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Full text of "Leonardo da Vinci als Ingenieur and Philosoph : ein Beitrag zur Geschichte der Technik und der induktiven Wissenschaften"

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Brigham  Young  University 


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L5 


LEONARDO  DA  VINCI 


ALS 


INGENIEUR  UND  PHILOSOPH. 


EIN  BEITRAG  ZUR  GESCHICHTE 


TECHNIK  UND  DER  INDUKTIVEN  WISSENSCHAFTEN 


D'.  HERMANN   GROTHE. 


MIT  77  HOLZSCHNITTEN  UND  EINEK  FACSIMILIRTEN  TAFEL. 


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BERLIN, 
NICOLAISCHE  VERLAGS -BUCHHANDLUNG 

(s  tricker) 

1874. 


Das  Recht  der  Uebersetzung  in  fremde  Sprachen  ist  vorbehalten. 


HEROLD  B.  LEE  LI8RARY 

BRIGHAM  YOUNQ  UNIVERSITY 

PROVO.  UTAH 


Vorwort. 


Die  hiermit  der  Oeffentlichkeit  übergebene  Schrift  behandelt  die  hervorragende 
Stellung,  welche  dem  grofsen  Maler  Leonardo  da  Vinci  auf  den  Gebieten 
der  Naturwissenschaft  und  der  Technologie  gebührt  und  soll  als  ein  Beitrag  zur 
Geschichte  der  induktiven  Wissenschaften  und  der  Technik  angesehen  werden. 
Zur  Grundlage  dienten  mir  die  Notizen  und  Skizzen,  welche  ich  aus  den  Manuskripten 
des  Leonardo  entnahm.  Der  Beifall,  der  mir  bei  Gelegenheit  des  Vortrags 
hierüber  im  Verein  für  Gewerbefleifs  in  Preufsen  zu  Theil  wurde,  ermuthigte 
mich,  diese  Arbeit  —  die  erste,  welche  sich  bemüht,  die  vielseitige  Bedeutung 
des  grofsen  Mannes  für  die  Wissenschaft  und  ihre  Geschichte  zu  würdigen  und 
bekannter  zu  machen  —  in  den  Verhandlungen  des  Vereins  niederzulegen,  aus 
welcher  sie  nun  als  eine  selbstständige  Ausgabe  auch  für  das  gröfsere  Publikum 
vorliegt. 

Für  die  freundliche  Durchsicht  und  Kritik  beim  Druck  sage  ich  dem 
Herrn  Geh.  Regierungsrathe  Prof.  F.  Reuleaux  hier  gern  meinen  besonderen 
Dank. 

Berlin,  im  Juli  1874 

H.  Grothe. 


-~7 


Leonardo  da  Vinci 

als  Ingenieur  und  Philosoph. 


Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  induktiven  Wissenschaften  und  der  Technik  des  Maschinenwesens. 

(Periode  1450—1519.) 

Von  Dr.  Hermann  Grothe. 

Mit  77  Holzschnitten  und  1  autographirten  Tafel. 


I. 

Nachdem  ein  Jahrhundert  etwa  vergangen  ist  seit  jener  Epoche,  welche  uns  die 
grofsen  Schöpfungen  des  Maschinenwesens  geboren  hat,  ist  es  an  der  Zeit,  die  geschicht- 
lichen Daten  dieser  und  der  folgenden  Zeit  zu  sammeln  und  festzustellen,  damit  dem 
späteren  Forscher  die  Arbeit  erleichtert  und  der  Vergessenheit  so  viel  als  thunlich 
entrissen  werde.  Aber  diese  Geschichte  kann  nicht  ohne  Rückblick  auf  die 
früheren  Perioden  geschrieben  werden,  denn  die  Errungenschaften  der  neueren 
Zeit  stehen  mit  dem  Schaffen  der  vorhergehenden  Zeit  in  Verbindung;  häufig  fufsen  sie 
in  dem  vormals  Gefundenen  und  Versuchten,  und  das,  was  in  neuerer  Zeit  „gefunden" 
wurde  und  wird,  ist  nicht  immer  gefunden,  sondern  wiedergefunden,  indem  der  schaffende 
Geist  einzelner  Vorfahren  denselben  Gedanken,  der  Zeit  vorauseilend,  ausführte,  aber 
in  den  Verhältnissen  der  Zeit  keinen  fruchtbaren  Boden  haben  konnte  für  das  Produkt 
der  schöpferischen  Thätigkeit.  Zweierlei  sind  die  Kennzeichen  der  seitherigen  Erfindungen 
gewesen,  ob  sie  grofs  und  anerkannt  wurden,  oder  ob  sie  vergessen  blieben,  —  erstens, 
dafs  sie  etwas  Neues  enthielten  und  darboten,  was  das  Bestehende  an  Leistungsfähigkeit 
und  Nutzen  überragte,  —  zweitens,  dafs  sie  wohl  Neues  in  sich  bargen,  aber  Neues, 
dessen  Neuheit  entweder  nicht  leistungsfähiger  sich  zeigte  als  Bestehendes  für  gleichen 
Zweck,  oder  aber  so  aufserordentlich  viel  mehr  leistete  und  so  viel  Neues  mit  sich  brachte^ 

l 


dafs  der  Menschengeist  der  gewöhnlichen  Menge  der  Zeit  nicht  ausreichte,  diese  hohe 
Leistung  zu  begreifen,  viel  weniger  zu  benutzen.  Ja  nicht  selten  sind  die  Fälle,  wo  an 
Spekulationen,  selbst  wenn  sie  Neues  schafften  und  enthielten  ohne  die  Leistung  des  Be- 
stehenden zu  übertreffen ,  ein  Menschengeist  zu  Grunde  ging  und  in  eingebildetem  Un- 
dank der  Welt  seinen  geistigen  Tod  fand,  —  aber  jene  Fälle  sind  noch  häufiger,  dafs 
das  seiner  Zeit  voreilende  Genie  Erfindungen  machte,  die  seinen  Zeitgenossen  wegen  der 
Gröfse  der  Idee  unheimlich,  gefährlich,  ja  strafbar  erschienen!  '  Wie  viele  frühere  Ent- 
deckungen uns  verloren  gegangen  sind  durch  Aberglauben  und  Wortglauben,  durch  die 
Verfolgungen  der  fanatischen  Geistlichkeit,  die  jeden  denkenden  Mann  im  Mittelalter  zu 
verdächtigen  für  nothwendig  fand,  und  andererseits  durch  die  Furcht  vor  den  entsetz- 
lichen Folgen  nur  des  Verdachtes  einer  Ungläubigkeit,  die  aus  jeder  That  und  jedem 
Wort  herauszudeduziren  war,  —  wir  können  es  nicht  ermessen.  Allmählich  nur  tauchen 
hier  und  da  Notizen  auf,  Funde  der  fleifsigen  Forscher,  dafs  diese  und  jene  neue  Sache 
bereits  vor  Jahrhunderten  versucht  ward,  welche  jetzt  vollen  Gebrauch  geniefst,  nachdem 
sie  wieder  erstanden  ist.  Die  freiere  Denkungsart  unserer  Zeit  bricht  sich  nach  allen 
Richtungen  hin  Bahn,  und  was  früher  ängstlich  verborgen  ward,  gelangt  allgemach  zur 
Kenntnifs,  und  bestätigt  das,  was  wir  oben  angeführt.  Es  ist  aber  nothwendig,  bei  der 
Beurtheilung  der  Leistungen  der  Jetztzeit  die  früheren  ernst  zu  berücksichtigen.  Wir 
müssen  uns  daher  damit  beschäftigen,  den  früheren  Erfindern  und  Erfindern  von  Be- 
deutung nachzuspüren,  vielleicht  erhält  dann  manches  Blatt  der  Geschichte  der  Erfin- 
dungen einen  anderen  Inhalt,  und  manches  Bild  gewinnt  einen  neuen  Reiz  oder  verblafst 
im  Scheine  der  Vorzeit. 

Für  die  Geschichtsschreibung  über  die  Entwicklung  der  machineilen  Apparate 
und  Vorrichtungen  ist  im  allgemeinen  noch  wenig  gethan.  Ist  doch  überhaupt  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  der  Technologie  noch  ungenügend  durchforscht,  und  alle  Berichte 
darüber  glänzen  noch  durch  ihre  Lückenhaftigkeit.  Im  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts 
lebte  kürzere  Zeit  hindurch  ein  regeres  Streben  hierfür,  und  dieser  Periode  verdanken 
wir  die  fleifsigen  Arbeiten  Heeren's,  Beckmann's,  Poppe's,  Gmelin's,  Murhard's,  Scheibel's, 
Heilbronner's,  Meuken's,  Rosentbal's  u.  A.  und  der  Encyklopädisten.  Allein,  wenn  auch 
die  encyklopädische  Literatur  weiterwucherte,  —  die  eigentlich  geschichtliche  Forschung 
verlor  an  Intensität.  Mit  Ausnahme  einzelner  spezieller  Geschichtsschreibungen  über 
technische  Einzelgebiete  besitzen  wir  kein  einziges  umfassendes  Werk  über  Geschichte 
der  Technologie,  denn  auch  Karmarsch's  jüngst  erschienenes  bedeutendes  Werk  hat  nur  die 
Geschichte  der  Technologie  im  letzten  Jahrhundert  zum  Vorwurf  und  greift  nur  hin  und 
wieder  wirklich  eingehender  auf  die  frühere  Zeit  hinüber. 

Nicht  mit  Unrecht  hat  man  geltend  gemacht,  dafs  dieser  Umstand  seine  Ent- 
stehung der  unvollkommenen  Erledigung  der  Geschichtsschreibung  für  diejenigen  Wissen- 
schaften zuzuschreiben  habe,    welche  als  Fundamente  der  Technologie  im  umfassendsten 


3 

Sinne  gelten  müssen.  Wo  wir  auch  hingreifen  im  Gebiet  der  angewendeten  Mechanik, 
immer  finden  wir  den  Einflufs  der  induktiven  Wissenschaften  mächtig  wirksam.  Die 
Naturbetrachtung  und  die  Naturforschung  ist  die  Mutter  aller  unserer  Hülfsgeräthe ,  und 
die  Erzeugung  der  letzteren  ist  um  so  häufiger  und  um  so  erfolgreicher,  je  mehr  natur- 
wissenschaftliche Studien  getrieben  worden  sind.  Die  Geschichte  der  induktiven  Wissen- 
schaften sowohl  als  die  Geschichte  der  alten  Philosophen  lehrt  uns  dies.  Mit  Thaies  be- 
gann die  Naturforschung  um  600  v.  Chr.  einen  bestimmten  Karakter  zu  gewinnen.  Durch 
Pythagoras  ward  sie  fortgeführt  und  nach  gewissen  Richtungen  hin  ausgebildet.  Hippo- 
krates,  Sokrates,  Plato  lernten  von  der  Natur  und  basirten  ihre  Philosophien  auf  solchen 
Anschauungen.  Herodot  und  Theophrastus  wufsten  die  Bedeutung  der  Naturwissenschaften 
durchaus  zu  schätzen,  und  ihre  Werke  dienten  denselben.  Aristoteles  begriff  vielleicht 
am  besten  die  gewaltige  Bedeutung  der  Naturforschung  durchweg  und  bemühte  sich,  den 
Gesetzen  der  Natur  auf  die  Spur  zu  kommen.  Wenn  er  in  vielen  Dingen  hierfür  absolut 
falsche  Bahnen  betrat,  so  war  doch  sein  Wort  und  sein  Bestreben  von  allerwichtigstem 
Einflufs,  und  von  ihm  an,  —  lange,  zu  lange  sogar  in  fast  sklavischer  Anerkennung 
seiner  Autorität  —  trieb  man  Mathematik,  Mechanik,  Astronomie  u.  s.  w.  in  seinem 
Geiste  und  in  Nachfolge  seiner  Bahnen.  Das  Museum  zu  Alexandria  und  seine  Gelehrten 
konnten  sich  nicht  vom  Aristotelischen  Einflufs  losmachen,  wenn  auch  Einzelne  wie 
Euklides,  Eratosthenes,  Hipparchus,  Aristarchus  selbstständig  auftraten.  Die  Lehren  des 
Aristoteles  entbehrten  der  Klarheit,  und  ohne  aus  einer  wirklichen  Erfahrung  oder  aus 
Versuchen  hervorzugehen,  enthielten  sie  lediglich  Spekulationen,  zwar  oft  geistreich  und 
hart  an  der  Wahrheit  hinstreifend,  aber  ohne  Beweis  und  Belag  aus  der  Natur  der 
Dinge  selbst.  Wie  ein  strahlender  Held  der  wirklichen  Forschung,  der  Durchdringung 
der  Gesetze  der  Natur  taucht  dazwischen  Archimedes  (287—212  v.  Chr.)  auf,  von  dem 
Silius  Italicus  schreibt: 

Ewige  Zierde  verlieh  ein  Mann  der  korinthischen  Pflanzstadt, 
Weit  voraus  an  Talent  den  anderen  Söhnen  der  Tellus, 
Arm  an  Besitz,  doch  offen  dem  Auge  lag  Himmel  und  Erde! 
und  von  dem  unser  Leibnitz  sagt: 

„Wer   den   Archimedes   zu   begreifen   im    Stande   ist,    der   wird   den   Ent- 
deckungen der  Neuzeit  lauere  Bewunderung  schenken." 

Das  Urtheil  des  Plutarch  über  die  geistige  Kraft  dieses  Mannes,  über  seine  Gesinnung 
und  über  seinen  Eifer  als  Forscher  ist  für  uns  von  allerhöchster  Bedeutung.  Er  sagt:*) 
,, Solchen  Stolz  und  solche  Hoheit  des  Geistes  und  solchen  Reichthum  an  Wissen 
besafs  Archimedes,  dafs  er  grade  über  die  Dinge,  durch  welche  er  sich  den  Namen  und 
Ruhm  nicht  eines  menschlichen ,  sondern  beinahe  eines  göttlichen  Verstandes  erworben 
hatte,  nichts  Schriftliches  hinterlassen  wollte,  weil  er  die  Beschäftigung  mit  der  Mechanik 


')  Plutarchi  vit.  parall. :    Marcellus. 


"und  überhaupt  jeder  Kunst,  die  sich  mit  den  praktischen  Bedürfnissen  befafst,  für  unedel 
und  niedrig  hielt.  Mit  Vorliebe  beschäftigte  er  sich  allein  mit  solchen  Gegenständen, 
die,  ganz  abgesehen  von  ihrer  Notwendigkeit,  schön  und  vortrefflich  sind.  Es  ist  nicht 
möglich,  in  der  Geometrie  schwierigere  und  tiefsinnigere  Aufgaben  einfacher  und  klarer 
gelöst  zu  finden.  Und  dies  schreiben  Einige  dem  angebornen  Genie  des  Mannes  zu, 
Andere  dagegen  sind  der  Meinung,  dafs  durch  seinen  aufserordentlichen  Fleifs  jedes 
Einzelne  den  Anschein  von  leicht  und  mühelos  Gefertigtem  erhalten  habe.  Denn  während 
man  durch  eigenes  Nachdenken  einen  Beweis  nicht  findet,  entsteht  zugleich  mit  dem 
Erlernen  die  Einbildung,  dafs  man  ihn  doch  auch  selbst  hätte  finden  können;  auf  einem 
so  leichten  und  schnellen  Wege  führt  Archimedes  zu  dem,  was  er  beweisen  will.  Man 
hat  daher  auch  nicht  Ursache,  dem  keinen  Glauben  zu  schenken,  was  von  ihm  erzählt 
wird,  dafs  er  nämlich,  wie  immer,  von  einer  befreundeten  und  vertrauten  Sirene  bezau- 
bert, Essen  und  Trinken  vergafs  und  die  Pflege  seines  Körpers  vernachlässigte.  Oft 
nöthigte  man  ihn  mit  Gewalt  zum  Salben  und  Baden ;  aber  auch  dann  bemalte  er  die  Hände 
mit  geometrischen  Figuren  und  zog  auf  dem  gesalbten  Leibe  mit  dem  Striegel  Linien, 
von  grofsem  Vergnügen  überwältigt  und  wirklich  von  den  Musen  in  Verzückung  versetzt." 

Leider  wissen  wir  sowohl  von  seinem  Leben  nur  Unzureichendes  als  auch  von 
der  augenscheinlichen  Fülle  seiner  Arbeiten.  Die  Nachrichten,  welche  uns  darüber  von 
anderen  Schriftstellern  aufbewahrt  wurden,  lassen  nur  um  so  schmerzlicher  die  schweren 
Verluste  beklagen.  Wie  des  Archimedes  Erfindungsgeist  die  meisten  Theile  der  Mathesis 
mit  wichtigen  Entdeckungen  bereicherte,  so  auch  die  Mechanik.  Allein  von  allen  seinen 
Arbeiten  sind  uns  seine  Schriften  über  die  Kugel  und  cbsn  Cylinder,  über  die  Ausmessung 
des  Kreises,  über  Sandberechnung,  über  die  Spirale,  über  Conoide  und  Späro'ide,  vom  Gleich- 
gewicht und  über  das  Centrum  gravitatis,  über  die  Quadratur  der  Parabeln  bekannt.  Und 
auch  diese  haben  wir  nur  aus  der  Rezension  des  Isodorus  und  seines  Schülers  Eutocius 
erhalten,  welcher  letztere  einen  werthvollen  Kommentar  dazu  gab.  In  manchen  Schriften 
des  Mittelalters  klingt  es  freilich,  als  ob  noch  andere  Schriften  des  Archimedes  vorhanden 
waren,  —  allein  für  uns  scheinen  sie  verloren!  —  Aber  was  noch  viel  beklagenswerther 
war,  mit  Archimedes'  Tode  waren  auch  seine  Gesetze  und  Lehren  schnell  vergessen. 
Man  wufste  wohl  noch,  wie  sie  lauteten,  —  aber  kannte  die  Beweislührung  dafür  nicht 
mehr,  und  eine  kurze  Zeit  nachher  war  wieder  alle  Naturforschung  auf  die  Aristotelische 
Methode  zurückgekommen.  „Archimedes  hatte  die  intellektuelle  Welt  aus  ihrer  Ruhe 
aufgeweckt,  aber  sie  fiel  gleich  wieder  in  ihre  frühere  passive  Ruhe  zurück,  und  die 
Wissenschaft  der  Mechanik  blieb  dort  stehn,  wo  man  sie  hingestellt  hatte." 

Unter  den  späteren  Naturforschern  ragt  noch  Ptolomaeus  hervor,  soweit  wir  ihn 
aus  den  Ueberbleibseln  seiner  Schriften  kennen,  und  vor  ihm  war  Hipparchus  für  die 
Astronomie  von  hervorragender  Bedeutung.  Von  den  Arbeiten  dieser  bedeutenden 
Männer  blieb  nur  spärliche  Kunde.  — 


Die  Methode  des  Mittelalters,  die  Natur  zu  betrachten,  wandte  sich  mit  vollen 
Segeln  der  Aristotelischeu  Weise  zu,  und  der  Einflufs  des  Archimedes  war  erloschen. 
Schon  die  Gelehrten,  die  noch  wesentlich  im  klassischen  Alterthum  fufsten,  wie  Pappus, 
einer  der  besten  Mathematiker  der  alexandrinischen  Schule  (400  v.  Chr.),  hatten  keine 
Kenntnifs  mehr  von  den  klaren  Lehren  des  Archimedes,  und  jene  kommentatorische 
und  kritische  Arbeit  des  Isodorus  und  Eutocius  über  die  archimedischen  Schriften  ward 
ignorirt  und  erst  nach  Jahrhunderten  wieder  hervorgeholt,  ja  neu  aufgefunden.  Die 
Lehre  des  Aristoteles  aber  ward  überall,  ohne  Kritik  fast,  acceptirt,  sie  ward  ein 
effektives  Glaubensbekenntnifs,  dem  selbst  die  Araber  ihre  Anhänglichkeit  schenkten, 
und  von  der  das  christliche  Mittelalter  entzückt  war  und  dem  es  blind  angehörte  — 
freilich  mit  dem  öfters  wiederholten  Bedauern,  dafs  „Herr  Aristoteles  leider  ein  Heide 
gewesen!"  Dafs  in  den  mechanischen  Dingen  eine  solche  absolute  Dunkelheit  und  Ver- 
wirrung herabgesunken  war  und  diese  schwer  und  dauernd  auf  den  Geistern  des  Mittel- 
alters ruhte,  —  hatte  die  Folge,  dafs  im  Mittelalter  ein  Fortschritt  in  Anwendung  der 
Mechanik  und  überhaupt  der  Naturgesetze  sehr  wenig  bemerkbar  wurde.  Die  damaligen 
Verbesserungen  an  Handwerksgeräth  und  Hausmaschinen  waren  Kinder  der  Zufälligkeit, 
nicht  des  begründeten  Handelns.  — 

In  dieser  Dunkelheit  erschien  dann  1214 — 1293  ein  hellerer  Geist,  ein  jedenfalls 
merkwürdiger  Mann,  mit  Begriffen  und  Ansichten,  die  sich,  aus  der  lahmen  Denkweise 
seiner  Zeit  kräftig  abhoben.  Er  beobachtete  schärfer,  als  es  in  seiner  Zeit  Gebrauch 
war,  er  machte  sich  mehr  frei  von  den  Banden  aristotelischer  Weisheit  als  einer  seiner 
Zeitgenossen  oder  Gelehrten  vor  ihm,  er  predigte  die  Wichtigkeit  des  Experimentes  und 
blickte  auf  die  Kenntnifs  seiner  Zeit  herab  wie  auf  die  Kindheit  der  Wissenschaft,  wie 
Whewell  richtig  bemerkt.  Aus  den  arabischen  Schriftstellern,  wie  man  oft  behauptet, 
konnte  dieser  Mann,  Roger  Bacon,  nicht  schöpfen,  sie  waren  ebenfalls  den  aristote- 
lischen Lehren  ergeben,  und  er  erhebt  sich  so  weit  darüber  hinaus!  Alleinstehend  in 
seiner  Zeit  bezeichnet  uns  Roger  Bacon  doch  eine  erste  Regung  des  gebildeten  Geistes 
zu  selbstständigen  Gedanken  und  selbstthätigem  Schaffen,  und  er  beginnt  eigentlich  die 
Kette  der  Philosophen,  die  es  versuchten,  die  Banden  der  hergebrachten  Anschauungs- 
weise zu  zerbrechen.  Der  Beginn  eines  Erwachens  der  Wissenschaften,  die  an  die  Natur 
sich  anschliefsen ,  wird  durch  ihn  eröffnet.  Nach  der  allgemeinen  Annahme  ersteht 
mit  Galilei  dann  die  Naturwissenschaft  aus  ihrem  Schlummer  gänzlich  1602.  Ueber  die 
dazwischen  liegende  Periode  ist  wenig  bekannt.  Warum?  Wir  finden,  dafs  der  Glanz 
der  Ideen  und  Gesetze  des  Kopernikus  und  des  Galilei  die  unmittelbar  vorangehende 
Vorbereitungszeit  verdunkelte!  dafs  die  schnelle  Fortentwicklung  der  induktiven  Wissen- 
schaften durch  sie  und  nach  ihnen  vergessen  machte  zu  untersuchen,  was  vorher  bekannt 
war,  wer  vorher  in  gleicher  Richtung  gearbeitet  hatte.  Man  wufste  nicht,  wie  weit  die 
Ideen   beider   Originalideen   waren,   und   begnügte    sich   mit   der   Thatsache    der   Neu- 


6 

Schöpfung  der  Wissenschaft.  Aber  jede  grofse  Zeit  hat  ihre  vorhergehende  oft  langsame 
Vorbereitung,  und  sie  fehlte  auch  dieser  Periode  nicht.  Aus  der  Entwicklung  der  Hand- 
werke und  Künste  heraus  entstanden  Anregungen  für  die  wissenschaftliche  Beobachtung, 
entstanden  Erfahrungen  und  Fakta,  welche  unbezweifelt  dastanden,  aber  in  ihrer  Ent- 
stehungsweise unerklärt  geblieben  waren,  ihres  Beweises  und  ihrer  Begründung  entbehrten. 

Politische  Ereignisse  pflegen  stets  mit  den  Kulturentwicklungen  Hand  in  Hand 
zu  gehen!  Und  so  finden  wir  den  Schlüssel,  dafs  Italien  die  Stätte  der  Aufklärung 
werden  mufste,  jenes  Land,  wo  in  jener  Periode  das  Individuum  eine  Stellung  gewann, 
wo  in  vielen  kleinen  Republiken  und  Staaten  die  Arbeit  neben  dem  Streben  nach  Er- 
haltung der  Unabhängigkeit  alles  durchlebte  bis  in  die  kleinste  Hütte  hinein,  wo  Vene- 
digs meerbeherrschende  Flotte  den  Orient  zum  Occident  herantrug,  wo  die  Sehnsucht 
nach  der  Konstituirung  der  Macht  in  der  Blüthe  der  Handwerke  und  Künste  gestillt 
ward  und  kein  Mittel  unversucht  blieb,  die  Industrie  an  gewisse  Stätten  zur  Wahrung 
ihrer  Macht  zu  bannen,  —  wo  Kriege  von  dem  Einen  unternommen  wurden ,  um  ledig- 
lich Industrien  dem  Andern  zu  entreifsen  und  sich  zuzueignen,  —  wo  die  Erfindungen 
Nationaleigenthum  und  so  hoch  geschätzt  wurden,  dafs  deren  Verrath  gleichsam  als 
ein  Verrath  am  Vaterlande  sogar  mit  dem  Tode  bestraft  wurde!  Solche  Ansichten, 
solche  Mafsnahmen  durchzogen  jene  Zeit;  Hand  in  Hand  mit  den  politischen  Ereignissen 
giengen  die  industriellen  Ereignisse.  Roger  H.  von  Sicilien  wollte  seinem  Lande  die 
Seidenzucht  und  die  Seidenweberei  schaffen,  weil  er  sah,  dafs  beides  den  griechischen 
Landen  Reichthum  brachte  —  und  er  überzog  Griechenland  mit  Krieg  und  führte  im 
Siege  alles  mit  hinweg,  was  zur  Gründung  der  Seidenindustrie  in  Palermo  nöthwendig  war. 
Als  Lucca  im  Besitz  des  Seidenbaues  und  der  Seiden manufactur  war,  schlofs  es  sich  eng 
ab  und  gab  so  durch  Macht  und  Reichthum,  aus  dieser  Quelle  entsprossen,  Anlafs  zum 
Neide  der  Nachbarn,  dem  dann  die  Zerstörung  der  Stadt  durch  Uebermacht  folgte. 
Bologna  genofs  fast  120  Jahre  die  Segnungen  eine  Spinnmaschine  von  Borghesano  und 
gewann  Macht  und  Marmorpaläste,  bis  das  Geheimnifs  der  Maschine  verrathen  ward, 
und  in  Folge  davon  nach  Angabe  der  Chronisten  30,000  Menschen  brodlos  wurden. 
Dieses  Beispiel  zumal  zeigt  uns  den  gewichtigen  und  merkwürdigen  Einfiufs  bedeutender 
Erfindungen  und  die  eigenthümliche  Stellung  der  Handwerksfortschritte  in  der  Kleinstaaterei 
Italiens.  In  ganz  ähnlicher  Weise  konnten  sich  die  Glasmacher  auf  Murano  in  Venedig 
von  aller  Welt  isoliren  und  ihre  Kunst  geheimhalten  zu  eigenem  Vortheil.  In  gleicher 
Stellung  wurde  das  florentinische  Tuchbereitungsgewerbe  als  Unicum  erhalten  etc. 

Alle  diese  Thatsachen  aber  weisen  auf  eine  Vorbereitungszeit  hin,  —  über  welche 
wir  wenig  bisher  wissen.  Es  mufs  in  jener  Zeit  hervorragende  Erfinder  und  Ver- 
besserer für  die  Handwerke  gegeben  haben,  und  zwar  reichlicher,  als  die  wenigen 
Namen  andeuten,  die  uns  bisher  bekannt  wurden.  Aus  der  Entwicklung  der  Industrie 
aber  mufsten  nöthwendig   neben  dem  Reichthum   und  der  Macht   zahlreiche  Anregungen 


hervorgehen,  zu  Studien,  zur  Erforschung  der  Naturkräfte,  die  in  den  zur  Industrie  be- 
nutzten Mitteln  sichtbar  oder  unsichtbar  sich  konstatirten.  Eine  Geschichte  der  Tech- 
nologie kann  nicht  geschrieben  werden  ohne  eingehendste  Durchforschung  der  Quellen, 
welche  über  diese  Vorbereitungsperiode  berichten,  ebensowenig  eine  Geschichte  der  in- 
duktiven Wissenschaften.  Was  sagt  Whewell  in  seiner  Geschichte  der  induktiven  Wissen- 
schaften über  die  Vorperiode  der  Galilei'schen  Zeit?  „Der  Scharfsinn  des  grofsen 
Mannes  (Archimedes)  war  nahe  daran,  die  so  tief  verborgene  Wahrheit  (der  Statik)  zu 
entdecken,  aber  der  dichte  Nebel,  den  er  auf  einen  Augenblick  durchbrach,  schlofs  sich 
sofort  hinter  seinen  Schritten,  und  die  alte  Finsternifs  und  Verwirrung  lagerte  sich  wieder 
auf  das  ganze  Land.  Und  diese  dunkle  Nacht  währte  beinahe  volle  zwei  Jahrtausende 
bis  auf  die  Epoche  Galilei's,  namentlich  bis  zur  ersten  Ausbreitung  der  Kopernikanischen 
Entdeckung." 

Whewell  hat  wohl  den  Fortschritten  der  astronomischen  Entwicklung  manche  werth- 
volle  Leistung  aus  der  Periode  vom  13.,  14.  und  15.  Jahrhundert  anzureihen,  —  aber  in  der 
Entwicklung  der  mechanischen  Gesetze  kann  er  uns  zwischen  Archimedes  und  Galilei 
wenige  aufführen,  die  von  einiger  Bedeutung  waren,  und  auch  diese,  wie  Cardanus, 
Ubaldi,  Benedetti,  Varro  gehörten  schon  dem  16.  Jahrhundert  an.  Er  gesteht  auch  ein- 
fach ein,  dafs  er  diese  Zeit  nicht  kannte,  da  sie  bis  dahin  undurchforscht  geblieben! 
Er  sagt  zum  Schlufs  des  Abschnittes,  nachdem  er  gezeigt,  wie  Benedetti  1551  in  einer 
Begründung  über  den  Steinwurf  mit  hervorragender  Klarheit  den  Begriff  der  acceleri- 
renden  Bewegung  (die  selbst  Galilei  erst  später  sich  zu  eigen  machte)  darlegte:  „Ob- 
schon  Benedetti  solchergestalt  auf  dem  Wege  war,  das  erste  Gesetz  der  Bewegung,  das 
Gesetz  der  Trägheit,  zu  entdecken,  nach  welchem  alle  Bewegung  geradlinig  und  gleich- 
förmig ist,  so  lange  sie  nicht  durch  äufsere  Kräfte  verändert  wird,  —  so  konnte  doch 
dieses  Prinzip  nicht  eher  allgemein  aufgefafst,  noch  gehörig  bewiesen  werden,  bis 
auch  das  andere  Gesetz,  durch  welches  die  eigentliche  Wirkung  der  Kräfte  bestimmt 
wird,  in  Betrachtung  gezogen  wurde.  Wenn  also  auch  eine  unvollkommene  Appreziation 
dieses  Prinzips  der  Entdeckung  der  Bewegungsgesetze  vorausgegangen  war,  so  mufs  doch 
die  wahre  Aufstellung  desselben  erst  in  die  Periode,  wo  alle  diese  Gesetze  selbst  ent- 
deckt wurden,  das  heifst,  in  die  Periode  des  Galilei  und  seines  ersten  Nachfolgers  ge- 
setzt werden."  Als  Whewell  dieses  harte  Dogma  ausgesprochen  und  niedergeschrieben 
hatte,  da  fiel  ihm  ein  Buch  in  die  Hand,  welches  von  einigen  Lehren  aus  Leonardo 
da  Vinci's  Manuskripten  berichtete.  Der  erstaunte  Geschichtsschreiber  las  und  sah,  wie 
in  Leonardo's  Lehren  vieles  bisher  Vermifste  und  Unaufgeklärte  deutlich  enthalten  war 
—  und  das  Wenige,  was  ihm  hiervon  vorlag,  reichte  schon  hin,  Whewell  zu  bewegen^ 
folgenden  Nachsatz  zu  machen,  nachdem  er  anerkannt,  dafs  Galilei's  Ansichten  und  Lehren 
an  vielen  Orten  mit  denen  des  Leonardo  viel  Aehnlichkeit  haben,  und  nachdem  er  ge- 
zeigt hatte,  dafs  Leonardo  dem  Galilei  in  Anspruch  einer  Reihe  von  wichtigen  mechanischen 


Gesetzen  zuvorkam,  — :  „Die  allgemeine  Betrachtung,  zu  der  diese  Bemerkungen  Anlafs 
geben,  ist  wohl  die,  dafs  die  ersten  wahren  Ansichten  von  der  Bewegung  der  Himmels- 
körper um  die  Sonne  und  von  der  Bewegung  überhaupt  seit  dem  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts in  den  bessern  Köpfen  sich  zu  regen  und  zu  fermentiren  begannen,  und  dafs 
sie  allmählich  Klarheit  und  Festigkeit  schon  etwas  vor  jener  Zeit  angenommen  haben,  wo 
sie  öffentlich  aufgestellt  sind!"  Die  Thatsache,  welche  dem  Whewell  entgegentrat,  dafs 
Leonardo  volle  hundert  Jahr  früher  als  Galilei  bereits  klare  Ansichten  über  die  Anwen- 
dung der  Hebelgesetze,  über  die  schiefe  Ebene,  über  die  Zeit  des  freien  Falls  etc.  hatte, 
imponirte,  wie  wir  sehen,  dem  geistreichen  Geschichtsschreiber,  aber  seine  Zeit  bot  ihm 
noch  keine  Hülfsmittel,  um  seinen  ersten  Ausspruch  sehr  wesentlich  zu  modifiziren,  — 
er  kannte  ja  selbst  Leonardo's  Leistungen  nur  unvollständig  und  unklar.  Seitdem  ist 
hier  und  da  ein  neuer  Beleg  aufgetaucht  für  die  Notwendigkeit  der  näheren  Durch- 
forschung der  wissenschaftlichen  Geschichtsquellen,  um  jene  Zeit  aufzuhellen.  —  Weshalb, 
diese  Frage  stöfst  uns  auf,  wissen  wir  so  wenig  aus  jener  Zeit?  — 

Schon  oben  führten  wir  aus,  wie  die  Industrien  der  Staaten  sich  abschlössen! 
Ebenso  eifersüchtig  war  man  anfangs  in  wissenschaftlichen  Dingen,  —  man  denke  doch 
nur  an  die  Disputationen  und  Kothwerfereien  zwischen  .den  italiänischen  Universitäten 
des  Mittelalters,  die  über  die  einfachsten,  sowie  über  die  absurdesten  Dinge  mit  gleicher 
Heftigkeit  geführt  wurden,  —  ohne  irgend  einen  Kern  von  Geist  und  Wissenchaft! 
Man  denke  an  den  religiösen  Einfiufs,  der  jede  freie  Meinungsäufserung,  die  von  kano- 
nisirten  Vorschriften  abwich,  verfluchte  und  vernichtete.  Die  eigentliche  Scholastik  und 
der  Nominalismus  haben  naturwissenschaftliche  Forschungen  nicht  verhindert,  —  wohl 
aber  that  es  der  Verfall  der  scholastischen  Philosophie  im  15.  Jahrhundert,  während 
welcher  Zeit  „der  Dogmatismus  unterging  und  der  Skeptizismus  sein  Haupt  erhob." 
Wenn  man  über  Fragen  eifrig  debattirte,  wie  die,  „welches  Kleid  der  Engel  angehabt, 
der  der  heiligen  Jungfrau  die  Meldung  des  Himmels  brachte?"  und  andere,  wie  sie  die 
Quaestiones  Quodlibeticae  enthielten,  -  dann  mufs  man  von  vornherein  annehmen,  dafs 
ernste  Arbeiten  ohne  Berücksichtigung  blieben  und  keine  Oeffentlichkeit  erlangten.  Alles  hatte 
sich  gleichsam  in  jener  Periode  dem  Bekanntwerden  besserer  und  aufgeklärter  Ansichten 
widersetzt:  die  Kirche,  die  Universität,  die  Staatseinrichtung,  die  industriellen  und  kom- 
merziellen Einrichtungen  und  Mafsnahmen.  —  Wie  sehr  die  Publikationen  ver- 
gessen wurden,  davon  zeugt  die  gänzliche  Vergessenheit  und  Unbekanntschaft  der  Ma- 
nuskripte Leonardo's  schon  zu  seiner  Zeit.  Keiner  der  Schriftsteller  über  Mechanik, 
Mathematik,  Metallurgie,  Handwerke  u.  s.  w.  im  16.  Jahrhundert  nennt  seinen  Namen. 
Vannuccio  Biringoccio,  der  in  seinem  Handbuch  der  Metallurgie  nur  frühere  Werke  ex- 
zerpirte  (1540),  zitirt  ihn  nicht,  ebenso  die  ganze  Schaar  späterer  Schriftsteller,  trotz- 
dem Leonardo  da  Vinci  der  Metallurgie  nahe  stand.  Ebenso  kennen  ihn  die 
Autoren    über  Mechanik  nicht   u.  s.   w.     Einzig    bekannt   und    anerkannt  waren    seine 


Schriften  zur  Hydraulik,  die  zu  seinen  Lebzeiten  bereits  in  die  Oeffentlichkeit  drangen. 
Solche  Fälle  sind  nicht  selten  gewesen;  sie  kehrten  oftmals  wieder  und  sind  theils  be- 
gründet in  den  politischen  Ereignissen,  —  mehr  noch  hängen  sie  davon  ob,  in  wessen 
Hände  nachgelassene  Manuskripte  übergehen!  und  hierin  liegt,  wie  wir  noch 
ausführlicher  mittheilen  werden,  der  Grund  für  die  Einflufslosigkeit  der  Aufzeichnungen 
des  Leonardo,  die  wir  tief  beklagen  müssen  nach  jeder  Richtung  hin.  — 

Wenn  wir  oben  bemüht  waren  zu  zeigen,  welche  Nothwendigkeit  vorherrscht, 
für  die  Klarlegung  der  Geschichte  der  induktiven  Wissenschaft  und  auch  speziell  der 
Geschichte  der  Technik  ein  Geschichtsstudium  zu  fordern ,  welches  sich  auf  die  vor- 
Galilei'sche  Periode  bezieht,  um  zu  einer  richtigen  Würdigung  der  Galilei'schen  Epoche 
selbst  zu  gelangen  und  die  Geschichtsfakta  organisch  zu  regeln  und  richtig  zu  benutzen, 
um  die  Gröfse  und  den  Werth  der  Fortschritte  der  Neuzeit  zu  ermessen,  so  haben  wir 
damit  gleichsam  ein  Motiv  beigebracht  für  unsere  nachstehenden  Studien  über  Leonardo 
da  Vinci,  als  den  hervorragendsten  Vorgänger  Galilei's  und  besonders  auch 
als  den  Schriftsteller,  der  über  die  Ansichten  und  Kenntnisse  seiuer  Zeit 
Licht  verbreitet.  ^~y  ^s 

! 

r~  II 


Wir  wollen  zunächst  über  Leonardo  da  Vinci's  Leben  und  Wirken  im  allge- 
meinen das  Nothwendige  beibringen.  Die  Lebensumstände  sind  von  Wichtigkeit  auf  sein 
Schaffen  und  Denken  gewesen. 

Leonardo  war  der  natürliche  Sohn  des  Ser  Piero  da  Vinci,  Notarius  der  Signoria 
von  Florenz,  und  zwar  von  Catarina,  später  verheirathete  Accattabriga  di  Piero  del  Vacca 
di  Vinci,  und  ward  geboren  1452  auf  dem  Castell  Vinci.  Piero  da  Vinci  war  später 
noch  vier  mal  verheirathet  und  hatte  aufser  dem  Leonardo  eilf  Kinder.  Von  diesem  rührte 
die  zahlreiche  Familie  der  da  Vinci  her,  die  sich  in  einer  von  dem  Bruder  Domenico 
und  seinem  Enkel  Piero  entstandenen  Linie  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten1  hat  und 
heute  sechs  Brüder  zählt,  deren  äitester  den  Namen  Leonardo  trägt,  geboren  1845.  Die 
Familienverhältnisse  Leonardo's  sind  Gegenstand  der  eingehendsten  Untersuchungen  und 
Nachforschungen  gewesen.  Wir  erwähnen  das  neueste  Werk  hierüber:  Ricerche  intorno 
a  Leonardo  da  Vinci  von  Gustavo  Uzielli  (1872).  — 

Leonardo  zeigte  früh  schon  grofse  Neigung  zur  Kunst  und  Liebe  zur  Natur, 
während  er  im  Vaterhause  mit  seinen  legitimen  Brüdern  erzogen  wurde.  Der  Vater 
Piero  erkannte  das  noch  schlummernde  Talent  seines  Sohnes  und  brachte  ihn  zu  dem 
Maler  und  Skulptor  Verrochio.  Dieser  Maler  hatte  sich  weniger  durch  seine  Werke, 
als  durch  die  treffliche  Art  der  Heranbildung  von  Schülern  ausgezeichnet  und  einen 
Namen  gemacht.  Der  Einflufs  dieses  Mannes  ward  bedeutsam  und  entscheidend  für 
Leonardo,  denn  der  Lehrer  unterrichtete  seine  Schüler  in  allen  freien  Künsten,  zu  welchen 

2 


10 

damals  Weberei,  Metallgufs  und  Metallarbeit,  Goldschmiedekunst  vorzüglich  gerechnet 
wurden,  —  speziell  sodann  in  der  Malerei  und  Bildhauerkunst. 

Leonardo  lernte  malen,  modelliren,  die  Arbeit  des  Goldschmieds  und  des  Webers, 
und  eine  seiner  frühesten  trefflichen  Arbeiten  war  jener  Adam  und  Eva-Karton  zu  einem 
in  Gold  und  Seide  zu  wirkenden  Vorhang  für  den  portugiesischen  König,  der  die  erste 
Anregung  zu  Raphaels  Adam  und  Eva  im  Vatican  gegeben  haben  soll. 

Die  industrielle  Lage  von  Florenz  war  zu  jener  Zeit  eine  äufserst  entwickelte. 
Man  studire  nur  die  Werke  des  Balducci  Pegolotti,  pratica  della  mercatura  und  eine 
gleiche  Schrift  von  Giovanni  di  Antonio  da  Uzzano,  ferner  die  Werke  über  die  Florenti- 
nische  Handelsgeschichte,  welche  in  Lucca  erschienen,  und  Canestrini's  Abhandlung  über 
den  Handel  zwischen  Florenz  und  Portugal,  und  man  wird  ein  höchst  interessantes  Bild 
über  die  emporgeblühte  Industrie  von  Florenz  gewinnen!  Das  Fabrikwesen  stand  in 
Florenz  obenan,  und  der  gesammte  Handel  dieser  Stadt  bestand  in  Handel  mit  einhei- 
mischen Industrieprodukten. 

Trotzdem  die  Kämpfe  der  Guelfen  und  Ghibellinen  das  Gemeinwesen  von  Florenz 
unterwühlten,  erhielt  sich  die  Kraft  des  Mittelstandes.  Kunstfleifs,  Großhandel  und 
Geldverkehr  nahmen  stetig  zu.  Als  Florenz  den  Hafen  Livorno  von  den  Genuesen  er- 
kauft hatte,  begann  die  industrielle  Blüthe  in  grofsartigen  Dimensionen  sich  zu  ent- 
falten. Florenz  handelte  mit  allen  Küsten  des  Mittelmeeres.  Da  die  florentinischen 
Manufakturen  sich  einen  hohen  Ruf  erworben  hatten,  wurde  ihnen  das  vorzüglichste 
Rohmaterial  zugeführt,  Wolle  von  Spanien,  Frankreich,  England.  Florentinische  Tuch- 
weberei übertraf  die  aller  anderen  Staaten,  —  die  Scharlachfärberei  war  eine  originale 
und  geheimgehaltene  Kunst  des  Staates,  und  die  Appretur  der  Tuche  in  Florenz  war 
so  berühmt,  dafs  die  Niederländer,  Franzosen,  Engländer  und  Spanier  grofse  Quantitäten 
Rohtuche  nach  Florenz  brachten,  um  sie  dort  appretiren  zu  lassen.  Gegen  Ende  des 
15.  Jahrhunderts  war  auch  die  Kunst  der  Seidenweberei,  der  Gold-  und  Silberbrokate 
dort  entwickelt.  Als  die  Medici  die  Gewalt  erlangten  und  Cosmus,  der  erste  Bürger  von 
Florenz  mit  Capponi  vereint  das  Gemeinwesen  leitete,  begann  das  medicäische  Zeitalter 
für  Florenz  (und  die  Welt),  so  dafs  für  Kunst  und  Gewerbfleifs  die  Zeiten  des  Perikles 
zurückgekehrt  zu  sein  schienen. 

Um  diese  Zeit  trat  Leonardo  in  das  rastlose  Treiben  und  Schaffen  von  Florenz 
ein.  Er  sah  die  herrlichen  Bauten,  er  sah  das  Auf-  und  Abwogen  des  Handels,  er  trat 
in  die  Fabriken  und  sah  das  Bestreben,  die  Menschenhand  zu  ersetzen;  —  alles  das 
mufste  auf  den  regen  Geist  des  jungen  Mannes  einen  tiefen  Eindruck  machen,  sein 
Sinnen  und  Denken  fördern  und  Ideen  reifen  lassen.  Wie  bedeutend  auch  seine  Fortschritte 
gewesen  sein  müssen  in  der  Malerei,  lehrt  uns  jene  Mittheilung,  dafs  Leonardo  in  einem 
Bilde  seines  Meisters  für  das  Kloster  Valombroso  einen  Engel  so  trefflich  gemalt  hatte,  dafs 
dieser  erstaunt  Palette  und  Pinsel  hinlegte,  um  sie  nicht  wieder  zu  ergreifen  (was  er  in  der 


11 

That  nur  noch  einmal  später  that).  Es  wird  auch  mitgetheilt,  dafs  Leonardo  eifrig  die 
mathematische  Wissenschaft  in  Florenz  pflegte,  und  wir  haben  keinen  Grund,  daran  zu 
zweifeln,  denn  Leonardo  war  ja  der  Renovator  der  wahren  Kunst,  die  alle  Schönheit  der 
Natur  in  richtigen  Verhältnissen  wiederzugeben  strebte.  Sein  Gemüth  liefs  ihn  dabei  an 
allen  Naturkindern  Gefallen  finden;  er  liebte  die  Pferde  und  die  Vögel.  Aufserordentlich 
weit  aber  brachte  er  es  in  der  Musik,  und  sie  wurde  der  erste  Anlafs,  ihn  von  Florenz 
fortzuziehen. 

Inzwischen  hatte  sich  sein  Ruf  weit  verbreitet,  und  eine  Schaar  von  wifsbegierigen 
Schülern  umgab  ihn,  unter  ihnen  Francesco  Melzi,  Cesare  da  Cesto,  Bernardino  Lovino, 
Luini  Andrea  Sala'ino,  Marc  d'ügionno,  Sandenzio  Ferrari,  Giov.  Antonio  Boltraffio,  Lorenzo 
Lotto,  Andrea  Solaris,  Gobbo,  Bernazano  und  andere.  Der  Herzog  Ludwig  Maria  Sforza 
(il  Moro)  berief  den  Leonardo  nach  Mailand  als  ersten  Violinisten,  nachdem  Leonardo  in 
einem  musikalischen  Wettkampf  den  Sieg  errungen  hatte,  —  keineswegs  ohne  dabei  den 
gröfsten  Maler  Italiens  zu  der  Zeit  und  den  inventiven  Kopf  zu  meinen  und  zu  suchen.*) 
Leonardo  fand  in  Mailand  einen  hervorragenden  Wirkungskreis.  Er  begründete  dort 
eine  Akademie  der  Wissenschaften  und  formte  den  „gothischen  Hof  des  Herzogs  in 
einen  athenischen"  um,  wie  Iloussaye**)  sich  ausdrückt.  Aus  jener  Zeit  stammt  der 
merkwürdige  Brief  des  Leonardo,  aus  welchem  wir  den  Kreis  seiner  Beschäf- 
tigungen und  seines  damaligen  Denkens,  als  Kriegsingenieur,  als  Architekt,  Maler  und 
Skulpteur  des  Herzogs  ermessen  können.  Wir  fügen  diesen  Brief  an  geeigneter  Stelle 
ein.  1483  begann  Leonardo  die  Statue  Francesco  Sforza's  zu  modelliren,  und  1484 
schrieb  er  seinen  Traktat  von  der  Malerei  und  verschiedene  Studien.  „Am  23. 
April  1490,  schreibt  er  selbst,  habe  ich  dies  Buch  begonnen  (Traktat  von  Licht  und 
Schatten)  und  das  Pferd  von  neuem  angefangen."  Leonardo's  Thätigkeit  in  dem  gewerb- 
und  kunstreichen  Mailand  war  getheilt  zwischen  der  Pflege  der  Malerei,  Architektur, 
Kriegswissenschaft  und  des  Gewerbflcifses,  der  Organisation  und  Ausbildung  der  Akademie, 
unter  welcher  wir  eine  erste  Pflegestätte  der  Wissenschaft  freier  und  schöner  Künste 
uns  vorzustellen  haben.  Nicht  mit  Unrecht  wird  in  dieser  Beziehung  angenommen,  dafs 
eine  grofse  Anzahl  seiner  handschriftlich  nachgelassenen  wissenschaftlichen  Betrachtungen 
dazu  bestimmt  waren,  den  Vorträgen  in  der  Akademie  zu  Grunde  gelegt  zu  werden.  — 
Nicht  gering  waren  die  Ansprüche  des  Hofes  an  Leonardo.  Der  Herzog,  im  Besitz  eines 
von  seinem  Vater,  dem  Helden  Francesco  Sforza,  begründeten  mächtigen  Thrones,  liebte 
die  grofsartige  Hofhaltung.  Roh  und  gemein  von  Karakter,  liebte  er  doch  die  Künste 
und  Arbeiten  zur  Hebung  des  Landes,  vielleicht  nur  aus  Ehrsucht,  nebenbei  war  er  allen 
Lastern  ergeben.    Leonardo  war  gleichsam  der  Intendant  der  Hoffestlichkeiten  und  leistete 


*)  So  erzählt  Vasari:  Campori  glaubt  mit  Rio,  dafs  Leonardo  nach  Mailand  gerufen  wurde  zu 
Ausführung  der  Statue  Frmice>co  Sforza's. 

**)  Iloussaye,  Ilistoire  de  Leonard  da  Vinci  p.  56. 

2* 


12 

nach  dem  Zeugnifs  der  Zeitgenossen  Niedagewesenes  und  errang  sich  den  Titel  „Famo- 
sissimo"  in  dieser  Beziehung.  Zumal  bei  der  Hochzeit  des  Herzogs  mit  Beatrix  von 
Este  und  später  bei  der  Vermählung  des  Kaisers  Maximilian  mit  Bianca  Maria  Sforza 
entwickelte  Leonardo  ein  bedeutendes  Talent  für  solche  Schaustellungen.  Bei  letzter 
Gelegenheit,  hatte  Leonardo  sein  von  seinen  Zeitgenossen,  Künstlern,  Poeten  und  Laien 
gleichstimmig  verherrlichtes  Modell  zu  dem  Denkmal  des  Francesco  Sforza  ausgestellt, 
und  ganz  Italien  schallte  von  Bewunderung  und  Ruhmespreisen  des  Leonardo  wieder, 
so  dafs  uns  darnach  allein  schon  der  Verlust  dieses  kolossalen  und  wunderbaren  Denk- 
mals unersetzlich  und  überaus  beklagenswerth  erscheinen  mufs.  Aus  Mangel  an  Geld 
wurde  der  Gufs  in  Erz  verschoben;  endlich  zerstörten  gaskognische  Krieger  das  Modell. 
In  diese  Periode  des  Aufenthalts  am  Mailänder  Hofe  fallen  trotz  der  vielseitigen 
Inanspruchnahmen  Leonardo's,  wie  oben  skizzirt,  eine  Reihe  von  Arbeiten,  die  den  ver- 
schiedensten Gebieten  angehörend,  überall  das  hohe  Genie  des  Mannes  kennzeichnen. 
Vor  allen  nennen  wir  das  berühmteste  Gemälde  „das  Abendmahl"  im  Speisezimmer  der 
Dominikaner  St.  Maria  delle  Grazie.  Diese  Perle  der  Malerei  ward  von  seinen  Schülern 
und  Zeitgenossen  eifrig  studirt  und  nachgeahmt,  so  dafs  wir  heute  nicht  weniger  als  fünfzehn 
bedeutende  Kopien  desselben,  meistens  von  seinen  umittelbaren  Schülern  herrührend, 
besitzen  und  aufserdem  von  Andreas  Milano  dreizehn  Statuen  nach  dem  Gemälde,  welche 
1529  beendigt  und  in  der  Kirche  zu  Sarona  aufestellt  wurden;  später  gab  Rubens 
den  ersten  trefflichen  Kupferstich  davon,  darauf  Raphael  Morghen.  Ferner  stammen  aus 
dieser  Periode  noch  eine  Reihe  von  Gemälden,  von  denen  leider  viele  verloren  gegangen 
sind.  Bei  dem  Dombau  war  Leonardo  hervorragend  beschäftigt;  er  modellirte  die  klei- 
nen Aufsatzthürme  und  anderes.  Für  Beatrix  baute  er  ein  schönes  Bad.  Seinem  Ein- 
flufs  gelang  es,  die  Spätgothik  aus  dem  Baustil  in  Mailand  zu  verdrängen  und  römische 
und  griechische  Architektur  dafür  einzubürgern.  In  diese  Zeit  fällt  ferner  sein  Versuch, 
Figuren  in  Holz  zu  stechen  und  zum  Druck  zu  verwenden.  Es  sind  uns  mehrere  Proben 
hiervon  erhalten;  ferner  eine  Methode  des  Selbstdrucks  von  Pflanzenblättern.  1494 
reiste  er  nach  Pavia  ab  zum  Anatomen  Marco  Antonio  della  Torre  und  trieb  hier  in 
eingehendster  Weise  Anatomie,  die  er  für  höchst  wichtig  für  die  Malerei  hielt.  Kurze 
Zeit  darauf  überreichte  er  dem  Herzog  eine  Schrift:  „Was  ist  vorzüglicher,  Malerei 
oder  Skulptur?",  welche  leider  verloren  gegangen  ist,  deren  Inhalt  jedoch  in  seinem 
Traktat  über  die  Malerei  gewifs  wiedergegeben  ist.  Unter  seinem  Einflufs  schrieb  sein 
Intimus  Lucca  Paciola  sein  berühmtes  Buch  „de  divina  proportione",  zu  welchem  Leonardo 
die  Figuren  zeichnete  und  dessen  Inhalt  von  allen  Biographen  für  Leonardo's  Geistes- 
werk gehalten  wird.  —  Um  1497  beschäftigte  den  Leonardo  die  Schiffbarmachung 
des  Kanals  von  Martesana,  ein  bedeutendes  gigantisches  Werk,  welches  in  der  Folge 
viel  zum  Reichthum  der  Stadt  beitrug.  Ebenso  einflufsreich  für  die  Fruchtbarkeit  des 
Landes  war  die  Kanalisation  des  Ticino,    welche   ein    regelrechtes,    bis  jetzt  erhaltenes 


13 

System  der  Berieselung  der  vordem  spärlich  angebauten  Felder  ermöglichte  und  für  die 
Lombardei  überhaupt  ein  Segen  geworden  ist,  durch  die  Nachahmung  dieses  ersten 
Werkes.  Diese  Periode  führte  ihn  zu  dem  intensiven  Studium  der  Physik  und  Mathe- 
matik. —  Bis  1497  hatte  Leonardo  einfach  und  sogar  ärmlich  gelebt;  da  schenkte  ihm 
der  Herzog,  endlich  erkenntlich,  einen  Weinberg.  Interessant  ist  Leonardo's  Aufzeichnung 
seiner  Arbeiten  im  Jahre  1497.  Unter  einer  Reihe  von  Gemälden,  Zeichnungen,  Portraits, 
finden  wir  Zeichnungen  von  Oefen,  Geräthen  für  Schiflfahrt,  Maschinen  der  Hydraulik, 
anatomische   Studien  etc.    Mit  Recht   sagt  Ambroise  Houssaye   von  diesem  Lebensjahr: 

„Belle  et  supreme  periode  de  sa  vie.  Une  statue  equestre,  une  fresque  monu- 
mentale, les  meilleurs  chapitres  du  Tratte"  de  la  peinture,  un  canal  commence,  un  fleuve 
ouvert  ä  la  navigation,  sans  qu'un  seul  jour  le  maitre  abandonnät  son  academie." 

Im  Jahre  1499  trennte  sich  Leonardo  von  Mailand.  Der  Krieg  hat  jene  lang- 
jährige Häuslichkeit  und  folgenreichen  Idylle  zerstört,  die  theilweise  Leonardo  selbst  ge- 
schaffen, denn  der  Herzog  war  besiegt  und  gefangen  in  den  Händen  des  Königs  Lud- 
wig XII.  von  Frankreich,  wo  er  im  Schlofs  Loches  1510  starb.  Mailand  war  erobert, 
und  die  Aeltesten  der  Stadt  ersuchten  Leonardo,  zum  Empfange  Ludwig's  XII.  eine  über- 
raschende Scenerie  zu  erfinden.  Er  machte  den  Automaten-Löwen.  Er  zog  sich 
dann  auf  seinen  Landsitz  Vaverolo  zurück  und  lebte  ganz  wissenschaftlichen  Studien. 
Allein  seine  Feinde  konspirirten  gegen  ihn,  seine  Werke  wurden  bespottet,  seine  Schriften 
als  die  eines  Häretikers  bekrittelt,  —  genug  der  Undank  seiner  Mitbürger  trieb  ihn  fort. 
Er  wandte  sich  nach  Florenz,  begleitet  von  seinen  Schülern  und  Freunden  Paccioli  und 
Sala'i.  Er  fragte  bei  seinem  Freunde  Melzi  vor,  und  diese  Freundesfamilie  überliefs  ihm 
die  Villa  Vaprio  zum  Sitz.  Freilich  fand  Leonardo  die  Lebensverhältnisse  und  mehr  noch  die 
Kunstverhältnisse  in  Florenz  verändert,  allein  er  wufste  sich  schnell  hineinzufinden.  Er 
fesselte  die  Freunde  der  Kunst  und  Musik  an  sich,  und  die  nächsten  Pinselstriche  öffneten 
ihm  die  Häuser  der  Patrizier,  aus  denen  er  die  schönen  Portraits  Ginevra  de  Benci  und 
Mona  Lisa  del  Giocundo  herausgriff.  (Man  weifs,  dafs  Franz  I.  für  letzteres  Portrait 
45,000  Frcs.  (in  seiner  Zeit!)  zahlte.)  1502  trat  Leonardo  als  Ingenieur  in  den  Dienst 
des  Cesar  Borgia,  um  als  „Ingegnere  Generale"  alle  Befestigungswerke  des  Herzogs  zu 
besichtigen,  zu  verbessern  und  neue  zu  errichten,  ferner  Kriegsmaschinen  zu  bauen.  Die 
erste  Zeit  dieses  Amtes  verging  mit  Reisen,  und  später  hielt  sich  Leonardo  in  Siena,  Rimini, 
Cesena  auf  und  entwarf  eine  Menge  Zeichnungen  für  Maschinen  des  Friedens  und  des 
Krieges.  In  Siena  traf  ihn  das  Dekret  der  Florentiner,  welches  ihn  beauftragte,  die 
Wände  der  Signoria  mit  Gemälden  zu  bedecken.  Mit  ihm  zugleich  war  Michel  Angelo 
aufgefordert.  Beide  fertigten  ihre  Kartons,  —  beide  Entwürfe,  unter  sich  ungemein  ver- 
schieden, waren  Meisterwerke!    Kein  Urtheil  ward  gefällt.         — 


'Ar 


Durch  die  Bitten  des  Georges   Amboise    von  Mailand  und  die  Aufforderung  des 
Königs  Ludwig   XII.   liefs  sich  Leonardo  bewegen,  nach  Mailand  zurückzukehren.    Hier 


r-v^->-vvi'iX^ 


V 


14 

beschäftigte  ihn  der  Martesanakanal  und  das  kolossale  Bassin  St.  Christophe  von  neuem 
und  besonders  auch  die  Ergänzung  der  Wassernüssen,  welche  Behufs  der  Berieselung 
den  Flüssen  entnommen  wurden,  durch  Quellenbohrung,  wie  sie  heute  noch,  in  der  Ebene 
von  Lodi-Giano  besonders,  existirt.  Nochmals  von  der  Florentinischen  Signoria  zur  Aus- 
führung seines  Entwurfs  zurückberufen,  reklamirte  ihn  Ludwig  XII.  und  ernannte  ihn 
zum  Maler  des  Königs  von  Frankreich.  Von  1507—1511  dauerte  eine  schöne  ruhige 
Periode  seines  Lebens  in  Mailand  unter  lieben  Freunden  und  in  einer  ruhigen  beschaulichen 
Lebensweise  voll  Streben  und  Arbeit.  Da  starb  Georges  Amboise,  und  nach  dem  Blut- 
bade von  Brescia  schwang  sich  der  Neffe  des  Moro,  Maximilian  Sforza,  auf  den  Thron 
von  Mailand.  Allein  diese  neue  Herrschaft  dauerte  nicht  lange.  Leonardo,  überdrüssig 
der  Unruhe,  verliefs  mit  seinen  Freunden  Giovanni,  Francesco  Melzi,  Sala'i,  Lorenzo  und 
Fanfoja  am  24.  September  1514  Mailand  und  eilte  nach  Bora.  Hier  blühte  ihm  trotz 
der  anfänglichen  Freundlichkeit  des  Papstes  Julius  keine  Zufriedenheit;  —  statt  zu  malen, 
beschäftigte  er  sich  mit  Luftschiffahrt  und  dem  Fliegen. 

Bald  kamen  Mifsstimmungen  zwischen  Michel  Angelo  und  Leonardo  zu  Tage. 
Leo  X.  war  allen  Franzosenfreunden  nicht  gut  gesinnt,  und  als  solcher  galt  Leonardo, 
uni  so  sah  Leonardo  es  als  das  rathsamste  an,  nach  Mailand  zurückzukehren.  Es  kam 
die  Schlacht  von  Marignan,  die  Freundschaft  Franz'  I.  für  Leonardo,  die  in  Verehrung 
Ausdruck  fand,  und  so  folgte  Leonardo  der  Einladung  des  Königs,  zog  nach  Frankreich 
und  langte  1517  in  Amboise  an,  wo  er  mit  seinen  Freunden  Melzi,  Saläi  und  Villanis 
ruhig  lebte,  bedient  von  seiner  alten  Dienerin  Mathurine  und  bestrebt,  dem  Lande  zu 
nützen.  Er  reiste  umher,  fand  bald  manche  natürliche  Vortheile  heraus,  entwarf  das 
Projekt  des  Kanals  von  Romorantin,  von  welchem  alle  Dessins  aufbewahrt  sind,  und  der  den 
Zweck  hatte,  das  Land  zu  berieseln  und  fruchtbar  zu  machen;  er  entwarf  die  Details 
dazu  und  konstruirte  neue  Schleusenthore;  dort  bereicherte  er  wohl  auch  seine  Ma- 
nuskripte mit  seinen  Erfahrungen  und  Ideen,  obwohl  einige  Biographen  behaupten,  daß* — 
er  in  Frankreich  nichts  mehr  geschrieben  ha&e  und  nichts  mehr  gemalt  habe.  —  Der 
Tod  nahm  1519  am  2.  Mai  diesen  grofsen  Mjfrr  und  Menschen  Leonardo  da  Vinci  von 
der  Erde  fort.  Leonardo  ward  in  der  Kirche  St.  Florentin  in  Amboise  begraben.  Sein 
Grabmal,  längere  Zeit  verschollen,  ward  1863  wieder  aufgefunden,  und  Napoleon  III. 
setzte  dem  grofsen  Manne  ein  Denkmal.  1871  hat  man  auch  in  Mailand  dem  Leonardo 
ein  würdiges  Denkmal  gesetzt. 

III. 

Wir  haben  vorstehend  nicht  ein  Register  der  Werke  des  Leonardo  gegeben,  wie 
es  uns  überhaupt  nur  daran  lag,  die  wichtigen  Lebensumstände  des  grofsen  Mannes  zu 
skizziren.  Der  Karakter  des  Leonardo  ist  öfter  verschieden  beurtheilt.  Es  hat  ihm  ein 
Theil  seiner  Zeitgenossen  die  Schmeichelei  gegen  Fürsten  vorgeworfen.    Allein  mit  dieser 


15 

Behauptung  stimmt  doch  die  allgemeine  Schilderung  seines  Wesens  nicht,  und  aus  allen 
seinen  Werken  athmet  uns  ein  ganz  anderer  Geist  entgegen  als  der  eines  um  Fürsten- 
gunst Buhlenden.  Leonardo  hatte  ein  offenes  Auge  für  die  Schönheiten  der  Natur  und 
Kunst;  sein  ganzer  Geist  war  überaus  harmonisch  angelegt  und  von  einer  Herzensgüte 
und  einem  Wohlwollen  gegen  die  Menschheit  erfüllt,  wie  es  selten  vereint  getroffen  wird 
mit  soviel  Talent  und  Vielseitigkeit.  Seine  Kenntnisse  und  seine  Ideen  verwandte  er 
zum  Besten  der  Menschen,  und  sein  Haus  und  Rath  stand  Jedermann  offen.  Leuchtet 
uns  schon  aus  der  grandiosen  Arbeit  des  Tessinkanals  ein  für  das  Wohl  seiner  Vater- 
landsgenossen bedachter  Geist  entgegen,  —  so  gibt  sich  derselbe  noch  mehr  kund  in 
der  grofsen  Wirksamkeit  zu  Mailand. 

Leonardo  wirkte  hier  in  Mailand  nach  allen  Richtungen  hin.  Als  Musiker,  als  Maler 
und  als  Skulpteur  diente  er  den  Künsten,  als  Architekt  verdrängte  er  die  Verirrungen  der 
Spätgothik  durch  die  Wiederbelebung  der  griechischen  und  römischen  Bauformen,  als  In- 
genieur führte  er  das  Addawasser  in  einem  Kanal  nach  Mailand,  zog  den  200  Miglien 
langen  Kanal  durch  das  Veltlin  und  entwarf  eine  grofse  Reihe  Werkzeuge,  Geräthe  und 
Maschinenapparate,  —  als  Denker,  Philosoph  und  Freund  der  induktiven  Wissenschaften 
verfafste  er  nicht  sowohl  eine  Reihe  von  werthvollen  Schriften  aus  den  Gebieten  der 
Mechanik  und  Physik  und  Mathematik,  —  sondern  näherte  sich  der  freieren  Denkungs- 
weise,  so  dafs  er  fast  als  Häretiker  betrachtet  ward,  und  fand  er  die  Unhaltbarkeit  der 
papistischen  Lehre  von  der  Unbeweglichkeit  der  Erde,  —  ein  gewaltiger  Denker,  der  an 
Gründlichkeit  und  Vielseitigkeit  des  Wissens  einer  der  ersten  Männer  der  aufwachsenden 
grofsen  Periode  der  Wissenschaften  in  Italien  genannt  werden  mufs.  An  Bedeutung  unter 
den  Malern  der  erste,  der  Gestaltungskraft  und  Formenstrenge  und  Naturwahrheit  an- 
strebt und  erreicht,  der  Gesetze  für  die  Form  der  Malerei  aufstellt  und  so  für  seine 
und  die  folgende  Zeit  der  Regenerator  der  Kunst  wird,  —  schafft  er  die  trefflichsten 
Kunstwerke  selbst,  die  nur  ein  Raphael,  ein  Michel  Angelo  später  vielleicht  übertroffen  hat.  Er 
formt  mit  kühner  Hand  das  Reiterdenkmal  Franz  Sforza's,  das  an  Gröfse  und  Schön- 
heit alles,  was  die  vorangehende  Periode  gebracht,  klein,  elend  erscheinen  liefs.  — 
Und  dabei  finden  wir  in  Leonardo  einen  Mann  von  einer  Körperstärke,  dafs  er  ein 
Hufeisen  mit  den  Händen  zerbrechen  konnte,  —  und  von  einer  Bescheidenheit  und 
Scheuheit  des  Geistes,  von  einer  Unzufriedenheit  mit  sich  selbst,  dafs  wir  ihn  stets 
zurücktreten  sehen,  wo  andere  sich  breit  machten,  dafs  er  sich  fürchtete,  Lob  über  seine 
unsterblichen  Bilder  zu  hören,  weil  er  der  Welteitelkeit  zu  verfallen  glaubte,  dafs  er, 
ehe  er  ein  Werk  von  Bedeutung  begann,  erst  die  umfassendsten  Vorstudien  machte  und 
dabei  sich  in  den  Geist  der  Wissenschaften  tief  versenkte,  bis  er  sich  stark  genug  glaubte, 
gleichsam  den  Kampf  mit  seiner  Aufgabe  aufzunehmen.  Und  hatte  er  sie  nun  gelöst, 
so  befriedigte  ihn  doch  die  Lösung  nie,  da  er  fühlte,  dafs  er  nun  doch  noch  im  Stande 
sei,  sie  noch  vollkommener  zu  bewirken.    Dabei  erschreckte  ihn  das  Glockengeläute,  der 


16 

Mönchsgesang  und  Kindsgeschrei;  bei  Gewittern  flüchtete  er  fast  kindisch  unter  die 
Decke  des  Bettes,  —  nur  das  Plätschern  des  Regens  heimelte  ihn  an,  und  behaglich 
schaute  er  dem  Tropfenfall  zu. 

Leonardo  hinterliefs  ein  Testament,  demzufolge  Francesco  da  Melzo  als  Belohnung 
für  seine  Freundschaft  sämmtliche  nachgelassene  Schriften  des  Leonardo  und  seine  Hand- 
zeichnungen erhielt.  (ItemJLzjwef&to  testatore  dona  et  eoneede  ad  messer  Francesco  da 
Melzo,  gentilomo  da  Milano,  per  remuneratione  de  servitii  ad  epso  grati  a  lui  facti  per 
il  passato  tutti,  et  chiaschaduno  di  libri,  che  il  dicto  testatore  ha  de  presente  et  altri 
instrumenti  et  portracti  circa  larte  sua  et- industri^-4a  pictori.)  An  diese  Schriften  knüpft 
sich  unser  spezielles  Interesse  für  Leonado  hier  an,  denn  sie  sind  die  Aufzeichnungen 
und  Schriften  des  Ingenieurs,  Architekten,  Physikers,  -Mathematikers,  Mechanikers  und 
Anatomen  Leonardo  da  Vinci,  welche,  wenn  sie  zu  seiner  Zeit  gedruckt  und  publizirt 
worden  wären,  sicherlich  einen  gewaltigen  Einflufs  auf  die  Gesammtfortschritte  aller  Ge- 
biete des  Wissens  gehabt  haben  würden,  —  deren  Studium  für  jeden  Biographen  des 
Mannes  unerläfslich  ist,  —  und  die  endlich  dazu  angethan  sind,  das  Dunkel  zu  lichten, 
welches  über  der  Geschichte  der  induktiven  Wissenschaften  sowie  der  Praxis  der  In- 
dustrien seiner  Zeit  bisher  geschwebt  hat.      Ol 

Wie  kam  es  aber,  dafs  diese  bedeutenden  Werke  eines  so  berühmten  Mannes 
unbekannt  bleiben  konnten?  —  Francesco  da  Melzo  nahm  die  Manuskripte  Leonardo's 
mit  sich  und  bewachte  sie  sorgsam  bis  an  seinen  Tod.  Mazenta  (gestorben  1635)  hat 
uns  eine  Geschichte  der  Manuskripte  aufgeschrieben.  Er  war  für  dieselben  interessirt, 
weil  er  beim  Festungsbau  Leonardo's  Gesetzen  folgte,  ebenso  bei  seinen  Studien  über  die 
Schiffbarmachung  der  Adda.  Mazenta  kam  durch  Zufall  in  Besitz  von  dreizehn  Volumen 
der  Schriften  Leonardo's.  Dieselben  waren  von  einem  gewissen  Lelio  Gavardi  d'Asola  aus 
der  Villa  Vavero,  welche  Francesco  Melzi  sammt  dem  Manuskript  geerbt  hatte,  mit 
Erlaubnifs  der  nachgebliebenen  Söhne  Melzi's  nach  Florenz  gebracht,  mit  der  Absicht, 
dieselben  dem  Grofsherzog  Franz,  Liebhaber  solcher  Handschriften,  zu  Kauf  anzubieten. 
Im  Moment,  wo  Gavardi  in  Florenz  ankam,  starb  der  Grofsherzog  1587.  Gavardi  ging 
nun  nach  Pisa  zu  Manucio,  einem  grofsen  Liebhaber  von  Büchern.  Allein  dieser  Mann 
scheint  sich  nicht  besonders  anständig  gegen  Gavardi  benommen  zu  haben,  so  dafs  dieser  es 
vorzog,  die  dreizehn  Volumen  dem  J.  A.  Mazenta  nach  Mailand  mitzugeben,  mit  der  Bitte, 
diese  Bände  der  Familie  Melzi  zurückzubringen.  Mazenta  entledigte  sich  dieses  Auftrags, 
allein  der  Aelteste  der  Melzi,  Dr.  Horatius  Melzi,  schenkte  die  dreizehn  Bände  dem  Mazenta, 
indem  er  ihm  mittheilte,  dafs  auf  dem  Landhause  noch  eine  Menge  solcher  Schriften 
herumlägen.  Da  Mazenta  über  die  Liberalität  des  Horaz  Melzi  nicht  schwieg,  fanden 
sich  bald  viele  Amateurs  bei  demselben  ein  und  wählten  aus  den  Hsndschriften  Einzelnes 
aus.  Besonders  unverschämt  war  bei  dieser  Gelegenheit  Pompejus  Aretin  (Sohn  des 
Kardinals  Leoni),  ein  Bronzegiefser  und  Künstler  au  Philipp's  H.  Hof  im  Escurial.     Der- 


17 

selbe  wollte  dem  König  schmeicheln  oder  selbst  ein  gutes  Geschäft  machen  und  bat  den 
Melzi  überdem,  dafs  er  die  dreizehn  Volumen  zu  diesem  Zwecke  wieder  herbeischaffe.  Melzi 
nun,  sehr  überrascht  und  einen  hohen  Werth  in  dem  Verschenkten  ahnend,  bat  kniefällig 
den  Bruder  des  Mazenta  um  Herausgabe  der  Volumen.  Dieser  gab  sieben  zurück,  während 
die  Familie  Mazenta  ^^äter,  1603,  von  den  anderen  ein  Volumen  dem  Kardinal  Borromöo 
für  die  Ambrosianische  Bibliothek  schenkte,  ein  Volumen  an  Ambroise  Figini,  einen  be- 
rühmten Maler  seiner  Zeit,  von  dem  es  Hercules  Bianchi  erbte.  Ein  drittes  Volumen 
gab  Mazenta  auf  vieles  Drängen  an  den  Herzog  von  Savoyen  ab,  und  als  der  Bruder  des 
Mazenta  1617  starb,  wufste  Aretin  die  übrigen  drei  Volumen  in  seinen  Besitz  zu  bringen. 
Aretin  formte  aus  einer  Keihe  von  Bänden  ein  grofses  Volumen  von  392  Blättern  in 
Folio,  und  als  er  starb,  kam  dasselbe  in  die  Hände.  Polydor  Calchi's,  der  es  ver- 
kaufte an  Galeazzi  Arconati.  Arconati  bewachte  diesen  Band  in  seiner  Bibliothek  und 
wies  alle  Gebote  zurück.  Howard  Graf  von  Arundel  bot  dafür  im  Namen  des  englischen 
Königs  60,000  Frcs.  Allein  Arconati  hielt  diesen  Schatz  fest  und  wufste  auch  die  durch 
Aretin  in  Leoni's  Besitz  gelangten  zu  bekommen.  Um  1637  schenkte  Arconati  die  ganze 
Kollektion  an  die  Ambrosianische  Bibliothek.  1674  endlich  lieferte  Horace  Archinto  noch 
ein  Volumen  ein,  und  die  Familie  Trivulcio  schenkte  ein  in  ihrem  Besitz  befindliches 
Manuskript,  eine  Vocabulaire,  derselben  Bibliothek.  —  Eine  Anzahl  Leonardo'scher 
Schriften  wurde  durch  Thomas  Graf  von  Arundel  1610  bereits  acquirirt  und  dem  British 
Museum  einverleibt.  Die  anatomischen  Studien  sind  ebenfalls  nach  London  gewandert, 
und  zwar  stammen  diese  und  andere  Blätter  wohl  von  dem  Codex  des  Bianchi  her,  der 
sie  an  einen  gewissen  Engländer  Smith  verkaufte.  —  Eine  Keihe  Schriften  des  Leonardo 
war  im  Landhause  Vaprio  bei  Florenz  verblieben,  im  Besitz  der  Melzi.  Dieselben  sind 
später  an  das  Florentiner  Museum  gekommen.  Endlich  befinden  sich  etliche  Blätter 
in  Venedig. 

Die  auf  diese  Weise  entstandene  Hauptsammlung  in  der  Ambrosiana  hatte  leider 
das  Schicksal,  1796  von  den  Franzosen  geraubt  und  nach  Paris  transportirt  zu  werden, 
mit  Ausnahme  des  grofsen  Volumens,  welches  Aretin  kompilirt  hat,  des  berühmten  Codex 
Atlanticus. 

Trotzdem  beim  Friedensschlufs  1814  die  Rückgabe  der  Leonardo'schen  Manuskripte 
an  die  Ambrosiana  statuirt  war,  erfüllten  die  Franzosen  diese  Ehrenpflicht  doch  nicht, 
unter  dem  Vorwande,  diese  vierzehn  Codices  seien  nicht  mehr  aufzufinden.  Kurze  Zeit 
darauf  ah.er  wurden  sie  der  Bibliothek  des  Instituts  einverleibt. 

Die  Perle  der  nachgelassenen  Manuskriptsammlungen  ist  der  Codex  Atlanticus,  "iM- ' 
—    abgesehen    von    den   Handzeichnungen    und    Karrikaturen.      Der    Codex   Atlanticus    \ 
allein  würde  hinreichen,    um  an  seinem  Inhalt  die  eminenten  Kenntnisse  des  Leonardo 
zu  erweisen. 

Schon  in  obiger  Nachweisung  über  den  Verbleib  der  Manuskripte  des  Leonardo 


_  Ma*aJ!jksl«'iM.  <* 


liegt  der  Grund  offenbar^  dafs  der  Inhalt  derselben  seiner  Zeit  nicht  zu  Gute  kommen. 
konnte.  Zuerst  aus  Pietät  ängstlich  bewahrt,  sodann  aus  ünkenntnifs  vernachlässigt  und 
zersplittert,  von  dem  einen  aus  Geldgier,  von  dem  andern  aus  Liebhaberei  festgehalten, 
bot  sich  keine  Gelegenheit  dar  zum  Bekanntwerden,  und  als  man  endlich  alles  beinahe 
beisammen  hatte  und  daran  dachte,  durch  den  Druck  diese  Schätze  bekannt  zu  machen, 
da  wurde  die  Kollektion  wieder  zersplittert.  Die  Spuren  von  Verbreitung  derLeonardo- 
schen  Lehreu  sind  äusserst  spärlich.  Benvenuto  Cellini*)  erzählt  uns  von  einer  Kopie, 
welche  ihm  von  einer  Leonardo'schen  Schrift  durch  einen  ganz  armen  Mann  angeboten 
ward  1542,  —  vermuthlich  eine  Kopie,  der  zu  Vaprio  aufbewahrten  Handschriften,  die 
über  Skulptur,  Malerei  und  Architektur  handelten.  Ferner  hatte  Pinelli  von  Neapel 
Kopien  von  Leonardo's  Schriften  über  die  Malerei  entnommen  und  benutzte  dieselben 
mit  anderen  Studien  zur  Herstellung  seines  Codex  Pinellianus,  der  nach  seinem  Tode 
(1601)  in  Paris  durch  Dufresnc  1651  veröffentlicht  wurde.  Eine  ähnliche  Ausgabe  er- 
schien von  Stefano  Della-Bella  (1610-1664)  in  Florenz  1792.  Der  Trattato  della  Pittura 
ist  frühzeitig  und  sicherlich  von  allen  seinen  Schülern  bereits  kopirt  worden  und,  1651 
zuerst  gedruckt.  Die  Ambrosiaua  besitzt  hiervon  eine  Kopie  durch  Mazena's  Vermittelung. 
Sic  besitzt  ferner  noch  Kopien  von  diversen  Abhandlungen,  die  theilweise  in  den  Pariser 
Codices  enthalten  sind,  so  von  der  berühmten  Schrift  des  Leonardo :  Sul  moto  e  niisura 
dell'  acqua,  welche  später  1828  in  Bologna  gedruckt  ward,  im  übrigen  aber  sehr-  be- 
kannt war.  In  diesem  kopirten  Codex  sind  noch  viele  andere  Sachen  enthalten,  beson- 
ders auch  die  Dessins  für  den  Kanal  Martesana.  Ein  dritter  Band  enhält  Kopien  von  Trattato 
d'  ombre  e  lumi,  Trattato  della  Pittura  u.  s.  w.  In  der  Periode  von  1625 — 1645  wurden 
von  den  im  Besitz  des  Arconati  befindlichen  Schriften  Kopien  für  die  Bibliothek  des 
Kardinals  Barberini  angefertigt.  Ebenso  nimmt  mau  an,  dafs  ein  Theil  der  in  England 
befindlichen  Manuskripte  nur  Kopien  sind.  —  Uebrigens  geht  aus  dem  allgemeinen  Still- 
schweigen der  sämmtlichen  Schriftsteller  über  naturwissenschaftliche  Gebiete  aus  dem 
16.  uiiH  17.  Jahrhundert  genugsam  hervor,  dafs  im  Grofsen  und  Ganzen  Leonardo's 
Schriften  unbekannt  blieben!  Dagegen,  und  dies  werden  wir  im  Verlauf  der  speziellen 
Besprechung  seiner  Schriften  zeigen,  ist  einzelnes  bekannt  geworden,  und  wie  oben  be- 
reits augeführt  worden,  dafs  Galilei's  Art  der  Betrachtung  mit  der  des  Leonardo 
frappante  Aehulichkeit  habe,  so  auch  finden  wir  z.  B.  einige  Leonardo'sche 
Gesetze  und  Beispiele  zur  Theorie  der  Wellenbewegung  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  den 
physikalischen  Lehrbüchern  wiederkehren.  Es  ist  natürlich  unfruchtbar,  derartige  absolute 
Beweise  und  Nachweise  führen  zu  wollen;  wir  können  nur  bedauern,  dafs  die  Schriften 
nicht  früher  zur  Kenntnifs  gelangt  sind. 

Die  spätere  Literatur  weist  auch   nicht   allzuviel   von  Leonardo   auf.    Da  schon 


*)  Cellini  Discorso  sull'  architectura  publ,  dal  Morelli  (Naniana). 


Vasari  (Vite  dei  Pittori,  Scultori  ecc.)  von  den  nachgelassenen  Schriften  des  Leonardo 
für  Mechanik,  Physik,  Maschinen  etc.  spricht  (1568),  so  müfste  dadurch  allerdings  wohl 
die  Aufmerksamkeit  im  Laufe  der  Jahrhunderte  darauf  gezogen  worden  sein.  Und  dennoch 
ist  dieselbe  sehr  gering  gewesen.  So  wesentliche  Bewunderung  Leonardo  als  Maler  und 
Sculpteur  beständig  gefunden  hat,  so  wenig  wurde  Acht  gegeben  auf  seine  übrigen 
Leistungen.  Studirt  hat  man  seine  Manuskripte  allerdings  öfter,  aber  nur  wenige  haben 
den  innern  Werth  derselben  hervorgehoben,  den  geschichtlichen  Werth.  Die  meisten 
hatten  sich  begnügt  mit  der  Durchsicht  und  waren  dann  befriedigt  fortgegangen.  Während 
Leonardo  als  Maler  eine  Reihe  Biographen  gefunden  hat,  wie  Vasari,  Amoretti,  Ranalli, 
Campori,  Piles,  Rio,  Lomazzo,  Manzi,  Libri,  Calvi,  Brown,  Marquis  d'Adda,  Delecluze, 
MarXj  Houssaye,  Gallenberg,  Bossi,  Blanc,  Braun,  Clement,  und  in  vielen  Kunstschriften 
seine  Gemälde  und  Kunstwerke  beurtheilt  werden  (auch  Goethe  referirt  darüber),  während 
seine  Familienverhältnisse  gründlich  untersucht  worden  sind  durch  Uzielli,  Calvi  und 
Dozio,  ist  für  die  Fülle  der  übrigen  Leistungen  wenig  geschehen,  so  dafs  dieselben  noch 
heute  im  allgemeinen  als  unbekannt  betrachtet  werden  können.  Die  Begründung  dafür 
haben  wir  bereits  auf  mehrfache  Weise  dargethan.  Was  bisher  über  die  wissenschaftliche 
Bedeutung  Leonardo's  klargelegt  ist,  wollen  wir  folgen  lassen,  nicht  ohne  den  bestimmten 
Vermerk,  dafs  alle  diese  Arbeiten  Stückwerk  sind  und  nur  einen  geringen  Theil  der 
Arbeiten  und  Leistungen  Leonardo's  umfassen,  ja  oft  nur  ein  einziges  Objekt. 

Gerli  Milanese,  üisegni  di  Leonardo  da  Vinci  incisi  e  publicati  da  — .  1784. 
Hiernach  die  englische  Ausgabe  von  J.  Chambeiiain,  London  1797. 

Venturi,  Essai  sur  les  ouvrages  Physico-Mathe'matiques  de  Leonard  da  Vinci  etc. 
Paris  1797. 

Auch  Amoretti,  Memorie  etc.  enthält  über  die  wissenschaftliche  Seite  Leonardo's 
schätzenswerthe  Beiträge. 

Rippetti,  Dizionario  geogr.  fisico-storico  della  Toscana.    Vol.  V.,  p.  789. 

Govi,  Leonardo  scienziato,  filosofo,  politico  et  moraliste. 

Trattato  del  moto  e  misura  delT  acqua  di  Leonardo  da  Vinci.  1828.   Bologna. 

Lombardini,  delF  origine  e  del  progresso  della  scienza  idraulica  nel  Milanese 
et  in  altri  parti  d'Italia. 

Libri,  Hist.  seien,  matem.  III. 

Marx,  Ueber  M.  A.  della  Torre  und  Leonardo  da  Vinci,  die  Begründer  der 
bildlichen  Anatomie.     Göttingen,  1849. 

Grothe,  Allg.  deutsche  polytechn.  Zeitung  1873,  pag.  2.  25.  41.  53.  78.  89.  130. 
141.  153.  169.  249.  —  1874.  pag.  87.  Ueber  Leonardo's  Bedeutung  für  die  Geschichte 
der  induktiven  Wissenschaften,  mit  36  Abd. 

Saggio  delle  opere  di  Leonardo  da  Vinci.  Mailand  1872  (ausgegeben  Februar  1873), 
mit  24  Tafeln  aus    dem    Codex  Atlanticus.     So   trefflich   diese   Ausgabe   an  sich  ist,  so 


20 

enthält  sie  doch  nur  wenige  der  werthvolleren  Zeichnungen  des  Leonardo.  Ebenso  ist 
zu  bedauern,  dafs  man  von  der  Ausgabe  nur  300  Exemplare  gedruckt  hat,  so  dafs  schon 
jetzt  kein  Exemplar  mehr  aufzutreiben  ist  und  ein  hoher  Preis  für  den  Ankauf  gezahlt 
wird.  Jedenfalls  zeigt  diese  Ausgabe  sich  nicht  auf  richtigem  Wege,  sowohl  Leonardo's 
Bedeutung  für  die  Geschichte  und  die  Wissenschaft  klar  zu  legen  (trotz  der  an  sich 
trefflichen  Einleitung)  und  dieselbe  populärer  zu  machen.  —  Von  den  vorherbenannten 
Schriften  tritt  die  von  Venturi  als  diejenige  auf,  welche  für  Leonardo  als  Physiker  und 
Mathematiker  Propaganda  machte. 

Bis  1797  war  also  den  naturwissenschaftlichen  Kreisen  der  Name  Leonardo  da 
Vinci  fast  fremd.  Da  erschien  die  Schrift  von  Venturi :  Essai  sur  les  ouvrages  physico-mathe- 
matiques  de  L.  de  V.  in  Paris  und  verbreitete  zuerst  die  verlorne  Kunde  von  Schriften 
des  Leonardo,  die  in  das  Bereich  der  induktiven  Wissenschaften  gehören.  Dieselben 
waren  1796  von  den  Franzosen  nach  Eroberung  Mailauds  nach  Paris  zum  Theil  über- 
geführt, während  sie  zuvor  in  der  Ambrosianischen  Bibliothek  zu  Mailand  wohlgeborgen 
und  der  Einsicht  des  Publikums  wenig  zugänglich  geruht  hatten.  Venturi  hatte  diese 
reichen  Manuskripte  gesehen  und  durchstudirt  trotz  der  Schwierigkeit,  welche  die  Schreib- 
weise Leonardo  da  Vinci's  von  rechts  nach  links  mit  sich  brachte,  —  und  hatte  ge- 
funden, dafs  die  Bedeutung  dieser  Schriften  grofs  sei  und  Leonardo  mit  Recht  in  die 
Reihe  der  Beförderer  des  Wiederauflebens  der  induktiven  Wissenschaften  hervorragend 
eintrete  und  als  ein  Vorgänger  Galilei's  zu  betrachten  sei.  Dafs  die  Schrift  Aufsehen 
machte,  bezeugt  WhewelL  indem  er  dieselbe  sofort  zur  Ergänzung  des  betreffenden  Ab- 
schnittes seiner  Geschichte  der  induktiven  Wissenschaften  benutzte.  Schon  vorher  1757 
hatte  Ximenes  einen  Brief  des  Leonardo  an  Christoph  Columbus  vom  Jahre  1473  ent- 
deckt „über  die  Wahrscheinlichkeit  des  Erreichens  des  Orient-Indiens  auf  dem  intendirten 
Wege",  und  in  London  ward  von  Richard  Henry  eine  Karte  von  Amerika  gefunden  mit 
Leonardo's  Unterschrift,  —  die  erste  Karte  Amerika's.  Major  Richard  Henry:  Memoir 
on  a  Mappemonde  by  Leonardo  da  Vinci,  being  the  earliest  map  hitherto  known  con- 
taining  the  name  of  Amerika.  Archaeologia  Vol.  XI.  London.  —  1828  ward  endlich  die 
zusammenhängende  Schrift  Leonardo's:  Del  moto  e  misuia  dell'  Aqua  di  Leonardo  da 
Vinci  in  Bologna  herausgegeben,  während  später  Elia  Lombardini  in  seinen  Osservazioni 
storico-critiche  sopra  dell'  origini  e  del  progresso  della  Scienza  idraulica  nel  Milanese  ed 
in  altre  parte  d'Italia  gerade  hervorhob,  dafs  Leonardo  da  Vinci  der  Urheber  einer 
systematischen  Hydraulik  gewesen  sei. 

Libri,  in  seiner  Geschichte  der  mathematischen  Wissenschaft,  nimmt  bereits  ein- 
gehender Rücksicht  auf  Leonardo  und  zitirt  unter  anderen  auch  Chasles,  der  in  seiner 
Geschichte  der  Geometrie  an  das  Ovalwerk  des  Leonardo  nach  Mittheilung  seines 
Schülers  anknüpft,  wenn  er  auch  dabei  mit  seinen  Betrachtungen  in  der  Irre  geht,  wie 


21 

Reuleaux*)  gezeigt  hat.  Hier  und  da  tauchen  einzelne  Betrachtungen  des  Leonardo  auf, 
abgesehen  von  dem  trefflichen  Werke  über  die  Anatomie  des  Leonardo  von  Marx. 
Michel  Alcan  gab  in  seinem  Traite  du  travail  de  laine  irrthümlich  eine  Zeichnung  einer 
Leonardo'schen  Longitudinalscheermaschine  für  Tuche**),  die  in  der  That  eine  Maschine 
zum  Ziehen  und  Härten  der  Metallfedern  war.  Dies  war  die  Veranlassung,  dafs  der 
Verfasser  dieser  Abhandlung  mit  seinen  bereits  aus  Liebhaberei  an  der  Geschichte  der 
Technologie,  welche  er  seit  1869  an  der  Königl.  Gewerbe-Akademie  vortrug,  gesammelten 
Notizen  über  Leonardo  hervortrat  und  zunächst  den  Irrthum  des  Alcan  nachwies  unter 
Beibringung  der  Kopien  der  Leonardo'schen  Skizzen.  Karmarsch  nannte  diese  Skizze 
in  seiner  Geschichte  der  Technologie  „naiv",  und  um  einmal  die  Bedeutung  des  Leonardo 
für  die  Technologie  darzulegen,  veröffentlichte  der  Verfasser  dieses  eine  Reihe  Arbeiten 
über  Leonardo  unter  Beibringung  der  Handzeichnungen  in  Kopien  seit  Medio  Dezem- 
ber 1872.  ***)  Im  Frühjahr  1873  erschien  dann  die  Ausgabe  II  Saggio  etc.  mit  24  pho- 
tographirten  Tafeln  und  kurz  darauf  die  treffliche  Abhandlung  von  Alessandro  Cialdi, 
Leonardo  da  Vinci,  fondatore  della  dottrina  sul  moto  ondoso  del  Mare.****) 

Alles  dies  regte  den  Verfasser  an,  nunmehr  noch  eingehender  die  Studien  über 
Leonardo  fortzusetzen  und  zumal  nach  Kenntnifsnahme  des  bereits  Veröffentlichten,  dahin 
zu  streben,  die  Lücken  auszufüllen.  Bei  allen  diesen  Studien  und  in  dieser  Wiedergabe 
ihrer  Resultate  ist  als  erster  Gesichtspunkt  festgehalten :  „Leonardo' s  nachgelassene 
Schriften  gleichsam  als  eine  Geschichtsquelle  zu  betrachten  und  aus  ihr 
Daten  festzustellen  für  die  geistige  und  materielle  Entwicklung  seiner 
Zeit  in  Wissenschaft  und  Technik,  um  jene  oben  näher  bezeichnete  bisher 
dunkel  gebliebene  Geschichte  seiner  Zeit  so  weit  als  möglich  zu  erhellen." 
Daneben  stellt  sich  unzweifelhaft  heraas,  welche  Bedeutung  Leonardo  selbst  als  Mathe- 
matiker, Mechaniker,  Physiker,  praktischer  Ingenieur  und  Erfinder  resp.  Konstrukteur 
hat,  wie  weit  sein  Genie  seinen  Zeitgenossen  voraneilte. 

IV. 

Wir  hatten  bereits  im  I.Abschnitt  dieser  Abhandlung  dargelegt,  wie  die  philosophische 
Betrachtungsweise  des  Aristoteles  überall  im  Mittelalter  die  herrschende  war.  Wir  werden 
jn  fernerer  Darstellung  noch  speziell  diesen  Einflufs  kennzeichnen  müssen.  Leonardo 
zeigt  sich  in  seiner  Art  und  Weise  der  Beobachtung  nicht  von  der  aristotelischen  Methode 
befangen.  Klar  und  deutlich,  unseren  jetzigen  Anschauungen  ungemein  nahe  verwandt, 
gibt  er  die  Prinzipien  an,  nach  denen  er  die  Naturbetrachtung,  die  Forschung  vornimmt. 


*)  Verhandlungen  des  Vereins  für  Gewerbfleifs  in  Preufsen. 
**)  Zeitschrift  des  Vereins  der  Wollinteressenten  1870. 
***)  Allg.  deutsche  polyt.  Zeitung  von  Dr.  H.  Grothe  1873. 
****)  Jl  Politechnico.    Mailand  1873.    Nr.  3. 


22 

Die  Art  und  Weise  des  Behandeins  naturwissenschaftlicher  und  technischer 
Fragen  seitens  des  Leonardo  finden  wir  in  seinen  Schriften  selbst  präzisirt,  wo  er  sagt: 
„Zuerst  stelle  ich  bei  der  Behandlung  naturwissenschaftlicher  Probleme  einige  Experi- 
mente an,  weil  meine  Absicht  ist,  die  Aufgabe  nach  der  Erfahrung  zu  stellen  und  dann 
zu  beweisen,  weshalb  die  Körper  gezwungen  sind,  in  der  gezeigten  Manier  zu  agiren. 
Das  ist  die  Methode,  welche  man  beobachten  mufs  bei  allen  Untersuchungen  über  die 
Phänomene  der  Natur.  Es  ist  wahr,  dafs  die  Natur  gleichsam  mit  dem  Raisonnement 
beginnt  und  durch  die  Erfahrung  endigt,  aber  gleichviel,  wir  müssen  den  entgegenge- 
setzten Weg  nehmen;  wie  ich  schon  sagte,  wir  müssen  mit  der  Erfahrung  beginnen  und 
mit  ihren  Mitteln  nach  der  Entdeckung  der  Wahrheit  trachten."  —  Ist  das  nicht  die 
gleiche  Idee,  die  Franz  Baco  in  seiner  Vorrede  zur  Instauratio  magna  auseinandersetzte 
und  in  der  Einleitung  seines  Werkes,  zum  zweiten  Theile,  des  Breiteren  besprach,  und 
die  er  in  seinem  Novum  Organum  wiederholt  als  selbstbefolgt  darlegte?  Ein  anderer 
Wahlspruch  des  Leonardo  besagt:  „Die  Theorie  ist  der  Feldherr,  die  Praxis  sind  die 
Soldaten,"  und  wieder  am  andern  Orte  spricht  er  aus:  „Der  Interpret  der  Wunderwerke 
der  Natur  ist  die  Erfahrung.  Sie  täuscht  niemals;  es  ist  unsere  Auffassung,  welche  zu- 
weilen sich  selbst  täuscht,  weil  sie  Effekte  erwartet,  die  die  Natur  nicht  gibt.  Wir 
müssen  die  Erfahrung  kousultiren  in  der  Verschiedenheit  der  Fälle  und  Umstände,  bis 
wir  daraus  eine  General-Regel  ziehen  können,  die  darin  enthalten.  Und  wozu  sind  diese 
Regeln  gut?  Sie  führen  uns  zu  weiteren  Untersuchungen  der  Natur  und  zu  Schöpfungen 
der  Kunst.  Sie  verhindern,  dafs  wir  uns  selbst  verlieren  oder  andere,  wenn  wir  Re- 
sultate uns  versprechen,  die  nicht  zu  erhalten  sind."  Ferner  sagt  er:  „Es  gibt  keine 
Gewifsheit  in  den  Wissenschaften,  wo  man  nicht  einige  Theile  der  Mathematik  anwenden 
könnte,  oder  die  nicht  davon  in  gewisser  Beziehung  abhinge.  —  In  dem  Studium  der 
Wissenschaften,  welche  mit  der  Mathematik  zusammenhängen,  sind  diejenigen,  welche 
die  Natur  nicht  konsultiren,  oder  die  Autoren,  welche  nicht  Kinder  der  Natur  sind,  ich 
sage  es  laut,  nur  kleine  Kinder.  Die  Natur  allein  ist  wirklich  der  Lehrer  des  wahren 
Genies.  Und  sehet  die  Sottise!  Man  spottet  über  einen  Menschen,  welcher  lieber  von 
der  Natur  lernen  will,  als  von  Autoren,  welche  doch  nur  die  Schüler  derselben  sind.4' 
Und  Vol.  E.  fol.  8  seiner  Manuskripte  schreibt  Leonardo  da  Vinci: 

„La  meccanica  e  il  paradiso  delle  scienze  matematiche  perche  con  quella 

si  viene  al  frutto  delle  scienza  matematiche." 
Alle  diese  Aussprüche   geben   uns    die  Erklärung  für  die  unermüdliche  Methode 
und  Arbeit  des  Leonardo    auf  wissenschaftlichem  Gebiete,   auf  dem  Gesammtgebiet   der 
Naturwissenschaften. 

Wir  übergehen  hier  die  trefflichen  Sentenzen,  die  Leonardo  als  Philosoph  vor- 
bringt über  die  menschlichen  Leidenschaften,  über  den  Glauben  und  die  Religion,  über 
den  Tod,  über  Selbstbeherrschung  u.  s.  w.    In   allen   weht   ein   tief  gefühlvoller   Geist, 


23 

eine  Einfachheit  und  Klarheit  der  Anschauung,  eine  Ergebenheit  in  das  Geschick,  wie 
es  auch  zugetheilt  sei.  Wir  übergehen  ferner  seine  poetischen  Ergüsse,  seine  Sprach - 
und  grammatikalischen  Studien,  seine  Schriften  über  die  Malerei,  und  wenden  uns  der 
näheren  Betrachtung  der  Leistungen  zu,  die  gleichsam  Ausflüsse  oder  Resultate  obiger 
philosophischer  Methoden  sind. 


Die  mathematischen  Kenntnisse Leouardo's  sind  von  seinen  Zeitgenossen  und 
Späteren  hoch  angeschlagen  worden.  Wenn  Leonardo  selbst  auch  vielleicht  keine  neuen 
mathematischen  Gesetze  gefunden  hat,  so  ist  vor  allen  Dingen  das  anzuerkennen,  dafs 
er  bei  den  Konstruktionen  von  Maschinen,  dem  Suchen  nach  Mechanismen  u.  s.  w.  stets 
die  Mathematik  anwendete  und  sie,  wie  er  sagt,  als  den  wahren  Schlüssel  zur  Forschung 
benutzt.  Libri  schreibt  ihm  die  Erfindung  des  -+-  und  —  Zeichens  zu  In  der  That 
bedient  er  sich  dieser  Zeichen  durchweg,  —  allein  es  steht  damit  nicht  fest,  dafs  die- 
selben nicht  arabischen  Ursprungs  gewesen  seien.  Jedenfalls  ist  Leonardo  einer  der  ersten 
in  Italien,  welcher  dieser  Zeichen  sich  bediente.  Er  beschäftigte  sich  in  den  Manuskripten 
sehr  viel  mit  der  Geometrie,  selbst  auf  Blättern,  die  eine  mathematische  Arbeit  nicht 
für  nötbig  erkennen  lassen,  erscheinen  in  den  Ecken  oder  auch  mitten  darauf  mathe- 
matische Figuren.  Die  Quadratur  des  Kreises  sucht  er,  —  aber  vergebens,  und  spricht 
sich  über  die  Unmöglichkeit,  sie  zu  finden,  endlich  aus,  da  man  nicht  im  Stande  sei,  auch 
nur  ein  Stück  davon  absolut  genau  zu  berechnen.  —  Leonardo  konstruirte  einen  Pro- 
portionalzirkel mit  beweglichem  Zentrum,  welcher  auch  für  irrationelle  Proportionen  gebraucht 
werden  kann.  In  gleicher  Weise  konnte  er  hiermit  ein  Oval  für  eine  gegebene  Propor- 
tion zeichnen,  wenn  ein  Kreis  gegeben.  Libri  fügt  hinzu,  dafs  gleiche  Proportionszirkel 
später  von  Tartaglia,  Benedetti  und  Ferrari  erfunden  seien.  Lomazzo  erzählt,  dafs  Leo- 
nardo's  Ovalrad,  ein  wunderbares  Werk,  von  einem  Schüler  des  Melzi  zu  Denis  gebracht 
sei,  welcher  letztere  dasselbe  mit  vielem  Geschick  gebrauche.  Libri  berichtet  ferner,  dafs 
Leonardo  die  Oberflächenebenen  als  die  Grenzen  der  Körper  angesehen,  die  Linien  aber 
als  Grenzen  der  Ebenen,  und  dafs  er  die  doppelten  Kurvenlinien  der  einfachen  Kurven 
bestimmt  habe.  Endlich  ermittelte  Leonardo  den  Schwerpunkt  der  Pyramide  (was 
früher  dem  Commandin  oder  Maurolycus  zugeschrieben  wurde),  und  zwar  so,  dafs  er 
ihn  auf  den  Viertelpunkt  der  Graden  verlegt,  welche  die  Spitze  der  Pyramide  mit  dem 
Schwerpunkt  der  Grundfläche  verbindet.  Leonardo  gibt  dazu  eine  Figur  und  eine  Note, 
welche  zeigt,  dafs  er  die  Pyramiden  in  Ebenen  parallel  zur  Basis  zerlegte,  wie  wir  es 
heute  thun. 

Bedeutendes  Gewicht  legt  Leonardo  auf  die  Perspektive.  Er  nennt  sie  den 
Zaum  und  das  Steuerruder  der  Malerei,  und  theilt  sie  in  drei  Theile:  1)  Verkürzung 
oder  Verkleinerung    nach  Linien  und  Winkeln,    welche    die  Gröfse    der  Körper  in   ver- 


24 

schiedenen  Entfernungen  mit  dem  Gesichtspunkt  bilden,  der  im  Umfange  des  Bildes 
und  in  gleicher  Höhe  mit  dem  Beschauer  liegen  mufs.  —  2)  Da  zwischen  das  Auge  des 
Beschauers  und  das  Bild  eine  gröfsere  Menge  Luft  tritt,  die  den  Körpern  ihre  Farbe 
auch  mittheilt,  so  müssen  die  Farben  geschwächt  werden.  —  3)  Die  Umrisse  müssen 
geschwächt  werden  und  gegen  die  Luft  auslaufen.  Leonardo  ermahnt,  bei  Gebäuden  die 
Geometrie  zu  gebrauchen,  um  richtige  Verhältnisse  in  das  Gemälde  zu  bringen  und  die 
Wirklichkeit  und  Wahrheit  im  Gemälde  zu  vergröfsern.  Welchen  Antheil  Leonardo  an 
dem  über  de  divina  proportione  des  Pacioli  gehabt,  ist  bereits  erwähnt.  Ebenso  wird 
derselbe  angenommen  bei  Pacioli  über  de  viribus  quantitatis.  Die  Manuskripte  enthalten 
viele  Zeichnungen  und  Beispiele  für  seine  Gesetze  der  Perspektive.  Libri  erwähnt  noch 
eines  vorhandenen  Blattes  mit  der  Aufschrift  libro  d'equazione,  welches  sich  allerdings 
im  Codex  Atlanticus  befindet;  allein  weiteres  ist  nicht  zu  entdecken. 


VI. 


Wir  finden,  dafs  Leonardo  für  die  Mechanik  sehr  viel  geleistet  hat,  und  dafs  er 
selbst  die  höchste  Lust  an  dieser  Wissenschaft  empfunden  haben  mufs,  als  er  die  Mechanik 
das  Paradies  der  mathematischen  Wissenschaft  nanntet  Er  besafs  allerdings  im  hohen 
Grade  die  Eigenschaften  und  Kenntnisse,  welche  dem  wahren  Mechaniker  eigen  sein 
müssen,  nämlich  ausgedehnte  mathematische  Kenntnisse,  Liebe  und  Verständnifs  für  die 
Natur  und  Naturerscheinungen  und  eine  scharfe  Beobachtungsgabe,  neben  rastlosem 
Denkervermögen,  das  nicht  ruhete,  bevor  nicht  das  Beobachtete  durchforscht  war  und 
klar  vor  ihm  lag.  Ferner  prüfte  er  an  heterogenen  Fällen  das  gefundene  Gesetz 
und  legte  sich  selbst  Fälle  und  Fragen  vor,  für  eine  Beweisführung  des  als  zutreffend 
Erkannten.  In  dieser  tiefrichtigen  Weise  stellt  er  seine  Kalkulationen  an,  und  ermittelt 
Kraft,  Bewegung,  Fall,  Gewicht,  Schwerkraft,  Wellenbewegung  u.  s.  f.  In  dieser  Betrach- 
tungsweise und  zumal  in  seiner  freien,  von  keiner  hergebrachten  Methode  gefesselten 
Beobachtung,  in  seinen  eigenen  Versuchen  und  Erfahrungen  liegen  die  Erklärungen  für 
die  überaus  abweichende  Stellung,  die  Leonardo's  Mechanik  einnimmt  gegenüber  der 
Mechanik  seiner  Zeit.  Um  dies  in  das  richtige  Licht  zu  stellen,  müssen  wir  auf  die 
Geschichte  der  induktiven  Wissenschaften,  speziell  die  Geschichte  der  Mechanik  zurück- 
gehen und  den  (bisher  als  geltend  angenommenen)  Standpunkt  seiner  Zeitgenossen  kenn- 
zeichnen. 

Wir  haben  oben  bereits  gesagt,  dafs  Archimedes  die  Hebelgesetze  feststellte  und 
in  klarer  Weise  begründete;  gleichzeitig  mufsten  wir  bekennen,  dafs  nach  Archimedes 
Tode  diese  Anschauungen  schnell  verschwanden,  und  in  der  That  finden  wir  sie  Jahr- 
tausende hindurch  verdrängt  durch  die  aristotelischen  Lehren.  Diese  waren  geltend.  Wie 
hatte  sie  Aristoteles  erklärt? 


25 

Archimedes  spricht  deutlich  aus,  dafs  zwei  Gewichte  im  Gleichgewicht  am  Hebel 
sind,  wenn  sie  sich  verkehrt  verhalten,  wie  ihre  Entfernungen  von  dem  Unterstützungs- 
punkte. Der  Beweis  dieses  Satzes  ist  von  Archimedes  mit  Bezug  auf  den  Schwerpunkt 
der  Körper  gegeben.  Aber  hiervon  ward  keinerlei  Gebrauch  gemacht,  sondern  Aristo- 
teles erklärte  rund  weg,  bei  der  Frage:  Wie  können  kleine  Kräfte  grofse  Lasten  durch 
Hülfe  eines  Hebels  in  Bewegung  setzen,  da  doch  hier  nebst  der  Last  auch  noch  der 
Hebel  selbst  bewegt  werden  mufs?  —  Dies  geschieht  deshalb,  weil  ein  gröfserer  Halb- 
messer sich  stärker  bewegt  als  ein  kleinerer!  —  Wie  kann  ein  kleiner  Keil  grofse  Klötze 
zersprengen?  —  Weil  der  Keil  aus  zwei  entgegengesetzten  Hebeln  besteht.  Bei  diesen 
Antworten  ist  die  Beobachtung  und  eine  Prüfung  der  Fälle  absolut  vernachlässigt.  Da 
die  aristotelische  Methode  herrschend  blieb,  so  vermochten  die  späteren  Mechaniker, 
selbst  die,  welche  sich  auf  Archimedes'  Gesetz  stützten,  nicht  dieses  Gesetz  anzuwenden. 
Sie  versuchten  dies  freilich  oft  genug,  z.  B.  für  die  Schraube,  den  Keil,  die  schiefe 
Ebene,  aber  ohne  Erfolg,  was  um  so  mehr  wunderbar  erscheint,  als  die  schiefe  Ebene, 
durch  welche  die  Wirkung  der  Kraft,  die  man  an  den  Körper  wenden  will,  vermehrt  wird, 
unter  die  einfachen  Maschinen  aufgenommen  wurde.  Allein  das  Verhältnifs  der  Ver- 
mehrung der  Kraft  konnte  keiner  auffinden.  Pappus  (400  n.  Chr.)  stellte  das  Problem 
auf,  bei  gegebener  Kraft,  die  eine  Last  auf  horizontaler  Ebene  bewege,  die  Vermehrung 
dieser  Kraft  zu  finden,  die  für  den  Fall  nöthig,  um  dieselbe  Last  auf  einer  gegebenen  schie- 
fen Ebene  zu  bewegen,  —  ohne  über  Messung  der  Kraft,  über  die  Art  der  Bewegung 
u.  s,  w.  irgend  etwas  zu  bemerken.  Er  löste  die  Aufgabe  oder  glaubte  sie  zu  lösen  da- 
durch, dafs  er,  unter  Annahme  der  Kugelgestalt  für  die  Last,  die  Wirkung  der  Berührung 
der  Kugel  mit  der  schiefen  Ebene  vergleicht  mit  der  Wirkung,  wenn  diese  Kugel  von 
einem  horizontalen  Hebel  getragen  werde,  dessen  Hypomochlion  jener  Berührungspunkt 
ist,  wo  die  Kraft  auf  die  Oberfläche  der  Kugel  wirkt. 

Aber  diese  Unfähigkeit  der  Benutzung  und  Begründung  der  Hebelgesetze  dehnt 
sich  weit  über  Leonardo's  Zeit  hinaus,  denn  auch  Cardanus,  Jordanus  u.  A.  können  noch 
nicht  mit  dem  Beweise  der  schiefen  Ebene  fertig  werden,  obschon  sie  klarer  sind  und 
der  Wahrheit  sich  nähern.  Aehnlich  wie  die  Hebelgesetze  schwebten  die  Begriffe  im 
Zweifel  über  die  Bewegung.  Ueber  diese  wichtige  Lehre  ist  Aristoteles  so  verwirrt 
wie  kaum  über  etwas  anderes.  Er  gebraucht  dabei  jenen  „berüchtigten"  Ausdruck 
Entelecheia,  der  schon  nach  einigen  Jahrhunderten  gar  nicht  mehr  verstanden  wurde 
und  zu  enormen  Mifsverständnissen  führte.  Hermolaus  Barbaras  erzählt  uns  gar,  er  sei 
von  der  Schwierigkeit,  dieses  Wort  gehörig  zu  übersetzen,  so  sehr  gepeinigt  worden, 
dafs  er  einst  bei  Nachtzeit  den  bösen  Geist  zu  Hülfe  rief.  Allein  der  alte  Spötter  sagte 
ihm  nur  ein  Wort,  das  noch  dunkler  war  als  jenes,  und  endlich  begnügte  er  sich  selbst 
mit  dem  selbstgefundenen  Perfectihabilia*).     Also  Aristoteles  sagt:    „Die  Bewegung  ist 

*)  Whewell  I.  59. 


2Q 

die  Entelechie  eines  lebenden  Körpers  in  Beziehung  auf  seine  Beweglichkeit."  Alle 
Schriftsteller  bis  zu  Galilei  hin  leben  noch  in  des  Aristoteles  Problemen.  Mit  dem 
Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  tritt  freilich  eine  etwas  bestimmtere  Ansicht 
ein  bei  einigen.  Gerade  die  Bewegung  bildete  den  Hauptvorwurf  der  in  mechanischen 
Dingen  arbeitenden  Gelehrten.  1494  erschien  Massimus  de  Motu  locali,  ferner  Spanelli 
Tornus,  Fassembruno,  alle  zu  Venedig,  ferner  folgten  später  Diodochus,  Bassianus  Landus, 
Teisner  (motus  continuus,  Lasnes,  Jean  Lorges,  Cardanus,  Borrius,  Berri,  Varro,  Bona- 
mici,  Stecker,  Findlinger,  van  der  Hoop,  Parcachi,  Leiva;  Moretti  u.  A. 

In  einzelnen  dieser  Schriften  ist  recht  nachweisbar,  wie  natürliche  Beobachtung 
mit  der  aristotelischen  Methode  im  Streite  lag,  und  oft  ist  nur  die  letztere  der  Grund,  dafs 
nicht  das  Richtigs  klar  dargelegt  wird.  Hierfür  bildet  Jordanus  Nemorarius  in  seinem 
Werk  de  Ponderositate  einen  merkwürdigen  Beleg. 

Aehnlich  ging  es  mit  dem  Begriff  der  Schwere.  Aristoteles  sagt:  „In  der 
Physik  nennen  wir  die  Körper  schwer  oder  leicht  nach  der  Gewalt  ihrer  Bewegung!"  wo- 
rauf er  gleich  zufügt,  dafs  diese  Erklärung  für  die  wirkliche  Operation  der  Körper  nicht 
angemessen  sei,  aufser  dafs  man  das  Wort  Gewalt  für  beide  Bedeutungen  annehmen 
wolle.  Sein  schlimmster  Satz  war  jedoch  der:  dafs  derjenige  Körper  der  schwerere  ist, 
der  bei  gleichem  Inhalt  schneller  abwärts  geht.  Thomas  von  Aquino  spricht  sich  ganz 
aristotelisch  aus.  Nachdem  er,  wie  zufällig,  bemerkt,  dafs  die  Vermehrung  der  Quanti- 
tät nicht  die  Ursache  der  Schwere  sei,  behauptet  er,  dafs  jeder  Körper,  je  gewichtiger 
er  sei,  sich  auch  desto  mehr  mit  eigener  Kraft  bewege.  —  Dennoch  sind  die  Ansichten 
hierfür  klarer,  und  besonders  wurde  der  Begriff  des  Schwerpunktes  wenigstens  im  15. 
Jahrhundert  schon  festgehalten.  Ubaldi  bemerkt  in  der  Vorrede  seines  Mechanicorum 
über  (1577),  Archimedes  habe  mit  Recht  vom  Schwerpunkte  der  Ebene  geschrieben,  ob- 
gleich die  Ebene  nicht  schwer  sei.  Solche  Ebenen  seien  anzusehen  als  Grundflächen 
eines  Prismas. 

Mit  der  dynamischen  Wissenschaft  stand  es,  wie  wir  bereits  oben  be- 
rührt, ähnlich.  Aristoteles  lehrt  bereits  den  Unterschied  der  natürlichen  und  der 
gewaltsamen  Bewegung.  Aber  lange  blieb  das  Wesen  derselben  unklar.  Man 
bemühte  sich  zu  zeigen,  wie  die  gewaltsame  Bewegung  sich  zu  der  Kraft  ver- 
hielte, die  sie  erzeuge.  Das  unglückliche  Beispiel  des  Aristoteles,  um  die  Ursache 
der  Bewegung  eines  Steines  zu  zeigen,  der  von  der  Hand  geworfen  sich  fortzu- 
bewegen fortfahre,  —  wurde  am  schnellsten  von  allen  Lehren  des  Stagiriten  beseitigt. 
Man  stellte  jedoch  ohne  Klarheit  dem  Begriff  Bewegung  auch  die  Kraft  bei  und  sprach 
so  von  positiver  Bewegung.  Bei  dem  Beispiel  der  abgeschossenen  Kanonenkugel  trat 
die  Wandlung  der  Ansichten  am  meisten  hervor.  Man  nahm  allgemein  an,  und  Tartaglia 
(Nova  Scienza  1551)  glaubte  noch,  dafs  die  Kugel,  nach  Verlust  ihrer  positiven  Bewe- 
gung,  sofort  senkrecht  herunterfalle.     Santbach  stellte  sich  das  Herabfallen   der  Kugel 


27 


nach  Erreichung  des  Endes  der  positiven  Bewegung  in  Absätzen  (treppenförmig)  vor. 
Rivius  (1548)  nahm  an,  dafs  der  Herabfall  im  Kreisbogen  geschehe,  wie  später  noch 
Leonardo  da  Vinci  und  Galilei.  Benedetti  hatte  zuerst  eine  Ansicht  über  die  Ursache 
der  Wurfbewegung  überhaupt,  indem  er  darlegt,  dafs  der  Stein  oder  die  Kugel  durch 
die  Luft  gehindert  werde  (nicht  getrieben,  wie  Aristoteles  behauptete),  und  dafs  die  Be- 
wegung des  Steines  überhaupt  von  einer  gewissen  Impression,  von  der  Impetuosität 
komme,  die  der  Stein  von  der  ersten  bewegenden  Kraft,  von  der  Hand  erhalte !  Bene- 
detti's  über  speculationum  erschien  1585.  — 

Es  war  unsere  Absicht,  im  Vorstehenden  in  etwas  zu  zeigen,  wie  unvollkommen 
man  die  technischen  Probleme  in  der  ganzen  Periode  von  Archimedes  bis  zum  16.  Jahr- 
hundert behandelte.  Erst  mit  der  Lehre  des  Holländers  Stevinus  in  Brügge  (Prinzipien 
der  Statik  und  Hydrostatik  1586)  und  mit  einzelnen  Lehren  des  Varro,  Cardanus,  Bene- 
detti, Ubaldi  trat  ein  Verlassen  der  Irrlehren  und  der  falschen  Methode  des  Aristoteles  ein. 
So  lautet  wenigstens  die  bisherige  Annahme  der  Geschichte  der  mechanischen  Wissen- 
schaften. 

Nachdem  Libri,  Venturi  und  Neuere  die  Manuskripte  des  Leonardo  durchforscht 
haben,  steht  aufser  Zweifel,  dafs  Leonardo  bereits  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  viele 
dieser  mechanischen  Gesetze  klar  und  deutlich  aufgefafst  hatte.  Viele  derselben  hat  er 
handschriftlich  hinterlassen,  und  sie  geben  dem  Leonardo,  will  man  ihn  persönlich  als 
den  Urheber  derselben  ansehen,  mindestens  eine  gleiche  Bedeutung  für  die  Mechanik, 
wie  man  Stevinus  sie  beilegt,  zudem  die  Priorität. 

Leonardo  bringt  uns  zunächst  über  den  Hebel  folgende  Betrachtung,  bei  welcher 
das  Verhältnifs  der  Kräfte  in  dem  Falle,  wo  eine  Schnur  in  schiefer  Richtung  auf  einen 
mit  einem  Gewichte  belasteten  Hebel  wirkt,  richtig  dargestellt  worden. 

„Es  sei  (Fig.  1.)  der  Hebel  Fig.  l. 

AT,  sein  Drehpunkt  in  A,  das  - 
Gewicht  0  in  T  aufgehängt,  und 
die  Kraft  N,  welche  dem  Ge- 
wicht 0  die  Waage  hält.  Man 
ziehe  AB  senkrecht  nach  BO 
und  AG  senkrecht  auf  CN.  Ich 

nenne  AT  den  reellen  Hebel;  AB,  AG  potentielle  Hebel; 
und  man  hat  die  Proportion  N :  0  =  AB  :  AG  Sei  nun 
M  das  Gewicht,  gehalten  durch  das  Seil  AM,  dessen  Ende  fixirt 
ist  in  A  (Fig.  2.) ;  sei  ferner  das  Gewicht  und  das  Seil  in  AM 
zurückgehalten  aufserhalb  der  perpendikulären  Stellung  AB  mittelst  der  Kraft  F,  deren 
Richtung  MF  mit  AM  einen  rechten  Winkel  bildet,  —  so  wird  die  Kraft  F  sich  zum 
Gewicht  M  verhalten  wie  AG :  AM. 

4* 


28 


Fig.  3. 
N 


& 


S 


C 


Ist  die  Korde  FM  (Fig.  3)  durch  zwei  gleiche  Kräfte  an  F  und  M  gespannt,  und  be- 
festigt man  in  der  Mitte  der  Korde  in  N  ein  kleines  Gewicht  C,  so  wird  dieses  den  Punkt 
N  bis  A  herabziehen,  während  die  Gewichte  an  FM  heraufsteigen.  Mit  dem  Kadius  MN 
beschreibe  man  einen  Kreis.    Derselbe  schneidet  AM  in  B,  und  es  wird  nun  die  Bewegung 

des  Gewichtes  S  an  M  gleich  AB  sein.  Der 
Punkt  N  steigt  herab,  bis  die  Proportion 
eintritt  C:  8  =  BA  :  NA,  d.  h.  die  respekti- 
ven  Bewegungen  beider  Gewichte  C  und  S 
verhalten  sich  umgekehrt  wie  die  Gewichte 
selbst.  —  Daraus  folgt,  dafs,  wenn  die  Korde 
in  F  und  M  festgestellt  ist,  das  Gewicht  C  dieselbe  um  so  mehr  belastet,  je 
weniger  sie  sich  biegen  kann.  Diese  Gesetze  der  Statik,  die,-  wie  man  sieht,  dem 
Leonardo  vollkommen  klar  waren,  erhalten  in  seinen  Manuskripten  zahlreiche  Erweite- 
rungen, die,  wenn  auch  mit  keinem  speziellen  Beweis  versehen,  zeigen,  dafs  Leonardo 
das  Gebiet  durchaus  beherrschte  und  von  den  einzelnen  Gesetzen  Anwendung  zu 
machen  wufste.  Das  was  seine  Zeitgenossen  noch  mangelhaft  zu  präzisiren  verstanden, 
und  was  noch  Benedetti  zaghaft  Impetuosität  nannte,  finden  wir  bei  Leonardo 
ganz  klar  betrachtet.  Er  hatte  sich  den  Begriff  „Kraft"  gegenüber  den  „Bewegungen" 
der  Körper  fest  formulirt,  ganz  und  gar  abweichend  von  den  herrschenden  Lehren 
des  Aristoteles.  In  gleicher  Weise  sehen  wir  auch,  dafs  Leonardo  die  ihm  vollkommen 
geläufigen  Hebelgesetze  zur  Erklärung  der  Rolle,  der  schiefen  Ebene,  des  Keils  an- 
wendet. Die  Erklärung  für  den  He  rabgang  der  Körper  auf  der  schiefen  Ebene, 
welche,  wie  wir  gesehen  haben,  weder  seinen  Vorgängern  noch  Zeitgenossen  gelungen 
und  erst  durch  Stevinus  mittelst  der  Hebelgesetze  geführt  wurde,  ist  von  Leonardo 
in  zweifacher  Weise  so  gut  gegeben  als  von  dem  Holländer.  Eine  direkte  Erklä- 
rung (die  bisher  auch  Libri  und  Venturi  entgangen  war)  enthält  der  Ambrosianische 
Codex  Atlanticus.  Wir  finden  darin  hinter  einander  die  folgenden  Figuren,  mit  kleinen 
Berechnungen  daneben,  welche  nur  Zahlen  enthalten  und  füglich  hier  überflüssig  sind. 
In  der  Figur  4  zeigt  er  den  Körper  auf  horizontaler  Ebene  und  die  Schwerpunktslinie 
Fig.  4.  Fig.  5.  Fig.  6. 


als  Normale  zur  Ebene.  In  der  Figur  5  gibt  er  an,  wie  die  Schwerpunktslinie  nicht 
mehr  normal  zur  Ebene  steht  und  der  Körper  durch  eine  Kraft  herabgetrieben  wird. 
In  der  Figur  6  gibt  er  eine  Andeutung,  in  welchem  Verhältnifs  die  Kraft,  welche  den 
Körper  herabtreibt,  zu  der  Kraft,  welche  ihn  zurückhalten  will,  steht,  indem  er  von  den 


Mittelpunkten  der  Radien,  die  den  horizontalen  Durchmesser  bilden,  Senkrechte  zur 
Grundebene  zieht  und  die  Relation  in  der  Differenz  der  Höhen  beider  Perpendikel  mit 
dem  Neigungswinkel  der  schiefen  Ebene  in  Betracht  zieht.  Es  fehlen  uns  hierzu,  wie 
bemerkt,  die  Worte  des  Leonardo,  allein  die  vielfachen  Variationen  in  der  Darstellung 
des  letzten  Falles  lassen  wohl  darauf  schliefsen,  dafs  Leonardo  diese  Beziehungen 
vollkommen  verstand.  Er  geht  dann  weiter  in  der  Betrachtung  der  schiefen  Ebene 
und  gibt  uns  in  der  Figur  7  und  8  Beweis  davon,  dafs  er  die  schiefe 
Fig.  7.  Ebene  mit  dem  Hebel  vergleicht   und  damit   zu  erklären  versucht. 

Stevinus  erläuterte  die  Grundeigenschaft  der  schiefen  Ebene  so,  dafs 
er  eine  Kette  mit  14  gleich  grofsen  Kugeln  in  gleichen  Zwischen- 
räumen belastet  sich  dachte,  welche  über  einen  dachartigen  dreiseiti- 
gen Balken  mit  horizontaler  Basis  hänge.  Die  zwei  dachförmigen 
Seiten,  die  sich  in  den  Längen  wie  2 :  1  verhielten,  trugen  die 
eine  4,  die  andere  2  Kugeln.  Stevinus  zeigte,  dafs  die  Kette  in  dieser 
Lage  in  Ruhe  verharren  müsse,  weil  nämlich  jede  Bewegung  derselben  auf  dieselbe  Lage 
wieder  zurück  führen  müsse ;  dafs  der  andere  mit  den  übrigen  8  Kugeln  beladene  Theil 
der  Kette  immerhin  ganz  weggenommen  werden  könnte,  ohne  das  Gleichgewicht  zu 
stören,  und  dafs  daher  4  Kugeln  auf  der  längeren  Fläche  jene  zwei  auf  der  kürzeren 
ebenfalls  im  Gleichgewicht  erhalten;  d.  h.  dafs  die  Gewichte  sich  wie  die  Längen  dieser 
Flächen  verhalten  (Whewell  II.  p.  17).  Dies  zeigt  nun  Leonardo  (also  volle  80  Jahre 
früher)    durch    die   einfache   Zeichnung,    so    dafs    man   wohl   keinen    besseren   Beweis 


Fig.  8.  _  zu     führen 

braucht.*) 

In  Fig.  8  a 
bemüht  sich 
Leonardo,  für 
zwei  gleiche 
Gewichte  die 
Gleichgewichtslage  zu  ermitteln,  wenn  A 
seine  Lage  nicht  ändern  soll,  also  an  einem 
Tau  senkrecht  von  der  Rolle  JB  herabhängt,  a 
C  aber  durch  verschiedene  schiefe  Ebe- 
nen 1,  2,  3,  4  .  .  unterstützt  wird.  — 


Fig.  8a. 


*)  Man  könnte,  ohne  die  übrigen  Deduktionen 
des  Leonardo  zu  kennen,  allerdings  auch  ver- 
muthen,  als  ob  dem  Leonardo  vorschwebte,  dafs 
die  Kräfte  sich  wie  die  Basislängen  der  schiefen 
Ebene  verhielten.    (G.) 


S    H-    3     2    / 


30 


Aber  auch  die  andere  Weise  der  Beweisführung  des  Leonardo  genügt  vollkommen, 
wie  er  oben  durch  die  schiefe  Zugrichtung  am  Hebel  geführt  worden  ist. 

Leonardo  schwang  sich  in  seiner  Anschauung  sogar  bis  zur  Bestimmung  der- 
zeit des  Herabganges  empor  und  fand  die  Zeit  des  freien  Falls  des  Körpers  von  dem- 
selben Anfangspunkte  im  Verhältnifs  der  Länge  und  Höhe  der  schiefen  Ebene.  Venturi 
gibt  uns  hierüber  nach  den  Manuskripten  in  Paris  (N.  A.  B.)  folgende  Darstellung  und 
nähere  Begründung. 

Fig.  9.  „  Der  Herabgang  des  Körpers  A  (Fig.  9)  auf  der 

Linie  AC  hat  im  Vergleich  zu  dem  Fall  AB  eine  um  so 
gröfsere  Zeit  nöthig,  als  AG  länger  ist  als  AB"  Ferner 
sagt  er:  „Ein  Körper  vi  wird,  nachdem  er  über  CE  herab- 
gegangen ist,  bis  nach  B  hinaufsteigen  mit  derselben 
Schnelligkeit,  wie  ein  gleicher  Körper,  der  von  A  nach  B  auf  der  geraden  Linie  AB 
läuft."     Im  Codex  B  findet  sich  die  Stelle:     „Der  schwere  Körper  A  (Fig.  10)  steigt 

schneller  auf  dem  Kreisbogen  ACE  herab,  als  auf 
der  Linie  AE."  Venturi  weist  in  seiner  Erklärung  hier- 
zu darauf  hin,  dafs  Vinci  und  später  Galilei  gefunden 
haben  und  festhielten,  dafs  der  Kreisbogen  für  den 
Fall  der  Körper  der  Weg  des  Minimums  der  Zeit- 
dauer sei,  während  später  gezeigt  ward,  dafs  dies  die 
Cycloide  sei.  Allein  Venturi  meint,  dafs  sich  auch 
für  den  Kreisbogen  dies  Zeitminimum  annehmen  lasse,  mit  Hülfe  der  synthetischen  Me- 
thode bestimmbar,  nach  folgendem  Theorem: 

Der  Kreisbogen,  welcher  60°  nicht  überschreitet,  bewirkt  im  Vergleich  zu  allen 
anderen  Kurven,    welche  man  innerhalb   zwischen   den  Endpunkten  des  Bogens   ziehen 


Fig.  11 


kann,  den  schnellsten  Herabgang  desselben  Körpers. 
Der  Kreisbogen  von  90°  bewirkt  im  Vergleich  zu 
allen  anderen  Kurven,  welche  man  aufserhalb 
zwischen  den  Endpunkten  des  Bogens  ziehen  kann, 
den  schnellsten  Herabgang  desselhen  Körpers.  Seien 
C  (Fig.  11)  der  Mittelpunkt  des  Kreises,  CF  die 
Senkrechte  zum  Horizont  EMF  ein  Bogen,  welcher 
60°  nicht  überschreitet,  EqF  eine  andere  beliebige 
Kurve  innerhalb  des  Bogens  EMF.  Man  ziehe  Cm 
und  schlage  mit  CQ  den  Bogen  Qq,  ferner  AE, 
BQ,  Dm  parallel  zum  Horizont;  man  nehme  aus 
AB,  AD  das  arithmetische  Mittel  AX  und  das  geo- 
metrische Mittel  AZ,  so  hat  statt  AZ<AX,  und  es 
wird  sich  verhalten  die  Schnelligkeit  bei  IT  zu  der  bei 


31 


ED 


A  =  AD  :  AZ.  Nimmt  man  an,  dafs  CD  >  2  .42?,  so  wird  auch  CD  :BD>AD.XD 
und  GD:GB<iAD\  AX  und  <  ^1X> :  AZ,  oder  CD:CB=CM:CQ  =  Mm  :  %  somit 
Mm:AD<Qq:AZ<QI:AZ.  Diese  Verhältnisse  geben  die  Zeit  durch  ilfra  an  und 
die  Zeit  durch  QI.  Wenn  nun  die  Zeiten  beider  Herabsteigungen  in  demselben  Moment 
beginnen  in  E,  so  wird  die  Zeit  des  totalen  Herabgehens  auf  EMF  kürzer  sein  als  die 
des  totalen  Herabsteigens  auf  EQF. 

Fig.  12  Für  den  zweiten  Fall  sei  AMB  (Fig.  12)  der  Kreis- 

bogen von  90°  und  AQB  für  eine  der  möglichen  Kurven 
aufserhalb  des  Bogens,  so  hat  man 

Qq:Mm=  CQ  :  CM=DQ:  EM>__ 
VDQ :  \EM 

Also  Qq  :  y~DQ  >  Mm  :  }/EM.  Folglich  ist  die  Zeit  durch 
Qq  ausgedrückt  länger  als  die  Zeit  durch  Mm  ausgedrückt 
und  folglich  auch  die  durch  die  ganze  Kurve  resp.  Bogen 
ausgedrückte  Zeit.  — 

Venturi  will  hiermit  darthun,  dafs  die  Anschauungen 

des  Leonardo    sich    noch  jetzt   vertheidigen   lassen.     In 

der  That  aber  ist  der  Scharfsinn  des  Leonardo  auch  hierbei  wieder  zu  bewundern,  da 

ihm    sicherlich  die   Ideen   vorschwebten  und   nicht  unklar  waren,    denen    später  Galilei 

Ausdruk  gegeben  hat. 

Hier  anschliefsend  müssen  wir  noch  jene  Stelle  des  Leonardo  zitiren  (G.  55),  in 
weicher  er  über  den  Fall  der  schweren  Körper  abhandelt,  und  zwar  in  Verbindung  mit 
der  Rotation  der  Erde.  Wir  bemerken  vorweg,  dafs  die  allgemeine  Annahme,  dafs 
Kopernikus  der  erste  gewesen  sei,  der  eine  Bewegung  der  Erde  aussprach  und  zu  be- 
weisen suchte,  durchaus  unrichtig  ist.  Vielmehr  finden  wir  seit  Ptolemaeus  mehrfache 
Andeutungen  hierüber.  Die  allmählich  sich  bahnbrechende  Ansicht  von  der  Kugelgestalt 
der  Erde  mufste  durchaus  dazu  führen,  dafs  diese  Kugel  irgend  eine  Bewegung  habe. 
Gerade  die  Gegner  solcher  Theorien  führen  uns  darauf  hin,  dafs  man  frühzeitig  solche 
Ideen  fafste.  Vor  allem  stand  die  Kugelgestalt  der  Erde  bereits  um  400  fest,  denn  dei- 
nen". Augustinus  leugnet  sie  nicht,  ebensowenig  die  späteren  Schriftsteller.  Aber  die 
Art  der  Sterne  und  ihre  Befestigung,  die  Befestigung  und  Stellung  der  Erde,  die 
Frage  der  Antipoden,  —  das  waren  Gründe  zu  heftigen  Diskussionen.  Und  wenn 
Lactantius  sagt,  er  sei  wahrhaft  in  Verlegenheit,  wie  man  solche  Leute  nennen  solle, 
die  eine  solche  Thorheit  begingen,  zu  behaupten,  dafs  die  Körper  gegen  den  Mittelpunkt 
der  Erde  hinfielen,  so  zeugt  dies  davon,  dafs  die  Philosophen  diesem  frommen  Mann 
des  vierten  Jahrhunderts  viel  zu  schaffen  machten  und  ihn  gewaltig  mit  den  Betrach- 
tungen ärgerten,  die  er  emphatisch  für  eitel  und  nichtig  erklärt  hatte.  Die  Kugelgestalt 
und  die  Anziehung  der  Erde  war  im  13.  Jahrhundert  bereits  etwas  allgemein  Bekanntes. 


32 


Wir  erinnern  auch  an  die  interessante  Stelle  Dante's,  Inferno  XXXIV.  88  cf.,  wo  er  den 
Durchgang  durch  den  Mittelpunkt  der  Erde  beschreibt.  Im  Anfang  des  1 6.  Jahrhunderts 
war  es  Nicolas  de  Cusa,  welcher  die  Drehung  der  Erde  theoretisch  nachweisen  wollte, 
aber  in  der  metaphysischen  Beweisführung  stecken  blieb. 

Die  Art  und  Weise,  in  welcher  Leonardo  die  Drehung  der  Erde  in  folgender 
(und  in  vielen  andern)  Stelle  benutzt  und  gleichsam  als  etwas  einfaches  und  bekanntes 
voraussetzt,  läfst  uns  wohl  mit  Recht  darauf  schliefsen,  dafs  diese  Auffassung  die  seiner 
Zeit  war.  Leonardo  gibt  uns  aber  in  diesem  Falle  eine  mechanische  Betrachtung  über 
die  Relation  gleichzeitiger  Bewegungen,  —  welche  bisher  dem  Gassendi  zugeschrieben 
wurde,  zufolge  seiner  Abhandlung:  de  motu  impresso  a  motore  translato.  Später  hat 
d'Alembert  gezeigt,  dafs  die  senkrecht  gegen  den  Zenith  emporgeworfenen  Körper  nicht 
auf  den  Ort  ihres  Abganges  zurückfielen,  und  erst  später  folgten  die  Versuche  hierfür  am 
Pisaer  schiefen  Thurme. 

Leonardo  sagt :  Sei  Fig.  13  A  der  Körper, 
welcher  in  den  Elementen  fällt,  die  er  durcheilt, 
um  nach  dem  Mittelpunkt  der  Welt  M  zu  kommen. 
Ich  sage,  dafs  diese  Last,  herabsteigend  in  einer 
Spirale,  nicht  aus  der  graden  Linie  herausgehen 
wird,  welche  sie  als  Weg  nach  dem  Mittelpunkt  der 
Erde  verfolgen  mufs.  Denn  wenn  der  Körper  von 
A  ausgeht,  um  nach  B  zu  kommen,  so  wird,  wäh- 
rend er  nach  B  geht  und  in  die  Lage  von  G  kommt, 
der  Punkt  A  bei  Drehung  in  D  ankommen;  be- 
trachtet man  nun  die  Lage  des  Körpers,  so  findet 
man,  dafs  er  noch  immer  in  der  graden  Linie  sich 
befindet,  welche  (erst  A)  jetzt  D  mit  dem  Mittel- 
punkt der  Welt  verbindet.  Wenn  der  Körper  nach  F  weiter  geht,  wird  zu  gleicher  Zeit 
der  Punkt  D  nach  E  wandern.  Während  des  Herabsteigens  von  F  nach  O  bringt  die 
Drehung  E  in  die  Lage  von  H.  So  steigt  der  Körper  auf  der  Erde  herab,  immer  ober- 
halb des  Ausgangspunkts.  Das  ist  eine  zusammengesetzte  Bewegung,  sie  ist  zu  gleicher 
Zeit  gradlinig  und  kurvenförmig.  Sie  ist  gradlinig,  weil  der  Körper  sich  immer  auf 
der  kürzesten  Linie  befindet,  welche  sich  ziehen  läfst  von  dem  Ausgangspunkt  der  Be- 
wegung nach  dem  Zentrum  der  Elemente.  Sie  ist  kurvenförmig  an  sich  und  in  jedem 
Punkte  des  Weges.  Daher  wird  ein  von  der  Höhe  eines  Thurmes  geworfener  Stein  nicht 
an  die  Mauern  des  Thurmes  anschlagen,  bis  er  die  Erde  erreicht."  — 

Obgleich  ein  Jahrtausende  bekannter  und  angewendeter  Mechanismus,  hatte  doch 
die  Rolle  seit  Archimedes  keinen  Erklärer  gefunden,  der  ihr  Prinzip  auf  den  Hebel 
.zurückgeführt  hätte.     Auch  hierher  trat  Stevinus  (so  weit  bisher  bekannt  war)  zuerst 


33 


ein,  und  vor  ihm  hatte^Ubaldus  (1577)  eine  ähnliche  Beweisführung  versucht.  Nun  fin- 
den wir  aber,  dafs  Leonardo  diese  Zurückführung  der  Rolle  auf  das  Prinzip  des  Hebels 
in  leichtester  Weise  bewirkt  und  in  dieser  Anschauung  lebt  und  webt.  Wir  haben  ca. 
50  Skizzen  in  den  Manuskripten  des  Leonardo  gefunden,  die  dies  Verhältnifs  darlegen. 
In  Fig.  14  gibt  er  in  einfacher  Weise  das  Verhältnifs  der  bewe- 
genden Kraft  am  Rade  zu  der  zu  überwindenden  Last  an  der  Welle, 
resp.  umgekehrt,  an.  Er  zeigt  ferner  an  vielen  Skizzen  die  ver- 
schiedenen Längen  des  kontinuirlichen  Hebelarmes,  die  Relation  der 
Lasten  an  denselben  zur  Kraft,  er  gibt  eine  grofse  Anzahl  von 
Apparaten  an,  bei  welchen  die  Rolle  als  Hebel  benutzt  ist,  und  be- 
stimmt ihre  Verhältnisse.  Er  zeigt,  wie  die  mechanische  Wirksam- 
keit der  Rolle  durch  Kombination  mehrerer  solcher  sehr  erhöht 
werden  könne,  und  macht  dies  deutlich  durch  eine  treffliche  Skizze,  in  welcher,  vom 
gleicharmigen  Hebelarm  ausgehend,  gezeigt  wird,  wie  durch  Anfügung  eines  Rollensystems 
von  sechs  Rollen  der  eine  Arm  des  Hebels  gleichsam  um  so  viel  vergröfsert,  verlängert 
wird,  dafs  die  Lasten  an  diesen  Armen  sich  wie  1:4  verhalten.  Von  da  kommt  er  zur 
Beleuchtung  des  Flaschenzuges.  Es  ist  ja  allbekannt  und  von  Förster  in  seiner 
Bauzeitung  noch  speziell  beschrieben,  wie  Leonardo  ein  Meister  in  Hebung  schwerer 
Lasten  bei  Bauten  etc.  gewesen  ist.  Er  konnte  dies  leisten,  weil  er  die  mechanischen 
Gesetze  beherrschte. 

Fie-  15-  In  Fig.  15  berechnet  Leonardo    ein  Wellrad 

zum  Aufwinden,  indem  er  dasselbe  als  ungleicharmigen 
Hebel  darstellt   und  den  Hebelarm,    an  welchem  die 
Jf3^^  JL    Kraft   angreift,  in    19  Theile  =  dem  Halbmesser  der 

Uzo  LS    Welle  theilt  vom  Befestigungspunkte  an  his  zum  Ende. 

Er  findet  so,  dafs  eine  Kraft  gleich  20  einer  Last  gleich  400  im  Stande  sei  die  Waage  zu 
halten.  Für  unsere  Zeit  freilich  und  bei  der  verhältnifsmäfsigen  Unkenntnifs  der  Geschichte 
der  Entwicklung  der  Mechanik  ist  es  überraschend,  dafs  diese  einfachen  Thatsachen  zuerst 
von  Leonardo  wieder  in  ihrem  natürlichen  Zusammenhange  dargestellt  wurden,  —  seit 
Archimedes  und  Vitruv.*)  Dieser  Erkenntnifs  des  Leonardo  haben  wir  aber  auch  seine 
in  der  That  einzig  für  seine  Zeit  dastehenden  Entwicklungen  der  Naturgesetze  und  die 
Konstruktion  resp.  Erfindung  vielfältiger  Mechanismen  und  Maschinen  zu  verdanken! 


*)  Es  darf  wohl  nicht  übersehen  werden,  dafs  der  Hebel,  die  Rolle  und  der  Flaschenzug  den 
Griechen  und  Römern  wohlbekannt  blieben,  sowie  dals  Vitruv  (200  Jahre  nach  Archimedes)  dieselben 
nicht  nur  beschrieb,  sondern  auch  das  Hebelgesetz  ausdrücklich  —  mit  Hinweis  auf  die  in  Aller  Händen 
befindliche  Schnellwaage  —  erweist.    L.  X.  C.  7.  Die  Red. 

Jedoch  erstreckte  sich  dies  nur  auf  die  Eigenschaften  des  Hebels,  der  Rolle  etc.  nicht 
auf  die  Erklärung.  Vitruvs  Darstellung  wurde  erst  wieder  im  15.  Jahrhundert  anerkannt,  gegenüber  den. 
Aristotelikern.  (Gr.) 

5 


34 

Betrachten  wir  nun  die  mechanischen  Arbeiten  des  Leonardo  weiter,  so  müssen 
wir  zunächst  folgende  Stelle  von  pag.  185  des  Codex  N  (Paris)  anführen. 

„Wenn  man  irgend  eine  Maschine  gebraucht  zum  Bewegen  schwerer  Körper, 
so  haben  alle  Theile  der  Maschine,  welche  eine  gleiche  Bewegung  mit  derjenigen  des 
schweren  Körpers  haben,  eine  dem  ganzen  Gewicht  des  Körpers  gleiche  Belastung. 
Wenn  der  Theil,  welcher  der  bewegende  ist,  in  derselben  Zeit  mehr  Bewegung  äufsert 
als  der  bewegte  Körper,  so  hat  er  mehr  Kraft  als  der  bewegte  Körper,  und  er  wird  sich 
um  so  viel  schneller  bewegen  als  der  Körper  selbst.  Wenn  der  Theil,  welcher  der  be- 
wegende ist,  weniger  Schnelligkeit  hat  als  der  bewegte,  so  wird  er  um  so  viel  weniger 
Kraft  haben  als  der  bewegte  Körper."  In  diesen  Worten  liegt  der  Grundgedanke  des 
Prinzips  der  virtuellen  Geschwindigkeiten,  dafs  bei  jeder  Maschine  sich  die  Kräfte, 
die  einander  das  Gleichgewicht  halten,  untereinander  umgekehrt  verhalten  wie  ihre  vir- 
tuelle Geschwindigkeit.  Dies  Gesetz  ist  später  von  Ubaldi  präzisirt  und  sodann  von  Galilei 
in  seiner  Abhandlung  „Ueber  die  Wissenschaft  der  Mechanik"  (1592)  genauer  auseinander- 
gesetzt worden,  so  dafs  man  bisher  Galilei  als  den  Urheber  dieses  Gesetzes  betrachtete. 

Ueber  die  Begriffe  „Kraft",  „Bewegung"  u.  s.  w.  äufsert  sich  Leonardo  wie  folgt: 

a.  „Kein  sinnlich  wahrnehmbares  Ding  kann  sich  von  sich  selbst  bewegen,  sondern 
seine  Bewegungwird  durch  Anderes  bewirkt.  "(Dieses  AndereistdieKraft,Forza.) 

b.  „Kraft  ist  eine  unsichtbare  (spirituale)  Macht  (potenza),  unkörperlich  und 
ungreifbar,  welehe  die  Ursache  sein  kann,  dafs  die  Körper  durch  zufällige 
Heftigkeit  der  Einwirkung  den  natürlichen  Zustand  der  Ruhe  aufgeben. 
Ich  sage  unsichtbar  (spirituale),  weil  sie  ein  unsichtbares  Dasein  hat; 
ich  sage  unkörperlich  und  ungreifbar,  weil  sie  nicht  körperlich  ent- 
steht und  weder  in  Form  noch  Gewicht  wächst." 

c.  „Die  materielle  Bewegung  wird  bewirkt  durch  Gewicht  und  Kraft.  Aber 
es  ist  eine  andre  Bewegung  die,  welche  durch  die  Schwere  bewirkt  wird, 
und  die,  welche  durch  die  Kraft  entsteht,  und  die,  welche  durch  ähnliches 
als  die  Kraft  erwirkt  wird." 

d.  „Wenn  ein  Körper  durch  eine  Kraft  (potenza)  bewegt  wird  in  gegebener 
Zeit  und  in  einem  solchen  Räume,  so  wird  dieselbe  Kraft  auch  im  Stande 
sein,  ihn  zu  bewegen  in  der  Hälfte  der  Zeit  durch  die  Hälfte  jenes  Raumes, 
oder  in  zweimal  soviel  Zeit  zweimal  durch  jenen  Raum." 

e.  „Kein  bewegter  Körper  kann  sich  schneller  bewegen,  als  die  Geschwindig- 
keit der  Kraft,  welche  ihn  bewegt,  erlaubt." 

f.  „Jede  Aktion  erfordert  Bewegung." 

g.  „Jeder  Körper  wiegt  (peso)  in  der  Richtung  seiner  Bewegung.    (Inertia!)" 
h.   „Der  freifallende  Körper  erlangt  in  jedem  Grade  der  Bewegung  Grade  der 

Beschleunigung." 


35 

i.    „Der  Stofs  (percussione)  ist  eine  Kraft,  ausgeübt  in  kurzer  Zeit." 

k.    „Jede  Bewegung,    welche  durch  Reflexion  entstand,    beendigt  ihren  Lauf 

auf  der  Linie  der  Incidenz.    Die  Incidenzbewegung  hat  eine  gröfsere  Macht 

(potenza),  als  die  reflektirte  Bewegung.    Das,  was  mehr  Kraft  hat,  dauert 

länger  als  das,  was  weniger  kräftig  ist."  — 

1.    „Es  ist  unmöglich,  dafs  zwei  Körper  einer  durch  den  andern  hindurchgehen." 

In  allen  diesen  Sätzen,  deren  Zahl  sich  leicht  vermehren  liefse,  gibt  Leonardo 
den  Beweis  für  die  Schärfe  seiner  Auffassungskraft.  Während  er  darin  die  Grundlagen 
für  eine  Darstellung  der  wichtigsten  mechanischen  Gesetze  ausspricht,  das  Beharrungs- 
vermögen, die  Bewegung  durch  plötzliche  Einwirkung  und  die  Idee  der  Kraft,  freiwillige 
und  unfreiwillige  Bewegung,  gleichförmige  Bewegung  näher  feststellt,  gibt  er  in  den 
letzten  Sätzen  mit  klassisch  kurzem  Ausdruck  unsere  heutigen  Ansichten  wieder.  Nur 
in  dem  Satz  e  unterläuft  ihm  die  Aristotelische  Anschauung  ein  wenig.  Der  Satz  h  ist 
dagegen  eine  bedeutungsvolle  Andeutung  des  später  von  Galilei  ausgesprochenen  Ge- 
setzes. Der  Satz  d  spricht,  wie  Govi  sehr  richtig  bemerkt,  klar  aus:  Der  durchlaufene 
Raum  ist  proportional  der  Zeit,  für  die  gleichförmige  Bewegung!  — 

Alle  diese  Sätze  aber  gehören  wahrscheinlich  den  diversen  Schriften  des  Leonardo 
an,  die  er  selbst  öfter  zitirt,  nämlich  libro  del  moto,  Trattato  di  percussione,  Elementi 
macchinali,  libro  del  impeto,  libro  di  gravita  u.  A.  Solche  Schriften  scheinen  in  Form 
von  Leitfäden  angelegt  worden  zu  sein,  nach  §§  geordnet,  auf  die  Leonardo  dann  in 
gewissen  Fällen  einfach  hinweist.  Z.  B.  Questa  e  manifesta  per  la  dodicesima  e  provasi 
ancora  per  l'ottava,  che  dice  etc.  —  In  dem  Londoner  Manuskript  des  Leonardo  ist  eine 
Abhandlung  Moto  ondoso  del  mare  enthalten.  Auch  hier  die  obigen  Zitate,  die  sich 
auch  auf  eine  vorhandene  Zusammenstellung  der  hydrostatischen  Gesetze  beziehen. 

Gegen  die  kontinuirliche  Bewegung  oder  das  Perpetuum  mobile  spricht  sich 
Leonardo  ganz  entschieden  aus. 

In  seinen  Schriften  sind  häufige  Stellen  darüber  und  die  Reihe  der  Zeichnungen 
dafür  ist  bedeutend.  Alle  die  Ideen  mit  gefächerten  Rädern  und  Kugeln,  Kugeln  an 
Armen,  u.  s.  w.  finden  bereits  bei  Leonardo  eingehende  Beurtheilung  und  Verurtheilung, 
und  bei  einer  dieser  Zeichnungen,  bei  welcher  Leonardo  32  Kugeln  voraussetzte  und 
ausführlich  berechnet,  findet  sich  das  Wort  „Satanasso"  zugefügt,  welches  vielleicht  der 
letzten  Kugel  gilt,  deren  Berechnung  ebenfalls  kein  günstiges  Resultat  gab.  Die  Ueber- 
zeugung  von  der  Unmöglichkeit  eines  Perpetuum  mobile  und  die  Begründung  dieser 
Ueberzeugung  gibt  der  mechanischen  Kenntnifs  des  Leonardo  besondere  Bedeutung. 
Wie  Govi  auch  richtig  bemerkt  hat,  findet  man  bei  Leonardo,  ein  Zeichen  seines  ernsten 
Strebens  und  seiner  Aufrichtigkeit,  häufig  am  Schlufs  von  Rechnungen,  Konstruktionen 
etc.  die  Worte:  falso!  oder  non  e  desso!  oder  errato!  —  gleichzeitig  allerdings  für  uns 
jetzt  ein  Mittel,  ihn,  den  Schreiber  selbst,  richtig  zu  beurtheilen.    Er  schreibt:    „Contro 

5* 


36 

del  moto  perpetuo.  Keine  greifbare  Sache  bewegt  sich  von  selbst;  daher  wenn  sie  sich 
bewegt  durch  eine  ungleiche  Kraft  d.  h.  bei  ungleicher  Zeit  oder  Bewegung  oder  Schwere 
entweicht  schnell  der  erste  Antrieb,  und  plötzlich  verliert  sich  auch  das  zweite  (nämlich 
die  Bewegung)."  „Kein  bewegtes  Ding  kann  nach  seinem  Herabfall  zur  gleichen  Höhe 
sich  wieder  emporheben,  also  hört  die  Bewegung  auf."  Leonardo  zeigt  dasselbe  an 
Hebung  des  Wassers  und  an  vielen  andern  Beispielen.  — 

Leonardo  ist  bei  Betrachtung  der  Bewegungsgesetze  auf  die  Einflüsse  der  Rei- 
bung eingegangen,  und  zwar  viel  spezieller,  als  man  glauben  sollte.  Seine  Arbeiten 
hierüber  sind  aus  Versuchen  sicherlich  hervorgegangen.  Er  hat  die  Reibung  von  Flächen 
bestimmt  unter  vielen  Variationen,  sodann  die  Zapfenreibung,  und  für  beide  Betrach- 
tungen gibt  er  viele  Skizzen.     Er  spricht  zunächst  allgemein  sich  so  aus: 

„Die  Reibungen  (confregazione)  der  Körper  sind  von  so  verschiedener  Gewalt, 
als  es  Variationen  der  Schlüpfrigkeit  der  Körper,  welche  sich  reiben  können,  gibt.  Die 
Körper,  welche  mehr  geglättet  (pulita)  sind  auf  der  Oberfläche,  haben  eine  leichtere 
Reibung.  Körper  von  gleicher  Schlüpfrigkeit  (lubricita)  haben  kräftigere  und  schwerere 
Widerstände  bei  der  Reibung.  Jeder  Körper  widersteht  bei  der  Reibung  mit  einem 
Viertheil  seiner  Schwere,  vorausgesetzt  eine  glatte  Ebene  und  polirte  Oberfläche.  Wenn 
ein  polirter  Körper  eine  polirte  schiefe  Ebene  zu  passiren  hat  mit  dem  Viertheil  seiner 
Schwere,  so  ist  er  von  selbst  geneigt  zur  Bewegung  auf  dem  Abhang.  Die  Reibung 
irgend  eines  Körpers  mit  verschiedenen  Seitenflächen  macht  einen  gleichen  Widerstand, 
gleichviel  auf  welcher  Seite  er  liegt,  .wenn  es  nur  immer  eine  Ebene  ist,  wo  er  sich 
reibt."  Leonardo  spricht  sodann  über  die  Reibung  der  Räder  und  vergleicht  sie  mit 
unendlich  kleinen  und  verminderten  Schnitten,  bei  welchen  nicht  Reiben,  sondern  nur 
Berühren  statthabe.  Die  Fol.  195  des  Codex  Atlanticus  enthalt  Betrachtungen  nebst 
Illustrationen  über  die  Reibung  der  Körper  auf  Flächen  und  runder  Körper  in  Lagern. 
Besonders  scheint  die  Relation  zwischen  der  Gröfse  der  Oberfläche  und  der  Gröfse  der 
Reibung  der  Gegenstand  der  Betrachtungen  gewesen  sein,  die  in  gleicher  Richtung  an- 
gestellt waren,  wie  die  Versuche  Coulomb's,  welcher  später  die  Reibungsgesetze  feststellte. 

Eine  wesentlich  neue  Betrachtung,  für  seine  Zeit  neu  und  fast  einzig  dastehend, 
wendete  Leonardo  da  Vinci  der  Festigkeit  der  Körper  zu  und  zugleich  der  für  ihre 
Benutzung  in  gewissen  Fällen  notwendigen  Haltbarkeit  gegenüber  den  auf  sie  einwir- 
kenden Kräften.  So  widmet  er  eine  ausführliche  und  sehr  eingehende  Abhandlung  der 
Festigkeit  der  Balken,  und  die  Figuren,  welche  wir  heute  in  unsern  technischen  Lehr- 
büchern zu  finden  gewohnt  sind,  um  z.  B.  die  relative  Festigkeit  und  die  absolute 
Festigkeit  deutlich  zu  machen,  sehen  wir  in  grofser  Reichhaltigkeit  bereits  auf  Leonardo's 
Skizzenblättern.  Dafs  für  ihn  als  Baumeister  und  Wasserbauingenieur  allerdings  solche 
Bestimmungen  nicht  allein  nahe  lagen,  sondern  von  ihm  auch  gern  durchgeführt  wurden, 
nimmt  uns  bei  dem  gründlichen  Wesen  des  Leonardo  nicht  Wunder.    Allein  er  unter- 


37 

suchte  auch  die  Druckfestigkeit  und  Zugfestigkeit  eben  so  eingehend  und  seine 
Resultate  kommen  unsern  heutigen  Annahmen  sehr  nahe. 

Leonardo's  Berechnung  über  die  nothwendige  Kraft  zum  Einschlagen  von  Nägeln, 
Bolzen  n.  s.  w.  und  die  daraus  sich  ergebende  Stärke  und  beste  Form  derselben  sind 
nicht  minder  beachtenswerth.  Dieselben  verbreiten  sich  sodann  auf  die  Theorie  des 
Keils.  Bei  Gelegenheit  der  Darstellung  der  Kanonenbohrerei  berechnet  Leonardo  die 
benöthigte  Stärke  der  Achsen  oder  Zapfen  am  Lauf  und  besfimmt  die  vortheilhafteste 
Stelle,  wo  dieselben  angebracht  werden.  Aehnliche  Berechnungen  führen  ihn  zur  Kon- 
struktion der  Rammen  und  des  Rammbärs,  zur  entsprechenden  Form  der  Ketten  und 
der  Gliederketten,  der  Thürangeln,  und  einer  grofsen  Anzahl  anderer  Details  für  Maschi- 
nenbau und  Baukunst. 

Leonardo  war  ein  Talent,  das  durch  und  durch  in  der  Mechanik  wurzelte. 
Sowie  er  der  Mechanik  oblag  zum  Zweck  der  Ermittelung  der  Naturgesestze,  so  wandte 
er  sie  an  für  die  Malerei  zur  Ermittlung  der  natürlichen  Verhältnisse  und  Formen 
und  seine  anatomischen  Studien  waren  wesentlich  mechanischer  Art,  denn  für  ihn 
waren  Arme  und  Beine  Hebel.  Im  4.  Kapitel  seines  Traktats  von  der  Malerei  han- 
delt er  hierüber  genauer  ab.  Die  Bewegung  der  Thiere  und  Menschen  resp.  deren 
Glieder  erklärt  er  nach  den  Gesetzen  der  Statik  und  Mechanik  in  ungemein  fafslicher 
Weise.  Leonardo  betrachtet  zuerst  den  Zustand  der  Ruhe  und  erklärt:  „Der  Mangel 
an  Bewegung  eines  jeglichen  Thieres  entspringt  von  der  Entziehung  der  Ungleichheit, 
welche  die  einander  entgegengesetzten  Schweren  haben,  die  sich  auf  ihr  eigenes  Gewicht 
stützen."  „Die  Bewegung  kommt  von  dem  Aufhören  des  Gleichgewichts  oder  von  dessen 
Ungleichheit  her."  Aus  diesen  beiden  Grundgesetzen  entwickelte  Leonardo  nun  eine 
Reihe  Fälle.  Er  zeichnete  gleichsam  hierzu  ein  Skizzenbuch  für  den  Fechtmeister  Borri, 
worin  er  die  einzelnen  Stellungen  rein  mechanisch  behandelte. 

Ein  wichtiger  Beweis  für  seine  eigenen  Aussprüche  über  die  Bedeutung  der 
Mathematik  und  Mechanik  liefert  Leonardo  selbst  durch  die  Art  und  Weise,  wie  er  die 
Gestalt  der  Ornamente  geometrisch  und  mechanisch  bestimmt.  Im  Codex  Atlanticus  sind 
eine  Reihe  Blätter  allein  diesem  Gegenstande  gewidmet,  und  es  verdienten  diese  Blätter 
vor  allem  eine  gröfsere  Verbreitung  zum  Nutzen  unserer  Kunstgewerbe. 

VII. 

Whewell  sagt  in  seiner  Geschichte  der  iudnktiven  Wissenschaft  Bd.  I.  p.  86: 
„Archimedes*)  legte  nicht  allein  den  Grundstein  zur  Statik  der  soliden  Körper,  sondern 
er  löste  auch  das  Fundamental -Problem  der  Hydrostatik  glücklich  auf.  Diese  Auf- 
lösung ist  um  so  merkwürdiger,  da  das  von  ihm  für  die  Hydrostatik  aufgestellte  Prinzip 


*)  Archimedes,  ntgi  ruv  txovPtvuv'  e^-  David  Rivaltus  Paris  1615. 


38 

nicht  nur  bis  zum  Ende  des  Mittelalters  unbenutzt  blieb,  sondern  da  es  auch  selbst  dann, 
als  es  wieder  aufgenommen  wurde,  so  wenig  klar  eingesehen  worden  ist,  dafs  man  es 
nur  das  Hydrostatische  Paradoxon  nannte."  Archimedes  hatte  den  Satz  des 
hydrostatischen  Druckes,  dafs  sich  ein  auf  eine  Flüssigkeit  ausgeübter  Druck  in  der 
Flüssigkeit  nach  allen  Richtungen  fortpflanzt,  aufgestellt,  allein  nach  den  Annahmen  der 
Geschichte  bisher  waren  es  Steviuus  und  Galilei  zuerst,  welche  dies  Gesetz  wieder  in 
seiner  Klarheit  begriffen  und  dasselbe  zur  Geltung  brachten.  In  der  That  enthalten 
alle  Schriften  des  Mittelalters  bis  dahin,  verführt  von  der  aristotelischen  Dogmatik,  nur 
ganz  verworreno  Auffassungen  über  das,  was  dies  Gesetz  mit  absoluter  Wahrheit  vor- 
stellt. Man  lese  nur  des  Cardanus  Ideen  hierüber,  um  sich  von  dem  gänzlichen  Abhand- 
denkommen  des  Archimedischen  Gesetzes  zu  überzeugen. 

Von  1547  an  wandte  sich  die  Aufmerksamkeit  der  Hydrostatik  und  Hydrodyna- 
mik wieder  zu,  und  Fr.  Commandinus  machte  sich  verdient  durch  Edition  der  Schriften 
des  Hero  und  des  Archimedes  über  diesen  Gegenstand.  Auch  Baptist  Porta  edirte  1601 
ein  Werk  Pneumaticorum  libri  tres,  in  welchem  er  auf  Heros  Werk  näher  einging.  Von 
da  ab  folgen  Gasparis,  Schottius,  Bardius,  Mersenne  und  Boyle's  Hydrostatical  parodoxes 
made  ut  by  new  Experiments.  Zuvor  hatte  Pascal  1653  seine  Schrift  vom  Gleichgewicht 
der  Flüssigkeit  herausgegeben  u.  s.  w. ;  Galilei's  Schrift  über  die  schwimmenden  Körper 
1612  fand  bekanntlich  heftige  Gegner  und  sein  Schüler  Castelli  hatte  alle  Hände  voll  zu 
thun,  die  Angriffe  Colombe's,  Vincenzio  des  Gracia  u.  a.  abzuwehren.  Alle  diese  Schriften 
sind  also  einer  späteren  Zeit,  als  in  der  Leonardo  lebte,  angehörig.  Von  Leonardo  da 
Vinci  haben  wir  bereits  oben  angeführt,  welches  Verdienst  er  sich  als  Wasserbau-Inge- 
nieur um  seine  Zeit  und  sein  Vaterland  erworben  hat,  ein  Verdienst,  das  heute  noch  in 
vollem  Umfange  besteht,  und  so  fortwirken  konnte,  weil  seine  Bauten  mit  ungemeiner 
Schärfe  projektirt  waren  und  sorgsam  durchdacht  ausgeführt  wurden.  Der  Adda-Kanal  und 
vor  allem  der  Kanal  von  Martesana  im  Veltlin  mit  seiner  wunderbaren  Bewässerungsmethode 
sind  Meisterwerke  für  alle  Zeiten.  Aus  der  Trefflichkeit  dieser  Arbeiten  läfst  sich  schon 
schliefsen,  dafs  Leonardo  nicht  sowohl  Herr  über  rationelle  Benutzung  des  Wassers  war, 
sondern  dafs  er  auch  alle  Eigenschaften  dieses  wichtigen  Elements  vom  Grunde  studirt 
hat.  Bei  seiner  scharfen  Auffassungsgabe  konnte  es  nicht  fehlen,  dafs  er  die  Richtigkeit 
der  Archimedischen  Gesetze  begriff  und  auf  ihnen  seine  Projekte  und  Ausführungen 
basirte.  Wir  können  uns  für  die  Begründung,  dafs  dies  in  vollstem  Mafse  geschehen 
und  dafs  Leonardo  dem  Stevinus  und  Galilei  weit  zuvorgekommen  ist,  bescheiden,  diese 
Nachweise  haben  bereits  andere  übernommen  und  geführt.  Elia  Lombardini  hat  dies 
gezeigt  in  seinen  Osservazioni  storico-critiche  sopra  dell'  origine  del  progresso  della 
scienza  hydraulica  nel  Milanese  ed  in  altre  parte  d'Italia  und  nennt  den  Leonardo  da 
Vinci  il  fondatore  della  scienza  hydraulica  ebenso  wie  Cialdi  ihn  als  il  fondatore  della 
dottrina  sul  moto  ondoso  del  Mare  bezeichnet.   Ferner  haben  viele  Autoren  der  Hydrau- 


39 

lik  und  Hydrostatik  auf  die  Arbeiten  des  Leonardo  Kücksicht   genommen    und    seinen 
Namen  ehrenvoll  genannt. 

Allein  darauf  ist  bisher  nicht  der  gehörige  Nachdruck  gelegt,  dafs  Leonardo 
ein  ebenbürtiger  Vorgänger  des  Stevinus  und  Galilei  in  Sachen  der  Hydrostatik  gewesen 
ist  —  dies  kann  erst  jetzt  genauer  nachgewiesen  werden,  wo  aus  Leonardo  da  Vinci's 
nachgelassenen  Schriften  Beweise  dafür  geschöpft  werden,  dafs  er  auch  hierin,  wie  in 
den  vielen  andern  Gebieten  der  mechanischen  Wissenschaften  seiner  Zeit  voran  war  und 
fast  auf  der  Höhe  der  Anschauungen  dieser  genannten  Männer  schon  fast  100  Jahre 
vorher  stand.  Kein  Zweifel  ist,  dafs  Leonardo*)  die  Schriften  des  Archimedes  gelesen 
hatte  und  dafs  er  dessen  Gesetze  der  Hydrostatik  richtig  erfafst  hatte. 

Seine  Anschauungen  über  die  molekulare  Beschaffenheit  des  Wassers  sind 
klar  und  deutlich.  Er  schildert  diesen  Zustand  des  Wassers  mit  absoluter  Gewifsheit 
bei  verschiedenen  Gelegenheiten,  zumal  bei  der  Entwicklung  seines  Gesetzes  der  Wellen- 
bewegung. Er  vergleicht  die  sich  von  Atom  zu  Atom  übertragende  Bewegung  durch 
irgend  einen  Stofs  auf  die  Wasserfläche  mit  einem  Zittern  und  fürchtendem  Zurück- 
weichen. Ebenso  genau  fafste  Leonardo  da  Vinci  die  Verdrängung  eines  Quantums  Was- 
sers durch  einen  daraufgelegten  schweren  Körper  auf.  Ueber  die  Gravitation  des  mole- 
kularen Wassers  drückt  sich  Leonardo  so  aus:  la  loro  gravita  e  dupla,  cioe"  che  il  suo 
tutto  ha  gravita  attesta  al  centro  delli  elementi;  la  seconda  gravita  attende  al  centro 
d'essa  sfericitä  d'aqua  .  .  .  .  ma  di  questa  non  veggo  nell'  humano  ingegno  modo  di 
darne  scienza,  ma  dire  come  si  dice  della  Calamita  (Magnet)  che  tira  il  ferro,  cioe  che 
tal  virtu  e  occulta  proprietä,  della  quali  n'  e  infinite  in  natura! 

Wir  haben  hier  den  Satz  mit  Leonardo's  eigenen  Worten  wiedergegeben,  welcher 
die  klare  Anschauung  der  Molakularattraktion  und  der  Gravitation  enthält,  dabei  von 
natürlicher  Beobachtung  ausgeht  und  so  schön  die  Unbegrenztheit  dieser  Naturkräfte 
ausspricht. 

Ueber  die  Verdampfung  des  Wassers  und  die  Sättigung  der  Luft  mit  Feuchtigkeit 
lehrt  Leonardo  mit  denselben  Grundsätzen.   Er  weifs,  dafs  Regen  nicht  statthaben  kann 
F]'g-  16-  ohne  einen  hohen  Grad  der  Beladung  der  Luft  mit  Feuch- 

tigkeit. Zur  Ermittelung  des  Feuchtigkeitsgrades  der  Luft 
hat  er  eine  Art  Pluviometer  konstruirt,  den  wir  hier  in 
Figur  beibringen.  Die  eine  der  Kugeln  ist  mit  Wachs 
die  andere  mit  Baumwolle  umhüllt,  jene  als  Wasser  ab- 
stofsend,  diese  als  Wasser  anziehend  betrachtet. 

Eine  seiner  bedeutensten  Beobachtungen  ist  aber 
das  Gesetz  der  kommunizirend  en  Röhren,  welches 
er  so  ausspricht:  Le  superfici  di  tutti  i  liquidi  immobili  li 


*)  Er  zitirte  Archimedes  öfter. 


.r  r_ 


40 

quali  in  fra  loro  fieno  congiunti,  sempre  fieno  d'eguale  altezza!  Zugleich  zeigt  er 
durch  zahlreiche  Skizzen  im  Codex  Atlanticus  auf  Blatt  314  u.  a.,  dafs  dies  Gesetz 
durch  keinerlei  Formvariation  der  Gefäfse  beeinträchtigt  werde.  (S.  F.  17.)  Ebenso  zeigt 
er  die  Heber  in  den  verschiedensten  Gestaltungen  und  in  ihrer  Gesetzmäfsigkeit.  Wir 
Fig.  17.  können  nicht  umhin,  hier  einzuschalten,  dafs  Leonardo  in 

der  Figur  bereits  dasselbe  that,  wie  Pascal  1653  vorführte. 
Leonardo  zeigt  weiter,  dafs,  wenn  man  zwei  sich  nicht 
mischende  Flüssigkeiten  in  ein  und  dasselbe  Gefäfs  giefst, 
z.  B.  Wasser  und  Quecksilber  (ariento  vivo),  dieselben  sich 
nach  ihrem  Gewicht  anordnen,  und  zwar  so,  dafs  das  Quecksilber  unten  bleibt,  das  Wasser 
darüber  steht  und  dafs  (bei  kommunizirenden  Röhren)  sich  diese  beiden  Flüssigkeiten  ins 
Gleichgewicht  einstellen.  Ferner  erklärt  Leonardo,  dafs  die  verschiedene  Höhenanord- 
nung eine  Folge  der  verschiedenen  Flüssigkeiten  sei,  und  dafs  die  Flüssigkeit  den  Höhen 
umgekehrt  proportional  sei.  Hierher  gehört  auch  der  Ausspruch  des  Leonardo,  dafs 
das  im  Dampf  vermittelst  der  Wärme  aufgelockerte  Wasser  über  die  Oberfläche  des 
kalten  Wassers  steige. 

Ueber  den  Ausflufs  der  Flüssigkeiten  aus  Gefäfsen  finden  wir  sehr  viele  Skizzen 
und  Stellen  bei  Leonardo.  Wenn  Montucla  den  Castelli  als  „den  Schöpfer  eines  neuen 
Zweiges  der  Hydraulik"  nannte,  weil  derselbe  in  seinem  Werk  della  missura  dell'  Acqua  Cor- 
rente  (1638)  Vieles  über  den  Ausflufs  des  Wassers  beobachtet  hat  und  festzustellen  sucht, 
so  mufs  dieser  Annahme  insofern  widersprochen  werden,  als  Castelli  zunächst  unrich- 
tig annimmt,  dafs  die  Geschwindigkeit  des  Ausflusses  sich  wie  die  Tiefe  der 
Oeffnung  unter  dem  Wasserspiegel  verhält,  sodann  aber  Leonardo  bereits  mehr 
als  hundert  Jahre  vor  ihm  der  richtigen  Lösung  dieses  Gesetzes  nahe  war.  Auch  für 
den  Heber  gibt  Leonardo  genau  an,  dafs  sich  die  Ausflufsgeschwindigkeit  aus  dem  Heber 
richte  nach  der  Differenz  zwischen  der  freien  Ausflufsöfmung  des  unteren  Schenkels  und 
der  Oberfläche  der  Flüssigkeit,  in  welche  der  andere  Arm  eintaucht.  Er  beobachtete, 
wie  in  einem  Fafs,  wenn  man  im  Boden  ein  kleines  Loch  bohre,  die  Wassersäule  über  dem- 
selben in  Bewegung  gerathe,  nicht  aber  an  den  Seiten,  und  dafs  bei  einem  in  Rotation  ver- 
setzten, mit  Wasser  gefüllten  Gefäfs  das  Wasser  an  den  Wänden  hinaufsteige,  —  eine 
Folge  der  Zentrifugalkraft.  — 

Er  kommt  auf  das  erstere  Beispiel  mehrere  Male  zurück  (z.  B.  in  F.  12),  und 
zeigt:  „dafs  je  kleiner  das  Loch  am  Boden  des  Gefäfses  sei,  eine  um  so  gröfsere  Kraft 
der  Strudel  gewinne.  Die  Höhle  des  Strudels  ist  grader  gegen  den  Boden  gerichtet  als 
gegen  die  Oberfläche  des  Wassers,  weil  das  Wasser  mehr  Druck  ausübt  nach  dem  Grunde 
hin  als  nach  der  Oberfläche."  —  „Wenn  sich  das  Wasser  nicht  über  der  Luft  halten 
kann,  —  wie  bildet  es  dann  einen  Strudel,  so  dafs  das  Wasser  selbst  einen  Wall  um  eine 
Höhlung  bildet,   welche  nur  Luft  enthält?  —   Wir  haben  gezeigt,    dafs  jeder  schwere 


41 

Körper  sich  ausbreitet  zufolge  der  Schwere  in  dem  Sinne,  gegen  welchen  er  sich  bewegt. 
Daher  sind  die  Strudel  hohl  wie  die  Pumpenrohre.  Das  Wasser,  welches  die  Wandungen 
der  Höhlung  bildet,  hält  sich  dort  so  lange,  als  die  Rotation  dauert,  welche  sie  gebildet 
hat.  Während  dieser  Zeit  wiegt  das  Wasser  in  Richtung  seiner  Bewegung.  Die  Partien, 
welche  dem  Zentrum  der  Bewegung  näher  sind,  drehen  sich  mit  mehr  Schnelligkeit  als 
die  entfernteren.  Dies  Phänomen  ist  höchst  eigenthümlich ;  denn  die  Partien  eines 
Rades,  welches  sich  um  seine  Achse  dreht,  bewegen  sich  um  so  langsamer  als  sie  dem 
Zentrum  näher  sind.  Die  Erscheinung  beim  Strudel  ist  also  gerade  umgekehrt.  Wenn 
das  nicht  sein  würde,  müfste  sich  die  Höhle  mit  Wasser  ausfüllen.  In  dem  Wasser, 
welches  die  Wandungen  der  Höhlung  bildet,  wirken  zwei  Gravitationen.  Die  eine 
bewirkt  die  Kreisbewegung  des  Wassers,  die  andere  aber  bildet  die  Wandungen 
der  Höhlung,  welche  ihrerseits  auf  die  Luft  in  der  Höhlung  drückeu  und  den  Strudel 
enden,  indem  sie  in  die  Höhlung  einstürzen." 

Venturi,  der  diese  Sätze  kannte,  legte  sie  seinen  späteren  Versuchen  zu  Grunde, 
die  er  1797  veröffentlichte.  Venturi  ist  entzückt  über  die  klare  Vorstellung  des  Leonardo 
und  sagt:  „Enfin  non-seulement  Vinci  avoit  remarque  toutce  que  Castelli  a  dit  un  siecle 
apres  lui  sur  le  mouvement  des  eaux ;  le  premier  me  paröit  meme  dans  cette  partie  s  u  - 
perieur  de  beaucoup  ä  l'autre,  que  l'Italie  qependant  a  regarde  comme  le  fondateur  de 
l'Hydraulique."   Was  Venturi  hier  vor  86  Jahren  ausspricht,  ist  heute  durchaus  anerkannt. 

Die  italienischen  Autoren*)  haben  Vinci  die  Palme  in  hydraulischen  Dingen  vor 
dem  Castelli  zuerkannt.  Sie  gebührt  ihm  indessen  nicht  allein  der  bisher  berührten 
Gesetze  wegen,  sondern  auch  ganz  besonders  seiner  trefflichen  Theorie  der  Wellen- 
bewegung des  Meeres  wegen!  auf  die  wir  nunmehr  hier  eingehen  wollen.  Wir  folgen 
dabei  der  erschöpfenden  Arbeit  von  Cialdi,  betitelt:  Leonardo  da  Vinci,  fon- 
datore  della  dottrina  sul  moto  ondoso  del  Mare,  welche  mit  Lust  und  Liebe 
den  Nachweis  führt,  dafs  Leonardo  der  erste  gewesen,  welcher  eine  Wellentheorie  auf- 
stellte, und  nicht  Newton,  de  l'Emy,  Montferrier  und  Laplace.  Hat  man  sich  in  das 
Wesen  der  Arbeit  und  Betrachtungsweise  des  Leonardo  eingearbeitet,  so  scheint  es  so 
naheliegend,  dafs  sich  dieser  erste  Hydrauliker  von  Bedeutung  auch  mit  der  Frage  der 
Entstehung  der  Wellen  des  Meeres  beschäftigt  habe.  Angefochten  kann  nach  Cialdi's 
und  Boccarde's  Untersuchungen  nicht  mehr  werden,  dafs  Leonardo  so  viel  früher 
das  erste  Fundament  der  hydraulischen  Wissenschaft  legte,  als  die  Arbeiten  von  Newton, 
la  Hire,  Laplace,  Lagrange,  Biot,  Poisson,  Cauchy  erschienen.  —  Leonardo  sagt: 

„L'onda  ha  moto  riflesso  ed  incidente;  il  moto  riflesso  e  quello  che  si  fa  nella 
generazione  dell'  onda,  dopo  la  percussione  dell'  obietto,  risaltando  ed  elevandosi  l'acqua 
verso  l'aria,  nel  quäl  moto  l'onda  acquista  la  sua  altezza  etc.  —  II  moto  incidente  dellt 

*)  Es  ist  ein  grofser  Mangel,  dafs  z.  B.  Ewbank  in  seinem  „Descr.  and  histor.  account  of  Hy- 
draulic  and  other  machines  for  raising  water"  nichts  von  Leonardo  da  Vinci  kennt,  während  er  Venturi's 
Arbeiten  zitirt.  6 


42 

onda  e  quello  che  fa  l'onda  dal  colmo  della  sua  altezza  all'  infimo  della  sua  bassezza, 
quäle  non  e  causata  da  alcuna  percussione,  ma  solo  dalla  gravita  acquistata  dall'  acqua 
fuori  del  suo  elemento  etc. 

Quanto  piü  alte  sono  l'onde  del  mare  dell  ordinaria  altezza,  della  superficie  della 
sua  acqua,  tanto  piü  bassi  sono  li  fondi  delle  valli  interposte  infra  esse  onde.  E  questo 
e  perche  le  gran  cadute  delle  grandi  onde  fanno  grandi  concavitä  di  valle.  —  La  valle 
interposta  infra  le  onde  e  piü  bassa  che  la  comune  superficie  dell'  acqua.  Questa  e 
manifesta  per  la  passata,  e  l'esperienza  ce  lo  dimostra,  come  si  vede  nell'  acqua  che 
ricade  a  riempire  li  luoghi  percossi  dalle  cadute  dell'  acqua  etc. 

Ganz  ähnlich  erklärt  Newton;*)  ganz  ähnlich  Giorgio  Juan,  Montferrier,  l'Emy, 
Bertin.  Letzterer  erklärt:  „Die  absoluten  Dimensionen  der  Wellen,  seien  es  mittlere 
oder  maximale,  nach  Breite  oder  Höhe,  können  nicht  anders  als  durch  die  Erfahrung  be- 
stimmt werden,  nicht  allein  weil  die  Hauptursache,  von  der  diese  Dimensionen  abhängen, 
z.  B.  die  Macht  des  Windes  und  die  Dauer  seiner  Wirkung,  selbst  durch  Erfahrung  be- 
stimmt werden  müssen,  sondern  auch,  weil  man  kein  Mittel  besitzt,  den  Effekt  eines  be- 
stimmten Windes  theoretisch  zu  bestimmen,  für  eine  gegebene  Zeitdauer  seines  Wehens 
über  das  Meer  hin."**) 

Leonardo  erklärt  die  Welle  so:  „Die  Welle  ist  der  Eindruck  (die  Folge)  des 
Stofses  (percussione)  reflektirt  vom  Wasser;  sein  Angriff  (impeto)  ist  viel  schneller  als 
das  Wasser.  Daher  flieht  oftmals  die  Welle  den  Ort  ihrer  Entstehung,  und  das  Wasser 
selbst  bewegt  sich  nicht  vom  Platze.  Die  Aehnlichkeit  der  Wellen  ist  grofs  mit  den 
Wellen,  die  der  Wind  in  einem  Kornfeld  hervorbringt,  welche  man  auch  sieht  über  das 
Feld  hineilen,  ohne  dafs  das  Getreide  (biade)  sich  vom  Platze  bewegt." 

Eine  Definition  der  Wellen  kann  nicht  erschöpfender  und  klarer  sein  als  diese, 
und  folgedessen  ist  auch  die  Aehnlichkeit  der  Erklärungen  aller  jüngeren  Gelehrten 
(l'Emy  Sganzin,  Reibeil)  mit  derselben  sehr  grofs.  Fevre  hat  hier  noch  sogar  das  Bei- 
spiel des  über  ein  Getreidefeld  hinfahrenden  Windes  wiedergebraucht, 

Drei  Jahrhunderte  nach  Leonardo  erklärte  Goimpy  die  Welle  als  eine  horizontale 
Bewegung  in  den  Wafsermoleculen,  welche  dieselbe  bilden.  Er  sucht  dies  durch  Expe- 
rimente und  Spekulationen  zu  beweisen;  allein  umsonst.  Tessan  stellte  sodann  gegen 
alle  bisher  angenommene  Theorie  die  Existenz  einer  horizontalen  Bewegung  in  den  Mo- 
leculen  des  Wafsers  auch  ohne  Einwirkung  des  Windes  auf.  Auch  Leonardo  hatte 
diese  Ideen:  „Oftmals  geht  die  Welle  schneller  als  der  Wind,  und  oftmals  ist  der  Wind 
schneller  als  die  Welle.  Das  erfahren  die  Schiffe  auf  dem  Meere  in  Wellen,  die  schneller 
sind  als  der  Wind.    Es  kann  dies  herrühren  davon,  dafs  die  Welle  entstand  von  einem 


*)  Newton,   Mathemat.  Prinzipien.    Von  Prof.  Dr.  Wolfers,  Berlin,  Oppenheim  1872.  pag.  360. 
**)  Wir  bemerken,  dafs  viele  Sätze  in  den  späteren  Schriften  besonders  der  französ.  Gelehrten 
fast  genau  wiedergegeben  zu  sein  scheinen. 


43 


grofsen  Wind,  und  nachdem  der  Wind  leichter  geworden,  hat  die  Welle  noch  eine  grofse 
Gewalt  zurückbehalten.  Das  Wasser  kann  nicht  so  plötzlich  seine  Wellen  in  sich 
aufnehmen,  weil  beim  Herabfallen  des  Wassers  vom  Gipfel  zum  Thal  sich  die  Ge- 
schwindigkeit, die  Kraft  und  Bewegung  erneuet." 

Die  Phänomene  der  Erscheinung  von  Wellen  ohne  oder  mit  direktem  Antrieb 
durch  Winde  sind  Gegenstand  vieler  Betrachtungen  geworden  von  Reid,  Redfield,  Pid- 
dington, Blay,  Dampier,  Dumont  d'Urville,  Poterat,  Keller,  Zürcher,  Gevry  u.  a.,  zumal 
jene  Wellen,  welche  entstehen,  ohne  dafs  ein  Windstrom  bemerkbar. 

Leonardo  geht  nun  auf  die  Wellenbildung  in  Richtung  gegen  den  natürlichen 
Strom  des  Wassers  in  Flüssen  ein  und  spricht  das  aus,  was  Spätere  wiederholten  (Sgan- 
zin  und  Reibeil),  dafs  die  Welle  nicht  den  natürlichen  Lauf  der  Flüsse  alterire,  obgleich 
sie  sich  gegen  diese  Flufsrichtung  bilden  und  bewegen  könne.  Er  geht  sodann  ein  auf 
die  Entstehung  der  Wellen,  wenn  man  einen  Stein  etc.  in  das  Wasser  werfe.  Schon 
zuvor  bemerkt  er,  dafs  zwei  Wellen  durcheinander  hindurchgehen  könnten.  Der  Fall 
der  Wellenerregung  durch  das  Einwerfen  der  Steine  bietet  dem  Leonardo  Gelegenheit 
zu  einer  äufserst  klaren  und  durchaus  richtigen  Deduktion.  Er  zeigt  dies  auch  graphisch 
für  den  Fall,  dafs  zu  gleicher  Zeit  in  einer  geeigneten  Entfernung  von  einander  zwei  Stein- 
chen von  gleicher  Gröfse  in  ein  stillstehendes  Wasser   geworfen  würden.    Es    entstehen 


Fig.  18. 


dann  zwei  „separate  quantitä  di  circoli." 
Wenn  diese  Menge  der  Kreise  wächst, 
so  begegnen  sich  die  einzelnen  Kreise 
beider  Systeme,  und  nun  sagt  Leonardo: 
„üomando,  ich  frage,  ob,  wenn  ein  Kreis 
im  Anwachsen  sich  begegnet,  mit  dem 
entsprechenden  andern  Kreis,  er  eintritt 
in  dessen  Wellen  sie  durchschneidend, 
oder  ob  die  betreffenden  Berührungs- 
schläge unter  gleichen  Winkeln  reflektiren? 
Questo  e  bellissimo  quesito,  e  sottile!" 
Darauf  antwortet  Leonardo  selbst  mit  einer  subtilen  Auseinandersetzung,  die  beweist, 
dafs  sich  die  begegnenden  Wellen  durchschneiden.  Hierbei  gibt  er  eine  wunderschöne 
Darstellung  über  die  Entstehung  der  Wasserbewegung  durch  den  einfallenden  Stein,  wie 
das  Wasser  anfangs  durch  den  schweren  Körper  verdrängt  wird,  wie  die  Flüssigkeit  die 
Oeffnung  wieder  ausfüllt  und  dabei  in  Bewegung  geräth,  „che  si  puo  piuttosto  dimandare 
tremore  che  movimento.  Man  kann  dies  dadurch  am  besten  zeigen,  dafs  man  einen 
Strohhalm  (festuche)  auf  die  Kreise  wirft  und  beobachtet,  wie  derselbe  fortwährend  von  der 
Wellenbildung  bewegt  wird,  ohne  den  Ort  zu  ändern.  So  ist  es  auch  mit  dem  Wasser 
der  Wellen."  Nun  fährt  er  fort  zu  erklären,  dafs,  indem  alle  benachbarten  Theile  der 
Flüssigkeit  von  dem  Tremolando  ergriffen  werden,  sich  immer  weitere  Kreise  ziehen,  aber 


44 

wie  immer  mehr  die  Kraft  erlischt,  bis  sie  aufhört  zu  wirken.  Und  nun  knüpft  Leonardo 
daran,  dieses  Beispiel  auf  die  Luft  und  den  Schall  zu  gebrauchen!  und  die 
grofse  Konformität  der  Erscheinurgen  im  Wasser  mit  denen  in  der  Luft  zu  bezeichnen. 

„Die  Schallwellen  in  der  Luft  entfernen  sich  mit  kreisförmiger  Bewe- 
gung von  dem  Orte  ihrer  Entstehung,  und  ein  Kreis  begegnet  und  passirt 
den  anderen,  immer  aber  das  Zentrum  der  Entstehung  beibehaltend!" 
Diese  Darstellungen  (vide  die  bezüglichen  §§  162  und  170  in  Eisenlohr's  Lehrbuch  der 
Physik  (7.  Aufl.)  und  Fig.  200*)  stehen  so  vollkommen  auf  der  Höhe  unserer  Zeit,  dafs 
die  Interferenzlehre  in  der  That  durch  Leonardo  bereits  präzisirt  erscheint;  wir  bedienen 
uns  noch  desselben  Beispiels.  — 

Leonardo  stellt  weiter  den  Satz  auf:  „dafs  die  brandende  (titubante)  Welle  eine 
solche  ist,  welche  vom  gegenseitigen  Ufer  reflektirt  ist  und  welche  in  dieser  Reflexion 
um  so  viel  vermindert  ist,  sich  mit  sich  selbst  zusammeogiefst  und  die  Kraft  (impeto)  ver- 
liert, welche  sie  bewegte."  (Man  sehe  die  späteren  Gelehrten  Emy,  Sganzin,  Reibeil,  Minard, 
Bazin.)  Ferner:  „Die  reflektirte  Bewegung  der  Welle  auf  dem  Wasser  verändert  um  so 
viel  die  reflektirte  Bahn,  als  die  Körper,  welche  die  inzidente  Bewegung  empfangen, 
geneigte  Flächen  haben  (varii  obietti  in  obliquita)."  Es  ist  das  derselbe  Lehrsatz,  den  wir 
auszusprechen  pflegen :  „EineWelle  wird  unter  demselben  Winkel  von  einer  ebenen  Wand  zurück- 
geworfen, unter  welchem  sie  auffällt."  Hierzugehört:  „Eine  Welle  ist  nie  allein,  sondern  gemischt 
aus  so  vielen  Wellen,  als  aus  der  Unegalität  des  Körpers  folgten,  von  welchem  solche  Wellekommt." 

Mr.  l'Emy  schliefst  sich  besonders  eng  an  Leonardo  an,  ohne  seinen  Namen  zu 
nennen,  und  kaum  ist  es  glaublich,  dafs  eine  solche  Gleichheit  der  Ansichten  von  selbst 
entstehe.  Emy  hat  sowohl  den  vorstehenden  Satz  zum  Gegenstande  besonderer  Abhand- 
lung gemacht,  als  auch  folgenden,  —  den  auch  Frissard  anführt.  Leonardo  zeigt  darin, 
dafs  die  Wellen  von  der  Oberfläche  des  Wassers  in  verschiedener  Weise  in  demselben 
Wasser,  zur  selben  Zeit  und  mit  verschiedener  Gestalt  entstehen  können.  Ferner:  „Die 
Welle  des  Meeres  bricht  gegen  das  Wasser,  welches  vom  Ufer  zurückgeworfen  ist,  und 
nicht  gegen  den  Wind,  welcher  es  tanzen  macht.  Der  Eindruck  von  Bewegung  im 
Wasser  durch  Wasser  ist  permanenter,  als  der  Eindruck  des  Wassers  von  der  Luft." 

Wir  führen  nun  die  Stellen  an,  von  denen  Calvi  sagt:  dafs,  wenn  Leonardo 
jene  Lampe  gesehen  haben  würde,  die  den  Galilei  auf  die  Pendelgesetze  hinwies,  er  ge- 
wifs  die  Aehnlichkeit  der  Schwingungen  mit  der  Wellenbewegung  gesehen  haben  würde. 
Er  sagt:  „Der  Beginn  der  Welle  bei  der  inzidenten  Bewegung  ist  schneller  und  das 
Ende  der  reflektirten  Bewegung  langsam.  Die  inzidente  Bewegung  ist  kräftiger  als  die 
reflektirte.  Die  Bewegung  des  Thals  der  Welle  ist  schneller,  aber  ihr  Berg  langsam. 
Daraus  folgt,  dafs  das  Thal  die  inzidente  und  der  Berg  die  reflektirte  Bewegung  ist. 
Die  Welle  wird  sich  um  so    mehr  bewegen,  als  sie  sich  bewegt,    um  so  mehr  sich  aus- 


*)  So  auch  Poncelet,  Sganzin,  Keibell  u.  A. 


45 


breiten,  als  sie  geschwinder  ist.  Denn  die  Welle  entsteht  durch  die  Reflexion,  und  die 
reflektirte  Bewegung  endigt  in  der  Linie  der  Inzidenz.  Die  Welle  hat  Zeit  sich  zu  ver- 
tiefen und  auszubreiten,  wenn  sie  übergeht  von  der  Reflexion  zur  Inzidenz,  und  empfängt 
um  so  viel  mehr  Geschwindigkeit,  als  die  Bewegung  der  Inzidenz  kräftiger  ist  als  die 
reflektirte."  Hieran  schliefsen  sich  noch  eine  Reihe  Betrachtungen  über  die  Bewegung 
zweier  gleicher  oder  ungleicher  Wellen  u.  s.  w.,  Gesetze,  welche  später  von  Mr.  l'Emy 
u.  A.  weiter  ausgeführt  sind,  ohne  mehr  zu  sagen,  als  Leonardo  gibt.  Vinci  zeigt 
schliefslich  noch  das  Spiel  der  Wellen  am  Ufer,  wie  keine  Welle  die  letzte  sei,  sondern 
immer  die  vorletzte  auf  sie  heranrücke  u.  s.  w.,  wie  ferner  die  Wellen  die  mitgeführten 
Körper  sortiren  und  in  Reihen  anhäufen.  Die  inzidente  Wellenbewegung  bewegt  die 
gröfseren  Steine,  und  die  reflektirte  ist  nicht  im  Stande,  dieselben  zurückzuziehen,  wohl 
aber  folgen  die  kleineren  Dinge  den  letzteren  und  der  Sand  ist  der  Spielball  der  beiden 
Bewegungen.  Wir  wollen  Leonardo's  eigene  Worte  über  die  Arbeit  der  Wellen  folgen 
lassen :  „II  moto  che  il  mobile  riceve  e  quando  veloce,  quando  tardo,  e  quando  si  volta  a 
destra  e  quando  a  sinistra  ora  in  su,  ora  in  giü  rivoltandosi,  e  girando  in  se  medesimo 
ora  per  un  verso,    ora  per  un  altro  obbendendo  a  tutti  i  suoi   motori  e  nelle  battaglie 

fatte  da  tali  motori  sempre  ne  va  per  preda  del  vincitore!" 

Wir   führen   endlich   zum    Schlufs   dieses  Abschnitts   noch   an,    dafs   Leonardo 
Fig.  19.  die  Idee    der    artesischen    Brunnen    ausführte    und    dazu 

^^^^^^m  einen  Erdbohrer  konstruirte,  Trivella  per  forar  pozzi  alla 

t]  Modenese,  welcher  in  den  Manuskripten   erhalten  ist  und 

III  _  den  wir  hier  zufügen.    Ferner  hat  Leonardo  sehr  viel  hy- 

draulische Maschinen,  Pumpen,  Wasserräder,  Wasserpres= 
sen,  Schnecken  etc.  etc.  konstruirt  und  nebst  seinen  trefl- 
lichen  Kanal-  und  Schleusenskizzen  uns  nachgelassen. 

Davon   im   späteren    Abschnitt  „Maschinen"  soweit  es 
die  effektiven  Konstruktionen  betrifft. 

H  Leonardo  war  bei  seinen  praktischen  Ingenieurarbeiten 
für  die  Hydraulik  gezwungen,  die  Wassermassen  für  Ab- 
und  Zuflufs  zu  berechnen;  er  that  dies  in  einer  Weise,  die 
auch  heute  noch  genügen  könnte.  Er  stellte  14  Bedin- 
gungen auf,  nach  welchen  sich  die  Ausflufsmenge  eines 
Kanals  richtet.  Er  berücksichtigt  dabei  sowohl  die  Form 
und  Oberfläche  der  Kanäle,  Rohre  etc.,  als  die  Richtung, 
den  Querschnitt  der  Mündung  u.  s.  w.,  endlich  auch  die 
Rolle  der  Luft  dabei.  Drastisch  bemerkt  er:  „Sowie  ein 
Strumpf  (calze),  welcher  das  Bein  bekleidet,  nicht  mehr 
dessen  Aussehen  verräth,  so  zeigt  auch  die  Oberfläche  des 
Wassers  nichts  von  der  Beschaffenheit  des  Bodens  im  Kanal." 


46 


VUI. 
Leonardo's  Jrlpen  über  die  Luft  waren  ebenfalls  die  klarsten.  Er  hatte  gefun- 
den, dafs  die  Luft  ein  Körper  aus  mehreren  Bestandteilen  komponirt  sei,  der  Gewicht 
habe  und  Elastizität  und  aus  Molekülen  bestehe.  Er  fand,  dafs  Körper  in  ungleich 
dichter  Luft  ungleiches  Gewicht  hatten.  Er  erkannte  die  Zusammendrück  barkeit  der 
Luft  und  vergleicht  dieselbe  einem  Federkissen,  das  der  Schläfer  zusammenpresse.  Er 
spricht  aus,  dafs,  wenn  irgend  eine  Kraft  einen  Gegenstand  in  Bewegung  setze,  schneller 
als  die  Luft  ausweichen  könne,  so  entstehe  eine  Kompression  der  Luft.  Wie  nahe  war 
Leonardo  den  Entdeckungen  des  Toricelli,  Galilei  u.  s.  w.  Vielleicht  auch  hat  er,  der 
das  Gleichgewicht  der  flüssigen  Körper  so  gründlich  studirt  und  dargestellt  hat,  auch  be- 
züglich der  Luft  gleiche  Grund anschauungen  gehabt,  zumal,  wie  wir  gesehen  haben,  er 
oftmals  darauf  hinweist,  wie  sich  die  Gesetze  für  das  Wasser  zur  Luft  verhalten,  und 
weil  er  sich  so  hoch  in  seinen  Ideen  emporschwingen  konnte,  den  Schall  und  das  Licht 
auf  die  Wellenbewegung  zurückzuführen.  Vielleicht  auch  finden  wir  später  noch  in  seinen 
zahlreichen  Manuskripten  desbezügliche  Stellen.  — 

Hier  wollen  wir  darüber  des  näheren  berichten,  dafs  Leonardo  über  die  Rolle 
der  Luft  bei  der  Verbrennung  vollkommen  klar  war  und  mit  uns  in  seinen  Anschau- 
ungen auf  gleichem  Boden  stand. 

In  dem  Mailänder  Codex  handelt  Leonardo  ab  über  die  Flamme  und  die 
Luft.  —  Betrachten  wir  zuerst  die  Anschauung  der  ihm  folgenden  Zeit,  so  finden  wir, 
dafs  allgemein  angenommen  ward,  dafs  die  Luft  bei  der  Verbrennung  nur  dazu  diene, 
um  die  Hitze  an  dem  Brennstoff  zu  konzentriren,  und  dieser  Ansicht  huldigten  die 
Physiker  mit  Muschembroek,  der  dieselbe  besonders  ausgesprochen  hatte,  allgemein. 
Fig.  20.  Erst  1623  sprach  Roger  Bacon  in  seinem  Novum  Organon  aus,  dafs 
die  Luft  die  Ernährerin  der  Flamme  sei,  und  Robert  Boyle  bewies 
>.  dies  experimentell  1672.  Auch  Descartes  hat  1644  in  seinen  Prinzipien 
(  V  |\  der  Philosophie  IV.  §  95  cf.  speziell  über  den  Vorgang  des  Brennens 
V'l  i  emer  Kerze  abgehandelt;  aber  indem  er  sich  bestrebte,  den  Vorgang  mit 
MijL  /Hilfe  seiner  Wirbeltheorie  zu  erklären,  kam  er  auf  die  Idee,  dafs  die  Luft 
von  den  nach  oben  strebenden  losgelösten  Dochttheilchen  und  dem  Rauch 
H  nach  unten  gestofsen  würde  und  bei  F  und  K  an  die  Flamme  heran- 
träte. Hätte  nicht  jene  Theorie  dem  Descartes  die  Augen  verschlossen, 
so  würde  er  seinen  Satz:  „Diese  Luft  umspielt  die  Spitze  der  Kerze  B 
und  den  Grund  des  Dochtes  F  und  dient,  indem  sie  zur  Flamme  tritt, 
zu  deren  Ernährung.  Sie  würde  jedoch  bei  der  Dünne  ihrer  Theilchen 
dazu  nicht  hinreichen,  wenn  sie  nicht  viele  Wachstheilchen ,  welche  die 
Hitze  des  Feuers  bewegt,  durch  den  Docht  mitnähme.   So  mufs  die  Flamme 


47 

stetig  erneuert  werden,  um  nicht  zu  verlöschen"  —  wohl  in  anderer  Weise  vollendet 
haben,  der  in  der  That  zeigt,  dafs  Descartes  wohl  wufste,  dafs  die  Luft  die  Ernährerin 
der  Flamme  sei.  —  Stahl  vernichtete  später  auch  diese  schon  besseren  Anschauungen, 
und  erst  Lavoisier  war  es  aufbehalten,  die  Boyle'schen  Anschauungen  wieder  hervorzu- 
holen und  zur  Geltung  zu  bringen.  —  Nun  höre  man  Leonardo  über  denselben  Gegenstand: 

„Wo  eine  Flamme  entsteht,  da  erzeugt  sich  ein  Windstrom  um  sie;  dieser  Luft- 
strom dient  dazu,  sie  zu  erhalten,  die  Flamme  zu  vergröfsern.  Ein  stärkerer  Luftstrom 
dient  dazu,  die  Flamme  leuchtender  zu  machen.  Das  Feuer  zerstört  ohne  Unterlafs 
die  Luft,  welche  sie  ernährt,  es  stellt  ein  Vakuum  her,  wenn  andere  Luft  nicht  herzu- 
strömen kann,  dasselbe  auszufüllen!"  — 

„Sobald  die  Luft  nicht  in  dem  geeigneten  Zustand  sich  befindet,  die  Flamme  zu 
erhalten,  kann  in  derselben  so  wenig  irgend  ein  Geschöpf  der  Erde  noch  der  Luft  leben 
als  die  Flamme.    Kein  Thier  kann  leben  in  einem  Orte,  wo  die  Flamme  nicht  lebt." 

„In  dem  Zentrum  der  Flamme  eines  Lichtes  bildet  sich  ein  Rauchkern,  weil 
die  Luft,  welche  in  die  Komposition  der  Flamme  eintritt,  nicht  bis  zur  Mitte  vordringen 
kann.  Sie  gelangt  an  die  Oberfläche  der  Flamme,  sie  kondensirt  sich  dort;  indem  sie 
Nahrung  für  die  Flamme  wird,  formt  sie  sich  in  sie  um  und  läfst  einen  leeren  Raum 
übrig,  welcher  sich  successive  mit  anderer  Luft  füllt." 

An  einer  andern  Stelle  sagt  Leonardo: 

„Es  kann  eine  Flamme  nicht  leben,  wo  nicht  leben  kann  ein  athmendes  Thier. 
Die  Flamme  erzeugt  ein  Vakuum,  und  die  Luft  eilt  herbei,  solches  Vakuum  zu  ersetzen. 
Das  Feuerelement  verzehrt  unablässig  die  Luft  zu  dem  Theil,  welcher  sie  nährt 
(nutrica),  und  es  wird  ein  Vakuum  sich  bilden,  wenn  nicht  neue  Luft  herzuströmt, 
dieses  auszufüllen.  Der  Rauch  bildet  sich  in  der  Mitte  der  Kerzenflamme.  Die  Flamme 
disponirt  zuerst  die  Materie,  welche  sie  ernähren  kann,  und  kann  sich  dann  davon  er- 
nähren.   Ein  übermäfsiger  Wind  tödtet  die  Flamme,  ein  mäfsiger  ernährt  sie." 

Diese  klaren  und  deutlichen  Erklärungen  sind  in  der  That  staunenswerth ! 
Ist  es  nicht  klar,  dafs  Vinci  die  Eigenschaften  der  Luft  kannte  und  aus  Experi- 
menten sicher  war  über  die  Rolle  der  Luft  bei  der  Verbrennung?  Wenn  wir  an 
den  einzelnen  Sätzen  nur  anstatt  der  Luft,  Sauerstoff  der  Luft  setzen  —  so  haben  wir 
unsere  heutige,  von  der  Wissenschaft  anerkannte  Erklärung.  Ja,  aus  dem  zweiten 
Satze,  wo  er  von  einem  „geeigneten  Zustand"  der  Luft  redet,  können  wir  herauslesen, 
dafs  Leonardo  eine  Ansicht  über  den  zusammengesetzten  Bestand  der  Luft  hatte.  Be- 
denken wir,  dafs  die  Chemie  so  weit  zurück  war  in  ihrer  Entwickelung ,  dafs  ja  an 
eine  Zusammensetzung  der  Luft  erst  mehr  als  250  Jahre  später  gedacht  ward  und  dann 
ihre  Bestandtheile  nachgewiesen  wurden,  so  können  wir  uns  keine  klarere  Anschauungss 
weise  und  keinen  bestimmteren  Begriff  denken   über   die  Luft  in  ihrem  Verhältnifs  zur 


48 


Fig.  23. 


Fig.  21 


Verbrennung,  als  Leonardo  hier  gegeben  hat.  Er 
hat  diese  Lehre  auch  in  anderen  Manuskripten 
weiter  beleuchtet  und  durchdacht  und  gibt  (in 
Vol.  C.  Ambrosiana)  Abbildungen,  um  die  Rolle 
des  Luftstroms  analog  dem  dritten  Passus  seiner 
obigen  Erklärung  klar  zu  machen.  In  Fig.  22 
zeigt  Leonardo  den  entstehenden  Zusammenstofs 
zweier  Flammen  und  markirt  dabei  die  Punkte  deutlich, 
wo  eine  Verbrennung  nicht  statt  hat.  Eine  Ver- 
gleichung  dieser  Figur  mit  der  obigen  von  Des- 
cartes  gegebenen  (der  wir  die  Pfeile  entsprechend 
seiner  Darstellung  zufügten),  zeigt,  dafs  da  Vinci's 
Ansicht  der  des  Descartes  etwa  entgegengesetzt  ist. 
Höchst  interessant  ist  aber,  dafs  Leonardo  da 
Vinci  in  seinen  Versuchen,  die  Lichtstärke  zu  er- 
höhen, auf  die  Entdeckung  der  Lampencylinder 
und  Lampenglocken  gekommen  ist,  welche  man 
dem  berüchtigten  Lange  (1784)  zuschreibt  (dem 
unberechtigten  Fabrikanten  der  Argandlampe, 
Quinquet)  und  dem  Philippe  de  Girard  1804. 
Leonardo  setzt  die  Wirksamkeit  eines  Cylinders 
auseinander,  indem  er  sagt,  dafs  der  Cylinder 
der  Flamme  Gelegenheit  gebe,    zu  exhaliren   und  Fiß-  2L 

sich  zu  ernähren.  Das  Ausgestofsene  (esalmento)  bewegt  sich  dann  in  der  Mitte 
nach  oben,  während  die  nahrunggebende  Luft  von  den  Seiten  und  von  untenher 
zuströmt.  Leonardo  gibt  auf  fol.  79  C.  A.  und  auf  anderen  Blättern  mehrere  Ideen 
zur  Sache,  bis  er  in  dem  vollständigen  Entwurf  einer  Lampe  mit  Cylinderöffnung  das 
Gewünschte  (Fig.  23,  24)  erreicht.  Merkwürdigerweise  schreibt  er  auf  die  beiden  Hälften 
der  Glocke  aqua  aqua,  weil  er  die  Glocke  und  Cylinder  als  einen  Körper  betrachten 
will,  dessen  hohler  Raum  mit  Wafser  erfüllt  ist.  Leonardo  gibt  auch  ein  Rezept,  um 
diese  Glocken  zu  fabriziren  (fare  questa  palla).  Questa  palla,  essendo  di  vetro  sottile 
e  plena  d'acqua,  renderä  gran  lume!  — 

Die  Eigenschaften  der  Luft  wendete  Leonardo  auch  an  bei  dem  von  ihm  erfundenen 
Schwimmgürtel,  und  bei  dem  Helm  für  den  Perlentaucher  setzt  er  das  Innere  des- 
selben mit  der  äufseren  Luft  durch  einen  Schlauch  in  Verbindung,  dessen  Ende  auf  der  Ober- 
fläche des  Wassers  mittelst  eines  Brettes  schwimmt  (Fig.  25  s.  umstehend).  Hervorragend  und 
auf  Kenntnifs  der  Eigenschaften  der  Luft  basirt  sind  die  zahlreichen  Versuche  und  Betrach- 
tungen, welche  Leonardo  anstellte  über  den  Flug  der  Vögel  und  die  Luftschiffahrt. 


49 

Es  scheint  dies  ein  Lieblingsthema  für  ihn  gewesen  zu  sein.  Wir  haben  im  Codex  Atlan- 
ticus  allein  an  100  Skizzen  für  diese  Ermittelungen  gefunden;  viele  stehen  in  den  Pariser 
Bänden,  mehreres  in  den  Londoner.  Die  Zeit,  in  welche  hauptsächlich  diese  Betrachtungen 
fallen,  ist  die  seines  Aufenthaltes  in  Korn  1514,  als  Leonardo  es  nicht  über  sich  gewinnen 
konnte,  für  Leo  X.  ein  Gemälde  zu  malen,  und  unter  allerlei  Ausflüchten  den  päpstlichen 
Auftrag  hinhielt,  —  als  Leonardo  ferner  in  Rom  gesehen,  dafs  neben  ihm  die  Giganten  der 
Kunst  Michel  Angelo  und  Raphael  erschienen  und  mächtig  geworden  waren.  Eine  Art  muth- 
loser  Träumerei  hatte  ihn  beschlichen ;  muthvoll  war  er  niemals  und  zufrieden  mit  seinen 
Werken  noch  weniger.  So  trieb  er  denn  damals  seine  Scherze  mit  Flugversuchen  und 
und  setzte  das  Publikum  in  Erstaunen  mit  seinen  fliegenden  Wachsfiguren.  (Vasari  er- 
Fig.  25.  Fie-  26- 


zählt  auch  von  einer  Eidechse,  die  Leonardo  mit  Flügeln  ausstattete  und  grofsen  Augen, 
einem  Bart  und  Hörnern,  alles  beweglich  durch  Belastung  mit  Quecksilber  bei  Bewegungen 
des  Thieres  —  und  die  er  in  einer  Büchse  mit  sich  herumtrug.)  Aber  der  Kern  zu  diesen 
Versuchen  war  wieder  ein  hochernster,  denn  Leonardo  ging  in  rationellster  Weise  zu 
Werke,  die  Umstände  zu  ergründen,  welche  die  Flugfähigkeit  ermöglichen.  Er  war 
der  Erste  auf  dieser  Bahn,  die  nur  Roger  Baco  vor  ihm  spekulativ  und  auf  Grund  seiner 
Anschauungen  über  das  Wesen  der  Luft  betreten  hatte.  Rührend  erzählt  uns  Leonardo, 
wie  schon  in  seiner  Knabenzeit  ihn  die  Vögel  erfreut  haben,  wie  ein  Geier  (Nibbio)  ihm 
schon  in  der  Wiege  einen  Besuch  gemacht  habe.  Schon  in  Florenz  kaufte  Leonardo 
Vögel,  um  ihnen  die  Freiheit  wieder  zu  schenken,  und  so  auch  sah  man  ihn,  wie  Vasari 

7 


50 

erzählt,  in  Rom  oft  mit  Bauern  und  Käfigen  beladen,  die  er  für  theures  Geld  zusammen- 
gekauft, dem  Thore  zueilen,  um  die  gefangenen  Vögel  frei  zu  machen.  Mit  diesem 
grofsen  und  warmen  Herzen  für  die  Thiere  verband  er  aber  eine  Theilnahme  an  der 
Art  ihres  Lebens,  so  auch  an  ihrem  Fluge.  Dazu  trieb  er  die  Anatomie  des  Vogelkörpers 
und  zumal  der  Flugorgane  so  eingehend,  wie  es  zu  seiner  Zeit  wohl  kaum  jemand  gethan 
haben  möchte.  Aus  diesen  Studien  gingen  dann  seine  Entwürfe  von  Flügeln  hervor,  die, 
stark  genug  konstruirt,  einen  Menschen  heben  könnten.  Wir  geben  aus  solchen  Studien 
die  obenstehende  Figur  26  wieder.  Man  sieht  die  sorgsame  Gliederung  der  5  einzelnen 
Finger-ähnlichen  Extremitäten  mit  Gelenken  o  r  und  den  Bändern  m  n,  welche  gleich- 
sam die  Sehnen  von  /  an  führen  und  vereinigt  an  einem  Muskelhebel,  hier  die  Scheibe 
C,  o  mit  Seil.  Die  Bewegungen  der  Finger  bewirken  die  Mechanismen  einmal  bei  Ä, 
wo  die  Hand  der  Finger  mit  Charnieren  befestigt  ist  und  ihren  stützenden  Punkt 
erhält,  den  Drehpunkt  des  Hebels,  den  Hand  und  Finger  bilden,  —  sodann  bei  B, 
wo  eine  Schubstange  mittels  Kurbel  und  Pleuelstange  den  Arm  dieser  Flughand  auf 
und  nieder  bewegt,  wobei  die  Scheibe  G  empor  geht  und  die  Sehnen  frei  läfst,  so 
dafs  die  Federgürtung  d  der  Finger  wirken  kann  und  diese  geradegestreckt  werden. 
Beim  Herabzug  aber  wird  die  Luft  von  den  gewölbiartig  sich  rundenden  Fingern  fest- 
gehalten und  am  Ausweichen  gehindert.  Wie  kafln  man  diese  Momente  des  Fluges  besser 
erfassen  und  zur  Ausführung  bringen?  Leonardo  projektive  zugleich,  die  Finger  mit 
weichen  Federn  zu  bekleiden.  Unablässig  suchte  er  nach  Verbesserung  solcher  Kombina- 
tionen und  stellte  auch  Versuche  für  ihre  Bewährungen  an.  Eine  Figur  (auf  Fol.  372  C.  A.) 
lehrt  uns  eine  geistreiche  Ermittlung  des  Einflusses  des  Flügels  kennen,  den  der  für 
einen  Menschen  konstruirte  Flügel  auf  die  Minderung  des  Gewichtes  des  Menschen  hat, 
wenn  er  von  diesem  bewegt  wird.  Leonardo  macht  sich  ganz  klar,  welches  Gewicht 
Mensch  und  Apparat  haben,  und  vergleicht  damit  das  Luftgewicht.  Aus  diesen  Betrach- 
Fig.  24  tungen  ist  denn  auch  seine  Erfindung*)  des  Fallschirmes  hervor- 

gegangen (Fig.  27),  welche  er  mit  den  Worten  begleitet:  „Se  un  homo 
ha  un  padiglione,  intasato,  che  Sja  12  braccia  per  faccia  e  alto  12,  poträ 
gittarsi  d'ogni  grande  altezza  senza  danno  di  se."  Bei  seinen  Spiele- 
reien mit  Wachsballons  etc.  bediente  er  sich  als  Füllung  eingeblasener 
warmer  Luft.  Leider  machte  er  hiervon  für  gröfsere  Anwendung  keinen 
Gebrauch,  sondern  er  blieb  bei  der  Imitation  des  Vogelflugs.  — 

Doch  hatte  Leonardo,  wie  bereits  aus  früher  mitgetheilten  Auf- 
zeichnungen hervorgeht,  eine  klare  Auffassung  von  der  Dichtigkeit 
der  Luft  in  der  Nähe  und  ferner  der  Erde.    Er  sagt:    „Um  so  viel 
die  Luft  dem  Wasser  oder  der  Erde  benachbarter  ist,  um  so  viel  ist 
sie  dichter  (grossa)." 

')  Dieselbe  wurde  bisher  Lenormand  1783  zugeschrieben. 


51 

Mehr  den  obigen  Lehren  des  Leonardo  zugehörig  ist  seine  Anwendung  des  Ge- 
bläses für  die  Schmiedefeuer  und  Schmelzöfen.  In  Rom  konstruirte  er  ein  solches  in 
einer  Schmiede,  welches  so  gewaltig  blies  und  stöhnte,  dafs  die  Anwesenden  sich  in  eine 
Ecke  zurückzogen  und  theils  entflohen. 


'   ovUi^s  4rj*^z<riy>&' 


^Leonardo  da  Vinci  entwickelte  auch  in  den  -»br%©n  Gebieten  der  Physik  geklärte 
Kenntnisse.  Die  Grundanschauung,  die  wir  schon  bei  Gelegenheit  der  Wellentheorie 
bei  ihm  ausgesprochen  finden,  verläfst  ihn  nicht.  Betrachten  wir  zunächst  die  Akustik 
des  Leonardo,  so  erregt  es  nicht  Erstaunen,  dafs  er  den  Gesetzen  nachforschte,  da  er 
selbst  ausübender  Musiker  war  und  eine  Menge  Verbesserungen  und  Erfindungen  an 
Musikinstrumenten  gemacht  hatte.  Auch  in  diesem  Gebiete  war  Leonardo  da  Vinci  der 
erste  Renovator  und  Propagator  seit  Pythagoras  und  seiner  Schule,  abgerechnet  die  Ver- 
änderungen und  Schaffung  von  neuen  Instrumenten.  Leonardo  bemühte  sich,  die  Zeit- 
dauer eines  Tones,  die  Entfernung  seiner  Quelle  u.  s.  w.  zu  messen,  und  konstruirte 
dafür  ein  Instrument,  welches  in  Skizze  im  Codex  Atlanticus  übrig  geblieben  ist, 
leider  ohne  Beschreibung.  Aus  dem  Echo  suchte  er  die  Distanz  zu  bestimmen,  von  wo 
der  Ton  ausging,  weil  er  einsah,  dafs  der  Ton  oder  Schall  in  einer  gewissen  Zeit  nur 
einen  gewissen  Raum  durchlaufen  könne.  Gleichzeitig  beobachtete  er  die  Einwirkung  des 
Windes  auf  den  Ton.  Er  entdeckte,  dafs,  wenn  man  eine  Glocke  anschlage,  so  beginne 
eine  nahe  hängende,  mit  ihr  ähnliche  Glocke  zu  tönen,  und  wenn  man  eine  Seite  einer 
Laute  ertönen  lasse,  so  antworte  und  töne  dieselbe  Seite  auf  einer  andern  Laute;  man 
kann  dies  beobachten,  wenn  man  ein  Strohhälmchen  über  die  Seite  der  zweiten  Laute 
legt!  (Siehe  dieselbe  Erklärung  und  fast  dasselbe  Beispiel  in  unseren  Lehrbüchern. 
Eisenlohr  §.  199.)  Diese  Entdeckung  wurde  später  dem  Galilei  zugeschrieben,  und  Mer- 
senne  bestätigte  sie  durch  theoretischen  Nachweis.  Leonardo  bemerkt  zu  obigem  Satz 
ferner :  „Wenn  obige  Betrachtung  richtig  ist,  so  kann  man  den  Ton,  der  plötzlich  durch 
den  Schlag  eines  Stabes  mit  der  Hand  entstand,  nicht  beenden,  besonders  nicht  die 
Kraft,  welche  in  Wirklichkeit  den  Ton  gegeben  hat,  wenn  man  nicht  die  Glocke  mit  der 
Hand  berührt,  wie  man  mit  dem  Ohr  beobachten  kann,  denn  schlägt  man  die  Glocke  und 
legt  man  die  Hand  auf  die  geschlagene,  so  ist  plötzlich  der  Ton  verschwunden."  Leo- 
nardo da  Vinci  kannte  auch  jene  Erzählung  des  Nicomachus  und  Jamblichus,  nach  welcher 
Pythagoras  einst  bei  einer  Schmiede  vorüber  kam  und  die  Töne  der  Hämmer  hörte,  die 
zugleich  den  Ambos  trafen  und  eine  Art  Accord  gaben.  Pythagoras  wog  die  Hämmer 
und  fand,  dafs  die  Gewichte  derselben  sich  verhielten  wie  1  :  2/3  :  %  un(i  die  Töne 
Quarte,  Quinte  und  Octave  seien !  —  Leonardo  stellt  die  Frage  auf,  ob  der  Ton  im 
Ambos  oder  in  den  Hämmern  entstand?  Er  antwortet:  „Wenn  der  Ambos  nicht  aufge- 
hängt war,  konnte  er  überhaupt  nicht  tönen;  der  Hammer  tönte  im  Aufprallen,  welches 

7* 


52 

er  durch  den  Schlag  verursachte;  und  wenn  der  Ambos  tönt,  so  ist  es,  wie  es  bei  jeder 
Glocke  ist,  die  mit  derselben  Tiefe  des  Tones  schallt,  ob  man  sie  mit  irgend  einem 
Gegenstand  anschlägt;  so  eben  auch  der  Ambos  beim  Aufschlag  der  verschiedenen 
Hämmer;  wenn  du  also  verschiedene  Töne  hörst  durch  Aufschlag  von  Hämmern  ver- 
schiedener Schwere,  so  sind  es  die  Stimmen  der  Hämmer  und  nicht  in  dem  Ambos." 
Leonardo  stellte  also  die  Wahrheit,  welche  jenes  Beispiel  des  Nicomachus  enthielt,  fest, 
während  er  die  Passung  der  Erzählung  rectifizirt.  Diese  Erklärung  aber  bezeugt  seine 
klare  Auffassung  über  den  Schall  wiederum. 

Leonardo' s  Ansichten  über  das  Licht  und  das  Sehen,  kurz  über  die  Optik  sind 
hervorragend.  Er  wurde  auf  diese  Studien  mehr  natürlich  geführt  als  auf  alle  anderen; 
seine  Kunst  und  das  Studium  der  Perspektive  bedingten  auch  seine  optischen  Studien. 

Die  Ansichten  der  Alten  hatten  das  Gesetz  der  Reflexion  des  Lichtes  richtig  erfafst, 
aber  sie  hatten  keine  klaren  Begriffe  von  der  Refraktion.  Ihre  optischen  Prinzipien  waren 
so:  „Sie  wufsten,  dafs  das  Sehen  durch  Strahlen  bewirkt  wird,  die  in  geraden  Linien 
fortgehen,  und  dafs  diese  Strahlen  durch  gewisse  Körper  (Spiegel)  so  zurückgeworfen 
werden,  dafs  der  Winkel,  welchen  der  einfallende  und  der  zurückgeworfene  Strahl  mit  dem 
Spiegel  bildet,  derselbe  ist.  Aus  diesen  Prämissen  zogen  sie,  mit  Hilfe  der  Geometrie, 
mancherlei  Folgerungen,  wie  z.  B.  für  die  Konvergenz  derjenigen  Strahlen,  die  von  einem 
Hohlspiegel  kommen,  u.  s.  f "  (Whewell  I.  89).  Euklides  gibt  für  die  geradlinigen 
Strahlen  Beweise  an,  die  triftig  genug  sind.  Allein  Euklides  wie  die  Platoniker  behaup- 
teten, dafs  das  Sehen  bewirkt  werde  durch  Strahlen,  welche  vom  Auge  und  in  Zwischen- 
räumen ausgehen.  Die  besseren  Lehren  des  Euklides  wurden  nun  durch  Aristoteles*) 
und  seine  Schule  ganz  verwirrt.  Aristoteles  nimmt  zwischen  Objekt  und  Auge  ein  Medium 
an,  das  er  „Licht"  oder  „das  Transparente  in  Aktion"  nennt,  während  Finsternifs  „Trans- 
parentes ohne  Aktion"  heifst  u.  s.  w.  Während  Aristoteles  den  Ausdruck  Refraktion 
gebraucht,  zeigt  er  doch  seine  Kenntnifs  dessen,  was  er  dadurch  bezeichnen  wollte,  als 
höchst  unbestimmt.  Erst  um  1100  stellt  der  Araber  Alhagen  den  Begriff  fest,  indem 
er  sagt:  „Refraktion  hat  gegen  das  Loth  hin  statt."  Er  beweist,  dafs  der  Refraktions- 
winkel dem  Einfallswinkel  nicht  proportional  sei,  und  dafs  die  Gröfse  der  Refraktion  nach 
der  Gröfse  des  Winkels  verschieden  sei,  welchen  die  einfallenden  Strahlen  mit  den  Ein- 
fallslothen  bilden.  Alhagen  ging  allerdings  sehr  weit,  und  seine  Schriften  wurden  recht 
bekannt.  Roger  Baco  beschäftigte  sich  mit  der  Wirkung  konvexer  Gläser.  Vitellio,  ein 
Pole  im  13.  Jahrhundert  in  Krakau  lebend,  erweitert  die  Refraktionslehre  mit  unver- 
kennbarem Scharfsinn.  Leider  wurden  seine  Schriften  (Perspectivae  libri  X.  und  Vi- 
tellionis  de  optica)  erst  1533  resp.  1551  in  Nürnberg  gedruckt.  Die  Gelehrten  jedoch 
wandten  sich  im  14.  Jahrhundert  mit  einem  besonderen  Eifer  der  Optik  und  zumal  dem 
Studium  der  älteren  Werke  hierüber  zu,    so    dafs    die  Entwicklung   der  Perspektive  und 


*)  Aristoteles  de  Anim.  II.  6. 


53 


Optik  mehr  vorbereitet  erscheinen  mufs,  als  die  anderer  Naturlehren.  Schon  1482  finden 
wir  in  Venedig  Ausgaben  des  Euklides,  und  Anfang  16.  Jahrhunderts  zählen  dieselben 
bereits  nach  30—40  Ausgaben  in  allen  Sprachen. 

Leonardo,  als  Maler  und  zumal  als  begeisterter  Lehrer  der  Perspektive,    unter- 
richtete sich  in  der  Optik  auf  das  gründlichste,  ebenso  wie  über  die  Farben.  — 

Venturi  hat  dem  Leonardo  da  Vinci  die  Erfindung  der  Camera  obscura  zuge- 
schrieben, und  wir  können  nicht  umhin,  uns  dieser  Vindikation  anzuschliefsen.  Prüfen 
wir  dafür  die  verschiedenen  Stellen  in  den  Manuskripten.  Leonardo  sagt:  „Wenn  die 
Bilder  von  beleuchteten  Objekten  durch  ein  kleines  rundes  Loch  in  ein  sehr  dunkles 
Zimmer  fallen,  so  seht  ihr  diese  Bilder  im  Innern  des  Zimmers  auf  weifsem  Papier, 
welches  in' einiger  Entfernung  vom  Loche  aufgestellt  ist,  in  voller  Form  und  Farbe;  sie 
sind  aber  in  der  Grösse  verringert  und  stehen  auf  dem  Kopf,  und  zwar  in  Folge  des 
besagten  Einschnitts.  Wenn  die  Bilder  von  einem  vom  Sonnenlicht  beleuchteten  Ort 
kommen,  so  erscheinen  sie  uns  wie  auf  das  Papier,  welches  sehr  dünn  sein  mufs,  gemalt, 
Fig.  28.  und  wie  von  hinten  gesehen.     Das  Loch  sei  in 

-*■  eine  sehr  dünne  Eisenplttte  ausgeführt.  ABC 
D  E  sind  Fig.  28  die  vom  Sonnenlicht  beleuch- 
teten Objekte.  0  B  ist  die  Vorderwand  der  Ca- 
mera obscura;  das  Loch  ist  bei  M\  S  T  sei  das 
c  Papier,  welches  die  Strahlen  von  den  Objekten 
aufnimmt.  Die  Bilder  erscheinen  umgekehrt, 
weil  die  Strahlen  von  A  her  nach  K  und  die 
Strahlen  von  der  linken  Seite  E  nach  rechts  zu 
E  F  hinübergehen. 

Das  macht  sich  so  von  selbst  im  Auge.  —  Man  kann  machen,  dafs  das  Auge  die 
entfernten  Objekte  sieht,  ohne  dafs  sie  die  ganze  Verkleinerung  erdulden,    welche  ihnen 
zufolge  der  Gesetze  des  Sehens  zukommt.     Diese  Verkleinerung  rührt  von  Pyramiden  der 
Bilder  des  Objektes,  welche  im  rechten  Winkel  durch  die  Sphärizität  des  Auges  geschnitten 
Fig.  29.  werden,    her.    In  der    folgenden  Figur  sieht  man, 

A  dafs  man  diese  Pyramiden  in  gewisser  Weise  vor 
B  dem  Augapfel  schneiden  kann.  Es  ist  sehr  wahr, 
dafs  der  Augapfel  uns  die  ganze  Hemisphäre  auf 
einmal  aufdeckt;  dieses  Kunstwerk*),  welches  ich 
meine,  würde  nur  einen  Stern  entdecken  lassen.  Aber  dieser  Stern  wird  grofs ;  der  Mond 
wird  auch  gröfser,  und  wir  werden  besser  seine  Flecke  erkennen!"  Die  letzten  Sätze 
sind  in  der  That  verwirrt,  während  die  erste  Erklärung  durchaus  klarer  ist. 


Leonardo. 


*)  Hieran    knüpften   Einige    die    Behauptung    von    der   Entdeckung    eines    Fernrohrs    durch 


54 

Allein  es  gibt  noch  eine  Keine  Aussprüche  des  Leonardo  in  anderen  Manu- 
skripten, welche  über  seine  Auffassung  mehr  Licht  verbreiten.  Im  Codex  Atlanticus 
spricht  Leonardo:  „Ich  behaupte,  dafs,  wenn  ein  Haus  oder  ein  Kaum  oder  eine  Cam- 
pagna,  welche  durch  die  Sonnenstrahlen  getroffen  wird,  in  seiner  abgekehrten  Seite  einen 
Raum  hat,  und  in  dieser  Seite,  auf  welcher  man  nicht  die  Sonne  sieht,  sei  ein  kleines 
rundes  Loch  hergestellt,  alle  beleuchteten  Sachen  durch  dieses  Loch  ihr  Bild  hindurch- 
werfen, und  innerhalb  des  Kaumes  an  weifser  Wand  umgekehrt  erscheinen,  und  bei 
vielen  solcher  Löcher  werden  viele  solcher  Bilder  erscheinen.  Die  Strahlung  verhält 
sich  so.  Wir  wissen  klar,  dafs  das  Loch  in  der  Wand  einiges  von  dem  Licht  einführen 
mufs  in  den  Raum,  und  dieses  Licht,  welches  es  vermittelt,  ist  ausgegangen  von  einem 
oder  mehreren  der  vielen  beleuchteten  Körper.  Wenn  diese  Körper  nun  verschiedene 
Farben  und  Gestalten  (stampe)  haben,  so  weiden  danach  die  Strahlen  von  ihrer  Gestalt 
sein  und  mit  den  Farben  und  der  Gestalt  die  Repräsentation  an  der  Mauer  herstellen." 

Eine  andere  Stelle  verifizirt  die  Erscheinung,  und  im  libro  della  Pictura  setzt  er 
die  Erscheinung  nochmals  auseinander.  Leonardo  ist  in  der  That  allen  denen  zuvor- 
gekommen, denen  man  Antheil  an  der  Camera  obscura  zutheilt,  sowohl  dem  Cesar 
Caesarianus  (1521)  als  dem  Cardanus  (1550)  als  dem  Porta  1558.  Cardanus  hat  übrigens 
ohnehin  mehr  geleistet  für  die  Camera  obscura  als  Porta,  indem  er  derselben  die  Linse 
hinzufügte  und  die  ganzen  Eigenschaften  der  Camera  mit  dem  Auge  und  dem  Sehen  verglich. 
Aber  dem  Cardanus  war  Leonardo  da  Vinci,  sowohl  mit  der  Beschreibung  und  Erklärung 
der  Camera  zuvorgekommen,  als  auch  mit  dem  Ausspruch:  „  .  .  .  quello  spiraculo  fatto  in 
una  fenestra  ....  rende  dentro  tutte  le  similitudini  de'  corpi  che  gli  sono  per  obbietto. 
Cosi  si  protrebbe  dire  che  l'occhiocosi  facesse!"  Und  ebenso  gut  wie  Cardanus 
kannte  Leonardo  die  Funktion  der  Linse  in  der  Hervorbringung  eines  Augenbildes.  „Ich 
sage,  dafs  der  Mensch  die  krystallinische  Sphäre  (spera)  besitzt,  um  die  empfangene 
Erscheinung  zum  Geiste  zu  senden,  allein  wie  die  Notwendigkeit  fordert,  in  einen  dunklen 
Ort".  Wir  fanden  im  Codex  Atlanticus  eine  Reihe  Figuren  und  Skizzen,  um  die  Weise 
des  Sehens  klar  zu  machen  (che  modo  l'occhio  vedere).  Konstatirt  ist  es,  dafs  Leonardo 
ein  künstliches  Auge  hergestellt  hatte,  um  zu  zeigen,  wie  die  Form  des  Bildes  auf  dem 
wirklichen  Auge  erscheint.  Aber  auch  die  innere  Einrichtung  des  Auges  war  ihm 
bekannt  (cosi  avrai  trovato  la  vera  forma  interiore  del  l'occhio).  Er  war  also  ein  früher 
Vorgänger  des  Franzosen  le  Cat  (1740)  und  des  Eustachius  Divinus  (16G3).  „Das  Auge 
vermag  ein  Bild  von  beleuchteten  Körpern  längere  Zeit  festzuhalten;  ihre  Erscheinung 
tritt  nach  innen."  Weiter  berührt  er  die  Aehnlichkeit  eines  Tones  für  das  Ohr  und  das 
Bild  eines  erleuchteten  Körpers  für  das  Auge.  Leonardo  kannte  die  Erscheinung,  dafs 
wenn  Licht  von  einer  stärker  erleuchteten  Fläche  auf  die  Netzhaut  des  Auges  fällt,  das- 
selbe nicht  blos  auf  die  getroffene  Stelle  wirkt.  Es  ist  das  das  Gesetz  der  Irradation. 
Er  setzt  dies  in  seinem  „Traktat  der  Malerei"  auseinander  und  wendet  selbst  dasselbe  zur 


55 


Erreichung  von  bestimmten  Effekten  auf  seinen  Bildern  an,  z.  B.  in  seiner  Madonna 
dell'  angello.  Der  Effekt,  den  die  Stellung  beider  Augen  hervorbringt  für  das  Sehen, 
ist  dem  Leonardo  vollständig  bekannt.  Er  erkennt  die  Verschiedenheit  der  Bilder,  die 
jedes  Auge  für  sich  aufnimmt,  ebenso  die  Erscheinung,  dafs  man  durch  eine  Wand  mit 
zwei  Löchern  (für  jedes  Auge  eins)  einen  Körper  dahinter  in  einer  gewissen  Distanz  nicht 
erblickt.  Ueber  das  Verhältnifs  der  Lichtstärke  zur  Entfernung  der  Körper  bemerkt 
Leonardo:  „Um  so  viel  sich  die  Kraft  des  abgeleiteten  Lichtes  vermindert,  um  so  mehr 
nimmt  die  Gröfse  zu."  Seine  Vergleichung  der  Intensität  zweier  Lichter  kommt  den 
Gesetzen  des  Bouguer  (1729)  zuvor  und  hat  eine  ausgezeichnete  Darstellung  in  seinem 
Werk  über  die  Malerei  im  Kapitel:  von  Licht  und  Schatten  veranlafst,  die  noch 
heute  die  beste  Lehre  des  Malers  ist.  „Die  Lichtseite  kehre  man  gegen  einen  dunklen 
Grund,  die  Schatten  gegen  einen  helleren.  Eins  mufs  das  andere  heben,  doch  ohne  sich 
zu  befeinden;  es  mufs  immer  ein  milder  Uebergang  sein.  Neben  Schatten  müssen  noch 
oft  unmerkliche,  schwächere  stehen.  Der  Grund,  worauf  ein  Gemälde  steht,  mufs  stets 
dunkler  sein  als  der  erleuchtete  Theil  und  schwächer  als  der  beschattete  Theil.  Wieder- 
scheine dienen  auch  öfter,  um  vom  Grunde  abzuheben;  meistens  müssen  sie  aber  heller 
als  der  Grund  sein."  — 

Diese  klaren  Grundsätze  hatte  Leonardo  aus  der  richtigen  Betrachtung  der 
Schatten,  welche  entstehen  bei  dem  Einfügen  undurchsichtiger  Körper  zwischen  der  Licht- 
quelle und  einer  Wand,  ersehen.  Er  gibt  für  diese  Betrachtung  die  folgenden  Skizzen, 
die  die  Konformität  seiner  Anschauung  mit  der  unserigen  klar  darthun.  (Fig.  30,  31, 
32  und  33.) 

Fig.  30. 


Fig.  31 


Auf  die  Diffraktion  scheinen    einige  Bemerkungen  hinzuweisen,   doch  wollen  wir 
hierüber  dem  Leonardo  eine  Kenntnifs   nicht  weiter  vindiziren.    (Dove  i  raggi  reflessi 


56 

s'intersegano ,  quivi  si  raddoppiano  tanto  i  gradi  della  caldezza,   quanto  sono  il  numero 
delli  ragi  intersegati.) 

Leoardo  da  Vinci  gab  mehrfache  Vorschriften  zur  Fabrikation  von  Hohlspiegeln 
(konkave,  konvexe,  parabolische,  sphärische)  und  lehrte  den  Punkt  kennen  und  bestimmen, 
wo  die  reflektirten  Strahlen  sich  durchschneiden. 

Im  Uebrigen  müssen  wir  noch  auf  die  Farbenlehre  des  Leonardo  hinweisen. 
„ Weifs  ist  nach  Leonardo's  Theorie  die  hervorbringende  Ursache  der  Farben  und  Schwarz 
die  Beraubung.  Um  die  Harmonie  der  Farben  zu  erkennen,  oder  wie  sie  sich  zu  ein- 
ander verhalten,  nehme  man  ein  gefärbtes  Glas,  wodurch  die  Farbe  des  Gegenstandes, 
der  dahinter  sich  befindet,  mit  der  Farbe  des  Glases  sich  vermischt,  woraus  man  erkennt, 
ob  diese  mit  einer  ähnlichen  Mischung  sich  verträgt  oder  dadurch  verdorben  wird.  In 
einem  blauen  und  schwarzen  Glase  verlieren  alle  Farben,  und  im  Weifs  am  meisten;  sie 
gewinnen  im  Gelb  und  Grün.  Soll  eine  Farbe  der  anderen,  die  sich  ihr  nähert, 
Annehmlichkeit  geben,  so  soll  man  sich  der  Farbenfolge  des  Regenbogens 
bedienen,  wo  die  Farben  in  ihrer  nächsten  Verwandtschaft  sich  zeigen.  . . . 
Blau  ist  das  Erzeugnifs  des  reinsten  Weifs  mit  dem  Dunst  der  Luft.    Das  Weifs  ist  aller 

Farben  leer Man  soll  von  den  acht  Grundfarben  eine  mit  der  anderen  vermischen, 

hernach  zwei  mit  zweien  u.  s.  w.  bis  zu  dem  Ende  der  vollen  Farbenzahl." 

Uebrigens  sei  bemerkt,  dafs  Leonardo  sehr  sorgfältige  Studien  machte  über  die 
Farben  und  Lacke  und  über  die  Methoden  der  Mischung.  In  diesem  Sinne  nennt  er  das 
Roth  (Mennige)  den  gefährlichsten  aller  Körper  etc.  etc.  Man  lese  diese  Dinge  nach  in 
seinem  trefflichen  Buch  über  die  Malerei.  — 

X. 
Ueber- den  Magneten  finden   wir  bei  Leonardo  da  Vinci  einige  Stellen,  welche 
beweisen,   dafs  derselbe  die  Eigenschaften  desselben  zu  ergründen  suchte,    allein  etwas 
Besonderes  resultirte  wohl  nicht  daraus. 

Seine  Ansichten  über  die  Wärme  dagegen  fesseln  uns  mehr.  Zunächst  beob- 
achtete er,  dafs  ein  Eisendraht  auf  einem  Ambos  stark  gehämmert  den  Schwefel  anzog, 
ohne  vielleicht  das  Gesetz  Motus  est  causa  caloris  zu  kennen.  Er  beschreibt  ferner, 
wie  ein  trübes,  schlammiges  Wasser,  wenn  es  gekocht  werde,  plötzlich  klar  werde,  denn 
die  Hitze  verdünne  das  Wasser,  und  dann  könne  das  verdünnte  (rarefatta)  die  schwereren 
Fig.  34.  Theile  nicht  mehr  tragen.    Die  Aktion 

der  Aeolipile  war  dem  Leonardo  be- 
kannt, und  vielleicht  gab  sie  ihm  An- 
lafs  zur  Konstruktion  der  Dampfka- 
none, des  Architronito,  welche  er  aller- 
"7  dings  als  eine  Erfindung  des  Archi- 
medes  bezeichnet,  —  ohne  dafs  in  den 


57 

Jf lg"  35'  Schriften  des  letzteren  eine  Spur  davon  auf- 

zufinden  wäre.     Wir    geben  hier  Figur   und 
Beschreibung  der  Kanone.     (Fig.  34.  35.) 
3  „Der  Architronito  ist  eine   Maschine 

von  feinem  Kupfer,  welche  eiserne  Kugeln  mit 
grofsem  Geräusch  und  vieler  Gewalt  fortschleudert.  Man  macht  Gebrauch  von  dieser 
Maschine;  das  Drittheil  dieses  Instruments  besteht  in  einer  grofsen  Quantität  Feuer  und 
Kohlen.  Wenn  das  Wasser  recht  erhitzt  ist,  so  wird  die  Schraube  des  mit  Wasser  ge- 
füllten Gefäfses  (abc)  geschlossen,  und  in  demselben  Augenblicke,  wo  dies  geschieht,  ent- 
weicht das  ganze  Wasser  unterhalb,  steigt  in  den  erhitzten  Theil  des  Instrumentes  und 
verwandelt  sich  sofort  in  Dampf,  der  so  bedeutend  und  stark  ist,  dafs  es  wunderbar  ist, 
die  Wuth  dieses  Rauches  zu  sehen  und  das  hervorgebrachte  Geräusch  zu  hören.  Diese 
Maschine  warf  eine  Kugel  von  1  Talent  und  6." 

Wir  bemerken,  dafs  Leonardo  im  Cod.  Altl.  fol.  253  eine  dunkle  Idee  zur  Be- 
wegung einer  Barke  mit  Dampf  gegeben  hat,  ferner  fol.  300  einen  Bratspiefs,  welcher  durch 
Wärme  getrieben  wird,  und  zwar  werden  die  Rauchgase,  Dämpfe  etc.  in  einen  Rauch- 
fang gesammelt  und  ziehen  darin  nach  oben.  Die  Oeffnung  aber  zum  Eintritt  in  den 
Schornstein  verschliefst  ein  mit  Schaufeln  versehenes  horizontales  Rad.  Die  warme  Luft 
tritt  durch  die  schräg  gestellten  Schaufeln  hindurch  nach  oben  und  bewegt  dabei  das 
Rad  und  Achse  desselben,  welche  nach  unten  hin  mit  einem  Trieb  in  die  Zahnräder  des 
Bratspiefses  eingreift. 

Ueber  die  strahlende  Wärme  gibt  Leonardo  folgende  Sätze:  „Eine  Glasglocke, 
mit  Wasser  gefüllt,  läfst  die  Strahlen  des  Feuers  durch  sich  hindurch,  und  diese  werden 
heifser  als  Feuer.  Ein  konkaver  Spiegel,  kalt  seiend,  empfängt  die  Feuerstrahlen  und 
gibt  sie  heifser  als  Feuer  wieder  zurück.  In  einem  ähnlichen  Experimente  mache  man 
ein  Stück  Kupfer  glühend  und  lasse  es  glänzen  durch  ein  Loch  von  seiner  Gröfse  und 
in  gleicher  Entfernung  wie  ein  gewöhnlicher  Spiegel  zugleich  mit  einer  Flamme.  So  hat 
man  also  zwei  Körper  in  gleicher  Distanz  vom  Spiegel,  aber  verschieden  an  Farbe  und 
Glanz.  Man  wird  finden,  dafs  der  gröfseren  Wärme  die  gröfsere  Reflexion  des  Spiegels 
entspricht." 

XL 

-Wir -dürfen- hier  wohl  einige  Bemerkungen  anfügen' über  Leonardo's  metallur-   \ 
gische  Kenntnisse.   -/wi/yXt~^.  J^'^-^J~~-*y^~^ 

/^Bekanntlich  war  zu  Leonardo's  Zeit  die  Chemie  —  Alchemie,  und  ebenso  gehörte 
die  Metallurgie  wesentlich  zur  Alchemie.  Leonardo  scheint  kein  Anhänger  oder  Freund 
der  Alchemie  gewesen  zu  sein,  sein  klarer  Verstand  durchschaute  vielleicht  schnell  das 
trügerische  Gewand,  in  welcher  damals  die  chemische  Wissenschaft  einherschreiten  mufste, 

8 


58 

und  nur  einmal  meldet  er  von  einem  Eremiten  (Alchemisten),  dafs  derselbe  behauptet, 
dafs  Quecksilber  sei  der  Same  (semenza)  für  alle  Metalle,  und  bemerkt,  wie  unzutreffend 
diese  Ansicht  gegenüber  der  Varietät  der  Dinge  auf  der  Welt  sei.  Ferner  führt  er  ein 
Kezept  zum  griechischen  Feuer  an,  sicherlich  abgeschrieben  aus  den  Schriften  eines 
Alchemisten  und  keineswegs  eigene  Komposition.  Doch  da  Leonardo  Kriegsingenieur 
war,  so  finden  wir  auch  bei  ihm  Kenntnifs  des  Pulvers  und  in  dem  Ambrosianischen 
Codex  Atlanticus  5  Figuren,  welche  wir  für  Illustrationen  der  Pulver fabrikation  hal- 
ten einzelner  Bemerkungen  wegen,  Die  erste  der  Illustrationen  zeigt  einen  Ofen  mit 
schräg  ansteigender  Feuerplatte,  durch  deren  sechs  Oeffnungen  sechs  Tiegel  hindurch- 
hängenltrin  die  darunter  hinstreichende  Feuerluft.  Es  dürfte  dieser  Ofen  für  die  Ab- 
dampfung der  Lösung  des  Salpeters  dienen.  Die  folgende  Illustration  zeigt  einen  Mahl- 
gang mit  zwei  Steinen.  Die  dritte  Figur  gibt  einen  Sublimirapparat  für  den  Schwefel. 
Die  vierte  Figur  einen  Trockenofen.  Die  fünfte  Figur  eine  Mischmaschine  mit  einem 
schmalen  um  seine  Achse  drehbaren  verticalen  Stein,  der  die  in  einer  Schaale  eingege- 
benen Substanzen  zermalmt  und  vermengt,  während  sich  diese  Schaale  um  ihre  vertikale 
Achse  dreht.  (Wir-  wollen  keineswegs  die  Richtigkeit  unserer  Auslegung  aufser  Frage 
stellen.)  Uebrigens  sind  Feuerungsanlagen  nicht  selten  vertreten  bei  Leonardo.  Wir 
finden  einen  Glühofen,  bei  welchem  das  Gefäfs  mit  dem  zu  glühenden  Körper  in  einen 
eisernen  Cylinder  eingesetzt  wird,  während  von  unten  her  die  Feuerung  Flammen  rings  um 
dies  Gefäfs  herum  entsendet  zwischen  der  Wandung  des  Cylinders  und  dem  Gefäfse. 
Ein  anderer  Ofen  zeigt  sich  als  Flammofen  mit  vorliegender  Feuerung.  Die  Feuergase 
treten  durch  fünf  Oeffnungen  in  den  Ofen  ein.  Bei  diesem  Ofen  gibt  die  Schraffirung 
genau  die  Zutrittsöffnungen,  Feuerkanäle  u.  s.  w.  an,  und  wir  möchten  diesen  Ofen  für 
einen  Glasofen  halten.  Sehr  trefflich  vorgeführt  ist  ein  Destillationsapparat. 
Eine  Kochschaale  von  Halbkreisquerschnitt  über  einer  Rostfeuerung  ist  oben  von  einem 
übergreifenden  Deckel  geschlossen,  welcher  lang  ausgehend  in  eine  seitliche  Röhre,  end- 
lich nach  unten  sich  biegt  und  in  ein  Gefäfs  zum  Auffangen  einmündet.  Aus  einem 
höher  aufgestellten  Wassergefäfs  triefst  kaltes  Wasser  auf  das  abgehende  Rohr  und  be- 
wirkt die  Kondensation  der  übergehenden  Gase  durch  Abkühlung.  Vom  Schmiedefeuer- 
gebläse sprachen  wir  schon.  Da  Leonardo  die  Aufgabe  erhalten  hatte,  das  Denkmal 
Francesco  Sforza's  zu  machen,  welches  in  Erzgufs  vorgesehen  war,  so  bemühte  sich  Leo- 
nardo ohne  Zweifel,  die  Gufssätze  kennen  zu  lernen.  Im  Codex  Trivolgianus  gibt  er 
Rezepte  an,  die  wohl  von  Verrochio,  seinem  Lehrer,  und  einem  sehr  tüchtigen  Erzgiefser 
herrühren.     Weiter  finden  wir  keine  Angaben  über  den  Erzgufs. 

Dagegen  treffen  wir  auf  Stellen  in  seinem  Manuskripte,  aus  welchen  hervorgeht, 
dafs  Leonardo  die  Geologie  der  Appenninen  und  Alpen  studirte  und  mancherlei  Ent- 
deckungen machte.     Er  beobachtete  in  den  Felsen  und  Gesteinen  eingeschlossene  und 


59 

abgedruckte  Thiere  der  Vorzeit  und  Pflanzen.  Er  schlofs  auf  eine  allmähliche  Zerstörung 
der  Felsen  durch  die  Einwirkung  des  Wassers,  welches  die  Trümmer  in  das  Meer 
führte. 

XII. 

Die  Gedanken  des  Leonardo  da  Vinci  gingen  unter  anderem  auch  den  Wissen- 
schaften nach,  die  die  Erde,  ihre  Gestalt  und  Beschaffenheit,  ihren  Einflufs  auf  den  Mond 
zu  begründen  suchen,  und  die  sich  mit  der  Erforschung  des  Sonnensystems  befassen. 
Haben  wir  bereits  oben  jenes  Beispiel  aus  seinen  Schriften  beigebracht,  welches  zeigt, 
wie  Leonardo  sich  mit  der  Bewegung  der  Erde  vertraut  gemacht  zu  haben  scheint,  und 
wie  er  zwei  Bewegungen  auf  der  Oberfläche  darzustellen  verstand,  so  führen  wir  in 
Folgendem  seine  Ansichten  über  die  Himmelskörper  und  ihre  gegenseitigen  Beziehungen 
an.  Leonardo  stellt  sich  beispielsweise  vor,  dafs  die  Erde  in  Stücke  geschnitten  sei,  die 
verstreut  würden  nach  allen  Richtungen,  wie  die  Sterne  am  Himmel.  Er  sagt,  dafs, 
wenn  ein  solches  Stück  herabfalle,  es  bis  zum  gemeinsamen  Zentrum  sich  begebe,  aber 
dort  nicht  bleiben,  sondern  seine  Bewegung  wird  das  Stück  in  die  entgegengesetzten 
Elemente  treiben,  wo  es  sich  nicht  ruhig  niederlassen  kann,  sondern  wieder  umkehrt 
und  zurückkehrt  zu  dem  Ort  des  Ausgangs.  Es  wird  diese  Fahrt  zum  zweitenmale 
machen,  wiederkehren,  und  so  beständig  wiederholen.  Es  ist  das,  wie  man  ein  Gewicht 
an  einem  Tau  aufhängt,  gestofsen  von  der  einen  Seite,  sodann  frei  sich  selbst  überlassen, 
geht  und  kommt  lange  Zeit,  immer  seine  Bahn  verkürzend,  bis  es  zum  Stillstand  kommt 
und  an  der  Korde  herabhängt.  Wenn  alle  Stücke  der  Erde  so  ausgestreut,  freigefallen 
wären,  eins  nach  dem  andern  in  verschiedenen  Zwischenräumen,  so  würden  sich  diese 
Stücke  begegnen  und  sich  stofsen,  zerbrechen.  Es  würde  davon  ein  wildes  Getümmel 
in  der  Atmosphäre  entstehen,  welches  Jahre  lang  dauern  würde,  bis  endlich  alle  Stücke 
mit  dem  Zentrum  vereinigt  wären!  —  Welche  treffliche  Ansicht,  bei  welcher  Gravitation, 
Zentrifugation  und  das  Pendelgesetz  zur  Anwendung  kommen.  Von  der  Sphäricität  der 
Erdoberfläche  überzeugt,  glaubt  Leonardo,  dafs  man  14  Meilen  in  See  bereits  dieselbe 
an  der  Meeresoberfläche  mit  blofsen  Augen  wahrnehmen  könne;  allerdings  eiu  Irrthum, 
—  aber  doch  ein  Zeugnifs  für  die  absolute  Ueberzeugung,  dafs  die  Erdgestalt  jene 
Kurve  zeige.  Sehr  interessirt  scheint  den  Leonardo  der  Mond  zu  haben.  Auf  ihn  be- 
ziehen sich  die  meisten  seiner  Betrachtungen  astronomischen  Gepräges.  Er  findet,  dafs 
der  Mond  in  jedem  Monat  einen  Winter  und  einen  Sommer  haben  müsse,  die  resp.  kälter 
und  wärmer  sein  müfsten,  als  bei  uns,  und  dafs  die  Aequinoctien  des  Mondes  viel  kälter 
seien  als  bei  uns.  Es  schwebt  ihm  dabei  die  Ansicht  vor,  dafs  der  Mond  eine  kleine 
Erde  sei.     Wir  reihen  daran: 

„Ich  werde  zeigen,  dafs  das  Funkeln  der  Sterne  vom  Auge  herkommt;  doch  das 
Glänzen  ist  bei  einigen  Sternen  merkbarer  als  bei  anderen,  und  wie  das  Auge  uns  die 
Sterne  von  Strahlen  umgeben  zeigt." 

8* 


60 

„Die  Erde  wird  dem  Menschen  auf  dem  Monde  oder  auf  einem  der  Sterne  als 
ein  himmlischer  Körper  erscheinen!" 

„Dem  Menschen  auf  der  Erde  erscheint  der  Mond  genau  so,  wie  die  Erde  den 
Bewohnern  des  Mondes  erscheinen  wird." 

„Der  Mond  hat  seinen  Tag  und  seine  Nacht  selbst  wie  die  Erde,  die  Nacht 
hat  Statt  auf  dem  dunkeln  Theil,  der  Tag  ist  in  dem  hellen  Theil.  Die  Theile  des 
Mondes,  welche  Tag  haben  bei  Vollmond,  treten  in  die  volle  Nacht  bei  Neumond." 

„Die  Erde  ist  nicht  im  Mittelpunkt  der  Sonnenbahn  situirt,  ebensowenig  in  der 
Mitte  des  Weltalls.  Sie  ist  in  der  Mitte  ihrer  Elemente,  welche  ihr  zugetheilt  und  von 
ihr  abhängig  sind.  Für  einen  Menschen  auf  dem  Monde  würde  die  Erde  und  der 
Ozean  denselben  Effekt  auf  den  Mond  ausüben  mit  Hülfe  der  Sonne,  wenn  die  Sonne 
und  der  Mond  in  der  Nacht  unter  unserem  Horizonte  ständen,  als  er  auf  die  Erde 
ausübt." 

„In  der  Verfinsterung  der  Sonne  empfängt  die  Nacht  des  Mondes  keine  Zu- 
rückstrahlung  der  Sonnenstrahlen  durch  die  Erde,  und  bei  der  Verfinsterung  des 
Mondes  empfängt  die  Erde  vom  Monde  reflektirte  Strahlen  nicht." 

„Wenn  der  Mond  beim  Herabgang  umkränzt  ist  von  einem  durch  die  Sonne 
erleuchteten  Hinge,  warum  haben  dann  die  Theile  des  Mondes,  welche  in  der  Mitte 
dieses  Kreises  liegen,  mehr  Licht,  als  zur  Zeit  der  Verfinsterung  der  Sonne?  Das  ist, 
weil  bei  der  Verfinsterung  der  Sonne  der  Mond  seinen  Schatten  auf  den  Ocean  wirft, 
eine  Erscheinung,  welche  nicht  eintritt,  sobald  der  Mond  herabgesunken  ist  und  die 
Sonne  ihre  Strahlen  in  derselben  Zeit  auf  den  Ozean  wirft." 

Alle  diese  ausgesprochenen  Ansichten  sind  gewifs  bemerkenswerth ,  trotz  der 
Irrthümer,  die  sich  darin  befinden.  Vor  allem  aber  kam  Leonardo  dem  Moestlin  und 
Keppler  zuvor  in  der  Erklärung,  dafs  das  Mondlicht  durch  Reflexion  der 
Erde  entsteht.  — 

„Die  Sonnenwärme  ist  Ursache,  dafs  die  Wasser  des  Meeres  sich  unter  dem 
Aequator  erheben.  Sie  treten  in  Bewegung  von  allen  Seiten  dieser  eminenten  Wasser- 
masse, um  ihre  vollkommene  Sphärizität  wiederherzustellen." 

„Die  Wasser  der  Meere  in  den  Aequinoctialgegenden  sind  höher  als  die  Wasser 
des  Nordens.  Sie  sind  auch  unter  der  Sonne  höher  als  in  anderen  Gegenden  des 
Aequinoctialringes.  Dies  kann  man  beobachten  an  einem  Gefäfs  mit  Wasser  mit  Hülfe 
glühender  Kohlen.  Das  Wasser,  welches  sich  um  das  Zentrum  des  Siedens  herum  be- 
findet, erhebt  sich  in  Zirkular- Wellen.  Die  Wasser  des  Nordens  stehen  unter  dem 
Niveau  der  andern  Meere,  und  zwar  um  so  viel  sie  kälter  sind." 

„Die  Wasserhöhen,  welche  die  Sonne  hervorbringt,  bewegen  sich  zirkulär  und 
durchlaufen  jede  Stunde  etwa  1000  Meilen." 

Wir  führen  auch  noch  Leonardo's  Ideen  über  den  früheren  Aufbau  der  Erde  an : 


61 

„Wenn  das  Wasser  der  Flüsse  seinen  Schlamm  absetzt  auf  die  Thiere  des 
Meeres,  welche  die  Küsten  bewohnten,  so  legt  sich  dieser  Schlamm  auf  die  Thiere 
selbst.  Ist  endlich  das  Meer  zurückgetreten,  so  erhärtet,  versteinert  sich  dieser  Schlamm 
ringsum  und  über  den  Muscheln  der  Schalthiere  und  vereinigt  sie.  Daher  begegnet  man 
vielen  Gegenden,  —  und  fast  alle  solche  versteinerte  Muscheln  gibt  es  in  den  Gebirgen, 
—  welche  noch  ihre  unversehrten  Muscheln  habeD,  besonders  solche,  die  mehr  Alter  und 
mehr  Dauerhaftigkeit  hatten.  Ihr  sagt  mir,  dafs  die  Natur  und  der  Einflufs  der  Sterne 
die  Muscheln  der  Berge  geformt  haben.  Zeigt  mir  also  einen  Ort  in  den  Bergen,  wo 
die  Sterne  heute  solche  Muschelkörper  machen,  von  verschiedenem  Alter,  von  so  ver- 
schiedener Gestalt  an  einem  und  demselben  Orte?  —  Und  wie  erklärt  ihr  nun  den 
Sand,  welcher  in  Schichten  sich  erhärtet  hat  in  verschiedenen  Höhen  der  Gebirge? 
Dieser  Sand  ist  dorthin  transportirt  von  verschiedenen  Orten,  durch  die  Wellen  und 
den  Lauf  der  Flüsse.  Der  Sand  ist  nur  geformt  und  gebildet  durch  die  Stücke  der 
Steine,  welche  abgenutzt  wurden  und  ihren  Halt  verloren  durch  die  Eeibungen,  die 
Stöfse  und  den  Sturz,  der  diese  Stücke  in  das  Wasser  geschleudert  hat,  welches  sie 
dann  an  ihren  Platz  gerollt  hat.  Und  wie  erklärt  ihr  durch  das  Werk  der  Sterne  die 
grofse  Anzahl  der  verschiedenen  Blätter,  fixirt  und  abgedrückt  in  den  Gesteinen  der 
Berge?  und  die  Algen,  Meereskräuter,  vermischt  mit  Muscheln  und  Sand,  alles  versteint 
zu  einer  Masse  mit  den  Krebsen  des  Meeres,  gemengt  unter  denselben  Muscheln?" 

„Das  Meer  verändert  das  Gleichgewicht  der  Erde.  Die  Austern,  die  Muscheln, 
welche  im  Schlamm  des  Meeres  leben,  bezeugen  uns  die  Veränderung,  welche  die  Erde 
im  ganzen  Kreise  der  Elemente  erlitten  hat.  Die  grofsen  Flüsse  führen  immer  Terrain 
mit  sich,  welches  sie  aus  ihrem  Bett  durch  Keibung  loslösen.  Diese  Korrosion  läfst  uns 
viele  Muschelbänke,  eingehüllt  in  diverse  Bettungen,  entdecken.  Die  Muscheln  haben 
früher  an  demselben  Orte  gelebt,  als  sie  das  Meer  bedeckte.  Diese  Bänke  sind  im  Laufe 
der  Zeit  von  anderen  Lagen  von  Schlamm  in  verschiedener  Höhe  bedeckt,  so  dafs  also  die 
Muscheln  von  dem  herbeigespülten  Schlamme  eingeschlossen  wurden,  langsam,  bis  das 
Wasser  wich.  Heute  sind  die  Gründe  selbst  bis  zur  Höhe  der  Hügel  und  Berge  ge- 
wachsen, und  die  Flüsse  nagen  an  ihnen  und  decken  die  Muschelbänke  auf.  Also  eine 
Partie  der  Erde,  sehr  leicht  entstanden,  erhebt  sich  gleichsam  entgegengesetzt  dem 
Zentrum  der  Erde  und  naht  sich  allmählich  jetzt  demselben,  und  das,  was  zuvor  Meeres- 
grund war,  ist  der  Gipfel  der  Berge  geworden." 

„Wenn  ein  Flufs  Schlammhaufen  bildet  oder  Sandbänke  und  sie  dann  verläfst,  so 
zeigt  uns  das  Wasser,  welches  sich  dieser  Massen  erleichtert,  die  Art  und  Weise,  wie 
die  Berge  und  Thäler  sich  geformt  haben  können  allmählich  von  dem  Terrain,  welches 
aus  dem  Grund  des  Meeres  emporgestiegen  ist,  obgleich  dies  Land  im  Emporsteigen  bei- 
nahe voll  und  vereinigt  war.  Das  Wafser,  welches  dieses  Erdreich  anhäufte  bis  zur  Er- 
hebung über  die  Oberfläche  des  Ozeans,  begann  Strömungen  an  den  tieferen  Theilen  zu. 


62 

bilden,  und  siedelte  das  Schilf  dort  an,  welches  wieder  andere  Anhäufungen  erzeugte. 
Das  Schilf,  ernährt  durch  die  Regenwafser,  nimmt  täglich  an  Ausdehnung  und  Tiefe  zu ; 
es  entstehen  Strömungen  und  Thäler;  diese  bilden  sich  zu  Flüssen,  und  diese,  die  Ufer 
benagend,  bauen  unter  sich  Berge  auf.  Die  Regen  strömten  unablässig  und  beraubten 
diese  Berge,  so  dafs  nichts  übrig  blieb  als  die  kahlen  Felsen  von  Luft  umgeben.  Das 
Terrain  des  Flufsbettes  ist  allmählich  zu  der  Basis  herabgestiegen.  Der  Grund  des 
Meeres  hat  sich  erhöht,  und  das  Meer,  welches  den  Fufs  der  Berge  bespülte,  ist  gezwun- 
gen worden,  sich  davon  zurückzuziehen." 

In  diesen  drei  Absätzen,  die  sich  in  verschiedenen  Manuskripten  zerstreut  finden 
(F.  11.  N.  124.  E.  4.  F.  80.),  zeigt  sich  eine  den  übrigen  geistreichen  Anschauungen 
ebenbürtige  Spekulation,  wie  sie  nimmer  bei  einem  der  Philosophen  vor  ihm  gefunden 
werden  kann.  Venturi  bezeichnet  ihn  dieserhalb  als  le  premier  des  Philosophes  modernes, 
qui  ont  soutenu  que  la  plüpart  des  continens  ont  ete  jadis  le  fond  de  la  mer.  Und  wir 
finden  den  Werth  der  Ansichten  des  Leonardo  darin,  dafs  er  der  erste  Philosoph  war, 
der  zu  soichen  Anschauungen  sich  emporschwingen  konnte  und  den  Muth  hatte,  die- 
selben laut  zu  verkünden  und  dadurch  dem  Einflufs  und  den  Behauptungen 
der  Kirche  entgegen  zu  treten.  Diese  Lehren  und  Erklärungen  aus  der  Astrono- 
mie zogen  ihm  den  Namen  und  Ruf  eines  Häretikers  zu  und  verursachten  ihm  jene  un- 
annehmliche Stellung  zu  Mailand,  dafs  er  es  vorzog,  diese  Stadt  zu  verlassen. 

Es  bleibt  noch  übrig  zu  bemerken,  dafs  Leonardo  bedeutendes  Interesse  an  der 
Geographie  hatte,  und  dafs  er  durch  seinen  Freund  Amerigo  Vespucci  zu  Florenz  mit 
den  Entdeckungen  der  Portugiesen  und  Spanier  (Vasco,  Diaz,  Columbus)  näher  vertraut 
ward.  Vielleicht  ist  hierdurch  die  in  London  aufgefundene  erste  Karte  von  Amerika,  die 
von  Leonardo  gezeichnet  sein  soll,  entstanden.  Jedenfalls  ist  das  Interesse  Leonardo's 
sicherlich  auch  für  diese  Entdeckungen  angeregt  gewesen,  wenn  er  uns  auch  keinerlei 
Nachrichten  davon  aufgeschrieben  hat. 

XIII. 

Das  Gefallen  an  der  Natur  und  ihren  Schöpfungen  machte  Leonardo  auch  zum 
Botaniker.  Aber  wie  er  die  Natur  mehr  sezirend  betrachtete,  so  ist  er  eher  ein 
Pflanzenanatom  zu  nennen.  In  seinem  Werk  über  Malerei  (Manzi,  Roma)  finden 
wir  im  6.  Kap.  gleichsam  eine  Pflanzenphysiologie.  Er  bringt  Beobachtungen  über  die 
Form,  Vertheilung  und  Symmetrie  der  Blätter  und  Zweige,  die  Konstruktion  in  der  Rinde 
und  im  Holze.  Diese  und  andere  zahlreiche  Mittheilungen  Leonardo's  über  Botanik  hat 
Gustavo  Uzielli  bereits  gesammelt  und  18G9  veröffentlicht  im  Nuovo  Giornale  Bota- 
nico  Italiauo  unter  dem  Titel:  Sopra  aleune  osservazioni  Botaniche  di  Leo- 
nardo da  Vinci.  Uzielli  vindizirt  dem  Leonardo  die  Begründung  der  Wissenschaft  von 
der  Konstruktion  und  Gruppirung  der  Blätter  (Fillotani),    welche  bisher  dem  Engländer 


63 

Brown  (1658)  zugeschrieben  wurde.  —  Auch  andere  Manuskripte,  zumal  der  Codex  At- 
lantiks, enthalten  Beiträge  für  diese  Seite  der  Botanik.  Leonardo  sucht  auch  die  Art 
der  Ernährung  der  Pflanzen  darzulegen.  Er  erklärt,  dafs  die  Pflanzen,  welche  an  Orten 
stehen,  wo  viel  Feuchtigkeit  und  Nahrung  vorhanden  ist,  mehr  Rinde  ansetzen,  als  an 
solchen,  wo  diese  Nahrung  fehlt  oder  spärlich  ist.  Die  Bilduug  der  Jahresringe  und  ihre 
verschiedene  Dicke  führt  er  zurück  auf  die  gröfsere  oder  geringere  Feuchtigkeit  des 
Jahres  und  findet  einen  Unterschied  in  dem  Abstände  des  Zentrums  von  der  nördlichen 
Seite  der  Borke  gegenüber  der  südlichen,  indem  er  diesen  Abstand  für  ersten  Fall  gröfser 
nennt.  Alle  diese  Beobachtungen  wurden  erst  in  späterer  Zeit  wieder  gemacht  und  ver- 
öffentlicht. Nach  Dioscorides  gab  es  nur  wenige  griechische  und  römische  Gelehrte, 
welche  sich  mit  der  Botanik  befafsten.  Gonza  (1430)  gab  die  Werke  des  Theophrast 
heraus  mit  vielen  Zufügungen;  später  kamen  Barbaras  und  Virgilius,  Leonicenus  und 
Brassavola  und  Mathioli  (1501 — 77)  —  alle  Kommentatoren  des  Dioscorides.  Das  letztere 
Werk  wurde  für  Italien  ein  Abschlufs.  Später  traten  die  Schriften  von  Costaeus,  Porta, 
Caesalpinus  und  Colonna  auf.  Letzterer  gab  (1592—1616)  eine  Arbeit  mit  Kupferstichen 
von  Blüthen  und  Früchten.  In  Deutschland  kamen  die  illustrirten  Arbeiten  von  Fuchs 
(1542),  Cordus  (1561),  Gesner  (1565)  dazu,  in  den  Niederlanden  Dodonaeus  und  Lobel 
und  Clusius,  in  Frankreich  Champier,  Ruellius  (1536),  Delechamp,  in  Spanien  Nebrija, 
Laguna  (1543),  Herrera  (1513),  in  Portugal  Garcia  d'Orta,  Acosta,  Fraposo,  in  England 
Ascham  (1520),  Turner  u.  s.  w.  Alle  diese  Gelehrten  lebten  später  als  Leonardo  (nur 
wenige  waren  kurze  Zeit  „Zeitgenossen"  desselben),  und  eine  ernste  Betrachtung,  wie 
Leonardo  sie  gibt,  ist  selbst  in  diesen  Werken  nicht  überall  zu  finden. 

Interessant  ist  Leonardo's  Versuch  des  Selbstdrucks  der  Blätter.  Im  Codex 
Atlanticus  befindet  sich  ein  solcher  Abdruck  eines  Salbeiblattes  mit  folgender  Bemerkung : 
Questa  carta  si  dette  tingere  di  fumo  di  candella  temporato  con  colla  dolce,  e  poi  im- 
brattare  sottilmente  la  foglie  di  biacca  a  olio,  come  si  fa  alle  lettere  in  istampa,  e  poi 
stampire  nel  modo  comune,  e  cosi  tal  foglia  parrä  nombrata  ne'  cavi  e  alluminata  nelli 
rilievi,  il  che  interviene  qui  il  contrario.  Bekanntlich  hat  Auer  in  unseren  Zeiten  diese 
Kunst  ausgebildet  und  also  erneut.  — 

Leonardo  war,  wie  wir  gesehen,  sowohl  bei  dem  Herzog  Ludovico  Sforza,  als 
später  bei  Borgia  Kriegsingenieur.  Für  diese  Stellung  ist  sein  Brief,  den  er  an 
Sforza  geschrieben,  karakteristisch,  welcher Jfolgt-,- -nachdem  wir  nicht  anzuführen  unter-X^r^^ 
lassen  werden,  dafs  Leonardo  in  seinem  Traktat  der  Malerei  ausruft:  nelle  bataglie  per 
necessita  accadono  infiniti  scorciamenti  e  piegamenti  dei  compositori  di  tal  discordia  o 
vuoi  dire  pazzia  bestiaüssima ! 

„Monseigneur,  überzeugt,  dafs  die  Vorspiegelungen  von  allen  denen,  welche  sich   J 


64 


Meister  in  der  Kunst  des  Erfindens  von  Kriegsgeräth  nennen,  in  Wirklichkeit  nichts 
Nützliches  oder  Neues  geleistet  wird,  was  nicht  schon  gewöhnlich  ist,  beeile  ich  mich 
gegenwärtig,  ohne  jemanden  schaden  zu  wollen,  Eurer  Herrlichkeit  meine  Geheimnisse 
zu  entschleiern  und  sie,  wenn  es  Ihnen  gefällt,  zur  Ausführung  zu  bringen;  denn  ich 
wage  zu  hoffen,  dafs  alle  Dinge,  welche  ich  in  diesem  kurzen  Brief  einreiche,  das  ver- 
langte Resultat  erreichen. 

1.  Ich  weifs  zu  konstruiren  sehr  leichte  Brücken,  welche  man  leicht  von  einem 
zum  andern  Ort  transportiren  kann,  und  mit  Hülfe  welcher  es  oft  möglich 
wird,  den  Feind  zu  verfolgen  und  ihn  in  die  Flucht  zu  jagen.  Dieselben 
sind  sehr  sicher  und  gegen  Feuer  geschützt,  und  widerstandsfähig  im  Wasser. 
Sie  lassen  sich  leicht  aufschlagen  und  abbrechen.  Ich  habe  auch  ein 
Mittel,  die  Brücken  des  Feindes  zu  zerstören  und  anzuzünden. 

2.  Ich  habe  ein  Mittel  gefunden,  die  Wasser  bei  einer  Belagerung  abzuleiten, 
Fallbrücken  zu  machen  und  eine  Reihe  Instrumente  für  solche  Gelegenheit. 

3.  Wenn  die  Höhe  der  Mauern  oder  die  Stärke  der  Position  eines  Platzes 
nicht  erlaubt,  in  einer  Belagerung  mit  den  Kanonen  zu  nahen,  habe  ich 
ein  Mittel  erfunden,  jeden  Thurm  oder  andere  Befestigung,  sobald  sie  nicht 
auf  Felsen  gebaut  ist,  zu  ruiniren. 

4.  Ich  verstehe  auch  eine  Art  Kanonen  (bombarde)  zu  fabriziren ,  sehr  leicht 
und  bequem  zu  transportiren,  welche  entflammte  Stoffe  schiefst,  um 
Schrecken  unter  die  Feinde  zu  verbreiten  mit  Hülfe  eines  grofsen  Rauches, 
ihnen  Schaden  zuzufügen  und  sie  in  Unordnung  zu  bringen. 

5.  Ferner  eine  Methode,  ohne  Lärm  die  unterirdischen  Gänge  zu  graben,  um 
in  einen  Graben  oder  ein  Flufsufer  zu  gelangen. 

6.  Kräftige  Wagen,  offen,  defensiv  und  offensiv,  mit  Artillerie  versehen,  dringen 
in  die  Mitte  der  Feinde  ein;  keine  Waffenmasse  gibt  es,  sie  zu  brechen,  und 
dicht  dahinter  kann  Fufsvolk  folgen  ohne  Schaden  und  Hindernifs. 

7.  Ich  kann  auch  Bombarden  giefsen,  wenn  es  nöthig  ist,  Mörser  und  Feld- 
geschütze in  schöner  und  nützlicher  Form  und  für  den  gewöhnlichen  Gebrauch. 

8.  Dort,  wo  die  Bombarden  nicht  angewendet  werden  können,  fertige  ich  an- 
dere Geschütze  (briccole  manghani,  Arabucchi  ed  altri  instrumenti)  von 
wunderbarem  Effekt  und  starkem  Gebrauch.  Je  nach  Erfordernifs  werde 
ich  die  Offensivwaffe  bis  ins  Unendliche  variiren. 

9.  Wenn  das  Geschick  einer  Seeschlacht  droht,  so  habe  ich  eine  Reihe  Waffen 
und  Instrumente  für  Angriff  und  Verteidigung  in  Bereitschaft;  ebenso 
Schiffe,  welche  dem  Feuer  der  gröfsten  Artillerie  widerstehen  (Panzer- 
schiffe??) und  Pulver  und  Feuerarten.    J 

10.    In  Friedenszeiten  wird  es  nützlich  sein,  zu  allgemeinem  Nutzen  (benissimo 


65 


a  paragone  di  omni)  Architektur  zu  pflegen,  Gebäude  für  Private  und  die 
Oeffentlichkeit,  und  die  Wasser  von  Ort  zu  Ort  zu  führen. 

Ich  beschäftige  mich  auch  mit  Skulpturen  in  Marmor,  in  Bronze  und  in  Erden; 
ebenso  fertige  ich  Gemälde,  alles  was  man  will.  Ich  würde  auch  an  der  Reiterstatue  in 
Bronze  arbeiten  können,  welche  zum  unsterblichen  Ruhme  und  ewiger  Ehre,  also  auch 
zur  glücklichen  Erinnerung  Eurer  Herrlichkeit  Vaters  und  des  fürstlichen  Hauses  Sforza 
errichtet  werden  soll. 

Wenn  einige  dieser  Sachen,  von  denen  ich  geredet  habe,  unmöglich  und  unaus- 
führbar erscheinen  sollten,  so  biete  ich  mich  an,  sie  auszuführen  in  Eurem  Park  oder 
an  einen  Ort,  wo  Ew.  Exzellenz  will,  —  womit  ich  ergebenst  mich  so  viel  als  mög- 
lich empfehle." 

Dieser  Brief  ist  im  Codex  Atlanticus  enthalten  und  unzählige  Male  kopirt  und 
edirt.  Am  sorgfältigsten  hat  ihn  jedoch  Francesco  di  Giorgio  Martini  geprüft  und  sich 
die  Mühe  gegeben,  die  darin  enthaltenen  Versprechungen  durch  wirkliche  Entwürfe, 
Projekte  etc.  in  den  Manuskripten  zu  belegen.  Es  ist  ihm  dies  nicht  nur  gelungen,  son- 
dern er  hat  im  Codex  Atlanticus  eine  solche  Fülle  von  Material  für  die  Beantwortung 
der  zehn  Paragraphen  gefunden,  dafs  er  eine  überreiche  Ausbeute  für  seinen  Trattato  di 
Architettura  civile  e  militare  (1841,  Turin,  Carlo  Promis)  sammelte. 

Von  den  Entwürfen  zu  Feuerwaffen  speziell,  die  von  Leonardo  in  Menge  vor- 
geführt sind,  haben  verschiedene  Schriftsteller  kleinere  oder  gröfsere  Auswahl  getroffen 
und  edirt,  so  besonders  Angelucci,  Documenti  inediti  per  la  Storia  delle  armi  da  fuoco 
Italiane.    Venturi  hat  die  folgenden  Abschnitte  nach  den  Pariser  Manuskripten  publizirt: 

„Weil  heute  die  Artillerie  ihre  Kraft  um  */*  vermehrt  hat,  mufs  man  den  Wider- 
stand der  Mauern  auch  um  %  vermehren.  —  Das  Ravelin  ist  der  Schlüssel  des  Platzes; 
wie  er  den  Platz  vertheidigt,  so  mufs  er  vom  Platze  vertheidigt  werden.  Das  Ravelin, 
mehr  entfernt  vom  Platze,  ist  den  Schüssen  der  Angreifer  mehr  ausgesetzt.  Der  Feind 
suche  sich  in  den  Trancheen  des  Glacis  einzunisten,  welches  die  Gräben  LB  und  HK 


Fig.  36. 


Fig.  37. 


66 


Fig.  38. 


begrenzt  (Fig.  36),  und  richte  sein  Feuer  so,  dafs  es  das 
ganze  Ravelin  zerstört.  Alle  Partieen  des  Glacis  und 
Ravelins  müssen  dem  Bombardier  des  Platzes  sichtbar 
sein.  Keine  Artillerie  darf  A  treffen.  Die  Fig.  37  gibt 
ein  Bild  eines  Ravelins  für  ein  Fort.  Diese  Fortifikation 
beherrscht  den  Graben  und  die  Wälle.  (Fig.  38.)  Wenn 
ein  Feind  A  eingenommen  hat  und  die  Gräben  mit  Erde 
ausfüllt,  setzt  er  sich  der  Artillerie  aus,  die  die  Gräben 
entlang  schiefst.  In  einer  Festung  auf  dem  Gebirge 
mufs  man  ringsum  tiefe  Keller  graben,  um  zu  verhindern, 
dafs  der  Grund  durch  das  Feuer  von  unten  her  zerstört 
wird.  Die  Keller,  welche  man  unter  der  Erde  herstellt, 
um  die  Mauer  einer  solchen  Festung  zu  stützen,  müssen  unter  der  untern  Mauernpartie 
aufgeführt  sein,  etwa  wie  in  Fig.  39  gezeigt  wird.    Die  Gallerie  AB  soll  etwa  V/2  Ellen 

Fis-  39- !    breit    sein    auf 

-f    »^      ^     B*ssa      ^«k  3    E]len    Höhe> 

Man  wendet  bei 
A  B    im    rechten 

Winkel,  so  bei  G  und  D  bis  zum  Thurm  FO  und  fährt  so  fort.  Wenn  die  Mauer 
terrassirt  ist,  mufs  man  den  Thurm  jenseits  der  Mitte  der  Mauerdicke  placiren."  Eine 
andere  Stelle  handelt  von  den  Minen  und  deren  Anlage.  Leonardo  bespricht  ferner  die 
Wirksamkeit  einer  steinernen  Kugel  gegenüber  dem  Bleigeschofs.  Er  erläutert  dies  alles 
noch  durch  Zeichnungen  und  Angaben,  während  eine  Reihe  Tafeln  nur  von  Details  und 
besonders  Befestigungen,  Sturmmaschinen,  Artillerie  u.  s.  w.  reden. 

Unter  diesen  Zeichnungen  sind  die  interessantesten  folgende:  Der  Architronitus 
oder  die  Dampfkanone,  welche  wir  oben  bereits  abgebildet  und  beschrieben.  Sie  ist  es, 
die  uns  lehrt,  dafs  der  Gebrauch  des  Wasserdampfes  und  seiner  Expansion  zu  Leonardo's 
Zeit  nichts  Ungewöhnliches,  keine  neue  Idee  war,  und  es  beweist  dies  auch  die  (auf 
Tafel  300  gegebene)  Vorrichtung,  um  Wasser  zu  heben,  bewegt  durch  Dampf,  und  die 
gegen  den  Strom  gehende  Barke  (Fol.  233),  dafs  die  hierin  ausgedrückten  Kenntnisse 
über  den  Wasserdampf  der  Zeit  des  Leonardo  angehörten.  Unter  der  Zahl  der  Kanonen- 
konstruktionen finden  wir  mannigfache  sinnreiche  Stücke,  rotirende,  drehbare  Mitrailleusen, 
—  ferner  viele  andere  Geschütze  unter  Anwendung  von  Schleuderkraft  und  Schwung- 
kraft, mächtige  auf  Räder  gestellte  Armbrüste,  ferner  ganze  grofse  Batterien  von 
Büchsenläufen,  die  auf  dem  Mantel  grofser  Treträder  tangential  in  4  bis  8  Reihen  auf- 
gebracht sind  und  nach  einander  abgeschossen  werden. 

Die  Herstellung  von  Kanonen  scheint  ihn  besonders  beshäftigt  zu  haben.  Wir 
finden  im  Codex  Atlanticus  eine  Zeichnung,  die  uns  lehrt,  mit  was  für  einem  Instrument 


67 

Leonardo  bohrte,  d.  h.  offenbar  nachbohrte  und  Züge  einschnitt.  Dasselbe  ercheint  als 
ein  Cylinder,  welcher  der  Längsachse  nach  mit  Leisten  von  rechteckigem  Querschnitt  und 
scharfen  Kanten  besetzt  ist,  welche  in  gleichen  Zwischenräumen  gleich  der  Hälfte  ihrer 
Kopfbreite  aufgestellt  sind.  In  diese  Leisten  ist  eine  Spirale  eingeschnitten,  die  aller- 
dings erhabene  Züge  hervorbringen  müfste.  Das  Rohr  ist  vorn  und  hinten  offen,  — 
also  wie  bei  unseren  Hinterladern,  —  und  am  vorderen  Ende  erblicken  wir  die  Bohrstange 
hervorragen  und  mit  Hebeln  zum  Drehen  versehen.  Einige  der  Kanonen  zeigen  Orna- 
mentik und  stellen  wohl  Festkanonen  vor,  wie  solche  dazumal  viel  gefertigt  wurden. 

Ueber  die  Geschosse,  ihre  Gewichte,  ihre  Flugbahn,  sowie  über  Tragweite  der 
Geschütze  finden  sich  oft  Bemerkungen.     An  einer  solchen  Stelle  sagt  Leonardo  da  Vinci: 

„Die  Kugeln  der  Bombarde  machen  eine  Meile  in  fünf  Zeitabschnitten,  von 
welchen  Zeiten  eine  Stunde  zusammengesetzt  ist  von  1080  u.  s.  w.",  wobei  er  auf  das 
Resultat  kommt,  dafs  eine  solche  Kugel  per  Sekunde  110  Meter  macht.  — 

Also  auf  diesem  Gebiete  leistete  Leonardo  da  Vinci  Bedeutendes.  Die  Aner- 
kennung, welche  er  bei  seinen  Zeitgenossen  fand,  war  grofs;  wir  haben  bereits  oben 
gesehen,  dafs  Magenta  bei  seinen  Befestigungsarbeiten  für  Florenz  den  Leonardo  fleifsig 
studirte.  Ebenso  befahl  Valentin  Borgia  allen  seinen  Platzingenieuren,  sich  nach  den 
Anordnungen  des  Leonardo  zu  richten. 

XIV. 

Wir  haben  uns  bereits  im  III.  Abschnitt  unseres  Resum^s  bemüht  zu  zeigen,  in 
welcher  Blüthe  die  Industrien  in  einzelnen  Städten  und  Ländern  von  Italien  standen 
und  arbeiteten.  Diese  letzte  Behauptung  belegt  nun  Leonardo  noch  ganz  besonders 
durch  die  zahlreichen  Dessins  und  Skizzen,  welche  er  bezüglich  des  Maschinenwesens 
hinterlassen  hat.  Es  würde  lächerlich  klingen,  wollten  wir  behaupten,  alle  diese  Skizzen 
seien  Inventionen  des  grofsen  Mannes,  —  es  wäre  aber  ebenso  lächerlich,  wenn  wir  ihm 
nicht  zuerkennen  wollten,  dafs  er  für  die  bessere  Gestaltung  und  den  Gang  der  Ma- 
schinen und  Apparate  viel  gethan  habe,  —  ebenso  wie  es  absurd  erscheinen  müfste, 
wenn  wir  die  maschinelle  Arbeit  in  jener  Zeit  nicht  anerkennen  wollten!  Mit  den  geschicht- 
lichen Daten  vielmehr  stimmen  die  Leonardo'schen  Skizzen  vorzüglich  überein!  Wir 
haben  gesehen,  welchen  Ruf  die  Florentiner  für  ihre  Appretur  hatten  —  und  wir 
finden  bei  Leonardo  trefflich  ausgeführte  Zeichnungen  von  Scheermaschinen,  Wasch- 
maschinen, Pressen  und  Calander;  Wir  wissen,  dafs  Bologna  durch  seine  Spin- 
nerei dominirte,  und  wir  finden  bei  Leonardo  schön  durchdachte  Spinnapparate,  welche 
das  später  erfundene  Jürgens'sche  Spinnrad  weit  hinter  sich  lassen  an  Vollkommenheit. 
Die  Bauten  in  Mailand  und  Florenz  stiegen  mächtig  empor  —  und  wir  finden  bei  Leo- 
nardo Steinsägen  und  Instrumente,  die  Steine  zu  bearbeiten.  Ist  dies  alles  so  ganz 
zufällig?    Gewifs  nicht!    Die  Blüthe   der  Industrie  müfste    den  Leonardo    anregen    zur 

9* 


68 

Theilnahme  an  dem  wissenschaftlichen  Theil,  ihn  den  geschickten  und  aufmerksamen 
Mann,  —  und  andererseits  konnte  es  nicht  fehlen,  dafs  die  Industrie  sich  bei  diesem 
talentvollen  und  zugleich  menschenfreundlichen  Manne  Raths  erholte,  ihn  anging,  ihre 
Maschinen  zu  verbessern  und  neue  zu  erfinden.  Das  bedeutendste  Argument  aber,  dafs 
eine  gewisse  Entwickelung  des  Maschinenwesens  mit  Leonardo's  Talent  dafür  zusammen- 
traf, finden  wir  in  der  Gestalt,  Form  und  in  den  Details  der  Maschinenskizzen  des  Leo- 
nardo. Da  ist  nichts  von  der  Plumpheit  der  Formen,  wie  bei  allen  späteren  Illustra- 
tionen Jahrhunderte  lang  noch  vorwaltete,  nichts  von  verwickelten  und  albern  erschei- 
nenden Kombinationen,  —  alles  ist  proportionirt  und  richtig  berechnet,  ja  oft  von  einer 
gewissen  eleganten  Form,  und  die  Details  zeigen  eine  Fülle  von  Mechanismen,  die  dem 
Leonardo  das  Abc  der  Maschinenkonstruktion  scheinen.  —  Für  uns,  die  wir  die  Ma- 
nuskripte Leonardo's  durchstuclirt  haben,  die  wir  die  Geschichte  der  Industrie  seiner 
Zeit  prüften ,  die  wir  das  Leben  und  die  Stellung  des  Mannes  zu  durchschauen  uns  be- 
mühten, die  wir  die  Thätigkeit  seines  Geistes,  die  Solidität  seines  Schaffens  und  Denkens, 
seine  Abneigung  gegen  unfruchtbare  Spekulationen  und  Spielereien  kennen,  —  für  uns 
steht  fest,  dafs  Leonardo  da  Vinci  seine  Zeichnungen  nach  den  und  für  die  Maschinen 
seiner  Zeit  gemacht  hat,  dafs  er  ebenso  von  ihnen  gelernt  und  sie  verbessert,  vielleicht 
manche  neue  erfunden  hat. 

Grothe  hat  sich  über  die  Art  und  Weise,  wie  wohl  Leonardo  arbeitete,  folgender 
mafsen  verbreitet  (Polyt.  Zeit.  1873  No.  10): 

„Bevor  ich  auf  die  vielen  Maschinenkonstruktionen  des  Leonardo  eingehe,  mufs 
ich  zunächst  den  Eindruck  bezeichnen,  den  man  bei  dem  Studium  der  zahlreichen  Ma- 
nuskripte gewinnt  über  die  Art  und  Weise,  mit  welcher  Leonardo  da  Vinci  an  den 
Entwurf,  re^p.  die  Konstruktion  einer  Maschine  herangegangen  ist  und  dabei  zu  Werke 
gegangen  ist.  Natürlich  rede  ich  hierbei  nur  von  dem  Eindruck;  aber  die  Zahl  seiner 
Studien  zu  solchen  Zwecken  ist  so  grofs,  und  stets  zeigt  sich  dabei  eigentlich  dieselbe 
Methode,  —  so  dafs  man  wohl  den  hieraus  gewonnenen  Eindruck  als  einen  der  That- 
sache  nahe  verwandten  erachten  kann.  —  Ist  dem  Leonardo  eine  Aufgabe  gestellt  ge- 
wesen, so  hat  er  sich  eine  allgemeine  Idee  der  Lösung  gebildet  und  meistens  diese 
flüchtig  skizzirt,  und  dann  beginnt  er  die  Details  zu  durchdenken  und  alle  Momente 
ins  Auge  zu  fassen.  Dies  zeigen  die  zahlreichen  Details  und  Variationen  derselben, 
von  denen  die  meisten  seiner  Hauptblätter  entourirt  sind,  ferner  mathematische  Figuren 
und  Rechnungen  und  eingeschriebene  Bemerkungen,  zuweilen  speziellere  Erklärungen 
der  Figuren.  War  er  dann  mit  seiner  Konstruktion  zu  Ende  gelangt,  war  sie  in  allen 
Theilen  fertig,  so  nahm  Leonardo  ein  frisches  Blatt,  und  in  sicheren  Strichen  steht  dann 
die  Zeichnung  da.  Hat  ihm  die  Lösung  nicht  gefallen  oder  ist  ihm  die  ganze  Sache 
langweilig  geworden,  so  zeichnet  er  mitten  zwischen  diese  Details  wohl  eine  Fratze  oder 
eine  Arabeske.  —  Für    die  Rein-Zeichnungen    mufs    man    rühmend  erwähnen,  dafs  sie 


69 

sich  gegen  die  späteren  Zeichnungen,  wie  sie  Vegetius  Renatus,  Salomon  de  Caus, 
Besson,  Ramelli,  Reimondus  Moutus,  Zeising,  Verantius,  Branca,  Nicolai  Zucchio,  Paulo 
Casato,  Jungenickel,  Kircher,  Furttenbach,  Böckler,  Leupold,  Gallon  u.  s.  w.  geben, 
vortheihaft  auszeichnen  durch  Richtigkeit  der  Perspektive  und  Wirksamkeit  der  Schatten- 
projektion, sowie  durch  proportionirte  Formen  der  Gestelle,  Getriebstheile  u.  s.  w.  Als 
Beispiel  hierfür  führe  ich  die  in  dem  Codex  Atlanticus  in  Mailand  auf  Blatt  195  (No.  II) 
dargestellte  Maschine  zum  Zersägen  der  Steine  resp.  des  Mormors  an.  Leonardo  gibt 
hiervon  auf  der  Mitte  des  Blattes  eine  kleine  flüchtige  Skizze,  nebenher  und  darunter 
noch  mehrere,  dann  beschäftigt  ihn  die  Befestigung  der  beiden  Sägeblätter  in  einem 
Rahmen  speziell,  sodann  die  Bewegung  dieses  Rahmens.  In  einigen  Sätzen,  die  er 
zwischen  diese  Details  schrieb,  setzt  er  seine  Ideen  über  die  Balance  der  Säge  ausein- 
ander und  über  die  gleichmäfsige  Einführung  der  Smirgelmaterien  in  die  Schnittlöcher.  Er 
kommt  zu  der  Ueberzeugung,  dafs  die  Sägenblätter  doppelt  so  lang  sein  müfsten  als 
der  Stein  selbst,  wenn  der  Zug  der  Säge  die  Steineslänge  betragen  solle,  und  dafs  die 
Zugstangen  auf  festen,  aber  je  nach  der  vorgerückten  Tiefe  des  Schnittes  versetzbaren 
Unterlagen  sich  bewegen  müfsten,  die  auch  nach  der  Seite  hin  die  Bewegung  normali- 
siren.  Durch  solche  eingehende  Betrachtungen,  von  ca.  32  Detailszeichnungen  und 
Skizzen  begleitet,  gelangte  dann  Leonardo  zu  der  Schlufskonstruktion,  die  er  uns  in 
einer  perspektivischen  Ansichtszeichnung,  mit  Sepia  schattirt,  so  vorführt,  dafs  sie 
einmal  zeigt,  wie  Leonardo's  Konstruktion  mit  der  heutigen  in  Carrara  u.  s.  w.  gebrauchten 
Marmorsäge  identisch  ist,  sodann  aber  dafs  sie  sicherlich  für  die  Praxis  bestimmt  war. 
Ganz  ähnlich  könnte  ich  hundert  Beispiele  aus  Leonardo's  Manuskripten  beibringen." 
"Wir  geben  hier  die  ganze  Tafel  des  Leonardo  autographirt  wieder. 

Die  allgemeine  Maschinenlehre,  wie  sie  Leonardo  in  seinen  Manuskripten  \ 
in  der  That  aufbewahrt  hat,  ist  überraschend  umfangreich. 

Beginnen  wir  mit  den  Motoren,  so  finden  wir  bei  ihm  das  Wasser  als  den 
ersten  und  hauptsächlichsten  Motor  benutzt,  daneben  aber  die  Menschenkraft  am  Tret- 
rad in  vielerlei  Gestalt  und  an  der  Kurbel. 

Die  heifse  Luft  wendet  er  bei  einem  Bratspiefs  an  zur  Bewegung  desselben, 
und  mit  Dampf  bewegte  er  eine  Pumpe  und  eine  Barke.  Wir  wollen  die  letzten  Bei- 
spiele als  Kuriositäten  und  Zufälligkeiten  hinnehmen  und  wollen  die  Treträder  nicht 
weiter  speziell  betrachten,  trotz  der  reichen  Fülle  der  Variationen  ihrer  Konstruktion 
bei  Leonardo,  sondern  wollen  seine  Ideen  für  die  Konstruktion  der  Wassermotoren  näher 
beleuchten. 

Dafs  Leonardo  die  gewöhnlichen,  seiner  Zeit  bekannten  Wasserradkonstruktionen 
wiedergibt,  ist  ja  natürlich.     So  gibt  er  die  alten  Löflelräder,*)  in  verschiedenen  Varia- 


*>  Em  sehr  schön  ausgeführtes  Löffelrad  gibt  Leonardo  in  Codex  Atlant,  fol.  II.    Dasselbe  ist 
last  genau  so  wie  z.  B.  Luokenbacher's  Mechanik  fol.  191   wiedergibt,   nur  Bind  die  Schaufeln  dichter 

gestellt. 


70 


tionen ,  sowie  mittel-  und  oberschlächtige  und  unterschlächtige  Räder,  die  nur  wenig  von 
den-  Konstruktionen  derjenigen  abweichen,  die  allerdings  erst  nach  Leonardo  zuerst  durch 
Druck  und  Illustration  bekannt  wurden.  Dagegen  finden  wir  auch  eine  Zahl  anderer 
Ideen  und  Skizzen  bei  Leonardo,  welche  uns  lehren,  dafs  der  grofse  Ingenieur  bestrebt 
war,  eine  bessere  Ausnutzung  der  Wasserkraft  zu  erzielen.  Er  wurde  hierauf  wohl 
durch  seine  Beobachtungen  über  die  Bewegung  des  Wassers  in  Flüssen  und  Kanälen 
hingeführt. 

Wir  bringen  in  folgenden  Abbildungen   z.  B.  Fig.  40  a.  Ideen  des  Leonardo  zur 
Fig.  40.  Fig.  40  a. 


Anschauung,  die  Beachtung  verdienen  und  die 
Konstruktionen  hier  und  der  darauffolgenden 
Zeit  übertreffen.  In  Fig.  40  finden  wir  zunächst  das  oberschlächtige  Rad  c  mit  einer 
Schaufelstellung,  die  bereits  rationeller  gedacht  ist  und  bei  welcher  der  wasserhaltende 
Bogen  sehr  vergröfsert  ist.  Die  Anordnung  bei  a  aber  läfst  darauf  schliefsen,  dafs  Leonardo 
eine  Art  Spannschützen  im  Auge  hatte,  a  ist  deutlich  skizzirt  als  ein  verschiebbarer, 
ausziehbarer  Boden.  Ob  nun  das  Rad  in  den  Armen  hing,  die  von  a  ausgingen,  ist 
Fig.  41.  zweifelhaft;  vielmehr  scheint  es,  als   ob  dieser  Arm  eine  Art 

Regulirung  des  Zuflusses  mittelst  eines  am  Rade  vorhandenen 
Mechanismus  vollführen  sollte.  —  In  Fig.  41  ist  eine  Umän- 
derung eines  Löffelrades,  aber  in  wesentlich  verbesserter  Ge- 
stalt gegeben.  Hier  schliefst  eine  volle  Scheibe  zunächst  das 
ganze  horizontale  Rad.  Um  einen  Radkern  auf  der  stehenden 
Welle  sind  dann  die  stehenden  Schaufeln  radial  aufgesetzt,  so  dafs  dieselben  förmliche 
Kasten  mit  Kernraantel  und  Scheiben  bilden.  Das  Wasser  wird  in  einem  stehenden 
Rohre  zugeleitet  und  strömt  durch  eine  rechtwinklige  Umbiegung  desselben  direkt  in 
die  Zellen  ein.  Der  Gedanke  der  Aufsammlung  des  Wassers  in  stehenden  Röhren  und 
Zuleitung   durch  Wassersäulen   in   freier  Ausströmung  auf  diese  Räder  ist  höchst  be- 


71 


merkenswerth.  —  In  Fig.  42  finden  wir  eine  andere  Lösung  derselben  Idee;  hierbei  ist 
Fig.  42.  Fjg  43  das  horizontale  Rad  mit  Kur- 

venschaufeln versehen.  Lei- 
der ist  die  Skizze  desselben 
undeutlich;  vielleicht  drückte 
sie  viel  mehr  aus,  als  jetzt 
ersichtlich  ist.  In  Fig.  43 
aber  führen  wir  eine  Skizze 
vor,  welche  dem  unbefan- 
genen Beobachter  selbst  als 
eine  Idee  zu  einer  Turbine  (a  la  Fourneyron)  erscheinen  möchte.  Dieselbe  steht  auf 
einem  Blatte  des  Codex  Atlanticus,  welches  fast  nur  Skizzen  hydraulischen  Karakters 
enthält,  unter  Anderem  mehrere  Skizzen  von  Wässerrädern,  fol.  283.  Wir  enthalten  uns, 
wie  gesagt,  jeder  positiven  Behauptung  hierüber,  —  da  ein  Aufschlufs  gebender  Text  in 
dem  Manuskript  fehlt. 

Zu  den  Arbeits-Maschinen  selbst  übergehend,  führen  wir  zunächst  folgende  Ein- 
leitung aus  der  Po'yt.  Zeitung  (Grothe)  hier  an: 

Wenn  Reuleaux  in  der  Einleitung  zur  Kinematik  Leupold  in  der  ersten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  als  den  ersten  Mechaniker  nennt,  der  in  seinem  Werke  Theatrum 
machinarum  die  Maschine  in  einzelne  Theile  zu  zerlegen  begann  und  diese  für  sich  be- 
trachtete, —  so  bedauren  wir,  dafs  dem  geistvollen  Förderer  der  Kinematik  eine  Ein- 
sicht in  die  Werke  Leonardo's  nicht  vergönnt  war  [ —  wie  es  ja  leider  seit  Leonardo's 
Tode  nur  8—10  Männer  gegeben  hat,  die  diese  Manuskripte  studirten,  und  auch  von 
diesen  thaten  wieder  mehrere  dies  nur  zum  Amüsement  und  betrachteten  Leonardo's 
Leistungen  auf  diesem  Gebiete  nur  als  Curiosa,  wie  z.  B.  der  Artiste  1841  nur  eine  aus- 
führliche Wiedergabe  der  Leonardo'schen  Dampfkanone  brachte,  die  in  Förster's  Bauzei- 
tung von  1855  p.  143  übergegangen  ist.  Und  doch  schreibt  auch  hier  der  Publizist: 
„So  wunderbar  die  Sache  ist,  so  ist  sie  nichts  destoweniger  wahr;  die  Dampfkanone  wird 
von  dem  unsterblichen  Maler  des  heiligen  Abendmahls  und  zwar  mit  einer  Genauigkeit 
beschrieben  und  skizzirt,  welche  nicht  den  geringsten  Zweifel  gestattet."]  Die  gröfsere 
Veröffentlichung  von  Venturi  enthält  nur  die  Gedanken  des  Leonardo  über  Prinzipien 
der  Physik  und  Mechanik,  nichts  (wenigstens  nichts  von  seinen  Zeichnungen,  die  hierfür 
Hauptsache  sind)  über  seine  machineilen  Konstruktionen  und  mechanisch -praktischen 
Studien.  Wenn  Leupold  nun  die  Maschinen  zu  zerlegen  anfing  und  eine  Betrachtung 
der  Details  folgen  liefs,  —  so  betrachtete  Leonardo  mit  Rücksicht  auf  einen  vorgesetzten 
Zweck  zuerst  die  ihm  zu  Gebote  stehenden  oder  möglichen  Maschinentheile  und  setzte 
daraus  eine  Maschine  zusammen.  Dabei  spielte  die  Art  der  Bewegung  der  einzelnen 
Theile    eine  Hauptrolle.  —    Unter  den  Mitteln  und  Anordnungen,  seinen  Zweck  zu  er- 


72 


reichen,  beweist  Leonardo  einen  klaren  Blick  und  ein  umfassendes  Genie,  neue  Mittel 
zu  erfinden,  die  seinem  Vorsatz  zu  Hülfe  kommen  sollen.  Dies  wird  uns  aus  vielen 
seiner  Entwürfe  ganz  einleuchtend.  "Wir  wollen  hier  nun  eine  Reihe  von  Bewegungs- 
mechanismen mittheilen,  die  Leonardo  kannte  und  bei  Gelegenheit  anwendete  oder  auch 
auf  Anwendbarkeit  betrachtete  und  prüfte.  In  dem  Ambrosianischen  Codex  Fol.  364 
ist  eine  Betrachtung  Leonardo's  dieser  Art  aufbewahrt.  In  Fig.  44  geben  wir  danach 
Fig.  44.  Fig.  45.  Fig.  46. 


Leonardo's  Skizze  wieder  für  eine  Bewegungsübertragung  mittelst  eines  Rades,  dessen 
Mantel  mit  spirallinigen  Nuthen  versehen  ist,  in  welche  die  Stäbe  des  getriebenen  Spei- 
chenrades eingreifen  und  dieses  somit  in  eine  gleichförmige  Umdrehung  versetzt  wird. 
Bei  der  Einrichtung  in  Fig.  45  sind  die  Nuthen  in  wellenförmigen  Kurven  am  Mantel 
herumgelegt.  Figur  46  zeigt  dagegen  eine  Zickzacknuth,  die  in  einem  Gange  um  den 
Fig.  47.  Mantel  gelegt  ist.     Das  getriebene  Rad  erhält  dadurch  eine  fort- 

schreitende Bewegung  mit  kleinen  Ruhe-  und  Rückgangsintervallen. 
—  Bei  Figur  47  und  48  will  Leonardo  durch  das  Rad  direkt  ein 
Werkzeug  bewegen,  und  zwar  versieht  er  die  obere  und  untere 
Kante  des  Mantels  3  in  Fig.  00  mit  scharf  absetzenden 
Zähnen,  deren  Gipfelpunkte  in  der  Parallelen  zur  Treib- 
axe  und  in  einer  Linie  liegen.  Diese  Zähne  werden  be- 
rührt unten  und  oben  von  den  Armen  einer  Zange,  deren 
Maul  und  Arbeitsbacken  nach  aufsen  gestellt  sind.  Federn 
drücken  die  Hebelarme  mit  dem  Maul  zusammen  und 
wirken  dadurch  auf  die  Griffe  der  Zange  und  bewirken,  dafs  dieselben  stets  auf  der 
Kante  der  Mantelzähne  schleifen.  Befinden  sie  sich  auf  den  Höhen  der  korrespondiren- 
den  Zähne,  so  erfolgt  ein  Oeffnen  der  Zange,  gleiten  sie  zum  Fnfs  der  Zähne,  so  erfolgt 
durch  Wirkung  der  Federn  plötzlicher  Schlufs  der  Backen.  In  der  Figur  48  ist  blofs 
ein  Zahnausschnittskranz  des  Rades  vorgesehen  zur  direkten  Bewegung  eines  schweren 
Schmiedehammers.  —  Alle  diese  Räder  mufs  man  sich  vorstellen  als  auf  einer  Turbinen- 
achse aufgesetzt;  Leonardo  zeichnet  ein  horizontales  Wasserrad  unter  Fig.  48  unmittel- 
bar darunter.  —  In  Fig.  49  begegnen  wir  der  allerdings  interessantesten  Idee.  Leonardo 
denkt  hier  an  ein  hyperbolisches  Schraubenrad  oder  eine  von  Nuthen  in  Spiralkurven 
umzogene  Hyperboloide  als  Radform.  Die  Kurve  der  Hyperboloide  ist  hierbei  durch  den 
Kreis  bestimmt,  welchen  die  Umdrehung  des  getriebenen,  vierarmigen  Rades  zur  Um- 
ürehung  verlangt,  während  der  Gedanke  des  Leonardo  den  unteren  ankommenden  Flügel 


73 


von  dem  Anfang  der  Nuth  erfassen  läfst,    in  demselben  Moment,  wo  der  obere  Flügel 
die  Kurvennuth   verläfst.    Mir  scheint,    dafs  Leonardo  die  unmmittelbar  unter  Fig.  49 
Fig.  49.  Fig.  50.  Fig.  51.  Fig.  52. 


#r^ 


Fig.  55. 


folgende  Fig.  50   nur  angegeben   hat  zur  näheren   Berechnung   der  Kurven   auf  den 
Flächen  des  Hyperboloids;    es  stimmen  die  Gänge  und  die  Lage  derselben  überein.  — 
Fig.  53.  Fig.  54.  In  Fig.  51  ist  ein  Eingriff  eines  Zahn- 

rades in  ein  Drehlingsrad  auch  als  kegel- 
förmiges Stabrad  gedacht,  während  der 
Drehling  ebenfalls  Kegelrad  ist.  In  der 
kleinen  Skizze  Fig.  52  denkt  Leonardo 
zunächst  an  ein  Zahnrad,  mit  welchem 
ein  in  schräger  Ebene  dazu  wirkendes  getriebenes  Rad  zusammen- 
arbeitet. Augenscheinlich  beschäftigt  Leonardo  in  dieser  Skizze  der 
Gedanke  an  eine  schräge  Verzahnung,  die  er  dann  in  den  folgenden  Figuren  53  u.  54 
zur  Bewegung  einer  Schnecke  ausführt,  in  einer  Art  von  Hyperbelrädern. 

In  Fig.  55  gibt  Leo- 
nardo seine  Idee  über  die  Be- 
nutzung des  Friktionskegelbe- 
triebes. 

Er  denkt  in  einer  andern 
ähnlichen  Skizze  an  den  Betrieb 
i  i^pi  unutfVon  (jre|  stehenden  Kegelrädern, 
welche  zusammen  mit  einem  hän- 
genden arbeiten. 

Die     folgende      Gruppe 
(Fig.  56,   siehe  umstehend)   von 
Mechanismen     zeigt    die    ersten 
Anfänge    und    Studien    zu    den 
Kegelrädern      in      Figur      7 
und  8.    Fig.  8  ist  offenbar  nur  eine  Untersuchungsfigur,  um  etwa  die  Umgangsverhält- 
nisse der  in  Fig.  7  dargestellten   drei  Scheiben   des   Kegelrades   klar   zu  machen.    Ein 
sonderbares    aber   zu  den  fiachkonischen  Rädern  gehöriges  Räderpaar  ist  in  Fig.  5  dar- 

10 


dSb 


gestellt.  Die  Zähne  haben  dabei  im  Durchschnitt  die  Gestalt  eines  rechtwinkligen  Drei- 
ecks, dessen  gröfsere  Kathete  in  die  Ebene  des  Hades  fällt.  Aufserordentlich  vertraut 
ist  Leonardo  mit  den  Schraubenrädern.  Auf  der  angeführten  Tafel  364  behandelt  er  die 
durch  Schraube  ohne  Ende  getriebenen  Zahnräder  unter  rechtwinklig  geschränkten  Achsen 
wie  ein  ganz  geläufiges  Konstruktionsmittel,  und  so  auf  einer  grofsen  Anzahl  anderer 
Blätter  und  in  vielen  Maschinenkonstruktionen.  So  benutzt  er  eine  Anordnung,  wie 
Fig.  1  zeigt,  ziemlich  oft,  sogar  bei  dem  Bewegungsmechanismus  eines  Flugapparates. 

Bei  einer  Maschine  zur  Streckung  des  Eisens  benutzt  Leonardo  Schraubenräder 
zur  Uebertragung ,  bei  welchen  die  Schraube  ohne  Ende  dreimal  eingeschaltet  ist.  Bei 
derselben  ist  auch  ein  getriebenes  Zahnrad  mit  Schraubenmutter  im  Zentrum  versehen, 
welche  die  mit  Schrauben  ganz  versehene  Zugstange  voranzieht.  Bei  dieser  Gelegenheit 
gibt  Leonardo  zugleich  eine  Berechnung  der  Bewegungsübersetzung  bis  auf  die  Walz- 
scheibe vom  Wasserrade  her. 

Die  intermittirende ,  aussetzende  Bewegung  sucht  Leonardo  häufig  und  auf 
verschiedene  Weise  zu  erreichen.  Hierzu  dienen  ihm  Daumenwalzen  vorzugsweise,  so- 
dann Mechanismen,  wie  bereits  oben  abgebildet.  Auf  vorstehender  Gruppe  in  Fig.  11 
gibt  Leonardo  noch  eine  andere  Anordnung. 


75 


Die  Zahnräder   behandelt  Leonardo    ebenfalls   sorgfältig,    und   dafs   er   nach 
Zahnformen   gesucht   hat,    davon   zeugen   die   Skizzen   2,   3,   4   und   andere.     Höchst 
Fig.  57.  interessant  sind  seine  Räder  mit  schräger  Verzah- 

nung, sowohl  bei  konischer,  als  cylindrischer  Grund- 
form (Fig.  57).  Es  sind  dies  auch  die  ersten  Beispiele 
von  Hyperbelrädern.  Leonardo  hat  dieselben  recht- 
winklig zur  Uebertragung  von  Bewegung  benutzt 
und  dabei  den  Trieb  selbst  mit  schräger  Verzahnung 
versehen.  —  Die  Zahnformen  haben  im  allgemeinen  bei  Leonardo  eine  viel  gefälligere 
und  zweckmässigere  Form,  als  bei  den  späteren  Illustrationen  hervortritt. 

Hin  -  und  hergehende  Bewegungen  erzeugt  Leonardo  theils  mittelst  Kurbeln 
und  Zugstangen,  theils  durch  Nuthen  und  Stifte.  Eine  solche  gleitende,  alter- 
nierende Bewegung  eines  Pumpenkolbens  ist  durch  eine  Kurvennuth  in  Fig.  9  darge- 
stellt, zugleich  ein  sehr  interessantes  Beispiel  für  Pumpenkonstruktion.  Eine  gröfsere 
Anwendung  der  Nuth  zeigt  auf  dem  Mantel  einer  grofsen  cylindrischen  Scheibe  acht 
Zickzackkurven,  in  welche  der  Gleitstift  eines  Mechanismus  einragt. 

In  Fig.  58  und  59  sind  die  Stell-  oder  Klinkräder  dargestellt,  deren  sich  Leo- 
nardo bei  der  Bewegung  der  Seilwinden  bediente,  theilweis  um  direkt  Seile  auf  die  Achse 


Fig.  58. 


Fig.  59. 


dieser  Räder  aufzuwinden,  theilweise,  um  durch  die  Bewegung  der  mit  Schraubengängen 
versehenen  Achse  eine  Mutter  heranzuziehen,  an  welcher  mittelst  Ring  und  Tauen  die 
Lasten  befestigt  sind.  Sehr  zweckdienlich  sind  hierbei  die  mit  innerem  Zahnkranz  ver- 
sehenen, eine  volle  Scheibe  auf  der  Achse  mit  zwei  diametral  gegenüberstehenden  Ein- 
griffklinken umfassenden  Bügelscheiben  mit  Hebel. 

In  einer  Zeichnung  des  Räderwerkes  einer  Uhr  wendet  Leonardo  zwei  Steigräder 
an,  deren  Zähne  um  1/2  verstellt  sind,  eine  oszillirende  Hemmung  greift  in  diese  Zähne 
ein.  (Die  Uhr  ist  übrigens  mit  Doppelwerk.)  Die  Anwendung  von  Riemen  und  Riemen- 
scheiben findet  sich  in  Leonardo's  Entwürfen  seltener  vor.  —  Bewegungsübertragung 
durch  Zahnstangen  finden  sich  ebenfalls  vor,  zumal  bei  Uhrwerken. 

10* 


76 


Fie-  60-  Sehr   interessant   ist   Leonardo's   Bekanntschaft   mit   dem 

Universalgelenk,  für  das  bisher  Cardanus  als  früheste  Quelle 
angegeben  wurde.  Wir  geben  die  Zeichnung  davon  in  Fig.  60.*) 
Von  Kuppelungen  finden  wir  bei  Leonardo  die  in  Gruppe  Fig.  56 
als  Fig.  10  dargestellte.  Sonst  hat  er  die  Kuppelung  auch  wohl 
durch  Scheiben  mit  Verzahnung  bewirkt. 

Sehr  vielfach  wendet  Leonardo  Kurbeln  an,  sowohl  an 
den  Enden  der  Welle,  als  auch  in  dieselben  eingeschaltet. 

Die  Lage  der  Wellen  mit  ihren  Scheiben  horizontal,  geneigt 
und  vertikal  bildet  den  Gegenstand  einer  besonderen  Betrachtung 
des  Meisters.  — 

Diese  Uebersicht  wird  bereits  zur  Genüge  zeigen,  dafs  Leonardo 
die  Elemente  des  Maschinenbaues  in  einer  für  seine  Zeit  weit  vorgeschrittenen  Weise  kannte. 
Wir  führen  nun  weiter  an  von  seinen  Maschinen: 

1.  Maschine  zum  Ausziehen  (Walzen,  Profiliren)  von  Eisenstäben.  Diese  im 
Codex  Atlanticus  foglio  2  von  einer  schönen,  deutlichen  Figur  begleitete  Darstellung 
zeigt  aufs  Neue,  wie  eingehend  Leonardo  studirte. 

Leonardo  hatte  die  Aufgabe,  die  nach  damaliger  Fabrikationsart  der  Kanonen- 
läufe aus  Eisenstäben  notwendigen  Eisenstäbe  in  einem  Profil  herzustellen,  so  dafs  die 
aneinander  gefügten  Stäbe  den  runden  Lauf  zusammensetzten,  und  nun  geeignet  ver- 
bunden (zusammengeschweifst)  werden  konnten.  Um  die  Stäbe  in  dieser  Weise  auszu- 
ziehen, benutzt  er  einen  Mechanismus,  der  von  einer  Turbine  (Reaktionsrad  (retrecine) 
der  damaligen  Mode)  getrieben  wird.  Die  Turbine  enthält  am  obern  Theil  ihrer  Welle 
ein  Schneckenrad,  welches  rechts  in  ein  festgestelltes  vertikales  Zahnrad  eingreift,  links 
aber  ein  mit  seiner  Welle  festverbundenes  Zahnrad  treibt,  welches  weiterhin  durch  eine 
stehende  Zwischenwelle  mit  Schnecke  die  Bewegung  und  Kraft  auf  eine  schwere,  starke 
Achse  überträgt,  die  am  andern  Ende  eine  Scheibe  enthält,  welche  die  Profilirungsscheibe 
der  Eisenstange  sein  soll.  Diese  Profilscheibe  ist  mit  einer  Art  Spiralkurve  umzogen, 
deren  Gestalt,  Höhe,  Bogensteigung  etc.  genau  berechnet  ist.  Das  obenbesagte  rechts 
von  der  Turbinenwelle  getriebene  Rad  enthält  im  Mittelpunkte  eine  Schraubenmutter, 
durch  welche  eine  der  Länge  der  auszuziehenden  Eisenstange  entsprechende  Schrauben- 
spindel hindurchläuft.  Bei  Drehung  des  übrigens  festgestellten  Rades  wird  also  die  sich  nicht 
drehende  Schraubenspindel  bewegt.  Diese  Spindel  enthält  am  andern  Ende  eine  Klaue, 
in  welcher  die  Eisenstange  befestigt  wird.    Die  Eisenstange   ist  von  Rollen   unterstützt 

*)  Dafs  Fig  60  ein  Universalgelenk  darstellen  soll,  bleibt  zu  bezweifeln,  da  das  eigentliche 
Zapfenkreuz,  an  welches  die  beiden  Wellen  je  mit  einer  Gabel  angreifen,  fehlt.  Willis  gibt  in  der 
neuen  Auflage  seiner  Princ.  of.  mechani=m.  übrigens  den  Nachweis,  dafs  Cardano  nur  anführt,  er  habe 
in  dem  Hause  eines  Freundes  jene  Vorrichtung  gesehen,  sowie  dafs  Vilars  de  Honecort,  ein  Architekt 
des  XIII.  Jahrhunderts,  die  Aufhängung  einer  Lampe  oder  eines  Kohlenbeckens  in  den  von  uns  soge- 
nannten Cardanischen  Ringen  bereits  kennt  und  zwar  ausführlich  beschreibt.  Die  Red. 


77 

und  bewegt  sich  unter  der  Profilscheibe  durch,  indem  sie  gegenüber  dieser  ein  festes 
eingesenktes  Formlager  mit  Profilseite  erhält.  Die  Profilscheibe  ist  schwer,  prefst  das 
Eisen  mächtig  an.  Leonardo  berechnet  sowohl  die  Last,  als  auch  die  Kraft,  welche 
nothwendig  an  der  Mutter  der  Ziehscheibe  thätig  sein  mufs,  um  das  Eisen  unter  de» 
Faconwalze  durchzuziehen,  und  kommt  zu  genauen  Resultaten.  Er  beschäftigt  sich  so- 
dann mit  andern  Profilen  und  theilt  mit,  in  wie  vielen  Operationen  das  Ausziehen  der- 
selben zu  machen  sei,  und  auf  einer  Reihe  von  Tafeln  sehen  wir  ihn  immer  wieder  mit 
der  Lösung  dieses  Problems  beschäftigt.  Man  achte  aber  darauf,  dafs  er  uns  auf  der 
betreffenden  Tafel  nicht  blos  die  Profilscheibe,  nebst  Auffindung  der  Kurve  für  deren 
Mantelfläche,  sowie  das  unbewegliche  Matrizengegenlager  gibt,  sondern  er  lehrt  auch 
zugleich  seinen  Apparat  kennen,  mit  welchem  er  das  Werkzeug  und  die  Matrize  herstellt, 
nämlich  eine  Maschine  mit  konischer  Smirgelwalze  und  mit  Lager  zur  Aufnahme  der 
Scheibe  vielleicht  (die  durchgehende  Welle  nicht  als  Schraubenwelle  bestimmt  ausgelegt, 
obgleich  bei  der  zahlreichen  Anwendung,  die  Leonardo  davon  macht,  dies  fast  gestattet 
sein  dürfte),  an  einer  Schraubenspindel  bewegt  und  an  der  Smirgelwalze  hingeführt. 

Bei  dieser  Beschreibung  führt  Leonardo  seine  Elementi  macchmali  an  und  ver- 
weist bei  Berechnung  der  Kraft  eines  Maschinentheils  auf  den  zweiundzwanzigsten  Fall 
derselben.  Es  läfst  sich  also  wohl  voraussetzen,  dafs  Leonardo,  sowie  für  die  Hydrosta- 
tik so  auch  für  die  Maschinenlehre  Gesetze  präzisirt  und  aufgestellt  hatte.  Er  sagt: 
Le  quali  potenza  sono  vere  come  e  provato  nella  13  a  del  ventiduesimo  delli  elementi 
macchinali  da  me  composti.  Er  sagt  bei  der  Erklärung  der  Radberechnung:  „Wenn 
du  nicht  die  Zahl  (Zähnezahl)  der  Räder  multipliziren  willst,  so  multiplizire  ihre  Gröfse, 
das  macht  dasselbe."  Ferner  steht  folgender  Rathschlag  für  die  Maschinenkonstruktion 
da:  „Sei  eingedenk,  alle  Glieder  der  Instrumente  gleich  oder  gröfser  (d.  h.  stärker)  zu 
machen  als  die  Kraft  des  Motors."  Ferner:  „Weil  ohne  Erfahrung  eine  richtige  Kennt- 
nifs  der  Kraft  sich  ergeben  kann,  mit  welcher  das  auszuziehende  Eisen  seinem  Trafilator 
widersteht,  habe  ich  in  dem  fraglichen  Theile  vier  Räder  durch  Schrauben  ohne  Ende 
gemacht,  von  denen  Jedermann  den  Beweis  hat  durch  Anzeichnung  ihres  Grades,  welche 
Kraft  diese  Kombination  hat."    (Hier  folgt  obiger  Hinweis  13.  XXII.) 

2.  In  Beckmann's  Beiträgen  zur  Geschichte  der  Erfindungen  und  in  Poppe's 
Geschichte  der  Technologie  und  an  anderen  Orten  heifst  es,  dafs  Bohrmühlen  oder 
Mühlen  zum  Bohren  hölzerner  Röhren  schon  im  16.  Jahrhundert  bekannt  waren,  und 
zwar  verweisen  alle  diese  Schriftsteller  auf  Felix  Fabri,  Historia  Suevorum.  Derselbe 
erzählt  von  einer  Bohrmühle  in  Ulm.  Da  Fabri  schon  1502  starb,  so  existirte  diese 
Bohrmühle  also  schon  1500.  Kein  bekanntes  Werk  der  damaligen  Zeit  enthält  eine  Ab- 
bildung dieser  Maschine  (Fig.  61),  erst  spätere  Werke  bringen  eine  solche.  Karmarsch 
berücksichtigt  in  seiner  Geschichte  der  Technologie  weder  diese  Fabri'sche  Mittheilung 
noch  aber  spätere  Konstruktionen  und  erwähnt  nur,  dafs  man  im  vorigen  Jahrhundert 
solchn  Handbohrmaschinen    gehabt   habe.    Es  fällt  dies  etwas  auf,   da  Karmarsch  sonst 


78 

Poppe  und  Beckmann  oft  benutzt.  Der  erste  bisher  bekannte  Schriftsteller,  welcher 
Bohrmühlen  abbildet  und  beschreibt,  ist  Georg  Andreas  Böckler.  In  seinem  Theatrum 
machinarum  novum  von  1661  befindet  sich  eine  solche  in  Kap.  LXXXVI,  in  seinem 
Theatr.  mach,  novum  von  1673  stellt  er  zwei  Bohrmühlen  dar.     Leupold   gibt    später 

Fig.  61. 


(1724)  in  seinem  Theatrum  Machinarum  Hydrotechnicarum  in  Kap.  5,  6  und  12  Abhand- 
lungen von  Bohrern  und  Bohrstühlen.  Metallbohrmaschinen  waren  1720  in  Gebrauch 
gekommen.  Von  einer  Bohrmaschine,  um  Brunnenrohre  zu  bohren,  finden  wir  aber  eine 
Zeichnung  von  Leonardo's  Hand  aufbewahrt,  —  somit  die  älteste  Zeichnung  dieses  Genres 
Maschinen.  Wir  geben  dieselbe  vorstehend  in  Abbildung.  Leonardo  starb  1510;  seine 
technologischen  Studien  fallen  hauptsächlich  in  die  Jahre  1480  bis  1506.  Nun  liefse 
sich  zweierlei  aus  Fabri's  und  Leonardo's  Aufzeichnungen  schliefsen:  Erstens,  dafs 
Leonardo  diese  Bohrmaschine  selbst  entworfen  und  ausgeführt  habe,  und  dafs  dieselbe 
von  Norditalien  nach  Nürnberg,  wie  um  jene  Zeit  so  vieles,  verpflanzt  ward,  oder  zweitens, 
dafs  die  Bohrmaschine  zu  Leonardo's  Zeit  gar  nichts  Seltenes  war,  als  man  anzunehmen 
bisher  geneigt  war.  Ueberhaupt  ist  die  gewöhnliche  Annahme,  dafs  vor  Galilei's  Zeit 
die  Technik  und  die  mechanischen  Wissenschaften  in  einem  Stadium  der  Stagnation  sich 


79 

befunden,  das  seit  Jahrhunderten  andauerte,  nicht  mehr  haltbar,  nachdem  neuere  For- 
schungen gezeigt  haben,  dafs  jene  Zeit  nicht  arm  an  Entwicklung  und  Fortschritt  war. 

Die  Maschine  zum  Bohren,  welche  Leonardo  auf  fol.  78.  uns  darstellt,  und  die 
ich  in  Facsimileskizze  wiedergebe  (mit  von  mir  eingeschriebenen  Buchstaben),  entspricht 
nicht  nur  Poppe's  Beschreibung  der  früheren  Bohrmühlen  („Der  Bohrer  wird  durch  eine 
Welle  in  Umlauf  gesetzt  und  der  zu  bohrende  Baum  rückt  ihm  auf  einem  sogenannten 
Wagen  oder  Schlitten  immer  mehr  entgegen"),  sondern  die  Details  zeigen,  dafs  Leo- 
nardo's  Maschine  ziemlich  vollkommen  eingerichtet  war.  Auf  einem  kräftigen  Gestell 
ist  im  Gerüst  d  die  Bohrwelle  g  mit  Bohrer  b  eingelegt,  der  am  Ende  durch  einen 
Führer  unterstüzt  geleitet  wird,  a  ist  der  zu  durchbohrende  Baiwn,  der  in  eine  Art 
Klemmfutter  genau  eingespannt  ist.  Dasselbe  besteht  aus  zwei  Ringen  c,  durch  welche 
2x4  Schraubenbolzen  hindurchgehen  und  mit  ihren  Enden  n  gegen  a  drücken.  Diese 
Schraubenbolzen  sind  mit  Muttern  c  versehen  und  durch  Bügel  festgestellt.  Wie  es 
scheint,  sind  die  vier  Schraubenmuttern,  die  am  Mantel  gezahnte  Cylinder  sind,  mittelst 
des  eingreifenden,  an  einer  Kante  verzahnten  Ringes  p  zugleich  zu  dreheD.  Diese  Ein- 
spannvorrichtung ist  auf  einen  Schlitten  o  o  gesetzt,  der  unterhalb  durch  eine  Schrauben- 
welle e  bewegt  wird.  —  Diese  von  Leonardo  vorgeführte  Maschine  sticht  gegen  Skizzen 
derjenigen  Bohrvorrichtungen,  die  noch  heute  in  kleinen  Orten  zum  Brunnenrohrbohren 
Anwendung  finden,  sehr  vortheilhaft  ab.  Die  Einsteilvorrichtung  erweist  sich  in  der 
That  sinnreich  und  wohl  durchdacht. 

3.  Hobelmaschine.  Karmarsch  setzt  als  die  ersten  Hobelmaschinen  die  Ver- 
suche des  Focq  1770  und  Crillon  1809,  einen  wirklichen  Hobel  durch  einen  Mechanismus 
in  Bewegung  zu  setzen,  hin,  welche  jedoch  keinen  Erfolg  hatten.  Die  Figur  zeigt  es  nun, 
dafs  Leonardo  eine  Hobelmaschine  nach  ähnlichem  Grundsatz  zu  konstruiren  unternahm. 

Fis-  62-  Wir  wollen   uns 

gern  bescheiden, 
dafs  diese  Erfin- 
dung des  Leo- 
nardo keinen  Er- 
folghatte,—  aber 
konstatirt  mufs 
werden,  dafs  er 
in  der  beigefüg- 
ten Skizze  den 
Versuch  machte. 
(Fig.  62.) 

4.  Sägema- 
schine. Diese  so- 
wohl wie  die  Hobelmaschine  gibt  Leonardo  von  mancherlei  Details  begleitet.    Dieses  Gatter 


80 

gibt,  trotz  seiner  Unvollkommenheit,  doch  ebenfalls  Nachricht  davon,  dafs  man  die  Bewegung 
der  Sägen  mechanisch  schon  damals  versuchte.  Wir  können  auch  nicht  umhin  zu  erwähnen, 
dafs  wir  in  Lodi  eine  Säge  fanden,  welche  seit  langen  Jahren  an  einem  Kanal  belegen 
ist,  der  Leonardo's  geistreichen  artesischen  Quellenbrunnen  seine  Entstehung  verdankt, 
und  heute  noch  die  Gestalt  zeigt,  welche  uns  Leonardo  von  einer  Säge  skizzirt.  — 

5.  Steinsäge.  Wir  haben  darüber  bereits  oben  referirt  und  eine  Abbildung 
der  bezüglichen  Tafel  gegeben. 

6.  Feilenhaumaschine.  Ursprünglich  war  die  Feilenhauerei  deutsche  Kunst, 
und  Nürnberg  stand  dafür  im  15.  Jahrhundert  in  Ansehen,  seit  1618  begann  England 
in  Sheffield  dieses  Handwerk,  und  zwar  mit  so  hohem  Erfolg,  dafs  die  englische  Feilen- 
fabrikation bis  zum  Anfang  dieses  Jahrhunderts  dominirte.  Karmarsch  sagt,  dafs  seit 
mehr  als  einem  Jahrhundert  zahlreiche  Versuche  zur  Konstruktion  einer  Feilenhauma- 
schine gemacht  seien,  und  führt  nach  anderen  Quellen  an,  dafs  Duverger  schon  vor  1735 
die  erste  Feilenhaumaschine  entworfen  habe.  Diese  Angabe  ist  insofern  ungenau,  als 
Duverger  bereits  1699  diese  Maschine  entwarf  und  der  Akademie  präsentirte,  und  als 
die  Beschreibung  derselben  bereits  1702  im  Journal  des  savants  zu  finden  ist.  Allein, 
wie  nun  Leonardo  da  Vinci's  Manuskripte  lehren,  so  ist  Duverger  nicht  der  erste,  son- 
dern wir  sehen,  dafs  Leonardo  eine  Feilenhaumaschine  entworfen  hat,  und  zwar  vor  1505. 
Die  Zeichnung  (Fig.  63)  ist  in  allen  Theilen  sorgsam,  und  alle  Details  sind  vorhanden; 
in  den  verschiedenen  Entwürfen  von  Hammerköpfen  finden  wir  den  grübelnden  Tech- 
niker wieder.  Leonardo  beabsichtigte  die  Maschine  von  der  Kurbel  und  Menschenkraft 
unabhängig  zu  machen.  Es  soll  ein  Gewicht  mittelst  Taues  die  Hauptwelle  in  Bewegung 
setzen,  letzteres  so  lang,  ersteres  so  hoch  herabkommend,  als  im  Verhältnifs  zu  der 
Länge  der  zu  hauenden  Feile  nöthig. 

Wenn  bei  irgend  einer  Maschine,  so  bewahrheitet  sich  bei  dieser  das  Wort  des 
Leibnitz,  das  wir  oben  anführten;  in  der  That  haben  wir  die  Feilenhaumaschine  noch 
nicht  viel  über  den  in  Leonardo's  Skizze  sichtbaren  Standpunkt  hinausgebracht. 

7.  Spinnmaschine.  Leonardo  da  Vinci  hat  sich  mehrfach  mit  Entwurf  und 
Konstruktion  von  Spinnapparaten  befafst.  Aus  allen  seinen  Entwürfen  und  Bemerkungen 
geht  hervor,  dafs  er  das  Hauptgewicht  auf  die  Bewegungsverhältnisse  der  Spindel  und 
Spule  legte.  Alle  seine  Zeichnungen  geben  die  Spindel  in  horizontaler  Anordnung  und 
mit  einem,  genau  wie  unsere  modernen  Vorspinnflügel  geformten  Flügel  fest  verbunden. 
Ferner  stellt  er  die  Spule  fest  und  läfst  die  Spindel  seitlich  sich  verschieben.  Leonardo 
sucht  auch  die  Geschwindigkeiten  zwischen  Spule  und  Spindel  in  Einklang  zu  bringen 
und  ordnet  daher  für  jede  einzelne  eine  Bewegungsübertragung  an.  Seine  klarste  Zeich- 
nung haben  wir  hier  im  Durchschnitt  wiedergegeben  und  möglichst  an  das  Original  an- 
schliefsend  (das  wir  leider  nicht  durchzeichnen  durften). 

In  der  Zeichnung  (Fi^  64)  ist  a  a  der  Flügel,  b  die  Spindel,  c  die  Spule,  d  die 


iz. 


Spulenwelle,  e  der  Spulenwellen wirtel,  g  der  Spindel wirtel,  i  Spindellager,  k  Wirtel  auf 
der  Spindel  für  die  Gabel  m,  welche  von  einer  oszillh  enden  Welle  her  den  Spindelwirtel 
h  umfafst  und  die  Spindel  in  eine  hin-  und  hergehende  Bewegung  versetzt,  die  für  Ver- 
keilung des  Fadens  auf  die  Spule  nöthig  ist.  Wie  trefflich  diese  Anordnung  gegenüber 
den  ersten  Spindelanordnungen  des  18.  Jahrhunderts  ist,  wird  jeder  Kenner  sofort  sehen 
Aber  die  Originalität  dieser  Konstruktion  von  etwa  1490  tritt  noch  mehr  an  das  Licht, 
wenn  wir  bedenken,  dafs  1530  erst  das  Spinnrad  von  Jürgens  auftauchte,  welches  in 
unendlich  viel  unvollkommenerer  Gestalt  mehrere  Jahrhunderte  hindurch  der  vollkommenste 
Apparat  zum  Spinnen  blieb,  dafs  ferner  zuerst  1792  und  1795  der  Engländer  Antis  eine 
Vorrichtuug  angab,  um  ein  gleich mäfsiges  Hin-  und  Herschieben  der  Garnspule  zu  bewirken 
Leonardo  hat  seine  Spinnmaschine  mit  zwei  Spindeln  gedacht,  die  horizontal  in  einem 
Gestell  so  angebracht  sind,  dafs  die  Spule  an  der  Aufsenwand  hervorragt,  ebenso  Flügel 
und  Spindel,  so  weit  nöthig.  In  der  sauber  ausgeführten  perspektivischen  Skizze  hat 
Leonardo  dem  Triebrad  für  die  Spindel  doppelte  Gröfse  gegeben,  als  dem  Triebrad  für 
den  Spulenwirtel.  Die  Wirtel  für  Spule  und  Spindel  sind  mit  Diametern  wie  1 :  l/2  Se" 
wählt.  Es  hat  somit  die  Spindel,  die  sich  in  der  Spulenrolle  als  Hülse  dreht,  eine  drei- 
mal so  grofse  Geschwindigkeit  wie  die  Spule.  Die  Scheibe  für  Bewegung  des  Spindel- 
wirtels  ist  etwa  sechs  mal  so  grofs  als  der  Spindelwirtel;  der  Durchmesser  der  Scheibe 
zur  Bewegung  der  Spule  aber  nur  doppelt  so  grofs  als  der  Spulenwirtel;  es  ergibt  sich 
daher  für  die  Spindel  (bei  Annahme  von  50  Umdrehungen  der  Hauptwelle)  eine  Um- 
drehungszahl gleich  300  und  für  die  Spule  100.  Es  kommen  somit,  da  sich  beide, 
Spindel  und  Spule,  in  gleicher  Richtung  drehen,  und  die  Spulenhülse  also  nur  V»  Um- 
drehung macht  während  einer  Umdrehung  der  Spindel,  900  Spindel  Umgänge  auf  eine 
Aufwicklung  des  Fadens.  —  Es  ist  gewifs  bemerkenswerth,  dafs  Leonardo  da  Vinci  von 
der  differirenden  Spindel-  und  Spulenbewegung  Gebrauch  machte,  wie  sie  heute  bei  den 
Kontinuemaschinen  gebraucht  wird,  und  dafs  er  die  Rotationsbewegung  der  Spindel  mit 
der  alternirenden  zu  kombiniren  verstand. 

8)  Seilspinnmaschinen.  Es  scheint,  dafs  Leonardo  für  die  Konstruktion 
von  Seilerrädern  sehr  vielfach  beansprucht  wurde.  Wer  die  mannichfaltigen  Gerüstkon- 
struktionen   des  Leonardo    durchgesehen   hat,    wird  wissen,    dafs    die  Verbindung  der 


83 


Balken  und  Bäume  durchweg  mittelst  Seilen  geschah,  zumal  bei  den  Wasserbauten. 
Ferner  waren  alle  seine  Handwerkzeuge  mit  Seilen  ausgestattet.  Dadurch  hat  er 
sicherlich  den  Anlafs  gehabt,  auf  eine  gute  Herstellung  der  Stricke  und  Taue  zu  achten. 
Seine  Seilräder  unterscheiden  sich  nun  wesentlich  durch  gute  Anordnung 
von  den  bei  uns  heute  gebräuchlichen  Seilerrädern,  so  dafs  wir  sagen  müssen, 
dafs  diese  Apparate  in  unserer  Zeit  Rückschritte  gemacht  haben.  Eine  seiner  Abbil- 
dungen zeigt  14  Spindelhaken  im  Halbkreis  aufgestellt,  jeder  mit  einem  Wirtel  versehen, 
der  von  einer  gemeinschaftlichen  Trommel  her  durch  Schnur  bewegt  wird.  Eine  zweite 
Zeichnung  gibt  3  Spindeln  an.  Am  Ende  der  Spinnbahn  ist  eine  mit  Gewicht  und  Tau 
versehene  Trommel  aufgestellt,  um  welche  Stricke  mit  Haken  genommen  werden.  Die 
Enden  der  Stricke  werden  an  den  Haken  befestigt,  und  nach  Beendigung  der  Dreherei  werden 
die  gefertigten  Längen  auf  die  Trommel  aufgewickelt. 

9)  Weberei.  Leonardo  gibt  mehrere  Skizzen  von  Webestühlen.  Leider  sind 
dieselben  sehr  undeutlich  gehalten,  so  dafs  man  dieselben  nicht  sicher  beurtheilen  kann. 
Wir  wollen  uns  nicht  so  weit  versteigen,  aus  einem  skizzirten  Webeapparate,  trotz 
einiger  ähnlicher  Momente,  einen  Vorläufer  der  Jacquardmaschine  herauszulesen. 

10)  Tuchscheermaschine.  Leonardo  gibt  zahlreiche  Skizzen  von  Tuch- 
scheermaschinen,  und  uns  ist  es  kein  Zweifel  in  Anbetracht  der  Entwicklung  und  des 
weltanerkannten  Uebergewichts  der  italienischen  Appretur,  dafs  solche  Scheermaschinen 
wirklich  ausgeführt  worden  sind.  Leonardo  konstruirt  sie  in  vielfacher  Weise.  Die 
gröfste  Anordnung  zeigt  vier  Scheertische  neben  einander  nebst  vier  Scheeren.  Diese 
Scheeren  haben    die   Gestalt    der  alten  Tuchscheeren.    Leonardo  bemüht  sich,  das  eine 


Fig.  65. 


oder  beide  der  Blätter  der  Scheeren  zu 
bewegen,  und  wende*  abwechselnd  Kurbeln, 
Doppelkurbeln,  Daumenräder,  Federn  u.  s. 
w.  an.  Eine  kleinere  Figur,  bei  welcher 
der  Mechanismus  in  einem  Kasten  ver- 
schlossen ist  und  nur  die  Scheere  auf  dem 
Scheertisch  freiliegt,  ist  unterschrieben  mit: 
Modo  di  occultare  il  secreto  del  primo 
motu,  als  ob  Leonardo  Nachahmungen  be- 
fürchtet habe!  —  Den  mechanisch  am  wei- 
testen gehenden  Entwurf  zeigt  Fig.  65.  — 
Bei  demselben  ist  der  Scheertisch  in  einen 
rotirenden  Zylinder  verwandelt,  während 
die  Scheere  festliegt,  —  eine  andere  Lösung 
der  kontinuirlichen  Scheermaschine,  als  wir 
sie  jetzt  besitzen.  — 

11* 


84 


Bekanntlich  wollte  Alcan  nachweisen,  dafs  Leonardo  eine  Longitudinalscheer- 
maschine  erfunden  habe,  aber  Mr.  Alcan  hat  sich  arg  getäuscht  und  eine  Federzieh- 
maschine für  eine  Tuchscheere  genommen.  —  Unberechtigt  ist  aber  Karmarsch's  Ur- 
theil*)  über  die  Skizze  der  Leonardo'schen  Scheermaschine,  „die  er  eine  oberflächliche 
und  naive  Skizze  nennt,  dafs  man  eine  danach  gemachte  Ausführung  nicht  wahrscheinlich 
finden  könne"  —  ungefähr  das  Gegentheil  mufs  derjenige  annehmen,  welcher  sich  mit 
Leonardo's  Arbeiten  und  der  Geschichte  der  Gewerbe  in  seiner  Zeit  beschäftigt  hat.  Die 
späteren  ersten  Scheermaschinen  von  Everett  1758  und  1759  sind  unseres  Erachtens 
viel  unvollkommener  als  die  des  Leonardo.  Von  den  Scheeren  des  Harmar  (1794) 
und  des  Douglas  (1802)  gibt  Karmarsch  selbst  zu,  dafs  sie  dem  Wesen  nach  dieselben 
Konstruktionen  wie  die  von  Leonardo  da  Vinci  seien. 

11)  Waschmaschine.  Auf  demselben  Blatt,  wo  die  gröfste  Scheermaschine  steht, 
istauch  eine  Waschmaschine  mit  2  Walzen  zugefügt.  Leonardo  schreibt  selbst  daneben  „Bono". 
Sie  hat  ihm  also  selbst  gefallen.    Leider  ist  diese  Zeichnung  unklar  und  flüchtiger  als  andere. 

12)  Kalander.  Im  Codex  Atlanticus  ist  eine  Figur  enthalten,  welche  in 
kräftigem  Gestell  zwei  Walzen  von  grofsem  Durchmesser  enthält,  auf  deren  oberste  ein 
herabzulassender,  schwerer  Halbkreis  herabgesenkt  wird,  der  verschiedene  Rollen  auf 
den  oberen  Cylinder  drückt.  Leider  fehlt  der  Text  hierzu,  durch  den  es  nur  möglich 
sein  würde,  die  Bestimmung  dieser  Maschine  genauer  einzusehen. 

13)  Töpferscheibe  mit  von  oben  einzusetzendem  Formmodel  für  verschiedene 
Profile. 

Fig.  66,  14)    Federhammer.      Die    Zeichnung 

dieses  Instrumentes  würde  unserer  Zeit 
Ehre  machen.  Sie  läuft  dem  Leonardo  da 
Vinci  so  mit  unter  bei  Gelegenheit  der  Kon- 
struktion eines  Getriebes  für  einen  all- 
hammer.  Fig.  66.  —  Die  Feder  scheint 
hierbei  von  besonderer  Konstruktion.  — 
Hierbei  wollen  wir  gleich  anführen,  dafs  Leo- 
nardo sich  bemühte,  die  Schmiedehämmer 
selbstthätig  herzurichten. 
16)  Maschine  zum  Ziehen  der  Metall  federn.  Leonardo  hat  hierfür  eine 
Reihe  Entwürfe,  9  gröfsere  Figuren  entworfen,  von  denen  wir  in  Fig.  67  die  beste  und 
deutlichere  beibringen.  Die  Idee  ist  die,  mittelst  Tau  und  Zange  /,  g,  h  die  Feder  e 
durch  die  Presse  c,  d  zu  ziehen.  Es  geschieht  das  mit  Hülfe  der  Kurbel  b  und  des 
Zahnrades  a,  auf  dessen  Achse  auch  die  Zugscheibe  des  Seiles  sitzt.  i  ist  die  Stell- 
schraube für  die  Presse.    Die  übrigen  Figuren   zeigen   noch  weitere  Betrachtungen,  die 


*)  Karmarsch,  Geschichte  der  Technologie.    Pag.  727. 


85 


FiS-  67-  nicht  ganz  klar  werden.  —  Aus 

der  angegebenen  Figur  aber  wird 
man  die  Idee  unserer  Ziehbänke 
für  Draht  sehr  genau  wieder- 
finden, die  aus  dem  14.  Jahr- 
hundert nachweislich  stammt,  — 
ein  Beispiel  von  dem  Alter  ge- 
brauchter maschineller  Vorrich- 
tungen. 

17)  Hebezeuge.  Leonardo 
machte  nicht  nur  den  ausgedehntesten  Gebrauch  von  Flaschenzügen,  Rollenkombi- 
nation, Schraubenhebel  u.  s.  w.,  sondern  er  konstruirte  Hebevorrichtungen,  welche 
den  Namen  „Maschinen"  vollständig  verdienen.  Im  Codex  Atlanticus  finden  wir 
unter  anderem  eine  Winde  mit  Zahnstange.  Die  Zahnstange  wird  durch  zweiseitig 
angebrachte  Getriebe  auf  und  ab  bewegt,  während  sie  unten  die  Last  trägt.  Sehr 
ausgebildet  sind  seine  Krane.  Ein  solcher  (auf  fol.  48  C.  A.)  ist  sowohl  fahrbar 
auf  einen  kleinen,  schweren  Rollwagen  gestellt,  als  auch  um  seine  Vertikalachse  voll- 
kommen drehbar.  Der  Aufzug  wird  durch  ein  Tau  bewirkt,  welches  auf  eine  Welle 
sich  aufwindet,  die  durch  ein  kleines  Getriebe  und  grofses  Stirnrad  umgedreht  wird. 
Das  kleine  Getriebe  erhält  seine  Bewegung  durch  Kurbel.  Eine  Stufenreihe  am  Säulen- 
baum ermöglicht  ein  Besteigen  des  Krans,  der  mittelst  starker  Seile  festgestellt  wird. 
Eine  andere  Hebevorrichtung  ist  so  konstruirt,  dafs  auf  einem  Dreibaumgestell  von  an- 
gemessener Höhe  eine  Platte  aufgebracht  ist,  durch  welche  der  Bolzen  einer  starken 
Fig.  68  u.  69.  Schraube  hindurchgeht,  gehalten  von  der  oberhalb  bleibenden  Scheibe 
und  Mutter.  Dieser  Bolzen  ist  unten  mit  Armen  und  Klammern  ver- 
sehen, in  welche  der  zu  hebende  Gegenstand  eingehängt  wird.  Solche 
Klammern  und  Angriffvorrichtungen  sind  von  Leonardo  sehr  variirt; 
wir  geben  hier  einige  solche  in  bildlicher  Vorführung.  Fig.  68  und  69. 
Bei  allen  diesen  Apparaten  ist  eine  hebende  Bewegung  durch  Schrauben 
nach  dem  Greifen  vorgesehen.  Von  den  Winden  brachten  wir  bereits 
oben  einige  Details.  Auch  diese  Hebewerkzeuge  sind  vorzüglich  durch- 
dacht und  dürften  in  unserer  Zeit  keineswegs  übertroffen  dastehen. 
Seine  mechanische  Betrachtung  auf  fol.  52  C.  A.  über  die  Konstruktion 
ist  umgehend  durchgeführt  auf  Abwägung  der  Vertheilung  der  Last  und 
Kraft  auf  Wellen  und  Stellräder.  Er  stellt  eine  Konstruktion  mit  der 
Ueberschrift  „falso"  einer  andern  gegenüber,  mit  der  Ueberschrift  „giusto" 
und  gibt  Bemerkungen  zur  Begründung  dazu. 

18)    Im  Anschlufs  an  die  Betrachtung  unter  17)  wollen  wir  hier 


86 


kurz  bemerken,  dafs  Leonardo's  Baukonstruktionen,  von  denen  Details  überreich  in 
den  Manuskripten  zu  finden  sind,  sehr  gründlich  sind.  Er  verbreitet  sich  über  die  Ver- 
bindung der  Balken  und  Langhölzer,  er  bestimmt  die  Verbindung  der  Holztheile  mit  dem 
Mauerwerk,  er  lehrt  Gerüste  schlagen,  Brücken,  Uferschaalung  und  Schleusen  bauen, 
Kriegsvorrichtungen  errichten  u.  s.  w.  In  diesem  Theile  seiner  Manuskripte  hegt  so  viel 
Material  verschlossen,  dafs  es  gewifs  der  Mühe  werth  wäre,  dieselben  ausgiebig  zu  studiren, 
um  Leonardo  als  Baumeister  darzustellen. 

19.  Leonardo  hatte  ein  eigenes  Werk  geschrieben  über  Mühlwerke,  wie 
Lommazzo  (Trattato  della  pittura)  berichtet,  das  leider  verzettelt  worden  ist.  Es  war 
kolorirt  und  nur  wenige  Blätter  sind  erhalten.  Einige  Skizzen  von  Presswerken  und 
Mahlgängen  sind  in  seinen  Manuskripten  zerstreut  zu  finden,  so  ein  Mahlgang  mit  zwei 
horizontalen  Steinen  und  eine  Olivenpresse,  von  der  Leonardo  selbst  sagt,  dafs  sie  die 
Oliven  trocken  presse. 

20.  Mefsinstrumente  umfassen  bei  Leonardo  Skizzen  von  Dezimalwaagen 
und  andere  Waagen,  —  zu  einem  Dynamometer  (Trattato  della  pittura  148),  —  zu 
einem  Instrument,  um  die  Geschwindigkeit  des  Wassers  zu  messen,  —  zu  einem 

Fig.  70.  Fig.  71.  Modell,  um  jede  Sache  zu  messen  ; 

—  seine  Zirkel,  sein  Ovalwerk 
sind  bekannt  und  anerkannt  wor- 
den; seinen  Hygrometer  be- 
schrieben wir  bereits;  seinen 
Wegmesser  lobt  er  selbst. 
3>  Hierher  gehören  auch  seine 
Uhrwerke.  Ein  solches  stellt 
die  folgende  Fig.  70  u.  71  dar. 
In  der  Figur  deutet  oben  an 
der  Achse  der  „Palmola"  der 
nach  rechts  hinübergehende 
Faden  einen  Motor  der  Uhr  an. 
Leonardo  gibt  uns  im  Cod.  N. 
einen  Apparat  an,  der  Uhren 
bewegt.  Es  ist  das  ein  Stab 
mit  Zähnen,  die  in  Zähne  eines 
Eades  eingreifen,  und  Leonardo 
sagt  davon:  „Derselbe  Stab 
wirkt  wie  ein  Balancier  in  den 
Uhren,  d.  h.  er  wirkt  alternativ, 
bald  an  der  einen,  bald  an  der 


87 


andern  Seite  des  Rades  ohne  Unterbrechung."  Venturi  sagt  zu  der  letzten  Stelle,  dafs 
also  Atwood,  den  man  den  Erfinder  des  Balanciers  für  Uhren  nennt,  im  16.  Jahrhundert 
schon  in  Leonardo  einen  Vorgänger  gehabt,  ja  dafs  Arnault  bereits  vor  1465  einen  Ba- 
lancier beschrieb,  und  Vinci  redet  davon  allerdings  als  von  etwas  Bekanntem. 

Im  Uebrigen  bewegte  Leonardo  seine  Uhren  theils  durch  Wasser  oder  Luft 
theils  durch  besondere  Einrichtungen.  Bei  einem  der  interessantesten  Entwürfe  hat  Leo- 
nardo zwei  Blasebälge  angewendet,  deren  abwechselndes  Ausdehnen  eine  bewegliche 
Zahnstange  in  die  Zähne  der  Uhrrädchen  eingreifen  läfst,  beim  Rückgehen  aber  die  Zahn- 
stange aushebt.    Der  Mechanismus  ist  sehr  sorgfältig  gezeichnet.  — 

Was  Govi  richtig  auseinandersetzt  bei  Aufzählung  der  „Inventioni"  des  Leonardo 
ist  das,  dafs  er  behauptet,  dafs  Leonardo  das  Pendel  kannte.  Wir  haben  bereits  Ge- 
legenheit gehabt,  mehrmals  auf  diese  Thatsache  aufmerksam  zu  machen  bei  der 
Wellenbewegung,  bei  der  Darstellung  der  astronomischen  Kenntnisse  des  Leonardo  u.  a. 
a.  0.  Nun  finden  wir  aber  bei  einer  Figur,  die  ein  Perpetuum  mobile  darstellen  soll, 
folgende  Bemerkung  zu  einem  pendelartig  schwingenden  Körper,  der  seine  Bewegung 
dem  Mechanismus  mittheilen  soll:  „Questo  contrappeso  lavora  di  sopra  colla  sua  asta 
nella  intaccata  rota,  a  similitudine  dell'  asta  del  tempo  degli  orologi,  cioe  or  da  capo 
or  da  pie,  e  non  perde  mai  tempo."  Sollte  bei  solchem  Vergleich  angenommen  werden 
können,  dafs  das  Pendel  in  der  Bewegung  der  Uhren  zu  Leonardo's  Zeit  unbekannt  war? 
Wir  glauben  diese  Frage  mit  „Nein"  beantworten  zu  müssen. 

Fig.  72.  Fig.  73.  21.    Konstruktion  der  Ketten,  Leitern,  Strickleitern. 

Auch  diese  Mittel  für  mechanische  Leistungen  haben  den 
Leonardo  sehr  interessirt.  Neben  den  gewöhnlichen  Glieder- 
ketten finden  wir  bei  Leonardo  die  beiden  Kettenformen,  in 
Fig.  72  u.  73  dargestellt,  welche  man  für  gewöhnlich  dem 
Vaucanson  und  dem  Galle  zuschreibt  und  sie  auch  so  Vau- 
ca'nson'sche  und  Galle'sche  Kette  nennt.  Letztere  Spezies 
findet  bei  Leonardo  besondere  Beobachtung  und  sorgsame 
bildliche  Darstellung. 

23.   Drolligst  Leonardo's  dreibeiniges  Malerstühlchen 

zum  Zusammenlegen  für  Studien  im  Freien.  Interessant  sind 

seine  Musikinstrumente.    Pauken  bewegte  er  mechanisch. 

24.    Aufser  dem  oben  bereits  angeführten  Bratspiefsmechanismus,    von    dem  er 

sagt,  „dafs  er  um  so  schneller  gehe,  je  heifser  die  Luft  werde,  die  vom  Feuer  aufsteigt,", 

erfand  Leonardo  geeignete  Vorrichtungen   zum  Schliefsen  der  Kamine  und  Schornsteine 

und  zur  Regelung  des  Zuges. 

Es  sei  noch  der  einrädrige  Bergmannskarren  hier  vorgeführt,  dessen  Konstruktion 


«8 


Fi8-  74-  für  gewöhnlich  einer 

späteren  Zeit  zuge- 
theiltwird.  (Fig.  74.) 
26.  Hydrau- 
lische Maschinen 
und  Apparate. 
Aufser  den  oben  be- 
reits betrachteten  hy- 
draulischen Motoren 

des  Leonardo  enthalten  seine  Manuskripte  sehr  viele  Entwürfe  von  Saug-  und  Druck- 
pumpen   und    dergleichen  Apparaten,    worunter   natürlich    die    im  Mittelalter  viel    ge- 
brauchten Wasserschnecken   und    Wasserschrauben,    so    wie   Schöpfräder   nicht   fehlen. 
Fig.  75.       Unter  den  Pumpwerken  nennen  wir  zunächst  die  Kettenpumpe,  die  bei  Leo- 
nardo eine  ausgebildete  Gestalt  hat,   wie  Fig.  75  zeigt.     Bekanntlich  war 
Ö  diese  Ketten  —  oder  Gefäfspumpe  seit  dem  Alterthum  bekannt,  allein  eine  so 

vollkommene  Gestalt  der  Scheibe  rührt  doch  (wie  auch  Ewbank  Descript. 
and  Histor.  etc.  p.  156  lehrt)  erst  aus  späterem  Zeitalter  her.  —  Leonardo's 
Bestreben  ging  augenscheinlich  und  ausgesprochenermafsen  darauf  aus, 
, einen  kontinuirlichen  Wasserstrahl  zu  erzeugen  zu  Fontainen,  Spritzen 
u.  s.  w."  Er  konstruirte  daher  vorherrschend  zweicylindrige  Pumpwerke, 
die  das  Wasser  in  geschlossene  Gefäfse  einpumpten,  wo  dann  die  Luft- 
kompression das  ihrige  that.  Die  Pumpwerke  sind  theils  Kolbenpumpen, 
theils  blasebalgartige  Schläuche,  theils  Cylinder,  die  sich  ineinander  verschieben  und  mit 
ihren  Böden  wie  Kolben  wirken  und  bei  denen  der  Herabgang  durch  Bleigewichte  unter- 
stützt ist.  Eine  dieser  Pumpen  aber  mufs  unsere  Aufmerksamkeit  im  höchsten  Grade 
erregen.  Sie  trägt  die  Inschrift:  „Acqua  alzata  per  forza  di  vento."  Wie  die  Zeich- 
nung 76  darthut,  enthält  diese  Maschine  einen  runden  horizontalen  Cylinder,  der  sich 
offenbar  nicht  dreht,  denn  er  ist  durch  Bänder  am  Gestell  festgehalten,  die  über  eine 
geriefte  Fläche  gelegt  sind.  Von  diesem  Cylinder  geht  ein  Rohr  in  den  Brunnen 
hinab.  Dasselbe  enthält  nach  Leonardo's  Angaben  ein  Ventil.  Aus  dem  Cylinder  geht 
seitlich  ein  Ausgufsrohr  ab.  Dasselbe  enthält  auch  ein  Ventil  (animelli).  Ein  zweites 
projektirtes  Rohr  (wenn  das  erste  fortfällt)  ist  gerade  senkrecht  in  die  Luft  geführt. 
Wir  sehen  andererseits  eine  Welle  aus  diesem  Cylinder  herausragen,  welche  mit  einem 
Stift  versehen  ist,  der  in  einer  Nuthenscheibe  (vom  Getriebe  her  bewegt)  geführt,  der 
Welle  eine  alternirende  Bewegung  ertheilt.  Das  Spiel  der  Pumpe  ist  offenbar  so.  Die 
Welle  trägt  im  Innern  einen  dichtschliefsenden  Kolben,  geht  derselbe  nach  links,  so 
schliefst  sich  das  Ventil  im  Speirohr,  und  das  Ventil  im  Saugrohr  öffnet  sich.  Bei  Rück- 
gang des  Kolbens  schliefst  sich  das  Saugventil  und  öffnet  sich  das  Ventil  nach  aufsen, 
so  dafs  der  Kolben  das  Wasser  herausdrückt. 


«9 


Wir  haben  es  also  mit   einer  kompletten,    einfach  konstruirten    Saug -Druck- 
pumpe zu  thun  (Fig.  76). 

Fig.  76 

A 


Karmarsch  hat  die  Geschichte  der  Pumpen  in  seinem  Werke  „Geschichte  der 
Technologie"  fehlen  lassen.  Ewbank  gibt  eine  einigermafsen  ähnlich  vollkommene  Druck- 
pumpe erst  aus  dem  16.  Jahrhundert  an. 

Sodann  haben  wir  noch  zu  erwähnen,  dafs  Leonardo  eine  Zeichnung  gibt  mit  der 
Inschrift:  „Per  questa  via  si  farä  salire  l'acqua  per  tutta  la  casa  per  condotti."  Ihm 
schwebte  also  eine  Wasserleitung  durch  das  Haus  vor.  — 

Endlich  geben  wir  noch  folgende  Zeichnung,  welche  auf  dem  bereits  mehrfach 
benannten  Blatt  283  des  Codex  Atlanticus  steht.  Dieselbe  dürfte  kaum  anders  zu  er- 
klären sein,    als  dafs  man  sie  als    hydraulische   Presse  betrachtet.     Auch  hier  fehlen 


Fig.  77. 


Bemerkungen  des  Leonardo,  welche  das  Dunkel  aufklären 
könnten ;  aber  die  auf  jenem  Blatt  enthaltenen  vielen  Skizzen 
für  die  Verwendung  und  die  Eigenschaften  des  Wassers  lassen 
leicht  unsere  Auffassung  als  richtig  erscheinen.     Fig.  77. 

Schliefslich  erwähnen  wir  das  Fol  45  des  Codex  Atlan- 
ticus, welches  sich  mit  einer  Betrachtung  der  Wasserleitung 
über  Berge  beschäftigt,  bei  welcher  Leonardo  Gebrauch  macht 
von  dem  Gesetz  der  schiefen  Ebene  und  mechanischen  Mitteln 
zur  Hebung. 

12 


90 

Die  Wasserwerke  des  Leonardo  umfassen 

1.  Kanal  von  Florenz  nach  Pisa,  —  von  Leonardo  da  Vinci  projektirt  am 
Arno  entlang,  durch  die  Felder  von  Prato,  Pistoja,  Serravalle  und  durch  den 
See  von  Sesto.  Viviani  hat  später  unter  Benutzung  des  Vinci'schen  Pro- 
jektes die  Verbindung  zwischen  Pisa  und  Florenz  hergestellt,  theilweise 
durch  Verbreiterung  und  Vertiefung  des  Arno  —  und  zwar  nicht  glücklich. 
Leonardo's  Projekt  ist  erhalten  in  den  Pariser  Codices. 

2.  Kanal  von  Martesana  und  Tessin.  Der  Kanal  von  Martesana  war  bereits 
1460  begonnen.  Leonardo  da  Vinci  vollendete  ihn  durch  das  Stück  Trezzo- 
Brivio,  welches  vorzügliche  Schwierigkeiten  bot.  Er  konstruirte  grofse 
Schleusenwerke  mit  doppelten  Pforten.  Die  Anlage  derselben  hat  Leonardo 
jedoch  nicht  erfunden,  wie  einige  seiner  Verehrer  behauptet  haben,  sondern 
dieselbe  rührte  bereits  von  1441  oder  vielleicht  einer  noch  weiter  zurück- 
liegenden Zeit  her.  Die  Zeichnungen  für  diese  Anlagen  im  Codex  Atlan- 
ticus  sind  vorzüglich. 

3.  Kanal  von  Romorentin,  für  Franz  I.  entworfen  und  später  nach  seinem 
Tode  von  Meda  ausgeführt.  In  diesem  Projekt  hatte  Vinci  Schleusenthore 
besonderer  Art  vorgesehen,  die  jedoch  von  Meda  falsch  aufgefafst  wurden. 

Schlufs. 

Nachdem  wir  im  Obigem  versucht  haben,  die  Kenntnisse  und  Anschauungen  und 
Leistungen  des  Leonardo  näher  darzuthun,  nachdem  wir  sie  mit  dem  geistigen  Stand- 
punkte seiner  Zeit  verglichen,  als  auch  auf  den  der  nachfolgenden  Periode  hinwiesen,  — 
nachdem  wir  die  Lebensumstände  des  Leonardo  und  ihren  Einflufs  auf  seine  geistige 
Thätigkeit  veranschaulicht  haben,  dürfen  wir  wohl  fragen,  was  folgt  aus  allen  diesen 
Momenten?    Wir  antworten: 

a.  Es  geht  aus  Leonardo's  Schriften  evident  hervor,  dafs  er  selbst  eine  unserer 
Zeit  sehr  nahe  stehende  Kenntnifs  von  vielen  Gesetzen,  Erscheinungen  u.  s.  w.  gehabt 
habe,  vor  allem  aber,  dafö  er  Erklärungen  über  eine  Reihe  von  Erscheinungen  bereits 
abgab,  deren  spätere  erneute  Auffindung  durch  Attwood,  Porta,  Galilei,  Halley,  Muschem- 
broeck,  Gassendi,  Duverger  u.  a.,  diesen  Männern  zum  Ruhme  gereichte  und  ihnen  den 
Namen  als  Entdecker  der  betreffenden  Gesetze  etc.  einbrachte. 

b.  Leonardo  war  unter  den  Gelehrten  des  Mittelalters  und  zumal  seines  Jahr- 
hunderts der  erste,  welcher  die  Erscheinungen  in  der  Natur,  die  Naturkräfte  rationell 
durchforschte,  nicht  aus  oberflächlichen  Wahrnehmungen  seine  Ansichten 
schöpfte,  sondern  sie  auf  Grund  genauer  Prüfung  und  angestellter  Experimente 
sich  bildete,  nicht  an  ihnen  hing  als  unumstöfslichen  Wahrheiten,  sondern  sie  modifi- 
zirte,  je  nachdem  weiteres  Eindringen  in  die  Erscheinungen  solche  Modifikationen 
herbeiführten.    Aus  seinem  Gedankengange  resultirten  klare  und  präzise  Begriffe  und 


91 

eine  Wortwiedergabe  des  Ergründeten,  welche  meistens  die  Richtigkeit  und 
Wahrheit  des  Erforschten  kurz  und  treffend  bezeichnete  und  erklärte.  Die  Reihe 
solcher  Präzisionen  ergab  sodann  die  Gelegenheit,  Systeme  der  mechanischen,  hydrau- 
lischen etc.  Gesetze  zu  formiren;  diese  Systeme  stellten  die  Grundgesetze  der  Natur- 
kräfte und  natürlichen  Erscheinungen  auf  und  nebeneinander  in  logischer  Entwickelung, 
so  dafs  er  bei  Untersuchungen  auf  diese  Fundamentalsätze  zurückgreifen  konnte,  ebenso 
aber  alle  Untersuchungen  nach  den  darin  enthaltenen  Gesichtspunkten  durchführen 
konnte.  Leonardo  verfasste  solche  Systeme  für  vielleicht  alle  Gebiete  der  induktiven 
Wissenschaften;  aus  seinen  nachgelassenen  Schriften  kennen  wir  solche  Elemente, 
solche  Systeme  für  die  Malerei,  Perspektive,  Lichtwirkung,  für  die  Hydrostatik  und 
Hydraulik,  für  die  Maschinenkonstruktion,  für  die  Skulptur.  Es  läfst  sich 
wohl  annehmen,  dafs  Leonardo  da  Vinci  diese  systematischen  Aufstellungen  gleichsam 
betrachtete  und  gab  als  Leitfäden  für  die  Vorlesungen  an  seiner  Akademie  in  Mailand. 
Aus  der  Art  der  Abfassung,  z.  B.  aus  den  oft  auftretenden  Anreden:  „Du  mufst  Dich 
erinnern";  „Wenn  Du  dies  thun  willst"  etc.  scheint  diese  Auslegung  fast  zur  Evidenz 
richtig.  —  Leonardo  war  also  der  erste,  der  versuchte,  die  Grundgesetze  der  Naturkräfte 
und  Naturerscheinungen  zu  erklären  und  zu  systematisiren.  Welchen  hohen  Vor- 
theil  eine  solche  Betrachtungsweise  stets  hat  und  haben  wird,  ist  uns  wohl  klar  genug, 
da  wir  derselben  huldigen,  —  aber  auch  die  spätere  Geschichte  der  induktiven  Wissen- 
schaft kann  an  vielen  Fällen  erweisen,  dafs  diese  Betrachtungsweise  immer  zu  bedeu- 
tenden Resultaten  geführt  hat,  —  gerade  gegenüber  der  verschwommenen  Weise  der 
Aristoteliker  und  der  Scholastiker,  Mystiker  und  Dogmatiker.  Wir  verdanken  derselben 
auch  wohl  die  Fülle  von  Wahrheiten,  die  in  Leonardo's  Lehren  enthalten  ist;  ja  selbst 
da,  wo  Leonardo  auf  falscher  Fährte  ist,  leistet  diese  Methode  doch  noch  soviel,  dafs 
man  den  Grund  der  unrichtigen  Ansicht  schnell  einsieht.   — 

c.  Es  läfst  sich  behaupten,  dafs  Leonardo  die  von  ihm  erkannten  Fundamental- 
gesetze der  Naturerscheinungen  und  Naturkräfte  anzuwenden  verstand  und  auf  Grund 
dessen  eine  Reihe  nützlicher  Erfindungen  gemacht  hat,  und  dafs  seine  Konstruktionen 
zum  Theil  in  die  Praxis  übergegangen  sind,  ja  zum  Theil  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag 
erhalten  haben! 

d.  Leonardo's  Darstellungsweise  läfst  uns  ersehen,  dafs  viele  in  seiner  Schrift 
ausgedrückten  Anschauungen  die  Anschauungen  seiner  Zeit  waren!  Wenn  nun,  wie 
oben  mehrfach  angeführt,  Whewell  sagt:  „Die  dunkle  Nacht  (seit  Archimedes)  währte  bei- 
nahe zwei  volle  Jahrtausende,  namentlich  bis  auf  die  Zeit  der  ersten  Ausbreitung  der  Ko- 
pernikanischen  Entdeckung,"  und  wenn  für  ihn  das  Erwachen  der  neueren  Zeit  erst  mit 
Cardanus,  Ubaldus,  Benedetti,  Varro,  Jordanus,  Tartaglia,  Apian,  Commandinus  u.  s.  w. 
beginnt  und  erst  den  Karakter  des  wahren  Fortschritts  durch  Stevinus  erhält,  ist  diese 
Darstellung    noch    haltbar,    wenn  wir    heute  wissen,    dafs  zu  Leonardo  da  Vinci's  Zeit 

12* 


92 

bereits  bekannt  waren  die  Gesetze  der  schiefen  Ebene,  die  Bestimmung  des  Schwer- 
punktes, die  Drehung  der  Erde,  die  Schwere  der  Luft,  die  Verbrennung  und  die  Rolle 
der  Luft  dabei,  die  Camera  obscura,  der  Fallschirm,  der  Einflufs  der  Erde  auf  den  Mond, 
der  freie  Fall  und  vieles  andere  der  statischen  Gesetze,  Gesetze  der  Reibung,  der  Wellen- 
bewegung, des  Schalls,  des  Lichts  u.  s.  w.,  ja  noch  mehr,  —  bekannt  waren  zum  Theil  in 
viel  präziserer  und  richtigerer  Fassung  als  noch  zwei  Jahrhunderte  nachher? 
Wir  können  Leonardo's  Schriften  betrachten  als  die  vornehmste  Aufzeichnung  der  An- 
schauungen, die  die  Gebildeten  seiner  Zeit  hatten,  und  dabei  besonders  auf  Leonardo's 
Einfiufs  auf  und  durch  einen  grofsen  Schülerkreis  hinweisen.  Leonardo  schöpfte  mehr- 
fach auch  aus  anderen  Quellen,  und  dafs  dieselben  gedruckt  oder  geschrieben  waren, 
wird  annehmbar  aus  manchen  Uebereinstimmungen  Leonardo's  mit  späteren,  z.  B.  Porta, 
der  sogar  in  einem  Falle  dieselben  Worte  gebraucht  wie  Leonardo.  Für  seine  mathe- 
matischen Studien  gibt  er  uns  selbst  eine  Reihe  Schriften  an,  welche  er  liebte  und 
fleifsig  studirte. 

Wollte  man  nicht  gelten  lassen,  dafs  Leonardo  gleichsam  auch  der  Ausdruck 
seiner  Zeit  wäre,  nun  so  gewönne  seine  eigene  Persönlichkeit  so  gewaltig,  dafs  sie 
auch  in  der  Wissenschaft  und  Technik  den  bedeutendsten  Erscheinungen  aller  Jahrhun- 
derte zugerechnet  werden  müfste,  er  würde  dann  wie  ein  Berg  in  der  Ebene  über  seine 
Zeit  hervorragen. 

Stets  aber  haben  wir  die  Erscheinung  beobachten  können,  dafs  eine  erhabene 
Kunstepoche  der  Blüthe  der  Wissenschaft  vorangeht!  „Die  Kunst  ist  ihrer  Natur 
nach  praktisch;  die  Wissenschaft  aber  ist  theoretisch  oder  rein  spekulativ."  Als  daher 
die  Blüthe  der  Kunst  in  Italien  aufgegangen  war  mit  Leonardo  da  Vinci,  Raphael  und 
Michel  Angelo,  da  brach  auch  der  Geist  der  Wissenschaften  aus  der  Schleierhülle  der 
Befangenheit,  Beschränkung  und  Furchtsamkeit  hervor.  Zu  jeder  solchen  Zeitepoche 
gehört  eine  Vorbereitung.  Sie  war  der  Kunst  gegeben,  und  Leonardo  da  Vinci,  selbst 
erfüllt  eine  hervorragend  lehrende,  anleitende  Rolle,  —  so  auch  der  Wissenschaft. 
Aber  während  Leonardo  in  der  Kunst  selbst  den  Parnassus  der  Vollendung  miterstieg, 
—  blieb  er  in  der  Wissenschaft,  wenn  auch  hoch  und  erhaben  über  sein  Jahrhundert 
und  die  Jahrhunderte  vorher,  doch  unterhalb  des  Gipfels  stehen,  —  weil  er  ihn  in  der 
Wissenschaft  auch  nicht  erstrebte.  Fast  unbewufst,  zu  seiner  eigenen  Freude  und  Be- 
friedigung diente  er  ihr.  Wir  wollen  daher  festhalten,  dafs  Leonardo  da  Vinci  für  die 
Geschichte  der  Wissenschaften  und  Technik  seiner  Zeit  das  Organ  ist,  dafs  das  Bekannt- 
werden und  Ausschöpfen  der  Leonardo'schen  Schriften  ein  neues  Licht  über  eine  ganze 
Zeitperiode  verbreitet.  Es  wird  dasselbe  die  Verdienste  des  Galilei,  Kopernikus  u.  A. 
nicht  verdunkeln,  sondern  vielleicht  einen  Dritten  dem  Bunde  zufügen,  einen  Mann,  der 
in  der  Malerei  gleichberechtigter  Vorgänger  Michel  Angelo's  und  Raphael's  war  und  die 
Gesetze  der  Kunst  neu  belebte  und  lehrte,    der   in  der  Architektur  die  römische  Kunst 


93 

wieder  zu  Ehren  brachte,  —  der  als  Ingenieur  die  gröfsten  Kanalbauten  seiner  Zeit 
ausführte,  und  mit  seinem  klaren  Verstände  in  den  Zusammenhang  der  Natur  eindrang, 
um  ihn  zu  erklären  und  die  Kräfte  der  Natur  zum  Wohle  der  Menschen  nutzbar  zu 
machen.  —  Leonardo  da  Vinci  mufs  betrachtet  werden  als  der  hervorragendste  Vor- 
arbeiter der  Galileischen  Epoche  der  Entwickelung  der  induktiven  Wissenschaften  und 
als  Förderer  der  Technik  seiner  Zeit,  —  sowie  als  Repräsentant  vieler 
Anschauungen  seiner  Zeit,  über  welche  er  uns  klares  Licht  verschafft!!  — 
und  so  zur  Aufhellung  des  Dunkels  beiträgt,  welches  über  der  geistigen  Thätigkeit  seiner 
Zeit  bisher  lagerte.  — 


Anhang. 

Das  Geschriebene  auf  der  Tafel  lautet: 

links  oben:    a.  b.  pesa  quanto  un  par  di  molle  e 
n.  m.  e  la  sega 
f.  g.  e  la  guida 

Farai  fare  due  molle  simili  a  questa  a.  b.  colle  sue  chiavarde  ovali  in  grossezza 
da  trarre  e  mettere,  quando  si  trae  o  mette  la  sua  sega 
Si  delle  due  seghe  non  ne  toccassi  se  non  una,  fa  che  quella  una  sia  in  mezzo 
del  suo  telajo  accioche  il  peso  del  telaio  sia  sempre  comparatito  a  modo  di  bilancia 
sopra  il  taglio  della  sega  che  si  adopra  insino  a  tanto  che  la  seconda  sega  discen- 
da  al  constatto  della  pietra  che  si  deve  segare  e  allora  tu  metterai  le  due  seghe 
in  mezzo  al  detto  telaio.  II  moto  della  sega  deve  essere  insino  che  il  centro 
della  gravitä  della  sega  giunga  alli  estremi  della  pietra  segata  e  qualche  cosa 
piü,  acciocche  la  sega  si  innalzi  dalla  parte  piü  lieve  per  dare  luogo  all'  in- 
troito  dello  smeriglio  sieche  entri  sotto  l'alzata  parte  della  sega.  Adunque 
sia  tanto  il  moto  della  sega,  quanto  e  la  lunghezza  della  pietra  che  si  deve 
segare,  cioe  in  questa  tal  pietra,  ma  non  in  tutte,  perche  ella  protrebbe  essere 
tanto  piecola  o  tanto  grande,  che  tale  regola  non  sarebbe  buona. 

In  der  Mitte:   Barbera  stampa. 

Oben  rechts:    Sega  dasseghare  pietre. 

Unten  rechts:  Questa  staffa  si  pub  fare  d'un  sol  pezzo,  e  mettergli  le  seghe,  e  poi 
saldarle  rinchiudendo  dentro  a  se  esse  staffe.  Ma  falla  pure  di  due  pezzi 
perche  non  si  avrä  se  non  a  cavare  la  chiavarda  nel  mettere  la  sega. 

Links  unten:  Fa  4  chiavette  di  ferro  per  mettere  in  n.  m.  o.  p.  da  poter  mettere  e 
cavare  le  seghe. 

Unten:    Fa  li  ferri  al  fabbro,  e  falli  di  cartone. 

Bei  der  grofsen  Figur  links:   Fa  che  sia  piü  alto   un'  oncia  il  disotto  della  pietra, 


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che  si  deve  segare,  quando  tu  la  incolli,  che  non  e  il  piano  del  disopra  del 
desco ;  e  questo  si  deve  fare  acciocche  la  sega  possa  ventilare  e  pigliare  sotto 
di  se  lo  smiriglio. 
Unter  der  grofsen  Figur:  a.b.  sono  viti  per  poter  fermare  e  congiungere  lo  scanno 
a  questo  desco,  dove  sega  il  segatore,  e  queste  bandeile  sono  causa  che  il 
desco  non  si  dimeni  nel  segare. 


Die  gegebenen  Figuren  sind  theils  genau  genommene  Durchzeichnungen,  theils  Kopien,  theils 
Nachzeichnungen,  —  wie  es  die  Gelegenheit  erlaubte.  — 


Druck  von  G.  Hickethi 


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