokrates  in  den  Gymnasien  sich 
besonders  gern  aufliielt.  und  bei  aller  Massigkeit  .es  doch,  wo 
es  darauf  ankam,  den  grössten  Weintrinkern  zuvorthat.  Die 
Beschäftigung  mit  Meteorologie  und  Naturphilosophie,  welche  in 
den  Wolken  eine  so  grosse  Rolle  spielt,  ist  dem  wahren  So- 
krates fremd.  Hat  nun  wohl  Aristophanes  das  nicht  gewusst. 
und  aus  Unkenntniss  seinen  Sokrates  halb  wahr-,  halb  unwahr 
dargestellt?     Das  ist  kaum    zu   glauben.     Zwar  mag   die  per- 

30* 


468  ÜEBER   DIE    13eXUTZU>"G    DER    ALTEN    KOMODlE. 

sönliche  Berührung,  in  welche  Piaton  den  Dichter  mit  ihm 
bringt,  in  spätere  Zeit  fallen;  aber  doch  ist  nicht  anzunehmen, 
dass  Aristophanes ,  der  in  so  vielen  Einzelheiten  das  Wahre 
fein  aiiffasste,  in  anderen,  und  zwar  zum  Theil  ganz  äusser- 
lichen,  dem  oberflächlichsten  Beobachter  bemerklichen,  wie  dem 
Besuch  der  Gymnasien,  dasselbe  so  ganz  verfehlt  haben  sollte. 
A'ielmehr  hat  er  das  absichtlich  gethan,  indem  er  die  Person. 
gewählt,  um  eine  ganze  C'lasse  von  Menschen  zu  vertreten. 
Er  hat  also  so  weit  nach  dem  Leben  gezeichnet,  als  er  für 
nöthig  erachtete ,  \im  ihn  erkennen  zu  lassen ,  hat  dann  aber 
nach  freier  AVillkür  diejenigen  A'eränderungen  und  Zusätze 
gemacht,  die  ihm  zu  seinem  gegenwärtigen  Zwecke  dienten. 
Sein  ZAveck  war  aber  ein  komisches  Gemälde  von  dem  dama- 
ligen Wesen  und  Treiben  der  Sophistik  und  Philosophie  und 
besonders  ihrem  Einflüsse  auf  die  J\igendbildung  aufzustellen. 
Diese  beiden  Begriff'e  galten  natürlich  demjenigen,  der  sich 
nicht  selbst  damit  befasste,  damals  durchaus  für  ein  und  das- 
selbe, und  so  wenig  als  jetzt  die  Masse  die  verschiedenen 
philosophischen  Richtungen  zu  unterscheiden  vermag,  vielmehr 
alle  zusammen  als  unpraktische  Spitzfindigkeit  zu  verwerfen 
pflegt,  ebensoAvenig  unterschied  das  athenische  Volk  zwischen 
den  sogenannten  Sophisten  und  Sokrates,  wie  denn  mit  dem 
Namen  Sophist  an  sich  gar  kein  Tadel  verbunden  war  und 
Aischines  noch  weit  später  ohne  irgend  eine  besondere  Absicht 
den  Sokrates  so  genannt  hat.  Die  sämmtlichen  Züge  aber, 
die  den  Sokrates  des  Aristophanes  von  dem  Avirklichen  unter- 
scheiden, lassen  sich  auf  verschiedene  andere  philosophische 
Schulen  und  Individuen  zurückführen.  Wir  müssen  also  an- 
nehmen, dass  der  Dichter  mit  Absicht  und  Bewusstsein  in 
seine  dramatische  Person  mehi*  und  anderes  gelegt  habe,  als 
der  Wirklichkeit  angehörte.  Wenn  sich  nun  also  schon  hieraus 
ergiebt,  dass  man  in  derselben  mehr  ein  komisches  Ideal  als 
ein  Portrait  suchen  darf,  so  ist  zur  Ermittlung  der  historischen 
Wahrheit  noch  ein  zweites  in  Betracht  zu  ziehen.  Das  ist  die 
Frage,  Avie  weit  Aristophanes  den  Sokrates  richtig  als  Vertreter 
jener  Richtung  gcAvählt  habe.  Es  ist  hier  keineswegs  meine 
Absicht,  diese  schon  so  viel  besprochene  Frage  von  neuem 
einer  erschöpfenden  Erörterung  zu  unterwerfen ,  sondern  ich 
habe  sie  nur  angeführt,   um  ihre  Bedeutung  für  die  historische 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.  469 

Benutzung  der  aristophanischen  Charaktere  überhaupt  zu  zeigen. 
\ind  in  so  fern  mögen  hier  emige  Worte  ihre  Rechtfertigung 
linden.  Der  Dichter  muss  auch  hier  wieder  als  Dichter,  und 
in  der  oben  bezeichneten  Weise  als  Gegner  aller  neiieren  sich 
geltend  machenden  Tendenzen  beurtheilt  werden;  ihn  in  eine 
Linie  mit  Philosophen  oder  Historikern  zu  stellen  und  demnach 
Ansprüche  zu  machen,  wäre  ebenso  irrig  als  unbillig.  Selbst 
nicht  Philosoph,  aber  A'ertheidiger  der  alten  Zeit  und  ihrer 
Eigenthümlichkeiten  gegen  die  Eingriffe  des  neueren  Geistes, 
fasst  er  die  gesammte  Philosophie,  welche  sich  nicht  mit  der 
blossen  Annahme  des  bisher  Gültigen  in  Religion.  Moral  und 
Politik  begnügte,  sondern  nach  Gründen  suchte,  zusammen. 
Ob.  wie  von  ^•ielen  der  Sophisten,  bei  diesem  Bestreben  die 
geltenden  Grundsätze  als  Thorheit  verworfen  wiirden,  oder  ob. 
vrie  von  Sokrates,  dahin  gezielt  wurde,  das,  was  die  Menge 
ohne  klares  Bewusstsein  für  gut  und  recht  hielt,  auf  eine  sichere 
Basis  zurückzuführen  und  zur  Erkenntniss  zu  gelangen,  warum 
es  gut  und  recht  sei.  das  konnte  dem  femer  stehenden  nicht 
philosophisch  gebildeten  ]>etrachter  gleich  gelten.  Er  sah  eben 
nur.  dass  Alles  untersucht,  angegriffen,  vertheidigt  wurde,  mit 
«inem  Worte,  dass  es  seine  Geltung  an  und  für  sich  verloren 
hatte.  Er  brachte  damit  den  Verfall  der  alten  Ziicht  und 
Sitte,  des  alten  Glaubens  und  der  alten  Redlichkeit,  welche 
alle  in  dem  Nimbus  der  Vergangenheit  erschienen ,  in  \er- 
bindung;  \ind  sah  er  sich  nun  nach  den  Personen  um,  welche 
bei  jenem  ihm  verderblich  dünkenden  Treiben  thätig  Avirkten, 
wer  bot  sich  da  dem  Blicke  eher  dar,  als  Sokrates.'  Ihn. 
einen  gebornen  Athener,  sah  man  täglich  an  den  besuchtesten 
Orten  der  Stadt  mit  Untersuchungen  jener  Art  beschäftigt,  im 
eifrigsten  Gespräche  mit  Leuten  aller  Stände  und  Alter,  ihn 
sah  man  mit  gewandter  Dialektik  die  berühmtesten  der  übrigen 
Philosophen  und  Sophisten .  einen  Gorgias ,  Protagoras  und 
Hippias  bekämpfen  und  überwinden,  um  ihn  scharten  sich  die 
vornehmsten,  reichsten,  geistreichsten  und  übermüthigsten 
jungen  Leute,  ein  Kritias  und  Alkibiades  und  so  manche  an- 
dere, welche  in  mannichfaltiger  Art  dem  Herkommen  und  der 
Sitte  im  Staat  und  in  der  Religion  Hohn  sprachen.  Niemand 
entging  seinen  oft  recht  zudringlichen  Fragen  und  Prüfungen, 
imd  Hunderten,   die  da  glaubten  sehr  gescheidte  und  gebildete 


470         Veber  die  Bexutzun'g  der  alten  Komödie. 

Leute  zu  sein,  wies  er  nach,  dass  sie  nichts  wüssten  und  nur 
die  Einbiklvmg  hätten  etwas  zu  wissen.  Musste  sich  nicht 
dieser  Mann  ganz  natürlich  der  Menge  als  der  bedeutendste 
aller  Sophisten  darstellen?  So  hat  ihn  denn  auch  der  Dichter 
genommen  und  so  beurtheilt  ihn  noch  vier  und  zwanzig  Jahre 
später  das  athenische  Volk.  Dazu  kam  aber  denn  noch  sein 
komisches  Aeussere,  über  das  nichts  zu  sagen  nöthig  ist.  Dass 
aber  ein  solches  dem  Dichter  erAvünscht  sein  musste,  versteht 
sich  von  selbst,  und  in  dieser  Beziehung  boten  alle  jene  ele- 
ganten und  vornehmen  Sophisten,  welche  mit  dem  niedrigen 
A'olke  in  wenig  Berühi-ung  kamen  und  vielmehr  in  den  Prunk- 
sälen der  Kelchen  auftraten,  nicht  von  ferne  die  Vortheile  eines 
Sokrates.  Er  war  ein  öffentlicher  Charakter,  ein  Mann  des 
^  olks ,  den  vom  gemeinsten  Trödler  auf  dem  Markte  bis  zum 
edelsten  Eupatriden  Alle  kannten.  Auf  diese  Weise  erklärt 
sich  vollkommen,  dass  Aristophanes  den  Sokrates  zu  seinem 
Zwecke  auswählte ,  ohne  dass  damit  eingeräumt  ist ,  dass  er 
mit  Kecht  ein  A'ertreter  der  Sophistik  genannt  werde.  Zwar 
sind  gerade  hierüber  die  Meinungen  der  Neueren  getheilt.  wie 
über  Avenige  Punkte  der  Alterthumskunde.  Nichts  destoweniger 
scheinen  selbst  die  entgegengesetztesten  zuzugeben,  dass  wir  den 
Sokrates  sehr  unrichtig  erkennen  würden,  wenn  wir  nur  den 
Aristophanes  hätten.  Mag  er  auch  mit  den  Sophisten  den  Bo- 
den der  Subjectivität,  gegenüber  der  alten  Objectivität,  getheilt 
haben.  Niemand  behauptet  doch,  dass  die  Tendenz  seiner 
Lehre  dahin  ging.  Recht  zu  Unrecht  und  Unrecht  zu  Recht 
zu  machen,  wie  doch  Aristophanes  sie  darstellt.  Man  hat 
vielmehr  zu  zeigen  versucht,  dass  Sokrates  in  so  fem  mit  den 
Sophisten  übereinstimmte ,  als  er  das  Bestehende  nicht  darum 
bestehen  Hess,  Aveil  es  bestand,  sondern  an  die  Stelle  des 
objektiven  Glaubens  das  individuelle  oder  subjektive  Bewusst- 
sein  setzte,  aber  sich  darin  unterschied,  dass  er  an  die  Stelle 
der  zufälligen  Subjectivität  die  allgemeine  setzte  ^  .     Gerade  von 


1,  Rötscher  Arist.  p.  246,  247.  «Es  war  die  Xothwendigkeit  vorhanden, 
das  Princip  der  zufälligen  Subjektivität  und  des  Raisonnements  aus  Gründen 
in  die  Allgemeinheit  zu  erheben.  Dies  war  die  unsterbliche  Arbeit  des 
Sokrates.  Indem  er  eingeweiht  in  die  Systeme  der  frühern  und  in  die 
sophistischen  Principien ,  sich  diesen  schlechthin  widersetzte ,  und  sie 
auf  alle  "Weise  bekämpfte,    hielt   er  dennoch  mit  ihnen  ein  und   denselben. 


LIEBER  DIE  Benutzung  der  alten  Komödie.  471 

diesem  so  ungeheuer  Avichtigen  Unterschiede  erscheint  aber  in 
dem  ganzen  Stücke  des  Aristophanes  keine  Spur  und  demnach 
muss  des  Aristophanes  »Berechtigung«,  den  Sokrates  als  Vertreter 
der  Sophisten  darzustellen,  jedenfalls  sehr  beschränkt  werden. 
Er  Avar  es  durchaus  nicht  in  der  Art,  wie  er  es  in  der  Komödie 
ist.  Hingegen  stand  Sokrates  allerdings  mit  den  Sophisten  dem 
Aristophanes  gegenüber  auf  einem  Grund  und  Boden,  insofern 
alle  und  jede  Philosophie  dem  bloss  praktischen  Verstände  als 
eitle  Posse  erscheint  und  namentlich  damals  mit  dem  Bestehenden 
in  vielfachen  Conflikt  kommen  musste.  In  gleichem  Sinne 
waren  auch  Anaxagoras  und  andere  ältere  Philosophen,  die 
man  sonst  nicht  zu  den  Sophisten  rechnet,  den  Hieben  der 
Komödie  nicht  entgangen.  Sokrates  erkannte  das  Verderbliche 
der  Sophistik;  aber  er  erkannte  zugleich  auch,  dass  eine  gei- 
stige Macht,  wie  sie  Avar,  nicht  durch  blosses  Negiren  könne 
gebrochen  und  unschädlich  gemacht  Averden,  dass  sie  zu  die- 
sem ZA\ecke  Aielmehr  mit  ihren  eigenen  Waifen,  mit  Gründen 
besiegt  AAcrden  müsse.  Zu  diesem  ZAACcke  schuf  er  seine  von 
Piaton  Aveiter  ausgebildete  Dialektik,  und  mit  dieser  hat  er, 
wie  sein  grosser  Schüler,  die  Sophisten  siegreich  bekämpft. 
Aber  eben  darum  kam  er  nothwendig  in  feindlichen  Gegensatz 
zvi  den  absoluten  Anhängern  des  Alten,  Avelche  dieses  ohne  Unter- 
suchung geltend  erhalten  Avollten  und  denen  darum  ein  jeder, 
der  es  der  Prüfung  unterwarf,  als  Angreifer  erscheinen  musste. 
Denn  Avas  geprüft  Avird,  das  kann  auch  verAvorfen  Averden.  Zu 
diesen  absoluten  Vertheidigern  des  Alten  gehörte  aber  auch 
Aristophanes ,  nicht  Aveil  er  das  Alte  Avollte ,  sondern  Aveil  er 
das  Neue  nicht  Avollte.  Er  bekümmert  sich  also  nicht  um 
das  eigentliche  Wesen  der  sokratischen  Philosophie,  sondern 
griff  sie  an,   Aveil  sie  Philosophie  als  solche  Avar  und  zAvar  da- 


Boden  der  Subjectivität  fest.  Dieser  harte  Gegensatz,  in  welchen  Sokrates 
mit  den  Sophisten  getreten  ist,  hat  allein  in  der  Bekämpfung  ihres  Prin- 
cipes  der  einzelnen  empirischen  Subjektivität  seinen  Grund,  welche  Sokrates 
in  die  Allgemeinheit  erhob  und  an  die  Stelle  des  zufälligen  Menschen  den 
denkenden  setzte ,  und  den  abstrakten  Einzelwillen  zur  Selbstbestimmung 
aus  dem  Bewusstsein  der  Allgemeinheit  reinigte.  So  hat  Sokrates  anstatt 
wie  es  gewöhnlichvorgestellt  zu  werden  pflegt,  den  reinen  Gegensatz  gegen 
die  Sophisten  gebildet  zu  haben,  nur  den  von  ihnen  betretenen  Boden  der 
Subjektivität  weiter  erobert,  und  aus  ihren  Principien  vielmehr  das  Positive 
und  das  dem  denkenden  Bewusstsein  angehörige  hervorgehoben.« 


472         Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

mals  die  einflussreichste  und  in  Aveiterem  Ki'eise  bemerkbarste. 
Er  streitet  gegen  sie  von  dem  negativen  Boden  aus,  den  er 
überall  einnimmt  und  vertheidigt  in  diesem  Sinne  das  unhalt- 
bare oder  nicht  wieder  herzustellende  Alte.  Wir  mögen  also, 
vom  philosophischen  Standpunkt  aus,  den  Sokrates  mit  den 
Sophisten  in  einen  reinen  oder  bloss  bedingten  Gegensatz  brin- 
gen, "S'ertreter  der  zerstörenden  Sophistik,  wie  er  in  den  Wolken 
erscheint,  ist  er  nie  gewesen,  und  an  jene  feinen  philosophischen 
Distinktionen ,  wie  man  sie  neuerdings  zu  Aristophanes  Xer- 
theidigung  aufgestellt  hat,  hat  dieser  nie  auch  von  Ferne  ge- 
dacht, wie  sich  in  dem  ganzen  Stücke  auch  keine  Spur  davon 
entdecken  lässt.  Die  xlufFassung  des  Sokrates  ist  also  schief  und 
einseitig.  Avenn  sie  sich  von  dem  besondem  Standpunkte  des 
Dichters  aus  auch  erklären  lässt.  Fassen  wir  sonach  das  Ge- 
sagte zusammen,  so  werden  Avir  als  Ergebniss  aufstellen  müs- 
sen, dass  des  Aristophanes  Sokrates  eine  Person  ist.  welche  in 
den  hervorspringenden  äussern  Zügen  dem  wirklichen  Sokrates 
entsprach ,  aber  mit  diesen  eine  Reihe  fremdartiger  verband, 
w^odurch  sie  aus  dem  historischen  Individuum  zum  poetischen 
Gebilde  Avard;  und  dass  ferner  die  ganze  Auffassinig  desselben, 
als  Vertreter  der  Aerderblichen  Sophistik,  eine  ZAvar  aus  den 
^  erhältnissen  der  Komödie  leicht  zu  erklärende,  aber  für  den 
tieferblickenden  dennoch  unbegründete  ist.  Es  Avürde  sich  also. 
Avenn  Avir  keine  andere  Quellen  hätten  als  Aristophanes ,  von 
Sokrates  ein  höchst  unrichtiges  Bild  ergeben,  aus  dem  es  un- 
möglich Aväre  über  die  Hauptpunkte  auch  nur  annähernd  die 
Wahrheit  zu  ermitteln.  Glücklicher  Weise  haben  wir  nun  hier 
zahlreiche  andere  Schriftsteller,  die  uns  die  Mittel  an  die  Hand 
geben  auch  bei  Aristophanes  Wahres  und  Falsches  zu  scheiden. 
Aber  selbst  so  bleibt  bei  diesem  Manches  dunkel.  So  wird 
sich  scliAverlich  je  ermitteln  lassen.  AA'orauf  sich  die  v.  175 — 
ISO  erzählte  Dieberei  bezieht.  Man  könnte  annehmen,  sie  sei 
ohne  alle  historische  Bedeutung,  aber  der  Umstand,  dass  auch 
Eupolis  den  Sokrates  stehlen  lässt,  scheint  auf  irgend  ein  be- 
kanntes Ereigniss,  oder  wenigstens  ein  Stadtgeschwätz  zu  deu- 
ten. Dass  Sokrates  AA-irklich  einmal  gestohlen,  Aväre  es  auch 
nur  in  Folge  eines  später  überwundenen  Jugendfehlers .  Avie 
F.  A.  Wolf  meinte,  hat  gar  keine  Wahrscheinlichkeit.  Weit 
eher   lässt   sich   mit   einigen   andern    Gelehrten    annehmen,   es 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.         473 

gehe  auf  ein  von  Sokrates  in  seiner  bekannten  Zerstreutheit 
begangenes  Versehen.  Möglich  aiich  wäre ,  dass  der  Dichter 
den  bei  manchen  Philosophen  geltenden  Giiindsatz,  dass  die 
Güter  der  Freunde  gemeinsam  seien  xoiva  xa  t(«v  cptXoDv  ,  da- 
mit verspotten  wollte.     Aber  Sicheres   lässt   sich   nicht  sagen. 

Was  nun  von  Sokrates  sich  als  Resultat  herausgestellt  hat, 
das  wird  im  Ganzen  auch  für  die  übrigen  mit  historischen 
Namen  auftretenden  Personen  gelten.  IJei  allen  muss  man  so- 
wohl die  absichtliche  poetische  Umbildung,  als  die  subjektive 
Auffassung  des  Dichters  in  Anschlag  bringen;  sie  sind  eines- 
theils  durch  Lebertragung  fremder  Züge  zu  allgemeinen  Cha- 
rakteren erweitert,  andenitheils  einseitig,  meist  nur  von  der 
lächerlichen  Seite,  oft  geradezu  falsch  dargestellt.  Dabei  tritt 
von  selbst  ans  Licht,  dass  ein  Unterschied  je  nach  der  Stel- 
lung und  dem  Wesen  dieser  Personen  statt  fand.  Je  einfacher 
ein  solcher  Charakter  war,  je  mehr  das  Thun  und  Lassen  des- 
selben vor  Jedermanns  l^lick  offen  und  unzweideutig  da  lag, 
desto  mehr  -wird  des  Dichters  Auffassung  sich  der  geschicht- 
lichen Wirklichkeit  nähern.  Die  Staatsmäimer  und  Feldher- 
ren, deren  Wirken  ein  jeder  Athener  beurtheilen  konnte,  wer- 
den, wenn  auch  parteiisch  und  feindselig  dargestellt,  doch  in 
der  Komödie  der  Wahrheit  näher  stehen,  als  die  Dichter  und 
Philosophen.  Und  so  ist  auch  in  der  That  das  Bild  eines 
Kleon,  Lamachos,  Demosthenes ,  Nikias ,  Avie  wir  es  von  Ari- 
stophanes  erhalten,  mit  dem.  was  Avir  sonst  von  ihnen  wissen, 
weit  leichter  in  Einklang  zu  bringen,  als  das  eines  Sokrates 
und  Euripides ,  deren  AVerth  oder  UnAverth  nur  bei  tieferem 
Studium  erkannt  werden  konnte.  Wie  man  sich  hüten  muss, 
von  dem  Spotte  des  Dichters  sich  zu  leicht  bestechen  zu  lassen, 
das  kann  aus  ihm  selbst  nachgeAA'iesen  Averden.  So  Avird  z.  B. 
Lamachos.  den  er  in  den  Achamern,  als  er  noch  lebte,  ziem- 
lich arg  mitnimmt,  nach  seinem  Tode  (in  den  Fröschen  v.  1039) 
als  trefflicher  Held  gepriesen. 

Diese  Andeutungen  mögen  genügen  um  zu  zeigen,  Avie 
ungemein  vorsichtig  man  zu  Werke  gehen  muss,  Avenn  man 
die  von  Aristophanes  auf  die  Bühne  gebrachten  Personen  für 
die  Geschichte  benutzen  Avill.  Es  AA'ird  sich  aus  ihm  im  All- 
gemeinen zunächst  ihr  Aeusseres  erkennen  und  abnehmen  las- 
sen,   Avas    sie    in  Athen  für    eine  Stellung  einnahmen,   welche 


474         Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

Geltung  sie  beim  Volke  hatten,  ganz  besonders,  was  irgend 
Böses  von  ihnen  gesagt  oder  gedacht  Avurde.  Es  werden  na- 
mentlich diejenigen  Personen,  welche  an  der  Spitze  neuer  Be- 
strebungen standen,  mit  allen  Schwächen  und  Fehlem,  sowohl 
den  eigenen  als  denjenigen,  die  der  Kichtung  im  Ganzen  an- 
gehörten, uns  vor  Aiigen  treten.  Das  wahre,  eigentliche  We- 
sen derselben,  in  seinen  guten  und  schlechten  Seiten  wird 
man  aus  Aristophanes  allein  nie  kennen  lernen ;  aus  ihm  allein 
wird  man  nicht  zu  unterscheiden  vermögen,  in  Avie  fem  die 
Geltung,  in  der  sie  standen,  richtig  oder  unrichtig  Avar,  ob  die 
Aon  den  Gegnern  ihnen  gemachten  Vorwürfe  begründet  oder 
unbegründet  Avaren,  und  endlich  Avird  sich  von  einer  Menge 
einzelner  Züge  aus  ihm  allein  nie  ausmitteln  lassen,  ob  sie 
ihnen  angehören  oder  nicht,  Avie  z.  B.,  Avenn  die  Wolken  un- 
sere einzige  Quelle  über  Sokrates  Avären.  wir  glauben  Avürden, 
er  habe  die  Gymnasien  Aermieden,  Avährend  Avir  jetzt  das  Ge- 
gentheil  mit  Bestimmtheit  AA'issen.  Es  ist  also  durchaus  noth- 
wendig,  unparteiische  Quellen,  wo  solche  vorhanden  sind,  bei 
der  Beurtheilung  zu  Grunde  zu  legen,  avo  solche  fehlen,  aac- 
nigstens  alle  andern  Nachrichten  sorgfältig  zu  vergleichen. 
Wo  aber  andere  Nachrichten,  Avie  das  bei  untergeordneten 
Charakteren  mehrmals  der  Fall  ist,  uns  im  Stiche  lassen,  da 
wird  es  unmöglich  sein,  eine  ganz  richtige  Vorstellung  von 
den  durch  Aristophanes  dargestellten  Personen  zu  erhalten, 
und  man  muss  sich  bescheiden,  das,  Avas  er  über  sie  giebt,  als 
parteiisches  einseitiges  Bild  hinzunehmen.  —  Auf  diese  Weise 
benutzt,  Avird  Aristophanes  Darstellung  von  grösstem  Interesse 
sein,  indem  sie  uns  zeigt,  aaIc  eine  Person .  sei  es  mit  Recht 
oder  Lnrecht,  Aon  den  Gegnern  beurtheilt  Avurde,  aaIc  man  im 
Gedränge  der  Parteien  von  ihr  sprach  und  dachte;  indem  sie 
ferner  in  manchen  Punkten  ergänzend  und  verAollständigend 
nachhilft,  avo  die  allgemeinen  Züge  von  unparteiischerer  Seite 
her  feststehen.  — 

Ganz  anders  als  bei  denjenigen  Personen,  welche  Aristo- 
phanes handelnd  auftreten  lässt,  verhält  es  sich  mit  den  gele- 
gentlichen ErAvähnungen ,  Verhöhnungen  und  Anspielungen, 
die  nicht  wesentlich  zur  Handlung  des  Stückes  gehören.  Diese 
sind  unzählig.  Kaum  giebt  es  eine  Person  jener  Zeit  in  Athen, 
die  nicht  einmal  Avenigstens  vorkommt.    Bald  sind  diese  gele- 


Ueber  die  Bei^utzung  der  alten  Komödie.  475 

gentlichen  Bemerkungen  kürzer,  bald  länger,  bald  bloss  in 
einem  Worte  enthaltene  Anspielungen,  bald  kleine  Erzählungen 
einzelner  charakteristischer  Züge  und  Handlungen.  Es  ist 
klar,  dass  hier  zunächst  das  ganz  wegfällt,  was  bei  jenen  han- 
delnden Personen  Wahrheit  und  Dichtung  so  sch^ver  unter- 
scheiden liess,  ich  meine  die  komische  Idealisirung ,  die  Ver- 
wandlung der  wirklichen  Individuen  in  poetische  Charaktere. 
Es  handelt  sich  hier  nur  um  Einzelheiten,  Avelche  mit  dem 
ganzen  Stücke  in  einem  bloss  äusserlichen  Zusammenhange 
stehen.  Um  verstanden  zu  werden  mussten  diese  durchaus 
irgend  begründet  sein ;  rein  erdichtet  hätten  sie  keinen  Zweck 
und  keinen  Sinn  gehabt.  Einige  Beispiele  Averden  das  am  besten 
erläutern.     In  den  Fröschen,   v.  1035  u.  folg.,   sagt  Aischylosi): 

und  der  göttliche  Sänger  Homeros, 
1035.      Was  ehrt  man  ihn  hoch,  was  ist  sein  Ruhm,  wenn  nicht,  dass  er 

Grosses  gelehrt  hat, 
Schlachtordnung,  Gefecht,  Muth,  Wappnung  des  Heers? 

und  Dionysos  entgegnet: 

Doch  den  Pantakles  wenigstens  hat  er 
Nichts  Grosses  gelehrt;  den  verschrobenen  !  letzt  als  führen  er  sollte 

den  Festzug, 
Band  fest  er  zuerst  sich  den  Helm,  um  sodann  sich  den  Helmbusch 

darüber  zu  stecken. 

Hier  wird  Pantakles  als  Beispiel  eines  linkischen  Menschen 
angeführt,  was  unmöglich  geschehen  konnte,  wenn  er  nicht 
wenigstens  für  einen  solchen  gegolten  hätte.  Das  bestätigt 
sich  durch  die  Nachricht  des  Schollasten,  dass  auch  Eupolis 
ihn  so  genannt  habe.  Auch  dass  er  an  einem  Festzuge  eni- 
mal  jene  Ungeschicklichkeit  begangen  habe,  ist  höchst  wahr- 
scheinlich, wenigstens  wird  dann  die  Stelle  viel  treffender. 
Wenn  in  den  x\charnern  von  den  Lumpen  geredet  wird,  m 
denen  Oineus,  Phoinix,  Philoktetes,  Bellerophontes  und  Tele- 
phos  in  des  Euripides  Stücken  auf  der  Bühne  erschienen  wa- 
ren, so  hätte  das  keinen  Verstand  und  Witz  gehabt,  falls  der 
Dichter  sie  nicht  AvirkHch  in  einem  solchen  Aufzuge  hätte  auf- 
treten lassen,  wie  uns  das  auch  hinlänglich  bekannt  ist.  —  In 
den  Wolken  Avundert  sich  Strepsiades,   dass  der  Chor  der  Wol- 

1;  Nach  Droysens   Uebersetzung ,    die  ich   auch  bei   den  andern  Stel- 
len gebe. 


476         Ueber  die  Bekutzung  der  altex  Komödie. 

ken  in  der  Gestalt  von  Franen  erscheine;  da  belehrt  ihn  So- 
krates : 

Sie  gestahen  sich  so  wie  sie  wollen;   erschaun   sie  demnach   so'nen 

modischen  Laften, 
So'nen  Wüstling  dort  von   den  tolligen  Herrn ,    zum  Exempel   den 

Sohn  Xenophantens, 
350.      So  verwandeln  zum  Spott   auf  die  Lüderlichkeit  sie   sich  gleich  in 

Kentauren,  in  Schweine-^. 
Strepsiades. 
Wenn  sie  Simon  sehn ,    der  die  Kassen  bestiehlt ,    was   nehmen  sie 

dann  für  Gestalt  an? 
Sokrates. 
Gleich  bilden  sie  nach   die  ihm   eigne  Natur  und  verwandeln   sich 

plötzlich  in  "N^'ölfe. 
Strepsiades. 
Drum,  drum:  nun  begreif  ich  das  Ding;  da  sie  letzt  den  Kleonymos 

sahen,  den  Werfschild. 
So  versahn  sie  sich  auch  an  der  Memme  sogleich  und  verwandelten 

rasch  sich  in  Hasen. 
Sokrates. 
'6bb.     So  jetzt,  da  sie  drüben  den  Kleisthenes  sehn,  so  sind  sie  in  AVeiber 

verwandelt. 

Die  ganze  Stelle  wäre  verfehlt,  wenn  nicht  die  genannten  Lente 
im  Rufe  der  Liederlichkeit,  des  Unterschleifes,  der  Feigheit 
und  des  weibischen  Wesens  gestanden  hätten,  so  dass  der 
Grund  der  verschiedenen  Wolkengestalten  den  Zuhörern  gleich 
einleuchtete.  Oder  wenn  Sokrates.  v.  39S  folg.,  die  gewöhn- 
liche Yolksansicht.  dass  Zeus  mit  dem  Blitze  die  Meineidigen 
strafe,   mit  folgenden  Worten  widerlegt : 

Wie  !  was !  o  du  Narr !  altmodischer  Kauz  I  Altweibergeschichtenerzähler  I 
AVenn  er  Meineid  straft  mit  dem  schmetternden  Strahl,  wie  denn  kommts, 

dass  er  nicht  den  Theoros, 
Kleonj-mos,  Simon  längst  schon  traf,  die  doch  erzmeineidiges  Volk  sind. 
Doch  den  eigenen  Tempel  dafür  oft  trifft  und  die  heilige  Sunionsspitze 
Und  die  grössten   der  Eichen?    was   ficht    ihn   denn  an?    wo   denn   giebts 

meineidige  Eichen? 

SO  wird  da  der  Meineid  des  Kleonymos.  Simon.  Theoros  mit 
eben  derselben  Bestimmtheit  als  eine  ganz  ausgemachte  Sache 
hingestellt,   wie  die  Unschuld  der  Eichen,  was  nicht  hätte  ge- 


2)  Die  Schweine  sind  eine  Zuthat  des  Uebersetzers ,  im  Griechischen 
lautet  es  nur :  oy.iuTTTO'j'ci  tT|V  jxaviav  aöroj  KevTaupot;  siy.aJav  a'jra;.  v.  o50 
sind  es  im  Griechischen  Hirsche  statt  Hasen. 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.         477 

schehen  können,   Avenn  die  Beispiele  nicht  in  der  allgemeinen 
Yolksansicht  ihre  Begründung  gehabt  hätten. 

V.  859  antwortet  Strepsiades  dem  Sohne  auf  die  Frage, 
wo  er  die  Schuhe  gelassen  habe : 

Die  sind,  wie  weiland  Perikles  sprach,  zweckmässig  —  verthan. 

Da  bezieht  sich  der  Ausdruck  »zweckmässig«,  si;  to  Seov 
—  auf  jene  bekannte  Rechnung  des  Perikles.  Er  hatte  näm- 
lich die  10  Talente,  womit  er  die  Spartiaten  Pleistonax  und 
Kleandrides  zum  Abzüge  aus  Attika  bewogen ,  ganz  einfach 
unter  diesem  Titel  angebracht.  Und  das  athenische  Volk  hatte 
den  leider  in  Republiken  so  seltenen  Takt,  über  den  Gebrauch 
dieser  geheimen  Gelder  nicht  weiter  nachzufragen. 

Diese  Beispiele,  die  sich  ins  unzählige  vermehren  Hessen, 
genügen.  Es  muss  einem  solchen  Angriffe  oder  Scherze  d^lrch- 
aus  etwas  zu  Grunde  liegen,  wenn  er  treffen  sollte.  Damit  ist 
aber  noch  nicht  gesagt,  dass  das  die  reine  und  ganze  Wahrheit 
sein  musste,  \T.elmehr  lässt  sich  auch  hier  nur  behaupten, 
dass  Aristophanes  sich  soAveit  an  Thatsachen  halten  musste, 
dass  seine  Absicht,  sein  Spott,  seine  Anspielung  allgemein 
verstanden  wurde.  Mehr  dürfen  wir  von  ihm  nicht  fordern, 
um  so  Aveniger.  als  Avir  gesehen  haben,  Avie  er  bei  den  Per- 
sonen, die  er  aiif  die  Bühne  gebracht,  sich  gar  nicht  ge- 
scheut hat,  auch  ohne  hinlänglichen  Grund  schAver  zu  ver- 
letzen. Weit  entfernt  also,  Alles,  Avas  Avir  an  solchen  Stellen 
des  Dichters  lesen,  gleich  für  baare  Wahrheit  zu  nehmen.  Aver- 
den  Avir  trachten  müssen  in  jeder  herauszufinden,  Avas  daran 
thatsächlich  ist  und  Avas  nicht.  Bei  der  zügellosen  Freiheit, 
welche  die  Komödie  genoss,  lässt  sich  leicht  denken,  dass  der 
Dichter  gerade  bei  solchen  gelegentlichen  Hieben  sich  nicht 
immer  sehr  scrupulös  um  die  Wahrheit  bekümmerte.  War 
über  irgend  Jemanden  ein  Gerücht  im  Umlauf,  kam  ihm  eine 
Anekdote  zu  Ohren,  so  genügte  das  zu  einem  Scherze  oder 
Angriffe;  denn  er  Avurde  verstanden.  Ich  habe  darum  absicht- 
lich oben  bei  Simon,  Kleonymos  u.  s.  av.  gesagt,  sie  mussten 
im  Rufe  der  Feigheit  u.  s.  w.  stehen;  eine  ganz  andere  Frage 
ist  aber,  ob  sie  in  der  That  so  schlecht  gcAvesen  seien,  als  sie 
bei  Aristophanes  erscheinen.  In  der  Natur  der  Sache  liegt  be- 
sonders, dass  die  ärgsten  Uebertreibungen  nicht  gescheut  wur- 
den;  die  geringste  Thatsache  konnte  Anlass  zu  den  heftigsten 


478         Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

Beschuldigungen  geben.  Den  besten  Beweis  dafür  liefert  die 
Wahniehmiing.  dass,  wenn  wir  dem  Dichter  wörtlich  glauben 
wollten ,  ganz  Athen  von  lauter  Schurken ,  Feiglingen .  Lüst- 
lingen und  andern!  Gesindel  strotzen  musste.  während  doch, 
bei  aller  Verdorbenheit  jener  Zeit,  aus  andern  Quellen  erhellt, 
wie  viel  Gutes  und  Schönes  auch  damals  noch  in  der  Stadt 
zu  finden  Avar.  während  die  athenischen  Heere  und  Flotten 
sich  überall  noch  aufs  tapferste  schlagen  und  Beispiele  von 
edler  xlufopferung  nicht  selten  vorkommen.  Lässt  doch  der 
Dichter  in  den  Fröschen  v.  807  von  Aischylos  sagen,  dass  er 
einen  grossen  Theil  der  Athener  für  Diebe  und  die  andern  für 
zu  albern  gehalten  habe,  um  über  Dichter  zu  urtheilen.  Und 
doch  hatte  Aischylos  in  der  guten  alten  Zeit  gelebt ,  wie  arg 
musste  es  da  nicht  erst  in  der  verdorbenen  neuen  sein !  — 
Dieses  angebliche  Urtheil  des  Aischylos  beruht  übrigens  auch 
auf  einer  historischen  Thatsache .  nämlich  seinem  Unmxithe. 
als  er  einmal  den  Preis  nicht  erhalten  hatte. 

Es  geht  aus  dem  Gesagten  klar  hervor,  dass  zu  allen  sol- 
chen Einzelheiten  etwas  Historisches  die  Veranlassung  gab. 
dass  aber  dies  sehr  oft  einzig  und  allein  in  dem  Rufe  bestand, 
den  ein  Mann  hatte,  oder  in  Gerüchten  und  Stadtgeschwätzen, 
und  dass  Uebertreibungen  ganz  gewöhnlich  waren.  Auch  was 
über  Jemanden  gesagt  und  gedacht  wird,  sei  es  wahr  oder 
falsch,  ist  eine  Thatsache,  und  für  den  Historiker,  der  in  das 
innere  Leben  eines  Volkes  eingeht,  von  grosser  Wichtigkeit, 
und  in  dieser  Hinsicht  lässt  sich  von  Aristophanes  unendlich 
viel  lernen.  Hingegen  werden  wir  in  unzähligen  Fällen  nicht 
entscheiden  können,  ob  das  Vergehen,  der  Fehler,  oder  irgend 
eine  Eigenschaft,  welche  Aristophanes  dem  oder  jenem  Manne 
beimisst ,  begründet  war  oder  nicht .  und  man  thut  Unrecht 
Leute,  die  uns  fast  nur  aus  dem  Komiker  bekannt  sind,  auch 
in  die  Geschichte  nach  seiner  Darstellung  einzuführen,  und 
wie  sie  uns  etwa  die  Scholiasten  noch  ausmalen,  die  leider  gar 
zu  oft  nur  den  Inhalt  des  Textes  umschreiben,  ohne  andere 
Quellen  zu  haben.  Es  ist  also  für  den  Historiker  auch  hier 
wieder  V  ergleichung  anderer  Nachrichten  unumgängHch  nöthig, 
um  das  Wahre  mit  Sicherheit  zu  erkennen;  avo  diese  fehlen, 
kann  es  nur  nach  dem  jeweiligen  Zusammenhange  mehr  oder 
weniger  annaheiiings weise  geschehen. 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.  479 

Sollte  Manchem  diese  Meinung  über  den  historischen 
'S^'erth  solcher  Notizen  bei  Aristophanes  zn  gering  erscheinen, 
so  möge  er  eine  analoge  Erscheinung  der  neueren  Zeit  erwä- 
gen. Würde  man  nicht  nach  den  Oppositionsorganen,  der 
Länder,  welche  Pressfreiheit  haben,  besonders  nach  denjenigen, 
welche  sich  mehr  der  Waffe  des  AVitzes  bedienen,  (man  denke 
an  das  Charivari.  an  die  furchtbaren  Juniusbriefe  u.  dgl.) 
glauben,  die  Männer  der  Regierung  seien  lieinah  durchweg 
entweder  Schurken  oder  Dummköpfe !  Kommen  nicht  fast 
täglich  eine  Menge  Züge  vor,  die  oft  so  ins  Einzelne  eingehen, 
dass  man  nicht  daran  zweifeln  zu  dürfen  glaubt .'  Und  doch 
sind  sie  häufig  rein  erfunden,  meist  aber  ganz  entstellt.  AVie 
zahlreich  sind  Reklamationen  der  Betroffenen  l  —  und  solche 
waren  bei  dem  athenischen  Oppositionsorgan,  der  Komödie, 
nicht  möglich.  Und  doch  machen  Journale  darauf  Anspruch, 
Tagesgeschichte  zu  gel)en,  dagegen  die  Komödie  war  Dichtung 
und  will  als  solche  beurtheilt  sein.  W^as  sich  also  bei  jenem 
findet,  wird  man  bei  diesen  zugeben,  zumal  bei  einem  so  leicht 
beweglichen  über  Alles  Avitzelnden  und  spöttelnden  Volke,  wie 
das  athenische  damals  war.  dessen  Wohlgefallen  an  Persön- 
lichkeiten aller  Art  die  Redner  hinlänglich  beweisen. 

Haben  wir  also  gefunden,  dass  die  Komödie  für  die  Be- 
urtheilung  der  Personen ,  allein  genommen .  nicht  als  lautere 
Quelle  betrachtet  werden  darf,  wohl  aber  in  A^erbindung  mit 
andern  Nachrichten  höchst  wichtige  Beiträge  liefert,  so  wird 
es  sich  ganz  ähnlich  mit  den  Sachen  verhalten.  Ich  meine 
damit  nicht  die  allgemeine  Darstellung  von  Zuständen,  über 
welche  schon  im  Eingange  gesprochen  worden  ist^  sondern  die 
Erwähnung  einzelner  Fakta,  die  Erzählung  von  Ereignissen. 
Davon  muss  man  zuerst  ausscheiden,  was  bloss  zu  der  Hand- 
lung des  Stückes  gehörig  und  rein  poetische  Fiktion  ist,  wie 
z.  B.  die  Erzählung  des  Wursthändlers  von  seinem  Kampfe  mit 
Kleon  in  dem  Rathe,  Ritter  v.  624  ff.,  darin  ist  natürlich  keine 
Geschichte  zu  suchen.  Hieher  gehört  nur  die  Erwähnung  von 
wirklichen  Fakten,  die  oft  vorkommen,  bisweilen  so,  dass  Per- 
sonen in  der  oben  dargestellten  Weise  damit  verwoben  sind,  bis- 
weilen so,  dass  sie  dabei  nur  als  Nebensache  mitgenannt  oder 
auch  ganz  weggelassen  sind.  Allein  auch  dabei  ist  der  Dichter 
auf  verschiedene  Art  verfahren.    Entweder  nämlich  macht  er  sich 


480  Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

ans  irgend  einer  historischen  Thatsache  mit  freiem  schöpferi- 
schem Geiste  eine  neue  Geschichte,  er  formt  das  Geschehene, 
Wirkliche,  in  das  bloss  Mögliche,  oia  av  ^svoito  xai  ~a  ouvara 
xaxa  To  £i-/o;  um.  So  dargestellte  Ereignisse  entsprechen  also 
gewissermassen  den  handelnd  eingeführten  Personen.  Oder  es 
werden  Thatsachen  nur  gelegentlich  ohne  solche  freie  dichterische 
Umwandlung  eingeführt,  avo  sie  dann  mit  den  eben  so  gelegent- 
lich herbeigezogenen  Personen  in  gleichem  \'erhältnisse  stehen. 
Ein  Beispiel  jener  ersteren  Art  ist  die  -wunderhübsche  Er- 
zählung in  den  Acharnern  5 1 5  ff .  von  dem  Ausbruche  des  pe- 
loponnesischen  Krieges : 

Indess  —  denn  lauter  gute  Freunde  hören's  an  — 

Was  klagen  wir  um  alles  das  die  Spartaner  an? 

Denn  hier  die  —  Stadt,  ihr  Herrn,  die  mein'  ich  nicht. 

Behaltet  mir's,  ich  meine  die  Stadt  ausdrücklich  nicht,  — 

Nein,  Wichtelmännchen,  Lumpenvolk,  gewippt  und  gekippt, 

Verprägt,  verschlifFen,  ehrlos,  falsch  hier  eingesippt, 

Die  spürten  und  schnüffelten  jede  Jacke  von  Megara, 

Und  wo  so  einer  einen  Hasen,  ein  Ferkel  sah, 

Ein  bischen  Bollen,  ein  Körnchen  Salz,  ein  Schnittchen  Lachs, 

Gleich  war's  megarisch  und  wurde  verkauft  desselben  Tags. 

Dergleichen  war  denn  noch  gering  und  heimisch  Ding, 

Als  aber  ein  Haufe  junger  Leute  gen  Megara  ging 

Und  kottabostrunken  da  die  Hure  Simaitha  fing. 

Da  wurden  die  Megarer  bollenwild  ob  so  grossen  Leids, 

Und  raubten  Aspasien  zween  Huren  ihrer  Seits. 

So  kam  der  Anfang  dieses  Kriegs  gewitterschwer 

Von  den  drei  Lohnhuren  über  alle  Hellenen  her. 

Denn  Perikles,  der  Olympier,  jähen  Zorns  entbrannt. 

Der  blitzte,  donnerte,  schütterte  wild  das  Hellenerland, 

Gab  Kriegsmanifeste  recht  im  Trinkliedstil  verfasst: 

»Nicht  zu  Wasser  und  Land,  nicht  in  Hafen  und  Markt,  nicht  als 

Wandrer  noch  Gast, 
»Nie  suche  noch  finde  sich  hier  ein  Megarer  Ruh  noch  Rast.« 
Die  Megarer  drauf,  da  sie  allgemach  zu  hungern  begann, 
Da  lagen  sie  den  Spartanern,  die  es  von  ferne  sahn. 
Um  Widerruf  des  Hurenvolksbeschlusses  an ; 
Allein  so  oft  sie  baten,  wollten  wir  nimmermehr. 
Da  endlich  begann  der  wilde  Lärm  von  Schild  und  Speer. 

In  dieser  Schilderung  ist  die  durchaus  wahre  Thatsache 
zu  Grunde  gelegt,  dass  die  Streitigkeiten  Athens  mit  Megara 
und  die  von  Athen  gegen  den  armen  Nachbarstaat  verhängte 
Handelssperre   (ein   hlocus  hermetique    eine   Hauptveranlassung 


Uebek  die  Benutzung  der  alten  Komödie.         481 

zu  dem  Ausbruche  des  peloponnesischen  Krieges  war.  Denn 
dass  die  Ursachen  desselben  weit  tiefer  lagen,  das  hat  schon 
Thukydides  zur  Genüge  gezeigt.  Jene  Thatsache  gestaltet  nun 
aber  der  Dichter  im  Einzelnen  ganz  willkürlich;  denn  wenn 
vielleicht  an  dem  Dimenraube  auch  irgend  etwas  Wahres  ge- 
wesen ist,  was  dahin  gestellt  bleiben  muss,  so  ist  auf  jeden  Fall 
doch  der  Zusammenhang,  in  den  derselbe  mit  dem  Ausbruche 
des  Krieges  gesetzt  wird,  ganz  und  gar  unhistorisch, Avas  jetzt 
noch  beweisen  zu  wollen  überflüssige  Mühe  wäre,  obschon  einst 
die  Megarer  sich  auf  Aristophanes  berufen  haben  sollen.  Vgl. 
Plut.  Pericl.  30.  Die  poetische  Ausbildung  des  Ereignisses  passte 
aber  vortrefflich  zu  der  ganzen  Tendenz  des  »Stückes,  zu  zeigen, 
dass  der  ganze  Krieg  ein  Elend  und  um  der  elendesten  Ursachen 
willen  unternommen  worden  sei.  So  ist  sie  vollkommen  ge- 
rechtfertigt und  der  Dichter  verdient  keinen  Vorwurf,  wohl  aber 
der,  welcher  ihn  wie  einen  Historiker  benutzen  will.  —  Die- 
selbe ßewandtniss  hat  es  mit  mehreren  ähnlichen  Erzählungen 
und  Darstellungen,  die  je  nach  dem  Zusammenhange  und 
dem  Bedürfnisse  des  Dichters  sich  mehr  oder  weniger  an  das 
Thatsächliche  anschliessen.  Sie  sollen  und  wollen  nicht  eine 
Geschichte  geben,  sondern  eine  dichterische  meist  scherzhafte 
Darstellung  ihres  Gegenstandes.  Man  wird  also  in  ihnen  sorg- 
fältig die  zu  Grunde  liegende  historische  Thatsache  von  der 
poetischen  Zuthat  und  Ausschmückung  unterscheiden  müssen. 
Bloss  gelegentliche  Erwähnungen  von  Ereignissen  und 
Handlungen  Averden  dagegen  in  der  Kegel  der  Wahrheit  näher 
liegen.  Die  Gränze  zAvischen  diesen  und  den  längern  poeti- 
schen Erzählungen  lässt  sich  freilich  nicht  scharf  ziehen,  und 
der  Ziisammenhang  muss  da  oft  entscheiden,  Avie  etwas  auf- 
gefasst  Averden  muss.  Am  meisten  reinhistorische  Wahrheit 
enthalten,  wie  leicht  einzusehen,  solche  Stellen,  avo  etAA^as 
gar  nicht  um  seiner  selbst  Avillen  ,  sondern  bloss  als  Neben- 
bestimmung für  etAvas  anderes  angeführt  AA'ird.  So  heisst  es  in 
den  Achaniern  501  folg. 

Und  Avas  ich  sage,  Avird,  Avenn  hart  auch,  Avahr  doch  isein  ; 
Denn  nicht,  Avie  sonst,  kann  heute  Kleon  mich  A^erschrein, 
Ich  AvoUe  die  Stadt  in  Gegenwart  der  Fremden  schmähn, 
Da  AV'ir  unter  uns  heut  sind  am  Feste  der  Lenä'n ; 
Noch  sind  ja  keine  Fremden  hier,  noch  kommen  ja 
Die  Tribute  nicht,  die  Bündner  nicht  von  fern  und  nah. 

A'i  scher.  Schriften  I.  31 


482  Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

Daraus  kann  man  mit  der  vollkommensten  Sicherheit  abneh- 
men, dass  das  Stück  an  den  Lenäen  gegeben  worden  ist.  und 
dass  zu  dieser  Zeit  die  Bundesgenossen  noch  nicht  in  Athen 
zu  sein  pflegten.  Denn  dies  ist  durchaus  uxw  angeführt,  um 
die  folgende  freie  Sprache,  welche  Dikaiopolis  im  Namen  des 
Dichters  führt,  gleich  von  vorne  herein  gegen  solche  An- 
schuldigungen sicher  zu  stellen .  was  ja  nicht  im  Mindesten 
geschähe ,  wenn  die  dafür  angeführten  Gründe  nicht  wahr 
wären;  vielmehr  wäre  dann  die  Behauptung  eine  Absurdität. 
—  Dasselbe  gilt  von  den  an  den  Wursthändler  gerichteten 
Worten  des  Demosthenes.   v.  230  folg. 

Nur  fürchte  dich  nicht;   er  (Kleon)  ist  ja  gar  nicht  portraitirt; 
Kein  Maskenmacher  -wollt  ,  aus  Furcht,  er  würde  dann 
Ihn  maltraitiren,   ihn  portraitiren.   — 

Daraus  geht  klar  hervor,  dass  der  Paphlagonier  Kleon) 
nicht  die  Portraitmaske  des  Kleon  trug ;  denn  sonst  wäre  dieser 
Grund,  warum  der  AVursthändler  sich  nicht  fürchten  solle, 
nichtig  und  durch  den  Augenschein  Aviderlegt  gewesen.  Und 
dass  die  Furcht  der  Maskenverfertiger  die  Ursache  Avar,  dürfen 
wir  dem  Dichter  wohl  glauben .  wiewohl  in  dieser  Beziehung 
eine  Abweichung  von  dem  Thatsächlichen  eher  möglich  wäre. 
V.  83  sagt  Xikias  bei  der  Berathung  mit  Demosthenes.  wie  sie 
sich  wohl  der  Tyrannei  des  Paphlagoniers    entziehen   können : 

O  Freund,  am  schönsten  ists,  wir  trinken  Ochsenblut, 
\Vie  Themistokles  zu  sterben,  das  sei  unsre  Wahl. 

Dies  zeigt  klar .  dass  damals  in  Athen  die  Meinung  ver- 
breitet war.  Themistokles  habe  sich  durch  Ochsenblut  den  Tod 
gegeben,  wie  das  bekanntlich  auch  von  anderen  Schriftstellern 
gemeldet  Avird.  Aehnhche  Beispiele  Hessen  sich  in  Menge  an- 
führen. Bisweilen  enthält  ein  einzelnes  Wort  eine  Anspielung, 
die  Licht  auf  historische  Verhältnisse  wirft.  In  den  Rittern 
v.   44  7,   wirft  der  Paphlagonier  dem  Wursthändler  vor: 

Von  den  Frevlern  stammst  du,  sag'  ich  aus. 
Die  mit  Blut  befleckt  der  Göttin  Haus. 

Diese  Frevler  ah.rr^oirji  tt^;  Oeou  sind  die  Alkmaioniden. 
von  denen  Thukydides  I.  126  sagt:  xal  a~o  routoo  sva-sT;  v.al 
aÄirr^pioi  tt^c  ilsoü  IxsTvoi  -t  ExaÄouvro  y.a't  to  '(i^^ot  -o  o.t.  sxst'vojv. 
Wir  ersehen  aber  daraus,  dass  zu  ihnen  zu  gehören  noch  da- 
mals als  Vorwurf  vorkam .    Avie  beim  Beginn  des  peloponnesi- 


L'eber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.         483 

sehen  Krieges  auch  die  Spartaner  durch  Erinnerung  an  diesen 
Frevel  den  Perikles  zu  stürzen  versucht  hatten. 

In  anderen  Fällen  mrd  dagegen  das  gelegentlich  erwähnte 
Ereigniss  schon  weiter  ausgemalt,  und  nähert  sich  mehr  den 
ersterwähnten  poetisch  ausgebildeten  Erzählungen.  Ein  hüb- 
sches Beispiel  dieser  Art  bietet  die  Lysistrate,  v.  387  folg.,  wo 
der  Probiile  spricht : 

Ist  endlich  jetzt  auch  klar  der  "Weiber  Uebermuth 

Und  Paukentaumel  und  Sabaziosschwärmerei 

Und  jenes  Adonisheulen  auf  den  Dächern  i'ings, 

Das  ich  ja  jüngst  selbst  in  der  Ekklesia  hab'  gehört? 

Da  rieth  der  Unglücksredner  Demostratos  zum  Zug 

Gen  Syrakus ;  di-ein  schrien  die  AVeiber  in  wildem  Tanz  : 

»Todt,  tüdt,  Adonis !«  Wieder  rieth  Demostratos, 

Die  Schwerbewaffneten  aufzubieten  auf  Zakynth; 

Und  wieder  die  A^t'eiber  trunken  auf  den  Dächern  rings  : 

»Klagt,  klagt  den  Adonis  1«  Endlich  überschi-ie  sie  doch. 

Der  Gottverhasste,  erzverworfne  RasetollI 

Das  haben  wir  von  deren  verwünschter  Singerei  I 

Hier  Avird  also  als  Beispiel  für  das  verderbliche  Treiben 
der  Frauen  angeführt,  dass  sie  die  Adonisfeier  begangen  hatten, 
an  dem  Tage,  als  Demostratos  in  der  Ekklesia  für  den  Zug 
nach  Sicilien  sprach.  Das  hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  es 
wirklich  so  statt  gehabt  hatte.  Plutarch  im  Alcib.  IS  und 
Nie.  12.  13  bestätigt  es  auch  vollkonanen.  und  namentlich  dass 
man  darin  ein  Unglückszeichen  sah.  — 

Doch  genug  der  Beispiele.  Es  ist  klar,  dass  in  solchen 
Erwähnungen  immer  etwas  Thatsächliches  enthalten  ist ,  das 
häufig  ohne  alle  poetische  Zuthat  erscheint,  oft  aber  mehr  oder 
weniger  zurücktritt  und  in  poetischer  Hülle  versteckt  ist.  Auch 
hier  gilt  im  Allgemeinen  der  oben  bei  den  Personen  aufge- 
stellte Satz,  dass  der  Dichter  die  Sachen  meist  Aon  der  komi- 
schen Seite  und  oft  mit  Uebertreibungen  darstellt;  femer.  dass 
nie  an  eine  kritische  Sichtung  der  Wahrheit  zu  denken  ist, 
sondern  aus  Gerüchten,  Stadtgeschwätzen,  Traditionen  aufge- 
nommen wurde,  was  eben  für  den  vorliegenden  Zweck  passte. 
Die  Gränze  zwischen  dem  rein  Thatsächlichen  und  der  dich- 
terischen Willkür  aufzufinden  ist  auch  hier  oft  sehr  schwer, 
ja  unmöglich,  doch  sieht  man  leicht,  dass  je  gleichgültiger 
eine  Sache  an  und  für  sich  ist,  je  weniger  sie  unmittelbar  mit 

31* 


484         Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie. 

dem  Z-weck  des  Komikers  zusammenhängt,  um  so  mehr  dieser 
der  historischen  Wahrheit  sich  angeschlossen  haben  wird, 
je  bedeutender  dagegen  dieselbe  für  sich  oder  durch  ihre 
Verbindung  mit  dem  ganzen  Zusammenhange  ist,  destomehr 
poetische  Freiheit  in  der  Behandlung  vorausgesetzt  werden 
muss.  Auch  hier  ist  im  Ganzen  der  Gebrauch  anderer  Quellen 
nicht  zu  entbehren,  wiewohl  in  manchen  Fällen  der  Dichter 
allein  genügt,   was  der  Zusammenhang  lehren  muss. 

Der  Wirklichkeit  am  nächsten  stehen  in  der  Komödie 
die  Parabasen  im  engem  Sinne  des  Wortes,  wo  der  Dichter 
in  seinem  eigenen  Namen  zu  dem  Publikum  spricht.  Was  in 
ihnen  gesagt  Avird,  muss  man  als  reell  vom  Standpunkte  des 
Dichters  aus  betrachten.  Das  heisst,  der  Dichter  handelt  da- 
rin von  seinen  Vorzügen,  von  seinen  ^'erdiensten  überhau])t, 
von  seinem  Verhältnisse  zum  Volke ,  in  der  für  ihn  vortheil- 
haftesten  Weise;  es  sind  gleichsam  poetische  Apologien  und 
Enkomien,  in  denen  er  gleich  dem  Kedner,  Alles  zu  seinem 
Vortheile  dreht  und  darstellt,  aber  doch  nie  sich  rein  dem 
Fluge  der  Phantasie  überlassen  darf  und  kann.  Es  wird  also 
hier  ungefähr  die  gleiche  Behutsamkeit  beim  Gebrauche  nöthig 
sein .  wie  bei  den  Rednern  und  ausserdem  noch  die  poetische 
Form  in  Anschlag  gebracht  werden  müssen. 

Wenn  die  aufgestellten  Grundsätze  richtig  sind,  so  Mird 
also  der  unmittelbare  historische  Gewinn,  der  aus  der  Komödie 
zii  ziehen  ist,  nicht  so  gross  sein,  als  er  Manchen  schei- 
nen mag.  Für  Beurtheilung  der  einzelnen  Charaktere  und  für 
Ausmittlung  einzelner  Thatsachen  müssen  wir  sie  für  eine  im 
Ganzen  unlautere  Quelle  erklären,  welche  nur  durch  V'erbin- 
dung  mit  andern  Nachrichten  und  auch  da  nicht  immer  ge- 
läutert Av erden  kann.  Weit  entfernt  aber,  damit  ihr  einen 
Vorwurf  zu  machen,  behaupten  war,  dass  das  in  ihrem  Wesen 
als  Poesie  liege ;  wer  ihr  mehr  historische  Bedeutung  geben 
wollte,  würde  sie  in  ihrem  Werthe  als  Poesie  herabsetzen.  Sie 
verliert  aber  auch  durch  unsere  Bestimmung  in  ihrem  Avahren 
historischen  Werthe  nicht.  Der  ist  nicht  darin  zu  suchen,  dass 
sie  uns  über  einzelne  Personen  und  Ereignisse  in  Gewissheit 
setze,  sondern  darin,  dass  sie  mehr  als  irgend  eine  andere 
Gattung  der  Literatur  ein  13ild  darbietet  des  inneren  Lebens 
und  Treibens    der   Zeit.     Wir    erhalten    es    freilich  von    seiner 


Ueber  die  Benutzung  der  alten  Komödie.         485 

■schwachen  und  lächerlichen  Seite ;  allein  sobald  "vvir  das  nicht 
vergessen,  können  Avir  uns,  besonders  in  Verbindung  mit  an- 
dern Schriftstellern,  auch  die  bessere  daraus  abnehmen  und 
selbst  aus  rein  unrichtigen  Darstellungen  wichtige  Eesultate 
gewinnen.  Vorausgesetzt  z.  B.  auch,  die  AngriiFe  auf  die  be- 
deutendsten Demagogen  und  Feldherren  wären  durchaus  \n\- 
gerecht ,  so  eröffnet  ims  doch  schon  der  Umstand ,  dass  man 
damals  Männeni .  die  an  der  Spitze  des  gemeinen  AVesens 
standen,  öffentlich  Schurkereien  aller  Art  vorwerfen  durfte, 
einen  weiten  J^lick.  Wo  das  geschehen  konnte,  da  war  das 
Vertrauen  zwischen  dem  Volke  und  seinen  Führern  tief  er- 
schüttert, und  das  zu  erkennen  all'^in  ist  ein  historischer  Ge- 
wann, weit  wichtiger  als  hundert  Einzelheiten.  Und  so  ist 
es  mit  einer  Reihe  anderer  Verhältnisse;  da.  wie  im  Eingange 
bemerkt,  der  Boden  der  Komödie  der  der  Wirklichkeit  ist.  da 
die  allgemeinen  Zustände  immer  so  weit  dieser  entsprechend 
geschildert  werden  mussten,  dass  die  Zuschauer  sich  darin 
fanden,  so  ist  die  Komödie  für  Sitten,  Gebräuche  und  Ein- 
richtungen aller  Art  eine  Avahre  geschichtliche  Fundgrube. 
Den  Hergang  in  den  Volksversammlungen,  das  Treiben  der 
Gerichtshöfe  und  der  Parteien,  die  Erziehung  des  athenischen 
Knaben,  die  Beschäftigungen  und  Vergnügungen  des  Jüng- 
lings, die  Bedürfnisse  und  Genüsse  des  A'olks.  die  Anordnung 
lind  den  Charakter  mancher  Feste,  mit  einem  Worte ,  das  in- 
nere Leben  Athen' s  lernt  man  aus  Aristophanes  und  aus  der 
alten  Komödie  überhaupt  besser  erkennen,  als  aus  den  Histo- 
rikern. In  dem  Smne  muss  sie  daher  benutzt  werden,  und 
wem  es  darum  zu  thun  ist,  das  geistreichste  Volk,  das  je 
existirt  hat,  in  seinem  täglichen  Treiben  zu  erforschen,  der 
muss  den  Aristophanes  studiren.  Vor  Missbrauch  und  Ueber- 
schätzung  werden  Thukydides  und  seine  Nachfolger  hüten;  und 
nehmen  wir  dazu  noch  Flaton,  so  dürfen  Avir  M'ohl  behaupten, 
dass  für  keine  Zeit  der  gesammten  Geschichte  so  herrliche 
Hülfsmittel  zur  Erforschung  des  Gesammtlebens  eines  A'olks 
vorhanden  sind,  als  für  jene  Periode  der  sinkenden  Grösse 
Athens.    — 


zu  ISOKEATES  PAXEGYßlCUS  §.  106. 

|i.£-a  fio  -a'jtr,;    sc.  -o'i.i-cdo.i,   oiy.oüvTc;  £,iociar,7.ov-'  ettj  o'.£T£X£aa(jL£v    Bekker 

oe  rpö;  3'fä;  'vt-JToy;.   £'.pT,vT,v  o'  a-fo-zTc;  rpo;  ravTa;  *vi)pojT:o'j;. 
Fhilologns  X,   1S55  p.   245—249.; 

VV  eiin  je  eine  Conjectur  glücklich  genannt  Aveiden  konnte, 
so  war  es  die  von  Bekker,  der  an  der  genannten  Stelle  otsri- 
ÄE3C/.V  anstatt  des  von  den  Handschriften  gegebenen  otsTeXsaa- 
ijLiV  schnei).  Damm  sind  denn  auch  alle  späteren  Herausgeber 
ihm  gefolgt,  bis  IJenseler  Avieder  zu  der  Lesart  der  Hand- 
schriften zurückgekehrt  ist.  Darüber  -wäre  freilich  bei  dem 
vielen  Sonderbaren .  das  seine  Ausgabe  enthält .  sich  nicht  zu 
verwundern;  da  aber  Rauchenstein  in  seiner  für  die  Schule 
bestimmten  Ausgabe  2.  ed.  IS 55  in  die  folgenden  Ausgaben 
hat  er  indessen  oiöTi/.ssav  aufgenommen  auffallender  Weise 
gefolgt  ist  und  sagt,  Benseier  habe  die  Lesart  aller  Hand- 
schriften scharfsinnig  wieder  in  ihr  Recht  eingesetzt,  lohnt 
es  sich  Avohl  der  Mühe,  die  Stelle  näher  zu  betrachten.  Benseier 
behauptet.  Avenn  i^oouTlxov:  i-r^  auf  die  Zeit  zAvischen  den  Perser- 
kriegen und  dem  Ende  des  peloponnesischen  bezogen  würde,  so 
wäre  das  die  grösste  Unwahrheit.  »Fällt  doch  in  jene  Zeit  der 
peioponnesische  Krieg  mit  allen  seinen  inneren  Aufständen  und 
äusseren  Greueln  und  blutigen  Kämpfen,  und  gleichwohl  soll 
Isokrates  gesagt  haben,  man  l  habe  in  dieser  Zeit  nichts  von 
inneren  Unruhen  geT\-usst  und  Friede  mit  aller  Welt  gehabt. 
Eine  solche  Behauptung  wäre  ganz  der  gleich,  wenn  ein  heu- 
tiger Redner  von  der  Zeit  von  1760  —  IS 50  dasselbe  behaupten 
wollte«  u.  s.  w.  Man  müsse  also  an  die  Zeit  z'o'ischen  der 
Aufhebung  des  zehnjährigen  Archontates  und  dem  Kylonischen 


' 


Zu    ISOKRATES    PaNEGYRICUS    §.106.  487 

Aufstand  denken,  Avie  schon  Monis  getlian,  auf  die  passe  dann 
die  Schilderung  vortrefflich.  —  Dass  mit  Beibehaltung  von  oiets- 
Äsaau-öv  die  70  Jahre  auf  jene  Zeit  der  attischen  Hegemonie 
nicht  bezogen  werden  können,  ist  vollkommen  richtig.  Sehen 
wir  aber  zu,  ob  die  70  Jahre  von  Abschaffung  des  zehnjähri- 
gen Archontats  bis  auf  Kylons  Zeit  passen.  Ich  will  dabei 
die  Möglichkeit  zugeben,  dass  Isokrates  hier  eine  Schilderung 
der  attischen  Verfassung  beabsichtige,  obwohl  jeder  Leser  viel- 
mehr eine  des  Zustandes  der  Bundesgenossen  erAvartet,  und 
unstreitig  die  A'ertheidigung  des  athenischen  Verfahrens  viel 
bündiger  ist,  wenn  der  Zustand  der  Bundesgenossen  unter  der 
gegebenen  Verfassung  ein  gedeihlicher  war,  als  Avenn  Athen 
selbst  sich  einmal  bei  dieser  Verfassung  glücklich  befand. 

Die  Verfassung,  Avelche  Athen  bei  den  Bundesgenossen 
einführte,  Avar  die  Demokratie,  das  sagt  Isokrates  selbst  deut- 
lich, und  es  ist  anderAvärts  her  bekannt  genug,  die,  Avelche  in 
jenen  70  Jahren  683  —  612;  in  Athen  bestand,  Avar  eine 
Oligarchie,  und  ZAvar  eine  strenge.  Hauchenstein  sagt  freilich, 
es  sei  keine  reine  Oligarchie,  sondern  eine  aus  aristokratischen 
und  demokratischen  Elementen  gemischte  TzoXizeia  gcAvesen  vmd 
beruft  sich  auf  Schömann's  Verfassungsgeschichte  Athens 
S.  30  ff.,  Avo  aber  nichts  derartiges  steht.  Wer  es  noch  nö- 
thig  findet,  vergleiche  dagegen  Schömann  antiqu.  jur.  publ. 
Graec.  p.  169  oder  Hermann  Staatsalterthümer  §  102.  Ben- 
seier hilft  sich  etAvas  anders.  Wenn  es  auch  nicht  eine  De- 
mokratie Avirklich  Avar,  so  soll  doch  Isokrates  sie  in  der  Art 
aufgefasst  haben;  doch  hören  wir  ihn  selbst:  »Man  hat  dieser 
Erklärung  erstens  entgegengesetzt,  dass  dies  ja  eine  viel  zu 
vmbekannte  Zeit  sei,  als  dass  die  Leser  daran  hätten  denken 
können,  und  dass  damals  mehr  eine  Aristokratie  unter  den 
neun  Archonten  Thuc.  I,  126,  als  Demokratie  in  Athen  ge- 
herrscht habe.  Allein  Isokrates  hat  gerade  diese  Zeit 
offenbar  auch  anderAvärts  gelobt,  als  die  der  glücklichsten  Ver- 
fassung, aus  Avelcher  ein  Aristeides,  Themistokles  und  Miltiades 
hervorgingen,  üb.  Fried.  §  75,  avo  die  Wahl  der  Obrigkeiten 
noch  die  Besten  traf,  die  ZAvar  nach  Demokratie  strebten,  aber 
dabei  die  alte  monarchische  und  aristokratische  Fürsorge  für 
das  Volk  beibehielten.  Panathen.  139  u.  ff.«  Das  ist  grund- 
falsch.     In   der   Rede   über    den   Frieden   stellt   Isokrates    der 


4S8  Zu    ISOKRATES    PaXEGYRICUS    §.     106. 

Zeit  der  attischen  Thalassokratie  die  Zeit  vor  derselben  ent- 
gegen, also  die  Zeit  vor  den  Perserkriegen  und  zwar,  da 
Miltiades ,  Aristeides .  Tliemistokles  aus  ihr*,  hervorgingen, 
hauptsächlich  die  Zeit  vor  den  Perserkriegen ,  jedenfalls 
nicht  gerade  die  Zeit  der  7 0  Jahre  zwischen  Abschaffung 
des  zehnjährigen  Archontats  und  Kylon.  A'ielmehr  liegt  da- 
zwischen mehr  als  ein  Jahrhundert ,  und  zwar  das  für  die 
Yerfassungsentwicklung  wichtigste  Jahrhundert  der  Gesetz- 
gebung Solons,  der  Tyrannis  des  Peisistratos  und  Hippias  und 
der  Verfassung  des  Kleisthenes.  Aber  im  Panathenaikos ? 
Benseier  fährt  fort:  »Nun  gibt  er  ihr  zwar  Panath.  §  148, 
wo  er  sie  vom  Sturze  des  Königthums  1132  nach  Larcher 
bis  Solons  Gesetzgebung  (594  bestimmt  1000  Jahre;  allein 
hier,  wo  er  die  Zeit  der  schon  etwas  mehr  ausgebildeten  De- 
mokratie (mit  einjähngen  Archonten)  ins  Auge  fasst  ( ? ,  und 
die  Zeit  der  Peisistratiden  abrechnet,  waren  eben  nur  70  Jahre 
anzunehmen.'!  Man  traut  hier  seinen  Augen  kaum.  Aon 
1132  —  594  sollen  1000  Jahre  sein,  imd  von  der  Zeit  bis  Solon 
soll  die  spätere  Zeit  der  Peisistratiden  abgerechnet  sein !  und 
von  der  tausendjährigen  Demokratie  wird  der  Uebergang  zu 
den  70  Jahren  der  schon  etwas  ausgebildeten  Demokratie  mit 
bewundeniswerther  Naivetät  gemacht,  iim  zvi  zeigen,  dass  es 
gerade  dieselbe  Zeit  ist.  Wer  ohne  Voruitheil  die  Sache  an- 
sieht, wird  freilich  leicht  erkennen,  dass  Isokrates  im  Pan- 
athenaikos  die  ganze  Zeit  vor  der  Tyramiis  des  Peisistratos  als 
Demokratie  ansieht  nach  emer  den  Athenern  geläufigen  Fiktion, 
dass  These  US  der  Gründer  derselben  sei,  §  129  -r^v  [ih  tto/.'.v 
(u;  ki';=.~ai  oioixslv  -(o  -Är^üci  rapsotuxcv.  Auch  so  freilich  erge- 
ben sich  nach  der  uns  überlieferten  Chronologie  noch  lange 
nicht  tausend  Jahre.  Will  man  diese  nicht  als  eine  ganz  un- 
genaue runde  Zahl  fassen,  so  muss  man  annehmen,  dass  Iso- 
krates auch  die  Königszeit  vor  Theseus  i;  ,  die  er  ja  als  Vor- 
bereitung und  Grundlage  der  spätem  Entwicklung  betrachtet, 
mitgerechnet  habe.  Also  die  ganze  Zeit  vor  Peisistratos  hat 
er  als  eine  glückliche,  gesetzliche  geschildert.  Das  ist  freilich 
historisch  nicht  richtig,  aber  vom  rhetorischen  Standpunkt  aus 


1)  [Nach  der  alexandrinischen   Chronologie   fällt   Kekrops  1-5.57,  Peisi- 
stratos in  das  Archontat  des  Komias  =  560.^ 


Zu    ISOKRATES    PanEGYRICUS    §.106.  489 

ZU   begreifen.      Es    bildet    diese   ganze    Zeit    einen   Gegensatz 
sowohl  zur  Tyrannis,    als  zur  späteren   schrankenlosen  Demo- 
kratie.    Aber  ganz  unstatthaft  ist  es,    aus   dieser  langen,    ge- 
nauer historischer  Betrachtung  ziemlich  entzogenen  Zeit,    nun 
willkürlich  einen  Zeitraum  von  70  Jahren  herauszuheben,   den 
man  überdies  durchaus  nicht  als  den  schon  etwas   ausgebilde- 
terer Demokratie    betrachten    kann,    der  nicht   einmal   einem 
Rhetor  Anlass  geben   konnte,    ihn  so    darzustellen.     Vielmehr 
ist  es  gerade  die  Zeit  der  härtesten  Oligarchie,   als  deren  Folge 
die  Drakonische    Gesetzgebung   und    der   Kylonische  Aufstand 
sich   ergeben.      Nie   und   nimmer    konnte   der   Redner   gerade 
diese  Zeit  im  Gegensatz  zu  früherer  oder   späterer  als  die  be- 
zeichnen,  deren  ^'erfassung  Athen  bei  den  Kundesgenossen  vor 
Augen  gehabt.     Selbst  aber  vorausgesetzt,   es  könnte  die  \ei-- 
fassung    dieser    Zeit   vorzugsweise    als   Demokratie    bezeichnet 
werden,   -wie  unpassend  Aväre  es  zu  sagen :   wir  haben  den  Bun- 
desgenossen   eine    Verfassung   gegeben,    deren    VortrefFlichkeit 
wir   an   uns    selbst   erprobt    haben.      Denn   wir   haben    einmal 
anderthalb  Jahrhunderte,   bevor  wir  sie  bei  den  Bundesgenossen 
eingeführt,    70  Jahre    lang    glücklich    unter    ihr    gelebt!     Die 
Frage  läge  auf  der  Hand,    warum  denn  die  Athener  sie  dann 
nicht  bei  sich  selbst  behalten,    oder   falls   jemand   trotz  Solon 
und   Kleisthenes    die    spätere    als   dieselbe    betrachten   wollte, 
warum  sie    denn   später   nicht   mehr    dieselben   Folgen   gehabt 
habe  ?     Und   welcher    Leser    hätte    je    errathen    können ,    dass 
Isokrates  eine  so  obscure  Zeit,   die  nie  und  nirgends  sonst  als 
eine    abgeschlossene  ^    ein    Ganzes    bildende    Periode    erwähnt 
wird .   gemeint  habe !     Diese  Sch\A  ierigkeit   hat   Benseier   zwar 
berührt,   aber  auch  nicht  im  Geringsten  entfernt. 

Endlich  aber  passen  auch  die  Worte  aTreipoi  -  ävi)p(u7:ou; 
gar  nicht.  Denn  was  soll  bei  Athen  und  zwar  bei  Athen  im 
siebenten  Jahrhundert  e^^suOspoi  irpo;  touc  ßapßapouc?  In  einer 
Zeit,  wo  von  Angriifen  der  Barbaren  auf  Griechenland  noch 
die  Rede  gar  nicht  war,  wo  das  Perserreich  noch  nicht 
existirte,  und  wie  kann  das  vernünftiger  Weise  als  ein  Vorzug 
jener  Verfassung  gepriesen  werden?  Denn  darauf  kommt  es 
an.  Benseier  sagt  freilich,  die  Stelle  enthalte  einen  Seiten- 
blick auf  die  nachfolgenden  Zeiten,  wo  Persien  für  Hellas  die 
Ursache  mannichfaltiger  Beunruhigung  wurde   und  später  eine 


490  Zu    ISOKRATES   PaNEGYRICUS    §.     106. 

Art  indirecter  Abhängigkeit  eintrat!  Auch  dataata^Toi  -po; 
a'ia;  auioii;  ist  keinesAvegs  von  dieser  Zeit  wahr.  Denn  so 
wenig  uns  auch  das  Einzelne  bekannt  ist,  so  wissen  wir  doch, 
dass  die  Drakonische  Verfassung  xind  der  Kylonische  Aufstand 
mit  vorhergegangenen  inneren  Zwisten  zusammenhingen,  und 
dass  die  3-7.331; ,  die  zwischen  Kylon  und  Solon  entstanden, 
schon  früher  existirt  hatten,  sagt  ganz  bestimmt  Phitarch, 
Solon   13. 

Jene  Zeit  kann  also  unmöglich  gemeint  sein .  und  wir 
Averden  nothwendig  auf  die  ungefähr  70  Jahre  der  attischen 
Hegemonie  geführt,  als  den  einzigen  ein  geschichtliches  Ganze 
bildenden  Zeitraum  von  diesem  Umfange,  dass  dann  nicht 
0'.cTsÄS37.jjLcv  gelesen  werden  kann,  ist  unbestritten,  das  ergäbe 
einen  selbst  bei  dem  kecksten  Redner  nicht  zu  ertragenden 
Widerspruch  mit  der  Wahrheit.  Es  fragt  sich  also  nur,  ob 
bei  oi£T£A£3'av  die  »Schwierigkeiten  wegfallen  und  die  Schilde- 
rung a-£tpa-avUp(ju-ou;  erträglich  wird.  Dabei  dürfen  wir  na- 
türlich nicht  den  streng  historischen,  sondern  den  oratorischen 
Maassstab  anlegen,  und  dass  Isokrates  nicht  eben  scnipulös  ist, 
ist  bekannt  genug.  Um  aber  auch  oratorisch  erträglich  zu 
sein,  muss  die  Darstellung  doch  eine  gewisse  Grundlage  haben, 
die  man  durch  Uebertreiben  des  einen,  Verschweigen  des  an- 
deren und  einseitige  Auffassung  sich  beliebig  zurecht  macht, 
und  das  ist  hier  der  Fall.  Tyrannen  hatten  die  Bundes- 
genossen unter  Athens  Herrschaft  gar  keine,  das  ist  streng 
historisch  wahr,  kurz  vorher  Avaren  sie  fast  alle  unter  solchen 
gcAvesen.  Frei  gegenüber  den  Barbaren  Avaren  sie  auch,  vorher 
und  bald  nachher  Avaren  sie  zum  grossen  Theil  Unterthanen 
der  Perser:  a3Ta3ia3to'.  roo:  3'ia;  auTO'J;  ist  ZAvar  nicht  streng 
historisch  richtig,  aber  doch  nicht  mehr,  als  ein  etwas  hyper- 
bolischer Ausdruck.  Bis  zum  Jahre  412.  dem  Ausgange  des 
sicilischen  Krieges,  waren  die  l^)undesgenossen  unter  attischer 
Hegemonie  ruhiger  in  ihrem  Innern,  als  kaum  sonst  je.  ihr 
Zustand  erscheint  besonders  ruhig,  wenn  man  ihn  mit  dem 
etwas  späteren  vergleicht,  wo  während  Spartas  Herrschaft 
Greuel  aller  Art  die  Städte  A'erödeten.  Dass  Isokrates  es  so 
ansah ,  Avorauf  es  denn  doch  ankommt ,  beweisen  deutlich  die 
§  102.  103,  wo  dass  Gedeihen  der  Bundesgenossen  unter  Athen 
gepriesen  Avird.     Und  ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  £i&T]vr;v 


Zu    ISOKRATES   PaNEGYRICUS    §.     106.  491 

a-j-ov-sc  ■TTpo;  T.ävTac  av&ptu-oo;.  In  den  früheren  Jahrhunderten 
waren  die  asiatischen  Städte  iinaufliörlich  von  Lydern  und 
Persern  bekriegt  und  unterjocht  worden,  von  den  Kriegen 
unter  ihnen  selbst  zu  schweigen.  Seit  Athen  die  Hegemonie 
übernommen  hatte,  war  das  anders  geworden.  Sein  mächtiger 
Schutz  gab  ihnen  Sicherheit  gegen  äussere  Feinde,  hinderte 
Fehden  unter  ihnen  selbst.  Athen  selbst  führte  freilich  viele 
Kriege;  aber  diese  berührten  die  Bundesgenossen  sehr  wenig, 
am  wenigsten  gerade  die  cpopou  utiotöAsI?,  die  durch  ihre  Tribut- 
zahlungen in  der  Regel  von  weiteren  Leistungen  frei  waren, 
und  deren  Gebiet  bis  zu  dem  genannten  Jahre  4 1 2  vom  Kriege 
mit  geringen  Ausnahmen  ganz  vc-schont  blieb. 

So  ist  also  die  Lesart  otsTöXsaafj-sv  unbedingt  zu  verwerfen, 
dagegen  öisriÄs-av  aufzunehmen,  bei  der  Alles  aufs  Beste  zu- 
sammenpasst. 


zu  POLYB.  Y.  94. 

[Philologus  II,   1S47.     S.  46'.»— 472.] 

To  TouTov  uTToaTpa-T, "("ov  sTvoct  Tore  TTj;  auvTEAsiac  tt,  c 
ra-pr/Y):.  Casaubonus  übersetzt  das:  tnercenarios  vero  Lyco 
Phare?isi  commendat.  qtila  is  pro  praetore  tunc  ditioni  praeerat, 
patriae  ipsius  contrihutae.  Ebenso  hat  Reiske  einen  Unterfeld- 
herm  der  einzelnen  Stadt  Pharai  verstanden.  K.  F.  Hermann 
Staatsalterth.  §  1S6.  10.  dagegen  vermnthet  mit  Rücksicht  auf 
Polyb.  W.  59.  "vvo  ein  uroarpotTTjYo;  tu)v  'A/aiiuv  genannt  wird, 
es  seien  unter  sovriÄeia  raTpi/rj  die  ursprüngUchen  Achaier  im 
engeren  Sinne  im  Gegensatz  des  ganzen  l^undes  zu  verstehen. 
—  Mich  befriedigt  keine  dieser  Erklärungen.  Bei  der  ersten 
wäre  TrarpixT^c  in  einer  ganz  ungewöhnlichen  Bedeutung,  weni- 
ger bei  der  von  Hermann  vorgeschlagenen,  doch  bleibt  der 
Ausdruck  zum  mindesten  sehr  dunkel.  Versuchen  wir  daher 
eine  andere.  Zuerst  ist  zu  bestimmen,  Avas  ouvriÄsia  hier  ist. 
2uv7c)>£Tc  heissen  solche  Personen  oder  Staaten,  die  gemeinsam 
gewisse  Steuern.  Beiträge  bezahlen.  auvTsÄsia  bezeichnet  theils 
die  Handlung  des  3'jvtsasiv  'Haii^okration  auvTöXsT;).  theils  und 
zwar  gewöhnlich  die  zu  einem  solchen  gemeinsamen  Zahlen 
zusammengetretenen  Personen  oder  Gemeinden,  besonders  be- 
kannt sind  die  zin-  Trierarchie  in  Athen  gebildeten  Spitelien. 
Al>er  auch  bei  den  attischen  Bundesgenossen  kommt  der  Aus- 
druck 3'jv-sAsT;  bereits  vor.  Boeckh  Staatshaushalt  I  S.  445. 
Ob  das  Substantiv  auvriXsia  von  ihnen  gebraucht  wurde 
in  dem  Sinne  einer  Steuergenossenschaft;  ist  nicht  nachzu- 
weisen,  aber  sehr  wahrscheinlich,    da    das  Wort   von    anderen 


Zu  POLYB.  Y,   94.  493 

Genossenschaften  und  ^'ersaminlungen  öfters  vorkommt.    Später 
ist  der  Gebrauch    häufig   und   zwar    so,    dass   nicht   mehr    der 
Begriif  des   gemeinsamen  Zahlens    ausschUesslich    darin    liegt, 
sondern  der  der  politischen  Zusammengehörigkeit  überhaupt,  dass 
es  also  einen  Bezirk,    ein  Gebiet   einer    Bundesgenossenschaft 
bezeichnet,    wie  die  Verba  -tXzh   und    auvTsXcIv  iic   »wozu    ge- 
hören« heissen.     So  Plutarch  compar.  Phil.  etFlam.  l.  <I)iXo7roi- 
[xr^v  oe  TTj?    Traxpiooc    Si    opyr^v   acpsiXsTo  tt,v  -öptoixioa   aüVTeXsiav, 
womit  zu  vergleichen  Philop.   13.   sx  ok  toutou  7rapop(U|X£voc  utco 
-a)v  ^oAiTu)v  b  <I>iXo7roiaTjV   a-h■:r^oz  TroXXac   täv  TTspioixiotov  xtuiiÄv 
Xs-j-siv  oioa^a?  «)c  ou  auvstiXouv  ouo    Vjoav    i?    ^p/J(?    sxiivaiv.     Es 
bezeichnet   also    hier    das    mit    Megalopolis    ein    Gemeinwesen 
bildende  Gebiet,   ohne  dass  sich  entscheiden  Hesse,   ob  dasselbe 
unterthänig  gewesen  (wie  üroysen  Hellenismus  II  S.  464  meint) 
oder    nicht.     Ferner    Pausan.  VII,    15,    2    acpiivai  xsXeutuv    tt;? 
-poc  ocpa?    (tou?  'A/aiouc)    ouvTsXst'ac  Aaxsoaiixovi'ouc    er   hiess    sie 
die  Lakedaimonier  aus  dem  achaiischen  Bunde  entlassen,  vgl. 
denselben    YII,    15,    2  'HpcxxXciav    ok  Trpoc£xai>r,vTo    TroXiopxouvxe? 
ou  ,3ouXo[ji£vouc  U    -0  'Ayaixbv    auvTcXsTv.     So  wird  nun  auch  an 
unserer  Stelle  auvTsXcia  die  Bedeutung  einer  solchen  poUtischen 
Gemeinschaft    eines    zusammengehörigen   Gebiets    im    engeren 
oder  Aveiteren  Sinne  haben.    Nun  glaube  ich  aber,   dass  auvis- 
Xcict  rarpixT  ebenso  wenig    das    dem  Vaterlande  jemandes    an- 
gehörige    Gebiet    bezeichnen    könne,     als     dass    darunter    die 
ursprüngliche    auf    Achaia    beschränkte    Eidgenossenschaft   im 
Gegensatz  zu   den    ausserachaiischen  Orten   gemeint    sei,    und 
ich  weiss  mit  dem  Adjectiv  -a-pixr]  nichts  anzufangen,   dagegen 
scheint  mir  sehr  nahe  zu  liegen  statt  Trarpixr)?  zu  lesen  IlaTpi.- 
xT,c  oder  riaTpaixr,:,  des  Bezirks  von  Patrai.    Die  Adjectivfonn 
naxpixo;  oder  Ila-paixoc  von  Ilatpai  ist  mir  zwar  sonst  nirgends 
her  bekannt,    allein    die    eine  wie  die  andere  ist  ganz  sprach- 
richtig.   Die  Einwohner  von  Patrai  heissen  geAvöhnlich  natpelc, 
ionisch  riatpssc,  so  bei  Herodot,   Thukydides,    Strabo,   Pausa- 
sanias  u.  a.  auch  auf  einer  Inschrift  C.  I.   G.   SSO,  bei  Poly- 
bios  scheinen  die  Formen  riarpsTc   (II,  41  u.  a.j   und  naipaisT? 
IV.    6.  9.  25  u.  a.)   ganz  ohne  Unterschied  gebraucht  zu  sein, 
letzteres  analog  der  Form  (I)apai5T?  von  Octpai.    Auf  einer  lako- 
nischen Inschrift  C.  I.  G.  133S  finden  wir  den  Genetiv  Pluralis 
riaToaiojv  von  Ila-oaToc    weniger  richtig  wäre  wohl  es  als  con- 


494  Zu  POLYB.   V,    94. 

trahirten  Genetiv  statt  üarpaisojv  zu  nehmen,  "wie  Xa/.SKJuv  statt 
XaXai2£(üv  C.  I.  G.  I,  1567.  Ahrens  de  dial.  dor.  p.  237). 
Also  ist  sowohl  das  Adjectiv  riarpiy.o;  als  Unxpo.iY.oc  richtig 
gebildet,  mit  ersterem  vergleiche  man  unter  andern  FlaTapa 
IlaTapEuc  OaTapixo; .  Tavaypa  Tavayp'j'.to;  Tavayptxd; .  f-aÄaopai 
FaXctopaTo;  FoiÄaopiy.o?  bei  Steph.  ]>yz..  mit  ITaTpoiixo;  wäre 
unter  andern  Oapal'xoc  Strabo  VIII  p.  3SS  C.  <:)y),3a'..  0rj,3aixoc 
zusammenzustellen.  Die  3uvT£X£t7.  Oa-pixT]  oder  narpatxr^  wäre 
nun  also  das  Gebiet,  das  mit  Patrai  einen  Bezirk,  sei  es  zur 
zur  Entrichtung  von  Steuern,  sei  es  zu  sonstigen  politischen 
Zwecken  bildete.  Was  Avar  das  nun  aber  für  ein  Bezirk? 
Hier  bietet  sich  uns  zunächst  eine  andere  Stelle  aus  l^olyb. 
XXXIX,  9.  4  dar.  IlaTpsT;  Zk  xoti  ~o  asroi  toütojv  3'jvt=Ä'.xov  '^irjo.yti 
'/Jjö''i<^  -poTSpov  i-xo.i/.ti  xara  -t,v  (l>a)x''o7..  üazu  sagt  Droysen 
Geschichte  des  Hellenismus  II  S.  447  n.  S4  :  »Das  Fragment  des 
Polybios  XXXIX.  9.  4  sagt  die  naTpsT;  xat  to  |x3T7.  toutcov  j-jvtc- 
Xixov  hätten  in  Phokis  eine  X'iederlage  erlitten  und  Pausanias 
VII.  15.  5,  der  hier  sonst  dem  Polybios  folgt,  giebt  an.  Arkadier 
seien  es  gewesen.  Man  könnte  daraus  folgern  wollen,  dass 
die  zehn  (zwölfy  achaiischen  Städte  die  Gmudlage  der  A'er- 
fassung  geblieben,  und  die  zukommenden  Orte  diesen  zuge- 
wiesen seien,  dass  die  Repräsentation,  die  Abstimmung,  die 
Verwaltung  u.  s.  w.  nach  diesem  Schema  gehandhabt  worden 
sei.  Aeluiliche  "N'erfassungsformen  in  ganz  fremden  Zeiten 
können  nichts  beweisen.  Sie  ist  für  die  Eidgenossenschaft 
gewiss  nicht  vorhanden  gewesen,  das  beweisen  die  Münzstädte 
und  vieles  andere.«  Dieser  von  Droysen  also  selbst  verworfene 
Gedanke  verdient  um  so  weniger  Beachtung  als  durchaus  nicht 
erhellt,  dass  Pausanias  mit  seinen  1000  auserwählten  Arkadiem 
dieselben  Leute  meine,  die  Polybios  mit  dem  s'jvts/.ixov  der 
Patraier  bezeichnet.  Sehen  wir  uns  also  nach  einer  anderen 
Erkhirung  um.  so  könnte  man  zunächst  bloss  an  das  eigent- 
liche Gebiet  von  Patrai  denken  und  unter  dem  auvzEÄixov  die 
Truppen  aus  den  Landstädten  und  Dörfern  verstehen,  besonders 
wenn  man  sich  an  Pausanias  ^TI,  IS.  6  erinnert.  Er  erzählt 
daselbst,  dass  die  Patraier  im  gallischen  Kriege  den  Aitoleni 
allein  Hülfe  geleistet  und  durch  den  Krieg  bedeutend  gelitten 
hätten.  Darum  hätten  sie  zum  grossen  Theil  Patrai  verlassen 
und  sich  in  den   umliegenden  Landstädtchen    des   patraiischen 


Zu  POLYB.    V.    94.  495 

Gebiets,  in  Mesatis,  Antheia.  Boline.  Argyra  und  Arba  nieder- 
gelassen. An  dieses  Gebiet  liesse  sich  also  denken,  da  in- 
dessen die  Bewohner  dieser  Orte  gewiss  alle  wirkliche  Bürger 
von  Patrai  blieben,  so  zweifle  ich,  dass  Polybios  sie  den  Ila- 
TpcT;  als  -0  [XcTol  -outu)v  auvTöÄixov  entgegengesetzt  hätte. 

Daher  ist  mir  wahrscheinlicher,  dass  die  auvTsÄsio-.  von 
Patrai  nicht  nur  das  Gebiet  dieser  Stadt  bezeichne .  sondern 
einen  grösseren  Strich  des  achaiischen  Landes,  nämlich  den 
westKchen  Theil  des  eigentlichen  Achaia.  der  ausser  dem  Ge- 
biete von  Patrai  auch  noch  das  von  Pharai.  Tritaia  und  Dyme 
in  sich  fasste.  Diese  vier  Städte  Avaren  durch  ihre  Lage  auf 
ein  enges  Zusammenhalten  gewiesen,  sie  sind  es.  die  zuerst  in 
einen  ]]und  traten,  daher  keine  .Säule  ihren  Beitritt  zum 
achaiischen  Bunde  bezeugte,  sie  bildeten  vielmehr  den  kleinen 
Kern,  an  den  allmählich  die  andern  Städte  sich  anschlössen. 
Polyb.  IL  41.  Sie  waren  im  Kriege,  besonders  Avährend  des 
Bundesgenossenkriegs,  den  Angriffen  der  Feinde  von  Elis  und 
Aitolien  her  vorzugsweise  ausgesetzt.  Daher  sehen  wir  einmal 
die  Dymeer,  Tritaier  und  Pharaier  beschliessen :  su  zy.;  tj,lv 
y.oiva;  iic^opac  ~olc  W.yj.'.ol:  ixt)  tsÄsTv,  loia  os  a'jarrsaailai  uisiio- 
cpdpou;.  Polyb.  IV,  60.  Etwas  später,  Y,  30,  erzählt  derselbe 
Schriftsteller,  wie  das  Gebiet  von  Patrai.  Dyme.  Pharai  ver- 
wüstet wird  und  daher  die  Städte  ihre  Bundesabgaben  schlecht 
zahlen.  Augustus  endlich,  der  die  Stadt  Patrai  zur  römischen 
Colonie  machte,  theilte  ihr  die  Städte  Dyme,  Pharai.  Tritaia 
zu,  was  auf  einen  früheren  engeren  ^  erband  zu  weisen  scheint, 
Pausan.  VII,  17,  5.  22.  1.  6.  Nicht  unAvahrscheinlich  ist  es 
daher,  dass  diese  Städte  auch  während  der  Existenz  des  Bundes 
einen  Bezirk  für  administrative  und  militärische  Zwecke  1)il- 
deten,  der  nach  der  bedeutendsten  Stadt  benannt  war.  und 
dass  diesem  Bezirke  ein  L'nterfeldherr  vorstand.  Möglich,  dass 
der  ganze  Bund  in  eine  Anzahl  solcher  juvtsÄiiai  eingetheilt 
war,  denen,  als  Militärbezirken  u-o:j~oa.~r'(o<.  vorgesetzt  waren. 
Das  }ji£-7.  Twv  narpstov  j'jvtsÄ'.v.ov  würde  dann  die  Truppen 
aus  den  Städten  bezeichnen ,  die  ausser  Patrai  zur  Syntelie 
gehörten . 

Dass  Polyb.  IV.  50  ein  üro^TpctrrjYoc  röjv  A/aiaiv  erwähnt 
wird,  scheint  mir  kein  Hinderniss  für  die  aufgestellte  Ansicht, 
da  aus  der  Stelle  nicht  hervorgeht,   dass  es  nur  einen  0-0-7^7'- 


496  Zu   POLYB.    V,    94. 

ttjYoc  gab.  Der  einem  einzelnen  Bezirke  vorgesetzte  u-03Tpa- 
'Yioc,  war  nichts  desto  weniger  auch  uTroaTpa-r^Yo;  xuiv  'A/aiuiv. 
Die  Worte  lauten:  o  ok  Mi'xxo;  o  AujxaTo;  'o3-£p  Ituy/^-vs  xat 
szöivou?  Tou;  xaipouc  u-oaTparr^YO?  u)v  töjv  'A)^aiu)v.  Ganz  ähnlich 
sagt  Thukydides  IV,  66 :  touc  ~u)v  'A^r^vai'wv  3Tplx^rr^yJ6c,  \--o- 
xpaTTjV  TS  Tov  'Apicppovo;  xai  Atj}xo3i>£vt,v  tov  AXxi3i>£vo'Jc,  obgleich 
es  nicht  nur  zwei  sondern  zehn  Strategen  gab. 


DIE  OLIGAßCHISCHE  UMWÄLZUNG  ZU  ATHEN 

am  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  und  das  Arcliontat  des 

Eukleides. 

Nach  dm  Quellen  dargestellt  von   Karl  Friedrich   Scheibe.  —  Leipzig 
T.   O.    Weigel.     1S41.     IX  und  169  S.  8. 

[Zeitschrift  für  Alterthumswissensch.     1844.     n.    127.   128.     8.1009-1020.] 

Die  Ereignisse  in  den  letzten  Jahren  des  peloponnesischen 
Krieges,  welche  für  die  Geschichte  Athens  und  ganz  Griechen- 
lands so  ausserordentliche  Bedeutung  hahen,  sind  bekanntlich 
vielfach  in  Dunkel  gehüllt.  Die  Ursachen  sind  doppelter  Art, 
theils  in  dem  Gange  der  Dinge  selbst,  theils  in  der  Beschaf- 
fenheit der  Quellen  begründet.  Mehr  als  in  den  früheren  Zei- 
ten zieht  sich  die  Leitung  der  Geschäfte  von  der  demokrati- 
schen Oeffentlichkeit  zurück  in  den  geheimen  Kreis  der  oli- 
garcliischen  Clubs,  die  von  Lysandros  geschützt  imd  geleitet 
ihr  Netz  über  ganz  Griechenland  ausbreiteten.  Die  Fäden  der 
Verschwörungen  und  Intriguen  bleiben  auch  dem  nicht  einge- 
weihten Zeitgenossen  vielfach  verborgen.  Die  Quellen,  obwohl 
an  Zahl  nicht  unansehnlich,  bleiben  daher  häufig  schon  wegen 
dieser  Beschaffenheit  des  Stoffes  ungenügend,  nicht  minder 
durch  die  Stellung  und  den  Charakter  ihrer  Verfasser.  Weder 
Kritias  noch  Theramenes,  weder  Lysandros  noch  Agis  haben 
uns  Memoiren  hinterlassen.  Xenophon,  der  ohne  Zweifel  mehr 
hätte  sagen  können,  geht  mit  sichtUchem  Unbehagen  so  kurz 
als  möglich  über  die  inneren  Verhältnisse  der  Zeit  weg,  wo 
die  feingebildeten  philosophischen  Oligarchen  durch  Gift  und 
Verbannung  ein  aristokratisches  Staatsideal  erstrebten.     Lysias, 

Vischer,  Schriften  I.  ^2 


498  I^IE    OLIGARCHISCHE    UMWÄLZUNG    IN    AtHEN. 

bei  aller  Reichhaltigkeit  seiner  Nachrichten,  ist  doch  durch- 
aus Parteiadvocat ,  ebenso  Isokrates,  und  noch  weniger  genau 
nimmt  es  Andokides  mit  der  Wahrheit.  Die  Andeutungen  des 
Aristophanes  mit  den  Erläuterungen  der  Scholiasten,  die  einzel- 
nen Notizen  bei  den  späteren  Rednern,  bei  den  Lexicographen 
und  Grammatikern,  die  Dialoge  Piatons,  endlich  die  späteren 
Historiker,  namentlich  Diodor  und  Plutarch ,  helfen  uns  zwar 
im  Allgemeinen  ein  Bild  der  Zeit  gewinnen,  aber  Widersprüche 
und  Lücken  bleiben  \iele,  und  erregen  immer  von  Neuem  das 
Bedauern,  dass  dem  Meister  der  alten  Historiographie  nicht 
beschieden  war,  sein  Ziel  zu  erreichen.  Es  ist  daher  sehr  er- 
freulich, dass  in  der  neuesten  Zeit  mehrfache  Versuche  ge- 
macht worden  sind,  jene  Periode  aufzuhellen  und  unter  diesen 
verdient  vorliegende  Schrift  besondere  Beachtung.  Da  sie  be- 
reits vor  längerer  Zeit  erschienen,  wohl  schon  in  den  Händen 
der  Meisten  ist,  die  sich  für  alte  Geschichte  interessiren ,  so 
will  ich  mich  nur  kurz  bei  der  allgemeinen  I>eui*theilung  des 
Buches  aufhalten,  um  Raum  zur  Besprechung  einiger  wichti- 
ger Punkte  zu  gewinnen ,  in  denen  ich  mit  dem  Herrn  Ver- 
fasser nicht  übereinstimmen  kann. 

In  einer  kurzen  Einleitung,  S.  1 — 13,  weist  der  Verfasser 
zuerst  darauf  hin,  dass  die  Erscheinungen  in  diesem  kurzen 
aber  reichen  Zeiträume  der  Hauptsache  nach  dieselben  seien, 
wie  in  allen  revolutionären  Zeiten,  imd  giebt  dann  eine  Ueber- 
sicht  der  Entwickelung  der  oligarchischen  Richtung  von  Klei- 
sthenes  an,  Avobei  die  früheren  Arbeiten,  soAveit  sie  ihm  zu 
Gebote  standen,  im  Ganzen  mit  Gewissenhaftigkeit  benutzt 
sind.  Ein  AA-iuiderliches  Versehen  hat  sich  indessen  hier  ein- 
geschlichen, welches  sich  nur  daraus  erklärt,  dass  Scheibe  nicht 
immer  seine  Hülfsmittel  mit  der  erforderlichen  Besonnenheit 
benutzt  hat.  S.  4  nämlich  nennt  er  unter  den  Hetairienfüh- 
rem,  welche  die  jüngeren  Adelichen  Attika's  gegenüber  dem 
Nikias  um  sich  vereinigten,  neben  Phaiax,  Alkibiades  und 
Euphiletos,  auch  Ismenias  und  Leontiades,  offenbar  von  Krü- 
ger zu  Dion.  Hai.  p.  362  Anm.  4  verleitet.  Hätte  er  aber 
die  von  Krüger  angeführte  Stelle  Xenophons  nachgeschlagen, 
so  hätte  er,  worauf  die  Namen  ihn  schon  leiten  mussten,  ge- 
funden, dass  es  thebanische  und  nicht  athenische  Parteiführer 
waren.  Vgl.  Plut.  Pelop.  6.  Sievers'  Gesch.  Griechenlands,  256. 


Die  ölig  archische  Umwälzung  in  Athen.  499 

Nach  dieser  Einleitung  wird  dann  die  oligarchische  Um- 
wälzung selbst  von  den  der  Schlacht  bei  Aigospotamoi  unmit- 
telbar vorangehenden  Ereignissen  bis  aiif  die  Reorganisation 
des  ganzen  Staates  unter  dem  Archontat  des  Eukleides  in  19 
Kapiteln  vollständig  dargestellt,  und  in  drei  Beilagen  sind 
chronologische  Untersuchungen  über  die  Einnahme  Athens,  die 
verschiedenen  Volksversammlungen  und  Lysandros  Aufenthalt  in 
Sparta  nach  der  Eroberung  Athens  beigefügt.  Die  Beurthei- 
lung  und  Auffassung  der  Parteien  und  Charaktere  ist  unbe- 
fangen, nicht  auf  vorgefasste  Meinungen,  sondern  auf  die  Re- 
sultate der  Forschungen  begründet,  oft  aber  nicht  klar  und 
bestimmt  genug,  wofür  nur  die  höchst  schwankende  Art  an- 
geführt zu  werden  braucht,  in  der  der  Verfasser  den  Ausdruck 
»Aristokraten«  anwendet;  bisAveilen  ist  er  ihm  synonym  mit 
Oligarchen,  bisweilen  versteht  er  unter  ihnen  die  Anhänger 
einer  gemässigten  Demokratie,  welche  zu  den  Oligarchen  den 
schneidendsten  Gegensatz  bilden.  Der  Grund,  weshalb  Scheibe 
diese  letzteren  Aristokraten  nennt,  ist  ohne  Zweifel  darin  zu 
suchen,  dass  sie  eben  so  sehr,  wie  den  verschworenen  Oligar- 
chen, auch  den  Ultrademagogen  entgegenstanden,  ja  dass  zu 
gemssen  Zeiten  dieser  Gegensatz  noch  klarer  hervortritt  als 
der  andere.  Allein  das  berechtigt  zu  dem  Namen  Aristokraten 
nicht,  vielmehr  lässt  sich  hier,  wenn  irgendwo,  der  neue  Partei- 
name »Conservative«  mit  Recht  anwenden,  dem  der  griechische 
Ausdruck  t«  oirapj^ovTa,  oder  xa  xaösaTuiTa  owCeiv  entspricht. 
Das  Bestehende  erhalten  wollten  diese  Männer  und  je  nach  dem 
Uebergewicht  des  einen  oder  andern  der  zerstörenden  Extreme, 
des  demagogischen  oder  des  oligarchischen,  dem  sie  sich  entge- 
genstellten, erscheinen  sie  mehr  demokratisch  oder  aristoki-atisch. 
—  Die  Quellen  hat  der  Verfasser  fleissig  und  gewissenhaft  zu 
seinem  Zwecke  erforscht,  sie  aber  nicht  immer  so  ausgelegt, 
dass  er  auf  allgemeine  Zustimmung  rechnen  kann,  einigemal 
auch  sie  geradezu  missverstanden  oder  aas  Uebereilung  unrich- 
tig angewandt.  So  heisst  es  S.  6,  nachdem  erzählt  worden, 
wie  Alkibiades  mit  den  athenischen  Oligarchen  auf  Samos  in 
Verbindung  getreten  sei :  »zwar  gingen  die  Oligarchen  auf  Sa- 
mos, von  Phrynichos  gewarnt,  auf  Alkibiades  Wunsch  nicht 
ein.«  Das  ist  aber  unrichtig,  denn  Thukydides  VIII,  49  sagt 
bestimmt:    oi  8s  ouXXsYevts?  ruiv  h  r(j  ^u}A[xa/i5f. ,    (uairsp    xai    to 

32* 


500  Die  oligarchische  Umwälzung  in  Athen. 

•;rpu)Tov  auToIc  eooxci ,  ra  te  Tiapovra  Ios/ovto  xai  ic,  xa;  'Aiir^votc 
Tcpsaßsic  Ilst'aavopov  xat  aXXou;  TrapssxöuaCovTO  Trsixiretv,  otku;  Tzepi 
T£  r^?  Tou  AXxiJ5iaoou  xai^ooou  Tipaaaotsv  xat  tt?  tou  sxsT  öT|[j.ou 
xataAuaso);.  Eben  Aveil  die  Verschworenen  seinen  Wamiin^on 
kein  Gehör  schenkten,  wollte  dann  Phrynichos  die  athenische 
Flotte  den  Peloponnesiem  verrathen.  Erst  später  trennt  sich 
Alkibiades  von  den  Oligarchen.  —  S.  21,  Anm.  17  sagt  Scheibe 
Xenophon  Hell.  II,  1,  32  spreche  von  einigen  Anklägern 
des  Adeimantos,  im  Gegensatz  zu  Demosthenes,  der  den  einen 
•Konon  nenne.  Allein  Xenophon's  Worte  lauten:  Y^riai)-/)  utto 
Ttvu)v,  d.  h.  er  wurde  von  Einigen  beschuldigt,  der  Begriff 
einer  gerichtlichen  Anklage  liegt  darin  nicht.  Auf  Missver- 
ständniss  beruht  die  Erzählung  S.  25 ,  Lysandros  habe  die 
Bundesgenossen  mit  Zuziehung  der  Synedren  berufen ,  um 
über  das  Schicksal  der  Gefangenen  zu  berathen.  Xenophon 
nennt  nur  die  Bundesgenossen,  Flutarch  nur  E'->v£opo'jc.  Jieides 
meint  Scheibe  müsse  man  verbinden ,  vielleicht  indem  er  sich 
dabei  an  die  auvsopot.  der  Amphiktyonen  erinnert,  die  bei 
Demosthenes  pro  Corona  §.154  neben  den  Pylagoren  vorkommen. 
Den  Pylagoren  kann  man  nun  recht  wohl  suvsopoi,  ohne  Zweifel 
die  Hieromnemonen,  entgegenstellen,  nicht  aber  den  ^u[xixa/oi. 
Der  ganze  Rath  besteht  aus  Bundesgenossen,  und  die  Ausschüsse 
der  Bundesgenossen,  sofern  sie  versammelt  sind,  heissen  ?uv£opoi. 
Plutarchs  ?uv£opoi  sind  also  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  Xeno- 
phon's  ^6\i.\iayoi.  AehnHch,  nur  mit  adjectivischem  Gebrauch 
des  Wortes,  sagt  Herodot  III,  34  :  Ilcpaaoiv  oi  auviopotv  sovtoov. 
—  Im  3.  Kap.  S.  31  heisst  es:  Lysandros  sandte  seinen  Unter- 
feldheiTn  Eteonikos  mit  1 0  Trieren  nach  Thrakien  ab ,  wahr- 
scheinlich Aveil  dort  nach  der  Einnahme  von  Byzantion  auch 
in  den  übrigen  Städten  Feindseligkeiten  zwischen  der  demo- 
kratischen und  spartanischen  Partei  ausgebrochen  waren.  Wenn 
dies  der  Grund  nicht  gewesen  wäre,  so  hätte  Lysandros  entweder 
selbst  die  Eroberung  der  widerspenstigen  Städte  noch  während 
seines  dortigen  Aufenthaltes  ausführen,  oder,  wenn  ihm  jetzt 
die  Beschleunigung  grösserer  Pläne  am  Herzen  lag,  wenigstens 
den  Eteonikos  in  jener  Absicht  gleich  damals  zurücklassen 
können.  Um  also  die  lakedaimonische  Partei  zu  unterstützen, 
die  demokratische,  jedenfalls  schwächere,  zu  unterdrücken, 
ging   Eteonikos   nach   Thrakien   ab ,    und   gewann   alle    Plätze 


Die  oligarchische  Umwälzung  in  Athen.  501 

jener  Gegend.  Hier  hat  sich  der  Verfasser  nnnöthige  Mühe 
gegeben ,  einen  Gmnd  für  die  Absendnng  des  Eteonikos  zu 
finden,  weil  er  den  Ausdruck  ra  eirt  8pax7j;  yuipia  nicht  beachtet 
oder  missverstanden  hat.  Ta  ettI  0pr<xT|;;  oder  xa  im  OpaxY]? 
-/(üpia  sind  bekanntlich  sehr  bestimmt  von  Thrakien  selbst  zu 
unterscheiden,  und  bezeichnen  die  an  der  südlichen  und  west- 
lichen Gränze  dieses  Landes ,  namentlich  die  auf  C!halkidike 
und  an  der  benachbarten  Küste  gelegenen  Orte,  vorzüglich 
auch  Amphipolis.  Vergl.  Poppo  Prol.  zu  Thukyd.  I,  2.  S. 
346  sq.  Ausdrücklich  unterscheidet  davon  Thukydides  den 
Hellespont  II,  9,  worunter  die  sämmtlichen  Städte  am  Helle- 
spont  selbst,  an  der  Propontis  und  dem  Bosporus  mitbegriffen 
sind,  vgl.  Poppo  a.  a.  O.  431,  und  Xenophon's  Sprachgebrauch 
ist  so  ziemlich  derselbe,  cf.  Hell.  I,  3,  17.  4,  9,  Eteonikos 
wird  also  keineswegs  in  den  Hellespont  und  die  Propontis  ge- 
sandt, wo  Lysandros  gewesen  war,  sondern  nach  jener  oben 
bezeiclmeten  Gegend,  welche  noch  während  Alkibiades  Ober- 
befehl Tlirasybul  den  Athenern  wiedergenommen  hatte.  Hell. 
l,  4,  9.  —  S.  79  wird  gesagt,  es  sei  gewiss,  dass  die  Dreissig 
die  Häuser  und  das  ganze  Besitzthum  der  ermordeten  Metöken 
unter  sich  getheilt  hätten,  und  als  Belegstelle  Lys.  c.  Erat. 
§.  8  angeführt.  Die  Worte  lauten:  oiaXaßovce?  82  xac,  oixia? 
sßaoi^ov.  d.  h.  sie  vertheilten  die  Häuser  zur  Ausführung 
ihres  Planes  unter  sich,  dass  sie  nicht  das  ganze  Vermögen 
dieser  Leute  unter  sich  theilten,  geht  ganz  deutlich  aus  §.  19 
hervor.  —  S.  118  heisst  es:  »Nach  diesen  Vorfällen  (der 
Schlacht  in  Munychia)  gaben  die  Demokraten  einer  Ileberein- 
kunft  gemäss  die  Todten  heraus,  und  von  beiden  Seiten  kamen 
Abgeordnete  in  zahlreicher  Menge  zu  einer  Unterhandlung 
zusammen.«  Allein  bei  Xenophon ,  auf  den  Scheibe  sich  be- 
ruft ,  ist  von  Abgeordneten  nirgends  die  Hede ,  sondern  Aväh- 
rend  des  zum  Bestatten  der  Todten  geschlossenen  Waffenstill- 
standes traten  von  beiden  Seiten  viele  Leute    zusammen,    sirst 

0£  TOUTO  e^EVSTO   xai  TOUC    V£XpOU(;  OTTOaTTOVOOU?  aTTEoiooaav,    7:p0Ct0VT£? 

aXXijXoi?  TToXAot  ois^^syovTo.  Hell.  II,  4,  19.  — Dass  bei  Xenoph. 
Hell.  II,  4,  39  avcAÖovTsc  ^uv  xolc,  oizloic  eic  ttjV  axpoiroXiv  heisse, 
sie  zogen  mit  den  heiligen  Geräthschaften  |7ro[i7r£Ta)  in  die 
Burg,  möchte  Scheibe  schwer  fallen  zu  beweisen.  S.  150  sagt 
Scheibe:    »diese  Commission    (zur  Prüfung  der  Gesetze)   sollte 


502  DiK  üLiGAKciiifcjCHp:  Umwälzung  I^  Athek. 

aus  einem  Aiisschusse  des  Senats  und  ans  500  von  den 
Demoten  gewählten  und  vereidigten  Nomotheten  bestehen«,  ob- 
wohl er  in  der  Note  1 4  selbst  bemerkt,  aus  dem  Dekret  selbst, 
nämlich  dem  Psephisma  des  Tisamenos.  könnte  man  schliessen 
der  ganze  Senat  sei  damit  beauftragt  gewesen.  Allein  dass 
nur  ein  Ausschuss  aus  demselben  die  Prüfung  besorgt  habe, 
gehe  aus  den  Worten  ßouXTjv  a-ExÄTipwaaTs  §.  82  hervor.  Aber 
ßouXr^v  aTroxXr^poiiv  kann  durchaus  nichts  Anderes  heissen  als 
einen  E.ath  auslosen,  durchs  Loos  aus  einer  grösseren  Zahl 
von  liewerbern  wählen.  aTroxXrjpouv  tiva  heisst  nie  etwas  an- 
deres als  einen  durchs  Loos  aus  einer  grösseren  Zahl  wozu 
bestimmen.  Vergl.  Thuc.  YIII,  70.  Plato  de  leg.  VI,  756. 
E.  763  E.  Demosth.  adv.  Aristog.  1.  §.27  p.  778  und  Schäfer 
dazu.  Demnach  ist  von  einem  Ausschuss  die  Kede  nicht. 
Diese  Beispiele,  die  sich  leicht  vermehren  Hessen,  mögen  das 
Urtheil  rechtfertigen,  dass  der  Verfasser  bei  der  Auslegung  und 
Anwendung  seiner  Quellen  nicht  immer  mit  der  nöthigen  Um- 
sicht zu  Werke  gegangen  sei. 

Die  Darstellung  ist  meist  einfach  und  klar  und  glücklicher 
Weise  nicht,  wie  so  manche  neuere  Schriften,  durch  undeut- 
liche oder  pretentiöse  Schulausdrücke  ungeniessbar.  Wenn 
etwas  auszusetzen  ist ,  so  ist  es .  dass  die  Erzählung  fast  zu 
zerstückelt  ist.  Die  Eintheilung  des  kurzen  Zeitraums  in  19 
Kapitel,  wodurch  der  Xerf.  die  Uebersicht  wohl  erleichtern 
wollte ,  scheint  mir  eher  den  Gang  des  Ganzen  zu  sehr  zu 
unterbrechen,  und  eine  Gruppirung  des  Stoffes  in  einige  grössere 
Abschnitte  wäre  vorzuziehen  gewesen. 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  will  ich  nun  noch 
einige  einzelne  Punkte  aus  Scheibe' s  Arbeit  einer  näheren 
Prüfung  unterwerfen.  Eine  der  wichtigsten,  noch  immer  unter 
den  Gelehrten  streitigen  Fragen  aus  der  Geschichte  von  Athen 
zu  jener  Zeit  ist  die  über  die  Verfassung  zwischen  dem  Sturz 
der  400  und  der  Einsetzung  der  Dreissig.  Scheibe  sagt  hier- 
über S.  7:  »Jene  aus  Demoki'atie  und  Oligarchie  gemischte 
Verfassung  der  Fünftausend  ist  sicherlich  vor  der  Herrschaft 
der  Dreissig  nicht  abgeschafft  worden  .  .  .  Und  wie  zwei  sich 
gänzlich  entgegenstehende  Parteien  meistens  sich  verbinden, 
wenn  sie  als  gemeinschaftliches  nächstes  Ziel  den  Sturz  einer 
dritten   ihnen   beiden   feindlichen   Macht   betreiben,    um   nach 


Die  oligakchische  Umwälzung  in  Athen.  503 

Erreichung  dieses  Zieles  sich  selbst  zu  bekämpfen,  so  bildete 
sich  auch  hier  diese  sonderbare  Coalition  der  Oligarchen  und 
Demagogen«  u.  s.  av.  —  Ich  hatte  mich  früher  in  dem  Schrift- 
chen über  die  Hetairien  der  Meinung  angeschlossen,  dass  die 
vollständige  Demokratie  hergestellt  worden  sei,  und  kann  diese 
auch  jetzt  nicht  aufgeben.  Wie  mir  aber  dünkt,  ist  Scheibe 
selber  von  dieser  Ansicht  im  Grunde  nicht  weit  entfernt. 
Wenigstens  kann  ich  nicht  begreifen,  wie  eine  »Ochlokratie« 
entstehen  konnte,  so  lange  die  von  Thukydides  angegebenen 
Beschränkungen  beibehalten  wurden,  wie  eine  »ungezügelte 
Volksherrschaft«  in  Athen  sein  soll  und  doch  die  Demokratie 
nicht  hergestellt.  Es  kommt  daher  am  Ende  nur  darauf  an, 
was  man  unter  der  Herstellung  der  Demokratie  versteht.  Be- 
trachten wir  die  Sache  genauer.  Zwei  Hauptpunkte  sind  es 
offenbar,  in  denen  sich  die  Ordnung  nach  dem  Sturze  der 
Vierhundert  von  der  früheren  Demokratie  unterschied.  Die 
höchste  Gewalt,  die  Souverainetät ,  war  nicht  melir  bei  dem 
gesammten  Volke,  sondern  nach  einem  gewissermassen  timo- 
kratischen  Principe ,  bei  allen  denen ,  welche  Hoplitendienst 
hatten,  oTroaoi  otzXol  Tzapiyo^iai ,  und  die  man  jedenfalls  höchst 
ungenau  die  Fünftausend  nannte ,  weil  so  vielen  die  Vier- 
hundert jene  Gewalt  zu  überlassen  versprochen  hatten.  Zwei- 
tens sollte  Niemand,  ausser  denen,  welche  Kriegsdienste  tha- 
ten,  Sold  erhalten.  Die  Frage  ist  nun,  in  wie  weit  diese 
Beschränkungen  der  früheren  Demokratie  in  Kraft  blieben  und 
die  massig  gemischte  Verfassung  die  [xsTpia  sc  touc  oÄi'yooi;  xoti 
Touc  TloXXou;  ^uyzpaai;  zu  halten  vermochten.  Was  zunächst 
die  Beschränkung  der  an  der  höchsten  Gewalt  theilnehmenden 
betrifft,  so  leuchtet  ein,  dass  die  Bestimmung  oiroaoi  0T:Aa  Ttapi- 
yovTcti  eine  sehr  vage  war.  Bedenken  wir,  dass  beim  Anfange 
des  peloponnesischen  Krieges  nach  Thukydides  II,  13  Athen 
13000  Hopliten  zählte,  ohne  die  in  den  Gräuzfestungen  (<ppou- 
pia)  und  die  16000  zur  Bewachung  der  Mauern  bestimmten, 
wozu  die  jüngste  und  älteste  lUirgermannschaft  nebst  den 
schwerbewaffneten  Metöken  gehörten,  so  werden  wir  selbst 
nach  den  grossen  Verlusten ,  die  der  Staat  erlitten  hatte ,  an- 
nehmen müssen,  dass  die  Zahl  der  Bürger,  Avelche  an  der 
Ekklesia  Theil  zu  nehmen  berechtigt  waren,  der  früheren  zur 
Zeit   der   vollen    Demokratie   weit   näher    stand,    als    der   von 


504  ^^^^    OLIGARCHISCIIE    UmwÄLZUKG    IN    AthKN. 

Fiinftausenclen.  Diese  ganze  Beschränkung  musstc  daher,  so- 
bahl  der  Geist  der  Mässigiing  vorüber  war,  und  sobald  es  vor- 
theilhaft  war,  die  Versammhing  zu  besuchen,  sehr  wenig  Wir- 
kung haben.  Dazu  kommt,  dass,  wie  früher  und  später,  oft 
Unbefugte  sich  in  unglaublicher  Zahl  das  Bürgerrecht  anmass- 
ten  (Böckh,  Staatshaush.  1.  8.  50),  so  noch  viel  leichter  jetzt 
ärmere  Bürger  sich  unter  die  Ekklesiasten  mischen  konnten. 
—  Allein,  dass  auch  diese  Beschränkung  aufgehoben  wurde, 
und  die  sämmtlichen  Bürger  an  die  Stelle  der  sogenannten 
Fünftausend  traten,  lässt  sich  mit  ziemlicher  Sicherheit  nach- 
weisen. Allerdings  erzählt  weder  Xenophon  noch  sonst  ein 
Schriftsteller  etwas  von  dieser  Veränderung ;  allein  auch  andere 
eben  so  wichtige  Vorgänge  im  Inneren  werden  von  ihm  ver- 
schwiegen, und  müssten  wir  nicht  glauben,  Epameinondas 
wäre  bei  Leuktra  gar  nicht  zugegen  gewesen,  wenn  wir  Xeno- 
phon allein  hätten?  Sein  Schweigen  beweist  also  nichts.  — 
Hingegen  haben  wir  bestimmte  Zeugnisse,  wenn  nicht  über 
die  Herstellung  der  alten  Ordnung,  doch  über  ihr  Bestehen, 
d.  h.  über  die  Theibiahme  aller  Bürger  an  der  Ekklesia. 
Xenophon  selbst  erzählt  bei  dem  Processe  der  10  Feldherm, 
dass  der  Rath  darauf  angetragen,  es  sollen  sämmtliche 
Athener  nach  Phylen  über  dieselben  abstimmen,  öia'}r/f  iaaai>at 
'A&Yjvaiou?  iravta?  xaza  cpuXa?  (Hell.  1,  7,  9),  und  dies  wird 
nicht  als  eine  Ausnahme  bezeichnet;  weder  in  der  Rede  des 
Euryptolemos ,  noch  von  einem  der  Schriftsteller,  welche  das 
damalige  Verfahren  in  anderer  Hinsicht  als  gesetz'VA'idrig  schil- 
dern, wird  daran  im  Geringsten  Anstoss  genommen.  Es 
musste  also  die  Theilnahme  aller  Athener  an  der  Ekklesia 
damals  verfassungsgemäss  sein.  Bei  diesem  bestimmten  Aus- 
drucke Xenophons  kann  es  denn  ganz  gleichgültig  sein,  ■s\ie 
viel  oder  wenig  Glauben  der  Verf.  des  Axiochos  verdient, 
wenn  er  30000  Athener  ihre  Stimmen  abgeben  liess.  Immerhin 
beweist  auch  seine  Angabe,  dass  dem  Verfasser  kein  Gedanke 
daran  kam,  es  sei  die  Zahl  der  Ekklesiasten  damals  beschränkt 
gewesen.  —  Neben  diesem  bestimmten  Zeugnisse  will  ich  nur 
kurz  darauf  hinweisen,  dass  bei  allen  Schriftstellern  in  jenen 
Zeiträumen  nur  von  Sr^fxo?  oder  ttät^öoc,  nie  von  den  Trsv-axi'c- 
^iXioi  oder  den  ottgooi  oirAa  ■KapiyjovTai  die  Rede  ist,  und  dass 
oft  genug  die  Verfassung  jener  Zeit  von  Zeitgenossen  Demo- 


Die  üligarchisciie  Umwälzung  in  Athen.  505 

kratie  genannt  und  als  solche  der  Oligarchie  entgegengesetzt 
wird.  Vergl.  Lys.  adv.  Erat.  §4.5.  Plat.  Apol.  Soor.  p.  32  c. 
Auch  das  Psephisma  des  Diophantos  hat  Schömann  Antiq.  jur. 
publ.  Graec.  S.   183,   Anm.   7  mit  Eecht  geltend  gemacht. 

Die  zweite  mit  der  ersten  aufs  engste  zusammenhängende 
Frage  ist,  ob  der  Sold  für  bürgerliche  Amtsverrichtungen  ab- 
geschafft blieb  ([xiaUov  \ir^oiwa  (pepeiv  {XT|8[i.ia  apX'^)-  Die  Mass- 
regel hatte  bei  ihrer  Einführung  zunächst  den  Zweck  der  Er- 
sparnisse ;  weniger  ausgesprochen  Avar  gewiss,  dass  man  dadurch 
die  Aennereu  von  den  ap/ai  ausschliessen  wollte,  obwohl  es 
die  natürliche  Folge  war.  Auch  allen  sonstigen  Aufwand 
überflüssiger  Art  hatte  man  gleich  nach  der  sicilischen  Nieder- 
lage zu  vermeiden  beschlossen.  Thuc.  YIII,  1.  Eine  bestimmte 
Nachricht  über  Wiedereinführung  des  Soldes  ist  nun  meines 
Wissens  allerdings  nicht  vorhanden ;  dennoch  glaube  ich  sie 
ziemlich  sicher  nachweisen  zu  können.  Bekanntlich  wurde 
auch  nach  dem  Sturze  der  üreissig  der  Sold  sehr  bald  wieder 
eingeführt,  ja  erhöht.  Indem  nun  Aristophanes  in  den  Ekkle- 
siazusen  darüber  seine  Missbilligung  ausspricht,  sagt  er  v.  302 
fg.:  »Wahrlich  zu  der  Zeit,  da  der  edle  Myronides  an  der 
Spitze  stand,  da  hätte  keiner  es  gewagt  um  Gold  die  Geschäfte 
des  Staats  zu  vertvalten.«  Myronides  Bedeutung  fällt  in  die 
erste  Zeit  des  Perikles,  um  450.  Hätte  nun  Aristophanes, 
wenn  411  bis  403  kein  Sold  bezahlt  worden  wäre,  wohl  da- 
von ganz  geschwiegen?  Ich  zweifle  sehr.  Vielmehr  scheint 
in  der  Stelle  zu  liegen,  dass  in  der  ganzen  Zeit  nach  Myro- 
nides der  Sold  Regel  war ,  wobei  natürlich  kurze  Unter- 
brechungen nicht  in  Betracht  kommen.  Ich  könnte  nun  noch 
die  Stelle  aus  den  Fröschen  141  anführen:  «Viel  vermögen 
überall  die  ZAvei  Obolen« ,  welche  der  Scholiast  auf  einen 
ßichtersold  von  zwei  Obolen  bezieht.  Indessen  hat  Böckh 
Staatsh.  1.  S.  310  die  Stelle  so  gedeutet,  dass  unter  den  zwei 
Obolen  an  das  Theorikon,  die  sogenannte  Diobelie  zu  denken 
sei,  hauptsächlich  darum,  weil  die  Richter  bereits  früher  drei 
Obolen  erhielten,  und  sich  eine  Herabsetzung  des  Soldes  zum 
Schaden  ihres  Beutels  nicht  hätten  gefallen  lassen.  Die  Sache 
scheint  mir  nun  so  ganz  ausgemacht  nicht.  Denn  die  vorher- 
gehenden Worte  des  Aristophanes  ev  TrAotapio)  TovvouTtui  a  avr^p 
yipwv  vauTT^:  oia^si  ou'   oßoAw   [iiai)ov    XaßtuVj    lassen    eher   auf 


506  l^IE    OLIGARCHISCHE    UmWÄLZUNG    IN    AtHEN. 

einen  Sold,  }j,ioi>ocj  als  ein  Festgeld  schliessen,  und  wäre  nicht 
möglich,  dass  man  bei  Wiedereinführung  desselben  ihn  von 
dem  früheren  Triobolon  auf  zAvei  Obolen  herabgesetzt  hätte? 
könnte  man  nicht  vielleicht  auch  an  ein  Ekklesiastikon  denken  ? 
doch  zugegeben,  es  sei  das  Theorikon  gemeint,  so  mache  ich 
gerade  dessen  Existenz  für  die  Auszahlung  des  Soldes  überhaupt 
geltend.  Man  kann  wohl  sagen,  dass  von  allen  Ausgaben  des 
athenischen  Demos  das  Theorikon  sich  am  wenigsten  recht- 
fertigen lasse.  Dass  es  aber  in  der  Zeit  zwischen  dem  Sturze 
der  Vierhundert  und  den  Dreissigen  in  reichlichem  Maasse 
gespendet  wurde,  bew^eisen  die  Inschriften  C.  I.  A.  I,  188.  189 
zur  Genüge.  Geschah  das ,  so  wird  gewiss  Jedermann  ein- 
räumen, dass  auch  Sold  für  Gerichte.  Volksversammlungen 
u.  s.  w.  gegeben  wurde.  Kemerkenswerth  ist,  dass  n.  188  in 
Ol.  92.  3  fällt,  also  nur  ein  Jahr  nach  dem  Sturze  der  ^'ier- 
hundert.  und  unmittelbar  nach  den  glänzenden  Erfolgen  des 
Alkibiades  im  Hellespont  und  der  Propontis,  welche  bereits 
Freret,  K.  F.  Hennann  und  Sievers  für  die  Ursache  der  her- 
gestellten absoluten  Demokratie  angesehen  haben.  —  Dass  die 
Nomotheten  Sold  erhielten,  will  ich.  da  sie  eine  ausserordent- 
liche Behörde  Avaren,  nicht  in  Anschlag  bringen,  obwohl  es 
mit  den  Worten  des  Thukydides  jxta&ov  [xr^osva  cpspeiv  |XT,0£fiia 
apyjy  im  Widerspruche  ist. 

So  scheint  also  ausgemacht,  dass  die  beiden  wesentlichen 
Schranken,  die  man  der  Demokratie  gesetzt  hatte,  bald  ge- 
fallen waren,  und  zwar  höchst  Avahrscheinlich  bereits  Ol.  92.  3 
oder  410.  —  Aber  einen  Punkt,  Avird  Scheibe  sagen,  haben 
wir  noch  nicht  berührt,  die  Einsetzung  der  Nomotheten,  auf 
welche  er  nach  dem  Vorgange  Peter  s  in  den  Commentat.  Crit. 
vorzüglich  Gewicht  legt.  Offenbar  hatten  aber  diese  Nomo- 
theten bei  weitem  nicht  den  Einfluss.  den  Peter  und  Scheibe 
ihnen  beilegen.  Irrig  setzt  Peter  sie  ganz  den  Nomotheten 
gleich.  Avelche  nach  dem  Sturze  der  Dreissig  eingesetzt  wurden. 
Denn  mit  diesen  -«-urde  zugleich  eine  C'ommission  von  20  Män- 
nern erwählt,  Avelche  einstweilen  eine  Art  Oberaufsicht  über 
den  Staat  führen  sollte,  und  bestimmt,  dass  nach  P)eendigTuig 
der  Gesetzesre\ision  der  Areopag  über  die  Beobachtung  der 
Gesetze  wachen  sollte.  Von  beiden  ist  bei  den  früheren  No- 
motheten die  Rede  nicht.    Ebensowenig  lässt  sich  nachweisen, 


Die  üLiGARCHiscHE  Umwälzung  in  Athen.  507 

dass  bis  zur  lieendigung  der  Gesetzesrevision  eine  Aenderung 
in  einzelnen  Gesetzen  unmöglich  gewesen  sei.  Denn  selbst, 
wenn  eigentliche  v6\ioi  nicht  gegeben  werden  sollten,  stand 
immer  der  Weg  der  ^Ti(fio\iaTa  offen,  auf  dem  gewiss  der  Sold 
für  bürgerliche  Amtsverrichtungen  und  die  Theilnahme  sämmt- 
licher  Bürger  an  der  höchsten  Gewalt  hergestellt  wurden. 
Ueberhaupt  muss  die  Existenz  der  Nomotheten,  Aveil  sie,  an- 
statt ihr  Geschäft  vorschriftsgemäss  in  4  Monaten  zu  beendi- 
gen, dasselbe  als  eine  Geldqvielle  betrachteten  und  6  Jahre 
lang  hinzogen,  den  regelmässigen  Gang  der  Behörden  wenig 
gestört  haben.  Ich  denke  mir,  es  sei  denselben  in  der  ersten 
Volksversammlung  jedes  Jahres  die  Vollmacht  erneuert  worden, 
unterdessen  aber  übte  die  Ekklesia  ihre  Rechte  ohne  irgend 
welche  Beschränkung  aus,  und  dass  sie  sich  in  dem  vollsten 
Besitze  der  Macht  fühlte ,  liegt  deutlich  genug  in  jenem  Ge- 
schrei, Ssivov  etvai,  s.1  [xrj  nc  laaei  tov  or^fiov  TTparrsiv,  o  av  ßoo- 
Xr^xai,  ausgesprochen.  Die  Existenz  der  Nomotheten  beweist 
also  nichts  Anderes  als  dass  eine  Revision  der  Gesetzgebung 
stattfinden  sollte,  welche  indess  so  gut  als  keinen  Erfolg  hatte. 

Wenn  endlich,  um  auch  noch  das  zu  berühren,  Forch- 
hammer in  der  Schrift:  »Die  Athener  und  Sokrates«  S.  29 
meint,  der  Rath  sei  zwischen  dem  Sturze  der  Vierhundert  und 
dem  Ende  des  Krieges  nicht  durchs  Loos,  sondern  durch  Wahl 
besetzt  worden,  so  lässt  sich  eine  solche  Vermutluing  nur  aus 
dem  Bestreben  erklären,  den  Sokrates  nun  einmal  durchaus 
zum  Oligarchen  zu  machen.  Denn  die  von  ihm  selbst  ange- 
führte Stelle  aus  Piaton  Gorg.  S.  473,  e.  hätte  ihm  das  Ge- 
gentheil  zeigen  können,  indem  Socrates  sagt:  w  FluiXe  oux  eijxl 
TÄv  TToXiTixcuv  xai  TTspuai  ßouXsueiv  A.a)(«>v,  IttslStq  tj  cpuXrj  lirpu- 
xaveus  xai  iSst  |xs  sTri'jiTjCpiCsiv,  '(iXioza  TrapeT)(ov  xai  oux  r^nioxdiir^v 
iTTnj^YjcpiCeiv.  Jene  Stelle  aus  Thukydides  VIII,  93  aber,  die  er 
zum  Beweis  für  seine  Meinung  anführt,  bezieht  sich  auf  Vor- 
schläge, welche  den  erbitterten  Ilopliten  von  den  Vierhundert 
gemacht  wurden,  nicht  auf  Einrichtungen  nach  dem  Sturze 
dieser. 

Wie  endlich  Peter  und  Scheibe  die  Worte  des  Thukydides 
VIII,  97 :  xai  ou^  Yjxiata  or^  tov  TrpÄTov  ^(povov  iiti  ys  l[i,ou 
'A&Tjvaloi  cpai'vovtai  eu  TroÄiTsuaavrec  für  ihre  Meinung  anführen 
können,  begreife  ich  nicht,     tov  TrpöjTov  )(p6vov   bezeichnet   die 


508  l^IE    OLIGARCHISCHE    UmwÄLZUNG    IN    ATHEN. 

erste  Zeit  nach  dem  Sturze  der  Vierhundert;  dass  es  die  erste 
Zeit  der  gemischten  Verfassung  bedeute,  ist  eine  willkürliche 
Erklärung,  der  der  ganze  Zusammenhang  Aviderspricht ;  denn 
der  folgende  Satz  fisTpia  yap  r)  rz  s?  tou;  oX(.-(ooc  xat  tou;  tzoX- 
Xoos  ^u-f/paai?  eyeveTo  ist  gerade  die  Erkläning  des  su  ttoXitsosiv 
in  der  ersten  Zeit.  Das  Itti  ys  sixoü  beschränkt  den  Gedanken, 
dass  die  Verfassung  Athens  damals  die  beste  gewesen  sei,  avif 
die  Zeit  des  Geschichtschreibers.  Es  ist  also  die  Stelle  zu 
fassen:  und  es  haben  die  Athener  offenbar  ihren 
Staat  in  der  ersten  Zeit,  wenigstens  während  mei- 
nes Lebens,  am  besten  verwaltet.  Denn  es  be- 
stand eine  massige  Mischung  von  Oligarchie  und 
Demokratie.  —  Darin  liegt  aber  enthalten,  dass  diese  Mi- 
schung nur  in  der  ersten  Zeit  bestand,  und  später  aufhörte. 

Demnach  halte  ich  für  erwiesen,  dass  die  von  Thukydides 
angeführten  Beschränkungen  der  Demokratie  nur  von  kurzer 
Dauer  waren.  Ihre  Aufhebung  darf  man  sich  aber  nicht  als 
gewaltsam  denken,  vielmehr  geschah  sie  wohl  ziemlich  unver- 
merkt, weshalb  sich  Xenophons  Stillschweigen  um  so  leichter 
erklärt.  Als  man  wieder  Geld  hatte,  zahlte  man  wieder  Sold 
und  Festgelder,  jetzt  hatte  auch  der  Aermere  wieder  Interesse 
an  der  Staatsverwaltung  Theil  zu  nehmen,  und  es  wurde  ihm 
gestattet.  Die  Behörden  übten  alle  ihre  Befugnisse,  wie  vor 
der  Oligarchie  und  Hessen  daneben  der  Gesetzesrevision  ihren 
nihigen  Gang,  die  aber  wegen  der  Gewissenlosigkeit  der  Re- 
visoren nichts  leistete.  —  Soviel  hierüber.  —  Wenn  der  A'erf. 
S.  21  die  Behauptung  des  Lysias,  Alkibiades  habe  an  dem 
Verrath  des  Adeimantos  bei  Aigospotamos  Theil  gehabt,  nicht 
für  ungegründet  hält,  so  irrt  er  gewiss.  Bedenkt  man,  dass 
Lysias  immittelbar  vorher  in  der  Leidenschaft  so  weit  geht 
zu  sagen,  Alkibiades  habe  der  A'aterstadt  gar  nichts  Gutes 
erwiesen,  so  kann  man  auch  auf  die  Anklage  des  Verrathes 
nichts  geben,  gegen  Avelche  alle  andere  Zeugnisse  und  die 
Umstände  selbst  sprechen.  Denn  es  lässt  sich  gar  nicht  ein- 
sehen, wie  er,  der  vom  Lager  w^eggewiesen  war,  selbst  wenn 
er  es  gewollt  hätte,  die  Flotte  dem  Feinde  hätte  überliefern 
können. 

Die  fünf  nach  der  Niederlage  ernannten  Ephoren  sieht 
Scheibe  mit  K.  F.  Hermann  für  eine  öffentliche  Behörde   an, 


Die  oligarchische  Umavälzung  in  Athen.  509 

ohne    class   mir    aber    seine   Gründe    genügend    scheinen.     Er 
macht  für  seine  Meinimg  besonders  geltend  »den  diplomatischen 
Ausdruck  ouvaytuYsT?  taiv  ttoXitäv«   den  Gegensatz   von  jxsv  und 
0£    in  Lysias  Stelle,   und  dass  sie  ohne  öffentliche  Behörde  zu 
sein  nicht   ouXd^yo'Jz    (Avenn   nicht   besser   ^ppoupapj^ouc   gelesen 
wird)    hätten    aufstellen    können.     Allein   in    jener    Stelle   des 
Lysias  liegt   nichts   Anderes,    als    dass   sie   angeblich   nur   zur 
Versammlung  der  Bürger  eingesetzt  worden,   in  der  That  aber 
Führer   der   Verschwornen    gewesen    seien.      Titel   und   Name 
war   3i)vaY«)Y£l;   t<uv   TroXtruiv    keineswegs ,    sondern   sie   wurden 
Icpopoi   genannt.     Was    aber    das   Zusammenbringen ,    ouvotystv, 
der  Bürger  und  das  Aufstellen  vor.  Befelilshabeni  der  \Yachen 
betrifft,    so    lag    solches    freilich   nicht   in   der   Befugniss    von 
Privatleuten ,    konnte   aber   eine   in   Folge    des   Einflusses    der 
Hetairien  durchgesetzte  Usurpation  sein,   und  ist  kaum  auffal- 
lender als  das  irapaYysXXciv  o  ti  osoi  ^sipotovsTailai  xal  ou;  tivac 
yjtzir^  ctp/siv,  das  jedenfalls  angemaasst  war,  da  auch  eine  öffent- 
liche Behörde  nie  die  Macht  erhalten  konnte,   der  Ekklesia  vor- 
zuschreiben was  sie  thun  solle ;   die  Worte  des  Lysias  xaTsorrp 
aav  u~o  "(Juv  xaXouixivujv  sToti'pwv  heissen  doch  wörtlich  genommen 
nicht,    dass    sie    durch   Einfluss   der  Hetairen,    sondern    voxi 
diesen  selbst  eingesetzt  worden,    und  auch  die  Stelle  adv. 
Erat.  §  76:  TTapTjYYsX£~o  T<ip  aotolc  osxa  {xsv  ouc  Or^pafxevr^?  ar.i- 
0£iEö  )^sipo~ov7Jaat ,    osxa  os  ouc  ot    xai>£a-r^xo-£?   scpopoi,    beweist 
nichts,   da  ja  auch  Theramenes  hier  eine  ganz  usurpirte  Gewalt 
übt.     Nach  meiner  Meinung   ist   hier   zu  absoluter  Gewissheit 
nicht  zu  gelangen ,    indem  Lysias   zwar  für  seine  mit  den  Er- 
eignissen  bekannten  Zuhörer   ganz   klar   war,    nicht   aber   für 
uns.     Am  wahrscheinlichsten   und   mit  Lysias  Ausdrücken  am 
meisten  vereinbar  ist  mir  aber,    dass    die  Hetairen   zuerst  von 
sich  aus   die   fünf  Ephoren   einsetzten   und   unter   dem  Schein 
besonderen  Eifers  für  das  Wohl    des  Staates,    und    dass    diese 
dann  besonders  durch  Mithülfe  des  für  ihre  Interessen  gewon- 
nenen Rathes   bald   die   von  Lysias   genannten  Funktionen   an 
sich  rissen,  sei  es  blos  faktisch  oder  durch  eine  nachträgliche 
Bestätigung  der   verfassungsmässigen   Behörden.     Li  ähnlicher 
Weise  hatten  die  Verschworenen  schon  vor  der  Einsetzung  der 
Vierhundert  faktisch  den  Staat  regiert. 

Noch  in  mehreren  anderen  Stücken  kann  ich  der  Meinung 


510  I^IE    OLIGARCHISCHE    UMWÄLZUNG    IN    AthEN. 

des  Vf. 's  nicht  beipflichten,  und  namentlich  hat  mich  seine 
zweite  Beilage  über  die  verschiedenen  Versammlungen  des 
Volks  nicht  überzeugt,  da  ich  unter  der  i/.yXrpio.  rrspi  ~r^c 
£tpY]VT^?  nicht  die  Tispti  tt^;  -oXiTcia:  verstehen  kann ,  und  aus 
Lysias  Darstellung  deutlich  hervorgeht,  dass  die  von  Agoratos 
verklagten  Strategen  und  Taxiarchen  an  der  Friedensversamm- 
lung nicht  mehr  Theil  nahmen.  Um  indessen  diese  Anzeige 
nicht  zu  weit  auszudehnen,  schliesse  ich  hier  mit  dem  Wunsche, 
dass  Scheibe  in  dem  mehrfach  erhobenen  AViderspruche  nur 
einen  liew^eis  das  Interesses  finden  möge,  mit  dem  ich  seine 
Schrift  gelesen. 


UEBER  DIE  NEUEREN  BEARBEITUNGEN  DER 
GRIECHISCHEN  GESCHICHTE '). 

[Neues  Schweizerisches  Museum.     1861.     I.     S.   109 — r29.] 

JLs  liegt  in  der  Natur  des  menschlichen  Geistes  begründet, 
dass  die  Darstellung  früherer  Geschichtsperioden  von  Zeit  zu 
Zeit  einer  Erneuerung  bedarf.  Einerseits  erweitern,  berichti- 
gen, verändern  die  fortlaufenden  Forschungen  den  Stoflf,  an- 
drerseits gestalten  sich  die  Anschauungen  der  Menschen  und 
damit  ihre  Anforderungen  an  die  Geschichtschreibung  anders. 
So  muss  mit  der  Zeit  auch  das  trefflichste  historische  Werk 
in  gewissem  Sinne  veralten  und  ungenügend  erscheinen,  das 
Kedürfniss  nach  neuer  Darstellung  sich  fühlbar  machen.  Das 
gilt  natürlich  auch  von  der  Geschichte  der  Griechen. 

Sehen  wir  von  den  allgemeinen  Weltgeschichten  ab,  in 
denen  auch  der  griechischen  Geschichte  mit  mehr  oder  weniger 
Einsicht  und  A'erständnis  ihr  Platz  eingeräumt  wird,  so  w^aren 
es  am  Ende  des  voiigen  Jahrhunderts  vorzüglich  die  Eng- 
länder, welche  dieselbe  in  besonderen  Werken  bearbeiteten. 
Denn   zu   der   hohen   Achtung,     welche   in  jenem   Lande    des 


1)  [Philologus  XIX,  1863  pg.  350  wird  dieser  Aufsatz  in  folgender 
Weise  besprochen:  »nach  einem  Blicke  auf  die  Leistungen  der  Engländer 
Thirlwall,  G.  Grote,  und  nach  kurzer  Erwähnung  von  Niebuhr's  Vor- 
lesungen über  alte  Geschichte  und  Kortüm's  Geschichte  Griechenlands 
werden  die  Werke  von  M.  Duncker  und  E.  Curtius  besprochen ,  daneben 
die  politische  Richtung  in  deutschen  Schriftstellern  bespöttelt  und  mit 
lobender  Ezwähnung  der  griechischen  Geschichte  von  L.  Schmitz  ge- 
schlossen.! 


512  Ueber  t).  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte. 

Handels  und  der  Indnstne  die  classischen  Studien  gemessen, 
kam  dort  das  lebendige  politische  Leben ,  welches  zum  Ver- 
ständniss  der  vielbewegten  Geschichte  republikanischer  Staaten 
unumgänglich  noth wendig  ist.  Im  Laufe  zweier  Jahrzehnten 
erschienen  dort  das  gefällig  geschriebene ,  aber  oberflächliche 
Werk  von  Oliver  Goldsmith,  die  ausführlichere  Darstel- 
lung von  John  Gillies  und  die  beide  weit  überragende  Ge- 
schichte Griechenlands  von  W  i  1 1  i  a  m  Mitford,  eine  in  vieler 
Beziehung  vortrefi"liche  Leistung,  der  aber  der  torystische 
Standpunkt  des  Verfassers  doch  mehr  als  billig  einen  Partei- 
stempel aufdrückte. 

Deutschland  begnügte  sich  längere  Zeit  mit  Ueber- 
setzungen  dieser  Werke.  Indessen  Hess  der  UmschTi\'ung,  den 
die  Alterthumsstudien  seit  dem  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts 
unter  Friedrich  August  Wolfs  ^'organg  erfuhren ,  sie 
allmählich  als  ungenügend  erscheinen.  Es  kam  dazu  die  fran- 
zösische Kevolution  mit  allen  ihren  Folgen ,  der  auch  in 
Deutschland  neu  erwachte  Sinn  für  politisches  Leben.  Die 
Aufmerksamkeit  wandte  sich  in  der  Geschichte  mehr  und  mehr 
von  dem,  was  ehemals  als  Hauptsache  gegolten  hatte,  von  den 
äiisseren  Ereignissen  und  Kriegen  auf  die  tieferliegenden  Ur- 
sachen derselben,  auf  das  Volksleben  in  allen  seinen  Verzwei- 
gungen, auf  die  Einrichtungen  des  Staats  und  der  Gemeinde, 
auf  Sitten  und  Bildung,  Kunst  und  Wissenschaft.  Niebuhr's 
zuerst  im  Jahre  1811  erschienene  Römische  Geschichte  erschüt- 
terte zugleich  den  Glauben  an  die  Zuverlässigkeit  der  Quellen, 
und  eröffnete  eine  Reihe  kritischer  und  hyperkritischer  For- 
schungen. Aber  gerade  weil  eine  durchaus  neue  Anschauungs- 
weise sich  Bahn  gebrochen  hatte,  äusserte  sich  die  rastlose 
Thätigkeit  zunächst  fast  ausschliesslich  in  Specialforschungen. 
Man  sah  ein,  dass  erst  die  einzelnen  Theile  genauer  gekannt 
sein  müssen,  ehe  man  an  eine  befriedigende  Gesammtdarstel- 
lung  gehen  könne.  Die  Entwicklung  einzelner  Stämme  und 
Staaten  wurde  Gegenstand  einer  Reihe  von  Arbeiten,  wobei 
besonders  Otfried  Müller  mit  be^Tindemswerthem  Eifer 
voranging.  Bald  erhielt  fast  jede  irgend  bedeutende  Stadt  ihre 
Monographie,  während  Böckh's  meisterhaftes  Werk  über  die 
Staatshaushaltung  der  Athener  eine  bisher  fast  ganz  vernach- 
lässigte Seite    des   griechischen   Lebens  beleuchtete   und   auch 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.  513 

die  Rechtsverhältnisse  ihre  verdienstlichen  Bearbeitungen  fan- 
den. Auch  's\-nrde  seit  den  Z^vanziger- Jahren  in  mehreren 
tüchtigen  Werken  unternommen ,  die  Einrichtungen  der  ver- 
schiedenen Staaten  zusammenzufassen;  es  erschienen  Dar- 
stellungen der  »griechischen  Alterthümer « ,  die  sich  von  den 
früheren  geistlos  zusammengestoppelten  Handbüchern  der  An- 
tiquitäten sehr  vortheilhaft  unterschieden. 

Aber  die  Behandlung  der  Gesammtgeschichte  blieb  aus 
begreiflichen  Gründen  hinter  den  Monographieen  zurück;  die 
Masse  dieser  wurde  so  gross .  dass  selbst  dem  Gelehrten  von 
Fach  die  Uebersicht  scliAver  -wurde ,  luid  vor  Allem  fehlte  es 
an  Werken,  welche  auch  dem  gebildeten,  aber  nicht  selbst 
mitforschenden  Leser  eine  klare  Gesammtübersicht  der  Ge- 
schiclite  nach  dem  Standpunkte  der  neueren  Wissenschaft  ge- 
geben hätten. 

Auch  jetzt  waren  es  wieder  die  Engländer,  welche  da- 
mit vorangingen.  Die  Forschungen  der  Deutschen  machten 
sich  bei  ihnen  allmählich  geltend  und  luden  zu  einer  Ver- 
arbeitung ein.  Das  Verdienst,  auf  dieser  Basis  mit  grosser 
Gelehrsamkeit,  besonnenem,  kritischem  Sinne  und  selbstän- 
digem, unbefangenem  Lrtheile  eine  griechische  Geschichte  ge- 
liefert zu  haben,  gebührt  Connop  Thirlwall,  zur  Zeit  der 
Abfassung  seines  Werkes  (1835)  Professor  am  Trinity  College 
in  Cambridge,  später  zum  Bischof  von  St.  Davids  in  Wales 
erhoben. 

Ihm  folgte  der  gelehrte  Londoner  Banquier  George 
Grote,  der  in  seinem  1846  angefangenen  Riesenwerke  von 
12  starken  Bänden  die  Geschichte  Griechenlands  bis  auf  den 
Tod  Alexanders  des  Grossen  dargestellt  hat.  Gründliche 
Kenntniss  der  alten  Quellen  und  umfassende,  wenn  auch  nicht 
immer  vollständige  Berücksichtigung  der  neueren  Forschungen 
bilden  die  Grundlage  seiner  Arbeit.  Damit  verbindet  er  ein 
durchaus  selbständiges,  scharfes  Urtheii  und,  was  ihn  ganz 
besonders  auszeichnet,  einen  ungewöhnlich  klaren,  praktischen 
Blick  in  die  politischen  Verhältnisse,  wie  er  kaum  bei  einem 
anderen  Verfasser  einer  Geschichte  des  Alterthums  zu  finden 
ist.  Im  Vorbeigehen  sei  bemerkt,  dass  Grote  diesen  Blick 
auch  in  der  Beurtheilung  neuerer  Vorgänge  in  einem  uns  nahe 
liegenden   Falle   bewährt  hat.     Dem  Geschichtschreiber  Grie- 

Vischer,  Schriften  I.  33 


514  Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte. 

chenlands  sind  die  ^ielfachen  Analogieen  zwischen  griechischen 
nnd  schweizerischen  StaatsverhäUnissen  nicht  entgangen,  und 
er  hat  die  Entwicklung  der  letzteren  in  den  Vierziger  -  Jahren 
mit  Aufmerksamkeit  verfolgt.  Durch  die  Nachrichten  der 
Zeitungen  nicht  befriedigt,  hat  er  sich  im  Jahre  1847  bei 
dem  drohenden  Herannahen  des  Sonderbundskrieges  selbst  in 
die  Schweiz  begeben  und  die  Ergebnisse  seiner  Beobachtungen 
zuerst  in  einer  Reihe  von  Briefen  in  dem  Londoner  Blatte 
»The  Spectator«,  dann  zusammengefasst  in  einem  besonderen 
Werkchen  veröffentlicht  i] .  Obwohl  ich  die  Ansichten  und 
Schlüsse  des  Verfassers  nicht  alle  für  richtig  ansehen  kann, 
so  ist  doch  die  kleine  Schrift  entschieden  das  beste,  was  ich 
in  fremden  Journalen  über  jene  Verwicklungen  gelesen  habe, 
und  steht  namentlich  an  Unbefangenheit  hoch  über  den  zahl- 
reichen Artikeln,  welche  zu  jener  Zeit  in  einer  von  gefeierten 
deutschen  Historikern  geschriebenen  Zeitung  zu  lesen  waren. 
Doch  um  -wieder  J[;ur  griechischen  Geschichte  zurück- 
zukehren, so  tritt  bei  Grote  zu  den  vorhergenannten  Eigen- 
schaften ein  lebendiger  Sinn  für  die  "Wahrheit,  die  Fähigkeit 
sich  vollständig  in  die  antiken  Verhältnisse  hineinzuversetzen, 
mit  den  Alten  zu  denken  und  zu  fühlen ,  ein  trefflicher  kriti- 
scher Takt,  der  bei  widersprechenden  oder  mangelhaften  Nach- 
richten in  der  Regel  das  Wahrscheinliche  zu  treffen  weiss  und 
mit  glücklichem  Scharfsinn  die  Ursachen  der  Abweichungen 
zu  enträthseln  versteht.  Was  ich  aber  besonders  schätze  ist, 
dass  er  auch  die  Schranken  historischer  Erkenntniss  anzuer- 
kennen weiss,  und  da  wo  die  Mittel  zur  Erforschung  der 
Thatsachen  uns  fehlen,  dies  unumwunden  ausspricht,  sein 
Nichtwissen  gesteht  und  nicht  Hypothesen  dem  Leser  für  ge- 
schichtliche Wii'klichkeit  darbietet.  Die  Darstellung  ist  eine 
einfache ,   allgemein  verständliche ,  nicht  durch  Schultheorieen 


1)  Seven  Letters  on  the  recent  Politics  of  Svritzerland.  ;Orginally 
published  in  »the  Spectator«.)  By  George  Grote,  Esq.,  author  of  a  History 
of  Greece.  London.  T.  C.  Newby,  "2,  Mortimer  Street,  Cavendish  Square. 
1847.  In  der  Vorrede  (S.  IVj  heisst  es  unter  Anderm:  »To  myself  in 
particular,  tliey  [the  Swiss)  i)resent  an  additional  ground  of  interest,  from  a 
certain  political  analogy  [nowhere  eise  to  he  foutid  in  JEurope)  with  those  who 
prominently  occupy  my  thougths ,  and  on  the  history  of  whom  I  am  still 
engaged  —  the  ancient  Greeks.K 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.   515 

und  nicht  durch  Schulausdrücke  getrübte,  aber  von  einer  edlen. 
Wühl  wollenden  Gesinnung  getragene.  Wenn  diese  Eigen- 
schaften das  Grote'sche  Werk  unbedingt  zu  einer  der  beach- 
tenswerthesten  Erscheinungen  der  neueren  historischen  Litte- 
ratur  machen,  so  dürfen  wir  darüber  seine  Mängel  und 
Schattenseiten  nicht  unberührt  lassen.  Dahin  rechne  ich  bei 
aller  sonstiger  Vortreiflichkeit  der  Darstelhuig  eine  übermässige 
Breite,  die  oft  zur  Weitschweifigkeit  wird.  Nicht  selten  wird, 
"besonders  bei  Lieblingsideen  des  Verfassers,  eine  überflüssige 
Wiederholung  des  bereits  Gesagten  bemerklich,  als  ob  er  fürch- 
tete,  der  Leser  möchte  es  vergessen  haben. 

Sodann  hat  das  kritische  Verfahren,  das  ich  im  Ganzen 
vorher  gerühmt  habe,  auch  seine  Schwächen,  welche  zum  Theil 
aus  Uebertreibung  der  angedeuteten  richtigen  Grundsätze  ent- 
springen. Grote  hat  die  Schwierigkeiten  eingesehen,  Avelche 
die  sogenannte  mythische  Zeit  jeder  historischen  Forschung 
entgegenstellt,  er  hat  zugleich  die  Mangelhaftigkeit  aller 
neueren  Versuche  der  Kritik,  Sage  und  Mythos  von  dem  Ge- 
schichtlichen zu  scheiden,  erkannt,  und  darüber  ist  er  zu  der 
Ueberzeugung  gekommen,  dass  bis  zu  der  sogenannten  dori- 
schen Wanderung,  ja  sogar  bis  zur  Zeit  der  ersten  Olympiade 
es  gar  keine  Geschichte  gebe,  das  heisst  keine  positiv  sichern 
historischen  Thatsachen.  Er  spricht  sich  kurz  und  entschieden 
dahin  aus,  dass  er  in  dieser  ganzen  Zeit  Mythos  und  Sage  von 
der  Geschichte  nicht  zu  trennen  wisse  und  giebt  dann  eine 
ausführliche  Erzählung  der  alten  Sagen  und  Mythen,  aus  den 
verschiedenen  alten  Nachrichten  in  ihrer  allmählichen  Ent- 
wicklung zusammengesetzt,  eine  sogenannte  »legendary  history«, 
ohne  irgend  einen  Versuch,  historische  Thatsachen  auszumittehi. 
»Ich  weiss  nicht«,  sagt  er  z.  B.,  »ob  Troja  existirt  hat,  aber 
die  Griechen  glaubten,  dass  es  ein  mächtiges  Reich  gewesen 
sei,  das  nach  einem  langen  Krieg  durch  die  vereinigten  An- 
strengungen ihrer  Vorfahren  zerstört  worden  sei,  und  das  ist 
Alles,  was  wir  versichern  können.«  Wohlverstanden,  nur  dass 
die  späteren  Griechen  es  glaubten,  das  will  er  versichern, 
nicht  etwa,  dass  die  Zerstörung  statt  gefunden  habe.  Conse- 
quenz  lässt  sich  einem  solchen  Verfahren  nicht  absprechen; 
aber  Grote  giebt  diese  Consequenz  auf  in  der  Behandlung  der 
Zeit  von  der  dorischen  Wanderung  bis  auf  die  erste  Olympiade. 

33* 


516  Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte. 

Denn  obwohl  er  auch  diese  noch  zur  "legendary  histor}'«  rech- 
net, anerkennt  er  doch  hier  eine  Reihe  von  Thatsachen  als 
historisch.  Gewiss  mit  vollem  Rechte.  Aber  damit  giebt  er 
zugleich  die  Waffen  gegen  sein  eigenes  Verfahren  in  der  fm- 
heren  Zeit.  Hätte  er  mit  eigenen  Augen  die  Ueberreste  jener 
Zeit  in  Mykenai  und  an  anderen  Orten  geschaut,  Ueberreste, 
von  denen  er  gar  keine  Notiz  nimmt,  er  hätte  vielleicht  anders 
geurtheilt.  Offenbar  ist  Grote,  um  die  Fehler  vieler  Vorgänger 
zu  vermeiden,  in  das  entgegengesetzte  Extrem  gefallen,  er  hat, 
wie  man  zu  sagen  pflegt,  das  Kind  mit  dem  Bade  ausgeschüttet. 
Auch  aus  der  historischen  Zeit  Hessen  sich  Beispiele  einer  zu 
weit  getriebenen  negativen  Kritik  anführen,  wohin  das  gänz- 
liche Verwerfen  einer  Aeckertheilung  in  »Sparta  gehört. 

Ein  anderer  Punkt,  den  wir  berühren  müssen,  ist  die  Un- 
parteilichkeit. Grote  ist,  wie  oben  bemerkt,  von  einem  auf- 
richtigen und  lebendigen  Sinne  für  die  Wahrheit  beseelt,  aber 
eben  dieser  hat  ilin  \ielleicht  unbewusst  hier  und  da  zu  einer 
gewissen  einseitigen  Beurtheilung  geführt.  Mit  vollem  Rechte 
hat  er  sich  der  lange  Zeit  üblichen  Beurtheilung  des  Atheni- 
schen Volkes  und  seiner  Einrichtungen  widersetzt  und  ist  darin 
besonders  der  von  seinem  Landsmann  M  i  t  f  o  r  d  befolgten  Auf- 
fassung  entgegengetreten.  Aber  im  Eifer  die  Vorwürfe  von 
Undankbarkeit,  Leichtsinn,  von  Justizmorden  und  anderem 
derartigen  zu  widerlegen,  ist  er  bisweilen  so  weit  gegangen, 
dass  er  fast  mehr  als  der  Advokat  des  Athenischen  Demos, 
immer  freilich  der  scharfsinnige  ernste  Advokat,  denn  als  der 
ruhig  und  parteilos  abAvägende  Historiker  erscheint.  ,Die  Vor- 
liebe für  demokratische  Einrichtungen  durchzieht  sein  ganzes 
Werk  und  giebt  ihm  eine  wohlthuende  Wärme,  eine  Vorliebe, 
welche  wir  bei  einem  Geschichtschreiber  Griechenlands  nicht 
tadeln  können,  da  hier  unzweifelhaft  die  Demokratie  in  ihrer 
gemässigten  Form  die  höchste  politische  Entwicklung  darstellt : 
aber  nicht  selten  geht  diese  Vorliebe  über  die  dem  Histoiiker 
gezogene  Grenzlinie  hinaus  und  verleitet  ihn  zu  zwar  scharf- 
sinnigen und  interessanten,  aber  kaum  richtigen,  wohl  auch 
paradoxen  Urtheilen.  Es  lässt  sich  noch  hören,  wenn  er  den 
Demagogen  Kleon  gegen  manche  Vorwürfe  vertheidigt,  sogar 
gegenüber  Thukydides,  er  thut  es  mit  Mass  und  Besonnenheit, 
und    ist   nicht   bemüht,     die    Kleonische    Demagogie    über    die 


Heber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  greech.  Geschichte.  517 

Perikleische  Staatsleitung  zu  setzen;  aber  sehr  bedenklich  ist 
die  Art  und  Weise,  wie  er  mit  allem  Aufwand  von  Scharfsinn 
und  Beredsamkeit  zu  beweisen  sucht,  dass  die  Sieger  bei  den 
Arginusen  keineswegs  schuldlos  gewesen  seien.  Denn  das  ist 
gar  nicht  einmal  der  Hauptpunkt  in  der  ganzen  Sache.  Dieser 
liegt  vielmehr  in  dem  formellen  Verfahren;  dieses  war  durch 
und  durch  gesetzv\'idrig,  und  wären  die  sämmtlichen  Feldherrn 
unbestritten  todeswürdige  Verbrecher  gewesen,  so  bliebe  ihre 
Verurtheihmg ,  wie  sie  geschah,  doch  ein  unverantwortlicher 
Justizmord ;  die  Beschönigung  solcher  Fehltritte  der  Demoki-atie 
kann  aber  nur  der  gerechten  Beurtheilung  derselben  nach- 
theilig sein,  da  sie  auch  misstrKuisch  macht  gegen  ihre  Ver- 
theidigimg  in  Fällen,  wo  sie  eine  wohlberechtigte  ist,  Avie 
z.  B.  im  Process  gegen  Miltiades.  —  Paradox  erscheint  die 
Beurtheilung  der  Sophistik  des  Sokrates.  Wir  haben  dabei 
nicht  das  im  Auge,  dass  er  die  Verurtheilung  des  Sokrates 
zu  entschuldigen  sucht.  Aber  in  der  ganzen  Sophistik  will 
er  von  dem  zerstörenden,  auflösenden  Elemente  nichts  finden. 
Die  Sophisten,  meint  er,  hätten  nur  das  Bestreben  gehabt,  den 
vorhandenen  Vorrath  der  populären  Kenntnisse  in  passender 
Foi-m  zu  lehren  und  zu  überliefern,  wälu-end  dagegen  Sokrates 
mit  seiner  Lehre  von  der  Selbsterkeimtniss  subversiv  gegen  den 
alten  Staat  aufgetreten  sei.  Zu  verwundern  habe  man  sich 
nicht  darüber,  dass  Soki-ates  vor  Gericht  gezogen  und  ver- 
urtheilt  worden,  sondern  nur,  dass  das  nicht  schon  viel  frü- 
her geschehen  sei;  es  erkläre  sich  das  nur  aus  der  unver- 
gleichlichen Toleranz,  die  in  Athen  geherrscht  habe.  Dabei 
fasst  er  aber  den  Sokrates  allerdings  in  einer  sehr  würdigen 
Weise  auf  und  sucht  ihm  eben  so  sehr  als  den  Athenern  ge- 
recht zu  werden,  ganz  anders  als  die,  welche,  um  die  Athener 
zu  rechtfertigen,   den  Sokrates  möglichst  schlecht  machen. 

Dass  sich  über  manche  Punkte  erhebliche  Bedenken  auf- 
drängen, versteht  sich  von  selbst;  bei  einer  so  umfassenden 
Arbeit  kann  das  nicht  anders  sein.  Aber  bei  alledem  steht 
das  Grote'sche  AVerk  als  ein  würdiges,  grossartiges  Erzeugniss 
der  neueren  Historiographie  da  und  wird  von  Jedem,  dem  es 
um  Kenntniss  des  alten  Griechenlands  zu  thim  ist,  studiert 
werden  müssen,  wird  auch  dem  gebildeten  Manne  überhaupt 
reichen    Genuss   gewähren;    niemand   wird   es    ohne   vielfache 


518  Veber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte. 

Belehrung  aus  der  Hand  legen.  Einer  wirksamen  allgemeinen 
Verbreitung  stellt  aber  wohl  die  grosse  Ausführlichkeit  ent- 
gegen, für  Deutschland  auch  der  theure  Preis.  In  England 
wird  es  viel  gekauft;  denn  bald  nach  dem  Erscheinen  der  ersten 
Bände  wurde  eine  zweite  Auflage  nöthig.  Sehr  wünschenswerth 
Aväre,  dass  eine  billigere  Ausgabe,  etwa  in  der  Tauchnitzischen 
Sammlung,   veranstaltet  würde. 

Während  so  Thirlwall  und  Grote  für  England  Glänzendes 
leisteten,  musste  in  Deutschland  das  Bedürfniss  nach  zusam- 
menfassenden Bearbeitungen  der  griechischen  Geschichte  nur 
um  so  fühlbarer  werden.  Die  Uebersetzungen  der  englischen 
Werke  konnten  um  so  weniger  genügen,  als  sie  auch  billigen 
Anforderungen  nicht  entsprechen;  aber  wären  sie  auch  besser, 
so  können  Lebersetzungen  aus  fremder  Sprache  Originalwerke 
nie  ganz  ersetzen. 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  Grote' s  ersten  Bänden  erschienen 
die  Vorlesungen  Niebuhr's  über  alte  Geschichte,  welche  in 
ihrem  weitaus  grösseren  Theile  sich  mit  Griechenland  beschäf- 
tigen, geistreich,  gelehrt  und  in  hohem  Grade  anregend,  wne 
Alles,  was  von  dem  grossen  Historiker  ausgegangen  ist.  Aber 
abgesehen  davon,  dass  sie  fast  zwei  Decennien  früher  gehalten 
waren,  wäre  es  ungerecht  an  diese  A  orlesungen  den  Massstab 
eines  fertigen  Werkes  anzulegen.  Es  sind  freie  Vorträge  im 
vollsten  Sinne  des  Wortes,  ohne  dass  ein  Wort  vorher  nieder- 
geschrieben war,  für  Studenten  berechnet,  trotz  sorgfältiger 
Vorbereitung  doch  der  unmittelbare  Erguss  der  jeweiligen 
Stimmung,  reich  an  scharfen,  lehrreichen  Winken  und  Beob- 
achtungen, aber  nicht  von  gleichmässiger  Ausfühning  aller 
Theile ,  ohne  strenge  Anordnung  im  Einzelnen ,  ohne  die  ge- 
messene Abwägung  des  Ausdruckes,  wie  sie  ein  abgeschlosse- 
nes Geschichtswerk  fordert.  An  zahlreichen  Ungenauigkeiten 
fehlt  es  nicht,  und  nirgends  sind  Niebuhr's  ürtheile  rücksichts- 
loser und  einseitiger,  als  in  den  Vorlesungen.  Er  erzählte  mit 
lebhafter  Theilnahme,  als  ob  er  selbst  die  Ereignisse  mit  durch- 
lebt hätte.  Wie  ein  Athenischer  Demokrat  im  peloponnesi- 
schen  Kriege  hasste  er  Sparta,  wie  ein  Patriot  der  Demosthe- 
nischen  Partei  war  er  voll  Grimmes  gegen  die  genialen  Un- 
terdrücker griechischer  Selbständigkeit,  gegen  Philipp  und 
Alexandres  von  Makedonien.     Hätte  er  selbst  diese  Geschichte 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.  519 

zum  Drucke  gefördert,  Unzähliges  hätte  er  geändert,  berichtigt, 
gemässigt.  Nur  weim  man  an  der  Hand  der  Quellen  diese 
Vorlesungen  liest,  wird  man  wahren  Gewinn  davon  haben, 
aber  dann  auch  reichen. 

Weit  weniger  Beachtung  als  sie  verdient  hat  die  1854  in 
drei  Bänden  erschienene  »Geschichte  Griechenlands  von  der 
Urzeit  bis  zum  Untergang  des  Achäischen  Bundes «^  von  Fr. 
Kortüm,  Professor  in  Heidelberg,  gefunden.  Der  seither 
verstorbene  Verfasser  ist  durch  seine  lange  Wirksamkeit  in  der 
Schweiz,  an  der  Kantonsschule  in  Aarau,  im  Fellenbergischen 
Institut  in  Hofwyl  und  an  den  Universitäten  von  Basel  und 
Bern,  i'noch  bei  zahlreichen  ehemaligen  Schülern  in  gutem 
Andenken.  Viel  weniger  ist  es  ihm  gelungen  sich  in  Deutsch- 
land Anerkennung  und  einen  gedeihlichen  Wirkimgskreis  zu 
verschaffen,  und  besonders  seit  1848  hat  er  durch  seine  herbe, 
feindliche  Stimmung  gegen  die  dort  vorherrschenden  Bestre- 
bungen sich  immer  mehr  isolirt  und  sich  die  gelehrte  Welt 
entfremdet.  Ob  mit  Recht  oder  Unrecht,  ist  hier  nicht  der 
Ort  zu  untersuchen.  In  dieser  Stellung  ist  aber  gewiss  ein 
wesentlicher  Grund  der  geringen  Verbreitung  und  Berücksich- 
tigung seines  Geschichtswerkes  zu  suchen.  Für  den  grösseren 
Kreis  der  Gebildeten,  an  den  er  doch  bei  der  Abfassung  vor- 
züglich gedacht  hatte,  macht  die  originelle,  oft  ans  Sonderbare 
streifende  Manier  der  Darstellung  und  die  eine  grosse  Gedan- 
kenfülle in  wenige  Sätze  zusammendrängende,  an  ungewöhn- 
lichen Ausdrücken  reiche  Sprache  das  Buch  überdies  wenig 
geeignet,  und  so  ist  es  in  die  für  einen  weiteren  Leserkreis 
bestimmte  Litteratur  fast  nicht  eingetreten.  Und  doch  enthält 
es  neben  manchen  Einseitigkeiten  viel  Vortreffliches  und  zeich- 
net sich  besonders  durch  ein  ernstes  Streben  nach  strengster 
Unparteilichkeit  aus ,  welches  sowohl  den  verschiedenen  poli- 
tischen Parteien  als  den  streitenden  Personen  und  Völkern 
gerecht  zu  werden  bemüht  ist.  Ohne  in  das  Einzelne  einzu- 
treten heben  wir  hier  nur  aus  dem  ersten  Buche,  »die  Pelasgisch- 
morgenländische  Welt  und  die  Hellenische  (Griechische)  Ritter- 
oder  Herrenentwicklung  in  ihren  Gegensätzen  und  Kämpfen« 
hervor,  dass  Kortüm  darin  abweichend  von  den  Verfassern  der 
beiden  nachher  zu  nennenden  Werke  einen  specifischen 
Nationalitätsunterschied     zwischen     den     ältesten     Bewohnern 


520    ÜEBER  D.  NEUEREN  BEARBEITUNGEN  D.  GRIECH.  GESCHICHTE. 

Griechenlands,  den  Pelasgern  und  den  Hellenen  ainiimmt. 
Indem  er  die  Pelasger  aber  nicht  wie  Roth  und  seine  An- 
hänger für  Semiten  hält,  sondern  vielmehr  eine  Verwandtschaft 
mit  dem  Zendvolke  vermuthet,  treten  sie  im  Grunde  doch  in 
nahe  Verwandtschaft  mit  den  Hellenen;  daher  muss  es  auf- 
fallen an  einer  anderen  Stelle  zu  lesen,  dass  die  Hellenen  dem 
Pelasgisch-Phöuikischen  Morgenländertimm  weder  sinnes-  noch 
stammverwandt  gewesen  seien. 

Einer  weit  grösseren  Theilnahme  haben  sich  [gleich  bei 
ihrem  ersten  Erscheinen  die  beiden  noch  nicht  vollendeten 
Geschichten  Griechenlands  von  Max  D  u  n  c  k  e  r  und  Ernst 
Curtius  zu  erfreuen  gehabt.  Die  allgemeine  Aufmerksamkeit, 
welche  sie  erregt  haben  und  noch  erregen ,  und  ihre  weite 
Verbreitung  beweisen  schon,  dass  die  Verfasser  es  verstanden 
haben,  den  Ton  zu  treffen,  welchen  ein  Geschichtswerk  a\is 
dem  engeren  Kreise  der  bloss  gelehrten  Litteratur  in  den  wei- 
teren der  Nationallitteratur  hinausträgt  und  es  zu  einem  Be- 
sitzthum  der  Gebildeten  überhaupt  macht,  und  ein  etwas 
genauer  prüfender  P)lick  wird  zeigen,  dass  sie  trotz  gewisser 
Mängel  durch  wirkliche  \'orzüge  eine  günstige  Aufnahme  ver- 
dienen . 

Das  von  den  beiden  zuerst  begonnene  Werk  von  Duncker 
—  der  erste  Theil  erschien  1856,  der  zweite  1857  i;  —  bildet 
unter  dem  besonderen  Titel  »die  Geschichte  der  Grie- 
chen« einen  Bestandtheil  eines  grösseren  Ganzen,  einer  »Ge- 
schichte des  Alterthums«,  welche  der  Verfasser  bis  zur 
Begründung  der  Hen-schaft  der  Cäsaren  zu  führen  beabsichtigt. 
Mit  voller  Berechtigung  spricht  er  sich  dahin  aus,  dass  wenn 
auch  die  einzelnen  von  ihm  behandelten  Theile  im  wohl- 
erworbenen aber  getheilten  Besitz  der  Orientalisten  und  Theo- 
logen, der  Mythologen  und  Archäologen,  der  Philologen  und 
Romanisten  seien,  es  doch  nothwendig  sei,  dass  auch  zusam- 
menfassende Arbeiten  unternommen  werden,  dass  der  Versuch 
einer  genetischen  Darstellung,  einer  Reconstruction  jenes  alten 
Lebens  und  jener  alten  Culturformen.   auf  welchen  die  Bildung 


1)  Die  im  Jahre  1S6Ü  erschienene  zweite  Auflage,  in  -welcher  der  erste 
Band  sehr  wesentlich  verändert ,  der  zweite  fast  unverändert  wiederholt 
sein  soll,  ist  mir  noch  nicht  zu  Gesicht  gekommen  und  konnte  also  nir- 
gends berücksichtigt  werden. 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.  521 

der  Gegenwart  noch  immer  bernhe,  von  Zeit  zu  Zeit  erneuert 
werde.  Seine  Absicht  ist  also  eine  zusammenhängende  Ent- 
\\-icklung  der  gesammten  alten  Geschichte  nach  den  sorgfältig 
geprüften  Ergebnissen  der  Specialforschungen  zu  geben,  und 
zwar  mit  Rücksicht  auf  die  Bedeutung  der  alten  AVeit  für  die 
spätere  Geschichte,  für  die  Gegenwart.  Es  erhält  dadurch  das 
AVerk  eine  praktische  Tendenz,  die,  wenn  sie  sich  auch  nicht 
in  NutzanAvendungen  ergeht,  doch  vielfach  hervortritt.  Der 
Zusammenhang,  in  den  die  griechische  Geschichte  mit  den 
übrigen  gebracht  ist,  bewahrt  zugleich  den  Verfasser  vor  einer 
Einseitigkeit  und  Ueberschätzung  seines  Thema's,  in  die  leicht 
der  Specialforscher  verfällt.  Um  so  erfreulicher  ist  es,  zu 
sehen,  dass  er  deshalb  die  Bedeutung  der  griechischen  Ge- 
schichte nicht  unterschätzt  und  nicht  auf  die  Abwege  einer 
gCAvissen  orientalisirenden  Schule  geräth,  die,  von  hochmüthi- 
gem  Dünkel  getrieben.  Alles  aus  dem  Orient  ableitet,  luid  uns 
neuerdings  sogar  zumuthet,  die  attische  Tragödie  als  ein 
ägyptisches  Produkt  zu  betrachten.  Schon  der  äussere  Um- 
fang der  grichischen  Geschichte  Duncker's  zeigt,  welche  Stel- 
lung er  ihr  einräumt.  Während  die  gesammte  orientalische 
Geschichte  bis  auf  König  Dareios  zwei  Bände  umfasst,  sind 
eben  so  viele  für  die  Geschichte  Griechenlands  bis  ans  Ende 
der  Perserkriege  in  Anspruch  genommen. 

Duncker  verbindet  mit  dem  für  den  Historiker  unentbehr- 
lichen Ernst  der  Gesinnung  ein  gründliches  Studium  der 
Quellen  und  eine  sehr  umfassende  Kenntniss  der  neueren 
Forschungen  in  den  verschiedensten  Gebieten  des  Alterthums, 
und  hat  in  der  Regel,  ohne  sie  namentlich  anzuführen,  die 
Resultate  derselben  in  geschickter  Weise  und  mit  selbständi- 
gem Urtheile  zu  einem  Ganzen  zu  verarbeiten  gewusst.  Alle 
Richtungen  des  Volkslebens,  Sitte  und  Religion,  Litteratur 
und  Kunst,  Staat,  Gesetzgebung  und  Kriegsereignisse  sind  ins 
Auge  gefasst;  aber  der  vorzüglichste  Theil  ist  doch  ohne 
Zweifel  die  eigentliche  politische  Geschichte ,  avo  die  Partei- 
verhältnisse,  die  Verfassungen  und  Gesetze,  die  Beziehungen 
der  Staaten  zu  einander  mit  grosser  Klarheit  und  Bestimmtheit 
geschildert  sind.  Und  hier  müssen  wir  besonders  die  Unbe- 
fangenheit rühmen,  womit  die  verschiedenen  politischen  Rich- 
tungen   ihre    Anerkennung    finden.       So    entschieden    liberal 


522  Heber  d.  xeueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte. 

Dunckers  eigentliche  politische  Meinung  ist,  ebenso  entschie- 
den weiss  er  die  Berechtigung  verschiedener  politischer  Rich- 
tungen und  Verfassungen  unter  verschiedenen  Verhältnissen 
zu  würdigen  und  verfällt  nie  in  jene  flache  Betrachtungsweise, 
welche  Alles  nach  Schlagwörtern  und  Parteischablonen  bemisst. 
So  ist  denn  namentlich  die  Darstellung  der  griechischen  Ari- 
stokratie in  ihrer  Blüthezeit  eine  sehr  schöne.  Weniger  ge- 
lungen scheint  mir  die  Beurtheilung  der  Tyrannis,  die  mehr 
als  billig  im  Lichte  eines  neuen  Königthums  auf  demokrati- 
scher Basis  aufgefasst  ist.  Offenbar  aber  steht  an  politischer 
Unbefangenheit  Duncker  über  Grote. 

Die  Anordnung  des  Stoffes  ist  übersichtlich  und  klar,  die 
Darstellung,  im  Ganzen  einfach  und  würdig,  ist  doch  oft  gar 
zu  breit  und  leidet  hier  und  da  an  einer  gewissen  Manier,  wie 
hier  nur  ein  Beispiel  [zeigen  mag.  Band  I.  Seite  590  lesen 
wir:  »der  Adel  hatte  zu  diesem  Zwecke  nichts  weiter  nöthig 
als  seine  Knaben  und  Jünglinge  zu  frommen  Männern  zu 
machen^  als  ihnen  das  Wesen  der  Götter  so  anschaulich  als 
möglich  vorzuführen,  den  Willen  der  Götter  so  eindringlich 
als  möglich  in  die  Seele  zu  prägen.  Dadurch  mussten 
ihre  Seelen  richtig  gestimmt,  dadixrch  mussten  sie  mit  den 
edelsten  Gefühlen   erfüllt  werden«  u.   s.  w. 

Es  hängt  diese  oft  zur  Ermüdung  vorkommende  Manier 
mit  dem  Bestreben  zusammen,  möglichst  anschaulich  in  der 
Erzählung  zu  sein,  und  denselben  Gegenstand  gleichsam  von 
allen  Seiten  dem  Leser  vor  Augen  zu  stellen.  Duncker  hat 
sich  den  mit  gi-osser  Mühe  und  Arbeit  aus  hundert  und  aber 
hundert  Quellen  zusammengesuchten  Stoff  vollkommen  ange- 
eignet und  ihn  in  seinem  Geiste  verarbeitet,  und  das  Produkt 
dieser  Geistesarbeit  giebt  er  nun  objectiv  gleichsam  als  ur- 
sprünglicher Erzähler  in  der  Regel  ohne  uns  weiter  in  das 
mühselige  Geschäft  des  Zusammenstellens,  Sichtens  und  Ord- 
nens,  des  Verwerfens  und  Annehmens  einen  Blick  zu  eröffnen. 
Er  hat  sich  so  lebendig  in  die  Verhältnisse  hineingedacht,  so 
hineingelebt  und  von  der  Wahrheit  seiner  Auffassung  so  über- 
zeugt, dass  er  dem  Leser  nun  auch  zumuthet,  mit  völligem 
Zutrauen  seine  Erzählung  anzunehmen.  Es  giebt  dieses  Ver- 
fahren dem  Werke  freilich  eine  gewisse  Frische  und  Unmittel- 
barkeit,  welche  den  Leser  anzieht  und  mitten  in  die  Ereignisse 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.  523 

hinein  versetzt.  Aber  es  lassen  sich  billige  Zweifel  aufwerfen, 
ob  es  vor  den  strengen  Gesetzen  der  Geschichte  sich  verthei- 
digen  lasse,  nicht  der  Phantasie  zii  grossen  Spielraum  gewähre 
und  bisweilen  an  den  historischen  Eoman  streife.  Wir  wollen, 
um  uns  deutlich  zu  machen,  ein  aufs  Gerathewohl  herausge- 
griflfenes  Beispiel  anführen.  Nachdem  König  Kleomenes  von 
Sparta  die  Peisistratiden  aus  Athen  vertrieben  hatte,  unterstützte 
er  bekanntlich  die  aristokratische  Partei  des  Isagoras  gegen- 
über der  demokratischen  des  Kleisthenes.  Als  er  aber  die  An- 
hänger des  Kleisthenes  vertrieben  hatte  und  auch  den  Eath 
ändern  wollte ,  fand  er  bei  diesem  Widerstand  und  unwillig 
erhob  sich  das  Athenische  Volk.  Kleomenes  und  Ilsagoras 
besetzten  nun  die  Burg,  wo  sie  von  den  Athenern  belagert 
und  am  dritten  Tage  zur  Uebergabe  gezwungen  Avurden.  Nun 
lesen  wir  bei  Duncker,  nachdem  schon  die  ersten  Massregeln 
des  Kleomenes  mit  einigen  Amplificationen  erzählt  sind :  »Ein 
wüthender  Aufstand  erhob  sich;  Isagoras  musste  mit  seinen 
Anhängern  hinter  den  Mauern  der  Burg  Schutz  suchen.  Dichte 
Massen  drängten  sich  um  die  Akropolis  zusammen.  In  tiefen 
Colonnen,  siebzehn  [Schilde  hoch,  versuchten  die 
Bauern  die  neun  Thore,  die  pelasgische  Mauer  zu 
nehmen.  Schon  am  dritten  Tage  sank  den  Spartanern  der 
Muth.«  Da  glaubt  wohl  ein  mit  den  Quellen  nicht  vertrauter 
Leser,  wir  hätten  über  diese  Belagerung  und  Bestürmung  der 
Burg  eine  genaue  Schilderung  bei  einem  alten  Geschicht- 
schreiber. Allein  schlägt  man  Herodot  nach,  der  uns  fast 
allein  das  Ereigniss  erzählt,  so  findet  man  von  dem  Detail 
nichts.  Und  doch  hat  Dimcker  nichts  aus  der  Luft  gegriifen. 
In  der  Lysistrate  des  Aristophanes  hat  er  etwas  der  Art  ge- 
lesen. Dort  haben  die  Weiber,  um  die  Männer  zum  Frieden 
mit  Sparta  zu  zwingen,  die  Akropolis  besetzt.  Der  Chor  der 
Greise  ist  darüber  ausser  sich  und  will  die  Burg  stürmen. 
Denn  auch  Kleomenes,  singt  er,  der  sie  einst  besetzt  hatte, 
kam  nicht  ungestraft  fort,  »so  grimmig  hab'  ich  jenen  Mann 
belagert,  siebzehn  Schilde  hoch  an  den  Thoren«  —  nicht  etwa 
stürmend,  sondern  —  »schlafend.«  Dass  die  Athener  in  tiefen 
Massen  vor  den  festen  Thoren  der  Akropolis  lagerten,  ist  ganz 
natürlich;  der  Zugang  ist  schmal,  sie  konnten  nicht  anders 
die   Burg   blokiren.     Dass    die    siebzehn  Schilde    des   Dichters 


524    ^EBER  D.  NELEREN  BEARBEITUNGEN  D.  GRIECH.  GeSCKICHTE. 

auf  einer  Ueberlieferimg  beruhen ,  ist  möglich ,  -wer  will  es 
entscheiden,  eben  so  möglich  aber  ist  es  auch  bloss  dichteri- 
sche Fiction.  Dass  sie  aber  siebzehn  Schilde  hoch  die  Thore 
gestürmt,  das  sagt  niemand,  nicht  einmal  der  Dichter.  Es 
wäre  auch  ein  höchst  unzweckmässiges  Manöver  gewesen,  da 
eine  blosse  Einschliessung  ohne  alle  Gefahr  die  Uebergabe 
herbeiführen  musste ,  indem  die  Eingeschlossenen  sich  ohne 
Zweifel  nicht  hatten  verproviantiren  können.  Und  nun  die 
Bauern?  Sie  sind  durchaus  Dunckers  Zuthat.  Dass  die 
Masse  der  attischen  Bevölkerung  damals  noch  dem  Bauern- 
stand angehörte,  ist  wahr;  dieser  Stand  war  durch  die  Gesetze 
Solons  vom  Verderben  gerettet  worden.  Das  hebt  Duncker 
wiederholt  ganz  richtig  hervor;  aber  dass  darum  gerade  die 
Belagerer  der  Akropolis  gerade  Bauern  genannt  werden,  ist 
nicht  zu  rechtfertigen.  Sicherlich  machten  die  zunächst  woh- 
nenden zahlreichen  Bewohner  der  Stadt  einen  Haupttheil  der 
Belagerer  aus .  und  unter  ihnen  waren  schon  damals  eine 
grosse  Anzahl  Gewerbe-  und  Handeltreibender,  die  vorzugs- 
weise zur  Partei  des  Kleisthenes  gehörten.  Auch  für  die  Ca- 
pitulationsbedingungen  des  Kleomenes  hat  Duncker  über  den 
Bericht  des  Herodot  hinaus  den  Aristophanes  mehr,  als  dem 
Historiker  gestattet  war,  benutzt. 

Es  betrifft  dieses  Beispiel  eine  verhältnissmässig  unbedeu- 
tende Sache,  aber  genügt  um  die  Methode  zu  bezeichnen,  die 
nur  zu  oft  angewandt  ist,  auch  in  viel  wichtigeren  Fällen. 
Die  oben  an  Grote  gerühmte  Kimst  des  Nichtwissens  am 
rechten  Orte  wird  ganz  bei  Seite  gesetzt,  die  imgewissesten 
Hypothesen  werden  mit  apodiktischer  Sicherheit  vorgetragen. 

Indem  wir  uns  vorbehalten,  nachher  noch  auf  Duncker 
zurückzukommen,  wenden  wir  uns  einstweilen  zu  Curtius. 
Seine  griechische  Geschichte .  deren  erster  und  noch  einziger 
Theil  1857  erschienen  ist,  gehört  zu  der  Sammlung  von  Wer- 
ken über  das  Alterthum.  welche  in  der  Weidmann' sehen  Ikich- 
handlung  herauskommen.  Durch  den  Beifall,  mit  dem  einige 
andere  Bücher  derselben  Sammlung  aufgenommen  worden 
waren,  und  durch  den  wohlverdienten  Namen,  welchen  das 
vortreffliche  Werk  über  den  Peloponnesos  dem  Verfasser  er- 
worben hatte,  waren  schon  im  A'oraus  die  Erwartungen  ziem- 
lich hoch  gespannt  und  sie  sind  auch  nicht  getäuscht  worden, 


Ueber  d.  neuerkn  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.   525 

wenn  auch  das  Buch  zu  manchen  Bedenken  Veranlassung  giebt 
und  auch  bald  nach  dem  Erscheinen  desselben  sich  mehrere 
harte  und  ungerechte  Urtheile  haben  vernehmen  lassen.  Die 
Aufgabe,  die  sich  der  Verfasser  gestellt  hat,  ist  die,  im  Ge- 
gensatz zu  Monographien  sowohl,  als  zu  bändereichen  Ge- 
schichten, wie  die  von  Grote,  in  einem  Werk  von  massigem 
Umfang  das  überaus  reiche  Material  zusammenzufassen  und 
ein  lebendiges  Bild  von  dem  griechischen  Volke  und  seiner 
Geschichte  zu  entrollen;  er  will  die  Ergebnisse  eigener  und 
fremder  Forschung,  so  weit  sie  ihm  probehaltig  erscheinen, 
übersichtlich  darstellen  und  durch  das  Nebeneinanderstellen 
grösserer  Gruppen  den  inneren  Zusf.mmenhang  selbst  sprechen 
und  wirken  lassen.  Auch  er  Avill,  wie  Duncker,  nicht  sowohl 
Forschungen  für  Gelehrte,  als  Resultate  von  Forschungen  für 
Gebildete  geben.  Diese  Absicht  tritt  schon  äusserlich  in  dem 
ziemlich  knappen  Umfange  hervor.  Der  erste  massige  Band 
führt  uns  bis  zur  Unterdrückimg  des  Ionischen  Aufstandes 
durch  die  Perser.  Duncker  hat  demselben  Zeiträume  fast 
zwei,  Grote  sogar  vier  Bände  gewidmet.  Es  ist  ferner  aus 
dieser  Absicht  zu  erklären,  dass  Curtius,  wie  Mommsen  in 
seiner  römischen  Geschichte,  keine  Belege  für  seine  Darstel- 
lung und  Auffassung  giebt.  Der  Leser  soll  in  dem  Genuss 
des  Buches  nicht  durch  kritische  Erörterungen  gestört,  nicht 
in  die  Arbeit  eingeführt  Averden,  durch  Avelche  der  Verfasser 
zu  seinen  Resultaten  gelangt  ist.  So  Manches  sich  für  dieses 
Verfahren  sagen  lässt,  kann  es  doch  wohl  nur  da  ganz  gerecht- 
fertigt erscheinen,  wo  sichere  Resultate  vorgetragen  werden. 
Der  Fachgelehrte  weiss,  wo  er  die  Quellen  zu  suchen  hat,  für 
die  übrigen  Leser  hat  deren  Nachweisung  keinen  Werth.  Es 
wird  aber  die  Methode  höchst  gefährlich,  wo,  wie  das  bei 
Curtius  vielfach  der  Fall  ist,  ganz  neue  Sätze  und  Vermuthun- 
gen  aufgestellt  werden,  und  führt  zu  einem  Vermengen  des 
Sichern  und  des  bloss  Hypothetischen,  das  wir  bei  ihm  wie 
bei  Duncker  oft  nicht  genug  vennieden  finden.  Es  ist  sehr 
häufig  für  den  Gebildeten  rein  unmöglich  zu  unterscheiden, 
Avas  blosse  H)-]3othese  und  was  überlieferte  Thatsache  ist,  und 
selbst  der  Mitforscher  vermag  oft  kaum  zu  finden,  worauf  diese 
oder  jene  Darstellung  begründet  ist.  Dieser  Uebelstand  tritt 
um  so  mehr  hervor,    als  das  Buch  an  neuen,    überraschenden 


526  Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griecii.  Geschichte 

Auffassungen  und  Behauptungen  überreich  ist.  Curtius  hat 
das  später  selbst  gefühlt  und  mit  dem  zweiten  Abdrucke  des 
ersten  Bandes  einen  Anhang  mit  rechtfertigenden  und  erläu- 
ternden Bemerkungen  nachgeliefert,  der  niu-  mit  Dank  auf- 
genommen werden  konnte. 

Sieht  man  über  diesen  Punkt  hinweg,  so  hat  der  Verfasser 
seinen  Stoff,  den  er  vollkommen  behen'scht,  mit  grosser  Kunst 
zu  gestalten  und  zu  gruppiren  verstanden.  In  passendem  ^  er- 
hältniss  sind  die  verschiedenen  Seiten  des  Volkslebens  berück- 
sichtigt und  mit  warmer  Theilnahme  gezeichnet.  Wie  der 
Ausdruck  durchweg  kunstreich  und  gewählt,  so  ist  die  ganze 
Haltung  eine  ruhige,  man  möchte  sagen  von  griechischer 
Sophrosyne  durchwehte,  die  Urtheile  über  Völker  und  Indivi- 
duen sind  sorgfältig  erwogen.  In  meisterhafter  Weise  hat  der 
Verfasser  in  dem  ersten  »Land  und  Volk«  überschriebenen 
Abschnitte  den  Boden  geschildert,  auf  dem  die  Griechen  ge- 
lebt und  gewirkt  haben;  sein  mehrjähriger  Aufenthalt  auf 
demselben  hat  ihm  in  dieser  Beziehinig  einen  grossen  Vorzug 
vor  Duncker  und  Grote  gegeben.  Die  klarste  Anschauung 
tritt  aus  den  kurzen  Schilderungen  dem  Leser  entgegen.  Sehr 
schön  ist  der  peloponnesischen  und  der  attischen  Geschichte 
von  der  Zeit  der  Wandenmgen  an  die  Geschichte  der  Hellenen 
ausserhalb  des  Archipelagus ,  das  heisst  die  Geschichte  der 
Colonien  entgegengestellt.  Durch  sie  erhält  der  Leser  einen 
rechten  Begriff  von  der  gewaltigen  Ausbreitung  des  hellenischen 
Lebens,  und  ebenso  geschickt  folgt  diesem  Bilde  der  Expansion 
die  Darstellung  der  griechischen  Einheit,  wie  sie  in  der  Re- 
ligion, der  Erziehung  und  den  Künsten  enthalten  ist,  worauf 
dann  in  den  Kämpfen  der  asiatischen  Griechen  mit  den  lydi- 
dischen  und  persischen  Reichen  der  erste  Theil  seinen  passen- 
den Abschluss  erhält. 

Wenn  vrii  also .  jenen  oben  berührten  Punkt  ausgenom- 
men, dem  Werke  in  formeller  Beziehung  die  vollste  Anerken- 
nung zollen  müssen,  so  ist  es  uns  andererseits  freilich  unmög- 
lich, uns  mit  manchen  materiellen  Resultaten  desselben  ein- 
verstanden zu  erklären.  AVenn  gegen  dieselben  mannichfaltige 
Einwendungen  erhoben  worden  suid,  so  ist  das  sehr  begreif- 
lich, sobald  man  bedenkt,  dass  dieser  erste  Band  zum  grossen 
Theil  die  Perioden  behandelt,   für  welche  die  sichere  historische 


Ueber  d,  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.   527 

Basis  fehlt,  und  dass  Curtius  so  wenig  als  Duncker  darauf 
verziclitet  hat,  aus  der  sogenannten  mythischen  Zeit  gewisse 
Thatsachen  zu  ermitteln.  Hier  überall  Resultate  zu  fordern, 
die  keine  Einwendungen  zulassen,  wäre  unbillig.  Aber  Curtius 
hat  doch  offenbar  die  Lücken,  welche  die  Quellen  lassen,  durch 
allzukühne  Combinationen  auszufüllen  getrachtet,  den  Nach- 
richten der  Alten  nicht  selten  eine  bedenkliche  Deutung  ge- 
geben, aus  vereinzelten,  sehr  kunstvoll  zusammengestellten 
Notizen  zu  weitschichtige  Folgerungen  gezogen  und  daraus 
mehr  als  ein  Gebäude  aufgeführt,  dessen  Grundlage  schwer- 
lich feststeht.  Auch  er  hat  sich  von  dem  Bestreben,  Alles  zu 
ergründen  und  alle  Widersprüche  m  egzuräumen,  zu  weit  führen 
lassen,  weiter  als  mit  den  Forderungen  der  Geschichte  ver- 
träglich ist. 

Curtius  und  Duncker  sind  gewiss  in  ihrem  Rechte,  wenn 
sie,  im  Gegensatz  zu  Grote,  auch  für  die  Zeiten,  wo  geschicht- 
liche Nachrichten.  Mythos  und  Dichtung  so  verwoben  sind, 
dass  eine  völlige  Scheidung  nie  gelingen  wird,  gCAvisse  histo- 
rische Thatsachen  festzustellen  suchen,  und  wir  lassen  uns  in 
dieser  Ansicht  auch  dadurch  nicht  irre  machen,  dass  sie  in 
ihren  Ergebnissen  sehr  weit  auseinander  gehen  und  auch  von 
Anderen,  die  sich  mit  dem  gleichen  Gegenstand  beschäftigt 
haben,  abweichen.  Es  beweist  das  eben  nur  die  Schwierigkeit 
der  Aufgabe.  Und  wenn  andererseits  von  einer  Schule,  die 
sich  einbildet  an  historischer  Ueberlieferung  festzuhalten,  weil 
sie  etwa  die  Nachrichten  des  Diodor  ohne  Weiteres  für  Ge- 
schichte nimmt,  über  Willkür  der  Kritik  geklagt  \^drd,  so 
müsste  von  dieser  Seite  erst  einmal  gezeigt  werden,  auf  welche 
Weise  denn  Uebereinstimmung  in  die  sich  widersprechenden 
und  kreuzenden  Nachrichten  gebracht  werden  kann.  Ohne 
Kritik  wird  das  nie  abgehen  und  die  grosse  SchAvierigkeit  liegt 
eben  darin,  sie  richtig  zu  üben.  —  Mit  vollem  Rechte  haben 
auch  die  beiden  Verfasser  die  Ergebnisse  der  orientalischen 
Alterthumskunde  und  der  Si^rachforschung  für  die  ältesten 
griechischen  Verhältnisse  benutzt. 

Ins  Einzelne  einzugehen  erlaubt  uns  der  Raum  nicht  und 
ist  um  so  weniger  nöthig,  als  beide  Werke  Jedem,  der  sich 
darum  interessirt,  zu  Gebote  stehen.  Wir  wollen  nur  darauf 
aufmerksam  machen,    wie   Curtius   und   Duncker   darin   über- 


528  TJeberu.  xeleren  Eearbeitu>ge>"  d,  griech.  Geschichte. 

einstimmen,  dass  sie  schon  die  älteste  Bevölkerung  Griechen- 
lands, die  man  unter  dem  Namen  der  Pelasger  zusammen- 
zufassen pflegt,  als  eine  von  den  Hellenen  nicht  national  ver- 
schiedene, sondern  stammvenvandte  ansehen,  welche  durch  den 
Einfluss  einiger  besonders  thatkräftiger  Stämme  zum  Hellenen- 
thum  erhoben  wurde.  In  der  Art,  wie  das  geschah,  schliesst 
sich  Duncker  mehr  den  gewöhnlichen  Ansichten  an,  während 
hier  Curtius  einen  durchaus  neuen  Weg  einschlägt  und  den 
loniern,  gegenüber  den  anderen  Stämmen,  eine  ganz  besonders 
hohe  Stellung  anweist.  Im  Gegensatz  zu  den  anderen  Stäm- 
men, die  nach  ihm  über  den  Hellespont  auf  dem  Landwege 
nach  Griechenland  gekommen  sind,  haben  die  lonier  zuerst 
die  kleinasiatische  Küste  besetzt  und  von  da  aus  sich ,  über 
das  Meer  kommend,  besonders  in  den  Uferländern  und  Fluss- 
thälem  angesiedelt.  Sie  sind  es,  die  nach  ihm  den  Verkehr 
mit  dem  Orient  vermitteln ,  und  ihnen  weist  er  so  ziemlich 
Alles  zu.  was  gewöhnlich  den  orientalischen  Colonisten,  Phö- 
nikiem  und  Aegyptiem  beigeschrieben  wird :  die  ganze  ältere 
Cultur  Griechenlands  soll  von  ihnen  ausgegangen  sein.  So 
viel  Richtiges  in  dieser  Hypothese  ist  und  so  gelehrt  imd 
scharfsinnig  sie  entwickelt  M-ird,  so  hat  ihr  doch  der  Verfasser 
eine  Ausdehnung  gegeben, ,  die  wir  hier  nicht  weiter  verfolgen 
können,  die  aber  offenbar  geeignet  ist,  auch  das  Berechtigte 
an  der  Sache  in  Frage  zu  stellen  und  der  Absicht  des  Ver- 
fassers selbst  zu  schaden.  Wir  zweifeln  aber  nicht,  dass  sie 
bei  einem  Ziirückführen  auf  ein  beschränkteres  Mass  mehr  und 
mehr  Anerkennung  finden  werde. 

Wenn  in  der  Zeit  bis  zu  der  dorischen  Wanderung  der 
Boden  ein  sehr  unsicherer  ist,  so  darf  man  deshalb  nicht 
glauben,  dass  er  nach  derselben  nun  unbedingt  feststehe.  Die 
spätere  Zeit  ist  freilich  nicht  mehr  in  gleichem  Masse  Gegen- 
stand poetischer  L  eberlieferung  gewesen ;  aber  die  historischen 
Quellen  fliessen  ungemein  spärlich  und  mit  der  gewöhnlich 
recipirten  Erzählung  stehen  manche  Avohlbeglaubigte  Einzel- 
nachrichten in  schwer  auszugleichendem  Widerspruche.  Es 
zeigt  sich  das  nii-gend  schlagender  als  in  dem  -«"ichtigsten 
Theile  dieser  Periode,  der  Entwicklung  des  spartanischen 
Staates,  und  in  dem  grössten  Ereignisse  derselben,  der  festen 
Begründung  dieses  Staates    durch  Lykurg,    und   es   ist   höchst 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.  529 

interessant  zu  sehen ,  A\-ie  sehr  über  diesen  vermeintlich  so 
klaren  Gegenstand  die  Ansichten  auseinander  gehen.  Während 
Grote  und  Kortüm  das,  was  nach  der  gewöhnlichen  Meinung 
eine  Hauptgrundlage  der  ganzen  Verfassinig  Avar.  die  Aecker- 
theilung  verwerfen  und  als  eine  Erfindung  der  Staatstheoretiker 
des  dritten  Jahrhunderts  ansehen,  lassen  Curtius  iind  Duncker 
sie,  gewiss  mit  gutem  Grunde,  in  mehr  oder  weniger  grossem 
Umfange  bestehen.  Aber  darauf  beschränkt  sich  die  Ver- 
schiedenheit nicht.  Curtius  hat  das  ganze  Gesetzgebungs- 
Merk  des  Lykurg  dadurch  in  einem  durchaus  neuen  Lichte 
a\ifgefasst ;,  dass  er  den  damaligen  spartanischen  Staat  noch 
nicht  als  einen  dorischen  betrachtet,  sondern  vielmehr  als 
einen  wesentlich  achaiischen,  den  nur  durch  dorische  Waifen- 
macht  zu  stützen  die  Absicht  des  Lykurg  gewesen  sei.  Diesen 
lasse  schon  sein  weiter  staatsmännischer  lilick  als  Nichtdorier 
erkennen.  Die  überlieferte  Thatsachej  dass  die  Könige,  wenig- 
stens die  des  einen  Hauses,  Achaier  gewesen,  —  denn  in 
denen  des  andern  vermuthet  Curtius  Aiolier  —  ist  die  Haupt- 
grundlage dieser  Auffassung.  Erst  als  an  den  tyrannischen 
Gelüsten  der  Könige  »das  grosse  lykurgische  Yersöhnungswerk« 
scheiterte,  sei  durch  die  Erstarkxuig  und  Erhebung  des  früher 
unbedeutenden  Ephorenamtes  mehr  und  mehr  dorische  Volks- 
kraft durchgedrungen,  imd  der  Staat,  »welcher  ursprünglich 
seinen  wesentlichen  Institutionen  nach  ein  achaiischer  war«, 
immer  mehr-  ein  dorischer  geworden.  Diese  Ansicht  steht  na- 
mentlich der  von  Otfried  Müller,  der  seinerseits  alles 
Herrliche  von  vome  herein  an  die  Dorier  knüjjfte,  schroff 
entgegen  und  verdient  noch  weitere  genauere  Prüfung,  in  die 
hier  nicht  eingetreten  Averden  kann.  Nur  der  Bemerkung 
können  wir  uns  nicht  enthalten,  dass  der  Gegensatz  des  do- 
rischen und  achaiischen,  wie  anderwärts  des  dorischen  und 
ionischen  Charakters  und  Wesens  ims  in  einer  zu  schroffen 
Weise  durchgeführt  und  gar  zu  wenig  R.uf  die  Assimilation  der 
mehrere  Generationen  durch  untereinander  lebender  Geschlech- 
ter geachtet  zu  sein  scheint. 

Weit  mehr  schliesst  sich  der  herkömmlichen  Darstellung, 
dass  Sparta  seit  der  dorischen  Wanderung  und  noch  mehr  seit  der 
lykurgischen  Gesetzgebung  ein  dorischer  Staat  gewesen  sei,  Dun- 
cker an,  löst  aber  dann  eine  ganze  Reihe  specifisch  spartanischer 

V  i  s  c  h  e  r ,  Schriften  I.  34 


530  Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte. 

Einrichtungen  von  der  lykurgischen  Gesetzgebung  ab,  um  sie 
dem  zu  den  sieben  Weisen  gereclmeten  Cheilon  zuzuweisen.  — 
Wie  viel  des  Unsicheren  und  Hj-pothetischen  ist  da  noch,  und  wie 
schwer  muss  es  dem  gebildeten  Leser,  der  aber  nicht  Fachgelehr- 
ter ist,   werden,   sich  in  solchen  Gegensätzen  zurecht  zu  finden  ! 

Eine  sehr  einlässliche  Würdigung  haben  Duncker  und 
Curtius  dem  delphischen  Orakel  zu  Theil  werden  lassen,  und 
ganz  besonders  hat  der  letztere  es  im  weitesten  Sinne  als 
den  geistigen  Mittelpunkt  der  Griechenstämme ,  von  dem  alle 
Culturfäden  auslaufen,  in  überraschender  geistvoller  Weise 
hingestellt.  Mag  man  auch  gegenüber  manchen  Einzelheiten 
gegründete  Zweifel  hegen,  so  ist  ihm  doch  damit  eine  so  be- 
deutungsvolle Stellung  angewiesen,  dass  es  jedenfalls  als  einer 
der  wichtigsten  Faktoren  in  der  älteren  griechischen  Geschichte 
wird  anerkannt  werden  müssen.  Nicht  recht  reimen  können 
wir  es,  wie  der  \'ei'fasser,  der  nachdrücklichst  den  allgemeinen 
hellenischen,  amphiktyonischen  Charakter  des  delphischen  Hei- 
ligthums  hervorhebt  und  Seite  427  sagt:  »die  delphischen 
Grundsätze  waren  in  Kreta  und  Sparta  verwirklicht;  das  waren 
die  Staaten  nach  dem  Herzen  des  pythischen  Apollon  und 
darum  wird  auch  von  den  ihm  zugethanen  Weisen  berichtet, 
sie  seien  lakonisch  gesmnt  gewesen, w  —  wie  derselbe  an 
einer  anderen  Stelle  ^S.  407  die  Gründung  der  Isthmischen 
und  Nemeischen  Feste  als  eine  Oppositionshandliuig  des  dori- 
schen Sparta  erklären  und  sagen  kann:  »sie  sollten  zur  neuen 
Verherrlichung  der  dorischen  Halbinsel,  als  des  eigentlichen 
Hellenenlandes,  dienen  und  dem  paruassischen  Feste,  wo  der 
ionische  Einfluss  vorwaltete,  den  \  oirang  streitig  machen.« 
Der  heilige  Krieg  war  allerdings  mehr  von  ionischen  als  do- 
rischen Staaten  für  Delphi  gefülirt  worden,  aber  deshalb  doch 
nicht  der  ganzen  heiligen  Stätte  ein  so  einseitiger  Charakter 
aufgeprägt  worden,  dass  es  einer  Oppositionsmassregel  bedurfte. 
Die  Haltung  des  Orakels  gegen  die  TjTannien  beweist  das  hin- 
länglich. Mit  ebenso  viel  Recht  könnte  man  aus  den  reichen 
Stiftungen  der  Kypseliden  und  der  Orthagoriden  zu  Ohonpia 
einen  vorliegend  antidorischen  Einfluss  an  dieser  Stätte  folgern. 

Unter  den  Bildungselementen,  welche  in  enger  Verbindung 
mit  den  heiligen  Stätten  waren,  hebt  Curtius  auch  mit  Recht 
die  Schrift  hervor.     Er  gesteht   ihr  eine  frühe  Einführung  für 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  greech.  Geschichte.   531 

geschäftliche  Zwecke ,  aber  erst  eine  sehr  späte  Anwendung 
für  die  Mittheilung  von  Gedanken  zu.  Aber  die  Gründe,  die 
für  eine  vermeintliche  Abneigung  der  Griechen  gegen  eine 
solche  angeführt  werden,  sind  nicht  eben  überzeugend.  Denn 
der  Satz:  »das  Wort  selbst  schien  den  Griechen,  sowie  es  in 
Schriftzeichen  übergegangen  war,  getödtet  und  abgestorben,«  ist 
doch  nur  eine  petitio  principii.  Und  wenn  dann  gesagt  wird : 
»Wie  lange  sich  daher  ihr  Sinn  gegen  einen  ausgedehnteren 
Schriftgebrauch  gesträubt  hat,  erkennt  man  schon  daraus,  dass 
sie  für  den  Begriff  des  Schreibens  in  ihrer  reichen  Sprache 
niemals  ein  ganz  bezeichnendes  Wort  und  für  den  Begriff  des 
Lesens  immer  nur  einen  umständlichen  und  schwerfälligen 
Ausdruck,  welcher  wiedererkennen  bedeutet,  gehabt  haben,« 
so  möchte  man  fragen ,  ob  aus  den  deutschen  Wörtern  Buch- 
stabe und  Lesen  sich  nicht  die  gleichen  Folgerungen  ziehen 
Hessen,  und  doch  sind  es  unter  den  neueren  Völkern  die 
Deutschen,  wie  unter  den  alten  die  Griechen,  welche  am 
meisten  sclireiben  und  lesen. 

Doch  wir  wollen  nicht  in  Einzelheiten  eintreten,  so  oft 
gerade  die  reiche  Fülle  von  Gedanken  zu  Einwendungen  reizt. 
Je  mehr  man  sich  den  Perioden  nähert,  für  welche  die  Ueber- 
lieferung  sicherer,  die  Grundlage  fester  wird,  um  so  mehr  kann 
man  sich  mit  voller  Beistimmung  der  Darstellung  freuen,  und 
so  gewährt  namentlich  der  Theil,  welcher  die  attische  Ge- 
schichte von  der  Gesetzgebung  Solons  an  behandelt,  vollste 
Befriedigung.  Duncker  in  ausführlicher  Erzählung,  Curtius  in 
gedrängterer  knapperer  Form,  anerkennen  beide  Solon  als  den 
grössten  Gesetzgeber  des  Alterthums. 

Mit  gerechten  Erwartungen  sieht  man  daher  den  Fort- 
setzungen der  beiden  Werke  entgegen,  weiche  zunächst  die 
grösste  und  herrlichste  Zeit  Griechenlands  behandehi  werden, 
die  Periode,  welche  auch  im  Ganzen  durch  zeitgenössische  Be- 
richte und  Documente  aller  Art  eine  ganz  andere  Basis  hat 
als  die  bisherige.  Duncker 's  Arbeit  scheint  durch  die  ver- 
änderten Verhältnisse  des  Verfassers  etwas  ins  Stocken  ge- 
kommen zu  sein.  Der  zweite  Band  von  Curtius,  der  im 
dritten  Buche  die  Zeit  bis  zum  peloponnesischen  Kriege  be- 
handelt, im  vierten  diesen  Krieg  selbst,  ist  vollendet  oder 
wenigstens  fast  vollendet  und  wird  vielleicht  schon  vor  diesen 

34* 


532  Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte. 

Zeilen  an  die  OefFentlichkeit  getreten  sein.  Durch  die  Güte 
des  Verfassers  ist  dem  Unterzeichneten  die  Einsicht  in  einen 
grossen  Theil  desselben  bereits  gestattet  gewesen.  Obgleich 
es  nun  nicht  passend  erscheint,  ehe  der  Band  ausgegeben  ist, 
in  eine  nähere  Besprechung  einzutreten,  so  glauben  wir  doch 
versichern  zu  dürfen,  dass  er  auch  hohe  Ansprüche  befriedigen, 
auch  bei  Solchen  Anerkennung  finden  wird ,  die  gegen  den 
ersten  Theil  vielfach  Einsprache  erhoben  haben.  Hier  handelt 
es  sich  nicht  mehr  darum,  mit-  divinatorischem  Geiste  aus 
einzelnen  oft  widersprechenden  Nachrichten  oder  mythisch- 
poetischen Ueberlieferimgen  em  mehr  oder  Aveniger  haltbares 
neues  Gebäude  aufzuführen  und  grosse  Lücken  durch  Ver- 
muthungen  auszufüllen,  sondern  vielmehr  darum,  einen  unsäg- 
lich reichen  Stoff  mit  scharfem  Blicke  zu  sichten  und  zu  durch- 
dringen und  sich  völlig  anzueignen,  ihn  lichtvoll  und  über- 
schaulich  zu  ordnen,  das  Wesenthche  vor  dem  Unwesentlichen 
hervorzuheben,  die  bewegenden  Kräfte  und  Ideen  zu  erkennen, 
die  leitenden  Individuen  zu  begreifen  und  richtig  zu  beur- 
theilen.  Und  das  ist  Curtius  in  ausgezeichneter  Weise  ge- 
lungen. Namentlich  ist  der  dritte  Abschnitt  des  zweiten  Buches, 
die  »Friedensjahre«,  mit  der  Schilderung  des  unvergleichlichen 
Lebens  der  Perikleischen  Zeit  in  Wissenschaft,  Litteratur  und 
Kunst  meisterhaft. 

Indem  väv  also  diesen  Band  der  verdienten  Aufnahme 
empfehlen  und  uns  vorbehalten,  em  andermal  darauf  zurück- 
zukommen, sprechen  wir  den  Wunsch  aus,  dass  bei  einer  neuen 
licarbeitung  des  ersten  sich  Curtius  entschliessen  möge,  melir 
als  früher  Hypothese  und  sicher  ermittelte  Thatsache  ausein- 
ander zu  halten ,  wodurch  gewiss  sein  Werk  nur  gewinnen 
könnte.  Ueberhaupt  möchten  wir  allen  Bearbeitern  der  altem 
Geschichte  dringend  den  Epicharmischen  Spruch  va^s  xal 
}ji£ijLvaa  aüiatclv  ans  Herz  legen,  nicht  nur  gegenüber  den  Nach- 
richten der  Alten,  wo  er  genug  und  oft  nur  zu  viel  angewandt 
wird,  sondern  eben  so  sehr  gegenüber  den  eigenen  Ver- 
muthungen  und  Combinationen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  »die  Geschichte  Griechenlands  von 
der  ältesten  Zeit  bis  zur  Zerstörung  Korinths  von  Leonhard 
Schmitz,  Leipzig  1859«,  kurz  erwähnt.  Der  wackere  Ver- 
fasser,   ein  Schüler  Niebuhr's  und  Welcker's,    seit   langem  in 


Ueber  d.  neueren  Bearbeitungen  d.  griech.  Geschichte.  533 

England  angesiedelt  xind  seit  mehreren  Jahren  Rector  der  hohen 
Schule  (high  school)  ,  d.  h.  des  Gymnasiums  in  Edinburgh, 
hat  sein  zuerst  1850  in  englischer  Sprache  erschienenes  und 
seither  in  einer  Reihe  von  Auflagen  wiederholtes  Handbuch 
der  griechischen  Geschichte  jetzt  auch  dem  deutschen  Publikum 
vorgelegt.  Er  schliesst  sich  wesentlich  dem  grossen  Werke 
von  Thirhvall  an,  aber  in  durchaus  selbständiger  Weise  und 
mit  Beachtung  der  neueren  Forschimgen,  ^\'ie  z.  B.  die  An- 
sicht von  Curtius  über  die  frühesten  Wohnsitze  der  lonier, 
darin  adoptirt  ist.  Für  die  Tüchtigkeit  des  Buches  spricht 
schon  der  Umstand,  dass  es  an  den  meisten  höhern  Schulen 
Englands  eingeführt  ist.  Trotz  der  gedrängten  Darstellung  — 
es  bildet  nur  einen  massigen  Band  —  finden  wir  darin  keines- 
wegs die  Trockenheit  eines  Compendiums,  sondern  eine  wohl- 
thuende  Wärme  luid  Liebe  für  den  Gegenstand,  die  neben  der 
Gründlichkeit,  es  für  den  Gebrauch  in  den  Schulen  sehr  em- 
pfehlen. Der  eigentlichen  Geschichte  ist  ein  Anhang  in  neun 
Kapiteln  über  Civilisation,  Religion,  Litteratur  und  Kunst  der 
Griechen,  von  einem  jungen  englischen  Gelehrten,  C.  K.  Wat- 
son,  beigegeben.  In  einem  grössern  Werke  würde  man  ihn 
lieber  in  das  Ganze  verarbeitet  sehen,  bei  einem  Handbuche 
lässt  sich  aber  gegen  diese  Form  nichts  sagen.  Den  Schluss 
bildet  eine  recht  vollständige  chronologische  Tabelle.  Die 
deutsche  Bearbeitung  ist  so  selbständig  gemacht,  dass  man  in 
sprachlicher  Beziehung  wenig  von  dem  englischen  Ursprünge 
bemerkt,  und  man  darf  das  Werk  daher  nicht  in  eine  Linie 
mit  gewöhnlichen  Uebersetzungen  stellen.  Eine  recht  hübsche 
Beigabe  sind  1 3 1  in  den  Text  gedruckte  englische  Holzschnitte, 
welche  alte  Gebäude,  Kunstwerke,  Münzen  und  O ertlichkeiten 
darstellen.  Wir  können  daher  dieses  Werk  für  unsere  Schulen 
bestens  empfehlen. 


HISTOßY  OF  FEDEEAL  GOVEENMENT, 

from  the  Foundation  of  tlie  Achaian  Leagiie  to  the  Disruption 

of  the  United  States.    Bj  Edward  A.  Freemau,  M.  A.  Late 

Fellow  of  Triuity  College.  Oxford. 

Volume  I.      Genei'al  Introduction.  —  History  of  the  Greek  Fedsrations 
Macmillan  and  Co.     London  and  Cambridge.     1S63. 

[Neues  Schweizerisches  Museum  IV.     S.  281 — 328.] 

i'as  in  der  Ueberschrift  genannte  Buch  von  Freeman  ver- 
dient eine  nähere  Besprechung  in  unserem  Museum  in  zväe- 
facher  Hinsicht ,  einmal  ■weil  es  für  uns  Schweizer  eine  ganz 
besondere  Bedeutung  hat,  dann  aber  weil  es  die  Geschichte 
der  antiken  Bundesstaaten  mit  ebenso  \\e\.  Gründlichkeit  als 
Unbefangenheit  behandelt.  Der  Verfasser  Edward  A.  Freeman, 
ehedem  FelloAv  des  Trinity  College  in  Oxford,  hat  es  unter- 
nommen eine  Darstellung  der  Bundesstaaten  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  auf  die  Spaltung  der  vereinigten  Staaten  Nord- 
amerikas zu  geben  und  sich  zu  diesem  Zwecke  ebensowohl 
mit  den  verschiedensten  schriftlichen  Quellen  vertraut  gemacht, 
als  sich  im  Leben  selbst  umgesehen.  Noch  im  letzten  Früh- 
ling haben  unsere  Zeitungen  erwähnt,  -n-ie  er  nicht  zum  ersten- 
mal mehrere  der  noch  in  der  SchMeiz  existirenden  Lands- 
gemeinden besucht  hat.  Bis  jetzt  ist  von  dem  Werke  der 
erste  Band  (722  Seiten)  erschienen,  der  ausser  der  allgemeinen 
Einleitung  die  Geschichte  der  griechischen  Bundesstaaten  ent- 
hält. Der  nächste  Band  soll  die  Geschichte  der  schweizeri- 
schen Eidgenossenschaft  und  der  deutschen  Städtebünde  geben. 
Kaiim  nöthig  ist   zu   bemerken,    dass    eine    solche    Geschichte 


HisTORY  OF  Federal  Go\'ernment.  535 

sich  wesentlich  von  einer  allgemeinen  Geschichte  unterscheiden 
muss  und  vielfach  an  die  Form  einer  historisch-staatsrechtlichen 
Abhandlung  streift.  Ganz  und  gar  trägt  diesen  Charakter  die 
Einleitung;  aber  auch  in  dem  eigentlich  historischen  Theile 
tritt  er  entschieden  hervor,  indem  stets  die  Einrichtungen  der 
verschiedenen  liundesstaaten  mit  einander  verglichen  werden, 
und  dies  führt  bisAveilen  den  Verfasser  zu  einer  allzugrossen 
Ureite. 

Schon  die  AYahl  des  Gegenstandes  lässt  erwarten,  dass 
Freeman  Sinn  und  Verständniss  für  die  Entwicklung  kleinerer 
Staaten  hat;  denn  diese  sind  es  ja  hauptsächlich,  welche  durch 
das  Bedürfniss  der  äusseren  Sicherheit  zur  Conföderation  ge- 
trieben werden;  und  die  ganze  Ausführung  der  Aufgabe  be- 
stätigt in  hohem  Grade  diese  Erwartung.  Das  Werk  tritt 
dadurch  in  einen  entschiedenen  Gegensatz  zu  einer  Anzahl 
neuerer  deutscher  Arbeiten,  in  denen  das  Streben  der  deutschen 
Völker  nach  Einheit  nur  zu  oft  den  unbefangenen  historischen 
Blick  getrübt  hat^  indem  so  zu  sagen  als  das  einzige  Ziel  der 
Staaten  die  Kraftentmcklung  nach  aussen  betrachtet  und  da- 
rüber vergessen  wird,  welch  unendlich  reiches  Geistesleben 
aus  der  » Kleinstaaterei  o,  zunächst  der  griechischen  Klein- 
staaterei erwachsen  ist.  Freeman  selbst  ist  sich  dieses  Gegen- 
satzes wohl  bcAVUsst  und  wir  begegnen  daher  wiederholt  einer 
sehr  entschiedenen  Polemik  gegen  Droysen  und  Mommsen, 
indem  er  ebenso  sehr  des  ersteren  übermässige  Vorliebe  für 
Makedonien  verwirft  ^) ,   als  gegen  des  letzteren  »Idololatrie  der 

•)  S.  229,  Note  1.  On  the  position  of  3Iacedo7iia  in  this  age  see 
Droysens  Hellenismus  II,  553.  Allmvance  must  of  course  he  made  for  the 
writers  ultra- Macedonian  bius,  Just  as  for  Mr.  Grote's  ultra- Athenian  hias. 
When  Droysen  however  goes  on  to  compare  the  progress  of  Macedonia  in 
Greece  with  the  progress  of  Prussia  in  Germany  he  forgets  or  despises  the 
difference  betiveen  small  principalities  and  small  republics.  A  German  County 
or  Bishuprick  loses  nothing ,  but  rather  gains  by  being  incorporated  with  a 
great  German  hingdom;  a  Greek  city  lost  everything,  by  being  incorporated 
with  Macedonia.  The  sympathy  which  would  attend  the  King  of  Italy  in 
any  attempt  to  recover  Home  und  Venice  —  /  might  add  Dalmatia  and  the 
Italian  Tyrol  —  would  not  extend  to  an  attempt  to  annex  a  Swiss  Canton, 
even  of  Italian  speech,  or  to  an  attempt  to  overthrow  the  immemorial  liberties 
of  San  3farino.  Vgl.  S.  129,  N.  4.  S.  376,  N.  2.  The  tale  is  well  told 
by  l'iutarch,  Ar.  17.  It  naturally  tnoves  the  indlgnation  of  the  3Iucedonian 
Droysen   JI,  37 1\ 


536  HiSTORY    OF    FeDERAL    Go^^iRNMENT. 

reinen  Gewalt  w  Protest  erhebt  *  ,  ohne  deswegen  andererseits 
ihren  grossen  Verdiensten  seine  Anerkennung  zu  versagen. 
Ob  deshalb  Freeman  auch  zu  den  »politisirenden  Philologen^ 
gezählt  werden  wird ,  auf  welche  der  am  meisten  politisirende 
Philologe  mit  stolzer  Geringschätzung  herabblickt,  müssen  wir 
dahingestellt  sein  lassen.  Uns  freut  es,  wieder  einen  Geschichts- 
schreiber anzutreffen,  bei  dem  das  Recht  auch  des  Schwächern 
seine  Geltung  findet.  Ueberhaupt  geht  durch  das  ganze  Buch 
ein  wohlthuender  Siim  für  Recht  und  Freiheit,  verbunden  mit 
einer  Unbefangenheit  in  der  Würdigung  der  verschiedenen 
Parteien,  die  wir  unten  hervorzuheben  Anlass  haben  werden. 
In  dieser  Unbefangenheit  steht  er  auch  entschieden  über  seinem 
gelehrten  Landsmanne,  dem  vortrefflichen  Grote,  den  seine 
BeA^imderung  der  athenischen  Demokratie  bekanntlich  melir  als 
einmal  zum  geschickten  Advocaten  derselben  hat  werden  lassen. 
Nur  wo  Freeman  von  den  heutigen  Zuständen  spricht,  ist  er 
nicht  frei  von  den  V'orurtheilen  der  englischen  Politik;  unbe- 
greiflich wäre  es  sonst ,  wie  ein  Mann  von  so  hellem  Blicke 
die  neueste  griechische  Revolution  be"WTindern  und  von  einer 
dreissigjährigen  bayrischen  Corruption  sprechen  könnte.  Ge- 
radezu komisch  erscheint  die  Vergleichung  des  Advocaten 
Rufos  aus  Patras  mit  dem  anderwärts  als  Washington  des 
achaiischen  Bundes  geschilderten  Markos  von  Keryneia.  Auch 
die  im  Uebermass  wiederholten  leidenschaftlichen  Ausfälle  auf 
Napoleon  und  Oesterreich  würde  gewiss  mancher  Leser  gerne 
entbehren '-)  ,  besonders  wenn  er  sich  erinnert ,  dass  die  eng- 
Ksche  Politik  vor  dem  moralischen  Richterstuhle  gerade  auch 
nicht  sehr  glänzend  besteht.  Glücklicher  Weise  war  das  Buch 
geschrieben,  bevor  die  letzten  schleswig-holsteinischen  Ver- 
wicklungen b  egannen . 


1)  S.  565,  N.  1.  Tlie  gradual  Steps  of  the  j^f'ocess  hy  which  Rome  gra- 
dually  and  systeniatically  sivalloiced  up  both  friends  arid  enemies  is  perhaps 
best  sei  forth  in  the  History  of  Moinmsen.  But  the  reader  must  be  altcays 
on  his  gnard  agaüist  Jloininsen's  idolatry  of  mere  force.  S.  639,  N.  4. 
I  cantiot  help  protesting  agaitist  the  way  vi  ichich  this  whole  period  is  dealt 
tvith  by  Moinmsen  in  his  Roman  History.  He  really  seems  unable  to  under- 
stand  that  a  small  stute  can  have  any  rights,  or  that  a  generous  or  patriotic 
sentiment  can  ßnd  u  place  anywhere  except  in  the  breast  of  a  fool.  Vgl. 
S.  608,  N.  4.     S.  684,  N.  2. 

"-]  Vgl.  beispielshalber  S.  95.  98.  99.  110.   111.   130.  488. 


HiSTORY  OF  Federal  Government.  537 

Doch  gehen  Avir  zur  Sache.  In  den  ersten  zwei  Capiteln, 
Avelche  auf  hundertzweiiindzwanzig  Seiten  die  allgemeine  Ein- 
leitung und  die  Charakterisirung  des  Bundesstaates  enthalten, 
sucht  der  Verfasser  den  Begriff  dieses  festzustellen  und  seine 
Vorzüge  und  ScliAvächen  auseinander  zu  setzen.  Zu  diesem 
Zwecke  geht  er  von  einer  Betrachtung  der  Einzelstaaten  aus 
und  unterscheidet,  ohne  Rücksicht  auf  die  gewöhnliche  Ein- 
theilung  in  Monarchie,  Aristokratie  und  Demokratie,  oder  in 
absohlte  und  constitutionelle  Staaten,  zwei  Ilauptklassen, 
kleine  und  grosse  Staaten,  von  denen  die  ersteren  in  der 
Hauptsache  den  Staaten  der  alten  Welt  entsprechen,  die  letz- 
teren denen  der  heutigen  Zeit.  Die  höchste  Entwicklung  hat 
das  System  der  kleinen  Staaten  im  alten  Griechenland  erreicht 
und  dort  Avieder  in  Athen,  das  der  grossen  Staaten  in  den 
modernen  grossen  Monarchien.  Denn  kleine  Staaten  sind  ihm 
die,  wo  die  gesammte  Bürgerschaft  sich  zur  Behandlung  öffent- 
licher Geschäfte  ohne  Schwierigkeit  versammelt,  also  jeder 
Berechtigte  sich  persönlich  an  den  Geschäften  betheiligen 
kann,  grosse  die,  avo  eine  solche  persönliche  Betheiligung 
unmöglich  ist  und  avo,  unter  der  Voraussetzung  der  Berechti- 
gung zur  Theilnahme  an  den  Staatsgeschäften,  also  sogenannter 
constitutioneller  Verfassung,  diese  Theilnahme  nur  auf  dem 
Wege  der  Vertretung  stattfinden  kann.  Es  macht  dabei  keinen 
Unterschied,  welche  Verfassung  der  Staat  hat.  In  dem  kleinen 
Staate  mag  Aristokratie,  Demokratie  oder  Monarchie,  diese  in 
der  Eegel  als  Tyrannis,  bestehen.  Selbst  der  Tyrann,  —  den, 
beiläufig  gesagt,  Freeman  nicht  übel  genau  dem^  »Kaiser«  der 
Neuzeit  entsprechend  findet,  nur  dass  sich  nicht  Avohl  von 
einem  Kaiser  von  Megalopolis  sprechen  lasse  —  fühlt  sich 
durchaus  als  Fürst  seiner  Stadt,  und  andere  etAva  seiner  Herr- 
schaft unterAvorfene  Städte  sind  deshalb  nicht  den  Bürgern 
seiner  Stadt  gleich,  sondern  erscheinen  als  die  Unterthanen 
der  von  ihm  beherrschten  Stadt.  Doch  lässt  sich  nicht  in 
Abrede  stellen,  dass  die  Republik  die  vorzugsAveise  dem  kleinen 
Staat  entsprechende  Verfassungsform  ist;  denn  es  ist  natürlich, 
dass,  wo  die  äusseren  Bedingungen  eine  unmittelbare  Betheili- 
gung des  Bürgers  an  den  Geschäften  ermöglichen,  er  eine 
solche  auch  erstreben  wird.  Ebenso  natürlich  ist,  wie  die 
Erfahrung  zeigt,   die  Monarchie,   absolute  oder  constitutionelle. 


538  IIisTORY  OF  Federal  Gov^rnment. 

vorziigSAveise  die  Verfassung  grosser  Staaten.  Der  Verfasser 
fügt  freilich  bei,  es  sei  der  Versuch  einer  Republik  in  einem 
grossen  Einheitsstaate  noch  so  selten  gemacht  worden,  dass 
uns  kaum  ein  Urtheil  darüber  zustehe,  ob  sie  passend  sei  oder 
nicht.  Allein  eben  die  Seltenheit  des  Versuchs  beweist,  dass 
die  Republik  dort  nicht  die  adäquate  Staatsform  ist. 

Sehr  interessant  entwickelt  der  Verfasser  nun  die  Vor- 
theile  und  Nachtheile  der  beiden  Staatensysteme,  wobei  er, 
wenn  schon  selbst  Angehöriger  eines  blühenden  grossen  Staa- 
tes, doch  ein  offenes  Auge  für  die  guten  Seiten  der  Klein- 
staaten hat,  vielleicht  sogar  aus  der  Ferne  über  manche  schwa- 
chen hinwegsieht. 

Abgesehen  von  der  reichen  Mannigfaltigkeit,  welche  ein 
aus  kleinen  Staaten,  besonders  aus  Städtestaaten,  bestehendes 
Land  darbietet,  ist  der  erste  und  bedeutendste  Vorzug  des 
kleinen  Staates  der,  dass  jeder  Vollbürger  in  ihm  den  höchst- 
möglichen Grad  politischer  lUldung  erreicht.  Die  athenische 
Volksversammlung  in  der  lilüthezeit  der  Demokratie  hält  der 
Verfasser  für  eine  Versammlung  von  Bürgern,  bei  denen  die 
durchschnittliche  politische  l^ildung  höher  stand,  als  das  je  in 
irgend  einem  anderen  Staate  der  Fall  gewesen  sei,  ja  er  steht 
nicht  an,  durchschnittlich  dem  einfachen  athenischen  Bürger 
einen  höheren  Grad  dieser  Bildung  beizumessen,  als  dem  ein- 
fachen Mitgliede  des  englischen  Parlaments;  denn  jener  habe 
nach  bestem  Ermessen  in  jedem  einzelnen  Falle  sein  Urtheil 
abzugeben  gehabt,  wälirend  das  englische  Parlamentsmitglied 
im  Grunde  ein  für  allemal  sein  Urtheil  fälle,  wenn  es  sich 
entscheide,  ob  es  das  Ministerium  unterstützen  oder  ihm  Oppo- 
sition machen  wolle.  Dass  das  ein  hoher  Grad  politischer 
Moral  sei,  bezAveifelt  er ;  aber  es  sei  einmal  die  angenommene 
politische  Moral.  Wir  empfehlen  diese  Betrachtungen  unseren 
schweizerischen  Landsleuten  zur  Beherzigung.  Denn  während 
theoretisch  und  nach  dem  Wortlaute  der  Verfassung  in  unseren 
verschiedenen  politischen  Körpern  auch  jeder  nach  bester 
Ueberzeugung . stimmen  soll,  wird  jetzt  von  vielen  als  allein 
selig  machende  Maxime  gepriesen  und  verlangt,  dass  man  nach 
der  Parole  der  Parteiführer  stimme.  Man  nennt  das  dann 
Parteidisciplin ;  es  ist  aber  offenbar  eine  Fälschung  unserer 
republikanischen  Einrichtungen  durch  Einführung  ihnen  frem- 


HisTORY  OF  Federal  Government.  539 

der  Grundsätze.  Durch  diese  individuelle  Theilnahme  wird 
aber  nicht  nur  der  gewöhnliche  ]Jürger  durchschnittlich  auf 
eine  höhere  Stufe  gehoben,  sondern  auch  der,  welcher  sich 
über  die  Durchschnittshöhe  erhebt,  hat  viel  mehr  Gelegenheit 
seine  Fähigkeiten  zur  Geltung  zu  bringen.  »Grosse  Staats- 
männer wachsen  viel  dichter  in  Republiken  dieser  Art  als  in 
grossen  Monarchieen«  (S.  48.  49).  Freilich  ist  Athen  das 
glänzendste  Beispiel  eines  solchen  Staates.  «Das  athenische 
Volk  scheint  alle  anderen  Völker  an  natürlichen  Gaben  über- 
troffen  zu  haben  und  die  Verhältnisse  der  Republik  brachten 
jeden  Bürger  in  tägliche  Berührung  mit  grösseren  politischen 
Geschäften,  als  es  bei  den  Bürgern  der  übrigen  griechischen 
Republiken  in  der  Regel  der  Fall  war.«  »Aber  bei  der  Wür- 
digung der  Wirkungen  irgend  eines  politischen  Systems  muss 
man  diese  nach  seiner  vollkommensten  Erscheinung  für  beides, 
das  Gute  und  Schlechte,  abschätzen.  Und  unzweifelhaft 
müssen  auch  Republiken,  welche  ihren  Bürgern  viel  weniger 
politische  Erziehung  gegeben  haben,  als  man  in  Athen  erhielt, 
ihnen  doch  noch  viel  mehr  gegeben  haben,  als  man  in  irgend 
einer  modernen  Monarchie  oder  Republik  erhalten  kann.  Wir 
vergöttern  (idolize)  die  Tagespresse  als  das  grosse  Werkzeug 
modemer  Cultur;  aber  seine  Zeitung  zu  lesen  ist  bei  alle  dem 
bei  weitem  keine  so  erhebende  Sache,  wie  mit  eigenen  Ohren 
einem  grossen  Staatsmanne  zu  lauschen  und  dann  seine  eigene 
unabhängige  Entscheidung  für  oder  gegen  seinen  Antrag  zu 
geben.«  Diese  hohe  politische  Bildmig  und  Entwicklung  des 
Charakters  ist  der  bedeutendste  Vorzug  kleiner  Staaten  und 
ein  reiner,  ungemischter.  Doch  wird  auch  er  und  besonders 
in  seiner  höchsten  Entwicklung  in  der  Demokratie  kaum  an- 
ders möglich,  als  durch  die  Existenz  einer  niedrigeren,  unfreien 
Menschenklasse,  der  Sklaven,  Avodurch  das  Volk  auch  der  ab- 
solutesten Demokratie  gewissermassen  ein  aristokratischer  Kör- 
per A^ärd.  Es  ist  das  ein  Punkt,  auf  den  meist  bei  der  Be- 
urtheilung  der  alten  Staaten  viel  zu  wenig  geachtet  mrd. 

Ein  zweiter,  aber  nicht  so  reiner  Vorzug  der  kleinen 
Staaten  ist  die  Intensität  des  Patriotismus,  der  da,  wo  die 
einzelne  Stadt  dem  Bürger  Alles  in  Allem  ist,  weit  kräftiger 
sein  muss,  als  in  einem  grossen  Staate.  Er  ist  die  Quelle 
alles  edelsten  in  der  Geschichte  der  kleinen  Republiken,  aber 


540  HiSTORY    OF    FeDEKAL    GoVEliXMEXT. 

auch  der  niedrigsten  Thaten.  Keine  Selbstaufopferung  er- 
scheint zu  gross,  aber  auch  kein  Unrecht  zu  schwarz,  um  das 
Wohl  der  Vaterstadt  zu  fördern. 

Gegenüber  diesen  Vorzügen  wird  vom  Verfasser  unter  den 
schwachen  Seiten  zuerst  hervorgehoben ,  dass  die  Blüthe  der 
kleinen  Staaten  eine  kürzere  Dauer  habe,  als  die  der  grossen. 
Die  Behauptung  einer  hohen  Stellung  erfordert  eine  so  gewal- 
tige Anspannung  aller  Kräfte.  Avie  sie  nicht  leicht  lange  Zeit 
anhalten  kann ;  ein  kleiner  auf  eine  erbliche  Bürgerschaft  be- 
schränkter Staat  kann  sich  auch  nicht  so  leicht  durch  Auf- 
nahme frischen  lilutes  von  aussen  wieder  kräftigen ;  eine  ein- 
zige Erobeiimg  kann  einen  kleinen  Staat  vertilgen ,  während 
sie  einen  grossen  nicht  selten  verjüngt.  Das  eine  Jahrhundert 
Athens  von  der  ^'ertreibung  der  Tyrannen  bis  zur  Schlacht  von 
Aigospotamos  ist  Jahrtausende  des  Lebens  von  Aegypten  oder 
Assyrien  werth;  aber  die  Grösse  war  zu  ruhmvoll  um  zu 
dauern.  Sodann  gestattet  das  reine  System  den  »kleinen  Staa- 
ten« keine  ^  erbindung  mehrerer  solcher  Staaten  zu  einer  festen 
Einheit  auf  gleichem  Fusse .  Die  Verbindung  ist  nur  als  theil- 
weise  Unterwerfung  durchführbar,  wie  in  der  athenischen 
Symmachie.  Hierin  liegen  wirkliche  Schwächen  der  kleinen 
Staaten,  die  in  ihrem  AVesen  begründet  sind.  Dagegen  weist 
Freeman  als  irrig  die  Betrachtungsweise  ab,  welche  nur  vom 
äusseren  Umfange  der  Staaten  ausgehend,  im  Vergleiche  mit 
colossalen  Reichen,  -wie  das  despotische  Kussland  oder  Frank- 
reich, kleine  freie  Staaten,  wie  die  Schweiz  oder  Norwegen, 
geringschätze  und  also  noch  viel  mehr  die  kleinen  Staaten 
Griechenlands.  Das  sei  eine  rein  physische  Betrachtung,  wo- 
bei die  höhere  Seite  der  menschlichen  Natur  vergessen  Averde. 
»Franki-eich  und  Russland  haben  in  der  That  unvergleichlich 
mehr  physische  Macht  als  die  Schweiz  oder  Norwegen ;  aber 
der  Schweizer  oder  Norweger  ist  ein  Wesen  von  einem  höheren 
politischen  Rang  als  der  Franzose  oder  Russe.«  Aber  es  sei 
die  Betrachtmig  überdies  falsch,  weil  sie  von  einer  missver- 
standenen Analogie  kleiner  Staaten  in  einer  Zeit  ausgehe,  wo 
sie  von  grossen  mit  gleicher  materieller  Bildung  umgeben  seien, 
und  kleiner  Staaten  zu  einer  Zeit,  wo  sie  das  Ganze  der  civi- 
lisirten  Welt  bildeten.  Um  das  Wesen  der  freien  Städte  oder 
kleinen  Staaten  richtiar  zu  beurtheilen.    müsse   man  von    einer 


HisTüRY  OF  Federal  Government.       541 

Zeit  ausgehen,  wo  sie  nicht  bloss  Ausnahme,  sondern  Regel, 
wenigstens  vorherrschend  gewesen  seien,  und  da  zeige  sich, 
dass  die  griechischen  Republiken  in  Wirklichkeit  stärker  ge- 
wesen seien  als  die  gleichzeitigen  Königreiche.  Eine  einzelne 
Stadt  sei  heutzutage  schwach  im  Vergleich  mit  einem  kleinen 
Königreich ,  gerade  wie  ein  kleines  Königreich  im  Vergleich 
mit  einem  grossen.  Die  Thatsache,  dass  kein  Staat  einer 
Macht  widerstehen  könne,  die  physisch  stärker  sei,  als  er  selbst^ 
beweise  nichts  für  die  Vorzüge  besonderer  Regierungsformen. 
So  ^'iel  emzelnes  Richtiges  hierin  ist  und  so  gern  man  dem 
A  erfasser  zugiebt,  dass  ein  »kleiner  Staat«  relativ  eine  grössere 
Stärke  entwickelt  als  ein  »grosser«,  so  ist  doch  offenbar  seine 
BcAveisführung  unklar,  ja  geradezu  irrig.  Er  spricht  hier  von 
verschiedenen  Regierungsformen  und  vergisst,  dass  er  nur  von 
»kleinen  Staaten«  gegenüber  grossen  handeln  wollte,  und  er 
verwechselt  die  individuelle  Tüchtigkeit  des  Bürgers  mit  der 
Macht  des  Staates.  Es  liegt  Avirklich  im  V^esen,  oder  wie  er 
sich  ausdrückt,  im  System  des  » kleinen  »Staates «,  dass  er  nicht 
die  gleiche  äussere  Macht  haben  kann,  wie  der  grosse.  Dass 
ein  kleineres  Königreich  kleiner  und  damit  schwächer  als  ein 
grösseres  ist,  das  ist,  sofern  es  überhaupt  mit  zu  den  »grossen 
Staaten«  gehört,  etwas  Accidentelles ;  dass  aber  der  »kleine 
Staat«  schwächer  ist  auch  als  ein  relativ  kleiner  Grossstaat, 
ist  etwas  in  seinem  Wesen  begründetes.  Und  wo  »kleine 
Staaten«  eine  wirkliche  grosse  Macht  gewonnen  haben,  ist  es 
dadurch  geschehen,  dass  sie  im  Grunde  über  die  Schranken 
des  »kleinen  Staates«  hinausgegangen  sind.  Wo  aber  bei  sonst 
gleichen  Verhältnissen  »grosse  Staaten«  entstehen,  verschwan- 
den allmählich  die  kleinen ,  wie  das  nachher  Freeman  selbst 
ganz  richtig  sagt. 

Andere  Nachtheile  sind  bei  dem  Systeme  kleiner,  unab- 
hängiger, nebeneinander  stehender  Staaten  die  unaufhörlichen 
Kriege  und  der  unbändige  Hass,  der  sich  um  so  intensiver 
entwickelt,  je  näher  die  rivalisirenden  Staaten  einander  liegen. 
Auch  die  Parteikämpfe  innerhalb  der  Staaten  selbst  pflegen 
einen  besonders  hohen  Grad  von  Wildheit  anzunehmen,  und 
oft  durch  lange  Zeiten  sich  erblich  fortzupflanzen  ohne  einen 
vernünftigen  Grund . 

Nachdem  nun  diese  Sätze  ausführlicher   entwickelt,    fasst 


542  HisTORY  OF  Federal  Governme^;t. 

er  (S.  62)  die  beiden  Seiten  der  kleinen  Staaten,  oder  wie  er 
hier  sie  geradezu  nennt,  der  Städterepubliken  schön  in  folgen- 
der Weise  zusammen : 

»Eine  kleine  Republik  entwickelt  alle  Anlagen  der  ein- 
zelnen Bürger  bis  zum  höchsten  Gipfel;  der  durchschnittliche 
Bürger  eines  solchen  Staates  ist  ein  höheres  Wesen  als  der 
durchschnittliche  Unterthan  eines  grossen  Königreichs;  er  steht 
in  einer  Linie  nicht  mit  dessen  durchschnittlichen  Unterthanen, 
sondern  wenigstens  mit  dessen  durchschnittlichen  Gesetzgebern. 
Die  Stadtrepvxblik  entzündet  die  höchsten  und  am  meisten  ver- 
edelnden Gefühle  des  Patriotismus;  sie  weckt  jede  Kraft  und 
jedes  Streben  (emotion)  der  menschlichen  Natur;  sie  giebt  dem 
menschlichen  Genie  jeder  Art  den  weitesten  Spielraum;  sie 
bringt  einen  Aischylos  und  Demosthenes,  einen  Dante  und 
Maccliiavelli  hervor.  Aber  auf  der  anderen  Seite  ist  der  Glanz 
eines  solchen  Staats  selten  dauernd;  er  ist  zu  steter  Krieg- 
führung versucht,  und  zu  einer  Kriegführung  von  einer  in  ge- 
wisser Beziehung  grausamen  Art;  er  ist  zu  Ehrgeiz  und  Er- 
werbung von  Gebiet  wenigstens  eben  so  anhaltend  als  ein 
grösserer  Staat  verlockt  und  Einverleibung  annexation  durch 
eine  Stadtrepublik  bringt  gemeiniglich  mehr  Uebel  mit  sich 
als  Einverleibung  in  em  Königthum.  Femer  ist  bürgerlicher 
ZAvist  heftiger  und  Parteihass  wird  zugleich  bitterer  und  an- 
dauernder. Und  wir  können  beifügen ,  dass  Städterepubliken 
nicht  wirklich  blühen  können ,  ausser  wenn  sie  entweder  die 
ganze  Lage  beherrschen  oder  doch  eine  entschiedene  Ueber- 
legenheit  in  Bildung  über  die  sie  umgebenden  Monarchien 
besitzen.  Das  erstere  war  der  Fall  im  alten  Griechenland, 
das  letztere  im  mittelalterlichen  Italien.  Im  mittelalterlichen 
Deutschland  und  Flandern  war  die  Ueberlegenheit  der  Städte 
weniger  entschieden.  Darum  war  ihre  Freiheit  weniger  voll- 
ständig und  ihre  Geschichte  weniger  glorreich.  Wie  die  um- 
liegenden Monarchien  an  Macht  wachsen,  wie  sie  an  Ordnung 
und  Bildung  zunehmen,  vor  Allem,  wenn  sie  zur  Aufstellung 
stehender  Heere  kommen  —  verschwinden  allmählich  die 
Städterepubliken  oder  bestehen  nur  noch  durch  verächtliche 
Duldung  der  benachbarten  Machthaber.  Mögen  die  Mächte, 
welche  sie  umringen,  despotische  Staaten,  constitutionelle 
Königreiche ,     oder    selbst    consolidu'te    EepubUken   sein .    die 


HisTORY  OF  Federal  Government.  543 

Riclitungen  eines  Zeitalters  grosser  Staaten  sind  der  Erhaltung 
irgend  einer  wirklichen  Unabhängigkeit  einzelner  nicht  ver- 
bündeter Städte  gleich  sehr  entgegengesetzt.« 

Kürzer  verweilt  der  Verfasser  bei  der  "Würdigung  der 
Staaten,  die  er  grosse  nennt,  weil  sie  dem  modernen  Yerständ- 
niss  ^del  näher  liegen.  Er  versteht  darunter,  wie  schon  gesagt, 
alle  Staaten,  die  zu  gross  sind  um  den  sämmtlichen  Bürgern 
ein  regelmässiges  Zusammenkommen  an  einem  Platze  zur 
Behandlung  der  Geschäfte  möglich  zu  machen,  gleichviel  ob 
Republiken,  constitutionelle  oder  absolute  Monarchien  euro- 
päischer Art.  Die  orientalischen  Despotien  schliesst  er  von 
der  Betrachtung  ganz  aus,  weil  dort  von  Gesetz  und  Regierung 
im  wahren  Sinn  die  Rede  nicht  sein  könne. 

Das  Wesen  solcher  Staaten  bringt  es  mit  sich,  dass  das 
ganze  Land  rechtlich  der  Hauptstadt  durchaus  gleichsteht,  ob- 
wohl faktisch  es  sich  selir  oft  zum  grossen  Nachtheil  des 
Landes  anders  gestaltet,  und  dass,  wo  überhaupt  die  Bewohner 
Rechte  haben,  sie  diese  nur  durch  Stellvertretung  ausüben. 
Staaten  wie  Rom,  Karthago,  Venedig  oder  Bern,  wo  eine  ein- 
zelne Stadt  über  ein  Aveites  Territorium  herrscht,  kommen  nicht 
in  Betracht ;  denn  sie  sind  keine  eigentlichen  gi'ossen  Staaten, 
sondern  eine  entartete  Form  der  Städterepubliken  (a  corrupted 
form  of  the  city-commonwealth  S.  65).  Diese  kurze  Andeutung 
macht  den  Leser  nothwendig  auf  eine  empfindhche  Lücke  in 
der  Betrachtung  der  kleinen  Staaten  aufmerksam.  Das  Ver- 
hältniss  der  »kleinen  Staaten«,  welche  sich  zu  herrschenden 
Mächten  erhoben  haben,  ist  fast  ganz  übergangen,  indem 
(S.  23 — 25)  im  Grunde  nur  von  der  Stellung  der  untergebenen 
Städte,  nicht  aber  von  der  der  herrschenden  gehandelt  wird. 
Zugleich  geräth  der  Verfasser  in  einen  eigenthümlichen  Wider- 
spruch, da  Athen,  das  er  überall  als  das  höchste  Beispiel  der 
Städterepublik  aufstellt,  während  der  Zeit  seiner  Blüthe  in  die 
gleiche  Kategorie  mit  Rom,  Karthago,  Venedig  und  Bern  ge- 
hört und  also  eine  entartete  Form  der  Städterepublik  wäre. 
Was  die  Nothwendigkeit  der  Ausübung  der  politischen  Rechte 
durch  Stellvertretung  betrifft,  so  betrachtet  sie  der  Verfasser 
als  luiumgängliche  und  consequent  durchzuführende  Regel. 
Die  wenigen  Ausnahmen,  die  vorkommen,  stehen  im  Wider- 
spruch  mit    dem    Staatsprincipe   und   sind   höchst  verderblich. 


544  HisTORY  OF  Federal  Government. 

-wie  die  einstige  polnische  Königswahl,  oder  blosse  Komödie, 
wie  das  napoleonische  SufFrage  universel  bei  der  Kaiserwahl 
und  der  Annexation  von  Savoyen  und  Nizza.  Sonderbar  ist, 
dass  von  der  Anwendung  desselben  Mittels  in  Italien  ganz 
geschwiegen  wird.  Als  es  in  Griechenland  angewendet  wurde, 
war  vielleicht  das  Euch  schon  geschrieben;  in  Mexiko  hat  es 
bestimmt  erst  nach  dem  Erscheinen  desselben  stattgefunden, 
dieser  Fall  wäre  nicht  vergessen.  .Selbst  die  Wahl  des  ameri- 
kanischen Präsidenten,  die  zwar  nicht  gesetzlich,  wohl  aber 
faktisch  eine  unmittelbare  geworden  ist,  wird  für  eine  schäd- 
liche Anomalie  erklärt. 

In  einem  solchen  Staate,  mögen  sonst  auch  die  wichtigsten 
Unterschiede  bestehen,  mag  die  straffste  Centralisation  herrschen 
oder  die  freiste  ]5ewegung  der  einzelnen  Theile,  steht  alle 
Staatsgewalt  beim  Souverän  und  bei  der  gesetzgebenden  Ver- 
sammlung, sofern  eine  solche  da  ist;  die  municipalen  Frei- 
heiten, mögen  sie  noch  so  gross  sein,  sind  vollständig  der 
Staatsgewalt  untergeordnet ;  sie  können  vermindert  oder  ver- 
mehrt, ja  ganz  beseitigt  werden  ohne  eine  Rechtsverletzung. 
Auch  ein  relativ  kleiner  Staat  dieser  Art  umfasst  in  der  Regel 
ein  Gebiet,  das  grösser  ist  als  eine  ganze  Masse  »kleiner  Staaten« 
zusammen. 

Dies  bringt  im  direkten  Gegensatze  zu  den  »kleinen 
Staaten«  als  Vorzüge  mit  sich  die  Ruhe  und  den  Frieden  eines 
grossen  Landes  und  die  Beseitigung  oder  wenigstens  Abschwä- 
chung  der  Localeifersuchten ;  die  Kriege  werden  weniger  grau- 
sam, weil  sie  in  der  Regel  nicht  durch  den  Hass  der  Revöl- 
kerungen  hervorgerufen  sind,  bürgerliche  Streitigkeiten  durch- 
schnittlich weniger  bitter.  Dagegen  ist  ein  ebenso  entschiedener 
Mangel  dieser  Staaten  der  germge  Grad  von  pohtischer  Bil- 
dung, die  durch  eine  periodisch  eintretende  Ausübung  des 
Wahlrechts  nicht  gcAvonnen  werden  kann.  Daraus  entsteht 
nothwendig  Verkehrtheit  und  Corruption  der  Wahlkörjjer, 
welche  als  inhärente  Laster  der  repräsentativen  Verfassungen 
erscheinen.  Eine  interessante .  aber  offenbar  nicht  ganz  halt- 
bare Bemerkung ,  die  der  Verfasser  hier  macht ,  ist  die .  dass 
in  der  Stadtrepublik  oder  in  der  Despotie  Bestechung  in  der 
Regel  gegenüber  den  l^eamten  in  Anwendung  komme,  in  re- 
präsentativen Staaten  gegenüber  den  Wählern   und  wohl  auch 


HisTORY  OF  Federal  Government.  545 

den  repräsentativen  Körpern.  Sehr  richtig  ist  jedenfalls,  dass 
Avenn  anch  die  Bestechung  eines  hohen  Staatsmannes  mehr 
unmittelbaren  Schaden  bringen  kann,  die  Gewohnheit  der 
Massen  sich  kaufen  zu  lassen ,  für  den  ganzen  sittlichen  Zu- 
stand des  Volkes  viel  verderblicher  ist. 

Fast  ist  man  nach  dieser  xVuseinandersetzung  erstaunt  zu 
sehen,  wie  der  Verfasser  bei  der  schliesslichen  Bilanz  zwischen 
den  Vortheilen  und  Nachtheilen  der  kleinen  und  grossen 
Staaten  unbedingt  zu  Gunsten  der  letztern  entscheidet.  Die 
Erklärung  liegt  hauptsächlich  in  folgenden  Worten  (S.  87.  88)  : 
»die  griechischen  Republiken  scheinen  der  Welt  für  einen 
Augenblick  gezeigt  worden  zu  seiu  wie  ein  Vorbild  der  ver- 
klärten Menschheit,  aus  dem  Alle  die  höchsten  Lehren  ziehen 
sollen,  das  man  aber  nie  hoffen  kann  in  seiner  Vollkommen- 
heit zu  reproduziren.«  »Der  Unterthan  eines  grossen  modernen 
Staates  lebt  ein  weniger  erregtes  und  weniger  glänzendes,  aber 
ein  nicht  Aveniger  nützliches  und  ein  geordneteres  und  fried- 
licheres Leben  als  der  Bürger  einer  alten  Ilepublik.« 

Richtiger  als  eine  solche  Abschätzung  wäre  ohne  Zweifel 
gewesen,  auf  die  verschiedenen  Bedingiuagen  einzugehen,  unter 
denen  das  eine  und  das  andere  System  von  Staaten  möglich 
und  der  Entwicklung  der  Menschheit  förderlich  ist. 

Während  also  die  Stadtrepublik  Alles  der  vollen  persön- 
lichen Entwicklung  des  Bürgers  opfert,  das  grosse  moderne 
Königreich  (er  braucht  hier  selbst  diese  Ausdrücke)  dem  Frie- 
den, der  Ordnung  und  dem  allgemeinen  Wohlbefinden  eines 
ausgedehnten  Gebietes,  giebt  es  ein  drittes  System  von  Staaten, 
welches  zwischen  beiden  zu  veimitteln,  die  Vorzüge  beider  zu 
verbinden  sucht,  das  ist  der  Bundesstaat.  Dieser  entsteht 
da,  wo  eine  Anzahl  unabhängiger  Staaten  in  der  Weise  sich 
verbinden,  dass  die  Souveränetätsrechte  getheilt  Averden  zwischen 
den  Einzelstaaten  und  einer  gemeinsamen  Gewalt.  Diese  Art 
der  Verfassung  ist  aber  eine  kunstreichere  als  irgend  eine  an- 
dere ,  eine  späte  Frucht  hoher  politischer  Cultur  und  nur  in 
ganz  besondem  Fällen  anwendbar,  nur  da,  wo  bisher  getrennte 
Staaten  einer  engern  Verbindung  und  Kräftigung  bedürfen. 
Lud  zwar  passt  sie  auch  da  nur,  Avenn  zwischen  den  verschie- 
denen Einzelstaaten  eine  gewisse  Gemeinschaft  der  Denkart 
und    der   Literessen    vorhanden   ist   und    doch    keine    Identität 

Vis  eher,  Schriften  I.  35 


546  HisTORY  OF  Federal  Government. 

derselben.  Im  erstem  Falle  bleiben  die  Einzelstaaten  besser 
im  Zustande  der  Trennung  mit  deren  Vortheilen  und  Nach- 
theilen, im  letztem  ist  die  vollständige  Vereinigung  zum  Ein- 
heitsstaate das  Angemessene.  Natürlich  tritt  auch  der  Bundes- 
staat in  sehr  verschiedener,  mehr  oder  minder  vollkommener 
Form  auf. 

In  seiner  vollkommensten  Erscheinung  lässt  der  Bundes- 
staat jedem  einzelnen  Staat  volle  Freiheit  in  Allem,  was  ihn 
allein  betrifft,  er  unterwirft  einer  gemeinsamen  Gewalt  Alles 
was  die  Gesammtheit  der  Glieder  mit  einander  betrifft;  das 
heisst  die,  äusseren  Verhältnisse,  die  Stellung  zu  andern  Staaten 
wird  durch  die  BundesgeAvalt  geleitet  und  durch  sie  allein,  die 
inneren  Verhältnisse  verbleiben  ganz  der  Competenz  der  Ein- 
zelstaaten. Nach  aussen  erscheint  der  Bundesstaat  als  ein  ein- 
ziger Staat,  nach  innen  als  eine  Mehrheit  von  einzelnen  Staa- 
ten. Und  zwar  ist  diese  innere  Freiheit  der  Einzelstaaten  nicht 
etwa  wie  die  Municipalrechte  in  Einheitsstaaten,  Sache  der 
Einräumung  von  Seite  einer  hohem  Gewalt,  sondern  sie  ge- 
hört ihnen  als  absolutes  Recht  vermöge  der  ihnen  als  unab- 
hängigen Staaten  inhärirenden  Befugnisse.  Es  ist  eben  so 
sehr  dem  Princip  des  Bundesstaates  zuwider,  eben  so  rechts- 
widrig, dass  die  Centralgewalt  sich  in  die  innere  Gesetzgebung 
luid  Verwaltung  der  Einzelstaaten  einmische ,  als  dass  der 
Einzelstaat  m  äussere  Verhältnisse  eingreife  luid  z.  B.  in  di- 
plomatischen Verkehr  mit  fremden  Staaten  trete.  Auch  unter 
Festhaltung  dieser  wesentlichen  Gnindsätze  giebt  es  nieder 
zwei  Hauptklassen:  1)  die,  wo  die  Bundesgewalt  nur  die  Re- 
gierungen der  Einzelstaaten  repräsentirt  und  nur  mit  ihnen 
verhandelt,  ohne  je  mit  den  einzelnen  Bürgern  in  direkte  Ver- 
bindung zu  treten.  Das  neiuit  der  Verfasser  das  System  ver- 
bündeter Staaten  (the  System  of  Confederated  States) .  2]  Die, 
wo  die  Bundesgewalt  eine  selbständige  Regierung  im  eigent- 
lichen Sinne  gegenüber  den  Einzelregierungen  bildet  und  inner- 
halb ihrer  Sphäre  sich  frei  beAAegt  und  auch  mit  den  einzelnen 
Bürgern  der  Einzelstaaten  direkt  verkehrt.  Das  nennt  der 
Verfasser  den  zusammengesetzten  Staat  oder  den  höchsten 
Bundesstaat  (the  Composite  State  or  Supreme  Federal  Govern- 
ment). Jene  erste  losere  Form  nähert  sich  mehr  dem  blossen 
Staatenbunde,    diese    engere   mehr  dem  Einheitsstaate.     Beide 


HisTORY  OF  Federal  Goverxment.  547 

aber  sind  doch  vollständige  Bundesstaaten,  sofern  sie  nach 
aussen  als  Einheit  erscheinen,  nach  innen  den  Gliedern  ihre 
volle  Unabhängigkeit  lassen.  Sie  berühren  sich  so  nahe,  dass 
die  Unterscheidung  oft  schwer  wird. 

Theoretisch  betrachtet  lässt  sich  nun  ebensowohl  ein  aus 
Monarchien  als  aus  Republiken  bestehender  Bundesstaat  den- 
ken ;  doch  weist  faktisch  die  Geschichte  nxir  republikanische 
auf,  da  verwandte  monarchische  Erscheinungen  sich  nie  bis 
zum  wirklichen  Bundesstaate  ausgebildet  haben,  und  mit  Recht 
bemerkt  der  Verfasser,  dass  ein  aus  Monarchien  zusammenge- 
setzter Bundesstaat  mit  einem  erblichen  oder  gewählten  Könige 
als  Bundessouverän  an  der  Spitze  eine  so  delikate  Maschinerie 
wäre,  dass  sie  kaum  eine  einzige  Generation  durch  dauern 
würde.  Er  setzt  daher  bei  seinen  weitern  Betrachtungen  immer 
republikanische  Verfassung  voraus. 

Die  republikanischen  Bundesstaaten  sind  wieder  sehr  ver- 
schieden nach  der  Grösse  der  Einzelstaaten,  aus  denen  sie  zu- 
sammengesetzt sind.  Diese  können  nach  dem  System  der 
Kleinstaaten  durch  die  unmittelbare  Theilnahme  der  Bürger 
regiert  Averden.  oder  nach  dem  System  der  Grossstaaten  durch 
Repräsentation.  Ersteres  war  der  Fall  im  achaiischen  Bund, 
letzteres  ist  es  in  Nordamerika;  eine  Mischung  findet  sich  in 
der  Schweiz.  Danach  nähern  sie  sich  wieder  einerseits  mehr 
den  reinen  grossen  Staaten,  andrerseits  mehr  den  kleinen, 
bleiben  aber  immer  entschieden  eine  besondere  zwischen  jenen 
stehende  Art.  Die  Stellung  von  Megalopolis  und  New- York, 
beide  in  ihren  innern  Angelegenheiten  souverän  und  blosse 
Municipalitäten  gegenüber  fremden  Mächten,  hat  trotz  der  ver- 
schiedenen Grösse  mehr  gegenseitige  Aehnlichkeit  als  die  von 
Megalopolis  mit  der  Athens,  oder  die  des  Staates  New-York 
mit  der  Englands. 

Ein  solcher  Bundesstaat  also  sichert  nun  zwar  nicht  die 
gleiche  Ruhe  und  Ordnung  AA-ie  ein  modernes  Königreich,  nicht 
die  gleiche  individuelle  politische  Ent^-icklung  ^xie  die  alte 
Stadtrepublik,  aber  er  gewährt  mehr  Ruhe  als  die  alte  Stadt- 
republik und  giebt  durchschnittlich  ihren  Bürgern  eine  höhere 
politische  EntAA^cklung,  als  die  Unterthanen  einer  ausgedehnten 
Monarchie  sie  erreichen. 

Selbst   in   einem   grossen   Einzelstaate   eines   Bundes  wird 

35* 


548  HisTORY  OF  Federal  Govekxmemt. 

die  Theilnahme  der  einzelnen  Bürger  an  den  öffentlichen  An- 
gelegenheiten eine  weit  unmittelbarere  sein,  als  in  einem  grossen 
Königreich  oder  einer  grossen  einheitlichen  Republik  (ConsoK- 
dated  liepublic  ,  "svie  Frankreich  "vvar.  In  einem  wie  im  andern 
Falle  bleibt  auch  dem  Einzelstaate  eine  ganz  andere  unab- 
hängige Stellung  als  selbst  der  freisten  Municipalität  in  einem 
Einheitsstaate.  Und  der  Bundesstaat  ist  zugleich  die  günstigste 
Staatsftjrm  für  die  Entwicklung  des  )Selfgovemment  im  ausge- 
dehntesten Sinne.  Der  Verfasser  meint  nämlich,  am  wenigsten 
geneigt  solche  freie  Bewegung  zu  ertragen  sei  die  allmächtige 
Nationalversammlung  einer  grossen  Republik;  weit  weniger 
Eifersucht  ihr  gegenüber  habe  das  an  gewisse  Schranken  seiner 
Macht  gewohnte  Parlament  einer  constitutionellen  Monarchie 
und  noch  weniger  hätten  eine  bundesstaatliche  Centralversamm- 
lung  Federal  Congressj  und  eine  legislative  Versammlung  eines 
einzelnen  Gliedes  des  Bundesstaates,  weil  beide  an  gegenseitige 
rechtliche  Begränzungen  gewohnt  seien. 

Selbst  das,  was  in  gewissem  Sinne  als  eine  Schwäche  der 
Bundesstaaten  erscheint,  den  weniger  festen  Zusammenhang 
der  einzelnen  Theile  im  Vergleiche  mit  dem  Einzelstaate,  be- 
zeichnet der  Verfasser  als  eine  bloss  scheinbare  Schwäche,  in- 
dem verschiedenartige  Theile  durch  das  bundesstaatliche  Band 
willig  und  dauernd  zusammengehalten  werden ,  die  in  einen 
Einzelstaat  nur  widerstrebend  und  mit  Gewalt  zusammen- 
gezwängt würden.  Und  so  erscheint  ihm  sogar  die  grössere 
Leichtigkeit  einer  Secession  eher  als  ein  \'ortheil,  denn  als  ein 
Nachtheil,  wie  andrerseits  die  Leichtigkeit,  da  wo  das  Bedürf- 
niss  es  gebietet,  die  Umwandlung  in  den  Einheitsstaat  zu  voll- 
ziehen. Die  Vorgänge  in  Amerika  haben  aber  ohne  Zweifel;, 
seit  er  das  geschrieben,  seine  Memung  über  die  Leichtigkeit 
der  Secession  wesentlich  modifizirt. 

So  ungefähr  entT^'ickelt  der  Verfasser  das  Wesen  und  die 
Wirkungen  des  Bundesstaates,  wobei  er  indessen  doch  wohl 
zu  sehr  die  Verhältnisse  so  betrachtet  hat,  wie  sie  theoretisch 
sein  sollen,  und  nicht  genug  beachtet,  wie  sich  aus  dem  Da- 
sein zweier  gesetzlich  in  ihrer  Sphäre  gleichberechtigter  Arten 
von  höchster  Gewalt  nothwendig,  wenn  auch  nicht  gleich  ein 
Conflikt,  doch  eine  gewisse  Concurrenz  ergeben  muss.  Denn 
sobald    einmal    eine    starke  Centralgewalt ,    welcher  immer  der 


HisTORY  OF  Federal  Go vernment .  549 

wichtigere  Theil  der  Souveränetätsrechte  zufällt,  geschaffen  ist. 
hat  sie  den  natürlichen  Drang,  den  Kreis  ihrer  Thätigkeit 
weiter  auszudehnen  und  namentlich  in  einer  Zeit,  wo  alles 
Bestreben  vorzugSAveise  auf  Machtentwicklung  gerichtet  ist. 
Andet  sie  nur  zu  sehr  Förderung  auch  da,  wo  ruhige  Ueber- 
legung  das  Gegen  theil  gebieten  sollte. 

Der  Verfasser  schildert,  nachdem  er  einen  Blick  auf  Nord- 
amerika geworfen,  was  wir  hier  übergehen  wollen,  mit  be- 
geisterten Worten  die  Avohlthätigen  und  einzigen  Wirkungen 
des  Bundesstaates  an  dem  Beispiel  der  Schweiz.  »Unter  dem 
föderalen  System«,  sagt  er,  »können  der  Katholik  und  der 
Protestant,  der  Aristokrat  und  der  Demokrat,  der  Bürger  von 
Bern  und  der  Landmann  von  Uri,  der  Schwabe  von  Zürich, 
der  Lombarde  von  Tessin,  der  Burgunder  von  Genf *■  und  die 
Leute,  welche  die  unbekannte  Zunge  der  rhätischen  Ihäler 
sprechen  —  sie  alle  können  unter  einander  als  freie  und  gleiche 
Bundesgenossen  sitzen.  Sie  können  ihre  locale  L'nabhängig- 
keit.  ihre  localen  Verschiedenheiten,  ja  wenn  sie  wollen,  locale 
Eifersucht  und  Hass  behalten  und  dennoch  bei  allen  äussern 
Fragen  als  eine  Nation  auftreten,  deren  Glieder  alle  gleich 
bereit  sind,  ihr  Bergbollwerk  zu  besetzen,  wenn  der  geringste 
Angriff  gegen  irgend  einen  ihrer  Brüder  gemacht  wird.  Das 
föderale  System,  kurz  gesagt,  hat  hier  aus  den  verschiedensten 
ethnologischen,  politischen  und  religiösen  Elementen  eine  künst- 
liche Nation  geschaffen,  so  voll  von  wahrer  und  heldenmüthiger 
nationaler  Gesinnung  als  je  ein  Volk  vom  allerungemischtesten 
Blut  beseelt  hat.« 

Einen  Ausdruck  müssen  wir  hier  ablehnen,  den  einer 
künstlichen  Nation  'artificial  nation^ ,  sofern  damit  etwas  will- 
kürlich gemachtes  gedacht  wird.  So  gern  dem  Verfasser  zu- 
gegeben wird,  dass  die  höhere  Stufe  des  Bundesstaats  einen 
hohen  Grad  politischer  Entwicklung  voraussetzt  und  ein  kunst- 
reicher Organismus  ist,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dass  die 
dadurch  vereinigte  Nation  eine  künstliche  sei.  Auch  die  höchste 
Entwicklung   kann ,    oder  vielmehr   sie   muss   naturgemäss  vor 


1)  Der  Verfasser  gebraucht  den  Namen  »Burgunder«  von  den  französiscli 
redenden  Schweizern  mit  Absicht,  im  Gegensatz  zu  Franzosen.  Man  ver- 
gleiche seine  Bemerkimg  über  das  burgundische  Reich  S.  31.   1. 


550  HisTORY  OF  Federal  Government. 

sich  gehen,  -vvenu  etwas  Haltbares  daraus  hervorgehen  soll; 
und  so  gut  Natur  und  nicht  Kunst  Bevölkerungen  der  ver- 
schiedensten Zungen  in  den  engen  Gränzen  der  Schweiz  zu- 
sammengebracht, ist  auch  die  historische  Entwicklung,  welche 
diese  Ijevölkerungen  zu  einer  freien  Verbindung  zusammen- 
gekettet hat ,  eine  natürliche ,  und  darum  hat  diese  so  lange 
gehalten.  Will  man  nur  die  Nation  im  ethnologischen  Sinne 
eine  natürliche  nennen,  so  mag  man  im  Gegensatz  dazu  die 
schweizerische  eine  historisch  gewordene  nennen,  am 
besten  ist  aber  wohl,  den  Ausdruck  Nation  gar  nicht  anzu- 
wenden, sondern  nur  von  einem  schweizerischen  Volke  zu 
sprechen.  Doch  das  ist  am  Ende  ein  Wortstreit,  der  noch  da- 
zu vom  verschiedenen  Gebrauche  des  gleichen  Wortes  in  ver- 
schiedenen Sprachen  abhängt.  Sprechen  doch  unsere  welschen 
Eidgenossen  ganz  ernsthaft  von  einer  Nation  Vaudoise  und 
Nation  Genevoise.  Hingegen  -«-ird  jeder  Kenner  der  schweize- 
rischen Verhältnisse  fühlen ,  wie  jene  Schilderimg  schon  jetzt 
nicht  mehr  ganz  passt,  —  Aristokratien  sind  nicht  mehr  ge- 
stattet —  und  die  Unabhängigkeit  der  Cantone  wesentlich  be- 
droht ist,  man  darf  wohl  sagen,  mehr  als  bedroht,  seitdem  der 
schweizerische  Rundesrath  mit  nicht  eben  feiner  Sophistik  die 
Theorie  aufgestellt  hat.  dass  vermöge  des  Rechts  Verträge  mit 
dem  Auslande  zu  schliessen  die  Eundesgewalt  durch  die  übri- 
gen Bestimmmigen  der  Verfassung  nicht  mehr  gebunden  sei, 
tmd  also  die  cantonale  Unabhängigkeit  nur  noch  von  der  Dis- 
cretion  dieser  abhänge,  und  —  seitdem  die  Bundesversammlung 
diese  Theorie  acceptirt  hat.  Mögen  die  sich  täuschen,  welche 
fürchten,  es  sei  damit  der  Pfad  betreten,  der  vom  Bundesstaat 
zum  Einheitsstaat  führt. 

Hören  wir  noch,  was  der  ebenso  einsichtige  als  für  unser 
Land  wann  fühlende  Verfasser  von  einem  solchen  Falle  sagt. 
Nachdem  er  ausgesprochen ,  dass  zweiundzwanzig  vollständig 
unabhängige  Staaten  sich  unmöglich  erhalten  könnten ,  fährt 
er  fort :  »Aber  würde  Verbindung  zu  einem  Einheitsstaat  (con- 
solidation'  dem  Zweck  entsprechen?  Sollen  wir  der  Schweiz 
die  stereotyjie  Segnung  eines  erblichen  Königs,  eines  verant- 
wortlichen Ministeriums,  eines  erwählten  und  eines  ernannten 
Parlamentshauses  geben?  Oder  sollen  "«"ir  zur  Abwechslunar 
ihr  die  niedlich  entworfene  Foiin  einer  einen  im.d  untheilbaren 


HisTORY  OF  Federal  Government.  551 

Ilepiiblik  geben?  Solch  ein  Königreich  oder  solch  eine  Re- 
publik würde  nur  in  kleinerem  Massstabe  einen  Anblick  dar- 
bieten, wie  die  Reiche  von  Oesterreich  und  der  Türkei.  Die 
burgundischen  und  italienischen  Provinzen  würden  gegen  eine 
vorherrschend  deutsche  Regierung  sich  empören  und  sich  um 
Hülfe  an  ihre  stammverwandten  Nachbaren  jenseits  der  Gränze 
wenden .  Frankreich  würde  für  Waadt  werden ,  was  Fiemont 
für  die  italienischen  Provinzen  von  Oesterreich,  was  Russland 
für  die  slavischen  Provinzen  der  Türkei«   (S.    120). 

Ich  habe  mich  absichtlich  länger  bei  der  Einleitung  auf- 
gehalten, um  den  Standpunkt  deutlich  zu  machen,  von  dem 
der  Verfasser  ausgeht.  Mit  dem  dritten  Capitel  beginnt  der 
eigentlich  historische  Theil,  der  in  sechs  Capiteln  die  Ge- 
schichte des  Bundesstaates  in  Griechenland  von  den 
ersten  Anfängen  bis  zum  Untergang  ]des  achaiischen  Bundes 
darstellt.  Da  der  Verfasser  sich  keineswegs  auf  eigentliche 
Bundesstaaten  im  engem  Sinne  beschränkt,  sondern  auch  ver- 
wandte Institute  und  blosse  entfernte  Versuche  bespricht,  so 
ist  nicht  zu  billigen,  dass  er  die  grossen  hegemonischen  Bünde 
oder  Symmachien  ganz  bei  Seite  gelassen  hat.  Denn  wenn 
auch  die  attische  Symmachie  so  Avenig  wie  die  peloponnesische 
es  je  zum  wahren  l^undesstaate  gebracht  hat,  so  gehörten  sie 
doch  wenigstens  so  gut  als  mehrere  der  besprochenen  Verbin- 
dungen hieher  und  Avären  besonders  interessant  gewesen  wegen 
geAA-isser  Analogien  mit  dem  vorörtlichen  System  der  schweize- 
rischen Eidgenossenschaft.  Wenn  Freeman  wiederholt  von 
einer  athenischen  Herrschaft  sijricht,  so  übergeht  er,  dass  diese 
Herrschaft  in  Folge  mangelhafter  Bundeseinrichtungen  aus  einer 
ursprünglich  freien  Bundesgenossenschaft  durch  Uebergriffe  des 
Vororts  und  Schlaffheit  der  kleinen  Bundesglieder  hervorge- 
gangen ist.  Eine  Bundesbehörde,  der  Tagsatzung  entsprechend, 
war  im  Synedrion  da,  und  sogar  eine  Finanzbehörde  in  den 
Hellenotamien.  Es  hätte  liier  gezeigt  werden  müssen,  wie  jede 
Hegemonie  nothwendig  zur  Herrschaft  des  Hegemonen  und 
zur  Unterdrückung  derer  führt,  welche  die  Leitung  ihrer  Kriegs- 
macht an  einen  Stärkern  abgeben,  und  es  daher  der  grösste  poli- 
tische Fehler  eines  kleinen  Staates  ist,  die  militärische  und  diplo- 
matische Führung  an  einen  mächtigeren  abzutreten,  wenn  man 
nicht  von  vorn  herein  eine  völlige  Absorption  in  diesen  bezweckt. 


552  HisTORY  OF  Fbderal  Government. 

Die  delphische  A  m  p  h  i  k  t  y  o  n  i  e ,  den  ältesten  Staa- 
tenverein, den  wir  in  Griechenland  genauer  kennen,  beurtheilt 
Freeman  richtig,  wenn  er  sie  als  eine  religiöse,  nicht  eigent- 
lich politische  Verbindung  ansieht,  die  in  späterer  Zeit  nur 
missbränchlich  als  politisches  Werkzeug  benutzt  Murde  ^] .  Nur 
lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  in  jener  ältesten  Zeit  ReU- 
giöses  und  Politisches  so  wenig  streng  geschieden  waren,  dass 
auch  die  Amphiktyonie  bis  auf  einen  gewissen  Grad  eine 
politische  Verbindung  wurde.  Dagegen  hat  der  Verfasser 
schwerlich   mit  Recht   die  Erscheinung,    dass    später   sich   aus 


1)  Ueber  die  delphische  Amphiktyonie  resp.  die  Stimmen  der  theil- 
nehmenden  Völker  giebt  neuen,  höchst  interessanten  Aufschluss  ein  i*^''2 
von  dem  unermüdlicheu  verdienstvollen  Inschriftenforscher  Carl  Wäscher 
in  Delphi  aufgefundenes  Document,  von  dessen  Inhalt  er  mir  im  vei*flossenen 
October  mündliche  Mittheilung  gemacht  hat  und  über  das  man  jetzt  einen 
kxirzen  vorläufigen  Bericht  in  der  Revue  Archeologique,  November  1864, 
S.  407  ff.  findet.  [Jetzt  C.  Wescher:  etudes  sur  le  monument  hilingue  de 
Delphes  suivics  d eclaircissements  sur  la  decouverte  du  niur  oriental  etc. 
3Iemoires  presetiies  par  divers  savants  ä  V academie  des  inscriptions  et  belles- 
lettres.  prämiere  Serie  VIII.  Paris  1869.  S.  1 — 218.  Schon  zu  Aischines 
Zeit  waren  es  aber  24  Stimmen ;  er  sagt,  jedes  £&>;o!;  habe  zwei  Stimmen ; 
aber  diese  haben  nur  Sinn  bei  der  Theilung  einzelner  sövt]  cf.  Trept  -apctrp. 
§.  116.  —  Wescher  meint,  die  Doloper  und  Perrhaiber  gehörten  zusammen. 
Schwerlich  richtig.  Denn  die  Delphier  (eine  blosse  Stadt ,  nicht  Völki.  r- 
schaft,  waren  keine  ursprünglichen  Theilnehmer.  Mit  mir  überein  stimmt 
Foucart:  Memoire  sur  Delphes  S.  162.]  Zur  Zeit  dieses  Documents,  das 
jedenfalls  vor  die  Keconstituirung  durch  Augustus  gehört,  hatten  sieben 
Völkerschaften  je  zwei  Stimmen,  zehn  je  eine,  zusammen  also  vierundzwan- 
zig. Die  erstem  mit  je  zwei  Stimmen  waren  die  Delphier,  die  Thessaler, 
die  Phokier,  die  Boiotier,  die  phthiotischen  Achaier,  die  Magneten  und  die 
Ainianen.  Die  letztern  waren  die  Dorier  am  Parnass  und  die  Dorier  im 
Peloponnes,  die  Athener  und  die  Euboier,  die  Malier,  die  Oitaier,  die 
Doloper,  die  Perrhaiber,  die  hypoknemidischen  Lokrer  und  die  westlichen 
Lokrer.  Bei  den  Doriern,  loniern  tAthenern  und  Euboiern  und  Lokrern 
erkennt  man  deutlich  die  Trennung  früher  einheitlicher  Glieder  in  je  zwei ; 
dasselbe  scheint  der  Fall  zu  sein  bei  den  Maliern  und  Oitaiern :  die  Doloper 
und  Perrhaiber,  die  sonst  beide  unter  den  ursprünglichen  zwölf  Völker- 
schaften genannt  werden,  sind  vielleicht  bei  der  Aufnahme  von  Delphi  zu 
«Halbständen«  herabgesetzt  worden.  Es  ist  diese  Verdoppelung  der  ur- 
sprünglichen zwölf  Stimmen  und  die  Theilung  einiger  ganz  analog  dem 
Verfahren  in  der  Schweiz  bei  der  neuen  Bundesverfassung,  wo  statt  der 
zweiundzwanzig  Stimmen  der  Tagsatzung  den  Cantonsrepräsentanten  im 
Ständerath  vierundvierzig  Stimmen  gegeben  Avurden,  den  ganzen  Cantonen  je 
zwei,  den  sechs  Halbkautonen  von  Unterwaiden,  Basel  und  Appenzell  je  eine. 


HisTORY  OF  Federal  Government.  553 

der  delphischen  iVmphiktyonie  kein  wirklicher  Bundesstaat 
entA^ ickelte .  als  Beweis  dafür  geltend  gemacht,  wie  wenig 
Sinn  die  Griechen  in  der  Zeit  ihrer  grössten  Blüthe  für  eine 
engere  staatliche  ^'erhindnng  gehabt  hätten.  Man  möchte  sich 
umgekehrt  verwundern,  dass  nach  den  Umwälzungen,  welche 
die  thessalische  und  dorische  Wanderung  mit  sich  führten,  und 
bei  den  gänzlich  veränderten  Machtverhältnissen  der  theil- 
nehmenden  Völkerschaften  jener  alte  apollinische  Verein  sich 
überhaupt  auch  in  der  losesten  Form  erhalten  hat. 

Wirklich  politische  Bünde,  theilweise  selbst  B>undesstaaten, 
finden  sich  dagegen  in  mehreren  Landschaften  des  nördlichen 
und  mittleren  Griechenlands ,  vor  denen  der  Verfasser  nur 
Phokis,  Akarnanien  und  E p e i r o s  etwas  eingehender  be- 
handelt. Aitolien,  dass  sich  später  über  die  landschaftliche 
Bedeutung  erhoben,  wird  in  einem  späteren  Abschnitt  bespro- 
chen. Diese  Bundesstaaten  haben  alle  das  gemeinsam,  dass  sie 
einen  in  einer  zusammenhängenden  Landschaft  niedergelassenen 
Stamm  umfassen,  avo  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit 
und  Gleichartigkeit  immer  lebendig  geblieben  war,  auch  keine 
bedeutenden  Städte  bestanden,  in  denen  sich  Sonderinteressen 
entwickeln  konnten.  Von  einem  kunstreichen  Organismus  ist 
also  hier  keine  Spur.  Die  Verbindung  scheint  sich  früher 
hauptsächlich  auf  die  Vertheidigung  gegen  äussere  Feinde  be- 
schränkt zu  haben.  Erst  in  späterer  Zeit,  als  das  föderative 
System  überhaupt  sich  mehr  verbreitet  hatte,  scheinen  die 
Formen  weiter  ausgebildet  worden  zu  sein.  Epeiros  "SAiirde 
überdies  erst  um  229  l^undesstaat. 

Bei  den  sehr  dürftigen  Nachrichten .  welche  die  Schrift- 
steller uns  über  diese  Staaten  erhalten  haben,  ist  zu  bedauern, 
dass  Freeman  eine  wichtige  Quelle  nur  sehr  mangelhaft  be- 
nutzt hat,  die  Inschriften,  von  denen  er  fast  nur  die  im  Cor- 
pus Liscript.  Graec.  enthaltenen  zu  kennen  scheint.  Nun 
findet  das  freilich  seine  Erklärung  in  der  grossen  Zerstreutheit 
dieses  Materials ;  aber  gerade  für  diese  Bundesstaaten  gewähren 
manche  noch  nicht  in  jene  Sammlung  aufgenommene  Inschrif- 
ten reiche  Aufschlüsse.  So  erwähnt  eine  in  Troas  aufgefun- 
dene, jetzt  in  Cambridge  befindliche  Inschrift  ij   Bundesstaaten 


1    Von  E    Curtius  in  Gerhards  Arch.  Zeitung  1855,  S.  33  fF.  veröffent- 


554  HisTORY  or  Federal  Government. 

(xoiva)  der  Dorier  am  Oite,  der  Ainianen,  der  Athamanen,  der 
Oitaier,  der  östlichen  Lokrer,  von  denen  der  Verfasser  nur 
ganz  zweifelhaft  gesprochen  hat,  und  dieselbe  Inschrift  zeigt 
uns ,  dass  in  dem  nach  dem  Ende  der  Aiakidenherrschaft  in 
Epeiros  gegründeten  Bundesstaate  die  Stadt  Phoinike  der  Sitz 
der  Bundesbehörden  war,  wodurch  die  Darstellung  bei  Freeman 
wesentlich  ergänzt  würde  und  eine  später  (S.  667,  Anm.  1) 
aufgeworfene  Frage  ihre  Lösung  erhalten  hätte. 

Auch  für  den  phokischen  Bundesstaat  der  makedonischen 
Zeit,  so  wie  für  die  ozolischen  Lokrer  und  die  Dorier  ist 
reichliches  Material  in  den  delphischen  Lischriften  enthalten, 
die  aber  freilich  zum  grösseren  Theil  erst  nach  dem  Erscheinen 
des  l^uches  1863  von  Wescher  und  Foucart  herausgegeben  wor- 
den sind. 

Thessalien  will  Freeman  gar  nicht  als  Bundesstaat 
gelten  lassen,  ich  glaube  aber  mit  Unrecht.  Denn  schon  der 
Umstand,  dass  die  thessalischen  Städte  gemeinsame  Einkünfte 
und  Unterthanen,  den  gemeinen  Yogteien  der  Schweiz  ent- 
sprechend, hatten,  beweist  eine  bündische  Einigung,  und  die 
Oberfeldherrnschaft ,  Tageia,  wenn  auch  faktisch  oft  in  eine 
Tyrannis  ausartend,  vermochte  dem  Bimde  nach  aussen  eine 
Kraft  zu  verleihen,  wie  sie  keine  andere  Landschaft  mit  bün- 
dischen Einrichtungen  besass.  Dass  die  einzelnen  Städte  sich 
dem  Tagos  nur  widerstrebend  unterordneten,  was  der  Verfasser 
für  seine  Meinung  geltend  macht,  beweist  gegen  einen  thessa- 
lischen Bund  so  wenig  als  die  Feindschaft  Plataias  gegenüber 
Theben  etwas  gegen  einen  boiotischen '). 

Eingehender  als  von  diesen  uns  nur  dürftig  bekannten 
Bünden  wird  von  Boiotien  gesprochen,  das  seit  der  Be- 
setzung des  Landes  durch  die  Boiotier,  so  \iel  vdr  "uissen, 
stets  einen  Bundesstaat  mit  Theben  an  der  Spitze  gebildet  hat, 
in  dem  aber  früh  die  Ansprüche  der  Bundesstadt  mit  den  Un- 


licht, weniger  genau  von  Churchill  Babington  in  den  Inscriptiones  Sprattia- 
nae.  Den  Kassandros  aus  Alexandreia  Troas,  zu  dessen  Ehren  die  Inschrift 
verfasst  ist,  findet  man  in  einer  delphischen  Inschrift  wieder  bei  Wescher 
und  Foucart  Inscriptions  de  Delphes,  n.   18.  Z.   39.  40. 

1)  Näheres  über  die  thessalische  Bundesverfassung  und  besonders  die 
Einrichtungen  des  alten  Aleuas  habe  ich  in  der  Schrift  über  Staaten  und 
Bünde  im  alten  Griechenland  S.  19  ff.   '=  Kl.  Sehr.  I  S.  .^35  ff.)  gegeben. 


HisTORY  OF  Federal  Go^-erxment .  555 

abhängigkeitsbestrebiingen  einiger  anderen  Städte  in  einen 
Confiict  traten,  um  den  sich  die  ganze  Geschichte  des  Landes 
dreht;  denn  auch  die  änssere  Politik  ist  dadurch  wesentlich 
bedingt.  Den  Grund  der  Avenig  gedeihlichen  Entwicklung  des 
Bundes  findet  der  Verfasser  in  der  unverhältnissmässigen  Macht 
Thebens  gegenüber  den  anderen  Orten,  was  ihn  zu  beachtens- 
werthen  Betrachtungen  über  den  Sitz  der  Bundesregierungen 
überhaupt  veranlasst.  Indem  er  diesen  nie  in  einer  Stadt 
haben  will,  welche  sich  durch  Grösse  oder  andere  Bedmgungen 
zu  einer  eigentlichen  Hauptstadt  eignet,  äussert  er  sogar  sehr 
ernste  Bedenken,  ob  die  Wahl  Berns  zum  bleibenden  Sitz  der 
schweizerischen  Bundesbehörden  eine  weise  gewesen  sei  und 
neigt  entschieden  mehr  für  den  früheren  Wechsel  der  Vororte. 
Die  politische  Entwicklung  des  boiotischen  Bundes  theilt 
er  in  drei  Perioden :  erstens  die  von  seiner  Entstehung  bis 
zum  Frieden  des  Antalkidas,  387  v.  Chr.,  zweitens  die  kurze 
Zeit  der  Grösse  Thebens  von  der  Befreiung  durch  Pelopidas 
bis  zur  Zerstörung  der  Stadt  durch  Alexander,  334  v.  Chr., 
drittens  den  Zeitraum  von  da  bis  zur  Auflösung  des  Bundes 
bei  Anlass  des  dritten  makedonischen  Krieges  171.  Ursprüng- 
lich, meint  er,  hätten  die  Städte  nur  eine  religiöse  Verbindung 
um  den  Tempel  der  itonischen  Athene  bei  Koroneia  gebildet 
und  daraus  sei  erst  der  politische  Bund  erwachsen.  Es  ist 
dies  möglich,  aber  durchaus  nicht  zu  erweisen,  ja  gar  nicht 
wahrscheinlich,  da  die  als  Eroberer  ins  Land  gekommenen 
Boiotier  immer  als  ein  einheitliches  Ganzes  erscheinen  und 
das  Bedürfuiss  bündischer  Verbindung  hatten.  Vgl.  Thuc. 
III,  Bl.  —  So  weit  unsere  historischen  Kenntnisse  über  den 
Bund  reichen,  war  Boiotien  formell  ein  wirklicher  Bundesstaat 
mit  durchaus  nicht  unbilligen  Vorrechten  Thebens,  und  blieb 
es  den  grössten  Theil  der  ersten  Periode  hindurch;  aber  im 
Gegensatz  zu  der  formellen  Berechtigung  der  Glieder  wurde 
der  Blind  wesentlich  im  Interesse  des  Vororts  geleitet.  Das 
muss  man  dem  Verfasser  zugeben.  Aber  er  zieht  nun  auch 
aus  dem  bekannten  Schiedssprüche  der  Korinthier  im  Streite 
Plataias  mit  Theben  (519  ?i  den  Schluss,  dass  unparteiische 
Beurtheiler  den  boiotischen  Bund  gar  nicht  als  wirklichen 
Bundesstaat  betrachtet  hätten.  Die  Korinthier  entschieden 
nämlich  dahin,   es  solle  nicht  nur  den  Plataiern,   sondern  allen 


556  HiSTORY  OF  Federal  Government. 

Bundesgliedern  nach  Belieben  auszutreten  freistehen.  Darin  ist 
offenbar  nur  zii  erkennen,  wie  stark  bei  den  meisten  Griechen 
damals  noch  die  Vorliebe  für  absohite  Städteautonomie  Avar. 
Den  Korinthiern  erschien  das  Recht  jeder  Stadt  auf  unbe- 
schränkte Selbständigkeit  als  etwas  selbstverständliches,  unver- 
äusserliches; eine  föderative  Verpflichtung  war  ihnen  undenk- 
bar. An  ein  Urtheil  über  den  boiotischen  Bundesstaat  haben 
sie  sicherlich  nie  gedacht.  Mit  der  Anerkennung  jenes 
Principes  war  der  Bund  aufgelöst  und  darum  versagten  sie  die 
Thebaner.  Denn  etwas  anderes  kann  man  in  ihrem  Angriffe 
auf  die  abziehenden  Athener,  die  den  Plataiern  zu  Hülfe  ge- 
kommen w^aren,  nicht  sehen.  Die  gewaltsame  Trennung  von 
Plataia,  aWc  sie  in  Folge  des  Sieges  der  Athener  eintrat ,  war 
viel  weniger  gefährlich,  weil  sie  kein  Princip  sanctionirte. 
Uebrigens  muss  man  bei  der  Beurtheilung  der  Stellung  Pla- 
taias  zum  Jjiinde  sich,  mehr  als  der  Verfasser  gethan  hat,  er- 
innern ,  dass  wir  nur  einseitige ,  der  secessionirenden  Stadt 
günstige  Berichte  besitzen. 

Auffallend  ist,  dass  die  Zeit  von  den  Perserkriegen  bis 
-zur  ersten  Schlacht  von  Koroneia,  448  v.  Chr.,  ganz  mit  Still- 
schweigen übergangen  ist,  wo  doch  Thebens  Stellung  zu 
Boiotien  wiederholt  sehr  erschüttert  und  verändert  war.  Ohne 
mich  indessen  hierbei  aufzuhalten,  will  ich  zur  zweiten  Periode 
übergehen,  über  die  ich  eine  vom  Verfasser  ganz  abweichende 
Ansicht  habe.  Dieser  meint  nämlich,  in  dieser  Zeit  der  glän- 
zendsten MachtentAA^cklung  Thebens  seien  die  anderen  boioti- 
schen Städte  unter  dem  Namen  einer  Conföderation  in  eigent- 
liche Unterthänigkeit  gebracht  worden.  In  der  Hauptsache 
mit  seinen  Landsleuten  Grote '  iind  Thirlwall  in  Ueberein- 
stimmung ,  behauptet  er ,  die  Massregeln ,  die  Theben  damals 
getroffen,  seien  nicht  dahin  gegangen,  die  kleineren  boiotischen 
Städte  in  sich  zu  einem  Einheitsstaate  zu  absorbiren,  sondern  sie 
sich  in  der  Form  einer  Conföderation  zu  unterwerfen.  Allein 
schon  die  von  Freeman  und  Grote  selbst  angeführten  Stellen 
beweisen  bei  richtiger  Auffassung  das  Gegentheil .  namentlich 
hätte   Freeman   durch    die   ausführlich  besprochene   Stelle    des 

')  Die  Polemik  gegen  Grote  S.  173  ff.  bezieht  sich  nicht  auf  die  födera- 
tive Form,  sondern  auf  den  unter  dieser  Form  faktisch  eingetretenen 
-Zustand. 


HisTORY  OF  Feder.\l  Goverxment.  557 

Isokrates  (Plat.  §.  8)  belehit  werden  müssen \).  Aber  obwohl 
er  ganz  richtig  sagt:  »wir  hören  nichts  mehr  von  einem  boio- 
tischen  Bunde,  sondern  von  einem  thebanischen  Staate,  in 
welchem  wider  Willen  die  anderen  iStädte  aufzugehen  ge- 
zwungen sind,a  so  hält  er  doch  diese  richtige  Auffassvmg  nicht 
fest,  sondern  glaubt  in  der  Stelle,  die  durch  plataiische  oder 
isokratische  Rhetorik  gefärbt  sei,  bloss  die  Thatsache  zu  finden, 
dass  Theben  emen  harten  Druck  geübt  habe.  Das  hätte  der 
berühmte  Redekünstler  aber  nie  so  ungeschickt  ausgedrückt. 
Die  Wendungen  »am  thebanischen  Staate  Theil  nehmen  (ttjc 
o'^sTspa?  au-u)v  Tzo/atEiac  xoivwvsTv)  und  »zu  Theben  gehören« 
(ör^pai'oi?  auvTsXsIv,  st;  ta;  örjßa;  ruvtsXiTv  nicht  etwa  si;  Boio)- 
Touc  wie  in  früheren  Zeiten  Herodot  VI,  J08  sagt)  können 
nichts  anderes  bezeichnen  als  das  gänzliche  Verschmelzen  aller 
boiotischen  Städte  in  einen  Gesammtstaat ,  wie  es  auch  von 
vielen  Gelehrten  ganz  richtig  verstanden  wird.  Wie  alle  Be- 
wohner Attikas  seit  Theseus  Athener  waren,  so  sollten  nun 
alle  Boiotier  Thebaner  werden ,  was  in  der  Theorie  durchaus 
keinen  Druck  voraussetzte ,  wie  bekanntlich  ein  solcher  in 
Attika  auch  nie  von  ferne  bestand.  In  Boiotien  hatten  nun 
aber  einmal  die  Einzelstädte  ihre  Autopolitie  seit  undenklichen 
Zeiten  gehabt  und  lieb  gewonnen,  zum  Theil  auch  seit  Jahr- 
hunderten in  Opposition  mit  Theben  gelebt.  Ihnen  musste 
daher  das  Aufgehen  in  der  thebanischen  Bürgerschaft  als 
schwerer  Druck  erscheinen.  Hatte  auch  der  einzelne  Bürger 
mit  dem  einzelnen  Thebaner  gleiche  Rechte,  so  galt  er  doch 
nichts  mehr  als  Plataier,   Thespier,   Orchomenier,   Avar  überdies 


1)  Isokr.  Plat.  §.  8 :  dviOTS  y°'P  ^T^t/etpoüai  "ki^iti^  wj  oia  toüJto  Ttpo;  "/jfAä; 
o'jTtu  TTpocYjNe^&Yjaav,  ort  ouvTeXeiv  aüxoi;  oOx  TjftlXofAev.  üfieii;  S'lv&u[A£ia&£ 
TTpwTOV  ^£V  ei  Sixatov  saxiM  ÜTiep  ttjXixoutujv  lY"'^XTj(j.aTa)V  o'jtous  dvöpiou;  xat 
SeiNd;  TTOteTa&ai  xac  Tifxtopia; ,  t-tiT  ei  7ipo;fjX£tv  üijiTv  ooy.£r  [xr^  r^eia^eiaa-i 
rrjv  nXa~at£tt)V  toXiv  txXXd  ßtao&eiaav  B'fjßaiotj  a'JVT£X£rv.  i'fo)  [i.£v  yötp 
O'JOtva;  T^f'^^Jf^'-^' "'^oXfj.Tjpoxepo'j;  £ivai  To'jxojv,  oixive;  xa;  |i.£v  lOiac  tjp.tt)v  exd- 
ax(ov  7:6X£t;  äcpa^  iCouo  i,  xtj;  Se  acpexepa?  aiixöjv  TtoXixEiot;  oüSev 
S£0[X£vo'J?  xotvtuvEiv  dva-f^dC^uaiv.  lipo;  §£  xo6xoi;  oio'  6[j.oXofO'j[A£vot 
cpaivovxat  0[aTrpaxxo[ji£^ot  Ttpos  x£  xoü?  dXXou;  xal  Trpö;  ■f\i>.äi.  ^XP"?]'^  Y^^P  '^'üxou; 
iT:£i8T]  Tt£i8£tv  T?][jiü)v  zr^v  -oXtv  o'jy  olot  x'  -^aav,  ojaTiEp  xo'jc  0£OTct£ac  xal  touc 
TavaYpaio'Ji ,  ouvxeXeiv  (j.6>;ov  eU  "^äc  9f]ßotc  dvaYV-dC^i"'-  O'josv  Y^tp  «v  twv 
dvT)X£5X0)v  xa'AÖJV  r^[A£v  ■7r£7rov&ox£5.  vüv  0£  spavepoi  -{t16^a':l^^  oü  xoüxo  öiaTipd- 
^aoDai  ßo'jXYjft£vx£S,   dXXd  xfj;  -/(upa;  -/nj-tüv  d7rt&'j[j.r,aavx£i. 


558  HisTORY  OF  Federal  Government. 

durch  die  Entfernung  von  Theben  im  Nachtheile ,  wenn  er 
nicht  dorthin  übersiedelte.  Die  einzelnen  Städte  als  solche 
verschwanden,  za;  ixev  t^ij-wv  s/aariuv  -oÄsic  a'favi!^oi>ji ,  was 
genau  das  Nämliche  bedeutet  wie  das  Auflösen  der  liathhäuser 
und  der  Magistrate  der  attischen  Einzelstädte  diirch  Theseus  bei 
Thukydides  2,  15  xaTaXuaa;  Tuiv  aÄÄojv  -oäeojv  ra  ts  ,3ooÄc'JTT]pia 
y.ai  xa;  oip/ac  .  Für  die  luiteren  Volksklassen  Avar  eine  solche 
Massregel  wenig  drückend,  ja  in  den  bisher  oligarchisch  re- 
gierten Städten  erwünscht,  vrie  denn  auch  ein  grosser  Theil 
des  Volks  frei^Aällig  nach  Theben  übersiedelte.  Für  die  \ov- 
nehmen  aber,  besonders  die  Geschlechter,  welche  bisher  in 
den  kleinen  Orten  Aemter  und  Ehren  imie  gehabt  und  dort 
ihren  Grundbesitz  hatten,  war  die  Aenderung  eine  sehr  harte. 
Die  hohen  Stellen  in  den  Einzelstädten  hörten  auf,  m  dem 
Gesammtstaate  hatten  sie  freilich  die  Berechtigung  zu  allen 
Aemtern,  aber  blutwenig  Aussicht  sie  zu  erhalten ;  denn  in  der 
Volksversammlung,  welche  alle  Wahlen  hatte,  waren  faktisch 
die  eigentlichen  alten  Thebaner  ohne  Zweifel  in  der  Majorität 
und  übten  ihr  Wahlrecht  ohne  Rücksicht  aus.  Wenigstens 
hören  wir  nicht,  dass  irgend  ein  Angehöriger  eines  kleinen 
Ortes  in  dieser  Zeit  ein  bedeutendes  Amt  erhalten  hätte. 

Was  den  Namen  des  Gesammtstaates  betrifft,  so  scheint 
er  officiell  als  der  thebanische  bezeichnet  worden  zu  sein, 
Ol  0Tj,3aIoi.  So  Avenigstens  steht  in  der  bekannten  Steinurkunde 
jener  Zeit  über  den  unter  Archon  Nausinikos  geschlossenen 
grossen  athenischen  Bund,  der  einzigen  mir  bekannten,  wo 
eine  officielle  Unterschrift  sich  findet  ^^ .  Damit  stimmt  auch 
wohl  überein,  dass,  während  bei  Thukydides,  also  in  den  Zeiten 
des  peloponnesischen  Krieges ,  Boiotien  als  Staat  immer  mit 
BoKüTot  bezeichnet  wii'd,  und  bei  Xenophon  bis  zur  Zeit  des 
antalkidischen  Friedens  der  Gebrauch  zwischen  Boicutoi  und 
ör^paToi  schwankt,  seit  der  Befreiung  vom  spartanischen  Joch 
bei  diesem  0r,,3aloi  das  regelmässige  ist,  und  ebenso  bei  den 
Rednern  immer  Qr^^ioXo'.  vorkommt  2). 


1)  Die  Inschrift  ist  an  verschiedenen  Orten  abgedruckt.  Es  genügt  auf 
Rangabe  Antiq.  Hell.  n.  3S1  und  381b  11  S.  40  und  373  ff.l  und  Meier 
Comment.  Epigr.  n.  1  zu  verweisen. 

-)  Danach  ist  zu  berichtigen,  was  Freeman  S.  ItJO  über  den  Gebrauch 
von  Bo'.cuTof  und  0r,ßaroi  sagt. 


HisTORY  OF  Federal  Government.  559 

Im  Widerspruch  damit  scheint  nur  der  bekannte  Vorfall 
am  Friedenscongress  vor  der  leuktrischen  Schlacht  zu  sein, 
wie  ihn  Xenophon  (Hell.  VI,  3,  19)  erzählt.  Die  thebanischen 
Gesandten  verlangten,  dass  im  Protokoll  für  Br^ßaToi.,  wie  zuerst 
geschrieben  stand,  Boiojtoi  gesetzt  werde.  In  der  That,  meint 
A.  Schäfer  (Demosth.  I.  S.  G7) ,  nicht  die  Thebaner  hätten 
sich  zuerst  als  ör^ßaToi  unterschrieben,  sondern  für  sie  die 
präsidirenden  Spartaner  diesen  Ausdruck  gesetzt,  nicht  was 
sie  selbst  geschrieben,  hätten  sie  im  Protokoll  ändern  wollen, 
sondern  was  die  Spartaner  für  sie  eingetragen  hatten.  Denn 
ihr  Anspruch  im  Namen  aller  Boiotier  zu  unterschreiben,  sei 
ihnen  nicht  erst  über  Nacht  hergekommen.  Allein  dieses 
Auskunftsmittel  steht  im  vollsten  Widerspruche  mit  Xenophons 
deutlichen  Worten  1 1  ,  denen  zufolge  die  Thebaner  sich  selbst 
eingeschrieben  hatten.  Vielmehr  ist  die  Sache  so  zu  verstehen, 
dass  die  Thebaner,  als  sie  sich  6r||3aIoi  unterschrieben,  gerade 
wie  im  Bunde  mit  Athen,  damit  den  in  Theben  concentrirten 
boiotischen  Staat  verstanden ;  Agesilaos  aber  nahm  es  nicht 
in  diesem  Sinne  und  verlangte,  dass  die  einzelnen  Städte  nun 
auch  noch  schwören  und  sich  einzeichnen  sollten.  Da  erst 
stellten  die  Thebaner,  um  jeder  Missdeutung  zu  begegnen,  die 
Forderung,  dass  Boiu>toi  anstatt  Or^ßaToi  geschrieben  werde. 
Ganz  ähnlich  setzte  nach  Aischines  geg.  Ktes.  §.  142  Demo- 
sthenes  in  den  vor  der  Schlacht  bei  Chaironeia  mit  Theben 
abgeschlossenen  Bundesvertrag,  dass,  wenn  eine  boiotische 
Stadt  von  den  Thebanern  abfalle,  Athen  den  Boiotiern  in 
Theben  (BokdtoT;  toT:  ev  ©rjßai;;)  Hülfe  leisten  sollte ,  womit 
das  Verhältniss  vortrefflich  ausgedrückt  war,  obwohl  Aischines 
es  als  eine  Täuschung  bezeichnet,  üebrigens  erklärt  Freeman 
selber  nur  von  seinem  Standpunkte  aus  die  Stelle  Xenophons 
in  ähnlicher  Weise.  S.  175,  N.  1.  Dass  Diodor  in  dieser 
Zeit  einmal  (XV,  80)  von  einer  xoivr|  auvooo;  tuiv  Bokdtäv  und 
an  einer  anderen  (XVI;  85)  von  dem  xoivov  täv  Boiw-tov  spricht, 
darf  uns  nicht  irre  machen,  da  bei  einem  so  ungenauen  Schrift- 
steller   der    Ausdruck    nicht    urgirt    werden    darf.      Ueberdies 


560  HisTüRY  OF  Federal  Goverxment. 

nennt  bei  dem  Vorfall,  der  an  der  ersten  Stelle  erzählt  Avird, 
Plutarch  Pelop.  31  '}T/^toa}x£vo>v  -(uv  Örjj'jctiajv  aiisdrücklich  die 
Thebaner,  und  in  der  zweiten  wirft  Diodor  zwei  ganz  ver- 
schiedene Vorgänge  untereinander.  Möglich  bleibt,  dass  der 
Sprachgebrauch  sich  nicht  vollkommen  fixirte.  Die  obersten 
Beamten  behielten  immer  den  alten  Namen  der  Boiotarchen. 

Dem  Wahren  näher  ist  Freeman  bei  der  auf  den  boioti- 
schen  Bund  folgenden  Betrachtung  der  ziir  Zeit  des  Königs 
Amyntas  von  Makedonien  von  0 1  y  n  t  h  o  s  unternommenen 
Centralisirungsversuche ,  obwohl  er  auch  hier  sich  nicht  hat 
entschliessen  können,  es  entschieden  anzuerkennen.  Die  Rede 
des  Akanthiers  Kleigenes  in  Sparta  (Xenoph.  Hellen.  V,  2, 
12  ff.)  zeigt  aufs  deutlichste,  dass  auch  hier  nur  an  eine  Ver- 
bindung zu  einem  Staate  gedacht  Averden  kann.  Mehr  noch 
als  die  Worte  toT;  auroT;  votxoi;  ypr^obal  xai  o'jjiTzoXiTäustv  (§.  12) 
beweist  das  der  Ausdruck  -Tj?  -oXiTsia;  xoivwvcTv  (§.  16),  der- 
selbe, den  Isokrates  in  seiner  plataiischen  Rede  gebraucht. 
Freeman  thut  Unrecht,  wenn  er,  wie  es  scheint,  durch  Thirl- 
walls  Autorität  bewogen,  sich  vorstellt,  die  chalkidischen  Städte 
hätten  gegenüber  OhTith  nur  eine  civitas  sine  suffragio  gehabt. 
L  ebrigens  ist  auffallend ,  dass  er  von  diesen  Bestrebungen 
Olynths  nur  bis  zu  dem  erzwungenen  Anschluss  an  Sparta 
und  der  damals  erfolgten  Auflösung  der  Vereinigung  spricht, 
von  der  späteren  Wiederaufnahme  derselben  aber  schweigt, 
obwohl  sie  sehr  bald  eintrat  und  nach  Demosthenes  (tt.  irapaTip. 
§  264j  zu  einer  noch  mächtigeren  Verbindung  führte,  als  sie 
früher  erreicht  worden  Avar. 

Die  Griechen,  bei  denen  gerade  zu  jener  Zeit,  in  der 
ersten  Hälfte  des  Aierten  Jahrhunderts .  sich  vielfach  das  Be- 
dürfniss  nach  engeren  Staatsverbindungen  geltend  machte, 
kannten  eben  für  eine  feste  und  doch  gleichrechtliche  Einigung 
damals  kaum  eine  andere  Form,  als  die  Verschmelzung  in 
einen  Staat.  Die  landschaftlichen  Bünde ,  wie  sie  in  Phokis 
und  ähnlichen  von  gleichartigen  hauptsächlich  von  Viehzucht 
und  Ackerbau  lebenden  Stämmen  ohne  bedeutende  Städte  sich 
gebildet  hatten,  konnten  in  ihrer  bisherigen  einfachen  Form 
dem  Bedürfniss  namentlich  da  nicht  genügen,  wo  es  sich  um 
die  Verbindung  bisher  ganz  selbständiger  ansehnlicher  Städte 
handelte.      Weil    man    aber    als    nothwendige    Bedingung    der 


HisTORY  OF  Federal  Governmext.  561 

Freiheit  die  persönliche  Theihiahme  an  den  Geschäften  ansah, 
die  höchste  Gewalt  also  bei  emer  Gemeinde  stand,  in  der  das 
Stimmrecht  persönlich  nnd  nicht  durch  irgend  eine  Repräsen- 
tation ausgeübt  ^^airde,  führte  eine  solche  Verschmelzung  noth- 
Avendig  zu  einer  Bevorzugung  des  Regierangssitzes ,  und  den 
anderen  Orten  erschien  daher  nicht  ohne  Grund  auch  eine 
theoretisch  völlig  gleichrechtliche  ^'erbindung  als  Unter-" 
drückung. 

Auch  in  den  neuen  Schöpfungen  aus  der  Zeit  des  Epa- 
mein ondas  zeigt  sich  das.  Der  neue  messenische  Staat 
war  bei  seiner  Gründung  ein  durchaus  einheitlicher  und  selbst 
bei  Arkadien  mit  der  neuen  Hauptstadt  Megalopolis 
scheint  das  zuerst  beabsichtigt  gewesen  zu  sein.  Das  Arka- 
dikon  sollte  Arkadien  als  Einheitsstaat  darstellen,  und  als  dessen 
Mittelpunkt  wurde  die  neue  Hauptstadt  gegründet.  Das  scheint 
unter  Anderem  aus  Xenophons  Schilderung  der  Zwiste  in  Tegea 
hervorzugehen  1),  wo  die  eine  Partei  will,  dass  ganz  Arkadien 
zusammentrete  und  was  die  Gesammtheit  beschliesse,  alle 
Städte  binde,  die  andere  aber  darauf  liinarbeitet,  dass  man  die 
Stadt  unverändert  bestehen  und  ihren  ererbten  Gesetzen  folgen 
lasse.  Das  unverändert  bestehen  lassen,  lav  xarot  yiüpcnv ,  in- 
volvirt  als  Gegensatz  das  acpavi^^siv  ta;  ttoAsi;,  wie  es  in  Boio- 
tien  genannt  wurde,  und  da  in  Tegea  auch  von  der  Einheits- 
partei nicht  eine  Uebersiedelung  der  Bevölkenmg  nach  Mega- 
lopolis beabsichtigt  wurde,  so  handelt  es  sich  offenbar  um  das 
Aufgeben  der  städtischen  Selbständigkeit,  um  mehr  als  um 
blosse  föderale  Vereinigung  im  Innern  selbständiger  Orte.  Da- 
her finden  "v^ir  genau  die  gleichen  Erscheinungen  wie  beim 
boiotischen  und  olynthischen  Staate.  Wie  dort  Plataia,  The- 
spiai ,  Orchomenos  oder  Akanthos  imd  Apollonia ,  so  wider- 
streben hier  mit  aller  Entschiedenheit  Heraia  und  Orchomenos 
und  in  einzelnen  anderen  Städten  die  oligarchisch- lakonische 
Partei.  Leider  sind  luis  die  Einrichtmigen  im  Einzelnen  so 
gut  als  gar  nicht  bekannt,   und  namtlich  wissen  wir  nicht,   wie 


'J  Xen.  Hell.  VI,  5.  6.     Twv  ok  TsY'OtTwv  ol  [xsv  rreol  tov  KaXXißiov  -aoli 
Iloofevov  evTJYOv    e-i   t6   o-jvtEvai   ts  -äv   t6  'ApxaStv.ov ,    -/ai    '6  ti  vizc^jt)  i\  tu' 

•/COlvÜi,    TOÜTO    -/.UpiOV    ElVat    Xal    TCÜ-^    -oXeoJV.       Ol    0£     -£pl    TOV    Staatä-OV    ETipaTTOV 

läv  -£  -AaTot  ytnpav  tt^v  roXtv  y.al  toT?  -atpio'.;  voao'.;  yofia&ai. 
Vischer,  Schriften  I.  36 


562  HisTORY  OF  Fedekal  Government. 

weit  den  einzelnen  Städten,  die  nicht  zum  unmittelbaren  Ge- 
biete von  Megalopolis  geschlagen  wurden,  noch  eine  munici- 
pale  Stellung  gewahrt  blieb.  Gewiss  aber  war  Freeman  nicht 
berechtigt,  im  Gegensatz  zu  ]3oiotien  und  Olynth  hier  eine 
wahre  Bundesverfassung  a  real  federal  govemment,  anzuneh- 
men und  eine  höhere  Entwicklung  der  bündischen  Principien, 
als  sie  bisher  irgendwo  vorgekommen  sei,  so  dass  Arkadien, 
so  kurz  seine  Einheit  dauerte,  ein  Vorbild  für  spätere  Zeiten, 
das  heisst  für  den  achaiischen  Bund  geworden  sei.  Ich  mache 
besonders  darauf  aufmerksam,  dass  nirgend  von  besonderen 
megalopolitischen  Behörden  im  Gegensatz  zu  den  gesammt- 
arkadischen  die  Rede  ist,  sondern  die  arkadischen  Behörden 
auch  die  von  Megalopolis  gewesen  zu  sein  scheinen,  während 
im  achaiischen  Bunde  die  Bundesbehörden  streng  von  denen 
aller  Einzelstädte  geschieden  waren.  Ein  wesentliches  Merk- 
mal eines  Bvmdes Staates  der  höheren  Stufe  gegenüber  dem 
hegemonischen  Bunde  liegt  aber  eben  darin,  dass  die  Bundes- 
behörde nicht  zugleich  die  eines  einzelnen  Staates  sei.  Die 
Gründung  einer  verhältnissmässig  mächtigen  Hauptstadt  in 
Arkadien  sucht  der  Verfasser  mit  seiner  sonstigen  Ansicht  über 
diesen  Punkt  dadurch  einigermassen  in  Einklang  zu  bringen, 
dass  er  hervorhebt,  wie  eine  ganz  neu  geschaffene  Stadt  nicht 
die  Sympathien  und  Antipathien  schon  bestehender  gehabt 
habe,   offenbar  nur  sehr  imzulänglich. 

Mit  besonderer  Vorliebe  verweilt  er,  wie  einst  schon 
Montesquieu,  bei  dem  Bundesstaat  des  zwar  nicht  griechischen, 
aber  doch  vielfach  in  Bildung  und  Sitte  den  Griechen  ver- 
wandten lykischen  Volkes,  in  dem  nicht  alle  Einzelstaaten 
gleich  viel  Stimmen  hatten,  sondern  nach  ilu-er  verschiedenen 
Grösse  und  ihren  Leistungen  entsprechend  in  drei  Classen  mit 
je  einer,  zwei  oder  drei  Stimmen  an  der  Bundesversammlung 
zei-fielen.  Während  manche  sich  diese  Versammlung  (auveoptov) 
von  so  viel  Deputirten,  als  die  Staaten  Stimmen  hatten,  ge- 
bildet denken,  also  als  rein  repräsentativ,  hält  Freeman  sie 
für  eine  vollkommen  primäre  Landsgemeinde,  an  der  jeder 
Lykier  habe  Theil  nehmen  können,  die  Abstimmung  aber  nach 
Städten  stattgefunden  habe;  das  heisst,  die  aus  jeder  einzelnen 
Stadt  AuAvesenden  hätten  als  je  ein  Körper  unter  sich  abge- 
stimmt,  und  was  ihre  Mehrheit  gewollt,    dann   beim   Schluss- 


HisTORY  OF  Federal  Government.  563 

resultat  je  für  eine,  zwei  oder  clrei  Stimmen  gezählt.  Die 
Darstellung  Strabo's  (XIV,  3.  p.  S64,  665  C),  unsere  einzige 
Quelle,  macht  einen  sicheren  Entscheid  unmöglich,  obwohl  sich 
nicht  läugnen  lässt,  dass  der  Geschäftskreis  der  Versammlung, 
Entscheidung  über  Krieg  und  Frieden,  und  die  Wahl  des 
Lykiarchen  und  der  übrigen  Bundesbeamten  und  Richter  dieser 
Auffassung  nicht  ungünstig  ist.  Ist  sie  richtig,  so  setzt  Free- 
man  mit  Recht  daneben  noch  einen  bündischen  Rath  (ßooXr]^ 
voraus,  der  sogar  vielleicht  unter  den  von  Strabo  genannten 
«p;(ovT£c;  mitbegriffen  ist.  Besonderen  Beifall  schenkt  er  der 
Einrichtung,  dass  Lykien  keine  Bundesstadt  hatte,  sondern  das 
Synedrion  nach  Belieben  bald  da  bald  dort  zusammentrat. 
Die  Einführung  dieser,  so  weit  die  Verhältnisse  zu  Rom  es 
gestatteten,  noch  in  der  ersten  Kaiserzeit  bestehenden  Verfas- 
sung setzt  er  übrigens  gewiss  mit  Recht  in  die  Zeit  der  Los- 
trennung Lykiens  von  Rhodos,  168  v.  Chr.  Die  ältere  Ver- 
fassung ist  uns  unbekannt,  obwohl  sie  Aristoteles  interessant 
genug  gefunden  hatte,  um  sie  in  seine  Politien  aufzunehmen. 
Die  bis  dahin  dargestellten  Bundesstaaten  sind  grössten- 
theils  solche  gewesen,  die  seit  ältesten  Zeiten  je  eine  einzelne 
Völkerschaft  der  grossen  griechischen  Nation  zusammenhielten. 
Die  bündischen  Landschaften  standen  in  einer  Linie  mit  den 
einzelnen  unverbündeten  Städterepubliken;  keine  hat  sich  zu 
einer  hervorragenden  über  ihre  Gränzen  hinaus  leitenden  Be- 
deutung erhoben.  Denn  Boiotien  war,  als  es  nicht  ohne  Erfolg 
nach  der  ersten  Stelle  in  Griechenland  strebte,  wie  ich  gezeigt 
zu  haben  glaube,  nicht  Bundes-  sondern  Einheitsstaat.  Die 
in  einen  Staat  concentrirten  einheitlichen  Landschaften  von 
Lakonien  und  Attika,  das  heisst  die  Staaten  von  Athen  und 
Sparta  hatten  eine  unvergleichlich  grössere  Kraft  entwickelt 
imd  sie  daher  Griechenlands  Geschicke  bestimmt.  Auch 
Städte  zweiten  Ranges  hatten  eine  viel  reichere  Geschichte 
als  jene  bündischen  Landschaften.  Aber  die  glänzende  Periode 
jener  Städterepubliken  mit  allem  ihrem  Schönen  und  mit  ihrem 
Argen  ging  vorüber.  Die  durch  ihre  gegenseitigen  Kriege  ge- 
schwächten Städte  veraiochten  dem  erstarkten  Makedonien  nicht 
zu  widerstehen ,  Giiechenland  erlag  dem  König  Philipp ,  und 
Alexandros  konnte  als  anerkannter  griechischer  Oberfeldherr 
Asien  unterwerfen.     Griechenland   ist   hinfort   nicht   mehr  der 

36* 


564  HisTORY  OF  Federal  Goverxmext. 

Mittelpimkt  der  Weltgeschichte,  im  Osten  sind  mächtige  helle- 
nistische Monarchien  entstanden,  im  Westen  breitet  sicher  und 
stätig  die  römische  Republik  ihre  Hen'schaft  aus.  Griechen- 
lands Geschichte  ist  nur  noch  ein  Theil  der  allgemeinen  Ge- 
schichte, deren  Centrum  sich  immer  mehr  Rom  zuwendet. 
Sie  hat  einen  ganz  anderen  Charakter  als  früher  bekommen, 
bietet  aber  auch  so  noch  grosses  Interesse  dar.  Griechenland 
ist  jetzt  eng  mit  Makedoniens  Geschicken  verbunden,  in  Grie- 
chenland selbst  ist  der  Schwerpunkt  von  jenen  Städterepubliken 
in  die  lUmdesstaaten  von  Aitolien  und  Achaia  ge- 
lückt.  So  bildet  denn  die  Darstellung  des  achaiischen  und 
aitolischen  Bundes  und  ihrer  Geschichte  den  A^•ichtigsten  Theil 
von  Freemans  erstem  Bande ,  den  er  um  so  ausführlicher  be- 
handelt, als  er  den  Gegenstand  in  England  über  Gebühr  ver- 
nachlässigt findet,   wo  Polybios  fast  ungelesen  sei. 

Die  Verhältnisse  Griechenlands  und  Makedoniens  waren 
ganz  andere  gCAvorden,  als  sie  zur  Zeit  Philippos  und  Alexan- 
dros  noch  gewesen  waren.  Athen  war  für  immer,  Sparta  we- 
nigstens für  längere  Zeit  in  Ohnmacht  versunken,  von  den 
Staaten  zweiten  Ranges  hatte  keiner  vermocht  sie  zu  ersetzen. 
Es  fehlte  jeder  politische  Zusammenhang  und  Griechenland 
war  in  den  Weltereignissen  eine  Null.  Die  nördlichen  Staaten 
waren  zum  Theil  geradezu  dem  makedonischen  Reiche  einver- 
leibt. Besser  behaupteten  ihre  Selbständigkeit  die  landschaft- 
lichen Bundesstaaten  des  mittleren  Griechenlands,  unter  denen 
jetzt  Aitolien  ein  entschiedenes  Uebergewicht  zu  gewinnen  be- 
gann und  durch  seine  kriegerische  Tüchtigkeit  die  Vormacht 
des  Landes  hätte  Averden  können,  wenn  nicht  seine  Rohheit  ein 
unübersteigliches  Hindemiss  gebildet  hätte.  Der  Peloponnes, 
der  alte  Kern  von  Hellas ,  war  fast  atomistisch  auseinander- 
gefallen ,  die  ehemalige  Unterordnung  unter  Sparta  seit  der 
Lostrennung  Messeniens  und  der  Gründung  von  Megalopolis 
um  so  weniger  denkbar,  als  die  spartanischen  Zustände  selbst 
auf's  äusserste  zerrüttet  waren,  ein  grosser  Theil  der  Städte 
entweder  von  Makedonien!  besetzt  oder  in  den  Händen  von 
Tyrannen,  die  dem  Interesse  Makedoniens  ergeben  waren,  auf 
das  sie  sich  stützten. 

Aber  auch  Makedonien  hatte  grosse  Veränderungen  er- 
litten.   Die  Kämpfe  der  Diadochen  und  die  gallische  Invasion 


HiSTORY    OF    FeDERAL    GoA-ERNlSIENT.  565 

hatten  es  furchtbar  zerrüttet,  bis  es  durch  Antigoiios  Gonatas 
(seit  377)  wieder  in  einen  geregelten  Zustand  gebracht  wurde. 
Es  war  nicht  mehr  eine  welterobernde  Macht,  aber  immer  noch 
ein  kräftiges  Königreich,  das  mit  aller  Energie  sich  Griechen- 
land zu  unterAverfen  trachtete  und  im  Peloponnes  festen  Fuss 
gefasst  hatte. 

Der  gänzlichen  Unterwerfung  konnte  von  griechischer 
Seite  nur  durch  eine  engere  Verbindung  der  Einzeistaaten 
entgegengewirkt  werden,  und  bei  dem  Mangel  eines  hervor- 
ragenden .  zur  Hegemonie  befähigten  Staates  nur  durch  eine 
gleichrechtliche  Verbindung  im  Bundesstaate.  Und  diese  Auf- 
gabe übernahm  Achaia.  Kurz  vor  Antigonos  Regierungsantritt 
traten  (281)  vier  kleme  achaiische  Städte  zusammen  und  wur- 
den der  Kern  eines  Bundesstaates ,  der  Griechenlands  innere 
und  äussere  Freiheit  zu  behaupten,  Ordnung  und  Gerechtigkeit 
zu  schützen  längere  Zeit  mit  Erfolg  bemüht  war.  Die  Ge- 
schichte bewegt  sich  in  den  zwei  nächsten  Menschenaltern 
wesentlich  um  das  Verhältniss  zwischen  Makedonien  und  Grie- 
chenland. Es  ist  zu  gleicher  Zeit  ein  Kampf  zwischen  Mo- 
narchie imd  republikanischem  Bundesstaat,  und  verdient,  wenn 
auch  das  Glänzende  früherer  Zeiten  auf  beiden  Seiten  fehlt, 
volle  Aufmerksamkeit.  Das  schöne  Ziel,  das  Achaia  erstrebt, 
wird  freilich  nur  mangelhaft  erreicht.  Aitolien  und  Sparta 
greifen  in  die  Ereignisse  in  eigen thümlicher,  verhängnissvoller 
Weise  ein,  und  in  einem  Momente  der  Verblendung  geht 
Achaia  selbst  wieder  die",  verderbHche  Verbindung  mit  dem 
makedonischen  Gegner  ein  und  zerstört  sein  eigenes  Werk, 
bis  zuletzt  beide  Theile  römischer  Politik  und  Kriegsmacht 
erliegen.  »Griechenland.«  sagt  der  Verfasser  S.  236;,  »sollte 
in  seiner  scliAvachen  Nachblüthe  auch  noch  das  erste  Beispiel 
eines  wohlgegliederten  Biindesstaates  geben.  —  Es  hatte  sein 
AVerk  als  Land  der  autonomen  Städte  gethan,  es  sollte  jetzt 
dem  Menschengeschlecht  eine  weniger  glänzende  aber  prakti- 
schere Lehre  einer  freien  Regierung  in  ausgedehnterem  Mass- 
stabe geben.« 

Grosse  Sorgfalt  verwendet  Freeman  nun  auf  die  Unter- 
suchung und  Charakterisirung  der  achaiischen  Bundes- 
verfassung. Bekanntlich  sind  auch  hier  unsere  Kenntnisse 
lückenhaft  und  lassen  uns  hier  nicht  bloss  die  Nachrichten  der 


566  HisTORY  OF  Federal  Government. 

Schriftsteller  oft  im  Stiche,  sondern  leider  bieten  uns  gerade 
für  den  achaiischen  Bund  die  bisher  bekannten  Inschriften  fast 
gar  nichts,  was  für  eine  Zeit,  wo  so  viel  geschrieben  wurde, 
fast  unbegreiflich  ist.  Erfahren  wir  doch  selbst  über  den  aito- 
lischen  Bund  aus  dieser  Quelle  viel  mehr.  Neue  positive 
Thatsachen  dürfen  wir  also  beim  Verfasser  nicht  erwarten, 
wohl  aber  weiss  er  dem  Gegenstand  durch  die  Art  seiner  Be- 
trachtung, besonders  auch  durch  die  ^'ergleichung  mit  anderen 
Bundesstaaten  neue  Seiten  abzugewinnen  und  die  Aufmerk- 
samkeit zu  fesseln.  Ich  übergehe,  was  er  über  die  älteren 
"N'erhältnisse  der  achaiischen  Städte  sagt  und  wende  mich  gleich 
zu  dem  im  engeren  Sinne  so  geheissenen  achaiischen  Bunde, 
jenem  Bundesstaat,  der  im  dritten  Jahrliundert  vor  Christus 
die  Schranken  einer  bloss  völkerschaftlichen  Einigung  über- 
schreitend Staaten  der  verschiedensten  Stämme  mit  einem 
Band  zu  umschlingen  bestimmt  war. 

Dieser  Bund  hatte  eine  bundesstaatliche  Organisation  im 
vollen  Sinn,  gänzliche  Gleichberechtigung  aller  einzelnen  Glie- 
der in  ihrer  Stellung  zum  ])unde,  volle  Freiheit  in  ihren  inneren 
Verhältnissen,  hingegen  für  die  gemeinsamen  Interessen,  also 
hauptsächlich  für  Krieg  und  Frieden,  für  die  ganze  Vertretung 
nach  aussen,  eine  von  jeder  Einzelregieiiing  vollständig  ge- 
trennte einheitliche  Gewalt  mit  bestimmt  begränzten  Befug- 
nissen. "Wie  die  ersten  Städte  in  völlig  gleichrechtlicher  Stel- 
lung zusammengetreten  waren,  ebenso  wurde  es  mit  den 
späteren  gehalten.  Es  gab  keine  Bundesgenossen  minderen 
Rechtes.  Selbst  die  mit  Gewalt  zum  Beitritt  gezwungenen 
wurden  den  anderen  gleich.  Einen  bevorzugten  Vorort  gab 
es  nicht.  Aigion,  wo  bis  in  Philopoimens  Zeit  die  regel- 
mässigen Landsgemeinden  gehalten  wurden,  so  zu  nennen,  ist 
durchaus  irrig.  Auf  Philopoimens  Anti'ag  wurde  auch  jene 
}')estimmung  geändert  und  die  Landsgemeinde  sollte  abwech- 
selnd an  verschiedenen  Orten  gehalten  werden.  Merwürdiger- 
weise  hören  wir  trotzdem  nichts  von  Eifersucht  bei  den  ur- 
sprünglich achaiischen  Städten,  als  die  Leitung  des  Blindes 
vorzugsweise  in  die  Hände  von  Bürgern  später  beigetretener 
Städte,  erst  Sikyons,  dann  des  arkadischen  Megalopolis  über- 
ging. Denn  etwas  anderes  war  es,  dass  einige  jener  Städte, 
die  gegen  äussere  Feinde  von  den   Bundesbehörden   nicht   ge- 


HisTORY  OF  Federal  Government.  567 

schützt   wurden,     sich   zu   eigenem   Schutze   vorübergehend   in 
einer  Art  von  Sonderbund  zusammenschlössen. 

Wie  die  Einzelstaaten  einander  an  Rechten  absolut  gleich- 
standen ,  so  war  auch  ihre  innere  Unabhängigkeit  gegenüber 
dem  ]5unde  gesetzlich  anerkannt.  Die  IJundesbehörden  durften 
sich  in  die  inneren  Fragen  der  Einzelstaaten  so  wenig  ein- 
mischen, als  diese  sich  Eingriffe  in  die  der  l^undessouveränetät 
vorbehaltenen  Kechte  erlauben.  Freeman  giebt  der  Souveränetät 
der  einzelnen  Staaten  eine  so  weite  Ausdehnung,  dass  er  meint, 
sie  hätten  sich  ganz  unbeschränkt  ihre  Verfassungen  und  Ge- 
setze geben  können  und  nur  der  faktische  Einfluss  der  demo- 
kratischen Bundesverfassung  und  der  Verhältnisse  überhaupt 
habe  allmählich  eine  analoge  demokratische  Gestaltung  herbei- 
geführt. Ob  er  glaubt,  selbst  monarchische  Verfassung  Aväre 
gestattet  gewesen,  sagt  er  nicht.  Die  Tyrannien  wird  er  selbst- 
verständlich nicht  als  erlaubt  ansehen,  da  ihre  Aufhebung  mit 
oder  ohne  Willen  der  Tyrannen  mit  dem  Eintritte  der  Städte 
in  den  Bund  Hand  in  Hand  geht,  der  Bund  recht  eigentlich 
gegen  sie  gerichtet  war.  Sie  Avaren  aber  eben  nicht  regel- 
mässige Verfassungen,  sondern  nur  auf  Gewalt  gegründete 
Herrschaften.  Sparta  allein  könnte  in  dieser  Hinsicht  in  ]3e- 
tracht  kommen.  Als  es  sich  aber  um  eine  Verbindung  dieses 
Staates  unter  Kleomenes  mit  dem  achaiischen  Bimde  handelte, 
waren  die  Verhältnisse  so  ausserordentliche,  dass  sie  keinen 
Rückschluss  auf  die  normalen  Zustände  gestatten,  und  als  er 
später  in  den  Bund  aufgenommen  -s^iirde,  war  das  Königthum 
und  das  darauf  folgende  Tyrannenthum  bereits  gestürzt.  All- 
gemeine Bestimmungen  kennen  wir  keine,  und  es  ist  möglich, 
dass  es  keine  gab,  sondern  das  Verhältniss  des  Einzelstaates 
in  dieser  Hinsicht  nur  jeweilen  in  dem  speciellen  Beitritts- 
vertrag bestimmt  war.  Das  herrschende  Princip  war  aber  ent- 
schieden, nur  republikanische  Staaten  aufzunehmen,  wie  das 
auch  durch  die  wiederholte  Hinweisung  auf  die  allgemein  gül- 
tige lar^yopia,  laovojjiia  und  Sr^fxoxparia  bei  Polybios  bestätigt 
wird.  Jedesfalls  übte  der  Bund  eine  gewisse  Aufsicht  über 
die  Erhaltung  der  gesetzlichen  Ordnung,  vermittelte  bei  Zwi- 
sten, und  auf  eine  Art  von  Bundesgarantie  weist  hin,  dass  die 
Megalopoliten  nach  Wiederherstellung  ihrer  von  Kleomenes 
zerstörten  Stadt,   die  Bedingungen .   auf  die  unter  Aratos  Ver- 


568  HiSTORY    OF    FeDERAL    Go^'ERNME^'T. 

mittluiig   die   Parteien    sich   vereinigt    hatten,    beim  Ahar   der 
llestia  im  Bundesheiligthum   des  Homarions   aufstellten.     Da- 
raus Hessen  sich  denn  sehr  leicht  Einmischungen  ableiten.   Avie 
deren  verschiedene    vorkommen,    ohne    dass  Avir   immer   beur- 
theilen  können,    in   Avie    weit    sie  durch  die  Bundesverfassung 
gerechtfertigt  Avaren  oder   nicht.     Wenn  Plutarch    Philop.   16) 
die  Aufliebiuig    der    lykurgischen    Gesetze    über    die    Jugend- 
erziehung   in    Sparta    durch   Philopoimen  und    ihre   Ersetzung 
durch  achaiische  ein  l'pyov  Tapavojiaj-arov  nennt,   so  hat  er  da- 
bei gcAA'iss  nicht  die  Verfassung  des  Bundes,   sondern  die  durch 
Jahrhunderte  geheiligten  Ordnungen  Lykurgs  im  Auge.     Dass 
bei   diesem  Anlasse   achaiische  Gesetze   über  einen   speciellen 
Theil    des    Staatsorganismus    genannt    AAerden,     bcAAcist    auch 
nichts   für    die  Annahme ,    dass    sie    bundesrechtlich    in    allen 
achaiischen  Städten  gegolten  hätten.     Ein  ganz  ungesetzliches, 
reA'olutionäres  Verfahren  Avar  es  auf  jeden  Fall.    Avenn   in  der 
allerletzten  Zeit  des  Bundes  Diaios  durch  ein  Decret  eine  ge- 
wisse Classe  von  SklaA^en  im  ganzen  Bunde  in  Freiheit  setzte. 
Eine  andere  Frage,  die  ebenfalls  schAver  mit  Sicherheit  zu 
erledigen,   ist   die,    ob   die   einzelnen  Bundesglieder  nur  gleich- 
berechtigte Bürger,    Avie  jetzt   die  SchA\'eiz   und  Nordamerika, 
gehabt  haben,   oder  auch  unterthänige  Distiicte.   Avie  die  alten 
ScliAveizercantone .     Freeman  entscheidet  sich,   mehreren  deut- 
schen Gelehrten  folgend,   für  letzteres  und  meint,  bei  Megalo- 
polis  sei  es  sicher,   bei  Korinth  A\^ahrscheinlich.     Es  A\äre  das 
den    griechischen    Verhältnissen    der    früheren    Zeit    durchaus 
entsprechend,   ist  aber  doch  mit  der  Schilderung  des  Polybios 
von  der   durchgängigen    Gleichheit   des    Peloponneses   fll,    37, 
§.    10,    11)   schAA'er  zu  Aeremigen.    und   überhaupt   AAaren  diese 
Unterthanenstellungen   seit    der   Zeit    des    Epameinondas    sehr 
erschüttert  AAorden.    Ein  positiver  BcAA'eis  ist  aber  auch  Aveder 
für    Megalopolis    noch    Korinth    geleistet.     Für    ersteres    AAird 
einzig   die   Erzählung    des   Plutarch    (Pliilop.    13)    geltend   ge- 
macht,  dass  Philopoimen  viele  der   zum  Stadtgebiet  gehörigen 
Flecken  von    demselben   abtrünnig   gemacht,    und   ihnen    eine 
Stellung  als  selbständige  Bundesglieder  Aerschafft  habe.    Allein 
dies  bcAveist  noch  lange  nicht,   dass  sie  nicht  A^orher  den  Stadt- 
beA\'ohnem  ganz  gleich  gestellt  Avaren   und   A^olles  BürgeiTecht 
des  Staats   von   Megalopolis   hatten,    AAie   das   Freeman    später 


HiSTORY    OF    FeDERAL    GoVER^-MEXT.  569 

(S.  627  selbst  zugiebt.  Dass  clie  Stadtbewohner  die  Los- 
trennung ungern  sahen,  ist  so  leicht  zu  begreifen,  als  dass 
Bern  eine  Erhebung  des  Jura  oder  Oberlandes  zu  besonderen 
Cantonen  nicht  zugeben  würde.  Auch  von  Messene  wurden 
später  Abia.  Thuria  und  Fharai  getrennt,  die  doch  sicher  seit 
der  Neugründung  des  messenischen  Staates  ein  volles  Bürger- 
recht hatten  und  nicht  Unterthanen  waren.  Bei  Megalopolis, 
das  mit  Messene  in  einer  Zeit  gegründet  worden  war,  wo  man 
überall  die  Unterthanenverhältnisse  zu  beseitigen  bemüht  war. 
darf  man  ohne  die  sichersten  Beweise  solche  am  allerwenigsten 
statuiren.  Offenbar  hat  sich  Freeman  zu  der  Annahme  durch 
den  Ausdiiick  tts&ioixi'Öc:  7.u)aai  verleiten  lassen,  in  welchem  er 
auch  sonst  mehr,  als  richtig  ist.  immer  em  Unterthanenver- 
hältniss  zu  finden  geneigt  ist,  während  eigentlich  nur  ein 
locales  ^  erhältniss  ^  ,  dann  erst  die  Zugehörigkeit  zu  einer 
Hauptstadt  ohne  staatliche  Selbständigkeit  darin  liegt,  gleich- 
viel ob  in  unterthänigem  oder  freiem  ^  erbande.  Viel  eher 
Hesse  sich  mit  dem  Verfasser  das  ^'erhältniss  von  Tenea  zu 
Korinth  als  ein  unterthäniges  denken  und  ist  es  auch  gewiss 
in  früheren  Zeiten  gewesen ;  allein  die  einzige  angeführte  Stelle 
des  Strabo  (VIII.  p.  380  C]  beweist  auch  nichts,  am  wenig- 
sten für  die  Zeiten  des  achaiischen  Bundes. 

In  anziehender  Weise  wird  der  ganze  Organismus  der 
Bundesbehörde  entwickelt  und  durch  ^'ergleichung  mit  moder- 
nen Staaten  erläutert,  denen  der  achaiische  Bund  viel  näher 
steht,  als  die  früheren  souveränen  Städterepubliken.  Von 
diesen,  namentlich  von  der  athenischen  Demokratie,  unter- 
scheidet ihn  hauptsächlich  die  weit  grössere  Machtsphäre  der 
höchsten  Beamten.  In  Athen  hatte  eigentlich  die  Volks- 
versammliuig  regiert,  in  Achaia  regiert  der  Stratege  mit  den 
Damiorgen.  Die  höchste  Gewalt  nihte  freilich  auch  hier  bei 
der  allgemeinen  Landsgemeinde,  welche  Freeman  mit  Hecht 
für  eine  primäre  Versammlung  erkennt,  an  der  jeder  Bürger 
eines  Bundesstaates,  der  das  dreissigste  Jahr  zurückgelegt  hatte. 
Theil    zu    nehmen    berechtigt    war.     Sie    hatte    die  Wahl    der 


^1  [C.  Herod.  V,  91:  oi  Tieptoixoi  aÜTöiv  (seil  'A&TjVotfojv,  BotiuTol  v.i'i 
XaXxto££?.  Strabo  X,  p.  4S5:  evoocov  iro'i-^sav  aö'T,v  (Af,/.ri'^  ctt  -£ptot7.io£; 
v?jaot.] 


570  HisTORY  or  Federal  Government. 

Biindesbeamten  und  die  Entscheidung  ühcr  ]3undesgesetze, 
über  Krieg,  Frieden  und  Verträge  mit  fremden  Staaten,  über- 
haupt über  alle  wichtigsten  Fragen  im  Bundesleben.  Die  Ab- 
stimmung- geschah  unzweifelhaft  nach  Staaten,   was  aus  Livius 

XXXII,  22.  23.  XXXYIII,  .32)  evident  hervorgeht.  Jeder 
Staat  hatte  eine  Stimme,  die  durch  die  Mehrheit  der  aus  dem- 
selben Anwesenden  bestimmt  wurde;  wofür  die  Mehrheit  der 
so  ermittelten  Staatenstimmen  sich  entschied,  das  hatte  Gültig- 
keit. Ob  bei  den  Wahlen  dasselbe  Verfahren  stattfand,  wissen 
Avir  freilich  nicht  und  hat  Freeman  gar  nicht  berührt. 

So  wichtig  also  die  liefugnisse  der  Landsgemeinde  waren, 
so  vermochte  sie  doch  schon  wegen  der  räiimlichen  Ausdehnung 
des  Bundes  unmöglich  sich  mit  den  Geschäften  so  zti  liefassen, 
wie  die  Ekklesia  einer  Stadtrepublik,  die  sich  so  zu  sagen 
täglich  versammeln  konnte.  Ordentliche  Landsgemeinden  fan- 
den zweimal  des  Jahres ,  im  Frühjahr  und  Herbst  statt  und 
dauerten  nur  je  drei  Tage;  ausserordentliche  zu  berufen  war 
freilich  den  Beamten  gestattet,  geschah  aber  natürlich  nur  in 
dringenden  Fällen.  So  musste  den  Beamten  eine  grössere 
GeAvalt  eingeräumt  werden,  bei  ihnen  die  eigentliche  Regierung 
stehen. 

Diese  die  eigentliche  Regierung  bildenden  Beamten  stellen 
sich  im  Strategen  imd  den  zehn  Damiorgen  dar.  Nach- 
dem die  ersten  fünfmidzAvanzig  Jahre  hindurch  je  zwei  Stra- 
tegen neben  einander  gestanden  hatten,  machte  sich  das  Be- 
dürfniss  nach  einer  einheitlichen  obersten  Stelle  geltend;  hin- 
fort gab  es  bis  ans  Ende  des  Bundes  immer  nur  einen,  von 
der  Landsgemeinde  auf  ein  Jahr  gewählt  und  ein  Jahr  nach 
Niederlegung  seines  Amtes  Avieder  wählbar,  sehr  häufig  dann 
auch  wirklich  wieder  gcAvählt.  Er  vereinigte  die  höchste,  fast 
unumschränkte  Militärgewalt  mit  der  Regierungspräsidentschaft, 
während  der  Befehlshaber  der  Reiterei   und    der  Unterfeldherr 

oder  wohl  richtiger  die  Unterfeldherrn  nur  mihtärischen 
Charakter  gehabt  zu  haben  scheinen;  denn  in  Fällen,  wo  ein 
Stratege  vor  Ablauf  der  Amtszeit  starb,  trat  der  abgetretene 
Stratege    des    vorigen   Jahres    an    seine    Stelle.     Der    Kanzler 

Ypa(xjxa-£uc),  auch  auf  ein  Jahr  von  der  Landsgemeinde  ge- 
wählt, scheint,  so  wichtig  auch  die  Stelle  war,  doch  nie  eine 
hervorragende  politische  Rolle  gespielt  zu  haben. 


HiSTORY  OF  Federal  Goyernmext.  571 

Ueber  die  Damiorgen  sind  wir  nicht  so  unterrichtet,  wie 
zu  ^viinschen  wäre,  v:ie  Avir  denn  namenthch  die  Art  ihrer 
Wahl  nicht  kennen.  Aus  der  Zehnzahl  und  dem  Namen  hat 
man  nicht  ohne  Grund  geschlossen,  dass  sie  anfangs  Vertreter 
der  zehn  altachaiischen  Städte  gewesen  seien ;  aber  mit  Yollem 
Rechte  tritt  Freeman  der  Meinung  entgegen,  dass  auch  nach 
Erweiterung  des  Bundes  sie  nur  aus  jenen  genommen  worden 
seien.  Ohne  allen  Zweifel  sind  sie  später  ohne  Rücksicht  auf 
die  Einzelstaaten  gewählt  worden.  Wenn  in  einer  Stelle  de^ 
Polybios  (XXIII,  10)  unter  den  ci.p'/ai  die  Damiorgen  zu  ver- 
stehen sind,  wie  Freeman  meint,  so  ist  dies  vollständig  be- 
wiesen, da  dort  nicht  weniger  als  drei  in  dem  Collegium 
Megalopoliten  sind.  Leider  bedient  sich  Polybios  zur  Bezeich- 
nung der  Behörden  keineswegs  immer  der  streng  officiellen 
Titel,  sondern  gebraucht  oft  die  allgemeinern  Ausdrücke  oi 
äp'/ovTzc,  oX  oip/cti,  Ol  auvapyovTs?,  ai  auvapj(iai  und  andere  mehr, 
so  dass  man  bisweilen  in  Zweifel  ist,  welche  zu  verstehen. 
Die  zehn  Damiorgen  vergleicht  nun  Freeman  in  ihrer  Stellung 
zum  Strategen  mit  den  Ministem  modemer  Staaten,  namentlich 
Englands  und  Nordamerikas  und  nennt  sie  auch  geradezu  so, 
obgleich  er  bedeutende  Verschiedenheiten  nicht  verkennt.  Eine 
sehr  wesentliche  hat  er  aber  nicht  berührt,  dass  die  Damiorgen 
nicht  nur  als  Rathgeber  dem  Strategen  zur  Seite  standen, 
sondern  er  sich  ihrer  Mehrheit  zu  fügen  hatte ;  und  dass  er 
nicht  immer  die  Mehrheit  für  sich  hatte,  davon  haben  Avir 
Beispiele.  Wenn  einmal  Philopoimen  (Liv.  XXXVIII,  30)  im 
AViderspruche  mit  ihnen  handelt,  so  ist  das  offenbar  eine  frei- 
lich erfolgreiche  Eigenmächtigkeit  gewesen.  Gesetzlich  schei- 
nen Damiorgen  und  Stratege  als  Collegium  gehandelt  zu  haben ; 
daher  wird  man  die  Bezeichnung  als  Minister  besser  aufgeben 
und  wenn  man  eine  moderne  Analogie  haben  will,  Stratege 
und  Damiorgen  zusammen  den  Bürgenneistem  (Schultheissen. 
Landamtmännern,  jetzt  Präsidenten)  und  Räthen  der  Schweizer 
Cantone  oder  allenfalls  dem  Bundesrathe  mit  seinem  Präsidenten 
vergleichen,  wobei  freilich  nicht  zu  übersehen,  dass  der  Stratege 
schon  als  Befehlshaber  der  Kriegsmacht  eine  viel  selbständigere 
und  höhere  Stellung  einnahm,  als  jene  obersten  Magistrate. 
Offenbar  steht  aber  die  achaiische  Verfassung  den  schweizeri- 
schen viel  näher,   als  der  englischen  und  selbst  der  amerikani- 


572  HisTORY  OF  Federal  Government. 

sehen,  in  welcher  der  Präsident  und  sein  Cabinet  den  monar- 
chischen Ursprung  auf  der  Stirne  tragen,  der  in  Achaia  ganz 
fehlte. 

Auch  die  Stellung  des  Strategen  und  der  Damiorgen  zur 
Landsgemeinde  ist  nicht  ganz  klar.  Freeman  meint,  der  Stra- 
tege mit  den  Damiorgen  the  general  acting  Math  the  con- 
cui-rence  of  his  ministers)  habe  die  ausserordentlichen  Ver- 
sammlungen berufen;  ohne  Zweifel  richtig,  sofern  man  darunter 
ein  collegialisches  Zusammenwirken  versteht,  aber  schwerlich 
ist  seine  Annahme  begründet ,  dass  der  Stratege  durch  das 
Organ  der  Damiorgen  die  Zusammenberufung  veranlasst  habe. 
Wenigstens  beweist  die  zweimal  dafür  angeführte  Stelle  nichts') . 
Das  formelle  Präsidium  in  den  Landsgemeinden  und  das  Recht 
die  Fragen  zu  stellen  und  darüber  abstimmen  zu  lassen,  meint 
er,  habe  nur  bei  den  Damiorgen  ohne  Mitwirkung  des  Strategen 
gestanden,  und  sucht  das  durch  die  grosse  exekutive  Gewalt 
des  letztern  zu  begründen ,  wobei  er  sich  aber  ohne  Zweifel 
zu  sehr  durch  englische  Anschauungen  hat  leiten  lassen.  Der 
Stratege  ist  ihm  der  »Leader«  nicht  der  »Speaker  of  the  house«. 
Solche  Unterscheidung  war  aber  den  Achaiem  gewiss  eben  so 
fremd,  als  den  schweizerischen  Landsgemeinden.  Läugnen  lässt 
sich  nun  allerdings  nicht,  dass  eine  Stelle  des  Livius  (XXXII. 
22)  für  die  Ansicht  Freemans  spricht.  Dort  stehen  fünf 
Damiorgen  den  fünf  andern  entgegen  und  weigern  sich  hart- 
näckig die  Frage  über  ein  Bündniss  mit  Rom  und  dessen 
Freunden  zur  Abstimmung  zu  bringen.  Bei  der  Stimmen- 
gleichheit giebt  nicht,   Avie  man   erwarten  sollte ,    der   Stratege 


')  Polyb.  V,  1,6.  S'j-/fj£  TO'j;  'Ayato'j;  oid  töjv  dp/ovrujv  si;  iv.y./.TjCJtotv. 
Dazu  ergänzt  Fr.  S.  275  o  aTparrjo;  als  Subject,  S.  296  Aoaro;  6  ViOjTsoo;, 
der  gar  nicht  mehr  Stratege  war.  Er  hat  aber  die  Stelle  flüchtig  ange- 
sehen, denn  es  steht  das  Subject  da,  nämlich  6  ßaatleu;  $1X17:7:0;.  Die 
ap-/ovT£c  sind  also  der  Stratege  und  die  Damiorgen,  was  bestätigt  wird 
durch  XXIII,  5,  16  (Tito;)  lypcfiie  töj  OTparrjöj  y.ai  toI;  or,ij.to'Jp-|'or;  tAv 
'Ayaicjv,  TceXeutuv  a'j\d'(zn  to-j;  'Ayaioü;  ei;  ly.-/."/.rjO[av.  Für  ein  gemeinsames 
Zusammenwirken  als  Regel  spricht  selbst  die  Erzählung  bei  Liv.  XXXM^II. 
30.  Philopoimen  wollte  ein  Gesetz  beantragen,  dass  in  Zukunft  die  Lands- 
gemeinden nicht  mehr  bloss  in  Aiglon,  sondern  abwechselnd  in  verschie- 
denen Städten  sollten  abgehalten  werden.  Nun  beriefen  die  Damiorgen 
die  Gemeinde  nach  Aigion,  Philopoimen  als  Stratege  nach  Argos,  und  da- 
hin strömte  die  grosse  Masse. 


HisTORY  OF  Federal  Go\ternmext.  573 

Diophanes  den  Stichentscheid,  sondern  zuletzt  wird  einer  der 
sich  weigernden  Damiorgen  durch  Drohungen  seines  Vaters 
bewogen,  auf  die  andere  Seite  zu  treten  und  so  eine  Mehrheit 
zu  Stande  zu  bringen,  worauf  dann  die  Abstimmung  stattfand. 
Hier  also  haben  die  Damiorgen  allein  ohne  den  Strategen  ent- 
schieden. Allein  dieser  Stelle  des  Livius  stehen  mehrere  des 
Polybios  gegenüber,  wo  ihm  das  oioovai,  avaoioovai  oiaßouXiov, 
eine  Sache  zur  Berathung  vorlegen,  beigemessen  wird,  und 
einmal  verhindert  er  die  Abstimmung  über  einen  Vertrag,  weil 
er  ihn  nicht  für  bestimmt  genug  abgefasst  hält^  .  Es  fragt 
sich  daher  ob,  wenn  der  von  Livius  erzählte  Vorgang  uns  in 
der  Erzählung  des  Polybios  vorläge,  die  Sache  nicht  anders 
erschiene  2),  und  ob  nicht  ^ielleicht  der  Stratege  Diophanes, 
um  den  Schein  der  UnparteiUchkeit  zu  wahren,  sich  ganz  ausser- 
ordentlicher Weise  des  Entscheides  enthielt. 

Noch  dunkler  als  die  Stellung  der  Damiorgen   ist   uns  in 
der  achaiischen  Verfassung  die   ganze  Beschaffenheit  des  zwi- 
schen ihnen   und    der  Landsgemeinde    in   der  Mitte  stehenden 
Rathes,   weil  die  ungenaue  Ausdrucksweise  der  Schriftsteller 
auch  hier   öfter   im  Zweifel  lässt.     Auch  Freeman  hat  nichts 
wesentlich  Neues  liierüber  beigebracht;   denn  wenn  er   S.   307 
sagt,    eine   Stelle  des  Polybios  iXXII,    10.  3,  zeige,  dass  der 
Eath  aus  himdertundzwanzig  imbesoldeten  Mitgliedern  bestan- 
den habe,  so  beruht  das  auf  einem  IVÜssverständniss.     Es  wn-d 
dort  erzählt,  dass  König  Eumenes  den  Achaiern  ein  Geschenk 
von  hundertundzwanzig  Talenten  angeboten  habe,  um  aus  den 
Zinsen  dieser  Summe  dem  Rath  bei  seinen  Zusammenkünften 
Taggelder    zu   geben.     Von  hundertundzwanzig  Rathsgliedern 
ist  aber  die  Rede   nicht,  und   es   lässt    sich  nicht   einmal  mit 
voller  Sicherheit  daraus  entnehmen,   dass  sonst  keme  Taggelder 
verabreicht  wurden.     Zwei  der  gründlichsten  Kenner  der  grie- 
chischen Staatseinrichtungen,  K.  F.  Hermann  (Lehrb.  der  gr. 
Alterth.   I.  §.   186    §.  2)   und  Schömann  (Griech.    Alterth.  11. 
S.  121)  haben  gerade  den  umgekehrten  Schluss  gezogen.     Doch 


1)  Polyb.  XXII,  12,   12:    oüv.    ei'aae   ■/.•jpwH^ctt    t6    otaßo'jXiov ,    aKK     £tc 

2)  AuchSchorn,  Gesch.  Griechenl.  S.  64,  hält  die  Erzählung  bei  Livius 
für  ungenau. 


574  HisTORY  OF  Federal  Government. 

halte  ich  hier  allerdmgs  Freemans  Auffassung  für  die  richtige. 
Sicher  dagegen  geht  aus  den  Worten  des  Polybios  hervor,  dass 
der  Rath  nicht  immer  versammelt  war,  sondern  nur  zu  gewissen 
Zeiten  und  ausserordentlicher  AVeise  nach  Massgabe  der  Ge- 
schäfte zusammentrat.  Seine  Bestimmung  war  unzweifelhaft, 
die  der  Landsgemeinde  vorzulegenden  Sachen  vorzuberathen, 
geringere  selbst  zu  entscheiden,  auch  wohl  bisweilen,  mit  be- 
sondeni  Vollmachten  betraut,  im  Namen  der  Landsgemeinde 
zu  sprechen. 

Treffend  sind  die  Betrachtungen,  welche  Freeman  über  den 
gemässigten  Charakter  der  achaiischen  Demokratie  anstellt.  Es 
ist  nicht  selten  vermuthet  worden .  es  sei  diese  Demokratie 
ausser  dem  Erforderniss  eines  Alters  von  dreissig  Jahren  auch 
noch  durch  ein  timokratisches  Element .  einen  Census ,  be- 
schränkt gewesen.  Der  Verfasser  zeigt  aber,  wie  diese  An- 
nahme durch  nichts  gerechtfertigt  sei,  sondern  die  Erschei- 
nungen, welche  zu  derselben  veranlassten,  sich  auf  andere  Ai't 
vollkommen  erklären.  Die  hohem  Aemter  sind,  so^'iel  sich  er- 
kennen lässt.  durchweg  in  den  Händen  von  Männern  ange- 
sehener Familien,  die  Landsgemeinde  ist  vorzugsweise  von  den 
wohlhabenderen  Leuten  besucht"',  ochlokratisch-demao'oafische 
Vorgänge  sind  mit  Ausnahme  der  unglücklichen  letzten  Zeiten 
selten.  Aber  alles  dies  war  nicht  die  Folge  positiver  Ver- 
fassvmgsbeschränkungen,  sondern  nur  der  geographischen  Aus- 
dehnung des  Bundes  und  der  unentgeltlichen  Verwaltung  der 
Aemter.  Der  gleiche  Giimd,  der  zu  einer  grossem  Macht- 
sphäre der  eigentlichen  Regierung  nöthigte.  gab  auch  den  ge- 
wöhnlichen Versammlungen  einen  aristokratischem  Charakter, 
da  unbemittelte  Leute,  die  sich  nicht  besonders  eifrig  an  der 
Politik  betheiligten,  nicht  leicht  aus  entfernten  Orten  an  die 
Landsgemeinde  kamen,  man  kann  beifügen  mit  Recht  denken 
mochten,  es  komme  auf  ihre  Anwesenheit  wenig  an .  da  ihr 
Staat  eine  Stimme  hatte,  ob  \ie\e  oder  wenige  Bürger  zugegen 
Avaren.  Das  luibe schränkte  Recht  aber,  vom  dreissigsten  Jahi'e 
an  der  Landsgemeinde  beizuwohnen,  von  dem  auch  wirklich 
in  wichtigen  Fällen  bisweilen  ein  ausgedehnter  Gebrauch  ge- 
macht wurde,  musste  nothAvendig  jede  oligarchische  Absonde- 
rung der  Vornehmem  A'on  der  Masse  des  Volks  unmöglich 
machen.     Dass  die  Erwähnung  der  besitzenden  Classen   xTraci- 


HisTORY  OF  Feder AL  Goaernmext.  575 

Tixoi)  im  Gegensatz  zu  dem  Proletariat  (ßavauao;  oyloc  für 
timokratische  Beschränkung  nichts  beweist,  sieht  heutzutage 
wohl  jedermann  ein.  Die  erwähnte  Altersbestimmung  musste 
überdies  sehr  wesentlich  dazu  beitragen,  den  Versammlungen 
einen  ruhigen  Charakter  zu  geben. 

Kürzer  als  zu  wünschen,  hat  Freeman  das  Finanz-  und 
Militär  System  des  Bundes  behandelt,  das  doch  für  den 
Charakter  des  Bundesstaates  von  der  grössten  Bedeutung  sein 
musste.  Er  neigt  zu  der  Annahme,  dass  der  Bund  keine  un- 
mittelbaren Einkünfte  gehabt,  sondern  den  Einzelstaaten  be- 
stimmte Geldcontingente  auferlegt  habe,  welche  diese  dann 
aufbringen  mochten,  wie  es  ihnen  beliebte.  Die  Kriegsmacht 
bestand  theils  aus  Bürgermilizen,  theils  aus  den  damals  allge- 
mein gebrauchten  geworbenen  Truppen.  Die  erstem  wurden 
von  den  Einzelstaaten  unter  eigenen  Befehlshabern  gestellt, 
Avährend  die  letztern  unmittelbar  im  Solde  und  unter  Commando 
des  Bundes  standen.  Wenn  Freeman  ausserdem  noch  von 
emer  kleinen  stehenden  Armee  spricht  (8.310),  so  beruht  das 
auf  einem  Missverständniss . 

Eine  sehr-  wesentlich  bundesstaatliche  Einrichtung-,  die  von 
Polybios  gerühmte  Einheit  von  Gewicht,  Maass  und 
Münze,  wird  kaum  berührt,  obwohl  der  Verfasser  mit  dem 
Münzwesen  woht  vertraut  ist,  me  ein  Anhang  zeigt.  Es  ver- 
diente aber  wohl  hervorgehoben  zu  werden,  Avie  fein  man  in 
den  Münzen  die  Einheit  des  Ikmdes  und  die  A  ielheit  der 
Staaten  verbunden  auszudrücken  wusste.  Die  einzelnen  Staaten 
schlugen  ihre  Münzen  nach  dem  gleichen  Fusse,  alle  tragen 
auf  der  einen  Seite  den  Kopf  des  Bundesgottes,  des  Zeus 
Homarios,  auf  der  andern  die  Chiffre  des  achaiischen  Namens 
in  einem  Kranze,  daneben  aber  im  Felde  die  Typen  oder  An- 
fangsbuchstaben der  Einzelstaaten,  auch  Avohl  ihrer  Magistrate, 
seltener  auch  eine  solche  Bezeichnung  neben  dem  Zeuskopfe. 
Gegenüber  der  sonstigen  Zersplitterung  war  eine  solche  Ein- 
heit in  den  Mitteln  des  täglichen  Verkehrs  ausserordentlich 
wichtig  und  musste  das  Bewusstsein  der  Zusammengehörigkeit 
in  hohem  Grade  fördern. 

Gar  nichts  erfahren  wir  über  die  b  u  n  d  e  s  g  e  r  i  c  h  1 1  i  c  h  e  n 
Einrichtungen,  obwohl  die  wenigen  gelegentlichen  Erwäh- 
nungen einer  genaueren  Untersuchung  sehr  Averth  gewesen  Avären. 


576  HiSTORY    OF    FeDERAL    GoVER>'MENr. 

Seihst  bei  unserer  lückenhaften  Kenntniss  werden  -wir 
durchaus  Freeman  beistimmen,  dass  die  ^'erfassung  des  achaii- 
schen  Bundes  die  eines  wohlgeordneten  Bundesstaates  war  und 
die  Bedingungen  besass,  um  auch  über  die  engere  völkerschaft- 
liche Gränze  des  alten  Achaia  hinaus  bisher  souveränen  Stadt- 
gemeinden den  Beitritt  wünschenswerth  zu  machen,  indem  er 
ihnen  Gewähr  für  Freiheit,  Sicherheit  und  Ordnung  nach  innen 
und  aussen,  für  innere  Unabhängigkeit  wie  für  Theilnahme  an 
der  Lenkung  der  äussern  Bimdespolitik  bot.  Die  Grundzüge 
blieben  während  der  ganzen  Dauer  des  Bundes  dieselben,  ein- 
zelne ^Veränderungen  sind  eigentlich  nur  weitere  Entwicklungen 
der  Grundgedanken  gewesen ,  die  durch  die  veränderten  Ver- 
hältnisse gefordert  wurden.  Einen  Uebelstand  erkennt  nämlich 
auch  der  Verfasser  in  der  bei  der  ursprünglichen  ]»eschränkung 
ganz  natüi'lichen  Stimmengleichheit  aller  Einzelstaaten,  klein 
oder  gross,  und  in  der  excentrischen  Lage  des  Ortes  der  Lands- 
gemeinden, Aigion.  Dass  nicht  gleich  beim  Beitreten  der  ersten 
relativ  grössern  Staaten,  wie  Sikyon  und  Korinth,  an  Aende- 
rungen  gedacht  win*de,  begreift  sich  leicht;  sie  suchten  ja 
Schutz  durch  den  Beitritt,  konnten  also  nicht  wohl  Vorzüge 
vor  den  bisherigen  Gliedern  verlangen.  Weit  fühlbarer  musste 
das  Missverhältniss  werden,  als  es  sich  um  den  Beitritt  von 
Staaten  handelte,  die  nicht  sowohl  Schutz  suchten  als  Macht 
bringen  sollten.  Und  doch  finden  wir  auffallender  Weise  nir- 
gend Andeutungen  von  einem  Versuche  solchen  Staaten  mehr 
Stimmen  zu  geben.  AVohl  aber  glaubt  der  Verfasser  die  gleiche 
Absicht  einer  billigen  Ausgleichung  in  einer  andern  Massregel 
zu  erkennen,  die  wir  von  Philopoimen  und  seiner  Partei  ange- 
wandt sehen,  nämlich  der  Lostrennung  kleinerer  Gemeinden 
von  den  grössern  Staaten  und  ihrer  Erhebung  zu  selbständigen 
Bundesgliedern  mit  einer  eigenen  Stimme.  Wir  finden  das, 
wie  oben  schon  erwähnt,  bei  Megalopolis  und  Messene.  und 
ähnlicher  Art  ist  auch  die  Trennung  der  eleutherolakonischen 
Städte  von  Sparta.  Im  Verhältniss  zum  Bunde  selbst  erscheint 
allerdings  diese  Massregel  sehr  zweckmässig,  auch  darum,  weil 
sie  die  zu  grosse  Machtverschiedenheit  der  Glieder  beschränkte ; 
allein  gegenüber  den  Einzelstaaten  selbst  Avar  es  unverkennbar 
ein  starker  Eingriff  in  ihre  innere  Selbständigkeit,  in  ihre 
Existenz  eben  als  Einzelstaaten,   die  darum  »•rosse  Unzufrieden- 


HiSTORY  or  Federal  Government.  577 

heit  erregte  und  wohl  mehr  geschadet  als  genützt  hat ;  es  war 
fast  ein  Schritt  über  den  F>undesstaat  hinaus.  Weit  Aveniger 
verletzend  und  mit  den  Principien  in  keinerlei  Widerspruch 
war  der  Antrag,  auch  die  regelmässigen  Versammhmgen  nicht 
immer  bei  Aigion,  sondern  abAvechselnd  in  verschiedenen 
Städten  zu  halten,  von  dem  wir  freilich  nicht  wissen  in  Avie 
weit  er  Avirklich  ausgeführt  wurde. 

Der  achaii sehen  Verfassung  gegenüber  wird  im  sechsten 
(Kapitel  die  des  a  i  t  o  1  i  s  c  h  e  n  i  5  u  n  d  e  s  entwickelt,  die,   theore- 
tisch  betrachtet,    grosse  Aehnlichkeit  mit  ihr   hat,    imd  sogar 
eine    energischere   Entwicklung    der    Jiundesgewalt    gestattete. 
Demokratische  Grundlage,    einen  Strategen  nebst  Hipparchen 
und  Staatskanzler,   eine  Landsgemeinde   und  einen  Rath,  hier 
Apokleten  genannt,    hnden   wir   auch    bei  den  Aitolern.     Nur 
eine  den  Damiorgen  entsprechende  Behörde  können  wir  nicht 
mit  Sicherheit  nachweisen.     Freeman  ist  geneigt,   die  in  einigen 
[nschriften   genannten    Synedren    >uv£0[>ot}    für    eine   solche  zu 
nehmen.     Dabei  ist  ihm  aber   eme    sehr   wichtige   von   Ussing 
(Inscription.  gi'aec.  ined.  n.  2)i)  herausgegebene  Inschrift  ent- 
gangen,   in   welcher    das    S>Tiedrion   und    eine    siebengliedrige 
Vorsteherschaft '^j    desselben  genannt  ist,    zu   der  der  Hipparch 
und   ein   vom  Staatskanzler   verschiedener   Schreiber   gehörten. 
Daraus    folgt,    dass    das    Collegium    ein   ziemHch    zahlreiches, 
jedenfalls   viel  zahlreicheres    als    die  Damiorgen   Avar.     Andere 
haben  dämm  das  Synedrion  für   den  Rath   der  Apokleten  ge- 
nommen.    Dagegen    scheint   kaum   zu   sprechen,    dass  in  der- 
selben Inschrift  das  Mitglied  des  Rathes  nicht  aüvsopoc,   sondern 
r^ouXsiiTa?  heisst.     Vielleicht  dürfte  daher  angenommen  werden, 
dass  die  Vorsteher  des  Synedrions,   die  sieben  -f.oara-7.1,    eine 
den  Damiorgen  analoge  Stellung  gehabt  haben.     Derselben  In- 
schrift entnehmen  Avir  ferner  die  höchst  interessante  Thatsache, 
dass  die  Rathsglieder  von  den  einzelnen  Staaten  deputirt  wur- 
'den,   und  zwar  in  verschiedener  Zahl  nach  der  Grösse,   womit 
dann    auch    die    Geldbeiträge    an    die    Bundeskasse    in   einem 
Wechselverhältniss  standen. 


1,   r=  Rhangabe  II,  672. j  .    ,    v 

2)   iDie  Siebenzahl  ist  nicht  sicher ;  denn  möglicher  Weise  sind  die  drei 
letzten  Zeugen  der  Inschrift,  was  Rhangabe  annimmt,  nur  Privatleute.. 

'in 
Vis  eher,  Schriften  I. 


578  HisTORY  OF  Feueral  Government. 

Ein  Avesentlicher  Unterschied  des  tiitolischeu  Bundes  vom 
achaiischen,  nachdem  heide  die  Gränze  der  ursprünglichen 
Landschaft  überschritten  hatten ,  bestand  darin ,  dass.  während 
letzterer  mit  unbedeutenden  Ausnahmen  immer  ein  zusammen- 
hängendes Gebiet  umfasste,  der  erstere  dagegen  auch  sehr  weit 
entfernte,  durch  Land  und  Meer  getrennte,  theils  durch  Gewalt, 
theils  durch  freien  Willen  zum  Beitritt  gebrachte  Glieder  zählte. 
Das  hat  zu  der  auch  von  Freeman  getheilten  Vermuthung 
geführt,  dass  es  sehr  verschiedene  Abstufungen  der  Bundes- 
verhältnisse gegeben  habe.  Auf  jeden  Fall  musste  dieser  Um- 
stand faktisch  die  Betheiligung  an  der  Landsgemeinde  sehr 
modificiren;  er  mag  auch  die  Ursache  sein,  dass  nur  eine 
ordentliche  Landsgemeinde  jährlich.,  im  Herbst  bei  Thermon 
abgehalten  wurde  und  dass  Avir  sehr  oft  den  Rath  der  Apokleten 
die  Befugnisse  der  Landsgemeinde  ausüben  sehen.  Uebrigens 
ist  es  ein  Irrthum.  wenn  Freeman  (S.  343)  Teos,  das  er  über- 
dies wunderlich  genug  anstatt  an  die  Küste  loniens  »mitten 
in's  ägäische  Meer«  (in  the  middle  of  the  Aegaean)  setzt,  zu 
den  aitolischen  Bundesstaaten  rechnet.  Es  hatte  nach  der  In- 
schrift im  C.  I.  Gr.  n.  3046  nur  durch  einen  besondeni  Ver- 
trag mit  den  Aitolern  Asylie  und  Anspruch  auf  Genugthuung 
bei  etwaigen  Plünderungen  erhalten.  Dass  der  Bund  eigent- 
liche Unterthanen  gehabt  habe,  ist  nichts  weniger  als  ausge- 
macht und  mir  sogar  unwahrscheinlich.  Eine  dafür  geltend 
gemachte  Stelle  des  Folybios  (IV,  25)  zeigt  nur,  dass  man 
IStädte  mit  Gewalt  zum  Beitritt  zwang,  Besatzungen  hinein 
legte  und  ihre  volle  Souveränetät  natürlich  aufhob,  aber  nicht, 
dass  sie  als  Unterthanen  behandelt  wurden;  selbst  die  hier 
angedeuteten  Tribute  cpopoi)  sind  wohl  nichts  anderes  als  die 
von  allen  Gliedern  entrichteten  Beiträge  an  den  Bund. 

Dass  bei  sehr  vieler  Aehnlichkeit  in  der  Verfassung  der 
aitolische  Bund  mit  der  leidenschaftlich  kiiegerischen,  zu  Eaub- 
zügen  und  Abenteuern  geneigten  Bevölkerung  seines  Kern- 
landes eine  ganz  andere  Politik  befolgte  als  die  friedlichen 
Gewerben  ergebenen  Achaier,  ist  bekannt  genug.  Der  Ver- 
fasser macht  darauf  aufmerksam,  dass  trotz  verAvandter  Bundes- 
institutionen doch  ein  Avesentlicher  Unterschied  darin  lag,  dass 
Aitolien  ursprünglich  eine  ^'erbindung  von  imgebildeten  länd- 
lichen Gauen  Avar.    Achaia  aber  von  sehr-  civilisirten  Städten. 


HiSTORY  OF  Federal  Government.  579 

bemerkt  dann  aber  sehr  richtig,  class  wenn  auch  National- 
charakter und  Sitte  nicht  ohne  Einflnss  auf  die  Verfassung  zu 
sein  pflegen,  und  umgekehrt  wieder  von  dieser  gewisse  Ein- 
flüsse erleiden,  sie  doch  zwei  wesentlich  verschiedene  Dinge 
sind  und  keine  Form  der  Regierung  eine  Panacee  für  alle 
menschlichen  Uebel  ist,  und  gerne  wird  man  ihm  in  dem  Satze 
beistimmen,  dass  die  trefflichste  Verfassung  eines  Landes  keine 
Garantie  für  ein  weises  und  ehreuAverthes  Benehmen  in  der 
äusseren  Politik  giebt. 

Lesenswerth  sind  einige  schliesslich  hervorgehobene  Ana- 
logien zAvischen  dem  aitolischen  Bimd  und  der  schAveizerischen 
Eidgenossenschaft,  die  er  indessen  gerade  in  ihren  unvortheil- 
haftesten  Seiten  findet. 

Die  weitere  Darstellung  der  Geschichte  der  beiden  grossen 
Bundesstaaten  will  ich  nicht  im  Einzelnen  verfolgen;,  sondern 
nur  noch  einige  Hauptpunkte  hervorheben.  Indem  mit  Recht 
darauf  hingewiesen  wird ,  wie  die  Geschichte  des  achaiischen 
Bundes ,  im  Gegensatz  zu  der  Blüthezeit  Griechenlands  und 
Roms,  durch  die  leitenden  Männer  ihren  Charakter  erhält,  ist 
eine  natürliche  Consequenz  hiervon,  dass  eine  besondere  Sorg- 
falt auf  die  Erforschung  und  Würdigung  dieser  Führer  ver- 
wendet wird.  Als  den  eigentlichen  Gründer  des  Bundes  be- 
trachtet er  den  Markos  von  Keryneia,  den  er  mit  Washington 
vergleicht.  Indessen  ist  dieser  höchst  ehren werthe  Charakter 
uns  nur  wenig  bekannt.  Um  so  deutlicher  tritt  Aratos  in 
den  Vordergrund;  Avelcher  mehrere  Jahrzehnte  die  eigentliche 
Seele  des  Bundes  war  und  dem  der  Gedanke  angehört,  ihn 
zu  einer  möglichst  allgemeinen  Einigung  freier  griechischer 
Staaten  zum  Schutze  der  Ordnung  und  Gesetzlichkeit  im  In- 
nern, der  Unabhängigkeit,  zunächst  gegen  Makedonien,  nach 
aussen  zu  machen.  Bei  ihm  verweilt  der  Verfasser  besonders 
lange ,  und  offenbar  gehört  dieser  Theil  zu  den  gelungensten 
Abschnitten  des  Buches.  Freeman  anerkennt  ebenso  sehr  die 
Vorzüge  und  Verdienste  des  Mannes,  als  er  seine  Schwächen 
offen  zugiebt.  Vom  edlen  Ehrgeize  getrieben,  sein  Vaterland 
von  der  Herrschaft  Makedoniens  und  dessen  AVerkzeugen,  den 
>Städtetyrannen,  zu  befreien  vmd  unter  gemässigt  demokratischen 
Verfassungen  zu  einem  wohlgeordneten  Bundesstaate  zu  ver- 
einigen, unbestechlich  und  aufopferungsfähig,   Meister  in  Unter- 

37* 


580  HiSTORY  OF  Fedekal  Goveknmknt. 

handlungen  und  im  kleinen  Kriege,  in  Ueberlallen  und  Hinter- 
halten, brachte  er  in  der  ersten  Hälfte  seiner  staatsmännischen 
Laufbahn  den  liund  zu  einer  überraschenden  Ent-\vicklung  und 
gewann  das  unbeschränkteste  Zutrauen  "bei  den  Städten  der 
Eidgenossenschaft,  obgleich  schon  damals  seine  gänzliche  Vn- 
fähigkeit  zur  Leitung  eines  Krieges  in  grösserem  Massstabe. 
zum  Commando  in  einer  Feldschlacht  zu  Tage  trat.  Freeman 
steht  nicht  an,  das  geradezu  als  Feigheit  im  oifenen  Kampfe 
zu  bezeichnen,  so  verwegen  er  sein  Leben  sonst  aufs  Spiel 
setzte.  Es  war  ein  Fehler  der  Verfassung,  dass  der  oberste 
politische  Beamte  zugleich  Oberfeldherr  war;  allein  es  war  ein 
Fehler,  den  sie  mit  fast  allen  alten  Staaten  theilte.  Aber  noch 
verderblicher  als  diese  Feigheit  war  ein  anderer  Fehler  im 
Charakter  des  Aratos.  Er  Avollte  das  Beste  seines  Vaterlandes 
aufrichtig ;  aber  es  sollte  allein  durch  ihn  geschehen ;  die  Ty- 
rannis  verabscheute  er;  aber  in  den  verfassungsmässigen  For- 
men wollte  er  alles  leiten  und  scheute  zu  diesem  Zwecke 
geschickte  Litriguen  und  selbst  sehr  anmassliche  Eingriffe  in 
die  Befugnisse  anderer  Beamten  nicht.  Daher  das  Fernhalten 
geschickter  Kriegsleute,  daher  vornelimlich  seine  miglückliche 
Eifersucht  auf  den  kriegstüchtigen,  edlen  Lydiadas  von  Mega- 
lopolis,  der  freiwillig  die  Tyraimis  niedergelegt  hatte,  um  sich 
und  seine  Stadt  dem  achaiischen  Bunde  zu  übergeben,  eine 
Eifersucht,  die  erst  mit  dem  nicht  ohne  des  Aratos  Schuld 
erfolgten  Tod  des  Lydiadas  in  der  Schlacht  bei  Ladokeia, 
226  V.  Chr.,  endigte.  Selbst  Philopoimens  Zurückhaltung  und 
seine  frei-«dllige  Abwesenheit  aus  der  Heimat  in  der  ersten 
Zeit  führt  Freeman  nicht  ohne  Grund  auf  die  Eifersucht  des 
Aratos  zurück.  Zu  den  traurigsten  Ergebnissen  aber  führten 
seine  Schwächen  in  dem  Zusammenstosse  des  achaiischen  Bun- 
des mit  Sparta  und  dessen  heldenmüthigem  Könige  Kleomenes, 
dessen  Darstellung  vortrefflich  ist.  Trotz  seiner  Vorliebe  für 
den  achaiischen  Bund  anerkennt  Freeman  die  ganze  Grösse 
des  Kleomenes,  zeigt  aber,  -wie  schwer  die  ganz  verschiedenen 
politischen  Interessen  und  Principien  der  gemässigt  demokra- 
tischen, friedlichen  Staaten  des  achaiischen  Bundes  mit  völli- 
ger Gleichberechtigung  und  der  aus  der  Revolution  hen^or- 
gegangenen  kriegerischen  und  thatkräftigen  Monarchie  Sparta 
zu  vereinigen  waren,   wie  sie  fast  nothwendig  zu  einem  Kampfe 


HiSTORY  OF  Fedekal  Goveknment.  581 

führen  mussten.     Dennoch  »hätte  damals  Griechenland«   (oder 
wenigstens  ein  grosser  Theil    desselben)    «ohne    die   achaiische 
Eifersucht  geeinigt  werden   können  , unter    der   Führung   eines 
seiner  edelsten  Söhne,  eines  Königs  freilich,  aber  eines  Königs 
von  seinem  eigenen  Blute,   eines  Königs  von  Sparta,  nicht  von 
Makedonien«    (S.    561;.     Der   überall    siegreiche   junge   König 
bot,  von  seinem  Standpunkte  aus  betrachtet,  den  Achaiern  sehr 
billige  Friedens-  und  Bundesbedingungen.    Ihre  volle  Freiheit 
sollte  unangetastet  bleiben,   er  veriangte  nichts  als  die  Kriegs- 
hauptmannschaft,   die  Hegemonie.     Aber  freilich   diese  Hege- 
monie war  eine  Aufhebung   aller  Grundsätze,    auf  denen   der 
achaiische  Bund  beruhte;    der  Peloponnes   unter  spartanischer 
Hegemonie  war  etwas  ganz  anderes,  als  ein  nach  den  Gesetzen 
des  achaiischen  Bundes  geeinigter  Peloponnes.     Dennoch  war 
in  den  achaiischen  Städten  ausser  Megalopolis  grosse  Neigung 
zur  Annahme  der  Anträge  vorhanden,   da  man  mit  Recht  darin 
das  einzige  Mittel  sah,   einen  verderblichen  und  unrühmlichen 
Krieg  loszuwerden,  und  da  den  Meisten  wohl  diese  Frage  fast 
als   ein    persönlicher    Streit    zwischen   Kleomenes   und   Aratos 
erschien,  wo  der  herzgeA\innende  junge  Held  gewiss  selbst  bei 
vielen  bisherigen  Feinden  mehr  Sympathie  fand,   als  der  schlaue 
Diplomat,    der  jede  Feldschlacht  zu  einer  Niederlage  machte. 
Und  namentlich  blickten  einestheils  die  Tpannenfreunde,   de- 
nen Kleomenes  als  Gewaltherrscher  erschien,    anderntheils  die 
verai-mten   und   verschuldeten  Classen,    deren  Ideal  Schulden- 
tilgung und  Gütertheilung  war,   voll  Hoffnungen  auf  den  Kö- 
nig,   beide   ohne    Zweifel    mit   Unrecht.      Man  begreift   diese 
Stimmung.     Aber  ebenso   begreift   man,    dass  vielen    aus    den 
besitzenden    Classen   vor    der   in    Aussicht   stehenden    Zukunft 
bangte,     und    dass    den    bisherigen    Trägern    der    achanschen 
Bundesprincipien  ein    solcher  Compromiss  als  unerträglich  er- 
scheinen musste,   vor  Allen  Aratos,    dem  seit   zwanzig   Jahren 
fast  unbeschränkten  Lenker    der   Eidgenossenschaft;    man   be- 
greift,  wie  er,   als  es  ihm  klar  war,   dass  Achaia  mit  eigenen 
Kräften   nicht   länger   widerstehen   könne,    zuletzt   den   König 
von  Makedonien  zu  Hülfe  rief  und  zum  Protektor  und  Herrn 
des  Bundes  machte,   lieber  als    sich   dem    siegreichen  Neben- 
buhler,   den   Bund    Sparta  unterzuordnen.     Man  begreift  es, 
ohne  es  zu  billigen,   aber  auch  ohne  Aratos  nur  schlechte  Mo- 


582  HisTORY  OF  Federal  Goverxmext. 

tive  unterzulegen.  Die  Annahme  der  spartanischen  Hegemonie 
hätte  eine  Selbstverläiignung  erfordert,  die  er  nicht  besass. 
Er  zog  vor,  Achaia  dem  makedonischen  Könige  zu  überliefern, 
ohne  Zweifel  in  der  Hoffnung,  nach  Erreichung  seines  Zieles 
durch  seine  diplomatischen  Künste  sich  Makedoniens  wieder 
zu  entledigen.  »Die  Bedingungen  des  Kleomenes  anzunehmen,« 
sagt  Freeman,  »bedurfte  es  allerdings  persönlicher  und  natio- 
naler Opfer,  aber  es  waren  Opfer  des  Patriotismus,  sobald  es 
sich  nur  um  die  Wahl  zwischen  Kleomenes  und  Antigonos 
handelte.  Die  Verfassung  des  Bundes  soweit  zu  verändern, 
dass  Kleomenes  dessen  Führer  geworden  wäre,  wäre  eine  weit 
geringere  Sünde  gegen  die  Freiheit  im  Allgemeinen,  selbst  eine 
Aveit  geringere  Sünde  gegen  die  besondere  Form  des  Bundes 
gewesen,  als  die  Verfassung  in  den  äusseren  Formen  aufrecht 
zu  erhalten,  aber  die  Eidgenossenschaft  zu  einer  blossen  De- 
pendenz  einer  fremden  Macht  zu  machen.  Es  ist  schwer  in 
der  ganzen  Geschichte  einen  so  traurigen  Fall  zu  finden,  als 
den  des  Aratos  von  251  zum  Aratos  von  223.  Er  rettete  sein 
Land,  erhob  es  zumi  höchsten  Punkte  des  Ruhms  und  stiess 
es  dann  wieder  in  den  Koth.  Dennoch  war  er  im  Herzen 
kein  Verräther,  er  war  nur  das  traurigste  Beispiel  des  Weges, 
auf  welchem  Stolz,  Leidenschaft  und  Eigensinn  bisweilen  das 
Urtheil  selbst  ehrenAverther,  ruhmreicher  Männer  verdunkeln.« 
(S.   490.) 

Seine  Unbefangenheit  zeigt  bei  diesen  Vorgängen  der  Ver- 
fasser auch  in  dem  Urtheil  über  König  Antigonos,  dem  er 
volle  Gerechtigkeit  widerfaln-en  lässt  V  •  Vollständig  Avird  man 
ihm  beistimmen  müssen,  dass  die  ganze  damalige  unglückselige 
Politik  durchaus  keine  nothwendige  Folge  der  Bundesverfassung 
war,  sondern  viel  eher  gerade  der  Abweichung  von  deren  Prin- 
cipien  -  . 


1  S.  472.  In  all  this  Antigonos  acted  m  a  perfectly  straightfortrard 
icay,  wortliy  of  a  rider  of  a  nation  tcho  called  a  spude  a  spade.  Macedoiiior 
dkl  not  profess  to  make  tvar  for  an  idea;  her  King  made  no  rhetorical 
ßourishes  ahout  liberating  Peloponnesos  from  the  Isthmus  to  t/ie  Cretan  sea. 
Antigonos  like  an  honest  trader ,  named  his  terms;  his  ])rice  was  fixed,  no 
abatment  tcould  he  taken  from  the  simple  demand  of  Akrokorinthos .  Vgl. 
S.  4SS. 

-]   Die  Beurtheilung   der   damaligen  Politik  Achaias  zeigt  zur  Genüge, 


HisTORY  OF  Federal  Governisient.  583 

Mit  dem  lUinclniss  zwischen  Achaia  und  Makedonien,  mit 
der  Ueberlieferung  der  Festung  von  Korinth  an  Antigonos  ist 
im  Grunde  die  unabhängige  Entwicklung  des  Bundes  beendigt. 
Obgleich  formell  ein  gleicher  Bundesgenosse ,  steht  er  in  der 
nächsten  Zeit  doch  ganz  unter  der  Leitung  der  makedonischen 
Könige ,  erst  der  schonendem  des  Antigonos ,  dann  der  rück- 
sichtslosen des  genialen  aber  frevelhaften  Philippos.  Der  wilde 
Bundesgenossenkrieg,  zwischen  den  unter  Philippos  Leitung 
stehenden  griechischen  Staaten  und  Aitolien  geführt,  befestigte 
Makedoniens  Herrschaft  noch  mehr.  Durch  des  Königs  Ver- 
trag mit  Hannibal  (216)  kam  nun  Griechenland  und  auch 
Achaia  in  die  Sphäre  der  römischen  Macht  und  damit  war, 
wie  Freeman  richtig  bemerkt,  seine  Unterwerfung  unter  diesen 
Staat  nur  noch  eine  Frage  der  Zeit.  Sobald  einmal  erkannt 
war,  dass  Achaia,  Griechenland  überhaupt,  nicht  mehr  allein 
seine  Existenz  behaupten  konnte,  wäre  das  Richtige  gewesen, 
sich  fest  an  Makedonien  anzuschliessen.  Dadurch  allein  wäre 
ein  erfolgreicher  Widerstand  gegen  Rom  möglich  geworden. 
Dass  es  nicht  geschah,  war  keineswegs  nur  der  Fehler  der 
Achaier  und  anderer  griechischer  Bundesstaaten,  sondern  ganz 
besonders  des  Königs  Philipp,  der,  um  mich  hier  einer  treffen- 
den ]iemerkung  Mommsens  zu  bedienen  (R.  G.  I,  S.  620), 
die  schwierige  Aufgabe  nicht  verstand,  sich  aus  einem  Unter- 
drücker in  den  Vorfechter  Griechenlands  umzuwandeln.  So 
schwankten  die  giiechischen  Staaten  zwischen  Makedonien  und 
Rom  hin  und  her,  suchten  auch  wohl  eine  unhaltbare  Neutra- 
lität zu  behaupten.  Aitolien,  das  zuerst  durch  schmählichen 
Vertrag  sich  mit  Rom  verbündet,  büsste  billig  aiich  zuerst  mit 
völligem  Verlust  seiner  äusseren  Unabhängigkeit.  Länger  hielt 
sich  Achaia,  das.  anfangs  ohne  sein  Zuthun  Roms  Feind, 
später  aber  in  den  makedonischen  und  syrischen  Kriegen  sein 
Verbündeter,  jedenfalls  unter  den  griechischen  Staaten  noch 
die  ehrenwertheste  Rolle  spielt,  was  entschieden  zu  Gunsten 
seiner  Einrichtungen  spricht.    Ja  es  erreicht  unter  Philopoimen, 


dass  Freeman  den  Polybios  mit  Kritik  zu  benutzen  weiss  und  macht 
unnöthig  auf  diesen  Punkt  weiter  einzugehen.  Dass  er  sich  deswegen 
nicht  Brandstätters  Standpunkt  angeeignet  hat,  braucht  kaum  gesagt  zu 
werden. 


584  HiSTORY  OF  Federal  Goverxmext. 

der  nach  Aratos  Tod  die  erste  »Stelle  einnimmt,  änsserlich  seine 
grössten  Erfolge,  indem  es  gelang  den  ganzen  l'eloponnes  nebst 
Megara  dem  Bunde  einzuverleiben,  ja  sogar,  freilich  nicht  zu 
seinem  YortheiL  in  Pleuron  und  Herakleia  ein  Paar  detachirte 
Aussenposten  zu  gewinnen.  Allein  diese  Ausdehnung  und 
Abrundung  kam  zu  spät;  sie  war  zum  Theil  nur  noch  eine 
von  Rom  geduldete,  auch  nicht  ganz  auf  dem  freien  Willen 
der  neugewonnenen  Mitglieder,  sondern  theilweise  auf  Zwang 
beruhende.  Immerhin  zeigen  sich  noch  Lichtpunkte,  welche 
auch  nicht  verblendeten  A'aterlandsfreunden  Hoffnungen  ein- 
flössen konnten.  Die  Reorganisation  des  Heerwesens  durch 
Philopoimen,  unter  dem  die  achaiischen  Waffen  sich  -v^äedor 
volle  Achtung  erkämpften  und  verschiedene  oben  angedeutete 
Versuche  die  Verfassung  zweckmässig  zu  modifiziren .  beweisen 
immer  noch  das  Dasein  mancher  gesunden  Elemente,  auf  deren 
Basis  der  Biind  eine  längere  Dauer  hätte  haben  können,  wenn 
der  ganze  Entwicklungsgang  der  alten  Geschichte  ein  System 
unabhängiger  Staaten  neben  einander  gestattet  und  nicht  un- 
erbittlich alle  Völker  unter  eine  HeiTSchaft  getrieben  hätte '  . 
Auch  Philopoimen  selbst,  »der  letzte  Grieche«,  ist  bei  manchen 
Schwächen  noch  ein  so  vortrefflicher  Krieger  und  Feldherr  und 
eine  so  tüchtige  Persönlichkeit,  dass  er  mit  Recht  bei  Freeman 
eine  anerkennende  Würdigxxng  findet  und  wahrlich  nicht  das 
wegAverfende  Urtheil  Mommsens  verdient. 

Allein  Alles  half  nicht  mehr,  seitdem  der  Bund  in  den 
Zauberkreis  der  römischen  Politik  gerathen  war,  und  die  Ge- 
schichte des  letzten  halben  Jahrhunderts  bis  zur  Auflösung  durch 
Mummius  bietet  ein  trauriges  Schauspiel  dar,  wo  jeder  Erfolg 
der  achaiischen  Politik  und  der  achaiischen  Waffen  unmittelbar 
durch  eme  römische  Intrigue  oder  Gewaltthat  gelähmt  wird. 
Der  ^  erfasser  geht  den  inneren  und  äusseren  Verwicklungen 
bis  ins  Einzelste  nach  und  stellt  namentlich  die  edleren  Per- 
sönlichkeiten der  Patriotenpartei  und  ihre  Bestrebungen  in  das 
gehörige  Licht.  Unbeirrt  durch  den  Spott  Mommsens  weist  er 
den  unheilvollen  Einfluss  nach .    den   die  römische  Politik  auf 


1)  Man  vergleiche  darüber  die  sehr  richtigen  Bemerkungen  von  Monim- 
sen  R.  G.  I,  S.  "TS,  die  ihn  aber  doch  selbst  zu  billigerem  Urtheil  über 
die  kleineren  Staaten  hätten  bringen  sollen. 


HisTORY  OF  Feder AL  Government.  585 

die  griechischen  Verhältnisse,  speciell  anf  die  Geschicke  des 
achaiischen  Bundes  ausübte  und  bezeichnet  die  Politik  unbe- 
dingt als  eine  treulose .  » Römische  Eitelkeit  war  verletzt  durch 
die  Existenz  eines  Volkes,  das  man  nicht  Avie  Sklaven  be- 
handeln konnte  und  das  als  Feind  zii  behandeln  kein  "\'or- 
"vvand  da  Avar.  Der  römische  Senat  machte  sich  keine  Scrupel 
daraus,  jede  niedrige  und  übelwollende  Kunst  anzuwenden, 
um  eine  Macht  herabzusetzen  und  zu  schwächen,  die  in 
zAvei  gefährlichen  Kriegen  sich  immer  als  treuer  Alliirter 
obwohl  nie  als  niedriger  Schmeichler  Roms  gezeigt  hatte« 
i'S.   639;. 

Zu  Avenig  sind  vielleicht  in  diuser  Zeit  die  iimeren  Partei- 
verhältnisse in  Betracht  gezogen,  indem  die  Parteien  fast  nur 
nach  der  äusseren  Politik  bemessen  Averden  und  dabei  über- 
sehen ist,  dass  diese  bei  fielen  durch  ihre  Ziele  im  Innern 
bedingt  Avar. 

Nach  dem  dritten  makedonischen  Krieg  und  der  Vernich- 
timg  des  immer  noch  gefürchteten  Reiches,  musste  Achaia,  das 
AA'ieder  auf  Roms  Seite  gestanden  hatte,  aufs  grausamste  füh- 
len, Avessen  es  sich  von  diesem  zu  versehen  hatte.  Tausende 
seiner  Bürger ,  darunter  die  besten ,  AA'urden  ohne  allen  A  or- 
wand  nach  Italien  geschleppt,  AA'ie  Mommsen  sich  ausdrückt, 
um  die  kindische  Opposition  der  Hellenen  mundtodt  zu  machen. 
Avas  Freemans  tiefste  Indignation  erregt.  Er  hätte  einfach  auf 
die  eigenen  Worte  des  berühmten  Historikers  Aveisen  können, 
der  drei  Zeilen  Aorher  sagt:  «nach  Rom  Avurde  beschieden, 
Aven  die  Papiere  des  Königs  oder  die  Angaben  der  zum  De- 
nunciren  herbeiströmenden  politischen  Gegner  compromittir- 
ten.  Der  Achaeer  Kallikrates  und  der  Aetoler  Lykiskos  zeich- 
neten sich  aus  in  diesem  GeAverbe.«  Von  den  Achaiern  Avar 
aber  kein  einziger  in  den  Papieren  des  Königs  compro- 
mittirt.  Damit  ist  Avohl  Roms  Verfahren  hinlänglich  charak- 
terisirt. 

Freeman  nennt  diese  Deportation  nur  einen  Act,  obwohl 
den  schmählichsten  einer  langen  Reihe  von  verrätherischen 
Angriffen  auf  die  Einheit  und  Freiheit  des  Bundes.  Er  mag 
zu  weit  gehen.  Avenn  er,  darin  Schorn  folgend,  auch  in  der 
endlichen  Freigebung  des  Restes  der  Gefangenen  im  siebzelui- 
ten  Jahr  nach    der  Abfühiimg   eine   böse  Absicht   des  Senates 


586  HisTORY  OF  Federal  Government. 

vermuthet ' ' .  »Es  mag  sein,«  sagt  er,  »dass  der  Senat  vorher- 
sah was  kommen  würde  nnd  seine  Opfer  nur  in  Freiheit  setzte, 
um  neuen  Anlass  zu  Intriguen  und  endlicher  Eroberung  zu 
finden.«  Die  Freilassung  wurde  ja  betrieben  und  unterstützt 
von  der  Scipionenpartei  und  Cato.  Und  überdies  ging  damals 
Rom  schon  so  rücksichtslos  vor,  dass  es  sich  kaum  noch  um 
Vorwände  bemühte.  Aber  sicherlich  ist  die  Bemerkung  richtig, 
dass  es  jetzt  für  Achaia  besser  gewesen  wäre,  wenn  auch  die 
noch  übrigen  Deportirten  im  Exil  gestorben  wären.  Denn  sie 
hatten  in  der  Mehrzahl  nichts  gelernt  und  nichts  vergessen  und 
kamen  voll  tödlichen  Hasses  gegen  Rom  zurück,  was  zu  der 
letzten  ebenso  thörichten  als  unglücklichen  Erhebung  wesentlich 
mitwirken  musste. 

Achaia  fiel  iinrühmlich.  »Wenn  es  übel  starb.«  sagt  Free- 
raan,  »so  war  es  hauptsächlich  die  Schuld  seiner  Mörder,  und 
wenn  es  übel  starb ,  so  hat  es  wenigstens  rühmlich  gelebt. 
Denn  hundertvierzig  Jahre  —  kein  kurzer  Zeitraum  im  Leben 
irgend  einer  Nation  und  ein  sehr  langer  Zeitraum  in  den  we- 
nigen Jahrhunderten,  die  v.ir  alte  Geschichte  nennen  —  hatte 
der  ]?und  einem  grösseren  Theile  Griechenlands ,  als  irgend 
eine  frühere  Zeit  es  gesehen  hatte ,  ein  Mass  von  Freiheit, 
Einheit  und  im  Ganzen  guter  Regierung  gegeben,  welche  wohl 
Entschädigung  geben  mögen  für  den  blendenden  Ruhm  der 
alten  athenischen  Demokratie.  Es  war  kein  kleiner  Ruhm, 
so  viele  Staaten  in  eine  Einigung  zusammenzuschweissen, 
welche  sie  gegen  fremde  Könige  und  Senate  kräftigte ,  und 
welche  ihnen  doch  die  innere  Unabhängigkeit  erhielt,  die  dem 
hellenischen  Sinn  so  theuer  war.  Es  war  kein  kleiner  Fort- 
schritt, so  viele  Städte  so  lange  Zeit  gleichmässig  frei  zu  hal- 
ten von  fremden  Besatzungen,  von  einheimischem  Pöbel,  ein- 
heimischen Tpannen  und  einheimischen  Oligarchen.  Wie 
wirksam  das  bündische  Princip  für  Erhaltung  der  Kraft  und 
Freiheit  der  Nation  war,  wird  am  besten  gezeigt  durch  den 
bittern  Hass ,  den  es  zuerst  bei  den  makedonischen  Königen 
und  dann  beim  römischen  Senat  erzeugte.  Es  war  kein  ver- 
ächtliches System,    gegen    das   so    viele    Könige   und    Consuhi 


''  Auch  C.  Peter,  Studien  zur   röm.  Geschichte,    S.   !"6,    theilt  diese 

Ansicht. 


HisTORY  OF  Federal  Governmext.  587 

successiv  conspirirten.  Es  war  kein  schwaches  Band,  zu 
dessen  Auflösung  der  schlauste  von  allen  diplomatischen  Se- 
naten so  viele  Intriguen  und  Kunstgriffe  anwandte.  Und  wenn 
der  Bund  ruhmlos  fiel ,  so  fiel  er  wenigstens  minder  ruhmlos 
als  die  Königreiche  xmd  Republiken  um  denselben.  Besser 
war  es  in  offener  Schlacht  besiegt  zu  werden,  selbst  unter 
einem  Diaios,  als  das  verächtliche  Leben  der  Könige  von  Bi- 
thynien  und  Pergamos  und  der  Betteldemokratie  von  Athen 
hinzuschleppen .« 


TOPOGRAPHISCHE  SKIZZE  DER  INSEL  EUBOIA 

von  Au(just  Baumeister ,  Dr.     Mit  zwei  lithographischen  Tafeln.     Lübeck 
im  Fehruar  1S(34.     74  S.   in   Qiiai't. 

'.Goettingisclie  Gelehrte  Anzeigen  1864.     S.   1361  —  1383.] 


Lieber  Eiiboia  sind  in  neuerer  Zeit,  abgesehen  von  grossem 
Reisewerken .  welche  die  Insel  mit  in  ihren  Bereich  ziehen, 
verschiedene  Arbeiten  erschienen  von  Verfassern,  die  das 
schöne  Land  selbst  durchwandert  und  durchforscht  haben,  so 
von  dem  Franzosen  M.  J.  Girard.  von  Rhangabe.  von  Ijursian. 
Auch  die  Reiseskizzen  von  H.  X.  Ulrichs  mögen  noch  erwähnt 
werden,  die  allerdings  schon  früher,  theils  im  Rheinischen 
Museum .  theils  in  den  Annalen  des  archäologischen  Instituts 
A'eröffentlicht.  doch  erst  im  vorigen  Jahre  vereinigt  und  ganz 
in  deutscher  Sprache  im  zweiten  Theile  der  Reisen  und  For- 
schungen des  verdienten  Verstorbenen  durch  A.  Passow  heraus- 
gegeben worden  sind.  Aber  nur  die  etwas  flüchtige  Skizze 
von  Girard  behandelt  die  ganze  Insel,  und  so  kann  eine  voll- 
ständige Topographie  derselben  nur  mit  Freude  begrüsst  wer- 
den, zumal  von  einem  Verfasser,  der.  Avie  Herr  Baumeister, 
mit  gründlicher  Kenntniss  des  vorhandenen  Materials  die  un- 
entbehrliche Autopsie  verbindet.  Denn  im  Jahre  1S54  hat  er 
drei  Wochen  lang  alle  Theile  der  Insel  durchwandert  und  ist 
von  noch  weiterer  Durchforschung ,  die  er  beabsichtigte .  nur 
durch  die  damals  im  Zusammenhang  mit  dem  orientalischen 
Kriege  eingetretene  Unsicherheit  abgehalten  worden.  Die  Dar- 
stellung beschränkt  sich  auf  die  alte  Topographie,  die  Ge- 
schichte ist  nur  so  weit  herbeiarezoffen .  als  zum  ~\'erständniss 
jener  nöthig  ist.  So  nahe  niin  Euboia  dem  griechischen  Fest- 
lande liegt,   so  reich  einst  seine  Geschichte,    so  vielfach  seine 


Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia.  589 

Beziehinigen  zu  den  anderen    griechischen  Staaten,    besonders 
zu  Athen  waren,    so   sind  wir  doch  kaum  über  einen  anderen 
Theil  von  Griechenland  in  topographischer  Hhisicht  so  wenig 
unterrichtet.     Wir  können  die  alten  Namen  einiger  Berge  und 
^'orgehirge  nachweisen,   mit  annähernder  Sicherheit  die  einiger 
Flüsschen,  wir  kennen  die  Lage  der  bedeutendsten  Ortschaften, 
etwa  acht  bis  neun,    die   grösstentheils  ihre  alten  Namen  we- 
nig oder  gar  nicht  yerändert  behalten  haben ;   aber  vergleichen 
wir   die    Insel    mit   den   Landschaften   des    gegenüberliegenden 
Festlandes  oder  des  Peloponneses ,    so   fällt   es    auf,    wie  weit 
auseinander  die  mit  einiger  Sicherheit  zu  bestimmenden  Funkte 
liegen.     Ein  Blick  auf  die  Karte  von  Kiepert  zeigt   das,    imd 
doch  finden  sich  hier  noch  viele  Namen,   deren  Ansetzung  auf 
sehr   imsicherer   Yermuthung  beruht.      Der   Grund   liegt    zum 
Theil    darin,     dass    in    Folge    der    natürlichen    Beschaffenheit 
der  Insel  ihre  Geschichte  sich  in    Avenigen  Hauptstädten  con- 
centrirte.    die  übrigen  zahlreichen  Ortschaften  wohl  nicht  viel 
mehr  als  Dörfer  waren,    die   zu   erwähnen   wenig  Anlass   vor- 
handen war.    zum  Theil  aber  auch  in    dem  Mangel   an  Nach- 
richten bei  den  alten  Schriftstellern.     Pausanias  hat  leider  die 
Insel  nicht  in  den  Kreis  seiner  Periegese  gezogen,   Strabo,   der 
Euboia  gewiss  nicht  selbst  besucht   hat,    ist   dürftig   und   un- 
sjenau.    Ausserdem  ist  die  Zahl  der  uns  erhaltenen  Inschriften, 
die  uns  so  oft  allein  einen  topographischen  Anhalt  geben,   ge- 
ring,  offenbar  nicht  bloss  in  Folge  von  Zerstörung,   die  freilich 
auch  in  hohem  Grade  statt  gefunden  hat,   sondern  auch,   weil 
die  Hauptblüthe  der  Insel   in   eine   frühe    Zeit   fiel,    wo   noch 
wenig  geschrieben  wurde.     Die  Zahl   der  von   den  Alten   uns 
überlieferten  Namen  ist  gering,   das  Verzeichniss  bei  Hrn.  Bau- 
meister giebt  hundert  und  fünf,  worunter  überdies  manche  nur 
verschiedene  Formen,   und  wobei  auch  die  allgemeinen  Namen 
der  Insel   mitgezählt   sind.      Und   von    diesen   Namen   ist   bei 
verhältnissmässig  sehr  vielen  keine  Möglichkeit  gegeben,  ihnen 
ihren  Platz  anzuweisen.    Umgekehrt  finden  wir  manche  Spuren 
alter  Ortschaften,   ohne  sie  benennen   zu  können.     Bedeutend 
freilich  sind  die  wenigsten  dieser  Ueberbleibsel,  fast  jede  Land- 
schaft des  Festlandes  bietet  mehr.     In  der  Hauptstadt  Chalkis, 
die  ununterbrochen  bewohnt  war.   ist  von  der  alten  Pracht  der 
Tempel,    Säulenhallen.    Theater   und   FestungSAverke   fast   gar 


V 


590  Topographische  Skizze  der  Insel  Eubol\. 

nichts  übrig  geblieben .  nur  was  in  den  Felsboden  eiuge- 
hauen  "war,  hat  der  Zeit  getrotzt.  Ansehnliche  Ruinen  fin- 
den sich  hauptsächlich  von  Eretria  und  an  einigen  Orten  des 
südlichen  Theiles  der  Insel,  diese  meist  aus  sehr  alter  Zeit. 
Es  liegt  daher  in  der  Natur  der  Sache,  dass  auch  die  sorg- 
fältigste Arbeit  Vieles  unbestimmt  lassen  muss.  xmd  weit  ent- 
fernt dem  Verfasser  der  vorliegenden  Schrift  daraus  einen  Vor- 
wurf zu  machen,  halten  wir  es  vielmehr  für  einen  Vorzug,  dass 
er  das  Unsichere  nicht  für  sicher  ausgegeben  hat. 

Nach  einer  kurzen  Uebersicht  über  die  natürliche  Beschaf- 
fenheit der  ganzen  Insel  bespricht  Ilr.  V>.  das  Einzehie  nach 
den  drei  Haupttheilen.  Mitteleuboia,  Nordeuboia,  Südeuboia. 
wobei  nur  auffällt,  dass  er  diese  Gliederung  fast  mehr  durch 
die  Rücksicht  auf  die  Uebersichtlichkeit,  als  durch  die  natür- 
liche Gestaltung  begründet.  Damit  hängt  denn  auch  zusam- 
men, dass  eine  Charakteristik  der  drei  einzelnen  Theile.  die 
erwünscht  gewesen  wäre,  fast  ganz  fehlt.  Und  doch  ist  die 
Dreitheilung,  in  der  Hauptsache  wie  sie  Hr.  1^  annimmt,  sehr 
entschieden  durch  die  Natur  gezeichnet,  besonders  auch  zwi- 
schen Nord-  und  Mitteleuboia.  wo  es  nach  Hm.  B.  weniger 
der  Fall  sein  soll.  Mitteleuboia  nämlich  öffnet  sich  mit  der 
fruchtbaren  Ebene  von  Chalkis  gegen  die  Westküste  und  Avird 
in  weitem  Bogen  vom  Delphi,  dem  alten  Dirphys.  und  seiner 
östlich  von  Vathya  ans  Meer  stossenden  \'erlängerung  um- 
zogen. Im  Nordwesten  bildet  die  ebenso  bestimmte  Gränze 
der  niedrigere  Bergzug,  der  von  dem  an  der  Westküste  sich 
erhebenden  Kandili  quer  durch  die  Insel  streicht  und  sich  dem 
nördlichen  Zweige  des  Dirjjhys  anschliesst.  Das  auf  der  einen 
Seite  von  diesen  Gebirgen  umschlossene,  im  Westen  und  Sü- 
den vom  Meere  bespülte  Land .  in  der  Nähe  der  Küste  sich 
in  fruchtbaren  Ebenen  ausbreitend,  in  welchen  aber  doch  von 
den  Hauptgebirgen  niedrigere  Ausläufer  herabziehen .  durcli 
den  schmalen  Sund  des  Euripos  auf  die  Verbindung  mit  dem 
gi'iechischen  Festlande  hinweisend,  durch  die  sichern  Buchten 
und  Häfen  aber  zugleich  zum  Seeverkehr  auffordernd,  bildet 
zu  allen  Zeiten  das  eigentUche  Centrum  der  Insel  und  auf  ihm 
erheben  sich  die  beiden  bedeutendsten  Städte  Chalkis  und 
Eretria .  die  freilich  ihre  Gebiete  bedeutend  darüber  hinaus 
ausgedehnt  zu   haben   scheinen.     Ausserdem   hat  Hr.  B.   auch 


Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia.  591 

die  östlichen  Abfälle  des  Dirphys  mit  dem  heutigen  Kumi  mit 
zu  Mitteleuboia  gezogen,  Avas  allerdings  bloss  geometrisch  an- 
gesehen richtig  ist ;  aber  nach  seiner  physischen  ]3eschaffenheit 
gehört  dieser  durchaus  gebirgige  Landstrich  eher  zu  Südeuboia, 
das,  durch  schroffere,  Avildere  Gestaltung  der  Berge  charakte- 
risirt,  die  Thalsohlen  nirgends  zu  breiteren  Flächen  sich  er- 
weitern lässt,  keine  weitere  Gliederung  in  kleinere  Einheiten 
darbietet  und  für  grössere  städtische  EntAvicklung  wenig  geeig- 
net ist.  Wo  an  der  Südwestküste  das  von  der  See  etwas  zu- 
rücktretende Gebirge  einigen  Eaum  darbot,  lagen  die  Dryoper- 
städte  Karystos  und  Styra,  deren  Gebiete  der  südlichste  schmale 
Theil  der  Insel  bildete.  Jene  östliche  Abdachung  des  Dirphys 
aber  mag  in  früheren  Zeiten  das  Gebiet  des  kaum  genannten 
Kyme  gebildet  haben,  das  nach  dem  A'organge  von  Ross  und 
anderen  Gelehrten  Hr.  13.  mit  Recht  in  der  Nähe  des  heutigen 
Kumi  (KoufjLTj  aiol.  Form  für  Ku[xr^  wie  -roupa  für  ^Tupaj  vor- 
aussetzt, in  welchem  sich  der  im  späteren  Alterthum  fast  ver- 
schollene Name  bis  in  unsere  Zeit  erhalten  hat.  Nicht  zu 
billigen  ist  aber,  dass  er  (Anm.  42)  unter  der  Kufj-r^  AioAt;  bei 
Hesiod.  Opp.  634,  welche  man  bisher  allgemein  für  die  klein- 
asiatische Stadt  genommen  hat,  nun  auch  die  euboiische  ver- 
stehen will,  Avomit  die  Worte  ttoXuv  8ia  ttovtov  avusaa;  im  Wi- 
derspruche Avären.  Später  scheint  die  Herrschaft  von  Chalkis 
und  Eretria  sich  in  diesen  Gegenden  bis  ans  ägäische  Meer 
ausgedehnt  zu  iiaben,  ohne  dass  Avir  im  Stande  Avären  das  Ge- 
nauere darüber  festzusetzen ;  denn  dass  Skylax  die  Insel  Skyros 
-/.0.T  'Epsrpiav  gelegen  nennt,  zeigt  nur,  dass  er  das  Gebiet  von 
Eretria  bis  ans  östliche  Meer  reichen  lässt,  keineswegs  aber, 
AA'ie  Hr.  B.  meint,  dass  es  über  Kumi  hinausging.  Möglich 
ist  auch,  dass  die  in  den  attischen  Tributlisten  vorkommenden 
Ataxpioi  und  Aiaxpr,;  a.~o  XaXxioiwv  in  die  Gebirgsgegenden 
des  Dirphys  gehören,  AAie  Hr.  B.  meint,  nur  durfte  er  aus 
Herodots  Ausdruck  ta  axpa  xr^c,  Eußoi'ac  (YL  100^  keinen 
Schluss  aiif  die  Lage  der  Diakria  machen,  da  das  Wort  axpa 
ohne  alle  Beziehung  auf  einen  Eigennamen  die  ]3erghöhen  be- 
zeichnet und  von  Herodot  auch  sonst  Aviederholt  gebraucht 
wird,   z.  B.  VII.   219.   VHI.   32. 

Während  so  in  Mittel-  und  Südeuboia  die  grösseren  und 
kleineren  für  Städtegründung  geeigneten  Flächen    sich  an  der 


592  Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia. 

Westküste  finden,  streichen  dagegen  im  nördlichen  die  hohen 
Rücken  des  Kandili  und  Galzades  der  ganzen  Länge  nach  so 
dicht  an  dem  westlichen  Meere  hin,  dass  sie  kaum  an  drei 
Stellen  spärlichen  Platz  für  kleine  Ortschaften  gewähren, 
meistens  aber  nicht  einmal  einen  Pfad  übrig  lassen.  Sie 
zwingen  daher  die  Gewässer  nach  Osten  und  Norden  abzu- 
fliessen  und  dahin  öffnen  sich  denn  auch  die  beiden  Haupt- 
theile,  in  welche  sehr  bestimmt  Nordeuboia  gegliedert  ist. 
Unmittelbar  nördlich  von  dem  obengenannten  vom  Kandili 
aus  quer  durch  die  Insel  streichenden  Gebirgszweige .  dessen 
Höhe  man  heutzutage  bei  der  Quelle  Hagios  übersteigt,  be- 
ginnt das  Gebiet  des  bedeutendsten  Flüsschens  der  Insel,  das 
an  der  Ostküste  beim  heutigen  Hafen  Peleki  mündet  und  un- 
zweifelhaft richtig  für  den  alten  IJudoros  gehalten  wird.  Es 
wird  durch  zwei  Hauptzuflüsse  gebildet,  welche,  der  eine  von 
Süden,  der  andere  von  Norden  herkommend ,  sich  etAva  drei 
Viertel  Stunden  oberhalb  der  Mündung  mit  einander  ver- 
einigen. Wenn  Hr.  B.  in  Uebereinstimmung  mit  der  officiel- 
len  neuhellenischen  Geographie  in  diesen  beiden  Flüsschen 
den  Neleus  und  Kereus  der  Alten  vermuthet,  so  ist  das  frei- 
lich sehr  unsicher,  und  man  möchte  eher  geneigt  sein  für  das 
eine  den  Namen  des  vereinigten  Flusses,  Budoros,  in  Anspmch 
zu  nehmen,  immerhin  ist  es  viel  wahrscheinlicher  als  die  Yer- 
muthung  Kieperts,  dass  der  Kereus  der  Bach  nördlich  von 
Chalkis  sei,  der  Neleus  ein  südlich  von  Kumr  ins  Meer  flies- 
sender,  oder  die  von  Bursian,  der  für  den  Neleus  Kiepert  bei- 
stimmt, den  Kereus  aber  zwischen  Chalkis  und  Eretria  ansetzt, 
Avofür  gar  nichts  als  eine  höchst  unwahi'scheinliche  Conjectur 
in  einem  Fragment  des  Antigonos  von  Karj-stos  geltend  ge- 
macht werden  kami.  Nach  der  Art  wie  die  beiden  Flüsschen 
von  den  Alten  erwähnt  werden,  sind  sie  offenbar  nahe  bei 
einander  zu  suchen.  Das  Budorosgebiet  erstreckt  sich  fast 
über  die  ganze  Breite  der  Insel,  indem  es  vom  westlichen 
Meere  durch  den  schmalen  Kücken  des  Kandili  geschieden 
wird.  In  den  oberen  Theilen  üppig  bewaldete  Berge  und 
Thäler  umfassend,  in  den  unteren  besonders  beim  heutigen 
Achmet -x\ga  und  Mandudi  fruchtbares  Ackerland,  und  durch 
grossen  Wasserreichthum  ausgezeichnet  ist  es  der  einzige 
grössere  Theil  der  Insel ,    der   sich  nach  dem   östlichen  Meere 


Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia.  593 

öffnet,  an  dem  dann  aucli  die  Ruinen  seines  einstigen  Haupt- 
ortes ,  der  Stadt  Kerinthos  liegen ,  über  welche  weiter  unten 
einige  Bemerkungen  folgen  sollen. 

Im  Norden  Avird  es  durch  ansehnliche  Gebirge,  denen  ein 
gemeinsamer  Name  fehlt,  von  dem  zweiten  Haupttheile  Nord- 
euboias  geschieden,  dessen  Mittelpunkt  die  schöne  Ebene  von 
Xerochori  mit  dem  Xeriasflusse ,  dem  alten  Kallas ,  bildet, 
während  östlich  davon  die  Verzweigungen  des  Gebirges  nir- 
gends eine  grössere  Fläche  übrig  lassen.  Dieser  nach  der 
Nordküste  geöffnete  Theil  der  Insel  bildete  einst  das  Gebiet 
der  bedeutendsten  Stadt  Nordeuboias,  Histiaia-Oreos.  End- 
lich schliesst  sich  dann  noch  westl'ch,  nur  durch  eine  schmale 
Landenge  verbunden,  als  dritter  sehr  untergeordneter,  aber 
scharf  gesonderter  Theil  Nordeuboias  die  Halbinsel  Kenaion, 
jetzt  Lithada,  an,  welche  sich  auch  durch  ihre  dürre,  felsige 
Beschaffenheit  sehr  bestimmt  von  den  zwei  anderen  unter- 
scheidet. Auf  ihr  lagen  die  Städte  Dion  und  Athenai  Diades; 
später  gehörte  sie  mit  zum  Gebiet  von  Histiaia.  Dass  übrigens 
der  Name  Kenaion  nicht  nur ,  Avie  gewöhnlich  und ,  wie  es 
scheint,  auch  von  Hrn.  B.  angenommen  Avird,  das  westliche 
Vorgebirge  bezeichnet,  sondern  die  ganze  Halbinsel,  geht  wohl 
devitlich  aus  Strabo  S.  60  und  446  C.  hervor  und  auch  So- 
phokles stimmt  damit  gut  überein,  der  es  axtr^  ofi.cpixXuoTo? 
nennt  Trach.  v.  753  vgl.  237.  Die  Gebirgsabfälle  Nordeuboias 
nach  dem  westlichen  Meere  sind  so  schmal,  dass  sie  neben 
den  genannten  drei  Theilen  nicht  als  selbständig  in  Betracht 
kommen  können  imd  die  daran  gelegenen  Ortschaften  Aide- 
psos,  Orobiai  und  Aigai  hatten  kaum  je  eine  unabhängige 
Entwicklung.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache  begründet, 
dass  von  den  drei  Haupttheilen  der  Insel  der  Verfasser  dem 
mittleren  und  südlichen  in  seiner  Darstellung  einen  grösseren 
Raum  gewidmet  hat,  als  dem  nördlichen,  da  der  mittlere  in 
der  Geschichte  am  bedeutendsten  hervortritt,  und  im  südlichen 
die  merkwürdigsten  Ueberreste  des  Alterthums  geblieben  sind. 
Ueberdies  aber  hat  er  offenbar  diese  Theile  durch  eigene  An- 
schauung genauer  kennen  gelernt  als  den  Norden.  Mit  be- 
sonderer, dankenswerther  Sorgfalt  und  Vollständigkeit  be- 
schreibt er  den  Süden  und  die  erst  in  der  neuesten  Zeit 
genauer  erforschten   dieser   Gegend   eigenthümlichen  Baureste 

Vi  scher,  Schriften  I.  38 


594  Topographische  Skizze  der  I>'sel  Euboia. 

einer  uralten  Zeit ,  den  Tempel  auf  dem  Ochaberge .  die 
»Drachenhäuser«  bei  Stura  und  mehrere  andere  in  der  liauart 
diesen  verwandte  Ruinen,  die  mit  Recht  nach  Bursians  Vor- 
gange den  als  Bewohner  dieses  Landes  bezeugten  Dryopem 
zugeschrieben  werden.  Unbekannt  scheinen  Hrn.  B.  die  höchst 
interessanten  mit  Namen  beschriebenen  Bleitäfelchen  geblieben 
zu  sein,  welche  vor  einigen  Jahren  in  einem  ^dereckigen  Denk- 
mal bei  Stura  gefunden  worden  und  in  der  neuen  archäologi- 
schen Ephemeris  von  Rhusopulos  beschrieben  und  facsimilirt 
mitgetheilt  sind  S.  272  ff.  301.  302.  Taf.  3S.  39.  45  .  Das 
vorattische  Alphabet  bcAveist,  dass  sie  in  eine  frühe  Zeit  fallen, 
aus  der  sich  in  Euboia  fast  keine  schriftlichen  Denkmäler 
finden.  A  gl.  Kirchhoff  Studien  zur  Gesch.  des  griech.  Alpha- 
bets S.  252.  253.  Nicht  weniger  als  121  Stücke  sind  von 
ßhusopulos  mitgetheilt  und  andere  scheinen  zerstreut  worden 
zu  sein.  Ueber  ihre  Bestimmung  sagt  der  Herausgeber  nichts. 
Ich  vermuthe ,  es  seien  die  Namen  der  in  dem  Polyandiion 
beigesetzten  Männer,  die  gemeinsam  in  einem  Kriege  den  Tod 
gefunden  hatten.  Merkwürdig  ist  freilich,  dass  die  Namen  in 
dem  Grabe  verborgen  waren ;  aber  man  darf  wohl  voraussetzen, 
dass  sie  ausserdem  auch  auf  der  Aussenseite  des  Denkmals, 
vermuthlich  mit  Angabe  des  Anlasses,  bei  dem  sie  gefallen, 
für  den  Beschauenden  verzeichnet  waren. 

Aon  Einzelheiten  in  Mittel  -  und  Südeuboia  will  ich  hier 
nur  Eines  benihren.  wo  ich  eine  von  dem  Vei^fasser  ab^vei- 
chende  Meinung  habe.  An  dem  steinigen  Hügel.  Karababa, 
dem  alten  Kanethos.  gegenüber  von  Chalkis.  hatte  Ross  Ein- 
schnitte im  Felsboden  bemerkt,  die  er  für  Grundlagen  der 
Mauern  der  alten  auf  diesem  Hügel  gelegenen  Feste  hielt. 
Bursian  hat  dagegen  Gräber  zu  erkennen  geglaubt  und  ihm 
folgt  Hr.  B.  Ich  habe  diese  Felsbearbeitung  im  Frühling 
IS 62  ebenfalls  in  Augenschein  genommen,  kann  mich  aber  der 
Ansicht ,  dass  es  Gräber  seien ,  durchaus  nicht  anschliessen. 
Allerdings  giebt  es  auf  dem  Hügel  auch  eine  Anzahl  von 
Gräbern,  die  aber  Bursian  selbst  (Berichte  der  Verhandl.  der 
Sachs.  Gesellsch.  d.  W.  IS 59  S.  120.  121'  schon  ganz  richtig 
in  ihrer  Anlage  von  den  hier  in  Frage  kommenden  Einschnit- 
ten imterscheidet.  Ross  hat  nun  freilich,  so^-iel  ich  gesehen 
habe,    darin   geirrt,    dass    er   sagt,    diese   liefen  lings  um  den 


Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia.  595 

Hügel.  Solche  habe  ich  so  wenig  als  Bursian  gesehen.  Viel- 
mehr laufen  die  von  mir  bemerkten  an  der  Ostseite  von  der 
Höhe  in  der  Richtung  nach  der  Euriposhrücke  hinunter  und 
andere  an  der  Südseite  nach  dem  Meere.  Die  Einschnitte  sind 
ungefähr  zAvei  Fuss  breit  und  treppenförmig  abgestuft,  indem 
ihre  Sohle  durchaus  horizontal  läuft,  also  bei  der  geneigten 
Fläche  des  Felsbodens  in  gewisser  Entfernung  jeweilen  ein 
senkrechter  Abschnitt  gemacht  werden  musste.  Dadurch  ist 
nothwendig  bedmgt,  dass  auf^värts  die  Sohle  in  den  Felsboden 
eingesenkt  werden  musste,  und  hier  also  Seitenwände  ent- 
standen, die  zu  oberst  genau  der  Höhe  der  senkrechten  Ab- 
stufung entsprechend  abwärts  immer  niedriger  werden,  bis  sie 
zuletzt,  da  wo  die  horizontale  Sohle  des  Einschnittes  mit  der 
natürlichen  Oberfläche  des  Felsens  zusammentrifft,  ganz  auf- 
hören, worauf  dann  wieder  ein  neuer  senkrechter  Abschnitt 
folgt.  Bvu'sian  sagt,  die  einzelnen  Vertiefungen  seien  je  durch 
einen  kleinen  ebenen  Platz  von  einander  getrennt ,  allein  dieser 
vermeinte  Trennungsplatz  ist  nichts  anderes,  als  das  untere 
Ende,  wo  die  Sohle  des  Einschnittes  mit  der  natürlichen  Fels- 
oberfläche so  zusammentrifft,  dass  keine  Seitenwände  mehr  da 
sind.  Er  selber  bemerkt,  die  vordere,  das  heisst  die  an  der 
schmalen  Seite  nach  unten  gerichtete  Seitenwand  fehle  »mei- 
stens« ganz;  ich  glaube  er  hätte  sagen  sollen  »immer«,  wenig- 
stens habe  ich  nirgends  etwas  Derartiges  gesehen.  Die  Länge 
der  einzelnen  horizontalen  Stücke  giebt  Hr.  Bin-sian  durch- 
schnittlich auf  7  Y2  Fuss  an ,  lässt  aber  einige  kürzere  gelten ; 
ich  habe  mir  ausdrücklich  angemerkt,  dass  sie  je  nach  dem 
mehr  oder  minder  steilen  Abfall  des  Hügels  sehr  verschieden 
seien.  Eine  solche  Anlage  eignet  sich  nun  in  keiner  Weise 
für  Gräber,  und  Bursians  Auskunftsmittel,  dass  die  geringe 
Höhe  der  Seitenwände  durch  aufgesetzte  Platten  von  Tuffstein 
erhöht  gewesen  sei,  über  welche  dann  gleiche  Platten  als  Decke 
gelegt  gewesen,  ist  durchaus  nicht  so  »natürlich«  als  er  meint. 
Man  findet  in  Griechenland  tausend  und  abertausend  Gräber 
sargföiinig  in  den  Felsen  eingehauen;  aber  überall  sind  sie 
vollständig  in  den  Boden  eingesenkt  und  die  vier  Seiten  oben 
horizontal  abgefalzt,  so  dass  nur  eine  Platte  darüber  gelegt 
wurde,  auch  da,  wo  der  natürliche  Boden  mehr  oder  weniger 
abhängig    ist,    so  z.  B.  an   den    Südwestabhängen   des   Pnyx- 

3S* 


596  Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia. 

und  Museionhügels  in  Athen.  Nirgends  sonst  findet  man  auch 
Gräber  in  solcher  Weise  an  einander  gereiht,  sondern  vielmehr 
umgekehrt  so ,  dass  sie  mit  ihren  Langseiten  neben  einander 
sind.  Hier  laufen  nun  aber  überdies  zwei  solche  Einschnitte 
in  der  Entfernung  von  vier  Fuss  genau  parallel,  -wofür  bei 
Cxräbern  nicht  der  entfernteste  Grund  einzusehen  wäre,  und 
endlich  würde  der  auffallende  Umstand  eintreten,  dass  die  am 
Ostabhange  ganz  anders  orientirt  wären  als  die  am  Süd- 
abhange.  Ich  kann  daher  in  den  Einschnitten  nichts  Anderes 
erkennen,  als  die  Bettung  zu  Fundamenten  von  Maueni.  Um 
diesen  einen  sicheren  Halt  zu  geben,  wurde  die  Sohle  hori- 
zontal eingeschnitten,  was  bei  der  Neigung  des  Bodens  noth- 
wendig  zu  der  treppenartigen  Anlage  führte.  Jetzt  begreifen 
wir  auch,  wanim  zwei  Parallellinien  vorhanden  sind.  Sie 
waren  gemacht  um  die  Quader  für  die  Aussenflächen  der 
Mauer  aufzunehmen,  der  vier  Fuss  breite  Zwischenraum  war 
mit  unregelmässigem  Material  aufgefüllt ,  eine  Constructions- 
art,  die  bekanntlich  oft  genug  bei  griechischen  Befestigungen 
angewandt  ist.  Die  ganze  Mauer  Avar  dann  acht  bis  neun 
Fuss  dick.  Wenn  an  der  Südseite,  was  ich  nicht  beachtet 
habe,  wirklich  drei  Linien  neben  einander  laufen,  so  war  hier 
Adelleicht  aus  besonderen  Gründen  die  Mauer  stärker  gebaut, 
vielleicht  auch  der  eine  Zwischenraum  als  gedeckter  Gang 
nicht  aufgefüllt.  Diese  Mauern  waren  aber  offenbar  dazu  be- 
stimmt, die  auf  der  Höhe  des  Hügels  gelegene  Feste,  die 
Euriposburg,  mit  Chalkis  selbst  zu  verbinden  und  sie  innerhalb 
der  Befestigungen  desselben  aufzunehmen,  Avas  nach  Strabo 
(S.  447,  C),  zur  Zeit  von  Alexandros  Uebergang  nach  Asien 
geschah.  Zu  den  gleichen  ISefestigungswerken  scheint  ein 
mehrere  Fuss  tief  in  den  Felsen  eingehauener,  aus  der  Nähe 
der  Brücke  den  Hügel  hinaufziehender  Graben  zu  gehören, 
dessen  Sohle  aber  nicht  horizontal  angelegt  ist  und  daher  keine 
Stufen  hat.  Er  gleicht  durchaus  einem  Laufgi'aben,  und  ich 
will  nicht  unbedingt  behaupten,  dass  er  antik  sei,  obwohl  die 
Felsenarbeit  für  die  venetianische  oder  türkische  Zeit  fast  zu 
bedeutend  scheint. 

Einige  etwas  eingehendere  Bemerkungen  mögen  über  Nord- 
euboia,  das  vom  Verfasser  am  kürzesten  behandelt  ist,  hier 
Platz  finden,   da  ich  zweimal  diesen  Theil  ziemlich  nach  allen 


Zu.  Seite  ydl 


F.  //.  BrocTthauä' Geogr -  artist  ATutait,  Zeipzi^. 


Plan  von  Kerinthos. 


Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia.  597 

Seiten  durchwandert  habe  und  in  einigen  Punkten  von  den 
Ansichten  des  Herrn  li.  abweiche.  Oben  schon  ist  auf  die 
GHederung  des  Landes  aufmerksam  gemacht  worden,  wonach 
sich  die  freihch  nur  dürftig  bekannte  geschichtliche  Entwick- 
hing in  den  beiden  Städten  Histiaia-Oreos  und  Kerinthos  con- 
centrirte.  Ueber  die  Verhältnisse  von  Histiaia  und  Oreos 
spricht  der  Verfasser  S .  17.  18  klar  und  überzeugend ;  für  das 
officielle  Fortbestehen  des  alten  Namens  Histiaia  oder  Hestiaia 
in  später  Zeit  konnte  er  noch  die  von  mir  in  den  Epigr.  und 
Archäol.  Beiträgen  N.  59  mitgetheilte  Inschrift  anführen,  wo 
im  dritten  Jahrhundert  nach  Chr.  noch  'Eanaituv  rj  ttoAi?  vor- 
kommt. 

Weniger  zu  billigen  scheint  dagegen,  was  er  über  das 
Schicksal  von  Kerinthos  sagt.  Die  Lage,  die  zuerst  Ulrichs 
erkannt  hat,  setzt  er  ganz  richtig  an  der  Küste  über  dem 
rechten  Ufer  der  Budorosmündung  an  und  beschreibt  die  noch 
vorhandenen  Rxiinen  in  der  Hauptsache  gut  nach  Bursian. 
Hingegen  hat  er  schwerlich  wohl  daran  gethan  als  historisches 
Factum  anzugeben,  dass  die  in  Homers  Zeit  nicht  ganz  unbe- 
deutende Stadt  später  in  Abhängigkeit  von  Chalkis  gekommen 
und  »nach  einem  glaubhaften  Zeugniss  in  dessen  Fall  hinein- 
gezogen worden  sei,  als  im  Jahre  506  die  aufstrebende  atheni- 
sche Demokratie  ihre  Herrschaft  mit  Sturmeseile  über  die  ganze 
Insel  ausbreitete.«  Von  einem  glaubhaften  Zeugnisse  hiefür 
kann  überall  die  Rede  nicht  sein,  vielmehr  beruht  die  ganze 
Annahme  auf  einer  durchaus  unbeAviesenen  Deutung  von  zwei 
Distichen,  die  zuerst,  Avenn  ich  nicht  irre,  Hertzberg  in  Prutz 
litterar.  Taschenbuch  1845  S.  354  m  Verbindung  mit  der  Er- 
oberung von  Chalkis  durch  die  Athener  gebracht  hat,  wonach 
dann  Duncker  Alte  Gesch.  IV.  S.  462  sich  die  Sache  in  seiner 
Weise  zurechtgelegt  hat.  Leider  lässt  sich  aber  die  Combina- 
tion  mit  dem  was  sicher  überliefert  ist  durchaus  nicht  in  Ueber- 
einstimmung  bringen.  Herodot  nämlich  berichtet  V,  77,  dass, 
nachdem  das  Athen  bedrohende  peloponnesische  Heer  bei  Eleusis 
sich  aufgelöst,  die  Athener  gegen  Chalkis  gezogen  seien,  die 
ihnen  entgegentretenden  Boiotier  geschlagen  und  am  gleichen 
Tage  den  Euripos  überschritten,  auch  die  Chalkidier  besiegt 
und  dann  viertausend  Kleruchen  auf  die  bisherigen  Güter  des 
chalkidischen  Adels  gesetzt  hätten.     Damit    stimmen  auch  die 


598  TOPOGRAPPIISCHE    SkIZZE    DER    InSEL    EuBOIA. 

vaticanischen  Fragmente  Diodors  üherein.  [Diod.  X,  24,  3 
Dind.]  Mögen  bei  Herodot  die  Worte  zr^c,  auTr^c  tauir^c  Tjasprj? 
nur  zu  oiaßavTs;  gehören  oder  auch  zu  au}x|^aXXouaL ,  soviel  ist 
deutlich,  dass  die  Besiegung  und  Unterwerfung  der  Chalkidier 
sehr  rasch  vor  sich  ging;  von  einem  Verwüsten  des  Gebietes 
weiss  Herodot  so  wenig,  als  von  einem  Zuge  nach  dem  Norden 
Euboias  oder  .gar  einer  Unterwerfung  der  ganzen  Insel.  Bei 
Duncker  aber  lesen  war :  »Aber  die  Athener  setzten  noch  an 
demselben  Tage,  an  welchem  sie  die  Boeoter  geschlagen,  über 
den  Sund.  Die  AVafFen  Athens  waren  auch  auf  Euboea  glück- 
lich. Die  Chalkidier  wurden  vollständig  geschlagen  und  ver- 
loren viele  Gefangene.  Die  Athener  konnten  ihr  Gebiet  ver- 
wüsten und  den  Hafen  der  Chalkidier  auf  der  Ostküste, 
Kerinthos,  zerstören.  Endlich  vermochte  sich  auch  die 
Hauptstadt  nicht  länger  zu  halten.«  Und  weiterhin  :  »Theognis 
von  Mogara  beklagt  den  Fall  von  Chalkis,  den  Fall  der  Adels- 
herrschaft in  Chalkis  in  folgenden  Versen:  'O  der  Feigheit! 
Kerinthos  ist  zu  Grunde  gegangen ,  das  treffliche  Weinland 
von  Lelantos  ist  verwüstet;  die  Edeln  ziehen  in  die  Ver- 
baiuiung,  es  herrschen  die  Gemeinen!  Möchte  doch  Zeus  das 
Geschlecht  des  Kypselos  vernichten!'  Theognis  bezeichnet  in 
seinem  Unwillen  die  Korinthier,  denen  er  die  Schuld  alles 
Unheils  beimisst,  mit  diesem  Namen.«  Merkwürdiger  Weise 
stimmt  sowohl  Hr.  Bursian  als  Hr.  Baumeister  dieser  kühnen 
Construction  bei  und  wir  riskiren  sie  als  beglaubigte  Geschichte 
in  die  Lehrbücher  übergehen  zu  sehen.  Ja  Hr.  Baumeister 
lässt,  wie  wir  oben  sahen,  die  Athener  ihre  Herrschaft  über 
die  ganze  Insel  ausbreiten.  Betrachten  wir  aber  nüchtern  die 
Quellen,  so  haben  die  Athener  Chalkis  und  nur  Chalkis  unter- 
worfen, und  jene  Verse,  die  schon  Welcher  ohne  Zweifel  mit 
Recht  aus  dem  Theognideischen  Nachlass  ausgeschieden  hat, 
haben  mit  dem  Ereignisse  gar  nichts  zu  thun.  Die  zwei 
Distichen  : 

Ol  jxoi  avaXxiVjC'   a~o  jxiv  Kr^piv&o;  oXtüXcV , 
ArjXavToo  ö'    ocYaDov  xsi'p£~oi'.  otvoTtcOov. 

Ol  6'   ayoiBol  osuyooai,  -oÄiv  oi  7.7.7.01  oiizousiv^ 
u)c  OTj  Ku'^cXiOuiv  Zcuc  oXiozit  •(iyoz. 
klagen,   dass  Kerinthos  zu  Grunde  gegangen  sei  und  das  lelan- 
tische  Gefilde  verwüstet  werde,   nicht   verwüstet   worden  sei. 


Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia.  599 

Sie  sind  also  während  eines  Krieges  geschrieben  und  müssten, 
wenn  Theognis  sie  anf  jene  athenische  Eroberung  gedichtet 
hätte,  in  der  kurzen  Zeit  zwischen  dem  Uebergang  der  Athener 
auf  die  Insel  oder  genauer  der  vermeinten  Zerstörung  von 
Kerinthos  und  der  Uebergabe  von  Chalkis  gedichtet  sein,  wäh- 
rend doch  die  Ereignisse  sich  so  rasch  folgten,  dass  man  sie 
in  Megara  ohne  Zweifel  mit  einander  erfiihr.  Hätte  die  Ueber- 
gabe von  ^Chalkis  an  die  Athener  und  die  Vertheilung  des 
Landes  an  die  athenischen  Kleruchen  schon  statt  gehabt,  so 
hätte  natürlich  dieser  schwere  Schlag  neben  dem  viel  kleinern 
Unglück  von  Kerinthos  und  dem  Verwüsten  'der  Weinfelder 
nicht  verschAviegen  werden  können.  Das  Fliehen  der  Edeln 
und  die  Herrschaft  der  Gemeinen  trat  aber  damals  doch  Avohl 
erst  bei  der  Uebergabe  ein  und  so  wären  'die  Verse  mit  sich 
selbst  im  Widerspruche.  Dann  aber  ist  die  Bezeichnung  der 
damaligen  Korinthier  als  Geschlecht  der  Kypseliden  ^denn  die 
Lesart  Kutj^eXioÄv  oder  Ku<|;£XiO£o)v  statt  des  metrisch  unerträg- 
lichen -/u']>£Xi!^ov  ist  ohne  Zweifel  die  richtige)  rein  unmöglich. 
Denn  es  war  ja  gerade  die  Partei  am  Buder,  welche  die  Kyp- 
seliden vertrieben  hatte.  Wer  die  Lesart  Ku^J^sXiowv  für  richtig 
hält,  muss  consequenter  Weise  unbedingt  an  eine  Zeit  denken, 
wo  diese  noch  die  Herrschaft  hatten.  Aber  die  vermeinte  Er- 
oberung und  Zerstörung  von  Kerinthos  Hesse  sich  auch  schwer 
mit  der  Erzähhmg  Herodots  vereinigen.  Dieser  erzählt  mit 
sichtlicher  warmer  Theilnahme  für  Athen  den  Krieg.  Hätten 
die  Athener  damals  Kerinthos  erobcit,  er  hätte  es  nicht  ver- 
schwiegen; denn  es  wäre  eine  kühne  That  gewesen.  Vergesse 
man  nicht,  dass  der  Weg  vom  Euripos  nach  Kerinthos  nicht 
viel  kürzer  ist,  als  der  von  Eleusis  nach  jenem,  und  durch 
einen  leicht  zu  vertheidigenden  Engpass  über  das  Gebirge  führt. 
Die  Athener  hätten  jedenfalls  'einen  bedeutenden  Theil  ihres 
Heeres  zur  Cerninnig  von  Chalkis  zurücklassen  müssen  und 
niir  wenige  Truppen  zum  Angriff  auf  das  wohlbefestigte  Kerin- 
thos verwenden  können,  dessen  Eroberung  sich  nxir  durch 
Ueberraschung  ausgeführt  denken  Hesse.  Beim  Misslingen  des 
Ueberfalls  wäre  eine  Abschneidung  der  Heeresabtheilung  von 
der  bei  Chalkis  gebliebenen  zu  fürchten  gewesen.  Und  von 
einer  solchen  That  hätte  Herodot  kein  Wort  gesagt?  Es  kommt 
dazu,   dass  man  gar  keinen  Grund  sieht,  weshalb   die  Athener 


600  Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia. 

den  gefährlichen  Zug  hätten  unternehmen  sollen;  denn  von 
Korinthos  konnte  ihnen  beim  Krieg  gegen  Chalkis  kaum  eine 
Gefahr  drohen,  und  dass  es  der  Hafen  der  Chalkidier  auf  der 
Ostküste  gewesen  sei,  ist  eine  durch  gar  nichts  begründete 
Voraussetzung,  der  ein  sehr  gewichtiges  13cdenken  entgegen- 
steht. Strabo  nämlich  berichtet  8.  445  C.  Ellops  der  Gründer 
von  Ellopia  habe  Histiaia,  Periasi),  Kerinthos,  Aidepsos  und 
Orobiai  mit  seiner  Herrschaft  vereinigt,  was  deutlich  auf  eine 
ziemlich  frühe  Vereinigung  von  Kerinthos  mit  Histiaia  weist. 
]^ei  der  Zerstörung  scheint  es  daher  zu  Histiaia  gehört  zu  haben 
oder  noch  unabhängig  gewesen  und  jetzt  unter  dasselbe  ge- 
kommen zu  sein.  Zu  Chalkis  hat  es  schwerlich  je  gehört. 
Nicht  deutlich  ist,  welche  Zeit  Hr.  B.  meint,  wenn  er  S.  22 
sagt,  es  habe  bei  der  veränderten  Machtstellung  zum  Gebiete 
von  Histiaia  gezählt.  Die  Veranlassung,  bei  der  Kerinthos 
zerstört  wurde,  hat  ohne  Zweifel  K.  F.  Hermann,  obgleich  er 
in  den  dem  Theognis  zugeschriebenen  Versen  noch  die  falsche 
Lesart  xu'i/sXiCov  befolgt  (Gesammelte  Abhandlungen  8.  198. 
199,  richtig  in  den  Kriegen  zwischen  Chalkis  und  Eretria  er- 
kannt, auf  welche  die  Worte  Ay,Ä7.v:'j'j  oiYaiiov  XiiosTa'.  oivottöSov 
hinweisen,  und  für  die  Zeit  giebt  die  richtige  Lesart  Ku^eXioäv 
ysvo;  einen  Anhaltspunkt.  Die  Zerstörung  muss  zur  Zeit  der 
Kj-j^selidenherrschaft ,  also  nicht  nach  Ol.  XLIX,  4  stattge- 
funden haben  und  die  K^^jiseliden  müssen  irgendwie  dabei 
betheiligt  gewesen  sein.  Von  Kriegen  dieses  Tyraimengeschlech- 
tes  auf  Euboia  ist  nun  freilich  keine  Nachricht  erhalten. 
Allein  da  Avir  wissen,  dass  ein  grosser  Theil  Griechenlands 
sich  an  den  Kriegen  zwischen  Chalkis  und  Eretria  betheiligte, 
so  liegt  die  Annahme  sehr  nahe,  dass  auch  die  Kj^Dseliden 
sich  nicht  fern  davon  gehalten  haben,  und  zwar  sind  sie  aus 
verschiedenen  Gründen  ohne  Zweifel  auf  Seite  der  Eretrier  zu 
suchen  2) .     ]Mit  einer  solchen  Betheiliginig  trifft  auch  in  höchst 


^;  Für  das  in  den  Handschriften  gegebene  Dspiaoa  schi-eibt  Meineke 
Ttsoidoa ,  -was  Hr.  Baumeister  billigt.  Ich  zweifle  aber  sehr ,  dass  das 
Appellativ  -eotdoa  zwischen  den  Eigennamen  'Ei-taix/  und  Kf,pw&ov  hier 
an  seinem  Platze  sei. 

-}  [Anderer  Meinung  ist  E.  Curtius,  der  Korinth  auf  Seite  der  Chal- 
kidier glaubt.  Gr.  Gesch.  I*  S.  252.  2.56.  410  ff.  Dagegen  vgl.  Herodot 
in,  48  ff.] 


Topographische  Skizze  der  Ixsel  Euboia.  ßOl 

bemerkenswerther  Weise  die  Gründung  der  korinthischen 
Colonie  Potidaia  durch  Periandros  zusammen,  in  einer  Gegend, 
die  grossentheils  von  chalkidischen  und  eretrischen  Städten 
besetzt  war.  Ihre  Lage  ist  so  gewählt,  als  sei  ihre  Bestim- 
mung gewesen,  die  vorzugsweise  von  Eretria  aus  colonisirte 
Halbinsel  Pallene  gegen  Angriffe  der  benachbarten  Chalkidier 
zu  schützen.  In  diesem  Zusammenhange  lässt  sich  auch  eine 
VerAvendung  korinthischer  Streitkräfte  auf  der  Ostküste  Euboias 
leicht  begreifen.  Das  Ereigniss  Avürde  sonach  in  die  Zeit  der 
Herrschaft  des  Periandros  fallen  ^01.  XXXVHI,  4  —  Ol.  XLVni, 
4),  den  Aristoteles  bekanntlich  als  einen  kriegerischen  Fürsten 
bezeichnet*;. 

Dass  die  beiden  Disticha  unter  den  Versen  des  Theognis 
stehen,  kann  nicht  als  Einwendimg  gegen  die  vennuthete  Zeit 
gebraucht  werden;  der  blosse  Gebrauch  von  ttoAic  ohne  eme 
nähere  liezeichninig  zeigt,  dass  sie  nicht  von  Theognis  sind, 
bei  dem  -oXic  nur  Megara  sein  könnte,  während  hier  der  Zu- 
sammenhang auf  eine  euboiische  Stadt  und  zwar  wahrschein- 
lich Chalkis  weist,  wo  längst  vor  dem  Kriege  mit  Athen  poli- 
tische Umwälzungen  erwähnt  werden.  \'on  einer  solchen  wird 
geradezu  berichtet,  dass  sie  von  Eretria  ausgegangen  sei :  Aen. 
Tact.  4.  Die  Verse  sind  daher  ohne  Zweifel  von  einem  unbe- 
kannten chalkidischen  Dichter. 

Seit  Kerinthos  seine  Unabhängigkeit  verloren  hatte,  scheint 
der  ganze  Norden  Euboias  zu  Histiaia-Oreos  gehört  zu  haben, 
nur  mit  zeitenweiser  Ausnahme  der  Halbinsel  Kenaion,  deren 
Städte  Dion  und  Athenai  Diades  wenigstens  in  den  athenischen 
Tributlisten  besonders  vorkommen.  Sicherlich  dürfen  wir  es 
von  den  beiden  Städtchen  Orobiai  und  Aigai  an  der  "W^est- 
küste  annehmen ,  die  nirgends  als  selbständige  Gemeinwesen 
erscheinen.  Von  diesen  ist  die  Lage  von  Orobiai,  dessen  Name 
sich  im  heutigen  Roviaes  erhalten  hat,  unzweifelhaft.  Aigai 
glaubte  man  bis  vor  kurzem  ebenso  bestimmt  an  die  Stelle  des 
heutigen  Limni  setzen  zu  müssen,  bis  Bursian  die  Vermuthung 
aufstellte,  es  habe  etwa  anderthalb  Stunden  weiter  nach  Süd- 
osten,   in   der   Schlucht   imterhalb    des    dem   H.  Nikolaos  ge- 


')   [Bergk  zu   Theognis  Poet.   Lyr.    ed.    3   II  pg.  540  setzt   den  Krieg 
unter  Kypselos  selbst.] 


602  Topographische  Skizze  der  Ixsel  Euboia. 

weihten  Klosters  Galataki  gelegen.  (Berichte  der  Verhandl. 
d.  Sachs.  Gesellschaft  d.  Wissensch.  1859.  S.  152  .  Sein 
Hauptgrund  ist,  dass  die  von  Strabo  angegebene  Entfernung 
zwischen  Anthedon  und  Aigai  auf  die  Lage  von  Limni  nicht 
passe.  HeiT  Baumeister,  obgleich  er  selbst  bemerkt,  dass 
Strabos  Angaben  über  Euboia  höchst  ungena\i  seien,  folgt 
nichts  desto  weniger  der  Annahme  Bursians.  Diese  ist  aber 
zuverlässig  inig,  wie  ich  mich  durch  den  Augenschein  über- 
zeugt habe,  indem  ich  mich  1862  durch  Bursians  Hypothese 
veranlasst  von  Achmet-Aga  aus  nach  Galataki  begeben  und 
die  Umgebung  des  Klosters ,  sowie  die  ganze  Küstenstrecke 
von  da  bis  Limni  genau  untersucht  habe.  Dass  das  Kloster 
an  der  [Stelle  des  Poseidontempels  liegt,  hat  Bursian  richtig 
erkannt.  Der  h.  Nikolaos  ist,  worauf  Hr.  Baumeister  mit 
Recht  aufmerksam  macht,  der  Nachfolger  des  alten  Poseidon. 
und  die  herrliche  Lage  hoch  über  den  am  Felsgestade  sich 
brechenden  Wogen  war  für  ein  Heiligthum  des  Meergottes 
vortrefflich  geeignet  und  stimmt  ganz  mit  Strabos  Angabe. 
Allein  in  der  schmalen  Schlucht,  die  unmittelbar  nördlich  da- 
von sich  nach  dem  Meere  zieht,  hat  die  Stadt  Aigai  sicherlich 
nie  gelegen.  Der  Eaum  ist  auch  für  ein  bescheidenes  Städt- 
chen, ja  selbst  für  ein  heutiges  griechisches  Dorf  viel  zu  eng, 
er  hat  kein  Acker-  und  Gartenland  und  kein  Wasser;  denn 
der  von  Hm.  B.  angeführte  Bach  fliesst  nur  bei  Eegen  und 
war  bei  meiner  Anwesenheit  ganz  trocken,  obwohl  es  die 
vorangegangenen  Tage  geregnet  hatte.  Auch  findet  man  da- 
selbst keinen  bearbeiteten  Stein,  keinen  Ziegel,  keine  Scherbe, 
die  sichern  aber  auch  unerlässlichen  Kennzeichen  jeder  alten 
Wohnstätte.  Auch  an  der  Küste  zwischen  Galataki  und  Limni 
ist  nirgends  für  eine  Ortschaft  Raum,  obAvohl  Hr.  Baumeister 
zu  weit  geht,  wenn  er  sagt,  er  fehle  auch  für  einen  Pfad. 
Ich  habe  den  Weg  selbst  gemacht  und  nur  an  einer  Stelle 
nahe  bei  Limni  treten  die  Felsen  so  unmittelbar  ans  Meer, 
dass  man  eine  kurze  Strecke  durch  das  seichte  Wasser  reitet, 
also  nur  bei  ruhigem  Wetter  durchkommen  kann.  Ein  einziges- 
mal,  etwa  eine  halbe  Stunde  von  Galataki,  erweitert  sich  der 
ebene  Küstensaum  zwischen  Meer  und  Gebirge  zu  einer  Breite 
von  vielleicht  fünfzig  bis  hundert  Schritt,  und  da  steht  von 
Oelbäumen  umgeben  ein  Kirchlein  des  h.  Georg.     Spuren  des 


Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia.  603 

Alterthxims  konnte  ich  aber  keine  entdecken  und  Wasser  fehlt 
anch  hier.  Sobald  man  sich  aber  Limni  nähert,  ist  das  san- 
dige Ufer  voll  verschliffener  Ziegel  und  Scherben,  und  dem 
Städtchen  selbst  fehlen  keineswegs  antike  Reste  so  sehr,  wie 
die  Hrn.  Bursian  und  Baumeister  meinen.  Sowohl  an  der 
auf  einer  Terrasse  schön  gelegenen  Hauptkirche,  als  sonst  im 
Orte  sah  ich  alte  Stelen  und  andere  bearbeitete  Steine  und 
vor  einigen  Jahren  ist  ein  ziemlich  bedeutendes  Gebäude  mit 
einem  wohlerhaltenen  Mosaikboden,  mehreren  kleinen  Säulen, 
Ziegeln  und  Röhren  aufgedeckt  Avorden,  was  Alles  1862  noch 
an  Ort  und  Stelle  zu  sehen  war.  Ein  ebenda  gefundener 
Torso  einer  männlichen  Marmorstatue  wird  in  der  Demarchie 
bewahrt.  Ein  schöner  Brunnen  oberhalb  des  Städtchens  ver- 
sieht dieses  mit  reichlichem  Wasser,  inid  fruchtbare  Gärten 
und  Weinberge  steigen  in  Terrassen  um  dasselbe  auf.  Endlich 
geAvähit  die  Bucht,  Avelche  die  Küste  hier  bildet,  kleinem 
Schiffen  einigen  Schutz,  -was  in  der  Nähe  des  Klosters  ganz 
fehlt.  Es  ist  also  kein  Zweifel,  dass  hier  im  Alterthum  schon 
eine  Ortschaft  lag,  Avogegen  weiter  südöstlich  an  den  Abhängen 
des  Kandili  keine  liegen  konnte.  Da  nun  Aigai  bestimmt  in 
dieser  Gegend  zu  suchen  ist,  da  ferner  Strabo  sagt,  Orobiai 
liege  nahe  dabei,  wodurch  das  DazAvischenliegen  eines  andern 
Ortes  ausgeschlossen  Avird ,  so  folgt  nothAvendig ,  dass  es  nur 
an  der  Stelle  von  Limni  gestanden  haben  kann.  Dass  nun 
aber  der  Tempel  des  Poseidon  etAva  anderthalb  Stunden  von 
der  Stadt  entfernt  war,  darf  uns  nicht  irre  machen.  Denn 
Avenn  Strabo  sagt,  der  Tempel  sei  sv  AiyaT?,  so  heisst  das  eben 
nur    in    seinem   Gebiete,    wie   er  S.   448    sagt,    Kenaion  liege 

£V    'Qp£(|). 

Beiläufig  erAvähne  ich  hier  noch,  dass  Hr.  B.  den  von 
Aischylos  im  Agamemnon  genannten  Berg  Makistos,  Avelcher 
das  Feuersignal  vom  Athos  nach  dem  Messapion  vermittelt,  in 
dem  heutigen  Kandili  zu  erkennen  glaubt.  Es  ist  Avahr,  dass 
der  Name  unter  den  euboiischen  Bergen  auf  diesen  am  besten 
passt;  allein  wie  unsicher  es  ist,  daraus  einen  Schluss  zu 
ziehen,  entgeht  Niemand,  und  der  andere  Grund,  der  geltend 
gemacht  AA-ird,  trifft  nicht  zu,  dass  nämlich  die  übrigen  Berge 
des  nördlichen  Euboia  durch  den  Kandili  so  verdeckt  AAurden, 
dass  man  das  Feuer  vom  niedrigen  Messapion  in  Boiotien  nicht 


^04  Topographische  Skizze  der  Insel  Euboia. 

gesehen  hätte.  Die  Gipfel  des  Galzades,  des  Cavallari  ober- 
halb Orobiai.  auf  denen  ich  gewesen  bin.  und  gewiss  auch 
noch  andere  im  nördlichen  Euboia  haben  ganz  unbehinderten 
Blick  sowohl  nach  dem  Athos  als  dem  Messapion ,  und  bei 
der  grossen  Entfernung  des  Athos  von  Euboia  liegt  die  Ver- 
muthung  nahe,  dass  einer  der  nördlichsten,  dem  Athos  näch- 
sten Punkte  zur  Station  gewählt  worden  sei.  Ich  muss  daher 
bei  der  früher  ausgesprochenen  Meinung  bleiben,  dass  es  un- 
möglich sei  zu  entscheiden,  welcher  Berg  bei  Aischylos  zu 
verstehen  sei. 

Gegenüber  der  Vollständigkeit,  mit  der  Hr.  B.  im  süd- 
lichen Euboia  fast  jeden  erhaltenen  Stein  registiirt ,  fällt  es 
auf,  im  nördlichen  fast  nur  die  namhaften  alten  Ortschaften 
angeführt,  andere  Leberbleibsel  aber  kaum  erwähnt  zu  finden. 
Es  scheint  das  seinen  Gi^und  darin  zu  haben,  dass  der  Verfasser 
diesen  Theil  der  Insel  weniger  genau  aus  eigener  Anschauung 
kennt,  als  den  südlichen;  doch  sind  mehrere  Punkte  dieser 
Art  von  mir  und  Bursian  bezeichnet  worden.  Die  Ueberreste 
sind  freilich  überall  sehr  gering,  aber  nichtsdestoweniger  be- 
merkenswerth,  weil  sie  einen  deutlichen  Beleg  für  die  dichte 
Bevölkerung  geben.  Meist  sind  es  nur  Spuren  alter  Woh- 
nungen, hie  und  da  auch  von  Befestigungen.  In  der  Umgelnmg 
von  Achmet-Aga  lassen  sich  zum  Beispiel  wenigstens  vier 
solche  Stellen  nachweisen.  Auf  eine  nähere  Nach  Weisung  kann 
aber  hier  nicht  eingetreten  werden,  da  so  schon  die  Anzeige 
länger  geworden  ist,  als  m-sprünglich  beabsichtigt  war.  Ich 
schliesse  daher,  indem  ich  Allen,  die  sich  für  Geographie  und 
Topographie  des  alten  Griechenlands  interessiren ,  die  kleine 
Schrift  bestens  empfehle. 


REGISTER. 


A. 

Abydos,  Schlacht  bei,   119;  zweite  Schiacht  120. 

Achaier,   Bund  der,  334  u.  A.   1,  375  ff.  ;   -50.5  ff. 

Adeimantos  verräth  die  athenische  Flotte  bei  Aigospotamoi  19S  ff. 

Agariste  (Hermokopidenprozess  ,  17S  u.  A.  4. 

Agariste,  Frau  des  Megakles  3SS. 

Agesandridas,  spartanischer  Admiral  193. 

Agesias  von  Acharnai,  Mitglied  der  oligarchischen  Verschwörung  162. 

Agesilaos,  wird  König  144;  asiatischer  Feldzug  145  ff.,  Eifersucht 
gegen  Lysandros  145  ff.  ;  Hass  gegen  Theben  277  ff.  ;  Feldherr  gegen 
Epameinondas  297. 

Agis,  spartanischer  König  59;   144. 

Aide  p  SOS  auf  Euboia  593. 

Aigai ,  s.  Edessa. 

Aigai  auf  Euboia  593,  601  ff. 

Aigion  ,  Versammlungsort  der  achaiischen  Landsgemeinde  376  u.  A.  1 ;  566. 

Aigospotamoi,  Schlacht  bei,  127,198,  199;  Zeitpunkt  derselben  199  A.  2. 

Aiolier,  Bundeseinrichtung,  324  u.  A.  5  ff. 

Aischines  von  Lamptrai,  Mitglied  der  oligarchischen  Verschwörung  162. 

Aitoler,  Bund  der,  334  u.  A.  1;  Verfassung  373  ff.  577  ff.  Panai- 
tolika  374. 

Akarnanen,  Krieg  mit  Amprakia  62  ff.;  Schlacht  bei  Olpai  64;  bei 
Idomene  65;  Bund  mit  Amprakia  66  ;  Bundesverfassung  333  u.  A.  1  u.  2. 

Aleuas,  der  Rothkopf  339  u.  A.  3. 

Alexikles,   193  A.  2;   194  u.    ob  hingerichtet?)  A.  3. 

Alexandros  von  Makedonien,  leistet  d*>n  Persern  Heeresfolge  245;  wie- 
der souverain  246;  ob  thätig  beim  Abfall  von  Thasos  von  Athen?  246; 
Zeit  seines  Todes  247  u.  A.  2. 

Alexandros  von  Pherai  303. 

Alketas,  Bruder  des  Perdikkas,  248. 

Alkibiades,  Abstammung  96;  Stammtafel  152;  Zeit  seiner  Geburt  97 
A.  2;  Anfang  öffentl.  Thätigkeit  104  u.  A.  1  ff.  ;  Gemahlin  :  Hipparete 
104  u.  A.  2;  Uebermuth  104;  Schönheit  105  u.  A.  1;  Charakteristik 
106  ff.;  politische  Stellung  107  ff.,  173  ff. ;  Härte  gegen  die  Bun- 
desgenossen 104  A.  1,  109,  110  u.  A.  1;  Hermokopidenprozess  111  u. 
A.  1  ff.  ;  177  ff.  Flucht  nach  Sparta  113;  Verhältniss  zu  Timaia 
114  A.  2;  geht  zu  Tissaphernes  115;  vom  athen.  Heer  zurückberufen 
117,  186,  191;  die  Samier  errichten  ihm  eine  Bildsäule  118_A.  1;  von 
den  Athenern  zurückberufen  IIS,  194;  persönliche  Tapferkeit  118  A.  3. 
Schlacht  bei  Abydos  u.  Kyzikos  119;  zweite  Schlacht  bei  Abydos  120^ 
letzte  Schicksale  126  ff. 

Alkibiades,   Sohn,  385. 


ß(j5  Register. 

Alkmaioniden,  Stellung  des  Geschlechts  :jS2 — 401. 
Anytüs  10(1,  wendet  zuerst  Bestechung  an  172  u.  A.   1. 

Amphiktyonien  :i-öH  fF.  die  delphische   Amphiktyonie   5.52  u.  A.   1  ff. 

Amphipolis,  Gründung  desselben  verhindert  240  und  247;  von  Hagnon 
gegründet  250:  Eroberung  durch  Brasidas  264;  Schlacht  bei  Amphi- 
polis 208. 

Amprakioten,  Zag  gegen  Arges  Amphilochikon  62  ff.  Schlacht  bei 
Olpai  64.  Ueberfall  bei  Idomene  65 :  Verrath  des  Menedaios  Spartaner 
64  ;   Bündniss  mit  den  Akarnanen  u.  Amphilochiern  66. 

i^myntas  I.,  bietet  den  Peisistratiden  Anthemus  an  245;  unter  persischer 
Herrschaft  245. 

Amyntas,  Sohn  des  Philippos,  Kronprätendent,  von  Sitalkes  unterstützt 
259  ff.  u.  261. 

Amyntas,  Sohn  des  Alexandros,  249  u.  A.  3. 

Amyrtaios,  von  Athen  unterstützt  4S. 

Apokleten  =  Synedren?  Behörde  des  aitolischen  Bundes  374  u.  A.  2.  577. 

Apollodoros,  Mörder  des  Phr}Tiichos.    193  A.  1. 

Ära  tos  579  ff. 

Archelaos,  bemächtigt  sich  des  makedonischen  Throns  271  u.  A.   1. 

Archeptolemos,  Oligarch  190  u.  A.  6,  hingerichtet  194. 

Archestratos  200,  A.  3. 

Archidamos  406,  451. 

Archontat  allen  Athenern  zugänglich  160  u.  A.  4. 

Areopag,  in  seiner  Macht  gebrochen  44. 

Arg  OS  und  Korinth  zu  einer  Stadt  verbunden  347. 

Argos  Amphilochikon,  Gebietsgrenze  63  A.  1.  Verhältniss  zu  den 
Akarnanen  03  A.  2 ;  bedroht  von  Eurjlochos  u.  den  Amprakioten  62  ff. ; 
Bündniss  mit  Amprakia  66. 

Ariphron,  Vormund  des  Alkibiades  9S  u.  A.  2. 

Aristarchos,  athenischer  Oligarch  191,  überliefert  Oinoe  den  Boiotiern 
194  u.  A.  5. 

Aristeides  macht  das  Archontat  allen  Athenern  zugänglich  160  u.  A.  4, 
entdeckt  eine  oligarchische  Verschwörung  162. 

Aristeus  von  Korinth,  Commandant  in  Potidaia  256  u.  257. 

Aristo  dikos,   Mörder  des  Ephialtes  166. 

Aristoteles,  Oligarch  in  Athen  190,  i94;  Begleiter  des  Lvsandros  196 
A.  3.  =  ; 

Arkadier,  Bund  der,  351  ff.,  324,  561,  296  ff. 

Arrhabaios  s.  Arrhibaios. 

Arrhibaios,  Fürst  von  Lynkos  24S  u.  A.  1:  empört  sich  gegen  Make- 
donien 261,  262,  Bündniss  mit  Brasidas  263;  Einfall  des  Brasidas 
265  ff'. 

Artaxerxes  Longimanus,  Regierungsantritt  2S  A.  2. 

Astyochos,  lakedaimonischer  Admiral  1S6. 

Athamanen,  Bund  der,  334  u.  A.   1;   554. 

Athen,  Hegemonie  14.  Bundesorganisation  15,  367  ff.;  Theten  zu  den 
Aemtern  zugelassen  19:  Naxos  u.  Karjstos  unterworfen  2S  u.  A.  1; 
unterstützt  Sparta  im  3.  messenischen  Krieg  41  ff.,  41  A.  1;  Bünd- 
niss mit  Argos  u.  Thessalien  42  u.  A.  2.  Expedition  nach  Aegypten  43  : 
Krieg  mit  Sparta  46  ff'.  Schlacht  bei  Tanagra  47  ;  Expedition  nach 
Kypros  4S  ;  unterstützt  Amyrtaios  4S.  Bündniss  mit  Kerkyra  öS  u.  A.  2  ; 
1.  Expedition  nach  Sicilien  5S  u.  A.  3;  Krieg  mit  den  Altoliern  6u  ff'. 
Kythera  erobert  74,  Pylos  besetzt  6S,  ebenso  Xisaia  76;  ebenso  Anak- 
torion  79;  Angriff  auf  Boiotien,  Schlacht  bei  Delion  Sl  u.  S2.  Stellung 
vor  dem  peloponnesischen  Krieg  90  ff.;  oligarchische  Revolution  116. 
Friedensantrag  Spartas  zurückgewiesen  119  u.  A.  2.  Sturz  der  Demo- 
kratie 1S7  ff'.  Einsetzung  der  40U :  ISS  u.  A.  3,  1S9,  206.  der  5000: 
IsS,   194  u.   A.  1,  2U6,  .503  ff.     Sturz  der  400:   194,   195  A.  2.     Prozess 


Register.  gQY 

gegen  die  Feldherrn  198  u.  A.  1;  216;  Belagerung  von  Athen  138, 
199  tf.  ;  5  Ephoren  20U,  508  ff.  Friedensbedingungen  mit  Sparta201  ff. 
die  30  Tyrannen  202  ff.  Beschränkung  der  Bürger  auf  3000:  203  u.  A.  1, 
ob  die  ßule  erloost?  209,  Nomotheten  210  ff.,  231  ff.,  506  ff.;  die  SOOÖ 
u.  örrooot  or/.a  -apsyovxat  220  ff.  ;  über  Besoldung  der  Aemter  227, 
505  ff.  Ansiedelungen  in  Makedonien  246  u.  247.  Abfall  von  Potidaia 
254  ff.  Krieg  mit  Makedonien  255  ff.  Synoikismos  316  ff.  Phylenein= 
theilung  31 S. 
Athenai  Diades  auf  Euboia  593,  601. 


B. 

Beroia,  vergeblich  von  den  Athenern  zu  erobern  gesucht  256  u.  A.  1. 

Bestechung  der  Richter  172. 

Boges,  Commandant  von  Eion  15. 

Boiotarchen  278.  288.  342  ff. 

Boiotien,  Bundeseinrichtung  341  ff.,  554  ff.,  288  ff. 

Boiotier  in  Theben  289.   344  A.  3.  345.  559. 

Brasidas,    erster    Zug    gegen    Arrhibaios   262  ff.;      erobert    Amphipolis 

264  ;    zweiter  Zug  gegen  Arrhibaios  265  ff.    Schlacht  bei  Amphipolis  268. 
Bundesgenossen  der  Athener:    auch   die  j^oteXsi;  stellen  Landtruppen 

27  A.  1. 
Bundesstaat  545;  Vortheile  und  Nachtheile  547. 
Byzanz  von  Alkibiades  erobert  120. 

0. 

C  hairede  mos    Hermokopiden-Prozess)   181. 

Chalkidier  in  Thrake  255,  257,  259  fi". 

Chalkis  auf  Euboia  589. 

Charikles,   Gegner  des  Alkibiades  176.    177  u.   180. 

Charon,  Thebaner  273,  280. 

Chrysopolis,  Zollstätte  von  Alkibiades  eingerichtet  120  u.  A.   1. 

Curtius,  Griechische  Geschichte  524  ff. 


D. 

Damiorgen,  achaiische  Behöi'de  378  A.   1,  3;  570  ff. 

Dekadarchien,  resp.  Dekarchien,  von  Lysandros  eingerichtet  138,  196, 
199,  abgeschafft  143  u.  A.  1;  im  Peloponnes  nicht  existirend  296  A.  2. 

Dekeleia  von  den  Spartanern  befestigt  113. 

Delion,   Schlacht  bei,  81  u.  82. 

Demonides  von  Oie  163  u.  A.   6. 

Demo p hantos,  Psephisma  des,  209,  213,  235. 

Demosthenes  55,  sein  Vater  56,  Demos  56;  führt  die  Flotte  nach 
Akarnanien  59 ;  Gefecht  bei  Ellomenon  59 ;  verwüstet  Leukas  59  ;  Zug 
nach  Aitolien  60,  61  ff.,  Niederlage  durch  die  Aitoler  62,  rettet 
Naupaktos  62;  desgl.  Argos  Amphilochikon,  Schlacht  bei  Olpai  63  ff.  ; 
Ueberfall  der  Amprakioten  64;  Gefecht  bei  Idomene  65.  Befestigung 
von  Pylos  68;  in  Pylos  belagert  69;  Angriff  auf  Nisaia  75;  Angriff 
auf  Boiotien  79  ff.   Verdienste  und  Charakter  85,  86. 

Derdas,  Fürst  der  Elimioten  247  u.  A.  3. 

Diakrier,  Partei  der,  394,  auf  Euboia  591. 

Diakritos   (Hermokopiden-Prozess)   181. 

Diognetos,  Ankläger  des  Alkibiades  177. 


ßQg  Register. 


Diokleides  'Hermokopidenprozess    ISO. 

Dion  auf  Euboia  591.  601  in  Makedonien  252. 

Dolo  per,   Seeräuber  auf  Skyros  16. 

Dorische  Hexapolis,  Bundesverhältnigse  324. 

Dorische  Tetrapolis  334  u.  A.  2. 

Drakontides,  beantragt  Einsetzung  der  Dreissig  202. 

Duncker,  Griechische  Geschichte  520  tf. 


E. 

Edessa,  makedonisches  Fürstenhaus  von  Aigai  oder  Edessa  244  ff. 

Eetioneia,  Castell  im  Peiraieus  192;  zerstört  193. 

Eion  von  Kimon  erobert  15  u.  A.   1. 

Eleios,   Sohn  des  Kimon  21. 

Elis,  Unterthanenverhältnisse  322. 

Elpinike,  Halbschwester  des  Kimon  S,  Gattin  des  Kallias  S  A.  1  u.  9. 
Ehe  mit  Kimon  9.  Vermittlerin  zwischen  Kimon  und  Perikles?  47  A.  2 
u.  4S  A.  1. 

Epameinondas,  Geschlecht,  Jugend,  Charakter  2S1  ff.;  Verhältniss 
zu  Pelopidas  2S6;  Schlacht  bei  Leuktra  294  ff.  Einfälle  im  Pelo- 
ponnesos  297  ;  Zug  gegen  Sparta  29S,  299,  304  ;  Gründung  von  Megalo- 
polis  296,  von  Messene  299  ;   angeklagt  300  ;  bei  Mantineia  304.  Tod  305. 

Epariten,  Kerntruppe  der  Arkadier  354  u.  A.  3. 

Epeiros,  Bundesverhältnisse  333,  554. 

Ephialtes  39,   163,   166,  ermordet  46. 

Ep hören,  die  5  Ephoren  in  Athen,  200  u.  A.   1;   SOS  ff. 

Epikrates  ,  Verurtheilung  25  ;  zur  Hetairie  des  Themistokles  gehörig?  161. 

Eratosthenes  unter  den  5  Ephoren  in  Athen  200. 

Eretria  auf  Euboia,  Stadtgebiet,  590,  591. 

ETaipta  u.  etaipEia,  ob  verschieden  155  A.  3. 

Efeonikos  500  ff. 

Euboia,  Abfall  von  Athen  193;  Bundesverhältnisse  333  u.  A.  8. 

Eukrates,  ob  hingerichtet?  202  x\.   1. 

Euphiletos  {Hermokopiden-ProzesSj    181  u.  A.  2  u.  4. 

Eurylochos,  spartanischer  Feldherr,  Angriff  auf  Naupaktos  62,  aufAkar- 
nanien  u.  Argos  Amphilochikön  62  ff. ;  besiegt  u.  getödtet  64. 

Eurymedon,  Schlacht  am,  29. 

Euthippos  von  Anaphlystos,  Freund  des  Kimon  162  A.  3;   165. 

G. 

Gillies,  John,  Griechische  Geschichte  512. 

Goldsmith,  Oliver,  Griechische  Geschichte  512. 

Gorgidas,  Thebanischer  Feldherr  290. 

■CpafJ.[J.aT£u  ;  des  aitolischen  Bundes  375,    des  achaiischen  378;  in  Akar- 

nanien  333. 
Grossstaat,  Yortheile  u.  Nachtheile  543. 
Grote.  George,   Griechische  Geschichte  513  ff. 
Gylippos  nach  Sicilien  geschickt  113. 

H. 

Hagnon,    Probule    1S3    A.    4,   190;     Hagnon    Gründer    von    Amphipolis 

250;   259. 
Haliartos,  Schlacht  bei  148. 


Register.  ß()9 

Hegesipyle,  Mutter  Kimons  5. 

Hellanodiken  362. 

Heloten  321. 

Herakleia  fPontisches),   13  A.  3. 

Hermokopidenpro  zess  111  ff.,   177  ff. 

Hermon  193  A.  2. 

Hetairie  des  Kimon    162,     des  Themistokles  161,    des  Perikles  163  ff., 

des  Lysandros  144,  des  Thukydides  166,  des  Alkibiades  174,  des  Phaiax 

175,    des  Androkles  176  A.   1,    des  Euphiletos  181  ;    des  Nikias  170  u. 

A.   1—7. 
Hipparch  des  achaiischen  Bundes   378  u.  A.  1,    des  aitolischen  375,  in 

Epeiros  333  A.  6. 
Hippare te,  Gattin  des  Alkibiade»  104  u.  A.  2. 
Hippokieides  3,   Philaide  4  A.   1. 
Hippokrates,    Feldherr  der  Athener  57,    seine   Abstammung   57  A.  2, 

thätig  bei  der  Eroberung  von  Nisaia  75  ff.    Angriff  auf  Boiotien  79  ff.  ; 

fällt  bei  Delion  82. 
Hippokrates  von  Kos  Arzt,   am  Hofe  des  Perdikkas  270  u.  A.  2. 
Hipponikos  104. 

Hydros    Syedra?    =  Idyros?  30  A.   1. 
Hyperakrier  394. 

Hyperbolos,  exostrakisirt  108  ff.   109  u.  A.  1. 
HypoStrategen  des  achaiischen  Bundes  377  A.  4.  495. 

I. 

las  OS  u.  Kedreia  nicht  die  gleiche  Stadt  131  A.  2. 

Idomene,  Schlacht  bei  65. 

Idyros  s.  Hydros. 

lolaos,  Eeiteroberst  in  Potidaia  256. 

lonier  in  Asien,  Bundesverhältnisse  323. 

I  sagoras  157,   158,  397. 

Ischagoras,  lakedaimonischer  Feldherr  267. 

K. 

Kallaischros,  Oligarch  190  u.  A.   1. 

Kallias,  Gemahl  der  Elpinike,  8. 

Kallias,  Aaxvco-Xo'jxo;  8  A.   1. 

Kallikratidas  136,   137. 

Kallixenos,  Ankläger  der  10  athenischen  Feldherrn  198  u.  A.   1. 

Kalydon,  Achaia  einverleibt  348. 

Ka nethos  594. 

Kannonos,  Psephisma  desselben  213  A.  1  u.  226. 

Karababa  s.  Kanethos. 

Karystos  von  Athen  unterworfen  28  u.  A.  1.  Lage  591. 

Kedreia,  s.  lasos. 

Kenaion  593,  6ül. 

Kereus,  Bach  in  Euboia  592. 

Kerinthos    Stadt  in  Euboia),  Lage  593,  597,  Zerstörung  598  ff. 

Kerkyra,  Bündniss  mit  Athen  58  u.  A.  2. 

Kimon  Koalemos,  Grossvater  Kimons  4,  7. 

Kimon,  Abstammung  3;  Datum  seiner  Geburt  5  A.  2;  Jugend  und 
Jugendbildung  6 ;  Schuldhaft  u.  Atimie  7  ;  Anschluss  an  Themistokles' 
Politik  10;  Anregung  zum  Kampf  gegen  die  Perser  12;  Führer  der 
attischen  Flotte  12;   Gesandter  nach  Sparta  12  A.  2;  erobert  Eion  15; 

Vi  seh  er,  Schriften  I.  39 


^  j  (j  Register. 

erobert  Skyros  16;  Siegesehren  18;  Rivalität  mit  Themistokles  20  flF. ; 
innere  u.  äussere  Politik  21.  22,  161  ;  Verhältniss  zu  Aristeides  20  A.  1  ; 
.seine  Söhne  2 1  ;  Betheiligung  an  Themistokles  Hochverrathsprozes-S  25  ; 
Verfahren  gegen  Epikrates  25;  alleiniger  Leiter  der  attischen  Politik 
26  ff.  ;  Krieg  gegen  die  Perser ,  Schlacht  am  Eurj^medon  29  ff.  Sieg 
bei  Hydros  'öO  u.  A.  1.  Preisrichter  zwischen  Aeschylos  u.  Sophokles 
31;  Feldzug  nach  dem  Chersonnes  31  u.  32;  Freigebigkeit  32  u.  A.  1  ; 
Verschönerung  u.  Befestigung  der  Stadt,  Zeitpunkt  derselben  33  ff. 
Thasischer  Krieg  34,  Zeit  desselben  34  u.  A.  1;  Prozess  desselben 
Avegen  Bestechung  35  ff.,  16:i;  wegen  Verfassungänderung  auf  Paros  35 
A.  1  ff.  Zeitpunkt  seiner  Verbannung  und  Zurückberufung  42  A.  3. 
Vertheidigung  des  Areopags  44  fi'.,  ostrakisirt  46  u.  45  A.  2:  seine 
Hetairie,  ob  Verräther?  46  A.  1,  162  ff.  Zurückberufung  47:  Tod  48. 
Verdienste  49  ff.  In  Kition  als  Heros  verehrt  49  A.  1.  Grabstätte 
49  A.  1.     Stammtafel  51 ;  bei  Tanagra  165  ff. 

Kimonischer  Frieden  (sogen.;   31  u.  A.   1. 

Kition  belagert  48. 

Kl  einlas,  Vater  des  Alkibiades  97  u.  A.  1  u.  Stammtafel  152. 

Kleinias,  Bruder  des  Alkibiades  98  u.  Stammtafel  152. 

Kleinstaat,   Vortheile  u.  Nachtheile  desselben  538  ff.;  540. 

Kleisthenes,  Phyleneirtheilung  3] 8;  seine  Partei  397  ff.;   157. 

Kleis thenes,   Tyrann  von  Sikyon  388. 

Kleombrotos  279;  gegen  Theben  293;  fällt  bei  Leuktra  295. 

Kleomenes  besetzt  Athen  158;   398. 

Kleon  55;  bei  Sphakteria  71  If.  Staatsleiter  169;  in  Makedonien  267  ff. 

Kleon  von  Halikarnass,  Rhetor  verfasst  eine  Rede  für  Lvsandros  148 
u.   149. 

Kleon  y  mos  176. 

Kleophon,  Demagoge  in  Athen  201  u.  A.  3  u.  6;  hintertreibt  den  Frie- 
den zwischen  Athen  u.   Sparta  119. 

y.  otvöv  Ausdruck  für  Bundesstaat  323  A.   1. 

■/.  (uar,,  staatsrechtlicher  Begriff  312  u.  A.   2. 

Korinth,  Vereinigung  mit  Argos  347  u.  A.   1. 

Koroneia,   Schlacht  bei,   277. 

Kor  tum,  Griechische  Geschichte  519  ff. 

Koryphasion,  Verhältniss  zu  Pylos  67  A.    1. 

Kritias,  Oligarch  190  u.  A.  1  u.'  5;  195  A.  1;  unter  den  5  athenischen 
Ephoren  200  u.  A.   1. 

Kreusis,  von  Kleombrotos  erobert  293. 

Kynossema,  Gefecht  bei,  119. 

Kyros,  verbündet  mit  Lysandros  135  ff.  u.   136  A.   1. 

Kyrrhos,   =  Paläo-Castro  249  A.   2. 

Kythera,  von  den  Athenern  erobert  74. 

Kyzikos,  Schlacht  bei  119,  Eroberung  von,   119. 


L. 

Tachartos,  Korinther  42  A.   1. 

Lac  hes  55. 

Lakedaimon,  Art  seiner  Hegemonie  361  ff.,  verliert  die  Hegemonie  14, 
conservative  Partei  gegen  die  Seezüge  14  A.  2.  Schlacht  bei  Tanagra  47. 
Stellung  vor  dem  peloponnesischen  Kriege  90  ff.  Belagerung  von  Pylos 
69  ff.  Vernichtung  der  Flotte  vor  Pylos  70.  Subsidienvertrag  mit  Tissa- 
phernes  113.  Gylippos  nach  Sicilien  geschickt  113.  Friedensantrag  an 
Athen  119.  Krieg  mit  Boiotien  14^,  293  ff.  Politik  gegen  Theben  276  ff. 
Besetzung  der  Kadmeia  278.  Abfall  Messeniens  299.  Staatsverfas- 
sung o'JO. 


Register.  611 

Lakedaimonios,  Sohn  des  Kimon  21. 

Lakiaden,  von  Kimon  bewirthet  32  A.   1. 

Lamachos  55. 

Lelantischer  Krieg  600. 

Leobotes  24  A.  1.  Ankläger  des  Themistokles  25. 

Leokrates  164. 

Leontiades  273. 

Leotychides,  Sohn  des  Agis  144. 

Lenkt ra,  Schlacht,  294  fF. 

Lithada  8.  Kenaion. 

X  oip.6<;  od.  Xi[xo;  im  Orakel  17  A.   1. 

Lokrer,  Bunde3verhältnisse_  331  ff.  319. 

Loos,  Bedeutung  desselben  im  Staate  158. 

Lydia  das,  Tyrann  von  Megalopolis  5S0. 

Lydos  (Hermokopiden-ProzesS;   178  u.  A.  4. 

Lykier,  Bundesverfassung  562  ff.;  377,  1. 

Lykomedes  aus  Mantineia  290,  30 1,  351  ft\,  352  A.   1. 

Lvsandros  125,  128,  Geburt  128  A.  1.  Abstammung  128  u,  A.  2;  p.o,>ac 
128  u.  129  A.  1;  Charakter  130  ff.;  Demokratenmord  in  Milet  131 
u  A  2  196  ff.,  197  A.  1;  oligarchische  Clubs  134  u.  A.  2  ff.  197 
A  2  Erstes  öffentliches  Auftreten  135  u.  A.  2.  Verbindung  mit  Kyros 
135  u.  136-  Schlacht  bei  Notion  136;  i~iizolfk  137;  Schlacht  bei 
Ai"-ospotam'oi  137  u.  138  u.  A.  1.  Fall  Athens  138;  Samos  erobert  138; 
Verfahren  gegen  die  Sestier  138;  heroische  Ehren  139  u.  A.  1  ;  seme 
Thätigkeit  zwischen  der  Schlacht  bei  Aigospotamoi  und  der  Eroberung 
von  Athen  139  A.  2;  Opposition  in  Sparta  141  ff'.  Reise  zum  Ammons- 
orakel  142  u.  A.  1;  sein  Sturz  142  ff'.;  bringt  Agesilaos  auf  den 
Thron  144  u  A.  3 ;  asiatischer  Feldzug  144  ff.  Rückkehr  nach  Spsrta  146; 
Revolutions-Pläne  146  ff.  144  A.  2;  Tod  148;  Einrichtung  der  Deka- 
darchien  13S,  143  u.  A.  1,  196,  199. 
Lysis,  in  Theben,  Lehrer  des  Epameinondas  282. 
Lysistratos  (Hermokopidenprozess)    181. 

M. 

Makedonien,  Gränzen,  Landschaften  und  Bevölkerung  242  ff.  Fürsten- 
haus von  Edessa  oder  Aigai  244  ff.,  unter  persischer  Herrschatt  24o  ; 
athenische  Ansiedelungen  246  ff.,  Heeresbestandtheile  252,  feste  Städte 
252  ff.  Einkünfte  253  ;  Krieg  mit  Athen  255  ff'. 

Makistos,  Berg  auf  Euboia  603. 

LiäXiaTa,  Bedeutung  424  ff. 

Mantineia,  Dioikismos  276;  Belagerung  und  Gefecht  286  u.  A.  ;  Wie- 
dervereinigung zu  einer  Stadt  296;  Schlacht  bei  Mantineia  304  u.  30d. 
Widerstand  gegen  Centralisation  355. 

Markos  von  Keryneia,  Stifter  des  achaiischen  Bundes  0.9  _ 

Me<-akles  386,  lebenslänglicher  Archon  389,  Archon  von  612  .  389  ;  Freier 
der  Agariste  38S.  Zeitgenos.se  des  Peisistratos  u.  Kroisos  390  u.  o96. 

Megalopolis,  Gründung_  296,  351  ff.;  356,  561. 

Megara,  innere  Wirren  75. 

Melanippides,  Dithyrambendichter  270  u.  A.   2. 

Melon,  Thebaner  273,  280.  ,     ,.      .  ,•  ,  -n 

Menedaios,  spartanischer  Feldherr,  verräth  die  Amprakioten  an  Demo- 

Mes\en?en.'ein    Staat,    356,  561;    dritter  messenischer  Krieg  41  u.  41 
*     A.   1  u.  2.  Unabhängigkeit  erklärt  299,  die  Stadt  Messene  gegründet  .99. 
Methone   fin  Argolis)  von  Nikias  besetzt  74 
■     Miltiades,  Stifter  des  thrakischen  Fürstenthums  4. 

39* 


Q\2  Register. 

Miltiades,  Vater  Kimons  4. 

Mindaros,  spartanischer  Flottenführer  118. 

Minoa,  erobert  von  Nikias  öS. 

Mitford,  AVilliam,  griechische  Geschichte  512. 

Museion  in  Athen  410  if. 

Mykene,  Hegemonie  der  Atreiden  in  Mykene  360  ff. 

(Auptot,  Arkadische  Volksgemeinde  353  u.  A.  3 ;  355  A.  3;  356. 

Myronides,  attischer  Stratege  164,  22n. 


N. 

Naxos,  von  Athen  unterworfen  28. 

Neleus,  Bach  in  Euboia  592. 

Isiebuhr,  Vorlesungen  über  alte  Geschichte  518. 

Nikias  55.  57;  erobert  Minoa  58;  Flottencommandant  gegen  Melos  59, 
besetzt  Methone  ;in  Argolisj  74,  erobert  Kvthera  74,  Frieden  des  Nikias 
83;    Gegner  des  Alkibiades  108  ff.,    Gegner  Kleons  170.  seine Hetairie  170. 

Nikomachos  Nomothete  211  ff.;  233  u.  A.   1. 

Nisaia  von  den  Athenern  erobert  76. 

Nomotheten  210  ff.;   231  ff.;  506  ff. 

Notion,   Gefecht  125  u.   A.   1.   136. 

Nymphodoros  von  Abdera  258. 

0. 

"üa  u.  O'i'r,  oder  "Or]  163  A.  6. 

Oitaier,  Bund  334  u.  A.  1. 

Oligar chen-Clubs  des  Lysandros  134  u.  A.  2  ff.  ;  oligarchische  Ver- 
schwörung gegen  die  athenische  Demokratie  161  u.  162,  Führer  der 
Oligarchen  l'JO  u.  191  ;  gestürzt  194  ff.,    Zeitpunkt  des  Sturzes  195  A.  2. 

Olpai,   Sieg  des  Demosthenes  über  Eurylochos  63  ff. 

Olynth.  Auflösung  seines  Staatsverbandes  276  u.  276  A.  2  u.  279;  Bun- 
desstaat 348  ff.,  5dO.   Synoikismos  der  Chalkidier  in  OljTith  255. 

Opuntische  Lokrer,  Staatseinrichtung  319. 

Orobiai  auf  Euboia  593,  601. 

Ostrakismos  lu9  A.   1. 


P. 

Faches  55. 

Pagondas.  Commandant  der  Thebaner  bei  Delion  81  u.   82. 

Paläo- Castro  =  Kyrrhos  249  A.  2;  =  Sphakteria  ;?;   69  A.   1. 

Pammenes,  thebanischer  Feldherr  286,  290,  297. 

Panaitios  181  u.  A.  3. 

Paralier  394. 

Pausanias   erobert  Byzanz    13;    Conflikt    mit    den    Bundesgenossen    13; 

bringt  Sparta  um  die  Hegemonie  14. 
Pausanias,  König,   Gegner  des  Lvsandros  140,   142. 
Pedieer  394. 
Peisandros,    Ankläger  des  Alkibiades    176  ff.;    180;    186  ff.;     194,    ob 

hingerichtet?  194  A.   3. 
Peisistratos  396. 
Pelopidas  280,  290,  fällt  302. 
Peloponnesischer  Krieg,  zur  Chronologie  der  letzten  Jahre  desselben 

12u  A.  2  u.  3. 


Register.  Q13 

Peltasten,  erstes  Auftreten  Sl  u.  A.   1. 

Perdikkas  II.,   König  von    Makedonien   247;    Heeresbestandtheile  252; 

Politik    gegenüber    Athen     und    Sparta    255  ff.  ;     Hippokrates ,     Arzt, 

Freund  des  Perdikkas  270.  Melanippides  Dithyrambendichter  270. 
Perikles,   Parteiführer  gegen  Kimon  39,   163;    des  Mordes   an  Ephialtes 

beschuldigt  46;  beantragt  Zurückberufung  des  Kimon  47,  Kriegssystem 

53  ff.    Vormund  des  Alkibiades  98  u.  A.   1;      seine    Hetairie   39,   163; 

Anklage  und  Verurth eilung  168. 
Perioeken  320  ff. 
Phaiax  Führer  einer  Hetairie  175. 
Philaiden  3  u.  A.   2.  Gegner  des  Peisistratos  4. 
Philippos,  Bruder  des  Perdikkas  249;  258. 
Philolaos  in  Theben  282. 
Philopoimen  566,   568,  571,  580,  584. 
Phlius,  Verfassungsänderung  276. 
Phoibidas  278. 

Phoinike  Bundeshauptstadt  von  Epeiros  554,  333  u.  A.  6  u.  7. 
Ph okier,    Stellung   zu    Sparta   im   pel-^ponnesischen  Kriege   60  u.  A.   1. 

Bundesverhältnisse  328  ff. 
Phormion  55,  vor  Potidaia  256  ff.;  in  Akarnanien  57. 
Phrynichos  116;  Gegner  des  Alkibiades,  Versuch  des  Verraths  186,  190; 

Gesandter  nach  Sparta  192;  ermordet  193  u.  A.  1. 
Phyleneintheilung  in  Attika  318. 
Pleistoanax,  König,  von  Perikles  bestochen  167. 
Pnyx  410  ff. 

Polemarchen  in  Theben  344,  288;  in  Thessalien  339  A.  3. 
TToXt;,  Begriff  312  ff. 

Polymnis,  Vater  des  Epameinondas  281  u.  282. 
Potidaia,    Abfall  von   Athen   254   u.    255,    Belagerung   255  ff.;    erobert 

259,  Gründung  601. 
Probulen  in  Athen  115  A.   1;   183  u.  A.  4;  206. 
Pronomos,  Lehrer  des  Alkibiades  auf  der  Flöte  (?)  99  A.  4. 
Prothoos  293. 

Pulytion  (Mysterienentweihung)   178  ff.  182. 
Pydna,  das  erste  zerstört,  das  zweite  =  Kitron  253  A.  1. 
Pylos,  Verhältniss  zu  Koryphasion  67  A.   1,    von  den  Athenern  befestigt 

68,  belagert  von  den  Lakedaimoniern  69  ff. ,  Ausfallsburg  gegen  Lake- 

daimon  73. 
Pythagoreer  zu  Theben  282  ff. 
Pythonikos  (Hermokopidenprocess)   178. 


s. 

Salamis  (auf  Kypros),  Schlacht  bei  49. 

Salynthios,  Fürst  der  Agraier,  Bundesgenosse  Spartas  65 ;  Anschluss  an 
die  attische  Symmachie  80. 

Samos,  Aufstand  gegen  die  01igarchen_  184. 

Schmitz,  Leonhard,  griechische  Geschichte  532  u.  533. 

Schuldhaft  auf  die  Kinder  sich  vererbend  7  A.   1. 

Selybria  von  Alkibiades  erobert  118  A.  3  u.  120. 

Seuthes,  Neffe  des  Sitalkes  260;  König  der  Odrysen  261. 

Sicilien,  erste  athenische  Expedition  58  u.  A.  3,  zweite  athenische  Ex- 
pedition 110  Ö". 

Sikyon,  Eintritt  in  den  achaiischen  Bund  376. 

Sitalkes,  Fürst  der  Odrysen  251,  Bundesgenosse  Athens  257;  Einfall  in 
Makedonien  259  ff'. 

Skione,  Abfall  von  Athen  264,  Bestrafung  268. 


614 


Register. 


Skopas  thessalischer  Tagos  336,  339. 

Skyros  erobert  von  Kimon  10,  von  Dolopern  bewohnt  16,  Seeräuber  16, 

attische, Kleruchie  16.     Grabstätte  des    Theseus  17  u.  A.  2.     Zeit  der 

Eroberung  17  A.  2. 
Sokrates,  Buleute  20S  ff.,    zu  Perdikkas  eingeladen   ;?)  270;  in  der  Ko- 
mödie  4üS  ff.;     Verhältniss  zu  Alkibiades  100  ff.;    100  A.  2,102  A.   1. 
Sparta  s.  Lakedaimon.     Eroberung^vers  .eh   des  Epameinondas  298,  304. 

Art  seiner  Volksversammlung  404  ff. 
Spartiaten  320. 

Spartolos,  Niederlage  der  Athener  bei  259. 
Sphakteria  69  ff.,  Spartaner  in  Sphakteria  eingeschlossen  71  ff. 
Sphodrias,  Anschlag  auf  Athen  2bS. 
Staatsform  in  Griechenland.    Sj-noikismos  314  ff.,     Unterordnung   unter 

die  Hauptstadt  319  ff. 
Stesagoras  4,  51. 

Ste  simbrotos  von  Thasos  Lügenhaftigkeit  26  A.  2. 
Sthenelaidas  406,  451. 
Strategen  in  Thessalien  339  A.  3,  in  Phokis  329  ff.,  in  Akarnanien  333 

A.   1  ?  in  Epeiros  333  A.  6.  In  Arkadien  354  u.  A.  2,   in  Aitolien  332 

A.  5,  374  ff.  577,  in  Achaia  377  u.  A.  3,  570  ff. 
Strepsa  256  A.    1. 

Strombichides,  von  den  Oligarchen  angeklagt  202  u.  A.   1. 
Styra  auf  Euboia  591. 
Syedra  s.  Hydros. 

Synedroi,  Behörde  des  aitolischen  Bundes  374  A.  2;  577. 
Synoikismos,  Begriff  314  ff.,  in  Athen  316  ff.,    im  Opuntischen  Lokris 

319,  Versuch  eines  Synoikismos  in  lonien  319. 
o-jvT£/.£ia,   Begriff  341  A.  4.  492  ff. 


T. 

Tagos  in  Thessalien  338  u.  A.  2  ff. 

Tanagra,  Schlacht  47;   Schlacht  59,  165. 

Tegyrai,  Sieg  der  Boiotier  290. 

Teres,  Fürst  der  Odrysen  251  u.  257. 

Teukros    Hermokopiden    17S  A.  4.  ^ 

Thaies,  Versuch  eines  Synoikismos  in  lonien  319. 

Thasischer  Krieg  34,  Zeitpunkt  34  A.   1. 

Theben,  Krieg  mit  Sparta  14S;  befreit  von  den  Tyrannen  273  ff.  Stel- 
lung zu  Sparta  276  ff.  Stellung  zu  Boiotien  2SS  ff.  ;  Bruch  und  Krieg 
mit  Sparta  291  ff.  Bundeshauptstadt  von  Boiotien  344  ff. 

Themistokles,  Vorschlag,  die  griechische  Hotte  zu  verbrennen  19  u. 
A.  1.  Rivalität  mit  Kimon  20  ff.  Politik  20,  21  ff.  Laster  23  u.A.  1, 
ostrakisirt  24  ;  wann?24A.  1.  Hochverrathsprocess  25,  seine  Hetairie  161. 

Theodoros  (Herniokopidenprocess)   182. 

Theodote  s.  Timandra. 

Theramenes,  190,  192;  beantragt  die  Hinrichtung  des  Antiphon  u. 
Archeptolemos  194;  oligarchische  Umtriebe  195.  Ankläger  der  10  Feld- 
herrn 198  u.  A.  1  ;  Gesandter  nach  Sparta  u.  Verrath  201;  Einsetzung 
der  30  TjTannen  202  ff. 

Theseion  iS  u.  A.  1. 

Theseus'  Gebeine,  zurückgeführt  von  Skyros  17  A.  2;  Sj-noikismos  von 
Athen  316  ff. 

Thessalien,  Bund  von  335  ff.,  554;  Unterthanen  der  Thessaler  336  ff. 

Thessalos,  Sohn  des  Kimon  21;  Ankläger  des  Alkibiades  182. 

Thirlwall,  Connop,  Griechische  Geschichte  513. 

Thrasybulos  von  Kalydon,  Mörder  des  Phrynichos,    193  A.   1. 


Register.  615 

Thrasybulos  von  Steiria  277. 

Thukydides,    Sohn    des    Melesias    166  ff.;      Gegner    des    Perikles    166, 

verbannt  167;    Zeitpunkt   der   Verbannung  167  A.  3;    Mitfeldherr  des 

Perikles  16S. 
Timaia,  Frau  des  Agis,  Verhältniss  mit  Alkibiades  114  A.  2. 
Timandra,  Gefährtin  des  Alkibiades  127,  nach  Andern  Theodote. 
Tisamenos,  Psephisma  211,  212. 

Tissaphernes,  hubsidien- Vertrag  mit  Sparta  113;  seine  Politik  115  ff, 
Tithraustes,  persischer  Feldherr  29. 

Tydeus  verräth  die  athenische  Flotte  bei  Aigospotamoi  198  u.   199. 
Tyrannen,  die  30,  Einsetzung  2ü2  ff. 

X. 

Xenophon,  Urtheil  über  Alkibiades  101  u.  A.   1. 
Xerochori-Ebene  auf  Euboia  593. 


z. 

Zopyros,  Pädagoge  des  Alkibiades  99. 


I 


Druck  von  Ereitkopf  ifc  Härtel  in  Leipzig. 


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