REAL-ENCYCLOPÄDIE
DER
GESAMMTEN HEILKUNDE.
ZWÖLFTER BAND.
Scarlatina — Spulwurm.
REAL-ENCYCLOPÄDIE
DER
GESAMMTEN HEILKÜNDE.
MEDICIOTSCH-CHIRÜRGISCHES
HANDWÖ R T ERBUCH
FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE.
HERAUSGEGEBEN
pEOT. Dr. ALBERT EÜLENBURG
IX BERLIN.
Mit zahlreichen Illustrationen in Holzschnitt.
ZWÖLFTER BAND.
Scarlatina — Spulwurm.
WIEN und LEIPZIG.
Urban & Schwarzenberg.
1882.
Nachdruck der in diesem Werke enthaltenen Artikel, sowie Uebersetzung derselben in
fremde Sprachen ist nur mit Bewilligung der Verleger gestattet.
Verzeichniss der Mitarbeiter.
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37-
38.
39-
40.
41.
42.
43-
44.
45-
Prof. Dr. Adamkiewicz
Prof. Dr. Albert, Direcior der chir. Klinik .
Prof Dr. Albrecht
Prof. Dr. Arndt, Director der psychiatr. Klinik
Prof. Dr. Au spitz, Director der Allgem. Poliklinik
Prof Dr. Bandl
Stabsarzt Dr. C. Banze
Geh. Med.-Rath Prof Dr. Bardeleben . . .
Prof Dr. S. v. Bosch
Docent Dr. G. Behrend
Prof. Dr. Benedikt
Prof. Dr. Berger
Reg.-Rath Prof Dr. Bernatzik
Prof. Dr. Binz, Director des pharmacol. Instituts
Med.-Rath Dr. Birch-Hirschfeld, Prosector am
Stadt-Krankenhause
Prof. Dr. Blumenstok
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Dr. Börner
Dr. Böttger, Redacteur der pharmac. Zeitung
Prof Dr. Busch
Prof Dr. H. Chiari .
Prof Dr. H. Cohn
San.-R. Dr. Ehrenhaus
Prof. Dr. Eichhorst
Primararzt Docent Dr. Englisch
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Docent Dr. Falk, Kreisphysicus
San.-R. Docent Dr. B. Fraenkel
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Docent Dr. Gottstein
Dr. Greulich
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Prof Dr. Gurlt
Docent Dr. P. Güterbock
Docent Dr. P. Guttmann , Director des städti-
schen Baracken- Lazareths
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Assistenzarzt a. D. Dr. Hildebrand ....
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Prof Dr. Th. Husemann
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4b. Med.-Rath Docent Dr. Kisch Marienbad-Prag
47. Prof. Dr. Klebs, Director des pathol. Instituts
48. Dr. S. Klein
4g. Prof. Dr. Kleinwächter
50. Dr. Th. Knauthe
51. Kgl. Rath Prof. Dr. Fr. Kordnyi
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SS- San.-R. Prof. Dr. Küster
54. Prof. Dr. Landois, Director d. physiol. Instituts
SS- Dr. Lersch, Bade-Inspector
56. Prof. Dr. G. Lewin, Director der Klinik für \
syphilitische und Hautkrankheiten . , ■ . . . J
S7- Dr. L. Lewin, Docent für Arzneimittellehre und
Staatsarzneikunde
5c?. Geh. Medicinalrath Prof. Dr. Leyden .
jg. Prof. Dr. Loebisch. Vorstand des Laboratoriums \
für med. Chemie . J
bo. Docent Dr. Löbker, Assistent d. chirurg. Poliklinik
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII.
Krakau
Allg. Pathologie.
Wien .
Chirurgie.
Berlin .
Mundkrankheiten.
Greifswald .
Psychiatrie.
Wien . . .
Hautkrankheiten.
Wien .
Gynäcologie.
Wien . . .
Pädiatrik.
Berlin .
Chirurgie.
Wien .
Allgem. Pathologie.
Berlin .
Dermatol. u. Syphilis.
Wien .
Neuropathologie.
Breslau .
Neuropathologie.
Wien .
Arzneimittellehre.
Bonn ...
Arzneimittellehre.
/ Allg. Pathologie und
l pathol. Anatomie.
Krakau
Gerichtliche Medicin.
Wien .
Hygiene.
Berlin .
Hygiene.
B unzlau .
Apothekenwesen.
Berlin .
Chirurgie.
Prag . . .
Pathol. Anatomie.
Breslau
Augenkrankheiten.
Berlin .
Pädiatrik.
Göttingen
Innere Medicin.
Wien .
Chirurgie (Harnorgane)
Berlin .
Orthopädie.
Berlin . . .
Innere Medicin.
Berlin .
Hygiene.
Berlin .
Kehlkopfkrankheiten.
Klausenburg .
Hautkrankheiten.
Budapest .
Augenheilkunde.
Breslau
Krkh. d.Nase u. Ohren.
Berlin .
Gynäcologie.
Wien .
Syphilis.
Berlin . . .
Chirurgie.
Berlin . . .
Chirurgie.
Berlin . . .
Innere Medicin.
Berlin .
Chirurgie.
Neustadt-Magde-
burg
\ Militärsanitätswesen.
Augenkrankheiten.
Berlin .
Wien . . .
Augenkrankheiten.
Wien .
Gerichtliche Medicin.
Wien .
Chirurgie.
Göttingen
Arzneimittellehre.
Wien .
Hautkrankheiten.
Marienbad-Prag
| Balneologie u. innere
\ Medicin.
Zürich
Allg. Pathologie.
Wien . . .
Augenkrankheiten.
Innsbruck
Geburtshülfe.
Meran .
Innere Medicin.
Budapest .
Innere Medicin.
Greifswald .
Pädiatrik.
Berlin . . .
Chirurgie.
Greifswald .
Physiologie.
Aachen .
Balneologie.
f Dermatologie und
i Syphilis.
Berlin . .
Arzneimittellehre.
Berlin . . . .
Innere Medicin.
Innsbruck
Medicinische Chemie.
Greifswald .
Chirurgie.
öi. Prof. Dr. Lucae , Dhector der Klinik für \
Ohrenkrankheiten j
62. Prof. Dr. E. Ludwig, Vorstund des Labora- \
toriums für med. Chemie }
öj. Prof Dr. Marchand
64. Doc. Dr. Mendel ...
öj. Dr. Lothar Meyer, ord. Arzt der städtischen \
Frauen-Siechenanstalt J
66. Prof. Dr. Monti
67. Prof. Dr. M osler, Director der med. Klinik .
öS. Prof. Dr. AI. Müller .
ög. Prof. Dr. Obernier, Arzt am Johannes-Hospital
70. Dr. A. Oldendorff
71. Primararzt San.-Rath Docent Dr. Oser . .
72. Stabsarzt a. D. Dr. Pauly
7j>. San.-Rath Dr. Pelmann, Director der Rhein. 1
Prov. Heil- und Pflege-Anstalt J
74. Docent Dr. Perl
7j. Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Pernice ....
76. Docent Dr. A. Pick , Primararzt und Leiter \
der Irrenanstalt /
77. Prof. Dr. A. Politzer
78. Docent Dr. Freiherr v. Preuschen von und zu 1
Liebenstein j
7g. Prof. Dr. Reichardt, Director des agricultur- 1
chemischen Institutes /
80. Docent Dr. E. Remak
Si. Geh. San.-R. Dr. Reumont
82. Docent Dr. v. Reuss
8j. San.-R. Docent Dr. L. Riess, Director des \
städtischen Krankenhauses J
84. Docent Dr. Rosenbach
8j. Prof. Dr. M. Rosenthal
Berlin .
Wien .
Giessen
Berlin .
Berlin
Wien .
Greifswald
Berlin .
Bonn .
Berlin .
Wien .
Posen ,
Grafenberg
bei Düsseldorf
Berlin .
Greifswald
Dobran
bei Pilsen
Wien .
Greifswald
Jena .
Berlin .
Aachen
Wien .
Berlin .
Breslau
Wien .
86. Prof. Dr. Samuel Königsberg
87. Docent Dr. W. Sander, Dirigent der städtischen 1 Berlin
Irren-Siechenanstalt J
88. Prof. Dr. Scheuthauer Budapest .
Prof. Dr. Schirmer, Director der ophthalmiatri-
schen Klinik
Prof. Dr. Schmidt-Rimpler, Director der ophthal-
miatrischen Klinik
Prof. Dr. Schnitzler . . . '.'■'
Prof Dr. Schüller
Docent Dr. H. Schulz
Dr. Schwabach
Prof. Dr. Schwimmer
Prof. Dr. Seeligmüller
Dr. Seligsohn
Stabsarzt Dr. Settekorn
Weil. Prof. Dr. 0. Simon
Docent Dr. Smoler, Krankenhaus- Director
Docent Dr. Soltmann
Prof. Dr. Sommer, Prosector
Docent Dr. Soyka, Assistent am hygien. Institute
Docent Dr. Steinauer
Geh. San.-Rath Docent Dr. Tobold ....
Docent Dr. Ultzmann
Prof. Dr. Vogl, Director d.pharmacogn. Instituts
Prof. Dr. Vogt, Director der chirurg. Klinik
Docent Dr. Weber-Liel
Prof. Dr. Weigert, Assistent am pathol. Institut
go.
gi.
g2.
93-
94-
95-
gö.
97-
g8.
gg.
100.
TOI.
I02.
r°3-
104.
105.
106.
107.
108.
Tog.
110.
tu. Bezirks-Physihis Docent Dr. Wernich
112. Kais. Rath Prof. Dr. Winternitz
irj. Docent Dr. J. Wolff
114. Stabsarzt a. D. Dr. Wolzendorff .
115. Docint Dr. Zuelzer
Greifswald
Marburg
Wien .
Greifswald
Bonn .
Berlin .
Budapest
Halle .
Berlin .
Stettin .
Breslau
Prag .
Breslau
Greifswald
München
Berlin .
Berlin .
Wien .
Wien .
Greifswald
Berlin .
Leipzig
Berlin .
Wien .
Berlin .
Nassau
Berlin
Ohrenkrankheiten.
Medicinische Chemie.
Path. Anatomie.
Psychiatrie.
Sanitätspolizei und
Hygiene.
Pädiatrik.
Innere Medicin.
Hygiene.
Innere Medicin.
Medicinalstatistik.
Magenkrankheiten.
Chirurgie.
Psychiatrie.
Balneologie.
Gynäcologie.
Psychiatrie u. Nerven-
krankheiten.
Ohrenkrankheiten.
Gynäcologie.
Hygiene.
Neur op athologie.
Balneologie.
Augenkrankheiten.
Innere Medicin.
Innere Medicin.
Neuropathologie.
Allg. Pathologie und
Therapie.
Psychiatrie.
Allg. Pathologie und
pathol. Anatomie.
Augenkrankheiten.
Augenkrankheiten.
Kehlkopfkrankheiten.
Chirurgie.
Arzneimittellehre.
Ohrenkrankheiten.
Hautkrankheiten.
Neur op athologie.
Medicinische Chemie.
Militär-Sanitätswesen.
Dermat. und Syphilis.
Psychiatrie.
Pädiatrik.
Anatomie.
Hygiene.
Arzneimittellehre.
Kehlkopfkrankheiten.
Krankh.d.Harnorgane.
Arzneimittellehre.
Chirurgie.
Ohrenheilkunde.
Path. Anatomie.
Med. Geographie,
Endemiologie.
Hydrotherapie.
Chirurgie.
Militärsanitätswesen.
Innere Medicin.
s.
Scarlatina, s. „Scharlach".
Schädelmessung (Kranio- und Kephalometrie). Es ist heute noch eine
schwierige Aufgabe, ein ärztliches Publikum mit dem gegenwärtigen Stande der
Kranio- und Kephalometrie bekannt zu machen. Die Schädelmessung ist eine
eminent mathematische Aufgabe , die zugleich intime anatomische Kenntnisse
voraussetzt. Nun ist naturgemäss die Kraniometrie von Anatomen geschaffen
worden , welche entweder mit der mathematischen Sprache überhaupt nicht sehr
vertraut oder nur eines schlechten Patois mächtig sind.
Um die bisherigen Leistungen denn doch benützen zu können, müssen wir
die Messungen und Messmethoden in drei Perioden eintheilen: 1. in die rein
empirische; 2. in die Periode der ersten Anfänge der geometrischen Methode und
3. in die beginnende, streng geometrische Methode, und zwar wollen wir vorläufig
im ersten Abschnitte blos die Kraniometrie und später erst die Kephalometrie
berücksichtigen.
Ich werde die kraniometrische Racenlehre wesentlich ausser Acht lassen
und nur auf jene Probleme Rücksicht nehmen, welche die wissenschaftliche
Medicin zunächst interessiren. Ich werde auch nur die Verhältnisse der deutschen
und österreichischen Bevölkerung in Betracht ziehen.
Es sei hier sofort eine wichtige methodische Bemerkung gemacht. Man
hat lange Zeit in der Kraniometrie mit den „Mitteln" nach dem Vorgange von
Qüetelet gearbeitet , ohne die physiologischen Grenzwerthe zu fixiren. Dadurch
ist es aber enorm schwer, die typische Stellung eines einzelnen Schädels oder
einer kleinen Reihe zu beurtheilen. Die Zahlen 7 , 8 und 9 mit 1 , 8 und 15
haben dasselbe Mittel == 8 ; die zwei Reihen sind aber gewaltig verschieden.
Ich werde also nicht blos die Mittel anzugeben suchen, sondern auch aus den
gegebenen Daten die physiologischen Grenzwerthe geben und die Reihen construiren.
Die Grenzwerthe nehmen wir aus jenen Reihen, in denen normale Schädel mit
einem geringen Procentgehalt oder gar nicht mehr repräsentirt sind. Die Grenz-
werthe von heute stehen gewiss viel zu weit vom Mittel ab, weil man einerseits
früher die Schädel ohne klinische und kriminalistische Rücksicht sammelte und
weil man anderseits die abnormen Schädel mit Vorliebe aufbewahrte. Vorläufig
ist dem nicht abzuhelfen.
Wir werden auch die atypischen Formen unvollständig auf ihre
pathologische Ursache prüfen können, weil der Begriff des pathologischen Schädels
zu vage ist und viele Ursachen pathologischer Natur, z. B. angeborene Syphilis, zur
1*
I SCHÄÜELMESSTJNG.
abnormen Entwicklung des Schädels durch Beeinflussung localen Wachsthums viel
beigetragen haben können, ohne dass dies nachweisbar ist. Anderseits wird z.B. eine
abnorme Entwicklung von Schaltknochen als pathologische angesehen, ohne dass
nachgewiesen isl , dass dies immer ein pathologischer Process im gewöhnlichen
Sinne sei. Selbst die frühzeitige Versohliessung von Nähten oder abnorme Persistenz
derselben kann von der tiefsten Bedeutung sein, ohne gerade an und für sich
durch pathologische Processe bedingt zu sein.
Im Allgemeinen können wir sagen: Pathologie und kraniometrische
Atypie decken sich nicht vollständig. Aber die Erfahrung hat heute schon gezeigt,
läse pathologische Zustände und Atypie der Schädel eine grosse Bedeutung zur
Beurtheilung der Functionen des Gehirns haben.
Ea ist hier noch eine andere allgemeine Bemerkung am Platze.
Wenn wir eine Specialreihe — z. B. frühzeitig Erblindeter — studiren,
po ist es absolut nicht nothwendig, dass wir schon sofort die Specialität der
Schädelbildung kranioskopisch erkennen. Meist ist dies bei einiger Sorgfalt der
Beobachtung und bei einiger Beobachtungsgabe der Fall. Jedenfalls wird der Aus-
spruch , man habe Nichts bemerkt, kein Beweis dafür, dass Nichts zu bemerken
sei. Sagt doch Macchiavelli so treffend, es gebe Viele, die sehen, aber Wenige,
die bemerken.
Wo die Kranioskopie keine Aufschlüsse giebt, wird man zur Kranio-
metrie schreiten und letzteres auch wirksamer thun, wenn man bestimmte, kranio-
skopische Aufschlüsse erhalten hat. Man darf aber nicht erwarten, dass in einigen
üblichen Maassen die Charakteristik liegen müsse, und am wenigsten darf man
schliessen, wenn eine solche Untersuchung mit negativem Resultate gemacht wurde,
dass nicht in anderen Maassen eine Charakteristik liegen könne.
Umsoweniger darf man aus den Mitteln schliessen. Es müssen die Reihen
jLre.irenübergestellt werden. Es zeigt sich am eclatantesten , wenn ein Autor eine
Reihe von Schädeln beschreibt, an jedem Atypien nachweist, dann das Mittel aus
einer Reihe der üblichsten Maasse nimmt, dieses mit einer normalen Reihe ver-
wandt findet und dann mit einem logischen Salto mortale behauptet, die Reihe
sei normal (Lenhossek). Diese individuelle Casuistik ist nämlich ebenso
wichtig, als das Studium der Reihen und Mittel, weil aus derselben oft am klarsten
die Atypie bestimmter Reihen hervorgeht.
Eine andere methodische Bemerkung ist folgende : In den meisten neuro-
pathischen Reihen steckt eine physiologische, so z. B. in der Reihe der Geistes-
kranken und Verbrecher. Bei den ersteren giebt es ja viele Fälle, die durch
occasionelle , entzündliche und toxische Erkrankung entstehen. Bei solchen Irren
ist grösstentheils kein abnormer Schädelbefund zu erwarten. Ich sage grössten-
teils, weil auch hier eine Gelegenheitsursache blos eine Prädisposition entwickeln
kann. Weiter will ich in Bezug auf die Geisteskranken bemerken, dass gewiss
die primär Maniakalischen, die primär Melancholischen und die primär psychischen
und motorischen Depressionsformen auseinander zu halten wären, wenn wir in den
Schädelsammlungen Krankengeschichten hätten. In Bezug auf die Verbrecher ist
zu betonen, dass bei Vielen derselben mangelhafte oder verkehrte Erziehung, Noth
und lang erregte Leidenschaft, ferner auch andere anatomische Erkrankungen die
eigentliche Ursache sein können. Dabei aber darf der Gesichtspunkt nicht aus
dem Auge gelassen werden, dass alle diese Ursachen auf Prädisponirte anders
wirken, als auf Nichtbelastete , und dass Atypie zum Krankwerden prä-
d i s p o n i r t. Ob die neuerdings von Würzburg aus betonte Häufigkeit von patho-
logischen Zuständen, besonders der Hüllen nicht auf die Aufregung, die dem
Verbrechen vorangeht und die der Process bedingt, und auf die Verhältnisse,
welche im Kerkerleben liegen, zurückzuführen sei, könnte vielleicht durch Vergleichung
von Justificirten theilweise entschieden werden. Bei der Epilepsie kann es sich
wesentlich nur um jene Fälle handeln, die angeboren oder in der ersten Kindheit
erworben sind. Ausser den genannten Gruppen sind besonders noch die Schädel
.SCHADELMESSUNG. B
der Kranken mit Hemiplegie und Parapleg. spasiica infantilis , die Taub-
stummen, die frühzeitig Erblindeten und die Mitglieder belasteter Familien zu studiren.
A. Kraniometrie.
Die erste Aufgabe , die sich die Kraniometrie gestellt hat , war die,
die grossen Verschiedenheiten der Schädelformen durch einige Maasse und Zahlen
zu charakterisiren. Es gilt also vor Allem, die kranioskopischen Bilder durch
Zahlen auszudrücken.
Zunächst soll der Zusammenhang der Differenzen im Baue einzelner Theile
mit den Unterschieden des Gesammtbaues studirt werden und endlich soll das
einheitliche, mathematische Gesetz des Schädelbaues eruirt werden.
Ich will hier sofort bemerken, dass die bisher üb liehen Methoden
nicht einmal den elementarsten Zweck, die kranioskopischen
Bilder durch Messungsresultate zu fixiren, durchgehends er-
reicht haben und ich werde daher umsomehr die Messungsmethode mittelst
des optischen Kathetometers ausführlich auseinander setzen müssen, da
durch diese allein dieser Zweck erreicht ist und die anderen Zwecke erreicht
werden können.
a) Empirische Methoden. Das wichtigste Maass der Kraniometrie
ist: die Bestimmung des Räuminhaltes des Schädels. Die Methode
besteht darin, eine früher auf ihren Rauminhalt gemessene Masse durch das grosse
Hinterhauptloch in den Schädel zu bringen, bis sie denselben gänzlich ausgefüllt
hat. Es müssen natürlich die zahlreichen Oeffnungen des Schädels möglichst ver-
stopft werden. Ausserdem kann man die Füllmasse abwägen und aus dem abso-
luten und dem speeifischen Gewichte den Cubikinhalt (in Cubikcentimetern) berechnen.
Weissbach behauptet, dass bei letzterer Controle die Fehler nur 5 — 10 Ccm.
betragen. Man hat Sand, Gries, Schrotkörner, Wasser und Quecksilber verwendet.
Die Anwendung flüssiger Masse ist sehr umständlich und die Messungen
mit Quecksilber haben gezeigt, dass doch Fehler bis circa 50 Ccm. begangen werden.
Die Flüssigkeiten haben den Vortheil, dass der Druck gleichmässig ver-
theilt ist, während z. B. beim Gries und Schrot die tieferen Schichten durch den
Druck dichter werden. Man muss die Füllmasse — ich benütze ausschliesslich
Schrot von mittlerem Caliber — gleich vom Beginne an gleichmässig pressen.
Als Mittel lässt sich für die mitteleuropäische Race beim Erwachsenen 1500 Ccm.
annehmen.
Als obere Grenze können wir für typische Fälle 1750 Ccm. annehmen.
Was darüber ist, ist makrokephal. Als untere Grenze ist 1200 Ccm. eher zu
niedrig als zu hoch genommen.
BeiWelcker gilt zwar als Mittelzahl 1450 für Männer ; allein er hat die Schädel
mit persistirender Stirnnaht nnd die grossen Schädel aus der Berechnung ausgeschlossen.
Sofern aber solche Schädel vom klinischen und psychologischen und allenfalls vom patho-
logisch-anatomischen Standpunkte nicht als abnorm anzusehen sind, hat diese Ausschliessung
keine Berechtigung. Bei den grossen Schädeln hervorragender Männer und Anderer fehlen
bei "Welcker bis auf einen, die Angaben des Cubikinhaltes. Für die normalen und Stirn-
nahtschädel ist aber das Mittel schon 1462.
Weissbach fand für den deutschen Männerschädel 1521, für den deutschen
Weiberschädel 1316. Unter den 216 männlichen Racenschädeln von Weissbach,
wobei die Zigeuner nicht mitgerechnet sind, haben wir folgende Vertheilung :
Von 1451—1600 = 102 (47-6°/0)
i 1601—1750= 28 (14-8 „)
„ 1751—2000 = 7 ( 3-6 „ )
„ 2001—2100 = 1(0-4,,)
Unter 1100 =0
Von 1101—1150= 1 ( 0-4°/o)
„ 1151—1200 = 4(1-7,,)
„ 1201—1300 = 9 ( 4-0 ,, )
„ 1301—1450 = 64 (29-5 „ )
Man sieht also, dass ausserhalb der Grenzen 1200 — 1750 blos 15 Schädel,
i. e. 6-9% sind.
Beim erwachsenen weiblichen Schädel ist das Mittel um 200 Ccm. kleiner ;
als obere Grenze ist 1550, als untere Grenze 1100 anzusehen.
SCHÄDELMESSUNG.
UebCr das Wachsen des Schädelraumes bis zum 20. Jahre sind zu wenige
Daten vorbanden.
Bei neugeborenen Knaben beträgt er 385—450 Ccm. Nach den Daten
der Bonner Schädelsammlung steigt der Cubikinhalt am Ende des 1. Lebensjahres
Mg za 700 — 1000 und um's zehnte Jahr herum bis über 1300.
Diese oberen und unteren Grenzen sind maassgebend, wenn es gilt, an
ein Individuum einen allgemeinen Maassstab anzulegen. Beim Studiren einer Reihe
wird man alter vorzugsweise die Percentsätze der mittleren und extremen Reihen
in Betracht zu ziehen haben.
Ich will z. B. die Vergleichung einer Reihe normaler und Verbrecher-
BChädel gegenüberstellen. Die Schädelsammlung in Bonn enthält, wie Virchow
nachträglich constatirt hat, fast durchgehends Verbrecherschädel. Nehmen wir
die 96 Männerschädel, mit Ausnahme der „Kephalonen", der bekannten Ver-
brecher und die Schädel mit fremdem Racentypus, so bekommen wir als Mittel
1377, also hochgradige Untertypie und folgende Reihen
um M i_i ioo= 41
1101 L2Ö0 = 3/ <•
7-3°/f
1201-
1301-
■1300 = 17
-1400 = 33
1401—1500 = 25
1501—1600 = 14
Auf diese 96 in toto untertypischen Schädel kommen nicht weniger als
15 (!) „Kephalonen". Ihr Mittel ist 1702. Die Reihe ist folgende:
1601—1700 = 8 1801—1900 = 0
1701—1800 =z 6 1901—1920 = 1
Eine Gruppe von 12 Männerschädeln wurde von den früheren Vorständen
als rheinländische Schädel mit fremdem Racen - Charakter ausgeschieden. Ihre
Reihe ist folgende :
1201—1300 =
1301—1400 =
2 1401—1500 = 2
7 1501 — 1600 = 1
Ihr Mittel ist wieder untertypisch mit 1373.
Auch bei den Verbrecher-Celebritäten (14) ist das Mittel in Bonn unter-
typisch (1407 Gem.). Die Reihe ist folgende :
1201 — 1300
1301—1400
1401—1500
= 4
1501—1600 = 2
1601—1670 = 3
Stirnnahtschädel finden sich 21 Männer. Das Mittel ist für solche Schädel
hochgradig untertypisch (1403). Die Reihen sind folgende :
1201—1300 = 3- -'f. 1401—1500 = 8
1301—1400 = 7 1501— 1540 = 3
Bei 6 männlichen Greisen war das Mittel 1381.
1201 — 1300 = 3 1501—1600
1401—1500 = 1
Das Gesammtmittel dieser 164 männlichen Schädel ist 1381, also trotz
der vielen Kephalonen und Stirnnahtschädel bedeutend (um 140 Ccm. circa)
untertypisch.
Bei 11 Schädeln meiner Sammlung ist das Mittel 1404. Die Reihe
ist folgende:
Die Reihe ist folgende :
= 2
1100—1200 = 1
1201—1300 = 1
1301—1400 = 3
Das Gesammtmittel aus diesen 175 Verbrecherschädeln ist
ein Minus von 140 Ccm. Die Reihen sind folgende :
1401—1500 = 4
1501—1600 = 1
1601—1610 = 1
1386 , also
1001—1100
1101—1200
1201—1300
1301—1400
1401—1500
4
4
27
( 2-3o/0)
( 2'3 „ )
(15-5 „ )
54 (30-8 „ )
44 (24-9 „ )
1501—1600 =
1601—1700 =
1701—1800 =
1801—1900 =
1901—1920 =
23 (13-2'/0)
12 ( 6-8 „)
6 ( 3-5 „ )
0 ( 0 „ )
1 ( 0-6 „ )
SCHADELMESSUNG. 7
Während also bei Weissbach bis 1300 nur 6% sind, sind hier über
2Ö°/0. In den obersten Reihen ist beiläufig derselbe Percentsatz mit bedeutend
geringerem Maximum. Unten den „Celebritäten" ist das Mittel höher als beim
grossen Haufen.
Das Mittel bei Epileptikern hingegen wird wohl grösser sein, als bei einer
normalen Reihe, weil die Makrokephalen hier unvergleichlich häufiger sind, als in
der Normalreihe, und die Kleinschädel selten.
Bei Geisteskranken bietet das Studium des Cubikinhaltes folgende Resultate:
Unter 16 Männerschädeln der GALL'schen Sammlung in Baden bei Wien, die ich
untersuchte, befand sich kein einziger unter 1200 und nur 1 über 1700 (1750).
Das Mittel ist 1449, also untertypisch; bei den 9 Weiberschädeln ist das Mittel
1317 und höchstens einer als makrokephal anzusehen (1530) und keiner unter 1100.
Bei Zuckerkandl finden sich zwischen 1300 — 1600 von 88 männlichen
Schädeln 81, über 1700 war keiner und unter 1150 nur einer. Unter 28 weib-
lichen Schädeln fand sich einer unter 1100, aber zwei über 1550.
Wenn wir bedenken , dass wohl alle subtypischen Schädel der Samm-
lungen von Schwachsinnigen und Geisteskranken stammen und dass die eigentlichen
mikrokephalen Schädel Geistesgestörten angehören, so müssen wir den Satz aus-
sprechen: Untertypie in Bezug auf den Rauminhalt des Schädels disponirt im
höchsten Grade zur Geistesstörung, während Makrokephalie bei Geisteskranken
nur selten vorkommt. Auch bei (14) männlichen Schädeln der Königsberger
Sammlung bleibt das Mittel um 25, bei (9) Weibern um 115 gegen das dortige
Normalmittel zurück und findet sich bei letzteren ein Minimum von 985. Auch
bei den 7 Männern der Bonner Sammlung ist das Mittel blos 1364.
2. Das Gewicht des Schädels ohne Unterkiefer schwankt bei erwach-
senen Männern zwischen 450 — 800 Grm. und das Mittel liegt circa bei 600. Bei
Frauen liegt das Mittel circa 100 Grm. tiefer. Besonders bei den Schädeln
Geisteskranker in der Zuckerkandl' sehen Reihe ist Hyperostose ausserordent-
lich häufig.
3. Eine sehr wichtige Messung ist die der Oberfläche des Schädels
und seiner Theile; doch ist diese Methode ausser von Huschke nicht geübt
worden. Er hat 1. die Aussenfläche des Stirnbeins (Stirnwirbel), 2. die Aussen -
fläche des Scheitelbeins, der Schläfeschuppe, der grossen Keilbeinflügel und des
Interparietalbeins zusammen (Scheitelwirbel) und 3. die Aussenfläche der Hinter-
hauptschuppe (Hinterhauptswirbel) gemessen.*) Dieser Theil bedeckt das Klein-
hirn, während der Interparietalknochen den Hinterhauptslappen bedeckt.
Die gesammte Oberfläche des Kindes (8 — 9 Monat) giebt Huschke mit
circa 31.500 QMm. an. Diese Zahl ist gewiss viel zu gross für den Neugeborenen.
Nach dem Gesetze von Liharzik für den Kopfumpfang dürfte der Flächeninhalt
Neugeborenen kann mehr als 24.500 QMm. enthalten.
Beim Erwachsenen beträgt er beiläufig 67.000 □Mm. Das Stirnbein
wächst am stärksten (bis zum dreifachen), das Scheitelbein am schwächsten. In
der Mitte zwischen beiden steht das Zwischenscheitelbein und die Hinterhauptschuppe.
In Bezug auf das Geschlecht zeigt sich beim Manne das Stirnbein und
die Schläfeschuppe, beim Weibe das Scheitelbein, das Interparietalbein und die
grossen Keilbeinflügel besser entwickelt. Dagegen ist kein beträchtlicher Unter-
schied in Bezug auf die Hinterhauptschuppe nachzuweisen.
Zur Ausführung dieser Flächenmessungen bedient sich. Huschke eines kleinen
Rades von Elfenbein, das 30 Mm. im Umfange hat und in 30 Theile getheilt ist. Dieses
Rad wird am Schädel an einem Messinggriff herumgeführt, wie „das Rad eines Schiebkarrens".
*) Die Grenzen der Hinterhauptschuppe sind folgendermassen bestimmt : Von der
Protuberantia oeeip. ext. bis zum hinteren Rande des Hinterhauptsloches und von da nach aussen
und vorn hinter dem Foramen condyloid. posier, weg bis zur Sutura mastoidea und längs
derselben bis zum Angulus mastoid. ossis bregmatis und von da dem Sulcus transversus der
Innenfläche gegenüber bis zur Protub. oeeip. extern, zurück.
SCHADKLMKSSUNG.
llusiliki- theilte nun die Knochen in eine Reihe von Dreiecken und indem er mit Hilfe
seines Rades die absolute Länge der Seiten dieser sphärischen Dreiecke inaass, hat er sie in
Ebene verwanden and bestimmte deren Oberfläche.
Diese werthvolle Methode ist leider sehr mühsam, wäre aber zur neuen
Aufnahme zu empfehlen. Ich will hier bemerken, dass so wie für den Cubikinhalt
und die Fläohenmaasse überhaupt für alle Maasse zu wenig Daten für den
wachsenden Schädel vorliegen.
\.»i Bedeutung, aber noch näher zu prüfen sind die Entwicklungsgesetze
von LniAK/iK (Das Gesetz des Wachsthums etc. Wien 1862, Hof- und Staats-
druokerei). Diese Gesetze lauten :
1 . 1 >as gesammte Waehsthum aller Körpertheile erfolgt in 24 Epochen,
welche mit dem 25. Lehensjahre enden.
2. Die erste Epoche bildet der erste Sonnenmonat, jede folgende Epoche
hat um einen Monat mehr als die frühere, so dass z. B. die 9. Epoche 9, die
24. Epoche 24 Monate zählt. Die ganze Reihe der Epochen enthält daher
800 Monate.
3. Diese 24 Epochen zerfallen wieder in 3 Hauptepochen. Von diesen
Hauptepochen enthält die erste 6 Epochen und endet mit dem 21 Monat; die
zweite Hauptepoche enthält 12 Epochen und endet mit dem 171. Monate und
die dritte Hauptepoche enthält G Epochen und endet mit dem 300. Lebensmonat.
In jeder der Hauptepochen ist der Zuwachs von Epoche zu Epoche ein
gleicher, aber in jeder Hauptepoche ein anderer. Bei allen Körpertheilen ist der
Zuwachs von Epoche zu Epoche in der der ersten Hauptepoche am stärksten.
Hingegen ist der Zuwachs bei mancher stärker in der zweiten Hauptepoche und
bei anderen in der dritten.
So z. B. wächst der Horizontalumfang des Kopfes eines Neugeborenen vom
33 Cm. in der ersten Hauptepoche in jeder der 6 Epochen um circa 23/7 Cm.,
so dass er am Ende (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6=21 Monate) fast 460 beträgt.
In der zweiten Hauptepoche beträgt die Zunahme für jede Epoche nur 1/,1 Cm.,
so dass jetzt nach 150 Monaten der Umfang nicht wie in der ersten Epoche um
13 Cm., sondern blos um 3*5 Cm. zugenommen
hat und jetzt 49*5 beträgt. In der dritten Haupt-
epoche ist wieder eine Zunahme um circa 1/2 Cm.
von Epoche zu Epoche, so dass am Ende des
300. Monats der Umfang 521/4 beträgt.
Dieses Gesetz ist wesentlich aus Messungen
an denselben wachsenden Individuen construirt
und ist a priori wahrscheinlich, da die Natur
nichts als Geometrie betreibt. Die Zahlentabelle
von Liharzik stimmt auch ziemlich gut mit der
Tabelle des wachsenden Schädels von Welcker.
Letztere Reihe ist an und für sich nach allen
Richtungen mangelhaft, da sie für jedes Lebens-
alter nur einzelne Schädelmaasse besitzt und
daher alle Fehler der individuellen Schwankung
darin stecken.
Man maass zunächst die Liniendistanzen
bestimmter anatomischer Punkte mittelst des
Cirkels und bediente sich des Bandmaasses,
um die Distanz dieser Punkte auf die Schädel-
oberfläche zu bekommen.
4. Lineare Maasse. Zunächst waren
es Länge- und Breit emaasse, die man
nahm. In der grossen Mehrzahl dieser Messungen bedient man sich am besten
des Cirkels, den nach meiner Angabe der Mechaniker Wolters in Wien
(L, Kärntnerstrasse 30) angefertigt hat (Fig. 1). Derselbe zeigt die Messwerthe
SCHÄDELMESSUNG. 9
direct und hat den Vortheil, dass man „grösste" Linienmaasse sicher bestimmen
kann, indem man durch Verrücken die wirkliche grösste Zahl unter benachbarten
herausfindet. Einen ähnlichen Cirkel hat Matthieu in Paris construirt. Für
kleinere Distanzen bedient man sich am besten gewöhnlicher Cirkel, deren Spann-
weite an einem Maassstabe abgelesen wird.
Man suchte zunächst den grössten Längsdurchmesser („L") (Fig. 2),
und zwar in der medianen Ebene, d. i. jener Ebene, welche den rechten Schädel vom
linken scheidet. Dieser Längsdurchmesser wurde von einem Punkte der Stirne zu
dem am weitesten nach hinten gelegenen Punkte („o") des Os occijyitis genommen.
Es wurde dabei vorausgesetzt, dass dieser letztere Punkt in der Medianebene
liege, was mit seltenen Ausnahmen richtig ist.
Als vorderer Punkt wurde entweder: 1. Der mediane Punkt zwischen
den Stirnhöckern gewählt, oder 2. das Centrum der Glabella (g) oder 3. der
mediane Punkt zwischen den Arcus supraciliares (or).
Je mehr die Stirn vor- oder rückfliegend ist und je mehr der Arcus
swpr aciliar is gewölbt und hervorgewulstet ist, desto grösser wird die Differenz
dieser Linien. Doch möchte ich bemerken, dass ich nach einer vorläufigen Reihe
von Messungen gefunden habe, dass bei typischen Schädeln die Maasse sub 1 — 2
gleich sind und das erstere nur bei rückfliegender Stirn kleiner und bei vor-
geneigter grösser wird. Jedoch ist dieses Gesetz nicht ganz constant. Für grössere
normale Reihen kann man aber die Maasse sub 1 — 2 als gleichwerthig ansehen.
Es • ist daher bei manchen Untersuchungsreihen nothwendig , zwei oder
drei dieser Maasse zu nehmen, um aus der Literatur genug Material zum Ver-
gleichen zu haben.
Die „grösste Länge" ist kein Maass der eigentlichen Entwicklung des Schädels in
sagittaler Richtung, indem sie gegenüber den verschiedensten Flächen und Linien verschieden
geneigt ist. Denken wir uns z. B. zwei Schädel so orientirt, dass die obere Jochbogen-
linie horizontal steht, so werden bei gleicher „grösster Länge" die hintersten Punkte des
Occiput nicht gleich weit, z. B. von der Glabella entfernt erscheinen müssen. Das ganze
Kranium, dessen „grösste Länge" schiefer gegen die Jochbogenlinie geneigt ist, wird
kürzer erscheinen.
Das zweite wichtige lineare Maass ist die „grösste Breite" f„Qu oder ,,Bru).
Dieselbe wird eigentlich senkrecht auf die Medianebene gedacht und bedeutet den
linearen Abstand jener zwei Punkte, wovon von allen seitlichen Punkten der eine
rechts und der andere links, am weitesten von der Medianebene absteht.
Ist der Schädel symmetrisch, so werden diese zwei Punkte in einer auf
die Medianebene senkrechten Linie liegen, ist er asymmetrisch, so wird die Ver-
bindungslinie der Punkte schräg auf der Medianebene stehen. Dann giebt diese
]0 SCHÄDELMESSUNG.
Linie nicht die Summe der zwei seitlichen Querausdehnungen des Schädels,
sondern je nach der gegenseitigen Verschiebung in der Längs- oder Höhenrichtung
eine zu grosse Zahl.*)
Für die Physiognomik des Schädels ist es von Bedeutung: 1. in welcher
Höhe und 2. in welchem Abstände vom vorderen oder hinteren Pole des Schädels
diese Querlinie liegt. Die alte empirische Methode hat eigentlich kein rechtes Mittel
diese Lage zu bezeichnen und sie musste sich wesentlich auf eine descriptive Angabe
\ erlassen.
Die „grösste Länge" und „grösste Breite" haben lange Zeit die Kranio-
metrie beherrscht, und zwar nicht deshalb, weil man die Kranien nach der
absoluten Grösse jener Maasse einerseits in lange und kurze und andererseits
in weite und enge eingetheilt hatte, sondern weil man vorzugsweise die Kranien
je Dach dem Verhältnisse der beiden Maasse ordnete. Der Querdurchmesser lässt
sich nämlich als Percentsatz des Längsdurchmessers berechnen y — ^- — j und nach
dieser Ziffer (Längenbreitenindex [„L.-Br.-I."] genannt) wurden die Kranien
geordnet, und zwar: 1. in dolichokephale, 2. in mesokephale oder orthokephale,
:>. in brachykephale. Natürlich wurden die Grenzen sehr verschieden genommen.
Im Allgemeinen begann man die brachykephale Reihe beim Längenbreiten-
index 80*0 nach aufwärts und rechnete die Dolichokephalie bis zum Maximum
von 75*0. Dazwischen lagen die Mesokephalen.
Die Bevölkerung Deutschlands gehört im Allgemeinen in diesem Sinne
schon zu den Brachykephalen. Meist fällt nämlich das Mittel aus der Beobachtungs-
reilie über 80, öfters etwas unter 80.
Die slavische und finnomagyarische Bevölkerung Oesterreichs zeigt einen
höheren Index (um 2 — 3%).
Wenn wir im pathologischen Sinne von Dolicho- und Brachykephalie
sprechen, verstehen wir darunter, dass ein betreffendes Kranium in dem einen
oder anderen Sinne weit aus der mittleren Reihe herausgeht. Wir werden einen
Schädel aus der lebenden Bevölkerung Deutschlands , der einen Index unter
75'0 hat, schon als dolichokephal bezeichnen, obwohl er im Sinne der ver-
gleichenden Racenlehre im Beginne der mesokephalen Reihe steht. Im historischen
Sinne ist ein deutscher Schädel mit dem Index 75'0 eher ein mehr brachykephaler,
da der typische Index des germanischen „Reihenprobenschädels" weit geringer als
der des modernen deutschen ist. Hingegen werden wir einen modernen deutschen
Schädel erst etwa von Index 87*0 nach aufwärts als brachykephal bezeichnen.
Die Reihen, aus denen die Mittel gewonnen werden, sind dazu sehr mannigfach
und mit Recht hat Holder betont, dass wir vor Allem kranioskopische Reihen sondern
müssen , um dieselben für sich zu studieren. Er hat für die Bevölkerung Schwabens drei
Grundty^en ausgewählt, die er nach Urracentypen als germanische, sarmatische (slavische) und
turanische (iinno-magyarisehe) bezeichnet hat. Exemplare dieser Urtypen sind unter der
lebenden Bevölkerung nar in geringer Percentzahl vorhanden, die meisten Kranien stellen
Mischformen dar.
Der erste dolichokephale Typus („Reihengrobertypus") zeichnet sich bei der Ansicht
von oben (sogenannte Normo, verticalis [s. Fig. aj) als ein langgestrecktes Sechseck aus,
wobei das Hinterhaupt am hinteren Fontanellenpunkte scharf abgesetzt und als stumpfer
Conus hervorragt.
Bei der Ansicht von hinten (Fig. cL) (Normo, occipitalls) erscheint der Schädel
dachförmig, mit fast senkrechten Seitenwänden und die Basis des Schädels (eigentlich der
Warzenabstand) erscheint nicht viel schmäler als die „grösste Breite" und ebenso ist der
Abstand der Tuhera interparietalia noch wesentlich von der grössten Breite verschieden.
Dabei erscheint der Schädel höher als breit.
Bei der Seitenansicht (Normo, lateralis) erscheint der Schädel relativ nieder (wegen
der grossen Länge desselben), das conische Hervortreten des Occiput tritt auffallend hervor
und ebenso das grössere, stärkere Hervortreten des Oberkiefers (Prognathie).
*) Welcker nimmt den grössten Breitendurchmesser dort, wo sich sein Horizont al-
und sein Querumfang verengern. Dieses Maass ist ein höchst unzuverlässiges. Richtig ist
der Rath von Baer, das Maass dort zu nehmen, wo es sich vorfindet.
SCHÄDELMESSUNG.
11
In der Vorderansicht (Norma facialis) (Fig. b,); fällt die Schmalheit und Höhe
der Stirne und des Gesichtes und die Höhe des Unterkiefers auf und die Jochbogen erscheinen
senkrecht. Die grösste Breite fällt in die Mitte des Schädels.
Der zweite (brachykephale) sarmatische Typus zeigt in der Norma verticalis (Fig. a2)
die Form eines Eies mit der schmalen Seite nach vorn und die grösste Breite fällt hinter
die Mitte. Die Breite ist grösser und die Länge kleiner als im vorigen Typus.
In der Norma occipitulis (Fig. c3) erscheint der- Schädel breiter als hoch und das
Dach und die Seitenwände sind stärker gewölbt. Der "Warzenabstand ist auffallend kleiner
als die grösste Breite.
In der Norma lateralis erscheint die hintere Fläche gleichmässig gewölbt und ohne
sich sfark^ von der Scheitelwölbung abzuheben. Der Oberkiefer ist weniger hervortretend.
In der Norma facialis (Fig. b2) zeigt sich die Stirne massig hoch und breit, das
Gesicht schmal und lang, der Unterkiefer kurz und die Nase von mittlerer Grösse.
Der dritte (extrem brachykephale) turanische Typus zeigt (Fig. aa) in der Norma
verticalis (ebenso wie in der Norma occipitalis) eine fast kreisrunde Form. Die Länge ist
wenig grösser als die Breite und die grösste Breite fällt in die Mitte des Schädels
In der Norma occipitalis (Fig. c3) erscheint der Schädel viel breiter als hoch. Der
Schädel erscheint im Querschnitte stark gewölbt und der Warzenabstand ist daher viel kleiner
als die grösste Breite.
12 SCHÄDELMESSUNG.
In der Normo lateralis erscheint das Occiput kugelförmig und geht ohne starken
Absatz aus der Scheitelwölbtmg hervor. Bei der geringen Länge erscheint der Schädel hoch.
Die Nase ragt nicht hervor.
In der Normet facialis (Fig. b8) erscheint die Stirne breit und nieder und der
mittlere Theil des Schädels wölbt sich seitlich hervor. Das Gesicht ist kurz, breit, der Unter-
kiefer kurz, die Nase klein und platt, die Nasenwurzel tief eingeschnitten, die Jochbeine
nach aussen hervorragend, und zwar steht der untere Eand mehr nach aussen als der obere.
Die Erörterung der Hypothese, ob alle diese Mischformen und Grund-
typen das Resultat historischer Racenmischung oder erhaltener Racenreinheit sei,
gehört nicht hieher. Die naturwissenschaftliche Thatsache aber steht fest, dass in
der modernen europäischen Bevölkerung die Formen der Köpfe aus disparaten
Urformen zu einem neuen Mitteltypus hinstreben und dass nur wenige Völker eine
mehr homogene Reihe repräsentiren. Die führenden Nationen sind mehr gemischt.
Dass eine gleiche culturelle Entwicklung eine naturhistorische Homogenität
herstellte, beweist der moderne Judenschädel, der in Bezug auf Formen und
Maasse durchgehends keine Deviation von jener der in Formation begriffenen
„mitteleuropäischen" Race zeigt.
Erst zu erörtern wird an der Hand der Psychologie und Pathologie die
Frage sein, ob jene selten gewordenen, extremen Formen, welche längst ent-
schwundenen Typen angehören, überhaupt noch zu einer typischen Endreihe oder
zu einer atypischen gerechnet werden sollen.
Bei Weissbach wechseln die Mitteln des Längenbreitenindex zwischen
81*0 (Deutsche) und 82-6 (Czechen). Entgegen der Annahme von Welckee, ist
der Schädel des Weibes mehr brachykephal als der des Mannes.
Die Reihe bei Weissbach's Männern ist folgende :
71-5—72-0 sind 1 Kr. [Magyare] (0'5<>/0)
72-0—75-0 „ 2 „ (0-9 „ )
(3-3 „ )
75-0—76-0 „ 7
76-0 — 83-0 „ 109
83-0—87-0 „ 74
87-0—88-0 „ 7
88-0—90-0 „ 12
90-0—92-1 „ 3
(50-5 „ )
(34-2 „ )
(3-3 „ )
(5-5 „ )
(1-5 „ )
Dabei ist zu beachten, dass bei 50 deutschen Schädeln keiner unter
75-0 ist, dass 46 zwischen 76-0—83-0 liegen und einer über 87*0, aber unter
90 ist. 3 Kranien (6n/0) liegt zwischen 75-0 und 76'0.
Der Längenbreitenindex beträgt für das deutsche Weib nach Weissbach
83*1. Da wir das WELCKER'sche Maass nicht verwenden können, so fehlen uns
die Daten für den wachsenden Schädel. Bei den 88 männlichen Kranien von
Geisteskranken bei Zuckerkandl
Kr. [51-8, 63-1, 67-9] (3-4 o/0)
unter
70
—
3
70-
-72
—
4
72-
-75
—
4
75-
-76
=
3
76-
-83
—
52
83-
-87
—
20
87-
-90
—
2
(4-5 „)
(4'5 „)
(3-43 „ )
(59-1 „)
(22-5 „)
(2'2 „)
In der GALi/schen Sammlung (16 Männer).
Bis 76 = 0 Kr. I 83—87 = 7 Kr. (43'75<V0)
76—83 = 7 ,, (43-75°/0) j 87—90 = 2 ' „ (12-5 „)
Das Mittel ist 83*3, also eher grösser als normal.
Bei den Weibern Zuckerkandl's (28)
70—72 = 1 Kr.
72—75 = 0 ..
75—76 = 2 Kr.
76—83 = 19 „
83—8,7 = 5 Kr.
87—90 = 1 „
SCHÄDELMESSUNG.
13
Bei (9) Weibern der
75—76 = 1 Kr
76—83 = 4 „
GrALL'schen Sammlung
Kr.
80-4.
90—91-3 = 1 Kr.
Bei
83—87 = 3
87—90 = 0
Das Mittel
den Königsberger Schädeln sind die männlichen und
den 7 Bonner männlichen
die weiblichen
Schädeln das
um 2°/0 brachykephaler , während bei
Mittel 78-1 ist, also jedenfalls etwas untertypisch. Daraus geht hervor, dass bei
Geisteskranken die extremen Reihen häufiger sind als unter normalen Schädeln.
Bei 176 männlichen (Verbrecherkranien, 13 meiner und 163 der Bonner
Sammlung) sind folgende Reihen vorhanden:
= 1 Kr.
1
3
5
11
19
85
(0-6o/0)
(1-7 „ )
(2'8 „ )
(6-2 „ )
(10-8 „ )
(48-3 „ )
83—87
87—88
88—90
90—92
92—93
= 35 Kr. (19-8<7o)
10
4
0
3
(5-6 „
(2'2 „
(1'7 „ )
62—63
66—70
71—72
72—75
75—76
76—83
Während also bei Weissbach bis 75 blos 1*5 °/0 existiren, sind hier ll°/0
vorhanden und bis 76 bei Weissbach 4-8 °/0, hier 21°/0 !
Das Minimum liegt um 9% niedriger. Die obersten Reihen sind ziemlich
gleich. Wenn man aber bedenkt, dass die Bonner Normalschädel jedenfalls einen
geringeren Index geben als die österreichischen Racen, so können wir mit Bestimmtheit
sagen , die Verbrecher enthalten unvergleichlich mehr dolichokephale Schädel und
wahrscheinlich mehr brachykephale.
Da die Natur den Schädel nach streng mathematischen Principien auf-
gebaut hat, so kann es nicht überraschen, dass die Verhältnisszahl der genannten
zwei Radien seit Retzius ein so wichtiges Eintheilungsprincip geworden ist. Jedoch
ist die Einreihung der Schädel in lange und kurze nach der absoluten Grösse des
Längsradius und in enge (stenokephale), mittelweite und weite (eurykephale) nach
der absoluten Grösse des Querdurchmessers doch eine richtigere (Aebt),
Die typische, grösste Länge der Schädel der deutschen und österreichischen,
erwachsenen, männlichen Bevölkerung schwankt zwischen 17*5 und 18*5. Als
unterste Grenze ist 16*5, als oberste 19-0 zu nehmen.
Bei Weissbach besteht folgende Reihe bei den männlichen Schädeln (216):
15-9— 16'5 = • 6 (2-7°/0)
18-6— 19-0 =
12 (5-4<>/0)
16-6— 17-0 = 19 (8-7 „)
19-1— 19-5 =
6 (2-7 „)
17-1— 18-0 = 119 (55'1 „)
19-6—20-0 =
1 (0-4 „)
18-0— 18-5 — 53 (24-5 „ )
Von den deutschen Männerschädeln (50)
Reihe, in der zweiten Reihe befinden sich 2°/0, in
vierten Reihe 8% , in der sechsten Reihe 2°/0.
anderen Racen.
Bei 162 männlichen Bonner Verbrecherschädeln fanden sich:
erscheint keiner in der ersten
der dritten Reihe 8°/0, in der
Letztere Reihe fehlt bei den
16-0—17-0 = 9
17-1—18-0 — 52
18-1—91-0 == 74
(5-55%)
(32-1 „)
(45-6 „)
19-1— 20-0 ==
20-1—21-0 =
22-1—22-2 =
Unter 15 männlichen Verbrecherschädeln meiner
25 (15-4o/0)
3 (1-8 „)
1 (0-6 „)
Sammlung sind
mit 15-4! (6-7°/o)
zwischen 16-1—17-0 (13-3 „ )
Bei
16-0—17-0 = 14 (15-9<Yo)
17-1—18-0 = 36 (40-9 „ )
7 zwischen 17-1— 18-0 (46-7°/0)
5 „ 18-1— 19-0 (33-3 „)*)
männlichen Geisteskranken Zuckeekandl's sind:
18-1—19-0 = 36 (40-9o/0)
19-1—20-0 = 2 (2-3 „ )
*) Also wieder mehr Extreme in beiden Reihen als in der Normalreihe.
14 SCHÄDELMESSUNG.
Unter den 15 männlichen Geisteskranken der Königsberger Sammlung
finden sich:
160 L6-0 = 1 (6'7°/0) 18-1— 19-0 = 5 (33-3%)
16*1— 17-0 = 1 (6-7 „) 19-1 — 19-5 = 2 (13-3 „ )
17-1— 18-0 = 6 (39-9 ..
Bei GALL'S männlichen Schädeln (16) rinden sich:
16-1— 17-0 = 2 (12-5°/o) | 18-1— 18-5 = 3 (18'S0/o)*)
171 — 18-0 = 11 (68-6 „) |
Der weibliche Schädel ist circa 5 Mm. kürzer als der männliche. Beim
männlichen und weiblichen Schädel von Neugeborenen beträgt die Länge circa 12'0
und sie erreicht beiläufig (nach den Zahlen von Welcher) bereits nach dem ersten
Jahre die Hälfte der Differenz vom erwachsenen Schädel. Aehnlich verhält sich
das Wachsthum der grössten Breite, während die grösste Höhe etwas langsamer
zu wachsen scheint.
In einzelnen Reihen der deutschen Bevölkerung, wo der alte germanische
Typus sich mehr erhalten hat, ist der Percentsatz der langen Köpfe etwas grösser,
und ist dabei der Längenbreitenindex ein geringer.
Wo die ganze Form des Reihengröbertypus erhalten, der Schädel also
dolichokephal ist, wird ein Längsdiameter etwas über 19 noch nicht als atypisch
angesehen werden können. Wohl aber ist ein solcher Schädel als „Kephalone"
(Grossschädel) zu bezeichnen, wenn der Längenbreitenindex die Zahl 80 wesentlich
überschreitet.
Was die „grösste Breite" betrifft, so ist als mittlere Reihe jene von
14-0— 15-5.
Bei Weissbach (Männer) bestehen folgende Reihen:
13-0— 13-5 = 5 (2-3%) ! 151— 155 = 34 (15-7%)
13-6— 14-0 = 25 (11-5 „) 15-6— 16-0 = 8 (3-6 „ )
14-1— 14-5 = 71 (32-9 „ ) 16-1— 16'5 = 1 (0-4 „ )
14-6—15 0 = 72 (13-3 „ )
Bei 163 männlichen Schädeln der Bonner Sammlung (mit Ausnahme der
Geisteskranken und Selbstmörder) finden sich:
12-0— 13-0 = 2 (l-2°/0) | 15-1— 16-0 = 29 (17-7%)
13-1— 14-0 = 36 (21-8,,) ; 16'1— 170 = 4 (2*4 „)
14-1— 15-0 — 92 (56*1 „ ) I
Bei den 15 Verbrecherschädeln meiner Sammlung sind:
zwischen 13-9— 14-0 = 3 (20-0°/0) ! zwischen 15-1— 16-0 = 5 (33*40/0)**)
„ 14-1—15 0=7 (46-6 „ ) ;
Bei den 14 geisteskranken Männerschädeln der Königsberger Sammlung:
12-9—13-0 = 1 (7-10/(0 15-1—16-0 = 3 (21'4°/0)
13-1—14-0 = 4 (28-5,/) 16-1—16-6 = 1 (7\L „ )
14-1—15-0 = 5 (35-7 „ )
Bei Zuckerkaxdl's männlichen Irrenschädeln (88) finden sich:
9-4 = 1 (1-1° 0) zwischen 14-1—15-0 = 50 (56*8
o.
zwischen 12-0—13-0 = 7 (7-9,,) „ 15-1—16-0 = 12 (13'7 „ )
„ 13-1—14-0 = 18 (20-5,,) I
In Gall's Sammlung männlicher Schädel (16) waren zwischen:
13-0—14-0 = 3 (18-7%) | 15-6—15-8 = 3 (18'7<>/o)***)
14-1—15-5 = 10 (62-6 „)
Die grösste Breite des weiblichen Schädels beträgt nicht, wie Welcker
angiebt, 13*3, sondern, nach Weissbach und Aeby (19 + 12 Kranien), 14-2 und
nach 1 1 deutscheu Weiberschädeln aus einer Normal- Sammlung von Zuckerkaxdl
14-0 und da der weibliche Schädel mehr kurz als schmal ist, im Vergleiche zum
*) Die kurzen Schädel sind daher überwiegend.
**j Also in den zivei Eeihen ein grosses TTeberwiegen der engen und weiten Schädel.
***) Kolossales üebenviegen der engen, aber auch Teberwiegen breiter Schädel!
SCHADELMESSUNG.
15
männlichen, so ist er auch bracliykephaler. Nach Aeby sind, auf die Basallänge
als Einheit berechnet, der männliche und weibliche Schädel glebh breit. Dabei
ist das Occiput beim Weibe relativ länger.
Von anderen Breitenmaassen, die mit dem Cirkel am Schädel genommen
werden können und sollen, sind zu erwähnen: 1. die „grösste Stirnbveite" {F Q)
(s. Fig. 3), wo sie hinfällt, i. e. die grösste Breite des Stirnbeins; weiter 2. die
„kleinste Stirnbreite" (fg) hinter der Linea semicircularis des Stirnbeins, weiter
die grösste „Jochwurzelbreite" Jo Q und Ohrenbreite (0 0), die Warzenfortsatzbreite
(i. e. der Abstand der Spitzen dieser Fortsätze) und die grösste Occipitalbreite
zwischen den untersten Punkten der beiden Lambdanähte.
Mg. 3.
Alle diese Breitenmaasse sind an symmetrischen Schädeln ziemlich cor-
rect, weil sie senkrecht auf die Medianebene zu liegen kommen. Für die kleinste
Stirnbreite dürften 9*0 und 10*5 die typischen Grenzen bedeuten. Es finden
sich bei Weissbach nur 3 Schädel unter 9-0 mit dem Minimum 8*8 und nur
1 Schädel mit 10- 6.
Für die „grösste Stirnbreite" dürfte als typische Grenze 12*5 und 10*5
anzusehen sein. Unter lö"5 sind bei Weissbach blos 7 und über 12-5 4 Schädel.
Unter 1O0 einer und über 13*0 keiner. Bei 13 Verbrecherschädeln fand ich 4 (!)
über 12-5, darunter einen mit dem Maximum 13*3.
Besonders das Verhältniss zwischen den grössten und kleinsten Stirnbreiten
ist wichtig.
Das Material ist noch ungenügend, um typische Zahlen festzustellen.
Sehr wichtig ist die W a r z e n b r e i t e. Sie giebt in dem Verhältniss
zur grössten Breite ein wichtiges physiognomisches Maass (s. weiter oben die
Darstellung der Urtypen von Holder). In der lebenden Bevölkerung schwanken
die Mittel der Intermastoid albreite zwischen 10*4 — 10*7 und als atypisch dürfte
eine Breite unter 9*5 und über 11* 5 anzusehen sein. Bei Weissbach finden sich
nur 2 Schädel mit über 11 "5 (Maximum lmal 12*0) und nur 1 mit unter 9*5
(Minimum 9*4).
Die Hinterhauptsbreite schwankt zwischen 10 — 12*5 ; das Mittel liegt
bei 11 oder knapp darüber oder darunter. Hinterhauptsbreiten unter 9*5 und über
12-5 sind als atypisch anzusehen.
Bei Weissbach findet sich keiner unter 9*5 und nur einer mit 12*8 bei
einem deutschen Kephalonen.
Als lineare Maasse wären noch wichtig die medianen Sehnenmaasse
der einzelnen Knochen des Schädels, also besonders 1. der die Sehne von der Nasen-
wurzel zum vorderen Bregma (Zusammenfluss der Coronar- und der Sagittalnaht) [n ß]
16
SCHÄDELMESSUNG.
8. Fig. I I ; 2. der Sehne vom vorderen Bregma zum „hinteren Bregma" (Zusammen-
flasa der Sagittalnahl mit den Lambdanähten) [ß a] und 3. vom letzteren Punkte
/.um hinteren Basalpunkte (a B). Der Hinterhauptsknochen wird noch zweck-
mässig kraniometrisoh in 2 Theile getheilt, nämlich in das Interparietalbein, dessen
Grenze oben Dach Hischke angegeben ist und die Hinterhauptsschuppe. Man
wird also gut thun, von dem hinteren Bregma das Sehnenmaass zum Tuber
occipitale externum zu nehmen (a t) und von diesem zum hinteren medianen
Punkt des Hinterhauptsloches (t B).
Diese Maasse geben nämlich im Zusammenhange mit den betreffenden
Bogenmaassen ein gutes Bild von der medianen Krümmung des Schädels.
Weitere wichtige lineare Maasse sind : 1 . die Distanz des vorderen
medianen Punktes des Hinterhauptsloches zur Nasenwurzel (oder zum Foramen
coecum nach Aeby), nämlich die sogenannte „Schädelbasislänge" oder vordere
„Schädellänge" und 2. vom erstgenannten Punkte zum unteren Punkte des Nasen-
stachels („Gesichtsbasislänge). [bn und bo in Fig. 5.]
Fi£. 5.
Aus dem Dreiecke — Gesichtsdreieck — das diese beiden Linien
'bn und bx) mit der „Nasenlänge" (nx), i. e. der Linie von der Nasenwurzel
bis zur Basis des (vorderen) Nasenstachels bilden, wird der Winkel an der Nasen-
wurzel (bxn) berechnet und dieser Winkel giebt bis zu einem gewissen Grade
die Prognathie an, i. e. das Maass , inwieweit die Nasenlinie von oben nach
unten aus dem Gesichte nach vorn und unten heraustritt. Dass dieser Winkel kein
■ SCHÄDELMESSUNG. 17
eigentliches Maass der Prognathie geben könne, werden wir später deutlich darlegen.
Hier sei nur bemerkt, dass wir kranioskopisch unter Prognathie die Neigung der
Nasenlinie gegen eine natürliche Vertikalebene verstehen, während hier die Neigung
gegen die Grundlinie gemessen wird, deren Stellung im Schädel selbst variabel ist.
Wir können daher sagen, der Versuch der empirischen Methode, den
Profilwinkel des Oberkiefers zu construiren, sei noch nicht vollständig geglückt.
Dasselbe gilt von dem Versuch Virchow's aus den Maassen 1. von dem vorderen
Basalpunkte (b) zum Ephippium, 2. von diesem zur Nasenwurzel (n) und 3. vom
vorderen Basalpunkte (b) zur Nasenwurzel (n) ein Dreieck zu construiren und aus
dem Winkel am Ephippium („Sattelwinkel") ein Maass für die Krümmung der
Basiswirbel und zugleich ein Maass für die Prognathie zu gewinnen. Nur eine
streng geometrische Methode kann sichere Resultate liefern. Man kann auch den
Winkel (bnx) des Gesichtsdreiecks (bnx) am Nasenstachel als Maass der
Prognathie nehmen und das entspricht beiläufig dem CAMPER'schen Winkel, nur
mit dem Unterschiede, dass bei letzterem eigentlich ein medianer Punkt zwischen
den Ohren den vorderen Basalpunkt vertritt.
Der Winkel an der Nasenwurzel ist nach Welcher bei Neugeborenen
71-2° und nimmt beim Wachsen ab, so dass er beim deutschen Mannesschädel 66'2
und beim Weiberschädel 66*8 beträgt. Beim jungen Thierschädel ist der Winkel
z. B. 87° und wächst — statt abzunehmen — mit dem zunehmenden Alter
bis 108° (Orang-Utang) oder z. B. von 120° und wächst bis 131° (Fuchs). Der
Winkel (bnx) des genannten Gesichtsdreiecks am Nasenstachel ist beim Neu-
gebornen 84-2° und nimmt beim Manne auf 78*8 und beim Weibe auf 78'6 ab.
Beim Orang-Utang von 65° auf 34°!
Auch der Sattelwinkel nimmt beim wachsenden Menschen ab (von 140°
auf 138° bei Frauen und 134° bei Männern), während er beim Thiere zunimmt,
z. B. beim Simia ajpela von 140° auf 180° steigt. Der Winkel an der Nasen-
wurzel und der Sattelwinkel sind nach Welcker einander proportional und grosse
Winkel entsprechen im Allgemeinen der Prognathie und kleine der Opistognathie
(Rückweichen des Kiefers). Langschädel sind gewöhnlich mehr prognath als
kurze. Die Prognathie der Nasenlinie ist von jener der ganzen medianen Ober-
kieferlinie zu unterscheiden, da der Zahnfortsatz für sich mehr hervortreten kann,
i. e. die mediane Nasenlinie braucht nicht mit der medianen Linie des Zahn-
fortsatzes des Oberkiefers in einer Flucht zu liegen 5 beide Linien können vielmehr
einen Winkel bilden. Deshalb ist es zweckmässiger mit Welcker die untere
Linie des Gesichtsdreiecks zum Nasenstachel als mit Weissbach zum untersten
medianen Punkte des Zahnfortsatzes zu führen.
Die Franzosen berechnen wieder in der Regel blos die Prognathie des
Processus alveolares. Das Richtigste ist es, eben beide zu berechnen. Hoch-
gradige Prognathie in dem einen oder anderen Sinne geben einen hochgradig
thierischen Charakter.
Ich komme noch einmal auf die Grundlinie (bn) zurück.
Die Tabellen bei Weissbach (215 Männer) schwanken zwischen 9-0 und
11*0, so zwar, dass von 215 nicht weniger als 210 zwischen diesen Grenzen liegen.
Zwischen 8*6— 9-0 sind 3 Kr. (l'4°/0)
9-0- 9-9 „ 96 „ (44-6 „ )
„ • 10-0-11-0 „ 114 „ (53-1 „ )
11-0-11-4 „ 2 „ (0-9 „)
Bei Weissbach und Welcker (49 Kranien in toto) ist folgende Reihe
für weibliche Kranien:
Zwischen 8'3— 8-9 sind 11 Kr. (22-4°/0)
9-0- 9-9 „ 30 „ (61-2 „ )
10-0-10-3 „ 8 „ (16-7,,)
In der grossen Reihe von Racenschädeln bei Aeby finden sich einzelne
Schädel mit 8-0.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 2
ig .sciIÄDELMESSUNG.
Gegenüber diesen Resultaten sind die Maasse bei (86) männlichen Irren-
Bohädeln (ZUCKERKANDL) ganz enorm abweichend. Diese Differenz beruht aber
vielleicht theilweise auf irgend einem Irrthume. Während bei Weissbach 44,G°/0
kranien zwischen 9'0 — (.>-9 liegen, sind hier 7 Kranien mit 8-1%. Zwischen
ino ii-o liegen bei Z. 48 Kranien mit 55*8%. Während bei Weissbach
/wischen 9*0 — ll'O fast 98% liegen, sind hier nur 63'9%. Während aber bei
WEISSBACH nur 0*9% zwischen ll'O — 12-0 liegen und das Maximum dort 11*4 ist,
liegen hier 25 Kranien (29%) zwischen ll'O — 12*0 und das Maximum ist bei 12-0
noch nicht erreicht. Noch ganze 4-'G% (4 Kranien) liegen zwischen 120- 13*0
und das Maximum liegt zwischen 13'0 — 14'0 (1 Kranium 1*1%) bei 13*1.
Auch beim weiblichen Irrenschädel besteht ein analoges Verhältniss. Bei
WEISSBACH- WELCHER (49 deutsche weibliche Schädel) ist das Minimum 8*3, und
es befanden sich 11 Kranien (22*4%) zwischen 8*3 — 8-9; bei Zuckere andl ist
das Minimum 8*9 und nur 1 Kranium (3'5%) ist unter 9-0. Während ferner
bei Welcker- Weissbach 30 Kranien (61-2%) zwischen 9-0 — 9-9 liegen, ist
dies bei Zuckerkandl nur mit 10-5% (3 Kranien) der Fall.
Bei Welcker- Weissbach liegen nur mehr 16*7% (8 Kranien) zwischen
10-0 — 11-0 und das Maximum ist 10-3; bei Zuckerkandl 75% (21 Kranien)
zwischen 10*0 — ll'O und das Maximum ist lange nicht erreicht. 2 Schädel
liegen noch über ll'O und das Maximum ist 12'1. Bei den Kranien der GALL'schen
Sammlung ist das Umgekehrte der Fall, indem bei den 16 Männern:
zwischen 8'8— 8'9 — 2 (12-0%) und
9-0- 9-9 = 7 (44 „ )
„ 100-0— 108-0 = 7 (44 „ ) liegen.
Bei den 9 Weibern:
zwischen 8'6— 8-9 = 5 (55*3%)
„ 9-0— 9-9 = 3 (33-3 „ )
„ 100-0 = 1 (11-3 „),
also in den kleinen Reihen ein grösserer Procentsatz vorhanden ist als in der
Normalreihe. Aehnlich ist das Verhältniss bei den Männerschädeln.
Unter 14 Verbrecherschädeln meiner Sammlung liegt bei 10 diese Linie
zwischen 9*1 — 10'0 und bei 4 zwischen 10'1 — 10*5.
Wir wollen die sogenannte Schädelbasislänge (bri) noch einer weiteren
Erörterung unterziehen. Es versteht sich von selbst, dass diese Linie als eine
schiefe nicht eigentlich die Längenprojection des Schädels vom vorderen Basal-
punkte (b) bis zur Nasenwurzel (n) ausdrückt. Es musste vielmehr die Projection
derselben auf eine natürliche, horizontale Sagittalachse gefunden werden.
Ebensowenig giebt eine Linie vom vorderen Punkte des Hinterhauptsloches
zur Prominentia maxima occiisitalis (o) einen sicheren Ausdruck für die Längs-
entwicklung der hinteren Hälfte des Schädels, selbst wenn man das Dreieck dieser
2 Linien mit der Längswölbungssehne (n o), i. e. der Linie von der Nasenwurzel (n)
zur Prominentia maxima occifpitalis (o) studirt. Projicirt man die Linien bn und bo
auf wo, so hängt die Grösse der Projection von der Stellung der Linie n o ab.
Ist diese nach unten und hinten geneigt, dann wird die Schädelbasislinie
zu gross und umgekehrt.
Sehr interessant ist das Studiren des Basalwinkels (nbo). Er nähert
sich bei vielen Schädeln einem Winkel von 180°, i. e. die vordere und hintere
Schädellänge fallen mit der genannten Lehne (no) zusammen.
Bei Thieren ist die wirkliche Projection der hinteren Schädellänge sehr
klein. Da aber die genannte Sehne (n o) stark nach oben und hinten geneigt ist,
so fällt die Projection der hinteren Hälfte sehr gross aus. Der Basalwinkel (nbo)
ist nicht viel unter 90°.
Von den Autoren hat vor Allem Aeby die Bedeutung der Theilung der
Schädellänge in eine vordere und hintere erfasst, die durch eine verticale Quer-
ebene, die durch den vorderen Basalpunkt (6) geht, geschieden werden. Er nahm
SCHADELMESSUNG.
19
einfach die Grundlinie (b n) oder vielmehr die Linie von b zum Foramen coecum
als Projectionslinie und führte auf dieser Fortsetzung nach hinten das Loth von
der Prominentia occipitalis (o). Diese Maasse sind für die hintere Hälfte alle
zu klein, weil Aebt's Projectionslinie eine unnatürliche, i. e. nach unten und
hinten geneigt ist.
Wäre die Neigung der AEBY'schen Projectionslinie eine constante, so würde
das nicht viel zu sagen hahen. Seine Zahlen brauchen dann nur für die natürliche
Projection mit einer Constanten multiplicirt werden. Allein die Projectionslinie von
Aeby ist das Resultat der combinirten Krümmung der Schädelwirbeln und daher das
Maass der hinteren Schädellänge bei verschiedenen Schädeln nicht recht vergleichbar.
Doch geht schon aus der Untersuchung von Aeby hervor, dass bei
absolut langen, wie bei absolut kurzen Schädeln die hintere Schädellänge relativ
kurz oder lang sein könne. Sie ist z. B. bei den langschädligen Germanen
gross (ca. 80°/0 der vorderen) und bei den langschädligen Negern klein (ca. 60°/o)i
im Gegensatze wurde bei den breitschädligen Kalmücken gross (73°/0) und bei
den breitschädligen Japanesen klein (58°/0).
Dies fällt besonders bei Slavenschädeln auf, deren Typen überall in
Deutschland vorkommen. Bei gleicher absoluter Schädellänge ist bei einem Typus
(z. B den Czechen) die hintere Länge gross und bei anderen (Slovenen z.B.) im
Allgemeinen klein. Wir werden die exacteren und die exacten Methoden dieser
Messung weiter unten kennen lernen.
Auch Holder hat die hintere Schädellänge correct nach einem natür-
lichen Projectmessungssysteme gemessen, aber er maass die Distanz der Querebene
der „grössten Breite" zum hintersten Pole des Schädels. Er hat nur die in
Deutschland vorkommenden Typen berücksichtigt. Die Differenz beträgt etwa 8°/0.
Da aber die grösste Breite hinter die oben genannte Ebene fällt, so haben
Hölder's Zahlen eine ganz andere Bedeutung als jene, welche vom Basalpunkte
oder von der mittleren Ohrenebene aus gerechnet werden.
Für die Pathologie und Medico -Psychologie ist das Verhältniss der vor-
deren zur hinteren Basallänge jedenfalls von grösster Bedeutung. Ich will hier
zunächst eine Schädelreihe zusammenstellen, bei der ich das Verhältniss der Pro-
jectionen auf die Orbitostatenebene , theils durch directe Messung, theils aus der
exacten Zeichnung der Medianebene berechnet habe.
Bezeichnung der Schädel
1. Mörder, Soldat
2. „Hypsokephaler"
3. Japanese
4. „Dornbacher Mörder" . .
5. Deutscher moderner Schädel .
6. Deutscher Knabe, 2 Jahre .
7. Neger
8. Neuholländer
9. Papua rect. Alfuris ....
10. 2. deutsche Normalschädel . .
11. Peruaner
12. Czeche
13. Zigeuner, Dieb
14. 2. Hypsokeph. Schädel . . .
15. Weiblicher Klein schadet
16. Oxykeph. Schädel ....
17. Scaphenokephalius ....
18. Schädel mit occipitaler Quernaht
b n
(projicirt)
93-0
92-0
91-0
86-0
91-0
72 0
91-0
86-0
82-5
82-5
79-0
85-0
85-0
79-0
74-0
74-0
74-0
74-5
bo
(projicirt)
Percentsatz = =■—
n b
76-0
80-0
83-0
85-0
91-0
72-0
91-0
88-0
87-0
88-5
86-0
97-0
10-1
87-0
93-0
95-0
98-0
99-7
81-7
86-9
93-2
98-8
100-0
100-0
100-0
102-3
105-4
106-4
108-8
114-1
118-8
122-3
125-6
128-3
132-4
134-7
2*
2 ; SCHÄDELMESSUNG.
Diese Reihe ist ausserordentlich lehrreich. Zwischen 93— 114 °/0 bewegen
sich die Racenschädel , wobei zu bemerken ist, dass sowohl bei dem Japanesen
als bei dem Czechen die Ziffern wohl an der äussersten, seltenen Reihe ihres
Stammes stehen durften. Nur ein Mörderschädel liegt in der normalen Reihe.
Ueber die Grenzen hinaus befinden sich von den 3 Verbrecherschädeln der Reihe
2 and die übrigen in der aussertypischen Reihe sind pathologische.
Auf den Zeichnungen von Lucae's pathologischen Schädeln (16) habe ich
die m iimh'T sehe Horizontale gezogen und die Projection der hinteren und vor-
deren Sehädelhälfte von der Mitte des Ohres aus gezogen. Es zeigte sich —
trotzdem diese Horizontale gerade bei pathologischen Schädeln enorm verbogen
ist — in 6 Fällen von 16 ein auffallendes Resultat. 3 Schädel waren im
Occipuf — von der Mitte des Ohres gerechnet — verkürzt (Minimum 84\3°/0)
und 3 verlängert (Maximum 138%*).
Nur beim Menschen kommt Verlängerung oder Gleichheit der hinteren
Basallinie vor; bei allen Thieren ist sie verkürzt. Die gemessenen Affenschädel
zeigen folgenden Percentsatz der hinteren Länge, wenn die vordere = 100:
1. Callithrix brunea juven. 61#2°/0 ; 2. Simia Satyros, alt 58*l°/o; 3. Simia
Satyros, jung 54*10/0; 4. Macacus cynomolgus 41*8°/0 ; 5. Cercopühecus
niger 33*3° 0 ; 0. Hylobates Mülleri 31*0°/0 ; 7. Gorilla (Männchen aus-
gewachsen) 25-3° 0 ; 8. Lemur Movoz l4'2°/0 und 9. Mycetes villosus 8'7°/0.
Dabei liegt der hinterste Punkt des Schädels hinter dem hinteren Basalpunkte.
Noch interessanter wird das Verhältniss bei den anderen Säugethieren. Bei
den meisten ist der hintere Basalpunkt der hinterste Punkt des Schädels, bei anderen
stellt sogar der dem vorderen Basalpunkte entsprechende den hintersten Punkt
des Schädels dar, i. e. das Foramen occipitale magnum ist nach vorne über-
geschlagen und sieht nach oben. Dahin gehören Phoca vitell., Manis ThemincMi
und Hippopotamus pullus juven.
Bei Dasypus novem einet, liegen die beiden Basalpunkte in einer Ver-
ticalen; beim Delphin beträgt die hintere Basallinie nur 0*9 °/0 des vorderen.
Nur bei Halmaturus Giganteus und Bradypus GuculUger ist der Percentsatz
(15-6 und 11"2) noch ein relativ beträchtlicher. Ihnen folgt Thylaceus eynoeeph.,
0 r ykteropus capensis und Felis tigris mit 3*7, 1'8 und l'5°/0.
Wir kommen nun zu den Höhenmaassen. Von den meisten Autoren
wird der vordere, mediane Punkt des Foramen occipitale zum Ausgangspunkt
dieser Messung gemacht. So lange man aber den Schädel nicht „orientirte", war
es sehr schwierig, eine „grösste Höhe" zu wählen. Denn je nach der Drehung
des Schädels konnte ja der höchste Punkt selbst auf die vordere oder hintere
Fläche des Schädelgewölbes fallen ; der instinetive Raumbegriff ergab aber, dass der
höchste Punkt in die Scheitelregion fallen müsse. Man maass nun zu dem „höchsten
Punkte" des Schädels. So wenig Sinn eigentlich in dieser Regel liegt, so war damit
instinetiv beiläufig das Richtige getroffen.
Andere gaben die Regel, zum Bregma oder in der Nähe des Bregmas an
der Sagittalnaht zu messen.
Alle diese „Regeln" liefern Zahlen, welche die „grösste Höhe" ziemlich
richtig geben.
Bei einem nach der Blickebene orientirten Schädel fällt nämlich die höchste
Erhebimg in die nächste Umgebung des vorderen Bregmas (ß) und, mit dem Cirkel
gemessen, bildet die Region zunächst hinter dem Bregma gewöhnlich eine dem
Kreise sich sehr annähernde Curve, deren Centrum der vordere Basalpunkt (b)
ist. Die Linie zum vorderen (ß) Bregma ist im Allgemeinen gleich oder nur um
1 — 2 Mm. kürzer als die zum instinetiv höchsten Scheitelpunkte. Wenn man also
zum Radius vom vorderen Basalpunkte (b) zum Bregma 1 Mm. hinzurechnet,
kann man sicher sein, bei Racenschädeln die richtige oder nahezu richtige „grösste
*) Es sei hier bemerkt, dass die Distanz des vorderen Basalpunktes zur Mitte des
Ohres nicht constant ist.
SCHÄDELMESSUNG. 21
Höhe" gefunden zu haben. Die meisten Zahlenangaben über die höchste Höhe bei
den verschiedenen Autoren haben daher einen hohen Grad von Richtigkeit.
Nur bei pathologischen Schädeln, besonders bei Spitzköpfen, fällt der
höchste Punkte selten vor, aber oft bedeutend genug hinter die Querebene des
Basalpunktes (b). Dann hat aber die lineare Distanz von dem instinctiv erkannten
höchsten Punkte zum genannten Basalpunkte (b) eine variable Bedeutung da die
betreffende Linie gewöhnlich schräg steht und sie ist grösser als die projicirte
grösste Höhe. Aeby bat mit Recht bemerkt, dass die Schädelhöhe gar keine
Racendifferenz biete, indem die Mittelzahlen ziemlich gleich bleiben und die
Schwankungen, die bei der einen Race vorkommen, sich bei jeder anderen wieder-
finden. Die Ziffer, um die sich die Mittel unserer Bevölkerung bewegen, ist 13*5
und das Schwanken der Mittel beträgt meist nur einige Millimeter, 15'0 wird
kaum je vom Normalschädel erreicht und Höhen unter 12 kommen sehr selten vor.
Man wird also die Schädel je nach der absoluten Grösse der „grössten
Höhe" in hohe, niedere und mittelhohe Schädel eintheilen.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass der sogenannte Höhenindex ohne
Bedeutung sei. Bei gleicher Höhe wird ein langer Schädel einen niederen und ein
kurzer einen grossen Index geben, wenn der Längenhöhenindex in Betracht kommt
und wenn wir den Breitenhöhenindex wählen, wird bei gleicher Höhe ein schmaler
einen grossen und ein breiter einen kleinen Index geben. Etwas ausgesagt wird
durch den Index nicht.
Die männliche Reihe bei Weissbach (2 1 5 Kr.) ist folgende :
zwischen 11-5— 12-0 == 2 (0-93%)
„ 12-1— 13-0 r- 47 (21-9 „)
„ 13-1— 14-0 = 136 (63-25,,)
„ 14-1— 15-0 = 30 (13-95 „)
Von den deutschen Schädeln waren in der ersten Reihe 12°/0 , in der
zweiten Reihe 36°/0 , in der dritten Reihe 54°/0 und in der vierten Reihe 8°/'0.
Der weibliche Schädel ist im Durchschnitte um 0*6 Cm. (bei Welcker)
und um l'O Cm. bei Weissbach niedriger. 14 Cm. erreicht er in den Messungen
der beiden Autoren im Normalschädel nie ganz; Höhen zwischen 11*0 und 11-5
kommen bei Welcker 4mal vor (13^3 °/0)-
Bei Weissbach (19 weibliche Kr.) ist die Reihe folgende:
zwischen 11-0—12-0 = 6
12-1—13-0 = 12
zwischen 13*1 — 14-0
Der neugeborene männliche Schädel hat nach Welcker im Mittel 8-l.
Das erste Drittel des Zuwachses hat der Schädel bereits im 9. Monate erreicht
und das zweite Drittel mit 6 Jahren. Der Schädel des weiblichen Neugeborenen
ist gleich hoch wie der des männlichen und scheint anfangs rascher zu wachsen
als beim männlichen Geschlechte, ohne schliesslich die gleiche Höhe zu erreichen.
Bei den geisteskranken männlichen Schädeln Gall's bleibt der Höhen-
durchmesser nur um 3 Mm. im Mittel zurück, während er bei den weiblichen dem
Normalmittel entspricht.
In der Sammlung Zuckerkandl's (Irrenschädel) befinden sich unter den
männlichen (88) einer unter 11*0 (10-3), einer über 15 (15-2), drei zwischen
14-0—15-0, 7 zwischen 11-0—12-0, 76 zwischen 12-0 — 14-0. Bei seinen Weibern
(27) ist ein excessiv niederer (mit 9'4), 19 sind zwischen 12*0 — 13-0, 3 zwischen
11-0—12-0, 4 zwischen 13-0—14-0.
Die Reihe der Bonner Schädel (165 männliche) ist folgende:
zwischen 13-1—14-0 = 18 (10"90/'0)
14-1—15-0 = 1 (0-6 „)
zwischen 10-0—11-0 — 4 (2-4°/0)
„ 11-0—12-0 = 43 (23-1 „ )
„ 12-1—13-0 = 99 (60-0 „ )
Verglichen mit der deutschen Reihe bei Weissbach ist der Unterschied
kolossal, indem sich hier 2-4°/0 hochgradig niedere Schädel finden, hohe Schädel
SCHÄDELMESSUNG.
(über L4'0) kaum vorhanden sind und hier zwischen 13*1 — 14'0 blos circa
ii uiui bei WEISSBACH über 60°/o sich linden. Diese colossale Differenz ist
gewiss nicht blos auf Differenz der Methode zu schieben.
Bei meinen 15 Verbrecherschädeln (männlichen) befinden sich:
zwischen LO'O L2-0 0
1-J-l -13-0 — 5 (33-8°/0)
zwischen 13-1— 14-0 = 8 (53'3<V0)
14-1— 14-4 = 2 (13-4,,)
Audi hier ist die Reihe der niederen Schädel grösser, wenn man sie mit
der Reihe österreichischer Racenschädel überhaupt vergleicht.
Vom pathologischen Standpunkte wird man also blos die Angabe
atypischer Höhe oder atypischer Niedrigkeit machen und als solche werden Maasse
Qber L5*0 und unter 12*0 gelten; bei Weibern 14-0 und 11-0.
Das natürliche Verhältniss hat also, ohne dass Viele es merkten, über
die Schwierigkeit des Maasses der höchsten Höhe hinausgeholfen.
Anders steht es mit anderen Höhenmaassen. Von Wichtigkeit ist zum
Beispiel die Stirn-, Scheitel- und Hinterhaupts-Höhe. Es ist absolut unmöglich, ohne
Projectionssystem diese Höhen zu messen, da die Lineardistanzen , die man zur
Bezeichnung gewählt hat, je nach ihrer Schrägheit bei derselben numerischen
( I rosse eine verschiedene Bedeutung in Bezug auf Höhe haben.
Wir werden also auf diese Maasse erst bei den exaeteren Methoden
zurückkommen.
Bevor ich zunächst zu den empirischen, linearen Maassen des Gesichts-
skeletts übergehe, will ich noch die allgemeine rückblickende Bemerkung machen,
dass, obwohl die grössten linearen Maasse geometrisch incorrecte „Längen" und
wenige correcte „Höhen" bei fast correcten Breiten liefern , dieselben doch von
hohem Werthe sind ; denn unzweifelhaft spielen diese Maasse die bedeutendste Rolle
in der Conformation und im mathematischen Gesetze des Schädels. Der Kampf
um den Inhalt ist das eine der Grundgesetze des Schädelwach s-
thums; er findet in den „grössten Maassen" seinen meist charakteristischen Aus-
druck. Da, wie ich gefunden habe, die Wölbung des Schädels einem strengen
geometrischen Gesetze unterworfen ist, so ist für den Kampf um die Ausdehnung
die Schranke eines anderen Gesetzes aufgerichtet, und die Natur erreicht ihren
Zweck theilweise durch Abbiegung der grössten Distanzen.
Der Kampf um den Inhalt bei bestimmten Gesetzen der Configuration
findet noch einen Ausdruck in der Gestaltung der Nähte. Bei niederen Racen sind
die Nähte einfach; bei höheren complicirt. Wo es sich im Ganzen oder im Detail
um die Volumsausbildung eines abnormen Kraniums handelt, führt der Kampf um
den Inhalt zur Complication der Nähte und selbst zur Bildung von grossen Schalt-
knochen. So stellen complicirte Nähte zugleich die Vollendung und den Kampf
gegen Abnormitäten dar. Dieser Kampf führt nicht immer zum Siege, und bei
pathologischen Schädeln bedeutet eine bedeutende Complicirtheit der Nähte zunächst
den Kampf, aber nicht immer den compensirenden Sieg. Auch der Wölbung nach
aussen und stärkeren Krümmung der einzelnen Bögen bedient sich die Natur, um
das Volum zu vergrössern und Defecte zu compensiren.
Nicht minder wichtig als die Messung des Gehirnschädels ist jene des
Gesichts schädels. Hier ist die empirische Methode auf grosse Schwierigkeiten
gestossen. Zwar die Breitenmaasse sind auch hier gewöhnlich exaet, indem die
Distanzlinien zwischen gleichwerthigen anatomischen Punkten bei symmetrischen
Schädeln im Allgemeinen senkrecht auf die Medianebene ist. Anders steht es mit
den übrigen linearen Maassen.
Die Maasse in der medianen Ebene hat man „Längen" genannt. Nun
sind aber die Projectionen dieser Maasse auf jede irgendwie naturgemässe Vertical-
axe des Schädels grösser, als auf jede naturgemässe Horizontalaxe ; sie sind
daher eher Höhen als Längen.
Wir werden für die betreffenden Distanzmaasse in der medianen Ebene
nur den Ausdruck „mediane Linien" mit der betreffenden anatomischen Specificirung
SCHÄDELMESSUNG. 23
gebrauchen, also nur von einer „grössten medianen Gesichtslinie" (ny), von einer
medianen Nasen- (nx), Mund-, Oberkiefer- und Unterkieferlinie (xy., xm, my.) etc.
sprechen (s. Fig. 5) und allenfalls , wo ein Missverständniss unmöglich ist , das
Wörtchen „median" auch auslassen.
Das, was bei der Physiognomik des Gesichtsskeletts sofort auffällt, ist,
dass es hohe (lange) und niedere (kurze) Gesichter giebt. Doch bedeutet die Grösse
der Linie ny, physiognomisch noch nicht Höhe und umgekehrt. Wenn nämlich
diese Linie einen relativ spitzen Winkel mit einer natürlichen Horizontalen bildet,
dann tritt der Gesichtsschädel physiognomisch sozusagen aus dem Gehirnschädel
heraus und bei gleicher absoluter Grösse von n y. erscheint dann der eine Schädel
hoch und der andere nieder.
Nicht also die absolute Distanz der entferntesten Punkte des Gesichtes
ist allein physiognomisch maassgebend, sondern auch ihre Winkelstellung (Profil-
winkel). Die empirische Methode kann präcis nur die absoluten Distanzen liefern ;
ihre Profilwinkel gerathen oft mit den gröbsten kranioskopischen Thatsachen in
Widerspruch. Sie misst zum Beispiel die Stellung der Gesichtslinie zur Schädelbasis
und diese selbst hat keine constante Neigung zu der natürlichen Projectionsebene.
Weiter ist physiognomisch das ßreitenverhältniss wichtig, und zwar
dasselbe an und für sich, ferner in Bezug auf die verschiedenen Linien in der
medianen Ebene,, ferner das Verhältniss der einzelnen Gesichtsbreiten zu einander
und zu manchen Schädelbreiten.
Die Schädel unserer Länder kann man eintheilen in solche mit sogenanntem
„langem" und sogenanntem „kurzem" Gesichte, i. e. in solche, bei denen die
grösste Gesichtslinie (ny.) gross oder klein ist. Ebenso kann man sie eintheilen
in absolut breite und absolut schmale.
Es giebt je einen dolichokephalen Typus mit „langem" (hohem) und mit
„kurzem" (niederem) Gesichte und je einen solchen brachykephalen Typus.
Der Reihengrobertypus zeigt neben dem langen und schmalen Gehirn-
schädel ein „langes" Gesicht, während bei einem zweiten Typus von unbekannter
Herkunft bei gleicher Schädelbildung die grösste Gesichtslinie relativ klein ist.
Von den brachykephalen Typen zeigt der sarmatische (slavische) eine
bedeutende „grösste Gesichtslinie", während der turanische (finno-magyarische)
eine relativ kleine aufweist. Alle diese Typen sind in Deutschland vertreten (siehe
bei Holder).
Als „obere mediane Gesichtslinie" (nm) wollen wir die Distanz von der
Nasenwurzel zum untersten medianen Punkte des Zahnfortsatzes des Oberkiefers
bezeichnen. Die Mundlinie reicht vom Nasenstachel zum untersten medianen Punkte
des Unterkiefers (x y) und jene von der Nasenwurzel zum untersten medianen
Punkte des Unterkiefers ist die grösste Gesichtslinie (ny.).
Die „grösste Gesichtslinie" schwankt zwischen 105 und etwas über 14'0.
Was unter 10*0 und über 14'5 ist, ist als atypisch anzusehen.
Unter 31 mäunlichen europäischen Schädeln bei Zuckerkandl war das
Minimum 10-5 2mal und Maximum über 14-0 3mal vertreten; 11 weibliche
waren unter 1O0 (9*8) und das Maximum 12*3.
Die Nasenlinie (nx) hat nach Welcker bei Männern zum Mittel 5'8.
Unter 5*5 kamen Längen nur 2mal (5*2 und 4-9) vor und über 6*0 6mal
(Maximum 6-6).
Die obere Gesichtslinie (nm) schwankt bei unserer Bevölkerung um 7-0
herum und eine Ziffer über 8-0 und unter 6-2 — 6*0 ist als atypisch anzusehen (Z.).
Die Mundlinie (x y) ist an typischen Schädeln grösser als die Nasenlinie
(nx) und in der Regel wächst mit der grössten Gesichtslinie die Mundlinie stärker
als die Nasenlinie (Z.)
Die gegenseitige Stellung der Gesichtsknochen lässt sich durch einfache Cirkel-
messung angeben. Haben wir zum Beispiel die obere Gesichtslinie (nm) gemessen und messen
wir dann von der Nasenwurzel zum Nasenstachel (nx) und dann wieder von diesem zum
2 | SCHÄDELMESSUNG.
untersten medianen Punkte des Zaliufortsatzes des Oberkiefers (xmj, so haben wir ein
i.. In dem Falle, als die Summe der zwei letztgenannten Linien der ersten gleich ist,
lauft die Nasenlinie und die Linie des Zaliufortsatzes in einer Flucht. Ist diese Summe grösser,
so hat man ein Dreieck, dessen "Winkel am Nasenstachel nach vorn oder hinten sieht, je
nachdem der Zahnfortsatz nach vorn oder nach hinten zurücktritt. Die Grösse dieser Ab-
weichung wird durch den Winkel gegeben; die Richtung ist schon kranioskopisch gegeben.
Somit können wir mit dem Cirkel die relative Prognathie, Orthognathie oder Opistognathie
des Zahnfortsatzes messen. Ganz auf dieselbe Weise kann man bestimmen, wie der Unter-
kiefer "dir die Zahnreihe zum Zahnfortsatze des Oberkiefers oder zur oberen Gesichtslinie
stiht, und man kann also die Existenz und den Grad eines Kranium progenäum bestimmen.
Was das numerische Verhältniss der grössten Gesichtslänge (n]J.) zur
„grössten Gesichtsbreite", i. e. der Linie zwischen den distantesten Punkten des
Jochbogens (JoQ) (s. Fig. 3) betrifft, so ist vor Allem zu bemerken, dass die
Breite im Allgemeinen grösser ist als die schräge Höhenlinie, mit Ausnahme vieler
solcher Kraulen, welche ein besonders hohes Gesicht haben, und dass im Allgemeinen
die Lauge im verkehrten Verhältnisse zur Breite steht (Zuckerkandl).
Die Jochbreite oder „grösste Gesichtsbreite" (JoQ) zwischen den
distantesten Punkten des Jochbogens hat ein Mittel von 13*1 — 13*3. Nur bei
deutschen Schädeln kommen Maasse unter 12-0 vor (2mal unter 50 deutschen
Schädeln von Weissbach, nicht lmal bei den anderen 166 österreichischen Racen-
schädeln). Maasse unter 12-4 sind ausnahmsweise und ebenso über 14*0 blos 8mal.
Für diese weiblichen Schädel beträgt die mittlere Jochbreite 12*3, dabei
unter 19 weiblichen deutschen Schädeln bei Weissbach nur einer über 13*0
(13-2) und zwei unter 12-0 (11-3 und 11-7) sind.
Die „obere Gesichtsbreite" (s. Fig. 3) (zwischen den beiden Stirn-
jochbeinnähten und zwar vom äusseren Rande der beiden Jochbeinfortsätze) beträgt
im Mittel 10-5. Zwischen 9-5— 10"0 sind (von 216) 12 Kranien und über 11-0
(Maximum 11*7) 34 (Weissbach). Bei den weiblichen Kranien ist das Mittel 10*0.
Nur 1 Kranium hat über 11*0 (11*1) und zwei als Minimum 9*4. (W.)
Die Oberkieferbreite [WaQ] zwischen den untersten Punkten der
Naht zwischen Jochbein und Oberkiefer) schwankt im Mittel zwischen 9*1 — 9*4
mit dem seltenen Minimum von 8*2 und dem Maximum 10*4. Das weibliche Mittel
beträgt 8*6 mit dem Minimum von 7-0 und dem Maximum 9"7. Für die kleinste
Kieferbreite ( Wa q) liegen vorläufig zu wenig Daten vor, um daraus Reihen- und
Grenzwerthe zu construiren.
Die Orbitalbreite beträgt im Mittel 3*9, sinkt unter den 216 Schädeln
Weissbach's nur lmal auf 3-4 herab und erreicht nur 3mal 44. Dasselbe Mittel
gilt für den weiblichen Schädel. Das Minimum ist hier 3*6 , das Maximum 4*2.
Für die Orbitalhöhe ist das Mittel 3*3. Selten sinkt das Maass unter 3*0
(Minimum 2:7). Maxima vom 3-8 — 3-9 sind auch selten. Beim weiblichen Schädel
beträgt die Höhe 3'4 (W.) ; beim 7wöchentlichen Kinde 2-5 (Z.). Die Hälfte des
Zuwachses wird im 2. Jahre erreicht. Der Breitenlängenindex beim europäischen
Schädel ist also nach Weissbach 84-6, nach Zuckerkandl (3-3 und 4-0) 82*5
und für den Malayen (Z.) 86-8; für den weiblichen Schädel 878.
Ich will hier auf die Verhältnisse au der Nase eingehen. Broca hat
diesen Messungen die grösste Bedeutung beigelegt. Er misst die „grösste Nasen-
breite", i. e. grösste Breite der Nasenöffnung und die Länge der Nase von der
Nasenwurzel zur Spitze des Nasenstachels („8"). Er berechnet dann den Percent-
satz der Breite zur „Höhe" (n 8) und findet bei Racenschädeln drei Stufen, nämlich
die Platyrhinen mit dem Index 58—53, die Mesorhinen von 52 — 48 und die
Leptorhinen von 47 — 42.
Die schwarzen Racen gehören ohne Ausnahme zur ersten, die mongolischen
Racen und die meisten amerikanischen zur zweiten und die weissen Racen
zur dritten Gruppe. Letztere sind also durchgehend leptorhin. Interessant ist das
Verhältniss des Wachsthums des orbitalen (über der Querlinie des tiefsten Punktes
der Orbita gelegenen) und des infraorbitalen Antheils der Nase. Letzterer Antheil
ist beim Kinde verschwindend klein (z. B. 3:17), wächst aber viel rascher als
SCHÄDELMESSUNG. 25
der andere, so dass beim Erwachsenen beiläufig das Verhältniss wie 28:35 ist
(Zuckekkandl).
Nicht so ergiebig, wie sich der Nasenindex für die Ethnographie erwiesen
hat, ist der Augenindex, der uns den Percentsatz des empirischen Höhen-
maasses zur Breite giebt. Im Kinde sind beide gleich (Index 100), weniger bei
Weibern, mehr bei Männern, bleibt der Höhenwachsthum hinter dem Breiten-
wachsthum zurück, und interessant ist, dass wenigstens in Frankreich historisch
die grössere Zunahme der Höhe, i. e. die Zunahme des Index nachzuweisen ist.
Selten ist der Höhendurchmesser grösser als der Breitendurchmesser. Relativ hoch
ist der Index bei den gelben, klein bei den schwarzen Racen; die weissen Racen
haben einen mittleren Index von 84 — 85. Bei hydrokephalischen und überhaupt
bei pathologischen Schädeln wird oft der Höhendurchmesser grösser als der Breiten-
durchmesser.
Zunächst kommt der Unterkiefer in Betracht. Eines der wichtigsten
Maasse ist eine grösste Breite zwischen den distantesten Punkten der Winkel
zwischen auf- und absteigendem Aste.
Diese Breite ist bei Weibern geringer als bei Männern. Das Minimum
ist bei ersteren (bei Weissbach) 8*0 und bei Männern 8*4. Aber während unter
19 Weibern sich 2 Kranien zwischen 8-0 — 8*4 befinden, ist unter 196 männlichen
Unterkiefern nur einer mit 8*4. Während ferner zwischen 8*4 und 8*9 bei 19
Frauen wieder 2 Exemplare sich befinden, sind unter 196 Männern nur 3, dar-
unter 2 Deutsche.
Zwischen 9"0 — 9*5 befinden sich unter 196 männlichen Unterkiefern 43,
unter 19 weiblichen 13; Zwischen 9*6 bis 10*5 sind unter 196 männlichen Unter-
kiefern 107, unter 19 weiblichen 2. Zwischen 10-6 — ll'O befinden sich keine
weiblichen mehr, aber noch 31 männliche. Zwischen ll'l — 11*6 unter 196 männ-
lichen Unterkiefern 12.
Die Mittel sind beim weiblichen Unterkiefer 9'1 und beim männlichen
•zwischen 9*8 und 10*3. Die slavischen und turanischen Schädel haben im All-
gemeinen die grösseren Mittel, aber der böhmische das kleinste (9*8).
Die Höhe des Unterkieferastes (von dem tiefsten Punkte des halbmond-
förmigen Ausschnittes am hinteren Rande bis zum Winkel) hat bei Weibern (nach
Weissbach) das Mittel 4-4 und von 19 befinden sich 18 zwischen 4-0 — 5'0 und
nur einer darüber mit dem Maximum 5*2.
Unter 199 männlichen Kiefern befinden sich 2 unter 3*9, mit dem
Minimum 3'6, zwischen 4*0 — 5*0 sind 111, zwischen 5'0 — 6'0 84, zwischen 6'1
bis 6*7 2. Maximum 6-7. Die Mittel schwanken zwischen 4*7 und 5"1.
Der Unterkieferwinkel ist bei Weibern grösser als bei Männern. Das Mittel
ist bei Weissbach für deutsche Weiber 123°, für deutsche Männer 115°. Dem-
gemäss findet sich bei Weissbach kein weiblicher Unterkiefer unter 101° und
von 131° aufwärts = 1
zwischen 101 — 120° — 9
„ 121—130° — 9
Bei Männern ist das Minimum 92°. Unter 198 Unterkiefern
zwischen 92—100° = 13
101—120° = 133
zwischen 121—130° == 43
„ 131—137° = 9
Die Mittel schwanken zwischen 111 — 119°.
Die Längenmaasse des horizontalen Unterkieferastes sind von Weissbach
nur mit dem Bandmaasse genommen und sollten eigentlich später abgehandelt
werden. Der Vollständigkeit halber fügen wir sie hier an.
Während bei Männern die Mittel zwischen 20" 7— 21*3 schwanken, ist das
Mittel bei Weibern 19*5. Bei Männern finden sich unter 196 Kranien folgende Reihen:
zwischen 17*7 — 18-4 :
„ 18-5— 20-0 =
Bei Weibern (19):
lmal
zwischen 20-1—22-0 =
137mal
29
„ 22-1—24-0 =
29 „
zwischen 18-5—20-0 ==
14mal
20-1—20-9 —
5 „
26 sc IIADELMESSUNG.
ZUCKEBKANDL hat für den Unterkiefer folgende charakteristische drei
Gruppen aufgestellt. Stellt man Uranien auf das «Hinterhaupt und auf den Unter-
kiefer so steht die eine Reihe bloa auf dem Kinnstücke auf, die andere auf dem
horizontalen Aste und die dritte auf dem Winkel zwischen beiden Aesten. Bei der
ersten Gruppe ist die mediane Gesichts- und Oberkieferlinie gross und die verticalen
Unterkieferäste relativ nieder. Bei der zweiten Gruppe sind mittlere Verhältnisse der
Gesichtslinien vorhanden und der verticale Ast ist höher geworden. Bei der dritten
Gruppe sind die Gesichtslinien kurz und der verticale Ast des Unterkiefers hoch.
Wns das Caput pro yena eurn betrifft, bei dem die untere Zahnreihe
abnorm vor der oberen steht, so hat Zuckerkandl nachgewiesen, dass dieses
Verhältniss mehrere Ursachen haben kann, nämlich: 1. schlechte Entwicklung des
Oberkiefers, 2. den Umstand, dass der Unterkieferwinkel sehr stumpf, das Kinn-
stück senkrecht und die Zähne des Unterkiefers nach vorn gerichtet sind, und
S. eine abnorme Länge des horizontalen Astes. Das Caput proyenaeum hat wohl
immer eine pathologische Bedeutung. In einzelnen Fällen steht umgekehrt die
untere Zahnreihe zu weit zurück. Dies beruht entweder auf übermässiger Ent-
wicklung des Ober-, oder schlechter Entwicklung des Unterkiefers (Z.).
5. Wir kommen nun zu den Bogenmaassen, die vorzugsweise am
Gehirnschädel genommen werden. Die deutsche Anthropologenversammlung vom
Jahre 1880 hat zwar die Bogenmaasse aufgegeben ; dieser Beschluss ist aber ein
elementarer Verstoss gegen jede Messkunst.
Ein gekrümmter Körper kann durch lineare Maasse nur dann bestimmt
werden, wenn sein Krümmungsgesetz bekannt ist. Da dies beim Schädel nicht der
Fall war, so geben lineare Maasse keine Anhaltspunkte über die Gestalt derselben.*)
Unter den Bandmaassen hat der sogenannte „horizontale Umfang"
(H U) von jeher die grösste Aufmerksamkeit erregt. Es ist das doppelte Bogen-
maass zum grössten Längsdurchmesser. Das Band wird über den hervorragendsten
Punkt des Occiput und von da entweder über die Tuber a frontalia oder über
die Glabella oder über Arcus siqjer ciliar is gelegt, je nach dem vorderen Punkte,
von dem man den Längsdiameter nimmt.
Man hat fälschlich in neuerer Zeit den Längsdiameter und sein Bogen-
maass nach dem Principe der Projection umgestalten wollen.
Wenn man vergleichend in der Thierreihe zum Menschen aufsteigt, so
sieht man , dass die Natur in der Herstellung und Lagerung des grössten Dia-
meters viel Arbeit aufgewendet hat. Es ist nicht nothwendig, dass die anatomisch
wichtigen Linien und Ebenen mit bestimmten Axen und Projectionsebenen zusammen-
fallen. Es ist vom wissenschaftlichen Standpunkte nothwendig, beim Studium nach
geometrischen Principien vorzugehen, weil die Natur, wie einer ihrer grössten
Priester — Newton — sagte, nichts treibt als Geometrie. Deshalb aber muss
eine wichtige Linie nicht gerade in eine bestimmte Ebene fallen, aber sie kann
und muss durch richtige Projection in den Rahmen eines bestimmten Projections-
systems gefasst werden. Deshalb ist es nicht richtig, dass man in der Kraniometrie
nur die Projection des grössten Diameters zu berücksichtigen brauche; durch die
Angabe seiner Projection auf die gewählte Längen- und Höhenrichtung ist die
Linie genau definirt, i. e. ihr absolutes Maass und ihre Projectionen sind bekannt.
Was von der Linie gilt, gilt auch vom zugehörigen Bogenmaasse.
Es ist vor Allem nicht richtig, dass das Bogenmaass des grössten Dia-
meters das grösste sein müsse. Die Wölbungen über benachbarten Diametern
könnten grösser sein. Man könnte die Forderung stellen, nicht absolut das Bogen-
maass des grössten Diameters, sondern überhaupt das grösste Bogenmaass zu
nehmen. Es ist bis jetzt nicht untersucht, ob jenes des grössten Diameters immer
*) Bei den Bogenmaassen muss vor Allem das benutzte Bandmaass an festen Maass-
stäben controllirt werden, da die meisten im Handel vorkommenden dehnbar sind. Sehr gute
Exemplare kommen aus Frankreich.
SCHADELMESSUNG.
27
das grösste sei. Jedenfalls giebt die Anordnung von Schädeln nach dem sogenannten
Horizontalumfange eine höchst natürliche Reihe.
Das zweite wichtige Bogenmaass ist der „L an gs um fang" (Are. nB)
von der Nasenwurzel (n) bis zum hinteren medianen Punkte des Hinterhaupts-
loches („hinterer Basalpunkt [B]), ferner die medianen Bogenlängen des Stirn-,
Scheitel- und Hinterhauptsknochens (Are. n ß, Are. ßa, Are. v.B).
Der Hinterhauptsbogen wird zweckmässig noch in zwei aufgelöst ; nämlich
bis zum Tuber occipitale externum (t) und von da zum hinteren Basalpunkte.
Ersteres Maass entspricht dem Interparietalbeine, letzteres dem Hinterhaupte.
Weitere wichtige Maasse sind die Bogen zwischen den Endpunkten des
queren, grössten Hinterhaupts- und Stirndurchmessers und zwar bei beiden Durch-
messern womöglich in zwei auf die Medianebene senkrechten Ebenen.
Aus dem Vergleiche der Sehnen mit den zugehörigen Bogenmaassen
bekommen wir ein richtiges Bild der Krümmungsverhältnisse.
Neben dem Horizontal- und Längsumfange steht in erster Reihe auch der
„Ohr- oder Querumfang" (OUF) entweder von einer Jochwurzel oder vom
oberen Ende des einen Ohres zum anderen (Quer- oder Ohrumfang). Diese drei
letztgenannten Bögen zusammengehalten geben das beste Bild von der Raumaus-
dehnung des Schädels.
Was den Horizontalumfang betrifft, so schwankt das Mittel für unsere
erwachsene männliche Bevölkerung zwischen 51 — 52. Der neugeborene männliche
Schädel hat circa 34*0 Umfang, erreicht schon am Ende des ersten Jahres 42*0
und mit dem 10. Jahre 49-0. Der weibliche ist bei der Geburt ebenso gross wie
der männliche, hat mit 18 Monaten 420 und mit 10 Jahren 47*0.
Bei Weissbäch's (215) männlichen Kranien ist folgende Reihe für den
Horizontalumfang :
zwischen 48-5— 49-0 = 4 (1-9%) zwischen 53-1—54-0
„ 49-1—50-0 = 27 (12-6 „ ) „ 54-1—55-0
„ 50-1—51-0 = 43 (20-0 „ ) „ 55-1—56-0
„ 51-1—52-0 = 67 (31-1 „ ) „ 56-1—57-0
„ 52-1—53-0 = 39 (18-2 „ ) | „ 57-1—57-4
28 (13-0°/0)
6 (2-8 „)
0
0
1 (0-5 „)
In der Bonner Sammlung (164) besteht folgende Reihe
gegen
48-4—49-0
49-1—50-0
50-1—51-0
51-1—52-0
52-1—53-0
Also besonders in den höheren
3%).
Bei meinen 15 männlichen Verbrecherschädeln besteht folgende Reihe
3
12
14
36
37
(l'8°/o)
(1-3 „ )
(8-5 » )
(22-0 „ )
(22-6 „ )
53-1—54-0 =
54-1—55-0 =
55-1—56-0 =
56-1—57-0 =
57-1—58-0 =
Reihen von 54-0
30 (18-2<7o)
19 (U-5„)
9 (5-5 „)
1 (0-6 „)
3 (1-8 „)
aufwärts Excess
(19%
46-5—47-0 =
48-1—49-0 =
50-1—51-0 =
(6-6o/0)
(26-6 „ )
51-1—52-0 =
52-1—53-0 =
53-1—54-0 =
4 (26-6<>/0)
2 (13-3 „ )
3 (20-0 „ )
Bei den (67) männlichen Irrenschädeln Zuckekkandl's und den (16) der
G-ALL'schen Sammlung in toto (83) besteht folgende Reihe:
47-6-48-0
48-1—49-0
,49-1—50-0
50-1—51-0
51-1—52-0
1
0
8
19
19
(l-2°/0)
(9-6 „ )
(22-9 „ )
(22-9 „ )
52-1—53-0
53-1—54-0
54-1—55-0
55-1—56-0
20 (24-1 o/0)
7 (8-4 „)
8 (9-6 „)
1 (1-2 „)
Also wieder ein grösseres Minimum , auch ein kleineres Maximum , aber
doch die Reihen über 54-0 in stärkerem Procentsatze (nämlich 11% gegen 3%)
vertreten.
28
SCHÄDELMESSUNG.
In Bi-zug :iuf den sagittalen Längsumfang (Are. nB) bestehen
folgende Reihen bei Wbissbaoh's (216) männlichen Kranien:
:::;•! 34*0 = 4 (l-9<>/0)
;;|-i 35-0 = 22 (10-3 „ )
35-1— 36-0 = 48 (21-7 „)
36-1—37-0 = 66 (30-9,,)
37-1— 38-0 = 48 (21-8 „)
Bei Weissbach's
32-5—33-0 =
33-1—34-0 =
34-1—35-0 =
38-1— 39-0
3!» -1—40-0
401— 41-0
41-1—42-0
22 (10-3o/o)
4 (1-9 „)
1 (0-5 „)
1 (0-5 „)
(25-0°/o)
(6-25,,)
(33-So/o)
(11-1 w)
(19) weiblichen Kranien:
1 (5-3°/0) I 35-1—36-0 = 6 (31-6<>/0)
3 (15-8 „ ) 36-1—37-0 = 3 (15-2 „ )
5 (26-3 „) I 37-1—38-0 = 1 (5-3 „ )
Bei Gall's geisteskranken Männern (16):
34-1—350 = 2 (12-5 °/0) I 37-1—38-0 = 4
35-1—36-0 = 5 (31-25 „ ) 38-1—39-0 = 0
36-1—37-0 — 4 (25-0 „) | 39-1—39-2 = 1
Bei Gall's Weibern (9):
32-3—33-0 = 2 (22-2°/0) I 35-1—36-0 = 3
33-1—34-0 = 1 (11-1,,) I 36-1—36-2 == 1
34-1—35-0 = 2 (22-2 „ ) j
Bei den Weibern tritt das Minus des Längsbogens für Geisteskranke
sehr deutlich hervor ; bei den Männern die viel niedrigeren Maxinia.
Bei meinen (15) männlichen Verbrecherschädeln besteht folgende Reihe:
32-0—33-0 = 1 (6-6%) 36-1- 37-0 ==i 2 (13-3»/0)
33-1—34-0 = 1 (6-6 „) 37-1—38-0 = 4 (26-6,,)
34-1—35-0 = 1 (6-6 „ ) 38-1—39-0 = 1 (6-6 „ )
35-1—36-0 = 4 (26-6 „) 39-1-40-0 = 1 (ß-6 „)
Soweit aus dieser kleinen Reihe geschlossen werden kann, sind die extremen
Reihen stärker vertreten.
In der Bonner Sammlung besteht folgende Reihe (164) männlicher Kranien :
(0-6 o/0) 38-1—39-0 = 7
(3-05 „ ) 39-1—40-0 = 12
(11-5 „) 40-1—41-0 = 7
(18-9 „) 41-1-42-0 == 0
(26-8 „) 42-1—43-0 == 0
(22-5 „) 43-1—43-0 == 1
Auch hier überwiegen die excessiven Reihen und ein grösseres Minimum
und ein grösseres Maximum.
Das Mittel des Ohrumfangs (OUFJ —
anderen, möglichst senkrecht über dem Scheitel — liegt bei 31-0 und schwankt
zwischen 29-0 — 33-0. Beim weiblichen Schädel ist er um l'O kleiner.
Beim neugeborenen Kinde ist der Umfang circa 20*0 und erreicht beim
männlichen Schädel mit Ende des ersten Jahres die Hälfte der Differenz (25-5).
Am Ende des dritten Jahres ist der Umfang bereits circa 28*0 und mit 12 Jahren
ist nur mehr eine beiläufige Differenz von 1-0.
Beim weiblichen Neugeborenen existirt dieselbe Grösse; die Gesammt-
differenz vom Mittel bei Erwachsenen ist 9-0. Zwischen 12 — 18 Monaten wird
die Grösse von 25-0 erreicht und im siebenten Jahre die von 27'0.
In Bezug auf die drei medianen Längsbogen der drei grossen
Schädelknochen ist zu bemerken, dass die wesentliche Gleichheit des Stirn- und
Scheitelbogens zur Typie gehört und ebenso, dass der Hinterhauptsbogen um etwas
mehr als l'O kleiner sei.*)
32-6-
-33-0
—
1
33-1-
-34-0
=
5
34-1-
-35-0
=:
19
35-1-
-36-0
—
31
36-1-
-37-0
—
44
37-1-
-38-0
=
37
(4-2 o/0)
(7-3 „ )
(4'2 „ )
(0-6 „)
grösseres
von einer Jochwurzel zur
*) Der mediane Stirnbogen des Neugeborenen beträgt nicht ganz 8-0 (circa
7 7); er wächst beim männlichen Schädel bis Ende des 10. Monats bis auf IOC1,, bis Ende
SCHÄDELMESSUNG. 29
Eine Störung dieses Verhältnisses ist nicht selten ; eine bedeutende Störung
ist als Atypie anzusehen. Die normalen Mittelzahlen dieser drei Bogen sind:
bei Männern 12-5, 12-5, 11-5 und bei Weibern 12-0, 11*9, 11*1.
Bei den normalen Schädeln der Königsberger Sammlung sind diese Reihen :
12-4, 12-2, 11-4 — 12-2, 11-8, 11"2.
Bei den Schädeln von Gall werden diese zwei Reihen durch folgende
Zahlen repräsentirt : 12-8, 12-0, 11*6 — 11-9, 11'2, 11-2.
Es ist also der Parietalbogen verkürzt und die Differenz zwischen
diesem und dem Occipitalbogen nimmt ab bis zum Verschwinden beim Weibe.
Bei den 25 Königsberger Schädeln Geisteskranker verhält sich die Sache
analog. Die Reihen sind: 12-6, 12-4, 11-2 — 12-6, 11-2, 10-7. Hier ist besonders
die relative Verkürzung des Parietalbugens bei Weibern auffallend.
Bei den 15 Verbrechern meiner Sammlung (M.) ergiebt sich folgende
Reihe: 12'9, 12*2, 10*0! Diese Prävalenz des Stirnbogens und colossale Verkürzung
des Hinterhauptsbogens ist höchst bemerkenswerth.
Bei der einen Gruppe von (96) männlichen Schädeln in Bonn ist die
Reihe folgende: 12-4, 12-3, 11-5.
Bei den bezeichneten Verbrechern (14 M.): 12-9, 12*6, 11*8.
Bei den (21) Stirnnahtschädeln derselben Sammlung: 12*4, 12-3, 11*2.
Bei den Kephalonen derselben Sammlung (15): 13*7, 13-7, 12'2.
Bei der Gruppe mit „fremdem Racentypus" derselben Sammlung (15):
13-1, 12-5, 11-9.
Sehr auffallend ist das Verhältniss des Hinterhauptes zum Parietallappen
in der GALL'schen Sammlung. Während sich nämlich bei Weissbach bei Männern
das Verhältniss, dass der Hinterhauptsbogen länger als der Parietalbogen sei, nur
in 13'4°/0 der Fälle und bei Weibern gar nicht findet, ist bei Gall's Männern
dies in 37'5°/0 und bei Weibern in 33% der Fall. Bei den Schädeln der männ-
lichen Geisteskranken der Bonner und Königsberger Sammlung findet sich das
normale Verhältuiss, bei den Weibern der Königsberger Sammlung in 33°/0
der Fälle. Ich vermuthe, nach kephalometrischen Erfahrungen, dass das Ueberwiegen
des Hinterhauptsbogens besonders bei primär auftretender Melancholie vorkomme.
Die Verkürzung des Parietalbogens scheint auch bei Epileptikern häufig zu sein.
Studirt man das Verhältniss der Sehnen zu diesen drei Bögen, so finden sich bei
Weissbach's männlichen Schädeln folgende Verhältnisse — die Sehne als Percent-
satz des Bogens genommen:
Bei deutschen Männern 88-1, 88-1, 80-3
Für sämmtliche Racenschädel . . . 87*8, 88-1, 82-8
Bei Gall's Männern 88-2, 89-9, 83*9
Es ist also bei Gall's Schädeln besonders die Wölbung des Parietal-
und Occipitalbogens schlechter.
Bei den Weibern Weissbach's gestaltet sich die Reihe folgendermaassen :
87-5, 88-9, 82-8.
Bei Gall's Weibern: 87-9, 90-9, 81-9.
Es ist also bei Gall's weiblichen Schädeln der Parietalbogen wieder
bedeutend schlechter gewölbt, der Hinterhauptsbogen hingegen besser.
des 5. Jahres bis 11 5 und ist bereits am Ende des 8. Jahres 12'0 gross. Der Stirnbogen
des weiblichen Schädels wächst langsamer; er erreicht 10'0 beiläufig im 2. Monate, 11-5 im
3. Jahre und 12'0 um 6 Jahre später.
Der Schläfenbogen beträgt beim Neugeborenen 9'0 (!) und erreicht beim männlichen
Schädel 100 mit 8, 11 0 mit 18 Monaten und 120 mit 8 Jahren. Beim weiblichen Schädel
ist das "Wachsthum langsamer, lO'O wird um 2 Monate später erreicht und ll'O erst mit
4 Jahren. Vom 4. bis zum 20. Jahre wächst dieser Bogen nur um 0 9. Für den wachsenden
Hinterhauptsbogen fehlen halbwegs genügende Daten.
30
srilÄDELMESSUNG.
Für Männer (216) Bind bei WEISSBACH folgende Reihen:
I. Für den »Stirnbogen.
LO-9— ll'O = 2 (0-9<Vo) I 13-1 — 14-0 — 55 (25-5%)
tl-1— 12-0 = 32 (14-8 „) | 14-1 — 14-3 = 8 (3-7%)
L2*l — 13-0 — 119 (55-1 „) j
Bei den Bonner »Schädeln (164 M.) besteht folgende Reihe:
in- l-ll-o = 4 (2-5°/0) 13-1— 14-0 = 38 (23'l°/o)
11-1 — 12-0 = 34 (20-8,,) 14-1— 14-9 = 4 (2-5 „ )
12-1— 13-0 = 84 (51-2 „)
Der Hauptunterschied liegt in dem grösseren Antheile der niederen
Reihen. Bei (15) männlichen Verbrechern meiner »Sammlung:
11-1— 12-0 = 3 (20-0°/0) I 13-1— 14-0 = 8 (53-3%)
12-1— 13-0 = 4 (26-7 „) I
also im Durchschnitte grössere Bogen.
Bei 37 (männlichen) Geisteskranken besteht folgende Reihe:
10-1-
11-1-
-11-0 = 1 r2-7o/0)
-12-0 = 8 (21-6 „)
Im Allgemeinen
12-1— 13-0 =
13-1— 14-0 =
kleinere Bögen.
17 (45-9o/0)
11 (29-9 „)
II. Für den »S cheitelbogen bei Weissbach.
97—10-0 =
10-1—11-0 =
11-1—12-0 =
51
(1-3%)
12-1—13-0
(2-2 „ )
13-1—140
(23-6 „ )
14-1— 14-4
102 (47-2°/0)
47 (21-7 „)
8 (3-7 „)
Der Scheitelbogen der 164 Bonner männlichen Schädel zeigt folgende Reihe
9-0—10-0 = 0 13-1—14-0 = 29 (17-7%)
10-1—11-0 = 13 (7-9°/0) 14-1—15-0 = 6 (3'9 „ )
11-1—12-0 = 47 (28-0,,) 15-1—15-5 = 2 (1-3 „ )
12-1—13-0 = 67 (40-8 „ )
Daher ein Ueberwiegen der extremen Reihen.
Bei 15 männlichen Verbrechern:
9-1—10-0 = 1 (6-6<Yo)
12-1—13-0 — 5 (33'3°/o)
10-1—11-0 = 1 (6-6 „)
13-1—14-0 = 3 (20-0,,)
11-1—12-0 = 5 (33-3,,)
also im Allgemeinen
schlechtere Wölbung.
Bei 37 männlichen Schädeln von Geisteskranken ergiebt sich:
9-3—10-0 = 1 (2-7°/0) I 12-1—13-0 — 16 (43-2°/0)
10-1—11-0 — 3 (8-1 „) 13-1— 14-0 = 6 (16-2,,)
11-1—12-0 = 10 (27-0 „ ) I 14-1—14-7 = 1 (2-7 „ )
Die Bögen sind im Allgemeinen kleiner.
III. Für den Hinter hauptsbogen bei Weissbach.
8 (3-6o/0)
12-1-
13-1-
-13-0 =
-14-0 =
23 (10-6o/0)
1 (0-4 „)
9-1—10-0 =
10-1—11-0 = 71 (32-8,,)
11-1 — 12-0 = 113 (52-3 „ )
Für die (164) männlichen Schädel der Bonner Sammlung gilt folgende Reihe
10-0 = 2 (1-3%) I 12-1—13-0 = 28 (17-l°/0)
10-1—11-0 = 50 (30-4,,) 13-1—14-0 = 2 (1-3 „ )
11-1—12-0 = 76 (46-3,,) I
Hier sind also die oberen Reihen besonders entwickelt.
Für die Verbrecher (15 männliche) :
9-4—10-0 = 4 (26-7<7o)! I 11-1— 12-0 = 6 (40'0%)
-11-0 = 4 (26-7,,) | 12-1—13-0 = 10 (16'6 ,, )
also enorm geringerer Bogen.
10-1-
SCHÄDELMESSUNG. 31
Für die 37 männlichen Geisteskranken:
9-5—10-0 = 2 (5-4°/0) I 11-1—13-0 = 8 (21-6°/0)
10-1—11-0 = 10 (27-8,,.) [ 13-1—13-5 = 3 (8-1 „ )
11-1 — 12-0 = 14 (37:8 ,,) |
also für die extremen Reihen ein Ueberwiegen, besonders für die obern.
Bei (19) Weibern sind folgende Reihen:
I. Für den Stirnbogen.
11-1—12-0 = 9 (47-3°/0) | 12-1—13-0 = 10 (52-G%)
II. Für den Scheitelbogen.
11-1—12-0 = 12 (63-lo/0) 13-1—14-0 = 1 (5-3<V0)
12-1—13-0 = 6 (31-5 „)
III. Für den Hinterhau ptsbogen.
9-1—10-0 = 2 (10-5°/0)
10-1—11-0 = 6 (31-5 „)
11-1—12-0 = 9 (47-3<>/o)
12-1 — 12-8 = 2 (10-5 „ )
Für (18) geisteskranke Weiberschädel (Gall, Bonn, Königsberg) ergeben
sich folgende Reihen :
I. Für den Stirnbogen.
10-1—11-0 = 1 (5-5°/o) 12-1—13-0 = 5 (27-7%)
11-1—12-0 = 12 (66-6°/ü)
also Ueberwiegen der geringeren Reihe.
II. Für den Scheitelbogen.
12-1—13-0 = 2 (ll-l°/o)
13-1—14-0 = 1 (5-5 „)
9-1—10-0 = 1 (5-5o/o)
10-1—11-0 = 7 (38-8 „)
11-1—12-0 = 7 (38-8 „ )
also Ueberwiegen der geringeren Reihen.
III. Für den Occipitalbogen.
9-5—10-0 = 1 (5-5%)
10-1—11-0 = 8 (44-4 „ )
11-1—12-0 = 8 (44-4%)
12-1—13-0 = 1 (5-5 „)
also schlechtere Vertretung der extremen Reihen.
Es ergiebt sich daraus für den Stirnbogen, dass bei den männlichen Ver-
brechern die extremen Reihen häufiger sind, bei den Geisteskranken prävaliren
die kleinen Bögen. Bei den geisteskranken Weibern überwiegen ebenfalls die
kleineren Bögen. Für den Scheitelbogen ergiebt sich für die Verbrecher bessere
Vertretung der extremen Reihen, für die männlichen Geisteskranken wieder ein
Prävaliren der kleinen Bogen, was für die weiblichen Geisteskranken noch im
höheren Grade gilt. Für den Occipitalbogen ergiebt sich für die männlichen Ver-
brecher : ein Prävaliren der extremen Reihen ; für die geisteskranken Männer :
ein Prävaliren der hohen Reihen ; für die geisteskranken Weiber : ein Minus für
die extremen Reihen.
Es prädisponirt also geringer Stirn- und Scheitelbogen bei grossem Hinter-
hauptsbogen — wenigstens bei Männern — zur Geistesstörung und das Prävaliren
extremer Verhältnisse an den drei Bogen zu Verbrechen.
Da bei Köpfen der ganze Medianbogen des Schädels nicht genommen
werden kann und weil es überhaupt wichtig ist, den Bogen des Interparietalbeines
von dem des eigentlichen Hinterhaupts zu trennen, ist es gut, auch den Bogen
von der hinteren Fontanelle zum Tuber occipitale extern, zu kennen.
Der unermüdliche Weissbach hat die Behelfe dazu geliefert. Er hat
nämlich den Bogen von der Nasenwurzel zum Tuber occip. extern, gemessen. Zieht
man davon die Summe des Stirn- und Scheitelbogens ab, so hat man den Inter-
parietalbogen. Die Mittel schwanken bei den verschiedenen Racen beiläufig von
31*0 bis 31*6. Die grösste Zahl erreicht die Deutsche (31-6).
Unter 29-5 kommen nur sehr wenig Schädel vor, darunter 3 mit 28/0.
Ebenso überschreiten 34-0 nur sehr wenige Kranien. Beim weiblichen Schädel
32 SCHÄDELMESSUNG.
ist der Bogen um fast I/O kleiner und die Grenzen schwanken zwischen 28*0 — 31*0.
Da nun das Mittel des Stirn- + des Scheitelbogens 250 ist, so ist bei Männern
.las Mittel des [nterparietalbogens = 6'6. Bei Weibern gilt dieselbe Zahl. Für
.las normale Ocoipnt ist der Bogen bei Männern 4-9, bei Weibern 4-5. Bei Gall
ist bei den Weibern für beide Bogen das normale Verhältniss, bei den Männern
ist das Mittel dos 1 nterparietalbogens 7*1 und des eigentlichen Occipitalbogens 4'5.
Es sind noch einige Bögen von Bedeutung und man darf die Summirung
der Messungen nicht scheuen, weil gerade in ihnen für eine weitere Gruppe von
Schädeln eine Charakteristik sein kann, so z. B. der quere Hinterhauptsbogen
als Bogen der Hintcrhauptsbreite , der quere Stirnbogen als Bogen der grössten
Stirnbreite, der Bogen von den beiden Endpunkten der letzteren zu den beiden
Endpunkten der Hinterhauptsbreite als Wölbungsmaass der seitlichen Gegend des
Schädels. Besonders die Asymmetrie des Schädels wird häufig durch die beiden
Hallten dieser Bögen allein oder am treffendsten markirt.
Der quere Hinterhauptsbogen schwankt bei den österreichischen Racen
im Mittel zwischen 13*1 — 13'9. Letztere Grösse erreicht er beim deutschen (langen)
Schädel. Unter 12*0 und über 15*5 kommen nur wenige Maasse vor. Beim weib-
lichen Schädel beträgt die der Bögen um 0-5 weniger. Für die anderen Bögen fehlt
zum Theile das Material, um Reihen, Mittel und Grenzwerthe zu construiren.
Ich will hier einige Bemerkungen über die Schädel mit offener
Stirnnaht einschalten und zugleich hervorheben , dass dieses Verhältniss auch
bei Köpfen leicht zu constatiren ist. Diese Varietät ist in den anatomischen Samm-
lungen gewiss unvergleichlich häufiger als in der lebenden Bevölkerung, weil sie
die Aufmerksamkeit der Sammler mehr erregte als die „typischen", „uninteressanten"
Schädel. Diese Schädel fallen sammt und sonders in unsere typischen Grenzen.
Hervorzuheben sind folgende Differenzen: 1. Grössere Stirnbreite um
1*0 Ccm. im Mittel grösser bei Männern und Weibern; 2. eine grössere Augen-
breite um fast 0*3; 3. eine grössere Entfernung der Tubera frontalia um 1*6,
Die anderen Unterschiede, die Welckee, herausgefunden hat, sind so
unbedeutend und innerhalb unserer normalen Grenzen, dass sie keiner weiteren Er-
örterung benöthigen..
b) Die Projectionsmethoden. Wir haben bisher die Resultate der
empirischen Methode auseinandergesetzt und kommen jetzt zu dem Versuche der
Projectionsmethode. Die theoretischen Schwierigkeiten, die sich bei den Höhen-
bestimmungen und bei den Bestimmungen der Winkel erhoben , bewogen — nach
Baer — Ihering auf die Projectionssysteme zu bestehen, denn von einer Höhe eines
Punktes kann man ja nur sprechen, wenn man eine feststehende Ebene annimmt.
Auch er war von der geometrischen Naivetät der Kraniologen nicht frei
und deshalb glaubte er, mit der Bestimmung einer einzigen Projection — der
Horizontalen — die Sache entschieden zu haben. Zum Glücke war eine andere
Projectionsebene als unbewusste in der Wissenschaft schon längst vorhanden,
nämlich die Medianebene , i. e. jene Ebene , welche die Schädel in eine rechte
und linke Hafte theilt. Ebenso unbewusst wurde diese Ebene bereits immer in
eine bestimmte Einstellung gedreht gedacht, nämlich 1. lothrecht, 2. dass sie mit
der Medianebene des betreffenden Körpers zusammenfiel. Denn steht die Median-
ebene nicht lothrecht, so wird bei jeder Drehung des Schädels um eine sagittale
Axe die Höhe eines jeden Punktes von einer bestimmten sagittalen Axe am
Schädel verändert. Wählt man als letztere z. B. die Jochbogenebene, so kann ja
der Schädel so gedreht werden, dass die Höhe der Scheitelpunkte des Schädels
null oder gar negativ wird.
Zweitens muss die Medianebene auch um eine Verticalaxe in bestimmter
Weise eingedreht sein, damit man Längendifferenzen zu berechnen bekomme.
Nehmen wir z. B. die Nasenwurzel als Anfangspunkt der Längenmessung, so
können wir den Schädel so drehen, dass die Länge der medianen Hinterhaupts-
punkte gleich Null sei. Darum dachten die Beobachter sich die Medianebene — je
SCHÄDELMESSUNG. 33
nach der Betrachtung von vorn, hinten, oben und unten einerseits oder von der
Seite anderseits — parallel oder senkrecht auf die vertical gestellte eigene
Medianebene.
Die unbewusste Raumanschauung und der mechanische Instinct haben
daher das corrigirt, was die geometrische Naivetät der Kraniologen tibersehen hat.
Gerade wegen dieser unbewussten Einstellung der Medianebene konnte
man von einer Horizontal 1 i n i e als Projection sprechen, denn wenn eine Projec-
tionsebene — z. B. die Medianebene — gegeben ist, gentigt die Einstellung einer
Axe, um die definitive Feststellung eines Körpers zu ermöglichen. Denn wenn
keine Projectionsebene noch existirt, so sichert eine Linie nicht die Fixirung
aller Punkte im Räume. Die Jochbogenlinie kann ja horizontal bleiben und der
Schädel um eine parallele Axe, oder um eine darauf verticale, senkrechte Axe
je um 360° verdreht werden. Dann kann jeder einzelne Punkt unendlich viele
verschiedene „Höhen und Längen" erhalten.
Ich will hier sofort bemerken, dass die Verticalstellung der Medianebene
und deren Eindrehung in die oben angegebene Richtung gewöhnlich „nach dem
Augenmaasse" gemacht wurde, was natürlich nur ganz incorrect geschehen kann,
daher nicht wissenschaftlich ist.
Die Wahl der Horizontalen war eine verschiedene und deshalb ist die
Vergleichung der Ergebnisse verschiedener Autoren und Schulen sehr schwer.
Zuerst hat man die obere Linie des Jochbogens gewählt (Baer) und später, als
sich diese wegen ihrer unregelmässigen Krümmung als nicht immer brauchbar
erwies, die Linie von der Jochwurzel zum untersten Punkte des unteren Augen-
randes (Schmidt) (Ic, Fig. 2) , oder von der Mitte des Höhendurchmessers des
Ohres zum letzteren Augenpunkte (Ihering-Virchow) und hat dann mit Stangen-
cirkeln die Höhen, Längen und Breiten gemessen. Bemerken will ich, dass man
diese „Horizontalen" nach dem Augenmaasse horizontal gestellt hat!
Die Franzosen (Broca) haben die beiden zuletzt genannten — auch
als „deutsche" bezeichneten — „Horizontalen" nicht anerkannt und sie wählten
die Orbi tostatenebene, i. e. die Ebene, die durch die Mitte des Sehloches
und die Mitte jener Linie geht, welche die Mittelpunkte des oberen und unteren
Randes des Orbitaeinganges verbindet.*) Die Feststellung dieser Ebene und
Linie erreichte BßOCA durch seinen Orbitostaten. (S. Fig. 3).
Dieses ingeniöse Instrument besteht zunächst aus zwei Theilen, nämlich
der Orbitaklemme und der Axennadel. Die Orbitaklemme enthält eine mittlere
Stange (st), die an einem Charnier (ch) unbeweglich festgestellt ist. Auf st schleift
ein mehrfach eingeschnittenes Rad (R), von welchem je zwei Einschnitte gleich
tief und vis-ä-vis sind, während je ein Paar verschieden tief eingeschnitten ist.
An dem Charnier ch bewegen sich zwei andere Stangen (stx, st2), die am oberen
Ende hakenförmig (h und h') senkrecht auf die Ebene der 3 Stangen abgebogen
sind. Wenn die zwei beweglichen Stangen in zwei vis-ä-vis gelegene Einschnitte
des Rades passen, so sind sie von st gleich weit entfernt. Die mittlere Stange (st)
hat am oberen Ende (e) mehrere Löcher , deren Rand in der Ebene der drei
Stangen liegen. Die beiden genannten Haken (h) sollen nun an die mittleren
Punkte am unteren und oberen Rande der Orbita eingeklemmt werden, was durch
die Verschiebung des Rades (R) geschieht. Dann ist der Mittelpunkt der Löcher im
Aequator des Orbitaeinganges. Durch ein solches Loch wird nun die Axennadel (N)
von einem der Lochgrösse entsprechenden Caliber durchgesteckt und in das Sehloch
eingeführt, und zwar so, dass die Nadel mit einem Knöpfchen, das in einem
bestimmten Abstände von beiden Enden ist, bis zum Loche der Mittelstange (st)
vorgeschoben, wird.
*) Diese Linie wurde instinetmässig als Projection der Aequatorialebene der
Augenhöhle gedacht. Die betreffende Projection ist freilich durch, die Nadelachse des Orbito-
statenapparates niebt immer exaet repräsentirt.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 3
;;t SCHADELMESSUNG.
Macht man dies nun auch auf der anderen Seite mittelst eines zweiten
Instrumentes, so stellt die Ebene beider Nadeln die Orbitostatenebene von Broca
dar. Miese Ebene ist die Aequatorebene der beiden Orbitae und soll eigentlich
beiderseits dureh die Mitte des Sehloches durchgehen. Würde letzteres der Fall
sein , so entspräche diese Orbitostatenebene der Blickebene bei der sogenannten
PrimärBtelkuig des Auges. Da aber die Nadeln an den oberen Rand des Seh-
loches angedrückt werden, ist die mit dem Instrumente gewonnene Ebene um
einen kleinen Winkel gegen die theoretische geneigt und im Durchschnitte ist die
Höhendifferenz beider Ebenen am hinteren Pole des Schädels 4 — 5 Mm.
Dieser Fehler kann leicht corrigirt werden, indem man das Sehloch mit
einer weichen Masse ausfüllt und die Nadel durch die Mitte durchsticht, oder
indem man der Nadel ein knopfförmiges Ende von beiläufig der Grösse und Gestalt
des Sehloches giebt und durch eine Art Manchette den Knopf im Sehloche fixirt.
Hat man die so corrigirte Orbitostatenebene hergestellt, so hat man die Blick-
ebene der Primärstellung des Auges de facto construirt.
Man kann nun diese Ebene leicht mittelst eines graduirten Dreieckes
horizontal stellen , indem man die schmale Seite des Dreieckes auf die horizontal
gedachte Unterlage aufstellt und erst den Schädel so lange um eine horizontale
Queraxe dreht , bis alle Punkte der einen Nadel gleich hoch von der Unterlage
entfernt sind. Dann steht die Nadel mit der Unterlage parallel, i. e. horizontal.
Begreiflicherweise wird dabei zugleich die zweite Nadel horizontal gestellt,
oder die beiden Nadeln brauchen nicht in einer Höhe zu sein. Dreht man dann
den Schädel um eine sagittale Axe , bis alle Punkte beider Nadeln gleich hoch
sind, dann steht die Blickebene der Primärstellung des Auges horizontal, und da
es als ein Naturgesetz gelten kann, dass die genannte Blickebene senkrecht auf
der Medianebene steht, so steht dann die Medianebene lothrecht und wir haben
nun den Schädel in zwei aufeinander senkrechte Ebenen, also geometrisch genau, fixirt.
Alle Fehler der BßOCA'schen Methode wären lange nicht schwerwiegend
und leicht zu corrigiren gewesen, wenn die französische Schule consequent bei
der Einstellung des Schädels mittelst des Orbitostatenapparates geblieben wäre.
Dazu hätte es nur noch eines Hilfsinstrumentes bedurft, nämlich eines Kranio-
f i x a t o r s , der eine Drehung des Schädels in drei aufeinander senkrechten
Richtungen gestattet hätte. Die Construction eines solchen Instrumentes wäre mit
keinen Schwierigkeiten verbunden gewesen, und wir werden im Laufe der Abhand-
lung ein solches beschreiben.
Der Mangel eines solchen Instrumentes brachte Broca auf die unglück-
selige Idee, eine natürliche, anatomische Ebene der Orbitostatenebene zu Sub-
stituten und er wählte dazu die Ebene, deren drei Punkte anatomisch durch den
untersten Punkt der beiden Processus glenoidales und durch den medianen
untersten Punkt des Processus alveolares des Oberkiefers bestimmt sind. Mathieu
construirte dazu ein Gestell, das Broca „Kraniostat" nannte. Ich will hier ganz
unerwähnt lassen, dass die MATHiEu'schen Kraniostaten mit grosser Liederlichkeit
ausgeführt waren. Auf diesen Kraniostaten ruhten die beiden Processus glenoidales
des Schädels auf zwei gleich hohen Brettchen, während ein Stachel zwischen die
zwei mittleren Zähne eingeschoben wurde, und so sollte der Schädel fixirt und orientirt
sein. Da aber der conisch zugespitzte Stachel verschieden tief in die Zähne eindrang,
war bei verschiedenen Schädeln diese Condylo-Alveolarebene verschieden und wo die
mittleren Zähne fehlten, hatte die Blickebene keinen Fixationspunkt. Für solche
Schädel müsste dann wieder ein Brettchen substituirt werden. Ueberhaupt sinkt der
Schädel leicht zurück. Aber alle diese Fehler konnten allenfalls corrigirt werden,
wenn die Grundidee, welche der Condylo-Alveolarebene zu Grunde lag, richtig
gewesen wäre.
Diese Grundidee war nämlich, dass die Condylo-Alveolarebene der Orbito-
statenebene parallel sei und Broca demonstrirte factisch eine Reihe solcher
Schädel, bei denen dies der Fall war. Allein schon bei der vorurtheilsfreien
SCHADELMESSUNG. 35
Vergleichung normaler Racenschädel zeigte es sieb, dass diese Condylo-Alveolarebenen
um mindestens 5° nach oben oder unten abweichen können, so dass also zwischen
den verschiedenen , auf diese Ebene orientirten Schädeln eine Neigungsdifferenz
von 10° bestand, ohne dass diese Differenz für jeden einzelnen Schädel berechnet
wäre. Wäre dann letzteres geschehen, hätte man durch Rechnung den Fehler
der Einstellung corrigiren können. Ganz colossal wird diese Differenz bei patho-
logischen Schädeln, noch mehr beim erwachsenen Affen, und ganz illusorisch wird
diese Orientirung bei den meisten Thierschädeln. Mit der Substituirung der
Orbitostatenebene durch die Condylo-Alveolarebene hat die französische Schule
jede exaete Basis verloren und ihren Messungen haften Fehler an, die nachträg-
lich kaum corrigirt werden können.
Dass aber der ursprüngliche Gedanke Broca's von der Orbitostatenebene
ein grundlegender sei, kann leicht erwiesen werden. Kranioskopisch sehen wir
den Schädel immer nach einer aprioristischen Raumanschauung an , nämlich die
Medianebene vertical gestellt und den Schädel gerade vor sich parallel mit dem
Horizonte schauend. Dieser aprioristischen Raumanschauung entspricht die ursprüng-
liche Einstellungsidee Broca's. Diese Einstellung ist auch die physiologisch richtige,
denn unsere Schädel und Augen sind so gebaut, dass bei der Ruhestellung des
Kopfes und des Auges die Blickebene horizontal gerichtet ist.
Dass die Natur aber dieses anatomische Constructionsprincip , das der
Function des Auges mit dem geringsten Aufwände von Bewegungskraft entspricht
und das mit unserer aprioristischen Raumanschauung zusammenfällt, strenge bei allen
Kopfformen des Menschen und der Säugethiere aufrecht erhält, werden wir später bei
der Darstellung des mathematischen Constructionsgesetzes der Medianebene sehen.
Nicht minder schlimm steht es mit den „deutschen Horizontalen".
Diese bilden fast immer, auch bei den Racenschädeln, einen Winkel mit der
Blickebene in der Primärstellung des Auges, und zwar gewöhnlich der Art, dass die
ScHMiDT'sche Linie um circa 5° und die ViRCHOW-lHERiNG'sche noch etwas mehr
nach oben geneigt ist. Bei pathologischen Schädeln kann diese Verbiegung bis zu 20°
betragen und bei Affen- und Thierschädeln ist überhaupt die Verbiegung colossal.
Es versteht sich von selbst, dass man wieder instinetiv die Medianebene als eigentliche
Projectionsebene nahm und wurde die Medianebene und die „Horizontale" mit dem
Augenmaasse eingestellt ! Deshalb sind auch die Messungen nach diesem Principe
im Grossen und Ganzen als unbrauchbar anzusehen. Es sollte sich nämlich von
selbst verstehen — was aber leider nicht der Fall ist — dass eine Variable nicht
als Constante benutzt wird. Man bedient sich gewöhnlich zu den Projections-
messungen der einfachen Stangencirkel.
Eine exaete Messung mit diesen Instrumenten ist unmöglich. Nehmen wir
z. B. an, wir sollen die Projection des Längsdurchmessers finden. Die eine Bedingung
ist relativ leicht zu erfüllen, nämlich, dass die Ebene des Stangencirkels zusammenfalle
mit der Medianebene. Doch wird auch hier ohne Zweifel ein geringes Herausdrehen
der Stangencirkelebene aus der Medianebene kaum zu vermeiden sein. Weiters muss
die Leitstange des Cirkels parallel mit der Horizontalen sein. Bei der
Distanz beider Linien ist auch das geübteste Auge nicht im Stande, einen ziemlich
grossen Winkel beider Richtungen zu erkennen. Man erhält also eine Projection
in einer Ebene und in einer Linie, deren exaete Lage man kaum mit einiger
Wahrscheinlichkeit kennt. Damit man überhaupt auch nur annähernd richtig
messe, darf man natürlich keinen Stangeneirkel mit gleich langen Branchen benützen.
Misst man mit einem solchen Cirkel , indem man die Spitzen an die beiden End-
punkte des Diameters bringt, so bedeutet die Ablesung an der Leitstange nichts
als eine Parallele zum Diameter , sie ist also keine Projection und sie ist auch
noch ungenau, wenn die Leitstange nicht in der Medianebene ist. Man muss also
zu dieser Messung einen Stangencirkel mit ungleichen Branchen haben, wovon
die eine auch senkrecht auf die Leitstange beweglich ist. Die Spitze der vorderen
Branche wird dann auf den gewählten vorderen Punkt des Diameters aufgesetzt
3*
SCHÄDELMESSUNG.
iiii.l oachdem man die Eindrehung der Ebene des Cirkels und der Leitstange in
den vorhergenannten Richtungen — unter der Voraussetzung, dass dies überhaupt
mit der vorhandenen Mitteln möglich sei — vollbracht hat, kann man mit der
hinteren Stange den hintersten Occipitalpunkt tangiren.
Ea BCheinl aber, dass die meisten Autoren ihre Messungen mit dem
gleicharmigen Stangeneirkel gemacht haben und dabei auf die Eindrehung in den
beiden obgenannten Richtungen nicht einmal nach dem Augenmaasse gedacht
baben. Solche Messungen sind absolut unbrauchbar. Jedenfalls wird man ohne
bestimmte Angabe der angewendeten Methoden die angegebenen Projectionen als
iiirlu verlässlich ansehen müssen. Wird der StaDgencirkel in eine andere Ebene
als die Medianebene eingedreht, so können nicht einmal Linien, die in der Median-
ebene liegen, damit als richtig gemessen angesehen werden.
Befindet sich z. B. der Stangeneirkel in der Horizontalebene , so wird
man, wenn die Grundbedingung, dass die Leitstange horizontal liege, wenigstens
annähernd erfüllt ist, blos Distanzen messen können, die in der Horizontalebene
liegen. Dies ist z. B. beim grössten Diameter fast nie der Fall.
Bei Breitenmessungen wird die Ebene des Stau gencirk eis senkrecht auf
die Medianebene stehen müssen, und zwar entweder parallel mit der Horizontal-
ebene, oder senkrecht auf ihr und die Leitstange muss parallel mit der horizon-
talen Queraxe sein. Man wird also immer nur die Distanz von Punkten
projiciren können, deren Verbindungslinie in derselben frontalen, auf die Median-
ebene senkrechter Ebene liegen.
Bei den meisten Breitendimensionen , die wir nehmen , ist dies bei
Normalschädeln der Fall und deshalb sind auch die Breitenmessungen zuver-
lässiger. Sowie aber zwei gleichwerthige Punkte nicht in derselben verticalen
Frontalebene liegen , wie dies bei den asymmetrischen Schädeln der Fall ist , so
ist mit dem Stangeneirkel keine Projection zu nehmen. Es müsste die bewegliche
Branche des Cirkels eine darauf senkrechte, bewegliche Stange haben, mit der
man den zweiten Punkt tangirt und dann könnte man an der Leitstange die
die Breitenprojection ablesen. Ich brauche nicht wieder zu betonen, dass die
erforderliche Eindrehung mit dem Augenmaasse sehr unzuverlässig ist und
und daher auch diese Maasse überhaupt wenig brauchbar sind.
Bei Höhenmaassen muss die Ebene des Stangen cirkels entweder in die
Medianebene oder parallel mit ihr, oder senkrecht auf dieselbe eingedreht sein
und die Leitstange des Cirkels muss senkrecht auf die Horizontale sein. Dass
diese Eindrehungen nach dem Augenmaasse inexaet sind, braucht nicht nochmals
betont zu werden. Von den genommenen Maassen ist nur die „aufrechte Höhe"
von Bäer, vom hintersten medianen Punkte des Hinterhauptsloches zum höchsten
Punkte des Schädels und die „Articularhöhe" von Viechow" wenigstens theoretisch
einigermaassen richtig zu nehmen.
Baer hat richtig betontj dass die fixe Stange parallel mit der gewählten
Horizontalen gestellt werden müsse; dass die Ebene des Cirkels in die Median-
ebene eingedreht werden müsse, hat er nicht angegeben. Eine mit gewöhnlichen
Stangencirkeln unüberwindbare technische Schwierigkeit liegt bei allen Schädeln
vor, bei denen der hintere Basalpunkt (B) nicht der tiefste in der medianen
Occiputlinie liegt. Dass diese Messung technisch nicht annähernd gut ausgeführt
werden könne , versteht sich von selbst ! Man denke sich , wie wenig man die
Stellung der beiden Arme in Bezug auf ihren Parallelismus zur Jochebene be-
urtheilen könne und wie wenig man verhindern könne, dass der Stangeneirkel in
jedem Momente anders gelagert sei.
Bei der Auricularhöhe muss die Ebene des Cirkels senkrecht auf die
Medianebene und die untere Branche horizontal und senkrecht auf die Horizontale
gestellt werden. Alles dies nach dem Augenmaasse!
Xach dieser Methode kann keine „höchste Höhe" gemessen werden,
auch nicht von der horizontalen Ebene, welche durch den obersten Ohrenpunkt geht.
SCHADELMESSUNG. 37
Dazu braucht man einen Stängencirkel mit einer dritten verschiebbaren Branche.
Nur mit einem Cirkel mit drei aufeinander senkrechten Branchen, wovon zwei
aufeinander und eine auf der Leitstange verschiebbar ist, konnte man wenigstens
annähernd eine grössere Anzahl von Höhen und vor Allem die „grösste Höhe" messen.
Alle diese Messnugen haben daher folgende Fehler: 1. Dass die Ein-
dreh ungen der Cirkelebene und der Leitstange in die nothwendigen Richtungen
mit dem Augenmaasse unmöglich exact geschehen können. 2. Dass sie nicht
gestatten, alle beliebigen Ebenen zu projiciren, so dass sie überhaupt der Grund-
bedingung einer jeden Messmethode von jedem Punkte des zu
messenden Körpers die Höhen, Breiten und Längen anzugeben,
nicht entsprechen. Würde letzteres der Fall sein, so würde sich auch jede
lineare Distanz, die als reale Grösse mindestens so wichtig ist, als die Projections-
grösse sofort berechnen lassen. Bei den Messungen der letzten Jahre hat man aber
diese realen Grössen nicht gemessen und bei der Unsicherheit der Projectionsmethoden
lassen sie sich auch nicht berechnen. 3. Dass man fast zu jeder Messung andere
Vorrichtungen braucht, wenn es sich nicht um hervorspringende Punkte handelt.
So z. B. müsse man einen eigenen Cirkel construiren , um von den untersten
Punkten der Schädelbasis zu anderen Punkten zu messen
Die Stangencirkelmessungen sind daher im Grossen und
Ganzen unbrauchbar.
Bedenkt man noch, dass die Messungen an verschiedenen Schädeln bei
derselben Projectionsebene nur mit grösster Vorsicht verglichen werden können,
weil die gewählten anatomischen Ebenen selbst variabel von Fall zu Fall sind,
so wird wenigstens jeder geometrisch gebildete Naturforscher den Ausspruch hart
aber gerecht finden, dass die Projectionsmess ungen mit den anato-
mischen Horizontalen von Baer, Schmidt, Broca (Condylo-Alveolarebene)
und mit den üblichen Messinstrumenten nicht viel taugen und
dass heute blos die früheren empirischen Messungen , besonders wenn sie mit dem
classischen Fleisse und der classischen Exactheit eines Weissbach ausgeführt,
eigentlich die einzige und noch nicht erschöpfte Quelle der Belehrung bieten. Von
den modernen Messungen machen einzelne, z. B. die von Holder eine rühmliche
Ausnahme, weil sie mit einer Art von Kathetometer gemacht sind. Auch Aeby's
Untersuchungen sind unvergleichlich exacter gedacht und durchgeführt, als die
Maasse der anderen. Wie wenig befriedigend die bisherigen Methoden waren,
habe ich durch langjährige Arbeit erfahren.
Ich wollte z. B. ein Maass für Oxykephalie und für die Zerlegung der
Längsprojection in eine anti- und postauriculare erreichen und ich habe mich
überzeugt, dass dies vor Allem ohne exacte Instrumente unmöglich ist und ebenso
unmöglich mit den genannten Projectionen. Die bisherigen Projectionsmethoden
konnten allenfalls noch halbwegs brauchbare Resultate für physiologische Verhält-
nisse innerhalb verwandter Typen bieten, aber geradezu unbrauchbare für die
pathologischen Schädel. Denn die anatomischen Projectionsebenen werden in
pathologischen Fällen verbogen, und zwar meist im compensirenden Sinne. Daher
erhält man von zwei Schädeln differentester Form Zahlen , welche diese Differenz
nicht ergeben. Ist z. B. das vordere Schädeldach gegen die Horizontale nach
oben verbogen , so verbiegen sich die anatomischen Horizontalen häufig in dem-
selben Maasse nach unten.
Ohne Kathetometer, das die exacte Eindrehung der
Schädel in seine Ebenen gestattet und ohne unveränderliche
zwei Projectionsebenen giebt es wenigstens vorläufig keine
exacte Kraniometrie!
Ich will hier zur Vermeidung von Missverständnissen betonen , dass man
unzweifelhaft mit unvollständigen Methoden wichtige Resultate erzielen kann und
erzielt hat, weil die gefundenen Resultate von der Grösse der begangenen Fehler
nur quantitativ, aber nicht qualitativ beeinflusst werden konnten. Es ist mir jedoch
38 .SCHÄDELMESSUNG.
eigentlich keine Thatsache bekannt, welche die bisherigen Projectionsmethoden
erzielt hat, welche der empirischen Methode nicht zugänglich war und ist.
Als Projectionsmethode will ich noch jener von Büsk gedenken. Er
wählt Dämlich die Linie (iß) vom vorderen Basalpunkte (b) zum vorderen Bregma-
pimkt ß) als die eine Projectionsaxe und instinetiv die Medianebene als „Projections-
ebene". Diese Bregmahöhe vertical eingestellt bei verticaler Stellung der Median-
ebene . fixirt dann den Schädel. Die Linie in der Medianebene, welche senkrecht
auf /<> steht, bildet dann die Horizontale und sie stimmt beiläufig mit der
deutschen Horizontalebene. Unter allen anatomischen Projectionen ist diese gewiss
die praktischeste. Wir werden bei Gelegenheit der Triangulirungsmethode sehen,
dass bei diesem Projectionssysteme alle Linien und Punkte leicht projicirt werden
können. Dass aber auch diese Linie besonders bei atypischen Schädeln die ver-
schiedenartigsten Neigungen hat, ist unzweifelhaft und daher haben dann auch
dieselben Ziffern verschiedene Bedeutung. Schon aus dem Studium der Racen-
schädel ergab sich eine grösste Differenz von 19°!
c) Triangulirungsmethoden. Schon wenn man von irgend einem
Punkte der Medianebene, z. B. vom vorderen medianen Punkte des Hinterhaupts-
loches Messungen zu allen wichtigen Punkten der medianen Ebenen macht, z. B.
den Punkten m, x, n, f, ß, v, a; o, t, B und ferner von einem dieser Punkte, z. B.
von der Nasenwurzel, zu allen übrigen genannten Punkten, so bekommt man eine
Summe von Dreiecken (Fig. 5) mit der gemeinschaftlichen Spitze im vorderen
Basalpunkte (Z>), deren drei Seiten, also auch deren Winkel bekannt sind.
Dadurch ist, wie Weissbach richtig betont hat, ein anschauliches Bild
der Medianebene geschaffen und man ist im Stande, auch jeden anderen Punkt
des Schädels in seiner Lage zur und in der Medianebene zu bestimmen , indem
man durch Messung von diesem Punkte zu den Endpunkten einer Queraxe
(z. B. der Ohrenaxe) die Breitendistanz von der Medianebene und durch die
Messung der Distanz von zwei Punkten der Medianebene (z. B. dem vorderen
Basalpunkt und der Nasenwurzel) die Lage in der Medianebene bestimmen kann. *)
Diese Methode entspricht den strengsten Anforderungen der Mechanik, auch ohne
Projection, denn sie liefert genau die relative Lage aller gemessenen
Punkte des Schädels und gestattet die Vergleichung der fremdartigsten
Schädel ohne Einmischung einer variablen Grösse. Ein Nachtheil dieser speciellen
Triangulirungsmethode ist, dass der Ausgangspunkt der Messung nicht in einer
brauchbaren Querachse liegt und daher von den zwei Endpunkten dieser und in toto
jeder Punkt ausserhalb der Medianebene von 4 statt 3 Punkten zu messen ist. **)
Viel lohnender ist die Triangulirung des Schädels von zwei
Punkten einer Queraxe. (S. Fig. 4.) Man misst z. B. von beiden Joch-
wurzeln oder besser von der kleinen Grube, welche die auseinandertretenden Joch-
wurzeln über dem Meatus auditorius ext. bilden beiderseits, zu allen genannten
medianen Punkten und berechnet daraus die Sehnen von diesen Punkten zu
Mitte der Querachse. Indem man dann noch von einem Punkte, z. B. der Nasen-
wurzel die Sehnen wie früher zu allen anderen medianen Punkten misst, bekommt
*) Letztere 2 Linien bilden nämlich die Hypotenusen 2 rechtwinkliger Dreiecke,
deren eine Cathete die Breite des Punktes ist. Dadurch lassen sich die 2 anderen Catheten
dieser beiden bestimmen. Diese 2 Catheten mit der Linie bn als Basis geben aber ein neues
Dreieck, dessen Scheitelpunkt die Projection des zu bestimmenden Punktes in die Median-
ebene ist und dessen Lage in dieser Ebene durch das letztgenannte Dreieck gegeben ist.
**) Da man in der Lage ist, jeden Punkt dorch Messung und Rechnung in die
Medianebene zu projiciren, so kennt man auch die Lage jeder Linie, welche zwei Punkte
verbindet, deren Lage man bestimmt hat. Dadurch wäre es auch möglich, jede anatomische
Horizontale in die Medianebene zu projiciren, z. B. eine deutsche Horizontale und man braucht
dann kein Projectionsinstrument. Doch ist die Rechnung sehr complicirt. Viel einfacher ist
es, die Projectionsmethode von Busk mit der genannten Triangulirungsmethode zu ver-
binden Interessant ist die Thatsache, dass bei vielen Schädeln die Gesichtsbasislinie (boc)
parallel mit der Orbitostatenebene ist.
SCHÄDELMESSUNG. 39
man auch ein medianes Dreiecknetz , nur mit dem Unterschiede , dass jetzt die
Mitte der Querachse (X) der Ausgangspunkt ist.*)
Ich habe gerathen, den hinteren Winkel ( <[ n 1 x Fig. 4) des so erhaltenen
Nasendreieckes (knx) in drei Theile zu theilen und jene Linie, welche das mitt-
lere Drittel des Winkels vom unteren trennt , als Horizontale anzunehmen , also
da der Winkel zwischen 28 — 32° schwankt, die Horizontale als um 10° von
hinten und unten nach oben und vorn gegen die Gesichtsbasis dieses Systems
geneigt, anzunehmen. Diese Linie ist bei typischen Schädeln mit der Orbito-
statenebene befriedigend parallel.
Ich will aber sofort bemerken , dass auch diese Linie bei pathologischen
Schädeln verbogen ist, besonders bei hochgradiger Oxykephalie.
Dieses Triangulirungssyste m hat denVortheil für Köpfe
Und Kranien gleich verwerthbar zu sein, da der Punkt am Uebergange
des oberen Randes der äusseren Gehöröffnung in den hinteren an Lebenden jenen
Punkten des Schädels entspricht und besonders für das Studium der lebenden
Bevölkerung ist diese Methode durch keine andere gleichwerthige zu ersetzen.
Man ist auch im Stande, bei dieser Triangulirungsmethode jeden seitlichen Punkt
des Schädels zu berechnen: Man braucht von den beiden äussersten Punkten der
Queraxe zu diesem Punkte zu messen und von diesem Punkte zu einem medianen
Punkte, z. B. der Nasenwurzel.
Durch die erste Messung bekommt man ein Dreieck , dessen Basis die Queraxe
und dessen Scheitel der zu messende Punkt (S) ist. Die drei Seiten dieses Dreieckes sind
durch Messung bekannt, also auch deren "Winkel. Fällt man nun von der Spitze dieses Drei-
eckes eine senkrechte auf die Grundlinie, so hat man zwei rechtwinklige Dreiecke. In jedem
derselben ist ausser dem rechten Winkel noch ein Winkel durch die Kenntniss des ersten
Dreieckes bekannt und man kann daraus leicht die Breite des seitlichen Punktes berechnen.
Innerhalb des ersten Dreieckes lässt sich auch leicht der Eadius von der Mitte der Quer-
achse zum seitlichen Punkte berechnen und man hat dann im Vereine mit der gefundenen
Breite und der gemessenen Distanz des seitlichen Punktes von einem medianen Punkte
(z. B. der Nasenwurzel) alle geometrischen Elemente , um die relative Lage dieses Punktes
zu allen übrigen Punkten des Schädels zu kennen. Indem wir aber im Stande sind, die Lage
aller Punkte zu fixiren, sind wir auch im Stande, die Lage jeder Linie festzustellen; wir
können die Endpunkte jeder beliebigen „Horizontalen" in unser Triangulirungssystem
hineintragen.
Ich will diese leider nur skizzenhaft mögliche Darstellung der Triangu-
lirungsmethode mit einer methodischen Bemerkung schliessen. Besondere Sorgfalt
muss auf die Messung kleiner Distanzen und kleiner Distanzdifferenzen mit kleinen
Cirkeln verwendet werden, da hier kleine Fehler der Messung grosse Fehler der
Rechnung nach sich ziehen. Weiter müssen besonders in letzteren Fällen die
Punkte, von denen und zu denen man misst, durch einen Punkt am Schädel
gezeichnet werden. Die anatomischen Punkte sind zu indistinct, und wenn man von
mehreren Punkten zu einem misst, kann es ohne Zeichnung am Schädel geschehen,
dass man Fehler bis 1 Mm. begeht, die bei manchen Maassen zu geradezu
parodoxen Resultaten führen.
Zur Ausführung aller dieser Rechnungen und Messungen der durch die
Rechnung gefundenen Linien und Winkeln braucht man nur ein gewöhnliches
Reisszeug mit Transporteur, ein Lineal und einen Maassstab. Die kleinen Kunst-
griffe der zeichnenden Geometrie kann sich ja Jeder, wenn er ihrer nicht mächtig
sein sollte, leicht aneignen. **)
B. Kephalometrie.
Wir können jetzt zur Kephalometrie übergehen und ich will sofort
bemerken, dass dieselbe mehr ein lebenskräftiger Embryo ist, als eine reife Frucht.
Die hier mitgetheilten Daten sind wesentlich als erste Versuche einer Präcisirung
*) Uebrigens ist auch durch Messung von beiden Ohrenpunkten zum vorderen
Basalpunkte und von diesem zur Nasenwurzel die Lage von X zu b gegeben und das eine
Netz kann beliebig in das andere verwandelt werden.
**) Die meisten Rechnungen kann man viel rascher mit meinem geometrischen
Rechenapparat (ausgeführt von Wolters) durchführen.
40 SCHÄDELMESSÜNG.
aufzufassen und Bie sind heute eher geeignet, mit anderen kephalometrischen
Reihen, als mit kraniometrischen verglichen zu werden.
Die Bedeutung derselben ist sclion für die Racenlehre sehr wichtig. Für
\ iele derselben besitzen wir nicht genug Schädel und die aus einer kleineren
Zahl gewonnenen Resultate schweben in der Luft und wir werden umso miss-
trauischer gegen solche Maasse sein, als wir von den ehemaligen Besitzern der-
Belben uichts wissen und als die Ethnographie noch vielfach geographische Ein-
heiten als ethnographische nimmt. Aber auch bei den europäischen Racen ist eine
Bf essung der lebenden Bevölkerung wichtig, einerseits um das Zusammentreffen
gewissen Formen mit anderen Körpereigenschaften, wie: Grösse, Farbe der Haare
und der Iris etc. zu erkennen und weil es wichtig ist, zu wissen, ob die Maasse der
Schädel der Sammlungen mit jenen der lebenden Bevölkerung und vor Allem der
verschiedenen Stände und Berufsclassen stimmen. Denn darüber kann ja kein
Zweifel bestehen, dass die Schädel der anatomischen Sammlungen aus den niedersten
und verkommensten Volksclassen stammen.*)
Es ist wichtig ferner auchlocal den Percentsatz der Kopfformen festzustellen,
um den atavitischen Charakter oder die Mischung einer Bevölkerung zu studiren.
Die Kephalometrie gewinnt aber noch ein weiteres Interesse vom klinischen
und gerichtsärztlichen Standpunkte.
Indem die Kephalometrie ein Prävaliren gewisser Kopfformen und Formen-
verhältnisse bei gewissen pathologischen Processen feststellt, erkennt sie auch die
Bedeutung solcher Formen bei Individuen, deren Prädisposition klinisch, latent
geblieben ist , die aber in der Descendenz zur Geltung kommt. Dabei gewinnen
wir einen tieferen Einblick in den Grund des „Ueberspringens" der Heredität,
als irgend sonst.
Wie in der Kraniometrie spielen auch hier die grössten Dimensionen eine
Hauptrolle und wir wollen uns hier in umgekehrter Ordnung zuerst mit den
Bogenmaassen beschäftigen.
Jedes dieser Bogenmaasse ist beim Kopfe ein mehr oder minder concen-
trischer, grösserer Bogen als beim Schädel. Directe Messungen haben ergeben
(Broca), dass der grösste Horizontalumfang beim Kopfe um fast 3*0 mehr
beträgt, als beim Schädel.
Wir werden also beim männlichen Kopfe 55-0 als Mittel anzunehmen
haben und 52*0 — 58 0 als physiologische Breite. Beim Weibe ist das Mittel 53'0
und die physiologische Grenze schwankt zwischen 52-0 — 56-0, wobei letztere Zahl
schon eigentlich übergross ist. Es wird also im Allgemeinen der vierzehnte Theil
des Maasses hinzugerechnet. Dieser Vorgang bedarf noch mehr Nachprüfungen,
besonders, da ein grosser Unterschied bei stark und schwach behaarten Individuen
besteht. Besonders für jugendliche Schädel wird man zum Kopfumfange nicht 3*0,
sondern nur den genannten Percentsatz der Vergrösserung hinzuzählen.
Der Umfang des neugeborenen Kindes (34-0 des Kraniums) ist nur mit
36*0 zu berechnen, die des einjährigen Knaben mit circa 44*5 und die des zehn-
jährigen mit fast 52-0 Der Umfang des neugeborenen Mädchens ist ebenfalls mit
36-0 anzunehmen, die des zehnjährigen aber nur mit fast 51-0.
Das Mittel des Ohrumfanges liegt beim erwachsenen Manne bei
32*8 — 33-0, die Grenzen bei 31*5 — 36-0; für den weiblichen Kopf sind für die
obigen Zahlen noch gut 1-0 abzurechnen. Beim neugeborenen Kinde wird als
*) Auch die Sammlung von Weissbach, der die Schädel von Soldaten nahm, trifft
ein Vorwurf. Sie stammen aus der Zeit vor der Verkündigung der allgemeinen Wehrpflicht und
die Gemeinden bestrebten sich vor Allem, aller ihre mauvais sujets bei der Eecrutirung los
zu werden. Besonders unter den magyarischen Schädeln Weissbach's finden sich so viele
excentrisch m der Reihe situirte , dass der Verdacht gegründet ist , man sei in Ungarn
1 esonders bestrebt gewesen, die prädestinirten Zuchthauspflanzen unter'? Militär zu stecken.
Auch hat Weissbach anf die pathologischen Verhältnisse keine Rücksicht genommen.
Epileptiker durften unter seinen Clienten nicht selten gewesen sein. Sein deutscher. Gross-
sckadel z. B. war gewiss kein klinisch untadelhaftes Individuum.
SCHÄDELMESSUNG. 41
Mittel der Ohrumfang circa 22 betragen, beim einjährigen circa 26, beim sieben-
bis zwölfjährigen Kinde mit 30*0 — 31'0.
Was den Längsbogen am Kopfe betrifft, so lasst er sich beim
Menschen nur bis zur Tuber occipit. extern, führen. Für erwachsene männliche
Köpfe beträgt das Mittel 33'5 und die typischen Grenzen liegen zwischen
32-0 und 34-5. Beim weiblichen Schädel ist 1*0 abzuziehen. Für den kindlichen
Schädel fehlen die Daten.
Für den medianen Stirn- und Scheitelbogen beim erwachsenen
Manne ist das Mittel etwas grösser als 13*0 und die typischen Grenzen schwanken
12-0 — 15*0. Bei Weibern ist von diesen Zahlen 0-5 abzuziehen.
Es ist bei Köpfen im Allgemeinen nicht leicht, beide Bogen zu trennen,
indem die Kreuzung zwischen Coronar- und Sagittalnaht nicht immer heraus-
zufinden ist. Nur wenn man die Coronarhaut deutlich bis zur Medianlinie ver-
folgen kann, ist diese getrennte Messung beider Bögen möglich. Der Kreuzungs-
punkt zwischen Lambda- und Sagittalnaht ist gewöhnlich deutlich. Ein grosses
Missverhältniss zwischen Frontal- und Parietalbogen ist aber für die Zwecke der
Kephalometrie sehr wichtig. Bei Epileptikern und Melancholikern ist der Parietal-
bogen oft verkürzt. Für den Neugeborenen durfte der Stirnbogen mit 8'0, beim
männlichen Schädel mit 1 Jahr bereits mit 11*0 und mit 6 Jahr mit 12-5; beim
weiblichen mit 1 Jahr mit 105 und mit 4 Jahre mit 11*5. Beim weiblichen
Neugeborenen ist der Scheitelbogen mit 9*62 zu berechnen, mit 1 Jahr mit 11-5,
mit 6 Jahre circa mit 12*0. Beim weiblichen Geschlecht nach 1 Jahr etwa wie
beim Knaben und bereits am Ende des 4. Jahres mit 11*5. Später wächst der
weibliche Schädel langsamer.
Der Interparietalbogen beträgt bei Männern im Mittel zwischen 5*8 — 6*3,
also 6*0 und bei Weibern um circa 0*4 weniger.
Der Hinterhauptsquerbogen beträgt im Mittel 14*0 — 14-5 und die typischen
Grenzen durften mit 13*0 und 16-0 zu bezeichnen sein. Beim Weibe beträgt der
Bogen um 05 weniger.
Was die grösste Länge und Breite betrifft, so werden wir die Mittelzahlen
und Grenzwerthe um mindestens 1-0 vergrössern müssen. Diese Vergrösserung beträgt
aber nicht bei allen Köpfen denselben Percentsatz und er ist auch für Breite und
Länge nicht gleich. Dies macht das der Längen-, Breitenindex beim Kopfe um
2 Procent höher gerechnet .werden muss (Stieda; Weissbach rechnet sogar 3°/0).
Vom 8. bis circa 20. Lebensjahre wächst die Länge um 1*0 und die
Breite ebenso. Vom 1. bis circa 8. Jahre wächst der Längendurchmesser um
2-0 und der Breitendurchmesser um 2*5 , während beide im ersten Lebensjahre
um circa 3*0 wachsen.
Nach Liharzik beträgt die Kopflänge des neugeborenen Knaben 12*0
und des Erwachsenen 21*0. 13-0 wird schon im zweiten Lebensmonate erreicht,
14-0 mit 6 Monate, 15-0 mit 1 Jahr circa, 16*0 mit 21 Monaten, 17-0 mit
4x/2 Jahre, 18-0 mit 8V3 Jahre, 19-0 mit circa 14 Jahren, 20-0 mit 19 Jahren
und 21 mit 25 Jahre. Beim weiblichen Schädel ist beiläufig derselbe Wachsthums-
process, nur mit dem Unterschiede, dass der weibliche Schädel mit 0-5 zurückbleibt.
Der grösste Querdurchmesser beträgt nach Liharzik beim männlichen Neu-
geborenen 10-0, erreicht ll'O schon im S.Monate, 12*0 circa im 8. Monate,
13-0 im 15. Monate, 14*0 mit 3 Jahren, 15'0 mit 6l/2 Jahren, 16'0 mit 11 Jahren,
17 mit 19 Jahren und 17*5 mit 25 Jahren. Beim weiblichen Schädel beträgt
dieses Maass bei der Geburt 9-5, nach 1 Monat 1O0, mit circa 5 Monaten 11*0,
mit 1 Jahr 12-0, mit 21 Monaten 13-0, mit 4Va Jahren 14-0, mit fast 9 Jahren
15-0, mit 19 Jahren 16-0 und mit 25 Jahren 17-0. Diese Zahlen von Liharzik
erscheinen mir für's Mittel zu gross.
Was die grösste Höhe betrifft, so werden wir beim Kopfe als Null-
punkt der Höhe den obersten Punkt des Ohres annehmen müssen und die relative
Höhe dieses Punktes vom vorderen medianen Punkt des Hinterhauptsloches ignoriren
42 SCIIÄDELMESSUNG.
müssen, und als höchste Eöhe werden wir, wenn die Radien vom Ohre zum Bregma
Dach hinten wachsen , die Mittelzahl zwischen dem zum Bregma und jenem zum
inst inctiv ;ils höchster Punkt erscheinenden als empirische grösste Höhe bezeichnen.
Für unsere Racen dürfte die Zahl 2*5 als Mittel für die Höhe der Fossa
supra medium avdit. ext. über dem vorderen Basalpunkt (b) gelten. Ausser diesen
an jedem Kopfe leicht zu nehmenden Maassen kann man ein System von Maassen
durch Triangu lirung nehmen, welche jenen des Schädels nahezu äquivalent sind.
.Man drückt mit je einer Cirkelspitze die Haut am Uebergange des oberen
Randes in den hinteren des äusseren Gehörganges gegen die Jochwurzel nach
üben und misst so die Ohrenbreite. Hierauf misst man von diesen Punkten zu
jenen Punkten , welche den Punkten m, n, f\ ß, v, y., o und t des Schädels ent-
sprechen. Den Punkt in misst man am Zahnfleische , als f wird die Spitze der
llaargrenze genommen. Die Punkte ß, w, v sind nicht immer streng zu fixiren,
aber ihre Radien geben mit der zugehörenden Sehne von der Nasenwurzel und
dazugehörigen Bogen doch für das Bild der Medianebene zutreffende Zahlen.
Die Punkte m, x, n sind an und für sich als mediane scharf charak-
terisirt. Die anderen Punkte findet als mediane sozusagen durch Tasten mit dem
Cirkel, bis die Sehnen vom Ohre zu den betreffenden Punkten beiderseits bis auf
mindestens 2 Mm. gleich sind. Sowie man einen solchen Punkt bestimmt hat,
lässt man ihn fixiren und misst sofort auch die Sehnen bis zur Nasenwurzel und
den betreffenden Bogen. (Gebraucht man diese Vorsicht nicht, dann hat man
keine Garantie, dass man später von denselben Punkten misst.) Damit hat man
ein Dreiecknetz wie beim Schädel. Man misst dann noch neben der grössten
Breite, allenfalls die grösste und kleinste Stirnbreite, die Hinterhauptsbreite, die
obere Gesichtsbreite, die grösste Jochbreite (als grösste Gesichtsbreite), die grösste
Wangenbreite und die grösste Oberkieferbreite. Bis genauere Messungen vorliegen,
wird man von der kephalometrischen Breite 10 abziehen, um sie mit der ent-
sprechenden kraniometrischen Breite zu vergleichen.
Von medianen Gesichtsmaassen wird man die Nasenlänge (n sc), allenfalls die
ganze Oberkieferlänge (nm) und die grösste Gesichtslänge (n[x) nehmen. Bei diesen
Maassen durften die kephalometrischen und kraniometrischen Maasse correspondiren.
Nachdem wir noch den Horizontal- und Ohrumfang genommen und L
und Q bestimmt haben , ist die Messung fertig und die Rechnung beginnt in
ganz analoger Weise, wie bei der betreffenden Triangulirung des Schädels.
Von den absoluten Maassen der Radien durfte im Durchschnitte %0-5 für
die Vergleichung mit den Daten am Schädel abzuziehen sein.
Als Horizontale habe ich auch hier eine Linie gewählt, welche von dem
Winkel (nix) 2/s abschneidet. Man könnte auch hier jedenfalls die SCHMiDT'sche
Linie leicht in das Triangulirungssystem einfügen. Der Winkel des Gesichts-
dreieckes am vorderen Basalpunkte (nix) beträgt anch hier beiläufig 30° und
die Gesichtsbasislinie (Ix) ist mit Grundlinie (In) ganz oder fast gleich.
Ich behalte mir für eine andere Gelegenheit die Mittheilung einer grossen
vergleichenden Reihe von triangulirten Racenschädeln und von Normalköpfen
bevor. Ich will hier einige Maassergebnisse vorläufig mittheilen.
Im Gefängniss von Lepoglava, wo die Verbrecher und das Wartepersonal
derselben südslavischen Race angehörten, nahm ich eine kleine Reihe von Maassen
1. von Wärtern (23), 2. von Verbrechern (29) — meist Dieben — im Gefäng-
nisse und 3. von 20 Verbrechern in der Zwischenanstalt — meist Gewaltthätig-
keitsverbrecher und theile die Mittel mit:
I. Reihe II. Reihe III. Reihe
Horizontalumfang 55.9 54.3 55.3
Ohrumfang 31-9 31.2 33-3
L 18-3 18-3 17-9
Q • 15-6 15-6 15-7
LB 85-0 85-0 87-7
SCHADELMESSUNG. 43
Man sieht, die Diebe sind untertypisch in Bezug auf die Raumverhält-
nisse; die Gewaltthätigkeitsverbrecher sind etwas untertypisch im Horizontalumfange,
sehr tibertypisch im Breitenbogen, der Länge nach beträchtlich verkürzt bei etwas
grösserer Breite und bedeutend im Mittel brachykephaler.
Ich muss für eine andere Gelegenheit vorbehalten, zahlreiche klinische
und forensische Beobachtungsreihen mitzutheilen.
c) Die kathetometrische Methode. Wenn wir einen Rückblick
auf die bisherigen Methoden werfen, so hat die empirische den Vortheil, dass die
Maass reale Grössen sind und da der Schädel ein streng mathematischer Körper
ist, so giebt eine Summe solcher Maasse doch ein reales Bild, wenn auch vorläufig
ohne Kenntniss der Krümmungsformeln des Schädels überhaupt und ohne Kenntniss
der Constanten für jeden einzelnen Schädel dieses Bild nur ein beiläufiges ist. Das
was aber eigentlich erzielt werden muss, nämlich dass man von allen gemessenen
Punkten die genaue, gegenseitige Lage im Räume kenne, ist durch sie nicht erreicht
und auch das eigentliche geometrische Gesetz des Schädels ist unbekannt geblieben.
Dieses Gesetz kann aber nur gefunden werden, wenn die relative Lage aller Punkte
im Räume methodisch fixirt werden kann.
Die Triangulirungsmethoden in der Fortbildung, wie ich sie hier dar-
stelle , haben den Vorzug , dass sie kein grosses Instrumentarium benöthigen und
dem wissenschaftlichen Bedürfnisse, die relative Lage aller Punkte eines Schädels
im Räume zu liefern , entsprechen. Dies umsomehr , als ich gezeigt habe , dass
nicht nur die Punkte der Medianebene, sondern dass auch die Lage der seitlichen
Punkte zu allen andern Punkten des Schädels bestimmt werden könne.
Ich habe auch ausgeführt oder angedeutet, dass alle anatomischen Pro-
jectionen in das System der Dreiecke eingefügt werden können, dass aber alle
diese Projectionen mit Ausnahme der Orbitostatenebene der Vorwurf treffe, eine
variable Grösse zu sein, also für die Vergleichung verschiedener Schädel nichts
taugen. Die Behauptung, dass die Orbitostatenebene constant sei, i. e. dass die
Natur im Aufbaue des Schädels unabänderlich das constructive Princip aufrecht
erhalte, dass die Ebene der Augenachsen in der Ruhestellung des Auges und des
Kopfes bei aufrechter Stellung horizontal stehe, ist bis jetzt wahrscheinlich
gemacht, aber nur indirect erwiesen, und zwar 1. indem dieses Princip unserer
aprioristischen Raumanschauung entspricht und 2. dass dieses Princip dem physio-
logischen Zwecke der Bewegung auf der Erde mit dem geringsten Aufwände von
Kraft entspreche. Den directen Nachweis werden wir später liefern.
Die Triangulirungsmethode hat den Nachtheil , dass sie sehr viele
Rechnungen verlangt. Dabei ist aber zu erwähnen, dass diese Rechnungen ebenso
gut nach Jahren durchgeführt werden können. Diese Methode ist also unzweifel-
haft von grossem Vortheile für Messungen auf der Reise.
Wenn schon die Messungen auf der Basis anatomischer Ebenen unser
Bedenken im höchsten Grade erregen müssen, so kommt noch hinzu, dass die
Projectiönsmessungen mit den Handstangencirkeln nichts taugen, selbst wenn sie
theoretisch richtig gedacht sind. Und selbst wenn sie richtig wären, könnten sie
überhaupt nur wenige Maasse liefern , keineswegs aber von sämmtlichen zu
messenden Punkten die Lage im Räume aussagen. *)
Ein weiterer Vorwurf also , den wir den Projectiönsmessungen mancher
Forscher machen müssen , ist der , dass dieselben die Messungen der realen und
wichtigen linearen Maasse nicht durchführen, indem sie von diesen Linien die
Projectionen, aber nicht die Längen, Höhen und Breiten ihrer Endpunkte angeben.
Würde dies geschehen, dann wären die Distanzen leicht herauszurechnen.
Eine directe und correcte Projectionsmessung auf irgend ein rectanguläres
Projectionssy stein hat folgende Bedingungen zur Basis:
*) Dass es geradezu unsinnig ist, in die linearen Messungen die Fehler der
Stangencirkelmessung hineinzubringen, hat jüngst Topinard mit Recht betont.
I | SCHÄDELMESSUNG.
1. Mass der Schädel corrcct in die gewählten Projectioiis-
ebcnon passiv einzudrehen sein, i. e. wenn wir von verticalen und hori-
zontalen Ebenen des Schädels und von einer verticalen und zwei horizontalen
Axen sprechen, so müssen diese Ebenen und Axen wirklich in die betreffenden
Stellungen eindrehbar sein. Mit anderen Worten, wir brauchen vor Allem einen
Kraniofixator, die jede beliebige Eindrehung des Schädels gestattet.
2. Müssen die Ebenen und Axen am Schädel selbst genau
bestimmt sein. Man darf also nicht willkürlich von mehr als drei anatomischen
Punkten behaupten, sie lägen z. B. in der Medianebene, bevor nicht erwiesen
ist, dass sie überhaupt in einer Ebene liegen. Es ist nämlich fraglich, ob wirklich
die Ebene durch drei median erscheinende Punkte der Medianebene entspricht.
Wenn wir z. B. durch die median erscheinenden Punkte der Nasenwurzel, des
vorderen und hinteren Bregmas (n, ß, a) eine Ebene ziehen, so ist es möglich,
dass dann die median erscheinenden Punkte des Tuber occip. ext., des vorderen
und hinteren Basalpunktes, des Nasenstachels (t, h, B, x) nicht in derselben Ebene
liegen. Die Medianebene ist eben jene Ebene, welche die meisten median
erscheinenden Punkte enthält. Eine solche Ebene aber mit dem Augenmaasse
übersehen und sie mit Augenmaasse in eine bestimmte Richtung und Stellung
eindrehen zu wollen, ist einfach ein geometrischer und mechanischer Nonsens.
Die Medianebene muss vor Allem auf den Schädel gezeichnet sein, um sie
einstellen zu können.
3. Der Schädel muss mit seinen Ebenen und Axen genau
in ein rectangulares, aus drei aufeinander senkrecht stehenden Ebenen
bestehendes Messinstrument (Kathetometer) eingedreht sein.
Zur Herstellung der ersten Bedingung ist ein Kr aniofixator noth-
wendig, der die Eindrehung des Schädels in drei aufeinander senkrechten Axen
gestattet, und zwar eine sehr feine Drehung. Die bisherigen Instrumente
entsprachen dieser Bedingung nicht , weshalb ich einen solchen anfertigen
Hess (Fig. A).
Die Construction des Fixirstückes (F) (Fig. A) entlehnte ich zunächst
dem Kraniofixator , den Broca zu seinem Zeichenapparate benützt. Das Princip
des letzteren beruhte darauf, mittelst einer Schraube zwei gerippte Balken so
gegen den vorderen und hinteren Rand des Hinterhauptsloches zu stemmen, dass
dadurch der Schädel fixirt wird. Das wird von Broca erreicht, indem die zwei
Balken durch Aufschrauben in einen Winkel gestellt werden, während an meinem
Apparat die zwei Balken parallel verschoben werden. Der eine Balken Blx ist
fix, der andere Bl2 wird durch die Schraube («), verschoben. Die zwei kleinen
Querbalken b Z, und b l2 dienen als Stützpunkte für den Schädel ; sie müssen
jedoch nicht als solche benützt werden.
Durch diese Construction gewann ich bei gleicher Sicherheit eine grössere
Leichtigkeit des Apparates.
Der senkrechte Balken (B) , der das Fixirstück (F) trägt, ist um seine
verticale Axe mitsammt dem Index (id) auf einer Scheibe (Seh), die in 360°
getheilt ist, drehbar. Diese Drehung lässt sich begreiflicherweise mit der Fein-
heit von mindestens a/3° ausführen.
Die Flügelschraube (sf) ermöglicht eine ausgiebige Drehung um die
Queraxe. Die eigentliche feine Drehungseinstellung um die quere und sagittale
Axe besorgen die Mikrometer Schraubenpaare s\, s'2, s'\ und s"2.
Ein Theil der bisherigen Kraniofixatoren hatten noch den Uebelstand,
dass sie uns nicht gestattet, die Basis des Schädels dem Messapparate ent-
gegenzustellen.
Ich bediene mich eines nach unten offenen und inwendig gerippten Hohl-
cylinders (0), der oben eine Schale trägt, die mit geschmolzenem Siegellack
gefüllt wird (s. Fig. A). Die Zeichnung zeigt den Cylinder median durchschnitten
und von der Schnittfläche her.
SCHÄDELMESSUNG.
45
In diese Masse in der Schale wird nun der Schädel mit der Convexität
der einen äusseren Seite getaucht, und zwar am besten so, dass am Schädel, so
weit dies mit dem Augenmaasse und der freien Hand möglich ist, erstens die
Medianebene horizontal steht, und zweitens, dass die Frontalebene durch die Mitte
des Ohres die Schale möglichst in zwei Hälften theilt.
Fig. A.
Das Erstere geschieht, damit man dann mit den Mikrometerschrauben
nicht mehr nachbessern müsse, als deren Drehungsfähigkeit zu leisten mag und
das Zweite, damit eine äquatorielle Drehuugsaxe des Schädels möglichst' nahe
mit der Drehungsaxe des Apparates zusammenfalle.
/da i Ii?.n? Schiebt man den SeriPPten Hohlcylinder über die beiden Balken
(Bl) des Fixirstückes (F). Ich habe diese Methode auch deswegen gewählt, weil
46
SCHADELMESSUNG.
man durch dieses Hilfsstück selbst defecte und brüchige Schädel auch bei senk-
rechter Einstellung der Medianebene fixiren kann.*)
Das massive Stativ (8 t) ruht auf drei Schrauben, damit die graduirte
Scheibe (Seh) auf einem horizontalen Brette möglichst horizontal und die Axe B
vertioal gestellt werden könne (s. Fig. C).
Eine gute Verbesserung wäre es, das eigentliche Fixirstück selbst ver-
Boniebbar zumachen, um die mittlere Drehungsaxe des Schädels in die Richtung
der vertiealen Achse des Balkens (Bk) bringen zu können. Dann würden bei
Drehungen mittelst der Schrauben etc. gleichweit von der Mitte des Schädels
befindliche Punkte gleich grosse Drehungen erfahren.
Die nächste Aufgabe ist es nun , die Projectionsebene und die Axen des
Schädels in ein feststehendes, reetangulares System einzudrehen. Letzteres muss
zugleich so beschaffen sein, dass die Messung die Längen, Höhen und Breiten
jedes Punktes des Schädels liefere.
Fig. B.
Es giebt nun zwei Methoden, ein solches System (Kathetometer) her-
zustellen, nämlich einen Balken-Kathetometer , wie ich ihn im 8. Bande der Mit-
theilungen der Wiener anthropologischen Gesellschaft mitgetheilt habe und den
optischen. Ich habe ersteren, trotz vieler Verbesserungen, die ich angebracht
*) Indem ich mir vorbehalten muss, auf die Methode der instrumentellen Ein-
stellung des Schädels in seine Coordinatenebenen später zurückzukommen, will ich gleich
bemerken, dass man mit dem Kraniofixator und mit Hilfe des Broca'schen Orbitostaten-
apparates unter den früher betonten Cautelen eine exaete Einstellung des Schädels ohne
■weitere instrumentelle Beihilfe machen könnte.
SCHADELMESSUNG.
47
habe, verlassen, weil er umständlicher und ungenauer ist. Beiden Systemen gemein-
schaftlich ist das Grundbrett (O Fig. G), das eine gleichmässige Fläche darstellt,
die mit Hilfe einer Libelle und drei Stellschrauben horizontal gestellt werden kann.
Das Grundbrett besteht aus einer dicken, gut gehobelten Metallplatte, die an der
unteren Fläche stark verspreizt ist.
Auf diesem Grundbrette befindet sich ein sorgfältig ausgeführter recht-
eckiger, vierseitiger Rahmen (Ra), dessen Aussenflächen sorgfältig geschliffen sind
und genau senkrecht auf das Grundbrett gerichtet sind. An der Oberfläche tragen
diese Rahmen Maassstäbe.
An den Aussenseiten des Rahmens schleift das Stativ st (Fig. G) des
Fernrohrs. (Beim Balken-Kathetometer wird das Fernrohr durch einen in derselben
Richtung auf dem Balken Bk (Fig. G) verschiebbaren graduirten Querstifte, der
auch in seiner eigenen Richtung nach vorn und rückwärts verschiebbar ist, ersetzt.)
Zunächst wollen wir uns mit dem Fernrohr beschäftigen (s. Fig. B).
48 .«'HÄDELMESSUKG.
Dasselbe hat zwei Coordinatenebenen , die durch die optische Axe einer-
seits und je einen Schenkel eines Fadenkreuzes anderseits bestimmt sind, und
drittens die Ebene des Fadenkreuzes selbst. Damit diese drei Ebenen aufeinander
Benkrechl seien und in horizontaler und verticaler Richtung stehen und mit den
Ebenen des Grandbrettes und seines Rahmens zusammenfallen, muss das Fernrohr
eine Summe von Correctionsvorrichtungen besitzen.
Vor Allem sieht man (Fig. B) auf dem verschiebbaren Oculartheil o c je
zwei Schraubenpaare (s\, s'z und s'\, s"2), wovon das erste Paar dazu dient,
um den einen Schenkel des Fadenkreuzes vertical, und das andere um den zweiten
Schenkel horizontal zu stellen, während die Schraube (6) im Winkel zwischen s\
und 8ui dazu dient, um die Ebene des Fadenkreuzes festzustellen. (Die Schraube s"2
ist in der Figur nicht sichtbar; sie steht s'\ vis-ä-vis.)
Zunächst ist es nothwendig, die Queraxe des Fernrohrs horizontal zu
stellen, was mit Hilfe der q u e r gestellten Libelle (l) (siehe Fig. G) und die an
die Feder drückende Schraube (sh') geschieht.
Weiters muss die optische Achse des Fernrohres um die verticale Axe
senkrecht auf den verticalen Balken (Bk) gestellt werden können, und dies geschieht
mittelst der kleinen Schraube ($'") und einer in der Zeichnung nicht sichtbaren
Gegenschraube. Die Horizontalstellung der optischen Axe selbst geschieht mittelst
der Libelle (l), die nun in der Richtung der optischen Axe aufgesetzt wird und
der Schraube (sh"). Diese Schraube drückt auf einen Balken (ßy.)> der senkrecht
auf die Queraxe des Fernrohres steht, und entgegengesetzt der Schraube (sh")
wirkt eine Feder (f), die in ihrem Gehäuse zurückgezogen werden kann, wenn
man den Balken (ßy.) frei haben will. Die Schraube (sh"') dient dazu, um die
Bewegung der Queraxe an die Bewegung des Balken (ßy.) zu binden. Die Stifte
1, 2, 3 und 4 dienen zur Fixation der Libelle (l), je nachdem dieselbe der
Länge oder der Quere nach aufgesetzt wird.
Die Queraxe des Fernrohres muss aus ihrem Lager herausgenommen
und umgelegt werden können, darum sind die Bälkchen, auf denen die Stifte 3
und 4 aufsitzen, aufzuheben, wie dies in der Figur mit jenem, auf welchem der
Stift 4 sitzt, der Fall ist. Diese Bälkchen werden zur Festlegung der Queraxe
fixirt durch die Federn (f und f").
Um die Parallaxe zu vermeiden und um in verschiedenen Distanzen visiren
zu können, ist das Ocular (oc) um die optische Axe ver drehbar, und der ganze
Oculartheil in dem Objectivtheil des Fernrohres der Länge nach zu verschieben.
Das Fernrohr ist an einer Hülse (Hl) befestigt, welche durch die
Schrauben (sc') und (sc") an den verticalen Balken festgeschraubt wird. Diese
Hülse trägt den Index (id'), der über die Scala des verticalen Balkens gleitet.
Am Stativ des Fernrohrs (st Fig. G) sind drei Stellschrauben, die dazu
dienen, um den Balken (Bk) vertical zu stellen, indem sie das Grundbrett des
Stativs horizontal stellen lassen.
Die beiden Handhaben hdx hd2 (s. Fig. G) dienen dazu, um den ganzen
Rohrtheil des Apparates zu heben und an einen beliebigen Ort zu stellen.
Der Index (i) am Stativ enthält eine Marke, die parallel der optischen
Achse ist und in der sagittalen Verticalebene des Fernrohres liegen muss.
Die Libelle (l) selbst hat zwei Schraubenpaare (7, 8), um dieselbe sowohl
nach der Längs- als nach der Höhenaxe corrigiren zu können (s. Fig. C).
Manipulation mit dem optischen Coordinatenapparate.*)
Die wichtigste Manipulation ist die Fixirung und genaue Zeichnung der
gesammten Medianebene.
Der Schädel wird mittelst Siegellack auf die Schale des Hohlcylinders (G)
nach dem Augenmaasse so befestigt, dass die Medianebene möglichst horizontal
*) Es wird dabei vorausgesetzt, dass das Fernrohr vollständig corrigirt sei, und
nur mehr die Längs- und Queraxe des Fernrohrs durch die Libelle (l) horizontal gestellt
SCHÄDELMESSUNG. 49
zu stehen (kommt und dass die mittlere Frontalebene des Ohres durch den Mittel-
punkt der Schale geht.
Hierauf wird die Schale mit dem Schädel auf das Fixirstück (F) auf-
gesetzt und das Fernrohr, dessen optische Axe durch die Libelle (l) horizontal
gestellt ist, z. B. an die Längsseite an den Kahmen angesetzt und die untere
Fläche des Schädels ihm vis-ä-vis gedreht (s. Fig. C).
Man fixirt nun mit dem Mittelpunkt des Fadenkreuzes einen medianen
Punkt, und zwar am besten den vorderen Mittelpunkt des Foramen occipitale
magn. (b).
Dann rückt man immer knapp am Rahmen gegen einen zweiten medianen
Punkt der Basis, z. B. dem vordersten medianen Punkt des Processus alveolaris
des Oberkiefers (m) (s. Fig. 4).
Dieser Punkt wird nun in der Regel höher oder tiefer stehen, als der
Mittelpunkt des Fadenkreuzes. Man rückt nun das Fernrohr an der verticalen
Stange, bis man den zweiten Punkt in den Mittelpunkt des Fadenkreuzes gebracht
hat, und notirt die Grösse der Distanz.
Hierauf wird der Mittelpunkt des Fadenkreuzes in die Mitte dieser
Distanz eingestellt und mit der betreffenden Mikrometerschraube des Kraniofixators
so lange gedreht, bis der zweite mediane Punkt in den Knotenpunkt des Faden-
kreuzes eingedreht ist.
Dabei wird man noch leichte secundäre Correeturen machen müssen.
Dann ist eine Linie der Median ebene (hm) in die Horizontale des Faden-
kreuzes eingedreht.
Man geht nun mit dem Fernrohr an denselben Theilstrich der zweiten
Längsseite.
Man wird nun mit dem horizontalen Aste des Fadenkreuzes über oder
unter der Sagittalfurche sein. Man fixirt nun den Sagittalpunkt, der in der
Richtung des verticalen Astes des Fadenkreuzes ist.
Sollte dieser augenscheinlich von der medianen Ebene abweichen, so sub-
stituirt man ihn durch einen Punkt, der bei aufrechter Stellung des Schädels
rechts oder links von demselben Punkte und nach dem Augenscheine median liegt.
Man rückt nun das Fernrohr, bis dieser Punkt in's Centrum des
Fadenkreuzes , i. e. in die optische Achse fällt, und notirt die Grösse der Ver-
rückung. Man rückt nun das Fernrohr in die Hälfte der Distanz zurück und dreht
mit den betreffenden Mikrometerschrauben den betreffenden Punkt in die optische
Axe ein.
Jetzt sollen alle drei genannten Punkte in der horizontalen Ebene liegen,
welche man sich durch die optische Axe und den Querast des Fadenkreuzes
gebildet denkt. Gewöhnlich werden noch eine oder mehrere Nachcorrecturen
gemacht werden müssen.
Wir haben dann drei Punkte der Medianebene in einer horizontalen
Ebene, folglich auch die ganze.
Wir haben uns drei Punkte als mediane nach dem Augenscheine ausgesucht.
zu werden braucht. Es muss also das Fernrohr so corrigirt sein, dass die Ebene durch die
optische Achse und den verticalen Schenkel des Fadenkreuzes — bei horizontal gestellter
Queraxe — senkrecht auf das G-rundbrett und bei der Stellung , wie in Fig. 0, parallel
mit der Aussenfläche der Längsseite des Rahmens (Ba) sei.
Weiter muss — bei horizontal gestellter Längs- und Queraxe des Fernrohrs —
die Ebene durch den Querast des Fadenkreuzes und durch die optische Axe parallel mit
dem horizontal gestellten Grundbrette (G Fig. C) sein. Es würde hier zu weit führen, die
betreffende Initialcorrectur des Fernrohrs auseinander zu setzen. "Wer mit der Technik
nicht vertraut ist, wird sich dieselbe mit Hilfe eines Mechanikers oder auf anderem Wege
leicht aneignen.
Der optische Kathetometer wurde von dem geistvollen Wiener Mechaniker
Schneider (Wien, Währing, Martinsstrasse 32) angefertigt.
Beal-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 4
50 SCHÄDELMESSUNG.
Wenn wir nun mit dem Fernrohre an alle Seiten des Rahmens herum-
rttoken, werden wir sehen, ob sich alle uns als median erscheinenden Punkte in
dieser Ebene befinden. Wenn nicht, werden wir leichte Correcturen anbringen,
liis uns eben die nach und nach eingestellte Medianebene unter den benachbarten
als die medianste erscheint.*)
So wie dies bewerkstelligt ist, zeichnen wir beim Drehen eine grosse
Summe von Punkten, die im Centrum des Fadenkreuzes erscheinen, und verbinden
diese dann mittelst Lineals oder Bandmaass.
Wir haben dann ein- für allemal die Medianebene in den Schädel ein-
gezeichnet und dieselbe steht im Momente genau horizontal.
Hierauf geht man an die Fixirung der zweiten Coordinatenebene und
ihre Einstellung. Nach dem in einem früheren Abschnitte Gesagten bedürfen wir
zur Festlegung dieser Ebene nur mehr einer Linie, i. e. zweier Punkte, und
für die Orbitostatenebene blos den Mittelpunkt des Sehlochs und irgend einen
Punkt in der Aequatoriallinie der Orbitarandebene.
Man rückt nun das Fernrohr der Gesichtsfront gegenüber.
Will man die Orbitostatenebene bestimmen, so rückt man das Fern-
rohr am Rahmen so , dass das Fadenkreuzcentrum beiläufig einen Punkt in
der Mitte des oberen Augenhöhlenrandes — der jetzt vertical steht — trifft.
Darauf verschiebt man horizontal das Fernrohr, bis die optische Achse einen
Punkt des unteren Randes trifft 5 man bezeichnet beide Punkte und notirt
ihre Distanz.
Hierauf stellt man die optische Achse (durch horizontale Verschiebung)
in den Mittelpunkt dieser Distanz.
Dann hat man in dem verticalen Schenkel des Fadenkreuzes einen Punkt
des äusseren (jetzt nach oben oder unten gerichteten) Randes der Orbita. Auch
dieser wird bezeichnet.
Man hat nun sozusagen drei Punkte des Orbitarandes in das Fadenkreuz
eingehängt und man kann sich den Orbitarand als eine Ebene denken, welche in
der Ebene dieser drei Punkte liegt.**)
Hat man jetzt den Mittelpunkt des Sehloches nicht in der optischen
Achse des Fernrohres, so dreht man den Schädel so lange und rückt mit dem
Fernrohre am Rahmen so lange nach, bis dies der Fall ist und zugleich alle drei
Punkte der Orbita in's Fadenkreuz optisch eingehängt erscheinen. Man hat dann
mit dem Centrum des Sehloches und dem Mittelpunkte der Orbitarandebene,
zwei Punkte jener Linie, welche zur Fixation der zweiten Coordinatenebene noth-
wendig ist.
Man dreht nun das Fernrohr in verticaler Richtung und bezeichnet
dabei eine Reihe von Punkten an der Nase, besonders am Rücken derselben, am
äusseren Rande der andern Orbita und an der seitlichen Wölbung des Schädels.
Dann geht man an den entgegengesetzten Rahmen und zeichnet auch an der
hinteren Hälfte eine grosse Reihe von Punkten, welche in dieselbe Ebene fallen.
Alle diese Punkte bezeichnen eine Ebene, welche durch die genannte Linie und
die Mitte des Sehloches geht und mit jener Ebene zusammenfällt, die durch
die optische Axe des Fernrohres und dem verticalen Schenkel des Faden-
kreuzes geht.
*) "Wenn die wirkliche Medianebene mit der eingestellten in der Normo, facialis
einen Winkel von 1° bildet, so wird die Distanz des gezeichneten Punktes von dem wirklich
medianen bei einem Schädel von 18 Cm. Länge in der Norma occipitalis 5 Mm. betragen.
Die Differenz bei unserer Methode kann unmöglich mehr als 1Ja Mm. betragen, folglich ist
der Fehler, den wir begehen können, höchstens 6 Minuten.
**) Man überzeugt sich, dass das Fernrohr in dieselbe Höhe zu stehen kommt, wenn
man eine Eeihe benachbarter Höhendistanzen (vom oberen zum unteren Orbitarande) misst und
von deren Mittel die Hälfte nimmt. Wo der obere oder untere Rand sehr wellig wird, wird
man zu der letztgenannten Methode greifen.
SCHADELMESSUNG. 51
Diese letztere Ebene steht aber vertical und senkrecht auf der horizontal
stehenden Medianebene, folglich haben wir eine zweite Coordinatenebene am
Schädel, die dem Begriffe der Orbitostatenebene entspricht. Wenn später die
Medianebene vertical steht, steht diese zweite horizontal.
Wünscht man nicht die Orbitostatenebene als zweite Coordinatenebene,
sondern z. B. jene, welche durch die Jochwurzel und die untersten Punkte der
Orbita beiderseits gebt, so verfährt man, nachdem die Medianebene gezeichnet und
horizontal gestellt ist, in folgender Weise *) :
Man stellt das Fernrohr z. B. an den Querrahmen und dreht den Schädel
mit dem Gesichte gegen das Fernrohr wie früher. Man stellt nun das Fernrohr
hoch, nimmt die Libelle (T) weg und dreht das Fernrohr um seine horizontale
Axe , bis man die Jochwurzel sieht , und dann dreht man das Fadenkreuz weiter
nach unten, bis der horizontale Ast des Fadenkreuzes den untersten Punkt der
Orbita erreicht.
Der Punkt wird sich nach rechts oder links vom Knotenpunkte des
Fadenkreuzes befinden. Man rückt nun die optische Axe (resp. den Knoten-
punkt des Fadenkreuzes) um die Hälfte der Distanz näher und dreht den Rest
mit dem Kraniofixator (um die verticale Axe desselben) ein und macht die noch
nöthigen secundären Correcturen.
Diese Linie von der Jochwurzel zum untersten Punkte der einen Orbita
steht nun in einer Ebene mit dem verticalen Schenkel des Fadenkreuzes und der
optischen Axe. Wie auch das Fernrohr um seine Queraxe gedreht wurde,
der genannte Schenkel des Fernrohrs und die optische Axe sind aus der ver-
ticalen Ebene nicht herausgedreht worden. Folglich steht die genannte Ebene
des Fernrohres immer noch senkrecht auf die horizontale Medianebene und die
Jochwurzel-Orbitalinie (bcr) liegt in derselben verticalen Ebene.
Man dreht das Fernrohr vertical nach abwärts über die Nase, den andern
Orbitalrand etc. und zeichnet Punkte. Man hat dann die Ebene auf dem Schädel
genügend charakterisirt und kann dieselbe dann bei aufrechter Stellung des Schädels
an der ganzen Peripherie des Schädels ausführen.
Wenn dann später die Medianebene vertical steht, wird diese Ebene die
zweite (horizontale) Coordinatenebene darstellen.**)
Sind zwei Coordinaten ebenen bestimmt, so ist die dritte ebenfalls fest-
gelegt und man kann sie ohneweiters durch jeden Punkt der Peripherie zeichnen.
Jetzt steht der Schädel in die drei Coordinatenebenen des Apparates ein-
gedreht, nämlich bei der erstgenannten Stellung die Medianebene des Schädels in
die horizontale des Apparats, die Orbitostaten- oder Jochwurzel-Orbitaebene, in die
sagittal- vertical e und die dritte Ebene des Schädels in die dritte Coordinatenebene
des Apparates.
Wir werden die Stellung des Schädels, bei der die Medianebene horizontal
steht, die Secundär Stellung nennen und jene, bei der dieselbe vertical steht,
die Primär Stellung.
So lange der Schädel in der Secundärstellung ist, kann man zur Messung
der Basis gehen. Man rückt das Fernrohr an den Längsrahmen und misst die
Längen der Punkte, wobei man als vorläufigen Ausgangspunkt dieser Coordinate
den medianen Punkt der Eminentia occipitalis externa nimmt ; man misst ferner
*) Es giebt einen triftigen Grund dafür, die Orbitostatenebene bei Seite zu lassen.
Dieselbe lässt sich am lebenden Kopf errathen, aber nicht exact einstellen, was aber bei
anderen anatomischen Ebenen, respective Linien, der Fall ist
**) Wenn im Schädel die Ebene der Jochwurzel und der genannten zwei Orbita-
punkte wirklich eine brauchbare Coordinatenebene ist, d. h. wenn die Ebene senkrecht auf
der Medianebene steht, so wird die gezeichnete Ebene den zweiten Orbitapunkt treffen. Ist
letzteres nicht der Fall, so wird sofort die nöthige mechanische Correctur angebracht,
d. h. wird jene Ebene als zweite Coordinatenebene gewählt, welche der genannten anatomischen
Ebene so nahe kommt, als die geometrische Correctheit es erlaubt.
4*
5 1 SCHÄDELMESSUNG.
die Breiten als Höhen and, soweit es angeht, die Höhen als Breiten, wobei man
iiir den Ausgangspunkt die Breitencoordinaten der Secundärstellung, z. B. vorläufig
denselben Punkt wählen kann, wie für die Längscoordinaten.
Da man aber auch bei Drehung des Fernrohrs um seine horizontale
Axe nicht alle Punkte visiren kann, und zwar wegen der unregelmässigen Ober-
fläche der l'»:isis des Schädels, so visirt man von dem Längsrahmen aus den
betreffenden Tunkt, stellt dann das Fernrohr vis-ä vis an denselben Scalapunkt
and bezeichnet den Punkt an der convexen Oberfläche, der dem betreffenden
Basalpunkte gerade vis-ä-vis liegt, misst mit dem Tastercirkel die Distanz beider
1 'unkte, bestimmt dann nachträglich die Höhe des Scheitelpunktes in der Primär-
stellung des Schädels und man kann dann die positive oder negative Höhenlage
des betreffenden Basalpunktes leicht berechnen. Am wichtigsten ist es, den Vis -ä-vis-
Pnnkt {!>') des vorderen Basalpunktes (b) zu bestimmen und die Distanz derselben.
Ist z. B. bh' =: 140*0 Mm. und findet man dann in der Primärstellung die Ablesung
der Höhe am Fernrohre 213, so kennt man die Ablesung für b = 73. Und
diese Zahl wird dann von der Ablesung jedes höheren Punktes abgezogen, um die
Distanz von b zu kennen.
Hiermit ist die Strategie der Messung der Basis erschöpft ; auf die
Taktik in Bezug auf die einzelnen Maasse kommen wir in einem anderen Ab-
schnitte zurück.
Ich will hier im Vorhinein bemerken , dass bei jenen Schädeln, welche
quer durchsägt sind, ebenso die innere Seite der Basis studirt werden kann.
Nachdem man die zwei Ebenen gezeichnet und die Basis studirt hat,
wird der Schädel aufrecht gestellt (in die Primärstellung gebracht).
Der Schädel wird aufrecht auf das Fixationsstück des Kraniofixators
gebracht und die bewegliche, verticale Platte dieses Stückes gegen die Mitte des
hinteren Randes des Hinterhauptsloches mittelst der betreffenden Schraube gepresst,
und zwar wird die Stellung nach dem Augenmaasse gleich so gewählt , dass die
Medianebene möglichst vertical und die zweite Coordinatenebene möglichst hori-
zontal stehe.
Zur groben horizontalen Einstellung kann übrigens die Flügelschraube (sf)
noch beitragen.
Hierauf wird der Schädel nach dem Augenmaasse en face einer Querseite
des Rahmens gedreht. Man wird nun zuerst daran gehen, die Medianebene ver-
tical zu stellen und in die sagittale Coordinatenebene des Apparates einzudrehen.
Man fixirt mit dem um seine Queraxe beweglichen Fernrohr zuerst einen medianen
Punkt en face und notirt die Stellung am Querrahmen. Dann geht man an dem
entgegengesetzten Querrahmen , an demselben Scalenpunkt und visirt einen bei-
läufig gleich hohen Punkt der hinteren Schädelfläche. Man sieht nun, dass der
betreffende mediane Punkt seitlich steht. Man dreht nun den Kraniofixator um
die Hälfte der Distanz um seine verticale Axe und rückt mit dem Fernrohre
nach. Mit kleiner seeundärer Contractur wird dann die sagittale Axe der
Median ebene parallel mit der Längsseite des Rahmens sein. Nun fixirt man einen
Punkt am Scheitel. Dieser wird nicht in derselben Vertieälebene mit den zwei
früheren sein. Der Schädel wird dann mittelst der Schrauben (s') des Kranio-
fixators um die Hälfte gedreht und mit dem Fernrohre um die andere Hälfte am
Rahmen gegen die am Schädel gezeichnete Medianebene gerückt. Nach einigen
seeundären Correcturen , stehen drei Punkte der Medianebene : 1 . vertical und
2. parallel mit dem Seitenrahmen, folglich auch die ganze Ebene.
Nun gilt es, den Schädel in die 2. am Schädel eingezeichnete Coordinaten-
ebene einzudrehen. Es wird dann das Fernrohr horizontal gestellt und erst einem
Punkte dieser Ebene en face mit dem Kreuzungspunkte des Fadenkreuzes gegen-
über gestellt. Dann geht man an den entgegengesetzten Rahmen. Da werden
die gezeichneten Punkte der zweiten Coordinatenebene höher oder tiefer stehen.
Durch Drehung der Schrauben (*") und durch Senken oder Heben des Fernrohrs
SCHADE LMESSÜNG. 53
werden nun zwei polare Punkte der Ebene in dieselbe Höhe gebracht, i. e. die
verbindende Linse horizontal gestellt.
Jetzt steht der Schädel messungsgerecht.
Ich will hier wieder nur die allgemeinen strategischen Gesichtspunkte
der Messung in's Auge fassen, indem ich mir vorbehalte, auf die Maasse, die zu
nehmen sind, und auf das Wie an anderer Stelle zurückzukommen. *)
Ich will einige Bemerkungen über die Ausgangspunkte der verschiedenen
Coordinaten machen. Man kann einen einzigen wählen, z. B. den medianen Punkt
einer bestimmten Queraxe.
Man kann aber, und dies ist besser, dem Beispiele der Geographen folgen
und für jede einzelne Coordinate einen anderen Ausgangspunkt wählen.
Die Breitendimensionen bestimmen wir durch den Abstand von der Median-
ebene. Hat man durch Visiren irgend eines medianen Punktes die Stellung an
der Quermessstange notirt, so ergiebt die Differenz der Ablesung für einen anderen
Punkt die Breite an.
Will man die Linearentfernung zweier Punkte, die nach rechts und
links von der Medianebene liegen , messen , so summirt man die Breite beider,
oder man visirt den einen Punkt und dann den zweiten und nimmt die Differenz
der Ablesung.
Als besten geometrischen Ausgangspunkt der Längenmessung können wir
den hintersten Punkt des Schädels wählen.
Da wir mit unserem Apparate die absoluten Höhendifferenzen aller
Punkte bei einer bestimmten Einstellung messen, so ist es begreiflicherweise
— wesentlich — gleichgiltig, welchen Punkt wir als Nullpunkt wählen. Wir
könnten zum Beispiel den höchsten Punkt wählen, weiters den tiefsten Punkt
in der medianen Ebene , oder den tiefsten Punkt des Schädels überhaupt , oder
den vorderen Basalpunkt (b) , oder auch — den höchsten oder tiefsten —
Ohrenpunkt.
Die letzteren Ausgangspunkte werden nur allein in Betracht kommen.
Für Schädelmessungen werden wir den vorderen Basalpunkt wählen , weil dies
allgemein üblich ist. Bei Messungen an Köpfen ist letzterer Punkt unzugänglich
und nur ein Ohrenpunkt möglich. Der unterste Ohrenpunkt ist wichtig, weil nach
Langer die Queraxe des Schädels durch beide unterste Ohrenpunkte geht. Der
oberste Ohrenpunkt ist aber gebräuchlicher.
Haben wir die Höhen nach dem vorderen Basalpunkte berechnet und
kennen wir die Höhen der Ohrenpunkte , so haben wir ja ein- für allemal das
Mittel in der Hand, um so gemessene Schädel mit kephalometrischen Resultaten
zu vergleichen. Die Messung des obersten (0) und des untersten (fl) Ohrenpunktes
ist also von grosser Wichtigkeit (s. Fig. 2).
Wir haben schon früher angegeben, wie man die Höhenstellung des
vorderen Basalpunktes bei der Messung in der Primärstellung findet. Man zieht
nämlich von der Ablesung der Höhe des Scheitel-vis ä vis-Punktes (b') die lineare
Distanz beider Punkte (bb1) ab und diese Differenz wird dann von der empirischen
Ablesung jedes Punktes abgezogen.
In dem früher gelieferten Beispiele ist jene Differenz 73 Mm. Liest man
für einen Punkt zum Beispiel empirisch 66 ab, so ist umgekehrt diese Ziffer von
73 abzuziehen, i. e. dieser Punkt liegt um 7 Mm. tiefer als der Basalpunkt.
Man wird nun zunächst — besonders durch Verschiebung des Fernrohrs
am Seitenrahmen — die Höhen und Längen der Punkte der Medianebene, deren
Breite = 0 ist, bestimmen und die Vis-ä-vis-Punkte der verschiedenen Basalpunkte
dabei nicht vergessen.
*) Auf die allgemeine Frage, wie viel Maasse an einem Schädel genommen werden
sollen, will ich hier principiell die Antwort gehen. Sie lautet : so viele als zur Charakteristik
der Form des Schädels nothwendig sind; nicht eines mehr und nicht eines weniger.
;,| SCHÄDELMESSUNG.
Ebenso wird man zunächst in der Normet, lateralis beiderseits und in
der Normet facialis und ocoipitalis die Höhen und Längen aller wichtigen Punkte
nehmen. Zorn Beispiel die Ohrenpunkte (0 und Q) beiderseits , die Jockwurzel-
punkte ■' . den tiefsten Punkt der Warzenfortsätze (ZJ, gewisse Vereinigungs-
pnnkte von Nahten in der Norma lateralis, des obersten, untersten und äussersten
Orbitalpunktes beiderseits in der Norma facialis etc.
Dabei wird man auch die Breite der bestimmten Punkte bestimmen. Dann
wird man die Projectionen der grössten Maasse, besonders der Breiten, nehmen,
da die der Längen und Höhen eigentlich schon aus den Bestimmungen der Höhen
und Längen der einzelnen Punkte sich ergeben.
Es wird dabei auch gut sein , von manchen Punkten , welche die End-
punkte der grössten Breitendurchmesser darstellen, auch zugleich die Längen und
HOhen zu nehmen. Es ist zum Beispiel die Höhe und die Länge der Punkte,
deren Verbindung die grösste Breite darstellen , für die Physiognomik der
Schädel wichtig.
Bei den grössten Maassen kann es geschehen, dass die Endpunkte durch
mehrere repräsentirt sind , wenn die Krümmung des Schädels an der Stelle eine
Linie darstellt. Es wird dies dadurch charakterisirt, dass man zum Beispiel angiebt,
dass die Punkte der grössten Seitenentfernung des Schädels von der Höhe x bis
zur Höhe y sich erstrecken.
Ueberhaupt ist zu bemerken , dass jeder Punkt an einem speciellen
Schädel, der ein besonderes Interesse bietet, in seiner Lage bestimmt werden
kann und dass man überhaupt jede besondere Formbildung durch die Lage
so vieler Punkte bestimmen kann, als zu dessen Charakterisirung nothwendig ist.
So zum Beispiel können dadurch Schaltknochen in ihrer Ausdehnung und Form
sichergestellt werden.
Weiters kann man ja überhaupt, indem in beliebigen Ebenen, z. B. in
der Distanz von 1/3 Mm., jeden Punkt misst, sich das Material zur Bestimmung
der Curven verschaffen.
Die linearen Distanzen kann man sich entweder durch Cirkelmessung
verschaffen oder bei kleineren Distanzen jedenfalls sicherer durch Rechnung,
indem man ja von diesen Punkten die Differenzen, z. B. von Länge und Breite,
kennt. Diese Differenzen geben rechtwinkelige Dreiecke, deren Katheten je eine
dieser Differenzen bilden und deren Hypotenuse dann die Lineardistanz giebt.
Umgekehrt kann einmal blos eine Differenz , z. B. die Längendifferenz , in einer
bestimmten coordinaten Ebene bekannt sein und zweitens die lineare Distanz und
lässt sich daraus zum Beispiel die Höhe berechnen.
Hat man die Längen, Höhen und Breiten zweier gleichnamiger anatomischer
Punkte gefunden, so ergiebt sich die Symmetrie oder Asymmetrie sofort. Bemerken
will ich hier, dass die Schädel im Allgemeinen viel symmetrischer sind, als man
annimmt und dass der Glaube, die Asymmetrie sei die Regel, mehr das Resultat
der fehlerhaften Einstellungen ist. Jeder Fehler verdoppelt sich natürlich mit dem
Fehler der Einstellung.
Weiters haben wir den Vortheil aus den Maassen — ohne irgend ein
Winkelinstrument — alle Winkel, besonders leicht die Profil winkel, zu
berechnen.
Unsere Winkel sind Winkel auf bestimmte Projectionen und nicht regel-
los auf die verschiedensten Projectionen bezogenen, wie die bisher üblichen.
Dadurch, dass die Position aller beachtenswerthen Punkte und ihre lineare Distanz
bekannt ist, lassen sich auch die Winkel aller Linien bestimmen, die an einem
bestimmten Punkte zusammenstossen.
Es folgen nun die Tabellen für die Messungen und Berechnungen eines
normalen deutschen Schädels aus der lebenden Bevölkerung.
SCHÄDELMESSUNG.
55
Deutscher Normalschädel meiner Collection.
A. Tabelle in der Secundärstellung (Maasse in Millimeter). [S. Fig. 2-5 und Fig. G\.
x)
Empirische Zahlen Reducirte Zahlen
Anmerkung
L.
H.
Br. || ■ L.
H.
Br.
Die reducirte
0
84-0
1
•
.
•
?
Breiteist von der
t
0
40-0
.
— 38-0
Orbitostaten-
B
h
133-7
175-0
181 {
27-5
49-7
91-0
•
— 50-5
ebene gerechnet.
s2)
197-8
1
.
113-8
.
.
1*)
222-0
1
.
138-0
.
gld. r4)
ti. 1
161-0
197-3
20-0
77-0
16-3
— 58-0
138-2
172-8
23-0
54-2
7-2
— 55-0
ti = tiefster
ti. r
141-0
191-0
23-0
57-0
10-0
— 55-0
Punkt am Schädel
links (l), rechts
ti. m=B
•
.
•
•
•
(?■), median (m).
Medianebene
181-0
.
•
.
Orbitostaten-
ebene
.
78-0
.
.
Qzi*)
174-0
235—128
— 107-0
90-0
•
Qfoc*)
Z 152-4
r 155-4
[ 195-2 bis )
< 167-0 >
[ = 28-2 j
Z68-4
r71-4
Breite
QpaV)
245-0
203—162-0
= 41-0
161-0
•
vom inneren
Rande der Zahn-
reihe gerechnet.
l) D
ie Höhen in dieser Stellung bedeuten eigentlich
Breiten und die Breiten :
Höhen. — 2) Medianer Punkt der Sutura spheno-ocäp. — s) Hinteres medianes Ende des \
Gaumens. —
4) gld. r = tiefster Punkt des Glenoidalgelen
ks rechts. — 5) Grösste
Breite zwische
n den untersten Punkten der Warzenfortsätze.
— 6) Grösste Breite des
Foramen occip
talis mag
num. — 7) Grö
?ste Bre
ite des
Gaumer
lbogens.
B. Empirische Tabelle in der Primärstellung.*)
bl t)
,ß
/
9
r
n
92-0
114-7
95-4
194-6
bisl99-0
183-0
198-6
252-0
269-3
275-0
274-7
142-2
bisl38-0
77-6
148-8
213-5
213-5
213-0
188-2
151-3
134-3
131-5
Br.
x
m
s'1)
1'-*)
Median -
ebene
Orbito-
staten-
ebene
284-0
281-4
280-4
284-0
205-7
230-0
142
118-0
80-0
75-0
67-0
213-2
207-0
210
116-0
121-0
*) l', $' 1' bedeuten die Vis-ä-vis - Punkte von b, s und 1 am Schenkel. —
2) Die Breite aller medianen Punkte ist == 0. 3) Länge, berechnet aus Tabelle A. —
4) Länge, berechnet aus Tabelle A. — 5) Länge, berechnet aus Tabelle A.
*) i. e. die an den Scalen direct abgelesenen Ziffern.
56
SCHÄDELMESSUNG.
\..
H.
Br.
Q occ 8)
L.
H.
Br.
r L78*2
r67-0
175-0
Z/'i
Z183-0
Z68-0
•
.
— 65-4
0
r L86-0
/ i S8-0
/•D.VO
/94-0
.
QF
150-0
182-6
— 56-0
<)
r 185-5
Z 187-0
r 90-0
Z89-0
.
q.f
139-2
169-4
— 70-1
/• 181*4
r 9:2-4
r82-0
168-0
j
1 182-0
Z97-5
•
Q Wa
_
187-0
— 73-0
c
266-0
134-3
90-0
71-0
144-0
Cy
265-0
100-0
90-0
qwa
— 92-5
ce1)
116-3
70-4
Qnas
133-0
ci
116-3
109-3
•
— 109-0
r 123-3
190-0
bisl34-3
193
QJo
•
— 50-8
Q
1 123-0
bisl32-3
—47
Q.orb.r9)
•
109-3
— 70-4
*J
Tiefster Punkt des Process. mastoid. — 2) ce und ci bedeuten den äussersten
und den in
nersten Pankt des Aequators de
v Orbitorandebene. — 3) i. e. Hinterkaupts-
| breite. — *
) Grösste I
»reite der (
)rbita reckt
s.
C. Reducirte Tabelle
für die gemessenen Punkte und Ebenen.
s-s4 = 122, 1—1' = 132.)*)
(b — V = 141-5,
l1)
L.
138-0
H.
Br. 1
3-0
0
s2)
113-8
19-2
0
Z>3)
91-0
0
0
B*)
49-7
6-5
0
t
22-7
58-0
0
0
0
66-0 bis
70-2
0
y.
3-4
76-8
0
u
102-6
bis 107
141-5
0
ß
106-6
141-0
0
/
160-0
116-2
0
9
177-3
79-3
0
r
183-0
62-3
0
n
1820
59-5
0
7
192-0
46-0
0
8
189-4
8-0
0
X
188-4
3-0
0
m
192-0
— 5-0
0
tir
til
gld
Zi
J
0
a
er
c'r
cer
dir
Orbito-
statenebene.
B" = ein
Punkt in der
nächsten
Nähe von B'
L.
57-0
54-2
77*0
r86-2
Z91-0
r89-4
Z90-0
r94-0
Z96-0
r93-5
1 95-0
174-0
173-0
?
9
50
H.
Br.
— 11-0
— 11-0
— 14-0
r— 5-0
l— 4-0
r 20-4
l 25-5
r 23-0
l 22-0
r 18-0
l 17-0
62-3
10-0
8-2
16-3
53-5
57-0 9)
31-0
28-0 31-0
44-3 50-8
44-3 n-9
44-0
138
l) Länge , berecknet aus Tabelle A und Höke mittelst directer Messung der
Linie 1 — i . — 2) Länge wie 1 berecknet und Höke durck directe Messung der Linie s — s'
und Höke von s'. — s) Länge, berecknet aus Tabelle A. Seine empiriseke Höke von 72
berecknet durck die Linie b-V. — 4) Berecknet aus Tabelle A. — 5), 6), 7) Aus der
Tabelle A berecknet. — 8) Breite reckts und links aus Tabelle A. berecknet. — s) Aus
Tabelle D berecknet.
*) Die Linien b — b', s—s' 1—1' sind mit dem Cirkel gemessen. Die Hökenzakl für
b in der Tabelle B ist b'—bb' = 2L35 — 141'5 = 72.
SCHÄDELMESSUNG. 57
D. Tabelle a) der in Projection direct gemessenen und b) der berechneten Linien.
a)
L.
Q
?
Qocc
.
QF
.
qf
.
Q IIa
•
qwa
o
Qnas
.
QJo
.
Q orb.
.
0—0
H.
Br.
Anmerkung
b)
röl'O bis 60-3
Z51-3 bis 62-2
r78-0
117-0
67-2
rlO-0
Z15-0
—1-0
146-0
109-6
126-6
99-3
95-0
51-5
24-0
139-2
38-9
114-0
Br.
Br.
Br.
Br.
Br.
71-8 + 74-2
55-8 + 53-8
61-4 + 65-2
48-2 + 51-1
46-8 + 48-2
Br. == 68-8 + 70-4
Mit dem Cirkel
gemessen
n — x
n—f
f—x
x—m
c — cx
7—8
b—B
1 — m
b—s
a— ß
a— B
L
»— ß
= 56-8
= 61-0
= 116-7
= 87-0
= 34-31
= 38-08
= 41-8
= 54-5
= 29-8
= 73-9
= 121-5
= 95-8
= 179-0
= 108-0
E. Tabelle a) der Bogenmaasse in Centimeter, b) der berechneten Winkel von
Linien, c) der Indices.
a) Bogen
HUF
JÜF
Are nB
Are wß
Are aß
Are v-B
Are xt
Are nt
51-5
31-0
36-4
11-9
13-5
10-8
7-5
32-9
i.e. Quer um
fang v. einer
Jochwurzel
zur anderen
b) Winkel
^* n — x
>n—f
>f—x
j£* x — m
£- c — c1
^7—8
^b—B
^b—s
+ 5°
+ 210
+ 140
+ 23°
-1-5°
— 40«
— 70°
— 40o
03
03
c) Indices
LBrJ
LHjr
HQJ
HBrJ
nas
HBrJ
orbit.
£ -g LBrJfoc
+= o I]
S K i
81-56
78-7
103-1
63-0
119-2
67-4
100 Q
L
100 E
L
100 Q
H
100 Qnas
7-8
100 Qorb.
c cl
100 Qfocc
b—B
Diese Messungen und Reducirungen werden rascher ausgeführt , als sie
sich lesen.
Pathologische Schädel. Um einen Schädel ohne Maasse als abnorm
oder normal bezeichnen zu können, ist vor Allem das Studium der Nähte noth-
wendig, und zwar ihr verspätetes Klaffen oder der frühzeitige Verschluss. Zu
bemerken ist, dass bei niederen Racen die Nähte einfach sind, bei höheren
gezackter und mit vielen kleinen Zwickelknöchelchen versehen. Auf die Bedeutung
excessiver Nahtbildung und des Erscheinens grosser Zwickelknochen kommen wir
später zurück. Sowohl übergrosse Einfachheit bei Schädeln aus Culturracen, als
übergrosser. Reichtbum haben eine pathologische Bedeutung. Das Offenbleiben der
Stirnnaht ist eine so häufige Erscheinung, dass sie als physiologische Varietät
angesehen werden kann. Zu den Nähten , die lange Zeit nicht verknöchern,
gehören die Coronarnaht, die Sagittalnaht, die Lambdanaht und Suticra squamosa.
Die Verknöcherung beginnt gewöhnlich im hinteren Theile der Sagittal-
naht und den unteren Theilen der Coronarnaht (circa im 40. Lebensjahre).
58 SCHADELMESSUNGk
Dann folgt die Lambdanaht entweder von der Mitte ihrer Branchen aus,
oder in Ansohluss an die Verknöcherung des hinteren Theiles der Sagittalnaht.
Dann kommt der obere Theil der Coronarnaht an die Reihe (im 50. Lebens-
jahre circa'. Zuletzt kommt die Sutura squamom (um das 70. Lebensjahr herum).
Bei den nicht europäischen Racen ist das Verhältniss nicht immer dasselbe.
Das Offenbleiben der Nähte im späteren Alter ist ein Zeichen
von Abweichung. ::)
Noch wichtiger sind die frühzeitigen Synostosen. Auf sie hat
YiKCimw früher vorwaltend die pathologischen Schädelformen zurückgeführt. Dieser
Satz ist zwar generalisirt nicht richtig, immerhin spielt er aber die grösste Rolle.
Bäufig ist unzweifelhaft einerseits Aplasie oder anderseits Hyperplasie eines
Knochens schon in der ersten Anlage gegeben , und diese beiden Formen der
Anlage können auch zu frühzeitiger Synostose führen ; im ersten Falle, weil das
rege Leben an den Rändern ei'lischt und die Senilität der Naht vorzeitig eintritt
und im zweiten Falle, weil das überreiche Leben keinen Platz mehr für Rand-
wachsthum liefert.
Von der Hyperplasie und Aplasie der einzelnen Abschnitte des Schädels
einerseits und von der frühzeitigen Synostose und von dem überlange andauernden
Klaffen der Nähte andererseits ist aber der Wachsthum des Gehirns in toto oder
partiell beeinflusst und darin liegt die grosse Bedeutung dieser Verhältnisse.
Die Knochenapiasien und frühzeitigen Synostosen können entweder in den
linearen Maassen oder in den Bögen Ausdruck finden, oder in beiden zugleich.
Andererseits können Abnormitäten der Linearausdehnung durch die Wölbung
compensirt werden. **)
Wir haben als ein oberstes Gesetz für den Schädelbau den Satz des
Kampfes um den Inhalt hingestellt. Nach diesem Gesetze tritt nun so weit als
möglich, wo partielle Aplasie oder Hyperplasie vorhanden ist, eine Compen-
sation ein, und zwar gewöhnlich in einer auf die Verkürzung oder Ver-
kümmerung senkrechten Richtung.
Auf diese Weise kommen vorzugsweise die Schiefköpfi gkeit (Plagio-
kephalie), die Hochköpfigkeit (Hypsokephali e) und der Thurm-
kopf und der geringere Grad derselben die Oxykephalie, ferner die
Skaphenokephalie und Trigonokephalie zu Stande. Durch allgemeine
frühzeitige Aplasie oder Synostose entsteht der Kleinschädel (Leptokephalie)
und die Mikrokephalie.
Ausserdem sind einzelne Formen durch künstliche mechanische Verbildung
hervorgerufen , wie noch heute bei den Indianern eine Art von Oxykephalie
(Fiat heads) und eine andere Form in einigen französischen Departements.
Im Alterthum zeichneten sich die Scythen — angeblich ebenfalls durch
künstliche Verbildung — durch solche Oxykephalie aus und dieselbe wird in ver-
wirrender Weise in der alten Anatomie fälschlich als Makrokephalie bezeichnet.
*) Leider fehlen in den Samminngen gewöhnlich die Angabe des Alters und bei
den veröffentlichten Schädelsammlungen oft jene Angaben, weide sonst auf das Alter des
Individuums schliessen lassen. Fehlt aber die sichere Angabe , so wird die Schätzung sofort
leicht irrig, wenn abnormes Verhalten der Obliteration vorliegt.
**) Das Studium der Nahtverknöcherung tritt durch eine Arbeit von Betz und
Rawa (Kiewer Universitätsnachrichten 1880) in eine neue Phase. Im jugendlichen Schädel
wird die Naht aus einfachen Zacken gebildet, aus denen dann beiläufig im 10. Lebensjahre
Keile zweiter Ordnung seitlich hervorwachsen, und aus diesen Keilen zweiter Ordnung sprosseu
beiläufig um's 25. Lebensjahr wieder seitlich Keile dritter Ordnung hervor. So entstehen
Zacken zweiter und dritter Ordnung. Sprossen höherer Ordnnng existiren nicht. Die Rückbildung
erfolgt wieder so, dass zuerst die Zacken höherer Ordnung zu Grunde gehen, bis auch jene
erster Ordnung verschwinden, wobei die Zacken niederer und relativ breiter werden. Dadurch
unterscheiden sich die Zacken der Rückbildungs- von jener der Fortbildungsperiode. Der
männliche Schädel zeigt früher (vom 20. Lebensjahre an) Rückbildung als der weibliche (um
circa lo Jahre) und während beim Manne die Coronarnaht von unten nach oben ossificirt, ist
dies bei Weibern umgekehrt der Fall.
SCHÄDELMESSUNG. 59
Inwieweit bei pathologischen Köpfen dieselbe Anlagerung bestimmter Hirn-
theile wie beim normalen Schädel stattfindet, ist bis jetzt nicht hinreichend untersucht.
Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Hy drok ephali e, die
eigentlich eine Specialform der Makrokephalie darstellt. Der Kopf erscheint mehr
kugelig, besonders die Tubera vorgewölbt, das Orbitadach niedergedrückt und die
Nähte durch Schaltknochen complicirt. Besonders interessant sind die colossalen
hydrokephalischen Köpfe bei jenen klinischen Bildern, die ich als Hemiplegia und
Paraplegia spastica wfantüis beschrieben habe. Von abnormen Formvorkomm-
nissen am Schädel ist noch die abnorme Einwärtswölbung der Basis , oder
umgekehrt, die tiefe Wölbung der unteren Fläche des Hinterkopfes unter das
Niveau des Hinterhauptsloches anzuführen. Zu den pathologischen Vorkommnissen
gehören ferner Hyperost osis, Osteophyten und Osteoporosis.
In Bezug auf die Asymmetrie der Plagiokephalen will ich bemerken,
dass jene durch ungleiche Wölbung in symmetrischen Theilen beider Schädelhälften
ebenso wichtig ist, als durch ungleiche lineare Ausdehnung.
Am auffallendsten ist bei dieser Asymmetrie die Stellung der Tubera.
Doch ist die Benützung der Tubera zur Messung nicht geeignet, weil die Mittel-
punkte derselben zu unbestimmt sind. Besser ist es , gleichnamige anatomische
Punkte in Bezug auf Höhe, Länge und Breite ferner in gleicher Höhe beiderseits
befindliche Punkte von Nähten und gleiche Bogenstücke in derselben Frontalebene
von der Medianebene aus, zu messen. Es versteht sich von selbst, dass nur bei
sehr exacter Einstellung des Schädels die gewonnenen Maasse Weith haben. Die
Fehler bei Verdrehungen summiren sich nämlich. Deshalb ist auch die kranioskopische
Schätzung von Asymmetrie sehr gefährlich und diese Gefahr wächst noch mehr
bei der Beurth eilung der Asymmetrie von Köpfen.
Man nimmt gewöhnlich an, die Mehrzahl der Schädel sei asymmetrisch.
Dies ist keineswegs der Fall. Bei exacter Einstellung und Messung wird man
vielmehr überrascht, wie genau die Zahlen für gleichnamige Punkte beider Seiten
stimmen, und man wird eben gut thun, bei kleinen Differenzen mehr auf einen
Fehler der Einstellung und Messung zu schliessen als auf ungleichen Bau.
Der Irrthum , dass Asymmetrie zur Regel gehöre , ging wesentlich aus
der fehlerhaften Einstellung bei kranioskopischer Betrachtung hervor. Nicht so
streng scheint die Natur die Symmetrie in Bezug auf die Wölbung einzuhalten.
In Bezug auf den Werth der Compensation ist die Bemerkung Virchow's
wichtig , dass, je grösser die Compensation und dadurch die Deformation des
Schädels, desto grösser die Gewähr ist, dass die Function des Gehirns nicht
beeinträchtigt wird. Das Mittelmaass der Compensation und der Mangel einer
solchen sind für die psycho-physikalische Thätigkeit am gefährlichsten.
Interessant ist , dass man gewisse Deformationen in derselben Familie
beobachtet, bei denen einzelne Glieder ausgesprochen enkephalopathisch, z. B. epilep-
tisch sind. Die freien Mitglieder sind übercompensirt oder die Deformation
ist nur schwach angedeutet. Es darf uns aber nicht wundern, wenn die Descendenz
der letzteren an demselben Uebel erkrankt.
Gerade durch diese Verhältnisse erhalten wir einen Einblick in die
Hereditätsgesetze der Enkephalopathien und die Sprünge , welche in denselben
enthalten sind.
Grosse Schalt knochen sind ebenfalls beachtenswert!). Wir haben
schon früher hervorgehoben, dass sie ein Mittel bilden, um das Gesetz der normalen
Krümmungen mit dem Gesetze des Kampfes um's Volum auszugleichen. Wir
beobachten sie auch bei sehr grossen Schädeln, besonders bei Hydrokephalie, und
das scheint gegen die soeben ausgesprochene Ansicht zu sprechen. In diesen Fällen
braucht aber das Gehirn ausserordentliche Ausdehnungen, damit die functionsfähigen
Gehirnmassen nicht von dem Ventrikelinhalte erdrückt werden und dem entsprechend
muss auch der Schädel enorm gross werden, damit die Störung halbwegs ausgeglichen
werde. Dasselbe ist bei Gehirnhypertrophie der Fall. Von besonderem Interesse
60 SCHÄDELMESSUNG.
ist ein I nt er pa riet all) ein (Os ppactal, Incaknochen) beim Menschen. Dasselbe
kommt durch eine Querrarehe zu Stande, welche an der Hinterhauptschuppe von
einer Lambdanahl zur anderen geht, und über dem Tuber exlernum verläuft.
Gehl eine solche Quernaht durch den letztgenannten Punkt, so ist das von ihr
und der Lambdanaht vollständig eingeschlossene Stück als wirkliches Interparietal-
bein anzusehen. Anders begrenzte Schaltknochen haben eine andere Bedeutung.
VlECHOW, der diese Frage in den letzten Jahren wieder studierte, hat es unzweifel-
haft gemacht , dass ein wirkliches Interparietalbein bei unseren Racen eine
entschiedene Abweichung darstellt.
Wenn der obere Theil der Lambdanaht von kleinen und mittelgrossen
Sehaltknochen starrt, kommt ein „Stufenschädel" zu Stande, das ist ein
Schädel mit scharf abgesetztem und sehr langen Hinterkopfe. Eine meiner Epi-
leptikerinnen zeigte geradezu eine rinnenförmige Gestalt der Lambdanaht.
Obwohl diese Schaltknochen der Ausdruck eines mühseligen Kampfes um
das Volum bedeuten, so deuten sie doch nicht mit absoluter Gewissheit auf Enke-
phalopathien. Es kann ja gerade durch sie der Ausgleich des Kampfes gelungen
sein. Doch zeigt gewiss ein viel grösserer Percentsatz von enkephalopathischen
Individuen Schaltknocken als normale Schädel, und umgekehrt gehört gewiss ein
grosser Percentsatz der Schädel mit abnormer Schaltknochenbildung enkephalo-
pathischen Individuen an.
Leider wissen wir in der Regel nichts von der Biographie jener Indi-
viduen, denen die pathologischen Schädel der Sammlungen angehören. Die Mehr-
zahl derselben dürfte epileptisch gewesen sein. Von diesen Gesichtspunkten aus
müssen alle jene Collectionen studiert werden, bei denen man a priori nach
Anomalien zu suchen hat.
Unter den 127 Schädeln Irrer von Zuckeekandl müssen mindestens
103 als pathologische bezeichnet werden und darunter sind 38 (also 29*9%)
asymmetrisch. Dies lässt vermuthen, dass diese Sammlung tendenziös angelegt war,
indem nicht Schädel für Schädel ausgesucht wurde, sondern nur die pathologischen.
In der GALL'schen Sammlung ist von vielen das Alter und selbst der Name
bekannt. Unter 9 weiblichen Schädeln sind nur 3 nicht pathologisch , wovon der
eine aber durch den Längen- und Breitenindex (91-3) auffallend war und einer
durch seinen geringen Inhalt (1130 Ccm.) Von den 6 anderen sind 3 hochgradig
asymmetrisch und unter diesen 3 sind bei einer 60jährigen Irren alle Nähte
offen , während bei den zwei anderen vorzeitige Synostosen vorhanden sind und
bei der einen noch grosse Zwickelbeine. Zwei andere Schädel — beide 32 Jahre
alt — zeichnen sich durch Synostosen und ein sechster Schädel durch grosse
Zwickelbeine bei sonstiger grosser Einfachheit der Nähte aus.
Von den 16 Männerschädeln können 10 nicht als pathologisch bezeichnet
werden, obwohl grosse Einfachheit der Nähte und geringere Grade von Oxy-
kephalie bei mehreren derselben vorhanden sind.
Bei einem 59jährigen Irren waren alle Nähte offen und derselbe war
auch stark asymmetrisch , 2 Schädel zeichneten sich vorzugsweise durch Asym-
metrie aus, 2 durch hochgradige Synostosen und 1 durch grosse Zwickelbeine.
Von den 7 Schädeln der Bonner Sammlung sind 2 als pathologisch
anzusehen. Unter den nicht benannten (287) Schädeln der Bonner Sammlung sind
gewiss 66 als pathologisch aufzufassen;*) von den 15 benannten Verbrecher-
schädeln 9. Bokdier giebt an, dass 58°/0 der von ihm untersuchten Mörder-
schädel pathologisch seien. Lombroso fand bei 44% seiner Verbrecherschädel
vorzeitige Synostose und in 18% Schaltknochen (92% sollen stark prognath sein?).
Der Werth dieser Ziffern ist noch problematisch, da die Reihen für
sogenannte normale Schädel fehlen. Vergleicht man z. B. die Angaben der
*) Diese Zahl ist jedocli viel zu klein, da ich die Synostosen wegen Unkenntniss
des Alters meistens nicht gerechnet habe. Mit den Synostosen dürfte die Zahl 93 erreichen.
SCHÄDELMESSUNG.
61
Königsberger „normalen" Schädel, so findet man den Percentsatz der „patho-
logischen" Befunde sehr gross, selbst wenn man die „temporalen Schaltstücke" und
die häufige Anwesenheit von Quernähten im Occiput, die bei diesen Schädeln ganz
gewöhnlich sind, abrechnet. (Aus welchen Elementen ging diese Sammlung hervor?)
Erst wenn eine grössere Anzahl von Normalschädeln, um deren Anamnese
man sich kümmert, überall gesammelt sein wird, wird man den Werth der
Asymmetrie, der Schaltknochen etc. richtig beurtheilen können. Besonders in Bezug
auf Schaltknochen wird man heute in der Deutung sehr vorsichtig sein müssen.
Wir wollen die bis heute vorliegenden Resultate nur als anregenden
Anfang einer Lehre betrachten , welche für die Psychologie und die Psychiatrie
im weitesten Sinne des Wortes von epochemachender Bedeutung ist.
Eine wichtige Methode zur exacten Darstellung des Schädels ist auch
die Zeichenmethode. Es giebt zwei Systeme: das von Lucae und das von
Broca. Ich bediene mich des letzteren und will es hier darstellen. Der Apparat
ist in der Fig. 6 dargestellt. Auf einem horizontalen Grundbrette befindet sich
eine viereckige, vorn offene Leiste, in welche der Kraniofixator hineingeschoben
wird, und zwar existirt noch ein zweiter Kraniophor, um nicht blos in der Norma
verticalis und basilaris, sondern in allen zeichnen zu können. Am hinteren Rande des
Querbrettes befindet sich ein verticaler Träger des Zeichenbrettes (a) , von dem
oben senkrecht auf die Ebene des Zeichenbrettes eine Metallaxe abgeht. An
dieser ist ein viereckiger Bügel (d) angebracht , der um die genannte Axe dreh-
bar ist. Die untere Seite dieses Bügels (c) trägt einen zweiten, unten offenen
und weiteren Bügel, der nicht blos um die Axe (c) drehbar ist, sondern auch
auf diese Axe seitlich, i. e. senkrecht, auf die Zeichenebene verschiebbar ist.
Durch den einen verticalen Ast des unteren Bügels, welcher der Zeichenebene
näher hängt, wird durch eine Hülse ein Zeichenstift durchgesteckt und durch die
Hülse am entgegengesetzten Aste des unteren Bügels ein gerader oder gebogener
Metallstift, dessen Spitze bestimmt ist, an den je zu zeichnenden Punkt des
Schädels angesetzt zu werden. Die Spitze des Bleistiftes und des Stiftes liegen
oder sollen wenigstens in einer auf die Zeichenebene senkrechten Axe liegen.
Durch einen kleinen Griff für den Daumen konnte nun das System der zwei Bügel
um die genannten zwei horizontalen Axen gedreht werden, wobei der untere
Bügel auf der Axe c immer gegen das Zeichenbrett so bewegt wird, dass der
Stift zeichnet. Der Metallstift wird nun
über die zu zeichnende Ebene und Linie
geführt oder an bestimmte Punkte an-
gedrückt etc.
Die Zeichnung giebt nun — bei
richtiger Application — z. B. die
Medianebene und die Projection aller
seitlichen Linien und Punkte auf diese
Ebene.
Wir werden uns hier vor Allem
mit der Zeichnung der Norma lateralis,
welche in der Fig. 6 dargestellt ist,
beschäftigen.
Wenn wir die Zeichnung wirklich
zu directer Messung der Linien und
Winkel in der Medianebene benutzen
wollen und wenn wir die Darstellung
der Zeichnung seitlicher Punkte und
Linien wirklich als Projectionen auf die
Medianebene betrachten wollen, so muss
vor Allem eine Bedingung absolut und exactissime erfüllt sein , nämlich dass die
Medianebene genau parallel zur Zeichenebene stehe.
Fig. 6.
62 SCnÄDELMESSüNG.
Ist dies nicht der Fall, steht z. B. die Medianebene um eine sagittale und
um eine verticale Axe gedreht und zeichnen wir die Medianebene, so bekommen
wir nicht die Medianebene, sondern eine unregelmässige Projection derselben.
1 in dieser conditio sine qua non gerecht zu werden, rnuss man erstens
eineo Kraniofixator haben, welcher die verlangte Eindrehung der zu zeichnen-
den Ebene gestattet. Dazu taugt weder der Fixator von Lucae , noch jener von
BROCA. Ich habe daher meinen Kraniofixator substituirt. *) Zweitens muss die
Ebene und die Linie, die gezeichnet werden soll, genau definirt sein.
Es kann ja Niemand, der sich die Sache überlegt, behaupten, dass er
nach dem Augenmaasse mit dem LuCAE'schen Apparat oder mit dem Stifte des
I>ROCA'scben Stereographen genau eine Ebene beschreibt. Er fährt eben mehr oder
minder unregelmässig von einem median erscheinenden Punkte zum anderen.
Würde man die Spur dieser beschriebenen Linie auf den Schädel zeichnen,
so würde man sich leicht überzeugen, dass diese Linie in sehr zahlreichen und nicht
in einer Ebene liegt. Damit man also mit einem Zeichenapparate eine Ebene zeichne,
muss diese Ebene früher auf dem Schädel exaet gezeichnet sein und dann muss man
mit dem Metallstifte bei dem BüOCA'scben Apparate auf der Ebene bleiben. Auch
dazu fehlten früher die Methode und die Hilfsmittel. Erst mittelst des Katheto-
meters war dies möglich.
Es war also nach den bisherigen Methoden unmöglich,
geometrisch zu ver wert h ende Bilder zu bekommen.
Die Zeichnungen waren mathematisch genauer, als sie je ein Künstler
herstellen konnte, aber exaet waren sie nicht.
Will man eine genaue Zeichnung der Norma lateralis haben, so muss
man zuerst mittelst des Kathetometers die Medianebene auf den Schädel zeichnen.
Dann wird diese Medianebene nach dem Augenmaasse der Zeichenebene parallel
gestellt und nun werden 3 oder mehrere distante Punkte der Medianebene activ,
z. B. mit Hilfe eines dreieckigen, rechtwinkligen, graduirten Lineals, dessen eine
Kathete auf die Zeichenebene aufgesetzt wird , in gleiche Entfernung von der
Zeichenebene am Kraniofixator eingedreht, i. e. ihr parallel gestellt und jetzt
wird die Zeichnung sorgfältig mechanisch durchgeführt.
Damit die Zeichnung zur geometrischen Auflösung der Curven dienen
könne, müssen sie nur sehr feine Linien enthalten.
Daher habe ich die dicken farbigen Stifte, die man früher verwendete,
durch dünne, feingespitzte , harte „Künstler-Bleistifte" ersetzt, welche in einer
Metallhülse centrirt zu liegen kommen.
So wie die Medianebene muss jede ihr parallele behandelt werden, wenn
sie gezeichnet werden soll.
Damit man in der Norma facialis oder occipitalis zeichnen könne, muss
erst eine auf die Medianebene senkrechte — frontale — Ebene auf den Schäüel
gezeichnet, diese der Zeichenebene parallel gestellt werden und der Metallstift des
BßOCA'schen Stereographen an ihr herumgeführt werden. Dann können auch alle
Punkte und Linien, die vor oder hinter dieser Ebene liegen, richtig projicirt werden.
Will man in der Nvrtna verticalis oder basilaris exaet zeichnen, so
muss man auf den Schädel eine Horizontalebene zeichnen, diese wieder mit der
Zeichenebene parallel stellen und wie früher verfahren. **J
*) Nichtmedicinern wird es geradezu unglaublich erscheinen, dass Zeichnungen
ohne Erfüllung dieser ersten Bedingung als geometrisch correct angesehen wurden. Erst das
verwendete Instrumentarium kann sie überzeugen, dass dem so sei.
**) Bei den letztgenannten Zeichnungen wird der Schädel seitlich an die früher
genannte Hülse mit Siegellack befestigt. Es versteht sich von selbst, dass bei der Zeichnung
in allen Ebenen es gleichgiltig ist, wie die Axen dieser Ebenen stehen. Es wird nur not-
wendig sein, dass die eine Schädelaxe, welche auf die zu zeichnende Ebene senkrecht steht
auch senkrecht auf die Zeichenebene stehe. Man kann die Endpunkte der anderen Axen,
z. B. in der Norma lateralis auf die Zeichnung projiciren. Man wird aus technischen Gründen
diese Axen nicht gerade vertical oder horizontal zu stellen brauchen.
SCHÄDELMESSUNG.
63
Solche exacte Zeichnungen haben nun den unschätzbaren Werth,
dass man an ihnen die geometrischen Constructionsgesetze des
Schädels studieren kann.
Diese Methode ist der Methode der Construction der Curven aus Messungen
deshalb vorzuziehen, weil sie weniger schwierig ist.
Das mathematische Constructionsgesetz des Schädels.
Die beistehende Figur 7 stellt eine stereographisch, also rein mechanisch
hergestellte Zeichnung der Medianebene von Callithrix brunea juven. dar. Auch
diese Zeichnung hier ist mechanisch hergestellt, indem die Originalzeichnung pausirt,
Pie;. 7.
\1
von dieser Pause auf die Zeichnung des Holzes anfgetragen und wieder
mechanisch durch Schnitt und Abdruck wiedergegeben ist. *) Ursprünglich macht
man mehrere stereographische Zeichnungen. An einer derselben sucht man das
Gesetz der Krümmung, welches sich hier als gesetzmässige Reihe von Kreisbögen
darstellt , von denen einzelne einen unendlich grossen Radius haben , i. e. eine
Linie darstellen.
Das Gesetz wird so gefunden, dass man von zahlreichen Punkten der
stereographisch hergestellten Schädelcurve nach oben und unten mit immer gleichen
Radien Kreisbögen zöge und von einem oberen Punkte zweier sich so schneidenden
Kreisbögen zum entsprechenden unteren Punkte eine Linie zieht. Es stellte sich
heraus , dass eine Serie dieser Radien sich in einem Punkte schneiden und dieser
Punkt wird als Mittelpunkt eines Kreises gewählt, der nach geometrischem Gesetze,
durch je 3 jener Punkte der stereographischen Curve durchgehen muss, von denen
aus die Kreisbögen über und unter der Curve gezogen wurden. Wenn die dazwischen
liegenden Punkte der stereographischen Curve und noch andere mit dem con-
struirten Kreise zusammenfallen, so ist erwiesen, dass diese alle zu einem Kreis-
bogen mit dem gefundenen Radius gehören. Wo beiderseits der construirte Kreis
aus der Zeichnung der Schädelcurve heraustritt, liegt für den betreffenden Radius
die Grenze des Kreisbogens in der Schädelcurve.
Hat man so sämmtliche Kreisbögen der Schädelcurve bestimmt und
abgegrenzt, so ist es leicht, diese Zeichnung auf die reinste stereographische Curve
zu übertragen und dieselbe ist dann nicht durch die vielen Constructionszeich-
nungen beirrt.
*) Die Wiedergabe des Kreisbogens 5 ist in der "Wiedergabe misslungen.
»;.| SCHÄDELMESSÜNG.
Ea zeigte sich nun vor Allem, dass die Grenzen der benachbarten Kreis-
bögen sich unmittelbar berührten.
Besonders beim Beginne dieser Studien muss man mit grosser Sorgfalt
darauf achten, dass man die Construction derart mache, dass man durch Wahl
sehr nahe gelegener Punkte möglichst viele Punkte der stereographischen Curve
in einen Radius hineinbringt, um nicht mehr Kreisbögen zu bekommen, als absolut
DÖthig ist. Weiter muss man versuchen, ob nicht, da alle Curven in Kreisbögen
aufgelöst werden können, mehrere dieser möglichst grossen Kreisbögen sich in
eine andere Curve, z. B. Stücke einer Ellipse oder Parabel, auflösen lassen.
Der positive Versuch fiel negativ aus. Die Auffindung des Gesetzes war beim
Vergleiche vieler menschlicher und thierischer Schädel dadurch erleichtert, dass
viele dieser Kreisbögen, statt nach aussen, nach innen convex werden oder sich in
Linien von sehr differenter Neigung umgestalten, oder dass benachbarte Kreis-
bögen Radien von sehr differenter Grösse und stark abweichender Richtung zeigen.
Es versteht sich von selbst, dass hin und wieder ein Theil der Schädelcurve, die
sonst aus zwei oder mehreren Kreisbögen besteht, einmal einen gemeinschaftlichen
Radius haben kann, so dass z. B. der mediane Stirnbogen von der Glabella bis
zur vorderen Bregma aus einem Kreisbogen, statt aus zweien besteht, i. e. aus
zwei Bögen mit gleichen Radien. Bei diesen Studien zeigte sich nun, dass das
folgende Gesetz das einzig herauszufindende war, und dass alle Schädel sich
ihm fügten.
Beachten wir nun die Zeichnung näher. Das untere Ende des Kreisbogens 1
bedeutet das obere Ende der Glabella. An ihn schliesst sich der Bogen 2 , der
gewöhnlich bis zum vorderen Bregma (ß) reicht.
Am wichtigsten ist der Kreisbogen 3, weil die Sehne dieses Kreis-
bogens bei allen Schädeln des Menschen — ohne Unterschied der Race
und ohne Rücksicht auf pathologische Verbildung — parallel zur Orbit o-
statenebene ist. Dasselbe gilt von den Schädeln sämmtlicher
Säugethierclassen und der geprüften Vögel.
Beim normalen menschlichen Schädel entspricht dieser Kreisbogen dem
vorderen Bogenstück des Scheitelbeins vom vorderen Bregma (ß) nach hinten, ein
Stück, in welches wir instinktmässig den höchsten Punkt des Schädels verlegt haben.
Diese Thatsache ist von der fundamentalsten Bedeutung für die Kranio-
metrie, weil sie uns zeigt, dass die Or bitostatenebene ein fixes
Fundament im Aufbaue des Schädels bildet. Die Sehne dieses
3. Bogens ist also die eigentliche sagittale Orientirungsaxe des Schädels. Diese
Axe liefert die Zeichnung selbständig. Sonst ist durch sie indirect die Orbito-
statenaxe gegeben. Die übrigen anatomischen Ebenen sind ver-
änderlich. Jeder Schädel hat also seine bestimmte Kuppe und der höchste
Punkt eines jeden Schädels ist ein anatomisch gegebener; er liegt in der Mitte
des mit 3 bezeichneten Kreisbogens. Hin und wieder hat dieser Kreisbogen einen
unendlich grossen Radius, dann ist das Schädeldach durch eine gerade Linie
begrenzt. Selten fällt der Radius des Bogens nach oben vom Schädel, i. e. das
Schädeldach ist durch einen nach oben coneaven Kreis abgegrenzt. Dann sind
die Grenzpunkte des 3. Kreisbogens mit dem 2. und mit dem 4. die höchsten
Punkte und ihre Verbindungslinie ist parallel mit der Orbitostatenaxe.
Diesem Kreisbogen folgt ein 4., 5. und 6. Der 6. Kreisbogen ist hier
durch eine Linie repräsentirt , i. e. sein Radius ist unendlich gross. Sehr inter-
essant ist wieder der 7. Kreisbogen. Derselbe umfasst die beiden Basalpunkte
des Hinterhauptloches und das unterste Stück der Basis. Weiter ist interessant,
dass der Radius des 7. Kreisbogens bei einer grossen Zahl von Schädeln — und
auch hier — gleich ist dem Radius des 4.*) Wo ein männliches Thier einen
medianen Kamm als Geschlechtskennzeichen hat, ist die Basis des Kammes für
*) Die Grösse dieses Bogens 4 ist für den Schädel besonders charakteristisch.
SCHADELMESSUNG. 65
die Orientirung massgebend und nicht die ebenso regelmässige Reihe von Kreis-
bögen, die den Kamm nach oben begrenzen. Man muss dann die der medianen
Ebene parallele am Rande des Kammes zeichnen , um ein Bild der Basis des
Kammes zu bekommen.
Der Kreisbogen a entspricht der Glabella. Dieser Kreisbogen ist oft
concav nach aussen und auch oft eine gerade Linie. Der Kreisbogen (b) , der
das Stück zwischen dem untersten Punkt der Glabella bis zur Nasenwurzel dar-
stellt (Augenbrauenbogen) , stellt hier einen nach aussen concaven Bogen dar,
dessen Sehne hier bezeichnet ist. Der eigentliche Nasenbogen (c) stellt eine
Linie dar.
Die mediane Linie der Nase besteht eigentlich aus zwei Bögen, jedoch ist
beim Menschen und Affen der untere Bogen so kurz, dass er selten geometrisch
dargestellt werden kann. Aber die Fortsetzung dieses 2. Nasenbogens ist für die
Gestaltung der knorpeligen Nase massgebend.
Das Zwischenkieferstück (e) stellt wieder einen Kreisbogen dar. Am
menschlichen Schädel besteht das Zwischenkieferstück aus zwei Bögen, wovon der
eine der Krümmung des vorderen Nasenstachels (8 bis x in Fig. 4) entspricht,
während der untere Bogen das eigentliche Zwischenkieferstück darstellt. Beide
sind beim menschlichen Schädel gewöhnlich concav nach aussen. Dasselbe Gesetz
der Medianebene befolgen nun alle Schädel.
Die grosse Varietät der Schädelformen stellt die Natur unter dem Zwange
dieses Gesetzes durch folgende Mittel dar.
1. Ist der Radius bald klein bis unendlich gross und der Kreisbogen ist
entweder convex nach aussen oder innen.
2. Enthält der Kreisbogen bald ein grösseres , bald ein kleineres Stück
des zugehörigen Kreises und
3. Sind die Sehnen der Kreisbögen unter verschiedenen Winkeln geneigt.
So vollführt die Natur unter dem Zwange dieses Gesetzes auch jenes des Kampfes
um's Volum, indem sie concave Kreise in eine Linie auszieht, oder immer stärker
nach aussen wölbt, indem sie immer grössere Kreisbogen , i. e. grössere aliquote
Theile des betreffenden Kreises ausspannt und die Winkel der Sehnen immer
stumpfer macht, sie 180° nähert, oder gar über 180° umbiegt. Wo der Kampf
beider Gesetze nicht ausreicht, hilft sie sich mit Schaltknochen. Interessant ist
es, dass die künstliche mechanische Verbildung des Schädels nichts an jenem
Gesetze zu ändern im Stande ist. Die zukünftige Psycho-Physik des Schädels
wird vorwaltend an dieses Gesetz anknüpfen müssen.
Construirt man auf dem Schädel mit der medianen parallele Ebenen und
zeichnet dieselben, so findet man, dass genau dieselbe Anzahl von Kreisbogen am
Schädelumfang und im Gesichte erscheinen. Die Radien sind andere.
Auch beim Studium von Ebenen, die senkrecht auf die Medianebene am
Schädel fallen, ergiebt sich, dass die betreffenden Curven sich aus Kreisbögen
zusammensetzen und ebenso die Orbitostatenebene und die ihr parallelen. Dasselbe
Gesetz gilt auch von der Contour der Schädelbasis.
Es wird wohl nothwendig sein, um die Rotations cur ve des Schädels
kennen zu lernen, entweder den Kraniofixator oder das Fernrohr um eine sagittale
Axe mit Gradmesser drehbar zu machen.
Das Eine können wir heute schon sagen, dass die Oberfläche des
Schädels aus Stücken beiläufig von Kugelschalen zusammen-
gesetzt i s t, die sich von der Medianebene aus verschmälern, und von seitlichen
Kugelschalstücken anderer Systeme begrenzt ist.
Und weiter ist gewiss, dass der Schädel ein mit vollster
geometrischer Feinheit ausgeführtes Kunstwerk der Natur ist.
Ich will hier z. B. erwähnen, dass die äussere Fläche der grossen Keil
beinflügel in der Horizontalebene einen Kreisbogen mit dem Centriwinkel von
60° darstellt!
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 5
66
.SCHÄDKLMKSSUNG.
Es ist wolil kein Zweifel, dass die Entwicklung des Gehirns aus kugligen
Blasen im Zusammenhange mit dieser Construction des Schädels sei. Auf der Zeichnung
sieht man drei transversale Linien. Die oberste stellt die Sehne des 3. Kreisbogens
dar den wir als „Scheitelkreisbogen" bezeichnen wollen. Auf dieselbe ist eine
Senkrechte errichtet, die bis auf die 2. und 3. transversale Linie gezogen ist.
Die zweite transversale Linie stellt eine Projection der Orbitostatenebene
dar. Sie ist dadurch gewonnen, dass der Metallstachel des Stereographen an zwei
distante Punkte der am Schädel gezeichneten Orbitostatenebene angedrückt ist,
wodurch eine Projection derselben auf die Zeichnung der Medianebene correct
hergestellt ist. Diese zwei Punkte werden dann durch eine Linie verbunden.
Man sieht in der Figur hier, dass die Verticale auf die Scheitelbogen-
sehne genau senkrecht auch auf der Orbitostatenebene (II) steht, womit der volle
Parallelismus der letzteren mit der ersteren Linie geometrisch erwiesen ist.
Die dritte sagittale Linie (HO1) stellt die Projection der französischen
Horizontalebene (Condylo-Alveolar-Ebene) dar. Sie ist in folgender Weise gewonnen:
Beim Zeichnen der Medianebene wird auch der hervorstehendste Rand
des Glenoidal-Gelenkes gezeichnet. Man sieht diese Curve in der Figur zwischen
B und b. Es wird nun eine Linie vom untersten medianen Punkte des Zwischen-
kieferstückes (in) so gezogen, dass sie diese Curve tangirt.
Man sieht bei diesem jugendlichen Affenschädel , dass sie nur um 4°
nach unten gegen die Orbitostatenebene abgebogen ist. Auf vielen anderen solchen
stereographischen Zeichnungen befindet sich auch die SCHMiDT'sche (deutsche)
Horizontale verzeichnet und daher auch der Winkel gemessen, den derselbe mit
der Orbitostatenebene, respective mit der Sehne des Scheitelhöhenkreisbogens bildet.
(Es wird nämlich an den Jochwurzelpunkt und den untersten Punkt der einen
Orbita der Stachel angedrückt und diese Punkte gezeichnet und durch eine Linie
verbunden.)
Ich will hier die vorliegenden Daten über die Neigung dieser Ebenen
mittheilen, und ich werde jene Winkel als negative ( — ) zur Orbitostaten-Horizon-
talen bezeichnen, deren Scheitel vor oder in der Richtung gegen die der Normo,
facialis liegt und die entgegengesetzten als positive (+) und mit „HO" die
Orbitostaten- , mit „HO"" die SCHMiDT'sche Horizontal- und mit „HO4" die
Condylo-Alveolarebene bezeichnen.
Bezeichnung der Schädel
a) Homo sapiens.
1. „Hypsokephaler"
2. „Oxykephaler"
3. Peruaner
4. Japanese
5. Neuholländer
6. Neger
7. Weiblicher Kleinschädel . . ,
8. Junger deutscher Schädel (2 J.) ,
9. „Papu, recte Alfuri" . . . ,
10. Soldat, Mörder .....
11. Schädel mit querer Occip.-Naht ,
12. Montenegriner
13. 2. Deutscher Schädel ...
14. „Dornbacher Mörder" . . .
15. Czeche
16. Zigeuner, Dieb . . . . .
17. Skaphenokephaler ....
HO"
HO'
+
7-00
+
21-0°
+
6-0°
+
10-0°
+
100
+
8-5°
+
0-5°
+
3-5°
+
0-0°
—
1-0°
1-5°
—
1-5°
—
1 5°
?
—
2-0°
+
1-0°
—
3*0°
+
1-0°
—
4-0°
+
1-0°
—
5-0«
—
1-0°
—
5-5°
+
0-5°
—
6-0°
?
—
6-0°
—
2-0°
—
7-0°
+
2-0°
—
7-5°
—
9-5°
—
13-0°
—
4.50
SCHADELMESSUNG.
67
Man sieht also, dass die Condylo-Alveolarebene HO' sich bei Racenschädeln
— wenn wir den künstlich verbildeten Peruaner ausnehmen — nur in der Breite
von 5*0 Grade nach oben und unten verbiegen.
Der Fehler der Projection bleibt sich bei gleicher Neigung nach oben
und unten gleich, nur der Fusspunkt der Projection fällt bei negativer vor und
bei positiver Neigung hinter dem Fusspunkt der Projection auf die Orbitostatenebene.
Die grösste Abweichung bei der Condylo-Alveolarebene beträgt 3*5° und
dann beträgt der Fehler für R a c e n s c h ä d el bei Annahme einer Höhe von 13*0 Cm.
blos 0*1 Cm. Bei der deutschen Horizontalen HO" beträgt die grösste Differenz 7*0
und daher der Fehler des Höhenmaasses blos 0*15 Cm. Für den Hypsokephalus
würde aber bei gleicher Höhe der Fehler für die französische Ebene bereits 0-9 Cm.
ausmachen, also die Hälfte der Differenz die überhaupt stattfinden pflegt und nach
der deutschen Ebene circa 0-4 Cm.
Berechnet man aber den Längen-Höhen-Index für den Hypsokephalen bei
einer Länge von 18-0 Cm. auf die Höhe, welchen die Orbitostaten- und Condylo-
Alveolarebenen liefern, nämlich auf 13-0 und 12*1 Cm., so bekommt man die aus-
giebige Differenz von 6 % und fast dieselben Differenz für den Höhen-Breiten-Index
bei einer Breite von 14-5 Cm.
Für Racenschädel lassen sich also beide Ebenen für Höhenmessung
verwenden, für pathologische aber nicht. Die Condylo-Alveolarebene gestattet zudem
eine Messung mit einem einfachen Stangencirkel , der senkrecht auf die Grund-
ebene und senkrecht auf die Höhenebene verschoben wird, während die deutsche
Messung von einem bestimmten Basalpunkte oder seitlichen Punkte ausgeht und
daher mit einem einfachen Stangencirkel in der Regel , auch nicht bei exacter
Handhabung, ausgeführt werden kann.
Unvergleichlich schlimmer steht es , wenn wir die beide Ebenen für die
vergleichende Anatomie verwenden wollen. Dabei findet das verkehrte Verhältniss
statt ; die Condylo-Alveolarebene wird , wie Viechow mit Recht behauptete,
unbrauchbarer als die deutsche.
Bezeichnung der Schädel HO" HO'
— 7-0°
— 6-0°
+ 3-1°
1 + 4-0
+ 2-0
+ 15-0°
4- 16-5°
+ 13-0°
— 1-5°
+ 1-00
4- 30-0°
+ 11-0°
+ 26-0°
4- 22-0°
Während beim Gorilla bei einer Höhe von 104, die Verkürzung
nach der deutschen Ebene 0-5 beträgt, ist sie für die französische 0-8. Bei
Cercopithecus ist die Verkürzung bei einer Höhe von 4-2 für die deutsche
Ebene fast verschwindend, für die französische beträgt sie 0'6, i. e. 14*2 °/0.
Nur beim Simta satyros sind die Verhältnisse den menschliehen analog.
Dies ist für die deutsche Ebene noch bei Simia satyros juv., ferner bei Macacus
Cercopithecus und Hylobates der Fall, für die französische nur noch bei Macacus.
Daraus geht aber schliesslich hervor, dass für pathologische
menschliche und schon für Affenschädel beide genannten Ebenen
zu Projectionsmessungen nicht tauglich sind.
Wir haben soeben ausgesprochen, dass die Messungen von Höhen für
Racenschädel nach der französischen oder deutschen Methode keine sehr grossen
Fehler enthält. Dies gilt jedoch nur bei der Berechnung von Höhen bestimmter
anatomischer Punkte. Anders verhält es sich bei der Bestimmung der „grössten Höhe".
Wir haben gesehen, dass jeder Schädel eine gesetzmässige Kuppe hat,
die von der künstlichen Orientirung unabhängig ist und der Mittelpunkt derselben
5*
SCIIÄDELMESSUNG.
i<t der hOohste Tunkt des Schädels. Dieses Gesetz gilt für alle Schädel, ob der
schon instinetiv angenommene Punkt vor oder weit hinter das Bregma oder selbst
in die hinterste Partie des Schädels fällt. Diese Kuppe ist der mit 3 bezeichnete
Kreisbogen.
Am auffallendsten wird dieses Gesetz bei Oxykephalie und bei jenen
Thierschädeln, bei denen das ganze Frontalbein und der grösste Theil des Parietal-
beins nahezu in einer Flucht mit dem Gesichte liegt und die Scheitelwölbung sehr
klein ist (z. B. beim Schweine).
Die eigentliche wissenschaftliche Orieutirung richtet sich nach der Sehne
dieses Kuppclbogens und nur weil die Orbitostatenebene immer mit der Sehne
derselben parallel ist, stellt sie eine Orientirungsebene dar und nur insoweit die
anderen Ebenen mit ihr parallel sind, sind sie brauchbar.
Sind diese Ebenen verbogen, so fällt der „höchste Punkt" dieser
Orientirung von b aus nicht mehr mit dem naturgemässen
zusammen und es hängt von mehreren Factoren ab, wie gross der Fehler des
„grössten Höhenmaasses" und der Verschiebung des höchsten Punktes ist. Wo die
Verschiebung klein ist, ist der absolute Fehler auch jetzt noch nicht sehr gross,
wie dieselbe aber bedeutend ist, lässt sich die Grösse dieses Fehlers gar nicht
a priori angeben.
Beim Gorilla ist die „grösste Höhe" nach der deutschen und französischen
Ebene berechnet, um 0*6 Cm. grösser als nach der Orbitostatenebene, bei Hylo-
hates Midleri ist zwischen der französischen und Orbitostatenebene zu Gunsten
der ersteren eine Differenz um Ol Cm., was freilich über 2° 0 ausmacht. Bei
letzterem fällt der höchste Punkt für die französische Ebene 0*8 Cm., beim Gorilla
2*9 Cm. vor jenem der Orbitostatenebene.
Bei dem oxykephalen Schädel beträgt die grösste Höhe von b aus 14-0
für die Orbitostatenebene, 13*3 für die deutsche und 13*2 für die französische.
Bei dem „Hypsokephalen" sind die betreffenden Ziffern 12'8 , 12-7 und
13'0. Gerade bei diesem Schädel ist die höchste Kuppe sehr charakteristisch; die
höchste Höhe fällt aber bei der französischen Ebene dorthin, wo der zweite und
dritte Kreisbogen sich berühren und zwar um 2-2 Cm. vor den eigentlich
höchsten Punkt.
Für den „Skaphenokephalus" sind diese Zahlen 15*1, 14*6, 15-1 und
die „grösste Höhe" der deutschen Ebene fällt in den vierten Kreis, 1*9 Cm. hinter
jenem der Orbitostatenebene. Beim Peruaner beträgt von b aus die höchste Höhe
13"1 für die Orbitostatenebene und 12*8 für die französische, dabei fällt letztere
um 3*2 Cm. weiter nach vorn an das hintere Ende des zweiten Kreises.*)
In diesen Zahlen liegt aber noch eine andere wesentliche Entscheidung.
Unvergleichlich empfindlicher als für die H öhenr echnung ist
die Wahl veränderlicher Horizontalebenen für die Längen-
berechnung.
Beim Montenegriner Schädel ist die SCHMiDT'sche Horizontale negativ nur
um o'o0 gegen die Orbitostatenebene geneigt und schon ist die Längendifferenz
der „höchsten Punkte" 1*2 Cm., während die Höhendifferenz vom hinteren Basal-
punkte nur 04 Cm. (12*8 für die deutsche und 13*2 für die Orbitostaten-
ebene) beträgt.
*) Die Angaben der Längendifferenzen beziehen sieb auf Projectionen der betreffenden
Distanzlinien , auf die Orbitostaten-Horizontale , die von der absoluten Distanz je nacb der
Neigung mehr oder weniger variirt. Diese Berechnungen werden am besten mit zwei recht-
winkeligen, graduirten Dreiecken durchgeführt , wobei das eine mit einer Kathete an die
gezeichnete Horizontale angelegt wird, das zweite mit an die zweite Kathete des ersten.
Dann wird das erste verschoben, bis es den höchsten Punkt der Zeichnung tangirt. Markirt
man nun von einem bestimmten Punkte aus die Entfernung des höchsten Punktes bei den
den verschiedenen Projectionen, so bekommt man die Differenz der höchsten Punkte in
absoluter Zahl.
SCHÄDELMESSUNG. 69
Nehmen wir an, die französische Ebene eines solchen Schädels wäre nun
positiv um 5*5° geneigt, so würde keine Höhendifferenz bei der Messung nach
der deutschen und französischen Ebene existiren, aber die Längendifferenz wäre,
wenn wir nach einander beide Ebenen horizontal stellen , für denselben Punkt
2*4 Cm. ! Während also der höchste Punkt des Schädels ein bestimmter ist,
erscheinen bei veränderlicher Ebene verschiedene andere als höchste Punkte und
diese Punkte liegen um mehrere Cenlimeter auseinander. Andererseits erhält der
Fusspunkt den natürlichen höchsten Verticalen, der ein distincter, anatomischer
Punkt ist, die verschiedensten Längen je nachdem man nach der einen oder
anderen veränderlichen Ebene einstellt und was von diesem Punkte gilt , gilt
von allen. Daraus folgt, dass die Wahl einer unveränderlichen Horizontalprojection
wichtiger noch für die Längsprojection als für die Höhenprojection ist. Denn es
bleibt sich für die Fehler der Höhenrechnung gleich , ob die anatomische Ebene
positiv oder negativ verbogen ist. Für die Längsprojection aber nennen sich die
Fehler zweier solcher gleicher Verbiegungen.
Die Projectionen auf dieselbe veränderliche anatomische
Proj e ction sebene sind also bei verschiedenen Schädeln mitein-
ander nicht vergleichbar.
Noch weniger ist dies der Fall, wenn es sich um zwei in verschiedenem
Sinne veränderliche Ebenen handelt.
Die einzige constante, am Schädel auch ohne Zeichnung
festzustellende Ebene ist aber die Orbitostatenebene.
Dies ist die grösste Errungenschaft des mathematischen Constitutions-
gesetzes der Medianebene.
Ich hoffe durch diese Darstellung einerseits den Frieden der Kraniometrie
mit den Grundgesetzen der Geometrie, die einander bisher so feindlich gegenüber-
standen, angebahnt zu haben und andererseits die Aerzte zur Erkenntniss angeregt
zu haben, dass diese Disciplin eine hohe Bedeutung für die klinische Erkenntniss hat.
Den grössten Widerstand findet die Verwerthung der Kraniometrie und
Kephalometrie für die Medico-Psychologie ; man fürchtet sich förmlich vor ihr.
Der Grund liegt in einer colossalen geistigen und sittlichen Verwirrung, in der
sich die officielle Rechtsphilosophie befindet und in der die gelehrten „Stände"
befangen sind.
Der officiellen Rechtsphilosophie und also auch der Gesetzgebung und
leider auch den Rechtsanschauungen und Rechtsempfindungen der gelehrten Stände,
inclusive der Aerzte, liegt der Satz zu Grunde, dass dem Menschen seine Thaten
„zugerechnet" werden können. Es ist nun aber einer der grössten Triumphe des
menschlichen Geistes, dass der grosse Königsberger Philosoph vor 100 Jahren
nachgewiesen hat, dass dieser Satz ein zu erweisender sei und sein Gegensatz,
dass das menschliche Thun von bestimmten Naturgesetzen abhänge, dieselbe
Berechtigung habe.
Folglich kann der philosophische Satz von der Zurechnungsfähigkeit des
Menschen, weil er ein zweifelhafter ist, nicht als Prämisse einer Wissenschaft
dienen. Trotzdem geschieht dies auf den meisten Hochschulen der Welt und in
den Köpfen der „gelehrten Stände". Und darum die Verwirrung.
Wenn die Aerzte ohne Vorurtheil und ausgerüstet mit guten, psycho-
logischen und naturgeschichtlichen Kenntnissen an die Untersuchung von Verbrechern
herangehen werden, werden sie bald sehen, wie wenigen derselben ihre Thaten
„zugerechnet" werden können. Ihr Ausspruch kann vernünftiger Weise nur die
Folge haben, dass die Technik der Unschädlichmachung und des Besserungsver-
suches dadurch beeinflusst werden.
Der ärztliche Ausspruch kann für den Richter nur insoweit maassgebend
sein, als entschieden werden soll, ob das Individuum, das eine verbrecherische
That beging, einem Irrenhause, einer Corrections- oder Retentionsanstalt übergeben
SCHÄDELMESSUNG. — SCHÄDELVERLETZUNGEN.
werden Bolle, allenfalls Doch, ob das Individuum überhaupt besserungsfähig sei
oder nicht. Es isl der verkehrte, officielle, philosophische Standpunkt daran Schuld,
daes die Beantwortung der Frage der Zurechnungsfähigkeit einen Einrluss auf
Schuld oder Nicht schuld und auf Strafe oder Straflosigkeit habe. Die ethische
Anschauung vom Verbrechen wird durch den Nachweis der Moral insanity
mächtig liecinlliisst, aber nicht die technisch-juridische Rechtspraxis.
Literatur: J. P. Blumenbach: Grundlegendes Werk (Nov. pentas collectionis
raniorum divers. <jent.). Göttingen 1828. — Emil Huschke, Schädel, Hirn und Seele
nach Alter, Geschlecht und Race. 1854. Jena, Friedrich Mauke. — Jos. Christ. Gust.
Lncae, Die Architeetur des Menschenschädels nebst geom. Originalzeichnung von Schädeln
normaler und abnormer Form. 1857. Frankfurt a M., Heinrich Keller. — Dr. Herrmann
Weloker, Untersuchungen über Waehsthum und Bau des menschlichen Schädels. 1862.
Leipzig, W. Engelmann. — Dr. A. Weissbach, Beiträge zur Kenntniss der Scbädelfornien
österreichischer Völker. Wiener med. Jahrbücher 1864 u. 1867. — Dr. Car. Aeby, Die
Scbädelformen der Menschen und Affen. l£67. Leipzig, F. C. W. Vogel. — Dr. H. v. Holder,
Zusammenstellung der in Württemberg vorkommenden Schädelformen. 1876. Stuttgart, E.
Schweizerbart. — Rudolph Virchow, Beiträge zur physischen Anthrop. der Deutschen.
2. Abdruck. 1877. Berlin. — Idem, Entwicklung des Schädelgrundes. Berlin 1857. —
Idem, Ueber einige Merkmale moderner Menschenracen am Schädel. Berlin 1875. Dumber's
Verlagsbuchhandlung. — Dr. E. ZnckerkandJ, Morphol. des Gesichtsschädels. 1877.
Leipzig, T. Enke — Zuckerkandl, Die Publikation der Messungen der Schädel von Irren
bei Meynert. Wien, Jahrbücher für Psychiatrie. 1879. 2. Heft. — Topinard, L'anthro-
pologie. 2. Aufl. Paris. 1877. Reinwald. — Lombroso, L'uomo delinquente. 2. Aufl. 1878,
(Turin, Bocca). — Benedikt, Mittheilungen der anthrop. Gesellschaft in Wien. Bd. VIII.
IX— X. — Die wichtigsten Quellen sind ferner das deutsche Archiv für Anthropologie, in
dem u. A. Messungen deutscher Schädelsammlungen publicirt sind, und das deutsche Archiv
für Ethnologie, ferner die Bullttins, Memoires und Mittheilungen der verschiedenen anthro-
pologischen Gesellschaften und die Revue d'anthropologie. -p» ■, ■ •. .
ScMdelverletzungeil. Die Verletzungen am Schädel theilt man in drei
grosse Gruppen ein : 1. Die Verletzungen der weichen Schädeldecken. 2. Die
Verletzungen des Schädelgehäuses. 3. Die Verletzungen des Schädelinhaltes.
I. Die Verletzungen der weichen Schädeldecken sind
entweder subcutane oder offene. Die Ersteren sind repräsentirt durch traumatische
Blutbeulen, welche in verschiedenen Schichten der Schädeldecke auftreten können
und bezüglich deren blos eine diagnostische Bemerkung genügen mag.
Eine Blutbeule, die gleich unter der Haut sitzt, prominirt stark, ist blau
und lässt sich mit der Haut verschieben. Eine Blutbeule hingegen, die unter der
Aponeurose oder unter dem Periost sitzt, ist vor Allem flach ausgebreitet und
sitzt fest. In der Praxis handelt es sich häufig darum , bei einer vorhandenen
grösseren Blutbeule zu bestimmen, ob der darunter liegende Knochen nicht ein-
gedrückt ist. Da ein tiefer gelegenes , insbesondere ein subperiostales Extravasat
am Rande einen harten Wall besitzt, so kann leicht die Täuschung entstehen, als
ob innerhalb dieses Walles eine Vertiefung, somit ein Schädeleindruck vorhanden
wäre. Die Härte an dem Umfange der Beule ist dadurch bedingt, dass das Gewebe
hier mit Blut infiltrirt ist. Drückt man nun an einer Stelle diesen Wall langsam
weg, so kann man dann durch die gemachte Bresche von der Umgebung der
Beule auf die Basis der letzteren mit dem Finger hineingreifen und finden, ob
wirklich eine Niveaudifferenz besteht oder nicht.
Die offenen Verletzungen der Schädeldecken sind repräsentirt durch die
mannigfaltigen Formen der Hieb-, Stich-, Riss- und Quetschwunden. Bei den
Hieb- und Schnittwunden tritt in der Regel eine sehr starke Blutung auf und
zwar darum, weil die arteriellen Gefässe zahlreiche sind, reichliche Anastomosen bilden
und schon als Stämme im subcutanen Lager liegen. Da die Verschiebbarkeit der
einzelnen Schichten der Kopfhaut eine verschiedene ist, so resultiren daraus folgende
Verhältnisse. Wenn ein Hieb die Schädelgegend in frontaler Richtung trifft und
nur die Haut durchtrennt, so klafft die Wunde gar nicht, weil die Haut mit der
breiten Sehne des M. epicranius durch sehr kurzfaseriges Bindegewebe verbunden
ist, so dass sie nur mit dieser Sehne selbst verschiebbar ist. Klafft also die
SCHÄDEL VERLETZUNGEN. 71
Wunde, so ist sicher auch die Sehne des genannten Muskels durchtrennt. Unterhalb
der Sehne ist lockeres Gewebe. Eine Verunreinigung dieser Schicht mit Infections-
stoffen kann daher ausserordentlich leicht diffuse Entzündungsprocesse herbeiführen.
Noch eher kann dieses ein fremder Körper, wenn er unrein ist und hier stecken
bleibt. Die rundliche Gestalt des Schädels bedingt weiter nicht selten ein eigenes
Verhalten jener Wunden, welche durch stumpfe Werkzeuge hervorgebracht werden ;
indem nämlich das letztere den Schädel nur in einer Linie berühren kann, trennt
es die Weichtheile fast linear durch. Weiterhin ist diese rundliche Gestalt auch
der Grund, warum am Schädel so häufig ausgesprochene Lappenwunden entstehen ;
wenn z. B. der Schädel auf den Boden auffällt, so dass hierbei die weiche Schädel-
decke in einer Linie durchgetrennt wird und nun der Kopf wegen Ueberstürzen
des Körpers eine Drehung macht, so wird die Schädeldecke im breiten Umfange
abgeschunden. Ganz uneigentlich nennt man diese Art von Wunden auch Scalp-
wunden. Die eigentlichen Scalpwunden , die von den Indianern erzeugt werden,
bestehen in Substanz verlust eines grossen Theiles der weichen Schädeldecken.
Ausnahmsweise kommen Wunden dieser Art auch bei uns vor und zwar insbesondere
an Frauen, die in Fabriken arbeiten, wenn deren Zopf von einer Maschine
erfasst wird.
IL Die Verletzungen der Schädelknochen sind wiederum
entweder subcutane oder offene. Die Mehrzahl derselben sind Frakturen im eigent-
lichen Sinne des Wortes. Die Minderzahl ist repräsentirt durch solche Verletzungen,
die man des Mechanismus wegen nicht zu den Frakturen zählen kann, so zum
Beispiel Abhiebe einer Knochenlamelle oder eines grösseren Theiles , eine Schuss-
rinne im Knochen, eine Stichverletzung.
Die Frakturen selbst theilt man ein in Gewölbebrüche, in Basalbrüche
und in solche, welche Gewölbe und Basis gleichzeitig betreffen. Die Gewölbebrüche
sind die relativ häufigsten , dann kommen die Basalbrüche , dann jene , welche
beide Bezirke betreffen. Der Form nach unterscheidet man seit der ältesten Zeit
mehrere Gruppen von Frakturen, für welche schon die hippokrätische Chirurgie
eine reichliche Terminologie aufgestellt hatte.
Wir sprechen heutzutage von 1. Spaltbrüchen oder Fissuren. Bei diesen
bildet die Zusammenhangtrennung eine Linie, die gerade oder krummlinig über einen
oder mehrere Knochen sich ausbreitet und nicht klafft. 2. Stückbrüche, das sind
jene, bei denen die Trennungslinie in sich zurück läuft und ein einziges Feld
umschreibt. 3. Splitterbrüche, wo ein System von Trennungslinien besteht, so dass
eine Summe von Knochenstücken aus dem Zusammenhange getrennt ist. 4. Loch-
brüche diejenigen , wo ein einziges Knochenstück mit sehr scharfen Rändern
gewöhnlich von rundlicher Gestalt herausgeschlagen ist.
Nach der Ausbreitung in die Tiefe unterscheidet man isolirte Brüche
der äusseren Tafel, isolirte Brüche der inneren Tafel und penetrirende Frakturen.
Ein Bruchstück geht in der Regel eine gewisse Dislocation ein. Wenn
der Unterschied des Niveaus an dem Umfange des Knochenstückes zu sehen ist,
indem dasselbe in die Tiefe getrieben erscheint, spricht man von einer peripheren
Dislocation. Sind aber bei einem Splitterbruche nur die centralen Theile der
Splitterung in die Tiefe gedrückt, so spricht man von einer centralen Dislocation.
Die äusseren Anlässe, die zur Entstehung der Frakturen des Schädels
führen, sind ausserordentlich mannigfaltig. In der Regel sind es Gewalten, welche
mit einer bedeutenden Endgeschwindigkeit wirken. Entweder wird der Kopf von
einem geschwungenen oder fliegenden Gegenstande getroffen oder der herabfallende
Körper eines stürzenden Menschen schlägt mit dem Kopfe auf eine feste Unterlage auf.
Seit jeher wurde jedoch die Frage aufgeworfen , in welcher näheren
Weise die Form der Fraktur mit der Art der Gewaltwirkung zusammenhänge
und insbesondere stand schon im Alterthume die Frage in Discussion, ob nicht
der Bruch des Schädels in einer von dem Orte der Gewaltwirkung entfernten
Stelle stattfinden könne. In der neueren Zeit versuchte man diese Frage auf
72 SCIIÄDELVERLETZUNGEN.
experimentellem Wege zu lösen. Es wird hiebei der Schädel als ein Ganzes auf-
gefasBt, und die Frage gestellt, welche mechanischen Bedingungen dieses Ganze
einer einwirkenden Gewalt bietet.
PELICET nahm an, der Schädel bestehe aus sechs symmetrisch paarig
geordneten Gewölben , welche zu ihren Stützpunkten vier Hauptwiderstandsstücke
haben, nämlich die Felsenbeine und die orbitosphäroidalen Strebepfeiler, dann die
Tuberositas occipitalts und die Regio naso frontalis. Die Ersteren stehen fast
senkrecht auf einander und bilden auf der Basis ein Gewölbe, dessen Schlussstein
eine Region bildet, welche wesentlich dem Hinterhaupte beinahe ganz angehört. Die
Pars basilaris und die vordere und seitliche Umgebung des Foramen magnum
dieser Region bezeichnet Felicet als das Widerstandscentrum. Der Ausgangspunkt
dieser Aufstellung war die Wahrnehmung, dass die genannte Partie in 37 unter-
suchten Fallen unverletzt geblieben war. Es hat sich aber später ergeben , dass
Frakturen dieser Gegend ganz gut vorkommen können.
Fruchtbarer waren die Untersuchungen , welche durch BrüNS unter-
nommen wurden. Bruns befestigte den unverletzten Kopf zwischen zwei kleinen
Brettern in einem Schraubstocke und entblösste vier kleine Knochenstellen, um
durch die Anlegung des Tastercirkels an den Knochen die Zunahme oder Abnahme
zweier Durchmesser beobachten zu können. Er fand, dass bei der Wirkung
der Schraube, wenn der Querdurchmesser gedrückt wurde, sich der Längsdurch-
messer verlängerte und umgekehrt und wenn man mit der Schraube nachlasse,
dass der Schädel die früheren Durchmesser wieder annimmt. Er demonstrirte also
scheinbar in evidenter Weise die Elasticität des Schädels und stellte so einen
physikalischen Ausgangspunkt für die weiteren Betrachtungen. Scheinbar, weil er
doch nicht nachträglich nachsah, ob nicht Fissuren entstanden waren.
Hyrtl zeigte die Elasticität des Schädels dadurch , dass er den Kopf
in frischem Zustande auf einen unelastischen Boden schleuderte. Der Kopf machte
mehrere Sätze, wie eine Elfenbeinkugel.
Feltcet liess frische, aber vom Pericranium entblösste und an der Ober-
fläche geschwärzte Schädel aus verschiedener Höhe auf eine mit weissem Papiere
überspannte Marmorplatte herabfallen. Beim Falle auf die hintere Scheitelgegend
entstand bei einer Fallhöhe von bis 50 Ctm. ein fast regelmässiger Kreis. Bei
1 Meter Höhe mehr eine ovale Figur, bei 150 Ctm. Höhe aber gleichzeitig
eine Fissur, welche zur längeren Achse der ovalen Fissur senkrecht gerichtet war.
Felicet spricht seinen Versuchen dieselbe Giltigkeit zu , wie dem bekannten
Versuche mit der geschwärzten Billardkugel , die nur bei einer gewissen Fallhöhe
einen vollkommen kreisrunden Eindruck annimmt, bei grösserer Höhe jedoch einen
elliptischen Eindruck, wobei sie in zwei Hälften zerspringt und die Bruchlinie
senkrecht auf dem längeren Durchmesser der elliptischen Figur steht.
W. Baum entfernte die weichen Schädeldecken und spannte den Schädel
zwischen zwei Pelotten ein, die von einem den Schädel umfassenden eisernen Ringe
ausgingen; die Pelotten wurden durch Schrauben einander entgegen getrieben. Er
fand bei dieser Versuchsanordnung, dass die Elasticität des Schädels weit geringer
ist, als die früheren Untersucher annahmen.
E. v. Bergmann hing zwei an Bindfäden befestigte Schädel vor einer
Scala auf und liess dann beide Schädel unter einem gewissen Winkel gegen einander
anprallen. Dann las er an der Scala ab, um wie viel beide nach dem Stosse wieder
abprallten. Nun machte er denselben Versuch mit zwei gleich schweren Messing-
und Weichholzkugeln, und fand, dass der Elasticitätsmodul des Schädels zwischen
Messing und Holz liege.
0. Messerer hat in einer ausführlichen Arbeit über die Elasticität und
Festigkeit der menschlichen Knochen auch den Schädel der Untersuchung unter-
worfen. Er bediente sich der WERDER'schen Festigkeitsmaschine, die zur Prüfung
der Festigkeit von Baumaterialien verwendet zu werden pflegt und bei welcher
die Kraft mittelst einer hydraulischen Presse ausgeübt und mittelst einer genauen
SCHADELVERLETZUNGEN. 73
Hebelwage gemessen wird. Der Schädel wird hiebei zwischen zwei ebene Metall-
platten gedrückt. Messerer stellte 13 Versuche von querer Zusammenpressung,
12 Versuche von Zusammenpressung in der Längsrichtung und 8 Versuche von
Zusammenpressung in der senkrechten Richtung an. Endlich machte er auch einige
Versuche über den concentrirten Druck an einzelnen Stellen des Schädels mittelst
eines Druckbolzens. Das Hauptresultat dieser Untersuchung beruht darin, dass
der Schädel sich nicht unbeträchtlich verkleinern lässt und dass dabei in den
meisten Fällen die nicht gedrückten Durchmesser eine stetige und mit dem Drucke
wachsende Vergrößerung erfahren.
Die grösste Veränderung des Durchmessers, in dessen Richtung gedrückt
wurde, betrug 8 '8 Mm., dann trat der Bruch ein. Die grösste Veränderung eines
nicht gedrückten Durchmesser betrug 1*3 Mm. ; da auch die wirkende Gewalt
gemessen wurde, so liess sich genau ermitteln in welcher Richtung der Schädel
eine grössere Belastung trägt. Es zeigte sich, das dieses in sagittaler Richtung
der Fall ist.
In sagittaler Richtung Mittel der Bruchbelastung 650 Kgr., in querer 520 Kgr.
Maximum „ „ 1200 „ „ „ 800 „
Minimum „ „ 100 „ „ „ 350 „
Gleichzeitig machte ähnliche Versuche Nicolai Hermann in Dorpat. Sein
Apparat bestand in einer Art von Schraubstock, in welchem der Schädel zwischen
zwei Ebenen zusammengepresst war. Die Versuche wurden in vier Gruppen ein-
getheilt : Es wurde in der Querrichtung, in der Längsrichtung und in zwei diagonalen
Richtungen gepresst. Uebereinstimmend mit Messerer fand Nicolai Hermann
dass die Elasticität des Schädels geringer ist, als sonst angenommen wurde, und
dass die Fraktur der Schädelbasis immer parallel mit der Druckrichtung ist. Dem-
gemäss unterscheidet man 1. Querfrakturen der Basis, 2. Längsfrakturen der Basis,
3. Diagonalfrakturen der Basis, 4. ringförmige Frakturen der Basis.
Diese letztere Form entsteht dann, wenn der Schädel in senkrechter
Richtung compromittirt wird , so dass die Wirbelsäule gegen das Innere des
Schädels vorwärts gedrückt wird.
In der Mehrzahl der Fälle besitzt die Gewalt, welche auf den Kopf wirkt,
eine hohe Endgeschwindigkeit; bei einem geschwungenen Hammer, bei einem
geworfenen Stein beträgt dieselbe mehrere Meter, bei einem Schussprojektile
mehrere hundert Meter. Dem entsprechend untersuchte Julius Schranz die Schädel-
frakturen mittelst einer Fallmaschine, indem er entweder ein Gewicht aus einer
bestimmten Höhe auf den unterstützten Schädel, oder indem er den Schädel selbst
von einer bestimmten Höhe auf eine feste Unterlage fallen liess. Zur Ermittelung
von — g— = pli und von v — Y^2gh war ihm einerseits das Gewicht p des
fallenden Kopfes oder des auf dem Kopf fallenden Gegenstandes, andererseits die
Hubhöhe h bekannt. Es wurden bei der Untersuchung folgende Resultate erzielt.
Was zunächst die Kraftgrösse betrifft , so leistete ein sclerosirter Schädel Wider-
stand, wenn er von der Höhe von 200 Ctm. herabgefallen war, von einem Fall-
gewicht von 22 Kilo belastet. Die Mehrzahl der erzeugten Frakturen hatte die
Form von penetrirenden Spaltbrüchen. Die Angriffsfläche der Gewalt und der Ort
der Fraktur waren häufig in einem untergeordneten Zusammenhange, so dass
angenommen werden muss, dass die Gewalt sich über das getroffene Objekt aus-
breitet und der Schädel dort bricht, wo derselbe die grösste Spannung, aber die
geringste Festigkeit seiner Theile besitzt.
Der Heilungsmodus der Schädelbrüche bietet einige Eigenthümlich-
keiten. Erstlich reicht der Callus niemals über die Bruchgrenze hinaus ; es entsteht
also keine parostale Callusbildung ; zweitens betheiligt sich an der Callusproduction
die Beinhaut nur in geringerem Maasse. Es ist vor Allem die Diploe, die den Callus
liefern muss. So gross auch die Dislocation sein mag, so heilt das Bruchstück in
der dislocirten Stellung. Ist die Schädelfraktur eine offene, so ist bei offener Wund-
71 SCHÄDELVERLETZUNGEN.
behandlung die Heilung durch Granulationsbildung und spätere Verknöcherung der
Verlaufsmodus.
Die Complicationen einer Schädelfraktur sind ungemein mannigfaltig.
In ganz einfachen Fällen beschränkt sich die Sache auf ein massiges Extravasat.
[gl aber eine, wenn auch noch so geringe Dislocation vorhanden, so wird natur-
gemäss der Schädelinhalt beeinflusst. Es kann zunächst das innere Periost durch
.ine grössere B!utmenge abgehoben werden und diese zusammen mit der Dis-
location eine Compression des Gehirnes bedingen. Bei isolirtem Bruche der Vitrea
kOnnen die Splitter die Gehirnhaut anstechen, selbst in die Gehirnrinde eindringen,
und selbstverständlich ist dies noch mehr der Fall bei umfänglicheren Frakturen,
bei denen die Gehirnsubstanz in verschiedenem Umfange und in verschiedene
Tiefe hinein gequetscht und gerissen sein kann. An der Schädelbasis, wo die Gehirn-
lierveu durchtreten, kann durch Fissuren und Frakturen der eine oder andere Nerv-
gerissen werden. In der Nähe der Sinusse und der Arterien kann eine Splitterung
mit Dislocationen ganz ansehnliche Hämorrhagien zur Folge haben. In schweren
Fallen combiniren sich mit der Fraktur umfängliche Zerreissungen der Hirnhäute,
ausgedehnte Zermalmungen der Hirnsubstanz u. s. w. Die Dignität einer Schädel-
fraktur ist also vor Allem bedingt durch Complicationen von Seiten des Schädel-
inhaltes, andererseits aber muss hervorgehoben werden, dass unter offener Wund-
behandlung die offenen Frakturen, mochten sie noch so geringfügig gewesen sein,
immer die Gefahr septischer Processe bieten, welche, wenn sie in die Tiefe greifen,
eitrige Entzündungen in den Gehirnhäuten oder Gehirne nach sich ziehen und so
gewissermaassen eine seeundäre Complication bilden.
Wenn demnach keine ernste Complication von Seite des Schädelinhaltes
vorliegt, so ist die Hauptsorge des Klinikers darauf gerichtet, den aseptischen
Verlauf der Verletzung zu garantiren. Sind jene Complicationen zu bemerken, so
muss, wie später bei den Verletzungen des Schädelinhaltes besprochen werden wird,
erwogen werden, wie weit es geboten ist, gegen dieselben therapeutisch vorzugehen.
In diagnostischer Beziehung bieten die Fissuren der Schädelbasis
ein besonderes Interesse, da ihre Erkenntniss nur auf indirectem Wege gewonnen
werden kann. In einer grossen Zahl derselben geht die Bruchlinie durch die
Felsenbeinpyramide und ist mit einer Läsion des Gehörganges und des Trommel-
fells verbunden. In einem solchen Falle können untrügliche Zeichen auftreten,
dass das Schädelgewölbe verletzt sein muss. Als solche können angesehen werden :
a) Abfluss von Hirnsubstanz und hj Ausfluss von Liquor cerebrospinalis. Die
Hirnsubstanz muss als solche natürlich durch mikroskopische Untersuchung agnoscirt
werden. Der Licpior ist als solcher schon daran zu erkennen, dass er tagelang
und mitunter in erstaunlichen Mengen abfliesst; seine Strömung wird verstärkt,
wenn der Exspirationsdruck gesteigert wird. In der Mehrzahl der Fälle kommt
es aber weder zu der einen noch zu der anderen Erscheinung, wohl aber treten
andere Symptome auf, welchen zwar keine solche Evidenz innewohnt, wie jenen,
die jedoch regelmässig die Diagnose einer Basalfissur rechtfertigen und nur aus-
nahmsweise eine andere Bedeutung haben können. Es ist dies erstlich die Blutung
aus Ohr, Nase, in die Orbita. Tritt nach einer bedeutenden Gewaltwirkung auf
den Schädel, deren Stärke auch schon in der gleichzeitig zu beobachtenden
Gehirnerschütterung sich ausspricht , Blutung aus Ohr und Nase , oder aus der
Nase und in die Orbita, oder an allen diesen Stellen zugleich auf, so kann man
ruhig die Diagnose auf Fissur der Schädelbasis stellen. Noch mehr wird die
Diagnose gesichert, wenn zweitens auch noch die Lähmung eines die Schädelbasis
passirenden Nerven vorhanden ist. Am häufigsten ist es der Facialis, der bei
Fissuren der Felsenbeinpyramide in verschiedener Höhe seiner Astfolge zerrissen
werden kann , so dass dementsprechend eine mehr oder weniger ausgebreitete
Lähmung auftritt.
Bei den offenen Brüchen des Schädelgewölbes tritt mitunter eine höchst
imponirende Folge auf, welche man mit dem Namen des Hirnvorfalls bezeichnet.
SCHÄDELVERLETZUNGEN. 75
Es tritt durch eine Lücke der Dura, oder auch von der unverletzten Dura bedeckt,
der biossliegende Hirnabschnitt wie eine Hernie durch die Knochenlücke hervor.
War die Dura unverletzt , so vertrocknet sie bald und dann liegt wiederum das
Hirn selbst vor.. Der nun vorgelagerte Hirntheil zerfällt an der Oberfläche durch
Austrocknung und Einklemmung und bildet eine pilzförmige, an der Oberfläche
pulpös zerfallende Masse, welche sich langsamer oder schneller vergrössert und
ein höchst ansehnliches Volum erreichen kann, indem neue Hirnabschnitte sich
vordrängen. Ausnahmsweise heilt ein solcher Prolaps, nachdem sich das Gangränöse
abgestossen hat, durch Granulation und narbige Schrumpfung.
III. Verletzungen des Schädelinhaltes. Es gehören hieher :
Die Verletzungen der Hirnhäute, des Gehirnes, der Hirnnerven und der Blut-
gefässe, die im inneren Schädelraume liegen. Da vor Allem die Verletzungen des
Gehirnes es sind, welche die grösste Bedeutung besitzen, so soll von diesen zuerst
gesprochen werden.
Seitdem in der Gehirnpathologie der Unterschied zwischen diffusen
Erkrankungen und Herderkrankungen sich allgemeine Geltung verschafft hatte,
wurde auch in der Chirurgie eine ähnliche Scheidung zwischen diffusen und
localen Läsionen des Hirns angestrebt und bisher mit vollem Erfolge durchgeführt.
A. Als diffuse Verletzungen sind anzusehen die Gehirnerschütterung
und die Gehirncomprestlon.
1. Die Gehirnerschütterung ist in ihrem Wesen bis heute nicht
vollständig aufgeklärt. Einig ist man allerdings in Bezug auf den Symptomencomplex
und es findet nirgend einen Widerspruch, wenn man die Bewusstlosigkeit, Erbrechen
und Pulsverlangsamung als die Cardinalsymptome einer Gehirnerschütterung mittleren
Grades erklärt. Die Bewusstlosigkeit tritt sofort im Momente der Verletzung ein,
und dauert Minuten- , Stunden- , in schweren Fällen selbst Tagelang. Wo keine
solche stattgefunden hat, dort kann von einer Gehirnerschütterung keine Rede sein.
Das Erbrechen tritt ebenfalls sehr bald nach der Verletzung auf, wiederholt sich
in schweren Fällen in den ersten Stunden nach der Verletzung , kann aber in
leichtesten Fällen vollkommen ausbleiben. Die Pulsverlangsamung tritt sehr bald
nach der Verletzung ein, wird häufig im Laufe des Tages oder der nächsten Tage
noch bedeutender und löst sich allmälig. Hiernach wird man die verschiedensten
Grade der Gehirnerschütterung beurtheilen können. Der leichteste Grad ist der-
jenige , in welchem auf die Verletzung eine kurze Bewusstlosigkeit folgt , ohne
dass Erbrechen und ohne dass eine anhaltende Pulsverlangsamung zur Beobachtung
gelangt wäre. In sehr schweren Fällen ist die Bewusstlosigkeit lange andauernd,
das Erbrechen häufig, die Pulsverlangsamung nachhaltig. Zwischen diesen Extremen
liegen die verschiedenen anderen Fälle. Als höchsten Grad der Gehirnerschütterung
fasst man jenen auf, wo auf die Verletzung alsbald der Tod erfolgt, ohne dass
der Kranke aus seiner Bewusstlosigkeit auch nur auf einen Augenblick erwacht
wäre. Selbst in schweren Fällen der Gehirnerschütterung entspricht dem schweren
klinischen Bilde ein fast negativer Sectionsbefund. Man findet höchstens eine
arterielle Anämie, eine venöse Hyperämie der Meningen und kleine Extravasate
in der Gehirnsubstanz. Demnach sind die Anhaltspunkte zu einer Theorie der
Gehirnerschütterung sehr spärlich und im Laufe der Zeiten löste eine Hypothese
die andere ab. Schon im 13. Jahrhunderte war der transitorische Charakter der
ganzen Störung der Grund, dass man den Begriff der Erschütterung überhaupt
aufstellte (Lanfeancus). Als nun später Sectionen gemacht wurden , imponirte
in einzelnen Fällen die Erscheinung, als ob das Gehirn ein kleines Volumen besitzen
würde. Man stellte sich demnach vor, dass das Gehirn durch die Erschütterung
des Schädels gewissermaassen durchgerüttelt wird und demnach wie ein fein-
pulveriger Körper ein kleines Volumen annehme. Als aber die Beweisführung,
dass das Gehirn wirklich ein kleineres Volumen habe, in ihrer ganzen Schwierig-
keit offenkundig wurde, ging man zum Raisonement über. Man sagte, die Schädel-
kapsel wird evident in Schwingungen versetzt. Diese Schwingungen mussten sich
5 1 ; SCHÄDEL VERLETZUNGEN.
somit dem Gehirne mittheüen. Um diese Schwingungen evident zu machen, stach
ALQUIÄ in das Gehirn Nadeln ein und führte einen Schlag gegen den Schädel und
Biehe da , die Nadeln zeigten keine Vibrationen. Dies führte nun zu folgendem
CoDtrolversuche. Es wurde ein Glaskolben mit einer Gallerte gefüllt, deren Con-
Bistenz jener dea Gehirnes gleichkommt. Im Innern dieser Masse wurden nun
gefärbte Fadenstücke suspendirt. Wurden nun Schläge auf den Glaskolben geführt,
die doch hörbare Vibrationen des Glases erzeugten , so zeigten die Fäden keine
Bewegung. Dadurch wurde also die Theorie der Uebertragung der Schwingungen
erschüttert. Man suchte nun die Gehirnerschütterung als eine vorübergehende
Compression des Gehirnes aufzufassen, indem man sich vorstellte, dass der Schädel
bei der Gewaltwirkung eine rasche Gestaltveränderung erfahre, welche nothwendig
das Gehirn zusammendrücken müsse; aber es blieb dabei zu erklären, wie so
eine so vorübergehende Compression nicht sofort von einem Ausgleiche gefolgt sei.
Endlich kam man auf die Idee, dass es sich hier um eine Circulationsstörung
handeln dürfte. Schon A. Cooper erklärte rundweg, die Gehirnerschütterung sei
Störung der Circulation. Erst in neuerer Zeit versuchte Fischer folgende Hypo-
these. Analog dem GOLTz'schen Froschversuche, wo auf einen Insult des Bauches
Paralyse der Gefässe folgt, verhält es sich bei Insulten auf den Schädel. Die
Gefässe werden paralysirt und es muss somit zur venösen Stase kommen, die
jedoch nach Erholung der vasomotorischen Nerven wieder ihre Lösung findet.
Allein diese Hypothese hielt der Kritik nicht Stand. Nachdem schon Pirogow,
Alquie , in besonders sorgfältiger Weise aber B. Beck Thierversuche gemacht
hatten, bei welchen durch Schläge gegen den Schädel die Symptome der Gehirn-
erschütterung an Thieren hervorgebracht wurden , haben Koch und Filehne
folgende Versuchsanordnung getroffen.
Es wurde dem Versuchsthiere mittelst eines leichteren Hammers eine
ganze Reihe von kleinen Hieben auf den Schädel beigebracht , so dass die ein-
malig wirkende grosse Gewalt eines Schlages in eine Reihe von kleinen Schlägen,
die rasch hintereinander folgten , aufgelöst erschien. Es stellten sich nun that-
sächlich die Erscheinungen der Gehirnerschütterung ein.
Durch eine Reihe von Versuch sabänderungen und durch eine etwas
umständliche Argumentation suchten die Experimentatoren die vasomotorische
Hypothese Fischer's zu widerlegen und stellten die Lehre auf, dass es sich bei
der Gehirnerschütterung thatsächlich um eine mechanische Beleidigung, um eine
Verschiebung der kleinsten Theilchen, oder um ein Anschleudern der Gehirnmasse
gegen die Schädel wandung handelt. Aber auch diese Hypothese konnte sich nicht
behaupten.
Duret hat nun in neuerer Zeit, insbesondere die eine Thatsache im
Auge behalten , dass nämlich die punktförmigen Blutextra vasate , die man an
Menschen und an Versuchstieren findet, sich an bestimmten Stellen des Gehirnes
finden, zumal um die Ventrikel und Aquäducte herum. Er bohrte eine ganz feine
Oeffnung in den Schädel und spritzte zwischen den Schädel und die Dura Flüssig-
keit ein, die er sofort wieder auslaufen liess. Durch verschieden schnelles Injiciren
konnten nun auch verschiedene Höhegrade der Gehirnerschütterung hervorgebracht
werden, und man fand die Hirnsubstanz, wo sie von dem Liquor cerebrospinalis
bespült wird, zerrissen. Somit stellte sich Duret vor, dass nach einer Gewalt-
wirkung auf den Schädel, welche von einem Symptome der Gehirnerschütterung
gefolgt ist, eine Compression der Hemisphären stattfindet, durch welche der Liquor
gegen den Ventrikel und gegen das Rückenmark hin rasch gepresst wird und die
Gehirnsubstanz, welche die Höhlen unmittelbar einschliesst , an kleinen Stellen
gerissen wird.
2. Compressio cerebri (Gehirndruck). Die schon im Alter-
thume bekannte, von Galen auch von der experimentellen Seite her besprochene
Krankheitsform besteht darin, dass das Gehirn unter einen verstärkten Aussendruck
gesetzt wird. Experimentell lässt sich die Compressio cerebri an Thieren leicht
SCHÄDELVERLETZUNGEN. 77
dadurch hervorrufen , dass man den Schädel anbohrt und ein gewisses Quantum
von Flüssigkeit in das Innere des Schädels einspritzt. Im wirklichen Leben entspricht
einer solchen Versuchsanordnung am ehesten jener Fall, wo bei intactem oder
höchstens von einer nicht klaffenden Fissur betroffenen Schädel die Arteria meningea
media zerreisst und ein mächtiges Blutextravasat liefert, welches bei der Unnach-
giebigkeit des Schädelgehäuses nothwendig auf dem Gehirne lastet. Steigt der
Druck bis zu einer gewissen Höhe, so treten als hervorstechende Symptome
folgende auf: 1. Verschwinden des Bewusstseins , als Stupor, dann als Sopor (wo
auch Hemiplegien erkannt werden können) endlich als Coma, wo Empfindung und
Bewegung vollständig erloschen ist. 2. Eine bedeutende Verlangsamung des Pulses,
welche, wenn der Druck ein Maximum erreicht hat, in eine Beschleunigung über-
springt. 3. Veränderung der Respiration, indem dieselbe langsam, tief, bei weiterer
Steigerung des Druckes unregelmässig und in langen Pausen erfolgt und endlich
auch erlischt. 4. Allgemeine epileptiforme Krämpfe, welche jedoch nur dann
eintreten, wenn der Druck plötzlich und bedeutend zunimmt.
Diesen im Experimente hervorzurufenden Erscheinungen entspricht auch
das Krankheitsbild im Menschen. In dem oben vorausgesetzten Falle, wo das
Blutextravasat das Gehirn comprimirt und wo somit die Zunahme des Druckes
eine stetige ist, entfällt natürlich das Symptom der epileptiformen Krämpfe und
es treten nur die übrigen Symptome in continuirlicher Entwicklung in Erscheinung.
Auch sonst sind es zumeist nur traumatische Blutextravasate, welche bei Schädel-
verletzungen Compressionen des Gehirns erzeugen. Dass auch eingedrückte
Fragmente dies bewirken können, wurde in früheren Zeiten für ausgemacht gehalten
und erst in neuerer Zeit in Zweifel gezogen. Es dürfte aber kaum zu bezweifeln
sein, dass unter bestimmten Bedingungen ein eingedrücktes Fragment thatsächlich
eine Compression des Gehirnes bewirkt. In concreten Fällen tritt freilich die
Schwierigkeit auf, den Nachweis zu führen , dass es die Impressionsfraktur ist,
welche den Gehirndruck erzeugt, da ja zumeist ein grösseres Blutextravasat gleich-
zeitig vorhanden ist. Aber es wäre absurd, zu behaupten, eine Blutmasse könne
das Gehirn comprimiren ; nicht aber ein Knochen, vorausgesetzt, dass der Schädel-
inhalt nicht ausweichen kann. Die Erscheinungen des Gehirndruckes sucht man
sich in folgender Weise zu erklären. Der Schädel ist, sobald sich die Fontanellen
geschlossen haben, in seiner Kapsel von unveränderlichem Volumen. Aber diese
Kapsel hat zahlreiche Communicationen nach Aussen, die aus- und eintretenden
Blut- und Lymphgefässe haben einen constanten Querschnitt. Diese Communication
kommt also vorerst nicht in Betracht.
Nach der Rückgrathöhle aber besitzt der Schädel eine Communication,
die so gestaltet ist , dass das aus Schädel und Rückgrathöhle bestehende Ganze
einer Volumsveränderung fähig ist, das Rückgrat besitzt nämlich nebst den starren
Wirbelmassen auch noch ausdehnungsfähige Theile seiner Wandung 5 die Membrana
obturatoria, posterior und anterior , die Ligamenta flava und die Scheiden der
intervertebralen Löcher. Würde man das Innere des Schädelrückgratraumes mit
einer Flüssigkeit füllen, so Hesse sich immer noch ein gewisses Quantum von
neuer Flüssigkeit hineinbringen bis jene nachgiebigen Theile der Wandung auf
das äusserste gespannt werden, und somit Hesse sich der hydrostatische Druck der
eingespritzten Flüssigkeit bis zu einer bestimmten Höhe hinauftreiben. Nun finden
wir im Schädelrückgratraume : 1. Das Gehirn und das Rückenmark. 2. Den Liquor
cerebrospinalis. 3. Die Blutgefässe und Lymphgefässe mit ihrem flüssigen Inhalte.
Die Nervensubstanz des Gehirnes und des Rückenmarkes kann man als incompressibel
ansehen, d. h. unter der Bedingung, dass das Leben bestehen soll, kommen nur
so geringe Druckhöhen in Betracht, dass sie vernachlässigt werden können. Wenn
also eine Compression des Gehirnes dennoch stattfindet, so kann der Hergang nur
darin bestehen, dass die comprimirende Masse, z. B. das Blutextravasat, den Liquor
cerebrospinalis nach dem Rückgrate hin verdrängt oder die Blutgefässe des Gehirns
comprimirt und so eine Anämie des Gehirnes setzt.
-s SCHÄDEL VERLETZUNGEN.
Es gehören sicherlich geringe Druckhöhen dazu, um durch die Hemisphäreu-
maase hindurch den Druck auf die ventrikuläre Flüssigkeit zu übertragen; dann
wird durch das Hinüberfluthen des Liquor in den Rückgratcanal eine Spannung
der Bandmassen des Rückgrats erfolgen, also ein Widerstand gesetzt und nun
wird sofort ein weiterer Druck als Aussendruck auf die Blutgefässe lasten und
ihre Füllung aufbeben. Im Principe müsste also die Gehirncompression dieselben
Erscheinungen hervorbringen, wie die plötzliche Hirnanämie, und das ist auch
thatsächlich der Fall: wenn man durch Unterbindung der beiden Carotiden und
Vertebrales die Blutzufuhr zum Gehirn absperrt, so tritt Lähmung der Gehirnrinde
als Sopor und Coma und epileptiforme Convulsionen als Reizung der Bewegungs-
nerven auf. Dass aber beide Processe wirklich dieselbe Beeinträchtigung des Gehirnes
vorstellen, geht noch weiter aus folgendem hervor. Wenn der Druck aufhört, so
treten die Functionen sofort wieder ein, ebenso wie bei der Absperrung der Blut-
zulühr. Die Zeit, innerhalb welcher die Rückkehr zur Norm noch möglich ist, ist
bei der Compression dieselbe wie bei der Absperrung der Blutzufuhr. Jene Druck-
höhe, welche die Symptome der Gehirncompression manifest macht, ist beiläufig
so gross, wie der Seitendruck in der Carotis. Die Functionen hören also auf,
wenn der Druck im Schädel von der Carotis nicht überwunden werden kann.
Endlich erfolgen nach plötzlicher Absperrung der Blutzufuhr die epileptiformen
Krämpfe gerade so, wie nur nach plötzlicher Zunahme des Gehirnblutes.
B. Die localen Läsionen des Gehirnes sind entweder subcutane oder
es sind Wunden.
Man unterscheidet mannigfaltige Formen derselben. Nebst den Stich-, Schnitt-
und Schusswunden mit und ohne Substanzverlust des Gehirnes müssen hervorgehoben
werden : die Zerreissung des Gehirnes (Rhexis) , die Contusionen , der Localdruck
und die Localerschütterung. Die beiden letzten Formen sind bis nun nur theoretisch
abgeleitet. Was die locale Compression betrifft, so ist es klar, dass eine auf dem
Gehirne lastende Masse zunächst die darunter unmittelbar liegenden Gehirnpartien
anämisiren wird. Es ist also die Localcompression in der Regel der Anfang einer
durch die zunehmende Spärlichkeit sich einstellenden allgemeinen Compression. Die
Localerschütterung des Gehirnes ist nur in einzelnen Fällen angenommen worden.
So hat Kastan in Montpellier nach einem directen Schlag auf das Hinter-
haupt Zittern der Glieder und Unvermögen, dieselben zu beherrschen beobachtet,
während das Bewusstsein vollkommen intact war. Da die Störung in 8 Tagen
vorüber war, so nahm er eine auf das Kleinhirn beschränkte Erschütterung an. Für
die übrigen Formen der localen Gehirnläsionen ist das Vorbild in der experimentellen
Zerstörung einzelner Partien der Gehirnoberfläche gegeben. Es kann nach dem
heutigen Stande wohl behauptet werden, dass die Theorie der cerebralen Localisation
immer mehr und mehr befestigt erscheint. So wie daher im Experimente die
Vernichtung einer umschriebenen Gehirnpartie £jn Ausfall jener Functionen
bedingt, deren Bestehen an die Integrität der betreffenden Gehirntheile gebunden
ist, so ist das Wesen der localen Läsionen auch darin zu suchen, dass an den
peripheren Organen eine umschriebene Functionsstörung eintreten muss; also ein
Ausfall der Empfindungen oder Bewegungen und dergleichen. Da nun die Gehirn-
rinde es meist ist , welche eine locale Läsion erfährt , so werden relativ leicht
erkennbare, weil sinnfällige Störungen, in der Mehrzahl der Fälle zu erwarten sein.
Es wird also nach Verletzung des Facialiscentrums eine Lähmung des
Facialis, nach Verletzung der Centra für die unteren Extremitäten eine Lähmung
der letzteren erfolgen. In manchen Fällen wird allerdings die loeale Läsion so
beschaffen sein können, dass nicht Lähmung, sondern Reizung an der Peripherie
in Erscheinung tritt. Es wird z. B. durch einen feinen Splitter, der in das Centrum
des Facialis leicht eingetrieben ist, nicht Lähmung des Nerven bedingt, sondern
Convulsion der vom Nerven versorgten Muskulatur. Das ist nur die nächste Folge
der Läsion. Es hängt aber auch von ihrer Natur und von den im weiteren Verlaufe
hinzutretenden Bedingungen ab, ob es blos dabei bleibt oder ob von der Verletzungs-
SCHÄDELVERLETZUNGEN. 79
stelle aus die benachbarten Bezirke in einen pathologischen Vorgang hineingezogen
werden. Demgemäss ist nach dieser Ueberlegung zu erwarten, dass zu einer
primären Lähmung in den nächsten Tagen Reizungserscheinungen in jenen Nerven
auftreten, deren Centra in der nächsten Umgebung der Verletzungsstellen liegen,
und es kann im weiteren Verlaufe der pathologische Vorgang in der Umgebung
des Verletzungsherdes sich derart steigern, dass er die anfänglich nur gereizten
Centra völlig erschöpft oder lähmt, so dass auf Reizungserscheinungen Lähmungs-
erscheinungen folgen. Weiter muss noch bemerkt werden, dass die locale Läsion
sehr häufig mit einer diffusen combinirt sein wird. Denkt man sich einen schweren
Schlag auf den Schädel, der eine Fraktur und gleichzeitig eine Quetschung der
Gehirnoberfläche setzt, so wird zunächst nur Gehirnerschütterung erkennbar sein,
und erst wenn diese vorüber ist, werden die Zeichen der localen Quetschung
manifest werden. Diese Ueberlegung bestätigt auch die Erfahrung vollständig, nur
ist es noch häufig schwer , in individuellen Fällen den Hergang bis ins Detail
nachzuweisen.
Was nun den anatomischen Befund betrifft, so ist über die Stich-, Hieb-
und Schusswunden des Gehirnes nichts Eigenthümliches hervorzuheben. Hervor-
ragendes Interesse bietet hingegen die Gehirnquetschung , die Contusio cerebri.
Hat die Gewalt auf eine grössere Fläche des Schädels gewirkt, so findet man
das Gehirn auf weite Strecken und zu ansehnlicher Tiefe von einer diffusen
Sprenkelung durch Extravasate durchsetzt. Es ist natürlich, dass hiebei auch die
Hirnhäute die Zeichen einer Hämorrhagie aufweisen. Hat die Gewalt auf einen
kleinen Umfang gewirkt, so ist der pathologische Befund viel mehr umschrieben.
Man findet da ein Centrum , wo die Extravasate einzeln genommen, grösser sind
dicht beisammen stehen. Ringsum findet sich eine Zone, wo sie zerstreut und
kleiner vorkommen, bis an der Peripherie nur ganz vereinzelt feine Extravasatpunkte
zu finden sind. Das Gewebe des Gehirnes selbst ist roth imbibirt. Bei heftigen
Quetschungen, die auf eine umschriebene Stelle gewirkt haben, finden sich grössere
Herde von geronnenem Blute und oft eine förmliche Zermalmung des Gehirnes
bis zur Unkenntlichkeit seiner Textur.
Wenn man nun die weiteren Schicksale einer localen Gehirnläsion in's
Auge fasst, so zeigt sich, dass reine Wunden und kleine Quetschungsherde in
ähnlicher Weise ausheilen, wie ein apoplectischer Herd. Es entsteht eine Narbe
und in der Umgebung findet man Verkalkungen zahlreicher Ganglienzellen. Ein
kleiner Quetschungsherd kann auch, aber sehr selten, zu einem cystischen Gebilde
umgewandelt werden. Eine anderer Ausgang der Contusion ist die gelbe Erweichung,
eine besondere Form der Necrobiose. Die zelligen Elemente wandeln sich nämlich nach
und nach in Körnerkugeln um und der Herd ist dann von einer hellgelben sulzigen
Masse ersetzt , welche von einer ödematösen Zone umgeben ist. Häufig kommt es
nun zu einem Fortschreiten des Processes, indem in der ödematösen Zone abermals
die gelbe Erweichung Platz greift, welche nun ihrerseits vom Oedem der Umgebung
begleitet ist.
Ein höchst wichtiger Vorgang ist die Bildung des Balgabscesses des
Gehirnes. Ein solcher geht aus einem contusiven Herde hervor. Häufiger aber
entsteht er um einen eingedrungenen fremden Körper oder um einen Splitter.
Dieser chronische Gehirnabscess ist ausgezeichnet durch eine dicke, ihn abkapselnde
Membran; sein Inhalt ist entweder e:n grünlichgelber, synoviaartig schmieriger,
meist geruchloser, nur ausnahmsweise fötider Eiter.
Sehr häufig tritt bei offenen Verletzungen des Gehirns, wenn die anti-
septische Behandlung nicht vollkommen durchgeführt wurde und Zersetzungserreger
eingedrungen sind, Eiterung ein. Im Gehirn zeigt sie sich als acuter Hirnabscess,
als acute rothe Erweichung, an den Hirnhäuten als diffuse eitrige Leptomeningitis ;
häufig ist die Combination beider Vorgänge. Was speciell die Meningitis betrifft,
so unterscheidet man seit jeher die primäre und die secundäre, und zwar nicht
sowohl wegen des zeitlichen Momentes, als vielmehr darum, weil die secundäre
SCH ADEL VERLETZUNGEN.
Meningitis sehr häufig mit Phlebitis der Blutleiter, puriformer Schmelzung der
Thromben und metastatischer Pyämie combinirt ist, so dass also seit jeher das
combinirte Bild der Meningitis und der Pyämie auffällig war.
Stellt man sich unter Berücksichtigung des Gesagten auf den Standpunkt
ilts Praktikers, so kann man die Fälle der Hirnverletzungen beiläufig in folgender
Weise grnppiren.
Es kann zunächst eine rein locale Läsion des Hirns vorkommen. Ein
Beispiel wäre eine penetrirende Stichverletzung. Der Kranke verliert im Momente
der Gewaltwirkung nicht einmal das Bewusstsein und wenn keine Verunreinigung
des Stichcanals stattgefunden hat, so kann Heilung ohne weiters eintreten. Sind
Zersetzungskeime eingedrungen, so kann es zu primärer Meningitis kommen. Ist
etwa die Spitze des verletzenden Werkzeuges abgebrochen und stecken geblieben,
so kommt es häufig zum chronischen Hirnabscess, der nach einer Periode von
Latenz mit zeitweise eintretenden Frösten, Kopfschmerzen , Anfällen von Bewusst-
losigkeit und Convulsionen, endlich zwischen die Meningen oder in die Kammern
durchbricht und rasch tödtet oder — in der Minderzahl der Fälle — sich nach
aussen ötfnet und heilt.
Ein Gegenstück hierzu bilden die Fälle, wo das Gehirn keine locale Läsion
erfahren hat, sondern im Momente der Gewaltwirkung eine Hirnerschütterung
stattgefunden, die ohne weitere Folgen abläuft.
Da in der Mehrzahl der Fälle die Gewalt so wirkt, dass das Hirn
erschüttert wird, so wird bei den allermeisten Fällen von schwerer Schädelver-
letzung in der ersten Zeit das Bild der Erschütterung dominirea. Es kann hierbei
das Vorhandensein einer Wunde oder einer penetrirenden Fraktur die Sache schon
voraus so compliciren, dass eben von Seiten der Wunde die Gefahren der Meningitis
drohen. Oder es combinirt sich die Hirnerschütterung mit einer anderen Hirn-
verletzung, sei es Compression des Hirns oder eine locale Läsion desselben.
Ist eine locale Läsion vorhanden, so wird sie sich daran erkennen lassen,
dass nach Ablauf der Erschütterungssymptome , ja schon nach Wiederkehr des
Bewusstseins , Lähmung (oder seltener Reizung) eines Rindengebietes vorhanden
ist. Es wird also der zum Bewusstsein wieder erwachte Kranke aphasisch oder
hemiplegisch sein; es wird Monoplegie des Beines oder des Armes, oder Facialis-
lähmung , oder Convulsionen in dem oder jenem Gebiete , oder Lähmung eines
Armes mit Gesichtszuckungen, oder Monoplegie mit Aphasie, oder Hemiplegie mit
Aphasie u. dgl. vorhanden sein. Dass die Erscheinungen dieser Art im Laufe der
nächsten Tage sieh noch ausbreiten können, wurde früher bemerkt.
Ist nebst der Erschütterung noch eine Compression des Hirns vorhanden,
so wird das Bewusstsein nicht wiederkehren; der Kranke liegt soporös und
gelähmt da, der Puls bleibt langsam, die Symptome bessern sich nicht. Convulsionen,
die zeitweise auftreten können , oder die auf der einen Seite vorhanden sind,
während die andere gelähmt ist (bei bestehender Bewusstlosigkeit) müssen dahin
gedeutet werden, dass einzelne Centra (durch einen Splitter, vielleicht durch sich
steigernde Anämie) gereizt werden.
Es ist am Krankenbette nicht leicht zu entscheiden, ob die Compression
des Hirns durch Extravasat oder durch Impression des Knochens bedingt ist. Denn
bei wirklich constatirter Impression ist noch immer die Möglichkeit vorhanden,
dass ein Extravasat gleichzeitig besteht, und dass es hauptsächlich dieses ist,
wodurch das Hirn comprimirt wird. Einzelne Chirurgen haben die Möglichkeit
der Hirncompression durch eine Fraktur mit Eindruck geradezu geleugnet. Sie
konnten sich darauf berufen, dass eclatante Fälle von Impressionsfraktur mit
Druckerscheinungen allmälig sich bessern und schliesslich selbst nach Wochen
völlig ausheilen, ohne dass man den Eindruck elevirte. Dies berechtigte zu der
Annahme, dass ein Blutextravasat vorhanden war, welches sich allmälig resorbirte,
und dass der Schädeleindruck an der Hirncompression nicht Schuld war, weil er
nach Ablauf der Druckerscheinungen ja fortbestand. Aber es ist möglich , dass
SCHÄDELVERLETZUNGEN. 81
das Hirn sich einem solchen Druck allmälig anpasst. Und dann geht es doch
nicht, jene Fälle fortzuleugnen , wo die Elevation eines eingedrückten Fragmentes
von sofortiger Wiederkehr des Bewusstseins begleitet war. Diese Fälle sprechen
dafür, dass Hirndruck durch Impressionsfraktur möglich ist.
Ein besonderer Fall der Hirncompression ist jener, wo durch Zerreissung
der Art. meningea media ein mächtiges Extravasat sich bildet. In Fällen dieser
Art tritt nach Ablauf der Erschütterungssymptome ein Intervall ein, wo der Kranke
bei Bewusstsein ist ; aber bald zeigt sich Lähmung einer Extremität , der bald
Hemiplegie derselben Seite , endlich allgemeine Lähmung unter Bewusstlosigkeit
und endlich der Tod erfolgt. Die Erscheinungen sind leicht begreiflich. Das
Extravasat muss eine bestimmte Grösse erreichen, bevor es zu Compression führt :
daher das bewusstseinsfreie Intervall ; aber immerhin ist die Blutung aus einer so
starken Arterie mächtig genug , um die Compression relativ bald herbeizuführen :
daher schon nach einer oder wenigen Stunden die Druckerscheinungen sich ein-
stellen und sich ebenso rasch steigern. In der Regel ist die Lähmung blos einer
Seite ein deutlich in Erscheinung tretendes Anfangsstadium der Compression, weil
es nur die eine Hemisphäre ist, die zunächst comprimirt wird. Und zwar ist es
jene Hemisphäre, die auf der der Lähmung entgegengesetzten Seite liegt. Somit kann
man sagen, welche Arteria meningea zerrissen ist, ob die rechte oder die linke.
Dies ist sehr wichtig, da die Meningea der der Verletzungsstelle entgegengesetzten
Körperseite zerrissen sein kann. Endlich wächst das Extravasat so an, dass auch
die andere Hemisphäre comprimirt wird.
Aus dem bisher Angeführten lassen sich die allgemeinen Grimdsätze der
Behandlung der Schädelverletzungen leicht ableiten.
Sobald die Verletzung in einer Wunde besteht, ist die Erfüllung der
antiseptischen Maassnahmen die erste und oberste Regel der Behandlung. Socix
war der erste, der gezeigt, dass man die blossliegende Hirnsubstanz mit der üblichen
Chlorzinklösung ohne Schaden behandeln kann. Man wird also von der consequen-
testen Antisepsis durchaus keinen Umgang nehmen, auch wenn die Verletzung bis
in die Hirnmasse hineinreicht und diese letztere etwa durch Quetschung ober-
flächlich zerwühU ist. Sind Knochensplitter in die blossliegende Hirnsubstanz
eingetrieben, so wird man dieselben ohneweiters entfernen ; ebenso jedweden ein-
gedrungenen Fremdkörper.
Ist nur die Dura blossgelegt, so sind die Gefahren der diffusen eitrigen
Entzündung des Hirns oder der weichen Meningen weit geringer. Dennoch kann man
Fällen begegnen, wo trotz der Unverletztheit der Dura Encephalitis und Meningitis
eintritt. Der Praktiker wird hierbei besonders auf ein Symptom Acht haben,
nämlich auf die Pulsation des Hirns. Wenn diese schon im Beginn nicht vor-
handen ist, so wird es sich um ein subdurales Extravasat oder um eine aus-
gebreitetere Quetschung der Hirnrinde handeln, derart, dass sogar die Circulation
in diesem Bezirke aufgehoben ist. Hört die Pulsation im weiteren Verlaufe auf,
so ist sie Zeichen von nachträglicher Nekrosirung oder hochgradiger Anämie des
Gehirns an dieser Stelle. Nur wenn es sich um Verjauchung handelt, wird
man genügenden Grund haben, die Dura zu spalten. Wäre der Mangel der
Pulsation aus Anämie der Rinde wegen eines darunter liegenden Abscesses zu
erklären, so müsste sogar die Hirnrinde gespalten werden, um den Abscess
zu entleeren.
Ist die Splitterung des Schädelgewölbes umfänglich, so entfernt man die
Splitter nicht ; der Bereich der Fissuren und Bruchlinien ist häufig unberechenbar
gross. Ist aber ganz umschriebene Splitterung vorhanden, so thut man am besten,
die Splitter zu entfernen und den Umfang der Knochenwunde zu glätten.
Bei vorhandenem Prolaps kann man sich, wenn diese Oberfläche granulirt,
auf eine massige Compression, soweit sie der Kranke erträgt, einlassen.
Bei subcutanen Verletzungen des Hirns giebt es nur einen unbezweifelten
Fall , wo man an die Eröffnung der Schädelhöhle gehen muss , das ist der Fall
Keal-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 6
8;J SCHÄDELVERLETZUNGEN. — SCHÄNDUNG.
eines grossen, das Hirn comprimirenden Blutextravasates. Und da sich dieses
eben bei Ruptur der Meninffea media ereignet, so giebt diese letztere Complication
eine Anzeige zur Trepanation, um das Extravasat zu entfernen und die Arterie
zu unterbinden.
Wie man sich bei subcutaner Inipression mit Druckerscheinungen zu
verhalten habe, darüber giebt die Erfahrung keine bestimmten Anhaltspunkte. Es
wurde ja früher hervorgehoben, dass die Thatsache des Hirndruckes durch
[mpressionsfraktur selbst noch angezweifelt wurde. Bessern sich die Druck-
erscheinungen allmälig — und das ist wohl fast immer der Fall — so wird man
gewiss nicht trepaniren , um eine Elevation des eingedrückten Knochens zu
bewerkstelligen.
Dagegen wird man trepaniren, wenn ein fremder Körper im Knochen
eingekeilt ist und .allein nicht entfernt werden kann. Man wird insbesondere dann,
wenn der fremde Körper nach längerer Zeit entdeckt wird und die Zeichen eines
Hirnabscesses vorliegen , den Eingriff mit einem glänzenden Erfolge ausführen
(s. Artikel „Trepanation").
Bei blosser Hirnerschütterung greift man heutzutage nicht leicht über
jene Maassnahmen hinaus , die bei allen Schädel Verletzungen ohnehin in Uebung
sind, als : Buhe, Diät, Beförderung des Stuhles, locale Kälteanwendung. Nur bei
sehr hohen Graden wird man periphere Reize (Sinapismen an den Gliedmassen,
Aethereinspritzung u. dgl.) anwenden. Bleibt der Puls lange Zeit aus, ist er hart,
das Individuum jugendlich und kräftig, so kann ein Aderlass die Herzaction
bessern. Dass bei Hirnerschütterung der Kranke 2 — 3 Wochen im Bette zubringen
soll, ist selbst für mittlere Fälle eine alte , aber immer noch giltige Regel.
Literatur. Eine erschöpfende Abhandlung des Gegenstandes giebt Bergmann
in „Deutsche Chirurgie". — Bezüglich des Geschichtlichen Albert in „Beiträge zur Ge-
schichte der Chirurgie". Wien. — Bezüglich des Mechanismus der Frakturen 0. Messerer,
Die Festigkeit der Knochen. München. — J. Sehr an z im Wiener med. Jahrb. 1881. —
Hermann Nicolai, Dorpater Inaug.-Dissert. 1881. A1i .
Schändung (forensisch). Dieser Ausdruck kommt gegenwärtig nur
im österreichischen Strafgesetzbuch vor und zwar im §. 128 der folgendermaassen
lautet: „Wer einen Knaben oder ein Mädchen unter 14 Jahren, oder eine im
Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindliche Person zur Befriedigung
seiner Lüste auf eine andere als die im §. 127 bezeichnete Weise (nämlich durch
Beischlaf) geschlechtlich missbraucht, begeht, wenn diese Handlung nicht das im
§. 129 lit. b. bezeichnete Verbrechen (Päderastie) bildet, das Verbrechen der
Schändung und soll mit schwerem Kerker von 1 — 5 Jahren, bei sehr erschwerenden
Umständen bis zu 10 und wenn eine der im §. 126 erwähnten Folgen (wichtiger
Nachtheil an der Gesundheit, lebensgefährliche Erkrankung oder Tod) eintritt,
bis zu 20 Jahren bestraft werden."
Im deutschen Strafgesetzbuche findet sich der Ausdruck Schändung nicht
mehr , und sind die betreffenden strafbaren Acte unter den allgemeinen Begriff
„unzüchtiger Handlungen" der §§. 174 und 176 subsumirt.
Die Aufgabe des Gerichtsarztes ist in derartigen Fällen im Allgemeinen
dieselbe wie bei Untersuchungen wegen Nothzucht oder Päderastie, das heisst,
er hat, soweit dies in das Bereich ärztlicher Beurtheilung gehört, zu untersuchen :
1. ob und welcher geschlechtliche Act stattgefunden, 2. ob derselbe unter einer
der im Gesetz ausdrücklich hervorgehobenen Bedingungen geschah und 3. ob
und welche Folgen für die betreffende Person aus dem geschlechtlichen Missbrauch
erwachsen sind.
Ad 1. Im Allgemeinen können ausser dem Beischlaf und der zwischen
männlichen Individuen geübten Päderastie alle möglichen auf geschlechtliche
Befriedigung gerichtete Acte, wenn sie unter gewissen Bedingungen geschahen,
den Thatbestand der „Schändung" bilden. Eine nähere Präcisirung dieser Acte ist
im Gesetze nicht enthalten, wäre auch begreiflicherweise schwer ausführbar,
SCHÄNDUNG. 83
nicht blos wegen der Mannigfaltigkeit der unsittlichen Attentate, die vorkommen
können , sondern auch deshalb , weil es sich schwer bestimmen lässt , wann ein
unsittlicher Act bereits eine solche Bedeutung besitzt, dass er in die vom Gesetz-
geber offenbar gemeinte Kategorie von Unzuchtsfällen zu subsumiren ist. Deshalb
hat auch das preussische Obertribunal entschieden , dass die Frage , welche
Handlungen als „unzüchtige" zu betrachten sind, thatsächlicher Natur und durch
die Geschworenen zu beantworten sei (Casper-Liman's Handbuch , pag. 113).
Evfahrungsgemäss bestehen derartige Handlungen meistens in Manipulationen an
den Genitalien der betreffenden Personen oder darin, dass diese zu onanistischen
Zwecken missbraucht werden, beides Vorgänge, die sowohl mit männlichen als
weiblichen Personen und beidemale sowohl von männlichen als von weiblichen
Individuen vorgenommen werden können. Auf die Möglichkeit, dass Personen,
insbesondere Kinder blos als Werkzeuge zur Selbstbefleckung benützt werden
können, hat das Deutsche Strafgesetz ausdrücklich Rücksicht genommen, indem es
im §. 176, lit. 3 von Verleitung zur „Verübung oder Duldung" unzüchtiger Hand-
lungen spricht und beide Delicte gleich bestraft.
In der Mehrzahl der Fälle hinterlassen derartige Manipulationen keine
Spuren, und ist daher das Stattgehabthaben derselben nachträglich nicht zu erkennen.
In anderen Fällen können Läsionen zurückbleiben und zwar, wenn der Vorgang
in Einführung des Fingers in die weiblichen Genitalien bestand , Läsionen am
Hymen , die im Allgemeinen dieselben sein können , wie sie durch den ersten
Beischlaf entstehen. Handelt es sich , wie so häufig , um Kinder , dann ist die
Thatsache zu berücksichtigen, dass, weil bei diesen wegen Enge der Genitalien
in der Regel ein wirklicher Beischlaf, durch eine Immission des Penis in die
Scheide nicht möglich ist, der Hymen trotz stattgehabtem Coitus meist intact
bleibt, dagegen durch Einbohrung des Fingers verhältnissmässig leicht verletzt
werden kann , so dass , wenn eine Hymenläsion gefunden wird , desto eher an
letztere Entstehungsart als an die durch den Penis zu denken ist, je kindlicher
die Verhältnisse der betreffenden Genitalien sich noch gestalten. Ebenso liegt in
den Fällen, in welchen sich ausgebreitete Lacerationen der Genitalien finden, die
Annahme viel näher, dass diese durch brutale Manipulationen, als durch den Penis
entstanden sind, da den Kraftäusserungen des letzteren aus begreiflichen Gründen
gewisse Grenzen gesetzt sind. Takdieu (Attentates aux moeurs, 7. Aufl., Taf. II,
Fig. 5) bildet ein Genitale ab, an welchem, ohne dass der freie Band des halb-
mondförmigen Hymen verletzt ist, im mittleren Theile des letzteren sich ein
unregelmässiges, zerrissenes Loch findet, somit eine Verletzung, die nicht durch
den Penis , sondern offenbar durch einen verhältnissmässig dünnen Gegenstand,
namentlich durch den eingebohrten Finger erzeugt worden sein konnte. Ebenso
bestand in einem von Lender (Vierteljahrschr. f. ger. M. 1865, Bd. II, pag. 355)
mitgetheilten Falle, in welchem aus der hochgradig entzündeten Scheide eines
vierjährigen Mädchens ein Stückchen eines von ihrem Unterröckchen herrührenden
Wollstoffes herausgezogen wurde, kein Zweifel, dass dieser Befund nicht durch
den Penis, sondern durch den gewaltsam eingebohrten Finger veranlasst worden
war. Fredet (Ann. d'hyglene puhl. 1880. Nr. 21 , pag. 247) berichtet über
ein I8jähriges Mädchen, welches mit einem 8jährigen Unzucht getrieben und
diesem schliesslich — die Clitoris ligirt hatte.
In Fällen , wo die Manipulationen an den Genitalien kleiner Mädchen
wiederholt geschahen, insbesondere durch Wochen oder Monate fortgesetzt wurden,
kann es zu Zeichen mechanischer Irritation und zu einer Erschlaffung und Aus-
weitung der Theile kommen, die jedoch insofern nicht charakteristisch ist, als
sie auch durch häufige Cohabitationsversuche und, was besonders zu berück-
sichtigen wäre, durch habituelle Onanie sich entwickeln kann.
An Knaben begangene unzüchtige Acte hinterlassen noch weniger leicht
Spuren, aus denen dieselben erkannt werden können , es sei denn , dass dieselben
mit einer gewissen Brutalität ausgeübt worden sind. Die durch öfteren Missbrauch
6*
SCHÄNDUNG. — SCHANKER.
entstehenden Veränderungen (Sclilaffsein des Präputiums u. dgl.) unterscheiden sich
nicht wesentlich von denjenigen, die durch Selbstbefleckung zu Stande kommen.
Ad -. Verweisen wir auf die einschlägigen, im Artikel „Nothzucht"
besprochenen Möglichkeiten.
Ad ;- Ans Scliäiulungsacten können im Allgemeinen gleiche gesund-
heitliche Nachtheile für das missbrauchte Individuum resultiren, wie aus der Noth-
zurht (siehe diese), doch werden begreiflicherweise Uebertragungen venerischer
Erkrankungen ungleich seltener vorkommen. Dagegen kann es geschehen, dass
durch den mechanischen Insult hervorgerufenen Erkrankungen der Genitalien für
>1>( <itische Aftectionen genommen werden, was um so mehr im Auge zu behalten
ist , als es sich vorzugsweise um Kinder handelt , bei welchen eine grössere Irri-
tabilität der betreffenden Schleimhäute besteht, als bei erwachsenen Individuen.
Wichtig ist auch die Thatsache, dass in einzelnen Fällen derartige Affectionen
bei Kindern künstlich erzeugt wurden, um darauf Anklagen, resp. Erpressungs-
versuche zu gründen. Neuestens hat Fourxier („Simulation d'attentats vinSriens
mir Je jeunes enfants", Paris 1880, Virchow's Jahrb. 1880, Bd. I, pag. 647)
diesen Gegenstand erörtert und durch Fälle erläutert, worunter einer, wo die an-
geblich von geschlechtlichem Missbrauch herrührende Yulvo-vaginitis eines 8jährigen
Mädchens durch die eigene Mutter des letzteren durch wiederholtes Reiben der
Genitalien mit einer Schuhbürste absichtlich erzeugt worden war. E Hofmann.
Schandau in Sachsen, am rechten Elbeufer, 117 Meter hoch gelegen:
Eisenbahnstation, besuchte Sommerfrische. Auch sind Fichtennadelbäder und künst-
liche Mineralbäder zu haben. K.
Schanker. Mit diesem Namen belegt man im Allgemeinen oberflächliche
oder tiefgreifende Substanz Verluste der Haut und Schleimhaut, entstanden durch
directe Uebertragung f' Ansteckung) , und zwar der Mehrzahl nach im Wege des
geschlechtlichen Verkehres.
Der Ausdruck „Schanker" (franz. chartere) wird von cancer abgeleitet,
womit man seit Celsus fressende Geschwüre im Allgemeinen und die der Genitalien
im Besonderen bezeichnet hat. Bei den Aerzten des Alterthums uqd des Mittel-
alters findet sich eine ganze Anzahl von Namen, welche sich auf die obige Er-
krankung beziehen lassen: Cancer, pustula virgae, ulcus virgae, caroli, caries,
pudendagra, tabef actio ; sAxoc, EGyapa, oOy.y., ©iMvxc, voimj, avilpaE, «pavsoatva.
Man betrachtet den Nachweis als erbracht, dass diese Ausdrücke zumeist auf
Krankheitsformen Anwendung fanden, welche den venerischen, resp. syphilitischen
zuzuzählen sind, wenngleich sie oft nur den äusseren Charakter andeuten. Es ist
weiter zu bemerken, dass die Aufklärung über den Zusammenhang zwischen dem
örtlichen Uebel und einer eventuell von demselben abstammenden Allgemeinerkran-
kung erst den letzten Zeitabschnitten angehört.
Mit Bezug auf den Namen „Schanker", so allgemein dessen Verbreitung
bei Aerzten und Laien ist, müssen wir übrigens constatiren, dass derselbe viel-
fach in sehr verschiedenem Sinne gebraucht wird. Auf der einen Seite werden
alle ex usu veneris entstandenen Geschwürsformen ohne Rücksicht auf ihre
Bedeutung für den Organismus als Schanker bezeichnet. Begreiflicherweise stellt sich
die Nothwendigkeit weiterer Differenzirungen (weicher, harter Schanker etc.) heraus.
Dagegen steht der Name Schanker bei einer anderen Anzahl von Aerzten
nicht in jenem weiteren Sinne in Gebrauch. Vielmehr bezieht man ihn blos auf
die Formen, welche einen rein localen Charakter haben. Nach dieser Auffassung
entsteht der Schanker blos an der Stelle der directen Uebertragung, verbreitet sich
von hier aus blos ex contiguo auf die Umgebung, afficirt höchstens die Lymph-
drüsen des nachbarlichen Gebietes und heilt schliesslich, ohne weitere Folgen auf
entferntere Bezirke des Körpers zu hinterlassen.
Doch giebt es auch Autoren, welche als Schanker wieder nur jene
Formen bezeichnen, die ihrem Aussehen und ihrem Verlaufe gemäss den Schluss
SCHANKER. - "
gestatten , dass die Krankheit nicht local bleiben , sondern nach einer ge-
Periode auch verschiedene Systeme des Körpers , zunächst die Drüsen und das
Hautorgan betreffen , also zur allgemeinen . zur constitutionell-syphilitischen wird.
Xoch ist zu bemerken , dass vielfach der Name Schanker nicht nur für
locale Geschwürsformen, resp. für die initiale Form der Syphilis im Gebrauche steht,
sondern es werden auch consecutive Producte der Lues als Schanker bezeichnet.
So spricht man vom Schanker an den Lippen, dem Gaumen, den Tonsillen, den Stimm-
bändern etc., da wo es sich offenbar um syphilitische Erosionen. Papeln etc. handelt.
Diese auseinandergehenden Anschauungen in Bezug auf den Begriff des
Schankers haben zum Theile eine historische Grundlage. So hielt Huxter blos
jenes Geschwür, dessen Basis eine charakteristische Härte darbietet und welchem
gemeinhin constitutionelle Syphilis folgt, für Schanker. Die übrigen, relativ häufiger
auftretenden und unzweifelhaft contagiösen Geschwüre , die blos locale Bedeutung
haben , also von allgemeiner Syphilis nicht gefolgt sind , betrachtete er blos als
unreine, einfache Geschwüre. Die noch heute übliche Bezeichnung: HcxiER'scher
Schanker hat schon aus diesem Grunde, aber auch deshalb keine Berechtigung,
weil die Thatsache , dass einzelne venerische Geschwüre durch eine Induration
sich auszeichnen, schon vor HosTEB bekannt waren. Das Verdienst, auf die
prognostische Bedeutung der Induration zuerst hingewiesen zu haben, gebührt, wie
Peoksch nachgewiesen hat, einem früheren Autor, nämlich Jokn* Axdeee.
Eine weitere Folge dieser Lehre ist die Anschauung, dass die nicht
indurirten Genitalgeschwüre zur Syphilis sich etwa so verhalten, wie die Variolois
zur eigentlichen Variola, weshalb sie im Gegensatz zu dem harten Schanker, dem
eigentlich syphilitischen, als pseudosyphilitische angesehen wurden ^Aber-
XETHEY, C'AEinCHAEL).
In ähnlicher Weise fasste Cleec das Verhältniss vom harten zum weichen
Schanker auf und nannte den letzteren Chancroid, da er blos eine Modification
des weichen oder harten Schankers bilde, ähnlich wie Varioloid als eine Modifi-
cation der Variola vera angesehen wird.
Nach Deoay, welcher den harten Schanker allein als Chancre bezeichnet,
heisst Chancroid der weiche, von einem Syphilitischen stammende Schanker
an einem Syphilitischen und Chancrelle der weiche Schanker bei einem
nicht Syphilitischen.
Ricoed theilte die Schanker in zwei Arten ein , welche er klinisch und
prognostisch als wesentlich verschieden darstellte, und zwar: 1. Der weiche oder
einfache Schanker (Chancre mou, simple; , dessen Eiter in hohem Grade con-
tagiös und auf den Träger sowie auf andere Individuen überimpfbar ist und 2. der
harte oder inficirende Schanker (Chancre clur , infectant) , dessen Eiter auf
den Träger nicht impfbar ist. Im Gegensatze zu dem weichen Schanker, der ein
rein örtliches Leiden darstellt , combinrrt sich der harte mit indolenten Drüsen-
schwellungen und ist weiter von allgemeiner Syphilis gefolgt (Dualitätslehre .
Wir haben noch den Ausdruck gemischter Schanker (Chancre
mixte) anzuführen. Rollet behauptete nämlich, dass der weiche und harte
Schanker gleichzeitig, ja an einer und derselben Stelle sitzen können. Es könne
also etwa auf einem harten Schanker überdies ein weicher aufsitzen. Die Impfungen
des Secrets liefern sodann bald ein positives, bald ein negatives Resultat. Ersteres
wenn das Secret des weichen Schankers , letzteres wenn das des harten zur Ver-
wendung kam.
Die Anwendung des Ausdruckes Schanker für Syphilisformen, die örtlich
und zeitlich von der initialen Erkrankung getrennt sind (Papeln der Tonsillen,
des Gaumens etc.) ist als unpassend zu bezeichnen.
Während in obigen Darstellungen der weiche Schanker , resp. das
Schankergift und das Syphilisgift als vollkommen verschieden angesehen werden.
so besteht auch eine andere Auffassung , derzufolge es nur ein einziges syphili-
tisches Virus gebe, und allgemeine Syphilis sowohl nach dem Schanker, als auch
Si'H ANKER.
nach der Induration folgen könne (Uni tat sieh re . Als hervorragende Vertreter
dieser Lehre führen wir Hebra und Kaposi an.
Ant die theoretischen Bedenken, oder experimentellen Fehlerquellen der einen
oder anderen Theorie wollen wir hier nicht weiter eingehen (vide: „Unitätslehre")
und wollen nur constatiren, dass die Eintheilung, resp. Benennung der venerischen
und syphilitischen Geschwüre nach dem Vorgange v. Sigmünd's den praktischen
Anforderungen am meisten entsprechend angesehen wird. Sigmund thcilt die hieher
gehörigen Krankheitsformen in einfach venerische und in syphilitische ein. Zu den
ersteren, wohin auch die verschiedenen Tripperformen gezählt werden, gehört das
einfache, contagiöse, venerische Geschwür (Ulcus contagiosum, simplexj mit den
ihm zukommenden Folgeerscheinungen (Bubo u. dg].). Diese Formen insgesammt
werden als Helkosen (eAxo? = ulcus) bezeichnet. Die Initialform der Syphilis
bildet alsdann die Induration (Sclerose), Erosion etc. Man sieht, Sigmund meidet
den Ausdruck Schanker, der zu so vielfachen Confusionen Anlass giebt, voll-
kommen und empfiehlt die Benennung Schanker „gänzlich aus der Terminologie
zu exterin in iren".
Im Folgenden wollen wir der Schilderung des contagiösen Geschwürs,
als eines rein örtlichen Leidens Raum geben , welches durch Uebertragung eines
specifischen, contagiösen Virus auf eine verletzte Partie der Haut oder Schleimhaut
entstanden, auf die betreffende Stelle beschränkt bleibt und höchstens vermöge der
fortschreitenden Gewebsstörung oder Entzündung die benachbarten Theile afficirt.
Wir schliessen uns hiebei der v. Sigmund eingeführten Eintheilung und Nomen-
clatur an, und besprechen hier unter dem Titel Schanker das venerische, einfache,
contagiöse Geschwür.
Begriff. In einer ansehnlichen Zahl von venerischen Erkrankungen
begegnen wir nach einer gewissen Zeitdauer, von dem Momente der Einwirkimg
des Virus gerechnet, an der Stelle der Uebertragung des contagiösen Stoffes eine
Gewebsläsion, welche sich durch mehrfache Merkmale charakterisirt. Diese beziehen
sich auf die Form de? Substanzverlustes , weiters auf die dem gelieferten Secrete
zukommenden Eigenschaften, sowie auf den Verlauf und Ausgang des ganzen Processes.
1. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in gegebenen Fällen einfache,
contagiöse Geschwüre auftreten , welche durch ihre charakteristische Form von
dem geübten Auge als solche, d. i. als rein locale Processe sofort aufgefasst
werden, denen keine allgemeine Erkrankung folgt. Es mag vorläufig unerörtert
bleiben, in welchem Stadium des Verlaufes die präcise Bestimmung möglich oder
gerechtfertigt erscheint. Die Thatsache jedoch , dass jene contagiösen Geschwüre
durch das Aussehen allein als solche sich manifestiren , muss als feststehend
angesehen werden. Hierbei kommt der Umstand kaum in Betracht, ob wir das
Ulcus allein in seinem engumgrenzten Gebiete , oder auch dessen nächste Um-
gebung in's Auge fassen. Rand und Grund zeigen uns nämlich in einer gewissen
Periode der Entwicklung charakteristische Merkmale dann, wenn anatomische oder
chemische Verhältnisse auf dieselben nicht modificirend influencirten. Weiters
zeigen sich krankhafte Veränderungen in der nächsten Umgebung des Ulcus, also
etwa an einem mehr weniger breiten, dasselbe umgrenzenden Theil der Haut oder
Schleimhaut. Die angedeuteten Kennzeichen kommen vielleicht blos den typischen
Exemplaren zu; allein bei der raschen, durch Zerfall des Gewebes, oder auch
durch die Sistirung des Zerstörungsprocesses bedingten Formveränderung mag eben
das charakteristische Bild nur von kurzer Dauer sein, daher der Beobachtung
leicht entzogen werden. Immerhin muss bei der Beurtheilung der Bedeutung des
Geschwüres als eines Ulcus contagiosum {=z Schanker) auf Form und Aussehen
desselben ein grosser Wertk gelegt werden. Dabei mag auf den Umstand wenig
Gewicht gelegt sein, ob die Basis weich oder indurirt sich anfühlt.
2. In zweiter Linie ist das contagiöse Geschwür durch die dem eitrigen
Secret desselben zukommenden Eigenschaften charakterisirt. Wohl sind wir nicht
in der Lage, eine eigenthümliche physikalische oder chemische, dem venerischen
SCHANKER. 87
Geschwür zukommende Beschaffenheit mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln
nachzuweisen. Dafür steht uns eine genaue Kenntniss der Wirkung desselben auf
das Gewebe der Haut und Schleimhaut zu Gebote. Es erzeugt nämlich ein geringes
Quantum des von einem contagiösen Geschwür in einem gewissen Stadium seiner
Entwicklung abgenommenen Eiters, auf eine vom Epithel entblösste Stelle, oder
im Wege der Impfung unter die Haut gebracht , bei dem Besitzer sowohl , als
auch bei einem anderen Individuum ein Geschwür, das seinerseits dieselbe Form
und dieselben Charaktere annimmt, wie das Muttergeschwür. Mit anderen Worten :
Der Schankereiter ist impfbar. Diese Impfbarkeit kann in vielen, ja unendlichen
Generationen und stets mit positivem Resultate fortgesetzt werden und wird seit
Ricord als untrügliches Zeichen dafür angesehen, dass das betreffende Geschwür
ein einfaches, contagiöses (weicher Schanker) ist. In einem solchen Falle ist also
das Leiden ein rein örtliches. In den anderen Fällen dagegen, wo der Eiter bei
der Impfung auf den Träger selbst, oder auf ein anderes syphilitisches Individuum
negativ ausfällt und nur auf gesunde Personen allenfalls inoculabel wäre, ist die
Geschwürsform kein rein örtliches Uebel, sondern von allgemeiner Syphilis gefolgt.
In diesem Unterschiede liegt , nebenbei bemerkt , der Grund , dass das einfache
Ulcus als ein contagiöses, während die Sclerose (harter Schanker) als
inficirend angesprochen wird (Chartere infeetant).
3. Auch in der Entwicklung des contagiösen Geschwüres , sowie im Ver-
laufe und Ausgang finden wir Anhaltspunkte, welche demselben ein eigenthüm-
liches Gepräge geben. Dahin gehört die kurze Incubationszeit , indem schon
24 Stunden nach Einwirkung des Virus wahrnehmbare Veränderungen zu con-
statiren sind. Es bildet sich nämlich eine Pustel, die sehr rasch zerfällt etc.
Weiters wollen wir hier nur anführen, dass an Stelle der gesetzten Gewebsläsion
eine der Ausdehnung entsprechende weiche Narbe sich etablirt.
Neben der Acuität der Entwicklung und Ausbreitung des Ulcus ist der
Umstand von Wichtigkeit, dass das Virus mittelst der Lymphbahnen bis zu dem
benachbarten Drüsensystem seinen Weg nimmt, und bei diesem dieselbe Wirkung
erzeugt , die Drüse abscedirt , es entsteht ein Eiter von derselben Beschaffenheit,
wie der des causalen Geschwüres selbst. Der Drüseneiter ist nämlich ebenso weiter
impfbar, wie der des contagiösen Geschwüres.
Aus dem Gesagten geht also hervor, dass das einfache contagiöse
Geschwür (weicher Schanker) , eine rein örtliche Gewebsläsion
bildet, welche einen in viele Generationen weiter impfbaren
Eiter führt.
Uebertragung des contagiösen Eiters. Wir haben gesehen,
dass die Entstehung eines contagiösen Geschwüres die Gegenwart eines speeifischen
Eiters zur Voraussetzung hat. Zahlreiche Versuche und Impfungen lehrten in der
That, dass dem anderen Quellen entnommenen Eiter, wie er den Aerzten bei den
mannigfachsten Krankheiten verschiedener Natur zur Verfügung steht , die
geschilderte Eigenschaft nicht zukommt. Impft man mit dem Eiter eines con-
tagiösen Geschwüres auf den Träger desselben oder auf irgend ein anderes
Individuum, so bemerkt man schon nach wenigen Stunden eine gewisse Reaction.
Nach 24 Stunden ist ein rother Hof zu constatiren, an dem nach weiteren
24 Stunden ein Knötchen und alsbald eine Pustel sich bildet. Ist diese geplatzt
und das Secret derselben vertrocknet , so findet man nach Abhebung der Kruste
ein kreisförmiges, vertieftes Geschwür mit speckig belegtem Rand und Grund.
Denselben Effect erzielt man auch durch Application des speeifischen Eiters
an eine des Epithels beraubte Stelle der Haut oder Schleimhaut. Jede Continuitäts-
trennung am Hautorgan kann nämlich die Eingangspforte für das contagiöse Virus
abgeben. Zufällig entstandene leichte Einrisse an der Haut, Abschürfungen an der-
selben, frisch erzeugt oder bereits von längerer Dauer, Geschwüre nicht venerischer
Natur, weiter andere Erkrankungen der Haut, die mit einem Verlust oder einer
Lockerung der Epithelschichte einhergehen, liefern einen für die Aufnahme des
S8
SCHANKER.
contagiösen Stoftes günstigen Boden, der mit demselben in Berührung gebracht, nach
wenigen Stunden erkrankt, beziehungsweise nach 2 — 4 Tagen in eine Schankerfläche
umgewandelt wird. Ein solcher Vorgang ereignet sich demnach am häufigsten beim
Coitus falls Excoriationen geringfügigster Art entstehen, oder aber aus anderen
l psachen die oberste Epithelschicht in ihrer Continuität gestört ist (Balanitis,
HerpesbläBchen, Eozem, Intertrigo etc.).
Vielfache Versuche wurden auch angestellt zur Feststellung der Frage,
ob der speciiische Eiter auf eine unversehrte Hautfläche gebracht, gleichfalls Wurzel
fassen könne. In den Fällen, wo ein positives Resultat erzielt wurde, war der
Contact des contagiösen Stoffes mit der Haut von so langer Dauer, dass an dieser
durch Irritation einzelne Schichten vom Epithel zur Abstossung kamen und so dem
Eingang des Virus kein Hinderniss mehr vorlag (Contagium retardatum). Da
wo vorher schon ein Hautreiz erzeugt wurde , war der Effect begreiflicherweise
prompter. Viele hieher gehörige Versuche lieferten jedoch ein negatives Resultat
und zwar da, wo das Epithel hinreichend Widerstand darbot.
Neben dieser Art der unmittelbaren Uebertragung möge noch der Umstand
angeführt werden , dass diese auch mittelbar stattfinden kann. Dahin gehört
der Versuch von Cüllerier, wo Eiter eines Bubo in die Vagina gebracht wurde,
deren Secret vorher schon als nicht inoculabel erprobt war. Nach 35 Minuten
konnte mit dem nunmehrigen Vaginalsecret mit Erfolg abgeimpft werden. Ebenso
sind Fälle bekannt, wo die Ansteckung eine mittelbare war. Ein Mann z. B. ver-
kehrte nach einander zuerst mit einer erkrankten und bald darauf mit einer gesunden
Person. Mit einem geringen Quantum im Präputialsack gebliebenen contagiösen
Eiters, der an Ort und Stelle keinen Nachtheil erzeugte, wurde das bisher gesunde
zweite Frauenzimmer angesteckt. Solche Fälle erzählen Ricoed und Puche
Hieher gehört auch die mittelbare Uebertragung des contagiösen Stoffes
durch Kleider, Wäsche und Utensilien verschiedener Art, wobei eine Verletzung
an dem Orte der Einwirkung des Eiters eine Vorbedingung bildet. Zu bemerken
ist der Umstand, dass die positive Ueberimpfbarkeit dem Eiter des contagiösen
Geschwüres nur in einem gewissen Stadium desselben zukommt. Sobald das Ulcus
in eine rein eiternde Fläche verwandelt ist, verhält sich der Eiter wie jeder andere
nicht contagiöser Natur.
Aber auch die Concentration des zur Uebertragung, resp. Impfung ver-
wendeten contagiösen Eiters hat keinen Einfluss auf die Intensität oder Form des
entstandenen Geschwüres, da der Eiter auch in stärkerer Verdünnung noch positive
Impfresultate giebt. So fand man, dass nach Auflösung eines Tropfens des
contagiösen Eiters in einem halben Glas Wasser mit dieser Flüssigkeit ebenso ein
Schanker erzeugt wird, wie mit purem Eiter. Diese Beobachtung ermangelt nicht
einer praktischen Bedeutung. Die Spülflüssigkeit, die von der Reinigung eines mit
contagiösen Geschwüren behafteten Theiles stammt, kann bei einem Gesunden, der
jene Flüssigkeit zum Waschen verwendet, eine Ansteckung herbeiführen , ein Fall,
wie ihn Fouenier in der That beobachtete. Der Grad dieser Verdünnung, ist vor-
läufig nicht eruirt, zumal als die Frage, ob es Formelemente sind oder andere
Bestandteile des Eiters, an denen das Contagium haftet, noch nicht beantwortet ist.
Das Contagium des Eiters haftet aber auch an einer beliebigen Flüssig-
keit anderer Art, daher auch an Blut, sowie an den verschiedenen Secretionsflüssig-
keiten, wie Harn, Sperma, Schleim (z. B. Vaginalschleim), Eiter, sowohl blennor-
rhagischer als auch syphilitischer oder jeder anderen Provenienz. Daher kömmt es,
dass man bei Impfversuchen mit Trippereiter gewöhnlich ein negatives Resultat
erhält, ein positives nur dann, wenn demselben Schankereiter beigemengt ist. Ebenso
verhält es sich mit der Impfung von syphilitischem Eiter, der auf den Besitzer
sich nicht impfen lässt. Sobald er aber mit Eiter eines contagiösen Ulcus gemengt
ist , etablirt man durch die Impfung wieder ein einfaches contagiöses Geschwür.
Durch Erhitzen des in Phiolen gesammelten Eiters in siedendem Wasser,
ferner durch Mischung mit adstringirenden Flüssigkeiten, namentlich concentrirten
SCHANKER. 89
Säuren (Schwefelsäure , Salpetersäure etc.) , ferner in Alkohol u. dgl. gemengt,
verliert der Eiter seine Impfbarkeit , ein Unistand , der auf die Zusammensetzung
mancher prophylaktischer Medicamente von Einfluss wäre, deren Werth aber bei
der Kürze oder besser dem Abgang der Incubationsdauer sehr problematisch ist.
Weiter lehrten vielfache Versuche, dass der vertrocknete und kürzere
oder längere Zeit aufbewahrte Eiter nach Erweichung in einer Flüssigkeit sich
weiter impfen lässt; dass in flüssigem Zustande in Phiolen, Glasröhren etc. luftdicht
abgeschlossener Eiter noch nach 8 — 14 Tagen und darüber seine Impfbarkeit behält.
Incubation. Wir haben gesehen, dass schon wenige Stunden nach der
Impfung eine gewisse Reaction eintritt , dass diese nach 24 Stunden schon ganz
prägnant ist, ja dass nach 48 Stunden schon das contagiöse Geschwür einen Zer-
fall aufweist. Es geht also daraus hervor, dass hier von einer Incubationsdauer
im wahren Sinne des Wortes keine Rede sein kann. Man betrachtet diese rasche
Zunahme des durch den Schankereiter eingeleiteten Zerstörungprocesses, beziehungs-
weise der Entwicklung des Ulcus und die kurze Dauer zwischen dem Momente der
Einwirkung des Contagiums und der Akme der bis zur deutlichen Charakterisirung
vollendeten Gewebszerstörung als ein für den Schanker charakteristisches Zeichen.
Denn beim Tripper sowohl, als auch beim Syphilisvirus ist eine ganz respectable
Incubationsdauer positiv nachgewiesen.
Verhalten des contagiösen Eiters bei Thieren. Die mehr-
fachen Versuche, Thiere mit contagiösem und syphilitischem Virus zu impfen, stammen
ursprünglich nach den Erfolgen Jenner's aus dem Bestreben, ein der Vaccination
analoges Verfahren auch auf diesem Gebiete zu erlangen. Ein Erfolg blieb
bekanntlich aus. Dafür fand man das Eigenthümliche, dass der contagiöse Eiter
auf Thiere (Affen, Katzen, Hunde, Kaninchen u. A.) als überimpfbar sich erwies
(Auzias Turenne , Langlebert , Didat , Ricordi) ; dagegen lässt sich das
syphilitische Virus auf Thiere nicht übertragen. Man konnte also charakteristische
Ulcera contagiosa , aber niemals Syphiliserscheinungen hervorrufen. Diese That-
sache wurde begreiflicherweise in Bezug auf die Anschauungen über die wesentliche
Verschiedenheit des Schanker- und Syphilisvirus verwerthet.
Beschaffenheit des contagiösen Eiters. Bei den eigenthüm-
lichen, specifischen Wirkungen, welche der Eiter des Ulcus contagiosum auf Haut
und Schleimhaut ausübt, ist die Annahme nicht unberechtigt, dass derselbe sich
nicht nur in den Effecten , sondern auch in der morphologischen und chemischen
Beschaffenheit von einem andern Eiter unterscheiden mag. Gleichwohl müssen wir
vorweg constatiren, dass bisher keinerlei Merkmale eruirt sind, welche irgend eine
Unterscheidung voraussetzen lassen. Nicht allein auf die äusseren Charaktere des
Schankereiters , sondern auch auf die chemischen und mikroskopischen Befunde
trifft jene negative Aussage zu. Wohl liegen mancherlei scharfsinnige Hypothesen
und experimentelle Studien nach dieser Richtung vor. Trotz aller Bemühungen
besitzen wir in einem gegebeneu Falle ausser der Impfung keinen objectiven
Anhaltspunkt zur Bestimmung der eigenthümlichen Beschaffenheit des Eiters.
So wollten einige in den coagulirbaren Bestandtheilen des Serum den
Träger der Virulenz im Eiter gefunden haben (Robin). Andere negiren jedwede
contagiöse Eigenschaft des Serums und schreiben sie den Formelementen des
Eiters zu. Weiter konnten auch jene Lehren, welche gewisse pflanzliche oder
andere Organismen supponirten, sich keine Anerkennung verschaffen.
Wiewohl der Grad der Virulenz in einzelnen Fällen verschieden ist, so
kann auch diesbezüglich aus der äusseren Beschaffenheit des Eiters kein Schluss
gezogen werden.
Sitz des contagiösen Geschwüres. Die Geschlechtstheile und
deren Umgebung bilden den häufigsten Sitz der contagiösen Geschwüre, eine That-
sache, die mit dem Umstände innig zusammenhängt, dass der geschlechtliche
Verkehr es ist, der in erster Linie die Weiterverbreitung der fraglichen Krankheit
vermittelt. Aber auch jeder andere extragenitale Theil der äusseren Decke kann
90 SCHANKER.
vnii der Einimpfung mit dem Schankervirus befallen werden. Wir finden contagiöse
Geschwüre an den Händen (Aerzte, Hebammen, Wärterinnen), an der Brust, der
Wange, den Augenlidern, am behaarten Theil des Kopfes etc. Die Casuistik liefert
in dieser Hinsicht ebenso merkwürdige als absonderliche Fälle sowohl in Bezug
auf den Standort, als auch in Bezug auf die Art der Acquisition jener Geschwüre.
Was nun die Genito-Analgegend betrifft, so sind im Allgemeinen die minder
resistonteren und zarteren Theile empfänglicher als die derberen Abschnitte. Daher
sind Faltungen, Buchten oder Rinnen häufiger von Geschwüren befallen, als die
offengelegenen Partien. Weiter kommen jene Theile mehr in die Gefahr, welche
beim Coitus zumeist exponirt sind. Berücksichtigen wir nun die einzelnen Theile:
Beim Manne treten die meisten Geschwüre am Präputium auf, dessen
Rand, äussere uud innere Platte gleich häufig betroffen werden. In zweiter Linie
ist die Eichel anzuführen, bei der die Corona wieder die Prädilectionsstelle bildet.
Doch liefert die Eichelfurche , das Bändchen , sowie die Sinus zu beiden Seiten
desselben eine stattliche Anzahl Erkrankungen. Uebrigens ist zu bemerken, dass
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Vorhaut und Eichel gleichzeitig und
von diesen bald der eine, bald der andere, bald sämmtliche Abschnitte afficirt
sind. Auch an der Mündung der Harnröhre findet man ziemlich häufig Geschwüre
theils isolirt stehend, theils in Verbindung mit jenen der Eichel oder sie setzen
sich bis in die Harnröhre fort. Auch die Urethra giebt — wenn auch relativ
selten — den Sitz für contagiöse Geschwüre ab (Intraurethral- Schanker). Die
Cutis penis, zumal deren Raphe, ferner die Scrotalhaut, das Perineum, die Genito-
Cruralfalte pflegen hie und da mit contagiösen Geschwüren behaftet zu sein. Wenn
die Mündung des Afters oder eventuelle Falten in dessen Umgebung beim Manne
Ulcera aufweisen, so ist der Verdacht auf unnatürlichen Geschlechtsverkehr
berechtigt.
Beim Weibe sitzen die Ulcera contagiosa vornehmlich an den kleinen
Labien , ferner am Kitzler oder an dessen Vorhaut, weiter an den grossen Scham-
lippen. Der häufigste Sitz derselben ist jedoch die hintere Commissur, wo sie
namentlich die kahnförmige Grube oecupiren. Weiter sind die Fimbrien und die
Mündung der Harnröhre eine Prädilectionsstelle für dieselben. Man findet weiter
venerische Geschwüre in der Interlabialfalte und an der vorderen Commissur.
Wenn auch selten, so beobachtet man dieselben an der Schleimhaut der Vagina,
nicht nur in deren vorderem Abschnitte , ja sogar im Scheidengewölbe, sowie an
der Vaginalportion. Dass auch hier Mittelfleisch und After anzuführen ist, ist.
selbstverständlich. Ja diese Theile erscheinen beim Weibe relativ öfter afficirt und
kann die Uebertragung ex contiguo , also durch Autoinoculation , zuweilen nach-
gewiesen werden.
Häufigkeit des contagiösen Geschwüres. Die Mehrzahl der
statistischen Angaben stellen die Fälle von einfachen venerischen Geschwürsformen
in die letzte Reihe der Häufigkeitsscala. In der That ist der Tripper die häufigste
Form, während die Syphilisformen die Mitte halten. Wenn in Bezug auf das
Percentverhältniss der contagiösen Geschwüre zu den Syphilis- und Tripperformen
wesentliche Differenzen in den statistischen Daten vorliegen, so beruht dies zumeist
in der Verschiedenheit der Auffassung dieser Affection. Zu bemerken ist, dass
bei Männern die contagiösen Geschwüre öfter auftreten als bei Weibern. Wenn
wir weiter anführen , dass die contagiösen Geschwüre jüngere Individuen häufiger
befallen als ältere, so finden wir die Erklärung in der oben angedeuteten zarteren
Beschaffenheit der Haut bei jüngeren Individuen.
Hierin mag auch eine eventuelle Disposition gesucht werden , wiewohl
im Allgemeinen auf jede Person die contagiösen Geschwüre übertragbar sind, eine
Erfahrung , die man gelegentlich der vielfachen Impfungen mit venerischem Eiter
zum Zwecke der Syphilisation zu machen Gelegenheit hatte. Nur Hübbenet führt
an, dass ihm bei zwei Personen die Uebertragung durch Impfung keinesfalls
gelingen wollte.
SCHANKER. 91
Die Thatsache von der leichten Ueberimpf bai keit des contagiösen Eiters
auf den Träger sowie auf andere Personen , stimmt mit dem Umstände überein,
dass ein Individuum zu wiederholten Malen von contagiösen Geschwüren befallen
werden kann. In der That kommt es vor, dass manche Personen 8 — lOmal
nach kurzen oder längeren Zeitabschnitten an verschiedenen Theilen der Genitalien
Schankergeschwüre acquiriren.
Zahl der contagiösen Geschwüre. Es ist eine Eigenthümlichkeit
derselben, dass sie in der überwiegenden Majorität der Fälle in grösserer Anzahl
auftreten. Man findet ihrer 2, 3 bis 20 und darüber an verschiedenen Punkten
der Genito-Analgegend zerstreut. Nicht alle sind durch den betreffenden unreinen
Beischlaf gleichzeitig entstanden ; vielmehr kann des Oefteren der Nachweis geliefert
werden , dass ein Theil derselben durch anatomische und andere Verhältnisse
begünstigt, durch Abimpfung entstanden. Ja, oft ist das erste Geschwür längst
geheilt, während die abgeimpften dem Träger noch viel zu schaffen geben. Man
ist nicht selten gar nicht in der Lage, die zuerst entstandenen Geschwüre als
solche zu agnosciren. Die französischen Autoren bezeichnen den präexistirenden
Geschwüren gegenüber die nachfolgenden als secundäre oder successive. Um nicht
die ohnehin confuse Nomenclatur in der Lehre von den venerischen Krankheiten
noch mehr zu erschweren, vermeiden wir gänzlich die fragliche Bezeichnung. Die
in einem einzigen Exemplare vorkommenden contagiösen Geschwüre sind im All-
gemeinen nicht sehr häufig. Es bildet dies , nebenbei bemerkt , einen Gegensatz
zu den Sclerosen (indurirter Schanker), welche mit geringer Ausnahme solitär
auftreten, wiewohl weder die Mnltiplicität der ersteren noch die Unicität der
letzteren als Regel oder als Charakteristicon gelten darf.
Krankheits bild. Wir haben schon angedeutet, dass die rasche
Gewebszerstörung , der moleculäre Zerfall das contagiöse Geschwür vornehmlich
charakterisirt. Kurze Zeit nach der Einimpfung des Virus, spätestens am dritten
Tage, ist jener Substanzverlust etablirt, und der Schanker, sofern der anatomische
Sitz desselben es gestattet, ist mit all seinen eigenthümlichen Merkmalen zu
demonstriren. Dieses nun beginnende Stadium ist es auch , das unser meistes
Interesse in Anspruch nimmt, es ist dies das Stadium des Zerfalls. Diesem geht
voran das Stadium der Entwicklung. Das letzte Stadium tritt dann erst auf, wenn
der Zerfall sistirt, der contagiöse Eiter beseitigt ist. Es ist dies das Stadium der
Rückbildung oder das Stadium reparationis.
1. Das Stadium der Entwicklung. Reichliche Gelegenheit zum
genauen Studium der Art der Entwicklung contagiöser Geschwüre liefern die
Impfversuche ,' die zu diesem Behufe mit contagiösem Eiter vorgenommen werden.
Wir verdanken Ricoed , der diese Inoculationen mit Methode und Scharfsinn in
einer ausserordentlichen Zahl von Fällen durchführte, eine genaue Kenntniss über
Entstehung, Verlauf und Bedeutung der in Rede stehenden ulcerösen Processe.
Das künstlich erzeugte Geschwür, also das Impfgeschwür, ist in seiner Bildung
demjenigen identisch, das beim Coitus acquirirt wird. Die Schilderung des durch
die Inoculation an der Haut sich abspielenden Processes passt demnach auch
auf den Modus der post coitum zu beobachtenden Entwicklung des contagiösen
Geschwüres.
Nach einer regelrecht geübten Impfung mit einer scharfen Lancette
beobachtet man sofort einen kleinen rothen Hof um die Einstichstelle herum , an
welcher alsbald ein feines Krüstchen durch Vertrocknen der an der Oberfläche
haftenden Flüssigkeit entsteht. Kruste und Röthung sind blos die Effecte des
Eingriffes. Zu diesen gesellt sich allenfalls ein leichtes, einig Stunden anhaltendes
Jucken. Nach 10 bis 12 Stunden schon zeigt sich eine intensivere Röthung,
welche in Folge von Exsudation allmälig zunimmt. Nach etwa 24 Stunden stellt
sich an der Einstichstelle ein kleines Knötchen ein, das von dem rothen Hofe
umgeben sich in geringem Maasse allmälig vergrössert, bis es etwa 2 Tage nach
der Impfung zu einem Bläschen, einer Pustel umgewandelt ist. Mittlerweile trat
92 SCHANKER.
zu der erythematoden Beschaffenheit der Haut ciue derbe, durch Infiltration bedingte
Consistenz derselben hinzu. Bald platzt die Pustel, ihr Inhalt vertrocknet zu einer.
Kruste, nach deren Entfernung — etwa 3 — 4 Tage nach der Impfung — ein
vertieftes, eitrig belegtes, also vollständig ausgebildetes contagiöses Geschwür
Schankergeschwür) zu Tage liegt.
In den Fällen von Impfung mit negativem Resultate nimmt die nach der
Operation aufgetretene Röthe keine weitere Dimension, die kleine an der Ein-
stichstelle entstandene, der Form des Einstiebpunktes sich aecommodirende Kruste
keine weitere Veränderung an. Nach etwa 2 Tagen tritt schon Rückbildung,
wie bei jeder anderen traumatischen Läsion ein.
Die Impfung mit dem Eiter contagiöser Geschwüre bietet demnach auch
ein Mittel zur Feststellung des Cbarakters des Ulcus. In jedem zweifelhaften
Falle von Geschwürsbildung liefert ein positives Resultat der Impfung mit dem
betreffenden Eiter den Beweis , dass die Quelle eine speeifisch-contagiöse ist. In
den Fällen von negativem Erfolge ist diese Beschaffenheit des Eiters auszuschliessen,
vorausgesetzt die Inoculation wurde mit der entsprechenden Vorsicht geübt. Dabei
ist nicht festzustellen, dass der Grad der Virosität des Eiters, oder das zur Ein-
impfung verwendete Quantum desselben auf die rasche Entwicklung oder auf die
Ausdehnung des Impfgeschwüres von Einfluss ist. Gleichwohl leidet die Impftechnik
noch an dem markanten Fehler , dass der hiebei erzeugte Eingriff sehr ungleich
ist , indem die Tiefe der Läsion im Allgemeinen ungleich ausfällt , sei es , dass
dies von der Hand des Operateurs , oder sei es , dass dies von der variablen
Beschaffenheit der zur Impfung gewählten Hautstelle abhängt.
Ganz in derselben Weise wie bei der Inoculation entwickelt sich das
Geschwür auch durch Uebertragung während des Coitus. Die Analogie ist zumal
dann manifester, wenn eine ganz geringfügige Läsion beim Coitus entstand und
diese das Virus aufnahm.
Gelangen grössere Wundflächen mit dem contagiösen Eiter in Contact
(Infection reiner Wunden), so geht die Umwandlung derselben in Schanker-
geschwüre in unauffälliger Weise vor sich. Zumeist beobachtet man an einer cen-
tralen Stelle, nicht selten in der Nähe des Randes eine Missfärbung, welche
gegen die Umgebung markant differirt. Mit dieser Missfärbung ist wohl auch eine
circumscripte Depression erkennbar. Alsbald tritt der charakteristisch speckige
Eiterbelag auf, der sich mit ziemlicher Vehemenz über die ganze Fläche verbreitet.
2 . Das Stadium des Zerfalles (Stadium destruetionis). Die
charakteristischen Merkmale des contagiösen Geschwürs beobachtet man aus-
schliesslich in dieser Periode seines Bestandes. Weder während der Evolution,
noch während der Rückbildung desselben können wir einen gegebenen Fall dieser
Art mit Präcision classificiren , da in diesen Stadien uns jeglicher Anhaltspunkt
zur richtigen Beurth eilung des sich entwickelnden oder des der Narbenbildung
zueilenden Schankergeschwürs abgeht.
Die Form des von den contagiösen Geschwüren verursachten Substanz-
verlustes an Haut oder Schleimhaut gehört dem Kreise an. Dieser ist durch die
Gleichmässigkeit der Dehiscenz des Geschwürs nach allen Richtungen bedingt.
Meist vollkommen rund, zeigt das Ulcus contagiosum nur dann eine andere Form,
wenn anatomische Verhältnisse oder äussere Veranlassungen auf dieselbe modi-
ficirend einwirken. So wird das Geschwür oval dadurch, dass die Zugrichtung
der Haut zur Entstehung einer Längsachse Anlass giebt. Da wo die Haut wenig
Verschiebungen ausgesetzt ist, bleibt das Geschwür kreisförmig. Schmale Streifen,
Schrunden kommen dann zu Stande, wenn Faltungen der Haut dem Geschwüre
ihre Richtung geben. Nicht selten ragen auch erhalten gebliebene Hautzacken
gegen die Geschwürsfläche hinein und modificiren so die Form der Fläche. Andere
von der Kreisfläche abweichende Formen sollen später angeführt werden.
Der Grund des contagiösen Geschwüres erscheint bald vertieft oder
leicht excavirt, bald aber ganz flach. Namentlich beobachtet man einen flachen
SCHANKER. 93
Grund bei grösseren Geschwüren. Auch ist der Grund uneben. Kleinere Elevationen
wechseln mit seichten Vertiefungen ab. Diese Unebenheit des Grundes ist meist
eine ungleichmässige ; doch so, dass das Geschwür in einem Niveau verläuft. Oft
aber sind auch Niveaudifferenzen zu beobachten , indem ein Theil des Grundes
gegen den anderen elevirt erscheint. Die dauernde Bespüluug des Grundes mit
einer reichlicheren Eitermenge giebt vornehmlich zur partiellen Vertiefung des
Grundes Anlass.
Der Rand, im Allgemeinen einer regelmässigen Form (Kreis, Oval)
sich nähernd, senkt sich steil gegen den Grund hin, erscheint demnach scharf
abgehackt, so dass der Substanzverlust der Haut, wie durch ein Locheisen erzeugt
aussieht. Dabei ist andererseits der Rand in Folge des moleculären Zerfalles durch-
gehends exedirt und erscheint überall wie angenagt, buchtig-zackig oder wie
man vergleichsweise sich auszudrücken pflegt, wie wurmstichig. Hiebei sind die
betreffenden, dieses Aussehen bedingenden Buchten, resp. Zacken von ganz unan-
sehnlichen Dimensionen, so dass sie die regelmässige Richtung der Linien kaum
alteriren. Im Verlaufe der weitergreifenden Gewebszerstörungen schwindet freilich
die Regelmässigkeit der Randrichtung theilweise oder ganz, es entstehen grössere
Zacken oder Einbuchtungen durch partiell intensiveren Zerfall , ja durch Ver-
einigung (Confluirung) benachbarter Geschwüre erhält die Umrandung einer solchen
Geschwürsfläche eine sehr unregelmässige Beschaffenheit.
Der eitrige Belag des Geschwüres ist gleichfalls verschieden im
Vergleiche zu anderen eiternden Flächen. Das contagiöse Geschwür secernirt eine
reichliche Menge dicklichen, gelben, gelblich -grünen Eiters, der die durch
das Geschwür repräsentirte Depression wie ein Bassin ausfüllt. Nach Beseitigung
dieses mehr flüssigen Eiters erhält man jedoch keine reine Wundfläche, vielmehr
bleibt ein Theil des Eiters überall festhaften. Rand und Grund sind mit einer
dicken Eiterschichte bedeckt , welche sich den Unebenheiten überall accommodirt,
daher einer diphtheritischen Membran nicht unähnlich erscheint. Dieser festhaftende,
speckige , diphtheritische Belag an Rand und Grund lässt sich mechanisch (mit
Wolle, Charpie) gar nicht entfernen, so dass bei gewaltsamen Versuchen der
Beseitigung desselben eine Blutung erfolgt.
Der alle Theile des Geschwüres reichlich umspülende Eiter ergiesst sich
leicht über den Rand hinaus und zieht dadurch weitere Theile in den Bereich
seiner Zerstörung. Namentlich sind es jene Gebiete der Haut, welche das Ueber-
strömen des Eiters erleichtern (Hautduplicaturen, Sinus etc.). In Fällen, wo das
Geschwür frei zu Tage liegt, vertrocknet der Eiter an der obersten Schichte und
bildet eine festsitzende harte Kruste, unter welcher der eingeschlossene Eiter sein
Zerstörungswerk fortsetzt.
Die nächste Umgebung des Geschwüres ist gleichfalls alterirt.
Vorerst ist die Haut zunächst dem Rande leicht abgehoben, wie unterminirt.
Namentlich erfolgt dieser Zustand stets bei längerer Dauer des Geschwürsprocesses.
Die Unt erminirung ist oft auf einen schmalen Streifen beschränkt, es wäre
denn, dass die anatomischen Verhältnisse oder das lockere Zellgewebe zu einer
Unterminirung auf eine grössere Strecke hin erleichtern. Weiter zeigt nicht nur
der randständige Theil der Haut, sondern auch die Umgebung auf eine gewisse
Strecke hin einen leicht entzündlichen Zustand. Im Verlaufe schwinden allerdings
diese inflammatorischen Erscheinungen (Röthe, Schwellung), allein zuweilen breiten
sie sich auch auf weitere Gebiete aus.
Die Basis des contagiösen Geschwüres wird allgemein als
weich bezeichnet. In der That fühlt man bei der Prüfung der Resistenz der
Geschwürsbasis, dass jene nicht vermehrt, dass sie durch den Geschwürsprocess
nicht alterirt ist und nennt daher das Geschwür weich. Dieses negative Symptom
verdient nicht als charakteristisches Merkmal hervorgehoben zu werden. Die Basis
des einfachen Schankergeschwüres ist eben weich, wie die jedes anderen Substanz-
verlustes.
94 SCHANKER.
Doch giebt es auch Verhältnisse und Zustände, unter denen die Basis des
Ulcus contagiosum durchaus nicht „weich" erscheint, sondern einen gewissen Grad
von Härte aufweist. Namentlich tritt diese vermehrte Resistenz der Basis bei Com-
plicationcn auf (Entzündung, Irritation mechanischer oder chemischer Art etc.).
Affe et io n des Lymphsystems. Die Aufsaugung des contagiösen
Eiters im Wege der Lymphgefässe , die von dem Sitze des Geschwüres zu den
benachbarten Drüsen hinziehen, ist eine sehr häufige, aber keinesfalls constante
Erscheinung. Doch pflegt die entzündliche Affection der benachbarten Drüsen und
der l'ebergang derselben in Suppuration als eine charakteristische Erscheinung
contagiöser Geschwüre angesehen zu werden (siehe „Bubo", Bd. II, pag. 605).
Subjective Symptome fehlen gemeinhin ganz. Die Kranken fühlen
absolut keinen Schmerz, so dass zuweilen die vollständige Entwicklung des Ulcus
vor sich gegangen ist, ehe sie dessen Anwesenheit wahrnahmen. Wenn zuweilen
leichter Schmerz, Brennen, Jucken u. dgl. sich einstellt, so ist dies vom Sitze
des Geschwüres oder von der leichten Entzündung, später freilich auch eventuell
von den Complicationen abhängig.
Das contagiöse Geschwür charakterisirt sich demnach
durch einen scharfen, b uchtig-zackig exedirten Rand, unebenen
Grund, einen festhaftenden, speckigen Belag am Rand und Grund
nebst geringen entzündlichen Erscheinungen in der Umgebung.
3. Stadium der rein eiternden Wunde, Stadium der Rück-
bildung, der Narbenbildung (Stadium reparationis) . Der festhaftende, den Zerfall
des Geschwüres unterhaltende Eiter kann, sich selbst überlassen, allerdings ganz
respectable Zerstörungen erzeugen. Findet jedoch die gründliche Entfernung desselben
auf irgend eine Weise statt, so resultirt daraus die Gegenwart einer rein eiternden
Wundfläche. Diese unterscheidet sich alsdann weder in ihrem Aussehen noch in
ihrem Verlaufe von anderweitigen reinen Substanzverlusten. Zunächst treten nämlich
an Stelle des speckig-diphtheritischen Belages an Rand und Grund ein dünn-
flüssiger, nicht missfärbiger, gutartiger Eiter auf, welcher mittelst Baumwolle oder
durch Anspülung leicht entfernt werden kann, und nun zeigt sich eine reine, lebhaft
rothe Wundfläche. Das contagiöse Geschwür ist in eine rein eiternde Wund-
fläche umgewandelt. Alsbald stellen sich an der ganzen Wundfläche lebhaft
emporspriessende Granulationen ein, mit denen sich die Depressionen des Grundes
und exedirten Theile des Randes allmälig ausfüllen. Der Rand, früher steil und scharf
abgehackt, rundet sich zunächst ab und legt sich scheinbar inniger an seine Unter-
lage an. Diese Umbildung des Randes ist anfangs nur partiell, später erst stellt sie
sich an der ganzen Peripherie des Geschwürs ein. Auch die unterminirten Hautstücke,
sowohl die randständigen bogenförmigen, als auch die zipfel- oder zungenförmigen
treten in Adhäsion an ihre Unterlage. Die nächste Folge der reichen Granulations -
bildung ist die Etablirung von Narbengewebe, das sich an den Rand des Substanz-
verlustes anschliesst und mit dem Epithel der Haut oder Schleimhaut sich ver-
einigt. Im weiteren Verlaufe geht die Benarbung wie bei jedem anderen
Substanzverluste vor sich und zeigt auch die so entstandene anfangs hyperämische,
später abblassende Narbe keinerlei besondere Differenzen. Man pflegt ausdrücklich
anzuführen, dass die Narbe nach dem contagiösen Geschwür „weich" sei. Es steht
jedoch fest, dass die Narbe keine andere Resistenz aufweist, als jedwede Narbe,
die den Ausgang anderer Hautdefecte bildet, so dass eventuell auch eine harte
Narbe sich etabliren kann. Die Gegenwart einer bleibenden Narbe ist aber
unbedingt zu erwarten. Da das contagiöse Geschwür einen durch die ganze Dicke
der Haut oder Schleimhaut bis an das Zellgewebe reichenden Substanzverlust
bildet, so kann der Ersatz nur durch eine Narbe stattfinden, im Gegensatze zu
Erosionen , oberflächlichen Abschürfungen der Haut , deren Ersatz ohne Narbe,
blos durch Wiederersatz von Epithel, analog dem der Umgebung, erfolgt.
Wenn wir von einer Umwandlung des contagiösen Geschwüres in eine
rein eiternde Fläche sprechen, so fragt es sich: Hat das Geschwür in seinem
SCHANKER. 95
dermaligen Zustand als rein eiternde Wuudfläche, d. i. sofort nach der Beseitigung
des diphtherischen Belages, oder später während der Benarbung den Charakter
des contagiösen Geschwüres verloren? Mit anderen Worten: Ist der im Stadium
der Reparation secernirte Eiter noch contagiöser Natur, also noch impfbar ? Die
diesbezüglichen Versuche lehren, dass diese Frage bejahend beantwortet werden
muss. Sowohl der Eiter, der nach Etablirung der reinen Wundfläche, als auch
derjenige, der kurz vor der vollendeten Vernarbung zur Abimpfung genommen
wurde, lieferten positive Resultate ; jedoch nicht in allen Fällen. Allerdings blieb
die Impfung häufiger erfolglos , wenn sie bei bevorstehender Narbenbildung aus-
geführt wurde, als bei der Wahl des Eiters unmittelbar nachdem sich das
Stadium reparationis einstellte. Diese Thatsache von der Möglichkeit eines
negativen Resultates der Impfung mit dem Eiter des contagiösen Geschwüres im
Stadium reparaiionis beweist, dass in diesem Stadium, wo das Exterieur der
Wundfläche keinen Anhaltspunkt zur Annahme eines Ulcus bietet, auch die in
früheren Stadien halbwegs zuverlässige Impfung uns im Stiche lässt. Daher kommt
es auch andererseits, dass der Schanker, selbst der vernarbende, bei einem
geschlechtlichen Verkehr noch ansteckend wirken kann.
Anatomischer Befund. Die mikroskopische Untersuchung eines
durch die Mitte des Ulcus geführten Durchschnittes zeigt zunächst bei schwacher
Vergrösserung, dass am Rande des Substanzverlustes Epidermis und MALPiGHi'sche
Schicht jäh oder wie scharf abgehackt aufhören. Die letztere hängt nun bald mit
den darunter gelegenen Schichten noch zusammen , bald bildet sie einen Zwischen-
raum , der gegen das Geschwür hin klaffend sich verbreitert (Unterminirung des
Randes). Der Geschwürsgrund, selten flach, zeigt zumeist eine massige Vertiefung,
welche kraterförmig entweder eine senkrechte Richtung nach abwärts , oder eine
bogenförmige seitlich einschlägt. An den Seitenwandungen sind kolbige Erweiterungen
(Granulationen) zwischen unregelmässigen schmalen Vertiefungen zu sehen.
Bei stärkerer Vergrösserung findet man eine zellige Infiltration , wie sie
bei entzündlichen Geweben sich gemeinhin vorfindet , sowohl in der Umgebung
des Geschwürs in der Epidermis und Schleimschicht, als auch unter dem
Gesch würsgrunde im Corium bis zu einer gewissen Grenze hin. Weiter sind die
einzelnen an den Geschwürsrand angrenzenden Papillen verdickt, dabei im Vergleiche
zu den entfernteren normalen auch verkürzt. Diese geschwellten Papillen sind von
zahlreichen Zellen infiltrirt, ebenso wie das Gewebe unterhalb des Geschwürs-
grundes. In der Nähe des Substanzverlustes finden sich jene Zellen in grösserer
Anzahl , gegen die Tiefe hin vermindern sie sich jedoch. Wie ihre Zahl , so
variirt auch ihre Grösse, indem grössere, den Lymphzellen ähnliche mit kleinen
kernhaltigen Zellen abwechseln. Auch die fibrösen Elemente der Haut sind von
Zellen durchsetzt, woraus eine Lockerung und Zerfall des Gewebes in der Nähe
des Geschwürsgrundes hervorgeht. Die Gefässe zeigen keine Verengerung ihres
Lumens, wiewohl ihre Wandungen gleichfalls hie und da eingestreute Zellen auf-
weisen; eher kann eine Erweiterung derselben angenommen werden.
Formen des contagiösen Geschwüres. In Folge der grossen
Verschiedenheiten , welche die einzelnen Geschwürsprocesse aufweisen , war man
seit jeher bemüht, durch Abtheilungen, eventuell auch durch Unterabtheilungen
die zahlreichen Formen des Schankers in ein System zu bringen. Wir wissen
nunmehr, dass Verlauf, Complicationen , Sitz des Ulcus, sowie mancherlei andere
Momente die Form desselben sehr wesentlich modificiren. Nach diesen Richtungen
hin müssen wir die Varietäten des contagiösen Geschwüres in's Auge fassen.
a)~ Nach dem Verlaufe. Im Allgemeinen sei hervorgehoben, dass
der Verlauf des Ulcus , entsprechend der deletären Wirkung des Virus , das in
kurzer Zeit den ergriffenen Theil in den Bereich seiner Zerstörung zieht , als ein
ziemlich rascher bezeichnet werden kann. In der That sieht man oft Fälle, bei
denen die Acuität des Verlaufes in die Augen springend ist. Nach kurzer Dauer
hat die Verbreitung über grössere Flächen stattgefunden. In manchen Fällen
■„; SCHANKER.
beobachtet man freilich einen minder raschen Fortgang des Geschwürsprocesses,
so dass man leicht geneigt sein könnte, einen verschiedenen Grad der Virulenz
des Eiters anzunehmen. Doch scheint nicht dieser Umstand allein hierauf Einfluss
zu nelniH'ii , vielmehr mögen es individuelle Verschiedenheiten sein , die hier eine
Rolle spulen: Alter des Individuums, Beschaffenheit der Haut oder Schleimhaut,
Sitz des Uebels, eventuell auch Einflüsse äusserer Art. So ist die Zunahme des
Geschwürsprocesses bei jugendlichen Individuen wesentlich rascher als hei älteren.
Weiter kann eine raschere Verbreitung an zarten Hautstellen oder bei continuir-
lichen Irritationen des Uebels constatirt werden.
Wenn manche Fälle einen minder sthenischen Charakter haben , so
bedingen diesen nicht allein die oben angeführten Momente, sondern auch andere
durch die längere Dauer herbeigeführte Umstände. So lehrt die Erfahrung, dass
Geschwüre , deren Boden durch energische Aetzungen , durch wiederholte Reci-
diven u. dgl. vielfach maltraitirt wurde , zumal bei herabgekommenen , blassen
Individuen einen enorm langsamen Verlauf nehmen und trotz aller Bemühungen
der Heilung nicht zuzuführen sind. Man wählte für diese abnorme Art des Ver-
laufes die Bezeichnung asthenische, chronische Geschwüre, Wir legen auf diese
Bezeichnung kein Gewicht. Es müsste dann ein Geschwür an der hinteren
Commissur des Weibes , wo der contagiöse Eiter gleichsam in einem Bassin fest-
sitzt und dadurch die Dauer der Krankheit sehr protrahirt, des zufälligen Sitzes
halber sofort als chronisches Geschwür angeführt werden. Ebenso verhält es sich
mit den Geschwüren am After.
Man pflegte jene Schankergeschwüre, bei denen heftigere inflammatorische
Erscheinungen und rascherer Gewebszerfall auftreten, als erethische Schanker
zu bezeichnen, während die ohne Entzündung verlaufenden und mit schlaffer
Granulationsbiklung einhergehenden Geschwüre als atonische oder asthenische
Schanker angeführt vorkommen. Die Bezeichnung ist derjenigen gewöhnlicher
Geschwüre entnommen.
b) Nach den Complicationen entzündlicher Art. Es wurde
wohl angeführt, dass die Umgebung des Ulcus contagiosum gemeinhin eine ent-
zündliche Reaction massigen Grades aufweist. Der Grad dieser Entzündung steht
in directer Proportion zu dem sich abspielenden Gewebszerfälle. Zuweilen treten
nun hochgradige Entzündungserscheinungen auf. Die Umgebung des Ulcus ist auf
eine grosse Strecke hin geröthet, geschwellt, ja oft gesellt sich hinzu auch
ein intensives acutes Hautödem. Derlei hochgradige entzündliche Zustände treten
am äusseren Blatte der Vorhaut, an den kleinen Labien, aber auch an anderen
Stellen, an denen eine lockere Verbindung der Haut oder Schleimhaut mit dem
Zellgewebe besteht. Man bezeichnet nun diese Complication als Ulcus In-
flam in a t o r i u m.
In einer anderen Gruppe von Fällen ist es nicht die Umgebung, die das
gewöhnliche Aussehen des Ulcus contag. modificirt, sondern das Secret, welches
die Geschwürsfläche bedeckt. Dieses bildet nämlich eine mächtige grauweisse,
graugelbe oder schmutzigbraune Pseudomembran, welche am Rand und Grund
festhaftet und gespannt erscheint, so dass die Niveaudifferenzen des Grundes kaum
wahrnehmbar sind. Ein Versuch, diese Exsudatmembran zu entfernen, misslingt
gewöhnlich, oder verursacht eine Blutung in dem Falle, als die Membran gewalt-
sam abgezogen wird. Man bezeichnet diese Form als Ulcus diphtheriticum,
diphtherischer Schanker. Diese Form geht mit tiefgreifender Zerstörung
einher , das Gewebe zerfällt sehr rasch und geht in schmutzigen Eiter, in Jauche
über. Es ist dies dieselbe Form, welche Wallace als Geschwür mit weissem
Brandschorf bezeichnet hat.
Eine weitere, höchst gefährliche, entzündliche Complication der contagiösen
Geschwüre bildet die Gangrän. Das Geschwür, das unter massiger Eiterbildung
und geringfügigen Entzündungserscheinungen verlief, erhält plötzlich ein trockenes
Aussehen, wird missfärbig, die Umgebung zeigt vermehrte Röthe und Schwellung ;
SCHANKER. 97
alsbald tritt eine braunrothe Färbung ein, das Niveau der Haut sinkt leicht ein,
es tritt Gangränescenz des Geschwtirsgrundes und der Umgebung auf, welche ein
grosses Gebiet occupirt und nach verschiedener Dauer, bald früher, bald später
sich begrenzt. Nach Abstossung des brandigen Schorfes liegt eine reine Wund-
fläche zu Tage , welche , einer vulgären , brandig gewesenen Wunde gleich , nun
der raschen Heilung zueilt. Dies ist das Ulcus gangraenosum, gangrä-
nöser Schanker. Diese Form ist höchst deletärer Natur und greift oft über
die Genito- Analgegend hinaus, zerstört die Glans , Cutis jpenis , das Scrotum , die
Haut der Inguinalgegend etc. Nach erfolgter Abstossung des Brandschorfes jedoch
ist auch der contagiöse Eiter beseitigt, es liegt eine rein eiternde Fläche vor, so
dass man die Gangrän füglich als das erfolgreichste Aetzmittel ansehen kann.
Bemerkenswerth ist der Umstand, dass die meisten gangränösen Geschwüre in
den heissen Sommermonaten in den Krankenhäusern zur Aufnahme gelangen.
In der Lehre von dem Schanker spielt als eine Complication entzünd-
licher Art der Phagadänismus eine sonderbare Rolle. Der Ausdruck stammt
von dem griechischen cpxyiSaivy. , womit man den raschen Zerfall des Cancer
bezeichnete. Man übertrug nun diesen Ausdruck auch auf die Schankerfälle, wo
durch raschen Zerfall des Gewebes in kurzer Zeit grosse Zerstörungen sich ein-
stellten und nannte sie phagadänische Schanker. Ja man stellte sogar
die Theorie auf, dass dem phagadänischen Schanker ein eigenartiges Virus zu
Grunde liege, welches von dem des Ulcus contagiosum, simplex verschieden sei.
Weiters glaubte man mehrere Formen desselben, den einfach phagadänischen, den
phagadänisch- diphtherischen und den serpiginös-phagadänischen unterscheiden zu
müssen. Unserer Ansicht nach fällt der Phagadänismus der contagiösen Geschwüre mit
einem höheren Grade der Entzündung zusammen, so dass von der Aufstellung einer
eigenen Form Umgang genommen werden kann. Der phagadänische Schanker ist
ein Ulcus diphtheriticum oder gangraenosum, ja manche Beschreibung eines
Ulcus pkagadaenicum passt sogar auf das oben geschilderte Ulcus inßammatori m.
c) Nach der Benarbung. Bei regelmässigem Verlaufe des Ulcus
entsteht eine Narbe, deren Resistenz nichts Auffälliges bietet. In manchen Fällen
nun, wo das contagiöse Geschwür von längerer Dauer ist und allenfalls wieder-
holte Recidiven durchgemacht hat, erhält die Basis durch Verdichtung des
Gewebes eine gewisse Härte, deren Grad oft nicht ganz geringfügig ist. Dabei
beschränkt sich die Resistenz blos auf jenes Territorium, das noch einen Substanz-
verlust aufweist (zum Unterschiede von der Sclerose, der syphilitischen Initialform,
bei der die Härte die Grenze des Substanzverlustes meist überschreitet). Ein der-
artiges, zumeist auch durch übermässige Aetzungen maltraitirtes Geschwür kann
man als Ulcus induratum , Ulcus cum basi indurata bezeichnen.
Dieses ist und bleibt ein örtliches Uebel trotz der manifesten Härte.
Eine weitere Varietät des Schankers, die streng genommen im Benarbungs-
processe bedingt ist, bildet das Ulcus serpiginosum , der serpiginöse
Schanker. Seine Entstehung nimmt folgenden Verlauf: Ein kleineres oder
grösseres Ulcus, allseits in Benarbung begriffen, zeigt plötzlich an einem Theile
des Randes einen als Recidive aufzufassenden Zerfall, der sich von hier aus bald
in gerader, bald in bogenförmiger Richtung, bald nach mehreren Seiten fortpflanzt,
während gleichzeitig von der entgegengesetzten Seite Narbenbildung fortschreitet.
Die Geschwüre können dadurch die verschiedensten Richtungen einschlagen
(epTCco = kriechen) und oft grosse Dimensionen annehmen. Narbenbildung und
Zerfall bilden demnach das Charakteristische des serpiginösen Geschwüres. Dieses
repräsentirt jedoch stets blos ein locales Leiden. Impfungen mit dem Eiter dieses
Geschwüres sind bald positiv, bald negativ, insofern derselbe bald dem Stadium
reparationis, bald dem Stadium des Zerfalles angehören kann.
d) Nach der Tiefe der Geschwüre. In den Fällen, wo das con-
tagiöse Geschwür eine grössere Ausbreitung genommen, so dass die Haut an einer
ansehnlichen Strecke zur Zerstörung gelangte, dabei aber blos die obersten Schichten
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 7
98 SCHANKER.
dos Coriums destruirt sind, so dass es den Anschein hat, als wenn dieselben
abgeschabt worden wären, spricht man von einem flachen Schanker,
1 ' I .i ebenso h a n k e r. Form, Verlauf, Ausgang, ebenso wie die Impf barkeit des
Eiters zeigen keinerlei unterscheidende Momente.
Weilers kommen Geschwüre vor, welche die durch den molekularen Zer-
fall entstehende Depression in einem gewissen Stadium nicht mehr zeigen, vielmehr
erhebt sich die exuleerirte, eventuell mit einem dünnen, diphtheritischen Häutchen
überzogene Oberfläche über das Niveau der Umgebung — Ulcus elevatum. —
Namentlich beobachtet man dies zuweilen an der Schleimhaut, selten allein,
zumeist mit contagiösen Geschwüren charakteristischer Art vergesellschaftet.
Man spricht weiters noch von vielen anderen Formen , die aber vom
klinischen Standpunkte keine weitere Bedeutung haben.
Ein flu ss des Sitzes auf Form und Verlauf des Ulcus. Von
dem Standorte des contagiösen Geschwüres hängt es nicht selten ab, ob dasselbe
einen normalen Verlauf nimmt, oder aber von Complicationen begleitet ist. Aber
auch die Configuration der Geschwüre ist oft durch den Sitz derselben wesentlich
alterirt. Wir können nicht die mannigfachen Eventualitäten anführen und wollen
blos eiuige Andeutungen bringen.
Beim Manne zeigt das Präputium nicht allein als der zumeist exponirte
Theil, sondern auch in Folge seiner anatomischen Beschaffenheit die zahlreichsten
Varietäten in Form, Verlauf, Complication und Ausgang der Geschwüre. Hierbei
spielt die Ueberimpfung derselben, sowie die consecutive Entzündung eine wesentliche
Rolle. An der äusseren Lamelle kommt es gemeinhin zur Entwicklung grösserer
Geschwürsflächen, während am Rande zahlreiche, schrundenartig von aussen gegen
innen hin ziehende Geschwüre aus kleinen und durch Autoinoculation vermehrten
entstehen. Bei Reposition einer solchen Vorhaut sieht man parallel verlaufende,
schmale und unregelmässig exedirte Ulcera von ein bis mehreren Centimetern
Länge, durch deren Confluirung freilich Exulcerationen von beträchtlicher Dimension
entstehen können. Derartige randständige Geschwüre führen begreiflicherweise
Phimosis , resp. Paraphimosis gar nicht selten herbei. Weiters kann es, zumal
nach gangränösen Geschwüren , zu Perforation der allenfalls phimotischen Vorhaut
kommen, so dass aus der entstandenen Oeffnung die Glans hervorschlüpft. Auch
kann es zu partieller oder peripherer Zerstörung der Vorhaut und der Cutis penis
kommen, so dass der Schwellkörper des Penis zu Tage liegt. — Contagiöse Ge-
schwüre an der Innenplatte der Vorhaut vergrössern und vermehren sich leicht
durch die Absperrung des Eiters, der nach Maceration von Hautstellen neue
Geschwüre erzeugt. Von hier aus kann die Ueberimpfung auf die benachbarten
Theile sehr leicht erfolgen. Thatsächlich beobachtet man, dass häufig an der
inneren Fläche des Präputium einerseits und an der Eichel andererseits Geschwüre
an Form und Ausdehnung genau correspondirend aufsitzen.
An der Eichel zeichnen sich die Geschwüre vornehmlieh durch ihre Tiefe
aus. Hierbei kommt noch der Umstand in Betracht, dass die straffe Spannung
der Vorhaut über derselben die Destruction nach der Tiefe fördert. Man beobachtet in
Folge von contagiösen Geschwüren weitgehende Zerstörungen der Glans. Wir sahen
Fälle, wo dieselbe gänzlich destruirt war, so dass die beiden Spitzen der Schwell-
körper wie anatomische Präparate zu Tage lagen ; wieder andere Fälle , wo die
Verstümmelung der Eichel zu Ueberresten von sonderbarer Form Anlass gab,
wobei übrigens zu bemerken ist, dass der Wiederersatz oft eine der Regelmässig-
keiten sich nähernde Gestalt der Glans herbeiführte. Die Eichelfurche partieipirt
gewöhnlich an Geschwürsprocessen, die an den benachbarten Flächen sitzen und
bildet ein förmliches Reservoir für den Eiter.
Geschwüre an der Mündung der Harnröhre geben zu Vergrösserung
derselben , zumal durch Zerstörungen der Commissur oder einer ganzen Lefze
Anlass. Andererseits findet eine Ausdehnung nach der Harnröhre leicht statt.
Nach Vernarbung von Geschwüren am Orificium uretlirae kommt es nicht selten
SCHANKER. 99
zur Stricturbildung. — Geschwüre in der Harnröhre, äusserlich durch Schwellung,
Verdickung derselben, sowie durch das Secret erkennbar, sitzen gewöhnlich nicht
sehr tief, höchstens 4 — 5 Cm. und sind heutzutage durch die endoskopische
Untersuchung dem Auge ganz leicht zugänglich. Früher war deren Anwesenheit
gar nicht oder erst später wahrnehmbar und nannte man sie larvirte Schanker,
Chancre larve (Ricord).
Das Frenulum bildet einen Lieblingssitz für das Ulcus. Sowohl dessen
Rand , als auch jede der beiden Seitenflächen können einzeln oder gleichzeitig
mit je 1 — 2 Geschwürchen behaftet sein. Ihre Ausbreitung geht jedoch ziemlich
rasch vor sich. Das Geschwür am Rande heilt selten ohne Zerstörung des ganzen
Bändchens durch immer tiefer greifenden Zerfall. Nur selten beschränkt es sich
auf den Rand, und das Frenulum bleibt erhalten. An den Seitenflächen dagegen
hat das Geschwür die Perforation des Bändchens gewöhnlich zur Folge, indem
der nach der Tiefe greifende Zerfall der einen Seite alsbald die gegenüberliegende
affieirt. Zuweilen heilt das Ulcus frenulum perforans mit Erhaltung der über-
häuteten Perforation söffnung ; viel häufiger ist die Zerstörung der nach der Durch-
bohrung entstandenen Brücke. Die beiden Sinus frenuli bilden tiefe Bassins für
den Eiter, der von hier aus ziemlich deletär wirken kann, indem es unter Andern
zur Perforation der Harnröhre, also zur Fistelbildung kommen kann.
Beim Weibe, bei dem im Allgemeinen einfache contagiöse Geschwüre
seltener auftreten, haben sie zumeist an den kleinen Schamlippen ihren Sitz, an
denen man sie nicht selten in grosser Zahl nebeneinander findet. Ebenso wird die
Schleimhaut des ganzen Vorhofes von Geschwüren nicht selten befallen. Besonders
häufig ist der Sitz an der hinteren Commissur der Labien. Es kommen Fälle vor,
wo die Verbreitung des Ulcerationsprocesses auffallende Verstümmelungen der weib-
lichen Genitalien herbeiführen kann. So sahen wir Geschwüre, die zur ein- oder
mehrfachen Perforation des kleinen Labiums, des Praeputium clitoridis, der
Schleimhaut des Vestibulums, ja wo es von der hinteren Commissur aus zur
Bildung von Canälen , Fisteln bis in die Vagina einer- und bis zum Rectum
andererseits kam. Andere Fälle kommen zur Beobachtung, wo der Introitus
vaginae und das Vestibulum in der ganzen Ausdehnung in Folge von Geschwüren
von Narbengewebe ausgekleidet war. Weiter kommt es in Folge von asthenisch
verlaufenden, schwer heilbaren Geschwüren zu chronischem Oedem der Haut der
Genitalien und der Umgebung derselben.
Wenn auch selten, so kommen doch die contagiösen Geschwüre an der
Schleimhaut der Vagina und dem Cervicaltheile des Uterus vor. Unter 340 Fällen
hatten sie diesen Standort 8mal (Klink). Nicht allein an dem vorderen Theile
der Scheide, sondern auch in der Tiefe, ja im Laquear hatten wir wiederholt
Gelegenheit denselben zu beobachten. Sie confluiren daselbst leicht und geben zur
Entstehung grösserer ulcerirter Flächen Anlass. Die venerisch- contagiösen Geschwüre
der Vaginalportion zeigten ein recht charakteristisches Aussehen und greifen mehr
nach der Tiefe als nach der Fläche.
Diagnose. Es wurde schon oben angeführt, dass das Ulcus blos im
Stadium des Zerfalles ein charakteristisches typisches Aussehen darbietet. In der
Periode der Entwickelung und Rückbildung jedoch fehlen uns ganz zuverlässige
Anhaltspunkte. Gleichwohl vermag man sich auch dann noch zurechtzufinden. Eine
Anzahl von klinischen Erscheinungen selbst, sowie Standort, Anamnese etc. liefern
uns ganz zuverlässige Anhaltspunkte.
Im Stadium der Entwicklung, also am 2. oder 3. Tage nach geschehener
Uebertragung wird auch die Beobachtung des Verlaufes nach einem Tage schon
die richtige Auffassung erleichtern. Die vorsichtige Entfernung der zuvor befetteten
Kruste ist jedoch hiezu erforderlich.
Das Ulcus im Stadium destructionis hat eine so ansehnliche Zahl charak-
teristischer Eigenschaften, dass man sich in praxi leicht orientiren kann, wenn
auch eine oder die andere in Folge anatomischer Verhältnisse oder durch
7*
100 SCHANKER.
Misshandlung des Substanzverlustes der Wahrnehmung entzogen wird. Man pflegt
da stets zur Impfung als sicherstem Anhaltspunkt zu recurriren. Dieser diagnostische
Behelf, so constant der positive Effect der Impfung sich erweist, hat doch einige
Schwierigkeit. Einmal weiss man, dass die kleine Operation, nicht regelrecht aus-
geführt, ohne Erfolg bleiben kann. Andererseits hat man den Verlauf des Impf-
geschwüres nicht stets in seiner Macht und dies kann ganz unerwünschte Dimen-
sionen erreichen und mehr Beschwerden hervorrufen, als das Muttergeschwür.
Daher wird das in Rede stehende Experiment zumal in der Privatpraxis not-
wendigerweise unterbleiben. Ausserdem muss angeführt werden , dass auch mit
nicht venerischem Eiter positive Impfungen erzielt wurden, und zwar von Scabies-
pusteln (Pick, Reder), von Acnepusteln (Kaposi) und anderen Quellen (Wiggles-
WORTH, TANTURRl).
Wenn wir nun hier die Thatsache wiederholt anführen, dass im Stadium
reparationis aus dem objeetiven Befunde selten der Nachweis zu führen ist, ob
der Substanzverlust von einem Ulcus oder einer nicht venerischen Quelle stammt,
so finden sich doch hie und da entsprechende Anhaltspunkte zur richtigen Be-
urtheilung des Geschwürsrestes.
In differentialdiagnostischer Beziehung haben wir zunächst den
Herpes genitalium anzuführen, der in einem gegebenen Momente seiner Entwicklung
zu Verwechselungen mit dem Ulcus contagiosum Anlass geben kann. Der klare
Inhalt der herpetischen Bläschen, sowie deren Anordnung, weiter die reine Wund-
fläche die nach Entfernung der an Stelle des geplatzten Bläschens gebildeten
Kruste sich zeigt, sind nahezu sichere Anhaltspunkte. Auch Scabiespusteln
werden nicht selten mit beginnendem Schanker verwechselt. Zuweilen treten, nament-
lich am Integument des Penis, ferner an den grossen Labien Follikular-
abscesschen, die zu einer gewissen Zeit dem Befund des contagiösen Geschwüres
nicht unähnlich sind. Zumal bei gleichzeitiger Anwesenheit von Morpionen sah
ich derartige Abscesse entstehen, die für Schankergeschwüre gehalten wurden.
Am wichtigsten ist die Differentialdiagnose zwischen einfacher Helkose
oder Sklerose. Hält man sich die geschilderten Charaktere des einfachen Ulcus
vor Augen, so ist eine präcise Diagnose des Letzteren mit keiner Schwierigkeit
verbunden. Denn Geschwürsfläche, Rand und Grund etc. verhalten sich hier ganz
anders als bei der Sklerose. Wir werden die einzelnen Momente nach Schilderung
dieser anführen (vide „Syphilis"). Hier wollen wir nur mit einigen Worten die
Basis des Geschwürs betrachten. Der prägnanten Härte, welche die Basis des
syphilitischen Initialgeschwüres zeigt und welche Ursache der Bezeichnung „harter
Schanker" war, steht der Mangel jeder vermehrten Resistenz an der Basis des
contagiösen Geschwüres gegenüber, weshalb dieses als „weicher Schanker" ange-
sprochen wurde. An der Resistenz jener Hautstelle, die den Sitz des Ulcus abgiebt,
ist keine Veränderung, im Vergleiche zu dem Verhalten derselben im Normal-
zustande eingetreten. Ja die Erfahrung lehrt, dass die Basis des contagiösen
Geschwüres unter Umständen sogar eine gewisse Härte aufweisen kann, ohne dass
diese den Charakter des Ulcus als eines localen Uebels modificiren würde, also ein
„weiches Geschwür" mit „hartem Grunde". Jene Härte kann die Consequenz einer
allzu energischen Aetzung oder anderweitigen andauernden Reizung der Geschwürs-
fläche sein.
Wir haben noch das Epithelialcarcinom des Penis zu erwähnen,
das zumal mit Phimosis vergesellschaftet, mit contagiösen Geschwürsformen viel
Aehnlichkeit aufweist.
Dass ein contagiöses Geschwür seines Standortes halber (Wange, Mund-
lippe, Nasenflügel, Ohrläppchen) mit anderen Verschwärungsprocessen leicht ver-
wechselt werden kann, ist nicht zu verwundern, da diese seltene Localisation den
Gedanken an ein speeifisches Geschwür erst in letzter Reihe aufkommen lässt.
Prophylaxis. Bevor wir die Behandlung der contagiösen Geschwüre
besprechen, wollen wir noch der etwaigen prophylactischen Maassregeln Erwähnung
SCHANKER. 101
thun. In dieser Hinsicht verweisen wir auf das unter dem Titel „Condom" (Bd. III,
pag. 407) Angeführte , wo wir den verschiedenen Waschmitteln keine grosse
Wirkung nachsagen konnten und streng genommen nur dem Condom noch
einigermassen einen Werth beimassen.
Aus dem Umstände, dass der contagiöse Eiter durch eine Mischung
mit verschiedenen Flüssigkeiten seine Virosität nicht verliert und dass nur energisch
wirkende Säuren dieselbe aufheben können , resultirt die Werthlosigkeit der
Waschmittel. In schwachen Lösungen fehlt ihnen, wie das Experiment nachweist,
jeglicher Etfect, während stark ätzende Mittel, wie Säuren u. dgl., deren Werth
immerhin noch problematisch ist, zumal in Händen von Laien, zu weitgehenden
Verletzungen Anlass geben könnten.
Eine nach einem verdächtigen Coitus wahrgenommene Verletzung erheischt
eine gründliche Reinigung und eine eventuelle Behandlung.
Therapie. Diese hat in erster Linie die Zerstörung des Contagiums
zum Ziele, wodurch der weitere Zerfall des Geschwürs hintangehalten wird.
Weiter muss die Heilung des Substanzverlustes und allenfalls die Verhinderung
einer Atfection der benachbarten Lymphdrüsen im Auge behalten werden. Von
einer allgemeinen Behandlung zur eventuellen Beseitigung des Giftes aus dem
Organismus wird hier nicht weiter die Rede sein, da das rein locale Uebel eine
solche völlig überflüssig macht.
In Bezug auf die Behandlung der contagiösen Geschwüre stehen zwei
Methoden in Uebung, und zwar die abortive und die rein therapeutische.
1. Abortive Methode. Von der Erfahrung ausgehend, dass das
Ulcus contagiosum von dem Momente der Uebertragung (Impfung) bis zu seiner
vollständigen Entwicklung eines Zeitraumes von 3 — 4 Tagen bedarf, strebt man
die rasche Zerstörung des contagiösen Virus zu einer Zeit an, wo dieses noch
kein weites Gebiet betroffen hat. Die Beseitigung des Virus aber soll eine
energische Aetzung des Krankheitsherdes erzielen, welche das gesammte erkrankte
Gewebe bis in die gesunden Theile hinein treffen muss. So zeigte Ricoed , dass
aus Impfungen entstandene Geschwüre, am dritten oder vierten Tage cauterisirt,
keine weitere Ausbreitung annahmen. Diese wohl constatirten Versuche führten
somit zur methodischen Abortivbehandlung contagiöser Geschwüre. Eine solche
abortive Methode kann wohl von Erfolg begleitet sein. Zunächst hängt dieser
von der Dauer des Uebels und von dessen Verbreitung ab. Denn in dem Falle, dass
die Zerstörung weitere Dimensionen angenommen, allenfalls auch die benachbarten
Lymphdrüsen bereits schmerzhaft sind, kann wohl eine Sistirung der deletären
Wirkung des Eiters nicht erwartet werden. Die abortive Methode der Behandlung
wäre demgemäss in einem derartigen Stadium nicht mehr am Platze. Es muss
ausdrücklich hervorgehoben werden, dass energische Aetzungen der contagiösen
Geschwüre in ihren verschiedenen Stadien bei den Aerzten früherer Zeiten gleich-
falls im Gebrauche standen. Unter dem Titel eines Abortivum im Beginne der
Entstehung des Geschwürs wurde die Cauterisation erst von Ricoed angeführt.
Zur abortiven Behandlung der Geschwüre werden die verschiedensten
Aetzmittel angewendet. Obenan steht der Lapisstift. Mit diesem wird die
Geschwürsfläche wie nicht minder der Rand derselben durch wiederholtes Be-
streichen oder Rotiren des Stiftes unter gleichzeitigem Andrücken desselben geätzt,
und so ein ziemlich dicker Schorf erzeugt. Bedeckung mit Charpie oder Wolle. Nach
erfolgter Abstossung des Schorfes, die innerhalb 1 — 3 Tagen stattfindet, liegt eine
rein eiternde Wunde vor, deren Benarbung und Heilung wie bei jeder Wunde
vor sich geht. In ähnlicher Weise sollen concentrirte Lösungen von salpetersaurem
Silberoxyd wirken.
Statt des salpetersauren Silbers pflegen auch andere Aetzmittel zur
abortiven Behandlung angewendet zu werden , und zwar einfache Mittel , wie :
Salpetersäure, Schwefelsäure, Chromsäure etc. Ferner wurden verschieden zusammen-
gesetzte Caustica, als Stifte, Pasten u. dgl. angegeben. So Aetzstäbe aus Aetzkali
102 SCHANKER.
allein oder mit Aetzkalk gemischt, ferner aus Chlorzink etc.; Aetzpasten: In
erster Linie die Wiener Aetzpasta, sodann die LANDOLF'sche , CANQüOiN'sche,
CoSME'sohe Pasta etc. Auch das Glüheisen wurde zu energischen Cauterisationen
angewendet. Begreiflicherweise gehört auch der galvanocaustische Draht oder der
PACQUELIN'sche Thcrmocauter hieher.
Wms den Werth all' dieser Caustica als abortiv wirkender Mittel betrifft,
so sind wir durchaus nicht in der Lage, denselben hoch anzuschlagen. Früh-
zeitig angewendet, sollte ihr Effect a priori ein zuverlässiger sein. Allein unsere
diagnostischen Behelfe lassen uns im Beginne der Entwicklung der contagiösen
Geschwüre gar häufig im Stich und dann wird die abortive Aetzung des Oefteren
überflüssigerweise, ja zum Nachtheil des Kranken geübt, der nun der Heilung
seiner Aetzfläche obliegen muss. Denn im Falle eines günstigen Erfolges, den die
Abortivmethode im Stadium der Evolution des Schankergeschwüres etwa erzielt
haben soll, liegt noch die Möglichkeit vor, dass die geätzte Stelle mit contagiösem
Virus gar nicht in Berührung kam.
Aber auch bei wohlconstatirter Diagnose und noch rechtzeitig, also am
4. — 5. Tage nach dem Coitus impurus ausgeführter Abortivem' kann der Er-
folg bei aller Sorgfalt in der Anwendung des Aetzmittels unterbleiben. Im Gegen-
theile die Aetzfläche , die unter allen Umständen grösser ist als das originäre
Geschwür, trägt nur zur Vergrösserung der Geschwürsfläche bei.
Thatsächlich ist die Zahl der Anhänger dieser Abortivem' des Ulcus
contagiosum allmälig sehr geschmolzen. Ja, die Aetznngen mit den heftigeren
Causticis gehören jetzt zu den Seltenheiten.
Auch die Excision der Geschwürsstelle bis in das gesunde Gewebe hinein
giebt keine besseren Resultate.
2. Rein therapeutische Methode oder Methode der einfachen
Wundbehandlung. Unserer Anschauung nach erfordert das contagiöse Geschwür
zum Zwecke der raschen Heilung keine anderen Massnahmen, als die einfache
Wundbehandlung. Bei dieser dient die Beschaffenheit des Geschwürs , resp. der
Wundfläche zur Richtschnur für die Wahl und Concentration der Medicamente
und für den therapeutischen Vorgang im Allgemeinen.
Als leitender Grundsatz bei der Behandlung des Schankergeschwüres gilt
die Aufgabe: a) das Ulcus in eine rein eiternde Wundfläche zu ver-
wandeln. Nach Erreichung dieses Zieles handelt es sich sodann b) um die
Heilung der letzteren im Wege der einfachen Wundbehandlung, c) Im
Zusammenhange hiemit steht eine Summe von hygienischen Massnahmen,
welche die Beschränkung in der Ausbreitung des Geschwürs nach der Fläche und
nach der Tiefe, ferner die Verhinderung von Uebertragung des Secrets auf benach-
barte Theile durch Autoinoculation zum Zwecke haben, d) Dazu kommen noch
gewisse diätetische Verordnungen, e) Schliesslich erheischen die Localisation
des Ulcus, ferner gewisse Modificationen in Form und Verlauf specielle Beachtung.
a) Zunächst handelt es sich also um die Frage der Umwandlung des
Ulcus in eine rein eiternde Wundfläche. Diese hat die vollständige und gründ-
liche Beseitigung des contagiösen Eiters zur Voraussetzung, weshalb zunächst
die Zerstörung der eitrig bespülten und ebenso imbibirten obersten Schichten des
Geschwüres angezeigt erscheint. Eine einfache mechanische Entfernung des Eiters
mittelst Wegspülen oder durch Auftauchen mit hygroskopischen Stoffen (Baum-
wolle, Charpie u. dgl.) ist ebensowenig ausreichend, als ein etwaiger Versuch,
durch desinficirende oder chemische Mittel in den eitrig verfilzten Schichten des
Randes oder Grundes das contagiöse Virus unschädlich zu machen. Bios eine
ausreichende und energische Zerstörung des ganzen Gewebes, so weit es von dem
Eiter erreicht wurde, erzielt eine Umwandlung des Geschwürs in eine rein eiternde
Fläche. Der geringste Rest jenes deletär wirkenden Virus genügt zur Bildung
neuen Zerfalls oder mindestens zur Behinderung der Transformation des Geschwüres
m eine rein eiternde Fläche.
Die Zerstörung: 4er eitrig dnrehsetzten G - ■ .
- : :
:-r--:_ -.--- .i~.z i^-r::_;:- LZiL„ :: L.---H >- •: - .-";;:::...:- - j. L. ~~ :
sehen in der Absieht, alles Krankhafte mit dem Cansticam zu erreichen . jenen
Mntein den Vorzug, welche die jffiriirtm Schiebten leicht daadafai » ae die
gesaade Cmgebong in das Bereich der Zerstörung am ziehen. 7—jyftitf fcimmt
hier das A tricnm m Betracht. Z - - - : :ng mit dem Lapisstift
^-üt mt^r v!.:_~i L^: ---^Iri Tn.t:^^ tz-:. - - _-: - ~-z~_-z. -■ .~z
die tiefet Schienten fectiiaHa werden. LSaea Abstoewrag des so gebildeten Ekhatfis*
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die Gesehwftrsääche , bis ein der Tiefe der FrübHAaaaag entsprechender Sehorf
gebadet ist. Die Anwendung der Uwaag ist zweckmässiger a Liese eme
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Dareh die Bepinsefantg jMfateHr ein Scharf der desto tiefer -~--~ Lager
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~z-_- :.z^:-. r. tZt! :— :-" vLl :: ~: L IV :_-t: L-i: Lt: ZL_T-r —7 z zS--.zz
Bassin verborgen bleiben aad seäae defetäre Wirkung fortsetzen kann. Das Kapfer
greift die mit Epithel bedeekren Thefle nieht an. dringt ktareicflend tief ha das
erkrankte Gewebe aad sein Sehörf zerbröckelt sieh rasch 7
LNeben Lrüi :_ 7- LZ : _ 7 : 7 _
Aaweadaag gelangen. 3a : Ln spfritnöeer Läsimg
1 : 10 . Chlorzink zaustieum t Creosot u. m Tmiaohjia darfet diese
izzzzzZzZ llzz-.'. zzz ':;? zzz Zz:z^zz^ zzz-zz z zz_ .z.z'zzrZi-z LT ~._7 r::
An— T^Izzr rZ if7i Ii: 7 : I : : : z zzz iL- - z. ::.? f;Z: 7 Z:_ i L : :: _- i7_:
Scaaaht'igLaeha iiu bewährt hat. aasst ha den Scadimn der rrö^fehea EEfeertüdang
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geätzte Fläche wird aar trockener Watte oder Gase bedeekr aad aflewfirife adt
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grbaag des phagadänKchen Sehant
LDie nach erfolgreicher Aetzang des TLLkas entstandene reme. grans-
fireade Waadiaeae erhelseht nach dem Begeht der Wmwibehandtang die Anwendang
leicht adstringirender. resp. th 1 iwftiin aih 1 iL
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dUmitmm Z >jm mieriaticum, 1« a , äberatsagaasaacas
Kali : _ . '•' :".-.-- . _
Uk Wahl 1er L ncentralion Zkschadeaheit
der WundfläeZ -analationsbildsng während die Wahl des Mittels
[Q4 SCHANKER.
Bepinselung , resp. Bespülung- der Geschwürsflache mit einem dieser Medicamente
wird dieselbe mit trockener Baumwolle bedeckt.
In diesem Stadium liefert das .1 odof'ormpul v er ein vorzügliches Ver-
bandmittel, zumal da es mehrere Tage an Ort und Stelle bleiben kann. Leider
ist der unangenehme Geruch zugleich ein unerwünschter Verräther.
Auch Salben sind im Stadium reparationis üblich. So Kupfersalbe
(0*50:10), weisse und rothe Präcipitatsalbe, Jodoformsalbe, Bleisalbe etc. Doch
eignen sich diese nur bei torpidem Verlaufe und da nur vorübergehend , da das
Fett der Zersetzung leicht ausgesetzt ist und andererseits durch das Zerfliessen zu
EJeberimpfoDgen leicht Anlass giebt. Nach weit gediehener Reduction des Ge-
schwüres passt zur Erzielung der completen Vernarbung , zumal zur Behinderung
der Bildung von Krusten die Bedeckung mit einem einfachen Cerat oder Pflaster
(Emp'astrum saponalum).
c) Besondere Aufmerksamkeit ist auf die scrupulöseste Reinhaltung des
kranken Theiles und seiner Umgebung zu richten. So ist bei Geschwüren an der
Vorhaut oder Eichel der ganze Präputialsack von Smegma frei zu halten. Ebenso
sind die einzelnen Theile der Genitalien beim Weibe sorgfältig zu reinigen, falls
einer derselben den Sitz von Geschwüren abgiebt. Nicht nur sind locale Bäder zu
empfehlen, sondern insbesondere Abspülungen der Theile mittelst Irrigators,
Spritze etc. Zu diesem Behufe eignen sich besser als das gewöhnliche Wasser
die verschiedenen desinficirenden Mittel , als : chlorsaures Kali, Carbolsäure, über-
mangansaures Kali etc. Diese kommen notwendigerweise in jedem Stadium des
Verlaufes beim Ulcus contagiosum zur Anwendung. In den Fällen, wo Krusten
oder Borken die Geschwürsfläche bedecken, müssen diese zuvor durch Fett u. dgl.
entfernt werden. Nach erfolgter Abspülung, Reinigung und eventueller Aetzung der
Geschwürsfläche erfolgt die Bedeckung derselben mit hydrophilem Verbandstoff,
Baumwolle , Gaze (Jodoform gaze) etc. , zumal um die gesunden Theile von den
kranken zu isoliren , damit nicht neue Infectionen zu Stande kommen. Anderer-
seits absorbirt der Verbandstoff das eventuell gebildete Secret, wodurch die
zerstörende Wirkung desselben gemindert oder aufgehoben wird. Die Application
einfach oder medicamentös befeuchteter Stoffe ist minder praktisch , da sie eine
Maceration der gesunden Theile und dadurch leicht weiteren Zerfall herbeiführt.
d) Zur Vermeidung einer gesteigerten Reizung der erkrankten Theile,
sowie mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer Affection der dem Sitze des contagiösen
Geschwüres benachbarten Lymphdrüsen ist im Allgemeinen Alles zu unterlassen,
was an Ort und Stelle oder in der Umgebung die Entzündung vermehren könnte.
So sind stärkere Bewegungen (Reiten, Tanzen, Turnen etc.), überhaupt jedwede
Reibung des afficirten Theiles hintanzuhalten. Ja, bei stärkeren inflammatorischen
Erscheinungen ist Bettruhe und Anwendung einfacher kühler Umschläge oder
solcher mit Aqua Goulardi oder Aqua plumbica streng angezeigt. Bei dieser
Gelegenheit, sowie im Allgemeinen, ist für eine passende Lagerung des afficirten
Theiles Sorge zu tragen. — Von diesem Standpunkte aus ist auch eine eventuelle
Regelung der Diät und Lebensweise einzurichten.
In Fällen, wo die Heilung von Schankergeschwüren, zumal bei Anä-
mischen, Scrophulösen etc. sich protrahirt , muss auf den Allgemeinzustand des
Individuums Rücksicht genommen werden. Ganz besonders verdient hier der Scorbut
angeführt zu werden. Man wird also eine roborirende Diät, Eisenpräparate,
Leberthran etc. verordnen.
ej In den Fällen, wo der Verlauf des contagiösen Geschwüres, sei es
durch entzündliche Zufälle oder durch Circulationsstörung zu Complicationen Anlass
giebt, tritt die Notwendigkeit specieller gegen diese gerichteter Massnahmen ein.
Begreiflicherweise erfordern Erscheinungen gesteigerter Entzündung ein streng
antiphlogistisches Verfahren unter gleichzeitiger Rücksichtnahme auf die Ursachen
derselben. Bei missfärbiger Beschaffenheit am Rande und Grunde des Geschwüres
oder gar bei hinzutretender Gangrän ist durch Antiseptica der Process zu be-
SCHANKER. 105
schränken. Daher Abspülung mit Carbolsäure (2 — 3°/0), Chlorkalk (1%) u- dgl.
Eine derartige Wundfläche wird mit Gypstheerpulver , Jodoform etc. sorgfältig
bedeckt. Hieher gehören auch phagadänische Geschwüre.
Complicationen durch Circulationsstörung (Phimosen, Paraphimosen) er-
fordern wohl auch zunächst ein entzündungswidriges Verfahren. Doch muss die
Reponirbarkeit des Präputiums auch durch directe Behandlung der Geschwüre
angestrebt werden. So wird die Phimosis durch adstringirende Injectionen in den
Präputialsack allmälig behoben. Die eventuell nothwendige Operation der Phimose
und Paraphimose s. Artikel „Präputium" (Bd. XI, pag. 28).
f) Der Sitz der Geschwüre beeinflusst den Modus des Heilvorgangs
in vielfacher Beziehung. Doch betreffen die bezüglichen Modificationen weniger
die Wahl des Causticums oder des Adstringens , als vielmehr die Art des Ver-
bandes, eventuell eines operativen Eingriffs. So wird man bei Geschwüren am
Rande der Vorhaut nach geschehener Reinigung und Aetzung das ganze Präputium
zum Schutz gegen Reibung oder Zerrung durch einen passenden Verband immo-
bilisiren. Beim Sitz des Uebels an der Wurzel des Gliedes wird der Verband
nicht nur um den Penis , sondern auch um das Scrotum geführt , um so an
Letzterem eine Stütze zu finden. In dieser Weise muss der Verband immer
Schutz und Immobilisirung des erkrankten Theiles bewirken.
Am Orificium urethrae sitzende Geschwüre sind zumeist der directen
topischen Behandlung zugänglich. Erstreckt sich dagegen das Ulcus in die Harnröhre,
so erzielt man die Reinigung und Aetzung desselben am bequemsten durch In-
jection des desinficirenden , respective Aetzmittels , z. B. Kali chloricum und
Cuprum sulf. Bequemer findet die topische Behandlung des Intraurethral-
schankers mit Hilfe des Endoskops statt. Das Aetzmittel kann auch in Form
von Urethralstäbchen (Cuprum , Argentum nitr. , Jodoform etc.) in die Harn-
röhre eingeführt werden. Auch die Einführung von Salben mit Hilfe einer Bougie
oder Baumwollwicken ist üblich. Weiters können auch aus Pflaster geformte,
mit der bestrichenen Seite nach aussen gerichtete Röllchen introducirt werden.
Bei den Geschwüren der Urethra muss man auf die Eventualität einer Strictur
bedacht sein, weshalb die nöthigen Massnahmen zur entsprechenden Dilatation
während oder gleich nach der erfolgten Vernarbung zu treffen sind.
Am Frenulum, und zwar sowohl am Rande als auch an der Seiten-
fläche sitzende Geschwüre führen gewöhnlich ebenso wie die perforirenden zur
totalen Zerstörung des Bändchens. Die meisten Autoren empfehlen nun die
Schonung, resp. möglichste Erhaltung des eventuellen Restes und vermeiden einen
operativen Eingriff mit Rücksicht auf eine allfällige Blutung aus der Arteria
frenuli. Wir scheuen diese Blutung durchaus nicht und durchschneiden das
ganze Bändchen bis zum Sulcus coronarius , sobald es tiefer afficirt ist und
erhalten sodann eine leicht zugängliche, rasch heilende Fläche. Bei Perforation
des Bändchens ist die Durchtrennung der Brücke am rationellsten. Diesem einfachen
Vorgange gegenüber steht das Verfahren Ricoed's , das in doppeltem Abbinden
der Brücke mit nachträglicher Durchtrennung besteht. Andere nehmen die ein-
fache Abbindung vor (Langlebert) ; Diday construirte eine Scheere , die das
Bändchen durch Glühhitze zerstört.
Am Anus und an eventuellen Analfalten sitzende Geschwüre sind eher
wegen ihres hartnäckigen Verlaufes als wegen der schweren Zugänglichkeit zu
erwähnen.
An der Mucosa vaginae und an der Cervicalportion vorkommende Ulcera
werden durch das Vaginalspeculum der directen Behandlung unterzogen.
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Scharlach (Scharlachfieber), lateinisch: Scarlatina, Febris scarlatinosa,
Angina maligna; französisch: Scarlatine, fievre scarlatine; englisch: Scarlet-
fever, ist eine acut verlaufende contagiöse Krankheit, bei welcher auf den all-
gemeinen Decken unter Fieber- Erscheinungen ein mehr oder weniger verbreitetes,
scharlachrothes Exanthem auftritt. Meist ist schon frühzeitig eine Angina in ver-
schiedener Intensität vorhanden und im späteren Verlaufe kommt es zu einer mehr
weniger ausgeprägten Desquamation , häufig auch zu charakteristischen Erschei-
nungen in den Gelenken, auf den serösen Häuten, sowie in den Nieren und im
Un terhautzellge webe .
Diese Krankheit tritt meist in Epidemien , jedoch auch sporadisch auf,
sie befällt überwiegend häufig das kindliche und jugendliche Alter, seltener
erwachsene Personen.
Geschichte. Die Frage, zu welcher Zeit der Scharlach zuerst beobachtet wurde,
und von welchem Punkte der Erdoberfläche diese Krankheit ausgegangen ist, lässt sich nicht
mit Sicherheit feststellen. Ebensowenig ist aus den Schriften älterer Aerzte zu entnehmen,
wann die Scarlatina auf europäischem Boden die erste allgemeine Verbreitung gefunden habe.
Viele Aerzte sind der Ansicht, dass diese Krankheit zuerst im Mittelalter aufgetreten sei,
und die einen halten Ingrassias 1564, die anderen Döring 1627 für jene Aerzte, welche
Scharlach zuerst beobachtet und beschrieben haben. Manche Autoren setzen die Nachrichten
über Scharlach viel weiter in die Geschichte zurück, und so hält Malfatti es für wahr-
scheinlich, dass die schreckliche Epidemie, von welcher Thucydides in seiner Geschichte
des peloponnesischen Krieges erzählt, eine Scharlach-Epidemie gewesen sei. Zu einer Gewissheit
hierüber zu gelangen, ist bei den unvollständigen Nachrichten, auf welche sich die Behaup-
tungen von dem Auftreten des Scharlach vordem 17. Jahrhunderte stützen, unmöglich; denn
die Angaben über diese Krankheit sind in den älteren Schriften zu vag und fragmentär, als
dass sie nicht der verschiedenartigsten Deutung und Auslegung fähig wären. Jedenfalls
wurde in jener Zeit die Krankheit, wenn sie vorkam, mit Masern, Petechien und anderen
.Hautausschlägen einerseits, und mit bösartiger Angina andererseits zusammengeworfen. Es
scheint, dass damals der Ausdruck Rossalia der gebräuchlichste für die Krankheit gewesen
sei, ohne dass jedoch dieselbe für mehr als eine Varietät des exanthematischen Fiebers
angesehen wurde. Am ehesten scheint Sennert (1654) ihre speeifische Natur vermuthet
zu haben, aber er führt den Scharlach noch als eine andere Art von Masern auf. Zur selben
Zeit kam in England der Name Scarlatina auf, und sowohl Sydenham, der im Jahre lü64
eine solche Epidemie in London beobachtete, als auch Morton, der 1672 — 1685 eine Anzahl
zum Theil bösartiger Seuchen dieser Art sah, gebrauchte bei der Beschreibung dieser Krankheit
den Namen Scarlatina. Beide Autoren stellten nach ihren Beobachtungen aus den Londoner
Epidemien der Jahre 1661— 1675 die Specifität des Scharlach fest, und legten dadurch deu
Grund zu den sicheren Kenntnissen über diese Krankheit, welche nun durch zahlreiche Beob-
achtungen des 18. Jahrhunderts wesentlich erweitert wurden.
Zu Ende des 17. Jahrhunderts beobachtete man die Krankheit in sehr verschiedenen
Ländern und zum Theil in grosser Heftigkeit. Allein in der darauf folgenden Zeit scheinen
die Scharlach-Epidemien um Vieles seltener und unbedeutender geworden zu sein , bis erst
um die Mitte des 18. Jahrhunderts wieder schwere, bösartige und ausgedehnte Epidemien in
ganz Europa sich zeigten und bis in die achtziger Jahre sich wiederholten. Zu den vor-
trefflichsten Arbeiten über Scharlach aus dieser Zeit gehören die Mittheilungen von Storch
in Eisenach (1717—1741), Fothergill in London ( s 747 — 174=<), Huxham in Plymouth
(1751— 1753), Störck in Wien (1757—1759) und viele Andere. Zahlreiche Schriften folgten
auch in nächster Zeit von den Engländern Rowley, Will an und von einer grossen Zahl
deutscher Aerzte, wie von Kreyssig 1802, Struve 1803, Cappel 1803, Becker 1804,
btieglitz 1807, Heim 1812. Aber die Scharlach-Epidemien waren indessen (mit Ausnahme
der Jahre 1801—1803) abermals wieder seltener und geringfügiger geworden, und so hatte
z. B. Bretonneau von 1799—1802 keinen einzigen Kranken an Scharlach verloren, so
SCHARLACH. 107
dass ihm derselbe die mildeste aller exantheniatischen Krankheiten dünkte, dagegen wurde
dieser Arzt durch die bösartige Epidemie in Tours 1824 von seinem früheren günstigen
Vorurtheil gänzlich bekehrt.
Erst einige Jahre später fand der Scharlach wieder von verschiedenen Seiten her
eine besondere Beachtung, und werthvolle Arbeiten lieferten Armstrong 18L9, Wendt
1819, Pfeuffer 1819, Berndt 1820 und 1827, Seifert 1827, Tourtual 1829 u. A.
Alis den Mittheilungen dieser Autoren geht im Allgemeinen hervor, dass in jener Zeit die
meisten Epidemien gutartiger Natur waren. Nach den Ansichten der sogenannten alten
Schule wurden untergeordnete Symptome in dogmatischer Weise für wesentliche diagnostische
Merkmale erklärt und die Specificirung des Scharlach (entzündlich, gastrisch, nervös, faulig etc.)
war weder einer unbefangenen Beobachtung entnommen, noch erklärte sie die grosse Mannig-
faltigkeit im Verlaufe, noch lieferte sie richtige Anhaltspunkte für die Therapie.
Die spätere naturhistorische Schule stellte die Scarlatina in die Reihe der Erysi-
pelaceen und so haben Schönlein, Fuchs, Eisenmann und Andere in diesem Sinne den
Scharlach in seinen Verbindungen mit anderen Affectionen bearbeitet, aber sie haben noch
die alten Kategorien und Distinctionen beibehalten. Gleichzeitige und spätere Autoren wie
Rayer, Rondiere, Rilliet und Barth ez, Guersant und Andere begnügten sich nicht
mehr mit den Verhältnissen des Exanthems und den Formen der Allgemeinstörung, sie
wandten sich vorzüglich der anatomischen Untersuchung der einzelnen Organe und der
Diagnose der Complicationen zu. Im Sinne dieser letzteren Richtung haben nun auch deutsche
Autoren gearbeitet, wie Pieper, Heyfelder, Löschner und Andere.
Verbreitungsgebiet des Scharlach. Nach Hirsch (historisch-geographische
Pathologie 1881) hat die Scarlatina sich in Europa am meisten verbreitet; in Deutschland,
Frankreich, den Niederlanden, England und den skandinavischen Reichen bildet die Krankheit
einen Hauptfactor in der Morbiditäts- und Mortalitäts-Statistik und ebenso scheint Scharlach
in Russland ziemlich allgemein verbreitet zu herrschen. Einen höchst auffallenden Gegensatz
zu dieser Scharlach-Frequenz, besonders im centralen und nördlichen Theil Europa's bildet
die sehr sparsame Verbreitung, welche die Krankheit bis jetzt in Afrika und Asien gefunden
hat. Auf asiatischen Boden ist, wie es scheint, der kleinasiatische der einzige Punkt, welcher
von Scharlach häufig und in schwereren Formen heimgesucht ist.
Nach Australien und Polynesien ist die Scarlatina zum ersten Male zu Anfang
1S48 gelangt, dagegen datirt das erste Erscheinen dieser Krankheit auf dem Boden Nord-
Amerika's aus dem Jahre 1735. Sie trat zuerst in Kingston, dann in Boston und in anderen
benachbarten Orten auf und überzog im Laufe der nächsten Jahre das Gebiet der Neu-
England-Staaten, gelangte dann nach New- York, nach Philadelphia und scheint nun längs der
atlantischen Küste bis Süd-Carolina vorgeschritten zu sein. Nach neueren epidemiologischen
Mittheilungen kommt Scharlach in den südlichen Staaten weit seltener als in den nördlichen
vor, und interessant ist die Thatsache , dass nach den Ergebnissen des Census der United
States 1870 die jährliche Sterblichkeit an Scharlach (auf 100,000 der Bevölkerungsgrösse
berechnet) in den Neu-England-Staaten, in New-York, New- Jersey, Pensylvanien, Maryland,
Ohio, Virginien, Indiania, Illinois, Michigan , Wisconsin und Iowa zwischen 30 — 160 beträgt,
dieselbe in Tenessee, Nord- • und Süd-Carolina, Georgia, Alabama, Mississippi, Louisiana,
Florida, Arkansas und Texas auf 1*0 — 9*4 herabsinkt. Auf dem Boden Süd-Amerika's hat
Scharlach erst im Anfang des 4. Decenniums dieses Jahrhunderts eine allgemeine Verbreitung
gefunden und seitdem ist die Argentinische Republik und Brasilien wiederholt von schweren
Scharlach-Epidemien heimgesucht worden.
Aetiologie. Die Ursache des Scharlach liegt in einem specifischen
Contagium, für dessen Existenz mehrfache Gründe sprechen. Der Scharlach breitet
sich nämlich häufig in einer und derselben Familie, in einem und demselben
Räume auf alle oder mehrere Individuen successive aus, und ebenso kann man
die allmälige Verschleppung dieser Krankheit in einzelne Orte und Länderstriche
verfolgen. Es steht fest, dass ein längerer Aufenthalt bei Scharlaehkranken, also
das Einathmen der contagium-geschwängerten Luft, sowie die directe Berührung
des Kranken und seiner Secrete am leichtesten die Ansteckung vermitteln.
Bis zu welcher Entfernung das Contagium durch die Luft fortgeführt
werden könne, lässt sich nicht mit einem bestimmten Maasse ausdrücken, jedenfalls
spricht die oft sehr enge Begrenzung des Infectionsherdes dafür, dass die Ent-
fernung nicht weit reiche.
Wahrscheinlich, aber nicht sicher, ist die Verschleppung des Contagiums
durch dritte Personen, durch Kleider, Wäsche und andere Gegenstände , welche
dem Erkrankten zu irgend einem Zwecke gedient haben. Für die Möglichkeit
einer solchen Weiterverbreitung werden von vielen Beobachtern eine grosse Zahl
unanfechtbarer Beispiele beigebracht, und in neuerer Zeit haben Aerzte, namentlich
in England (Pride, Bell, Taylor, Welch, Buchanan und Andere) darauf
108 SCHARLACH.
aufmerksam gemacht, dass Scharlach, Diphtherie und Typhus auch durch Milch und
Trinkwasser weiter verbreitet werden könne.
BALLIER, Coze und Feltz, Böning, Balog und Andere haben sich
bemüht, die Natur des Scharlach-Contagiums genauer zu studiren. Nach Hallier
enthält das Blut des Scharlachkranken den Micrococcus eines bisher unbekannten
Brandpilzes, welchen er als Tillelia scarlatinosa bezeichnet. Derselbe findet sich
in Colonien oder einzeln, oder innerhalb oder an der Aussenfläche der Blut-
körperchen. Coze und Feltz impften 66 Kaninchen eine kleine Quantität Blut
von Scharlachkranken ein,- davon starben 62 im Verlaufe von 18 Stunden bis zu
14 Tagen, 4 wurden nach heftigem Fieber wieder gesund. Die Untersuchung
des Blutes zeigte ein eigentümliches Zusammenballen der rothen Blutkörperchen,
ebenso fanden sich Bacterien und Bacteridien gerade so wie im Blute der Scharlach-
kranken, denen der verimpfte Stoff entnommen wurde.
Das Scharlachcontagium ist flüchtig, es ist im Blute enthalten, durch-
dringt mit demselben die Gewebe und gelangt wahrscheinlich auch in die Se- und
Excrete des Kranken, ebenso scheinen die Schuppen einen Träger des Contagium
abzugeben.
In welcher Periode der Erkrankung das Scharlachcontagium am leichtesten
inficirend wirke und wie lange es diese schädliche Eigenschaft bewahre, ist noch
nicht mit Sicherheit ermittelt. Im Allgemeinen nimmt man an, dass dieses Con-
tagium während des Prodromalstadiums weniger ansteckungsfähig sei, als zur Zeit
der Eruption, Florition und Desquamation, für welche Ansicht die Thatsache spricht,
dass Kinder, welche von ihren erkrankten Geschwistern frühzeitig isolirt werden,
auch häufig von Scharlach verschont bleiben. Einige Autoren schreiben dem
Scharlachcontagium eine ausserordentliche Tenacität zu und sie behaupten, dass
es den verschiedensten Gegenständen (Kleider, Wäsche, Spielsachen, Zimmer-
Einrichtung, Tapeten, Wände und dergl.) anhafte, und selbst nach einem Zeit-
räume von Monaten und Jahren ansteckend wirken könne.
Die wiederholten Versuche, Scharlachcontagium zu dem Zwecke zu über-
impfen, um bei den Inoculirten eine mildere Erkrankungsform zu erzeugen, als
sie voraussichtlich ohne dieselbe zu Stande gekommen wäre, sind nicht gelungen,
denn William, Harwood und Andere veranlassten dadurch eine ebenso furcht-
bare Erkrankung, hingegen haben andere Beobachter (Petit, Radel u. A.) damit
gar kein Resultat erzielt; nur Miguel will durch die Impfung eine blos örtliche
Entzündung und Schutz vor weiterer Ansteckung erreicht haben.
Die Incubationsdauer bei Scharlach wird von den einzelnen Autoren ver-
schieden angegeben; so beobachtete Trousseau eine solche von 24 Stunden,
Loschner von IV2 Tagen, Hennig von 2 — 3 Tagen, während andere eine längere
Dauer der Incubationsperiode und zwar von 12 — 14 Tagen (Veit, Böning), ja
selbst von 21 — 30 Tagen vertheidigen. Gerhardt glaubt auf Grund der weit
überwiegenden Zahl jener Fälle, wo die zweiten Erkrankungen in einer Familie
nach 4 — 7 Tagen erfolgten, annehmen zu können, dass dies die normale oder
wenigstens häufigste Dauer sei und er hält eine längere oder kürzere Dauer dieses
Stadiums für Ausnahmen. Die Verschiedenheit der eben erwähnten Angaben ist
zum Theil wohl darin begründet, dass es in den meisten Fällen unmöglich ist,
den Augenblick der Ansteckung genau zu eruiren , indessen scheint aus allen
Beobachtungen das eine Gemeinsame hervorzugehen, dass die Dauer der Ent-
wicklung des Contagiums in dem inficirten Organismus sehr verschieden und augen-
scheinlich abhängig ist von dem Boden, auf welchen das Contagium gefallen ist.
Fleischmann und Steffen suchten eine Erklärung für diese Unregelmässigkeit
in der Intensität des Giftes , welche wiederum davon abhängig sei, ob die Krankheit
direct oder indirect übertragen werde.
Die allgemeine Disposition zu Scharlach ist nach dem Urtheile der
meisten Autoren nicht so erheblich wie zu Masern und Blattern. Bei Scarlatina
geschieht es viel häufiger als bei Morbillen, dass in einer Familie nur ein Glied
SCHAELACH. 109
ergriffen wird, während die anderen gesund bleiben, obwohl sie vielleicht gar
nicht oder nur unvollständig isolirt waren. Diese Immunität der einzelnen Individuen
dauert manchmal das ganze Leben, in anderen Fällen erweist sie sich nur temporär
und in einer späteren Epidemie erkranken die früher verschont gebliebenen.
Andererseits sind auch die Fälle nicht selten, wo in einer grossen Familie
ein Kind nach dem anderen, ja selbst erwachsene Personen an Scharlach erkranken,
und Thomas bezeichnet dies als Familiendisposition, welche glücklicherweise nur
selten vorhanden sei.
Die wichtigste Disposition für diese Erkrankung liegt in dem Alter
des Individuums. Kinder unter einem Jahre haben eine geringe Empfänglichkeit,
doch giebt es Beispiele, dass auch Säuglinge, ja selbst nengeborne Kinder an
Scharlach erkrankten. Ob Kinder mit Scarlatina geboren werden, ist, wie
Thomas richtig bemerkt, schwer zu ermitteln, weil die meisten mit scharlach-
ähnlich gefärbter, rother oder gelbröthlicher Haut zur Welt kommen und nach
der Geburt sich schälen. Naumann, Tourtual, Gregory, Stiebel und Hüter
berichten von Kindern, welche schon bei ihrer Geburt scharlachkrank waren.
Dagegen haben Murchison und Elsässer die Beobachtung gemacht, dass scharlach-
kranke Frauen mit gesunden Kindern entbunden wurden. Nach dem 2. Lebens-
jahre nimmt die Disposition für diese Infectionskrankheit zu und zwischen dem
5. bis 7. Lebensjahre erkranken die meisten Kinder, haben diese aber das zehnte
Jahr überschritten, so werden die Erkrankungen wieder seltener. Indessen können
auch erwachsene Personen, welche den Scharlach noch nicht überstanden haben,
von demselben befallen werden und selbst im späteren Alter kommen noch ein-
zelne derlei Erkrankungen vor.
Das Geschlecht bildet bei den Kindern keinen Unterschied hinsichtlich
der Empfänglichkeit für das Scharlachgift, denn die Zahl der erkrankten Knaben
und Mädchen ist nahezu gleich. Dagegen erkranken unter den Erwachsenen
mehr Frauen als Männer und es dürfte diese Thatsache dadurch begründet sein,
dass weibliche Personen bei der Wartung von derlei Kranken mit diesen in einen
viel häufigeren und engeren Verkehr kommen als Männer.
Ob Menstruirende und Schwangere zu Scharlach im höheren Grade dis-
ponirt sind, ist noch zweifelhaft ; Wöchnerinnen scheinen für diese Krankheit eine
etwas grössere Empfänglichkeit zu haben, doch macht Thomas darauf aufmerksam,
dass man die echte Scarlatina in jyuerp erio nicht verwechseln dürfe mit
dem sogenannten Puerperal- Scharlach, welcher eine durch den Puerperal-
zustand hervorgerufene schwere Allgemeinerkrankung mit einer scharlachähnlichen
erythematösen Dermatitis darstellt.
Operirte und Verwundete bekommen häufig ein scharlachartiges Exanthem,
dessen Aetiologie nach Thomas eine doppelte ist: neben solchen, welche höchst
wahrscheinlich oder zweifellos scarlatinösen Ursprunges sind, giebt es andere,
welche eines solchen minder verdächtig und nur wegen der Aehnlichkeit des
Exanthems jenen anderen anzureihen sind.
Der einmal überstandene Scharlach tilgt in der Regel
die Disposition für die Wiederkehr der Erkrankung. Diese
Annahme ist im Allgemeinen richtig, aber bewährte Autoren berichten von einem
zwei- und mehrmaligen Auftreten der Scarlatina in einem und demselben Indi-
viduum. Die hieher gehörigen Fälle lassen sich in zwei Hauptgruppen sondern.
Bei den einen erscheint das Exanthem im unmittelbaren Anschluss an die erste
Erkrankung und zeigt alle charakteristischen Symptome einer neuen Scharlach-
Erkrankung (Recidive des Scharlach nach Thomas), bei den anderen ist die neue
Erkrankung ein, zwei oder mehrere Jahre nach der ersten Erkrankung aufgetreten,
steht sonach mit selber in keinem ursächlichen Zusammenhange und macht alle
Stadien einer wirklichen Scarlatina durch (zweitmalige Scharlach-Erkrankung).
Die Scharlach-Erkrankungen kommen theils sporadisch, theils epi-
demisch vor. In grösseren Städten mangelt es nie an sporadisch auftretenden
Ho SCHARLACH.
Fällen, deren Entatehungsursache man aber in der weitaus grössten Anzahl nicht
Dachzuweisen vermag. In früheren Zeiten hat mau solche Fälle durch die
Zusammenwirkung gewisser unbekannter, tellurischer Verhältnisse spontan entstehen
lassen, ohne hiefür eine genügende und allgemein giltige Erklärung geben zu können,
— aber auch jetzt, wo die Contagiosität des Scharlach nicht mehr zweifelhaft ist,
wird man bei derlei Fällen über die Infectionsquelle oft im Unklaren bleiben.
Durch das häufigere Auftreten von Einzelfällen und die dadurch ver-
mehrte Gelegenheit zu weiterer Ansteckung kommt es in grösseren Städten und
Ortschaften zu Schar lach -Epidemien, welche niemals eine so schnelle Aus-
breitung finden, wie die Masern- und Blattern-Epidemien. Ist aber der Scharlach
einmal zu epidemischer Ausbreitung gelangt, so dauert selbe nicht selten mehrere
Jahre im grösseren oder kleineren Umfange fort und durchwandert alsdann oft
ganze Länderstriche. Eine weitere Eigenthümlichkeit der Scharlach-Epidemien
besteht darin, dass die Krankheits-Intensität eiuem grossen Wechsel unter-
liegt. Es giebt leichte und schwere Epidemien , in welch letzteren sich die
einzelnen Scharlach-Erkrankungen durch besondere, häufiger eintretende Com-
plicationen und Abweichungen vom normalen Verlauf charakterisiren. In den
gutartigen Epidemien nimmt die weitaus grösste Zahl der Fälle einen mehr
weniger leichten und normalen Verlauf. Dabei ist die Mortalität fast null oder
beträgt nur wenige (3 — 5) Procent der Erkrankten; in den bösartigen Epidemien
hingegen kann die Sterblichkeit auf 30°/0 und darüber ansteigen. Die Wiederkehr
der Scharlach-Epidemien ist an keine Periodicität gebunden und zwischen zwei
aufeinander folgenden Epidemien an einem und demselben Ort liegen oft viele
Jahre, ja sogar Decennien dazwischen.
Manche Autoren (Löschner, Kostlin) nehmen eine gewisse Beziehung
der Scharlach-Epidemien zu denen der Masern an, weil sie die Beobachtung
machten, dass erstere häufig auf letztere folgten und Kostlin neigt sich zur
Ansicht, dass die Durchseuchung einer Bevölkerung mit Masern selbe in besonderer
Weise zur Aufnahme des Scharhich-Contagiums disponire, dagegen sind auf Scarlatina
grosse Masern-Epidemien nicht gefolgt. Ranke sah in zwei Münchener Scharlach-
Epidemien einmal das Steigen der Scharlachfälle mit dem Abfall, da^s andere Mal
aber geradezu umgekehrt mit dem Steigen der Maserncurve. Gutmann läugnet
jede Beziehung zwischen den Epidemien des Scharlach und anderer Krankheiten.
Ueberaus wichtig ist ferner die Frage, ob die Entstehung und Verbreitung
dieser Krankheit durch Witterungseinflüsse, Bodenbeschaffenheit und andere äussere
Verhältnisse begünstigt werde. Nach einer statistischen Zusammenstellung von
435 Scharlach -Epidemien findet Hirsch, dass das Maximum der Krankheitsfrequenz
in den Herbst, das Minimum in das Frühjahr fällt, während Sommer und Winter
bezüglich derselben sich ziemlich gleichmässig verhalten. Einzelne Autoren sind
der Ansicht, dass kalte, besonders feucht-kalte Witterung das Auftreten der
Scarlatina begünstige, dem steht die Beobachtung gegenüber, dass die Krankheit
nicht nur häufig zur Zeit einer hohen Temperatur und grosser Trockenheit
geherrscht hat, sondern dass die unter solchen Verhältnissen verlaufenden Epidemien
gerade mit der steigenden Temperatur ihre Acme erreicht haben, und erst mit
dem Eintreten kühler Witterung erloschen sind.
Die Bodenverhältnisse haben keinen Einfluss auf das Vorkommen und die
epidemische Verbreitung von Scharlach, denn nach Hirsch wird diese Krankheit
in gebirgigen Gegenden wie in Niederungen, auf der Hoch- und Tiefebene, auf
den verschiedenen Bodenformationen, auf trockenen wie auf feuchten Boden gleich-
mässig häufig beobachtet.
Thomas bestreitet mit Recht, dass die gesellschaftliche Stellung und
andere äussere Verhältnisse, wie Ernährung und Lebensweise, die Disposition für
Scharlach fördern oder gar schaffen, denn nach der Erfahrung aller Aerzte, kann
diese Krankheit unter den nach jeder Richtung hin glücklichsten Verhältnissen
entstehen und auch sehr bösartig verlaufen. Ob Jemand an Scharlach
SCHARLACH. 111
erkrankt, ist nebst der Möglichkeit einer Infection vor Allem ab-
hängig von der persönlichen Disposition und der Widerstands-
fähigkeit der Einzelnen gegen dasContagium.
Die häufigste Gelegenheit zur Ansteckung finden die dazu am meisten
disponirten Kinder in den Schulen und Kindergärten, und von da wird diese
Krankheit sodann in die Familie, auch auf die noch nicht schulpflichtigen Geschwister
und andere Personen übertragen, wo es dann zu wahren Haus-Epidemien kommt.
Die Pathogenese des Scharlach liegt noch im Dunkeln. Man kennt
weder die Natur des Scharlach-Contagiums, noch die Art und Weise, wie es auf
den inficirten Organismus wirkt. Gleich räthselhaft sind noch die Ursachen , welche
sowohl ganzen Scharlach-Epidemien als auch einzelnen Scharlachfällen bald einen
gutartigen, bald aber einen bösartigen Charakter verleihen. Die Lösung dieser
und ähnlicher Fragen ist häufig versucht worden, bis jetzt aber nicht gelungen.
Anatomie. Während des Lebens bieten die allgemeinen Decken die
Erscheinungen einer allgemeinen, hochgradigen Hyperämie und eines entzündlichen
Oedems der oberflächlichen Schichten der Cutis. Die Röthung nimmt ihren Anfang
von zahlreichen kleinen Punkten, welche dann zusammenfliessen und eine gleich-
massige, fein punktirte Röthe der gesammten Hautoberfläche bewirken. Am
schönsten entwickelt sind die Scharlachpunkte am Halse, Rumpf, an den Ober-
armen und Oberschenkeln, sowie an den Vorderarmen, hingegen sind sie an den
Unterschenkeln, Hand- und Fussrücken weniger dicht. Bei genauerer Besichtigung
ist aber diese Röthung keine ganz gleichmässige, man bemerkt bei massiger Con-
fluenz noch hie und da einzelne blass gebliebene Hautpunkte auf allgemein hyper-
ämischen Flächen ; bei stärkerer Confluenz finden sich auf den gerötheten Theilen
dunkler gefärbte Punkte, welche sich von der Umgebung abheben. Erst bei
einem starken, lebhaft rothen Scharlachexanthem sind auch die letztern in der all-
gemeinen Röthe untergegangen.
Zuweilen beobachtet man bei Scharlach ein initiales, flüchtiges Erythem,
welches mehr weniger ausgebreitet ist und oft allmälig in die kurz darauf sich
entwickelnde, scarlatinöse Röthe übergehen kann.
Von der eben geschilderten Form und Beschaffenheit des Exanthems
kommen ziemlich häufig Abweichungen vor und in dieser Hinsicht unterscheiden
die meisten Autoren a) eine Sc arlatiyia laevig ata, wobei mit der stärkeren
Röthung der Haut auch massige Anschwellung, Spannung, ja selbst grössere
Empfindlichkeit derselben verbunden ist. b) Sc. papulosa auf der diffus
gerötheten Haut findet man Knötchen, welche durch stärkere Schwellung der
Ausführungsgänge der Follikel gebildet werden und welche meist an den Unter-
schenkeln vorkommen; c) Sc. miliaris (Scharlach-Friesel) auf der
scharlachrothen Haut entwickeln sich hirsekorngrosse Bläschen, welche mit einer
wasserklaren oder gelblich gefärbten Flüssigkeit erfüllt sind und sich von der
Umgebung scharf abheben. Sie bedecken oft ganze Partien des Körpers, vor-
nehmlich aber den Stamm; d) Sc. variegata (gefleckter Scharlach,
Rubeola scarlatinosa). Es bilden sich aus kleinen, getrennt stehenden,
rothen Punkten thaler- bis handgrosse, unregelmässige und oft streifige Flecken,
zwischen welchen die übrige Haut eine gleichmässig zusammenhängende , aber
blassere Röthe zeigt. Die dunklen Flecke können später confluiren oder in der
ursprünglichen Form während der ganzen Dauer der Erkrankung fortbestehen.
e) Sc. h aemorr ha gica oder septica. Bei schweren Scharlach- Erkrankungen
findet man oft petechiale Blutaustretungen in der Cutis, dicht um die Hautfollikel
herum. Diese treten theils in Form von grossen Punkten, theils in der Form
ausgebreiteter Flecke von mehr oder minder beträchtlichem Umfang auf. Ebenso
kann es zu Blutungen im Unterhautzellgewebe kommen. Bei Kindern findet man
diese Hämorrhagien oft über grosse Flächen des Körpers verbreitet, bei Erwach-
senen meist am Halse und über den Gelenken, oft in Gesellschaft mit andern
scorbutischen Erscheinungen.
112 SCHARLACH.
Analog wie die äussere Haut findet sich auch, und zwar schon kurz vor
dem Ausbruch des Exanthems, die Mund- und Rachenschleimhaut verändert. Sie
ist bochroth, leicht angeschwollen, die Tonsillen treten stärker hervor, zeigen
häufig einen punktirten oder flächenweisen Exsudatbelag, die Zunge am Rücken
weiss belegt, an den Rändern geröthet, die Papillen geschwellt. Die Rachenaffectionen
können sich verschiedenartig gestalten. In leichten Fällen entwickeln sie sich nicht
weiter, in schwereren hingegen treten gerne diphtheritische Exsudate hinzu, welche
meist an den Mandeln beginnen und sich von hier auf den übrigen weichen
Gaumen und die Rachenwand verbreiten. Von hier aus pflanzt sich dieser Process
häufig durch die Choanen auf die Nasenhöhlen fort. In den höchsten Graden der
Scharlach-Angina kommt es zum brandigen Zerfall der Rachengebilde. Consecutiv
entstehen in solch schweren Fällen umfangreiche harte Anschwellungen der Drüsen
am Unterkiefer und in der seitlichen Halsgegend ; an der Entzündung partieipirt
auch das umgebende Unterhautzellgewebe und nicht selten erfolgt der Ausgang in
Eiterung oder jauchigen Zerfall des Bindegewebes.
Von den inneren Organen sind es besonders die Nieren, welche im Gefolge
des Scharlachfiebers erkranken. In leichteren Fällen kommt es nur zu einem Catarrh
der Harncanälchen und zu einer vorübergehenden Albuminurie, bei schwererem Ver-
laufe kann sich aber auch eine diffuse, parenchymatöse Nephritis entwickeln.
Die Veränderungen, welche an den Leichen von Scharlachkranken vor-
gefunden werden, sind entweder durch den Scharlachprocess selbst oder durch die
Complicationen und Nachkrankheiten derselben bedingt. Wenn der Tod während
der Eruption und Florition des Hautexanthems eintritt , so findet man auf den
Stellen, wo dasselbe vorhanden war, livide oder violette Flecke, manchmal bietet
die Haut aber gar keine Spur eines Ausschlages dar. Das Blut ist gewöhnlich
dunkel, dünnflüssig und arm an Fibrin. Die Nieren im Zustande congestiver
Hyperämie ohne oder mit albuminöser Infiltration verschiedenen Grades (Wagner),
häufig findet man eine interstitielle und parenchymatöse Nephritis. Die Milz
ist vergrössert, die PETEß'schen Plaques, die solitären Follikel des Darms,
sowie die Mesenterialdrüsen sind geschwellt. Wagner fand lymphatische Neu-
bildung vorzüglich in der Leber, Milz, in den Nieren und im Dünndarm, in der
Leber insbesondere in Form von weissen, schon mit freiem Auge wahrnehmbaren
Körnchen. Ziemlich constant findet man in schweren Scharlachfällen albuminoide
und fettige Degeneration der Muskelfasern des Herzens, der Leberzellen und
Nieren epithelien. Die übrigen pathologisch-anatomischen Veränderungen in der
Haut, sowie in den andern Geweben und Organen gehören meist jenen Krankheits-
processen an , welche das Scharlachfieber compliciren oder in dessen Gefolge
auftreten.
Krankheitsbild und Verlauf. Die durch das Scharlachcontagium
hervorgerufenen Erkrankungen bieten eine ausserordentliche Mannigfaltigkeit dar und
die einzelnen Fälle können in ihrem Verlaufe ein so differentes Aussehen haben
und eine so verschiedene Gestaltung annehmen, dass man kaum glauben möchte,
Erkrankungen gleicher Art und aus demselben Contagium entstanden vor sich
zu haben.
Als Grundtypus, gleichsam als normale Form, gelten jene Fälle, bei
welchen das Exanthem unter einem typisch verlaufenden Fieber zum Ausbruch
kommt, wo ferner die Erscheinungen von Seite des Rachens innerhalb massiger
Grenzen bleiben und wo endlich der Krankheitsprocess unter einer allmälig
erfolgenden Abschuppung der Epidermis ohne weitere Störung in Genesung über-
geht. Dieser regelrechte Verlauf ist aber leider der seltene, man findet selben
in sporadischen Fällen und in einzelnen gutartigen Epidemien. Aber auch die
anfangs normale Gestaltung des Verlaufes giebt noch keine Garantie, dass der
Process regelmässig zum Ende gelange, vielmehr ist bei keiner andern Krankheit,
wie beim Scharlach, so sehr das unerwartete Eintreten von abnormen und gefahr-
drohenden Symptomen zu fürchten.
SCHABLACH. 113
Einfacher, normaler Scharlach. Die meisten Autoren unter-
scheiden ein Stadium der Incubation, der Prodromi, der Eruption, Florition und
endlich der Desquamation. Bohn hingegen (Geehardt's Handbuch der Kinder-
krankheiten, Bd. II.) nimmt ein Incubationsstadinm an und theilt den weiteren
Verlauf des Scharlachs in drei Perioden, welche auch hier beibehalten werden.
Stadium der Incubation. Dasselbe beginnt mit der Aufnahme des
Contagiums und umfasst den Zeitraum, welcher zwischen der erfolgten Ansteckung
und dem ersten Auftreten von Krankheits-Erscheinungen liegt. Die Dauer dieses
Stadiums wird von den einzelnen Autoren sehr verschieden angegeben und es
wurde diese schon in der Aetiologie besprochen. Während desselben bemerkt
man entweder gar keine Gesundheitsstörung, oder aber es werden nur kurze Zeit
vor dem Eintritt des Initialfiebers Unlust zum Spielen, verminderter Appetit und
mehr oder weniger heftige Kopfschmerzen beobachtet.
I. Periode. Der Beginn des Infectionsfiebers und die
Loealisirung des Exanthems auf der Schleimhaut des Rachens
und der Mundhöhle.
Die ersten Zeichen der Erkrankung sind oft nur die des Fiebers über-
haupt: Frösteln mit darauf folgender Hitze, selten heftiger Frost, ferner grosse
Mattigkeit und Hinfälligkeit, Schmerzen in den Gliedern, grosser Durst, Appetit-
losigkeit, Kopfschmerzen, beschleunigter Puls und erhöhte Hauttemperatur. Diese
febrilen Erscheinungen zeichnen sich sehr häufig durch eine ungewöhnliche Inten-
sität aus, die Temperatur erreicht unter raschem Steigen 40° und darüber, der
Puls zeigt eine Frequenz von 140 — 160 in der Minute und nicht selten kommt
es bei kleinen Kindern zu Convulsionen. Mitunter eröffnet die Scene eine Schüttel-
frost oder ein Ohnmachtsanfall, worauf gewöhnlich eine rasche und hohe
Temperatursteigerung folgt. Ueblichkeiten und wirkliches Erbrechen sind bei
Scharlach nicht ungewöhnlich und insbesonders tritt das Erbrechen oft ganz
unerwartet als erstes Symptom der beginnenden Erkrankung auf.
Am charakteristischen von allen Prodromalsymptomen sind die Hals-
erscheinungen. Grössere Kinder und Erwachsene klagen gleich anfangs
über Schlingbeschwerden, Kratzen und Stechen im Halse, und bei der Inspection
findet man eine catarrhalische Entzündung der Sehleimhaut des weichen Gaumens,
der Mandeln und des Zäpfchens. Nach Mo^ti ergreift die Röthung zunächst das
Centrum des weichen Gaumens , um sich von hier aus weiter zu verbreiten. Die
hintere Pharynxwand ist vorläufig ohne Veränderung. Die Schwellung der Schleim-
haut ist sehr gering, die Secretion nicht vermehrt. Charakteristisch für diese
prodromale, erythematöse Röthung ist nach Monti die scharfe Begrenzung derselben.
Auch die Zunge wird oft schon um diese Zeit an den Rändern auffallend roth.
Freilich fehlen manchmal diese Erscheinungen ganz, oder sie entwickeln sich erst
im späteren Verlauf; andererseits muss man sich aber hüten, eine etwa vorhandene
einfache Tonsillitis für Vorboten des Scharlach zu halten. In den weitaus meisten
Fällen lassen die vorhandene Angina , das Erbrechen , die hohe Temperatur und
die kurze Dauer der Prodromi, zumal beim Herrschen einer Epidemie, den Scharlach
schon vor dem Auftreten des Exanthems vermuthen.
Zuweilen zählt das Initialstadium nur wenige Stunden, oder der Ausbruch
des Exanthems erfolgt fast gleichzeitig mit dem Eintritt des Fiebers. In den
meisten Fällen dauert dasselbe 1 — 2 Tage und nur selten zieht es sich länger
(4 — 5 Tage) hinaus. Sowie die Dauer zeigt auch die Intensität der Krankheits-
erscheinungen in diesem Stadium eine grosse Mannigfaltigkeit. Manche Kinder sind
sehr unruhig, andere liegen im soporösen Zustande dahin, aus welchem sie zeit-
weise mit grossem Unwillen erwachen , wieder andere Kinder deliriren sehr lebhaft
und zeigen Muskelzuckungen, welche sich zu Convulsionen steigern können. In
manchen Fällen ist die Haut kaum merkbar verändert, ein anderes Mal ist sie
namentlich im Gesichte auffallend roth, und nicht selten sind die Submaxillardrüsen
geschwellt und bei Druck empfindlich.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. °
114 SCHARLACH.
II. Periode. Das Hautexanthem. Nachdem das frühere Stadium
1 — 2 Tage angedauert hat, erfolgt meist unter Zunahme des Fiebers und der
anginösen Beschwerden die Eruption des Exanthems, welches gewöhnlich zuerst
am Halse und am Thorax, später auf den Armen und wohl auch im Gesichte
erscheint. Den nächsten Tag breitet es sich dann auf den übrigen Theil des
Rumpfes und der untern Gliedmassen aus. — Das Exanthem besteht in zahl-
reichen, dicht gedrängten, nadelstichgrossen, blass oder gesättigt rothen Pünktchen,
welche, von der Ferne gesehen, zu einer diffusen und gleichmässigen Röthe ver-
schmelzen (Kaposi). Der Ausschlag ist zur Zeit der Eruption lebhaft roth und
bekommt erst während der Florition die bekannte Farbe des Scharlachroth. Aber
nicht an allen Körperstellen ist das Exanthem gleichmässig gefärbt. So sind im
Gesicht nur die Wangen und die Stirne geröthet, während die Nase und ihre
nächste Umgebung, die Oberlippe und das Kinn auffallend blass und gelblich
erscheinen. Die dunkelste Röthe hingegen zeigt gewöhnlich der Hals, der Rücken,
besonders die Nates, oft auch die Brust und Bauchdecken, während die Röthe
an den Extremitäten in der Regel minder intensiv ist. Beim Fingerdruck schwindet
die Röthe momentan, um sofort wiederzukehren. Wenn das Kind schreit, so
tritt die Färbung des Exanthems deutlicher hervor, dieselbe wird auch Abends
häufig intensiver, und an verschiedenen Tagen kann der Ausschlag ein wechselndes
Erblassen und Wiederaufflammen zeigen, welche Erscheinung nicht immer mit den
Schwankungen des Fiebers übereinstimmt. Zur Zeit der Eruption und Florition
ist die Haut brennend heiss, trocken, gespannt und turgescirend.
Neben den allgemeinen Decken zeigt die Mund- und Rachenhöhle
charakteristische Symptome. Die Klagen über Halsschmerzen dauern im gleichen
Grade fort oder nehmen noch zu, die Röthe an den Rachenorganen verbreitet
sich über grössere Partien der Schleimhaut, die Schwellung der Tonsillen, des
Velum und der hinteren Pharynxwand wird stärker , der Isthmus faucium wird
mehr weniger verengt, das Schlucken ist beeinträchtigt (Angina scarlatinosa).
In einzelnen Fällen beobachtet man auf der gerötheten Gaumenschleimhaut kleine
Blutextravasate , viel häufiger sieht man die gerötheten Stellen mit eitrigem
Schleim bedeckt. Es zeigen mitunter auch die Tonsillen an ihrer Oberfläche gelb-
weissliche, eitrige oder diphtherie-ähnliche Belege , in welchem Falle die Sub-
maxillardrüsen zu schwellen beginnen. Die Mundschleimhaut ist in ihrer ganzen
Ausdehnung geröthet, die früher belegte Zunge wird von den Rändern her purpur-
roth, ihr Volum nimmt zu, die Papillen sind mehr weniger geschwellt, ihre Ober-
fläche bekommt ein drusiges Aussehen, ähnlich einer Himbeere (Scharlachzunge).
Die Lippen sind geschwellt, stark geröthet, trocken.
Mit der Eruption des Exanthems steigert sich das Fieber und dauert
ununterbrochen fort, so lange der Ausschlag auf der Höhe steht. Es währt also
im Durchschnitt 4 — 6 Tage. Fast in allen Fällen ist dasselbe ein continuirliches,
die abendlichen Exacerbationen erreichen 39*8 — 41-0° C., die Morgenremissionen
haben höchstens einen Abfall von 1°. In einzelnen Fällen beobachtet man auch
einen Typus inversus , wobei die Morgentemperatur um 1 — 1'5° höher ist als
die abendliche. — Die Pulsfrequenz entspricht im Allgemeinen der Höhe der
Temperatur, sie zeigt während der Periode des Hautexanthems die beträchtliche
Zahl von 120—160 Schlägen.
Das Allgemeinbefinden richtet sich vorzugsweise nach dem Verhalten des
Fiebers. Bei leichteren Graden hat das Kind verminderten Appetit und ver-
mehrten Durst, demungeachtet kann es sich dabei ziemlich wohl befinden, bei
höheren Temperaturen ist immer Kopfweh, beschleunigte Respiration und grosse
Unruhe besonders des Nachts vorhanden, manchmal stellen sich auch Delirien oder
Somnolenz ein. — Der Harn ist spärlich und concentrirt, zuweilen enthält er
Spuren von Eiweiss und Nierenepithelien.
Erst mit der vollkommenen Ausbildung des Exanthems tritt meist einige
Erleichterung ein. Die Scharlachröthe beginnt in derselben Reihenfolge zu erblassen,
SCHAßLACH. 115
in welcher sie sieb über den ganzen Körper verbreitet batte, und dem entspreebend
nebmen auch die Allgemeinerscheinungen ab. Das Fieber wird geringer, die
Temperatur sinkt anfangs nur allmälig und dann oft ziemlich rasch, ebenso kehrt
die Pulsfrequenz zur Norm zurück, die Haut wird feucht, die Schlingbeschwerden
nehmen ab, die Schwellung der Tonsillen, sowie der Mund- und Rachenschleimhaut
vermindert sich, die Zunge wird feucht und meist ist die Abnahme aller dieser
Symptome innerhalb 2 — 3 Tagen so weit vorgeschritten, dass der Ausschlag
gänzlich verschwunden und der Kranke nun fieberlos ist. Dabei fühlt er sich
wohl und bekommt wieder Appetit. Mittlerweile ist die Krankheit in die
III. Periode der Desquamation eingetreten. Der Beginn der
Abschuppung wechselt nach der Intensität des Ausschlages. Je stärker derselbe
entwickelt ist, desto früher erfolgt die Desquamation, welche an den Wangen mit-
unter schon am 4. — 5. Tage nach dem Ausbruche des Exanthems auftritt. Dies
geschieht also schon zu einer Zeit, wo der Scharlachausschlag an manch' anderen
Körperstellen noch nicht vollkommen erblasst ist. Gewöhnlich wird die Haut an
solchen Stellen rauh und spröde, die Epidermis zerspringt vielfach und löst sich
in kleinen Fetzen ab. Im Gesichte und am Halse ist die Abschuppung meist eine
kleieförmige, am Rumpfe, an den Ober- und Vorderarmen, sowie am Ober- und
Unterschenkel ist selbe oft nur angedeutet, dagegen lösen sich von den Händen
und Füssen, namentlich aber von den Fingern nicht selten grössere Lamellen oder
ganze häutige Ueberzüge ab, oder es werden selbe von den Kranken abgeschält.
War das Exanthem nur schwach entwickelt, so findet man in der Regel eine
kleieförmige Abschuppung. Am längsten dauert dieser Process an den Fingern,
Händen und Füssen, wo man an der Uebergangsstelle der Dorsal- in die Volar-
und Plantarfläche oft noch in der 5. — 6. Woche eine zickzackförmige Linie
erkennen kann.
Das Stadium der Abschuppung kann 14 — 21 Tage und darüber andauern,
während desselben verlieren sich auch die letzten Spuren des Fiebers und der
Angina, der Urin hat entweder nie Eiweiss enthalten, oder es ist auch dieser
Bestandtheil wieder geschwunden.
Bei normalem und gutartigem Verlaufe endet der Scharlach in 4 bis
5 Wochen mit vollständiger Genesung.
Anomale Fälle. Die Scarlatina zeigt oft und viel häufiger als die
anderen acuten Exantheme sehr bedeutende , früher oder später eintretende Ab-
weichungen , welche einen in einzelnen Beziehungen oder durchwegs anomalen
Symptomencomplex und Verlauf bedingen. Diese Anomalien beziehen sich entweder
einfach auf die Entwicklung und Aufeinanderfolge der regelmässigen Symptome
(einfache anomale Fälle) und können in dieser Beziehung entweder eine ungemein
leichte Erkrankung (abortiv rudimentäre Formen) oder eine ungewöhnlich schwere
Gesammterkrankung darstellen. Oder die Anomalie besteht in einer Complication
mit irgend einer örtlichen oder allgemeinen Erkrankung, welche fast jedesmal den
regelmässigen Verlauf der übrigen Erscheinungen unterbricht und diese anomal
gestaltet. Diese grosse Mannigfaltigkeit der Fälle macht es schwer, selbe in streng
gesonderte Kategorien einzutheilen , nichtsdestoweniger muss man sich bei ihrer
Besprechung an gewisse hervorstechende Eigenthümlichkeiten halten.
Am zweckmässigsten erscheint die Eintheilung nach Wundeblich, welcher
unter den anomalen Scharlachformen solche mit rudimentären und solche mit aus-
gebildeten Localisationen unterscheidet.
Unter den rudimentären Fällen mit gutartigem Verlauf findet
man am häufigsten die Angina scarlatino sa. Sie charakterisirt sich dadurch,
dass in manchen Familien mehrere Mitglieder an einem Schärlach mit normal
ausgebildetem Exanthem erkranken, während andere entweder schon durchseuchte
oder minder disponirte Personen — seien es nun Kinder oder Erwachsene —
eine mehr oder minder heftige Angina bekommen. Man findet die Rachenorgane
geröthet, die Tonsillen und Submaxillardrüsen zuweilen geschwellt, mitunter auch
8*
11,; SCHARLACH.
die Zunge scharlachroth. Als begleitende Erscheinung ist ein mehr weniger hohes
Fieber und eine oft bedeutende Störung des Allgemeinbefindens vorhanden, dagegen
fehlt das Hautexanthem und es kommt auch zu keiner Desquamation. Solche Fälle
sind während einer Scharlachepidemie immer verdächtig und verdienen alle Auf-
merksamkeit, weil sie für die Umgebung ansteckend werden können, und
weil es manchmal im weiteren Verlaufe zur Nephritis oder zu Gelenkaffec-
tionen kommt.
In anderen rudimentären Fällen treten Fieberbewegungen, eine starke
Pulsfrequenz und manchmal sogar Betäubung auf, dagegen fehlt die Angina ganz
oder ist nur unbedeutend. Nicht selten zeigen sich auch auf der Haut einzelne
Flecken und Erytheme , welche gewöhnlich bald wieder verschwinden , daher man
selbe nicht mit Sicherheit für einen Scharlachausschlag erklären kann. Aber häufig
kommt dann später unerwartet eine Desquamation, welche ganz den Charakter einer
scarlatinösen zeigt, oder es stellt sich Albuminurie und Hydrops ein. Diese letzteren
Erscheinungen sichern dann die Diagnose Scharlach , wenn nicht etwa auch die
Aetiologie hiefür wichtige Anhaltspunkte giebt. Solche Fälle bezeichnet man als
Angina — Nephritis — Febris s carlatinosa sine exanthemate
oder sine sca vi a t in a.
An diese Abortivformen und den Scharlach ohne Ausschlag schliessen sich
während einer Epidemie jene Fälle an, wo ein deutliches Exanthem ausbricht.
Dasselbe hat aber nicht die charakteristische Form, ähnelt mehr einer Roseola
oder einem Erytheme, während die bestehende Angina und das gleichzeitige Vor-
kommen anderer Scharlachfälle in der nächsten Umgebung die scarlatinöse Natur
der fraglichen Erkrankung höchst wahrscheinlich machen.
Rudimentäre Formen mit bösartigem Verlauf kommen in
manchen Epidemien ungemein häufig vor und bedingen oft eine hohe Mortalität.
Sie stellen sich in der mannigfaltigsten Weise dar, indem einzelne Erscheinungen,
bald das Exanthem , bald die Angina , dann wieder die Gehirnerscheinungen oder
das Fieber nur im geringen Grade vorhanden sind, während schon von Anfang
an sehr beängstigende Symptome auftreten , wie : ungewöhnliche Apathie oder
Somnolenz, heftige Kopfschmerzen, furibunde Delirien, sehr grosse Unruhe, Dyspnoe,
ohne dass von Seite der Lungen eine Complication vorliegt, enorm schneller und
kleiner Puls, manchmal auch wiederholtes und andauerndes Erbrechen oder flüssige
Entleerungen.
Ehe nun die übrigen Erscheinungen des Scharlach zur vollen Entwicklung
kommen , können diese Zustände unter Schwinden des Pulses , oder unter dem
Bilde von Convulsionen oder Collapserscheinungen schon frühzeitig und überraschend
schnell zum Tode führen. Die Diagnose bleibt oft dunkel, bis nach wenigen Tagen
ein oder mehrere Geschwister des verstorbenen Kindes an Scharlach erkranken,
wodurch der Zweifel behoben wird. Häufig kommt es indessen noch vor dem
letalen Ende zum Ausbruch eines intensiven Fiebers oder zur Entwicklung des
Exanthems , wenn dasselbe auch nur partiell und ungleichmässig auftritt. Der
Verlauf ist oft ein so rascher, dass der Tod manchmal schon innerhalb 24 bis
48 Stunden eintritt.
Die anomalen Scharlachformen mit ausgebildeten Local-
Erk rankungen bilden in manchen Epidemien geradezu die Regel, sie sind
ungleich häufiger und bieten eine noch grössere Mannigfaltigkeit dar, als die
rudimentären Formen.
Sie zerfallen nach Thomas in 2 Abtheilungen , je nachdem der Verlauf
der Krankheit zunächst vollkommen normal ist und die Anomalie erst später
hinzutritt, oder die Anomalie schon vom Beginn der Erkrankung besteht.
In der ersten Gruppe kann zunächst das Fieber die Anomalie bedingen,
indem das Initialfieber nur langsam ansteigt, wobeil — 2 Tage bis zur Erreichung
der Acme vergehen können. In anderen Fällen kann dasselbe mit einer hohen
Temperatur (40° und darüber) einsetzen, worauf es mit dem Ausbruch des Exanthems
SCHARLACH. 117
rasch abfällt und manchmal ganz schwindet oder nur im geringen Grade fortbesteht.
Auch die Intensität des Fiebers ist in den einzelnen Scharlachfällen nicht gleich.
So kommt es zuweilen nur zu massigen Temperatursteigerungen oder zu abnormen
Morgenremissionen, während die Abendtemperaturen um 2° höher sein können.
Von grösserer Bedeutung ist das Fortbestehen des Fiebers über die normale
Periode hinaus. Wo das Fieber, wenn auch nur in massigem Grade und mit
stark remittirendem Charakter, das vollständige Erblassen des Exanthems tiber-
dauert , hat man mit Recht das Eintreten einer Complication oder Nachkrankheit
zu fürchten, wenngleich man deren Natur nicht sogleich erkennen kann (Henoch).
Das Exanthem entwickelt sich in normalen Fällen langsam und allmälig fort-
schreitend, es kann aber auch plötzlich über den ganzen Körper verbreitet
erscheinen. Letzteres geschieht seltener in sporadischen Fällen, meist im Beginne
oder auf der Höhe intensiver Epidemien. Ein anderes Mal erfolgt die Eruption
unregelmässig, zuerst am Stamm, über den Gelenken und an den wärmer gehaltenen
oder gedrückten Körperstellen, wo es dann eine intensivere Färbung zeigt. — Ebenso
beobachtet man nicht selten eine unvollständige Eruption und es finden sich dann
an verschiedenen Körperstellen einzelne hand- bis tellergrosse , getrennt stehende
Flecken, während die übrige Haut normal gefärbt ist, oder nur bei einer Fieber-
exacerbation geröthet erscheint. — Der Ausschlag dauert ferner manchmal nur wenige
Stunden und nur die gleichzeitig bestehende Angina, sowie die vorhandene Möglich-
keit einer stattgefundenen Infection lässt den Scharlach vermuthen, wenn nicht
etwa eine später auftretende Desquamation oder Albuminurie nachträglich die
Diagnose bestätigt. — Dagegen kann das Exanthem in anderen Fällen ungewöhnlich
lange Zeit, 1 — 2 Wochen und darüber, sichtbar bleiben, dabei weicht die Scharlach-
röthe allmälig einer lividen Färbung, welche dann in eine braune Pigmentirung
übergeht.
Die Desquamation kann sich nach Zeiteintritt, Dauer, Intensität und
Form in verschiedener Weise verhalten. In normalen Fällen schliesst sie sich
unmittelbar an das Exanthem an, sie kann aber auch erst nach einigen Tagen,
ja selbst nach Wochen eintreten. Ebenso geschieht es häufig, dass sie ungewöhnlich
lange andauert und sehr reichlich ist. Der Grad der Abschuppung ist in gewisser
Hinsicht vom Exanthem abhängig, aber nicht jedesmal folgt auf einen intensiven
Ausschlag eine reichliche Abschuppung, und umgekehrt auf ein schwaches Exanthem
nur eine geringe Desquamation. Zuweilen beobachtet man an einer und derselben
Körperstelle unmittelbar nach dem Erblassen des Exanthems eine farinöse und
später eine lamellöse Abschuppung (Thomas).
Die Affectionen der Rachenorgane und die mit selben im
Zusammenhange stehenden entzündlichen Schwellungen der Lymphdrüsen
des Halses können in den ersteren Stadien des Scharlach einen normalen Verlauf
nehmen, späterhin aber Anomalien bedingen, welche in der nächstfolgenden Gruppe
der anomalen Fälle besprochen werden.
Die wichtigsten Anomalien des Scharlachprocesses bilden die Nieren-
Erkrankungen, weiche den Verlauf und Ausgang desselben wesentlich beein-
flussen können.
Die nephritischen Processe stellen sich frühestens gegen den
12. — 14. Tag, noch viel häufiger aber im Anfange der dritten Woche nach dem
Ausbruche des Exanthems ein. Als nächste Veranlassung beschuldigt man zuweilen
Erkältung und die unterbrochene Hauttransspiration, aber die Erfahrung lehrt, dass
auch sorgfältig gepflegte Kinder Nierenentzündungen bekommen können. Ebenso
ist die Intensität des Scharlach ohne Einfluss auf das Entstehen einer Nephritis
denn letztere beobachtet man bei Fällen mit starkem Exanthem und bedeutender
Desquamation, sowie bei Fällen mit geringem oder fehlendem Ausschlag und einer
nur partiellen kleienförmigen oder ganz fehlenden Abschuppung. Dagegen tritt
diese Erkrankung in manchen Scharlachepidemien viel häufiger auf als in anderen,
ohne dass man hiefür eine Erklärung zu finden vermag.
118 SCHARLACH.
Beim Beginn dieses Leidens kann der Kranke — wenn nicht etwa schon
eine febril verlaufende Complication vorhanden ist — eine normale Temperatur
Beigen ■ nicht selten geschieht es aber, dass die Nephritis allein einen fieberhaften
Zustand erzeugt. In solchen Fällen treten dann oft ganz unerwartet ephemere
Temperatursteigerungen (39° — 40°) ein, während in anderen Fällen oft schon
•>_;; Wochen lang eine Abendtemperatur von 38*5 — 39° bei nahezu normaler
Morgentemperatur bestanden hatte.
Den leichtesten Grad der Krankheit bildet eine rasch vorübergehende
A 1 b u m i n u r i e. Man findet nämlich nur zeitweise im Urin kleinere oder grössere
Mengen von Eiweiss , welche manchmal schon am nächsten Tage wieder ver-
schwinden ; dabei ist das Allgemeinbefinden in keiner Weise gestört. Diese Albuminurie
kann nun ohne eine andere krankhafte Erscheinung oft mehrere Wochen bestehen,
dabei ist der Urin bald sparsam, bald reichlich, er enthält grosse Mengen von
harnsauren Salzen, fast immer Albumen, einzelne Nierenepithelien oder auch
Cylinder.
In schweren Fällen fühlen sich die Kinder unbehaglich, werden ver-
driesslich , klagen über Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, manchmal kommt es zu
wiederholtem Erbrechen oder zu flüssigen Entleerungen. Ist nun eine acute
Nephritis eingetreten, so charakterisirt sie sich durch die Veränderungen des Harns
und durch hydropisebe Erscheinungen. Die Urinmenge sinkt mit dem Beginn dieses
Leidens weit unter das Mittel (selbes beträgt bei Kindern 750 — 800 Kubikcm.),
der Harn reagirt sauer, hat ein speeifisches Gewicht von 1*030 — 1*035, ist trübe
und zeigt manchmal einen Stich in's Köthliche, oder ist gar dunkel bis braunroth,
er sedimentirt stark und enthält theils zerfallene, theils noch wohl erhaltene Blut-
körperchen , Nierenepithelien und mehr weniger zahlreiche blasse , hyaline oder
fibrinöse Cylinder. Gleichzeitig mit dieser sparsamen Urinabsonderung oder auch
noch vor dem Eintritt derselben, treten an verschiedenen Körperstellen Oederue
auf, wie an den Augenlidern, in der Wangen- und Stirngegend, an den Genitalien,
insbesondere am Scrotum, am Hand- und Fussrücken. In leichteren Fällen bleibt
das Oedem auf diese Theile beschränkt, es steigt und fällt, worauf es sich nach einer
Woche wieder verlieren kann. In schweren Fällen verbreiten sich die hydropischen
Anschwellungen auf immer weitere Körperpartien, sie erreichen oft eine beträcht-
liche Ausdehnung und sind nicht auf allen Stellen gleichmässig vertheilt. So ist
manchmal die eine Gesichts- oder Körperhälfte stärker geschwollen als die andere.
Dabei entwickelt sich eine Anämie höheren Grades, die Haut, zumal im Gesichte,
sowie die sichtbaren Schleimhäute werden wachsbleich.
Neben oder nach dem Anasarca kommt es gewöhnlich zu weiteren
hydropischen Transsudationen in verschiedene Organe und Körperhöhlen. Am
häufigsten beobachtet man den Ascites mit grösserer oder geringerer Anschwellung
des Abdomens , wobei die Baucheingeweide comprimirt , das Zwerchfell nach auf-
wärts gedrängt und die Respiration in mehr weniger hohem Grade behindert
werden kann. Seröse Ansammlungen in den Pleurahöhlen und im Pericardium
werden seltener beobachtet. Meist treten sie bei letal verlaufenden Fällen erst in
den letzten Tagen ein. Am gefährlichsten wird die Entwicklung eines Lungen-
ödems oder einer ödematösen Anschicellung des Pharynx, der Lig. aryepiglottica
und ihrer nächsten Umgebung. In der Schädelhöhle finden sich von serösen
Ergüssen theils wirkliches Hirnödem, theils Hydrocephalus externus , seltener
Hydrops ventriculor.
Von Wichtigkeit sind ferner die urämischen Erscheinungen,
welche bei einer vorhandenen Nephritis sowohl im Beginne als auch im
weiteren Verlaufe dieser Complication oft ganz unerwartet auftreten können.
In der Regel geht denselben eine auffallende Verminderung der Urinmenge oder
auch vollständige Anurie voraus. Als Vorläufer eines solchen urämischen Anfalles
beobachtet man ferner Ohrensausen, Kopfschmerzen, namentlich am Hinterhaupte,
es treten Ueblichkeiten oder auch wirkliches Erbrechen ein, die Kinder werden
SCHARLACH. 119
somnolent oder deliriren und nun beginnen einzelne Muskelzuckungen, welche sich
alsbald zu allgemeinen Convulsionen steigern können. Die Krämpfe sind mehr
weniger intensiv, tonische und clonische Contractionen wechseln mit einander ab,
sie befallen manchmal nur einzelne Muskelgruppen oder sie bleiben auf eine
Körperhälfte beschränkt oder aber sie sind auf einer Körperseite stärker als auf
der anderen. Während des Anfalles besteht vollkommene Bewusstlosigkeit. Der
Anfall selbst dauert einige Minuten bis zu einer Stunde und darüber, aber bei
einer so langen Dauer werden die Convulsionen gewöhnlich bald stärker, bald
schwächer, ohne ganz aufzuhören. Mitunter tritt nur ein einziger Anfall auf, viel
häufiger folgen mehrere Anfälle rasch hintereinander und können in Intervallen
von Stunden durch einige Tage wiederkehren. In der anfallfreien Zeit sind die
Kranken häufig somnolent oder soporös.
Ob ein urämischer Anfall neuerdings zu erwarten ist, lässt sich nicht im
Voraus bestimmen. Die gewöhnlichen Zeichen einer eintretenden Besserung sind:
Aufhören der Muskelzuckungen, Schwinden der Bewusstlosigkeit und der übrigen
cerebralen Symptome, Wiederkehren des Appetits und reichliche Ausscheidung von
Urin, welcher klarer wird und allmälig immer weniger Eiweiss enthält. Sind die
Anfälle durch 24—48 Stunden ausgeblieben, so kehren sie in der Regel nicht
mehr wieder. Die manchmal zurückbleibende Amblyopie und Amaurose schwindet
oft in wenigen Tagen.
Ein hochgradiger und langdauernder urämischer Anfall kann durch Lungen-
ödem, eine Gehirnblutung u. dgl. einen jähen Tod bedingen.
Die scarlatinöse' Nephritis dauert in den meisten Fällen drei bis vier
Wochen, manchmal auch länger, sie zeigt während ihres Verlaufes oft bedeutende
Schwankungen des Eiweissgehaltes. Bei günstigem Verlaufe kann vollständige
Heilung eintreten, nur selten tritt nach längerer Zeit wieder eine Recidive der
Albuminurie auf. Die Nephritis kann aber auch chronisch werden und viele Monate,
in seltenen Fällen sogar Jahre lang dauern. Sowohl bei dieser als auch bei der
acuten Form kann sich als Complication eine Pericardiiis, Pneumonie, Pleuritis
und in seltenen Fällen eine Peritonitis hinzugesellen.
Die schon im Beginne anomalen Fälle sind in der Regel durch
ein intensives Fieber, sowie durch heftige Nervensymptome und durch gesteigerte
Erscheinungen von Seite der Digestionsorgane ausgezeichnet. Unter diesen Fällen
nimmt den ersten und wichtigsten Platz ein die Scarlatina maligna. Die
Krankheit beginnt nach einem oft nur unbedeutenden Unwohlsein mit heftigen
Kopfschmerzen , grosser Mattigkeit und meist mehrmaligen Erbrechen , welche
Erscheinungen gewöhnlich von einem intensiven Fieber begleitet werden. Die
Temperatur erreicht rasch die Höhe von 40 — 41° und darüber, auf welcher sie
fast unverändert verbleibt, der Puls ist sehr klein und kaum zählbar (150 — 180),
manchmal auch unregelmässig und wechselnd, die Haut brennend heiss, das
Gesicht hochroth gefärbt, die Augen injicirt, die Respiration beschleunigt und
oberflächlich, dabei grosse Muskelschwäche, heftige Delirien oder tiefe Betäubung.
Die Kinder liegen in bewusstlosem Zustande mit halboffenen Augen am Rücken
und erwachen nur schwer und auf einige Augenblicke aus diesem Sopor. Nicht
selten findet man einzelne Muskelzuckungen im Gesichte und an den Gliedmassen,
zuweilen kommt es zu Convulsionen. Auch die anginösen Beschwerden sind intensiv,
die Schleimhaut der Mund- und Rachenhöhle ist stark geröthet , die Tonsillen
geschwellt und manchmal mit diphtheri tischen Exsudaten belegt. Der Isthmus
faucium bedeutend verengt, das Schlucken erschwert, oft kaum möglich. Die
Lippen und Zunge trocken, aus dem Munde ein unangenehmer, ja sogar fötider
Geruch. Die Submaxillardrüsen sind schon um diese Zeit manchmal vergrössert,
die Haut darüber geröthet und entzündlich geschwellt. Das Exanthem ist, wenn
es frühzeitig erscheint, dunkelroth und zeigt zuweilen einen Stich in's Violette,
oder es sind an einzelnen Körperstellen dunkler oder livid gefärbte Flecken und
Blutaustretungen. Bei einem rasch letalen Verlaufe kommt es oft gar nicht zur
[20 SCHÄRLACH.
vollkommenen Entwicklung des Exanthems. Der Rumpf ist oft sehr heiss, die
Extremitäten kühl, die Pupillen werden weit, der Puls enorm klein, und unter
rasch zunehmendem Verfall der Kräfte enden solche Fälle oft innerhalb 1 bis
:; Tagen letal.
Scharlach mit typhusartigem Verlaufe (nach Loschner).
Andere Scharlachfälle zeigen wieder ein ungewöhnlich heftiges und protrahirtes
Fieber, während der Ausschlag, die Angina und sonstige Localaffectionen nicht
hochgradig entwickelt sind. Das Fieber ist in den ersten Tagen intensiv , die
Kranken klagen über Kopfschmerzen, während der abendlichen Fieberexacerbationen
stellen sich Delirien und Muskelzuckungen ein, oder aber es sind die Kinder
somnolent und liegen mit halboffenen Augen dahin. Die Schleimhaut der Nase
und des Mundes ist trocken, manchmal besteht massige Infiltration der Lymphdrüsen,
man findet leichten Bronchialcatarrh , geringen Husten , spärliche Urinsecretion,
zuweilen Albuminurie. Das remittirende Fieber hält wochenlang an , es kommt
später zu catarrhalischen Diarrhöen und zu andauernder Pulsbeschleunigung
(160 in der Minute). Im weiteren Verlaufe stellen sich häufig auch hydropische
Erscheinungen ein. Das Exanthem entwickelt sich in solchen Fällen meist regel-
mässig, ist aber schwach roth, häufig finden sich auf der Haut Petechien oder
Miliarbläschen.
Hämorrhagische Form des Scharlach. Kleine Petechien werden
sowohl beim vollkommen, als auch unvollkommen entwickelten Exanthem beobachtet
und es scheinen diese Hämorrhagien nur eine Folge der intensiven Hauthyperämie
und der Zartheit der Gefässe zu sein. In einem solchen Falle haben diese
Erscheinungen nur einen sehr untergeordneten Werth. "Wo dagegen Petechien und
Blutextravasate in grosser Menge oder bei blassem Exanthem auftreten, sind die-
selben als ein wichtiges Symptom anzusehen. Auch der Zustand der Kranken
charakterisirt sich in solchen Fällen schon im ersten Beginne als ein sehr schwerer
und es sind gewöhnlich hohes Fieber und intensive Gehirnerscheinungen vorhanden.
Die Angina ist in der Regel sehr bedeutend, häufig findet man Diphtheritis oder
Gangrän der Rachenorgane , die Lymphdrüsen und das Unterhautzellgewebe des
Halses sind gleichfalls entzündet und infiltrirt. Oft kommt es zu Blutungen aus
der Nase, Mundhöhle oder den Genitalien, ebenso können Blutungen in innere
Organe oder Körperhöhlen stattfinden. Der Kranke wird bald soporös und geht
binnen wenigen Tagen entweder durch das intensive Fieber oder durch Erschöpfung
in Folge der Blutungen oder durch andere Complicationen, wie Pneumonie u. dgl.,
zu Grunde.
Eine überaus wichtige Gruppe von anomalen Fällen bilden jene, in welchen
die Erscheinungen von Seiten der Rachenorgane einen ungewöhnlich
hohen Grad erreichen. Solche Fälle zeigen schon vor oder mit dem Auftreten des
Ausschlages ihre ganze Heftigkeit, es kommt hierbei zu starken ödematösen
Schwellungen der Uvula und der Tonsillen, sowie zu vermehrter Secretion der
Mundschleimhaut, oder es zeigen sich auf den gerötheten und geschwellten Mandeln
gelbliche oder grauweisse Plaques von verschiedener Ausdehnung. Dabei schwellen
auch die Lymphdrüsen des Halses an, die Kranken klagen über grosse Halsschmerzen
und Schlingbeschwerden. Bei einem günstigen Verlaufe nimmt die Schwellung der
Rachenorgane mit dem Erblassen des Exanthems ab, nach 5—6 Tagen, manchmal
wohl auch später werden die früher erwähnten Plaques abgestossen und hinterlassen
leichte, flache Geschwüre, welche bald vernarben.
In anderen Fällen steigert sich die Pharynxaffection zu einem höheren
Grade und es treten dann gewöhnlich noch andere bedenkliche Anomalien und
Complicationen hinzu, wodurch das Leben des Kranken sehr gefährdet werden
kann. Bei der Angina scarlatinosa maligna kommt es zu einer paren-
chymatösen Entzündimg der Mandeln, in welchen Process auch die Gaumen- und
Rachenschleimhaut sowie das submueöse Bindegewebe einbezogen wird. Die ver-
grösserten Tonsillen stehen nur wenig von einander ab, oder berühren sich nahezu,
SCHARLACH. 121
aus dem halbgeöffneten Munde fliesst reichlicher Speichel, die Sprache, das Schlingen
und Athmen sind erschwert, das Gesicht stark geröthet, gedunsen, die Augen
injicirt, oft besteht gleichzeitig eine intensive Coryza , welche die Respiration nur
noch mehr behindert. Heftiges Fieber, grosse Unruhe des Kranken und Delirien
begleiten diesen gefährlichen Zustand, welcher oft innerhalb 2 — 3 Tagen eine
bedeutende Höhe erreicht. Eine völlige Rückbildung des Processes erfolgt selten,
meist tritt an einer oder mehreren Stellen der Mandeln Eiterung ein. Nach der
Entleerung des Abscesses schwindet die Geschwulst und die Respiration wird freier.
— Gefährlicher ist die Vereiterung des submucösen Bindegewebes,
da es sehr leicht zu Eitersenkungen kommt. — Der ungünstigste Ausgang ist
jener in Gangrän, welche an einer umschriebenen Stelle der Tonsillen oder mit
der Bildung einer Brandblase daselbst beginnt und sich rasch über den weichen
Gaumen , über die Schleimhaut des Rachens , sowie der Mund- und Nasenhöhle
ausbreiten kann. Wegen der Schwierigkeit der Untersuchung gelingt es nicht
immer, den ursprünglichen Sitz der Gangrän zu entdecken, dagegen lässt sich
dieselbe schon in der ersten Zeit des Beginnes durch den brandigen Geruch aus
dem Munde erkennen.
Die Kranken liegen soporös dahin , sind sehr unruhig , deliriren , die
Respiration ist meist schnarchend , die Unterkiefergegend geschwellt , schmerzhaft
und unter zunehmender Pulsfrequenz, beschleunigter Respiration, kalten Extremitäten,
Harn- und Stuhlverhaltung tritt innerhalb weniger Tage der Tod ein.
Die Angina scarlatinosa maligna übt nicht immer den gleichen Einfluss
auf die Scarlatina selbst. Das Exanthem kann jede Art von Anomalie oder auch
einen annähernd normalen Verlauf zeigen. Der Ausschlag kann sogar ganz fehlen,
oder nur stundenlang auf der Haut sichtbar sein, — er kann ferner die grösste
Intensität darbieten und in seiner Heftigkeit mit der Halsaffection gleichen Schritt
halten. Erst wenn die üblen Folgen der eingetretenen Suppuration oder der Gangrän
sich bemerkbar machen, beginnt die Röthe zu erblassen, oder es bleiben einzelne
Flecken zurück, welche bläulich werden und unter dem Fingerdrucke nicht mehr
verschwinden.
An diese anomale Form schliesst sich jene an, welche man als Angina
scarlatinos a diphtheritica bezeichnet. Die Scharlachdiphtherie kommt in
manchen Epidemien häufiger vor, als in anderen. Sie tritt entweder gleichzeitig
mit dem Initialfieber auf, oder kann sich erst in den späteren Stadien der Scarlatina
entwickeln. Ihre ersten Spuren zeigen sich in der dunkelrothen Färbung und
bedeutenden Schwellung der Mandeln und nur ausnahmsweise beginnt sie an der
Uvula oder an den Gaumenbögen. Hier entstehen linsengrosse , mattweisse oder
gelbliche Auflagerungen und Infiltrate in der Schleimhaut, welche manchmal begrenzt
bleiben, viel häufiger sich aber auf alle Rachenorgane ausbreiten. Auch die Schleim-
haut der Lippen, jene der Wangen und der Nasenhöhle kann von demselben Processe
ergriffen werden. Aus den Nasenöffnungen fliesst anfangs ein scheinbar gutartiges
Secret, späterhin wird es gelblich, eiterig, oft übelriechend und die von demselben
benetzten Hautstellen sind häufig excoriirt. Die Auflagerungen an den Pharynx-
organen haften oft ziemlich lange, ehe sie sich ablösen; dagegen haben die
Infiltrate grosse Neigung zum necrotischen Zerfall und bilden dann unregelmässige
Geschwüre. In der Regel sind dann auch die Hals- und Cervicaldrüsen sammt
dem sie umgebenden Bindegewebe entzündlich geschwellt. — Von der Rachen-
höhle aus kann sich der Process durch die Tuba Eustachii auch auf die Pauken-
höhle fortpflanzen und daselbst eine Otitis interna erzeugen, welche häufig zur
Perforation des Trommelfells und zu Caries des Felsenbeins führt. Die weiteren
Folgen sind lang dauernde Otorrhoen und oft bleibende Schwerhörigkeit. — Durch
die Ausbreitung des Processes nach unten kann derselbe den Kehlkopf erreichen,
wo sich dann croupöse Auflagerungen oder Infiltrationen der Mucosa finden
(Scharlach- Croup). Diese Laryngitis macht sich nach Mayr mehr durch eine
Heiserkeit der Stimme und Respirationsbeschwerden , als durch charakteristische
[22 SCHARLACH.
llusttiiantalle bemerkbar, welche letztere nur selten und mit geringer Intensität
erfolgen.
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass die Athmungsbeschwerden
and auch die stenotischen Erscheinungen , welche bei der Angina scarlatinosa
auftreten, nicht immer durch eine Larynxaffection bedingt sind. Selbe haben sehr
häufig ihren Grund in einer bedeutenden Schwellung der Tonsillen und der
angrenzenden Partien des Pharynx, weil dadurch der Isthmus faucium und der
Adiius laryngis verengt wird. Eine gleichzeitig bestehende Coryza steigert
naturgemäss die Dyspnoe und letztere erreicht den höchsten Grad, sobald sich
eine serös-eitrige Infiltration der Ligamenta aryepiglottica hinzugesellt.
Nach Henoch ist die bei Scharlach vorkommende Angina diphtherittca
von der wirklichen Diphtherie wohl zu unterscheiden und er hält diese beiden
Krankheitsformen für zwei wesentlich verschiedene Processe. Er macht hiefiir
geltend, dass Paratysen, welche man der diphtheritischen an die Seite stellen
könnte, nach der scarlatinösen Pharynxnecrose kaum vorkommen, und er hat noch
in keinem Falle Accommodationslähmungen des Auges, ebenso wenig die charak-
teristischen Lähmungen des Velum, der Nacken- oder Extremitätenmuskeln beob-
achtet. Ein anderer wichtiger Umstand liegt noch darin, dass die scarlatinöse
Rachennecrose im Gegensatz zur wirklichen Diphtherie nur eine geringe Tendenz
hat , vom Pharynx aus sich in die oberen Luftwege zu verbreiten (Henoch,
Vorlesungen über Kinderkrankheiten).
Die Entzündung der Halsdrüsen und des umgebenden
Unter hautzellgewebes kann als Begleiterin der Tonsillitis auftreten und
durch selbe bedingt sein. In diesem Falle beginnt die entzündliche Schwellung
schon in den ersten Tagen der Krankheit und befällt meist die Parotis oder
die Glandula submaxillaris oder vereinzeinte Hals- und Nackendrüsen, sowie
das sie umkleidende Zellgewebe. Diese Affection ist einseitig oder beiderseitig
und in letzterem Falle auf einer Seite mehr entwickelt als auf der anderen.
Manchmal bildet sich diese Anschwellung vollständig zurück , ein anderes Mal
vergrössert sich die Geschwulst und es kommt unter andauerndem Fieber in der
2. bis 3. Woche zur Suppuration. Nach Eröffnung des Abscesses schwindet das
Fieber allmälig oder es kann sich durch die fortdauernde Eiterung und durch
die sich weiter ausbreitende Entzündung in die Länge ziehen und zum Marasmus
führen. Erreicht die Phlegmone einen hohen Grad und wird die Incision nach
eingetretener Suppuration zu lange hinausgeschoben, so kann sich der Eiter unter
der Haut und in dem zwischen den Halsmuskeln befindlichen Bindegewebe, weit
nach abwärts senken, wobei es zu bedeutenden Zerstörungen der Cutis und des
unterliegenden Zellgewebes kommen kann. — Die Entzündung des Halszellgewebes
und der Submaxillardrüsen tritt noch in einer andern Form auf, welche Mayr
als ein der typhösen Metastase zu vergleichendes Uebel bezeichnet. Es bildet
sich nämlich in der ersten, viel häufiger aber in der zweiten Woche des Scharlach
an einer oder zu beiden Seiten des Halses, am Unterkieferwinkel eine schmerz-
hafte Geschwulst, welche sich mehr durch ihre Härte, als durch Hitze und
Röthung der Haut auszeichnet. Selbe vergrössert sich in 3 — 4 Tagen oft in
dem Grade, dass sie, hinter den Ohren beginnend, die ganze Unterkiefergegend
bis zum Schildknorpel und darüber einnimmt. Bei einer einseitigen Erkrankung
kann der Kopf nicht mehr nach der kranken Seite bewegt werden. Bei einer
beiderseitigen Affection sitzt der Kopf fast unbeweglich auf und ist meist etwas
nach rückwärts geneigt. Auch die Bewegungen des Unterkiefers sind erschwert
und der Rückfluss des Blutes gehemmt, daher das Gesicht mehr weniger gedunsen
und cyanotisch gefärbt ist. Die Respiration wird schnarchend, der Puls klein und
sehr frequent, die Extremitäten kühl, grosse Unruhe des Kranken, Somnolenz
oder Sopor.
Die Zertheilung einer solchen Geschwulst tritt in den seltensten Fällen
ein, häufig ist der Ausgang in Abscessbildung, wobei die Eiterung meist an dem
SCHARLACH. 123
untersten Theil der Geschwulst beginnt. Erfolgt die Eröffnung nicht spontan, so
schreite man frühzeitig zur Incision, damit nicht Eitersenkungen eintreten können.
Bei sehr starren Infiltraten kann es auch zur Gangrän kommen. Selbe entwickelt
sich entweder primär aus einer Brandblase und zerstört von hier aus alle Weich-
theile , oder aber sie tritt erst später hinzu. Die Zerstörung kann eine grosse
Ausdehnung erreichen, wobei nicht nur die Muskeln, sondern auch die tiefer
liegenden Halsgefässe blossgelegt werden. Gewöhnlich geht nun der Kranke durch
eine hinzutretende Complication oder durch eine profuse Blutung aus arrodirten
Arterien oder Venen oder an Abzehrung zu Grunde. Der Tod kann aber auch
während der Entwicklung und Ausbreitung dieser Zellgewebsentzündung entweder
unter Erstickungs Erscheinungen (Glottisödem) oder unter den Symptomen der
Herzparalyse eintreten.
Complicationen und Nachkrankheiten. Complicationen des
Scharlach sind ausserordentlich häufig und mannigfaltig, sie entwickeln sich meist
aus den örtlichen oder allgemeinen Erscheinungen der Scarlatina und gewinnen
oft eine solche Bedeutung, dass durch sie das ganze Krankheitsbild wesentlich
umgestaltet und auch der weitere Verlauf und Ausgang alterirt wird. Com-
plicationen können bei jeder Form (normal oder anomal) und in jeder Periode
des Scharlach auftreten und ihr Beginn lässt sich oft schon frühzeitig durch
den Thermometer erkennen. Eine solche ist sicherlich im Anzüge , wenn die
Temperatur nach vollendeter Eruption nicht fällt und wieder zur Norm zurück-
kehrt oder wenn selbe ein erneuertes Ansteigen zeigt. Die Complicationen entstehen
oft plötzlich ohne bekannte Veranlassung, in anderen Fällen gehen denselben ein-
zelne geringfügige und oft wenig beachtete Symptome voraus. Sie können sich
allmälig oder mehr weniger rasch entwickeln oder es folgen verschiedene Com-
plicationen auf einander. Je nach der Dignität der Complication und der Wichtig-
keit der befallenen Organe, kann der Tod plötzlich oder schon nach wenigen
Stunden eintreten, in anderen Fällen nimmt die Erkrankung einen protrahirten
Verlauf, es führt zur vollkommenen oder unvollkommenen Genesung oder es kommt
zu Nachkrankheiten, welche die Gesundheit und das Leben der Kranken
von Neuem bedrohen. Letztere können aber auch nach einem regelmässigen
Verlauf des Scharlach, nach einer vollkommenen Entwicklung und entsprechenden
Dauer des Exanthems ebenso häufig vorkommen, als im entgegengesetzten Falle.
Auch hier sind die Ursachen meist unbekannt, wenngleich nicht geleugnet werden
kann, dass gewisse Momente dazu disponiren. Solche sind: eine hereditäre oder
ererbte Scrophulose, Rhachitis, Anämie, Syphilis, oder ungünstige äussere Ver-
hältnisse, in denen sich der Kranke befindet, wie : unzureichende, schlechte Ernährung,
mangelhafte Pflege, dumpfe, feuchte Wohnungen, Mangel an frischer Luft u. dgl.
Diese Momente und die vielfachen, während des Scharlachprocesses auftretenden
Anomalien und Complicationen, bieten zahlreiche Ausgangspunkte für Nachkrank-
heiten, welche das ohnehin sehr variable Bild der Scarlatina noch mannig-
faltiger gestalten.
Eine häufige Complication des Scharlach bildet das Auftreten von
schweren, nervösen Symptomen, welche sich zu sehr verschiedenen Zeiten
einfinden und darnach auch zum Theil eine andere Bedeutung gewinnen. Im
Beginne der Erkrankung können sie in der Form von Somnolenz, Sopor, Delirien
und Zittern der Extremitäten vorkommen und sind dann entweder als Folge der
hohen Fiebertemperatur oder als Wirkung des Scharlachgiftes zu betrachten. Im
ersteren Falle schwinden die sensoriellen Symptome mit dem Sinken der hohen
Temperatur am 4. bis 5. Tage; der Schlaf wird ruhig, das Bewusstsein kehrt
zurück und der weitere Verlauf der Krankheit kann sich günstig gestalten. —
Den Charakter und die Bedeutung einer Blutintoxication haben sie vornehmlich in
jenen Fällen, wo sie für sich allein gleich im Anfang der Erkrankung oder gleich-
zeitig mit dem Beginne anderer Erscheinungen auftreten oder wenn sie sich mit
der Zunahme eines ohnehin schon intensiven Fiebers einstellen. - — Wieder in anderen
\24 SCHARLACH.
Fällen kommen Gehirneracheinungen höherer Grade dadurch zu Stande, dass eine
individuelle Disposition zu Hirnirritationen vorliegt, oder dass sich eine Gehirn -
hyper&mie oder selbst eine Exsudation innerhalb der Schädelhöhle entwickelt.
Ebenso häufig erscheinen Hirnsymptome beim Eintritt einer schweren Complication
oder bei einer intensiven Nephritis und einer darauf folgenden Urämie. — Alle
Fi innen von hochgradigen Gehirnerscheinungen geben eine schlechte Prognose,
denn .solche Fälle enden mit grosser Wahrscheinlichkeit letal. Im Allgemeinen
sind die krampf- und lähmungsartigen Symptome von einer schlimmeren Bedeutung,
während selbst die heftigsten Delirien wieder schwinden können.
Augenentzündungen kommen im Beginne des Scharlach viel seltener
vor als bei Masern und Blattern. Dagegen entwickeln sich im späteren Verlaufe
insbesondere bei scrophulösen Individuen oft sehr hartnäckige Ophthalmien (Keratitis,
Cornealgeschwüre, Cornealabscesse, Keratomalacie etc.).
Zu einer wichtigen Complication können sich die während des Scharlaeh-
processes auftretenden Affectionen im Ohre gestalten. Am häufigsten beob-
achtet man die Otitis media. Bei einer vorhandenen Pharyngitis kann sich nämlich
die Entzündung auch auf die Schleimhaut der Tuba Eustachii und von da in das
Mittelohr fortsetzen. Den Beginn dieses Leidens kennzeichnen gewöhnlich heftige
Schmerzen im Ohre und die andauernden oder neuerdings auftretenden Fieber-
Erscheinungen. Es kann zu einer Otitis catarrhalis oder suppurativa des Mittel-
ohres und in weiterer Folge zur Perforation des Trommelfelles und zu lang-
dauernden Otorrhoen kommen, aber auch Paralyse des N. facialis, Entzündung
und Caries des Warzenfortsatzes mit complicirender Phlebitis und Meningitis mit
schleppendem Verlauf oder rasch tödtlichem Ende findet man bei Scharlach schon
in dessen früheren Stadien oder sie stellen sich erst in späterer Zeit als Nach-
krankheiten ein.
Die Goryza scarlatinosa ist schon seit jeher als Complication
des Scharlach berüchtigt gewesen. Diesen üblen Ruf verdient sie nicht so sehr
ihrer selbst willen, als vielmehr deshalb , weil man sie meist nur in Begleitung
hochgradiger Affectionen im Pharynx antrifft. Leichtere Grade, welche sich vom
gewöhnlichen Nasencatarrh durch nichts unterscheiden, können bei jeder gut-
artigen Scharlachform vorkommen, die höheren Grade verlaufen mit anderen
bedenklichen Erscheinungen. Oertlich stellen sich Schmerzen in der Nase und den
Wangen ein und aus den Nasenöffnungen fliesst fortwährend ein copiöses Secret,
welches bald dünnflüssig, schleimig, bald mehr eitrig oder jauchig ist. Dasselbe
arrodirt, wie bei der Diphtheritis der Nase, den Naseneingang und die Oberlippe,
bedingt daselbst Röthung, Entzündung und Verschwärung. Im weiteren Verlaufe
können insbesondere an der knöchernen Scheidewand tiefgreifende Substanzverluste
und, wenn die Ulceration fortschreitet, auch Caries der unterliegenden Knochen und
Knorpel entstehen. Angina dipJitheritica oder gangraenosa, Anschwellungen der
Submaxillardrüsen und Infiltrationen des Zellgewebes in der Unterkinngegend, sind
mit einer solchen Coryza häufig in Gesellschaft.
Auch die Mundschleimhaut kann in ähnlicher Weise wie der
Pharynx afficirt werden. In leichteren Fällen ist nur eine catarrhalische oder
aphthöse Entzündung der Schleimhaut vorhanden, in schweren Fällen dagegen
sind oft schon am fünften Tage der Krankheit die Lippen, meist auch die Zunge,
seltener aber der harte Gaumen mit graugelblichen Plaques inselförmig oder in
grösseren Strecken bedeckt. Diese Stomatitis scarlatinosa ist oft so schmerzhaft,
dass die Kinder die Zunge nicht bewegen und auch nicht essen oder trinken
können. An den Wundwinkeln und der Lippe befinden sich gewöhnlich noch
Rhagaden, welche leicht bluten und oft mit einem graugelben Belag bedeckt sind.
Es kann auch zu tiefer gehenden Zerstörungen an der Schleimhaut und im snb-
mucösen Gewebe und dadurch zu stärkeren Blutungen kommen.
Die Entzündungen der Submaxillardrüsen und des Bindegewebes am
Halse werden in der Regel als Complication aufgefasst, sie wurden aber schon
SCHAELACH. 125
früher im Zusammenhange mit den Pharynx-Erkrankungen besprochen. — Entzün-
dungen und Vereiterungen einzelner Drüsen an den verschiedensten Körperstellen
haben in der Regel keine Bedeutung und verdienen oft kaum den Namen einer
Complication.
Entzündliche Affectionen der Athm ungsorgane, Catarrhe
der Trachea und Bronchien, mehr oder minder ausgebreitete
Bronchopneumonien und acute Pleuritis findet man bei Scarlatina
öfters, aber ungleich seltener wie bei den Morbillen. Die Entzündungen der Luftwege
entwickeln sich meist zur Zeit der Florition des Exanthems und die Mehrzahl der
Fälle, in welchen sich eine Bronchitis als Complication hinzugesellt, weichen mehr
weniger von dem normalen Verlauf ab. — Eine weit schlimmere Complication sind
die Pneumonien, welche etwa 2 — 3 Wochen nach Beginn der Krankheit auftreten
und gewöhnlich mit einer Nephritis zusammenfallen; sie combiniren sich auch
gerne mit Pleuritis. Neben den physikalischen Erscheinungen kennzeichnen den
Beginn dieser Complication Schmerzen, Dyspnoe, quälender Husten und erneuerte
Fieber-Exacerbationen. Häufig sind noch andere gefahrdrohende Zustände vor-
handen, wie: heftige Gehirnerscheinungen, intensive Pharyngitis, Phlegmone des
Halszellgewebes u. s. w.
Das Glottisödem, der Scharlachcroup und das acute Lungenödem wurden
schon bei den Fällen mit anomalem Verlaufe erwähnt.
Erscheinungen einer heftigen Gastritis kommen beim Scharlach manch-
mal vor, sie gehen gewöhnlich vorüber und bringen selten Gefahr.
Entzündungen der Intestinal Schleimhaut compliciren den
Scharlach gewöhnlich auf seinem Höhepunkt, sie sind meist catarrhalischer, selten
croupöser Natur. Ihre Erscheinungen sind massige Diarrhoen, leichte Auftreibung
und Schmerzhaftigkeit des Unterleibes. Die Stühle sind flüssig, schleimig, enthalten
grössere Quantitäten verödeter Epithelial- und Eiterzellen, häufig auch Blut-
körperchen. Dabei ist die Zunge hochroth ircd trocken, der Durst gross, die
Urinabsonderung spärlich , die Haut welk und heiss. Oft tritt namentlich bei
Kindern schneller Collapsus ein (Mayr).
Auch auf den serösen Häuten treten im Verlaufe des Scharlach
Complicationen auf und unter diesen nehmen die entzündlichen A f f e c t i o n e n
in den Synovialmembranen der Gelenke der Häufigkeit nach den ersten
Platz ein. Sie können sich schon im Eruptionsstadium, sonst aber auch zu jeder
Zeit der Erkrankung entwickeln. Sie gehen gewöhnlich mit einer mehr weniger
bedeutenden Temperatursteigerung einher, sie zeigen eine grosse Flüchtigkeit und
eine Vorliebe für die Gelenke der Hand , Finger und der Halswirbel , seltener
werden grosse Gelenke befallen. — In manchen Fällen sind die Gelenke nur
schmerzhaft, ohne Schwellung oder einer nennenswerthen Functionsstörung.
Eine grössere Bedeutung erlangt aber diese Affection, wenn mit dieser
Schmerzen , Hitze und Röthe , sowie eine stärkere Schwellung der Gelenke und
eine namhafte Functionsstörung gepaart ist (Synovitis scarlatinosa) . Man
beobachtet nämlich diese Form seltener bei einem normalen Scharlachfieber, viel
häufiger aber in Verbindung mit anderen, mehr weniger schweren Symptomen wie :
intensive Halsaffection , Entzündungen anderer seröser Häute, als: der Meningen,
Pleura, des Peri- und Endocardiums, selbst des Peritoneums. — Die Meningitis
tritt selten ein, sie verläuft sehr acut und mit grosser Heftigkeit der Erscheinungen.
Intensive Kopfschmerzen, grosse Unruhe, furibunde Delirien und ein hohes Fieber
sind die ersten Erscheinungen, denen bald Convulsionen und die Symptome des
Hirndruckes folgen. — Die Pleuritis hat das Eigentümliche , dass sie sich
sehr rasch entwickelt und meist ein purulentes Exsudat setzt. Sie kann, wie die
Pericarditis, mit welcher sie sich gerne combinirt, unter so geringen Er-
scheinungen beginnen, dass nur eine genaue physikalische Untersuchung die Existenz
dieser Complicationen in vivo nachzuweisen vermag. — Ganz besonders beachte man
das Herz, dessen Membranen beim Scharlach nicht selten entzündlich afficirt
[26 SCHARLACH.
werden. Bei mancher, sonst ziemlich normal verlaufender Scarlatina treten in der
weiten oder dritten Woche oft plötzlich systolische Geräusche auf, welche wegen
der gleichzeitig verstärkten Action des Herzmuskels, des begleitenden hohen Fiebers
iiml der Schmerzen in den verschiedenen Gelenken auf eine Endocarditis bezogen
werden müssen. — Peritonitis ist eine seltene Complication und wird meist
.ils Folge einer schon bestehenden Bauchfell- und Meseuterialdrüsen-Tuberkulose
beobachtet.
Eine nur in manchen Epidemien vorkommende Complication ist die
Arthritis scarlatinosa, welche gewöhnlich um die Zeit der Desquamation
beginnt und vorzugsweise das Knie- und Ellbogengelenk, seltener das Hüft-, Fuss-
und Schultergelenk befällt. Sie tritt manchmal mit einem Schüttelfroste und darauf-
folgender grosser Hitze auf, dabei sind die befallenen Gelenke sehr schmerzhaft,
geschwollen und in ihren Functionen gestört. Sie führt in der Eegel zur Eiterung und
Pyämie, oder, wenn das Kind am Leben bleibt, zu Caries, Muskelcontracturen u. dgl.
Seiteuer beobachtet man Periostitis , Caries oder Necrose einzelner Knochen.
Brandige Processe kommen bei cachectischen und abgemagerten
Individuen manchmal an verschiedenen Körperstellen , wie an den Genitalien , im
Gesichte u. dgl. vor. Sie werden nach Scharlach übrigens viel seltener beobachtet
als nach Masern. Sie nehmen ihren Ausgang stets von der Schleimhaut der
betreffenden Organe und durch sie wird die Prognose meist ungünstig.
Endlich finden sich bei Scharlach zufällige Complicationen mit
den verschiedensten Erkrankungen. Unter den chronischen zeigt sich auffallend
selten die Tuberkulose, unter den acuten wurde das gleichzeitige Vorkommen von
Varicella, Variola und Morbillen mit Scarlatina beobachtet. Einzelne Autoren
leugnen das gleichzeitige Vorkommen zweier acuter Exantheme , während andere
derlei Fälle beobachtet und veröffentlicht haben.
Diagnose. Die charakteristischen Merkmale des Scharlach bestehen
in einem Hautexanthem mit einer fein punktirten Röthe, welche sich über die
Körperoberfläche ausbreitet , in der entzündlichen Affection der Rachenorgane , in
einer späterhin auftretenden Desquamation, in dem Vorkommen von Albumen im
Harn und in den diesen Krankheitsprocess begleitenden Fiebererseheinungen. Je
nachdem nun diese Merkmale entweder nur vereinzelt oder mehrere miteinander
vorhanden sind, gestaltet sich die Diagnose schwieriger oder leichter und in
manchen Fällen wird sie erst nach längerer Beobachtung , zuweilen erst im Ab-
schuppungsstadium möglich.
Schwierig bleibt die Diagnose beim ersten Auftreten der Symptome. Hier
bilden die einzigen Anhaltspunkte : das Erbrechen , die plötzlich eintretenden und
rasch sich steigernden Kopfschmerzen, die Schlingbeschwerden und die auffallende
Veränderung in dem ganzen Befinden des Kranken. Besteht gleichzeitig eine
Epidemie und hat eine Berührung mit Scharlachkranken stattgefunden, so sind
dies Momente , welche zur frühzeitigen Erkenntniss der Erkrankung wesentlich
beitragen.
Grosse Schwierigkeiten bietet die Diagnose, wenn das Exanthem nur
unvollkommen oder sehr schwach entwickelt ist. Hier entscheiden oft eine vor-
handene Angina, die Scharlachzunge oder eine Schwellung der Halsdrüsen, in den
späteren Stadien giebt dann oft eine eintretende Desquamation oder eine Albuminurie
mit oder ohne Hydrops nebst anderen Zeichen der Nephritis volle Aufklärung über
den früher zweifelhaften Fall.
Bei einer verdächtigen Angina ohne oder mit einem unvollkommen ent-
wickelten Hautausschlag kann möglicherweise eine Scharlachzunge, eine später
nachfolgende Abschuppung oder eine auftretende Nierenentzündung die Diagnose
sicherstellen.
Die Angina scarlatinosa (sine exanthemate) ist wohl zu unterscheiden
von der Angina diphtheritica (non scarlatinosa). Zwischen beiden bestehen
Unterschiede, welche die Diagnose möglich machen. Wenn auch die Angina
SCHÄRLACH. 127
scarlatinosa ohne Exanthem auftritt, so wird das gleichzeitige Vorkommen von
Scharlach und der frühere Verkehr mit Scharlachkranken den Verdacht erregen,
dass eine solche Angina searlatinöser Natur sei. Die Angina scarlatinosa verlauft
in günstigen Fällen innerhalb der ersten 7 Tage, der Verlauf der Diphtheritis ist
gewöhnlich weit langsamer. Die scarlatinöse Angina setzt sich höchst selten auf
die Schleimhaut des Larynx und der Luftwege fort, die Diphtheritis zeigt die
entgegengesetzte Tendenz und wird gerade häufig durch ihre Verbreitung auf den
Larynx und den daraus entstehenden Kehlkopfcroup gefährlich. Die Angina
scarlatinosa endigt oft mit Abschuppung auf den allgemeinen Decken oder es
folgen noch die Nachkrankheiten des Scharlach , wie Parotiden , Hydrops u. dgl.
Solche Folgen finden sich bei der Diphtheritis nicht, obwohl Albuminurie auch
hier vorkommen kann. Die Angina scarlatinosa entwickelt ein Con-
tagium, dessen Einwirkung auf andere Individuen einen aus-
geprägten Scharlach zu erzeugen vermag, eine Eigenschaft, welche
der Diphtheritis fehlt.
Eine acute Nephritis , Anasarca oder Hydrops kann manchmal inmitten
scheinbarer Gesundheit auftreten. Selbe ist bei Abwesenheit anderer Ursachen
meist scarlatinösen Ursprungs. Diese Diagnose gewinnt an Wahrscheinlichkeit,
wenn einige Wochen vorher ein — - wenn auch nur sehr flüchtiges Exanthem oder
eine Angina unter fieberhaften Erscheinungen vorausgegangen ist und dies war
sicher Scharlach gewesen, wenn man noch Spuren der Desquamation an den Hand-
flächen oder Fusssohlen findet.
Am unsichersten ist die Beurtheilung der rudimentären bösartigen Scharlach-
fälle, bei welchen unter heftigem Fieber, schweren Hirnsymptomen, bei oft geringer
Angina und nach flüchtigen localen Hauthyperämien der Tod binnen kurzer Zeit
eintritt Bei Kindern solcher Familien, in denen Scharlach herrscht, und bei einer
constatirten Infection rechtfertigen selbst diese unvollkommenen Symptome die
Diagnose Scharlach.
Um in zweifelhaften Fällen überhaupt diagnostische Irrthümer zu ver-
meiden, ist es dringend geboten, die Haut wiederholt und genau zu untersuchen,
ebenso kann die Beschaffenheit der Zunge, der Rachenorgane, der Gang des Fiebers,
eine etwa vorhandene Desquamation, das Auftreten von Albumen im Harne oder
hydropische Anschwellungen für die Diagnose wichtige Anhaltspunkte gehen.
Nebstdem informire man sich genau über die Verhältnisse des ersten Auftretens
der Erkrankung, vorausgegangenes Zusammensein mit Scharlachkranken und früher
überstandene Exantheme.
Prognose. Selbe ist beim Scharlach mit aller Vorsicht zu stellen —
selbst die leichteste Form desselben ist keine gleichgiltige Erkrankung, denn wenn
sie auch gutartig beginnt und anfangs normal verläuft, so können doch späterhin
unerwartet bedenkliche Anomalien und Complicationen auftreten, welche manchmal
sogar das Leben bedrohen. Einen normalen günstigen Verlauf kann man erwarten,
wenn das Fieber innerhalb massiger Grenzen bleibt, mit der Eruption gleichen
Schritt hält und mit dem Erblassen des Exanthems auch wieder schwindet. Erreicht
die Temperatur in den ersten Tagen der Erkrankung 40° und darüber, so können
Gehirnerscheinungen (Somnolenz oder Delirien) auftreten. Haben letztere keinen
allzu hohen Grad, verlieren sie sich mit dem Sinken der Temperatur am 4. bis
5. Tage, hat sich das Exanthem regelmässig entwickelt, ist dabei die Angina
massig, der Puls nicht allzu frequent und von guter Beschaffenheit , ist der Urin
frei von Eiweiss, so kann man ungeachtet der cerebralen Symptome hoffen , dass
ein solcher Scharlachfall weiter einen normalen Verlauf nehmen werde.
Ueber die Bedeutung der Krankheitserscheinungen, welche einen Schluss
auf den besseren oder schlimmeren Verlauf des Scharlach gestatten, lässt sich
Folgendes bemerken.
Das Verhalten des Fiebers ist für die Prognose von höchster Wichtigkeit.
Ein continuirliches Fieber mit ungewöhnlichen Krankheitserscheinungen (heftige
128 SCHARLACH.
Delirien, tiefer Sopor u. dgl.) ist immer bedenklich; die Fortdauer einer hohen
Temperatur ober die gewöhnliche Zeit ist meist von Complicationen abhängig, eine
Bolehe isl auch zu befürchten, wenn in den abfallenden Gang der Temperatur
erneuert eine erhebliche und andauernde Steigerung auftritt. — Hohes Fieber,
tiefe Betäubung, furibunde Aufregung oder grosse Muskelschwäche, Ohnmächten,
Convulsionen und Collapsus lassen ein letales Ende mit grosser Wahrscheinlichkeit
erwarten und nicht selten tritt der Tod ein , ehe das Exanthem zur Eruption
gekommen ist.
Intensiv rothes Exanthem , sowie violette oder livide Färbung desselben
mahnen zur Vorsicht in der Prognose , welche noch zweifelhafter wird , wenn
unter bedeutenden fieberhaften und nervösen Erscheinungen kleine Petechien oder
grössere Blutsugillationen , zumal bei blassem Exanthem , auf den allgemeinen
Decken oder au den Schleimhäuten auftreten. — In Fällen, wo der Scharlach-
ausschlag unerwartet schnell von der Haut verschwindet, sind meist Complicationen
im Anzüge, zuweilen ist dies Ereigniss der Vorläufer eines eintretenden Collapsus,
welcher gewöhnlich letal endet. Kommen zu einem solch' frühzeitigen oder raschen
Verschwinden des Exanthems noch Convulsionen hinzu, so ist der tödtliche Ausgang
innerhalb einer kurzen Zeit zu gewärtigen.
Die Angina und die Anschwellung der Mandeln sind im Beginne einer
anomal verlaufenden Scarlatina oft schon ungewöhnlich stark entwickelt und können
heftige Gehirnerscheinungen und grosse Unruhe, ausserdem nicht selten schwere
Dyspnoe und Erstickungsanfälle bedingen. Diese Symptome sind ominös , aber
noch gefährlicher wird der Zustand, wenn gleichzeitig eine heftige Coryza besteht,
wenn sich an den Rachenorganen Gangrän oder Diphtheritis entwickelt und wenn
Symptome des Fortschreitens dieser Processe auf den Kehlkopf und die Trachea
auftreten. Die Kranken gehen dann häufig unter zunehmender Hinfälligkeit an
Prostration, oder oft plötzlich an Erstickung zu Grunde. — Gleich grosse Gefahren
birgt eine starke Zellgewebsinfiltration in Verbindung mit Lymphadenitis am Halse
und Periparotitis , vorzugsweise bei dem Ausgange in Gangrän oder bei einer
Perforation des Abscesses nach innen (Luftröhre , Speiseröhre) und bei starken Eiter-
senkungen. Auch hier kann der Tod rasch erfolgen, oder es zieht sich die Krankheit
in die Länge und endet erst letal durch andere hinzutretende Complicationen.
Ungünstig kann sich der Verlauf des Scharlach auch gestalten, wenn sich
eine Nephritis entwickelt. Selbe führt unter starker Verminderung der Harnmenge
und manchmal mehrtägiger Anurie häufig zur Urämie oder zu allgemeinem Hydrops
und zu Transsudaten in verschiedenen Organen und Körperhöhlen.
Die meisten während des Scharlach auftretenden Complicationen und Nach-
krankheiten trüben die Prognose oft bedeutend, sie verzögern entweder blos die
Eeconvalescenz oder sie bedingen einen letalen Ausgang.
Auch der sogenannte Charakter der Epidemie giebt für die Vorhersage
einige Anhaltspunkte. In manchen Epidemien verlaufen nämlich die meisten Fälle
günstig und die Sterblichkeit ist eine geringe, dagegen zeichnen sich wieder andere
Epidemien durch das häufige Auftreten von gefährlichen Complicationen und Folge-
krankheiten aus und die Mortalität steigert sich in solchen oft zu einer bedeutenden
Höhe (25°/0 , sogar 30 — 40°/0). Nach der Erfahrung vieler Autoren kommen
ferner im Beginne und auf der Höhe der Epidemie die meisten schweren Scharlach-
fälle vor, dagegen soll diese Krankheit gegen das Ende der Epidemie meist
günstiger verlaufen. — Die Jahreszeit hat keinen nachweisbaren Einfluss auf den
Krankheitsverlauf. — Sporadische Scharlachfälle sind nicht immer gutartig, während
des Vorherrschens von Croup, Typhus, Dysenterie und Cholera wird auch eine
Scharlacherkrankung gefährlich.
Endlich sind bei der Prognose noch die individuellen Verhältnisse des
Kranken zu berücksichtigen.
Das Alter. Je jünger das erkrankte Individuum ist, desto grösser die
Gefahr. Die meisten Säuglinge, überhaupt der grösste Theil der im ersten Lebensjahre
SCHARLACH. 129
ergriffenen Kinder erliegen dem Scharlach , ebenso sind Kinder von 2 — 6 Jahren
sehr gefährdet und besitzen eine ziemlich gleich grosse Mortalität. Mit den
späteren Kinderjahren bessert sich die Prognose, während bei erwachsenen
Personen, besonders Schwangeren, Wöchnerinnen und Kranken wieder häufiger
schwere Scharlachformen vorkommen.
Das Geschlecht ist in Bezug auf den besseren oder schlechteren Verlauf
der Krankheit oder deren Mortalität von keiner Bedeutung, denn einmal erkranken
und sterben mehr Knaben, ein anderes Mal wieder mehr Mädchen.
Die Constitution. Schwächliche, kränkliche Kinder, ebenso schlecht
genährte und schlecht gepflegte Individuen sollen eine grössere Mortalität haben
als kräftige und vorher gesunde. Aber auch bei diesen letzteren nimmt der
Scharlach nicht selten einen anomalen und ungünstigen Verlauf.
Der Tod kann im Scharlach zu den verschiedensten Zeiten eintreten,
sowohl im Beginn als auf der Höhe der Krankheit, ja sogar noch in der Recon-
valescenz. Die Krankheit an und für sich ist häufiger tödlich als jede andere,
ausserdem wird das letale Ende noch durch verschiedene Zufälle und durch zahl-
reiche Complicationen herbeigeführt.
Therapie. Diese zerfällt in eine prophylactische und therapeutische.
Erstere soll dem Ausbruche der Krankheit vorbeugen und die Weiterverbreitung
derselben verhüten. Für den ersteren Zweck hat man verschiedene Mittel und
Massregeln vorgeschlagen. So haben ältere Aerzte den innerlichen Gebrauch von
Mineralsäuren als Präservativ gegen den Scharlach gepriesen , Hufeland und
Hahnemann lobten als solches die Belladonna , wieder andere haben Fett-
einreibungen oder Waschungen des Körpers mit Wasser oder mit verdünntem
Essig u. dgl. empfohlen, aber alle diese Massregeln sind nicht im Stande, das
aufgenommene Scharlachcontagium in seinen weiteren Wirkungen aufzuhalten.
Die einzig wirksame Prophylaxis ist die vollständige Isolirung
des Kranken und die Desinfection der vom ihm benützten Wohnräume,
sowie überhaupt aller Gegenstände , welche mit dem Kranken in Berührung
gekommen sind. Die gesunden Kinder sind von den kranken abzusondern und
aus dem Hause zu entfernen. Das Verbleiben der gesunden in der früheren
Wohnung — auch wenn der Kranke sein eigenes Zimmer hat — ist nur eine
halbe Massregel, welche durch den Verkehr der Mutter und Wärterinnen mit
den übrigen Personen nur zu häufig illusorisch wird. — Um die Verbreitung des
Scharlach durch Gesunde zu verhüten, ist jedem Kinde, in dessen Familie ein
Scharlachfall vorkommt, der Besuch der Schule, der Kindergärten etc. zu unter-
sagen und es ist der behandelnde Arzt zu verpflichten, die Erkrankung anzuzeigen.
— Häufen sich die Scharlacherkrankungen, so sind die Schulen zu schliessen,
noch bevor diese Krankheit durch Weiterverbreitung zu einer vielleicht sehr
schweren Epidemie angewachsen ist. — Aufbahrungen der an Scarlatina Ver-
storbenen sind ebenso zu verbieten, wie deren feierliche Bestattung.
In dem Krankenzimmer sollen nur die notwendigsten Gegenstände
und Geräthschaften belassen und alles Andere entfernt werden. Der Kranke hat
nur die für ihn bestimmten Wäschstücke in Gebrauch zu nehmen. Die zu ent-
fernenden Wäschstücke und Bettüberzüge sind , ohne sie zu schütteln oder
abzustauben, in einen innerhalb des Zimmers selbst bereit stehenden Behälter
mit Kaliseifenlösung oder l°/0iger Carbolsäurelösung einzulegen. Der Behälter
soll einen gut schliessenden Deckel haben und leicht in die Desinfectionsanstalt
transportirt werden können. Die vom Kranken etwa benützten Verbandstücke sind
zu verbrennen.
Die Se- und Excrete des Kranken sind in Gefässe zu entleeren , welche
Desinfectionsmittel (Eisenvitriol, Eisenchlorid oder Chlorzink) enthalten.
Die mit der Wartung und Pflege der Kranken betrauten Personen sollen
lichte glatte Oberkleider tragen, welche vor dem Verlassen der Krankenzimmer
abzulegen und oft zu waschen und zu desinficiren sind.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 9
130 SCHARLACH.
Eine wirksame Desinfection der Wohnräume wird erst dann möglich,
wenn der Kranke das Zimmer verlassen kann. Fussboden, Wände, Fenster, Möbel
und Geräthachaften können mittelst Tücher, Schwämme und Bürsten gut und sorg-
fältig abgerieben werden. Ueberdies desinficirt man die Räume mit schwefliger
S.iu,-,.. — Betten, Matratzen, Kissen, Decken, Teppiche, nicht waschbare Kleider
und dergleichen Effecten werden am besten durch überhitzten Wasserdampf des-
infioirt, oder es werden zu diesem Zwecke andere Desinfectiousmittel angewendet,
welche die Gegenstände nicht beschädigen.
Der Reconvalescent selbst darf erst nach vollendeter Desquamation und
nach einem mehrmaligen Bad und im frischen Anzüge mit der übrigen Familie
wieder in Verkehr treten.
Regimen. Das Krankenzimmer soll keine höhere Temperatur alsl5°R.
haben und werde fleissig gelüftet. Der Kranke selbst bleibe vom Beginn der
Erkrankung bis zur vollendeten Desquamation im Bette, er sei nur massig und
nicht allzu warm zugedeckt. Man pflege die grösste Reinlichkeit und versorge
den Kranken häufig mit reiner Bett- und Leibwäsche. — Als Getränk bekomme
er frisches Wasser , die Diät beschränke sich im Beginne und bis zur Acme der
Krankheit auf Milch, Fleischbrühe oder Schleimsuppe, erst nach Abfall des Fiebers
und bei eintretender Reconvalescenz kann man eingekochte Suppe, Milchspeisen
oder Compot geben. Jede Ueberfüllung des Magens ist strenge zu meiden, ebenso
hüte man sich vor dem frühzeitigen Genüsse von Fleischspeisen. — Der Patient
darf das Bett nicht früher verlassen , bevor nicht schon einige Tage alle krank-
haften Erscheinungen geschwunden sind, insbesondere ist auf die Beschaffenheit
des Urins zu achten. — Nach Ablauf des Desquamationsstadiums , also ungefähr
zu Ende der dritten Woche, kann man ein lauwarmes Bad verordnen und dasselbe
jeden dritten Tag wiederholen lassen. Zu Ende der 4. — 5. Woche kann der
Patient die freie Luft gemessen, wenn bis dahin die Abschuppung beendet ist und
der Harn kein Eiweiss enthält.
Das therapeutische Verfahren ist in normal und günstig ver-
laufenden Fällen ein exspeetatives. Je einfacher die Behandlung , desto günstiger
gewöhnlich der Verlauf. Ist man durch äussere Umstände veranlasst, Medicamente
verordnen zu müssen, so wähle man unter ihnen indifferente Mittel, lasse dabei den
Mund fleissig reinigen, sorge für tägliche Stuhlentleerung und halte strenge Diät.
Sowohl im Beginne des Scharlach als auch im späteren Verlaufe treten
aber nur zu häufig Erscheinungen auf, welche ein therapeutisches Eingreifen
dringend erfordern , und welche von einer wirksamen Therapie zum Theil mit
Erfolg bekämpft werden können.
Zu diesen gehört vor Allem das Fieber und das mit demselben
zusammenhängende Auftreten von erheblichen Störungen der Nerven-
thätigkeit. Das Fieber kann durch seine Intensität und Dauer Gefahr bringen
und zur Abwendung dieser wird die hydrotherapeutische Behandlung empfohlen,
welche man in der Regel noch durch eine medicamentöse Therapie unterstützt.
Um die Körpertemperatur herabzusetzen, gebraucht man Bäder, macht kalte Ein-
packungen, Waschungen u. dgl. Die Bäder sollen, wenn sie bei Kindern
angewendet werden, eine Temperatur von 20° R. haben, das Bad selbst dauere
5 — 10 Minuten. Unmittelbar nach dem Bade soll der Kranke Ruhe haben, er
werde in trockene Tücher gewickelt, in's Bett gelegt und bekomme sodann etwas
Wein. Kältere Bäder (unter 20° R.) wirken bei Kindern auf das Nervensystem
oft zu energisch ein und es können leicht beängstigende Collapserscheinungen
auftreten. Für sehr schwache Kranke verwende man die von Ziemssen angegebenen
allmälig abgekühlten Bäder, bei denen man mit 28° R. beginnt und durch
langsames Zugiessen von kaltem Wasser die Temperatur allmälig bis auf 20
oder 18° R. herunterbringt. — Henoch empfiehlt laue Bäder mit einer Tem-
peratur von 24 — 25° R. und er widerräth die kühleren Bäder aus dem Grunde,
weil der Scharlach an und für sich schon zum Collaps durch Herzschwäche hinneigt
SCHARLACH. 131
und weil diese Krankheit mehr als eine andere einen unerwartet schnellen Verlauf
nehmen kann. Dagegen macht er dreistündlich kühle Waschungen des ganzen
Körpers. Die Kinder nehmen die lauen Bäder gern, und nach Henoch's Erfah-
rungen macht die hohe Temperatur ersichtlich starke Remissionen und binnen
wenigen Tagen schwindet die Soinnolenz und Bewusstlosigkeit. — K a 1 1 e E i n-
wicklungen werden selbst von den schwächsten Kranken meist gut vertragen ;
sie sind besonders für Kinder zu empfehlen, weil bei letzteren alle Wärmeentzie-
hungen wegen der relativ grossen Körperoberfläche viel stärker einwirken. Man
macht die Einpackungen in der Weise, dass sie vom Hals bis an die Oberschenkel
reichen und man lässt sie in der Dauer von je 15 — 20 Minuten 4mal aufeinander
folgen. — Kalte Abwaschungen äussern nur eine vorübergehende Wirkung,
ebenso haben localeWärmeentziehungen (kalte Umschläge, Eisbeutel u. dgl.)
keinen wesentlichen Einfluss auf die Herabsetzung der Körpertemperatur. —
Kalte Uebergiessungen sind nur dann indicirt, wenn Coma, schwerer Sopor
oder furibunde Delirien — ohne Erscheinungen beginnender Herzparalyse — vor-
liegen. Sie werden in einer leeren Wanne oder im lauen Halbbad vorgenommen.
Bäder, kalte Einpackungen u. dgl. sind je nach der Höhe der Fiebertemperatur
täglich 2 — 3mal zu wiederholen. .
Mit der wärmeentziehenden Methode ist ferner der innerliche Ge-
brauch von antipyretischen Mitteln zu verbinden, wozu sich besonders das Chinin
und das salicylsaure Natron empfiehlt. Vom ersteren Mittel giebt man je nach dem
Alter des Kindes 0'5 — 1*0 — 1'5 Grm. pro die, vom Natr. salicylic. lässt man
täglich 2-0 — 2-5 Grm. nehmen. Hierbei sei bemerkt, dass Wertheimber vor den
Salicylsäurepräparaten warnt, weil grössere Dosen dieser Mittel durch Hervor-
rufnng einer Nierenhyperämie schaden.
Die antipyretische Behandlung hat in der Regel nur in jenen Fällen
einen Erfolg, wo das hohe Fieber gefährliche Zustände entweder selbst erzeugt,
oder erzeugen hilft. Natürlicherweise kommen — und leider nicht gar so selten —
Fälle vor, wo schwere Intoxications-Erscheinungen sich mit dem hohen Fieber
combiniren. Gerade diese lassen die Antipyretica wirkungslos erscheinen und
endigen trotz ihrer Anwendung letal.
In allen schweren Scharlachfällen sind ferner der drohende oder schon
eingetretene Collapsus und andere grosse Schwächezustände jene Momente,
welche den Arzt gleichfalls zum Handeln auffordern. Sobald derlei Erscheinungen
auftreten, darf man mit der Anwendung der Excitantien nicht zaudern und man
verordnet in diesen Fällen Wein, Caffee, Campher oder Moschus. Der Wein wird
stündlich 1 — 2 Kinderlöffel voll, der Caffee als starker Aufguss zu einer halben
Tasse mehrmals täglich gegeben. Man verschreibt vom Campher 0*06 — 010,
von Moschus O05— 0*10 zweistündlich je nach dem Alter der Kinder. In Fällen,
wo das Schlucken durch die grosse Anschwellung der Rachenorgane sehr schwer
oder unmöglich ist, kann man ernährende Clystiere versuchen und mehrmals des
Tages eine Campher- oder Aetherinjection machen.
Durch die rechtzeitige und consequente Anwendung von Stimulantien
gelingt es manchmal, selbst ganz desperaten Fällen wieder eine bessere Wendung
zu geben. Ohnmächtig ist aber jede Therapie in jenen Fällen, welche als schwere
Intoxication des Scharlachgiftes auftreten und welche noch vor dem Ausbruche
des Exanthems die ominösesten Symptome darbieten, wie: furibunde Delirien,
tiefer Sopor, Coma, grosse Frequenz und Kleinheit des Pulses, Kühle der Extremi-
täten und cyanotische Hautfärbung. Ebenso wird der Erfolg der Therapie bei
Anwesenheit schwerer Complicationen (Pneumonien , Pleuritis , Peri- und Endo-
carditis etc.) zweifelhaft sein.
Das vielgerühmte Ammonium carbonicum und das in neuerer Zeit
empfohlene Natrum subsulfurosum haben keine besondere Wirksamkeit aufzuweisen.
Die Angina erfordert, so lange sie nicht einen höheren Grad erreicht
hat, keine besondere Behandlung. Man lasse den Mund mit schwächeren Solutionen
9*
132 SCHAItLACH.
roo Kali chlorte., Kali hypermanganic. u. dgl. fleissig ausspülen und gebe
uöthigenfallfl auch einen Priessnite-UmBchlag um den Hals. Bei schweren Pharynx-
aflectionen (parenchymatöser Tonsillitis. Angina diphtheritica oder gan-
graenosa etc. ist neben einer allgemeinen tonisirenden Behandlung auch eine
Loealther&pie unbedingt nothwendig, welche hier nur im Allgemeinen besprochen
werden soll. Bei einer lebhaften entzündlichen Röthe und grösseren Schwellung
der K;uhenurLrane lasse man kalte Umschläge um den Hals appliciren und häufig
fSiswasser oder Eispillen schlucken. Ist die Pharynxaffection mit Diphtheritis oder
Gangrän complicirt, so gebrauche man desinficirende Gurgelwässer, oder man
mache Ausspritzungen der Nasen- und Mundhöhle mit Lösungen von Kali ciliar. .
Kali hypermanganic., oder einer Mischung von Aq. calcis und Aq. dest. aa.
part. aequ. Diese Mittel werden auch vorteilhaft in zerstäubter Form entweder mit.
dem Spray oier mit dem SiEGLE'schen Apparat angewendet. Das Gurgeln, Ausspritzen
oder Inhaliren soll möglichst oft geschehen, am besten in einem Intervall von
2 Stunden. Auch die eventuelle Notwendigkeit der Tracheotomie darf man nicht
ausser Auge lassen. — Erwähnung verdient noch das von Rigauer empfohlene
Verfahren, den Kindern mehrmals täglich 4 — 5 Theelöffel kühles "Wasser in die
Nase zu giessen. — Bepinselungen der kranken Rachenorgane mit medicamentösen
Flüssigkeiten , Aetzungen mit Lapis u. dgl. sind bei Kindern nicht zweckmässig
und werden in neuerer Zeit von vielen Aerzten nicht mehr geübt. Insbesondere
wäre zu warnen vor den Bepinselungen der Rachenorgane mit starken Carbol-
lösungen, nach welchen wiederholt Carbolismus und lauch- oder dunkelgrüner
Urin beobachtet wurde.
Von Wichtigkeit ist auch die Behandlung der Nephritis scar-
latinosa. Sobald im Urin Albumen auftritt, hat das Kind, selbst wenn es fieber-
los ist , im Bette zu bleiben und eine strenge Diät (Suppe , Milch oder höchstens
noch Milchspeisen) zu beobachten. Dieselbe ist so lange einzuhalten, als der Harn
Eiweiss . Epithelzellen und Cylinder enthält und erst wenn die Urinmenge wieder
normal geworden ist und nur mehr Spuren der eben erwähnten abnormen Bestand-
teile vorhanden sind , kann man allmälig weisse Fleischsorten (Hühner- oder
Kalbfleisch) gestatten. Zu den übrigen Fleischsorten darf man aber erst nach voll-
ständiger Heilung der Nephritis übergehen. — Zum Getränke passt gewöhnliches
Wasser, oder man giebt Giesshübler, Biliner Sauerbrunnen oder andere Säuerlinge.
Die medicamentöse Behandlung hat zunächst das vorhandene Fieber, die Menge
und Beschaffenheit des Urins und die mit dieser Erkrankung einhergehenden
Hydropsien zu berücksichtigen. Bei stärkerem Fieber wird der innerliche Gebrauch
des Chinin, tannic. und der Digitalis empfohlen. Um die Hyperämie von den
Nieren abzuleiten , wenden manche Aerzte trockene oder blutige Schröpfköpfe an
und greifen sogar zu Venaesectionen. Ob sie damit den angestrebten Zweck
erreichen, bleibt zweifelhaft, jedenfalls ist bei den localen und allgemeinen Blut-
entziehungen grosse Vorsicht nothwendig. So lange der Urin sparsam und blut-
haltig ist, vermeide man alle diuretischen Mittel, namentlich solche, welche die
Nierenhyperämie noch steigern könnten. Dagegen empfiehlt es sich, durch reich-
liche Wasserzufuhr einfache oder kohlensaure Wässer) das Blut zu verdünnen und
die Harnsecrerion zu vermehren. Eine manchmal auffallend günstige Wirkung
äussert der gleichzeitige innerliche Gebrauch des Alumen (Rp. Alumni crud. 2-0.
Aq. fontis dest. 200*0, Syrup. acetositat. citri 20>0. DS. den Tag über zu
nehmen). Nicht selten sieht man bei dieser Therapie binnen wenigen Tagen eine
allmälige Zunahme der Urinmenge und ein rasches Schwinden des Eiweiss , der
Blutkörperchen und der Cylinder im Harn. — Bei starkem Blutgehalt des Urins
erzielt auch das Chinin, sulfuric. in grösseren Dosen manchmal einen überraschenden
Erfolg. — Bei Nierenblutungen versuche man das Seeale cornut. oder den
Liquor ferri sesqviehlorati.
Gegen den Hydrops stehen die Diaphoretica, Abführmittel und die Diuretica
zu Gebote. Eigentliche Schwitzcuren sind nicht angezeigt. Man sucht vielmehr die
SCHARLACH. — SCHEINTOD. 133
Hautfunction durch, die constante Bettwärme und durch warme Bäder mit darauf-
folgender Einpackung anzuregen. Ueber den therapeutischen Werth solcher Bäder
sind die Ansichten der Aerzte sehr getheilt, denn während die Einen über grosse
Erfolge berichten, wollen die Andern von selben nur eine geringe, manchmal auch
gar keine Wirkung beobachtet haben. — In neuerer Zeit hat Demme bei
hydropischen Erscheinungen und beim Eintritte der Urämie subcutane Pilocarpin-
injectionen in der Einzeldosis von 0'005 — O'Ol empfohlen. — Die wiederholte
Darreichung der Abführmittel (Sal. amar., Sal. Glauben, Carlsbader Mühlbrunnen
oder andere mildere Drastica) machen den Hydrops oft rasch schwinden, wodurch
mitunter eine drohende Gefahr beseitigt wird. — Die Diuretica finden nur eine
beschränkte Anwendung. Selbst die milderen unter ihnen sind bei einer vorhandenen
Nierenhyperämie contraindicirt , sie passen weniger für die acute , mehr für die
chronische Form der Nephritis. — Hydrops mit sparsamer Urinsecretion bei fieber-
losen anämischen Kindern erfordert die Anwendung von Eisenpräparaten , welche
den geschwächten Reconvalescenten überhaupt von Vortheil sind.
Beim Auftreten urämischer Erscheinungen gebe man kalte Um-
schläge auf den Kopf und schreite zur Chloroform -Narcose, welche den Anfall in
der Regel zu coupiren im Stande ist , obgleich sie das Wiederauftreten derselben
nicht verhindern kann. Eine gleiche Wirksamkeit, mitunter aber von längerer Dauer,
haben Chloralhydratklystiere ; durch die nöthigenfalls wiederholte Anwendung dieser
Mittel gelingt es sehr häufig, die Anfälle zum Stillstande zu bringen ; ebenso ver-
suche man durch den Gebrauch der früher erwähnten Alaunmixtur und durch
reichliches Trinken von Kohlensäuerlingen die Diurese wieder in Gang zu bringen.
Manche Autoren empfehlen bei Kindern locale Blutentziehungen, bei grösseren Per-
sonen Aderlässe ; — während des Anfalles kann nach dem Vorschlage Trousseä.u's
die Digitalcompression der Carotiden vorgenommen werden.
Die verschiedenen Complicationen und Nachkrankheiten , welche während
und im Gefolge des Scharlachs auftreten, erfordern eine ihrer Natur entsprechende
Behandlung und es wird in dieser Hinsicht auf die bezüglichen Artikel dieses
Werkes verwiesen.
Schliesslich sei noch der von Dähne und Schneemann beim Scharlach
geübten Speckeinreibungen erwähnt. Selbe sollen Erkältungen vorbeugen .und
die Desquamation verhüten, womit auch alle in der Abschuppungsperiode gefürchteten
Zufälle ausbleiben sollen. Diese Heilmethode hat unter den Aerzten eine sehr
getheilte Aufnahme gefunden , denn durch sie werden weder die Desquamation,
noch die Nachkrankheiten hintangehalten. Milderung des Juckens und Weicher-
werden der rauhen, oft brennend heissen Haut sind vielleicht die einzige Wirkung.
Literatur: Thomas, Scharlach. Ziemssen's Handb. der spec Path und Therap-
Bd. II, 2. Abtheilung. Mit einem vollständigen Literaturverzeichnisse. — Bohn, Scharlach.
Gerhardt's Handb. der Kinderkrankh. Bd. II. — Mayr, Scharlach. Virchow's Handb. der
spec. Path. und Therap. Bd. III, 1. Abtheilung. — Henoch, Vorlesungen über Kindei--
krankheiten. 1831. C. Banze.
Scharlachniere, s. „Nierenentzündung", IX, pag. 630.
Schauenburg, Soolbad, Canton Basel, 486 M. über Meer. b. M. L.
Scheide (Krankheiten), s. „Vagina".
Scheintod. Scheintodt ist derjenige, bei welchem jede äussere Lebens-
erscheinung, insbesonders aber die Athmung fehlt, dessen Herz nur noch sehr
schwach durch die Auscultation selbst kaum vernehmbar schlägt, dessen Haut-
decken kalt und blass sind und der gegen keine Art von Reizungen mehr reagirt.
Von der Todtenblässe werden bemerkenswerther Weise nicht betroffen: die bei
Lebzeiten vorhanden gewesenen verschiedenartigen Haut Verfärbungen , z. B. von
der Sonne gebräunte oder in der Umgebung chronischer Unterschenkelgeschwüre
gebildete röthlich-bräunliche oder icterisch gefärbte oder von Tätowirung herrührende
i;| SCHEINTOD.
Flecke. Auszuschliessen ist überall Scheintod, wo gewisse, zweifellos sichere Todes-
zeichen bestehen, zu welchen gehören:
Todtenstar r e. Dieselbe ist ihrem Wesen nach eine Gerinnung des
Muskelmyosins. Sie entsteht nach dem Tode in der Zeit von 10 Minuten bis
7 St uiideu und dauert zwischen 1 und 6 Tagen. Entsprechend der vor ihrem
Eintritt erlöschenden Nerventhätigkeit werden zuerst auch von ihr die Muskeln
des Kopfes und Nackens , alsdann in absteigender Weise erst die übrigen ergriffen.
Ihre Lösung erfolgt in derselben Reihenfolge. Lebhafte Muskelcontractionen vor
dem Tode, z. B. Krämpfe im Tetanus, oder bei Vergiftungen durch Strychnin,
Chloroform etc. veranlassen eine schnelle und intensive Starre. Hiermit im Ein-
klang erstarrt auch unter normalen Verhältnissen das Herz rasch und stark.
Lebendige, tetanisch gestreckte Muskeln dürfen selbstredend nicht mit todtenstarren
verwechselt werden.
Tu dten flecke. Dieselben sind von bläulich- oder schmutzig- oder
blassrosig-rother Farbe und von unbestimmten Formen an den abhängigen Körper-
teilen ausgebreitet. Bei Ertrunkenen zeigen sie sich zuerst am Kopf , Hals, Ober-
brust , in Gestalt von zuerst bleigrauen , dann bläulichrothen , später grünlichen
Hautverfärbungen, bei Erfrorenen auch an den Vordertheilen als ziegel- oder
zinnoberrothe , bei Kohlenoxyd- oder Cyankali -Vergifteten als kirschrothe Flecke.
Trübung und faltige Beschaff enheit derHornhaut, sowie
sichtbare Spuren beginnender Fäulniss, und zwar zuerst in Form
von bläulich- grünlichen Verfärbungen der seitlichen Theile des Bauches.
Die mehr weniger zweifelhaften, zum Theil nur vermittelst besonderer
Instrumente nachweisbaren und Wiederbelebungsversuche stets erfordernden Todes-
zeichen sind:
„Erloschensein der elektrischen Reizbarkeit der Muskeln innerhalb
1\'2 bis 6 Stunden nach dem Tode."1) Dieses angebliche Todeszeichen kann
jedoch mit Rücksicht auf die grosse Verschiedenheit der Muskelerregbarkeit in
den verschiedenen Krankheiten keine Allgemeingiltigkeit beanspruchen.
„Eine im Mastdarm weniger als 27° C. messende Temperatur." 2) Auch
dieses Todeszeichen ist kein sicheres , insofern die Abkühlung des Körpers in sehr
verschiedener Weise nicht nur durch Krankheiten, sondern auch durch das
Medium , in welchem der Körper sich befindet (Wasser, Betten, Abtrittsgruben etc.)
verzögert wird.
„Fehlen der normal erfolgenden bläulichrothen Anschwellung des Fingers
bei seiner Umschnürung mit einem Faden , und Fehlen der nach Durchschneidung
des Letzteren im Leben erscheinenden Röthung der Umschnür ungsrinne." 3)
„Fehlen der normalen Reactionserscheinungen auf der Haut nach Ein-
wirkung intensiver Hitze in Form von mit Serum gefüllten Blasen mit rothem
Grunde, indem statt Letzterer höchstens mit Wasserdampf gefüllte Blasen mit
weissem Grunde entstehen."
Die häufigsten Ursachen des ohne Wiederbelebungsversuche in wirklichen
Tod übergehenden Scheintodes sind:
Vergiftungen jeder Art, mit Ausnahme derjenigen, durch feste oder
flüssige Aetzgifte. — Acute Anämie nach äusseren oder inneren Blutungen. —
Neuroparalytische Zustände, iusbesonders Gehirnerschütterung, Blitzschlag, Herz-
lähmung nach Erfrieren. — Erstickung in Folge der verschiedenartigsten Anlässe,
z. B. durch Strangulation, fremde Körper in den Luftwegen, Ertrinken etc.
Behufs Verhütung der Beerdigung von Scheintodten erliess in Preussen
bereits das Ober-Collegium Sanitatis unter dem 31. October 1794 entsprechende
Instructionen.4) Auch das Allgemeine Landrecht (Th. II, Tit. II, §. 479 und
4<6) enthält das allgemeine Verbot, dass , so lange es noch im Geringsten
zweifelhaft ist, ob die angebliche Leiche todt ist, der Sarg nicht zugeschlagen
werden dürfe und behält die näheren Vorschriften wegen der zur Verhütung des
SCHEINTOD. — SCHENKELBEUGE. 135
Begrabens eines noch Lebenden nöthigen Vorsicht besondere Polizeiverordnungen
vor. Mit Bezug hierauf haben die meisten Provinzial-Regierungen in den Jahren
1818 — 1836 besondere Polizei Verordnungen erlassen.
Ferner Circular-Verfügung der Minister der geistl. etc. Angelegenheiten,
der Justiz und des Innern vom 15. Juni 1822 . . ., dass die Autorisation zur
Beerdigung entweder nur auf das Zeugniss eines approbirten Arztes über den
wirklich erfolgten Tod oder mit der Beschränkung zu ertheilen ist, dass die
Beerdigung erst nach Ablauf von 72 Stunden seit dem von den Zeugen bekundeten
Moment des angeblichen Todes erfolgen kann.
Weiter : Verordnung des Ministeriums des Innern, betreffend die Erlaubniss
zum früheren Beerdigen, vom 2. März 1827: ... 1. dass es zwar bei der Vor-
schrift, nach welcher Niemand vor Ablauf von 72 Stunden nach seinem Ableben
beerdigt werden darf, der Regel nach verbleiben müsse; 2. dass aber ein früheres
Beerdigen ausser in den Fällen, wo ein solches sogar geboten ist, wie z. B. bei
Epidemien etc., auch in den Fällen nachgegeben werden könne, wenn: a) ent-
weder ein approbirter Arzt oder Wundarzt bezeugt, dass die Leiche alle Spuren
des wirklichen Todes an sich trage; h) oder an Orten, wo kein Arzt ist, der
Bürgermeister oder Dorfschulze mit zwei erfahrenen Männern, mit Rücksicht
auf die mit dem Gutachten des Obercollegium Sanitatis vom 31. October 1794
angegebenen Vorsichtsmassregeln, die Verhältnisse untersucht und die frühere Be-
erdigung gestattet hat.
In Berlin darf (auf Grund der Verordnung des königl. Polizeipräsidiums
unterm 14. Juni 1835 bezüglich der Ausstellung der Todtenscheine und der
Beerdigung der Leichen) keine Leiche beerdigt werden, ohne dass vorher ein
Todtenschein ausgestellt wäre, in welchem auch die Todesursache (soweit dieselbe
bekannt geworden oder durch blosse Besichtigung der Leiche hat constatirt
werden können) angegeben ist. Dem Beispiele von Berlin sind andere grössere
Städte gefolgt.
In wirksamster Weise würde aber der Gefahr einer Beerdigung von
Scheintodten vorgebeugt werden durch Realisirung der dringenden hygienischen
und wissenschaftlichen Forderung, nämlich einer gesetzlichen, allgemeinen Leichen-
schau (cf. unter Artikel „Wiederbelebung" und „Künstliche Respiration").
Literatur: *) Rosenthal, Ueber die meisten, und sichersten Ermittelungen des
Scheintodtes. Wiener med. Presse. 1876. Nr. 14. — 2) Reincke, Beobachtungen über die
Körpertemperatur Betrunkener. Archiv f. klin. Med. 1875. Bd. XVI, pag. 12. — 3) Magnus,
Ein sicheres Zeichen des eintretenden Todes für Aerzte und Laien. Virchow's Archiv.
1872. Bd. LIII, pag. 54. — 4) Eulenberg, Das Medicinalwesen in Preussen. Berlin 1874.
pag. 141 etc. Lothar Meyer.
Schelesnowodsk, Kosakenstanitza, 21/2 Meilen von Pjätigorsk (s. diesen
Artikel) mit Eisensäuerlingen von 13 — 42° C. , deren vorzüglichste Bestandtheile
Natronsulphat und Kalkcarbonat zu sein scheinen. Daselbst auch eine Kumysanstalt.
B. M. L.
Schenkelbenge, Verletzungen, Erkrankungen und Operationen
in derselben.
A. Anatomische Vorbemerkungen.1)
Unter Schenkelbeuge {inguen, lat. , aine , franz. , groin , engl.) versteht
man die den Uebergang zwischen Bauch und Becken einer- und Oberschenkel
andererseits vermittelnde Gegend unmittelbar ober- und unterhalb des PouPART'schen
Bandes, in deren Mitte die der Beugung des Oberschenkels entsprechende Falte
gelegen ist. Es kommt in dieser Region ganz besonders die zwischen dem Lig.
Poujparti und dem oberen Beckenrande befindliche Lücke, durch welche wichtige
Gebilde hindurchtreten, in Betracht. Diese Lücke zeigt zwei neben einander
liegende Abtheilungen, eine äussere, Lacuna muscularis, die den grösseren Theil
des freien Zwischenraumes in Anspruch nimmt und von dem durchtretenden
M. ileo-psoas erfüllt ist, und eine innere Abtheilung, Lacuna vasorum femoralium,
136 SCHENKELBEUGE.
die unter dem inneren Drittel des PouPART'schen Bandes gelegen ist und eine
ungefähr dreieckige Form besitzt. Der innere Winkel dieses Dreieckes ist durch
das BOgenannte /-/'</. Gimbernati ausgefüllt, das aber durchaus keine selbständige
Bildung, am wenigsten ein Band ist, sondern die Insertion der Aponeurose des
M. obliguus abdominis externus an der Grista pubis darstellt. Der concave,
leicht durchzufühlende Rand des GiMBERNAT'schen Bandes begünstigt eine sehr
Starke Einklemmung von Schenkelhernien in hohem Grade. Die Lacuna vasorum
wird von den Schenkelgefässen, der nach aussen gelegenen Arteria und der innen
neben ihr befindlichen Vena femoralis oder cruralis , nicht ganz eingenommen;
vielmehr bleibt nach innen von ihnen eine das Einführen des kleinen Fingers
gestattende Lücke, der sogenannte Schenkelring oder Annalus cruralis übrig.
Derselbe ist übrigens nicht, wie etwa der Annulus inguinalis, ohne Weiteres durch-
gängig, sondern durch das Peritoneum und die Fascia transversa geschlossen, die
zusammen eine Scheidewand (J. Cloquet's Sep>tum crurale) bilden, welche bei
ihrer sehr wechselnden Stärke leicht und häufig das Hervortreten von Eingeweiden
aus der Bauchhöhle gestattet. Von grosser Bedeutung für die hier austretenden
Schenkelhernien ist auch die Fascia lata, deren oberflächliches Blatt, in ganzer
Länge mit dem PouPART'schen Bande fest verwachsen, nur bis in die Gegend der
Einmündung der V. saphena magna in die V. femoralis eine sehnenartig feste
Membran darstellt, daselbst aber mit einem sichelartig geformten, nach innen coneaven
Rande die Plica, Incisura oder den Processus falciformis darstellt, während der
von demselben begrenzte , auch als Fovea ovalis bezeichnete Raum , welcher die
gedachte Einmündungsstelle umfasst, von einer lockeren, grössere oder kleinere
Lückeu enthaltenden elastischen Lamelle bedeckt wird, die, von Fett, Lymphdrüsen,
durchtretenden Gefässen freipräparirt, siebartig durchlöchert erscheint, daher Lamina
cribrosa genannt worden und dadurch von Bedeutung ist, dass unter sie die Hernia
cruralis zunächst zu liegen kommt, durch ihre Lücken hindurchdringt und in diesen
eingeklemmt werden kann. Der nach innen von den Schenkelgefässen gelegene Raum
wird von den Einen, die gesammte Lacuna vasorum von den Anderen sehr über-
flüssiger Weise als Ganalis cruralis bezeichnet. — Der N. femoralis, an der
Aussenseite der Schenkelgefässe gelegen und von ihnen durch eine Fortsetzung
der Fascia iliaca geschieden, zerfällt unmittelbar nachdem er über den Becken-
rand fortgetreten ist, in zahlreiche Endäste. Von den Schenkelgefässen giebt die
Art. femoralis, dicht unter dem Schenkelbogen, ausser kurzen Zweigen zu den
Muskeln , den Inguinaldrüsen und der Haut, einige längere , oberflächliche Aeste,
die Art. epigastrica superficialis, die Art. circumßexa ilei superficialis und
zwei bis drei Artt. pudendae externae ab und zweigt 3 — 5 Cm. unter dem
Schenkelbogen, selten höher oder tiefer, an ihrer hinteren Wand die Art. profunda
femoris ab. Bei abnormem Verlaufe der Art. obturatoria , dem sogenannten
„Todtenkranz" , kann sich diese auf der oberen Fläche des Lig. Gimbernati
befinden und bei ausgiebigem Einschneiden desselben verletzt werden. Die Vena
femoralis nimmt an der schon beschriebenen Stelle, an ihrer vorderen Fläche, die
Vena saphena magna auf, indem diese im Bogen das untere Hörn der Incisura
falciformis überschreitet. — Die Lymphdrüsen der Schenkelbeuge (Glandulae
inguinales), welche daselbst eine so grosse Rolle spielen, zerfallen in Gl. inguin.
superficiales uud profundae. Die oberflächlichen Drüsen umgeben die Einmündungs-
stelle der V. saphena und erstrecken sich in der Zahl von 6 — 13 an der Vorder-
fläche des Oberschenkels herab , selten bis zur Spitze des Dreiecks , welches der
M. sartor. mit dem oberen Rande des M. adduetor longus bildet. Sie nehmen
die oberflächlichen Lymphgefässe der unteren Extremität, der unteren Partie des
Unterleibes , der Gesäss- und Perinealgegend und der äusseren Genitalien auf.
Die tiefen Lymphdrüsen, 3 — 4 an der Zahl, selten mehr, liegen unter dem
oberflächliche Blatte der Fascia lata, in der Nähe des Annulus cruralis (eine
der Drüsen trägt zum Verschluss desselben bei) und neben den Schenkelgefässen.
Sie nehmen hauptsächlich die tiefen Lymphgefässe der Unterextremität auf.
SCHENKELBEUGE. 137
In Betreff der auf die Hernia inguinalis und die H. cruralis bezüglichen
anatomischen Verhältnisse vgl. „Brüche", Bd. II, pag. 554, 558.
B. Wunden und andere Verletzungen der Schenkelbeuge.
Während Contusionen der Weichtheile, welche das Knochengerüst
unversehrt lassen, dieselben Zufälle verursachen, wie in anderen Körper gegen den,
aber ausserdem noch Drüsenentzündungen und bisweilen auch Aneurysmen nach
sich ziehen können, sind die Erscheinungen, wenn daselbst befindliche Hernien oder
leere Bruchsäcke oder ein retinirter Hode von der Contusion betroffen werden,
viel bedeutender und gefährlicher. Dasselbe ist der Fall, wenn beim Vorhandensein
dieser Zustände ein lange fortgesetzter Druck, z. B. der eines schlecht passenden
Bruchbandes oder eine andauernde Reibung stattfindet. Excoriationen, phlegmonöse
und Drüsenentzündungen , Abscesse, Entzündungen der Bruchsäcke sind die nicht
seltene Folge davon. Indessen auch Gangrän der Haut ist möglich, wenn der
Druck ein lange fortgesetzter ist, wie er namentlich bei der zur Behandlung von
Femoral-Aneurysmen angewendeten, theils instrumentellen, theils digitalen Compression
in Betracht kommt, bei der übrigens auch durch Druck auf die V. femoralis
entstandene Phlebitiden beobachtet sind. — Verbrennungen und Anätzungen
sind , wenn wir von der künstlich ,. z. B. zur Eröffnung von Bubonen , gemachten
Application von Aetzmitteln absehen, meistens so ausgedehnt, über den Unterleib
und Oberschenkel sich erstreckend , däss dadurch sehr umfangreiche und feste
Narbenstränge herbeigeführt werden, welche den Oberschenkel in dauernder Flexion
gegen den Rumpf erhalten. Die einzige Behandlungsweise, welche auf Erfolg hier,
wie an anderen Körperstellen, wo Aehnliches stattgefunden hat, rechnen kann,
besteht in der Umschneidung der Narbe mit einem nach unten bogenförmigen
Schnitte, Loslösung derselben in ganzer Ausdehnung und Heilung des entstandenen
Defectes bei normaler Körperstellung nach bekannten Regeln. Anderweitige, in der
Schenkelbeuge vorkommende Narben, namentlich nach Ulcerationen, Fisteln und
Drüsenentzündungen, wenn sie sehr unregelmässig sind, eine unbequeme Spannung
verursachen, sich leicht excoriiren, z. B. in Folge des Druckes eines Bruchbandes,
müssen in ihrer Beschaffenheit dadurch verbessert werden, dass man sie mit
elliptischen Schnitten exstirpirt und eine lineare Narbe zu erzielen sucht. —
Von Wunden der Schenkelbeuge kommen hier nur diejenigen in Betracht,
welche nicht durch einen operativen Kunstact gemacht sind. Ihre Bedeutung
beruht hauptsächlich darauf, ob sie blos die Haut und das Unterhautbindegewebe
betreffen, oder ob sie tiefer eindringen und dabei den Inguinalcanal eröffnen, den
Samenstrang oder das runde Mutterband verletzen, oder die Bauchwand durch-
dringen, in einer penetrirenden oder nicht penetrirenden Wunde bestehen, endlich
ob sie Gefässe von Bedeutung, wie die Vasa iliaca1 cruralia, epigastrica u. s. w.
verwunden. Da Schnitt- und Hiebwunden für diese Gegend wenig in Frage
kommen, handelt es sich mehr um Stichwunden, die theils durch spitzige
Werkzeuge (Dolche , Messer) , theils durch stumpfere (Lanzenspitzen , das Hörn
eines Stieres u. s. w.) zugefügt sein können, vor Allem aber auch um Schuss-
wunden, welche in dieser Gegend keinesweges selten sind, und, selbst wenn die
Schenkelgefässe bei ihnen unverletzt geblieben waren, häufig mit Verletzung des
Hüftgelenks, der Blase, des Mastdarms uud anderer Beckentheile verbunden sind,
so dass aus den vorhandenen Schussöffnungen nicht selten ein Austritt von Urin
und Koth stattfindet und aus denselben sich Urin- und Kothfisteln bilden können.
Auch Riss wunden kommen in dieser Gegend vor, theils bei normal beschaffener
Haut, theils, wenn bei pathologisch stark gespannter Haut, z. B. bei Hüftgelenks-
contracturen, gewaltsame Slreckungsversuche gemacht wurden. — Was die Ver-
wundungen der Schenkelgefässe anlangt, so ist von ihnen alles Das giltig,
was wir bereits in dem Artikel „Oberschenkel" (Bd. X, pag. 6) angeführt haben,
desgleichen in Betreff der Verletzungen der Nerven (Ebendaselbst, pag. 8). —
Fremdkörper kommen in der Schenkelbeuge sehr verschiedenen Ursprunges vor.
Zunächst können solche, wie Kugeln, Schrotkörner u. s. w., von aussen in dieselbe
138 SCHENKELBEUGE.
eingedrungen und in ihr stecken geblieben sein. Mindestens ebenso häufig aber
sind die Fremdkörper, denen man daselbst begegnet, im Inneren des Körpers ent-
standen. Dieselben können bestehen in abgesprengten Bruchsplittern, necrotischen
Sequestern, oariösen Knochenstücken (aus Senkungsabscessen), Knochenneubildungen
oder Verknöcherungen, die durch irgendwelche Umstände frei geworden sind, ferner
in Concrctionen , welche ursprünglich in Eingeweidehöhlen entstanden sind, z. B.
Blasensteinen aus einer Cystocele, dem Inhalt von Dermoidcysten des Eierstockes,
ferner Gallensteinen, die, ebenso wie mancherlei in den Darmcanal vom Munde oder
vom Mastdarme aus gelangte Fremdkörper (namentlich Fischgräten, Nadeln u. s. w.),
nach längerem oder kürzerem Aufenthalte den Darmcanal und die Bauchwand
durchbohrt haben und in die Schenkelbeuge gelangt sind. Sehr gewöhnlich ver-
ursachen diese von innen nach aussen vordringenden Fremdkörper Abscesse, welche,
wenn sie spontan sich eröffnen, in hartnäckig fortbestehende Fisteln sich umwandeln,
die nebenbei, je nach den Umständen, auch Koth und Urin entleeren können.
Nach Ausziehung des Fremdkörpers pflegen derartige Abscesse und Fisteln ohne
grosse Schwierigkeit zu heilen, was man von den aus brandigen Brüchen hervor-
gegangenen, ebenfalls in der Schenkelbeuge zu beobachtenden Kothfisteln, die auch
bisweilen Fremdkörper , wie Kirsch- , Pflaumenkerne u. s. w. entleeren , nicht
sagen kann. — Eine ähnliche Rolle wie die Fremdkörper spielen manchmal auch
Entozoen, meistens Spul-, sehr selten Bandwürmer. Sie können nämlich, wie
jene, Perforationen, Abscesse und Fisteln veranlassen, andererseits aber auch nur
zufällig aus dem Darmcanal in einen mit demselben communicirenden Congestions-
abscess und von da nach aussen gelangt sein oder aus einer bestehenden Koth-
fistel sich entleeren. Endlich sind auch in der Inguinalgegend Bnbonenähnliche
Tumoren beobachtet, deren Inhalt eine Filaria Medinensis war.
C. Erkrankungen in der Schenkelbeuge.
a) Erkrankungen der Haut. Die Hautaffectionen , welche die
ganze Körperoberfläche befallen , seien es acute , z. B. acute Exantheme , Ery-
sipels , Furunkel , oder chronische , finden sich begreiflicherweise auch in der
Schenkelbeuge. Syphilitische Exantheme kommen mit Vorliebe in derselben vor,
ebenso andere syphilitische Affectionen, die sich direct von der Gegend der
Genitalien dahin weiterverbreiten können. Besonders disponirt ist diese Gegend
zu Intertrigo, die von einer leichten Röthung bis zu tief gehenden Ex-
coriationen, Fissuren, Ulcerationen sich verschlimmern kann. Das gewöhnliche
Vorkommen derselben betrifft junge Kinder oder sehr fettleibige Personen, ander-
seits kann sie bei Hüftgelenks- Contracturen und bei Harn- und Kothfisteln in
dieser Gegend, wenn nicht für die scrupulöseste Reinlichkeit Sorge getragen wird,
leicht auftreten. — Hautgeschwüre sehr verschiedener Art finden sich in
der Schenkelbeuge ; sehr häufig stehen sie mit Drüsenanschwellungen oder Drüsen-
verhärtungen in Verbindung und sind deshalb meist dyskrasischen , namentlich
scrophulösen oder syphilitischen Ursprunges , können aber auch aus Haut-Necrose
in Folge von Urin-, Kothinfiltration hervorgegangen sein. Sehr oft zeigen sie,
vermöge ihrer unregelmässigen Gestalt, ihrer weit unterminirten und verdünnten
Hautränder, erst dann eine Neigung zur Heilung, wenn man die letzteren regula-
risirt und abgetragen hat. Primär syphilitische Geschwüre können in der Schenkel-
beuge namentlich durch Infection eröffneter Bubonen oder daselbst befindlicher
Blutegelstiche herbeigeführt werden und grosse Zerstörungen anrichten; selten
aber sind die durch Zerfall vo-n Gummiknoten in dieser Gegend entstandenen
Geschwüre. Häufiger kommen die durch Autbrechen von Drüsen - Carcinomen
entstandenen Krebs-Geschwüre vor, die, ebenso wie alle anderen tief greifenden
Geschwüre dieser Gegend, durch Corrosion der Gefässe, namentlich der Vena
femorahs, sehr gefährlich werden und tödtliche Blutungen veranlassen können.
Die Fisteln dieser Gegend können ebenfalls den verschiedensten Ursprung
haben und äusserst vielgestaltig sein. Sie können aus einer phlegmonösen oder
Drüsen-Entzündung in der Gegend selbst hervorgegangen sein, oder es lässt sich
SCHENKELBEUGE. 139
ihr Ursprung auf eine Eiterung in der Bauchwand, der Fossa iliaca , auf eine
Perityphlitis, oder einen von der Wirbelsäule, dem Becken oder Hüftgelenk
stammenden Senkungsabscess, oder einen in der Schenkelbeuge befindlichen Fremd-
körper (s. oben) zurückführen. So variabel unter diesen Umständen ihr ganzes
Verhalten ist , so verschieden muss auch ihre Behandlung sein , bei der bisweilen
wegen der Nähe von Körperhöhlen oder grossen Gefässen, deren Eröffnung man
zu vermeiden hat, statt des Messers, allmälig wirkende Dilatationsmittel zu
gebrauchen sind. Ausser den bisher angeführten Eiterfisteln kommen in dieser
Gegend auch, wie erwähnt, Harn- und Kothfisteln vor, die eine specielle Behand-
lung erfordern.
bj Erkrankungen des Bindegewebes. Phlegmonen, theils
subcutane, theils interamsculäre , können theils in der Schenkelbeuge selbst
entstanden sein, theils sich dahin vom Oberschenkel, den Genitalien, dem Damme
fortgepflanzt haben; zu ihrer Behandlung sind, wenn sie, wie gewöhnlich, diffus
sind, zahlreiche Incisionen erforderlich. Sind dagegen umschriebene phlegmonöse
kalte oder Senkungs-Abscesse vorhanden, so muss man immer an die Möglichkeit
einer Complication mit einer Hernie denken und die Eröffnung vorsichtig, d. h.
schichtweise, wie bei der Freilegung eines Bruchsackes, ausführen; denn es kann
sich in der That um einen Abscess in der Umgebung einer entzündeten Hernie,
um die Entzündung und Eiterung eines leeren Bruchsackes, um eine Eiterung in
der Nähe einer nicht entzündeten Hernie handeln. Ebenso erschweren eiternde oder
nicht eiternde Bubonen, die mit den Abscessen gleichzeitig vorhanden sind, die
Diagnose sowohl als die Behandlung beträchtlich. Zu weiteren Zweifeln geben die
Senkungs-Abscesse Anlass, die aus sehr verschiedenen Gegenden stammen
und an sehr difficilen Stellen zum Vorschein kommen können. So findet man Senkungs-
Abscesse, von einer Caries der Wirbelsäule ausgehend, unter dem PouPART'schen
Bande, in der Scheide des M. ilio-jpsoas, von wo aus sie vermittelst eines Schleim-
beutels das Hüftgelenk perforiren können, während umgekehrt auch der Eiter aus
dem Hüftgelenk in die Scheide des Ilio-psoas gelangt sein kann. Weitere aus dem
Becken stammende Abscesse, wie die Abscesse der Fossa iliaca , welche aus einer
Perimetritis, Perityphlitis u. s. w. hervorgegangen sind, können sich durch die
Scheide des Oural-Nerven , oder der Oural-Gefässe , oder durch das Foramen
obturatorivm nach dem Oberschenkel verbreiten. In zweifelhaften Fällen ist daher,
ausser einer sehr genauen. Untersuchung der ganzen Nachbarschaft, auch auf die
Erhebung der Anamnese einiger Werth zu legen. Einzelne Phlegmonen verdanken
ihre Entstehung der Urin- oder Kot h-Infiltration des Bindegewebes, die wir
schon kennen gelernt haben, während die Luft-Infiltration, das Emphysem,
je nach seinem Ursprünge, von verschiedener Bedeutung ist, indem das aus den
Luftwegen stammende Emphysem hier, wie an anderen Körperstellen, leicht zur
Resorption gelangt, wogegen die Infiltration mit Darmgasen, und noch mehr das
Zersetzungs-Emphysem bei brandigen Brüchen eine weit ungünstigere Prognose
geben. Blut-Infiltrationen endlich, wenn sie nicht etwa durch das Platzen
eines Aneurysmas , oder die Zerreissung eines Bruchsackes entstanden sind , ver-
halten sich in der Schenkelbeuge ebenso, wie an anderen Körperstellen.
c) Erkrankungen der Blutgefässe. An erster Stelle sind hier
die traumatischen und die wahren Aneurysmen der Schenkelbeuge zu nennen,
welche sowohl von der Art. iliaca externa , als der Art. femoralis communis
ausgehen können , indem die Aneurysmen der erstgenannten Arterie bis in jene
Region hinabreichen und sie mit ausdehnen können. Die Diagnose eines Aneurysmas
ist keinesweges immer leicht und auf der Hand liegend; selbst angesehenen
Chirurgen sind Verwechslungen mit Hernien, Bubonen und Tumoren dieser Gegend
vorgekommen. Erschwert kann die richtige Erkenntniss noch durch das Vorhanden-
sein eines beträchtlichen Oedems, eines Abscesses in der Nähe des Aneurysmas,
eines Bubo oder einer anderen Geschwulst sein. In Betreff der Behandlung ver-
weise ich auf den Artikel „Aneurysma" (Bd. I, pag. 310 ff.), ebenso wie bezüglich
II i SCHENKELBEUGE.
der bisweilen nach Verletzungen erfolgenden Ausbildung eines Aneurysma
arteriös o-venosum (pag. 294, 315 fl'.). — Unter den Erkrankungen der
Venen ist das Hineinreichen von Varices bis in die Schenkelbeuge bemerkens-
wciih, namentlich das Vorkommen eines Hasel- bis Wallnussgrossen Varix der
V. saphena an ihrer Einmündungssteile in die V. femoralis ; sehr selten ist eine
Erweiterung der letzteren seihst. Die Venen -Thrombose oder Phlebitis
ist gerade in der Schenkelbeuge wegen der oberflächlichen Lage des Gefässes
leicht an dem harten und schmerzhaften Strange, in welchen die Vene verwandelt
ist, zu erkennen ; ihr Ausgang ist bekanntlich von der Ausdehnung der Thrombo-
sirung und deren weiterem Verhalten abhängig (vgl. den Artikel „Venenentzün-
dung"). Von grosser Bedeutung sind die in der Schenkelbeuge gelegenen caver-
nösen Geschwülste, weil sie vermöge ihres wahrscheinlichen Zusammenhanges
mit den grossen Venen der Gegend die Exstirpation kaum zulassen.
d) Erkrankungen der Lymphgefässe und Lymphdrüsen.
L y mphangiectasieen , Lymph- Varices sind in der Schenkelbeuge und
am oberen Theile des Oberschenkels und an den Genitalien mehrfach beobachtet,
ebenso die aus ihnen hervorgegangenen L y m p h o r r h o e e n und Lymphfisteln.
Die varicösen Lymphgefässgeschwülste, Lymphome hat man bis zu Faustgrösse
(Nelaton) beobachtet. Die Behandlung dieser Zustände ist bisher fast durchweg
eine erfolglose gewesen; die Exstirpation der grösseren Geschwülste ist entschieden
lebensgefährlich. Leber die Ly mphgefässentzündung ist für diese Gegend
nichts von dem Gewöhnlichen Abweichendes anzuführen (vgl. „Lymphangitis",
Bd. VIII, pag. 442) und in Betreff der in der Schenkelbeuge so ausserordentlich
wichtigen Lymphdrüsenentzündung möge hier auf den umfassenden Artikel
„Bubo" (Bd. II, pag. 605 ff.) verwiesen werden.
e) Erkrankungen der Muskeln. Dieselben betreffen in erster
Linie den wichtigsten Muskel dieser Gegend, den M. ilio-psoas, der von idio-
pathischer oder fortgepflanzter Entzündung befallen sein, Eitersenkungen verbreiten,
in einem Zustande von Contractur oder theilweiser Ossification sich befinden
kann, so dass das Hüftgelenk dabei mehr oder weniger vollständig ankylotisch
ist. Auch die Ursprünge der anderen Muskeln dieser Gegend am Becken, wie der
Mm. rectus femoris und der Adductoren können Ossifikationen zeigen; die in den
letzteren sind bekanntlich „Reiter knocken" (Billeoth) genannt worden.
f) Erkrankungen der Knochen. Es kommen hier zunächst die
oft in bedeutendem Umfange in der Schenkelbeuge zu fühlenden Knochen-Stalak-
titen in Betracht, wie sie bei höheren Graden der deformirenden Hüftgelenks-
entzündung (Malum coxae senile) , bei nicht reponirten Luxationen des Ober-
schenkels und bei Frakturen am oberen Theile desselben, die mit einem wuchernden
Callus geheilt sind, beobachtet werden. In allen diesen Fällen pflegt eine Schwer-
oder Unbeweglichkoit des Hüftgelenkes vorhanden sein. Anderseits werden die
Beckenknochen nicht selten von Caries oder Necrose befallen, auch kann durch
ein Inguinal-Aneurysma eine Usur an denselben herbeigeführt sein. Auf alle diese
verschiedenen Zustände näher einzugehen, würde nicht am Platze sein.
g) Geschwülste. Ausser den schon genannten Lymphdrüsenentzündungen
oder Bubonen, die, wenn sie indolent sind, Geschwülsten ähnlich sehen, kommen
in der Schenkelbeuge noch verschiedene andere Neubildungen theils gut- , theils
bösartiger Natur vor. So findet man daselbst C y s t e n bildungen , deren Ent-
stehungsweise, ebenso wie an anderen Körperstellen, die verschiedenartigste sein
kann. Es kann z. B. der einzige in der Schenkelbeuge regelmässig vorhandene
Schleimbeutel, nämlich der des M. ilio-psoas, oder ein in jener Gegend gebildeter
accidenteller Schleimbeutel in ein Hygrom verwandelt sein; es kann ein durch
seröse Flüssigkeit ausgedehnter obliterirter Bruchsack, oder eine Cyste vorliegen,
die zu einem bestehenden Bruche, indem sie in dessen Bruchsacke oder einem
Divertikel desselben, oder in seiner nächsten Nachbarschaft entstand, in nahen
Beziehungen steht; es kann ferner eine Cyste des Samenstranges (die sogenannte
SCHENKELBEUGE. 141
Hydrocele funiculi sjpermatici) oder des runden Mutterbandes , endlich ein
Echinococcussack vorhanden sein , der theils in der Gegend allein sich entwickelt,
theils aus dem Becken oder vom Oberschenkel her in dieselbe hinein sich erstreckt
hat. Sehr selten sind in der Schenkelbeuge auch Dermoidcysten, oder Cysten mit
fötalen Inclusionen beobachtet worden. Selbstverständlich ist in der grössten
Mehrzahl der Fälle nicht nur die Diagnose der Cysten an sich, sondern viel mehr
noch die Ermittelung ihres Ursprunges mit sehr erheblichen Schwierigkeiten ver-
bunden. Die Fluctuation ist von nur untergeordneter Bedeutung, die Transparenz
fehlt oft, die Explorativ-Punction , wenn sie, wie gewöhnlich, eine helle, seröse
Flüssigkeit herausbefördert , bietet auch nichts Charakteristisches und nur dann,
wenn man darin Echinococcen-Inhalt erkannt, ist die Diagnose gesichert. Es wird
daher die letztere in der Mehrzahl der Fälle ganz zweifelhaft bleiben und nur die
Möglichkeit, unter Umständen einzelne Zustände, z. B. Hernien, ganz auszuschliessen,
gestattet bisweilen eine Wahrscheinlichkeits-Diagnose. — Bei den in der Schenkel-
beuge vorkommenden Fettgeschwülsten kann es sich um ein gewöhnliches,
subcutanes, oft recht grosses, bisweilen gestieltes Lipom, oder um eine Fetthernie
handeln, bei welcher letzteren, wenn sie in Entzündung versetzt wird, Erscheinungen
vorkommen können, die denen einer Einklemmung sehr ähnlich sind und wiederholt
schon Anlass zur Ausführung von Herniotomieen gegeben haben. Wir gedenken
noch der sehr seltenen, bisweilen in der Gegend des Samenstranges und der
Schenkelbeuge vorkommenden Gummigeschwülste, bei denen die schnelle
Besserung, welche das Jodkalium herbeiführt, von diagnostischer Wichtigkeit ist,
sowie der Enchondrome, die sowohl in den Weichtheilen entstanden, als
vom Knochen, namentlich dem horizontalen Schambeinaste entsprungen sein und
in diesem Falle bisweilen ein enormes Gewicht erreichen können. Anscheinende
Knochengeschwülste bestehen wohl meistens in den schon angeführten, von
den Knochen ausgehenden Knochenneubildungen, oder in Verknöcherungen der
Muskeln. — Fibrome eigenthümlicher Art, bisher fast nur bei Frauen beobachtet,
können, von dem Periost des Beckens ausgehend, zwischen den Bauchmuskeln und
in der Schenkelbeuge ihren Sitz haben und bisweilen ziemlich beweglich sein. —
Sarcome und Cystosarcome trifft man sowohl primär als secundär in der
Schenkelbeuge an, wie es scheint indessen seltener als Carcinome, mit denen sie
übrigens ihrem Verhalten nach grosse Aehnlichkeit haben. — Epitheliome,
Cancroide kommen fast ausnahmelos in der Schenkelbeuge nicht primär vor,
sondern stellen Drüsen-Infiltrationen in Folge von Epitheliomen des Penis, Scrotum,
der Vulva und des Collum uteri dar ; es können dieselben , da sie einen viel
langsameren Verlauf als die Carcinome machen, sich erweichen, die Haut durch-
bohren und zu Ulcerationen Anlass geben. Auch das wirkliche Carcinom ist
primär in der Schenkelbeuge selten, sehr häufig dagegen als Drüsen Carcinom der
Begleiter der Carcinome, besonders der Osteo-Carcinome an der Unterextremität, dem
Becken, ferner der Carcinome der Haut, des Hodens, des Hodensackes, des Mast-
darmes u. s. w. ; es kann aber auch in der Inguinalgegend sich um einen krebsig
entarteten Hoden handeln, der noch im Inguinalcanal sich befindet, sowie um eine
Weiterverbreitung des Krebses vom Hoden auf den Samenstrang. Die Consistenz
des primären sowohl als des secundären Carcinoms der Schenkelbeuge pflegt eine
sehr verschiedene zu sein; bei sehr grosser Weichheit und anscheinender Fluc-
tuation kann es für einen Abscess , beim Vorhandensein starker Pulsationen für
ein Aneurysma gehalten werden ; andererseits kann es Knorpel- und Knochenhärte
besitzen. — Wie aus dem Vorstehenden sich ergiebt, kommen in der Schenkelbeuge
Geschwülste , der verschiedensten Art , der verschiedensten Beschaffenheit und des
verschiedensten Sitzes und Ursprunges vor. In letzterer Beziehung ist namentlich
die Entwickelung ober- oder unterhalb des POüPAET'schen Bandes zu unterscheiden,
indem bei ersterer leicht das Peritoneum, bei letzterer die Schenkelgefässe in
Mitleidenschaft gezogen werden, Verhältnisse, die bei Ausführung einer Exstirpation
sehr in's Gewicht fallen und grosse Schwierigkeiten verursachen. In diagnostischer
142
SCHENKELBEUGE.
Beziehung sind die Schwierigkeiten, wie wir gesehen haben, ebenfalls nicht un-
bedeutend: namentlich ist es oft kaum möglich, ohne Weiteres sich darüber klar zu
werden, oh i'ine auf Syphilis zurückzuführende Drüsenerkrankung, eine Gummi-
geschwulst u. dgl. , oder eine andere Art von Neubildung vorliegt. Es lässt sich
hier oft nur ex juvantibus, aus dem Nutzen, den eine antisyphilitische Cur gewährt,
die Diagnose stellen.
Indem wir in Betreff alles Dessen, was sich auf die Hernien, die in
der Schenkelbeuge in Betracht kommen, namentlich bezüglich ihrer differenti eilen
Diagnose auf den Artikel „Brüche" (Bd. II, pag. 554 ff.) verweisen, wollen wir
nur darauf hindeuten , wie oft eingeklemmte Hernien ganz verkannt oder für
andere Affectionen gehalten worden sind, ferner wie auch alte, irreponible, aber
nicht eingeklemmte Hernien in Folge anderer, mit dem Bruch in keinem näheren
Zusammenhange stehender Umstände für eingeklemmt, und wie endlich die ver-
schiedensten Zustände in der Inguinalgegend für eingeklemmte Hernien erachtet
worden sind. Es ist das Alles sehr erklärlich , wenn man sich die so grosse
Häufigkeit der Hernien vergegenwärtigt, durch welche es nothwendig wird, an
solche stets zuerst denken. Ebenso kommen bisweilen auch Krankheiten des
Hodens, Samenstranges und runden Mutterbandes bei der Beurthei-
lung von Geschwülsten der Schenkelbeuge in Betracht. Unter denselben sind es
namentlich die Ectopie des Hodens (vgl. „Hoden", Bd. VI, pag. 542 ff.) und
diejenigen Hydro- und Hämatocelen , welche sich in die Bauchhöhle erstrecken,
auch wohl eine Varicocele, eine Phlegmone des Samenstranges oder des Lig.
rotundum, eine Phlebitis der Venen des Plexus pampiniformis , ferner Geschwülste
verschiedener Art am Samenstrange und dem runden Mutterbande , wie Cysten,
tuberkulöse , sarcomatöse , carcinomatöse Entartungen , die alle hier nicht näher
erörtert werden können, aber in diagnostischer Beziehung von grosser Bedeu-
tung sind.
D. Operationen in der Schenkelbeuge.
An Operationen in dieser Gegend kommen, ausser der Eröffnung von
Bubonen und anderen Abscessen, dem Bruchschnitt, den wegen eines künstlichen
Afters, einer Kothfistel und einer Narben- Contractur unternommenen Operationen,
die hier nicht zu besprechen sind , fast nur die Ligatur der Art. femoralis
communis und die Exstirpation von Geschwülsten in Betracht.
Die Ligatur der Art. femoralis communis , welche also
oberhalb des Abganges der Art. profunda femoris stattfinden soll, wird folgender-
massen ausgeführt : Man fühlt zunächst nach dem freien Rande des Lig. Pouparti
und bestimmt die Stelle, an welcher der in der Richtung der Arterie vertical
verlaufende Schnitt gemacht werden soll, dadurch, dass man zwischen der Spina
ilii anter. super, und der Symphysis ossium pubis die Mitte nimmt und an dieser
Stelle einen verticalen, 5 — 7 Ctm. langen Schnitt macht, der noch bis etwa
V2 Ctm. über den freien Rand des PouPART'schen Bandes hinaufreichen kann,
abwärts bis in die Gegend des inneren Randes des M. sartorius sich erstreckt,
durch die Haut, Fascia superficialis und die bisweilen mehrere Finger breite
starke Fettschicht mit vorsichtigen Messerzügen geführt wird , bis man auf das
die Art. und V. femoralis deckende oberflächliche Blatt der Fascia lata gelangt.
Bei sehr mageren Individuen, bei denen die Fettschicht auf ein Minimum reducirt
sein oder ganz fehlen kann, muss natürlich mit grösserer Vorsicht operirt werden,
weil hier die Schenkelgefässe ziemlich oberflächlich gelegen sind. Lymphdrüsen,
welche bei Freilegung der Arterie hinderlich sind , werden bei Seite geschoben,
durchschnitten oder, wenn sie umfangreich sind, in der später anzugebenden
Weise exstirpirt. Nach Durchschneidung der Schenkelfascie gelangt man auf die
in einer Bindegewebsscheide (Vagina vasorum femoralium) gelegenen und von
einander durch ein Septum getrennten Schenkelgefässe. Vor denselben liegt, wie
bekannt, die V. femoralis nach innen, die Arterie dicht daneben nach aussen
und der N. femoralis, dessen Bündel hier, beim Austritt aus dem Becken, noch
SCHENKELBEUGE. — SCHIFPSHYGIENE. 143
dicht aneinander sich befinden, noch weiter nach aussen, jedoch in einer besonderen
Scheide. Die Scheide der Arterie wird nun in bekannter Weise eröffnet, die Ligatur
von der Innenseite (also der Seite der Vene) her herumgeführt, und zwar etwa
l1/2 Ctm. unterhalb des POüPART'schen Bandes, in dessen Höhe zwei grössere
Collateralgefässe , nämlich die Art. epigaatrica infer. profunda auf der Innen-,
und die Art. circumflexa üü auf der Aussenseite abgehen.
Bei anderen Operationen in der Schenkelbeuge , namentlich dem Bruch-
schnitt und Geschwulst-, resp. Drüsen-Exstirpationen wird der Hautschnitt entweder
in der Längsrichtung, oder in der Richtung der Schenkelfalte gemacht, weil die
Narben nach Schnitten in diesen beiden Richtungen am wenigsten unbequem sind.
Vor Allem ist bei Exstirpationen von Geschwülsten zu berücksichtigen , ob die-
selben auf oder unter der Fascia lata ihren Sitz haben , wie ihr Verhalten zu
den Vasa fem oral, ia, dem N. femoralis und der V, saphena ist. Die Entfernung
beweglicher, oberflächlich gelegener Geschwülste ist selbst bei beträchtlichem
Umfange eine leichte und wenig gefährliche Operation; bei allen tiefsitzenden
Geschwülsten muss man an Verwachsungen mit der Gefässscheide denken und die
Trennung derselben kann unter Umständen nicht nur schwierig, sondern, wegen
der Möglichkeit einer Gefäss- , namentlich Venenverletzung, auch gefährlich sein.
Das empfehlenswertheste Verfahren ist daher, bei der Exstirpation derartiger tief-
sitzender, nicht bösartiger (carcinomatöser) Tumoren, nach Freilegung derselben
und nach gehörigem Einschneiden ihrer Umhüllungen, sich möglichst wenig
schneidender Instrumente zu bedienen, sondern die Ausschälung hauptsächlich mit
dem Scalpellstiele oder den Fingernägeln auszuführen und, wo feste Bindegewebs-
stränge zu durchschneiden sind , die Schnitte mit dem Messer oder der Scheere
stets gegen die mit scharfen Haken vorgezogene Geschwulst zu führen. In Betreff
des Verfahrens bei der hierbei dennoch vorkommenden Verletzung der Art. oder
V. femoralis, namentlich der letzteren , vgl. das unter „Oberschenkel" (Bd. X,
pag. 7) Angeführte.
Literatur: Hub. v. Luschka, Die Anatomie des Menschen. Bd. II, Abth. 1.
Der Bauch. Tübingen 1863. pag. 66 ff. — J. He nie, Handb. der systemat. Anatomie des
Menschen. Bd. III, Abth. 1. 1868. pag. 434. — In Betreff der Pathologie der Schenkelbeuge
vgl. A. Verneuil in Raige-Delorme et A. Dechambre, Dictionnaire encyclope'dique
des sciences medicales. T. II, pag. 249—330. Paris 1865. Art. Aine. Pathologie de la
reqion de Vaine. _, ~ , .
" E. Gurlt.
Schenkelbruch, s. „Brüche", II, pag. 558.
Scheveningen, s. „Seebäder".
Schichtstaar, s. „Cataract", III, pag. 45.
Schieflage, s. „Kindslage", VII, pag. 405.
Schienenverband, s. „Fraktur", V, pag. 379 und „Verbände".
Schiffshygiene. Während auf den Kriegsmarinen der verschiedenen
Nationen die Vorkehrungen gegen ein allzu gesundheitswidriges Halten der
Mannschaft und die Durchführung prophylaktischer Grundsätze mit den für die
Landarmee allmälig entwickelten hygienischen Principien parallele Fortschritte
machten, blieben auf den weitaus bedeutendsten und grössten Handelsmarinen
die hygienischen Bestrebungen, entsprechend der Geringschätzung des verdungenen
einzelnen Menschenlebens, in kaum glaublicher Weise und noch bis gegen die
Mitte unseres Jahrhunderts im bedauernswerthesten Rückstande. Erst der Auf-
schwung des Auswandererwesens und speciell die berechtigte Pression,
welche die Vereinigten Staaten gegen die gräuelvollen Zustände ausübten, die auf
dort ankommenden Auswandererschiffen Platz gegriffen hatten, war im Stande,
die allseitige Aufmerksamkeit unserem Gegenstande zuzuwenden und — wenn auch
zur Zeit noch in recht ungleichmässiger Form — Seitens sämmtlicher schifffahrt-
treibender Nationen eine gesetzliche Regelung der wichtigsten gesundheitlichen
m SOPIPFSHYGEENE.
Erfordernisse wenigstens auf Pass agier schiffen durchzuführen. Da von einer
ausführlichen Wiedergabe der betreffenden Vorschriften, ihrer Begründung und
ihrer Vergleichung unter einander hier abgesehen werden muss, beschränken wir
uns auf die Klarlegung der Schwierigkeiten, mit welchen die Gesundheitspflege
auf Schiffen mit langem Curse zu kämpfen hat und auf die Wiedergabe der
neuesten und besten Mittel und Wege zur Ueberwindung derselben.
I. Wenn man vom Schiffe als Wohnung und Wohnungsunter-
g r u n d der darauf befindlichen Menschen spricht , so sucht die Betonung des
letzteren Vergleiches ihre Begründung besonders in dem Umstände, dass dieser
künstliche „Boden" ganz besonders disponirt erscheint, die Luft, welche sich
zum Einathmen darbietet, zu verschlechtern. In hervorragender Weise erweisen
sich die Holz schiffe der Luftverschlechterung dienstbar. Das in den Zwischen-
rippenräumen um den Kiel sich unvermeidlich ansammelnde Bilschwasser
(nicht Kielwasser, womit lediglich die hinter dem fahrenden Schiff sich bildende
Wellenfurche bezeichnet wird) besteht neben dem Wassergehalt, aus einer beträcht-
lichen Beimischung fäulnissfähiger Substanzen, und giebt nicht blos an Ort und
Stelle ununterbrochen Anlass zur Bildung stinkender und theilweise direct toxischer
Gase, sondern steigt in den Seitenwandungen der Holzschiffe bis zu wechselnder
Höhe auf und macht so beträchtliche Abschnitte derselben zu neuen Quellen
empfindlichster Luftverderbniss. Eine wesentliche Abhilfe erschien aus letzterem
Grunde in dem Ersatz des Holzmaterials durch Eisen geboten und hat sich
trotz der Anfangs gegen eiserne Schiffe erhobenen Bedenken auch reichlich bewährt.
Eiserne Segelschiffe können unter besonders günstigen Umständen von Bilsch-
wasser-Ansammlungen gänzlich frei gehalten werden ; im Kielraum unserer Dampf-
schiffe sammeln sich zwar die bei der Schraubenbüchse eindringenden, sowie die
zum Kühlen der Wellenlager zugelassenen Wassermengen im Kielräume an, bilden
hier auch mit den eindringenden Aschentheilen , dem Maschinenfett und unver-
meidlichen Abfällen mancher Ladungen (Zucker, Korn etc.) eine schmierige,
schwärzliche übelriechende Flüssigkeit. Aber dieselbe steigt einmal nicht in den
Wänden auf; sie ist zweitens den Spülungen und Desinfectionen leicht zugänglich
— wegen der Construction eiserner Kiele ; und endlich ist das Eisen vollkommen
reinigungsfähig.
Wenn aber schon diese wesentlichen Vortheile die Einwürfe gegen das
Eisen (als ein die Wärme und den Schall in lästiger Weise leitendes Material)
verstummen Hessen, wenn die Uebelstände der Dampfschiffe (Feuersgefahr, Theilung
des Schiffskörpers, Raumverminderung , Luftverderbniss durch Maschinenfette etc.)
leicht übersehen werden durften gegenüber dem hygienischen Vorzuge, den eine
Abkürzung der Fahrt nach allen Richtungen geltend macht, — so haben
sich gerade für die Qualität der Schiffsluft auch noch weitere ganz erhebliche
Vortheile eiserner Schiffskörper herausgestellt. Als solcher figurirt in erster Reihe
die Möglichkeit, natürliche Zugänge für Luft und Licht — die
sogenannten Seitenlichter — in ungleich grösserer Anzahl als bei den Holzschiffen
anzulegen 5 auch ermöglicht die Eisenconstruction eine Anlegung der Decke
in solcher Anordnung, dass sämmtlichen Passagieren, wie das englische Aus-
wandererschiffsgesetz es z. B. fordert, je 5 Quadratfuss freien Decks zur Ver-
fügung stehen.
Nicht geringe Schwierigkeiten macht aber auch auf eisernen Schiffen die
Garantie des erforderlichen Luftquantums, besonders wo die Passagiere des
Zwischendecks in Frage kommen. Die Basis der Berechnung bildet hier (da die
Höhe von sechs Fuss meistens nach den unabänderlichen Bedingungen der Con-
struction gegeben ist und schwer überschritten werden kann) der pro Person zu
gewährende Grundflächenraum. Derselbe schwankt zwischen 12 und 18 Quadrat-
fuss, so dass sich 1-69 — 3-06 Cubikmeter ergeben, wobei die höheren Werthe
von den Behörden der Vereinigten Staaten, die niedrigen Seitens der deutschen
Auswandererhäfen aufrecht erhalten werden. Die englische Passengers act (1855,
SCHIFFSHYGIENE. 145
amended 1863 und 1870) bestimmt die Ansprüche europäischer Zwischendecks-
passagiere an das obere Deck auf 2-54, an das untere auf 3*57 Cubikmeter ;
die der farbigen Passagiere auf 2*13 Cubikmeter. „Die Kojen und sonstigen
Schlafstellen der Passagiere," heisst es weiter in der Bremer Verordnung von
1866 (§. 14), „müssen bequem und angemessen eingerichtet, die hölzernen von
trocknem Holze ohne scharfe Kanten hergestellt und dürfen nicht mehr als zwei
Reihen über einander angebracht sein. Sie sollen für jede Person mindestens
eine Länge von sechs Fuss im Lichten, eine Breite von 18 Zoll haben, die
untersten auch wenigstens 6 Zoll vom Deck entfernt sein." Scheint somit eine
angemessene Vertheilung des Athemraumes für Tag und Nacht wohl überall
gewährleistet, so erweist es sich doch auf der anderen Seite als nahezu unerfüll-
bar, einen genügenden Luftwechsel, besonders bei hohem Seegange her-
zusteilen. Zwar betonen, in völliger Uebereinstimmung mit den ausländischen
Reglements, auch die deutschen Verordnungen diesen Punkt ausdrücklich, wenn
sie „die Abkleidungen im Zwischendecke, welche den freien Verlauf der Luft
hindern", untersagen, wenn ausdrücklich bestimmt wird (Hamburger Verordnung
1868): „Behufs Herstellung hinreichender Ventilation müssen ausser den Luken
wenigstens 2 und je nach der Grösse des Schiffes mehr Ventilatoren von
mindestens je einem Fuss Durchmesser vorhanden sein. " Der wunde
Punkt der künstlichen Schiffsventilation liegt aber nicht nur in einer allgemein
anerkannten, relativen Insufficienz der mit der sonstigen Construction der Zahl
nach verträglichen Apparate, sondern auch in der Uneinigkeit über das luft-
bewegende Princip derselben. Die alten gegen den Wind geöffneten und in der
Takelage aufzuhängenden Windsegel oder Windsäcke sind bekanntlich auf
allen Fahrzeugen moderner Construction verdrängt durch die an der Mündung
trompetenartig ausgebogenen, rechtwinklig gekrümmten eisenblechernen Ven-
tilatoren, welche durch eigene Oeffnungen die Decke bis zu verschiedener
Tiefe durchsetzen und um ihre Längsachse drehbar sind. Für die bis in den
untersten Maschinenraum herabreichenden, für Heizer und Kesselfeuer bestimmten
Ventilatoren (auf grossen Dampfern gewöhnlich vier an der Zahl) ist es nun zwar
physikalisch gerechtfertigt, die Mündungen dem Winde entgegenzudrehen, da die
verdrängte Luft durch die Feuerstellen und den Schornsteinmantel entweichen
kann. An welchem Ende des Schiffes man aber für die übrigen unter Deck
gelegenen und solcher natürlichen Abströmungsöffnungen entbehrenden Räume
die frische Luft zuführen, und an welchem man die verbrauchte zum Abströmen
nöthigen soll, hat noch nicht mit voller Evidenz entschieden werden können. Sind
die von Peaese über diesen speciellen Fragepunkt angestellten Beobachtungen
richtig, dass die Luft im Inneren des Schiffes sich immer in entgegengesetzter
Richtung zum Aussenwinde bewegt, so würde man die Ventilatoren am
besten ausnutzen, indem man den dem Winde zunächst gelegenen Ventilator zur
Abfuhr der verbrauchten, den dem Winde am fernsten gelegenen dagegen für die
Zufuhr der reinen Luft benutzt. Der Einwand, dass auf diese Weise die aus-
strömende, unreine Luft noch einen grossen Theil des Schiffsdeckes bestriche,
würde, als nur eine Belästigung ausdrückend, zu den unerheblichen zu rechnen
sein. — Die bestens ausgestatteten transatlantischen Dampfer führen neben den
Ventilatoren noch einen durch ein Schraubenrad getriebenen Ventilationsapparat,
der durch Aspiration frische Luft zuführt und die verdorbene durch Pro-
pulsion entfernt.
IL Nicht weniger wichtig für die Assanirung des Schiffes und theilweise
auch noch für die Lufthygiene in Betracht kommend stellt sich die Freihaltung
desselben von direct gesundheitswidrigen Ladungen und die sorg-
fältigste Reinigung seiner einzelnen Theile und Oberflächen dar. Zersetzbare,
organische Ladungen (Felle , frische Häute , Guano , Poudrette) hinterlassen oft
wochenlang zersetzbare Reste, die den Mannschaften der Handelsschiffe gefährlich
werden; Passagierschiffe dürfen nach §. 12 des Norddeutsch - amerikanischen
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XIT. 10
[46 SCHIFFS II VC JENE.
Handelsvertrages neben den explosiven auch stark ausdünstende Stoffe (wie
Petroleum., bituminöse Kohle, Naphtha, Benzin) überhaupt nicht führen. Auch
Opiumladungen unterliegen auf den in Betracht kommenden Linien naturgemäss
erheblichen Beschränkungen. — Reinhaltung und zeitweilige, gründliche Des-
infection des Schiffes und seiner Räume sind die erste Grundlage einer Pro-
phylaxe gegen die meisten auf Schiffen zu beobachtenden Krankheitsformen. Dies
gilt bereits für das Entstehen mancher Formen von Seekrankheit (s. den Artikel
über diese), noch mehr aber für gewisse Infectionsgruppen. — Doch macht die
Frage nach der Modalität des Reinhaltens hier wieder erhebliche Schwierigkeiten.
Das stark nasse Scheuern auf Kriegsschiffen hat vielfach zu berechtigten Klagen
Anlass gegeben, auch für Auswanderer- und Passagierschiffe zieht man jetzt all-
gemein ein massig feuchtendes Verfahren — scheuern mit Sand und Wasser,
Seifenlauge in massiger Quantität — vor. Das Zwischendeck der auf den trans-
atlantischen Linien fahrenden Schiffe wird einmal täglich ausgekratzt und mit
weissem Sande bestreut. Auf englischen Schiffen werden zum trocknen Scheuern
Sandsteine von der Gestalt einer grösseren Bibel (holy stonesj benutzt. In den
ersten Tagen weitverbreiteter Seekrankheit haben fichtene Sägespähne sich zur
Reinigung und gleichzeitigen Desodorisation oft gut bewährt. Zu wirklichen Des-
infectionszwecken sollen die Schiffe nach noch jetzt bestehenden Verordnungen
verschiedene Materialien und Desinfectionspulver an Bord führen (Eisenvitriol,
carbolsaurer Kalk, Aetzkalk, Chlorzink, Mc DouGALL'sches Desinfectionspulver etc.).
Es ist indess wohl schon für die nächste Zeit eine Umgestaltung dieser Vor-
schriften, conform den neuesten Anschauungen über reelle Desinfection zu erwarten,
so dass auf dieselben hier näher einzugehen überflüssig ist. Speciell für die Des-
infection des Bilschwassers haben sich alle genannten Stoffe als unzulänglich
erwiesen; bessere Erfolge haben einige derselben bei der Desodorisirung der
Closets, deren Spülung auf See zuweilen Störungen unterworfen ist, aufzuweisen.
— Naturgemäss hat sich die Reinlichkeit auch auf Menschen, speciell auf die
Zwischendeckspassagiere zu erstrecken, und es wird mit Recht als ein grosser
Mangel beklagt, dass es an Bord nicht möglich ist, jedem Einzelnen von mehreren
Hundert, noch dazu seekranken oder apathischen Auswanderern ein Reinigungsbad
zu geben. Hier müssten unbedingt die Anlagen der Auswanderungshäfen aus-
helfend eintreten, ebenso wie es unter Umständen unbedingt nöthig erscheinen
könnte, die Mitnahme von unsauberen Effecten zu verweigern. Zwar haben alle
transatlantischen Dampfer Waschhäuser mit cementirtem Boden, in welchen die
Zwischendeckspassagiere mittelst einer Pumpe sich und ihre Effecten reinigen
können. Allerdings setzen aber solche Einrichtungen die Hergabe des durch den
Destillationsapparat bereiteten Nutzwassers voraus, da Kleider und Wäschestücke,
die mit Seewasser gereinigt werden müssten, wegen der Salzimprägnation nie-
mals wieder vollständig trocken werden. — Evacuation der Zwischendeckspassagiere
auf das obere Deck (auch bei massig schlechtem Wetter), Inspectionen, Aus-
räucherungen, besondere Reinigungen der Zwischendeckwände, Revisionen der
Zwischendeckbetten und der Leute selbst, müssten in gewissen Zeiträumen ärztlich
veranlasst werden,- um den auf längeren Seefahrten meistens gänzlich erlöschenden
Sinn für Reinlichkeit bei den Einzelnen zu beleben.
III. Die Ernährung auf Schiffen bildet ein hygienisches Problem,
dessen Lösung zu unserer Zeit nicht sowohl nach der quantitativen als nach der
qualitativen Seite Schwierigkeiten macht; denn die meisten Schifffahrtgesetze
schreiben ein so grosses Quantum vor, dass es als reichlich bezeichnet werden
darf. Durch den Umstand jedoch, dass die Verproviantirung von Seeschiffen aus-
schliesslich auf sehr haltbare oder künstlich präservirte Nahrungsmittel angewiesen
ist, erhält dieselbe ein ganz speeifisches Gepräge; die meisten Nahrungsmittel der
Schiffskost sind schwerer verdaulich und weniger ausnutzungsfähig als die frischen
Speisen der Landkost. In der englischen Verordnung wird neben reichlichem
Brod, resp. Schiffszwieback und Fleisch zu wenig Fett und viel zu wenig frisches
SCHIFFSHYGIENE. 147
Gemüse, dagegen bei längeren Cursen reichlich Citronensaft gegeben; einige der
deutschen Verordnungen leiden daran, dass sie von Fleischsorten nur gesalzenes
Rindfleisch kennen, zeichnen sich aber vortheilhaft durch Darreichung von Kar-
toffeln, Sauerkohl und trocken präservirtem Gemüse aus. Der mehrfach hervor-
getretene Vorschlag, gesalzenes Kindfleisch, das stets den grössten Theil seines
Nährwerthes eingebüsst hat und nur mit Widerwillen angesehen wird, ganz zu
streichen und durch andere im gesalzenen Zustande geniessbarere Fleischsorten zu
ersetzen, -verdient alle Beachtung. — Die Zwischendeckspassagiere des Nord-
deutschen Lloyd erhalten die folgende Verpflegung : Kaffee mit Milch und Zucker
mit Weiss- und Eoggenbrod und pro Woche 375 Grm. Butter; Suppe mit trocknem
oder frischem Gemüse, dazu pro Woche 1875 Grm. Fleisch (während der Ueber-
fahrt nach New- York zweimal frisches Fleisch), Hülsenfrüchte, Mehlspeisen, ein-
mal in der Woche Sauerkohl mit Kartoffeln und Speck; Kaffee mit Milch und
Zucker und Abends ebenfalls Kaffee oder Thee mit Milch und Zucker, Weiss-
und Roggenbrod. Dazu in den ersten Tagen der Reise Häringe ä discretion.
Als Antiscorbutica gemessen neben den getrockneten Gemüsen und dem Citronen-
saft der englischen Verpflegung besonders auch die Kartoffeln, die Zwiebeln und
die Runkelrüben guten Ruf. Frisches Brod, das nur auf wenigen Linien auch
für die Zwischendeckspassagiere frisch bereitet wird, muss auf Segelschiffen, wo
das Backen schon der Feuersgefahr wegen unterbleibt, durch harten Cake
(Biscuit der Franzosen, amerikanischen Schiffszwieback) ersetzt werden. Auf hol-
ländischen Schiffen und auf der französischen Kriegsmarine bildet Käse einen
regelmässigen Verpflegungsartikel. Mit Recht wird das Fehlen von Kindernahrungs-
mitteln auf Auswanderschiffen beklagt. Die Wichtigkeit eines zweckmässigen
Wechsels in der Darreichung der Speisen und die Schädlichkeit der früher be-
liebten Monotonie für die Verdauungsorgane ist jetzt wohl allgemein anerkannt.
Von Trinkwasser forderte Parkes pro Kopf und Tag 4*9, die
Bremer Verordnung bewilligt nur 2-6 Liter; französischerseits ist sogar das Auf-
treten der Digestionsstörungen theilweise auf zu reichlichem Wassergenuss
geschoben worden. Die Qualität des Trinkwassers ist natürlich in erster Reihe
abhängig von den Bezugsquellen des Abgangshafens und somit die im Princip
berechtigte hygienische Forderung, nur Quellen- oder Brunnenwasser, höchstens
Cisternenregenwasser, niemals aber Flusswasser mitzunehmen, nicht immer erfüllbar.
Filtrirvorrichtungen sind .möglichst ausgiebig schon bei der Wassereinnahme zu
bennlzen; das Wasser fremder Zwischenhäfen ist vor der Einnahme ärztlich zu
prüfen. Grabenwasser aus Sumpfgegenden soll unter keinen Umständen an Bord
zugelassen werden ; auch kalkhaltiges Wasser ist wegen der erheblichen Nach-
theile, die es als Kochwasser für Gemüse hat, zu vermeiden. Die Aufbewahrung
in Tanks (eisernen Kästen von parallelepipedischer Form) bringt nur den Nach-
theil, dass die meisten Trinkwasserarten in ihnen eine grosse Menge Eisenoxyd
und einen ziemlich massenhaften röthlichen , unappetitlichen Bodensatz bilden. In
Fässern macht fast alles Wasser (ausser dem destillirten) einen Fäulnissprocess
durch, nach dessen Ablauf es aber wieder vollkommen trinkbar werden soll
(abgelagertes Trinkwasser) ; übrigens scheint auch auf Segelschiffen die Anwendung
von Fässern mehr und mehr aufgegeben zu werden. Zur Restitution auf der
Fahrt verdorbener Wasservorräthe dienen theils Filter von mehr oder weniger
zuverlässiger Construction, theils eine Reihe von Methoden, um dem Wasser durch
Zusätze die ekelhaften Eigenschaften des Verdorbenseins zu benehmen (über-
mangansaures Kali, Kochen mit tanninhaltigen Substanzen, Thee, Essig und
Branntwein). Auf Dampfern fehlen neuerdings fast niemals die Destillir-
ap parate zur Verwerthung des Meerwassers; doch ist auf die Herstellung von
Trinkwasser aus demselben noch immer nicht zu rechnen, so dass in dem Ver-
fahren nur eine sehr wohlthätige Vermehrung des Nutzwassers gewährleistet
ist. Praktisch erscheint der Vorschlag, dem durch Lagerung längere Zeit auf-
bewahrten stark entgasten Wasser, bevor man es zum Trinken benutzt, durch
10*
US SCHIFFSHYGIENE.
Schütteln mit atmosphärischer Luft einen Theil der verlorenen Gase wieder zu
geben und es dadurch schmackhafter zu machen.
IV. Die ausdrücklichen Vorkehrungen gegen auf See zu
6 r w a r t e n de Krankheiten müssten naturgemäss viel mehr in die Competenz
geprüfter Mcdicinalp ersonen fallen, als es selbst nach den neuesten Ver-
ordnungen noch der Fall ist. Zwar führen Kriegsschiffe und Passagierdampfer
jetzt ausnahmslos Aerzte und ein ärztliches Hilfspersonal an Bord (auf Kauf-
fahrern liegt überwiegend noch heute selbst die ärztliche Behandlung rein in der
Hand des Schiffsführers); aber die Aerzte der besten Schifffahrtsgesellschaften
haben noch jetzt viel zu wenig Fühlung mit den notwendigsten prophylaktischen
Maassregeln, da sie in vielen Fällen blos eine Fahrt mitmachen und für die spe-
cialen Erfordernisse der Schiffshygiene viel zu wenig vorbereitet sind. Die englische
Fassengers Act macht bei Segelschiffcursen von 80, bei Dampfschiffeursen von 45
und bei einer Gesammtpersonenzahl von 300 die Mitnahme eines approbirten und
bei der Hafenaufsichtsbehörde ausdrücklich gemeldeten Arztes zur Pflicht; das
französische Decret imperial (1861) fordert, sowie die Zahl der auf einem Schiffe
zu befördernden Auswanderer 100 überschreitet, die Anwesenheit eines „Dr. med.,
Arztes II. Cl. oder Marinechirurgen" ; der norddeutsch-amerikanische Vertrag
schreibt sogar bei mehr als 500 Passagieren einen Arzt vor, der ausdrücklich
„in Sachen der Hygiene mit besonderer Rücksicht auf die Verhältnisse, Vor-
kommnisse und Zufälligkeiten auf und in Folge von Seereisen" unterrichtet sein
soll. Doch ist es ein offenes Geheimniss, dass die Schiffsärzte meistens nur eine
Xothstandsstellung einnehmen, dass bei ihrer materiellen Lage von wirklich aus-
gebildeten Männern niemals , höchstens von eifrigen Anfängern und den gewöhn-
lichen Vorkommnissen gewachsenen Routiniers die Rede sein kann. Dass der
Schiffsarzt einen wesentlichen Antheil an der Prüfung des aufzunehmenden Pro-
viants habe, dass ihm Gelegenheit gegeben werde, Passagiere, Effecten und
Mannschaften auf verdächtige Provenienz aus verseuchten Bezirken zu exploriren,
dass er eifrig sich an den Desinfectionen und sonstigen sanitären Maassregeln
betheilige, eine Initiative in Ventilationsfragen und Ernährungsmaassregeln ergreife
— gehört fast noch überall zu den frommen Wünschen. Schiffshospitäler
fehlen nach den revidirten Bestimmungen auf keinem Auswandererschiffe. Sie
gewähren fast durchgehend auf je 100 Passagiere 4 Betten und sollen auch auf
Schiffen, die keinen Arzt führen, eingerichtet sein. Hinsichtlich ihrer Lage besteht
noch eine lebhafte Discussion, da sie auf Deck oder unmittelbar unter Deck für
Isolirzwecke ungünstig liegen und den Raum für die freie Bewegung der Gesunden
beengen ; andererseits bei ihrer Installation in den Gängen und im Bug den
Kranken nicht die nöthige Ruhe und dem Personal nicht die erforderliche freie
Bewegung garantirt ist. Selbstverständlich muss für den zu gewährenden Luft-
cubus , die Beleuchtung, die Reinlichkeit etc. eine Annäherung an die Einrich
tungen der Landhospitäler erstrebt werden, wobei jedoch neben den feststehenden
Kojen entschieden auf die Anbringung von praktisch construirten Hängematten
Bedacht zu nehmen ist. Für die Details der sonstigen Einrichtungsgegenstände
und der Hospitalverpflegung haben Walbrach und Herwig (siehe Literatur-
verzeichniss) einige sehr praktische und beachtenswerthe Vorschläge gemacht. —
Einem Schiffe, das einen Arzt führt, wird man selbstverständlich eine von
unnützem Ballast möglichst befreite , aber nach den modernen Gesichtspunkten
trotzdem vollständig completirte Apotheke mitgeben. Ob auch einem nur mit
Laienhilfe ausgestatteten Fahrzeuge eine Schiffsapotheke anvertraut werden dürfe,
kann bezweifelt, aber schliesslich doch kaum anders als im positiven Sinne ent-
schieden werden. Durchfälle , Magenstörungen , Intermittenten , Seekrankheits-
folgen, beginnender Scorbut, ja selbst Pneumonien und Dysenterien dürften unter
den Händen eines sorgfältig mit den ihm durch Eigenerfahrung und vielfaches
Vorkommen bekannten uncomplicirten Mitteln operirenden, einsichtigen Capitäns
noch immer einen besseren Verlauf nehmen als sich selbst überlassen. — Von
SCHIFFSHYGIENE. — SCHINZNACH. 149
den auf den Dampfern anzustellenden Barbieren darf man wohl mit Recht eine
Qualification als Heilgehilfe fordern, da sie meistens sehr gut gestellt sind;
die als Krankenpfleger zu verwendenden Zwischendecks-Stewards sind
für diesen Zweck der Autorität des Arztes zu unterstellen und im Allgemeinen
wohl mit etwas mehr Vorsicht aus dem niederen Personal zu wählen, als es bis
jetzt meistens geschieht.
Die Prophylaxe der übertragbaren Krankheiten, soweit es
sich um Syphilis, Krätze, Masern, Scharlach, Blattern, Typhus handelt, liegt
vorwiegend in der Hand des Arztes, der neben den nöthigen Curmethoden, Isoli-
rungen und Desinfectionen für Revisionen der Ansteckungsfähigen, für Vaccinationen
und Revaccinationen Sorge zu tragen hat. Typhusverbreitungen gegenüber wird
sich die Aufmerksamkeit neben ausgiebigster Benutzung aller Ventilationsvortheile
(Lagerung auf Deck) besonders auf Nahrungsschädlichkeiten zu richten haben. —
Bei der Verhütung der verschleppbaren Seuchen — Cholera, Pest, Gelb-
fieber — ist natürlich die kräftigste Mitwirkung der H afenre visions-
behörden Hauptsache. So verschieden dieselben auch nach den jetzt noch
geltenden Bestimmungen zusammengesetzt sind (Seecapitäne, Ortsvorstände, Hafen-
capitäne, Schiffsbauer, Seesanitätsärzte), so scheint doch bei einer gewissenhaften
Beobachtung der Seesanitätsgesetze die Verhinderung grober Missstände in den
meisten Staaten verbürgt (s. den Artikel „Quarantänen").
Literatur: E. A. Parkes, A manual of practical hygiene. — Fon ssagri ves,
Tratte d'hygiene nav. Paris 1856. — Uff elmann , Darstellung des in der Gesundheitspflege
Geleisteten. Berlin 1878. — Senftleben, Sterblichkeit und Erkrankungen auf Auswanderer-
scbiffen. Deutsche Viertel] ahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. Bd. I. — Derselbe, Zum
Sanitätswesen der Handelsflotte. Viertel] ahrsschr. f. gerichtl. Medeoin und öffentl. Sanitäts-
wesen. N. F. Bd. XXV. — Wal brach, Zur Schiffshygiene. Ebendaselbst. Bd. XIX. —
Herwig, Ueber Schiffshygiene an Bord von Auswandererschiffen. Ebendaselbst. Bd. XXVIII,
XXIX. — Reincke, Ueber Schiffshygiene. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheits-
pflege, Bd. XIII. — Pappenheini, Handbuch der Sanitätspolizei, Art. „Schiffshygiene".
W e r n i c h.
ScMmbergbad, Canton Luzern, 1425 M. über Meer gelegene, mustergiltige
Badeanstalt. Mittle Sommertemperatur 17,2° C. Kalte alkalische Quelle: fester
Gehalt in 10 000 nach Müller (1875) 7,68 incl. 2. Atom C02 (Natron-Bicarbonat
6,83, Jodnatrium 0,007). Schwefelnatrium beträgt 0,292, unterschwefligsaures
Natron 0,01 ; dann sollen auch noch 6,8 Cc. Schwefelwasserstoff ausserdem vor-
handen sein. Es gilt dies Bad als „Magencurort", auch als wirksam bei Chlorose,
Schleimhautleiden, namentlich bei chronischem Blasencatarrh. BML
Schinznaeh. (Bad-), Canton Aargau, unter 47° 27' nördl. Br., 25° 49'
östl. L. F., 351 M. über Meer, unweit Station Schinznaeh, ist ein Complex von
12 Bauten, mit einer Schwefeltherme, deren Wärme von 28,5 — 34,8° C. variirt.
Zu den Bädern muss ein Theil des Wassers erwärmt werden. Die Analyse von
Grandeatj (1865) ergab festen Gehalt 21,66 in 10 000 G., nämlich:
Schwefelnatrium . . . . 0,08
Chlornatrium 5,85
Chlorkalium 0,86
Schwefelsauren Kalk . . 10,91
Kohlensauren Kalk. . . 2,50
Kohlensaure Magnesia. . 1,20
Thonerde 0,10
Eisenoxyd 0,05
Kieselsäure 0,11
Der Schwefelwasserstoff-Gehalt wech-
selt je nach dem Wärmegrade von
0,05 g bis 0,73, ja 0,91. Dies zeigt
an, dass die Therme nicht vor Zu-
tritt wilden Wassers geschützt ist.
Freie C 0, 1,9 g.
Man badet meist nur 32 — 35° warm, verlängert aber das Morgenbad
allmälig auf 2 Stunden, das Abendbad auf 1 Stunde. Oft entsteht bei dieser
Maceration der Haut ein Badeausschlag mit Schwellung und Röthung der Haut.
150 S< IIIXZNACH. — SCHLACHTHÄUSER.
Die Wirkung dos Schwefelwasserstoffes erscheint bei der Schinznacher Cur sehr
ausgesprochen. Sie kann durch Inhalationen verstärkt werden. Gsell-Fells
bat wiederholt die vorzügliche Heilkraft des Wassers bei chronischer Periostitis,
verbunden mit oberflächlicher Caries , wahrgenommen. Nicht acutes Eczem und
Psoriasis, besonders wenn ersteres mit Prurigo verbunden war, haben dem Bade
einen hohen Ruf verschafft. Bei Scrophulose wird häufig Wildegger Jodwasser
zugleich angewandt; siehe diesen Artikel.
Das Schinznacher Wasser wird auch versendet.
Literatur: Berichte von Hemman und Amsler. — Robert, Rute sur les
raus therm, sulf. de Schimnach. 18G5. — Zurkowski, De l'eniploi de Veau therm, sulf.
de Schit '.nach dann les affect. des voies respir. 1867. Xourelles observat. 1868.
B. M. L.
Schlachthäuser. Oeffentliche Schlachthäuser mit gleichzeitigem Schlacht-
hauszwang' sind durchaus keine moderne Erfindungen, waren vielmehr bereits
der alten Römerzeit, sowie dem Mittelalter wohlbekannt. Aber doch erst in der
jüngsten Zeit, seitdem in Folge des Wiederauiblühens der Naturwissenschaften
die Erkenntniss von der fundamentalen Bedeutung der öffentlichen Gesundheits-
pflege für das Volksleben sich mehr und mehr Bahn gebrochen hatte , gelangte
auch die — in wissenschaftlichen Kreisen bereits lange gewonnene — „Ueber-
zeugung bezüglich der Notwendigkeit ausschliesslich zu benutzender, öffentlicher
Schlachthäuser mit Schlachthauszwang" zur allgemeinen Geltung.
Dementsprechend besteht die in Rede stehende sanitäre Institution auch
bereits mehr weniger lauge in vielen Städten, z. B. Paris , Marseille , Brüssel,
Genua, Berlin etc. Süddeutschland ferner geniesst bereits viel länger als Nord-
deutschland den Vorzug, fast in jeder Gemeinde einen unter specieller Aufsicht
des Bezirksthierarztes stehenden empirisch ausgebildeten Fleischbeschauer, resp.
eine mit den erforderlichen Instructionen versehene Fleischbeschau -Commission
zu besitzen. Unter den zahlreichen nach den verschiedensten Richtungen hin
wirkenden wichtigen Gründen , die für die Errichtung allgemeiner Schlachthäuser
mit Schlachtzwang sprechen — und zwar insbesonders in grossen Städten , in
denen sich alles in der Umgegend vorhandene kranke Fleisch anzusammeln
pflegt — stehen in erster Reihe sanitäre Rücksichten.
Zunächst nämlich handelt es sich um die Erfüllung der unabweislich
notwendigen, sanitätspolizeilichen Forderung, alle diejenigen, theils direct, theils
indirect schädlich wirkenden Einflüsse möglichst zu verhüten, resp. zu verringern,
weiche aus den, in den engen Höfen der Städte zerstreut liegenden, weit verbreiteten
Schlächtereien resultiren. Zu den durch letztere bedingten Uebelständen gehören
z. B. : Die mit Verwesungsstoffen gefüllten Gruben mit ihren stinkenden , ekel-
erregenden Emanationen , das stagnirende , in den Boden sickernde , Brunnen
vergiftende Blut, die mit den Schlächtereien verbundenen, Luft und Boden ver-
unreinigenden Gewerbe der Talgschmelzerei , Seifensiederei etc. Vor allem aber
sind für alle Thiergattungen ausreichende , gemeinschaftliche Schlachthäuser mit
Schlachthauszwang insofern geboten, als in denselben die für Leben und Gesund-
heit der Bevölkerung zwingend nothwendige „allgemeine, obligatorische Vieh- und
Schlachtschau" ausschliesslich allein nur — wenigstens in einer allseitig genügenden
Form — überhaupt ausführbar ist.
Die unaufschiebbare Befriedigung gerade dieses hygienischen Bedürfnisses
erhellt aus folgendem : Ohne sanitätspolizeiliche Fleischcontrole wird zunächst
krankes Vieh sehr häufig eingeführt und geschlachtet, sowie nicht verkäufliches
Fleisch in Form von Würsten und ähnlichen Präparaten verwerthet, so dass Gefahr
der Uebertragung von Krankheiten und Seuchen fortdauernd besteht.
Zu den auf den Menschen durch blosse Berührung des bezüglichen kranken
Viehes übertragbaren Seuchen gehören: Milzbrand, Rotz, Wuth. — Ob das
Contagium derselben durch Kochen, Braten „des Fleisches von dem betreffenden
durchseuchten Vieh" zerstört werde, ist übrigens noch zweifelhaft. Durch den
SCHLACHTHÄUSER. 151
Genuss kranken Fleisches werden Krankheiten erzeugt , z. B. durch den von
trichinösen, finnigen, fauligen, den von vergifteten oder crepirten Thieren her-
rührendem etc. Angehend die „nicht allseitig" für gesundheitsschädlich anerkannte
Beschaffenheit des Fleisches von Thieren nämlich, die an Perlsucht leiden"),
Pockenkrankheit bei Schafen , ansteckende Lungenseuche bei Rindern (durch
welche letztere z. B. in Preussen auf Grund der Ministerialverfügung vom
28. August 1847 das Schlachten der Thiere ausdrücklich nicht contraindicirt
wird), viele acut oder chronisch verlaufende Krankheiten etc., — ist das bezügliche
Fleisch vom Schauer im Allgemeinen in dem Fall als ungeniessbar zu erklären,
dass hochgradige Abmagerung und Siechthum oder sichtbare Veränderungen von
Fleisch und Säften vorhanden sind.
Da ferner alle die einzelnen mannigfachen Krankheitszustände der Thiere
theils ausschliesslich nur im Leben , theils andererseits blos allein durch die
Obduction , theils endlich nur durch eine Vergleichung der Befunde im lebenden
und todten Zustande erkannt werden können, so müssen nicht blos alle Thiere
vor dem Schlachten, sondern auch ihre Eingeweide, ihr Fleisch nach dem Schlachten
der „Schau" unterzogen werden. — Diese letztere kann demnach auch nur
allen sanitätspolizeilichen Ansprüchen vollkommen genügen, wofern die Schauer
wissenschaftlich gebildete Thierärzte sind, deren Hinzuziehung insbesonders in allen
zweifelhaften Fällen, wenn z. B. in Folge plötzlicher Erkrankung eine sogenannte
Nothschlachtung geboten ist, als eine ganz unentbehrlich nothwendige gelten muss.
In der Wirklichkeit freilich fungiren in Ermangelung der erforderlichen Zahl
wissenschaftlich gebildeter Fachleute zumal auf dem Lande und in kleinen Städten
nothgedrungen häufig blos empirisch unterrichtete Schauer.
Die an sich ungenügenden Leistungen letzterer werden dadurch allerdings
in gewissem Grade wenigstens compensirt, dass in kleinen Verhältnissen, z. B.
auf dem Lande, die Bewohner theils häufig selbst schlachten, theils auch bezüglich
der Qualität des Fleisches eine scharfe, gegenseitige Controle untereinander aus-
üben. In grösseren Städten dagegen kann in einer wirklich zuverlässigen Weise
weder Vieh noch Fleisch controlirt werden in zahlreichen zerstreut gelegenen
Schlächtereien, sondern ausschliesslich allein nur in gemeinschaftlichen, öffentlichen
Schlachthäusern mit gleichzeitig bestehendem Schlachthauszwang vermittelst wissen-
schaftlich gebildeter Thierärzte.
Abgesehen von denjenigen Erkrankungen der Thiere, bei denen in Deutsch-
land die Ueberweisung letzterer an die Abdeckerei auf Grund des Viehseuchen-
gesetzes vom 23. Juni 1880 vorgeschrieben ist, wird gegenwärtig nicht aller Orten
in gleicher Weise kranken Thieren gegenüber verfahren. Die hie und da z. B. noch
herrschende Sitte, alle von den Schauern zurückgewiesenen Thiere zu stempeln,
zugleich aber den Besitzern zurückzugeben , ist insofern fehlerhaft , als hierdurch
eine heimliche Schlachtung und Verwerthung der Thiere nicht vollkommen aus-
geschlossen wird.
Bei Weitem vorzuziehen dagegen ist das z. B. in Wien, Stuttgart, Berlin,
Würzburg etc. geübte Verfahren, die krank befundenen Thiere nämlich im öffentlichen
Schlachthaus zu schlachten und der weiteren Verfügung des Schauers (Thierarztes)
zu unterstellen. Hierbei ist, selbst wenn durch die Art der Erkrankung die Fleisch-
benutzung — sei es ganz , sei es theilweise — nicht contraindicirt wird , der
Vortheil wenigstens erreicht , dass die bezügliche Seuche entdeckt ist und der
Viehstand von letzterer möglichst schnell befreit werden kann.
Bezüglich der unmittelbar nach dem Schlachten der Thiere vorzunehmenden
Prüfung der Organe muss der Schauer befugt sein, dem Befunde entsprechend das
Erforderliche anzuordnen, insbesonders z. B. im Falle der Abwesenheit ansteckender
Seuchen die technische Ausnutzung des bezüglichen Thieres zu gestatten; dagegen
im Falle der Ungeniessbarkeit des betreffenden Fleisches, die Vernichtung desselben
*) Cf. unter diesem Artikel.
152 SCHLACHTHÄUSER.
herbeizuführen und zwar behufs Verhütung von Unterschleif in einer geeigneten
Form, z. B. in derjenigen des Durchtränkens mit einer stinkenden Flüssigkeit
(Petroleum), so dass es eine für Jedermann kenntliche und zugleich ekelhafte
Beschaffenheit erlangt.
Man pflegt zu unterscheiden: a) bankwürdiges und vollständig gesundes
Fleisch, resp. von nur unbedeutend erkrankten Thieren herrührendes; b) nicht
bankwürdiges und minderwerthiges , z. B. das von Thieren herstammende, die
schwer verwundet und verletzt worden waren oder an Drehkrankheit litten etc. ;
c) nicht bankwürdiges und gleichzeitig ungeniessbares Fleisch, z. B. das mit
thierischen Parasiten behaftete.
Unter „Freibanken" verstand man ursprünglich die städtischen Schlacht-
und Verkaufshallen, in denen „Auswärtige" ihr Vieh selbst schlachten und ver-
kaufen konnten. Später erst wurde in den Freibanken das beanstandete, aber
noch geniessbare Fleisch unter polizeilicher Aufsicht billig verkauft.
Behufs allgemeiner wirksamer Fleischcontrole ist aber nicht blos Vieh-
und Fleischschau in den öffentlichen Schlachthäusern mit Schlachtzwang erforderlich,
sondern auch alles importirte Fleisch muss ausserdem selbstverständlich streng
überwacht werden, damit nicht kranke Thiere auswäi'ts geschlachtet und alsdann
in Stücke zerlegt eingeführt werden können.
In verschiedener, aber stets unzureichender Weise versuchte man bisher
in den einzelnen Staaten die Einfuhr kranken Viehes zu verhüten, indem man
bald Bescheinigung über die ausserhalb stattgefundene Beschau verlangte, bald
das eingeführte Fleisch von den einheimischen Schauern prüfen liess (z. B. in
Stuttgart, Basel etc.). Da jedoch sichere zuverlässige Unterscheidungsmerkmale
zwischen Fleisch gesunder Thiere zumal demjenigen von geringer Qualität und
anderseits demjenigen kranker Thiere nicht existiren, so dass z. B. unter Um-
ständen der Genuss anscheinend sogar vorzüglichen Fleisches tödtliche Milzbrand-
vergiftung veranlassen kann, so muss überhaupt jede Einfuhr frischen Fleisches
verboten werden.
In Betreff der Einfuhr künstlich veränderter Fleischwaaren (Rauchfleisch,
Salzfleisch, Würste etc.), deren ungesunde, krankhafte Beschaffenheit an und für
sich schwer oder gar nicht erkennbar ist, entziehen sich dieselben auch insofern
jeder strengen sanitätspolizeilichen Controle, als sie zum grossen Theil auf dem
Wege der Post und Eisenbahn in den Verkehr gelangen. Dementsprechend ist
allein auch nur eine indirecte Controle der künstlichen Fleischwaaren ausführbar,
und zwar in der Form unvermutheter , polizeilicher Visitationen, eventuell
Confiscationen , insbesonders an den Verkehrs- und Marktplätzen und Hallen
grosser Städte.
Unmittelbar mit den öffentlichen, gemeinschaftlichen Schlachthäusern sollten
stets verbunden sein die erforderlichen, von Sachverständigen überwachten Viehmarkt-
plätze. Selbstredend ist auf Viehexportmärkten eine besonders strenge veterinär-
polizeiliche Controle erforderlich behufs Verhütung der Uebertragung von Seuchen
und Ansteckungsstoffen. Aber, wie bereits oben erörtert, die endgültige Entscheidung
bezüglich der Fernhaltung von Consum, sei es des ganzen Schlachtthieres , sei es
blos einzelner Theile, wird überhaupt nur ermöglicht, durch die Untersuchung des
Schlachtthieres im Leben und die unmittelbar folgende durch die Obduction.
Ferner wird nun nicht blos im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege
speciell der geordneten Fleischcontrole die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser
mit gleichzeitigem Schlachthauszwang geboten, sondern ausserdem auch noch durch
viele andere wichtige Rücksichten.
Zunächst nämlich bedarf das im Falle eines über die ganze Stadt zerstreuten
Schlachtbetriebes stattfindende, unvermeidliche Treiben und Fahren durch die belebten
Strassen grosser Städte einer entsprechenden Abhilfe und Regelung.
Nächst diesen verkehrspolizeilichen Interessen sind es wichtige, volkswirt-
schaftliche, die zu Gunsten der in Rede stehenden hygienischen Institution sprechen.
SCHLACHTHÄUSER. 153
Denn das in Privat- und Einzeln-Schlächtereien erschlachtete Fleisch kann
im Vergleich mit demjenigen in öffentlichen Schlachthäusern gewonnenen nur
relativ, unvollkommen ausgenutzt werden, insofern in letzteren weniger verdirbt,
resp. verloren geht und die Abgänge in Gestalt von Albumin, Fett, Dünger etc.
auch bei Weitem vorteilhafter verwerthet werden können.
Alle die gegen die Errichtung allgemeiner Schlachthäuser bisher an-
geführten Einwände und Gründe haben sich thatsächlich erfahruDgsgemäss völlig
nichtig und hinfällig erwiesen.
Die Gegner der allgemeinen Schlachthäuser stellten zuerst die Rentabilität
derselben in Frage , indem aus ihrer Errichtung eine Vertheuerung der Fleisch-
preise resultiren sollte. Im Widerspruch hiermit hat im Gegentheil aber überall,
wo gemeinschaftliche Schlachthäuser bestehen, die Erfahrung gelehrt, dass eine
massige, leicht und gern getragene Schlachtgebühr vollständig genügt zur Wieder-
gewinnung der für die Verzinsung und Amortisation - des Schlachthaus- Anlage-
capitals erforderlichen Summe. Demzufolge bedingen öffentliche Schlachthäuser
auch eher ein Fallen, als Steigen der Fleischpreise.
Nicht minder unberechtigt ist der den Schlachthäusern Seitens der Gegner
gemachte Vorwurf einer Aufhebung der freien Concurrenz, sowie einer grösseren
Umständlichkeit im Geschäft. Selbst wenn diese an sich ganz unbegründeten
Bedenken wirklich beständen, könnten dieselben den oben erwähnten Vortheilen
der öffentlichen Schlachthäuser gegenüber nicht in's Gewicht fallen. Betreffend
insbesonders die aus einem Ausschlüsse auswärtiger Schlächter in den öffentlichen
Schlachthäusern angeblich resultirende Aufhebung der freien Concurrenz , kann
der Zutritt sowohl den Einheimischen, als auch Auswärtigen Seitens der Gemeinde
sehr wohl gestattet werden.
Selbstredend können und dürfen die ausschliesslich den Interessen der
Nahrungs-, Gesundheits- und Verkehrspolizei dienenden öffentlichen Schlachthäuser
nur organisirt und geleitet werden von der Gemeinde, als einer Behörde, welche
auch in der erforderlichen Weise das öffentliche Wohl berücksichtigt, mit gehöriger
Unparteilichkeit ihre Bestimmungen trifft und nach festen, für Alle gleich giltigen
Grundsätzen handelt. Bios vermittelst einer solchen Behörde kann z. B. auch nur die
nöthige Garantie gewährt werden, dass die zu normirenden Gebühren für die Schlacht-
hausbenutzung die Kosten der Verzinsung und Amortisation nicht überschreiten.
Als diejenige Einwohnerzahl, die im Durchschnitte etwa die Errichtung eines öffent-
lichen Schlachthauses beansprucht, darf eine solche von 10.000 gelten.
Bezüglich der viel discutirten Frage einer Entschädigungspflicht gegenüber
den durch die Errichtung der Schlachthäuser eventuell benachtheiligten privaten
Personen in Preussen z. B. auf Grund von §§. 7 und 9 bis 11 des preussischen
Gesetzes vom 8. März 1868, sowie insbesondere vom Art. 2 des Zusatz-Gesetzes
vom 9. März 1881 (als Ergänzung bezüglich der Vieh- und Fleischschau, Einfuhr von
geschlachtetem Fleisch und Schlachtstätten in der Umgegend der Städte) und auf
Grund ferner der Reichsgewerbeordnung, insbesondere des §.51 derselben, ist
zunächst zu bemerken, dass die gesetzliche Bestimmung der Entschädigunsgpflicht
an und für sich auf die praktische Ausführung öffentlicher Schlachthauser mit
gleichzeitigem Schlachthauszwang sehr hemmend und lähmend wirkt. Alsdann ist
hervorzuheben, dass die Realisirung der ideell bestehenden gesetzlichen Ent-
schädigungspflicht der Gemeinde den Privatschlächtereien gegenüber insofern von
geringer, praktischer Bedeutung ist, als der thatsächliche Nachweis des wirklich
erlittenen Schadens — wie die Erfahrung gelehrt hat — fast niemals geführt
werden kann.
Bezüglich der Entschädigungspflicht für getödtete Thiere, und zwar in
Preussen, resp. Deutschland auf Grund des Reichsgesetzes vom 23. Juni 1880,
betreffend die Abwehr und Unterdrückung von Viehseuchen, 4. §§. 58 bis 60,
sind in den §§. 61 — 64 die Fälle angegeben, in denen keine Entschädigung zu
leisten ist.
154 SCHLACHTHÄUSER.
Erwähnenswerth ist endlich noch , dass auch die gesetzlich zu zahlenden
Entschädigungssummen durch die Gebühren für die Schlachthausbenutzung mit
zu verzinsen und zu tilgen sind. Die gesetzlichen Bestimmungen, auf Grund welcher
z. B. in Preussen Vieh- und Schlachthöfe Seitens der Gemeinde errichtet werden
können, sind: §§. 5, 6 und 11 des Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom
11. März 1850 "(G.-S. S. 2G5) und der §§. 70 und 149, Nr. G der Reichs-
Gewerbeordnung.
Die bei Errichtung von Vieh- und Schlachthöfen in grossen Städten
hauptsächlich zu berücksichtigenden Momente sind etwa folgende: Zunächst müssen
die umfangreichen Baulichkeiten möglichst in der Peripherie der Städte derartig
gelegen sein, dass die Thiere nicht übermässig lange Wege zurückzulegen brauchen
von den weit ausgedehnten Eisenbahnausladestellen nach den Stallanlagen und
von letzteren wieder nach den Verkaufshallen. Ferner ist in einer entsprechend
zweckmässigen Weise zu sorgen : für gute Uebersichtlichkeit der zahlreichen
Strassen und Gebäudecomplexe sowie für einen bequemen Verkehr der in letzteren
sich bewegenden Massen von Menschen, Thieren, Fuhrwerken , insbesondere ferner
für die Möglichkeit eventueller sofortiger Absperrung einzelner Gruppen und
Abtheilungen der Anlage im Fall eines Seuchenausbruches.
Orte mit lebhaften Exportmärkten bedürfen einer besonders strengen,
sanitäts- und veterinär-polizeilichen Controle über die aus allen Richtungen von
Ausserhalb zusammenströmenden Thiere. Im Speciellen sind behufs gegenseitiger
Uebertragung von Seuchen nicht blos Anstalten und Vorrichtungen für Absperrung,
sondern auch für Reinigung und Desinfection der Thiere, sowie aller mit letzteren
in Berührung gekommenen Gegenstände erforderlich. — Behufs leichter Spülung,
Desinfection , Reinigung der Hallen und Ställe sind dieselben mit auf die hohe
Kante gestellten Klinken sowie ferner alle Trottoirs in den breiten Längs- und
Querstrasssen der Hallen, in denen die Thiere stehen, mit hart gebrannten Thon-,
Eisenschlacken (iron bricks) auf Sandboden zu pflastern und mit Cementmörtel voll
auszufügen. Die gesammte Anlage muss mit Canalisation und den ei'forderlichen
Wasserreservoirs versehen sein. Entsprechend den Ausführungsbestimmungen des
deutschen Bundesrathes zu den §§. 3 und 4 des Gesetzes vom 25. Februar 1876
über die Beseitigung von Ansteckungsstoffen bei Viehbeförderung auf Eisenbahnen
sowie den Bestimmungen letzteren Gesetzes selbst — ist jeder Viehwaggon vor seiner
Wiederbenutzung in vorgeschriebener Weise zu waschen, spülen, desinficiren, nämlich
mit Carbolsäurelösung und Kalkwasser.
In den räumlich isolirt gelegenen Seuchenhof müssen alle die Waggons
direct einfahren können , in welchen Vieh aus seucheverdächtigen Gegenden
transportirt wurde. Hierdurch ist die Möglichkeit gegeben, die verdächtigen Thiere
behufs weiterer thierärztlicher Untersuchung direct auszuladen, um sie später dem
entsprechenden Befunde gemäss zu schlachten und sei es ganz oder fheilweise
zu confisciren, sei es frei zu geben.
Zu den Viehhofsanlagen gehören ausserdem: Börsengebäude für den
Verkehr der Treiber, Händler, Käufer , Fleischer , Geschäftsleute , Commissionäre
mit ihren Gehilfen, der sogenannten Cassierer; — die Bureaux des Veterinäramts,
der Polizei , der Viehcommissionäre ; — die Verkaufshallen für die einzelnen
Thiergattungen (Rinder, Schafe, Kälber, Hammel, Schweine); — Isolirräume
in genügender Zahl für erforderliche Absperrung und Desinfection im Fall eines
Seuchenausbruches; Gebäude für die Verwaltung, Post, Telegraphie; — für
die Centesimal- und Decimalwagen behufs Wagens (durch vereidigte Wäger) der
Thiere, des Futters und des Düngers. — Bezüglich des eigentlichen Schlachthofes
beanspruchen ein besonderes Interesse: Die Albuminfabrik zur Gewinnung des
Serum-Eiweisses und -Fibrins durch Abdunstung des Blutwassers; — die Talg-
schmelz- und Margarinfabrik; — die Observationsställe des Polizeischlachthauses
für Thiere mit Krankheitserscheinungen behufs Schlachtens durch den Polizei-
schlachtmeister, um dem Befunde gemäss ihre Cadaver ganz oder theilweise: sei
SCHLACHTHAUSER. 15 "j
es frei zu geben, sei es zu vernichten. Behufs directer unmittelbarer Ausladung
der Thiere in den einzelnen Schlachthäusern und -Kammern sind direct in diese
letztere die (die Thiere auf Eisenbahnschienen fahrenden) Waggons hinein zu
dirigiren. Auch sind alle Schlachträume, um leicht und gründlich gereinigt werden
zu können , mit geriffelten Cementplatten zu pflastern , sowie alle ihre inneren
Wände vermittelst Cement „glatt" zu putzen. Reichliches, warmes Wasser muss
aus den Reservoirs leicht und bequem zuströmen können. Wichtigkeit beansprucht
weiter noch die Darmwäscheanlage. Erwähnt seien endlich: Die Verkaufshallen
für den Engros-Fleischhandel, d. h. den Fleischverkauf in Hälften und Vierteln ;
die Läden und die Futterböden etc.
Der seit dem 1. März 1881 im Betriebe sich befindende, grossartige
Berliner Vieh- und Schlachthof verdient wegen seiner allen Bedürfnissen in möglichst
vollkommener Weise Rechnung tragenden mustergiltigen Organisation, Verwaltung
und Leitung insbesondere hier gerühmt zu werden. — Berlin, in der Mitte gelegen
zwischen dem Vieh- und Fleisch-reichen, auf Export angewiesenen „Osten" und dem
relativ Vieh- und Fleisch-armen, den Import nicht entbehren könnenden „Westen",
— ist das Centrum eines grossartigen Schlachtviehhandels. Der durchschnittliche
jährliche Auftrieb auf dem Berliner Viehmarkt beträgt z. B. : 120.000 Ochsen, Bullen,
Kühe; — 110.000 Kälber; —'390.000 Schweine; — 650.000 Hammel etc.,
von denen nach Auswärts wieder ausgeführt werden gegen 40.000 Rinder; —
145.000 Schweine; — - 450,000 Schafe. Für die beiden Märkte in der Woche
werden die Thiere auf zahlreichen Extrazügen herbeigefahren und zwar insbesondere
die Schweine aus Polen, Russland, Ungarn, Serbien, Kaukasus.
Gegen 500 Treiber mit ihren Gehilfen besorgen die Thiere. An einem
Markttage werden gegen zwei Millionen Mark umgesetzt. Entsprechend seinem
Charakter „als Exportmarkt" wird von 10 Veterinärärzten eine sehr strenge
polizeiliche Controle ausgeübt. Dank dem vorzüglich geschulten , zahlreichen
Personal von Beamten und Bediensteten herrscht überall eine bewunderungswerthe
Ordnung, Controle, Bewachung bezüglich z. B. der Futter-Einnahme und -Ausgabe,
der Reinlichkeit, Desinfection etc.
Die aus Betriebsüberschüssen zu verzinsenden und zu deckenden Gesammt-
kosten belaufen sich vorläufig auf 9 Millionen Mark. In den ersten 13 Betriebs-
monaten betrugen die Einnahmen z. B. aus Miethen 63.000, Düngerverkauf 40.000,
Standgeld für das Marktyieh 338.000; Schlachtgeld 168.000 Mark etc.; — ander-
seits dagegen die Ausgaben für z. B. Besoldung, Löhne 197.646; — Wasserverbrauch
35.000; — Unterhaltung und Verwaltung der Eisenbahnanlagen 100.000 Mark etc.
Im Monat März 1882 ferner wurden geschlachtet: 6021 Rinder, 4999 Schweine,
2306 Kälber und 5832 Hammel und zwar gegen Zahlung eines Schlachtgeldes
von zusammen 16.141 Mark 50 Pf ; — verwogen 1096 Rinder, 31.036 Schweine,
19 Kälber, 3940 Hammel und dafür an Wägegeld 3403 Mark vereinnahmt.
Entsprechend der der grossartigen Anlage zukommenden, ausserordentlich
hohen Bedeutung und fundamentalen Wichtigkeit fungirt als Director eine Persön-
lichkeit, deren Autorität in dem Vieh- Schlachthauswesen sowohl in wissenschaftlicher,
als auch praktischer Hinsicht allbekannt ist — der Oekonomierath Hausburg.
Literatur: C. Th. Falck, Das Fleisch. Gemeinverständliches Handb. der wissen-
schaftlichen und praktischen Fleischkunde. Marburg 1880. — Gerlach, Die Fleischkost des
Menschen vom sanitären und marktpolizeilichen Standpunkt. Berlin 1875. — Hausburg,
Der Vieh- und Fleischhandel von Berlin. Reformvorschläge etc. Berlin 1879. — Baranski,
Praktische Anleitung zur Vieh- und Fleischschau. Wien 1880. — Gobbin, „Ueber öffentl.
Schlachthäuser etc." Vortrag. (Deutscher Verein für öffentl. Gesundheitspfl 3. Versammlung.
Bericht des .Ausschusses.) ,.Die auf den Betrieb und die Benützung des städtischen Schlacht-
und Viehhofes, dann die Fleischbeschau und den Fleischaufschlag zu Würzburg bezüglichen
Statuten, Vorschriften und Instructionen. 1881." (Bibliothek des Magistrats zu Berlin.) —
Lydtin, Anleitung zur Ausübung der Fleischschau. Karlsruhe 1879. — Heusner, Ueber
Ziele, Mittel und Grenzen der sanitätspolizeilichen Controlirung des Fleisches. Vortrag.
(Deutscher Verein für öffentl. Gesundheitspfl. 3. Versammlung. München 1875. Bericht des
Ausschusses.) T ,
Lothar Meyer.
156 SCHLAFSUCHT.
Schlafsucht. Synonyma: Endemische Schlafsucht, Schlafsucht der Neger,
Somnolenza, Sleßping dropsy, unaladie du sommeil, hypnose, malatlia del sonno
(nSlavanf). Der erste Hinweis auf das häufigere Vorkommen einer den Negern
an der Westküste von Afrika eigenen Schlafkrankheit rührt von Winterbottom
aus dem Anfange dieses Jahrhunderts her. Clarke beobachtete vielfach Schlaf-
süchtige unter den Negerstämmen der Sierra Leone, der Goldküste und der
Republik Liberia. Die französische Colonialliteratur enthält zahlreiche Berichte
über das noch immer sehr räthselhafte Leiden, die sich anf sein Vorkommen an
der Congo- und Gabun-Küste (Nicolas, Gaigneron, Dangais), auf dem Litorale
von Baal und Sin (Cobre), aber auch auf Schlafsucht bei den nach den Antillen
gebrachten und sonst in Süd- und Mittelamerika angesiedelten Negern beziehen
(Nicolas, Corre).
Der Gang der Symptome ist nach den Mittheilungen der älteren
Literatur folgender : Dem Verfallen in Schlaf geht eine tiefe Depression und ein
ganz eigentümliches Gefühl allgemeiner Schwäche voraus. Bald unter vollständiger
Appetitlosigkeit , bald unter den Erscheinungen des Heisshungers , entwickelt sich
eine immer stärker werdende Unfähigkeit zu Bewegungen. Bei gleichbleibender
Hauttemperatur tritt ein taumelnder Gang neben anderen Coordinationstörungen
ein, jede Theilnahme an der Aussenwelt geht verloren, die Sinneswahrnehmungen
werden träger pereipirt und trüben sich, der Puls wird langsamer, und ein soporöser
Schlaf bemächtigt sich des Erkrankten. Als letzter Willensimpuls erscheint die
Einnahme einer vollständig platten Lage auf dem Erdboden ; von da ab reagirt
der Kranke auf stärkste Reize kaum noch merkbar und nimmt spontan keinerlei
Bewegungen vor. Verlust des Drucksinnes und Erscheinungen von Ataxie werden
neuerdings Seitens der Beobachter zugegeben, während ältere Mittheilungen jede
Anästhesie und jedes Symptom von Seiten der motorischen Rückenmarkssphäre
leugneten uud kaum eine Schwächung der centripetalen und centrifugalen Leitung
zugeben wollten. Auch die zeitweise beobachteten Functionsstörungen der Sphincteren
sollten nicht Lähmungen sein, sondern wurden anders erklärt. Delirien wurden
geleugnet, Convulsionen und convulsivisches Zittern als sehr seltene Ausnahmen
erklärt. Unter zunehmender Verlangsamung des Pulses und schnell vorschreitender
Abmagerung entwickelt sich ein Bild des vollständigen Idiotismus und eine in's
Erdfarbene spielende Verblassung der Haut, bis endlich nach einer mittleren Dauer
der Schlafsucht von 2 -3 Monaten der tödtliche Ausgang eintritt. Nach einer
Angabe von Gore aus den Hospitälern der Sierra Leone und der Goldküste starben
von 179, während der Jahre 1846 — 50 und 1859—66 beobachteten Fällen nicht
weniger als 172.
Acht Leichenbefunde gelang es Hirsch aufzufinden und zusammen-
zustellen. Sie geben, abgesehen von den die Abmagerung betreffenden Notizen,
Veränderungen in der Arachnoidea (Trübung, Verdickung) , grossen Blutreichthum
des Gehirns, beträchtliche Exsudate theils an der Basis und in den Hirnventrikeln,
theils in den Rückenmarksumhüllungen , Blutergüsse in verschiedener Höhe des
Rückenmarks, vielfache Ecchymosen in der Centralnervensubstanz als sich meistens
wiederfindende, reguläre Befunde, — Exsudate in den Pleuren und im Herzbeutel,
Fettablagerung auf dem Herzen, Lungenhyperämie, vollkommen ausgeprägte, rothe
Erweichung einzelner Hirntheile als seltenere und mehr accidentelle Veränderungen
an. Corre sieht sich beim Eingehen auf diese Frage genöthigt, für einen Theil der
zur Section gekommenen Falle die meningitischen und encephalitischen Destructionen
zuzugeben, für einen anderen sie aber in Abrede zu stellen. Bei den ersteren
liess auch die mikroskopische Untersuchung keine andere Erklärung als die eines
„entzündlichen Vorganges" zu. Hirsch macht mit Recht auf die Eigenthümlichkeit
des recht oft wiederkehrenden Befundes von Fettablagerung auf dem Herzen
aufmerksam. —
Frauen scheinen der Krankheit weniger unterworfen zu sein als Männer ;
am meisten disponirt erscheinen junge Leute von 13—20 Jahren. Creolen sind
SCHLAFSUCHT. — SCHLANGENGIFT. 157
ebenso wie auf den Antillen selbst geborene Neger nicht vollständig ausgeschlossen ;
jedoch stellen die direct hnportirten und die im Heimatlande belassenen Angehörigen
der oben bezeichneten Stämme jedenfalls das Hauptcontingent. — Während man
früher ganz allgemeine Störungen des Gemüthslebens und der Ernährung sowie
die climatischen Verhältnisse der betreffenden Landstriche für die Entstehung
verantwortlich machte, hat unter den neueren Autoren besonders Coere sich um
die Formulirung speciellerer Hypothesen bemüht. Chronische Alkohollntoxication
mit Palmwein und Gouron, verbrecherische Vergiftungen mit eigenthümlichen
Giften sowie eine speci fische Art der alimentären Maisvergiftung
schienen ihm in seiner ersten Arbeit erwähnungswerth und sämmtlich besser zur
Erklärung geeignet, als die Zurückführung der Somnolenz auf larvirte Malaria -
infection. Später jedoch hat dieser Autor selbst mit seinen Anschauungen vielfach
gewechselt, so z. B. die scrophulöse Diathese der Neger angeschuldigt, auch
von Analogien mit einfacher Meningitis und Meningo-encephalitis gesprochen. —
Die Hypothese, dass die Maladie du sommeü auf ein Maisgift zurückzuführen
sei , welches auch bei Hühnern eine ähnlich verlaufende Affection , die „Hühner-
cholera" hervorrufe, hatte zu einer Analogisirung beider Affectionen bei manchen
französischen Schriftstellern geführt. Auch war die Schlafsucht vielfach fälschlich
mit dem „Nelavan" der Neger identificirt worden. Anlässlich dieser Irrthümer
und besonders anknüpfend an eine von Declat beschriebene Nelavan epidemie nahm
kürzlich Nicolas in der französischen Akademie Anlass , den Nelavan als eine
vermöge der heftigen disseminirten Schmerzen, der Hyperästhesien, der schreckhaften
Hallucinationen und des Fehlens der Somnolenz — ganz abweichende Affection zu
schildern und Coere dafür verantwortlich zu machen, dass er fast durchgehends
Nelavan geschildert habe. Nur von diesem, als einer sichtlich parasitären Krankheit,
gelte auch die Aehnlichkeit mit der Cholera des poules, während die eigentliche
„Hypnose" mit beiden nicht das geringste gemein habe.
Die ältere Literatur s. bei Hirsch, Hist.-geogr. Path. Bd. II, pag. 658—662.
— Ferner: Gore, The sleeping siclcness of Western Afrika. Brit. med. Journ. 1875. Jan. —
A. Corre, Contribution h Vetude de la maladie du sommeil (hypnose). Gaz. med. de Paris.
187 ii. Er. 46. — Derselbe, Eecherches sur la maladie du sommeil, contribution a Vetude
de la scrofule dans la race noire. Archiv de med. nav. 1877. Avril, Mai. — Derselbe,
Contributo allo studio della mallatia del scnno ed ipnosi. Progr. med. di Rio Janeiro 1877.
Nr. 7 — 8. — Die letzterwähnten Discussionen siehe in Compt. rend. Bd. XC, Nr. 17, 18, 19.
"Wernich.
Schlammbäder, s. „Moorbäder", IX, pag. 207.
ScMangenbad im Taunus, Provinz Hessen-Nassau, 1 Stunde von der
Eisenbahnstation Eltville, 313 Meter hoch gelegen, in einem nach Süden offenen
Seitenthale des Kheins, von dichtbewaldeten Höhenzügen umgeben, hat indifferente
Akratothermen von 28 bis 32*5° C. Temperatur, deren beruhigende und restau-
rirende Wirkung durch das günstige Clima unterstützt wird. Das Wasser enthält
in 1000 Theilen nur 0-33 feste Bestandteile. Die Einrichtungen der drei Bade-
häuser sind vortrefflich , ebenso auch die Molkenanstalt recht gut. Das Haupt-
contingent zu den Badegästen stellen Nervenleidende aller Art, schonungsbedürftige
Arthritiker und Rheumatiker, sexualkranke Frauen, auch Hautleiden. k.
Schlangengift. Unter der Abtheilung der Ophidii oder Schlangen zeichnet
sich eine grössere Anzahl dadurch aus , dass sie am Oberkiefer eine Giftdrüse
besitzen , welche mittelst eines Ausführungsganges in einen Giftzahn mündet , an
dessen oberem Ende eine spaltförmige Oeffnung sich findet. Schlangengattungen
dieser Art pflegt man als Gift schlangen, Serpentes venenati s. Th a n a-
tophidii, den übrigen, nicht mit einem Giftapparate versehenen, die man ins-
gemein als unschädliche, Serpentes innocui, bezeichnet, obschon auch letztere
durch ihren Biss unangenehme Verletzungen herbeiführen können, gegenüber-
zustellen. In der That ist der Giftapparat es einzig und allein, welcher einen
charakteristischen Unterschied der giftigen und giftlosen Schlangen begründet.
158 SCHLANGENGIFT.
Die Giftzähne oder, wie man sie auch genannt hat, Gifthaken, weil Grösse,
Gestalt und Function von denen der gewöhnlichen Zähne abweichen , sind in der
Regel etwas sichel- oder schwertförmig gebogen , entweder hohl oder mit einer
Furche versehen. Die Giftzähne mit vollständiger Röhre, Solenoglypha , sitzen je
einer in dem kleinen, beweglichen Oberkieferraume, anfangs frei, bei vollständiger
Entwicklung aber mit demselben fest verwachsend; unmittelbar hinter ihnen
folgen, kreuzweise kleiner werdend, jüngere Giftzähne, 2 — 6 an der Zahl, die
sogenannten Reservehaken, welche zum Ersatz der ersten Giftzähne nach Ab-
nutzung derselben bestimmt sind. Ist die Schlange in Ruhe oder beim Fressen,
so sind die 1 — 4 Linien langen Giftzähne mit der Spitze nach hinten gerichtet,
in einer Scheide oder einem sogenannten Sacke verborgen, der durch Erweiterung
des Ausführungsganges an der Wurzel des Zahnes und durch eine Duplicatur des
Zahnfleisches oder der Lippenschleimhaut gebildet wird. Beim Oeffnen des Rachens
richten sich die Zähne durch das Verschieben des Quadratbeines durch einen
Muskel , der von der Basis des Schädels entspringt und sich an dem hinteren
Theile des Arcus pterygoideus befestigt, derart auf, dass die obere Oeffnung des
Giftzahnes auf die Mündung des Drüsenausführungsganges passt. Die Giftdrüsen,
unrichtig auch wohl Parotiden genannt, liegen zwischen Oberkiefer und Quadrat-
bein unter und hinter dem Auge und finden sich neben gewöhnlichen Speichel-
drüsen, die bei den ungiftigen Schlangen in weit höherem Grade entwickelt sind.
Die Ausdehnung der Giftdrüsen ist eine sehr verschiedene, ebenso ihre Form,
die bald platt zusammengedrückt {Trigonoc&plialus crotallinus) , bald cylindrisch
(Naja Haje), bald knopfartig (Vrpera echis) erscheint. Nach A. B. Meter sind
die Giftdrüsen überall durch Bindegewebszüge in röhrenförmige Abschnitte von
grösserem oder geringerem Caliber getheilt, deren Lumen durch Vorsprünge der
Wandungen, im Innern wieder durch einige Fächer senkrecht zur Axe der Röhre
abgegrenzt ist; bei einigen Drüsen ist ausser dieser Abtheilung in Röhren noch
eine in grössere Lappen vorhanden. Das Drüsenparenchym (bei Pelias Berns) besteht
aus glashellen, nebeneinander liegenden, hier und da gegeneinander abgeplatteten,
zelligen Elementen, in acinösen, von Bindegewebe umgebenen und von Capillaren
reichlich umspülten Complexen angeordnet und von kleinen , schwach contourirten
Körnern, welche Molekularbewegung zeigen und die sich auch im ausgepressten
Secrete in grosser Zahl finden, erfüllt. Was die Ausdehnung der Drüsen anlangt, so
reicht die exquisit röhrenförmig gebaute Giftdrüse von Causus rhombeatus
über den Nacken bis auf den Rücken und kommt an Länge etwa dem sechsten
Theile des Thieres gleich; bei Callophis (Elaps) intestinalis und bivirgatus liegen
die beiden Drüsen innerhalb der Visceralhöhle als langgestreckte, tief gelbgefärbte
Körper dicht nebeneinander, und zwar nicht wie bei Causus direct unter der Haut
über der Rippenmuskulatur , sondern unterhalb der Rippen , in der Bauchhöhle,
vor dem Herzen and erreichen die Länge von 1ji — 1/2 des ganzen Thieres. Die
Drüsen sind von quergestreiften Muskeln umgeben, ebenso die Ausführungsgänge.
Neben den Giftzähnen finden sich bei den Meer- und Seeschlangen , Hydrophis,
auch andere solide Zähne im Oberkiefer.
Das Verhältniss der Zahl der giftigen Schlangenarten zu den ungiftigen
lässt sich nicht genau feststellen, weil bezüglich mancher tropischer Schlangen
die Giftigkeit nur vermuthet und in Wirklichkeit nicht erwiesen ist. Nur der
Nachweis des Giftapparates, der Giftzähne und der Giftdrüsen sichert die Zugehörig-
keit zu der Abtheilung der Venenosa. Besonders zweifelhaft ist die Stellung der
sogenannten Suspecta oder Trugnattern, welche Furchenzähne am hinteren
Theile des Oberkiefers hinter einer Reihe gewöhnlicher Zähne besitzen. Nach
A. B. Meyer scheint zu solchen gefurchten Zähnen mitunter eine grössere Drüse
mit besonderem Ausführungsgange im Zusammenhange zu stehen , doch ist diese
bei Dijjsas annulata und der javanischen Homalopsis monilis eine Speicheldrüse
und keine Giftdrüse. Ueberhaupt hat Meter bei keiner Schlange mit Furchenzähnen
Giftdrüsen gefunden, so dass er geneigt ist, alle derartigen Schlangen zu den
SCHLANGENGIFT. 159
ungiftigen zu stellen. Schlegel hat in seinem epochemachenden Werke: „>SW la
physionomie des serpentsu (1837) unter 263 Arten nur 57 giftige aufgeführt, und
wenn wir gegenwärtig 940 — 1000 Schlangenarten kennen, so erreicht die Zahl der
wirklichen Thanatophidii wohl noch nicht 100 authentische Species. Dies Verhältniss
ist allerdings in verschiedenen Ländern ein anderes. Mit der Zahl der Schlangen-
arten in den Tropen nimmt auch die der Giftschlangen zu. Auf den Siradainseln
ist die Hälfte aller Schlangenarten giftig, in Australien und auf Martinique ist das
Verhältniss noch ungünstiger.
Die giftigen Schlangen gehören theils zu der Ahtheilung der Soleno-
glypha, deren Oberkiefer ausschliesslich hohle Giftzähne trägt, theils zu denjenigen
der Proteroglypha, deren Oberkiefer vorn mit mehreren vorngefurchten Gift-
zähnen und hinten mit soliden Hakenzähnen bewaffnet ist, die ausserdem noch an
dem Gaumen und Flügelbeinen sich finden.
Unter den Solenoglyphen treten uns zunächst die Crotaliden oder
Grubennattern, die sich durch eine zwischen den Augen und Nasenlöchern
befindliche, mit kleinen Schuppen eingefasste Grube von den Viperiden oder
Ottern unterscheiden, entgegen. Ein Theil der Crotaliden ist durch die Anwesenheit
einer Anzahl plattgedrückter, miteinander articulirender Hornringe am Ende des
Schwanzes ausgezeichnet, deren Bewegung beim Heben des Schwanzes ein eigen-
thümliches klapperndes Geräusch verursacht, das den Thieren den Namen Klapper-
schlangen verschafft hat. Die Gattung der echten Klapperschlange,
Crotalus (Caudisona s. Urocrotalus) gehört ausschliesslich der neuen Welt an
und ihre beiden Hauptarten, Crotalus durissus Daud und Crotalus horridus Daud,
welche beide eine Länge von 2 Metern erreichen, werden durch die Landenge
von Panama scharf von einander geschieden. Die erste lebt ausschliesslich in Nord-
amerika, wo sie nördlich bis zum 45. Grade vorzukommen scheint und von Unter-
canada durch die Binnenländer der Union bis Carolina, Florida, Californien,
Mexico verbreitet ist ; die zweite, die sogenannte Cascavela der Brasilianer, ist auf
Südamerika (Guyana , Surinam , Brasilien , Peru , Paraguay , Chile) und auf die
benachbarten Inseln (Antillen) beschränkt. Ihnen reiht sich eine kleinere , 1 bis
lx/3 Meter lange, nordamerikanische Art, Crotalus miliarius (Crotalophorus Schi.),
welche namentlich in Florida vorkommt und dort den Namen Massagua führt, an.
Die Gattung Lachesis, bei welcher sich am Schwanzende statt der Klappen nur
noch hornige Schuppenreihen finden, bildet gewissermassen den Uebergang zu den
Grubenottern ohne jeden Schwanzanhang. Sie wird durch Lachesis r ho mbeata
Pr. Neuwied {Crotalus mutus L., Trigonocephalus crotalinus s. Lachesis), dem
Surukuku oder dem Busch meist er der holländischen Colonisten in Surinam,
auch la grande vipere des bois genannt, einer in den Wäldern der brasilianischen
Küstengegend vorkommenden, sehr gefürchteten Schlange von IV2 — 21/* Meter
Länge und mit 2 — 3 Cm. langen Giftzähnen repräsentirt. Wie die meisten übrigen
Grubenköpfe, welche Oppel in der Gattung Trigonocephalus (so genannt
wegen ihres dreieckigen Kopfes) vereinigte , gehört sie der heissen Zone von
Amerika an. Ein sehr beschränktes Gebiet besitzt die ebenfalls gegen 2 Meter
lange Lanzenschlange Trigonocephalus s. B othrops lanceolatus,
Fer de lance, die auf den Inseln Martinique und St. Lucia der Schrecken der
Arbeiter auf den Zuckerplantagen ist. In Brasilien ist B othrops s. Trigono-
cephalus atrox, die Labar ischlange, Labaria oder Sororaima,
neben Bothrops Jararaca1 der Jararaca, die gewöhnlichste Giftschlange.
Auch die Südstaaten der nordamerikanischen Union besitzen Schlangen aus der
Abtheilung der Trigonocephalen. So kommt in Louisiana und Nordcarolina
Tr. s. Ancistrodon piscivorus , sogenannte Mo cassin d'eau, die
einzige Wasserschlange aus diesem Geschlechte vor. Einzelne Trigonocephalen
finden sich auch in der alten Welt, z. B. Hy pnale nepa in Ceylon, Trimere-
surus viridis (Cophias viridis) , die Grasschlange oder die Papagei-
schlange in Ostindien und die sehr gefürchtete Erdschlange von Java,
160 SCHLANGENGIFT.
Gallost lasma rhodostoma, die durch einen Ilornstachel in der Schwanz-
spitze ausgezeichnete Gattung Halys u. a. m.
Die Abtheilung der Viperina, durch breiten, stark abgesetzten, beschuppten
Kopf ohne Gruben und eine verticale Pupille charakterisirt , liefert die einzigen
europäischen Giftschlangen, unter denen die Kreuzotter, Pelias berus Merrem
{Vipera torva Lenz , V. berus Daud) , den grössten Verbreitungsbezirk besitzt,
indem sie im ganzen mittleren Europa, auch in Schweden, Russland und England,
südlich durch die Alpen begrenzt , wo sie (in der Schweiz) bis zu einer Seehöhe
von 2000 Meter angetroffen wird, und in Asien bis zum Baikalsee sich findet.
Diese einzige Giftschlange Deutschlands hat am Kopfe drei von kleinen Schuppen
umgebene Schilder, einen grossen, V-förmigen, schwarzen Fleck auf dem Hinter-
kopfe und eine doppelte Reihe schwarzer Flecke, die in der Mitte bisweilen
zickzackförmig ineinander tibergehen, auf dem Rücken; die Nasenlöcher stehen
seitlich. Die Männchen sind von grauer , die Weibchen von bräunlicher Farbe ;
doch wechselt das Colorit sehr, was zur Aufstellung verschiedener Varietäten als
besondere Species, z. B. Vipera chersea L., die sogenannte Kupferschlange,
ein noch nicht ausgewachsenes, röthlichbraunes Weibchen, und Vipera pr est er L.,
die Höllennatter, eine schwärzlich gefärbte, vermuthlich pathologische Varietät,
geführt hat.
Die Kreuzotter wird höchstens 75 — 80 Cm. lang und steht in ihrer
Grösse der 1 Meter langen, südeuropäischen Viper, Vipera Redii s. V. aspis
Merrem , nach , welche an der etwas aufgeworfenen Schnauze und an den vier
Reihen schwarzer grosser Flecken auf dem Rücken, durch welche kein Zickzack-
band gebildet wird, charakterisirt wird. Sie findet sich von der südlichen Schweiz
an durch ganz Europa, am häufigsten in Italien, Spanien und Frankreich. Die
Farbe ist braun, zeigt aber ebenfalls verschiedene Nuancen, die auch hier zur
Aufstellung verschiedener Species geführt haben, wohin z. B. die oben am Aetna
lebende Vipera Hugii Schinz gehört. Eine dritte, Europa angehörige Otter ist
die in Steiermark, Ungarn, Dalmatien und Griechenland vorkommende Sandviper,
Vipera ammodytes Daud (V. lllyrica Laur.) , von der Grösse der Kreuzotter
und dieser in ihrer Zeichnung ähnlich , aber leicht an der weichen , hornartigen
Verlängerung über der Schnauzenspitze kenntlich. Sie scheint auch in Nordafrika
vorzukommen , wo eine Reihe anderer Viperinen lebt , unter denen Cerastes
Aegyptiacus s. cornutus Wagl. , von der Länge der Sandviper , durch eine
spitze, hahnenspornähnliche Hervorragung über jedem Augenlide ausgezeichnet, in
Egypten und Arabien lebt. Aehnlich ist die am Cap vorkommende Helmbusch-
viper, Cerastes lophophrys , die über jedem Auge ein Büschel kleiner
Hornfäden trägt. Ueberhaupt ist die Abtheilung der Viperinen in Afrika durch
eine Reihe von Repräsentanten vertreten, die zum Theil die europäischen Vipern
sehr erheblich an Grösse und Umfang übertreffen. So beschrieb Schlegel als
Vipera rhino ceros , V. nasicornis und V. chloro echis hieher-
gehörige Schlangen von Armsdicke und 1*7 Meter Länge. Auch Ostindien besitzt
giftige Viperinen, die meistens den Gattungen Chersophis, Daboia und Echis
angehören, z. B. Daboia Russelii und Echis carinata, Scytale
bizon atus , Vipera echis u. a.
Die Abtheilung der Proteroglyphen zerfällt in die Familie der Hydro-
phiden und Elapiden. Die ersteren, welche von ihrem Aufenthaltsorte auch
die Namen Hydrina und Meer- oder Seeschlangen führen, finden sich besonders im
Indischen und Stillen Oceans, von wo sie aber auch in die Strandseen und in die
Flussmündungen eindringen. An dem mit Schildern versehenen Kopfe finden sich
mit einer Klappe verschliessbare , hochliegende Nasenlöcher und der mit kleinen
Schuppen bedeckte Körper endet in einem stark zusammengedrückten , verticalen
Ruderschwanze. Hieher gehören die Gattungen Pelamys (dahin P. bicolor
Sehn., die oben schwarze, unten gelbe, etwa 1 Meter lange, gemeinste See-
schlange von Otaheiti bis Indien), Hydrophis, Hydrus, Liopala, Aepysurus,
SCHLANGENGIFT. 161
Platyurus (dahin P. colubrinus s. fasciatus , die geringelte Ruderschlange von
Java). Man kennt mehr als 50 Arten aus dieser Abtheilung.
Die Elapiden oder Conocercinen haben ebenfalls einen mit Schildern
bedeckten Kopf, aber einen runden Schwanz und runde Pupillen. Sie leben
sämmtlich in den Tropen, und zwar sowohl in der alten , als in der neuen Welt
und gehören z. B. zu den schönsten Schlangen , die wir besitzen. Die Gattung
Naja, Brillenschlange oder Schildviper zeichnet sich durch 3 hinter den
Augen belegene Schilder und durch den schildförmig durch Zurücklegen der langen
Rippen nach vorn ausdehnbaren Hals aus. Hieher gehört die eigentliche Brillen-
schlange oder Hutschlange, Naja tripudians Merrem (Coluber Naja L.), Cobra
di Öapello, Serpent Chaperon, mit einer schwarzen, brillenförmigen Zeichnung
auf der Nackenscheibe , eine der gefährlichsten Giftschlangen Ostindiens , und
die durch rautenförmig sechseckige Schuppen charakterisirte, der Brillenzeichnung
entbehrende Naje Haje, Hadsche N escher der Araber und die echte Aspis
der Alten , die Viper der Kleopatra in Egypten ; ferner Naja rhombeata
(Cansus rhombeatus), deren Giftdrüsen bis zu den Rippen reichen, an der Gold-
küste und Naja porphyrica in Neuholland. Verschiedene Angehörige der Gattung
Elaps, Prunknatter, werden unter der Collectivbezeichnung Korallenschlange,
Cobra coral, welche auch auf den in den brasilianischen Wäldern häufigen Elaps
corallinus eingeschränkt wird , zusammengefasst. Die Giftigkeit dieser meist mit
verschiedenen Ringeln hübsch gezeichneten Schlangen, welche in Ostindien und
Südamerika vorkommen, ist übrigens für manche Arten zweifelhaft. *) Sehr giftig sind
dagegen die Angehörigen der Gattungen Bungarus, Felsenschlange, äusserst
grosse Giftschlangen, welche 2]/2 — 22/3 Meter lang werden und in Ostindien, wo
sie ausschliesslich vorkommen, den Namen Bongare führen. Noch grösser als
Bungarus annularis s. fasciatus, Sankeischlange, Bungarus coeruleus
(Krait) und Bungarus semifasciatus s. candidus , welche ihrer Länge wegen
auch Pseudoboa oder Bastardriesenschlangen genannt sind, sind einige Species von
Ophiophagus, von denen eine auf Sumatra vorkommende eine Länge von 32/3 Meter
erreicht. Ophiophagus elaps wird als 4 — 5 Meter lang bezeichnet. Zwischen
Bungarus und Elaps stellt sich die Gattung Callophis, deren grosse Giftdrüsen,
die übrigens keineswegs bei allen Species, z. B. nicht bei G. maculiceps sich
finden, bereits erwähnt wurden. Der Gattung Naja nahestehend ist Dendroaspis
Jamesonii, eine auf Bäumen lebende Giftschlange der Goldküste. Andere Gattungen
dieser Abtheilungen sind Hoplocephalus, wozu H. curtus, die Tigerschlange
von Australien, gehört, Furina, Brachysoma, Pseudechis , dazu die schwarze
Schlange, black snake von Australien, Hemibungarus u. a. m.
Die Bedeutung der Giftschlangen für die Toxikologie ist hauptsächlich
durch die zufälligen Verletzungen gegeben, welche dieselben in der Regel nur
dann veranlassen, wenn sie durch einen Tritt oder in irgend einer anderen Weise
gereizt werden. Selbst die grossen Giftschlangen der Tropen fallen den Menschen
nicht an und verwunden ihn meist nur dann, wenn er ihre Ruhe durch zufälliges
Darauftreten und den Versuch, sich ihrer zu bemächtigen, stört. Nur die grössten
Arten suchen sich nach ausgeführtem Bisse nicht durch die Flucht weiterer Ver-
folgung zu entziehen. Man darf die Bedeutung der Giftschlangen für die Hygiene
nicht nach der äusserst kleinen Zahl von Vergiftungen beurtheilen, welche in
mitteleuropäischen Ländern durch den Biss der Kreuzotter hervorgerufen werden
und welche selbst bei Kindern, die sie in der Regel betreffen, nur ausnahmsweise
tödtlich verlaufen. Auch die Bisse der südeuropäischen Vipern sind in der Regel
nicht lebensgefährlich, doch finden sich in der Literatur seit Fontana, der selbst
unter 62 Fällen von Vipernbiss nur zwei letal verlaufen sah, 80 — 90 durch diese
Schlange verursachte Todesfälle in der Literatur, von denen ungefähr die Hälfte
*) A. B. Meyer fand bei Elaps corallinus und lemniscatus Giftdrüsen.
Keal-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. ^ *
162 SCHLANGENGIFT.
auf Kinder fallen. *) Auch für grössere Thiere (Pferde , Esel , Kühe) ist der
Vipernbiss nur tödtlich, wenn die Verwundung Nase und Lippen betraf, während
dieselben sonst meist nur einige Tage erkranken ; doch gehen Ziegen und Schafe
häufig darnach zu Grunde. Das Gift der Kreuzotter ist beim erwachsenen Menschen
auch wohl nur unter besonders ungünstigen Verhältnissen tödtlich, wie in dem von
Lenz ausführlich berichteten Falle des Schlangenbeschwörers Hörsei mann, der
unvorsichtiger Weise den Kopf einer Vipera berits in den Mund nahm und in
Folge eines Bisses in die Zunge zu Grunde ging. Da die europäischen Gift-
schlangen nur selten unmittelbar in der Nähe menschlicher Wohnungen ihren Sitz
haben und meist in Wäldern und auf Heiden wohnen, ist die Gelegenheit zu Ver-
giftungen im Allgemeinen eine geringere, als in tropischen Gegenden, wo einzelne
Thanatophidier selbst in die Wohnungen eindringen. Im Uebrigen ist die Zahl
der Vipern in einzelnen Districten von Frankreich, z. B. in der Vendee und in
den Departements Loire inferieure, Lot, Haute Marne und Cöte d'or, eine ungemein
reiche. Im Departement Haute Marne wurden im Jahre 1856 14,150 Vipern ver-
tilgt, 1857 sogar 19.066, 1858 11.532, 1860 10.330 und in den drei ersten
Quartalen von 1861 7036, in dem ganzen Zeiträume gegen 60.000.**) Weit
erheblicher und zum Theil wahrhaft erschreckend ist die Bedeutung der Schlangen
für die Hygiene und Mortalität tropischer Länder. Statistische Mittheilungen liegen
in dieser Beziehung aus Britisch Ostindien vor. Nach Brighton soll in dem
80 Quadratmeilen grossen Districte Kolmar in der bengalischen Provinz Burduan
bei einer Seelenzahl von 300.000 täglich ein Todesfall durch Schlangenbiss seitens
der Polizei bekannt gemacht werden , die Summe aller derartigen Unglücksfälle
aber sicher das Doppelte betragen. Nach Fayrer, kamen in Bengalen, Assum,
Orissa, Punjab , Aude und Burma, einem Gebiete von 121 Millionen Einwohner
1869 11.416 Todesfälle durch Schlangenbiss vor und ist es wahrscheinlich , dass
mindestens 20.000 Menschen jährlich, d. i. 16 von 100.000 in dieser Weise zu
Grunde gingen. In Bengalen allein starben 1874 7595 und 1875 8807 Personen
am Schlangenbiss. Diese höchst befremdende Mortilitätsstatistik rührt theils von
dem häufigeren Eindringen der Giftschlangen in die menschlichen Wohnungen,
theils von der grösseren Häufigkeit und Gefährlichkeit der ostindischen Gift-
schlangen her. Es sind Fälle bekannt, wo Thanatophidier in die Bettstellen und
in die Fussbekleidungen eindrangen und beim Anziehen der letzteren ihren tödt-
lichen Biss vollführten. Dass Schlafende wiederholt gebissen wurden, ist keines-
wegs ein Beweis für die aggressive Natur der Schlangen. Es ist leicht zu
begreifen, dass durch den Contact mit dem kalten Körper derselben reflectorische
Bewegungen entstehen , durch welche die Thiere zum Bisse gereizt werden. In
ähnlicher Weise kommen auch in Europa , z. B. in der Auvergne , die Mehrzahl
der Todesfälle durch Vipern bei Kindern vor, welche im Freien schlafend, die
über ihr Gesicht kriechende Schlange ergriffen. In Bezug auf die ostindischen
Schlangen muss betont werden, dass der Biss einzelner derselben für absolut
tödtlich gilt, wenn nicht unmittelbare Hilfe geleistet wird. Es gilt dies nicht
allein für die durch ihre gewaltige Grösse ausgezeichneten Schlangen Ophiophagus
und Bungarus (aus letzterer wird JB. coeruleus für weit giftiger als die übrigen
angesehen), sondern auch für die nicht viel mehr als 1 Meter lange, hauptsächlich
todtbringende Schlange Ostindiens, die Brillenschlange, ferner für die beiden
Viperarten Daboia Rüsseln und Echis carinata, endlich für die den Badenden so
gefährlichen Hydrophisarten, welchen allen die den Gattungen Callophis, Trimere-
surus u. a. angehörigen Giftschlangen an Gefährlichkeit nachstehen. Letztere
hängt übrigens zum Theil auch von dem sehr verschiedenen Temperament der
*) Nach Viaud-Grand-Marais endeten von 316 in der Vendee und Loire
inferieure beobachteten Fällen 44 tödtlich.
**) In der Vendee findet sich neben der Viper auch die Kreuzotter, jedoch hier
w ie in anderen Districten Frankreichs , mit Ausnahme von Yonne , in geringerer Häufigkeit
(Soub eiran).
SCHLANGENGIFT. 163
einzelnen Thanatophidier ab , ein Umstand , welcher z. B. die geringere Gefähr-
lichkeit der Bisse der Klapperschlangen erklärt, die in ihren Bewegungen äusserst
träge sind, während einzelne Trigonocephalen und Viperiden, z. B. Daboia,
Vipera arietans, ihrem Biss durch kräftige Bewegung des ganzen Körpers
besonderen Nachdruck verleihen. *) Nach S. Weir Mitchell sollen sogar 7/8 aller
von Klapperschlangen Gebissenen genesen, weil die Giftzähne beim Bisse von der
Schlange häufig nicht hoch genug gehoben werden, so dass die Spitzen, ohne die
Haut zu verletzen, nach hinten gleiten und die Verletzung nur von den Unter-
kieferzähnen herrührt. Auch kommt es nicht selten vor, dass der verwundete
Theil zwischen die auseinander gespreizten Giftzähne geräth, so dass nur ein
Giftzahn eindringt und so nur die Hälfte des Giftes in die Wunde kommt, ja es
wird mitunter auch, ungeachtet des Eindringens beider Giftzähne, das Gift nur
einseitig entleert und nicht in die Wunde selbst, sondern in deren Umgebung
abgesetzt. Solche Momente kommen bei den torpiden Klapperschlangen weit mehr
in Betracht als bei Naja, Trigonocephalus und anderen tropischen Giftschlangen,
doch müssen wir trotz der angeblichen fast absoluten Letalität des Bisses gewisser
ostindischer Schlangen die Zahl der in Ostindien vorkommenden Verletzungen weit
höher als die Zahl der Todesfälle ansehen , da Imlach unter 306 von ihm
gesammelten Fällen von Schlangenbiss in Ostindien 63 letal verlaufene (20°/0) mittheilt.
Dass gewisse Stände der Verwundung durch giftige Schlangen mehr aus-
gesetzt sind als andere , braucht kaum hervorgehoben zu werden. Bei uns sind
es häufig mit dem Hüten von Vieh oder mit dem Sammeln von Beeren und auf
Heiden beschäftigte Kinder und Waldarbeiter , welche durch Pelias berus verletzt
werden. In tropischen Gegenden sind Jäger, Fischer, Hirten von meisten exponirt,
auch Reisende, insbesondere Botaniker und Zoologen, letztere nicht allein auf ihren
Reisen, sondern auch bei der Untersuchung des Giftapparates, beim Abzeichnen
lebender Schlangen u. s. w. So wurde z. B. Pöppig auf seiner südamerikanischen
Reise von einer Schlange verletzt und der Prinz Maximilian v. Neuwied
beschädigte sich beim Untersuchen der Gifthaken. Ein kleines Contingent zur
Intoxication mit dem Gifte tropischer Schlangen liefern auch Wärter in Menagerien
und die sogenannten Schlangenbeschwörer**), denen man mit Unrecht eine
Immunität gegen die Bisse giftiger Schlangen zuschreibt. Solche Immunitäten sind
für den Menschen ausserordentlich schwer zu constatiren, da eine Reihe von
*) Ueber die Art und "Weise, in welcher die Giftschlangen ihren Apparat wirken
lassen, lässt sich im Allgemeinen Folgendes sagen : Sie rollen sich spiralförmig zusammen,
den Kopf emporrichtend, wobei manchmal ein eigenthümliches Zischen laut wird und einzelne
Arten (die ostasiatische Naja sputatrix hat davon ihren Namen) viel Speichel von sich
spritzen ; dann richten sie sich mit einem Schlage in die Höhe , legen Hals und Kopf rück-
wärts und öffnen weit den Rachen. Durch eine nach oben gehende Bewegung des Oberkiefers
richten sie die Spitzen der Giftzähne nach vorn, ziehen dann den Giftsack durch den
Musculus pterygoideus ixternus in die Höhe und pressen durch Contraction der Musculi
temporales die Giftdrüsen, wodurch das Gift manchmal mit grosser Kraft durch die Höhlung
der Giftzähne in die mehr oder weniger tiefen, bisweilen nur geritzten "Wunden eindringt.
Die Verletzung geschieht häufig in rapidester "Weise mit einem Sprunge nach vom, weniger
durch Beissen als durch mehrmals wiederholtes Schlagen und Stossen, dessen Heftigkeit mit-
unter zu Boden wirft. Vipera arietans verdankt ihren Beinamen, sowie die deutsche Be-
zeichnung Puffotter ihren heftigen Anprall. Schomburgk erzählt von einem Trigono-
cephalus, dass derselbe Menschen in das Gesicht springe.
**) Die Verhältnisse der egyptischen und ostin tischen Schlangenbeschwörer sind bis
auf den heutigen Tag nicht völlig aufgeklärt. Es ist im höchsten Grade auffallend , wie in
den genannten Ländern die giftigste Schlange, die Naja, das auserlesene Object der Künste
und eigenthümlichen Productionen bildet, wobei sie die Brillenschlangen auf dem Schwänze
stehen, Bewegungen mit dem Kopfe machen und todt darniederliegen lassen. Nach Einigen
extrahiren sie ihnen vorher die Giftzähne, nach Anderen besteht die ganze Kunst in dem Zauber
der Musik, indem die Schlangenbeschwörer Flötentöne produciren, welche der Naja angenehm
sind (?). Die diesen Schlangenbeschwörern und namentlich bestimmten afrikanischen Völker-
schaften, z. B. dem Ai'ssacouas von Algier, zugeschriebene Immunität existirt weder für Naja
Haje, noch für Vipera Eedii, wie die Beobachtungen von Ansei mi er (Revue med. Fevr. 29.
1868. pag. 229) und Smith (Brit. med. Journ. Fevr. 20. 1868. pag. 65) beweisen.
11*
104 SCHLANGENGIFT.
Umständen die Entwicklung der Folgen eines Bisses modificiren. Von grösster
Wichtigkeit ist in dieser Beziehung die Tiefe der Wunden und wie bereits her-
vorgehoben , die Localität derselben. Während oberflächliche Schrammen häufig
ohne jede Folge bleiben, ist die Gefahr um so grösser, je tiefer der Giftzahn
eindringt, durch welchen Umstand sich die grössere Gefährlichkeit mancher mit
ausserordentlich langen Giftzähnen versehenen tropischen Schlangen erklärt. Bisse,
welche das Gesicht , insbesondere Lippen oder Zunge treffen , sind weit gefähr-
licher als solche in Extremitäten; doch ist zu bemerken, dass Bisse in Zehen und
Finger grössere Gefahr involviren , insofern derartige Theile von den Kiefern der
Giftschlangen leicht umschlossen werden und so das Gift mit grösserer Gewalt
in die Tiefe eindringt.*) Am gefährlichsten ist das directe Eindringen von
Schlangengift in Venen, das bei einigermaassen erheblichen Quantitäten wohl als
absolut letal betrachtet werden muss. Abgesehen von der Localität der Verletzung
ist auch der jeweilige Zustand der beissenden Giftschlange von Bedeutung. Es
kommt vor Allem darauf an , welches Quantum von Gift die Giftdrüsen zur Ver-
fügung stellen können. Ist dies gering , so ist auch die Gefahr geringer. So
erklärt es sich , dass Schlangen , welche kurz zuvor gebissen haben , etwa ein
Thier, das sie zu ihrer Ernährung bedurften (denn alle Thanatophidier sind Car-
nivoren) und dadurch tödteten, weniger zu fürchten sind als solche, welche lange
nicht gebissen haben. S. Weih Mitchell nennt deshalb Schlangen in der Gefangen-
schaft wohl mit Recht die gefährlichsten. Stark gereizte Schlangen sind schon
deshalb gefährlicher, weil sie mit grösserer Energie ihre Giftzähne inseriren. In-
wieweit die Paarungszeit, die Häutung u. s. w. auf die Secretion des Schlangen-
giftes influiren , ist mit Sicherheit noch nicht festgestellt. Nach Albertoni ist
das Gift der Viper a Redii im April unwirksam. Dass Kinder leichter durch
Schlangenbiss der kleinen europäischen Giftschlangen getödtet werden als Erwachsene,
wurde bereits hervorgehoben und wie dies Verhältniss der allgemeinen Regeln der
Giftwirkung entspricht , steht wahrscheinlich auch der Ernährungszustand und die
Körperkraft des Individuums im umgekehrten Verhältnisse zur Gefährlichkeit der
Verletzung durch Schlangenbiss. Da wir in dem Schlangengifte ein auf die Nerven-
centren deprimirendes Gift zu sehen haben, so ist es nicht unmöglich, dass bei
gewissen centralen Erregungszuständen die Effecte des Schlangenbisses ceteris
paribus nicht so stark wie unter gewöhnlichen Verhältnissen hervortreten. **)
Andererseits ist es nicht unmöglich, !,dass bei manchen höchst acut verlaufenden
Fällen heftige Angst und Schreck mit im Spiele waren und durch Collaps-
erscheinungen die Gefahr vergrösserten.
Wenn alle diese Umstände es erschweren, über das Bestehen von Immuni-
täten beim Menschen zur Klarheit zu gelangen, so sind wir über die Immunitäten
bei Thieren im Stande, uns durch Inoculation von Schlangengift absolute Sicher-
heit zu verschaffen. Diese Art der Experimentation , durch welche der Einfluss
der Tiefe und Localität des Schlangenbisses beseitigt wird, ist in dieser Beziehung
*) Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass bei tropischen Schlangen, deren Ober-
kiefer neben dem Giftzahne noch solide Zähne trägt, diese zur sicheren Inoculation des
Giftes durch Festhalten des ergriffenen Theiles beitragen und dass die Gefahr des Bisses
der Proteroglyphen , in specie der "Wasserschlangen , hiermit wenigstens zum Theil ihre
Erklärung findet.
**) Dass die vermeintliche Immunität der Schlangenbeschwörer mit solchen Erregungs-
zuständen in Connex stehen kann, muss als nicht unwahrscheinlich betrachtet werden. Nach
den Angaben von Boudin (186U lassen sich die A'issacouas von Algier von afrikanischen
Giftschlangen beissen, nachdem sie sich zuvor durch wildes Tanzen in einen Exaltationszustand
versetzt haben. Schon Minutoli (1821) erzählt, dass die afrikanischen Schlangenbeschwörer
bei ihren Productionen sich wie Basende geberden und ihnen der Schaum vor den Mund
tritt. Nach Minutoli sollen die Beschwörer ausserdem ein narkotisches, ätzendes Kraut
kauen, welches gleichzeitig starke Vermehrung des Speichels hervorruft. Ein Fall von
Immunität bei einem Pariser, der sich von einer Viper beissen liess und nach 24 Stunden
fortwährend beobachtet keine Symptome zeigte, theilte Gosse in der Sitzung der Societe
d' Anthropologie vom 7. Februar 1861 mit.
SCHLANGENGIFT. 1G5
noch nicht in hinlänglichem Umfange in Anwendung gebracht; aber auch die
durch Beissenlassen gereizter Giftschlangen gewonnenen Versuehsresultate, wie sie
in Bezug auf die Kreuzotter von Lenz und in Bezug auf verschiedene ostindische
Giftschlangen von Fayrer ausgeführt wurden, lassen keinen Zweifel darüber, dass
bestimmte Thierspecies weniger als andere vom Schlangengift afficirt werden.
Die von Lenz mitgetheilten Versuche scheinen kaum einen Zweifel darüber
zuzulassen, dass Igel und Iltis durch Kreuzotterbisse nicht afficirt werden. Eine
ähnliche Immunität schrieb man früher gegenüber dem Gifte ostindischer Schlangen
dem Mungo, Viverra Mungo, und dem Ichneumon, Viverra Ichneumon, zu,
die angeblich mit den Schlangen fortwährend im Kriege leben sollten, doch starben
dieselben constant durch Cobragift. Mit Sicherheit lässt sich behaupten , dass
Kaltblüter minder stark durch Schlangengift afficirt werden und dadurch weit
langsamer zu Grunde gehen als Warmblüter, unter denen besonders Vögel ausser-
ordentlich rasch sterben können. Im Allgemeinen steht, wie Fayrer betont, die
Schnelligkeit, mit welcher der Tod eintritt, dabei im bestimmten Verhältniss zur
Grösse des Thieres, so dass kleinere Thiere schneller als grössere erliegen, jedoch
nicht ohne dass zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel vorkommen. Während
man früher nach den negativen Resultaten Fontana's mit dem Gifte von Vipera
Redii das Schlangengift im Allgemeinen für Schlangen und Blindschleichen für
ungiftig ansah, ebenso für Blutegel und Schnecken, während man eine sehr
schwache Giftigkeit für Schildkröten und eine bedeutendere für Aale, Fische und
kleine Lacerten zugab , fand Lenz das Gift der Kreuzotter für Blindschleichen,
Eidechsen, Salamander, Frösche, aber nicht für die Kreuzotter selbst tödtlich.
Die Immunität von Giftschlangen derselben Species scheint eine allgemeine zu
sein und gilt sowohl für verschiedene Viperina Europas und Afrikas (Guyon)
als für die Lanzenschlange und Trigonoceplialus piscivorus , als für die ost-
indischen Giftschlangen (Fayrer). Nichtgiftige Schlangen verhalten sich dem
Schlangengifte gegenüber wie alle anderen Thiere; dagegen sind Giftschlangen
gegen den Biss anderer Species relativ unempfindlich, doch kommt es bisweilen,
obschon nur ausnahmsweise vor, dass eine Brillenschlange oder Daböia einen
Bungarus coeruleus durch ihren Biss vergiftet und umgekehrt ; ja Bungarus
fasciatus zeigt eine relativ starke Empfänglichkeit gegen das Gift der Naja
tripudians.
Diese letztere Thatsache deutet darauf hin, dass die bisher übliche
Zusammenfassung des Giftdrüsensecrets sämmtlicher Thanatophidier unter dem
gemeinsamen Namen des Schlangen- oder Viperngifts (Venenum viperinum) nicht
haltbar ist, sondern dass Schlangengifte verschiedener Qualität unterschieden
werden müssen, eine Annahme, welche auch mehrere andere Beobachtungen
Fayrer's höchst wahrscheinlich machen. Indessen ist es schwierig, so lange
nicht mit Sicherheit die wirksamen Principien des Giftdrüsensecrets verschiedener
Giftschlangen isolirt und als chemisch und physiologisch different erkannt worden
sind, bestimmte grössere Kategorien aufzustellen. Gewisse gemeinsame Eigenschaften
und Wirkungsweisen lassen sich aber an dem fraglichen Secrete der Giftschlangen
ohne Mühe nachweisen, welche die althergebrachte zusammenfassende Behandlung
des Schlangengifts als zweckmässig erscheinen lassen, wenn man nicht vorzieht,
die toxikologischen Verhältnisse jeder einzelnen Giftschlange separat abzuhandeln.
Schon die äusseren Eigenschaften der einzelnen Giftdrüsensecrete scheinen
vielfache Uebereinstimmung darzubieten, obschon einzelne Differenzen der Farbe
und der Reaction, letztere übrigens auch beim Gifte einer und derselben Species,
sich bemerklich machen, wie z. B. Mead und Heller das in der Regel neutrale
Gift der Kreuzotter und Valentin das der Viper von saurer Reaction fand. Das
Giftdrüsensecret von Vipera Redii und Pelias berus bildet eine einigermaasseu
klebrige, fast farblose oder gelblich gefärbte Flüssigkeit von höherem specifischem
Gewichte als das Wasser, mit dem es durch Schütteln zu einer Emulsion gebracht
werden kann, und ohne nennenswerthen Geruch oder Geschmack. Mikroskopisch
|66 SCHLANGENGIFT.
bildet es eine homogene Flüssigkeit, in der bisweilen einige Pfksterepithelien oder
lencocytenälinliche Körper (Albertoni) schwimmen. Getrocknet stellt das Vipern-
gift eine feste, bröckliche, durchscheinende, glasähnliche, wie arabisches Gummi
aussehende Masse, in der sich unregelmässige Risse, aber keine Krystallisation
(Viaud Gbandmarais) zeigen, dar. Starke Säuren wandeln dasselbe in eine
weiche Paste um. Das Klapperschlangengift ist nach S. Weir Mitchell eine
gelbe, eiweissartige Flüssigkeit von saurer Reaction und 1*044 specifischem Ge-
wichte; die von Barton als grün bezeichnete Farbe soll um so dunkler sein, je
deletärer das Gift ist. *) Auch das Gift der Surukuku ist etwas grünlich, sonst
aber durchsichtig hell und angeblich wenig klebrig (Hering). Das Gift der
australischen Hoplocephalus curtus ist eine schwach gelblich gefärbte, durch-
sichtige Flüssigkeit von Syrupconsistenz, die mikroskopisch kernhaltige Zellen,
freie Kerne und eine sehr fein granulirte, amorphe Masse zeigt, welche Form-
elemente in dem aus der Giftblase entleerten Gifte sich in grösseren Mengen als
in dem aus dem Giftzahn abgeflossenen darstellen. Das Gift von Naja tripudians
ist ebenfalls eine gelbe bis bräunliche Flüssigkeit von Syrupconsistenz, ohne Ge-
schmack , die über Schwefelsäure abgedämpft , eine bröckliche Masse bildet
(Brunton). In dem schwach gelblichen, gummösen Gift der Tigerschlange fand
Halford kernhaltige Zellen, freie Kerne und feinkörnige Masse.
Was wir bis jetzt über das active Princip der verschiedenen Schlangen-
gifte wissen, ist äusserst dürftig. Durch Behandeln des Viperngiftes mit Alkohol
und Aether will Lucien Buonaparte einen stickstoffhaltigen, neutralen, in weissen
Schüppchen auftretenden geruch- und geschmackfreien, ptyalinähnlichen Körper,
welchen er Echidnin nennt, isolirt haben. Nach S. Weir Mitchell soll das
Klapperschlangengift aus zwei Eiweisskörpern bestehen, deren einer durch Kochen
und durch Alkohol coagulirt, während der andere das active Princip dar-
stellende und Crotalin genannte Stoff nur durch Alkohol präcipitirt wird.
Nach Armstrong und Brunton ist die durch Abdampfen des Giftes der
Brillenschlange entstehende Masse stark stickstoffhaltig, indem sie 13'43°/0
Stickstoff auf 43 — 55°/0 C enthält, ebenso der mit Alkohol bewirkte weisse
Niederschlag (14*7°/0 N auf 45-3°/0 C); doch gelang es niemals, einen krystal-
lisirenden Stoff aus dem Najagifte darzustellen, während Eiweissreactionen constant
erhalten wurden. Shortt, der das Cobragift als eine etwas ölige, klare, hell-
gelbgefärbte, eiweissähnliche, sauer veagirende Flüssigkeit von 1*076 specifischem
Gewicht beschreibt, welche, auf die Zunge gebracht, Brennen, Blasenbildung und
ein Gefühl von Taubheit an der Berührungsstelle erzeugte, erhielt nach Zusatz
von Alkohol, sowie von Kalicarbonat Niederschläge, welche ebensowohl wie die
Flüssigkeit giftige Wirkung hatten, während das Gift durch Zusatz von Kalilauge
stets unwirksam gemacht wurde.
Wenn man in den höchst unvollständigen chemischen Untersuchungen des
Schlangengifts einen Beweis für die alte Ansicht, dass dasselbe sozusagen nicht
durch ein chemisches Gift, sondern durch ein Ferment wirke, finden will, so
müsste dieses Ferment sich durch eine Haltbarkeit auszeichnen, wie sie einem
Stoffe dieser Art kaum jemals zukommt. Die auf das Gift von Viper a Redii
bezügliche Angabe von Mangilt, wonach dasselbe sich, getrocknet in einem
Fläschchen aufbewahrt, 20 — 26 Monate lang wirksam erhält, kann nach den
Erfahrungen englischer Experimentatoren mit vollkommen eingetrocknetem Gifte
von Naja tripudians, welches Taylor nach 12 und Christison selbst nach
15 Jahren noch wirksam fand, nicht bezweifelt werden.
*) Die sonderbaren Resultate der mikroskopischen Untersuchung des Klapper-
schlangengifts durch Lac er da (Compt. rend. Bd. LXXXVII, pag. 27, 1878), der darin eine
fadenförmige, dendritische Masse wahrgenommen haben will , von welcher sich Sporen los-
lösten, in denen ein aus ovoiden Körperchen bestehender Faden vorhanden war und welche
unter günstigen Ernährungsbedingungen zu kleinen, sich spaltenden und im Innern wieder neue
Sporen producirenden Röhrchen sich verlängerten, ist offenbar eine schistomycetische Illusion.
SCHLANGENGIFT. 167
Eine dem Gifte aller Schlangen wahrscheinlich gemeinsame Eigenthüm-
lichkeit, für welche es bisher an einer angemessenen Erklärung fehlt, ist ihre
weit intensivere Action von Wunden aus als von den unverletzten Schleimhäuten
aus. Diese Divergenz geht so weit, dass beim Einbringen ziemlich beträcht-
licher Mengen des Giftes verschiedener Schlangen in den Magen keine Ver-
giftungserscheinungen hervortreten. Tauben und Krähen können 10 — 16 Vipern
verschlucken, ohne danach irgendwie zu erkranken, während ein einziger Biss sie
oft in 10 Minuten tödtet. Ein Schüler Mangilis verschluckte das Gift von vier
Vipern ohne Nachtheil. Sind die Versuche von Rufz , der die Giftzähne ver-
schiedener Trigonocephalen in den Magen von Hunden brachte, auch nicht völlig
beweiskräftig für die Unschädlichkeit grösserer Giftmengen dieser Schlangenarten,
da die Giftzähne nur minimale Mengen Giftes enthalten können , so haben doch
Brainard und Kennikott (1853) das Gift von Crotalus müiarius Vögeln mit
negativem Erfolge gegeben. Für die ostindischen Schlangen, insbesondere Naja,
hat übrigens Fayrer die Wirksamkeit des Giftes an Thieren sowohl vom Magen
als von der Conjunctiva aus mit Bestimmtheit nachgewiesen, und Richards hat
sogar die Ueberzeugung gewonnen, dass das Gift ostindischer Schlangen nicht
allein von serösen und Schleimhäuten , sondern sogar von der äusseren Haut aus
resorbirt wird, indem zwei Herren, welche eine mit dem Gifte von Naja
tripudians gefüllte und aussen besudelte Flasche in die Hand nahmen, von
leichten Intoxicationserscheinungen befallen wurden.*)
Die in früherer Zeit allgemein verbreitete Anschauung, dass das Gift
der Thanatophidier ein nach Art eines Ferments in eigenthümlicher Weise auf
das Blut einwirkendes Gift sei, eine Ansicht, welche sich vorzugsweise auf die an
der Bissstelle sich entwickelnden Erscheinungen stützt, lässt sich nach den in
neuester Zeit angestellten physiologischen Versuchen und namentlich auch im
Hinblicke auf die rapide verlaufenden Vergiftungsfälle nicht aufrecht erhalten,
insoferne diese ein primäres Ergriffensein verschiedener Theile des Nervensystems
mit Sicherheit darthun.
Inwieweit hier verschiedene Gifte einzelner Schlangenarten Abweichungen
zeigen , bleibt allerdings experimentell noch zu ermitteln ; jedenfalls sind spe-
cifische Veränderungen des Blutes in Folge von Schlangenbiss mit Sicherheit nicht
nachgewiesen. **)
Nach den Versuchen von Brunton und Fayrer kann allerdings einzelnen
Schlangengiften eine specifische Beziehung zum Protoplasma nicht abgesprochen
werden, indem das Gift von Naja tripudians die Bewegung von Flimmerepithel
der Froschmundschleimhaut in 15 — 20 Minuten aufhebt, die amöboiden Bewe-
gungen der farblosen Blutkörperchen in etwa einer Stunde sistirt und die Frosch-
wadenmuskeln bei directem Contact in 15 Minuten ihrer Reizbarkeit vollständig
*) Bei einem Assistenten F a y r e r ' s , dem etwas Gift einer Naja in ein Auge
spritzte, kam es in Folge sofortigen Auswaschens nicht zur Intoxication , nur trat zeitweise
Angenentzündung und Schwäche des Auges ein. Ophthalmie und Blindheit als Folge des
Hineingerathens von Schlangengift in's Auge kommt auch in älteren Krankengeschichten vor.
**) Die Entstehung einer Sepsis sanguinis durch Schlangenbiss wird schon von
Ambrosius Paraeus und zwar in einer sehr übertriebenen Weise auseinandergesetzt.
Fontana gab an, dass Viperngift mit Blut gemischt letzterem eine schwarze Farbe ertheilt.
Nach Brainard und Johnson sollten sich die rothen Blutkörperchen in ihrer Form ändern
und z. B. bei Vögeln viel runder werden. L a c o m b e glaubte, dass Schlangengift das Blut-
eiweiss mehr afficire und eine albuminöse Krase hervorrufe. Haiford gab an, dass nach
dem Bisse der neuholländischen Cobra im Blute eigenthümliche, sich in wenigen Stunden
zu Millionen vermehrende Zellen von rundlicher Form und mit rundem Kerne, in dessen
Innern bei stärkerer Vergrösserung Granulationen sich zeigen , hervortreten, die sich auf
Kosten des Blutsauerstoffs zu vermehren scheinen, doch sind derartige eigenthümliche corpus-
culäre Elemente nach Mitchell und Eichardson Leucocyten, die in Folge verminderten
specifischem Gewichte resp. Dünnflüssigkeit des Blutes eine etwas veränderte Gestalt be-
kommen haben. Bei Verletzung durch Naja treten derartige Körperchen nicht auf (Fayrer).
Im Gegensatze zu der albuminösen Krase L a c o m b e's betont Albertoni die Coagulabilität
des Blutes von Vipern gebissener Hunde.
l,is SCHLANGENGIFT.
beraubt j doch ist diese Wirkung eine, anderen Giften gegenüber, relativ langsame
und keineswegs selbst an gleicben Materialien constante , da z. B. die Flimmer-
bewegung bei Süsswassermusoheln in einer starken Lösung des Giftes mehrere
Stunden intact bleibt. Der Verlust der Reizbarkeit der quergestreiften Muskeln
und Nerven ist schon von Fontana als eine speeifische Action des Viperngiftes
bezeichnet, doch scheinen, soweit sich dies aus den bisher vorliegenden physio-
logischen Versuchen darthun lässt, neben den peripheren Nerven auch die Nerven-
centren und insbesondere das Athemcentrum stark afficirt zu sein. Ueber die
Wirkung des Giftes von Vipera Redii bei Fröschen, welche durch Va — 1 Mgrm.
in 8 — 20 Stunden getödtet werden, ergaben die neuesten Versuche von
Valentin (1877), dass nach auffälliger Zunahme der Athembewegungen und
Unruhe sich Ungeschicklichkeit des Thieres bei beabsichtigter Bewegung neben
merklicher Steigerung der Reflexthätigkeit sich entwickelt, welche letztere selbst
beim Eintreten completer Paralyse sich erhält. Die Herzthätigkeit geht nun all-
mälig verloren, dagegen stockt der Blutlauf nicht selten in den Schwimmhaut-
gefässen zu einer Zeit, in welcher das Thier noch lebhafte willkürliche Bewegungen
ausführt. Der Einfluss des Vagus auf das Herz wird im Laufe der Vergiftung
abgeschwächt. Die Aufnahme des Sauerstoffs wird durch Viperngift ähnlich wie
durch Muscarin uud Atropin und im Gegensatze zu Curare herabgesetzt. Die
Muskelcurven zeigen keine veränderte Gestalt, dagegen erlischt bei schneller und
intensiver Vergiftung schon nach fünf Stunden die directe und indirecte Muskel-
reizbarkeit vollständig. Reizung des verlängerten Marks oder des oberen Theils
des Rückenmarks ruft zwar bei schon weit vorgerückter Paralyse Muskel-
bewegungen hervor, doch verliert sich die Empfänglichkeit der centralen Theile
des Nervensystems in der Regel früher als die des Plexus ischiadicus. In den
vergifteten Thieren persistirt die Flimmerbewegung auf der Mundschleimhaut und
die Beweglichkeit der Spermatozoiden.
Albertoni (1879) fand bei Hunden und Katzen einen sehr schnellen
Abfall des Blutdrucks, Erhaltung der elektrischen Erregbarkeit der Nerven und
Muskeln bis kurz vor dem Ende, Tod durch Lähmung der Respiration und
Persistenz der Erregbarkeit des Herzens post mortem. Versuche von Fayrer
und Brunton (1874) zeigen, dass das Cobragift die beim Menschen meist deut-
liche, gleichzeitige Beeinflussung der motorischen Apparate und des Bewusstseins
bei niederen Thieren nicht mit gleicher Deutlichkeit hervortreten lässt; bei
directer Einspritzung von Cobragift in das Blut tritt schnell stürmische Herzaction
und danach tetanische Starre ein, während bei anderweitiger Inoculation der
Herzschlag die Respirationsbewegungen überdauert. Nach Laborde ist keuchendes
Athmen und Unruhe das erste Symptom der Intoxication mit Cobragift und erfolgt
der Tod durch Lähmung des Athem centrums, bis zu welcher Zeit die Reflexaction
nur wenig vermindert und die elektromusculäre Reizbarkeit sogar gesteigert
erscheint; ausserdem vindicirt derselbe dem Gifte einen vermehrenden Einfluss auf
die Secretion des Speichels, des Harns und der Galle. Künstliche Respiration
verlängerte das Leben in allen Fällen beträchtlich. Jones (1868) schreibt dem
Gifte von Trigonocej)halus contortrix neben einer primären Wirkung auf das
Blut, wobei die rothen Blutkörperchen physikalische und chemische Veränderungen
erfahren, eine beschleunigende und zugleich schwächende Wirkung auf die Herz-
thätigkeit und schwachnarkotische Action auf das Cerebrospinalsystem zu, so dass
tiefes Coma nicht eintritt ; die Temperatur war anfangs wenig erhöht, später stark
herabgesetzt. Das Gift der Jararacaschlange ruft nach Couty und De Lacerda
bei Hunden Erbrechen und Diarrhoe, dann tonische und klonische Krämpfe, hierauf
complete Lähmung und Coma, jedoch mit Erhaltung regelmässiger, zuweilen
etwas beschleunigter Respiration, starke Verlangsamung des Herzschlages und
enorme Herabsetzung des Blutdrucks, sowie in 10 Minuten Tod unter plötzlichem
Stocken der Respiration hervor; das Herz steht in Diastole still, nachdem mit-
unter fibrilläre Muskelzuckungen und heftiges Zittern dem Tode vorausgegangen
SCHLANGENGIFT. 169
sind. In ähnlicher Weise scheint das Gift von Hoplocephalus curtus zu wirken,
welches bei Hunden Erbrechen, Paralyse, Erweiterung der Pupille, Convulsionen,
vollkommenen Verlust der Sensibilität und Stillstand der vorher verlangsamten
Respiration hervorruft ; bei sehr grossen Giftmengen tritt Mydriasis, profuser Speichel-
fluss, allgemeiner Krampf und Tod ein. Nach Ewart und Francis (1874) soll
die Tigerschlange, deren Gift zu 6 Mgrm. einen grossen Hund in 24 Stunden
tödtet, den starklähmenden Einfluss auf die Respiration, welcher dem Gifte der
Cobra eigenthümlich ist, nicht besitzen. Das Gift von Trirneresurus viridis und
Tr. Anamallensis scheint vorzugsweise narkotisch und in zweiter Linie auf die
Respiration zu wirken (Shortt), während nach den Bissen von Hydrophisarten
wiederholt Tetanus beobachtet sein soll.
Ob die bisherigen Beobachtungen genügend sind, um den Schluss zu
rechtfertigen, dass es verschiedene Arten Schlangengift mit differenter Wirkung
auf verschiedene Organe und Systeme giebt, wagen wir nicht zu entscheiden, da
es sich möglicherweise bei den Differenzen der physiologischen Untersuchung um
den Einfluss der Dosen handelt, der nicht unterschätzt werden muss. Eine
besondere Verschiedenheit einzelner Schlangengifte hat man darin gesucht, dass
den einen, z. B. den europäischen Schlangen eine weit bedeutendere örtliche
Action zukomme als anderen, z. B. der Naja tripudians, aber auch hierüber
können sich Zweifel aufwerfen, wenn man erwägt, dass wegen der kurzen Dauer
der Intoxication durch Naja bis zum tödtlichen Ablaufe derselben sich entzünd-
liche Erscheinungen in weit geringerem Grade ausbilden können als bei dem
protrahirten Verlaufe der Erscheinungen nach Verletzungen durch Vipern oder
Kreuzottern. In diesem Umstände liegt der Grund für das Auftreten von zwei
verschiedenen Formen der Intoxication durch Schlangengift beim Menschen, einer
höchst acuten, fast ausschliesslich unter nervösen Symptomen verlaufenden und
einer protrahirten, bei welcher die örtlichen Symptome das Uebergewicht besitzen.
Diese beiden Formen entsprechen im Allgemeinen dann auch den Intoxicationen
durch grosse, tropische Giftschlangen einerseits und durch Vipern und Ottern anderer-
seits, obschon langsam tödtlich verlaufende Fälle auch nach dem Bisse tropischer
Schlangen und relativ rasch tödtliche selbst durch Pelias berus hervorgebracht
werden können. Die früher viel verbreitete Ansicht, dass der Biss der Klapper-
schlange und anderer tropischer Thanatophidier fulminant oder doch in einigen
Secunden tödte (Taylor), ist offenbar für den Menschen*) unrichtig. In der
Regel vergeht eine Zeit von 15 Minuten und darüber, doch sind allerdings Fälle
beobachtet, wo nach nur zwei Minuten durch eine Klapperschlange (Barton)
oder nach fünf Minuten durch die javanische Erdschlange (Kühl) der Tod erfolgte.
Andererseits fehlt es aber nicht an einer Casuistik, wo nach Bissen von Trigono-
cephalus 2 — 5, ja selbst 10 Tage (Schorremberg) und nach Klapperschlangen-
bissen selbst 16 Tage (Home) bis zum Eintritte des Todes vergehen. Nach den
Verletzungen durch Vipera Redii und Pelias berus erfolgt der Tod selbst bei
Kindern kaum je vor Ablauf einer Stunde, meist vergehen Tage und selbst Wochen.
Bei dem von einer Kreuzotter in die Zunge gebissenen sogenannten Schlangen-
beschwörer Hörseimann trat der Tod in 50 Minuten ein. Unter 45 in der Vendee
und im Departement der unteren Loire durch Viperbiss und zwei daselbst durch
Kreuzotterbiss Gestorbenen waren zehn innerhalb der ersten 24 Stunden, 21 zwischen
dem 2. und 6. Tage, 11 zwischen dem 7. und 21. Tage und 3 in Folge allgemeiner
Cachexie erst nach mehreren Monaten zu Grunde gegangen.**)
*) Für Vögel kann das Intervall zwischen dem Biss tropischer SchlaDgen
(Naja, Hydrophis u. A.) weniger als eine Minute betragen; bei Hunden vergehen meist
1 bis 15 Minuten, immerhin weniger wie bei Pelias berus, wo der Tod meist erst nach
Stunden eintritt.
**) Der Hörselmann'sche Fall beweist, dass auch das Kreuzottergift durch directe
Einwirkung auf die Nervencentren tödten kann. Dasselbe zeigt für die Viper eine Beobachtung
von Bonhomme (1864), wo der Tod eines Erwachsenen in exquisitem Coma 50 Stunden nach
der Verletzung erfolgte; möglicherweise handelte es sich hier um Eindringen des Giftes in die Vene.
170 SCHLANGENGIFT.
Die Bisswunden der Viper und Kreuzotter sind mitunter von unmittelbar
eintretendem heftigen Schmerze begleitet. An der Stelle des Bisses lassen sich
meist mit blossem Auge, bisweilen nur mit der Loupe, je nach der Zahl der ein-
gedrungenen Zähne, zwei (. .) oder vier (.•'.) Stippen oder kleine Stichwunden,
die meist nur wenige Linien tief eindringen, erkennen. Mitunter sind sie gleich
Anfangs ziemlich undeutlich , mehr gekratzt oder geschrammt , stets aber fehlt
die zickzackartige Form ( y / \ wie sie den Bissen unserer einheimischen nicht-
giftigen Schlange, der Colvber natrix, zukommt. Später werden die eigentlichen
Bissstellen undeutlich, indem die Umgebung der getroffenen Stellen in der Regel
schleunigst anschwillt; manchmal in wahrhaft monströser Weise, so dass das
Oedem auf den Rumpf, ja selbst auf den ganzen Körper sich ausdehnt.*) Starke
Blutung aus der Bisswunde kommt nur äusserst selten vor und überhaupt ist die
Verletzung in der Regel Anfangs derart, dass die Kranken in ihrer Locomotion
und selbst in der Verrichtung ihrer Geschäfte wenig behindert werden ; erst die
Schmerzhaftigkeit, welche sich über die Wundstelle hinaus verbreitet, und die
Geschwulst beängstigen mitunter den Kranken. Verlust des Bewusstseins als
Folge des Schrecks ist nur ausnahmsweise beobachtet. An der Bissstelle macht
sich häufig eine livide oder violette Färbung der Haut bemerkbar und es kommt
zur Ausbildung von Lymphangioitis , welche in ausgedehnte Phlegmone, mitunter
mit Phlyctänenbildung verbunden, und in Gangrän übergehen kann. Mit der Aus-
bildung dieses localen entzündlichen Processes, der in einzelnen Fällen sich rasch
zurückbildet, entwickelt sich eine Reihe von Allgemeinerscheinungen, welche wohl
nicht als directe Folge des Viperngiftes, sondern als Folge der Resorption der
an der Bissstelle entstandenen entzündlichen Producte zu betrachten sind. Kälte
und Taubheit an der verletzten Stelle geht den Erscheinungen allgemeiner
Erkrankung durchgängig voraus. Die hauptsächlichsten Allgemeinerscheinungen
beim Vipern- und Kreuzotterbiss sind nach Bullet und Soubeiran vor Allem
Dyspnoe, kleiner, intermittirender Puls, kalter Schweiss, Verfall der Gesichtszüge,
Uebelkeit, Erbrechen und copiöse, diarrhoeische Entleerungen, heftige Schmelzen
im Kopfe und der Nabelgegend, bisweilen Störungen und selbst Verlust des Seh-
vermögens, Delirien und intellectuelle Störungen, bei Kindern und überhaupt in
schwereren Fällen auch Convulsionen. Diese Erscheinungen sind übrigens genau
die nämlichen, welche nach den Verletzungen durch tropische Giftschlangen, wo
solche einen protrahirten Verlauf nehmen, zur Beobachtung gekommen, so z. B.
nach Encognere nach Verletzungen durch die Lanzenschlange, deren Biss selten
vor sechs Stunden , meistens erst nach 2 — 3 Tagen und selbst weit später
tödtet. Sowohl nach dem Klapperschlangenbisse als nach dem von Crotalus
müiarius, ferner des Surukuku, der Brillen- und Tigerschlange kommt es im
Verlaufe der Krankheit häufig zu einer hämorrhagischen Diathese, die sich nicht
allein durch das Auftreten von Petechien, sondern namentlich durch passive
Hämorrhagien aus Nase, Mund und Ohren, Blutspeien und Blutbrechen, Blut-
ergüsse unter die Conjunctiva zu erkennen geben. Auch Hämaturie ist beobachtet
(Hämoglobinurie?). Dass übrigens hämorrhagische Diathese auch nach Bissen
von Pelias berus sich entwickeln kann, beweisen mehrere von Hussa beschriebene
Fälle. Als indirecte Wirkungen des Schlangengiftes muss man auch die tetanischen
Krämpfe betrachten, welche erst mehrere Tage nach Vipernbiss sich entwickeln
und tödtlichen Ausgang zur Folge haben können.
In nicht tödtlich endenden Fällen derartiger Vergiftungen kann voll-
ständige Genesung mitunter erst nach Wochen oder selbst nach Monaten eintreten,
namentlich persistirt allgemeine Schwäche oder Schwäche der gebissenen Extremität
*) Die Inoculation der Oedemflüssigkeit nach Vipernbiss scheint ebenso wie die-
jenige des Bhites von Giftschlangen gebissener Thiere negative Eesultate zu geben (Piorry,
Albertoni); nnr Cheron und Goujon (1868) wollen nach T0 derartiger Oedem-
flüssigkeit bei Subcutaninjection tödtliche Intoxicationen bei Kaninchen erhalten haben.
SCHLANGENGIFT. 171
oft längere Zeit. Merkwürdig sind periodisch auftretende Affectionen am Orte
der Verletzung, die mitunter einen eigenthümlichen jährlichen Typus zeigen und
entweder in heftigen, neuralgischen Schmerzen an der Bissstelle oder in Exan-
themen bestehen. So beobachtete Demeurat (1863) bei einer Frau, welche im
Mai 1824 von einer Viper am Vorderarme gebissen war, das Auftreten von
localem Pemphigus, der erst nach 18 Monaten verschwand, dann aber 28 Jahre
hindurch unter Begleitung von Kopfschmerz, Mattigkeit und Beklemmung zur
Jahreszeit der Verletzung von der im Winter kaum bemerkbaren Narbe aus sich
entwickelte und ein halbes Jahr anhielt. Ein pustulöses Exanthem, zugleich mit
Gefühl von Taubsein, Schmerz in den Fingern und krampfhafter Flexion derselben,
Anfangs in dreimonatlichen Intervallen, später in längeren Zwischenräumen, ist
von Piffard (1879) beschrieben. Auch bei Hunden sind periodische Anschwel-
lungen des gebissenen Gliedes zur Jahreszeit der Läsion wiederholt beobachtet
(Willers).
In den rapid tödtlichen Fällen, wie solche durch den Biss tropischer
Giftschlangen oder durch das Eindringen des Giftzahns der Viper oder Kreuz-
otter in Venen hervortreten , sind narkotische Erscheinungen, insbesondere Coma,
nach plötzlichem Verluste des Bewusstseins vorwaltend, manchmal kommt es auch
zu ausgesprochenen Delirien , in anderen Fällen zu Trismus und Tetanus. Ogle
(1868) bezeichnet Verlust des Sprachvermögens als häufiges und sehr frühzeitig
auftretendes Symptom, welches, von Muskelparalyse anscheinend unabhängig,
zuweilen nach Schwinden der übrigen Erscheinungen fortdauere und wie der
Schwindel, der die Vergiftungserscheinungen einleitet, mit Anämie des Gehirns im
Zusammenhange stehe. Mitunter wird Glottiskrampf (nach Crotalus miliarius)
und Verlust des Schling Vermögens beobachtet.
Unsere gegenwärtigen Kenntnisse über den Leichenbefund bei Menschen
nach Schlangenbissen sind bei der geringen Zahl exacter Beobachtungen ziemlich
dürftige. Abgesehen von den örtlichen Läsionen ist bei rasch verlaufender Intoxi-
cation der Befund wesentlich negativ. Die Fäulniss bietet ebensowenig wie die
Todtenstarre irgend etwas Charakteristisches*); der alte Glaube, dass die Zersetzung
überaus rasch eintrete, ist jedenfalls irrig, da selbst nach 5 Tagen mitunter keine
Fäulniss wahrgenommen wird. Der Füllungszustand der Gefässe im Gehirn ist
sehr verschieden. Manchmal strotzen die Sinus der harten Hirnhaut und die Blut-
gefässe des grossen und kleinen Gehirns, wie im Falle Hörsei mann,manchmal
findet sich selbst ohne vorhergegangene Blutungen Anämie in der Schädelhöhle.
Hyperämie der Lungen und Leber deuten auf asphyctischen Tod. Ecchymosen in
Magen und Eingeweiden , auch im Herzen (Hussa) , Darmentzündung , selbst
Erweichung der Eingeweide und Auftreibung durch Gase sind in einzelnen Fällen
gefunden und erinnern an septische Processe. Das Blut ist constant dunkel, dagegen
in seiner Consistenz sehr variirend, indem es bald als mehr oder minder coagulirt
und selbst grosse Gefässe mit Gerinnseln erfüllend, bald als flüssig, ohne Gerinnungs-
fähigkeit, bald als gelatinös bezeichnet wird. Es ist nicht unmöglich, dass gerade
in Bezug auf die Veränderungen der Consistenz des Blutes Differenzen verschiedener
Schlangengifte bestehen , da nach Fayrer das Gift von Naja , Bungarus u. a.
rasche Coagulation des Blutes bedingt, während nach dem Bisse von Daboia und
Echis das Blut flüssig bleibt, wie solches auch bei Crotalus und den europäischen
Vipern der Fall zu sein scheint.
In Bezug auf die Behandlung des Schlangenbisses ist es als vollständig
feststehend anzusehen, dass bei den Verletzungen durch grössere Giftschlangen die
Verhinderung des Ueberganges des Giftes in die Circulation oder die Zerstörung des
Giftes an der Bissstelle das einzige Rettungsmittel darstellt und dass die in dieser
Richtung zu treffenden Maassregeln auch die einzige rationelle Behandlungsweise
*) Ob das von Shortt bei Thieren nach dem Bisse von Naja wahrgenommene
Fehlen von Rigor mortis auch bei den durch diese Schlange zu Grunde gegangenen Menschen
constant ist, bleibt fraglich.
172 SCHLANGENGIFT.
der Verletzung durch kleine Giftschlangen bildet. Fayrer bezeichnet die Bisse
\.m Naja tripudians, Bungarus coeruleus und anderen ostindischen Thanato-
phidicn als absolut letal, wenn nicht auf der Stelle eine entsprechende Behandlung
der Bisswunde vorgenommen wird. Gilt dies nun auch keineswegs von den
kleinen europäisebeu Giftschlangen, so ist doch niebt zu verkennen, dass man
durch frübzeitige locale Behandlung die Entwicklung der Vergiftungssymptome zu
coupiren im Stande ist und dass man kein Mittel kennt, durch welches man die
Intoxicationssymptome bei interner Darreichung mit Sicherheit zu unterdrücken
vermag. Eine lange Reihe von Substanzen ist als Schlangenmittel emphatisch
eojuicsen worden, obne dass wir wirklich beweisende Facta für eine speeifische
Wirkung derselben besässen. Sobald eine experimentell kritische Prüfung an die-
selbe herangetreten ist, hat sich regelmässig die Unzulänglichkeit derselben erwiesen,
obsebon nicht in Abrede zu stellen ist, dass einzelne als symptomatische Mittel
besonders zur Bekämpfung des bestehenden Cöllaps mit Erfolg dienen können und
in manchen Fällen von Intoxication geradezu indicirt sind. Sehen wir von diesen
ab, so bildet der Rest der sogenannten Specifica oder Antidota wider den Schlangen-
biss Beispiele crassen Aberglaubens der Volksmedicin oder auf unvollkommene
Beobachtungen und falsche Schlussfolgerungen hin mit Wirkungen ausgestatteter
Substanzen, welche ihnen nicht zukommen.
Die locale Behandlung entspricht vollkommen derjenigen der vergifteten
Wunden überhaupt und hat für den Schlangenbiss durchaus nichts Specifisches.
Die erste Maassregel muss stets die Anlegung einer Ligatur oberhalb der Ver-
letzung sein, um ein weiteres Uebertreten des Giftes in den Kreislauf abzuschneiden.
Man benutzt dazu ein festes Band oder einen Riemen, zur Noth ein zusammen-
gedrehtes Tuch, das man sofort und möglichst nahe der Wunde so fest anlegt,
dass der arterielle Blutstrom in der darunter liegenden Partie sistirt wird. Das
anhaltende Binden mit voller Kraft darf nicht zu lange fortgesetzt werden , weil
es die Gefahr des Absterbens der abgeschnürten Partie herbeiführen würde. Tritt
starke Schwellung ein , so nimmt man die Binde für kurze Zeit ab und applicirt
sie weiter oben. In Nordamerika, wo die Ligatur seit langer Zeit als bewährtes
Mittel wider den Klapperschlangenbiss in Gebrauch steht, bevorzugt man die von
Holbrock und Ogier empfohlene intermittirende Ligatur , mit periodischer
Lockerung der Binde für einige Minuten, vor der permanenten und verbindet mit
derselben den Gebrauch trockener Schröpfköpfe, welche ja ebenfalls der Resorption
entgegenwirken und gleichzeitig das Gift aus der bedeckten Stelle theilweise ent-
fernen. Die zuerst von Barry empfohlene Anwendung der Schröpfköpfe als
selbständige Behandlungsmethode ist durch verschiedene mit Vipern angestellte
Thierversuche gestützt und hat sich auch in der Praxis ostindischer Aerzte (Clarke)
bewährt*); doch hat sie, da die nöthigen Apparate nur selten gleich bei der
Hand sind , für die Praxis weniger Bedeutung als die ohne besondere Hilfsmittel
auszuführende Ligatur.
Bei Anwendung beider kann man durch Scarificiren der Wunde das Bluten
derselben befördern, um mit dem Blute einen Theil des eingedrungenen Giftes zu
entfernen, was man dann durch Quetschen der Umgebung der Wunde unterstützt ;
letzteres kann auch ohne zuvorige Scarification von Nutzen sein, während letztere
ohne Ligatur oder Schröpf köpf, wie bereits Fontana zeigte, eher schädlich wie
nützlich ist, indem sie die Resorption geradezu befördert. Zur Entfernung des
Giftes aus der Wunde ist sofortiges Abwaschen zweckmässig, jedoch nur bei
oberflächlichen Ritzwunden ausreichend ; namentlich dient es auch, ebenso wie das
Abwischen der Bissstelle, zur Beseitigung des in der Nähe der Wunde abgesetzten
Giftdrüsensecrets. In Bezug auf das vielbesprochene und vielgeübte Aussaugen der
*) Das Mittel ist auch in Afrika gebräuchlich und in Gegenden , wo giftige
Schlangen sich aufhalten, soll Jedermann einen Schröpfkopf in Form einer roh bearbeiteten
Hornspitze, oben mit einem kleinen Loche versehen, durch welches die Luft mit dem Munde
ausgesogen wird, bei sich führen. Die Wunde wird dann zuerst scarificirt (Ehr enberg).
SCHLANGENGIFT. 173
Wunde müssen wir nach den oben gemachten Angaben über die Resorptionsver-
hältnisse des Schlangengiftes als festgestellt betrachten, dass dasselbe da, wo es
sich um Verletzungen durch grosse Giftschlangen handelt, nicht gefahrlos ist, selbst
wenn Zunge, Lippen und Mundschleimhaut völlig intact sind, dass dasselbe aber
auch in Bezug auf die Vipern- und Otternbisse zu widerrathen ist, einmal weil
sich gar zu häufig unbedeutende Continuitätstrennungen an Lippen und Zahnfleisch
befinden, von denen aus das Gift zur Resorption gelangen kann, dann aber auch,
weil nur äusserst selten die ganze Giftmenge durch Aussaugen entfernbar ist und
somit nach dem Aussaugen jedenfalls auch die Ligatur angewendet werden muss;
nur bei Verletzungen an Stellen des Rumpfes, wo letztere nicht angebracht werden
kann, dürfte sofortiges Aussaugen indicirt und gerechtfertigt sein.*)
Die Destruction des Giftes in der Bisswunde kann nur durch Zerstörung
der letzteren selbst erfolgen, die entweder durch das Messer oder durch Aetzmittel
bewerkstelligt werden kann. Letztere werden im Allgemeinen bevorzugt, obschon
an sich gegen das Ausschneiden der Bisswunde, die insbesondere bei den Ver-
letzungen durch Pelias herus leicht auszuführen ist, kaum triftige Gründe zu
erheben sind. Für die günstige Wirkung sofortiger Amputation verwundeter Finger
oder Zehen liegen manche Beweise aus tropischen Gegenden vor. Was die Wahl
des Aetzmittels anlangt, so ist das Ferrum cwndens, welches natürlich auch durch
andere glühende Metalle ersetzt werden kann, offenbar in erster Linie empfehlens-
werth, doch lassen sich auch caustisches Kali, caustisches Ammoniak, Spiessglanz-
butter (Tschudi), concentrirte Essigsäure (Billroth) und selbst Eisenchloridlösung
(Soubeiran) und das in neuester Zeit empfohlene Kaliumpermanganat (Lacerda)
verwenden. Für die kleineren Giftschlangen sind auch die milderen der auf-
geführten Aetzmittel entschieden ausreichend. Man hüte sich aber, dieselben in
Verdünnung zu verabreichen, in der Ansicht, dass dieselben eine specifische
Wirkung gegen das Gift besitzen, da dieselben in dieser Gestalt nichts wirken.
Vollkommen unzuverlässig ist z. B. das Chlorwasser, ebenso verdünntes Ammoniak,
wie solches in der sogenannten Aqua Luciae (Eau de Luce) s. Liquor cornu
cervi succinatus intern und extern in Tropenländern als Specificum gepriesen
wurde ; ebenso ist die von Brainard, Mitchell u. A. schon empfohlene Lügol-
sche Solution, als den eigentlichen Aetzmitteln weit nachstehend, zu vermeiden,
zumal die damit angestellten Thierversuche keineswegs concludent sind. Dass
caustisches Ammoniak nicht etwa durch Neutralisation des saueren Schlangengiftes
die giftige Wirkung desselben neutralisirt , ist bezüglich des Viperngiftes von
Fontana und hinsichtlich des Klapperschlangengiftes von Mitchell nachgewiesen
worden. Abkochungen von vermeintlichen vegetabilischen Specifica sind selbstver-
ständlich unnütz. **)
Es muss besonders betont werden , dass die örtliche Behandlung mit
Aetzmitteln auch dann nicht versäumt werden darf, wenn bereits Vergiftungs-
erscheinungen eingetreten sind. Ist es auch vollkommen richtig, dass die Local-
*) Das Aussaugen der Wunde steht noch jetzt hei einigen Völkerschaften, z. B.
den Kaifern, in Gehrauch und schon im Alterthum war ein afrikanisches Yolk , die Psylli,
durch das Aussaugen von Schlangenhiss wunden bekannt. Dass bei der geringen Giftmenge,
welche Viper und Kreuzotter beim Bisse inoculiren, bei Integrität der Mundschleimhaut keine
Intoxication entsteht, da ja das ausgesogene Gift alsbald wieder durch Ausspeien entfernt
ist, ist leicht begreiflich. Dass die Procedur bei grossen Giftschlangen Gefahr hat, beweist
Schomburgk's Beobachtung bei einem Manne, der die Wunde seines von einem Surukuku
gebissenen Sohnes aussog und danach monströse Anschwellung des Kopfes und deutliche
Vergiftungserscheinungen bekam.
**) Selbstverständlich übergehen wir hier die örtlich applicirten, sympathetischen
Mittel, wie Fett, Kopf und Leber der Schlangen, Bhinoceroshorn und die sogenannten
Schlangensteine, unter denen man früher die als B e z o a r e hochgeschätzten Concremente
aus den Magen von Capra Aegagrus, später auch kugelige Conglomerate von gebranntem
Hirschhorn oder besondere dunkle Achatsteine verstand ; letzteren wollen Einige wegen ihrer
Capillarität und Porosität eine den Schröpfköpfen ähnliche Wirkung zuschreiben , die ihnen
jedoch nur in sehr untergeordnetem Grade zukommen kann.
174 SCHLANGENGIFT.
therapie oft nach Ablauf von 1/a — 1 Stunde schon ohne Erfolg bleibt, so giebt
es doch auch Fälle, wo dieselbe noch, zumal bei frühzeitigerer Anwendung der
Ligatur, lebensrettend gewirkt hat. Gelingt es durch Cauterisation das Entstehen
entfernter Vergiftungserscheinungen zu verhüten, so ist die Wunde nach den all-
gemeinen Regeln zu behandeln, was auch bezüglich der sich etwa entwickelnden
phlegmonösen Entzündung oder Lymphangioitis oder Gangränescenz gilt. Nach-
folgende locale Schwellungen hat man nach Bepinselung mit Jodtinctur oder nach
Application fliegender Vesicatore schwinden gesehen.
Bei bereits vorgeschrittener Entwicklung der entfernten Vergiftungs-
symptome handelt es sich vor Allem um die Darreichung von Mitteln, welche dem
Collaps entgegenzuwirken vermögen, somit um Application von Medicamenten,
welche man unter den Begriff der Excitantien zu subsumiren gewohnt ist. Da die
inlerne Darreichung öfters durch bestehende Dysphagie und mitunter durch den
reizbaren Zustand des Magens sehr erschwert ist, muss man manchmal andere
Applicationsweisen , selbst die directe Infusion in die Venen, wählen. Die früher
vielfach empfohlene Anwendung von Brechmitteln (Mead , Orfila , Tschudi) ist
mehr und mehr in Vergessenheit gerathen; ebenso haben die eine Zeit lang viel
benutzten alterirenden Mittel, mit denen man eine Destruction des Schlangengiftes
im Organismus beabsichtigte, an Bedeutung verloren. *) In dieser Vergiftungsperiode
hat man namentlich in tropischen Ländern eine grosse Anzahl vegetabilischer
Specifica in Bereitschaft, von denen vermuthlich kein einziges bei experimenteller
Prüfung seiner Wirksamkeit auf richtiger Basis sich als brauchbar erweisen wird,
obschon einzelne derselben allerdings ätherische Oele enthalten und dadurch sich
als Excitantia legitimiren , die freilich in ihrer Wirksamkeit niehtvegetabilischen
Erregungsmitteln nachstehen.**) Für die gepriesensten Schlangenmittel Ostindiens
*) Zu der Abtheilung der Alterantien gehören z B. die arsenige Säure,
besonders in Form der sogenannten Tanjorapillen in Ostindien benutzt, das Queck-
silber, theils als graue Salbe, theüs als Calomel in grossen Dosen verwendet, das Jod-
kaliuin in Verbindung mit milchsaurem Eisen (Brainard), ferner das aus 0'2 Jod-
kalium, 0'12 Sublimat und 2'0 Brom bestehende, sogenannte A n t i d o t von Professor
Bibron, von welcher Mischung 10 Tropfen mit 1 — 2 Esslöffel "Wein oder Branntwein, nach
Umständen wiederholt, namentlich in Nordamerika gegen Klapperschlangenbiss gerühmt wurden,
dem jedoch nach Mitchell's Versuchen an Thieren zuverlässige "Wirkung nicht zukommt.
Hieran schliessen sich einige Antiseptica, wie die Aqua Chlori, für dessen "Wirksamkeit
einige von Lenz an Hühnern mit Pelias berus angestellte Versuche sprechen und für welche
auch aus theoretischen Gründen Heinzel eintrat, die aber, da das Chlor als solches
bestimmt nicht in das Blut eindringt, wenig Vertrauen verdient. Sehr ephemer blieb der
Ruhm des Phenols, des modernen Antisepticum par excellence, welches 1868 Ho od in
Melbourne innerlich und äusserlich selbst gegen den Biss der Tigerschlange empfahl.
**) Es kann nicht unsere Absicht sein, die unübersehbare Reihe intern gebrauchter
vegetabilischer Specifica hier eingehend zu betrachten. Am bekanntesten ist der sogenannte
Guaco oder Hu a co, auch Her ba de cobra oder Yerba capitana genannt, einein Columbia
und anderen tropischen Gebieten Südamerikas vorkommende Synantheree von stark aroma-
tischem Gerüche, Mikania Guaco Humb. et Bonpl., von welcher der frische Saft oder in
Ermanglung desselben eine starke Abkochung der Blätter, innerlich, halbstündlich, tassen-
weise gegeben wird , wobei zugleich Saft oder Decoct auf die Bissstelle applicirt werden.
Man benutzt die Pflanze auch zur Inoculation als Präservativ von Schlangenbissen. Den
Lobpreisungen südamerikanischer Aerzte, die zum Theile auch durch deutsche Reisende
bestätigt werden, z. B. von Humboldt und Tschudi, stehen Versuche von Chambers
gegenüber, in denen von Viper a arittans gebissene Kaninchen durch Guaco nicht gerettet
wurden. In Columbien scheinen übrigens die sogenannten Cedronnüsse, die Kotyledonen
von Simabu Cedron, noch mehr als Guaco in Ansehen zu stehen, in anderen Theilen von
Südamerika und in "Westindien die "Wurzeln von Dorstenia Contrayerva und Ohio-
cocca an qvifuga. In Nordamerika ist neben der "Wurzel von Aristolo chia Serpen-
taria und l'oly gala Senega namentlich Euphorbia prostrata innerlich und
äusserlich gegen Klapperschlangenbiss in Gebrauch, für welch' letztere Irwin (1861) eine
ebenso grosse "Wirksamkeit in Anspruch nimmt, wie für Bibron's Antidot. Unter den ost-
indischen Schlangenmitteln sind die Wurzeln von Ophiorrhiza Mungos L. und ver-
schiedene Aristolochiaarten und das Holz von Strychnos colu Irina und Ophioxylon
die bekanntesten. Zu den vegetabilischen Antidoten gehören noch das viel gepriesene, aber
unwirksame Olivenöl und der in den Tropen gewissermassen gegen alle Vergiftungen
benutzte Zuckerrohr saft.
SCHLANGENGIFT. 175
hat Fayrer die Nutzlosigkeit dargethan. Nichtsdestoweniger kann ihre Anwendung
insoferne ihre Berechtigung haben, als der Patient, in dem Glauben an die
Unfehlbarkeit eines vom Volke hoch gehaltenen Antidots, psychisch durch dessen
Darreichung beeinflusst wird.
Unter den Excitantieu, deren Wirksamkeit man übrigens neben ihrer
erregenden Action auf das Gefässsystem auch auf die dadurch erregte Diaphorese
bezogen hat, insofern man in den Schweissen etwas Kritisches sah oder dieselben
mit Elimination des Schlangengiftes in Verbindung brachte, sind Ammoniak und
Weingeist die am meisten gebrauchten. Der Nutzen derselben kann bei schweren
Collapssymptomen wohl kaum in Zweifel gezogen werden, doch lässt sich nicht
in Abrede stellen, dass derselbe vielfach übertrieben worden ist und dass andere
kräftige Excitantien , wie Kampher , Moschus , Aether , mit demselben Rechte in
Anwendung gebracht werden können. Man wird freilich in den meisten Fällen
zum Ammoniak oder zu weingeistigen Mitteln greifen müssen, weil dieselben einen
specifischen Euf in den meisten Schlangenländern besitzen; doch wird man sich
immer vor den Extravaganzen hüten müssen, welche bezüglich des Gebrauches
beider Mittel in gewissen Gegenden traditionell geworden sind. Es ist zum Beispiel
absolut nicht nöthig, die Darreichung starker Spirituosa so weit zu treiben, dass
die Gebissenen in den Zustand sinnloser Trunkenheit versetzt werden , wie dies
seitens der nordamerikanischen Indianer mit Kum oder Whisky geschieht*); doch
darf man auch nicht weniger geben als eine kräftige physiologische Erregung
hervorzubringen im Stande ist. Ueber die übertriebenen Dosen des Ammoniaks in
Tropenländern sind wiederholte Klagen europäischer Autoren laut geworden.
Ueberhaupt sind die Ansichten über die Zulässigkeit des Mittels sehr getheilt und
während z. B. Halford nach seinen Erfahrungen in Australien in dem Ammoniak
das beste Mittel erkennt, um in promptester Weise das darniederliegende Gefäss-
system zu erregen, sehen Fayrer und andere englische Aerzte nach ihren
Erfahrungen in Indien die Heileffecte als problematisch an. Es gilt dies nicht
allein von der internen, sondern auch von der durch Halford befürworteten
intravenösen Injection des Ammoniaks.**)
Gegenüber der localen und erregenden Behandlungsweise , bei welcher
letzteren die anzuwendenden Medicamente auch durch äussere Erregungsmittel,
wie Senfteige, kalte Douchen, Faradisation, unterstützt werden können, erscheinen
andere Behandlungsmethoden irrelevant; nur die künstliche Respiration scheint
nach den Versuchen von Fayrer und anderen indischen Aerzten als Heilmittel
in's Auge gefasst werden zu müssen , insoferne dieselbe zwar nicht die Rettung
*) Das sogenannte Remede de l'Ouest, wie man das Verfahren in Indien genannt
hat, hat übrigens den Vortheil, dass es den Kranken seiner Angst entzieht. Es ist keines-
wegs neu oder eine amerikanische Erfindung, denn wie Rasori erzählt, wenden es die
Dalmatiner gegen Vipernbiss seit langer Zeit an. Paletta empfahl besonders Glühweine als
Excitans diaphoreticum. Russell heilte in Ostindien einen von einer Naja Gebissenen durch
das Trinkenlassen von zwei Flaschen Madeira.
**) Bei innerlicher Darreichung soll man nach van Hasselt die Dosis auf 20 Tr.
Liquor Ammonii cavstici beschränken, das Präparat in gehöriger Verdünnung mit Zucker-
wasser darreichen und nicht über 4 — 12 Grm. steigen, während C. J. Smith (1868) nach
Erfahrungen in Ostindien (Naja) die Einzeldosis auf 2*0 normirt und die Verdünnung so
weit beschränkt, als das Hinunterschlucken eben noch möglich ist. Wirkt Ammoniak aus-
schliesslich durch Erregung des Herzens, so dürften auch weniger ätzende Präparate, zum
Beispiel Ammonium carbonicum, dasselbe leisten. Halford injicirt den Liquor Ammonii
caustici der englischen Pharmacopoe, mit 2 — 3 Theilen "Wasser verdünnt, zu 10—40 Tr. in
eine oberflächliche Vene. Seine Erfahrungen sind für die Wirkung der Ammoniakinfusion
insofern nicht völlig entscheidend, als er gleichzeitig Aussaugen und Scarificiren der Wunde,
Aetzung derselben mit Salmiakgeist und Anlegung einer Ligatur benutzt. In Australien ist,
wie Halford selbst mittheilt, sein Verfahren so in Ruf, dass jeder Arzt, welcher bei einer
Vergiftung mit Schlangenbiss einen Kranken verloren hätte, ohne dasselbe anzuwenden, der
Censur des Publikums und der Collegen ausgesetzt wäre. Es kann wohl keinem Zweifel
unterliegen, dass bei den Verletzungen durch Pelias berus und Viper a Bedii die Infusion
von Aetzammoniakflüssigkeit mindestens überflüssig ist.
176 SCHLANGENGIFT.
von Naja tripudians gebissener Hunde bewirkte, wohl aber das Leben ausser-
ordentlich verlängerte und danach die Möglichkeit gegeben scheint, dass beim
Menschen die Anwendung derselben die Elimination des Giftes ermöglichen und
das Leben erhalten kann.*)
Besondere Complicationen werden nach allgemeinen Regeln behandelt.
Bei Glossitis und Angina hat man Scarificationen , bei heftiger Brustbeklemmung
eine kleine Venaesection , auch Senegaaufguss oder Einathmung von Aether oder
Chloroform empfohlen. Intensives Coma weicht kalten Begiessungen auf den Kopf
im warmen Bade am besten. Heftige Aufregung erfordert Anwendung von Morphium
oder anderen Narcoticis, starkes Erbrechen und Vomituritionen ebenfalls Morphin
oder Bittermandelwasser. Gegen Convulsionen dürften narcotische oder anästhetische
Mittel mehr leisten, als das von Signorelli in kleinen Dosen empfohlene Chinin.
Gegen passive Hämorrhagien erscheinen ausser den früher allgemein gebräuch-
lichen Medicamenten, wie Chinin, Mineralsäuren und Rothwein, Mutterkornpräparate
angezeigt. Lacombe plaidirt für den innerlichen und äusserlichen Gebrauch von
Mercurialien , die wir kaum als indicirt betrachten können. Bei zurückbleibenden
Neuralgien sind subcutane Morphiuminjectionen von entschiedenem Nutzen.
Von grosser Wichtigkeit sind namentlich für gewisse tropische Länder
Maassregeln zur Verminderung oder zur völligen Ausrottung giftiger Schlangen.
Dass Prämien , welche von Seiten des Staates auf die Tödtung und Einlieferung
getödteter Thanatophidier gesetzt werden , von wesentlicher Bedeutung für die
Verminderung sind, kann nach den oben mitgetheilten Zahlen Soubeiran's für
Frankreich und nach den Erfahrungen in Ostindien nicht in Abrede gestellt werden.
Fayrer zeigte, dass in Bengalen mit einer Herabsetzung der ausgelobten Prämien
auch die Zahl der getödteten Giftschlangen sofort erheblich sank. Aehnliche Prämien
sollten auch auf die Zerstörung der Schlangeneier gesetzt werden. Besonderes
Gewicht legen wir auch auf die Schonung derjenigen Thiere, welche als Schlangen-
feinde bekannt sind, oder die Ansiedlung solcher in Ländern , wo sie nicht vor-
kommen. Nach der hübschen Zusammenstellung der Hauptfeinde unserer ein-
heimischen Kreuzotter in Lenz' Schlangenkunde sind in dieser Beziehung von
Säugethieren besonders der Igel, der Iltis, das Wiesel und der Dachs, von Vögeln
der Bussard, der Eichelhäher und der Storch zu berücksichtigen. Auch andere
Mustelaarten, wie z.B. das Frett von Afrika, sind entschiedene Schlangenfeinde.
Berühmt ist auch von exotischen Vögeln der Secretär, Serjyentarius secretarius1
den man deshalb nach Cuvieb früher nach Martinique zur Vertilgung der
Lanzenschlange verpflanzen wollte oder verpflanzt hat. Eine andere Falkenart,
Falco cachinans, vertilgt in den südamerikanischen Morästen viele Giftschlangen.
Die seit Aristoteles bestehende Ansicht, dass das Schwein ein besonderer
Schlangenfeind sei, scheint nicht auf Erfahrungen begründet, doch weichen die
Schlangen aus Wäldern, in denen die Schweine zur Mast sich aufhalten, weil
letztere ersteren alle Nahrung fortnehmen und durch Wühlen ihre Höhlung
zerstören.
Zu diesen allgemeinen hygienischen Maassregeln kommen specielle pro-
phylaktische, mit dem Zwecke, sich und Andere vor dem Bisse giftiger Schlangen
zu schützen oder denselben minder gefährlich zu machen. Zu den Maassregeln der
ersten Art gehört in den Gegenden, wo Giftschlangen häufiger sind, eine eingehende
Belehrung des Publikums und namentlich der Kinder über die Schlangen, deren
Aufenthaltsort und deren Gefahren. Da es kaum möglich ist, Kinder die diagno-
stischen Merkmale der Kreuzotter und Viper zu lehren, so untersage man ihnen
*) Ein eigenthümliches Verfahren, das an das Ambulatory treatment bei Opium-
vergiftnng erinnert nnd das gleichzeitig Erhaltung der Motilität und Diaphorese zum Zwecke
hat, empfiehlt Hood, nämlich mechanische Verrichtungen nach Art einer Tretmühle, welche
das verletzte Individuum in unfreiwilliger körperlicher Bewegung erhält. Ein von einer Cobra
Gebissener soll dadurch gerettet sein, dass der Arzt ihn mit den Händen hinten an einen
"Wagen band und ihn so zwang, mehrere englische Meilen hinter dem in Bewegung versetzten
Fahrzeuge herzulaufen.
SCHLANGEN FT. 177
strenge das Einsammeln von Reptilien, bei welchem wiederholt (in allerneuester
Zeit noch bei Hannover) Kinder von Kreuzottern gebissen wurden. Wie berechtigt
diese Warnung ist, geht daraus hervor, dass selbst Schlangenkenner von Profession
getäuscht werden können, wie es z. B. Dumeril begegnete, der von einer Vipera
Bedii gebissen wurde, die er in die Hand nahm, weil er sie für Coluber ßavescens
gehalten hatte. Da die Verletzung durch Schlangen gewöhnlich an der unteren
Extremität sich findet, ist ein Schutz derselben durch dickere Bekleidung angezeigt.
Es hat dies namentlich besondere Bedeutung in Bezug auf Pelias berns und
Vipera Bedii. Thatsache ist, dass vielfach Kinder und auch Erwachsene schwer
an den Zehen verletzt sind, die ja von dem Kiefer dieser Schlangen umfasst
werden können. Diese Verletzungen sind fast nur möglich, wenn überhaupt keine
Schuhe getragen werden, und man sollte darauf achten, dass insbesondere Kinder
welche in Waldungen, wo Kreuzottern oder Vipern vorkommen , Beeren sammeln oder
überhaupt sich aufhalten, nicht barfuss gehen. In Schlangenländern ist das Tragen
hoher Stiefeln vielfach empfohlen, doch schützt dies keineswegs, da Klapperschlangen,
Trigonocephalen, Bungarusarten u. s. w. durch das dickste Leder beissen und andere
Thanatophidier beim Beissen in die Höhe springen. Wichtiger ist, diejenigen Orte,
in denen Schlangen häufig sind, möglichst zu meiden und namentlich nicht an
solchen auf der blossen Erde zu schlafen. In einzelnen Schlangendistricten scheint
es übrigens ziemlich untrügliche Kriterien für die Anwesenheit oder die Nähe von
Giftschlangen zu geben. Das bekannte Geräusch, welches die Klapperschlange mit
den am Schwänze befindlichen hornartigen Ringen erzeugt und welches bei lang-
samem Fortkriechen wie das Schütteln von Erbsen und Bohnen, bei schnellerer
Locomotion wie das Ablaufen der Räder einer Uhr klingt, ist bei trockener Jahres-
zeit 10 — 20 Meter weit zu hören. Manche Giftschlangen aus der Abtheilung der
Klapperschlangen und Trigonocephalen besitzen Drüsen am After, deren Secret
einen höchst unangenehmen Geruch verbreitet und die Anwesenheit des Thieres
auf grössere Entfernungen verräth. Mitunter kann auch ein auffallendes Verhalten
anderer Thiere , z. B. das Scheuwerden von Pferden ohne eine andere Ursache,
die Gegenwart von Schlangen verrathen. Wie auf Sumatra der Pfau den Tiger,
so verräth auf Martinique ein Kreuzschnabel mit weisser Brust, Loxia indicator,
die Lanzenschlange und in Brasilien die eben erwähnte Falkenart die Labari-
schlange. Zwecklos ist die in einzelnen Tropenländern übliche Inoculation von
Präservativen wider den Schlangenbiss.*) Wichtiger ist es, bei einer unvermutheten
Begegnung mit einer Giftschlange die Geistesgegenwart nicht zu verlieren; durch
einfache Mittel, wie durch Pariren mit einem Stocke, durch Vorhalten eines Hutes,
durch Vorwerfen eines Sacktuches ist manches Leben gerettet worden. Zum Fern-
halten der Giftschlangen von menschlichen Wohnungen empfiehlt Fayrer, die
Wände mit Carbolsäure oder auch nur mit Kohlentheer zu bestreichen, da die
Schlangen den grössten Widerwillen gegen Phenol besitzen, das übrigens schon
zu 2 Tropfen eine Cobra zu tödten im Stande ist.
Literatur: Fontana, Bicerche fisiche sopra il veneno della vipera. — Russell,
An account of Indian serpents , collected on the coast of Coromandel. London 1796. —
Wagner, Erfahrungen über den Biss der gemeinen Otter. Leipzig 1824. — Prinz Maxi-
milian von Wied, Beiträge zur Geschichte Brasiliens. — Lenz, Schlangenkunde. Gotha
1832. — S. Weir Mitchell, Besearches upon the venom of the rattlesnake. Washington.
Amer. Journ. Oct. 6., Apr. 4. 1840. Med. Times. Febr. 6. 1869. — Soubeiran, Rapport
sur les viperes de France. Paris 1863. — Heinzel, Oesterr. Zeitschr. 3. 1866. Wiener
Wochenbl. 15 — 21. 1866. 16—17. 1867. (Pelias berus und Vipera ammodytes). — Viaud-
Grand-Marais, Gaz. des höp. 52—65. 1868. 58—54. 1869. 113 u. 119. 1880. — Boullet,
*) So reibt man in Westindien in kleine, aber tiefe Incisionen an Händen, Füssen
und Brust ein in seiner Zusammensetzung noch nicht vollständig bekanntes, aber hauptsächlich
aus verkohlten Klapperschlangenköpfen und Theilen von Pflanzen, welche, wie Mikania Guako,
für Antidota gelten, bestehendes Pulver ein und inoculirt in Brasilien den frischen Saft des
letztgenannten Vegetabils. In Afrika soll man nach Bloedig kleine Kinder von weniger
gefährlichen Giftschlangen beissen lassen, um sie gegen den Biss grösserer Thanatophidier
abzustumpfen.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 12
178 SCHLANGENGIFT. — SCHLEIMBEUTEL.
Etüde auf la moraure devip&re, Paris 1867. — Haiford, Brit. med. Journ. Juli 20., Dec. 21.
1867. Med. Times. Jan. 30., Febr. 27. 1869. Juli 26., Dec. 27., 1873. (Australische Schlangen.)
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pellier 1865. — Jones, New- York med. Rec. Sept. 1. 1868 (Trir/onocephalus contortrix). —
Shortt, Lauf. Mai 2., 16. 1868. Apr. 16. 1870. — Payrer, The Thanatophidia of India.
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auch in Edinburgh med. Journ. 1868 — 1872 veröffentlicht). Med. Times and Gaz. Apr. -Dec. 1873.
— Nicholson, Indian snaJces. Madras 1874. — Taylor, Guy's Hosp. Rep. 19. 297. —
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chemical and microscopical nature of snake-poisons. Calcutta 1874. (Arbeiten von Payr er
und Brunton, Eward uud Richards). — Valentin, Zeitschr. f. Bio!. 13. 80. —
A 1 b e r t o n i , Lo Sper. Aug. ] 879. — CoutyetdeLacerda, Compt. rend. Bd. XC VI. 1879.
H u s e m a n n.
Schleimbeutel. Die typischen, schon im Embryo nachweisbaren Schleim-
beutel zeigen jene Formen der Erkrankung , welche man an den Synovialhäuten
der Gelenke findet, entsprechend der gleichen Structur beider Gebilde. Nebstdem
besteht zwischen den Krankheiten der Gelenke und der Schleimbeutel noch eine
zweite Beziehung. Manche Schleimbeutel communiciren mit benachbarten Gelenk-
kapseln und nehmen schon darum häufig an der Gelenkerkrankung Antheil. Aber
auch wenn keine Communication besteht, trifft man in gewissen Fällen, wenn das
Gelenk primär erkrankt ist, eine benachbarte, wenn auch für sich abgeschlossene
Bursa in derselben Form erkrankt.
Demgemäss finden wir hier folgende Erkrankungen :
1. Acute Bursitis mit serosynovialem Ergüsse. Sie ist im
Ganzen selten und entsteht ab und zu nach heftigen Quetschungen, manchmal aus
rheumatischen Ursachen, angeblich auch bei Syphilis. Die Bursa füllt sich unter
bedeutender Schmerzhaftigkeit mit einem serösen Exsudat, die Haut darüber ist
aber nicht entzündet, höchstens hie und da blassroth gefleckt. Ruhe, Kälte und
dann ein Compressivverband sind genügend, um die Heilung herbeizuführen.
2. Acute Bursitis mit eiterigem Exsudate. Sie kommt nach
offenen Verletzungen der Schleimbeutel vor, tritt an chronisch entzündeten Schleim-
beuteln (Hygromen) als acute Exacerbation auch ohne Verwundung auf, findet sich
multipel als metastatisches Empyem bei Pyämie und erscheint mitunter ex contiguo,
wenn in der Nachbarschaft der Bursa ein eiteriger Herd vorhanden ist. Ist die
Bursa oberflächlich gelegen, so ist die Haut sehr bald entzündet, die Umgebung
der Bursa ödematös ; hohes Fieber und klopfende Schmerzen begleiten die Eiterung.
Bei tiefer gelegenen Schleimbeuteln sind die Zeichen einer tiefen Eiterung vor-
handen : grosse Spannung der Gegend , verbreitetes Oedem der oberflächlichen
Schichten, spärliche erst später zunehmende Röthung der Haut, klopfende Schmerzen,
hohes Fieber. Nur bei den metastatischen Empyemen bleiben die Zeichen der Ent-
zündung aus und man staunt, selbst beim Anblick der synovialen Auskleidung des
Schleimbeutels, an ihr keine Hyperämie zu finden. Durchbrüche des Eiters in die
Zellgewebsschichten und ausgebreitete dissecirende Abscesse sind bei eiteriger
Bursitis nicht selten. Daher ist die frühzeitige Incision und Auswaschung des Herdes
die Hauptregel der Therapie.
3. Hygrom des Schleimbeutels. Es ist dies das Analogon des
sogen. Hydrops articuli. Die Synovialhaut ist bedeutend verdickt und trägt an
ihrer Innenfläche ein Strickwerk, aus dem papilläre Excrescenzen in die Höhle
hineinragen. Die vergrösserte Höhle des Schleimbeutels enthält ein zäheres Secret,
in welchem fast immer eine grössere Menge der sogenannten Corpuscula
oryzoidea (Reiskörperchen) aufgeschwemmt ist. Bei sehr grossen und alten Hy-
gromen ist das Strickwerk der Wandung zu einem förmlichen Fächerwerk geworden,
so dass die Höhle mannigfaltige Ausbuchtungen besitzt. Aeusserlich erscheint das
Hygrom als eine scharf begrenzte, bei oberflächlichen Hygromen deutlich in Form
eines Kugelabschnittes prominirende , von unveränderter Haut bedeckte, in der
Regel ziemlich pralle, deutlich fluctuirende, schmerzlose Geschwulst, welche ihrer
SCHLEIMBEUTEL. 179
Lage und Ausdehnung nach ehen einem Schleimbeutel entspricht und bei Vor-
handensein von Keiskörperchen ein eigenthümlich feines Reibegeräusch wahrnehmen
lässt, wenn man die Fluctuation prüft; walkt man die Geschwulst zwischen den
Fingern, so merkt man sehr gut die Dicke der Wandung und die Unebenheiten
an deren Innenfläche. Manchmal überwiegt die Wucherung der Wandung so, dass
die centrale Höhle verhältnissmässig sehr gering ist, so dass man dann von einem
Hygrom kaum noch sprechen kann; es finden sich dann ab und zu Massen von
echtem Knorpel in der Wandung vor. Die Hygrome der Schleimbeutel bilden sich
häufig gerade dann , wenn der Schleimbeutel lange Zeit geringen aber immer
wiederkehrenden mechanischen Insulten ausgesetzt war. Die bei Arthritis deformans
multipel und in der Nähe der afficirten Gelenke vorhandenen Erweiterungen der
Schleimbeutel mit Wucherung der Wand müssen zu Hygromen ebenfalls gerechnet
werden. Sehr häufig kann die Ursache der Hygrombildung gar nicht angegeben
werden. Die Hygrome bringen als solche häufig nur jene mechanische Behinderung
herbei, welche aus ihrer Lage herrührt und von jeder analog gestalteten gutartigen
Geschwulst herbeigeführt würde; häufig aber besitzen sie die Neigung, sich in
acuter Weise zu entzünden, etwa wie die Atherome und dann können sie sogar
bedeutende Gefahren herbeirufen.
4. Fungus eines Schleimbeutels kommt wohl nur durch Uebergreifen
von einem benachbarten Gelenke vor.
Was nun die einzelnen Schleimbeutel betrifft , so wäre folgendes zu
bemerken :
a) Die Bursa subacromialis , zwischen dem Schultergelenke und
dem dasselbe überragenden Acromion gelegen, erkrankt sehr selten. In vereinzelten
Fällen fand man bedeutendere, die laterale Schultergegend vorwölbende Hygrome
derselben. Jaejavay hat crepitirende Entzündung derselben beobachtet und die
Ansicht aufgestellt, dass der Symptomencomplex , den einzelne Chirurgen früher
auf eine Luxation der Bicepssehne bezogen hatten, durch diese Bursitis hervor-
gebracht werde. — Mit der Bursa subacromialis communicirt sehr häufig die
an der lateralen Seite des Gelenkes gelegene Bursa subdeltoidea; ist diese
letztere für sich abgeschlossen, so kann es zu einer Bursitis subdeltoidea kommen,
die dadurch charakterisirt ist, dass die seitliche Schultergegend vorgewölbt ist
und dass man bedeckt von Deltoides eine scharf umschriebene fluctuirende
Geschwulst wahrnimmt. . Primäre Entzündungen dieser Bursa sind in einigen
Fällen constatirt worden; secundäre Vereiterungen derselben kommen bei Tuber-
culose des oberen Humerusendes vor, wenn die Caverne an der lateralen Seite
des Humerus ausserhalb des Gelenkes perforirt ; auch pyämische Metastasen in
dieser Bursa sind beobachtet worden ; ich habe einmal eine solche bei Pyämie
gesehen. — Bei der Omarthritis deformans participiren beide Bursae häufig an
dem Processe.
b) Die Bursa olecrani erkrankt häufig, insbesondere auf traumatischem
Wege, und zwar ist es insbesondere der Fall auf einen spitzen Stein, der zur
Eröffnung der Bursa und Eiterung derselben führt. Ich habe den Fall gesehen,
dass ein Mann, der in nächster Nähe eines Ofens mit nackten Armen eingeschlafen
war, sich die Haut über der Bursa verbrannt und verschorft hatte, so dass Eiterung
der Bursa eingetreten war. Die acute Eiterung der Bursa olecrani ist durch
eine an der Streckseite des Gelenkes dem Olecranon aufsitzende ziemlich stark
prominirende , intensiv geröthete und fluctuirende, von verbreitetem Oedem der
Haut begleitete Geschwulst charakterisirt. Wird die Höhle nicht frühzeitig
eröffnet, so. kann Durchbruch der Bursa in das umgebende Zellgewebe, zumal in
jenes des Vorderdarmes und zu ausgebreiteter Phlegmone erfolgen. -— Hygrome
dieser Bursa sind nicht selten. Ihre Diagnose ist aus der Lage, flachen Gestalt,
scharfer Begrenzung und dem Reibegeräusch leicht zu stellen. — Traumatische
Hämatome kommen ebenfalls häufig vor; auch diese sind leicht zu erkennen, da
die Geschwulst plötzlich entstanden ist und die in der Höhle der Bursa nieder-
12*
ISO SCHLEIMBEUTEL.
geschlagenen Gerinnsel beim Zusammendrücken der Geschwulst ebenfalls ein leises
Reibegeräusch verursachen.
c) Die Bursa ischiadica, ein schöner am Sitzknorren sitzender
Bohleimbentel, erkrankt selten. Eine Vereiterung desselben kann von einem im
Sitzknorren befindlichen osteomyelitischen Herd angeregt werden. Die Diagnose
einer Entzündung dieses Schleimbeutels wird aus der scharfen Begrenzung und
der besonderen Prallheit der der unteren Fläche des Sitzknorrens aufsitzenden
Geschwulst gestellt.
</) Die unter dem Iliacus gelegene sehr ansehnliche Bursa iliaca
communicirt häufig mit der unter ihr gelegenen Hüftgelenkskapsel ; aber es ist nur
der äussere, ausserhalb des Limbus gelegene Kapselraum , in den sich dann die
Bursa eröffnet ; gleichwohl wird eine Eiterung der Bursa das ganze Hüftgelenk in
Mitleidenschaft ziehen können und es findet dies thatsächlich nicht selten bei
Psoasabscess statt, indem der Abscess zunächst in die Bursa perforirt. Und
umgekehrt kann eine vom Gelenke ausgehende Eiterung die communicirende Bursa
sofort füllen oder, wenn keine Communication besteht, perforiren. Hygrome dieser
Bursa sind selten. Sie stellen dann ansehnliche , die Schenkelbeuge ausfüllende,
von dem unteren Ende der Psoas eingeschnürte fluetuirende Geschwülste dar, an
denen sich manchmal die Communication mit dem Hüftgelenke dadurch nachweisen
lässt, dass die Bursa sich auf Druck verkleinert. Volkmann hat in derlei Fällen
durch Eröffnung und Drainage unter antiseptischen Cautelen Heilung erzielt.
e) Die sehr ansehnliche, an der lateralen Seite der grossen Trochanters
gelegene Bursa trochanterica erkrankt selten. Interessante Fälle von
Erkrankungen derselben haben unter Anderem Cbassaignac und Hueteb, mit-
getheilt. Bei acuten Entzündungen derselben treten schwere, phlegmonöse
Erscheinungen auf, die nur durch ausgiebige Incisionen behoben werden können.
Da das Hüftgelenk frei ist, so ist der übliche Hinweis auf die Differentialdiagnose
zwischen dieser Bursitis und einer Coxitis überflüssig.
f) Die obere Ausbuchtung der Kniegelenkskapsel ist ursprünglich ein
unter der Sehne des Quadriceps gelegener selbständiger Schleimbeutel, der erst
später die Communication mit der Kniegelenkskapsel eingeht. Bei manchen Individuen
bleibt diese Selbständigkeit der Bursa noch im Kindesalter aufrecht. Dann kann
es zu einer Bursitis subcruralis kommen. Es findet sich dann eine
Schwellung der vorderen Kniegegend oberhalb der Patella ; die Geschwulst fluc-
tuirt deutlich und ist von der Quadricepssehne der Länge nach eingeschnürt ; aber
die Patella ist nicht emporgehoben und tanzt nicht. Fälle dieser Art sind ausser-
ordentlich selten.
g) Die vor der Kniescheibe gelegenen Schleimbeutel sind am häufigsten
der Sitz der typischen Schleimbeutelerkrankungen. Es finden sich diese Bursae in
verschiedenen Schichtentiefen. Man kennt eine Bursa praepatellaris subcutanea,
eine Bursa praep. subfascialis und eine Bursa praep» • subaponeurotica • die
letztere liegt unter den die Patelle deckenden aponeurotischen Massen. Sehr
häufig findet man an Cadavern zwei dieser Bursae an demselben Knie vorhanden,
eine oberflächliche und eine von den tieferen, oder die beiden tieferen. Eine
acute Bursitis entsteht hier durch traumatische Eröffnung oder durch anhaltend
wiederholten Druck. Im letzteren Falle entsteht eine leichte, scharf umschriebene,
vor der Patella gelegene und nur mit dieser verschiebbare Geschwulst, die heftig
schmerzt und das Gehen unmöglich macht ; das Knie wird in der Bettlage schwach
gebeugt gehalten. Durch Ruhe und Kälte kann es zum Stillstand des Processes
kommen. Bei offener Verletzung entsteht , wenn keine antiseptische Behandlung
eingeleitet wird, sofort Eiterung, die ein bedeutendes collaterales Oedem, ja
Phlegmone der Umgebung bewirkt, wenn die Wunde so klein ist , dass der Eiter
sich staut. Sehr häufig ist das Hygroma praepatellare und es finden sich hier
alle Specialformen des Hygroms vor. Durchschnittlich ist das Hygroma prae-
patellare eine Kugelkappe, deren Basalfläche so gross ist, wie die Fläche der
SCHLEIMBEUTEL. — SCHLEIMMETAMORPHOSE. 181
Patella. Nicht selten sind jene Hygrome, die eine vollkommene Halbkugel dar-
stellen. Sehr selten solche, die mehr als eine Halbkugel vorstellend eine Basis
besitzen, die kleiner ist, als der grösste Querschnitt des Gebildes. Faustgrosse
Hygrome sind ungemein selten. Präpatellare Hygrome mit Keiskörperchen sind
seltener als solche ohne dieselben. Mächtige Ablagerungen von Bindegewebe,
Knorpel und Kalk finden sich ebenfalls recht selten vor. An grösseren Hygromen
tritt nun nicht selten, ohne dass eine penetrirende Verwundung stattgefunden
hätte, Eiterung auf, die nur durch eine ausgiebige Incision geheilt werden kann.
Jene Hygrome , die keinen allzudicken Balg haben , lassen sich immer
durch Druckverband mit Flanellbinden zum Schwinden bringen. Ist der Balg sehr
dick, oder finden sich viele Reiskörperchen vor, so ist Incision, Entleerung und
Ausschabung die beste Behandlungsmethode. Sind die Wandungen der Bursa so
dick, dass die Grösse der Höhle verschwindend ist, so bleibt nichts übrig, als die
Exstirpation des Gebildes.
h) Die an der Hinterseite des Gelenkes vorkommenden, an den Sehnen
der hier ziehenden Muskeln gelegenen Bursae communiciren fast immer mit dem
Gelenke und doch ist es unbestritten, dass metastatische Empyeme derselben vor-
kommen, ohne dass gleichzeitig das Kniegelenk Eiter enthielte. Sonst kommen sie
in der chirurgischen Praxis noch dann in Betracht, wenn sich in einer derselben
ein Hygrom bildet. Man findet dann in der Kniekehle eine taubenei- oder wallnuss-
grosse, scharf umschriebene, pralle, deutlich elastische Geschwulst, welche nicht
pulsirt, schmerzlos ist und ihr Volum bei längerer Ruhe vermindert. Die Unter-
suchung der Geschwulst lässt sich bei gebeugtem Knie besser vornehmen, als beim
gestreckten ; ab und zu lässt sich die Geschwulst durch Druck etwas verkleinern.
Diese Art von Hygromen führt keine Beschwerden herbei.
i) An der hinter dem Ligam. paiellae proprium befindlichen Bursa
infragenualis findet sich ab und zu Bursitis oder Hygrombildung vor.
Thendelenburg hat diesbezüglich interessante Fälle beobachtet. Man findet eine
vom Ligam. patellae der Länge nach eingeschnürte Geschwulst, welche die
Beugung nur etwa bis zu einem rechten Winkel gestattet und dadurch genug auf-
fällige Beschwerden verursacht. Albert.
Schleimgewebsgeschwülst, s. „Myxom", IX, pag. 401.
Schleimmetamorpliose. Unter Schleimmetamorphose im weiteren Sinne
pflegt man überhaupt jede pathologische Schleimbildung zu verstehen. Sie schliesst
sich dem physiologischen Vorkommen von Schleim im menschlichen Körper innig an.
Die physiologische Schleimbildung ist zweierlei Art. Einerseits
handelt es sich um Gewebe aus der Reihe der Bindesubstanzen, welche durch
ihren Gehalt an schleimiger Intercellularsubstanz von den sonstigen Bindegewebs-
formen differiren, andererseits um Schleim secernirende Epithelien. Als schleim-
h altige physiologische Bindegewebs formen sind zu erwähnen das
embryonale Haut- und Unterhautzellgewebe , die WHARTON'sche Sülze des Nabel-
stranges, der Glaskörper und die Intervertebralscheiben. Bei diesen Bindegewebs-
formen lagert zwischen zelligen Elementen und ihren faserigen Derivaten eine meist
ganz homogene, hie und da aber auch fein streifige, klebrige, in Wasser exquisit
quellungsfähige Substanz , welche bei Zusatz von Essigsäure flockig gerinnt , im
Ueberschusse derselben sich nicht löst und durch Alkohol zu einem mikroskopisch
feinfaserigen oder netzförmigen Niederschlag gefällt wird, ohne sich dann bei
Wasserzusatz wieder aufzulösen. Ob hier die mucinöse Zwischensubstanz als
Product einer schleimigen Metamorphose peripherer Zellenpartien oder einer Art
Secretion der Zellen aufzufassen sei, ist bis jetzt noch nicht festgestellt. Die
physiologischer Weise S-chleim secernirenden Epithelien haben
eine sehr weite Verbreitung, indem die Schleimsecretion sämmtlicher Schleimhäute
auf sie zurückgeführt werden muss. Diese eigenthümliche Function der Epithelien
besteht darin , dass im Zellenprotoplasma und zwar, wie es scheint, geradezu aus
182 SCHLEIMMETAMORPHOSE.
demselben Schleimtropfen entstehen, welche allmälig gegen die freie Oberfläche der
Zillen und endlich über sie hinaus vorrücken, i. e. secernirt werden. Solche in
Bchleimsecretion begriffene Epithelien lassen sich von den verschiedenen Schleimhäuten
durch Abschaben leicht darstellen und zeigen dieselben die Schleimtropfen besonders
deutlich bei Zusatz von Wasser, weil diese dann durch Aufquellen sich vergrössern.
Auch die pathologische Schleimbildung betrifft entweder Binde-
snbstanzen oder Epithelien. Im ersteren Falle kann sie darin bestehen, dass früher
wenig oder gar keine schleimige Zwischensubstanz enthaltende Bindegewebsformen,
diese in immer grösserer Menge in sich auftreten lassen, meist mit gleichzeitigem
fettigem Zerfalle der Zellen und endlich vollständiger Auflösung des Gewebes —
eigentliche schleimige Degeneration der Bindesubstanzen — oder darin , dass schleim-
haltige Bindegewebsformen neugebildet werden.
Die schleimige Degeneration der Bindesubstanzen betrifft
sowohl physiologische Gewebe als pathologisch neugebildete Gewebe. Ihr unterliegen
das Bindegewebe der Haut und des Unterhautzellstoffes an wiederholter Compression
ausgesetzten Stellen, so bei der Bildung der sogenannten accessorischen Schleim-
beutel , das Fettgewebe bei der Abmagerung desselben , das Knorpelgewebe
z. B. der Gelenkknorpel bei Entzündung der Gelenke , die bindegewebige Grund-
lage malacischer Knochen, das jugendliche Bindegewebe der Chorionzotten bei der
Traubenmolenbildung , wie auch sehr häufig neugebildete Bindegewebssorten , so
das faserige Bindegewebe in den Fibromen und Myofibromen , das Knorpelgewebe
der Enchondrome, das Gewebe mancher Sarcome und auch das faserige Stroma
von Carcinomen. Bei dieser schleimigen Degeneration der Bindegewebssubstanzen
gehen, wie schon erwähnt, die Zellen meist zu Grunde, sie entarten fettig, nach-
dem sie allerdings merkwürdigerweise mitunter wie bei der schleimigen Degeneration
des hyalinen Knorpels vorher Proliferation, also eine progressive Veränderung, an
sich erkennen Hessen. Auch die zu Schleim sich umwandelnde Zwischensubstanz
ändert manchmal früher ihr Aussehen, was besonders bei der schleimiger Degeneration
des hyalinen Knorpels hervortritt, bei welcher die homogene Zwischensubstanz
vor der Verflüssigung zu Schleim deutlich faserig zu werden pflegt.
Die Neubildung schleimhaltigen Bindegewebes ist eine
häufige. Sie tritt auf in Form ausschliesslich aus Schleimgewebe bestehender
Neoplasien, der Myxome, oder sie bedingt die theilweise myxomatöse Natur von in
den übrigen Abschnitten andersartig beschaffener Combinationstumoren , in welch'
letzterer Hinsicht besonders zu erwähnen sind die Myxofibrome, die Myxolipome, die
Myxogliome, die Myxochondrome und die Myxosarcome. Diese entweder ganz oder
theilweise aus Schleimgewebe bestehenden Geschwülste sind sehr verbreitet, können
aus den verschiedensten Geweben sich entwickeln, können sehr bedeutende Dimensionen
erreichen und zeichnen sich gewöhnlich durch locale Malignität, zumal Recidivirungs-
fähigkeit, wie auch durch die exquisite Neigung, Metastasen zu bilden, aus. Man
kann meist schon makroskopisch den Schleimgehalt der verschiedenen Bindegewebs-
formen an der gallertigen Beschaffenheit erkennen und hat sich bei der Diagnose
nur zu hüten vor der Verwechslung mit colloider Metamorphose , deren Product, das
Colloid im engeren Sinne aber durch seine grosse Widerstandsfähigkeit gegen Reagen-
tien ausgezeichnet ist, namentlich nicht durch Essigsäure, wie der Schleim gefällt wird.
Die pathologische Schleimbildung von den Epithelien aus
kommt sehr oft vor. Bei jedem Catarrh secerniren die Epithelien der Schleimhaut,
besonders die der eigentlichen Schleimdrüsen, Schleim in abnorm reichlicher Menge
und metamorphosiren sich zum Theile vollständig zu Schleim. Wird der von Drüsen-
epithelien producirte Schleim an seinem Abflüsse gehindert, kommt es zur Bildung
sogenannter Retentionscysten, so entstehen oft, was einen guten Maassstab für die
Beurtheilung der Intensität der pathologischen Schleimproductionen abgiebt, sehr
grosse, mit Schleim oder wenigstens schleimartiger Flüssigkeit gefüllte Cysten-
geschwülste, wie z. B. die sogenannte Gallertcystoide der Ovarien, deren Inhalt,
das „Paralbumin", von dem Mucin nur wenig verschieden ist. H. Ciliar i.
SCHLINGKRAMPF. — SCHLÜSSELBEIN. 183
ScMingkrampf, Spasmus oesophagi, Oesophagismus, anti-
peristaltischer Schlundkrampf. Der fast nur bei Hysterischen beob-
achtete Schlingkrampf besteht in einem zusammenschnürenden Gefühl im Halse,
welches mit heftigem Würgen verbunden ist und meist erst aufhört, nachdem ein
Theil des Mageninhaltes durch Erbrechen entleert ist. Dieser Krampf tritt in Anfällen
meist einige Zeit nach Beendigung der Mahlzeit auf. Von dem bekannten Globus
hystericus ist er wohl zu unterscheiden. (Vgl. „Oesophagus.")
Seeligmüller.
Schlottergelenk, s. „Pseudarthrose", XI, pag. 100.
Schlüsselbein, die angeborenen Missbildungen, Verletzungen,
Erkrankungen und Operationen an demselben und seinen Ge-
lenken.
A. Anatomisch-physiologische Vorbemerkungen.1)
Das Schlüsselbein (clavicula, furcula, os juguli lat. , clavicule franz.,
clavicle engl.) ist einem Röhrenknochen seiner Gestalt nach ähnlich, enthält in
seinem Innern jedoch nicht eine Markhöhle, sondern eine geringe Menge poröser
Masse, die von einer dicken, compacten Rinde umgeben ist. Der genannte
Knochen ist bekanntlich bei abgemagerten Menschen, bei denen die Ober- und
Unterschlüsselbeingruben sehr tief sind , mit Leichtigkeit fast von allen Seiten in
seiner ganzen Ausdehnung zu umgreifen und zu betasten ; bei kräftigen und fetten
Menschen ist dies aber durch die Muskeln sowohl als das in jenen Gruben und
im Unterhautbindegewebe abgelagerte Fett viel mehr erschwert. — Das von oben
nach unten abgeplattete ä u s s e r e Drittel des Knochens (Extremitas acromialis)
gehört ganz dem Gebiete der Schulter an und dient zur Insertion der Clavicular-
portion des M. cucullaris und des M. deltoideus, die sich an den hinteren und
vorderen Rand desselben ansetzen. Das mittlere Drittel oder Mittelstück, von
nahezu cylindrischer Gestalt , befindet sich vor dem ersten Intercostalraume und
der zweiten Rippe und zwar derart, dass der Abstand zwischen demselben und
ihm nach aussen immer mehr zunimmt. Seine unmittelbare Berührung der Brust-
wand wird durch das ziemlich genau unter seiner Mitte fortziehende, den Plexus
brachialis und die Art. und V. subclavia umfassende Packet, sowie durch den
an seiner unteren Fläche entspringenden M. subclavius verhindert. Das innere
Drittel (Extremitas sternalis), nahezu dreiseitig prismatisch, die unregelmässig
dreiseitige Gelenkfläche mit dem Sternum tragend, liegt mit seine» inneren Hälfte
vor dem die ersten Rippe überragenden Theile der Lungenspitze (kann deshalb
zur directen Percussion derselben benutzt werden) ; die äussere Hälfte desselben
steht durch eine Art von Gelenk mittelst des Lig. costo-claviculare mit der
ersten Rippe in straffer Verbindung. An seinem vorderen und hinteren Rande
inseriren sich die Mm. pectoralis major und cleido-mastoideus. Die Verbindungen
des Schlüsselbeins mit seiner Nachbarschaft finden theils durch Gelenke , theils
durch besondere Ligamente statt.
Die Articulatio acromio-clavicularis besitzt nur schmale
Gelenkflächen und besteht entweder in einem wahren Gelenk mit Synovialkapsel
oder einem Halbgelenk ohne solche; die Festigkeit des Gelenkes wird durch
sehniges, besonders auf der oberen Fläche stark entwickeltes Gewebe beträchtlich
verstärkt. Die zweite Verbindung des Acromialendes der Clavicula mit der Scapula
findet hauptsächlich durch das Lig. coraco-claviculare posticum statt,
das mit seinen zwei Portionen, dem Lig. conoideum und dem Lig. trapezoi-
deum, von denen das erstere mit seinem freien Rande bei mageren Personen
äusserlich leicht durchzufühlen ist, eine feste Verbindung zwischen Schlüsselbein
und Proc. coraeoideus herstellt. Der in die Nische zwischen diesen Bandstreifen
eingeschobene Schleimbeutel bildet sich bisweilen zu einer Articulatio coraco-clavi-
cularis um. Von untergeordneter Bedeutung ist das oberflächlich gelegene Lig.
coraco-claviculare anticum. — Die Articulatio Stern o-clavicular is
wird durch einen Meniscus in zwei Kammern getheilt und vorne und hinten durch
1-1 SCHLÜSSELBEIN.
ein Lig. Hhrosum anticum und posticum bedeutend verstärkt. Die zweite Ver-
bindung des Sternalendes des Schlüsselbeins mit dem Thorax erfolgt durch das
schon erwähnte Lig. costo-claviculare oder durch eine an dessen Stelle tretende
Synchondrosis costocladcularis. — Endlich sind die Sternalenden beider Schlüssel-
beine noch durch einen starken, fibrösen, über die Incisura semüunaris des
Brustbeines fortgehenden Faserzug, das Lig. interclaviculare verbunden.
Das Schlüsselbein bildet zwischen Acromion und Manubrium sterni
eine Art von Strebepfeiler, welcher der oberen Extremität einen Stützpunkt am
Rumpfe gewährt, aber auch die erforderliche Entfernung der Schulter von diesem
sichert. Von seiner schwach S-förmigen Biegung gehört die eine, nach vorne
convexe, sich um die gewölbte Vorderfläche des oberen Thoraxendes herumlegende
Krümmung den inneren zwei Dritteln des Knochens an ; das übrige Stück des
Knochens ist in entgegengesetzter Richtung gebogen. Bei weiblichen Personen sind
die Schlüsselbeine in der Regel weniger kantig und weniger gekrümmt als bei
Männern. Auch sind bisweilen die beiden Schlüsselbeine ungleich lang, oder es ist
an dem Arme, welcher erheblich stärker gebraucht wird (also gewöhnlich der
rechte, ausnahmsweise der linke) eine stärkere Entwickelung und ein stärkeres
Vorspringen der beiden Enden vorhanden.
B. Angeborene Missbildungen des Schlüsselbeins und seiner
Gelenke.
Während bei den ohne Arme geborenen Menschen die Schulterblätter
und Schlüsselbeine theils vorhanden sein, theils fehlen können, fehlt bei voll-
ständiger Integrität der betreffenden Oberextremität bisweilen das Schlüsselbein
der einen Seite oder beider vollständig, oder ist nur ganz rudimentär
entwickelt.
Die Schultern können in diesen Fällen bis am Brustbein zusammen-
geführt werden. Es kommt ferner ein angeborener Mangel der Pars
acromialis des Schlüsselbeins vor, der sogar erblich beobachtet ist (C. Gegex-
baue, Jena 1864). Die Schulter zeigt unter diesen Verhältnissen eine tiefere
Stellung und wird gegen den vorderen Thoraxumfang durch eine Einsenkung
abgegrenzt, welche sich ununterbrochen in die der Fossa supraclavicularis ent-
sprechende Vertiefung fortsetzt. Die Bewegungen der Arme hatten in allen den
beobachteten Fällen so gut wie gar keine Einbusse erlitten. Man hat ferner die
Clavicula in ihrem äusseren Theile gespalten gesehen; ein Zweig derselben
articulirte in normaler Weise , der andere , stärkere , war nach hinten gerichtet
und verband sich mittelst eines vollständigen Gelenkes mit dem oberen Rande der
Spina scapulae. Es soll auch eine angeborene Luxation des Acromial-
endes des Schlüsselbeins, sogar erblich beobachtet sein, jedoch ist die einzige,
bekannte Beobachtung (Maetix, Bordeaux 1865) nicht ausreichend, um jeden
Zweifel zu heben.
C. Die Verletzungen des Schlüsselbeins und seiner Gelenke.
a) Die Frakturen2) des Schlüsselbeins gehören, ihrer Frequenz nach,
zu den recht häufigen. Unter 51.398 Frakturen, die in 36 Jahren im London
Hospital zur Behandlung kamen, befanden sich 382 im Hospital und 7458 ambulant
behandelte , zusammen 7840 Schlüsselbeinbrüche oder 15-0°/0 aller daselbst vor-
gekommenen Frakturen. Dem Lebensalter nach werden sie, wie es scheint, im
ersten Decennium des Lebens am häufigsten, und zwar bei beiden Geschlechtern
in gleicher Weise, beobachtet; auch Infractionen der Clavicula sind in diesem
Lebensalter nicht selten. In späteren Jahren ist jedoch das Vorkommen dieser
Brüche bei männlichen Individuen, im Vergleich mit weiblichen, sehr überwiegend.
Von den verschiedenen Abschnitten des Schlüsselbeins wird der dünnste
und zugleich am stärksten gekrümmte Theil desselben, nämlich das mittlere
Drittel und seine Grenze mit dem äusseren am häufigsten von einem Bruche
betroffen. Die daselbst zu beobachtenden Bruchformen sind gewöhnlich Quer- oder
SCHLÜSSELBEIN. 185
Schrägbrüche, die beide mit erheblicher Verschiebung in der Längsrichtung allein
oder mit einer Winkelbildung combinirt sein können, so dass in extremen Fällen
der Knochen eine T- oder Y-Gestalt erhält. Mehrfache und Comminutivbrüche
sind im mittleren Drittel ungleich seltener. Im Allgemeinen hat mau die bei den
Frakturen des mittleren Drittels vorkommenden Dislocationen der Fragmente,
theoretischen Speculationen folgend, viel zu einseitig aufgefasst, namentlich ein
Herabsinken des äusseren Fragmentes und damit auch der Schulter beinahe für
alle Fälle angenommen und gegen dieses Verhalten die Einwirkung der überaus
zahlreich vorgeschlagenen Verbände gerichtet. Allerdings ist die Schultersenkung
ein in der Mehrzahl der Fälle beobachtetes Symptom , sie kann aber auch gauz
fehlen und sogar das Acromialfragment höher als das Sternalfragment stehen.
Im Uebrigen deutet die Schultersenkung, je mehr sie ausgeprägt ist, auch eine
um so stärkere Zerreissung des Bindegewebes und der Fascien an, durch welche,
ebenso wie durch die Gefässe und Nerven, das Schlüsselbein sonst in seiner Lage
erhalten wird. — Die Brüche des Schlüsselbeins in seinem Acromialdrittel,
ausserordentlich viel seltener als die im mittleren Drittel, können je nach Umständen
mit gar keiner, geringer oder beträchtlicher Dislocation verbunden sein. Das Fehleu
derselben, oder eine solche geringen Grades wird gewöhnlich beobachtet bei den-
jenigen Frakturen, die sich zwischen den Ligg. trapezoideum und conoideum
befinden und durch diese Ligamente sowohl als durch die sich das Gleichgewicht
haltenden Mm. cucullaris und trapezius zusammengehalten werden. Dagegen
kann aber auch an dieser Stelle eine Dislocation beträchtlicher Art vorkommen,
ganz ähnlich derjenigen, welche sich sehr gewöhnlich bei den Frakturen des
Acromialendes der Clavicula nach aussen von dem Lig. coraco-claviculare post.
findet, nämlich eine solche, bei welcher das kurze (Acromial-) Fragment mit dem
anderen einen nach oben gerichteten und deshalb schon äusserlich sehr in
die Augen fallenden Winkel bildet. Bei den Brüchen des nur etwa 3ji Zoll
langen , zwischen dem Lig. trapezoideum und dem Acromio-Claviculargelenke
gelegenen Acromialendes des Schlüsselbeins, deren Beschaffenheit eine quere,
schräge, comminutive u. s. w. sein kann, kommt die genannte Dislocation fast
ganz constant vor, hauptsächlich wohl durch die Action des 31. trapezius, aber
auch in Folge einer Axendrehung des Schulterblattes und eines Zuges der von
der Brust zum Arme verlaufenden Muskeln. Im Gefolge dieser Brüche sowohl als
der vorher genannten kann bisweilen durch massenhafte Callusablagerungen im
Bereiche der erwähnten Ligamente eine unbewegliche Verbindung der Clavicula
und Scapula durch einen knöchernen Strebepfeiler herbeigeführt werden. — Die
Frakturen des inneren oder Sternaldrittels der Clavicula, welche die aller-
seltensten sind, zeigen bisweilen gar keine oder sehr geringe Dislocation, können
aber auch mit erheblicher Uebereinanderschiebung der Fragmente verbunden sein.
— Doppelbrüche, d. h. eine zweimalige Trennung eines und desselben
Schlüsselbeines, sind sehr selten, der gleichzeitige Bruch beider Claviculae,
wobei übrigens die Brüche auf beiden Seiten sich ganz verschieden verhalten
können, kommt etwas häufiger vor. — Auch complicirte Schlüsselbeinbrüche
gehören in der Civilpraxis zu den grössten Seltenheiten , ebenso die Verletzungen
der Vasa subclavia, während der Plexus brachialis , wie aus der nach der
Heilung bisweilen zurückbleibenden Paralyse des Armes hervorgeht, eher Insulten
ausgesetzt ist, die, je nach Umständen, in einer Erschütterung der Nervenstämme
bei der Entstehung der Verletzung, oder in einem durch ein dislocirtes Fragment
oder einen voluminösen Callus auf sie ausgeübten Druck ihren Grund haben können.
— In Betreff der Entsteh ung der Schlüsselbembrüche ist zunächst auf das in
einer Anzahl von Fällen ohne nachweisbare Knochenbrüchigkeit erfolgte Zustande-
kommen derselben durch eine blosse Muskelaction hinzuweisen. Es handelte sich
dabei um verschiedenartige, manchmal mit grosser Kraft, zum Theil ruckweise
ausgeführte Bewegungen der Oberextremität ; das Zerbrechen des Knochens wurde
an allen drei Dritteln, vorwiegend jedoch im mittleren und besonders an der
186 SCHLÜSSELBEIN.
Stelle nach aussen von der Clavicularportion des Kopfnickers beobachtet. Es sind
ferner einige Fülle von intrauterin, während der Schwangerschaft, und bei der
Geburt , durch Zerren an den Armen , entstandenen derartigen Knochenbrüchen
bekannt. Die grosse Mehrzahl der übrigen Clavicularbrüche aber erfolgt durch
indirecte Gewalteinwirkung, namentlich durch Fall auf die Schulter, den Ellen-
bogen oder die ausgestreckte Hand; directe Gewalten, wie Stoss, Schlag, Auf-
fallen eines schweren Körpers u. s. w. sind seltenere Veranlassungen. Der gleich-
zeitige Bruch beider Schlüsselbeine kommt meistens bei einer seitlichen Zusammen-
pressung des Thorax zu Stande, es kann aber auch nach einander das eine und
andere Schlüsselbein durch einen verschiedenen Mechanismus gebrochen werden.
— Die Symptomatologie und Diagnose betreffend, ist zu bemerken, dass
die Infractionen des Schlüsselbeins bisweilen nur schwer als solche sich erkennen
lassen, während bei den vollständigen Brüchen mit mehr oder weniger erheblicher
Dislocation der blosse Anblick des Patienten zur Stellung der Diagnose häufig
genügt. Da ausserdem der Knochen sich fast von allen Seiten umgreifen lässt,
werden alle Unregelmässigkeiten an demselben auch durch das Gefühl leicht wahr-
genommen. Das früher vielfach als pathognomonisch angenommene Zeichen, dass
ein Patient mit Schlüsselbeinbruch ausser Stande sei, die Hand der verletzten
Seite zum Kopfe zu führen, fehlt in einer grossen Zahl von Fällen und namentlich
dann , wenn die Bewegungen des Armes dem Patienten , der z. B. delirirt oder
geisteskrank ist, nicht schmerzhaft sind ; jedenfalls ist die physische Unmöglichkeit,
gedachte Bewegung auszuführen, nur sehr selten vorhanden. Beim gleichzeitigen
Bruche beider Schlüsselbeine befinden sich die Patienten in der sehr peinlichen
Lage, ihre oberen Gliedmassen nur sehr unvollkommen gebrauchen zu können.
Als etwas sehr Ungewöhnliches ist in einigen Fällen, in denen ein gleichzeitiger
Rippenbruch oder eine Verletzung der Lungenspitze mit Bestimmtheit ausgeschlossen
werden konnte , auch ein beträchtliches Emphysem beobachtet worden , dessen
Entstehungsweise als ziemlich räthselhaft bezeichnet werden muss. Im Uebrigen
ist die differentielle Diagnose einer Fr. claviculae in der Regel nicht besonders
schwierig ; namentlich sind die Luxationen dieses Knochens, sowie des Oberarm-
beins im Schultergelenk, oder eine Fractura colli scajnclae bei einiger Aufmerk-
samkeit leicht auszuschliessen ; ebenso, wenn es sich um ein späteres Stadium
handelt, die Knochenauftreibungen, wie sie durch chronische Periostitis, namentlich
bei Syphilis vorkommen, oder die angeborenen Defecte des Knochens. — Ver-
lauf und Ausgänge bei dem Bruche pflegen so zu sein, dass die Heilung in
20 — 40 Tagen, im Mittel also in 28 Tagen oder 4 Wochen bei einem Erwachsenen
erfolgt, allerdings häufig genug mit einiger Deformität, indem die vorhandene
Dislocation nicht ganz oder gar nicht hatte beseitigt werden können. Pseudarthrosen
am Schlüsselbeine sind sehr selten, stören übrigens die Brauchbarkeit des Gliedes
nur wenig , ebenso wie auch die in dislocirter Stellung geheilten Knochenbrüche
auf dessen Functionen nur einen sehr geringen ungünstigen Einfluss haben. Die
sehr selten als Residuen einer geheilten Fraktur beobachteten paralytischen
Erscheinungen können, wenn die Ursachen derselben in einem Gefässe und Nerven
comprimirenden Callus zu suchen ist, durch Resection des letzteren, wie dies mit
Erfolg ausgeführt worden ist, beseitigt oder gebessert werden. — Während, wie
wir gesehen haben, bezüglich der Schnelligkeit und Leichtigkeit der Heilung und
der Rückkehr der normalen Functionen die Prognose eine durchaus günstige
ist, kann man ein Gleiches hinsichtlich der Wiederherstellung der normalen Form
nicht sagen, da die meisten mit einer Dislocation verbundenen Schlüsselbeinbrüche,
selbst bei durchaus sorgfältiger Behandlung , mit mehr oder weniger Deformität
zur Heilung gelangen, eine Deformität, die im Allgemeinen ohne Belang ist, aber
eitelen Frauen bisweilen ziemlich unerwünscht sein kann. — Bei der Therapie
kommt zunächst die Reposition in Frage , welche in der Mehrzahl der Fälle , in
denen das äussere Fragment nach innen und unten gewichen ist, darin besteht,
an der verletzten Schulter einen kräftigen Zug nach oben und aussen dadurch
SCHLÜSSELBEIN. 187
auszuüben, dass dem auf einem Schemel oder rittlings auf einer Bank sitzenden
Patienten ein hinter ihm stehender Assistent das eine seiner Kniee zwischen die
Schulterblätter setzt, und durch Umfassen beider Schultern mit seinen Händen,
diese, namentlich aber die verletzte Schulter, empor- und rückwärts zieht. Gleich-
zeitig muss an der Bruchstelle selbst mit den Fingern die Coaptation ausgeführt
werden , indessen darf man , namentlich bei Brüchen mit starker Uebereinander-
schiebung der Fragmente, nicht immer erwarten, durch diese combinirten Manöver
jede Dislocation vollständig zu beseitigen. — Es fragt sich nun, ob bei allen
Schlüsselbeinbrüchen die Anwendung von zusammengesetzten Verbänden nothwendig
ist, oder nicht. Bei einfachen, wenig oder gar nicht dislocirten Brüchen und bei
verständigen Personen, kann man sich meistens auf die Anwendung einer einfachen
Mitella beschränken, theils bei rechtwinkeliger Stellung des Ellenbogengelenks,
theils auch bei spitzwinkeliger, wenn etwa bei dieser die Fragmente sich besser
coaptiren. Es kann ferner für einzelne Fälle, bei denen es auf eine möglichst
vollkommene Heilung aus cosmetischen Gründen ankommt, die schon von Hippo-
krates empfohlene ruhige Bückenlage des Patienten, wobei ein schmales Polster
zwischen die Schulterblätter gelegt wird und die ohne Unterstützung gelassene ver-
letzte Schulter vermöge ihrer eigenen Schwere zurücksinkt, für einige Wochen
zur Anwendung gebracht werden. Wenn man ganz sicher eine fehlerlose Heilung
erzielen will, ist es bei dem heutigen Stande der antiseptischen Behandlung gerecht-
fertigt, nach dem Vorgange von Langenbuch (Berlin, 1882), nach Freilegung der
Bruchenden diese durch Silberdrahtnähte zu vereinigen. Was die Contentivverbände
anlangt , deren eine überaus grosse Zahl im Laufe der Zeiten angegeben worden
ist, so würde das Ideal derselben darin bestehen, mit der geringsten Belästigung
des Patienten, namentlich wo möglich mit Vermeidung einer Beengung des Thorax
und eines zu starken Druckes auf die Achselhöhlen, die Fragmente in Reposition
zu erhalten. Da indessen die Immobilisirung der letzteren hauptsächlich nur durch
eine Einwirkung auf das ausserordentlich schwer mit Hilfe von Verbänden zu
fixirende Schulterblatt geschehen kann, derartige Verbände aber von zahlreichen
Patienten wegen anderweitig vorhandener Brustverletzungen, chronischer Krank-
heiten der Brustorgane, vorgerückter Schwangerschaft, Missstaltungen des Thorax,
starker Entwickelung der Mammae, bedeutender Fettleibigkeit u. s. w. nicht ertragen
werden, so ist es ersichtlich, dass allen diesen Verbänden, welche fast ohne Aus-
nahme gegen die häufigste Art von Dislocation der Fragmente, bei welcher
die Schulter nach unten, vorn und innen gewichen ist, bestimmt sind und dem-
nach eine Auswärts- und Rückwärtsziehung und Aufwärtsdrängung der Schulter
bezwecken, eine nur sehr beschränkte Wirksamkeit beizumessen ist, indem die
bei ihnen verwendeten Gurte und Riemen oder die mit Klebestoffen (Eiweiss,
Kleister, Gyps) versehenen Bindentouren, trotz aller Polsterung, wenn sie, wie es
nothwendig ist , fest angezogen werden , einen nachtheiligen Druck ausüben , ein-
schneiden und auf die Dauer nicht ertragen werden. Ohne auf die zahlreichen
Verband -Varietäten mit ihren Achselkissen , Achselringen , Brustgürteln , Corsets,
Schulterkappen , Peloten u. s. w. , denen alle die erwähnten Mängel mehr oder
weniger anhaften, hier näher einzugehen, wollen wir nur bemerken, dass man in
manchen Fällen, namentich bei sehr mageren Individuen, welche tiefe Ober- und
Unter-Schlüsselbeingruben besitzen, durch Eindrücken von erweichten Stoffen, wie
nasser Pappe, erwärmter Guttapercha , Gypscataplasmen , oder durch übergelegte
Heftpflasterstreifen, bisweilen eine ziemlich gute, directe Fixirung und Immobilisirung
der Fragmente auszuführen im Stande ist. Ein sehr einfacher Verband, der in der
neuesten Zeit recht beliebt geworden ist, ist der SAYEE'sche Heftpflasterverband.
Er wird mit drei langen, 6 — 8 Cm. breiten Heftpflasterstreifen ausgeführt, von
denen der erste, an der Innenseite des kranken Oberarms beginnend, über dessen
Vorder- und Aussenfläche nach hinten, über den Rücken und unter der gesunden
Achsel nach vorne bis zur Mamma verläuft und die kranke Schulter nach hinten
und oben ziehen soll. Der zweite Streifen geht von der Höhe der gesunden
188 SCHLÜSSELBEIN.
Schulter schräg über den Rücken abwärts, um den Ellenbogen der kranken Seite
herum und vorne zur gesunden Schulter zurück; er soll den Arm emporheben.
Der dritte Streifen umfasst mit seiner Mitte das Handgelenk, seine beiden Enden
werden an der Vorderfläche der Brust hinauf- und über die gebrochene Clavicula
hinübergeführt, so dass das Gewicht des Armes die nach oben gerichteten Brueh-
enden nach unten drückt. Mittelst einer kleinen Mitella wird die Hand unterstützt.
— Ucber das sonstige Verhalten des Patienten, wenn er, wie gewöhnlich, nicht
zu Bette liegt, sondern bei Tage herumgeht, ist nichts weiter zu bemerken, als
dass er eine jede, zu einer Dislocation der Fragmente Anlass gebende Bewegung,
namentlich jeglichen Gebrauch der Hand der verletzten Seite, sorgfältig vermeiden
muss. Bei der Lage im Bette des Nachts ist ein hartes, in der Mitte etwas com*'
vexes Lager zu empfehlen, damit nicht von Neuem eine erheblichere Dislocation
eintritt. — Für die Behandlung des gleichzeitigen Bruches beider Schlüsselbeine
empfiehlt sich während eines grossen Theiles der Heilungsdauer eine ruhige
Rückenlage, später sind zwei einfache Mitellen am Platze.
b) Schussverletz u ngen des Schlüsselbeins3) sind gewöhnlich mit
Verwundungen der Lunge , Frakturen der Rippen , des Schulterblattes oder Ver-
letzungen von Gefässen und Nerven complicirt und ist daher die Bedeutung jener
Verletzungen ganz von der der letzteren abhängig. Im Uebrigen werden alle Arten
von Brüchen, die sich an den langen Knochen finden, auch am Schlüsselbein
beobachtet. Ausnahmsweise sind bei Schussverletzungen dieses Knochens auch
operative Eingriffe, Resectionen von grösserem oder geringerem Umfange, vor-
genommen worden.
c) Luxationen des Schlüsselbeins4) kommen an beiden Enden des-
selben, also im Sterno-Clavicular- und im Acromio-Claviculargelenk , gewöhnlich
nur in einem derselben, sehr selten auch in beiden zugleich vor. Nach Polaillon 5)
beträgt ihre Frequenz etwa 9°/0, indem unter 967 Luxationen, welche von 1861
bis 1864 in den Pariser Hospitälern behandelt wurden, 87 dem Schlüsselbein
angehörige sich befanden und zwar bei 84 männlichen und 3 weiblichen Individuen,
darunter keine Kinder und nur 2 Greise , so dass die grosse Mehrzahl aus
Erwachsenen im besten Lebensalter bestand. In einer anderen Statistik von
97 Fällen, die Polaillon in der Literatur gesammelt hat, war das Verhältniss
der Männer zu den Frauen allerdings ein ganz anderes, nämlich wie 77:17 und
dazu noch 3 Fälle von Patienten unbekannten Geschlechtes. Ferner waren
43 Luxationen rechts-, 25 links- und 2 beiderseitig, daher beträchtliches Vorwiegen
der rechten Seite. 8 unter 61 Fällen waren irreponibel und unter 93 Fällen fanden
sich 13 mit Complicationen (4mal Rippenbruch, je 2mal Oberarm-Bruch und
-Luxation, je lmal die letztgenannte Luxation zusammen mit Bruch des Acromion,
dieser Bruch allein , 1 Bruch des luxirten Schlüsselbeins , 1 Oberschenkelbruch,
1 Hautwunde). Unter den 97 Luxationen des Schlüsselbeins betrafen 50 das Acromio-
Clavicular-, 44 das Sterno-Clavicular-Gelenk und 3 beide Gelenke.
a) Die Luxation des Schlüsselbeins im Acromio-Clavicular-Gelenk
kommt nach drei Richtungen , nach oben (L. supraacromialis) , nach unten
(L. hifraacromialis) und nach vorn und unten, unter den Proc. coraeoideus
{L. subcoraeoidea) vor, und verhalten sich diese verschiedenen Formen ihrer
Frequenz nach so , dass unter 50 Fällen 38 auf die erstgenannte und je 6 auf
die beiden anderen Formen kamen (Polaillon). Demnach ist die L. supra-
acromialis die bei Weitem häufigste Form, überhaupt die häufigste unter
allen Luxationen des Schlüsselbeins. Diese Luxation ist leicht dadurch zu erkennen,
dass man das Acromialende der Clavicula 1 — 3 Cm. über dem Acromion stehen
und einen spitzigen Vorsprung bilden sieht urd fühlt. Sobald man sich von der
Integrität des Schultergelenkes überzeugt hat, die Clavicula von ihrem Sternalende
nach dem Acromialende mit dem Finger verfolgt und dabei erkennt, dass sie
unverletzt ist, wird man auch über die Natur des abnormen Vorsprunges, selbst
wenn dieser sich weit nach hinten, bis in die Gegend der Spina scapulae
SCHLÜSSELBEIN. 189
erstreckt, nicht lange im Zweifel sein können. — Die gewöhnliche Veranlassung
dieser Luxation ist ein Fall auf die Schulter, bei welchem der Rumpf einen Stoss
nach vorne erhält. — Die Prognose ist keine günstige, da wohl die Reposition
meistens, nicht aber eine Heilung ohne jegliche Deformität gelingt, indem eine
solche eine grosse Seltenheit ist. — Bei der Reposition muss die Schulter nach
oben, aussen und hinten gebracht und gleichzeitig die Clavicula durch directen
Druck auf dieselbe gesenkt werden. Für die Retention sind sehr verschiedene
Apparate empfohlen worden, von den Schlüsselbeinbruch- Verbänden Desault's,
Velpeau's u. A. an bis zur Anwendung von Tourniquets und Peloten, um das
Acromialende des Schlüsselbeins , welches eine sehr grosse Neigung hat wieder
aufzusteigen, niederzuhalten. Alle diese Verbände aber, auch die einfacheren, wie
der von Malgaigne, in einem über das Acromion und unter dem gebeugten
Ellenbogen fortgeführten Schnallengurt bestehend, üben, da sie fest angelegt
werden müssen , einen auf die Dauer so unerträglichen Druck aus , dass sie bald
von den Patienten weggelassen werden und diese lieber auf eine absolut fehlerlose
Heilung verzichten. Uebrigens würde die schon in der vorantiseptischen Zeit von
E. S. Coopee (San Francisco) mit Erfolg ausgeführte Knochennaht der von
einander gewichenen Gelenkenden heutzutage, wenn es darauf ankäme, eine ganz
normale Heilung in einem frischen oder veralteten Falle herbeizuführen, auf keine
grossen Bedenken stossen. — Die beiden anderen Arten von Luxationen, die
L. infraacromialis und subcoracoidea, gehören zu den sehr selten
beobachteten Verletzungen und können durch einen Fall auf den Ellenbogen bei
fixirtem Schlüsselbein oder durch einen Druck auf das Acromialende desselben bei
gleichzeitiger plötzlicher Rückwärtsbewegung der Schulter zu Stande kommen.
Die Diagnose ist wegen der mehr verborgenen Lage des ausgewichenen Gelenk-
endes weit schwieriger und erfordert eine genaue Palpation, bei der man das
Acromion höher stehend findet als die Clavicula. Die Reposition ist ebenfalls sehr
schwierig und setzt sich aus einem auf das Schlüsselbein von unten nach oben
ausgeübten Drucke und einer starken Auswärtsziehung der Schulter znsammen.
Sollte die Reposition nicht gelingen, so ist die zurückbleibende Functionsstörung
von keinem Belange und verliert sich meistentheils im weiteren Verlaufe mehr
und mehr.
ß) Die Luxation des Schlüsselbeins imSterno-Clavicular-Gelenke
kann nach drei Richtungen , nach vorn , hinten und oben vom Brustbeine statt-
finden. Ihrer Frequenz nach verhielten sich dieselben unter zusammen 44 Fällen
wie 19:16:9 (Polaillon). Die L. praesternalis, nach der L. supraacromialis
die häufigste Scklüsselbein-Luxation, kommt bei heftigem Zurückgeschleudertwerden
der Schulter oder des erhobenen Armes durch Zerreissung der vorderen Kapsel-
wand zu Stande und bildet dann das umfangreiche Sternalende des Schlüsselbeins
einen unter der Haut des Sternum leicht sieht- und fühlbaren bedeutenden Vor-
sprung, während die Gruben ober- und unterhalb der Clavicula stärker vertieft
sind und^ die Schulter, wie beim Schlüsselbeinbruch, herab- und weiter nach innen
gesunken ist. Obgleich die Reposition durch Aus- und Rückwärtsziehung der
Schulter meistens leicht gelingt, hat die Retention ihre grossen Schwierigkeiten
und hat man, ausser den zur Fixirung der Schulter bestimmten Verbänden, welche
ähnlich denen bei der Fraktur der Clavicula sein müssen, sich oft genöthigt
gesehen, durch den eine Anzahl von Wochen angewendeten Druck einer Bruchband-
feder und Pelote das Gelenkende zurückzuhalten. Trotzdem gelingt es nicht
immer, normale Verhältnisse wieder herbeizuführen und bleibt oft ein Zustand
von inclompleter Luxation zurück, der übrigens die Brauchbarkeit des Armes nur
wenig oder gar nicht beeinträchtigt. — Die L. retrosternalis, welche durch
einen directen Stoss oder Fall auf das Sternalende des Schlüsselbeins oder durch
eine gewaltsame Vortreibung der Schulter bei gleichzeitiger Fixation der anderen
Thoraxseite zu Stande kommen kann, ist in der Mehrzahl der Fälle mit den
Erscheinungen von Druck auf die Gebilde des Halses verbunden. Man findet also,
190 SCHLÜSSELBEIN.
ausser einer grabenartigen Vertiefung an der Stelle des Sterno-Clavicular-Gelenkes,
bei tieferein und nach innen gerichtetem Stande der Schulter und Erschwerung
der Bewegungen des Armes, als Folgen des auf die Vena jugularis, die Trachea,
den Oesophagus ausgeübten Druckes eine Cyanose oder selbst ein Oedem des
Gesichtes, mehr oder weniger bedeutende Dyspnoe, Schlingbeschwerden, Schmerz
in der Kehlgrube. Es können übrigens diese Compressionserscheinungen, namentlich
bei incompleten Luxationen , fast vollständig fehlen oder nur wenig ausgeprägt
sein. Die Reposition durch Zurückziehen der Schulter nach hinten und oben gelingt
oft sehr leicht; das Manöver kann noch durch einen directen, mit dem Finger
von hinten nach vorne auf das Schlüsselbein ausgeübten Druck unterstützt werden.
Bei der grossen Neigung zur Zurückkehr der Dislocation ist es nothwendig, längere
Zeit die Schultern stark retrahirt zu halten, sei es durch einen der Schlüsselbein-
bruch-Verbände, namentlich diejenigen, welche mit Achtertouren die Schultern
umfassen (J. L. Petit , Brünninghausen) , bei gleichzeitiger Zwischenlagerung
eines dicken Kissens zwischen die Schulterblätter, sei es durch die Rückenlage
in der Weise, wie wir sie für den Schlüsselbeinbruch empfohlen haben. — Die
L. suprasternalis, eine sehr seltene Form, kann dadurch zu Stande kommen,
dass das Schlüsselbein in seinem äusseren Theile oder mittelst der Schulter hebel-
artig herabgedrückt wird, wodurch der ausgewichene Gelenkkopf in die Kehlgrube
tritt und daselbst leicht sieht- und fühlbar wird. Durch eine entgegengesetzte
Hebelbewegung, bei gleichzeitiger Abduction der Schulter und directem Druck auf
das luxirte Gelenkende erfolgt die Reposition, während die Retention in ähnlicher
Weise wie bei der L. praesternalis ausgeführt wird.
y) Die Luxation des Schlüsselbeins aus seinen beiden Gelenken,
bisher nur in einigen wenigen (3) Fällen, und zwar stets nach oben, beobachtet,
erfordert zu ihrem Zustandekommen eine gleichzeitige Zerreissung der Gelenkbänder
beider Gelenke, kann dann aber in ähnlicher Weise erfolgen, wie dies bei einzelnen
Carpal- oder Tarsalknochen der Fall ist. Die bisweilen mit anderen Verletzungen,
z. B. Rippenbrüchen, combinirte Luxation kommt wohl hauptsächlich durch einen
auf den Thorax oder die Schultern ausgeübten Druck zu Stande. In einigen Fällen
gelang die Reposition nicht in beiden Gelenken, sondern nur in einem, selbst nicht
als man mittelst eines durch die Haut eingesetzten scharfen Hakens das unreponirt
gebliebene Gelenk- (Acromial-) Ende durch directen Druck und Zug zurückzuführen
versuchte. Zur Nachbehandlung würde ein Verband, ähnlich dem beim Bruche des
Schlüsselbeins, anzuwenden sein.
D. Erkrankungen des Schlüsselbeins und seiner Gelenke.
a) Periostitis, Osteomyelitis, Caries, Necrose des Schlüssel-
beins. Diese verschiedenen Entzündungprocesse zeigen am Schlüsselbeine keine
besonderen Eigenthümlichkeiten und ist bei der oberflächlichen Lage des Knochens
die Diagnose sowohl als die Therapie wesentlich erleichtert. Im Allgemeinen ist
die Necrose häufiger als die Caries ; es findet bei der ersteren oft eine reichliche
Knochenneubildung statt und mit Erhaltung eines grossen Theiles dieser neu-
gebildeten Sequesterkapsel lässt sich der Sequester ohne Schwierigkeit ausziehen,
oder nach Umständen auch mit Erhaltung des mittelst eines Elevatoriums
abgehobenen, verdickten Periosts eine mehr oder weniger ausgedehnte Resection
des Knochens ausführen, nicht selten mit Erhaltung der Gelenkenden. — Beim
Vorhandensein tertiärer Syphilis ist das Schlüsselbein der verhältnissmässig
häufige Sitz einer Ostitis, die mit einer beträchtlichen, anfänglich weichen, gum-
mösen, später knochenharten Auftreibung, bisweilen auch mit Caries verbunden ist ;
auch ein spontaner Knochenbruch ist bei einer derartigen Erkrankung beobachtet
worden. Eine antisyphilitische Behandlung, namentlich Jodkalium, pflegt bald eine
bedeutende Besserung, wenn nicht Beseitigung des ganzen Zustandes herbeizuführen.
b) Neubildungen am Schlüsselbein sind ziemlich seltene Vor-
kommnisse. Zunächst handelt es sich um knöcherne Geschwülste, Exostosen, Osteome,
knorpelige Geschwülste, Chondrome und Knochencysten. Unter denselben sind die
SCHLÜSSELBEIN. 191
Exostosen, auch wenn man von den durch Syphilis entstandenen Hyperostosen
absieht , noch die am häufigsten beobachteten Geschwülste , die theils an der
Diaphyse, theils an der Epiphyse ihren Sitz haben, von Elfenbeinhärte, gestielt
sein können u. s. w. und bisweilen die Entfernung nöthig machen, wenn sie
durch die Entstellung, welche sie verursachen, oder den Druck, den sie auf Nach-
bargebilde ausüben, lästig werden. Meistentheils wird die Entfernung sich, nach
Trennung der Weichtheile, durch eine Resection des Knochens auf seiner Fläche
mit Säge oder Meissel ausführen lassen, nur selten wird eine doppelte Trennung
desselben in seiner ganzen Dicke behufs Entfernung der Knochengeschwulst
erforderlich sein. Es sind die eigentlichen Exostosen übrigens von den bisweilen
nach einer Fraktur beobachteten Calluswucherungen zu unterscheiden, die ebenfalls,
wie wir gesehen haben, eine Resection nothwendig machen können. Sehr selten
sind Chondrome und Knochencysten beobachtet, die wohl fast immer eine
Diaphysenresection erfordern werden. Andere an sich gutartige Geschwülste, wie
die Fibrome, können, wenn sie einen etwas grösseren Umfang erreichen und
Verwachsungen mit ihrer Nachbarschaft eingegangen haben , bei der nur mittelst
partieller Resection des Knochens auszuführenden Exstirpation zu sehr schwierigen
und gefahrvollen Operationen Anlass geben. In noch höherem Maasse gilt dies
von den ihrer Natur nach zweifelhaften oder entschieden bösartigen Geschwülsten,
den Sarcomen und Carcinomen, unter denen an dieser Stelle auch Cysto-
sarcome, ferner Medullär- und pulsirende Carcinome beobachtet sind. In den meisten
dieser Fälle werden dabei, wenn überhaupt noch Exstirpationen möglich sind,
grosse Stücke des Schlüsselbeins, z. B. eine ganze Hälfte oder dasselbe in seiner
Totalität, zu entfernen sein.
c) Erkrankungen der Schlüsselbein-Gelenke. Von den beiden
Gelenken ist das Sterno-Clavicular -Gelenk dasjenige, welches häufiger
als das Acromio-Clavicular-Gelenk erkrankt. Es kommen an demselben die meisten
der gewöhnlichen Entzündungsformen, wie die Synovitis (traumatischen, rheumatischen,
pyämischen Ursprunges), tuberculöse Entzündung, verbunden mit Caries, Senkungs-
abscessen , Ankylosen , ausserdem eine auf tertiärer Syphilis beruhende gummöse
Gelenkentzündung vor, bei welcher die anscheinend sehr deutliche Fluctuation
nicht zu einer vorzeitigen Eröffnung verleiten darf. — Im Acromio-Clavi-
cular-Gelenk e ist die Arthritis deformans nicht allzu selten , theils für sich
allein, theils in Verbindung mit einer gleichen Affection des Schultergelenks
bestehend. Man findet dabei das Acromialende des Schlüsselbeins meistentheils
erheblich vergrössert, das Niveau des Acromion überragend, wie bei einer Luxation,
knotige Osteophyten in der Umgebung der polirten Gelenkflächen, bisweilen auch
Gelenkkörper in dem Gelenke. — In nahen Beziehungen zu den verschiedenen
Entzündungen der Clavicular-Gelenke stehen die an denselben in Folge von
Erschlaffung und Ausdehnung der Gelenkbänder beobachteten pathologischen
Luxationen und Subluxationen, die aber auch in beiden Gelenken auf
andere Weise sehr allmälig entstehen können. Für das Sternal-Gelenk kommen
hierbei Tumoren des Mediastinum, namentlich Aneurysmen der grossen Gefässe in
Betracht, ferner starke Verkrümmungen der Wirbelsäule und andere nicht näher
zu präcisirende Ursachen ; zu/ pathologischen Subluxationen im Acromial- Gelenke
kann möglicherweise in der Beschäftigung des Patienten, die vielleicht eine sehr
grosse Anstrengung der Arme erfordert, bisweilen der Anlass zu suchen sein.
Gegen diese allmälig sich entwickelnden, als Erschlaffungs-Luxationen zu bezeich-
nenden Zustände ist so gut wie Nichts zu thun ; bei den in Folge von Entzündung
entstandenen Bändererschlaffungen ist durch längere Ruhigstellung eine Rückkehr
zu normalen Verhältnissen eher wieder zu erwarten.
E. Operationen am Schlüsselbein.
Abgesehen von der schon kurz angeführten Necrosen-Operation , deren
Ausführung, soweit sie sich um die Extraction eines Sequesters handelt, im Grossen
und Ganzen hier dieselbe ist, wie an anderen Knochen, kommt am Schlüsselbein
L92 SCHLÜSSELBEIN.
nur die partielle oder totale Resection des Knochens in Betracht, die in einer
Flächen-Resection ohne Unterbrechung der Continuität, der Aussägung eines
kleineren oder grösseren Stückes der Diaphyse des Knochens, der Fortnahme des
einen oder anderen Gelenkendes, endlich in einer Total-Exstirpation des Knochens
bestehen kann. Partielle oder totale Resectionen der Clavicula kommen bisweilen
auch in Verbindung mit partiellen Resectionen oder totalen Exstirpationen des
Schulterblattes , Resectionen des Oberarmkopfes oder Exarticulationen der ganzen
oberen Extremität vor. Der Knochen ist übrigens für ausgedehnte Resectionen des-
wegen besonders geeignet, weil er eine ungewöhnliche Regenerationsfähigkeit besitzt.
— Bei den Flächen-Resectionen am Schlüsselbeine , die mit Säge oder Meissel
auszuführen sind, handelt es sich meistens um die Entfernung von Exostosen, oder
bei geheilten Knochenbrüchen um die Fortnahme von die Weichgebilde in der
Umgebung reizenden oder comprimirenden Bruchenden oder Callusmassen. Diese
Operationen werden mit einem einfachen , die zu entfernenden Knochentheile frei-
legenden Längsschnitt ausgeführt und sind im Allgemeinen weder schwierig noch
gefährlich.
Bei der Resection von Stücken aus der Diaphyse des Schlüsselbeins,
die bei complicirten Frakturen , bei Caries , Necrose einzelner Theile des
Knochens und bei Geschwülsten, welche an demselben sitzen, in Frage kommen,
ist die Operation im Ganzen leicht, wenn eine durch Fraktur oder durch patho-
logische Zustände erzeugte Knochentrennung vorliegt. Ist jedoch bei einer die
ganze Dicke der Clavicula einnehmenden Geschwulst die Fortnahme einer grösseren
Portion derselben erforderlich, so ist schon die Freilegung derselben mit Schonung
der grossen Gefässe, namentlich der Venen (Vv. anonyma, jugularis interna und
externa), die durch die Geschwulst verdrängt oder mit derselben verwachsen sein
können, nicht ohne Mühe und Gefahr (einer schweren Blutung, des Lufteintrittes)
auszuführen , worauf zunächst die eine Durchsägung des Schlüsselbeins, am besten
mit der Kettensäge, folgen muss; die zweite Durchsägimg, jenseits der Geschwulst,
ist schon etwas leichter, weil sich das einmal durchsägte Schlüsselbein dann schon
besser von den darunter gelegenen Gebilden abheben und freimachen lässt. Der
Zugang zu der Geschwulst wird auch hier mittelst eines einfachen Schnittes oder
zweier elliptischer, die in der Längsrichtung des Knochens geführt werden,
hergestellt.
Bei der Decapitation des einen oder anderen Gelenkendes ist stets
zuvor die Durchsägung an derjenigen Stelle, wo sie erforderlich ist, auszuführen,
weil dadurch der zweite Act, die Exarticulation im Gelenk, wesentlich erleichtert
wird. — Die Total-Exstirpation des Schlüsselbeins , von der nur einige
Dutzend Fälle bekannt sind und die am häufigsten wegen acuter Periostitis uud
Necrose, einigemal auch bei Caries und complicirten Frakturen, sowie in wenigen
Fällen bei Geschwülsten gemacht worden ist, ist je nach diesen verschiedenen
Indicationen in ihrer Ausführung sehr verschieden schwierig. Ganz leicht kann sie
sein, wenn bei acuter Periostitis das gesammte Periost sich von ihr losgelöst hat,
in welchem Falle nur ein dieselbe freilegender Hautschnitt und oft nur die Durch -
trennung einiger weniger ligamentöser Fasern erforderlich ist, oder auch von selbst
die Trennung in der Epiphysenlinie erfolgt. Bei den wegen anderer Indicationen
ausgeführten Exstirpationen sind jedoch alle die schon erwähnten Schwierigkeiten
und Gefahren der partiellen Resectionen im erhöhten Maasse vorhanden, namentlich
wenn beim Vorhandensein einer den Knochen einnehmenden Geschwulst dieser
nicht, wie es sonst Regel ist, ehe die Gelenkenden exarticulirt werden, in seiner
Mitte durchtrennt werden kann. — Verband und Nachbehandlung bieten bei allen
Arten von Resection keine Eigenthümlichkeiten dar. Die danach für einige Zeit
aufrecht zu erhaltende Unbeweglichkeit der Extremität ist selbstverständlich. Die
schon erwähnte Reproductionsfähigkeit der Clavicula anlangend, so wurde ziemlich
in allen Fällen, in denen das Periost erhalten blieb, ein sehr vollständiger
knöcherner Wiederersatz auch nach der Total-Exstirpation des Knochens beobachtet
SCHLÜSSELBEIN. — SCHLUNDKOPF. 193
und waren die Bewegungen des Armes dabei meistens vollkommen freie und
ungehinderte. — Was die mit einer ausgedehnten Fortnahme des Schulterblattes
oder dieses und gleichzeitig des Armes verbundenen , partiellen oder totalen
Resectionen des Schlüsselbeins betrifft, vgl. den Art. „Schulterblatt".
Literatur: *) Hubert v. Luschka, Die Anatomie des Menschen. Tübingen
1863. Bd. I, Abth. 2, pag. 24, 128. — 2) E. Gurlt, Handb. der Lehre von den Kuochen-
brüchen. 2. Theil, pag. 575 ff. — 3) The medical and surgical history of the War of the
Rebellion (1861— 1865). Parti. Surgical Volume. 1870. pag. 482. — 4) Malgaigne, Traite
des fractures et des luxations. Tome II, 1855, pag. 430. — 5) Polaillon im Dictionnaire
enc3rclopedique des sciences medicales. 1. Serie, Tome XVII, 1875, pag. 716. Art. „Clavicule".
E. G-urlt.
Schlundkopf. (P h a r y n x-) K r a n k h e i t e n. Unter Schlundkopf verstehen
wir eine Körperhöhle und ihre Wandungen , welche hinter der Haupthöhle der
Nase, dem Munde und dem Kehlkopfe gelegen ist, mit diesen Organen vorne
weit communicirt, unterhalb der Rimula des Kehlkopfs zu einem allseitig
geschlossenen Rohre wird und sich nach unten unmittelbar in den röhrigen Theil
des Schlundes, den Oesophagus, fortsetzt. Aus anatomischen und physiologischen
Gründen wird der Schlundkopf in drei Theile geschieden: 1. Nasenrachen-
raum, 2. Rachen-, 3. Kehlkopftheil. Der Nasenrachenraum dient als
Luftweg, der Rachen ist communis aeris et nutrimentorum via, der Kehlkopf-
theil wird nur als Speiseweg benutzt. Die Grenze zwischen Nasenrachenraum
und Rachen bildet das Gaumensegel, die Grenze zwischen Rachen- und Kehlkopf-
theil ist theilweise willkürlich und entspricht einer durch das Zungenbein gelegten
Horizontalen.
I. Untersuchungsmethode. A. M i t d e m A u g e. Die Besichtigung
des Nasenrachenraumes ist unter Rhinoskopie, die des Kehlkopftheiles unter
Laryngoskopie bereits abgehandelt. Es bleibt hier die Besichtigung des Rachens
zu besprechen übrig. Dieselbe kann in doppelter Weise geschehen, entweder mit
directem Licht oder vermittelst eines Reflectors. Benutzen wir das directe Tages-
licht, so setzt sich der Kranke dem Fenster gegenüber, wir treten an seine
rechte Seite, so dass wir mit unserem Kopfe kein Licht abblenden können.
Künstliches Licht, welches zwischen unserem Auge und dem Kranken angebracht
wird, wird gegen unser Auge hin mit einem Kartenblatt oder dergleichen abgeblendet.
Benutzen wir einen Reflector und das Tageslicht, so dreht der Kranke selbstver-
ständlich dem Fenster den Rücken zu, und verwenden wir einen Reflector und
künstliches Licht, so befindet sich dies auf der rechten Seite des Kranken und
hinter ihm. Der Kranke öffnet den Mund so weit er kann und wir blicken hinein.
Ist die Zunge fleischig oder bäumt sie sich auf, so muss sie aus dem Gesichtsfeld
weggeräumt werden. Dies geschieht mittelst unseres Zeigefingers oder improvisirter
Instrumente (Löffelstiel , Stahlfederhalter oder dergleichen) , oder eines Zungen-
spatels. In allen Fällen darf durch die Instrumente kein Licht abgeblendet
und muss die Zunge nach vorn und unten und nicht nach hinten und unten
niedergedrückt werden. Damit nicht die Reflexbewegung des Würgens hierdurch
angeregt werde, müssen die Instrumente fest und sicher auf dem horizontalen
Theile der Zunge in der Nähe der Grenze , wo dieselbe nach hinten und unten
abfällt, aufgesetzt werden und darf auf der Zunge nicht hin- und hergefahren
und die Gaumenbögen nicht berührt werden. Auch das Niederdrücken der Zunge
erfordert Uebung, die erlernt werden muss; wird dasselbe richtig und in guter
Beleuchtung ausgeführt, so erschliesst sich dabei die ganze Rachenhöhle unserem
Auge. In sehr vielen Fällen können wir den freien Rand der Epiglottis und
zuweilen die Spitzen der Aryknorpel dabei wahrnehmen.
Wir übersehen mit dieser Methode den Theil des Schlundes, der zugleich
Luft- und Speiseweg ist. Entsprechend dieser doppelten Aufgabe ist er je nach
dem Contractionsgrade der an und in seinen Wänden befindlichen Muskulatur von
äusserst wechselnder Gestalt. Namentlich übt der Zustand des Velum palatmum
und der von ihm auslaufenden Bögen einen wichtigen Einfluss auf die Form dieser
Real-Encyelopädie der ges, Heilkunde. XIIt 13
l!i| S'HLUNDKOPF.
Körperregion aus. Im Zustand der Ruhe bildet dasselbe eine zwischen Mund- und
Raohenhöhle eingeschobene und in beide übergehende Wand, welche die Fortsetzung
des Nase and Mund trennenden knöchernen Gaumens ausmacht.
Das Velum endet in der Mittellinie, in der sich eine blasse, seichte Rinne
kenntlich macht, in das 2 Ctm. lange conische Zäpfchen, während es sich lateral-
wärts in zwei bogige Ausläufer spaltet. Der vordere derselben, der gewöhnlich
lateral weiter zurückweicht und gegen die Zunge hin als scharfe Leiste, gegen
das Zäpfchen hin mehr verschwommen erscheint, heisst Arcus glosso-palatinus.
Der hintere, Arcus pharyngo-palatinus , springt meist weiter medianwärts vor
und erscheint nach oben als scharf entwickelter Rand, während er sich weiter
unten in der Seitenwand des Pharynx verliert. In diesen Arcus verlaufen gleich-
namige Muskeln, deren Contractiou Mund und Schlund (Isthmus pharyngo-
oralis) oder Schlund und Nase trennt {Isthmus pharyngo-nasalis). Zwischen
beiden Bögen dehnt sich jederseits die ungleichmässig dreieckige, von oben nach
unten und von vorn nach hinten an Grösse zunehmende laterale Wand des
Interstitium arcuarium aus, in deren lose angehefteter Schleimhaut sich die aus
aggregirten Folliculardrüsen gebildete länglichrunde Mandel (Tonsilla palatina)
findet. Dieselbe , entweder im Niveau der Schleimhaut gelegen oder wenig über
dasselbe vorragend, oder auch in dieselbe eingebettet, zeigt an ihrer Oberfläche
einen hügeligen und zerklüfteten Bau. Es machen sich hier Oeffnungen bemerkbar,
deren Zahl meistens in umgekehrtem Verhältniss zu ihrer Grösse steht, und welche
in höhlenartige Ausstülpungen der Schleimhaut hineinführen , um die die Follikel
gelagert sind.
Durch die Arcaden des Velum hindurch sehen wir im Hintergrunde des
Gesichtsfeldes die lose und unter Bildung kleiner Falten vor der Wirbelsäule
ausgespannte und deren Krümmungen mitmachende hintere Pharynxwand. Wie
der wechselnde Stand des Velum die obere Grenze bestimmt, wie weit die
besprochene Methode der Inspection diese Wand unserem Auge erschliesst , so
hängt von dem Grade der Abplattung der Zunge die Ausdehnung des Gesichtsfeldes
nach unten hin ab. Hier begrenzt unseren Blick schliesslich der freie Rand der
Epiglottis oder im günstigsten Falle die Spitzen der Aryknorpel. An der gleich-
massigen Schleimhaut macht sich hier keine andere Configuration bemerkbar, als
die schräg von unten nach oben im spitzen Winkel gegen den Arcus pharyngo-
Ijcdatinus ansteigende Plica pharyngo-cpiglottica , in welcher der zur Epiglottis
gehende Theil des Musculus stylo-jpharyngeus verläuft.
Die Schleimhaut der ganzen Partie, welche mehr oder minder entwickelte
Papillen besitzt und mit geschichtetem Pflasterepithel überzogen ist, erscheint
durchgehends roth. Es machen sich jedoch namentlich an der hinteren Rachen wand
einzelne Gefässramificationen deutlich bemerklich, und erscheinen auch im Normalen
einzelne Stellen, namentlich die Arcus glosso-palatini und das Zäpfchen, saturirter
roth. Auch sieht man in wechselnder Grösse und Anzahl hirsekorngrosse Höcker,
die von theils traubenförmigen , theils folliculären Drüsen herrühren, welche, und
zwar in besonderer Mächtigkeit neben den Arcus pharyngo-jjalattm und an der
seitlichen Pharynxwand, in die Schleimhaut eingelagert sind. Die Schleimhaut ist
immer feucht. Man muss sich durch häufige Inspection ein Urtheil darüber bilden,
welche Grenze der Normalität in Bezug auf Form, sowohl wie auf Röthung,
Vorkommen von als Höckerchen sichtbaren Drüsen und von Befeuchtung dieser
Region zukommt.
Die Inspection soll uns darüber aufklären, ob Abweichungen der Farbe,
der Blutfülle, der Befeuchtung wahrzunehmen sind. Wir übei-zeugen uns, ob
abnorme Secretionen bestehen , ob Anschwellungen , Auflagerungen, Fremdkörper,
Geschwüre, Narben, Verwachsungen u. s. w. vorhanden sind. Wir beachten auch
den Glanz der Schleimhaut, dessen Fehlen uns zuweilen auf Erosionen aufmerksam
macht, und wir untersuchen schliesslich die Motilität des Velum, zu welchem Zwecke
wir den Patienten Bewegungen mit demselben ausführen, z. B. „ä" sagen lassen.
SCHLUNDKOPF. 195
Zuweilen verdecken die vorspringenden Arcus glosso-palatini oder hyper-
trophische Tonsillen den hinteren Theil der seitlichen Pharynxwand, eine Gegend,
in welcher die Diphtherie ihren Anfang nehmen kann und namentlich syphilitische
Geschwüre häufig vorkommen. In solchen Fällen erschliesst man auch diese Partie
dem Auge, wenn man die Zungen Gaumenbögen nach aussen drängt, wobei der
Patient uns häufig durch eine Würgbewegung unterstützt, oder indem man einen
Kehlkopfspiegel so einstellt, dass die verdeckte Gegend sich darin wiederspiegelt,
ein Verfahren , welches in seiner Ausführung so einfach ist, dass es nicht weiter
beschrieben zu werden braucht.
Auch andere Hindernisse, welche sich der Inspection des Rachens entgegen-
stellen können, sind leicht zu überwinden. Oeffnet ein Patient den Mund nicht
gutwillig, was bei Kindern nicht gerade selten vorkommt, so lassen wir von hinläng-
licher Assistenz seinen Kopf in einer der Beleuchtung angemessenen Stellung und
seine Arme fixiren , halten ihm die Nase zu und liegen mit einem Spatel vor seinem
Munde auf der Lauer, bis sein Athmungsbedürfniss ihn zwingt, die Schneidezähne,
wenn auch nur um ein Geringes, zu öffnen. Dann fahren wir mit dem Spatel in
den Mund ; sind wir erst hinter den Zähnen, so sind wir Sieger und können das
Oeffnen des Mundes nöthigenfalls durch Hervorrufen einer Würgbewegung erzwingen.
Kommt dabei Mageninhalt uns in den Gesichtskreis oder hindert uns im Pharynx
vorhandener Schleim an der Inspection, so tupfen wir denselben entweder mit
bereit gehaltenen Schwämmchen ab oder warten bis er verschluckt wird. Bei
einiger Ausdauer kommt man auf diese Weise beim Abpassen des richtigen Moments
in allen Fällen auch bei solchen Kindern zum Ziel, denen man wiederholentlich
in den Rachen sehen inuss und die nun mit der den Kindern eigenen trotzigen
Hartnäckigkeit ihren Mund gegen eine Procedur verschliessen, deren Unannehmlich-
keiten sie schon aus der Erfahrung kennen. Wir wollen aber nicht unterlassen,
zu erwähnen, dass Sachs*) für diese Fälle ein anderes Verfahren vorschlägt. Er
will zu diesem Zwecke Würgbewegungen und zwar dadurch hervorrufen, dass er,
zwischen Backenschleimhaut und Zähnen eingehend, durch die hinter den Backzähnen
befindliche Lücke hindurch mit einem Federbart, einer Sonde oder dergleichen
die Gaumenbögen kitzelt. -
Ein weiteres Hinderniss bei der Inspection des Pharynx liegt in der Idee
der Patienten, dass sie schlechterdings ausser Stande seien, sich die Zunge deprimiren
zu lassen. Zuweilen liegt dieser Idee eine wirklich vorhandene übergrosse Reiz-
barkeit des Pharynx zu Grunde, in welchem Falle man gut thut, dem Patienten
mitzutheilen , dass eine Würgbewegung unsere Untersuchung fördere ; meistens
aber ist die Unfähigkeit der Patienten, sich den Pharynx inspiciren zu lassen, nur
eine eingebildete und nur in ihrer Vorstellung vorhanden. Zureden und namentlich
eine rasch und sicher ausgeführte Untersuchung reichen hin, um solche Patienten
eines Besseren zu belehren. Zuweilen ist es auch Ekel vor dem im Besitz des
Arztes befindlichen Instrument oder Furcht, mit demselben angesteckt zu werden,
was die Patienten vor der Untersuchung zurückschreckt. In solchen Fällen benutzt
man zweckmässig statt desselben einen dem Patienten gehörigen Löffel oder legt,
wie ich dies bei Lewin sah, des Patienten Taschentuch zwischen Depressor und
Zunge. Auch kommt es nicht gerade selten vor, dass Patienten, und namentlich
Patientinnen , ihren Mund nicht oder wenigstens nicht gehörig öffnen wollen , um
nicht ihre künstlichen Zähne einem profanen Auge preiszugeben. In solchen Fällen
wird die Diplomatie die Dexterität unterstützen müssen.
Als Cautele bei Besichtigung des Pharynx ist zu erwähnen , dass unter-
suchende Aerzte dabei durch ausgehustete oder ausgespuckte Secrete inficirt worden
sind. Man thut deshalb gut, seinen Kopf möglichst seitlich und ausserhalb der
Schusslinie zu halten.
Instrumente, die den Zweck haben, das Schliessen des geöffneten Mundes
zu verhindern, sogenannte Mundsperrer, unter denen für unsere Zwecke der von
*) Berliner Min. Wochenschr. 1871, pag. 603.
13*
196 SC IILUNDKOPF.
Elsbebg namentlich in der ScHMiDT'schen Modification '■) desselben der beste wäre,
sind, wenn es sicli lediglich um Untersuchung des Pharynx und nicht um Operationen
im Monde oder Pharynx handelt, überflüssig.
/>'. Palpation. Um den Pharynx zu palpiren, stellen wir uns seitlich
vom Kranken und benutzen gewöhnlich für die rechte Seite desselben unseren
rechten, für die linke unseren linken Zeigefinger. Für den Rachen ist es zweck-
mässig, die freie Hand an die äussere Haut hinter dem Kieferwinkel des Patienten
zu legen und mit derselben den Bewegungen des palpirenden Fingers zu folgen, um
so die nicht vom Knochen verdeckten Theile desselben einer bimanuellen Unter-
suchung zu unterwerfen. Man kann sich dabei auf's deutlichste davon überzeugen,
dass die Tonsillen von der äusseren Haut aus niemals gefühlt werden können, dass
vielmehr hier fühlbare Geschwülste den Lymphdrüsen angehören. Der Kehlkopftheil
des Pharynx ist in den meisten Fällen dem palpirenden Finger zugänglich, immer
aber können wir den Nasenrachenraum betasten. Wollen wir — wie dies zunächst
von W. Meyer methodisch geübt wurde — unseren Zeigefinger hinter das Velum
bringen , so gehen wir mit demselben bis an die hintere Rachenwand vor , ein
wenig tiefer , als sich das Velum anzulegen pflegt und fahren nun mit einer
kurzen Drehung nach oben hinter das Velum. Dasselbe giebt, sobald man erst
mit dem Finger hinter dasselbe gekommen , nach und gestattet uns die ganze
Nasenrachenhöhle , die hintere Pharynxwand, den Fornix, das Septum narium,
die unteren Muscheln und seitlich die Tubenwülste zu betasten. Bei einiger Uebung
auf Seiten des Untersuchenden gewöhnen sich die Kranken bald an diese zunächst
nur kurze Zeit vertragene und Oppression und Würgen hervorrufende Methode.
Ungeübte Aerzte halten zuweilen die Tubenwülste oder die unteren Muscheln für
etwas Pathologisches. Es ist diese Methode namentlich bei Kindern kaum zu ent-
behren , weil sie hier die meistens unmögliche Inspection vertritt. Immer aber
ergänzt sie die Besichtigung, da sie allein uns über Consistenz, Elasticität etc.
Aufschluss giebt. Eine Desinfection der benutzten Finger ist in allen Fällen
strengstens geboten.
Neben dem Finger verwenden wir namentlich im Rachen aber auch im
Nasenrachenraum häufig die Sonde, um über die Sensibilität etc. uns Aufschluss
zu verschaffen.
IL Local-therapeutis che Methoden. A. Anwendun g fester
Körper. Hier kommt in erster Linie Argentum nitricum in Betracht.
Dasselbe wird entweder mit einem Träger von passender Form, oder an einem
Draht angeschmolzen, angewandt. Je länger dasselbe mit der Schleimhaut in
Berührung ist und je stärker man drückt, um so tiefer ist seine Wirkung. Chrom-
säurekrystalle werden mit einem Glas- oder Holzstäbchen aufgetragen.
Von grosser Bedeutung für die Behandlung der Krankheiten des Schlund-
kopfes ist die Anwendung pulverförmiger Körper, die mit einem ent-
sprechenden Instrument überall hin eingeblasen werden können. Als Pulverbläser
benutzen wir entsprechend gebogene Röhren aus Glas , Hartgummi oder Silber
mit Einrichtungen zum Einfüllen des Pulvers und als treibende Kraft entweder
unseren Exspirationsstrom oder ein Gebläse. Im letzteren Falle ist es zweckmässig,
Ventilvorrichtungen daran anzubringen. Einen sehr zweckmässigen Pulverbläser hat
mir der hiesige Instrumentenmacher Schmidt gemacht. Ein Quetschhahn verschliesst
bei demselben das Ausflussrohr eines Doppelgebläses aus Gummi und reicht ein
minimaler Druck unseres Zeigefingers auf die verschliessende Feder aus , um der
gespannten Luft den Austritt zu gestatten. Man kann auf diese Weise das Pulver
ausblasen, ohne dass der Schnabel des Instrumentes, mit dem man gegen die zu
bepudernde Stelle zielt, auch nur um ein geringes verrückt wird. Als Pulver benutzen
wir Argentum nitricum, Acidum tannicicm, Alumen, Acidum horicum, Natron
biboracicum, Jodoformiicm, Zincum oxydatum, Galomel, Sulfur depuratum etc.
*) Vergl. die Abbildung bei Artikel „Khinoskopie", Bd. XI, pag. 501.
SCHLUNDKOPF. 197
Als Vehikel Saccharum lactis oder dergl. Alle Pulver müssen Subtilissime
pulverisatum sein. Es ist sehr leicht es zu erlernen, den Schnabel des Instrumentes
hinter das Velum palatinum zu bringen und vom Rachen aus den Nasenrachen-
raum zu bepudern.
3. Tropfbar flüssige Form. Ueber Gurgelwässer s. den
Artikel „Gargarisma".
Es muss hier die von Mosler besonders empfohlene Spülung des Nasen-
rachenraumes vom Rachen aus nachgetragen werden. Mosler beschreibt dieselbe
folgendermassen : „Man lässt den Kranken eine grosse Portion des Gurgelwassers
in den Mund nehmen alsdann wird der Kopf bei angehaltenem Athem nach rück-
wärts gebogen, damit das Gurgelwasser in den Schlundraum sich ergiesst. Dar-
nach werden Schluckbewegungen und stossweise Exspirationen vorgenommen, als
deren Effect man beim Beugen nach vorn einen Theil des Gurgelwassers durch
die Nasenlöcher auslaufen sieht; der Rest des Gurgelwassers wird durch den
Mund entleert. Es wird diese Methode von der Mehrzahl der Kranken bei ent-
sprechender Ausdauer erlernt , am leichtesten von solchen , welche Cigarrenrauch
durch die Nase treiben können." (Berliner klin. Wochenschr. 1879, Nr. 21 und
Deutsche med. Wochenschr. 1881, Nr. 1.)
Als Gurgelwässer benutzen wir dünne Lösungen von Kochsalz,
Kali chloricum, Ammonium hydrochloratum , Natron bicarbonicum oder car-
bonicum, Kalkwasser, Borax, Carbolsäure etc. Auch kommen aromatische Mittel
(Tinctura Myrrhae, Zahnwässer) und erweichende und einhüllende Substanzen
(Salbei, Malven, Althee) in Betracht.
Die Anwendung des Pinsels und des Schwammes im Rachen ist sehr
einfach. Für den Kehlkopfstheil und den Nasenrachenraum benutzen wir Schwämme
und Pinsel mit entsprechend gebogenem Stiel. Als Medicamente kommen hier
Lösungen von Tannin, Argentum nitricum, Borax und die LüGOL'sche Lösung in
Wasser oder Glycerin, sowie Aqua Chlori, Sublimatlösung, Carbolsäure etc. besonders
häufig zur Anwendung.
Der Gebrauch der Spritze undDouche kommt im Schlünde ver-
hältnissmässig selten vor; die Anwendung der Nasendouche gegen Krankheiten
des Nasenrachenraumes sollte nur bei entsprechender Erkrankung der Nase selbst
verordnet werden. Von A. Fischer ist ein besonderer Catheter zur Ausspülung des
Nasenrachenraumes beschrieben worden , der vom Munde aus hinter das Velum
eingeführt wird.
C. Die Anwendung zerstäubter Flüssigkeiten wird gegen
Krankheiten des Schlundes mit Recht sehr häufig verordnet. Die eingeathmeten
Dämpfe treffen die Schleimhaut des Rachens in directester Weise. Es sind besondere
Zerstäuber für den Nasenrachenraum angegeben, die entweder durch den unteren
Nasengang oder vom Rachen aus eingeführt werden.
D. Die Anwendung von Salben geschieht mittelst Pinsel, Schwamm
oder Wattetampons (Jodoform- Vaseline).
E. Die Anwendung der Elektricität geschieht entweder percutan
vom Halse aus, oder intrapharyngeal, indem ein oder beide Pole gegen die
betreffende Stelle der Schleimhaut aufgesetzt werden.
F. Den Gebrauch der Galvanocaustik , des scharfen Löffels und anderer
chirurgischer Instrumente werden wir an den betreffenden Stellen näher besprechen.
III. Circulations Störungen. A. Anämie. Die Anämie des
Schlundkopfes findet sich fast immer als Theilerscheinung der allgemeinen
Anämie und ist namentlich der weiche Gaumen ein Organ, dessen Besichtigung die
Diagnose: „Anämie" mit am leichtesten gestattet und dessen Inspection hierzu
zweckmässiger ist, als die der Conjunctiven, die hierzu gewöhnlich benutzt werden.
Der anämische Pharynx erscheint auffallend bleich und treten die mit grösserer
Blutfülle physiologisch ausgestatteten Theile, der hintere Gaumenbogen z. B., auf-
fallend scharf hervor. Bei höheren Graden der Anämie ist das Velum jyalatinum
198 SCHLUNDKOPF.
verkleinert und der Isthmus pharyngo-nasalis sehr weit. Die Schleimhaut des
Schlundes trocken.
/>'. Hyperämie. 1. Congestive Hyperämie. Die Hyperämie des
Schlundes findet sicli individuell verschieden stark nach mechanischen, thermischen,
chemischen Reizungen desselben. Bei manchen Menschen reicht die blosse Unter-
suchung aus, um Blutüberfüllung hervorzurufen. Auch findet sich Hyperämie bei
acuten und chronischen Entzündungen und symptomatisch bei vielen Allgemein-
Krankheiten, acuten Exanthemen, Syphilis etc. Wendt beobachtete sie bei Phosphor-
vergiftung. Die Hyperämie des Schlundes ist oberflächlich oder tief, in ähnlicher
Weise wie man dies an der äusseren Haut unterscheidet. Bei oberflächlicher
Hyperämie erscheint die Schleimhaut hellroth, während die tiefere Hyperämie eine
dunklere Röthung und stärkere Schwellung bedingt. Selbstverständlich sind Com-
binationen beider Arten von Hyperämie häufig.
2. Stauungshyperämie. Sie findet sich in allen Fällen von Be-
hinderung des Abflusses des Blutes in den rechten Ventrikel, also bei Emphysem,
Herzfehlern, Compression der Vena cava superior, Strangulation etc. Auch locale
venöse Hyperämie wird bei chronischen Catarrhen beobachtet. In ausgesprochenen
Fällen erscheint die Schleimhaut livide geröthet und cyanotisch. Die Venen dick
und bei längerer Dauer varicös entartet.
G. Hämorrhagie. Blutungen im Schlünde erfolgen namentlich im
Nasenrachenräume ziemlich häufig, und zwar als Steigerung der Hyperämie bei
acuten und chronischen Entzündungen, bei hämorrhagischer Diathese, bei Geschwüren
oder aus unbekannten Ursachen. Besonders erwähnen möchte ich die bei Schrumpf-
niere auftretenden Blutungen. Die Blutungen erfolgen entweder auf die freie
Oberfläche der Schleimhaut oder in dieselbe hinein. Im letzteren Falle entstehen
Sugillationen oder Hämatome, z. B. Staphylhämatom. Das Blut, welches in die
Nasenrachenhöhle ergossen wird, gelangt entweder durch die Nase oder durch
den Rachen und Mund zum Vorschein. In letzterem Falle wird dasselbe aus-
gehustet oder ausgewürgt. Das Blut ist entweder rein oder mit Secreten ver-
mischt. Bei langsam erfolgenden Hämorrhagien gerinnt dasselbe auf der Schleim-
haut und wird später als ein dicker, mit Schleim und Eiter vermischter Klumpen
entleert. Blutungen des Schlundes können zu Verwechslungen mit Lungen- oder
Magenblutungen Veranlassung geben. Der Nachweis der Quelle der Blutung, der
freilich nicht immer gelingt, ist in solchen Fällen das sicherste differentiell-diagno-
stische Mittel. Die Blutungen sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht
so heftig, dass sie therapeutische Massregeln erfordern. Sollte ihre lange Dauer,
oder ihre Heftigkeit , oder aber ihr Vorkommen bei bewusstlosen Personen , bei
welchen die Möglichkeit des Herabfliessens in den Kehlkopf etc. vorhanden ist,
Gefahren bedingen , so empfiehlt sich die Anwendung der Kälte , die Tamponade
der Nasenrachenhöhle, Bepinselung mit Liquor ferri sesquichlorati, das Betupfen
der blutenden Stellen mit dem Galvanocauter und schliesslich die Compression der
Carotiden (vgl. den Art. „Epistaxis").
D. Oedem. Unter den Formen des Oedems, welche im Schlünde vor-
kommen, ist das entzündliche (collaterale) die häufigste. Am seltensten findet sich
Stauungsödem. Nach Scharlach kann es vorkommen , dass das Oedem des
Schlundes dem anderer Theile vorangeht. Die ödematöse Schleimhaut erscheint
prall , halbdurchsichtig und relativ bleich , da durch das ergossene Serum eine
Zerrung entsteht und auf die Ranmeinheit weniger Blutgefässe kommen. Letztere
Erscheinung tritt namentlich in Fällen reinen Stauungsödems auf's Deutlichste
hervor. Das Oedem des Schlundes zeigt sich besonders am weichen Gaumen und
der Uvula. Letzteres Organ kann bis über daumendick und daumenlang werden
und zu Schluck- und Athembeschwerden Veranlassung geben. In manchen Fällen
wird die ödematöse Uvula nach vorn umgeschlagen und liegt dann auf der Zunge.
Fordert das Oedem als solches zu therapeutischen Eingriffen auf, so empfehlen
sich Kälte und vor Allem Scarificationen.
SCHLUNDKOPF. 199
E. Im Anscbluss an die Gefässerkrankungen erwähne ich, dass ich einmal
an der hinteren Pharynxwand ein gänsefederkieldickes Aneurysma von 1 Cm.
Länge, welches in der Schleimhaut lag und von oben nach unten verlief, beob-
achtet habe.
IV. Farben Veränderungen. Die icterische Färbung präsentirt sich
im Schlünde ebenso schön wie die Anämie (s. Icterus). Broncefärbungen sah ich
bei Morbus Addisonii. Auch kommen im Pharynx Naevi vor.
V. Secretionsanomalien. Verminderung der Absonderung im
Schlünde findet sich nicht blos beim Untergang der Drüsen, sondern wird auch
durch rein nervösen Einfluss veranlasst. Es entsteht dadurch auch das
Gefühl der Trockenheit im Schlünde, einer Erscheinung, wie sie sich nach
der Darreichung der Belladonna und ihrer Präparate findet.
Die Hypersecretion findet sich bei verschiedenen Formen der Ent-
zündung , aber auch durch rein nervöse Einflüsse bedingt. In letzterem Falle
wird dadurch ein nicht unerhebliches, ziemlich selten vorkommendes und bisher
wenig beschriebenes Leiden bedingt. Die Vermehrung der Secretion zwingt die
Kranken häufig zu schlucken und bringt in ausgeprägten Fällen morgenliches
Erbrechen der in der Nacht verschluckten Secrete mit sich. Die Inspection zeigt
Vermehrung der Secretion auf's Deutlichste, besonders am Verum; dasselbe wird
in kurzer Zeit von einer grossen Menge von Tropfen durchsichtigen, fast wässerigen
Secrets bedeckt. Belladonna heilt die Hypersecretion, während die Verminderung
derselben durch Pilocarpin oder Morphium bekämpft werden kann.
VI. Der acute Catarrh des Rachens und der Tonsillen ist
unter dem Artikel „Angina" abgehandelt. Der retronasale Raum wird selten
primär und allein von einer acuten Entzündung heimgesucht. Ist dies der Fall, so
wird meistens Erkältung als ätiologisches Moment genannt. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle ist der acute retronasale Catarrh als fortgeleitet von catarrha-
lischer oder tieferer Entzündung der Nase oder des Rachens anzusehen. Auch
tritt er häufig symptomatisch bei Allgemeinkrankheiten , Typhus , Syphilis etc. in
die Erscheinung. Die pathologische Anatomie des retronasalen Catarrhs ähnelt
dem, was beim Artikel „Angina" über den Rachen gesagt, so sehr, dass ich im
Wesentlichen hierauf verweise. Auch im retronasalen Räume findet sich Röthung,
Schwellung und vermehrte Secretion. Es verdient jedoch die Anschwellung der
Pharynxtonsille eine besondere Erwähnung. Dieselbe kann, wenn auch selten,
einen so hohen Grad annehmen, dass sie den grösseren Theil der retronasalen
Höhle ausfüllt. Meist tritt sie halbkugelig, 1/2 — 1 Cm. weit in die Nasenrachen-
höhle vor. Die Symptome des acuten, retronasalen Catarrhs sind meist durch
das Bild der begleitenden Erkrankungen verdeckt. In reinen Fällen findet sich
Fieber, ein lästiges Gefühl von Eingenommensein im Hinterkopf oder auch Schmerzen
daselbst. Die gebildeten Schleimmassen ergiessen sich in den Pharynx, erregen
dort zuweilen nauseose Gefühle und werden unter, zuweilen schmerzhaftem Räuspern
und Krächzen entleert. Blutige Tinction derselben kommt im Nasenrachenraum
relativ häufig vor. Von besonderer Wichtigkeit ist die Fortleitung acuter Catarrhe
des Nasenrachenraums auf die Schleimhaut der Tuba und des Mittelohrs (siehe
daselbst). Der Verlauf des retronasalen Catarrhs richtet sich nach den ursächlichen
oder begleitenden Momenten. Es hat derselbe aber immer eine Neigung, sich nicht
ganz zurückzubilden und den Uebergang in chronische Formen zu suchen. Die
hygienische Behandlung desselben muss auf dieses Moment besondere Rücksicht
nehmen. Sonst fällt die Behandlung des retronasalen Catarrhs mit der der Angina
zusammen.
VII. Chronischer Schlundcatarrh. Die Aetiologie des chronischen
Sehlundcatarrhs ist noch in vielen Beziehungen nicht hinlänglich aufgeklärt. Doch
scheint es festzustehen , dass wiederholte acute Catarrhe namentlich dann , wenn
sie nicht richtig gepflegt werden oder Constitutionen erkrankte Individuen (Syphilis,
Scrophulose) betreffen, chronische Catarrhe bedingen können. Auch finden wir den
fcOO SCHLUNDKOPF.
chronischen Catarrh bei solchen Leuten, deren Schlund fortwährend gereizt wird,
z. B. bei Rauchern, Trinkern. Andauerndes Sprechen namentlich in schlechter Luft
und kaltes Cliraa begünstigt die Entstehung des chronischen Schlundcatarrhs.
Was die p a t h o lo g i s c h e A n a t o m i e anlangt, so haben sich in neuerer
Zeil die an der Leiche gemachten Erfahrungen in der Literatur zwar vermehrt,
doch ist in dieser Beziehung immer noch manche Lücke auszufüllen. Der Schlund
wird nur ausnahmsweise bei Sectionen mitherausgenommen und es bedarf eines
specialistisehen Antriebs, um hier am Cadaver Studien zu machen. Ich halte auch im
Pharynx an der generellen Unterscheidung des Catarrhs in eine hypertrophische
und atrophirende — Wendt nennt letztere rareficirende — Form fest. Auch
im Schlünde giebt es ungemein prägnante Beispiele für jede von diesen Formen,
namentlich für die atrophirende. Doch sind Uebergänge beider bei demselben
Individuum nicht gerade selten und giebt es ab und zu Mittelformen, die schwer
in eine dieser Kategorien zu rubriciren sind. Bei der hypertrophischen Form
finden wir die Schleimhaut geschwollen, von Blut strotzend, die Secretion vermehrt ;
bei der atrophirenden Form ist die Schleimhaut dünner, gewöhnlich trotzdem
geröthet, sie zeigt nicht den schönen Glanz intacter epithelialer Decken und bei
mikroskopischer Untersuchung ergiebt sich eine Vermehrung des Bindegewebes
auf Kosten der anderen Bestandtheile der Schleimhaut, insonderheit der Drüsen.
Die normale Schleimhaut des Schlundes zeichnet sich durch den Reichthum an lymph-
körperartigen Zellen aus, die das bindegewebige Reticulum durchsetzen. Daneben
finden sich in der Schleimhaut Follikel und im submucösen Gewebe echte trauben-
förmige Schleimdrüsen, welche mit weitem Ausführungsgang die Mucosa durchsetzend
an der Oberfläche münden. In einer grossen Anzahl von Fällen des chronischen
Catarrhs , besonders aber bei der atrophirenden Form derselben , finden wir nun
eine mehr oder minder grosse Anzahl von Höckern, die das Auge der Beobachter
besonders auf sich gezogen haben und derentwegen man eine besondere Form, die
Pharyngitis granulosa sive follicularis , beschrieben hat. Diese
Höcker sind hanfkorn- bis erbsengross, gewöhnlich rund und halbkugelig die
Schleimhaut überragend. Oft sind sie länglich und gehen allmälig abfallend in die
Umgebung über. Ihr Aussehen ist gewöhnlich mehr graulich und halbdurch-
scheinend, andere sehen roth aus. Diese Höckerchen finden sich sowohl an der
hinteren Pharynxwand auch des retronasalen Raumes, wie in den seitlichen Partien
des Schlundes. Sie bestehen zu einem geringen Theil aus geschwollenen Schleim-
drüsen, zum Theil aus geschwollenen, präformirten oder neugebildeten Follikeln
der Mucosa und zum Theil aus pathologischen Bildungen; Saalfeld*) beschreibt
dieselben folgendermassen : „Um den, vorzüglich an seinem Ende erweiterten Aus-
führungsgang einer hypertrophirten Schleimdrüse finden wir eine massenhafte An-
häufung von geschwelltem, lymphatischem Gewebe. Letzteres ist in vielen Fällen
mehr einförmig in das netzartige Gewebe der Mucosa infiltrirt, ohne sich zu rund-
lichen oder länglichen Follikeln zusammen zu ordnen, in vielen Fällen jedoch treffen
wir neben regelloser Infiltration auch stark gewucherte Follikel, welche sich durch
eine festere Fügung des reticulären Bindegewebes von ihrer Umgebung zu isoliren
scheinen." „Die wesentliche Veränderung bei der Pharyngitis granulosa besteht
also in einer in verschiedenem Grade circumscript auftretenden Wucherung des
lymphatischen Gewebes der Mucosa in der Umgebung des Ausführungsganges einer
hypertrophirten Schleimdrüse , wobei der Theil des Ausführungsganges , welcher
im Bereich des geschwellten Gewebes liegt, erweitert ist. Letzteres tritt uns einmal
in unregelmässiger Anordnung, das andere Mal in Gestalt von Follikeln, welche
wiederum von Massen von Lymphkörperchen umgeben sind, entgegen. Die Schleim-
haut in der Nachbarschaft des Granulums ist entweder gar nicht verändert, oder
aber verdickt und stärker zellig infiltrirt."
Die S e c r e t e , welche der chronische Catarrh liefert, sind schleimig-eitrig
oder auch rein eitriger Natur. Ihre Menge sowohl, wie ihre Fähigkeit der Schleimhaut
*) Virchows Archiv, Bd. LXXXII, pag. 147.
SCHLUNDKOPF. 201
anzuhaften, ist sehr verschieden. Die hypertrophische Form liefert gewöhnlich
massenhafte , flüssige , schleimig-eitrige Secrete , während die atrophische , dick-
flüssige und anhaftende Secrete von geringer Quantität erzeugt. Auch im Pharynx
können sich Borken bilden und in den Borken dieselben übelriechenden Processe
auftreten, welche bei der Ozaena (siehe „Nasenkrankheiten") besprochen worden sind.
Symptome. Die Symptome des Schlundcatarrhs sind sehr verschieden.
Zuweilen bekommt man ziemlich hochgradige Formen zu Gesicht, deren Träger
von ihrem Vorhandensein kein Bewusstsein haben, und andererseits hört man aus
verzweifelndem Herzen kommende, heftige , sich auf den Pharynx beziehende
Klagen, während erst eine genaue Untersuchung uns über die erkrankten Stellen
Aufschluss giebt. Die Beschwerden der Kranken beziehen sich gewöhnlich auf
Sensationen, die durch den Catarrh hervorgerufen werden. Sie klagen über das
Gefühl der Trockenheit, über Kitzeln, das Gefühl des Fremdkörpers im Schlünde
und auch über wirkliche Schmerzen, die sowohl rein spontan vorhanden sind, als
auch besonders beim Schluckact durch Bewegungen des Pharynx ausgelöst werden.
Wir werden weiter unten bei Besprechung der Parästhesie auf diese Erscheinungen
zurückkommen. Ich bemerke aber, dass Moritz Schmidt*) die Schmerzen beim
Schlucken auf die befallenen Stellen des Pharynx bezieht. Er glaubt , dass die
Entzündung des Seitenstranges des Pharynx, der Plica saljpmgo-pfoaryngea, einer
Schleimhautfalte, welche dicht mit Follikeln besetzt, sich bis in die Pars oralis
des Pharynx hinab verfolgen lässt, die Schmerzen verursacht. Die Reizung, welche
dieser entzündete Seitenstrang durch die Contractionen des Constrictor ptharyngis
supremus erfährt, soll die Hauptursache der Beschwerden der Kranken sein. Ich
will nicht bestreiten, dass die Entzündung gerade dieser Gegend ganz besondere
Beschwerden hervorruft , kann aber Schmidt's Ansicht in der von ihm aus-
gesprochenen Allgemeinheit nicht beitreten, da ich vielfach ebenso heftige Klagen
bei Pharyngitis chronica auch ohne Entzündung des Seitenstranges gehört habe.
Andere Beschwerden werden durch die Secrete hervorgerufen. Bei der hyper-
trophischen Form findet sich häufiges Schlingen, Neigung zum Ausspucken und
Würgen und ab und zu sich hieran anschliessendes morgendliches Erbrechen
der in der Nacht verschluckten Secrete. Bei der atrophischen Form verursachen
die fest anhaftenden Secrete einen ununterbrochenen Reiz dieselben zu entfernen,
dem die Kranken auf die verschiedenste Weise Ausdruck geben. Sitzen die Secrete
im Nasenrachenraum, so suchen sie dieselben in den Rachen herabzuziehen. Sitzen
sie im Rachen, so krächzen, würgen oder brechen sie dieselben aus und gelangen
nur selten und immer nur auf kurze Zeit dahin, das Gefühl des Freiseins von
ihrer „Verschleimung" trotz aller Anstrengungen zu empfinden. Husten kann sich
beim chronischen Catarrh jeder Abtheilung des Pharynx finden, Räuspern kommt
mehr bei Erkrankung der tieferen Regionen vor. Der chronische Catarrh des
Pharynx , namentlich des Nasenrachenraumes , giebt häufig zu einem Gefühl von
Schwere und Druck im Hinterkopf Veranlassung, auch können von hier aus
Reflexerscheinungen in anderen Organen (Oesophagus, Kehlkopf etc.) ausgelöst
werden. Der chronische Pharynxcatarrh verbindet sich sehr leicht mit entsprechenden
Krankheiten der Nachbarorgane , der Nase und besonders des Kehlkopfs. Bei
längerer Dauer eines Rachencatarrhs gehört das Ausbleiben eines Uebergreifens
auf den Kehlkopf zu den Ausnahmen. Das Epithel des Pharynx schlägt sich am
Aditus laryngis, wie die äussere Haut an der Nase, in den Kehlkopf hinein über
und steht durch die Rimula mit dem Pflasterepithel der Stimmbänder in unmittel-
barem Zusammenhang. Vielleicht geben diese anatomischen Thatsachen die Erklärung
für die Erscheinung, dass die Krankheiten des Pharynx sich so leicht auf den
Kehlkopf fortleiten und den mit einem Constrictor versehenen Oesophagus ver-
schonen. Aus diesen Erscheinungen können sich sehr wechselnde Bilder von Krank-
heiten zusammensetzen. Manche Trinker, deren Vomitus matutinus vom Pharynx
aus geheilt werden kann, schlagen das bischen Kratzen im Halse, das sie
*) Deutsches Archiv für klinische Medicin. Bd. XXVI, pag. 421.
202 SCHLUNDKOPF.
empfinden, nur sehr gering an. Leute, zu deren Beruf das Sprechen gehört, Sänger,
Lehrer, Prediger etc. schenken dagegen gewöhnlich auch schon einem geringen
Catarrh ihre ganze Aufmerksamkeit und lenken ihre Selbstbeobachtung ununter-
brochen darauf bin. Syphilidophoben können durch einen chronischen Schlund-
oatarrh der Verzweiflung nahe gebracht werden. In anderen Fällen wieder erweckt
der aus dem Pharynx ausgelöste Husten, namentlich bei erblicher Belastung und
wenn sich ab und zu blutige Secrete finden, die Vorstellung eines Lungenleidens.
Das dumpfe Gefühl im Hinterkopf führt bei prädisponirten Individuen zu hypo-
chondrischen und melancholischen Vorstellungen und verscheucht ihre Lust an der
Arbeit und am Leben. So können die auf das leidende Organ bezüglichen Klagen
zurücktreten und Erkrankungen des Magens , der Lungen oder der Psyche vor-
getäuscht werden. Die Besichtigung des Pharynx und der negative Ausfall der
Untersuchung der anderen Organe sichert die Diagnose. Auch die auf den Pharynx
bezüglichen Klagen sind sehr wechselnd und lassen sich schwer in allgemeinen
Zügen wiedergeben. Ich glaube, obige Andeutungen werden dem Zwecke dieses
Buches entsprechen.
Die Bilder, die uns die Inspection des Pharynx liefert, sind sehr ver-
schiedener Natur. Beim hypertrophischen Catarrh tritt uns eine sueculente, sammet-
artige, mehr oder minder livid-geröthete Schleimhaut entgegen. Bei ihr machen
sich gewöhnlich keine oder nur wenige Höcker bemerkbar. Die im Nasenrachenraum
gebildeten Secrete hängen wie dicke Wolken hinter dem Velum hervor oder fliessen
mit syrupartiger Consistenz an der hinteren Pharynxwand herab. In ganz aus-
gesprochenen Fällen der atrophirenden Form ist die Schleimhaut ebenfalls von
Höckern fast frei, dünn und sieht wie lackirt aus. Häufig fehlen Secrete gänzlich
(Pharyngitis sicca) oder es sitzen fest anhaftende borkige Massen eitriger
Natur und von Staub gefärbt auf der Schleimhaut, sie flockenweise oder wie eine
Pseudomembran überziehend. Zwischen diesen beiden extremen Formen finden
sich nun die verschiedensten Uebergänge, bei denen dann die Granula ihre Rolle
spielen. Dieselben treten um so mehr hervor, je mehr die umgebende Schleimhaut
normal oder von verminderter Dicke ist und es giebt Fälle, in welchen sie in der
That die Aufmerksamkeit des Arztes so auf sich ziehen, dass man von einer
Pharyngitis granulosa sprechen muss.
Verlauf und Ausgänge. Der chronische Schlundcatarrh ist immer
ein langwieriges Leiden aber quoad vitam ungefährlich. Seine Fortleitung auf's
Ohr, auf den Kehlkopf können für die Function, vorhandene Schmerzen beim
Schlingen bei Kindern für die Ernährung von Wichtigkeit werden. Die hyper-
trophische Form heilt oder geht in die atrophische über. Die atrophische entsteht
meistens aus der hypertrophischen oder auch sofort als solche.
Therapie. Gegen den chronischen Schlundcatarrh werden allgemeine
Curen und die Localtherapie angewendet. Die allgemeinen Curen helfen mit Ausnahme
des Falles, dass constitutionelle Syphilis oder Scrophulose etc. im Spiele ist, viel
weniger, wie die Localtherapie. Man giebt Ammonium hydrochloratum , Sulfur,
Natron hicarbonicum, die Wässer von Ems, Weilbach etc. Ein roborirendes Ver-
fahren, Luftwechsel, diätetische Vorschriften (nicht rauchen, nicht trinken, nicht laut
sprechen oder singen etc.) sowie kalte Abreibungen des Halses sind häufig
unentbehrlich. Auch unterstützt die innere Anwendung von Jod- und Bromhaloiden
manchmal die Cur. Die Hauptsache bleibt aber immer die Localtherapie. Gegen
die hyperplastische Form verwenden wir die Adstringentien und die Galvanokaustik.
Wir ziehen mit dem weissglüh enden Cauter Striche auf der Schleimhaut oder lassen
das Cauterium auf derselben erglühen. M. Schmidt verwendet gegen Pharyngitis
lateralis ein T-förmiges Cauterium. Ich pflege gewöhnlich in einer Sitzung nur
eine Seite zu ätzen. Der dabei entstehende Schmerz steigert sich wenige Stunden
nach der Operation, ist aber im Allgemeinen erträglich und nach 24 Stunden
vorüber. In den ersten 24 Stunden gurgelt der Patient mit Eiswasser, später
mit aromatischen Flüssigkeiten. Harte und reizende Speisen sind zu verbieten.
SCHLUNDKOPF. 203
Die Eschera stösst sich in 5 — 10 Tagen los. Der Eingriff darf auf derselben Seite
erst wiederholt werden, wenn die Abstossung vollkommen vorüber ist. Die zweite Seite
kann den nächsten oder den zweitfolgenden Tag canterisirt werden. Je mehr die
Atrophie hervortritt, um so weniger und um so oberflächlicher muss von diesen
Medicamenten Gebrauch gemacht werden. Es sind dann vielmehr das Jodoform und
Jodpräparate sowie einhüllende Sachen am Platze. Die Granula werden am besten
dadurch beseitigt, dass man sie einzeln mit dem Galvanokauter betupft. Statt dessen
kann man auch Scarificationen und nachfolgende Aetzung anwenden.
Ueber die Verlängerung der Uvula und ihre Amputation , vgl. den
Artikel „Uvula".
Literatur: *) Angine follicideuse de pharynx par M. Chomel. Paris 1848. —
2) Stifft, Die chronische Pharyngitis. Deutsche Klinik 1862. — 8) Traitä des angines par
M. La segne. Paris 1868. — 4)^ Conferences cliniques sur les maladies du larynx par
M. Isambert. Paris 1877. — °) Etudes pratiques sur la pliaryngite folliculeuse ou granidee
par M. P. Bouland. Revue med -chir. de Paris 1849. — 6) B. "Wagner, Archiv der Heilk.
Leipzig 1865. — 7) Domenico Severi, Osservazioni di Anatomia pathologica: „Faringite
granulosa" . Bulletino delle scienze mediche di Bologna 1873. — 8) Der chronische Nasen- und
Rachencatarrh. Eine klinische Studie von Dr. Max Bresgen. "Wien und Leipzig 1881.
— 9) Th. Hering, De la pliaryngite chronique. Revue Mensuelle de la Laryng. et
d'Otologie. Paris 1882.
VIII. Im Anschluss an den chronischen Catarrh des Schlundes hätten
wir jetzt Zustände, die ätiologisch mit ihm in einem circulus vitiosus gegenseitiger
Beeinflussung stehen, nämlich die Hyperplasie der Rachenmandel und
der Gaumenmandeln, zu besprechen. In Bezug auf letztere verweisen wir auf
den Artikel „Tonsillen" und beschäftigten uns hier nur mit der Hyperplasie der
Tonsüla pharyngea. Zwischen den Ro-SENMÜLLER'schen Gruben an der hinteren
Wand des Schlundes liegt eine mächtige Anhäufung von aggregirter Drüsensubstanz,
die Luschka Tonsüla pharyngea genannt hat. — Nach Ganghofner ist dieselbe
bei Kindern an ihrer Oberfläche immer longitudinal gefaltet , bei Erwachsenen
trifft man ebenso häufig Querfurchung an. An dieser Tonsüla pharyngea findet
sich eine Grube , die Bursa pharyngea , für welche Ganghofner den Namen
Recessus pharyngis medius vorschlägt, weil er diese Grube als eine durch feste
Adhärenz der Schleimhaut des Rachendaches gebildete Einziehung betrachtet.
Aehnlich wie in den Gaumenmandeln finden sich auch in den Rachenmandeln
Lacunen. Das die Rachenmandeln überziehende Epithel ist mehrschichtiges Flimmer-
epithel. Echte Follikel finden sich in der adenoiden Substanz erst nach Vollendung
des ersten Lebensjahres. In der Submucosa liegen zahlreiche Schleimdrüsen.
Aehnlich nun wie die Gaumenmandeln unterliegt auch die Rachenmandel
hyperplastischen Processen. Besonders ist dies der Fall bei sogenannten lymphatischen
Individuen und im kindlichen Alter. Löwenberg führt Fälle an , in denen die
Hyperplasie der Rachenmandel erblich vorkam.
Durch die Hyperplasie entstehen geschwulstähnliche Bildungen, die ent-
weder das Organ als Ganzes betreffen, oder aber, und dies ist meistens der Fall,
zu lappigen, mehr oder minder gestielten Bildungen Veranlassung geben. W. Meyer
hat ihnen den Namen adenoide Vegetationen gegeben. Die Mächtigkeit
der Hyperplasie ist in den einzelnen Fällen verschieden. Nicht gerade selten wird
die Nasenrachenhöhle bei erhobenem Velum angefüllt und in noch höheren Graden
die Erhebung des Velums bis zur normalen Ebene durch die Geschwülste un-
möglich gemacht.
Die Symptome, welche die adenoiden Vegetationen hervorrufen , sind
im Beginn von denen des retronasalen Catarrhs nicht zu unterscheiden und bestehen
in vermehrter Schleimabsonderung etc. Anders aber gestaltet sich das Verhältniss,
sobald durch die Geschwülste der Raum in der Nasenrachenhöhle eine solche
Beschränkung erleidet, dass derselbe als resonirender Apparat oder als Passage
für den respiratorischen Luftstrom ungenügend wird. Zunächst treten dann Ver-
änderungen der Sprache hervor; die Consonantes resonantes m und n,
später 1 und die nasalen Vocale können nicht mehr rein oder gar nicht gesprochen
204 SCHLUNDKOPF.
werden. Auch die Übrigen Vocale und Consonanten verlieren an Klang, die
Sprat-he wird, wie W. Meyer sich ausdrückt, todt. Es entsteht durch Verstopfung
des retronasalen Raumes eine besondere Art der nasalen Sprache , welche sich
dein geübten Ohr als solche leicht bemerklich macht. Wird nun später der
Querschnitt des Luftstromes, welcher den retronasalen Raum passiren kann, für
die Respiration unzureichend , so entstehen jene schweren Folgen , welche die
Aufhebung der Nasenrespiration bedingt. Die Kranken sind genöthigt,
mit offenem Munde zu athmen. Hierdurch bekommt das Gesicht einen läppischen
Ausdruck, der Unterkiefer hängt herab , die Labionasalfalte verstreicht und, wie
Michel dies beobachtete, kann der innere Augenwinkel herabgezerrt werden. Die
Luft gelangt kälter, unreiner und trockener in die tieferen Respirationswege; der
Pharynx und der Kehlkopf trocknet in Folge dessen leicht aus. Im Schlaf sinkt
der Unterkiefer nach hinten und unten und ebenso das Zungenbein und die Zunge.
Die Kranken schnarchen und es tritt eine Behinderung des respiratorischen Luft-
wechsels ein. Am wachsenden Individuum kann hierdurch eine Veränderung der
Thoraxform entstehen, welche beim Artikel „Tonsillen" des weiteren besprochen wird.
Wahrscheinlich in Folge der Erschwerung der Bluterneuerung in den Lungen werden
die Kranken bleich und müde. Auch der Geruch und der Geschmack der Patienten
leidet Noth. Die am Ohre eintretenden Veränderungen siehe im Artikel „Mittelohr".
Die Diagnose der adenoiden Vegetationen ist leicht. In vielen Fällen
kann man dieselben von vorn durch die eine oder andere Nasenhöhle hindurch
erblicken. Sie stellen dann eine blassröthliche Anschwellung dar, welche im Gegen-
satz zu den Muscheln sich beim Schlucken bewegt. Die wichtigsten Resultate in
Bezug auf die Diagnose liefert die Rhinoskopie (s. d.) und die Palpation (s. oben).
Was die Therapie anlangt, so unterliegt es keinem Zweifel, dass die
Entfernung der nur einigermaassen grossen Geschwülste auf chirurgischem Wege dem
heutigen Stande unserer Kunst entspricht. Dieselbe geschieht am besten mit einer
entsprechend gebogenen, kalten oder galvanocaustischen Schneideschlinge, welche
vom Munde aus hinter das Velum palatinum geführt wird. Der schneidende Draht
muss federnd sein, damit die Schlinge beim Einführen nicht zusammengedrückt werde.
Anlegung des Gaumenhakens (s. „Rhinoskopie") erleichtert die Operation wesentlich,
ist aber kein nothwendiges Erforderniss derselben. Blutungen von nennenswerthem
Belang kommen dabei nicht vor. In der Chloroformnarkose ist es jedoch zweck-
mässig , wenn man nicht am hängenden Kopf operiren will , durch Verwendung
einer galvanokaustischen Schlinge die Operation fast unblutig zu machen. Statt
der Schlinge kann auch der Galvanokauter angewendet werden. Weniger zweck-
mässig als vom Rachen aus, kann die Schlinge auch durch die Nase eingeführt,
oder unter Anwendung von ZAUEAL'schen Trichtern (s. „Nasenkrankheiten") der
Galvanokauter von vorn zur Vernichtung der Geschwülste eingebracht werden.
Ausserdem ist von Michael eine recht zweckmässige Meisselzange zur Entfernung
der Vegetationen angegeben und von Justi der scharfe Löffel in allen möglichen
Formen construirt und empfohlen worden. Rei kleineren Anschwellungen der
Rachenmandel kann man versuchen, dieselben durch Bepinselungen mit Jod-
präparaten zur Norm zurückzuführen. Doch wird man auch hier mit der Galvano-
kaustik schneller zum Ziel kommen.
Literatur: F. J. C. Mayer, Neue Untersuchungen auf dem Gebiet der Anatomie
und Physiologie. 1842. — Tourtual, Neue Untersuchungen über den Bau des meuschlichen
Schlund- und Kehlkopfs. Leipzig 1846. — Luschka, Der Hirnanhang und die Steissdrüse
des Menschen. Berlin 1860. — Fr. Ganghofner, Ueber die Tonsilla und. Bursa pharyngea.
Aus dem LXXV1II. Bande der Sitzungsber. der k. Akad. der Wissenschaften. III. Abth., October-
Heft, Jahrgang 1878. — W. Meyer, Ueber adenoide Vegetationen. Archiv für Ohrenheil-
kunde, Juli 1873. — B. Loewenberg, Les tumeurs adenoides de Pharynx nasal. Paris
1879. — G. Justi, Ueber adenoide Neubildungen im Nasenrachenräume, Sammlung klin. Vor-
träge v. Volkmann, Nr. 125. — Arthur Hartmann, Ueber die Operation der adenoiden
Wucherungen und hypertrophischer Pharynxtonsillen. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 9, 1881.
— F. Michael, Doppelmeissel zur Behandlung adenoider Vegetationen des Nasenrachen-
raumes. Berliner klin. Wochenschr. 1881, Nr. 5. — F. A. Jugen-Housz, De Adenoide
Vegetation der Neusheelholte. Leiden 1881.
SCHLUNDKOPF. 205
VIII. Diphtherie. Die Diphtherie als solche ist schon im IV. Bande
dieser Encyclopädie besprochen und bleibt hier nur zu schildern übrig, welche
Erscheinungen etc. sie im Schlünde hervorruft. Der Pharynx ist das Organ , in
welchem sich die Diphtherie am häufigsten localisirt, und zwar finden sich
anatomisch sowohl croupöse, wie pseudodiphtheritische und acht diphtheritische
Membranen (cf. Artikel „Croup"). Die pseudodiphtheritische scheint die am
häufigsten vorkommende Form zu sein, während die croupöse Membran sich im
Pharynx am seltensten findet. Gewöhnlich zeigen sich die ersten Membranen über
den Tonsillen. Ihrer Bildung geht Röthung und Schwellung voraus. Haben wir
Gelegenheit, den Fall von Anfang an zu beobachten, so können wir constatiren,
dass zuweilen die prodromale Entzündung sich nach Art der Angina lacunaris
äussert. Wir sehen dann schmierige Secrete aus den Kryptenöffnungen der
geschwollenen Tonsillen hervortreten. Nach wenigen Stunden, zuweilen erst am
anderen Tage , treten die Membranen in die Erscheinung. Man kann in solchen
Fällen daran denken, dass die Diphtherie sich zunächst innerhalb der Krypten
localisirte. Die Bildung der Pseudomembranen schreitet in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle rasch, zuweilen aber langsam vor, befällt die Gaumenbögen,
zieht sich nach oben gegen die Uvula hin und confluirt häufig am Velum pala-
tinum. Gleichzeitig treten Flecke an der hinteren Pharynxwand auf, die sich
verbreiten und auch nach oben in den retronasalen Raum hineinwachsen.
Schliesslich ist der ganze Schlund von dicken , speckigen Membranen überzogen.
Entfernt man dieselben, so sieht man die Schleimhaut darunter immer ihres Epithels
entblösst , leicht blutend und geröthet und schon nach kurzer Zeit wieder von
neuen Membranen bedeckt.
Nicht immer beginnt die Diphtherie an den Tonsillen, zuweilen befällt sie
zunächst den retronasalen Raum und ist dann schwerer zu erkennen. Ebenso kann
dieselbe im Beginn zuweilen übersehen werden, wenn sie die hintere Fläche hyper-
plastischer Tonsillen oder tiefere Theile der Pharynxschleimhaut zu ihrem Aus-
gangspunkt nimmt. Bei Kindern gehört in solchen, glücklicherweise seltenen
Fällen dann eine recht genaue Untersuchung des ganzen Schlundes dazu, um die
Diphtherie in ihrem Beginne zu erkennen.
Der geübte Diagnostiker wird sehr selten in die Lage kommen, darüber
nachzudenken, ob das, was er sieht, Pseudomembranen sind oder nicht. Die aus den
Krypten Oeffnungen hervorquellenden Secrete der Angina lacunaris , eitrige, den
Pharynx austapezirende Secrete des chronischen Catarrhs und dergl. haben, auch
makroskopisch betrachtet, ein von den festen Membranen leicht unterscheidbares
Aussehen. In zweifelhaften Fällen genügt es, einen Fetzen dem Pharynx zu ent-
nehmen, um die fibrinhaltige , elastische , derbe Pseudomembran von dickflüssigen
Secreten zu unterscheiden. Schwieriger schon ist makroskopisch die Unterscheidung
von Soor , namentlich dann , wenn wir es mit idiopathischen Soor-Fällen bei
Erwachsenen zu thun haben. Hier genügt aber ein Blick auf ein hinlänglich
zerzupftes mikroskopisches Präparat, um die charakteristischen Soor- Pilze sofort
zu erkennen. Auch die oberflächliche Necrose der Epithelien, wie sie sich im
Schlünde bei schweren Krankheiten anderer Organe findet, giebt zuweilen dem
Pharynx ein weisses Aussehen, und können sich zarte Häutchen abgestorbener
Epithelien fetzenweise losstossen. Schärferes Hinsehen genügt in solchen Fällen,
um zu erkennen , dass es sich dabei nicht um Pseudomembranen handelt. Die
differentielle Diagnose zwischen von der Infectionskrankheit Diphtherie gesetzten
Pseudomembranen und solchen, die aus anderen Ursachen entstehen, ist vom
anatomischen, Standpunkt aus bisher unmöglich. Wenn das Contagium der Diphtherie
entdeckt sein wird, wird es vielleicht möglich werden, sie zu trennen (cf. Angina
fibrinosa im Artikel „Croup").
Die Membranen des Pharynx behalten nicht immer ihr weisses Aussehen ;
in sie ergossenes Blut, daran kleben gebliebene Ingesta oder anhaftender Staub
geben ihnen ein buntscheckiges Aussehen. Die Zeit, wie lange sie der Schleimhaut
20ti SCULUNDKOPF.
anhaften, ist sehr verschieden. Zuweilen fangen sie schon nach 1 — 2 Tagen an,
sich abzustossen; zuweilen sitzen sie über 14 Tage hinaus. Immer hinterlassen
sie Geschwüre, deren Tiefe je nach dem Ergriffensein der Schleimhaut wechselt,
nicht gerade selten aber die ganze Schleimhaut durchsetzt und in das submucöse
Gewebe hineingreift. Sieht man während der Abstossungsperiode in den Schlund
hinein , so hängen meist Fetzen der Membran an verschiedenen Stellen von dem
Gewölbe vorhangartig hernieder und daneben machen sich die Zerstörungen
bemerkbar. Die Formen des Pharynx können dadurch so verändert werden, dass
es Nachdenken erfordert, um sich in dem erschreckenden Bilde zurecht zu finden.
Die gesetzten Geschwüre heilen verhältnissmässig schnell und hinterlassen gewöhnlich
weniger Defect und weniger narbige Contraction als man auf der Höhe derselben
hätte vermuthen können. Nicht immer überzieht die Diphtherie den ganzen Pharynx.
Glücklicherweise giebt es Fälle, in denen sie schon im Pharynx Halt macht. Dann
treten die Grenzen der Pseudomembranen schärfer und deutlicher hervor ; die
Schwellung und Röthung der umgebenden Theile lassen nach und die Erscheinungen
erinnern an das, was man bei anderen Processen Demarcationslinie nennt.
Die Verbreitung der Diphtherie vom Pharynx auf andere Organe geschieht
meist in absteigender Richtung und ist es der Kehlkopf, der auch hier wiederum
als das Organ sich erweist, dem sich die Krankheiten des Pharynx am liebsten
mittheilen. Andererseits steigt die Diphtherie vom Schlünde in die Nase und das
Mittelohr und es giebt Fälle, in welchem sie sowohl nach unten wie nach oben
sich ausbreitet. Das Freibleiben der Lymphdrüsen am Kieferwinkel und der dahin
führenden Lymphgefässe bei Diphtherie des Schlundes gehört zu den seltensten
Ausnahmen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zeigen diese Drüsen durch
mehr oder minder lebhafte Schwellung und Schmerzhaftigkeit auf Druck ihr Er-
griffensein von der Infection an und häufig werden die Lymphgefässe und das
Bindegewebe des ganzen Halses in Mitleidenschaft gezogen.
Nicht immer ist der Pharynx das zuerst befallene Organ, wenn auch selten
beginnt der Process in der Nase oder an den Conjunctiven ; ob aufsteigende
Diphtherie sich dem Pharynx mittheilen kann, ist mir nicht bekannt.
Ueber den Uebergang in Gangrän vergleiche den Artikel „Diphtherie".
Die Allgemeinerscheinungen der Diphtherie sind im IV. Bande beschrieben,
die örtlichen stimmen mit der einer schweren Angina überein (cf. Artikel „Angina").
Die Schwere des Falles richtet sich nicht allein nach den örtlichen
Erscheinungen. Der Tod bei Diphtherie erfolgt erstens durch Absteigen des
Processes in den Kehlkopf und in die Bronchien, zweitens in Folge der Infection
des Gesammtorganismus, wahrscheinlich vom Herzen aus*) ; drittens durch seeundäre
Processe , z. B. Verjauchung der Lymphgefässe am Halse , viertens durch Folge-
krankheiten, z. B. die Lähmung. Ich glaube in dieser Reihenfolge gleichzeitig die
Häufigkeitsscala berücksichtigt zu haben und habe auch absichtlich die örtlichen
Erscheinungen des Pharynx , also das Schluckhinderniss und die mangelnde
Ernährung nicht mit aufgeführt , da diese- sich beherrschen lassen. Wir haben
also neben der Schwere und der Propagation des örtlichen Processes immer die
Allgemeinerscheinungen zu berücksichtigen. Während die Fälle, in denen der
Kehlkopf befallen wird, wegen der in Aussicht stehenden Tracheotomie den Kranken-
häusern relativ häufig überwiesen werden , verbleiben diejenigen Fälle , in denen
es ohne Betheiligung des Kehlkopfes zur allgemeinen Infection kommt, relativ
häufiger in der Privatpraxis. In letzteren Fällen bleibt die Diphtherie auf Pharynx
oder Pharynx und Nase beschränkt und die Kranken gehen meist soporös , bei
immer schneller und kleiner werdendem Pulse zu Grunde. Ueber Folgekrankheiten,
Behandlung etc. verweisen wir auf den allgemeinen Artikel. Wir bemerken, dass
gegen die Pharynxaffection als solche die örtliche Anwendung des Eises, die
dauernde Inhalation, die Bepuderung der Membranen mit Jodoform, die Bepinselung
*) cf. E. Leyden: Ueber die Herzaffectionen bei der Diphtherie. Zeitschr. für
klin. Med., Bd. IV, pag. 334.
SCHLUNDKOPF. 207
desselben mit Aqua chlort , Solutio acidi carbolici und dergl. in's Feld geführt
werden können. Zur Auflösung der Membranen ist Aqua calcis mit einem Zusatz
von Natron causticum empfohlen, mir hat sich zu diesem Zwecke Pepsinlösung
am besten bewährt. Es hat aber die Auflösung der Membranen auf den Process
als solchen keinen Eiufluss.
IX. Tuberkulose des Schlundes. Der Schlund unterliegt bei
Phthisikern vielfachen Veränderungen. In sehr vielen Fällen bemerken wir Anämie,
Atrophie und Hyperästhesie desselben, auch chronischer Catarrh und oberfläch-
liche Substanzverluste (Erosionen) im Schlünde begleiten häufig die Phthisis.
Wahre Miliartuberkulose des Schlundes ist aber ein verhältnissmässig
seltenes Vorkommniss und noch seltener findet sich primäre Tuberkeleruption im
Schlünde. Soweit meine Beobachtung am Lebenden Schlüsse erlaubt, wird von
den Theilen des Pharnyx die Tonsillengegend und der weiche Gaumen am häufigsten
von Miliartuberkeln befallen, wenn wir von dem Uebergreifen der Kehlkopfsphthise
auf die tieferen Theile des Rachens absehen, was ja, wie bekannt, ein häufiges
Vorkommniss ist. Nach den Untersuchungen von E. Fränkel am Cadaver fanden
sich in 50 phthisischen Leichen 29mal pathologische Veränderungen im Bereiche
des Nasenrachenraumes. Von den 29 Erkrankungen waren 10 Geschwüre und
unter diesen 10 betrafen 8 die Rächentonsillen.
Die Tuberkulose des Rachens hat in neuerer Zeit vielfache Darstellung
gefunden und ist, wie dies immer geschieht, häufiger beobachtet worden, seitdem
sie genau beschrieben worden ist. Die Tuberkulose äussert sich im Schlünde als
Tuberkeleruption und Geschwür. Die Tuberkeleruption als solche stellt echte,
miliare Knötchen dar und nehme ich an, dass aus dem Zerfall der Knötchen die
Geschwüre entstehen ; diese tragen immer den lenticulären Charakter , d. h. sie sind
oberflächliche , sich mehr in die Fläche , wie in die Tiefe ausbreitende Substanz-
verluste mit schmierigem, speckigem Grunde und dickem, käsig-eitrigem Secret.
Die Ränder der Geschwüre sind unregelmässig, ausgefressen und zeigen einen sie
umgebenden entzündlichen Hof. In diesem weist eine genauere Betrachtung kleine,
submiliare oder miliare, zuweilen nur mit der Lupe sichtbare graue Knötchen
nach. Grössere Geschwüre zeigen ab und zu einzelne granulirende Stellen und
habe ich proliferirende Granulationen auf solchen beobachtet. Die Granulationen
überziehen zuweilen grössere Flächen der Geschwüre und sind Heilungen derselben
mit Sicherheit beobachtet worden.
Die örtlichen Erscheinungen, die von der Tuberkulose des Schlundes
hervorgerufen werden , sind vor Allem Schmerzen beim Schlucken , die ungemein
heftig werden und den Patienten verhindern können, Nahrung zu sich zu nehmen.
Zuweilen werden diese Schmerzen auch bei intactem Nasenrachenräume im Ohre
empfunden. Im Uebrigen sind die Symptome der Miliartuberkulose bei den Patienten
vorhanden und haben wir verschiedene Krankheitsbilder vor uns, je nachdem die
Schlundtuberkulose primär auftritt, oder als eine Complication von Tuberkulose
anderer Organe zur Beobachtung kommt.
Die differentiell-diagnostische Frage, ob es sich bei vorhandenem Substanz-
verlust um ein tuberkulöses Geschwür handelt oder nicht, ist im Schlünde ver-
hältnissmässig leicht zu entscheiden. Bisher musste das Hauptgewicht auf den
Nachweis grauer Knötchen gelegt werden. Die einzige Verwechslung, die in
dieser Beziehung möglich ist, sind Anschwellungen der in der Schleimhaut liegenden
Drüsen und würde ich mich, wenn es sich um einzelne Knötchen einer nicht
geschwürigen Schleimhaut handelte, kaum getrauen, makroskopisch ein sicheres
Urtheil darüber abzugeben. Anders gestaltet sich aber das Verhältniss in dem
gerötheten Rande lenticulärer Ulcerationen. Hier tritt das graue, halbdurch-
scheinende Knötchen in so charakteristischer Weise in die Erscheinung, dass seine
Diagnose ebenso leicht und ebenso sicher erfolgen kann, wie dies dem obduciren-
deu Anatomen an irgend einer anderen Stelle des Körpers möglich ist. Auch ist
es möglich, wie ich dies mehrfach gethan habe und Schnitzler beschrieben hat,
21 ig
SCHLUNDKOPF.
kleine Stückchen der Schleimhaut des Schlundes dem Lebenden zu entnehmen
und den mikroskopischen Nachweis der Tuberkulose zu führen. Seit Koch's
Nachweis der Tuberkelbacillen scheint mir auch diese Frage vereinfacht und wird
es in Zukunft genügen , in dem die Geschwüre bedeckenden Secreten Tuberkel-
baoillen aufzufinden, um Ulcerationen des .Pharynx als tuberkulöse zu charakterisiren.
Was die Behandlung anlangt , so hat Küssner Fälle von primärer
Rachentuberkulose mit anscheinendem Erfolg energisch mit Lapis oder dem galvano-
caustischen Apparat geätzt. Er empfiehlt besonders Carbolglycerin (4 — 5 Carbol
auf 500 Glycerin) als locales Anästheticum gegen die Schmerzen. Es kann auch
Jodoform versucht werden.
Literatur: Isambert, Annales des maladies de l'oreille et du pharynx. I,
pag. 77 u. II, pag. 162; Conferences cliniques sur les maladies du lari/nx. Paris. Gr. Masson.
pag. 219. — B. Fränkel, Ueber die Miliartuberkulose des Pharynx. Berliner klin. Wochen-
schrift. 1876. Nr. 46, — B. Küssner, Ueber primäre Tuberkulose des Gaumens Deutsche
med. "Wochenschr. 1881. Nr. 20 u. 21. — Joh. Schni tzler, Zur Kenntniss der Miliar-
tuberkulose des Kehlkopfes und des Rachens. "Wiener med. Presse. 1881. — E. Fränkel,
Anatomisches und Klinisches zur Lehre von den Erkrankungen des Nasenrachenraumes und
Gehörorganes bei Lungenschwindsucht. Zeitschr. für Ohreuheilk. Bd. X. Heft 2.
X. Syphilis des Pharynx. Die Syphilis als solche wird bei dem
Artikel „Syphilis" besprochen. Hier sollen nur diejenigen syphilitischen Erschei-
nungen herangezogen werden, die speciell für den Pharynx in Betracht kommen.
Primäre Infection des Pharynx gehört zu den grössten Seltenheiten. Diday
giebt an, 8 Fälle gesehen zu haben und Morell Mackenzie sah deren 7. Ich
habe bisher keinen solchen Fall gesehen, vielleicht weil in unserem Lande die
ekelhaften Manipulationen , die diese Affection veranlassen können , seltener vor-
genommen werden. Die primären Schanker des Schlundes haften nach benannten
Autoren fast ausnahmslos an einer der Tonsillen und es handelt sich um Ge-
schwüre, die an und für sich wenig Charakteristisches bieten, einmal lediglich um
eine Erosion, zweimal um phagadänische Formen. Der Grund der Geschwüre war
indurirt , die Drüsen am Kieferwinkel meist deutlich geschwollen , die Schmerz-
haftigkeit gewöhnlich gering.
Secundäre Processe finden sich dagegen ungemein häufig im Schlünde
und gehört der Schlund unter die Organe, in denen sich die constitutionelle
Syphilis , namentlich die frühen , sogenannten secundären Formen derselben am
häufigsten localisirt und so wohl charakterisirte Erscheinungen setzt, dass ohne
weiteres vom blossen Ansehen aus die Diagnose gestellt werden kann. Morell
Mackenzie giebt folgende höchst instructive Tabelle.
Die Proportion der syphilitischen Affectionen auf 10.000 Fälle von Hals-
leiden, die im Hospital for Diseases of the Throat beobachtet wurden, zeigt:
Pharynx \
Larynx
Trachea
Affectionen
Primär . .
Secundär .
Tertiär . .
Hereditär
Secundär .
Tertiär . .
Hereditär
Tertiär . .
Männer
348
176
2
84
120
1
Frauen
Zusammen
In Summa
1
143
163
1
34
69
1
491
339
3
118
189
1
3
Total
834
308
1145
Die constitutionelle Syphilis zeigt sich im Pharynx 1. als Erythem.
Mit oder ohne Fieber röthen sich Partien der Schleimhaut des Schlundes; die
Röthung zeigt nichts Charakteristisches in Bezug auf die Farbe, wohl aber muss
SCHLUNDKOPF. 209
es Verdacht erwecken, dass eine derartige oberflächliche Entzündung auf syphi-
litischer Basis beruht , wenn dieselbe symmetrisch auf beiden Seiten auftritt , als
habe man den Pharynx bemalen wollen , die Tonsillengegend überschreitet und
sich gegen die normale Mittelpartie des weichen Gaumens mit scharfen Rändern
absetzt. Zuweilen confluirt das Erythem beider Seiten über die Uvula und zeigt
dann auch nach vorn und oben eine scharfe Begrenzung. Es sind aber diese
Charaktere des syphilitischen Erythems nicht so markirt, dass man aus ihnen
eine sichere Diagnose stellen könnte. Ich habe Fälle gesehen, in denen diese
bei syphilitischen Individuen auftretenden Formen trotz darauf gerichteter Auf-
merksamkeit sich in nichts von einer einfachen Angina unterschieden. Es dauern
aber gewöhnlich die syphilitischen Erytheme länger , als dies von einer einfachen
Angina gilt. Auch treten wohl charakterisirte Erscheinungen der äusseren Haut
oder die gleich zu besprechenden anderweitigen Erscheinungen des Schlundes
hinzu, um die Diagnose zu sichern.
2. Breite Condylome des Schlundes (Plaques muqueuses) sind
wohl charakterisirte Erscheinungen. Sie entstehen entweder aus dem Erythem
oder auch ohne dasselbe. Beschränken sie sich auf das Epithel, so finden wir
weissliche Erhabenheiten von Linsen- bis Erbsengrösse , die einen mehr oder
minder entzündlichen Hof zeigen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird
der Papillarkörper mitergriffen und dann finden sich weissliche oder stahlgraue
erhabene Flecke von rundlicher Gestalt und Erbsen- bis Bohnengrösse, die vielfach
confluiren und dann ebenso gefärbte grössere Flecke darstellen. Sie zeigen auch
einen Hof entzündeter Schleimhaut. Man thut gut, sie bei Tageslicht zu betrachten,
um ihre charakteristische Erscheinung wahrzunehmen. Sie finden sich über den
Tonsillen oder in deren Umgebung, an den Gaumenbögen, am weichen Gaumen,
an der hinteren Pharynxwand und — wie man bei rhinoskopischer Untersuchung
wahrnehmen kann — auch recht häufig im Nasenrachenräume über der Rachen-
mandel, an den Tubenwülsten etc. Ausser dem Rachen befallen sie häufig gleich-
zeitig verschiedene Stellen der Schleimhaut des Mundes und der Nasenhöhle. Sie
compliciren sich meist mit Anschwellung der Lymphdrüsen und rufen Schmerzen
beim Schlingen hervor. Sie sind die häufigste Ursache für Schluckbeschwerden,
die längere Zeit bestehen. Die Schleimhautpapeln können sich spontan oder
unter entsprechender Behandlung zurückbilden ; bleiben sie aber eine gewisse Zeit
bestehen, so exuleeriren sie, und zwar meist von der Mitte aus. Es findet sich dann
in der Mitte ein Substanzverlust, in welchem der meist granulirende Papillar-
körper zu Tage tritt. Dieses Centrum umgiebt ein mehr oder minder breiter
Streifen des noch restirenden Condyloms und um dieses zieht sich wieder der
Entzündungshof hin.
Häufiger wie nach dem Erythem, bleibt nach den Condylomen chro-
nischer Catarrh zurück. Ueber die Hyperplasie der Tonsillen vergl. den
Artikel „Tonsillen".
3. Gummöse Formen. Die gummösen Formen der späteren Periode
der Syphilis zeigen sich im Pharynx entweder als gummöse Infiltrationen oder als
circumscripte Knoten. Die gummöse Infiltration führt nach einer unbestimmten,
ziemlich latenten Dauer zum Zerfall des Gewebes und Geschwürsbildung. Die
hieraus hervorgehenden, meist tiefen Geschwüre sitzen recht häufig in der retro-
nasalen Gegend, rufen umfänglichen Substanzverlust hervor und zeigen scharf
ausgeschlagene , unregelmässige Ränder. Die Geschwüre verlaufen meist der
Körperaxe parallel und reichen von der Rachenmandel bis hinunter in die Pars
oralis des Pharynx. Aehnliche Geschwüre finden sich an den Tonsillen und anderen
Theilen des Pharynx. Ich erinnere bei dieser Gelegenheit an die vom Periost
ausgehenden Processe, die sich sowohl am harten Gaumen wie an der
Wirbelsäule finden können und mit Nekrose der Knochen einhergehen , ohne
behaupten zu wollen, dass diese Processe immer einer gummösen Infiltration ihre
Entstehung verdanken.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 14
210 SCHLUNDKOPF.
Der eigentliche Gummiknoten des Pharynx entwickelt sich eben-
falls ziemlich latent. Circumscripta Röthung und Oedem der Schleimhaut bezeichnen
zuweilen seine Entwicklung. Es kommt vor, dass plötzlicher Gewebszerfall, der
zur Perforation des Velum palatinum führt und in überraschender Weise eintritt,
zuerst von dem Vorhandensein eines Gummiknoten Kenntniss giebt. Nach dem
Stillstand des Processes erscheint das Velum wie mit einem Locheisen ausgeschlagen.
Sitzt der Knoten in der Mittellinie , dicht oberhalb der Uvula , so erfolgt nicht
selten eine Mortification und Abstossung des Zäpfchens.
Anders gestaltet sich das Bild , wenn multiple Knoten sich im Pharynx
localisiren. Dies ist meistens an der drüsenreichen, nasalen Fläche des Velum der
Fall. Dieselbe erscheint dann bei rhinoskopischer Betrachtung wie in eine zer-
klüftete Gebirgslandschaft verwandelt. Sie ist mit erbsengrossen Buckeln besetzt,
in deren Thälern sich tiefe, mit schmierigem, käsigem Detritus bedeckte Ulcerationen
zeigen. In solchen Fällen spricht man von einem syphilitischen Lupus des
Pharynx. Der Process endet immer mit mehr oder minder umfänglichem
Substanzverlust.
4. Namentlich an der hinteren Pharynxwand und in den tieferen Ab-
schnitten des Schlundes finden sich ab und zu lappige oder zottige
Wucherungen der Schleimhaut syphilitischer Natur. Dieselben sind meist
multipel und können eine beträchtliche Grösse — ich sah solche von 2 Cm. Länge
— erreichen. Sie machen dann den Eindruck gestielter Polypen; mikroskopisch
untersucht, besteht ihre von Epithel bekleidete Substanz aus lockigem oder sclero-
tischem Bindegewebe mit miliaren Einsprengungen. Sie rufen keine subjectiven
Beschwerden hervor.
5. Syphilitische Narben, Verwachsungen und Substanz-
verluste. Narben im Pharynx sind immer für Syphilis verdächtig. Es soll damit
nicht gesagt werden, dass nicht auch anderweitige Processe Narben im Schlünde
hinterlassen könnten. Diphtheritis, Scharlach — Angina, Verletzungen des Schlundes,
die Anwendung der Galvanokaustik, Tuberculose und Lupus hinterlassen zuweilen
Defecte und Narben. Es geht in solchen Fällen aus der Anamnese meistens mit
grosser Wahrscheinlichkeit hervor, dass solche nicht-syphilitische Processe im
Pharynx bestanden haben , da sie schwere Erscheinungen bedingen und nicht
unbemerkt vorübergehen. Handelt es sich um Narben , die ausserhalb des kind-
lichen Alters entstanden sind , und über deren Veranlassung der Patient keine
Auskunft zu geben im Stande ist , so hat man im Schlünde, der Häufigkeit der
syphilitischen Narben wegen, das Recht Lues als die Ursache des die Narbe
bedingenden Processes anzusehen. In derselben Beschränkung sprechen auch
Substanzverluste und Verwachsungen für Syphilis. Doch möchte ich hervorheben,
dass auch nach nichtsyphilitischen Geschwüren, wenn auch selten, Synechien im
Pharynx beobachtet worden sind.
Die syphilitische Narbe entsteht aus syphilitischen Geschwüren und zwar
können sowohl zerfallene Condylome, wie — und dies ist selbstredend erheblich
häufiger der Fall — die tiefen Geschwüre der späteren Periode Narben hinter-
lassen. Demgemäss sitzen die Narben vornehmlich da, wo die Geschwüre ihren
Lieblingssitz haben, nämlich über den Tonsillen und an der hinteren Pharynx-
wand, finden sich aber auch an den übrigen Stellen des Pharynx. Je nach der
Tiefe des Geschwüres, aus welchem sie entstanden, sind sie bald kleine, weisse
Flecke, bald die ganze Schleimhaut durchsetzende, strahlige Narben. Ueber
den Tonsillen finden sich auch solche von körnigem oder lappigem Bau.
Die Substanzverluste betreffen vorwiegend den weichen Gaumen ; sie sind
entweder Perforationen desselben oder betreffen den Rand des Velum und der
Arkaden. Die Perforationen sind meist rund, von Erbsen- bis zur Haselnussgrösse
und sitzen entweder in relativ normalem Gewebe oder in dünnen Narben. Die
Substanzverluste des Randes sind einseitig oder doppelseitig und greifen mehr oder
minder hoch an das Gaumensegel hinauf. Zuweilen findet sich ein vollständiger
SCHLUNDKOPP. 211
Verlust des weichen Gaumens. Von einsehneidenster Wichtigkeit bei diesen Pro-
cessen für die Function des Velum palatinum ist Sitz und Umfang der Zerstörung,
da hiervon die Frage abhängt, ob der Isthmus pharyngo-nasalis geschlossen
werden kann oder nicht. Die Folgen des mangelnden Abschluss desselben werden
weiter unten bei den Bewegungsstörungen besprochen werden.
Von ganz besonderem Interesse sind die Verwachsungen im Schlünde.
Sie entstehen auch nach Geschwüren und finden sich vorwiegend zwischen Velum
palatinum, resp. den Gaumenbögen und der hinteren Pharynxwand. Sind sie ein-
seitig und partiell, so bemerkt man, dass der Arcus pharyngo-ptalatinus auf der
erkrankten Seite sich weiter oben an die hintere Pharynxwand einsenkt , als auf
der gesunden Seite. Das Velum steht dabei schief, so dass seine Mittellinie gegen
die erkrankte Seite hinzielt und die Entfernung von der hinteren Pharynxwand
auf der erkrankten Seite geringer ist, als auf der gesunden. Meist jedoch sind
die Concretionen nicht einseitig, sondern doppelseitig und häufig symmetrisch und
nicht gerade zu selten total. Im letzteren Falle werden dieselben meist durch
Perforationen des Velum complicirt. Ich glaube aber nicht, dass diese Perforationen,
wie Schech*) dies annimmt, als Ursache oder als ursächliches Moment bei den
Verwachsungen in Frage kommen;, denn die partiellen Verklebungen, die in
ununterbrochener Folge der Fälle in die totalen Synechien übergehen, finden sich
meist ohne Perforationen und es kommen auch totale symmetrische Synechien ohne
Perforation vor. Letztere sind von hohem Interesse, weil sie meistens sich genau
in der physiologischen Stellung des Velum beim Abschluss des Isthmus pharyngo-
nasalis finden und so einen Zustand darstellen , bei welchem die Ruhelage des
Velum palatinum ausgeschlossen ist, während sich ein permanenter Abschluss des
Isthmus pharyngo-nasalis findet. Es wird dabei die Nasenrespiration aus-
geschlossen, und finden sich die Folgen des permanenten Athmens bei offenem
Munde , für die Respiration , Sprache etc. , welche oben (pag. 204) angedeutet
worden sind. Ausserdem aber ist es den Patienten unmöglich, sich ihre Nase zu
schneuzen. In Fällen, in welchen neben totaler Synechie sich eine, wenn auch nur
geringe Perforationsöffnung findet, sind diese Beschwerden erheblich geringer, und
verdient deshalb die Herstellung einer Perforation bei totaler Synechie mit unter
die therapeutischen Erwägungen aufgenommen zu werden.
Ausser zwischen Velum und hinterer Pharynxwand finden sich Steno-
sirungen durch syphilitische Narben, wenn auch recht selten, in den tieferen
Theilen des Pharynx.**) Am seltensten aber werden diaphragmaähnliche Bildungen
im Interstitium arcuarium, also zwischen Gaumenbögen und Zunge beobachtet.
Was die Therapie anlangt, so kann nur bei primären Affectionen die
Frage entstehen , ob eine allgemeine Behandlung erforderlich sei oder nicht —
eine Frage, die ich bejahen würde. Die secundären und tertiären Formen bedürfen
einer allgemeinen antisyphilitischen Cur mit Quecksilber oder Jodkalium. Oertliche
Mittel sind daneben in hartnäckigen Fällen zuweilen erforderlich. Will man solche
anwenden, so leisten Gurgelwässer oder Pinselungen mit Sublimat, Jodoform etc.
das Erforderliche. Michael hat einen besonderen Pharynxdilatator (Monatschrift
für ärztliche Polytechnik, 1882, pag. 109) beschrieben.
XL Mycosen des Pharynx. 1. Der im Munde überall vorhandene
Leptothrix buccalis nistet sich überall ein, wo das Epithel des Pharynx
verloren gegangen ist. Wir finden ihn deshalb in den Secreten aller Geschwüre,
und scheint es, als wenn er hier einen vorzüglichen Nährboden fände, wenigstens
entwickelt er sich in erheblicher Mächtigkeit und kann unter Umständen pseudo-
membranoide Bildungen veranlassen.
*) Schech, über Stenosirungen des Pharynx in Folge von Syphilis. Deutsches
Archiv der klin. Medicin, Bd. XVII, pag. 259.
**) Cf. Langreuter, Deutsches Archiv für klin. Med. Bd. XXVJI, pag. 322 und
A. v. Sokolowski, Deutsche Med. "Wochenschr. 1882, pag. 416.
14*
212 SCHLUNDKOPF.
2. Ich habe auf eine Affection aufmerksam gemacht, die den Namen
einer gutartigen Myco s e des Pharynx verdient. Man findet, ohne dass irgend
welche subjective Beschwerden dadurch veranlasst würden, über den Drüsen des
Zungengrundes und über den Follikeln der Tonsillen erhabene, weisse Flecken,
welche von vornherein den Eindruck von allerdings sehr feinfaserigen Schimmel-
oulturen machen. Sie bestehen, mikroskopisch untersucht, aus Epithelien und
Pilzformen ; letztere gehören nach meinen zahlreichen Untersuchungen , die von
geübten Mycologen bestätigt wurden, der Leptothrixform an. Neben den Fäden
finden sich Kugeln, welche bei Flüssigkeitszusatz in lebhafteste Molekularbewegnng
gerathen. E. Fkänkel, der einen ähnlichen Fall beschreibt, hält mit Herrn
Sadebeck die in demselben vorhandenen Pilze nicht für Leptothrix, sondern für
einen besonderen Bacillus, den genannte Autoren Bacillus fasciculatus nennen. *)
Ich beobachte eine junge Dame , bei der ich diese Affection jetzt schon 5 Jahre
bei immer sauer reagirender Mundflüssigkeit kenne.
3. In Bezug auf den Soor verweise ich auf diesen Artikel, bemerke
aber, dass, wenn auch selten, Soor als idiopathische Erkrankung bei Erwachsenen
auftritt. In den Fällen , welche ich beobachten konnte , waren dabei die Erschei-
nungen einer ziemlich heftigen Angina vorhanden. Man findet auf geröthetem
Grunde weisse, discrete oder confluirende Flecken, die Schleimhaut sieht wie
bereift aus und ist die Erscheinung charakteristisch genug, um auch makro-
skopisch die Diagnose zu gestatten. Jedes wohlzerzupfte, mikroskopische Präparat
zeigt die Fäden des Oidium albicans. Mlinik hat in seiner Dissertation (Berlin
1877) einen in meiner Poliklinik beobachteten Fall von idiopathischem Soor bei
einem Erwachsenen beschrieben.
XII. Ueber Aphthen vergleiche den Artikel „Aphthen" und „Angina",
ebenso verweise ich in Bezug auf den Lupus des Pharynx auf den Artikel über
„Lupus" im VIII. Bde. , bemerke aber , dass , wenn auch sehr selten , ein pri-
märer, nicht syphilitischer Lupus des Pharynx beobachtet wird. Ebenso bespreche
ich nicht das Erysipelas des Schlundes, welches zuweilen im Pharynx beginnt
und sich von hier gewöhnlich durch die Nase der äusseren Haut mittheilt. Die
Heftigkeit der Entzündung, die scharlachartige Röthung und schnelle Verbreitung
geben dieser Affection von vornherein etwas Besonderes, doch ist eine sichere
Diagnose meist erst dann möglich, wenn die Haut befallen worden ist. Das Ery-
sipelas darf nicht verwechselt werden mit dem 0 edema sanguinolentum
des Milzbrandes , welches in einzelnen Fällen den Pharynx befällt (cf. die be-
treffenden Artikel).
XIH. Geschwüre des Pharynx. Die Geschwüre des Pharynx
beanspruchen immer eine grosse diagnostische Bedeutung. Wir haben in vor-
stehender Besprechung die syphilitischen, tuberkulösen, lupösen, diphtheritischen,
aphthösen Geschwüre bereits kennen gelernt. Ausser diesen Formen kommen im
Pharynx einfache, scrophulöse und typhöse Geschwüre vor. Die einfachen
Geschwüre entstehen aus Erosionen oder durch Zerfall eines Follikels, oder
einer Schleimdrüse. Im ersteren Falle stellen sie seichte Substanz Verluste der
epithelialen Decke dar , welche sich bei heftigeren Formen der Entzündung ab
und zu finden; im letzteren zeigen sie durch die überhängenden Ränder ihre
Entstehung, aus dem Untergange einer Drüse an. Bei scrophulösen Individuen
treten ab und zu im retronasalen Raum oder in der Pars oralis tiefe und
umfängliche Geschwüre auf, welche mit den syphilitischen der späteren Periode
grosse Aehnlichkeit haben. Solche Geschwüre sind z. B. von G. Lewin**) und
Homolle***) beschrieben worden. In zweifelhaften Fällen wird die Darreichung
von Jodkalium Aufklärung verschaffen. Heilen die Geschwüre darnach rasch, so
*) E. Frank el, Zeitschr. für klin. Med. Bd. IV, pag. 277.
**) G. Lewin, Die Behandlung der Syphilis. Berlin 1869.
***) Homolle, Des Scrofulides graves. These de Paris 1875.
SCHLUNDKOPF. 213
thut man gut, sie für syphilitisch zu halten, auch wenn aus der Anamnese sich
weiter keine Anhaltspunkte für diese Krankheit ergeben sollten. Die scrophulösen
Geschwüre erfordern neben der Allgemeinbehandlung eine locale. Namentlich
sind Aetzungen mit Argentum nitricicm im Substanz empfohlen.
Die typhösen Geschwüre entstehen im Schlünde ebenso wie ab und
zu an der Wangenschleimhaut nach Art der Genese der Typhusgeschwüre des
Darms. Sie sind im Ganzen selten und machen eine untergeordnete Erscheinung
im Gesammtbilde der Krankheit aus. Rufen sie Beschwerden hervor, so können
sie mit Argentum nitricum, Borax oder dergl. touchirt werden.
XIV. Geschwülste des Pharynx. Die Geschwülste, die sich im
Pharynx finden , gehören demselben ihrem anatomischen Ursprung gemäss an,
oder sind aus den Nachbargebilden entstanden und haben lediglich den freien
Raum unserer Höhle benutzt, um sich ungestört entwickeln zn können. Von den
letzteren Formern erwähne ich, dass Schleimpolypen der Nase, aus deren hinterem
Theile manchmal in den Rachen hineinhängen ; ebenso wachsen zuweilen Ge-
schwülste des Kehlkopfseinganges (Epiglottis, aryepiglottische Falten) in den
Pharynx hinein. Unter den sogenannten Nasenrachenpolypen*) hat am
meisten von allen nicht im Pharynx entstandenen Geschwülsten der LANGENBECK'sche
Tumor retromaxillaris die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Meist bei jugend-
lichen Individuen und wachsendem Schädel bilden sich in der Fossa pterygo-
palatina fibro-sarkomatöse Geschwülste, die durch das Foramen spheno-palatinum
in den Nasenrachenraum hineinwachsen , während sie andererseits durch die
Fissura crbitalis inferior in die Orbita und durch die Fossa splieno-maxülaris
nach aussen ihre Wege suchen. In der Nasenrachenhöhle rufen sie neben Ver-
stopfung etc., sehr häufig Blutung hervor. Radical sind sie nur mit Eröffnung der
Fossa pterygo-palatina zu operiren , zu welchem Zwecke von Langenbeck die
temporäre Resection des Oberkiefers eingeführt hat. Auch Encephalocelen, die
in den Pharynx hineinragten, sind beobachtet worden. Ich beschränke mich auf
diese kurzen Bemerkungen, da dieser Gegenstand nicht in mein Thema hineingehört.
Die im Pharynx entstandenen Geschwülste gehen entweder aus der
Schleimhaut oder den Theilen, welche diese überzieht (Wirbel, Fibrocartilago
basilaris, Fascien etc.) hervor. In letzterem Falle sind sie zunächst retropharyngeal.
Schleimpolypen sind im Pharynx recht selten. Sie finden sich ab
und zu im retronasalen Räume oder im Kehlkopftheil.
Papillome finden sich vorwiegend im Rachen , und zwar namentlich
am freien Rande der Arcaden, dicht neben der Uvula, oder über den Tonsillen.
Sie sind entweder warzenförmige, oder lange, dünne, unten dickerwerdende Ge-
bilde von bis 2 Cm. und grösserer Länge. Sie können aussehen wie ein Bind-
faden, in dem unten ein Knoten gemacht ist. Mikroskopisch untersucht, bestehen
sie zum grösseren Theil aus Gefässschlingen, die in einem bindegewebigen Stroma
eingebettet und von geschichtetem Pflasterepithel überzogen sind. Sie rufen gar
keine Erscheinungen hervor und es ist sehr leicht, sie zu fassen und ihren Stiel
mit einer Scheere zu durchschneiden.
Von den lymphatischen Geschwülsten sind schon die adenoiden
Vegetationen , Tuberkel und Lupus erwähnt. Ich füge hinzu , dass die Leukämie
häufig Anschwellungen der Tonsillen und anderer Follikel des Pharynx bedingt.
Myome des Pharynx kommen selten vor , ebenso Echinococcen,-
dagegen Retentionscysten, namentlich im retronasalen Raum häufiger.
Fibrome im Pharynx sind meist retropharyngeal , sie finden sich vorwiegend
im Nasenrachenraum und im Kehlkopfstheile. Im Nasenrachenraum erreichen sie
zuweilen eine colossale Grösse. Störk**) bildet einen fibrösen Tumor des Schlundes
ab, der im längsten Durchmesser 9 Cm. und an der Peripherie 101/2 Cm. misst.
*) H. Ben seh, Beiträge zur Beurth eilung der chirurgischen Behandlung der
Nasenrachenpolypen. Breslau 1878.
**) Störk, Krankheiten des Kehlkopfes, pag. 105. Stuttgart 1880.
2U SCHLUNDKOPF.
Ebenso wie die Fibroide entstehen die Sarkome gewöhnlich retro-
pharyngeal. Sie unterscheiden sich von den Fibromen dadurch, dass sie wachsend
über ihr Muttergewebe hinausgreifen, z. B. die Schädelbasis perforiren und so eine
hochgradige Malignität bekommen. Auch cavernöse Geschwülste kommen
im Pharynx vor.
Der Krebs im Schlünde ist meist ein Epitheliom und entsteht dann
von der Schleimhaut gewöhnlich, aber nicht ausschliesslich , der Tonsillen. Auch
Carcinom des Pharynx wird beobachtet , namentlich in den tieferen Theilen des-
selben. Häufiger als der Krebs im Schlünde entsteht, greift er von den Nachbar-
organen (Zunge, Kehlkopf, Oesophagus) auf den Pharynx über. Bei dem raschen
Wachsthum des Krebses und seiner Neigung, in dem immer bewegten Pharynx
zu exulceriren, ist die Diagnose meist leicht. Denn in allen vorgeschrittenen
Fällen tritt uns der Cancer apertus in Grauen erregender Deutlichkeit entgegen.
Im Beginne aber ist die Diagnose nicht so leicht. Hier macht das Epitheliom
zuweilen den Eindruck einfacher Papillome und sollten deshalb derartige Ge-
schwülste nach ihrer Entfernung immer mikroskopisch untersucht werden. Der
Laie wird es sich nicht ausreden lassen, dass die Bösartigkeit der Geschwulst
erst durch die Operation entstanden sei, wenn ihre Natur bei derselben vom Arzte
verkannt wird. In anderer Weise sind Gummiknoten für Carcinome gehalten und
exstirpirt worden. Es sollte deshalb in zweifelhaften Fällen, auch wenn es sich
um grosse Knoten handelt, vor der Operation immer erst durch Darreichung des
Jodkaliums festgestellt werden, ob es sich nicht um syphilitische Geschwülste
handelt. *)
Die Erscheinungen, welche die Geschwülste bedingen,
sind sehr verschieden, je nach der Bösartigkeit der Geschwülste, ihrer Grösse
und ihrem Sitz. Lassen wir die Bösartigkeit der Geschwulst an und für sich
ausser Betracht, so verursachen die Geschwülste des Nasenrachenraumes erst dann
Erscheinungen, wenn sie durch ihre Grösse raumbeschränkend werden. Im Bachen
können schon kleine Geschwülste die Aufmerksamkeit des Patienten auf sich
lenken, theils weil er sie selbst wahrnimmt, theils weil sie beim Schlucken gefühlt
werden. Am meisten in die Erscheinung treten unter den Geschwülsten des
Schlundes diejenigen des Kehlkopftheiles. Hier reicht schon eine geringe Ge-
schwulst aus, um den verhältnissmässig engen Raum zu stenosiren. Gestielte
Geschwülste des Kehlkopftheiles sind eine erhebliche Gefahr für das Leben, weil sie
in den Kehlkopf sich überschlagen und plötzliche Erstickung herbeiführen können.
Die Behandlung der eigentlichen Geschwülste des Pharynx fällt ganz
der Chirurgie anheim. Es handelt sich darum, sie mit dem Messer, der Schlinge,
dem scharfen Löffel oder den entsprechenden galvanocaustischen Instrumenten zu
entfernen. Unter den verschiedenen Instrumenten verdient die kalte oder galvano-
caustische Schlinge, da wo sie angewandt werden kann, den Vorzug. Cavernöse
Geschwülste werden durch Injectionen von Eisenchlorid , die Elektrolyse , den
Galvanokauter zum Verschwinden gebracht. Die Operationen sind selbstverständ-
lich im Rachen am leichtesten, da es genügt, die Zunge herunterzudrücken, um
diese Höhle dem Auge zu erschliessen. Auch im Kehlkopftheil des Pharynx
lässt sich, wie Voltolini *) dies beschreibt, operiren ohne Anwendung des Spiegels
wenn man die Zunge gehörig niederdrückt und der Patient eine Würgbewegung
ausführt. Am schwierigsten gestaltet sich die Operation im retronasalen Raum.
Hier müssen die Instrumente auf rhinoskopischem Wege oder durch die Nase
hindurch eingeführt werden (vergl. den Artikel „Pharyngotomie"),
XV. Fremdkörper. Die Fremdkörper , die im Pharynx angetroffen
werden, sind fast ausschliesslich Ingesta und gelangen meist vom Munde aus
dahin. Selten gelangen von der Nase aus Knochenstücke oder Fremdkörper in
*) B. v. Langenbeck, Ueber Ghimmigeschwülste. Archiv für klin. Chir. Bd. XXVI.
**) Voltolini, Galvanocaustik. Wien 1871, pag. 223 und Berliner klin. "Wochen-
schrift. 1868. Nr. 23.
SCHLÜNDKOPF. 215
den Nasenrachenraum und ebenso ist es selten, dass von der äusseren Haut aus
vordringende Fremdkörper in den Nasenrachenraum gelangen. Häufiger schon
kommen beim Erbrechen Theile, die im Magen gewesen sind, in den Nasenrachen-
raum. Adelmann theilt die Fremdkörper folgendermassen ein :
I. Körper mit rauhen, spitzen, schneidenden Oberflächen: Knochenstücke,
Gräten , Pfeifenspitzen , Nadeln : a) Dornen , b) Nägel , c) Stacheln , d) Sonde,
e) Bolzen, f) Zinke, g) Grannen, h) Angelhaken, künstliche Gebisse und Obtura-
toren, Münzen, Messer, Gabeln.
IL Körper mit mehr glatter Oberfläche : a) weiche : Fleischstücke, lebende
Thiere, Früchte, Eier, Kuchen, Tücher, Bälle; b) harte: Steine, Ringe, Knöpfe,
metallene Tassen, Fingerhüte, Schlösser, Löffel, Holzstücke, Lederstücke.
III. Unbekannte Körper.
Die Fremdkörper rufen je nach ihrer Natur und ihrer Grösse sehr ver-
schiedene Erscheinungen hervor. Kleinere, spitze rufen zunächst Schmerz, dann
eine Verwundung des Pharynx hervor. Werden sie nicht entfernt , so perforiren
sie allmälig die Pharynxwand und beginnen entweder zu wandern, oder aber
rufen phlegmonöse Entzündungen hervor. Letztere geben zuweilen zu diffusen, die
Nachbarorgane ergreifenden Eiterungen Veranlassung. Auch sind tödtliche Blutungen
dabei beobachtet. Grössere Körper stenosiren den Pharynx, rufen immer ein Schluck-
hinderniss und gewöhnlich auch ein Athmungshinderniss hervor. Nur im Nasen-
rachenraum können an und für sich nicht reizende Fremdkörper längere Zeit
verweilen, ohne wichtige Erscheinungen zu veranlassen.
Die Diagnose eines Fremdkörpers, selbst eines grossen, ist nicht immer
leicht und können die Angaben des Kranken über den Ort, wo er denselben zu
fühlen glaubt, uns dabei in falsche Richtung leiten. Die Untersuchung ist häufig
sehr schwer, weil der Kranke würgt, erbricht oder gar zu ersticken droht. Sie
geschieht durch Palpation mit dem Finger oder der Sonde und durch das Auge,
welches direct oder mit Hilfe des Spiegels vordringt. Immer aber muss der ganze
Pharynx besichtigt werden und man darauf gefasst sein , auch mehrere Fremd-
körper, z. B. zwei Nadeln, zwei Gräten oder zwei Hälften dieser Körper anzutreffen.
Die im Pharynx befindlichen Fremdkörper werden zuweilen ohne Kunst-
hilfe ausgehustet oder ausgewürgt, oder durch gewaltsame Schluckbewegungen in
den Magen herabbefördert. Durch Kunsthilfe darf letzteres nie geschehen ; vielmehr
ist es unsere Aufgabe, die im Pharynx steckenden Fremdkörper zu extrahiren.
Dies geschieht durch entsprechende Zangen oder sonstige greifende Instrumente.
Gebisse z. B. lassen sich ergreifen, indem man einen Zahn mit der Schlinge
fasst. In manchen Fällen giebt es kein schöneres Instrument zur Extraction
wie unseren Zeigefinger. Gelingt die Extraction nicht, so muss die Pharyngotomie
gemacht werden.
XVI. Erweiterungen des Pharynx. Erweiterungen des Schlundes
finden sich im Kehlkopftheil desselben in ähnlicher Weise, wie dieses vom
Oesophagus bekannt ist, und beziehe ich mich wegen dieses Zustandes auf die
Darstellung, die derselbe im Artikel „Oesophaguskrankheiten" für dieses Organ
gefunden hat. Die Erweiterung des Pharynx ist entweder eine allgemeine , ring-
förmige oder ein Divertikel. Die ringförmige Erweiterung des Schlundes findet
sich über Verengerungen, ist im Allgemeinen sehr selten und meist Theilerscheinung
desselben Zustandes des Oesophagus. Die Erweiterung der Strictur ist die Aufgabe
der Therapie.
Die Aetiologie der Divertikel, welche gewöhnlich Pharyngocele
genannt werden, ist noch nicht genügend aufgeklärt. Der Zustand ist im Ganzen
ein seltener und kommt sicher angeboren vor. Möglicherweise veranlassen ihn auch
Verletzungen der Schleimhaut oder Atrophie seiner Muskulatur. Es bilden sich
Taschen, welche sich nach unten und gewöhnlich nach hinten, also zwischen Oeso-
phagus und Wirbelsäule, zuweilen aber auch seitlich, und dann von aussen palpabel,
herabsenken.
216 SCHLUNDKOPF.
Die Symptome wechseln je nach dem Füllungszustande der Tasche. Ist
der Divertikel mit Ingestis angefüllt, so kann derselbe den Speiseweg vollkommen
verschliessen und ruft jedenfalls ein erhebliches Schluckhinderniss hervor. Entleert
sich der Inhalt, was bei seitlichen Taschen zuweilen durch äusseren Druck möglich
ist, so schwindet das Schluckhinderniss, um bei erneuerter Anfüllung der Tasche
wiederzukehren.
Die Diagnose der ringförmigen Erweiterung des Pharynx erfolgt durch
den Augenschein bei laryngoskopischer Untersuchung. Die Ursache wird mit der
Sonde oder dem Oesophagoskope festgestellt. Die Erscheinungen der Pharyngocele
sind charakteristisch genug , um die Diagnose zu sichern. Es ist jedoch häufig sehr
schwer, die zuweilen enge Oeffnung der Tasche, namentlich mit dem Auge zu finden.
Die Therapie der Divertikel bezweckt zunächst ihre Entleerung ; dann
kann man versuchen, den Eingang zu verschliessen. Meist wird jedoch die Pharyngo-
tomie die Exstirpation des Divertikels bezwecken müssen.
XVII. Von den Stricturen des Pharynx haben wir die durch syphi-
litische Narben entstandenen bereits erwähnt. In ähnlicher Weise können andere
narbige Processe Verengerungen des Pharynx, namentlich des Kehlkopftheils her-
vorrufen. In dieser Beziehung sind die Verbrennungen des Pharynx durch Genuss
zu heisser Getränke (Trinken aus siedenden Theetöpfen etc.) oder aber die
Anätzungen desselben durch Laugen oder Säuren zu erwähnen, wie letztere durch
Unvorsichtigkeit oder beim Conamen suicidii häufiger vorkommen. Die Stricturen
des Pharynx rufen immer ein Schluckhinderniss und zuweilen ein Athmungs-
hinderniss hervor. Sie sind mit dem Auge und der Sonde leicht zu erkennen. Die
Therapie erstrebt, sie zu erweitern. Je nach der Tiefe der stricturirten Partie
geschieht dies entweder durch allmälige Dilatation oder durch Excision, namentlich
vermittelst der Galvanocaustik oder durch eine Combination dieser beiden Ver-
fahren. In den hochgradigsten Fällen kann die Oesophagotomie nothwendig werden.
XVIII. Innervationsstörungen. Ueber die Innervation des Pharynx
sind die Acten noch nicht geschlossen. Es scheint festzustehen , dass als haupt-
motorischer Nerv für das Gaumensegel der Accessorius zu betrachten ist.
Hierfür sprechen: 1. die anatomischen Untersuchungen Burchard's*),
der unter Heidenhain's Leitung nach der WALLER'schen Methode die Accessorius-
wurzeln ausriss und beobachtete, welche Nerven nach diesem Eingriffe der fettigen
Degeneration anheimfielen. Darunter gehörte immer der JV. pharyngeus Nervi ragt.
2. Können hierfür die physiologischen Experimente von Bischof angeführt werden,
während Versuche von J. A. Hein**) diesen Satz nur theilweise bestätigen.
Namentlich aber sprechen 3. hierfür die Beobachtungen von einseitigen Accessorius-
lähmungen, wie solche von Erb***), Seelig-müllek f) und an einem in meiner
Poliklinik beobachteten Falle von B. Holz ff) mitgetheilt wurden. Die Muskeln,
die vom Vag o- accessorius versorgt werden, sind der obere Constrictor, der Levator
veli, die Mm. pharyngo- und glosso-palatini. Der M. tensor veli wird dagegen
vom JRamus jpterygoideus int., des zweiten Astes des Trigeminus, innervirt. Im
Gegensatze zu der Annahme, dass der Accessorius die oben genannten Muskeln
innervire , wird von manchen Autoren angenommen , dass dies der Facialis und
zwar durch seine Rami palatini, welche die Fortsetzung des N. jpetrosus super-
ficialis major, des Verbindungsastes zum Glosso-pharyngeus darstellen. Lähmungen
des Facialis, welche den Stamm oberhalb des Ganglion geniculi betreffen, rufen
eine Mitbetheiligung des Velum hervor.
Was die sensiblen Nerven des Schlundes anlangt, so versorgt der Tri-
geminus die Schleimhaut in der nächsten Umgebung des Ost'ium jyharyngeum
*) Burchard, Verlauf des Acc. Willisii im Vagus. Dissert. Halle 1867.
**) Müller's Archiv. 1844.
***) Deutsches Archiv für kliu. Med. Bd. IV.
t) Archiv für Psychiatrie. 1872.
ff) Dissert. Berlin 1877.
SCHLUNDKOPF. 217
tubae und des vorderen Schlundkopfgewölbes, ferner die vordere Seite des Velum
bis zu den Rändern der Arcus glosso-palatini. Der übrige Pharynx wird vom
Plexus nervosus pharyngeus innervirt, zu welchem sich der Glosso-pharyngeus
der Vago-accessorius und Sympathicus vereinigen und von einigen besonderen
Nerven, welche aus diesen Stämmen entspringen. Der Glosso-pharyngeus ist
gleichzeitig Geschmacksnerv für den Pharynx.
1. Störungen der Sensibilität. Die Schleimhaut des Schlundes
localisirt tactile Eindrücke bei verschiedenen, sonst normalen Menschen sehr ver-
schieden genau ; im Allgemeinen aber viel weniger genau, als dies von der äusseren
Haut gilt. Auch Wärme- und Kälteeindrücke gelangen im Schlünde weniger genau
zur Perception. Dagegen beantwortet die Schleimhaut des Pharynx Reize mit den
von ihr möglichen Reflexen ziemlich prompt. Namentlich die Berührung der Gaumen-
bögen ruft bei den meisten Menschen Würgen hervor. Durch Uebung lassen sich
diese Reflexe unterdrücken lernen. Die Pharynxschleimhaut gehört zu den Theilen
des Körpers, die in1 der Narcose oder beim Coma am längsten ihre Reflexerreg-
barkeit bewahren. Schmerzen, die von der Schleimhaut des Schlundes ausgelöst
werden, werden häufig verkehrt localisirt und theils in das Ohr, theils in den
Kopf verlegt. Pathologische Reflexerscheinungen werden nicht gerade selten durch
Erkrankung der sensiblen Nerven des Pharynx hervorgerufen.
a) Anästhesie würden wir , wie überall , im Pharynx einen Zustand
nennen, bei welchem das Minimum, welches einen sensiblen oder reflectorischen
Reiz auslöst, grösser ist, als es normal sein sollte. Ich glaube nicht, dass man im
Pharynx gut thut, Unterabtheilungen dieses Zustandes als z. B. Analgesie zu unter-
scheiden. Um dies thun zu können , dazu lauten in der Regel die Angaben der
Patienten viel zu unbestimmt. Die Anästhesie des Pharynx findet sich in aus-
gesprochenster Weise in Fällen, in denen durch Compression der Vagus und
Glosso-pharyngeus gelähmt ist. *) In solchen Fällen kann die Schleimhaut des
Pharynx mit einer Sonde stark berührt werden, ohne dass der Patient dies wahr-
nimmt und ohne dass ein Reflex erfolgt. Auch verliert der Patient die Controle
über die in den Pharynx gelangenden Speisen, sobald dieselben auf die erkrankte
Seite gerathen. In Folge dessen bleiben Speisepartikeln im Pharynx stecken
oder gelangen in den Kehlkopf eingang und werden in beiden Fällen erst durch
Husten und Würgen wieder entfernt. Auch die Unterscheidung von kalt und
warm geht verloren. Es sind dies aber im Ganzen seltene Fälle. Die gewöhn-
lichen Formen, in welchen Anästhesie des Pharynx angetroffen wird, entstehen
auf dem Boden der Hysterie oder compliciren sich mit der diphtherischen Lähmung.
In diesen Fällen sind sie meist doppelseitig und betreffen eine meist bleiche
Schleimhaut. In seltenen Fällen empfinden Hysterische neben der Anästhesie
Schmerzen im Schlünde (Anaesthesia dolorosa). Gewöhnlich aber ergiebt erst
die objective Untersuchung das Vorhandensein der Anästhesie, da die Kranken
davon kein Bewusstsein und keine Beschwerden haben. Als Heilmittel dient die
Elektricität und die Behandlung des Grundleidens. Auch Strychnininjectionen sind
empfohlen.
b) Hyperästhesie. Hyperästhesie ist der Zustand, in welchem das
Minimum des Reizes, welches einen sensiblen oder reflectorischen Effect auslöst,
geringer ist als in der Norm. Die Hyperästhesie des Pharynx ist ein recht ver-
breiteter Zustand und findet sich besonders bei Rauchern, Trinkern, Tuberkulösen
und solchen Menschen, die viel sprechen. Sie wird von den Aerzten leicht bemerkt,
da sie bei der Pharyngoskopie und Laryngoskopie ein erhebliches Hinderniss
abgiebt und durch ungeschickte Manipulationen hervorgerufen werden kann. Sie
zeigt sich namentlich nach Seite des Reflexes hin und rufen zuweilen schon
Bewegungen des Pharynx oder der Zunge Würgen etc. hervor. Die Hyperästhesie
*) Cf. B. Fraenkel, Berliner klin. "Wochenschr. 1875. Nr. 3. Schech, Deutsches
Archiv für klin. Med. Bd. XXIII, pag. 157.
j»18 SCHLUNDKOPF.
findet sich nur selten ohne anderweitige Erkrankungen des Rachens, meist ist sie
mit chronischem Catarrh der Schleimhaut complicirt. Die Therapie wird sich des-
halb zunächst gegen dieses Grundleiden richten müssen (Bepinselungen mit
Tannin etc.), dann aber leisten die Narcotica und Anästhetica gute Dienste. Der
innere Gebrauch von Kalium bromatum und Bepinselungen mit Morphiumlösung,
anch die Anwendung der Kälte, sind zu empfehlen. Juracz empfiehlt: Recipe.
Hydrat, Chloral 4, Morph, hydrochl. Ol, Aq. dest. 100-0. MDS. Mehrmals
täglich zu pinseln.
cj Parästhesie. Unter den Sensibilitätsneurosen des Pharynx ist die
Parästhesie die häufigste. Sie findet sich neben Anästhesie, Hyperästhesie oder
bei sonst normaler Sensibilität. Die Kranken klagen über fremde Empfindungen im
Schlünde, denen sie eine verschiedene Deutung geben. Bald glauben sie, der Kitzel,
den sie empfinden, rühre von Schleim her; sie klagen dann über Verschleimung
und geben sich alle erdenkliche Mühe, den nur in ihrer Empfindung vorhandenen
Schleim herauszubefördern. Sie sind glücklich, wenn ihnen ihr ewiges Räuspern
und Kratzen einmal einen Tropfen Secret in die Erscheinung bringt. In anderen
Fällen supponiren sie dem Gefühle, als wenn ihnen hinten im Halse etwas sässe,
einen Fremdkörper. Sie sagen es sässe ihnen ein Haar , eine Gräte , eine Korn-
ähre, Stroh oder dergl. im Halse. Manchmal glauben sie der Fremdkörper, über
den sie klagen, bewege sich und so entsteht die eigentümliche Empfindung, die
zum Globus hystericus die Veranlassung wird. Alle diese Empfindungen sind meist
spontan vorhanden , zuweilen werden sie nur beim Schlucken oder Sprechen
gefühlt. Sie lassen sich bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit vergrössern
und fixiren.
Für die Entstehung der Parästhesie giebt es kaum ein charakteristischeres
Beispiel, als die Empfindung, die nach Extraction eines Fremdkörpers zurückbleibt.
In einer ganzen Reihe von Fällen, in denen man Kranken einen Fremdkörper
und zwar total aus dem Pharynx extrahirt hat, erscheinen dieselben des anderen
Tages wieder, und behaupten, es sässe noch etwas in ihrem Halse. Das Gefühl,
als wenn im Pharynx noch etwas stäcke, ist den Kranken so deutlich vorhanden,
dass sie häufig auch der genauesten Untersuchung und der festen Versicherung,
dass Alles entfernt sei, keinen Glauben schenken und zum dritten Male wieder
kommen, um sich den Unannehmlichkeiten, die die Exploration des Pharynx mit
sich bringt, nochmals zu unterziehen. Juracz beschreibt einen Fall, in dem beim
Zerschlagen eines Glases, aus welchem ein Patient trank, die mit psychischer
Erregung einhergehende blosse Vorstellung, einen Glassplitter verschluckt zu haben,
ausreichte, eine derartige Parästhesie hervorzurufen. Es geben solche Beobachtungen
Fingerzeige dafür ab , wie nun die unangenehmen Empfindungen des chronischen
Catarrhs sich zu Parästhesien ausbilden können. In der überwiegenden Mehrzahl
aller Fälle von Parästhesie ist aber chronischer Catarrh der Schleimhaut vorhanden
und in einer nicht geringen Anzahl Pharyngitis lateralis. Die hochgradigsten
Formen von Parästhesie trifft man bei Hysterischen und Hypochondrischen. Es
giebt aber auch Fälle, in denen Hypochondrie und Melancholie vom Pharynx aus
angeregt wird (cf. Bd. XII, pag. 201). Parästhesie ist in der Mehrzahl der Fälle
ein langwieriges Leiden, welches nicht nur die Patienten, sondern auch den
behandelnden Arzt der Verzweiflung nahe bringen kann. In Bezug auf die Therapie
ist zunächst die Pharynxschleimhaut zur Norm zurückzuführen, gegen die Par-
ästhesie als solche Elektricität und Allgemeinbehandlung (Hydropathie, Ferrum-
präparate, psychische Behandlung etc.) anzuwenden.
dj Wirkliche Neuralgien kommen im Rachen sehr selten vor,
sind aber beobachtet worden. Namentlich scheint die Ausbreitung des Trigeminus
im Pharynx neuralgisch erkranken zu können und entstehen dann Schmerzen, die
von den Kranken in den Kopf verlegt werden.
Literatur: A. Juracz, Ueber die Sensibilitätsneurosen des Rachens und des
Kehlkopfes. Sammlung klin. Vorträge. Nr. 195.
SCHLÜNDKOPF. 219
2. Motorische Neurosen.
a) Krämpfe im Gebiete des Pharynx kommen nur in Verbindung mit
Krämpfen des Oesophagus oder als Theilerscheinung der Hydrophobie zur Beob-
achtung (vgl. den betreffenden Artikel).
h) Lähmung. Die Lähmungen der Muskulatur des Pharynx sind selten
central; als solche finden sie sich zum Beispiel bei Hemiplegien. Als Leitungs-
lähmungen müssen solche Formen betrachtet werden, die bei Compression des
Vago-accessorius oder des Facialis (jenseits der Ggl. geniculi) beobachtet werden.
Als peripher gelten diejenigen Lähmungen, die sich nach acuten Krankheiten, am
meisten nach Diphtherie, finden. Die Lähmungen betreffen eine oder beide Seiten
des Pharynx oder nur einzelne Muskeln. Der Ausfall der Wirkung eines einzelnen
Muskels macht sich in folgender Weise bemerklich. Die Lähmung des M. lecator
und Tensor veli lässt die betreffende Seite des Velum unbewegt oder wenn es
sich um Parese handelt, weniger bewegt als die gesunde. In der Ruhelage, bei
aufrechter Kopfhaltung, hängt die betreffende Seite des Velum mehr nach vorn.
Einseitige Lähmung des M. azygos uvulae stellt das Zäpfchen krumm nach der
gesunden Seite hin. Doppelseitige Lähmung dieses Muskels verlängert die Uvula.
Isolirte Lähmungen der übrigen Muskeln kommen nur sehr selten zur Beobachtung.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind sämmtliche Muskeln des Velum
gelähmt und entstehen dadurch sehr wichtige Veränderungen. Bei einseitiger
Lähmung hängt das ruhende Velum bei aufrechter Körperhaltung mit der gelähmten
Seite weiter nach vorn, die Raphe weicht von der Sagitallinie nach hinten gegen
die gesunde Seite hin ab ; das Gewölbe, welches der Gaumen darstellt, wird schief,
die höchste Kuppe liegt , je weiter nach hinten , desto mehr auf der gesunden
Seite. Bei intendirter Bewegung treten diese Erscheinungen noch mehr hervor.
Die Raphe wird ganz auf die gesunde Seite hinübergezogen und erscheint der
Winkel, welchen das Zäpfchen mit denn Gaumenbogen bildet, auf der gesunden
Seite erheblich spitzer als auf der erkrankten. Der Isthmus pharyngonasalis
bleibt auf der kranken Seite offen. Bei doppelseitiger Lähmung steht das Velum
palatinum unbeweglich, weit von der hinteren Pharynxwand ab und hängt wie
ein schlaffes Segel in die Mundhöhle hinein ; bei aufrechter Körperhaltung weiter
nach vorn als in der Rückenlage. Der Abschluss des Isthmus pharyngo-nasalis
unterbleibt auf beiden Seiten. Es kommen Fälle zur Beobachtung, in welchen bei
im Uebrigen completer Paralyse des Velum der Tensor auf einer oder auf beiden
Seiten noch functionirt, was sich durch Zuckungen im Bereiche seiner Insertion
bemerklich macht. Vorstehendes gilt von der Paralyse. Paresen zeigen die ge-
schilderten Erscheinungen in ihrer Heftigkeit entsprechend vermindertem Grade.
In manchen Fällen findet sich neben der Lähmung der Muskulatur Anästhesie.
Einer besonderen Erwähnung bedürfen "die am häufigsten vorkommenden,
sogenannten diphtherischen Lähmungen. Sie finden sich als eine nicht seltene
Folgekrankheit der Diphtherie. Bei einseitiger Diphtherie am stärksten auf der
befallenen Seite. Sie finden sich aber auch nach einfacher Angina und Juracz*)
beschreibt einen Fall, in dem eine solche Lähmung nach einer Pneumonie bei einem
6x/2 Jahre alten Knaben eintrat. Wie es scheint, beruhen diese Lähmungen auf
Erkrankungen der peripheren Nerven und der Muskeln (cf. E, Leyden, Zeitschrift
für klin. Med., Bd. IV, pag. 351 und Paul Meyer, Virchow's Archiv, Bd. LXXXV,
pag. 181 ; bei letzterem findet sich die ganze Literatur zusammengestellt).
Die bei der Bulbärparalyse auftretende Gaumenlähmung hat etwas
Besonderes ; die Functionsstörung ist grösser als man nach dem objectiven Befunde
denken sollte; die Bewegungen des Velums erfolgen anscheinend nur träger,
während das Schlucken schon beinahe unmöglich ist.
Sobald der Isthmus pharyngo-nasalis auf einer oder auf beiden Seiten
nicht mehr geschlossen werden kann, treten wichtige Symptome in die Erscheinung.
*) l. c. pag. 17.
220 Si'ilLUNDKOPF. — SCHNELLENDER FINGER.
Beim Sohlingen, namentlich von Flüssigkeiten, gelangt ein Theil in den Nasen-
rachenraum und wird zuweilen fontainenartig durch die äusseren Nasenlöcher
entleert. Die Behinderung des Schlingens ist zuweilen eine so erhebliche, dass
die künstliche Ernährung mittelst der Schlundsonde nöthig wird. Die Sprache
bekommt einen näselnden Beiklang und zwar den offenen Nasenton, jenen Ton,
den wir beim Aussprechen nasaler Vocale auch physiologisch verwenden. Viele
Consonanten verlieren ihren Klang und wird die Sprache undeutlich. Auch findet,
wie Krishaber zuerst nachgewiesen, eine phonatorische Luftverschwendung statt.
Beim Sprechen entweicht durch die Nase fortwährend Luft, die in der Normalität
im Munde noch eine gewisse Spannung erleidet. Hierdurch wird die Luftsäule in
der Trachea entlastet und können die betreifenden Patienten mit einer Inspiration
beim Sprechen weniger lange haushalten, als sie dies bei geschlossenem Isthmus
pharyngo-nasalis zu thun im Stande wären.
Die Therapie der Lähmungen muss sich selbstredend nach der Ursache
richten. Die Anwendung der Elektricität bleibt das Hauptmittel. Auch Strychnin-
injeetionen sind empfohlen. Bei diphtherischen Lähmungen sind Roborantia am Platze.
L i t e r a t u r über Pharynxkrankheiten im Allgemeinen : E. Wagner und H. W e n d t
und E. Wagner in Ziemssen's Handb. der spec. Path. Bd. VII. 1. 2. Aufl. Leipzig 1878. —
C. Störk, Klinik der Krankheiten des Kehlkopfes, der Nase und des Rachens. Stuttgart
1880. — Morell Mackenzie, Krankheiten des Halses und der Nase. Uebersetzt von
F. Semon. Berlin 1880. — C. Michel, Behandlung der Krankheiten der Mundrachenhöhle.
Leipzig 1880. B. Fraenkel.
Schmalkalden in der Provinz Hessen-Nassau, Station der Werrabahn,
290 Meter hoch gelegen, in einem engen, gegen Norden durch einen hohen
Gebirgsrücken geschützten Thale, hat mehrere, durch starken Gyps- und geringen
Kohlensäuregehalt charakterisirte, kalte Kochsalzquellen, welche zum Trinken und
Baden verwendet werden. Das Wasser enthält in 1000 Theilen :
Chlornatrium 9' 343
Chlorkalium 0*120
Chlormagnesium 0*392
Chlorcalcium 0*650
Schwefelsauren Kalk 3*004
Kohlensauren Kalk 0*234
Summe der festen Bestandtheile 14*014
Freie Kohlensäure 115*6 Cc. K.
Schmeks, s. „Smeks".
Schmierern*, s. „Quecksilber", „Syphilis".
Schminken, s. „Cosmetica", III, pag. 508.
Schneeblindheit, s. „Hemeralopie", VI, pag. 40.
Schnellender Finger (federnder Finger, doigt ä ressort). Mit
diesem Namen bezeichnet man eine eigenthümliche Bewegungsstörung der Finger,
welche zuerst von Notta ]) im Jahre 1850 beschrieben und von Nelaton 2)
„doigt ä ressort" benannt wurde. Das Leiden ist selten und die Zahl der bisher
mitgetheilten Beobachtungen eine nur geringe. 3)
Die Symptome sind in hohem Grade charakteristisch. Während die
Form und das Aussehen des erkrankten Fingers nichts Auffallendes darbieten,
kann dieser willkürlich weder vollständig gebeugt , noch vollständig gestreckt
werden; die Bewegung geht in normaler Weise nur bis zu einem bestimmten
Grade vor sich, — hier stockt sie plötzlich, und nur energischer Willensanstrengung,
bisweilen sogar nur passiver Nachhilfe — welche die Kranken dann gewöhnlich mit
der gesunden Hand ausführen — gelingt es, den Finger aus der unvollkommenen
Beuge- oder Streckstellung zu befreien und in die vollständige Beugung oder
Streckung überzuführen; — diese aber erfolgt in pathognostis eher
SCHNELLENDER FINGER. 221
Weise plötzlich, mit einem schnellenden Ruck, wie hei einem
zuschnappenden Taschenmesser, unter mehr minder schmerz-
haftem, fühl- und hörbarem knackenden Geräusch. Eben dieses plötzliche
Ueberspringen, als würde der Finger von einer Feder über ein Hinderniss hinweg-
geschnellt, hat zu der Bezeichnung des Leidens Veranlassung gegeben. Bisweilen
kann der afficirte Finger in normaler Weise völlig gebeugt werden und nur bei
der Streckung macht sich die geschilderte Hemmung geltend ; in einem meiner
Fälle blieb der erkrankte Daumen häufig in immobiler, schmerzhafter Hyperextension
stehen und konnte nur passiv, unter lautem Knacken, flectirt werden. In einzelnen
Fällen producirt sich das eigenthümliche Phänomen nicht constant, sondern Beugung
und Streckung gehen oft mehrmals hinter einander ganz geläufig und ungestört
von Statten (Berger, Blum). Wenn Bosch 4) anführt, dass die Bewegungen in dem
„kranken Gelenk" auch von Vornherein sehr langsam ausgeführt werden, noch ehe
sie ganz gehemmt sind , so kann ich dies Verhalten nach meinen eigenen Beob-
achtungen nicht bestätigen , — hier erfolgte die willkürliche Bewegung bis zur
pathologischen Hemmung in ganz normalerweise. Nur selten verläuft die geschilderte
Bewegungsstörung ohne alle Schmerzen ; gewöhnlich klagen die Kranken über einen
lebhaften Schmerz in dem Augenblick, wo der Finger aus der unvollständigen Beugung
oder Streckung in die vollständige überspringt. Bisweilen bestehen auch in der Ruhe
Schmerzempfindungen in den dem schnellenden Finger entsprechenden Metacarpo-
phalangealgelenk , und zwar vorzugsweise an der Volarfläche desselben, welche
sich bisweilen von hier aus längs der entsprechenden Beugesehne nach dem
Vorderarm erstrecken. Diese Schmerzen können auch dem Auftreten des „Schnellens"
kürzere oder längere Zeit vorausgehen. Oefters sind auch anderweitige „rheuma-
tische" Beschwerden vorhanden. In drei von mir beobachteten Fällen war ein
ausgesprochener Gelenkrheumatismus mit Betheiligung der Fingergelenke voran-
gegangen. Parästhesien (Formieation , brennende Empfindungen u. s. w.) stellen
sich nur ausnahmsweise in dem erkrankten Finger ein. Dass die geschilderte
Motilitätsstörung sich bei den verschiedensten Hantirungen in sehr peinlicher
Weise geltend macht, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung.
Bei eingehender objectiver Untersuchung des erkrankten Fingers findet
man in dem Gelenk zwischen erster und zweiter Phalanx, in welchem die Functions-
störung ihren Sitz hat, keinerlei krankhafte Veränderung ; dagegen zeigt • sich fast
regelmässig eine deutliche Druckschmerzhaftigkeit an einer umschriebenen Stelle
der Volarfläche des correspondirenden Metacarpophalangealgelenkes. Hier fühlt
man ulnarwärts von der Sehne einen harten, etwa linsengrossen , auf der Unter-
lage unbeweglich aufsitzenden Körper, der auf Druck ganz besonders empfindlich
erscheint. Menzel (1. c.) hat sich aus Leichenuntersuchungen überzeugt, dass
dieser härtliche, unbewegliche Körper an der Seite der Sehne dem einen der
freien Enden der knöchernen Halbrinne der ersten Daumenphalanx, in welcher
die Sehne verläuft, entsprach. Auch Hahn giebt an, dass in seinem Falle von
doppelseitiger Erkrankung des Ringfingers die Untersuchung längst desselben erst
schmerzhaft wurde, wenn man an die Beugesehne am Metacarpophalangealgelenke
gelangte, wo sich ulnarwärts beiderseits ein auf Druck sehr empfindlicher, etwa
erbsengrosser, härtlicher Vorsprung bemerklich machte. Wenngleich alle Autoren
das Vorhandensein dieses kleinen Knotens constatiren, so gehen jedoch ihre An-
sichten über die Natur desselben auseinander. Nelaton fand in seinem Falle in
der Höhe des Metacarpophalangealgelenkes einen knorpelharten Körper in der
Flexorenscheide , welcher verschiebbar war, während der Beuge- und Streck-
bewegung plötzlich still stehen blieb und bei fortdauernder Anstrengung eine
brüske Bewegung machte, als ob er über ein Hinderniss glitte. Nelaton glaubte,
dass dieser Körper die Ursache des Leidens sei und schlug demgemäss vor, ihn
in einem ähnlichen Falle zu exstirpiren. Busch konnte in zwei von ihm beob-
achteten Fällen weder am Gelenk , noch an den Sehnenscheiden, eine Abnormität
auffinden. Die Ansicht von Pitha, dass sich die eigenthümliche Affection am
SCHNELLENDER FINGER.
besten durch die Annahme kleiner freier Gelenkkörperchen erkläre, darf nur
insoweit für den einen oder den anderen Fall Geltung beanspruchen, als bisweilen
kleine freie Körper in der Sehnen- oder Gelenksynovialis ähnliche Symptome
herbeiführen können, wenn sie, wie Vogt treffend bemerkt, eine, wenn auch
lockere, doch an bestimmter Stelle befindliche Befestigung besitzen. Ohne diese
könnte ja die Hemmung nicht eine so präcise und typische sein, wie dies beim
schnellenden Finger der Fall ist. Nachdem bereits Hyrtl aus theoretischen
Erwägungen sieh dahin ausgesprochen hatte, class nur eine umschriebene Ver-
dickung der Sehne des einen oder anderen langen Fingerbeugers mit gleichzeitiger,
auf eine bestimmte Stelle beschränkter Verengerung der Sehnenscheide, das
Hinderniss abgeben könne, ist neuerdings von Menzel die Eichtigkeit dieser
Ansicht nachgewiesen worden.
Menzel hat sich der dankenswertheu Aufgabe unterzogen, durch Versuche an
der Leiche das Wesen der „schnellenden Finger" aufzuklären. Er suchte künstlich schnellende
Finger herzustellen und legte sich zuerst die Frage vor, ob eine circumscripte Verdickung
der Sehne, ein Sehnentumor , für sich allein genügend ist, einen schnellenden Finger zu
erzeugen. Die Sehne des tiefliegenden Fingerbeugers -wurde an einer ganz kleinen Stelle,
entsprechend der zweiten Phalanx, blossgelegt, hervorgeholt und mit einem Faden fest um-
schnürt. Diese mehrfache Fadentour mit dem entsprechenden Knoten bildete einen kleinen
circumscripten Sehnentumor. Hierauf wurde die Sehne in ihre Scheide versenkt und theils
durch directes Beugen der Finger, theils durch Anziehen der entsprechenden, über dem
Handgelenke blossgelegten Seime, Bewegungen vorgenommen. Die so erzielten Finger-
bewegungen waren zwar weniger glatt, doch war von einem Schnellen nichts zu bemerken.
Das Schnellen trat bei vorhandenem Sehnentumor in höchst charakteristischer "Weise
erst ein, wenn man den Widerstand der Scheide an einer passend gewählten Stelle erheblich
vermehrte oder verminderte. Zu dem ersteren Zwecke wurde eine künstliche Scheidenenge
durch feste Unterbindung der umstochenen Scheide sammt der eingeschlossene Sehne erzeugt.
Nun ging die Bewegung des Fingers glatt vor sich, bis der Sehnentumor an die Scheiden-
enge anlangte: da auf einmal stockte die Bewegung; verstärkte man aber um etwas die
bewegende Kraft, so schnellte der Finger ganz plötzlich unter leichtem Knacken in die inten-
dirte Stellung über. Hierbei hat man ganz das Gefühl, als ob das Schnellen in einem
Fingergelenk (meistens dem letzten Interphalangealgelenk) stattfände. Ebenso konnte mit
Leichtigkeit das Schnellen erzeugt werden, wenn man durch Abtragung eines Stückchens der
Scheide ihren Widerstand aufhob. Wenn der Sehnentumor relativ stark ist, so gehört eine
etwas grössere Kraft dazu, um den Knoten durch die Scheide durchzuwinden. Hört nun ihr
Widerstand plötzlich auf, so schnellt der entfesselte Sehnentumor mit einem Ruck eine
Strecke weit hinaus, während man bei der Betastung des Fingers ganz den Eindruck gewinnt,
als ob dieses Zuschnappen im Interphalangealgelenk vor sich ginge. — Menzel versuchte
auch die Nelaton'sche Annahme, dass die Erscheinung des Schnellens durch Sehnen-
scheidenkörper (analog den Gelenkmäusen) bedingt sei, experimentell zu prüfen. Er führte
durch kleine Einschnitte fremde Körper, wie Hirse-, Hanf- und Reiskörner in die Sehnen-
scheiden ein und schob sie mit einer Sonde eine Strecke weit in die Scheide hinein. Diese
Körper schlüpften mit Vorliebe an die beiden Seiten der Sehne, bewegten sich aber in der
Regel nur ganz unbedeutend oder gar nicht mit. Nie entstand dabei das Phänomen des
Schnellens. — Aus den genannten Versuchen zog Menzel mit Recht folgende Schlüsse:
1. Das Schnellen der Finger dürfte wohl fast immer durch eine Affection der
Sehnenscheide bedingt sein; der Untersuchende hat jedoch stets den Eindruck, als wenn das
Schnellen iu einem Fingergelenk vor sich ginge.
2. Weder ein circumscripter Sehuentumor allein, ohne Scheidenenge, noch eine
Scheidenenge ohne Sehnentumor, genügen zum Hervorrufen des Schnellens. Hierzu sind
vielmehr beide Bedingungen gleichzeitig nothwendig.
3. Das Schnellen kommt auch zu Stande, wenn bei vorhandenem Sehnentumor die
Scheide an einer entsprechenden Stelle eingerissen ist.
4. Freie Sehnenkörper bedingen nicht das Schnellen, selbst dann nicht, wenn eine
gleichzeitige Verengerung der Scheide besteht, es müsste denn der Sehnenkörper gar nicht
frei, sondern innig mit der Sehne selbst zusammenhängen, wo er dann einem circumscripten
Sehnentumor gleichwerthig wäre.
Menzel spricht schliesslich die Meinung aus, dass gerade das Metacarpophalangeal-
gelenk einerseits wegen der Tiefe der knöchernen Rinne , in welcher die Sehne verläuft,
andererseits wegen des queren, deutlich vorspringenden Wulstes, welchen der Ansatz der
Gelenkkapsel hier zwischen den Enden der knöchernen Rinne bildet, für das Zustande-
kommen von Verengerungen der Sehnenscheiden an den Fingern besonders geeignet sein dürfte.
Demgemäss unterliegt es keinem Zweifel, dass der Erscheinung des
schnellenden Fingers eine mechanische Behinderung zu Grunde liegt. In der
SCHNELLENDER FINGER. 223
Mehrzahl der Fälle kommt diese durch Entzündungsproducte zu Stande, so d a s s
es sich im Wesentlichen um eine circ umscripte, chronische
Tendovaginitis handelt. Eine meiner Kranken bot in deutlichster Weise
das für die Sehnenscheidenentzündung höchst pathognostische , eigentümliche
Reibegeräusch an der Volarfläche des entsprechenden Metacarpophalangealgelenkes
dar. In einem Falle von Vogt 6) war der wiederholt erwähnte linsengrosse Knoten
an der Grundphalanx des betreffenden Fingers nicht durch eine chronische Ent-
zündung zu Stande gekommen, sondern plötzlich nach einem Trauma (intra-
fibrilläres Blutextravasat oder fibrillärer Sehnenriss). Nach demselben Autor sind
vielleicht gar nicht so selten „Sehnenknoten" die Veranlassung des Leidens , die
entweder kleinste Ganglien, oder als wirklicher Sehnencallus auf-
zufassen sind. In seltenen Fällen wäre auch an Sehnengummata zu denken,
die meist in umschriebener Form als Knotenbildung auftreten. Blum , welcher
neuerdings drei eigene Beobachtungen mitgetheilt und in einer tabellarischen
Uebersicht alle bisher publicirten Fälle zusammengestellt hat, spricht sich — auf
der Grundlage eigener anatomischer und experimenteller Untersuchungen — dahin
aus, dass die Krankheit als das Resultat einer plastischen Synovitis zu betrachten
sei; die Natur der Hemmung ist nach ihm durch das centrale Ende der fibrösen
Flexorenscheide hervorgebracht (1. c). Eine besondere Disposition für die Hemmung
bietet die Flexorenscheide des Daumens dar, auf Grund der hier durch die Ossa
sesamoidea beengten Passage,
Von 19 Beobachtungen betreffen nur fünf weibliche Individuen; alle
Kranken waren erwachsen, mit Ausnahme eines von mir mitgetheilten Falles, der
ein 51/2jähriges Mädchen betraf. Die Betheiligung der einzelnen Finger ergiebt
folgende Statistik von Blum : Daumen 1 lmal, Zeigefinger lmal, Mittelfinger 4mal,
Ringfinger lOmal, kleiner Finger 2mal.
In einigen Fällen fand sich die eigenthümliche Erscheinung gleichzeitig
an mehreren Fingern, sei es derselben Hand, oder beider Hände. Die Finger der
rechten Hand werden häufiger befallen, als die der linken.
Als Ursachen der Erkrankung scheinen vorzugsweise rheumatische
Schädlichkeiten, in einzelnen Fällen traumatische Einwirkungen, zu
Grunde zu liegen. Anstrengende Beschäftigungen scheinen eine gewisse Prädispo-
sition zu geben. Der Sehnengummata wurde bereits oben gedacht.
Die Diagnose des „schnellenden Fingers" ergiebt sich von selbst, da
die Bewegungsstörung so besonders geartet und so verschieden von allen anderen
Formen der Motilitätsbehinderung ist, dass sie niemals verkannt werden kann.
Für die genauere Bestimmung der in dem einzelnen Falle zu Grunde liegenden
Ursache werden die anamnestischen Angaben über die Entwicklung des Leidens
von Wichtigkeit sein. Von einer Gelenkmaus wird sich die Affection dadurch
unterscheiden, dass die Bewegungsstörung im ersteren Falle durchaus nicht immer
in ein und demselben Stadium der Bewegung in so typischer Weise eintritt.
Oben jedoch wurde bereits hervorgehoben, dass dies wohl der Fall sein kann,
wenn der Gelenkkörper eine gewisse intraarticuläre Befestigung darbietet.
Die Prognose ist relativ günstig. Bei geeigneter Behandlung ver-
schwand die Erscheinung nach einigen Wochen oder Monaten ; in einzelnen Fällen
jedoch erwies sich das Uebel als unheilbar.
Für die Behandlung empfehlen sich warme Localbäder, Massage,
Elektricität , Tinct. Jodi. Während Busch, Hahn u. A. in ihren zur Heilung
gelangten Fällen andauernde Ruhe des Gliedes beobachten Hessen , emfiehlt Vogt
methodische Bewegung. Die verschiedenen Fälle werden eben ein verschiedenes
Verhalten bedingen. Sind mobile Knötchen an der Sehne durchfühlbar, so räth
Vogt bei dauernder functioneller Störung die Entfernung durch Excision. Ergiebt
die Untersuchung (wie in mehreren Fällen von Notta und in einem Falle von
Vogt) ein deutlich fühlbares Hinderniss in der Hohlhand, so sind nach Vogt
die Freilegung der Partie durch Incision und partielle Lösung vorzunehmen. Bei
224
SCHNELLENDER FINGER. — SCHNITT.
einem ätiologischen Zusammenhang mit allgemeinem Rheumatismus ist eine ent-
sprechende Allgcmeinbehandlung angezeigt.
Literatur: ') Archiv, gener. de med. 1850 (4 Fälle). — 2) Pathol. exter. 1858
(1 Fall). — 3) Hahn, Allgem. med. Centralzeitung. 1874 (1 Fall). — Annandale, Mal'
formatiom of ihc fingcrs. pag. 249 (1 Fall). — Menzel, Centralbl. für Chir. 1874 (1 Fall).
Berger, Deutsche Zeitschr. für prakt. Med. 1875 (5 Fälle). — Fieber, Wiener med.
Woehenschr. 1879 (3 Fälle). — Blum, Archives gener. de med. 1882. pag. 513 (3 Fälle). —
•») Lehrbuch der Chirurgie. Bd. II, Abth. 3, pag. 143. Berlin 1864. — 5) Billroth und
Luecke, Deutsche Chirurgie. Lief. 64. pag. 104. 1881. Berber
Schnitt. Der Schnitt oder Einschnitt, incisio , ist die kunstgerechte
Trennung der Theile mit scharfen Instrumenten , dem Messer oder der Scheere.
A. Der Schnitt mit dem Messer.
Das Messer besteht aus dem Griff (Heft, Stiel) und der Klinge , beide sind
beweglich oder unbeweglich miteinander verbunden und wird das Messer, je nachdem
Bistouri oder Scalpell genannt. Die Form der Klinge ist bei beiden die gleiche.
Das Bistouri, dessen Klinge durch ein Scharnier mit den Schalen des
Griffes verbunden und zum Einschlagen in dieselben eingerichtet ist, lässt sieh
besser transportiren als das Scalpell und stellt aus diesem Grunde einen wesent-
lichen Bestandtheil der Ausrüstung unserer Verbandtaschen dar.
Die Schalen des Bistouris bestehen aus Hörn, Schildpatt, Elfenbein
oder Hartgummi ; sie sind vorn und hinten offen und dürfen mit der Klinge nicht
nach Art der Taschenmesser durch eine Stahlfeder verbunden sein, weil diese
Einrichtung die Klinge nicht mit Sicherheit vor Beschädigung schützt und nicht
diejenige Sauberkeit ermöglicht, welche zum chirurgischen Gebrauch unerlässlich
ist. Andererseits war es durchaus nothwendig, die Klinge, namentlich bei geöffnetem
Messer, festzustellen, wozu bei älteren Bistouris ein über den Schalen verschieb-
barer Ring diente , welcher sich so weit nach vorn bringen Hess , dass er den an
den Rücken der Schalen sich anlehnenden Schweif der Klinge umfasste. Die
gegenwärtig allgemein gebräuchliche Art des
Feststellens ist die von Charriere angegebene :
im Fersentheil (Talon) der Klinge sind vorn
zwei Einschnitte angebracht, von denen der eine
nach der Spitze, der andere nach dem Schweif
der Klinge hinschaut. Zum Eingreifen in diese
Ausschnitte ist ein zwischen den beiden Blättern
des Griffes quer verlaufender Stift bestimmt,
welcher sich in einem kleinen Längsspalt auf
und ab bewegen lässt. Bei geschlossenem, ebenso
wie bei geöffnetem Messer wird durch Vorschieben
des mit jenem Stift verbundenen Knopfes die
Klinge festgestellt, durch Rückwärtsschieben
desselben freigegeben.
Der solide Griff des Scalpells ist
meist platt oder von quadratischem Durchschnitt,
er besteht aus Ebenholz oder Elfenbein und endet
bisweilen meisselförmig ziemlich scharf, so dass
er gelegentlich zum Auseinanderschieben locker
verbundener Gewebstheile benutzt werden kann.
Der Fersentheil der Klinge pflegt in eine schmale
Platte auszulaufen, welche in einen entsprechen-
den Spalt des Griffes eingefügt und darin mit
Nieten befestigt wird.
Die Schneide der 2 bis 5 Ctm. langen Klinge ist convex oder gerade ;
der Rücken stumpf, mehr oder weniger convex, seltener gerade; die Spitze ist
scharf oder abgestumpft (geknöpft). Andere Messerformen gehören nicht hieher.
Fig. 8.
SCHNITT.
225
Je nach dem Verlauf der Schneide heisst das Scalpell bauchig (Fig. 8 d)
(convex) oder gerade (b), jenes soll mehr für langgezogene, dieses mehr für tief
eindringende Schnitte geeignet sein. Das Scalpell (c), mit schmaler Klinge und
abgerundeter, oder geknöpfter Spitze, mit geradem Rücken und gerader Schneide,
hat den Zweck, beim Schneiden in der Tiefe eine unbeabsichtigte Verletzung durch
die Spitze auszuschliessen. Dasselbe Messer mit leicht concaver Schneide (d) eignet
sich vorzugsweise zur Spaltung von oberflächlichen Fistelgängen.
Um Platz zu sparen, vereinigen die D o p p e 1 b i s t o u r i zwei verschieden
gestaltete Klingen an einem Heft, so zwar, dass an jedem Ende desselben eine
Klinge angebracht ist , welche beide nach entgegengesetzter Seite hin ein-
geschlagen werden.
Haltung des Messers.
Seit langer Zeit hat man für die Schnittführung bestimmte Stellungen
und Haltungen des Messers vorgeschrieben, von denen die wichtigsten folgende sind :
1. Die Schreib fe der halt ung (Fig. 9). Der Daumen liegt an der
einen, der Mittelfinger an der anderen Seite des oberen Griffendes, der Zeigefinger
Fig 9< auf dem Rücken der Klinge ;
der vierte und fünfte Finger
wird eingeschlagen oder zur
Stütze für die Hand verwendet.
In dieser Stellung kommt
das Schneiden lediglich durch
Beugung der Finger und Hand
bei unbewegtem Arm zu Stande ;
sie ist weitaus die üblichste und
überall da am Platze, wo es bei
der Messerführung weniger auf grosse Kraftentfaltung als auf Genauigkeit ankommt.
2. Die Tischmesserhaltung (Fig. 10). Der Griff des Messers ist ganz
von der Hand umschlossen ; das untere Ende des Griffes lehnt sich an den Daumen-
ballen und die Fläche der Hohl-
Flg- 10, hand an : der Daumen liegt
an der einen Seite des oberen
Griffendes, der Zeigefinger auf
dem Rücken der Klinge , die
übrigen Finger halten den Griff
in der Hohlhand fest. — Diese
Haltung gleicht der des Troikars
und gestattet eine sehr be-
deutende Kraftäusserung.
3. Die Geigenbogenhaltung (Fig. 11). Der Daumen kommt auf die
eine, die übrigen Finger auf die andere Seite des Griffes zu liegen, da, wo er sich
mit der Klinge verbindet. Einige Chirurgen geben an, dass der Zeigefinger nicht
mit dem 3., 4. und 5. zusammen
an der Seite des Heftes, sondern
auf dem Rücken der Klinge liegen
müsse (Blasius, Fischer).
Bei dieser Haltung, welche
besonders für oberflächliche und
langgezogene Schnitte empfohlen
wird , geschieht das Schneiden
durch Fortbewegen des Armes im
Schulter- undEllenbogengelenke.
Viele Chirurgen haben sich mit diesen drei Positionen nicht begnügt,
sondern denselben noch einige andere hinzugefügt, welche sich von jenen
wesentlich dadurch unterscheiden, ob die Schneide des Messers nach oben oder
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 15
Fig. 11.
SCHNITT.
unten gekehrt, ob die Spitze des Messers vom Operateur weg oder nach demselben
hin gerichtet ist.
Allgemeine Regeln zur Ausführung des Schnittes.
l>ie einfachen Schnitte geschehen von aussen nach innen, oder umge-
kehrt von innen nach aussen ; selbstverständlich unter Beobachtung der anti-
septischen Vorschriften. Die Haut wird, wenn nöthig, rasirt.
I. Schnitte von aussen nach innen.
a) Bei Schnitten von aussen nach innen ohne Faltenbildung
gilt es , die zu durchtrennende Haut anzuspannen in der die Schnittlinie recht-
winklig kreuzenden, oder in entgegengesetzter Richtung derselben. Zu diesem
Behufe setzt man den Kleinfingerrand der linken Hand am Anfang der Schnitt-
linie quer , Daumen und Zeigefinger seitlich derselben auf und ist so im Stande,
die beabsichtigte Spannung nach den Seiten und der Länge hin gleichzeitig aus
zuführen. Meist begnügt man sich mit der seitlichen Spannung allein. Bei
grösseren Schnitten übt der Operateur mit flach aufgelegter Hand den Zug an
der einen, und ein Gehülfe in derselben Weise an der anderen Seite aus. In
einzelnen Fällen kann diese Aufgabe auch dem Gehilfen allein zufallen. An
Theilen mit geringem Umfange, wie an einzelnen Stellen der Gliedmaassen und am
Scrotum fasst der Operateur von der dem Schnitt gegenüberliegenden Seite
aus die Weichtheile mit voller Hand und kann so eine sehr wirkungsvolle
Anspannung ausüben.
Als Unterstützung dient eine zweckentsprechende Stellung des kranken
Theiles ; so wird man bei Incisionen am Halse den Kopf nach der entgegen-
gesetzten Seite neigen, bei Schnitten an der Beugeseite von Hand und Finger
dieselben strecken lassen u. s. f.
Liegen besondere Gründe nicht vor, so folgen im Allgemeinen die
Incisionen der Längsachse des Gliedes , dem Laufe der oberflächlichen Muskeln,
der grösseren Gefässe und Nerven ; sie folgen im Gesicht, an Händen und Füssen
den natürlichen Falten , um entstellende Narben und Zerrung der Wunde durch
Muskelcontractur zu vermeiden. Die anatomischen Kenntnisse sollen uns schützen
vor unbeabsichtigter Verletzung wichtiger Theile. Das Messer sei möglichst scharf
und glatt ; denn je mehr dieses der Fall, um so weniger schmerzhaft der Schnitt.
Nie darf die Haut durch das Anspannen verschoben werden, weil sonst das Messer
beim tieferen Eindringen das erstrebte Ziel verfehlen könnte, jedenfalls aber die
Erreichung desselben erschwert würde.
Der Schnitt soll in der Regel vom Anfang bis zum Ende die gleiche
Tiefe haben ; er beginnt daher mit einem Stich , indem das rechtwinkelig zur
Oberfläche aufgesetzte Messer (Schreibfederhaltung) bis zur erforderlichen Tiefe
eingestossen wird. Der Schnitt selbst vollzieht sich bei gleichmässigem Fort-
bewegen des geneigten Messers vielmehr durch Zug als durch Druck und endet,
wie er angefangen, mit dem Erheben des Messers zum rechten Winkel.
Erscheint es wegen der Nähe wichtiger Theile räthlicher, nicht mit dem
Stich zu beginnen , dann vollführt man den Schnitt vom Anfang bis zum Ende
mit geneigtem Messer und die Wunde stellt somit den Abschnitt eines Kreises
dar, welcher von beiden Enden her zur Mitte hin sich vertieft.
Stets muss der Schnitt mit einem Zuge in ganzer Länge geschehen ;
wiederholtes Ansetzen des Messers, so dass womöglich Winkel und Ränder der
Wunde mehrfach angeschnitten werden , ist fehlerhaft. Sind wichtige Theile mit
Sicherheit nicht zu verletzen , so dringt der Schnitt gleichzeitig bis zur beab-
sichtigten Tiefe. Erscheint es zweckmässiger, so dringt man in der Richtung des
Hautschnittes mit wiederholten Zügen , Schicht um Schicht , allmälig vor , durch-
trennt zuerst die Haut, dann die Fascie u. s. f., während die bereits durch-
schnittenen Theile mit den Fingern oder durch Haken auseinander gehalten werden.
Alle Schnitte geschehen in möglichst langen Zügen, weil sie weniger schmerzen
und eine glattere Wunde haben als mehrere kurze Züge.
SCHNITT.
227
Da, wo mit besonderer Vorsicht zu Werke gegangen werden soll, erhebt
man mit einer Pincette das Bindegewebe zu einem Kegel und durchschneidet den-
Fig. 12.
Fig. 13.
(Nach. Esmarcb.)
selben unterhalb seiner Spitze mit seitwärts geneigter Klinge (Fig. 12), oder spaltet
dasselbe über der eingeführten Hohlsonde.
Die gleiche Sicherheit gewährt das v.LANGENBECK'sche Verfahren (Fig. 13),
die oberste Zellgewebsschicht zu beiden Seiten der
Schnittlinie mit je einer Pincette zu fassen, empor-
zuheben und zwischen denselben zu durchschneiden.
Sehr häufig gelingt es, sich nach Duroh-
schneidung der Haut, mit einer Kornzange oder
einem anderen stumpfen Instrumente den Weg durch
die Weichtheile zu suchen.
b) Beim Einschneiden mit Faltenbildung
(Fig. 14) erheben Daumen und Zeigefinger beider
Hände die Haut so zur Falte, dass der Schnitt die Mitte derselben rechtwinklig
trifft und die Höhe der Falte die Hälfte der Schnittlänge beträgt. Ist das in
Fig. 14.
Richtigkeit, dann übergiebt man das mit der rechten Hand gefasste Ende der
Falte einem Gehilfen , oder man kann auch gleich von vornherein die Falte in
228
SCHNITT.
Gemeinschaft mit dem Gehilfen erheben. Das Messer wird darauf mit dem
Anfangstheil der Schneide rechtwinklig auf die Mitte der Falte gesetzt und
dieselbe in einem Zuge durchschnitten. Sollte ein Messerzug nicht ausreichend
erscheinen, dann setzt man den Spitzentheil der Klinge zuerst auf und lässt diese
denselben Weg zweimal machen.
Das an sich ja bequeme und einfache Verfahren hat den Nachtheil, dass
man einen Gehilfen nöthig hat, dass der Hautschnitt leicht von der Linie
abweicht, dass es nur ausführbar ist an Stellen mit leicht verschiebbarer dünner
Haut. Dasselbe ist sehr geeignet für solche Fälle, bei denen man nur die Haut
durchtrennen will, und war daher früher bei der Fontanellenbildung sehr beliebt.
Je nach den gegebenen Verhältnissen können Schnitte von sehr ver-
schiedener Richtung, Gestalt und Zahl erforderlich werden. Ihre Ausführung
geschieht nach obigen Regeln. Liegen mehrere Schnitte übereinander, so wird
jedesmal der am meisten nach abwärts gelegene zuerst gemacht.
Grade Schnitte werden zu mannigfachen Formen, wie -f, x , V? A, Y
zusammengestellt, unter denen der Kreuzschnitt am häufigsten , wie zum Spalten
von Furunkeln und Carbunkeln, erfordert wird. Bei ihm wird immer erst ein
gerader Schnitt geführt und demnächst die beiden Hälften des Querschnittes, und
zwar in der Regel von ihren Endpunkten an zu dem ersten Schnitt hin, um eine
Zerrung der Wundränder zu vermeiden.
Die am meisten gebrauchte Form der gebogenen Schnitte ist die
elliptische. Diese Schnitte müssen an ihren Enden scharf begrenzt sein, sich
genau treffen, ohne sich zu kreuzen ; die Messerklinge muss beim Ausführen des
Bogcnschnittes immer rechtwinkelig zur Haut stehen.
II. Schnitte von innen nach aussen geschehen :
a) Ohne Leitungssonde. Ist eine Oeffnung vorhanden, so führt
man ein geknöpftes Bistouri durch dieselbe ein, wendet die Schneide nach oben,
senkt den Griff bis zum spitzen Winkel; schiebt das Bistouri nach vorwärts,
stellt es am Ende des Schnittes senkrecht und zieht es aus. Ist eine Oeffnung
nicht vorhanden, so schafft man dieselbe durch Einstossen eines spitzen Bistouri
und verfährt wie oben. Dieselben Schnitte lassen sich in umgekehrter Weise
mit nach hinten gekehrter Spitze
ausführen, wobei der Operateur
das Messer gegen sich hin schiebt.
Will man eine Hautfalte von
innen nach aussen trennen , so
sticht man das spitze mit der
Schneide nach oben gewandte
Bistouri durch die Basis der-
selben und zieht es nach oben
hin aus.
b) Mit der Leitungs-
sonde. (Fig. 15.) Durch die
bereits vorhandene, oder durch
Einstich erst gebildete Oeffnung
führt man die Hohlsonde so weit
ein, bis die Spitze derselben
die Grenze des beabsichtigten
Schnittes erreicht hat. Ist das
geschehen, so setzt man die Spitze
des Messers mit der Schneide nach oben in die Rinne der Sonde, schiebt dasselbe
bis zur Spitze der Sonde vor und zieht es gleichzeitig mit derselben aus. Auch
in umgekehrter Weise kann man verfahren, indem man durch Senken der Platte
die Spitze der Sonde mit den sie bedeckenden Weichtheilen scharf hervordrängt,
das Messer hier einsticht und bis zur Platte vorschiebt.
Fig. 15.
SCHNITT. — SCHNUPFPULVER. 229
Ist die Oeffnung der äusseren Theile gross genug, so giebt man vor der
Hohlsonde dem Finger den Vorzug, welcher vor allen Dingen uns die Beschaffenheit
der Theile erkennen lässt. Auf dem eingeführten Finger schiebt man ein geknöpftes
Bistouri bis nahe an die Spitze desselben flach ein, wendet nun die Schneide
nach oben und lässt unter Vorwärtsschieben des Fingers die Theile durchtrennen.
Die Hohl- oder Leitungssonde ist ein 15 bis 18 Ctm. langer
Stab aus Eisen, Silber oder Neusilber; hat an seinem unteren Ende als Hand-
habe eine Platte; seine Spitze ist abgestumpft und seine Oberfläche trägt eine
von der Platte bis zur Spitze reichende Furche.
B. Der Schnitt mit der Scheere.
Die in der kleinen Chirurgie zur Verwendung kommenden Scheeren sind
grade — welche gewöhnlich ein stumpfes und ein spitzes Blatt haben — und
krumme, welche in der Regel zwei stumpfe Blätter haben. Man fasst die
Scheere nur mit der rechten Hand,
Fi°* lfi
da die linke nicht mit derselben
umzugehen versteht. Der Daumen
liegt dabei in dem einen, Ring- oder
Mittelfinger in dem anderen Ringe;
der Zeigefinger erhält seinen Platz
am Kreuzungspunkt der Scheerenarme
(Fig. 16). Gleichgiltig ist, ob der
zweite Ring vom dritten oder vierten
Finger gehalten wird; mehr kommt
auf die Stellung des Zeigefingers an, da derselbe bei der graden Scheere eine
gewisse Leitung ausüben und die krumme Scheere mit ihrer eonvexen Fläche
gegen den Körper andrücken soll.
Die früher so sehr als schädlich hervorgehobene Eigenschaft der Scheere,
dass sie lediglich durch Druck wirke und daher gequetschte Wunden hervorbringe,
hat sich als unwesentlich herausgestellt; thatsächlich trennt die Scheere nicht
allein durch Druck, sondern auch durch Zug, und ihre Wunden heilen genau so
gut per primam intentionem wie die des Messers. Allerdings rnuss sie sehr scharf
sein; sie muss gut schliessen und ihre Arme dürfen im Schloss nicht wackeln.
Die grade Scheere wird im Allgemeinen beim Schneiden so angesetzt,
dass ihre Flächen senkrecht zur Körperoberfläche stehen, während die der krummen
Scheere derselben parallel liegen. Immer muss man daran denken, dass die
Scheere beim Schneiden etwas zurückweicht ; damit nun der Schnitt nicht zu
kurz ausfällt, muss man die Spitze der Scheere etwas über den Endpunkt des
Schnittes hinausführen, oder, wenn das nicht möglich ist, die Scheere beim
Zudrücken in angemessener Weise vorwärts drängen. Als ganz besonders werth-
voll erweist sich die Scheere beim Durchschneiden kleiner Zellgewebstheile und
zur Entfernung kleiner Fetzen der Haut, der Muskeln u. A. w
Schnittweyerbad, Canton Bern, 676 Meter ü. M., Luftcurort mit erdiger
Quelle (Salzgehalt 4,6 in 10 000, meist Magnesiasulphat 1,685, Kalkcarbonat 2,18;
wenig C02). B. M. L.
Schnürleber, s. Leberatrophie, VIII, pag. 177.
Schnupfen, s. „Nasenkrankheiten", IX, pag. 441.
Schnupfpulver (Pulvis errhinusj werden pulverige Mittel genannt, welche
die Bestimmung haben, durch Aufschnupfen oder Einblasen (mittelst eines
Federkieles , Glasröhrchens , Pulverbläsers) auf die erkrankte oder normale
Nasenschleimhaut gebracht zu werden , auf letztere in der Absicht , um durch
Reizung derselben kräftige motorische Reflexe (bei Ohnmächtigen , Asphyctischen),
oder aber die Ausstossung von Schleim und anderen Materien zu bewirken.
230 SCHNUPFPULVER, — SCHRÖPFEN.
Selbstverständlich darf in diesem Falle die Empfindlichkeit der Nasenschleimhaut
durch Tabakschnupfen oder andere Ursachen) nicht völlig abgestumpft sein.
Zu Niesepulvern (Pulvis sternatatorius) können nächst dem Schnupf-
tabak die weisse Nieswurz, die Haselwurz, verschiedene Saponin führende Vege-
tabilien, namentlich Flores Convallai'iae, dann die Seife im gepulverten Zustande
Verwendung linden. Als aromatisirende Unterstützungsmittel setzt man ihnen Rhiz.
Iridis, Flor. Lavandulae , Fol. Majoranae, auch Fabae Tonco zu. Für die
Behandlung der erkrankten Nasenschleimhaut bedient man sich in Form von
Schnupfpulvern am häufigsten der styptischen und antiseptisch wirkender
Mittel (Acidiim tannicum, Alumen, Bismuthum subnitricum , Zincum oxy-
datum etc.) bei chronischen Nasencatarrhen , Granulationen und Erosionen der
Mucosa , profusen Blutungen , Ozaena etc. , ausserdem gewisser Alterantien,
wie Jodoform und Calomel (bei syphilitischen AfFectionen) , dann der schleim-
lösenden Mittel (Borax, doppeltkohlensaures Natron) und narco tisch er
Substanzen, namentlich des Morphins (5 — 10 Cgrm. auf 1 Grm. Fulv. Oumm.
(irab.J , letzterer bei schmerzhaften Affectionen der Nasenhöhle, Zahnschmerzen,
Otalgien, Cephalalgien und mit Schlaflosigkeit einhergehenden Erethismen (Raeubert).
Bei Verordnung medicamentöser Schnupfpulver ist zu beachten , dass die Nasen-
schleimhaut ein bedeutendes Resorptionsvermögen besitzt und die Wirkungen der
hierzu benutzten Arzeneisubstanzen leicht verallgemeinert werden können. Dieselben
sollen nicht allzufein gepulvert sein, um nicht ohne Noth zu weit bis in die
Nebenhöhlen der Nase und den Schlundkopf geführt zu werden. Bematzik.
Schönegg (S c h ö n e c k) , Curanstalt am südlichen Ufer des Vierwald-
städter Sees, oberhalb Beggenried, 2350' über Meer, 1000' über dem See, in
schöner Lage (Blick auf den Rigi und das Schwyzer Thal ; nahe Waldspazier-
gänge). Einrichtungen für Hydrotherapie und Pneumatotherapie (pneumatisches
Cabinct) ; Sommercurort, besonders von Nerven- und Lungenkranken besucht.
Schooley-mountain-sprmg, Hauptcurort New-Jersey's mit kaltem, erdigem
Eisenwasser. B. M. L.
Schorf, s. „Brand", II, pag. 416.
Schrecklähmung', s. „Emotionsneurosen", IV, pag. 701.
Schreibekrampf, s. „Beschäftigungsneurosen", II, pag. 149.
Schröpfen, Scarification. Die Scarification ist eine absichtlich hervor-
gebrachte, oberflächliche Verwundung der Haut oder Schleimhaut durch Stich oder
Schnitt. Die Anfänge dieses Verfahrens reichen zurück bis in das classische Alter-
thum; Celsus, Paulus von Aegina, Aetius u. A. beschreiben uns eine Anzahl
barbarischer Operationen, welche im Sinne der späteren Scarification zur Ausführung
kamen. Celsus berichtet , dass man bei der Pituita oculorum in Griechenland
9 Schnitte am behaarten Theil des Kopfes machte. Paulus erwähnt den vtsogtcx-
\K<7im6c, Einschnitte in die Stirne mit Biossiegen des Schädels, und den mßiGxu&icy.ioc,
eine Operation, welche dem Scalpiren nahe genug steht.
Die unklaren Vorstellungen , welche diesen Verfahren zu Grunde lagen,
hielten bis in die spätgriechische Zeit vor und gestalteten sich dann allmälig um
zn denjenigen Auffassungen, welche noch bis vor wenigen Jahrzehnten allgemein
gütig waren und in gewissem Grade es auch heute noch sind.
Man wandte die Scarification an: 1. um bei entzündeten Theilen Blut zu
entleeren und dabei gleichzeitig die entzündliche Schwellung zu vermindern
(letzteres namentlich an Theilen , die mit festen Aponeurosen bedeckt , oder mit
straffem Zellgewebe umgeben sind), oder als Ersatz für Blutegel an Orten, die
für jene unzugänglich erscheinen : Gaumen, Zapfen, Zunge etc.
2. Bei Ansammlungen von Flüssigkeiten oder von Luft im subcutanen
Zellgewebe , wenn eine Resorption nicht erwartet wurde , namentlich bei Oedem
des Hodens und der unteren Extremitäten, bei Emphysem.
SCHRÖPFEN. 231
3. Um Heilmitteln „die Aufnahme in das organische Gefüge" zu erleichtern:
bei vergifteten Wunden , beim Brande , wo man gleichzeitig das Abfliessen der
Jauche beabsichtigte.
4. Um eine entzündliche Reaction und die Ausschwitzung plastischer
Lymphe zu bewirken : zur Verwachsung widernatürlich getrennter Theile , bei
callösen Geschwüren und sonstigen Verhärtungen (Lisfranc).
Blasius bezeichnet das Verfahren als geradezu unersetzlich bei heftiger
Glossitis und bei hohen Graden von Hautwassersucht.
Aber auch heute noch ist die Operation in vielen Fällen unentbehrlich
und für die Kranken nutzbringend und wohlthätig: so bei Anasarca, bei Haut-
emphysem — gegen welches man vor Anwendung der elastischen Compression
überhaupt kein anderes Mittel hatte — bei schmerzhafter Spannung entzündeter
Theile , wo es nicht allein den Schmerz mildert , sondern auch das Durchdringen
der eröffneten Gewebe mit entzündungswidrigen Mitteln gestattet ; ferner bei einigen
chronischen Hautaffectionen, wie bei -Acne rosacea und Lupus.
Die Scarification wird ausgeführt mit der Lanzette oder dem Messer.
Man fasst die Lanzette mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand , spannt
mit der linken die Haut, sticht die Spitze etwa 1 Linie tief ein und zieht das
Instrument, indem man es etwas vorschiebt, heraus. Für alle grösseren Einschnitte
und überhaupt an allen Stellen, welche die Lanzette nicht erreichen kann, nimmt
man ein convexes Messer, fasst es wie eine Schreibfeder, so dass der Zeigefinger
auf dem Messerrücken ruht, setzt die Schneide auf, drückt sie in die Gewebe ein
und verlängert den Schnitt zu gewünschter Länge. Dabei durchtrennt man ent-
weder nur die Haut oder auch tiefere Theile und muss gelegentlich selbst bis
zum Knochen vordringen. Bei Ansammlungen von Luft und Flüssigkeit in Höhlen
muss man bis in dieselben vorgehen und die Entleerung durch Drücken und
Streichen mit der Hand befördern. Bei Anasarca dagegen soll man die Haut
nicht ganz durchstechen.
An gewissen Körpertheilen erleidet das Verfahren einige Abänderungen,
So ist zur Scarification der Mandeln eine ganze Reihe von Instrumenten
angegeben, die aber völlig entbehrlich sind ; es genügt ein Bistouri , welches man
bis auf eine kleine Entfernung von der Spitze mit Heftpflaster umwickelt.
Die in früheren Jahrhunderten geübte Scarification der Nasenschleimhaut
ist nachmals von Cruveilhier wieder aufgenommen worden , der dazu sogar ein
eigenes Instrument, das Phlebotome de la pituitaire ersonnen hat.
Veiel hat zur Operation des Sticheins ein Instrument angegeben, welches
aus 6 an einem Stiel verstellbar angebrachten Lanzetten besteht. Bei dem multiplen
Scarificator von Squire in London sind 15 feine Klingen parallel so dicht neben-
einandergestellt, dass sie nur die Breite von 1 Cm. einnehmen. Kaposi benützt die
von Hebra angegebene Stichelnadel , deren 2 Mm. lange , zweischneidige Klinge
am Rücken mit einer Gräte und an der Basis mit einer Leiste (Abaptiston) ver-
sehen ist. Die Stichlung bei Acne rosacea hat eine Verödung der krankhaft
erweiterten Blutgefässe zum Ziele. Einige begnügen sich mit der Scarification
allein, Andere fügen das Auftupfen oder Aufpinseln von Liquor ferri sesquichlor.
oder Höllensteinlösung hinzu, und Purdon empfiehlt sogar, 1 — 2 Tropfen Acidum
nitricum mittelst eines Haarröhrchens in jeden Schnitt zu träufeln. Kaposi führt
mit der Stichelnadel rasch hintereinander zahlreiche Stiche dicht und parallel
neben einander und stillt die oft bedeutende Blutung durch Compression mittelst
BRUNS'scher Watte. Die Application von Höllensteinlösung oder Eisenchlorid nach
der Stichlung hält er nicht für rathsam. Nach dem Grade der Erkrankung wird
das Verfahren durch Wochen oder Monate wiederholt.
Die Behandlung des Lupus mit Scarificationen ist zuerst von Dubini in
Milano angewandt und von Richard Volkmann und Veiel weiter entwickelt
worden. Mit einem spitzen Messer bringt man dichtgedrängte, 1 — 2 L. tiefe Ein-
stiche hervor und wiederholt dieses Verfahren in Pausen von 5 — 7 Tagen. Auf diese
232 SCHRÖPFEN.
Weise soll tbeils eine Verödung der Gefässe bewirkt, theils durch reactive Eiit-
zttndung der Zerfall und die Resorption der infiltrirten Zellen begünstigt werden.
Die Franzosen trennen von der eigentlichen Scarification die „Mouchetures", unter
welchen sie einfache, mit einer Nadel, Lanzette oder einem Bistouri hervorgebrachte Stiche
verstellen. Die kleine Operation wird mit einem raschen Einstechen und Ausziehen des
Instrumentes, und zwar stets in ganz derselben Weise vollzogen, während die Scarification,
\v nach dem Zwecke, eine sehr verschiedene Ausdehnung annehmen kann.
Als Blutentziehungsmittel hat die Scarification die Schwäche , dass in
Folge der baldigen Gerinnung der Blutverlust sehr unbedeutend ist, und man ist
daher seit langer Zeit bemüht gewesen, diesem Uebelstande durch das Hinzufügen
von Saugapparaten abzuhelfen.
Schröpfen (Applicatio cucurbit.arum). Das ScbrÖpfen ist eines jener
ehrwürdigen Mittel, welche uns aus dem Alterthum überkommen sind und deren
wir auch heute noch nicht völlig entrathen können. Auf seinem langen Wege
durch Jahrtausende hindurch hat es mannigfachen Wechsel in der Beurtheilung
seines Werthes erfahren müssen. Niemals ganz vergessen, wurde es einerseits in
den Händen roher Scherer oder Bader aufs Aergste missbraucht, andererseits von
berühmten Aerzten bald als ein hochwichtiges Heilmittel gepriesen, bald als ein
ganz unnützes Verfahren bei Seite geschoben.
A. Das unblutige Schröpfen besteht in der Application der Schröpf-
köpfe auf die unversehrte Haut. Die Schröpfköpfe wurden im Alterthum aus
Hörn oder Kupfer, zur Zeit des Paulus aber schon aus Glas hergestellt; jetzt
bedient man sich solcher aus Metall, Glas oder Kautschuk.
Die gläsernen Köpfe verdienen den Vorzug, weil sie Fl's- 17-
durchsichtig' sind, beim blutigen Schröpfen die Menge des ^^^^^^
ausgetretenen Blutes erkennen und sich am besten reinigen 4k |^,
lassen. Ihre Gestalt ist glocken- oder birnförmig (Fig. 17), ^p . 9k
so dass ihr Durchmesser oben breiter ist als unten. «JBpjl=(^
Der ungefähre Durchmesser am unteren Rande beträgt reppBplBHB
3 —5 Cm., derselbe ist abgerundet und etwas verdickt. vBHl HÜB
Im Nothfalle kann jedes nicht zu grosse und zu weite IpH! ~iB(H
Glas als Schröpfkopf verwerthet werden. IplR JBBj
Die Verdünnung der Luft innerhalb des Kopfes fj||B MpB
erzeugt man durch Erwärmung, durch Pump- oder JBlilliltlr^lP ^
Das erstere Verfahren besteht darin, dass man ^^I^g|jt§|^^^
die Flamme der mit einem Schnabel versehenen Spiritus-
lampe, welche man dem Körper des Kranken möglichst nähert, einige Secunden
in die Höhlung des Schröpfkopfes hält — ohne diesen selbst jedoch zu berühren —
und ihn dann mit rascher Handbewegung so auf die Haut setzt, dass der Rand
überall fest anliegt.
Andere Methoden der Erwärmung sind: man tränkt ein Wattekügelchen in "Wein-
geist, zündet es an, wirft es in den Schröpfkopf und stülpt diesen nach wenigen Augenblicken
auf die Haut. Da der Sauerstoff bald verzehrt ist , so erlischt die Flamme ohne eine Ver-
letzung (?) herbeigeführt zu haben. Ein ähnliches Verfahren war schon von Celsus angegeben
und in früherer Zeit häufig angewandt worden.
Clark befestigte in dem gläsernen Schröpfkopf mittelst einer silbernen Feder ein
Stückchen Schwamm, dieses wurde in Spiritus getaucht, angezündet und durch die bald ver-
löschende Flamme die Luftverdünnung erzeugt (Blasius).
In Folge der Luftverdünnung und des verminderten Luftdruckes drängt
sich die Haut sofort in die Höhlung des Kopfes ein, röthet sich in Folge der
Ausdehnung der Blutgefässe und bildet eine halbkugelförmige Anschwellung.
Nach einigen Minuten nimmt man den Kopf ab , in der Weise , dass man an
einer Stelle des Randes die Haut mit dem Fingernagel niederdrückt und dadurch
die Luft eintreten lässt. Die Hautanschwellung verliert sich nun bald, aber es
bleibt noch längere Zeit eine Röthung und Verfärbung der Haut zurück.
Die Schröpfköpfe saugen sich nur auf solchen Körpertheilen fest, welche
ausreichend grosse Flächen bieten, um die ganze Oeffnung derselben aufzunehmen.
SCHRÖPFEN.
233
Fig. 18.
Gern vermeidet man bei mageren Personen Theile, deren Knochen nur durch die
überliegende Haut geschützt sind. Behaarte Theile werden vorher rasirt und die
Haut in jedem Falle vor dem Schröpfen mit warmem Wasser gebäht.
2. Da die Luftverdünnung durch Wärme oft ungenügend erschien , so
verband man den Schröpfkopf mit einer Saugpumpe. Der aus dem ersten
Drittel dieses Jahrhunderts stammende Schröpfapparat von Weiss verdünnt die
Luft durch die „Patentspritze" des Erfinders. Der Kopf ist oben mit einem
Schliesshahn versehen, an welchem die gebogene, längere Röhre der Spritze an-
gesetzt wird , welche jener gegenüber noch mit einem kürzeren , geraden Rohre
ausgerüstet ist. Beim Gebrauch wird der Schliesshahn geöffnet und durch Auf-
und Abwärtsdrücken des Stempels unter gleichzeitiger Wendung des Handgriffes
die Luft wechselweise aus dem Schröpfkopf gezogen
und durch die Seitenröhre ausgetrieben. Zuletzt wird
der Schliesshahn geschlossen und die Spritze abge-
nommen.
Die von Charriere herrührende Ventouse
ä pompe (Fig. 18) besteht ebenfalls aus Saugspritze
und Schröpfkopf, welcher mit jener durch eine Schraube
oder durch Reibung verbunden ist und durch einen
Kupferbahn geöffnet und geschlossen werden kann.
Die Luftverdünnung wird durch das Spiel des Stempels
erzeugt ; will man den Kopf abnehmen, so lässt man
durch Oeffnen des Hahnes Luft eintreten.
Damoiseau hat unter dem Namen „Terab-
della" ein Instrument beschrieben, welches nichts
Anderes ist, als zwei Luftpumpen, deren jede durch
einen langen Kautschukschlauch mit einer kleinen
Glasglocke, dem eigentlichen Schröpfkopf, verbunden
ist. Dieser schwierige und theure Apparat ist von
Hamon wesentlich vereinfacht und zum Anschrauben
an einen Tisch eingerichtet.
Die Alten pflegten ihre hörnernen Schröpfköpfe mit dem Munde fest zu saugen
und die oben befindliche Oeffhung dann mit Wachs zu schliessen. Auch im Mittelalter und
später waren diese ,. Schröpf hörnlein" vielfach, besonders aber in den "Wildbädern in Gebrauch,
um das Blut in die gelähmten oder atrophirten Glieder zu ziehen ; ein Verfahren , welches
in diesem Jahrhundert Lafargue wieder aufgewärmt hat. Ferner gab
es gläserne Schröpfköpfe mit sehr langem Mundstück : Instrumenta ad
papillas extraliendas vitre. „Will nun eine Wöchnerin dieses Instrument
recht gebrauchen, muss sie solches mit seinem grossen Loch über das
Wärzlein stürzen, die lange Röhre in den Mund nehmen und daran allge-
mach so lange saugen, bis dass das Wärzlein so weit hervorkommt, das?
ein junges Kind selbiges mit dem Munde fassen und die Muttermilch aus
der Brust ziehen kann." (Scultetus)
3. Blatin kam zuerst auf die Idee, Schröpfköpfe aus
starkem, vulcanisirten Kautschuk herzustellen und die Oeffnung
derselben durch einen eingelegten Metallfaden offen zu halten.
Bei der Application drückt man den kleinen Ballon zusammen, so
dass die Wände desselben sich berühren, und setzt ihn so auf die
Haut. Die Elasticität des Kautschuks überwindet nun den Druck
der Atmosphäre und der Kopf saugt sich fest.
Der Gedanke , die Elasticität des Kautschuks als saugende
Kraft zu verwerthen, ist seither vielfach mit mehr oder weniger
praktischem Geschick zur Ausführung gebracht. Sehr hübsch ist
der saugende Schröpfkopf von Capron (Fig. 19). Ein Kautschuk-
ballon mit zwei Ventilen — zum Aus- und Einströmen der Luft —
ist an dem mit einem Schliesshahn versehenen gläsernen Schröpfkopf befestigt.
Man fasst den Ballon mit voller Hand, presst ihn zusammen und setzt das Glas
Fia-, 10.
234
SCHRÖPFEN.
auf die Haut. Vermöge seiner Elasticität kehrt der Ballon zu seiner früheren
Form zurück und bewirkt die gewünschte Luftverdünnung im Schröpfkopfe. Da
nun das untere der beiden Ventile die Glasglocke schliesst, während das obere
die Entweichung der Luft aus dem Ballon nach aussen gestattet, so kann man das
Verfahren ohne Abnahme des Kopfes wiederholen bis zu ausreichender Luft-
verdünnung. Der Vorgang ist also ganz analog dem bei der WEiss'schen
Patentspritze und der Ventouse ä j)ompe de Charrlere.
Um die Wohlthat der trockenen Schröpfköpfe ganzen Körpertheilen
zukommen zu lassen , erfand JüNOD in den Dreissiger- Jahren seine vielgenannten,
aber wenig gebrauchten Schröpfstiefel (Fig. 20). Juxod steckt das betreffende
Glied in ein ledernes Futteral, welches oben mittelst einer breiten Kautschuk-
manschette das Glied luft-
dicht umgiebt. Mit Hilfe
einer Saugpumpe, die durch
einen Gummischlauch mit
dem Hohlräume jenes Futte-
rals in Verbindung steht, wird
die Luftverdünnung erzeugt,
welche durch einen Mano-
meter controlirt werden muss.
Der Wirkungskreis der
unblutigen Schröpfköpfe ist
gegenwärtig ein kleiner. In
der Voraussetzung, dass sie,
auf die Thoraxwand gesetzt,
auf die Blutfülle der Pleura-
gefässe einen Einfluss aus-
üben , wendet man sie bei
Pleuritis an, wenn die Ent-
zündung nicht mehr ganz
frisch ist und wenn man
bei blutarmen Leuten eine Blutentziehung scheut (Fräntzel). Die häufigste
Verwendung finden die elastischen Köpfe als „Mi Ichzieh er".
Die Wirkung der Schröpfstiefel, die noch neuerdings von ihrem
greisen Erfinder einer Verbesserung unterworfen sind, ist eine sehr kräftige und
fordert zur Vorsicht auf. Lässt man namentlich die Luftverdünnung plötzlich und
unvermittelt eintreten, so stellen sich in Folge der Gehirnanämie leicht Schwindel-
anfälle und Ohnmächten ein. Der JüNOD'sche Stiefel ist das Gegenstück der
elastischen Einwicklung.
B. Das blutige Schröpfen, Cucurbitae scarificatae, ist eine Ver-
bindung der Scarification mit dem unblutigen Schröpfen. Die Wirkung des blutigen
Schröpfens sah man früher einerseits in der Blutentziehung und andererseits in
einer eigenthümlichen Reizung der Haut, der man eine ableitende, stellvertretende
Bedeutung zuschrieb. Das Verfahren erschien daher angezeigt: 1. Bei Erkrankungen,
welche nicht die Haut treffen, sondern entfernt von ihr liegen ; bei Entzündungen
innerer Organe mit Congestionen nach denselben ; bei allen jenen Affectionen, als
deren Ursache man gern eine abnorm verminderte Thätigkeit der Haut ansprach :
bei Rheumatismus und Neuralgien. 2. Bei Erkrankungen der Haut selbst mit
Erschlaffung und passiven Congestionen derselben. Dann aber muss das blutige
Schröpfen als ein Volksmittel ersten Ranges gelten, welches als wirksames Heil-
mittel bei wirklich vorhandenen Krankheiten, wie als Vorbeugungsmittel gegen
allerlei künftige Uebel von jeher in hohem Ansehen gestanden hat und zum Theil
auch noch steht.
Das Für und Wider, das die Geschichte aller Heilmittel, insonderheit
die der localen Blutentziehungen uns immer wieder vor Augen führt, zeigt sie
SCHRÖPFEN.
235
Fie
uns auch jetzt noch. Zwar ist das Ansehen und die Bedeutung der localen
Blutentzichungen in sehr bescheidene Grenzen zurückgedrängt; aber selbst inner-
halb dieser machen sich erheblicbe Schwankungen bemerklich. Die Einen, und
vorzugsweise Chirurgen, verwerfen die localen Blutentziehungen ganz. Was sollen
dieselben nützen, sagen sie, da ja der Ausgleich sofort wieder hergestellt wird;
und wenn dem so ist, warum dem Kranken Blut entziehen und ihm eine grosse
Zahl kleiner Hautwunden zufügen, die, wie es früher nur zu oft geschah, der
Ausgang entzündlicher Vorgänge werden können! Andere wieder, namentlich
innere Kliniker und Augenärzte , wollen das Mittel keineswegs vermissen. An
dieser Stelle sei nur der Anwendung desselben im Beginne der Pleuritis gedacht,
wo eine grosse Zahl der besten Autoren (Fräntzel, Niemeyer -Seitz u. A.) die
blutigen Schröpfköpfe dringend empfehlen. Ferner hält Baginsky bei nachweis-
licher Hyperämie in der Umgebung hepatisirter Partien der Lunge und in der
Voraussetzung eines sonst intaeten Organismus selbst bei Kindern eine locale
Blutentziehung durchaus für indicirt. Er macht dieselbe in Form der Schröpfköpfe
und lässt je nach dem Alter der Kinder 1 — 2 — 4 derselben setzen. „Die Appli-
cation der Schröpfköpfe hat den Vortheil, dass man die Menge des zu entziehenden
Blutes absolut sicher in seiner Hand hat und vor den Gefahren der Nachblutung,
wie sie bei Anwendung von Blutegeln vorhanden ist, sichergestellt ist." Auch
bei fibrinöser Pleuritis der
Kinder mit circumscript
nachweisbaren Beibege-
räuschen und heftigen
Schmerzen zögert dieser
Autor keinen Augenblick,
an der Stelle der Reibe-
geräusche je nach dem
Alter der Kinder 1 — 7
Schröpf köpfe zu appli-
ciren, und zwar „mit
wesentlichem Erfolg".
Das Verfahren ist bis
zur Abnahme der Köpfe
dasselbe , wie bei dem
unblutigen Schröpfen. Ist
der Kopf abgenommen,
dann folgt die Scarifi-
cation, welche mit der
Lanzette oder dem Messer,
gewöhnlich aber mit einem
besonderen Scarificator, dem Schnäpper geschieht. Derselbe bildet das Gegenstück
des Aderlassschnäpper und ist hervorgegangen aus derFliete, die man noch am
Anfange des 16. Jahrhunderts in Deutschland wenigstens fast ausschliesslich zu den
Scarificationen benutzte. Derartige „Schrepfeisen die Haut zu bicken" hat Walther
Ryff abgebildet (Fig. 21). Die erste bildliche Darstellung des Schnäppers scheint
die Pare's zu sein, sie stellt einen rundlichen Cylinder dar mit 18 spindelförmigen
Doppelflieten. Die von Lamzweerde beschriebene Verbesserung dieses Instrumentes
ist dem heute gebräuchlichen Schnäpper ähnlich. Das Wesen dieses letzteren
besteht der Hauptsache nach darin, dass eine Anzahl (12 — 20) kleiner, an
metallenen Achsen rechtwinklig befestigter Klingen (Flieten), durch eine Drehung
jener eine halbkreisförmige Bewegung, und zwar mit Hilfe von Federkraft blitz-
schnell ausführen könne. Das Instrument (Fig. 22) ist würfelförmig, besteht aus
dem messingenen Gehäuse, den Messern und dem Federwerke. Zum Durchtritt
der Messer oder Schröpfeisen trägt der Deckel des Gehäuses eine entsprechende
Anzahl feiner Spalten. Mittelst einer Schraube ist es möglich, die Eisen mehr
236
SCHRÖPFEN.
oder weniger weit hervortreten zu lassen, je nach der Tiefe, welche die Einschnitte
haben sollen. Im Allgemeinen nimmt man die Tiefe derselben auf 1 Linie an, sie
unterliegt jedoch je nach der Dicke des Fettpolsters einigen Schwankungen. Sind
nun die Schröpfeisen gerichtet, dann zieht man die Feder auf, setzt das Gehäuse
mit dem Deckel auf die geröthete und erhobene Hautstelle, drückt die Feder los,
die Messer schlagen heraus und die Scarification ist geschehen. Nun wird aber-
mals der Schröpfkopf aufgesetzt und alsbald treibt der Atmosphärendruck das
Blut aus den durchschnittenen Gefässen in den luftverdünnten Raum. Hat sich
der Kopf etwa bis auf zwei Drittel gefüllt, dann erfolgt die Abnahme wie
beim trockenen Schröpfkopf, nur muss man ein Ausfliessen des Blutes verhüten.
Die Hautstelle wird von Gerinnseln gereinigt, der Schröpfkopf ausgespült und
von Neuem aufgesetzt, bis das Bluten aufhört oder die gewünschte Menge ent-
leert ist. Zur Verstärkung der Blutung kann man den Schnäpper zum zweiten
Mal aufsetzen, so dass die Messer die vorhandenen Schnitte rechtwinklig kreuzen,
oder , was weniger schmerzhaft ist , dass sie mit jenen parallel schlagen. Durch
Bähungen mit warmem Wasser kann mau eine Nachblutung unterhalten. Die
Zahl der zu setzenden Köpfe variirt sehr (1 — 20) je nach der Indication, nach
der Beschaffenheit des Körpertheiles , dem Alter und Kräftezustand des Kranken.
Auf den Kopf rechnet man 15 — 20 Grm. Selbstverständlich müssen vom Anfang
bis zum Ende die Grundsätze der Antisepsis zur Geltung kommen. Die Instru-
mente werden gereinigt und desinficirt ; ebenso die Hände des Operateurs und die
Haut des Kranken. Statt der Schwämme wird am besten Watte benützt; sollen
durchaus Schwämme genommen werden , dann müssen sie unbenutzt und vorher
ausgekocht sein. Zum Verband ein Oelläppchen oder Protectiv, Jute, Binde.
Zur Reinigung des Schnäppers nimmt man den Deckel ab und lässt die
Flieten einigemal durch Holiundermark und nachher durch Speck schlagen.
Statt des Schnäppers empfahlen Rudtorffer und Laerey wieder die
Fliete, nur dass sie dieselbe an dem oberen Ende einer stumpfen Klinge anbrachten
und diese wie ein Bistouri mit einem Heft versahen. Von den neueren Instrumenten
führe ich nur den Scarificator von Collin an, dessen kleine, dreikantige Spitzen
mittelst eines Stempels eingetrieben werden.
Die grössere oder geringere Sangkraft eines Schröpfkopfes ist zwar bedingt von
dem Grade der Luftverdünnung in seinem Hohlräume, aber im Allgemeinen erlischt die
Blutung doch ziemlich rasch. Das hängt davon ab , dass durch das eindringende Blut
der Raum kleiner, die Luftverdünnung also relativ
geringer wird ; zweitens dass die Gefässe der Haut
zum Theil abgebogen und durch den Rand des
Kopfes zusammengedrückt werden.
Die Blutsauger oder künstlichen
Blutegel (Sangsues artificielles) sind eine
Zusammenstellung des Scarificators und der
Luftpumpe, sie sollen den Vortheil gewähren,
ohne Abnahme des Kopfes eine grössere
Menge Blut entziehen zu können. Derartige
Instrumente sind zu Anfang dieses Jahr-
hunderts von Whitford, Sarlandiere,
Demours u. A. erfunden worden.
Sarlaxdiere's Apparat besteht aus
einer Glasglocke (dem Schröpfkopfe), an
welcher befestigt sind: 1. unten seitlich ein
Krahn zum Ablassen des Blutes (verschliessbar);
2. in der Mitte oben ein Stempel mit den
Klingen (der eigentliche Scarificator) ; 3. dicht
neben diesem die Saugpumpe. Man setzt
nun die Glocke auf die Haut, schliesst den
Krahn, öffnet die Pumpe und saugt mit dieser die Luft aus der Glocke , so dass
Fi°r. 23.
SCHRÖPFEN.
237
die Haut in dieselbe hineinquillt. Ist das zur Genüge geschehen, dann vollzieht
man durch Niederstossen des Stempels die Scarification und setzt die Pumpe
von Neuem in Bewegung, bis die gewünschte Blutmenge entzogen ist.
Sehr viel einfacher ist der dem SAKLANDiERE'schen nachgebildete Blut-
sauger von Demours, er besteht 1. aus dem Schröpf köpf , 2. aus der mit einem
Schliesshahn versehenen Saugpumpe und 3. aus dem Lanzettenträger; er ist eine
Combination der WEiss'schen Spritze mit dem Scarificator.
In neuerer Zeit hat man jene Bestrebungen wieder aufgenommen und
sich bemüht , derartige Instrumente mehr und mehr zu vervollkommen. Dasjenige,
welches den meisten Beifall und ganz besonders in der Augenheilkunde mannigfache
Verwendung gefunden hat, ist der künstliche Blutegel von Heurteloup (Fig. 23).
Das Instrument besteht aus zwei getrennten Theilen: der Saugpumpe und dem
Fiff. 24.
Fig. 25.
Scarificator. Erstere ist eine Spritze mit Glascylinder und Korkstempel, welcher
mit Hilfe einer Flügelschraube bewegt wird. Letzterer hat die Form eines Loch-
eisens und kann , eingeschlossen in einer Kapsel, mit einer Schraube befestigt und
mit Hilfe einer Schnur in rotirende Bewegung versetzt werden. Nach Befeuchtung
der Haut lässt man zunächst die Saugpumpe etwas wirken, setzt den Scarificator
auf, dessen Klinge der Hautdicke entsprechend
gestellt ist, und lässt ihn die kleine, kreisförmige
Wunde hervorbringen. Darauf setzt man den Saug-
apparat zum zweiten Mal langsam und allmälig in
Thätigkeit; der kleine umschnittene Hautcylinder
wird in die Höhe gehoben und aus den Wunden
eine nicht unerhebliche Blutmenge gezogen. Das
Verfahren kann wiederholt, auch können mehrere
Scarificationen nebeneinander vorgenommen werden.
Man muss jedoch darauf achten, dass einerseits
der Rand der Pumpe stets überall aufsitzt und
dass er anderseits die Haut nicht bis zur Hemmung
des Blutzuflusses zusammendrückt.
Auch dieses Instrument ist wiederholt mehr
oder weniger glücklichen Aenderungen unterworfen
worden. Für die gynäkologische Praxis hat Collin
einen künstlichen Blutegel construirt, bei welchem
der Stempel der Spritze die Klinge des Scarificators
enthält. Papillon's Blutsauger (Fig. 24) besteht aus
einem Glasspeculum , durch welches der mit stell-
barer Klinge versehene Scarificator eingeführt wird.
Ist derselbe nach vollzogener Scarification heraus-
gezogen, dann wird der Deckel des Speculums auf-
gesetzt und an diesem die Saugpumpe befestigt.
Das „neue Schröpfinstrument" (Fig. 25) von Moloney in Melbourne ist
nichts Anderes als ein etwas modernisirter DEMOURS'scher Blutsauger. Der Schröpf-
kopf ist ein gläserner Recipient, welcher durch einen Messinghahn in Verbindung steht
mit dem Schlauche einer Saugspritze , während in die Spitze des Recipienten ein
SCHRÖPFEN. — SCHULBANKFRAGE.
durchbohrter Kork eingelassen ist, dessen Inneres durch einen weit in den Reci-
pienten hineinreichenden Kautschukschlauch überzogen ist. Durch diesen Schlauch
läuft die langgestielte Scarificationsnadel , welche an jenem befestigt wird. Ver-
möge der Elasticität des Schlauches lässt sich die Nadel bis zur Haut kerab-
(1 rücken. Die Blutentziehung erfolgt nach Maassgabe der Luftverdünnung, welche
man hervorbringt. -\V.
Schrumpfniere, s. „Nierenentzündung", IX, pag. 639.
Schüttelkrampf, s. „Convulsionen", III, pag. 474; Schüttellähmung',
s. Paralysis agitans, X, pag. .-522.
Schüttelmixtur, s. „Mixtur", IX, pag. 190.
Schulbankfrage. Beim ruhigen Aufrechtsitzen ist es nothwendig, dass
die Schwerpunktslinie des Körpers in eine Fläche fällt, deren hintere Begrenzung
von einer durch die Sitzhöcker gezogenen Linie gebildet, während die vordere
Grenze von der Grenzlinie des Gegenstandes gegeben wird, auf welchem man
sitzt. Die Schwerlinie kann an die verschiedensten Stellen dieser Fläche fallen ;
das Gleichgewicht wird aber um so labiler, je mehr sie sich einer der Grenz-
linien nähert, oder wenn sie mit diesen zusammenfällt. Von einem ruhigen Sitzen
bei so labilem Gleichgewichte kann also nicht die Rede sein. Möglich wird ein
solches, wenn die Unterstützungsfläche, auf welcher die Oberschenkel beim Sitzen
aufruhen, eine grosse ist; am grössten ist sie, wenn der vordere Rand der Sitz-
flache bis an die Kniekehlen reicht. Eine erhöhte Ruhe tritt noch ein, wenn die
Unterschenkel und Füsse nicht frei herabhängen, sondern wenn letztere auf den
Boden aufgestützt werden können.
Da jedoch keine Bandhemmung eine Fixirung des Rumpfes auf den
Beinen bedingt , so kann die Rubelage des Rumpfes nur durch eine complicirte
Muskelthätigkeit zu Stande kommen. Wird diese für längere Zeit nothwendig, so
tritt eine Ermüdung ein und diese wird entweder zum Vo rwärts falle n des
Rumpfes führen, bis derselbe auf den Oberschenkeln aufliegt, oder zu einem
Fallen nach hinten, sobald die Schwerlinie in die Sitzhöckerlinie oder noch
hinter diese zu liegen kommt. Dieses nach Vorn- oder Hintenfallen wird aber
nicht eintreten, wenn der Rumpf sich nach vorn direct mit der Brustfläche , oder
indirect mittelst der Arme an einen Gegenstand (Tischrand) stützen kann , oder
wenn er von hinten eine Unterstützung der Wirbelsäule in ihrem Lenden- oder
Brusttheile (Lehne) findet (Herm. Meyer).
Beim beschäftigungslosen Sitzen, beim Lesen, sobald das Buch in der
Hand gehalten wird, oder wenn es auf dem Tische liegt und die Grösse der
Schrift und die Neigung des Buches es erlaubt, sowie bei allen Beschäftigungen,
welche eine freie Bewegung der Arme erfordern, wird unwillkürlich der Körper
eine Stütze der Wirbelsäule in Form einer Lehne suchen. Frauen können länger
ohne Stütze aufrecht sitzen als Männer, weil ihr Rumpf durch Corsets gestützt wird.
Beim Schreiben werden die beiden Vorderarme auf den Tisch auf-
gelegt, und zwar zu zwei Dritttheilen, wobei die Oberarme möglichst wenig seit-
wärts gehoben werden sollen, und der Kopf wird ein wenig um seine Querachse
nach vorn gesenkt. Die Stütze hat der Körper jedoch nicht in den Armen,
sondern rückwärts in einer passenden Lehne zu suchen. Ein richtiges
Schreibsitzen ist nur bei correcter Gestaltung der Subsellien
möglich. Sind diese fehlerhaft gebaut, so wird das Schreibsitzen einen ganz
anderen Typus annehmen.
Ist der Sitz zu weit von dem Tische entfernt , so ist vor Allem ein
stärkeres Vorbeugen des Kopfes die Folge und die Nackenmuskeln müssen den-
selben, da seine Schwerpunktlinie vor die Wirbelsäule zu liegen kommt , halten ;
sind sie ermüdet, so müssen die Rückenmuskeln dem Vorwärtsfallen des Ober-
körpers entgegenarbeiten, und da auch diese bald ermüden, so kommt es in
SCHULBANKFRAGE.
239
kurzer Zeit zu einem so starken Vornübergebeugtsein des Kopfes, dass die Schrift
bald nicht mehr als 8 — 10 Cm. von den Augen entfernt ist.
Diese Annäherung der Augen an das Buch oder an die Schrift ist aber
eines der wichtigsten Momente zum Zustandekommen und Wachsen der Myopie
(s. den betreffenden Artikel). Zudem hat eine so vorgebeugte Körperhaltung auch
noch den Nachtheil, dass sie gewöhnlich zu einem Anlehnen der Brust an den
Tischrand führt, wodurch einerseits die Athmung erschwert wird, andererseits die
Baucheingeweide comprimirt werden.
Eine weitere Folge der schlechten Haltung beim Sitzen sind die seitlichen
Wirbel säuleverkrümmungen. Sie sind das Resultat verschiedener Factoren.
Ist der Tisch von dem Sitze zu weit entfernt, so rutscht der Sitzende unwillkür-
lich so weit als möglich nach vorn bis an die vordere Sitzkante. Da er dann aber
mit sehr kleiner Sitzfläche aufruht, so tritt das Bestreben ein, eine breitere Fläche
dadurch zu gewinnen, dass er den Körper um seine Längsachse nach rechts
dreht , den zum Schreiben notwendigen rechten Arm auf den Tisch legt und nun
mit der linken Hinterbacke auf dem Sitze aufruht (vgl. „Rückgratsverkrümmung").
Wesentlich unterstützt wird diese Schiefhaltung des Körpers durch die
Schieflage unserer Schrift. Diese macht es nothwendig, dass das Papier schräg-
gehalten wird, so dass die Linien von links unten nach rechts oben laufen ; wird
nun die Basallinie beider Augen mit den Linien in eine parallele Richtung gebracht,
so führt dies nothwendig zu einer Schiefhaltung des Kopfes und zu einer Drehung
des ganzen Körpers nach rechts (Ellingee, Geoss). H. Cohn hat sich davon
überzeugt , dass in einer Schule die Kinder alle kerzengerade sassen , so lange
sie senkrechte Buchstaben schrieben, und dass sie sogleich die falsche Körper-
haltung annahmen, als man sie anwies, in gewohnter Weise schräg zu schreiben
(vergl. auch Schubeet).
In dritter Reihe ist der unpassende Verticalabstand von Tisch und Sitz
zu nennen. Ist der Tisch wie gewöhnlich zu hoch, so führt dies an und für sich
zu einer übergrossen Annäherung von Auge und Sehobject. Es wird aber dadurch
auch nothwendig gemacht, dass die Arme, um sie auf den Tisch legen zu können,
gehoben und die Ellbogen auseinandergespreizt werden; da bei dieser Haltung
eine Drehung des Körpers, der jetzt an dem Schultergürtel hängt, unmöglich ist,
so bleibt der rechte Arm bis über den Ellbogen hinauf, ja bis zur Achselhöhle
auf dem Tische liegen, der linke Arm
sinkt herunter, nur die Hand bleibt allen-
falls zum Festhalten des Papiers auf dem
Pulte , der ganze Körper sinkt nach links
zusammen und der nach vorn und links
geneigte Kopf ruht fast auf dem Papier
auf. Dass auf diese Weise Kurzsichtigkeit
und Scoliose bei den geeigneten Individuen
entstehen muss , ist evident. Das Nähere
siehe in den betreffenden Specialartikeln.
Betrachten wir nun die Schul-
bänke , wie sie bis vor kurzer Zeit aus-
nahmslos beschaffen waren und leider an
vielen Orten noch sind (Fig. 26). Vor
Allem sind sie den Körpergrössen der
Schüler nicht anpassend, und zwar in
allen ihren Dimensionen. In einer Volks-
schule, die Kinder vom 7. bis 14. Lebens-
jahre beherbergt , sind gewöhnlich nur
eine geringe Menge von Bankgrössen vorhanden und es besitzt ein und
dieselbe Classe in der Regel nur eine Grösse trotz der verschiedenen Körper-
länge der Kinder. Die Mittelschulen sind in dieser Beziehung meist noch
240 SCHULBANKFRAGE.
schlimmer daran. Ich erinnere mich nicht, dass ich, als ich im Obergymnasium
stndirte, die Bänke der ersten Classe des Untergymnasiums, in welcher Steno-
graphieunterricht ertheilt wurde, als zu klein befunden hätte. Fast durch-
weg ist aber an den Schulbänken der Verticalabstand von Pult und Sitz, die
sogenannte „Differenz", ein viel zu grosser (Fig. 2G ab) und bedingt immer,
aucli bei sonst richtiger Grösse der Bank, das beschriebene Emporheben und Aus-
einanderspreizen der Ellbogen. Der zweite Cardinalfehler liegt in dem grossen
llorizontalabstande des Pultes von der Bank, der sogenannten „Distanz" bc,
dessen Folgen ausführlich beschrieben wurden. Der dritte Hauptfehler betrifft die
Lehne. Eine solche ist in der Regel gar nicht vorhanden, sondern das Pult der
nächstfolgenden Bank dient als solche und erlaubt natürlich nur ein Anlehnen in
der Schulterhöhe, jedoch nicht beim Schreiben. Die Pultplatte ist schmal und
verläuft horizontal, die Bankbreite ist gewöhnlich mangelhaft und die Bank-
höhe ist den Unterschenkeln nicht entsprechend, so dass die Füsse baumeln, und
die in solchen Fällen nöthigen Fussbretter sind nicht vorhanden. Zudem ist , um
die Fehler vollständig aufzuzählen, der jedem einzelnen Schüler angemessene Raum
meist ein zu kleiner. Bei einer zu grossen „Differenz" , welche ein Spreizen der
Ellbogen beim Schreiben bedingt , braucht aber jeder Schüler noch mehr Raum,
als er in einem richtig dimensionirten Subsellium benöthigen würde, und da dieser
Raum nicht vorhanden ist, so können die Schüler schon deshalb nur den rechten
Arm auf dem Pulte belassen und sitzen jetzt anstatt nebeneinander, dachziegel-
artig hintereinander.
Wenden wir uns den Anforderungen zu, die an eine gute Schulbank zu
stellen sind:
1. Die Distanz muss Null betragen oder sie muss (und dies ist das
bessere) negativ sein, d. h. eine von dem hintern (dem Schüler zugekehrten) Pult-
rande gezogene senkrechte Linie muss mit dem ihm zugekehrten Bankrande
zusammenfallen (Fig. 29) (Nulldistanz) , oder sie muss bereits die Bankfläche treffen,
der Sitz muss also unter das Pult hineinragen (Minusdistanz) (Fig. 30, 33, 36).
Jede Bank mit positiver Distanz ist zu verwerfen.
2. Die Differenz soll so gross sein, wie der Abstand des Ellbogens
von der Bank bei herabhängendem Arme, mehr 5 — 7 Cent., um welche der Ell-
bogen bei seiner Bewegung nach vorn gehoben wird. Der genannte Abstand des
Ellbogens vom Sitzknorren beträgt meist 1/7 der Körpergrösse (Schildbach). Zu
dieser nur 1" oder weniger zu addiren, hat sich als zu gering erwiesen.
3. Jede Schulbank muss eine richtige Lehne besitzen. Als solche darf
nicht das Pult der dahintenstehenden Bank dienen. Die Lehne kann in doppelter
Weise verschieden sein. Vorerst in der Höhe : hiernach unterscheidet man
Rückenlehnen, Lendenlehnen (hohe Kreuzlehnen) und Kreuzlehnen. „Die Rücken-
lehne stützt den unteren Theil der Brustwirbelsäule und entlastet dadurch die
Lend en Wirbelsäule ; die Kreuzlehne stützt das Kreuzbein oder die unteren
Lendenwirbel , fixirt dadurch das Becken und ermöglicht dadurch ein ruhiges
Geradesitzen; die Lendenlehne liegt in der Lendenkrümmung an, entspricht
annähernd dem Zwecke der beiden vorhergenannten Lehnen" (H. Meyer). Die
meisten Stimmen entschieden sich für die letztere, doch differiren bezüglich der
ganzen Lehnenfrage die Ansichten noch erheblieh. Die Lehne kann ferner ent-
weder eine fortlaufende oder eine Einzellehne sein. Erstere hat den
Nachtheil, dass die Kinder die zurückgezogenen Ellbogen auf dieselben stützen
können; ferner erlaubt sie eher ein Wegrücken des Schülers von seinem Platze
und bietet leichter die Möglichkeit einer Ueberfüllung der Bänke , welche absolut
vermieden werden soll. Die Lehne soll ausserdem den Körperformen angepasst
sein, sie soll sich der Krümmung der Wirbelsäule anschmiegen, ist daher am
besten dieser entsprechend geschweift und massiv. Unter diesen Voraussetzungen
wird also eine richtige Lehne dem Schüler das bequeme Schreiben gestatten,
ohne dass er mit dem Kreuz die Lehne verlässt.
SCHULBANKFRAGE.
241
4. Das Sitzbrett soll in Fortsetzung der Lehne ausgeschweift sein
und es ist ein solches ebenen Bänken vorzuziehen ; die Breite hat je nach der
Grösse der Schüler 23 — 34 Cm. zu betragen.
5. Die Höhe der Bank hat eine solche zu sein, dass das Knie bei
aufruhendem Oberschenkel im rechten Winkel gebogen ist und dass die Fusssohlen
dabei auf dem Boden oder einem entsprechend angebrachten Fussbrette ff) aufruhen.
6. Die Tischplatte muss hinreichenden Raum für die darauf zu
legenden Bücher und Hefte besitzen und muss gestatten, diese beim Schreiben
so weit vorzuschieben, dass die Vordermänner durch dieselben nicht genirt werden ;
32 — 40 Cm. sind die richtigen Dimensionen.
7. Die Tischplatte muss ferner geneigt sein. Nichts wird so sehr einem
Vorwärtsbeugen des Kopfes Vorschub leisten, als eine ebene Tischplatte. Die
Grenze des Neigungswinkels würde die sein, dass die Tinte nicht in der Feder
zurückfliesst ; eine solche Neigung ist aber für eine Schulbank zu gross, da die
Bücher auf der Platte herunterrutschen würden und dies nur durch eine Leiste
am hinteren Rande (wie in Fig. 29) verhindert werden könnte. Solche Leisten sind
jedoch, da sie beim Schreiben in die aufgelegten Vorderarme einschneiden würden,
verwerflich. Eine Neigung von 2 : 12 ist am meisten entsprechend. Für Lese-
pulte ist natürlich eine möglichst grosse Steilstellung des Buches wünschenswerth ;
an Schulbänken dieselben anzubringen, ist jedoch aus verschiedenen Gründen
nicht leicht thunlich. Ein Vortheil wären jedenfalls transportable Lesepulte,
die in sehr empfehlenswerther Weise aus Pappe geschnitten und zusammenlegbar
der Realschulprofessor Fialkovski in Wien angegeben hat.
8. Die Höhe des Pultes ist vom ärztlichen Standpunkte neben-
sächlich , sobald die bezüglich der Differenz und der Bankhöhe gestellten Forde-
rungen erfüllt werden. Sollen die Füsse der Schüler am Boden aufruhen, so
werden die Pulte der Grösse der Schüler entsprechend sehr ungleich hoch sein
müssen, was dem Lehrer unbequem sein kann. Wünscht man aus pädagogischen
Gründen die Pultplatten alle in gleicher Höhe, um die Schüler leichter übersehen
zu können, so müssen in der richtigen Höhe Fussbretter (am besten rostartig
aus Latten mit freien Zwischenräumen (Kaisee) gefertigte Podien Fig. 33 f)
angebracht werden. In den untersten Classen würden sich überhaupt Podien
empfehlen, auf denen die Bänke stehen, um den Lehrer
nicht zu übermässigem Bücken zu zwingen.
9. Bücherbretter zum Aufbewahren der
Bücher dürfen die Knie nicht belästigen 5 wo und
in welcher Weise sie sonst angebracht sind, ist dem
Arzte gleichgiltig.
10. Endlich muss das Pult für jeden Schüler
genügend breit sein. Bei richtiger Differenz ist der
nach den österreichischen Gesetzen verlangte Raum
von 50 — 60 Cm. für jeden Schüler (je nach der
Grösse) ausreichend, verlangt jedoch eine fehlerhafte
Differenz ein Auseinanderspreizen der Ellbogen, so
muss der Raum grösser bemessen sein.
Die ersten Schritte zur Verbesserung der
Schreibehaltung der Kinder geschah 1853 durch
Scheebee. Er construirte einen Geradehalter
(Fig. 27 und 28), ein höher und niederer stellbares,
am Tischrande angebrachtes T-förmiges Instrument , an dessen Querstange die
Brust des Schreibers sich anlehnte, wodurch freilich ein weiteres Vorbeugen
behindert, aber die Respiration beengt wurde. Wir begegnen einer derartigen
Vorrichtung nur noch einmal an einer Schulbank von Happel, die in der Leipziger
Illustrirten Zeitung (Januar 1872) abgebildet ist und eine wirkliche kleine Brust-
lehne, die am Pultrande angebracht ist, vorstellt. Alle derartigen Zwangs-
Eeal-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 16
Fig. 27.
242
SCHULBANKFRAGE.
Vorrichtungen sind jedoch längst ausser Gebrauch gekommen (trotzdem sah ich
nocli heuer in einem aristokratischen Hause einen durch eine norddeutsche Gouver-
nante eingeführten ScmtEBER'schen Geradehalter). Vergleiche auch Berthold's
Myopodiorfhoticon, 1840.
Vorschläge zu einer Verbesserung der Subsellien selbst geschahen zuerst
durch Barnabd in Nordamerika, dessen Schrift „Scbool Architecture" im Jahre
1854 bereits in 5. Auflage erschien. Er construirte eine im Ganzen richtige
Bank ohne positiver Distanz. Fast gleichzeitig nahmen sich zwei Schweizer Aerzte
der Sache mit vollstem Eifer an, Guillaume und Fahrner (1865), ebenso
Parow in Berlin. Durch diese, sowie später durch Schildbach und Hermann
Meter wurden die Bedingungen des richtigen Sitzens wissenschaftlich festgestellt
und hiemit auch die Forderungen , die an eine richtig gebaute Schulbank gestellt
werden müssen.
Fi*. 28.
In rascheren Fluss wurde die Frage erst durch H. Cohn in Breslau
gebracht und es wird ein bleibendes Verdienst desselben sein, durch seine „Augen-
untersuchungen an 10.060 Schulkindern" die augenärztliche Seite der Frage in
ihrer vollen Wichtigkeit klargestellt zu haben (s. den Artikel „Schulkinderaugen").
Die nach den oben gegebenen Principien richtig construirte Schulbank
begegnete jedoch auf pädagogischer Seite dem entschiedensten Widerspruche. Sie
machte nämlich wohl möglich , in derselben gut zu sitzen, dagegen war ein auf-
rechtes Stehen bei einer Null- oder Minusdistanz nicht möglich und dass die
Schüler in der Bank leicht stehen können , das verlangten sämmtliche Lehrer,
lieber verzichteten sie auf ein richtiges Sitzen. Um die Vereinigung dieser beiden
entgegengesetzten Forderungen der Aerzte und Lehrer drehte sich von da ab die
ganze Frage und es entstand eine grosse Menge von verschiedenen Banksystemen,
die zum grossen Theile anatomisch richtig und nur in pädagogischer und öko-
nomischer Beziehung nicht gleichwertig sind. Die vorzüglichsten derselben
mögen hier aufgezählt werden.
SCHULBANKFRAGE.
243
Fig. 29.
A. Banksysteme mit fixer Null- oder Minusdistanz.
Die Bank Fahrner's (Fig. 29) war eine Bank mit Nulldistanz und
niedriger Lehne, welche eine beliebige Länge hatte und also auf das sogenannte
Pferchsystem anzuwenden war , bei dem man willkürlich viele Schüler in dieselbe
setzen konnte. Büchner modificirte die Bank (Fig. 30), welche von pädagogischer
Seite, wegen der Unmöglichkeit in derselben zu stehen, verworfen wurde, in
der Weise, dass er sie theilte
und zweisitzig machte. Es
können dann die Schüler, wenn
sie aufstehen sollen , aus der
Bank in die zwischen den
Bankreihen befindlichen Gänge
heraustreten. Buchner gab
seiner Bank überdies eine
Minusdistanz.
Ganz ähnlich und nur durch
Unwesentliches (Bücherkasten)
verschieden , ist die Buhl-
LiNSMEYER'sche Schulbank.
Hieher gehören sämmtliche
einsitzige Subsellien,
wie sie namentlich in Nord-
amerika und in Schweden
unter verschiedenem Namen
und in verschiedenen Formen gefertigt werden. Alle erlauben beim Aufstehen das
Stehen neben dem Sitze und die Formen des Sitzes und der Lehne werden bei der
Beurtheilung den Ausschlag geben. Auch der Bank von Bapterosses (Frankreich),
kleiner , pilzförmiger Einzelnsitze vor einem für 5 — 6 Schüler berechnetem Pulte,
muss hier Erwähnung geschehen (im Uebrigen ist die Bank schlecht). Bei allen
diesen Subsellien ist es nothwendig, dass Sitz und Tisch in fixer Verbindung
Fig 30 sind , oder dass sie an den Fussboden
des Schulzimmers festgeschraubt werden,
was aber dann unter Aufsicht eines Sach-
verständigen mit Einhaltung der richtigen
„Distanz" geschehen muss.
Vom ärztlichen Standpunkte lässt sich
gegen alle diese Systeme nur einwenden,
dass sie den Schüler zwingen, constant
in der Schreibestellung zu sitzen, während
beim Lesen eine Plusdistanz wegen der
freieren Beweglichkeit wünschenswerth
erscheint. Ferner brauchen alle zwei-
sitzigen und natürlich noch mehr die
einsitzigen wegen der nothwendigen
Zwischengänge viel Raum und wo dieser
gespart werden muss, würden ihrer Ein-
führung Schwierigkeiten begegnen. Da-
gegen sind die Bänke, da sie sich in
höchst einfacher Ausstattung ausführen
lassen, billig und wegen des Fehlens jedes Mechanismus sehr dauerhaft. Noch
eines Systems muss hier Erwähnung geschehen, das sich wohl auch für neue
Bänke eignet , noch besser aber zur Adaptirung alter empfiehlt. Es stammt vom
Architekten Löffel in Colmar und wird von Reclam in dessen „Gesundheit"
(1875, Nr. 1) beschrieben. Die Sitzbretter der alten langen Bänke erhalten,
wie nachstehende Figur 31 zeigt, (zu schmale) Ausschnitte, da ein Raum von
16*
244
SCHULBANKFRAGE.
Fig. 81.
30 — 38 Cm. zum Sitzen hinreicht ; in diese Ausschnitte stellen sich die Schüler
beim Aufstehen. Entschieden ist dies der neuen, vom Oberlehrer Schwinger
(Aspang , Nieder - Österreich)
angegebenen „Aspanger Schul-
bank" (Fig. 32) vorzuziehen,
der an dem Bankrande seichte,
4 Cm. tiefe und 18 Cm. breite,
ausgerundete Ausschnitte an-
bringt, in denen der Schüler
mit einem Beine zu stehen
hat, während das andere leicht
gebeugt wird. (Die Bank ist
überdies wegen einer positiven Distanz verwerflich.)
B. Banksysteme mit veränderlicher Distanz.
1. Mit beweglichen Sitzen. Die einfachste Lösung der Distanz-
frage wäre durch freibewegliche Sessel gegeben, da solche aber in der Schule
einerseits wegen des durch das „ „„
Fig. 32.
1 °
o
o
O
im
m
;.i_j -
■ ■■ -
m
M
Rücken verursachtenGeräusches,
andererseits wegen der stets not-
wendigen Controle der richtigen
Stellung unmöglich sind, so
musste man auf andere Aus-
wege sinnen. Man machte die
Sitze zum Zurückklappen, wie
die Sperrsitze in den Theatern,
entweder in der Weise, dass
der Schüler das unterhalb der Lehne um eine Achse drehbare Sitzbrett zurückschlägt
(natürlich muss dies jedem Einzelnen mit dem ihm zugewiesenen Banktheile möglich
sein), oder dass durch eine rückwärts angebrachte Last der Sitz beim Aufstehen von
selbst zurückspringt (Sandberg in Schweden). Die Bank des Lehrers Kaiser in
München hat Sitze , welche Fi g3
durch eine originelle Mechanik, ~
die durch die beistehende Ab-
bildung (Fig. 33) leicht ver-
ständlich wird, beim Aufstehen
der Kinder nach rückwärts
gestreift werden. Zwischen je
zwei Sitzen ist ein ziemlich
breiter, freier Raum. Aerztlicher-
seits könnte man nur die auch
beim Nichtschreiben bestehende
Minusdistanz bemängeln ; im
Uebrigen sind diese Bänke
ganz den sanitären Forderungen
entsprechend.
2. Mit beweglicher
Tischplatte. Die hieher-
gehörenden Subsellien bieten
zwei Varianten dar, entweder
sind an der Tischplatte Klapp-
vorrichtungen oder Schiebevorrichtung angebracht.
In ersterer Beziehung ist die Pultplatte ihrer Länge nach getheilt und
das dem Schüler zugekehrte Stück ist entweder nach unten zu klappen und wird
durch vorzuschiebende Stützen in der Pultebene festgehalten, oder es ist zum
Hinaufklappen eingerichtet (Cohn , Fig. 34 , Liebreich u. A.) und kann dann
SCHULBANKFRAGE.
245
Fiff. 34.
zugleich als Lesepult benutzt werden (Liebreich). Da aber die Charniere meist
bald locker werden und dann die Pultebene gebrochen erscheint, so stehen alle
Klappvorrichtungen hinter den
gleich zu beschreibenden ver-
schiebbaren Pultplatten zurück.
Cohn verwirft sie jetzt voll-
ständig. Wie schon bei den
Klappsitzen erwähnt, so darf
auch hier das bewegliche Stück
nicht für alle Schüler einer Bank
gemeinsam , sondern muss für
jeden Schüler getrennt sein.
Die Pulte mit Schiebevor-
richtung sind so construirt, dass
der jedem Schüler zukommende
Theil der Pultplatte dadurch nach
vorn gezogen werden kann, dass
er mit seinen Rändern in zwei
Schubleisten verläuft, welche ent-
weder seitlich oder an der Unter-
seite der Platte verlaufen. Ist das
Brett zurückgeschoben, so ist eine
Plusdistanz vorhanden, die dem Schüler bequemes Stehen ermöglicht; ist es vor-
gezogen, so ist die Distanz negativ geworden. In letzterer Stellung ist am vor-
deren Rande ein vertiefter Raum entstanden, welcher das Tintenfass enthält. Dies
von Kunze in Chemnitz erfundene System erfuhr nur geringe Modificationen
(Fig. 35 u. 36). Dieselben beruhen in der Vorrichtung zur Fixirung der vorgezogenen
Platte , welche entweder in einer Feder (Olmützer Bank) , oder einem Riegel
^
Fig. 35.
bestehen , oder vollständig fehlen. Die KüNZE'sche Bank ist zweifellos die vor-
züglichste aller bestehenden Bänke. Sie lässt sich ein-, zwei- und mehrsitzig
construiren, ist nicht theuer und, wenn solid gearbeitet, sehr haltbar, wie
jahrelange Erfahrungen gelehrt haben. Nur eines Umstandes will ich Erwähnung
S< HULBAXKFRAGE.
thun. welcher lange Zeit ihrer Einführung in den "Wiener Schulen im Wege stand.
Mau wart' ihr vor , das.? sie zu viel Platz einnehme. Da jedes Pultbrett eine
bestimmte Tiefe besitzt und diese
dem verschiebbaren Theile Fig. 36.
zukommen muss , so stellt der
verriefte Raum, der das Tinten-
nihalt, einen todten Raum
V'T. der etwa 10 — 13 Cm. beträgt.
Oberingenieur Paul in Wien
machte nun diesen vertieften
Theil / vFig. 37) durch eine sehr
einfache Hebelvorrichtung h be-
weglich, so dass er beim Vor-
ziehen des Pultes sich in die
Höhe bewegt und das Pult ver-
breitert (..automatische Leiste"),
und der verschiebbare Theil ent-
sprechend schmäler sein kaun.
In dieser Form gelangt diese
Bank als „Wiener Schulbank"
Fig. 35) nach und nach an allen
Wiener Schulen zur Einführung.
Das Subsellium von Dr. Saxdbeeg , dessen Pultbrett ebenfalls zum Vor-
ziehen eingerichtet ist, indem seitlieh angebrachte Leisten den darunter befind-
lichen Bücherkasten deckelartig überragen , ist nur für Einzelnsitze verwendbar.
Dies sind im Ganzen die wesentlichsten
Systeme und alle die mannigfachen Schulbänke lassen Fis- 37-
sich auf diese zurückführen.
Auch die Ausstattung thut das ihrige zur
Vermehrung der Mannigfaltigkeit und es wären in
dieser Beziehung besonders die äusserst zierlichen
und haltbaren Bänke mit Eisengestellen zu erwähnen,
die aber für unsere Verhältnisse zu theuer sind.
Was die Anzahl der verschiedenen Bank-
grössen für eine Schule betrifft, so sind für Kinder
von 6 — 1-4 Jahren, resp. für eine Körpergrösse
von 105 bis 164 Cm. sechs verschiedene Bank-
grössen erforderlich.
Die folgende Tabelle zeigt die Hauptmaasse der Wiener Schulbank
nach Paul (in Centmietern \
Durchschnitts-
alter der
Schüler in
Jahren
Schüler-
grösse
Höhe
des Pxdtes
an der
Distanz bei
Differenz
Höhe des i
Sitzes
. Bank-
Summer
ein-
geschobener
aus-
gezogener
Innenseite
Platte
1
6— 7
105 — 117
52 5
9
0
21-5
31
2
7— 8
118 — 125
55
9
—1
23
32
3
8— 9
126 — 134
58
10
-1
25
33
4
9—11
135 — 144
63
10
-2
27
36
0
11—13
145 — 154
71-5
11
—3
30-5
41
6
13—14
155 — 164
76
11
—3
31
45
7
über 14
165 — 174
79
12
—3
31
48
8
175 u. mehr
81
12
—3
34
48
.SCHULBANKFRAGE. 247
Im Allgemeinen würden sich also für unsere Schulen empfehlen: 1. Die
KrxzE'sche Bank in einer ihrer Formen , unter welchen die Wiener Bank die
meisten Vorzüge besitzt. 2. In zweiter Linie eine Bank mit beweglichen Sitzen,
unter denen die von Kaiser die beste sein dürfte. 3. "Wo es die Platzverhält-
nisse erlauben, die als solche wohlfeilste zweisitzige Bank mit fixer Minusdistanz.
Nur wo es die Verhältnisse nicht anders gestatten, mögen die alten, mehrsitzigen
Bänke richtig dimensionirt und mit einer möglichst kleinen positiven Distanz
gestattet werden.
Es ist selbstverständlich, dass es nicht die Schulbänke allein sind, welche
in den Schulen zu sanitären Xachtheilen , namentlich zu Myopie führen , dass in
dieser Beziehung Beleuchtung, Ueberfüllung und Lehrplan eine ebenso grosse
Rolle spielen: es wäre aber gefehlt, wollte man deshalb die Einführung richtig
construirter Schulbänke für nutzlos erachten, weil durch dieselbe allein nicht alle
Uebelstände behoben werden.
Vor Allem darf man aber nicht vergessen, dass die Schule nur einen
Theil der Schuld an den durch schlechtes Sitzen entstehenden Schäden trägt und
dass der andere Theil im Hause, in der Familie zu suchen ist. Alles, was für
das Sitzen in der Schule gilt , hat auch hier Geltung und nirgends wird gegen
die Principien der Hygiene mehr gesündigt, als gerade in der Familie. Von dem
Beginne des Lernens an werden dort die Kinder auf die Sessel und an die Tische
der Erwachsenen gewiesen und nur für die ersten 3 — 4 Lebensjahre existiren
Kindermöbel. Die Einführung von richtigen Kinderpulten für den Hausgebrauch
ist deshalb ebenso wichtig, wie die von richtigen Bänken in der Schule.
Das Einfachste sind wohl Sessel und Tische von den richtigen Dimensionen,
oder wenn man die vorhandenen gewöhnlichen Tische verwenden will , erhöhte
Sessel , also Sessel mit hohen Beinen , oder normal hohe Sessel , auf die man
Polster, oder besser dicke Bretter legt, bis der Sitz die nöthige Höhe hat. Doch
muss dafür gesorgt werden, dass die Füsse durch einen Schemel oder durch ein
in passender Höhe angebrachtes Fussbrett die richtige Stütze finden. Bei allen
frei bewegliehen Sesseln bedarf nur das Einhalten der richtigen Distanz steter
Beaufsichtigung und aus diesem Grunde sind Sitze, die mit dem Tische fest ver-
bunden sind, also Schulpulte für den Hausgebrauch vorzuziehen, besonders dort,
wo der Raum und die Kosten nicht in Frage kommen. Diese Pulte können nun
nach einem beliebigen System angefertigt werden : wenn sie nicht nur zum Schreiben
dienen, ist eine Schiebe- oder Klappvorrichtung vorteilhaft. Da sie jedoch nicht
alle Jahre neu angeschafft werden können , so müssen sie der zunehmenden
Körpergrösse des Kindes sich anpassen, was durch verschieden hoch zu stellende
Sitz- und Fussbretter leicht möglich ist. Gut und sehr billig sind die Pulte des
Tischlers Freund in Bielitz in Schlesien i'KosZe's System); sehr schön, aber
kostspieliger die von der Schulbankfabrik in Frankenthal in der Rheinpfalz
(KAiSEE'sche Sitze und zurückklappbare, getheilte Pultbretter).
Bei allen Subsellien, mögen sie nun in der Schule oder im Hause zur
Verwendung gelangen, ist jedoch die Beaufsichtung der Kinder nothwendig. Denn
es giebt kein solches, in dem man nicht schlecht sitzen kann: nur solche dürfen
nicht in Gebrauch bleiben, an denen man schlecht sitzen muss.
Literatur: Schreber, Die schädlichen Körperhaltungen und Gewohnheiten der
Kinder. Leipzig 1853. — Barnard, School Architectnre. 5. ed. 1854. Principles of school
architecture. New- York 1859. — Guillaume, Hygiene scolaire 2. ed. Geneve 1865. Deutsche
Ausgabe. 3. Aufl. Aarau 1865. Hygiene des ecoles. Paris 1874. — Fahrner, Das Kind
und der Schultisch. Zürich 1865. — Yirchovr, Ueber gewisse, die Gesundheit benach-
teiligende Einflüsse der Schulen. Yirchows Archiv. Bd. XL VI. — Parow, reber die Not-
wendigkeit einer Keform der Schultische. Berliner Schulzeitung. 1865. Studien über die
physikalischen Bedingungen der aufrechten Stellung und der normalen Krümmungen der
Wirbelsäule. Virchow's Archiv. Bd. XXXI. — Herrn. Meyer, Die Mechanik des Sitzens
mit besonderer Rücksicht auf die Schulbankfrage. Yirchow's Archiv. Bd. XXXVIU. Die
Statik und Mechanik des menschlichen Knochengerüstes. Leipzig 1873. — Schildbach,
Die Scoliose. Leipzig 1872. Die Schulbankfrage und die Kunze*sche Schulbank. Leipzig 1869.
248 SCHULBANKFRAGE. — SCHULKINDERAUGEN.
^. Aufl. 1872. — Büchner, Zur Schulbankfrage. Berlin 1869. — Herrn. Cohn, Unter-
Buchjmgen der Augen von 10.060 Schulkindern. Leipzig 1867. Die Schulhäuser und Schul-
fcische auf der Wiener Weltausstellung. Breslau 1873. Ueber Schrift, Druck und überhand-
nehmende Kurzsichtigkeit. Tagbl. der 38. Vers, deutscher Naturforscher u. Aerzte. Danzig
1880. — Ellinger, Ueber den Zusammenhang der Augenmuskelthätigkeit mit Scoliose.
Wiener med. Wochenschr. 1870. Nr. 33. — Schober, Die Olmützer Schulbank. Wien 1873.
— Reu ss, Ueber die Schulbankfrage. Wiener med. Presse. 1874. — Kaiser, Priv.
Kaiser'sches Subselliensystem. München 1876. — Baginsky, Handbuch der Schulhygiene.
Berlin 1877. — Paul, Wiener Schuleinrichtungen. Wien 1879. — Schubert, Baier.
Aerztl. Intelligenzbl. 1881, Nr. 33 und 1882, Nr. 21. — Ausserdem noch äusserst zahlreiche,
namentlich in Zeitschriften zerstreute Aufsätze. -r,
Reuss.
ScRulkinderaugeil. I. »Statistisches über die Refraction der
S c h u 1 k i n d e r a u g e n. Die ersten Mittheilungen über die Augen von »Schulkindern
rühren von James Ware1) aus dem Jahre 1812 her; in einer Militärschule zu
Chelsea klagten unter 1300 Kindern nur 3 über Myopie; dagegen waren unter
127 Studenten in Oxford im Jahre 1803 nicht weniger als 32, die sich der
Lorgnetten oder Brillen bedienten. „Es ist möglich," fügt Ware hinzu, „dass
mehrere blos durch die Mode zu diesem Gebrauche verleitet wurden, die Anzahl
ist aber sicher nur unbeträchtlich im Vergleich zu denen, die wirklich durch die
Gläser besser sahen." — Im Laufe der Vi erziger- Jahre wurden im Gross-
herzogthum Baden, wie Schürmayer 2) erzählt, Nachfragen in den Schulen
gehalten und diese ergaben, dass von 2172 Schülern der 15 gelehrten Anstalten
392 kurzsichtig waren, d. h. fast 1/5 aller Schüler. Unter den 930 Schülern in
den höheren Bürgerschulen fanden sich 46 M (myopisch), also etwa 1/20. In
der 5. und 6. Classe (d. h. den obersten) der Gymnasien war 1ji bis 1/2 der
Schüler M. • — Im Jahre 1848 zog Szokalsky 3) in Paris Erkundigungen
ein und hörte, dass im College Charlemagne 1 M auf 9, im College Louis le
Grand 1 M auf 7 Schüler kam. „Dieses Resultat war um so befremdender, als
sich unter den 6300 Kindern der Pariser Elementarschulen im 6. und 7. Bezirk
kein einziges kurzsichtiges Kind befand." (??) Szokalsky giebt bereits
Tabellen über das graduelle Steigen der M in den verschiedenen Classen. Von Quarta
bis Prima stieg die If-Zahl im College Charlemagne wie 1 : 21, 14, 11, 8, 9; im
College Louis le Grand wie 1:11, 12, 7, 4. Im letzteren scheint Szokalsky
selbst untersucht zu haben; doch ist dies nicht ganz sicher. Es fehlen Angaben
über die Grade der M.
Gegenüber diesen älteren Beobachtungen, welche sich also nur auf
Klagen der Schüler oder Erkundigungen oder nur sehr ungenaue Prüfungen
beziehen, verdienen die von E. v. Jäger4) in Wien im Jahre 1861 veröffent-
lichten als bahnbrechend besonders hervorgehoben zu werden, da dieser Forscher
zuerst eigene Untersuchungen mit dem Augenspiegel über den Refractionszustand
der Kinder anstellte. Er fand in einem Waisenhause unter den Knaben, die
7 — 14 Jahre alt waren, 33% normalsichtig, 55 M und 12 H (hyperopisch) ;
dagegen in einem Privaterziehungshause unter den Individuen von 9 — 16 Jahren
18°/0 normal, 80 M und 2 H. Auch notirte Jäger bereits die verschiedenen
Grade der M, freilich wurden sie nicht nach Classen geordnet; auch war sein
Material, wie er selbst sagt, ein zu geringes für allgemeine Schlüsse.
Prof. Rute5) untersuchte im Sommer 1865 selbst die ihm von den Lehrern
als angeblich augenkrank zugeschickten 213 Kinder aus 2 Leipziger Volksschulen,
in denen im Ganzen 2514 Schüler unterrichtet wurden. Von diesen litten an
Entzündungen der Lider, Conjunctiva und Cornea 107, an Kurzsichtigkeit 48 und
an Uebersichtigkeit 55. Es schwankte also die Zahl der M zwischen 2 und 3°/0.
Freilich kamen gewiss eine grosse Anzahl schwacher M gar nicht zur Cogni-
tion Rüte's.
Da bei keiner der älteren Untersuchungen eine für die Ausschliessung
des Zufalls hinreichend grosse Zahl von Schülern geprüft, bei keiner von Aerzten
selbst geprüft, und da die Grade der M im Verhältniss zu den Classen, die Locale
SCHUL KINDERAUGEN. 249
und die Subsellien gar nicht berücksichtigt worden waren , unternahm ich G) im
Jahre 1865/1866 die Untersuchung von 10.060 Schulkindern in der Weise, dass
erst in der Classe eine Vorprüfung aller Schüler mit Schriftproben und dann eine
Specialuntersuchung derjenigen mit dem Spiegel stattfand, welche die Schriftproben
nicht in der normalen Entfernung gesehen hatten. Ferner maass ich in jeder der
166 Classen die Körpergrösse der Schüler, alle Dimensionen der vorgefundenen
Subsellien und legte eine Beleuchtungstabelle an (s. unten V). Bei jedem Schüler
wurde das Alter, die Schuljahre, die Leseprobe, die eventuelle Drille und der
Augenspiegelbefund eingetragen.
So untersuchte ich 5 Dorfschulen (in Langenbielau , Kreis Reichenbach
in Schlesien), 20 städtische Elementarschulen, 2 Mittelschulen, 2 höhere Töchter-
schulen, 2 Realschulen und 2 Gymnasien in Breslau, im Ganzen 10.060 Kinder, und
zwar 1486 Dorf- und 8574 Stadtschüler. Von ihnen fand ich 5'2°/0 Dorfschüler
und 19-2% Stadtschüler nicht emmetropisch. Im Ganzen waren 17'l°/0 aller
Kinder ametropisch, also fast der 5. Theil. Die Summe wäre zweifellos
eine bedeutend grössere gewesen, wenn ich nicht damals alle Fälle von M < 1j36
(also <C 1 Dioptrie) als in praxi zu unbedeutend aus meinen Tabellen aus-
geschlossen hätte.
Ich fand 83°/0 E, 13% Refractionskrankheiten (davon 10°/0 M) und
4n/0 andere Augenleiden. Die Häufigkeit der Myopie ergiebt sich aus
folgender Tabelle. Ich notirte in
1-4 o/o M
6-7o/0 „
7'7°/o „
lO-30/o „
19'7°/o „
26-2o/0
5 Dorfschulen ....
20 Elementarschulen
2 höheren Töchterschulen
2 Mittelschulen . . .
2 Realschulen ....
2 Gymnasien ....
also unter 10.060 Kindern 1004 M = 9-9 °/0.
Es ergab sich also 1. dass in den Dorfschulen nur sehr wenig
M vorhanden, dagegen in den städtischen Schulen die Zahl der
M constant steigt von der untersten bis zur höchsten Schule, dass
also die Zahl der Kurzsichtigen im geraden Verhältnisse steht zu der Anstrengung,
welche man den Augen der Schulkinder zumuthet.
In den städtischen Elementarschulen wurden 4 — 5mal mehr Kinder M
gefunden als in den Dorfschulen. In den Dorfschulen schwankt die Zahl der M
überhaupt nur zwischen 0'8 und 3'2°/0; dagegen in den 20 Elementarschulen
zwischen 1*8 und 15'1 °/0. In den verschiedenen Realschulen und Gymnasien
betrug der Unterschied nur 2 — 4°/0.
Es zeigte sich 2. dass die Zahl der M von Classe zu Classe
in allen Schulen stieg. Im Durchschnitt war die Zahl der M in allen
dritten, zweiten und ersten Classen der Dorfschulen l*4°/0, l'5°/0 und 2'6°/0.
Dagegen resultirte in diesem Falle in den 20 Elementarschulen durchschnittlich:
3-5o/0, 9-8o/0, 9-8o/0.
Bei den Realschulen beträgt die J/-Zahl von Sexta bis Prima: 9, 16*7,
19-2, 25-1, 26-4, 44o/0 ; bei den Gymnasien: 12'5, 18-2, 23*7, 31, 41-3, 55'8o/0.
Also mehr als die Hafte der Primaner ist kurzsichtig.
Natürlich kamen hier und da auch einmal kleine Rückschläge vor, so
namentlich in den Primen gegenüber den Secunden ; doch rührte dies meist daher,
dass in den obersten Classen überhaupt nur noch wenig Schüler vorhanden waren,
ein einziger Fall von M also eine ganz andere Procentzahl liefert , als in den
volleren unteren Classen. Bei grösseren Zahlen aber und im Durchschnitt erwies
sich die Progression stetig.
200 SCHULKINDERAUGEN.
In den Dorf- und Elementarschulen fand sich kein wesentlicher Unter-
schied zwischen beiden Geschlechtern; das grosse Contingent der M jedoch,
das die Gymnasien und Realschulen stellen, bewirkte, dass unter allen 10.060 Kindern
doppelt so viel Knaben als Mädchen M waren.
Entsprechend der Zunahme der M nach Classen wurde auch die Zunahme
nach Schuljahren constatirt. In den Dorfschulen fand ich unter den Kindern,
die das erste halbe Schuljahr zurückgelegt hatten, noch keine M . Dagegen zeigte
das .">. und 6. Schuljahr bei Dorfschülern l"6°/0 , bei städtischen Elementar-
schülern 8-2°/0 , bei Mittelschülern ll'9°/0, bei Realschülern und Gymnasisten
14-5% M. — Addirte ich die ersten 4, die zweiten 4 und die letzten 6 Schul-
jahre (welche etwa dem 7. — 20. Lebensjahr entsprachen), so fand ich 4*5 °/0,
9*6°/0 und 28-60/q j/.
Es zeigte sich 3. unverkennbar in den 166 Classen der 33 Schulen eine
Zunahme des Grades der J/ von Classe zuClasse in allen Schulen.
Ich wählte damals 6 Rubriken der M: 1. M V35 bisilf V<u (= circa 1 D — 1-5 D),
2. M V23 bis Vie (= 1-75— 2-25), 3. M Vi«— Via (2-5—3), 4. M Vii— Vs
(3-25—4), 5. M V? (M 5) und 6. M 1/6 (M 6). Die 1004 M theilten sich in
diese Rubriken von M so: 466, 303, 150, 76, 6, 3. Höhere Grade als M lju
fand ich in keiner Dorfschule. Im Ganzen waren fast die Hälfte aller M schwächer
als M V24. M 1/1 und 1/G kam nur in Gymnasien und Realschulen vor. Unter
den Knaben fanden sich die höheren Grade von M häufiger als unter den
Mädchen. (Bezüglich der Details sei auf das Original verwiesen.)
Mit dem Lebensjahre nimmt auch der Grad der M zu , jedoch kommen
in den ersten 4 Schuljahren die höheren Grade von M häufiger vor, als im 7. bis
10. Lebensjahre.
Addirte ich sämmtliche Grade der gefundenen Myopie in einer Classe
und dividirte sie durch die Anzahl der Myopen, so erhielt ich den Durch-
schnittsgrad der M in einer Classe. Das Mittel aus diesem Durch-
schnittsgrade für die einzelnen Classen einer Schule gab den Durchschnitts-
grad der M einer Schule und das Mittel aus diesen in verschiedenen
Schulen derselben Kategorie gab den Durehschnittsgrad der IT einer
Schulcategorie.
So fand ich den Durchschnittsgrad von M in 5 Dorfschulen = - . . , in
in 20 Elementarschulen = „ , in 2 Mittelschulen =: , in 2 Realschulen
— -jqz und in 2 Gymnasien == -jqT7"- ^er Durchschnittsgrad aller Myopen war
M = . Mithin steigt der Durchschnittsgrad der M von den
ä1"o
Dorfschulen zu den Gymnasien stetig.
Dass er auch von der untersten zur obersten Classe steigt, ergaben die
gefundenen durchschnittlichen Fernpunkte von Sexta bis Prima
bei Realschulen: 23-7, 20, 19-8, 19-1, 18-8, 16-7
bei Gymnasien: 22-4, 20-6, 18'9, 18, 15-7, 17-1
Für die beiden Geschlechter ist der Durchschnittsgrad nicht sehr ver-
schieden. Höhere Grade als M 1/6 wurden ohne complicirende Augenleiden niemals
von mir beobachtet.
Unter den 1004 M waren 200 Fälle von Staphyloma posticum.
In den Dorfschulen und auch da stets nur in der obersten Classe bei 0*2 °/0 aller
Kinder, in den Elementarschulen schon bei 0*5 °/0 der Kinder, in den Töchter-
schulen bei 0-3% aller Kinder und bei 4-6°/0 der M] in den Mittelschulen bei
1-4% aller Schüler und bei 13'6°/0 der M ,. in den Realschulen bei 7*1 °/0
SCHULKINDERAUGEN. 251
aller und bei 36°/0 der M und in den Gymnasien bei 6*9 °/0 aller und bei
26% der M.
Die Zahl der Staphylome stieg mit den Lebensjahren der Myopen.
Je höher der Grad der M, desto häufiger fand er sich mit
Staphyloma posticum verbunden, so dass nach den 6 oben genannten
Rubriken der Myopiegrade sich die Staphylome vertheilen in Procenten, wie
3 : 17 : 48 : 65 : 71 : 100°/0. Nur ganz ausnahmsweise kamen schwache Grade
der M mit Staphylom und starke Grade ohne Staphylom vor.
Hyperopie fand ich bei 239 Kindern, also 2'3°/0 sowohl bei Mädchen
als bei Knaben. Mithin kamen immer auf 1 Fall von H noch mehr als 4 Fälle
von M. Es wurde natürlich nur die manifeste H bestimmt ; dieselbe nahm weder
von Classe zu Classe, noch von Schuljahr zu Schuljahr, noch von Schule zu
Schule irgend nennenswerth ab oder zu. Die Grade von H schwankten von
H 1/60 bis H % ; am häufigsten wurde H x/d0 bis 1/2o beobachtet. H^> 1/12 kam
nur 7mal vor. Der Durchschnittsgrad der H betrug in den Dorfschulen 1/34, in
den Elementarschulen 1/32, in den Töchterschulen 1/26 , in den Mittelschulen 1/37,
in den Realschulen 1/28 und in den Gymnasien 1/2i. Der Durchschnittsgrad aller
Fälle von H war x/30. Nur 9 Hyperopen trugen Convexbrillen. Von den 239 H
hatten 158 Strabismus conver gens = 66°/0 H und 1*5% aller Kinder.
Es schielten 67% der iZ-Knaben und 63% der Ä-Mädchen; in den höheren
Töchterschulen 3'9%, in den höheren Knabenschulen nur 1*1%. I04mal schielte
das rechte, 31mal das linke, 23mal umwechselnd beide Augen. Periodisch schielten
44 Kinder, continuirlich 114. Bei 80% der Schielenden wurde mittlere H (x/40 — 1/20)
gefunden. Die 8 der Schielenden schwankte zwischen 9/l0 und 1/200'
Astigmatismus regularis wurde bei 23 Kindern notirt ; nur ein
Kind trug eine Cylinderbrille.
Die Zahl der Augenkranken betrug 396 = 4%. Diese hatten
490 Augenkrankheiten, von denen allein 211 Maculae corneae waren, Reste
scrophulöser Keratitis bei Elementarschülern, die den ärmeren Classen angehörten.
Der Wunsch, den ich bei Publication meiner Befunde im Jahre 1867
ausgesprochen, dass anderwärts ähnliche Untersuchungen angestellt werden möchten,
ging überreich in Erfüllung. Es sind eine grosse Zahl von Statistiken mit vieler
Sorgfalt von tüchtigen Forschern in anderen Städten entworfen worden, die zunächst
den Vorzug haben, dass- auch die Grade von M <C x/36 (also < 1 D) mit berück-
sichtigt wurden. Ich hatte diese schwachen Grade damals als praktisch unwichtig
vernachlässigt ; für die Lehre von der Entstehung der M sind sie aber durchaus
wichtig. Die gefundenen Procentzahlen der M sind daher in den folgenden Arbeiten
meist bedeutend grösser als die meinigen.
Ferner sind von einzelnen Collegen nicht beide Augen gemeinsam,
sondern jedes Auge besonders geprüft worden ; andere Autoren haben alle Kinder,
auch die anscheinend normalen, geaugenspiegelt.
Es würde den mir hier gestatteten Raum viel zu sehr überschreiten, wollte
ich die Details aller dieser Statistiken aufführen, die mehr als 50.000 Schul-
kinder betreffen, zumal sie die Hauptresultate meiner Untersuchungen
sämmtlich bestätigen und sich im Untersuchungsmodus wie ein Ei dem anderen
ähneln. Auch haben viele Arbeiten nur ein locales Interesse. Um aber ein Bild
von der enormen Thätigkeit der Autoren auf diesem Gebiete der Schulhygiene zu
geben, theile ich folgende Tabellen mit, an die ich eine Besprechung nur der-
jenigen Arbeiten knüpfen werde , welche ganz neue Gesichtspunkte zu
Tage gefördert haben.
(Die Quellen für die Zahlen der Tabellen findet man ebenfalls am
Schlüsse unter Literatur.)
S ffüLKEEDERAüGEK
Kl I
Proeentiahl der kurisiehtigen Schüler:
lata
l-.r i:'--i:
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.-.-: r. :.'.:
1 1 NMr
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1871 Zn^^LLiTi: '
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1871 E. C:z::"-:
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1872 E. v. Hoffsass 14)
1874
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1874
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Moskau
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Wien
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Königsberg
Kew-York
Erlangen
Dorpat
Luzern
Waisenhaus (Knaben) . . .
F.-:-.-;-.:,::; e :-".::: es :::i\:s . . .
Sehnten:
5 Dorfschulen
20 städt. Elementarschulen
2 Mittelschulen
2 höhere Töchterschulen
Heilige Geist-Realachnle
Zwinger-Realschule . .
Elisabeth-Gymnasium .
Gymnasium
Gymnasium
Friedrich-Gymnasium .
Dasselbe l1 2 Jahr später
4 deutsehe Schulen .
I Mädchengymnasium
Kz^'.zZi^LZiiZ.
Russen ....
Deutsche . . .
Externe ....
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? in den deutschen Refe-
raten nicht angegeben .
Dorfschule
Gymnasium
4 Schulen:
V:> -.:. Eirrersci^e
Höhere Töchterschule
Gymnasium
Leopoldstädter Gymnasium
Dasselbe 1 Jahr später
Gymnasium
Realschule
Töchterschule. . . .
Cantonsehnle Real. .
Cantonsehttle Literar.
»Städtische Realschule
3 Gymnasien ....
Kegerschuien :
Primary Department
Grammar-Department
Gymnasium . .
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Volksschule . .
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Gymnasium. .
Untere Knabenschule
Untere Mädchenschule
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253
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1877
1877
1878
1878
1878
Pflüger 24)
A. v. Reuss 25)
Loring u. Derby 26)
Luzern
Wien
New - York
Emmert 27)
KOTELMANN 28)
CL ASSEN 29)
0. Becker30)
Williams 31)
Agnew 32)
H, Derby 33)
Niemann 34)
Seggel 35)
DOR 36)
Bern
Hamburg
Hamburg
Heidelberg
Cineinnati
New -York
Boston
Magdeburg
München
Lyon
Realschule
Gymnasium
Leopoldst. Gymn. 3. Unters.
Volksschule
Primarschule |
Districtschule
Normalschule
Kinder deutscher Eltern .
„ amerikan. „
„ irischer „
15 Schulen:
Lerbergymnasium Bern . .
Gymnasium Burgdorf. . .
Gymnasium Solothurn . .
Lehr.-Sem.Münchenbuchsee
Neue Mädchenschule Bern
Stadt. Mädchenschule Bern
Mädchenschule Burgdorf .
Elementarschule Burgdorf .
Primär- u. Secundärschule
in St. Immer
Prim.- u. Sec.-Sch. in Locle
Primär- u. Industrieschule
in Chaux de fonds
4 Uhrmacherschulen
Johannes-Gymnasium
Reform. Realschule .
Höhere Bürgerschule
Pracht's Priv. - Töchtersch.
Zimmermann's Pr.-Töchter-
schule
Lehrerinnen-Seminar . . .
Seminar- Volksschule . . .
Gymnasium in Wandsbeck
Johannes-Realschule . . .
Gymnasium
Bürgerschule
Bezirksschulen
Mittelschulen .'
Höhere Schulen
New- York College ....
Brooklyner polytechn. Inst.
Academic. Depart
Collegiate Depart
Amherst College
Haward College
Domgymnasium
Klosterpädagogium ....
Cadettencorps-Realgymn. .
Lyceum :
Externe
Halbpensionäre
Interne ....
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29
48
44
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22
18
29
33
254
SCHULKINDERAUGEN.
(Tab. I, Fortsetzung;.)
Jahr
Beobachter
Stadt
Anstalt
Zahl der
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Froccnt-
zahl der
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1879
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Pristley-Smith 41)
Netoliczka 42)
Florschütz 4S)
A. Weber44)
Tiflis
Dresden
Zittau
Marseille
Birmingham
Graz
Coburg
Darmstadt
4 Schulen :
Class. - Gymnasium
Mädchengymnasium
Stadtschule ....
Lehrerin^titut . . .
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Russen in den 4 Anstalten ', ? I
Armenier
Georgier
Königl. Gymnasium . . .
Gymnasium
Realschule
Mädchen -Selecta
Mädchen-Bürgerschule . .
Knaben-Bürgerschule . . .
6 (?) Schulen
Knaben-Primärschule . . .
Mädchen-Primärschule . .
Israel. Knabenschule . . .
Israel. Mädchenschule . .
Gr. Lyc, Pens. u. Halbpens.
Kl. Lyc. Pens. u. Halbpens.
Lyceum, extern, surceilles
Lyceum, externes Uhr es .
? (In der deutschen Quelle
nicht genannt)
Seminaristen
Gymnasium
Realschule
Stadt. Knaben- Volksschule
Knaben-Dorfschule . . . .
Stadt. Mädchen- Volkssch.
Mädchen-Dorfschule . . .
6 Schulen im Jahre 1874:
Bürger-Knabenschule . . .
Bürger-Mädchenschule . .
Gymnasium
Realschule
Alexandrinenschule ....
Seminar
Dieselb. 6 Schul, im J.1877 :
Bürger-Knabenschule . . .
Bürger-Mädchenschule . .
Gymnasium
Realschule
Alexandrinenschule ....
Seminar
Gymnasium
Realschule
Höhere Töchterschule . .
Mädchen-Mittelschule ....
476
194
293
193
202
347
1717
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357
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278
2350
361
2238
299
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694
782
177
260
112
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SCHULKINDERA.UGEN.
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258
SCHULKINDERAUGEN.
Curventafel über die Zunahme der myopischen Schüler von Classe
zu Classe in 24 deutschen Gymnasien und Realschulen.
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260
SCHULKINDERAUGEN.
Unter den Arbeiten, welche neue Gesichtspunkte bieten, ist vor Allem
die von Erismann 10) (1871) zu nennen. Er untersuchte in Petersburg 4368 Schüler
mit Snellen's Tafeln in 20 Fuss Abstand und fand 30'2<>/0 M, 26°/0 E, 43-3°/0 H
und 0'50/0 Amblyopen. Ueberraschend war die enorme Menge Hyperopen;
es waren dies Fälle von facultativ-manifester Hyperopie, die ich ganz ausser Acht
gelassen , also Schüler , welche ohne Convexglas ebenso gut in die Ferne sahen,
als mit einem Convexglase. Er beobachtete in den untersten Classen die meisten H,
ihre Zahl nahm nach oben hin immer mehr ab. Ich hatte bei meinen Unter-
suchungen nur geringen Werth auf die Zahl der gefundenen H gelegt, da ja der
absolute Procentsatz der H ohne Atropin nicht zu finden ist und die Er-
laubniss zur Atropinisirung mir nicht gegeben wurde — freilich auch Erismann
nicht gegeben wurde. Indessen vermuthete Erismann mit Recht, dass die H
der no r male Re fr actio nszu stand des jugendlichen Auges ist, und
dass nur der kleinere Theil der Fälle hyperopisch bleibt , die
Mehrzahl aber myopisch wird, nachdem sie das Stadium der
Emmetropie durchlaufen hat.
Als Beweis diente ihm folgende Tabelle:
Classe
II
in
IV
vi
VII
VIII
IX
M
H
E
13-6
67-8
18-6
15-8
55-6
28
22-4
50-5
26-4
30-7
41-3
27-3
38-4
34-7
26-4
41-3
34-5
24-2
42
32-4
25
42-8
36-2
21
41-7
40
18-3
Summe | 100 100 | 100 100 100 | 100 100 100 | 100
Leider erfährt man nichts über die Grade der H. Bekanntlich
schwanken ja auch die Angaben der fakultativen Hyperopen; einen Tag wird
-f- 1*0, den anderen Tag + 1*5 als bestes Glas bezeichnet, je nachdem die
Accommodation mehr oder weniger hinter dem Glase erschlafft ist.
Erismann's Tabellen über die M stimmen sehr gut mit den meinigen
überein. Er nahm oft Accommodationskrampf an, wenn die S nicht vollkommen
und starke Capillarhyperämie des Sehnerven vorhanden war. — Nur bei 85°/0
fand er '8=1 oder > 1; bei 6-8% £<1 und > 2/3 und bei 7-6 °/0 $<2/3.
Erismann fand bei den höheren Graden, der M die S sinken, übersah45) aller-
dings dabei, dass die stärkeren Concavgläser wegen ihrer verkleinernden Wirkung
schon an sich die S herabsetzen müssen. — Unter 1245 M sah Erismann nur
in 5°/o keine , dagegen in 71°/0 massige und in 24°/0 starke atrophische
Chorioidalveränderungen; in den höheren Classen waren letztere häufiger ;
den Schuljahren nach stiegen sie von 14 auf 38°/0. Bei stärkeren Graden als
M 1/12 fand er stets Staphyloma posticum , bei M"^> lje sogar 70% starke
Veränderungen.
Insufficientia recti interni beobachtete Erismann bei 32*6°/0
aller M, und zwar bei 26*2 °/0 Insuffizienz von 1 — 10°. Starke Insuffizienz und
relativer Strabismus divergens, war in den höheren Schulen und Alteisclassen
häufiger, als in den unteren. Schon bei den schwächsten Graden der M kamen
23°/0 Störungen des muskulären Gleichgewichts vor; doch steigerte sich ihre
Zahl mit den if-Graden.
Da Donders46) den Satz ausgesprochen: „Ein hyperopisch gebautes
Auge sah ich nie kurzsichtig werden", so erregten natürlich jene Mittheil im gen
von Erismann über die Häufigkeit der H und ihren allmäligen Uebergang in
E und M viel Aufsehen. Ich versuchte daher das Experimentum cruci's zu
machen , indem ich eine ganze Schule atropinisirte. Eine Reihe
günstiger Umstände traf im Jahre 1871 in Schreiberhau, einem scblesischen
Dorfe im Riesengebirge zusammen, um mir dieses Experiment zu ermöglichen. Weder
vorher noch nachher ist einem Arzte die Erlaubniss zur Atropinisirung einer
ganzen Schule gegeben worden. Ich atropinisirte erst alle rechten Augen der
SCHULKINDERAUGEN. 261
240 Schulkinder und 14 Tage später alle linken Augen, da es zu gewagt schien,
die Kinder gleichzeitig auf beiden Augen zu mydriatisiren. (Homatropin, das nur
für wenige Stunden die Pupille erweitert, existirte damals noch nicht.) Ich 47) fand
folgende Resultate : 1. Mehr als 80°/0 der Dorfkinder sind scheinbar emmetropisch.
2. Anisometropie ist sehr selten. 3. Ametropie ist bei Knaben noch einmal so häufig
als bei Mädchen. 4. M findet sich bei noch nicht l°/0. 5. Nur 4 Augen zeigten
sich als M; dagegen ist fakultativ-manifeste H überaus häufig
(rechts 77°/0, links 64°/0). 6. Bei Mädchen ist H'± (manifeste Hyperopie)
etwas häufiger, als bei Knaben. 7. Die Zahl der HJH verringert sich nicht vom
6. — 13. Lebensjahre (also ein directer Widerspruch gegen das von Erismann
bei städtischen Schulen gefundene Resultat). 8. Alle Grade von iZüLVso
bis Vio kamen vor ; am häufigsten H1/60 ; je stärker die Grade, desto seltener.
9. Der Durchschnittsgrad von Z7üL war rechts Vs3 und links 1/63. 10. Jedes
scheinbar emmetropische Kinderauge war nach Atropin hyper-
opisch; von 299 Augen waren nur 4 wegen unvollkommener Accommodations-
lähmung E geblieben. 1 1 . Alle Grade von RA. (totaler Hyperopie) von 1/80 bis 1/7
kommen vor; am häufigsten 1/36 bis 1/20. 12. Der Durchschnittsgrad von RA. ist
gering (rechts 1/36, links 1/c0). Die durch Atropin entdeckte latente H
variirte von 0 bis 1/9, am häufigsten betrug sie 1/50 bis 1/30. In 17°/0 aller
Fälle vergrösserte sich R nicht. 13. R'JL und RA. zeigen betreffs des Grades bei
beiden Geschlechtern keine wesentlichen Unterschiede. 14. Weder R.VL noch RA.
zeigen eine Abnahme ihres Grades nach Lebensjahren. 15. Fast
alle scheinbar i?-Kinder haben S ]> 1 ; die meisten S = 2, viele S=21/2 und
einige sogar S = 3. Allerdings dienten zur Untersuchung die SNELLEN'schen
Vierecktafeln bei guter Beleuchtung unter freiem Himmel; aber auch mit den
BüECHAEDT'schen Punkttafeln zeigten die Hälfte der Augen S = l1/2 bis 2, eine
sehr grosse Zahl zwischen 1 und 1V2 und nur 25 Augen 5=1. (Mit der
SNELLEN'schen farbigen Buchstabentafel wurde kein einziges Kind in Schreiberhau
farbenblind gefunden.)
Meine Versuche bestätigten also die Vermuthung Erismann's, dass H
der normale Zustand des jugendlichen Auges sei.
Um allen Einwürfen gegen die Beweisfähigkeit der ersten gefundenen
statistischen Schlüsse, betreffs der Zunahme der M auf Schulen, ein Ende zu
machen, schien es mir eine sehr wichtige Aufgabe, dieselben Schüler einer
Anstalt nach Ablauf weniger Semester von Neuem auf ihre
Refraction zu untersuchen. Daher prüfte ich9) im Mai 1870 die Schüler
des Breslauer Friedrichs- Gymnasiums und wiederholte die Prüfung im November
1871. Bei der ersten Untersuchung wurden unter 361 Kindern 174 abnorm
gefunden, und zwar 35°/o M, 7°/0 H und 6% Augenkranke. Von Septima bis
Prima fand ich folgende Zunahme der Zahl der Myopen: 13%, 21, 27, 35, 48,
58, 60<V0. Es zeigten 12°/0 M V5o bis Vse, 47<>/0 M Vae bis Vie, 25o/0 M
Vi 5 bis Vs und 6<>/0 M > Vs- Nach 1V2 Jahren hatten bereits 103 E und
71 M das Gymnasium verlassen; nur 84 früher als E und 54 früher als M
notirte, zusammen 138 Schüler, konnten noch inspicirt werden. Von den 84 früher
als E notirten waren nur 70 i£ geblieben, dagegen 14, d.h. 16°/0 Ifgeworden.
Die Grade der inzwischen acquirirten M schwankten zwischen 1/50 und 1/20. Von
den früheren 54 M hatten 28 eine entschiedene Zunahme des
Grades ihrer M in den l1/2 Jahren erfahren. Eine Abnahme fand ich
in keinem einzigen Falle.
Sowohl die schwächsten als die stärksten Grade lieferten ihren Beitrag
zur stationären und zur progressiven M, nämlich:
M Vso— Vse war in 300/0 M Vis— Via war in 100°/0
M V36— V24 „ ■„ 38o/0 M V4— V8 „ „ 43o/0
M V23— V16 „ „ 69o/0 M V7-V4 -„ „ 66°/o ;
bei 54 Untersuchungen also 28mal = 52°/0 progressiv.
262 SCHULKINDERAUGEN.
Der Durchsehnittsgrad der M von allen 28 progressiven M war vor
1 % Jahren M = i)(], , jetzt J/= -r£ß-j Air die kurze Zeit betrug also die
durchschnittliche Zunahme M 1/50.
Betreffs der 8 ist wichtig, dass alle früher als E und jetzt als M
gefundenen Schüler volle 8 behalten hatten ; nur in zwei Fällen stationärer M
(unter 26) war 8 auf % und 2/ö gesunken. Unter den 28 progressiven M
hatten 23 vor l1/2 Jahren $= 1, bei 4 war sie jetzt auf % und % gesunken.
Fünf progressive M hatten schon früher 8 2/3 ; bei keinem derselben war Ver-
ringerung der 8 eingetreten. — Staphylom fand sich bei 14 aus E in M
übergegangenen Schülern. 26 stationäre M hatten früher 7, jetzt 14 Staphylome.
In 12 Fällen stationärer M war kein Staphylom entstanden. Unter den 28 pro-
gressiven M früher 15, jetzt 22 Staphylome. Es hatten also 10% Ver-
änderungen im Auge nh int er grün de innerhalb drei Semestern erfahren.
Diese Befunde wurden bestätigt durch Dr. A. v. Reuss15), welcher im
Leopoldstädter Gymnasium in Wien die Untersuchungen im Jahre 1874, 1875
und 1876 wiederholte. Er hatte alle M und alle Schüler, deren S<^1 war,
gespiegelt, ferner jeden E durch Convexgläser auf HL geprüft und jedes Auge
einzeln untersucht. Im Mai 1872 fand er unter 409 Schülern: 35% i£, 41-8% M
und 20-5% H, 2% As und 0*7% Augenkranke. Die Zahl der M stieg von Classe
zu Classe: 28, 41, 49, 48%- H nahm von Classe zu Classe ab: 30, 27, 14,
12%. Die schwachen Grade von H 1/60 — 1/36 in 85%. Unter 162 mit dem
Spiegel Untersuchten konnte V. Reuss 41mal, also in 25%, Accommod ations-
krampf nachweisen, und zwar 16mal bei M 1/60 — 1/36, 12mal bei M 1j36 bis
M Vs«, 13mal bei M 1/2i— V16, llmal bei M Vi6 — Vis» 13mal bei ilf Vu— Ve-
Eine Zunahme des Krampfes nach der Höhe der Classen zeigte sich nicht.
102 Schüler hatten auf beiden Augen M verschiedenen Grades ; 54 waren auf
einem Auge E, auf dem anderen zeigten 38 M und 16 H; 7 hatten ein M und
ein üT-Auge.
Ein Jahr später Wiederholung; nur noch 211 Kinder anwesend. Leider
keine Spiegelung. Die Refraction in 42% dieselbe, in 46% progressiv, in
12% regressiv. In den unteren Classen mehr stationäre Fälle als in den
oberen. 71% sind E geblieben, 19% wurden ifcf, 10% dagegen H. — Von
den M 28% stationär, 61% progressiv, 11% regressiv, also Krampf. Wegen
mangelnder Spiegelung und mangelnder Atropinisation sind diese Zahlen etwas
vorsichtig aufzunehmen.
Endlich ergab die 3. Untersuchung von v. Reuss 25) im Jahre 1875 bei
201 Schülern:
Im Ganzen nach 1 Jahre nach 2 Jahren nach 3 Jahren
37% 28<>/o
50o/0 61 o/0
11% io%.
stationär .
42 o/0
progressiv . .
47%
regressiv .
10%
Ferner stationär
von 1872—75 E.
. 56
M.
. 15
H .
. 12
progressiv regressiv
37 10
77 8
72 16.
Genauere Details über die Zunahme der einzelnen Grade siehe im
Original. Von den M waren nach 3 Jahren nur noch 12% unverändert. Auch
Accommodationskrampf wurde beobachtet, aber niemals Regression bei Jt/^>1/14.
Bei dem Vergleiche der Resultate durch Sehproben und Spiegel fand v. Reuss:
1. Bei einer nicht grossen Anzahl von Augen ist die Progression nur durch den
Krampf bedingt, also scheinbar; der Krampf kann mehrere Jahre bestehen,
ohne den Bau des Auges zu ändern. 2. Bei bestehendem Krampf verändert sich
der wirkliche Refractionszustand in progressiver Richtung, das ist das
Häufigste. 3. Die progressiven Veränderungen treten ein ohne gleichzeitigen
SCHULKINDERAUGEN. 263
Accommodationskrampf; das ist gar nicht selten. Der Beginn der M oder ihrer
Zunahme liegt also nicht immer in einer krampfhaften Anspannung des
Ciliarmuskels.
So anerkennenswerth die von den meisten neueren Autoren geübte
anstrengende Spiegeluntersuchung des Refractionszustandes aller Schüler ist, so
ist sie doch keineswegs untrüglich. Ich habe oft genug gesehen, dass die Accommo-
dation selbst bei Planspiegeln und in grossen Räumen nicht entspannt wird, ja
in einzelnen Fällen erst recht gespannt wird ; dies wird auch von v. Reuss und
Stilling zugegeben. Absolut sicher sind also derartige Beobachtungsreihen auch
nicht ; es müssten für diesen Zweck eben alle Kinder und wo möglich der Unter-
sucher selbst atropinisirt werden. Für die Fragen der hygienischen Statistik
werden Leseproben und Gläserproben bei Schülern gewiss auch in Zukunft ihren
grossen Werth behalten.
Auch Conrad 20), der sämmtliche Schüler mit Brillen und Augenspiegel
sehr sorgsam untersucht hat, ist der Ansicht, dass man bei der Spiegelung nie-
mals sicher sei, dass die Accomodation vollkommen erschlafft, hält jedoch den
Unterschied gegen Atropinisirung für „äusserst gering". Er fand unter 3036 Augen
nach Leseproben H 11%, E 55%, M 32%, nach Spiegel H 47°/0, E 29%
M 22°/0. Er stimmt übrigens mit Erismann überein, dass H langsam durch
E in M übergehe. Mit dem Spiegel fand er in der untersten Classe 70% iT,
in der höchsten nur 22% ; JE in der untersten Classe 25% , in der obersten
24%, in den mittleren 30 — 35%; dagegen stieg M von 4 — 51% nach dem
Spiegel, von 11 — 62% nach der Leseprobe, so dass etwa 10 % Accommodations-
krampf waren.
Man findet wiederholte Prüfungen derselben Schüler auch in späteren
Arbeiten von Ott 48) für Luzern, von Netoliczka 42) für Graz und von Flor-
schütz 43) für Coburg. Die letzteren bieten das höchste Interesse , da sie eine
Abnahme der Myopenzahl in den neuerbauten „Schulpalästen"
ergaben. So zeigten die Bürgerschulen im Jahre 1874 noch 12 und 14, im
Jahre 1877 nur 4 und 7°/0 M] alle 2323 Untersuchten im Jahre 1874: 21%,
im Jahre 1877 nur 15% M. — Von allgemeinem Interesse dürfte auch sein,
dass die einzige Untersuchung, die bisher in einem Kindergarten ausgeführt
wurde, und zwar sehr sorgsam von Koppe23) in Dorpat , keinen einzigen
Fall von Myopie, dagegen 98% H und 2% E ergab.
Anhangsweise seien hier auch noch die Befunde an den Augen der
Studenten erwähnt. In Tübingen beobachtete Dr. Gärtner49) bei 138 Studenten
des evangelisch-theologischen Stifts vom Jahre 1861 — 65: 81% M und bei einer
zweiten Zusammenstellung von 1861 — 1879 unter 634 evangelischen Theologen
79% M.
Schon Donders hatte die treffenden Sätze ausgesprochen: „Es wäre von
grosser Wichtigkeit genaue statistische Daten über die zu einer gegebenen Zeit
bei einer besonderen Classe von Menschen, z. B. von sämmtlichen Studenten einer
Universität, vorkommende Ametropie zu besitzen, um dieselben mit den Ergeb-
nissen wiederholter Untersuchungen in späteren Zeiten vergleichen zu können.
Wenn nun auf diese Weise gefunden würde — und ich zweifle kaum, dass dies
wirklich der Fall wäre — dass die M in den gebildeten Volksclassen progressiv
ist, so wäre dies ein sehr bedenkliches Symptom, und man müsste ernstlich auf
Mittel bedacht sein, diesem Vorwärtsschreiten Einhalt zu thun."
Ich50) habe nun im Jahre 1867 eine solche Statistik versucht; allein
es war schwierig, die Breslauer Studirenden zur Untersuchung zusammenzubekommen.
Von den 964 Studenten erschienen nur 410; unter diesen waren 60% M, und
zwar: katholische Theologen 53, Juristen 55, Mediciner 56, evangelische Theo-
logen 67 und Philosophen 68. — Im Jahre 1880 habe ich 51) 108 Studenten
der Medicin untersucht und fand 57% M; vor dem Examen jphysicum 52%,
nach demselben 64% M. — Seggel 36) constatirte unter 284 vom Gymnasium
264 SCHULKINDERAUGEN.
abgegangenen Freiwilligen und Officiersaspiranten 58% M. — Collard ö2) hat
die Augen der Studenten in Utrecht im Winter 1880 untersucht; es erschienen
von den 550 Studenten 410. Unter den 820 Augen derselben waren 27°/0 M,
und zwar bei Theologen 23, Medicinern 2(3, Juristen 29, Naturforschern 32, Pharnia-
ceuten 31 und Philosophen 42%. Mehr Myopen in höheren Lebensjahren als
in jüngeren fand Collard nicht, im Gegentheil eine Abnahme ihrer Zahl,
nämlich von 18—20 Jahren 30%, von 21—23 Jahren 28%, von 24—27 Jahren
27% M. Die ältesten Studenten sind ja aber keineswegs immer die fleissigsten.
IL Myopie der Schüler und Nationalität.
Es ist vielfach behauptet worden, dass gerade die deutschen Schulen
die Pflanzstätten der M seien. Man kann schon aus obiger Tabelle I sehen, dass
auch in den anderen Ländern es nicht an kurzsichtigen Schülern fehlt.
Nach Maklakoff11) soll der Procentsatz der M bei den Georgiern
und Armeniern im Kaukasus am geringsten sein; Zahlenangaben fehlen in
dem deutschen Referate von Wolnow. Das gerade Gegentheil behauptet Reich 37),
der auch die Ansicht Dor's 1P) : „Je mehr nach dem Süden zu, um so mehr nor-
male Augen," als sehr fraglich bezeichnet und betont, dass Mannhardt besonders
auf die nationale Anlage der Italiener zur M hinweist. In allen 4 untersuchten
Schulen von Tiflis mit 1258 Schülern fand Reich unter den Armeniern und
Georgiern mehr M als unter den Russen (siehe Tabelle I) , z. B. im Gymnasium
38% Armenier, 45% Georgier und 30% Russen; auch fand er speciell unter
den ersteren die höheren M- Grade und ein rascheres Wachsthum des Procentsatzes
der M mit den Classen ; auch sollen die grossen, gleichsam vorstehenden Augen
der Armenier und Georgier auffallen. In den untersten Classen des Gymnasiums
zu Tiflis fand Reich nur 12, in den obersten 71% M. Dagegen war S= %
bei 52% der Schüler.
In England ist bisher nur eine Untersuchung gemacht worden, und
zwar von Pristley Smith 53) 1880. Er fand unter 1636 Schulkindern 5% M
und unter 537 Seminaristen 20% M.
In Frankreich wurden 1874 von Gayat54) in Lyon Erkundi-
gungen eingezogen und einzelne Schüler „au hasard ou sur la demande du
maitreu herausgegriffen, auf diese Weise „« pres de 600" untersucht. Die so
gefundene Jüf-Zahl auf die Gesammtzahl der Schüler mit 3% M zu berechnen,
ist durchaus unzulässig. Dor19) hatte sich früher auf Gatat's Arbeit berufen
und geschlossen, dass in Frankreich viel weniger M als in Deutschland herrsche ;
später hat er36) aber selbst in Lyon ein Lyceum untersucht und dort 23*4% M
(ähnlich wie in deutschen Gymnasien) constatirt. — Nicati 40) prüfte in Marseille
3434 Schüler mit Gläsern und Spiegel und fand in den jüdischen Primärschulen
15 und 10% M gegenüber 8 und 7% in den christlichen Primärschulen. Nicati
bringt dies als besten Beweis für die Erblichkeit, da die jüdischen Schüler Kinder
und Enkel von Kaufleuten seien , während die christlichen Schüler von Hand-
werkern, Arbeitern und Bauern abstammen und in ihren Familien die erste Ge-
neration bilden, welche Schulbildung geniesst.
Pflüger55) fand bei Untersuchungen von 529 Schweiz er -Lehrern
im Alter von 20 — 25 Jahren, dass die Deutschen mehr M «teilen als die
Franzosen. 154 französische Schweizer hatten 14*3%, 357 deutsche Schweizer
24-3% M.
Welsch-Schweizer
ü/>%4 4-5%
il/> 1/24 und< Via 59-0%
M> V» „ < V8 27-5"/0
M > lls „ < V6 9-0%
^>% o-o%
Emmert27) prüfte in 4 schweizer Uhr mach er schulen und con-
statirte 71% E, 15% E und 14% M. Besonders häufig war daselbst Insu f.
sch-Schweizer
Zusammen
12-0%
10-50/0
40-0%
44-0«/o
35-50/0
32-0%
10-0%
10-Oo/0
4-50/0
3-5o/o
SCHULKINDERAUGEN. 265
interni, 54°/0, auch in den Schulen der Orte, in denen Uhrmacherei getrieben
wird, 22% Insuffizienz gegen 4% in anderen Städten. Emmert glaubt, dass
die Uhrmacherei wegen der Benutzung eines Auges mit der Lupe sehr leicht zu
Muskelstörungen Anlass giebt, und dass die Neigung zu denselben sich besonders
leicht vererbt.
In Amerika prüfte Callan21) 457 Negerkinder. Sie waren 5 bis
19 Jahre alt und besuchten zwei New-Yorker Schulen; nur 2*6% waren M\ in
der höheren Schule 3'4%, in der niederen nur 1'2%. Die M waren sämmtlich
über 10 Jahre alt; die höheren Grade 1/8 — V* kamen nur bei Kindern über
14 Jahren vor. In den Primary Departments beider Schulen keine M , in den
Grammar Departments 8-2% in der höheren und l'6°/0 in der niederen Schule.
Mit Gläserproben constatirte Callan nur 67°/0 S, mit dem Spiegel aber, nach-
dem er sich selbst atropinisirt hatte (gewiss ebenso empfehlenswerth
für die Untersuchung, als unangenehm für den Untersuchenden) fand er 90°/0 H.
— Loring26) und Derby haben ebenfalls in New-York untersucht und bei
2265 Augen dortiger Schulkinder dieselbe Zunahme nach Classen wie in Deutsch-
land gefunden. Aber interessant ist es, dass sie unter den Kindern deutscher
Eltern 24% , unter denen americanischer nur 20% und unter den Kindern von
Irländern nur 15% M constatirten. Im Ganzen war jedoch die Zahl der M
geringer als in Deutschland, in den Primärschulen 7, in den Districtsschulen 12
und in den Normalschulen 27% M.
Eine Untersuchung, welche Agnew 31) durch eine Anzahl Aerzte bei
1479 Schülern in verschiedenen höheren und niederen Schulen in New-York,
C i n c i n n a t i und Brooklyn mittelst Spiegel und Gläsern vornehmen Hess,
ergab in Cincinnati in den Bürgerschulen 10, in der Mittelschule 14, in den
Normalschulen 16% ; in New-York in der untersten Classe 29%, in der Freshman
class 40, in der Sophomore class 35, in der Junior class 53, in der Senior
class 37% M; in Brooklyn im Academic department 10, im Collegiate depart-
ment 28%. — Hasket Derby33) endlich fand im Amherst College zu Boston
28%, im Haward College 29% M. Nach einem Jahre war die Hälfte der
Myopen stärker myopisch geworden. Nach 4 Jahren wiederholte er 56) die Prüfung
und fand, dass E sich in 10% in M verwandelt, dass M in 21% zugenommen
habe. Es waren 1875 E 51, H 5 und M 45% ; dagegen 1879 E 36, H 13
und M 51%.
Endlich sei noch erwähnt , dass Collard 52) unter 790 Augen hollän-
discher Studenten nur 27%, dagegen unter den 30 Augen deutscher Studenten
in Utrecht 40% M gefunden hat.
Aus allen mitgetheilten Zahlen folgt nur mit Sicherheit, dass in anderen
Ländern noch viel zu wenig Untersuchungen angestellt wurden, um an Zahl mit
den deutschen verglichen zu werden, dass aber in der ganzen civilisirten
Welt die Zahl der M mit den Anforderungen, welche die Schule
stellt, und mit den Classen zunimmt.
III. Myopie der Schulkinder und Erblichkeit.
Natürlich hat man, da die Thatsache der enormen Zunahme der M
während der Schulzeit sich nicht mehr leugnen Hess, nach Erklärungen für die
Ursache dieser „Culturkrankheit" gesucht, und es hat nicht an Vertheidigern der
Ansicht gefehlt, welche die Schule gänzlich freisprechen und entweder nur die
Erblichkeit oder die häusliche Beschäftigung als Ursache beschuldigen will.
Donders46) meint: „Meine Erfahrung zeigt, dass M fast immer erblich
und dann auch wenigstens in Form von Prädisposition angeboren sei, dass sie
sich jedoch auch ohne ursprüngliche Anlage in Folge von übermässiger Accommo-
dations Anstrengung im emmetropischen Auge entwickeln könne.'' Ueber das
Procentverhältniss macht er freilich keine Angaben.
Wollen wir über die Erblichkeit Sicheres erfahren, so müssen wir
zugleich mit allen Schulkindern auch ihre Eltern persönlich
266 SCHULKINDERAUGEN.
untersuchen. Das ist bisher nirgends geschehen. Ich selbst habe bei meinen
Untersuchungen 6) die J/-Kinder gefragt, ob die Eltern M seien, und zwar in der
Weise: 1. Trägt der Vater oder die Mutter eine Brille oder Lorgnette? 2. Be-
nützen sie diese auf der Strasse, in der Stube, beim Schreiben oder Nähen?
3. Siehst Du mit der Brille der Eltern besser oder schlechter in der Nähe oder
in der Ferne ? 4. Haben Deine Eltern, wenn sie auch keine Brille tragen, darüber
geklagt, dass sie in die Ferne schlecht sehen? 5. (In den oberen Gassen:) Sind
die Brillen der Eltern concav oder convex? Durch Rückfrage bei den Eltern
wurde noch manches Resultat festgestellt. Freilich waren ja oft Vater oder
Mutter längst gestorben. Auch fehlen natürlich alle Fälle von so schwacher M
der Eltern, dass weder eine Brille nöthig, noch eine Klage laut geworden. Im
Ganzen erfuhr ich auf diese Weise, dass von den 1004 M, die ich gefunden,
nur 28 = 2*7% aller M und 0*2% aller Schulkinder einen Jf-Vater oder eine
^/-Mutter hatte, llmal war die Mutter, 17mal der Vater M. Nach den freilich
sehr kleinen Zahlen schien die M von der Mutter auf die Tochter , vom Vater
auf den Sohn überzugehen. In den Dorf- und Töchterschulen wurde M der Eltern
gar nicht angegeben. Ich lege kein sehr grosses Gewicht auf meine Zahlen,
doch scheint mir daraus zu folgen , dass lange nicht so häufig, wie man
gewöhnlich annimmt, -^/-Kinder auch JZ-Eltern haben. Diese Ansicht halte ich
um so mehr fest, als ich in meiner Privatpraxis Tausende von Jf-Kindern unter-
sucht habe, deren sie begleitende Eltern nicht kurzsichtig waren.
Erismann10) hat mit der nöthigen Vorsicht ebenfalls Erhebungen über
M der Eltern angestellt, fand die Zahl der M- Väter überwiegend, und zwar war
der Vater M in 5°/0 aller Fälle und in 16°/0 aller M; die Mutter M in 39%
aller Fälle und in 12% aller M ; beide Eltern M in 10% aller Fälle und in
3°/0 aller M; im Ganzen also Erblichkeit in 30°/0 aller untersuchten M.
Myopische Geschwister überhaupt wurden angegeben in 24% und myo-
pische Geschwister ohne myopische Eltern in 16% der M.
Bei den myopischen Mädchen war die Procentzahl ihrer M-Mütter etwas
grösser, als bei den M- Knaben; allein bei Mädchen und bei Knaben überwiegt
absolut die Zahl der myopischen Väter, und zwar war bei Knaben der Vater M
in 57% und die Mutter M in 42<>/0 ; bei Mädchen der Vater M in 52%, die
Mutter M in 48%.
Erismann fand ferner bei den Schülern mit Jf-Eltern: keine Aderhaut-
Atrophie in 3%, gegen 5% unter M überhaupt; massige Aderhaut- Atrophie in
67%, gegen 71% unter den M überhaupt ; starke Aderhaut- Atrophie in 29%,
gegen 24% unter den M überhaupt.
Er glaubt, dass das Ueberwiegen der starken Chorioideal -Veränderungen
bei den Individuen mit Tkf-Eltern nichts Auffallendes habe, „da die schon vererbte
abnorme Bildungsanlage eines Organs sich bei der späteren Entwickelung des-
selben in der Weise bemerklich machen muss, dass die Abnormität intensiver
hervortritt als da , wo sie zum ersten Male während des Lebens erworben wird . . .
Wir hätten auf diese Weise die wenig tröstliche Aussicht, dass nach einigen
Generationen die Europäer, wenigstens die Städtebewohner,
alle myopisch sein werden."
Nagel57) legt der Zusammenstellung Erismann's über Erblichkeit der
Myopie nur geringen Werth bei und fragt mit Recht: „Wo bleiben die Parallel-
reihen zur Vergleichung ? Man wird doch nicht etwa in den obigen 30% Heredität
annehmen wollen ? Hier scheinen , wenn man brauchbare Schlüsse ziehen will,
genauere Untersuchungen und namentlich bestimmtere Fragestellungen erforder-
lich zu sein , z. B. : Giebt es unter 100 vergleichbaren Kindern myopischer
Eltern mehr M, der Zahl der Individuen und dem Grade der M nach, mehr
Chorioideal - Veränderungen , mehr Insuffizienz als unter 100 Kindern nicht
myopischer Eltern?"
SCHULKINDERAUGEN. 267
Ich würde für beweisend nur eine grosse statistische Untersuchung halten,
bei der einige Tausend Kinder und ihre Eltern auf Kurzsichtigkeit geprüft
würden*) (womöglich auch die Grosseltern).
Vielleicht werden später dergleichen Studien von den Behörden selbst
gefördert werden, und sollte dann, was ja nach Darwin nicht unwahrscheinlich,
die Erblichkeit oder die erbliche Disposition exact nachgewiesen werden, so
hätten wir ja doppelt die Verpflichtung, Alles aufzubieten, um die Ueberhandnahme
der M zu verhindern.
Wenn Dor19) in der städtischen Realschule zu Bern im Jahre 1874
unter 42 M 25 = 59°/o fand, deren M erblich war, so ist eben die Zahl zu
klein für allgemeine Schlüsse.
Scheiding 22) in Erlangen fand, wie ich, die M meist von der Mutter auf
die Tochter und von dem Vater auf den Sohn übergehen. Sehr gewagt jedoch ist,
wie Nagel treffend bemerkt, die Behauptung, dass bei 76°/0 der Üf-Schüler mit
Rücksicht auf ihre H- und E- Geschwister die M als erworben angesehen, während
bei den anderen 24°/0 eine hereditäre Disposition mit Rücksicht auf die M der
Geschwister sicher angenommen werden müsse.
Pflüger24) in Luzern folgte dem Winke Nagel's und fand in den
öffentlichen Schulen: 1. in 100 Familien mit 449 Kindern ohne hereditäres
Moment kaum 8°/0 M- Kinder vor; 2. in 100 Familien mit 395 Kindern mit
hereditärem Moment 19% IT-Kinder ; 3. in Realschulen und Gymnasien in
85 Familien mit 280 Kindern ohne hereditäres Moment 17°/o M; 4. in Real-
schulen und Gymnasien in 55 Familien mit hereditärem Moment 26% M. Im
Ganzen also fanden sich bei IT-Eltern mehr Jf-Kinder vor. Pflüger nimmt nicht
an, dass in 3i°/0 mehr Fällen die Kinder aus den hereditären Familien M werden
müssen, sondern diese 31% repräsentiren zum Theile wenigstens nur eine
grosse rePrädisposition zur IT, welche unter schädlichen äusseren Umständen
zur Entwickelung kommt, unter günstigen Verhältnissen aber latent bleiben kann.
In den unteren und höheren Schulen blieb die Differenz zu Ungunsten der iW-Familien
ungefähr dieselbe; „diese Ziffer, 10%, giebt uns annähernd eine
Idee von der Häufigkeit der Erblichkeit der M, soweit dieselbe
sich als unabweisbarer und unabänderlicher Bildungsfehler geltend macht, und
wenn ein Umstand für die Häufigkeit der erworbenenif von heutzutage spricht,
so ist es diese Ziffer 10.- Durch diese Untersuchung ist ein Beweis mehr geliefert,
für die hohe Wichtigkeit, welche dem Einflüsse äusserer Verhältnisse, speciell der
Schule, auf die Entwickelung der M zukommt."
v. Arlt 58), dem ja das Hauptverdienst für die anatomische Begründung der
M gebührt, sagt sehr richtig : „Als erblich kann nur die Disposition zur IT,
nicht diese selbst, angesehen werden. Es ist nicht erwiesen, dass das Auge ver-
möge eines ihm ab ovo innewohnenden Bildungstriebes in den sogenannten Lang-
bau hineinwachse; die anatomischen Veränderungen, welche im IT- Auge mit noch
normaler S gefunden werden, sprechen gegen eine solche Annahme." Als Beweis,
dass M ohne erbliche Anlage erworben werden könne, führt Arlt sich selbst
an. Er stammt aus einer Familie, in der niemals M vorgekommen war ; er hatte
in seiner Jugend E und wurde erst M1/^, als er vom 13. bis 16. Jahre
angestrengt studirt hatte.
Loring 59) hält die Erblichkeit oder die Anlage zur M nicht für erwiesen,
aber für zweifellos, glaubt jedoch, dass ihr Einfluss überschätzt werde. Als eine
der wesentlichen „Veränderungen der Existenzbedingungen", welche die grosse Masse
betrifft und den Typus des Auges ändern kann, bezeichnet er den Schulzwang.
*) Ich habe mich vor 10 Jahren bemüht, zur Lösung dieser Frage beizutragen,
indem ich um die Erlaubniss einkam, bei Eröffnung eines neuen Gymnasiums in einer kleinen
Provinzialstadt , die neu angemeldeten Schüler und die sie anmeldenden Eltern zugleich
zu untersuchen; ich erhielt vom Ministerium ein recht verbindliches Dankschreiben, aber
leider keine officielle Autorisation, und ohne solche ist der Plan unausführbar.
268 SCHULKINDERAUGEN.
Nie ati 40) betrachtet seine oben erwähnten Befunde in den jüdischen
Schulen von Marseille als Beweis für die Erblichkeit der M. Auch Kotelmann 23)
legt grosses Gewicht auf die Erblichkeit. 24mal fand er beide Eltern kurzsichtig
und in 20 dieser Fälle ging die M auf die Söhne über. 112mal war der Vater
allein M, in .r)0°/0 erbte M auf die Söhne fort; 43mal war die Mutter allein il/,
25mal ihre Söhne.
Javal co) dagegen legt sehr geringes Gewicht auf die Erblichkeit. Er
meint, dass die amerikanischen Kinder deutscher Eltern nicht in Folge von Erb-
lichkeit mehr M zeigen, als die Kinder anderer Abkunft, sondern weil die
Deutschen ihre Kinder viel ausserhalb der Schule, oft Abends bei schlechter
Beleuchtung, arbeiten lassen. Das kann wohl sein •, wenn aber Javal behauptet,
dass man aus der Zunahme der Üf-Zahl in den oberen Classen nicht auf Zunahme
der Myopie schliessen dürfe, so steht er mit dieser Ansicht ganzisolirt. Er
glaubt nämlich, dass nur die Myopen in der Schule bleiben und die nichtmyopischen
Schüler in den höheren Classen abgehen; auch hält er es für eine Ausnahme,
dass M sich nach dem 12. Jahre entwickelt. Der kritische Nagel61) bemerkt
mit Recht hierzu: Zwei kühne Behauptungen!
Aus allen mitgetheilten Ansichten der Autoren folgt nur , dass die
Frage nach der Erblichkeit der M noch nicht erledigt, dass die
Vererbung der Disposition allerdings sehr wahrscheinlich ist,
dass aber in sehr vielen Fällen ohne jedes erbliche Moment M
durch andere Ursachen erzeugt wird.
IV. Schulkindermyopie und Subsellien nebst Geradhaltern.
Mag man über die ererbte Disposition denken wie man wolle, man kann
sich in keinem Falle der Einsicht verschliessen , dass die Kinder fast alle ganz
gesund in die unterste Classe kommen, jedoch von Classe zu Classe an Üf-Zahl und
M- Graden zunehmen. Ich suchte daher schon vor 17 Jahren nach verschiedenen
localen Ursachen. H. Weber44) kommt in seiner neuesten schönen Arbeit auch
zu dem Schlüsse, „dass in dem Unterrichte die ersten und meisten Be-
dingungen für die Ausbildung und Ausbreitung der M liegen. Welche Momente
desselben aber die Hauptschädlichkeiten in sich bergen, ob die Dauer, ob die Art
der Beschäftigung und in letzterem Falle, welche von dieser als die Ursache zu
bezeichnen sei, die Antwort hierauf bedarf der geauesten Analyse der coneurrirenden
Umstände."
Ein kleines , aber geradezu classisches Büchlein von Dr. Fahrner 61 a) :
„Das Kind und der Schultisch", war 1865 erschienen ; in demselben wurde nach-
gewiesen, dass bei den alten Subsellien die Kinder auf die Dauer nicht gerade sitzen
können, sondern nach vorn überfallen müssen, dass der alte Schultisch falsch con-
struirt sei. Ich 6) mass daher bei meinen Untersuchungen in allen 166 Classen die
Grösse aller 10.060 Kinder und die Subsellien in Rücksicht auf die vordere und
hintere Tischhöhe, Tischbreite, Bankhöhe und Bankbreite, Differenz und Distanz von
Tisch und Bank, von Bank und Bücherbrett und von Bank und Fussbrett, die Höhe
des nächsten Tisches über der Bank , die Entfernung des nächsten Tisches von
der vorderen Tischkante, die Breite des Bücherbrettes, die Banklänge, die Fuss-
brettbreite, die Platzbreite u. s. f. und legte mir dann die Frage vor: „Können
diese Subsellien zur Erzeugung oder Zunahme von M beitragen?" Da beim Sehen
in die Nähe mit dem Accommodationsacte bekanntlich der hydrostatische Druck im
hinteren Theile des Augapfels sich vermehrt und in Folge dessen die nachgiebigsten
Stellen der jugendlichen, dünnen Sclera ausgedehnt, die Axe des Auges also
verlängert wird, und da bei fortgesetzter Accommodation für die
Nähe der Accommodationsmuskel nicht Zeit hat sich auszuruhen, so bewirkt dieser
fortdauernd erhöhte Druck Kurzsichtigkeit; denn sie ist ja die Folge einer zu
langen Augenaxe. Aber auch bei Ueberfüllung des Augapfels mit Blut wird der
Druck im hinteren Theile des Auges erhöht. Dieser wird hervorgerufen durch
Hemmung des Rückflusses des Blutes vom Auge; diese Hemmung
SCHULKINDERAUGEN. 269
muss aber stets bei vornüber geneigter Haltung des Kopfes eintreten; durch sie
kann also ebenfalls M erzeugt werden. Da nun durch anhaltendes Sehen in die
Nähe und Vornüberbeugen des Kopfes ein gesundes Auge M und ein ilf-Auge
noch myopischer werden kann, so ist obige Frage zu bejahen; denn die Schüler
sind durch die alten Subsellien gezwungen, die Schrift in grosser
Nähe und bei vorgebeugtem Kopfe zu betrachten. Es sind nämlich
an den alten Subsellien die Distanz und Differenz von Tisch und Bank zu
gross, die Bank zu hoch und die Tischplatte zu flach. — Ganz besonders
nachtheilig muss es sein, wenn Kinder von 1/2 — 1 Meter Grössenunterschied an
demselben Subsellium sitzen müssen, wie es noch jetzt leider in den meisten
Schulen der Fall ist. Je höher die Tischplatte, desto näher befindet sich das Auge
der Schrift , je grösser die horizontale Entfernung von Tisch und Bank , die
Distanz, desto mehr muss der Rumpf nach vorn überfallen, damit die Arme
das Papier erreichen, desto mehr muss also das Auge der Schrift genähert werden.
Jeder Mensch schiebt sich, wenn er gerade sitzen will, instinctiv den Stuhl unter
den Tisch, so weit, dass die vordere Tischkante senkrecht über der vorderen Stuhl-
kante steht oder womöglich sie noch um einen Zoll überragt. Es ist also eine
Distanz von 0 oder besser minus 2 — 3 Cm. nöthig.
Sind die Unterschenkel nicht im rechten Winkel zum Oberschenkel gebeugt
und ruht der Fuss nicht fest mit dem ganzen Fussblatt auf dem Fussbrette auf,
so müssen die Füsse frei in die Luft herunterhängen ; das Kind muss daher schon
deshalb den Unterschenkel nach hinten beugen, und um so mehr mit dem Ober-
körper nach vorn fallen, je mehr es bemüht ist, seine Fussspitzen nach hinten
auf den Boden zu stemmen; es muss also bei vorgebeugtem Kopfe der M in die
Hände arbeiten. Wird es bei dieser Schenkelhaltung müde , so rutscht es an die
vordere Bankkante vor, was wiederum zur Einnahme der ersten schädlichen
Stellung führt.
Ohne den Kopf zu neigen, können wir in einem Buche, das vertical
vor uns steht, bequem lesen ; liegt das Buch schräg, indem es mit der Horizontal-
ebene einen Winkel von 45° bildet, so ist das Lesen ebenfalls bequem, weil dabei
die Augen nach unten gerichtet werden können, ohne dass der Kopf sich nach
vorn zu neigen braucht. Liegt dagegen das Buch platt horizontal, so müssen
die Augen bei senkrechter Kopfhaltung sehr stark nach unten gedreht werden;
daher beugt man lieber den Kopf vornüber. Es darf also die Tischplatte nicht
horizontal, sie muss geneigt sein; eine Neigung von 45° ist aber nicht möglich,
da in diesem Falle das Schreiben schwer sein und die Utensilien herabfallen
würden. Auf 12 Zoll Tischbreite ist daher 2 Zoll Neigung nöthig.
In dem Artikel „ Schulbank" wird der Leser die Einzelheiten , auf die
es beim Bau dieses wichtigen Möbels ankommt, finden. Hier genügt es, nur die
allgemeinen Beziehungen der Subsellien zur M zu erörtern. Ich kann nach meinen
vieljährigen Erfahrungen nur Dr. Fahrner darin beistimmen, dass in den alten
Subsellien ein gerades Sitzen beim Schreiben auf die Dauer
schlechterdings unmöglich sei. Fahrner hat mit seiner feinen Beobach-
tungsgabe herausgefunden , dass die erste Bewegung des Kindes , mit der es die
normale Stellung verlässt, ein Strecken des Kopfes nach vorn und links,
und dass diese anscheinend unbedeutende Bewegung die Wurzel alles Uebels sei.
Der Schwerpunkt des Kopfes wird dadurch nämlich über den vorderen Rand der
Wirbelsäule geschoben; nun müssen ihn die Nackenmuskeln halten, während sie
ihn bei gerader Stellung leicht balanciren konnten; dadurch ermüden die
Nackenmuskeln, überlassen ihre Arbeit den Rückenmuskeln u. s. f. in der bekannten
Weise, bis nach 2 oder 3 Minuten der Kopf auf den linken Arm sinkt und die
Augen nur 8 — 10 Cm. von der Schrift entfernt liegen.
Im Anfange war es sehr schwierig, die Aerzte und die Pädagogen von
der Notwendigkeit einer Reform der Schultische zu überzeugen; heute sind alle
Aerzte darin einig, dass die horizontale Distanz von Tisch und Bank
270 SCHULKINDERAUGEN.
null oder besser negativ, dass die Tischplatte etwas höher als der
herabhängende Ellenbogen, dass eine Lehne angebracht und dass die
Subsellien den Grössenverhältnissen der Schüler entsprechend sein
müssen. Und längst hat die Technik die ärztlichen Anforderungen vollkommen
erfüllt, wie ich an mehr als 70 Modellen auf der Wiener 62) und Pariser 63) Welt-
ausstellung nachweisen konnte.
Wenn leider im Interesse der Lehrer, welche das Aufspringen der
Schüler, sobald sie aufgerufen werden, nicht fallen lassen wollen, noch immer
Tische mit positiver Distanz eingeführt werden, wenn ferner die Kinder im
Interesse des pädagogisch allerdings wünschenswerthen Certirens nicht an Pulte,
die ihrer Grösse entsprechen, gesetzt, sondern noch immer in bunter Reihe nur nach
ihren Fähigkeiten placirt werden, so zeigt sich hierin eine unverantwortliche
Unterschätzung der ärztlichen Bemühungen, die Zunahme der M zu verhüten.
Leider ist man bisher gerade in Preussen in dieser Hinsicht noch sehr
gegen andere Culturstaaten zurückgeblieben ; um so erfreulicher ist eine am
27. December 1881 von der königl. Regierung zu Breslau erlassene Verordnung,
welche die Aufmerksamkeit aller Landräthe, Kreisschulinspectoren und städtischen
Schuldeputationen auf die Wichtigkeit der Minusdistanz beim Schreiben hin-
lenkt und eine sehr billige Vorrichtung von Hippauf (Bank beim Schreiben nach
vorn beweglich) oder die Subsellien von Lickroth in Frankenthal oder Vandenesch
in Eupen zur Anschaffung empfiehlt. Die treffliche, nachahmenswerthe Verordnung
sagt wörtlich: „Um auch im Kreise der Ortsschulinspectoren und Lehrer das
Interesse für diese wichtige Frage anzuregen, auf deren günstige Lösung dieselbe
in vielen Fällen einen wesentlichen Einfluss auszuüben vermögen, bestimmen wir
gleichzeitig, dass auf sämmtlichen General-Lehrer-Conferenzen des
nächsten Jahres ,Die Schulbank in ihrer Bedeutung für die Gesundheit der
Schüler, für den Unterricht und für die Schulzucht' den Gegenstand eingehender
Besprechung bilden soll . . . Schliesslich verfügen wir hiermit ein
für alle Male, dass bei jeder Neubegründung oder neuen Ein-
richtung einer Schule uns vorgängig Bericht darüber zu erstatten ist, nach
welcher Form die Schulbänke in derselben angefertigt werden sollen und
welche Erwägungen für die Auswahl derselben maassgebend gewesen sind, damit
wir die Auswahl vor der Ausführung gutheissen oder beanstanden können."
Für Hörsäle in Universitäten haben Sämisch und Förster schon
seit Jahren Stühle und Tische angewendet; allein die Stühle, sagt KöSTER ganz
richtig , sind gleich hoch , die Studenten aber nicht. KÖSTER hat daher (nach
gefälliger brieflicher Mittheilung) seit Beginn seiner Lehrthätigkeit in Bonn Wiener
Drehstühle in seinem Auditorium aufgestellt, die sich die
Studenten vor der Vorlesung nach Bedarf ihrer Wirbelsäule
und ihrer Myopie zurechtdrehen. Freilich haben diese Stühle
keine Lehnen.
In allerneuester Zeit ist nun die von den Pädagogen
und Schulvorständen wegen der Kosten so ungern gesehene
Schultischreform meiner Ansicht nach in ein ganz neues Stadium
getreten durch die Erfindung von Geradhaltern, die es
wenigstens ermöglichen, in den alten Schulen das Mobiliar,
ohne Aenderungen, für den Schüler etwas weniger schädlich zu
machen. Bereits Schreber64) hatte im Jahre 1858 einen Gerad-
halter erfunden (Fig. 38), den er Myopodiorthoticum Geradhalter s
nannte. Es war eine Querleiste , die an einem senkrechten,
hölzernen oder eisernen Stabe befestigt wurde. Der Stab wurde so an den Tisch
angeschraubt, dass die Querleiste genau der Höhe der Schlüsselbeine
entsprach. Sobald sich nun das Kind etwas nach vorn beugt, drückt diese
Leiste und der entstehende Schmerz mahnt zum Geradsitzen! Ein solches
Marterinstrument konnte sich keinen Eingang verschaffen.
SCHULKINDERAUGEN.
271
Kallmann's Durchsichts-Stativ.
Dagegen ist es jetzt Kallmann, einem Opticus in Breslau, gelungen,
ein sehr praktisches Durchsichtsstativ zu construiren (Fig. 39), welches
an jedem Tische in verschiedener Höhe
anschraubbar ist und einen vollkommen mit
Gummi überzogenen, nirgends schmerzen-
den, eisernen Ring darstellt, hinter welchen
der Kopf des Kindes zu liegen kommt.
Der Schlüssel kann, sobald das Stativ in
richtiger Höhe angeschraubt ist, vom
Lehrer aufbewahrt werden. Ich möchte
diesen Geradhalter namentlich bei Kindern,
welche zu schreiben und zu lesen anfangen,
gar nicht mehr entbehren. Er genirt
beim Schreiben nicht im Mindesten; die
Kinder gewöhnen sich leicht an ihn und
selbst bei alten , falsch gebauten Tischen,
also bei horizontaler Plusdistanz, wird es
dem Kinde unmöglich, mit dem Kopfe
nach vorn zu fallen, selbst wenn es mehr
hockt als sitzt. Natürlich muss der Apparat in der richtigen Höhe angeschraubt
werden. Die Einführung dieses Stativs*) in Schule und Haus kann gar nicht warm
genug empfohlen werden.
Auch Soennecken in Bonn hat jüngst eine Schreibe- und Lesestütze
{Fig. 40) angegeben, eigentlich einen Kinnhalter, der aber, so weit meine bisherigen
Erfahrungen reichen, das Kinn der Kinder drückt, mit Leichtigkeit von dem Kinde
selbst aus der richtigen Höhenstellung in eine falsche gebracht werden kann und
dann nicht fest genug an dem Tische befestigt ist, so dass die Stellung des
Kopfes nicht so sicher und bequem ist als bei Kallmann's Stativ.
V. Schülermyopie und Tagesbeleuchtung der Classen.
Seit Jahrhunderten ist es bekannt , dass man eine Schrift um so mehr
dem Auge nähern muss, je mehr die Helligkeit abnimmt. Es ist daher geradezu
räthselhaft, dass nicht längst beim Baue von Schulgebäuden auf die Lage, Grösse
und Zahl der Fenster die für das Auge so nöthige Rücksicht genommen wurde.
Und noch jetzt liest man immer wieder bei den
Autoren, dass dieses oder jenes Schulzimmer
den „Eindruck einer durchaus ungenügenden
Tagesbeleuchtung gemacht hat."
Bei meinen Untersuchungen in Breslau habe
ich für jede Classe folgende Helligkeits-
tabelle entworfen: Wie viel Fenster vom
Schreibenden rechts, links, vorn, hinten? Wie
viel Fenster östlich, westlich, nördlich, südlich?
Wie ist die Farbe der Wände? Wie hoch sind
die Häuser vis-ä-vis ? Wie viel Schritte entfernt ?
Höhe und Breite der Fenster? In welchem
Stockwerk liegt das Zimmer? Ich musste mich
mit diesen Feststellungen begnügen , da es leider
damals so wenig als heute ein Photometer
gab, mit Hilfe dessen man die Tagesbeleuchtung in Graden bestimmen konnte,
etwa wie die Wärmegrade.
Ich sprach es schon 1867 aus (pag. 101 meiner Schrift über die Augen
von 10.060 Schulkindern), dass zur Vergleichung der Beleuchtung zweier Räume
einstweilen das menschliche Auge selbst das beste Photometer sei, da zum
Fig. 4:0.
Soennecke n's
Schreib- und Lesestütze.
Preis allerdings 6 Mark.
272 SCHULKINDER AUGEN.
Beispiel ein gesundes Auge , welches eine Schrift auf 1 Meter Entfernung liest,
in einem durch ein kleines Fenster erleuchteten Cabinet trotz derselben Tages-
belenohtnng dieselbe Schrift zur Noth nur auf 1I2 Meter entziffern kann. Später
(1873) hat H. v. Hoffmann14) in Wiesbaden diesen Gedanken in's Praktische
übertragen , indem er vorschlug , in jeder Classe eine Tafel mit SNELLEN'schen
Probebuchstaben aufzuhängen und den Unterricht schliessen zu lassen, sobald die
Tagesbeleuchtung so weit herabgegangen, dass das gesunde Auge nicht mehr in
6 Meter die Schrift Nr. 6 zu lesen im Stande ist. Dieser Vorschlag ist sehr
beherzigenswerth.
1 . Lage der Fenster nach der Himmelsrichtung. Unter
724 Fenstern in 166 Classen Breslaus fand ich 171 östlich, 133 westlich,
210 nördlich , 210 südlich. Es ist also früher ohne jede Ueberlegung in dieser
Hinsicht gebaut worden. Es kann aber gar keinem Zweifel unterliegen, dass ceteris
paribus die auf der Südseite gelegenen Fenster der Stube mehr Licht zuführen
als die auf der Nordseite. Wie wesentlich der Grad der Beleuchtung von dieser
Lage der Zimmer abhängt, geht am besten daraus hervor, dass eine Anzahl Schüler
der Zwinger-Realschule in Breslau, welche in einer nördlich gelegenen Classe
meine Leseproben nicht auf 4 Fuss erkannten, dies in einem südlich gelegenen
Zimmer bei gleicher Fenstergrösse, gleichem Stockwerke und gleich freier Umgebung
wohl vermochten.
Die beste Beleuchtung wird stets eine östliche oder südliche sein,
denn die Strahlen der Morgensonne durchwärmen das Zimmer angenehm ; aus
Südosten kommt der Wind in Deutschland selten, gegen zu warme oder helle
Sonnenstrahlen kann man sich leicht durch Rouleaux schützen. Gegen Fenster
nach Westen spricht der Umstand , dass der Nachmittagsunterricht zu kurze Zeit
währt, um gehörigen Nutzen aus ihnen zu ziehen. Ich bleibe bei meiner vor
17 Jahren ausgesprochenen Ansicht, dass in einer Schule nie zu viel
Licht sein könne. Auch Javal 65) kämpft jetzt für die reichlichste Beleuchtung ;
er sagt sehr richtig: „Man muss eine Schule mit Licht überschwemmen,
damit an dunklen Tagen der dunkelste Platz der Classe hin-
reichend hell sei." Die meisten Autoren sind für Anlage der Fenster nach
Osten oder Südosten, so Zwez 66) , Vakrenteapp 67) , Falk68), Pappenheim69),
auch Javal und Baginsky 70) ; nur Lang 71) und Reclam 72) sind für die Richtung
nach Norden, gegen welche schon der Umstand spricht, dass dann die Zimmer
viel kälter sind.
2. Die Zahl und Grösse der Fenster ist natürlich von der aller-
grössten Wichtigkeit. Je weniger und je kleiner die Fenster, desto dunkler das
Zimmer. Ich fand Fenster, die nur 42 Zoll hoch und nur 30 Zoll breit waren.
Nimmt man eine Fensterhöhe von 80 — 100 Zoll, eine Fensterbreite von 50 bis
60 Zoll und ein solches Fenster, das also 4000 — 6000Q-Zoll Glas enthält, für
20 Schüler an, so kommen auf jeden Schüler 200 — 300Q-Zoll Glas. Ich hatte
nicht die Maasse der Bodenfläche aller Classen, deren Schüler ich untersuchte,
nur die Schülerzahl, musste mich daher anfangs auf eine solche Berechnung
beschränken. Mit Recht hat man verlangt, lieber das Verhältniss des Fensterglases
zur Bodenfläche festzustellen. Ich habe in dieser Beziehung vorgeschlagen, dass
auf lfJ-Fuss Grundfläche mindestens 30rj-Zoll Glas kommen sollen,
d. h. 1 Glas auf 5 Bodenfläche. Solche Zimmer zeigten sich ceteris paribus
genügend hell. Statt dessen fand ich einzelne Classen, bei denen noch nicht
200rj-Zoll Glas und viele, bei denen noch nicht lOO^-Zoll auf ein Kind kamen.
Andererseits freilich sah ich Classen, in denen mehr als 3 70 □-Zoll Glas
auf einen Schüler kamen und die doch bedeutend finsterer waren als die vorigen,
weil gegenüberliegende hohe Gebäude das Licht nahmen.
Wie weit man aber in Europa , selbst auf den Weltausstellungen, von
der Erfüllung der hygienischen Wünsche entfernt war, bewiesen mir Messungen,
die ich73) in der Pariser Weltausstellung 1867 vornahm; dort kamen
SCHULKINDER AUGEN. 273
in der preussischen Schulstube auf 1Q-Fuss Grundfläche nicht 30, sondern 16*7,
in der amerikanischen freilich 32*2 □-Fuss Glas. In der Wiener Ausstellung
1873 fand ich 62) auf l[J-Fuss Grundfläche in der portugiesischen Schulstube 17*6,
in der amerikanischen 20-6 , in der Schule aus Norköping 25*7 , in einer öster-
reichischen 265, in einer Schule aus Schön Priesen 28*6, erst im schwedischen
Schulhanse 32 und im Modell der FßANKLiN'schen Schule zu Washington
52-8 D-Zoll Glas.
Ein Fortschritt ist neuerdings unleugbar, denn in der letzten Pariser
Ausstellung63) 1878 kamen in dem Ferrand' sehen Schulhause 60Q>Meter Glas
auf 55 □-Meter Grundfläche, d.h. fast 1 Glas auf 1 Bodenfläche, es war
die ausgezeichnetst beleuchtete Classe , die ich in meinem Leben gesehen habe.
.Nach den Zusammenstellungen von Baginski 7ü) verhält sich die Glas-
fläche zur Grundfläche in Frankfurt a. M. (nach Varrentrapp) in der katholischen
Volksschule wie 1:8*7, in der Mittelschule wie 1:10, in der höheren Bürger-
schule wie 1 : 8-9 und in der israelitischen Realschule wie 1 : 9*8 ; in der Crefelder
Volksschule (nach Buchner) wie 1:5; in den Berliner Schulen (nach Falk) wie
1:9:8:7; nach den Verordnungen des sächsischen Cultusministeriums vom 3. April
1873 wie 1:6:5; nach der württembergischen Verfügung vom 28. December 1870
wie 1:6:4 ; nach der königl. technischen Baudeputation in Berlin , die meinen
Minimumvor schlag aeeeptirte, wie 1:5; nach dem Frankfurter Gutachten soll sie
1/3 der Langseite des Zimmers betragen.
Natürlich darf man nur immer die reine Glasfläche rechnen und die
Fensterkreuze und Verkleidungen nicht mit in Betracht ziehen. Varrentrapp 67)
klagt, dass den Mangel an Licht in den Frankfurter Schulen zum Theile die
„schönen" Pfeiler verursachen, zum Theile die 1/3 der Fensteröffnungen ein-
nehmende Architektur und das solide Holzwerk; Fensteröffnung und Glasfläche
stehen in den Frankfurter Schulen im Verhältnisse von 40:26, 24, 29.
Wichtig ist es auch, um die Helligkeit im Zimmer zu vermehren, dass
die Pfeiler zwischen den Fenstern nicht rechtwinkelig, sondern nach dem Zimmer
zu abgeschrägt seien ; nur nach unten hin darf diese Abschrägung nicht statt-
finden, damit das Licht nicht zu tief unter die Tischfläche falle und dann durch
Reflexion störe. Der unterste Rand des Fensters darf nicht tiefer als 1 Meter
über dem Fussboden sein; mögen die Fenster statt dessen um so höher sein!
Denn wie zu geringe Beleuchtung kann auch perverse Beleuchtung
schädlich sein, auf welche zuerst Adolf Weber44) in seinem ausgezeichneten,
dem hessischen Unterrichtsministerium erstatteten Referate 1881 die Aufmerksamkeit
lenkte. Wie schädlich das excentrisch einfallende Licht sein muss, folgt schon aus
dem Beschatten der Augen durch die Hutkrempe oder die Hand. Weber zeigte,
„dass das zarte Netzhautbild deshalb nicht zur Perception komme, weil in Folge
der Zerstreuungskreise durch Interferenz die benachbarten Nervenelemente gegen
das allseitig einfallende Licht in nahezu gleich starkem oder stärkerem Grade
erregt werden", und meint, dass in Folge der allseitigen Bestrahlung ein über-
mässiger Verbrauch von Sehpurpur stattfinde, welcher ja von dem Netzhaut-
epithel producirt die Aussenglieder der Stäbehen erfüllt und so die Retina zur
Aufnahme des Bildes präparirt. Mit der Anhäufung dieses Sehpurpurs , welcher
nach der Stärke der Ausbleichung an Stelle des Bildes 2 — 3 Stunden zum Wieder-
ersatz bedarf, hängt die Perceptionsfähigkeit der Retina innig zusammen, wenn
auch hierin nicht geringe, selbst organisch bedingte Unterschiede herrschen.
Dunkelfarbige Augen, bei denen diese pigmentirte Drüsenschicht
voller entwickelt ist, erfreuen sich einer energischeren Production und daher einer
höheren Perceptionsfähigkeit der Netzhaut als hellfarbige. Daraus schliesst
"Weber, dass auch die allgemein weniger pigmentirten Kinderaugen durch perverse
Lichtverhältnisse schneller erschöpft werden.
Ein weiterer ungünstiger Einfluss der letzteren liegt nach Weber in der
Auslösung höherer, der Distanz des Objectes widersinniger R efr actio ns-
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 18
274 SCHULKINDERAUGEN.
zustände, indem die durch vermehrten Lichteinfall erzeugte
Zusammenziehung der Pupille von einer synergischen Contraction
des Accommodationsmuskels begleitet ist, welche ein Heran-
rücken des Objectes verlangt. Dazu kommt noch, dass 1 — 5°/0 der Schul-
kinder an Hornhautflecken leidet und dass diese durch seitliches Licht, das
an den Flecken diffundirt und über die Retina zerstreut wird, noch viel
schlechter sehen.
Meiner Ansicht nach ist aber die perverse Beleuchtung in Schulen immer
noch nicht so gefährlich, als die zu geringe.
Kleiber74) betont, dass es zweckmässiger sei, drei Fenster anzulegen
als zwei , wenn die letzteren auch ebenso viel Glas wie die drei haben ; denn, da
das Licht bekanntlich abnimmt nicht im einfachen, sondern im quadratischen
Verhältnisse der Entfernung, so werden die entfernter sitzenden Schüler
von zwei Fenstern weniger Licht erhalten, als von dreien.
Es scheint mir am besten, dass man ähnlich wie in photographischen
oder Maler- Ateliers die ganze linke Seite durch Fenster ersetzt, die nur
durch kleine eiserne Pfeilerchen von einander getrennt werden. Bei einstöckigen
Gebäuden lässt sich das ganz gut thun; Ferrand 63) hat dies in seinem Schul-
hause auf der Pariser Weltausstellung 1878 bewiesen.
3. Die Lage der Fenster in Bezug auf den Schreibenden
kommt ebenfalls in Betracht. Jeder Mensch weiss, dass er am besten beim Schreiben
sieht, wenn das Licht von links einfällt. Kommt es von rechts, so fällt der Schatten
der Hand auf die Schrift, und man muss sich daher derselben mehr nähern. Als
ich unsere Schulen auf diesen Punkt prüfte, befanden sich 106 Fenster rechts
vom Schreibenden, 62 vorn, 93 hinten und 463 links. In vier Classen waren die
Fenster nur vor oder hinter den Schülern angebracht; in 43 Classen unter 166
gab es rechts vom Schreibenden Fenster; allerdings nur in 3 ausschliesslich zur
Rechten. Durch Umstellung der Subsellien wurde in wenigen Minuten Alles ver-
bessert. So fand auch Ellinger75) im physiologischen Hörsaale zu Würzburg
im Jahre 1858 die Bänke so aufgestellt, dass die Schreibenden das Licht von
rechts erhielten. „Ohne Zweifel," sagt Ellinger, „wurde jedes Jahr einmal in
diesem Hörsaale der bekannte Satz von der Beleuchtungsintensität und dem
Quadrate der Entfernung erläutert, dass also bei Beschattung des Papiers ein
grösseres Netzhautbild, also eine grössere Annähernng des Auges zum Papier
erforderlich sei, und zwar nicht im einfachen, sondern im quadratischen Verhältnisse.
Es ist leicht begreiflich, dass hierdurch bleibende Myopie entsteht und dass durch
solche Gleichgiltigkeit die jungen Mediciner nicht eben daran gewöhnt werden,
für sich und später für ihre Clienten das beste Licht beim Schreiben aufzusuchen.
Nach neuerdings (1876) eingezogener Erkundigung stehen die Bänke im
physiologischen Hörsaale in Würzburg heute noch so, wie sie vor 24 Jahren
der Schreiner hingestellt hat. In einer halben Stunde und ohne jegliche Incon-
venienz hätten Bank und Katheder umgedreht werden können."
Wenn ich den 7. Theil aller Fenster zur Rechten der Schüler in Breslau
fand, so zeigt dies, wie wenig die Verordnung der königlichen Regierung zu
Breslau vom 24. Januar 1856 befolgt wurde, welche sagt: „Die Aufstellung der
Subsellien im Classenzimmer hat möglichst so zu erfolgen, dass den Schülern das
Licht zur linken Seite kommt." Falk 68) fand in der Mehrzahl der Berliner Schulen,
Baginski 70) daselbst überall die Fenster zur Linken.
Wenn die Fenster sich nur vor den Schülern befinden, so haben nur
die auf den ersten Bänken sitzenden Kinder genügend Licht. Wenn nun ausserdem
Fenster zur Linken sind, so wirken die vorderen Fenster wohl zur allgemeinen
Erhellung mit, stören jedoch dadurch, dass die Schüler beim Blick auf die zwischen
oder vor den Fenstern angebrachte Wandtafel von dem von vorn einfallenden Licht
geblendet werden und weil es schwierig, oft unmöglich ist, Schrift oder Zeichnung
auf einer so postirten Tafel zu erkennen.
SCHULKINDERAUGEN. 275
Fenster, die sich hinter dem Schreibenden befinden, schaden den Kindern
nicht, wenn ausserdem noch links genügend Fenster vorhanden; dagegen blenden
sie nach Thome 76) den Lehrer und erschweren ihm die Beaufsichtigung der Classeu.
Bis vor Kurzem haben sich nun wohl die meisten Autoren der Ansicht
zugeneigt, dass die Fenster der Schulzimmer nur zur Linken anzubringen
seien. Jetzt ist aber von Frankreich aus wieder der Vorschlag der doppel-
seitigen Beleuchtung gemacht worden, um überhaupt mehr Licht in die
Classen zu schaffen und auch um die Classen besser zu ventiliren. Wir fanden
ein solches Schulzimmer 1878 auf der Pariser Ausstellung von dem Ingenieur
Ferr and ausgestellt. Derselbe gab freilich zu, dass gleich grosse Fenster
rechts und links vom Schüler schädlich sind ; er nahm daher von Dr. Galezowski 63)
in Paris ein „Eclairage bilateral avec intensites lumineuses differentes" an. Zur
Linken des Kindes ist ein ungemein grosses Fenster von 10 Meter Höhe , zur
Rechten ein anderes von nur 5 Meter Höhe hoch oben angebracht; dadurch
kommt das meiste Licht von links ; es giebt keine Lichtkreuzungen auf dem Tische,
da das rechts gelegene Fenster nur 5 Meter weit von der Decke herabreicht;
der Schatten fällt von links nach rechts beim Schreiben und doch kommt mehr
Licht im Ganzen in die Classe, als bei einseitiger Beleuchtung. Ich konnte
in der That in diesem Zimmer nichts Schädliches von der Beleuchtungsart sehen.
Auch Javal findet für grosse Schulzimmer die einseitige Beleuchtung
nicht ausreichend; für kleinere genügen nach ihm Fenster auf der Nordseite.
Das Ideal des Augenarztes werden stets Glasdächer für Schulzimmer
sein, wie solche schon längst in Amerika existiren. Schon vor 17 Jahren habe
ich den Wunsch nach solchen ausgesprochen (pag. 118 meiner Untersuchungen).
In neuerer Zeit sind sie besonders warm von Gross 77) in Ellwangen für Schul -
baraken empfohlen worden ; auch giebt er Abbildungen. Mit vollem Recht sagt
er, dass Jeder, der einmal in einer modernen Weberei war, sich überzeugt
haben muss, dass es bei dieser Glasdachbeleuchtung im riesigsten Saale
keine dunklen Winkel giebt.*) Auch Javal hält das Glasdach für das
Beste. Freilich könnten dann die Schulen nur einstöckig sein und das wird in
grossen Städten wegen der Theuerung des Platzes kaum zu erreichen sein.
Wenigstens sollte man aber Oberlicht einführen in den Zeichensälen, die
ja im obersten Stockwerk untergebracht werden können, ferner nach Guillaume's 78)
Ra,th in Zimmern, in denen geographischer Unterricht ertheilt wird und nach
Weber's Vorschlag in den Handarbeitssälen der Mädchenschulen.
4. Die Umgebung des Schulhauses. Es ist ganz selbstverständlich,
dass die richtigste Lage der Fenster in Bezug auf Himmelsrichtung, dass die
grössten und breitesten Fenster und eine ausreichende Anzahl derselben doch
nicht für eine gute Beleuchtung genügen, wenn Bäume oder nahestehende
hohe Häuser oder gar hohe Kirchen den Zimmern das Licht rauben. Zwez 66)
glaubt, dass die Höhe des gegenüber der Schulstube liegenden Hauses nicht
wesentlich schadet, wenn sie von einem Fensterbrette des Schulzimmers gemessen
und berechnet 20 bis 25° nicht übersteigt. Javal65) verlangt mit Recht, dass
der Abstand der gegenüberliegenden Gebäude doppelt so gross
sein muss als die Höhe derselben.
Wie unsere Vorfahren gerade in diesem Punkte gesündigt, beweist unter
Anderem die Anlage des Elisabeth- und Magdalenen- Gymnasiums zu Breslau, welche
vor Jahrhunderten nur 40 — 60 Fuss entfernt von den allerhöchsten Kirchen hin-
gebaut worden sind. Dass man aber freilich im Jahre 1867 das Magdalenen-
Gymnasium bei einem völligen Neubau wieder an denselben Platz gestellt und
nicht endlich bedacht hat, dass die nahe hohe Kirche vielen Classen das Licht
*) In einer glänzend beleuchteten Weberei in Schweidnitz sab ich 3 Reihen Glas-
scheiben am Dache von je T66 Meter Höhe und 41 Meter Länge, d, h. 204 Quadratmeter
Glas auf 768 Quadratmeter Bodenfläche.
TR*
276 SCHULKINDERAUGEN.
nehmen müsse , das gehört zu den vielen Unbegreiflichkeiten , denen man in der
praktischen Schulhygiene begegnet.
Bei der Vergleichung der Beleuchtung der Classen und der Anzahl der
gefundenen Myopen ergab sich im Jahre 1865, dass , je enger die Gasse,
in der das Schulhaus liegt, je höher die gegenüberliegenden
Häuser, in einem je niedrigeren Stockwerk die Classen gelegen,
umsomehr myopische Elementarschüler. Ich betone ausdrücklich
„Elementarschüler". Das hat sich in Breslau als Gesetz herausgestellt. Denn
bei 2 oder 3 Schulen, welche gleiche Ansprüche an die Kinder stellen, könnte ein
Zufall so eigenthümlich mitwirken; allein da mir zwanzig Elementarschulen
gleichen Ranges Differenzen von 1*8 — 15-1% M zeigten, und zwar eine Zunahme
der M, welche entspricht der Enge der Strasse, so dass die neuen, vor den
T hören in breiten Strassen gelegenen Schulen 1*8 — 6'6% M, dagegen
die im Herzen der alten Stadt „in der Strassen quetschender Enge" begrabenen
Schulen 7-4 — 15*1% M enthielten, so ist wohl der Zufall ausgeschlossen, und es
verdient dieser Befund wohl die Aufmerksamkeit der Behörden. Er gestattet den
Schluss , dass die durch die Lage des Schullocals bedingte Dunkelheit der
Zimmer zur Erzeugung und Vermehrung der M entschieden beigetragen haben
muss. Ist es doch in vielen dieser Classen so dunkel, dass im Winter in den
ersten Morgen- und in den Nachmittagsstunden Lesen und Schreiben unter-
bleiben muss.
Bei den höheren Schulen würde ich einen solchen Rückschluss nicht
machen, weil die vielfache häusliche Beschäftigung der Kinder kein so reines
Experiment gestattet als in den Elementarschulen, wo nur wenig häusliche Arbeiten
aufgegeben werden.
Die Verlegung der Schulen aus engen Gassen auf freie Plätze und breite
Strassen ist also dringend geboten , und überhaupt ist es zu empfehlen , zur
Errichtung neuer Schulhäuser n u r solche Plätze zu wählen, denen früher
oder später durch angrenzende Neubauten das nöthige Licht
niemals entzogen werden kann.
Unendlicher Nutzen würde in alten Schullocalen, die nicht augenblicklich
geräumt werden können, dadurch gestiftet werden, dass neue Fenster angebracht
und die vorhandenen verbreitert undvergrössert werden. Was die Technik
in dieser Beziehung leisten kann, sieht man an den mächtigen Schaufenstern,
welche mittelst schmaler eiserner Zwischenträger in den allerältesten Häusern der
Städte für die Kaufleute mit Leichtigkeit geschaffen werden. Und das sollte nicht
eben so gut bei alten Schulen zu ermöglichen sein ? Man muss nur ernstlich wollen !
Dass es natürlich nicht die günstige Tagesbeleuchtung allein macht,
ist klar. Just39) in Zittau, welcher in Secunda eines Gymnasiums, das erst 1871
erbaut worden und sehr helle Zimmer enthielt, doch 80% M fand, meint, dass
hier die vielen häuslichen Arbeiten, die oft bei sehr ungünstigem Lichte ausgeführt
werden, schuld seien. Das darf uns aber durchaus nicht abhalten, die beste
Beleuchtung unserer Classen anzustreben. Es ist auch sehr wichtig, dass Floe.-
SCHütz iS) die Abnahme der M in den Coburger Schulen von 21 auf 15°/0 auf
die neuen „Schulpaläste" bezieht, und dass Seggel 35) die günstigen Resultate im
bayerischen Cadettenhause zum Theil auf die gute Beleuchtung setzt. Er fand
nämlich hier vom 13. — 19. Lebensjahre nur eine Zunahme der Myopenzahl um
14% , in den Gymnasien dagegen um 28%. Allerdings weist Seggel zugleich
auf die günstige Vertheilung der Arbeitszeit im Cadettenhause hin, indem
Freistunden und körperliche Uebungen in passender Weise zwischen die Unterrichts-
stunden eingeschoben werden.
5. Rouleau x. So schädlich die Dunkelheit, so schädlich ist natürlich
auch der Einfluss der glänzenden Sonnenstrahlen. Im Ganzen sind
in unserem Clima bedeckte Tage ungleich häufiger als sonnige. Das Sonnenlicht
ist aber leicht durch Rouleaux zu dämpfen ; freilich müssen diese richtig angebracht
SCHULKINDEKAUGEN. 277
und in Ordnung sein. Ihre Farbe ist am besten hellgrau , der Stoff Leinwand.
In den schwedischen Schulen auf der Wiener Weltausstellung 62) waren Vorhänge
aus feinen gelblichen Espenholzstäbchen von Federhalterbreite angebracht , die
durch eine Schnur aufgezogen werden konnten ; sie scheinen mir zu leicht gebrechlich.
In einem österreichischen 79) Musterschulhause auf derselben Ausstellung hatte man
Vorhänge aus derber ungebleichter Leinwand angebracht, die aber unten aufgerollt
waren und nach oben gezogen werden konnten. Man musste freilich dabei das
ganze Fenster verhängen, wenn nur von oben Sonnenstrahlen störend in's Zimmer
gelangten. In einem amerikanischen62) Schulhause der Wiener Weltausstellung
fand ich hingegen eine ganz besonders sinnreiche und praktische Einrichtung. Die
Stangen befanden sich in der Mitte des Fensters. Durch 4 Schnüre ohne Ende
konnte man den Vorhang von der Mitte aus in die Höhe oder nach unten ziehen,
das Fenster ganz verdunkeln und durch Auf- und Abziehen der Stangen selbst
die Beleuchtung in jeder Weise regeln. Diese Befestigungsweise der Vorhänge
wird von einer besonderen Gesellschaft, der Chicago courtain fixure Company
besorgt. Die Vorhänge selbst waren von gelbem Wachstuch ; grau wäre besser.
Webee 44) in Darmstadt hält allerdings Rouleaux für absolut unpraktisch,
da sie zu Zeiten , wo Sonne und Wolken schnell wechseln, nicht verwendbar seien ;
er rühmt als einziges, auch in anderer Beziehung vorzüglichstes Mittel nur „die matte
Scheibung, deren Schliff einseitig und nur so oberflächlich aus-
geführt werden kann, dass kaum eine Absorption von Licht
stattfindet."
6. Die Farbe der Wände darf weder blenden noch dunkel sein,
hellgrau ist wohl die beste Farbe.
VI. Schüler-Myopie und künstliche Beleuchtung der Classen.
Glücklicherweise werden nur wenige Stunden in den öffentlichen Schulen
bei künstlicher Beleuchtung gegeben; es wäre gewiss am wünschenswerthesten,
wenn der Abendunterricht überhaupt ganz fortfiele, was bei den Volksschulen
leicht durchzusetzen ist, bei den höheren Schulen auf grossen Widerspruch der
Pädagogen stossen würde. In unseren alten Schulgebäuden ist es obenein so
finster, dass vielfach im Winter des Morgens 1 — 2 Stunden Gas gebrannt werden
muss. Die Schulen, welche ich6) untersucht, hatten sämmtlich Gas. In Classen
mit 80 — 90 Schülern fand ich gewöhnlich 2 , höchstens 4 Flammen. Diese
wenigen Flammen waren so unpassend angebracht, dass der Schatten des Ober-
körpers einer Anzahl von Kindern auf das Papier fiel und daher eine bedeutende
Annäherung des Auges an die Schrift nöthig machte, also zu M Veranlassung
geben konnte.
In keiner Classe waren die Flammen mit einem Schirm
versehen, so dass allerdings der Raum über den Köpfen der Schüler hell,
jedoch das Licht nicht auf die Tische concentrirt war. Auch in der Breslauer
Universität gab es im Jahre 1867 nur offene Flammen in den Hörsälen, und
erst nach Erscheinen meines Aufsatzes über die Augen der Breslauer Studenten 50)
wurden überall Schirme und Cylinder angebracht. Baginsky 7ü) fand in den
Berliner Schulen in Classen von 40 Schülern nur 4 Flammen.
Ueber die Zahl der Flammen schwanken die Rathschläge der Autoren
bedeutend. Ich habe früher vorgeschlagen, für 16 Kinder eine Gasflamme zu
geben. Falk erklärte diese Zahl für zu freigebig, Baginsky und Fankhauser 80)
für zu gering. Die sächsische Regierung bestimmte für 7 Kinder eine Flamme,
Emmert 27) wünscht für 12 Kinder bei den weiter auseinander stehenden neuen Bänken
eine Flamme, Varrentrapp verlangt bei zweisitzigen Subsellien für 4 Schüler eine
Flamme. Nach meinen weiteren Beobachtungen schliesse ich mich Varrentrapp an.
Offene Flammen sind vollkommen zu verbannen; denn das Flackern,
die beständige stossweise Bewegung des Gasstromes verursacht einen schnellen
Wechsel von stärkerer und schwächerer Beleuchtung und dadurch eine schädliche
jntermittirende Reizung der Netzhaut; die Augen ermüden dabei rasch. Keine
278 SCHULKINDERAUGEN.
Flamme darf daher ohne Cylinder bleiben. Gut wäre es wohl, wenn man die
vielen gelben Strahlen des Gaslichtes durch blaue Cylinder paralysiren könnte,
allein es leidet durch dieselben wieder die Helligkeit. Um das Licht auf den
Tischen zur Arbeit zu concentriren , sind durchaus Schirme oder noch besser
Porzellanteller, Glocken zu empfehlen. Medicinalrath Gross81) in Ell-
wangen hat sich einen eigenen Schirm construirt. „Ich hatte eine Hängelampe
oben mit einem flach gewölbten Blechschirm versehen ; dieser muss die Form eines
Kugelabschnittes haben. Ueber diesen oberen Schirm kommt ein zweiter ring-
förmiger, von der Form eines abgestutzten Kegels, dessen Seiten mit der Axe des
Kegels einen Winkel von 30° bilden. Der obere Rand des ringförmigen Schirmes
hängt mit 3 oder 4 kurzen Ansätzen am äusseren Rande des oberen Schirmes,
wirft somit das Licht von der Seite und von oben seitwärts und abwärts zurück.
Der Schirm soll milchweiss mit einem Stiche in's Bläuliche lackirt sein. Die
Maasse sind :
Durchmesser des oberen Schirmes 15*5"
Höhe seiner Wölbung 1#5"
Oberer Durchmesser des ringförmigen seitlichen Schirmes .... 15"5"
Unterer „ „ „ „ „ . . . . 21-5"
Höhe des ringförmigen seitlichen Schirmes 7"
Entfernung von der Spitze des Brenners (flacher Docht) zur Mitte
des oberen Schirmes 5".
Bei solcher Beleuchtung konnte Gross, der selbst höchst kurzsichtig ist,
viele Nächte hindurch wie am Tage arbeiten.
Ich 6) empfahl, wenn man statt der Glocken wegen ihrer Zerbrechlichkeit
Blechschirme, die innen weiss lackirt sind, wählt, denselben bei 6" Höhe eine
obere Oeffnung von 36, eine untere von 324 Quadratzoll zu geben.
In kleineren Orten, wo noch kein Gas zu haben, welches ja gewiss der
Reinlichkeit und der grösseren Helligkeit wegen das beste Schulbeleuchtungs-
material bleibt, nehme man Petroleum, dessen Leuchtwerth sich (nach
A. Vogel) zu dem des Gases verhält wie 87 : 100; Oel ist weniger zu empfehlen,
weil sein Leuchtwerth zu dem des Gases nur 63:100 beträgt; allerdings ist es
dafür nicht explosionsfähig.
Erismann10), welcher in Petersburg unter 397 Pensionären 42°/0, unter
918 Externen der russischen Gymnasien aber nur 35°/0 M fand, glaubt, dass
auch die „nicht selten spärliche und unpassend angebrachte künstliche Beleuchtung
in den Pensionaten" eine Ursache der grösseren Jf-Zahl sei. Auch Dor 36) fand
in Lyon unter den Pensionären des Lyceums 33°/0 , bei den Externen nur
18°/0 M.
VII. Schüler-Myopie und Handschrift.
Bereits Fahrner 61a) hatte den wichtigen Satz ausgesprochen : „Man lasse
die Kinder schief werden, damit nur die Schrift hübsch schief liege." Hermann
Meyer S2) in Zürich hatte angedeutet, dass die Kinder den Kopf nach links drehen
(der Anfang des Zerfalls der Stellung) , um den Gang der Schreibfeder besser
verfolgen zu können. Ellinger 75) in Stuttgart, der zuerst energisch diesen Punkt
besprochen, findet den Grund der schlechten Haltung der Kinder darin, dass bei
den schrägen Schriftzügen das Papier nicht vor den Schreibenden, sondern etwas
nach rechts hin geschoben wird. Dabei befinden sich die Augenmuskeln in
einer Zwangsstellung, da sie beständig nach rechts und unten blicken müssen
und da das linke Auge weiter von der Schrift entfernt ist als das rechte. Liegt
das Buch aber gerade vor der Brust, so sind beide Augen gleich weit von der
Schrift entfernt und das Kind braucht nur gerade nach abwärts zu blicken;
dabei ermüdet keine Gruppe der Augenmuskeln ; auch steht die B a s a 1 1 i n i e
der Augen (bekanntlich die Verbindungslinie der Drehpunkte beider Augen) dann
parallel den Zeilen und nicht geneigt, wie bei schräg gehaltenem Blatte. Gross 84)
erklärt die heillose Haltung der Kinder wesentlich als Folge der Naturwidrigkeit
SCHULKINDERAUGEN. 279
unserer deutschen Currentschrift und der vorgeschriebenen Lage des Schreib-
heftes. Er beobachtete ganz richtig, dass die Kinder so lange gerade sitzen, als
sie im Anfange des Schreibunterrichtes gerade Striche machen, dass sie aber
sofort zusammenfallen , wenn die Striche von rechts nach links schräg sein
müssen. Er hält daher auch die griechische Druckschrift für besonders
schädlich, und er war der Erste, welcher eine mehr senkrechte, der Rundschrift
ähnliche Schrift empfahl.
Die schräge Currentschrift ist übrigens erst 70 Jahre alt; früher wurde
Alles senkrecht geschrieben. Erst der Kalligraph Heinrigs in Crefeld führte
1809 für die deutschen Buchstaben eine Neigung von 45° ein. Um unter den
verschiedenen in Deutschland geltenden sogenannten Schriftductus eine Einigung
zu erlangen, setzte im Jahre 1867 der Commissionsrath Henze einen Preis für
die beste National-Handschrift aus. Nicht weniger als 754 Bewerber meldeten
sich und von 50 Preisrichtern entschied sich die Mehrzahl für das Alphabet
von G o s k y in Cottbus , das bereits mancherlei Rundungen statt der Ecken auf-
weist ; sonst aber liegt diese ganze Preishandschrift wie die früheren unter
einem Winkel von 45 Grad. (Die Abbildung siehe in meiner auf der Natur-
forscher-Versammlung zu Danzig gehaltenen Rede „Ueber Schrift, Druck und über-
handnehmende Kurzsichtigkeit", Tageblatt Nr. 3.)
Es fehlt nicht an Verordnungen über die Lage des Buches und der Hände
beim Schreiben; aber sie widersprechen sich oft. In den preussischen Seminarien
wird gelehrt, dass der linke Arm ganz wagerecht, dass das Buch dem Tisch-
rande parallel liege, die rechte Hand nur auf den beiden letzten Fingern ruhe
und das Gelenk freiliege ; in den österreichischen Seminarien wird dagegen gelehrt,
dass die obere linke Ecke des Buches nach links unten geneigt werde, der rechte
Vorderarm fast ganz aufliege und die linke Hand nur oben bleibe, um das Papier
festzuhalten.
Ich habe mich in einer Volksschule zu Aussee in Steiermark im Sommer
1880 überzeugt, dass das Linksvorbeugen des Kopfes wesentlich eine Folge der
schrägen Schrift ist. Sämmtliche Kinder sassen kerzengerade, wenn sie mit
gerade ausgestrecktem Arm und anlehnendem Rücken ein Dictat senkrecht nach-
schreiben sollten. Wie mit einem Zauberschlage aber stürzte die
ganze Classe nach vorn, sobald wieder schräg geschrieben
werden sollte. Es scheint mir also ganz richtig, dass Gross eine Art Rundschrift
empfiehlt, die mit senkrechter Federhaltung geschrieben wird und die bereits in den
obersten Classen der österreichischen Volksschulen geübt werden soll.
In einem sehr lesenswerthen Aufsatze hat Dr. Schubert 83) in Nürnberg
die Frage in ganz exacter Form besprochen. Er geht bei seiner Untersuchung
davon aus, dass das Schreibheft auf 4 Weisen vor dem Schreibenden liegen kann ;
in der geraden Medianlage, in der geraden Rechtslage, in der schiefen Rechtslage
und in der schiefen Medianlage.
1. Bei der geraden Medianlage des Heftes können, wie Schubert
nachweist, die Augen den rechtsschiefen Schriftzügen ohne jede Anstrengung folgen ;
jedoch ist bei dieser Lage technisch eine rechtsschiefe Schrift unausführbar;
die anatomischen Verhältnisse des Handgelenks verhindern, den Federhalter so zu
drehen, dass Striche von rechts oben nach links unten gerichtet werden.
2. Bei der geraden Rechtslage des Schreibheftes dagegen kann
technisch die schiefe Schrift wohl ausgeführt werden. Allein das rechte Auge
muss, wenn das Heft 10 Cm. nach rechts von der Sagittalebene des Schreibenden
verschoben wird, beim Schreiben der Zeile einen 1/5mal grösseren Bogen beschreiben,
als das linke, was sehr bald unerträglich wird. Dazu kommt, dass an beide
Augen die Forderungen einer stetigen und maximalen Rechtswendung gestellt
werden. Schubert berechnet, dass bei Fixation des Anfanges der Zeile das linke
Auge eine Rechtswendung von circa 27°, das rechte von 15°, dagegen bei Fixation
des Endes der Zeile das linke eine Rechtswendung von 48° und das rechte von
280 SCHULKINDERAUGEN.
41° auszuführen bat. Die Maxima der Einwärtswendung, also hier des linken
Auges, sind aber 42 — 45°, die Maxima der Auswärtswendung, also hier des
rechten Auges, sind 88 — 43°. Es werden demnach bei nur 10 Cm. nach rechts
von der Sagittalebene liegendem Schreibheft und bei gerader Körperhaltung
maximale und zum Theil sogar unmögliche Arbeitsleistungen von den Rechts-
wendern des Blickpunktes beider Augen gefordert. Diese kann das Kind auf die
Dauer nicht aushalten.
Wollte man durch Kopfdrehung die Ermüdung zu compensiren suchen,
so müsste eine Rechtswenduug des Kopfes um 34° erfolgen ; der maximale Drehungs-
winkel des Gelenkes beträgt aber nur 45°; es wird also auch bald Ermüdung
eintreten, daher wird das Kind eine Rechtswendung des Rumpfes zu Hilfe
nehmen ; damit ist der Beginn des bekannten Zerfalls der Stellung eingeleitet, der
bald mit krankhafter Annäherung des Auges an die Schrift endet.
Auch muss, wie Schubert berechnet, bei dieser Heftlage das rechte Auge
beim Anfang der Zeile der Schrift um 2*3 Cm. , in der Mitte um 3'6 Cm. und
am Ende um 4*2 Cm. näher sein als das linke, was ungleichgradige Accommodation
bedingt, die durch Kopf- und spätere Rumpfdrehungen umgangen werden würde.
3. Bei der schiefen Rechtslage des Heftes laufen die Zeilen schräg
von links unten nach rechts oben. Abgesehen von den Beschwerden, welche schon
bei der geraden Rechtslage der Schrift auseinandergesetzt wurden , kommt hier
noch die Schwierigkeit hinzu, durch Raddrehungen der Augen bei horizontal
gestellter Basallinie den schräg in die Höhe laufenden Zeilen zu folgen ; denn die
senkrechten Meridiane müssen, da beide Augen in verschiedenen Graden nach
rechts oben gekehrt sind, auch in verschiedenem Grade nach rechts geneigt sein.
Da also die Netzhäute nicht mehr symmetrisch liegen, müssen im peripherischen
Gesichtsfelde Zerstreuungskreise entstehen. So wenig als nun Jemand bei gerader
Kopfhaltung längere Zeit in einem Buche lesen kann, dessen Zeilen schräg nach
oben laufen, so wenig kann man bei dieser Stellung der Zeilen längere Zeit
schreiben. Man neigt den Kopfnach der linken Schulter zur Compensation,
bis die Basallinie parallel zur Zeilenrichtung steht. Und diese gefürchtete Stellung
inaugurirt wieder den Zerfall der Körperhaltung.
Endlich 4. die schiefe Medianlage des Heftes verbindet die Uebel-
stände der ersten und dritten Lage. Gross empfiehlt diese schiefe Medianlage
und meint, dass „nur eine leichte Neigung des Kopfes erforderlich ist, um die
naturgemässe Stellung und Bewegung beider Augen zu Stande zu bringen ;" allein
gerade mit dieser Neigung des Kopfes beginnt die gesammte schlechte Haltung. Aus
den genannten Gründen empfiehlt Schubert die gerade Medianlage mit einer
mehr der Rundschrift sich nähernden Schrift, deren Grundstriche senkrecht stehen.
Endlich erklärt sich auch Weber44) gegen die schiefe Schrift, da die
Aufgabe bei ihr das genaue Einhalten gewisser Grenz- und Direc-
tionslinien mit der schreibenden Spitze ist. Das Kind, welches schreiben
lernt, muss den Ausgangspunkt, den Weg und den Endpunkt der Federspitze
übersehen und das Abweichen von der vorgezeichneten Linie überwachen; die
Augenarbeit beim Schreiben ist also nach Weber nicht ein Fixiract, sondern ein
Yisiract. Beim Visiren mit zwei Augen muss aber die die beiden Visirpunkte
verbindende Linie senkrecht auf die Basallinie fallen. Da nun die Striche von
links unten nach rechts oben laufen, so muss die sagittale Durchschnittsebene des
Kopfes in dieselbe Richtung gebracht werden , d. h. beide Augen müssen beim
Aufstrich von der Zeile nach dem Ziele der Federspitze, beim Abstrich von dem
Ziele nach der Zeile visiren, wobei auch der durch den Griffel gedeckte
Theil der Linie beim Blicke von oben besser übersehen werden kann. Daher
neigen die Kinder nach Weber's Beobachtungen bei sorgfältigem Schreiben
den Kopf nicht nach links, sondern die Stirn nach rechts abwärts und schauen
mit einer Blickerhebung von etwa 30° genau wie beim Zielen mit einer Büchse
in der Richtung des Federzuges.
SCHULKINDERAUGEN. 281
Dagegen fand Weher, dass die mit der SOENNECKEN'schen Rundschrift-
feder angestellten Versuche ein vollständiges Ueberwachen der Spitze bei auf-
rechter Kopfstellung gestatten, ferner, dass der abgerundete Schriftductus ein
genaues Zusammenfallen der Buchstabenenden mit den vorgezeichneten Linien ohne
schädliche Annäherung des Auges ermöglicht, und dass endlich die Rundschrift
mindestens so schnell wie die lateinische ausgeführt werden kann.
Die Untersuchungen über diese Frage sind noch nicht gehörig abgeschlossen ;
es bedarf wohl noch weiterer praktischer Prüfungen. Bis die Kalligraphen und
Behörden sich zur Aenderung der schrägen Schrift entschlossen haben, wird meiner
Ansicht nach ebenfalls das KALLMANN'sche Durchsichts-Stativ von grossem
Nutzen sein ; denn ich habe mich überzeugt, dass, in welcher Lage auch das Kind
sein Heft habe , die compensirende Kopfdrehung ohne Einfluss auf die sonstige
Körperhaltung bleibt, sobald der Kopf an dem Stativ seine gehörige dauernde
Stütze findet.
Gross, Javal und Weber glauben, dass gerade die deutschen Buch-
staben den Augen schädlich seien. Javal behauptet sogar, dass, wenn die Zahl
der Myopen im Elsass nach der Annexion zugenommen zu haben scheine
(eine derartige Statistik ist mir völlig unbekannt), die Einführung der deutschen
Schrift eine Ursache sei. Weber findet, dass der fast völlige Mangel an Haar-
strichen und die leicht geschweifte Form der Buchstaben der lateinischen
Schrift den Vorzug giebt, ferner dass das Zusammentreffen der Umbiegungsstellen
mit den vorgezeichneten Linien eine viel geringere Fixirarbeit fordert , da erstere
nicht spitzwinklig wie bei den deutschen Buchstaben, sondern abgerundet sind,
also keine punktförmige, sondern nur eine linienförmige Berührung verlangt.
Weber will sich auch durch Versuche überzeugt haben, dass ein 8jähriges Kind,
welches die lateinische Schrift erst 1/4 Jahr, die deutsche Schrift aber 2 Jahre
bereits betreibt, mit letzterer stets etwas zurückbleibt.
Erwiesen scheint mir der Nachtheil der deutschen Schrift noch nicht;
doch wäre es wohl im allgemeinen Interesse wünschenswerth, dass unsere kleinen
Schulkinder nicht gleich mit 2 Alphabeten gequält, sondern, wie in fast allen
anderen Culturstaaten , nur mit der lateinischen Schrift bekannt gemacht werden.
VIII. Die Schüler-Myopie und der Unterricht im Schreiben,
Zeichnen und den Handarbeiten.
Die meisten Anfänger lernen auf Schiefertafeln schreiben. Horner 8ö)
wies nun jüngst nach, dass bei derselben Beleuchtung und bei derselben Sehschärfe
dieselben Buchstaben mit Tinte geschrieben auf 4 Fuss, mit Schiefe rstift
geschrieben aber nur auf 3 Fuss erkannt werden, selbst wenn der so störende
Reflex der Schiefertafel vermieden und der Contrast zwischen Schrift und Tafel
äusserst günstig ist. Horner ist der Ansicht, „dass mit der Entfernung der Schiefer-
tafel aus den Schulen die jeder neuen Generation stärker drohende Gefahr der M
vermieden wird."
Weber stimmt dieser Ansicht durchaus nicht bei. Die Schwierigkeit,
Anstrengung und Schädlichkeit des Schreibens nach Grenz- und Directionslinien
bleibt sich ganz gleich, ob mit Feder, Bleistift oder Griffel geschrieben wird.
Weber schliesst sich dem Beschluss des Schweizer Schulpflegeamtes vom 3. Mai 1879
an, welcher lautet: „Als Schreibmaterial für Elementarschulen gilt grundsätzlich
Papier und Feder, jedoch steht der Gebrauch der Tafel daneben in dem ersten
Schuljahre dem Lehrer frei in dem Sinne, dass nach dem ersten halben Jahre
Tinte vorherrschend gebraucht wird."
Da der Contrast von Tinte und Papier immer stärker ist, als der von
Griffel und Schiefertafel, schliesse ich mich Horner an. Uebrigens ist kürzlich
von Emanuel Thieben, einem Fabrikanten in Pilsen, der Versuch gemacht
worden, statt der Schiefertafeln weisse Kunststeintafeln zu construiren, auf
welche man mit Bleistift schreiben kann. Dieselben sind gewiss einer genaueren
Prüfung werth. Nach meinen bisherigen Beobachtungen wird dieselbe Schriftgrösse
28^ SC11ULKINDERAUGEN.
bei derselben Beleuchtung und derselben Sehschärfe auf der Schiefertafel bis 5,
auf der Kunststeintafel dagegen bis 6 Meter gelesen.
Bei sehr raschem und langdauerndem Schreiben empfiehlt Weber den
Bleistift wegen der geringeren Ermüdung der Hand. — Dass blasse Tinte
den Augen schädlich, bedarf kaum der Erwähnung; die Tintensorten, welche erst
später dunkel werden, sind ganz aus den Schulen zu verbannen.
In neuester Zeit haben sich auch die Augenärzte um die Methode des
Zeichenunterrichtes zu kümmern begonnen. In Hamburg hatte Dr. Stuhl-
mann8'1) die sogenannte stigmographische Methode des Zeichnens erfunden,
durch welche es ermöglicht werden sollte, Kinder von 6 — 9 Jahren im Zeichnen
zu unterrichten. Sie beruht auf einem Gewirr von Punkten und Netzen , deren
Schädlichkeit, was die kleinen Stickmuster betrifft, eigentlich Jedermann a priori
einleuchten müsste. Der Verein deutscher Zeichenlehrer hat bereits gegen die
Einführung derselben in Preussen protestirt und hat sich an 22 Augenärzte
gewendet, von denen 20 darin einmüthig waren, dass diese Methode den Augen
schädlich, und dass das Zeichnen in so frühem Alter ungesund ist.
Ganz ähnlich wie mit dem Netzzeichnen verhält es sich übrigens mit
den schrägen Linien auf den Linienblättern, welche auch in Sachsen
verboten wurden.
Da erfahrungsgemäss das viele Schreiben die .Af fördert, so schlug
ich87) vor, in den höheren Schulen von Tertia an, wo das viele Schreiben
beginnt, die Stenographie obligatorisch zu lehren. Freilich sind die Buchstaben
kleiner als die Currentschrift, aber nicht kleiner als die griechischen Buchstaben.
Die Erlernung ist ja leicht und die Zeitersparniss ist, wie ich aus 28jähriger
Praxis versichern kann, eine so gewaltige, dass jenes Bedenken nicht in die Wag-
schale fallen darf. Wie viel Stunden häuslicher Arbeit würden die Primaner und
Secundaner ersparen, wenn sie die Entwürfe und Präparationen ihrer Arbeiten
nicht in Currentschrift, sondern stenographisch niederschreiben könnten ! Und gerade
in diesen Classen nimmt ja die M so besorgnisserregend zu.
Nach Weber wird in Deutschland überhaupt zu viel auf Kalligraphie
gesehen, während in Frankreich, England und Amerika auf den kalligraphischen
Unterricht viel weniger Zeit verwendet wird.
Die Wandtafel darf trotz guter Schwärze keinen Glanz haben; daher
wünscht Weber das Einlassen einer mächtigen Schiefertafel in die Kathederwand.
Prof. Köster in Bonn theilte mir gefälligst brieflich mit, dass er schon seit Beginn
seiner Lehrthätigkeit nicht mit weisser Kreide auf schwarzen Holztafeln, sondern
mit weicher Kohle auf matt schmutzigweiss grundirter Maler-
leinwand, die auf Keilrahmen aufgespannt ist, in seinem Auditorium zeichnet.
„Die Kohle lässt sich mit einem trockenen Lappen abwischen. Abgesehen von der
Billigkeit , Bequemlichkeit beim Zeichnen etc. , spiegelt und glänzt die Leinwand
nicht ; von jeder Stelle des Hörsaales sieht man die Zeichnung schwarz auf
weiss gleich gut und viel schärfer als weiss auf schwarzem Grunde." Ich habe
seit langen Jahren in meinem Auditorium eine matte Glastafel, auf welche
ich mit weissen und bunten Kreiden zeichne ; die Tafel blendet nie und die Zeich-
nungen erscheinen sehr deutlich.
Auch der Handarbeitsunterricht der Mädchen bedarf der ärzt-
lichen Aufsicht. Schon Beer88) schrieb im Jahre 1813: „Ich sah kleine, mit dem
sogenannten Perlenstich auf den Tabaksdosen verfertigte Landschaften, die
einem trefflichen Miniaturgemälde kaum nachgeben , und welche einen Verstand
der Nähterin verriethen, der jedem gebildeten Künstler Ehre machen würde; mit
dem innigsten Vergnügen betrachtete ich jene Bilder, bis mir die Augen der
Künstlerin einfielen, die mir die Freude auf die fatalste Weise verbitterten." Das
gilt auch noch heute. Schon in den FRÖBEL'schen Kindergärten werden den
ganz kleinen Kindern Handarbeiten gelehrt , die für das zarte Auge viel zu
anstrengend sind. — Ich89) habe die Handarbeiten in vier Kategorien getheilt,
SCHULKINDERAUGEN. 283
je nachdem dieselben nach der Feinheit der Maschen oder Stiche leicht, mehr oder
weniger schwierig oder gar nicht auf 1 Fuss Entfernung gesehen werden
können. Alle jene groben Handarbeiten, deren Maschen oder Stiche ein gesundes
Auge noch auf Armeslänge genau unterscheiden kann, wie Stricken, Wollhäkeln,
Filiren, grobes Stopfen und das gewöhnliche Kleidernähen sind unschädlich. Die
zweite Sorte von Handarbeiten aber hat es mit Maschen und Stichen zu thun,
die vom gesunden Auge nur mit knapper Noth in 1 Fuss Entfernung noch unter
einem Winkel von 1 Minute gesehen werden können; hierhin gehört das feine
Stopfen, das Gardinen-Appliciren, Buntsticken, die altdeutsche sogenannte Holbein-
Stickerei, die Mignardisen-Häkelei und die beliebte Filet-Guipure. Die dritte Reihe :
feine Weissnähterei, englisches und französisches S t i c k e n, Knopflochnähen,
Plattstich und Namensticken führt wegen noch grösserer Kleinheit der
Objectstheile sehr häufig zu Myopie oder Asthenopie. Absolut schädlich ist
die vierte Serie, der Superlativ der Handarbeiten : Point-lace, Petitpoints,
feine Perlenstickerei und echte Spitzenarbeit. Der Plattstich muss
in Schulen noch besonders deswegen vermieden werden , weil diese Arbeit auf
einen Eahmen gespannt ist, den man nicht, wie die anderen Handarbeiten, an das
Auge heranbringen kann, sondern auf den man sich auflegen muss.
Weber geht noch weiter als ich. „Wer möchte sich unter Anderem heut-
zutage z. B. noch mit dem Stricken eines Strumpfes plagen, der, je nach der
Feinheit des Fadens 35.000 bis 60.000 Maschen verlangt, wenn man solchen in
längstens drei Stunden in untadelhaftester Ausführung durch die Maschine her-
stellen kann?" Wenn Weber jedoch unseren Töchtern statt des Strumpfes lieber
griechische Classiker geben oder sie Kegelschnitte lehren will, so geht er wohl
zu weit. Darin schliesst er sich mir aber vollkommen an, dass er jede Hand-
arbeit verbietet, welche eine grössere Annäherung als 35 Ctm.
an das Auge verlangt. — Natürlich sind besondere Tische für weibliche
Handarbeiten erforderlich: Nähtische, gepolsterte Leisten, und ferner Ober-
licht bei Tage. Bei Lampenlicht darf überhaupt kein Handarbeitsunterricht
ertheilt werden.
IX. Schülermyopie und Bücherdruck und Papier.
Seit Jahrzehnten ist bereits über den immer kleiner werdenden Druck
der Bücher und Zeitungen geklagt worden. Schon Arlt 90) sagte 1865 : „Wieviel
leiden die Augen durch die Tauchnitz'schen Stereotypausgaben der griechischen
und lateinischen Classiker, wie viel durch den Perldruck der Groschenbibliotheken
deutscher Dichter und Schriftsteller, sowie durch den Diamantdruck der Taschen-
wörterbücher, in denen wohl 50 Wörter mit einer ganzen Anzahl gleicher Anfangs-
buchstaben auf einer Seite stehen und den suchenden Blick verwirren , wie viel
durch die niedlichen Landkärtchen , deren Ortsbezeichnungen man durch ein Ver-
grösserungsglas betrachten möchte, um sie zu erkennen. Die Zahl derer, welche
auf diese Art um die Sehweite, Ausdauer und Schärfe ihrer Augen gekommen
sind , ist in der That nicht gering. Ich erinnere mich sehr gut , dass ich nach
vollendeten Studienjahren dieselben Gegenstände auf einem etwa 1 Stunde entfernten
Bergabhange nicht mehr erkannte , welche ich in meinem 1 3. Jahre noch sehr
deutlich wahrgenommen hatte."
Erst Javal in Paris hat in seinem höchst lesenswerthen und geistreichen
Essai sur la physiologie de la lecture (Annales d'oculistique , tome 79 — 82)
1878 — 1879 die Frage des Bücherdruckes wissenschaftlich behandelt; es ist nur
zu bedauern, dass keine Abbildungen beigegeben sind.
Er wählte bei seinen Beobachtungen als Einheit den typographischen
Punkt, welcher in der französischen Nation aldruckerei ungefähr 0*4 Mm. misst.
In Deutschland existirt die Einheit dieses Punktes nicht; annähernd entspricht die
Petitschrift 8 Punkten. Bei dem Einfluss des Druckes auf das Auge spielen sehr
verschiedene Factoren mit.
284
SCHULKINDERAUGEN.
Druckproben.
Antiqua Perl-Sohritt
„ Nonpareille
„ Petit
„ Corpus
„ Cicero
Mittel
Tertia
n
n
n
n
11
—
etwa
0-75
Mm
=
55
1-0
55
=:
55
1-25
55
—
55
1-5
55
—
55
1-75
55
=
55
2-0
55
—
55
2-5
55
Nonpareille Fraktur n = etwa 1 Mm. hoch.
1 Mm. Durchschuss.
2ßie bcfannt, fjat ber ©dnfling'fcfje ©nttourf jutn
9cationaIbcnfmaf auf bem 9cieberh)alb nidit immer ben
9Inl)lic£ bargeboten, ben ie§t Sebermann lennt unb ben
bic SBanberauSfteÜ'ung be3 großen ©npSmobette mögltdjft
lebenbig 51t geftalten erfolgreich bemiifjt ift. 2>ie erfte 3luf=
faffung bot bie ©ermania ftljenb bar, mie fie ficb, eben
Petit Fraktur n =
1'75 Mm. Durchschuss.
2Bie befannt, hat ber ©cbiümg'fcbe Entwurf
gum üftationalbentmal auf bem ÜJlteberroalb nicht
immer ben Slnblia* bargeboten, ben jefct $eber=
mann fennt unb ben bie 3Banberau§ftetIung
be§ großen @t)p§mobell§ mögficbft lebenbig
gu geftalten erfolgreich bemüht ift. S)tc erfte
Corpus Fraktur n =
2 Mm. Durchschuss.
Sie befannt, tjat ber @chtüutg'fct)e
(Snttourf jum sftaitonalbenfmal auf bem
^tieberroatb nidjt immer ben Slnbücf bar=
geboten, ben je^t Sebermann fennt unb
ben bie Sanberaugftetlung be$ großen
(StypSmobeltS möglichst lebenbig ju geftalten
Cicero Fraktur tt ;
2'25 Mm. Durchschuss.
2Öie befannt, l)at ber (Sdjtl*
Xtng^fc^e (£ntttmrf gum National*
bettlmal auf bem fiebern) alb nicr)t
immer beu Public! bargeboten, ben
jefct -Sebermauu leuut uub ben
t>k 2Öanberau3ftetlung be§ großen
1"5 Mm. Durchschuss.
2ßie befannt, bat ber ©djitting'fcbe Gnttuurf jum
Sfcationalbenfmat auf bem Scieberroalb nid)t immer ben
SInblid bargeboten, ben ieijt Sebermann fennt unb ben
bie SJBanberauSfteü'ung beS großen '»nöämobettä m'öglicrjft
lebenbig p geftat'en erfolgreich bemüfjt ift. ©ie erfte 2tuf=
faffung bot bie ©ermania fi^enb bar, wie fie fidt) eben
etwa 1*25 Mm. hoch.
2 Mm. Durchschuss.
SBie befannt, hat ber ©cbilting'fche ©ntrourf
3um 9?ationalbenfmal auf bem -ftieberroalb rttdfjt
immer ben Stnblicf bargeboten, ben je&t $eber>
mann fennt unb ben bie 2Banberau3ftellung
be§ grofjen @t)p§mobelI§ möglichst lebenbig
3u geftalten erfolgreich bemüht ift. Sie erfte
= etwa 1*5 Mm. hoch.
2'5 Mm. Durchschuss. *)
SBte berannt, tjat ber ©cfyttüng'fcfce
Gsntümrf pm üftationatbenfmal aitf bem
Stteberrtmtb nicht immer ben Stnbltd: bar=
geboten, ben jefct Sebermann fennt unb
ben bie 2Banberau3ftellung be§ großen
©t)pcmobell3 möglich,)! lebenbig $u geftalten
= etwa 2 Mm. hoch.
2'7ö Mm. Durchschuss.
2Bie befannt, tjat ber (Sdjtf*
ling'fdje (Sntrtmrf gum 9eational*
benfmal auf bem 9fäebertoalb nidjt
immer ben 2lnb(icf bargeboten, ben
jefct 3ebermann fennt unb ben
bie 2£anberau3fteftung be§ großen
Nonpareille Antiqua n = etwa 1 Mm. hoch.
1 Mm. Durchschuss.
Wie ■bekannt, hat der Schilling'sche Entwurf
zum Nationaldenkmal auf dem Niederwald nicht
immer den Anblick dargeboten, den jetzt Jeder-
mann kennt und den die Wanderausstellung des
grossen Gypsmodells möglichst lebendig zu ge-
staltenerfolgreich bemüht ist. Die erste Auffassung
1'5 Mm. Durchschuss.
Wie bekannt, hat der Schilling'sche Entwarf
zum Nationaldenkmal auf dem Niederwald nicht
immer den Anblick dargeboten, den jetzt Jeder-
mann kennt und den die Wanderausstellung des
grossen Gypsmodells möglichst lebendig zu ge-
staltenerfolgreichbemühtist. Die erste Auffassung
SCnULKINDERAUGEK
285
1'75 Mm. Durchschuss.
Wie bekannt, hat der Schilling'sche Ent-
wurf zum Nationaldenkmal auf dem Nieder-
wald nicht immer den Anblick dargeboten, den
jetzt Jedermann kennt und den die Wander-
ausstellung des grossen Gj'psmodells möglichst
lebendig zu gestalten erfolgreich bemüht ist.
Petit Antiqua n = etwa 1*25 Mm. hoch.
2 Mm. Durchschuss.
Wie bekannt, hat der Schilling'sche Ent-
wurf zum Nationaldenkmal auf dem Nieder-
wald nicht immer den Anblick dargeboten, den
jetzt Jedermann kennt und den die Wander-
ausstellung des grossen Gypsmodells möglichst
lebendig zu gestalten erfolgreich bemüht ist.
Corpus Antiqua n =
2 Mm. Durchschuss.
Wie bekannt, hat der Schilling'-
sche Entwurf zum Nationaldenkmal
auf dem Niederwald nicht immer den
Anblick dargeboten, den jetzt Jeder-
mann kennt und den die Wander-
ausstellung des grossen Grypsmodells
Cicero Antiqua n =
2'5 Mm. Durchschuss.
Wie bekannt, hat der Schil-
ling'sche Entwurf zum National-
denkmal auf dem Niederwald
nicht immer den Anblick dar-
geboten, den jetzt Jedermann
kennt und den die Wanderaus-
etwa 1*5 Mm. hoch.
2'5 Mm. Durchschuss. *)
Wie bekannt, hat der Schilling'-
sche Entwurf zum National denkmal
auf dem Niederwald nicht immer den
Anblick dargeboten, den jetzt Jeder-
mann kennt und den die Wander-
ausstellung des grossen Gypsmodells
etwa 1*75 Mm. hoch.
3 Mm. Durchschuss.
Wie bekannt, hat der Schil-
ling'sche Entwurf zum National-
denkmal auf dem Niederwald
nicht immer den Anblick dar-
geboten, den jetzt Jedermann
kennt und den die Wanderaus-
Nonpareille Schwahacher n = etwa 1 Mm. hoch.
1 Mm, Durchschuss.
IDie berannt , r/at ber Schilling 'fctje (Entrrmrf 3um
Hationalbenfmal auf bem riicberroalb nicht immer ten
Jlnblicf bargeboten, benn jetjt jiebermann rennt unb ien
bie IDanberausffellung bes grofjen ©Ypsmobcüs möglicbfi
lebenbig 311 geftaltcn erfolgreich bemüht ift. Die erfte 2Iuf=
faffung bot bie ©ermania fitjenb bar, roie fie ficb eben
1"5 Mm. Durchschuss.
Wie befannt, bat bev Scbitting'fcbe (Entwurf 5um
Ztationalbenfmal auf bem rUeberroalb nidjt immer ien
2Inbiirf bargeboten, benn jetjt 3ebermann fennt unb ben
bie IDanberausftellung bes großen ©Ypsmobells möglid)ft
lebenbig 3U geftalten erfolgreich, bemub,t ift. Die erfte Jtuf--
faffung bot bie ©ermania figenb bar , roie fie fidj eben
Petit Schwahacher n = etwa 1#25 Mm. hoch.
2 Mm. Durchschuss.
TVie befannt, tjat ber Scbtlling'fcbe (Sntnmrf
3Utn Hationalbenfmal auf bem ZTtebertualb
ntcbt immer ben 2Xnbli<f bargeboten, ben jetjt
3ebermann fennt unb ben bie IDanberaus*
fieilung bes großen (Sypsmobells mögltcbft
lebenbig 3U geftalten erfolgreich bemüht ift.
= etwa 1*5 Mm. hoch.
2'5 Mm. Durchschuss. **)
IDie befannt, fyat ber Scfytlttng/fcfye
(Entumrf 5um Hattonalbenfmal auf
bem Hiebertr»alb nicfyt immer ben 2tn=
blicf bargeboten, ben je^t ^zbzvmcmn
fennt unb ben bie XDanberausfteliung
bes großen (Sypsmobells mögltdjft
*) Diese Probe zeigt die kleinste Schrift und den kleinsten Durchschuss,
der in Schulbüchern gestattet werden dürfte.
**) Empfehlenswerth für Schulbücher.
V50 Mm. Durchschuss.
Wie befannt, fyat ber Sdjtlfmg'fcbe €ntnmrf
5um Hationalbenfmal auf bem tttebermalb
nidjt immer ben 2lnblicf bargeboten, ben jetjt
3ebermann fennt unb ben bie 2X>anberaus=_
ftellung bes großen (Sypsmobells mögltcbft
lebenbig 3U geftalten erfolgreich bemütjt ift.
Corpus Schwahacher n
2 Mm. Durchschuss.
XDte befannt, fyat ber Scfyiliing'fdje
(£ntrourf jum Hationalbenfmal auf
bem Icieberroalb nicfyt immer bm 2(n=
blief bargeboten, bm jet>t 3^oe5:mann
fennt unb ben bie IDanberausftellung
bes grofen (Sypsmobells mögltcfyft
286 SCHULKINDERÄUGEN.
Cicero Schwnbacher Tt = etwa 2 Min. liocli.
8'5 Mm. Durchschuss. 3 Mm. Durchschuss.
VOvz bdannt, l?at ^r Scfytl= IPic befannt, fyat 5er Sd7il=
liikVjVbc (gntourf 311m national* Img'fcfye (Entwurf 311m Hattonal=
benfmal auf bem nieöera>ai& nid}t benfmal auf bcm iltebermalb nic^t
immer ben 21nblicf bargeboten, imnwr oen ^nbltcf bargeboten,
ben i$t Sebermann fennt unb bcn jeftt 3ebermann fennt mb
ben bie manberausftellung bes ben ^ £>anberausftelIllng bes
1. Die Grösse der Buchstaben. Da bei der Betrachtung einer
Schrift nicht die Typenkegel vorliegen, deren Grösse man allerdings in Punkten
ausmessen kann, sondern gedruckte Buchstaben, so schlug ich 87) vor, was ja ganz
leicht auszuführen ist, einen kurzen Buchstaben , z. B. das „n" zu messen. Ich
fand, dass (siehe beifolgende Tabelle der Druckproben) ein Antiqua „n", dessen
Grundstrich = 1 Mm. hoch ist: Nonpareille, = 1*25 Mm. : Petit, = 1"5 Mm. :
Corpus (der Name rührt her von einer Ausgabe des Corpus juris, welche so
gedruckt wurde) — 1'75 Mm.: Cicero entspricht. Diese Grösse der Corpusschrift
hat ungefähr das n in dieser Encyclopädie. Eine solche Schrift kann man zweifellos
auf 1 Meter sehen ; ja noch viel kleinere Schrift kann auf Armeslänge gesehen
werden ; aber bei der Leetüre handelt es sich ja nicht darum , dass die
Buchstaben sichtbar, sondern dass sie leicht lesbar sind , das heisst, dass sie
ohne Anstrengung fliessend, auf die Dauer und bequem in einer Ent-
fernung von 1/2 M. gelesen werden können. Und in dieser Beziehung bildet meiner
Ansicht nach die Höhe von 1*5 Mm. die Grenze des Zulässigen. Eine Schrift,
die kleiner ist als 1*5 Mm., ist den Augen schädlich.
Auch Weber ist dieser Ansicht. Da der Gesichtswinkel von 5 Minuten
für die Erkennung eines Buchstaben genügt, so muss auf 35 Ctm. Entfernung,
wobei der Convergenzwinkel sehr massig (11° 21') ist, ein Buchstabe von 0'7 Mm.
Grösse vom gesunden Auge sicher gelesen werden. Allein auch Weber fand, dass
dabei der Leseact selbst bei den besten Augen sehr mühsam und anstrengend ist.
Zwischen deutlichem Erkennen und fliessendem Lesen ist ein eminenter Unter-
schied ; Weber schlug daher den Weg des Versuches ein , um die complicirte
Frage zu lösen. Er ging von der Ansicht aus, dass, je günstiger die Verhältnisse
hinsichtlich der Grösse der Buchstaben, der Breite der sie zusammensetzenden
Striche , der Approche , des Durchschusses , der Länge der Zeile , der Fasslichkeit
des Inhalts etc. für den Leseact sind, eine um so grössere Geschwindig-
keit dieses Leseactes und ein um so geringerer Kraftaufwand
des Auges nachweisbar sein müsste, und er bestimmte die A n z a h 1 d e r B u c h-
staben, die unter den verschiedensten Verhältnissen in einer Minute*) von ver-
schiedenen Personen gelesen wurden. Hieraus folgerte er, dass eine Grösse
der Buchstaben über 2 Mm. keinen Zuwachs an Schnelligkeit mehr bedingt, ja
sogar verzögernd wirke. Er entscheidet sich also auch für das Minimum von
1"5 Mm. Buchstabengröss e.
Leider begnügen sich nur wenige medicinische Journale mit diesem
niedrigsten Maasse von 1*5 Mm.; in fast allen finden wir die augenverderbende
Petitschrift von 1-25 Mm. Höhe, und zwar nicht blos für kurze Noten,
sondern in vielen seitenlangen Krankengeschichten, Expei'imentbeschreibungen,
*) Bei diesen interessanten Versuchen Weber'-s fand sich, dass im Mittel in 1 Minate
gelesen weiden laut 1464, leise 1900 Buchstaben; also in 1 Secunde laut 24, leise 31 Buch-
staben. Es wird also zum Wahrnehmeneines Buchstaben erfordert 0,0316 Secunden , zum
Aussprechen 0"0409 Secunden. Die Differenz = 0-0093 Secunden würde also die Zeit
ausdrücken, welche zur Leitung der Vorstellung des Lautsymbols bis zur Auslösung des Sprach-
mechanismus erforderlich ist.
SCHULKINDERAUGEN. 287
Kritiken, Referaten, Sitzungsberichten etc. (In dieser Encyclopädie ist glücklicher-
weise nur sehr selten eine Schrift, die wenig über 1 Mm. beträgt, angewandt,
z. B. in der Literatur.) Die augenärztlichen Zeitschriften, die gerade mit gutem
Beispiele vorangehen sollten , sind auch nicht frei von derselben ; ja das grosse,
vielgelesene Handbuch der Augenheilkunde von Graefe und Saemisch hat ganze
Abschnitte mit Buchstaben von wenig mehr als 1 Mm., also fast Nonpareilleschrift.
Und gerade unter den Studenten, Aerzten und Naturforschern ist die Zahl der
M so gross. (Vgl. meine Messungen von 42 medicinischen , 30 naturwissen-
schaftlichen Zeitschriften und 29 der gebräuchlichsten Schulbücher in der 5. Tabelle
zu meiner Rede auf der Danziger Naturforscher- Versammlung 1880 und ferner
meinen Aufsatz über die Augen der Medicinstudirenden 1881, in welchen besonders
die medicinischen Lehrbücher, betreffs der Typographie, besprochen sind.)
Was nicht wichtig ist, drucke man gar nicht ; was aber wichtig, drucke
man mit ordentlicher Typengrösse ! Es ist interessant, zu verfolgen, wie Journale,
welche fast hundert Jahre bestehen, ihre Buchstabengrösse verändert haben. So
hatten die Annales de Chimie von Lavoisier im Jahre 1789 und ebenso Gilbert's
Annalen der Physik im Jahre 1799 noch Buchstaben von 1*75 Mm., später
nur von 1*5 Mm. Kein Autor sollte ein Buch drucken lassen, dessen
Buchstaben kleiner als 1*5 Mm.; die Aerzte sollten wenigstens
keine derartigen Bücher kaufen!
In Zumpt's lateinischer Grammatik , in KrüGEr's griechischer Grammatik,
in Plötz' Manuel de la literature frangaise und Vocabulaire ist n = 1*25 ungemein
häufig. In Ahn's französischem Lesebuche, in Schuster's und Regniers's, in
Thieme's, in George's Wörterbuch fand ich Typen von 1 Mm., im Schulatlas
von Lichtenstein und Lange, sowie in dem von Sydow sogar Typen von 0*5 Mm. !
Für Wandkarten räth Weber, dass die Grösse des Sehobjectes, die
kleinsten Slädtezeichen, Zahlen, Buchstaben, Noten etc. für eine Zimmerlänge von
5 Meter 1 □-Cm. , von 10 Meter 2 Q-Cm. u. s. f. in gleicher Steigerung
betragen muss.
Javal hat mit vollem Rechte den Wunsch ausgesprochen, dass in den
Schulbüchern der ABC-Schützen die Buchstaben nicht so sehr
schnell an Grösse abnehmen sollten, ehe die Kinder sich die Bilder der Buch-
staben so genau eingeprägt haben, dass sie sie leicht lesen können. Leider ist
dies in den von den Behörden am meisten empfohlenen Fibeln durchaus nicht der
Fall. Javal wünscht, dass durch Versuche festgestellt werde, wie gross der
Druck in den verschiedenen Classen sein muss, damit kein einziges
Kind trotz schlechter Beleuchtung sich der Schrift zu nähern braucht.
Man hat auch endlich in Deutschland angefangen, Lesefibeln für
Anfänger genügend gross zu drucken. Im Jahre 1881 ist ein „erstes
Lesebuch für schwachsichtige Kinder, deren Augen geschont werden
müssen," von Warmholz und Kurths in Magdeburg erschienen, dessen kleine
Buchstaben 4 — 5 Mm. Höhe haben. Da gerade das erste Lesenlernen die meiste
Schwierigkeit bereitet und die Kinder sich da erfahrungsgemäss am meisten auf-
legen, um die Figuren der Buchstaben sich einzuprägen, so sind solche Lehrbücher
nicht nur für schwachsichtige, sondern für alle Kinder meiner Ansicht nach ein-
zuführen. Nur sind die Buchstaben kaum 1 Mm. dick; sie müssen noch dicker
gemacht werden.
2. Die Dicke der Buchstaben. Sie ist nur mit Lupe und Nonius
zu messen ; meist betrifft sie kaum 2/4 Mm. Schmale Typen sind wegen der Papier-
ersparniss den Verlegern sehr angenehm. Natürlich fällt das Bild eines dicken
Buchstaben viel breiter auf der Netzhaut aus, als das eines schmalen ; er ist also
leichter lesbar. Der moderne Geschmack in den deutschen Büchern geht glück-
licherweise wieder auf die alten Schwabacher Typen zurück , die viel dicker als
die jetzt gebräuchlichen waren. Eine Schrift, deren Grundstrich
schmaler als 0'25 Mm., ist in den Schulbüchern nicht zu dulden.
288 SCHULKINDERAUGEN.
3. Für die lateinischen oder Antiquabuchstaben sind auch die Quer-
striche an den Enden von Wichtigkeit. Javal hat darauf aufmerksam gemacht,
dass die rechteckigen lateinischen Buchstaben durch die Irradiation des weissen
Grundes in ihren scheinbaren Dimensionen verringert, dass also ihre Winkel
abgerundet und sie selbst daher kleiner erscheinen, also statt: | mehr: |. Man
muss deswegen ihre Ecken verstärken, damit sie rechteckig erscheinen, z.B. J .
Auch die alten Druckwerke zeigen diese Endverdickungen. Bei der deutschen
Frakturschrift scheint mir diese Rücksicht nicht nöthig , da unsere Buchstaben am
unteren und oberen Ende umgebrochen sind oder kolbig anschwellen, z. B. iT,*
4. Ueber die Form der Buchstaben wurde bereits die Akademie
der Wissenschaften zu Paris von Ludwig XIV. um Rath gefragt. Ihr Elaborat
erschien 1704 als Manuscript, ruht aber bisher, noch nicht herausgegeben, in der
Pariser Bibliothek. Javal, der sich mit der Form der Buchstaben sehr eingehend
beschäftigt, zeigte, dass man sehr leicht eine lateinisch gedruckte Zeile lesen
könne , wenn man die untere Hälfte derselben mit einem Blatt Papier verdeckt,
dass dies aber äusserst schwer, oft unmöglich sei, wenn man die obere Hälfte
zudeckt. Er wies nach , dass der Leser den Blick etwas über die Mitte der
Buchstaben gleiten lässt, weil nur 5 Buchstaben: |2, j, p, q und y unter die
Linie hervorragen , und dass diese nach den Durchschnittsrechnungen der Setzer
unter 100 überhaupt über die Linie hervorragenden Buchstaben nur I5mal vor-
kommen. (In der deutschen Frakturschrift fand ich das Verhältniss noch günstiger.
Hier ragen wegen der vielen grossen Buchstaben unter 100 Lettern nur 5m al
solche nach unten vor.) Auf seine Beobachtung stützt nun Javal zu Gunsten der
Papierersparniss der Verleger den Satz: „Man könnte die unteren, langen
Buchstaben total unterdrücken, ohne die Lesbarkeit zu schädigen." Er glaubt,
dass man den unteren Theil von p und q ganz weglassen, bei j und y die
Schwänze verkürzen und dem g eine alterthümliche, kürzere Form geben könne.
Ich theile diesen Standpunkt nicht; gerade die Unterbrechung der Monotonie der
kurzen Buchstaben durch oben und unten überragende Lettern scheint mir für das
Auge sehr wohlthätig und die Ermüdung verhindernd; es ist keineswegs wünschens-
werth, dass die Zeilen so eng aufeinander rücken, am wenigsten in den Schulbüchern.
Sehr beherzigenswerth sind dagegen Javal's Vorschläge, die Verwechs-
lungen von H und "LT., von 6 und C durch typographische Verbesserungen zu
verringern ; leider fehlen Abbildungen , aber vermuthlich wünscht Javal ein
solches \^y oder V-x, ein solches yJC, \j JiLL und X
p. q, r, s.
In der deutschen Fraktur giebt „n" und „u", ferner „ca und „e" zu
Verwechslungen Anlass. Man könnte unser „n" etwas breiter machen als das „u" :
4- V und Xv
, am oberen Ende des „c" könnte man ein Häckchen wie
beim £ anbringen : ^^ und \£, Dadurch würde das Lesen noch mehr er-
leichtert werden.
SCHULKINDERAUGEN. 289
5. Die App röche, d. h. der Zwischenraum zwischen den einzelnen
Buchstaben und besonders zwischen den Worten. Jeder Buchstabe hebt sich mehr
durch seine Isolirung ab, wenn, wie schon Laboulaye vorschlug, das Weisse
zwischen zwei Buchstaben breiter ist, als der Zwischenraum zwischen seinen beiden
Grundstrichen. Daher markirt man ja das besonders Wichtige durch gesperrten
Druck. Javal erklärt ganz richtig, dass dadurch die Lesbarkeit erhöht wird ; um
so räthselhafter, dass dieser Forscher so wenig Werth auf das Durchschiessen,
die Interlignage, legt. Weber fand am geeignetsten 60 Buchstaben auf eine
Zeile von 100 Mm.
6. Bekanntlich werden zwischen die Zeilen kleine Lineale geschoben,
damit die unteren langen und die oberen langen Buchstaben sich nicht berühren.
Man nennt dies das Durchschiessen. Die breiten Zwischenräume zwischen
den Zeilen sind wegen der vermehrten Helligkeit und der dadurch hervorgerufenen
stärkeren Pupillenreaction nach Javal vortheilhaft ; doch hält er die Zwischen-
linien für eine Annehmlichkeit, für einen Luxus, aber für keine Noth wendigkeit ;
er meint, dass die Lesbarkeit durch ihre Fortlassung nicht gestört werde. Ich
fand, dass man durch den compressen Druck, selbst wenn die Schrift etwas
grösser ist, vielmehr ermüdet, weil eben zu wenig weiss unter den Buchstaben
bleibt. Alles schwimmt durcheinander, wie dies beim Vergleich zwischen dem com-
pressen und durchschossenen Text bei obigen Druckproben Jedem wohl auffallen wird.
Der Durchschuss muss meines Erachtens recht breit sein. Ich habe unsere Schul-
bücher und Journale in dieser Beziehung geprüft, indem ich die Entfernung vom
oberen Ende eines „n" bis zum unteren Ende eines kurzen, darüberstehenden
Buchstabens maass; natürlich erscheinen ja die Zeilen noch viel näher, als es
hiernach den Anschein haben könnte • denn die nach oben und unten überragenden
Lettern verschmälern ja noch den weissen Kaum zwischen den Linien wesentlich
mehr, als die kurzen Lettern.
Weber will kein absolutes Maass für die Breite des Durchschusses fest-
setzen , sondern nur das Verhältniss der Buchstabengrösse zur Breite des Durch-
schusses, und zwar soll dies 1*5:2 für Fraktur und 1*75:2 für Antiqua sein.
Das scheint mir zu wenig. Gut durchschossen ist ein Buch , bei dem die
genannte Entfernung 3 Mm. beträgt. Die Grenze des zu Gestattenden scheint mir
2*5 Mm. zu sein. In dieser Encyclopädie beträgt der Durchschuss knapp 2*5 Mm.
Früher gab man opulenteren Durchschuss. Die Annales de Chimie von Arago
hatten im Anfange dieses Jahrhunderts 3*5 Mm., 1843 aber nur 3*25 Mm.
Gilbert's Annalen der Physik zeigten 1799 noch 4 Mm., 1832 im hundertsten
Bande nur noch 3 Mm. Dagegen finden sich im Centralblatt für Augenheilkunde
2 Mm., in der Deutschen und Berliner klinischen Wochenschrift, in Schmidt's
und Virchow's Jahresbericht 1*75 Mm., im chemischen Centralblatt stellenweise
gar nur 1*25 Mm., in der „Literatur" dieser Encyclopädie knapp 2 Mm. In den
Fibeln fand ich 2 Mm., in Zumpt's, Kruger's, Ahn's Grammatik, in den
Teubner'schen Ausgaben der alten Classiker 2 Mm., in den Wörterbüchern
1*25, selbst 1 Mm. Durchschuss!
Endlich handelt es sich 7. um die Zeilen länge. Je kürzer die Zeile,
desto leichter ist sie lesbar, weil die Augen weniger bewegt zu werden brauchen.
Javal glaubt, dass die progressive Myopie in Deutschland in Folge der langen
Linien so häufig sei. Er meint, dass bei langen Zeilen die Myopen öfters und
stärker in der Mitte der Zeilen accommodiren müssen, da ihr Auge für die Enden
der Zeilen eingestellt ist. Das ist möglich, aber noch nicht erwiesen. Glücklicher-
weise kommt in Deutschland das Quartformat der Bücher immer mehr ab;
allerdings Formate wie dieses Werk haben doch 121 Mm. Zeilenlänge. Viele Zeit-
schriften beschränken sich zum Glücke auf 80 — 90 Mm., allein das Graefe-
SÄMisCH'sche Handbuch der Augenheilkunde hat 120 Mm., selbst die Vierteljahr-
schrift für öffentliche Gesundheitspflege hat 110 Mm. Zeilenlänge. Fast alle Schul-
bücher, ausser Ahn's Lesebuch, Ellendt's Grammatik und Patjlsieck's deutschem
Real-Encyclojjädie der ges. Heilkunde. XII. 1"
290 SCHULKINDERAUGEN.
Lesebuclie Laben weniger als 100 Mm. Zeilenlänge. 100 Mm. scheint mir die
höchste zulässige Grenze, 90 die wünschenswertbe Zeilenlänge. Weber freilich
folgert aus seinen Versuchen, dass gerade lange Zeilen bis zu 150 Mm. Länge,
aber nicht darüber hinaus, das schnelle Lesen erleichtern. Er wünscht daher die
Schulbücher womöglich in einer Breite von 140 — 150 Mm. gedruckt, wobei freilich
der ganze weisse Rand, den er für überflüssig hält, wegfallen müsste, wenn das
Format nicht zu gross werden sollte. Das scheint mir nicht richtig. Der Contrast
des dunklen Druckes gegen einen breiten weissen Rand wirkt gerade fördernd
auf die Leichtigkeit des Lesens. Weber verlangt als Minimum 100, als Maximum
150 für die Normalzeile.
Die Schulbehörden müssten meines Er achtens mit dem
Millimetermaasse in der Hand in Zukunft alle Schulbücher auf
den Index librorwm prohihitorum setzen, welche die folgenden
Maasse nicht innehalten: die Höhe des kleinsten n darf nur
1*5 Mm., der kleinste Durchschuss nur 2*5 Mm., die geringste
Dicke des n nur 0'25 Mm., die grösste Zeilenlänge nur 100 Mm.
und die grösste Zahl der Buchstaben auf einer Zeile nur
60 betragen.
BlasiüS91) fügt hinzu: Das n darf nicht schmäler als 1 Mm. sein, die
Antiquaschrift muss möglichst ausgedehnte Anwendung finden ; die Färbung der
Buchstaben muss rein gleichmässig schwarz sein. Blasius , welcher 300 braun-
schweigische und 9 bayerische Schulbücher auf alle genannten Verhältnisse ein-
gehend geprüft, hat nur 45 = 15°/0 der braunschweigischen Bücher den
hygienischen Forderungen entsprechend, 64°/0 ungenügend und 21°/0 als direct
schlecht gefunden, während die bayerischen Schulbücher bedeutend besser waren.
Selbstverständlich muss der Druck tief schwarz und das Papier nicht
durchscheinend und nach Javal's Rath etwas gelblich sein. Javal fürchtet
nämlich wegen starken Contrastes zwischen schwarz und weiss Ermüdung. Da das
Auge nicht achromatisch ist, würde einfarbige Beleuchtung am sichersten farbige
Zerstreuungskreise verhüten ; da aber dann die Lichtstärke ungenügend sein würde,
soll man nach Javal wenigstens die Farbe des violetten Endes des Spectrums
abschneiden; der dann bleibenden Farbe entspricht am besten ungebleichtes
Holzpapier. Weber hingegen wünscht nicht gelbes, sondern ein leicht graues
Papier. Weitere Untersuchungen müssen noch über diese Frage vorgenommen werden.
Blasiüs hält die Güte des Papiers für sehr wichtig. Es soll von
möglichst gleicher Dicke sein, da beim Drucken ein dicker Bogen ver-
hältnissmässig viel stärker gefärbt wird als ein dünner. Dann sind die Bestand-
teile des Papiers sehr zu berücksichtigen.
Früher wurden die Papiere fast nur aus Leinen- und Baumwollenlumpen
hergestellt; dagegen waren Zusätze von Holzstoff, Stroh, Thonerde sehr selten.
Jetzt ist es gerade umgekehrt ; der Hauptbestandteil der Papiere, speciell in den
Schulbüchern, ist Holzstoff. Prof. Lüdicke91) in Braunschweig hat gefunden,
dass das Durchscheinen des Druckes in den Schulbüchern hauptsächlich auf
einem hohen Procentsatze an geschliffenem Holze im Papier
beruht. Dasselbe lässt sich leicht in grosser Menge durch das Mikroskop nach-
weisen. Ferner zeigt die geringere oder stärkere bräunlich gelbe Färbung, welche
ein Tropfen schwefelsaures Anilin hervorbringt, den geringeren oder
grösseren Gehalt an Holzfaser an.
Die Dicke oder Dünne des Papiers ist nach Lüdicke kein Grund für
das Durchschlagen der Schrift. Schlecht gedruckte Bücher, z. B. Plötz' Schul-
grammatik, zeigen Papier von 0-050 Mm. Dicke. Hopf und Patjlsieck's Deutsches
Lesebuch 0-060 Mm., Andree's Erzählungen aus der Weltgeschichte 0*080 Mm.
Gut gedruckte Bücher aus Vieweg's Verlag zeigen 0-075 Mm. lieber die
Behandlung des Papiers vor, bei und nach dem Drucke ist zu berücksichtigen:
das Papier wird, um die Farbe besser anzunehmen, vor dem Drucke gleichmässig
SCHULKINDERAUGEN. SOI
durchfeuchtet; dann wird es, um es möglichst glatt zu machen, zwischen
Zinkplatten durch Stahlcylinder stark gepresst, satinirt. Beim Drucken prägen
sich die Buchstaben in das Papier ein, so dass dasselbe auf der anderen Seite
Erhabenheiten zeigt ; dann heisst der Druck s c h a 1 1 i r t. Diese Schattirungen
werden dadurch beseitigt, dass man die gedruckten Bogen, nachdem sie gründlich
getrocknet sind, einzeln zwischen Glättpappen legt und einer längeren, sehr starken
Pressung aussetzt. Geschieht dies nicht, so ist der Druck auf der Rückseite des
Blattes sehr undeutlich und verwaschen. Werden die bedruckten Bogen nicht
getrocknet, so klatscht die Farbe von dem einen Blatte auf das nächst darüber-
liegende leicht ab, wodurch die Deutlichkeit des Druckes sehr gestört wird.
BlasiüS wünscht demnach für Schulbücher: gleichmässig dickes,
höchstens 0075 Mm. dünnes Papier mit möglichst wenig bei-
gemengtem Holzstoff, satinirt, ohne Schattirung, sorgsam
getrocknet und leicht gelb gefärbt.
X. Schüler-Myopie und Brillen.
Brillen sind unter Umständen heilsam, unter Umständen schädlich. Ich c)
fand unter 10.060 Schulkindern in Breslau 1004 M, von denen 107 = 10°/0 M
Concavbrillen trugen; in den Dorfschulen und Mittelschulen sah ich keinen Brillen-
träger. Nur zwei Mädchen trugen Augengläser. Nach dem 17. Lebensjahre hatte
über die Hälfte der M bereits Brillen. 14 trugen Lorgnons und 93 Brillen. Von
den Schülern mit M 1 — 1*5 waren 2°/0, von M 1*5 — 2*25 waren 8%, von M
2-25— 3-0: 20%, von M 3-0—4-5:46% und 7lf>4-5:66% Brillenträger.
Neutralisirende Concavgläser fand ich 26, schwächere (corrigirende) 41, stärkere
(übercorrigirende) 40. Nur 8 Brillen waren von Aerzten verordnet, die übrigen
99 nach Gutdünken von den Kindern gekauft. Zwei hatten sich sogar schärfere
Brillen, als ihnen verordnet, angeschafft. 63 Schüler benützten die Brillen nur in
den mathematischen und geographischen Stunden , 47 legten sie den ganzen Tag
nicht ab.
Bekanntlich gehen die Ansichten der Augenärzte bei der Brillenverordnung
für Myopen noch immer auseinander ; Einzelne perhorresciren jede Brille, so lange
das Auge noch im Wachsthum sich befindet , Andere verordnen bei mittleren
Graden (und das scheint mir das Richtige) eine Brille, die schwächer als zur
Neutralisation nöthig ist, unter der Bedingung, dass damit nicht geschrieben,
sondern nur in die Ferne, an die Tafel gesehen werde. Ob bei höheren Graden
von M eine Brille auch- zur Arbeit gegeben werden kann oder muss, lässt sich
allgemein schwer entscheiden, hängt vielmehr im speciellen Falle vom schnellen
Körperwachsthum , Neigung zu Lungenleiden , Muskelverhältnissen des Auges etc.
ab. Jedenfalls ist es meist besser, den Schülern nicht Brillen, sondern Lorgnons
zu verordnen, die in den mathematischen Stunden bei dem beständigen Wechsel
zwischen dem Blick an die Tafel und in das Heft viel leichter herabgenommen
werden können oder herabfallen, als Brillen , deren Entfernung (wie ich von mir
selbst aus meiner Schulzeit weiss) aus Bequemlichkeit anfangs unterlassen wird,
wodurch natürlich die M, da nun auch mit der Fernbrille geschrieben wird,
zweifellos zunimmt.
Eine Anzahl M ging also aus Mangel an einer Brille durch fortgesetzte
schlechte Körperhaltung der Zunahme ihres Leidens entgegen ; Andere hatten sich
mit geradezu gefährlichen Brillen bewaffnet; Andere hatten sich nur aus Eitelkeit
Lorgnons gekauft, noch Andere nahmen sich schärfere Gläser als sie brauchten,
weil ihre Mitschüler, die höhere Grade von M besassen, sie wegen der schwachen
Gläser verhöhnten.
Erismann10) fand unter 1245 M 122 Brillenträger = 9%, unter den
letztern: 100% Chorioidealatrophie gegen 95° ;0 unter den M überhaupt , Insuf-
fizienz und Strabismus 55°/0 gegen 32% unter den M überhaupt und $<1 bei
42°/0 gegen 22°/0 unter den M überhaupt. Auch er fand 12% neutralisirende,
69% schwächere und 19% übercorrigirende Gläser. Hieraus zog Erismann den
19*
292 SCIIULKINDERAUGEN.
Scbluss , „dass die Anwendung der Concavgläser an und für sich von definitiv
schädlicher Wirkung auf diejenigen Augen ist, die sich noch im Umwandlungs-
processe ihrer Refractionsverhältnisse befinden". Das ist ein arger Fehlschluss45),
ganz abgesehen davon, dass stärkere Concavgläser stets aus optischen Gründen
allein die S herabsetzen. Wer bürgt denn dafür, dass die Kinder nicht schon
Chorioidealatrophie , schlechte S oder Insutficienz hatten, als sie sich die Brille
anschafften? Studirt man genau die Tabellen von Erismann, so findet man, dass
nur der dritte Theil der Myopen , welche schlechte 8 hatten , sich der Brillen
bedienten. Erismann hat auch nicht gefragt, seit wie lange, ob die Brillen per-
manent oder nur periodisch , ob nur zur Fernsicht oder auch zur Arbeit bei
bestimmten Graden von M gebraucht worden sind.
Es gehört eben zu den allerschwierigsten Fragen der Statistik, zu ent-
scheiden, ob Concavbrillen den Myopen schädlich sind. Man könnte
der Lösung näher kommen auf folgende Weise: Eine bestimmte Anzahl von il/,
deren J/-Grad und deren S} deren Muskel- und Aderhaut- Verhältnisse genau unter-
sucht worden, werden bei gleicher Beleuchtung, bei guten Subsellien, bei gleicher
täglicher Arbeitsdauer, bei gleicher täglicher Beschäftigungsweise beobachtet; die
eine Hälfte derselben erhält eine Correctionsbrille, die andere nicht ; nach Monaten
und Jahren werden sie wieder untersucht. So dürften die Resultate werthvoll sein,
obgleich auch hier noch hereditäre Momente und individuelle Verschiedenheiten
ihren Einfluss geltend machen können.
Das absolut nothwendige Vornüber beugen der Myopen stärkeren
Grades , die ohne Brille arbeiten , scheint mir durch die erhöhte Blutzufuhr und
die geringere Blutabfuhr vom Auge für die Zunahme der M viel schädlicher, als
eine richtige Correctionsbrille, ganz abgesehen von den Nachtheilen der gebeugten
Stellung für die Brustorgane.
Besser als in Breslau und Petersburg lagen die Verhältnisse in Königs-
berg. Dort fand nämlich Conrad 20) keine einzige zu scharfe Brille bei
den Myopen, da die benutzten Gläser sämmtlich von Augenärzten verordnet
worden waren. Jedenfalls sollten die Behörden anordnen, dass
keinSchüler ohne ärztliche Anweisung eineBrille tragen dürfe.
Da zweifellos eine Anzahl der als M bezeichneten Fälle zunächst noch
Accommodationskrampf bei E oder bei schwächerer M war , so wurde
der Vorschlag gemacht, zeitweise solche Schüler einer Atropincur zu unter-
werfen. In der That haben Dobrowolsky, Mooren, Schiess, Derby, Schröder
und Andere bei einer grossen Anzahl von Fällen durch mehrwöchentliches Atropini-
siren vortreffliche Erfolge, allerdings nur vorübergehend, gesehen. (Siehe Artikel :
„Accommodationskrampf".) Eine solche Cur ist durchaus nicht gefährlich. Sie
belästigt allerdings den Schüler durch Blendung und mitunter führt sie auch
wohl einmal zu kleinen Granulationen im Conjunctivalsacke (sogenannter Atropin-
Conjunctivitis oder Atropin-Trachom), die aber sehr schnell zu beseitigen sind.
Bürchardt 92) kam um die Erlaubniss ein, in einer Berliner Schule das
Experiment im Grossen ausführen zu dürfen; es wurde ihm aber von der wissen-
schaftlichen Prüfungs-Deputation leider nicht gestattet. Ich habe selbst sehr viele
Fälle von M bei längerer Atropinanwendung im Grade zurückgehen sehen; seit
einigen Jahren aber habe ich Gegenversuche gemacht und mich überzeugt, dass
totale Ruhe des Auges, d. h. absolutes Unterlassen alles Lesens und
Schreibens während drei Wochen, ganz denselben Effect ohne die Un-
annehmlichkeiten der Atropincur zur Folge hat.
Progressive Myopen sollten wenigstens einige Wochen im Jahre in den
grossen Ferien auch nicht ein Buch ansehen!
Neuerdings verordnet Javal Schulkindern mit beginnender Myopie Con-
v e x b rillen, um sie ohne Anstrengung der Accommodation, welche
nach seiner Ansicht die M am meisten befördert , lesen zu lassen und rühmt
seine Erfolge. Er kämpft gegen den „alten Schlendrian". Richtig ist, was
SCHULKINDERAUGEN. 293
schon Donders 46) hervorgehoben, dass die Uhrmacher wenig M haben, weil
sie die Lupe statt der Accomniodation brauchen. Ich93) fand selbst unter 71
Breslauer Uhrmachern im Alter von 19 — 71 Jahren nur 7 Myopen =. 9%, von
denen nur 4 die M während ihrer Beschäftigung erworben hatten. Man darf
aber nicht vergessen, dass die Uhrmacher nur mit einem Auge fixiren , dass sie
bei sehr guter Beleuchtung am Fenster sitzen, und dass sie ihre Arbeit bei uns
nicht vor dem 15. Jahre beginnen. Emmert 27) fand 12° 0 M unter den Schweizer
Uhrmachern, wahrscheinlich weil dort die Uhrmacherei früher erlernt wird. Just 39)
folgt dem Rathe Javal's und verordnet jetzt allen beginnenden Myopen, bei denen
mit dem Spiegel noch E oder H bis 1"5 D zu finden, das Tragen von Convex-
brillen zur Arbeit; die Resultate sind aber noch nicht mitgetheilt. Mir scheint,
dass das Herunterbeugen bei Gebrauch von Convexgläsern den Nutzen der-
selben aufwiegt. — Hyperopen müssen natürlich Arbeitsbrillen verordnet werden.
XL Schüler-Myopie und Ueberanstrengung.
Wir haben es hier bei dem in letzter Zeit so lebhaft ventilirten Capitel
nur mit der Frage der Ueberanstrengung der Augen der Schulkinder zu thun,
die ganz gewiss selbst bei den besten Schullocalen, Subsellien, Büchern etc. zur
M führen kann. Die Klagen sind keineswegs neu. Vor 70 Jahren bereits sprach
sich Beer88) in Wien folgendermaassen aus: „Wer sich so oft wie ich die ver-
gebliche Mühe gab, in dem freundschaftlichsten Tone und mit den überzeugendsten
Gründen das für die Augen der heranwachsenden Jugend durchaus Verderbliche
der heutigen Treibhauserziehung den Eltern und Erziehern begreiflich zu
machen, dem muss es wohl sauer werden, wenn er seine wohlgemeinten und auf
lange Erfahrungen gegründeten Rathschläge öffentlich wiederholen soll und dabei
erwarten muss, dass auch seine Stimme völlig verhallen oder doch nur von sehr
Wenigen gehört werden dürfte. Indem man dem schlecht verstandenen Grund-
satze: Kinder müssen den ganzen Tag beschäftigt werden, huldigt, giebt nun
den ganzen lieben Tag ein Meister dem anderen die Thür in die Hand ; da ist
des Lesens, Schreibens, Sprachenlernens, Zeichnens, Rechnens, Stickens, Singens,
Ciavier- und Guitarrespielens kein Ende, bis die gemarterten Geschöpfe ganz
bleich, kraftlos und hinfällig sind und sie in einem solchen Grade kurzsichtig
und schwachsichtig werden , dass man endlich Aerzte zu Rathe zu ziehen ge-
zwungen ist."
Bei der heutigen Anzahl der Schulstunden , welche in den Volksschulen
20—22, 28—30, 30—32 wöchentlich beträgt und in den Gymnasien auf 36
Stunden steigt, ist es wichtig, dass nicht zwei Stunden hintereinander
folgen, in denen geschrieben werden muss, um die Gefahren des
Schreibsitzens möglichst zu verhindern. Schreib- und Zeichenstunden sind über-
haupt in die hellsten Mittagstunden zu verlegen.
Je mehr man in den grossen Städten strebt, den Nachmittags-Unterricht
wegen mancher Unzuträglichkeiten ganz aufzuheben, desto häufiger kommt es vor,
dass fünf Stunden am Vormittage hintereinander unterrichtet wird. Das ist für
Körper und Geist zu viel. Hier muss nach drei Stunden eine halbstündige
Pause eintreten, und nach jeder Stunde selbstverständlich eine Pause von
15 Minuten. In diesen Pausen sei der Lehrer nicht rigoros, sondern lasse
die Kinder aufstehen, hinausgehen, zum Fenster hinaussehen, sich herumtummeln,
kurz, Alles treiben, was die Entspannung des Accommodationsmuskels zur Folge hat.
Zehender7) spricht sogar den frommen Wunsch aus, dass der Unter-
richt „anstatt in Stunden in halb- und viertelstündigen Unterrichts-
zeiten mit grossen Zwischenpausen" zu ertheilen wäre. Er glaubt, dass über-
haupt in kürzerer Zeit mehr gelernt werden könne, wenn die docentische Begabung
der Lehrer grösser wäre. Die Rostocker Lehrer 9i) haben diese „lieblose Be-
urtheilung" ihrer Arbeit sehr energisch zurückgewiesen. Allerdings kommt viel
auf den Lehrer an, und mir schien es stets unrecht, dass man an den Gymnasien
Lehrer, die ja sonst ausgezeichnete Philologen oder vortreffliche Mathematiker
29J SCHULKINDERAUGEN.
sein mögen , «anstellt, sobald sie von der Universität kommen , ohne dass sie
einen pädagogischen Unterricht im Unterrichten genossen haben. Pädagogische
Ausbildung der höheren Lehrer ist durchaus wünschenswerth und namentlich
wäre eine Prüfung derselben in der Schulhygiene zu empfehlen; man
begegnet gerade unter den Gymnasial-Lehrern häufig einem vornehmen Herabblicken
auf die schulhygienischen Bemühungen, das gar nicht am Platze ist.
Von grösster Wichtigkeit ist es, dass nach 5 — 6 täglichen Schulstunden
die Kinder nicht noch zu Hause mit vielen Arbeiten überbürdet95) werden.
Alles überflüssige Abschreiben und alle unnöthige Leetüre muss der Augen wegen
streng verboten werden. Immer wird in der Schule selbst der Schwerpunkt des
Lernens liegen müssen. Denn die häuslichen Arbeiten werden leider oft bei noch
viel schlechterer Beleuchtung und an noch viel schlechterem Mobiliar ausgeführt,
als die Arbeiten in der Schule. Just schreibt namentlich der schlechten Beleuch-
tung bei den Hausarbeiten und den sich immer mehr steigernden Anforderungen
an den häuslichen Fleiss die Zunahme der M zu. In den unteren Gassen dürfen
nur 1, in den mittleren 2 und in Prima und Secunda höchstens 3 Stunden täglich
zu Schularbeiten verwendet werden.
Dagegen ist Zehender's These „häusliche Arbeiten dürfen den Schul-
kindern nicht aufgegeben werden" vollkommen unhaltbar. Er betrachtet die
Schularbeiten nur als ein „Verlegenheitsmittel der Lehrer, um die Kinder ausser-
halb der Schulzeit nicht allerlei Muthwillen und Ungezogenheiten ausüben zu
lassen". Hierauf sind ihm freilich die Rostocker Lehrer die Antwort ebenfalls
nicht schuldig geblieben. Die Mehrzahl der Aerzte wird wohl mit uns der Ansicht
sein, dass es selbst bei dem vorzüglichsten docentischen Talente der Lehrer ohne
häusliche Aufgaben niemals gehen wird 5 aber für möglichste Verringerung derselben
sind gewiss alle.
Der Sonntag und die Ferien aussen auch Ruhetage für das Auge
sein. Ganz unverantwortlich ist es, wenn als Strafarbeit das mehrfache
Abschreiben von Sätzen aufgegeben wird; in einem Erlasse des Ministers
Falk vom 14. October 1875 ist besonders davor gewarnt, und der Minister
fordert direct die Eltern auf, Klagen wegen Ueberbürdung der Kinder mit häus-
lichen Arbeiten an die Behörden gelangen zu lassen.
Natürlich müssen die Eltern oder Erzieher auch die Privatlectüre
der Kinder zweckmässig leiten und controliren, alle schlecht gedruckten Bücher,
Zeitungen, Classiker cassiren, auch die Privatlectüre nur mit Unterbrechungen
nach 1/2 Stunde gestatten, die Haltung bei derselben beaufsichtigen und niemals
gestatten, dass in der Dämmerung oder am Ofenfeuer oder bei mangelhafter,
künstlicher Beleuchtung gelesen , geschrieben oder gezeichnet werde.
XII. Bindehautkrankheiten bei Schulkindern.
Mituntertritt in einer Schule gewissermaassen epidemisch ein follicularer
Bindehautcatarrh oder selbst ein Körnertrachom auf. Sieht man aber genauer
zu, so zeigt sieh, dass nicht die Schule, sondern ein Internat, welches mit der
Schule verbunden, der Herd des Leidens ist. So war es in Breslau im März 1874,
wo in einer Elementarschule, die besonders von Kindern aus einem benachbarten
Waisenhause besucht wurde, Conjunctivitis ausbrach; daher wurde eine augen-
ärztliche Commission eingesetzt, die sämmtliche Schulen wegen der „vermeintlichen
egyptischen Augenentzündung" inspiciren musste. Ich 96) untersuchte 5000 Schüler
in Breslau und fand die leichtesten Catarrhe bei 378, folliculären Catarrh bei
270, höhere Grade desselben bei 28 und echte granulöse Entzündung nur bei 22,
also nur bei vier pro mille. Auffallend war jedenfalls die grosse Zahl (698)
abnormer Bindehäute = 13% ; ich machte daher eine Gegenprobe in dem Dorfe
Langenbielau in Schlesien, wo Niemand etwas von einer epidemischen Augen-
entzündung ahnte und kein Kind klagte. Dort fand ich unter 1000 Dorfschul-
kindern jene 4 Gruppen vertreten durch die Zahlen 54, 68, 1, 2, im Ganzen
125 = 12%, also ganz gleiche Verhältnisse wie in Breslau. Solche
SCHULKINDERAUGEN. 295
Conjunctivalleiden kommen also gewiss ganz latent im März vor; in anderen
Jahreszeiten wurde nicht untersucht. Die Nachbarn der Granulösen waren übrigens
nie erkrankt. — Dass wohl das Haus und nicht die Schule der Herd der
Uebertragung sei, wird wahrscheinlich durch das wirklich epidemische Auftreten
des Trachoms in Internaten, wo gemeinsame Waschbecken und
Handtücher benützt wurden. Letzteres war z. B. der Fall gewesen im Jahre
1867 in der Breslauer Taubstummen- Anstalt 97) , in der von 111 Kindern 84 an
Trachom erkrankten, die in der Anstalt wohnten, während von den Kindern,
die nur den Unterricht besuchten, auch nicht ein einziges befallen war. Solche
Epidemien sind oft recht hartnäckig ; wir hatten zwei Jahre mit derselben zu
kämpfen und mussten das Internat schliessen.
Auch in Karlsruhe, Freiburg und Konstanz wurde im Sommer 1876
das häufige und ganz unschuldige Vorkommen von folliculärem Catarrh durcli
Becker und Manz 98) nachgewiesen. Manz untersuchte zu einer Zeit der völligen
Beruhigung die Schulen in Freiburg i. Br. und fand bei 896 Knaben l°/0 Hyper-
ämie, 4°/0 Schwellung und 5% Follikel, Summa 10°/0 ; bei 807 Mädchen 6°/0
Hyperämie, 5% Schwellung und H°/0 Follikel, Summa 22%. In einer anderen
Mädchenschule fand er 11% Follikel und in einer Volksschule 5% Follikel bei
den Knaben und 21% bei den Mädchen, während ich zwischen den Geschlechtern
in dieser Hinsicht keinen Unterschied nachweisen konnte. Nach mehreren Monaten
war der Zustand unverändert. Die Erkrankung ist nicht contagiös,
Schliessung der Schulen nicht geboten; Heilung erfolgte spontan.
Dagegen sind Kinder mit wirklicher granulöser Entzündung nach Manz von der
Schule auszuschliessen.
Andere Augenkrankheiten, als Myopie und vielleicht Conjunctivalleiden
sind mit dem Schulbesuch nicht in Verbindung zu bringen. Man hat zwar viele
Tausende von Kindern auf Farbenblindheit untersucht , diese Krankheit ist
aber angeboren, hat zur Schule ebensowenig Beziehung, wie das Fehlen eines
Auges und ist durch Erziehung oder Uebung ebensowenig zu heilen. Vgl. Artikel
„Farbenblindheit".
XIII. Schulkinder-Augen und Schularzt.
Aus allen obigen Mittheilungen folgt, dass die Schule direct oder indirect
die Augen der Kinder schädigen kann, und dass es also dringend nöthig ist,
dass eigne Aerzte angestellt werden, die sich um die Beseitigung der hygie-
nischen Missstände in den Anstalten zu bekümmern und für die Hygiene der
Kinder überhaupt zu sorgen haben.
Es ist merkwürdig, wie wenig bei manchen Schulbehörden die Wichtig-
keit der Schüleraugen - Untersuchungen gekannt und gewürdigt ist; selbst jetzt,
wo geradezu niederschmetternde, statistische Beweise für die Zu-
nahme der Myopie in den oberen Classen in allen Ländern von den berufensten
Autoren vorliegen.
Noch im Jahre 1878 bestritt der Decernent der Schulangelegenheiten im
Unterrichtsministerium im preussischen Abgeordnetenhause, dass die Untersuchungen
von Dr. Niemann in Magdeburg eine Zunahme der Myopie in den oberen Classen
ergeben hätten und behauptete, dass „die Sehschwäche" nicht mit den Classen
zugenommen habe.
Ich 34) konnte 'den Nachweis führen, dass gerade in Magdeburg die
deutlichste Progression der Myopie in den beiden Gymnasien (s. oben Tabelle II)
sich gezeigt, und dass Niemand behauptet habe, dass die Sehschärfe in den
oberen Classen abnehme. Sehschärfe und Myopie sind eben zweierlei.
Wie schlimm es noch mit der Befolgung der hygienischen Forderungen
in praxi aussieht, beweist Folgendes:
Im Jahre 1866 hat eine Commission von Aerzten und Pädagogen eine
Anzahl Classen in den Breslauer Schulen als zu finster bezeichnet; im Jahre
1880 wurde in denselben, ohne dass eine Veränderung vorgenommen
296 SCHULKINDERAUGEN.
worden, noch immer weiter Unterricht ertheilt. In Prima und Secunda des
Magdalenen- und Elisabeth-Gymnasiums, wo es so viele Myopen giebt (s. oben
Tabelle II), brannte im Jahre 1866 mehrere Stunden im Winter täglich das Gas
in offener Flamme ohne Glocke und Cjiinder; trotz des Monitums der Commission
war noch im Jahre 1880 Alles unverändert.
Auch Weber hat die gleiche Erfahrung gemacht. „Es sind wohl zehn
Jahre," sagt er, „dass eine Commission von Aerzten, zu der auch meine Wenig-
keit zu gehören die Ehre hatte, alle Darmstädter Schulen auf ihre sanitären Ein-
richtungen inspicirte ; dass man aber daraus belehrende Veranlassung nahm , ist
mir nicht bekannt geworden, und ich habe davon bei meinem neuerlichen Besuche
der Schulen die Spur nicht bemerkt. Es scheint eben nur „schätzbares"
Material geblieben zu sein, dem hoffentlich meine heutigen Worte nicht als gleich
schätzbar an die Seite gestellt werden."
Wenn man auch die neuen Anstalten besser zu bauen beginnt, immer
wieder werden neue Generationen in die alt en Schulhöhlen hineingezwungen.
Wie viele unter den 60.000 Schulen Deutschlands giebt es, die nie ein ärzt-
licher Fuss betreten hat ? Wie wenige Lehrer erinnern sich überhaupt, einen Arzt
in ihrer Classe gesehen zu haben?!
Daher ist schon seit Jahren von verschiedenen Autoren , von Falk 68),
von Baginsky 70), von Virchow ") und in besonders scharfer Weise von Elllnger 75)
die Anstellung besonderer Schulärzte empfohlen worden. Als ich in Danzig auf
der Naturforscher- Versammlung 1880 meine Rede damit schloss , dass wir einen Schul-
arzt brauchen , der, mit dietatorischer Gewalt ausgerüstet, alle hygienischen
Anordnungen der Schulen zu ordnen habe , da opponirte der Oberbürgermeister
v. Winter100) auf das Schärfste gegen den dietatorischen Schularzt und meinte,
man müsse lieber warten und sich bemühen, in immer weiteren Kreisen die
Einsicht von der Nützlichkeit und Notwendigkeit von Reformen zu verbreiten.
Möge man dies bei kostspieligen und in ihren Endresultaten noch nicht Allen ganz
einleuchtenden Unternehmungen (wie z. B. Canalisation) immerhin thun, bei der
Bekämpfung der M dürfen wir aber nicht mehr warten. Denn in Folge
dieses Wartens sind seit fast 20 Jahren trotz beständiger Besprechung und Be-
lehrung Tausende von Schülern nachgewiesenermaassen wieder kurzsichtig geworden.
Und nicht blos immer neue Schüler werden myopisch, sondern auch auf
ihre Nachkommen wird die Disposition zur M in vielen Fällen übertragen.
In solchen Angelegenheiten ist der Zwang das Beste. Impfzwang und
Schulzwang haben wir; Schulgesundheitszwang müssen wir verlangen, da
wir gezwungen werden, unsere Kinder in die Schule zu schicken.
Diese Ansicht gewinnt immer mehr Anhänger. Der Statthalter von Elsass-
Lothringen, Feldmarschall v. Man teuf fei, hat soeben in höchst anerkennenswerther
Weise eine ärztliche Commission in Strassburg eingesetzt, welche die Frage der
Ueberbürdung der Schüler sorgsam prüfen soll. Diese Commission wird hoffentlich
ihre Aufgabe weiter ausdehnen und überhaupt für die Durchführung der Schul-
hygiene in den Reichslanden eintreten. Die Frage „über die Nothwendigkeit der
Einführung von Schulärzten in allen Ländern und ihre Obliegenheiten"
ist von dem internationalen Congress für Hygiene , der in diesem Jahre in Genf
zusammenkommen wird, auf die Tagesordnung gesetzt worden. Die Sehlusssätze
für mein Referat über dieses Thema lauten:
1. Vor allem ist eine umfassende staatliche hygienische Revision
aller jetzt benützten öffentlichen und privaten Schuliocale schleunigst nothwendig.
2. Der Staat ernennt einen Reichs- oder Ministerial- Schularzt,
welcher im Ministerium , und für jede Provinz (Canton , Departement) einen
Regierungs- Schularzt, welcher im Regierungscollegium der Provinz Sitz
und Stimme haben muss.
3. Bei Beginn der hygienischen Reform muss der Regierungsschularzt
sämmtliche Schulen seiner Provinz revidiren und unbarmherzig alle Classe n
SCHULKINDERAUGEN. 297
schliessen, welche zu finster oder sonst der Gesundheit schädlich sind, falls
sich nicht sofort ausreichende Verbesserungen ausführen lassen.
4. Die Schule kann die Gesundheit schädigen, daher muss jede Schule
einen Schularzt haben.
5. Als Schularzt kann jeder praktischeArzt von dem Schulvorstande
gewählt werden.
6. Der Schularzt muss Sitz und Stimme im Schul vorstände haben;
seine hygienischen Anordnungen müssen ausgeführt werden.
7. Stossen seine hygienischen Maassregeln auf Widerstand, so hat sich
der Schularzt an den Regierungsschularzt zu wenden, welcher die Schule eventuell
schliessen kann.
8. Demselben Schularzte sind niemals mehr als tausend Schulkinder
zu überweisen
9. Der Schularzt muss bei Neubauten den Bauplatz und den Bauplan
hygienisch begutachten und den Neubau hygienisch überwachen. Seinen An-
ordnungen betreffs der Zahl, Lage und Grösse der Fenster, der Heiz- und Ventila-
tionseinrichtungen, der Closets, sowie der Subsellien muss Folge gegeben werden.
10. Der Schularzt muss bei Beginn jedes Semesters in jeder Classe alle
Kinder messen und sie an Subsellien placiren, die ihrer Grösse entsprechen.
11. Der Schularzt muss alljährlich die Refraction der Augen jedes
Schulkindes bestimmen.
12. Der Schularzt hat die Pflicht, in Zimmern, welche dunkle Plätze
haben, die Zahl der Schüler zu beschränken, ferner Schul mobilia r, welches
den Schüler zum Krummsifzen zwingt, und Schulbücher, welche schlecht
gedruckt sind, zu entfernen.
13. Der Schularzt hat das Recht, jeder Unterrichtsstunde beizuwohnen;
er muss mindestens monatlich einmal alle Classenzimmer während des
Unterrichtes besuchen und besonders auf die Beleuchtung, Ventilation und Heizung
der Zimmer, sowie auf die Haltung der Kinder achten.
14. Der Schularzt muss bei der Aufstellung des Lehrplanes zugezogen
werden, damit Ueberbürdung vermieden werde.
15. Dem Schularzte muss jede ansteckende Erkrankung eines
Schulkindes gemeldet werden. Er darf dasselbe erst wieder zum Schulbesuche
zulassen, wenn er sich selbst überzeugt hat, dass jede Gefahr der Ansteckung
beseitigt ist, und dass die Bücher, Hefte und Kleider des Kindes gründlich d e s-
inficirt worden sind.
16. Der Schularzt muss, wenn der vierte Theil der Schüler von einer
epidemischen Krankheit befallen ist, die Classe schliessen.
17. Jeder Schularzt muss über alle hygienischen Vorkommnisse und
namentlich über die Veränderungen der Augen der Schüler ein Journal führen
und es alljährlich dem Regierungsschularzt einreichen.
18. Die Berichte der Regierungsschülärzte kommen an den Reichsschul-
arzt, der alljährlich einen Gesammtüberblick über die Schulhygiene des Reiches
veröffentlicht.
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Bd. XIII, Heft 3. — 9*) Burchardt, Eulenberg's Vierteljahrschr. für gerichtl. Medicin.
Bd. XXIX, Heft 2 ; auch kurzer Bericht über den Bescheid der wissenschaftlichen Prüfungs-
Deputation in der Berliner klin. Wochenschr. 1878. Nr. 41- — 9S) H. Cohn, Die Augen der
Uhrmacher, Goldarbeiter, Juweliere und Lithographen. Centralbl. für Augenheilk. 1877. Apr.
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sichtigkeit. Stuttgart 1880. — Ed) Die Ueberbürdung der Schulkinder. Bericht des hygienischen
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kindern. Centralbl. für Augenheilk. 1877. Mai- Heft. — 97) H. Cohn, Ueber eine Epidemie
von granulöser Augenentzündung in der Breslauer Taubstummenanstalt. Jubelschrift der
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klin. Wochenschr. 1877. Nr. 36. — ") Virchow R. , Rede im preuss. Abgeordnetenhause
am 13. December 1880. Sitzungsbericht, pag. 689. — 10°) v. Winter, Tageblatt der Natur-
forscher-Versammlung zu Danzig. 1880. Nr. 4, pag. 69. — Sehr lesenswerth ist : Virchow,
Ueber gewisse, die Gesundheit benachtheiligende Einflüsse der Schulen. Virchow's Archiv.
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deutschen Jugend. Barmen 1872. Hermann Cohn.
Schills, s. „Tarasp".
Schulterblatt, die Verletzungen, Erkrankungen und Opera-
tionen an demselben und seinen Bedeckungen.
A. Anatomisch-physiologische Vorbemerkungen.
Die Schulterblätter (scajnda, omoplata lat. , omoplate franz., scapula,
shoulderblade engl.,) , welche am Rücken abgemagerter Individuen in fast allen
ihren Umrissen deutlich zu erkennen sind , treten bei muskulösen Personen nur
mit ihrer Basis und ihrem unteren Winkel deutlich hervor und lassen zwischen
sich den Interscapularraum, der in der Richtung von unten nach oben an Breite
allmälig abnimmt, in seiner Form und Grösse aber durch verschiedene Stellungen
300 SCHULTERBLATT.
und Bewegungen der Schulter verändert wird. Unter dem Einflüsse der Be-
wegungen der oberen Extremitäten sind bekanntlich die Schulterblätter im hohen
Grade verschiebbar. Während bei geradem Herabhängen der ersteren die letzteren
von der 2. bis zur 7. oder 8. Rippe abwärts sich erstrecken, sind verschiedene
mit den Schulterblättern ausgeführte Bewegungen, abgesehen von der Erleichterung
der physikalischen Exploration der Brustorgane, auch zur Ermittelung von chirur-
gischen Erkrankungen und Verletzungen deswegen von Wichtigkeit, weil dabei
zum Theil eine fast von allen Seiten auszuführende genaue Betastung möglich
wird. Dahin gehört namentlich eine solche Rückwärtsziehung der Arme und
Schultern, dass beide Hände in der Gegend des Kreuzes übereinandergelegt
werden; ferner Hebung der Schultern und Arme derart, dass die in einander
gefalteten Hände oder die Vorderarme auf dem Scheitel ruhen ; endlich Entfernung
der Schulterblätter von einander dadurch, dass, bei Kreuzung der Arme, mit jeder
Hand die entgegengesetzte Schulter umfasst wird. — Am Schulterblatt selbst ist
fast die ganze Gegend der Fossa infraspinata ausserordentlich dünn, so dass
der Knochen, wenn er nicht sehr viel dickere Ränder hätte und auf seiner Vorder-
und Hinterfläche von dicken Muskellagen bedeckt wäre, leicht würde zerbrochen
werden können. Dabei ist die ausserordentliche Festigkeit seiner Fortsätze, der
'Spina scapulae, des Acromion, des Proc. glenoidalis, des Proc. coraeoideus, die
noch durch die sich an denselben anheftenden, sehr starken Bänder wesentlich
gefördert wird, bemerkenswerth und erklärt es, dass mit Hilfe dieses an sich nicht
starken und am Rumpfe nur wenig befestigten Knochens unter Umständen eine
grosse Kraft entwickelt und sehr grosse Lasten gehoben und getragen werden
können. — Als Varietät kommt am Schulterblatt ein eigenes Os acromiale vor,
indem das Acromion einen selbständigen , mit der Spina scapulae durch einen
Faserknorpel oder durch ein mehr oder weniger selbständiges Gelenk verbundenen
Knochen darstellt.
Da vom Schulterblatt keine bemerkenswerthen angeborenen Anomalieen
bekannt sind und die Deviationen desselben (flügeiförmiges Abstehen), wie sie bei
Lähmung des M. serratus anticus major beobachtet werden, hier nicht näher
zu betrachten sind, wenden wir uns sogleich zu den
B. Verletzungen des Schulterblattes und seiner Bedeckungen.
a) Die Verletzungen, welche die dasselbe bedeckenden Weicht heile
treffen, können sehr mannigfaltiger Art sein, bestehen aber grösstentheils in Con-
tusionen mit starken Blutextravasaten , wie sie durch Fall auf den Rücken, Stock-
schläge u. s. w. so gewöhnlich veranlasst werden. Ausserdem können Fleisch-
wunden aller Art, namentlich durch Kriegswaffen (Säbel, Lanzen, Bajonnette, Kugeln,
Granatstücke u. s. w.) verursacht, in oft recht beträchtlicher Ausdehnung auch in
dieser Gegend vorkommen.
b) Die Frakturen2) des Schulterblattes (abgesehen von den hier vor-
läufig ausser Betracht zu lassenden Schussbrüchen) gehören zu den selten vor-
kommenden Knochenbrüchen, indem sie in der grossen Statistik des London
Hospital nur mit etwas über 1 Procent erscheinen. Dabei sind die Brüche des
Schulterblattkörpers die entschieden zahlreichsten, demnächst kommen die des
Collum scapulae und Acromion, während die Brüche des oberen und unteren
Winkels und der Gavitas glenoidalis sehr selten sind. Infractionen am Schulter-
blatt sind gewiss viel häufiger als sie diagnosticirt werden. Am Körper der
Scapula werden die queren oder nahezu queren Trennungen am häufigsten
beobachtet und kommen selbst mit nicht unerheblichen Uebereinanderschiebungen
verbunden vor, vorausgesetzt, dass die bedeckenden Muskeln gleichzeitig mit zer-
rissen sind. Ausserdem finden sich daselbst Schräg-, Längs-, namentlich aber
mehrfache und Comminutivbrüche. Auch das Abbrechen des oberen oder unteren
Winkels kann mit einiger Dislocation verbunden sein. Die Brüche des Acromion
finden sich theils in der Nähe der Spitze desselben, theils nach der Spina
scapulae hin ; die letzteren scheinen die häufigeren zu sein ; die Dislocation bei
SCHULTEEBLATT. 301
den meistens queren Trennungen pflegt eine geringe zu sein. Isolirte Brüche des
Proc. coracoideus gehören zu den grössten Seltenheiten; indessen in Ver-
bindung mit Verletzungen in der Nachbarschaft, wie anderweitigen Brüchen der
Scapula, Luxationen des Oberarmkopfes oder Schlüsselbeines, Frakturen derselben
und der Rippen u. s. w. werden auch sie manchmal beobachtet. Bei den
Brüchen des Collum scapulae handelt es sich, da ein Bruch an dem
eigentlichen Collum, nämlich an der Einschnürung, welche sich hinter dem wul-
stigen Rande der Cavitas glenoidalis befindet, bisher anatomisch nicht nachgewiesen
ist, entweder um eine Fraktur an einer Stelle, die man wohl als Collum ckirur-
gicum scapulae bezeichnen könnte, und die sich von der Incisura scapulae,
neben der Wurzel der Spina scapulae vorbei, abwärts bis unterhalb des Tuber-
culum infraglenoidale erstreckt, wobei also die Gelenkhöhle sammt dem Proc.
coracoideus abgebrochen wird, oder um einen Bruch, der zwar auch bis unterhalb
des Tuber culum infraglenoidale herabreicht, aber, schräg nach oben und aussen
verlaufend, nur die Gelenkfläche, oder selbst diese nicht einmal ganz abtrennt. —
Ein isolirter Bruch der Gelenkhöhle ist, ausser einer gleichzeitigen, ander-
weitigen Verletzung im Schultergelenk, namentlich eine Luxation des Oberarm-
kopfes, bisher anatomisch noch nicht nachgewiesen worden. Unter den angegebenen
Umständen aber kann ein Abreiäsen eines Theiles des Labrum cartilagineum
oder des Randes der Cavitas glenoidalis vorkommen. — Mit Wunden complicirte
Brüche des Schulterblattes gehören in der Civilpraxis zu den grössten Seltenheiten.
— Die Aetiologie der Frakturen der Söapulä weist ©jnige wenige Fälle nach,
bei denen, allerdings auf eine schwer ,zU begreifende Weise, die Frakturen, theils
des Körpers, theils des Halses, theils des Proc.^ cpracoMefts \durch blosse Muskel-
action zu Stande kamen. In deit -überwiegenden" Mehrzahl* flieser Knochenbrüche
aber handelte es sich um äussere Gewalt, namentlich Fall, auf den Rücken mit einiger
Heftigkeit und auf besonders hervorragende Gegenstände, andererseits aber um starke
Zusammenpressungen des Thorax, z. B. zwischen den Puffern von Eisenbahnwagen,
meistens mit anderweitigen Knochenbrüchen combinirt. Die Brüche des Acromion
sind theils directe, z. B. durch das Auffallen einer schweren Last auf dasselbe ent-
standen, theils indirecte, bei Fall auf die Schulter. — Die Diagnose der Brüche
des Körpers, des oberen und unteren Winkels und der Spina der Scapula ist, wenn
es sich um magere Personen, eine ausgeprägte Dislocation und keine oder geringe
Anschwellung handelt, leicht, im anderen Falle schwer. Erleichtert wird die Pal-
pation durch einige der im Obigen bereits angeführten Bewegungen des Schulter-
blattes, namentlich diejenige, bei welcher es zum flügeiförmigen Abstehen gebracht
wird und die es gestattet, auch einen Theil der Subscapularfläche zu betasten
und durch das Umfassen des Schulterblattes Crepitation hervorzurufen. Es lässt
sich auf diese Weise einigermaassen die Bruchrichtung, das Vorhandensein weniger
oder zahlreicher Fragmente ermitteln. Bei der Fraktur des Acromion ist fast
immer, selbst wenn keine Dislocation vorhanden sein sollte, der Bruchspalt leicht
zu fühlen, jedoch muss man daran denken, dass statt des Bruches auch eine
Epiphysenabsprengung oder ein Acromialknochen mit beweglicher Gelenkverbindung
vorliegen, oder dass durch Arthritis deformans ein Usur oder selbst eine Trennung
des Acromion herbeigeführt sein kann. Die Diagnose einer Fraktur des Proc.
coracoid. ist deshalb so schwer, weil jener Fortsatz sich durch die bisweilen
sehr kräftige Brustmuskulatur kaum mit Genauigkeit durchfühlen lässt. Bei der
Diagnose der Fr. colli scapulae, deren Haupt-Symptom eine ähnliche Abflachung
der Schulter wie bei der Luxatio humeri ist , handelt es sich , abgesehen von
der äusserst seltenen angeborenen Luxation des Oberarmkopfes und den Ver-
änderungen des Gelenkes durch Arthritis deformans, um die Unterscheidung fol-
gender Zustände: 1) der Luxation des Oberarmkopfes; 2) der verschiedenen an
ihm und seinem Halse vorkommenden Frakturen und der Absprengung der oberen
Humerus-Epiphyse ; 3) der Luxation des Oberarmkopfes bei gleichzeitigem Bruch
des Oberarmhalses. Das wichtigste Unterscheidungs-Merkmal zwischen Fract. colli
302 SCHULTERBLATT.
scapulae und Luxatio humen, die am ehesten mit einander verwechselt werden
können, besteht darin, dass bei der ersteren die Deformität mit grosser Leichtigkeit
sich durch Aufwärtsdrängen des Armes beseitigen lässt, jedoch bei Nachlass dieses
Druckes alsbald wiederkehrt, während bei der Luxation der ausgewichene Ober-
armkopf an einer bestimmten Stelle ziemlich unbeweglich feststeht. — Verlauf
u n d Aus g a n g der Schulterblattbrüche pflegen im Allgemeinen günstig zu sein,
namentlich kommt die Heilung in 4 — 6 Wochen meistens in so glücklicherweise
zu Stande, selbst bei beträchtlicheren Verletzungen, dass eine Functionsstörung
von Belang nicht zurückbleibt. Eine Pseudarthrosenbildung ist, ausser am Proc.
coracoid., etwas sehr Seltenes. — Die Prognose ist, wie sich aus dem eben
Angeführten ergiebt, eine durchaus günstige, wenn es sich um Frakturen des
Schulterblattes allein handelt; sind dagegen anderweitige Verletzungen mit zugegen,
so sind diese für die Prognose maassgebend. — Bei der Therapie ist als
oberster Grundsatz festzuhalten, dass man dem Arme und dem Schulterblatte
behufs der Reposition und der Retention diejenige Stellung giebt und in dieser
iixirt, bei welcher die Fragmente zu einander im genauesten Contact bleiben.
Es kann dies also bei den Brüchen am Körper des Schulterblattes, je nach
Umständen, die gewöhnliche Stellung mit herabhängendem Ober- und rechtwinkelig
gebeugtem Vorderarme, oder die spitzwinkelige Stellung des Ober- und Vorder-
armes zu einander sein, bei welcher die Hand auf der entgegengesetzten Schulter
ruht. Eine recht- oder spitzwinklig angelegte Mitella ist oft genügend, die Be-
festigung des Armes durch circuläre, mit Klebestoffen bestrichene Bindentouren
oder durch die Anlegung eines Heftpflasterpanzers an der Scapula selbst sind nur
ausnahmsweise erforderlich. Viel wichtiger aber ist es, bei den Frakturen
des Acromion und des Collum scapulae, bei denen der Arm stark aufwärts
gedrängt gehalten werden muss, statt der gewöhnlichen, sich leicht lockernden
Mitella einen Klebeverband anzuwenden, der dasselbe bezweckt, aber viel
zuverlässiger ist.
c) Schussverletzungen des Schulterblattes, im Ganzen nicht
sehr häufig vorkommende Verletzungen, sind in ihrer Bedeutung durchaus davon
abhängig, ob mit denselben auch Verwundungen benachbarter wichtiger Gebilde,
wie der Lungen, des Rückenmarkes , des Schultergelenkes verbunden sind , oder
nicht. Ist eine solche Complication vorhanden, so ist begreiflicherweise die Prognose
beinahe ausschliesslich von derselben beeinflusst. Im Uebrigen kann die Scapula blos
eine einfache lochschussartige Perforation zeigen, oder mehrfach, selbst comminutiv
zertrümmert sein, auch kann es sich um gleichzeitige Schussverletzung beider Scapulae
oder der Scapula und Clavicula handeln. Häufig bleibt die Kugel stecken, befindet
sich z. B. unter dem Schulterblatt, wo dann ihre Aufsuchung und Entfernung oft
nicht leicht ist, und häufig erst, nachdem unter dem Schulterblatt ein sich über
die Grenzen desselben hinausreichender Abscess sich gebildet hat, findet man bei
Eröffnung desselben das Projectil darin auf. In manchen Fällen lag auch eine
Veranlassung zur Vornahme partieller Resectionen am Schulterblatt vor, namentlich
an seinen Fortsätzen, dem Acromion, der Spina , dem Proc. coracoid. ; es sind
gelegentlich aber auch viel ausgedehntere Resectionen^ selbst Total-Exstirpationen
des Schulterblattes bei vollständiger Zertrümmerung desselben, sogar in Verbindung
mit Resectionen des Oberarmkopfes und des Schlüsselbeines , gemacht worden.
Sonst bietet die Behandlung der Schussverletzungen der Scapula keine Besonder-
heiten dar.
d) Abreissungen des Schulterblattes in Folge der Einwirkung
grosser Maschinengewalten sind in Verbindung mit gleichzeitiger Abreissung des
betreffenden Armes in mehr als einem Dutzend Fällen, fast durchweg bei Individuen
unter 18 Jahren mit glücklichem Ausgange beobachtet worden. Da in den meisten
derselben nur eine ganz geringe Blutung vorhanden war, waren selbst Gefässunter-
bindungen dabei nicht erforderlich; die Heilung der enormen Wunde fand in der
Regel schnell statt.
SCHULTERBLATT. 303
0. Erkrankungen des Schulterblattes.
d) Entzündungen in den Bedeckungen des Schulterblattes
können alle die auch an den übrigen Körpertheilen vorkommenden, wie Erysi-
pelas, Phlegmone, Furunkel, Carbunkel sein; für letztere ist diese
Gegend, ebenso wie die des Nackens, bekanntlich ein Lieblingssitz. Eigenthümlich
dieser Gegend aber sind Entzündungen und Eiterungen, weichein den subscapu-
laren Schleimbeuteln, d. h. in den theils normal, theils accessorisch in
dem die Innenfläche des Schulterblattes mit dem Rücken verbindenden, lockeren
Bindegewebe sich findenden Bursae mucosae vorkommen können. Diese Eiterungen
dürfen nicht mit den in Folge von Verletzung, z. B. Schussverletzung, oder den
in Folge von Knochenerkrankungen (der Rippen, des Schulterblattes) entstandenen
Eiterungen oder Eitersenkungen verwechselt werden. Alle diese Eiterungen bedingen
übrigens einen langwierigen Verlauf und machen wiederholte Incisionen, ausgiebige
Drainage, Compression, neben Immobilisirung des Armes, nöthig. Eine durch Ent-
zündungsprocesse irgendwelcher Art herbeigeführte Reizung oder Compression des
die Mm. supra- und infraspinatus und teres minor versorgenden JV. supra-
s capularis kann, wegen des Zusammenhanges desselben mit dem N. phrenicus,
zu heftigen Reflexreizungen im Bereiche des letzteren , wie Zwerchfellkrämpfen,
Dyspnoe, Singultus u. s. w. führen und sich bisweilen sehr schnell, z. B. durch
eine einfache Abscessöffnung , beseitigen lassen (Pitha). — Es kommen wahr-
scheinlich auch chronische Affectionen der subscapularen Schleimbeutel in Gestalt
von Hygromen vor, von denen einzelne, z. B. ein solches der Bursa mucosa
svbserrata (zwischen M. serratus anticus major und der seitlichen Thoraxwand
gelegen) vielleicht eine Art des sogenannten Schulterblattkrackens (frotte-
ment sous-scapulaire nach Terrillon) bei den Bewegungen des Schulterblattes am
Thorax verursacht , obgleich auch noch andere Zustände , wie abnorme Knochen-
vorsprünge der Scapula oder der Rippen und Atrophie der subscapularen
Muskeln u. s. w. ähnliche Reibungsgeräusche hervorzurufen im Stande sind.
b) Erkrankungen des Knochens durch Periostitis, Osteo-
myelitis, Necrose, Caries sind am Schulterblatte durchaus nichts Seltenes
und haben zu operativen Eingriffen an demselben, namentlich partiellen und
totalen Resectionen, einen häufigen Anlass gegeben. Bei allen den mit diesen ver-
schiedenen Processen verbundenen, oft genug aus traumatischer Veranlassung
entstandenen Eiterungen, welche zunächst unter den das Schulterblatt bedeckenden
Muskeln sich befinden, muss der Eiter sich immer erst nach der Peripherie des
Knochens Bahn brechen , um an die Oberfläche gelangen zu können , wobei
dann ausgedehnte Entblössungen des Knochens leicht vorkommen, die zu umfang-
reichen Necrotisirungen führen können. Unter denselben sind die acut, mit Ver-
eiterung des Periosts entstandenen Necrosen, bei denen kein knöcherner
Wiederersatz stattfindet, die bei Weitem häufigsten; indessen ist doch auch bei
chronischem Verlaufe, in sehr seltenen Fällen, die Bildung einer Sequestralkapsel,
selbst einer solchen , welche die ganze abgestorbene Scapula umfasst , beobachtet
worden. Es würde in diesem Falle nicht die Resection des necrotischen Knochen-
stückes, sondern die gewöhnliche Necrosen-Operation mit Extraction des Sequesters
auszuführen sein. — Die Caries, wie sie am Schulterblatt vorkommt, ist
gewöhnlich (abgesehen von der beim „Schultergelenk" näher zu betrachtenden
Caries der Cavitas glenoidalis) traumatischen Ursprunges und findet sich daher
besonders an den äusserer Gewalt am meisten ausgesetzten Theilen, wie der
Spina scapulae, dem unteren Winkel u. s. w. Weil sie eben meistens nicht aus
einer Dyscrasie hervorgegangen ist, ist bei ihr auch von einer rein örtlichen
Behandlung, die in einem Auskratzen mit dem scharfen Löffel, Wegnahme der
erkrankten Knochenportionen mit Hohlmeissel oder Säge bestehen kann, das Meiste
zu erwarten, nachdem man durch Erweiterung oder Spaltung der zu dem Krankheits-
herde führenden Fistelgänge oder Senkungsabscesse denselben hinreichend frei-
gelegt hat.
304 SCHULTERBLATT.
c) Neubildungen am Schulterblatt. Bei diesen sind die von
den bedeckenden Weichtheilen ausgehenden Geschwülste, die mit dem Knochen
selbst in gar keinem Zusammenhange stehen, sondern nur in der Schulterblatt-
gegend sich vorlinden, von denjenigen, prognostisch viel bedeutsameren Geschwülsten
zu unterscheiden, welche mit dem Schulterblatt in inniger Verbindung stehen, oder
gar von demselben aus sich entwickelt haben. Zu den von den äusseren Weich-
theilen ausgehenden Geschwülsten gehören vor allen die in der Schulterblatt-
gegend recht häufigen Lipome, die daselbst bisweilen einen beträchtlichen
Umfang erreichen, ferner seltener Fibrome, Atherome, die sämmtlich in der
bekannten Weise zu entfernen sind. Am Knochen sitzend, findet man auch wieder
Fibrome und Sarcome, die vom Periost der Scapula ausgehen, oder von der
Nachbarschaft des Knochens auf diesen übergreifen ; dann die von ihm selbst
ausgehenden und ihn zum Theil beträchtlich ausdehnenden Geschwülste, unter
denen die Osteome, Enchondrome noch die relativ günstigsten, die Osteo-
Sarcome und -C a r c i n o m e aber die ungünstigsten sind. Bei allen diesen
Geschwülsten ist eine operative Entfernung geboten, die bei den einen mit
Abschälung oder Abtragung von der Oberfläche des Knochens noch möglich und
zulässig ist, bei den anderen aber nur unter Aufopferung derjenigen Knochentheile,
in welchen sie ihren Ursprung haben, oder auch des Knochens in seiner Totalität
ausgeführt werden kann. Einzelne der Geschwülste, zu denen namentlich die
Enchondrome, Sarcome, Carcinome und deren Mischformen und Abarten (Myxo-
chondrome, Cystosarcome, Encephaloide u. s. w.) gehören, können bisweilen enorme
Dimensionen annehmen und auch auf benachbarte Theile, wie Schlüsselbein, Ober-
armbein, derartig übergreifen, dass auch von diesen, wenn die Exstirpation rein
ausgeführt werden soll, grosse Portionen mit entfernt werden müssen. Die Prognose
der Geschwülste ist daher zunächst von deren Natur, dann aber auch von ihrem
Umfange abhängig, weil die zur Entfernung sehr grosser Geschwülste erforderlichen
Operationen nicht nur einen mit beträchtlichem Blutverlust verbundenen, sehr
starken Eingriff darstellen, sondern auch bisweilen dadurch sehr schwierig auszu-
führen sind, dass sie oft durch Verdrängung benachbarter Theile die normale
Topographie ganz verschoben haben. Wir werden bei den Resectionen am Schulter-
blatte noch auf den für verschiedene Zustände sehr verschiedenen Umfang aufmerksam
zu machen haben, in welchen die von den Geschwülsten eingenommenen Theile
bisweilen fortgenommen werden müssen.
D. Operationen am Schulterblatt.
Es kommt unter denselben allein die partielle oder totale Resection des
Knochens , zu der auch die Trepanation desselben zu rechnen ist , in Betracht.
Die Trepanation der Scapula ist eine in der neueren Zeit nur sehr
wenig ausgeführte Operation. Während sie zur Entleerung eines subscapulären
Abscesses ganz überflüssig ist, da man an den Rändern der Scapula viel leichter
an denselben gelangen kann , würde dieselbe bei einem im Knochen festsitzenden
Fremdkörper oder einem den Knochen durchdringenden Lochschuss indicirt sein,
wenn man das Projectil durch die vorhandene Oeffnung zwar erkennt, aber ver-
möge der Enge derselben nicht auszuziehen vermag. Es würde dann nach aus-
reichender Ablösung der Weichtheile der im Knochen fest eingekeilte Körper
auszumeisseln oder die Erweiterung des Schussloches mit Knochenscheere, Meissel,
Säge oder allenfalls auch dem Trepan oder Osteotom auszuführen sein, um von da
aus das Erforderliche vornehmen zu können.
Die Resectionen am Schulterblatte, über deren Geschichte man den
Artikel „Resectionen" vergleichen möge, können partielle oder totale sein. Die
ersteren können die verschiedenen Theile des Knochens, also die Winkel, die
Ränder, die Spina, die Fortsätze (Acromion und Proc. coracoid.) betreffen, ferner
in einer sogenannten Amputation des Schulterblattes, d. h. einer Fortnahme des
grössten Theiles desselben , mit Erhaltung des Gelenktheiles allein , oder in Ver-
bindung mit den angrenzenden Fortsätzen bestehen, endlich die totale Entfernung
SCHULTERBLATT. 305
des Knochens allein (Exstirpation) , oder zugleich mit Theilen des Schlüsselbeins
und oberen Endes des Oberarmes, oder sogar die Ablation der betreffenden ganzen
Oberextremität umfassen.
Für die Kesection eines Winkels des Schulterblattes eignet sich am
besten ein Längs-, Bogen- oder Winkelschnitt, für die eines Randes und der
Spina scapulae ein in der Richtung der betreffenden Theile verlaufender Längs-
schnitt , mit nachfolgender Ablösung der sämmtlichen Weichtheile in toto mittelst
eines stumpfen Instrumentes (Elevatorium , Raspatorium, Spatel), nachdem jene,
einschliesslich des Periosts, genau bis auf den Knochen durchschnitten worden
sind. Die Abtragung der betreffenden Knochenportion findet mit einer Knochen-
scheere, einer geeigneten Säge oder einem Meissel statt. Das ziemlich selten
(hauptsächlich bei Schussverletzungen) allein für sich, oder in Verbindung mit
einem Stücke der Clavicula resecirte Acromion wird in ähnlicher Weise, oder
durch einen Lappenschnitt freigelegt und entweder vom Schlüsselbein exarticulirt
oder mit dem zuvor durchsägten Schlüsselbein zusammen entfernt. Zu einer
isolirten Resection des Proc. coracoid. liegt kaum eine Veranlassung vor und
ist dieselbe bisher auch nur ganz vereinzelt gemacht worden; sie bietet auch
wegen der tiefen Lage des Fortsatzes und wegen seiner innigen Verbindung mit
starken Muskelsehnen und Ligamenten ziemlich grosse Schwierigkeiten dar. Für
die sogenannte Amputation der Scapula sind analoge Schnitte durch die Weich-
theile erforderlich, wie wir sie bei der Total-Exstirpation beschreiben werden und
auch eine analoge Trennung der Weichtheile , von denen das Schulterblatt
gehalten wird. Es tritt dazu dann die Durchsägung des Knochens, in der Regel
an der von uns als Collum chirurgicum scapulae bezeichneten Stelle, d. h. also
von der Incisura scapulae abwärts , in der Richtung nach unten , unterhalb der
Cavitas glenoidalis, so dass ausser derselben auch noch der Proc. coracoid. und
das Acromion nebst seiner Wurzel an der Spina scapulae erhalten, das Schulter-
gelenk uneröffnet und die Beweglichkeit des Armes ziemlich erhalten bleibt. Die
Trennung des Knochens wird am besten mit der Stich- oder Kettensäge bewirkt,
kann übrigens , als schwierigster und zeitraubendster Act , auch wohl zuerst aus-
geführt werden, nachdem man den Knochen blos an der Durchsägungsstelle frei-
gelegt hat. — Bei der Total-Exstirpation der Scapula ist zu ausgiebiger
Freilegung derselben ein Bogen- oder Winkelschnitt erforderlich, dessen verticaler
Theil etwas nach innen vom inneren Rande oder der Basis der Scapula, und dessen
horizontaler, diesen unter nahezu einem rechten Winkel treffenden Schnitt oberhalb
der Spina scapulae nach aussen bis zur Spitze des Acromion sich erstreckt. Da
häufig die Haut an einzelnen Stellen von der Geschwulst in Mitleidenschaft gezogen
oder durchbrochen ist, so müssen diese Stellen mit elliptischen Schnitten umgangen
und danach die so eben angegebene Schnittrichtung mehr oder weniger modificirt
werden. Nach Ablösung des grossen Hautlappens werden zunächst die Mm. cucul-
laris und deltoideus an der Spina scapulae durchschnitten und darauf durch
Trennung der beiden Mm. rhomboidei, der Art. dorsalis scapulae, der Mm.
levator anguli scapulae und serratus anticus major der innere Rand oder die
Basis der Scapula , sowie durch Beiseiteschiebung des M. latissimus dorsi und
Trennung der Mm. teres major und minor, nebst der Art. circumflexa scapulae
und des langen Kopfes des M. triceps der untere Winkel und der äussere Rand
freigemacht, dann vom oberen Winkel bis zum Proc. glenoidalis, nach Durch-
trennung der Art. transversa scapulae, vor- und in das Schultergelenk ein-
gedrungen und der Oberarmkopf durch Trennung der sich an demselben inserirenden
Sehnen der Mm. supra-, infra-spinatus, teres minor, subscapularis, sowie des
Caput longum M. bicipitis exarticulirt. Je nach der Ausdehnung der Erkrankung
wird nun das Acromion entweder von der Clavicula in deren Gelenk exarticulirt,
oder die Clavicula weiter nach innen durchsägt. Wenn diese Durchsägung nach
innen von den Ligg. coraco-clavlcularia erfolgt, ist die Ablösung des einzigen
noch fest haftenden Fortsatzes, nämlich des Proc. coracoideus von den an ihm
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. *0
306 SCHULTERBLATT.
sich inserirenden Sehnen des M. pectoralis minor, des kurzen Kopfes des
M . biceps und des M . coraco-brachialis erleichtert, andernfalls müssen auch noch
die Liga. coracoclavicularia und das Lig. coraco-acromiale getrennt werden.
Natürlich nmss während der einzelnen Acte der Operation das von der Geschwulst
eingenommene Schulterblatt durch den Assistenten in der dem Operateur bequemsten
Weise gehalten und abgehoben werden; die zahlreich spiitzenden Arterien sind
nach erfolgter Durchschneidung entweder sogleich zu unterbinden oder vorläufig
mit Klemm- Pincetten zu versehen. Trotzdem pflegt der Blutverlust bei dieser
Operation ein sehr erheblicher zu sein. Sollte man auch den Oberarmkopf erkrankt
liiulen, so lässt sich derselbe leicht aus der Wunde hervordrängen und, so weit
als dies erforderlich ist, reseciren. — Sehr viel leichter ist die bisher ziemlich
selten gemachte, ganz subperiostal ausgeführte Exstirpation der Scapula, die nur
dann indicirt ist , wenn es sich um blosse Knochenerkrankung handelt. In einem
Falle (Billroth-Mikulicz) wurde danach eine sehr vollkommene Knochen-
Regeneration beobachtet. — Nach Beendigung der Operation ist mit zahlreichen
Nähten der Hautlappen anzuheften, ein LiSTER'scher Verband anzulegen und der
Arm durch eine Mitella, sowie unter den Ellenbogen geschobene Kissen zu unter-
stützen. — In anderer Weise ist die Exstirpation der Scapula auszuführen,
wenn (bei Verletzungen oder Tumoren, die sowohl das Schulterblatt wie das
Oberarmbein befallen haben) zugleich die ganze obere Extremität
fortgenommen werden muss. Nach Spence's s) (Edinburg) Verfahren werden dabei
am besten zwei Lappen , ein hinterer , dorsaler und ein vorderer oder pectoraler
gebildet. Zur Formirung des ersteren macht man einen halbmondförmigen Schnitt
mit vorderer Convexität, der, längs des oberen Randes der Scapula beginnend,
über das Acromion zum unteren Rande der Achselhöhle verläuft und, wieder
rückwärts gehend , am unteren Ende der Basis scapulae aufhört. Der vordere
Lappen beginnt mit einer Incision über dem Schlüsselbein , ungefähr 1 Zoll nach
innen vom Proc. coracoid. , geht abwärts über die Vorderseite der Achselhöhle
zu ihrem unteren Rande und endigt daselbst mit einer nach innen gerichteten
leichten Krümmung. Nach Ablösung beider Lappen werden zunächst die Insertionen
des M. pectoralis major am Oberarme und Schlüsselbeine in der Richtung des
für den vorderen Lappen gemachten Schnittes getrennt, darauf die Clavicula nach
innen von den Ligg. coraco-clavicularia durchsägt, die Art. subclavia freigelegt,
doppelt unterbunden und so jeder bedeutenden Blutung aus den Scapulargefässen
vorgebeugt. Es werden darauf die Insertionen des M. trapezius durchschnitten,
Arm und Schulterblatt von einem Assistenten nach aussen gezogen, die das Schulter-
blatt haltenden Mm. serratus anticus major , rhornhoidei, levator anguli scapulae
durchtrennt und nach Durchschneidung der Sehne des M. pectoralis minor am
Proc. coracoid. damit das ganze Glied nebst dem Schulterblatt vom Rumpfe
abgelöst. Die grosse Wunde lässt sich mit den beiden Lappen leicht bedecken.
Die bisherigen Resultate der Resectionen am Schulter blatte ergeben sicli
aus den umfangreichen Statistiken von Adelmann 4) (1879) und Gies5) (1880). Nach
der letzteren waren 205 Fälle von Resectionen am Schulterblatte bekannt , dar-
unter 80 Total-Exstirpationen desselben , nämlich 2 1 mit gleichzeitiger,
9 nach voraufgegangener Entfernung der oberen Extremität, 37 einfache Total-
Exstirpationen, 11 mit gleichzeitiger, 2 nach voraufgegangener Resection des Ober-
armkopfes. Die Veranlassungen zu den Total-Exstirpationen waren 39mal Tumoren
(21 Carcinome, 8 Sarcome, 6 Enchondrome, 4 nicht näher bezeichnete), 16mal
Schuss- und 7mal andere Verletzungen, 9mal Necrose (6) und Caries (3) u. s. w.
Die Todesfälle , welche in directem Zusammenhange mit der Operation standen,
beliefen sich auf nur 12; 17mal recidivirten die Neoplasmen und führten den Tod
herbei. — Nachdem man lange Zeit, wenn die Exarticulatio humeri nicht schon
vorhergegangen war, gleichzeitig mit dem Schulterblatte den ganzen Arm entfernt
hatte , indem man von der Annahme ausging , dass derselbe ohne die öavitas
glenoidalis scapulae nur ein unnützer Appendix sein würde, wurde von 1850 an,
SCHULTERBLATT. — SCHULTERGELENK. 307
zuerst durch B. v. Langenbeck, bei der Total-Exstirpation der Scapula der Arm
erhalten. Der Erfolg war, dass unter 24 Geheilten 20 den Gebrauch des Armes
nicht eingebüsst hatten. — Von Amputationen der Scapula sind 34 ver-
zeichnet; davon starben 8 bald nach der Operation, 4 erlagen einem Recidiv, bei
1 ist die Todesursache unbekannt. Die Veranlassungen zu der Operation waren
20mal Tumoren (10 Carcinome, 6 Sarcome, 3 Enchondrome u. s. w.), 5mal
Verletzungen (4 durch Schuss) , 7mal Necrose (4) und Caries (3) u. s. w. Die
Gebrauchsfähigkeit der Extremität war in 15 Fällen eine vollkommen gute, 2mal
eine ziemlich gute, lmal war der Arm ganz unbrauchbar, 3mal ist nichts Näheres
angegeben. — Von den partiellen Resectionen der Scapula sind 27 der Gruben
(darunter 20mal der Fossa infraspinata), 12 eines Winkels oder Randes (dabei
8raal des unteren Winkels), 31 der Spina scapulae (dabei 16 Schussverletzungen),
20 des Acromion (17 bei Schussverletzungen), 1 des Proc. coracoid. (B. Heine)
bekannt. — Aus dem Vorstehenden geht hervor, dass die Amputation der Scapula
eine erheblich grössere Mortalität und keine bessere Brauchbarkeit des Armes
ergab als die Total-Exstirpation der Scapula mit Erhaltung der oberen Extremität,
so dass es durchaus gerechtfertigt erscheint, an Stelle der ersteren Operation die
letztere zu setzen, zumal wenn Geschwülste die Indication dazu abgeben, weil
man dann hoffen darf, dieselben eher ganz vollständig zu entfernen.
Literatur: *) H. v. Luschka, Die Anatomie des Menschen. Bd. I, Abth. 2-
Tübingen 1863, pag. 37, 130. — 2) E. Gurlt, Handb. der Lehre von den Knochenbrüchen.
Bd. II, pag. 519 ff. — 3) James Spence, Lectures on surgery. Edinburgh 1871. Vol. II,
pag. 803. — 4) Gr. F. B.' Adelmann, Prager Vierteljahrschr. N. F. Bd. IV. 1879, pag. 1.
d) Th. Gies, Deutsche Zeitschr. für Chir. Jahrg. 12. 1880, pag. 551. E G.urlt
Schultergelenk. Die angeborenen Missbildungen, Verletzungen,
Erkrankungen und Operationen an demselben und an der
Schulter.
A. Anatomisch-physiologische Vorbemerkungen.1)
Unter Schulter im Allgemeinen versteht man denjenigen Körpertheil,
dessen untere Begrenzung bis dahin reicht, wo der Arm in seinem ganzen Umkreise
frei zu werden beginnt; seine obere Grenze ist durch den Ansatz des Musculus
trapezius , seine vordere durch die die V. cephalica aufnehmende Furche gegeben,
während hinten der Dorsalrand das M. delioideus die Grenze bildet, nach unten
und innen aber der Abschluss durch die Achselhöhle bewirkt wird. Den Mittel-
punkt dieser Gegend bildet das die freieste Verbindung mit dem Rumpfe ver-
mittelnde Gelenk, überhaupt das freieste Gelenk des Körpers, das Schulter-
gelenk. Von den drei die Schulter zusammensetzenden Knochen, dem Schulterblatt,
Schlüssel- und Oberarmbein, werden wir in diesem Abschnitte hauptsächlich nur
das letztere berücksichtigen , weil über die anderen beiden das Erforderliche
grösstentheils schon in den denselben gewidmeten Abschnitten angeführt ist ; es
ist jedoch hier noch einiger Beziehungen zu gedenken, in denen die drei Knochen
zu einander stehen. Dahin gehört namentlich die durch den Zusammenstoss von
Acromion, Proc. coracoid. und Clavicula in Verbindung mit dem Lig. coraco-
acromiale gebildete Art von Gewölbe, der Fornix humeralis , welcher den
oberen Umfang des Schultergelenkes wie ein Dach überragt. — Vom Os humeri
gehört sein oberes, bis zum unteren Rande der Sehnen der Mm. pectoralis major
und latissimus dorsi reichendes Viertel zum Gebiete der Schulter und umfasst
dasselbe den Gelenkkopf, die als Collum anatomicum bekannte, die Gelenk-
fläche umgebende Furche, das Tuberculum majus und minus, den zwischen
beiden befindlichen Sulcus intertubercularis und den abwärts von den genannten
Tuberculis gelegenen , bis zu der schon erwähnten Grenze reichenden Theil der
Diaphyse, welcher als Collum chirurgicum bezeichnet wird. Der Gelenkkopf,
der etwas mehr als das Drittel einer Kugel oder eines Ellipsoids ausmacht, kommt
stets nur mit einem Drittel seiner Oberfläche mit der Cavitas glenoidalis scapulae
in Berührung. Er ist von einem weiten, unterhalb des Collum, anatomicum
20*
308 SCHULTERGELENK.
humert und am Collum scapulae, am Rande des Labrum ßbrocartilagineum
sich anheftenden Kapselbande umgeben, das nach unten in der Richtung des
Collum chirurgicum eine faltenartige Ausbuchtung bildet, wodurch die verticale
Erhebung des Armes ermöglicht wird. Seine fibröse Schicht wird von einem
bandartigen Streifen, dem Lig. coraco-humerale, und durch die Sehnen der Mm.
supra-) infraspinatus und subscapidaris erheblich verstärkt. Zwischen die Kapsel
und die concave Seite des Schultergewölbes ist ein umfangreicher Schleimbeutel,
die Bursa mucosa subacromialis eingeschoben, die nicht selten mit
angrenzenden Schleimbeuteln communicirt, namentlich mit der Bursa mucosa
subcoracoidea i während ein anderer mit dem M. subscapularis in
Verbindung stehender Schleimbeutel, die Bursa mucosa subscapularis
fast ohne Ausnahme mit der Höhle des Schultergelenkes in Verbindung steht.
Die durch die Kapsel hindurchziehende Sehne des langen Kopfes des M. biceps
presst den Oberarmkopf gegen die Cavitas glenoidalis an und vermag ihn bei
Stössen von unten nach oben zu stützen. Die Synovialhaut, welche sonst fast
durchweg mit der fibrösen Kapsel fest verwachsen ist, besitzt zwei von jener
unabhängige Fortsetzungen, von denen die eine sich unter den M. subscapularis
erstreckt und mit der schon erwähnten Bursa mucosa subscapularis in Ver-
bindung tritt, während der andere Fortsatz sich eine Strecke weit an der Sehne
des langen Bicepskopfes , als Processus vaginalis abwärts erstreckt.
Der Gelenkkopf wird von dem Schultergewölbe, das eine die Cavitas glenoidalis
gleichsam ergänzende Pfanne bildet, knapp umfasst, so dass hauptsächlich nur die
durch Sehnengewebe ungemein verstärkten Tubercula über dasselbe hinausragen.
Der die Rundung der Schulter vorzugsweise bildende M. deltoideus ist eine Art
fleischige Fortsetzung des Schulter gewölb es und unter ihm, in dem Bindegewebe
zwischen ihm und dem das Tuberculum majus bedeckenden Sehnengewebe liegt
ein im ausgedehnten Zustande Wallnussgrosser, constanter Schleimbeutel, Bursa
mucosa subdeltoidea, die ebenso oft eine unter dem Lig. coraco-acromiale
hervortretende Verlängerung des von diesem Bande theilweise bedeckten Schleim-
beutels, als eine in sich vollkommen abgeschlossene Bildung ist. Auch auf dem
Acromion, unter der daselbst nicht sehr fettreichen Haut, befindet sich bei manchen
Individuen ein Schleimbeutel, Bursa mucosa subcutanea acromialis,
die bei Personen, welche Lasten auf den Schultern tragen, einen bedeutenden
Umfang zu erlangen pflegt.
Die Kraft , durch welche der Oberarmkopf in der Gelenkpfanne zurück-
gehalten wird, ist, ausser in der die Cohäsion begünstigenden Synovia (E. Rose),
in zwei Factoren zu suchen : nämlich einmal dem Luftdruck, dessen Wirkung das
Doppelte des Armgewichtes betragen soll (Ajebt), und dann in der Wirkung der
Muskeln, bei deren Lösung der Gelenkkopf, wie wir noch weiter sehen werden,
sofort heruntersinkt. — Was die Bewegungen, die im Schulter gelenk ausgeführt
werden können, betrifft, so sind dieselben, wie bekannt, ausserordentlich frei
und ausgiebig und finden ihr Ziel erst dann, wann die überknorpelten Gelenk-
flächen von Humerus und Scapula bis zur äussersten Grenze an einander sich
verschoben haben ; indessen sind die Bewegungen , namentlich die Abduction des
Armes, noch einer Erweiterung dadurch fähig, dass das Schulterblatt seinerseits in
Thätigkeit tritt.
B. Angeborene Missbildungen im Schultergelenk.
Zu denselben gehören allein die angeborenen Luxationen, die, in
kaum mehr als einem Dutzend Fälle beobachtet, bei ihrer Beurtheilung grosse
Schwierigkeiten darbieten, insofern als es bei einer Anzahl derselben keinesweges
unzweifelhaft ist, ob es sich bei ihnen wirklich um eine auf ursprünglicher Miss-
bildung der Gelenktheile beruhende angeborene Luxation, oder nicht vielmehr um
eine während des Geburtsactes durch eine geburtshilfliche Manipulation (Lösen
des Armes , Einhaken des Fingers in die Achselhöhle , Zug an dem Arme)
entstandene Verletzung, namentlich eine Epiphysenabreissung gehandelt habe. Im
SCHULTERGELENK. 309
Allgemeinen sind wohl die in der Minderzahl der Fälle bisher beobachteten
doppelseitigen Luxationen als zu der ersten Kategorie gehörig, d. h. als wirklich
angeborene Luxationen mit einiger Sicherheit zu betrachten, während die ein-
seitigen Luxationen, namentlich wenn sie erst bei älteren Kindern oder gar erst
bei Erwachsenen zur Beobachtung gelangen, häufig zu Zweifeln bezüglich ihrer
Natur Anlass geben können. Es sind bisher hauptsächlich zwei Formen der
Luxation, nämlich die L. subcoracoidea (nach vorne und innen), als die häufigste,
und die L. infrasjrinata (nach hinten und innen) beobachtet worden , während
die in wenigen Fällen gemachten anatomischen Untersuchungen bedeutende Form-
veränderungen des Oberarmkopfes , Fehlen oder bedeutende Deformität der
ursprünglichen, Bildung einer neuen Gelenkhöhle, neben Atrophie der Knochen
und Muskeln, nachgewiesen haben. Dem entsprechend fand man während des
Lebens an den betreffenden Gliedern vielfach grosse Schwäche oder wirkliche
Paralysen. Die objectiven Erscheinungen sind daher denen nach veralteter trau-
matischer Luxation (wie sie später noch näher zu beschreiben sind) sehr ähnlich,
und die Aufgabe der differentiellen Diagnose muss es sein, zu entscheiden, ob
wirklich eine angeborene Luxation, oder eine Skelet- Verletzung während der
Geburt , eine traumatische , bei derselben oder später entstandene Lähmung des
M. deltoideus, oder eine spinale Kinderlähmung vorliegt. Wir werden später
über die letztgenannten Zustände noch Einiges anzuführen haben und bemerken
nur, dass selbstverständlich die Annahme, resp. der Nachweis, dass während der
Entbindung geburtshilfliche Manipulationen unternommen worden sind oder nicht,
von grosser Bedeutung ist. — Handelt es sich um eine wirklich angeborene Luxation,
so ist die Möglichkeit des Gelingens der Reposition und der Herstellung eines
ziemlich normalen Gelenkes nicht ausgeschlossen, sobald die Behandlung möglichst
zeitig, also noch in den ersten Lebensmonaten unternommen wird. Wahrscheinlich
würden, da voraussichtlich die Reposition nicht beim ersten Versuche gelingt, die
betreffenden Manöver öfter zu wiederholen und jede erzielte Stelluugsveränderung
durch einen erhärtenden Verband zu sichern sein. Späterhin müsste dann eine auf
Beweglichmachung des hergestellten Gelenkes und Kräftigung der Muskeln gerichtete
orthopädische Behandlung nachfolgen.
G. Verletzungen des Schultergelenkes und der Schulter.
Contusionen der Schulter durch Fall, Schlag auf dieselbe können
bisweilen mit einem beträchtlichen, theils subcutanen, theils unter dem M. deltoideus
gelegenen Blutergusse verbunden und letzterer dadurch emporgehoben sein. Auch
eine Lähmung dieses Muskels kann durch starke Quetschung herbeigeführt werden,
möglicherweise dadurch, dass der denselben grösstentheils versorgende, dicht am
Knochen verlaufende N. axillaris (circumflexus) gegen denselben mit Gewalt ange-
drückt wird. In Folge derselben Gewalteinwirkung kann neben einer Contusion der
äusseren Weichtheile der Schulter auch eine Distorsion des Schultergelenks
stattgefunden haben, selbst mit theilweiser Zerreissung seines Kapselbaudes und
Bluterguss in seine Höhle. Bei allen diesen Verletzungen, namentlich wenn schon
eine beträchtliche Anschwellung eingetreten ist, muss grosse Aufmerksamkeit
darauf verwendet werden, nicht etwa eine vorhandene Luxation oder eine Fraktur
am oberen Ende des Oberarmes zu verkennen. Namentlich würde ein diagno-
stischer Irrthum bezüglich der ersteren von sehr schlimmen Folgen sein, weil
dadurch die rechtzeitige Ausführung der Reposition versäumt werden und dieselbe
später auf viel grössere Schwierigkeiten treffen würde. Es muss daher in allen
irgendwie zweifelhaften Fällen die genaueste Untersuchung (selbst mit Zuhilfe-
nahme der Narkose) stattfinden und muss man bei Vornahme einer genauen
Inspection und Vergleichung beider Schultern sich der durch die Luxation be-
dingten Veränderungen in den Längen- und Stellungsverhältnissen des Oberarms
erinnern. Die Behandlung der Contusion der Schulter und des Gelenkes muss
wesentlich eine antiphlogistische sein ; die Application der Kälte ist nützlich , bei
gleichzeitiger Ruhigstellung des Armes durch eine Mitella.
310 SCHULTERGELENK.
Unter den W u n cl e n, welche die Schulter und das Schultergelenk treffen
können, kommen vorzugsweise die Hieb-, Stich- und Schusswunden in Betracht.
Namentlich den Hiebwunden durch Kriegswaffen ist die Schulter sehr ausgesetzt,
und kann es sich bei denselben um blosse Haut- und Fleischwunden, oder, obgleich
sehr viel seltener , um Eröffnungen des Gelenkes handeln ; selbst das Ab- und
Durchhauen des Oberarmkopfes durch sehr scharfe, mit grosser Kraft geführte
Säbel ist beobachtet. Bei den Stichwunden handelt es sich um Messer-,
Bajonnett-, Lanzenstiche , und auch hier wieder ist die Bedeutung derselben
davon abhängig , ob blos die das Gelenk bedeckenden Weichtheile oder auch
dieses selbst mitverletzt ist. Dasselbe gilt von den Schuss wunden, die
mit zu den am häufigsten den Körper treffenden gehören. Es kann sich bei
ihnen um die verschiedenartigsten Streif-, Fleisch-, Contour-Schüsse handeln, die
das Gelenk unverletzt lassen; auch oberhalb der Achselhöhle, von vorn nach
hinten oder in umgekehrter Richtung die Weichtheile durchsetzende Schüsse sind
beobachtet, bei denen sowohl das Gelenk als die Nerven und Gefässe der Achsel-
höhle unverletzt blieben. Demnächst kommen die Schüsse mit Verletzung des
Gelenkes und dabei fast ausnahmslos auch der knöchernen Gelenkenden, namentlich
des Oberarmkopfes, in Betracht. Neben den Verletzungen durch Artillerie- Projectile,
also Kartätsch-, Shrapnel-Kugeln, Bomben- und Granatsplitter, durch welche häufig
ausgedehnte, mit Abreissung der ganzen Schulter, also sowohl der Weichtheile als der
Knochen, verbundene Verletzungen zugefügt werden, die gleichwohl, wenn die in
der Achselhöhle liegenden Hauptgefässe und -Nerven des Gliedes unverletzt geblieben
waren, unter Umständen einen günstigen Verlauf, selbst mit Erhaltung des Gliedes,
nehmen können, handelt es sich in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle um
Verletzungen durch Gewehr-Projectile, die für die Civil-Praxis auch in Pistolen-,
Revolverkugeln, Schrot- oder Pfropfschüssen bestehen können. Während bei den
letzteren sehr umfangreiche zerrissene oder zahlreiche kleine Wunden , sowie
schwere Gefäss- und Nerven- Verletzungen vorhanden sein können , fügen die
Gewehr-Projectile nur dann ausgedehntere Verwundungen der Weichtheile zu,
wenn sie aus nächster Nähe abgefeuert wurden (z. B. bei Selbstmordversuchen
von Soldaten, die sich mit ihrem eigenen Gewehr erschiessen wollten) ; sonst sind
die äusseren Schussöffnungen der modernen Projectile bekanntlich fast immer
klein und eng, die Verletzungen der Muskeln und Knochen dagegen oft sehr
beträchtlich. Der bei Verletzungen des Schultergelenkes fast immer und zunächst
getroffene Oberarmkopf kann einen Rinnen- oder Lochschuss , oder eine aus-
gedehntere Zertrümmerung zeigen, und bleibt das Projectil nicht selten in dem-
selben stecken. Von Bedeutung ist dabei das Lebensalter des Verletzten, indem,
wenn die Dia- und Epiphyse noch nicht knöchern verwachsen sind, eine ursprüng-
liche Zertrümmerung des Collum humeri sich an der noch knorpeligen Epiphysen-
fuge begrenzen kann. In einigen Fällen wird der Gelenkkopf zerschmettert Uüd
gleichzeitig aus der Gelenkhöhle luxirt, in anderen Fällen sind auch andere Theile
des Schultergeriistes, namentlich die Scapula mit ihrem Glenoidalfortsatze, dem
Acromion und Proc. coraeoid., oder die Clavicula mitverletzt; es kann aber auch
das Projectil durch das Schultergelenk hindurch bis in die Brust gedrungen sein.
Diese Verletzungen, ebenso wie die im Ganzen nicht häufigen Mitverletzungen der
Gefässe und Nerven der Achselhöhle, verschlechtern natürlich die Prognose in
erheblichem Grade. — Während die nach allgemeinen Regeln zu leitende Be-
handlung der Hieb- und Stichwunden hier keiner besonderen Erörterung bedarf,
wollen wir bezüglich der durch Kleingewehr-Projectile entstandenen Schusswunden
nur anführen, dass, wenn es gelingt, dieselben aseptisch zu erhalten, in einer
grossen Zahl von Fällen , selbst bei Knochenzerschmetterungen , die conservative
Behandlung von Erfolg sein wird, so dass in Zukunft die primäre Resection des
Oberarmkopfes nur wenig zur Anwendung kommen wird. Gelingt es jedoch bei
gleichzeitiger ausgedehnter Zersplitterung nicht , eine erhebliche Eiterung oder
Jauchung zu verhüten, so würde dann noch die seeundäre Resection auszuführen
SCHULTERGELENK. 311
sein. lieber die Technik der Operation und deren bisherige Erfolge wird «im
Schlüsse dieses Artikels das Nähere angeführt werden. Was die durch grosse
Projectile entstandenen schweren Verletzungen anlangt , so bietet auch bei ihnen
die antiseptische Behandlung bessere Aussichten auf einen glücklichen Verlauf als
bisher. Man kann dabei eines jeden operativen Eingriffes überhoben sein, oder
derselbe kann sich auf einfache Abtragung von gequetschten oder zermalmten
Knochentheilen oder eine Resection an den letzteren beschränken. Nur in den
schwersten Fällen, wo das Glied fast ganz abgerissen und auch seiner Ernährungs-
quellen beraubt ist, würde man zu einer primären Abtragung oder Exarticulation
desselben zu schreiten haben.
Die einen integrirenden Theil des Schultergelenkes bildende Sehne des
langen Kopfes des M. biceps ist ihrerseits auch isolirten Verletzungen
unterworfen. Unzweifelhaft kann eine Ruptur derselben beim Heben schwerer
Lasten, beim Ringen, Fechten u. s. w. stattfinden, indem die Sehne theils in
ihrer Insertion an der Scapula abreisst, theils innerhalb der Gelenkhöhle eine
Verletzung erfährt. Plötzlicher heftiger Schmerz bei der Entstehung, Unfähigkeit
den supinirten Vorderarm zu beugen, während dies bei der Pronationsstellung
(bei welcher die Beugung des Vorderarmes vorzugsweise durch den M. brachialis
internus bewirkt wird) möglich ist, sind die hauptsächlichsten Symptome (Hueter).
Eine bei der deformirenden Gelenkentzündung der Schulter durch allmälige Zer-
faserung der Sehne bewirkte Trennung derselben ist auf Rechnung der Erkrankung
des Schultergelenkes zu setzen und gehört deshalb nicht hierher. — Es soll
ferner eine Luxation der langen Bicepssehne aus ihrem Sulcus heraus,
auf das Tuber culum majus durch eine sehr bedeutende Kraftentfaltung des
Armes , namentlich eine gewaltsame Einwärtsdrehung desselben , herbeigeführt
werden können ; indessen sind die bezüglichen Beobachtungen so wenig beweisend,
die dafür angeführten Symptome (krachendes Geräusch und Schmerz bei Erhebung
des Armes u. s. w.) so wenig sicher, dass man, mit Berücksichtigung der ana-
tomischen Verhältnisse, das wirkliche Vorkommen einer derartigen traumatischen
Luxation der Bicepssehne, ohne dass eine gleichzeitige Rissfraktur des Tuberculum
majus stattgefunden hat, für sehr unwahrscheinlich halten muss. Man hat übrigens
versucht, das beobachtete Reibungsgeräusch und die Schmerzhaftigkeit auf eine
entzündliche Reizung der Bursa mucosa subacromialis zurückzuführen (Jarjavat).
Die Frakturen2) am oberen Ende des Oberarmbeines bieten, abgesehen
von den schon erwähnten Schussfrakturen, eine grosse Anzahl von Varietäten dar
und können mit anderen Arten von Brüchen, oder auch mit gleichzeitigen Ver-
renkungen des Oberarmkopfes combinirt sein. Sie kommen übrigens viel seltener
vor als die Brüche am unteren Ende des Oberarmbeines und betreffen, im
Gegensatz zu den letzteren, welche überwiegend im kindlichen Lebensalter beob-
achtet werden, vorzugsweise Individuen reiferen und höheren Alters. Wir unter-
scheiden folgende Varietäten: 1) Bruch durch den Oberarmkopf, äusserst
selten, sehr schwer zu diagnosticiren, in der Regel mit gleichzeitiger Fraktur des
Collum humeri verbunden. Die Verletzung selbst besteht theils in Knorpel-
fissuren, theils in mehrfachen Brüchen des Oberarmkopfes. 2) Isolirtes Ab-
brechen des Tu b er culum majus , sehr selten ; dabei fehlt die Wölbung
der Schulter, das Acromion ragt stärker hervor, der Durchmesser der Schulter
von vorne nach hinten ist verbreitert, es sind an derselben zwei durch eine tiefe
Grube zwischen den beiden Tuberculis getrennte Knochenvorsprünge fühlbar. Die
Auswärtsrollung des Armes ist unmöglich, Crepitation ist bei entsprechender
Manipulation hervorzurufen, die Dislocation durch Erhebung des Armes zu beseitigen.
3) Dieselbe Fraktur combinirt mitLuxation d es Oberarmkopfes,
häufiger als jene und oft als einfache Luxation diagnosticirt ; das abgebrochene
Tuberculum majus ist auf der Gelenkhöhle oder deren hinteren Rande gelegen,
entweder frei beweglich, oder den Bewegungen der Diaphyse unter Knorpel-
Crepitation folgend; der Gelenkkopf ist in der Achselhöhle, oder in deren Nähe,
312 SCHULTERGELENK.
wie bei einfacher Luxation, zu fühlen; der Arm erscheint, wie bei dieser, vom
Rumpfe abducirt und verlängert, die Beweglichkeit im Gelenke ist aufgehoben,
die Reposition der Luxation ist ohne Schwierigkeit auszuführen, und nachdem sie
gelungen, ist Crepitation leicht wahrzunehmen; es besteht eine Neigung zum
Recidiviren der Luxation. Uebrigens kommt ein Rissbruch geringer Art, d. h. ein
Abreissen der äusseren Knochenrinde oder einiger Facetten des Tuberc. majus
durch die an denselben sehr fest haftenden Sehnen wahrscheinlich bei der grössten
Mehrzahl der gewöhnlichen Oberarm -Verrenkungen vor. 4) Beim Abbrechen
des Tuberc. minus mit gleichzeitiger Luxation des Oberarm-
kopfes, einer äusserst seltenen Verletzung, sind alle auf die Luxation bezüg-
lichen Erscheinungen in gleicherweise wie bei der vorigen Verletzung vorhanden,
jedoch fühlt man statt des abgebrochenen Tuberc. majus, wie im vorigen Falle,
an der Innenseite des Gelenkes ein leicht hin- und herbewegliches Fragment.
5) Bruch durch das Collum anat omicum , selten, vorzugsweise in
höherem Lebensalter beobachtet , bei äusserlich unveränderter oder sehr wenig
abgeflachter Schulter, während die Achselhöhle unverändert ist, oder ein geringes
Vorspringen des Kopfes daselbst zu bemerken ist. Die Beweglichkeit im Gelenk
ist bisweilen ziemlich frei, Crepitation in der Regel nur bei stärkerer Bewegung
oder gar nicht vorhanden, weil oft jede Dislocation fehlt, oder eine Einkeilung
der Fragmente ineinander (meistens des Kopf-Fragmentes in die spongiöse Sub-
stanz zwischen den beiden Tuberculis) vorhanden ist. Im Uebrigen kann mit
der Fr. colli anatomlci gleichzeitig auch eine Fr. colli cliirurg. vorhanden
sein. 6) Die selten vorkommende Absprengung der oberen
Humerus-Epiphyse, entweder während des Geburtsactes durch geburtshilfliche
Manipulationen, also zu einer Zeit, wo die Epiphyse noch ganz knorpelig ist,
oder in der späteren Lebenszeit, bei bereits ganz oder grösstentheils verknöcherter
Epiphyse, durch andere Gewalteinwirkung entstanden, kommt ausschliesslich im
kindlichen Lebensalter bis zum 15. Jahre vor und besteht keineswegs immer in
einer absolut reinen Epiphysenabtrennung , sondern es werden oft genug, nament-
lich bei älteren Kindern , auch einzelne Knochenportionen mit abgerissen. Dabei
findet man den Oberarmkopf in der Gelenkhöhle bei Rotation des Armes
unbeweglich und darunter eine Einsenkung, während das obere Ende der Diaphyse
unter dem Proc. coracoid. oder in der Achselhöhle einen abgerundeten, glatten
Vorsprung bildet, und der je nach Umständen etwas verlängerte oder verkürzte
Arm von oben, innen und vorne nach unten aussen und hinten gerichtet und der
Ellenbogen leicht an den Rumpf anzulegen ist. Während die Beweglichkeit im
Gelenk selbst ganz aufgehoben ist, kann man, nach der durch Extension, Contra-
extension und Seitendruck auszuführenden Reposition, sobald die Trennungsflächen
mit einander in Berührung gekommen sind, eine leise Knorpel- Crepitation wahr-
nehmen. Im Uebrigen sind die Symptome bei ganz jungen und älteren Kindern
etwas verschieden und bisweilen ist die Verletzung mit einer Wunde complicirt,
durch welche das Diaphysenende hervorragt. 7) Der Bruch durch das
Collum humeri chirurgicum , die häufigste Bruchform am oberen Ende
des Os humeri, findet sich bei bejahrten Individuen vorzugsweise als Quer-,
mehrfacher oder Comminutivbruch, zum Theil mit Einkeilung des Diaphysen-
Fragmentes in das Kopf-Fragment verbunden, während bei jugendlichen Individuen,
die oft mit einer Wunde complicirten Schrägbrüche vorherrschen. Indem das
obere Fragment an dem abducirten Arme manchmal bis zur Horizontalen erhoben
ist, tritt seine Bruchfläche an der Aussenseite hervor; in anderen Fällen findet
man an der Innenseite die Weichtheile durch das untere Fragment angespiesst
oder perforirt und ist dabei häufig eine Einsenkung unterhalb des Kopfes zu
bemerken. Die Dislocation der Fragmente ist, wie schon erwähnt , in manchen
Fällen sehr beträchtlich, in anderen aber, namentlich bei Einkeilung der Frag-
mente oder bei Erhaltung des Periosts, kann sie auch fehlen, überhaupt sind die
Symptome, je nach der Art des Bruches, sehr variabel, wenn auch Crepitation
SCHULTERGELENK. 313
fast immer vorhanden ist, besonders stark bei Comminutivbrüchen. Bei Schräg-
brüchen kann öfter eine Wunde, auch in der Achselhöhle, vorhanden sein, durch
welche das untere Bruchende hervorsieht. Die Reposition bietet oft sehr grosse
Schwierigkeiten dar. 8) Der Bruch durch das Collum humeri (ana-
tomicum oder chirur gicum) mit gleichzeitiger Luxation des ab-
gebrochenen Oberarmkopfes betrifft fast immer Personen mittleren oder
höheren Alters und ist ziemlich selten. Es findet sich dabei eine Abflachung der
Schulter mit starkem Hervorspringen des Acromion, die Gelenkhöhle ist leer zu
fühlen, es ist eine unnatürliche Beweglichkeit des Armes nach allen Richtungen
vorhanden, das Diaphysen-Bruchende ist durch Aufwärtsdrängen bis zur Gelenk-
höhle zu führen und wird in späteren Stadien der Verletzung durch Muskel-
zusammenziehung daselbst erhalten. Das Kopffragment ist in der Achselhöhle
oder unter dem Proc. coracoid. oder der Clavicula zu fühlen, bisweilen etwas
beweglich. Im Uebrigen sind die Symptome, wenn es sich um einen Bruch des
chirurgischen Halses handelt, viel ausgeprägter, als wenn das am Collum ana-
tomicum abgetrennte Kopffragment luxirt ist. Das letztere erfährt übrigens nicht
immer eine seitliche Verschiebung, sondern es kann in einigen seltenen Fällen
derartig umgekehrt sein, dass seine Knorpelfläche sich mit der Bruchfläche des
Diaphysenfragmentes in Berührung befindet.
Die Entstehung der am oberen Ende des Os humeri vorkommenden
Continuitätstrennungen ist bei allen ziemlich dieselbe, indem fast immer directe
Gewalt, wie ein Fall oder Sturz auf die Schulter mit mehr oder weniger Wucht,
seltener der Anprall oder das Auffallen einer Last auf dieselbe die Verletzung
herbeiführt; indessen kommen doch auch einzelne Knochenbrüche, namentlich die
des Collum chirurgicum, besonders bei alten Leuten , bei denen die Rarefaction
und Atrophie der Knochensubstanz auch das obere Ende des Oberarmbeines ergriffen
hat, durch indirecte Gewalteinwirkung, durch Fall auf den Ellenbogen oder die
Hand zu Stande. Uebrigens ist in vereinzelten Fällen ein Bruch des Collum
clrirurg. auch durch blosse Muskelaction entstanden beobachtet worden. Die Epi-
physen-Absprengungen werden, wie schon erwähnt, bisweilen durch geburtshilfliche
Manipulationen (Tractionen an dem vorgefallenen Arme , hakenförmiges Einsetzen
des Fingers in die Achselhöhle, Herumdrehen des Armes an dem mit dem Kopfe
geborenen Kinde, gewaltsames Lösen des über den Kopf hinaufgeschlagenen
Armes u. s. w.) herbeigeführt ; bei älteren Kindern sind meistens bedeutende Gewalt-
einwirkungen zur Erzeugung dieser Verletzung erforderlich. — Bei der Diagnose
der verschiedenen Verletzungen am oberen Humerusende müssen nicht nur die ver-
schiedenen von uns aufgezählten Varietäten eine genaue gegenseitige Berücksichtigung
erfahren, sondern es kommen auch noch folgende die Schulter treffende anderweitige
Verletzungen in Betracht: 1) die Contusion oder Distorsion des Schultergelenkes,
2) die einfache Luxation des Oberarmkopfes, 3) die Fraktur des Collum scapulae,
4) die Fraktur des Acromion. Die Symptomatologie dieser verschiedenen Zustände
findet sich theils in diesem Abschnitte, theils unter „Schulterblatt" näher angeführt.
— Da durch die Verletzung irgend eines Theiles des oberen Endes des Os humeri
an sich nicht leicht eine Gefahr für das Leben herbeigeführt wird, sind in Folge
dessen Verlauf und Ausgang und damit die Prognose günstig ; jedoch kommen
für einzelne Fälle auch noch einige näher zu besprechende Besonderheiten in
Betracht. Die Besorgniss, dass ein im Collum anatomicum abgebrochener,
anscheinend aus allem Gefäss- und Nervenzusammenhang getretener Oberarmkopf
um so mehr dann, wenn er noch gleichzeitig aus der Gelenkhöhle herausluxirt ist,
mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit absterben und sich in einen Sequester
verwandeln könne, wird durch die thatsächliche Beobachtung nicht bestätigt, viel-
mehr erfolgt die Wiederanheilung mit demselben voluminösen Callus, wie er meistens
bei den Brüchen am oberen Ende des Oberarmbeines sich findet. Als Folge einer
Epiphysen-Absprengung kommen bei ungünstiger Heilung bisweilen Lähmungen
der Schultermuskeln vor ; in einer gewissen Anzahl von Fällen ist aber, ohne dass
314 SCHULTERGELENK.
irgend welche Lähmung oder auch nur bedeutende Schwäche vorhanden wäre, ein
so bedeutendes Zurückbleiben des Längenwachsthuras des Oberarmes beobachtet
worden, dass dieser kaum halb so lang war, wie der der unverletzten Seite.
In Betreff der mit Luxation des Oberarmkopfes combinirten Frakturen des Ober-
armhalses ist zu bemerken, dass auf das Gelingen der Reposition des abgebrochenen
Kopfes keineswegs in allen Fällen mit Sicherheit zu rechnen ist; trotzdem kann
die Wiederherstellung der Brauchbarkeit des Gliedes eine ziemlich vollständige
werden. Bei allen Arten von Brüchen am oberen Ende des Oberarmbeines kann
durch die oft in übermässigem Grade vor sich gehende Callusbildung eine sehr
erschwerte Beweglichkeit des Gelenkes, selbst eine der Ankylose nahekommende
Unbeweglichkeit herbeigeführt werden, gegen die natürlich nichts zu unter-
nehmen ist.
Die Therapie der vorliegenden Brüche hat sich zunächst mit der
Reposition zu beschäftigen, die bei manchen derselben nicht unerheblichen
Schwierigkeiten unterliegt. Schon bei den isolirten Brüchen des Tuberc. majus
ist es sehr schwer, das abgebrochene Knochenstück anders als bei rechtwinkelig
abducirtem Arme in situ zu erhalten. Noch mehr Mühe aber verursachen die Brüche
des Collum clrirurgicum , namentlich diejenigen Schrägbrüche, bei denen das
scharfe und spitzige untere Fragment den M. deltoideus und die Haut angespiesst
oder beide sogar perforirt hat. Im letzteren Falle ist die Resection des hervor-
stehenden Endes, nebst Erweiterung der engen Wunde, auszuführen ; aber auch im
ersteren Falle gelingt die Lösung der Weichtheile oft erst durch ein operatives
Verfahren, indem man mit einem schmalen Messer oder Tenotom neben dem
Fragmente eingeht und mit der Fläche desselben die das Fragment fixirenden
Haut- und Muskelpartien abzuheben versucht, oder dass man sie, wenn jenes
Manöver misslingt, der Quere nach subcutan einschneidet. — Für den Bruch des
Oberarmhalses oder auch einen Bruch an der Diaphyse desselben mit gleichzeitiger
Luxation des Oberarmkopfes kommen drei Verfahren in Betracht: 1) Die Erzielung
der Reposition auf frischer That unter Zuhilfenahme der Chloroform-Narkose, durch
einen entsprechenden, auf das Kopffragment ausgeübten Fingerdruck, das sogenannte
„refoulement" von Richet, während an dem Arme selbst ein mehr oder weniger
starker Zug stattfindet. Dieses Verfahren hat sich in einer ganzen Reihe von
Fällen als erfolgreich erwiesen uud muss stets, ohne Zeitverlust und mit aller
Sorgfalt versucht werden. Befand sich der Bruch in der Diaphyse, so kann man
wohl auch durch Anlegung eines starken Gypsverbandes oder Befestigung einer
Gyps-Latte am Oberarm sich einen längeren Hebel verschaffen und diesen ent-
sprechend benutzen. 2) Das zweite Verfahren, erst nach Misslingen des ersten
anzuwenden, besteht darin, die Bruchflächen des Kopf- und Diaphysen- Fragmentes
aneinander zu führen, durch einen Verband zu immobilisiren und nachdem die
knöcherne Vereinigung erfolgt ist , die Reposition von Neuem zu versuchen. Es
sind auch mit diesem Verfahren Erfolge erzielt worden, allein es kann bei ihm
vorkommen, dass bei frühzeitiger Vornahme der Repositionsversuche der noch nicht
hinreichend feste Callus nachgiebt ; andererseits können, wenn man die Reposition
erst spät versucht , um den abgebrochenen Gelenkkopf herum sich bereits solche
Verwachsungen gebildet haben, dass jene nicht gelingen kann. 3) Das letzte
Verfahren , welches einzuschlagen ist , wenn das erste Verfahren oder beide im
Stich gelassen haben, besteht darin, sich um den abgebrochenen Oberarmkopf
nicht weiter zu kümmern, sondern denselben sich selbst und der Verkleinerung
durch Resorption zu überlassen (man würde ihn später auch wohl durch einen
einfachen Schnitt wie einen Fremdkörper extrahiren können), dagegen das Diaphysen-
fragment durch Mitella, Achselpolster u. s. w. möglichst der Cavitas glenoidalis
angenähert zu erhalten und die Bildung eines falschen Gelenkes zu begünstigen,
die bei geeigneter Nachbehandlung in einer Anzahl von Fällen sich als sehr
günstig erwiesen hat, so dass noch recht brauchbare Glieder erzielt wurden.
— Was den Verband bei den Frakturen am oberen Ende des Oberarmbeines
SCHULTERGELENK. 315
anlangt, so ist, da für die meisten derselben die herabhängende Stellung des Ober-
armes die geeignetste und bequemste ist, mit bestem Erfolge, nach Ausführung
der Reposition, von einem die Schulter in Gestalt einer Spica humeri umgebenden
erhärtenden (Kleister-, Gyps- , Tripolith- etc.) Verbände Gebrauch zu machen,
während selbstverständlich die ganze übrige Extremität von unten nach oben ein-
gewickelt und durch eine Mitella suspendirt wird. Einige Brüche aber, welche
der abducirten Stellung des Oberarmes, zu möglichster Annäherung der Fragmente
aneinander, bedürfen, wie die Abreissung des Tuberc. majus und einige Frakturen
des Collum chirurgicum werden am besten mit einem aus einem Kissen oder aus
entsprechenden Schienen herzustellenden Planum inclinatum (Middeldorpf's Arm-
Triangel) behandelt und auf diesem in der angeführten Stellung immobilisirt.
Dieselbe Verbandweise ist auch für einzelne Fälle von Fract. colli humeri mit
gleichzeitiger Luxation des Oberarmkopfes, nach ausgeführter Reposition des letzteren
dann geeignet, wenn bei der erwähnten Stellung besser als bei herabhängendem Ober-
arme die Fragmente aneinander zu halten sind. Bei mit Wunden complicirten Knochen-
brüchen ist selbstverständlich die Behandlung in entsprechender Weise zu modificiren.
Die Luxationen des Oberarmkopfes3) im Schultergelenke sind
bekanntlich die weitaus häufigsten unter allen Luxationen. Nach Krönlein 4)
kamen unter 400 in 6x/2 Jahren in Berlin beobachteten frischen traumatischen
Luxationen allein 207 oder 513/4 Procent auf diese (darunter 203mal die L. sab-
coracoidea und axillaris, 3mal die L. ej-ecta, lmal die L. infraspinata). Die
genannten 207 Fälle betrafen 184 männliche und 23 weibliche Individuen, von denen
nur 2 unter 20 Jahren waren, wogegen resp. 55, 45, 48 und 36 den 4 folgenden
Decennien des Lebens vom 21. — 60. Jahre und nur 19, resp. 2, den beiden
folgenden Decennien bis zum 80. Jahre angehörten. Es ergiebt sich hieraus das
überwiegende Vorkommen dieser Verletzungen in der Zeit der Blüthe des Lebens,
während Frakturen bekanntlich im ersten Kindesalter (1. — 10. Lebensjahr) am
häufigsten sind und nur gewisse Formen derselben auch im hohen Greisenalter
oft beobachtet werden. — Dass gerade das Schultergelenk am häufigsten von
Luxationen befallen wird, erklärt sich durch die ausserordentliche Freiheit, welcher
sich seine Bewegungen erfreuen, bei gleichzeitig verhältnissmässig geringem Contact
seiner Gelenkflächen. Die Entstehung dieser Luxationen ist in der über-
wiegenden Zahl der Fälle auf eine indirecte Gewalteinwirkung, wie Fall auf den
Ellenbogen oder die Hand, verbunden mit einer Rotation im Gelenke und einer
mehr oder weniger erheblichen Abduction des Armes vom Rumpfe zurückzuführen.
Die letztere Stellung des Armes, bei welcher ein Anstemmen des Tuberculum majus
gegen das Acromion stattfindet , ist diejenige , bei welcher er den auf ihn ein-
wirkenden Gewalten am wenigsten Widerstand zu leisten vermag. In seltenen
Fällen kann auch durch directen Stoss oder Anprall auf den Oberarmkopf eine
Luxation desselben herbeigeführt werden ; noch seltener sind die bei gesunden,
bisher noch nie verrenkt gewesenen Gelenken durch blosse Muskelanstrengung ent-
standenen Luxationen ; dagegen ist es ein häufiger Vorgang , bei Personen, deren
Schultergelenk wiederholt luxirt war, oder solchen , die an Krämpfen , namentlich
Epilepsie leiden, durch eine oft sehr geringe Muskelaction , z. B. schon beim
Erheben des Armes über den Kopf, wie es unwillkürlich im Schlafe geschieht,
eine unter Umständen ausserordentlich häufige Wiederkehr der Luxation zu
beobachten. — Man unterscheidet 3 Hauptformen der Schulterluxation, je nachdem
der Gelenkkopf sich unter, vor oder hinter die verlassene Gelenkhöhle gestellt
hat. Es werden von Einigen zwar auch noch unvollständige Luxationen,
d. h. solche, bei denen der Gelenkkopf noch theilweise in der Gelenkhöhle sich
befinden soll , angenommen, indessen dieselben sind , abgesehen davon , dass man
sie bei normaler Beschaffenheit der Gelenktheile mechanisch sich kaum denken kann,
anatomisch bisher nicht nachgewiesen. Wahrscheinlich hat man aus anscheinend
veralteten Luxationen , die aber in der That Fälle von deformirender Gelenk-
entzündung waren, und bei denen man den Oberarmkopf zum Theil in der normalen,
316 SCHULTERGELENK.
zum Theil in der abnorm erweiterten Gelenkköhle stebend fand, geschlossen, dass
dies ein durch Verletzung entstandener Zustand sei , und dass hier eine veraltete
incomplete Luxation vorliege. Wir lassen deshalb die „unvollständigen" Schulter-
luxationen ausser allem Betracht.
a) Luxatio axillaris, subglenoidea. Bei derselben stemmt
sich, in Folge der erwähnten Gewalteinwirkung, der Oberarmkopf gegen die untere
Kapselwand da, wo sie am schwächsten ist; es erfolgt ein Riss daselbst und der
Kopf tritt durch diesen hindurch, unter den M. subscajpularis , der seinerseits
entweder ebenfalls zerreisst, oder über den Gelenkkopf weggleitet, so dass
der letztere nunmehr am Collum scapulae sich befindet. Die Symptome
dieser Luxation sind sehr deutlich. Die Schulter erscheint abgeflacht , das
Acromion eckig hervortretend , der M. deltoideus gespannt und vertieft ; der
Oberarm ist vom Thorax abducirt und kann weder activ noch passiv an den-
selben angelegt werden , während eine passive Erhebung bis zur Horizontalen
möglich ist. Bei der Yergleichung beider Arme, denen man die gleiche Stellung
giebt, erscheint der luxirte Arm nicht unerheblich länger, seine Längsaxe,
nach oben verlängert gedacht, trifft jedoch nicht auf die Gelenkhöhle, unter dem
Acromion, sondern auf die Achselhöhle. In letzterer kann man deutlich den durch
den luxirten Oberarmkopf bewirkten abnormen Knochenvorsprung fühlen. Auch
die sonstige Haltung des Verletzten ist charakteristisch. Während er zur Erschlaffung
der Muskeln den Kopf nach der verletzten Seite geneigt hält, unterstützt er den
im Ellenbogengelenk gebeugten Arm mit der gesunden Hand. In Folge des Druckes,
den der luxirte Kopf auf den Plexus bracliialis in der Achselhöhle ausübt, hat
der Patient nicht unbedeutende Schmerzen, verbunden mit dem Gefühl von Taubheit
oder Eingeschlafensein und Ameisenkriechen in den Fingern. Besteht die Luxation
Stunden- oder Tagelang fort, so gesellt sich in Folge des Druckes auf die Vena
axillaris auch Oedem der Hand und des Armes hinzu. — Die eben beschriebene
Stellung des Oberarmkopfes, unmittelbar unter der Caritas glenoidalis, wird jedoch
nur in ganz frischen Fällen , in denen noch gar keine Hilfsversuche gemacht
worden waren, beobachtet. Sind solche bereits unternommen worden, oder kommt
der Patient überhaupt erst später in die Behandlung des Arztes, so findet man
in der Regel diese Stellung des Kopfes nicht mehr, sondern in Folge der vielleicht
an dem Arme gemachten Tractionen, ferner auch in Folge des spontan auf den
Oberarm in der Richtung nach vorn und innen ausgeübten Zuges und endlich
weil die untere Fläche des Collum humeri wegen ihrer geringen Breite das
Abgleiten des Kopfes nach vorn und innen sehr begünstigt , ist die ursprüngliche
L. subglenoidea oder axillaris in eine L. praeglenoidea verwandelt, d. h. der
Oberarmkopf ist auf die Subscapularfläche des Collum scapulae getreten, bei im
Lebrigen fast unveränderten Symptomen.
b) Luxatio praeglenoidea, subcoracoidea, intr acor a-
coidea, subclavicularis. Der Oberarmkopf, der sich bei dieser Luxation
in der eben angegebenen Stellung befindet , kann in dieselbe gleich bei der Ent-
stehung der Verletzung gelangt sein, kann auch noch weiter nach innen rücken,
sich unter den vorderen Pfeiler der Achselhöhle, den M. pectoralis major und unter
den Proc. coracoideus stellen, aber auch selbst nach innen von diesem Fortsatze
rücken (L. intr acor acoidea) und kann endlich, sei es durch die ursprüngliche Gewalt-
einwirkung, sei es durch nachträgliche Manipulationen, unter den M. pectoralis
minor bis dicht an das Schlüsselbein hinaufgetrieben werden (L. coraco-clavicularis
s. subclavicularis). In allen diesen Fällen befindet sich der Oberarmkopf unter
dem 31. pectoralis major, unter dem er als harte Erhabenheit zu fühlen ist. Die
anderen Symptome sind ähnlich wie bei der Axillar-Luxation, nur dass der Ellen-
bogen weniger vom Rumpfe absteht, mehr nach hinten gerichtet und der Arm
wenig oder gar nicht verlängert ist.
c) Luxatio retro glenoidea, subacr omialis , infr aspinata.
Diese Luxation, mit Ausweichen des Gelenkkopfes über den hinteren Rand der
SCHULTERGELENK. 317
Cavitas glenoidalis auf die Fossa infraspinata1 unter die Wurzel des Acromion
oder bis unter die Spina scapulae kommt sehr selten vor, und zwar deswegen,
weil die hintere Kapselwand durch die vereinigten Sehnen der drei Mm. supra-,
infraspinatus und teres minor sehr verstärkt ist und anderseits die Abreissung
der sehr starken Sehne des M. subscapularis , die bisweilen mit einer Rissfraktur
des Tuberc. minus verbunden ist, eine sehr grosse Gewalt erfordert. Diese letztere
muss in einer sehr starken Einwärtsdrehung, unterstützt durch eine den Humerus-
kopf nach hinten treibende Gewalt, bestehen ; es ist aber diese Luxation auch durch
blosse Muskelaction, bei epileptischen Krämpfen entstanden, beobachtet worden. Die
Symptome derselben sind wesentlich andere, als die der bisher genannten Luxationen.
Man findet unter und hinter dem Acromion die durch den Kopf bedingte Vorwölbung,
der Arm ist leicht adducirt und unbeweglich , bisweilen auch wohl etwas verlängert ;
es ist ferner die gewöhnliche Einsenkung des M. deltoideus unter dem stark
hervorragenden Acromion vorhanden , der M. pectoralis major stark gespannt.
Ausser den angeführten 3 Hauptformen der Oberarm-Luxationen kommen
noch einige andere, nur unter gewissen Umständen beobachtete vor. Dahin gehört
die zuerst von Middeldorpf (Breslau 1857) beobachtete Luxatio humeri
erecla, bei welcher der Gelenkkopf zwar sich in der Achselhöhle oder weiter
nach innen stehend findet, der Arm aber statt, wie gewöhnlich, nach unten herab-
zuhängen, derartig nach oben gerichtet ist, dass der Ellenbogen sich in der Höhe
des Kopfes , die Hand aber auf dem Scheitel oder in dessen Nähe befindet.
Die Veranlassung zu dieser seltenen Luxation gab meistens ein Sturz mit empor-
gehobenem Arme durch eine relativ enge Oeffnung, z. B. eine durchbrechende
Decke hindurch; indessen kann diese Art von Luxation auch auf andere Weise,
z. B. Fall auf den Arm u. s. w. , entstehen. — Zwei weitere , nur durch einen
gleichzeitigen Knochenbruch ermöglichte Luxationen sind die Luxatio sub-
acromialis, bei welcher der Gelenkkopf nach oben die Pfanne verlässt und
das Acromion abbricht, sowie die Luxatio supr a cor acoid ea (bisher nur
von Malgaigne und W. Busch beobachtet) , bei welcher der Proc. coracoid. mit
abgebrochen ist. Anderweitige complicirte Luxationen sind die bereits im Obigen
erwähnten, mit einer Rissfraktur des Tuberculum majus oder minus , einem
Abbrechen des Collum anatomicum oder chirur gicum, einem Abbrechen
des Randes der Cavitas glenoidalis (vgl. „Schulterblatt") complicirten, die
sehr seltenen offenen Luxationen, bei denen der Gelenkkopf durch eine
Wunde in den Bedeckungen (meistens in der Achselhöhle) hervorgetreten ist, und
die nur in einem Falle (Prochaska, Wien 1812) bekannte Luxation, bei welcher
der Oberarmkopf mit Bruch der 3. Rippe in die Brusthöhle eingetreten war, mit
nachfolgender Heilung und Brauchbarkeit des Gliedes. Bei sehr bedeutenden
Gewalteinwirkungen , denen der Verletzte ausgesetzt war , sind überhaupt Brüche
der Rippen, des Schlüsselbeins, Schulterblattes keine seltenen Complicationen einer
Oberarm-Luxation. Als sehr ungewöhnlich ist endlich auch die gleichzeitige
Luxation beider Oberarme zu bezeichnen, entstanden durch Sturz auf beide
Hände, oder Auffallen einer Last auf den Rücken, während beide Hände auf-
gestützt waren.
Die anatomischen Veränderungen, welche man bei frischen
Luxationen findet, betreffen zunächst die G e 1 e n k k a p s e 1 , die meistentheils einen
der Grösse des Gelenkkopfes und der Richtung der Luxation entsprechenden
Kapselriss zeigt, da nur bei ungewöhnlicher Schlaffheit der Gelenkkapsel und der
dieselbe verstärkenden Muskeln eine Luxation ohne Kapselriss möglich ist. Derselbe
befindet sich also in den meisten Fällen zwischen den Sehnen des M. subscapularis
und des langen Kopfes des M. triceps. Die am Oberarmkopfe selbst sich
inserirenden Sehnen der Mm. supra-, infraspinatus und teres minor werden fast
immer an ihren Insertionen abgerissen gefunden, sehr häufig derart, dass die
äussere Knochenrinde, unter Umständen auch die eine oder andere Facette oder
das ganze Tuberculum majus mit abgerissen ist. Die lange Bicepssehne wird
318 SCHULTERGELENK.
gewöhnlich aus dem Sulcus intertubercularis herausgerissen und kann bisweilen,
wenn sie sich zwischen Oberarmkopf und Gelenkhöhle legt, ein Repositionshinderuiss
abgeben. Von den das Gelenk umgebenden Muskeln wird bei der Luxation
nach vorne der M. subscapularis sehr häufig zerrissen, auch der M. serratus
anticus major^ mit dem der Gelenkkopf dann in Berührung tritt, kann von diesem
durchwühlt werden. Der für gewöhnlich nur gespannte M. deltoideus kann aus-
nahmsweise auch von dem Kopfe durchbohrt werden, so dass dieser sich unmittelbar
unter der Haut befindet. Die Verletzungen der Knochen, welche die Oberarm-
Luxationen vielfach compliciren, haben wir bereits angeführt. Die Gefässe und
Nerven der Achselhöhle werden zwar vielfach durch den luxirten Kopf gezerrt,
aber bei frischen Luxationen nur sehr ausnahmsweise wirklich verletzt; nach
ausgeführter Reposition sind aber in einer Reihe von Fällen Verletzungen der
Art. axillaris und in einigen wenigen Fällen auch der V. axillaris constatirt
worden, wie wir später sehen werden. Von den Nerven wird am meisten der
N. axillaris (circumßexus) betroffen 5 er kann comprimirt oder gezerrt und
dadurch die Innervation des M. deltoideus beeinträchtigt werden. Die Verletzungen
des Plexus brachialis bei gewaltsamen Repositionen besprechen wir später. —
Die im intermusculären und subcutanen Bindegewebe sich findenden Blut-
extravasate pflegen sich vom Gelenke aus über einen weiten Bezirk längs des
Armes und Thorax zu verbreiten, so dass man an demselben, lange Zeit nach
geschehener Reposition, auch äusserlich noch die Spuren der Verletzung erkennt.
— Die anatomischen Veränderungen, welche sich bei veralteten Luxationen
finden, betreffen vorzugsweise die Neubildung einer Gelenkhöhle an der Stelle, wo
sich der ausgewichene Gelenkkopf befindet. So vollkommen diese Nearthrosen
bisweilen sind, so dass sich neben der obliterirten ursprünglichen Cavitas glenoidalis
eine neue mit beinahe allen Attributen derselben findet, so giebt es doch eine Reihe
von Fällen, in deuen es, wenn keine bestimmte Anamnese vorliegt, zweifelhaft
bleiben muss, ob die vorhandenen, durch die Section constatirten Veränderungen auf
eine voraufgegangene traumatische Luxation, oder auf die deformirende Gelenk-
entzündung zurückzuführen sind. Allerdings wird bei der letzteren in der Regel eine
durch Osteophytbildungen herbeigeführte Vergrösserung des Gelenkkopfes vorhanden
sein, während bei veralteten Luxationen eher eine Verkleinerung und Abflachuug
desselben anzunehmen ist; allein es ist doch nicht mit Sicherheit auszuschliessen, ob
nicht auch bei letzteren Osteophytablagerungen, Gelenkkörper, polirte Schliffflächen,
Zottenwucherungen , Zerfaserung der langen Bicepssehne in ganz ähnlicher Weise
vorkommen können, wie sie der gedachten Entzündung eigentümlich sind. Selbst
bei der sehr seltenen Luxation nach hinten lässt sich nicht immer der eine oder
andere Zustand genau von einander unterscheiden, da auch bei der deformirenden
Gelenkentzündung Wanderungen der Gelenkhöhle nach der Fossa wfrasjrinata
beobachtet sind. Anderweitige, bei veralteten Luxationen anzutreffende Veränderungen
bestehen in Verwachsungen des ursprünglichen Kapselrisses , Bildung einer neuen
Gelenkkapsel, ferner bisweilen in Adhäsionen, welche die Gefässe und Nerven mit
ihrer Nachbarschaft verbinden ; die letzteren sind besonders von grosser Bedeutung,
wenn noch verspätete Einrenkungs versuche gemacht werden sollten, weil es dabei
leicht zu lebensgefährlichen Zerreissungen kommen kann.
Bei der Diagnose der Oberarm-Luxationen handelt es sich vorzugs-
weise um die Unterscheidung der blossen Contusion oder Distorsion des Gelenkes,
der Frakturen und Epiphysenabsprengungen am oberen Ende des Os humeri allein,
oder in Verbindung mit gleichzeitiger Luxation des Gelenkkopfes und der Fract.
colli scajndae. Eine vergleichende Betrachtung beider Arme und eine in zweifel-
haften Fällen in der Chloroform-Narkose auszuführende genaue Exploration gestattet,
selbst wenn die äusseren Verhältnisse ungünstige sind, d. h. eine sehr beträchtliche
Anschwellung der Schulter bereits vorliegt, in allen Fällen ein sicheres Urtheil
jedenfalls mit Bestimmtheit darüber abzugeben, ob der Oberarmkopf aus der
Gelenkhöhle gewichen ist, oder nicht.
SCHULTERGELENK. 319
Die Prognose ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine nicht
ungünstige, da nur sehr ausnahmsweise bei denselben gefährliche oder das Leben
bedrohende Complicationen vorhanden sind. Wenn die Reposition zeitig und
in zweckentsprechender Weise ausgeführt wird und die Nachbehandlung eine
angemessene ist, erleidet der Arm in seiner späteren Brauchbarkeit nur eine geringe
Einbusse, wenn es auch für jeden Patienten, der einmal sich den Oberarm luxirt
hat, eine gebotene Pflicht ist, alle solche Bewegungen und Anstrengungen zu
vermeiden, bei denen erfahrungsgemäss ein Recidiv seiner Luxation eintreten
könnte. Wird jedoch von den Patienten die nach der Reposition für mehrere
Wochen gebotene Ruhe des Armes vernachlässigt , derselbe vielmehr alsbald in
Gebrauch genommen , so kommt es zu keiner genügenden Verheilung des Kapsel-
risses und zur Anheilung der abgerissenen Sehnen der Mm. supra- und infra-
spinatus und der Patient zieht sich Recidive bei der leichtesten Veranlassung zu,
beispielsweise, wie schon erwähnt, wenn er im Schlaf den Arm über seinen Kopf
erhebt. Es giebt aber noch andere Fälle, wo der Grund für das häufige
Recidiviren dieser dann als habituell zu bezeichnenden Luxationen in einem
Abbrechen des Randes der Gavitas glenoidalis oder dem Nichtanheilen des
abgebrochenen Tuberculum majus oder eines anderen Stückes des Oberarmkopfes
zu suchen ist. — Was sonst die Möglichkeit anlangt, Luxationen im Schultergelenk
noch nach Verlauf sehr langer Zeit mit günstigem Erfolge zu reponiren, so lässt
sich der auf mindestens einige Jahre zu veranschlagende Termin mit ganzer
Bestimmtheit nicht feststellen; es ist das Gelingen der in den meisten Fällen
mehrfach zu wiederholenden Repositionsversuche hauptsächlich davon abhängig,
einerseits ob eine sehr vollständige Nearthrosenbildung stattgefunden hatte (in
welchem Falle die Repositionsversuche überhaupt unterbleiben mussten) anderseits
ob der Gelenkkopf und seine Nachbarschaft solche Verwachsungen eingegangen
haben, dass deren subcutane Zerreissung gefährlich werden könnte. Ueber die Erfolge
der hier einzuschlagenden Verfahren und die Behandlung der sich als irreponibel
erweisenden Luxationen werden wir noch bei der Therapie Einiges anzuführen haben.
Therapie. Behufs der Ausführung der Reposition sind seit dem Alter-
thum sehr verschiedene Methoden in Anwendung gebracht worden, die alle zum
Ziele geführt haben und daher mit einer gewissen Auswahl bei gegebener Gelegen-
heit auch heute noch mit Nutzen gebraucht werden können. Es lassen sich die
verschiedenen Verfahren , die bei sehr empfindlichen und sehr muskelkräftigen
Individuen mit grossem Nutzen in der Chloroform-Narkose ausgeführt werden,
auf folgende Typen zurückführen : 1) Directer Druck auf den luxirten Gelenkkopf,
2) Extension an dem Arme in schräger, horizontaler oder verticaler Richtung,
3) Anwendung einer Hebelbewegung, 4) Anwendung der Rotation. Es findet
übrigens öfter eine Combination der verschiedenen Methoden, beispielsweise der
Extension und Hebelbewegung, statt.
1) Der directe Druck auf den luxirten Gelenkkopf, schon von den
Arabern (Avicenna) geübt, wird in manchen Fällen, namentlich bei muskel-
schwachen Individuen schon die Reposition herbeiführen. Es ist (nach Pitha) nur
nöthig, den Arm mit der einen Hand etwas zu erheben (oder durch einen Gehilfen
erheben zu lassen) und mit den Fingern der anderen Hand von der Achselhöhle
her einen massigen Druck auf den Oberarmkopf auszuüben. Dasselbe Verfahren
haben wir bereits bei den mit Fraktur des Oberarmhalses complicirten Luxationen
als das wirksamste und empfehlenswertheste kennen gelernt.
2) Bei der Ext ensions-Methode, bei welcher an dem betreffenden Arme
ein Zug ausgeübt werden muss , ist es zunächst von Wichtigkeit, das Schulterblatt
gehörig zu fixiren, weil es sonst die Bewegungen mitmachen würde. Es geschieht
dies entweder dadurch, dass ein auf der der verletzten Schulter entgegengesetzten
Seite des sitzenden Patienten stehender kräftiger Gehilfe, mit seinen beiden Händen
den äusseren Rand des Schulterblattes umfasst und seine beiden Daumen auf dem
Acromion kreuzt, oder dass, wenn ein stärkerer Zug mit Hilfe von Schlingen, eines
320 SCHULTERGELENK.
Flaschenzuges etc. ausgeübt werden soll, die betreffende Schulter von einer genau
anliegenden Corset- oder Ringartigen gepolsterten Vorrichtung umfasst wird , die
ihrerseits an einem Ringe oder Pfosten befestigt wird und den Contra-Extensionszug
darstellt. Der Extensions-Zug wird sodann entweder blos mit den Händen oder mit
instruraentellen Kräften und theils über den Condylen des Humerus , theils über
dem Handgelenke angelegten Schlingen und Gurten ausgeübt, und zwar entweder
in der Richtung, welche der Arm bei der Luxation einnimmt, also schräg nach
unten und aussen, oder auch in horizontaler Richtung, in die man den Arm all-
mälig gebracht bat, oder endlich in verticaler, in welche er allmälig übergeführt
worden ist. Das Verfahren ist überall ziemlich dasselbe, allein das mit der verti-
calen Erhebung des Armes von Mothe (seit 1776 geübt, aber erst 1812 publi-
cirt) , in Deutschland durch RüST und Kluge eingeführt , ist in frischen Fällen
das beliebteste und am schnellsten zum Ziele führende Verfahren , während die
horizontale Extension hauptsächlich in Anwendung kommt, wenn bei veralteten
oder länger bestehenden Luxationen der Flaschenzug oder eine andere mechanische
Vorrichtung (z. B. der Schneider - MENNEL'sche Rahmen) angewendet werden
muss. Das Verfahren ist, wie schon erwähnt, bei den verschiedenen Stellungen
des Armes im Wesentlichen dasselbe und besteht darin, dass, nachdem durch
kräftigen Zug der Oberarmkopf bis in die Gegend der Gelenkhöhle gebracht ist,
er beim plötzlichen Nachlassen desselben, oder beim Strecken des Armes von selbst,
oder mit Unterstützung durch einen auf den Oberarmkopf mit den Fingern oder
der geballten Faust ausgeübten Druck , oder eine mittelst derselben hergestellte
Hebelwirkung das Hineinschlüpfen desselben in die Gelenkhöhle herbeigeführt wird.
Wenn man die Elevationsmethode in Anwendung bringt, lässt man den Patienten
sich entweder auf ein auf den Fussboden gelegtes Kissen setzen, oder, wenn der
Patient auf einem Stuhle sitzt, muss der die Extension an dem elevirten Arme
besorgende Gehilfe seinerseits auch auf einen Stuhl steigen, um die nöthige Kraft
beim Zuge entwickeln zu können. Die Extension kann übrigens noch auf ver-
schiedene andere, auch von Sir Astley Cooper empfohlene Methoden vorgenommen
werden, namentlich wenn der Arzt ohne Assistenz auf sich selbst angewiesen ist,
also dadurch, dass er an dem in liegender Stellung befindlichen Patienten den
Arm stark in die Höhe zieht und dann senkt, oder dass er dem sitzenden Patienten
von einem noch höheren Standpunkt aus seinen unbekleideten Fuss auf die Schulter
setzt , mit demselben die Contraextension macht und am Arme die Extension
bewirkt. Auch bei G. Simon's (Rostock 1866) sogenannter „Pendelmethode" wird
durch das Gewicht des Körpers auf den luxirten Arm, an welchem jener in hori-
zontaler Lage hängt, ein starker Zug ausgeübt und findet, während man den
Körper des Verletzten Pendelbewegungen machen lässt, bei demselben ein Hinein-
gleiten des Gelenkkopfes statt, indem hier sowohl wie bei allen anderen Verfahren
durch die Extension eine Erweiterung des Kapselrisses herbeigeführt wird, durch
welche das Zurückschlüpfen des Oberarmkopfes wesentlich erleichtert ist.
3) Die Reposition durch Hebel Wirkung ist das älteste Verfahren
(Hippokrates , Galen , Celsus , Avicenna) und wurde mit Benutzung einer
Leiter, einer Thür, eines Stockes oder eines „Ambe" genannten Instrumentes und
auch noch auf andere Weise dadurch ausgeführt, dass der Verletzte mit seiner
Achsel darüber gehängt und so durch das Körpergewicht ein starker Zug aus-
geübt wurde. Auch das wieder von Sir Astley Cooper empfohlene Verfahren,
dem in der Rückenlage befindlichen Patienten den unbekleideten Fuss in die
Achselhöhle zu stemmen, während der Arm gleichzeitig extendirt, somit die Ferse
des Fusses theils zur Contraextension, theils als Hypomochlion benutzt wird, ist
bereits zu des Hippokrates Zeiten in Gebrauch gewesen. Von A. Cooper wurde
auch noch ein anderes Verfahren empfohlen, bei dem der Patient auf einem Stuhl
sitzt, während der Arzt mit der einen, auf die Schulter gelegten Hand die Contra-
extension, mit der anderen aber die Extension ausführt und das Knie seines
ebenfalls auf den Stuhl gestellten Fusses als Hypomochlion benutzt.
SCHULTERGELENK. 321
4) Bei dem Verfahren mit Anwendung der Rotation, ebenfalls schon
zu Hippokrates' Zeiten bekannt, kann die Drehung des luxirten Humerus theils
nach innen (z. B. bei der Luxatio intracoracoidea , wo der Humerus meistens
auswärts gerollt ist) , theils nach aussen ausgeführt werden (Syme , La COUR,
Schinzinger). Bei dem Verfahren des Letzteren (Freiburg i. B., 1862) führt der
dem Verletzten auf einem Stuhle gegenübersitzende Arzt , während das Schulter-
blatt von einem Gehilfen entsprechend fixirt wird, an dem rechtwinkelig gebeugten
Arme , der an der Hand und dem Ellenbogen erfasst und dicht an die Brust
angedrückt wird, eine solche Drehung nach aussen und hinten aus, dass die Innen-
seite des Armes nach vorn sieht. Dadurch wird der Gelenkkopf nach aussen und
oben, in die Nähe der Gelenkhöhle gebracht, und während der Arm noch etwas
aufwärts gedrängt und der Oberarmkopf durch die Finger des Assistenten gestützt
wird, wird der Arm langsam nach innen rotirt und schlüpft in die Gelenkhöhle.
Es ist mittelst dieses Verfahrens eine Reihe von günstigen Erfolgen erzielt worden,
jedoch ist es rathsam, dasselbe auf frische Fälle zu beschränken, weil bei ver-
alteten nicht nur sehr ausgedehnte Kapselzerreissungen , sondern auch Fracturen
des Humerus vorgekommen sind. (ty f fB^ <y ^\
ingtfr fai
Die Einrenkung der L u x a t i o il *n aT-ir #im4im*getingtfr meistens leicht
dadurch, dass man den Arm rechtwinkelig vom Rumpfe abducirt unfl einen directen
Druck von hinten her auf den Kopf ausübt. Bei der , Reposition der L u x.
humer i erecta wird empfohlen, zunächst den Arm in der fehlerhaften Stellung
zu extendiren, dann denselben abwärts zu ziehen und über die in die Achselhöhle
gesetzte Faust den Oberarmkopf zurückzuführen.
Das Gelingen der Reposition kündigt sich bei frischen Luxationen
meistens durch ein dabei erfolgendes schnappendes Geräusch und demnächst durch
die Wiederherstellung der normalen Form und passiven Beweglichkeit an. Es ist
sogar zweckmässig, nach gelungener Reduction mit dem Arme einige Rotations-
bewegungen auszuführen, weil man dabei am besten constatiren kann, ob nicht
Kapselfetzen oder Sehnen zwischen die Gelenkflächen eingeklemmt sind. Dieselben
würden sich bei diesen Bewegungen auch am ehesten lösen. Obgleich in frischen,
nicht irgendwie complicirten Fällen der Gelenkkopf keine Neigung hat, wieder
heraus zu gleiten, ist dennoch für eine Retention durch die Anlegung einer
recht- oder spitzwinkeligen Mitella , unter Umständen selbst eines die Schulter
umfassenden erhärtenden Verbandes Sorge zu tragen. Derselbe muss 3 — 4 Wochen
liegen bleiben, damit innerhalb dieser Zeit möglichst ungestört die Vernarbung des
Kapselrisses und die Wiederanheilung der abgerissenen Sehnen vor sich gehen
kann. Erst nach Verlauf dieser Zeit sind mit dem Gelenke, zur Beseitigung der
vorhandenen Gelenksteifigkeit , passive Bewegungen vorzunehmen und der active
Gebrauch des Armes zu gestatten. Zur Kräftigung der Schultermuskeln dienen die
Faradisation derselben, kalte Douchen u. s. w. Es ist ausserdem dem Patienten
für lange Zeit Vorsicht beim Gebrauch des Armes , namentlich in abducirter und
erhobener Stellung anzuempfehlen, damit er sich nicht bei irgend einer Gelegenheit
ein Recidiv zuziehe.
Es ist hier noch der übelen Zufälle zu gedenken, die bei und nach
der Einrenkung der Luxation auftreten können. Dieselben sind allerdings bisher
meistens bei veralteten, einen grösseren Kraftaufwand erfordernden Luxationen und
bei Anwendung grosser und roher Gewalt durch irgend welche Routiniers, oder
durch Entfaltung eines übermässigen Zuges vorgekommen; allein es ist nicht aus-
geschlossen, dass unter besonderen, vorher nicht genau zu erkennenden Verhält-
nissen auch sehr erfahrenen und vorsichtigen Chirurgen manche Unglücksfälle der
anzugebenden Art passiren können. Folgende übele Zufälle sind beobachtet worden :
Verletzungen der Haut, namentlich bei Anwendung von Zugseilen und Schlingen,
theils in Excoriationen , Sugillationen, Druckbrand, theils aber auch in Ein- und
Abreissungen der Haut bestehend. In Folge von Zerreissungen des Binde-
gewebes kam es zu ausgedehnten Blutextravasationen , einigemal entstand auch
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 21
\VS> SOHULTERGELENK.
ein noch nicht näher erklärtes Emphysem; auch Zerreissungen von Muskeln
und Sehnen (des langen Kopfes des Biceps, des M. pectoral. major) sind vor-
gekommen, ebenso, und zwar wohl in sehr vielen Fällen, ausgedehnte Zerreissungen
der Gelenkkapsel. Zu den gefährlichsten Verletzungen aber gehören die Rupturen,
welche die Gefässe und Nerven der Achselhöhle betreffen können. Von Zer-
reissungen der Art. axillaris, meistens allein , in wenigen Fällen auch zugleich
mit der Vene, sind etwa 38 Fälle, von Zerreissungen der V. axillaris allein 4 Fälle
und von Zerreissungen grösserer Muskel-Arterien oder Venen noch 2 weitere Fälle
bekannt (W. Körte, 1882), ind zwar handelte es sich lömal um frische, 20mal
um veraltete Verrenkungen, während in 8 Fällen darüber keine Angaben gemacht
sind. Nur etwa ein Drittel der Patienten (15) war im Alter von unter 50 Jahren ;
es lag also gewiss in vielen Fällen eine atheromatöse Degeneration der Arterien
vor, in vielen derselben waren auch wohl Verwachsungen vorhanden ; der unglück-
liche Zufall erfolgt übrigens bei den verschiedensten Verfahren. Die bei diesen
Zuständen unternommenen operativen Eingriffe , wie Spaltung des entstandenen
Aneurysma's und doppelte Unterbindung der Art. axillaris, Ligatur der Art. sub-
clavia■■, Exarticulation des Oberarmes nahmen in der Mehrzahl der Fälle einen
ungünstigen Ausgang. Am meisten würde noch die antiseptische Unterbindung der
Art. subclavia zu empfehlen sein, obgleich auch durch diese die Gefahr der
Gangrän des Armes nicht ausgeschlossen ist. In einigen, allerdings sehr wenigen
Fällen sind durch äusserst rohe Gewalt die Nerven des Plexus brachialis
(zugleich mit der A. axillaris) zerrissen, oder die Ursprünge derselben am Rücken-
mark ausgerissen worden (Flaubert, Rouen). — Fracturen des Humerus sind,
selbst bei massiger Gewaltanwendung, wiederholt, namentlich bei dem Repositions-
Verfahren mit Rotation, vorgekommen und erschweren, wenn sie eingetreten sind,
natürlich die Reposition, welche dann nur mittelst directen Druckes auf den Ober-
armkopf stattfinden kann. — Eine Abr eissung des Vorderarmes im Ellen-
bogengelenk an dem durch 4 Gehilfen extendirten atrophischen Arme einer
63jährigen Frau liegt in einem Beispiel vor (Alph. Guerin, Paris, 1864). —
Anderweitige üble Zufälle, wie schwere Ohnmächten, selbst Todesfälle sind eben-
falls sowohl vor als nach Erfindung der Anästhesirung beobachtet worden ; schwere
Entzündungen und Eiterungen sind glücklicherweise nur ziemlich seltene Folgen
der durch die Reposition herbeigeführten Gewalteinwirkung. — Was die Behand-
lung der sogenannten habituellen Luxationen anlangt, so ist bisweilen
vielleicht durch die lange fortgesetzte Immobilisirung des Gelenkes mit Hilfe von
erhärtenden Verbänden eine Besserung des Zustandes zu erreichen. Neuerdings
ist einigemal (R. Volkmann, F. Cramer, E. Küster) mit Erfolg die Resection
des Oberarmkopfes in Fällen ausgeführt worden, in denen sich theils eine (wahr-
scheinlich durch Absprengung vom Kopfe entstandene) Gelenkmaus, theils ein
(wahrscheinlich in gleicher Weise entstandener) Knochendefect am Oberarmkopfe
fand. Es dürfte übrigens möglich sein , in anderen Fällen , bei denen etwa eine
ungewöhnliche Weite des Kapselbandes oder eine Nichtheilung des Risses in dem-
selben anzuklagen ist, nach antiseptischer Eröffnung des Schultergelenkes (von der
Achselhöhle her) durch Excision eines Stückes aus der zu weiten Kapsel, Anlegung
einer Naht u. s. w. jene Verstümmelung zu umgehen (Krönlein).
Es bleibt noch übrig, Einiges über die Behandlung der veralteten
Luxationen, also derjenigen Luxationen, die weder im ganz frischen Zustande,
noch nach Ablauf der später aufgetretenen entzündlichen Reaction reponirt worden
sind, auszuführen. Wie wir schon oben gesehen haben , würde ein unter diesen
Umständen unternommener Repositionsversuch dann ungerechtfertigt sein, wenn die
Nearthrosenbildung in sehr vollkommener Weise erfolgt ist. Andererseits muss
sie unterbleiben, wenn man, nach voraufgegangener lebhafter Entzündung, durch
die Untersuchung zu der Ueberzeugung gelangt, dass der Kopf durch feste
Adhäsionen an seinem neuen Standorte stark fixirt ist. Die Reposition der ver-
alteten Luxationen ist zwar nach denselben Regeln und Verfahren auszuführen,
SCHULTERGELENK. 323
wie die frischer Luxationen , aber natürlich mit einer grösseren Kraft und deshalb
mit verdoppelter Vorsicht. Ganz besonders hat man dabei die Verwachsungen
zerrissener Kapseltheile , Sehnen und Muskeln untereinander , vor Allem aber die
Anlöthungen der Gefäss- und Nervenstämme der Achselhöhle zu fürchten und
müssen deshalb alle an dem Arme zu machenden Tractionen sehr langsam und
allmälig, unter steter Controle der betreffenden Gegend durch die tastenden Finger,
ausgeführt und lieber öfter wiederholt werden , als dass man sich der plötzlichen
Zerreissung wichtiger Gebilde aussetzt, über deren Tragweite man im Augenblick
oft gar nicht im Klaren ist. Mit doppelter Vorsicht muss bei Individuen verfahren
werden, bei denen man atrophische und brüchige Knochen, fettig entartete Muskeln,
atheromatöse Arterien annehmen kann. Im Uebrigen ist es durchaus zu empfehlen,
dass man zur Ausübung des notwendigen starken Zuges sich nicht der äusserst
ungleichmässig wirkenden und unberechenbaren Menschenkräfte , sondern einer
durch Einschaltung eines Dynamometers in ihrer Wirkung genau zur controlirenden
Vorrichtung , wie des Flaschenzuges , des Schneider- MENNEL'schen Rahmens,
Jarvis' Reductor u. s. w. bedient. Die ausser den Tractionen etwa, Behufs Frei-
machung des Gelenkkopfes, auszuführenden, an sich ganz zweckmässigen Rotationen
desselben müssen aber mit sehr grosser Vorsicht gemacht werden, weil man sonst
leicht Fracturen des Oberarmbeines dabei erzeugt. Im Uebrigen muss der Arm
sowohl , an welchem die Extension, als der Rumpf, an dem die Contraextension
ausgeführt wird , durch gehörige Polsterung aller Regionen , wo ein nachtheiliger
Druck stattfinden kann (ersterer auch noch durch Einwickelung mit einer nassen
Binde), vor Verletzung geschützt werden. Es sind übrigens die Erscheinungen der
gelungenen Reposition bei veralteten Luxationen viel weniger deutlich als bei
frischen ; es wird überhaupt dieselbe, wie wir gesehen haben, nicht immer schon
beim ersten Versuche erreicht, vielmehr ist es oft noth wendig, den Versuch mehr-
mals zu wiederholen. Bei der vorhandenen Schwäche der Muskeln und der zurück-
bleibenden Steifigkeit und Unbeweglichkeit des Gelenkes , auch nach gelungener
Reposition , ist meistens noch eine längere Zeit fortzusetzende sorgfältige Nach-
behandlung mit den bekannten Hilfsmitteln erforderlich.
Was endlich die Behandlung derjenigen Humerus Luxationen anlangt, die
sich nach allen vorgenommenen Versuchen als irreponibel erweisen, so kommt
es auf den Zustand an, in welchem sich das Glied befindet, um danach ein
verschiedenes Verfahren einzuschlagen. Hat der Patient keine anderen Beschwerden,
als die durch die abnorme Stellung und seine Un- oder Schwerbeweglichkeit
bedingten, so muss man versuchen, durch die Vornahme von passiven Bewegungen
die Bildung eines neuen Gelenkes herbeizuführen und dieselbe mehr und mehr
zu vervollkommnen, wobei der Patient seinerseits durch activen Gebrauch des
Gliedes und fortgesetzte Uebungen nicht wenig mitwirken muss. Er kann so wieder
in den Besitz eines recht brauchbaren Armes gelangen , bei dem allerdings die
verticale Erhebung mangelhaft bleibt. Wird dagegen durch den Oberarmkopf
dauernd ein Druck auf den Plexus bracliialis ausgeübt, durch welchen Neur-
algien, sensible und motorische Lähmungen herbeigeführt werden, so muss die
Resection des Gelenkkopfes , meistentheils von der Achselhöhle her , aus-
geführt werden.
D. Erkrankungen des Schultergelenkes und der Schulter.
Die Hautdecken der Schulter sind keinen besonders bemerkenswerthen
Erkrankungen ausgesetzt ; vielfach indessen kommen , durch Druck und Reibung
entstanden, in dieser Gegend locale Entzündungsprocesse (z. B. Furunkel) häufiger
vor als an anderen Körperstellen. — Veränderungen in den Muskeln der
Schulter, namentlich dem M. deltoideus, sind bei jungen Soldaten, durch das
Exerciren mit dem Gewehr und das Anschlagen desselben an die Schulter herbei-
geführt, beobachtet worden. Man findet daselbst Sugillationen , schmerzhafte
Anschwellungen , Verdickungen , wahrscheinlich zunächst vom Bindegewebe des
Muskels ausgehend, die sich mehr und mehr vergrössern, härter werden und in
21*
324 SCHULTERGELENK.
einem wirklichen, 4 — 5 Zoll langen, 1 — 2 Zoll breiten Knochen (den sogenannten
Exercirknochen) verwandeln können, durch dessen Anwesenheit die betreffenden
Patienten zum Infanteriedienst untauglich werden. Es sind derartige Knochen
wiederholt exstirpirt worden. Auf analoge Weise entstanden, soll bei Jägern auch
ein Schiessknochen sich finden. — Erkrankungen der Schleimbeutel kommen
in der Schultergegend mehrfach vor und sind wegen der differentiellen Diagnose
von Erkrankungen des Gelenkes und wegen der Möglichkeit , dass das letztere
durch sie in Mitleidenschaft gezogen wird, von grosser Bedeutung; auch werden
die Bewegungen des Gelenkes meistens durch sie nicht unerheblich beeinträchtigt.
Bei allen Schleimbeuteln kann die Entzündung eine acute oder chronische sein ;
auch trifft man Schleimbeutelkörper sowohl als gichtische Ablagerungen in ihnen
bisweilen an. Dies gilt namentlich von der subcutanen Bursa mueosa
acromialis, die bei allen Personen, welche Lasten auf den Schultern tragen,
an sich schon etwas ausgedehnt zu sein pflegt , übrigens , wenn sie in einem
Zustande von acuter oder chronischer Entzündung sich befindet, eine so localisirte
Anschwellung zeigt , dass sie kaum mit einer anderen Erkrankung verwechselt
werden kann. — Dieselben Erscheinungen der acuten oder chronischen Entzün-
dung kann auch die Bursa muco sa subdeltoidea darbieten , nur dass
die Diagnose unter diesen Umständen viel schwieriger ist und bei eiteriger
Entzündung die Gefahr der Perforation des Schultergelenkes eine naheliegende ist,
zumal der Schleimbeutel schon normaler Weise, namentlich bei alten Leuten, eine
Communication mit jenem besitzen kann. Auch in diesem Schleimbeutel kommen
Zottenwucherungen , sowie gestielte und freie Synovialkörperchen von Apfelkern-
bis Melonenkerngrösse vor. Die in vielen Fällen nur als Ausstülpung der Synovial-
haut des Gelenkes zu betrachtende B u r s a mueosa suh sc anularis zeigt in
Folge dessen im Allgemeinen den Inhalt desselben ; es sind in ihr aber auch,
bei nicht vorhandener Communicationsöffnung , die mehrgenannten Synovial-
körperchen beobachtet worden. Die genaue Diagnose einer isolirten Erkrankung
dieses Schleimbeutels sowohl, als der Bursa mueosa suh acromialis und
subcoraeoidea ist, bei dem verborgenen Sitze des Erkrankungsherdes, nur mit
geringer Sicherheit möglich , um so weniger , wenn bei chronischer Erkrankung
die vorhandenen Höhlen nur wenig ausgedehnt sind, aber in Folge der Rauhigkeit
ihrer verdickten Wandungen bei Bewegungen des Gelenkes zu Crepitations-
geräuschen Anlass geben , über deren wahren Sitz , ob inner- oder ausserhalb
des Gelenkes , man sehr oft wohl im Zweifel bleiben wird. — Die Behandlung
der acuten Schleimbeutelentzündungen wird, je nach der Beschaffenheit des Inhaltes,
von dem man sich durch Probepunction Kenntniss verschaffen kann , eine ver-
schiedene sein müssen, nämlich bei blos serösem Inhalt eine antiphlogistisch-
expeetative , bei eiterigem aber eine unter antiseptischen Cautelen auszuführende
Eröffnung. Bei der chronischen Entzündung sind , wenn Schmerzen vorhanden
sind, zunächst zur Beseitigung derselben PRiESSNrrz'sche Umschläge zu gebrauchen,
sodann methodischer Druck, Massage, Douchen, passive Bewegungen der Schulter.
Sollte das Vorhandensein von Schleimbeutelkörperchen constatirt sein, so lassen
sich diese nur durch eine antiseptische Eröffnung des Sackes und Ausräumung
desselben beseitigen. — Unter den Erkrankungen der Knochen ist vorzugs-
weise der Ostitis und Osteomyelitis am oberen Ende des Os humeri zu
gedenken, bei der es nicht selten zur Epiphysenlösung auf entzündlichem Wege
kommt. Es ist eine derartige Erkrankung bereits bei ganz jungen Kindern in
Folge von hereditärer Knochen-Syphilis beobachtet worden (Georg Wegner);
sehr viel häufiger aber kommt sie im späteren Kindesalter vor , mit allen den
Erscheinungen, welche auch sonst die traumatische oder infectiöse Osteomyelitis
und die Epiphysenlösung in deren Gefolge darbietet. Das Schult er gelenk selbst
kann übrigens, trotz der Nähe der Eiterung, unbeth eiligt bleiben und die zu der-
selben hinzutretende Nekrose betrifft dann in grösserer oder geringerer Ausdehnung
blos die Diaphyse; es kann aber auch der Oberarmkopf sich in einen Sequester
SCHULTERGELENK. 325
verwandeln. Im Uebrigen beschränken sieb die Nekrotisirungen bisweilen auf sehr
kleine Bezirke , oder es findet in anderen Fällen eine so ausgiebige Knochen-
bildung statt, dass die Heilung häufig eine fast ganz vollkommene ist. Es sind
endlich auch nach Vereiterungen der Epiphysengrenze dieselben Störungen des
Längenwachsthums am Oberarm beobachtet worden , wie nach den schon im
Obigen besprochenen traumatischen Epiphysenabsprengungen.
Wir kommen nunmehr zu den verschiedenen Entzündungen des
Schultergelenkes selbst, die sich zwar den Entzündungen anderer Gelenke
analog verhalten, aber im Ganzen viel seltener sind als an den Charniergelenken
und auch äusserlich meistens weniger auffällige Erscheinungen darbieten, weil eine
Schwellung des Schultergelenkes erst dann äusserlich in die Augen fällt, wenn sie
bereits sehr bedeutend geworden ist. Die hauptsächlichsten Erscheinungen, durch
welche Entzündungen des Schultergelenkes sich verrathen, sind daher Schmerz-
haftigkeit und Schwerbeweglichkeit. Auch am Schultergelenk- kommt eine acute
oder chronische S y n o v i t i s vor, die hier, wie überall, traumatischen oder rheu-
matischen Ursprunges (acuter, chronischer Gelenk -Rheumatismus) sein, auch durch
Pyämie u. s. w. bedingt sein kann. Durch die Füllung der Gelenkhöhle mit einer
serösen oder eiterigen Flüssigkeit wird der Arm nur dann ein wenig .abducirt,
wenn die Füllung eine sehr beträchtliche ist. Auch die in der Nähe des Gelenks
gelegenen, mit demselben häufig communicirenden Schleimbeutel nehmen in diesem
Falle an der Erkrankung Antheil. Wenn das Gelenk von Eiter erfüllt ist,
erfolgen die Durchbrüche desselben an bestimmten Stellen , von denen aus die
periarticulären Abscesse sich bilden. Die Perforationen der Gelenkkapsel finden
gewöhnlich, entsprechend dem Verlaufe der Sehne des langen Kopfes des M. bicejys
oder der Sehne des M. subscapularis statt, also an Stellen, an welchen sich
Verlängerungen der Synovialhaut befinden. Im ersten Falle kommt der Eiter,
nach Durchbohrung der Synovialscheide unterhalb des M. deltoideus, am vorderen
inneren Theile des Armes zum Vorschein, im zweiten Falle dringt er gewöhnlich
zwischen den M. und die Fossa subscapularis und entleert sich hinter und unter-
halb der Schulter. In selteneren Fällen durchbohrt der Eiter die Gelenkkapsel
nach unten und ergiesst sich in die Achselhöhle ; er kann unter Umständen aber
auch noch andere Wege einschlagen. Bei sehr starker Füllung und Ausdehnung
der Gelenkkapsel wird man , ausser einem mehr oder weniger deutlichen Fluc-
tuationsgefühl , bei einem entsprechenden Zug und Druck auch am Oberarmkopf
eine gewisse Beweglichkeit desselben in der Gelenkhöhle constatiren können. In
einigen überaus seltenen Fällen ist sowohl bei acuter als bei chronischer Synovitis
eine wirkliche Luxation des Oberarmkopfes in die Achselhöhle und unter den
Proc. coraeoid. beobachtet worden (Malgaigne), jedoch scheint bei der chronischen
Entzündung die Entstehung dieses Zufalles mehr der Atrophie und lähmungsartigen
Schwäche, in welche die Schultermuskeln, namentlich der M. deltoideus verfallen,
zugeschrieben werden zu müssen als der bedeutenden Füllung der Kapsel durch
seröse Flüssigkeit. — Die Behandlung der Synovitis des Schultergelenkes ist in
ähnlicher Weise zu leiten, wie bei anderen Gelenken. Bei der chronischen Form
oder dem Hydarthros ist von ableitenden Mitteln (fliegenden Vesicatoren) , bei
gleichzeitiger Anwendung hydropathischer Umschläge, das Meiste zu erwarten.
Bei der acuten Form, namentlich dem Rheumatismus articidorum acutus, kommt
zunächst eine entsprechende innerliche Behandlung in Frage ; wenn jedoch Eiterung
eingetreten sein sollte, ist diese durch Incisionen, antiseptische Ausspülungen,
Drainage zu bekämpfen, und man hat heutzutage Aussicht, ein bewegliches Gelenk
danach zu erhalten , wo man früher nur das Heil in der ßesection des an sich
ganz gesunden Oberarmkopfes sah.
Der von Volkmann mit dem Namen Caries sicca bezeichnete Process,
welcher bisweilen bei jugendlichen Individuen den Oberarmkopf befällt , besteht
in einem durch ein spärliches, sehr festes, ziemlich gefässarmes Granulations-
gewebe herbeigeführten Knochenschwund, der ohne Eiterung, Geschwulst und
326 SCHULTERGELENK.
Fistelbildnng verläuft und den Oberarmkopf allmälig bis auf einen kleinen , un-
regelraässigen Stumpf reducirt. Die Erkrankung ist verbunden mit Schmerzhaftig-
keit und Unbeweglichkeit des Gelenkes, Abmagerung der Schulter und Ankylose.
Da diese Affection auch bei ganz gesund aussehenden Individuen beobachtet ist,
scheint sie mit Scrophulose und Tuberculose in keinem directen Zusammenhange zu
stehen. Es würde in einzelnen Fällen die Resection des Oberarmkopfes der Ent-
stehung einer Ankylose vorbeugen können.
Die fungöse, tuberculose, destruirende Schultergelenk-
entzündung, Omarthrocace , die nicht sehr häufig ist, zeigt in einem vor-
geschrittenen Stadium Fisteln , theils in der Achselhöhle, theils längs des Randes
des M, deltoideus , bisweilen aber auch von dem Gelenke entfernt , z. B. am
unteren Rande des M. pectoral. major, nahe der Mamma, oder auch weiter unten
am Arme. Die Weichtheile des Gelenkes sind in die bekannte gelatinös-speckige
Masse verwandelt , die das Gelenk umgebenden Muskeln sehr atrophisch , stellen-
weise von Eiter infiltrirt, die Gelenkkapsel an einer der vorher angegebenen
Stellen perforirt , mit periarticulären Abscessen und den vorhandenen Fisteln
communicirend. Im Innern des mit Eiter oder Jauche gefüllten Gelenkes ist die
lange Bicepssehne zerstört. Die Gelenkenden sind in mehr oder weniger beträcht-
lichem Umfange von Caries ergriffen und zerstört, und zwar im Allgemeinen der
Oberarmkopf mehr als die Gavitas glenoidalis. In der ganzen Nachbarschaft des
Gelenkes sind die Knochen, also das Collum humeri, Collum scapidae , Acro-
mton, Proc. corac. mit Osteophyten besetzt, auch die Rippen können durch
jauchige Abscesse in Mitleidenschaft gezogen sein. Eine consecutive Dislocation
oder Luxation wird im Schultergelenk kaum beobachtet ; dagegen kann auch hier
derselbe Verlauf wie an anderen Gelenken eintreten, dass die Infiltrationen sich
zurückbilden, die Knochen-Ulcerationen zur Ausheilung gelangen und dass , wenn
die Behandlung in entsprechender Weise geleitet worden war (anfänglich Immo-
bilisirung des Gelenkes , auch mit Hilfe geeigneter erhärtender Verbände , später,
nach Beseitigung der Entzündung, Vornahme passiver Bewegungen) , die Heilung
mit einem leidlich beweglichen Gelenke erfolgt. Geschieht dies aber nicht, so bildet
sich eine fibröse oder knöcherne Ankylose aus, die Schulter muskeln werden
dann noch mehr atrophisch und der Arm ist viel weniger brauchbar, obgleich
die grössere Beweglichkeit des Schulterblattes, welche dann eintritt, einigermaassen
die im Schultergelenk mangelnden Bewegungen zu ersetzen vermag. Eine Aussicht
auf Beseitigung dieses Zustandes, wenn er einmal eingetreten ist, ist nur bei den
leichteren Fällen von fibrösen Verwachsungen vorhanden und erfordert die Wieder-
beweglichmachung eines so freien Gelenkes, wie es das Schultergelenk ist, nach-
dem einmal in der Narcose, bei gehöriger Fixirung des Schulterblattes, durch die
verschiedensten Bewegungen die abnormen Adhäsionen zersprengt worden waren,
im Ganzen viel grössere Zeit, Mühe und Consequenz von Seiten des Arztes und
des Patienten, als dies bei einem Charniergelenk der Fall ist. Indessen ist es bei
Kindern dringend geboten , Alles zu versuchen , um eine Ankylose zu verhüten
oder zu beseitigen , weil sonst das Skelet der ganzen Seite erheblich im Wachs-
thum zurückbleibt und atrophisch wird. Nicht in allen Fällen aber hat die
Erkrankung den relativ so günstigen Verlauf, dass eine Naturheilung erfolgt. Bis-
weilen drohen die Patienten, wenn der Process sich selbst überlassen bleibt, durch
Consumtion der Kräfte, hektisches Fieber u. s. w. zu Grunde zu gehen. Unter
diesen Umständen ist die Ausführung der Resection oder Decapitation des Ober-
armkopfes geboten, eine Operation, die man jedoch bei noch im Wachsthum
begriffenen Personen zu vermeiden sucht, weil man dadurch vielleicht das Längen
wachsthum des Oberarmes schwer beeinträchtigen würde.
Bei der deformir enden Gelenkentzündung im Schultergelenk,
die keine seltene Erkrankung ist , und durchaus nicht lediglich blos bei alten
Leuten vorkommt , finden sich sehr ausgedehnte anatomische Veränderungen , die
näher zu betrachten , auch mit Rücksicht auf die Symptomatologie von Interesse
SCHULTERGELENK. 327
ist. Der Oberarmkopf wird im Allgemeinen grösser als gewöhnlich gefunden, jedoch
bezieht sich diese durch Anlagerung pilzförmig überhängender Osteophyten bewirkte
Vergrösserung fast nur auf die Gegend der Tubercula und die Umgebung der
Gelenkfläche. Letztere erleidet einen Substanzverlust, erscheint wie abgeflacht,
breitgedrückt , zeigt Knorpelzerfaserung und polirte Schliffflächen , so dass der
Gelenkkopf seine kugelförmige Gestalt einbüsst und dafür eine mehr eiförmige
erhält. In den Fällen, wo der Gelenkkopf zum Theil in der ursprünglichen Gelenk-
grube, zum Theil aber in einer neugebildeten ruht, wo er also auf einem Rande
der ersteren so zu sagen reitet, findet man an ihm auch eine meistens sehr glatt
polirte Furche , welche ihn der Länge nach in zwei Hälften theilt. Die Gelenk-
höhle des Schulterblattes ist ebenfalls durch Ablagerung von Osteophyten oft um
das Doppelte vergrössert , ist gewöhnlich kreisrund geworden , statt oval, und ist
mit Schliffflächen versehen , die denen am Oberarmkopfe entsprechen. Die Ver-
grösserung findet meistentheils nach der Subscapularfläche des Collum scapulae
statt und zeigt sich die Gelenkhöhle häufig durch eine dem ursprünglichen Stande
der Cavitas glenoidalis entsprechende Erhöhung in zwei Hälften getheilt, gemäss
der eben beschriebenen Configuration des Oberarmkopfes. Eine weitere erhebliche
pathologische Veränderung des Gelenkes ist darin gegeben , dass der Zwischen-
raum zwischen dem Oberarmkopfe und dem Acromialgewölbe , der im normalen
Zustande 3 — 4 Linien beträgt und durch das Kapselband, die Bicepssehne, die
Sehne des M. supraspmatuSj einen Schleimbeutel und fibröses Gewebe ausgefüllt
ist , verschwindet und dass der Oberarmkopf in unmittelbare Berührung mit dem
Acromion tritt, so dass an diesem, dem Acromialende des Schlüsselbeines und
dem Proc. coracoid., sich ebenfalls Schliffflächen bilden, auch das Acromion
entweder hypertrophisch, oder aber, in anderen Fällen, atrophisch und bisweilen
selbst in zwei nur durch fibröses Gewebe zusammengehaltene Hälften getrennt
wird. Viel seltener ist die Dislocation des Oberarmkopfes nach hinten, auf die
Fossa infraspinata, wohin sich ebenfalls die Gelenkhöhle, unter analogen Erschei-
nungen , erweitern kann ; noch seltener erfolgt sie nach unten , wobei der neu-
gebildete Theil der Gelenkfläche den Axillarrand des Schulterblattes einnimmt.
Die Sehne des langen Kopfes des M. biceps zeigt fast immer Veränderungen.
Sie ist mindestens aus dem Sulcus intertubercidaris heraus dislocirt , über den
Oberarmkopf verschoben , in anderen Fällen abgeflacht, verbreitert , in mehrere
Stränge getheilt, in der Mehrzahl der Fälle aber innerhalb des Gelenkes ganz
geschwunden oder nur in einigen Fetzen vorhanden ; der betreffende Muskelbauch
pflegt atrophisch zu sein. Die Gelenkkapsel , sonst in der gewöhnlichen Weise
verdickt, zeigt den Schliffflächen am Acromion und Proc. coracoid. entsprechende
Defecte. Ausserdem sind hypertrophische Gelenkzotten , knorpelige oder knöcherne
Gelenkkörper im gestielten oder freien Zustande, bis zur Grösse einer Haselnuss,
vorhanden. Die Schultermuskeln sind meistens atrophisch, bisweilen sogar fibrös
entartet. Die angegebenen Veränderungen finden sich nicht selten ziemlich gleich-
artig in den beiden Schultergelenken eines Individuums ; auch sind die Acromio-
Clavicular-Gelenke bisweilen in ähnlicher Weise erkrankt. — Den angeführten
anatomischen Veränderungen entsprechen die äusseren Erscheinungen, bei denen
das Gelenk den Anschein einer partiellen Luxation gewährt, neben den in Schmerz-
haftigkeit, Reibungsgeräuschen bei Bewegungen bestehenden anderweitigen Symptomen
der deformirenden Gelenkentzündung, die auch hier, wie in anderen Gelenken, einen
nach Jahrzehnten zu berechnenden, äusserst chronischen Verlauf hat. Die Behandlung
ist die in dem Artikel „Polypanathritis" näher angegebene, bietet aber im Ganzen
geringe Aussichten auf einen nennenswerthen Erfolg.
Die durch mehr oder weniger bedeutende Schmerzen charakterisirten
Neurosen des Schultergelenkes gehören jedenfalls zu den sehr seltenen Vor-
kommnissen und sollte die Diagnose auf eine solche erst dann gestellt werden,
wenn man nach sorgfältiger Untersuchung und nach längerer Beobachtung eine
materielle Veränderung am Schultergelenk mit einiger Sicherheit ausschliessen zu
328 SCHULTERGELENK.
können glaubt. Es sind nämlich die Erscheinungen einer beginnenden Caries sicca;
oder einer noch tief im Innern des Oberarmkopfes verborgenen Tuberculose,
einer sich entwickelnden gummösen Ostitis oder einer beginnenden Synovitis keines-
weges immer so deutlich ausgeprägt, dass man nach einmaliger Untersuchung
bereits mit Sicherheit darüber sich aussprechen kann, es läge absolut kein mate-
rielles Leiden vor. Die Behandlung der wirklich constatirten Neurose würde in
gleicher Art wie bei den Neurosen anderer Gelenke stattfinden müssen.
Die Geschwülste am Seh ultergelenke und in der Schulter-
gegend müssen nach ihrem Sitze und ihrem Ausgangspunkte unterschieden werden.
In den äusseren Weichtheilen der Schulter kommen neben Lipomen, die hier
am häufigsten zu sein scheinen, auch Cysten, Fibrome, Angiome vor und
handelt es sich darum, dieselben von Schleimbeutel-Hygromen , z. B. der Bursa
mueosa acromialis , von Gummigeschwülsten u. s. w. zu unterscheiden. Die
Exstirpation dieser oberflächlich sitzenden Tumoren ist meistentheils mit keinen
nennenswerthen Schwierigkeiten verbunden. Von viel grösserer Bedeutung sind die
vom Knochen, meistentheils dem Oberarmbeine, ausgehenden, theilweise das Gelenk
in Mitleidenschaft ziehenden Geschwülste, unter denen als gutartige zunächst die
Exostosen, die auch hier , wie an vielen anderen Epiphysengrenzen, entstehen
können, sodann die Enchondrome zu nennen sind. Letztere können einen
beträchtlichen Umfang, z. B. Mannskopfgrösse, erreichen, gestatten aber trotzdem,
wenn sie gestielt sind , ebenso wie die Exostosen , noch eine Abtragung von der
Oberfläche des Knochens mit Säge oder Meissel. Bei den auch das obere Ende
des Os humeri befallenden Sarcomen hat man die vom Periost aus oder im
Innern des Knochens , als centrale Osteosarcome sich entwickelnden Tumoren zu
unterscheiden. Beide können einen enormen Umfang erreichen , bei beiden ist,
wenn letzterer noch massig ist, eine Entfernung durch Resection des oberen Endes
des Knochens möglich ; allein wenn die Grösse eine exorbitante geworden ist,
bietet, ebenso wie bei den in dieser Gegend gleichfalls vorkommenden Osteo-
carcinomen, auch die Exarticulation des Oberarmes nur geringe Aussichten
auf dauernden Erfolg, weil locale Recidive und Ablagerungen in inneren Organen
sehr bald zu folgen pflegen.
Veränderungen des Schultergelenkes in Folge von myo-
pathischen Lähmungen. Ohne auf die in das Gebiet der Nervenpathologie
gehörigen Betrachtungen über die verschiedenen Arten von Lähmung, denen auch
die Schultermuskeln, namentlich die Mm. serratus anticus major, trapezius und
rlwmboidei einerseits, sowie die Mm. deltoideus , supra-, infraspinatus , teres
minor- und subscapularis andererseits, endlich auch bisweilen die Mm. bieeps,
trieeps und brachialis internus ausgesetzt sind, hier näher einzugehen, wollen wir
nur die Veränderungen, welche das Schultergelenk dabei erfährt, kurz erwähnen^
Dieselben bestehen in der Bildung eines Schlottergelenkes, einer Sub-
luxation oder Luxation. Bei diesen auch als myopathische Luxationen
bezeichneten Zuständen sinkt der am Körper hin- und herbaumelnde Arm, dem
Gesetze der Schwere folgend , herab , der Oberarmkopf entfernt sich aus der
Gelenkhöhle und tritt einen Zoll und mehr unter die letztere herab, das Acromion
tritt um so mehr hervor, je atrophischer gleichzeitig die Muskeln, namentlich der
Deltoideus, geworden sind. Jede active Bewegung in der Schulter ist dabei natürlich
ganz unmöglich. Besteht dieser Zustand seit der Kindheit, so nehmen, ausser den
Muskeln, auch die Knochen der Schulter an der Atrophie erheblichen Antheil.
Wenn auch die Muskeln des Vorderarmes und der Hand noch beweglich und nur
wenig geschwächt sind, so ist das Glied doch in seiner Brauchbarkeit viel mehr
als bei Ankylose des Schultergelenkes beeinträchtigt. So leicht es ist, die vor-
handene Luxation durch einfaches Aufwärtsdrängen des Armes zu beseitigen und
denselben in dieser Stellung zu erhalten, so ist der damit erzielte Gewinn doch
kein weiterer, als dass der Arm nicht mehr hin- und herbaumelt, ein Zuwachs
an Kraft und Brauchbarkeit ist dadurch nicht zu erwarten. — Nur in frischen
SCHULTERGELENK. 329
Fällen würde durch Anwendung der zur Wiederherstellung der Innervation
bekannten Mittel ein Heilversuch gerechtfertigt sein.
JE. Operationen am Schultergelenke.
Unter denselben kommt nur die Resection und Exarticulation in Betracht.
a) Die Resection im Schultergelenke, über deren Geschichte man den
Artikel „Resectionen" vergleichen möge, betrifft in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle die Entfernung des Oberarmkopfes (Decapitatio humeri), während
Resectionen des Oelenktheiles der Scapula ausserordentlich viel seltener und fast
immer nur in Verbindung und im Anschluss an Resectionen des Oberarmkopfes
gemacht worden sind.
Die Indicationen der im Ganzen viel häufiger wegen Verletzungen
als wegen organischer Erkrankungen ausgeführten Resection im Scbultergelenk sind
folgende: 1) Complicirte Comminutivfrakturen, namentlich Schussbrüche, wenn trotz
antiseptischer Behandlung die Verjauchung des Gelenkes fortschreitet und ein Theil
der Fragmente so gelöst ist , dass ihre Wiederanheilung nicht zu erwarten ist,
desgleichen wenn ein Projectil in dem Oberarmkopf oder einem anderen Gelenktheile
sich eingekeilt findet. 2) Irreponible Oberarm-Luxationen, sobald der Oberarmkopf
durch Druck auf Gefässe und Nerven der Achselhöhle Lähmung und andere
bedenkliche Erscheinungen hervorruft oder hervorgerufen hat. 3) Caries und Nekrose,
bei denen die expectative Behandlung, in Verbindung mit leichteren operativen
Eingriffen , wie Eröffnung des Gelenkes , Auskratzen desselben , keinen Erfolg
gehabt hat. 4) Vom Knochen ausgehende Neubildungen, welche die benachbarten
Weichtheile nur verdrängt, jedoch nicht durchwachsen haben. — Die erste Bedingung
für die Ausführbarkeit der Resection ist die, dass die das Gelenk umgebenden
Weichtheile weder durch Verletzung noch durch Erkrankung derartig zerstört sind,
dass sie mit Sicherheit erhalten werden können, ebenso dass die Hauptgefäss- und
Nervenstämme unverletzt sind, so dass die Ernährung des Armes nicht in Frage
gestellt ist. — Da bei antiseptischer Wundbehandlung die Möglichkeit gegeben
ist, auch die nach schweren Verletzungen etwa erforderlichen operativen Eingriffe
aufzuschieben und theils (z. B. nach Schussverletzungen) einen gelegeneren Zeit-
punkt abzuwarten, theils auch zu versuchen, ob nicht eine conservative Behandlung
möglich ist, wird die Ausführung primärer Resectionen in Zukunft seltener werden
und wird es sich noch weit mehr als jetzt um intermediäre oder sogar secundäre
Resectionen handeln, während bei chronischen Erkrankungen, z. B. Caries, die
Zeit der Vornahme der Resection dem Tact und der Erfahrung des Chirurgen
überlassen bleibt.
In Betreff der Technik der Operation wollen wir nicht die zahlreichen,
im Laufe der Zeiten angewendeten Verfahren beschreiben oder auch nur erwähnen.
Wir halten uns vielmehr an die gebräuchlichsten und am meisten bewährt gefundenen
und beschreiben zunächst das Verfahren mit vorderem Längsschnitte (von
Ch. White, Baudens, B. v. Langenbeck). Der Schnitt soll in der Richtung des
Sulcus inlertubercularis geführt werden, um am leichtesten an die Insertionen
der am Oberarmkopfe sich inserirenden Muskeln gelangen zu können; es soll
gleichzeitig die Sehne des langen Kopfes des M. biceps erhalten werden. Zu dem
Zwecke sucht man bei dem in der Rückenlage befindlichen Patienten, dessen
(durch ein Kissen am Ellenbogen unterstützter) Oberarm am Thorax anliegt, während
der zu demselben rechtwinkelig gebeugte Vorderarm auf dem Leibe ruht, an der
Schulter, unter dem Acromion, mit den Fingerspitzen den M. deltoideus durch-
dringend, die Rinne zwischen den beiden Tuberculis auf. Sollte bei viel Fett,
starker Muskulatur oder Anschwellung der Sulcus nicht mit Bestimmtheit durch-
zufühlen sein, so gelangt man auf ihn so nahe als möglich, wenn man den Längs-
schnitt über die Mitte der Vorderfläche des Oberarmkopfes macht. Dieser Schnitt
fängt am vorderen Rande des Acromion an und erstreckt sich 9 — 10 Cm. abwärts,
in der Längsaxe des Gliedes, durchtrennt die Haut, durchdringt den M. deltoideus,
wo möglich ohne Verletzung seiner Längsfaserung, und legt den durch eine fibröse
330 SCHULTERGELENK.
Masse überbrückten Sulcus frei. Nachdem man in jene mit der Spitze des Messers
eine Oeftnung gemacht und in diese eine Hohlsonde eingeführt, spaltet man sie
bis zum Gelenk hinauf und in diesem auch noch weiter die Gelenkkapsel
subcutan, bis über den gemachten Hautschnitt hinaus. Es lässt sich dann die frei-
gemachte Bicepssehne mit einem stumpfen Haken aus der Rinne hervor- und über
das Tuherculum minus hinweg, unter den inneren Wundrand ziehen. Zur Aus-
führung der subperiostalen Resection des Oberarmkopfes wird jetzt von der Gelenk-
fläche aus abwärts, im Verlaufe der Spina tuberculi minoris, ein kräftiger Schnitt
durch das Periost bis auf den Knochen geführt und mit einem Elevatorium das
Periost nach innen und oben , bis an das Tubercuhim minus abgelöst , dann,
während der Arm stark auswärts gerollt oder auf das Tubercuhim majus ein
starker Druck in derselben Richtung ausgeübt worden ist, zur Abtrennung der
sehr starken Sehne des M. subscapularis vom Tubercuhim minus geschritten.
Es muss Dies wegen des festen Anhaftens der Sehne mit dem Messer geschehen,
indem man in verticaler Richtung dieselbe hart am Knochen abschält, bis ein
Theil der überknorpelten Gelenkfläche sichtbar wird und man beim Zufühlen mit
dem Finger von einer sehnigen Insertion nichts mehr wahrnimmt. Bei weiterer
Auswärtsrollung des Armes kann das Periost des Collum humeri noch etwas
weiter nach innen abgelöst werden. Es folgt jetzt die erheblich schwierigere
Ablösung des Periosts an der Aussenfläche des Collum und Caput humeri und die
Abtrennung der Sehnen der Mm. supra-, infraspinatus und teres minor von den
drei Facetten des Tuherculum majus. Zu dem Zwecke wird der Oberarm möglichst
stark einwärts gerollt, der äussere Wundrand nach aussen gezogen und die
Abschälung der genannten Sehnen von ihren Insertionen in horizontaler Richtung
von innen nach aussen ausgeführt, bis der noch übrige Theil der Gelenkfläche zu
Gesicht kommt, der Oberarmkopf überall frei mit dem Finger umgangen und aus
der Wunde vertical nach oben hervorgedrängt werden kann. Er kann darauf mit
einer Hakenzange gefasst und mit irgend einer Säge abgesägt werden , an einer
Stelle , wie sie durch die betreffende Erkrankung oder Verletzung geboten ist,
also möglichst nahe unter dem Oberarmkopfe oder wenigstens oberhalb der
Insertionen der Mm. pectoralis major, teres major und latissimus dorsi, indessen,
wenn es die Umstände erfordern, auch im Bereiche dieser Insertionen oder selbst
unterhalb derselben, nachdem man zuvor noch in der entsprechenden Ausdehnung
das Periost abgelöst hatte. War der Oberarmkopf durch Schuss in seinem Halse
abgetrennt, so muss man ihn durch Einschlagen eines scharfen Knochenhakens
oder Einbohren einer Knochenschraube für die Sehnenabtrennungen immobilisiren
und später damit herausheben. — Sollte die Gelenkhöhle der Scapula
erkrankt oder verletzt gefunden werden, so kann das von ihr zu Entfernende mit
dem Hohlmeissel, oder, nach weiterer Freilegung, auch durch Absägung mit der
Stichsäge fortgenommen werden.
In den Fällen, wo es sich nach einer irreponiblen Oberarm-
Luxation um die Resection des luxirten Oberannkopfes handelt, eine Operation,
die immer erst einige Zeit nach stattgehabter Luxation, nachdem die entzünd-
liche Reaction sich beruhigt hat , auszuführen ist , würde man mit dem eben
beschriebenen Verfahren schwer an den in oder neben der Achselhöhle stehenden
Gelenkkopf gelangen können. In diesem Falle ist es zu empfehlen (nach B. v. Langex-
beck) die Resection von der Achselhöhle her auszuführen, indem man, bei
möglichst stark erhobenem Oberarme, am inneren Rande des M. coraco-brachialis
den Einschnitt macht, den Plexus hracliialis mit der Art. axillaris zur Seite
schiebt und dann weiter auf den Oberarmkopf vorgeht, der, je nach der verschiedenen
Stellung , die er einnimmt , und nach den Verwachsungen , die etwa sein Kapsel-
band eingegangen hat, mehr oder weniger schwierig zu entfernen ist.
In einigen sehr seltenen Fällen, theils bei isolirter Zerschmetterung durch
Schuss, theils bei Geschwülsten der Scapula ist auch der Gelenktheil der
Scapula isolirt zu entfernen. Es geschieht dies am besten (nach Esmaech),
SCHULTERGELENK. 331
indem man auf der Hinterseite der Schulter den hinteren Rand des Acromion mit
einem Bogenschnitt umgeht, den M. deltoideus davon abtrennt, die Gelenkkapsel
freilegt ; durch einen von der Mitte dieses Schnittes abwärts geführten Schnitt werden
die Haut, der M. deltoideus in der Richtung seiner Fasern, das Kapselband und die
Sehnen der Mm. sujpra- und infraspinatus bis auf die Mitte des Tuberc. majus
getrennt. Nach Auseinanderziehung der Weichtheile mit Haken trennt man die
Sehne des langen Kopfes des M. bieeps vom Rande der Gavitas genoidalis ab,
löst die Gelenkkapsel in Verbindung mit dem Periost ringsum so weit als erforderlich
ab und durchsägt die Scapula mit der Stichsäge, oder löst die zertrümmerten
Knochen mit Zange und Messer aus den Weichtheilen heraus.
Bei der Nachbehandlung nach allen Resectiönen am Schultergelenke ist
die Wunde zu vereinigen und entsprechend zu drainiren, beim vorderen Längs-
schnitte auch durch ein auf der Rückseite, an der Innenseite des M. latissimus
dorsi anzulegendes Drainloch, falls sich nicht daselbst eine Schussöffnung findet.
Es wird darauf der Arm in eine Mitella gelegt und durch ein STROMEYER'sches
Armkissen unterstützt. Dabei ist darauf zu achten , dass das obere Ende des Os
humer i nicht etwa eine Tendenz zeige, sich nach innen zu luxiren. Im weiteren
Verlaufe der Behandlung ist das Hauptaugenmerk auf die versteiften Gelenke der
Hand und der Finger zu richten und dafür Sorge zu tragen, dass dieselben durch
methodische, passive und später active Bewegungen wieder brauchbar gemacht
werden. War am Oberarmbein ein ungewöhnlich grosser Defect nöthig gewesen,
ohne dass man Periost für die Knochen-Regeneration erhalten konnte , so muss
die Mitella stärker angezogen werden, um die Sägefläche an die Gavitas glenoidalis
näher heranzubringen. Es erfolgt nun, je weniger vom Oberarmbeine hatte entfernt
werden müssen, mit um so besserem Resultate die Ausbildung eines falschen
Gelenkes , das aber in seinen Bewegungen insofern meistens zu wünschen übrig
lässt, als die Elevation des Armes fast immer nur mittelst einer Schleuderbewegung
möglich ist; ebenso ist die Wiederherstellung der Rotationen des Oberarmkopfes
nur bei geringem Defecte und sehr sorgfältiger subperiostaler Ausführung der
Operation mit Erhaltung der Sehneninsertionen zu erwarten. In den ungünstigsten
Fällen , namentlich nach sehr grossen Defecten , baumelt das Glied herab , kann
aber immerhin noch eine sehr brauchbare Hand besitzen, die, wenn der Oberarm
durch einen entsprechenden Apparat fixirt wird , noch zu vielerlei Verrichtungen
benutzt werden kann.
Bezüglich der bisher mit der Oberarm-Resection erzielten Erfolge führe
ich die grössten bekannten Statistiken über dieselben an, nämlich die von
Culbertson 5) und Gurlt 6) Nach dem Ersteren waren wegen Verletzungen
(exclusive Schussverletzungen) 1 2 Fälle von partieller Resection bekannt , mit
8 Heilungen, 1 unbekannten Ausgange, 3 Todesfällen t=z 27-27°/0 Mortalität;
wegen Erkrankungen waren 116 Resectiönen mit 98 Heilungen, 1 unbekannten
Ausgange, 21 Todesfällen ■=. 18-26 °/0 Mortalität ausgeführt worden. Von Gurlt
werden 1661 wegen Schussverletzungen gemachte Resectiönen angeführt, mit
1067 Heilungen, 27 unbekannten Ausgängen, 567 Todesfällen = 34,70°/0 Mortalität.
— Von 213 in den Deutschen Kriegen von 1848 — 1871 wegen Schussverletzung
resecirten Deutschen Soldaten besassen, nach Gurlt, 96 eine straffe Gelenkver-
bindung, 76 ein Schlottergelenk, 21 eine Ankylose, 20 eine unbekannte, nicht
ankylotische Verbindung.
b) Die Exarticulation im Schultergelenk ist indicirt: 1) bei Verletzungen
solcher Art (durch Granatstücke, Maschinengewalt etc. entstanden), dass die Weich-
theile in grossem Umfange abgerissen und zerquetscht, die Knochen vielfach
gebrochen sind und an eine Erhaltung des Gliedes nicht gedacht werden kann,
sondern Gangrän unvermeidlich ist; 2) wenn die letztere bereits drohend oder
eingetreten ist (auch an einem Oberarm-Amputationsstumpfe oder nach einer
Schulter-Resection) ; 3) wenn Pirogoff's acut-purulentes Oedem oder eine so aus-
gedehnte Verjauchung des Armes vorhanden ist, dass dadurch das Leben auf
332 SCHULTERGELENK.
das Höchste bedroht ist; 4) wenn hoch oben am Oberarm sitzende Tumoren nicht
anders als mit Aufopferung des Gliedes entfernt werden können.
Bei der Ausführung der Exarticulation des Oberarmes im Schulter-
gelenk ist zwar die Anwendung der ESMARdi'schen Blutleere möglich, wenn man
einen Gummischlauch durch die Achselhöhle legt und auf dem Acromion fest
fassen lässt, oder wenn man zunächst eine hohe Oberarm- Amputation macht, alle
Gefässe unterbindet und durch verticale Spaltung' aller Weichtheile an der Aussen-
seite des Armes von unten nach oben den Oberarmkopf freilegt und ihn nach-
träglich sammt dem noch daran sitzenden Diaphysenstück ausschält; allein abgesehen
von der Unsicherheit des erstgenannten Verfahrens, indem dabei gerade im ent-
scheidenden Momente, nach der Exarticulation des Kopfes, der Schlauch sich lockert
und bei der Durchschneidung der Weichtheile der Achselhöhle leicht abgleitet,
ist die Blutabsperrung in dem Gliede bei dieser Operation deswegen weniger noth-
wendig, weil man das Operationsverfahren so einrichten kann, dass die Haupt-
gefässe erst zu allerletzt, nach zuvoriger genauer Compression in der Wunde selbst
durchschnitten werden. Es ist daher auch die provisorische, gegen die erste Rippe
auszuführende Compression der Art. subclavia , die zudem bei kurzhalsigen und
fetten Individuen durch die ungetrennte Haut hindurch mit Sicherheit gar nicht
möglich ist, überflüssig. Das gebräuchlichste und in der Mehrzahl der Fälle anzu-
wendende Verfahren ist das mit Bildung eines grossen, äusseren und eines kleinen,
inneren, unteren Lappens.
Patient befindet sich in halb sitzender Stellung am Rande des Operations-
tisches. Der an seiner Aussenseite stehende Operateur umfasst an dem massig
abducirten Arme mit seiner linken Hand die Innenfläche des Oberarmes in der
Gegend der Achselhöhle und spannt dadurch die Haut an der Aussenseite. Der
zu machende Schnitt, der einen fast viereckigen Lappen mit abgerundeten Ecken
unterscheiden soll, beginnt vorn, in der Gegend des Proc. coracoidens , endigt
hinten an der Verbindung des Acromion mit der Spina scapidae und reicht
abwärts bis in die Gegend der Insertion des M. deltoideus. Dieser Schnitt wird
nun, je nach der Körperseite des Patienten und der dadurch bedingten Stellung
des Operateurs , entweder vorn begonnen und hinten beendigt, oder umgekehrt.
Er wird zunächst nur durch die Haut bis auf die Muskulatur geführt ; der
Operateur beginnt sodann den umschnittenen Lappen, ihn mit den Fingern der linken
Hand erfassend und nach oben ziehend , mit grossen , von links nach rechts
geführten Messerzügen nach oben hin abzulösen, wobei der Lappen, je weiter er
nach oben hin frei wird , immer dicker sich gestaltet , bis er über dem Gelenk
und in den beiden Wundwinkeln aus der ganzen Dicke des M. deltoideus besteht
und das Schultergelenk an seiner ganzen Aussenfläche freiliegt. Der Assistent
comprimirt die etwa spritzenden Zweige der Art. circumfiexa humeri im Lappen
und hält den letzteren empor, während der Operateur zur Vorzeichnung eines kleinen
inneren unteren Lappens an der Innenfläche des Oberarmes , dicht unterhalb der
Achselhöhle, einen einfachen halben Cirkelschnitt oder leicht bogenförmigen Schnitt
blos durch die Haut hindurch führt. Der Operateur ergreift nun , Behufs der
Exarticulation des Gelenkes, den Oberarm selbst mit seiner linken Hand, eröffnet
mit einem kräftigen Schnitt des vertical auf den Gelenkkopf aufgesetzten Messers
die Gelenkkapsel, bringt das Messer hinter den aus der Wunde hervorgedrängten
Gelenkkopf, indem er die an demselben sich inserirenden Muskelsehnen , sowie
an der Cavitas gJenoidalis die Sehne des langen Kopfes des M. bieeps durch-
schneidet, und exarticulirt den Gelenkkopf vollständig durch Trennung der unteren
Kapselwand. Nachdem man dann das Messer noch eine Strecke weit am
Oberarmhalse abwärts geführt und die an demselben befindlichen Insertionen der
Mm. pectoralis major, teres major, latissimus dorsi vorne und hinten durch-
schnitten hat, indem man die Mitte, wo sich der Plexus brachialis und die Art.
axillaris befindet, unberührt lässt, greift der Assistent in den unteren Theil der
Wunde und comprimirt jene mit seinem Daumen und Zeigefinger, worauf der
SCHULTERGELENK. — SCHWALHEI1I. 333
Operateur unterhalb der comprimirenden Finger des Assistenten die noch übrigen
Weichtheile , den kurzen Kopf des M. biceps , die Bäuche des M. triceps , den
Plexus brachialis , die Art. und V. axillaris mit horizontalen Messerzügen
trennt und an dem schon vorgezeichneten Hautschnitte an der Innenseite des
Oberarmes die Operation beendigt. Nach Unterbindung der Axillargefässe, die bis-
weilen die einzigen zu unterbindenden Grefässe sind, wird der Lappen durch Nähte
befestigt, Drains eingelegt u. s. w. — Eitersenkungen am Thorax im Verlaufe der
Nachbehandlung sind nach dieser Operation keine seltenen Erscheinungen.
Sollten in einzelnen Fällen nicht die genügenden verwendbaren Weich-
theile an der Anssenseite des Gelenkes vorhanden sein, so wird man entsprechende
Lappen von der Innenseite, von hinten oder vorn zu bilden und dieselben los-
zulösen haben ; in allen Fällen aber kann mit der Durchschneidung der Achsel-
gefässe so, wie oben angegeben, verfahren werden, d. h. sie brauchen erst stets
zuletzt und nach unmittelbarer Compression in der Wunde durchschnitten zu werden.
Auch in dem Falle , dass man es nach begonnener oder ausgeführter Resection
des Oberarmkopfes nothwendig findet, den Arm zu exarticuliren, kann in ähnlicher
Weise verfahren werden, indem man den vorderen Längsschnitt durch Hinzu-
fügung eines Cirkelschnittes (mit abgerundeten Ecken) in einen Ovalärschnitt ver-
wandelt und die Wundränder des Längsschnittes hinreichend vom Knochen ablöst.
Eine umfassende Statistik der Operation vermögen wir , in Ermanglung
einer solchen nicht zu geben.
Literatur: *) H. v. Luschka, Die Anatomie des Menschen. Bd. III, Abth. 1,
pag. 26, 122. Tübingen 1865. — 2) E. Gurlt, Handbuch der Lehre von den Knochenbrüchen.
IL Tbl., pag. 654. — 3) J. F.. Malgaigne, Tratte des fractures et des luxations. T. II,
pag. 454. 1855. — 4) Krönlein, Deutsche Chirurgie von Billroth und Lücke. Lief. 26,
pag. 5. 1882. — 6) H. Culbertson, JSxcision of the larger joints of the extremities, pag. 375.
Philadelphia 1876. — 6) E. G-urlt, Die Gelenkresectionen nach Schussverletzungen, pag. 1208.
Berlin 1879. „ _ ..
E. Gurlt.
Schussverletzungen, s. „Wunden".
Schutzbrillen, s. „Brillen", II, pag. 446.
Schutzpocken, s. „Impfung", VII, pag. 132.
Schwachsinn, s. „Blödsinn", II, pag. 292.
Schwämme, s. „Krankenpflege", VII, pag. 618.
Schwalbach, auch Langenschwalbach genannt, Provinz Hessen-Nassau,
zwei Stunden von der Eisenbahnstation Eltville, in einem von Waldungen umgebenen
Thale des nordwestlichen Abhanges des Taunusgebirges, 282 Meter hoch gelegen,
besitzt sehr kräftige, an Eisen und Kohlensäure reiche Eisenwässer. Es enthalten
Stahl- Wein- Paulinen- Neu- Ehe- Adelheid- Linden-
brunnen brunnen brunnen brnnnen brunnen brunnen biunnen
Doppeltkohlens. Eisenoxydul . . 0-083 0-057 0-067 0 077 0'049 0 042 ""o~OolT
Manganoxydul . 0-018 0'009 0-011 0-010 0-006 0-005 0-004
Natron 0-020 0"245 0-017 0-023 0'062 0043 0'042
Kalk 0-221 0572 0-215 0-252 0-495 0-357 0"429
Magnesia .... Q-212 Q-605 Q'169 Q-223 Q'290 Q-222 Q'395
Summe der festen Bestandtheile 0-605 T558 0"524 0-638 0"960 0-740 0-965
Völlig freie Kohlensäure in Cc. 15709 1425'0 12500 1429-6 1208-1 1081-5 1000 0
Zu Trinkcuren werden vorzugsweise der Stahl- und Weinbrunnen, zu
Bädern alle andern Quellen benützt. Die Badeeinrichtungen sind in jeder Beziehung
vortrefflich und mit Recht gilt Schwalbach als eines der kräftigsten und besten
Stahlbäder Deutschlands. K.
Schwalheim in der Nähe von Nauheim, ist ein stark versendeter, an
Kohlensäure sehr reicher kochsalzhaltiger Säuerling, der in 1000 Theilen 2*327
feste Bestandtheile, darunter 1-493 Chlornatrium und 1648 Cc. Kohlensäure enthält.
K.
334 SCHWANGERSCHAFT.
Schwangerschaft ist jener Zustand , in welchem sich das Weib von
erfolgter Befruchtung an bis zum Eintritte der Geburt befindet.
Die Schwangerschaft kann in der mannigfachsten Weise eingetheilt werden,
so in eine normale und regelwidrige, in eine einfache und mehrfache,
in eine intra- und extrauterinale etc.
Dauer der Schwangerschaft. Die Schwangerschaft dauert 10 Mond-
monate, 40 Wochen, 280 Tage oder 9 Sonnenmonate und 7 Tage. Geringe
Aberrationen um 4 — 6 Tage auf- oder abwärts sind nicht selten und kommen
weiterhin nicht in Betracht.
In der neuesten Zeit sind manche Zweifel über die bisherige Annahme
der Schwangerschaftsdauer rege geworden. Dieselben stehen damit in Verbindung,
dass auch der bisher angenommene innige Zusammenhang zwischen Ovulation und
Menstrualblutung bezweifelt oder gar geleugnet wird. Bisher wurde angenommen,
die Schwangerschaft beginne mit der letzten Menstruation , deren Ei befruchtet
worden sei. Gestützt auf die anatomischen Ergebnisse Kundrat's und Engel-
mann's *) sowie William's 2) , denen zufolge die Menstrualblutung nicht das
Zeichen der höchsten geschlechtlichen typischen Erregung, sondern ein solches
der bereits eingetretenen Decadenz derselben (der regressive Vorgang , die Ver-
fettung der oberflächlichsten Schichten der Uterusmucosa, wodurch die Gefässe des
Endometrium arrodirt werden) darstelle , wird darauf hingewiesen, dass sich das
abgehende Ei in einer derartigen Mucosa gar nicht einnisten könne. Ein sich fest-
setzendes Ei sei nur in einer normalen Mucosa möglich ; es träte demnach, wenn
Conception erfolge , gar keine Menstrualblutung ein. Die Conception verhindere
daher die sich sonst einstellende regressive Metamorphose der Uterusmucosa,
d. h. die Menstrualblutung. Finde einige Tage nach der letzten Menstrualblutung
Copulation statt, so dringe das Sperma, den Uterus und die Tuben langsam
passirend, bis in die Ampulle der letzteren, welche quasi ein Beceptaculum
seminis darstelle, vor und verbleibe hier so lange, bis es bei der nächsten Ovulation
das hervortretende Ei befruchte. Nach dieser Ansicht wäre daher das nach der
letzten Menstruationsperiode abgehende Ovum jenes, welches befruchtet wird, eine
Ansicht , die Sigismund 3), Löwenhaedt 4) und Reichert 5) vertreten. Bestätigte
sich dies, so würde die Schwangerschaftsdauer um 3 — 4 Wochen kürzer sein, als
man bisher annimmt.
Die erwähnten Irrungen von einigen Tagen in der Berechnung der
Schwangerschaftsdauer rühren davon her, dass es uns nicht bekannt ist, wie lange
die letzte Menstruation dauerte
Eine Verlängerung der Schwangerschaft über 40 Wochen giebt es nicht.
Bei Thieren dagegen soll eine Verlängerung der Trächtigkeitsdauer nicht so selten
sein (Frank 6).
Eine neue Frage wirft Cohnstein7) auf: ob nämlich das Weib stets
disponirt sei , schwanger zu werden, oder ob sie nicht zu gewissen Zeiten eine
besondere Prädilection dazu besitze, ähnlich der Brunst der Thiere.
Die im mütterlichen Organismus durch die Schwanger-
schaft hervorgebrachten Veränderungen sind nicht gering anzu-
schlagen. Sie betreifen nicht blos die Genitalorgane und deren Nachbarschaft,
sondern ihre Wirkung macht sich auch auf den Gesammtorganismus geltend.
Die Veränderungen in den Genitalien betreffen insbesondere
den Uterus. Er verändert sich nicht nur am frühesten, sondern auch am meisten
unter allen betheiligten Organen. Vor Allem verändert sich seine Schleimhaut. Sie
schwillt an. Es bildet sich die Decidua. Gleichzeitig verändert sich die Muscularis.
Die schon vorhandenen Muskelzellen vergrössern und verlängern sich um ein
Bedeutendes und ausserdem bilden sich zahlreiche neue Muskelzellen aus den von
früher her aufgespeicherten embryonalen Zellen. Ebenso nimmt das zwischen den
Muskelfasern befindliche Bindegewebe an Menge zu. Der seröse Ueberzug des
Uterus wächst nicht nur mit der Umfangszunahme des Organes, sondern wird
SCHWANGERSCHAFT. 335
gleichzeitig dicker. Die Blut- und Lymphgefässe nehmen an Umfang und Länge
zu und wachsen an ihren Enden aus. Ebenso participiren die Nerven , die dicker
und länger werden.
Durch diese Veränderungen vergrössert sich der Uterus. Seine Höhle
wird gleichzeitig immer weiter. Für die erste Zeit kann man nicht gut eine
passive Vergrösserung des Uterus durch Druck von Seite des Eies annehmen. Da
dieses noch zu klein ist, um eine mechanische Wirkung ausüben zu können. In
den späteren Monaten kommt aber dieser Factor wohl in Betracht. Den besten
Beweis, dass der Uterus nicht durch einfachen mechanischen Einfluss vergrössert
wird, erhellt aus dem Umstände, dass er sich auch dort, wo das Ei nicht in ihm
zur Entwicklung kommt, bei der Extrauterinalschwangerschaft, vergrössert. Die
gleiche Hypertrophie sieht man auch beim unbetheiligt gebliebenen Hörne eines
gedoppelten Uterus, dessen eine Hälfte geschwängert ist. In den letzten Monaten
wird die Grössenzunahme des Uterus direct durch die eintretende Vergrösserung
seines Inhaltes — das Wachsthum der Frucht — hervorgebracht und damit über-
einstimmend, nimmt die Dicke seiner Wandungen ab.
Die Wandungen des Uterus sind die Schwangerschaft hindurch nicht
gleich dick. Die Wand des Fundus übertrifft, ebenso wie im ungeschwängerten
Zustande, jene der Cervix an Dicke. Im Beginne der Schwangerschaft sind die
Wandungen dicker, gegen das Ende derselben werden sie dünner, namentlich jene
der Cervix. Die Cervixwand wird nämlich nicht blos durch Druck, sondern direct
durch das Gewicht der auf ihr ruhenden schweren Frucht verdünnt. Am Ende
der Schwangerschaft ist die Wand des Fundus etwa 1 Ctm. dick, jene der Cervix
dagegen nur wenige Mm. Die ungleiche Dicke der Uteruswände wird auch mit
durch die Art und Weise, in welcher das Ei dem Fruchtsacke anhaftet, beein-
flusst. Eine innige Verbindung zwischen Chorion und Uteruswand tritt nur im
Grunde und Körper ein. Die Vitalität dieser Partien ist daher in der Schwanger-
schaft eine höhere, als jene in der Cervix, die keine Verbindung mit dem Ei ein-
geht ; damit übereinstimmend ist auch die Wand im Fundus und Corpus dicker als
jene der Cervix.
Von manchen Seiten (wie von Luschka 8), Kreitzer 9) und von Hofmann 10)
wurde versucht, die Anordnung der Muskelfasern anatomisch zu bestimmen. Hat
man aber selbst derartige anatomische Präparate dargestellt, so überzeugt man
sich , dass eine regelmässige , schichtenförmige Anordnung der Muskelfasern , wie
sie von den Anatomen beschrieben wird, nicht existirt, sondern nur das Product
eines kunstreich geführten Scalpelles darstellt. An der Oberfläche verlaufen die
Muskelfasern der Quere und der Länge nach und ebenso schräge. In der Tiefe aber
verfilzen sie sich nach allen erdenklichen Richtungen hin, so dass von einer Be-
stimmung des Verlaufes keine Bede ist und man am besten thut, wenn man den
schwangeren Uterus als verfilzten Hohlmuskel mit oberen dickeren und schwächeren
unteren Wandungen betrachtet.
Die Grössenzunahme des Uterus ist natürlicherweise mit einer Gewichts-
zunahme verbunden. Der Uterus ist am Ende der Schwangerschaft etwa 24mal
so schwer als der jungfräuliche.
Eine weitere Veränderung, die der Uterus in der Schwangerschaft erfährt,
besteht darin, dass der Blutkreislauf in ihm nicht so regelmässig vor sich geht,
wie sonst (vgl. den Artikel „Piacent a") und er auf sonst indifferente Reize
viel eher reagirt, d. h. viel leichter Contractionen desselben eintreten als im
nicht schwangeren Zustande.
Die Massenzunahme des Uterus zieht eine Veränderung seiner Gestalt
nach sich. Innerhalb der drei ersten Monate behält er wohl im Allgemeinen seine
birnförmige Gestalt, doch wächst im Beginne und auch weiterhin namentlich jene
Partie, in welcher das Ei nistet — der Grund und der obere Theil des Körpers — ,
so dass das Organ seine flachgedrückte Form verliert und eine mehr kugelförmige
Gestalt annimmt. Vom 6. Monate etwa an, sobald die Cervix im höheren Maasse
336 SCHWANGERSCHAFT.
mit zum Aufbaue der Uterushölile verwendet wird, erhält der Uterus die Gestalt
eines Ovoides. Der Fundus vergrössert sich, wölbt sich wegen der Grössen-
zunahme seines Contentum stark hervor und sinkt, da er beim aufrechten Stehen
keinen festen Halt an den vorderen weichen Bauchdecken findet, nach vorne über,
wodurch sich die physiologische Anteflexion des Uterus steigert, eventuell ein
Bängebauch bildet.
Notwendigerweise muss noch eine weitere andere Lageveränderung ein-
treten. Der Uterus steigt in die Höhe. Da er sich in Folge seiner anatomischen
Lage und seiner lockeren Verbindung mit den Nachbarorganen ziemlich frei
bewegen kann, so muss er im Beginne der Schwangerschaft, sobald er schwerer
wird, tiefer herabsinken und die Nachbarorgane bei Seite drängen. Im Verlaufe
des 4. Monates ist er aber so gross geworden , dass er im Becken keinen Raum
mehr findet und mit seinem Grunde in die Höhe steigt. Des Weiteren erhebt sich
der Grund immer mehr, bis er am Ende des 9. Monates den Processus xiphoideus
des Brustbeines erreicht. Im 10. Monate senkt sich dagegen etwas der Grund,
weil die Cervix durch das Gewicht der Frucht herabgedrängt wird und ihr der
Körper mit dem Grunde folgen muss.
Selten nur liegt der Uterus am Ende der Schwangerschaft in der Median-
linie des Körpers. Meist weicht er nach rechts ab und ist dabei um seine Längs-
achse nach rechts gedreht, so dass seine linke Seitenfläche nach vorn sieht und
man das linke Ligamentum rotundum nach vorn liegend findet. Bewirkt wird
die seitliche Verschiebung durch die in Folge der vorgeschrittenen Schwangerschaft
gesteigerten Krümmungen der Lendenwirbelsäule. Die schwangere Gebärmutter
ändert in Folge der lockeren Verbindung mit ihren Nachbarorganen leicht ihre
Lage bei Lageveränderungen des Körpers.
Die Cervix nimmt an der Gestalt- und Lageveränderung selbstverständlich
mit Theil. Sie wird succulenter, lockert sich und steht im Beginne der Gravidität
wegen der Senkung des Uterus tiefer. An der Hypertrophie und Hyperplasie der
übrigen Partien des Uterus betheiligt sie sich weniger ; ohne Zweifel deshalb, weil
sie der Insertion des Eies ferner liegt. Mit dem Aufsteigen des Uterus wird sie
gehoben. Sinkt am Ende der Gravidität der Uterusgrund stark nach vorn über,
so muss die Cervix nach rückwärts gekehrt sein. Man findet damit überein-
stimmend auch die Vaginalportion, die in der Kreuzbeinaushöhlung liegt, mit dem
Muttermunde nach hinten stehend. Späterhin , sobald der vorliegende Fruchttheil
das untere Uterussegment verdünnt, wird die Cervix mit zur Bildung der Uterus-
höhle herangezogen. Scheinbar verkürzt sie sich , da der Rest derselben , die
Vaginalportion, immer kleiner wird. Thatsächlich aber verlängert sie sich, da die
Gegend des inneren Mutlermundes immer höher und höher hinaufrückt, bis sie
sich knapp vor der Geburt in der Höhe des Beckeneinganges befindet. Unter-
sucht man am Ende der Gravidität innerlich , so findet man in der Höhe des
Beckeneinganges die Uteruswand sich plötzlich verdünnen. Die Wand des Corpus
geht unvermittelt in jene der Cervix über. Die obere Mündung des noch restirenden
Cervicalcanales entspricht daher nicht dem inneren Muttermunde. Die Vaginal-
portion wird immer kleiner und kleiner, bis sie endlich knapp vor der Geburt,
wo der Uterus seine grösste Ausdehnungsfähigkeit erreicht hat, verschwindet.
Bei der Erstgeschwängerten ist der Cervicalcanal durch einen Schleim-
pfropf geschlossen und der Muttermund, der ebenfalls geschlossen, stellt ein rundes,
kleines Grübchen dar. Bei Mehrgeschwängerten dagegen eröffnet sich der im Be-
ginne geschlossene Cervicalcanalrest ziemlich bald.
Die Ansichten über das Verhalten der Cervix in der Schwangerschaft
sind getheilt. Bandl 11) in Wien vertritt mit Küstner12) die Ansicht, dass die
Cervix mit zum Aufbaue der Uterushöhle verwendet wird und hat diese Annahme
klinisch und anatomisch zu beweisen gesucht, während von Anderen (wie von
Cazeau, Stoltz13), Scanzoni14), Kilian, Birnbaum15), Lott16), Martin17),
Fritsch18), P. Müller19), Sänger20), Marchand21), Thiede22) u. A.) das
SCHWANGERSCHAFT. 337
unveränderte Persistiren der Cervix die ganze Dauer der Schwangerschaft hin-
durch angenommen wird.
Die Menstruation (resp. die Ovulation) cessirt stets während der Schwanger-
schaft (vgl. den Artikel „Superfötation").
Die Vagina und die äusseren Genitalien werden gleichfalls mehr
durchfeuchtet, turgesciren. Die Vaginalsecretion ist gesteigert, die Papillen sind
geschwellt.
Die Ligamenta lata werden durch das Wachsen des Uterus zum
Peritonealüberzuge verwendet, so dass schliesslich Tuben und Ovarien der Seiten-
wand des Uterus eng anliegen.
Die Ligamenta rotunda nehmen an Masse zu und werden länger.
An den Ovarien erkennt man die Schwangerschaft daran, dass der
Granulationsprocess im geborstenen Follikel viel reger vor sich geht als nach der
Menstruation. Das Corpus luteum ist viel grösser und erhält sich die ganze Zeit
der Schwangerschaft hindurch, ja selbst noch eine Zeit darnach. Aus seiner Grösse
entnimmt man sofort, dass ein Ei austrat, welches befruchtet wurde.
Die gleiche Schwellung und reichlichere Durchfeuchtung finden wir auch
am Beckenzellgewebe. Aehnliches sieht man an den Beckengelenken,
deren Gelenkflüssigkeit an Menge etwas zunimmt.
Die Brüste verändern sich schon vom 2. Monate an. Namentlich aber
beginnen sie sich vom 4. — 5. Monate an zu vergrössern. Ihre Acini vermehren
und vergrössern sich. Das interlobuläre Bindegewebe schwillt an, lockert sich,
wird mehr durchfeuchtet und nimmt an Menge zu. Ausserdem setzt sich mehr Fett
zwischen den Lobulis ab. Die Blutgefässe vergrössern und vermehren sich.
Das Gleiche gilt von den Lymphgefässen. Die benachbarten Lymphgefässe schwellen
etwas an. Diese Veränderungen erstrecken sich aber nicht gleichmässig über die
ganze Drüse, man fühlt daher in ihr knotige Stränge. Diese Vergrösserung der
Drüsen ist von einem Spannungsgefühle begleitet. Nicht selten fühlt die Schwangere
leichte Stiche in den Brüsten, die bis in die Achselhöhlen ziehen. Die Warzenhöfe
werden dunkler, ebenso die Warzen. Die MONTGOMERY'schen Drüsen treten mehr
hervor. Ebenso erheben sich die Warzen. Vom 2. — 3. Monate an entleert sich aus
der Drüse Colostrum. Häufig tragen die Brüste s. g. Schwangerschaftsnarben.
Die Veränderungen in den Nachbar Organen sind nicht gering.
Die Hüften werden in Folge reichlicher Fettapposition voller. Der vergrösserte
Uterus drängt die beweglichen Baucheingeweide nach aufwärts und zur Seite. Die
unbeweglichen werden gedrückt, wie namentlich das Rectum und die Blase, daher
die häufige Stypsis und der vermehrte Drang zum Uriniren sowie die vermin-
derte Capacität der Blase. Aber auch die Brustorgane werden in Mitleidenschaft
gezogen. Das Diaphragma wird in die Höhe gedrängt , comprimirt etwas die
unteren Lungenlappen. Das Herz wird verschoben, die Leber und Milz gedrückt.
Der Brustkorb erweitert sich an seiner Basis. Den grössten Druck haben die
vorderen Bauchdecken auszuhalten. Die tiefen Schichten der Cutis, ihre Faser-
bündeln , die Papillen und Gefässe werden in so hohem Grade gezerrt , dass sie
ihre Elasticität einbüssen und entsprechend bleibend umgelagert werden, wodurch
jene röthlich durchscheinenden, oft weiss-bläulichen Streifen entstehen, welche
den Namen der Schwangerschaftsnarben führen (Langer 23). Ausserdem pigmentirt
sich die Linea alba und die Nabelgegend. Die Mem. recti abdominis weichen
von einander, so dass eine Diastase derselben eintritt. Der Nabel ebnet sich, wölbt
sich vor oder öffnet sich gar der Nabelring.
Der vergrösserte Uterus ruft durch seinen Druck Circulationsstörungen
hervor. Er drückt auf die grossen Venen des Beckens, wodurch Blutstauungen
Varicositäten und Oedeme der Beine und der äusseren Genitalien eintreten. Zu-
weilen werden auch die grossen, im Becken verlaufenden Nervenstämme gedrückt,
so dass es zu Schmerzen in der Kreuzbeingegend und den unteren Extremitäten
kommt. Durch die Verrückung des Schwerpunktes nach vorn wird die normale
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII.
22
338 SCHWANGERSCHAFT.
Krümmung der Lendenwirbelsäule gesteigert und nimmt die Schwangere die ihr
eigentümliche Haltung ein.
Veränderungen im Gesammtor ganismus der verschiedensten
Art bleiben nicht aus. Meist sind sie sehr wandelbar, so dass bald diese, bald
jene Störungen auftreten und in verschiedener Intensität verschieden lange anhalten.
Die Qualität und Quantität des Blutes ist verändert. Nach
Spiegelberg's und Gscheidlen's 24) Untersuchungen scheint (wenigstens nach
trächtigen Thieren zu schliessen) die Blutmenge vermehrt zu sein. Die Eiweiss-
menge derselben ist vermindert, der Fibrin- und Wassergehalt dagegen vermehrt.
Die rothen Blutkörperchen nehmen an Menge ab, die weissen dagegen zu. Damit
übereinstimmend , treten die Erscheinungen der Chlorose und Hydrämie auf.
(Lxgerslev 25) will zwar nach directen Zählungen der rothen Blutkörperchen eine
Zunahme der weissen bestreiten, doch erfordern seine Ergebnisse noch weitere
Bestätigung.)
Die Blutcirculation zeigt mancherlei Störungen. Lacher26) und
Spiegelberg27) nehmen eine Vergrösserung des Herzens an, die Letzterer von der
Einschaltung des Placentarkreislaufes herleitet, doch wird dies von Löhleix 28)
bestritten.
Es schiessen Osteophyten an der Innenseite der Calva auf,
die späterhin wieder verschwinden und keine Störungen hervorrufen (Bokitaxsky 29).
Die vitale Capacität der Lungen wird wohl durch die Gravidität
nicht alterirt (Küchenmeister , Fabius , Wintrich 30) , doch erbreitert sich die
Basis des Thorax (Dohrn31).
Störungen der Digestionsfunctionen fehlen beinahe nie, wie
Uebelkeit, Erbrechen u. dgl. m. Der Appetit ist dabei meist normal, zuweilen
stellt sich ein Sp eichelfluss ein.
Manchmal schwillt die Schilddrüse an, ebenso die Milz und
Milz und Leber (Tait 32), Barnes 33).
DerHarnzeigtquantitativeundqualitativeAlterationen.
Er ist vermehrt und in Folge der veränderten Blutbeschaffenheit sowie des
gesteigerten arteriellen Druckes wässeriger (Winckel u). Nicht selten enthält er
Albumin , ohne dass die Nieren erkrankt sind. Dieses rührt von der Stauungs-
hyperämie her oder werden vielleicht die Wandungen der Harngefässe während
der Schwangerschaft für gewisse Stoffe durchlässig.
Die Nieren werden grösser.
Die Hautdrüsen funetioniren lebhafter als sonst. Es treten verbreitete
dunkle Pigmentirungen am Warzenhofe, Nabel, Gesichte u. s. w. auf.
Störungen im Gebiete des Nervensystems vermisst man
beinahe nie. Neuralgien, wie insbesondere Zahnschmerzen, sind sehr häufig.
Seltener sind Alterationen des Gesichts- und Gehörssinnes , häufig solche des
Geschmacks- und Geruchssinnes. In manchen Fällen stellen sich sogar Alterationen
der Psyche ein.
Nach Grüber und Frankexhäuser 35) ist die Körpertemperatur der
Schwangeren am Abend niedriger als am Tage. Dies soll davon herrühren, dass
sich das in den unteren Extremitäten und dem Becken langsamer fliessende venöse
Blut stark abkühlt.
Schliesslich findet eine Massenzunahme des ganzen Körpers
statt, die nach Gassner 36) innerhalb der 3 letzten Monate per Monat (allerdings
das Gewicht des Eies eingerechnet) 1500 — 2500 Grm. beträgt.
Wie wichtig die Diagnose der Schwangerschaft ist, braucht
wohl nicht erst speciell erörtert zu werden. Sie umfasst die Bestimmung der
Schwangerschaft überhaupt, jene der Zeit der Schwangerschaft und endlich die
Bestimmung der ersten und wiederholten Schwangerschaft. Um aber die Schwanger-
schaft erkennen zu können , muss man wissen, in welcher Weise man vorzugehen
habe, d. h. man muss die geburtshilfliche Untersuchung kennen.
SCHWANGERSCHAFT. 339
Der Untersuchung geht immer das mündliche Examen voraus. Mau
frage nach dem Alter des Weibes ,' ob es bereits geboren oder nicht und , wenn
ja , wie oft und wie die früheren Geburten verliefen, ob leicht oder schwer, und
wie die Wochenbetten waren. Erst dann stelle man die Fragen, wie lange die
Schwangerschaft dauert, seit wann die Menstruation ausgeblieben, dann, ob und
seit wann die Fruchtbewegungen gefühlt werden. Weiter reagire man auf die
erwähnten Veränderungen des Genitalsystemes und der Nachbarorgane. Wichtig ist
es, zu erfahren, ob Störungen des Allgemeinbefindens während der Schwanger-
schaft da sind und ob das Weib nicht etwa schon von früher her an einem
Krankheitsprocesse leidet.
Bei ledigen Individuen der besseren Stände sei man mit den Frage-
stellungen vorsichtig.
Der Anamnese folgt die Untersuchung, und zwar zuerst die äussere und
dann die innere.
Die äussere Untersuchung betrifft die Brüste, den Unterleib, sowie
die Genitalien und besteht aus der Inspection, Palpation und Auscultation.
Die Untersuchung der Brüste erfordert keine lange Zeit. Sie
beschränkt sich auf die Besichtigung der Brüste, wobei man die Entwicklung des
Drüsenkörpers und der Warzen beachtet. Weiter überzeuge man sich mittelst
eines leichten Druckes, ob die Drüse Colostrum enthält.
Bei der Untersuchung des Unterleibes liege die bis auf das
Hemd entkleidete Frau horizontal im Bette, die Kniee etwas angezogen und abducirt.
Vor der Untersuchung entleere die Frau das Rectum und die Blase, weil die Unter-
suchung sonst etwas erschwert wird.
Wenn es angeht, untersuche man zuerst mittelst des Gesichtssinnes.
Man beachte die Ausdehnung des Unterleibes , seine Form und Gestalt. Minder
wichtig ist die Verfärbung des Unterleibes, die Gegenwart von Schwangerschafts-
narben und das Verhalten des Nabels.
Dann übergehe man zur Palpation. Spannt die zu Untersuchende die
Bauchmuskeln , so wird jede Untersuchung unmöglich. Um dies zu vermeiden,
lenke man die Aufmerksamkeit der zu Untersuchenden durch em Gespräch oder
Fragen ab. Sehr selten nur wird es nothwendig, die Frau zu chlor oformiren.
Stets untersuche man von oben herab, d. h. die Fingerspitzen gegen die Genitalien
gerichtet. Die Hand lege man vollständig dem Unterleibe auf und verstärke als-
dann erst den Druck von Seiten der Fingerspitzen. Man untersucht immer gleich-
zeitig mit beiden Händen, die man den beiden Seiten der Gebärmutter auflegt.
Zuerst bestimme man die Grenzen des Uterus, dann seine Form, Grösse, Beweg-
lichkeit und die Spannung seiner Wände. Weiter beachte man das Verhalten
seines Inhaltes. Deshalb beginnt man immer mit der Untersuchung des Grundes
und rückt von da allmälig mit den Fingern zum unteren Uterinsegmente, knapp
oberhalb der Symphyse, herab. Vom 4. Monate etwa an ist es bei nachgiebigen
Bauchdecken nicht schwer , den Uterus aufzufinden. Man fühlt ihn als einen
eigenthümlich elastischen, dumpf fluctuirenden, aus dem kleinen Becken hervor-
steigenden , breiten , verschieden hohen , in oder neben der Mittellinie liegenden,
seitlich verschiebbaren Körper. In der ersten Schwangerschaftshälfte ist die Frucht
zu klein, die Fruehtwassermenge zu bedeutend und die Uteruswand zu dick und
resistent, um Fruchttheile durchfühlen zu können. Man ist dies erst vom 5. bis
6. Monate an im Stande, namentlich am Ende der Schwangerschaft, wo man selbst
einzelne Fruchttheile durchzufühlen vermag. Leicht ist es zu erkennen , ob und
welcher Fruchttheil im Beckeneingange oder oberhalb desselben liegt. Man
legt die beiden Hände mit nach abwärts gekehrten Fingerspitzen an die beiden
Seiten des Uterus knapp oberhalb der Symphyse und übt von beiden Seiten ab-
wechselnd einen vorübergehenden Druck aus, wodurch man das Gefühl des
„Ballotirens" , d. h. des Anschlagens eines harten Körpers gegen die Hände,
erhält. Hierauf bestimme man, ob im Grunde ein grosser Fruchttheil liegt und
22*
340 SCHAVANGERSCHAFT.
ob man an irgend einer Stelle kleine Fruchttheile fühlt. (Vergl. den Artikel
„K indeslage".) Zum Schlüsse reagire man, ob eine Diastase der geraden
Bauchmuskeln besteht.
Zuweilen fühlt man beim Auflegen der Hände deutliche Frucht-
bewegungen. Manchmal kann man sie sogar sehen.
Die Percussion des Unterleibes ist überflüssig und kommt nur bei
der Differentialdiagnose in Betracht.
Sehr wichtig ist die Auskultation, mittelst der man das Leben der
Frucht sowie deren Stellung bestimmen kann. Man vernimmt mehrere Töne und
Geräusche, die entweder der Mutter oder der Frucht angehören.
Von der Frucht ausgehende Töne und Geräusche.
Die fötalen Herztöne (zuerst von Mayor 37) und Lejumeau de
Kergaradec 38) 1818 und 1822 gehört) vernimmt man etwa von der 18. bis
20. Woche an als ein doppelschlägiges Pulsiren in der Frequenz von 120 bis
160 Schlägen in der Minute. Bewegungen der Frucht und Pulsbeschleunigung
der Mutter steigert ihre Frequenz. Ihre Intensität ist verschieden und hängt von
der Entwicklung sowie von der Lagerung der Frucht ab. Am besten hört man
sie dann, wenn der Rücken der Frucht der Seiten- oder Vorderwand des Uterus
anliegt. Bei Gegenwart vieler Fruchtwässer , bei kleiner Frucht, nach rückwärts
gekehrtem Rücken hört man sie häufig nicht.
Aus der Frequenz des Fötalpulses lässt sich weder ein Rückschluss auf
das Geschlecht der Frucht (Frankenhäuser 39) noch auf deren Körperlänge
(Engelhorn 40) ziehen.
Das Nabelschnur ge rausch ist ein mit dem Fötalpulse synchronisches
Geräusch , welches man dort vernimmt , wo man gewöhnlich die Fötalpulse hört
Man trifft es in 14 — 15 Percent der Fälle. Es entsteht im Nabelstrange , und
zwar auf verschiedene Weise: durch zu starke Spannung des Stranges, bei Druck
auf denselben, Knickungen, Umschlingungen desselben um einen Fruchttheil u. s. w.
Dass es im Nabelstrange entsteht, kann man daraus entnehmen, dass es zuweilen
an dem vorgefallenen Strange zu vernehmen ist. Zuweilen (Pinard 41) lässt es
sich auf anatomische Veränderungen der Nabelschnurgefässe (Vergrösserungen der
semilunaren Falten) zurückführen. Es entsteht in den Venen oder in diesen und
den Arterien. Es ist sehr wandelbar, entsteht und verschwindet an den ver-
schiedensten Stellen. Zuweilen kann man es sogar mit dem Sthetoskope künstlich
erzengen (Kehrer 42).
Nicht gar so selten hört man eigenthümliche kurze Geräusche, die von
Bewegungen der Frucht herrühren.
Zu den der Mutter zukommenden Tönen und Geräuschen gehören:
Das Uterinalge rausch, früher Pia centarg er aus eh genannt,
weil man seinen Entstehungsort in die Placenta verlegt hatte, ist ein dem mütter-
lichen Pulse synchronisches Geräusch, welches man vom 3. — 4. Monate an ver-
nimmt. Am stärksten hört man es in der Nähe des Nabels, häufiger links als
rechts. Oft wechselt es seinen Sitz. Nur selten vernimmt man es nicht. Meist
ist es systolisch und entsteht dann in den Uterinarterien, seltener in den Venen,
dann ist es continuirlich. Meist findet man es bei chlorotischen Individuen. Zuweilen
kann man das Vibriren der Arterien von den Bauchdecken oder von der Cervix
aus fühlen (Rotter 43), Rapin44). Es entsteht durch Druck auf die Uterinalgefässe
von Seiten der Frucht. Bei Lageveränderungen der Frucht verschwindet es, ebenso
bei starken Wehen.
Die Pulsationen der mütterlichen Aorta und des mütterlichen Herzens
hört man nicht selten. Zur Controle, ob die Töne oder Geräusche der Mutter
oder der Frucht angehören, ist es zweckmässig, den Puls der Mutter zu befühlen.
Das Gurren der Darmgase lässt sich nicht leicht mit Pulsationen ver-
wechseln. Eher möglich ist dies mit den Muskelgeräuschen, die in den Bauch-
muskeln entstehen und zuweilen ganz rhythmisch sind.
SCHWANGERSCHAFT. 341
Der äusseren Untersuchung folgt die innere, das s. g. Touchiren.
Das Touchiren ist der wichtigste Theil der ganzen Untersuchung, es darf nie
unterlassen werden. Am zweckmässigsten ist es, die Frau zu untersuchen, wenn
sie horizontal auf dem Rücken liegt, die Kniee angezogen und abducirt. Gut ist
es, wenn das Kreuz etwas erhöht ist. Steht die Wahl der Hand frei, so bediene
man sich lieber der linken , da die Finger derselben ein feineres Gefühl besitzen
als jene der rechten. In der Regel führt man nur einen Finger in die Vagina,
um der Schwangeren nicht unnöthige Schmerzen zu bereiten. Bios bei wichtigen,
schwierigen Fällen untersucht man mit 2 oder 4 Fingei*n oder gar mit der
halben oder ganzen Hand. Um die Genitalien nicht unnützerweise zu berühren,
führt man , nachdem Ring- , Mittel- und kleiner Finger eingeschlagen wurden,
bei gestrecktem abducirten Daumen den Zeigefinger von der Raphe perinei aus
in die Vagina.
Um nichts zu übersehen, halte man auch bei der inneren Untersuchung
eine bestimmte Ordnung ein. Zuerst achte man auf den Damm , das Frenulum
und die Hymenaireste, dann auf die Weite, Länge u. d. m. der Vagina. Hierauf
schiebe man den Finger bis zur Vaginalportion vor, umtaste dieselbe und achte
auf die Form und Weite des Scheidengewölbes. Dann touchire man die Vaginal-
portion, bestimme ihre Länge, ihren Umfang, ihre Stellung und Richtung, ob sie
geschlossen oder geöffnet ist. Ist sie, geöffnet, so bestimme man den Grad der
Oeffnung, den Rand des Muttermundes, ob er glatt, rissig, ectropionirt ist u. dgl. m.
Weiter suche man zu bestimmen , ob ein Fruchttheil und welcher vorliegt.
Schliesslich achte man auf die Weite des Beckens , ob man das Promontorium
erreicht etc. (vergl. den Artikel „Becken"). Der Anfänger wird nicht selten
durch die im Rectum liegenden, leicht eindrückbaren Fäcalknollen beirrt.
Bei der inneren Untersuchung liegt die äussere Hand auf dem Abdomen,
um, wenn nöthig, den Uterus zu fixiren, den vorliegenden Fruchttheil herabzu-
drängen u. dgl. m. Der Ellenbogen der untersuchenden Hand liege immer auf
dem Boden des Bettes. Der Finger sei stets mit Carbolöl eingefettet.
Mit dem Spiegel untersucht man nicht , weil , namentlich bei Erst-
geschwängerten, das Scheidengewölbe zu stark gezerrt wird, wodurch die Schwanger-
schaft vorzeitig unterbrochen werden kann. Noch weniger darf man mit der
Uterussonde untersuchen.
Per Rectum touchirt man in der Regel nicht. Man thut dies nur dann,
wenn Stenosen der Vagina da sind.
Die Schwangerschaftssymptome theilt man in subjective und
objective ein.
Die subjectiven Symptome haben weniger Werth. Glaubwürdiger
werden die Angaben über die subjectiven Symptome nur bei Verheiratheten und
da namentlich bei solchen, die mehrgeschwängert sind.
Die verlässlicheren subjectiven Symptome sind folgende:
Das Ausbleiben der Menstruation. Es ist insofern wichtig,
als die Menstruation bei erfolgter Schwängerung immer sistirt. Allerdings aber
muss man wissen, dass das Cessiren der Menstruation auch das Symptom einer
Krankheit sein kann.
Weniger Werth verdienen die Angaben über das Fühlen derFrucht-
bewegungen, noch weniger jene über Störungen des Allgemeinbefindens,
wie sie in der Schwangerschaft vorkommen.
Zu den weniger verlässlichen objectiven Symptomen gehören
die sichtbaren Veränderungen der äusseren Genitalien, der Turgor,
die Röthe, die gesteigerte Secretion u. dgl. m. , da diese Erscheinungen auch
Krankheitssymptome vorstellen können. Etwas verlässlicher schon ist die Grössen-
zunahme des Unterleibes, respective des Uterus und die V e r-
änderung der Brüste. Noch bedeutungsvoller sind die Veränderungen der
Vaginalportion.
342 SCHWANGERSCHAFT.
Zu den s i c h c r e n S c h w a n g e r s c b a f t s z e i c h e n schliesslich gehören,
dem Grade der Wichtigkeit nach aufsteigend, folgende:
Das Fühlen der Fruchttheile beweist die Gegenwart der Schwangerschaft
sieber. Verlässlicher jedoch ist es, wenn man die Fruchttheile mittelst der inneren
Untersuchung nachzuweisen vermag, als mittelst der blossen äusseren, da bei
bestehenden Complicationen, wie z. B. bei dem Uterus aufsitzenden Tumoren, bei
Gegenwart eines Ascites u. dgl. m., leicht Irrungen unterlaufen können.
Noch weniger Zweifel in der Diagnose werden rege, wenn man die
Bewegungen der Frucht fühlt.
Absolut sicher wird die Diagnose , sobald man die Herztöne hört.
Das Hören des Uterinalgeräusches hat wenig Werth , da man es auch
bei Tumoren des Unterleibes vernehmen kann.
Andererseits aber muss man wissen, dass das Weib auch schwanger sein
kann, wenn man keines dieser drei angeführten sicheren Zeichen findet. Entweder
kann die Schwangerschaft noch so wenig vorgeschritten sein, so dass keines der
erwähnten Symptome noch deutlich hervortritt, oder können Complicationen bestehen,
die den Nachweis dieser Zeichen erschweren oder gar unmöglich machen.
Sehr wichtig ist die Diagnose der Zeit der Schwangerschaft.
Allerdings sind wir nicht in der Lage, den Tag der eintretenden Geburt voraus-
zusagen, doch verschlägt dies nichts, indem es sich in der Praxis doch nur darum
handelt, das Ende der Schwangerschaft approximativ zu bestimmen, ohne deshalb
grössere Berechnungsfehler als solche von 8 — 10 Tagen zu machen.
Bei Erstgeschwängerten lässt sich das normale Schwangerschaftsende
leichter bestimmen als bei Mehrgeschwängerten, weil die Veränderungen bei ihnen
charakteristischer sind und typischer verlaufen.
Die Schwangerschaftsdauer lässt sich bei anamnestischen Daten und dem
vorliegenden Befunde bestimmen.
Die Aussagen bezüglich des Tages der erfolgten Con-
c e p t i o n sind in der Regel nicht verwerthbar , da die Aussagen der Weiber
gewöhnlich nicht verlässlich sind und auch nicht leicht anzunehmen ist, dass das
Weib aus gewissen Empfindungen während oder bald nach der Copulation ent-
nehmen könne, dass sie concipirt habe. Aber selbst wenn auch erwiesen ist, dass
das Weib den Coitus nur einmal gepflogen, so bleibt es immer noch fraglich, ob
Copulation und Conception immer zusammenfallen muss. (Siebe oben.) Wäre dies
der Fall, so brauchte man zu diesem Tage nur 280 andere zuzuzählen, um das
Ende der Schwangerschaft zu erfahren.
Von ebenfalls nur geringem Werthe sind die Angaben, zu welcher
Zeit die ersten Fruchtbewegungen gefühlt wurden, um durch Hinzu-
rechnen von 20 Wochen den Geburtseintritt zu bestimmen. Abgesehen davon, dass
das erste Fühlen der Fruchtbewegungen nicht regelmässig an die 20. Woche
gebunden ist, hängt das Fühlen derselben von so vielen individuellen Verhältnissen
ab, dass eine Berechnung auf dieser Basis immer unverlässlich bleibt.
Noch immer am verwerthbarsten bleibt die Berechnung nach der
letztenMenstruation. Nach Naegele 45) zieht man vom Beginne der letzten
Menstruation drei Monate ab , addirt sieben Tage dazu , woraus man den zuver-
lässigsten Termin des Geburtseintrittes erhält. (Z. B. Beginn der letzten Menstruation
1. Januar, Eintritt der Geburt 8. October.) Wie bereits erwähnt, unterlaufen hier
leicht Fehler von 8 — 10 Tagen. (Siehe oben.) Wahrscheinlich geht man sicherer,
wenn man das Intervall vom Eintritte der vorletzten Menstruation zum Eintritte
der letzten zu Grunde legt und die Schwangerschaft als das Zehnfache dieses
Intervalles bestimmt (Spiegelberg 4ß). In der Praxis ist diese Berechnungsweise
aber nicht anwendbar, denn gar häufig wissen die Weiber nicht einmal, wann sie
das letzte Mal menstruirten, geschweige denn das vorletzte Mal.
Verlässlicher zur Bestimmung der Schwangerschaftsdauer ist der Grad der
Veränderungen am Uterus in den einzelnen Monaten.
SCHWANGEBSCHAFT. 343
Erster Monat. Der Uterus ist vergrössert, die Vaginalportion etwas
gelockerter, die Vaginalsecretion vermehrt. Diese Veränderungen sind jedoch jenen,
die die Menstruation begleiten, so ähnlich, dass man besser daran thut, diese Zeit
die Diagnose noch in suspenso zu lassen und sie erst 4 — 6 Wochen später zu stellen.
Zweiter Monat. Der Uterus erreicht die Grösse einer Orange, ist
dicker und steht tiefer, so dass man seine Vergrösserung bei combinirter Unter-
suchung leicht nachweisen kann. Die Massenzunahme des Fundus zieht eine
stärkere Anteversion nach sich. Innerlich untersucht, fühlt sich der Uterus weich-
elastisch , succulenter an , während er , durch Neubildungen vergrössert , sich als
ein derber , fester , unnachgiebiger Tumor präsentirt. Die Brüste werden voller,
entleeren bei Druck zuweilen Colostrum. Die Haut des Unterleibes beginnt sich
zu pigmentiren.
Dritter Monat. Im Beginne dieses Monates steht der Uterus am
tiefsten. Er füllt die Beckenhöhle aus und erreicht mit seinem Fundus das Niveau
des Beckeneinganges. Er ist etwa kindskopfgross. Beim Touchiren desselben
fühlt man bereits eine undeutliche Fluctuation. Der Fundus sinkt stärker nach
vorn über, die Vaginalportion steht daher mehr nach rückwärts. Die Brüste
enthalten Colostrum.
Vierter Monat. Der inannskopfgrosse Uterus steigt mit seinem Fundus
aus dem kleinen Becken hervor, so dass ihn die äussere Hand bereits fühlen kann.
Er überragt die Symphyse um etwa zwei Querfinger. Man fühlt deutlich eine
elastische Fluctuation, da bereits mehr Fruchtwässer da sind. Die Vaginalportion
steht wegen der emporgezerrten Scheide höher. Manchmal fühlt man schon
ballotirende Fruchttheile. Ebenso hört man ausnahmsweise das Uterinalgeräusch
an einer oder an beiden Seiten.
Fünfter Monat. Der Fundus uteri steht in der Mitte zwischen
Symphyse und Nabel und ist etwas nach rechts gekehrt. Die Vaginalportion ist
gelockerter. Bei Mehrgeschwängerten ist der äussere, zuweilen auch der s. g.
innere Muttermund so weit geöffnet, dass man den Finger in den Rest des Cervical-
canales einführen kann. Die Mutter fühlt die Fruchtbewegungen deutlich. Man
vernimmt die Herztöne und das Uterinalgeräusch. Der Unterleib beginnt sich auch
seitlich auszudehnen.
Sechster Monat. Der Uterusgrund erreicht den Nabel, dessen Grube
sich zu verflachen beginnt. Die Vaginalportion verkürzt sich. Die Muttermunds-
ränder sind bei Erstgeschwängerten mehr eingezogen. Bei Mehrgeschwängerten
kann man den Finger bequem in den Rest des Cervicalcanales legen. Man fühlt
bereits Fruchttheile. Die Brüste sind voll. Die Haut des Unterleibes pigmentirt
sich stark, ebenso der Warzenhof.
Siebenter Monat. Der Grund der Gebärmutter überragt den Nabel
um 2 — 3 Querfinger. Die Nabelgrube ist verflacht. Der grösste Leibesumfang
schwankt am Ende dieses Monates zwischen 78 — 101 Ctm. und beträgt im Mittel
90*8 Ctm. Der Fundus neigt sich stärker nach vorn und nach rechts. Die
Vaginalportion steht nach hinten und links. Die Vaginalportion wird kürzer, da
sie zum Aufbaue der Uterushöhle verwendet wird. Bei Erstgeschwängerten ist sie
verschlossen. Bei Mehrgeschwängerten hängt sie mit geöffnetem äusseren und
(s. g.) inneren Muttermunde als ein schlaffer Zapfen in die Vagina. Innerlich
fühlt man deutlich vorliegende Fruchttheile. Ebenso fühlt man sie bei der äusseren
Untersuchung. Die stark gespannten, vergrösserten Brüste enthalten in der Regel
viel Colostrum.
Achter Monat. Der Uterus steht mit seinem Grunde in der Mitte
zwischen Nabel und Herzgrube. Der Nabel ist verstrichen. Auf der Bauchhaut
stellen sich in Folge der starken Spannung der äusseren Decken die s. g. Schwanger-
schaftsnarben ein. Der Scheidentheil ist bei Erstgeschwängerten noch mehr ver-
kürzt. Man kann bereits die Fruchtlage bestimmen. Der grösste Leibesumfang
soll in der 32. Woche 91-3 Ctm. betragen.
344
SCHWANGERSCHAFT.
Neunter Monat. Der Fundus der Gebärmutter erreicht seinen höchsten
Stand. Er steht in der Magengrube und drängt die Rippen an der Basis des
Thorax auseinander. Der Unterleib ist nach den Seiten hin stark vorgewölbt,
der Nabel -vorgetrieben, das Zwerchfell hinaufgedrängt. Das untere Uterinsegment
ist durch Druck von Seite des vorliegenden Fruchttheiles stark verdünnt, die
Vaginalportion stark verkürzt. Bei Erstgeschwängerten ist zuweilen der äussere
Muttermund etwas eröffnet. Bei Mehrgeschwängerten kann man mit Leichtigkeit
mit dem Finger den Rest des Cervicalcanales passiren und den vorliegenden Frucht-
theil mit der davor liegenden Fruchtblase fühlen. Durch das dünne Scheidengewölbe
tastet man nicht selten Nähte und Fontanellen. Der Kopf ist zuweilen in das
Becken eingetreten und fixirt. Häufig dagegen steht er höher und ist leicht
beweglich. Der Hochstand des Kopfes bei Mehrgeschwängerten und der Tiefstand
sowie das Fixirtsein desselben im Becken bei Erstgeschwängerten ist keine so
constante Erscheinung als von mancher Seite angenommen wird. Um diese Zeit
ist der Druck auf die Nachbarorgane am bedeutendsten, wenn auch der Grund
nach vorn sinkt. In der Nabelgegend soll der Umfang 97V2 Ctm. , unterhalb
desselben 99 Ctm. betragen. Die Brüste entleeren spontan Colostrum und sind
stark gespannt.
Zehnter Monat. Die schwere Frucht sinkt in das Becken hinein,
wodurch der Uterus herabsinkt, so dass der Grund etwa in gleicher Höhe steht
wie am Ende des achten , Anfangs des
neunten Monats. Bei schlafferen Uterus-
wandungen und Bauchdecken (daher
namentlich bei Mehrgeschwängerten) bil-
det sich ein Hängebauch. Die Vaginal-
portion ist bis auf ein kleines Zäpfchen
geschwunden, da die Cervix beinahe zur
Gänze zum Aufbaue der Uterushöhle
verwendet wurde. Führt man (was aber
nur bei Mehrgeschwängerten möglich ist)
die halbe Hand in die Uterushöhle ein,
so findet man (nach Bandl47) in der
Höhe des Beckeneinganges die Grenze
zwischen Corpus und Cervix an einem
ringförmigen Wulste. Der vorliegende
Schädel ist meist tief in das Becken
herabgesunken und dehnt das Scheiden-
gewölbe stark aus, wodurch die Scheide
bedeutend verkürzt wird, und die Vaginal-
portion leicht zu erreichen ist. Wegen
der starken Anteflexion des Uterus ist
das vordere Scheidengewölbe stärker
ausgedehnt und findet man den kleinen
Rest der Vaginalportion als kurzes
Zäpfchen in der Kreuzbeinaushöhlung,
der Muttermund nach der (linken) ent-
gegengesetzten Seite hin gekehrt, nach
welcher (gewöhnlich der rechten) der
Fundus gerichtet ist. Bei Erstgeschwängerten präsentirt sich die Vaginalportion als
kleiner Wulst mit einem in der Mitte geschlossenen Grübchen (Fig. 41). Aus-
nahmsweise ist der äussere Muttermund etwas eröffnet. Knapp vor der Geburt
verschwindet der kleine Wulst und statt desselben findet sich ein Grübchen oder
eine kleine runde Oeffnung. Bei Mehrgeschwängerten verbleibt immer noch ein
Theil des Scheidentheiles, den man als zwei schlaffe rissige Muttermundslippen
fühlt. Der Rest des Cervicalcanales ist so weit offen, dass man bequem zwei
Oi. = Oriflcium internum.
Vu. = Vesica urinaria.
S. — Symphyse.
Oe. = Oriücium externum.
V. — Vagina.
R. = Rectum.
SCHWANGERSCHAFT. 345
Finger in denselben einführen kann. Die Schleimhaut der Vagina und Vulva ist
weicher, aufgelockerter und secernirt mehr Schleim.
Die Differentialdiagnose. Irrungen in der Diagnose kommen am
ehesten bei wenig weit vorgeschrittener Schwangerschaft und bei Gegenwart ander-
weitiger krankhafter Complicationen vor.
Das Ausbleiben der Menstruation bei normal grossem Uterus
und Fehlen aller anderen subjectiven und objectiven Schwangerschaftssymptome
wird wohl kaum eine Gravidität vortäuschen können.
Bei der Hydrometra und Hämatometra ist der Uterus bei gleich-
zeitigem Fehlen der Menstruation auch vergrössert , doch wird hier nicht leicht
eine Täuschung unterlaufen. Der etwa orangengrosse Uterus bei Hydrometra
findet sich nur bei alten, decrepiten Weibern. Bei der Hämatometra ist wohl der
Uterus vergrössert, doch entspricht seine Grösse nur der Zeit der ausgebliebenen
Menstruation. Die Molimina fehlen nie. Die Vergrösserung des Uterus ist eine
gleichmässige, die Cervix verstreicht bald und ist immer geschlossen. Der Uterus
fühlt sich fest und prall an.
Beim Uterusinfarct (der mangelhaften Involution des Uterus nach
vorausgegangener Geburt oder stattgefundenem Abortus) ist der Uterus nie grösser,
als man ihn im zweiten Schwangerschaftsmonate findet. Er ist derb und hart.
Die Vaginalportion ist vergrössert, aber nicht aufgelockert, sondern gleichfalls
derb und hart. Nicht selten besteht dabei Schleim- und Blutabgang. Der Uterus
ist empfindlich. Die anamnestischen Daten und die Symptome sind ganz andere.
Neoplasmen des Uterus werden nicht leicht mit Schwangerschaft
verwechselt.
Subperitoneale Fibroide besitzen keine Aehnlichkeit mit dem
schwangeren Uterus und können kaum für Fruchttheile gehalten werden. Der
Uterus fühlt sich immer hart an, ebenso die Vaginalportion. Die Menstruation
fehlt nie. Bei grösseren Tumoren ist sie meist unregelmässig und heftig.
Bei intramuralen und submucösen Fibroiden ist der Uterus
wohl zuweilen stark vergrössert, doch fehlen nie Blutungen. Der Uterus fühlt
sich hart und fest an. Man fühlt keine Fruchttheile , hört keine Herztöne und
dgl. m. Wohl kann man ausnahmsweise ein Utermalgeräusch vernehmen, doch ist
dieses, wie erwähnt, diagnostisch nicht verwerthbar.
Aehnliches findet sich bei Ovarialtumoren. Kleinere lassen sich vom
Uterus abgrenzen, bei grösseren fehlen Fruchttheile, Fötalpulse u. s. w. Die Aus-
dehung des Untei'leibes entspricht auch hier nicht der angeblichen Schwanger-
schaftsdauer. Dabei sind die Gefässe in den weichen Bauchdecken stark entwickelt.
Häufig besteht gleichzeitig Menstruation. Die Brüste sind nicht vergrössert, ebenso
wenig der Uterus etc.
Hydrops ascites und blosse Fettansammlungen sind wohl
auch schon mit Schwangerschaft verwechselt worden, doch immer nur in Folge
nachlässiger, oberflächlicher Untersuchung.
Sehr bedeutend aber steigern sich die diagnostischen Schwierigkeiten, wenn
gleichzeitig neben einem der erwähnten krankhaften Processe
Schwangerschaft besteht. Die Fälle sind zwar selten, kommen aber ver-
einzelt immerhin vor. Namentlich schwierig wird die Diagnose, wenn neben einem
weit vorgeschrittenen Krankheitsprocesse, der eine starke Ausdehnung und Spannung
des Unterleibes nach sich zieht, Schwangerschaft in den ersten Monaten da ist,
so dass der verhältnissmässig noch kleine Uterus ganz verdeckt wird. In derartig
schwierigen Fällen ist es am besten, die Diagnose im Beginne in suspenso zu lassen
und den Fall erst eine Zeit hindurch zu beobachten.
Die Diagnose der ersten und wiederholten Schwangerschaft.
Unter Umständen wird die Bestimmung, ob das Weib zum ersten oder wiederholten
Male schwanger ist, wichtig.
346 SCHWANGERSCHAFT.
Erstgeschwängerte haben in der Regel pralle, hart gespannte
Brüste, ohne Schwangerschaftsnarben, mit wenig vortretenden Warzen. Die Haut
des Unterleibes ist straff gespannt. In der zweiten Schwangerschaftshälftc, sobald
sich der Unterleib stärker auszudehnen beginnt, bilden sich die s. g. Schwanger-
Bchaftsnarben. Sie haben eine bräunliche Farbe. Sie bilden sich zuweilen auch an
den Brüsten und den Oberschenkeln. Die Bauchmuskeln sind gleichfalls gespannt,
so dass man die Grenzen des Uterus nicht so gut durchfühlt. Ebenso sind die
Uteruswände straff gespannt. Sind daher gleichzeitig etwas mehr Fruchtwässer
da , so fühlt man die Fruchttheile nur schwer und undeutlich. Die Vulva klafft
nicht oder nur wenig, die kleinen Labien sind von den grossen bedeckt. Der
Damm und das Frenulum sind erhalten. Der Hymen ist (seltener) intact oder nur
an einzelnen Stellen eingerissen. Wurde der Coitus nicht allzu häufig ausgeübt,
so ist die Vagina eng, ihre Falten treten deutlich hervor. Die Papillen sind geschwellt.
Der dicke , hypertrophische Harnröhrenwulst drängt sich in den Scheideneingang
hinein. Die Vaginalportion ist aufgelockert, weich, und stellt einen verschieden
langen, in die Scheide hineinragenden Zapfen dar, der an seiner Spitze ein rundes
Grübchen, den äusseren Muttermund, trägt. Gewöhnlich ist er bis zum Geburts-
beginne geschlossen. Er hat glatte Eänder und einen scharfen inneren Saum, der
nur ausnahmsweise hier und da einen geschwellten Follikel trägt. Wegen der
Schlaffheit und Elasticität der mütterlichen Weichtheile ist die Mobilität der Frucht
bedeutend beeinträchtigt. Die Frucht ist gezwungen, in der Längslage (meist mit
nach abwärts gekehrtem Kopfe) zu verharren.
Bei der Mehrgeschwängerten dagegen sind die Brüste gewöhnlich
schlaff, hängend, die Warzen stark vorragend, mehr entwickelt. Auf der Bauch-
haut sieht man neben den s, g. frischen Schwangerschaftsnarben alte , weisse.
Die Bauchmuskulatur ist schlaff; häufig besteht eine Diastase der geraden Bauch-
muskeln. Da der Fundus an den schlaffen Bauchdecken keinen Halt hat, so bildet
sich ein s. g. Hängebauch. Wegen Schlaffheit der Bauch decken treten die Contouren
des Uterus deutlicher hervor. Die Wandungen des Uterus sind gleichfalls schlaff.
Man fühlt daher die einzelnen Fruchttheile, namentlich wenn die Uteruswände
dünn sind und weniger Fruchtwasser da ist, so deutlich durch, als ob sie blos
unter den äusseren Bauchdecken lägen. Aus den angeführten Gründen kann die
Frucht leicht ihre Lage ändern. Man stösst daher häufig auf Quer- oder Schief-
lagen. Der Damm zeigt häufig Narben und Substanzverluste, herrührend von der
ersten Geburt. Das Frenulum fehlt sehr häufig. Die Vulva klafft. Statt des Hymen
sieht man die Garunculae myrthiformes. Die Nymphen hängen hervor. Häufig
prolabirt die vordere sowie die hintere Vaginalwand. Die weite Vagina trägt
keine Runzeln , sondern breite Falten. Sie ist kürzer. Die Vaginalportion hängt
als unregelmässig geformter, weicher, geschwellter Lappen, an dem man deutlich
eine vordere und hintere Muttermundslippe fühlt, in die Scheide hinein. Der äussere,
vom fünften Monate an offene Muttermund hat einen eingerissenen, von Narben
durchzogenen Rand. Der Rest des Cervicalcanales ist vom siebenten bis achten
Monate an so weit offen , dass man mit dem Finger leicht eindringen und den
vorliegenden Fruchttheil mit der Eiblase deutlich fühlen kann. Der starke Hänge-
bauch drängt die Vaginalportion weit nach hinten in die Kreuzbeinaushöhlung. Die
Vaginalportion erhält sich viel länger und schwindet erst mit dem Geburtsbeginne.
Trotzdem aber besitzen diese angeführten Zeichen nur einen relativen
Werth. Die s. g. Schwangerschaftsnarben , die Risse der Vaginalportion , des
Frenulum und Dammes können fehlen, der Hymen kann nur eingerissen sein, wenn
die Frau eine Frühgeburt überstand und die kleine Frucht alle die angeführten
Ausdehnungen und Zerreissungen der Weichtheile nicht hervorrief. Andererseits
wieder können krankhafte Processe (wie z. B. syphilitische Ulcerationen) den
Hymen , den Damm zerstören , so dass diese Theile ähnlich werden , wie wir sie
bei Mehrgeschwängerten finden. Verfliessen zwischen zwei Geburten mehrere Jahre,
so können sich, wenn keine Substanzverluste von der ersten Geburt her da sind,
SCHWANGERSCHAFT. 347
die Weichtheile so zurückbilden, dass es schwer wird, zu entscheiden, ob die Person
schon geboren hat. Namentlich gilt dies von der Vaginalportion.
DieDiätetik derSchwangerschaft. Zwar ist die Schwangerschaft
nur ein physiologischer Vorgang, doch finden im Verlaufe derselben so tiefgreifende
Veränderungen im Gesammtorganismus statt, dass äussere Einflüsse oder Verstösse
gegen eine rationelle Lebensweise , die sonst bedeutungslos sind , schwere Schädi-
gungen der Mutter und der Frucht hervorzurufen vermögen. Es ist daher dringend
geboten, die Lebensweise der Schwangeren entsprechend zu regeln und zu
beaufsichtigen. Die Frau führe ihre von früher her gewohnte geregelte Lebens-
weise, bei der sie sich sonst wohl fühlte, weiter fort und vermeide nur alle
aussergewöhnlichen Anstrengungen und Excesse.
Die Kost sei die gleiche wie früher, doch sind schwer verdauliche Speisen
und Ueberladungen des Magens, namentlich am Abend, zu vermeiden. Gegen das
Schwangerschaftsende zu, wo der Magen vom Uterus stark gedrückt wird, werden
grössere Speisemengen schlecht vertragen. Die s. g. falschen Gelüste, die vorüber-
gehenden Alterationen der Geschmacksnerven, können befriedigt werden, insofern
die Gesundheit nicht darunter leidet.
Als Getränk kann Wein und Bier, doch nicht im Uebermaasse,
gestattet werden. Anämische Schwängere kräftigen sich bei diesem Regime. Excesse
in Baccho sind zu vermeiden.
Bewegung im Freien und der Genuss der frischen Luft
ist für die Gravide unerlässlich. Sie gehe, insoweit es die Witterung gestattet,
täglich in's Freie. Die vorübergehenden Verdauungsstörungen, die Schlaflosigkeit,
sowie die anderen kleinen Beschwerden , werden dadurch am einfachsten und
raschesten beseitigt. Schwere körperliche Anstrengungen dagegen, wie das Heben
und Tragen schwerer Lasten u. dgl. m., sind zu vermeiden, ebenso allzu heftige
Bewegungen , wie Tanzen , Reiten u. s. w. , da durch diese eine Ablösung der
Placenta mit nachfolgender Blutung und Schwangerschaftsunterbrechung hervor-
gerufen werden kann.
Wichtig ist die Reinlichkeit und gehörige Pflege der Haut.
Angezeigt sind Waschungen der Genitalien mit kühlem Wasser. Werden sie unter-
lassen, so stellen sich in Folge der Hypersecretion der Vagina nicht selten Erytheme
der äusseren Genitalien ein. Vaginalirrigationen dagegen sind streng-
stens verpönt, da sie leicht eine künstliche Frühgeburt einleiten. Sehr gesund
sind Bäder. Doch richte man sich hierbei nach der früheren Lebensweise und
den Gewohnheiten der Frau. Schwangere, die gewohnt sind, im Sommer kalte
Flussbäder zu nehmen, können ohne Weiteres bei warmer Witterung baden, doch
sei das Wasser nicht zu kalt (23 — 25° C), 1 — 2 Bäder in der Woche genügen.
Wünscht es die Schwangere, so kann sie auch warm baden. Das Wasser sei
nicht wärmer' als 30 — 35 °C. Heisse Voll- und Fussbäder sind schädlich.
Die Kleidung sei, bei gleichzeitigem Warmhalten der Füsse und des
Unterleibes, der jedesmaligen Jahreszeit entsprechend. Bei kühler Witterung trage
die Frau Beinkleider. Strenge zu verbieten ist das Tragen eines Corsets, ebenso
das feste Binden der Röcke und Kleider, weil dadurch die Ausdehnung des Unter-
leibes verhindert wird. Fest angezogene Strumpfbänder behindern die ohnehin
gestörte Circulation und geben Anlass zur Entstehung von Varicositäten und
Oedemen der unteren Extremitäten.
Die Brüste erfordern eine eigene Pflege. Der Brust eng anliegende
Kleider dürfen nicht getragen werden, weil sie das Wachsthum der Drüse behindern
und die Warzen einstülpen. Um die zarte Haut der Warzen abzuhärten, lasse man
Waschungen derselben mit verdünnten Spirituosen vornehmen. Die Versuche, tief-
liegende oder gar eingestülpte Warzen durch Sauggläser vorzuziehen , führen
gewöhnlich zu keinem Ziele.
Der C o i t u s ist zu restringiren und namentlich in der zweiten Schwanger-
schaftshälfte unbedingt zu verbieten.
348 SCHAVANGERSCHAFT.
Von grosser Wichtigkeit ist die entsp rechende Pflege des Ge-
rn üth es. Man trachte, die Gemüthsruhe zu erhalten und alle aufregenden
Gemüthsbewegungen fernzuhalten. Die bei Erstgeschwängerten stets bestehende
Furcht vor der Entbindung suche man so viel als möglich zu zerstreuen. Da eine
entsprechende, leichte, körperliche Arbeit und geordnete Beschäftigung bei gleich-
zeitiger gehöriger Diätetik des Geistes immer zur Erweckung und Erhaltung einer
heiteren, zufriedenen Stimmung beiträgt, so sei es die Aufgabe des Arztes, Rath-
schläge und Vorschriften nach dieser Richtung hin zu geben.
Mögen aber auch alle Vorsichtsmaassregeln eingehalten werden, so treten
doch nicht selten Störungen auf, die ein therapeutisches Einschreiten erfordern.
Wohl kann man gar häufig nicht radical helfen, doch aber wenigstens die Beschwerden
lindern. Dies ist unter Umständen nicht zu unterschätzen. Eines aber halte man
hier fest, man reiche keine scharf wirkenden Arzneimittel, sondern begnüge sich
mit milderen. Angezeigt ist es, wegen der bestehenden Chlorose der Schwangeren
kleine Dosen Ferrum möglichst lange zu reichen. Störungen der Magenfunction,
wie saures Aufstossen u. dgl. m., bekämpfe man durch Darreichung kleiner Dosen
von kohlensaurem Natron und durch Kohlensäuerlinge. Bei Obstructionen wende
man die indifferentesten und leichtesten Mittel an, wie Obst u. dgl. m. Drastische
Purgirmittel sind strenge verpönt. Eine Reihe von Beschwerden dagegen, wie
z. B. die Algien, die Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, das Erbrechen in den
ersten Monaten, weichen oft nicht, möge man diese oder jene Therapie einschlagen.
Häufig genug erweist sich jede Behandlung, mag sie eine diätetische oder thera-
peutische sein, als absolut erfolglos, denn die herrschenden ererbten und erworbenen
Vorurtheile lassen sich auf keine Weise überwinden. Eitelkeit, Bequemlichkeit,
Eigensinn und Mode spielen auch hier, dem Arzte zum Trotze, eine nicht
geringe Rolle.
Pathologie der Schwangerschaf t. Die Pathologie der Schwanger-
schaft ist sehr wichtig, weil Erkrankungen während der Gravidität nicht selten
sind. Die Schwangere kann, wie jedes andere nicht schwangere Weib, erkranken,
doch werden gar viele Processe durch das Bestehen der Schwangerschaft in ihrem
Verlaufe alterirt. Die Schwangerschaft kann aber auch an sich Anlass zu Erkran-
kungen geben , es brauchen sich nur die Alterationen des Gesammtbefindens , die
nie fehlen, steigern.
Erkrankungen als pathologische Steigerungen physio-
logischer Erscheinungen sind nicht so selten. Die schon während der
normalen Schwangerschaft bestehenden Störungen steigern sich in solchem Grade,
dass sie eine pathologische Bedeutung gewinnen oder seeundär andere krankhafte
Processe hervorrufen.
Zu diesen wichtigen Krankheiten gehören namentlich folgende :
Die Blutalterationen. Wie oben bereits erwähnt wurde, leidet, strenge
genommen , jede Schwangere in Folge ihrer veränderten Blutbeschaffenheit an
Chlorose und Hydrämie. Ausnahmsweise soll sich dieses hydrämische Leiden
— ohne Mitbetheiligung des gesunden Herzens und der gesunden Nieren — zu
solcher Höhe steigern , dass es zu wahren Hydropsien kommt (Spiegelberg 4S).
Es treten seröse Ergüsse in das subcutane Bindegewebe und in grosse Körper-
höhlen ein, so in die Abdominal- und Thoraxhöhle. Die Harnabsonderung ist dabei
nicht alterirt. Der Harn ist licht und eiweissfrei, höchstens dass er Spuren von
Albumin (ohne Cylinder) enthält. Dieser Zustand dauert die ganze Schwangerschaft
hindurch und verschwindet gewöhnlich erst im Puerperium. Ich beobachtete nie,
dass das Leben der Schwangeren dadurch bedroht wurde, vorausgesetzt, dass keine
Complication mit einer Nierenkrankheit bestand. Man wirke ableitend auf den Darm
durch Darreichung milder Purgantien, aber keiner Drastica oder scharfer Diuretica.
Gute Dienste leisten Dunstbäder. Gleichzeitig bessere man die Blutbeschaffenheit
durch gute Kost und Darreichung von Ferrum. Bei starken Oedenien der Beine
lasse man die Schwangere die horizontale Lage einhalten, eventuell bandagire man
SCHWANGERSCHAFT. 349
die Beine. Bei starken Oedemen der äusseren Genitalien lege man auf dieselben
eine Compresse und befestige sie mittelst einer T-Binde, um das Oedem durch
constanten Druck zum Schwinden zu bringen. Droht Gangrän der Haut der äusseren
Genitalien, so punctire man die Haut, presse die Flüssigkeit aus und lege hierauf
einen Compressivverband an.
In sehr seltenen Fällen stellt sich, wie dies Gusserow49) beobachtete,
eine perniciöse Anämie ein. Die Blutverarmung führt nicht zur Hydrämie,
sondern zur Anämie, der wahren Oligämie, zu der erst gegen das Ende Hydrämie
hinzutritt. Das Leiden trotzt allen therapeutischen Versuchen und führt vor
normalem Schwangerschaftsende nach eingetretener Frühgeburt unaufhaltsam zum
Tode. Die Aetiologie ist bisher noch unbekannt. Auch der Sectionsbefund liefert
keine Aufklärung über das Wesen des Leidens. Man findet blos eine hochgradige
Anämie und Hydrämie, sammt deren Folgezuständen. Das Gehirn mit seinen
Häuten ist ungemein blutleer. Wahrscheinlich ist diese Anämie des Gehirns das
veranlassende Moment der Frühgeburt. Die Herzmuskulatur erscheint leicht ver-
fettet, ebenso die Intima der Arterien und stellenweise die Wände der Capillaren.
Zeichen der Leukämie fehlen, ebenso Schwellungen der Milz. Die Zahl der weissen
Blutkörperchen ist nicht vermehrt.- Gusserow giebt den Kath, unter solchen Um-
ständen die Schwangerschaft künstlich zu unterbrechen, ehe es zum höchsten Grade
der Krankheit kommt, weil sonst der Geburtsact, auch beim geringsten Blutverluste,
hinreichen könne, den Tod rasch herbeizuführen. Dieser Rathschlag hat, wie dies
Cohnstetn50) ganz richtig hervorbebt, keine Berechtigung; denn wozu soll man
die Schwangerschaft künstlich unterbrechen, wenn der Geburtsact allein schon
hinreicht, den baldigen Tod herbeizuführen. Dadurch wird die ohnehin abnorm
geringe Blutmenge noch mehr vermindert und der Eintritt des Todes beschleunigt,
abgesehen davon, dass es sehr fraglich ist, ob dem Processe dadurch Einhalt
geboten wird, da Beobachtungen von Biermer51) und Immermann52) vorliegen,
aus welchen es sich ergiebt, dass diese Erkrankung auch bei Nichtschwangeren
den gleichen unvermeidlichen Ausgang nimmt.
Circulationsstörungen können insofern bedenkliche Folgen nach
sich ziehen , als varicöse Venen einreissen und eine sehr bedenkliche , unter
Umständen selbst letale Blutung hervorrufen können (Spiegelberg53). Durch
rasche Compression der eröffneten Vene lässt sich übrigens die Blutung bekämpfen.
P. Rüge und A. Martin'54) sahen bei subcutanen Ergotininjectionen in die unteren
Extremitäten die Varices sich stark zurückbilden. Sehr selten geschieht es, wie
ich dies in einem Falle beobachtete, dass sich eine solche dilatirte Vene der
unteren Extremität in der Schwangerschaft spontan entzündet, und es zu einer
Vereiterung oder Thrombose kommt.
Nicht so selten sind Störungen der Verdauungsfunction. (Vgl.
den Artikel „Erbrechen der Schwangeren".)
Stuhlverstopfungen kommen durch den Druck, den der grosse
Uterus auf das Rectum ausübt, zu Stande. Am besten wirken leichte Purgantien,
Klysmen oder im äussersten Falle Wassereingiessungen in den Darm.
Seltener ist die Schwangerschaft von Diarrhoen begleitet.
Oft ist die Function der Harnblase beeinträchtigt. Am häufigsten
beobachtet man den Harndrang. Er ist Folge des Druckes, den der vorliegende
Fruchttheil (namentlich der Kopf) auf die Blase ausübt, ausnahmsweise nur Folge
der Zerrung der Blase, wie bei einer Querlage (Playfair 55). Verstärkt sich dieser
Druck, so kann eine vollständige Harnverhaltung eintreten, welche den
Katheter nothwendig macht. Da ein unreiner Katheter einen Blasencatarrh herbei-
zuführen vermag, so sehe man darauf, dass dieses Geräthe stets gehörig des-
inficirt sei (Olshausen56).
Hautaffectionen kommen nach Hebra57) während der Schwanger-
schaft häufig vor. Man beobachtet das Auftreten von Acne, Eczem, Urticaria,
Seborrhoea capillitii, Pigmentablagerungen im Gesichte, Pruritus, namentlich
350 SCHWANGERSCHAFT.
einen solchen der Genitalien, und Impetigo herpetiformis. Diese mit Ausnahme
des Impetigo herpetiforrnis ungefährlichen Affectionen stellen sich meist im Beginne
der Schwangerschaft ein und weichen in der Hegel keiner Behandlung, bis sie im
Wochenbette von selbst verschwinden.
Neurosen beobachtet man in der Gravidität häufig.
Chorea ist selten. Barnes59) stellte 5G Fälle aus der Literatur
zusammen, Fehltng69) 68. Man beobachtet sie bei Schwangeren, die schon in ihrer
Kindheit an diesem Leiden litten, oder es werden Choreakranke gravid. Ausnahms-
weise nur bricht die Krankheit bei früher gesunden Individuen in der Schwanger-
schaft aus. Erstgeschwängerte sollen häufiger erkranken. Die Krankheit erreicht
beinahe nie eine solche Intensität , dass dadurch das Leben der Schwangeren
gefährdet würde oder eine Schwangerschaftsunterbrechung einträte. Das Leben der
Frucht wird nicht bedroht. So lange als die Schwangerschaft andauert, versagen
die sonst gebräuchlichen Mittel ihre Wirkung. Gute Dienste sollen Bromkalium,
Bromammonium mit Solut. arsenical. leisten. Narcotica, Chloroform, Chloralhydrat
empfehlen sich bei sehr heftigem Leiden. Die künstliche Unterbrechung der
Schwangerschaft ist nicht vorzunehmen.
Die Epilepsie wird eigenthümlicherweise durch die Schwangerschaft in
der Regel abgeschwächt, und zwar gewöhnlich in dem Maasse, dass die ganze
Gravidität hindurch kein Anfall auftritt. Nach abgelaufenem Puerperium dagegen
stellt sich das Leiden wieder ein.
Zuweilen, aber nicht häufig, stellt sich ein intensiver Speichelfi uss
ein. Therapeutisch lässt sich dagegen nicht viel thün. Am besten wirken noch
adstringirende Mundwässer. Daneben lasse man eine gute Kost geben und reiche
kleine Dosen Ferrum.
Zahnschmerzen als einfache Neurosen ohne Caries des Zahnes sind
sehr häufig. Die Behandlung ist eine einfach symptomatische. Lindner 60) empfiehlt
das Crotonchloral zu 0-6 auf einmal zu nehmen. Mit Vorschreiten der Schwanger-
schaft hört der Zahnschmerz gewöhnlich im 5. — 6. Monate auf.
Von grosser Bedeutung ist das Auftreten einer Albuminurie, resp.
einer Nephritis, in der Schwangerschaft.
Die Albuminurie beobachtet man durchaus nicht selten, wenn sie auch
nicht in jedem Falle von Oedem der unteren Extremitäten begleitet ist. Auf
welche Entstehungsmomente sie in jedem Falle zurückzuführen ist, lässt sich wohl
nicht immer sagen. Frerichs 61) und Rosenstein 62) legen ein grosses Gewicht
auf den uterinen Druck. Namentlich will Letzterer die Albuminurie als einfache
Stauungserscheinungen aufgefasst wissen. Scanzoni63) dagegen sieht die Hydrämie
als Hauptursache an und glaubt, dass diese (ohne eine vorhandene Nierenkrank-
heit) Albuminurie herbeiführen könne. Litzmann 64) meint, für manche Fälle einen
Catarrh der Harnwege, namentlich der Blase annehmen zu können, hervorgerufen
vom Drucke des vorliegenden Fruchttheiles. Die Amerikaner , wie Coe 65), sehen
die Albuminurie theilweise als Neurose, bedingt durch die Schwangerschaft, an.
Stoffe, welche sonst für die Wandungen der Harncanälchen impermeabel sind,
vermögen durchzutreten, ohne dass permanente Structurveränderungen der Nieren
vorhanden seien. In gewissen Fällen hat die Albuminurie mit der Schwanger-
schaft entschieden nichts zu thun und ist auf ein von früher bestehendes Leiden
zurückzuführen. Andere Male wieder besteht eine Nephritis, aber vorübergehend
enthält der Harn keine Cylinder. Die Albuminurie beobachtet man namentlich
häufig in den letzten Schwangerschaftsmonaten. Dass insbesondere Erstgeschwän-
gerte mit straffen Bauchdecken und solche Schwangere, deren Uterus (durch
Zwillinge, mehr Fruchtwässer u. dgl. m.) stärker ausgedehnt ist, häufiger
Albuminurie zeigen (Möricke ce) , kann ich nach meinen Erfahrungen nicht
bestätigen. Sie verschwindet wohl in den meisten Fällen nicht vor Ende der
Schwangerschaft, doch giebt sie, vorausgesetzt dass keine Nephritis intercurrirt
oder dass das Leiden nicht Symptom einer Herzkrankheit ist , keine ungünstige
SCHWANGERSCHAFT. 351
Prognose. Die Kranken kommen , wenn der Harn , wie gewöhnlich , nur wenig
Albumin enthält, nicht herunter. Die Schwangerschaft wird in keiner Weise alterirt.
Die Therapie ist die gewöhnliche. Gute Dienste leisten warme Oeleinreibungen
und leichte Diuretica bei guter Kost und Darreichung von Eisen. Entschieden
unrichtig ist es , jeden Fall von Albuminurie als Nephritis aufzufassen. Eine
Nephritis darf nur dann angenommen werden, wenn der Harn Cylinder enthält.
Sie kommt in der Schwangerschaft häufiger vor als sonst. Inwiefern aber die
Schwangerschaft ein veranlassendes Moment zum Ausbruche des Leidens abgiebt,
ist bisher, trotz der zahlreich aufgestellten Hypothesen, noch immer nicht bekannt.
Nicht so selten mag die Frau mit einer bestehenden Nephritis gravid werden, so
dass das Leiden schon von früher her datirt. Die Nephritis kommt in zwei Formen
vor : als chronische und acute. Die erstere dauert entweder schon von früher in
die Schwangerschaft hinein oder sie tritt erst in der Gravidität auf. Sie ist viel
häufiger als die acute Form, die sich nur ausnahmsweise einstellt. Die chronische Form
verlauft meist günstig und verliert sich gewöhnlich bald nach der Geburt ohne
weitere Folgen und ohne Störung der Schwangerschaft. Von grösserer Wichtig-
keit ist die acute Form wegen Gefahr einer ausbrechenden Eklampsie, doch muss
es nicht zu letzterer kommen. Die. Nierensecretion kann vollständig sistiren. Es
erfolgen seröse Ergüsse in das Abdomen, die Pleurahöhle und das Pericardium.
Es kommt zum allgemeinen Hydrops. Die Schwangerschaft wird vorzeitig unter-
brochen und bald darauf tritt der Tod ein. Häufig brechen eklamptische Anfälle
aus. Die Prognose ist bei der chronischen Form günstiger, doch immer bedenklich,
da der Uebergang in die acute Form, wenn er auch nicht sehr oft stattfindet,
doch nie mit Sicherheit auszuschliessen ist. Die acute Form giebt eine ungünstige
Prognose, mag es zur Eklampsie kommen oder nicht. Verschlechtert wird sie über-
dies dadurch, dass die Nephritis acuta nicht selten die Schwangerschaft unter-
bricht. Bei der chronischen Form wird die Milchdiät sehr warm empfohlen.
Kationeil ist es auch , durch alkalisehe Diurectica und Fruchtsäuren die Nieren-
secretion anzuregen, durch warme Bäder ableitend auf die Haut und durch Pur-
gantien auf den Darm einzuwirken, um wenigstens auf diese Weise die im Körper
zurückgebliebenen Excretionsstoffe zu eliminiren. Frerichs empfiehlt Pflanzensäuren,
die Citronen- und Benzoesäure, welche neben ihrer diuretischen Wirkung auch
noch das etwa im Blute befindliche kohlensaure Ammoniak unschädlich machen
sollen. Auch bei der acuten Form wird, abgesehen von der symptomatischen
Behandlung, das Hauptbestreben dahin gerichtet sein müssen, eine vicariirende
Ausscheidung der im Blute zurückgehaltenen ExcretionsstofFe herbeizuführen. Von
einer künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft ist nie die Rede, da die
eintretende Geburt mit den sie begleitenden Druckstörungen im grossen Kreis-
laufe nur einen noch ungünstigeren Einfluss auf die Nierenkrankheit ausüben muss
und den etwaigen Eintritt eklamptischer Convulsionen nur beschleunigt.
Selten stellen sich Augenkrankheiten ein, die mit dem Gestations-
processe im Zusammenhange stehen. In Folge der Anämie und Chlorose tritt zuweilen
ungleiches Accommodations vermögen, besonders bei Hypermetropie auf, das nach
der Geburt, wenn sich das Individuum erholt, wieder schwindet. Selten sind höhere
Grade von Amblyopie und Hemeralopie. Nicht gar so selten sind die Retinal-
erkrankungen bei Gegenwart einer Nephritis. Die Prognose bei diesen Leiden ist
meist eine günstige, denn zumeist schwinden sie wieder im Wochenbette (Porved 67).
Krankheiten der Schwangerschaft, welche mit der Ge-
schlechtssphäre in keinem Zusammenhange stehen. In früheren
Zeiten meinte man, die Schwangere besitze eine gewisse Immunität gegen bestimmte
Krankheiten, doch hat sich dies als unrichtig erwiesen. Häufig übt die Schwanger-
schaft einen ungünstigen Einfluss auf das bestehende Leiden aus und ebenso, aber
noch häufiger, die Krankheit auf die Schwangerschaft.
Bei acuten fieberhaften Processen welcher Art immer,
von welchen Schwangere ebenso gut wie andere Individuen befallen werden, giebt
352 SCHWANGERSCHAFT.
die Gravidität immer eine ungünstige Complication ab. Dauert nämlich das hohe
Fieber längere Zeit an, so wird die Schwangerschaft vorzeitig unterbrochen, und
dieser Zufall ist es , der für die Krankheit eine sehr ungünstige Complication
bildet. Bei länger andauerndem hohen Fieber (40°) stirbt die Frucht, welche
wegen ihrer eigenen Wärmeproduction stets eine höhere Temperatur als die Mutter
besitzt, in Folge der eintretenden Wärmestauung bald ab (Kaminsky 08). Dadurch
wird, wenn auch nicht immer sofort, die Schwangerschaft unterbrochen. Ausser-
dem ist , nach Runge's 69) Versuchen zu schliessen , eine durch längere Zeit
gesteigerte Eigenwärme im Stande, entweder primär Uteruscontractionen auszulösen
oder doch die Reizbarkeit des Uterus in solchem Grade zu erhöhen, dass es nur
eines weiteren reizenden Momentes von sonst irrelevanter Grösse bedarf, um
einen Ausschlag in Form von Wehen zu geben.
Acute infectiöse Processe sind für die Schwangere namentlich
deshalb gefährlich, weil sie eine Entzündung der Innenwand des Uterus erzeugen,
die sich in der Regel mit einer Metrorrhagie complicirt. Anatomisch wies diese
Endometritis haemorrhagica für die Cholera Slavjanski 70) nach. Bei stärkerem
Blutergusse wird das Ei vom mütterlichen Boden abgetrennt und geht ab. Eine
Störung der Gravidität kann bei allen acuten Infectionen eintreten, doch darf sie
(nach Runge 71) nicht als unbedingte Regel hingestellt werden. Die Ursachen der-
selben sind das andauernd hohe Fieber, der eintretende Tod der Frucht und die
erwähnte Endometritis haemorrhagica.
An Variola72) erkranken Schwangere häufig und nimmt die Disposition
zur Erkrankung , namentlich zu den schweren Formen , mit der vorschreitenden
Schwangerschaft zu. Dadurch wird die Prognose der Erkrankung in der zweiten
Schwangerschaftshälfte ungünstiger. Die Mortalität ist in der zweiten Schwanger -
schaftshälfte bedeutend höher als in der ersten. Die Unterbrechung der Schwanger-
schaft übt auf den Verlauf des Krankheitsprocesses direct einen ungünstigen Ein-
fluss aus und erfolgt in etwa 50° 0 der Fälle. Bei den schwersten Formen der
Erkrankung, bei denen es zu keiner Localisation des Processes kommt und die
Ergriffenen unter den Prodromalsymptomen sterben, tritt nicht einmal die Geburt
ein. Es erfolgt nur eine Uterinalblutung und die Erkrankte geht unentbunden zu
Grunde. Leichte Erkrankungsformen werden meist ohne Schwangerschaftsunter-
brechung überstanden. Schwangere vertragen die Impfung ganz gut. Es ist daher
angezeigt, sie einer solchen während einer Epidemie zu unterziehen. Variolosis soll
seltener Abortus bedingen.
Bezüglich der Scarlatina liegen nur wenige Beobachtungen vor,
weil Erwachsene selten von dieser Krankheit befallen werden. Ob die Schwanger-
schaft vorzeitig unterbrochen wird, hängt, wie bei der Variola, von der Intensität
des Processes, der Höhe des Fiebers und den begleitenden Nebenumständen ab.
Nach Olshausen73) soll das Incubationsstadium zuweilen Wochen bis Monate
lang währen, doch wird dies von anderen Seiten bestritten.
Aehnliches gilt von den Mas er n 74), doch sollen diese besonders bedrohlich
werden durch die Neigung zu hämorrhagischen Formen und durch Complication
mit Pneumonie.
Die einzelnen Formen des Typhus75) scheinen sich, so weit sich aus
den theilweise widersprechenden Angaben entnehmen lässt, verschieden zu verhalten.
Der Typhus abdominalis soll in mehr als der Hälfte der Fälle
die Schwangerschaft unterbrechen. Er soll häufig Abortus mit starken Blutungen
herbeiführen, während in den späteren Monaten die Blutung geringer sein soll.
Die Gefahr für die Schwangere scheint von dem Stadium der Erkrankung
abzuhängen , in welchem der Abortus oder die Frühgeburt eintritt. Je früher
letzteres geschieht, desto günstiger scheint es zu sein, weil der Gesammtorganismus
noch nicht allzu sehr darnieder liegt. Unter Umständen wird , wie ich 76) dies
beobachtete , die Schwangerschaft nicht durch den Typhus , sondern durch die
consecutive Darmperforation unterbrochen.
SCHWANGERSCHAFT. 353
Beim Typhus recurrens sind die Angaben seh wankend. Von
mancher Seite (Zuelzer77) wird behauptet, die Neigung zum Abortus sei bei
dieser Form am bedeutendsten, während dies von anderen (Weber 78) bestritten wird.
Der Typhus exanthematicus soll die Schwangerschaft am
seltensten unterbrechen.
Intermittens unterbricht die Schwangerschaft sehr häufig, nach Goth 79)
in 41°/0 der Fälle. Die Schwangerschaftsunterbrechung wird durch die lang
andauernde hohe Temperatur und die auch hier eintretende Endometritis haemor-
rhagica herbeigeführt. In der zweiten Schwangerschaftshälfte ist die Frau mehr
gefährdet, vorzeitig zu gebären als in der ersten. Häufig bekommen Frauen, die
den Malariaprocess in der zweiten Schwangerschaftshälfte acquiriren , schon nach
dem 2. — 3. Fieberanfalle Kreuzschmerzen, ja man kann sogar die Uteruscontrac-
tionen fühlen, ohne dass es immer zu einer Frühgeburt käme. Die Darreichung
des Chinins ist während der Schwangerschaft ebenso wirksam wie sonst , aber
selbst längere Zeit hindurch fortgesetzter Chiningebrauch schützt nicht gegen
Recidiven.
Die Cholera80) fordert unter allen epidemischen Krankheiten ihre
Opfer am häufigsten aus der Reihe, der Schwangeren, namentlich in späterer Zeit,
denn mit vorschreitender Schwangerschaft nimmt die Disposition zur Erkrankung zu.
Bei schwerer Erkrankung erfolgt der Tod, ohne dass die Geburt eintritt. In
leichteren Fällen verlauft zuweilen die Krankheit , ohne die Schwangerschaft
zu unterbrechen. Am häufigsten aber tritt Abortus und namentlich Frühgeburt
ein. Unterbrechung der Schwangerschaft erfolgt in etwa 50°/0 der Fälle. Die
Schwangerschaft verschlechtert die Prognose. In Ausnahmsfällen übt die Unter-
brechung der Schwangerschaft einen günstigen Einfluss auf den Krankheits-
verlauf aus.
Nicht acut verlaufende Krankheitsprocesse bringen Mutter
und Frucht im Allgemeinen seltener in Gefahr als acute.
Der catarrhalische, fieberlose Icterus81) kommt bei Schwan-
geren nicht häufiger vor als sonst und involvirt an sich durchaus keine Gefahr.
Die Schwangerschaft giebt nie ein veranlassendes Moment zu seiner Entstehung
ab. Nur in einem einzigen bisher bekannten Falle fand dies statt, in dem bei
bestehender Schnürleber der untere Leberlappen durch den schwangeren Uterus
umgeklappt wurde (Frerichs-Virchow).
Das Gleiche gilt von der acuten, gelben Leberatrophie. Sie
ergreift Schwangere nicht häufiger als Nichtschwangere. Bricht sie aus, so
geschieht dies häufiger in Beginne der Schwangerschaft als gegen das Ende,
Beweis, dass das mechanische Entstehungsmoment nicht in Betracht kommt. Mit
dem catarrhalischen Icterus steht sie in keinem Zusammenhange. Gewiss dürften
manche der aus früherer Zeit berichteten Fälle von acuter Leberatrophie nichts
Anderes als Phosphorvergiftungen gewesen sein.
Die Herzkrankheiten involviren nicht jene hohe Gefahr, die von
mancher Seite angenommen wird, denn von den vielen an Herzfehlern leidenden
weiblichen Individuen stirbt sehr selten eines im Verlaufe der Schwangerschaft.
Nach Spiegelberg 82) eulminiren die Gefahren für die Schwangeren nicht in der
Beschränkung der Thoraxraumes, sondern in der Einschaltung des Placentarkreis-
laufes und der Zunahme der Blutmenge, wodurch der für gewöhnliche Verhält-
nisse genügende Grad der Compensation des Herzfehlers nicht mehr ausreicht und
die für das linke Herz gestellte Aufgabe zu gross wird. Nach der Geburt soll
namentlich das rechte Herz bedroht sein, weil der Placentarkreislauf eliminirt
wird , der Druck in der Aorta sinkt , dagegen im venösen Systeme ansteigt.
Während der Geburt soll die Gefahr darin bestehen, dass die Circulationsstörungen
leicht ein Lungenödem herbeiführen. Diesen theoretischen Auseinandersetzungen
entspricht aber nicht die Erfahrung; denn wenn auch während der Geburt Cir-
culationsstörungen auftreten, so erreichen sie doch nur exquisit selten eine solche
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 23
354 SCHWANGERSCHAFT.
Höhe, dass dadurch das Leben der Gebärenden bedroht würde. Nach der Geburt
verschwinden sie gewöhnlich rasch, da der Blutverlust intra partum und eine
zuweilen eintretende Blutung innerhalb der ersten Tage des Puerperium das Herz
entlastet. Bei Insufficienz der Bicuspidalis kommt es zuweilen zu vorzeitiger Geburt,
wie ich 8") dies beobachtete. Bei herzkranken Schwangeren kommt namentlich die
Lungencompression in Betracht. Die Einschaltung des Placentarkreislaufes erfolgt
so allmälig, dass sie keine plötzlichen hochgradigen Circulationsstörungen hervor-
zubringen vermag. Die Gefahr bei herzkranken Schwangeren liegt, wie dies
zuerst Löhlein84) richtig nachwies, und ich es auch bestätigen kann, in einem
Umstände, in dem nämlich, dass im Wochenbette eine bedeutende Neigung zur
Recurrenz der entzündlichen Vorgänge an den bereits früher erkrankten Stellen
des Gefässapparates besteht. Die Klappen entzünden sich von Neuem und die
Kranken gehen an der Endocarditis zu Grunde. Die Therapie muss sich darauf
beschränken, schädliche Momente, welche Circulationsstörungen herbeiführen könnten,
zu beseitigen und die Schwangere zu roboriren. Von einer künstlichen Einleitung
der Frühgeburt ist keine Rede, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens existiren,
wie gesagt , nicht jene momentanen Gefahren während der Geburt oder sind sie
doch nur vereinzelt. Zweitens sind die Circulationsstörungen bei der Frühgeburt
ebenso zu erwarten wie bei der normal eintretenden Geburt. Drittens endlich
bildet die künstliche Schwangerschaftsunterbrechung immer eine wesentlich
ungünstigere Complication als die normale Geburt. Von einer Venaesection ist
absolut keine Rede. Die künstlich erzeugte Anämie kann schon allein für sich die
Schwangerschaft unterbrechen. Ausserdem wird durch den Aderlass die ohnehin
schon schlechte Blutbeschaffenheit nur noch mehr verschlechtert.
Die genuine Pneumonie84) ist ziemlich selten. Gewöhnlich nimmt
sie einen günstigen Verlauf. Durchschnittlich führt sie die Frühgeburt desto eher
ein und wird desto bedenklicher, je weiter die Schwangerschaft vorgeschritten ist.
Bei sehr schweren Formen kann die Mutter auch unentbunden zu Grunde gehen.
Tritt die Frühgeburt ein, so geben nur die Früchte aus dem 9. — 10. Monate eine
günstigere Prognose ab. Die Frühgeburt wird durch das hohe Fieber und den
eintretenden Tod der Frucht herbeigeführt. Da die vitale Capacität der Lungen
durch die Ausdehnung des Uterus nicht alterirt wird, so verlauft die Pneumonie
meist ziemlich günstig. Die durch die Schwangerschaft herbeigeführten Circulations-
störungen treffen nur den grossen Kreislauf. Es werden daher die durch die
Erkrankung erzeugten Störungen im kleinen Kreislauf nicht direct erhöht. Dies
ist ein günstiges Moment. Ungünstig ist dagegen der Umstand, dass das Blut
eine hydrämische Beschaffenheit besitzt, welche die Entstehung von Oedemen begün-
stigt. Der theoretischen Annahme nach wäre es scheinbar am zweckmässigsten,
die Frühgeburt einzuleiten, weil der Thorax dadurch freier würde. Die Erfahrung
lehrt aber das Gegentheil ; denn während das Mortalitätspercent bei exspectativem
Verfahren nur 14*3 % beträgt, steigt es bei activem Einschreiten bis auf 71*90°/0
(Fischel 85). Erregt man die Geburt, so steigert man die Ansprüche an das Herz
während der Wehenthätigkeit. Die Circulation wird gehemmt, namentlich in der
oberen Körperhälfte, die Respiration wird unregelmässig , die Lunge hyperämisch
und wegen der wässerigen Blutbeschaffenheit kann sich leicht ein Lungenödem
entwickeln. Als bedenklichster Factor kommt post partum nebst dem Wegfalle
des eingeschalteten Placentarkreislaufes noch die Herabsetzung des Aortendruckes
und die Drucksteigerung im venösen Systeme hinzu. Durch die Entleerung des
Uterus setzt man wohl den intraabdominalen Druck plötzlich herab, doch kommt
dies nur den Bauchwänden und den Unterleibsorganen zugute. Das Zwerchfell
gewinnt deshalb doch nicht sofort eine grössere Excursionsfähigkeit. Geschähe dies
aber auch , so träte jetzt bei jeder tiefen Inspiration ein grösserer Blutzufluss zu
den umfangreicheren Venenstämmen des Thorax ein, gleichzeitig aber ein beständig
erhöhter Druck in den Gefässen des kleinen Kreislaufes, eine verstärkte Belastung
der Lungenarterien mit venösem Blute in einem Momente, in dem noch ein
SCHWANGERSCHAFT. 355
grosser Theil des Lungengewebes durchaus nicht in der Lage ist, seine decar-
bonisirende Aufgabe zu erfüllen. Es würden neue Druckschwankungen im Thorax
auftreten, die, wenn sie plötzlich erfolgten, gefahrdrohende ödematöse Zustände
hervorrufen möchten. Die Arbeit für den rechten Ventrikel, der eben zu schonen
ist, würde noch erhöht. Die Behandlung muss daher eine möglichst exspectative
sein. Venaesectionen sind aus den gleichen Gründen, wie bei den Herzkrank-
heiten, nicht zu machen.
Von der Pleuritis gilt im allgemeinen das Gleiche. Wenn die
Exsudation nicht eine massenhafte ist, so verlauft der Krankheitsprocess günstig,
ohne die Schwangerschaft zu unterbrechen oder der Frucht das Leben zu kosten.
Nichtsdestoweniger ist aber die Krankheit bei der Schwangeren immer bedenk-
licher als bei den Nichtschwangeren , da schon geringe Ausschwitzungen , welche
sonst nicht hinreichen, eine Lungenpartie durch Compression luftleer zu machen,
bei der Schwangeren Bronchialathmen und Bronchophonie herbeiführen. Bedenklich
ist auch der Umstand , dass das ohnehin gefährdete Herz zuweilen eine Com-
pression von Seite des Exsudates erleidet. Die Therapie ist eine möglichst wenig
eingreifende (Fischel 86).
Von der Tuberkulose87) meinte man früher, sie stehe während der
Schwangerschaft stille. Diese Ansicht ist irrig. Die Krankheit schreitet meist vor,
mag das Leiden ererbt oder erworben sein. Individuen mit stillstehender Tuber-
kulose können wohl schwanger werden und gebären, ohne dass das Leiden neuer-
dings wieder ausbricht, doch findet auch häufig das Gegentheil davon statt. Am
ungünstigsten ist es, wenn Schwängerung bei vorschreitendem Leiden eintritt. Die
Krankheit verlauft häufig so rapid, dass sie das Leben vor beendeter Schwanger-
schaft vernichtet. In manchen Fällen tritt bei vorschreitendem Leiden spontane
Frühgeburt ein.
Die Syphilis88) ist jenes Leiden, welches man unter den Krankheiten
der Schwangeren am häufigsten antrifft. Das Leiden wird durch die Schwanger-
schaft insoferne alterirt, als sich die primären Formen rascher entwickeln und
ausbreiten als sonst. Daran ist wohl der im Genitalsystem gegen sonst rascher
vor sich gehende Stoffumsatz Schuld. Die secundären Affectionen dagegen ver-
laufen auffallend milde , die Drüseninfiltration geht nur langsam vor sich. Die
secundären Formen, welche man am häufigsten zu Gesichte bekommt, sind breite
Condylome. Die Mutter kann , bereits syphilitisch erkrankt , schwanger werden,
durch den befruchtenden Coitus inficirt werden oder sich erst im Verlaufe der
Gravidität eine Infection zuziehen. Schliesslich kann die Mutter von einem an
latenter Syphilis leidenden Manne geschwängert oder auch vom syphilitischen Eie
inficirt werden. Dass bei Syphilis der Mutter die Schwangerschaft häufig unter-
brochen wird, wurde bereits im Artikel „Fötus und Fötalkrankheiten"
erwähnt. Da erwiesenermaassen Schwangere ohne Schaden antisyphilitisch behandelt
werden können, so unterlasse man dies nie. Am angezeigtesten ist eine energische
Quecksilberbehandlung — Schmierern* — da durch diese das Leiden bekämpft
und die Frucht am Leben erhalten werden kann.
Complication von Schwangerschaft mit Ovarialtumoren88) ist durchaus
nicht so selten. Conception kann bei ein-, ja sogar bei beiderseitiger Degeneration
der Keimdrüse erfolgen, und zwar nicht blos bei kleinen, sondern auch bei
ungewöhnlich grossen Tumoren. Selbstverständlich muss man voraussetzen, dass
in solchen Fällen noch eine Partie der Keimdrüse funetionirt. Spiegelberg 89)
hat zuerst beobachtet, dass Ovarien tumoren zuweilen während der Schwanger-
schaft ungemein rasch wachsen. Doch findet man nicht selten auch das Gegen-
theil davon. Wernich 90) meint, dass gutartige Tumoren in der Schwangerschaft
zu einer Umwandlung in bösartige disponiren, doch hat sich diese Annahme
weiterhin nicht bestätigt. Am häufigsten handelt es sich um proliferirende Cystome,
seltener um Dermoidcysten ; am seltensten sind feste Ovarialtumoren. Die Diagnose
bereitet zuweilen sehr bedeutende Schwierigkeiten. Kleine bis kindskopfgrosse
23*
356 SCHWANGERSCHAFT.
Tumoren werden, wenn sie retrouterinal sowie etwas höher oben liegen und die
Schwangerschaft weiter vorgeschritten ist, in der Regel übersehen. Liegen sie
dagegen tiefer unten , so drängen sie das Scheidengewölbe stärker vor und sind
dann besser zu diagnosticiren, namentlich wenn man sie vom Uterus abzugrenzen
vermag. Die Diagnose wird dann am ehesten möglich, wenn der Tumor nicht
sehr gross, die Schwangerschaft noch nicht weit vorgeschritten ist, weil in einem
solchen Falle die Bauchdecken noch nicht stark angespannt sind und man die
Grenze zwischen Uterus und Tumor noch zu erkennen vermag. Bei weit vor-
geschrittener Schwangerschaft und grossem Tumor dagegen werden die Bauch-
decken so straff angespannt, so dass unter Umständen jede Diagnose unmöglich
wird. Für die Gegenwart eines Ovarientumors spricht die ungleichmässige Aus-
dehnung des Unterleibes sowie die Gegenwart einer Fluctuation und die enorme
Vergrösserung des Abdomens. Bei kleineren Tumoren können, wie ich dies
mehrfach beobachtete, alle Symptome fehlen. Jene Erscheinungen, die sich bei
grossen Tumoren einstellen , sind folgende : Eine rasche , bedeutende Umfangs-
zunahme des Unterleibes, die mit der Zeit der Schwangerschaft nicht überein-
stimmt und bald darauf folgende Drucksymptome auf die Nachbarorgane, wie
namentlich Dyspnoe. Zuweilen tritt bei grossem Tumor spontan Abortus oder
Frühgeburt ein und sollen diese Schwangerschafts - Unterbrechungen zuweilen
ungünstig ausgehen, indem sich Blutungen in die Cyste, Rupturen derselben ein-
stellen, Peritonitiden auftreten u. dgl. m.
Was die Therapie anbelangt, so hängt sie von den gefahrdrohenden
Erscheinungen, dem Charakter des Tumors und von der Einwilligung der Kranken
ab. Dermoidcysten und feste Tumoren erheischen, wenn sie auch meist fixirt
sind, daher dem schwangeren Uterus nicht gut ausweichen können, selten ein
operatives Eingreifen während der Gravidität, da sie keine besondere Grösse
erreichen und demnach keine exorbitanten Störungen hervorrufen. Anlass zum
operativen Einschreiten geben fast ausnahmslos nur grosse proliferirende Kystome.
Die Eingriffe, welche hier in Betracht kommen, sind die Punction und die Ovario-
tomie. Am rationellsten ist die Vornahme der letztgenannten Operation und zwar
umsomehr, als eine Reihe von Fällen erweist, dass der Eingriff bei der Schwangeren
nicht wesentlich gefährlicher ist als bei der Nichtschwangeren. Selbstverständlich
darf an die Ovariotomie nur dann gedacht werden, wenn bedenkliche Erschei-
nungen, namentlich solche einer Cystenruptur oder Stieltorsion auftreten oder wenn
der Tumor sehr rasch wächst. Die Punction beschränkt man auf jene Fälle, bei
denen lebensgefährliche Erscheinungen — Dyspnoe — - eine momentane Erleich-
terung erfordern oder die Schwangere die Ovariotomie verweigert. Allerdings hat
die Punction das Unangenehme im Gefolge, dass sie, einmal vorgenommen, desto
rascher nachträgliche Wiederholungen erfordert. Die künstliche Unterbrechung der
Schwangerschaft, der Abortus oder die Frühgeburt, kommt selten in Betracht,
nämlich dann nur, wenn eine Dermoidcyste oder ein fester Tumor da ist, der
fixirt ist, den Beckenausgang verlegt, so dass angenommen werden muss, die
Geburt werde durch den Beckencanal nicht möglich sein und die Ovariotomie ent-
weder nicht vorzunehmen ist oder von der Kranken verweigert wird.
Bevor man aber einen operativen Eingriff vornimmt, nehme man eine
genaue Untersuchung vor, denn die Fälle sind nicht so selten verzeichnet, in
denen die Schwangerschaft übersehen wurde und sich der Uterus statt der Cyste
punctiren lassen musste oder gar bei der Ovariotomie der Uterus statt der Cyste
aufgeschnitten wurde (Byfoed 91).
Fibrome92) beobachtet man an Schwangeren nicht gar zu selten,
namentlich bei Erstgeschwängerten. Die Zahl der Mehrgebärenden ist wahr-
scheinlich deshalb geringer , weil Myome im weiteren Verlaufe durch ihre Grössen-
zunahme Conception verhindern. Relativ am häufigsten tritt Schwängerung bei
den subserösen Formen ein, weil bei diesen die Uterushöhle und ihre Schleimhaut
am wenigsten verändert wird. Am seltensten beobachtet man sie beim submucösen
SCHWANGERSCHAFT. 357
Fibrome. Die Fibrome verändern sich im Verlaufe der Schwangerschaft. Doch
hängen diese Veränderungen einestheils von dem Sitze des Neugebildes, anderen-
teils von der anatomischen Beschaffenheit desselben ab. Subseröse Tumoren
verändern sich am wenigsten und von diesen wieder im geringsten Grade jene,
die nur mittelst eines dünnen, wenige Gefässe tragenden Stieles mit dem Uterus
zusammenhängen. Am meisten verändern sich die submucösen Formen und von
diesen jene am wenigsten, die eine starke, bindegewebige Kapsel besitzen. Fibrome,
die nur aus Bindegewebe bestehen, werden nur wenig alterirt, das Gewebe lockert
sich nur und schwillt an. Verkalkte bleiben ganz unverändert. Je gefässreicher
der Tumor ist, je mehr er nur aus Muskelfasern besteht, desto mehr ändert er
sich. Je weniger ein solcher Tumor abgekapselt ist, desto mehr nimmt er an
der Veränderung, welche der Uterus durch die Schwangerschaft erfährt, mit Theil.
Es kann zu einem vollständigen Gewebszerfälle des Tumors , zu Blutergüssen in
denselben kommen, der Tumor kann, indem er saftiger und weicher wird, bedeutend
an Grösse zunehmen. Kleine Tumoren, die im untersten Uterinsegmente sitzen,
participiren, da sie der Nidation des Eies entfernt sind, an der Hypertrophie und
Hyperplasie weniger, ja zuweilen beinahe gar nicht und werden bei der Aus-
dehnung der Cervix abgeplattet, so dass sie dem Gefühle vollständig verschwinden.
Eine grosse Seltenheit ist es — Charrier 93) — wenn ein Fibrom in Folge der
Schwangerschaft seinen Ort verlässt und gar zur Scheide hervortritt. Ebenso
mannigfaltig ist der Einfluss, den die Fibrome auf den Verlauf der Schwanger-
schaft ausüben. Derselbe hängt sowohl vom Sitze als von den Veränderungen,
welche das Neugebilde eingebt, ab. Die Grösse allein ist nicht entscheidend,
denn bei grossen Tumoren bleibt die Schwangerschaft zuweilen ungestört,
während kleine nicht so selten Abortus oder Frühgeburt erzeugen. Nach
den Zusammenstellungen scheint es hervorzugehen, dass, je tiefer im unteren Uterin-
segmente der Tumor sitzt, desto eher die Schwangerschaft unterbrochen
wird. Sehr häufig erleidet der Uterus durch den Tumor eine Lageveränderung,
namentlich innerhalb der ersten Schwangerschaftsmonate und da zumeist nach
hinten. Diese Retroflexion wird entweder durch Druck eines sehr grossen Tumors
am Fundus oder an der vorderen Wand hervorgerufen, noch häufiger aber durch
gestielte oder nicht gestielte subseröse Tumoren der hinteren Wand. Dadurch
kommt es leicht zu Incarcerationserscheinungen und spontanem Abortus. In anderen
Fällen wird der Uterus im kleinen Becken durch den Tumor eingekeilt. Diese
Einklemmung kann durch Empordrängen des Tumors beseitigt werden oder ver-
liert die Schwangere in Folge des Druckes gar das Leben. Nicht gar so selten
stellen sich heftige Blutungen ein, die meist zu Abort führen und das Leben der
Schwangeren bedrohen. Der Tumor kann auch Anlass zu einer Peritonitis geben,
der die Schwangere erliegt. Als anderweitige Erscheinungen werden von manchen
Beobachtern heftige Schmerzen ohne entzündliche Erscheinungen angeführt. In
anderen Fällen wird die Placenta abgelöst und dadurch die Schwangerschaft
unterbrochen.
Die Behandlung muss eine möglichst exspectative sein, höchstens dass
man symptomatisch zu verfahren hat. Bei Einklemmungen hat man Repositions-
versuche zu machen. Zur Einleitung der Frühgeburt oder des Abortus wird man
sich nur in den Fällen der dringendsten Gefahr bei Einklemmungen entschliessen.
Ebenso selten dürfte man an die Hysterotomie, die totale Entfernung des schwan-
geren Uterus mit den ihm aufsitzenden Neugebilden denken. Zum Muttermunde
hervorgetretene, namentlich verjauchende Geschwülste wird man sofort entfernen,
um einer Allgemeininfection vorzubeugen.
Nicht gar zu exquisit selten wird eine an Carcinom94) leidende Frau
schwanger. Am ehesten erfolgt Schwängerung im Anfangsstadium der Erkrankung,
doch lange nicht so ausschliesslich, wie jene Fälle von jauchigem Zerfalle bei wenig-
weit vorgeschrittener Schwangerschaft beweisen. Bei Carcinom der Cervix tritt
Schwangerschaft eher ein als bei Erkrankung des Corpus , denn bei weit
358 -< HWANGERSCHAFT.
vorgeschrittener Degeneration der Uterusschleimhaut findet das Ei nicht leicht eine
passende Stelle sich festzusetzen.
Von dem sitze der Neubildung und deren flächenförmiger Ausbreitung
hängt es ab, ob und wann die .Schwangerschaft vorzeitig unterbrochen wird. Bei
Carcinom der Cervix kann die Schwangerschaft und geschieht dies auch nicht so
selten, ihr normales Ende erreichen. Besteht dagegen eine Degeneration des
Corpus und namentlich des Fundus, so tritt die Geburt in der Regel vorzeitig
ein, manchmal sogar schon innerhalb der ersten Monate ein. Im Allgemeinen geschieht
dies aber doch selten (nach Cohxsteix ^5) in 29°/0 der Fälle). Beim Carcinoma
colli uteri soll (?) , wie von mancher Seite (Cobxsteix, Mexzie 96), Miller 9?)
und Playfair 9S), Beigel ") eine verlängerte Schwangerschaft vorkommen.
Gesserow 10°) meint, dass in diesen Fällen die beginnende Wehenthätigkeit nicht
im Stande war, den harten infiltrirten Gebärmutterhals zu erweitern und dass in
Folge dessen die Wehen ganz erloschen.
Die Diagnose des Zustandes begegnet keinen Schwierigkeiten, es wäre
denn im ersten Beginne des Leidens. Doch wird auch hier das zu Rathe gezogene
Mikroskop bald die richtige Diagnose ermöglichen.
Der Einfluss der Schwangerschaft auf das Carcinom scheint ein ver-
schiedener zu sein. Spiegelberg101) und Cohxstelx fanden, dass in manchen
Fällen das Neugebilde während der Schwangerschaft keine Fortschritte mache,
während von anderen Seiten gerade das Gegentheil behauptet wird , so von
Depall 1ö2), Pfaxxkuch 103), Galabin 104) und Bexicke 105j. Soviel scheint sich
zu ergeben, dass die weichen Formen während der Schwangerschaft rasch wuchern
und zerfallen, während die harten Concroide langsamer fortschreiten (Wiexer 106).
Was die Behandlung anbelangt so ist es, wie dies Wiexer richtig her-
vorhebt , am wichtigsten , das Neugebilde operativ zu entfernen, so lange es die
Verhältnisse gestatten, weil nur auf diese Weise eventuell eine Radicalheilung
zu erzielen ist und selbst grössere Operationen die Schwangerschaft nicht zu
unterbrechen brauchen, wenn man allerdings auf das Letztere auch stets gefasst
sein muss. Ist die Radicaloperation , die Entfernung des kranken Gewebes mit
dem Messer nicht mehr möglich, so muss man die Carcinom massen wenigstens
mit dem Löffel und dem Aetzmittel so weit als möglich entfernen, um den sonst
auftretenden Blutungen und Jauchungen, welche sonst den Tod beschleunigen, vor-
zubeugen. Schreitet dagegen das Carcinom gar nicht oder nur sehr langsam vor,
so enthalte man sich eines jeden Eingriffes, um durch denselben nicht etwa das
Leben der Frucht zu gefährden. In früherer Zeit befürwortete man sehr warm
die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft.
Krankheiten der Brüste.
Entzündungen der Brustdrüse treten gegen das Ende der
Schwangerschaft ziemlich häufig auf. In den ersten Monaten der Schwangerschaft
sind sie seltener. Sie sind meist traumatischen Ursprunges. Kommt es zur
Eiterung, so eröffne man den Abscess ohne Furcht und leite weiterhin die gleiche
Behandlung, wie im Wochenbette ein. Unterlässt man es, den Abscess zur rich-
tigen Zeit zu eröffnen , so können bedenkliche Eitersenkungen eintreten. Eine
Frühgeburt ist nur dann zu erwarten, wenn ein heftiges , lang andauerndes
Fieber besteht.
Ich beobachtete einen Fall von submammärer Phlegmone bei
einer Schwangeren. Es trat eitriger Durchbruch ein, die Schwangerschaft wurde
aber nicht unterbrochen.
Das Sarcom wuchert während der Schwangerschaft intensiver als sonst
und erheischt die Exstirpation. Früher meinte man, das Sarcom könne sich
während der Lactation zurückbilden. Billroth 107) theilt einen Fall mit, wo sich
ein (medulläres Lympho-) Sarcom in beiden Brüsten in der Schwangerschaft bildete.
Das Carcinom wuchert während der Schwangerschaft sehr rapid.
Carcinomatöse Tumoren müssen daher so rasch als möglich enucleirt werden.
SCHAVANGERSCHAFT. 359
Die Prognose bezüglich der Erhaltung der Schwangerschaft ist aber nach der
Operation nicht günstig. Das Gleiche gilt von der Operation des Sarkoms.
Cohnstein108) war der Erste, der darauf hinwies, dass die Schwanger-
schaft bei bestehender Blasenscheiden fistel relativ häufig ein spontan vor-
zeitiges Ende finde. Er führt 14 Fälle von Fisteln an, bei denen dies Gmal
geschah. Einen derartigen Fall beobachtete auch ich.
Ueber den Mo rbus Basedow ii sind die Ansichten getheilt. Benicke 109)
theilt einen von ihm beobachteten Fall mit, bei dem die Struma und der Ex-
ophthalmus zunahm und sich auch das Herzklopfen steigerte, während einige
französische Autoren, wie Charcot und Teousseau110) eine Abnahme der Krank-
heitssymptome während der Schwangerschaft bemerken wollen.
Eine unangenehme Complication bildet die Hämophilie. Kehrer m)
empfiehlt zwar, bei Gegenwart dieses Leidens die Schwangerschaft künstlich zu
unterbrechen, doch ist diesem Rathe keine Folge zu geben , weil die Gefahr der
Nachblutung bei der vorzeitigen Geburt die gleiche ist wie bei der rechtzeitig
eintretenden und die künstliche Schwangerschaftsunterbrechung immer eine ungünstige
Complication abgiebt.
Die chirurgischen Krankheiten und Operationen an
Schwangeren. Während man in früherer Zeit im Unklaren darüber war, ob
man bei einer Schwangeren einen chirurgischen Eingriff vornehmen dürfe oder
nicht , ist es jetzt so ziemlich genau bekannt , welche Operationen man machen
darf und nach welchen eher oder weniger leicht eine spontane Schwangerschafts-
unterbrechung zu erwarten steht. Cohnstein's m) Verdienst ist es, die betreffenden
zerstreuten Fälle aus der Literatur zusammengestellt und dadurch Klarheit in
dieses bisher dunkle Thema gebracht zu haben. Seinen Zusammenstellungen ent-
nehmen wir auch folgende Zeilen :
Punctionsöffnungenmittelst der PRAVAz'schen Spritze behufs
hypodermatischer Injectionen heilen rasch und bedingen keine nachfolgende Gangrän.
Nicht gefahrlos sind Injectionen von Liqu. ferr. sesquichlor. in Teleangiectasien,
abgesehen davon, dass sie häufig nichts nützen.
Extractionen cariöser Zähne können unbeschadet der Schwanger-
schaft vorgenommen werden.
Die Erlaubniss zur Anwendung der Elektricität bei Nerven-
leiden kann getrost gegeben werden.
Abscesse kommen , sieht man von den Genitalien und Brüsten ab,
nicht häufiger als sonst vor. Nach der Eiterentleernng tritt bald Heilung ein.
Die Eröffnung des Abscesses ist mit keinen Gefahren verbunden.
N e u r o t o m i e n , die wegen unerträglicher Schmerzen vorgenommen
werden, werden gut vertragen.
Sehr bedenklich dagegen sind Unterbindungen grosser Art erien,
wie man sie bei Aneurysmen vornimmt. Es erfolgt leicht Abortus und Tod.
Die Paracentese der Blase wird selten nothwendig, doch scheint
sie gut vertragen zu werden.
Blasensteine sollen, wenn sie grösser sind, entfernt werden, weil sie
während der Schwangerschaft wachsen , die Schleimhaut reizen und eventuell ein
Geburtshinderniss abgeben können. Die Lithotrypsie und einfache Extraction scheint
dem Blasenschnitte durch die Vagina vorzuziehen zu sein , da nach letzterem die
Frucht ihr Leben leicht verliert.
Hernien nehmen während der Schwangerschaft durch die Ausdehnung
des Unterleibes zu und klemmen sich leicht ein. Begünstigt wird dieser Zwischen-
fall dadurch, dass die Kranken das ihnen lästige oder nicht mehr passende Bruch-
band während der Schwangerschaft ablegen. Die Reduction ist nicht schwieriger
als sonst und alterirt den Schwangerschaftsverlauf in keiner Weise. Gelingt sie
nicht, so ist die Herniotomie zu machen. Am häufigsten geben Herniae crurales
Anlass zur Operation. Der Ausgang ist, wenn zur richtigen Zeit operirt wurde,
360 SCHWANGERSCHAFT.
kein ungünstigerer als sonst. Die Wunde heilt rascli. Widersinnig ist es, wegen
einer eingeklemmten Hernie die Schwangerschaft künstlich zu unterbrechen.
Penetrirende Bauch wunden ziehen, selbst wenn die Gebärmutter
unverletzt geblieben ist, stets die Frühgeburt nach sich.
Die T r a c h e o t o m i e unterbricht die Schwangerschaft häufig, doch scheint
daran nicht die Operation Schuld zu tragen, sondern der asphyktische Zustand der
Mutter, der sowohl die Placentarrespiration unterbricht, wodurch die Frucht abstirbt,
als auch direct die Wehenthätigkeit auslöst.
Frakturen und Luxationen sind bei Schwangeren nicht häufiger
als sonst und unterbrechen an sich, abgesehen von stattgefundenen Traumen, die
Schwangerschaft nicht. Die Heilung geht ebenso rasch vor sich wie bei Nicht-
schwangeren. Selbst complicirte Frakturen unterbrechen nicht die Schwangerschaft.
Incisionen von Panaritien sind bedeutungslos.
Amputationen und Exarticulationen scheinen dagegen die
Schwangerschaft zu unterbrechen. Wahrscheinlich wegen des grösseren Blutver-
lustes und des häufig folgenden Fiebers.
Functionen des Abdomen vertragen Schwangere gewöhnlich gut
und ziehen dieselben keine weiteren Folgen nach sich.
Noch gefahrloser soll die Thor acocentese sein, sei es, dass man sie
wegen Lungencompression bei pleuritischem Exsudate oder wegen eines Empyernes
vornimmt. Sie wird, wenn sonst die Nebenumstände günstig sind, gut vertragen
und unterbricht die Gravidität nicht.
Operationen am Mastdarme scheinen, wenn sie blutig sind, die
Schwangerschaft zu unterbrechen.
Chirurgische Operationen an den äusseren Genitalien
werden von Schwangeren nicht gut vertragen , namentlich nicht in den letzten
Monaten. Blutige Operationen an den Schamlippen und an der Vagina (z. B. Ex-
stirpationen von Cysten u. dgl. m.) ziehen in der Begel eine Unterbrechung der
Schwangerschaft nach sich. Selbst Functionen ödematöser Schamlippen vermeide
man wo möglich , da auch dieser Eingriff nicht so selten eine Frühgeburt oder
einen Abortus nach sich zieht.
Wenn möglich , schiebe man chirurgische Operationen an den Genitalien
bis eine Zeit nach abgelaufenem Wochenbette auf, denn in Folge der Erweiterung
der Gefässe des Genitalapparates und seiner Nachbarschaft, wird die Blutung
gewöhnlich ziemlich heftig, ausserdem dass sich eine parenchymatöse einstellt, die
schwer zu stillen ist. Ueberdies reissen in dem lockeren Gewebe die Nähte leicht
aus und ist wegen der erweiterten venösen Blut- und Lymphgefässe die Gefahr
einer nachträglich eintretenden septischen Infection nicht zu unterschätzen. Die
Vereinigung der Wundränder per primain intentionein ist — gleichgiltig was
für eine Operation vorgenommen wurde — selten. Die Eiterung wird zuweilen
sehr profus. Während der Eiterung sollen die Fruchtbewegungen cessiren , um
nach der Vernarbung wieder zur Perception zu kommen ('?). Operationen innerhalb
der Schwangerschaft sollen die Gravidität verlängern (?). Busch, Grede, Winckel. 11S)
Die Tendenz zur Eiterung hebt auch Vernetjil114) hervor und soll sie
namentlich dann zu sehen sein, wenn Scrophulose vorausging. Gelenks en tzttn-
dungen, welche früher bestanden, sollen häufig in der Schwangerschaft wieder-
kehren und in dieser Zeit eine Neigung zu eitriger Form bekommen.
Literatur: *) Kundrat und Enge Im anu, Stricker's med. Jahrb. 1873,
pag. 135. — 2) "William, Obstetr. Journ. of Great Britain etc., Februar und März 1875.
— 3) Sigismund, Berliner klin. Wochenschr. 1871, Nr. 25. — 4) Löwenhardt, Archiv
für Gyn. Bd. III, pag. 456. — 5) Reichert, „Beschreibung einer frühzeitigen menschlichen
Frucht etc.". Berlin 1873, vergl. ausserdem noch Leopold, Archiv für Gyn. Bd. XI, pag. 110,
Bischoff, Wiener med. Wochenschr. 1875. Nr. 20—24, Beigel, Archiv für Gyn.
Bd. XIII, pag. 109, Duncan, »Fecundity, fertility etc." Edinburgh 1871. Ahlfeld,
Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XXXIV, pag. 180. Ünderhill, Amer. Journ. of Obstetr.
1879, pag. 91, Engelmann, Annales de Gyn. Juni 1881, pag. 455. — 6) Frank,
Thierärztliche Geburtshilfe. Berlin 1876, pag. 142. — 7) Colin stein, Centralbl. für Gyn.
SCHWANGEKSCHAFT. 361
1879, pag. 509, und Archiv für Gyn. Bd. XV, pag. 220, Bd. XVIII, pag. 41. —
8) Luschka, Anatomie des menschl. Beckens. Tübingen 1864, pag. 366. — 9) Kreitzer,
-Lanzert's Beiträge zur Anat und Phys. Petersburg 1872. 1. Heft, pag. 1. — lu) v. Hof-
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disposit. des fibres mvscul. de Put. dev. par la gross. Paris 1864. — ' ') B a n d 1 , „Ueber das
Verhalten des Uterus und Cervix in der Schwangerschaft etc." Stuttgart 1876. Gyn. Centralbl.
1877, pag. 177. Wiener med. Presse 1877, Nr. 46 Archiv für Gyn. Bd. XII, pag. 261. Bd. XV,
pag. 237. — 12) Küstner, Centralbl. für Gyn 1817. Nr. 11 und Archiv für Gyn. Bd. XII,
pag. 383. — 1S) Stoltz, Ccns. sur quelq. points rela'-. a lart. des acc. Strassburg 1826. —
:4) Scanzoni, Lehrb. der Geburtshilfe. — 15) Birnbaum, „Ueber die Veränderung des
Scheidentheiles". Bonn 1841. Archiv für Gyn. Bd. IV, pag. 414. — 16) Lott, „Zur Anat.
und Phys. des Cervix uteri". Erlangen 1872. — ") A.Martin, Zeitschr. für Geb. und Gyn.
Bd. I, pag. 260 — 1&) Fritsch, Archiv für Gyn, Bd. XII, pag. 411. — lfl) P. Müller,
Scanzoni's Beiträge. Bd. V, pag. 191 und Archiv für Gyn. Bd. XIII, pag. 150. —
20) Sänger, Archiv für Gyn. Bd. XIV, pag. 389. — 21) Marc band, Archiv für Gyn.
Bd. XV, pag. 169. — 22J fhiede, Zeitschr. für Geb. und Gyn. Bd. IV, pag. 210. Vgl.
ausserdem noch Spiegelberg, „De cervic ut. in gravid, mut. etc.u Commentativ. Regimondi
1865, Dune an, Edinb. med. Journ. März, April 1859 und Sept. 1863, sowie Res. in
Obstetr., pag 243, Litzmann, Archiv für Gyn. Bd. X, pag. 118 und 410, Leopold, Archiv
für Gyn. Bd. XI, pag. 488, Rüge, Archiv für Gyn. Bd. XV, pag. 262, Langhans und
P. Müller, Archiv für Gyn. Bd. XIV, pag. 184. — 2S) Langer, Med. Jahrb. 1880. Heft
1 und 2. Vgl. auch Vedeler, Norsk. Mag. B. VII, 3. Ref. im Centralbl. für Gyn. 1878,
pag. 415, Krause und Felsenreich , Archiv für Gyn. Bd. XV, pag. 179, Busey, Transact.
of the Amer. Gyn. Soc. Bd. IV, pag. 141. — 21) Spiegelberg und Gscheidlen, Archiv
für Gyn. Bd. IV, pag. 113. Vgl. auch Nasse, Archiv für Gyn. Bd. X, pag. 315. —
25) Ingerslev, Centralbl. für Gyn. 1879, pag. 635. — 26) Larcher, Gaz. des hop. 1857.
Nr. 44. — 2T) Spiegelberg, Archiv für Gyn. Bd. II, pag. 236. — 2S) Löhlein, Zeitschr.
für Geb. und F. Bd. I, pag. 482. Vgl. auch Duroziez. Gaz. des hop. 1868, Nr. 104,
Fritsch, Schmidt's Jahrb. 1877. Bd. CLXXIII, pag. 193, Macdonald, Obst. J. of G.
Brit. Mai 1877, C ohnstein , • Virchow's Archiv 1879. Bd. LXXVII, pag. 14(3. —
2£l) Rokitansky, Med. Jahrb. N. Folg. Bd. IV. — 30) Küchenmeister, Fabius,
Wintrich, Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XXIV, pag. 414. — 31) Dohrn,
Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XXIV, pag. 413. und Bd. XXVIII, pag. 457. — 32) Tait,
Obstetr. Journ. of Gr. Brit. Juni 1875, pag. 203. — 33) Barnes, Transact. of the Amer.
Gyn. Soc. Bd. I, pag. 137. — 34) Win ekel, „Studien über den Stoffwechsel bei der
Geburt etc." Rostock 1865. — 35) Grub er undFrankenhäuser , Schweizer Correspondenzbl.
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„Bibliotk. univ. etc." Bd. IX, Genf. November 1818, pag. 249. — ?8) Lejumeau de
Kergaradec, „llem. sur Vauscidt. appliq. a Petude de la grossesse etc." Paris 1822. —
3f) Frankenhäuser, Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XIV, pag. 161. Vgl. auch Cumming,
Edinb. med. Journ. Juni 1878. — 40) Engelhorn, Archiv für Gyn. Bd. IX, pag. 360. —
41) Pinard, Gaz med. 1876, pag. 137. — 42) Kehrer, Archiv für Gyn. Bd. XII, pag. 258.
— 43) Rotter, Archiv für Gyn. Bd. V, pag. 539. — 44) Rapin, Schweizer Correspondenzbl.
II. 2. Vgl. auch Hecker, Klin. der Geb. Bd. I, 1861, pag. 27. — Winckel, Klin. Beob-
achtung zur Path. der Geb. Rostock 1869, pag. 233. — Verardini, Gaz. med. Ital. 1873.
Nr. 17 und Giorn. Venet, Juli, Aug. 1878. Ref. im Gyn, Centralbl. 1879, pag. 37. —
45) Naegele, „Erf. und Abhandl.", pag. 280. — *6) Spiegelberg, Lehrb. der Geb. II. Auf-
lage, pag. 110. — 47) Bandl, „Ueber das Verhalten des Uterus und Cervix in der Schwanger-
schaft und während der Geburt." Stuttgart 1876, pag. 15. — 48) Spiegelberg, Lehrb. der
Geb. IL Aufl., pag. 233. — 49) Gusserow, Archiv für Gyn. Bd. II, pag. 218. Vgl. ausser-
dem noch Quincke, Volkmann's Vorträge Nr. 100, 1876, Graefe, „Ueber den Zu-
sammenhang der pernieiösen Anämie mit der Gravidität " Dissert. inaug. Halle 1880,
Eichhorst, „Die progressive pernieiöse Anämie." Leipzig, 1878. Gförer, Memorabilien
1874, Nr. 3. Stockvis, Journ. med. de Brux 1867. Bd. XLIV— XLV, Cohnheim und
Lichtheim, Virchow's Arch. Bd. LXIX. Heft 1. — b0) Cohnstein, Volkmann's
Vorträge Nr. 59, pag. 474. — 51) Biermer, Schweizer Correspondenzbl. 1872. Nr. 1. —
52) Immermann, Deutsches Archiv für klin. Med. Bd. XIII, pag. 209. — e3) Spiegelberg,
■1. c. pag. 235, Note. — 54) P. Rüge und A. Martin, Berliner Beitr. zur Geb. und Gyn.
Bd. III, pag. 7. — 55) Play fair, Lond Obstetr. Transact. Bd. XIII, pag. 42. — 66) Ols-
hausen, Arch f. Gyn. Bd. II, pag. 273. — 57) Hebra, Wiener med. Wochenschr. 1872,
Nr. 48. Vgl. ausserdem noch Duncan Bulkley, Amer. Journ. of Obstetr. Bd. IV, pag. 580.
Treymann, Petersburger med. Wochenschr. 1876. Nr. 36. — 58) Barnes, Obstetr.
Transact. Bd. X, pag. 147. — 59) Fehlin g, Archiv für Gyn. Bd. VI, pag. 137. Vgl. ausser-
dem noch Hall Davis, Transact. of the clin. soc. of London. Bd. II, London 1868.
Art. XIV, Simpson, Obstetr. Journ. of Gr. Brit. 1876. Mai, Prince, eod. loc. 18? 6,
Octob., Weber, Berl. klin. Wochenschr. 1870, Nr. 5, Rüssel, Med. Times 1870, Bd. I,
pag. 30, Goodell, Amer. Obstetr. Journ. Bd. III, pag. 140, Sie ekel: „Ueber Chorea
gravidarum." Diss. inaug. Leipzig 1870, Richardson, Boston med. surg. Journ.
Juli 12. 1877. Schwechten, „Ueber Chorea gravid." Diss. Inaug. Halle 1876. —
362 SCHWANGERSCHAFT.
B0) Li min er, Archiv für Gyn. Bd. XVI, pag. 313. — 61) Frerichs Nierenkrankh. 1851.
— 6'-') Rosenstein, Patli. und Tkerap. der Nierenkrankkeiten. Berlin 1863, und Monatssckr.
für Geb. und F. Bd. XXIII, pag. 413. — ü3) Scanzoni, Lehrb. der Geb. — 0i) Litz-
in an n, Deutsche Klin. 1852. Nov. 19-31. 18ö6 Nov. 29—30. Monatsschr. für Geb. und F.
Bd. XI, pag. 414. — 66) Coe, American Journ. of Obstetr. 1878, pag. 727.— 66) Moericke,
Zeitschr. für Geb. uud Gyn. Bd. V, pag. 1, Vgl. ausserdem noch: Petit, These de Paris,
1876 und Journ. de med. et de chirurg. J877. März. Ref. im Gyn. Centralbl. 1877, pag. 188,
Ho fm ei er, Zeitschr. für Geb. uud Gyn. Bd. III, pag. 259, Back er, „Die Puerperal-Krank-
heiten". Uebersetzt von R o t h e. Leipzig 1880, Löhlein, Zeitschr. für Geb. und Gyn. Bd. IV,
pag. 88. Ingerslev, Zeitschr. für Geb. und Gyu. Bd. VI, pag. 171, Kaltenbach,
Archiv für Gyn. Bd. IH, pag. 1, Richardson, Transact. of the Amer. Gyn.-Soc. Bd. III,
pag. 178. — 6:) Porved, The Lancet. 1880. Mai. Vgl. auch noch Weber, Berliner kliu.
Wocheuschr. 1878- Nov. 5, Stevens, Amer. Journ. of Obstetr. 1878, pag. 291 und namentlich
Baumeister, Berliner klin. Wocbenschr. 1876. Nr. 49. — r,8)Kaminsky, Deutsche
Klinik. 1866. Nr. 47. Vgl. ausserdem noch: Win ekel, „Klin. Beobachtungen zur Path.
der Geb." Rostock 1869, pag. 196. — 69) Runge, Archiv für Gyn. Bd. XII, pag. 16 und
Bd. XIII, pag. 143. — 70) Slavjanski, Archiv für Gyn. pag. 285. — 71) Runge,
„Die acuten Infectionskraukheiten in ätiologischer Beziehung zur Schwangerschafts-Unter-
brechung". Volkmann's klin. Vorträge. Nr. 174. 1879. — 72) Vgl. Barnes, Obstetr.
Transact. London. Bd. IX, pag. 102, Lothar Mayer, Berliner Beitr. zur Geb. und Gyn.
Bd. II, pag. 186 und Virchow's Archiv. Bd. LXX1X, pag. 43, Welch, Philadelphia Med.
Times. 1878. Mai. Ref. im Gyn. Centralbl. 1878, pag. 531, Bollinger, „Ueber Menschen-
und Thierpocken etc." Volkmann's Vorträge. Nr. 116, 1877, Burckhard, Deutsches
Archiv für klin. Med. Bd. XXIV, Heft 4 und 5, A. Goldschmidt, Inaug.- Diss. Kopenhagen
1879. — 7S) Olshausen, Archiv für Gyn. Bd. IX, pag. 169. — 74) Gautier, Annales
de Gyn. Bd. XI, pag. 321, Bleyne, Annales de Gyn. Bd XII, pag. 384, Underhill,
Obstetr. Journ. of Great Brit. and Irel. 1580, pag. 385. Ref. im Gyn. Centralbl. 1880, pag.
572. — 75) Kaminski, 1. c, Wallichs, Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XXX, pag. 253,
Zuelzer, Monatsschr. für Geb. und F., Bd. XXXI, pag. 419, Gusserow, Berliner klin.
Wochenschr. 1880, Nr. 17, A. Goldschmidt, I.e. — 76) Klein Wächter, Wiener Med.
Presse 1880, pag. 337. — 77) Zuelzer 1. c. — 7S) Weber, Berliner klin. Wochenschr.
1870, pag. 22. — 79) Goth, Zeitschr. für. Geb. und Gyn. Bd. VI, pag. 17. Vgl. ausserdem
noch: Burdell, Annales de Gyn. Bd. VIII, pag. 31, Ritter, Virchow's Archiv. Bd. XXXXI,
pag. 14, Mendel, Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XXXII, pag. 1. — 80) Vgl. Bouchut, Gaz.
med. de Paris 1849, Nr. 41, Dräsche, „Die epid. Cholera", Wien 1860, pag. 293, Hennig,
Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XXXII, pag. 27, Weber, Allgem. med. Centralztg. 1871.
Nr. 4. — 81) Da vi d söhn, Monatsschi-, für Geb. und G. Bd. XXX, pag. 452, Valenta,
Med. Jahrb. Wien. 1869. Heft 6, C onr ad, Pester med. chirurg. Presse. Bd. XII, Nr. 48-50,
Weber, Petersburger med. Wochenschr. 1878. Nr. 36, Duncan, Med. Times. Bd. I, 1879,
pag. 57. — 82) Spiegelberg, Archiv für Gyn. Bd. II, pag. 236. — 83) Kleinwächter,
Wiener med. Presse. 1879. pag. 404. — 84) Löhlein, Zeitschr. für Geb. und F. Bd. I, pag.
482. Vgl. ausserdem noch:Lebert, Archiv für Gyn. Bd. III, pag. 38, Fritsch, Archiv
für Gyn. Bd. VIII, pag. 373, Bd. X, pag. 270, Schmidt's Jahrb. Bd. CLXXIII, pag. 193,
Fischer, Pester med.-chirurg. Presse. 1877. Nr. 25-26, Ang. Macd onald, The obstetr.
Journ. of Great Brit. and Irel. 1877. Nr. 1, Mai, Nr. 56, Nov. und London J. c. A.
Churchill. 1878. — 84) Vgl. Gusserow, Monatsschr. für Geb. und F. Bd. XXXII, pag.
87, Wernich, Berliner Beitr. zur Geb. und Gyn. Bd. II, pag. 247, Fassbender, Berliner
Beitr. zur Geb. und Gyn. Bd. III, pag. 49, Lebert, Archiv für Gyn. Bd. IV, pag. 457,
und Journ. de Med. et Chirurg. 1878, pag. 178, Ang. Mac donald, Edinburgh med. Journ.
1877. Mai, pag. 967, Leopold, Archiv für Gyn. Bd. XI, pag. 284, Adams, The Lancet,
1877. Sept., Bergesio, Annali di Ostetr. 1878. April- August. Ref. im Centralbl. für Gyn.
1880, pag. 60. — td) Fischel, Prager Vierteljahrsschr. 1875. Bd. IV, pag. 17. Diese Arbeit
enthält eine reiche Literaturangabe über Pleuritis und Pneumonie in der Schwangerschaft
und im Wochenbette. — 86) Fischel 1. c. Ausserdem vergl. noch die bei der Pneumonie,
angeführten Literaturangaben. — 87) Lebert Journ. de med. et Chirurg. 1878, pag. 178.
— 88) von Bärensprung, „Die heredit. Syphilis". Berlin 1864, Hecker, Monatschr.
für Geb. und F. Bd. XXXIII, pag. 22. Siegmund, Wiener med. Presse. 1873. Nr. 1,
Kassowitz, Strick.er's Med. Jahrb. 1875. Nr. 359, Weil, „Ueber den gegen-
wärtigen Stand der Lehre von der Vererbung der Syph.", Volkmann's Vorträge
Nr. 130. 1878, Caspary, Vierteljahrsschr. für Syph. und Dermat. 1877, pag. 48 1,
Fürth, Wiener Klinik. 1879, Moret, „Des manifest, syph. chez la femme eneeinte etc."
These. Paris. 1875., Cernatesco, „De la marche et de la dure'e syph. et des syphilides
vidyaires pendant le cours de la gestationa . These. Paris 1875. — 8b) Vgl. Olshausen,
„Die Krankheiten der Ovarien". VI. Abschnitt des von Billroth redigirten Handbuches
der Frauenkrankheiten. Stuttgart 1877, pag. 99. Enthält die vollständige, einschlägige
Literatur bis 1877. — 89) Spiegelberg, Lehrbuch der Geb., 2. Auflage, pag. 277. —
s0) Wernich, Berliner Beitr. zur Geb. und Gyn. Bd. II, pag. 143. — 91) Byford, Amer.
Journ. of Obstetr. 1879, pag. 31. Er erwähnt ausserdem Fälle von Wills, Hillas und
Munde. — t2) Vergl. Gusserow, „Die Neubildungen des Uterus". IV. Abschnitt des von
SCHWANGERSCHAFT. — SCHWEFEL. 363
Billroth redigirten Handbuches der Frauenkrankheiten. Stuttgart 1878, pag. 115. Ent-
hält die vollständige, einschlägige Literaturangabe bis zum Jahre 1878. — 93) C harrier,
Gaz. des Hop. 1875. Nr. 4. — 94) Gusserow 1. c, pag. 213. — 9Ö) Cohnstein, Archiv
für Gyn. Bd. V, pag. 366.— 96) Menzie, Glasgow Journ. Juli 1843, pag. 229. — 9') Miller,
Simpson, Obstetr. works. 1867, pag. 498, und London and Edinburgh Monthly Journ. for
med. Sc. 1844, pag. 279. — 98) Playfair, Transact. of the London Obstetr. Soct. Bd. X
pag. 58. — ") Bei gel, Lehrb. der Frauenkrankheiten, pag. 522. — 10°) Gusserow 1. c.
pag. 215. — 101) Spiegelberg, Lehrb. der Geb. 2. Aufl., pag. 276. — i02) Depaul,
Archiv de Tocol. Bd. I, pag. 442.— lüS) Pfannkuch, Archiv für Gyn. Bd. VII, pag. Ib9.
— 104) Galabin, Obstetr. Transact. London. Bd. XVIII , pag. 286. — 106) Benicke, Zeit-
schrift für Geb. und Gyn. Bd. I, pag. 337. — 106) Wiener, Breslauer ärztl. Zeitschr. 1880.
Nr. 4 — 5. Vgl. auch: Herrmann, Transact. of the Obstetr. Soc. London. Bd. XX und
Rüttle dg e, „Ueber die Complicationen der Schwangerschaft und Geburt mit Gebärmutter-
krebs." Inaug.-Diss. Berlin 1876. — 10T) Billroth, Krankheiten der Brustdrüse. 10. Ab-
schnitt des von Billroth redigirten Handbuches der Frauenkrankheiten. Stuttgart 1880. —
106) Cohnstein, Berliner klin. Wochenschr. 1878. Nr. 20. — lus) Benicke, Zeitschr. für
Geb. und Gyn. Bd. I, pag. 40. — n0) Charcot und Trousseau, Citat bei Benicke. —
1U) Kehrer, Archiv für Gyn. Bd. X, pag. 201. — 112) Cohnstein, Volkmann's klin.
Vorträge. Nr. 59. — 113) Busch, Crede, Winckel, Citat bei Cohnstein 1. c,
pag. 494- — 114) Verneuil, Gaz. des hop. 1877. Nr. 52, und Bullet, et Mem. de la Soc.
de Chirurg. 1877. Tom. III. Nr. 5, Seance du 2. Mai. Ref. im Centralbl. f. Gyn. 1878, pag. 138.
Kleinwächter.
SchwaEgerschaftsniere, s. „Nierenentzündung", IX, pag-. 630.
Schwarzer Tod, s. „Pest", X, pag. 506.
Schwarzseebad, Canton Freiburg, 1065 M. über Meer, mit kalter Schwefel-
quelle, deren Salzgehalt (22,3 in 10 000 incl. 2. Atom C02) zumeist aus Kalk-
sulphat besteht. Dazu kommt 0,044 Gewicht Schwefelwasserstoff. Curhaus mit
reizenden Anlagen. BML
Schwefel. Schwefelpräparate. Schwefel bildet einen Bestandteil der
Eiweisskörper und aller aus ihnen hervorgegangenen Organtheile ; er findet sich ebenso
in den Se- und Excreten des Körpers, namentlich in der Galle (Taurin), im Speichel
(Schwefelcyan) und an Sauerstoff gebunden als schwefelsaures Salz besonders im Harne,
in welcher Verbindung der grösste Theil des dem Organismus mittelst der Nahrung
zugeführten Schwefels wieder ausgeführt wird. — Der Haut in Staubform zugeführt,
verursacht Schwefel selbst nach längerer Zeit keinerlei Veränderungen an derselben.
Nachdrücklich eingerieben,, kann derselbe, indem er in chemische Beziehungen
zu den Fetten und andern Bestandtheilen der Hautsecrete tritt, in wirksame Ver-
bindungen mit Bildung kleiner Mengen von Schwefelwasserstoff (H2 S)
überführt werden und auf zartern Hauttheilen die Bildung von Erythem veranlassen,
wie auch auf Parasiten toxische Wirkungen ausüben , zumal dann , wenn er
mit Seifen oder anderen, seine Löslichkeit unterstützenden Substanzen in Ver-
bindung gebracht wird. Reiner Schwefel lässt die Krätzmilben intact. Fein ge-
pulvert, der Luft und Feuchtigkeit längere Zeit ausgesetzt, nimmt der Schwefel
eine saure Reaction an, indem er, leichter noch unter dem Einflüsse protoplas-
matischer Bildungen, zu schwefliger Säure oxydirt wird, von deren Bildung
man die antiparasitische Wirksamkeit desselben und seine Verwendung zur
Tödtung solcher Organismen (Oidium Tuckeri auf Weinstöcken) ableitet.
Der in der Mundflüssigkeit unlösliche Schwefel verhält sich geschmacklos.
Geschmacksempfindungen nach dem Einnehmen desselben rühren von den seinen
Zubereitungen (Flores Sulfuris) anhängenden Verunreinigungen her, namentlich
mit schwefliger und Schwefelsäure. Auch im Magen , ebenso in sauer reagirenden,
wässerigen Flüssigkeiten erleidet der Schwefel keinerlei Veränderungen und vermag
derselbe die functionelle Thätigheit dieses Organs in keiner Weise zu beeinflussen.
Anders verhält es sich im Darmcanale. In mittleren Gaben (5 — 6 Gim. von
Erwachsenen) genommen, ruft er Kollern im Leibe und breiige, nach H2 S richende
Darmentleerungen hervor, ohne Appetit und Verdauung zu stören, oder andere
Beschwerden , geringe Leibschmerzen ausgenommen , zu verursachen. Erst nach
464 SCHWEFEL.
Lange fortgesetztem Gebrauche kann es zur Entstehung eines Darmcatarrhes
kommen, her grösste Theil des in den Magen gebrachten Schwefels findet sich
im Darmkothe wieder.
Das Zustandekommen der Schwefelwirkung erklärt sich ungezwungen aus
der Umwandlung eines kleinen Theiles des eingeführten Schwefels im Darmcanale
in lösliches Schwefelalkali (wahrscheinlich Nall S) und Schwefel Wasser-
stoff. Sowohl bei Menschen als Thieren nehmen die Kothmassen, wie auch die
abgehenden Blähungen einen auffalligen Geruch darnach an. Andererseits rufen
Dosen von 10 — 20 Ctgrm. reinen Schwefelalkaliums oder -Natriums die Wirkungen
grösserer (20 — öOfacher) Schwefelgaben an , je nach dem Grade der Zertheilung.
Die Bildung wirksamer Schwefelverbindungen beginnt schon im Duodenum unter
dem Einflüsse des alkalisch reagirenden pancreatischen und des Darmsaftes und
setzt sich weiter im Dünndarm bei Berührung mit in Zersetzung begriffenen
Eiweisskörpern fort, wobei H2 S gebildet wird, welches bei Gegenwart von kohlen-
saurem oder basisch phosphorsaurem Natron in das oben gedachte Schwefelalkali
umgewandelt wird (Regensburger). Das im Darminhalte vorhandene Fett scheint
den Schwefel chemisch nicht zu beeinflussen; denn bei reichlichem Fettgenusse
wird dem Blute nicht auffällig mehr Schwefel zugeführt (Krause). Die physio-
logischen Wirkungen des genossenen Schwefels treten nach um so geringeren
Dosen auf, in je feiner zertheiltem Zustande derselbe gereicht wird. Bei Anwendung
von Schwefelmilch bedarf es kaum der halben Menge, um den gleichen
Effect wie durch Schwefelblumen zu erzielen, welche ihrerseits den
gepulverten Massenschwefel an Wirksamkeit übertreffen. Das sich im Darmcanale
bildende Schwefelalkali wirkt als verhältnissmässig starker Reiz auf dessen Schleim-
haut und regt den Darm zu verstärkter Peristaltik an, die sich durch Leibes-
sehmerzen und den Abgang flüssiger, oder nur breiiger Entleerungen kundgiebt.
Bei Zutritt freier Kohlensäure oder einer anderen sauer reagirenden Verbindung
wird das Schwefelalkali leicht zersetzt und besonders in den unteren Darm-
abschnitten H2 S gebildet , welches bei Gegenwart alkalisch reagirender Säfte zu
erneuerter Bildung von Na HS Anlass giebt, zum Theile mit den Darmgasen
abgeht. Reste von Schwefelalkali dürften in den nach H2S stark riechenden
fäcalen Entleerungen ebenfalls nicht fehlen. Normaler, soeben entleerter Hundskoth
entwickelt auf Säurezusatz dieses Gas (Voit). Darmwürmer werden durch den
genossenen Schwefel, mithin durch die Menge der hieraus hervorgegangenen Ver-
bindungen toxisch wenig beeinflusst. Ein nicht unerheblicher Theil des im Darm-
canale entstandenen Schwefelwasserstoffes diffundirt in das Blut , wo sich derselbe mit
Hilfe der darin vorhandenen kohlensauren und basisch phosphorsauren Alkalien
neuerdings in Schwefelalkali und unter dem Einflüsse activen Sauerstoffes zu unter-
schwefligsaurem und schwefelsaurem Alkalisalze umwandelt (Diäkonow). Doch ist
auch ein directer Uebergang fein zertheilten Schwefels durch die Darmwaudungen,
und die Bildung wirksamer Verbindungen in den alkalisch reagirenden Säften der
Ernährungsflüssigkeit, der Lymphe und des Blutes nicht gerade ausgeschlossen.
Bei mit Schwefel gefütterten Thieren nimmt das Fleisch derselben einen schwefligen
Geruch und Geschmack an. Orfila hat ersteren auch im Blute gefunden. Das
der Haut vom Blute aus zugeführte Schwefelalkali erfährt durch das Secret der
Schweissdrüsen eine Zersetzung, wodurch H2 S in die Hautausdünstung übergeht ;
ebenso bildet sich letzteres auf der Lungenschleimhaut unter dem Einflüsse der
Kohlensäure. Der grösste Theil des in lösliche Form überführten Schwefels wird
schliesslich im Blute und den Geweben zu Schwefelsäure oxydirt und als
Sulfat mit dem Nierensecrete abgeführt.
Krause hat den experimentellen Nachweis geliefert, dass nach Einbringen
von Schwefel in den Magen der Schwefelsäuregehalt des Harnes beträchtlich
steigt. Von Schwefelmilch wurde bis 46°/0 , von Schwefelblumen nur 15° 0 im
Mittel durch den Harn wieder ausgeschieden. Die Schwefelsäureausscheidung ist
am beträchtlichsten an den Tagen, in welchen der Schwefel gegeben wurde, und
SCHWEFEL. 365
den nächsten Tag darauf, toi? Zunahme ist bedeutender, wenn der Schwefel nicht
bald durch Diarrhoe abgeführt wird. Aber nicht aller durch den Magen ein-
gebrachte Schwefel wird als Sulfat ausgeschieden. Regensburger fand, dass der-
selbe im Harn auch noch in einer anderen Verbindung in vermehrter Menge
auftrete. Aus dem mit Salpetersäure veräscherten Urin liess sich eine erheblich
grössere Menge von Schwefelsäure durch Chlorbaryum ausfällen, als aus dem
ursprünglichen Harne, was übrigens auch von dem normalen gilt und von der
Anwesenheit gepaarter Schwefelsäure verbin düngen (aromatischen Aetherschwefel-
säuren), wie solche Baumann im Harne von Säugethieren nachgewiesen hatte,
dann der Schwefelcyansäure (Gscheidlen) vorzugsweise herrühren dürfte.
Die Allgemeinwirkungen des Schwefels lassen sich vorwiegend auf
die Bildung von Schwefelwasserstoff und dessen Einfluss auf das Blut und
Xervencentra zurückführen. In prägnanter Weise gelangen die Wirkungserscheinungen
selbst nach grossen und fortgesetzten Gaben nur selten zur Beobachtung, und
in den bisher vereinzelten Fällen, wo nach grossen Schwefeldosen schwere Zufälle
wahrgenommen wurden , muss es unentschieden bleiben , ob diese nicht von einer
Verunreinigung der genossenen Schwefelpräparate mit Arsen oder Selen herrühren
(Stille). Mehrfache Beobachtungen (Betz, Emminghaus u. A.) lehren, dass aus
dem Darminhalte unter pathologischen Verhältnissen es zu einer toxisch wirkenden
Schwefelwasserstoffentwicklung unter den Symptomen von Eingenommenheit des
Kopfes , Schwindel , kleinern und frequenten Puls , Magenbeschwerden , Colik und
Durchfall kommen könne.
Der Stoffumsatz scheint unter dem Einflüsse des Schwefels eine
geringe Steigerung zu erfahren und damit die regressive Stoffmetamorphose befördert
zu werden. Boecker fand während des Schwefelgebrauches eine Zunahme des
Harnstoffes und Harnsäuregehaltes im Urin , was mit der Bildung von Schwefel-
alkali im Einklänge steht. Die nach dem Gebrauche natürlicher Schwefelwässer
beobachtete Abmagerung ist wesentlich auf Rechnung der Schwefelalkalien und
Erden, sowie der sie begleitenden alkalischen Salze zu setzen. Eine Vermehrung
der Hautexcretion nach Schwefel lässt sich nicht erweisen.
Verhältnissmässig geringe Mengen von Schwefelwasserstoff führen, den
Lungen zugeführt, toxische Zufälle herbei. In die Arterien eingespritzt, wirkt
derselbe giftiger, als wenn er in die Venen injicirt wird (Amelung), von denen
er bald durch die Lungen mit der Exspirationsluft ausgeschieden werden kann.
Auf demselben Wege wird auch das Thieren unter die Haut gebrachte Gas
abgeführt. Als Getränk verursacht Schwefelwasserstoff- Wasser, mit der
gleichen Menge gem. Wasser verdünnt und bis 100 C. C. genossen: Aufstossen,
Uebligkeiten, Erbrechen, Herzbeklemmung, Kollern im Unterleibe und Drang zum
Stuhle (Ph. Falck). Ein Theil des so eingebrachten H2 S wird mittelst Exspiration,
Schweiss und Harn abgeführt. (Ueber die toxischen Eigenschaften desselben und
seine Beziehungen zum Blute und Nervensystem s. Bd. V, pag. 504). Im Falle
einer Seh wefel wasserst off ver gif tu ng ist zunächst für die Befreiung aus
der schädlichen Atmosphäre und für die Entfernung des giftigen Agens durch
Erbrechen (nöthigenfalls mittelst Apomorphin), Anwendung von Clystiren, Vor-
nahme künstlicher Respiration und die Application von Reizmitteln behufs Anregung
der Gehirnthätigkeiten Sorge zu tragen. So lange noch das Herz schlägt , ist
Rettung zu erwarten (Rosenthal).
Der Schwefel findet in drei Modificationen arzeneiliche A nwendung : in lassen
(Stangenschwefel), sublimirt (Schwefelblumen) nnd aus alkalischen Lösungen nieder-
geschlagen (Schwefelmilch).
1. Sulfur citrinum s.inbaculis. Raff ini rter Schwe fei, in Formen gegossen,
oder aus unregelmässigen Stücken bestehend. Er muss frei von Arsen, erdigen und
metallischen "Verunreinigungen sein. Mit Arsen verunreinigter Schwefel, wie es der aus
Kiesen gewonnene häufig ist, besitzt nicht die hell grünlich-gelbe Farbe reiner Schwefel-
sorten. Das daraus bereitete Pulver giebt bei Arsengehalt, mit Ammoniak länger geschüttelt,
kein ganz farbloses Filtrat und scheidet auf Zusatz von Chlorwasserstoffsäure gelbe Flocken
von Schwefelarsen ab, welche in der Bd. I, pag. 528 angegebenen "Weise näher zu prüfen sind.
36ti SCHWEFEL.
Schwefel löst sieh leicht in Schwefelkohlenstoff. In Wasser und verdünnten Säuren ist er
unlöslich, sehr wenig in Alkohol, etwas mehr in heissem Terpentinöl und andern ätherischen,
sowie in fetten Oelen. Aetzlaugen lösen den Schwefel unter Bildung von alkalischem
Schwefelmetall und unterschwefligsaurem Alkali. Entzündet verbrennt er an der Luft zu
schwefliger Säure.
2. Sulfur sublim a tum s. Flores Sulfuris. Zur Herstellung dieses Präparates
werden die bei Gewinnung des Schwefels destillirenden Dämpfe in geschlossene, kühl gehaltene
Kammern geleitet, wo sie zu einem citrongelben Pulver sich condensiren, das sich am Boden
und den Wänden der Kammern ansammelt. Es reagirt sauer von anhängender schwefliger und
Schwefelsäure, welche aus der Oxj'dation eines Theiles der Schwefeldämpfe hervorgegangen
sind. Durch wiederholtes Auslaugen mit heissem Wasser, besser mit verdünntem Ammoniak,
welches allfällig vorhandenes Schwefelarsen mitlös t, lassen sich jene Verunreinigungen leicht
beseitigen. Man nennt dann das Präparat: gewaschene oder gereinigte Schwefel-
blumen, Sulfur sublimatum lotum (Sulfur depuraium Pharm. Germ.) Angesichts
des geringen Preises der Schwefelblumen und ihrer feinen Zertheilung im Vergleiche zum
gepulverten Massenschwefel zieht man sie diesem für die Bereitung der officinellen Schwefel-
präparate vor, von denen die nachstehenden der Pharm. Germ, angehören.
a) Oleum Lini sulfur at um s. Bai s avium Svljuris. Geschwefeltes Leinöl,
Schwefelbalsam (l Th. Schwefelblumen in 6Th. heissem Leinöl gelöst). Dickflüssige, rothbraune,
widrig riechende und schmeckende Flüssigkeit. Bestandtheil des sogenannten Haarlemer
0 e 1 s und ähnlicher Geheimmittel ; sonst zu Einreibungen und Verbänden bei gichtischen
Leiden , parasitären Hautaffectionen, auf Frostbeulen, chronische Tumoren etc.
b) Oleum Therebinthinae sulfuratum. Geschwefelt es Terpentinöl.
Man erhält es durch Mischen des Vorigen mit 3 Th. Terpentinöl. Innerl. selten zu 0"2 — 0'5 p. d.,
5 — 10 Tpf. in Milch oder in Gallertkapseln. In gleicher Weise das nicht mehr gebräuchliche,
analog zusammengesetzte * Oleum Anisi sulfuratum (bei asthmatischen Beschwerden
und als Exspectorans) ; äussert, ersteres zum Verbände schlecht heilender Geschwüre.
c) Unguentum sulfuratum simplex (Sulfur. depur. 1, Axung. 2).
d) Unguentum sulfuratum compositum (Sulfur. depur., Zinc. sidfur. ana 1,
Axung. 3); statt des Unguentum contra scabiem Jasseri. An Stelle dieser Salben
enthält Pharm. Austr.
e) Sapo sulfuratus s. Sulfuris; Schwefelseife, eine Mischung aus 35 Th.
Seifenpulver, 5 Th. Schwefelblumen, mit der nöthigen Menge Weingeist zu einer (mit Ber-
gamottenöl parfümirten) Masse in entsprechende Formen gebracht. Einfacher gewinnt man eine
gleich brauchbare Schwefelseife, wenn man 2 Th. Hausseife, in Spähne geschnitten und
mit der gleichen Menge Wasser erhitzt, zum Seifenleim verflüssigt, diesen mit 1 Th. Schwefel-
blumen mischt und die Masse in Papierkapseln ausgiesst, so dass nach dem Trocknen 100 Grm.
schwere Stücke resultiren. Einreibungen mit der in Wasser getauchten Schwefel seife
bilden nach des Verfassers an Tausenden gemachter Erfahrung die billigste, reinste und eben
so sichere Behandlungsmethode der Krätze, als mit Storax oder Perubalsam, bei der
ebenfalls weder Wäsche noch Kleider verunreinigt , noch auch eine Desinfection derselben
gefordert, und ebensowenig die Berufsthätigkeit der Patienten gestört wird. Die in die Haut
geriebene Schwefelsäure trocknet bald auf derselben ein und löst sich späterhin mit den
Epidermisschuppen pulvrig ab (s. a. d. Art. „The er").
3. Sulfur praecipitatum, Lac vel Magisterium Sulfuris. Der präcipitirte
Schwefel ist ein Schwefel im Zustande der feinsten Zertheilung. Man erhält ihn durch
Fällen einer Lösung von fünffachem Seh wef elcalcium (s. unten) oder eines anderen
Hypersulfurets mit Salzsäure. Er stellt ein gelblich-weisses, äusserst, zartes , geschmackloses,
kaum riechendes Pulver vor, das nach längerer Aufbewahrung eine schwach saure Beaction
annimmt. Wegen seiner ausserordentlich feinen Zertheilung und bedeutenderen Löslichkeit in
schwach alkalischen Flüssigkeiten übertrifft er die Schwefelblumen und noch mehr den
gepulverten Stangenschwefel an Wirksamkeit.
Bossschwefel (Sulfur caballinum) wird der bei Raffinirung des Bohschwefels
sich ergebende Abfall genannt, welcher umgeschmolzen eine graue, poröse Masse bildet, die
ausser Schwefel , verschiedene Erden , namentlich Kalk- und Thonerde enthält , auch von
Kieselerde, Eisen und Arsen mehr oder weniger stark verunreinigt ist. Die vermöge ihrer
Verunreinigungen um vieles wirksamere Schwefelsorte wurde einst von Thierärzten haupt-
sächlich in Gebrauch gezogen.
Die höchst widrig hepatisch schmeckenden und riechenden alkalischen
Sulfurete erregen, in arzeneilichen Gahen gereicht, ein Wärmegefühl im Magen.
Bei fortgesetzter Anwendung rufen sie belästigende Empfindungen daselbst hervor
und stören die Verdauung. Mit der freien Säure in Berührung gekommen, werden
sie sofort zersetzt und Schwefelwasserstoff frei, was sich durch Aufstossen
nach diesem Gase kundgiebt. Zugleich wird (bei Anwendung von mehr als 1 Atom S
führenden Präparaten) freier Schwefel abgeschieden, welcher im Darmcanale
die ihm eigenthümlichen Wirkungen veranlasst. In grossen Dosen tödten die
SCHWEFEL. 367
Schwefelalkalien einerseits durch die von ihnen ausgehende Aetzwirkung, anderer-
seits durch den in grossen Massen frei werdenden Schwefelwasserstoff und dessen
Anhäufung im Blute. Neben den Erscheinungen von Gastroenteritis machen sich
noch die stark herabgesetzter Herzthätigkeit , hochgradiger Muskelschwäche und
Lähmung bemerkbar. Bei damit vergifteten Thieren konnte unverändertes Schwefel-
alkalimetall im Harne nachgewiesen werden (Okfila, Wöhler). Als directe
A n t i d o t a gelten die unterchlorigsauren Salze (unterchlorigsaures Natron oder
Chlorkalk in Lösung mit Zucker) , Eisenoxydhydrat und Eisenoxydsaccharat.
Schwefelkalium, sowie Schwefelnatrium ätzen und entzünden
in sämmtlichen Verbindungsstufen vermöge ihrer stark alkalischen Reaction die
allgemeinen Decken in einer den caustischen Alkalien ähnlichen Weise. Etwas
weniger intensiv ist die Einwirkung des Fünffach-Schwefelcalciums bei
gleichen Concentrationsverhältnissen. Noch bei einem Verdünnungs grade von 1 : 50
wird die Haut nach wiederholter Waschung entzündlich gereizt und muss auf
zarten Hautstellen und bei grösserer Ausdehnung von Hautefüorescenzen mit der
Anwendung dieser Präparate schonend vorgegangen werden , um nicht eine zu
ausgedehnte Dermatitis mit ihren Folgen herbeizuführen. Thierische wie pflanz-
liche, in der Haut wuchernde Parasiten und ihre Keime werden durch sie
energischer und verlässlicher als von irgend einer anderen Heilsubstanz vernichtet.
Die Wirksamkeit natürlicher Schwefelwässer wird theils durch
die alkalischen Eigenschaften der darin enthaltenen Schwefelmetalle (Schwefel-
natrium und Schwefelcalcium), theils durch den darin vorhandenen oder aus ihnen
in Folge von Zersetzung frei werdenden Schwefelwasserstoff bedingt.
Officinell ist Dreifach-Schwefelkalium in zwei Reinheitsgraden, in 0 ester-
reich überdies Fünf fach-Schwefel calcium in Lösung.
1. Kalium sul für at um (purum), Hepar Sulfuris Icalinwn, Sulfuretum Lixivae ;
Schwefelkalium, Kalischwefelleber. Wird bereitet durch Erhitzen einer innigen Mischung
von 1 Th. Schwefelblumen mit 2 Th. gereinigtem kohlensauren Kalium, bis nach beendetem
Schäumen die Masse ruhig niesst, worauf sie in einen Mörser aasgegossen und nach dem
Erkalten in kleine Stücke zerschlagen, aufbewahrt wird. — Leberbraune, sehr bald grünlich-
gelbe , an der Luft einen starken Geruch nach H2 S verbreitende Masse , welche sich in
weniger als 2 Th. Wasser mit Hinterlassung eines geringen Rückstandes zu einer gelbbraunen
Flüssigkeit von stark alkalischer Reaction löst und, mit einer Säure versetzt, einen reich-
lichen Niederschlag von Lac Sulfuris unter Entweichen von H2 S bildet. Mit Fetten ge-
mischt, bewirkt die Schwefelleber eine vollständige Verseifung derselben (Sapo Sulfuris
lealini). An der Luft zieht sie begierig Kohlensäure und Sauerstoff an , wird feucht und
zerfiiesst. Sie muss daher von dem Zutritte der Luft sorgfältig verwahrt werden, durch die
sie unter Abscheidung von Schwefel und Bildung von kohlensaurem und schwefelsaurem
Kalium zersetzt wird , wobei sie eine gelblichgrüne Farbe annimmt und die Löslichkeit in
Alkohol verliert. In Hinsicht auf seine Zusammensetzung besteht das offic. Schwefelkalium
der Hauptmasse nach aus einer Verbindung von 2 Mol. 3fach Schwefelkalium und 1 Mol.
unterschwefiigsaurem Kalium.
2. Kalium sulfuratumpro balneo, Hepar Sulfuris vulgare; Schwefel-
kalium zum Bade, rohe Schwefelleber. Sie wird auf gleiche Weise wie die Vorige aus
Schwefel und Pottasche erzeugt.
Man erhält das Schwefelbad (Balneum suljuratum) durch Lösen von 50 — 100 Grai.
nicht zu alter Schwefelleber im Wasser des Wannenbades, oder Mischen desselben mit
200 — 500 Grm. Wird mehr auf die Schwefel- als auf die alkalische Wirkung des Schwefel-
bades Gewicht gelegt, so versetzt man dasselbe mit etwas Säure (10 — 20 Grm. roher Salz-
säure, 50 — 100 Grm. Essig oder Weinstein). Der frei gewordene, im Wasser gelöste Schwefel-
wasserstoff durchdringt die Hautdecken und vermag mit Wasserdampf in Luftwege zu
treten und so bei Erkrankungen derselben arzeneiliche Wirkungen zu entfalten. Wird dem
Schwefelbade Leimlösung zugesetzt (Balneum sulfuratum gelatinosum) , entweder in der
Absicht, die Reizwirkung des alkalischen Bades zu massigen, oder um den in warmen
Schwefelquellen nicht selten vorkommenden gallertartigen Mineralschlamm (Bade-
moos, Buregine) zu ersetzen, so weicht man 200—250 Grm. einer besseren Leimsorte, klein
zerstückelt, in der 4fachen Wassermenge durch 1 Stunde , erhitzt sodann , bis der Leim
vollständig gelöst ist und setzt ihn der Badeflüssigkeit zu (Pharm Gall.).
Fünffach Schwefelkalium ist nicht officinell. Die franz. Pharm, schreibt
es in flüssiger Form ( Quinquiessulfuretum potassicum solutumj vor. Man erhält das Präparat
durch Kochen von 3 Th. Kalilauge mit 1 Th. Schwefel in Gestalt einer rothbraunen , hepatisch
riechenden Flüssigkeit, die sich von der Solutio Yleminckx wesentlich nur durch die Ver-
schiedenheit ihrer alkalischen Basis unterscheidet. Ebenso entbehrlich als dieses ist die
368 SCHWEFEL.
S ml aschwefelleber (Natrium eulfuratumj von der Constitution des oftic. Schwefelkaliums
und noch mehr der Liquor Natrii quinquieasulfurati der franz. Pharm. ; dagegen dürfte Nat rium-
s u 1 f h y d r a i ( Sehwefelwasserstoff-Schwefelnatrium) , Natrium hydrosulfuratum
B. sulfohydricum mit Rücksicht auf seine constante Zusammensetzung und bessere Haltbarkeit
für den innerlichen Gebrauch dem olfic. Schwefelkaliuni vorzuziehen sein. Es bildet farblose,
in Wasser leicht, in Alkohol wenig lösliche Krystalle , welche in Pillen oder in Syrup gelöst,
zu nehmen sind.
Die Schwefelammoniumflüssigkeit, Liquor Ammonii sulfurati,
Ammonium sutfhydricum, wird ai'zeneilich nicht benützt, und findet sich im Reagensver-
zeichniss der Pharm, nur als Behelf chemischer Prüfungen angeführt. Der an Schwefel reichere
Liquor Ammonii qu in qui essul f urati vel Spiritus Beginnt wurde einst gegen
Diabetes, Rheumatismen, Phthisis etc. zu 1 — 5 ! Trpf. p. d. angewandt.
Schwefel calcium wird sowohl als einfach, wie fünffach Schwefel-
ealcium arzeneilich gebraucht.
a) Calcium (mono) sulfur atum, Calcaria sulfurata, Hepar Sulfuris calcareum ;
Schwefelcalcium, Kalkschwefelleber, wird durch Glühen einer Mischung von Aetzkalk
mit Schwefel in Gestalt eines röthlich-weissen , hepatisch riechenden , scharf alkalisch
schmeckenden , in Wasser wenig löslichen Pulvers erhalten , das sich bei Luftzutritt unter
Entweichen von H3 S sehr bald zersetzt. Man gab es sonst zu 0'2 — 0*5 p. d. einige Mal im
Tage und bediente sich dessen besonders zur Anfertigung von Schwefelkugeln (Calcar.
sulfurat. 12'0, Natrii chlor. 4'0 , Extr. Sapon. l'O, Gel.uin. q. s. ad bo1. form. — Boules
Baregiennes) für die Bereitung des Schwefelbades.
b) Calcium ox y sulfur atum (Pharm. Austr.). Nur in flüssiger Form gebräuch-
lich, S olut i o Calcii oxysuf urati, Calcium quinquies sulfur atum solutum, Solutio
Vleminckx; Lösung des Calciumoxy sulfurets. Mau erhält sie durch Kochen von
3 Th. der Alis cella pro Calcio oxy sulfur ato ( Calcar. ust. 30, Aq. covi. 20, Flor.
Sulfur. 60) mit 20 Th. gem. Wasser auf 12 Th. Colatur , bei welchem Processe sich neben
unterschwefligsaurem Kalk fünffach Schwefelcalcium bildet. — Granatrothe , gelbfärbende,
stark alkalisch reagirende Flüssigkeit von hepatischem Gerüche und stark alkalischem Ge-
schmack, welche, mit Salzsäure versetzt, einen reichlichen weissen Niederschlag von Schwefel
fallen lässt, welcher am Filter gesammelt, die offic. Schwefelmilch darstellt. Der Luft
ausgesetzt, verliert die Schwefelcalciumflüssigkeit durch die Kohlensäure derselben an Wirk-
samkeit, indem sich neben Schwefel und entweichendem Hä S kohlensaurer und schwefelsaurer
Kalk abscheiden, bis das Präparat sich zuletzt in eine farblose Flüssigkeit umgewandelt hat.
Der Heil wert h des Schwefels ist ein verhältnissmässig geringer.
Einst gegen Hätnorrhoidalbeschwerden in hohem Ansehen, leistet er gegen diese
kaum mehr als andere leichte Eccoprotica , die nachtheiligen Folgen harter Koth-
massen hintanzuhalten. In Anbetracht seiner Umwandlung zu Schwefelalkali im
Darmcanale und Bildung von H2 S wendet man ihn, sowie seine alkalischen Ver-
bindungen bei chronischen Metall Vergiftungen , insbesondere mit Blei und Queck-
silber, an. Da der dem Magen einverleibte Schwefel, wenn auch in unbedeutender
Menge, durch die Haut und Lungen als H2 S eliminirt wird, so hat mau ihn für die
Bekämpfung chronischer Hautausschläge, veralteter rheumatischer Leiden und bei
catarrhalischen Affectionen der Respirationsorgane für geeignet gehalten. Nüchterne
Beobachtungen haben seine Heilkraft bei ersteren ebensowenig, wie das Auftreten von
Diaphorese bei seinem Gebrauche zu erweisen vermocht. Die anticatarrhalische ,
sowie die gegen gewisse abdominelle Leiden (chronische Lebererkrankungen mit
Circulationsstörungen im Pfortadersystem und deren Folgen) gerichtete Wirksam-
keit der Schwefelwässer hängt einerseits von den alkalischen und erdigen
Verbindungen derselben ab, vermöge des durch sie bedingten Einflusses auf die
Verdauungsorgane, anderseits von der Einwirkung des aus ihnen emanirenden
Schwefelwasserstoffgases auf die Respirationsschleimhaut, wie man denn auch die
Wirksamkeit des Schwefels als Bechicum (Bd. II, pag. 81) aus der Reizwirkung
des bei seinem Gebrauche in minimalen Mengen exhalirten Schwefelwasserstoffs
auf die Bronchialschleimhaut erklären zu können glaubt. Man hat den Schwefel,
wie auch die Schwefelalkalien sonst häufiger als jetzt gegen Heiserkeit, chronischen
Husten (Pulvis Liquiritiae conipos.) , Bronchialleiden im kindlichen Alter und
als Nachcur bei Croup in Anwendung gebracht. Ueber die antidotarischen
Eigenschaften des Schwefels und seiner Präparate (Schwefelwasserstoffwasser und
Schwefeleisenhydrat). Vgl. Bd. I, pag. 375.
Aeusserlich wird Schwefel in Form von Lac. Sulfuris , des-
gleichen alkalische Schwefelwässer bei einfacher Acne, dann bei Acne
SCHWEFEL. 369
rosacea und pustulosa, Sycosis, schuppenden Hautflecken etc. als Waschmittel
mit Erfolg gebraucht (Bd. III, pag. 505); ausserdem bedient man sich des
Schwefels in Mischung mit Seifen und Fetten (s. oben) bei Scabies und
anderen parasitären Hautaffectionen. Wirksamer noch verhalten sich die Lösungen
alkalischer Schwefelmetalle und des fünffach Schwefelcalciums ; doch hat man ihre
Anwendung gegen Krätze ob der starken Reizwirkung und Eczembildung , zumal
bei zarter oder stark excoriirter Haut gegenüber dem milden und eben so sicher
wirkenden natürlichen Balsamen wieder verlassen , während die methodische Be-
nützung der Schwefelalkalien bei durch Epiphytenbildung bedingten und anderen
Hautausschlägen (Prurigo, Impetigo, Eothyma, Psoriasis etc.) noch immer einen
wichtigen Behelf für die Heilung derselben bildet. Wenig zufriedenstellend waren
die Resultate der Behandlung diphtherischer Erkrankungen mittelst Insufflation
des Schlundes und Kehlkopfes mit Schwefelblumen, wonach die pseudomembranösen
Auflagerungen ein rahmartiges Aussehen annehmen und leichter abgestossen
werden sollen (Lutz u. A.). Ueber die Anwendung _. des Schwefels zu desinfi-
cirenden Rauche rungen s. Bd. XI, pag. 3^1Q\ wer um On/fc. alkalischen
Sulfurete (Natrium- und Calciumsulfhy drat) aM ' E n t h a arungs nHi^ß 1 siehe
Bd. III, pag 502 h RARY«-)
Dosis und Form der Anwendung. */
Man reicht den gereinigten Schwefel intern zu 0'2~0'5 in refiydosi und
rO — 2'0 p. d. einigemale im Tage als gelinde eröffnendes Mittel in Palvem, Pastillen
(0'2 c Sacch.), Pillen, Bissen, Latwergen und Schüttelmixturen; die Schwefelmilch in
denselben Formen, doch in kaum halb so grossen Gaben. Reines S-eb/wef elkalium lässt
man zu O05 — 0'20 p. d. 2 — 4mal im Tage nehmen. Grössere Dosen sind nicht räthlich, so
lange man die "Wirksamkeit des dispensirten Präparates nicht kennt, dessen Gehalt an wirk-
samem Schwefelkalium angesichts der fortschreitenden Zersetzung desselben stark variirt.
Man verordnet es in Pillen (mit Argilla alba als Constituens), oder in Solution , am zweck-
mässigsten in Alkohol und lässt die einzelneu Gaben wegen des höchst widrigen Geschmackes
mit einem aromatischen Wasser oder einem neutral reagirenden Syrup stark verdünnt, aus einem
Gläschen nehmen. Die gemeine Schwefelleb er wird gelöst zu Waschungen (5 — 20 : 100 Aq.)
und Bädern (s. oben) , in Form von Salben (1 : 5 — 10 Axung.) und Seifen (Sapo Kalii sul-
Jurali); letztere auch (Bd. XI, pag. 91) mit Zusatz von Bimsstein fSapo sulfuratus PumicisJ
verwendet.
Einfach Schwef elcalcium wurde zu 0"2 — 0'5 p. d. m. M. tägl. in Pulver,
Pillen sowie in kohlensäurereichen Wässern (als Ersatzmittel natürlicher Schwefelwässer)
gereicht. Fünffach Schwefele alcium findet nur äusserlich , pur oder mit Wasser ver-
dünnt, in Form von Waschungen (s. oben), Einreibungen, Umschlägen, localen und allgemeinen
Bädern (5"0 — lO'O für je 1 Liter Badewasser) Anwendung.
Schwefligsaure und unterschwefligsaur e Salze (Sulfite und
Hyposulfite) . Von diesen ist nur das unterschwefligsaure Natrium
(Pharm. Germ.) officinell. Im Magen zerfällt es , ebenso auch die erdigen Hypo-
sulfite, durch dessen freie Säure zu schwefliger Säure und Schwefel. Es
kommt, wie schon Hoppener aufmerksam gemacht hatte, zu häufigem Aufstossen
nach H2 S und anderen beim Gebrauche des Schwefels auftretenden Erscheinungen,
was sich aus dem Zusammentreffen von Schwefelwasserstoff mit schwefliger Säure
erklärt, welche neben Bildung von Wasser Schwefel liefern (2 H2 S + H2S03
geben 3 S + 3 H2 0). Doch auch nach dem Genüsse schwefligsaurer Alkali-
salze werden Ructus nach H2 S beobachtet und das lässt schliessen , dass erstere
im Magen eine Reduction mit Bildung von H2 S erfahren, in Folge dessen es beim
Zusammentreffen des letzteren mit schwefliger Säure nach den hier gegebenen
Reactionsverhältnissen zu reichlicher Bildung von Schwefel ebenfalls kommen müsse.
Die Wirkungsweise der unter s chwefligsauren, sowie der schweflig-
sauren Alkali- und Erdsalze, entfernt sich in der That nicht sehr von jener
des Schwefels, wobei noch die Mitwirkung der alkalischen Reaction dieser Salze
für die Bildung von Schwefelalkali hinzutritt. In Gaben von 5 — 10 Grm. ruft
Natriumhyposulfit Abführen hervor. Sowohl nach seiner Einführung, wie
nach jener der alkalischen Sulfite, nimmt der Aciditätsgrad des Harnes ab. Fast
alle schweflige Säure findet sich darin zu Schwefelsäure oxydirt und nur ein
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 24
370 SCHWEFEL.
kleiner Theil der an alkalische Basen gebundenen Säuren wird unzersetzt abgeführt,
wenn die betreffenden Salze in nicht zu kleinen Mengen dem Magen einverleibt
wurden (HorrEXER, Rabuteau). Nach Schmiedeberg und Meissner bildet die
unterschweflige Säure einen constanten Bestandteil des Harnes bei Katzen
und findet sich ebenso bei Hunden. Stbumpel konnte sie auch im Harne von
Typhuskranken nachweisen.
Nach Angaben Polli's bewirkten 50 Grm. untersch wefligsaures Natron,
in 500 Grm. Wasser gelöst, und in 10 Portionen stündlich genommen, heftiges Kältegefühl,
grosse Unbehaglichkeit und die Empfindung von Erstarren an Händen und Füssen, ausserdem
leichtes Brennen im Magen, Aufstossen nach H2S und fäcale, nach dem Gase riechende Ent-
leerungen mit starker Flatulenz. Nach Beendigung des Versuches starke Abgeschlagenheit und
Kältegefühl bis zum nächsten Tage, Appetit gesteigert, Verdauung normal, Urin sehr reichlich,
klar und von saurer Beaction. Gleich diesem Salze sollen auch schwefligsaures Natron
in Dosen von 8 — 12 Grm. und schwefligsaure Magnesia, zu 15 Grm. genommen, nicht
die geringsten üblen Folgen hervorrufen. Versuche, die vom Verfasser und G. Braun
an einer beträchtlichen Zahl von Puerperalkranken angestellt worden sind, ergaben, dass die
schweflige Säure (s. „Säuren"), die sauren, sowie neutralen alkalischen Sulfite,
dann das Natrium- und Magnesiahyposulfit ohne Ausnahme schon in kleinen Dosen
um so heftigere Beizwirkungen in den Verdauungswegen hervorbrachten, je intensiver die
Erkrankung, insbesondere das sie begleitende Fieber war. Mit wenigen Ausnahmen sträubten
sich die Patientinnen gegen den Genuss der ihnen zu 4'5 Grm. (1 Drachme) })ro die in Absätzen
verabreichten Salze. Die durch sie veranlassten Wirkungen äusserten sich in üblem Nach-
geschmack, häufigem Aufstossen, Ueblichkeiten , Brechneigung, oft sich wiederholendem
Erbrechen (zuweilen schon nach der ersten Gabe) und häufig (in 57 Fällen 28mal) auftretenden,
heftigen, in manchen Fällen kaum stillbaren Durchfällen. Eigenthümlich war, dass nach
Anwendung jedes der Präparate (Acidum sulfurosum aquosum, Natrium sul/urosum neutrale
et acidum, Kalium sulfurosum acidum, Magnesium sulfurosum et hyposulfurosum und
Natrium hyposulfurosum) dieselben Wirkungserschein ongen auftraten , nur mit dem Unter-
schiede, dass nach den neutralen Sulfiten und Hyposulfiten vorwiegend Erbrechen, nach dem
Gebrauche der schwefligen Säure und ihrer sauren Salze aber Diarrhoe auftrat. Verminderung
des Durstes und Hitzegefühles war im Gegensatze zu den Behauptungen Polli's nach keinem
der hier genannten Präparate, selbst nach Verabreichung von saurem schwefligsauren Kalium,
nicht zu bemerken.
Therapeutische Verwendung der Sulfite und Hyposulfite.
Polli vermeinte in der schwefligen Säure eine Substanz entdeckt zu haben,
welche, ins Blut aufgenommen, die es verändernden Fremdkörper (putride Stoffe)
unschädlich zu machen vermöge und so ein Heilmittel gegen die Entstehung und
Ausdehnung s. g. zymotischerErkrankungen abgebe. Da aber diese Säure
weder in Gas-, noch flüssiger Form dem Organismus in genügenden Mengen ein-
verleibt werden kann, so glaubte derselbe in den alkalischen und erdigen Sulfiten
das Mittel gefunden zu haben, die jener Säure zukommenden heilsamen Eigen-
schaften ohne Nachtheil gleichförmiger und intensiver zur Entfaltung zu bringen.
Er und viele andere Aerzte mit ihm (de Ricci, Cummins, Caparelli, Hayden,
Bürggrave, Spencer, Gritti u. A.) haben die Sulfite und Hyposulfite gegen
Blattern, Scharlach, abdominellen und Petechialtyphus, Cholera, Puerperalkrank-
heiten, Sumpffieber, Rotzerkrankung, Pyämie, Septikämie etc. zu innerlichem und
äusserlichem Gebrauehe empfohlen. Polli behauptete sogar, die rebellischesten
Malariafieber von jedem Typus mittelst schwefligsaurer Salze heilen zu können
und dass diese dem Chinin nicht nur an Wirksamkeit gleichkommen, sondern
dieses noch insoferne übertreffen, als die mit jenen Salzen behandelten Kranken
leichter und schneller sich erholten. Im Widerspruche damit stehen die bei P u e r-
peralk ranken gemachten Beobachtungen. Auch nicht der geringste Heilerfolg
und nur eine nachtheilige Beeinflussung des Krankheitsprocesses waren bei ihrer
Anwendung zu bemerken (Bernatzdx und G. Braun). Offenbar nach vielen, weiter
nicht mitgetheilten Misserfolgen scheint man nunmehr von der therapeutischen Ver-
wendung dieser Salze bei den genannten Krankheiten abgekommen zu sein. Nicht
besser scheint es mit der externen Anwendung der stark alkalisch reagirenden
Salze bei Bekämpfung putrider Localerkrankungen zu stehen. Selbstverständlich
vermögen diese Salze weder vom Blute , noch weniger von den alkalisch
reagirenden Jauchesecreten in der Art zersetzt zu werden, dass schweflige Säure
SCHWEFEL. 371
frei wird. Es ist daher schwer einzusehen, wie dieselben einen Nutzen bei
geschwürigen und gangränösen Processen zu stiften vermögen ; vielmehr muss
bei der Möglichkeit des Zustandekommens alkalischer Schwefelverbindungen eine
nachtheilige Wirkung bei derartigen Processen besorgt werden. Die von Polli
behauptete leichte Verträglichkeit intern angewandter schwefligsaurer Salze bei
Kranken, fand aber nach näherer Untersuchung der von ihm gelieferten Präparate
ihre natürliche Erklärung in der mehr oder weniger weit vorgeschrittenen
Umwandlung der schwefligsauren Salze zu Sulfaten (schwefelsaurem Natron
und schwefelsaurer Magnesia), zu welcher schon die Bildung der Formen, in
welche die Salze von ihm gebracht wurden, mit beitragen musste (Bernatäik
und Gr. Braun).
Natrum sub s u Ifur o s um s. hyposulfurosum , Hyposulfis Sodae; unter-
schwef ligsaures Natron, Antichlor; farblose Krystalle von bitter-salzigem, nachträglich
schwefligem Geschmacke , stark alkalischer Reaction , in Wasser leicht löslich. Die Lösung
setzt selbst in verschlossenen Gefässen Schwefel ab , es bildet sich schwefligsaures und bei
Zutritt von Luft schwefelsanres Natron: Auf Zusatz von Säuren scheidet sich sofort Schwefel
ab und der Geruch lässt erkennen, dass sich schweflige Säure gebildet habe. Die unter-
schweflige Säure vermag nicht für sieh zu bestehen, sie zerfällt sofort in jene Producte. Man
reicht das Natriumhyp o sulfit zu 0'5 — 10 p. d. 2 — 4mal im Tage in Mixtur- oder Syrup-
form (Zusatz saurer Syrupe bewirkt H2 S-Entwicklung und Trübung von abgeschiedenem S) ;
ausserdem fand es Verwendung zur Bereitung von Schwefelbädern (50'0 — 100 0 für ein Bad),
Waschungen, Einspritzungen (2 — 5:100 Aq.) und als Verbandflüssigkeit (1:5 — 10 Aq. et
Glycerin.), ohne oder mit Zusatz von Essig oder einer anderen Säure, zu dem Zwecke, um
schweflige Säure frei zu machen.
* N atrum sulf uro sum, Svlfis Sodae s.natricus; Schwefligsaures Natron.
Bildet eine in Wasser leicht lösliche , alkalisch reagirende , an der Luft durch Oxydation in
Glaubersalz sich umwandelnde Salzmasse. In Dosis und Form wie das Vorige, ebenso die
externe Anwendung. — Das saure schwefligsaure Natron (Natrum bisulfurosum)
erscheint in kleinen, nach schwefliger Säure stark riechenden, farblosen Krystallen, welche
unter Verlust ihrer Säure die gleiche Veränderung wie das Vorhergenannte erfahren. *Kali
bisulfurosum bildet harte, körnige, etwas schwerer lösliche, im Uebrigen sich gleich ver-
haltende Krystalle.
* Magnesia, sulfurosa, Sulfis magnesicus ; Schwefligsaure Magnesia
stellt ein krystallinisches, im Wasser schwer lösliches, fast geschmackloses Pulver dar, welches
mit Rücksicht auf seine Geschmacklosigkeit zweckmässig in Pulvern und Pastillen verordnet
wird. Unterschwefligsaure Magnesia ist sehr zerfliesslich und leicht zersetzlich.
Verbindungen des Schwefels mit Metalloiden. Nächst der
vom physiologischen und hygienischen Standpunkte bereits erörterten schwefligen
Säure und der Hydro thionsäure beansprucht noch der Schwefelkohlen-
stoff ein besonderes Interesse. Jodschwefel sowie Chlorschwefel sind von
geringer medicinischer Bedeutung.
* Carboneum sulfuratum, Sulßduni Garbonei vel Alkohol
Sulfuris , Schwefelkohlenstoff, Schwefelalkohol , Xanthogen. Eine sehr
flüchtige und leicht entzündliche Flüssigkeit, welche unter Verbreitung eines rettig-
artigen Geruches und beträchtlicher Wärmebindung verdunstet. Chemisch reiner
Schwefelkohlenstoff hat nicht den unangenehmen Geruch des käuflichen. Er löst
leicht Jod mit intensiv violettrother Farbe und dient so als Erkennungsmittel
desselben (VII, pag. 227), ausserdem Brom, Schwefel, Phosphor, Kautschuk, Gutta-
percha, viele Harze, fette und ätherische Oele. Auch salpetrige und schweflige
Säuren vermag er aufzunehmen, wodurch seine antiseptische Wirksamkeit bedeutend
erhöht wird. In seinem Verhalten zum Organismus äussert er sich nach Art der
narkotischen Gifte, wirkt anfänglich erregend auf die Nervenendigungen
des Vagus in den Lungen und auf das Athmungscentrum, später lähmend (Hiet,
s. auch Bd. V, pag. 505). In einem von Davidson mitgetheilten Falle von
Vergiftung mit mehr als 50 Grm. CS trat sehr bald Bewusstlosigkeit ein;
dabei Blässe des Gesichtes, Sinken der Temperatur, Lividität der Lippen und
Pupillenerweiterung. Der Athem roch stark nach dem Gifte. Kopfschmerz und
Schwindel hielten noch mehrere Tage nach Rückkehr des Bewusstseins an. —
Bei längerer Einwirkung auf die Haut setzt Schwefelkohlenstoff, ähnlich dem
24*
372 SCHWEFEL.
Chloroform , die Sensibilität derselben herab. Nach Einverleibung durch Haut
oder Lungen nimmt der Harn den Geruch darnach an ; ebenso lässt sich nach
dem Einbringen von xanthogensauren Salzen Schwefelkohlenstoff tage-
lang im Urin nachweisen (Buchheim). Wie die Xanthogen säure coagulirt auch
CS die Eiweisskörper und aus dieser Veränderung derselben leitet Zoller die
Tödtung lebender Zellen durch Schwefelkohlenstoff, sowie seine antiseptische
Eigenschaft und Verwendung zu Conservirungszwecken ab. — Therapeutisch
hat man ihn zur Bekämpfung verschiedener nervöser Leiden in Dosen von
2 — 5 Tropfen (O05 — 0*20) einigemal im Tage (am besten mit Milch, mit
der er sich gut mischt) empfohlen ; ausserdem zu Bepinselungen fauliger und
atonischer Geschwüre, zu Einreibungen bei Hautkrankheiten (eines der wirksamsten
Antijparasitica) , in Dampfform zur Tödtung von Ungeziefer und als Dampfdouche
mit und ohne Jod für die Behandlung gewisser Augen- und Ohrenerkrankungen
(Turnbull). Lewin glaubt die Xanthogensäure intern gegen Helminthiasis und
local bei parasitären Hautleiden verwenden zu können.
Die Xanthogensäure erleidet beim Erwärmen auf 25° eine Spaltung in
Schwefelkohlenstoff uucl Alkohol. Die mit der Säure vergifteten Thiere zeigen nach Lewin
eine exquisite Anästhesie und Analgesie zu einer Zeit, wo das Sensorium noch erhalten ist,
welche als Wirkung des abgespaltenen Schwefelkohlenstoffs zu betrachten ist, der dieselbe
frühzeitige Analgesie hervorruft Nach dem Tode ist im Blute der Hämatinstreifen wahr-
nehmbar. Xantho gensaure Alkalisalze fahren jedoch, subcutan eingebracht, nicht
zur C S- Abscheidung und tödtet xanthogensaures Kalium Kaninchen schon in Dosen von
0'3 — 1.0 in 1—2 Tagen ohne besondere Erscheinungen. Bei interner Einführung spaltet
die Salzsäure des Magensaftes Xanthogensäure ab und der Tod erfolgt nach 3—4 Grm. bei
diesen Thieren unter den Erscheinungen der C S-Vergiftung.
Die früher gedachte Schwefelwasserstoff säure, Acidum hy drosulfu-
ratum s. hydrothionicum , wird in gasförmigem Zustande, sowie in "Wasser gelöst, zu
Heilzwecken verwerthet. Man erhält sie einfach dnreh Zersetzen von Schwefeleisen oder anderen
Schwefelmetallen mittelst Säuren in Gestalt eines farblosen, widrig hepatisch riechenden,
Lackmus rothfärbenden Gases. Curmässig wird das aus Schwefelquellen frei ausströmende,
oder durch Erhitzen derselben in verschlossenen Behältern aufgefangene Gas (ein Gemeoge
von Schwefelwasserstoff-, Kohlensäure- und Stickgas, nebst "Wasserdampf und atmosphärischer
Luft in wechselnden Verhältnissen) verwendet. Man bedient sich gasförmiger Schwefelwasser-
stoffsäure zu Inhalationen bei chronischen Erkrankungen der Schleimhaut der Luftwege,
zur Einwirkung auf das Auge und den Gehörcanal bei gewissen Affectionen dieser Organe,
ausserdem in Form von Gas- und Dampfgasbädern. Wasser absorbirt bei gewöhnlicher
Temperatur 2'/2 Vol. der Säure. Das so gewonnene Schwefelwasserstoff-Wasser,
* Aqua hydrosulfurata s. hydrothionica vel hepatica, riecht und schmeckt stark dar-
nach, ist wenig haltbar und scheidet bei Zutritt von Luft Schwefel ab. Man hat es bis zu
ICO Grm. p. d. mit 1 — 2 Th. Wasser, Milch oder schleimigen Getränken bei Vergiftungen
mit Metallsalzen, in kleinen Dosen, genügend verdünnt, als Ersatzmittel natürlicher Schwefel-
wässer, wie auch zu Inhalationen empfohlen.
*Sulfur chlor a tum, Chlorschwefel, eine röthlich- gelbe, erstickende Dämpfe
ausstossende, schwere Flüssigkeit (1*6 spec. Gew.). Wird mit Schwefelkohlenstoff zur Erzeugung
gewisser Kautschukfabrikate verwendet. Reizt die Haut sehr stark und wirkt schädlicher
auf die Arbeiter als jener. Man hat den Chlorschwefel zum Bepinseln hartnäckiger, durch
Epiphitenbildung bedingter Hautleiden vorgeschlagen.
*Sulfur jodatum, Jodidum s. Joduretum Sidfuris, Jodschwefel, siehe
Bd. VII, pag. 234.
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Blutkiystalle. Jena 1871. — Regensburger, Zeitschr. f. Biolog. XII, 1876. — L. Lewin
(Xanthogensäure), Arch. f. path. Anat. u. Phys. 1879. 12. -r . + -i
Schwefelbergbad, Canton Bern, 1394 M. über Meer, in pittoresker Lage.
Die kalte Quelle, 1871 von Schwarzenbach analysirt, ergab in 10000: 22,8 festen
Gehalt, zumeist Kalksulphat, ferner 0,22 Gewicht Schwefelwasserstoff. Das Berg-
klima, Bewegung und Quelle sollen nicht selten bewirken, dass Curanden mit sehr
reichlicher Fettablagerung „aus den Kleidern fallen". B M L
Schwefelkohlenstoff, s. Schwefel, Schwefelpräparate, XII, pag. 371.
Schwefelsäure, s. „Säuren".
Schwefelwässer. Als Schwefelquellen werden jene Mineralwässer be-
zeichnet, welche als constanten, normalen Bestandtheil eine Schwefelverbindung,
entweder freien Schwefelwasserstoff und Kohlenoxydsulfid oder ein Schwefelmetall :
Schwefelnatrium, Schwefelcalcium , Schwefelmagnesium, Schwefelkalium oder beide
zusammen enthalten. Die übrigen Bestandtheile dieser Mineralwässer können sehr
verschieden sein ; zuweilen sind Erdsalze oder Kochsalz vorherrschend , zuweilen
der Gehalt an fixen Bestandtheilen überhaupt kein grosser. Wässer, in welchen
sich durch zufällige Beimengung organischer Substanzen Schwefelwasserstoff
bildet , können nicht als Schwefelwässer bezeichnet werden.
Die Quellen dieser Gruppe können kalt oder warm sein. Ihr Gehalt au
Schwefel — an Wasserstoff oder an Metalle gebunden — schwankt von O'OOl
in 1000 Theilen Wasser bis zu 0*093 (Mehadia). Sie sind farblos, trüben sich
kurze Zeit nach Zutritt von Luft und erhalten ein milchiges Aussehen, schmecken
je nach ihrer Zusammensetzung erdig oder salzig und haben mehr oder weniger
den eigenthümlichen Schwefelwasserstoffgeruch nach faulen Eiern. Die Trübung der
Schwefelwässer in der Luft hat in Zersetzung derselben ihren Grund ; sie setzen
nämlich bei Berührung in der Luft einen Theil freien Schwefels ab. Der Wasser-
stoff des Schwefelwasserstoffs wird oxydirt, wodurch Schwefel in Substanz abgesetzt
wird; ebenso lassen die Schwefelmetalle durch Oxydation einen Theil ihres
Schwefelgehaltes fahren.
Die meisten kalten und warmen Schwefelquellen entspringen in jüngeren
Formationen und meist in den Kalkgebilden derselben, die sich durch mehr oder
weniger grosse Gypslagen und organische Ueberreste einer untergegangenen Flora
oder Fauna auszeichnen. Dieses Zusammensein des Gypses mit den fossilen Ueber-
resten organischer Körper giebt eben Veranlassung zur Bildung von Schwefelwasser-
stoff. Bei Anwesenheit von Wasser vermögen sich nämlich die organischen Körper
auf Kosten des Sauerstoffes des Gypses zu oxydiren und in Kohlensäure umzuwandeln •.
das Gyps geht in Schwefelcalcium über , dieser wird in Folge der Kohlensäure
und des Wassers zerlegt, es bildet sich kohlensaurer Kalk und Schwefelwasserstoff.
Manche Schwefelthermen enthalten eine eigenthümliche stickstoffhaltige
Substanz, die Baregine, welche aus der Zersetzung einer Schwefelconferve hervor-
geht die sich längs des oberflächlichen Laufes des Thermalwassers findet.
In jüngster Zeit hat Than in den Schwefelquellen eine Substanz entdeckt,
welche nicht Schwefelwasserstoff ist, sondern zur Bildung desselben Veranlassung
giebt, das Kohlenoxydsulfid, eine Kohlensäure, in welcher ein Atom Sauerstoff
durch Schwefel vertreten ist. Man unterscheidet nach dem Vorgange von Reumont
die Schwefelwässer in drei Classen:
1. Schwefelkochsalzwässer, welche ausser Schwefel Verbindungen
vorwiegend Kochsalz, zuweilen in ziemlich bedeutender Menge enthalten. Die meisten
sind Thermen, wie Aachen, Baden in der Schweiz, Burtscheid, Mehadia,
Piätigorsk, Uriage, nur wenige sind kalte Quellen, wie Szobrancz
und Weilbach. Diejenigen Schwefelwässer dieser Gruppe, welche beträchtliche
374 SCHWEFELWÄSSER.
Mengen von kohlensaurem Natron enthalten (Aachen, Burt scheid, Weilbach,
Hark an y) hat man als alkalische Schwefelquellen bezeichnet und mit Recht ihre
leichtere Verdaulichkeit hervorgehoben.
2. Seh wefelkalk wässer, welche vorzugsweise schwefelsauren und
kohlensauren Kalk, zuweilen auch Chlorcalcium und Kochsalz enthalten. Zu den
durch hohe Temperatur ausgezeichneten Quellen dieser Gruppe gehören Baden bei
Wien, Grosswardein, Pystjan, Schinznach, T r e n t s c h i n, W a r a s d i n ;
zu den kalten Quellen Eilsen, Langenbrücken, Meinberg, Nenndorf,
Wipfeld. Als salinische Schwefelkalkwässer werden speciell jene Wässer be-
zeichnet, welche grössere Mengen schwefelsaures Natron und schwefelsaure Magnesia
enthalten, wie Grosswardein, Meinberg, Nenndorf, Schinznach.
3. Schwefelnatriumwässer, die meist nur sehr geringe Mengen
fester Bestandtheile enthalten und sich in dieser Richtung den Akratothermen
nähern und auch den Schwefelwasserstoff in Spuren aufweisen. Der Schwefel ist
in ihnen hauptsächlich an Natrium gebunden. Einige dieser Quellen enthalten
ziemlich viel Stickstoff; fast alle sind durch hohe Temperaturgrade ausgezeichnet.
Hierher gehören die Schwefelthermen der Pyrenäen, wie Amelie les bains,
Bagneres de Luchon, Bareges, Cauterets, Eaux bonnes, St. Sauveur,
le Vernet.
Die Schwefelwässer werden zu Trink- und Badecuren, sowie zur Inhalation
benützt. Die physiologische Wirkung der Schwefelwässer beruht zumeist auf jener
des Schwefelwasserstoffes. Die Schwefelalkalien , wie Schwefelnatrium , Schwefel-
magnesium und Schwefelcalcium werden im Magen durch die freie Säure des
Mageninhaltes so zersetzt, dass sich Schwefelwasserstoff bildet, während Schwefel-
milch ausgeschieden wird. Der Einfluss des Schwefelwasserstoffs kommt bei der
balneotherapeutischen Verwerthung der Schwefelwässer auf dreifachem Wege zur
Geltung : durch Resorption von der Magenschleimhaut, durch Einathmung des Gases
und durch Absorption mittelst der Haut.
Die Einwirkung des Schwefelwasserstoffes auf den Stoffwechsel ist noch
nicht gänzlich aufgeklärt und seine Wirkung in den Schwefelwässern zu beurtheilen
um so schwieriger, als er hier zumeist mit anderen Gasen gemischt vorkommt,
namentlich mit Stickstoff, Kohlenwasserstoff und Kohlensäure. Im Allgemeinen
nimmt man an, dass der Einfluss des Schwefelwasserstoffes ein den Zerfall der
Blutkügelchen begünstigender sei, class er hauptsächlich die rückbildende Seite der
Stoffmetamorphose anrege und auf die Ernährung verlangsamend wirke.
Die Empirie zeigt beim Gebrauche der Schwefelwässer zu Trinkcuren:
Anregung der Darmthätigkeit, Vermehrung der Gallensecretion,
dadurch freiere Blutbewegung in der Pfortader und Leber, Vermehrung der
schwefelsauren Salze im Harne, die parallel mit der Vermehrung des Harnstoffes geht.
Darauf stützt sich die Indication der inneren Anwendung der Schwefelwässer:
bei abdominaler Plethora, hyperämischen Zuständen der Leber
und davon abhängigen Affectionen anderer Organe , ferner bei chronischen
Metall-Intoxicationen (Mercurial- und Bleivergiftungen). Das rasche Durch-
drungenwerden der Gewebe von dem in Magen und Darmcanal aufgenommenen
Schwefelwasserstoff macht eine Lösung von Metallalbuminaten und Eliminirung der
metallischen Moleküle durch die Leber in den Harn nicht unwahrscheinlich.
Chronische Bronchialcatarrhe finden durch den Gebrauch der Schwefel-
wässer Besserung , wenn die Blutcirculation in den Brustorganen durch Blut-
stockungen im Unterleibe behindert ist.
Nicht ausser Acht zu lassen ist bei allen Curen mit Schwefelwässern,
dass diese die Ernährung herabsetzen, dass sie darum nicht für Individuen passen,
deren Verdauung gestört ist oder die sehr entkräftet sind. Die Diät muss diesem
Umstände speciell Rechnung tragen.
Als Bäder angewendet üben die Schwefelwässer einen intensiven Reiz
auf das Hautorgan, bewirken erhöhten Turgor, vermehrte Ausdünstung und
SCHWEFELWÄSSER. 375
Epidermisabstossung. Die hohe Temperatur der Schwefelthermen steigert diese
die Hautfunction erhöhende und die Resorption mächtig anregende Thätigkeit.
Darum finden Schwefelbäder ihre Anzeige bei chronisch rheumatischen
Affectionen, bei chronischen Exanthemen, bei Folgezuständen
traumatischer Verletzungen, Scrophulose und Syphilis, bei
Neurosen motorischer und sensibler Art.
An eine „specifische" Wirkung der Schwefelwässer gegen Syphilis
oder ihre Fähigkeit „latente Syphilis wieder sichtbar zu machen" und demgemäss
an ihren diagnostischen Werth für zweifelhafte Fälle wird jetzt nirgends mehr
gedacht. Die Wirksamkeit der Schwefelthermen ist hier nur eine analoge der
anderer Thermen, Akratothermen und Soolthermen, indem sie in machtvoller
Weise die Hautthätigkeit anregen. Was aber den inneren Gebrauch der Schwefel-
wässer bei Syphilis betrifft, so hat er nichts vor den Trinkcuren mit Glaubersalz-
wässern voraus , welche in gleicher Weise die Ausscheidungen anregen und den
Stoffwechsel fördern.
Die Inhalation der Schwefel wässer erzielt ähnliche Wirkungen auf
der Schleimhaut des Respirationstractes : vermehrte Secretion, Auflockerung des
Gewebes, Epithelialabstossung und ist darum besonders bei chronischem Catarrh
des Larynx, der Trachea und der Bronchien, sowie des Pharynx
i n d i c i r t.
Zum Trinken werden die Schwefel wässer entweder rein oder gemischt
mit Milch , Molken , Bitterwasser , abführenden Salzen , Haferschleim und Gummi-
syrup getrunken. Die Dosis schwankt zwischen 150 bis 1350 Gramm, meist Morgens
nüchtern getrunken.
Die Schwefelbäder werden zumeist mit einer Temperatur von 33 bis 36° C.
genommen, zuweilen aber bis 42° C. Wo kalte Schwefelwässer zum Baden
erwärmt oder umgekehrt hochgradige Schwefelthermen zu diesem Zwecke abgekühlt
werden müssen , sind balneotechnische Einrichtungen noth wendig , dass die Gase
und die Schwefelleber dem Einflüsse der Luft so wenig als möglich ausgesetzt
werden. Die Dauer der Schwefelbäder beträgt durchschnittlich eine halbe Stunde,
doch sind an einigen Schwefelquellen, wie in Schinznach , Baden in der Schweiz,
prolongirte 3 — 4 Stunden dauernde Bäder üblich ; in den heissen ungarischen
Bädern, wie in Pystjan, lässt man 15 bis 20 Minuten lang baden. An manchen
Orten ist zweimaliges Baden täglich üblich. Mit den allgemeinen Bädern sind
zumeist allgemeine und locale Douchen, herabfallende und aufsteigende, sowie
schottische (abwechselnd kalt und warm) verbunden. Nach dem Bade wird Ruhe
durch 1 — 2 Stunden empfohlen , um die anregende Wirkung auf die Haut durch
längere Zeit fortzusetzen.
In manchen Schwefelbädern, so in Ungarn, der Schweiz, den Pyrenäen-
bädern, ist noch das gemeinschaftliche Baden in Spiegelbädern, Piscinen
üblich, ein unter allen Umständen verwerflicher Gebrauch. An anderen sehr
wasserreichen Schwefelquellen sind grosse Schwimmanstalten zu medicinischen
wie gymnastischen Zwecken angerichtet. Das Material für die Badebassins liefern am
zweckmässigsten Cement oder Marmor, obgleich noch häufig genug die unreinlichen
Holzwannen gefunden werden.
Mit den Schwefelbädern sind allgemein Dampf- und Dampfgasbäder in
Verbindung. An den Schwefelthermen werden die natürlichen, aufsteigenden Dämpfe
und Gase in Kästen geleitet, in welche sich der Patient mit Ausschluss des Kopfes
setzt ; bei den kalten Schwefelwässern werden die Wasserdämpfe durch die künstliche,
Erwärmung gewonnen. Die Dampfbäder der französischen Schwefelthermen sind
meist in ihrer Einrichtung den altrömischen Schwitzbädern nachgebildet.
Die schwefelwasserstoffhaltigen Dampfbäder werden auch zu Inhalationen
verwerthet. Zu demselben Zwecke findet auch eine Zerstäubung des Schwefel-
wassers mittelst eigener Apparate statt. Zuweilen sind eigene Vaporarien,
grosse Räume für ein längeres Verweilen in der Dunstatmosphäre eingerichtet.
SCHWEFELWÄSSEK. — SCHWEFELWASSERSTOFF.
In französischen Bädern befinden sich Vorrichtungen (Gargarisoirs i für Gurgeln
mit Schwefelwasser.
Grossen therapeutischen Wertk haben die Schwefelmoor- oder
Schwefelschlammbäder, zu denen die mit Schwefelwässern getränkten Torf-
moore oder die Niederschläge der Schwefelthermen benützt werden. Wenn Schwefel-
in Moorgründen entspringen, oder durch dieselben ihren Abfluss nehmen,
so entstehen natürliche Schwefelschlammbäder : es kann aber Moorerde auch
künstlich durch längere Zeit der Einwirkung des Schwefelwassers ausgesetzt und so
zur Erzeugung von Schwefelmoorbädern Veranlassung gegeben werden. Die Haupt-
indicationen für diese Schwefelschlammbäder und Moorbäder bilden die chronisch-
rheumatischen Gelenksexsudate, Lähmungen mit Contractu ren,
Neuralgien etc. (Näheres siehe den Artikel „Moorbäder'.
Uebersicht der bekannteren Schwefelwässer nach ihrem Schwefel-
sr ehalte in 1000 Theilen Wasser:
Aachen .
Aix-les-Bains .
AniL'lie les Bains
Burtscheid . .
Baden bei Wien .
Baden in der Schwe
Bareges . .
Eilsen .
Eaux-Bonnes .
Gurnigel
Harkany . .
Landeck .
Langenbrücken
Leber sieht der S
Aachen ....
Aix-les-Bains .
Baden bei Wien
Baden in der Schweiz
Bareges ....
Burtscheid
Eaux Bonnes
Eusrenäische Thermen
0-0056 Luchon 0-0310
0-0389 Le Vernet 0-0172
00049 Mehadia 0*0936
0*0007 Meinberg 0*0366
0-0117 Nenndorf 0-0007
0-0025 Pystjan 0-0219
0-0173 Saint Sauveur 0-0089
0*0578 Schinznach 0-0576
0-0086 Stachelberg 0-0597
0-0243 Trenchin 0-0021
0-0099 Warasdin 0*0071
0-0016 Weilbach 0-0073
0-0135 Wipfeld 0-0371
chwefelthermen nach ihrer Temperatur:
37— 55° C. Harkanv 62'5°C.
Luchon' 46° C.
Mehadia 44° C.
Pystjan 57-5— 63-7° C.
Schinznach .... 25— 34<> C.
Trenchin 40° C.
Warasdin 56° C.
34— 36° C.
33° C.
46-8° C.
32° C.
48— 59 °C.
26-5° C.
24— 68° C.
Kisck.
Schwefelwasserstoff- (Kloakengas-) Vergiftung (forensisch). Indem
wir bezüglich der allgemeinen Eigenschaften des Schwefelwasserstoff"- und
Kloakengases auf den Artikel „Gase" (Bd. V, pag. 504), sowie auf jenen über
,. Städtereinigung" verweisen, wollen wir uns auf die Erörterung der gerichts-
ärztlichen Bedeutung dieser Vergiftung beschränken. — Vergiftimg mittelst reinen
ELS-Gases ist wohl noch nie Gegenstand einer gerichtsärztlichen Expertise
gewesen: es lassen sich aber die durch Versuche an Thieren mittelst dieses
Gases gewonnenen Resultate nicht ohne Weiteres auf Menschen übertragen, welche
der Einwirkung eines H2S-haltigen Gasgemenges erlegen sind, und der
Nichtbeachtung dieses Unterschiedes haben wir die divergirenden Ansichten zu
verdanken, welchen man hinsichtlich der Vergiftungserscheinungen und Leichen-
veränderungen begegnet, und welche die Diagnostik der BUS- im Gegensatze zu
jener der CO-Vergiftung so unsicher und schwankend erscheinen lassen. — Wenn
wir von der Selbstinfection durch Bildung grosser Mengen von H2 S-Gas im
Darme von Menschen, welche an Verdauungsstörungen leiden (Emmixghaüs,
S exatoe i absehen , da dieselbe forensisch nicht in Betracht kommt , so sollte
SCHWEFELWASSERSTOFF. 377
man glauben , dass Individuen , welche in Schwefelwerken beschäftigt sind , am
häufigsten von reinem H2 S-Gase zu leiden hätten ; dies scheint jedoch nicht der
Fall zu sein, wenigstens war die Angabe Hirt's x) bezüglich des Schwefelwerkes
Swoszowice (bei Krakau) richtig, dass daselbst Todesfälle in Folge des inhalirten
Gases nicht beobachtet worden- sind und dass nur leichte Intoxicationen ausser-
ordentlich häufig vorkommen. Allein schon wenige Wochen nach dem Erscheinen
der HiRT'schen Arbeit trat (am 23. Mai 1874) in dem erwähnten Schwefel-
bergwerke eine Katastrophe ein, in welcher fünf rüstige Männer einen jähen Tod
fanden. 2) Von sechs Arbeitern , welche des Nachts in den Schacht eingefahren
waren, und zuvor das aus einem oberen Horizonte abfliessende Schwefelwasser
eingedämmt hatten , um in den tieferen Horizonten ungestört arbeiten zu können,
fanden fünf des Morgens den Tod, während der sechste sich retten und als Augen-
zeuge den Hergang schildern konnte. Seiner Aussage zufolge wurden die Berg-
leute während der Arbeit von einem aus dem zuvor eingedämmten Horizonte
herrührenden Wassersturze überrascht und sofort sollen bei ihnen Erstickungs-
erscheinungen eingetreten sein. Durch eine verhängnissvolle Verkettung von
Umständen kam trotz der Anstrengungen des Ueberlebenden die Hilfe zu spät.
Bei der zwei Tage darauf vorgenommenen gerichtlichen Obduction fand ich an
allen fünf gut erhaltenen Leichen Todtenflecke von gewöhnlicher Farbe, besonders
am Gesichte und Nacken ausgebildet , acutes Lungenödem , starke Füllung der
Blutleiter der harten Hirnhaut , Hyperämie der Bauchorgane , das Blut flüssig,
dunkel- und in dünneren Schichten hellkirschroth , die mikroskopische , chemische
und spectrale Untersuchung desselben wies nichts Specifisches nach. Da der
Ertrinkungstod ausgeschlossen werden konnte, war nur an die locale Einwirkung
einer irrespirablen Gasart zu denken ; die Montan-Sachverständigen erklärten, in dem
Bergwerke könne nur von H2 S-Gas die Rede sein und doch konnte auf Grund
des Leichenbefundes eine Vergiftung durch dieses Gas nicht mit Bestimmtheit
diagnosticirt werden.
Dagegen sind schon Vergiftungsfälle durch Einwirkung von Gas-
gemengen, deren wichtigster Bestandtheil H2 S ist, bei in verschiedenen
industriellen Etablissements beschäftigten Arbeitern vorgekommen. Hierher gehört
der von Casper beschriebene Fall 3), welcher zehn Männer betrifft, die in einer
grossen Lohgerberei in Berlin verunglückten und von denen 6 der H2 S-Ver-
giftung erlagen; — ferner der von Hirt (1. c. pag. 433) erwähnte Todesfall eines
in Barmen bei der Fabrikation von schwefelsaurem Baryt beschäftigten Arbeiters,
sowie der von Eulenberg 4) beschriebene , unentschieden gebliebene Todesfall
eines bei Schwefelsäurefabrikation verunglückten Arbeiters. Viel häufiger ereignen
sich nicht letal verlaufende Fälle von Vergiftungen mittelst der in Rede stehenden
Gasgemenge besonders bei Gerbern.
In forensischer Hinsicht verdient die Vergiftung durch Einathmung von
Kloakengas besondere Aufmerksamkeit , weil sie relativ häufiger vorkommt.
H2 S, NH3 und C02 sind die wichtigsten Bestandtheile dieses Gasgemenges,
welches sich überall bildet, wo organische Substanzen, besonders bei gehindertem
Zutritte der atmosphärischen Luft , faulen ; selbstverständlich sind Mistgruben,
Abtritte und Kloaken die vorzüglichsten Bildungsstätten dieses Gemenges, welches
dann besonders bei schnellem Temperaturwechsel (Eulenberg 5) aufsteigt und
nicht nur durch seinen charakteristischen Geruch sich geltend macht, sondern
auch für die Hausbewohner gefährlich werden kann. — So hat Finkelnburg 6)
eine durch Kloakengas hervorgerufene Hausepidemie beobachtet. Die bekannte
Thatsache, dass das quantitative Verhältniss der einzelnen das Gasgemenge
constituirenden Gase theils von der grösseren oder geringeren Menge des in der
Kloake befindlichen Kothes oder Urines , theils von dem Umstände abhängt , ob
die Fäces von Individuen herrühren , welche mehr Fleisch- oder Pflanzennahrung
zu sich nehmen, erklärt zur Genüge, weshalb die Vergiftungserscheinungen, welche
in Folge der Einwirkung des Kloakengases sich einstellen, so verschiedenartig
378 SCHWEFELWASSERSTOFF.
sich gestalten. Und gleichwie die Kanalräumer beim Reinigen der Abtritte in
Nonnenklöstern , Waisenhäusern , Gefangnissen und in den von Proletariern
bewohnten Häusern (Eülenberg) viel seltener der schädlichen Einwirkung des
Kloakengases ausgesetzt sind als in Gruben , welche von wohlhabenderen Volks-
classen benutzt werden, — so wissen sie auch zwei Reihen von Vergiftungs-
symptomen zu unterscheiden, welche eintreten, je nachdem im Gasgemenge H2S
oder NH3 vorwiegend enthalten ist, indem sie von jeher die eine le plomb
(chanter le j>lomb) , die andere la mitte nennen. Letztere ist die beiweitem
weniger gefährliche , da sie höchstens eine mehrtägige Gesundheitsstörung im
Gefolge hat ; dagegen treten beim Vorwiegen des H2 »S-Gases und beim Vor-
handensein grösserer Mengen desselben sehr ernste Symptome auf und der Verlauf
ist oft ein so rapider, dass die schleunigste Hilfe nicht nur den letalen Ausgang
nicht hintanhalten kann , sondern auch, wie in den von Casper, sowie auch von
mir beschriebenen Fällen 7) , dem Retter Verderben bringt. Diese Fälle sind es
auch, welche Gegenstand der gerichtsärztlichen Expertise werden.
Haben wir die Leiche eines Menschen vor uns, welcher aus einer
Kloake gezogen wurde, so müssen wir erwägen: 1. ob die Umstände des Falles
dafür sprechen , dass das Individuum zufällig in die Kloake gelangte oder
absichtlich in dieselbe gestürzt wurde uud ob es entweder in Folge des Sturzes
von einer bedeutenden Höhe oder den Ertrinkungstod gestorben, und 2. ob wir es
mit einem Individuum zu thun haben, welches in die Kloake, um dieselbe zu
räumen , gestiegen und todt hervorgeholt worden ist. Die Fälle der ersten
Kategorie haben mit dem Vergiftungstode nichts gemein ; wir finden nämlich
entweder schwere Verletzungen , welche die Todesursache hinlänglich erklären
oder wir begegnen aspirirten und verschluckten Kloakenstoffen in den Athmungs-
und Verdauungswegen , mitunter auch im Mittelohre und können uns für den
Ertrinkungstod aussprechen. Zumeist sind es Neugeborne , welche von ihren
Müttern in den Abort geworfen wurden , aber auch Erwachsene , welche zufällig,
zumal in betrunkenem Zustande , in eine Kloake geriethen und entweder durch
Sturz oder Erstickung umkamen ; Tod durch Kloakengasvergiftung dürfte bei
ihnen kaum je sich ereignen. Hingegen erscheint diese Todesart im Vorhinein
bei der zweiten Kategorie von Fällen als sehr wahrscheinlich, wenngleich auch
die Möglichkeit keineswegs auszuschliessen ist , dass auch bei Manchem dieser
Verunglückten Erstickung, resp. Ertrinken, die unmittelbare Todesursache abgiebt,
da sie, einmal in die Kloake gelangt, vom Gasgemenge betäubt hinstürzen und
durch den Contact mit Fäcalmassen ersticken , resp. ertrinken, konnten. Der
Nachweis aspirirter oder geschluckter Kloakenstoffe ist dann für den Erstickungs-
resp. Ertrinkungstod, als unmittelbarer Todesursache, entscheidend , während der
Mangel solcher Stoffe in denAthem- und Verdauungswegen bei Individuen, welche
in der Kloake, in welche sie, ihrem Berufe folgend, hinabgestiegen, einen jähen
Tod gefunden haben, zur Annahme berechtigt, dass sie den Vergiftungstod gestorben
sind. Solche Fälle sind ausschliesslich bei Zusammenstellung der Leichen-
veränderungen, welche auf Rechnung der Kloakengasvergiftung zu setzen
wären, zu verwerthen.
Dem Gesagten zufolge ist es klar, dass diese Veränderungen nicht
mit jenen zu identificiren sind, welche durch Vergiftung mit reinem H2S-Gase
gesetzt und zumeist an Thieren hervorgerufen und beobachtet wurden. Es
ist das Verdienst Tamassia's in Pavia8), in einer gründlichen experimentellen
Studie auf diesen Unterschied hingewiesen zu haben, und die Diagnostik der H2S-
und Kloaken Vergiftung hätte unstreitig viel dadurch gewonnen, wenn diese Arbeit
nach Gebühr gewürdigt worden wäre.
Leichen, welche aus Kloaken hervorgeholt werden, bringen gewöhnlich
an de» Kleidungsstücken und an ihrem Körper reichliche Spuren des Grubeninhaltes
mit , es ist daher natürlich , dass sie einen sehr widrigen Gestank verbreiten,
welcher aber verschwindet, sobald der Körper entkleidet und gereinigt auf den
SCHWEFELWASSERSTOFF. 379
Obductionstisch gelangt ; ich habe wenigstens nie einen H2S-Geruch wahrgenommen,
welcher von der Leiche selbst ausgehen oder gar für die Umgebung gefährlich
sein sollte. Tamassia und Lewin (s. u.) geben zwar an, bei mit reinem H2S-
Gase getödteten Thieren nach Eröffnung der Brusthöhle den specifischen Geruch
verspürt zu haben 5 Ersterer fügt aber selbst hinzu, dass dieser Geruch nach Eintritt
der Fäulniss jede diagnostische Bedeutung verliert, was in noch höherem Grade
bei Kloakengasvergiftung der Fall ist, da man gewöhnlich faulende Leichen vor
sich hat. Bezüglich der Fäulniss behauptet Tamassia, dass dieselbe durch reines
H2S-Gas nicht nur nicht beschleunigt, sondern im Gegentheile verzögert wird, und
dass der schnellere Eintritt derselben bei durch Kloakengas Verunglückten auf
Rechnung des N H3 zu setzen sei. Bei einigen durch Kloakengas Verunglückten
fand ich ungewöhnlich rasch vorgeschrittene Fäulniss, was sich nicht nur aus der
Einwirkung des NH3, sondern auch daraus zur Genüge erklären lässt , dass die
Leichen einige Zeit in der Kloakenjauche gelegen hatten und darauf bis zur
Obduction der Einwirkung der atmosphärischen Luft ausgesetzt waren ; die
Einwirkung der Jauche manifestirte sich auch darin, dass die Fäulniss in
umgekehrter Richtung vorzugsweise vom Kopfe aus, also analog dem Gange,
welche sie , wenngleich keineswegs constant , aber häufig bei "Wasserleichen
einzuhalten pflegt.
Die Leichenstarre bietet nichts Auffallendes dar; die Todtenflecke
haben frühzeitig eine schwärzlich- grünliche Färbung (Tamassia); das Blut ist
flüssig, dunkelkirschroth bis tintenschwarz; die mikroskopische Untersuchung weist
bei Kloakengasvergiftung zumeist zusammengeschrumpfte , zerfallende rothe Blut-
körperchen nach. Dieser Befund ist jedoch nicht maassgebend, weil er auch Folge
der Fäulniss sein kann; wichtiger wäre der bei reiner H2S -Vergiftung und an
nicht faulenden Leichen aufgenommene , allein da begegnen wir gerade wider-
sprechenden Angaben ; so fand Hofmann 9) selbst an frischen Leichen und bei
Thierversuchen keine Zerstörung der Blutkörperchen, während Tamassia wohl die
weissen Blutzellen unverändert sah, während die rothen sich als gerunzelt, viereckig
oder oblong , meistenteils verkleinert und geschrumpft erwiesen. — : Ueber die
Frage, ob H2S-hältiges Blut ein eigenes, zu diagnostischen Zwecken verwerthbares
Spectrum zeige, ist viel geschrieben und gestritten worden. Eulenberg 5),
(pag. 313) behauptet, dass von den verschiedenen mit Blut gemischten Gasen nur
H2S-Gas ein besonderes Spectrum liefere, indem ausser den beiden Blutbändern
noch ein dritter Streifen- im Roth sich zeigt, wenn das Blut hinreichend mit H2S-
Gas imprägnirt ist, — fügt aber hinzu, dass weitere Erfahrungen lehren müssen,
ob das H2S-Spectrum auch für die gerichtsärztliche Praxis Bedeutung erlangen
und es überhaupt möglich werden wird, im Blute der durch H2S- oder Kloaken-
gas Vergifteten dasselbe nachzuweisen. In einer späteren Arbeit4) (pag. 221)
jedoch tritt er entschiedener für die Verwerthbarkeit des Spectrums ein , indem
er erklärt: „Ein positiver Beweis für den Tod durch Schwefelwasserstoff kann
überhaupt nur in der frischen Leiche mittelst der spectroskopiscken Untersuchung
geliefert werden." Hoppe- Se yler 10) giebt an, dass sauerstoffhaltiges Blut durch
H2S schnell reducirt wird und dass nach der Reduction eine Zersetzung des
Hämoglobins eintritt, wobei ein dem Hämatin verwandter Farbstoff zum Vorschein
kommt, welcher einen Absorptionsstreifen im Roth zwischen G und D zeigt
(Schwefelmethämoglobin). Nach Preyer n) tritt nach Erwärmung einer gesättigten
mit Krystallen von Oxyhämoglobin versetzten H2S-Lösung neben den beiden
Oxyhämoglobinstreifen ein dritter im Orange auf, wobei die ersteren in Bälde dem
einen Streifen des reducirten Hämoglobins Platz machen ; wird nun diese Lösung ab-
gekühlt, so sondert sich ein grüner, amorpher, eiweissartiger Körper ab (Hämathion).
Hofmann (I. c.) ist der Ansicht, dass zur Erzeugung dieses Spectrums ein sehr
hoher H2S-Gehalt des Blutes nothwendig ist, zu welchem es bei H2S- Vergiftungen
niemals kommen kann; auch Tamassia hat selbst bei Thieren, welche er durch
subcutane Injection starker Dosen von mit H2S gesättigtem, destillirten Wasser
380 SCHWEFELWASSERSTOFF.
vergütet Latte, nur einen negativen Befund seitens der Spectralanalyse des Blutes zu
verzeichnen. Hingegen ist es Lewin in Berlin 12) gelungen, in einer Reihe interessanter
Versuche den Nachweis zu liefern, dass das H2S-Spectrum (der Sulphohämoglobin-
streifen) nicht nur bei Fröschen, sondern auch bei Kaninchen, Katzen und Hunden
auftritt, wenn der H2S in statu nascendi auf das Oxyhämoglobin einwirkt; spritzte
er nämlich diesen Thieren (ersteren O025 — 0-05, letzteren 0-2 — 0-4) Natrium-
sulphantimoniat (Schlippe'sches Salz) subcutan oder gar unmittelbar in ein Blut-
gefäss ein, so kam schon nach 10 — 15 Minuten intra vitam oder post mortem
im Blute der charakteristische Streifen bei D jedesmal zum Vorschein, war noch
nach 14 Tagen zu sehen und konnte selbst durch Einleitung von 0 oder CO in
das Blut nicht zum Verschwinden gebracht werden : aber auch dann , wenn dem
Körper entnommenes, selbst CO-haltiges Blut mit Schlippe'schem Salze versetzt
wurde, war der Sulphohämoglobinstreifen sichtbar. — Allein auch diese schöne
Arbeit hat für die gerichtliche Medicin nur einen negativen Werth, insofern sie
beweist, dass das H2S-Spectrum nur in Fällen auftritt, welche ausser dem Bereiche
einer gerichtlichen Intervention liegen, und es muss daher die gerichtsärztliche
Diagnostik der H2S-, resp. Kloakengasvergiftung im Gegensatze zu jener der CO-
Vergiftung der Unterstützung seitens der Spectralanalyse entbehren und wahr-
scheinlich auch entsagen. — Der eigenthümlichen Farbe des Blutes entsprechend,
finden wir auch das Gehirn schwärzlichgrün verfärbt. Sowohl die Mark- als Rinden-
substanz, in höherem Grade die letztere, erscheint zumeist blaugrau (Tamassia)
bis dunkelschmutziggrün, letztere hellgrün ; diese Färbung ist besonders bei frischen
Leichen auffallend, weil sie dann nicht als Theilerscheinung der Fäulniss angesehen
werden kann , und als durch die Farbenveränderung des Blutes bedingt erklärt
werden muss. Eine ähnliche oder wie immer auffallende Färbung anderer Organe,
wie der Lunge, des Herzens, Leber und Milz, wie sie von manchen Autoren
(Eulenberg, Seidel13) angegeben wird, konnte ich nicht wahrnehmen; ebenso-
wenig fand ich an den Lungen hämorrhagische Infarcte und subpleurale
Ecchymosen, wie sie nach Tamassia der H2S- Vergiftung zukommen. Auch das
Herz zeigte in meinen Fällen keine Verfärbung, dafür war es matsch (nicht
contrahirt, wie Tamassia irrthümlich meinem Rerichte entnommen hat), blutleer;
in anderen Fällen hingegen war die rechte Kammer stark gefüllt. Die Baue h-
eingeweide bieten nichts Auffallendes dar.
Aus dem Gesagten ist zu ersehen, dass wir ausser der ungewöhnlich
dunkeln Farbe des Blutes und der grünlichen Verfärbung des Gehirnes (letztere
auch nur bei nicht stark faulenden Leichen verwerthbar) bis nun zu keine für
die H2S-, resp. Kloakengasvergiftung charakteristischen Veränderungen kennen,
dass somit die Diagnostik dieses Vergiftungstodes noch auf schwachen Füssen ruht.
Dieser Thatsache gegenüber ist es erfreulich, dass derartige Unglücksfälle verhältniss-
mässig selten vorkommen und dass dann die Diagnose unter Berücksichtigung der
näheren Umstände und Ausschluss anderer Todesursachen doch mit allergrösster
Wahrscheinlichkeit gestellt werden kann.
Literatur: *) Hirt, Handb. der öffentl. Gesundheitspfl und der Gewerbekrankk.
vonGeigel, Hirt und Merkel. Leipzig 1874, pag. 437. — ') Blumenstok, Katastrophe
in einem Bergwerke. Przeglad Lekarski 1880 (polnisch). — 3) Casper-Liman, Handb. der
ger. Med. VI. Aufl. Bd. IL pag. 593. — *) Eulenberg, Vierteljahrsschr. für ger. Med.
1876, Bd. XXV, pag. 209—228. — 5) Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen und
giftigen Gasen. Braunschweig 1865. — 6) Einkeinburg, Ein Beitrag zur Kenntniss der
Kloakengasvergiftungen. Vierteljahrsschr. für ger. Med. 1874, Bd. XX, pag. 301 — 308. —
7) Blumenstok, Zur Lehre von der Vergiftung durch Kloakengas. Vierteljahrsschr. für
ger. Med. 1873, Bd. XVIII, pag. 295—304. — 8) Tamassia, SuW azione tossica deW
aeido solßdrico. Reggio 1880. (Rivista sperim. di fren. e med. leg. V, 1879, f. IV). —
9) E. Hofmann, Lehrb. der ger. Med. II. Aufl., pag. 613. — 10) Hoppe-S eyler, Heber die
Einwirkung des Schwefelwasserstoffs auf den Blutfarbstoff. Centralbl. für die med. "Wissensch.
1863, pag. 433; Med.-chem. Unters Berlin 1866. Bd. I, pag. 151 und Handb. der phys. und
path.-chem. Unters. 1865, pag. 205. — n) Preyer, Die Blutkrystalle. Jena 1871- —
12) Lew in, Virchow's Archiv, Bd. LXXIV, 2. Heft vom 1. Oct. 1878. — l3) Seidel, Maschka's
Handb. der ger. Med. Bd. II, pag. 365—375. L. Blumenstok.
SCHWEISS. 381
Schweiss (Physiologie und Pathologie der Sehweiss-
secretion). Der Schweiss ist das Product drüsiger Organe, welche ihren Sitz
in der Haut haben. Insofern der einmal ausgeschiedene Schweiss im Organismus
weder weiter verwerthet wird, noch auf die Stoffwechselvorgänge einen directen
Einfluss ausübt , hat man ihn zu den Excreten zu rechnen. Doch unterscheidet
er sich von den übrigen Excreten des Körpers dadurch, dass er noch nach der
Ausscheidung eine wichtige physiologische Rolle spielt. Durch seine Verdunstung
von der Körperoberfläche übernimmt er die Function eines Wärmeregulators. Das
Schicksal aller anderen Excrete nach ihrer Bildung im Körper ist dagegen für den
Organismus, den sie verlassen, ohne jede Bedeutung.
Secretionsorgane. Die Organe, welche den Schweiss secerniren,
sind beim Menschen schlauchförmige Drüsen, die im subcutanen Bindegewebe zu
Knäueln zusammengerollt sind und als einfache Schläuche durch das Corium, das
Bete Malpigliü und die Epidermis gehen und endlich an deren Oberfläche mit
offenen Mündungen endigen. Man hat sie schon im 17. Jahrhundert gesehen
(Malpighi x) , dann aber lange Zeit vergessen und erst in den Dreissiger- Jahren
dieses Jahrhunderts (Brechet und Vauzeme 2) wieder an das Licht gezogen.
Auch bei vielen Thieren sind den .Schweissdrüsen analoge Gebilde entdeckt worden
(Gürlt 3) , bald von derselben Gestalt wie beim Menschen , bald von einfacheren
Formen , bald am ganzen Körper (Pferd) , bald nur an bestimmten Körperstellen
(z. B. bei der Katze an den von Haaren unbedeckten Stellen der Pfoten, beim
Schwein an der Rüsselscheibe u. s. w.). Jede Schweissdrüse besitzt als Hülle
eine glashelle Membran und als innere Auskleidung eine einfache Schicht kegel-
förmiger oder cylindrischer Zellen. Das Corium durchsetzen die Schweissdrüsen so,
dass sie nie durch die Papillen , sondern stets nur durch die Thäler zwischen
denselben hindurchgehen.
Die Disposition zu schwitzen ist individuell sehr verschieden und beim
einzelnen Individuum von der Körperstelle abhängig. Beim Menschen sind die
Handflächen , die Fusssohlen , die Achselhöhlen Prädilectionsorte des Schwitzens.
Das hängt, wie Krause 4) gezeigt hat, mit der Grösse und der Zahl der an den
betreffenden Orten befindlichen Schweissdrüsen zusammen. So besitzt nach seinen
Zählungen 1 Quadratzoll der Haut des Rückens und Nackens 417 Schweissdrüsen,
der Handfläche 2734, der Fusssohle 2685, des Halses und der Stirn 1303 u. s. f.
Die Gesammtsumme von Schweissdrüsen für den ganzen Körper soll 2,380.248
betragen. Die Schweissdrüsen der Achselhöhlen zeichnen sich durch ihre Grösse
vor den übrigen aus , nicht aber , wie allgemein angenommen wird , durch den
ausschliesslichen Besitz von glatten Muskeln, da letztere nach W. Krause 5) con-
stant an allen Schweissdrüsen vorkommen.
Bes chaffenheit des Secrets. Der Schweiss des Menschen ist, wie
man das in Dampfbädern regelmässig bemerken kann, eine klare und farblose
Flüssigkeit. Der bekannte, individuell sehr verschiedene Geruch des Schweisses
scheint sich erst nach seiner Ausscheidung in Folge von Zersetzungen entweder
auf der Haut, oder in den absorbirenden Kleidungsstücken zu bilden. Der frisch
secernirte Schweiss wenigstens ist meist geruchlos. Den Geruch bedingen flüchtige
Fettsäuren, besonders Ameisen , Essig- und Buttersäure, seltener die fötide Capron-
und Caprinsäure. Schon der frisch secernirte Schweiss reagirt regelmässig und
ausnahmslos sauer. Man kann sich in jedem Dampf bade davon hundertfältig
überzeugen. Gegentheilige , zum Theil veraltete, zum Theil in neuester Zeit
wieder aufgestellte Angaben (Luchsinger und Trümpy6) sind auf Irrthümer
zurückzuführen.
An festen Bestandtheilen enthält der Schweiss im Mittel l'180°/0 (Funke 7).
Davon kommen auf organische Bestandtheile O-962°/0, auf anorganische O*3290/0.
Zu den ersteren gehören ausser den schon erwähnten Säuren noch Fett (Krause 4),
Palmitin, Stearin und Cholesterin (Schottin 8), ferner Harnstoff (Funke 7), Favre 9)
382 SCHWEISS.
und die stickstoffhaltige sogenannte Hydratsäure (Favke 9). Bei stockender Niereu-
secretion in der Choleraurämie bat man die Menge des mit dem Schweiss aus-
ausgeschiedenen Harnstoffs so gross gefunden, dass derselbe nach dem Tode den
ganzen Körper in Form einer weissen krystallinischen Schicht tiberzog (Schottin 8),
Dräsche 10). Nach Schottin soll der Schweiss auch einen rothen, durch Oxal-
säure sich grün färbenden Farbstoff enthalten.
Die anorganischen Bestandtheile des Schweisses bestehen vorzugsweise
aus löslichen Chloralkalien und nur in Spuren aus unlöslichen phosphorsauren
Erden (Schottin). Auch ein Theil der von der Haut abgegebenen Kohlensäure
soll mit dem Schweiss ausgeschieden werden.
Zufällige Bestandtheile des Schweisses können alle leicht löslichen und
diffusiblen Stoffe werden, welche in den Kreislauf gelangen. So lässt sich mit
Leichtigkeit Jod im Schweisse nach Genuss von Jodkalium nachweisen. Die Acne,
die nach Jodgenuss entsteht, hat indessen nicht, wie früher vermuthet worden
ist, zu der Ausscheidung des Jod durch die Schweissdrtisen irgend welche Bezie-
hung, sondern darin ihren Grund, dass das Jod den Körper auch durch die
Talgdrüsen verlässt und in den Talgdrüsen selbst Veranlassung zu Entzündungen
giebt (Adamkiewicz 11).
Wesen und Natur der Schweisssecretion. Es ist noch nicht
lange her, dass man den Schweiss für ein einfaches aus dem Blut stammendes
Transsudat hielt. Noch 1876 standen die Sachen so, dass eine die Functionen der
Haut ausschliesslich behandelnde Monographie (v. Röhrig12) diesen Standpunkt
vertreten musste. Früher meinte man sogar, der Schweiss werde nicht einmal von
Drüsen geliefert, sondern trete direct aus dem Blut durch die Wandungen der
Capillargefässe (Meissner, Eichstädt 13).
Indessen waren besonders in der Pathologie seit Langem Thatsachen
bekannt, welche auf gewisse Beziehungen der Schweisssecretion zur Function von
Nerven hinwiesen.
Schon das eigenthümliche Verhalten der Schweisssecretion im Fieber-
anfall musste diesen Gedanken erwecken.
Die tägliche Erfahrung lehrt, dass beim gesunden Menschen alle die-
jenigen Momente die Schweisssecretion befördern, welche die Temperatur des
Körpers steigern. Im fieberkranken Organismus offenbart sich dagegen die
Eigenthümlichkeit , dass er nicht in dem zweiten Stadium des Anfalls, dem
sogenannten Fastigium, wo objectiv und subjectiv die krankhaft gesteigerte Körper-
wärme den höchsten Grad erreicht hat, sondern erst mit dem Beginn der dritten
Periode , der Defervescenz , d. h. mit der Rückkehr der gesteigerten
Temperaturen zur Norm, die bekannten, häufig so aussero rdentlich profusen
kritischen Schweisse liefert.
Es lag ungemein nahe, hierbei an hemmende, die Thätigkeit der Schweiss-
drüsen paralysirende Vorgänge im Fieberparoxysmus zu denken, oder, mit anderen
Worten , Nerven zu supponiren , deren Erregbarkeit der Fieberprocess herabsetzt
und die Rückkehr zur Norm wieder herstellt. 14)
Nicht weniger wiesen andere meist zufällige Beobachtungen auf eine
gewisse Abhängigkeit der Schweisssecretion von der Thätigkeit von Nerven hin.
Brown-Seqtjard lb) hatte beobachtet, dass man durch Reizung der Mundschleim-
haut Schweisssecretion im Gesicht hervorrufen kann. Dieffenbach 16) machte
die Erfahrung, dass eine aus der Stirnhaut frisch gebildete Nase nicht eher
schwitzt, als bis sie sensibel geworden war. Notta17) fiel es auf, dass häufig
während der Paroxysmen der Ischias und des Tic douloureux im Gebiete des
afficirten Nerven Schweiss hervorbrach. Berger18), Ebstein19) u. A. berichteten
von Fällen halbseitig begrenzter Hyperhidrose, in denen zum Theil Veränderungen
im sympathischen Nerven bestanden. Besonders interessant sind Beobachtungen,
SCHWEISS. 383
welche Wood20) publicirt hat. Bei einem Patienten drückten, wie später nach-
gewiesen werden konnte, Tumoren auf den Plexus solaris. Je nachdem sich
derselbe auf den Rücken oder auf eine Seite legte, konnte er nach Belieben am
ganzen Körper oder nur halbseitig Seh weiss hervorrufen.
Solche und ähnliche Erfahrungen hatten längst die Vermuthung geweckt,
dass die Schweisssecretion unter Nerveneinfluss steht. Allein zur Thatsache ist
diese Vermuthung erst in neuester Zeit geworden in Folge experimenteller Arbeiten,
welche die Existenz schweisserregender Nerven direct bewiesen haben.
Vorläufer derselben waren zufällige Beobachtungen von Goltz 21) und
Ostroumoff 22) , die Beide bei Gelegenheit von Untersuchungen über gefäss-
erweiternde Nerven den N. ischiadicus junger Katzen und Hunde reizten und
hierbei an den Pfotenballen Schweiss auftreten sahen. Neben der Schweisssecretion
entstand im Gebiet der gereizten Nerven gleichzeitig eine starke Hyperämie und
eine durch dieselbe bedingte thermometrisch nachweisbare Erwärmung der be-
treffenden Pfote. Es war deshalb noch möglich, die erwähnten Beobachtungen
so zu deuten, dass der Nervenreiz Gefässerw eiterer in Erregung gesetzt, dadurch
den Druck in den Blutcapillaren gesteigert und so die „Transsudaten" des
Schweisses durch Vermittlung des Blutdruckes veranlasst habe. Eine solche Auf-
fassung hätte der allgemein angenommenen Deutung des sehr bekannten, schon im
Jahre 1816 von Dupuy23) ausgeführten Versuches entsprochen, nach welchem
die Durchschneidung des Halssympathicus beim Pferde Hyperämie und profuses
Schwitzen auf der operirten Seite hervorbringt.
Allein Luchsinger 24) und Adamkiewicz 25) wiesen nach, dass der Blut-
druck bei der Secretion des Schweisses keine vermittelnde Rolle spielt und dass
im N. ischiadicus echte secretorische Fasern verlaufen, die bei der Reizung des
genannten Stammes die Schweissdrüsen der Pfote ebenso ohne Vermittlung des
Kreislaufes in Thätigkeit setzen, wie unter analogen Bedingungen die Chorda die
Speicheldrüse des Unterkiefers. Luchsinger 24) gelang es, noch an der amputirten
Katzenpfote , wo von Einflüssen des Kreislaufs nicht mehr die Rede sein konnte,
Schweisssecretion durch Reizung des betreffenden Nerven hervorzubringen. Und
Adamkiewicz 25) zeigte, dass die Reizung motorischer Nervenstämme der Extremi-
täten beim Menschen die Schweissdrüsen in gleicher Weise bei freiem, wie bei
unterbrochenem Kreislauf hervorruft.
Was nun die. Natur und den Verlauf der schweisssecernirenden Fasern
betrifft, so standen sich eine Zeit lang zwei Anschauungen gegenüber. Luchsinger
plaidirte in einer grösseren Reihe von Arbeiten26) für einen rein sympathischen
Verlauf derselben, worin er durch Nawrocki 27) unterstützt wurde. Adamkiewicz 28)
schloss aus seinen Versuchen, dass die Schweissnerven sowohl cerebro-spinalen,
wie sympathischen Ursprungs seien, worin ihm Vülpian29) seeundirte. Schliess-
lich hat sich Luchsinger 30) selbst von der Existenz cerebrospinaler Schweiss-
fasern unter den sympathischen überzeugt. So darf die von Adamkiewicz gefundene
Thatsache von dem doppelsinnigen Verlauf des Schweissnerven nunmehr als
gesichert betrachtet werden. Dass Luchsinger, um in der Folge von einem
älteren Forscher widerlegt zu erscheinen, die eben erwähnte Thatsache nicht ihrem
eigentlicher Entdecker, sondern Vülpian zuschrieb, hat ihm von Seiten des Ersteren
die gebührende Zurückweisung 31) eingetragen.
In Bezug auf die Centren der Schweisssecretion haben Luchsinger und
Adamkiewicz übereinstimmend gefunden, dass sie im Rückenmark liegen. Auf
ihre specielle Lage, wie auch auf den speciellen Verlauf der secretorischen Fasern
selbst , führte am besten die Betrachtung der Bedingungen , unter welchen die
Schweisssecretion beim Menschen erfolgt. Von der Eruirung dieser Bedingungen
ist Adamkiewicz 28) bei seinen Untersuchungen über die Schweisssecretion aus-
gegangen und wir wollen ihm auch hier auf diesem Wege folgen.
Reizquellen der Schweisssecretion. Unter natürlichen Ver-
hältnissen tritt, wie die tägliche Erfahrung lehrt, der Schweiss als häufiger
;;S4 SCHWEISS.
Begleiter starker und anhaltender Muskelaction auf. Um die Beziehungen der
Schweisssecretion zur Bewegung physiologisch festzustellen, hat Adamkiewicz
beim Menschen die grossen Nervenstämme der Extremitäten und des Gesichtes,
sowie auch die Muskeln direct gereizt und Folgendes feststellen können : Wie die
willkürliche Erregung der motorischen Apparate, so ist auch deren künstliche
Erregung durch faradische Ströme von Schweisssecretion begleitet. Der Schweiss
tritt an individuell wechselnden Prädilectionsorten auf, zu denen meistens die
Volarfläche der Hände, die Plantarseiten der Füsse und circumscripte , mit dem
Individuum variirende, Stellen der Gesichtshaut gehören. Die Schweisseruption
erfolgt bei directer Reizung der Muskeln in deren Nachbarschaft und bei Reizung
der Nerven genau im Bezirk ihrer peripherischen Endausbreitung. Auf den Effect
der Reizung hat es keinen Einfluss, ob während derselben der Kreislauf in der
betreffenden Extremität frei oder unterbrochen ist. Endlich erscheint bei
allen diesen Versuchen der Schweiss nicht nur auf der der
Reizung entsprechenden Körperhälfte, sondern regelmässig
und ausnahmslos auch auf der nicht gereizten Körper seite
an einem dem primären Eruptionsherde genau entsprechenden
Orte. Aus diesem Grunde hat Adamkiewicz die Schweisssecretion eine
„bilateral-symmetrische Nervenfunction" genannt und mit derselben
eine bis dahin nicht bekannte Kategorie von Nervenfunctionen 32) in die Physio-
logie eingeführt.
Dass Reizung der motorischen Nervenstämme Schweisssecretion hervor-
ruft, beweist, dass die Schweissnerven in den motorischen Bahnen verlaufen. Und
der Umstand, dass die Schweisssecretion auch die willkürliche Muskelaction
begleitet, charakterisirt sie als eine Mitbewegung.
Ein zweites Factum täglicher Empirie ist der die Schweisssecretion
anregende Einfluss hoher, auf die Körperoberfläche einwirkender Temperaturen
des umgebenden Mediums. Da ein solcher Einfluss nicht anders , als auf
der doppelten Bahn centripetaler und centrifugaler Nerven, d. h. reflectorisch,
zur Wirkung gelangen kann, so lag es nahe, die Verhältnisse genauer zu
prüfen, unter denen die Secretion des Schweiss es als Reflexact
erscheint.
Reizt man die sensiblen Nerven der Haut durch Anwendung des elek-
trischen Pinsels, so tritt regelmässig Schweiss reflectorisch auf, besonders nach
Reizung der sehr empfindlichen Gesichtshaut. Die reflectorisch erregte Schweiss-
secretion ist intensiver, als die durch Reizung motorischer Nerven hervorgerufene.
Sie richtet sich in Bezug auf ihr Erscheinen nicht nach den PFLÜGEn'schen
Reflexgesetzen. Es gilt für sie vielmehr nur ein einziges Gesetz und dieses
lautet: Die reflectorische Schweisssecretion erfolgt beim Menschen
stets bilateral-symmetrisch und unabhängig von dem Ort, an
welchem der sie erregende sensible Reiz gewirkt hat.
Unter den sensiblen Reizen spielen die thermischen bei der Schweiss-
secretion eine besondere und sehr interessante Rolle. Im Allgemeinen sind Kälte-
und Wärmereize physiologisch äquivalent, d. h. sie rufen dieselben Effecte hervor.
Bei der Schweisssecretion ist das anders. Ein Kältereiz, der die sensiblen Nerven
der Haut trifft, erregt die Schweissdrüsen nie. Wärmereize relativ niedrigen
Grades — schon Temperaturen, die die der Haut nur um + 6 bis +8° C. über-
treffen — sind dagegen bereits kräftige Erreger des Schweisses.
Diese Thatsachen waren bereits durch Adamkiewicz bekannt geworden,
als Luchsinger (Archiv für die ges. Physiol. , XVIII, pag. 478), ohne ihrer
Erwähnung zu thun , analoge Beobachtungen noch einmal publicirte.
Endlich kennen wir den Schweiss als einen Begleiter gewisser
psych ischerErregungen, besonders der Affecte mit deprimirendem Charakter,
so der Angst. Auch über die schweisserregende Wirkung solcher Affecte lassen
sich experimentelle Erfahrungen gewinnen. 28) Man setzt leicht erregbaren
SCHWEISS. 385
Personen, am besten Frauen, einen mit starren Metallborsten versehenen elektrischen
Pinsel auf die Gesichtshaut. Dadurch lernen sie das bekannte unangenehme und
bei Anwendung faradischer Ströme besonders schmerzhafte Gefühl kennen, das
die Elektricität hervorruft. Ein vorher instruirter Assistent wird nun, während
die Versuchsperson es hört, laut beauftragt, auf ein gewisses Zeichen hin den elek-
trischen Pinsel immer wieder an die Gesichtshaut zu setzen. Im Geheimen ist derselbe
verständigt , bei Application der Elektrode an die Haut nicht immer den Strom
zu schliessen. Jene Person, die nur die für sie ominöse Bedeutung des Zeichens
kennt und von der geheimen Verabredung der Experimentatoren keine Ahnung
hat , geräth jedesmal , sobald sie es hört , im Vorgefühl des zu erwartenden
Schmerzes in grosse Aufregung. Da die schlimme Erwartung zuweilen thatsächlich
nicht realisirt wird , so producirt sie in diesen Fällen reine Affecte der Angst,
wie man auch objectiv an dem Ausdruck des Gesichtes, an dem Minenspiel, an
der Unruhe ihres ganzen Wesens erkennen kann. Solche Pseudoaffecte sind nun
evident von promptester Schweissdrüsenwirkung begleitet. Und man kann bei
diesen Versuchen mit gewissem Recht sagen , dass hier die Schweissdrüsen gleich-
sam auf das Commandowort hören.
Der Schweissnervenapparat. Schon aus den vorstehenden That-
sachen lassen sich gewisse Schlüsse auf die Anlage des Schweissnerven-
apparates machen.
Wenn sensible Reize, Muskelbewegungen und Vorstellungen die Schweiss-
secretion anregen , so müssen die Ganglien der Schweisssecretion dort zu suchen
sein, wo der sensible Reiz endet, die Muskelbewegung beginnt und die Vorstellung
entsteht, d. h. im Rückenmark und im Gehirn.
Wenn ferner jede Erregung cerebrospinaler Bewegungsganglien, deren
periphere Nerven ein an die Haut grenzendes Muskelgebiet versorgen, unter
günstigen Umständen immer zugleich Schweisssecretion im Gebiete der bewegten
Muskeln hervorruft, so folgt hieraus nicht nur, wie wir das schon aus anderen
Gründen geschlossen haben, dass die secretorischen Nerven mit den motorischen
den Verlauf in denselben Stämmen theilen , sondern dass sie wahrscheinlich auch
aus dicht nebeneinander gelagerten Nervencentren entspringen.
Und wenn endlich eine psychische Erregung im Stande ist, eine allgemeine
Schweisssecretion am ganzen Körper hervorzurufen , so darf daraus geschlossen
werden, dass die Gehirnrinde die Schweisssecretion beeinflusst, dass sämmtliche
Ganglien der Schweisssecretion untereinander in Verbindung stehen und dass die
Medulla oblongata ein allgemeiner Ausgangspunkt der Seh weis snerven vom
Gehirn zum Rückenmark sein muss.
Das bilateral-symmetrische Auftreten des localen Schweisses weist schliess-
lich noch ganz speciell darauf hin, dass die Ganglien analoger Stellen der beiden
Körperhälften physiologisch miteinander verknüpft sind und deshalb bei Reizen
synergisch reagiren.
Alle diese Schlüsse lassen sich in der That durch den Versuch am
jungen Kätzchen und durch Erfahrungen der Pathologie bestätigen und zum
Theil noch erweitern.
Experimentalergebnisse. Erregt man die frei präparirten Extremi-
tätennerven mit faradischen Strömen, so schwitzen die Ballen der tetanisirten
Pfoten. Ein solcher Versuch gelingt bis 15, zuweilen selbst bis zu 45 Minuten
nach dem letzten Athemzug des Thieres trotz erneuter Wiederholung.
Daraus folgt: Die Schweissnerven verlaufen in den grossen Stämmen
der Extremitäten und die Schweisssecretion ist vom Kreislauf unabhängig.
Durchschneidet man sämmtliche hinteren Wurzeln des ischiadischen Nerven-
plexus und präparirt man am frisch getödteten Thier eine Hinterextremität so,
dass sie nur durch die isolirten vorderen Wurzeln mit dem Rückenmark in Ver-
bindung stehen, so ruft faradische Reizung des Lumbaimarkes Schweisssecretion
an der Hinterpfote hervor.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 25
336 SCHWEISS.
Die Schweisssecretionsnerven müssen darnach mit den vorderen Wurzeln
das Rückenmark verlassen und mit den motorischen Nerven verlaufen.
Durchschneidet man den Plexus brachialis und reizt dessen centrales
Ende, so schwitzt die entgegengesetzte Vorderpfote. Nach Durchschneidung des
N. ischiadicus und Reizung seines centralen Endes kann man den analogen Effect
an der nicht gereizten Hinterpfote erhalten. Der Erfolg bleibt genau derselbe,
wenn man bei dem ersten Versuch die Cervicobrachialanschwellung und bei dem
zweiten die Lumbalanschwellung durch Schnitte von der Nachbarschaft trennt.
Hieraus folgt, dass, da Reflexübertragungen nur durch Vermittlung von
Ganglien möglich sind, das Rückenmark Schweisssecretionscentren besitzt. Die
Lage dieser Centren für ein bestimmtes Gebiet der Haut entspricht der Lage der
correspondirenden sensiblen und motorischen Ganglien. Und da die secretorischen
Nerven den gesammten peripherischen Verlauf mit den motorischen Bahnen theilen,
so ist es im höchsten Grade wahrscheinlich, dass auch die Centren der Schweiss-
secretion mit denen der motorischen Nerven ihre Lage im Rückenmark theilen,
d. h. wie letztere in der grauen Substanz der Vorderhörner sich befinden.
Bei Reizung des centralen Endes eines Plexus hracliialis schwitzt aber
nicht nur die entgegengesetzte Pfote, sondern auch die Hinterpfote der gereizten
Seite. Das geschieht selbst nach der Zerstörung des Lendenmarkes und
erst dann nicht mehr , wenn ausser dem Lendenmark auch noch das untere Ende
des Brustmarks etwa in der Ausdehnung dreier Wirbel vernichtet wird.
Hierbei kann der Reiz nicht mehr auf dem Wege durch das Rücken-
mark bis zum Plexus ischiadicus gelangen, sondern muss ausserhalb des Wirbel-
canals auf Nebenwegen die Hinterpfote erreichen. — Solche Nebenwege können
selbstverständlich nur sympathische sein.
Es giebt also ausser cerebrospinalen auch sympathische Schweissnerven.
Reizt man die Med. oblongata mit elektrischen Strömen , so schwitzen
alle vier Extremitäten gleichzeitig und in intensiver Weise.
Die Med. oblongata muss also als Durchgangsstation für sämmtliche
Schweissnerven betrachtet werden.
Endlich lassen sich bei noch jungen Kätzchen, wenn auch nicht von der
Gross-, so doch von der Kleinhirnrinde aus — mittlere Partie des Hinterrandes
— die Schweissdrüsen der Pfoten erregen. 33)
Auf Grund aller dieser Ergebnisse lässt sich folgendes Schema des
Schweissnervenapparates aufstellen :
Der Nervenapparat der Schweisssecretion nimmt an der Oberfläche des
Hirns seinen Anfang. Die Nerven steigen durch die Med. oblongata in das
Rückenmark herab. Hier treten sie mit Secretionscentren in Verbindung, die
durch das ganze Rückenmark zerstreut sind. Diese Centren liegen in den Vorder-
hörnern der grauen Substanz, an denselben Stellen, an welchen sich die motorischen
Ganglien analoger Gebiete der Peripherie befinden. Secretionsfasern verlassen im
Verein mit motorischen Nerven durch vordere Wurzeln das Rückenmark und
gehen zu denselben Bezirken. Ausser durch cerebrospinale Nerven werden die
Schweissdrüsen noch durch sympathische Fasern versorgt (Adamkiewicz).
Die Quelle der an die hinteren Pfoten des Kätzchens gelangenden
sympathischen Schweissfasern sind nach Ltjchsingeb 26) die drei unteren Beist-
und die vier oberen Lendenwurzeln, nach Vulpian 34) nur die zwei ersten Lenden-
wurzeln. Für die Vorderpfote gelangen die sympathischen Schweissnerven an
ihren Verbreitungsbezirk nach Nawrocki 35) aus dem Ganglion stellatum , resp.
der vierten Dorsalwurzel.
In Bezug auf die Bedeutung der Med. oblongata für die Schweiss-
secretion theilte Vulpian 36) in seinem letzten Berichte an die Pariser Akademie
mit, dass er die hierüber von Adamkiewicz gemachten Angaben bestätigen könne.
In Bezug auf den Verlauf der Schweissnerven am Kopf lässt sich so viel
sagen , dass sich beim Menschen die Erregung des N. facialis wirksam zeigt.
SCHWEISS. 387
Für die Rüsselscheibe des Schweines hat Luchsinger festgestellt, dass sie der
Bruststrang des Sympathicus mit Schweissfasern versieht, die namentlich auf dem
Wege des N. infraorhitalis an ihren Verbreitungsbezirk gelangen. Doch meint
er, dass auch der N. trigeminus als solcher seine Secretionsfasern führt.
Nawrocki 37) hat noch speciell folgenden Verlauf für die Schweissnerven der
Rüsselscheibe des Schweines festgestellt : „Sie treten hauptsächlich durch die 2., 3.
und 4. Dorsalwurzel aus dem Rückenmark heraus , gehen durch die Rami com-
municantes in den Bruststrang über, weiter in das Ganglion stellatum, den
Halssympathicus , das obere Halsganglion , vermittelst des inneren grauen Astes
neben der Bulla ossea in die Schädelhöhle, verlaufen dort im Sinus cavernosus,
legen sich an die innere Seite des Trigeminus an und erreichen schliesslich die
Rüsselscheibe im Stamme des Infraorbitalis."
Pathologische Erfahrungen. Für die Erkenntniss des Schweiss-
nervenapparates beim Menschen haben die Erfahrungen der menschlichen Patho-
logie , welche sich auf Störungen der Schweisssecretion beziehen , einen ganz
besonderen Werth. Ganz abgesehen davon, dass Experimente, welche durch Aus-
schaltung, resp. Reizung einzelner Abschnitte des Nervensystems deren Function
zu ergründen suchen, im Verhältniss zu der Art vieler pathologischer Destructionen,
welche ganz dasselbe auf natürlichem Wege bewirken , rohe und deshalb weit
weniger beweiskräftige Eingriffe sind, so lassen sich doch auch pathologische
Beobachtungen am Menschen weit directer für die menschliche Physiologie ver-
werthen , als Experimente am Thier , die bei allem ihrem Werthe immer doch nur
höchstens zu Analogie- und Wahrscheinlichkeitsschlüssen berechtigen.
Thatsächlich liegt nun auch bereits eine Zahl pathologischer Erfahrungen
vor, welche hinreicht, das oben angeführte, aus Versuchen am gesunden Menschen
abgeleitete und durch Experimente am Thier bewiesene Schweissnervenschema
von Adamkiewicz auch für den Menschen zu bestätigen.
Grosshirnrinde. Nach diesem Schema soll die Grosshirnrinde zur
Schweisssecretion in Beziehung stehen. Reizung der Grosshirnrinde beim Thier fiel
negativ aus. Nach Adamkiewicz haben auch Bloch 38) und Vulpian 39) solche Ver-
suche mit demselben Erfolge angestellt. Nur einmal hat Vulpian40) bei Reizung
einer bestimmten Partie der Grosshirnrinde einer Katze leichte Schweisssecretion auf-
treten sehen. Adamkiewicz 33) fand nur die Oberfläche des Kleinhirns bei jungen
Katzen für die Schweissnerven erregbar. Weil nun aber bei jungen Kätzchen die
Grosshirnrinde noch nicht entwickelt und bei alten Katzen das Schwitzvermögen
sehr gering ist, so legt er auf die negativen Ergebnisse des Experimentes kein
Gewicht, hält die psychomotorische Sphäre für einflussreich für die Secretion des
Schweisses und meint, dass der schweisserregende Ehrfluss des Kleinhirns beim
Kätzchen vielleicht nur vorübergehender Natur ist. Für seine Ansicht, dass die
psychomotorische Sphäre die Schweissnerven beeinflusst, sprechen einige patho-
logische Erfahrungen. Er citirt folgende Fälle 33) :
„Ein von Herrn Senator behandelter Kranker hatte einen apoplectischen
Anfall erlitten und darnach eine eigenthümliche , von Rindenläsionen abhängige
Bewegungsstörung eines Armes (Rindenataxie) davongetragen. In diesem Arm
stellten sich von Zeit zu Zeit Krämpfe und auffallend starke auf ihn beschränkte
Eruptionen von Schweiss ein. Bei der Section fand sich auf der Gehirnrinde
in der sogenrnnten psychomotorischen Sphäre der dem kranken
Arm entgegengesetzt gelegenen Hirnhälfte ein Abscess vor."
„Einen analogen Fall hat Adamkiewicz auf der phychiatrischen Abtheilung
des Charite-Krankenhauses zu Berlin in Gemeinschaft mit dem damaligen Assistenz-
arzt derselben, Dr. Sioli, beobachtet. Auch bei diesem Fall war eine apoplectisch
erworbene sogenannte Rindenataxie des rechten Armes vorhanden mit auf ihn
beschränkten Schweissen. Trotzdem dieser Fall nicht zur Section gekommen ist,
so war die Diagnose einer Rindenläsion hier doch durch den Umstand noch
besonders gesichert, dass gleichzeitig eine ausgesprochene Aphasie bestand."
25*
388 SCHWEISS.
Bloch s8), der in seiner These eine interessante Darstellung der Physio-
logie und Pathologie der Sehweisssecretion giebt, erwähnt folgenden, die Bedeutung
der Gehirnrinde zur Sehweisssecretion charakterisirenden Fall (pag. 43):
Ein Mann hatte einen Messerhieb in das mittlere Drittel der linken
Stirnhälfte erhalten. Es trat eine isolirte Lähmung des rechten Armes ein und
der rechte Arm war fortdauernd wie im Schweiss gebadet. Bei der Autopsie fand
sich im linken Stirnlappen eine verletzte Stelle und in ihrer Umgebung ein ence-
phalitischer Herd.
Boüveres (1. c. pag. 48) erwähnt eine Beobachtung Laxdouzy's, wo ein
Gumma der Rinde eine allgemeine Meningitis und gleichzeitig profuse Seh weisse hervor-
gerufen hatte, die ohne Unterbrechung die vier letzten Tage des Patienten anhielten.
Ferner macht Bloch (1. c. pag. 95) darauf aufmerksam , dass gewisse
Fälle epileptoider Convulsionen, die nach Jackson und Anderen von der Gehirn-
rinde ausgehen, Schweisseruptionen als stete Begleiter haben, und dass es sogar
eine Art von Aura sudoralis giebt.
Grosshirnganglien. Mit den Ganglien des Grosshirns (Corpus
leatiforme, Corpus striatum , Thalamus opticus) scheint der Schweissnerven-
apparat in keiner Verbindung zu stehen. — Denn Hemiplegien, welche durch
Blutungen in die genannten Ganglien entstehen, sind von Abnormitäten der
Sehweisssecretion gewöhnlich nicht begleitet.
Zwar spricht Chevalier 41) in seiner Abhandlung über die „Paralysie
vaso-motrice dans VMmiplegie" von „Hemiplegies sudorales" , worunter Hemi-
plegien mit Hypersecretionen des Schweisses auf der kranken Seite gemeint sind.
— ■ Allein es ist bei der fast regelmässigen Abwesenheit ähnlicher Erscheinungen
in den eben erwähnten Fällen apoplectischer Hemiplegie die Annahme zulässig,
dass die ^Hemiplegies sudorales* Rindenheniiplegien sind.
Dass der Schweissnervenapparat bei gewöhnlichen Hemiplegien im Grossen
und Ganzen intact ist, lehrt Strauss 42), der nach Injection von Pilocarpin bei
Hemiplegi sehen einen Unterschied in der Eruption des Schweisses auf der gesunden
und der kranken Seite nicht bemerkt hat. — Bloch 3S) hat ähnliche Versuche
gemacht und meist dieselben Resultate erhalten.
Verlängertes Mark. Es soll nach dem oben entworfenen Schema
ein allgemeiner Durchgangsort aller Schweissnerven des Körpers sein. — Versuche
an Kätzchen haben diese Ansicht bereits bestätigt. Auch die Pathologie tritt für
sie ein. Sehweisssecretion, Polyurie und Salivation werden als Reizungssymptome
des verlängerten Markes häufig beisammen beobachtet. 43)
Einen directen Beweis für den Einfluss des verlängerten Markes auf
allgemeine Schweisse besitzt die Pathologie bisher nicht. In seiner den bulbären
Krankheiten ausschliesslich gewidmeten These hat Hallopeau44) der Pathologie
des Schweisses keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Verfasser dieses Aufsatzes ist diese Lücke auszufüllen in der Lage. Es
wurde ihm während seiner Thätigkeit an der Abtheilung für Nervenkranke
im Charite-Krankenhause zu Berlin von Herrn Geheimrath Leyden ein Kranker
vorgestellt , bei dem sich allmälig Augenmuskellähmungen entwickelt hatten und
der später in unregelmässigen Zwischenräumen an Anfällen litt, in welchen
ausser gewissen Sehstörungen besonders Diplopie und sehr profuse, allgemeine
Schweisse auftraten. Er stellte damals die Diagnose auf einen Tumor in der
Medidia oblongata. Der Patient starb und die Section bestätigte die Anwesenheit
eines bohnengrossen Glioms etwa im mittleren Drittel der Substanz des Bodens
des vierten Ventrikels.
Vordersäulen der grauen Rückenmarkssubstanz. Der aus
den früher angeführten Beobachtungen und Experimenten gezogene Schluss, dass
die spinalen Ganglien der Sehweisssecretion in den Vorderhörnern der grauen
Substanz liegen, wie die Centren der motorischen Nerven, wird durch Erfahrungen
der Pathologie durchaus bestätigt.
SCHWEISS. 389
In Fällen sogenannter Poliomyelitis, d. h. auf Erkrankung der moto-
rischen Ganglien in den grauen Vordersäulen beruhender Lähmungen der grossen
peripherischen Nervenstämme der Extremitäten, schwindet mit der moto-
rischen Function die Fähigkeit der gelähmten Extremitäten
zu schwitzen. Solche Beobachtungen erwähnen Erb45) und der Verfasser46)
dieser Arbeit. Letzterer zeigte gleichzeitig, wie in dem von ihm beschriebenen
Fall mit der Fähigkeit der Bewegung an den erkrankten Extremitäten auch das
Vermögen zu schwitzen, sich wieder einstellte.
Ebenso instructiv und beweisend für den Sitz der Schwel sssecretions-
Centren in den grauen Vordersäulen sind Versuche , welche Bloch 38) nach dem
Vorgange von Strauss 32) an Kranken angestellt hat. Er spritzte mit den ver-
schiedensten chronischen Rückenmarksleiden afficirten Individuen Pilocarpin ein,
um festzustellen , bei welchen von ihnen das Pilocarpin Schweiss hervorrief und
bei welchen es seine Wirkung versagte. Da bei lange anhaltender Functions-
losigkeit der Ganglien auch der von ihnen ausgehende peripherische Nervenapparat
durch Degeneration zu Grunde geht, so mussten jene Versuche in der That auf
das Lager der Schweisssecretions-Centren führen.
Er kam zu dem sehr bemerkenswerthen Ergebniss, dass alle chro-
nischen Rückenmarksleiden, welche in das Gebiet der moto-
rischen Functionen eingreifen, die Muskeln afficiren und
schliesslich zu Entartung und Atrophie in denselben führen,
also Processe, welche in der grauen Rückenmarksachse und
vorzugsweise in den grauen Vor der Säulen ablaufen, diejenigen
sind, bei welchen mit der Zeit immer auch der Schweissdrüsen-
apparat seine Functions fähigkeit einbüsst. In denjenigen
chronischen Rückenmarksaffectionen dagegen, bei welchen nur
die weisse Substanz ohne Betheiligung der grauen erkrankt,
z. B. bei der gewöhnlichen Tabes, bleibt dagegen der Schweiss-
nervenapparat functions fähig wie im normalen Körper.*)
Nach diesen Erfahrungen darf an dem Sitz der Schweisssecretions-Centren
in der grauen Substanz der Vorderhörner nicht mehr gezweifelt werden.
Cerebrospinale Nerven. Die vom Verfasser dieser Arbeit ge-
fundene und dann zuerst von Vulpian bestätigte Thatsache, dass im strictesten
Gegensatz zu den Angaben Luchsinger's gerade die cerebrospinalen Nerven das
*) Bloch, 1. c. , pag. 87: „Nous venons de voir im certain nombre d 'affections
medullaires dans lesquelles la lesion interessante , en tont ou en partie, la substance grise de
la moelle avait produit une degenerescence musculaire variable. Dans toutes ces affections,
pour peu qu'elles fussent un peu anciennes et la degenerescence avancee la secretion sudorale
subissait le contre-coup de cet etat et s'arretait a son tour.
A cöti de ces faits il sera interessant de voir qu'il est une autre affection medullaire
n' 'interessant primitivement que la coordination, portant essentiellement sur les cordons poste-
rieurs, et dans laquelle la reaction sudorale est inlacte au meme titre que la re'action electrique
est gdneralement bien conserve'e."
Idem pag. 89 : „L'ensernble des olservations relatives a la secretion sudorale
dans les maladies de la moelle de'montre deux faits importants, a savoir : que cette fonction
est troublee en temps que les lesions spinales produisent un trouble nutritif des membres.
Dans toutes les affections spinales avec atrophie notable et d'une certaine dure'e, dans lesquelles
la reaction electrique demontrait une degenerescence musculaire tres avancee, la sueur tendait
ä disparaitre ou presentait un retard dans son apparition.
Au contraire, dans les affections spinales qui n'interessaient que partiell ement
la moelle en respectant la substance grise de cet organe, la reaction sudorale en meme temps
que la reaction electro-musculaire, ne subissait aucune alte'ration appreciable.
Ces faits d1 Observation ont un re'el interet physiologique en ce sens qu'ils viennent
confirmer certaines donndes. Les physiologistes (Adamkiew iczj plagaient les centres sudorans
medullaires au point des centres ou ganglions moteurs, c'est-ä-dire dans la substance grise ou
mieux les cornes anterieures de cette substance. Les faits paOiologiques semblent prouver, que
la voie normale des fibres sudorales semble bien etre la substance grise et que toute- destruction
ou perturbation, de cette partie de la moelle a pour conse'quence idterieure une perturbation
de la secre'tion sudorale.u
390 SCHWErSS.
Gros der Sehweissfasern führen, wird durch Beobachtungen der Pathologie auf
das Vollkommenste bewiesen.
Beim Menschen bildet sich, wie auch Nawrocki 37) beobachtet hat , bei
Paralysen des Facialis , dessen Beziehungen zur Schweisssecretion Adamkiewicz 28)
hervorgehoben hat, eine pergamentartige Trockenheit der Gesichtshaut aus. Mit
der wiederkehrenden Erregbarkeit der Facialisfasern treten beim Elektrisiren der-
selben wieder allmälig Schweissperlen im gelähmten Gebiet auf.
Strauss und Bloch haben in Fällen leichter und schwerer Lähmungen
des Facialis Pilocarpininjectionen gemacht und übereinstimmend gefunden, dass
das Gesicht des Menschen so lange die Fähigkeit zu schwitzen behält, als der
entsprechende Facialis faradisch gut erregbar ist und sein Muskelgebiet keine
Entartungsphänomene aufweist. Mit dem Eintritt von Atrophien im
Facialisgebiet geht auch das Schwitzvermögen des Gesichtes
verloren.
„Es besteht," sagen beide Forscher, „ein frappanter Parallelismus zwischen
der elektrischen Erregbarkeit des N. facialis und seiner Fähigkeit, Schweiss-
secretion im Gesicht hervorzurufen."*)
Luchsinoer i7) hat als Veterinärphysiologe, wie schon erwähnt, den der
Veterinärphysiologie näher stehenden Schweinerüssel zum Object seiner Unter-
suchungen über die Schweisssecretion am Kopf gemacht. An diesem Object hat
er gefunden, dass nur der Sympathicus und Trigeminus Sehweissfasern führen.
Das hat ihn denn veranlasst, die von Adamkiewicz aufgestellte und, wie aus den
oben angeführten Thatsachen hervorgeht, sehr gut begründete Behauptung, dass
am Kopf des Menschen der Facialis Schweissnerven führt, eine „kecke" zu
nennen. Man sieht hieraus , auf welche sonderbare physiologische und psycho-
logische Abwege es führt, wenn man einem Schweinerüssel die Ehre erweist, ihn
so ohne Weiteres mit dem Menschengesicht in Parallele zu setzen. Uebrigens haben
Vulpian und Kaymond (Compt. rend. Bd. I, pag. 6, 1879) constatirt , dass
beim Pferd der Sympathicus gleichfalls eine untergeordnete Bedeutung als
Schweissnerv des Kopfes besitzt.
Wie die Schweissnerven des Kopfes im Stamme des N. facialis ver-
laufen, so verlaufen die Schweissnerven des Rumpfes und der Extremitäten in
den spinalen motorischen Nervenstämmen derselben. In dieser Beziehung har-
moniren Beobachtungen am kranken Menschen mit den früher bereits erörterten
Versuchen am Kätzchen des Verfassers dieses Aufsatzes.
Es sei demselben gestattet, als Beweis dessen folgenden von ihm beob-
achteten und an anderer Stelle 48) bereits veröffentlichten Fall aus der propädeu-
tischen Klinik des Geheimrath Leyden (Berlin) mitzutheilen.
Einem Manne in den mittleren Jahren war ein Baumstamm gegen die
untere Hälfte der Wirbelsäule gestürzt. Im Gefolge dieses Trauma hatte sieh
schnell eine vollkommene motorische und sensible Lähmung der unteren Körper-
hälfte vom Rippenrande abwärts nebst Mastdarm- und Blasenparalyse entwickelt.
Die motorischen Nerven der gelähmten Glieder reagirten gut auf den faradischen
Strom, aber nicht reflectorisch auf sensible Reize. Die Ursache der Lähmung lag
also im Gebiet der Centren der gelähmten Bezirke. Sehr merkwürdig war es
nun, dass, so oft der Patient spontan oder nach Injection von Pilocarpin schwitzte,
der Schweiss in grossen Perlen nur bis scharf an die Grenze erschien,
bis zu welcher der Kranke empfand. Unterhalb derselben, d. h. im
Gebiet der motorischen und sensiblen Lähmung, also genau im Gebiet der
gelähmten spinalen Nerven blieb Alles trocken , waren demnach
auch die Centren der Schweissn erven und s ie s elbst unerregbar.
Als im weiteren Verlauf der Krankheit sich an den gelähmten Beinen die Reflexe
*) Bloch 1. c. pag. 69: „II existe im parallele frappant entre la re'action
e'lectrique et la re'action sudorale du nerf facial."
SCHWEISS. 39 i
wieder herstellten, also die spinalen Ganglien wieder zu functioniren begannen,
fing auch das früher trockene Gebiet allmälig wieder an zu schwitzen.
Bloch38) hat an einer ganzen Reihe ähnlicher Kranken ganz ent-
sprechende Beobachtungen gemacht und unter Anderem gesehen, dass bei pro-
gressiver Muskelatrophie die Bezirke mit am meisten fortgeschrittener Atrophie
der Muskulatur auch ihr Vermögen zu schwitzen am meisten verlieren.
iV. sympathicus. Dass der N. sympathicus die Bedeutung eines
Schweissnerven besitzt , sowie es in der neuesten Zeit die Thierexperimente sicher-
gestellt haben , ist eine von der Pathologie für den Menschen längst bewiesene
Thatsache. Ja, man kann von dieser Thatsache sagen, dass sie der Vorläufer
gewesen ist der jüngsten Untersuchungen , welche die Lehre von der Schweiss-
secretion zu einem so schönen Abschluss geführt haben.
Aller derjenigen Fälle hier zu gedenken, in welchen anormale Phänomene
der Schweisssecretion zu nachweisbaren Veränderungen im sympathischen Nerven
in Beziehung haben gebracht werden können, wäre ein über den Rahmen dieses
Aufsatzes hinausgehendes Unternehmen. Es muss hier deshalb auf die in dieser
Arbeit bereits erwähnten Fälle, und im Uebrigen auf die Specialarbeiten verwiesen
werden, welche sich mit der Pathologie des Sympathicus ausschliesslich beschäftigen.
Dazu gehören besonders Arbeiten von Nicati 19) , Nitzelnadel 50) , von Eulen-
BURG und Guttmann51), eine These von Poiteau 52) u. A. m.
So viel geht aus den vorliegenden sehr zahlreichen Beobachtungen über
die Erkrankungen des Sympathicus hervor, dass man an denselben, wie dies auch
Nicati gethan hat, zwei Stadien unterscheiden kann. Ein Stadium der Reizung :
Hyperhidrose neben Blässe der Haut in Folge der Verengerung der Gefässe, und,
wenn es sich um das Gesicht handelt, Mydriasis wegen Erregung der Fasern des
Dilatator pupillae, — und ein Stadium der Lähmung : Anhidrosis neben Hyperämie
der Haut und Myosis. Nicht selten offenbaren sich diese Symptome zugleich mit
den Erscheinungen einer allgemeinen, möglicherweise gleichfalls mit der Affection
des Sympathicus in Verbindung stehenden Krankheit , den Erscheinungen des
Diabetes mellitus (Külz, Schmitz, Gerhardt53).
Sehweisshemmende und schweisserregende Gifte. Nach-
dem Heidenhaest 54) darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Atropin die Eigen-
schaft besitzt, die secretorischen Functionen der Chorda an der Submaxillardrüse
aufzuheben , lag es nahe , den Einfluss des Atropins auch auf die Secretion des
Schweisses zu prüfen/ Die Prüfung wies an den Schweissdrüsen den analogen
hemmenden Erfolg auf, so dass letzteres heute in Dosen von 0-5 — 1*0 Mgr. sub-
cutan und in Pillenform in der Pathologie als Antihidroticum vielfach verwandt
wird. Praktiker 55) empfehlen zu gleichem Zweck, beispielsweise gegen die Nacht-
schweisse der Phthisiker, Einpudern der Haut mit Streupulver von Salicylsäure
(Acid salicyl. 3, Amyl. 10, Tale. 87). Man kann sich nichts Anderes vorstellen,
als dass solche Pulver die Schweisssecretion rein mechanisch sistiren, indem sie
die Oeffnungen der Schweissdrüsen verstopfen.
Unter den schweisserregenden Mitteln nimmt das Alkaloid der
Jaborandiblätter, das Pilocarpin, die erste Stelle ein. Injicirt man es, wie zuerst
Strauss 56) beschrieben hat, in sehr kleinen Dosen (0*001 — 0 004 Mgr.) unter
die Haut, so bleibt seine Wirkung nur eine locale, und es treten Schweisströpfehen
auf nur in der Umgebung der Injectionsbeule. Bei grösseren Dosen (O'Ol bis
0'Ö2 Gr. für den erwachsenen Menschen) tritt neben gewissen Allgemeinerschei-
nungen Speichelfluss und Schweisssecretion am ganzen Körper auf.
Zwischen Atropin und Pilocarpin besteht somit ein gewisser Antagonismus.
Man kann sich von demselben auch direct überzeugen. Hat man beispielsweise
durch Pilocarpininjection Schweiss am ganzen Körper hervorgerufen, so genügt
eine kleine Dosis von Atropin , die Secretion des Schweisses sofort zu sistiren.
Und macht man kurze Zeit darauf eine zweite, starke Einspritzung von Pilocarpin,
so ruft dieselbe nur noch locale, nicht mehr allgemeine Schweisse hervor.
392 SCHWEISS.
Wie »las Pilocarpin , so gehören zu den schweisserregenden Giften noch
das Muscarin (Trümpy und Luchsinger57), der Campher, der Liquor ammomac.
acetic. (Marme08), das Picrotoxin (Luchsinger59), Nawrocki60), J. Ott und
Woodfield 01), das Physostigmin und das Nicotin (Luchsinger, Nawrocki).
Schneidet man , bevor man eines dieser Gifte einem Kätzchen injicirt,
den N. iscMadicus einer seiner Pfoten durch , so zeigt es sich , dass an dieser
Pfote keine Secretion eintritt, wenn das injicirte Gift war: Campher, Ammomac.
acetic, Picrotoxin, Physostigmin oder Nicotin. Dagegen hat eine vorausgehende
Durchschneidung des Nerven auf die Schweisssecretion der operirten Pfote keinen
Einfluss, wenn Muscarin oder Pilocarpin zu solchen Injectionen verwandt worden ist.
Hieraus geht hervor, dass die erstgenannten Gifte nur die Ganglien der
Schweisssecretion erregen, letztere die peripherischen Nerven. Vom Pilocarpin gilt
beides, da sein Einfluss auf die Schweissdrüsen einer Pfote auch nach Durch-
schneidung des der Pfote zugehörigen Nerven nicht verloren geht und anderseits,
wie der oben beschriebene, vom Verfasser beobachtete Fall von Rückenmarks-
lähmung beweist, auch anf die Centren wirkt.
Stärke der Schweisssecretion und Menge des Schweiss-
secretes. Die natürliche Thätigkeit des Schweissnervenapparates ist von zwei
Dingen abhängig; 1. von individuellen Dispositionen und Zuständen und 2. von
äusseren Bedingungen.
1. Schon unter normalen Verhältnissen ist die Neigung zu schwitzen
individuell sehr verschieden. Schwächliche, leicht reizbare und nervöse Individuen
sind mit besonderer Disposition zum Schwitzen behaftet. Gewisse Krankheiten
steigern die Thätigkeit der Schweissdrüsen pathologisch. Wir sehen hier ab von
denjenigen Erkrankungen des Nervensystems , welche den Herd der Schweiss-
secretion direct angreifen und erregen und deren Sitz nach den früheren Er-
örterungen sich leicht construiren lässt. Wir beschränken uns hier vielmehr auf
Andeutungen über Beziehungen allgemeiner Affectionen zur Thätigkeit der
Schweissdrüsen.
Jede acute fieberhafte Krankheit steigert in einer Phase ihres Be-
stehens die Schweisssecretion. Im Anfang der sogenannten Defervescenz des Fiebers
tritt entweder neben rapidem Temperaturabfall eine sogenannte kritische, das
heisst von Milderung der wichtigsten Krankheitssymptome begleitete sehr reich-
liche Schweisssecretion auf, oder neben allmälig stattfindendem Temperaturabfall
ein allmäliges Sinken der Krankheitserscheinungen mit sogenannten lytischen,
das heisst massig auftretenden und langsam wieder verschwindenden Schweissen.
Für Malariaaffectionen ist es charakteristisch , dass bei ihnen solche
Schweisseruptionen periodisch wiederkehren.
Von chronischen Affectionen giebt es eine ganze Reihe, welchen es eigen-
thümlich ist, eine krankhafte Neigung zum Schwitzen hervorzurufen. Vor Allem
gehören hierzu : rheumatische Affectionen , besonders die der Gelenke , Anämien
und Cachexien verschiedener Art. Unter den letzteren ist bekanntlich die Phthise
so regelmässig von gesteigerter Schweissproduction begleitet, dass man diese
geradezu als eines der pathognomischen Zeichen der Krankheit ansieht.
2. Die Natur eines Theiles der äusseren Bedingungen, welche Einfluss
auf die Schweisssecretion ausüben , ergiebt sich mit Leichtigkeit aus dem , was
über die Reizquellen der Schweisssecretion gesagt worden ist. Muskelbewegung,
psychische Emotionen, sensible Reize, und unter diesen besonders die Einwirkung
hoher Temperaturen, regen die Schweisssecretion an. Diese Erregung ist besonders
dann sehr mächtig, wenn die erwähnten Factoren, zumal Muskelbewegung, mit
hohen Wärmegraden der Umgebung sich combiniren. Ganz entgegengesetzt ist die
Wirkung der Kälte auf die Schweisssecretion. Sie hemmt dieselbe und zwar
nicht nur wegen ihres Mangels an Fähigkeit, den Schweissnervenapparat zu
erregen , sondern auch wegen ihres die Drüsenelemente in der Haut direct para-
lysirenden Einflusses.
SCHWEISS. 393
Ein anderer Theil von Beizen gewinnt dadurch einen Einfluss auf den
Schweissnervenapparat , dass er vorher materielle Veränderungen im Körper
hervorruft, was bei den eben erwähnten nicht der Fall ist. Dazu gehören vor
Allem die Wirkungen der schon besprochenen specifischen, schweisserregenden und
schweisshemmenden Gifte. Hierher sind ferner noch eine Keihe von medicamentösen
Stoffen zu zählen, deren Einfluss auf den Schweissnervenapparat nur als eine
Nebenwirkung desselben angesehen werden kann. So ist es beispielsweise der Fall
bei der Salicylsäure und dem Morphium, die beide beim Menschen die Schweiss-
secretion befördern. Auch gehört hierher die auch den Laien als schweisserregend
bekannte Wirkung heisser, besonders gewürzter Getränke. Andere Factoren wirken
durch Aenderung des Gasgehaltes im Blut auf das System der Schweissganglien.
So kann man bei jungen Kätzchen Schweisssecretion durch Erstickung (Luchsinger)
hervorrufen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die grosse Neigung zum Schwitzen
bei Anämischen auf den mangelnden Hämoglobin- und Sauerstoffgehalt ihres Blutes
zurückzuführen ist, und dass der sogenannte Todesschweiss hervorgerufen wird
durch eine suffocatorische Erregung des allgemeinen Schweisscentrums in der Med.
oblongata (Adamkiewicz).
Man findet nicht selten die Ansicht vertreten , als ob der Wassergehalt
der Luft zur Secretion des Schweisses in irgend welcher Beziehung stände.
Davon kann selbstverständlich nicht die Bede sein. Der Wassergehalt der Luft
ist weder ein Beiz, noch ruft er irgend welche, den Giften analoge materielle Ver-
änderungen im Innern des Körpers hervor. Nur insofern, als der Wassergehalt der
Luft in Beziehung steht zur Wärmeabgabe des Körpers und somit indirect auch dessen
absolute Temperatur beeinflusst, kann er durch letztere indirect auf die Schweiss-
nerven wirken. Direct beeinflusst der Wassergehalt der Luft nur die Schnellig-
keit, mit welcher der bereits gebildete Schweiss verdampft.
Mit Bestimmungen über die absolute Menge von Schweiss, welche
der menschliche Körper liefert , haben sich besonders Seguin 62) , Funke und
Weyrich 63) beschäftigt. Bei der grossen Zahl von Bedingungen, von welchen die
Schweissmenge abhängig ist, und bei den unvermeidlichen Fehlern, welchen jede
der zur Bestimmung der secernirten Schweissmengen angewandten Methoden*)
unterliegt, ist es erklärlich, dass man weder zu übereinstimmenden, noch überhaupt
ganz sicheren Werthen gelangt ist. Es möge deshalb hier zu bemerken genügen,
dass nach Seguin die Haut dem gesammten Körper eines erwachsenen Menschen
im Mittel 917*8 Grm. oder 1/16 des Körpergewichts und doppelt so viel als die
Lunge an Wasser abführt , und dass Weyrich die Grösse der täglichen Wasser-
ausscheidung durch die Haut auf ungefähr 560 Grm. berechnet hat.
Endlich sei noch kurz erwähnt, dass grosse Verluste an Schweiss den
Körper erschöpfen und dass die Schweissmenge zur Menge des ausgeschiedenen
Harns in gewisser Beziehung steht. Ist die Schweissmenge gross, so pflegt die
Menge des Harns zu sinken und die Concentration desselben zu steigen und
umgekehrt.
Physiologische Bedeutung. Die physiologische Bedeutung des
Schweisses ergiebt sich aus der Natur der Bestandtheile, welche er aus dem
Organismus entfernt. Sein geringer Gehalt an festen Stoffen weist ihm als einem
Excretionsproduct neben dem Harn nur eine untergeordnete Bolle zu. Die grosse
Menge von Wasser indessen, die er dem Körper entführt, und vor allen Dingen
der Modus, wie er es thut, in kleinen Portionen auf einer grossen Fläche,
legt dagegen seine hohe Bedeutung als eines Wärme entziehenden Mittels ausser-
ordentlich nahe.
Ob dem Schweiss noch andere Aufgaben zukommen, ob namentlich Unter-
brechungen der Schweisssecretion von so nachtheiligen Folgen sind, wie es die
bekannten Versuche an gefirnissten Thieren und der Volksglaube von der ominösen
*) Ueber dieselben geben nähere Auskunft die Lehrbücher der Physiologie.
394 SCHWEISS. — SCHWEIZERHALL.
Bedeutung „verhaltener" oder „zurückgetretener" Schweisse zu beweisen scheinen,
darüber ist zur Zeit wissenschaftlich noch nichts bekannt. "Wahrscheinlich ist es,
dass hier Ursache und Wirkung miteinander verwechselt werden , und dass für
den Körper nicht die Folgen des unterbrochenen Schweisses ruinös sind, sondern
die Ursachen, welche diese Unterbrechung bedingen.
Literatur: l) Opera omnia. 1687, pag. 203. — 2) Annales des sciences naturelles.
Bd. II, 1834. — s) Archiv f. Anat. und Physiologie. Berlin 1835. — 4) R. Wagner's
Handwörterbuch der Physiol. Bd. II. — f) Handbuch der menschlichen Anatomie. 1876.
Bd. 1, pag. 107. — 6) Archiv d. ges. Physiolog. 1878. Bd. XVIII, pag. 494. — 7) Mo le-
se ho tt's, Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen. Bd. IV, pag. 36. — b) Archiv f.
physiol. Heilk. Bd. XI, pag. 73- — 9) Compt. rend. Bd. XXXV, pag. 721. — 10) Zeitschi-.
der Gesellschaft d. Aerzte zu Wien. Bd. XII. — u) Annalen des Charite-Krankenhauses zu
Berlin. 1878. Bd. III, pag. 381.— 1S) Physiologie der Haut. Berlin 1876. — 13) Vergl.
W. Krause, Handb. der menschl. Anat, 1876. Bd. I. pag. 107. — 14) Vgl. Cohnheim,
Vorlesungen über allgem. Pathalogie. Berlin 1880. Bd. II, pag. 531. — l5) Journal de physiol.
1859, pag. 449. — l6) Chirurg. Erfahrungen. 2. Abth., pag. 170. — 17) Arch. gener. JuiuVt,
Sept., Xov. 1854. — ,8) Archiv i. pathol. Anat. 1870. Bd. LI, pag. 425. — 19) Ebenda.
1875. Bd. LXII, pag 435. — 20) Schmidfs Jahrb. 1870, pag. 265. — 21) Archiv f. d.
ges. Physiol. 1875. Bd. XI, pag. 71. — »*) Vgl. Centralbl. f. d. med. Wissenschaften. 1878,
pag. 2. — Moskauer ärztl. Anzeiger. 1876. Nr. 25. — 23) Journal de med. 1816. Bd. XXXVII.
— 24) Archiv f. d. ges. Physiologie. 1876. Bd. XIII, pag. 212. — ?s) Berichte der physiol.
Gesellschaft zu Berlin. Sitzung vom 28. Sept. 1876. — 26) Zusammengestellt in: Herr-
in ann's Handbuch der Physiologie. Leipzig 1880. Bd. V, pag. 420- — 27) Centralblatt für
die med. Wissenschaften. 1878. Nr. 1. — 2b) Die Secretion des Schweisses, eine bilateral-
svmmetrische Nervenfunction. Berlin, Hirschwald. 1878 — 29) Vgl. Gaz. hebd. de med. et
de chir. 1878, pag. 263 und 394. *- 80) Archiv f. d. ges. Physiologie. Bd. XVUI. pag. 486.
— 31)Adamkiewicz in Virchows Archiv. 1879, Bd. LXXV, pag. 555 und 1879. Bd LXXVII.
— S2) Vgl. Berliner klin. Wochenschr. 1878. Nr. 31 und 1881 Nr 12. — 33) Adamkiewicz,
Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin. Sitzung vom 12. Dec. 187^'. —
s4) Compt. rend. Tome LXXXVI. 1878, pag. 1308. — 35) Centralblatt f. d. med. Wissen-
schaften. 1878, pag. 18. — 36) Compt. rend. Tome LXXXVII. Nr. 14. — 37) Centralblatt
f. d. med. Wissenschaften. 1880, pag. 949. — 3S) Contribution a l'e'tude de la physiologie
normale et pathologique des sueurs. These pour le doctorat en medecine. Paris 1880, pag. 41.
— 39) Unveröffentlichte Versuche. Citirt nach Bouveres. These d'agreg. Concours de
1880. — 40) Compt. rend. Tome LXXXVII. Nr. 14. — 41) These de Paris. 1867. — 42> Betard
de la sudation provoque'e de la face comme un nouveau signe pouvant servir au diagnostic
des ditr erentes formes de paralysie faciale. Communication ä la Soc. de biol. 25. Oct. 1879.
Gazette medicale, 6me serie, Tome II, Nr. 2 et 3- — 43) Vgl. Fried reich, Ueber pro-
gressive Muskelatrophie, über wahre und falsche Muskelhypertrophie. Berlin 1873, pag. 183.
— Ferner: Virchow*s Archiv. Bd. XXVT, pag. 399. — 44) These d'agregat. Des paralysies
hidbairen. Paris 1875. — 45) Archiv f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1875, pag. 790.
— 46) Annalen des königl. Ckarite-Krankenha«ises zu Berlin. Vierter Jahrg., pag. 435. —
Adamkiewicz, Zwei Parallelfälle: Poliomvelitis-Bleilähmung. — 47) Archiv f. d. ges.
Physiol. Bd. II, pag. 136. — 4S) Virchow's Archiv. 1879. Bd. LXXV. pag. 559, Anmerkung.
49) Ueber Paralyse des Halssympathicus. Diss. Zürich. 1873. — 50) Ueber nervöse Hyper-
und Archidrosis. Jena 1867. Diss. — 51) Die Pathologie des Sympathicus auf physiologischer
Grundlage. Berlin 1873. — :'2) Des le'sions de la porlion cervicale du grand, sympathique.
These. Paris. 1869 — °3) Külz, Beiträge zur Pathologie und Therapie des Dia betes mellitus.
Marburg 1874. — Schmitz, Berliner klin. Wochenschr. 1874. Nr. 44. — Gerhardt,
Ueber einige Angioneurosen. — Volkmann's Sammlung klinischer Vorträge. Nr. 209,
— 34) Archiv für die ges. Physiol. 1872. Bd. V, pag. 40. — 55) Köhnhorn, Berliner
klin. Wochenschr. 1880. Nr. 1. — 'M) Compt. rend. 7. Juillet, 1879. — b~) Archiv für die
ges. Physiol. 1878. Bd. XVJJI, pag. 503. — ") Nachrichten der Göttinger Gesellschaft
der Wissenschaften. 1878. Nr. 3. — 59) Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. XVI, pag. 538. —
60) Centralbl. f. d. medic. Wissenschaften. 1879. Nr. 15. — 61) Journal of physiol. Bd. I,
pag. 193. — 62) Citirt nach Funke's Lehrb. d. Physiol. Herausgegeben von Grünhagen.
Leipzig 1876. Bd. I, pag. 396. — 63) Beobachtungen über die unmerklichen Wasseraus-
scheidungen der Lungen und ihr Verhältniss zur Hautperspiration. Dorpat 1865.
Ada mkiewiez.
Schweißfriesel, Schweisssucht, s. „Miliaria", IX, pag. 60.
Schweizerliall, Soolbad, 8 Kilom. von Basel, 276 M. über Meer. Lage
unmittelbar über dem Rhein, auf erhöhter Terrasse. Clinia mild. Das kalte Sool-
wasser entsteigt dem Steinsalz und ist mit Chlornatrium 2392 in 10000) beinahe
gesättigt ; ausserdem enthält es fast nur Kalksulphat (44). Der Gehalt an C 0, ist
unbedeutend. B jr l.
SCHWIHMPROBE. — SCILLA. 395
Schwimmprobe, s. „Kindstödtung", VII, pag. 414.
Schwindel, s. Vertigo.
Scilla. Bulbus Scillae, Meerzwiebel. Nach Pharm. Germ, die zer-
schnittenen mittleren Zwiebelschalen von Scilla maritima L. (Urginea Scilla
Steinh.), einer an den Küsten des Mittelmeeres häufig vorkommenden Liliacee, im
getrockneten Zustande hornartig , weisslich , von ekelhaft bitterem und zugleich
schleimigem Geschmack.
Die ganze frische Zwiebel ist eiförmig, bis kopfgross; ihre äussersten
Schalen sind rothbraun , vertrocknet , die inneren fleischig , saftig , braunroth ; zu-
weilen sämmtliche Zwiebelschalen weiss oder die äusseren rothbraun, die inneren
weiss oder weiss und rothbraun berandet, wornach man eine r o t h e und weisse
Scilla unterscheidet. Von beiden Varietäten kommen auch die zerschnittenen und
getrockneten Zwiebelschalen im Handel vor.
V. Schroff hat gezeigt, dass die rothe Scilla reicher an -wirksamen Bestand-
teilen ist als die weisse, dass die äusseren saftigen Zwiebelschalen eine grössere Wirksam-
keit besitzen als die inneren, und dass die innersten endlich ganz unwirksam sind. Pharm.
Austr. fordert daher die rothe Scilla und bestimmt, dass blos die äusseren und die auf sie
zunächst folgenden mittleren saftigen Schalen verwendet, die äussersten vertrockneten und
die innersten weichen, schleimig- saftigen dagegen entfernt werden. Die entsprechend getrock-
neten Zwiebelschalen der rothen Scilla haben eine blass-bräunlichrothe Farbe ; das aus ihnen
hergestellte Pulver ist röthlich.
Die wirksamen Bestand theile der Meerzwiebel sind trotz zahl-
reicher, namentlich auch den letzten Jahren angehörenden Untersuchungen noch
nicht hinreichend erkannt.
Nach V. Schroff enthält sie neben dem narkotisch-giftigen, von Tilloy
als harzartige, sehr scharf und bitter schmeckende, amorphe Substanz beschriebenen
Scillitin noch ein scharfes, nicht flüchtiges Princip, welches in grösster Menge
in den äusseren Zwiebelschalen sich findet. Auch Mandet (1860) will neben einem
als Scillitin bezeichneten Körper, der aber nicht giftig, sondern blos diuretisch
und als Expectorans wirken soll, eine nicht näher charakterisirte, als Skulein
bezeichnete, scharf und giftig wirkende Substanz gefunden haben.
Mit vollem Rechte erklärt Husemann (1876) den von verschiedenen
Autoren als Scillitin dargestellten Körper als ein Gemenge von variabler Zusammen-
setzung und das Scillitin des Handels als ein gereinigtes Scillaextract von ganz
unzuverlässiger Wirkung.
Neuestens hat Merck (1879) aus der Meerzwiebel drei Körper isolirt:
1. Scillitoxin, als amorphes (zum Theil krystallinisches), gelblichbraunes Pulver,
unlöslich in Wasser und in Aether, löslich in Alkohol, von äusserst bitterem
Geschmack, etwas kratzend im Munde und zum Erbrechen reizend; 2. Scillin,
krystallisirbares Glycosid, ein weisslich-gelbes Pulver von süsslichem Geschmack, leicht
löslich in heissem Aether und in Alkohol, schwerer in kaltem, leicht in heissem Wasser,
in der Meerzwiebel nur in sehr geringer Menge vorkommend; 3. Scilli pikrin,
amorphe (zum Theil krystallinische), gelblich-weisse Substanz von nicht sehr bitterem,
zugleich kratzendem Geschmack, in Wasser löslich, in Lösung etwas sauer reagirend.
In demselben Jahre stellte E. v. Jarmerstedt aus der Scilla ein stick-
stoffreines Glycosid, Scillain, dar, in Form einer lockeren, leicht zerreiblichen,
farblosen oder etwas gelblichen Substanz, die in Wasser nur sehr wenig, leicht
in Alkohol löslich ist.
Verdünnte Säuren lösen das Scillain in der Kälte nicht ; beim Erwärmen backt es
zu einer harzartigen Masse zusammen, welche sich beim Kochen leicht zersetzt. Die Flüssig-
keit reducjrt dann Kupferoxyd in alkalischer Lösung, enthält also Glycose , während daneben
eine in Aether leicht lösliche harzartige Masse entsteht. Concentrirte Salzsäure löst das
Scillain mit rosenrother, concentrirte Schwefelsäure mit brauner, lebhaft in Grün fluores-
cirender Farbe. Jarmerstedt glaubt im Scillain den auf das Herz wirkenden Bestand-
teil der Scilla (s. weiter unten) gefunden zu haben.
Riche und Rehont erhielten (1880) aus der Scilla veränderliche Mengen
(2V2 — 19-8°/o) eines der löslichen Stärke, dem Inulin und Gummi vergleichbaren
396 SCILLA.
Kohlehydrats, welches sie gleichfalls Sei Hin nennen, als eine amorphe, spon-
giöse, geblichweisse Masse, löslich in allen Verhältnissen in Wasser, wenig in
starkem , etwas besser in verdünntem Alkohol , links drehend , nicht reducirend,
sich durch Säuren und vielleicht auch durch Diastase , oder ein analoges , in der
Meerzwiebel enthaltenes Ferment leicht in Zucker verwandelnd. Aus letzterer
Eigenschaft erklären sie die Thatsache, dass der bittere Geschmack der Meerzwiebel
sehr verschieden ist in verschiedenen Zwiebelschalen, ja dass sogar einzelne derselben
statt bitter süss schmecken und dass im Scillapulver sich wenig Scillin findet,
dagegen reichlich Zucker. Wohl dieselbe Substanz ist Schmiedeberg's (1869)
S i n i s t r i n. Zucker ist übrigens reichlich in der Zwiebel enthalten (nach
Rebling bis 22°/0) besonders im Frühling (Anwendung zur Branntweinbereitung
in Griechenland).
Von sonstigen Bestandtheilen enthält die Scilla auch noch reichlich
Schleim und Oxalsäuren Kalk, in sogenannten Raphiden (nach Queckett
bis lO0/0 des Pulvers) neben Farbstoff, Prote'i'nsubstanzen etc.
Die frischen Meerzwiebelschalen wirken örtlich reizend, erzeugen auf der
Haut Prickeln, Röthung, allenfalls selbst Entzündung mit Bläschenbildung. Nach
v. Schroff ist diese Wirkung nicht von einem besonderen flüchtigen scharfen
Stoffe bedingt , sondern durch die eben erwähnten Kalkoxalat-Raphiden , welche
einfach mechanisch reizend wirken.
Scilla ist eines der ältesten diuretischen Arzneimittel; auch wird an-
genommen , dass sie als Expectorans zu wirken im Stande sei. Anhaltender
Gebrauch, auch in kleinen Gaben, führt leicht zu Digestionsstörungen ,; grössere
Dosen rufen Uebelkeit , Erbrechen , zuweilen Durchfall und oft bedeutende Puls-
verlangsamung hervor.
Ueber einige wenige Vergiftungen mit Scilla , zum Theil mit letalem Ausgang
liegen aus älterer Zeit nichts weniger als zuverlässige Berichte vor. Darnach wurden neben
heftigen Magenschmerzen. Ekel, Erbrechen etc., auch Convulsionen beobachtet. (Vergleiche
Mnrray, apparat. V, TV i b m e r V.)
Aus von Husemanx und König mit dem officin eilen Extr actum Scillae
an Thieren (Fröschen, Tauben, Kaninchen, Katzen) angestellten Versuchen geht
hervor, dass die Meerzwiebel einen Bestandtheil enthält, der nach Art der haupt-
sächlichsten Digitalisstoffe (s. den Art. „Digitalis") auf das Herz und die Circu-
lation wirkt, zunächst Verstärkimg und Verlangsamung der Herzcontractionen und
bei Anwendung letaler Dosen systolischen Herzstillstand bedingt. Diese Wirkung
kommt zu Stande, ohne dass Entzündungserscheinungen im Magen und Darm ein-
treten, oder nach dem Tode nachweisbar wären. Die beim Menschen und bei
Thieren beobachteten, auf örtliche Wirkung zurückgeführten Symptome, wie Ekel,
Erbrechen , sind allen Herzgiften eigen. Ebensowenig fanden sich intensivere
Reizungserscheinungen in den Nieren. Für die diuretische Wirkung des Mittels
ergiebt sich als einzige zulässige Erklärung die durch dasselbe bewirkte, allen
Herzgiften eigenthümliche Steigerung des Blutdrucks. Für die angenommene
expectorirende Wirkung der Scilla konnten aus den Versuchen keinerlei Anhalts-
punkte gewonnen werden. Jener auf das Herz wirkende Bestandtheil liegt zweifellos
im Scillain Jarmerstedt's vor.
Nach Jarmerstedt ist die Empfänglichkeit für dieses Gift bei den einzelnen
Versuchsthieren sehr verschieden. Beim Landfrosch genügen Dosen von O'OOOl — 00002, um
den Tod herbeizuführen, während beim "Wasserfrosch O'OOOo— 0001 hierzu erforderlich sind.
Als letale Dosen per Kilo Thier wurden bei Kaninchen 0'0025, bei Katzen 0'002, bei Hunden
0-001 ermittelt.
Bei Hunden und Katzen beobachtete Jarmerstedt zuerst Nausea, dann Erbrechen
und Darmentleerungen oder blos Erbrechen. Bei der Einwirkung des Giftes auf das Frosch-
herz tritt zunächst sogenannte Herzperistaltik auf und bei letaler Dosis schliesst sich daran
systolischer Herzstillstand an. Bei Säugern lassen sich zwei Stadien der "Wirkung unter-
scheiden : a) charakterisirt durch Erhebung des Blutdrucks und Herabsetzung der Pulsfrequenz:
b) charakterisirt durch Herabsinken des Blutdrucks und Zunahme der Pulsfrequenz. Die
auftretende Dyspnoe ist als Folge der veränderten Herzaction zu betrachten und kommt erst
gegen Ende der Versuchszeit zur Beobachtung. Eine Einwirkung des Scillain auf die Muskeln
SCILLA. — SCIRRHUS. 397
äussert sich beim Frosche und Kaninchen in Form einer Lähmung ; bei Katzen und Hunden
ist eine solche nicht deutlich nachweisbar, wahrscheinlich, weil die Herzlähmung den Tod
so rasch herbeiführt, dass jene nicht Zeit hat, sich zu entwickeln. Centrale Wirkungen des
Scillain Hessen sich sicher nicht nachweisen. Die diuretische Wirkung ist, wie auch die
Herzwirkung auf die nämliche Ursache, wie bei Digitalis, zurückzuführen.
Die Merck'schen Präparate sind von C. Möller an Thieren, von Fronmüller
an Kranken geprüft worden. Ersterer fand, dass Scillitoxin und Scillipikrin Herzgifte sind
(letzteres ein schwächeres), dem Scillin dagegen keine Wirkung auf das Herz zukomme; es
sollen ihm hauptsächlich die auf das Nervensystem gerichteten Nebenwirkungen der Scilla
zukommen. Fronmüller giebt auf Grund seiner Versuche an, dass das Scillitoxin zwar
in der Mehrzahl der Fälle ziemlich starke Diurese bewirkte, es sei aber der Hauptträger der
toxischen Wirkung der Scilla und eigne sich deshalb zu therapeutischen Zwecken nicht,
ebensowenig das Scillin, das in sehr geringer Menge in der Meerzwiebel vorkomme und erst
in grossen Dosen wirke; dagegen sei das Scillipikrin, in wässeriger Lösung subcutan appli-
cirt, ein Diureticum ersten Ranges, das wohl von keinem Diureticum übertroffen werdeil
kann (in 17 schweren Fällen von Oligurie versagte es zweimal), doch erzeuge es häufig
örtliche Reizung an der Applicationsstelle.
Therapeutische Anwendung der Meerzwiebel und ihrer Präparate.
Vorzüglich als Diureticum bei Hydrops, nach Husemann mit den für Digitalis
giltigen Indicationen und Contraindicationen (also bei gesunkenem Blutdruck indi-
cirt, bei erheblicher Steigerung desselben contraindicirt), gewöhnlich in Combination
mit anderen harntreibenden Mitteln; seltener als Expectorans bei chronischen
Lungenaffectionen und zum Theil auch als Emeticum bei Kindern (nicht
gerechtfertigt).
Die getrockneten Zwiebelschalen (Squamae Scillae siccatae), intern zu
0-03 — 03 m. t. meist in Pillen, seltener im Infus, oder Decoct (2-0 — 4-0 auf
100-0— 200-0 Col.).
Präparate.
1. Ex tr actum Scillae, Meerzwiebel extract. Pharm. Germ, et Austr.
Spirituöses dickes, gelblichbraunes, in Wasser fast klar lösliches Extract. Intern
zu 0-02 — 0-1 m. t. in Pillen, Pulvern, Mixturen. (Ph. Germ. 1882. Maximaldose
0-2; pro die 1*0.)
2. Acetum Scillae, A. scilliticum, Meerzwiebelessig. 1 Th. Scill.
siccat. mit 9 Th. Acetum und 1 Th. Sp. V. 3 Tage macerirt, ausgepresst, filtrirt
Pharm. Germ. (Macer. aus 1 Th. Scilla siccat. mit 10 Th. Acetum. Pharm. Austr.)
Intern zu 1-0 — 5-0 pro dos., 30-0 pro die meist in Mixturen und Saturationen.
Selten extern zu Bähungen, Einreibungen, als Zusatz zu Clysmen etc.
3. Tinctura Scillae, Meerzwiebeltinctur , Pharm. Germ. Digest.
Tinctur (1 : 5 Sp. V.) und
4. Tinctura Scillae kalina, kalihaltige Meerzwiebeltinctur.
Pharm. Germ. Mac. Tinct. aus 8 Th. Scilla siccat. , 1 Th. Kai. caust. und
50 Sp. V. du. Intern zu 0*5— 1*0 (10—20 gtt.) pro dos., 5-0 pro die; selten
allein, meist mit anderen Diureticis in Tropfen und Mixturen.
5. Oxymel Scillae, Meerzwiebel-Sauerhonig. Pharm. Germ, et Austr.
Mischung von 1 Th. Acet. Scillae mit 2 Th. Mel. depurat. auf 2 Th. abgedampft
und colirt. Intern zu 5*0 — 10-0 (1 — 2 Theelöffel) pro dos., 30"0 pro die; für
sich, als Emeticum bei Kindern, sonst als Zusatz zu diuretischen, expectorirenden
und emetischen Mixturen.
Literatur: v. Schroff, Urginea Scilla. Wochenbl. der Zeitschr. der Gesellsch.
der Aerzte in Wien. 1864. — König, Einige Untersuchungen über die Wirkungsart des
Extractum Scillae etc. Inaug.-Dissert. Göttingen 1875. — Th. Husemann, Zur Wirkung
der Meerzwiebel. Deutsche med. Wochenschr. für prakt. Aerzte. 1876; Rundschau 1877.
Derselbe, Ueber einige Herzgifte. Archiv für exper. Path. u. Pharm. V. 1876. —Merck,
Bunzlauer pharm. Zeitung. 1879. Archiv der Pharm. XIV. — C.Möller, Ueber Scillipikrin,
Scillitoxin und Scillin. Dissert. Göttingen 1878- — Fronmüller, Memorab. XXIV. 1879.
Schmidt's Jahrb. ßd. CLXXXVI. — Jarmerstedt, Ueber das Scillain. Archiv für exper.
Path. u. Pharm. XI. 1879. — Riche u. Remont, Müdes sur la Solle maritime. Journ.
de Pharm, et Chim. V. 2. Bd. 1880. Vogl.
Scintillatio (von scintilla), Funkeln, s. „Photopsie", X, pag. 562.
Scirrhus, s. „Carcinom", II, pag. 694.
398 SCOLIOSE. — SCORBÜT.
Scoliose (von cxoXio;), s. „Bückgratsverkrümmuugen", XI, 598.
Scolopendrium. Folia scolopendrii (f einlies de scolopendre,
Pharm. franc), die Blätter von Scolopendrium ofjicinale Smith {Asplexium
Scolopendrium L., Hirschzunge), Schleim und Bitterstoff enthaltend; in frischem
Zustande früher nach Art der Amara resolventia, die getrockneten Blätter im Aufguss,
als Bestandteil der Species bechicae (especes bechiques der Pharm, fraii^-.).
Scoparia, s. „Genista", V, pag. 712.
Scorbut. Scharbock. Mit diesem (ethymologisch noch nicht ganz sicher
gestellten) Namen wird eine Allgemeinkrankheit bezeichnet, deren Charakteristica
kurz so anzugeben sind, dass sie durch unhygienische Verhältnisse erworben wird,
meist in epidemischer oder endemischer Weise kleinere oder grössere Menschen-
complexe befällt und in Bezug auf ihr klinisches Krankheitsbild sich theils durch
eine fortschreitende Anämie und Kachexie, theils durch grosse Neigung zu localen
Blutungen und hämorrhagischen Entzündungen, unter denen eine Zahnfleischaffection
obenan steht, auszeichnet.
Ob die Krankheit im Alterthum bekannt gewesen ist, scheint nicht
ausgemacht. Zwar werden manche Stellen aus Hippocrates, Aretaeus, Celsus,
Caelius Aurelianüs, Avicenxa, Plintus, Strabo u. A. als Andeutungen der-
selben (unter der Bezeichnung Magni lienes, Stomacace, Volvulus sanguineus etc.)
aufgefasst. Doch ist jedenfalls ein grosser Theil dieser Angaben nach den Dar-
legungen von Hirsch x) wohl mit mehr Becht auf andere Leiden , wie Malaria-
Kachexie, Stomatitis u. A. zu beziehen. — Die ersten zuverlässigen Beschreibungen
von Scorbutepidemien datiren aus dem 13. Jahrhundert und betreffen Erkrankungen
der während der Kreuzzüge im Orient unter Kriegsstrapazen leidenden Truppen,
wovon die schwerste die im Heere Ludwig's IX. vor Cairo ausbrechende Epidemie
des Jahres 1250 war.
Die genauere Bekanntschaft mit dem Scorbut und seiner Entstehung beginnt
im 15. Jahrhundert und fällt zusammen mit dem in Folge der Entdeckung Amerika's
und des ostindischen Seeweges eintretenden Aufschwung der überseeischen Schiff-
fahrt. Gleich in den Beginn dieser Periode fällt eine der bekanntesten Schiffs-
epidemien des Scorbut, nämlich die auf der Expedition Vasco de Gama's nach
Ostindien ausgebrochene, welche in Kurzem die grössere Hälfte seiner Mann-
schaften tödtete. Eine Unzahl von Schiffs epidemien, über die wir aus den folgenden
drei Jahrhunderten Mittheilungen haben, und die auch häufig Expeditionen in
unbekannte, besonders polare Gegenden betrafen, schliessen sieh dem an.
Etwas später, nämlich im 16. Jahrhundert, beginnen die zuverlässigen
Nachrichten über das Auftreten des Scorbut auf dem Lande; Euricius Cordus
(1534) gebraucht bei dieser Gelegenheit zum ersten Male den Namen „Scharbock" ;
die Schriften dieses Jahrhunderts behandeln besonders das häufige epidemische
Vorkommen der Krankheit an den skandinavischen, Nordsee- und baltischen Küsten.
Von früh an ist es im Gebrauch, nach dem Vorkommen einen „Landscorbut" und
„Seescorbut" zu unterscheiden, ohne dass diese Trennung dem Wesen nach begründet
und im Charakter und den Symptomen des Leidens nach den Localitäten eine
Grenze zu ziehen wäre.
Grosse Verwirrung wurde in der Folgezeit in die Anschauungen über die
Krankheit durch eine Reihe von Schriften gebracht, welche unter Anführung des
Eugalexus 2) im Dienste scholastischer Speculationen den Scorbut gleichsam als
die Universalkrankheit der damaligen Zeit hinstellten und die scorbutische Diathese
auf die verschiedensten anderen Krankheiten übertragen wollten. Auch die während
dieser Zeit der Unklarheit, die bis in das 18. Jahrhundert hineinreichte, gemachten
factischen Mittheilungen über beobachtete Epidemien enthalten, wie Hirsch hervor-
hebt, vielfache Verwechslungen, namentlich mit Malaria und Ergotismus, so dass
die noch von manchen Autoren festgehaltene Anschauung von der enormen Aus-
breitung und nosologischen Wichtigkeit des Scorbut in früheren Jahrhunderten
SCORBUT. 399
beträchtlich einzuschränken ist. — Erst von der Mitte des vorigen Jahrhunderts
an herrschte wieder Klarheit über den Begriff der Krankheit, wovon besonders
die classische und noch für heutige Zeit in vielen Punkten massgebende Monographie
von Lind 3) Zeugniss giebt.
Im Uebrigen ist es an dieser Stelle unmöglich , auch nur einen kleinen
Theil der überhaupt bekannt gewordenen Schiffs- und Landepidemien des Scorbut
zu erwähnen ; und es muss zum Studium der Einzelheiten auf die hauptsächlichsten,
die Krankheit behandelnden Monographien (siehe Literatur) verwiesen werden.
Die Abhängigkeit der Scorbutepidemien von hygienischen Miss-
ständen, welche bei dem Landscorbut ebenso wie bei dem Seescorbut hervor-
tritt, bringt es mit sich, dass mit Verbesserung der hygienischen Verhältnisse jene
an Schwere und Häufigkeit in neuerer Zeit sehr verloren haben. Seitdem zu Ende
des vorigen Jahrhunderts zuerst in England, dann auch bei den übrigen Nationen
eine rationelle Schiffshygiene eingeführt ist und für Ausrüstung und Verproviantirung
der Kriegs- und Handelsschiffe für weitere Seereisen genügend gesorgt wird, sind
heftigere See-Epidemien zur Seltenheit geworden. Und ebenso nimmt das Auftreten
der Krankheit zu Lande seit Beobachtung strenger hygienischer Massregeln bei
Kriegführung, in Gefängnissen und unter den andern gleich zu erwähnenden, den
Scorbut begünstigenden Verhältnissen in neuerer Zeit zusehends ab, so dass ein
endemisches Vorkommen derselben nur in wenigen Orten noch bekannt ist und
epidemisches Erscheinen in einigermaassen grösserem Umfange meist durch ausser-
gewöhnliche Umstände bedingt wird. So sei aus den letzten zwei Jahrzehnten als
Beispiel solcher kleineren Epidemien das Auftreten des Scorbut bei der BüRKE'schen
Expedition in Central- Australien 1861 4), im belagerten Paris 1871 5), bei der
englischen Nordpol- Expedition 1875/6 6) etc. genannt.
Nach dem geographischen Auftreten bevorzugt der Scorbut die
kälteren Zonen, namentlich des nördlichen Europas, ohne jedoch durch irgend ein
Clima ausgeschlossen zu sein. Bei weitem am häufigsten trat er im (europäischen
und asiatischen) Russland auf: von 114 Landepidemien, die Hirsch aus den drei
Jahrhunderten 1556 — 1857 zusammenstellte, fanden 31 in Russland statt, und zwar
die grössere Hälfte auf die Ostsee-Küsten beschränkt ; dies sind auch die einzigen
Gegenden, in denen noch jetzt der Scorbut stellenweise endemisch vorkommt. —
Auch aus dem nördlichen und mittleren Deutschland, sowie Norwegen sind Epide-
mien häufiger bekannt geworden , als in Grossbritannien , Frankreich , Italien,
Türkei etc. — Von aussereuropäischen Gegenden ist besonders Ostindien, ferner
Syrien und Californien als Sitz von Epidemien zu erwähnen. Dass bei Seereisen
gewisse Punkte, wie z. B. das Cap Hörn, lange Zeit wegen Gefahr des Scorbut
gefürchtet waren, hängt wohl weniger von der geographischen Lage derselben,
als der zu ihnen führenden langen und schwierigen Seefahrt ab.
Für die Aetiologie des Scorbut spielen, wie schon die oberfläch-
liche Betrachtung ganzer Epidemien wie einzelner Fälle lehrt, in den meisten
Fällen antihygienische, von der gewohnten Lebensweise abweichende
Verhältnisse, denen die Individuen vorübergehend oder längere Zeit ausgesetzt
waren, die Hauptrolle. Hierauf weist schon in der überwiegenden Zahl der Fälle
das Auftreten der Krankheit innerhalb eines beschränkten, in gleichen Umständen
zusammenlebenden Menschencomplexes hin. Am klarsten springt dies bei der
grossen Anzahl von Schiffsepidemien in die Augen ; dieselben betrafen grossentheils
sehr lange, zum Theil auch nach unwirklichen, z. B. polaren Gegenden gerichtete
Seereisen, bei denen die Mannschaften, ausser dem gedrängten Zusammenleben an
Bord, den Unbilden rauhen Seewetters oder gar eines Polarwinters, dauernden
Schiffsstrapazen und vor Allem dem Einflüsse permanenter Seekost, die in einem
Theil der Fälle verdorben oder knapp geworden, ausgesetzt war.
Aber auch bei dem Auftreten des Scorbut auf dem Lande walten meist
ähnliche Zustände; ein grosser Theil der Landepidemien beschränkte sich auf
kriegführende Truppen, belagerte Städte, oder in noch kleinerem Maassstabe auf
400 SCORBUT.
die Insassen von geschlossenen Baulichkeiten, wie Gefängnissen, Casernen, Kranken-
häusern Findelhäusern und ähnlichen Anstalten; und auch hier werden mangel-
hafte Ernährung, Anhäufung von Menschen, Mangel an guter Luft, Kälte,
Feuchtigkeit und ähnliche gesundheitswidrige Momente als Hauptschädlichkeiten
betont. Unter den 114 von Hirsch gesammelten Landepidemien fanden 40 in
belagerten Festungen oder in grösseren Truppenkörpern, 33 in Gefängnissen und
anderen Anstalten statt; und nur 41 waren von etwas grösserer Verbreitung unter
der Bevölkerung und fanden dabei zum Theil ihre Erklärung in allgemeineren
Calamitäten, wie : Hungersnoth (durch Missernte, Kartoffelkrankheit etc.), Kriegszeit
oder Aehnl. — Bei den meisten Laudepidemien findet sich übrigens die untere
Volksclasse viel stärker, als die gut situirte, der Erkrankung ausgesetzt.
Ausser diesem grössere Menschencomplexe betreffenden Auftreten der
Krankheit kommen jedoch, und zwar etwas häufiger als gewöhnlich erwähnt wird,
auch ganz vereinzelte, sporadische Fälle derselben vor; dieselben sind z. B. in
den Berliner Krankenhäusern meiner Erfahrung nach keine allzu grosse Seltenheit.
Unter den antihygienischen Schädlichkeiten, welche bei den erwähnten
Verhältnissen den Ausbruch des Scorbut veranlassen, stehen Abnormitäten
der Ernährung obenan. Doch scheint es bei Zusammenfassen aller vorliegenden
Erfahrungen nicht gestattet, dieselben oder sogar eine ganz bestimmte Form des
Nahrungsmangels als einzige Ursache der Erkrankung hinzustellen; und es dürfte
diese allerdings ziemlich verbreitete Ansicht aus einer etwas zu einseitigen Be-
trachtung einer bestimmten Classe von Epidemien hervorgegangen sein.
Ausgehend von der Häufigkeit der Schiffsepidemien und der bei langen
und schwierigen Seereisen erklärlichen Fehlerhaftigkeit der Ernährung suchte man
nämlich von jeher in erster Linie in der Seekost, bei welcher früher allgemein
und auch jetzt noch zum Theil das Salzfleisch und die getrockneten Hülsenfrüchte
prävaliren, die Ursache des Scorbut. Manche Punkte wurden hierbei über Gebühr
betont: So ist z. B. die Annahme, dass der längere Genuss des Pökelfleisches
und speciell des Kochsalzes in ihm die specifische Noxe für die Entstehung
der Krankheit sei, wieder aufgegeben, da viele See-Epidemien und die meisten
Landepidemien ganz ohne Vermehrung der Salzeinfuhr auftraten. — So ist ferner
die Annahme einer quantitativ unzureichenden Nahrung keinenfalls von allge-
meiner Giltigkeit, da, abgesehen von den aus Hungersnoth hervorgegangenen und
einigen in Gefängnissen bei beschränkter Diät ausgebrochenen Epidemien, bei vielen
der genau mitgetheilten Beispiele gerade das reichliche Vorhandensein von Nahrung
hervorgehoben wird. — Ebenso kann der Genuss verdorbener Nahrungsmittel,
wie z. B. schimmelig gewordenen Schiffszwiebackes, faulen Fleisches etc., nur für
eine kleine Zahl von Epidemien (auf Schiffen und in belagerten Städten) beschuldigt
werden. Schlechtes Trinkwasser, bei im Uebrigen guter und ausreichender
Nahrung, ist ebenfalls nur einige Male, darunter am auffallendsten bei der austra-
lischen Expedition Burke's 4) als Ursache der Erkrankung constatirt.
Mit mehr Recht ist dagegen an der Seekost und der dieser oft ähnlichen
Beköstigung kriegführender Truppen, belagerter Städte etc. die Einseitigkeit
derselben hervorgehoben worden, die sich in dem Fortfall gewisser bei der gewöhn-
lichen Ernährung der Menschen eine grosse Rolle spielenden Nahrungsmittel,
nämlich in erster Linie der frischen Vegetabilien, in zweiter des frischen
Fleisches ausspricht. Es ist verständlich, dass gerade diese Nahrungsmittel
unter den bei Scorbut-Epidemien waltenden Verhältnissen zu mangeln pflegen und
dies namentlich früher, vor Einführung besserer Schiffs- und Landhygiene, thaten.
Und es ist in einer grossen Zahl von Fällen, welche besonders Hirsch *) gesammelt
hat, und zu denen die Pariser Belagerungsepidemien5) noch neue Beispiele hin-
zugefügt haben, constatirt, dass gerade mit dem Ausgehen der Vorräthe an frischen
Gemüsen, Kartoffeln und frischem Fleisch und dem Beginn der Verpflegung mit
getrockneten Hülsenfrüchten, Reis, Pökelfleisch etc. die Erkrankung unter dem
betroffenen Menschencomplexe ihren Anfang nahm. Ebenso oft schwanden die
SCOKBUT. 401
Krankheitsfälle schnell nach Eröffnung der Möglichkeit, die bis dahin fehlenden
Nahrungsmittel zuzuführen, also z. B. nach Landung des erkrankten Schiffes,
Aufhebung einer Belagerung u. Aehnl. Auch das Seltenerwerden des Scorbut seit
Einführung besserer Nahrungshygiene, sowohl auf Schiffen seit besserer Fürsorge
für Verproviantirung der Mannschaften mit Kartoffeln, conservirten Gemüsen, ein-
gelegtem Fleisch, Citronensaft etc., wie in Gefängnissen und ähnlichen Anstalten
seit Verordnung rationell gemischter Kost, spricht für den Einfluss der frischen
Vegetabilien und ähnlicher Nahrungsmittel.
Eine gleichsam physiologische Erklärung dieses Einflusses geben Unter-
suchungen von Garrod 6), welcher nachwies, dass die erwähnten antiscorbutischen
Nahrungsmittel (Kartoffeln, grüne Gemüse, Citronensaft, frisches Fleisch) sich durch
einen hohen Gehalt an kohlensaurem Kali gegenüber der scorbutischen Diät
(trockenen Hülsenfrüchten, Salzfleisch, Brod, Reis), die besonders arm an Pottasche
sind, auszeichnen. Er und mit ihm viele Beobachter erklären hiernach den Mangel
an Kalizufuhr (in der leicht assimilirbaren Form des kohlensauren Kali) für die
Hauptursache des Scorbut.
Dennoch scheint es nicht richtig, diesen Mangel an kalireichen Vegeta-
bilien und anderen Nahrungsmitteln als einzige mögliche Ursache der Erkrankung
aufzufassen, wie dies viele Autoren thun. Dem widerspricht eine Reihe von Epi-
demien, bei denen nach genauen Erhebungen die Verpflegung entweder überhaupt
oder wenigstens, was frische Gemüse und frisches Fleisch betrifft, eine vollkommen
ausreichende war, und von denen als Beispiele nur die erwähnte BüRKE'sche
Expedition in Australien , ferner die Erkrankungen in der Rastatter Garnison
1851 — 52 8) und unter den französischen Gefangenen zu Ingolstadt 1871 9) erwähnt
seien. — Ferner sind in der Mehrzahl der Fälle, wo ein Nahrungsdefect zweifellos
vorliegt, gleichzeitig mit diesem verschiedene andere antihygienisehe Momente vor-
handen, denen man wenigstens eine unterstützende und prädisponirende
Rolle in der Pathogenese des Scorbut zuschreiben muss. Als solche sind hervor-
zuheben: Gedrängtes Zusammenleben vieler Menschen (besonders in Kriegsheeren,
überfüllten Anstalten etc.); Wohnen in ungenügend ventilirten, zu engen, dunkeln
Räumen (Gefängnissen , Kasematten etc) ; Ueberanstrengungen (in belagerten
Städten, Kriegstruppen, bei Entdeckungs-Expeditionen) oder umgekehrt zu unthätige
Ruhe (Schiffsleben); psychische Depression (bei Belagerungen, langen Seereisen)
und Aehnliches.
Eine besondere Bedeutung scheint in dieser Hinsicht noch die Einwirkung
der feuchten Kälte zu haben. Wie das kältere Clima, so begünstigt auch die
mit Kälte und Nässe einhergehende Jahreszeit und Witterung die Entstehung des
Scorbut. Für die Jahreszeiten zeigt dies deutlich eine Zusammenstellung von Hirsch,
nach welcher von 68 in gemässigten Zonen auftretenden Epidemien 37 im Frühling,
21 im Winter, 8 im Sommer und 2 im Herbst herrschten. Aehnliches beweist
die Gefährlichkeit längerer Expeditionen in den polaren Gegenden mit ihrem
dauernd kalten und feuchten Wetter ; auch in den einzigen Gegenden, welche noch
endemischen Scorbut zeigen, den russischen Küsten, recrudescirt derselbe im Winter
und Frühjahr, und es sind Fälle bekannt, wo in ungesund eingerichteten Anstalten
alljährlich im Februar und März die Erkrankung epidemisch auftrat. — Doch sei
bemerkt, dass auch in heissester Jahreszeit und bei trockenstem Wetter Scorbut-
epidemien beobachtet wurden.
Als Beweis einer von Nahrungsdefect unabhängigen Entstehung der Krank-
heit können übrigens auch manche der sporadischen Fälle dienen. Wenigstens
war von den mir bekannt gewordenen isolirten Fällen (in Berlin) die Mehrzahl
in günstiger äusserer Lage und dauernd mit gemischter Nahrung versehen; bei
einigen derselben hatte offenbar eine feuchte Wohnung das Leiden hervorgerufen;
bei anderen war allerdings überhaupt kein Grund der Erkrankung zu finden. —
Als seltene Ursache eines solchen sporadischen Erkrankungsfalles ist auch starker
Schreck angegeben. 10)
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 26
402 SCORBUT.
Von einigen Autoren ist neuerdings die schon in älteren Zeiten auf-
gestellte Lehre, dass der Scorbut eine miasmatische Infectionskrankheit sei,
wieder gestützt worden u); als Beweisgründe werden das endemische und epidemische
Auftreten und die Inconstanz der übrigen Ursachen angeführt. Es ist auch vor-
geschlagen worden , von der gewöhnlichen Form einen „infectiösen Scorbut" zu
trennen. 12) Doch ist, wenn auch für einzelne Fälle die Möglichkeit der Einwirkung
einer miasmatischen Schädlichkeit nicht auszuschliessen ist, für die meisten Epidemien
die Entstehung anderweitig genügend erklärt.
Bestimmt von der Hand zu weisen ist wohl die Annahme einer Con-
tagiosität des Scorbut, die auch neuerdings wieder behauptet wird. Doch sind
die angeführten Fälle bei Menschen, vor Allem die Erkrankung von Säuglingen
durch die Milch kranker Mütter13), hiefür nicht beweisend; auch die kürzlich
mitgetheilten Experimeute mit Impfung von scorbutischem Blut auf Kaninchen 14)
sind nicht überzeugend.
Nach unseren bisherigen Kenntnissen kann man daher wohl am besten
den Scorbut als eine Inanitionsk rankheit bezeichnen, als deren Entstehungs-
ursachen in erster Linie eine mangelhafte Ernährung, bei welcher ein
Mangel an frischen Vegetabilien und frischem Fleisch obenan steht, in zweiter
Linie gewisse andere antihygienische Momente, vor Allem die Einwirkung
feuchter Kälte, anzusehen sind.
Die Disposition zur Erkrankung scheinen Alter und Geschlecht ziemlich
gleichmässig zu zeigen. Wenigstens sind Scorbutepidemien aus Findelhäusern wie
aus Altersversorgungs- Anstalten bekannt. Dass für gewöhnlich die Männer und das
mittlere Alter sehr überwiegen, liegt in den äusseren Verhältnissen der Epidemien
(Seefahrten, Kriegsfälle etc.). Durch das kürzliche Ueberstehen anderer Krank-
heiten scheint die Disposition stark gesteigert zu werden ; namentlich werden in
dieser Beziehung Malaria, Dysenterie und Syphilis hervorgehoben. Auch die Neigung
des Scorbut selbst zu Recidiven ist zu betonen.
Das klinische Bild des Scorbut setzt sich aus zwei Gruppen
zusammen: den Zeichen einer allgemeinen Anämie und Kachexie und localen,
grösstentheils hämorrhagischen Erscheinungen.
Die Symptome der allgemeinen Kachexie pflegen den Anfang zu
machen, sowie allmälig und schleichend einzutreten. Eine Ausnahme von letzterem
Verhalten machen höchstens die seltenen, stürmisch verlaufenden Fälle, bei denen
die Krankheit durch acute Gelegenheitsursachen, wie psychische Emotion, hervor-
gerufen wurde, bei denen übrigens auch die localen Erscheinungen gleichzeitig mit
oder bald nach dem Allgemeinleiden auftraten. 10) Als charakteristische Zeichen
dieses Stadiums sind besonders hervorzuheben : Allgemeine Abgeschlagenheit, Müdig-
keit und Schläfrigkeit, so dass die Kranken zu jeder, selbst leichten körperlichen
Anstrengung unfähig werden und schliesslich dauernd die horizontale Lage ein-
halten. Dazu gesellt sich Apathie und psychische Depression verschiedenartigen
Charakters ; Neigung zum Frösteln und Empfindlichkeit gegen äussere Kälte, meist
auch niedrige Temperatur der peripheren Körpertheile. Bald ändert sich auch
Farbe und Aussehen der Kranken: die Haut wird welk, schlaff, auffallend trocken
und abschilfernd und zeigt ein blasses, erdfahles Colorit, das sich durch eine bläu-
liche, cyanotische Färbung, welche besonders an den Lippen, an der Mundschleim-
haut etc. auffällt, von der weissen Hautfarbe anderer Anämien unterscheidet; die
Augen sind eingesunken und zeigen dunkle Ringe; bisweilen sind auch bräunlich
pigmentirte Flecke auf der Haut des Gesichtes oder übrigen Körpers beschrieben.
Gleichzeitig tritt zunehmende Abmagerung der Muskulatur und des Panniculus ein ;
bald auch die Zeichen geschwächter Herzaction: kleiner, weicher, meist verlang-
samter Puls, blasende Herztöne ; subjectiv wird Herzklopfen und Oppressionsgefühl
geklagt. Oedem besteht , wenigstens in den früheren Stadien und leichten Fällen,
meist gar nicht, oder nur in geringem Grade an den Unterextremitäten. —
Der Appetit liegt meistens darnieder; in einer kleinen Zahl von Fällen ist im
SCOßBUT. 403
Gegentheil Heisshunger beobachtet. Endlich ist ein nie fehlendes, meist am stärksten
hervortretendes Symptom Ziehen und Schmerzhaftigkeit in der Muskulatur und den
Gelenken der Extremitäten, besonders der Beine , welche Schmerzen meist einem
dem rheumatischen ähnlichen Charakter zeigen , durch Bewegungen und Anstren-
gungen verstärkt werden und daher Nachts schwächer, als am Tage zu« sein pflegen.
Diese Symptome allgemeiner Kachexie, welche im Verlaufe der ersten
Wochen sich zusehends steigern, bleiben bei einer Anzahl von Fällen während des
ganzen Verlaufes im Vordergrund des Krankheitsbildes stehen, so dass die localeii
Erscheinungen gegen dieselben ganz zurücktreten , und bei manchen Epidemien
solche Fälle als „reine Scorbutanämien" beschrieben sind. 12)
In der Kegel aber treten nach einem Anfangsstadium, dessen Dauer durch-
schnittlich etwa auf 14 Tage anzugeben ist, zu der allgemeinen Kachexie auf-
fallende Localstörungen hinzu , deren erste in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle eine Zahnfleischaffection zu sein pflegt. Zu dem bläulichen
Colorit der Mundschleimhaut kommt dabei eine dunkel blaurothe Verfärbung der
Zahnfleischränder, zunächst an der Aussenseite der Schneidezähne, später an deren
Innenseite und an den Backzähnen. Dieselben Stellen sind wulstig erhoben, so dass
besonders die zwischen die Zähne vorspringenden Theile als wulstige Zipfel hervor-
ragen ; sie sind auf Druck schmerzhaft und äusserst leicht blutend ; im Gewebe
sieht man zerstreute Hämorrhagien.
In leichten Fällen kann das Zahnfleischleiden auf dieser Stufe stehen
bleiben und sich , wenn auch langsam , zurückbilden. Bei schwereren und lang-
wierigen Fällen geht die hämorrhagische Schwellung vom Schleimhautsaum weiter
auf die Bedeckung der Zahnwurzeln über und führt, nachdem sie den höchsten
Grad von blutiger Infiltration und Wulstung erreicht hat, zu einem partiellen
Zerfall des Gewebes, entweder in der Form nekrotisch-gangränöser Zerstörung, die
das Zahnfleisch in einen schmierigen Brei verwandelt, oder in der Gestalt speckiger,
diphtheritisähnlicher Einlagerungen, die zu tiefen Substanzverlusten führen. In
beiden Fällen verbreitet der Mund einen oft aashaften Foetor. Die Zähne werden
gelockert, oft schnell cariös, fallen bisweilen aus ; jedenfalls ist das Kauen erschwert
oder unmöglich.
Zu bemerken ist, dass die scorbutische Zahnfleischaffection sich nur am
Rande der vorhandenen Zähne, respective Zahnwurzeln entwickelt, wogegen zahn-
lose Alveolen frei bleiben, so dass senile Individuen oft keine oder nur geringe
Stomatitis zeigen. Auch bleibt die übrige Mundschleimhaut, abgesehen von der
Cyanose, massigem Oedem und etwaigen kleinen Blutungen, auch bei stärkster
Zahnfleischerkrankung in der Regel frei. Der Rückgang letzterer ist auch in den
günstigsten Fällen ein verhältnissmässig langsamer, nicht selten bleiben hyper-
plastische Verdickungen des Zahnfleisches zurück.
Die histologischen Veränderungen ergeben die Zahnfleischaffection als
einen entzündlichen Process, bei dem ausser der Hyperämie und Exsudation eine
ungemeine Neigung zu Blutungen und hämorrhagischer Infiltration vorherrscht. Ob
dabei die Blutungen mehr auf einem Zerreissen von Capillaren oder einer abnormen
Durchlässigkeit derselben beruht, ist in Bezug auf das Zahnfleisch ebenso, wie auf
die übrigen scorbutischen Hämorrhagien, noch fraglich. Eine beschriebene eigen-
thümliche Gefässdegeneration, welche mit Schwellung der Intima beginnen soll 15),
ist noch zweifelhaft. Dass gerade die Alveolarränder in erster Linie die hämor-
rhagisch entzündliche Erkrankung zeigen, hat seinen Grund ausser in der Zartheit
des Zahnfleischgewebes, wohl in der beim Kauen etc. einer mechanischen Reizung
besonders ausgesetzten Lage der Theile.
Es giebt Fälle von Scorbut, in denen die Zahnfleischaffection ganz fehlt;
doch sind dies ziemlich seltene Ausnahmen; und die für eine Epidemie gemachte
Angabe, dass auf 116 Fälle 26 ohne Stomatitis kamen16), giebt eine für die ge-
wöhnlichen Verhältnisse viel zu hohe Zahl. In anderen Fällen erscheinen vor der
Munderkrankung andere hämorrhagische Affectionen (besonders an der Haut) als
26*
404 • SCORBUT.
erstes Localsyniptom, zu denen sich die Stomatitis später gesellt. Umgekehrt giebt
es aber eine Reihe von Fällen, bei welchem diese das einzige Localleiden bleibt;
dieselben sind meist leichter Natur und von kurzer Dauer.
Meistentheils gesellen sich aber nach kürzerem Bestehen der Zahnfleisch-
aftection Blutungen und hämorrhagische Entzündungen anderer Organe hinzu, unter
denen die Haut, das subcutane und intermuskuläre Bindegewebe
und die Muskulatur die am häufigsten befallenen sind. Auf der Haut zeigen
diese Erkrankungen entweder die Form einfacher maculöser Purpura, die gewöhn-
lich vorwiegend die Umgebung der Haarbälge einnimmt, oder papulöser Infiltra-
tionen (Liehen scorbut., Acne scorbut.) , auch Bläscheneruptionen mit sanguinolentem
Inhalt {Herpes, Pemphigus scorbut.), oder endlich grösserer verschieden gestalteter
Hautblutungen (Vibices, Ecchymosen). Der Sitz dieser Hautaffectionen ist vor-
wiegend an den Unterextr emitäten, doch auch nicht selten an Rumpf und Armen,
während der Kopf fast immer frei bleibt. Ausserdem treten sie gern an Stellen
auf, welche habituell oder auch nur vorübergehend mechanischem Druck und Reiz
ausgesetzt sind : z. B. in der Kniekehle , in der Gegend der Strumpfbänder , an
den Stellen leichten Aufliegens, in der Umgebung von Geschwüren , Narben etc.
Durch Vereiterung einer hämorrhagisch infiltrirten Stelle oder auch durch Platzen
einer Blutblase etc. führen manche dieser Processe zu Hautgeschwüren, welche als
„ Ulcera scorbuticau wegen ihrer langsamen Heilung gefürchtet sind und sich
durch lividen Hof , schwammige , leicht blutende Granulationen und missfarben
blutiges Secret charakterisiren. Auch zufällig bestehenden Geschwüren und Wunden
drückt ein gleichzeitig ablaufender Scorbut denselben Charakter der Neigung zu
Blutungen, der schlechten Granulationen und langsamen Heilung auf. 17)
Gleichzeitig mit der Hautaffection bestehen oft tiefere hämorrhagische
Infiltrationen des subcutanen Bindegewebes. Dieselben zeigen ihren Lieblingssitz
ebenfalls an den Unterextremitäten, besonders gern in der Umgebung der Achilles-
sehne, in der Fossa jpoplitea, an den Waden, der hinteren und inneren Seite der
Oberschenkel, seltener an den Armen, in der Achselhöhle etc. Sie rufen diffuse,
anfangs weiche, später pralle, oft brettharte Anschwellungen dieser Theile hervor,
über denen die meist gleichzeitig diffus hämorrhagisch infiltrirte Haut allmälig die
Farbenveränderungen des Blutfarbstoffes durchmacht. Die Spannung der Haut wie
die Compression der unterliegenden Muskeln erzeugt meist grosse Schmerzen und
Schwierigkeit oder Unmöglichkeit der Bewegung. Häufig nimmt auch das inter-
muskuläre Bindegewebe und die Muskulatur an diesen Processen Theil ; sind die
darüber liegenden Partien frei, so kennzeichnet sich dieser Vorgang durch das
Auftreten circumscripter schmerzhafter Anschwellungen im Muskel, wie es besonders
an den Recti abdom., Pectorales und Lendenmuskeln beobachtet wird.
Alle diese hämorrhagisch - entzündlichen Infiltrate resorbiren sich in den
günstigen Fällen gut, doch brauchen sie hierzu meist lange Zeit. Ausnahmsweise
kommt es zu tieferen Abscessen , die sich nach aussen öffnen und langwierig
heilende Wundhöhlen zurücklassen. Oder es bilden sich bleibende narbige Ver-
dickungen der befallenen Theile ; so sind Sclerosen der Haut der Unterextremitäten
mit Muskelatrophie 18) u. Aehnl. beschrieben.
Seltener sind die scorbutischen Erkrankungen an Knochen und Knorpeln.
Dieselben beruhen in der Regel auf einem unterhalb des Periostes sich bildenden
hämorrhagischen Herd und finden sich am häufigsten an oberflächlich gelegenen
Knochen, wie Rippen, Tibia, Unterkiefer u. A., oft wahrscheinlich unter trauma-
tischem Einfluss entstanden. Die hiedurch hervorgerufenen schmerzhaften Anschwel-
lungen (Periostitis scorbut.) können sich langsam zurückbilden oder auch zu
oberflächlicher Nekrose des Knochens führen. In besonders schweren Fällen kommt
es unter ähnlichen Umständen, vorzugsweise an den Rippen, zu Anschwellungen
der Knochenepiphysen mit Ausgang in Loslösung der Knorpel. Nicht unerwähnt
darf bleiben, dass öfters im Verlauf des Scorbut Erweichung älterer Callusmassen
an Frakturen beobachtet worden ist.
SCORBUT. 405
Auch die Gelenkaffectionen gehören zu den selteneren Symptomen
der Krankheit; sie werden am häufigsten an Knie- und Fussgelenk beobachtet,
beruhen wohl meistens auf hämorrhagischen Ergüssen in die Kapsel, zeichnen sich
durch Schmerzhaftigkeit aus, resorbiren sich in der Mehrzahl der Fälle vollständig
und führen nur ausnahmsweise zu Ankylosen.
Zu den schwersten Symptomen des Scorbut sind die Erkrankungen der
Pleura und des P e r i c a r ds zu zählen. Auch hier ist es hämorrhagisches
Exsudat, welches die beiden Serösen, oft in sehr acuter und stürmischer Form,
sowie massenhafter Quantität erfüllt. Die klinischen Symptome sind die gewöhn-
lichen solcher Exsudate, die subjectiven Beschwerden von Seiten der Lungen und
des Herzens oft sehr gross; der Tod ist nicht selten die directe Folge dieser
Localisation. Andererseits gehen die Exsudate bisweilen nach Besserung des
Allgemeinbefindens wider Erwarten schnell zurück.
Von Schleimhautblutungen, welche analog den Zahnfleisch-
blutungen im Scorbut auftreten können und durch die Steigerung der allgemeinen
Anämie üble Bedeutung haben, ist in erster Linie Epistaxis zu nennen, die sich
bisweilen in schwer stillbarer Form zeigt; ferner Hämatemese, Darmblutung,
Metrorrhagie ; als seltene Formen . Hämaturie, Hämoptyse etc. Die meisten dieser
Blutungen scheinen einfache hämorrhagische Processe darzustellen, andere dagegen
auf tieferen anatomischen Störungen zu beruhen, wie namentlich die Darmblutungen,
für welche die Sectionen oft schwere, dysenterienähnliche Veränderungen des Colon
ergaben, und die vielleicht nicht selten auf einer Complication mit Dysenterie-
Infection beruhen. In anderen Fällen können die Darmblutungen durch vorüber-
gehenden localen Reiz, wie z. B. durch starke Abführmittel, angeregt werden.
Finale Erscheinungen von Apoplexie werden mitunter durch intermeningeale
Blutungen hervorgerufen. In seltenen Fällen können spinale Zeichen (Lähmungen,
Zuckungen der Unterextremitäten etc.) als Symptome einer Blutung in die Rücken-
markshäute gedeutet werden.19)
Von den Sinnesorganen ist das Auge nicht selten befallen: entweder in
der Form einer Conjunctivitis, meist mit Ecchymosirung der Lider verbunden ; oder
durch Blutung in die vordere Augenkammer (mit Iritis), auch als hämorrhagische
Chorioiditis oder in schwersten Fällen als doppelseitige Panophthalmie. Eine sehr
eigenthümliche Beziehung zum Scorbut zeigt die Hemeralopie, welche sich in vielen
Epidemien bei einer grossen Anzahl von Fällen während des Verlaufes oder als
Nachkrankheit entwickelt, ohne dass der Zusammenhang bisher ein klarer wäre.
Von Complicationen des Scorbut ist eigentlich nur die Pneumonie zu
betonen, welche nicht selten während des Verlaufes der Krankheit hinzutritt und
namentlich in einzelnen Epidemien unter gewissen atmosphärischen Einflüssen häufig
ist. 12) Sie erschwert stets die Prognose und macht bei ungünstigen Fällen bisweilen
den Ausgang in Gangrän. Als Angina scorbutica ist eine eigenthümliche, unter
der Form von Excrescenzen an der hinteren Pharynxwand auftretende Complication
beschrieben worden. 20)
Ein bestimmtes Verhalten der Körpertemperatur ist für den Verlauf
des Scorbut nicht zu constatiren. Ein grosser Theil der leichteren Fälle verläuft
überhaupt fieberlos ; die schwereren Erkrankungen zeigen intercurrent in wech-
selndster Weise Temperatursteigerungen, welche meist nachweisbar durch stärkere
Localprocesse , wie subcutane Infiltrationen , Gelenkaffectionen , Serosenexsudate,
Pneumonie etc. bedingt sind.
Ebenso wechselnd ist das Verhalten der Milz im Verlaufe der Krankheit.
Von manchen Autoren fälschlich als constant vergrössert angegeben, scheint sie
sich bei leichteren Scorbutfällen (natürlich abgesehen von den etwa mit Malaria
zusammenhängenden) im Gegentheil in der Regel normal zu verhalten ; in schweren
Fällen tritt allerdings häufig, doch auch hier nicht constant, Milztumor ein.
Auch der Urin verhält sich sehr verschieden : Albuminurie ist nicht regel-
mässig vorhanden , kommt aber im Verlauf schwerer Fälle häufig vor , bisweilen
406 SCORBÜT.
gleichzeitig mit Hämaturie. Von anderen Urinveränderungen ist eine Zunahme des
Harnfarbstoffes betont, aus welcher auf den Zerfall rother Blutkörperchen geschlossen
werden soll.21) Nach Untersuchungen von Duchek22), welche zum Theil auch
anderweitig bestätigt sind 2:!) , soll mit Zunahme der scorbutischen Symptome die
Ilarnmenge sowie die Quantität aller festen Bestandteile mit Ausnahme des Kali
und der Phosphorsäure abnehmen, dagegen namentlich der Kaligehalt absolut oder
wenigstens relativ ansteigen, so dass das Verhältniss von Kali zu Natron wächst.
Doch bleibt es zweifelhaft, ob dieser Befund auf einen stärkeren Zerfall kalireichen
Gewebes (Blutkörperchen) im Organismus zu beziehen ist, und ob derselbe gegen
die Hypothese Garrod's über den bei Scorbut vorhandenen Kalimangel als Beweis
dienen kann. Der Harnstoflgehalt des scorbutischen Urins ist theils vermindert,
theils vermehrt angegeben.
Es seien hier die Angaben über chemische Veränderungen des
Blutes (meist Leichenblutes) bei Scorbut angeschlossen, welche jedoch bisher
nichts Constantes oder Charakteristisches ergeben haben. Gegenüber den älteren
Behauptungen von Abnahme des Faserstoifes haben die neueren Untersuchungen
meist eine Zunahme von Fibrin und Albumin im Blute ergeben; die Blutsalze
werden bald als vermehrt, bald als vermindert angegeben; auch der theoretisch
betonte Kalimangel des Blutes ist nicht ausgemacht. Eine verminderte Alkalescenz
des Blutes ist neuerdings betont worden. 21) Ebensowenig haben die mikroskopischen
Untersuchungen des Blutes specifische Veränderungen gezeigt: die rothen Blut-
körperchen wurden meist stark vermindert, die weissen theils vermindert, theils
vermehrt gefunden ; die behaupteten Formveränderungen der Blutkörperchen sind
nicht constant. Die constatirten Blutveränderungen weichen somit nicht von dem
ab, was auch für andere Allgemeinkrankheiten gefunden ist.
Fasst man alle geschilderten klinischen Symptome zusammen, so wird man
das Wesen des Scorbut wohl am besten in einem chronischen Allgemeinleiden
suchen , bei welchem in Folge der beschriebenen ätiologischen Schädlichkeiten
sämmtliche Gewebe des Körpers in der Ernährung gelitten haben, in Folge dessen
vulnerabler als normal geworden sind und, namentlich in bestimmten Organen,
besonders zu Blutungen und hämorrhagischen Entzündungen neigen. Ob die Ernäh-
rungsstörung der Gewebe in einem Kalimangel derselben begründet ist, muss
zweifelhaft bleiben, ebenso , welche specielle Veränderung die abnorme Zerreiss-
lichkeit, resp. Durchlässigkeit der Blutgefässe bedingt. Denn wie für das Zahn-
fleisch, so ist auch für die übrigen Organe eine bestimmte Gefässveränderung
bisher nicht sicher nachgewiesen.
Der Verlauf des Scorbut zeigt ein äusserst wechselndes Bild, zum Theil
je nach der Combination der verschiedenen Localisationen der hämorrhagischen
Diathese, zum Theil nach der Schnelligkeit, mit welcher die ursächliche Schädlich-
keit entfernt werden kann. In letzterer Beziehung tritt oft ein sofortiger Stillstand
und Umschwung in den Symptomen und dem Allgemeinbefinden ein, sobald die
hygienischen Missstände, unter denen die Erkrankung eintrat, gebessert werden,
also beispielsweise statt der ungenügenden Nahrung reichliche, gemischte Diät,
statt ungesunder Wohnung Aufenthalt in salubrer Luft, statt anstrengender
Strapazen Ruhe und Erholung etc. geschafft wird. Doch ist die Heilung der Kranken
niemals eine sehr schnelle; auch in den günstigsten und nicht allzu schweren
Fällen brauchen manche der Localsymptome, wie besonders die Zahnfleischaffection,
die subcutanen Blutungen etc. viele Wochen zum vollständigen Verschwinden, und
hält namentlich die allgemeine Schwäche und Anämie noch Wochen und Monate
an, so dass eine Dauer von 6 — 8 Monaten und darüber selbst bei günstigen Fällen
keine Seltenheit ist.
Umgekehrt führen diejenigen Fälle, bei denen die Verhältnisse eine Fort-
dauer und immer wiederholte Einwirkung der antihygienischen Ursachen bedingen
(wie auf Schiffen, bei Belagerungen, Hungersnoth etc.), auch häufiger zu den lang-
wierigsten und schwersten Formen der Krankheit; die Blutungen häufen sich und
SCORBUT. 407
ergreifen immer mehr die tiefgelegenen Organe, dabei nimmt die allgemeine
Anämie und Kachexie bis zu dem höchsten Grade zu, und es mehren sich mit
jedem Tage die Gefahren eines letalen Ausganges. Der Tod erfolgt entweder in
Folge eines schweren Localleidens (besonders einer Pleuritis , Pericarditis , Darm-
affection etc.), oder am häufigsten unter dem Bilde höchster Anämie und Prostration.
In letzterem Falle steigen die einzelnen anämischen Symptome allmälig bis zum
stärksten Grade : Die Blässe und Schwäche werden extrem, der Puls fadenförmig,
die Blasegeräusche am Herzen lauter, die Herztöne selbst immer leiser; Ohn-
mächten treten ein, schliesslich kommt auch meist starkes Anasarca, wenigstens
der unteren Körperhälfte, hinzu.
Die pathologisch-anatomischenLeichenbefunde ergeben sich
grösstentheils aus der Schilderung der Symptome. Ausser der allgemeinen Anämie
und Macies, dem Hydrops, den cutanen und subcutanen Blutungen und den serös-
hämorrhagischen Höhlenexsudaten findet man von inneren Organen noch besonders
die Serösen (Pleura, Pericard, Endocard, Peritoneum), die Schleimhaut von Magen,
Darm , Blase , Nierenbecken , Bronchien und die Oberfläche der Leber, Milz und
Nieren als den Sitz kleinerer und grösserer Ecchymosen. Im Magen und Darm
haben dieselben oft zu Erosionen oder tieferen Ulcerationen geführt. Das Blut ist
in frischeren Fällen meist auffallend dunkel, bei späterem Tode oft sehr hell und
wässerig, in beiden Fällen in der Regel gute Coagula enthaltend. Das Herzfleisch
ist stets schlaff, die Muskulatur blass und trübe , öfters stärker verfettet. Die
Lungen zeigen blutiges Oedem neben pneumonischen Processen und hämorrhagischen
Infarcten. Die Milz bietet, wo sie vergrössert ist, das Bild frischer, weicher Hyper-
plasie. Das Nierenparenchym ist auch in den Fällen, wo Albuminurie bestand, oft
normal; nur selten wurde parenchymatöse Nephritis, ausnahmsweise auch Nieren-
atrophie gefunden.
Eine allgemein giltige Mortalitätsziffer ist, bei der Verschiedenheit
der Bedingungen für die einzelnen Epidemien und Fälle , natürlich auch nicht
annähernd zu geben. Im Allgemeinen hat, seit Einführung einer besseren öffent-
lichen Hygiene, mit der Verbreitung des Scorbut auch seine Sterblichkeit bedeutend
abgenommen; für Europa war das letzte mörderische Auftreten der Krankheit
(Vi Mortalität) eine grosse Pandemie 1849 in Russland.
Die Prognose richtet sich für die einzelnen Fälle (abgesehen von der
Schwere der Symptome), natürlich auch besonders nach der Dauer der Erkrankung
und der Möglichkeit der Entfernung aller hygienischen Uebelstände.
Die Diagnose kann bei Massenerkrankungen nicht zweifelhaft sein.
Auch bei sporadischen Fällen charakterisirt sich die Krankheit meist klar; eine
Verwechslung wäre nur gewissen anderen Formen hämorrhagischer Diathese gegen-
über möglich , namentlich der Hämophilie und dem sogenannten Morb. maculos.
Werlhofii , von denen sich der Scorbut jedoch durch die ätiologischen Verhält-
nisse, das Vorwiegen der allgemeinen Kachexie und die typische Zahnfleisch-
erkrankung unterscheidet.
Die Therapie des Scorbut hat sich zunächst mit seiner Prophylaxe
zu beschäftigen. Dieselbe fällt zusammen mit der Sorge für richtige Hygiene,
besonders da, wo eine Anzahl von Menschen unter Verhältnissen, die erfahrungs-
gemäss das Entstehen des Scorbut begünstigen, zusammenzuleben gezwungen ist,
also bei Seereisen und anderen geographischen Expeditionen, in Kriegsverhältnissen,
in grossen Anstalten, wie Kasernen, Gefängnissen u. Aehnl. In der Schiffshygiene
ist in dieser Beziehung im Laufe der letzten Jahrzehnte alles Mögliche anscheinend
geleistet und dem entsprechend auch die Frequenz und Ausdehnung der See-Epi-
demien des Scorbut ausserordentlich verringert; so sei als Beispiel erwähnt, dass
in der österreichischen Marine nach Duchek die Scorbutfälle in den Jahren 1863
bis 1868 nur l"14°/0 aller Krankheitsfälle betrugen, und in der englischen Marine
1850 — 1870 dieser Percentsatz nur 0-15°/0 ausmachte. Diese günstigen Ver-
hältnisse sind vor Allem durch eine nach bestimmten Principien verbesserte
:.- - »KBIT.
Verproviantirung der für längere Seereisen bestimmten Schiffe erreicht , anf denen
namentlich für möglichst ausreichende Vorräthe an frischem Fleisch , frischen
Gemüsen, besonders Sauerkraut und Kartoffeln, frischem Wasser etc. gesorgt wird.
Von eigentlichen Antiscorbuticis ist in verschiedenen Marinen der mit Alkohol
präparirte Citronensaft ftu de citron eingeführt: und wenn derselbe
auch von manchen Seiten getadelt und z. B. in der österreichischen Marine wieder
abgeschafft wurde, so wird sein Nutzen doch vielfach gerühmt und der Ausbruch
mancher Scorbutepidemie. z. B. der die englische Nordpol-Expedition 1875 — 76
betreffenden, auf das Fehlen oder den ungenügenden Consum desselben geschoben. -' <
Andere Massregeln, wie die Abkürzung der Seereisen, zweck Bekleidung
Matrosen. Vermeidung sowohl zu gross SM ipazen wie zu unthätigen Lebens
derselben u. Aehnl. müssen natürlich die Fürsorge für die Ernährung unterstützen.
Auch den Landepidemien des Scorbut haben die öffentlichen hygienischen Einrich-
tungen der Jetztzeit entgegengearbeitet , theils durch Sorge für gesunde Wohnung
und ausreichende Ernährung der unteren Volksschichten, theils durch vortreffliche
Verpflegung von Kriegstruppen, theils durch Einführung salubrer Wohnräume und
liberaler Beköstigung in Gefängnissen und ähnlichen Anstalten. Lnd
hoffen, dass eine noch grössere Vervollkommnung dieser Einrichtungen den Aus-
bruch grösserer Scorbutepidemien ganz auf aussergewöhnliche Calamitäten be-
schränken wird.
Auch für die ausgebrochene Krankheit ist die Beschaffung von
mögliebst allseitig günstigen hygienischen Bedingungen die erste Indieation. Vor
Allem ist ein ungesunder, schlecht ventilirter. feuchter Aufenthaltsraum möglichst
schleunigst mit einer trockenen, geräumigen Wohnung zu vertauschen, bei einiger-
üi schweren Fällen die ruhige Bettlage anzuordnen, und an die Stelle der
einseitigen, mangelhaften Nahrung eine rationell gemischte, ausreichende Kost z n
setzen. In Bezug auf letztere hat man. von der Bedeutung des Mangels an "
tabilien für den Scorbut ausgehend, stets das Verabreichen reichlicher Quantitäten
von Gemüse. Salat. Obst als die Hauptsache betont. Abgesehen von den gewöhn-
lichen Gemüsen, wie Kartoffeln etc.. sind als An tis corbutica von jeher
e P^anzensorten, zum Theil den Cruciferen angehörig, empfohlen, so z. B. :
Sauerkraut, verschiedene Kohlsorten. Buben, Bettig, Meerrettig. Senf. Brunnenkresse,
Sauerampher. Sednm und besonders das Löffelkraut: letzteres wohl hauptsächlich,
weil es wegen seines Vorkommens im hohen Norden bei areüsehen Expeditionen
viel zur Verwendung kam. Namentlich werden die frisch ansgepresBten Säfte dieser
Pflanzen gerühmt. Von Obstsorten werden gern Citronen. Orangen, Aepfel. Kirschen
empfohlen: als Getränk neben Bier, Wein und Fruchtlimonaden namentlich Apfel-
wein. Wenn auch alle diese Nahrungsmittel als vortheilhaft für den Scorbutiker
anzuerkennen sind, so ist es doch sehr zweifelhaft, ob einem derselben ein besonders
hervorragender Werth für die Beseitigung der Krankheit zuzuschreiben sei. und
ob nicht, falls dieselben fehlen, durch eine anderweitige, nach rationellem Grundsatz
gemischten Diät derselbe Erfolg in der Behandlung zu erzielen ist. Von manchen
Seiten wird übrigens auch besonderer Werth auf die reichliche Zufuhr von Fetten
gelegt. : :
Nachdem die früher gerühmten Pflanzensäuren <Acid. carte., tartat
als unwirksam erkannt waren, wandte man sich, eonform der Gaf,eod "sehen Th
den entsprechenden und anderen Kalisalzen zu: so ist abwechselnd das Kali
-■ ticeUcum, v.'-ricam. neuerdings auch iioxalicum -' ) empfohlen. Lange
Zeit war die Bierhefe als speeifisches Antiscorbuticum in Gebrauch. Als Hämostatica
sind besonders die Mineralsäuren Schwefelsäure . Salpetersäure etc. . ferner das
Seeale cornutum und das Ferr. sesquichlorat. gerühmt: zur Bekämpfung der
Anämie vor Allem China und eine Beihe von Eisenpräparaten. Ich selbst habe die
mir zur Beobachtung gekommenen sporadischen Fälle unter Darreichung von
- • ferr. pomat. und Acid. Hallen neben gemischter Diät sämmtlich günstig
verlaufen sehen.
SCORBUT. — SCORPIONENGIFT. 409
Wenn auch mit günstiger Wirkimg dieser Allgemeinbehandlung auch die
Localsymptome sich zu bessern pflegen , so erfordern einige derselben doch
auch specielle Behandlung. So werden die Hautblutungen und subcutanen Infiltra-
tionen durch Waschungen und Umschläge mit Essig, aromatischen Wässern, Hpirit.
camphorat., Tinct. Arnicae u. Aehnl. in ihrer Resorption befördert. Gegen die
Zahnfleischaffection leistet Gurgeln und Pinseln mit Adstringentien (Alaun, Tannin),
Kali chloricum, Spirit. Cochlear., Tinct. Myrrh. etc., auch Touchiren mit Lapis
gute Dienste. Die schwereren chirurgischen wie inneren Symptome und Complica-
tionen sind nach allgemeinen Regeln zu behandeln ; so kann ein schnell entstehendes
Pleural- oder Pericardialexsudat schleunige Punction nöthig machen. Stets ist dabei
der geschwächte Allgemeinzustand und die hämorrhagische Disposition im Auge zu
behalten ; daher z. B. Blutentziehungen streng zu verpönen, übrigens bei Obstipation
auch stärkere Drastica , welche heftige Darmblutungen hervorrufen können , zu
vermeiden. — Die Transfusion ist einmal mit günstigem Ausgange angewendet
worden. 2S)
Literatur: ^Hirsch, Handb. der Mstor.-geogr. Pathol. Bd I, pag. 521. 1860.
— 2) Eugalenus, De morb. scorbut. über. 1588. — 3) Lind, Treatise on Scurvy. Edin-
burgh 1752. — 4) Beckler, Verhdi. d. Berliner med. Gesellsch. 1866. H. 2. — 5)Delpech,
Annal. d'Hyg. publ. 1871. Avril. — Hayem, Gaz. bebdom. 1871. Nr. 14 — 18. — Lasegue
und Legroux, Archiv, gener. 1871. Juillet-Decemb. — Leven, Gaz. med. de Paris, 1871.
Nr. 39— 50. — 6) Nicolas, Gaz. hebdom. 1877, Nr. 1 u. 2. — 7) Gar r od, Monthly Journ.
1848. Jan. — 8) Opitz, Prag. Vierteljahrsschr. Bd. LXIX. pag. 108. — 9) Döring, Deutsche
militärärztl. Zeitschr. Bd. I, pag. 314. — 10) Cron, Berliner klin. "Wochenschr. 1876. Nr. 47.
— ") Krügkula, "Wiener med. "Wochenschr. 1873. Nr. 27. — Villemin, Ball, de l'Acad.
de Med. 1874. Nr. 32 u. 33. — Petrone, Riv. clin. diBol. 1881. Nr. 4 u. 6. — 12) Kühn,
Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. XXV, pag. 115. — 13) Rottwill, Nassauer med. Jahrb.
Bd. XVI, pag. 749. —Kühn, I.e. — 14) Murri,Riv. clin. di Bol. 1881, April. — Ca n tu,
Raccogl. med. 1881. 30. Agost. — 15)Uskow, Med. Centralbl 1878, Nr. 28. — 16) Kirchen-
berger, Prager Vierteljahrsschrift. Bd. III, pag. 33. — 17) Ferra, These. Paris 1881. —
18) Legroux, Union med. 1872. Nr. 35. — 19) Eade, Brit. med. Journ. 1831. Nr. 19. —
2G) Pinder, Wiener med. "Wochenschr. 1878, Nr. 39. — 21) Kretschy, ibid. 1881, Nr 52.
— 2?) Duchek, Oesterr. Jahrb. XVII, pag. 39, 1861. — 23) Hohlbeck, Petersburger med.
Wochenschr. 1877, Nr. 33. — 24) Ralfe, Lancet 1877, June 16 und July 21. — 2i) Brit.
med. Journ. 1877, March 10. — 26) Irving de Li sie, Med. Times 1877, Sept. 15. —
27 ) Taylor, Lancet 1869, June 5. — 28) Giommi, Riv. clin. de Bol. 1878. Gennajo.
Von neueren monographischen Abhandlungen über das Thema, zum Theil mit reichen
Literaturangaben seien genannt; Hirsch (oben *). — Krebel, Der Scorbut etc. Leipzig
1862. — Wolfram, Prag. Vierteljahrsschr. Bd. CXVIII, pag 112. — Duchek, Pitka-Billroth's
Handb. der Chir. Bd. I, 2. pag. 273. — Immermann, Ziemssen's Handb. der spec. Path.
Bd. XIII, 2. pag. 535. Riess
Scordium. Herba Scordii, das blühende Kraut von Teucrium Scordium L.
(scordium oder germandree d'eau der Pharm, franc.), Knoblauchsgermander, ein
scharfes ätherisches Oel enthaltend, ähnlich wie Herba Chamaedryos (s. Bd. III,
pag. 141) benützt.
Scorpionengift. Die als Scorpionen bezeichnete Abtheilung der
Arachniden, von welchen zahlreiche Arten, mit Ausnahme von Nord- und Mittel-
europa, über die ganze Erde verbreitet zu sein scheinen, zeigt am Endgliede des
Schwanzes einen fast kugelförmigen, hornartigen Giftapparat, der in einen schwarz-
braunen , scharfspitzigen Haken endigt , mit welchem zwei im Endgliede des
Schwanzes liegende, runde oder halbbohnenförmige , von einer spiraligen starken
Muskellage umgebene Giftdrüsen durch kurze Ausführungsgänge in Verbindung
stehen. Beim Anbringen ihres Stiches ergreifen die Scorpionen den Gegenstand
mit ihren scheerenförmigen Kiefertastern, beugen den Schwanz über den Rücken
nach vorn und bringen ihren Gifthaken mehrmals ein, wobei sich aus der seitlich
dicht an der Spitze befindlichen, kleinen, rundlichen oder ovalen Oeffnung eine
scharfgiftige Flüssigkeit ergiesst. Ueber die chemischen Eigenschaften dieses
sogenannten Scorpionengiftes liegen zuverlässige Untersuchungen nicht vor ; dagegen
wissen wir durch Beobachtungen an Menschen und Thieren, dass das Gift, wenn
410 SCORPIONENGIFT.
. wie bei den grösseren exotischen Arten , in reichlicher Menge in Wunden
gelangt, sehr erhebliche Vergiftungserscheinungen bedingen kann. Die in Europa
lebenden Scorpionen, der Gattung Scorpio angehörig und von LmNE in der
einzigen Species Scorpio europaeus vereinigt, während Koch 11 verschiedene
Arten in den einzelnen Ländern, z. B. S. germanus (Tirol), S. Italiens,
unterscheidet, insgesammt nur 1 — 2 Zoll lang (ohne Schwanz), rufen nur unbedeutende
und rasch verschwindende örtliche Entzündungserscheinungen mit Oedem und
Schmerzhaftigkeit hervor , welche ungefähr in eine Linie mit den durch Wespen-
und Hornissensticli erzeugten Erscheinungen zu stellen sind. Gefährlicher sind
die Scorpionen aus den Gattungen Androctonus, wie A. occitanus und
funestus Xordafrika), und Buthus, aus letzteren namentlich der in Xordafrika
und Ostindien einheimische, 1/3 Fuss lange Buthus afer Z. , durch welchen
nicht allein in seiner Heimat, sondern auch bei uns in Folge seines Imports mit
fremden Hölzern beim Ausladen der Schiffe schwere Verletzungen hervorgerufen
wurden, die bei Erwachsenen nur ausnahmsweise, bei Kindern nicht selten tödtlich
verlaufen. Beim Menschen können übrigens unter günstigen Umständen selbst
mittelgrosse Scorpionen, wie Androctonus funestus Hemj). und Ehrbg., durch ihren
Stich tödten, besonders durch consecutive Entzündung der Pleuren oder der Hirn-
häute bei Stichen an der Brust oder am Kopfe. Wie bei den Giftschlangen sind
auch bei den Scorpionen die Verletzungen gefährlicher, wenn das Thier lange
nicht gestochen hat. Die in tödtlichen und schweren Fällen neben den örtlichen
entzündlichen Erscheinungen zu beobachtenden allgemeinen Symptome (Erbrechen,
Diarrhoe , Collaps , Delirien , Coma) sind nicht mit Sicherheit als Folge der Auf-
nahme des Scorpionengiftes in das Blut anzusehen, sondern können ebensogut mit
den gesteigerten und mit Lymphangioitis oder Verjauchung sich complicirenden
örtlichen Entzündungsherden in Beziehung stehen. Inwieweit der Tetanus, der
durch einzelne tropische Scorpione, z. B. den die europäischen Scorpione an Grösse
nicht übertreffenden, angeblich höchst giftigen Scorpion von Durango in Mexico,
in dessen Gifte Cayaeeoz geradezu Strychnin vermuthete , ein Tetanus toxicus
oder traumaticus ist, erscheint nicht ausgemacht. Die Möglichkeit des Vorhanden-
seins eines nicht blos rein örtlich wirkenden Princips im Gifte einzelner Scorpione,
z.B. Androctonus occitanus, ist nicht wohl zu bestreiten, da bei Fröschen kleine
Mengen dieses Giftes tetanische Convulsionen mit comaähnlicheu Intervallen , in
denen die Sensibilität erloschen, dagegen die Reflexaction gesteigert erscheint,
erzeugen und die Irritabilität der Xervenstämme bei erhaltener Muskelcontractilität
herabsetzen und aufheben. Die Thatsache, dass einzelne Scorpione trotz ihrer Grösse
weniger gefährlich sind als kleinere, z. B. der javanische Buthus reticulatus, und
andere, wie der dem Buthus afer an Grösse gleichkommende Scorpion von Syra,
keinen Tetanus erzeugen (Hetxzel) beweist die Möglichkeit der Existenz verschieden-
artiger Scorpionengifte , obschon das erste Factum sich auch vielleicht durch die
Verschiedenheit der Grösse der Giftdrüsen , das zweite durch Differenz der Dose
erklären lässt, zumal da auch in Versuchen mit Androctonusgift bei grossen Dosen
die Krämpfe nicht deutlich hervortreten (Beet). Kaltblüter scheinen im Allgemeinen
weniger empfänglich für Scorpionengift zu sein als Warmblüter : auffallend empfindlich
sind kleine Vögel, die durch einen Scorpionenstich schon in weniger als einer Minute
sterben können. Die anatomischen Veränderungen sind bis jetzt beim Menschen
nicht genau studirt; bei Thieren constatirte Grrox Anhäufung des dunklen und
flüssigen Blutes in allen Körperhöhlen und blutigen Schleim in den Luftwegen
(Erstickungstod).
Das früher bei Thiergiften als allgemeines Antidot benutzte Ammoniak
gilt in heissen Ländern noch jetzt als Gegengift des Scorpionenstichs und wird
äusserlich und innerlich benutzt. Lindernde Mittel, wie Einreibung von Oel,
innerlich Opium , sind bei heftigen Schmerzen gebräuchlich , letzteres wohl durch
subcutane Morphiuminjection zu ersetzen. Im Uebrigen muss sich die Behandlung
nach den allgemeinen Regeln der Therapie richten und abstrahirt zweckmässig
SCORPIONENGIFT. — SCROPHULOSE. 411
von den als specifisch empfohlenen Aufgüssen verschiedener Pflanzen, die, wie
Mikania Guaco im tropischen Amerika und Lactuca Scariola in Süd-
europa beim Volke mit Unrecht in Ansehen stehen.
Literatur: Husemann, Toxikologie pag. 254-256. Suppl. pag. 22—25.
Husemann.
Scotom (raoTiof/.a, von cxorog, Dunkelheit), s. „Perimetrie", X, pag. 486.
Scotopsie (ctxoto; und w<|/), veraltete Bezeichnung für Mouches volantes.
Scrophularia (scrophulaire. Pharm, frang.; Braunwurzel). Radix und
Summitates scrophulariae, Wurzel und blühendes Kraut von S. nodosa L.
(Scrophidariaceae) ; schleimhaltig, als zertheilendes Mittel im Decoct innerlich und
äusserlich (zu Umschlägen) ; obsolet. — Aehnliche Benützung fand früher auch
das Kraut von S. aquatica L. kerbe du siege, hetoine d'eau), als Tonicum
und Resolvens.
Scrophuloderma =■ Scrophulose der Haut; vgl. Lupus und den fol-
genden Artikel, pag. 416.
Scrophulose (lat. scrophidosis , franz. scrofule, ital. scrofole, engl.
scrofula) ist eine eigentümliche Störung der gesammten Ernährung, die bei einer
verhältnissmässig geringen, schädlichen Einwirkung, an den Lymphdrüsen, an der
Haut, an den Schleimhäuten, an der Beinhaut und an den Knochen zu Veränderungen
theils entzündlicher, theils hyperplastischer Natur führt. Die scrophulose Con-
stitution charakterisirt sich durch eine grosse Vulnerabilität derTheile,
und durch eine grosse Pertinacität der von der Scrophulose bedingten
Störungen, so dass dieselben eine geringe Ausgleichfähigkeit besitzen und leicht
zu Necrobiose und zu Localtuberkulose führen.
Geschichte. Im Alterthum kannte man als Scrophulose nur die Schwellung
der Lymphdrüsen (Hippokr ates, Celsus). Erst im 11. und 16. Jahrhundert versuchte
man den Begriff der hier in Rede stehenden Krankheit zu erweitern: Sylvius und
Warthon stellten die Ansicht auf, dass die Lungenknoten gleichartige Gebilde mit den
Lymphdrüsen seien, und dass sie sich bei einer gewissen Disposition vergrössern, vereitern
und zur Phthisis der Lungen führen können.
Im 18. Jahrhundert, vorwiegend durch die Arbeiten von Kortun, Cullen, St oll,
Ackerman, Hufeland und Anderen wurde die Lehre der Scrophulose richtiger auf-
gefasst und nicht blos die Erkrankung der Lymphdrüsen zur selben gehörig betrachtet,
sondern man bezeichnete bereits dieselbe als eine constitutionelle Störung, die im Verlauf der
krankhaften Processe an der Haut, an den Schleimhäuten, an den Knochen zum Vorschein
kommt und einen eigentümlichen Gesainmthabitus bedingt. Hierbei hielt man die Tuberkulose
mit der Scrophulose für identisch.
Auf Grundlage der Arbeiten von Laennec, Bayle, Rokitansky versuchte
man im 19. Jahrhundert die Scrophulose von der Tuberkulose zu trennen ; nach der Ent-
deckung der Tuberkel verfiel man sogar in das entgegengesetzte Extrem, und jede Ver-
käsung wurde als ein Product des Tuberkels angesehen. Durch eine solche genetische Auf-
fassung ging der Begriff der Scrophulose in jene der Tuberkulose über.
Bald erhob sich von vielen Seiten ein "Widerspruch gegen eine solche Identificirung
der Scrophulose mit der Tuberkulose. Lebert vertrat zunächst die Ansicht, dass man
der Scrophulose neben der Tuberkulose eine selbständige Stellung einräumen müsse. Der
genannte Autor fasste die Scrophulose als eine vorzugsweise in der Haut, dem Unterhaut-
zellgewebe, den Sinnesorganen, den Gelenken und Knochen localisirte Krankheit auf, welche
in der Form verschiedener, chronischer, in ausgezeichnetem Grade zur Eiterung und Ver-
schwärung neigender Entzündungen auftritt. Virchow allein gebührt das Verdienst, den
Begriff der Scrophulose präcise festgestellt zu haben. Durch seine ausgezeichneten Arbeiten
hat er die Lehre der Scrophulose vollständig begründet. Durch den Nachweis, dass die
Verkäsung nicht allein in Folge von Tuberkulose eintreten kann, und dass ein solcher necro-
biotischer Process ohne Tuberkulose auch bei entzündlichem Krankheitsproducte sich ein-
stellen kann, erhielt der scrophulose Process die richtige Charakterisirung. Virchow rechnete
deshalb zur Scrophulose einfache hyperplastische oder entzündliche Vor-
gänge, deren Producte durch die krankhafte Constitution zur Ver-
käsung neigen
Durch, die experimentellen Untersuchungen von Dittrich, Buhl, Villemi n,
Klebs, Waidenburg, Cohnheim, Fränkel und Anderen wurde der innige ätiologische
Zusammenhang zwischen Tuberkulose und Scrophulose festgestellt und die Ansicht begründet,
412 SCROPHULOSE.
dass die Tuberkulose durch die Aufnahme verkäster oder in regres-
siver Metamorphose begriffener Entzündungsproducte hervor-
gerufen werde.
In jüngster Zeit hat man auf Grundlage der eingehenden histologischen Studien über
den Tuberkel, von Schüppel, "Wagner, Friedländer, Rindfleisch, Koster, wieder
die Ansicht gewonnen, dass die Scrophulose indem Auftreten tuberculöser
Entzündungen beruhe. Namentlich R indfleisch behauptet, dass die auf dem Boden
der scrophulösen Constitution eigenthümlich verlaufenden Entzündungen ein Gift produciren,
welches, in die Säftemasse aufgenommen, Tuberkulose hervorruft. Trotzdem , dass die
primäre Entzündung kein anatomisches Element enthält, welches als Tuberkel gedeutet werden
könnte, bezeichnet Rindfleisch auch die ursprüngliche Entzündung als Tuberkulose,
da sie secundäre Lymphdrüsentuberkulose hervorruft. Rindfleisch definirt die Tuberkeln
des scrophulösen Individuums als einen circumscripten Herd scrophulöser Entzündung.
Hüter sieht das Wesen der Scrophulose in der Dilatation der Saftcanäle durch
die im kindlichen Alter an und für sich relativ grosse Menge des Ernährungssaftes. Da nun
die Saftcanäle bis in die oberflächlichen Lagen der Haut und der Schleimhäute sich erstrecken,
verlieren diese Häute diejenige Festigkeit, welche sie gegen das Eindringen der in der Luft
suspendirten, entzündungserregenden Urganismen schützt. Die eindringenden Monaden rufen
zunächst die primären Haut- und Schleimhautscropheln hervor, und indem sie auf dem Wege
der Lyniphbahn weiter wandern, erzeugen sie die Erkrankungen der Lymphdrüsen (Birch-
Hir schfeld, Ziemssen's Handbuch).
Aetiologie. Die Scrophulose ist eine der häufigsten Erkrankungen,
sie ist über den ganzen Erdball verbreitet. In den Tropen kommt sie seltener
vor, als im Norden. Ferner ist sie in einem kalten und feuchten Clima häufiger
als in einem trockenen. Man behauptet, dass bei Kindern, die aus den Tropen
in ein gemässigtes Clima übersiedeln, häufig Scrophulose ausbricht. Ich selbst
hatte in Wien Gelegenheit, bei zwei vor Kurzem eingewanderten Negerkindern
die Entwicklung der Scrophulose zu beobachten. Die Bodenverhältnisse üben
keinen Einfluss auf die Entwicklung dieser Krankheit aus. Sowohl in den Bergen
als auch in der Ebene kann man scrophulose Individuen finden.
Die Scrophulose betrifft hauptsächlich das Kindesalter ; die grösste Fre-
quenz derselben fällt nach den Autoren zwischen dem 2. bis 15. Lebensjahr. Wenn
auch die Scrophulose im Säuglingsalter relativ selten ist, halte ich die Behauptung,
dass die in Rede stehende Krankheit zu dieser Zeit nicht vorkomme, als
unrichtig. Ich habe in dem ersten Lebensmonate wiederholt die Erscheinungen
der Scrophulose beobachtet. In der Dentitionsperiode, also vom siebenten Lebens-
monat an, fand ich diese Erkrankung gerade so häufig, wie bei älteren Kindern.
Nach meiner Erfahrung erkranken die Säuglinge bei vorhandener Disposition und
anderweitigen Ursachen ebenso häufig, wie ältere Kinder. Selten schleppt sich
die früher entstandene Scrophulose über die Pubertät hinaus bis in das mittlere
Mannesalter fort. Das Geschlecht übt keinen wesentlichen Einfluss auf die Ent-
wicklung der Scrophulose.
In vielen Fällen ist die hier besprochene Krankheit ererbt. Als
Ursachen der Vererbung der Scrophulose kommen in Betracht: hohes Alter,
nahe Verwandtschaft und cachectische Zustände der Eltern;
insbesondere ist es die scrophulose, tuberkulöse und syphilitische Cachexie der Eltern
zur Zeit der Zeugung, die beim Kinde den Keim zur Entwicklung der Scrophulose
abgeben. Man beobachtet dies am häufigsten bei Kindern, die von Eltern
stammen, die in ihrer Jugend scrophulös waren und auch später blieben, oder
später tuberkulös wurden und zur Zeit der Zeugung entweder eine blühende
Scrophulose oder Tuberkulose hatten, oder die an den Folgen einer oft behandelten,
aber nie ganz geheilten Syphilis litten. Auch wollen einige Autoren die Ererbung
der Scrophulose bei Kindern beobachtet haben, deren Eltern zur Zeit der Zeugung
der Trunksucht ergeben waren oder an allgemeiner Schwäche in Folge von Noth
und Hunger litten.
In der Mehrzahl der Fälle ist die Scrophulose erworben. Im all-
gemeinen begünstigen die Armuth und schlechte hygienische Verhält-
nisse die Entwicklung dieser Erkrankung. Nach der übereinstimmenden
Erfahrung sämmtlicher Autoren übt die Ernährung, besonders in den ersten
SCROPHÜLOSE. 413
Lebensjahren, den grössten Einfluss auf die Entstehung der Scrophulose. Nach
Gerhardt ist das Ueberwiegen der Kohlehydrate, der Mangel
der Proteinsubstanzen dabei das Bestimmende. Welche qualitative
und quantitative Veränderungen der Frauenmilch geeignet sind, die Entwicklung
der Scrophulose zu begünstigen, ist bis jetzt nicht bekannt. Im Säuglingsalter
ist die frühzeitige Darreichung von Amylacea neben der Frauen-
milch, die Auffütterung der Kinder mit dem sogenannten Brei,
besonders wenn dieselbe bereits in dem ersten Lebensmonate erfolgt, die häufigste
Ursache der Scrophulose. Bei künstlich genährten Kindern hat man die Vermuthung
aufgestellt, dass durch die Kuhmilch ein specifi scher Stoff über-
tragen werden könne, welcher Erkrankungen hervorruft, deren
Verlauf gewissen Formen der Scrophulose entspricht. Man hat dies
besonders von der Milch perlsüchtiger Kühe behauptet. Bis jetzt hat Niemand
eine derartige Infection bei Menschen genau beobachtet. Ganz erwiesen bezüglich
der künstlichen Auffütterung ist der schädliche Einfluss der Ernährung der
Kinder im ersten Lebensjahr mit Brei, Semmel, Mehlspeisen anstatt
Milch, ferner der überwiegende Genuss von Brod, Kartoffeln,
Gemüse, Hülsenfrüchten, überhaupt die Ernährung mit einer über-
wiegend vegetabilischen Kost in den ersten Lebensjahren.
Die Entwicklung der Scrophulose wird ferner durch das Einathmen
einer verdorbenen, feuchten Luft, wie sie häufig in neugebauten oder
feuchten Häusern vorliegt und durch eine mangelhafte Hautcultur begünstigt.
In engen Wohnräumen des Proletariats, wo eine abgesperrte, überheisse, von
Rauch und Kochdünsten und von Moder der feuchten Wände, geschwängerte unreine
Luft vorliegt, blüht die Scrophulose.
Traumatische und mechanische Insulte, sowie Erkältungen wirken bei
vorhandener Disposition als Gelegenheitsursache.
Häufig wird in Folge von Infectionskrankheiten , insbesonders Morbillen,
Scharlach, Diphtheritis, Pertussis, die Entwicklung der Scrophulose beobachtet.
Die Gegner der Impfung bezeichnen auch die Vaccination als eine häufige
Ursache der Scrophulose. Man stellt sich vor, dass durch den Impfstoff selbst
ein specifisches Gift übertragen wird, welches im Stande ist, die Erscheinungen
der Scrophulose zu erzeugen. Die mikroskopische Untersuchung der Lymphe ist
bis jetzt negativ ausgefallen und wir müssen die obige Behauptung als nicht
erwiesen bezeichnen. Allerdings kann die Thatsache nicht geläugnet werden, dass
nach der Vaccination zuweilen der Ausbruch der Scrophulose beobachtet wird.
Es verhält sich hier aber gerade so, wie bei den Infectionskrankheiten. Es wird
wohl Niemand behaupten, dass in jenen Fällen, wo es in Folge von Infections-
krankheiten zur Entwicklung der Scrophulose kommt, dies nur in Folge eines von
den vorausgegangenen Erkrankungen erzeugten Giftes geschehe.
Schliesslich erübrigt noch die Frage, ob die Scrophulose ansteckend
sei? Die von Kortüm, Lepelletier, Goodlad ausgeführten Impfungen sind
negativ ausgefallen, so dass bis jetzt die Uebertragbarkeit der Scrophulose nicht
thatsächlich erwiesen ist.
Pathologische Anatomie. Als eine für die Scrophulose charakte-
ristische Erscheinung wurde von jeher an der Leiche „die Verkäsung der
Krankheitsproducte" angesehen. Nach Virchow ist aber die Verkäsung der
Ausgang verschiedener Processe und zwar findet man oft Eiterung mit dem Aus-
gang in Verkäsung (kalter Abscess), Hyperplasie mit dem Ausgang in Verkäsung
(Drüsenscrophulose) und Heteroplasie mit dem Ausgang in Verkäsung (Tuberkel und
Krebs). Nur wenn man die Entstehung der Verkäsung aus Heteroplasie ausschliessen
kann , ist man berechtigt, die Verkäsung als eine Erscheinung der Scrophulose
anzusehen. Die verkästen Krankheitsproducte stellen eine weisslich-gelbe, undurch-
sichtige mehr oder weniger trockene Masse dar. Die mikroskopische Untersuchung
derselben ergiebt vorwiegend körnigen Detritus , amorphe Zellen, theils erhaltene,
414 SCROPHULOSE.
theils geschrumpfte, theils fettig degenerirte atrophische Zellen. Die Verkäsung
kann bei allen Producteu der Scrophulose eintreten.
Ausser der Verkäsung wurde als anatomisches Charakteristicum für die
Scrophulose die Bildung einer besonderen Form von Granulationsgewebe
angesehen, welches von Rabl als scrophuloses Granulationsgewebe
bezeichnet wurde. In diesem sind nach ihm alle Formen der Bindegewebselemente,
besonders die embryonalen, reichlich vertreten. Die Grundsubstanz ist entweder
ein feinmaschiges Reticulum oder sie ist streifig angeordnet. Ausser elastischen
Fasern und Spindelzellen finden sich als Hauptmasse in diesem Granulationsgewebe
lymphoide Zellen und Riesenzellen. Nach Rabl nimmt das scrophulose Granulations-
gewebe gewöhnlich den Ausgang in Verkäsung. Da, wie Feänkel mit Recht
hervorhebt, das Granulationsgewebe nicht in allen Formen der Scrophulose zur
Entwicklung kommt und sich nicht ausschliesslich vorfindet, so kann man dasselbe
nicht als eine charakteristische Erscheinung der Scrophulose ansehen. Schüppel
deutet das von Rabl angegebene anatomische Bild des Granulationsgewebes als
locale Tuberkulose.
Feänkel bezeichnet als charakteristisch für alle Formen der Scrophulose
das Auftreten von Producten, die ungewöhnlich reich an lym-
phatischen Elementen sind. In Folge dessen geht eine reich-
liche Ernährung vor sich, die die verschiedensten Prolife ration s-
zustände anregt. Nach einiger Zeit führt die reichliche Er-
nährung zu einer Stauung in den Lymphgefässen. Sowohl in
dem so gestauten Material als auch bei allen krankhaften Pro-
ducten tritt nach einiger Zeit eine mangelhafte Ernährung ein
und in Folge derselben der Ausgang in Verkäsung (Feänkel,
Geehaedt, Handbuch der Kinderkrankheiten). Die scrophulösen Erkrankungen der
Haut und der Schleimhäute bieten uns keine besonderen anatomischen Charaktere.
Die Lymphdrüsen sind in dem ersten Stadium der Erkrankung nur massig
angeschwollen, elastisch, selten weich ; die einzelnen Drüsen sind getrennt palpirbar :
in diesem Stadium der Drüsenerkrankung liegt nur eine Hyperplasie vor.
Im zweitem Stadium der Erkrankung entwickelt sich allmälig Verkäsung
der Drüsen; dieselben nehmen an Grösse zu, werden hart und zeigen auf
dem Durchschnitt in der grauen oder graurjthen Substanz käsige Massen ein-
gebettet; im höchsten Grade ist die ganze Drüse complet verkäst und in eine
homogene, gelbe, trockene Masse verwandelt. Biech-Hieschfeld fand bei der
mikroskopischen Untersuchung der verkästen Drüsen unregelmässige, rundliche
Körperchen, geschrumpfte Zellen und Kerne und hie und da auch grössere
schollige Elemente ; in den Drüsen , fast ausnahmslos in der Follicularsubstanz
fand Biech-Hieschfeld wohl charakterisirte Tuberkel. Trotz dieses Befundes
giebt Biech-Hieschfeld zu, dass die Verkäsung der scrophulösen Lymphdrüsen
nicht ausschliesslich auf dem Wege der Tuberculose erfolgt und deutet seine
Befunde nur dahin, dass auf der Höhe der Krankheit sich Localtuberkulose
regelmässig entwickelt.
Die Ausgänge der Verkäsung sind: 1. In Erweichung; es entstehen
auf diese Weise mit eiterähnlichen Massen und Bröckeln ge-
füllte Cavernen; 2. in Verschwärung, Durchbruch der erweichten
Drüsen nach aussen und Geschwürbildung. Solche Geschwüre können durch Bildung
eines Granulationsgewebes heilen und hinterlassen dann strahlige, oft eingezogene,
hypertrophische Narben. 3. Verkleinerung der Drüsentumoren durch
Resorption; 4. Verkalkung der verkästen Drüsen, die sehr
selten eintritt.
Bei scrophulösen Individuen findet man zuweilen im subcutanen Zellgewebe
in der Umgebung der Knochen Eiteransammlungen in Form der sogenannten
kalten Abscesse. Dieselben sind meist abgekapselt, enthalten entweder einen
dünnen, wässerigen, an Eiterkörperchen armen Eiter mit flockigen Gerinnseln oder
SCROPHULOSE. 415
eine verkäste Masse; in Folge des Durchbruchs führen dieselben häufig zu
scrophulösen Geschwüren.
Die Gelenkaffectionen bei scrophulösen Individuen bieten
uns keine für die Scrophulose ausschliesslich charakteristischen Erscheinungen.
Birch-Hirschfeld schildert dieselben auf folgende Weise: er unterscheidet eine
purulente ulceröse und eine rein fungöse Entzündung. In jenen Fällen , wo die
Entzündung ihren Ausgangspunkt im Gelenke selbst nimmt, entwickelt sich zuerst
Köthung, Schwellung der Synovialmembran , allmälig entstehen auf derselben
schwammige Granulationen, welche von der Seite her den Knorpel überwachsen
und zwischen den Gelenkenden sich einschieben ; hierbei verdickt sich die Gelenk-
kapsel, nimmt ein speckiges Aussehen an und ebenso betheiligen sich an der
Entzündung Sehnen, Fascien, Periost und das subcutane Gewebe. In Folge der
beständigen Wucherung der Granulationen wird der Knorpel zum Schwund gebracht
und es entsteht auf diese Weise Caries der Gelenkenden. In anderen Fällen
entsteht zuerst Ostitis der Gelenkenden , Ulceration und erst secundär die Gelenk-
entzündung. In anderen Fällen kommt es frühzeitig zur Eiterung, die sich auch
auf die Umgebung des Gelenkes erstreckt (Birch-Hirschfeld).
Die Periostitis tritt bei Scrophulose für sich und in Verbindung
mit Knochen- und Gelenksaffectionen auf. Die acute Periostitis betrifft vor-
zugsweise die langröhrigen Knochen der oberen und unteren Extremitäten, sie kann
mit Eiterung verlaufen und führt meistens zur Necrose. Die chronische
Periostitis kann als ossificirende , fungöse, suppurative verlaufen — meistens
sind alle diese Processe combinirt ; dieselbe führt oft zur Caries (Birch-Hirschfeld).
Bei scrophulösen Individuen beobachtet man nach der Schilderung von
Birch-Hirschfeld häufig fungöse Caries, bei welcher die interstitielle Ent-
wicklung eines schwammigen Granulationsgewebes den Knochen usurirt; sie zeigt
Neigung zur Necrose oder auch zur Verkäsung der Entzündungsproducte.
Die primäre, chronische Ostitis (Osteomyelitis) betrifft nach Birch-
Hieschfeld besonders das spongiöse Knochengewebe, vorzugsweise der Wirbel,
die kurzen Extremitätenknochen, die Epiphysen der Röhrenknochen. Meistens beginnt
dieselbe mit der Bildung eines schwammigen Granulationsgewebes von den Gefässen
aus, welches die Markräume erweitert und die Knochenbälkchen zum Schwunde
bringt. Zuweilen kommt es dabei frühzeitig zur Eiterung, zur Fistelbildung, zur
Necrose grösserer Knochenpartien.
In anderen Fällen kommt es nicht zur Eiterung; die Granulationen sind
so üppig, dass sie förmlich den Knochen ersetzen, oder es tritt Verkäsung ein,
so dass man im Knochen käsige Massen findet (Birch-Hirschfeld).
Die hier gemachten Andeutungen halte ich an dieser Stelle für genug und
verweise bezüglich der Details auf die betreffenden Capitel dieses Werkes. Ebenso
möge der Leser die scrophulösen Affectionen der Bronchial- und Mesenterialdrüsen,
der Lungen, Hoden u. s. w. in den betreffenden Capiteln dieses Werkes nachsehen.
In hochgradigen Fällen von Scrophulose kommt es zur amyloiden Ent-
artung der Leber, Milz, Nieren. Betreffs der Beschreibung derselben verweise ich
auf die diesbezüglichen Artikel.
Symptome. Von jeher hat man sich bemüht, Erscheinungen anzugeben, die
die scrophulose Constitution charakterisiren sollen. Viele Aerzte unterscheiden
von Alters her eine torpide und eine erethische scrophulose Constitution.
Bei der ersteren ist der Körper blass, schwammig, aufgedunsen, mit
dicker Nase, aufgeworfenen Lippen, geschwelltem Bauche, reichlicher Panniculus
adiposus und schwache Muskeln. Solche Kinder sind träge, zeitweise verdriesslich
und gleichgiltig, schlafen unruhig, haben keinen Appetit, oder sind gefrässig und
leiden an Störungen der Verdauung. Die Untersuchung sämmtlicher Organe ergiebt
in solchen Fällen keine Veränderungen. Die Kinder bekommen leicht Hautausschläge,
Augen- und Ohrenentzündungen, Catarrhe der Schleimhäute , die sich durch eine
grosse Hartnäckigkeit auszeichnen. Der Grund der hier beschriebenen Ernährungs-
416 SCROPHULOSE.
Störung liegt in den Lymphdrüsen, wiewohl man keinerlei Schwellung derselben
nachweisen kann.
Bei der er ethischen Scrophulose findet man die Kinder von
schlankem, magerem Körperbau, mit feinen Haaren und langen Wimpern ; dieselben
sind sehr lebhaft, leicht erregbar, begabt, gegen Körperschmerzen enorm empfindlich ;
ihr Gesicht ist sehr blass und röthet sich sehr bald bei Gemüths- oder Körper-
bewegungen ; sie bekommen sehr leicht Herzklopfen und kurzen Athem ; sie fiebern
sehr leicht und stark ; die Lymphdrüsen, besonders die tief liegenden, sind meistens
mehr oder weniger geschwellt.
Wir müssen zugeben, dass so ausgeprägte Bilder angetroffen werden,
dass jedoch bei vielen Scrophulösen ein so prägnantes Bild nicht vorliegt.
Die Erscheinungen der Scrophulose sind wohl sehr mannigfaltig und
wurden theilweise bei den speciellen Artikeln dieses Werkes geschildert. Es wird
deshalb genügen, hier dieselben im Allgemeinen zu besprechen.
Die allgemeine Decke ist häufig der Sitz von scrophulösen
Erkrankungen. Dieselben finden sich vorwiegend am Kopf und Gesicht,
sie zeichnen sich aus durch ihren Reichthum an Zellen und Plasma,
durch ihre Pertinacität und durch die vielen Recidiven.
Es gehören hieher : Der Liehen scrophulosorum (Hebea). Der-
selbe tritt in Form von hirsekorngrossen, entweder der übrigen Epidermis gleich-
gefärbten oder hellrothen bis braunrothen Knötchen auf, welche stets gruppenweise
beisammenstehen; ihr Sitz ist meist am Stamm, selten an den Extremitäten, die
Knötchen jucken sehr wenig, es entwickeln sich viele oder alle Knötchen auf ein-
mal, unter den Knötchen treten zuweilen linsengrosse , rothe Knoten auf, welche
einer gewöhnlichen Acne gleichen und von denen einzelne einen eitrigen Inhalt
besitzen. Mit der Zeit schuppt sich die Oberhaut über den Knötchen ab. Die
Eruption der Knötchen kann sich häufig wiederholen und auf diese Weise kann
der Liehen scrophulosorum durch Jahre fortbestehen.
In zweiter Reihe die verschiedensten Formen von Eczem; es
liegt hier am meisten die impetiginöse Form vor. Bei scrophulösen Individuen
verlauft das Eczem chronisch, ist sehr hartnäckig und macht zahlreiche Recidiven.
Der Lieblingssitz ist der behaarte Kopf, Gesicht, Gehörgang, Augen-
lider und Umgebung der Nase; die Eczeme charakterisiren sich auch bei
scrophulösen Individuen durch die Bildung von haufenweise stehenden Knötchen und
Bläschen oder durch mehr oder weniger stark geröthete, mit dünnen Schuppen
bedeckte oder in anderen Fällen durch nässende Stellen. Auch gehört hieher das
sogenannte Ecthyma scrophulosorum, welches von den Dermatologen zum
Eczema impetiginodes gerechnet wird. Dieser Ausschlag wird nur bei cachektischen,
scrophulösen Kindern beobachtet ; häufig nach acuten Exanthemen. An verschiedenen
Körperstellen, besonders häufig auf dem Rücken, den Nates, den Ober- und Unter-
schenkeln bilden sich Pusteln bis zur Erbsengrösse , meistens in grösserer Anzahl
nahe bei einander stehend, von einer umschriebenen Röthe und geringen Schwellung
umgeben. Nach einiger Zeit vertrocknen die Pusteln zu einem schwarzbraunen Schorf,
unter welchem eine jauchige Eiterung fortdauern kann. Unter günstigen Verhältnissen
fällt der Schorf ab und hinterlässt eine bleibende Narbe. Wenn die Eiterung in
der Tiefe fortdauert, bilden sich auf diese Weise an der Stelle der Pusteln zahl-
reiche Geschwüre, die alle charakteristischen Eigenschaften der scrophulösen
Geschwüre besitzen. Solche torpide Geschwüre können zur Gangrän der Haut
führen und auf dieser zu bedeutenden Zerstörungen Anlass geben.
Auch der sogenannte L up> us scrophulosorum muss hier erwähnt
werden, bezüglich der näheren Beschreibung desselben verweisen wir auf den
betreffenden Artikel.
Schliesslich sind hier noch in Betracht zu ziehen: die sogenannten Ulcera
scrophulosa an der allgemeinen Decke, deren Charakteristicum in dem Artikel
„Ulceration" nachzusehen ist.
SCROPHULOSE. 417
In dem Unterhautbindege webe entwickeln sich häufig Ent-
zündungen, die meist nach Art der kalten Abscesse verlaufen;
sie treten als Complication einer vorhandenen Hautkrankheit oder auch selbständig
auf. Es entstehen auf diese Weise dicht unter der Haut meistens kleinere Herde,
oder, wenn sie von dem zwischen den Muskeln eingebetteten Bindegewebe hervor-
gehen, grössere Tumoren; sie sind selten isolirt, meist zahlreich vorhanden, sie
können zur Abscedirung führen oder sich resorbiren, meistens aber verkäsen und
auf diese Weise käsige Herde hinterlassen, die oft eine Zeitlang unverändert bleiben.
Unter den Schleimhäuten erkrankt die Nasenschleimhaut
am häufigsten; in einer Reihe von Fällen unter der Form eines chronischen
Catarrhes, hierbei ist die Schleimhaut der Nase geröthet, verdickt und liefert
ein reichliches, dickes, eitrig jaucbiges, leicht vertrocknendes Secret. Oft sind in
Folge des oben erwähnten Catarrhes die äusseren Theile der Nase geschwellt
und die Eingänge in die Nase mit gelbgrünen, dicken Borken verlegt. Durch
das Abfliessen des eitrig-jauchigen Secretes entstehen an der allgemeinen Decke
Erytheme und Eczeme. In einer anderen Reihe von Fällen tritt die Erkrankung in
Form von scrophulösen Geschwüren an der Nasenschleimhaut auf; man findet in
solchen Fällen die Nase mit zahlreichen gelbbraunen Krusten verstopft, nach Ent-
fernung derselben zeigt sich die Nasenschleimhaut in toto geschwellt, massig geröthet,
an einzelnen Stellen derselben, besonders am Septum, sind linsöng^osse Geschwüre,
die mit einem graugelblichen Belag versehen sind. Bei; der. leisesten Berührung entsteht
Nasenbluten, auch sind häufig die äusseren Nasentheile dabei etwas geröthet und
geschwellt. In solchen Fällen entstehen häufig Erysipele, die von der Nasenschleim-
haut ihren Ausgangspunkt nehmen und von da über das- Gesicht sich verbreiten.
Dieselben verlaufen gewöhnlich mit einer stark ödematösen Schwellung des sub-
cutanen Zellgewebes, sie werden sehr oft recidiv. Die eben geschilderte Form des
scrophulösen Schnupfens (Ozaena) besteht gewöhnlich durch lange Zeit und zeichnet
sich durch viele Recidiven aus. Zuweilen hat das Secret der Nase einen sehr üblen
Geruch ; hierbei kommt es jedoch sehr selten zu tiefen Zerstörungen und zu Caries.
Gleichzeitig mit der Nasenschleimhaut ist auch die Schleimhaut des
Rachens afficirt. Man findet dieselbe massig geröthet, geschwellt, die Lymph-
drüsen, besonders an der hinteren Rachenwand, zu erbsengrossen Geschwülsten
vergrössert ; auch die Tonsillen entzünden sich häufig und werden durch die wieder-
holten, mehr chronisch verlaufenden Entzündungen hypertrophisch.
Ohrenentzündungen sind ein tägliches Vorkommniss bei Scrophulose.
Dieselben entstehen am häufigsten durch die Vermittlung der Tuba in Folge des
Nasen- und Rachencatarrhs ; in der Mehrzahl der Fälle führen dieselben zur
Perforation des Trommelfells und können zur Necrose des Felsenbeins , zur
Meningitis und zur Pyämie führen. Ich verweise bezüglich der Details auf
den Artikel „Mittelohrentzündung". Die Otitis externa ist meistens combinirt mit
Eczemen der Ohrmuschel und des Gehörganges und führt relativ selten zu Abscess
und Perforation des Trommelfelles.
Ebenso häufig wird von der Scrophulose das Auge befallen. Verdickungen
des Lidrandes, chronische Entzündungen der MEiBOM'schen Drüsen gehören zu den
leichtesten Graden. Pusteln auf der Conjunctiva und Hornhaut, Herpes conjunctivae
und corneae , Keratitis vasculosa , Pannus, Iritis, begleitet von Lichtscheu,
Lidkrampf und Thränenfluss , sind jene schweren Formen , die so häufig bei
Scrophulose beobachtet werden und die so oft Maculae corneae hinterlassen.
Bezüglich der Details verweise ich auf die entsprechenden Artikel.
Man hat behauptet, dass bei Scrophulose sowohl die Schleimhaut
der Respirationsorgane als jene der Verdauungsorgane häufig
catarrhalisch afficirt werden. Wenn man auch eine specifische Erkrankung
derselben nicht annehmen kann, so steht die Thatsache fest, dass die genannten
Schleimhäute bei scrophulösen Individuen häufig von chronischen, hartnäckigen,
oft recidivirenden Catarrhen befallen werden und dass es in Folge derselben zu
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 27
418 SCROPHULOSE.
Hyperplasie und Verkäsung der Bronchial- und Mesenterialdrüsen kommt. Nach meiner
Auflassung ist eben die Vulnerabilität der Schleimhäute mit den vielen Recidiven
ei iio der wichtigsten charakteristischen Erscheinungen der scrophulösen Constitution.
Ausser den bereits erwähnten Aftectionen der Schleimhäute ist hier noch die
Scheidenblennorrhoe in Betracht zu ziehen , die nicht selten zur Zeit der
Pubertät bei scrophulösen Mädchen beobachtet wird.
Die Schwellung der Lymphdrüsen gehört von jeher zu
den charakteristischen Erscheinungen der Scrophulose. Dieselbe
entsteht nur seeundär. Wo nicht eine traumatische Einwirkung stattgefunden hat,
sind dieselben nur die Folge von Erkrankungen der Rachen-, Nasenschleimhaut, von
Eczem der Kopfhaut, des Gesichtes, Ohrenentzündungen, Augenentzündungen, Bein-
häut- oder Knochenentzündungen etc. Im Beginne ist die Schwellung derselben eine
einfache hyperplastische. Anfangs ist dieselbe schmerzlos und führt zu haselnuss-
grossen, glatten Geschwülsten, die sich hin- und herschieben lassen ; solche Drüsen-
tumoren können Jahre lang bestehen, ohne die geringste Veränderung zu zeigen. —
Anlässlich einer Recidive der primären Erkrankung vergrössern sie sich und können
in Folge der wiederholten Recidive eine beträchtliche Grösse erreichen, ohne ihre
hyperplastische Natur zu verändern. Zuweilen, sei es in Folge der Primärerkrankung,
sei es in Folge einer geringfügigen traumatischen Einwirkung, entzünden sich einzelne
Drüsen, werden beim Drucke schmerzhaft, verwachsen mit entzündetem, umgebendem
Zellgewebe, führen zur Bildung eines Abscesses, welcher nach Entzündung und
Röthung der allgemeinen Decke zum Durchbruche kommt. Auf diese Weise entstehen
verschieden grosse Abscesse mit unregelmässigen Fistelgängen, die einen dünnen Eiter
besitzen, in welchem käsige Bröckeln des in Zerfall begriffenen Drüsengewebes
enthalten sind. Sie können binnen wenigen Tagen zur Heilung führen; in der Mehrzahl
der Fälle aber bestehen sie durch längere Zeit, Monate, selbst Jahre, und führen
zu den kekannten, wulstigen, eckig-leistigen, unverschiebbaren Narben. In vielen
Fällen kommt es nicht zur Eiterung, die vergrösserten Lymphdrüsen gehen allmälig
die Verkäsung ein und können durch längere Zeit als umfangreiche , knollige
Geschwülste stationär bleiben. Hierbei sieht man, wie die Drüsenaffection von einem
Drüsenpacket zum anderen fortschreitet, so dass in hochgradigen Fällen sämmtliche
Lymphdrüsen von den Cervicaldrüsen bis zu den Axillar- und Inguinaldrüsen an
dem Processe theilnehmen. Auch die inneren Drüsen, besonders die Bronchial-
und Mesenterialdrüsen , können dieselben Veränderungen zeigen. Betreffs der
Erscheinungen der Erkrankung der Bronchial- und Mesenterialdrüsen verweise ich
auf den betreffenden Artikel.
Die Entzündung des Periosts und der Knochen gehört zu
den wesentlichsten Erscheinungen der Scrophulose. In den betreffenden Artikeln
findet der Leser eine ausführliche Besprechung derselben. — Hier genüge nur zu
erwähnen :
1 . Die sogenannte Sp ina ventosa besteht in einer allmäligen, schmerz-
losen Anschwellung der erkrankten Knochen, am häufigsten der Phalangen der
Finger, Zehen, der Mittelhand- und Mittelfussknochen, so dass dieselben eine flaschen-
förmige Gestalt annehmen; die Haut über der so entstandenen Geschwulst ist
blass und gespannt. Die Geschwulst kann sich allmälig rückbilden oder zur
Abscedirung führen: durch die Perforationsöffnung kann man zuweilen mit der
Sonde durch den Knochendefect bis in die Markhöhle dringen; selten kommt es
in solchen Fällen zu einer ausgedehnten Sequesterbildung.
2. Die sogenannte fungöse Gelenksentzündung, am häufigsten.
als Coxitis, Gonitis oder als Entzündung des Fussgelenks, Ellenbogengelenks, viel
seltener des Hand- und Schultergelenks.
3. Die scrophulose Knochenentzündung, besonders Spondylitis,
acute Osteomyelitis etc., die als ein chronischer, langwieriger Process aufzufassen
ist, welcher zur Caries führt.
SCROPHULOSE. 419
Sie gehören alle zu den schwersten Erscheinungen der Scrophulose und
können nichtsdestoweniger, namentlich bei jungen Kindern, durch allmälige Bildung
eines gesunden Granulationsgewebes, welches den Knochen bedeckt, und Bildung von
neuem Knochengewebe, in seltenen Fällen den Ausgang in Genesung nehmen.
Bei sehr ausgeprägter Scrophulose und langwierigen, eitrigen Knochen-
processen leidet die gesammte Ernährung bedeutend und es kommt in Folge
dessen zu schmerzlosen Schwellungen der Leber und Milz und gleichzeitig zu
Störungen der Harnsecretion. Der Urin enthält in solchen Fällen Eiweiss. Solche
Schwellungen sind als amyloide Entartung aufzufassen. Siehe Artikel „Amyloide
Degeneration".
Die bei Scrophulosis häufig gefundene allgemeine Anämie ist nur eine
Folge der Erkrankung und nicht ein Symptom. In Folge der Scrophulose wird
die gesammte Ernährung beeinträchtigt, am stärksten bei hochgradigen Eiterungen
der Gelenke, Knochen, bei Verkäsung der Lymphdrüsen. Im Verlaufe der Scro-
phulose wird häufig Fieber beobachtet, und zwar bei der Entwicklung der Erschei-
nungen der Scrophulose auf den Schleimhäuten, ferner bei Resorption von Ent-
zündungsproducten , bei eintretender Verkäsung und bei Eiterungsprocessen. Der
Charakter des Fiebers hängt wohl von der veranlassenden Ursache ab.
Dauer, Verlauf, Ausgänge. Die Scrophulose ist eine chronisch
verlaufende Erkrankung. Die Reihenfolge, in welcher die Erscheinungen derselben
sich einstellen, ist nicht genau zu bestimmen; meistens entwickeln sich zuerst die
Erscheinungen derselben an der allgemeinen Decke und an den Schleimhäuten,
sonach folgt die Erkrankung der Lymphdrüsen und schliesslich jene des Periosts,
der Knochengelenke etc. etc.
In vielen Fällen nimmt die Scrophulose den Ausgang in Genesung,
in leichten nach mehrmonatlicher, in schweren nach mehrjähriger Dauer. Die
hochgradigste Scrophulose dauert oft bis zur Pubertät und kann zur vollständigen
Heilung führen.
Der letale Ausgang kann durch die scrophulose Erkrankung der
Knochen, Gelenke, Drüsen bedingt werden und es lässt sich nicht leugnen, dass
eine grosse Anzahl Kinder auf diese Weise zu Grunde geht. Auch kann der
letale Ausgang durch eine intercurrirende Krankheit vermittelt werden, wie
Pneumonie, Pleuritis, Bronchitis, Darmcatarrh, Pyämie etc. etc.
Häufig beobachtet man in Folge der Scrophulose den Ausgang in T u b e r-
c u 1 o s e. Dieselbe kann sowohl acut, wie chronisch verlaufen {Meningitis tuber-
culosa, chronische Lungentuberculose etc.). Es ist ja allgemein bekannt, dass die
Scrophulose das grösste Contingent zur Tuberculose liefert.
Nur in den hochgradigsten Fällen von Scrophulose, wo eine langwierige
Eiterung und Caries vorliegt, tritt der Ausgang in amyloide Degeneration ein.
Prognose. Die Prognose hängt zunächst von dem Grade, der L o c a 1 i-
sation und Ausdehnung der Erscheinungen der Scrophulose ab : so
lange die Scrophulose nur zu chronischen Entzündungen der Scheimhäute
oder der Haut führt, ist die Prognose günstig, da in solchen Fällen trotz
vieler Recidiven eine endgiltige Heilung in relativ kurzer Zeit zu erwarten steht.
Ebenso können Drüsenschwellungen, so lange sie im Stadium der Hyperplasie sich
befinden, allmälig abnehmen und gänzlich schwinden. Weit bedenklicher gestaltet
sich die Prognose , sobald die Verkäsung der Lymphdrüsen sich eingestellt hat,
da in solchen Fällen die gesammte Ernährung leidet und der Ausgang in Tuber-
kulose zu befürchten steht. Die Affectionen der Knochen und Gelenke sind stets
als schwer aufzufassen; wenn auch in solchen Fällen nach mehrjährigem Verlauf
vollständige Heilung eintreten kann , so hängen die weiteren Gefahren von dem
Stadium und der Localisation der Knochen- oder Gelenkskrankheit ab. Selbst-
verständlich ist die Prognose am schlechtesten in jenen Fällen, wo mehrere Knochen
oder Gelenke gleichzeitig erkrankt sind und zugleich auch die anderweitigen Er-
scheinungen der Scrophulose bereits einen hohen Grad erreicht haben. Absolut
27*
420 SCROPHULOSE.
ungünstig ist die Prognose, wenn bereits Symptome innerer Tuberkelablagerung
oder amyloitle Degeneration der Organe sich entwickelt hat.
Der Ausgang der Krankheit hängt theilweise auch von dem Ernährungs-
zustand ab, in welchem sich der Kranke befindet. So lange die gesammte Ernährung
keine wesentliche Störung zeigt, heilen die scrophulösen Affectionen relativ leichter.
Bei starker Abmagerung und hochgradigen scrophulösen Erscheinungen ist die
Prognose ungünstig, weil die Heilung nicht vor sich geht und die Gefahr einer
nachfolgenden Tuberkulose sehr gross ist. Bei schlechter Ernährung zeigt die
Scrophulose die grösste Hartnäckigkeit.
Nicht ohne Einfluss auf die Prognose sind die hygienischen Verhältnisse,
unter welchen sich der Kranke befindet.
Therapie. Von allen vorgeschlagenen Mitteln hat für die Scrophulose
bis jetzt nur die sorgfältige Kegelung der Ernährung in den ersten
Lebensjahren einen positiven prophylactischen Werth. In den ersten 9 Lebensmonaten
sollen die Kinder so viel als möglich ausschliesslich mit Frauenmilch
genährt werden. Ist die Scrophulose in einer Familie erblich, oder zeigt die Mutter
des Kindes noch Erscheinungen der Krankheit, so wird man ihr das Selbststillen
nicht gestatten und das Kind durch eine kräftige, gesunde Amme
ernähren lassen. Zur künstlichen Ernährung wird man nur dann
greifen, wenn das Stillen des Kindes absolut undurchführbar ist. Wo man genöthigt
ist, die Kinder in den ersten 9 Monaten künstlich zu ernähren, wähle man jene
Methode der künstlichen Ernährung, die der natürlichen mit Frauenmilch am
nächsten kommt, d. i. eine frische, gute, tadellose Kuhmilch, die
nach den bekannten Grundsätzen verdünnt wird, oder die in Form des BrEDEßTS
Rahmgemenges angewendet wird. Alle Ersatzmittel, sei es der Frauenmilch , sei es
der Kuhmilch, tragen zur Entwicklung der Scrophulose bei. In dieser Hinsicht ist
zu verpönen die Anwendung der condensirten Milch mit und ohne Zucker, die
verschiedenen Kindermehle, von dem Nestle-Mehl angefangen bis zu den ver-
schiedensten was immer für einen Namen führenden Sorten, die LiEBiG'sche Suppe
und ihre Präparate, wie die Löflund'sche und Liebe's Kinder-Nahrung, die ver-
schiedenen amylumhältigen Zusätze zur Milch, wie Reiswasser, Gerstenwasser,
Kukurutzwasser, Arrowroot, Salep etc. Zur Verhütung der Scrophulose sollen in den
ersten 9 Monaten die Kinder blos mit Frauenmilch oder mit guter, frischer Kuhmilch
genährt werden. Die Darreichung einer Nebennahrung, besonders wenn dieselbe
Amylacea enthält, wie dies in dem sogenannten Kinderbrei enthalten ist, erachte
ich als schädlich.
Kinder im Alter von 1 — 2 Jahren ernähre man mit Milch, Fleisch, Eiern
und man verbanne die Anwendung der Amylacea ; wir haben bereits oben angeführt,
dass die ausschliessliche und vorwiegende Auffütterung der Kinder mit Semmel,
Mehlspeisen, Kartoffel, Hülsenfrüchten etc. eine der häufigsten Ursachen der Scro-
phulose ist. Nur bei kräftigen Kindern und zu einer Zeit, wo keine Erscheinung
der Scrophulose vorliegt, kann man ein- bis zweimal des Tages in geringer
Menge nebst der oben angeführten Nahrung leicht verdauliches Amylum geben,
wie: Reis, Tapioca, Sago, grüne Gemüse, Leguminosen etc.
Zur Verhütung der Scrophulose ist nothwendig, in den ersten Lebens-
jahren die Kost der Erwachsenen nicht zu geben; man vermeide eine ausschliess-
lich feste Nahrung und verabreiche dieselbe so viel als möglich in einer breiigen
Form. Selbstverständlich ist eine richtige Eintheilung der Mahlzeiten und die
sorgfältige Vermeidung einer Ueberfütterung in jeder Beziehung beachtens werth.
Nicht weniger wichtig für eine erfolgreiche Behandlung der Scrophulose
ist die Beschaffung möglichst günstiger Lebensverhältnisse.
In erster Reihe reine, sauerstoffreiche Luft. Wir empfehlen
deshalb für scrophulose Kinder den Aufenthalt an der Seeküste ; die Kinder
sollen daselbst verbleiben, bis die Erscheinungen der Scrophulose geheilt sind und
die gesammte Ernährung sich wesentlich gebessert hat. Die in den Kinderstationen
SCROPHULOSE. 421
für scrophulöse Kinder an der Seeküste erzielten Erfolge werden von allen Seiten
gerühmt , so dass wir es für eine wahre Wohlthat ansehen würden , wenn der-
artige Institute recht zahlreich auch bei uns entstehen würden.
Ebenso günstig wirkt die Gebirg sluft, besonders wenn sie gleich-
zeitig mit einem Soolenbad verbunden ist. Es wäre wünschenswerth,
dass in unseren Soolenbädern, wie Ischl, Aussee, Gmunden etc., Asyle für scrophulöse
Kinder entstehen würden. Auch die einfache frische Landluft erweist
sich für scrophulöse Kinder wohlthätig.
Ich pflege deshalb , wenn die Verhältnisse des Kranken einen längeren
Aufenthalt an der Seeküste oder im Gebirge nicht gestatten, den Landaufenthalt
über den Sommer als einen . günstig wirkenden Ersatz zu empfehlen. Man wähle
hierbei nur Gegenden und Wohnungen, die sehr trocken sind,
da , wie wir bereits angeführt haben , feuchte Luft und feuchte Wohnung,
nachtheilig sind. Man lasse überhaupt scrophulöse Kinder bei
günstiger Witterung so viel als möglich im Freien verweilen,
da die günstige Wirkung der Luft und des Lichtes bei scrophulösen Kindern
wohl erwiesen ist.
Von grossem Belange für scrophulöse Kinder sind ferner gymnastische
Uebungen und eine sorgfältige Hautcultur. Durch die gymnastischen
Uebungen , wenn sie rationell durchgeführt werden , erzielt man eine günstige
Wirkung auf die Athmung, auf die Verdauung und auf den gesammten Stoff-
wechsel. Ein methodischer Turnunterricht, welcher successiver Weise an die
Kräfte des Kranken angepasst wird , bildet eine wesentliche Stütze für die Behand-
lung der Scrophulösen.
Betreffs der Hautcultur sind systematische kalte Abreibungen
zunächst in Betracht zu ziehen. Ich lasse scrophulöse Kinder zweimal täglich das
ganze Jahr hindurch kalt waschen und abreiben. Ich beginne gewöhnlich mit einer
Temperatur von 18° und gehe allmälig zum brunnenfrischen Wasser über.
Bei vorhandenen Erscheinungen der Scrophulöse spielen Bäder Zur Heilung
derselben eine grosse Bolle. Bei gut genährten Kindern, wenn sie mit Erscheinungen
der Scrophulöse an der Haut, an den Schleimhäuten, an den Drüsen (einfache Drüsen-
schwellung), an der Beinhaut, an den Knochen, an den Gelenken (beim Beginne
der Entzündung) behaftet sind, wende ich Jodbäder an. Wenn die Verhältnisse
es erlauben, lasse ich solche Bäder an dem betreffenden Curorte gebrauchen. Die
günstige Wirkung der Jodquellen ist allgemein bekannt ; ich empfehle gewöhnlich die
Adelheidsquelle, Castrocaro, Hall in Oberösterreich, Iwonitz, Königsdorf, Kranken-
heil, Kreuznach, Dürkheim , Dofana, Lipik , Monfalcone, Monte Catini etc. Im
Winter lasse ich solche Jodbäder zu Hause gebrauchen; ich verwende zu solchen
Zwecken Haller-, Krankenheiler-, Kreuznacher-, Darkauer Jodsalz, und zwar nach
dem Alter des Kindes 1li, x/2, 1 ganzen Kilo mit einer gleichen Menge Kochsalz
vermengt. Die Bäder werden kühl gegeben, 26 — 27° und nur 3mal in der Woche.
Bei abgemagerten Kindern und bei einfacher Scrophulöse der Schleimhäute ziehe
ich Salzbäder vor.
Im Sommer schicke ich solche Kinder in ein See- oder Soolenbad.
Bei der Wahl solcher Curorte ist stets auf gute trockene Luft Rücksicht zu nehmen.
Betreffs der Seebäder wähle ich mit Vorliebe Biaritz, Blankenberghe, Castellamare,
Colberg, Doberan, Livorno, Norderney etc. Von den Soolenbädern geniessen einen
grossen Ruf Ischl , Gmunden , Aussee , Casa Stronchina , Nauheim , Oynhausen,
Reichenhall, Salzhausen, Salzungen, Wielitzka , Kissingen, Königsdorf, Sooden,
Rothfeld und viele andere. Im Winter und für die Armenpraxis ersetze ich die
Anwendung derselben mit Salzbädern. Als Zusatz zum Bade verwende ich bei
Säuglingen x/8, bei grösseren Kindern x/4 — l/a Kilo Steinsalz, je nach der Grösse
der Wanne, ebenso kann man Meersalz, Halleiner Mutterlaugensalz, Kreuznacher-
Salz benützen. Die Bäder müssen durch Wochen und Monate fortgesetzt werden,
und zwar nur 2 — 3mal in der Woche.
422 SCROPHULOSE.
Bei Haut- und Knochenscrophulose werden vielfach Schwefelbäder gerühmt ;
es kommen hier nur warme Schwefelquellen in Betracht ; ich wende dieselben nur
bei gut genährten Kindern an.
Unter den Medicamenten erfreut sich die Anwendung von Jod des besten
Rufes ; ich wende dieses Mittel nur bei Kindern an , die sich in einem guten
Ernährungszustand befinden. Bei Haut-, Schleimhaut-, Knochenscrophulose und
einfacher Drüsenschwellung leistet das Jod gute Dienste.
Bei abgemagerten Individuen, bei vorhandener Verkäsung der Drüsen,
oder bei vorhandenen Complicationen in den Respirationsorganen ist die Anwendung
von Jodpräparaten nutzlos und schädlich. Am besten werden von Kindern die jod-
haltigen Mineralwässer vertragen : Adelheidsquelle , Hall, Iwonitz, Darkau etc. etc.
Ich verabreiche solche Mineralwässer in massiger Quantität. Rascher wirkt bei
Kindern, die eine gesunde Verdauung haben, die sogenannte LüGOL'sche Lösung
(Jodi puri 0*03 — 0*05 , Kali liydrojodici 1*00, Aq. fontis 80*00, Syrnpi
simplicis 20*00. DS. 3mal täglich 1 Kinderlöffelvoll zu geben).
Bei blutarmen Kindern ist die Anwendung von Jodeisen in Pulver-
form vorzuziehen, ich verschreibe gewöhnlich Ferr. jod. sacch. allein oder in
Verbindung mit Rheum (Ferr. jod. sacch. 1*00, Pult: rad. rhei chin. 0*40,
Sacch. alb. 200. Div. in Dos. X, DS. 3 Pulver des Tages zu geben); den
Syrup. ferr. jod. halte ich nicht für zweckmässig, da derselbe leicht eine Störung
der Verdauung hervorruft. In neuester Zeit wurde vielfach Jodoform empfohlen.
Ich verschreibe denselben in Verbindung mit Eisen {Jodoform. 0*10, Ferr. pepto-
nati V00, Sacch. albi 2-00. Div. in Dos. X, DS. 2 — 3 Pulver des Tages zu geben).
Die Jodpräparate müssen, wenn sie keine Störung der Verdauung
und Abmagerung hervorrufen , durch mehrere Monate fortgesetzt werden. Bei
eintretender Abmagerung oder Jodismus sind dieselben auf einige Zeit aus-
zusetzen. Bei abgemagerten, scrophulösen Kindern wendet man gewöhnlich Leber-
thran an. Bezüglich der Technik der Anwendung desselben verweise ich auf den
Aufsatz „Rachitis" dieses Werkes.
Bei Scrophulose ist die Verbindung des Leberthrans mit Jodeisen zweck-
mässig. Ich mache gewöhnlich folgende Verschreibung : Ferr. jod. sacch. 10*00,
Olei jeeoris Aselli 100*00, stet per 40 horas, deinde decantha. DS. 1 — 2 Ess-
löffelvoll zu nehmen. Auch der Leberthran muss durch mehrere Monate fortgesetzt
werden, um eine Wirkung desselben zu erzielen. Selbstverständlich ist derselbe
auszusetzen, sobald sich eine Störung der Verdauung einstellt.
Bei beginnender Verkäsung der Drüsen sind Arsenpräparate allen
anderen Medicamenten vorzuziehen. Ich verwende gewöhnlich in steigender Gabe
Tinct. Fowlerii (Tinct. Fowlerii, Aq. fontis aa. 10*00. DS. 5 — 10 Tropfen des
Tages zu geben). Das Medicam ent wird ausgesetzt, sobald eine Störung der Ver-
dauung eintritt.
Bezüglich der Behandlung der verschiedenen Localaffectionen verweise ich
auf die betreffenden Capitel dieses Werkes. Ich will hier nur noch bezüglich der
localen Anwendung der Jodpräparate bei Drüsenschwellungen die Bemerkung hin-
zufügen, dass die Haut der Kinder enorm empfindlich ist. Ich halte die Jodtinctur
für nicht zweckmässig und wende Jod local lieber nach den folgenden Formen
an, als: Jodglycerin {Jodi puri 0*10, Kali hydrojodici 1, Olycerin. 30*00),
ein Jodpflaster (Jodi puri 0*10, Kali hydrojodici 1*00, Fmpl. Saponat. 50.
Liq. f. Empl.), oder eine Jodoformlösung (Jodoform. 1*00, Glycerin. 30*00, Olei
Bergamottae gtt. sex.).
Die Schmiercur mit Kaliseife halte ich bei Drüsenschwellung für wirkungslos.
Bei Ozaena scrophulosa wende ich Ausspritzungen der Nase mit jod-
haltigen Mineralwässern oder mit einer concentrirten Jodkalilösung an (Kali
jod. 5*00, Aq. fontis 200*00. DS. zum Ausspritzen der Nase).
Bei reichlicher übelriechender Secretion Ausspritzungen mit Kali hyper-
manganicam (Kali hypermanganici 10*00, Aq. fontis 200*00), oder mit Carbol-
SCROPHULOSE. — SECALE. 423
säure (Acidi carbolici 2*00, Aq. fontis 200*00). Wo Geschwüre in der Nase
vorliegen, leistet eine Präcipitatsalbe die besten Dienste (Merc. praecipntati rubri 0*10,
Unqu. emollient. 10*00. DS. äusserlich).
Literatur: Ein vollständiges Literaturverzeichniss über die hier in Rede
stellende Krankheit ist in Ziemssen's Handbuch der Pathologie und Therapie, Bd. XIII,
und in G- erhardt's Handbuch der Kinderkrankheiten enthalten, auf die wir hier verweisen.
Monti.
Scrotalbrucli, s. „Brüche", II, pag. 555.
Sebolith {sebum , Talg und lid-oq. Stein) , von Lebert gebrauchte
Bezeichnung für die in Balggeschwülsten vorkommenden Concrementbildungen ;
vgl. „Cyste".
Seborrhoe (sebum und psiv, fliessen * also eigentlich Talgfluss oder Schmer-
fluss , Fluxus sebaceus) • auch Seborrhagie, Stearrhoe, Steatorrhoe,
vermehrte Fettsecretion der Haut, die am häufigsten an behaarten Stellen, besonders
an der behaarten Kopfhaut („Seborrhoea capillitii") vorkommt und daselbst
zu Lockerung und Ausfallen der Haare Veranlassung giebt; vgl. „Alopecia",
I, pag. 201. — Seborrhoea cong estiva, s. „Lupus erythematodes1-1 ,
VIII, pag. 421.
Sebum, Sevum, Talg. Das namentlich aus dem fettreichen Gewebe der
Nieren und des Netzes des Schafes , Kindes , der Ziege etc. durch Ausschmelzen
erhaltene Fett. Officinell ist der Rindstalg, Beb um b ovinum (Pharm. Germ.)
und der Hammeltalg, Sebum ovile (S. ovillum , Pharm. Germ, et Aust. ).
Ersterer bildet bei gewöhnlicher Temperatur eine feste, weisse, bei 40 — 45°
schmelzende Masse von 0*930 spec. Gewicht, sehr schwachem, eigenartigem
Geruch und mildem Fettgeschmack. Wird bald gelblich und ranzig. Besteht zu
etwa 3/4 aus festen Fetten (Tristearin und Tripalmitin), der Rest ist ein flüssiges
Fett (wesentlich Triolein), welches sich bei circa 30° abpressen lässt (Talgöl).
Der Hirschtalg, Sebum cervinum, stimmt mit dem Rindstalg in der
Hauptsache überein. Der Hammeltalg ist in Folge eines grösseren Gehalts an
Tristearin etwas fester, hat einen etwas höheren Schmelzpunkt (45—50°) und
einen anderen, allerdings nur schwachen, eigenthümlichen Geruch. Durch stärker
hervortretenden Bocksgeruch (von einer flüchtigen Fettsäure) ausgezeichnet ist der
sonst dem Hammeltalg -ganz gleichende Ziegentalg, Sebum hircinum.
Die verschiedenen Talgarten finden in der Medicin nur zu pharmaceutischen
Zwecken Anwendung, als Constituentia für Salben, Cerate, Pflaster, Suppositoria.
Das aus denselben, besonders aus dem Hammel- und Rindstalg im Grossen (durch
Behandlung mit kaltem Aether, zur Trennung des Palmitins und Oleins und Umkrystallisiren
des Rückstands aus heissem Aether) dargestellte reine Stearin (Tristearin) bildet weisse,
perlmutterglänzende, bei circa 70° schmelzende und dann zu einer amorphen weissen Masse
erstarrende Krystallschuppen. In kaltem Aether und Alkohol ist es fast unlöslich, vollkommen
löslich in heissem Aether. Es kann, gleichwie die unter der Bezeichnung Stearin im Handel
vorkommende rohe Stearinsäure (das bekannte, in der Industrie [Kerzenfabrikation] viel
verwendete Product), wesentlich aus einem bei 60—68° schmelzenden, in heissem Alkohol
löslichen Gemenge von Stearin- und Palmitinsäure bestehend, wie die Talgarten pharmaceutisch
als Constituens für Salben, Pomaden, Cerate etc. benützt werden. ^ „ i
' Vogl.
Secale COnratnm , Fungus Seealis, Mutterkorn. Das in der Blüthe des
Roggens , Secale cereale L., sich entwickelnde Dauermycelium (Sclerotium) von
Glaviceps purpurea Tulasne , einem Pilze aus der Familie der Pyreno-
myceten, meist stumpfe, 3-seitig prismatische, gerade oder etwas gebogene, an
beiden Enden verschmälerte , 2 — 3 Cm. lange, 2 — 5 Mm. dicke , aussen schwarz-
violette, im Inneren weisse Körper, im frischen Zustande von derbfleischiger Con-
sistenz, pilzartigem Gerüche und anfangs süsslichem, dann etwas scharfem Geschmacke.
Mutterkornbildung kommt nicht blos auf dem Roggen , sondern auch auf zahl-
reichen anderen Gräsern, sowohl eultivirten (Weizen, Gerste), als wildwachsenden (Lolium
perenne L., Triticum repens L., Dactylis glornmerata L. etc.) und Halbgräsern (Cyperaceen)
vor. Früher wurde das Mutterkorn für einen selbstständigen Pilz gehalten und als Sclerotium
Clavus DO. (Spermoedia Clavus Fr.) beschrieben. Tulasne (1853) hat gezeigt, dass dies
424 SECALE.
unrichtig, dass vielmehr das Mutterkorn ein Entwicklungszustand, ein sogenanntes Dauer-
mycelium (Sclerotium) der oben angeführten Claviceps-Art sei.
Die Pharmacopöen fordern ausdrücklich das Roggen mutterkorn
wohl hauptsächlich aus dem Grunde, weil es am häufigsten vorkommt.
Jn manchen Jahren tritt Mutterkorn sehr reichlich auch auf der Gerste und auf
dem Weizen auf und wird dann gewiss auch eingesammelt. Die Stücke des Weizen- und
Gerstenmutterkorns sind aulfallend kürzer und dicker als jene des Eoggenmutterkorns, in
der "Wirksamkeit übrigens wohl kaum verschieden von jenem. (Nach Perdriel [1862] ist
das Weizenmutterkorn sogar haltbarer und reicher an wirksamen Bestandtheilen.) Aehnliches
gilt auch bezüglich des Diss-Mutterkorns (Ergot de Diss), welches auf Ampel od esmos
tenax Lk. („Diss") , einer in Nordafrika einheimischen Graminee vorkommt, in Algier
gesammelt und zum Theil nach Europa verführt wird.
Zu medicinischen Zwecken darf nur das völlig entwickelte, frische, nicht
über ein Jahr alte Mutterkorn benutzt werden , da es nur in diesem Zustande
seine Wirksamkeit vollkommen entfaltet. Länger aufbewahrt, zersetzt es sich und
nimmt einen höchst unangenehmen, an Häringslacke (Trimethylamin) erinnernden
Geruch an, der übrigens auch am frischen Mutterkorn hervortritt, wenn man es
mit Kalilauge befeuchtet.
Die chemische Kenntniss des Mutterkorns ist insbesondere in den
letzten Jakren wesentlich erweitert worden. Man hat darin eine ganze Reihe von
Stoffen aufgefunden , welche man als an der Wirkung des Mutterkorns betheiligt
anspricht. Im Jahre 1864 hatte Wenzell aus demselben zwei amorphe Alkaloide,
Ecbolin und E r g o t i n dargestellt, nebst einer flüchtigen, mit ihnen verbundenen
Säure, Ergotsäure; Herrmann (1869) und Ganser (1871) bestätigen die
Angaben Wenzell's bezüglich dieser drei Körper, während Manassewitz nur
Ergotin darstellen konnte, von dem er O'12°;0 erhielt; statt der Ergotsäure bekam
er Ameisensäure. Auch Blumberg (1878) kommt zu der Ansicht, dass Ergotin
und Ecbolin identisch sind, dass aber jedenfalls eines dieser Alkaloide existirt.
Mit dem Namen Ergotin hatte übrigens schon 1831 "Wiggers ein braunrothes,
in "Wasser und Aether unlösliches , in Alkohol lösliches Pulver bezeichnet , welches durch
Ausziehen des früher mit Aether entfetteten Mutterkorns mit kochendem Alkohol, Abdampfen
und Behandlung des Eückstands mit "Wasser, welches das Ergotin zurücklässt, erhalten wird.
Sonst versteht man darunter auch das officinelle wässerige, mit Alkohol behandelte, im
"Wesentlichen mit Bonjean's Ergotin (1811) übereinstimmende Extractum Seealis cornuti
(siehe weiter unten).
Büchheim (1875) suchte nachzuweisen, dass der wirksame Bestandtheil
des Mutterkorns ein durch das Pilzmycelium gebildetes Umwandlungsproduct des
Roggenklebers und als solches zu den putriden oder septischen Stoffen zu stellen sei.
Im Jahre 1875 stellte Tanret aus dem Mutterkorn ein neues, nicht
flüchtiges, krystallisirbares Alkaloid, Ergotinin, dar, das, wie auch Blumberg
(1878) fand, nur in sehr geringer Menge (1 pr. Mille) vorhanden, sehr veränder-
lich und daher schwer zu gewinnen ist.
Nach den Untersuchungen von Dragendorff und Podwissotzky (1876,
1877) endlich sind als vorzugsweise wirksame Bestandtheile im Mutterkorn ent-
halten: 1. Eine stickstoffhaltige Säure, Sclerotinsäure, theils frei, theils an
Kali, Natron und Kalk gebunden, leicht in Wasser löslich, geruch-, geschmacklos
und völlig rein dargestellt , auch farblos. Gutes Mutterkorn enthält davon 4 bis
41/2°/o i schlechtes l1^ — 2°/0. Als wirksames Princip des Mutterkorns haben
schon früher Wernich und Zweifel eine stickstoffhaltige Säure vermuthet.
2. Scleromucin (2 — 3%), eine schleimige Substanz, welche aus dem Mutter-
korn in die wässerigen Auszüge übergeht und- durch schwachen Alkohol
fällbar ist; es scheint stickstoffreicher zu sein, als die Sclerotinsäure. Aus dem
Mutterkorn hat Dragendorff ferner folgende Farbstoffe isolirt: 1 Sclererythrin
(Erythrosclerotin), als rothes, amorphes Pulver , von dem er eine demselben hart-
näckig anhängende, sehr bitter schmeckende, alkaloidische Substanz (deren Existenz
auch von Blumberg bestätigt wird), das Picrosclerotin und eine gelbbraune,
stickstofffreie Säure, Fuscosclerotinsäure, abschied. 2. Das amorphe,
braune Sclero jodin, vielleicht ein Zersetzungsproduct des Sclererythrins. 3. Das
SECALE. 425
krystallisirbare Scleroxanthin und 4. dessen gleichfalls krystallisirbares
Anhydrid, Sclerokrystallin, von blassgelber Farbe.
"Wohl als Zersetzungsproducte sind Methylamin, Trimethylamin und Ammoniaksalze
zu deuten , welche von verschiedenen Autoren aus dem Mutterkorn erhalten wurden.
Schoonbroodt (1869) fand darin Milchsäure, nach Buchheim aus der Mykose her-
vorgehend, eine dem Bohrzucker und noch mehr der Trehalose nahestehende, vielleicht damit
identische, krystallisirbare, auch in anderen Pilzen nachgewiesene Zuckerart. Daneben soll
auch zuweilen Mann it vorkommen. Einen der Menge nach (circa 30°/0) sehr hervorragenden
Bestandtheil des Mutterkorns endlich bildet ein fettes, nicht trocknendes, leicht verseif-
bares 0 e 1 (Gemenge von Elain und Palmitin nach Herr mann), begleitet von einem braunen
Harze und von Cholesterin. Der Wassergehalt des frischen Mutterkorns beträgt circa
4 — 5% i seine Asche (circa 2% der lufttrockenen Droge) besteht vorzüglich aus Phosphaten.
Die Wirkung des Mutterkorns ist ungeachtet seiner häufigen therapeutischen
Verwendung und trotz zahlreicher experimenteller Untersuchungen nur ungenügend
erschlossen. Die meisten Versuche sind mit den verschiedenen, mit dem Namen
Ergotin bezeichneten, nach ihrer Bereitung und daher auch nach ihrer Zusammen-
setzung von einander abweichenden Präparaten angestellt worden, woraus sich die
grossen Differenzen in den Angaben der einzelnen Autoren über die gefundenen
Resultate erklären. Während man früher besonders in den alkaloidischen Körpern
des Mutterkorns dessen wirksame Bestandtheile suchte, ist durch die Untersuchungen
von Dragendoeff und Podwissotzky , und namentlich durch die Versuche
Nikittns mit der von jenen rein dargestellten Sclerotinsäure nachgewiesen worden,
dass dieser Körper neben dem Scleromucin der hauptsächlichste wirksame Bestand-
theil des Mutterkorns ist, speciell, dass die Sclerotinsäure alle physiologischen und
therapeutischen Wirkungen, jenes Arzneikörpers besitzt.
Deagendorff und Podwissotzky fanden, dass die Sclerotinsäure in
Gaben von O03 — 0-04 bei Fröschen innerhalb einiger Stunden eine von eigen-
thümlicher Anschwellung der Haut begleitete vollständige Lähmung erzeugte,
welche an den Hinterbeinen begann, allmälig den ganzen Körper ergriff und
5 — 7 Tage andauerte, worauf eine sehr langsame Erholung erfolgte, welcher aber
häufig nach einigen Tagen ein zweiter mit dem Tode endender Zustand der
Lähmung folgte. Diese Wirkung trete so gleichmässig und constant auf, dass
man sie als physiologische Reaction unbedenklich an Stelle einer chemischen ver-
werthen könne.
Das Scleromucin wirkt (auf Frösche) ganz gleich der Sclerotinsäure.
Nach Nikitin ist die Wirkung der Sclerotinsäure vorzüglich auf das
Centralnervensystem gerichtet. Die Reflexerregbarkeit des Rückenmarks
wird bei Kaltblütern herabgesetzt bis zur vollständigen Lähmung; bei Warm-
blütern bleibt sie, gleichfalls herabgesetzt, bis zum Tode nachweisbar.
Lähmungserscheinungen (bei Fröschen sowohl, wie bei Säugern) werden auch von
Zweifel, nach Anwendung eines wässerigen Auszugs des Mutterkorns selbst, als besonders
charakteristisch, als Hauptwirkung bezeichnet. Die Lähmung beginnt gewöhnlich etwa eine
halbe Stunde nach Einverleibung des Mittels an den Hinterbeinen, geht allmälig auf die
Vorderbeine über, lässt aber bei mittleren Dosen Herz- und Bespirationsbewegungen intact.
Durch diese Hauptwirkung lassen sich nach Zweifel die meisten Erscheinungen
der chronischen Mutterkornvergiftung (siehe weiter unten) erklären ; in seinen Versuchen
konnten alle einzelnen Symptome derselben beobachtet werden, mit Ausnahme der Gangrän ;
er meint, dass man aber auch diese erklären könne, und zwar indirect, indem er einerseits
auf die Leichtigkeit hinweist, mit welcher gelähmte und anästhetische Theile dem Decubitus
und Brand anheimfallen, andererseits den Umstand betont, dass bei Menschen jene Gangrän
fast nur an den unteren Gliedmassen beobachtet wurde , also an Körpertheilen , auf welche
der Druck der Bumpflast am meisten einwirkt.
Die peripheren Endigungen der sensiblen Nerven werden nach Nikitin
bei directer Einwirkung der Sclerotinsäure gelähmt, während sie bei allgemeiner
Vergiftung von normaler Erregbarkeit bleiben ; Letzteres gilt auch für die motorischen
Nerven und die quergestreiften Muskeln. Die Herzthätigkeit wird nur bei
Fröschen herabgesetzt, bei Warmblütern bleibt sie selbst bei relativ grossen Gaben
unverändert; der Blutdruck sinkt nach kleinen Dosen vorübergehend, nach
grossen dauernd. Die Temperatur fällt deutlich ab, die Respiration wird
42ö SECALE.
verlangsamt und hört früher auf als die Herzthätigkeit. Bei Warmblütern erfolgt
der Tod durch Respirationslähmung.
Als tödtliche Dosen wurden ermittelt für kleine Katzen 0'3 , für Kaninchen 0'8,
für Frösche 012.
Die Sclerotinsäure bewirkt ferner bei Warmblütern Beschleunigung der
Darmperistaltik und ruft C ontractionen des Uterus, sowohl im
trächtigen , als nicht trächtigen Zustande hervor ; vorhandene Uteruscontractionen
werden verstärkt und nimmt der Uterus vor und während der Zusammenziehung
ein blasses Colorit, ein blutleeres Ansehen an.
Auf Anämie, welche stets nach der Einspritzung der Sclerotinsäure in Folge einer
Gefässverengerung des eben genannten Organs, sowie auch des Darmes eintritt, ist nach
Niki t in die hämostatische Wirkung des Mittels bei Uterus- und Darmblutungen zurückzuführen.
Dagegen könne diese Wirkung bei Lungen- und anderweitigen Blutungen nicht in dieser Weise
erklärt werden , da an den meisten anderen Körperprovinzen nicht nur keine Verengerung der
Arterien und keine Blutdrucksteigerung beobachtet wurde, sondern Gleichbleiben des Arterien-
lumens und Sinken des Blutdrucks. Die blutstillende Wirkung des Mutterkorns und seiner
Präparate hier könne nur als Folge der Herabsetzung des Blutdrucks erklärt werden.
Als niederste, Uteruscontractionen bewirkende Dosis wurden bei Thieren
0*2 ermittelt und glaubt Nikitin, dass wahrscheinlich auch beim Menschen
ähnliche Gaben dieselbe Wirkung haben. Auf die im Uterus enthaltenen Früchte
äussert die Sclerotinsäure keinen besonders schädlichen Einfluss (eine Katze warf
nach subcutaner Injection von im Ganzen l'O gesunde und kräftige Jungen).
Was die alkaloidischen Körper des Mutterkorns anbelangt, so halten Dragen-
dorff und Podwissotzky das Ergotin, Ecbolin und Ergotinin für keine reinen Stoffe,
sondern für Gemenge, welche alle ein und dasselbe Alkaloid enthalten, welches auf Frösche
von keiner oder sehr geringer Wirkung ist.
In Picard's (Gaz. med. de Paris. Dragendorff's Jahresber. XIII. 1878) Versuchen
an Hunden mit Tanret's Ergotinin bewirkten 0'08 subcutan Abnahme der Temperatur,
Erbrechen etc. und 0'105 tödteten nach einigen Stunden bei beträchtlichem Abfall der
Temperatur ; bei einem Kaninchen erzeugten 0'06 Convulsionen, dann Lähmung, sehr bedeu-
tenden Temperaturabfall , Tod. Blumberg fand, dass sowohl das Pikrosclerotin (zu l'O),
als das Ergotinin bei Fröschen Lähmung der Sensibilität und Motilität und Tod in
10 Minuten bewirkt.
Aus einzelnen Beobachtungen am Menschen und aus Selbstversuchen ist
bekannt, dass grosse Gaben des Mutterkorns (5*0 — 10'0), innerlich genommen,
zunächst Erscheinungen einer örtlichen Reizung der Magen- und Darmschleimhaut
(Aufstossen , Ekel , Würgen , Erbrechen , bisweilen Leibschmerzen und Durchfall)
erzeugen, dann solche, die auf eine Einwirkung auf das Centralnervensystem
schliessen lassen: Kopfschmerz, Schwindel, meist Mydriasis und häufig eine sehr
beträchtliche Veiiangsamung des Pulses. Fälle von acuter Vergiftung mit Mutter-
korn {Ergotismus acutus) kommen wohl nur äusserst selten vor (als medicinale
Vergiftung und bei Verwendung als Abortivum). Die verzeichneten Todesfälle
hierbei sind jedenfalls sehr zweifelhaft.
Der länger fortgesetzte Genuss von Speisen, welche aus stärker mit
Mutterkorn verunreinigtem Mehle bereitet wurden, in erster Linie eines derartigen
Brodes , erzeugt eine besondere Erkrankung , die chronische Mutterkorn-
vergiftung, Er gotismus chronicus [Morbus cerealis). Hieher gehörende
Erkrankungen sind schon aus dem Mittelalter bekannt, wo sie als ausgebreitete
Epidemien, ganze Länder verheerend, insbesondere in sumpfigen Gegenden, in
Jahren mit Missernten, vorzüglich unter der armen Bevölkerung auftraten.
Jetzt ist die chronische Mutterkornvergiftung Dank den 'Fortschritten der
Landwirthschaft und Industrie, den so colossal vermehrten und verbesserten Ver-
kehrsmitteln, der verschärfteren sanitätspolizeilichen Ueberwachung etc. eine
grosse Seltenheit geworden, obwohl dieselbe noch in den letzten Decennien, aller-
dings nur auf einzelne Familien, Bauernhöfe und Ortschaften beschränkt und in
milderer Form beobachtet wurde.
Man unterscheidet zwei Formen des Ergotismus chronicus, welche als
E. convulsivus oder spasmodicus (Kriebelkrankheit , Ziehe, Kornstaupe etc.)
und E. gang raenosus (Mutterkornbrand , Brandseuche) bezeichnet werden.
SECALE. 427
Beide Formen traten mitunter in derselben Epidemie nebeneinander auf,
gewöhnlich aber geographisch getrennt , in bestimmten Ländern , derart , dass
die Brandseuche vorzugsweise in Westeuropa: in Frankreich, England und
in der Schweiz , die Kriebelkrankheit dagegen in Deutschland , Schweden und
Russland vorkam.
Diese räumliche Trennung im Auftreten beider Formen mag zum Theil durch,
klimatische Verhältnisse veranlasst sein, grösstentheils aber war es wohl bedingt durch den
grösseren oder geringeren Gehalt des verwendeten Mehles an Mutterkorn, so dass bei
geringerem Gehalte (x/i6 — 1/8) die Kriebelkrankheit, bei stärkerem Gehalte (V4 — V3) der
Mutterkornbrand sich entwickelte. Neueren Untersuchungen und Anschauungen zu Folge ist
ohnehin kaum zu zweifeln, dass beide Formen zusammengehören.
Als hauptsächlichste Symptome der Kriebelkrankheit werden her-
vorgehoben : Nach Vorboten , bestehend in Eingenommenheit des Kopfes , Kopf-
schmerz, Schwindel, Mattigkeit, Ohrensausen etc. , als besonders charakteristisch :
Gefühl von Kriebeln und Ameisenkriechen, welches während der ganzen Erkran-
kung dauert, Gefühl von Pelzigsein oder vollständige Anästhesie an den Fingern
und Zehen , weiterhin auch an den Gliedmassen oder selbst am ganzen Rumpfe,
daneben Erbrechen, Coliken, Durchfälle, Heisshunger, Durst, in schweren Fällen
unter Steigerung dieser Symptome Zuckungen und sehr schmerzhafte, tonische
Contractionen verschiedener Muskeln, besonders der Flexoren, bis zum Tetanus
sich steigernd ; zuweilen epileptische und kataleptische Anfälle, Tobsucht etc. In
einzelnen Fällen erfolgte der Tod schon nach wenigen Tagen, in anderen erst
nach mehreren Wochen, entweder unter Convulsionen oder durch Erschöpfung.
Der Mutterkornbrand begann meist mit ähnlichen Erscheinungen wie
die Kriebelkrankheit, dann kam es nach einigen Tagen oder Wochen an einzelnen
Körperstellen, am häufigsten an den Zehen und Füssen , seltener an den Fingern
und Händen und noch seltener an anderen Theilen, nach voraufgehendem Gefühl
von Kälte, Schwere und Mattigkeit in den Gliedern, zum Auftreten von (meist
trockenem) Brand. Meist erfolgte nach Abstossung der brandigen Theile Genesung,
seltener der Tod durch Erschöpfung, in einzelnen Fällen durch Pyämie.
Der Nachweis des Mutterkorns im Mehle gelingt unschwer durch die
mikroskopische Untersuchung; ausserdem eignet sich hiezu sehr gut die mit fleisch- bis
blutrother Farbe erfolgende Lösung des Sclererythrins, wenn man eine Probe des
betreffenden Mehles in einer Eprouvette mit verdünntem salzsäurehältigem (5°/0) Alkohol
schüttelt. (Vgl. A. Vogl, Die gegenwärtig am häufigsten vorkommenden Verfälschungen etc.
des Mehls. Wien 1880.)
Dragendorff empfiehlt den mit säurehaltigem Alkohol bereiteten Auszug mit
"Wasser zu mischen, mit Aether auszuschütteln, den Aether verdunsten zu lassen und den
Pigmentrückstand mit Kalilauge (Lösung purpurn) und conc. Schwefelsäure (Lösung dunkel-
violett) zu prüfen. Petri (Zeitschr. für analyt. Ch. XVIII. Schmidt's Jahrb. CLXXXII)
will noch bei 0'2°/„ Beimengung das Mutterkorn im Mehle spectroskopisch sicher nachweisen.
Therapeutische Anwendung. Als Arzneimittel scheint das Mutter-
korn schon in sehr früher Zeit zuerst von den Chinesen angewendet worden zu
sein. Die ältesten Notizen über seinen Gebrauch als geburtbeförderndes und
blutstillendes Mittel in Deutschland datiren aus der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts (A.Lonicer, Thalius); Ende des 17. Jahrhunderts wendete es Camerarius
in der Geburtshilfe an (vgl. Fluckiger, Pharmacognosie , 2. Aufl. 1881). Zur
häufigeren ärztlichen Anwendung kam es aber erst seit dem Anfange dieses Jahr-
hunderts. Als wehen erregen des und wehenverstärkendes Mittel zur Förderung und
rascheren Beendigung der Geburt bei Wehenschwäche unter sonst durchaus
normalen Verhältnissen (aber nie vor dem Ende der zweiten Geburtsperiode) von
vielen Geburtshelfern hochgehalten, von anderen dagegen wegen aus seiner An-
wendung für das Kind erwachsenden Gefahren (indirect durch Erregung von
Tetanus uteri, oder durch direct toxische Einwirkung) perhorrescirt.
Als Hämostaticum bei Metrorrhagien in Folge von Wehenschwäche in
der Nachgeburtsperiode, im Gefolge von Neubildungen im Uterus, beim Abortus etc. ;
ferner als blutstillendes Mittel bei anderweitigen Blutungen, so bei Lungen-,
Magen-, Darm-, Nierenblutungen, Epistaxis etc.
428 SECALE.
Meist nicht sicher begründet ist die in neuerer und neuester Zeit empfohlene
Anwendung bei Geisteskrankheiten, gegen Chorea, Epilepsie, Tetanus, Ataxie, Keuchhusten,
gegen Paralysen (Blase, Mastdarm etc.), Diabetes, Blasencatarrh, Leukorrhoe, Spermatorrhoe etc.
Auch zur Behandlung der Struma, des Aneurysma und der Varices (am Unterschenkel) in'
subcutaner Application empfohlen.
Als Ecbolicum das Mutterkorn intern am besten als ganz frisch bereitetes
Pulver zu 0'3 — 0*5 in Intervallen von Vi — Va Stunden, bei Metrorrhagien in
Intervallen von 5 — 10 — 15 Minuten. Sonst auch Infus. 5*0 : 150-0 zu 1 — 2 Essl.
(Ph. Germ. 1882: Maximaldose 1*0; pro die 5"0. In Pulverform nur nach
vorheriger Erschöpfung mit Aether, also entölt, zu dispensiren).
Präparate.
1. Extr actum Seealis cor nutz, Extr. haemostaticum, Ergotinum,
Mutterkornextract, Pharm. Germ, et Austr. Wässeriges, zur Entfernung von
Schleim, Eiweiss etc. mit Alkohol behandeltes, dickes Extract von rothbrauner
Farbe, in Wasser klar löslich. Wesentlich das vom Apotheker Bonjean in
Chambery 1842 unter der Bezeichnung Ergotin eingeführte Extract.
"Wernich's sogenanntes gereinigtes Mutterkornextract, Extract. See. cornut. bis
purificatum ist ein nach voraufgegangener Behandlung des Mutterkorns mit Aether und Alkohol
bereitetes wässeriges, durch Diffusion von den schleimigen Bestandtheilen befreites syrup-
dickes Extract. Die neue Ph. Germ. (1882) enthält für die Extractbereitung eine ent-
sprechende Vorschrift.
Intern zu 0*1 — 0-3 pr. dos. in Solut. (mit Aq. und Syrup. Cinnam.)
oder Pillen. Extern zur hypoderm. Anwendung in wässeriger Lösung, mit oder
ohne Zusatz von 8p. Vin. oder Glycerin, zu 0-05 — 0*3 pr. dos.
2. Tinctura Seealis cornuti, Mutterkorntinctur. Pharm. Germ.
Braunrothe Dig. Tinct. (1 : 10 8p. Vin.). Intern selten zu 05— 1-0 (10—20 gtt.)
in Tropfen oder Mixtur.
S clerotinsäur e , Acidum sclerotinicum , von Dragend orff und Pod-
wissotzky empfohlen in subeut. Applic. zu 003 — 0"045 p. dos., nach Nikitin dagegen
nicht zur hypodermatischen Anwendung geeignet, ebensowenig wie das etwas schwächer
wirkende Natronsalz derselben, Natrium sclerotinicum, wegen der starken Beaction an
der Applicationsstelle. Am besten eigne sich die interne Anwendung des sclerotinsauren Natrons.
Stumpfs (Deutsches Archiv für klin. Med. XXIV, 1879, Schmidt's Jahrb. CLXXXIV) Er-
fahrungen im Münchner klin. Institut über die Sclerotinsäure bei zahlreichen Fällen von
Blutungen verschiedener Art (Metrorrhagien, Menorrhagien, Hämoptoe, Magen- und Darm-
blutungen etc.) theils subcutan (Stärke der Solut. variirend zwischen 0'3 : 5'0 — 2'0 : 5 0),
theils intern (2mal täglich 0'2) würden für ihre Anwendbarkeit sprechen.
Menorrhagien standen alle nach 02 (in einem Falle sogar nach 0'08), Metrorrhagien
oft nach 3 — 4 Injectionen von 0"05 still; in einem Falle von ohne Blutung verlaufendem
wallnussgrossen Fibromyom erfolgte in 7 Tagen nach täglicher 2maliger Darreichung von
0"2 intern eine Verkleinerung des Tumors auf die Hälfte etc. "Weniger günstig spricht sich
Kobert (Gynäkol. Centralbl. IX, 1879. Schmidt's Jahrb. CLXXXIII) aus. Bei starken
Lungenblutungen seien 0'2 zweimal täglich absolut unwirksam und habe er mehrfach
gefunden, dass bei Patienten mit continuirlichen spärlichen Blutungen nach 1 — 8tägiger
Verabreichung der Sclerotinsäure nicht die geringste Besserung eintrat, wohl aber eine solche
sehr schnell, wenn Seeale cornutum-Decoct gereicht wurde, und Fr. Ganguillet (Archiv
für Gynäk. XVI, 1880, Schmidt's Jahrb. CLXXXVII) in Bern gelangt auf Grund seiner
Erfahrungen zu dem Ausspruch, dass die Sclerotinsäure in der Geburtshilfe keine Zukunft
habe. — Nach Allem müssen noch weitere Erfahrungen über dieses Mittel abgewartet werden.
Lit er atur : Dragendorff nnd Podwissotzky, Ueber die wirksamen und einige
andere Bestandtheile des Mutterkorns. Archiv für exp. Path. u. Pharm. VI, 1877 (Russ.
pharm. Zeitung. 1877). — Th. Blumberg, Ein Beitrag zur Kenntniss der Mutterkorn-
alkaloide. Diss. Dorpat 1878. — Buchheim, Ueber den wirksamen Bestandtheil des
Mutterkorns. Archiv für exp. Path. u. Pharm. III, 1874. Buchner's Bepert. 1876. —
Tanret, Bepert. de Pharm. Tom. III, 1875 (Dragendorff's Jahresber. X). Journ. de Pharm,
et Chem. Tom. XXVI, 1877). — Wernich, Centralbl. für med. "Wissensch. 1873 (Med.-chir.
Bundschau. XIV). — Zweifel, Archiv für exp. Path. u. Pharm. IV, 1875 (Schmidt's
Jahrb. CLXXII). — Boreischa, Arbeiten des pharmacolog. Labor, in Moskau. Schmidt's
Jahrb. CLXXII. — "W. Nikitin, Rossbach's pharmacolog. Untersuchungen. III, 1879.
(Schmidt's Jahrb. CLXXXI). — Vgl. auch Husema nn-Hilger, Die Pflanzenstoffe etc.
2. Aufl. Berlin 1882. — Husemann, Handb. der Toxicologie. 1862 (Literat, des Ergotismus).
— Böhm, Naunyn, v. Bock, Handb. der Intoxicationen. 2. Aufl. 1880. — L.Hermann,
Lehrbuch der exp. Toxicologie. Berlin 1874. VoH.
SECRETIONSANOMALIEN. 429
Secretionsanomalien. Die Anomalien der Absonderungsvorgänge lassen
sich am besten zu drei grossen Gruppen zusammenfassen : Zunahme der Secretionen,
Abnahme derselben, qualitative Veränderungen der Secrete.
A. Zunahme der Secretionen.
Speichelfluss (Salivation, Ptyalismus). Die Speichelsecretion steht
bekanntlich unter der Herrschaft zweier Nerven, von denen der N. facialis
Secretionsnerven und gefässerweiternde , der N. sympathicus Secretionsnerven und
gefässverengende führt. Bei der Reizung des iV. facialis entsteht profuse Ab-
sonderung eines sehr dünnflüssigen Speichels unter enormer Erweiterung der
Gefässe, so dass der Arterienpuls sich bis in die Venen fortpflanzt, mehr als
vier Mal so viel Blut wie in der Norm die Gefässe durchströmt, das venöse Blut
fast hellroth erscheint und mehr als 1/3 grösseren Sauerstoffgehalt zeigt, als das
Venenblut der ruhenden Drüse. Bei der Reizung des N. sympathicus tritt spär-
liche Absonderung eines sehr dickflüssigen, zähen Speichels unter einer so hoch-
gradigen Verengung der Drüsengefässe auf, dass das Blut spärlich und tief
dunkelblau aus den Venen zurückfliesst. So lange jede Nervenreizung unterbleibt,
findet auch keine Speichelabsonderung statt. Im intacten Körper findet die Er-
regung des Secretionsnerven kaum je direct, fast immer nur auf dem Wege des
Reflexes statt, wobei meist die Absonderung dünnflüssigen Facialisspeichels eintritt.
Diese Absonderung erfolgt unter einem starken Druck, der fast die doppelte Höhe
des Arteriendrucks beträgt, die Temperatur der Drüse ist um 1'5° C. wärmer
als die des arteriellen Blutes. Der Reflex wird vermittelt durch die Geschmacks-
und Geruchsnerven , die sensiblen Trigeminus- und Glossopharyngeusfäden der
Mundhöhle und die Vagusäste des Magens. Für die Speichelabsonderung nach
Reizung der Geschmacks- und Magennerven bildet die Medulla oblongata mit dem
Facialisursprung das Reflexcentrum. Dies Reflexcentrum steht mit den Faserzügen
des Grosshirns in Verbindung, Dadurch sind auch psychische Erregungen , Vor-
stellungen im Stande, „den Speichel im Munde zusammenlaufen zu lassen".
Verletzung der Ränder des Grosshirns in der Gegend des Sulcus crucialus hat
oft enorme Vermehrung der Speichelsecretion zur Folge. Auch durch Einstich in
der Nähe des Pons, hinter den Ursprüngen des Trigeminus lässt sich eine Steigerung
der Speichelsecretion auf reflectorischem Wege hervorrufen. Hier mag der bei
progressiver Bulbärparalyse bisweilen beobachtete Speichelfluss seinen 'Ausgang
nehmen. Unklar ist der Ursprung des Ptyalismus bei Paralysis agitans , bei
Microcephalie, während der bei Psychosen vorkommende auf Affectionen des Vorder-
hirns zu beziehen sein wird. Das Centrum für die Speichelabsonderung nach
Reizung der sensiblen Mundhöhlennerven hingegen ist das Ganglion submaxillare,
da die Wurzel des Ganglion, namentlich des N. tympanico-lingualis durch-
schnitten werden kann, ohne dass diese Speichelabsonderung aufhört, während sie
stillsteht, wenn die vom Ganglion zur Drüse gehenden Fäden zerstört werden.
Ptyalismus kann reflectorisch durch Neuralgien der obigen Reflexnerven herbei-
geführt werden, auch auf indirecten vielfach verschlungenen Wegen, da auch
durch Reizung des centralen Ischiadicusstumpfes Speichelsecretion erzielt werden
kann. Kein Wunder denn, dass bei einer Krankheit, bei der die Reflexerregbar-
keit so gesteigert ist , wie in der Hysterie, Ptyalismus ein häufiger Vorgang ist.
Regelmässig ist reflectorischer Speichelfluss vorhanden bei Entzündungen der Mund-
höhle, Schleimhautgeschwüren. Ob der Mercurialspeichelfluss in gleicher Weise
oder durch directe Erregung der Secretionsnerven entsteht, ist noch strittig. Die
Salivation durch Calabar (Physostigmin), Digitalis und die besonders starke durch
Jaborandi (Pilocarpin) wird auf directe Secretionsnervenreizung bezogen. Die
durch Säuren erregte Absonderung ist dünnflüssig, die durch Alkalien und scharfe
Gewürze erregte ist ebenso wie die bei lebhafter Geschlechtserregung und bei
psychischen Affecten auftretende Salivation zäh und dickflüssig. Dass ganz unab-
hängig vom Blutstrom die Speichelsecretion sich noch einige Zeit durch Nerven-
erregung erhalten lässt, hat weniger pathologische als physiologische Bedeutung.
430 SECRETIONS ANOMALIEN.
Dasselbe gilt von der paralytischen Speichelabsonderung, der Absonderung eines
dünnflüssigen Secretes nach Lähmung der Speicheldrüsennerven , bis die Drüse
völlig entartet ist.
Thr änenfluss erfolgt durch Reizung von Secretionsnerven des N. lacri-
malis, subcutanem rnalae und des Halssympathicus, durch directe bei Neuralgien,
wie durch indirecte reflectorische von anderen Zweigen des ersten und zweiten
Trigeminusastes aus (Nasenschleimhaut). Auch vom Nervus opticus aus erfolgt
bei intensiver Lichtreizung Thränenfluss. Die Centra der Secretionsnerven werden
vom Sensorium aus beeinflusst, wie die Thränen der Trauer und der Freude
beweisen. Die permanent schwache Thränensecretion im wachen Zustande ist eine
wahrscheinlich reflectorisch durch die Erregung der vorderen Bulbusfläche (Ver-
dunstung, Luftreiz) bedingte. Im Schlafe versiegen die Thränen. Thränenfluss
tritt zu Ende eines hemikranischen Anfalles auf, ferner bei Hysterie sehr gewöhn-
lich und bei Pilocarpininjection.
Milch fluss beginnt in regelrechter Weise erst 3 — 4 Tage nach
erfolgter Entbindung, während in den ersten Tagen nach der Entbindung, ebenso
wie vor derselben nur wenig Milch von stärkerer Consistenz und gelblicher Farbe
(Colostrum) abgesondert wird, worin grössere, völlig mit Fettkörnchen erfüllte
Zellen sich finden. Durch das Saugen wird nicht blos die Entleerung der Milch
herbeigeführt, sondern auch die Secretion beschleunigt. Findet keine Milchentleerung
statt, so stockt auch sehr bald die Absonderung. Während die Art des Nerven-
ausflusses noch nicht sichersteht, ist der psychische Einfluss auf die Milchsecretion
nicht abzuleugnen. Die Milchsecretion ist reichlich, wenn die Mutter das Junge
um sich hat. Deprimirende Einflüsse vermindern sie, Schreck hemmt sie. Bei
pathologischem Milchfluss (Galactorrhoe) nach hysterischen Anfällen sah man
die Milch durchsichtig wie Molke werden, Zunahme des Wassers, Abnahme der
festen Bestandtheile erleiden. Die sogenannten Lactagoga, Jaborandi, Coffein,
Digitalis , Strychnin , Semen foeniculi, Semen anisi wirken , wenn sie überhaupt
wirken, wahrscheinlich durch Steigerung des Blutdrucks.
Vermehrung der Magensaftsecr etion findet wahrscheinlich durch
Reizung von innerhalb der Magenwandung gelegenen Nervencentren (MEisSNER'sche
Schleimhautplexus) nach Einwirkung der verschiedensten Reizmittel statt. Auch
psychische Vorstellungen scheinen wirksam zu sein. Bei Hysterischen wird bis-
weilen eine beträchtliche Vermehrung dieser Secretion in Verbindung mit Erbrechen
beobachtet.
Vermehrung der Darmsaftsecretion ist durch mechanische
Reizung des Darmes, auch durch Application von Essig, verdünnter Salzsäure,
concentrirter Lösungen von schwefelsaurer Magnesia zu erzielen. Besonders reich-
lich ist die Absonderung nach Injection von Pilocarpin in das Blut. In unter-
bundenen Darmschlingen, deren Nerven mit Schonung der Mesenterialgefässe
durchschnitten waren, sah Moreaü reichlich alkalisches färb- und geruchloses
Secret auftreten, während benachbarte Schlingen mit intacten Nerven frei blieben.
Ueber die Mechanik der Diarrhoen, IV, pag. 133.
Vermehrung der Gallensecretion ist beobachtet nach Wasser-
injection in den Kreislauf und wird angegeben nach Einwirkung der Cholagoga
und stark drastischer Mittel (Aloe, Rheum, Colchicum, Gummigutt, Calomel).
Vermehrung des Succus pancreaticus hängt von dem Einfluss
der Absonderungsnerven ab, die von interglandulären Ganglien dirigirt werden.
Doch wird ihre Thätigkeit durch von Aussen an die Drüse herantretende Nerven
bestimmt , wofür die Erregung reflectorischer Absonderung vom Magen aus und
der Erfolg der Reizung der Medulla oblongata entscheidende Beweise sind. Nach
Ausrottung der Nerven, die von Aussen an die Drüse herantreten, wird ein
dünner „paralytischer", wenig wirksamer Speichel abgesondert, dessen Menge nun
auch durch die Nahrungsaufnahme nicht mehr modificirt wird.
SECKETIONSANOM ALIEN. 431
Vermehrung des Harns und seiner einzelnen Bestandteile. Die H a r n-
menge wird vermehrt über die Norm von 1000 — 1400 Ccm. in 24 Stunden beim
Erwachsenen (Polyurie) durch Steigerung des Blutdrucks im Allgemeinen, durch
gesteigerte Wasseraufnahme bei Abnahme anderer wässeriger Secretionen, ins-
besondere des Schweisses, bei stärkerem Uebergang von Substanzen mit hohen
Löslichkeitscoefficienten in den Harn, wie Harnstoff, Zucker, Salze. Momentan
wird auch die Harnmenge durch psychische Einflüsse gesteigert, durch Freude,
Angst. Der directe Einfluss des Nervensystems wird auch durch die Polyurie
nach Verletzung des Bodens der vierten Hirnhöhle bewiesen. Bei Hysterischen
ist plötzliche Polyurie ein häufiger Vorgang. Unklar sieht man noch über die
Art und Weise der Einwirkung der Diuretica, resp. des Alkohols, der Digitalis,
Baccae Juniperi, Scilla, Canthariden, Sabina, Fol. uvae ursi und zahlreicher
anderer Stoffe. Hingegen tritt bei directer Injection bedeutender Mengen von
Blutserum oder von Hundeblut bei Hunden ebensowenig Polyurie ein , wie bei
Verengung der Vena cava inferior oberhalb des Zwerchfells oder der Nieren-
venen. Nach Schliessung der Nierenvenen versiegt sogar die Harnsecretion in
kürzester Zeit fast vollständig. Ob der älteren Filtrationshypothese entgegen die
Absonderung des Wassers in der Niere auf einer activen Thätigkeit der Secretions-
zellen beruht (Heidenhain), ist hier nicht zu erörtern. Die Harnstoffmenge
im Harn , welche bei einem kräftigen , gesunden Mann in 24 Stunden 30 bis
40 Grm. beträgt, steigt stets in gleichem Verhältniss mit dem Zerfall der
Albuminate. Etwa 3 — 5 Stunden nach der Verdauung erreicht die Harnstoff-
bildung ihr Maximum, sinkt danach und erreicht in der Nacht ihr Minimum.
Muskelarbeit steigert sie nicht erheblich. Reiche Zufuhr von Wasser, Salzen, Be-
hinderung von 0 steigert die Harnstoffmenge. Bei Einspritzung von Blut tritt ver-
mehrte Harnstoffausscheidung ein. Bei Diabetes mellitus steigt sie, dem massenhaften
Fleischgenuss entsprechend, bei Genuss von 1000 Grm. Fleisch auf 85 Grm. p. d.,
von 1400 Grm Fleisch auf 118 Grm. Harnstoff pro Tag. Die wichtigste Ab-
normität der Harnstoffausscheidung findet in fieberhaften Krankheiten statt.
Während die tägliche Harnstoffausscheidung der Erwachsenen bei einem Hunger-
zustande, wie er im Fieber stattfindet, nur 6 Grm. betragen würde, steigt sie
im Fieber trotz des minimalen Genusses von Albuminaten auf 40, ja auf 50 — 70
Gramm. Und diese febrile Harnstoff Vermehrung beginnt sogleich zu Beginn des
Fiebers vor jedem Frost, ja selbst vor der Temperatursteigernng und dauert nach
Aufhören des Fiebers noch meist 2 — 3 Tage lang an. Die epikritische Ver-
mehrung der Harnstoffausscheidung kann sogar an Grösse die febrile Vermehrung
dann übertreffen, wenn während des Fiebers zwar vermehrte Production, doch
auch gleichzeitig Retention des Harnstoffes stattgefunden hatte. Meist sinkt in der
Remission die Harnstoffmenge auf 25 — 20 Grm. , um in der Reconvalescenz
wieder anzusteigen. — Die Harnsäure und ihre Salze (saures, harnsaures
Natrium und Kalium) finden sich in grosser Menge bei Neugeborenen als harn-
saure Infarcte. Im Harn des Erwachsenen durchschnittlich nur in einer Menge
von 0*5 Grm. in 24 Stunden und bei stickstoffloser Kost nur 0'2 , steigt sie
nach starker Fleischnahrnng bis 2*1 Grm. Vermehrt wird die Harnsäuremenge
durch starke Muskelarbeit mit Transspiration, chronischem Alkoholismus, Leukämie
und Milztumoren , bei granulirter Leber , Magen- und Darmcatarrhen , chronischem
Lungenemphysem und fieberhaften Zuständen mit Störungen des Athmungsprocesses.
Bei catarrhalischen und rheumatischen Fiebern tritt die Harnsäurevermehrung nur
parallel der des Harnstoffes auf (in dem Verhältniss 1 : 45). Durch die Schwer-
löslichkeit der Harnsäure ist deren sedimentbildende Eigenschaft bedingt (hierüber
cf. VI, pag. 290). Die Harnsäure, die sich bei der Gicht in den Gelenken ablagert,
ist im Urin dabei nicht immer vermehrt. — Die Vermehrung der Chloride im Harn
über die Norm von 10 — 14 Grm. findet statt bei starkem Wassertrinken, reichlicher
Kochsalzzufuhr , auch bei Diabetes mellitus und insipidus. Ueber die Vermehrung
aller übrigen Bestandtheile des Urins in Krankheiten cf. Art. „Harn", VI, 282 ff.
432 SECRETIONS ANOMALIEN.
Sperniatorrhoe (Samenfluss) kommt vor bei Onanie, Reizung der
Harnröhre durch Tripper, zu Beginn der Tabes, bei erotischen Phantasien. ,Die
Samensecretion steht nachweisbar unter dem Einflüsse des Nervensystems, speciell
unter der Einwirkung des N. spermaticus.
B. Abnahme der Secretionen.
Die Absonderungen müssen sich bis zum völligen Versiegen
mindern bei Brand des Drüsenparenchyms , bei Atrophie oder fortschreitender
Degeneration derselben , bei ausgebreiteter Entzündung mit Exsudatüber-
schwemmung, bei andauernder Anämie. Die Abnahme der Secretion muss
unter diesen Umständen überall eintreten. Ausserdem aber nehmen die einzelnen
Secrete noch unter folgenden Umständen ab :
Abnahme des Speichels erfolgt bei Lähmung der Secretionsnerven
durch Atropin , Daturin , Cicutin , Jodäthylstrychnin und Nicotin in grösseren Dosen.
Bei völliger Nervenlähmung tritt bis zur gänzlichen Atrophie der Drüse die so-
genannte paralytische Secretion ein. Bei voller Entartung der Drüse hört auch
diese Absonderung auf. Verdünnte Säuren und Alkalien sollen bei örtlicher
Application ebenfalls secretionsbeschränkend wirken. Bei peripheren Facialis-
lähmungen tritt häufig eine Verminderung der Speichelsecretion auf der gelähmten
Seite ein, ebenso bei Sympathicuslähmung.
Abnahme des Schweisses (Anhidrose) tritt bei Erkaltung der Haut
ein, bei Diabetes und Krebscachexie, bei Dementia paralytica, bei Hemiatrophia
facialis. An einer aus der Stirnhaut neugebildeten Nase fehlt der Schweiss so
lange , bis die Sensibilität zurückgekehrt ist. Atropin beschränkt die Diaphorese.
Abnahme der Thränenabsonderung erfolgt bei Hemiatrophia
facialis. Bei einer vierjährigen Mikrocephalin wurde ein gänzliches Fehlen der
Thränensecretion constatirt, welche vollständig ausblieb, wiewohl Gesichtszüge und
Geschrei deutlich die Tendenz zum Weinen verriethen.
Abnahme der Milchabsonderung (Agalaxie) erfolgt bei Schreck,
bei Einwirkung des Chloralhydrats.
Abnahme des Magensaftes auch der Salzsäure und damit Dyspepsie
tritt bei Fiebern ein. Die Pepsinabsonderung mindert sich auch bei Anämie und
chronischen Magencatarrhen.
Verminderung des Darmsaftes tritt bei Inanition ein.
Gallenabsonderung mindert sich nur wenig bei längerem Fasten,
dauert vielmehr bei Inanition bis zum Tode fort, während Glycogenbildung
erlischt. Stillstand der Gallensecretion findet bei elektrischer Reizung der Leber
und bei elektrischer Reizung des Hals- und Rückenmarks , hier nach anfänglicher
Steigerung statt. Schneller Verschluss der Pfortader bringt sofortigen Stillstand
der Gallensecretion zu Wege, nicht aber allmäliger Verschluss, ebensowenig
plötzliche Hemmung der Blutcirculation in der Art. hepatica. Bei Verschluss der
Gallenwege hört unter dem Druck des stagnirenden Secretes die Secretion nicht
auf, sondern die Secretion dauert fort, das Secret geht aber in die Blut- und Lymph-
gefässe über (Icterus).
Succus pancreaticus nimmt ab bei Reizung des Vagusendes auf
reflectorischem Wege, bei hohem Fieber, während des Erbrechens.
Anurie (Ausbleiben des Harnes). Der Schein der Anurie kann durch
verhinderte Ausscheidung des normalen Harns hervorgerufen werden. Wahre Anurie,
d. h. verminderte Harnabsonderung, erfolgt bei Verminderung des Blutwassers
durch starke Schweisse und Durchfälle, bei Lähmung grösserer Gebiete vaso-
motorischer Nerven, bei Unterbindung der Vena cava inferior oder Venae
renales. Ist die Aorta oberhalb der Art. renales oder sind diese letzteren selbst
nur 1 1j2 Minuten lang verschlossen, so bleibt nach deren Wiederöffnung die Harn-
secretion längere Zeit, bis zu 3/4 Stunden, gänzlich aus. Sind die Harnepithelien
entzündet und verfettet, so wird der Urin dem Blutserum ähnlicher, d. h. harn-
stoffärmer , aber eiweiss- und blutkörperchenreicher (Albuminurie). Hierdurch muss
SECRETIONSANOMALIEN. 433
allmälig eine Verarmung des Blutes an Eiweiss und Ueberladung desselben mit
Harnstoff entstehen (Urämie). An festen Bes tan dtheilen arm wird der
Urin bei der TJrina spastica der Hysterischen , bei der Urina aquosa nach der
Piquure. Die Harnst off menge in chronischen Krankheiten ist abhängig
einerseits vom Ernährungszustande, andererseits von dem begleitenden Fieber.
Die Ausscheidung der Harnsäure wird vermindert nach reichlichem Wasser-
genuss, grossen Chinindosen, bei der Gicht, unter Einwirkung von Kochsalz , Jod-
kali, Coffein. Die Kochsalzausscheidung nimmt in fieberhaften exsudativen
Krankheiten während der Zunahme der Entzündungserscheinungen bis zur Acme
der Krankheit in einem Grade ab, dass nur 1/10 der normalen Menge abgesondert
wird. Auch bei M. Brightii und Hydrops wird die Kochsalzmenge vermindert.
Ueber die Abnahme anderer Stoffe cf. „Harn", VI, pag. 282.
Aspermatismus tritt ein bei voller Castration oder verkümmerter
Bildung beider Hoden, nach Durchschneidung beider Nervi spermatici, bei Tabes
dorsalis, auch unter Einwirkung von Lupulin, Bromkali, Arsenik, Digitalis, Bella-
donna. Functionsunfähigkeit eines Hodens in der Jugend bewirkt vikariirende
Hypertrophie des andern. /<q _ „ _ _ «•"
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U. Qualitative Veranderungem der Secrete.
Im Speichel sind gefunden worden : i MilchlHtSre^ bei . Diabetes
mellitus , Gallenfarbstoff bei Icterus , Harnstoff bei M. Brightii , ferner' Queck-
silber, Jod, Brom. """"" — -"""
In der Galle: Milchsäure in saurer Galle, Leucin und Tyrosin bei
Typhus, Zucker bei Diabetes, weiter Antimon, Arsenik, Kupfer, Jodkalium, Zink,
Ferrocyankalium.
Im Schweiss: Blut bei hysterischen Convulsionen , Harnstoff bei
M. Brightii und Cholera , Harnsäure bei Lithiasis , Zucker bei Diabetes , Gallen-
pigment bei Icterus. Von fremden Stoffen: Benzoesäure, Zimmt-, Weinstein-,
Bernsteinsäure, Jodkali , Chinin , Quecksilberchlorid , arsensaures Natron und Kali.
In den Thränen: Blut bei Hysterischen.
In der Milch: Färb- und Geruchstoffe vieler Pflanzen (Lauch, Dolden-
pflanzen) , Alkohol , auch Jod , Quecksilber , Arsen , milchsaures Eisenoxydul.
20 Tropfen Opiumtinctur, von der Mutter genommen, setzten das Kind auf 43 Stunden
in Schlaf.
Im Urin: Zucker bei Diabetes, Eiweiss bei Albuminurie, Gallenfarbstoffe
bei Icterus, ferner Pepton, Milchsäure und deren Salze, Fett und flüchtige Fettsäuren.
Ueber Blut im Urin cf. „Hämaturie", VI, pag. 196. Weiter aber auch fast sämmt-
liche fremde Stoffe, auch Keime und Spuren von Parasiten und Infectionsstoffen.
Sehr viele unverändert, manche in ihren Oxydationsproducten (pflanzensaure Alkalien
als kohlensaure, schwefligsaures Natron als schwefelsaures), andere reducirt (jod-
saures und bromsaures Kalium zu Jod- und Bromnatrium, Indigoblau zu Indigoweiss,
Aepfelsäure zu Bernsteinsäure). Im Harn finden sich gar nicht: Serumalbumin,
Oele, unlösliche Metallsalze.
Eine allgemeine, vergleichende und zusammenfassende Darstellung der
Secretionsanomalien kann bisher um so weniger unternommen werden, als deren
unerlässliche Grundlage, die allgemeine Physiologie der Absonderungsprocesse, aus
Mangel an zureichender Kenntniss noch nicht entworfen werden kann. Nur
wenige Bruchstücke sind uns bekannt. Wir wissen, dass alles Absonderungs-
material aus dem Blute stammt. Die Galle ausgenommen, welche aus venösem
Blute hergestellt wird, scheint jede andere Absonderung aus dem arteriellen Blute
hervorzugehen. Doch ist höchstens nur in den Nieren, sonst nirgends die Secretion
vom Blutdruck allein abhängig, und auch hier ist es nur die Wasserabsonderung.
Ausser dem Blute, welches das Secretionsmaterial der Absonderungsfläche zuführen
muss, ist als der wirksamste Factor die Drüsenzelle mit der Membrana propria
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 28
434 SECRETIONSANOMALIEN. — SECTIO.
anzuerkennen. Die Drüsenzellen wirken nicht blos filtrirend, sondern sie üben
Anziehungskräfte aus, verarbeiten auch zum Theil das ihnen aus dem Blute
zukommende Material und setzen es um. Die Verschiedenheit der Drüsenzellen, die
chemischen und physikalischen Kräfte, die sie entfalten, bilden die entscheidende
Potenz für die grosse Mannigfaltigkeit der Secrete. In viele Secrete gehen aber
auch die Zellen direct über und bilden deren wesentlichste Bestandtheile ; so in den
Samen, in die Milch. Ausser den Zellen üben die Nerven einen nachweisbaren Ein-
fluss aus, nicht blos überall einen indirecten durch Vermehrung oder Verminderung
der Blutmenge mittelst vasoconstrictorischer und vasodilatorischer Nerven, sondern
auch vielfach einen ganz directen , so dass die Secretion überhaupt nicht stattfindet
ohne Anregung der Secretionsnerven. In welcher Weise die Secretionsnerven ihren
Einfluss zur Geltung bringen, durch welche Mittelglieder, in welcher Form, ist noch
unklar. Ausser dem directen secretorischen Einfluss der Nerven ist aber auch hier
noch der trophische Nerveneinfluss auf die Ernährung der Drüsen zu constatiren.
An den Hoden, an den Speicheldrüsen ist es experimentell nachweisbar, dass mit
dem Fortfall des Nerveneinflusses die Atrophie der Drüse beginnt, die bis zum
völligen Schwund der wirksamen secernirenden Drüsenelemente fortschreitet. Die
Gefässnerven, wie die Secretionsnerven, wie die trophischen Nerven der Drüse stehen
vielfach consensuell und reflectorisch mit anderen Nerven in Verbindung und können
dadurch aus weiter Ferne her auf mannigfaltigen Wegen zur Thätigkeit veranlasst
werden. Am allerwenigsten sind die intraglandulären Nerven und deren Ganglien
bisher der Untersuchung zugänglich gewesen. Endlich ist noch die Frage wenig
erörtert, wie weit ausser den angeführten Potenzen noch Resorptionsvorgänge
innerhalb der Drüsen auf die Zusammensetzung des Secretes von Einfluss sind.
In so hohem Grade fehlt noch das Material, um die einzelnen Secretionen auf
ihre wirksamen Kräfte und die dabei giltigen Gesetze zu verstehen. Dadurch
fehlt die Grundlage einer allgemeinen Physiologie der Absonderungsvorgänge.
Hätten wir die volle Kenntniss der Details, so würde sich die Mannigfaltigkeit
der Absonderungsvorgänge unter eine Anzahl herrschender Gesichtspunkte bringen
lassen, wir würden erkennen, wie dieselben Kräfte, unter den verschiedenen
Modificationen zur Geltung kommend, die abweichendsten Producte zu erzeugen
vermögen.
Die Absonderungsvorgänge bieten nur in ihrer äusseren Form wenig
Verwandtschaft dar, in ihrer inneren Gesetzlichkeit stehen sie sicher einander so
nahe, wie die ganz analogen localen Ernährungsprocesse. So weit die allgemeine,
vergleichende und zusammenfassende Darstellung der Secretionen innere Differenzen
bestehen lassen wird, wird auch die Kenntniss dieser Unterschiede einen all-
gemeinen Werth beanspruchen können, da dadurch ein neuer Modus des Geschehens
constatirt wird, der vielleicht in pathologischen Zuständen unter analogen Verhält-
nissen auch anderwärts zur Geltung kommen kann. Denn der Zweck der allgemeinen
und vergleichenden Darstellung erschöpft sich durchaus nicht in Auffindung der
Aehnlichkeiten, die Differenzen zwischen den analogen Vorgängen und ihre Gründe
festzustellen ist von nicht geringerem Werth. — Unter diesen Umständen hat die
allgemeine Pathologie der Secretionsvorgänge nicht blos eine allgemein pathologische,
sondern auch eine allgemein physiologische Bedeutung , sie ist geeignet , weitere
Lichtstrahlen auf dieses dunkle Gebiet zu werfen. Doch wird die Ordnung und
Zusammenstellung der genau gesichteten Beobachtungen noch auf lange hinaus die
Aufgabe der Wissenschaft bleiben müssen.
Literatur. Unter den Handbüchern der Physiologie ist über diese Materie zu
liennen: Heidenhain, Physiologie der Absonderungsvorgänge in L. Herrmann's Handb. der
Physiol. VI, 1880, von den Handbüchern der allgemeinen Pathologie Samuel's 1878/79,
pag. 133. Samuel.
Sectio, Schnitt (von secare, schneiden); sectio alta, hoher Steinschnitt,
Sectio lateralis , Seitensteinschnitt u. s. w., s. „Blasensteine", II, pag. 215 ff.;
sectio caesarea, Kaiserschnitt, VII, pag. 315.
SECTION. 435
Section, Sectionsprotocoll (forensisch) Wir haben bereits in den Artikeln
„Augenscheinbefund" (Bd. I), „Exhumation" (Bd. V), „Gänsehaut" (Bd. V), „Gift",
„Gutachten" (Bd. VI), „Kindstödtung" (Bd. VII) Gelegenheit gehabt, sowohl auf
den Unterschied, welcher zwischen einer klinischen und gerichtlichen Section
obwaltet, als auch auf die einschlägigen, in Oesterreich und Deutschland zu Recht
bestehenden, gesetzlichen Bestimmungen hinzuweisen. Wir können uns daher hier
auf die Präcisirung der Aufgaben beschränken, welche des Sachverständigen harren,
wenn er im Auftrage des Gerichtes an die Obduction einer Leiche herantritt.
Zuvörderst hat er den Ort zu berücksichtigen, wo die Leiche aufgefunden
wurde, da in zweifelhaften Fällen eine genaue Kenntniss der Oertlichkeit (Wald,
Ufer , Nähe bewohnter Häuser u. s. w.) , sowie der in nächster Umgebung etwa
vorgefundenen Blutspuren , Waffen oder anderweitiger Werkzeuge und Gefässe
(Gläser mit verdächtigem Inhalte), von grossem Belange für die Entscheidung der
wichtigen Frage , ob Selbstmord , Mord oder zufälliger Tod vorliege , sein kann.
Darauf ist die Lage der Leiche genau anzugeben, da dieselbe mitunter für die
Beantwortung der eben erwähnten Frage entscheidend ist. Der Reihe nach folgt
die Angabe, ob die Leiche nackt, zum Theil entblösst oder ganz angekleidet vor-
gefunden wurde, und im ersteren Falle, ob dem Körper fremde Stoffe (Sand, Lehm,
Erde, Pflanzentheile u. s. w.) anhaften, in den beiden letzteren aber, ob die
Kleidungsstücke besudelt sind (Koth , Blut) , oder ob sie nicht einen Schluss auf
den Stand, Beschäftigung oder gar Todesart des Verstorbenen gestatten (z. B. Mehl-
staub bei Müllern, verschieden gefärbter mineralischer Staub bei Bergleuten oder
Verschütteten), endlich ob sie beschädigt sind oder nicht (Stich- , Schussöffnungen,
Verbrennung u. s. w.). Bekommt hingegen der Sachverständige eine bereits trans-
portirte und entkleidete Leiche zu Gesichte, so muss er nachträglich vermittelst
des Untersuchungsrichters Erkundigungen über den Fundort und die Lage der
Leiche an demselben einholen, sowie die etwa noch vorhandenen Kleidungsstücke
einer genauen Untersuchung unterziehen und das an denselben Wahrgenommene
zu Protocoll dictireii.
Nun folgt die äussere Besichtigung der Leiche, wobei mit minu-
tiöser, peinlicher Sorgfalt vorgegangen werden muss, da im Vornhinein nie zu
übersehen ist, was im Verlaufe der gerichtlichen Untersuchung von Belang sein
kann. Diese Vorsicht ist umsomehr geboten, wenn die Leiche unbekannt ist, wenn
es sich also um Constatirung der Identität handelt. Es ist dann zuvörderst
nicht nur das Geschlecht anzugeben, sondern auch die an den Geschlechtstheilen
etwa beobachteten Eigenthümlichkeiten (z. B. rituelle Circumcision bei Männern)
und Veränderungen (Syphilis, Zustand des Hymen) genau zu bezeichnen. Darauf
folgt die Bestimmung des muthmasslichen Alters; zu diesem Behufe wird die
Länge des Körpers gemessen, die Entwicklung des Schädels, der Zähne, der
Behaarung (besonders am Gesichte, in den Achselhöhlen und an den Geschlechts-
theilen), die Ossification mancher Epiphysen (bei Kindern der unteren Epiphysen
der Oberschenkelbeine , der Sprungbeine , bei Erwachsenen der oberen Epiphysen
der Oberarmknochen) u. s. w. untersucht. Ferner ist die Gestalt des Schädels,
die Farbe der Haare und Regenbogenhäute, Eigenthümlichkeiten der Zähne (künst-
liche Gebisse), etwa vorhandene Muttermale, Narben, Tättowirungs-
marken u. s. w. zu beschreiben. Ebenso ist auf ungewöhnliche Färbung der
Hände, etwa an den Fingerspitzen vorhandene kleine Verletzungen, Schwielen oder
gar eingebrannte Eisentheilehen Rücksicht zu nehmen, weil diese an und für sich
unbedeutenden Veränderungen mitunter auf die Beschäftigung des Verstorbenen
hinweisen.
Der Reihe nach geht der Gerichtsarzt an die Bestimmung des Zeitpunktes,
in welchem aller Wahrscheinlichkeit nach der Tod eingetreten ist, da die Angabe
desselben, wenn sie überhaupt möglich ist, für den Untersuchungsrichter von
eminenter Bedeutung ist. Zu diesem Behufe berücksichtigt er die vorhandenen
Leichenerscheinungen. Bei relativ frischen Leichen sind vor allem die
28*
4(J6 SECTION.
Todtenflecke und die Leichenstarre einer eingehenden Untersuchung zu
unterziehen ; erstere müssen überdies von intra vitam beigebrachten Verletzungen
unterschieden und daher jedesmal eingeschnitten werden ; darauf ist ihre Lage,
Ausbreitung und Färbung (gewöhnlich schmutzig — , bei Kohlenoxydvergiftung , mit-
unter auch bei Blausäurcvergiftung und Einwirkung der Kälte hellroth, bei Kloaken-
gasvergiftung fast schwarz) zu beschreiben. Ebenso ist das Vorhandensein oder
Mangel der Leichenstarre zu notiren, und in ersterem Falle der Körpertheil
anzugeben, welcher von derselben ergriffen ist (Nacken, obere, untere Extremitäten) ;
in gewissem Connexe mit der Leichenstarre steht auch die Gänsehaut (s. d.).
— Sind bereits Verwesungserscheinungen vorhanden, so ist die Jahres-
zeit und das Medium, in welchem die Leiche sich befunden hatte, zur muthmass-
lichen Bestimmung der Todesdauer heranzuziehen ; die Symptome des Körperzerfalles
sind genau zu beschreiben, weil sie einerseits von intra vitam entstandenen Ver-
letzungen zu unterscheiden sind (Fäulniss- und Brandblasen) , andererseits einen
Rückschluss auf den Werth der bei der inneren Untersuchung gefundenen Ver-
änderungen gestatten (bei Neugeborenen, Erstickten u. s. w.). Bei stark vor-
geschrittener Fäulniss werden freilich in der Regel alle Bemühungen der Sachver-
ständigen vereitelt; dass jedoch nicht die Möglichkeit ausgeschlossen ist, selbst
an stark verwesten, verseiften, verkohlten oder anderweitig (z. B. durch Spreng-
geschosse) arg zerstörten, zerstückelten, oder selbst von den Weichtheilen ent-
blössten Körpern zu überraschenden, nicht nur für den Nachweis der Identität,
sondern auch der Todesursache wichtigen Resultaten zu gelangen , ist aus der
gerichtsärztlichen Literatur sattsam bekannt , weshalb auch der Gerichtsarzt nicht
berechtigt ist , im Vorhinein z. B. gegen die Exhumation und Obduction einer
Leiche sich zu erklären.
An Neugeborenen sind überdies nach den bestehenden Vorschriften
zu bestimmen : das Körpergewicht, die Hautfarbe, die Kopfdurchmesser, Breite der
Schultern, Länge der Haare und Nägel, Vorhandensein oder Mangel von käsiger
Schmiere und Kindspech an der äusseren Decke, Zustand der Pupillen und
Fontanellen , bei Knaben Vorhandensein oder Mangel der Hoden im Hodensacke,
des Nabelschnurrestes , Zustand desselben und seines freien Endes , eventuell des
Nabelringes, endlich der Placenta, wenn sie aufgefunden wurde.
Zuletzt werden jene Veränderungen beschrieben, welche den Eindruck
gewaltsamer Verletzungen machen. Jede derselben muss sowohl hinsichtlich
ihres Sitzes, Grösse, Gestalt, Richtung, Tiefe, Beschaffenheit der Wundränder und
der nächsten Umgebung ganz genau bezeichnet — nicht diagnosticirt werden , denn
die Diagnose gehört in's Gutachten — . Selbstverständlich ist der Zweck
dieser genauen Beschreibung stets im Auge zu behalten : es sollen sowohl
Untersuchungsrichter , Ankläger und Vertheidiger einer- und andere später zur
Begutachtung etwa berufenen Aerzte andererseits, welche die Verletzung nicht mehr
zu sehen in der Lage sind, in dem Sectionsprotocolle ein treues und klares Bild
derselben vorfinden; es soll ferner aus der Beschreibung zu erschliessen sein, mit
was für einem Werkzeuge die Verletzung aller Wahrscheinlichkeit nach zugefügt
und ob sie zufällig, von fremder oder eigener Hand beigebracht worden sei ; dass
zuvörderst alle Kennzeichen hervorgehoben werden müssen, welche eine postmortal
entstandene von einer im Leben hervorgerufenen Beschädigung unterscheiden, haben
wir oben bereits erwähnt. Werden gar keine äusserlichen Verletzungen vorgefunden,
so sind die natürlichen Körper Öffnungen mit um so grösserer Sorgfalt zu durch-
forschen, weil diese mitunter der Sitz von Verletzungen (Schuss durch den Mund,
Wunden in der Vagina u. s. w.) oder fremden Körpern (z. B. Vagina und Rectum)
sind. Bleibt auch diese Untersuchung ohne Erfolg, so ist jedenfalls der Mangel
jedweder Verletzungsspuren im Protocolle ersichtlich zu machen.
Bezüglich der inneren Untersuchung hat der Gerichtsarzt im
Allgemeinen nach den sowohl in Oesterreich, als in den einzelnen deutschen Staaten
geltenden Specialverordnungen zu verfahren (s. „Augenscheinbefund").
SECTIO'. — SEDATIVA.
Im Besonderen aber niuss das Princip der Individualisation im Auge behalten werden,
damit in jedem einzelnen Falle die mit etwa vorhandenen äusseren Verletzungen
im Zusammenhange stehenden inneren Veränderungen in erster Reihe ersichtlich
seien, und der ursächliche Zusammenhang zwischen ersteren und letzteren nach-
gewiesen werde. Schon das Wesen einer gerichtlichen Section bringt es mit sich,
dass der Gerichtsarzt auch bei der inneren Leichenschau Umstände zu berück-
sichtigen hat. welche dem pathologischen Anatomen von untergeordneter Bedeutung
sind : der bei Eröffnung der Körperhöhlen etwa wahrnehmbare ungewöhnliche
Geruch, die Beschaffenheit des Blutes (Farbe, Gerinnung, Fäulniss . Beschaffenheit
des Schädeldaches und der Schädelbasis nach vorausgegangener Ablösung der
harten Hirnhaut) . Zustand der Paukenhöhlen und des Trommelfelles . Stand des
Zwerchfelles, Lufthältigkeit oder Luftleere der Lungen bei Neugeborenen, genaue
Durchforschung der Mund- und Rachenhöhle, des Oesophagus, Kehlkopfes und der
Trachea nach fremden Körpern . Inhalt des Magens und Reaction desselben,
Beschaffenheit der inneren Geschlechtstheile u. s. w. , sind solche beispielsweise
anzuführenden Umstände. Je nach der angeblich vorliegenden Todesart muss der
Gerichtsarzt den bestehenden Vorschriften gemäss ein specielles Verfahren ein-
schlagen (so z. B. bei Kindesmord [s. d.], bei Vergiftungen [s. „Gift"] u. s. w. .
Stets hat sein Verfahren zum Zwecke, die Beantwortung der vom Gesetze gestellten
Fragen zu ermöglichen, und zwar was die nächste und fernere oder veranlassende
Ursache des Todes gewesen und ob ein Causalnexus zwischen dem Tode und den
vorgefundenen Verletzungen vorhanden sei.
Um dieser wichtigen Aufgabe mit möglichster Genauigkeit gerecht werden
zu können , darf der Gerichtsarzt sich nicht auf die makroskopische Besichtigung
der Leiche beschränken, sondern er muss auch zur sofortigen mikro- und spectro-
skopischen schreiten, ja sogar chemische Vorproben machen, wenn der Fall es
erheischt, zu welchem Behufe er, wo es überhaupt möglich, mit den nothwendigen
Apparaten und Reagentien ausgerüstet sein soll.
Der Gerichtsarzt ist gehalten , seine an der Leiche gemachten Wahr-
nehmungen sofort in Gegenwart der Gerichtspersonen zu dictiren: das so ent-
stehende Schriftstück heisst Sectionsprotocoll. Nachdem der Untersuchungs-
richter den Gegenstand der Untersuchung , Ort , Zeit und Zweck derselben . die
Namen der die Commission constituirenden Mitglieder und Zeugen angegeben,
schreitet der Sachverständige an sein Dictat, beginnt mit der äusseren Unter-
suchung und übergeht darauf zur innerenUntersuchung. wobei er gewisse
formelle Umstände zu berücksichtigen hat; ausser den eben erwähnten zwei
Hauptabtheilungen besteht jede derselben aus einer beliebigen Anzahl von Unter-
abtheilungen oder Absätzen, welche mit fortlaufenden Nummern kenntlich gemacht
werden, damit die einzelnen Umstände im Gutachten ohne Wiederholung des Inhalts
herangezogen werden können. In dem Protocolle soll der Gerichtsarzt sich einer
klaren Ausdrucksweise befleissen und jeder Diagnose enthalten. Das Protocoll
wird hierauf von sämmtlichen Commissionsmitgliedern und Gerichtszeugen unter-
schrieben. In dem darauffolgenden Gutachten (s. d.) wird das im Protocolle
niedergelegte Material wissenschaftlich verwerthet. ^ Blumenstok
Secundärglaucom, s. „Glaucom", VI, pag. 75.
Sedativa im Allgemeinen. Der Begriff der JRemedia Sedativa wurde
früher weiter gefasst und als Wirkung der beruhigenden Arzneimittel zunächst
und hauptsächlich eine Herabsetzung der Herzthätigkeit angesehen , sowohl hin-
sichtlich der Zahl der Zusammenziehungen in der Zeiteinheit, wie auch der Energie
derselben. Demgemäss wurden die die Herzthätigkeit alterirenden Arzneimittel,
die sogenannten Cardiaca (Digitalis etc.) speciell zu dieser Classe gerechnet. Heut-
zutage aber hat mau sich in der Begriffsbestimmung eines Sedativum nach den
physiologischen und klinischen Wirkungen dieser Heilmittel wesentlich eingeschränkt.
438 SEDATIVA — SED UM.
Wenn auch nicht geleugnet werden kann , dass es zur Beruhigung von
Individuen mit aufgeregter Herzthätigkeit zumeist eines diese vermindernden Agens
bedürfen wird, so ist damit noch nicht jener Effect gegeben, welcher ein ruhiges
Verhalten und eine Herabsetzung der Sensibilität und Motilität bei Personen mit
gesundem Herzen zur Folge hat. Wir verlangen von einem Sedativum, dass es
beim gesunden Menschen die normale Erregbarkeit des Gehirns, Rückenmarks und
auch mittelbar oder unmittelbar des Herznervensystems herabsetze und auch bei
Kranken auf die vorhandene erhöhte Erregbarkeit der genannten Organe eine
wohlthätige, herabmindernde Wirkung äussere. Um sedativ auf Kranke zu wirken,
scheint es uns heute nicht mehr angezeigt, die Herzthätigkeit und ebenso die
Athmung in wirksamerer Weise zu beeinflussen, am allerwenigsten dann, wenn es
sich um Herz- oder Lungenkranke handelt. Das JVow nocere gilt gerade in dieser
Beziehung ganz vornehmlich für die therapeutische Verwendung der Sedativa.
Wir pflegen daher jetzt unter einem Sedativum ein solches Arzneimittel
zu verstehen, welches vorzugsweise die Sensibilität und Motilität herabsetzt, daher
schmerzlindernd , krampfstillend und zum Theile auch direct oder indirect schlaf-
bringend wirkt. Die eigentlichen Hypnotica und Anästhetica besitzen zwar in
mittleren Gaben theilweise auch sedative Wirkung; jedoch ist die letztere
gewöhnlich weniger deutlich ausgeprägt und pflegt nur von sehr kurzer Dauer
zu sein, während das excitirende oder narkotische Stadium vorherrscht.
Der frühere Reichthum unseres Arzneischatzes an Sedativis hat mit der
präciseren Definition und Indication derselben begreiflicherweise erheblich ab-
genommen. Sonst waren Acidum liydrocyanicum, Opium, Morphium, Hyoscyamus,
Belladonna, Atropin, Aconit, Lupulin, Valeriana, Castoreum, Moschus, Asa foettda,
Ammonium carhomum py ro- oleosum , Camphora u. a. m. als Beruhigungsmittel
gepriesen. Nur wenige von diesen aber haben gegenwärtig ihren Ruf behalten,
dagegen ist das Bromkalium (s. dieses) in den Vordergrund getreten, welches das
am meisten geschätzte Sedativum geworden ist. Ihm zur Seite stehen Chloral-
hydrat, Butylchloralhydr., Extr. cannabis ind., Camphora monobromata, die in den
entsprechenden Gaben als Beruhigungsmittel sich mehr oder weniger bewährt haben.
Je nachdem nun mehr die schmerzstillende oder allgemein beruhigende
oder antispasmodische Wirkung indicirt erscheint, werden wir unter den genannten
Mitteln zu wählen haben, und es ist nicht zu leugnen, dass in einer für unser Ver-
ständniss bis jetzt meist wenig begreiflichen Weise je nach der Individualität und
der Art der Erkrankung das eine dieser Arzneimittel vor dem anderen den Vorzug
grösserer Wirksamkeit für sich in Anspruch nimmt. Hiervon ist jedoch in den
Specialartikeln über die in Frage kommenden Heilmittel in grösserer Ausführ-
lichkeit die Rede und es würde nur zu Wiederholungen führen, wollte ich des
Genaueren an diesem Orte hierauf eingehen.
Hinsichtlich der physiologischen Wirkungen der Sedativa gilt das in den
Artikeln „Anästhetica" und „Narcotica" Gesagte.
Gleichwie bei Kranken mit gesteigerter Erregbarkeit des Nervensystems
die Sedativa sich heilbringend erweisen, geschieht dies auch bei künstlich durch
Vergiftung erzeugter, erhöhter Erregbarkeit der Centralorgane und der peripheren
Nerven. Die durch das Thierexperiment gewonnenen Erfahrungen haben gerade
hinsichtlich dieses Punktes für die Vergiftungen am Menschen höchst wichtige
therapeutische Maassnahmen gelehrt, welche in der ärztlichen Praxis bereits viel-
fache und erfolgreiche Verwerthung gefunden haben. Steinadler.
Sediment (von sedere)1 Satz, Bodensatz in Flüssigkeiten, besonders im
Harn; vgl. letzteren Artikel.
Sedum. Herba Sedi acris, das Kraut von S. acre L., Crassulaceae
{Vermtculmre brillante der Pharm, franc.) und Herba (Sedi) T elephit
von S. Telcphium L. (orpin oder rejprise der Pharm. fran§.). Das erstgenannte
Kraut enthält ausser Schleim , äpfelsauren Kalk u. s. w. insbesondere noch ein
SEDUM. — SEEBADEE. 439
nicht näher bekanntes drastisches Acre , welches diuretische und emeto-catarthische
Wirkungen bedingt; es wurde theils frisch als Succus expressus, theils getrocknet
in Pulver oder Infus als Antihydropicum u. s. w. benutzt. Jetzt gänzlich obsolet ;
ebenso Herba Telephii.
Sedlitz in Böhmen, unweit Bilin, hat ein massig salzhaltiges Bitterwasser,
das versendet wird und in 1000 Theilen 16'40 feste Bestandtheile enthält,
darunter :
Schwefelsaure Magnesia 13 "54
Schwefelsauren Kalk 1*04
Kohlensauren Kalk 1*04 K.
Seebäder nennen wir die an den Küsten der Meere gelegenen Orte, welche
vermöge ihrer topographischen und climatischen Eigenschaften sowie der in ihnen
vorhandenen äusseren Einrichtungen den curmässigen Gebrauch der Bäder in
offener See ermöglichen. Diejenigen Factoren, die bei einer Seebadecur in Betracht
kommen, sind erstlich das Seeclima und zweitens das eigentliche Seebad (im engeren
Sinne). Indem wir wegen der Eigenschaften des zuerst angeführten hochwichtigen
Factors auf den Artikel „Seeclima" verweisen, behandeln wir an dieser Stelle nur
die Eigenschaften und Wirkungen des eigentlichen Seebades , werden aber auch
gelegentlich auf das Seeclima, dessen Einwirkung einen integrirenden Bestandtheil
einer vollständigen Seebadecur ausmacht, zu verweisen haben.
Von den Eigenschaften des Meereswassers ziehen wir in Betracht: die
chemische Zusammensetzung, die Temperatur, endlich die Bewegung.
Vermöge seiner chemischen Zusammensetzung charakterisirt sich
das Seewasser als Mineralwasser , und zwar als mehr oder weniger concentrirte
Soole. Unter den Salzen , die es enthält, wiegt das Chlornatrium vor ; demnächst
finden sich Chlormagnesium, schwefelsaurer und kohlensaurer Kalk und Magnesia,
ausserdem sehr geringe Mengen Jod- und Bromverbindungen und Spuren ver-
schiedener anderer Elementarstoffe (Kalium, Eisen, Mangan u. s. w.). Was den
procentischen Gehalt an Salzen anlangt, so differirt derselbe nicht unerheblich
in den verschiedenen europäischen Meeren (Atlantischer Ocean, Mittelmeer, Nord-
und Ostsee) und ebenso zuweilen in den einzelnen Regionen eines Meeres ; ja selbst
an einer und derselben Stelle des Meeres kann der Salzgehalt zeitliche Schwankungen
zeigen, je nach dem Eintritt verschiedener Strömungen, der grösseren oder geringeren
Verdunstung u. s. w. Den bedeutendsten Salzgehalt (bis gegen 4-5 %) zeigt das
mittelländische Meer (wohl in Folge der in diesem Becken stattfindenden starken
Verdunstung). Nordsee und atlantischer Ocean haben einen Gehalt von etwa 3°/0
bis 3* 8%, während das Becken der Ostsee, das eine relativ nur enge Verbindung
mit dem Weltmeer, dagegen einen sehr bedeutenden Zufluss süssen Wassers aus
zahlreichen Flüssen besitzt, in seinen westlichen, der Nordsee nahe gelegenen
Theilen ca. 2%, in seinen östlichen dagegen den winzigen Gehalt von etwa 0'7°/0
fester Bestandtheile hat.
Mulder fand in 1000 Gramm Seewasser:
r. im mittelländischen
im Ocean Meere
Chlornatrium 25'2 26'8
Chlormagnesium .
Schwefelsaure Magnesia
Kohlensauren Kalk .
Kohlensaure Magnesia
Schwefelsauren Kalk
3-4 4-7
2-9 4-9
2-4 0-5
0-4 0-4
0-2 0-1
Erwägt man nun, dass diese Salze zum überwiegenden Theile aus Chloriden
bestehen, und ferner, dass man Wässer, deren Gehalt an Chloriden über 3°/0
beträgt, als starke Soolen , solche mit einem Gehalt zwischen 2°/0 und 3°/0 als
mittelstarke Soolen zu bezeichnen pflegt, so haben wir in den Wässern der eben
440 SEEBADER.
angeführten Meere und Meerestheile die verschiedensten Abstufungen zwischen
schwachen, mittelstarken und starken Soolen.
Was die Temperatur des Seewassers betrifft, so ist zu bemerken, dass
die enorme Wassermenge des Meeres, bei der schlechten Wärmeleitungsfähigkeit
des Wassers, unter dem Einflüsse der strahlenden Sonnenwärme sich nur langsam
erhitzt, aber auch die einmal angenommene Wärme nur schwer wieder abgiebt.
Hieraus folgt , dass das Seebad (in den Sommermonaten) eine relativ niedere
Temperatur besitzt; dieselbe ist in den südlichen Seebädern, speciell denen des
mittelländischen Meeres, am höchsten, in den nördlichen Seebädern niedriger, am
niedrigsten in der Ostsee. Die mittlere Wärme des Seewassers während der
Sommermonate beträgt im mittelländischen Meere 22*5 bis 27° C, im atlantischen
Ocean und der Nordsee 20 bis 23° C, in der Ostsee 16° bis 17-75° C. ; aber
auch diese Temperaturen finden sich in den kälteren Meeren erst dann vor,
wenn die Sonnenwärme bereits genügend lange Zeit zur Einwirkung gekommen
ist, und darauf beruht es, dass man in den nöz'dlichen Meeren die Seebadecuren erst
im Spätsommer vorzunehmen pflegt, wo das Meereswasser jene stabile Temperatur
allmälig angenommen hat; in den südlichen Badeorten dehnt man die Badezeit
in den Herbst, ja selbst bis in den Winter hinein aus. — Ueber das Verhältniss
von Wasser- und Lufttemperatur vergl. den Artikel „Seeclima".
Ein dritter bedeutungsvoller Factor, der bei dem Bade in offener See
zur Wirkung gelangt , ist die Bewegung des Wassers. Dieselbe ist zweifacher
Art, besteht erstlich in Ebbe und Fluth (in der Ostsee und dem mittelländischen
Meere fehlend) , zweitens im Wellenschlag. Die angeblich durch Ebbe und Fluth
bedingten Unterschiede in der Badewirkung sind zum Theil künstlich construirt,
zum Theil wenig bedeutend. Sehr wichtig ist dagegen die fortwährende Bewegung
des Meeres, die den sogenannten Wellenschlag darstellt und im beständigen,
mehr oder wenigen heftigen Vorwärtsschieben der oberflächlichen Wassermassen
gegen den Strand hin bei gleichzeitigem Zurückströmen der tieferen besteht;
geschieht die Begegnung der ankommenden und der zurückgeworfenen Wellen mit
grösserer Intensität, so spricht man von Brandung.
Nach alledem stellt also das Seebad ein , je nach den verschiedenen
Meeren, schwaches bis ziemlich starkes, kühles, bewegtes Soolbad dar. Welches
sind nun die Wirkungen eines solchen Bades auf den Körper des Badenden?
Vor allen Dingen charakterisirt sich das Seebad als ein mehr oder weniger
hautreizendes Bad, und zwar wird die Reizung des Hautorganes, die sich auch
äusserlich in der bei protrahirten Bädern auftretenden Hautröthung und dem sich
zuweilen einstellenden juckenden Erythem („Badefriesel") manifestirt, sowohl durch
die niedere Temperatur , als auch durch die Bewegung und durch, den Salzgehalt
des Seewassers hervorgerufen. Ueber die reizende Einwirkung der niederen Bade-
temperatur auf die Haut und auf innere Organe vergl. den Artikel „Hydrotherapie",
über die hautreizende Eigenschaft der mineralischen Bestandtheile der Bäder den
Artikel „Bad" ; über die Wirkungen des Wellenschlages haben wir an dieser
Stelle Einiges zu bemerken. Durch den Anschlag und Anprall der Wellen wird
der Oberkörper des Badenden gepeitscht und vermittelst der massenhaft mitgeführten
Sandkörner gerieben , während die untere Körperhälfte durch die sich zurück-
bewegende Welle in ähnlicher Weise mechanisch insultirt wird; hierdurch wird
eine bedeutende Reizung sensibler Nerven bedingt , durch welche , in Verbindung
mit der Einwirkung auf die Gefässnerven, das anfängliche Kältegefühl des Badenden
alsbald in ein wohlthuendes Wärmegefühl verwandelt wird. Ein sehr wichtiger
Effect des Wellenschlages besteht noch darin , dass der Körper des Badenden,
um dem An- und Rückprall der Wogen zu widerstehen und sieb aufrecht zu
erhalten, ziemlich starke Muskelanstrengungen machen und eine lebhafte Gymnastik
entwickeln muss. — Das abwechselnde Ueberstürzen der Welle über den Körper
des Badenden und das demnächstige Zurückziehen derselben bewirkt, dass der Ober-
körper bald dem Wasser, bald der Luft exponirt ist, resp. vom Winde angeweht
SEEBÄDER. 441
wird; ist nun die Luftwärnie niedriger als die des Wassers, so wird durch diese
alternirende Einwirkung des wärmeren Seewassers und des kälteren Windes ebenfalls
eine nicht unerhebliche Erregung der sensiblen Nerven hervorgebracht.
Demnach besteht die primäre Wirkung des Seebades theils in der Ent-
ziehung von Wärme , theils in der Erregung der Hautnerven . durch thermische,
mechanische und chemische Reize.
Aus Untersuchungen, welche Virchow im Seebade Misdroy anstellte,
ging hervor, dass ein Seebad von durchschnittlich 19-1° C. bei einer Lufttemperatur
von beiläufig 18*7° C. eine Abnahme der Körperwärme um durchschnittlich 1*6° 0.«
höchstens um 2° C. hervorbringt; die Abnahme der Temperatur um 2° fand
immer nur in einem länger dauernden Bade (von x/4 — 1/2 Stunde) statt, aber
nicht jedesmal hatte ein solches Bad diese Wirkung. Der wesentlichste Factor
für eine stärkere Wärmeentziehung lag in dem Zusammenwirken der Luft und des
Wassers. — Was die Respiration anlangt, so fand Virchow als gewöhnliche
Folge des Seebades eine Zunahme der Frequenz der Inspirationen (im Mittel um
5-4) , während er die Frequenz der Herzthätigkeit meistens vermindert fand (im
Mittel um 7*3 Pulsschläge), im Gegensatz zu Wiedasch auf Norderney, der
gewöhnlich den Puls nach dem Bade beschleunigt fand und nur die kurz dauernden
Bäder mit nachfolgender Pulsbeschleunigung als heilsam ansieht.
Ueber die Wirkung des Seebades, speciell des Nordseebades, auf den Stoff-
wechsel hat Beneke im Jahre 1855 Beobachtungen angestellt, deren Resultate
jedoch vereinzelten Widerspruch erfahren haben. Vor allen Dingen soll sich beim
Gebrauche der Seebäder , unter Hebung des Appetites , eine rasche Zunahme des
Körpergewichtes bemerkbar machen, eine Angabe, die von Virchow bestätigt wird,
während Mess seine Versuchspersonen innerhalb der ersten 8 — 14 Tage etwas
abmagern sah und erst gegen das Ende der Cur sowie Wochen und Monate nach
derselben eine unverkennbare Gewichtszunahme bei ihnen constatiren konnte. —
Nach den Untersuchungen Beneke's soll ferner die Menge des mit dem Harn
zur Ausscheidung gelangenden Harnstoffes zunehmen (unzweifelhaft in Folge der
gesteigerten Nahrungszufuhr), die der Harnsäure und der Phosphate dagegen
sich vermindern
Wenn wir diese Steigerung des Appetites und des Körpergewichtes, meist
unter gleichzeitiger Röthung des Gesichtscolorits , in Betracht ziehen , wenn wir
ferner erwägen, dass bei zweckmässigem Gebrauche der Bäder ein wohlthuendes
Ermüdungsgefühl mit nachfolgendem ruhigen und tiefen Schlafe sich einstellt, so
können wir die Gesammtwirkung einer Seebadecur als „tonisirend" bezeichnen. Ein
solcher tonisirender Einfluss macht sich noch speciell auf das Hautorgan bemerkbar ;
trotz der lebhaften Luftströmungen an der See und der oben geschilderten, im
Bade gleichzeitig stattfindenden Einwirkung des bewegten kalten Wassers und
der bewegten Luft ist die Neigung zu Erkältungen, d. h. jene Disposition des
Körpers, auf Temperaturschwankungen und plötzliche Einwirkung von Luft-
strömungen mit entzündlichen Affectionen der Schleimhäute, Muskeln u. s. w. zu
reagiren, nicht beträchtlich und vermindert sich nicht selten bei Individuen, bei
denen sie früher vorhanden war. — Durch die starke Erregung der Hautnerven,
die sich nach dem Centralorgan hin fortpflanzt, werden ferner mächtige Wirkungen
auf das gesammte Nervensystem hervorgebracht, die im Wesentlichen in einer
Erfrischung und Tonisirung desselben bestehen. — Neben diesen somatischen
Wirkungen ist sicherlich die psychische nicht ausser Acht zu lassen, welche durch
den grossartigen und nie ermüdend wirkenden Anblick des Meeres und seines
eigenthümlichen Lebens auf den Binnenlandbewohner , speciell den Grossstädter
ausgeübt wird. — Ueber die einen wesentlichen Theil der Seebadecur ausmachende
Einwirkung der Seeluft vergl. den Artikel „Seeclima".
Die speciellen Indicationen der Seebadecur macht man sich am Besten
klar , wenn man vorher die Contraindicationen festgestellt hat. Bei der
grossen Neigung sich zu „stärken" , die viele chronisch Kranke haben , laufen
442 SEEBÄDER.
dieselben häufig Gefahr, sicli zu ihrem grossen Schaden eines so heroischen Cur-
mittels, wie es das Seebad darstellt, zu bedienen. Denn man darf nicht ausser
Augen lassen, dass diese „Stärkung" beim Seebade lediglich durch eine Reaction
des Organismus gegen energische äussere Reize bewirkt wird; der Organismus
muss also noch im Stande sein, mit gesteigerter Functionirung der dem Stoffwechsel
dienenden Organe ausreichend auf diese Reize zu antworten ; sonst wird lediglich
die Stoffrückbildung befördert, und demgemäss tritt Abmagerung und Kräfteverfall
ein. Es darf also keine schwere Affection der Organe der Verdauung, der
Circulation und der Respiration bestehen, wenn die wohlthätige Reaction durch
gesteigerten Appetit und lebhaftere Resorption, ausgiebigere Sauerstoffaufnahme und
beschleunigte Circulation zu Stande kommen soll. Demgemäss sind als Contra-
indicationen einer Seebadecur zu bezeichnen : chronischer Magencatarrh ; chronisches
Magengeschwür ; Magenkrebs ; Leberaffectionen , namentlich die mit gehinderter
Gallenausscheidung einhergehenden ; organische Herzfehler ; destructive Processe der
Lungen, hochgradige Bronchialcatarrhe , u. dergl. mehr. Doch wird bei manchen
dieser Krankheiten der Genuss der Seeluft , eventuell combinirt mit dem Trinken
eines passenden Mineralwassers, sich wohlthätig erweisen (vergl. den Artikel
„Seeclima").
Indicirt sind die Seebäder bei Schwächezuständen der verschiedensten
Art. Hierher gehören vor allen Dingen jene Zustände des Darniederliegens der
Ernährung und der Nerven- und Muskelthätigkeit , wie sie nach schweren
acuten Krankheiten (Typhus, Diphtherie etc.) nicht selten längere Zeit zurückbleiben,
Zustände, die bald auf Anämie, bald auf mangelhafter Innervation der Eingeweide
oder der Körpermuskulatur beruhen. Es concurriren bei der Behandlung dieser
Affectionen die verschiedensten Curmittel: Land-, Gebirgs-, Seeluft, Eisenbäder,
Akratothermen, einfache und Thermalsoolbäder, schwächere und stärkere Seebäder.
Eine vorsichtig geleitete Seebadecur, die wohl meist mit dem Genüsse der Seeluft
und dem Gebrauche warmer Seebäder zu beginnen hat , wird da indicirt sein, wo
es sich weniger um ausgesprochene Anämie als um eine , trotz anscheinend guter
Blutmischung, darniederliegende Thätigkeit des Nervensystems handelt. — Indicirt
ist eine Seebadecur ferner bei jenen Zuständen körperlicher und geistiger Abspannung,
wie sie sich bei geistig überarbeiteten Menschen , denen der Beruf den regel-
mässigen Wechsel zwischen körperlicher Ruhe und Bewegung nicht gestattet
(Gelehrte, Lehrer, höhere Beamte u. s. w.), ohne jede tiefere organische Störung
so häufig einstellt. — Endlich ist auch die Seebadecur ein vortreffliches Tonicum
für jene Individuen mit schlaffer Muskulatur, geringem Fettpolster, bleicher Haut-
farbe, die, häufig in Folge ererbter Anlage, Schwächlinge sind, ohne irgendwie
ernstlich krank zu sein.
Die Scrophulosis gehört zwar mit vollem Rechte zum unbestrittenen
Indicationsgebiete der Soolbäder,- doch wird man in manchen Fällen, wo es sich
nicht sowohl um kräftige Anregung der Resorption als vielmehr um Hebung der
Gesammternährung handelt, mit Vortheil auch vom Seebade Gebrauch machen,
indem man entweder warme Seebäder mit dem Genuss der Seeluft combinirt, oder
(wie in Colberg) Soolbäder beim Aufenthalte am Strande nehmen, oder auf eine
Soolbadecur noch den Aufenthalt am Strande folgen lässt. Versuche mit Bädern
in offener See dürfen nur bei torpider Scrophulose unternommen werden.
Anämie eignet sich für Seebäder nur insofern , als sie einen Theil der
vorhin skizzirten allgemeinen Schwächezustände ausmacht und nicht in den Vorder-
grund des Krankheitsbildes tritt. Ist letzteres — wie speciell bei der Chlorose —
der Fall, so ist das Seebad contraindicirt, da derartige Individuen mit ihrem herab-
gesetzten Stoffwechsel und ihrer ungenügenden Wärmebildung auf den energischen
Reiz des Bades nicht ausreichend zu reagiren vermögen.
Die sogenannte Hautschwäche, d. h. jene schon oben skizzirte
Disposition des Hautorganes, vermöge welcher bei der Einwirkung selbst massiger
Luftströmungen und plötzlicher Temperaturschwankungen eine der verschieden-
SEEBÄDER. 443
artigen „Erkältungskrankheiten" acquirirt wird, findet ihre Bekämpfung in einer
„abhärtenden" Behandlung der Haut; eine solche wird durch Flussbäder, durch
hydrotherapeutische Proceduren oder, am Energischsten, durch Seebäder effectuirt
und nur da, wo die Empfindlichkeit der Haut so bedeutend ist, dass die jedesmalige
Anwendung des kalten Bades eine Erkältung in ihrem Gefolge hat, wird man
die Tonisirung der Haut auf anderem Wege (vor Allem durch Thermalsoolbäder)
zu erzielen suchen.
Von Krankheiten des Nervensystems gehören zum Indications-
gebiet der Seebäder viele Fälle der sogenannten „reizbaren Schwäche" , der
gesteigerten Erregbarkeit, wie sie sich in Folge von Ausschweifungen oder
übermässigen körperlichen oder geistigen Anstrengungen bei Männern, von
unzweckmässiger Lebensweise u. dergl. , verbunden mit hysterischen Symptomen
bei Frauen so überaus häufig einstellt. Natürlich wird man hier, dem Grade der
Erregbarkeit entsprechend, sorgfältig individualisiren müssen, ja in vielen Fällen den
Genuss der Gebirgsluft, eventuell combinirt mit dem Gebrauch der Wildbäder, vorziehen,
in anderen Fällen wiederum Eisenwässer. — Von sonstigen Neurosen sei noch die
Migräne erwähnt, die in manchen Fällen unter dem vorsichtigen Gebrauche einer
Seebadecur Heilung oder doch wenigstens Besserung erkennen lässt.
Endlich findet die Seebadecur , in ihrer Eigenschaft als Tonicum , Ver-
wendung als N a c h c u r nach dem Gebrauche salinischer , alkalischer oder Eisen-
quellen, unter der Voraussetzung, dass ein ernstes Leiden eines lebenswichtigen
Organes nicht mehr besteht. —
Schliesslich noch eine statistische Zusammenstellung , welche Mess in
Scheveningen mit Zugrundlegung von 1832, in drei Badesaisons behandelten
Kranken gemacht hat; danach litten
22°/o an chronischen Krankheiten des Nervensystems, 14% an Scrophu-
lose, 12% an Krankheiten der Respirationsorgane (vorwiegend mit Neigung zu
„Erkältungskrankheiten" dieser Organe), 8% an Menstruationsanomalien, 6% an
allgemeiner Schwäche, 6% an Chlorose, anderweitiger Anämie, Leukämie, 5%
an chronischen Rheumatismen und Gicht, 2% an chronischen Exanthemen, l1/2%
an Intermittenskachexie , 1 x/2 % an Rachitis , während der Rest sich auf eine
grössere Anzahl einzelner Leiden vertheilte. —
Aus der enormen Anzahl der Seebadeorte führen wir, im Nachfolgenden
nur die besuchtesten auf und bemerken dabei, dass in der Mehrzahl derselben
sich auch Einrichtungen zum Gebrauche warmer Seebäder vorfinden.
Ostseebäder.
Cranz, vier Meilen von Königsberg, mit sehr geringem Salzgehalt
des Wassers.
Zoppot bei Danzig, in schöner Lage mit gutem Strande.
Colberg in Hinterpommern, ausgezeichnet durch den gleichzeitigen
Besitz einer starken Soolquelle.
Dievenow und M i s d r o y auf der Insel Wollin, von denen das erstere
stille und bescheidene Verhältnisse darbietet, das letztere durch seinen guten Strand
und seine prächtigen Umgebungen grosse Anziehungskraft ausübt.
Swinemünde, Ahlbeck, Heringsdorf, Zinnowitz, sämmtlich
auf der Insel Usedom. Von diesen Orten erfreut sich namentlich Heringsdorf, in
Folge seiner schönen Lage im Buchenwalde , grosser Beliebtheit ; auch Ahlbeck
und Zinnowitz nehmen stetig an Frequenz zu.
Put b us und Sassnitz auf der Insel Rügen, ausgezeichnet durch
mannigfaltige Naturschönheiten der romantischen Insel.
Warne münde bei Rostock, besuchter Badeort, namentlich auch wegen
der guten Dampferverbindung von Rostock aus.
Heiliger Damm bei Doberan, mit vortrefflichem Strande und
herrlichen Buchenwaldungen. Elegantes Badeleben.
Travemünde , zwei Meilen von Lübeck, hat ziemlich bedeutende Frequenz.
4 14 SEEBÄDER. — SEECLIMA.
Düster nbrook bei Kiel, wegen seiner prächtigen Lage an der Kieler
Bucht viel besucht, von geringem Salzgehalt des Wassers. Theures Leben.
Marienlyst auf der dänischen Insel Seeland, in herrlicher Lage
am Sunde.
Nordseebäder.
Westerland auf der Insel Sylt an der schleswigschen Westküste»
mit sehr starkem Wellenschlag und gutem Strande.
Wyk auf der Insel F ö h r , südlich von Sylt gelegen , mit wesentlich
geringerem Wellenschlage.
Cuxhaven an der Mündung der Elbe, einfaches Bad mit schwachem
Salzgehalt und geringem Wellenschlag.
Helgoland, friesische Insel in englischem Besitze, circa acht Meilen von
den Mündungen der Elbe und Weser entfernt, stellt wegen dieser Entfernung
vom Festlande das Ideal eines Seebades dar, bietet guten Wellenschlag und
comfortables Leben, ist aber doch nur für widerstandsfähige Naturen geeignet.
Dangast am Jadebusen , sowie die Inseln Wangeroog, Spieke-
roog und Borkum genügen einfacheren Ansprüchen.
Norderney, Insel an der ostfriesischen Küste, mit einem stark besuchten
vorzüglichen Seebade und vortrefflichen Strande.
Scheveningen, an der holländischen Küste, dicht beim Haag gelegen,
ausgezeichnet durch die Nähe des schönsten Waldes und der grossen Stadt.
Blankenberghe, ein immer mehr in Aufnahme kommender Ort,
wenige Meilen von Ostende entfernt, mit gutem Strande und vielem Comfort.
0 s t e n d e , grossartiges Weltbad an der belgischen Küste , mit festem
schönen Strande, hat den Nachtheil, dass die meisten Wohnungen zu entfernt
vom Strande liegen.
Von französischen, im Canal gelegenen Bädern nennen wir die — zum
Theil sehr eleganten — Boulogne, Dieppe, Fe camp, Trouville.
Von den zahlreichen Seebädern Englands seien hier Margate und
Ramsgate an der Themsemündung angeführt, ferner Dover, Hastings, das
hochelegante Brighton, dann die verschiedenen Orte auf der Canalinsel Wight
(Ride, Cowes, Ventnor etc.). —
Endlich erwähnen wir noch einen Badeort an der Bay von Biscaya,
nämlich das französische Biarritz, nahe der spanischen Grenze , mit gutem
Strande und Wellenschlage, in Folge seiner südlichen Lage den Gebrauch der
Seebäder noch im Spätherbst gestattend. L. Perl.
Seeclima. Mit dem Ausdrucke „Seeclima" bezeichnen wir die Summe
der meteorologischen Verhältnisse, wie sie über der See und an den Küsten der-
selben zur Beobachtung gelangen; in topographischer Beziehung kann man von
dem Seeclima im weiteren Sinne noch das Insel- und das Küstenclima unterscheiden.
Wesentlich beeinflusst werden die climatischen Factoren an und über der See
einmal von der niedrigen Lage der See und ihrer Küsten, dann aber von der
enormen Wassermenge des Meeres. Im Nachfolgenden betrachten wir von den
Eigenschaften der Seeluft:
1. Die Dichtigkeit. Dieselbe entspricht über unseren nördlichen
Meeren einem mittleren Barometerstande von circa 762 Millimeter, ist also grösser
als sonst irgendwo, wenn wir den Aufenthalt im Inneren der Erdrinde (in Berg-
werken) oder in Apparaten mit künstlich comprimirter Luft ausnehmen.
2. Die Temperatur der Seeluft ist viel gleichmässiger als die der
Landluft. Es beruht dies im Wesentlichen auf dem Einfluss der ungeheuren
Wassermasse, welche sich langsam erwärmt, aber auch langsam abkühlt, im
Gegensatze zum festen Erdboden, der die Wärmestrahlen der Sonne zwar rasch
aufnimmt, aber auch rasch an die Atmosphäre wieder abgiebt. Die hieraus
resultirende mehr gleichmässige Temperatur des Meereswassers theilt sich auch
SEECLIMA. 445
der über demselben befindlichen Atmosphäre mit , so dass plötzliche Temperatur-
sprünge der letzteren nicht häufig zur Beobachtung gelangen; begünstigt wird
diese Gleichmässigkeit der Temperatur noch durch die stärkere Bewölkung an den
Küsten , durch welche sowohl die Erhitzung als die Abkühlung der Luft weniger
intensiv gemacht wird. — Ferner ist in den Sommermonaten die Temperatur der
Seeluft erheblich niedriger als die der Landluft, da durch die enorme Wasser-
verdunstung von der grossen Fläche aus beständig Wärme gebunden wird ; anderer-
seits wiederum zeigt das Seeclima mildere Wintertemperaturen als das Continental-
clima. — Was das Verhältniss der Luft- zur Wasserwärme anlangt, so finden
sich, nach Untersuchungen von Mess, Differenzen bis zu 7° C. , und zwar ist
entweder die Luftwärme höher als die des Wassers, oder es waltet das umgekehrte
Verhältniss ob.
3. Die chemische Zusammensetzung der Seeluft zeigt das überall
in der atmosphärischen Luft zu constatirende Verhältniss von circa 21 Volumina
Sauerstoff und 79 Vol. Stickstoff in 100 Raumtheilen. Ueber die Bedeutung des
Ozongehaltes vergl. den Artikel „Clima" (Bd. III, pag. 315). Von sonstigen
constanten gasförmigen Beimengungen der Atmosphäre scheint die Kohlensäure in
geringerer Menge vorhanden zu sein. Während man in 100 Vol. freier Luft,
falls nicht besonders reichliche Kohlensäurezuflüsse vorhanden sind, circa 0'035
bis 0*05 Vol. Kohlensäure constatirt hat, sinkt, nach Untersuchungen von Verhaeghe,
der Kohlensäuregehalt der Seeluft auf circa 0-025 Percent; dieser Autor fand bei
seinen in Ostende angestellten Beobachtungen, dass Kalk- und Barytwasser bei
Seewinden nicht getrübt wurde, wohl aber bei Landwinden. — Nach einigen
Beobachtungen soll übrigens die Luft über dem Meere bei Tage etwas mehr
Kohlensäure enthalten als bei Nacht. — Wenn wir ferner die Seeluft als ausser-
ordentlich „rein" bezeichnen , so meinen wir damit nicht nur das Fehlen aller
groben staubförmigen Beimengungen sowie aller Miasmen, sondern auch den
Mangel jener lediglich durch den Geruchssinn nachzuweisenden, chemisch nicht zu
definirenden Stoffe, welche im Wesentlichen die „dumpfe" oder „schlechte" Be-
schaffenheit der Luft ausmachen. Charakteristisch für die Seeluft ist ihr Reichthum
an Wasserdampf (in Folge der bedeutenden und durch die beständigen Luft-
strömungen noch unterstützten Verdunstung von der grossen Wasserfläche aus),
ferner ihr Gehalt an Chlor- und an chemisch noch nicht festzustellenden Riech-
verbindungen ; ob auch - Jod- und Brom verbin düngen vorhanden sind , ist noch
zweifelhaft. Demnach charakterisirt sich in chemischer Beziehung die Seeluft als
eine sehr reine , wasser- und kochsalzreiche , relativ kohlensäurearme atmo-
sphärische Luft.
4. Die Bewegung der atmosphärischen Luft ist über und an der See
eine sehr intensive. Während über dem offenen Meere durch das von keiner
Bodenerhebung abgeschwächte, durch keine Terrainformation modificirte Wehen
der Winde eine lebhafte Luftcirculation bedingt wird, kommt an den Küsten noch
die durch ungleichmässige Erwärmung der Land- und Seeluft bedingte , ziemlich
regelmässig eintretende Abwechslung von Land- und Seewinden hinzu. Da nämlich,
wie oben erwähnt, die See und die über ihr befindliche Atmosphäre eine mehr
gleichmässige Temperatur zeigen, während die des festen Landes und der Landluft
von der zu- und abnehmenden Erwärmung seitens der Sonne schnell beeinflusst
werden, so wird sich auf dem Festlande, sobald sich Morgens die Erwärmung
durch Insolation bemerkbar macht, ein Aufsteigen der erwärmten Luft einstellen,
also eine Luftverdünnung, aus welcher notwendigerweise eine Aspiration der
dichteren, über dem Meere lagernden Luft, d.h. ein Seewind resultirt; letzterer
weht von etwa 9 Uhr Morgens bis gegen 5 Uhr Abends. Dann tritt, unter normalen
Verhältnissen, eine kurze Windstille ein und demnächst das entgegengesetzte Ver-
hältniss : starke Abkühlung der Erdoberfläche und daher Abkühlung und Verdichtung
der über ihr befindlichen Luft, welche nach der dünneren über dem Meere lagernden
Luft hin aspirirt wird, d. h. Landwind, der bis gegen Morgen hin weht, um
446 SEECLIMA.
dann, nach kurzer Windstille, dem Seewinde wieder Platz zu machen. Dieser regel-
mässige Wechsel zwischen Land- und Seewind wird natürlich durch abnorm intensive
Winde in mannigfacher Weise modificirt.
Fassen wir nach alledem die Eigenschaften der Seeluft zusammen, so
stellt sie eine dichte, sehr reine, wasserreiche, gleichmässig temperirte und milde
Luft dar, welche sich in fast beständiger Bewegung befindet.
Wenn es sich um die Bestimmung der specifischen physiologischen
Wirkungen der Seeluft handelt, so stösst man auf den allen climatologischen
Untersuchungen anhaftenden empfindlichen Mangel, nämlich das Fehlen ausreichender,
auf ganz präciser Fragestellung beruhender experimenteller Arbeiten. Die hierdurch
bedingte grosse Lücke muss, so gut es angeht, durch die Berücksichtigung der
von der ärztlichen Erfahrung gelieferten Ergebnisse ausgefüllt werden.
Ob der (im Verhältniss zum Tiefebenenclima) doch immerhin nur geringen
Zunahme des Luftdruckes ein Einfluss auf die Functionen und den Stoffwechsel
des Körpers beim Aufenthalt im Seeclima zuzuschreiben ist, dürfte mehr als zweifelhaft
erscheinen. Eine Beeinflussung der Circulation ist für die relativ geringen Dichtig-
keitsdifferenzen, um welche es sich hier handelt, nicht constatirt. Was die Respiration,
speciell die Sauerstoffaufnahme anlangt, so ist es a priori einleuchtend, dass letztere
von dem etwas grösseren oder geringeren Druck der atmosphärischen Luft unab-
hängig sein muss, da ja der Sauerstoff vom Blute nicht einfach absorbirt, sondern
zum grössten Theil chemisch gebunden wird, und zwar an das Hämoglobin der
rothen Blutkörperchen. Hierdurch wird es bedingt, dass die Sauerstoffaufnahme
so gut wie ganz unabhängig vom Partialdruck dieses Gases im geathmeten Medium
erfolgt ; eine Erhöhung des atmosphärischen Druckes befördert zwar die Aufnahme
von Sauerstoff in das Blut, aber nur entsprechend der Absorption dieses Gases in
Flüssigkeit nach dem Henry-D ALTON'schen Gesetz , also ohne die Bindung des
Sauerstoffes an das Hämoglobin zu befördern (P. Bert).
Eine andere, wenigstens wahrscheinlich auf den erhöhten Luftdruck zu
beziehende Wirkung der Seeluft hat Beneke (Deutsches Archiv für klin. Med.
Bd. XIII ; pag. 80 ff.) durch eine Versuchsreihe festgestellt. Dieser Autor
suchte zu bestimmen, wie sich die Wärmeverluste des Körpers während einer
bestimmten Zeit in der Seeluft und in der Continentalluft verhalten; zu diesem
Zwecke wurde ermittelt, innerhalb welcher Zeit Wasser von einer bestimmten
Temperatur, das sich in einer mit bestimmten Umkleidungen von Leinen, Shirting,
Flanell versehenen Flasche befand, sich um eine bestimmte Anzahl von Graden
abkühlte, wenn diese Flasche nacheinander im Seeclima, im continentalen und im
alpinen Clima der Beobachtung unterzogen wurde. Es fand sich das überraschende
Resultat , dass der Wärmeabfluss am Nordseestrande viel rascher erfolgte als an
den übrigen Standpunkten mit Einschluss alpiner Höhen über 6000 Fuss ; letztere
Thatsache ist um so auffallender , als während der Beobachtungszeit die Luft-
temperatur im Gebirge fast überall geringer, der Feuchtigkeitsgehalt der Luft fast
durchgehends bedeutender war als am Seestrande. Auch eine etwaige Differenz
in der Intensität der Luftströmungen kann für die Erklärung nicht herbeigezogen
werden, da auf dem Rigi sogar während eines heftigen Sturmes die Abkühlung
wesentlich langsamer erfolgte als bei Sturm an der Seeküste. So bleibt nach des
Verfassers Ansicht lediglich die Differenz des Luftdruckes für die Erklärung dieser
Differenzen in der Wärmeleitung übrig , und Verfasser glaubt demnächstigen
physikalischen Untersuchungen die Entscheidung der Frage anheimstellen zu
müssen, ob durch künstlich comprimirte Luft die Wärme besser geleitet wird als
durch verdünnte.
Dass die fast absolute Reinheit der Seeluft von wesentlichstem Einfluss
auf Respiration und Stoffwechsel sein muss, leuchtet ohne Weiteres ein ; ja, manche
Autoren legen auf diesen Punkt den Hauptnachdruck behufs Erklärung der thera-
peutischen Wirkungen des Seeclimas. Wenn wir endlich noch bemerken, dass trotz
der hohen relativen Feuchtigkeit der Seeluft, durch welche ihre Evaporationskraft
SEECLIMA. 447
und damit ihre erregende Wirkung vermindert wird, andererseits doch ver-
mittelst der lebhaften Luftströmungen die Wärme- und Flüssigkeitsabgabe seitens
des Körpers befördert und dadurch ein gewisser Grad von Erregung bedingt wird
(siehe Art. „Clima", Bd. III, pag. 319), so glauben wir Alles erschöpft zu haben,
was über die factischen oder präsumirten Wirkungen der einzelnen climatischen
Factoren der Seeluft zu sagen wäre.
Was nun die Totalwirkung eines Aufenthaltes im Seeclima anlangt, so
kann man tagtäglich beobachten, dass bei Individuen, bei denen nicht eine der
sogleich zu erwähnenden Contraindicationen vorliegt, der Appetit und demgemäss
auch, bei passender Nahrungszufuhr, das Körpergewicht zunimmt; nach Beneke
tritt gleichzeitig Steigerang des Harnstoffgehaltes des Harnes ein, eine Thatsache,
die in der vermehrten Zufuhr von Albuminaten ihre Erklärung findet. Diese
Wirkungen, in Verbindung mit einem günstigen Einfluss auf den Schlaf, sowie
auf die Ernährung und Kräftigung specieli des Hautorganes, charakterisiren den
Genuss des Seeclimas als tonisirendes Mittel und differiren nur durch ihre geringere
Intensität von den aus dem combinirten Einfluss der Seeluft und des eigentlichen
Seebades resultirenden (vergl. den Artikel „Seebäder"). Nach dem, was wir oben
über den Einfluss der einzelnen Factoren des Seeclimas angeführt haben , unter-
lassen wir den Versuch, diese Totalwirkung mit den einzelnen climatischen Factoren
in einen causalen Zusammenhang zu bringen; die exacten Vorarbeiten für einen
solchen Versuch liegen noch nicht genügend vor.
Die Contraindicationen des Genusses der Seeluft ergeben sich aus der
Erwägung, dass ein tonisirender Effect nur da möglich ist, wo die dem Stoffwechsel
dienenden Organe und Organsysteme auf die der Seeluft eigenthümlichen Reize
noch genügend und ohne zu grosse Anstrengung zu reagiren vermögen. Wenn es
sich beim Aufenthalt im Seeclima lediglich um den Genuss einer ausserordentlich
reinen Luft handelte, so läge, abgesehen von dem im individuellen Falle gebotenen
Rücksichten auf leichte Erreichbarkeit des betreffenden Ortes, auf Comfort u. dgl.
kein Grund vor, irgend einen chronisch Kranken vom Genüsse dieses Heilmittels
auszuschliessen ; aus dem soeben angeführten Grunde aber müssen wir eine gewisse
Intactheit der lebenswichtigen Organe für eine nothwendige Vorbedingung beim
Gebrauche einer Luffccur an der See halten. Hier hängt jedoch sehr viel von der
individualisirenden Kunst des behandelnden Arztes ab. Beispielsweise wird für
einen Kranken mit einem chronischen Leiden der Schleimhaut des Magens die
Seeluft an und für sich contraindicirt sein, da ja hier der Körper auf die lebhaften
Reize des Seeclimas nicht mit vermehrter Aufnahme und Verarbeitung von Nahrung
reagiren kann ; durch Combination mit dem Trinken eines geeigneten Mineral-
wassers werden sich aber auch hier unter Umständen noch günstige Erfolge
erzielen lassen.
Es ist namentlich das Verdienst von Beneke, in wiederholten Publicationen
auf die Seeluft als ein hochwichtiges Mittel zur Beseitigung ererbter oder acquirirter
Schwächezustände hingewiesen zu haben. In einer neuesten Schrift („Die sanitäre
Bedeutung des verlängerten Aufenthaltes auf den deutschen Nordseeinseln, insonderheit
auf Norderney". Norden und Norderney 1881) geht Verfasser noch einen Schritt weiter.
Nachdem er specieli die climatischen, hygienischen etc. Verhältnisse der Nordseeinsel
Norderney einem genauen Studium unterworfen, weist er einmal auf die relativ geringe
Schwindsuchtsmortalität der Bewohner dieser Insel hin , zeigt er ferner , dass die
climatischen Verhältnisse dort auch im Winter sehr günstige sind, dass z. B.
die Winterkälte niemals so tief fällt als in Berlin und selbst in Frankfurt a. M.,
dass ferner bei dem an Frequenz vorherrschenden Südwest- und Nordwestwind
die Luft in den Herbst- und Wintermonaten oft von grosser Milde und Weichheit
ist.- Gestützt auf diese und andere Daten spricht Verfasser schliesslich die Ueber-
zeugung aus, „dass zunächst von einem auf die Monate October, November und
December prolongirten Aufenthalt, vielleicht aber auch von einer vollen Ueber-
winterung und eventuell von einem mehrjährigen Aufenthalt auf Norderney der
448 SEECLIMA. — SEEKRANKHEIT.
erheblichste Nutzen für die an constitutioneller Schwäche und den auf solchem
Grunde sich entwickelnden Lungenschwindsüchten in ihren Anfangsstadien Leidenden
erzielt werden kann", und er hat in diesem Winter (1881 — 82) mit einer Kranken-
colonie auf Norderney einen praktischen Versuch in dieser Richtung begonnen.
Uebrigens muss man , je nach der Widerstandsfähigkeit und Reizbarkeit
des betreffenden Individuums, bei der Auswahl des climatischen Curortes sorgfältig
individualisiren. In manchen Fällen wird ein Aufenthalt an der weniger bewegten,
von Waldungen umgürteten Ostsee von Erfolg sein, wo die Luft auf einer frei-
liegenden Nordseeinsel nicht vertragen wird. Sehr reizbaren Phthisikern in nicht
zu vorgerückten Stadien der Erkrankung ist das milde Clima der englischen Canal-
insel Wight in ihrem vor kalten Winden geschützten südlichen Theil häufig äusserst
wohlthuend, u. dgl. m.
Was schliesslich die Differenzen der Wirkung der See- und der Gebirgs-
luft, vom praktisch-ärztlichen Standpunkt aus, anlangt, so scheint es, dass der
Stoffwechsel durch einen Aufenthalt des Körpers im Gebirge weniger angeregt
wird als an der See; nach Beneke finden sehr irritable, sog. „nervöse" Naturen
im Gebirge mehr Vortheil als während eines Aufenthaltes an der Küste. Wo
dagegen der Organismus auf die kräftigeren Reize der Seeluft genügend zu reagiren
vermag, da wird die letztere häufig mit grösserem Vortheil Verwendung finden.
L. Perl.
Seekrankheit- Als Sea-sickness , mal de mer , Seekrankheit und mit
sonstigen Synonymen aus den Sprachen aller seefahrenden Nationen der Erde wird
jene eigenthümliche Indisposition bezeichnet, welche bei den meisten Menschen
ausschliesslich oder fast ausschliesslich durch die Bewegungen eines den Meeres-
wellen überlassenen Fahrzeuges hervorgerufen wird. Die Erscheinungen bestehen
einerseits in Schwindel, Ekelgefühl und dem Verlust einer Reihe motorischer
Impulse, andererseits in Magenreizung, Erbrechen und Stuhlverstopfung. In den
meisten Fällen gehen die gastrischen Erscheinungen den cerebralen voraus. Der
Intensität und Dauer nach kann man drei Gruppen von Seekranken unterscheiden.
Die umfassendste ist die, deren Angehörige, kurze Zeit nachdem' sie sich der See-
bewegung ausgesetzt haben, übel werden, mehrere Male den sämmtlichen Magen-
inhalt und etwas gallig-wässeriges Secret erbrechen und sich noch einige Stunden
oder den Rest des Tages übel und appetitlos befinden. Bei denen der zweiten
Gruppe setzt sich das Brechen und das nauseose Gefühl — gewöhnlich mit starker
Verstopfung verbunden — zwei bis drei Tage fort, worauf sie unter langsamem
Anfinden des Appetites genesen. Die der dritten Gruppe zugehörigen Unglücklichen
gewinnen weder den Tonus ihres Magens, noch die Disposition über ihr Ich wieder
und neigen, auch nachdem vollkommen ruhige See eingetreten ist, noch zu Rück-
fällen, so lange die Seefahrt dauert.
Welche Magen- und Gehirnzustände anatomisch der Seekrankheit zu
Grunde liegen, entzieht sich, da Todesfälle an uncomplicirten Fällen noch nicht
beobachtet worden sind, fast vollkommen der Discussion. Hinsichtlich des Magens
hat man von einem „Zustande von Erschlaffung" gesprochen, der auch palpatorisch
und percussorisch nachweisbar sein und mit dem Bleichwerden, der Unruhe und
dem kalten Schweiss, die dem eigentlichen Ausbruch vorausgehen, synchron ein-
treten soll. Subjectiv wird dieses Gefühl, als ob der Magen weit hinabhänge und
allen Tonus verloren habe, wohl von den meisten Seekranken empfunden. Die
„ungleiche Blutfüllung des Gehirns", welche man als anatomische Basis der cere-
bralen Phänomene anzusprechen liebt, kann man bekanntlich auch experimentell
— durch Schaukeln bei Kaninchen und Meerschweinchen — hervorrufen. Wie
beide Reihen von Erscheinungen, die Magenatonie und die cerebrale Poikilämie,
zusammenhängen, ist vielfach Object der Speculation gewesen, jedoch auch durch
neuere Experimente (Mc. Bride) nicht mit Sicherheit aufgeklärt.
Obgleich es wohl keinem Zweifel unterliegt, dass das veranlassende
Moment des ersten Uebelwerdens durch die doppelten Bewegungen des fahrenden
SEEKRANKHEIT. 449
oder vor dem Ankern schlingernden Schiffes (waving and rolling movement*)
hervorgerufen wird, erfordert der gleichzeitige Füllungszustand des Magens eine
eingehende Berücksichtigung hinsichtlich der Art des Erbrechens ; und die Festigkeit
des individuellen Wollens in Bezug auf den Fragepunkt, ob mit dem Eintritt einiger
Vomituritionen das Individuum nun wirklich als „krank" erklärt werden müsse.
Willensstarke Männer brechen bald nach den Mahlzeiten bei grober See nicht
selten, ohne doch dabei auch nur einen Moment die Disposition über ihr Thun
imd Lassen aufzugeben. Jedenfalls tritt, mit Ausnahme der "Wenigen, welche wir
oben als dritte Gruppe der Seekranken zusämmenfassten , in dem Sinne sei es
nach Stunden oder nach Tagen eine Gewöhnung an die schwindelerregenden
Bewegungen ein, dass auch Frauen und Kinder denselben als physiologischer
Existenzbedingung sich anpassen, im Allgemeinen an Seekrankheit aufhören zu
leiden und nun besonderer Anlässe bedürfen, um wiederholte Anfälle zu
bekommen. Die häufigsten dieser Anlässe sind:
1. Schnelle Bewegungen des Körpers; besonders rasches Aufrichten aus
horizontaler Lage oder Uebergang in dieselbe; schnelles Herauf- und Hinabgehen
der Cajütentreppe ; Beschäftigung mit Kofferpacken , Anziehen , Waschen. Diese
Momente, welche auch unter gewöhnlichen Verhältnissen ein leichtes Schwindel-
gefühl im Kopf erregen, lassen unter dem Einfluss der Schiffsbewegung den kalten
Schweiss ausbrechen, erzeugen starken Schwindel und Uebelkeit, gehen indess bei
Selbstüberwindung, ruhiger langsamer Bewegung und wenn der Magen nicht mit
flüssigen Massen gefüllt ist, ohne Erbrechen vorüber.
2. Die Augenblicke des Ueberganges vom festen Boden auf ein von den
Wellen bewegtes Fahrzeug, noch mehr aber von einem kleinen, dem Spiel der
Wogen lebhaft folgenden auf ein grösseres, langsam hin- und herschaukelndes
Schiff, erregen ein Gefühl von Hilflosigkeit, dessen man, ohne dass es zum Erbrechen
kommt, durch langsam eingenommene horizontale Lage Herr werden kann.
3. Der Umstand, dass unsere gewöhnlichen und auch in der Schiffskost
reichlich angebotenen Genussmittel: Thee, Caffee, Rothwein — vielleicht in Folge
ihres Tanningehaltes — lange im Magen verweilen, lässt denselben besonders früh
Morgens als einen atonischen, schlaffen, mit Flüssigkeit gefüllten Sack erscheinen.
Bei empfindlicheren Naturen reicht auf See gewöhnlich diese blosse Empfindung, bei
widerstandsfähigeren die Anregung der Schlingthätigkeit aus, um eine Explosion zu
veranlassen. Am häufigsten wird nach den ersten Bissen des „Luncheon" erbrochen.
4. Nach anscheinend vollkommener Accommodation an die Bewegungen des
Schiffes genügt oft die mit dem charakteristischen Schiffsdunst und den Speise-
gerüchen erfüllte Atmosphäre des Esssalons, der Duft der Closets oder von Anderen
erbrochenen Massen, um auch bei festen Naturen einen Brechact oder doch bei
Ueberwindung desselben einen Widerwillen gegen Essen anzuregen.
5. Endlich kann zum chronischen Anlass seekrankheitähnlicher Erschei-
nungen ein auf See erworbener Magencatarrh werden. Nicht selten wiederholt sich
die Erfahrung, dass, nachdem in einer zusammenreisenden Familie die Frau und
die Kinder genesen sind, oder richtiger sich der Schiffsbewegung accommodirt haben,
das Haupt der Familie seine Cabine aufsucht und angeblich „seekrank" und
unsichtbar den Rest der Reise zurücklegt. Ihm haben die pikanten, marinirten
und geräucherten Frühstücksspeisen einen Catarrh der Verdauungsorgane zugezogen,
welcher durch die Schiffsbewegung und die missverständlich als Hunger gedeuteten
und befriedigten üblen Magenempfindungen andauernd unterhalten wird.
Eine angemessene Grösse der Schiffe, Strenge gegen sich selbst, nicht
ohne Widerstand schon dem Einfluss massiger Schiffsbewegungen nachzugeben, Ver-
meidung heftiger und brüsker Körperbewegungen , Anwendung compacter , massig
mit Flüssigkeit angefeuchteter Nahrung am frühen Morgen statt der gebräuch-
lichen Flüssigkeitsmassen und einer blanden leicht verdaulichen Kost so lange die
Fahrt dauert, wird auch empfindlichen reizbaren Personen die Accommodation an
die Schaukelbewegungen leicht machen. Das Publikum verlangt indess natürlich
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. ^"
450 SEEKRANKHEIT. — SEEWEN.
Specifica gegen die Seekrankheit, und es darf, so wenig sich solche
auch bewährt haben , nicht mit vollständigem Stillschweigen über diesen
Punkt weggegangen werden. Man hat das Einhalten einer horizontalen Lage,
womöglich an dem mindest bewegten Punkte des Deckes und besondere Disciplini-
rungen des Magens empfohlen. Von beiden Vorbeugungsmitteln kann man sich nur
bei ganz kurzen Fahrten einigen Erfolg versprechen. Auf längerem Curse duldet
weder die Schiffsdisciplin noch der eigene Stoffwechsel das Verharren in der einmal
eingenommenen Position, und bei nothwendig werdenden Ortsveränderungen wird
der Apathische zu seinem Schaden um so heftiger wahrnehmen, dass er durch seine
Passivität die Accommodation an die Schiffsbewegung nur hinausgeschoben hat. Das
vollkommene Leerhalten des Magens ist nicht durchzusetzen, da derselbe sich von
selbst mit eigenen und mit Duodenalsecreten füllt und in Ermangelung anderen
Inhaltes diese durch Brechbewegungen von sich giebt. Es wird deshalb, besonders
auch von vielen seefahrenden Aerzten, das Erbrechen per os eingeführter Flüssig-
keiten jenem Gallen- und Schleimerbrechen vorgezogen. Die gegen Seekrankheit
am häufigsten empfohlenen medicamentösen Mittel sind: Eis, kalter Cham-
pagner, Senfteige, salinische Abführmittel, Ammoniumpräparate, aromatische Bitter-
stoffe, Bromsalze, Amylnitrit (allerlei daraus bereitete Specifica : „Navigantine" etc.),
Coffeinum citricum, Cognac, Rothwein, Aq. amygdal. amar. und Aq. Gerasorum,
Mixturen dieser beiden mit abführenden Tinkturen; endlich Morphiuminjectionen,
Atropininjectionen, Chloral. Der innerliche Gebrauch von Opiaten, der auch eine
Zeitlang en vogue war , ist jetzt wohl — mit Rücksicht auf die daraus resul-
tirenden dauernden Verdauungsstörungen — allgemein verlassen. Das Chloral hat
den Erwartungen , die man von ihm hegte , nicht im geringsten entsprochen , da
der schlummersüchtige Zustand, den es während des Tages erzeugt, sowohl bei
einfachem spontanem Nachlass, als beim Einnehmen von Nahrung, Vornahme der
nothwendigsten Ortsbewegungen etc. meistens sofort in die wehevollsten Schwindel-
und Brechbeschwerden übergeht. Bei ganz besonderer Reizbarkeit und dauerndem
Uebelbefmden ist von kleinen Morphiuminjectionen noch am ehesten eine Aenderung
zu erhoffen, immer aber bald auch hiervon Abstand zu nehmen und festzuhalten,
dass es sich nicht um eine medioamentös zu behandelnde Krankheit, sondern um
dieüeberwindung einer durch ungewohnte Lebensbedingungen hervorgerufenen,
durch Schonung des Magens und Selbstbeherrschung am ehesten zu besiegenden
Indisposition handelt. Wernich.
Seelenblindheit, Seelentaubheit. Diese von H. Munk eingeführten Aus-
drücke bezeichnen den experimentell bei Thieren herbeigeführten Zustand des
Verlustes des Erinnerungsbildes für die Gesichts-, resp. Gehörsempfindungen
(Amnestia optica und acustica). Der Zustand wird, einseitig oder bilateral, durch
Zerstörung gewisser Theile der betreffenden psychooptischen und psychoacustischen
Centren („Sehsphäre", „Hörsphäre") herbeigeführt, und zwar entsteht derselbe bei
nicht völliger, sondern auf den centralen, mittleren Theil der Seh- oder Hörsphäre
beschränkter Zerstörung. Bei einseitiger Vornahme der Zerstörung ist in Folge
dessen auf dem Sinnesorgan der gegenüberliegenden Seite bei den Versuchsthieren
(Hunden, Affen) die bewusste Gesichts- oder Gehörsempfindung erloschen; die
Thiere erkennen mit dem afficirten Auge die Objecte, z. B. Futter, als solche
nicht mehr, trotzdem sie dieselben wahrnehmen ; sie hören mit dem afficirten Ohre,
ohne den Ruf zu verstehen und ihm zu folgen. Jedoch gleichen sich die Störungen
in diesem Falle allmälig wieder aus, die Thiere lernen wieder sehen und hören,
indem wahrscheinlich eine Compensation durch vicariirendes Eintreten der unver-
letzt gebliebenen an Stelle der verletzten Rindenabschnitte stattfindet. (Vgl. auch
„Aphasie", I, pag. 446.)
Seewen, 461 M. über Meer, Bad in der Nähe des Lowerzersee's , mit
erdiger, kohlensäurearmer, kalter Eisenquelle und zwei Curhäusern.
Literatur: Simmler, Chemische Untersuchungen. 1867. B. M. L.
SEGURA. — SEHNEN. 451
Seglira, Arragonien, südöstlich von Daroca, mit Quelle von 24° C, worin
etwas Erdsulfate sind, Bad und bequemer Unterkunft. B M L#
Seimen. Sehnenluxationen — seit W. Cooper und Monteggia ver-
lässlich beobachtet — wurden in grösseren Reihen nur an wenigen Sehnen angetroffen.
Sogar jene der Sehne des langen Kopfes des Biceps wird bestritten , und einmal
als Contusion des subacromialen Schleimbeutels (Jarjavay) gedeutet, das andere
Mal als Folge einer chronisch - rheumatischen Arthritis (Adams) hingestellt. —
Unbestritten bleiben blos die traumatischen Verrenkungen der beiden Antagonisten,
des M. tibial. post. und der Peronaei. Der Mechanismus beider setzt nach den
berichteten Fällen eine active Muskelaction und in einem Falle eine heftige
Supination, im anderen eine Pronation des Fusses. Eine Abflachung der die Sehnen
zurückhaltenden Rnochenleisten an der Tibia, resp. Fibula begünstigt das Zustande-
kommen der Luxation. Die Sehnen sind als rollende Stränge auf den betreffenden
Malleolen sieht- und tastbar , meist leicht reponirbar , schwer in ihrer normalen
Lage , ausser durch passende Fussstellung und Bandage zurückzuhalten. Ein
Sehnenscheidenriss wird vorausgesetzt; das Einrollen der Rissränder mag den
Grund der öfters beobachteten (in sieben Fällen) Nichtheilung abgegeben haben.
Nach der Zusammenstellung von Matdl kommt die Verletzung am häufigsten
im mittleren Lebensalter vor , häufiger links als rechts, und in einem Drittel der
Fälle auch beim weiblichen Geschlechte. In frischen Fällen war die Heilung —
wenn sie gelang — in 5 — 6 Wochen beendet; in veralteten wurde bisher nur
in einem Falle von Albert durch Aushöhlung der seichten Knochenrinne dauernde
Heilung erzielt.
Sehnenrupturen, zuerst von Galen beobachtet, von Sedillot zuerst
wissenschaftlich bearbeitet, verdanken ihre Entstehung einem verschiedenen Mecha-
nismus. Nach einer Studie von Maydl (Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie 1882)
ist ein Sehnenriss durch passive Dehnung der Sehne eines nicht activen Muskels
nicht verbürgt beobachtet, ausser bei krankhaften Verkürzungen derselben. Immer
bildet die active (willkürliche oder reflectorische Schutz-) Contraction des zuge-
hörigen Muskels einen wesentlichen Factor; sie allein kann genügen — ebenso
wie bei den analogen Rissfracturen — oder es werden die Anheftungspunkte des
Muskels durch eine fremde Gewalt (auch das eigene Körpergewicht) entfernt, und
zwar in der Richtung des Muskels (beim Quadriceps z. B. in der Richtung der
Flexion und Extension) oder in einer darauf senkrechten (Rotation des Körpers
gegen den festgestellten Unterschenkel). Von Rupturen wurden die meisten Sehnen
befallen gefunden; von öfters beobachteten nennen wir jene des Sternomastoides,
Rectus abdominisi Biceps hrachii, Triceps brach., der Fingerstrecker, Psoas,
vor Allem aber jene der Sehne des Rectus femoris (oder des ganzen Quadriceps),
des Lig. patellae und der Achillessehne. Als Symptome sind zu nennen: ein
schnalzendes, klatschendes Geräusch (coup de fouet) bei der Entstehung, Diastase
der Rissenden , Suggillation , Ausfall der betreffenden Muskelfunction , das An-
schwellen des zusammengeschnellten, centralen Stückes (prägnanter aber bei Muskel-
rupturen vorkommend). Die Prognose ist bis auf die Rupturen des Rectus und
Psoas , welche öfters tödtlich abgelaufen sind , günstig auch quoad funetionem ;
doch wurde öfters die Verletzung verkannt oder übersehen, selbe blieb dann nicht
selten wegen der unzweckmässigen Behandlung ungeheilt, wurde zu einer „ver-
alteten". Die Therapie besteht in Annäherung der Rissenden, Ruhigstellung des
Muskels durch gegen die Rissstelle gerichtete Einwicklungen des Gliedes und
durch Behandlnng des die Sehnenstümpfe auseinanderdrängenden Extravasats
(Wattecompression), resp. Verhütung einer bedeutenden Zunahme desselben (Eis-
beutel). Veraltete Verletzungen wurden öfters schon durch Anfrischen und Naht
der Sehnenenden (am häufigsten an der Achillessehne) zur Ausheilung gebracht.
Albert.
29*
452 SEHNENSCHEIDEN.
Sehnenscheiden. Eine grosse Zahl von Sehnen der polyarthrodialen
Muskeln besitzt eine synoviale Einscheidung , die man sich nach dem Typus der
serösen Doppelsäcke vorstellen kann. Das viscerale Blatt dieser synovialen Scheide
überkleidet die Sehne, allerdings nur mit der Intima und verleiht der Sehne die
bekannte glänzende und schlüpfrige Oberfläche; das parietale Blatt bildet einen
cylindrischen Schlauch, in dem die Sehne frei auf und ab spielen kann. Der
Uebergang des parietalen zum visceralen Blatt findet am oberen und am unteren
Ende der Scheide unter Bildung gewisser constanter Einfaltungen statt; an
manchen Sehnen ist überdies noch ein Mesotendon vorhanden, indem vom parietalen
Blatt der Länge nach eine Duplicatur zur Sehne ebenso zieht, wie das Mesen-
terium zum Darme. Da alle Sehnen subfascial liegen, so sind auch die Sehnen-
scheiden von den Fascien bedeckt ; die Verstärkungen der letzteren , die sich
gerade dort vorfinden , wo die Sehnenscheiden ziehen , bilden , indem sie wie am
Dorsum carpi und um das Sprunggelenk herum, zwischen je zwei Sehnen noch
Sepimente schicken, gewissermaassen eine fibröse Sehnenscheide, die mit der inneren
synovialen fast untrennbar verwachsen ist. Die fibröse Scheide ist selbstverständ-
lich nicht ein vollständiger Cylinder, wie die synoviale, sondern nur ein Theil der
Mantelfläche eines solchen ; ferner ist die fibröse Scheide in der Regel auch nicht
so lang, wie die synoviale und endlich hat die fibröse Scheide auch hie und da
Lücken. Jener Theil der synovialen Scheide, der oben über die fibröse sich
hinaus erstreckt , heisst nach Heineke die obere Pforte ; jener , der unten über
die fibröse weiter hinausgeht, die untere Pforte ; an jenen Stellen, wo die fibröse
Scheide in ihrem Verlaufe eine Lücke hat, besteht eine Zwischenpforte.
Die Erkrankungen der Sehnenscheiden wiederholen jene Typen, die
man an den Synovialkapseln der Gelenke und an den Schleimbeuteln findet. Man
unterscheidet demnach :
1. Eine Tendovaginitis serosa acuta; die Scheide füllt sich
rasch mit einem serosynovialen Erguss unter begleitenden Entzündungserscheinungen ;
diese Form ist im Ganzen selten.
2. Eine Tend ovaginitis serosa chronica ; die Scheide füllt
sich allmälig und ohne Entzündungserscheinungen mit einem synovialen Erguss ;
ebenfalls selten.
3. Eine Tendovaginitis suppurativa; nach Eröffnung der Sehnen-
scheide , aber auch spontan (an den Fingern als Sehnenpanaritium mitunter
endemisch) auftretend, ein Process, der hänfig zur Necrose der Sehne und zu
dissecirenden Eiterungen führt.
4. Eine Tendovaginitis crepitans, analog der crepitirenden
Entzündung an den Gelenken; in der Scheide entstehen unter Schmerz und ganz
leichter Schwellung Gerinnungen der Exsudatmasse, welche bei Bewegungen und
Berührungen der Sehne ein oft erstaunlich deutliches schnurrendes Geräusch
erzeugen. Eine mehrere Tage anhaltende Ruhe des Gliedes bringt diese durch
Ueberanstrengung hervorgerufene Entzündung zum Schwinden.
5. Hygrom der Sehnenscheide, ganz analog dem Hygrom der Schleimbeutel
(s. diese) , oft mit grossen Mengen von Reiskörperchen , aber nie mit jenen hoch-
gradigen Wandverdickungen , wie an den Schleimbeuteln. Sie kommen bei manchen
Individuen ohne bekannte Veranlassung, oft symmetrisch auf beiden Körperseiten vor.
6. Fungus der Sehnenscheide, ganz analog der Fungus der Synovial-
haut der Gelenke; die synoviale Scheide wandelt sich allenthalben in fungöses
Gewebe um, in welchem sich mikroskopisch Tuberkeln nachweisen lassen.
In wenigen Fällen wurde auch kalter Abscess der Sehnenscheiden beob-
achtet, der sich zum Fungus so verhalten mag, wie der kalte Abscess der Gelenke
zu dem Fungus derselben.
Eine Art von Ganglien gehört zu den Erkrankungen der Sehnenscheiden, nämlich
jene, wo eine herniöse Vorstülpung der synovialen Scheide durch eine Zwischenpforte statt-
findet. Auffallend ist der glasige Inhalt der Ganglien.
SEHNENSCHEIDEN. 453
Alle die genannten Erkrankungen der Sehnenscheiden sind leicht zu
erkennen ; denn sowohl jeder flüssige Erguss , als auch die fungöse Wucherung
der Scheide halten die anatomischen Grenzen der Scheiden ein und es gehört nur
die genaue Kenntniss der Anatomie dazu , um sofort aus der Lage und Gestalt
der Geschwulst den Sitz der Krankheit zu erkennen.
Die Behandlung ist im Ganzen sehr einfach. Bei allen acuten Entzün-
dungen ist Ruhe des Gliedes, Fixirung der Gelenke in derjenigen Stellung, bei
der die Sehne nicht gespannt ist, und Kälte nöthig. Ist die Entzündung eitrig,
so ist frühzeitige Eröffnung der Scheide durchaus nöthig, um der Necrose der
Sehne vorzubeugen. Am besten legt man die Incision an der oberen Pforte an;
denn , wie ich mich überzeugt habe , sind die hier vorkommenden und von mir
zuerst beschriebenen Falten der Synovialhaut ungemein gefässreich und geben
Gefässe an die Sehnen ab ; hier muss die Incarceration der Gewebe zunächst
behoben werden.
Bei chronischen , serösen Ansammlungen ist Compression das einzige
unblutige Mittel, nur pflegt sie äusserst langsam zu wirken. Bei Vorhandensein
von Reiskörpereken bleibt nichts übrig, als die Spaltung und Ausräumung der
Höhle unter antiseptischen Cautelen. Beim Fungus kann nur durch Exstirpation
Heilung erzielt werden.
Was nun die einzelnen Sehnenscheiden betrifft, so ist Folgendes zu bemerken :
a) An den phalangealen Scheiden der Finger beuge r kommt
fast nur die eitrige Tendovaginitis als Sehnenpanaritium vor. Es entsteht
nach Verletzungen , insbesondere nach Stichen , zumal mit unreinen Werkzeugen,
tritt auch spontan auf und ist durch folgende Symptome vor den anderen Formen
des Panaritium ausgezeichnet. Die Entzündungserscheinungen erstrecken sich an
der Beugeseite der Phalangen , hier ist die Haut bis dunkelroth , heiss , während
in der Streckseite des Fingers nur leichtes Oedem ist; ferner zieht die Röthe
der Haut und die Schwellung der Schichten über alle drei Phalangen bis gegen
die Mitte der Hohlhand, da die Scheide sich bis hieher erstreckt ; der Finger ist
an allen Gelenken schwach gebeugt, ausserordentlich heftige Schmerzen und ein
hohes Fieber sind bis zum Durchbruch anhaltend. Sowie die Diagnose auf
Eiterung gestellt ist, muss die Sehnenscheide an ihrer oberen Pforte eröffnet
werden, es ist gut, noch eine zweite Oeffnung über der Mittelphalange anzulegen.
Fungus an den phalangealen Scheiden ist ein recht seltenes Vorkomm-
niss. Er hat dieselbe Ausdehnung bis in die Hohlhand, nur fehlen alle Ent-
zündungserscheinungen der Decken und die Fluctuation.
b) An der grossen carpalen Scheide, welche zwischen dem Lig. carpi
volare und dem Handgelenke liegt und die hier durch straffes Bindegewebe
aneinander zu einem Bündel befestigten Sehnen beider Beuger von drei Seiten
umgiebt, kommen höchst ansehnliche Hygrome vor, welche zum grösseren Theile
in der Hohlhand, zum kleineren Theile auf der Beugeseite des Vorderarms sich
so erstrecken, dass di3 beiden Hälften durch das Lig. carpi quer eingeschnürt
sind. In allen grösseren Hygromen dieser Scheide sind Reiskörperchen zu finden,
daher Heilung dieses Hygroms nur durch Incision möglich.
Wenn eine eitrige Entzündnng von einer phalangealen Scheide bis auf
die carpale übergreift, so entsteht ein schwerer, tiefgelegener Hohlhandabscess,
der unter dem Lig. carpi bis auf die Beugeseite des Vorderarms übergreift und
nach Durchbruch der oberen Pforte in das intermuskuläre Gewebe des Vorderarms
schwere Vorderarmphlegmonen herbeiführen kann.
c) Neben der grossen carpalen Scheide liegt die eigene Scheide des
Flexor pollicis , die sich über die Phalangen und den Mittelhandknochen des
Daumens unter das Lig. carpi und bis an die Beugeseite des Vorderarms erstreckt.
Sie stellt also die Vereinigung einer phalangealen mit einer carpalen Scheide vor.
Es kommen an ihr nur acut eitrige Entzündungen vor, deren Symptome nach
dem früher Gesagten leicht zu construiren sind.
454 SEHNENSCHEIDEN. — SEHPRÜFUNGEN.
(1) Am Dorsum carpi liegt die grosse gemeinschaftliche Scheide des
Fingerstreckers. Sie lauft nach unten in vier Zipfel aus, indem sie die Einzel-
sehnen der vier Finger begleitet und reicht, unter das Lxg. carpi dorsale
tauchend, auf die Streckseite des Vorderarms hinauf. Demnach sind die Hygrome
derselben ebenfalls aus zwei Antheilen zusammengesetzt, welche durch das Lig.
carpi dors. quer geschieden sind ; meistens zeigt die Geschwulst nach unten hin
zwei oder auch drei Zipfel, kaum je sind alle vier gefüllt.
In sehr seltenen Fällen findet sich hier Fungus vor.
e) An den Sehnenscheiden der übrigen am Dorsum carpi ziehenden
Muskeln kommen in der Regel nur Ganglien vor.
f) Um das Fussgelenk herum liegen die ansehnlichen und in ihrem Bau
interessante Details bietenden Scheiden der Tibiales , der Peronaei und der Zehen-
muskeln. Am häufigsten finden sich hier Erkrankungen der Peronäalsehnen , und
zwar in Form des Hygroms. Es findet sich dann eine den Fibulaknöchel hinten
umgreifende, wurstförmige , nach vorn concave Geschwulst vor , die der Therapie
durch Compression meist einen sehr hartnäckigen Widerstand setzt. Am Tib. ant.
kommt nach anhaltenden Märschen die crepitirende Entzündung vor.
Selmenflecke, s. „Herzkrankheiten", VI, pag. 501.
Sehnenschnitt, s. „Tenotomie".
Sehprüfungeil. Um über die Functionstüchtigkeit eines Auges ein richtiges
Urtheil abgeben zu können , hat der Augenarzt verschiedene Einzelprüfungen
anzustellen , deren Resultate combinirt ein Bild von der Leistungsfähigkeit des
betreffenden Auges vermitteln. Ist der Grad der Functionsthätigkeit eines Auges
bestimmt, so muss derselbe mit dem objectiven Befunde, wie ihn die Unter-
suchung der äusseren Gebilde des Bulbus durch einfache Inspection, dann Inspection
mit seitlicher Beleuchtung und die ophthalmoskopische Untersuchung liefert,
zusammengehalten werden und erst auf Grundlage der Vergleichung beider Resultate,
durch Zusammenhalten des eruirten objectiven Befundes und der supponirten
anatomischen Veränderung mit der Sehstörung, dem subjectiven Befunde, können
Schlüsse gezogen werden, welche für die wissenschaftliche Beurtheilung vor-
liegender Krankheitsprocesse, für Prognose und Therapie von entscheidender Be-
deutung sind.
Wenn wir in diesem Abschnitte von dem Zusammenwirken beider Bulbi,
von dem binoculären Sehen und dessen Störungen absehen wollen und nur immer
ein Auge als Individuum berücksichtigen, so sind die Punkte, auf welche wir bei
der Prüfung der Functionstüchtigkeit unsere Aufmerksamkeit zu lenken haben:
1. die centrale Sehschärfe; 2. die periphere Sehschärfe; daran anschliessend
3. das Gesichtsfeld; 4. der Farbensinn und 5. der Lichtsinn.
Von den genannten Punkten erscheint wohl auf den ersten Blick als der
wichtigste die centrale Sehschärfe, weil diese es ist, von deren In tactheit im
Allgemeinen die Leistungsfähigkeit eines Auges abhängt ; doch lehrt die alltägliche
Erfahrung des Augenarztes, dass auch bei völlig intacter centraler Sehschärfe sehr
ernste Erkrankungen, ja ungenügende Functionsfähigkeit des Auges bestehen kann,
welch letztere dann bemerkbar wird, wenn das Gesichtsfeld und der Lichtsinn
erhebliche Störungen aufweisen. Aus diesem Grunde ist eine Functionsprüfung
des Auges nur dann vollständig, wenn sie sich auf alle oben aufgezählten fünf
Punkte erstreckt.
Als einen besonders instructiven Fall ans meinem gegenwärtigen Beobachtungs-
material hebe ich den einer 44jährigen Patientin hervor , welche seit ungefähr 10 Jahren
eine jedenfalls gutartige Sehnervengeschwulst der rechten Seite mit sich herumträgt, mit
Protrusio bulhi, die in der letzten Zeit besonders rasch zunimmt. Auf der anderen Seite ist
seit circa zwei Jahren ein atrophischer Zustand des Sehnerven, hervorgegangen ex neuritide
opt., aufgetreten, wahrscheinlich in Folge Bedrängung des linken Sehnerven, bedingt durch die
über das Chiasma hinüberwuchernde Geschwulst. Das rechte Auge ist amaurotisch, das linke hat
normale centrale Sehschärfe, aber ein höchstgradig concentrisch verengertes Gesichtsfeld, so
SEHPEÜFUNGEN. 455
dass die Kranke factisch nur den Punkt sieht, dem sie gegenüber steht; ferner ist der Licht-
sinn beträchtlich herabgesetzt. Auf diese Weise ist die Kranke verhindert, trotz ihrer noch
ausreichenden centralen Sehschärfe, sich nur einigermaassen zu orientiren.
Dass Individuen mit Retinitis pigmentosa und mit verschiedenen Chorioidealleiden
sich Abends und überhaupt bei herabgesetzter Beleuchtung trotz einer verhältnissmässig
guten Sehschärfe nur schwer oder gar nicht orientiren können, ist bekannt und mag als
Illustration zum letzten Satze oben gleichfalls angeführt werden.
A. Die centrale Sehschärfe.
Aus der Physiologie ist bekannt, dass die lichtempfindlichen Theile der
Netzhaut in der hintersten (äussersten) Schicht derselben sich vorfinden. So weit
überhaupt ein physiologisches Factum gesichert sein kann , ist als sicher anzu-
nehmen, dass die Stäbchen und Zapfen jene Elemente sind, welchen als
Nervenapparate der Netzhaut die Function der Lichtempfindung übertragen ist.
Jeder Reiz, der ein lichtempfindliches Element trifft , wird , wofern er nur hin-
reichende Stärke besitzt, vom Centralorgane, wohin er durch die mit dem Stäbchen,
resp. Zapfengebilde in Verbindung stehenden Nervenfasern geleitet wird, als Licht-
eindruck empfunden, und zwar ist die Empfindung immer eine einheitliche,
mag auch der Reiz aus verschiedenen Reizquellen stammen , mag der Lichtreiz
die ganze Fläche des Zapfengebildes treffen oder nur einen beschränkten Theil
seiner Oberfläche. Nehmen wir an, es würden die Oberflächen eines Zapfens die
Bilder von zwei oder mehreren leuchtenden Punkten treffen, so würde dennoch
die Empfindung eine einheitliche sein, d. h. nur ein leuchtender Punkt wahr-
genommen werden, weil eine nervöse Faser zur selben Zeit nur einen Eindruck
fortleiten kann, den man als die Resultante der einzelnen Reizcomponenten betrachten
mag. Auch wenn zwei unmittelbar neben einander gelegene Endorgane vom
Reize getroffen werden, wird die Empfindung doch nur eine einheitliche sein, da
Erregungen zweier unmittelbar benachbarter Nervenfasern vom Centralorgane nicht
gesondert werden können. Zwei distincte Punkte der Aussenwelt werden vom
Sensorium nur dann als distinct wahrgenommen, wenn der Abstand ihrer Netzhaut -
bilder grösser ist, als die Breite eines Stäbchen- resp. Zapfenelementes. Im All-
gemeinen wird jedoch die Wahrnehmbarkeit eines ausgedehnten, genügend be-
leuchteten Objects von der Ausdehnung seiner Netzhautbilder, d. h. von der
Summe der vom Bilde getroffenen Stäbchen abhängen , und da diese Netzhaut-
gebilde nach der Krümmung einer Hohlkugel angeordnet sind, so wird auch das
Netzhautbild einen mehr minder grossen Antheil der Hohlkugelfläche einnehmen
und die Ausdehnung (Grösse) des Bildes durch jenen Winkel gemessen werden
können, unter dem die einzelnen Punkte der Bildeon touren vom optischen Mittel-
punkte des Auges abstehen , ein Winkel, der selbstverständlich mit jenem gleich-
werthig ist, unter welchem das Gesichtsobject von diesem optischen Mittelpunkte
aus gesehen wird. Es muss also einen kleinsten Winkel geben, unter dem ein
Netzhautbild eben noch distinet wahrgenommen wird, den man den Grenz-
winkel oder kleinsten Gesichtswinkel nennt. Wenn wir als den ein-
fachsten Fall eines ausgedehnten Gesichtsobjectes zwei leuchtende Punkte annehmen
wollen, welche in unendlicher Entfernung vom Auge sich befinden, wie z. B. Sterne,
so kann die Frage, wie nahe diese beiden Punkte einander sein können, um von
einem Auge noch getrennt wahrgenommen zu werden, vom Physiologen a priori
dahin beantwortet werden, dass die Entfernung nicht so klein sein darf, dass die
Netzhautbilder auf einen Zapfen, oder zwei an einander grenzende Zapfen fallen
würden. Die Bilder müssen durch den Durchmesser eines Zapfens von einander
getrennt sein. Da wir nun die Breite eines Zapfens aus den anatomischen Mes-
sungen annähernd kennen, so kann auch die Grösse dieses von der Theorie als
überhaupt möglich angenommenen kleinsten Grenzwinkels leicht berechnet werden.
Er beträgt etwas mehr als eine halbe Winkelminute, aber nur die wenigsten
Augen werden im Stande sein, sich mit einem solchen kleinsten Gesichtswinkel zu
begnügen, es wird ein grösserer Winkel erforderlich sein und der Grad der Seh-
tüchtigkeit oder Sehschärfe eines Auges steht demnach gerade im umgekehrten
456 SEHPRÜFUNGEN.
Verhältnisse zur Grösse dieses Grenzwinkels, denn je kleiner dieser Winkel ist,
desto mehr leistet im gegebenen Falle das Auge und umgekehrt. In der Eruirung
dieses Greuzwinkels liegt nun die Aufgabe der Seh schärf eprüfung.
So lesen wir iu Helmholtz' physiologischer Optik, pag. 215, dass nach den
Angaben von Hooke zwei Sterne, deren scheinbare Entfernung weniger als 30 Secunden
beträgt, stets wie ein Stern erscheinen, und von Hunderten kaum einer die beiden Sterne
unterscheiden kann, wenn ihre scheinbare Eutfernung weniger als 60 See. beträgt.
Da das menschliche Auge in Folge des für den Sehzweck besonders
günstig gestalteten Baues der Macida lutea, des Netzhautcentrums, die Licht-
eindrücke desselben in erster Reihe verwerthet, so hat die Eruirung der
centralen Sehschärfe für uns eine besondere Bedeutung, während wir die Prüfung
des peripherischen Sehens gewöhnlich mit der Gesichtsfeld prüfung gemeinsam
vornehmen.
Was nun den kleinsten Grenzwinkel anbelangt, so ist es nicht
schwer, zu beweisen, dass derselbe nicht ein- für allemal unveränderlich gegeben
sein kann, sondern dass seine Grösse sowohl für verschiedene Augen verschieden,
als auch von äusserlichen , wechselnden Bedingungen abhängig sein muss. Selbst
wenn wir annehmen, dass alle Angäpfel einen vollständig gleichen Bau besässen,
so muss es doch solche geben , bei denen die Netzhaut eine grössere als die
durchschnittliche Perceptionsfähigkeit besitzt, ebenso wie wir bei anderen Organen
in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit die grössten physiologischen Schwankungen
vorfinden. Je grösser demnach die Perceptionsfähigkeit eines bestimmten Seh-
organes ist, desto kleiner braucht unter übrigens gleichen Umständen (Beleuchtung,
Bau des Auges, Entfernung des Gesichtsobjectes u. s. w.) der Sehwinkel zu sein,
desto mehr nähert sich derselbe dem oben erwähnten, durch die Grösse der
Zapfen postulirten idealen Grenzwerthe.
Ausser von der Perceptionsfähigkeit , wird die Grösse des Grenzwinkels
noch vom Bau des Auges abhängen. Bei gegebener Entfernung des Gesichts-
objectes vom zweiten Knotenpunkte ist die Grösse des Netzhautbildes verschieden
je nach der Entfernung der Netzhaut vom zweiten Knotenpunkte. Desgleichen
wird die Grösse des Netzhautbildes durch Accommodation , durch Brillengläser
beeinflusst.
Ausserdem ist es noch die Durchsichtigkeit der Augenmedien, welche
hier in Betracht kommt, denn von ihnen hängt die Schärfe des Netzhautbildes
ab. Bei Trübungen der Medien des Auges wird das Netzhautbild verschwommen,
und in einem solchen Falle wird ein gewisser Grenzwinkel, der unter übrigens
gleichen Umständen genügen würde, nicht mehr ausreichend sein.
Was die äusseren Bedingungen anbelangt , welche die Bedeutung des
kleinsten Grenzwinkels modificiren, so sind es vornehmlich die Beleuchtung, die
Beschaffenheit und günstige Position der Gesichtsobjecte, die Reinheit der Luft u. dgl.,
welche hier in Frage kommen.
Aus dem Gesagten ergiebt sich nun, dass sich ein kleinster Gesichts- oder
Grenzwinkel als absolutes Maass für die Sehschärfe nicht aufstellen lässt, sondern
dass ein solcher, mit Berücksichtigung der aufgezählten Factoren, in jedem ein-
zelnen Falle erst gesucht werden müsste, um den Grad der Sehschärfe mathe-
matisch auszudrücken. Um nun trotz der namhaften, individuellen Schwankungen
zu einem praktisch verwendbaren Maass der Sehschärfe zu gelangen, ist man auf
Anregung Snellen's übereingekommen, einen Grenzwinkel von 5 Minuten als
Minimum der Leistungsfähigkeit eines normalen Auges aufzustellen. Es ist, wie
Snellen gezeigt hat, der gewählte Winkel ein willkürlich angenommener, für
den sich nur das anführen lässt, dass er, wenn man Individuen verschiedenen
Lebensalters untersucht, ungefähr die mittlere Sehschärfe repräsentirt. Wir werden
jedoch sehen, dass dieser Mittelwerth, zusammengehalten mit der Art und Weise
der von den Augenärzten meist geübten Sehschärfeprüfung, in vorzüglicher Weise
allen billigen Anforderungen, die wir in praktischer Beziehung stellen, entspricht.
SEHPRÜFUNGEN. 457
Als Probeobjecte hat Snellen Buchstaben angegeben, deren Dicke 1/6
ihrer Höhe beträgt, welche in einer solchen Entfernung vom Auge gehalten werden,
dass die von ihnen ausgehenden Lichtstrahlen als parallel betrachtet werden
können. Es muss dabei selbstverständlich die etwaige Ametropie des unter-
suchten Auges durch Gläser corrigirt werden. Das Princip der Untersuchungs-
methode lässt sich durch die Formel V = —-, wobei V (Visus) die Sehschärfe*),
d der thatsächliche Abstand, in welchem die Probebuchstaben noch erkannt werden
und D jene Entfernung , in welcher die Buchstaben unter einem Gesichtswinkel
von 5 Minuten erscheinen, bedeutet. Diese Formel ist das Resultat einer ein-
fachen geometrischen Erwägung, betreffs deren Ausführung wir die Leser auf die
Lehrbücher verweisen müssen. Würde z. B. ein gewisser Buchstabe der Snellen'-
schen Tafel in einer Entfernung von 50' unter einem Gesichtswinkel von 5 Minuten
erscheinen, so wäre seine Erkennung nach unserer Voraussetzung das Minimum,
das wir von einem gesunden Auge verlangen. Würde ein Auge jedoch den Buch-
staben nicht in 50', sondern nur in 20' Entfernung erkennen, so wäre in dem
20
Falle V =z -ttt, V demnach um mehr als die Hälfte herabgesetzt. Damit wir V
50
50
als normal betrachten könnten, müsste es == tk - sein, was so viel heisst, als
oO
dass der Buchstabe wirklich in 50' erkannt wird. Dasselbe gilt mutatis mutandis
von einem Buchstaben, der so gross ist, dass er in 200' unter dem ^ von 5°
erscheint u. s. w. Da aber gewöhnlich die Räumlichkeiten , in welchen die
Untersuchungen vorgenommen werden, beschränkt sind, so werden die in Zeilen
gedruckten Probebuchstaben in bestimmter Abstufung hinter einander, auf einer
Tafel angeordnet, und über jede Buchstabenzeile die Ziffer gedruckt, welche jene
Entfernung in Füssen bedeutet, in der die betreffende Reihe unter dem «^r von 5'
erscheint (man nimmt gewöhnlich hiezu eine römische Ziffer). Auf der gebräuch-
lichen SNELLEN'schen Tafel haben wir 7 Zeilen, die mit CC, C, LXX, L, XL,
XXX, XX bezeichnet sind. Wird der zu Untersuchende dieser Tafel auf XX
gegenübergestellt, so muss er nach Correction seiner Ametropie die letzte Zeile
20
gut erkennen, um V = -==r- zu besitzen. Desgleichen giebt es SNELLEN'sche Probe-
buchstaben , die für kleinere Entfernung als 20' construirt sind und in gleicher
Weise verwendet werden.
Man darf jedoch nicht glauben , dass die Brüche, welche wir bei Bestim-
mung der Sehschärfe erhalten, Zahlen sind, die wir in Rechnungen einsetzen
können, die wir überhaupt als mathematische Werthe betrachten können. Sie
lassen sich darum auch nicht abkürzen, und man darf auch nicht z. B. ( V = ^- \
20 1
gleich setzen V= 1, oder -^ nicht gleich setzen mit V==-^-. Man thut darum
gut, die erhaltenen Brüche so zu schreiben, dass der Nenner immer in römischen
Ziffern ausgedrückt ist. Diese Brüche sind einfache Bestimmungen, die nichts
mehr sagen, als in welcher Entfernung ein Auge den betreffenden SNELLEN'schen
Buchstaben gelesen hat, wodurch uns nicht allein die Möglichkeit gegeben wurde,
eine annähernde Schätzung der Sehschärfe zu machen, sondern auch die letztere
mit dem Ergebniss vorangegangener oder nachfolgender Prüfungen zu vergleichen.
Was aber diese Untersuchungsmethode so ausserordentlich bequem macht, ist
der Umstand, dass der untersuchende Augenarzt in seiner eigenen Sehschärfe ein
Maass für die Functionstüchtigkeit des untersuchten Auges besitzt. Man kann
immerhin annehmen, dass derjenige, der sich mit praktischer Augenheilkunde
beschäftigt, ein Auge besitzt, welches mindestens ein Durchschnittsmaass von
Leistungsfähigkeit besitzt. Da der Arzt mit dem Untersuchten die Sehschärfe-
*) Statt „ 7" wird noch vielfach „Su (Sehschärfe) gebraucht. Wir adoptiren jedoch
V als international.
458 SEHPRÜFUNGEN.
prüfung mitmacht, so wird er gleichzeitig gewahr, um wie viel im Momente der
Untersuchung die Sehschärfe des Consultirenden von jenem Durchschnittsmaass
abweicht, das der Untersucher in sich herumträgt. Dabei wird unter einem
unwillkürlich die ganze Masse der äusseren Einflüsse berücksichtigt, welche auf
die Sehschärfe modificirend einwirken, wie z. B. die Beleuchtung, die Tageszeit,
die Umgebung der Probebuchstaben u. a. m., weil diese Einflüsse ebenso auf den
Untersuchten, wie auf den Untersucher wirken , und eine der Wahrheit möglichst
nahekommende Abschätzung wird demnach in jedem Falle bequem möglich sein.
Wer viel Kranke untersucht hat, wird sich darum von der SNELLEN'schen Unter-
suchungsmethode nicht trennen wollen, wie sehr sich auch theoretische Bedenken
gegen den absoluten Werth dieser Untersuchungsmethode erheben mögen. Es
wird demnach auch Stellwag's in wissenschaftlicher Beziehung unanfechtbaren
Ausführungen *) nicht gelingen, Snellen's Methode zu stürzen, desgleichen werden
sich nicht viele versucht fühlen, die von ihm in derselben Abhandlung als Ersatz
vorgeschlagene Untersuchungsart zu acceptiren, da sie an Langwierigkeit die
gebräuchliche Methode bedeutend übertrifft, ohne den Vortheil der Uebersicht-
lichkeit zu besitzen, die dieser in so hohem Grade eigen ist — abgesehen von
anderen Vorth eilen, unter denen wir nur die Verwendbarkeit der SNELLEN'schen
Buchstaben bei der Eruirung des Astigmatismus kurz berühren wollen.
Wir haben nun noch den Gang zu skizziren, den man bei einer Seh-
prüfung einzuschlagen hat :
Man thut gut, sich vor der Sehschärfeprüfung eine vorläufige annähernde
Kenntniss von der Kefraction des Kranken zu verschaffen. Dies geschieht durch
eine flüchtige Spiegeluntersuchung, eingehend soll sie erst nach Beendigung der
Sehprüfungen sein, damit das zu untersuchende Auge nicht zu sehr ermüdet
werde. Man stellt nun den Kranken in einem Zimmer, das — nehmen wir an —
20' (6 Meter) in der Länge messen möge, einer gut beleuchteten Wand gegen-
über, auf welcher die SNELLEN'schen Tafeln befestigt sind. Ich habe in meinem
Ordinationszimmer zwei Tafeln übereinander hängen, eine grosse mit den Nummern
CC, C, LXX, L, XL, XXX, XX, und eine kleinere mit den Nummern XV, XII,
X, VIII. Nun kann man den Kranken in der Entfernung von 15' zu prüfen
15
beginnen , liest er Nummer XV, so ist V = -^v ; liest er eine niedrigere
Nummer, so ist V grösser. Um dies zu controlliren, lasse ich den Kranken sich
20
auf 20' von den Buchstaben entfernen. Hier muss er mindestens -==r- Sehschärfe
15
haben ; hat er vom vorigen Standpunkte aus z. B. V = -=—- gehabt, so würde
20
das vom jetzigen Standplatze circa V = -^- entsprechen. Auf diese Weise kann
man durch Variation der Prüfung zur grösseren Sicherheit den Grad des V genauer
feststellen.
Liest aber der Untersuchte nicht die Nummer, die ihm nach der Ent-
fernung zukommen sollte, sondern eine höhere, so suche man, im Falle eine
Ametropie vorhanden ist, dieselbe lege artis zu corrigiren und untersucht dabei die
Sehschärfe in der bekannten Weise. Auch bei geringerer als der normalen Sehschärfe
kann man den erhaltenen Grad durch Nähern und Entfernen der Schriftproben
noch zu controlliren suchen.
Sollte die Sehschärfe so schlecht sein, dass kein einziger Buchstabe
in 20' mehr gelesen wird, so wird der Kranke der Tafel genähert. Bei sehr stark
herabgesetztem V hilft man sich, indem der Untersuchende dem Kranken die aus-
gespreizten und hin und her bewegten Finger zu zählen aufgiebt und die Ent-
fernung notirt, in welcher die Finger noch prompt gezählt werden.
*) Abhandlungen ans dem Gebiete der praktischen Augenheilkunde. "Wien , Brau-
müller. 1882, pag. 279-300.
SEHPRÜFUNGEN. 459
Für Kinder und Analphabeten besitzt man Zeichentafeln, die gleichfalls
nach Snellen's Princip entworfen sind. Ausserdem giebt es verschiedene Punkt-
und sogenannte internationale Proben.
Bei Kindern kann man auch mit einigem Nutzen den Versuch machen,
Samenkörner verschiedener Grösse, Glasperlen u. s. w. auf eine passende Unter-
lage zu breiten und sie auf einige Entfernung zählen zu lassen.
Zum Schlüsse muss es noch als selbstverständlich hervorgehoben werden,
dass jeder Untersucher auf Sehschärfe eine gründliche Kenntniss der Refractions-
und Accommodationsanomalien besitzen muss.
Diagnose der Simulation. Es kommt im praktischen Leben oft
genug vor, dass der Arzt zu täuschen gesucht wird, indem ein sehtüchtiges Auge
als blind angegeben oder vorhandene Sehschwäche weit übertrieben wird. Man
hat in solchen Fällen zunächst durch die Pupillenproben das Vorhandensein der
Lichtempfindung nachzuweisen. Zur Entlarvung des Lügners kann man sich ver-
schiedener Methoden bedienen, wobei aber zu bedenken ist, dass keine absolut
sicher ist, weil sich die Simulanten oft genug auf ihre Rolle gründlich vorbereitet
haben und namentlich das rasche Zukneifen des angeblich allein sehtüchtigen
Auges von manchen meisterhaft verstanden wird. Unter dem Heer von Methoden,
welche in Uebung sind, seien die folgenden in Kürze mitgetheilt:
1. Man halte dem Simulanten vor das angeblich gesunde Auge ein Prisma,
mit der Kante nach oben oder unten, und lasse ihn eine Kerze betrachten. Sieht
das Individuum zwei Kerzen übereinander, so ist der Betrug entdeckt.
2. Hält man vor ein sehtüchtiges Auge ein Milchglas , ein starkes Con-
vexglas (im Falle keine entsprechende Hypermetropie vorhanden ist) und werden
z. B. Buchstaben in grösserer Entfernung gelesen, so kann nur das angeblich blinde
Auge gelesen haben.
3. Man nehme die Snellen's che oder eine andere Probetafel mit
farbigen Buchstaben und verschaffe sich ein grünes Glas von solcher Nuance,
dass die rothen Buchstaben beim Durchsehen in einer gewissen Entfernung voll-
ständig verschwinden. Hält man nun dem Simulanten vor das „gesunde" Auge das
grüne Glas und liest er auch die rothen Buchstaben, ist die Simulation entdeckt.
Diese und ähnliche Methoden, ferner stereoskopische Versuche, können
mannigfach variirt werden.
Was die Untersuchung der peripherischen Sehschärfe und des
Gesichtsfeldes anbelangt, so verweisen wir auf unseren Artikel „Perimetrie".
Die Untersuchung des Farbensinnes ist in dem Capitel „Farbenblindheit" erörtert.
B. Der Lichtsinn.
Wir haben bereits im vorigen Abschnitte angegeben, und es lehrt dies
auch die alltägliche Erfahrung, dass die Erkennbarkeit der Gesichtsobjecte nicht
allein von der Grösse des Netzhautbildes, sondern auch von ihrer Beleuchtung
abhängt. Intensiv leuchtende Objecte werden noch unter einem minimalen Ge-
sichtswinkel wahrgenommen, wie dies das Beispiel der Fixsterne zeigt. Bei den
Sehschärfeprüfungen muss darum auch die Beleuchtung der Sehproben in Rück-
sicht gezogen werden. In theoretischer Beziehung wäre es darum unerlässlich,
diese Prüfung immer bei derselben Beleuchtung vorzunehmen. Dies ist aber
praktisch nicht gut durchführbar. Machen wir unsere Sehschärfebestimmungen
bei vollem Tageslicht, welche Beleuchtungsart immer die günstigste ist, so wissen
wir, dass selbst in denselben Stunden des Tages , je nach dem Wetter und der
Jahreszeit die Helligkeit eine verschiedene ist ; wählen wir künstliche Beleuchtung,
so ist die Schwierigkeit immerhin sehr bedeutend, in einem grösseren Räume eine
vollständig genau zu regulirende und genügend erhellende Lichtquelle anzubringen.
Es giebt allerdings Apparate, wo die Sehproben allein beleuchtet sind und welche
die Regulirung dieser Beleuchtung nach unserem Gutdünken gestatten. Wir werden
diese Apparate später kurz erwähnen ; zu eigentlichen Sehschärfeprüfungen werden
460 SEHPRÜFUNGEN.
sie nicht verwendet. Sie sind aber hiezn , so weit die Bedürfnisse der Praxis in
Frage kommen, auch nicht nothwendig, weil wir — wie wir bereits im vorigen
Abschnitte hervorhoben — bei der Sehschärfeprüfung immer unser (des Unter-
suchers) Auge mitprüfen und in dem momentanen Zustande unserer Sehschärfe
den besten Maassstab für etwaige Veränderungen des kranken Auges in uns
tragen. Untersuche ich an einem trüben Wintertage einen Patienten und finde
20
nur z.B. V= , so versäume ich nie, dem Protokolle beizufügen: „trüber
Wintertag" und sollte meine eigene Sehschärfe auch nicht grösser sein, so kann ich
diesen Umstand notiren. Da die Sehschärfebestimmungen in der ärztlichen Praxis nie
absolute Werthe ergeben sollen, die Ergebnisse auch nicht zu physiologischen
Zwecken dienen, sondern nur dazu verhelfen, die Schwankungen des V in patho-
logischen Zuständen zu markiren, so sind auch weitere Vorsichtsmaassregeln, als
die oben genannten, vollständig unnöthig.
Anders aber steht die Sache, wenn es sich darum handelt, die Abnahme
des Lichtsinnes , wie sie bei gewissen Leiden , namentlich Chorioidealleiden, als
constantes Symptom auftritt, zu bestimmen. Es giebt nämlich zahlreiche Krank-
heitszustände, bei denen die Sehschärfe, wie sie bei mittlerer Tagesbeleuchtung zu
finden ist, sofort in einer unverhältnissmässigen Weise sinkt, sowie die Beleuchtung
herabgesetzt wird. Dies ist nur dadurch möglich , dass der Lichtsinn der
betreffenden Retina verringert ist, d. h. (nach der Definition Aubert's *), dass die
Empfindlichkeit des Sehorganes für minimale objective Reizgrössen und für mini-
male Unterschiede von objectiven Lichtreizen herabgesetzt ist.
Um nun in gegebenen Fällen die Abnahme des Lichtsinnes einfach zu
constatiren, haben wir auch nicht mehr nöthig, als den Untersuchungsraum mehr
weniger zu verdunkeln und die Sehschärfe vor und nach der Verdunkelung mit
Hilfe der SNELLEN'schen Tafeln zu bestimmen und das Resultat mit der Abnahme,
die der Untersuchende an sich wahrnimmt, zu vergleichen. Obgleich man mit
dieser Untersuchungsmethode oftmals auskommen kann , muss dieselbe doch als
zu primitiv bezeichnet werden, und wir werden, um die Abnahme des Lichtsinnes
ziffermässig festzustellen, zu verschiedenen Apparaten unsere Zuflucht nehmen, von
denen wir als die wichtigsten die folgenden schildern:
1. Die MASSON'sche Scheibe. Das Princip dieser Methode beruht darauf,
auf rotirenden Scheiben Schatten zu erzeugen, deren Lichtstärke im Vergleich zu
der (als Einheit angenommenen) des weissen Grundes der Scheibe leicht gemessen
werden kann. Indem man diese Schatten in mehreren Abstufungen bis zu eben
noch wahrnehmbarer Schärfe hervorruft, hat man ein bequemes Mittel, das Licht-
perceptionsvermögen einer bestimmten Netzhaut zu messen. Man nehme eine
weisse Scheibe, ziehe auf derselben längs eines Radius mehrere schwarze Striche
mit der Reisfeder (so dass die Striche alle dieselbe Dicke haben) und lasse die
Scheibe dann rasch und gleichmässig rotiren, so wird bei der Rotation ein jeder
Strich einen grauen Ring erzeugen, dessen Lichtstärke sich um so weniger von
der Helligkeit des weissen Grundes unterscheiden wird, je näher er sich zur
Peripherie befindet und der um so dunkler ist, je näher er dem Centrum der
Scheibe steht. Nach der Formel h = 1 — — (wobei h die Helligkeit eines
grauen Ringes, d die Breite eines Striches ist und die Helligkeit des weissen
Grundes als 1 gesetzt ist) kann man leicht h als die Helligkeit des eben noch
wahrnehmbaren Ringes berechnen. Helmholtz fand bei seinen Messungen, dass
h von V117 — i/iso schwankte, d. h. dass er noch so kleine Helligkeitsquantitäten
wahrnehmen konnte.
Ueber die Modifikationen der MASSON'schen Scheibe, von denen eine von
Donders besonders praktisch ist, möge in den Specialwerken nachgelesen werden.
*) Graefe-Saemisch's Handbuch der ges. Augenlieilk. Bd. H, pag. 483.
SEHPRÜFUNGEN. — SEIDELBAST. 461
2 . Das Princip des Förster' sehen Lichtsinnmessers besteht darin,
dass man die Helligkeit, welche in einem kleinen, genau abgeschlossenen Räume
durch eine Leuchtquelle erzeugt wird, durch passende Vorrichtungen beliebig
schwächen kann, bis die eben noch wahrnehmbare Helligkeit erzeugt wird, welche
dann im Verhältniss zu der als 1 angenommenen Leuchtquelle gemessen werden
kann. Der Apparat besteht demnach aus einem Kasten (von 12" Länge, 6" Höhe
und 8" Breite), welcher inwendig geschwärzt ist — am besten geschieht dies
durch Aufkleben von schwarzem Sammt — und an seiner schmalen Seite zwei
Ausschnitte, Gucklöcher, besitzt, durch welche der Untersuchte zu sehen hat.
Neben den Gucklöchern befindet sich die Lichtquelle, welche durch ein Fenster Licht
in den Kasten sendet. Die Beleuchtung des Kasteninneren kann aber durch ein
Diaphragma geregelt werden, welches aus zwei verschiebbaren Scheiben besteht,
die in jeder Stellung eine quadratische Oeffnung mit einander bilden. Durch
Verschieben der Scheiben wird das Quadrat immer kleiner, die Beleuchtung immer
schwächer und die Abnahme der Helligkeit kann aus der Fläche des Quadrats
leicht berechnet werden. Gegenüber von den Gucklöchern befinden sich Schrift-
proben, Zeichen oder noch besser eine in eine schwarze und weisse Hälfte getheilte
Fläche. Bei dieser Untersuchungsmethode wird man leicht jenes Helligkeitsminimum
kennen lernen, bei dem ein Auge eben noch imterscheide^rkann.
3. Der Apparat von v. Hippel soll die Unters,uchtfn^ auf die Sehschärfe
zugleich mit der auf den Lichtslnh ermöglichen. Dies wird dadurch bewerk-
stelligt, dass in einem möglichst; verdunkelten Zimmer mfr die SNELLEN'schen
Lichtproben beleuchtet werden und diese Beleuchtung' nach Belieben geregelt
werden kann. Der Apparat besteht aus einem die Lichtquelle bergenden Kasten,
an dessen einem Ende sich eine Vorrichtung befindet zur Aufnahme von Milch-
glasplatten. Vor die Milchglasplatten wird eine Blechplatte gesetzt, welche die
SNELLEN'schen Probebuchstaben ausgeschnitten enthält. Es werden demnach die
letzteren durch die Beleuchtung der Milchglasplatten sichtbar. Je mehr Glasplatten
nun zwischen Lichtquelle und Schriftproben eingeschaltet werden, desto mehr
schwächen wir die Beleuchtung. Selbstverständlich, dass die Milchglasplatten alle
von gleicher Dicke sein müssen.
Aus den Untersuchungen von v. Hippel geht hervor, dass sechs solcher
20
Platten von 2 Mm. Dicke gerade genügende Beleuchtung für V = ^ geben. Man
kann demnach im gegebenen Falle die Abnahme des Lichtsinnes leicht berechnen.
Literatur: Helmholtz, Physiol. Optik. — Mauthner, Vorlesungen über die
opt. Fehler des Auges. — G-raefe-Sämisch, Handb. der ges. Augenheilh. Bd. II, 9. Cap.
und Bd. III, 1. Cap. — Förster, Zehender's klin. Monatsbl. 1871, pag. 337. — v. Hippel,
ibid. pag. 346. — Weber, ibid. 349.
Schriftproben: E. Jaeger, Schriftproben. Wien. — Snellen, Test types for
determination of ihe acuteness of vision. — Böttcher, Geometr. Sehproben u. s. w. Berlin
1870. — Burchhardt, Internaton. Sehprobeu. Cassel 1871. -^- (joidzieher
Seidelbast, Seidelbastrinde, Kellerhalsrinde, Gortex Mezerei,
die gleich im Beginne des Frühlings gesammelte und getrocknete Rinde des
Stammes und der stärkeren Aeste von Daphne Mezereum L. , einem in
Gebirgswäldern von fast ganz Europa vorkommmenden kleinen Strauch aus der
Familie der Daphnoideen, bekannt durch die schönen, hellrothen, stark riechenden,
vor der Entwicklung der abfallenden, länglich-lanzettförmigen Blätter auftretenden
Blüthen, sowie durch seine scharlachrothen , eirunden, einsamigen Beeren mit
grünlich-gelbem Fruchtfleisch, dünner, zerbrechlicher, glänzend schwarzer Samen-
schale und eiweisslosem Samenkern.
Die officinelle Rinde kommt in 2— 3 Cm. breiten, höchstens 1 Mm.
dicken, äusserst zähen, biegsamen Bändern vor, mit glänzend röthlich-braunem
Periderm, welches leicht von dem zartfaserigen, leicht zerfasernden Bast abgelöst
werden kann. Geruchlos; Geschmack brennend-scharf.
462 SEIDELBAST. — SEITENSTRANGSKLEROSE.
Nach Buchheim (1872) enthält das ätherische Extract der Rinde nehen
einem dem Euphorbon (s. Euphorbium) ähnlichen Körper und einem fetten Oel
als therapeutisch wirksame Substanz ein gelbbraunes, amorphes , leicht in Aether
und Alkohol lösliches Harz (Mezerein, Mezereinsäureanhydrid) , welches in alko-
holischer Lösung naeh einiger Zeit stundenlang andauerndes Kratzen und Brennen
im Rachen hervorruft, bei Einwirkung grösserer Mengen Blasen im Munde zieht
und gepulvert heftiges Niesen erzeugt. Durch Behandlung mit Kalilauge ver-
wandelt es sich in ein glänzend dunkelbraunes, in weingeistiger Lösung bitter
schmeckendes Harz von sauren Eigenschaften, Mezereinsäure , welches auch im
ätherischen und noch mehr im alkoholischen Extract der Rinde sich findet.
Ein weiterer Bestandtheil der Rinde ist das Daphnin (zuerst von Vauquelin
1808 in Daphne aljiina aufgefunden), welches nach Z wen ger (1860) einen krystallisirbaren
glycosiden Bitterstoff darstellt, der mit verdünnten Säuren behandelt, das gleichfalls krystalli-
sirbare Daphnetin liefert.
Alle Theile des Seidelbastes, besonders die Rinde und die Früchte
wirken örtlich reizend und entzündungserregend. Auf der Haut erzeugt die vom
Periderm befreite frische, oder in Wasser aufgeweichte trockene Rinde Röthung,
bei längerer Einwirkung (36 — 48 Stunden) Blasenbildung; gekaut starkes, lange
anhaltendes Brennen; verschluckt mehr weniger heftige gastroenteritische Er-
scheinungen, angeblich zuweilen auch Erscheinungen einer Reizung der Nieren.
Vergiftungen, auch mehrere tödtliche, sind einigemale vorgekommen,
seltener mit der Rinde, häufiger mit den getrockneten, früher als Orana s. Baccae
Goccognidii officinellen Früchten (in Folge ihrer Benützung in der Volksmedicin
als Drasticum, Antkelminticum, Febrifugum etc., auch wohl als Abortivum), sowie
auch durch den Genuss der frischen Früchte (bei Kindern).
Die tödtliche Menge ist nach den vorliegenden Mittbeilungen nicht sicher bestimmbar.
Viel kömmt es dabei an auf den Umstand, ob die Beeren im Ganzen verschluckt,
oder früher zerkaut, resp. gepulvert, auch wohl ob die trockenen oder frischen Früchte
genommen wurden, v. Schroff sah schon nach 1, resp. 3 Früchten (trockenen) bei
zwei jungen Leuten starke Erscheinungen der Reizung und Entzündung seitens der Schleim-
baut des Digestionstractus eintreten; nach Linnee starb ein Mädchen nach dem Genüsse
von 12 Beeren; in anderen Fällen wurden Leute, die 40—60 Beeren genommen hatten, gerettet.
Therapeutische Anwendung. Die Seidelbastrinde wird als solche
höchstens noch in der Volksmedicin als Kaumittel bei Zungenlähmung und als
Epispasticum (s. Bd. V, pag. 29) benützt, wobei ein entsprechend grosses Stück
der frischen oder der trockenen , früher in Wasser aufgeweichten Rinde nach Be-
seitigung des Periderms mit der grünen äusseren Fläche [Mittelrinde] gewöhnlich am
Oberarm aufgelegt und durch eine Binde fixirt wird ; pharmaceutisch als Bestandtheil
des Emplastrum Mezerei cantharidatum (s. Bd. H, pag. 666) und zur Bereitung
des officinellen Seidelbastextracts.
Präparate.
1. Extractum Mezerei, Seidelbastextract. Pharm. Germ. Alko-
holisches Extract von dünner Consistenz, grünlich, in Wasser unlöslich. Bios zur
Bereitung (ex tempore) von
2. Unguentum Ifezerei, Seidelbastsalbe. Pharm. Germ. (9 Th.
Unguent. cereum, 1 Th. Extr. Mez.) zu Einreibungen als hautröthendes Mittel
und statt des Unguent. cantharid. (Bd. H, pag. 666).
Von gleicher "Wirkung wie Cortex Mezerei ist die Rinde von Daphne Laureola L.
(Cortex LaureolaeJ, einer im mittleren und südlichen Europa einbeimischen Art, mit leder-
artigen, immergrünen Blättern und schwarzen Früchten und ebenso die Rinde von Daphne
Gnidium L. (Cortex Gnidii , Cortex Thymeleae oder Mezerei der alt. Offic, Ecorce^ de
GarouJ , einer im ganzen Mediterrangebiet wachsenden Art, deren Früchte (Orana Gnidii)
schon im Alterthum als Drasticum benützt wurden. Vo0-!
Seitenlage, s. „Becken", H, pag. 90.
Seitenstrangsklerose (Sclerose laterale). Mit dieser von Charcot er-
fundenen Benennung bezeichnet man verschiedene, im letzten Jahrzehnt genauer
studirte Erkrankungen der Seitenstränge, von denen jedoch gleich hier bemerkt
SEITENSTRANGSKLEROSE. 463
sei, dass dieselben durchaus nicht in allen Stadien Sklerosen im eigentlichen Sinne
des Wortes vorstellen, sondern verschiedenen Processen angehören, jedoch alle das
gemeinschaftlich haben , dass die Seitenstränge , in der Regel beide , in ihrer
ganzen Längsausdehnung oder doch im grösseren Theile derselben erkrankt sind.
Da es sich um zum grossen Theile noch in Schwebe befindliche Fragen
handelt , werden wir an eine in grossen Zügen gegebene , historische Darstellung
des Gegenstandes anknüpfen, der wir noch die Bemerkung vorausschicken, dass
es sich hier blos um eine Darstellung der anatomischen und pathologischen Fragen
handelt, während die klinische Seite der in Rede stehenden Affectionen unter den
Rubriken Spinallähmung (atrophische Spinallähmung, spastische Spinalparalyse) und
Bulbärparalyse abgehandelt wird.
Die hierher gehörigen Untersuchungen knüpfen an die Untersuchungen
TüRCk's über secundäre Degeneration (s. diese) nach Hirn- und Rückenmarks-
läsionen an, indem schon TÜRCK selbst einige Fälle von in der Längsrichtung
ausgedehnter Erkrankung der Seitenstränge beobachtete, die bei dem Fehlen jeder
anderen Hirn- oder Rückenmarksläsion als primäre angesehen werden mussten.
Auf ihn folgten die Untersuchungen der CHARCOT'schen Schule und die gleich-
zeitigen Untersuchungen Westphal's über den Zustand des Rückenmarks in der
progressiven Paralyse der Irren (Körnchenzellenmyelitis).
Nachdem Charcot selbst schon früher (1865) einen Fall von Seitenstrang-
sklerose publicirt hatte (bei einer durch lange Zeit contracturirt gewesenen
Hysterischen), lehrte er seit 1869 eine Erkrankungsform kennen, die sich dadurch
auszeichnet, dass mit einer Sklerose der Seitenstränge eine Erkrankung der Vorder-
hörner einherging (sogenannte 8clerose laterale arnyotropMque) ; kurz darauf
folgten die anatomischen Untersuchungen von Leyden über Bulbärparalyse, welche
die anatomische Zugehörigkeit zu der letzterwähnten Form von Seitenstrang-
sklerose erweisen.
Von massgebendem Einflüsse für die ganze Auffassung dieser Erkrankungen
wurde die zuerst von Vulpian eingeführte Gliederung der Rückenmarkserkrankung
in systematische und nicht systematische (siehe unter System er krankungen), welche
Lehre jedoch erst in den durch Flechsig zu einem gewissen Abschlüsse ge-
kommenen Untersuchungen über die anatomische Gliederung der Leitungsbahnen
im Rückenmarke eine gesicherte Basis fand ; denn erst diese Untersuchungen
ermöglichen genauer festzustellen , einerseits , was Alles zur Seitenstrangsklerose
gehörte, andererseits, ob nicht die grossen Reihen in verschiedene Unterformen zu
differenziren wären.
Die Untersuchungen der letzten Jahre haben nun vorerst zur Erkenntniss
geführt, dass ein grösserer Theil der hierher gehörigen Affectionen zu den System-
erkrankungen gehöre, was dahin geführt hat, dass man unter dem Ausdrucke der
Seitenstrangsklerose fast nur solche Erkrankungen versteht, welche den systema-
tischen Kern der Seitenstränge , die sogenannten Pyramidenseitenstrangbahnen,
entweder ausschliesslich oder wenigstens doch vorwiegend betreffen; die Unter-
suchungen haben aber noch weiter kennen gelehrt, dass noch aus einem zweiten
Grunde die Bezeichnung nicht ganz dem Sachverhalte entspricht; Flechsig hat
entscheidend nachgewiesen, dass das schon von TÜRCK gekannte innere Bündel
der Vorderstränge zu den Pyramidenbahnen gehört und dem ungekreuzten Ver-
laufsstücke derselben entspricht, und die Untersuchungen der letzten Jahre haben
in der That auch Fälle von Seitenstrangsklerose kennen gelehrt, in welchen auch
dieses Bündel, die sogenannte Pyramidenvorderstrangbahn, mit erkrankt war; dem
Grundsatze a potiori fit denominatio entsprechend, bleibt auch für diese Fälle die
alte Bezeichnung aufrecht; schärfer präcisirend kann auf diese Fälle, bei aus-
schliesslicher Beschränkung der Erkrankung auf die Pyramidenbahnen, die Bezeich-
nung Sklerose des directen cortico -muskulären Leitungssystems angewendet werden.
Dagegen wurde wieder die Zusammengehörigkeit der hier zu besprechenden
Affectionen durch die anatomischen Untersuchungen weiter präcisirt. Während
-1 64 SEITENSTRANGSKLEItOSE.
früher die französische Schule bezüglich der primären und secundären Pyramiden-
bahnerkrankungcn gewisse topographische Differenzen gefunden haben wollte,
haben die Untersuchungen Flechsig's nachgewiesen, dass diese Differenzen, sofern
sie einen Fall von Pyramidenbahnerkrankungen betreffen, nur durch individuelle
Schwankungen in der Lagerung und Stärke der betroffenen Bahnen bedingt sind.
Haben demnach die Untersuchungen nach diesen Richtungen hin eine
Erweiterung des Gebietes erzielt, so wurde dasselbe nach anderer Richtung hin
wesentlich verengt. Wie erwähnt, hatte Charcot in den Sechzigerjahren einen
Fall von selbständiger primärer Seitenstrangsklerose publicirt, alle weiteren, bis in
die letzte Zeit publicirten Fälle betrafen solche von sogenannter Sclerose laterale
amyotrophique, amyotrophischer Seitenstrangsklerose. Niemandem war es seither
geglückt, etwas Aehnliches in befriedigender Weise nachzuweisen, und Charcot
Hess die Möglichkeit, dass ihm in jenem Falle, bei den damals noch mangelhaften
Untersuchungsmethoden , andere Veränderungen entgangen sein mochten , offen ;
umsomehr wurde dagegen von klinischer Seite die Seitenstrangsklerose urgirt und
auf Grund verschiedener theoretischer Erwägungen eine solche als Substrat der in
den letzten Jahren genauer studirten spastischen Spinalparalyse hingestellt ; erst in
allerjüngster Zeit (Januar 1881) haben zwei englische Autoren, Morgan und
Dreschfeld, einen Fall publicirt, der auch von Charcot als bisher einziger Fall
einer primären symmetrischen Seitenstrangsclerose, ohne Betheiligung der vorderen
grauen Substanz, anerkannt wird.
Was wir demnach über systematische Seitenstrangsklerose wissen, basirt
zum grössten Theile auf den Untersuchungen der secundären Degeneration und
der Sclerose laterale amyotropliique ; einige, bis jetzt ziemlich vereinzelt dastehende
Formen von systematischer Sklerose anderer in den Seitensträngen liegender
Systeme werden später mitgetheilt. Hier wäre noch weiter auszuführen, dass auch
vom pathologisch-anatomischen Standpunkte das Gebiet wesentlich einzuengen ist;
von theoretischen Erwägungen ausgehend, war man in der Deutung der System-
erkrankungen dahin gekommen , dass dieselben in den parenchymatösen Bestand-
teilen, also in den Nervenzellen oder Fasern selbst beginnen, und die Unter-
suchungen der allerletzten Zeit haben für die secundäre Degeneration und die
Sclerose laterale amyotrophique den histologischen Nachweis geliefert, dass in
frühen Stadien dieser Erkrankungen der Process sich (wahrscheinlich) einzig oder
wenigstens vorwiegend an den Nervenfasern abspielt, demnach von einer Sklerose
im eigentlichen Sinne des Wortes nicht die Rede ist, diese vielmehr (wie auch
für andere Organe von Weigert nachgewiesen) ein secundärer Process ist und
dass demnach die hier in Rede stehenden Krankheitsformen erst in diesem zweiten
Stadium der Sklerose mit Recht zugezählt werden können.
Bezüglich der secundären Degeneration kann auf den derselben gewidmeten
Artikel verwiesen werden; hier wird nur von der primären Seitenstrangsklerose
zu handeln sein, für deren topographisches Verständniss die jenem Artikel bei-
gegebenen Holzschnitte , sowie der Artikel „Systemerkrankungen" heranzuziehen
sind; mehrere andere Formen von Seitenstrangerkrankungen , deren Stellung im
System noch nicht klargelegt ist, sowie die nicht systematischen Formen derselben
werden später kurz behandelt.
Die der amyotrophischen Lateralsklerose zu Grimde liegende Erkrankung
beschränkt sich, wenn wir ihre Ausdehnung auf dem Querschnitte betrachten, in
einzelnen selteneren, aber als Grundtypus anzusehenden Fällen in der weissen
Substanz auf das den Pyramidenbahnen entsprechende Areale, also in den Seiten-
strängen auf die Pyramidenseitenstrangbahnen, sowie, falls ein Theil der Pyramiden-
bahnen ungekreuzt in's Rückenmark eingetreten, auch auf die entsprechende Partie
der Yorderstränge , die sogenannten Pyramidenvorderstrangbahnen ; viel häufiger
als diese sind solche Fälle beobachtet, wo die Erkrankung mehr oder weniger
weit, aber immer in wesentlich schärferem Maasse auf die vordere Hälfte des
Rückenmarksquerschnittes übergreift und selbst bis auf die Grundbündel der
SEITENSTRANGSKLEROSE. 465
Vorderstränge sich erstreckt. Schon an dem in einem Chromsalze gehärteten
Präparate ist die Anordnung des Processes * deutlich zu erkennen ; in den erst
geschilderten Fällen namentlich erscheint das licht verfärbte Areale der Pyramiden-
bahnen oft scharf abgesetzt gegen die umgebende Substanz der anderen intacten
Systeme, in den Fällen der zweiten Art prägt sich die geringere Betheiligung der
vorderen Abschnitte zuweilen in der ebenmässig schwächeren, lichten Verfärbung
derselben aus, doch giebt es auch Fälle, wo dies mit freiem Auge nicht mit
Sicherheit abzuschätzen ist und das Mikroskop sicheren Aufschluss über die Aus-
dehnung der Zone schwächerer Erkrankung giebt.
Für die Beurtheilung gerade dieses Weitergreifens der Erkrankung und
der damit in Zusammenhang stehenden Frage, in welchem Verhältnisse die beiden
nach dieser Hinsicht vorher geschilderten Formen zu einander stehen, ist es nun
von schwerwiegender Bedeutung, dass die den Pyramidenbahnen (in den Seiten-
strängen) seitlich dicht anliegenden Kleinhirnseitenstrangbahnen und seitliche Grenz-
schicht der grauen Substanz, erstere niemals, letztere in seltenen Fällen Zeichen
eines solchen Weitergreifens der Erkrankung aufweisen; frei von Erkrankung in
reinen Fällen sind auch jedesmal die Hinterstränge.
Regelmässig betheiligt, sind auch die Vorderhörner , doch ist deren
Erkrankung auch am gehärteten Präparate durch keinerlei Farbendifferenz
gekennzeichnet.
Weniger genau orientirt als über die Querausdehnung des Processes sind
wir über seine Längsausdehnung gegen das Gehirn zu, einerseits wegen der gegen
das Gehirn zu steigenden Schwierigkeiten der Untersuchung, andererseits wegen
des Umstandes, dass die Kenntniss des Verlaufes der zu untersuchenden Bahnen
im Gehirn erst aus der allerjüngsten Zeit datirt; exact ist bisher nachgewiesen,
dass die Erkrankung die Pyramidenbahnen vor deren Ende im Conus medullaris
bis in die Grosshimschenkel beschlägt und mit Rücksicht auf einen Befund von
Kahler und Pick (Atrophie der Centralwindungen) kann es als wahrscheinlich
hingestellt werden, dass, in einzelnen Fällen wenigstens, der Process auch bis an
das centrale Ende der Pyramidenbahnen reicht. Die Untersuchungen anderer Fälle
machen es nämlich wahrscheinlich, dass in dieser Hinsicht nicht unbedeutende
Differenzen bestehen , deren klinische Aequivalente jedoch bisher nur wenig auf-
gehellt sind. (Vgl. das unten bei der Pathogenese des Processes Gesagte.) Bezüglich
der Zellen der motorischen Nervenkerne in der Medulla oblongata, welche als
gleich werthig den Ganglienzellen der Vorderhörner des Rückenmarks anzusehen sind,
ist es sichergestellt, dass dieselben dem gleichen Processe wie diese anheimfallen.
Wie schon vorhin erwähnt, gestaltet sich der Process in der weissen
Substanz (bezüglich der grauen sind die Untersuchungen noch unvollkommener)
histologisch verschieden , je nach dem Stadium , in welchem er zur Beobachtung
kommt ; bei der relativ kui'zen Dauer der diesbezüglichen Untersuchungen ist wie
bei so vielen anderen Rückenmarksaffectionen der Process selbst noch durchaus
nicht in allen seinen Stadien beobachtet, noch weniger genetisch klargelegt, viel-
mehr kennen wir bisher eigentlich nur zwei Zustandsformen im Verlaufe desselben,
eine frühe und eine späte, die aber wenigstens insoweit Aufklärung geben, dass
sich der Process mit grosser Wahrscheinlichkeit den degenerativ-atrophischen
anschliessen lässt; bezüglich der Sklerose ist schon oben das Nöthige gesagt.
In dem bisher am frühesten untersuchten Falle (Tod nach achtmonatlicher
Dauer der Krankheit) fand sich bei der Untersuchung des frischen Präparates
reichliche Anhäufung von Körnchenzellen in den den Pyramidenbahnen ent-
sprechenden Abschnitten vom Conus medullaris ab durch das ganze Rückenmark,
die Pyramiden, die vordere Brückenabtheilung bis in das mittlere Drittel der beiden
Hirnschenkelfüsse ; die vorderen Wurzeln waren beträchtlich atrophisch, stellen-
weise gänzlich degenerirt.
Bei der mikroskopischen Untersuchung des gehärteten Präparates erweist
sich das Areale, der Pyramidenseitenstrangbahnen am stärksten ergriffen 5 dasselbe
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 30
466 SEITENSTRANGSKLEROSE.
ist von Lücken ziemlich reichlich durchsetzt, zeigt nur wenig intacte Nerven-
fasern , meist sind dieselben im Zerfalle begriffen oder schon verschwunden und
durch Körnchenzellen ersetzt ; das interstitielle Gewebe ist nur wenig betheiligt,
zeigt Schwellung der DEiTERS'schen Zellen, leichte Verdickung und Kernvermehrung
der Gefässwände ; den gleichen Befund zeigten auch die betroffenen Abschnitte in
der Medtdla oblongata und im Mittelhirn. Die Hinterstränge, die Kleinhirnseiten-
strangbahnen und die beiderseitige seitliche Grenzschicht der grauen Substanz
waren völlig frei , während nach vorn zu in den Seitenstrangresten im Halstheil
ein allmäliger Uebergang zur Norm stattfand; im Dorsaltheile waren dagegen
auch diese Abschnitte frei. Die Vorderhörner der grauen Substanz zeigen hoch-
gradigen Schwund und Pigmentatrophie der Ganglienzellen, massigen Schwund der
nervösen Faserbestandtheile ; das interstitielle Gewebe ist weniger betheiligt, zeigt
massige Wucherung von Spinnenzellen. Die Atrophie der Ganglienzellen beschlägt
so ziemlich alle Gruppen. Die übrige graue Substanz war intact.
Viel zahlreicher sind die Befunde aus späteren Stadien, als deren Typus
etwa folgendes anzusehen ist : die Seitenstränge zeigen in dem Areale der Pyramiden-
seitenstrangbahnen (falls Pyramidenvorderstrangbahnen vorbanden, auch in diesen),
je nach dem Alter der Affection mehr oder weniger hochgradige Vermehrung des
interstitiellen Gewebes, die sich schon bei schwacher Vergrösserung oder selbst
bei Besichtigung mit freiem Auge durch stärkere Imbibition des betreffenden
Abschnittes mit Karmin, Anilinfarben kundgiebt; die nervösen Bestandtheile in
dem sklerosirten Areale sind mehr oder weniger vollständig geschwunden ; bezüglich
einer grösseren Anzahl intacter, starker Nervenfasern, welche dort verstreut liegen,
ist es ziemlich sichergestellt, dass dieselben functionell und anatomisch dem hier
intacten Systeme der Kleinhirnseitenstrangbahnen angehören; ebenso ist auch in
der Mehrzahl der Fälle die beiderseitige Grenzschicht der grauen Substanz intact.
Die Hinterstränge sind frei. Der Zustand der vorderen Hälfte der weissen Substanz
ist verschieden, je nachdem es sich um Fälle handelt, wo die Erkrankung scharf
auf die Pyramidenbahnen begrenzt bleibt oder nicht; im letzteren Falle zeigen die
betreffenden Partien (Seitenstrangreste und Vorderstränge) eine massige, immer
aber im Verhältnisse zu der der Pyramidenbahnen geringere Vermehrung des
interstitiellen Gewebes ; in den Pyramiden ist gleichfalls beträchtliche Sklerose zu
constatiren ; Untersuchungen höher gelegener Partien liegen für die hier in Rede
stehenden Fälle noch nicht vor.
Die vordere graue Substanz erweist sich in diesen Fällen hochgradig
atrophisch, zeigt reichliche Wucherung von Spinnenzellen und Ansammlung von
Corpp. amylacea, zuweilen die von den Engländern sogenannte, von den Franzosen
aeeeptirte granulär disintegration ; die Gefässe erscheinen zuweilen vermehrt,
zeigen verdickte Wandungen und Kernwucherung; die Ganglienzellen fehlen nicht
selten vollständig oder sind noch als stark pigmentirte fortsatzlose Klümpchen zu
erkennen. Die Erkrankung der grauen Vorderhörner ist jedoch nicht gleichmässig
durch die ganze Länge des Rückenmarks verbreitet, nimmt vielmehr in einer
Mehrzahl der Fälle gegen den Lendentheil zu beträchtlich ab. Die übrige graue
Substanz des Rückenmarks ist in der Regel normal, einzelne Fälle sind beobachtet,
in welchen auch die CLAßKE'schen Säulen Zellenatrophie gezeigt. Das Verhalten
der grauen Substanz der Medulla oblongata unterscheidet sich nicht wesentlich
von demjenigen in dem früher geschilderten Stadium. (Das Nähere siehe unter
„Bulbärparalyse".)
Die Pathogenese der hier beschriebenen amyotrophischen Lateralsklerose
(Sclerose laterale amyotrophique) ist bisher nur wenig aufgeklärt ; bezüglich der
Art des Processes ist schon früher das darüber Bekannte erwähnt; es handelt
sich in derselben offenbar um eine Erkrankung eines Stückes der Hauptbahn für
die Auslösung der Willkürbewegungen ; die Thatsache, dass sowohl in verschiedenen
Fällen die Längenausdehnung der Erkrankung eine verschiedene ist, als auch der
Zusammenhalt mit anderen Formen von Rückenmarkserkrankungen , in welchen
SEITENSTRANGSKLEROSE. 467
andere Theile der genannten Bahn, aber gleichfalls systematisch, erkrankt sind
(progressive Muskelatrophie, Bulbärparalyse), machen es wahrscheinlich, dass wir
es hei der amyotrophischen Seitenstrangsklerose mit einem durch seine specielle
Localisation charakterisirten Gliede aus einer grösseren Krankheitsreihe zu thun
haben , deren Differenzen darin begründet sind , dass entweder das ganze Haupt-
system oder nur dessen Theilsysteme erkrankt sind, oder, wie man aus einzelnen
Beobachtungen schliessen darf, darin, dass in verschiedenen Fällen der Ausgangs-
punkt des Krankheitsprocesses ein verschiedener ist.
Für die anatomische Beschreibung der primären Seitenstrangsklerose liegt,
wie erwähnt, nur ein Fall aus der allerletzten Zeit vor ; auf die TüRCK'schen Fälle
ist gar nicht zu recurriren , der CHARCOT'sche Fall wird von dem Autor selbst
als nicht gesichert angesehen und der von v. Stoffella in neuerer Zeit mit-
getheilte Fall ist nicht mikroskopisch untersucht und entspricht selbst in seinem
makroskopischen Befunde nicht dem Bilde, das man sich von einem reinen Falle
aus Grund der bisherigen Kenntnisse zu machen berechtigt wäre; bleibt demnach
nur der Fall von Morgan und Dreschfeld. Dieser, auch von Charcot beglaubigt,
zeigte im frischen Zustande nur eine Erweichung im unteren Dorsaltheile des
Rückenmarks, im gehärteten Zustande eine durch das ganze Rückenmark ziehende
symmetrische Sklerose der den Pyramidenbahnen entsprechenden Abschnitte der
Seitenstränge. Alles Uebrige war intact. Weitere Bestätigungen sind abzuwarten.
Als Anhang zu den bisher beschriebenen Formen von Seitenstrangsklerose
ist noch eine Anzahl von bisher mehr vereinzelt stehenden Erkrankungen von
Systemen der Seitenstränge kurz zu erwähnen.
So zuerst mehrere Fälle, in welchen, abgesehen von anderen Verände-
rungen, mit denen das hier Hervorzuhebende nicht in ursächlichem Zusammenhange
steht, sich eine symmetrische Sklerose der Kleinhirnseitenstrangbahnen und gleich-
zeitig Schwund der Ganglienzellen der CLARKE'schen Säulen fand; da der ana-
tomische Zusammenhang des genannten Fasersystems mit den genannten Zellen
sichergestellt ist, haben wir es hier wahrscheinlich mit einem Analogon der amyo-
trophischen Lateral sklerose zu thun, in der Weise, dass auch hier zwei zu einem
Hauptsysteme gehörige und in directem Zusammenhange stehende Theilsysteme
erkrankt sind. — Zu erwähnen ist auch ein Fall von Strümpell, in welchem
sich neben fleckweiser Erkrankung der Hinterstränge und hochgradiger Hydro-
myelie eine systematische Erkrankung , sowohl der Pyramiden- als der Kleinhirn-
seitenstrangbahnen vorfand.
Ferner hätten wir noch einer Reihe von Sklerosen der Seitenstränge zu
gedenken , die; jedoch bisher noch nicht genauer studirt sind. Zuerst derjenigen,
welche sich an acute und chronische, in der vorderen grauen Substanz localisirte
Processe zuweilen anschliessen. So ist in einzelnen als typisch anzusehenden Fällen
von progressiver Muskelatrophie eine Seitenstrangsklerose beobachtet worden, die
hauptsächlich oder wenigstens vorwiegend die Pyramidenbahnen beschlägt und die
histologisch den späten Stadien der vorher geschilderten Formen entspricht; es
ist möglich , dass es sich um einen secundären Vorgang handelt , der durch die
Atrophie der Vorderhornganglienzellen bedingt ist; ähnliche Befunde sind auch
von alten Fällen von Kinderlähmung berichtet; in einzelnen derselben mag der
ursächliche Zusammenhang zwischen Vorderhornaffection (Poliomyelitis ant. acuta)
und Seitenstrangsklerose der gleiche wie bei den Fällen progressiver Muskelatrophie
sein, in einzelnen wieder handelt es sich vielleicht um einfach atrophische Zustände,
welche durch das motorische Ausserfunctiongesetztsein des betreffenden Gliedes
bedingt sind ; die Frage , ob es sich in diesen Fällen jedesmal um systematisch
beschränkte Processe handelt, ist bisher noch nicht sichergestellt.
Anmerkungsweise ist hier noch zu erwähnen, dass in der neuesten Zeit einzelne
Fälle von sogenannter combinirter Systemerkrankung mitgetheilt sind (Kahler und Pick,
Strümpell), in welchen die Seitenstränge gleichzeitig mit den Hintersträngen, und zwar in
systematischer Weise, erkrankt sind.
30*
46S SEITENSTUANGSKLEROSE. — SEIFEN.
Von nicht systematischen Sklerosen der Seitenstränge wären zu erwähnen
einzelne Befunde von multipler Sklerose, in welchen die Erkrankung in den Seiten-
strängen mehr oder weniger scharf gegen die graue Substanz abgegrenzt, durch
die ganze Länge derselben verläuft ; es war diese Thatsache früher einmal sogar
dazu verwerthet worden, die multiple Sklerose im Gegensatze zur Tabes dorsalis
als Erkrankung der centrifugalen motorischen Willkürbahnen hinzustellen.
Als Anhang zu diesen Sklerosen ist zu erwähnen , dass Westphal
neuerlich gleichzeitige Erkrankungen der Hinter- und Seitenstränge als combinirte
strangförmige Erkrankungen beschrieben hat.
Literatur: Türck, Sitzungsber. der k. k. Akad. der Wissensch. zu Wien.
Math. - naturwissensch. Classe. ßd. XXI. 1856. pag. 112. — Charcot, Gaz. hebdom. 1865.
Nr. 7. — Charcot und Joffroy, Arch. de physiol. 1869. — Charcot, Lee. nur les
malad, du syst. nerv. Ser. II, Fase. 3. 1874. — Gombault. JEtvde sur la scl&ose latdrale
amyotrophique. 1877. — v. Stoff ella, Wiener med. Wochenschr. 1878. Nr. 21, 23. —
Flechsig, Archiv der Heilk. 1878. pag. 53. — Pick, Archiv für Psych. Bd. VIII. —
Leyden, Archiv für Psych. Bd. VIII, pag. 641. — Kahler und Pick, Prager Viertel-
jahrschrift. Bd. CXLII, pag. 72. — Strümpell, Archiv für Psych. Bd. X, Heft 3. —
Morgan und Dreschfeld, Brit. med. Journ. 1881. 29. Jan. — Vgl. ferner die Literatur
bei spastischer „Spinallähmung", „Systemerkrankung", „Kinderlähmung". A P' k
Seifen werden in der Chemie die Verbindungen der fetten Säuren höherer
Ordnung mit Metallen, im gemeinen Leben jene Producte genannt, welche aus der
Einwirkung caustischer Alkalien auf die natürlichen Fette hervorgegangen sind.
Nach ihrer Basis unterscheidet man harte oder Natronseifen und weiche
oder Kaliseifen. Medicamentöse Seifen sind theils Producte directer Ver-
seifung arzeneilicher Fette (Sapo Crotonis, Sapo ricinicusj oder der Harze (Sapo
guajacinus) , theils stellen sie Mischungen vor, deren Grundlage Seife bildet,
welcher arzeneiliche Substanzen einverleibt wurden, und die je nach Bedarf flüssig,
salbenförmig, von teigiger oder fester Consistenz, in Anwendung gebracht werden.
Von harten Seifen sind die gemeine oder Hausseife (Sapo communis
v. domesticus) , die medicinische Seife (Sapo medicatus vel medicinalis) und
die spanische oder Olivenöls eife (Sapo oleaceus s. Hispanicus vel Venetus)
officinell, von weichen Seifen die K a 1 i s e i f e , auch Schmierseife oder grüne Seife
(Sapo kalinus s. viridis) genannt.
Man bereitet letztere durch Kochen von Kalilauge mit Fetten und erhält so
weiche, schmierige, hell oder dunkel gefärbte, mehr oder weniger stark alkalisch reagirende
Massen, die sich im Wasser wie im Weingeist leicht und vollständig lösen müssen. Werden
zu ihrer Darstellung trocknende fette Oele verwendet, so resultiren schmutzig grüne
(bei Anwendung von Hanföl hellgrüne) Seifenproducte (Sapo viridis), mit Fischthran
braune (Thranseife), mit anderen Oelen bräunlich gelbe Seifen, aus Fettabfällen sog.
schwarze Seifen (Sapo kaünus niger). Stark alkalisch reagirende, die Haut erheblich
stärker reizende Seifen entstehen durch kaltes Verseifen, indem vom ätzenden Kali vielmehr
ungebunden bleibt. Man hat sich solcher aus Fischthran (Sapo Olei cetij und aus Leber-
thran (Sapo Olei jeeoris Aselli) zu Heilzwecken bedient. Reine weisse Fettstoffe geben bei
sorgfältiger Behandlung gelblich weisse Seifen (Sapo kalinus albus). Durch Sättigen von
Kalilauge mit Oelsäure erhält man neutrale, durchsichtige, bräunlichgelbe, völlig
homogene Seifen (Sapo kalinus transparens), welche mit Oleum Citri, Bosmarini, Amygdalar.
amar. aeth. (Creme d'Amandes amdres) etc. parfümirt oder mit Glycerin reichlich versetzt
(flüssige Glycerinseife) als kosmetische Waschmittel wie auch zum Heilgebrauch vielfach Ver-
wendung finden. In diese Categorie gehört auch Kali- Creme , ein Seifenleim, der durch
Erhitzen von 3 Th. Cocosöl mit 1 Th. Kalilauge und 8 Th. Wasser erzeugt wird. Schlechteren
Sorten von Kaliseifen pflegt man durch Zusatz von indigschwefelsaurem Kali einen grünen
Farbenton zu geben und ihnen beim Kochen etwas Talg zuzusetzen, um die Bildung weisser
Krystallkörnchen (von stearinsaurem Kalium) zu bewirken, weil dies als Zeichen einer guten
Beschaffenheit der Schmierseife angesehen wird. Kaliseifen von guter Qualität bestehen durch-
schnittlich aus 50% Wasser, 40% fetten Säuren und 8% Kali nebst etwas Natron, fremden
Salzen und Unreinigkeiten. Um das Gewicht der Ausbeute zu vermehren, wird der Wasser-
gehalt der Seifen möglichst erhöht und ihnen überdies Wasserglas, geringere Stärkmehlsorten
Infusorienerde, gepulverter Speckstein, Schwerspath etc. beigemischt. Seifen, deren fettsaures
Alkali theil weise durch Wasserglas ersetzt ist, wirken caustischer als andere. Da die aus
dem Handel bezogene Schmierseife oft sehr verunreinigt ist, namentlich viel freies Kali oder
dieses so, ungleichmässig vertheilt enthält, dass einzelne Portionen derselben übermässig
SEIFEN. 46 9
reizend, fast ätzend wirken, so hat man den Vorschlag gemacht, sie nöthigenfalls ex tempore
zu bereiten und sich hiezu des Leinöles oder des Schweineschmalzes zu bedienen, von denen
2 Th. erforderlich sind, um mit 1 Th. offic. Aetzlauge (1*33 spec. Gew.) durch Mischen
derselben in der Wärme eine tadellose Seife zu bilden, dereu Fettgehalt man, um sie noch
milder zu haben, um ein Geringes erhöhen kann.
Die gemeine oder Hausseife (Sapo domesticus) ist entweder eine reine oder
eine kalihältige Sodaseife, je nachdem sie durch Versieden von Fettstoffen mit
Natronlauge oder mittelst Kali- (Aschen-) Lauge erzeugt wurde. Der mit Hilfe von
Asclienlauge bereitete Kaliseifenleim scheidet beim Aussalzen eine Seife ab, in der nahezu
die Hälfte der fetten Säuren an Natrium gebunden ist. Ihre grössere Schlüpfrigkeit verdankt
sie dem Gehalte an fettsaurem Kali. Je nach der Fettsubstanz, welche zur Seifenbildung ver-
wendet wird, wechselt die Ausbeute und sonstige Beschaffenheit des Productes. Talgseifen
(Sapo sebaceus), sowie mit Rindsmark bereitete Seifen (Sapo mednllae bovinae. Pharm.
Gall.) gelatiniren bei ihrem Eeichthum an palmitin- und stearinsaurem Natron stark in
spirituöser Lösung und geben einen steifen Opodeldoc, während die Olivenöl- nnd Mandel -
seife diese Eigenschaft nicht besitzen und daher einen flu ss igen Opodeldoc (VIII, pag. 301)
liefern. Mit Co cos öl bereitete Seifen (Sapo cocoinusj schäumen stark und vermögen bei
grossem Wassergehalte (über 60%) noch ihre feste Consistenz zu bewahren.
Die medicinische Seife soll nach Vorschrift der Österr. Pharm, durch inniges
Mischen von 1 Th. Natronlauge (]-35 spec. Gew) mit 2 Th. Schweinfett im Wasserbade
dargestellt werden. Auf solche Weise wird eine sog. gefüllte Seife erhalten, welche das
entstandene Glycerin, ausserdem noch unverseiftes Fett und etwas freies Alkali enthält,
daher beim Aufbewahren durch Austrocknen einschrumpft und an der Oberfläche mit einer
Schichte von Krystallnadeln (aus kohlensaurem Natrium) sich überzieht, die durch Abbürsten
entfernt werden muss. Pharm. Germ, schreibt statt Schweinefett Olivenöl vor und lässt den
auf ähnliche Art erzeugten Seifenleim mit Kochsalzlösung mischen (aussalzen), wodurch eine
sog. Kernseife resultirt, welche von überschüssigem Alkali und dem bei der Saponification
entstandenen Glycerin völlig frei ist. Sonst hatte man die medicinische Seife durch Mischen
von Natronlauge mit Mandelöl imDamplbade bereiten lassen. Die so erhaltene Seife, Mandel-
seife (Sapo amygdalinu*), ist gleich der vorigen schön weiss, fast neutral, in Wasser und
Alkohol nahezu vollkommen löslich.
Die Olivenölseife des Handels, auch spanische, venetianische oder Alikanteseife
genannt, wird im südlichen Europa aus Natronlauge und Olivenöl fabriksmässig erzeugt. Sie
erscheint in viereckigen, schmutzig weissen, harten, trockenen Stücken, welche nicht ranzig
riechen, noch Feuchtigkeit anziehen, und mit Weingeist eine trübe Lösung geben, die nicht
wie die Talgseife gelatinös erstarrt. Ueber die chemische Bildung der Seife s. Bd. X, pag. 29.
Die Seifen sind leicht zersetzbare Verbindungen. Nicht blos durch Säuren,
fast durch alle Salze werden sie gespalten, wobei die Säure der letzteren an das
Alkali, die Base an die fetten Säuren zu einer im Wasser (alkalische Salze aus-
genommen) unlöslichen Verbindung tritt. Selbst Wasser bewirkt eine partielle
Zerlegung der Seifen. Es scheidet sie in ein basisches, in Wasser lösliches
Salz, dessen überschüssiges Alkali die lösende Eigenschaft freier Alkalien besitzt,
und in eine im Wasser unlösliche saure (fettsaure) Verbindung, welche die
milchige Trübung desselben bedingt. Die im Magen eingeführten Seifen werden
schon durch das überschüssige Wasser, noch mehr durch die freie Säure daselbst
zersetzt. Die abgeschiedenen fetten Säuren erfahren im Dünndarme eine theilweise
Lösung durch das freie Alkali des pankreatischen und Darmsaftes , der Rest wird
aber unter Mitwirkung des neuentstandenen fettsauren Alkalis der Aufnahme durch
die Chylusgefässe zugänglich, und gelangt theils auf diesem Wege, theils an Alkali
gebunden, durch directe Diffusion in die Blutbahn. Grössere Dosen stören auffällig
den Chemismus des Verdauungsprocesses, verursachen Uebeligkeit, Erbrechen und
Durchfall. Selbst in arzeneilichen Dosen zieht fortgesetzter Gebrauch der Seifen
dyspeptische Beschwerden und Abmagerung nach sich, wahrscheinlich in Folge
des schädlichen Einflusses der aus den freien fetten Säuren während ihres Ver-
weilens im Magen hervorgegangenen Umwandlungsproducte. In den Mastdarm ein-
geschoben oder in Lösung als Clystier applicirt, ruft die Seife durch ihren Reiz
sehr bald Abführen hervor. Der dem Organismus nacbtheiligen Anhäufung grösserer
Mengen fettsaurer Alkalien im Blute wird einerseits durch das Zustandekommen
diarrhoischer Entleerungen, andererseits dadurch begegnet, dass bei der Geschwin-
digkeit des Blutstromes die dahin gelangenden Mengen in der gesammten Blutmasse
rasch sich vertheilen, ohne dass, wie Munk gezeigt, durch sie die Erdalkalisalze
des Blutserums ausgefällt werden, vielmehr die aufgenommenen Seifenmengen in
470 SEIFEN.
dem Verhältnisse, wie sie in die Gewebe treten, zersetzt werden, so dass stets nur
Spuren derselben im Blute sich finden und auch der Harn nach ihrem Gebrauche
keine auffälligen Veränderungen bietet. Injectionen von ölsaurem Natron
(1 : 10 — 100 Aq.) bewirken nach Untersuchungen von Kobert-Rassmann bei
Warmblütern ein Absinken des Blutdruckes und der Pulsfrequenz nach jeder hin-
reichend grossen Menge, hierauf allmäliges Steigern beider in dem Maasse, wie
sich das Gift im Blute mehr und mehr vertheilt. Nach hinreichend grossen Mengen
erfolgt, sobald die Injeetionsflüssigkeit das Herz erreicht hat, Stillstand desselben,
unter Fortdauer der Respiration durch einige Zeit.
Auf die allgemeinen Decken wirkt die Seife sowohl mechanisch wie
chemisch. Zur Steigerung der Friction werden ihr Bimsstein pul ver oder
scharfkantiger, fein gesiebter Sand zugesetzt (III, pag. 504), mit deren
Hilfe die obersten Epidermisschichten und aufgelagerten Krankheitsproducte leichter
entfernt, vorhandene Milbengänge aufgekratzt und für die Einwirkung von Schwefel,
Theer und Balsam zugänglicher gemacht werden. Die chemische Einwirkung
der Seife wird durch das an die fetten Säuren locker gebundene Kali oder Natron
bedingt. Die vom Wasser aufgenommenen Alkalien binden und lösen die auf der
Hautoberfläche befindlichen Fette, Exsudate und Producte der Talgdrüsensecretion,
erweichen und lockern den Zusammenhang der Epidermiszellen , und spülen sie
mit den durch Reiben abgelösten Massen ab. Bei fortgesetzter Auslaugung der
Fettbestandtheile der Epidermis wird endlich durch die lösende Wirkung des freien
Alkalis auf das Horngewebe der Zusammenhang ihrer Zellen gelockert und sobald
dieses bis zum Papillarkörper des Chorion vorgedrungen, eine entzündliche Reizung
der Haut herbeigeführt. Mehr als irgend einem anderen Mittel kommt den Seifen die
Fähigkeit zu, die Epidermis der Diffusion arzeneilicher Substanzen zugänglicher zu
machen, auf welchen Umstand sich die Wirksamkeit der den allgemeinen Decken
einverleibten medicamentösen Seifen stützt. Im Allgemeinen wirken die Kai i-
seifen intensiver als Natronseifen und eine energische Anwendung der oft stark
alkalischen Schmierseife kann leicht ausgedehnte superficielle Aetzung mit heftigen
brennenden Schmerzen und von Fieber begleitete Dermatitis herbeiführen, deren
Heilung die Application von Geraten und Bleipräparaten erheischt.
Therapeutische Anwendung. Intern wird die Seife nur noch als
Gegenmittel bei Vergiftungen mit Säuren und Metallsalzen (I, pag. 370 und
372), ausserdem als Pillenconstituens für harzige Substanzen gebraucht. Als
lösendes und dialytisches Mittel hat man sie in Anbetracht ihres nachtheiligen
Einflusses auf die Magenschleimhaut und den Verdauungsprocess lange schon ver-
lassen und ihr die alkalischen Mineralwässer, die doppeltkohlensauren und andere
lösend wirkende Alkalisalze substituirt. — Um so grösser ist die Bedeutung der
Seifen für die Behandlung der Hautkrankheiten. Auspitz empfiehlt den
Gebrauch einer guten neutralen Kaliseife als selbständiges und Haupt-
mittel in allen Fällen, wo es sich um die Lösung und Fortschaffung der obersten
Epidermislagen , Parasiten und secundären Producte handelt, wie bei Seborrhoe,
Pityriasis simplex et rubra idiopathica, Liehen pilaris, leichten Fällen von Herpes
tonsurans, Pityriasis versicolor und in manchen Fällen von Eczem, besonders
Eczema squamosum. Sehr häufig wird die Seife als vorbereitendes Mittel
benützt, um nachträglich arzeneiliche Substanzen (Schwefel, Theer, caustische
Mittel etc.) auf die blossgelegten kranken Hautstellen zu appliciren, so bei para-
sitären Affectionen (Scabies, Favus, Herpes tonsurans) , wie auch bei anderen
Erkrankungen der Haut, namentlich Ichthyosis, Prurigo, Liehen chronicus, Sycosis,
Acne, Psoriasis, Eczema etc. In vielen Fällen wird der Kaliseife die milder
wirkende Hausseife, oder eine andere neutrale Natronseife vorgezogen, die man,
wenn nöthig, durch Erhitzen mit 2 — 3 Th. Wasser zu einem eonsistenten Seifen-
leim verwandelt. Ausserdem bedient man sich der Natronseifen vielfach als Reini-
gungs- und Verschönerungsmittel der Haut, zur Herstellung von kosmetischen
Seifen und Waschpulvern (III, pag. 503), Zahnpasten und Zahnseifen
SEIFEN. 471
(III, pag. 517), zur Bereitung von Seifenbädern (V* — 1 Kilo Seife, in der 5- bis
6fachen Menge heissen Wassers gelöst für 1 Vollbad) , in Wasser gelöst zu
Injectionen in Nase, Vagina (behufs Lösung und Elimination zäher Schleim-
massen) und Blasenhöhle (1 : 50 Aq. wie Natr. carbonic), zu Klystieren
(III, pag. 333), Stuhlzäpfchen (kegelförmig zugeschnittene Seifenstückchen),
und als Zwischenmittel, um fette und harzige Substanzen für die Zwecke
der arzeneilichen Anwendung in Emulsion zu überführen (X, pag. 29).
Präparate: Emp laatrum saponatum, Seifenpflaster (Empl. Plumb.
simpl 60, Cer. alb. 10, Sapon. Yenet. pulv. 5, Camphor. 1, in Ol. Olivar. 4 sol.) ; als zer-
theilendes Mittel auf Drüsenanschwellungen, Gichtknoten etc.
Liniment um saponatum und Linim entum saponato - camphor atuvi •
s. Bd. I, pag. 244.
Pasta dentifricia dura et mollis. Pharm. Austr. (Bd. III, pag. 517).
Spiritus s aponatus; Seifengeist, Seifeaspiritus, (Sapon. oleac. 125, Spir.
Vin. conc. 750, Ol. Lavand. 2, Aq.dest. 250, [Pharm. Austr.]. ■ — ■ Sapon. oleac., Aq. Bosae
aa. 2, Spir. Vini. 3 (Pharm. Germ.); als Reinigungs- und Reizmittel für die Haut in Form
von Umschlügen, Einreibungen (wie Opodeldoc) und als Zusatz zu Bädern (x/4 — 1 Kilo
für 1 Vollbad).
Von medicamentösen Seifen finden sich ausserdem in Pharm. Germ. S ap o
jalapinus (VII, pag. 97) und Sapo terebinthinatus ; erstere nur für den innerlichen
Gebrauch, gleich der nicht mehr gebräuchlichen Guajack seife — Sapo guajacinus,
welche durch Erhitzen von 3 Th. Eesina Guajaci mit 12 Th. Aetzlauge und Verdunsten der
erhaltenen Seife zur Trockene erhalten wird. Die österr. Pharm, schreibt die The er seife
und die Schwefelseife vor (s. die betr. Art.). Im Arzeneihandel sind noch viele andere
medicamentöse Stoffe fuhrende Seifen zu haben. Man wendet sie zu dem Behufe an, um mit
Hilfe des fettsauren Alkalis die arzeneilichen Bestandtheile bis zum gefässreichen Chorion zu
leiten, in der Absicht, gewisse locale Veränderungen der Haut durch dieselben zu erzielen,
oder aber sie zur Entfaltung, allgemeiner Wirkungen dem Blute zuzuführen. Gleich den Salben
und Linimenten werden die mit Hilfe von "Weingeist oder Wasser verflüssigten Seifenpräparate
durch Druck in die Follikel gepresst und auf solche Weise ihren diffundirbaren Arzenei-
stoffen der Uebergang in den Kreislauf ermöglicht.
Auspitz hat eine Reihe von Vorschriften für die Bereitung und Anwendung
medicamentöser Seifen gegeben. Die Basis bildet bei den meisten derselben eine
Seifenmasse, die man durch längeres und inniges Mischen von 1 Th. ätzender Natronlauge
(spec. Gew. T33 = 30—31 pc. Natriumhydroxyd) mit 2 Th. eines Gemisches gleicher Gewichts-
mengen von geschmolzenem Rindstalg und Cocosnussöl erhält, und der die betreffenden Arzenei-
substanzen sorgfältig einverleibt werden. Die noch flüssige Masse wird zuletzt in Papier-
kapseln oder Formen gegossen, und wenn sie nach einigen Tagen fest geworden, die einzelnen
Stücke mit einer Enveloppe versehen. Je 100 Grm. der genannten Ingredienzen liefern bei-
läufig 250 Grm. Seife, welche Menge bei Bereitung der nachstehenden Erzeugnisse mit den
hier folgenden Quantitäten arzeneilicher Substanz versetzt ist. Auf solche Weise werden
dargestellt: Sapo benzoatus, Benzoeseife (mit 37 5 Benzoe in s. q. Alkohol. sol.),
Sapo camphor atus , Campherseife (37'5 Camphor. in Ol. Olivar. s. q. sol.), Sapo
ferratus s. martiatus, Eisenseife (150 0 Kali ferro-tartaric. in Aq. dest. s. q. sol.), Sapo
fellitus, Gallenseife (75'0 Fei. Tauri dep.), Sapo Graphititis, Graphitseife
(1000 Graphit, elutr.), Sapo Kalii jodati, Jodkaliumseife (37"5 Kai. jo dat. in Aq.
dest. s. q. sol.), Sapo Bosmarini, Rosmarin seife (75'0 Ol. Bosmarini), Sapo sul-
furis jodati, Jodschwefelseife (18'75 Svlfur. jodat. in s. q. Alkohol sol.), Sapo
Sulfuris kalini, Schwefelkaliumseife (1500 Kai. sulfurat. in s. q. Aq. dest. sol.,
Ol. Anisi, Ol. Bosmar. ana 12'5), Sapo vitellinus , E i dotterseife (Vitell. ovor. gallin.
N. 6, Ol. de Cedro 12'5). Verschieden von dieser Vorschrift ist die Bereitung jener Seifen,
wo einer der Fettbestandtheile, namentlich das Cocosöl, durch einen anderen arzeneilichen,
aber saponificirenden Körper ersetzt wird, so durch Leberthran oder Wallrath in der Lebe r-
thranseife (Sapo Olei jecoris AselliJ und der Spermacet- oder Wallrat hseife (Sapo
Cetacei), oder ihre Zusammensetzung in anderer Weise abweicht, so bei Sapo Kreosoti,
Kreosotseife (Liq. Kali caust. p. sp. 1'45, Ol. Cocois, Sebi bovini ana 75'0. Caleßant et
agitentur ad saponific. ; adm. Lapid. Bumic. pulv. 50' 0, Kreosoti 12' 5, Ol. Cinnam. 4 0, Ol.
Citri 8'0J, Sapo Sty racis , Storaxseife (WO'O Styr. liq., 6'0 Bals. peruv, 250'0 Sapo),
Sapo ter ebint hinatus, Terpentinseife (Sebi bovini, Terebinth. venet., Liq. Natr.
caust. ana lOO'O. Calef. et redig. agitando in sapon., cid adm. Ol. de Cedro 25'0j. Wird in dieser
Vorschrift der Terpentin durch Bitumen Fagi ersetzt, so resultirt Sapo piceus e Bitumine
Fagi, Buchentheerseife. Auf gleiche Weise werden aus anderen Theerarten (Ol. Busci,
Ol. cadinum) die betreffenden Seifen bereitet. Ausser diesen sind noch zu erwähnen: Sapo
boraxatus, Boraxseife (Borac. 1., 12 Sapon. cocoini odorat.J , Sapo carbolicus s.
phenylicus vel desinfectans, Carbolseife (Acid. carbol. 1 : 10 Sapo mit Ol. Citri parfumirt).
Sap o, chlor atus, Chlor seife (Calcar. chlor at. 1, Sap. in pulv. 8) und S ap o tannicus,
Tanninseife (Acid. tannic. 1:16 Sap. in pulv).
472 SEIFEN. — SELBSTDISPENSATION.
Literatur: Au spitz, Die Seife und ihre Wirkung auf der Haut. Leipzig 1867.
— Bernatzik, Handb. der allg. u. spec. Arzeneiverordnungslehre. Wien 1878. — Hebra
uud Kaposi, Lebrb. der Hantkrankheiten. Erlangen 1874—1876. — M. Kaposi, Pathol.
und Therapie der Hautkrankheiten. Wien 1879. — J. Munk, Virchow's Archiv. 1880. —
11. Kobert, Schmidt's Jahrb. 1881. — Pick und Auspitz, Archiv und Vierteljahrsschr.
für Dermatologie und Syphilis. „ , . ,
D 6 F 21 et t Z 1 K,
Selbstdispensation der Aerzte. Das der Organisation des Heilgewerbes
fast in allen civilisirten Staaten zu Grunde liegende Princip der Trennung der
Arzneiverordnung von der Arzneibereitung, des ärztlichen und des pharm aceutischen
Berufes das eine medicinalpolizeilich wünschenswerthe Controle der beiderseitigen
Thätigkeiten gestattet, legt dem die Heilkunst in Anspruch nehmenden Kranken
Opfer auf, die in beschränkten Lebensverhältnissen nur schwer ertragen werden,
während es ausserdem die Schnelligkeit der Hilfeleistung zuweilen erheblich ver-
zögert. Es sind daher in den Medicinalordnungen aller derjenigen Staaten, welche
das erwähnte Princip angenommen haben, Ausnahmen davon namentlich zu Gunsten
solcher Aerzte zugelassen worden, welche in Orten wohnhaft sind, in denen oder
deren nächster Umgebung eine öffentliche Apotheke sich nicht befindet. Solchen
Aerzten ist die Führung einer Haus- oder Nothapotheke gestattet, worunter indess
nur die Abgabe von Medicamenten zum Gebrauche in ihrer Praxis, nicht aber ein
Arzneihandel im Allgemeinen zu verstehen ist. Nach der preussischen Apotheker-
ordnung hat jeder Arzt, für dessen Wohnort obige Bedingungen zutreffen, Anspruch
auf Haltung einer Hausapotheke, ist auch bezüglich der Zahl der zu haltenden
Arzneimittel nicht beschränkt, unterliegt aber d&n Bestimmungen über Revisionen
und Taxen der Apotheker. Dasselbe gilt für Bayern , wo ausserdem überhaupt
jedem Arzte die Abgabe einer Anzahl namhaft gemachter Arzneien in Nothfällen
gestattet ist. Die in den übrigen deutschen Staaten hierüber bestehenden Vor-
schriften sind den angezogenen grösstentheils ähnlich. In Oesterreich wird bezüglich
der Führung und Haltung von Hausapotheken der Aerzte und Wundärzte bestimmt,
dass die Präparate und Composita zum innerlichen Gebrauch nicht selbst ver-
fertigt, sondern aus einer Apotheke bezogen sein müssen, was durch ein Fassungs-
buch nachzuweisen ist, ferner, dass auf die Abgabe derselben die öffentliche
Arzneitaxe Anwendung findet. Der Inhalt der Arzneien ist auf der Signatur stets
anzugeben. — Die Führung einer Hausapotheke darf bewilligt werden, wenn die
nächste Apotheke sich mindestens eine halbe Meile von dem Wohnsitze des
betreffenden Arztes oder Wundarztes entfernt befindet.
Eine Ausnahme von dem obenerwähnten Principe ist fast überall zu
Gunsten der homöopathischen Heilmethode gemacht, insofern als den dieser Richtung
huldigenden Aerzten nach einer formellen Prüfung oder auch ohne eine solche
das unbeschränkte Dispensirrecht eingeräumt wird. In Oesterreich ist durch Erlass
vom 9. December 1846 den homöopatischen Aerzten das Dispensirrecht nur mit
der Einschränkung freigegeben, dass sie die Stammtincturen aus Apotheken beziehen
und den Inhalt jeder verabreichten Arznei auf der Etiquette angeben. In Preussen
haben die homöopathischen Aerzte vor der Erlangung des Dispensirrechts sich
einer Prüfung zu unterziehen, sind aber sonst in der Ausübung desselben un-
beschränkt. Auch an eine Taxe sind sie bei Abgabe der Arzneien nicht gebunden,
während für die aus öffentlichen Apotheken dispensirten homöopathischen Medica-
mente eine solche besteht. Ueberhaupt leiden alle bezüglich des homöopathischen
Dispensirrechts in Preussen bestehenden Vorschriften an grosser Unklarheit und
Willkür. In Baiern ist den homöopathischen Aerzten das Dispensirrecht nicht
gewährt, in Württemberg nur an den Orten, wo eine mit homöopathischen Mitteln
versehene Apotheke nicht besteht.
Fast allgemein und nur mit der Einschränkung, dass die Gifte von der
Abgabe ausgeschlossen sind, sind dagegen die Thierärzte im Genuss des Dis-
pensirrechts, und zwar weil, wie es in den betreffenden preussischen Bestimmungen
heisst: „die strengeren, in Bezug auf das Apothekenwesen erlassenen, lediglich
SELBSTDISPENSATION. — SELBSTENTWICKLUNG.
47 -J>
die Sicherung des Lebens und der Gesundheit der Menschen zum Zwecke habenden
Vorschriften auf die Ausübung der Thierheilkunde keine Anwendung finden können".
Das niederärztliche Personal besitzt kein eigentliches Dispensirrecht, doch
ist den Hebammen die Mitführung und Abgabe einer beschränkten Zahl in der
Geburtshilfe erforderlicher Arzneimittel gestattet, respective zur Pflicht gemacht.
Böttger.
Selbstentwicklung , Selbstwendung. Nicht so selten rectificirt sich die
Querlage (vgl. den Artikel „Kindslage" , Bd. VII , pag. 403) spontan. Beginnen
die Wehen allmälig stärker zu werden, fliessen die Fruchtwässer nicht plötzlich
ab und befindet sich eines der beiden Stammesenden, der Kopf oder der Steiss,
in der Nähe des Beckeneinganges, so kann es ausnahmsweise geschehen, dass
einer dieser beiden grossen Fruchttheile herabgedrängt wird und sich die Quer-
lage spontan in eine Längslage umwandelt.
Diese Lageveränderung ist aber nicht mit der s. g. Selbstwendung zu
verwechseln.
Bei der Selbstwendung findet die spontane Umwandlung der Quer-
lage in eine Längslage erst dann statt, nachdem die Schulter nach abgeflossenen
Wässern bereits in den Beckeneingang herabgetreten, etwa gar der Arm schon
vorgefallen war. Die Schulter steigt von selbst in die Höhe und statt ihrer stellt
Fis
Fiz. 42.
43.
sich der Steiss ein. Die Selbstwendung nimmt viele Stunden in Anspruch. Nach
Bjenbaüx t) wirkt in dem Momente , wo der obere , der vorliegenden Schulter
entsprechende Rumpftheil nicht mehr weiter rücken kann, die Gewalt der Wehen
mit so überwiegender Kraft auf den unteren Rumpftheil, dass der in der Wirbel-
säule fortgesetzte Druck, während er den unteren Rumpftheil herabdrängt, im
Bogen auf dem oberen sich weiterpflanzend diesen zur Aufwärtsbewegung, d. h.
zum Zurückweichen in das grosse Becken zwingt. Die Selbstwendung ist ungemein
selten , viel seltener als die Selbstentwicklung. Ich beobachtete sie unter mehr
als 7000 Geburten bisher erst einmal. 2)
Wesentlich verschieden von der Selbstwendung ist die Selbstentwick-
lung. Bei dieser ist der Geburtsvorgang folgender: Der vorgefallene Arm tritt
mit der Schulter immer tiefer herab, bis letztere zwischen den Genitalien sichtbar
wird. Hierauf stemmt sich die Schulter unter der Symphyse oder den absteigenden
Schambeinast der einen Seite an. Sobald sich der Halsausschnitt in die Symphyse
hineingelegt, wobei der ursprünglich dem einen Darmbeine aufgelagerte Kopf
oberhalb der Symphyse, nach hinten gedrängt, dem Steisse dicht anliegt, sich die
Frucht daher um ihre Längsachse gedreht hat, dreht sie sich nun um ihre Quer-
achse. Der Rumpf tritt nämlich an der entgegensetzten Seite so über das Perineum
hervor, dass neben dem Arme zuerst der Seitentheil des stark geknickten Thorax,
dann die Rippen, das Becken, die Füsse kommen und zuletzt der hinaufgeschlageue
andere Arm mit dem Kopfe folgt. In manchen Fällen , namentlich bei kleinerer
474
SELBSTENTWICKLUNG.
Frucht und raschem Geburtsacte, treten die hinaufgeschlagenen Beine gleichzeitig
mit dem zweiten Arme und dem Kopfe hervor (Fig. 42, 43, 44, 45). Hierbei
kann sich der Rücken entweder nach auf- oder nach abwärts wenden, wie ich
dies einige Male beobachtete.
Der ganze Vorgang ist daher nichts Anderes, als eine spontane Wendung
auf den Steiss im Beckenausgange bei fixirter Schulter, während bei der Selbst-
wendung die Schulter in die Höhe steigt um dem Steiss Platz zu machen.
Zum Zustandekommen der Selbst-
wendung gehört eine womöglich kleine, Flg' 44'
nicht ausgetragene oder abgestorbene,
matsche, compressible Frucht, wenn auch
nicht so selten grosse Früchte mittelst
der Selbstentwicklung geboren werden.
Ich beobachtete einen Fall, in dem die
Frucht 3010 Grm. wog. 3)
Unbedingt nothwendig ist eine sehr
energische, lange andauernde Wehen-
thätigkeit und Dehnbarkeit der äusseren
Genitalien. Wünschenswerth ist ein weites
Becken , welches den Eintritt der Selbst-
entwicklung begünstigt, doch ist die Weite
des Beckens bei kleiner Frucht nicht
absolut nöthig, wie dies ein Fall Grenser's 4) bezeugt, wo das Becken rachitisch ver-
engt war. Die Enge des Beckens darf sich aber blos auf die Conjugate beschränken.
Die Frucht verliert, wenn sie nicht schon von früher her abgestorben
ist, in der Regel bei diesem schweren Geburtsvorgange ihr Leben. Ausnahms-
weise nur wird sie lebend geboren. Spiegelberg5) erwähnt, es seien 14 ein-
schlägige Fälle bekannt. Mir sind (die von Spiegelberg 6) erwähnte Dissertation,
der er seine Daten entnimmt, steht mir nicht zu Gebote) blos 11 Fälle bekannt,
und zwar je einer von Vezin7), Delmas8), Hirsch9), Betschler 10), Metzler11),
Kuhn ia), Jakesch 13) und je zwei von Champion 14) und Hinterberger 15),
ausserdem ein von mir be-
obachteter, bisher nicht ver-
öffentlichter. Das schwerste
dieser Kinder wog (im Kuhn-
schen Falle) 2520 Grm., bei
einer Länge von 45*5 Ctm.
Was die Frequenz an-
belangt, so sind die Angaben
sehr verschieden. Ricker 16)
fand unter 220.000 Gebur-
ten 10 Selbstentwicklungen
(0-004%), Busch") unter
6180 Geburten 2 (0-03%),
Späth unter 12-523 Gebur-
ten 5 (0-03) , Kuhn unter
17.375 Geburten 9 (0-05%),
ich unter 4698 Geburten 7
der Operationsfrequenz des
Fig. 45.
(0-14° 0). Diese bedeutenden Differenzen stehen mit
Arztes im gleichen Verhältnisse. Die Zahlen haben
daher keinen absoluten Werth, sie ergeben nur so viel, dass die Selbstentwicklung
ein seltenes Ereigniss ist. Häufiger beobachtet man sie bei Mehrgebärenden, weil
diese ausgedehntere Weichtheile und energischere Wehen als Primiparae haben.
Relativ häufig wird das zweite Zwillingskind auf diese Weise geboren (Delmas,
Vezin, Betschler, Hinterberger, Baudelocque der Bruder 18), Hersing19),
Leopold^), Velpeau21), Deliligny 22), mein Fall u. A.).
SELBSTENTWICKLUNG.
475
Fig. 46.
Die Prognose bezüglich der Mutter ist nicht so ungünstig, als sie in der
Regel gestellt wird. Sind alle die erwähnten Bedingungen vorhanden, ist die Mutter
bei Kräften und wohl, so kann man die Evolutio spontanea ohne Gefahr abwarten,
ja durch Darreichung von Ergotin sogar erzwingen. Bei abgestorbener, nicht
ausgetragener Frucht bis gegen das Ende des 8. Monates hin ist die Prognose
der Selbstwendung sogar besser, als jene der Wendung mittelst innerer Handgriffe,
so dass man besser daran thut, die Geburt
einer derartigen Querlage von den Natur-
kräften beenden zu lassen, als operativ ein-
zugreifen. Dort dagegen , wo die Frucht
gross , die Wehenthätigkeit nicht sehr kräftig,
die Mutter schwach oder erschöpft ist , darf
man selbstverständlich die Selbstentwicklung
nicht abwarten, denn dies hiesse, das Leben
der Mutter auf das Spiel setzen.
Viel seltener als die Selbstentwicklung
ist der Partus conduplicato cor-
pore, der Durchtritt der Frucht
mit gedoppeltem Körper. Hier findet
keine Wendung auf den Steiss statt, sondern
die quergelagerte Frucht wird in ihrer Lage
bei stark geknickter Wirbelsäule durch das
Becken getrieben. Zuerst kommt der Arm
mit der Schulter hervor, dann der geknickte
Thorax, hierauf der in die Lendenwirbelsäule
hineingedrängte Kopf mit dem Arme und
Steisse, zuletzt treten die Füsse hervor
(Fig. 46). Begünstigt wird dieser Durchtritt,
wie ich es beobachtet habe23), durch ein
seiner ursprünglichen Anlage nach weit an-
gelegtes Becken, welches in der Gonjugata
vera verkürzt ist. Durch diese Verengerung
wird die Selbstwendung auf den Steiss im
Beckenausgange unmöglich. Ein solcher Durch-
tritt ist nur bei kleiner compressibler Frucht
möglich. Die Frucht kann auf diese Weise
nie lebend geboren werden.
Was bezüglich der Mutter bei der Selbstentwicklung gesagt wurde, gilt
auch für die Geburt conduplicato corpore.
Literatur: *) Birnbaum, Die Selbstentwicklung etc. M. f. G-. u.E. Bd. I,
pag. 321. — 2) Kleinwächter , Wissenschaft!. Bericht. Prager Vierteljahrsschr. Bd. CVIII,
pag. 79. — 3) Kleinwächter, eod. loc. Bd. CXVII, pag. 18. — 4) G-renser, Fünfzigster
Jahresbericht etc. M. f. G. u. E. Bd. XXVII, pag. 445. — 6) Spiegelberg, Lehrbuch
der G-eburtsh. I. Aufl. 1878, pag. 541. — 6) Simon, Die Selbstentwicklung. Inaug.-Diss.
Berlin 1867. — 7) Vezin, v. Siebold's Journ. 1831. Bd. XI, 3. pag. 492. — 8) Delmas,
Froriep. Notiz. XLI. 4. Juni 1834. — 9) Hirsch, Casper's Wochenschr. 1840. pag. 487.
— 10) Betschier, De nat. aux. dystoc. e situ infant. vitiose ortas absolv. Comni. med.
obstetr. Vratislav 1834. — u) Metzler, Med. Zeitung Russlands. 1858. — 12) Kuhn,
Zeitschr. der Gesellsch. der Wiener Aerzte. XX. Jahrg. 1864. pag. 233. — 13) Jak e seh,
Prager med. Wochenschr. 1877. Nr. 13 u. 14. — 14) Champion, Citirt bei Velpeau,
Traite compl. de l'art des aecouch. Bruxell. 1835. pag. 377 etc. u. 378, Bd. I. — 15) Hinter-
berger, Oesterr. Wochenschr. f. Medic. 1834. Nr. 13— 15. — 16) Eiecker, Siebold's
Journ. 1828. VII. 3. pag. 963. — ") Busch, Geburtshilfl. Abhandl. Marburg 1826. —
18) Baudelocque der Bruder, citirt bei Birnbaum, 1. c. pag. 347.— 19) Hersing,
N. Z. f. G. Bd. XXIX, pag. 75. — 20) Leopold, Citat von Buxbaum, pag. 347. —
21) Velpeau, Traite etc. pag. 383. — 22) Deligny, citirt bei Velpeau. — 2S) Klein-
wächter, Beitrag zur Lebre von der Selbstentwicklung. Archiv für Gyn! Bd. II, pag. 111.
— Vergleiche ausserdem noch: Denman, London med. Journ. Vol. V, 1785. Art. V,
pag. 371. — Douglas , Expl. of the real proc. of the spont. evol. etc. 2. ed. Dublin 1819. —
476
SELBSTENT WICKLUNG.
SELBSTMORDSTATISTIK.
D'Outrepout , Von der Selbstwendung etc. Würzburg 1817. — Goocb, Med. T. VII.
London 1820. X. pag. 230. — W. J. Schmitt, Rhein. Jahrb. Bd. III, St. 1, pag. 114.
Bonn 1821. — Hayn , Ueber die SelbstweDdung. Würzbnrg 1824. — Burns, Principles etc.
9. ed. pag. 424. — Hanssmann, M. f. G. n. F. Bd. XXIII, pag. 202 u. 361. — Barnes.
Ostetr. Op. 2. ed. pag. 107. — Chiara, La eroluziuve spontanea etc. Mailand 1878 und
Annali di Ostetricia etc. Mai 1878. — A.Ford, Brit. med. Journ. Jan. 1878. — Bradley,
Brit. med. Journ. Juni 1878. i- 1 • •• i *
Klemwachter.
Selbstmordstatistik. In der Frage von der Willkürlichkeit der mensch-
lichen Handlungen spielt die Selbstmordstatistik eine wichtige Rolle ; hierin wurzelt
ihre hauptsächliche Bedeutung für die Mediciu. Gerade die überraschend grosse
Regelmässigkeit und Gleichmässigkeit der Ziffern der Selbstmordstatistik , eine
Regelmässigkeit , welche in Nichts derjenigen anderer Erscheinungen auf dem
Gebiete der Bevölkerungsstatistik (Geburten, Eheschliessungen, Todesfälle) nachsteht,
ja sogar dieselbe noch übertrifft, hat der materialistischen Auffassung von der
menschlichen Willensfreiheit Vorschub geleistet.
„Anstatt von moralischer Willkür oder Freiheit zu reden," sagt Morselli x),
„muss man sich in der Psychologie der Individuen und Völker mit dem Gedanken
befreunden, der Selbstmord sei die functionelle Aeusserung eines Organs , des
Gehirns, unter dem Einflüsse der zahlreichen inneren und äusseren Einwirkungen,
denen der menschliche Organismus beständig unterworfen ist."
Während die Einen (Quetelet 2), Wagner 3), Guerry 4), Morselli) die
Ansicht vertreten, der Selbstmord sei ein blosses Naturphänomen, Folge eines
naturnothwendigen Gesetzes, kraft dessen der Einzelfall lediglich ein Ergebniss
der bedingenden materiellen Ursache sei, vertreten Andere (Oettingen g), Masaryk 6)
auch bezüglich des Selbstmordes die Lehre von der menschlichen Willensfreiheit.
Es ist hier nicht der Ort, auf diese Streitfrage über die Natur des Selbst-
mordes und die Beweisfähigkeit der Selbstmordstatistik für oder wider die Freiheit
und Zurechnungsfähigkeit des Menschen näher einzugehen ; das nachstehende Referat
muss sich darauf beschränken, die wesentlichsten Thatsachen der Selbstmordstatistik
wiederzugeben. — Die Tabellen sind zum grossen Theile Morselli's ausgezeich-
netem Werke über den Selbstmord entnommen.
1. Verbreitung, Zunahme und Regelmässigkeit des Selbstmordes.
(Tab. i.) Europäische Selbstmordziffern in den letzten 25 Jahren (1855 — 1879).
Länder
Auf 1 Million Einwohner kommen Selbstmorde im
Durchschnitt der Jahre
1855—1860 ! 1861—1865
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
Irland
Bussland
Finnland
Slavonien und Croatien
Schottland
Italien
England und Wales
Norwegen
Belgien ......
Schweden
Bayern
O esterreich . . . .
Preussen
Frankreich ....
Württemberg ....
Baden
Schweiz
Dänemark
Thüringen*) . . . .
Sachsen .
65
94
(50)
(75)
(76)
123
110
276
251
(14)
(28)
66
85
(60)
76
83
122
124
288
264
1866—1870 | 1871—1875
15
(26)
(28)
39
30
67
76
66
85
90
78
142
135
141
277
(239)
293
17
(28)
(29)
(30)
34
35
66
73
69
81
91
94
134
150
(162)
155
258
*43
267
1874—1878
17
33
34
38
69
71
78
91
100
130
152
160
169
177
214
255
305
334
*) Thüringen mit Ausschluss von Eeuss älterer Linie.
Die eingeklammerten Zahlen sind unsicher.
SELBSTMORDST ATI STIK.
477
Zahl der Selbstmorde in zwanzig Ländern Europas aus der neuesten fünfjährigen
(Tab. 2.) Beobachtungsperiode.
Selbstmordziffer
Absolute Zahl der Selbstmorde
auf 1 Mill. Einw.
Länder
Beob-
in den einzelnen Jabren der
Jahres-
nach der Reihenfolge
achtungs-
Columne 2 angegebenen Beob-
durch-
Erstes
Letztes
Fünf-
der Frequenz
jahre
achtungsperiode
schnitt
Beobach-
tungs-
Beobach-
tongs-
jähriger
Durch-
I. | II. | III. | IV. | V.
jahr
jahr
schnitt
1.
2.
3. 4. | 5. | 6. | 7. 1 8.
».
10. | ll.
1874-
-1878
99
75 111 90
93
94
17
17
17
2. Russland . . .
1870-
-1875
(2006)
(2083) (2139) (2292)
(2371)
(2178)
(26)
(30)
(28)
3. Finnland . . .
1873-
-1877
41
64
70
68
70
63
22
35
33
4. Croatien u. Slav.
1874-
-1878
45
51
46
75
82
60
26
44
34
5. Schottland . . .
1871-
-1875
116
106
120
109
123
115
34
35
34
6. Italien ....
1874-
-1878
1015
922
1024
1139
1158
1052
37
41
38
7. England u. Wales
1873-
-1877
1592
1601
1770
1699
1764
1685
67
71
69
8. Norwegen . . .
1872-
-1876
132
126
139
144
142
136
73
71
72
9. Belgien ....
1874-
-1878
374
336
439
470
490
422
70
89
78
10. Schweden . .' .
1874-
-1878
.394
376
409
430
411
404
93
91
91
1 1. Bayern ....
1873-
-1877
447
450
459
522
650
506
90
127
100
12. Oesterreich . .
1873-
-1877
2463
2617
2741
2938
3148
2781
117
144
130
13. Preussen. . . .
1874-
-1878
3490
3414
3448
4563
4689
3921
137
181
152
14. Prankreich . . .
1874-
-1878
5617
5472
5804
5922
6434
5850
154
171
160
15. "Württemberg . .
1873-
-1876
304
282
334
343
(352)
(303)
164
(180)
(169)
1874-
-1878;
244
226
259
291
317
269
163
206
177
17. Schweiz ....
1876-
-1878!
(470)
(490)
540
600
642
(548)
(196)
230
(214)
18. Dänemark . . .
1872-
-1876!
(590)
(588)
(578)
(586)
(609)
(590)
(263)
(255)
(258)
19. Thüringen*) . .
1874-
-1878!
144
184
217
259
239
209
215
342
305
20. Königr. Sachsen
1874-
-1878.
723
745
981
1114
1126
939
231
408
338
Zusammen . .
110716Fälle|
20306
20208
21638
23654
24910
22125
80
97
86
Die vorstehenden Tabellen 1 und 2 , in welchen nach Oettingen die
Selbstmordziffern (d. i. das Verhältniss der Zahl der Selbstmorde zu der Zahl der
Bewohner) für 20 Länder Europas zusammengestellt sind, ergeben:
In allen Ländern Europas zeigt sich eine bedeutende Zunahme des Selbst-
mordes. Wie bezüglich der Geisteskrankheiten hat man den Einwand erhoben,
dass diese Zunahme nur eine scheinbare sei und durch die genaueren Registrirungen
der neuesten Zeit bedingt werde.
Sei dem wie ihm wolle, so ist jedenfalls nach Tab. 2, welche die Ergeb-
nisse der letzten fünfjährigen Beobachtungsperiode wiedergiebt und bei welcher
daher die beregte Fehlerquelle vollkommen ausgeschlossen ist, seit 1875 die
allgemeine Zunahme der Selbstmorde in Europa unverkennbar.
Selbstmorde kamen vor in den 20 Ländern Europas zusammen (nach
Tabelle 2):
1875 . . . 20 208 = 80 auf 1 Million Einwohner
1876 . . . 21638 =85 „1 „ „
1877 . . . 23 654 = 92 „ 1 „ „
1878 . . . 24 910 = 97 „ 1 „ „
Durchschnittlich kommen hiernach in Europa 22 602 Selbstmorde oder
96 auf 1 Million Einwohner vor. Diese Ziffern dürften aber hinter der Wirklichkeit
zurückbleiben, da begreiflicherweise nicht alle Selbstmorde zur Kenntniss der
Behörden gelangen. Die Selbstmordversuche werden überdies meist nicht registrirt.
Masabyk glaubt die wirklich verübten und versuchten Selbstmorde in Europa auf
50000 jährlich schätzen zu sollen.
*) Thüringen mit Ausschluss von Reuss älterer Linie. — Die eingeklammerten
Ziffern sind nur annähernd richtig. Um den vollständigen Ueberblick zu ermöglichen, sind
sie gleichwohl aufgenommen worden.
478
SELBSTMORDSTATISTIK.
Jedes Land zeigt eine ihm eigene Selbstmordfrequenz, die sich innerhalb
geringer Schwankungsgrenzen bewegt und sich nie plötzlich , sondern nur
allmälig ändert, offenbar weil, wie Oettingen meint, die bestimmenden Einflüsse
in einem ganzen Gesellschafts- und Volkskörper relativ stetige, bleibende sind. Die
diese Eigenthümlichkeit bedingenden Momente , wie Race , Religion , Culturstand-
punkt etc., werden unten einer kurzen Erörterung unterzogen werden.
Im Centrum von Europa erreicht der Selbstmord seine höchste Intensität.
Die grösste Selbstmordziffer weist das Königreich Sachsen auf. „Von allen Seiten
der Windrose hebt sich allmälig v je nach der näheren oder ferneren Berührung
mit dem sächsischen Chimborasso, das colossale Selbstmordgebirge. Von der
sarmatischen Ebene, wo die Selbstmordziffer nur 30 beträgt , geht es immer auf-
wärts nach Deutschland zu; in den Ostseeprovinzen erreicht die Ziffer schon 65;
in Ost- und Westpreussen fast 100 , in Brandenburg über 200 , in der Provinz
Sachsen 235, um im Königreiche Sachsen den Gipfelpunkt (neuerdings über 400 !)
zu erreichen. Ebenso von Westen her. Die Rheinlande — mit der belgischen
Ziffer verwandt — zählen nur 65 Selbstmorde auf 1 Million Einwohner, West-
phalen schon einige 70 , Hannover über 140 , die Thüringen'schen Lande , die
schon an Sachsen stossen, etwas über 300 ! Und vom Süden her tritt uns dieselbe
Erscheinung entgegen, während weiter im Norden (Schleswig-Holstein mit etwa 220
als Selbstmordziffer) der vermittelnde Einfluss Dänemarks (mit 256 Selbstmorden
auf 1 Million Einwohner) sich in einer Art von selbständigem Nebengebirge aus-
prägt oder sozusagen ein zweites Gravitationscentrum für die germanische Selbst-
mordbewegung aufweist. Dagegen zeigen Baiern und Oesterreich den durch-
schlagenden Einfluss des benachbarten Sachsens. Der Süden Baierns erreicht kaum
die Ziffer 70; der Durchschnitt des ganzen Königreichs ist 100, aber das an
Sachsen stossende Oberfranken steigt bis 150 und 160. Oesterreich, wenn wir
von der ansteckenden Umgebung Wiens absehen, hat durchschnittlich 120 — 130
Selbstmorde auf 1 Million Einwohner. Aber in den Sachsen naheliegenden Provinzen
Mähren 120, Böhmen 180 und Schlesien sogar 225!" (Oettingen).
2. Einfluss des Geschlechts auf die Neigung zum Selbstmord.
(Tab. 3.) Einfluss des Geschlechts auf die Neigung zum Selbstmord.
Länder und Perioden
Selbstmorde
auf je l Million
M.
W.
Auf
100 weibl.
kommen
männliche
Schweden 1856—1860
Norwegen 1856—1860
Dänemark 1^56—1860
Niederlande 18H9— 1872
England 3872—1876
Preussen 1873—1876
Hessen-Darmstadt. . . 18'>7— 1871
Bayern 3871—1876
Baden 1*70—1874
Sachsen 1871—1876
Württemberg 3872—1875
Schweiz 1876
Belgien 1870-1876
Frankreich 1871—1876
Oesterreich 1873-1877
Ungarn 1851—1854
Italien 1877
118
145
406
58
107
210
309
148
257
447
272
363
116
290
228
48
61
27
44
138
11
35
52
59
34
46
109
48
48
21
63
47
12
13
429
350
294
533
302
400
506
431
558
434
567
756
551
461
483
400
469
Wie Tab. 3 ergiebt , ist der Selbstmord bei den Männern bedeutend
häufiger als bei den Frauen. Im Allgemeinen kommen auf eine Selbstmörderin
3 — 4 Selbstmörder.
SELBSTMORDSTATISTIK .
479
(Tab. 4.)
3. Einfluss des Alters.
Alter der Selbstmörder, in Preussen (1876—1878).
Von je 1O0O00
Lebenden sind durcb Selbstmord gestorben
im Alter von
1876
1877
1878
männl.
weibl.
männl. weibl.
männl. | weibl.
unter bis 15 Jahren
3
13
29
23
33
46
58
72
72
60
0-2
5
9
6
6
10
12
13
13
14
0-7
15
32
28
32
50
75
75
67
46
0-3
7
8
6
7
10
9
14
13
12
08
16
31
31
37
55
73
82
75
65
0-3
7
9
7
8
10
13
13
19
6
über 15 „ 20 „
20 „ 25
„ 25 „ 30 „ ...
„ 30 „ 40
„ 40 „ 50
„ 50 „ 60 „
„ 60 „ 70
„ 70 „ 80 „
Die Selbstmordziffer nimmt mit zunehmendem Alter stetig zu und erreicht
im ersten Greisenalter ihr Maximum. Beide Geschlechter folgen im Allgemeinen
demselben Gesetze, doch zeigt das weibliche in der Altersclasse 20 — 25 eine
höhere Ziffer als in der Altersclasse 25 — 40 und überhaupt dem männlichen
Geschlechte gegenüber in den jüngeren Altersstufen eine relativ grössere Selbst-
mordtendenz. Noch deutlicher als in der obigen Tabelle für Preussen findet sich
diese Eigenthümlichkeit des weiblichen Geschlechts in der Selbstmordziffer anderer
Länder ausgeprägt (s. Moeselli).
4. Einfluss des Civilstandes.
Die Ledigen, Verwittweten und Geschiedenen tendiren erheblich mehr zum
Selbstmord als die Verheiratheten. Die grösste Selbstmordziffer zeigen die Geschie-
denen. Nach Moeselli beträgt die Verhältnisszahl der Verheiratheten = 100
gesetzt, die für die Ledigen in Italien 108, in Frankreich 112, in Württemberg
143 5 für die Verwittweten in Württemberg 156, in Italien 157, in Frankreich 196.
Das Wittwenthum und noch mehr die Ehescheidung scheint für die Männer
grössere Verluste herbeizuführen als für die Frauen und der ledige Stand für die
ersteren, nicht aber für die letzteren die Selbstmordfrequenz zu vergrössern:
Die Verhältnisszahl bei den Verheiratheten = 100 gesetzt, ergiebt sich
für beide Geschlechter folgende Reihenfolge:
Verheirathete
Ledige
Verwittwete
Geschiedene
In Frankreich j M.
1863—1868 1 W.
100
111
256
—
100
94
213
—
In Italien f M.
100
120
235
—
1873—1877 1 W.
100
90
147
—
In Württemberg r M.
1846—1860 l W.
100
—
258
644
100
—
200
260
In Sachsen j M.
100
—
234
574
1848—1857 i W.
100
—
189
536
5. Einfluss des Berufs.
Bei der grossen Schwierigkeit, die Zahl der Lebenden der einzelnen
Berufsarten mit Sicherheit festzustellen und die verschiedenen Berufe zu classificiren
(cf. „Berufsstatistik"), dürfen die statistischen Ergebnisse bezüglich des Ein-
flusses des Berufes auf die Selbstmordfrequenz . nur mit grosser Reserve auf-
genommen werden. In der That gehen denn auch die hierauf bezüglichen Angaben
der Autoren auseinander. Moeselli giebt folgende, auf Italien sich beziehende
Zusammenstellung :
4S0
SELBSTMORDSTATISTIK.
(Tab. 5.) Einfluss des Berufs auf die Neigung zum Selbstmord.
Italien
Jahre 1866—1876
Kategorien des Berufs
Angehörige neben-
geuannter Kate-
gorien auf 1000 der
Bevölkerung
männl. weibl. zus.
B.
Angehörige neben-
genannter Kate-
gorien unter
1000 Selbstmördern
männl. weibl. zus.
Selbstmorde auf
l Mill. Angehörige
derselben Kategorie
männl. weibl.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
vni.
ix.
x.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
Urproduction .
Industrie . . .
Handel ....
Transportwesen
Unbewegl. u. bewegl
Eigenthum . .
Persönliche Dienste
Landesvertheidigung
Oeffentl. Verwaltung
Cultus ....
Rechtspflege . .
Gesundheitspflege
Unterricht u. Erzieh
Schöne Künste . .
Wissensch. u. Liter.
Gewerbebetrieb in
Umherziehen . .
Personen ohne be
stimmten Beruf .
Personen zu Lasten
Anderer lebend und
Berufslose . . . .
Beruf unermittelt .
423-2'227-8
143-2
12-4
19-5
30-6
12-5
10-8
9-9
8-8
1-9
3-2
1-8
2-8
1-0
101-9
2-4
0-6
265
22-3
0-2
22
0-9
2-1
0-2
0-02
1-4 0-3
34-5 j 13-9
282-3 597-9
326-0
122-7
7-5
101
28-5
17-7
5-4
5-2
5-6|
1-0
2-o;
2-0
a
0-5
228-3
2325
69-6
38-3
106-7
29-6
88-0
65-0
9-5
6-9
10-5
18-3
4-2
9-9
0-9i 7-4
l
24-2Ü 25-2
439-2
386-1
184-5
16-6
32
92-5
73-8
107
1-61
3-21
1-61
5-9
17-6
15-9 172-7
34-0! 39-6
260-3
222-7
58-9
31/2
103-8
38-5,
70- 1!
51-8
7-8
55
8-9
15-2
3-7
7-91
7-0
23-7
47-8
85-2
26-7
80-4
277-0
152-6
172-8
116-7
404-1
324-3
53-5
217-8
200-9
355-3
90-9
(618-3)
260-7
36-1
21-6
230
87-0
(433)
44-5
41-1
6-0
28-0
195
99
252-7
161
21-6 6-5
25-0
56-7
246-5
154-7
113-5
68-1
404-1
324-3
453
217-8
163-3
1753
94-0
618-3
259-3
30-9
80
Summa. . ||L0000; 1000-0 1000-0 1000 0J 10000 lOOO'O — | — i -
Hiermit stimmen unter Anderem die Ergebnisse Wagner's nicht über-
ein, der bezüglich der Selbstmordzitfern der einzelnen Berufszweige folgende
Scala gefunden. Dieselbe beginnt mit der höchsten und endet mit der niedrigsten
Selbstmordziffer : Dienstboten, Militär, Berufslose, liberale Professionen und höher
gebildete Stände, handel- und gewerbetreibende Classe, Landbevölkerung.
Im Allgemeinen scheint den auf Kopfarbeit angewiesenen Berufen die
höchste Selbstmordfrequenz eigen zu sein.
Besondere Beachtung verdient schliesslich die sehr bedeutende Selbstmord-
tendenz beim Militär. So kamen z. B. in Preussen auf 1 Million Individuen
Selbstmörder :
Im Jahre . 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878
20— 30jähr. Männer überhaupt 236 211 238 236 263 308 321
Beim Militär 621 342 429 396 468 540 369.
6. Einfluss des Wohnsitzes.
(Tab. 6.) Selbstmorde in Stadt und Land.
Länder und Perioden
Selbstmorde auf
1 Mill. Einwohner in
Stadt
Land
Auf 100 Selbst-
morde auf dem
Lande kommen
solche in der
Stadt
Schweden 1871—1875
Norwegen 1870—1873
Dänemark 1869—1873
Preussen 1849—1856—1858
Sachsen 1859—1863
Bayern . . . 1876
Württemberg 1873—1875
Belgien .... 1851—1855, 1858-1860
Frankreich 1873—1876
Italien 1878
167
103
283
173
317
118
263
61
217
67
67
65
257
94
219
104
163
34
118
30
249
158
110
184
144
114
161
181
184
225
SELBSTMORDSTATISTIK.
481
Die städtische Bevölkerung zeigt der ländlichen gegenüber in allen
Ländern eine grössere Selbstmordziffer. Hierbei ergiebt sich aus Tab. 6, dass in
den Ländern mit hoher Selbstmordfrequenz auch die ländliche Bevölkerung eine
relativ hohe Ziffer aufweist und umgekehrt. Das städtische Leben bringt somit
die in der Bevölkerung überhaupt vorhandene Disposition zu häufigerem Ausdruck.
Vor Allem sind es die Grossstädte, die sich durch besonders hohe
Selbstmordziffern auszeichnen und die gleichzeitig Ausstrahlungscentren bilden für
die sie umgebenden Bezirke. Nach A. Wagner stellen sich die Verhältnisszahlen
zwischen der Selbstmordziffer der Staaten und der ihrer Hauptstädte, erstere
= 100 gesetzt, für Paris auf 320, Stockholm 290, London (zu England) 154,
Kopenhagen 142, Berlin (zu Preussen) 140.
7. Einfluss der Jahreszeiten, des Climas.
Vertheilung der Selbstmorde in Italien , Frankreich und Belgien auf die einzelnen
(Tab. 7.) Monate und Jahreszeiten nach Morselli :
Italien 1864-
-1876
1 Frankreich 1856—1861
Belg
ien 1841-
-1819
Monate
Selbstmorde
Selbstmorde
Selbstmorde
und
aus
aus
aus
aus
aus
aus
Jahreszeiten j über-
Geistes-
anderen
über-
Geistes-
anderen
über-
Geistes-
anderen
| haupt
störung
Motiven
haupt
störung
Motiven
haupt
störung
Motiven
A b s
o 1 u
t e Z
a h 1 e
n
Januar
635
137
498
1782
461
1321
139
44
95
Februar
759
171
588
1720
480
1240
180
70
110
März .
902
203
699
2138
593
1545
190
64
126
April .
1020
241
779
2247
649
1598
229
77
152
Mai . .
1207
304
903
2463
725
1738
251
93
158
Juni .
1248
327
921
2656
8*5
1831
251
88
163
Juli. .
1098
304
794
2470
772
1698
252
95
157
August .
933
209
724
2122
624
1498
218
60
158
September .
756
149
607
1862
576
1286
i 208
79
129
October . .
690
127
563
1853
503
1350
192
57
135
November .
632
132
500
1601
448
1153
160
62
98
December .
/
650
140
510
1548
422
1126
| 158
52
106
R e
1 a t i
v e Z
a h 1 e
n p r
o 100
3
59
55
65
72
63
74
57
51
59
Februar
78 .
76
78
75
74
77
73
90
75
84
82
85
85
86
87
78
75
78
98
100
97
93
93
94
94
93
97
113
123
109
98
99
98
103
108
98
120
136
115
112
118
107
104
106
104
Juli. .
102
123
96
99
107
96
103
lll
97
August
87
80
88
85
86
85
94
70
97
September . . .
73
62
76
77
83
75
85
95
83
October ....
64
51
67
75
69
76
78
66
84
November . . .
61
55
63
66
64
67
66
75
63
December . . .
61
57
61
63
58
64
65
60
65
Herbst (Sept.-Noy.) .
198
168
206
218
216
218
229
236
230
Winter (Dec.-Febr.) .
198
188
204
210
195
215
195
201
199
Frühjahr (März-Mai)
295
305
291
268
278
279
275
276
273
Sommer
(Juni-
lag
•)
309
339
299
206
311
288
301
287
298
Zeitliche Vertheilung der Selbstmordfälle in Italien in den zwei Jahrfünft en
1864—1868 und 1869—1873 und in dem Jahrviert 1874—1877.
(Tab. 8.) • "Von 1000 Selbstmorde kommen auf
1864-1868 1809—1873 1874—1877
Frühjahr .295 299 295
Sommer 311 306 322
Herbst 202 203 184
Winter 192 192 199
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 31
1864—18(58
1P69— 1873
1874—1877
• „
• „
' ■■
213
216
222
326
327
343
270
266
255
191
191
180
596
593
598
404
407
402
482 SELBSTMORDSTATISTIK.
Erstes Vierteljahr 213
Zweites „ ....
Drittes „ ....
Viertes „ ....
Warmes Halbjahr 596
Kaltes „ ....
Die zeitliche Vertheilung der Selbstmorde geht, wie vorstehende Tab. 7
demonstrirt, allerorten fast parallel mit dem Gang des jährlichen atmosphärischen
Kreislaufs. Die Zahl der Selbstmorde steigt stetig von Beginn des Jahres bis
zum Juni, wo sie in der Regel ihr Maximum erreicht, um alsdann wieder
stetig bis gegen Ende des Jahres, wo sie in der Regel ihr Minimum erreicht,
abzunehmen.
Diese zeitliche Vertheilung der Selbstmorde zeigt, wie Tab. 8 ergiebt,
von Jahr zu Jahr eine überraschende Regelmässigkeit, eine Regelmässigkeit, die
derart ausgeprägt ist , dass man , wie Moeselli meint , für ein gegebenes Land
mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht nur die im nächsten Jahr zu erwartende
Zahl der Selbstmorde überhaupt, sondern auch die Zahl der Fälle in den einzelnen
Jahreszeiten voraussagen kann.
In Tab. 7 sind übrigens die Selbstmorde in Folge von Geistesstörung
und die aus anderen Motiven auseinandergehalten, und man sieht, dass beide
Kategorien das gleiche Verhalten zeigen, nur, dass bei den Selbstmorden aus
Geistesstörungen der fördernde Einfluss der heissen und der hemmende der kalten
Jahreszeit sich in verstärkterem Maasse manifestirt , eine Thatsache , die der Auf-
fassung des Selbstmordes überhaupt als einer Gehirnalteration Vorschub zu leisten
geeignet erscheint.
Der Einfluss der Jahreszeiten findet sich ferner stärker ausgeprägt bei
den Frauen als bei den Männern. So fielen in Preussen (1860 — 1877) von je
1000 Selbstmorden auf den Winter (September — März) bei den Männern 424, bei
den Frauen 419, auf den Sommer (April — August) bei ersteren 576, bei letzteren
hingegen 581.
Nach Gueeey fallen schliesslich bei beiden Geschlechtern die relativ
wenigsten Selbstmorde auf den Sonnabend, die relativ meisten dagegen bei
den Männern auf den Montag, bei den Frauen auf den Sonntag, wahrscheinlich
weil, wie Oettingen meint , der Sonnabend für den Mann der Lohntag , für das
Weib der Scheuertaar ist und für beide der Sonntag in Aussicht steht. Während der
Mann den freien Tag benütze, den erhaltenen Lohn zu vergeuden und bei ihm
die Folgen in den darauf folgenden Tagen sich bemerklich machen, werde dem
Weibe gerade der Sonntag gefährlich, wo dieselbe in erhöhtem Maasse das Elend
der Familie Und ihre Verlassenheit empfinde.
Das Clima anlangend, scheint dasselbe keinen ausgesprochenen Einfluss
auf die Selbstmordfrequenz auszuüben.
8. Einfluss der Race, Religion, Civilisation.
Bezüglich der Racen giebt Moeselli folgende Scala der Selbstmord-
frequenz. Dieselbe beginnt mit der höchsten und endet mit der niedrigsten Ziffer :
Süd- und Mitteldeutsche
(Hochdeutsche).
Nord- (Nieder) deutsche.
Scandinavier.
Celto-Romanen.
Angelsachsen.
Magyaren.
Finnländer.
Nordslaven.
Finnen.
Celten.
Südslaven und Slavonier.
Italo-Romanen.
Ladiner.
SELBSTMORDSTATISTIK.
483
Lehrreich in dieser Beziehung ist auch Tab. 9 , in welcher die Selbst-
mordziffer der verschiedenen Provinzen Preussens im Verhältniss zur Zahl der
deutschen und slavischen Bewohner derselben zur Darstellung gebracht ist und
welche ergiebt, dass die Selbstmordziffer mit der Zunahme des deutschen und der
Abnahme des slavischen Elements ziemlich parallel geht:
(Tab. 9.)
Regierungs-
bezirke
Deutsche
unter 100 Einw.
Oppeln . . .
Posen . . .
Bromberg . .
Marienwerder
Grumbinnen .
Danzig . . .
36-7
41-0
53 5
62-2
63-3
76-1
Selbstmord-
ziffer auf
1 Mill. Einw.
53
76
60
72
82
103
Regierungs-
bezirke
Königsberg
Frankfurt
Potsdam
Breslau .
Liegnitz .
Köslin
Deutsche
unter 100 Einw.
79 6
94-8
99-8
95-0
96'4
99 2
Selbstmord-
ziffer auf
1 Mill Einw.
145
160
194
199
235
101
Nach Tab. 10 findet sich ferner unter den verschiedenen Confessionen
bei den Protestanten die grösste Selbstmordtendenz. Morselli erklärt diese wohl
constatirte Thatsache aus dem Umstände, dass gerade diese Confession der Kritik
der Glaubenslehre und der Reflexion grösseren Spielraum lässt und so leichter zu
inneren Kämpfen Veranlassung giebt:
(Tab. io.) Einfluss der Religion auf die Selbstmordhäufigkeit.
(Verhältniss der Selbstmorde auf 1 Mill. der Angehörigen des betreffenden Bekenntnisses.)
Länder und Perioden
Durch-
schnitts-
zahl der
Selbst-
morde
Katho-
liken
Prote- Andere
stanten Christ.
Juden
Von
100 Einw.
sind
Katholiken
Auf
100 kathol.
Selbst-
mörder
kommen
prote.st.
Bayern . . (1857-1866) 80*0
„ . . (1866—1867) 91-0
Preussen . (1849—1855) 122*0
Rheinprovinz .... 52*6
Prov. "Westphalen . . 63*5
„ Sachsen . ... 215*0
„ Brandenburg . . 176*0
„ Pommern . . . 136 0
„ Schlesien . . . 152 '0
„ Posen .... 68-7
„ Preussen ... 99 '7
Prenssen . (1869—1872) 1330
WürttembergO 846— 1860) 96*7
(1873—1874) 163-0
Baden . . (1864—1869) 139'0
„ . . (1870-1874) 156*6
Oesterreich (1852—1854,
(1858—1859) 72*0
55*2
56*7
49*6
27-7
24*4
26*3
114*3
58*5
41*5
31*0
69*0
77*9
120*0
121*1
136*7
136*1
152*7
159*9
108*0
80*2
1401
165*0
102*0
1530
1241
96*6
187*0
1135
180*0
161*9
1710
130*8
(22?)
(30)
100*3
140*4
46-4
34*5
66*2
31*2
38*0
33*3
960
65*6
80*0
(141)
124*0
51*3 79*5 44*1 20*7
71*3
33*1
73*8
53*9
5*98
2*56
0*98
505
62 6
27*0
33*5
306
30*2
649
64-5
92*1
246
269
322
289
328
532
144
259
299
311
271
131
138
133
125
155
Ueberblickt man schliesslich die bisher erörterten Momente: die geogra-
phische Verbreitung der Selbstmordziffer, die hohe Selbstmordfrequenz in den
Culturcentren, den Einfluss, welchen Wohnsitz, Race, Religion auf dieselbe ausüben,
so präsentirt sich der Selbstmord als eine Erscheinung, welche im Zusammenhange
steht mit der Civilisation.
„In dem beständigen Kampf, den der Mensch mit der Natur und mit
Seinesgleichen kämpft , der die Ursache seiner Fortschritte und seiner Leiden ist,
in diesem erscheint eben auch der Selbstmord als eine unvermeidliche und not-
wendige Zugabe der Civilisation" (Morselli).
31*
484
SELBSTMORDSTATISTIK.
(Tab. LI.)
!>. Se
bstmordmotive.
Von
1000 Selbstmorden jeden
Geschlechtes kommeu auf die
Motive
nachstehende Kategorie
Schweden
Norwegen
Prciiäsen
Sachsen
Baden
Belgien
Frankreich
Italien
1852
18fi6
1S73
1*67
1853
1840
1866
1872
bis
bis
bis
Ms
bis
bis
bis
bis
1855
1870
1875
1876
1856
184!»
1875
1877
A. Bei den Männern.
Absolute Zahl der Fälle
I 557
699
7426
5995
263
—
39915
3770
1. Geisteskrankheit . . .
| 397
179
229
304
297
—
252
280
2. Körperliche Leiden . .
45
—
61
59
114
—
127
82
3. Lebensüberdruss . . .
6
103
127
97
—
—
45
43
4. Leidenschaften . . .
21
4
27
17
19
—
17
49
5. Laster
309
25
129
96
| 38
—
149
12
6. Kummer und Trauer .
15
21
j 103
48
26
—
138
96
7. Finanzielle Verluste
121
41
32
J 407
—
65
170
8. Elend, Noth ....
4
35
46
■ —
48
101
9. Gewissensbisse, Scham,
Furcht vor Schande
82
46
103
89
125
—
64
42
10. Andere nnbek. Ursachen
—
518
199
234
—
—
95
125
B. Bei den Frauen.
Absolute Zahl der Fälle
122
222
1753
1432
64
—
10035
1195
1. Geisteskrankheiten . .
517
284
441
534
468
—
415
417
2. Körperliche Leiden . .
82
—
64
86
125
—
118
73
3. Lebensüberdruss . . .
—
104
97
48
—
—
29
7
4. Leidenschaften . . .
50
13
63
45
94
—
45
75
5. Laster
90
—
21
20
\
—
56
1
6. Kummer und Trauer .
24
18
51
29
—
164
90
7. Finanzielle Verluste
58
} 45
12
1
188
—
18
27
8. Elend, Noth ....
24
18
23
)
—
36
52
9. Gewissensbisse, Scham,
Furcht vor Schande
155
31
108
74
125
—
52
27
10. Andere unbek. Ursachen
—
505
125
140
—
—
67
231
C. Bei beiden Geschl. zus.
Absolute Zahl der Fälle .
679
921
9179
7427
327
2428
49950
4965
1. Geisteskrankheit .
418
204
269
348
331
470
285
313
2. Körperliche Leiden . .
52
—
61
64
116
18
125
80
3. Lebensüberdruss . . .
8
103
121
87
—
37
41
34
4. Leidenschaften
28
7
34
23
34
124
23
55
5. Laster
270
19
109
81
30
94
130
9
6. Kummer und Trauer .
18
21
49
27
)
106
143
95
7. Finanzielle Verluste
109
} 89
36
26
364
}l09
56
136
8. Elend, Noth ....
7
32
42
1
46
89
9 Gewissensbisse, Scham,
Furcht vor Schande
94
42
104
86
125
41
61
38
10. Andere unbek. Ursachen
—
515
185
216
—
—
89
151
(Tab. 12.)
Selbstmordmotive in Preussen (1869 — 1878).
Unter je 1000 Selbstmorden wurden
nachstebende Motive constatirt bei
Motive
Man
n e r n
Frauen
1869
bis
1872
1873
bis
1876
1877
1878
1869
bis
1872
1873
bis
1876
1877
1873
1. Lebensüberdruss .
2. Körperliche Leiden
3. Geisteskrankheit .
4. Leidenschaften
i
11-9
5'3
29-5
21
9-9
05
10-4
10-6
2-4
17-4
12-2
6-0
22-9
2-6
13-0
0-4
11-5
8-7
2-3
204
11-7
66
203
2-4
12-2
0-5
16-4
73
17
209
10-0
71
19-9
25
12-7
0-5
17-5
7-8
1-9
20-1
7-1
7-3
48-4
4-7
2-2
07
6-0
109
2-8
9-9
8-9
6-7
43-7
6-2
2-1
0-9
6-7
9i
2-9
12-8
7-9
7-1
39-2
4-5
3-1
0-4
10-6
9-3
2-5
15-4
8-4
9-2
38-3
5-7
2-9
0-3
81
9-0
2-9
152
6. Trauer ....
8. Reue, Scham etc.
9. Aerger und Streit
10. Unbekannte Motive
Zusammen
ioo-o
100-0
ioo-o
ioo-o
ioo-o
ioo-o
ioo-o
ioo-o
SELBSTMORDSTATISTIK.
Wie die vorstehenden Tabellen ergeben, liefern die Geisteskrankheiten das
Hauptcontingent, fast 1/3, zu den Selbstmorden; demnächst nehmen Lebensüberdruss
und Laster einen bedeutenden Procentsatz ein. In die letzte Kategorie fällt auch der
Alcoholismus, welcher in den Motiven einen hervorragenden Platz behauptet. Unter
Anderem soll nach Lunier in Frankreich die Zahl der Selbstmorde in directem Ver-
hältnisse stehen zur Stärke des Alcoholconsums und nach Baer 8) die Proportion
der Alcoholisten unter den Selbstmördern in Folge strenger gesetzlicher Vorkehrungen
sich erheblich vermindert haben. Auch in den Selbstmordmotiven zeigt sich übrigens,
wie aus Tab. 12 zu ersehen, von Jahr zu Jahr eine grosse Regelmässigkeit.
Bei den Frauen überwiegen Geisteskrankheiten , Leidenschaften , Scham,
bei den Männern mehr Laster, finanzielle Verluste und Lebensüberdruss ; bei den
ersteren spielen die Fälle von Selbstmord im Zustande der Schwangerschaft (meist
verführter und verlassener Mädchen) eine gewisse Rolle , sie machen nach Morselli
in Preussen circa 22°/0, in Frankreich 29°/0 der weiblichen Selbstmorde aus.
Von sonstigen, die Art der Motive modificirenden Momenten interessirt
hier noch der Einfluss des Civilstandes.
(Tab 13.) Selbstmordmo
tive und Civilstand in Preussen 1869—
1872.
Auf je 1000 Selbstmörder jeden Civilstandes und Geschlechtes kommen Selbstmorde aus
beistehenden
Motiven :
Ledige
Verheiratete
Verwittwete
Geschiedene
ünb. Civilst.
M. W.
M.
W.
M.
w.
M.
w.
M. W.
Absolute Zahl der Fälle .
316C
842
4367
975
1318
485
177
33
308
15
1. Geisteskrankheiten »
' 278
330
304
589
302
569
209
393
88
400
2 Körperliche Krankh. .
46
40
58
93
69
81 |i 28
153
13
—
3. Lebensüberdruss . .
81
49
117
5i
224
147
209
80
65
133
4. Leidenschaften . . .
50
117
6
8
4
—
17
91
3
—
5. Laster
55
13
106
27
112
29
^08
30
36
—
H. Häuslicher Kummer
3
3
3
7
13
14
—
—
—
—
7. Finanzielle Verluste .
57
36
150
84
88
49
113
121
39
—
8. Entbehrung ....
37
60
20
11
9
6
17
—
a
—
9 Gewissensbisse, Scham,
Furcht vor Schande .
163
205
79
58
62
29
, 113
152
26
—
1 10 Unbestimmte . . . |
230 |
147
157
68
117
73
| 86
30
727
467
Nach Tab. 13 treten, abgesehen von der in allen Kategorien hohen Zahl
der Geisteskrankheiten, "als Selbstmordmotive hervor bei den Ledigen Gewissens-
bisse, Leidenschaften, darunter bei den ledigen Frauen die ausserehelichen
Schwangerschaften ; ferner bei den verheirateten Männern finanzielle Verluste,
bei den verheirateten Frauen ein besonders hoher Procentsatz der Geistes-
krankheiten und körperlichen Leiden; bei den Verwittweten und Geschiedenen
endlich Lebensüberdruss, Laster, Scham, Gewissensbisse, namentlich bei den
geschiedenen Frauen und bei Letzteren auch körperliche Krankheiten.
10. Arten des Selbstmordes.
(Tab. 13).
Selbstmordart in Preussen und Sachsen.
Unter je 10 ,0 Selbstmördern nahmen sich c
as Leben
Durch
in Pr<
süssen
in Sachsen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
1874
1878
1874
1878
1877
1879
1877
1879
Erhängen
63-8
65-1
47-3
45-5
66-6
69-0
42-1
48-7
Ertränken . .
12-3
13-6
34-3
393
17-0
13-3
47-1
44-6
Schuss und Stich ....
15-2
13-7
11
05
10-0
10-4
10
—
Gift ....
1-9
2-4
7-1
8-6 i
1-8
2-4
5-0
2-6
Halsabschneiden
2-7
2-5
2-7
8-3 |
1-2
1-6
1-2
3-1
Eisenbahn ....
1-8
1-6
3-3
0-7
1-7
1-3
0-6
0-5
Andere Mittel
23
j 100-0
1-1
4-2
3-1 1
4-7
2-0
3-0
0-5
Zusammen . .
100-0
ioo-o
ioo-o
ioo-o
ioo-o
ioo-o
ioo-o .
486
SELBSTMOKDSTATISTIK. — SENECIO.
Die häufigste Art der Selbstentleibung ist das Erhängen und demnächst
das Ertränken. Bei den Frauen nehmen Ertränken und Vergiften einen verhält-
nissmässig grösseren Procentsatz ein als bei den Männern. Auch durch das
Alter wird die Art der Selbsttödtung beeinflusst. Die jugendlichen männlichen
Selbstmörder greifen mit Vorliebe zum Strick. Diese Selbstmordart nimmt bis zu
dem mittleren Lebensalter hin ab, und an deren Stelle treten das Ertränken, Er-
schiessen und Vergiften in den Vordergrund und erst im späteren Alter nimmt
wiederum das Erhängen zu. Unter den jugendlichen weiblichen Selbstmördern
herrscht das Ertränken vor. Mit fortschreitendem Alter nimmt dasselbe immer
mehr ab und das Erhängen tritt mehr in den Vordergrund. Das Vergiften
geschieht bei beiden Geschlechtern am häufigsten in der Jugend; das Erschiessen
wird am häufigsten bei den jungen Männern beobachtet.
Die verschiedenen Länder haben in Betreff der Selbstmordart ihre
besonderen Eigenthümlichkeiten :
Nach Bratasse vicz erfolgten in nachstehenden Ländern im Jahre 1875 von
(Tab. 14.) 100 Selbstmorden durch
Länder
Erhängen
Ertränken
Männer
Weiber
Männer
Weiber
73
65
51
48
40
17
73
44
33
32
25
17
7
11
20
26
16
23
7
40
40
41
85
45
Frankreich .
England .
Im Uebrigen zeigt auch die Statistik der Selbstmordarten in den ver-
schiedenen Ländern von Jahr zu Jahr eine überraschende Grleichmässigkeit.
Literatur: ') Morselli, 11 suicidio 1879. Deutsch, Leipzig 1881. L. Bd. der
internationalen wissenschaftlichen Bibliothek. Brockhaus. — 2j Quetelet, Sur Vhomme etc.
Paris 1835. — 3) Adolf "Wagner, Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkürlichen
menschlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik. Hamburg 1864. — ") Guerry,
Statistique morale etc. — 6) Alexander v. Oettingen, Ueber acuten und chronischen
Selbstmord. Dorpat und Fellin 1881. — 6) Th. G. Masaryk, Der Selbstmord als sociale
Massenerscheinung der modernen Civilisation. Wien 1881. — ') L unier, Journal de la
Societe de statist. 1878. — s) Baer, Der Alcoholismus. Berlin 1878. — 9) Bratasse vicz,
"Wiener statist. Monatsschr. 1876, pag. 97 u. s. f. A Old d -ff
Selbstvergiftung, s. „Intoxication", VII, pag. 196.
Selters in der Provinz Hessen-Nassau, ein alkalisch-mineralischer Säuer-
ling, der ausserordentlich stark versendet wird und vorzugsweise bei chronischen
Catarrhen der Kespirationsorgane und Dyspepsien Verwendung findet. Das Wasser
enthält in 1000 Theilen:
Doppeltkohlensaures Natron 1*236
Chlornatrium 2*334
Doppeltkohlensaure Magnesia 0*308
Doppeltkohlensauren Kalk 0*443
Summe der festen Bestandtheile 4*437
Völlig freie Kohlensäure in Ccm 1204*26 K.
Semiotik (G7-ius*.om>fq von GTjtj.eTov, Zeichen, Zeichenlehre). Die diagnostische
and prognostische Verwerthung der Krankheitserscheinungen; s. „Symptom".
Semipliimose, s. „Balanitis", I, pag. 729.
Senecio (Kreuzkraut, Baldgreis* senecon , Pharm. Franc.) Folia
Sen ecionis von 8. vulgaris L. Senecionideae • hauptsächlich Schleim enthaltend,
etwas säuerlich ; früher innerlich theils als Presssaft, theils in Decoct (Lebermittel,
Anthelminthica), äusserlich als Emolliens zu Kataplasmen.
SENEGA. — SENKGRUBEN. 487
Senega, Senegawurzel, Radix Senegae, die getrocknete Wurzel von
Poly g ala Senega L., einer in Wäldern Nordamerikas häufig wachsenden,
ausdauernden Polygalee, bis 1 Dm. lang und bis 6 Mm. dick, spindelförmig, ein-
fach oder wenig ästig, oft sichelförmig gekrümmt und spiralig gedreht, oben einen
auffallend grossen, knorrigen Wurzelstock tragend, aussen gelb- oder graubraun,
gewöhnlich mehr weniger stark runzelig oder schwielig und wulstig an der einen
(convexen) Seite, mit einer kielartig vorspringenden, in einer steilen Spirale herab-
laufenden Erhebung der Rinde (Rindenkiel) an der anderen (concaven) Seite , am
Querschnitte mit ziemlich dicker weisser Rinde und blassgelbem centralen
Holzkörper, welcher an der dem Rindenkiel entgegengesetzten Seite flach
oder ausgeschnitten erscheint. Geruch eigenthümlich , schwach ranzig ; Ge-
schmack scharf, kratzend. Enthält Senegin (Gehlen), welches wahrscheinlich
mit der Polygalasäure von Quevenne und mit dem Saponin (s. Saponaria)
identisch ist.
Nach Christophsohn stimmt das Senegin in ganz reinem Zustande vollkommen
mit Saponin überein: er erhielt davon aus der "Wurzel bis 2"5°/o- Schneider fand durch-
schnittlich nur etwas über 1%-
Nach Quevenne enthält die Wurzel ferner noch eine flüchtige Säure, Vir gin-
säure , fettes Oel, Gummi, eisengrünenden Gerbstoff, Pectinsubstanzen etc. und nach Rebling
auch Zucker (7°/0).
Die Wirkung der Senega scheint der Hauptsache nach vom Senegin
abzuhängen , doch lehren Böhm's Versuche , dass dieser Körper von einem Stoff
begleitet ist, der sich durch kräftige Herzwirkungen auszeichnet (s. Saponaria).
Nach Quevenne. (1836) erzeugte Senegin (doch offenbar kein reines Präparat)
zu 0'3 — 0'5 bei Hunden Erbrechen, erschwertes Athmen und nach zwei Stunden Tod. Nach
v. Schroff verursachen kleine Gaben (0 02) nur etwas bitteren Geschmack und Kratzen im
Halse, Gaben von 0"1 — 0*2 rufen Hustenreiz und vermehrte Absonderung seitens der Schleim-
haut der Luftwege hervor, sind aber ohne Einflnss auf die Haut- und Harnabsonderung, sowie
auf die anderen Functionen.
^Der Wurzel selbst schreibt man eine die Secretionen, namentlich jene
der Schleimhaut in den Luftwegen befördernde Wirkung zu. Grössere Dosen
erzeugen stark vermehrte Speichelsecretion, Brennen im Magen, Würgen, Erbrechen,
Diarrhoe.
Ursprünglich von den Seneka-Indianern gegen den Biss der Klapper-
schlange benutzt (daher Seneka- oder Rattle Snak-Root), wurde die Wurzel zuerst
von dem in Virginien lebenden schottischen Arzte John Tennent (1738) bei
Pleuritis und Pneumonie empfohlen und kam bald in Europa zu einem bedeutenden
Ansehen. Jetzt wird sie bei uns lediglich als Expectorans (beim chronischen und
im zweitem Stadium des acuten Bronchialcatarrhs , Bronchoblennorrhoe , bei der
Pneumonie im Stadium der Resolution) angewendet.
Intern zu 0*3 — 1*0 in Pulv. (in Oblat., mit Gum. Arah., oder in einem
schleimigen Vehikel), meist im Infus, oder Decoct 5-0 — 15*0 : 100*0 — 200-0 Col.
Präparate.
1. Extr actum Senegae, Senegaextract. Pharm. Germ. Weingeistig-
wässeriges, trockenes, gelbbraunes, in Wasser trübe lösliches Extract.
Intern zu 0*2 — 0-5 pr. dos. m. tägl. in Pillen und Mixturen.
2. Syrujpus Senegae, Seuegasyrup. Pharm. Germ. In 22 Th. eines
filtrirten Macerats aus 2 Th. Rad. Seneg. mit 22 Th. Aq. dest. und 3 Th.
Spirit. viniy 36 Th. Sacchar. gelöst. Gelblich. Für sich theelöffelweise als
Expectorans oder als Corrigens und Adjuvans zu expectorirenden Mixturen.
Vogl.
SenesceuZ (von senescere, senex); s. „Marasmus senilis", VIII, pag. 582.
Senf, Senfteig, s. „Sinapis".
Senkgruben, s. „Städtereinigung".
488 SENNA.
Senna. Folia Sennae, Sennesblätter, Sehmsblätter. Sene. Senna.
Die Sennesblätter des Handels stammen von verschiedenen, zur Familie
der Cae.salpiniacecn gehörigen, in Aegypten und Ostindien heimischen Cassiaarten,
besonders der Cassia lenitiva.
Sie sind sämmtlich ungleichhälftig, von ovaler oder eirund-länglicher oder
lancettförmiger Gestalt, am Rande etwas knorplig, haben im trockenen Zustande
eine derbe, etwas lederartige Beschaffenheit und eine bläuliche oder gelblichgrüne
Farbe. Die officinelle Senna darf keine Blattspindeln, Hülsen und fremde Bei-
mengungen enthalten. Sie wird deswegen vorher gesiebt und ausgesucht (Senna
electa). Der Abfall — Senna ymrva — soll zu medicinischen Zwecken nicht
verwendet werden. Als Verfälschungen finden sich vor die Blätter von Soleno-
stemma Aryhel, einem in Oberägypten wachsenden Strauche, sowie von Colutea
arborescens. Man unterscheidet im Handel: 1. Senna Alexandrina, 2. Senna
Trtpolitana, 3. Senna Indica — darunter die Tinnevelly-Senna aus Tinnevelly
in der Präsidentschaft Madras und 4. Senna de Mecca. Nur die beiden erst-
genannten dürfen nach der Pharm. Germ, für pharmaceutische Zwecke An-
wendung finden. Die österreichische Pharmacopoe lässt auch die Tinnevelly-
Senna zu.
Als wirksame Substanz der Sennesblätter ist nicht, wie man früher
annahm, die Chrysophansäure , sondern die Cathartinsäure anzusehen. Dieselbe
stellt ein amorphes, braunes, fast geschmackloses, saures, leicht zersetzbares, zum
Theil frei vorhandenes , zum Theil an Kalk und Magnesia gebundenes Glycosid
dar, welches wahrscheinlich mit dem wirksamen Stoff der Gortex Frangulae
identisch ist. Sie ist in Wasser und wässerigen Alkalien löslich, in Alkohol
unlöslich. Durch Kochen mit Säuren, zerlegt sie sich in Zucker und Catharto-
gen insäur e.
Ausserdem enthält die Senna einen gelben Farbstoff, das Chrysoretin,
ferner zwei Glycoside, das Sennapicrin — eine harzartige, süsslich bitter schmeckende,
etwas in Wasser, leicht in Alkohol lösliche Substanz — und das Sennacrol, und
schliesslich Cathartomannit , eine krystallisirbare , zuckerähnliche, rechtsdrehende,
aber nicht gährungsfähige Substanz.
Wirkungsweise. Die Sennesblätter bewirken, in Substanz oder in
wässerigen Auszügen dem Körper einverleibt, innerhalb weniger Stunden mehrere
reichliche, meist dünne, gelb gefärbte Stuhlgänge. Dieselben kommen häufig unter
Leibschneiden zu Stande, das als Ausdruck der erregten, lebhaften, peristaltischen
Darmbewegung anzusehen ist. In seltenen Fällen entsteht nach dem Einnehmen
des Mittels Ekel und Erbrechen. Diese Nebenwirkungen kommen guten, alexan-
drinischen Sennesblättern eigentlich in viel geringerem Grade zu als den indischen,
besonders den Tinnevelly-Sennesblättern. Indess können viel Beimengungen von
fremdartigen Blättern, besonders von Solenostemma, sowie eine unzweckmässige
Form der Darreichung, nämlich die Abkochung, auch der alexandrinischen Senna
unerwünschte Nebenwirkungen verleihen. Um dieselben möglichst zu vermeiden
oder in ihrer Intensität zu schwächen, muss die Drogue von allen fremden Sub-
stanzen befreit und nur im warmen, oder noch besser im kalten Aufguss ver-
abfolgt werden.
Die Abführwirkung der Senna kommt, wie experimentell festgestellt
wurde, durch eine Anregung der Peristaltik zu Stande. Radziejewski legte bei
Hunden hinter der Valvula BauMni eine Kothfistel an und beobachtete, dass,
während gewöhnlich nach einer Fütterung 7 — 9 Entleerungen in 3 — 4 Stunden
aus der Fistelöffnung erfolgten, nach Einführung von Fol. Sennae die ersten
Entleerungen schon nach 10 — 15 Minuten begannen und in circa 4 Stunden auf
31 stiegen.
Es ist ferner constatirt worden, dass ein in eine Darmschlinge ein-
gebrachtes Infus. Sennae keinerlei Reizung der Schleimhaut zu Wege bringt,
sondern nur eine feste Contraction der Darmschlinge. Auch im Magen erzeugt
SEHXA
selbst ein sehr eoncentrirtes Sennaextract keinerlei Hyperämie. Als hauptsäch-
lichsten Angriffspunkt für die Sennawirkung bezeichnet Xasse den Dickdarm.
Dieser wird am stärksten, in geringerem Grade nur der Dünndarm durch das
Mittel in Bewegung versetzt.
Der nach dem Einnehmen von Sennesblättern gelassene Urin sieht bei
intensiver Eigenfärbung braun und an den Rändern grün reflectirend aus. Auf
Zusatz von Ammoniak oder Kalilauge nimmt derselbe eine blutrothe Farbe an.
Die Färbung ist am deutlichsten, wenn grosse Gaben von Senna nur geringe
Abführwirkung erzeugt haben und auch die Diurese nur gering ist. Dieses Verhalten
des Urins gegenüber Aetzalkalien lässt sich schon l . Stunde nach dem Einnehmen
der Senna constatiren.
Der wirksame Bestandteil der Sennesblätter geht auch in die Milch
über. Deswegen erregt ein von einer Säugenden eingenommenen Sennainfus bei
dem Säugling Leibschmerzen und Durchfall. — Unter Sennagebrauch soi
Menstruationsblutung reichlicher wie gewöhnlich sein.
Auch die Cathartinsäure ist zur Erzeugung von Abführwirkung ver-
wandt worden. Nach 0*1 — 0"3 Grm. erfolgen in 3 — 14 Stunden unter Leib-
sehneiden mehrere dünnflüssige Entleerungen. Versuche, die in neuester Zeit mit
der subcutanen Anwendung der Cathartinsäure angestellt wurden . ergaben . dass
hierbei schmerzhafte Hautentzündungen an den Injectionsstellen mit Reizung zur
Abscedirung auftraten. Wurde die Lösung von Cathartinsäure jedoch alkalisch
gemacht, so blieb diese Wirkung aus. und es erfolgen nach 0*1 Grm. in 8 -
1 2 Stunden reichliche Stuhlentleerungen.
Ebenso ruft das Zersetzungsproduct der Cathartinsäure, das C a t h a :
genin. in Dosen von 0"3 Grm. in 3 Stunden mehrere halbflüssige Stühle hervor.
Therapeutische Verwendung findet die Senna überall da. wo
ergiebige Ausleerungen herbeigeführt werden sollen. Sie wirkt mit gleicher Sicher-
heit auf alle Altersclassen ein und kann deswegen Erwachsenen und Kindern
verordnet werden. Bei bestehenden Metrorrhagien oder Xeigung zu solchen, soll
die Senna nicht genommen werden.
Die früher beliebte vorherige Extraetion der Sennesblätter mit Alkohol,
um dadurch die Leibschmerzen zu vermeiden, ist eine unnöthige Froeedur. da der
beabsichtigte Zweck damit doch nicht erreicht wird. In den Species Ja
>:. Germain ist eine durch Alkohol extrahirte Senna enthalten. Die mildere
Wirkung dieses Thees ist aber wohl der gleichzeitigen Anwesenheit von 2
ibuci oder, nach der Pharm. Austr.. von Flores Tiliae zuzusehreiben.
Die Dosirung der Folia Senna e beträgt zum Zwecke der leichten
Eröffnung 0*5 — 2-0 Grm. 1 — 2mal täglich, um drastisch zu wirken bis 5 Grm.
Am besten werden sie im kalten oder warmen Aufguss zu 5*0 — 20*0 und 150*0 ver-
ordnet. Um die Colikschmerzen zu vermeiden, ist auch empfohlen worden, die Blätter
mit gleichen Theilen Caffee zu infundiren. Doch ist auch die Pulverform mit Rha-
barber, weinsteinsauren Salzen etc.. sowie die Form des Electuariums im Gebrauch.
Gleich grosse Dosen werden auch von der Folia Sen;: i v iritu
extra da. Pharm. Germ., oder der Folia Senna e sine resina veroi
Es sind ferner noch ofhcinell: Speeies laxantes St. Germain
(Pharm. Germ.: Folia Sennae Spirit. e.vtr. 16. Flor. Samhuci 10, Fructus
Foeniculi, Anisi aa 5. Tort, depur. 3: oder Pharm. Austr.: Fol. Sennae sine
resina 35, Flor. Tiliae 20. Fruct. Foenieuli 10. Kalii hi/dro-tartariei 5 .
Dosis: 1 Esslöffelvoll mit 1 — 3 Tassen Wasser infundirt.
Infus um Sennae compositum. Pharm. Germ., oder Infus um
laxativum. Pharm. Austr., Wiener Trank. 2 Theile Senna werden mit 12 Th.
heissen Wassers infundirt eolirt. dazu 2 Th. Seignettesalz und 3 Th. Manna;
Pharm. Germ. Xach der Pharm. Austr. werden 25 Th. Senna mit 200 Tb.
Wasser infundirt und in der Colatur 35 Th. Manna electa gelöst.
Dosis: thee- bis esslöffelweise.
490 SENNA. — SEPSIS.
El ectuar ium e Henna s. E. lenitivum. Abführmus. (Fol.
Sennae 10, Sem. Coriandri 1, Syr. 50, Pidp. Tamarind. 15; Pharm. Germ.
Nach der Pharm. Austr. : Pulp. Tamarind. 300, lioob Sambuci 100, Pulv. fol.
Sennae, Pulv. Kai. hydro-tartaric. aa 50, Meli. dep. a.s)
Dosis: theelöffelweise.
Pulvis Liquiritiae compositus , Pharm. Germ. CüKELLA'sches
Brustpulver (Fol. Sennae, Bad. Liquir. aa 2*0 , Fruct. Foenic, Sulf. depur.
aa 1, Sacch. 6.).
Dosis: Für Kinder 1j2 Theelöffel. Für Erwachsene theelöffelweise.
Syrupus Sennae cum Manna, Pharm. Germ. Syrupus
mannatus, Pharm. Austr. (Pharm. Germ.: Fol. Sennae IQ, Fruct. Foenic. 1,
Aq. feroicl. 50, Manna 15, Sacch. 50. — Pharm. Austr.: Fol. Sennae 35,
Fruct. Anisi stell. 2, Aq. 350, Sacch. 400, Manna 100).
Dosis: thee- bis esslöffelweise- L. Lewin.
Sensibilitätsstörungeii, s. „Empfindung", IV, pag. 516.
Sepia, s. „Calciumpräparate", II, pag. 656.
Sepsis, septische Infection. Die bis dahin am häufigsten gebrauchte
Bezeichnung der Septicämie beruht auf der auch gegenwärtig noch nicht
erwiesenen Annahme, dass die wesentlichsten bei diesem Zustande stattfindenden
Störungen im Blute vor sich gehen. Da wir diese letzteren auch gegenwärtig nur sehr
unvollkommen kennen, dagegen den in festen Geweben ablaufenden Veränderungen
eine grössere Bedeutung beimessen müssen und dieselben in ihrem Wesen genauer
erkannt haben, so dürfte es auch hier an der Zeit sein, eine humorale Bezeichnung
aufzugeben , welche nur noch historischen Werth hat. Ebenso wie man bei
Phosphorvergiftung nicht von Phosphor- Hämie spricht, obwohl doch Derivate des
Phosphors unzweifelhaft hierbei mit dem Blute circuliren.
Die septische Infection bezeichnet jenen febrilen Zustand , welcher am
häufigsten als Complication von Verletzungen, seien es solche natürlicher, seien
es solche operativer Art, auftritt. Bald beginnt derselbe unmittelbar nach der
Verletzung und wird dann als eigentliches Wundfieber bezeichnet, bald später,
nach dem vierten Tage , entweder nach dem Nachlass des Wundfiebers oder auch
ohne dass ein solches vorangegangen , als Nachfieber (Billroth) 2) bezeichnet;
in anderen Fällen kann derselbe aber auch fieberlos oder ohne Temperatursteigerung
verlaufen, während die übrigen Erscheinungen acuter Consumption der Körperkräfte,
namentlich die Abschwächung der Herzthätigkeit in gleicher Weise vorhanden sind,
selbst bei sinkender (subnormaler) Temperatur. Es ist klar, dass dieser Symptomen-
complex , welcher bei den schwersten Verletzungen gänzlich fehlen , bei den
leichtesten, an sich gänzlich unbedeutenden dagegen in seinen schwersten Folgen
vorhanden sein kann, nicht als eine directe und nothwendige Folge der Verletzung,
sondern nur als eine gelegentliche, zu derselben hinzutretende Störung aufzufassen
ist (eine accidentelle Wundkrankheit) ; höchstens könnte noch die Frage erhoben
werden, ob nicht manche gleich nach der Verletzung auftretenden, meist mit
einem Schüttelfrost beginnenden und schnell wieder absinkenden Fieberzustände
von dem septischen Processe abgetrennt und entweder als nervöse Einwirkungen
oder als Resorptionsfieber aufgefasst werden müssen. Da die Thatsache feststeht,
dass nach gewissen mechanischen Reizungen , namentlich innerer Organe, wie der
Harnblase und des Uterus, Schüttelfröste auftreten, so dürften auch ähnliche nach
Verletzungen eintretende Zustände in dieser Weise erklärt werden. Der Schüttel-
frost ist in diesem Falle nur als Folge der der mechanischen Reizung folgenden
reflectorisch erregten Gefässcontraction (Goltz) zu betrachten.
Es ist selbstverständlich, dass diese Art des Wundfiebers rasch vorüber-
gehen muss , nachdem die Reizung aufgehört hat und nicht von tieferen , die
Körperconstitution verändernden Störungen gefolgt ist; höchstens könnte diesem
Vorgange ein begünstigender Einfluss für die Resorption zersetzter Stoffe von
SEPSIS. 491
der Wundfläche aus oder eine Begünstigung der Zersetzung an der Wundstelle
zugeschrieben werden. Das letztere wäre als eine Folge der Ischämie aufzufassen,
während die Steigerung der Resorption erst in dem zweiten, der Gefässcontraction
folgenden Stadium der G efässdilatation eine erhebliche Steigerung erfahren würde.
Die in der neueren Zeit von Alex. Schmidt und seinen Schülern bei-
gebrachten Thatsachen, dass das Fibrinferment fiebererregende Eigenschaften besitzt,
lassen annehmen, dass es sich bei dieser Art des Resorptionsfiebers im Wesentlichen
um die Aufnahme dieses Stoffes handle , welcher aus dem Zerfall der weissen
Blutkörperchen hervorgeht. Wenn wir sehen , wie bei der Bildung des Blut-
coagulums die Anzahl der weissen Blutkörperchen ausserordentlich schnell und in
hohem Maasse vermindert wird, während andererseits der aus dem frischen
Coagulum abgepresste Cruor schon in ziemlich geringen Mengen, in die Blutbahn
eines Versuchsthieres (Hund) eingespritzt, den Tod unter raschem Absinken der
Herzthätigkeit in wenigen Minuten herbeiführen kann, so lässt sich nicht leugnen,
dass dieser Vorgang bei allen denjenigen Verletzungen stattfinden kann, in denen
Blutmassen zwischen den verletzten Geweben eingelagert sind; andererseits freilich
ergiebt die Beobachtung, dass beträchtliche Blutergüsse innerhalb der Gewebe
stattfinden können, ohne dass diese Erscheinungen auftreten, und wurde von
manchen Chirurgen die Anwesenheit solcher Blutmassen sogar als ein günstiges
Moment für den Heilungs Vorgang betrachtet, eine Auffassung, welche gegenwärtig
verlassen werden niuss, da wir die Unbrauchbarkeit des abgeschiedenen Faser-
stoffes für die Gewebsbildung kennen gelernt haben. Wir können diese Art des
Fiebers als Fermentationsfieber bezeichnen, seitdem Bergmann sein Eintreten auch
nach der Einwirkung anderer thierischer Fermente, wie des Pepsins und Thrypsins
gezeigt hat. Sein Ausbleiben bei Anwesenheit von coagulirendem Blut an der
Verletzungsstelle erklärt sich unschwer durch den Mangel eines Fermentüberschusses
oder durch den Mangel der Resorption; das erstere würde abhängen von der
Qualität des ergossenen Blutes, das zweite von Körperzuständen des verletzten
Individuums, welche eine allmälige Resorption des frei werdenden Ferments oder
eine fortwährende Bindung desselben nach der Resorption bedingt. Genauere
Angaben über diese letzteren Bedingungen sind vorläufig noch nicht zu machen, doch
scheint die Thatsache einer verschiedenen Wirkung gleicher Fibrinfermentmassen
auf Vorgänge in der Blutbahn hinzudeuten, welche die Wirkung desselben hemmen.
Gehen wir nun auf die Betrachtung der sogenannten Nach fi eher ein,
so ergiebt sich aus ihrem stets protrahirten Verlaufe, dass dieselben weder
auf nervöse Einflüsse, noch auf die Resorption irgend einer Substanz zurückgeführt
werden können, welche, in beschränkter Menge in den Geweben abgelagert, auch
nur eine zeitlich beschränkte Wirkung hervorbringen könnte. Für diese Form
geht aus ihrem Verlaufe mit Bestimmtheit hervor , dass sie einem Gifte ihre Ent-
stehung verdankt, welches fort und fort an der Verletzungsstelle neu gebildet
wird. Die oft durch lange Zeit fortdauernde Reproduktion des Giftes aber deutet
darauf hin , dass hier Fermentationsvorgänge stattfinden , welche dem normalen
Körper fremd sind. Da eine spontane Zersetzung fermentativer Art nicht mehr
angenommen werden kann, so muss auch in diesem Falle der Fermentationserreger
organisirter Natur sein; es kann ferner nicht angenommen werden, dass derselbe
ein normaler Bestandtheil des verletzten Organismus sei, denn sonst müsste er in
jedem Falle von Verletzung in Wirksamkeit treten ; wohl aber ist es möglich,
dass derselbe nicht blos von aussen her in die Wunde gelange, sondern auch,
falls er schon vor der Verletzung im Körper des Verletzten vorhanden war, an
der Verletzungsstelle zur Entwicklung gelangt, begünstigt durch die daselbst statt-
findende Herabminderung der vitalen Vorgänge, der Zellthätigkeit , wie der
Circulation (Infection von aussen her und Selbstinfection).
Es lässt sich aus diesen Betrachtungen die Annahme ableiten: 1. dass
die septische Infection durch ein der Vermehrung fähiges Ferment hervorgerufen
wird , also voraussichtlich durch einen lebenden Organismus , und 2. dass dieser
492 SEPSIS.
Organismus, je nach der allgemeinen Körperbcschaffenheit , sowie nach den
besonderen Verhältnissen an der Verletzungsstelle verschiedenartige Störungen
hervorrufen wird; 3. da der inficirende Organismus schon vor der Verletzung im
Körper vorbanden sein kann, so ist eine dreifache Entstehung septischer Processe
im Körper vorhanden : o) Verletzung mit gleichzeitigem oder späterem Eindringen
des inficirenden Organismus, b) Verletzung mit Autoinfection und c) Bildung
eines Infectionsherdes ohne eigentliche Verletzung in einem schon vorher inficirten
Organismus (spontane Sepsis — Leube 2).
Bei dieser vorerst als hypothetisch genommenen parasitären Auffassung
des septischen Processes bleibt von vornherein zu erwägen, dass der Symptonien-
complex desselben, d. h. die Summe derjenigen Erscheinungen , welche durch das
Eindringen und die Verbreitung des Parasiten hervorgerufen werden , nicht in jedem
Falle die gleichen sein können, und zwar wird diese Verschiedenheit nicht blos
von der grösseren Menge der Infectionserreger , sondern auch von dem Grade
ihrer Wirksamkeit und Vermehrungsfähigkeit, sowie endlich von der Reactions-
fähigkeit des inficirten Organismus und seiner Gewebe abhängen. Während die
beiden ersteren Factoren nur quantitative Verschiedenheiten hervorbringen werden,
muss der letztere das klinische und anatomische Krankheitsbild auch qualitativ
beeinflussen können. Wir sehen den letzteren Einfluss am deutlichsten ausgeprägt
in den beiden Gruppen der septischen und pyämischen Störungen , welche in
der That grosse Differenzen darbieten, obwohl sie ätiologisch zusammengehören.
Das Bild der ersteren bietet die gesammte vorher erläuterte Gruppe der febrilen
und circulatorischen Störungen dar, zu denen sich noch eine Reihe nutritiver
Störungen gesellen, welche weiterhin erörtert werden sollen ; das Bild der Pyämie
aber enthält ausserdem noch die mechanischen Störungen innerhalb der Blutbahn,
welche durch die thrombotischen und embolischen Vorgänge erzeugt werden und
die Eiterungsprocesse, welche in zu einseitiger Weise dem Vorgange den Namen
gaben. Die mannigfaltigste Combination dieser zwei Reihen von Störungen nöthigte
zur Aufstellung des gemeinsamen Begriffes des Septico-Pyämie ; wir werden ein-
facher und folgerichtiger den gemeinsamen und grundlegenden Vorgang der
septischen Infection für die Namengebung verwerthen und die Thrombose, sowie
die Eiterungen als seeundäre, wenn auch sehr wichtige Complicationen dieses
Processes betrachten. Ausserdem bleibt auch noch die Möglichkeit zu erörtern,
dass verschiedene Infectionserreger die gleichen oder sehr ähnliche Processe im
Körper hervorrufen.
A. Die einfache, uncomplicirte Sepsis tritt in ihren schwersten,
rasch zum Tode führenden , foudroyanten Form in der Gestalt der septischen
Gangrän auf, welche früher, bei mangelhafter Antisepsis, eine häufige Erscheinungs-
form in Krankenhäusern, jetzt beinahe nur noch auf Schlachtfeldern beobachtet
wird. Die oft unbedeutende Verletzung, z. B. ein einfacher Weichtheilschuss der
Extremitäten, führt zu rasch vorschreitender Gangrän des Theiles, derselbe schwillt
an, wird bläulich gefärbt , erscheint oft von Luftblasen durchsetzt , ist kalt,
gefühllos und unbeweglich. Die Gefässe dabei nicht thrombosirt, enthalten nur wenig
flüssiges dunkles Blut. Von allgemeinen Erscheinungen ist hervorzuheben das Sinken
der Temperatur und schwere , nervöse Störungen , meist unter dem Bilde eines
tieferen, rasch zunehmenden Sopors ; die Herzthätigkeit nimmt schnell ab und der
Tod tritt meistens unter den Erscheinungen des Lungenödems ein. Es stellt sich
somit das Bild der Erkrankung in diesem Falle dar als dasjenige einer acuten
Vergiftung, welche von dem gangränescirenden Theile ausgeht. Nur sehr frühzeitige
und vollständige Entfernung desselben kann dem Processe Einhalt thun. Die
anatomischen Veränderungen in solchen Fällen sind die gleichen , wie bei allen
acuten Infectionsprocessen , Schwellung und Erweichung der Milz , parenchymatöse
Degeneration der Nieren, Leber und des Herzens. In den gangränösen Partien,
sowie auch in dem gleichfalls oft mit Luftblasen durchsetzten gangränösen Blute,
finden sich die eigentlichen Fäulnissorganismen, Vibrionen.
SEPSIS. 493
Dauert der Process, was bei localer Abgrenzung des Infectionsherdes
möglich ist. längere Zeit, so treten auch noch die übrigen Erscheinungen der
putriden Intoxication ein, namentlich charakterisirt durch diarrhoische, bis-
weilen auch blutige Stuhlgänge. Die Körpertemperatur bleibt auch jetzt niedrig.
Es fehlt für diese Fälle noch der Nachweis, ob die putriden Vorgänge
primär in dem verletzten Theile sich entwickeln und zu dessen Absterben führen
oder secundär in dem abgestorbenen Theile sich entwickeln. Doch erscheint da3
letztere als das wahrscheinlichere, indem die reinen Fäulnissvorgänge im lebenden
Körper nicht leicht Platz greifen. Man kann daher diese Fälle als acute Sepsis
mit putrider Complication bezeichnen.
Je geringer die locale Gangrän mit oder ohne Verjauchung ist, um so
reiner tritt das Bild der Sepsis hervor. Unregelmässige, oft wiederholte Anfälle von
Temperatursteigerung deuten auf wiederholte Invasionen der diesen Fermentations-
process hervorrufenden Organismen hin, welche nun in Gestalt von Mikrococcen-
massen in demjenigen Theil des Blutsystemes nachgewiesen werden können , welche
für die Anhäufung derselben besonders günstige Verhältnisse darbieten. Dies ist
namentlich der Fall in den Capillaren und kleinen Venen der Lunge, in der
Vasa recta der Nieren und in den centralen Theilen des Gefässnetzes der Leber-
acini, welche in solchen Fällen oft ausserordentlich ausgedehnte Verstopfungen
durch dicht gedrängte, feinkörnige Mikrococcusmassen darbieten. Die bedeutende
Erweiterung der Gefässe an solchen Stellen deutet auf eine intensive Vermehrung
der Organismen daselbst hin. — Die Veränderungen der Organe beschränken
sich im Wesentlichen auf dieselben degenerativen Veränderungen wie im vorigen
Falle, jedoch treten die Fäulnisserscheinungen mehr und mehr zurück. Bei etwas
langsamerem Verlaufe des Processes sind auch jetzt schon, namentlich in den
Lungen, die ersten Spuren reactiver Veränderungen wahrzunehmen, nicht aber in
Form herd weiser Erkrankungen , sondern als diffuse , zellige Infiltration, welche in
der Lunge bei makroskopischer Betrachtung das Bild eines chronischen Oedeins dar-
bieten kann. Der etwas trübe, wässerige Inhalt der Alveolen enthält jetzt abgestossene,
verfettete Alveolarepithelien in grosser Menge, neben denen auch stellenweise schon
einzelne weisse Blutkörperchen unterschieden werden können. Im weiteren Verlaufe
schliessen sich hieran Formen schlaffer, grauer Hepatisation an, die bisweilen
zu diffuser Eiterinfiltration führen. In allen diesen Fällen gelingt es leicht, neben
den Mikrococcusthromben der Venen und Capillaren dieselben Organismen in grosser
Menge auch in dem Alveolarinhalte nachzuweisen.
Bei noch langsamerem Verlaufe der einfachen Form der Septicämie zeigt
das Krankheitsbild die Charaktere der progressiven, perniciösen Anämie, welche
oft erst nach Monaten zum Tode führen kann. Meistens bestehen in solchen Fällen
schon makroskopisch sichtbare Herde, von denen aus immer frische Infectionen
ausgehen, von Fieber begleitet, durch welche neue Massen Infectionserreger in die
Blutbahn eingeführt werden; in anderen Fällen indess können solche Herde fehlen,
und scheint es, dass alsdann die blutbildenden Organe, namentlich die Milz, die
Lymphdrüsen und das Knochenmark die Stätten sind, in denen die Vermehrung
der Krankheitserreger erfolgt. In beiden Fällen findet man im Blute entweder
frei oder in weissen Blutkörperchen eingeschlossen, kleinste mit kernfärbenden
Anilinfarbstoffen sich dauerhaft färbende Körnchen von nicht ganz x/2 [/• Durchmesser,
von denen die frei im Blute befindlichen lebhafte Bewegungserscheinungen zeigen.
Die oben erwähnten diffusen Veränderungen der Organe sind namentlich
im Knochenmark deutlich, welches eine gleichmässig rothe oder gefleckte Beschaffen-
heit annimmt. In demselben finden sich neben den erwähnten, in besonders reich-
licher Menge vorhandenen Mikrococcen zahlreiche Fragmente von rothen Blutkörperchen
von verschiedenster Grösse ; die kleinsten, kaum von etwa 1 [i. Durchmesser, können,
indem sie die grüne Farbe der Blutkörperchen undeutlich erkennen lassen , und, von
den beweglichen Körperchen gestossen, passive Ortsveränderungen machen, bei Beob-
achtung mit zu schwachen Linsensystemen leicht für Organismen gehalten werden.
491 SEPSIS.
Bei dieser Gelegenheit sei auch bemerkt , dass meiner Ansicht nach die
sogenannten Mikrozyten auch bei anderen Formen der perniciösen Anämie nicht die
Bedeutung junger unerwachsener rother Blutkörperchen besitzen, sondern vielmehr
Theilstücke von rothen Blutkörperchen darstellen, welche durch die mechanische
Action beweglicher Organismen gebildet werden. Nicht selten gelingt es , diesen
Vorgang direct an Blut solcher Kranken zu beobachten, welches in einer gehörig
gelüfteten mikroskopischen Kammer eingeschlossen ist.
B. Die mit der Bildung von Entzündungsherden compli-
cirte Sepsis, Pyo-Sepsis (Septico Pyämie), stellt die weitaus häufigste Form
dieser Processe dar, und bildet sich in allen denjenigen Fällen heraus, in denen
die Einwirkung der Infectionserreger entweder eine geringere Intensität besitzt,
oder die Widerstandsfähigkeit des Organismus einen höheren Grad erreicht hat.
Auch hier bilden die Eintrittsstellen des Krankheitsfermentes, der Mikroorganismen,
Verletzungen der Körperoberfläche, welche entweder primär sofort nach der Ver-
letzung oder erst in einer späteren Periode, nicht selten während der Eiterung und
Granulatiousbildung daselbst sich ansiedeln und in den Körper eindringen. Sehr
viel seltener sind diejenigen Fälle, in denen die Verletzung gleichsam nur die
Wirksamkeit des im Körper ruhenden Virus anfacht.
Hierhin gehören die traumatischen und puerperalen Formen der Septi-
cämie. Bei beiden soll in kurzer Uebersicht der gewöhnliche Verlauf dargestellt werden.
a) Die traumatische Sepsis lässt sich anatomisch am besten in solchen
Fällen verfolgen , in denen die Verbreitung des Processes von der primären Infec-
tionsstelle aus eine langsamere ist und gleichsam nur etapenweise von Organ zu
Organ fortschreitet. Unzweifelhaft bilden in diesen Fällen die Zellwucherungen in
den einzelnen Organen die wesentlichste Ursache der verlangsamten Weiterverbreitung.
Sehen wir doch überall da, wo reichliche Zellablagerung und Eiterbildung stattfindet,
die Organismen spärlicher werden und endlich gänzlich verschwinden. Vielleicht
beruht diese den Infectionserregern feindliche Wirkung der Eiterbildung auf ihrer
von mir schon vor längerer Zeit nachgewiesenen Eigenschaft als Ozonerreger. 3)
Für die folgenden Erörterungen über die Verbreitung des Mikro-Organismus
bei Sepsis beziehe ich mich hauptsächlich auf meine Arbeit über die Schusswunden 4),
welche zum ersten Mal nach den bedeutsamen Leistungen Lister's über die Anti-
sepsis diese Aufgabe direct zu verfolgen suchte, während bis dahin die Frage der
Infectionsverbreitung bei Sepsis mit der Lehre von der Thrombose und Embolie
identificirt wurde, welche beiden Formen doch nur gelegentlich diesen Vorgang
vermitteln.
Während in frischen Wunden, welche septisch inficirt werden, für den
Anatomen nur selten sich die Gelegenheit darbietet, die Ansiedlung der Organismen
in der Wundfläche und ihr Eindringen in das Gewebe Schritt für Schritt zu beob-
achten, bietet die secundäre Infeetion schon länger bestehender granulirender Wund-
flächen hierfür günstigere Verhältnisse dar. Es zeigt sich bei der Betrachtung
solcher Theile nicht selten auf das Deutlichste, wie gewisse mechanische Verhält-
nisse an der Wunde und ihrer Nachbarschaft diese Vorgänge begünstigen ; so sind
es an Amputationswunden namentlich die vorragenden Stümpfe der unterbundenen
Arterien, ferner die mehr oder weniger tiefen Einbuchtungen der Oberfläche, welche
sich unter den überwuchernden Granulationsmassen bilden, die den Mikro- Organismen
günstige Gelegenheit zur Ansiedlung darbieten. Weiterhin sind es die Bewegungen
der Theile und die Saftströmungen, welche ihre Verbreitung in gewissen Bichtungen
begünstigen. In erster Beziehung kommen vorzugsweise die Lymphgefässe in Betracht
und stellt sich die Verbreitung dar entweder als eine eigentliche Lymphangitis
oder Perilymphangitis oder als eine diffuse eitrige Infiltration , welche dem Verlaufe
der Blutgefässe folgt. Innerhalb derselben, namentlich der Venen, sind es dann
die durch das Eindringen der Organismen bedingte Erweichung der Thrombus-
massen, welche die Verbreitung der Organismen in der Blutbahn, die eigentliche
Invasion derselben, herbeiführt.
SEPSIS. 495
Zu den mechanischen Förderungsmitteln dieser Verbreitung gehört
in erster Linie die Muskelbewegung, welche direct den Lymphstrom beschleunigt.
Am auffälligsten ist dies zu beobachten in denjenigen Formen der Verletzung,
in denen dieselbe die Lymphgefässe der Muskeln und ihrer Fascien eröffnet, wie
dieses z. B. in den Venaesectionswunden bisweilen geschieht. Die Form-
veränderung des Muskels, z. B. des Biceps brachü , bei Phlebotomie in der
Ellenbogenbeuge bewirkt dann ein Ansaugen der in die offenen Lymphgefäss-
mündungen eingedrungenen Organismen in die lymphatischen Hohlräume der intra-
muskulären Bindegewebsscheidewände. Die in dieser Weise in's Innere des Muskels
gelangenden Organismen vermehren sich daselbst und bilden, indem sie die Hohl-
räume des Bindegewebes dilatiren, breite spindelförmige Anhäufungen von Mikro-
coccen, welche allmälig zu diffusen Massen zusammenfliessen. Ablagerung von
Eiterzellen und Bildung von Abscessen folgt erst nach einiger Zeit dieser Mikrococcen-
Infiltration.
Für die weitere Verbreitung des Processes ist das Uebergreifen desselben
auf die Wandungen der Blutgefässe von hervorragender Bedeutung, während
innerhalb der Lymphbahnen die Lymphdrüsen gewöhnlich die schnellere Verbreitung
des Processes verzögern. Ein treffliches Object für diese Art der Verbreitung liefert
unter Anderem die von Ckuveilhier als Osteophlebitis beschriebene Affection in
Amputationsstümpfen. Bei derselben sieht man nicht selten, ausgehend von den
tiefen und engen Einbuchtungen, welche das pilzartig hervorwuchernde Knochen-
mark bildet, reihenweise gebildete Eiterherde und Streifen im Knochenmarke sich
nach aufwärts verbreiten. In denselben liegen Mikrococcenballen zwischen der
oberflächlichen Eiterschicht und dem Markgewebe und dringen stellenweise in
letzteres ein, namentlich in der Richtung der kleinen Blutgefässe und kann hier
ihre Verbreitung auf die Gefässwandungen , die Zerstörung derselben von aussen
nach innen, die Entstehung von Blutgerinnungen an ihrer inneren Oberfläche und
der weitere Zerfall der Thromben durch das weitere Vordringen der Mikrococcus-
massen direct beobachtet werden (vgl. Schusswunden 1. c).
Nachdem nun in dieser oder ähnlicher Weise die Mikro-Organismen einen
freien Zugang in die Blutbahn erlangt haben, hängt die Gestaltung der weiteren
Vorgänge von der Masse der in die Blutbahn eindringenden Organismen ab, sowie
von der Art und Weise ihres Transportes. Auch jetzt kann, wenn fort und fort
das Eindringen derselben- nur in geringer Zahl stattfindet, als die einzige weitere
Veränderung der oben geschilderte Zustand von septischer progressiver Anämie
eintreten, — oder es führt eine massenhafte einmalige Invasion zu schwerster Allgemein-
infection. In anderen Fällen siedeln sich die in die Blutmasse eingedrungenen
Organismen in entfernten Gefässbezirken an, welche günstige Bedingungen hierzu
darbieten, oder es erfolgen Embolien von losgerissenen Thrombusstücken, welche
als Träger von Mikro-Organismen grössere, local begrenzte Eiterungen hervorrufen.
Wir wollen den ersten Process als denjenigen der directen Implantation der
Organismen, den zweiten als denjenigen der embolischen Implantation bezeichnen.
Die directe Implantation und Coloniebildung geschieht vorzugsweise unter
drei Bedingungen in der Blutbahn: erstlich an den Herzklappen, zweitens
in Theilen des Venensystems mit besonders verlangsamter Strömung und drittens
in Capillaren.
Von den Herzklappen bieten für die Entstehung dieser Endocarditis
septica diejenigen der linken Seite die günstigsten Verhältnisse dar. Die erste
Auflagerung der Mikrococcen erfolgt hier an den sogenannten Schliessungslinien,
also an denjenigen Theilen, welche bei dem Klappenschluss fest aneinandergepresst
werden. In sehr frischen Fällen, welche noch keine makroskopischen Veränderungen
darbieten, kann man hier die Mikrococcen dem Endothelüberzuge anhaftend, zum
Theil auch in den Zellen eingelagert nachweisen. Erst später entsteht ein Fibrin-
überzug der Oberfläche, auf welchem von Neuem Ablagerung von Mikrococcen
stattfindet, und können sich, indem dieser Process sich wiederholt, endlich grosse,
496 SEPSIS.
geschichtete Thrombusmassen auf den Klappenrändern bilden; in anderen Fällen
dagegen führt eine rasche Vermehrung der auf den Fibrinschichten abgelagerten
Mikrococcen zu einem Zerfall der ersteren und bleiben dann jene dünnen, zottigen,
gleichsam angefressenen Auflagerungen übrig, welche man in den schwersten
Formen der septischen Endocarditis antrifft. Indem hier eine fortwährende Los-
bröckelung der reichlich von Mikrococcen durchsetzten Faserstoffmassen stattfindet,
bilden sich in diesen Fällen miliare Embolien der kleinsten Arterieu, namentlich
in den Nieren, dem Herzfleische und der äusseren Haut.
Dass die Faserstoffablagerung auf den Herzklappen bei septischer Endo-
carditis nicht durch fibrinöse Exsudation aus dem Gewebe hervorgeht, sondern
durch Blutgerinnung erzeugt wird, ergiebt sich aus dem Gehalte an rothen
Blutkörperchen , welche die jüngsten , oberflächlichsten Schichten derselben ohne
Ausnahme zeigen. Wir begegnen demnach hier der eminent wichtigen Thatsache
der die Blutgerinnung hervorrufenden Eigenschaft dieser Art von Mikro-Organismen.
Es muss vorderhand dahingestellt bleiben, ob dieselbe auch in diesem Falle ver-
mittelt wird durch eine Auflösung weisser Blutkörperchen, welche sich zunächst
an den von Mikrococcen durchsetzten Partien der Oberfläche festsetzen. Doch hat
diese Annahme viele Wahrscheinlichkeit für sich, nachdem Alex. Schmidt und
seine Schüler den schnellen Zerfall der weissen Blutkörperchen beim Gerinnungs-
vorgange nachgewiesen haben , und würde dieser schnelle Zerfall die Erklärung
liefern, weshalb man bei der septischen Endocarditis in frischen Fällen keine farb-
losen Blutkörperchen in den Fibrin schichten nachweisen kann. Erst in späteren
Stadien, nachdem die Auflösung der rothen Blutkörperchen vor sich gegangen, findet
eine nicht selten sehr mächtige Durchsetzung der Fibrinschichten mit farblosen
Blutzellen statt , welche von den Blutgefässen der Klappen geliefert werden , wie
wenigstens ihre mächtige Ablagerung zunächst der Klappenoberfläche annehmen lässt.
Die älteren Schichten dieser Thrombusmassen zeigen nicht mehr die netz-
artige Beschaffenheit des frischen Faserstoffes, sondern bestehen aus einer homogenen
durchscheinenden Substanz, welche nicht selten in bedeutender Ausdehnung ihre
Zusammensetzung aus kleinen, blassen Kügelchen erkennen lässt. Dieselben nehmen
nicht mehr die charakteristische Färbung der Mikrococcen an, dürften aber wohl
ihrer Form und Grösse nach als abgestorbene Mikrococcusmassen betrachtet werden.
Die noch lebensfähigen Mikrococcen, welche sich zwischen den Faserstoff-
massen vorfinden, wuchern in Form blattartig angeordneter Ballen in die Faser-
stofflager hinein, und zwar immer in der Richtung gegen die Klappenoberfläche.
Dasselbe geschieht auch an der Klappenoberfläche selbst, indem hier die besonders
kräftig wuchernden Mikrococcusballen in das Gewebe der Klappe eindringen.
Die vorhergellende Darstellung ergiebt wohl zur Genüge, dass für die gewöhnlichen
Fälle der Endocarditis septica das mechanische Moment der Aneinanderpressung der sich bei
der Schliessung der Klappen berührenden Flächen den wesentlichen Grund der daselbst statt-
findenden Mikrococcenimplantation darstellt. Es soll dagegen nicht in Abrede gestellt werden,
dass, wie Koester dieses dargestellt hat, unter freilich seltenen Umständen der Process der
Endocarditis septica auch von einer Mikrococcenembolie der in den Gefässen vorhandenen
Klappen ausgehen kann, doch dürfte dieses höchstens für die Mitralklappe zuzulassen sein,
während für die Aortenklappen wegen ihrer spärlichen und von den Klappenrändern weit
entfernt bleibenden Gefässverzweigung eine solche Entstehungsweise der Mikrococcenimplantation
keinesfalls in Betracht kommen kann, da diese letztere auch hier stets an dem Randtheile
stattfindet (vgl. hierzu meine Abhandlung „Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Endocar-
ditis" 4) und namentlich die 1. c. pag. 58 gegebene Abbildung einer Endocarditis aortica).
Die miliaren Embolien, welche von diesen septischen Klappenaffectionen
ausgehen, entsprechen in ihrer Form und ihrer Erscheinung den zuerst von
Recklinghausen beschriebenen Miliarabscessen, welche zunächst kleine dunkelrothe
Flecken oder spindelförmige Streifen darstellen, die weiterhin von einer schmalen,
gelblichen Eiterzone umgeben werden ; in der Mitte derselben findet sich das kleine,
durch die Mikrococcenmassen dilatirte Blutgefäss, entweder eine kleine Arterie oder
eine arterielle Capillare, welche von extravasirten, in der Adventitia eingeschlossenen
Blutmassen umgeben ist, ein sogenanntes Aneurysma dissecans kleinster Form bildend.
SEPSIS. 497
In den Venen sind es vorzüglich die hinter den Klappen befindlichen
Ausbuchtungen, welche eine günstige Implantationsstätte für die Mikro-Organismen
darstellen. Gewöhnlich findet man an diesen Stellen in der tiefsten Ausbuchtung
des Klappensinus einen kleinen, daselbst fest anhaftenden, von Virchow als
„klappenständigen" bezeichneten Thrombus, der mit abgerundeter glatter Oberfläche
verschieden weit in den Sinus hineinragt. Die Mikrococcenmassen finden sich hier an
der tiefsten Stelle des Thrombus, zwischen demselben und der Gefässwand. Man
kann hieraus den Schluss ableiten, dass auch hier zuerst die Ablagerung der
Mikrococcen stattgefunden habe , und zwar an derjenigen Stelle, an welcher die
geringste Blutbewegung vorhanden ist.
Ferner erklärt diese Ablagerungsstätte der Mikrococcen, welche sich häufig
in weiter Entfernung von der primären Eintrittsstelle in den Organismus vorfindet,
(Wunde, puerperaler Uterus), eine Thatsache, welche, schon seit längerer Zeit beob-
achtet und namentlich von ViRCHOW hervorgehoben, nicht wohl verständlich war,
so lange man nur die thrombotische und nicht die parasitäre Grundlage der sep-
tischen Vorgänge erkannt hatte. Damals konnte man es sich schwer erklären, weshalb
die embolischen Vorgänge so häufig von einer Stelle des Venensystemes ausgehen,
welche von der ursprünglichen Verletzungsstelle weit entfernt liegt. Das Gleiche
wurde bei puerperalen Infectionen, wie bei Verletzungen der Körperoberfläche ge-
funden. Gegenwärtig sind diese Beziehungen leicht verständlich,* indessen müssen
zwei Arten der Beziehungen zwischen der Mikrococcenimplantation und der Thrombose
unterschieden werden, indem einmal, wie in dem vorher beschriebenen Falle, die
Mikrococcenablagerung in der Vene die primäre Erscheinung, die Thrombose die
secundäre ist. In anderen Fällen dagegen findet das Umgekehrte statt und stellt ein
älterer Venenthrombus den Ausgangspunkt der septischen Infection dar. Im letzteren
Falle sind eigentlich noch zwei Möglichkeiten zu unterscheiden : entweder bietet
ein das Gefäss verengender Thrombus in das Blut eingedrungenen und mit demselben
circulirenden Organismen eine günstige Lagerungsstätte dar, innerhalb deren sie
sich weiter entwickeln und von der aus neue und massenhaftere Invasionen in die
Blutbahn erfolgen, oder es befanden sich in einem alten Thrombus in ruhendem
Zustande, aber noch entwicklungsfähig, Mikro-Organismen, welche früheren Krank-
heitsprocessen entstammten und deren Weiterentwicklung durch eine neue Schädigung
des Organismus angeregt wurde. So sehen wir nach heftigen, mit Ueberanstrengung
verknüpften Bewegungen oder nach sogenannten Erkältungen, d. h. nach bedeutenderen,
durch locale Ischämie gesetzten Störungen, ferner nach normalen Geburten ohne
Veränderung des Genitalapparates und nach günstig verlaufenden blutigen Operationen
die schwersten septischen Infectionen auftreten, welche von solchen älteren, die
Infectionskeime schon längere Zeit enthaltenden Herden ausgehen. Da es sich aber in
diesen Fällen auch um unmerkliches Eindringen von Infectionserregern an der Ver-
letzungsstelle handeln kann, welches geringe locale Spuren zurücklässt, so ist es nicht
immer leicht zu entscheiden, welche dieser beiden Formen im gegebenen Falle vor-
handen ist, ob frische Infection alter Thromben besteht oder ruhende Infectionskeime
im Thrombus durch die neue pathologische Störung zur Entwicklung angeregt wurdeu.
Jedoch lässt sich im Allgemeinen behaupten, dass, falls in solchen Venenthromben
centrale Erweichungen vorkommen und grössere Stücke derselben abgelöst werden,
welche in Form nachweisbarer Emboli metastatische Eiterherde in den Lungen hervor-
bringen, der letztere Modus vorhanden war. Bei frischer Infection älterer Thromben
dagegen bröckelt der von Mikrococcen neuerdings, und zwar in seinen oberfläch-
lichen Schichten durchsetzte Thrombus hier nur allmälig und in kleinsten Par-
tikelchen ab und entstehen demgemäss nicht oder nur im geringen Umfange
eigentliche embolische Herde der Lungen, sondern diffuse entzündliche Processe
mit mehr oder weniger ausgebreiteter Mikrococcenthrombose derselben, wie wir
sie oben geschildert haben ; oder es kann auch geschehen, dass die in reiner Form
ohne Beimischung von Faserstoffmassen von dem Thrombus sich loslösenden
Mikrococcen den Lungenkreislauf passiren , ohne Veränderungen in dem Organe
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 32
498 SEPSIS.
hervorzubringen und erst im arteriellen Kreislaufe jene Veränderungen bewirken,
welche gewöhnlich mit einer Endocarditis septica der linksseitigen Herz-
klappen beginnen. Das Fehlen dieser letzteren Zwischenform wird, wie hier
beiläufig bemerkt werden mag, nicht selten als ein nur scheinbares betrachtet
werden müssen , insofern als nicht selten in derartigen Fällen Zeichen vorhanden
sind, dass die Anhäufung von Mikrococcusmassen an den gegenseitigen Berührungs-
flächen der Klappen nur einen vorübergehenden Bestand besitzt. Hierauf deutet
hin der Befund kleinerer und unregelmässiger Faserstoffplatten, welche reich an
Mikrococcen sind und nur hie und da auf den Schliessungslinien anhaften. Die-
selben stellen offenbar Fragmente einer früher ausgedehnteren Auflagerung dar,
welche noch keine tieferen Veränderungen im Klappengewebe hervorgerufen hat.
Endlich sind noch in Betracht zu ziehen die secundären Ablagerungen
der septischen Mikro- Organismen in dem Capillarsystem. Dieselben können nicht
als eigentliche embolische bezeichnet werden in demjenigen Sinne, in dem dieses
für die gewöhnliche Form der thrombotischen Embolie gebräuchlich geworden ist.
Im Allgemeinen finden wir diejenigen Stellen des Capillarsystems für solche Ab-
lagerungen besonders geeignet, in denen schon an und für sich oder in höherem
Grade unter dem Einflüsse allgemeiner oder localer Circulationsstörungen eine
besonders langsame Strömung des Blutes stattfindet ; auch müsste hierbei die von
Ludwig und seinen Schülern ermittelte Thatsache in Betracht gezogen werden,
dass innerhalb eines Organes ein zeitlicher Wechsel der Stromgeschwindigkeit in
den verschiedenen Abschnitten desselben Stromgebietes besteht. Sollten unter
pathologischen Verhältnissen, vielleicht unter dem Einflüsse reflectorischer Nerven-
reizung, solche locale Ischämien einen länger dauernden Charakter annehmen, so
würde dieses auf das Beste erklären die ungleichmässige Vertheilung der Mikro-
coccenablagerung innerhalb des Capillargebietes eines und desselben Organes, welche
man gewöhnlich unter solchen Verhältnissen antrifft.
Die Ablagerung der Mikrococcen in den Capillargefässen findet zunächst,
da diese Organismen immer nur vereinzelt, nicht in Haufen denselben zugeführt
werden, auf der Wandung des Gefässes statt. Es lässt sich diese Art der
Ablagerung namentlich gut in denjenigen Fällen nachweisen, in denen sehr aus-
gebreitete hämorrhagische Zustände im Gefolge der septischen Infection auftreten.
Dieselben sollen des Näheren erwähnt werden in dem folgenden Abschnitte,
welcher die sogenannten spontanen oder, richtiger gesagt, internen Formen der
Sepsis zu behandeln hat, da sie sich vorzugsweise in diesen Fällen vorfinden,
bei denen eine reinere und reichere Entwicklung der Organismen innerhalb der
Blutbahn stattfindet, als dieses bei den traumatischen Formen der Fall zu sein
pflegt. Der Grund dieser Verschiedenheit ist leicht einzusehen , indem in den
internen Formen der Sepsis die in inneren Organen vorhandenen Entwicklungsherde
der Mikro- Organismen eine reichere Ausbeute liefern als die an der Oberfläche
gelegenen bei traumatischer Sepsis.
Die Entstehung der Blutungen in diesen Fällen hängt demnach keineswegs
von der Verstopfung der Gefässe ab, sondern vielmehr von der Wandveränderung,
welche, durch die Mikro-Organismen hervorgerufen, den Vorgang der Diapedese der
rothen Blutkörperchen veranlasst. Aus diesem Grunde finden sich z. B. bei der septischen
Retinalaffection nur selten vollständige Verstopfungen der Gefässe mit Mikro-
coccusmassen.
Weiterhin bilden sich mehr oder weniger ausgedehnte Verstopfungen von
Capillargefässen innerhalb solcher Organe, welchen fort und fort septische Mikro-
Organismen zugeführt werden und welche für deren Ansiedlung und Weiterentwicklung
günstige Verhältnisse darbieten. Die ausgedehntesten derartigen Veränderungen
wurden in einem Falle von Ribbeet 6) beobachtet, von welchem es allerdings zweifel-
haft ist , ob er in das Gebiet der septischen Processe einzurechnen ist. In dem-
selben waren sehr umfangreiche Capillargebiete der Grosshirnrinde gänzlich von
kurzen Stäbchen erfüllt, die Umgebung der Gefässe leicht getrübt, so dass
SEPSIS. 499
weissliche Streifen und Flecken die ganze Hirnrinde durchsetzten. Es mag auch
dahingestellt sein , ob nicht , entgegen der Ansicht des Verfassers , dennoch hier
zum Theil postmortale Veränderungen anzunehmen sind, die in einer Weiter-
entwicklung schon vorher vorhandener Keime bestehen würden. Gerade streifige
Trübungen ganz ähnlicher Art kann man unter Umständen besonders gut an
faulen Lebern entstehen sehen. Jedoch kann selbstverständlich nicht die Möglich-
keit in Abrede gestellt werden, dass in der That sehr umfangreiche Gebiete des
Capillarsystems durch die wuchernden Mikro-Organismen gänzlich erfüllt werden.
Sehr ausgedehnte derartige Verschliessungen beobachtet man sowohl in
der Leber, wie in der Niere. In der ersteren findet sich der Process im Centrum
der Acini am stärksten entwickelt ; die Capillargefässe sind hier durch die Mikro-
coccusmassen ad maximum dilatirt , nur durch feine Linien , die Reste des
Grundgewebes, von einander getrennt, die Leberzellen gänzlich verschwunden.
Der Process erstreckt sich oft bis zur Oberfläche der Acini, und sind demnach
ganze Gruppen derselben eigentlich in Mikrococcenmassen völlig aufgegangen. In
der Umgebung solcher Herde bilden sich alsdann gelbe Zonen demarkirender
Eiterung, die sich schon makroskopisch von der schmutziggrauen Färbung der
Mikrococcusmassen abheben. Weniger bekannt als diese Formen sind diffuse
Mikrococcenentwicklungen in den Vasa recta der Nieren, welche namentlich häufig
bei puerperalen Infectionen vorkommen und dem äusseren Anschein nach die
Charaktere einer Pyelonephritis darbieten. In den hochgradig parenchymatös ent-
arteten, blassgelben Nieren finden sich an der Oberfläche Gruppen von Eiterpunkten
in meist stärker erweichten Bezirken; auf einem vom Rande gegen den Hilus
geführten Schnitt sieht man die oberen zwei Drittel der Markkegel in aus-
gedehntester Weise von grauen und gelben Streifen durchsetzt, welche in der
Richtung der Harncanälchen verlaufen , dagegen zeigen die Papillen keine Spur
und ebenso sind das Nierenbecken, die Ureteren und die Harnblase frei von
entzündlichen Veränderungen.
Freilich kommen Formen echter Pyelonephritis vor, bei denen nur einzelne
Abschnitte der harnleitenden Wege gröbere Veränderungen darbieten. Formen,
welche sich durch eine sprungweise Veränderung dieser Schleimhäute durch die
einwandernden Mikroorganismen , sowie durch die Rückbildung an den zuerst
inficirten Stellen der harnleitenden Wege erklären lassen. Dennoch trifft diese
Erklärung für die vorliegenden Fälle nicht zu, indem hier die Mikrococcusmassen
ganz vorzugsweise und in allergrösster Ausdehnung die Blutgefässe, die sogenannten
Vasa recta erfüllen, dieselben ad maximum dilatiren und nur in spärlicher Menge
neben den Blutgefässen, zum Theil auch in einzelnen Harncanälchen angetroffen
werden. In den letzteren schreitet auch hier der Process gegen die Nieren-
oberfläche vor, dieselben Veränderungen hervorbringend wie bei der eigentlichen
Pyelonephritis ; man kann die letztere Form als primäre intracanaliculäre Mycose der
Niere bezeichnen und im Gegensatz hierzu die vasculäre Form und die von den
Gefässen ausgehende Mycose der Harncanälchen unterscheiden.
Weniger umfangreiche mycotische Thrombosen der Capillaren finden sich
ausserordentlich häufig bei septischen Processen in der Niere , namentlich in den
Glomerulis, in der Leber mehr in den mittleren und äusseren Theilen der Acini,
in der Substanz des Uterus, des Herzfleisches, dann namentlich noch im
Knochenmark und wahrscheinlich noch in vielen anderen Organen. Die Ver-
änderungen , welche dieselben begleiten , können sehr verschiedener Art sein ;
entweder fehlen solche gänzlich oder stellen sich nur unter dem Bilde diffuser
parenchymatöser Entartung dar oder sie bilden necrotische Herde von keilförmiger
Gestalt, innerhalb deren Coagulationsnecrose der Kerne mit Kernschwund eingetreten
ist. Da die zuführenden Arterien in solchen Fällen gewöhnlich frei gefunden
werden , wie man sich mit grosser Sicherheit an ununterbrochenen Schnittserien
überzeugen kann, und anderseits die, wenn auch zahlreichen, doch nur wenig um-
fänglichen Verstopfungen von Capillaren die Thrombose eines ganzen arteriellen
3**
500 SEPSIS.
Gebietes nicht erklären, so muss man annehmen , dass eine arterielle Embolie den
Process eingeleitet habe ; nach dem Zerfall des Embolus sind alsdann nur diese
kleinen Mikrococcusherde in den arteriellen Capillaren zurückgeblieben.
h) Die puerperale Sepsis. Im weitesten Sinne gehören in dieses
Gebiet nicht allein diejenigen Formen septischer Infection, welche sich unter dem
Einflüsse der Geburt oder eines Abortus entwickeln, sondern auch diejenigen, welche
im Gefolge menstrueller Vorgänge auftreten. Denn der Geburtsvorgang bildet auch
bei den ersteren Fällen nicht selten nur die Gelegenheitsursache, welche der schon
bestehenden, in den äusseren Geschlechtswegen entwickelten Infection die Wege
in das Innere des Körpers bahnt. Das Gemeinsame aller dieser Zustände besteht
aber in dem Eindringen der septischen Organismen auf dem Wege des weiblichen
Geschlechtsapparates.
Zu den menstruellen Formen müssen unzweifelhaft alle diejenigen puru-
lenten und adhäsiven Peritonitisformen gerechnet werden , welche sich in der
Umgebung des Geschlechtsapparates entwickeln , vorzugsweise von den Eileitern
ausgehend. Die eitrige Salpingitis, welche in diesen Processen nie fehlt, deutet
auf den Weg hin, auf welchem die septische Infection von aussen nach innen
fortschreitet. Ebenso dürften auch manche Formen anämischer Processe hierher
gerechnet werden , welche , vom Genitalapparat abhängend , ihre infectiöse Natur
durch Fieberzustände verrathen. Doch fehlt hier noch der genauere Nachweis im
einzelnen Falle und wird vielleicht sich überhaupt nur schwer führen lassen, indem
bei der sehr allmäligen Entwicklung dieser Processe eich nur selten in den
Anfangsstadien derselben Gelegenheit zur Untersuchung darbietet. Da indess
schwerere Formen sogenannter perniciöser Anämie von entschieden septischer
Natur, sowohl im Puerperium, sowie nach Aborten sich entwickeln, ist es nicht
unwahrscheinlich , dass auch ein grosser Theil analoger Processe , welche sich
ausserhalb des Puerperiums bei dem weiblichen Geschlechte entwickeln, auf eine
allmälige septische Infection vom Geschlechtsapparate aus zurückgeführt werden
müssen. Die Frage könnte indessen nur durch Untersuchungen am lebenden
Individuum entschieden werden. Die Schwierigkeiten einer solchen sind leicht
ersichtlich und noch nicht vollkommen überwunden.
Die eigentlich puerperalen Processe lassen dieselben beiden Reihen von
Vorgängen unterscheiden, wie die traumatischen Formen der Sepsis : reine Formen
der Sepsis und Combination derselben mit entzündlichen Processen.
Die reinen puerperalen Sepsisformen entwickeln sich in denjenigen
Fällen, in denen die septischen Organismen in grosser Menge und entwicklungs-
kräftig in den äusseren Geschlechtswegen vorhanden sind. Die Importation
derselben in die letzteren kann bereits vor der Geburt, oder während derselben,
oder auch nach derselben geschehen. Im ersteren Falle spielen oftmals mechanische
Verhältnisse, welche leicht zersetzbare Stoffe, wie Harn und Koth, mit der Vaginal-
schleimhaut in öftere Berührung bringen, eine bedeutsame Rolle. So können trotz
sorgfältigster Reinlichkeit acuteste septische Processe im Puerperium auftreten,
wenn durch Ovarialgeschwülste der Ureter nach oben gezogen und Harnträufeln
bewirkt wird, oder wenn Harnblasen- oder Urethralfisteln bestehen.
Dass die Infection mit septischen Organismen während oder nach der
Geburt durch die Digitaluntersuchung nur zu häufig veranlasst wird, lehren die
Fälle, in denen die meisten der von der gleichen Hebamme besorgten Gebärenden
erkranken.
Die Erscheinungen an den äusseren Geschlechtswegen , welche bei puer-
peraler septischer Infection auftreten, bedürfen einiger Erörterung. Zunächst fehlt
es nicht an Fällen, in denen sowohl die Vaginal- wie Uterinschleimhaut gänzlich
intact bleiben, Fälle, in denen sogar eine normale Rückbildung dieser Organe
stattfinden kann. Da auch die Lymph- und Blutgefässe in den breiten Mutter-
bändern , sowie die diese Theile umhüllenden Gewebe völlig normale Verhält-
nisse darbieten können, bleibt nur die Möglichkeit einer Weiterverbreitung der
SEPSIS. 501
septischen Organismen auf dem Wege der Eileiter übrig , wie dieses zuerst,
unter vielem Widerspruche freilich, von Eduard Martin behauptet wurde.
Als Gegengrund gegen diese Auffassung wurde unter Anderem von mir selbst
(Handbuch der pathologischen Anatomie) die Thatsache angeführt, dass der in
solchen Fällen eiterähnliche Inhalt der Tuben aus desquamirtem Cylinderepithel
besteht und nicht aus Eiterzellen. Allein seither habe ich hinreichend Gelegenheit
gehabt, mich von der Anwesenheit septischer Mikrococcen innerhalb dieser Massen
zu überzeugen ; die Desquamation des Epithels ist also eine Eigenthümlichkeit der
Tubarschleimhaut, welche von der anatomischen Beschaffenheit derselben abhängt.
Besonders beweisend für diese Auffassung sind diejenigen Fälle, in welchen nur
e in e Tube diesen Desquamationsprocess darbietet und die peritonitischen Processe
nur in der Umgebung der Peritonealöffnung dieser Tube sich entwickelt haben.
Die leichte Wegbarkeit der Tuben , wie sie zuerst von E. Hildebrand unter
manchen Umständen beobachtet wurde, erklärt wohl hinreichend die Möglichkeit
der Verbreitung septischer Organismen auf diesem Wege. Auch mangelhafte
Contraction der Uterin- und Ttibarwandung , vielleicht durch Quetschung der
Theile während der Geburt veranlasst, käme hier ebensowohl in Betracht, wie
eine normale anatomische Disposition derselben.
Die wichtigsten anatomischen Veränderungen an der Schleimhautaus-
kleidung der äusseren Geschlechtswege finden sich bei puerperaler Sepsis im
Uteruskörper. Ihre Beurtheilung unterliegt, wie es scheint, noch mancher irrthüm-
lichen Auffassung. Meiner Ueberzeugung nach kommt hier der Zerfall der Decidua-
und Schleimhautreste vorzugsweise in Betracht. In den hochgradigsten Fällen ist
die ganze innere Fläche des Uteruskörpers bis auf die Placentarstelle vollständig
ihres natürlichen Schleimhautüberzuges beraubt , dagegen von einer dünnen,
grau-röthlichen Flüssigkeit bedeckt, die sich leicht abspülen lässt. Dieselbe besteht
aus Zellresten mit gewöhnlich sehr geringer Beimengung von Eiterzellen und
ausserdem aus enormen Massen von Mikrococcen und kurzen Stäbchen, die oft in
dichten Lagen die blossgelegte Muscularis überziehen. Es finden hier ganz ähnliche
Verhältnisse statt, wie ich sie für die secundären septischen Gelenkaffectionen
geschildert habe (Schusswunden), in denen das Gewebe durch die directe Wirkung
der Mikrococcen aufgelöst wird, ohne dass reactive Zustände dabei zur Entwick-
lung gelangen.
Der erste Beginn dieses Auflösungsprocesses findet sich stets in den engen
Winkeln , welche sich am Uebergange der vorderen in die hintere Wand in den
Seitentheilen des Uterus vorfinden und schreitet von hier aus gegen die Median-
linie vor. An der hinteren Fläche der Uterushöhle findet man häufig noch einen
Rest der Uterinschleimhaut vor, welcher in der Breite der Placentarstelle oben
beginnt, nach unten sich verschmälert und nach dem Muttermunde mehr oder
weniger spitzzulaufend endigt. Die Placentarstelle selbst zeigt auch in schweren
Fällen viel seltener Zerstörungsvorgänge, als dieses im Allgemeinen angenommen
wird 5 ihre Gefässmündungen können auch bei hochgradigster Affection des Uterus-
innern durch feste thrombotische Massen völlig geschlossen sein. Die Uterus-
muskulatur erscheint in allen diesen Fällen hochgradig erschlafft, von matt-
grauweissem Aussehen. Die Capillargefässe derselben enthalten, auch bei völliger
Freiheit der grossen Gefässplexus , streckenweise aus Mikrococcen gebildete
Thromben. Im subserösen Gewebe, namentlich der hinteren Uteruswandung, finden
sich nicht selten jene zuerst von Virchow als pseudo-erysipelatöse bezeichneten,
gallertigen , serösen Infiltrationen , welche , ursprünglich reich an Mikrococcen,
allmälige Uebergange zu Eitereinlagerung darbieten. In anderen Fällen können
diese subserösen Bildungen fehlen und findet alsdann eine mächtige Mikrococcen-
bildung auf der Oberfläche des Peritoneums statt. Dasselbe erscheint dann oft in sehr
grosser Erstreckung von einer dünnen, leicht abstreifbaren grauen Lage überzogen,
welche nur aus Organismen besteht. Spuren reactiver Entzündung können hierbei
gänzlich fehlen, sowie wohl auch Zeichen peritonealer Reizung während des Lebens.
502 SEPSIS.
Eine nicht seltene Begleiterscheinung dieser schwersten Form septischer
Peritonealaffection bilden Veränderungen der Ovarien , welche unrichtigerweise
gewöhnlich als Oophoritiden bezeichnet werden. In Wirklichkeit handelt es sich um
Erweichungsprocesse der Ovarien, welche in den Anfängen des Zustandes von
seröser, an Mikrococcen reicher Flüssigkeit durchtränkt sind, im weiteren Verlaufe
zu einem förmlichen Brei zerfallen können.
Wenn auch nicht in Abrede gestellt werden soll, dass gelegentlich Zell-
infiltrationen und selbst Abscessbildungen sich in solchen Ovarien entwickeln
können , so ist dieses doch ein späterer und das eigentliche Wesen des Processes
nicht berührender Vorgang. Abgesehen von dieser eitrigen Complication haben,
wir es mit derselben Form der Gewebsnecrose zu thun, welche, wie vorher
bemerkt, die wesentlichste Eigenthümlichkeit der septischen Affection der Uterin-
schleimhaut darstellt.
Es erhebt sich die Frage, auf welchem Wege in diesem Falle die
septischen Organismen dem Eierstocke zugeführt werden. Der regelmässig an der
Oberfläche weiter vorgeschrittene Zerfall des Gewebes deutet darauf hin, dass
von hier aus das Eindringen der Mikrococcen stattfindet. Dennoch kann man
nicht annehmen, dass die Mikrococcenaffection des Peritoneums die Gangrän des
Ovariums als nothwendige Folge nach sich zieht, da dieselbe nicht selten ohne
Betheiligung des Ovariums verläuft; eher wäre auch nach klinischen Thatsachen
anzunehmen, dass die Gangrän des Ovariums zur Peritonitis führt.
Es sind demnach zwei Wege übrig, auf denen die septischen Mikrococcen
in das Ovarium einwandern, um daselbst diese hochgradigen Zerstörungen des
Gewebes zu veranlassen, die Lymphgefässe und die Tuben. Was die ersteren
betrifft, so findet man allerdings bei diesen Formen der ovarialen Gangrän bis-
weilen gelbliche Züge puriformer Massen in den centralen , dem Hilus näher
gelegenen Theilen des Ovarialgewebes. Allein da im Uebrigen die Lymphgefäss-
plexus , sowie die Blutgefässe in solchen Fällen frei zu sein pflegen , so ist eine
secundäre Betheiligung dieser Lymphgefässe eher annehmbar und neige ich mich
der Ansicht zu , dass hier eine directe Ueberwanderung der Mikrococcenmassen
durch die Eileiter auf die Oberfläche der Eierstöcke stattfindet. In manchem
dieser Fälle mag auch eine während des Geburtsactes stattfindende Quetschung
der Ovarien eine günstige Disposition für die zerstörende Wirkung der Mikro-
coccen gewähren ; namentlich erscheint dieses wahrscheinlich bei einseitiger
Ovarialgangrän.
Bezüglich der Art der septischen Organismen , welche in diesen Fällen in
den Geschlechtswegen sowie im Peritoneum aufgefunden worden, bestehen noch einige
Differenzen, welchen indess, wie mir scheint, keine besondere Bedeutung zukommt.
Während Waldeter 22) daselbst ausser Kugelbakterien in manchen Fällen auch
stäbchenförmige Mikrobakterien gefunden hat, giebt ORTH 23) an, dass in seinen
Fällen nur Coccen vorhanden waren , entweder vereinzelt oder zu Ketten vereinigt.
Ich selbst habe nicht selten in unmittelbar nach dem Tode secirten Fällen gleich-
falls neben Coccen, welche die Hauptmasse bildeten, auch stäbchenförmige Körper
von geringen Dimensionen beobachtet, welche zum Theil , namentlich nach der Ein-
wirkung von Luftsauerstoff, Bewegungserscheinungen darboten. Dass es sich in diesen
Fällen um postmortale Veränderungen handelt, wie Orth annimmt, kann ich nicht
zugeben, da in meinen Fällen , wie bemerkt , die Untersuchung noch früher vor-
genommen wurde als in denjenigen von Orth ; vielleicht wäre sogar das Um-
gekehrte anzunehmen, dass in den Fällen Orth's bereits ein Zerfall der Stäbchen
zu Ketten stattgefunden habe. Für noch weniger gerechtfertigt halte ich es, aus
der Verschiedenheit der vorkommenden Formen von Mikro-Organismen auf eine
Differenz der Processe zu schliessen , welche im Wesentlichen gleichartig verlaufen
und nach der Epidemie und dem einzelnen Fall nur Verschiedenheiten in der Intensität
der pathologischen Veränderungen darbieten. Andererseits muss ich daran festhalten,
dass auch bei einer reinen Entwicklung von Mikrosporon septicum bewegliche
SEPSIS. 503
Stäbchen vorkommen, die allerdings einen kürzeren Bestand haben als die Mikro-
coccenmassen.
Die weiteren Veränderungen , welche sich an diese Formen reiner, puer-
peraler Sepsis anschliessen , bestehen zunächst in denselben allgemeinen Ver-
änderungen des Körpers, welche auch die acutesten Formen traumatischer Sepsis
begleiten : parenchymatöse Veränderungen des Herzfleisches , der Nieren und
Leber, die auch hier nicht fehlende Milzschwellung ist meist gering, das Organ
schlaff, an der Oberfläche gerunzelt, die Pulpa erweicht, blassgrau- roth. Acute
Lungenödeme stellen gewöhnlich die nächste Todesursache dar. Bemerkenswerth
ist ferner der in allen diesen Fällen auftretende hochgradige Meteorismus der
Därme, welcher, von einer direct lähmenden Wirkung der peritonealen Mikrococcen-
wucherung auf die Darmmusculatur abzuleiten, durch Hochstellung des Zwerchfells
die an sich schon beeinträchtigte Circulation und Athmung ersehwert.
Bei massigerer Entwicklung der Peritonealaffection werden weitere
Gefahren durch die Verbreitung der Organismen von der Peritonealhöhle aus
herbeigeführt. Bemerkenswerth ist in dieser Beziehung eine Beobachtung von
Waldeyer 1. c. , welcher in einem Falle von älterer puerperaler Diaphragmitis die
Lymphgefässe des Zwerchfells von Mikroorganismen erfüllt fand. Aber auch direct
können dieselben das Zwerchfell durchwandern und, wie OßTH fand, in dem
vorderen Mediastinum und in den Pleuren sich weiter entwickeln. Ebenso gelangen
dieselben natürlich auch in die Blutbahn und können daselbst, wie in den trau-
matischen Fällen, sich an den Schliessungslinien der Herzklappen ansiedeln und
die früher beschriebenen Formen der septischen Endocarditis erzeugen.
Für die puerperalen Fälle septischer Peritonitis scheint die massenhafte
Bildung der Mikroorganismen und ihre relativ leichte Wanderung in die übrigen
Organe gewisse Eigenthümlichkeiten in dem weiteren Verlaufe herbeizuführen,
welche in den traumatischen Fällen nur selten in der gleichen Ausdehnung vor-
gefunden werden-, es sind dieses die eitrigen Affectionen der Pleuren, des Peri-
cardiums, der Meningen , sowie periarticuläre Eiterungen , welche letzteren auf-
fallend häufig mit Gasentwicklung einhergehen. Die Exsudate sind in diesen
Fällen blassgelb , dünnflüssig , die Eiterzellen verfettet , zerfallen , gewöhnlich von
Mikrococcen reichlich durchsetzt.
Ausser der vorher erwähnten septischen Zerstörung der Uterinschleimhaut
wird von den verschiedenen Autoren einer diphtheritischen Affection des Uterus-
innern Erwähnung gethan und scheint dieselbe vielfach als die schwerste der hier
vorkommenden Veränderungen betrachtet zu werden.
So weit meine Erfahrungen reichen, handelt es sich in denjenigen Fällen,
in denen mehr oder weniger leicht abstreifbare, gelbliche Membranen auf der
Innenfläche des Uteruskörpers gefunden werden, um sehr verschiedene Dinge.
Einmal bestehen dieselben aus necrotisirenden Resten der Decidua , welche von
Mikroorganismen reichlich durchsetzt sind; sie erscheinen dann gewöhnlich leicht
abstreifbar. In anderen Fällen hat die Auflagerung die Eigenschaften einer
sogenannten pyogenen Membran , in noch anderen Fällen liegen ihr regenerative
Processe zu Grunde. Niemals dagegen habe ich Gelegenheit gehabt, echte
diphtheritische Bildungen mit Faserstofflagen und den zugehörigen Mikrococcen-
massen zu beobachten, und glaube ich daher von einer Annahme einer besonderen
diphtheritischen Form des Puerperalprocesses Abstand nehmen zu dürfen. Für
offen halte ich dagegen noch die Frage, ob nicht echte, erysipelatöse Processe
aus dem Gesammtbilde der Puerperalprocesse ausgeschieden werden müssen. Viel-
leicht können manche Befunde von Orth hierher gerechnet werden. Endlich
sei hier noch bemerkt , dass mich meine Erfahrungen nöthigen , auch echte
monadistische Processe im Puerperium anzunehmen, welche vom Geschlechts-
apparate ausgehen und bei geringer Veränderung des letzteren zu jener typischen
Reihe von Organveränderungen führen, welche ich in meiner Arbeit über diese
Processe beschrieben habe, und als deren Hauptformen monadistische Herzklappen-
504 SEPSIS.
affectioncn, Pneumonien und hämorrhagische Nephritisformen nebst allen Folge-
zuständen des Morbus Brightii zu bezeichnen sind. Auch progressive Anämien, die
sich im Puerperium entwickeln, sind auf diese Ursachen bisweilen zurückzuführen.
Pyoseptische und thrombotische Processe haben im Puer-
perium ungefähr denselben Verlauf, wie bei den traumatischen Formen der Sepsis.
Die Lymphangitisformen , welche vom Uterus ausgehen , nehmen ihren Ursprung
vorzugsweise von dem Collum uteri und verbreiten sich in den Parametrien.
Seltener greifen dieselben auf die im parietalen Peritoneum befindlichen Lymph-
gefässe über und können in solchen Fällen allerdings bisweilen an der Rückwand
des Peritoneums bis gegen das Diaphragma hin verfolgt werden.
Für die thrombotischen Processe bieten die periuterinen Venenplexus
besonders günstige Verhältnisse dar und verbreitet sich von diesen der Process
gewöhnlich durch eine Vena spermatica interna , namentlich linkerseits auf die
weiten Venenstämme des Unterleibs , andererseits schreitet er auch fort auf die
Vena hypogastrica und verbreitet sich von hier aus nach auf- und abwärts, durch
die Venae iliacae, nach aufwärts zur Cava inferior und nach abwärts zur
Femoralis. Die centralen Erweichungen dieser Thrombusmassen führen die ganze
Reihe der früher beschriebenen Störungen nach sich. Er sei hier nur hervorgehoben
das Auftreten von Oedemen, sowie in den späteren Stadien des Puerperiums die
Phlegmasia alba dolens infolge der thrombotischen Zustände im Femoralgebiet,
sowie die plötzliche Loslösung grösserer Thrombusmassen aus der Vena cava
inferior mit ihrer, bisweilen plötzlich den Tod herbeiführenden Folge, der totalen
Verstopfung der Arteria pulmonalis.
In Folge der vorhergehenden Betrachtungen ergiebt sich die weitere Frage,
ob und unter welchen Umständen eine Uebertragung des septischen Virus von der
Mutter auf das Kind stattfinden könne. Natürlich kann hier von einer solchen
Uebertragung nur in den Fällen die Rede sein, in denen die septische Infection
der ersteren schon vor der Geburt eingetreten ist, abgesehen von dem Falle, dass
dieselben unreinen Hände Mutter und Kind gleichzeitig inficiren. Auch in diesem
Gebiete ist die Ausdehnung und Bedeutung der septischen Processe wahrscheinlich
noch keineswegs vollständig erkannt. Nicht wenige derjenigen Kinder, welche in
den ersten Tagen oder Wochen zu Grunde gehen, ohne dass palpable Veränderungen
in den Organen vorhanden sind, mögen wohl die Ursache der Störung bei der
Geburt aufgenommen haben. Auffällig erscheint in vielen dieser Fälle die rapide
Abmagerung und zunehmende Anämie bei gleichzeitiger, oft nicht unbedeutender
Vergrösserung der Milz. Wie viel in solchen Fällen einer unzweckmässigen Pflege
und Nahrung, wie viel einer intrauterinen oder intravaginalen Infection zuzuschreiben
ist, wird sich nur durch die sorgfältige Analyse zahlreicher Fälle feststellen lassen
und auf ausschliesslich anatomischem Wege wohl nicht sicher festzustellen sein.
Bei einer solchen Untersuchung sollte aber auch nicht ausser Acht gelassen werden
die Möglichkeit einer Infection innerhalb der Geschlechtswege von Müttern, welche
selbst einer schwereren puerperalen Erkrankung nicht unterliegen. Denn es ist sehr
wohl möglich, dass reichliche Mengen septischer Organismen zwar in diesen Theilen
vorhanden sind, aber durch die besondere Widerstandsfähigkeit der Gewebe der
Gebärenden an dem Eindringen in das Innere des Organismus der letzteren ge-
hindert werden können. Ebenso kann aber auch das Umgekehrte stattfinden: ein
Eindringen der Krankheitserreger in das Innere des mütterlichen Körpers neben
Freibleiben der Geschlechtswege von weiteren, durch dieselben gesetzten Störungen.
Auch die Frage, inwieweit eine schon vor der Geburt eintretende septische
Erkrankung der Mutter durch intrauterine Infection auf das Kind Einfluss gewinnen
kann, harrt noch weiterer Untersuchung ; wissen wir doch nicht einmal , ob die
septischen Organismen die Scheidewände durchdringen können, welche das mütter-
liche und kindliche Blut von einander trennen.
Von Organveränderungen septischer Natur kommen im Körper des Kindes
zwei verschiedene Reihen zur Entwicklung, welche auf die Wege der Uebertragung
SEPSIS. 505
einiges Licht werfen. Die erste bilden die sogenannten umbilicalen Phlebitiden,
welche von dem necrotisirenden Nabelreste ausgehen und zur Abscessbildung an
der Ursprungsstelle des Nabelstranges führen. Die eintretende Eiterung verhindert
eine Verschliessung der Umbilicalvene, sowie auch der Arterien, in welche beide
hinein die Eitermassen sich fortsetzen können. Trotzdem sind weitere embolische
Processe und metastatische Eiterungen in inneren Organen ziemlich selten, und
scheinen die Kinder unter dem Einflüsse allgemein-septischer Infection zu erliegen.
Die zweite Reihe der Störungen gehen vom Respirationsapparat aus und verlaufen
entweder unter dem Bilde lobulärer Pneumonien ; seltener finden sich diffuse Hepati-
sationen der Lungen , welche dann oft jene weichere Beschaffenheit und graue
Färbung derjenigen Pneumonien darbietet, welche auch in den septischen Processen
Erwachsener vorkommt. Führen dieselben frühzeitig genug zum Tode, so können
bisweilen überaus reiche Massen von septischen Organismen sowohl in den Alveolen,
wie im Lungengewebe, wie auch auf den Pleuren nachgewiesen werden.
c) Die im Wesentlichen im Innern des Körpers ablaufenden septischen
Processe, die sogenannte spontane S e p s i s Leube's 2), welche von Litten7)
richtiger als Sepsis mit unbekannter Eintrittsstelle bezeichnet wird,
haben erst in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit der Kliniker in höherem Maasse
auf sich gezogen, nachdem die mannigfaltige Verbreitungsart der Mikroorganismen
im Körper auf anatomischem Wege nachgewiesen war. Gegenwärtig ist es
geboten , alle diese neueren, wie auch ältere Beobachtungen von multiplen, progressiv
sich bildenden Eiterungen in eine grosse Gruppe mit gemeinsamer ätiologischer
Grundlage zusammenzufassen, welche wir als interne Sepsis bezeichnen können.
Dabei muss freilich vorbehalten werden, dass nicht alle Eiterungen auf die gleiche
parasitäre Ursache zurückbezogen werden können und dass es schon jetzt geboten
ist, aus dieser Gruppe diejenigen Formen auszuscheiden, welche sich genetisch, wie
die Actinomycose, davon trennen lassen, ohne dass das anatomische oder klinische
Bild wesentliche Abweichungen von den traumatischen Sepsisformen darbietet.
Nach dem bis jetzt vorliegenden Material, welches von klinischer Seite,
namentlich von Leube und Litten 1. c, beigebracht wurde, lassen sich ungefähr
folgende Gruppen bilden, deren Grundlage die localen Infectionsherde innerer
Organe bilden , von denen die Weiterverbreitung der Infection ausgeht ; während
ausserdem allerdings noch die Möglichkeit allgemeiner septischer Infection besteht
ohne eigentliche locale Herdbildung. Wir hätten demnach folgende Formen :
1. acute Sepsis ohne nachweisbaren localen Ursprung; 2. interne Sepsis,
welche von in inneren Organen gelegenen Infectionsherden ausgeht. Diese letztere
Form würde sich nach dem Sitz dieser Herde wiederum in solche eintheilen
lassen , welche a) vom Herzen , b) von der Niere , c) vom Geschlechtsapparat,
d) vom Darmcanal, e) vom Respirationsapparat und endlich f) vom Knochen-
system ausgeht. Wahrscheinlich werden mit der Zeit auch alle übrigen Organe,
welche hier noch nicht aufgeführt wurden, als solche nachgewiesen werden , welche
gelegentlich der Ausgangspunkt septischer Autoinfection werden können. So ist
es namentlich fraglich, ob nicht manche Fälle acutester Myelitis und Encephalitis
hierher gehören.
Natürlich ist auch bei allen diesen Fällen der klinische Verlauf ein ver-
schiedenartiger je nach der Intensität des Infectionsprocesses ; während in den
acutesten Formen die Intoxicationserscheinungen, welche durch die von den Mikro-
organismen eingeleiteten Umsetzungsprocesse und deren Producte herbeigeführt
werden, das klinische Bild beherrschen und dasselbe demjenigen der typhösen
Zustände ähnlich gestalten, finden sich neben diesen alle möglichen Abstufungen
bis zu scheinbar rein local verlaufenden Eiterungsprocessen , welche in ihrem
mehr chronischen Verlaufe nur subfebrile, anämische und marantische Zustände
herbeiführen.
I. Die reinen Formen acuter interner Sepsis, bei denen nicht mit Bestimmt-
heit irgend ein älterer Herd als Ausgangspunkt der Krankheit bezeichnet werden
506 SEPSIS.
kann, gehören, da man erst in neuester Zeit auf dieselben aufmerksam geworden
ist, vorläufig noch zu den pathologischen Seltenheiten. Indessen dürfte ein grösserer
Theil derselben sich noch unter jener Gruppe von acuten Infectionsprocessen ver-
stecken , welche mit hämorrhagischen Zuständen einhergehen , vom klinischen
Standpunkte aus gewöhnlich der Variola zugewiesen werden , von manchen auch
der Scarlatina, deren hämorrhagische Form indessen weniger gesichert sein dürfte
und wohl nur deshalb angenommen wurde, weil die Diagnose der Variola denn
doch nicht recht passte.
Ich will mir erlauben , liier einige Bemerkungen über die Diagnose der Variola
haemorrhagica einzuschalten, welche mir durch eine ziemlich reiche Anzahl dieser Fälle, die
ich in den letzten neun Jahren in Prag gesehen habe, nahegelegt werden. Nach meinen
persönlichen Erfahrungen tritt die Hauteruption in dieser Form niemals in Gestalt umfäng-
licher hämorrhagischer Herde auf, sondern nur in Form kleinerer Streifen und Flecke, die
nicht selten in ihrem Centrum ein kleines Knötchen erkennen lassen, eine Art abortiver
Pockenpustel. Viel charakteristischer als diese Herderkrankungen ist mir dagegen eine
äusserst intensive bläuliche , cyanotische Verfärbung der Haut erschienen , welche auch nach
dem Tode sich erhält und welche ich bei anderen hämorrhagischen Zuständen der Haut
niemals in dieser Intensität entwickelt gesehen habe. Der Unterschied dieser Färbung gegen-
über der viel blasseren, oft nur schwach-cyanotischen Färbung bei septisch-hämorrhagischen
Zuständen tritt sowohl in der sehr schönen Abbildung Litten's 1. c. bei einem Falle der
letzteren Art hervor, wie sie auch in ganz gleicherweise sich in dem von Ceci 8) mitgetheilten
Falle vorfand. Es existirt aber noch ein zweites positives Kennzeichen der Variola in diesen
hämorrhagischen Formen und besteht dasselbe, wie ich das schon bei Gelegenheit des von Ceci
erwähnten Falles hervorhob, in dem Auftreten der charakteristischen Rachenaffection, welche
bei Variola haemorrhagica, soweit meine Erfahrungen in sicheren Fällen reichen, niemals fehlt.
Es sind dieses feinste, weissliche Einge um die Drüsenmündungen der Pharynxschleimhaut,
welche auf dem dunkelcyanotischen Grunde oft sehr lebhaft hervortreten. Mikroskopische
Schnitte zeigen hier, ganz ähnlich wie bei jüngsten Variolapusteln der äusseren Haut, Lücken
in der Epithelschicht, welche dicht mit Mikrococcen erfüllt sind. Zum Theil scheinen auch
hier diese Massen sich innerhalb einzelner Epithelzellen zu entwickeln. Ich möchte um
so mehr auf diese Localität aufmerksam machen, als in der That auch septisch-hämorrhagische
Formen in der Haut vorkommen , welche einzelne Pusteln zeigen , selbst mit Dellenbildung.
So muss ich selbst gestehen, dass ein von Litten mitgetheilter und als Variola haemorrhagica
angesprochener Fall mir nicht gänzlich unzweifelhaft erscheint (1. c. pag. 46). Ausdrücklich
wird für denselben angegeben, dass der Fall in einer Zeit auftrat, in der sonst keine Pocken
vorkamen. Allerdings ist immerhin zuzugeben, dass in diesem Gebiete noch weitere,
namentlich experimentelle Untersuchungen nothwendig sind, um schärfere diagnostische Merk-
male zu gewinnen. In dieser Beziehung ist der von Ceci beschriebene Fall besonders wichtig,
da es bei demselben gelang, durch directe Ueberimpfung auf Thiere ähnliche Formen hämor-
rhagischer Infection hervorzurufen.
Aus den beiden wichtigen, für diese Arbeiten vorzugsweise in Betracht
kommenden Arbeiten von Leube und Litten gehören folgende Fälle zu den
reinen, nicht von älteren Herden ausgehenden, acuten, internen Sepsisformen:
Fall I von Leube, bei welchem ein Erysipel dem Ausbruch des Processes voran-
ging , welches aber zur Zeit der schweren septischen , tödtlichen Erkrankung
gänzlich abgelaufen war. Patient erkrankte mit heftigem Schüttelfrost, Durchfall
und Erbrechen , sehr bald trat Bewusstlosigkeit mit Delirium auf. Der Tod
erfolgte am dritten Tage der Erkrankung. Neben frischer Milzschwellung fanden
sich miliare Eiterherde der Lungen nebst einem grösseren hämorrhagischen Infarct,
frische myocardische Herde und zahlreiche miliare Eiterherde der Nieren, weiterhin
punktförmige Hämorrhagien im rechten Streifenhügel, keine älteren Herde. —
Fall IV von Leube repräsentirt eine zweite Form dieses Processes, nämlich die-
jenige, welche sich complicirt mit Hautaffectionen. In diesem Falle hatten dieselbe
eine gewisse Aehnlichkeit mit Variola, vielleicht besser mit Impetigo, da die
eitrigen Pusteln bis 20-Pfennigstückgrösse erreichten und nur an den Nates vor-
handen waren. Ferner kamen auch pemphigusartige Blasen und endlich eine
hämorrhagische Urticariaquaddel zur Beobachtung. Unter einer kleineren Pustel
wurde innerhalb einer Hautpapille ein mit Mikrococcen vollständig gefülltes Gefäss
beobachtet. Auch in diesem Falle deutet die Anwesenheit einer kleinen Hauterosion,
am Malleolus externus, auf die mögliche Eintrittsstelle der inficirenden Organismen
hin. In Fall V trat der Process in Form multipler Gelenkaffectionen auf mit
SEPSIS. 507
eitriger Meningitis, zahlreichen kleinen Blutungen in der weissen Hirnsubstanz
und frischer Endocarditis mitralis bacterica. Auch hier war eine kleine Ex-
coriation am Vorderarm vorhanden.
Ganz ähnliche Fälle bringt Litten bei. Bemerkenswerth ist sein Fall XIV,
bei welchem enorme, hämorrhagische Proeesse in der Haut vorhanden waren,
allerdings neben frischer Endocarditis mitralis. Auch in diesem Falle war eine
missfärbige Ulceration der Lippenschleimhaut vorhanden. Im Fall XV desselben
Autors waren neben hämorrhagischen Infiltrationen des Pharynx und multiplen
Affectionen auf allen Häuten und inneren Organen namentlich starke hämorrhagische
Infiltration der Darmschleimhaut mit Emphysembildung vorhanden. Dem letzteren
ganz analoge Fälle habe ich in Prag beobachtet. In noch einem anderen Falle von
Litten, Nr. XVIII, bildet eine „biliöse" Pneumonie, wie es scheint, den Mittelpunkt
der Erkrankung, daneben Icterus mit Hautblutungen und bakteritische Nephritis.
Diese Fälle, denen ich noch andere aus eigener Erfahrung hinzufügen
kann, repräsentiren die wichtigsten Formen der acuten internen Sepsis. Der
grösste Theil derselben weist durch die Anwesenheit von Hautexcoriationen und
Ulcerationen deutlich auf der Eintrittsstelle der Krankheitserreger hin. In einer
zweiten Eeihe scheint der Respirationsapparat der Ausgangspunkt zu sein, in einer
dritten der Darmtractus. Jedoch ist allen diesen Fällen, in denen die Infectionsstelle
wenigstens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann,
der Umstand gemeinsam, dass die Veränderungen an dieser Stelle entweder relativ
sehr gering sind oder die Charaktere ganz frischer Veränderungen darbieten, wie
die erwähnten hämorrhagischen Infiltrationen des Darms. In manchen Fällen,
namentlich bei den pneumonischen Processen, scheint auch die Entwicklung der
localen Veränderung ihren Höhepunkt erst zu erreichen, nachdem die allgemeinen
Erscheinungen zur vollen Entwicklung gelangt sind. Wir können demnach nicht
sagen, dass in diesen Fällen etwa der allgemeine Infectionsprocess von einer der-
selben vorangehenden Pneumonie oder Darmnecrose ausgegangen sei, sondern
höchstens annehmen, dass die an diesen Stellen vorhandenen pathologischen Ver-
änderungen parallel gehen der allgemeinen Infection und nur stärker sich
entwickeln, als die entsprechenden Folgezustände in anderen Organen, weil die
daselbst eindringenden Infection serreger sich in denselben reichlicher anhäufen.
Den gleichen Gesichtspunkt setzt in treffender Weise auch Litten auseinander
für die diese Fälle oftmals begleitenden frischen, mycotischen Endocarditisformen,
welche sonst wohl mit Unrecht als der eigentliche Ausgang des ganzen Processes
betrachtet wurden. Es erscheint für diese Auffassung namentlich der Umstand
beweisend, dass in seinen Fällen Abscessbildungen der parenchymatösen Organe
I8mal mit und 7mal ohne Endocarditis verliefen.
Ebenso müssten zu diesen Fällen auch jene puerperalen Sepsisformen
gerechnet werden, in denen der Uterus und die Tuben mit ihren Adnexis keine
Veränderung darbieten, während eine septisch - mycotische Peritonitis und weitere
analoge Erkrankungen der Pleuren, Meningen in acutester Weise den Tod herbei-
führen. Unzweifelhaft dienen auch hier der Uterus oder die Tuben als Eintrittsstellen
der Infectionserreger, ohne dass dieselben aber daselbst anatomische Veränderungen
hervorrufen. Umsomehr ist dieses anzunehmen, als bei solchen Puerperalprocessen
mit völliger Integrität des Geschlechtsapparates auch jene hämorrhagischen, sowie
bulböse und pustulöse Hautaffectionen vorkommen, wie wir sie oben von un-
bedeutenden Verletzungen der Haut aus sich entwickeln sahen. Endlich sei noch
daran erinnert, dass auch nach völlig abgelaufenen Pneumonien multiple Hirn-
abscesse von oft enormer Ausdehnung auftreten können.
II. Für die zweite Reihe der internen Sepsisformen, welche von in inneren
Organen gelegenen Infektionsherden ausgehen , sollen hier, da es sich um bekanntere
Vorkommnisse handelt, nur wenige Beispiele angeführt werden:
a) Im Herzen und den Blutgefässen liefern die chronischen Klappen-
affectionen sowie Thrombenbildungen den Ausgangspunkt der internen Sepsis.
503 SEPSIS.
Auch hier treten die beiden Fälle ein, dass die septischen Infectionserreger schon
von vornherein in derartigen Bildungen vorhanden sind oder erst später in den-
selben eine geeignete Ansiedlungsstätte finden. Was die ersteren betrifft, so muss
ich auch gegenüber dem Bedenken von Litten die Unterscheidung von mona-
distischen und septischen Klappenaffectionen aufrecht erhalten ; die Bezeichnung
der ersteren als rheumatoide kann ich acceptiren, indem ich ja selbst den Aus-
druck der rheumatischen Affectionen für die ganze Gruppe monadistischer
Erkrankungen in Vorschlag gebracht habe. Doch kann ich nicht zugeben, dass
eine Umwandlung dieser in die septische Form stattfindet, indem die betreffenden
Organismen die unverkennbarsten Verschiedenheiten darbieten. Schwierigkeiten in
der Diagnose entstehen nur an solchen Stellen, an denen die Entwicklung,
namentlich der Zooglöamassen bei den Monadinen noch nicht ihren Höhepunkt
erreicht hat. Jedenfalls halte ich es für sehr bedenklich , auf die sicherlich an-
greifbaren Resultate, welche Buchner für die Umzüchtung von Heubacillen in
Milzbrandbacillen und umgekehrt erhalten haben will, weitergehende Schlüsse
auch für andere Organismen zu bauen. Sicherlich bietet dagegen die Auffassung
keine Schwierigkeiten dar, dass bei dem Septischwerden rheumatoider oder
monadistischer Klappenthromben eine secundäre Implantation septischer Organismen
in denselben stattgefunden habe.
b) In den Nieren liefern die Pyelo -Nephritisformen , namentlich wenn
die Eiterung in Gestalt von Perinephritis auf die Nachbartheile übergreift, oder,
was seltener ist, infectiöse Venenthrombosen sich anschliessen, die Gelegenheit zur
Entwicklung interner septischer Metastasen.
c) Im weiblichen Geschlechtsapparat sind es hauptsächlich die
Tuben mit ihren meist puerperalen und ulcerösen Processen, sowie die Ovarien,
endlich auch die Gefässe, namentlich die Spermaticae internae, im männlichen
die Prostata und die benachbarten Venenplexus , in denen chronische Eiterungen und
Thrombosen infectiöser Natur oftmals erst geraume Zeit nach ihrer Entstehung
zu interner Sepsis führen können. Ein selteneres Verhältniss bietet hier der
Fall IUI von Leube dar, in welcher von einer doppelseitigen, käsig - eitrigen
Infection der Epididymis, die aber nicht tuberkulöser Natur war, ausgebreitete,
septische, miliare Herde in den Nieren, Hirnhäuten und im Herzen sich entwickelt
hatten. Die letzte schwere Erkrankung führte auch hier innerhalb dreier Tage
zum Tode.
d) Im Darme anal sind es bekanntlich die dysenterischen Ulcerations-
processe, welche, indem sie den Mikro-Organismen einen leicht zugänglichen Weg
in die Blutbahn eröffnen, gewöhnlich zunächst zur Bildung von Leberabscessen
Veranlassung geben; doch können auch andere Geschwürsbildungen, so nicht hei-
lende typhöse, ferner Retentions-Geschwüre, welche sich aus der Stagnation von
Fäcalmassen entwickeln, zu der gleichen Reihe von Störungen führen. Davon
zu unterscheiden sind dagegen die Dilatationen der Gallengänge oder auch Per-
forationsöffnungen des Ductus choledochus und der Gallenblase, welche von Gallen-
steinen herrühren und nicht selten zur Bildung multipler Leberabscesse führen,
bei denen die septischen Organismen vom Darm aus durch die weitgeöffnete
Pforte auf dem Wege der Gallengänge in die Lebersubstanz eindringen.
e) Aehnlicher Vorgänge, die vom Respirationsapparat ausgehen,
habe ich schon früher gedacht; hier sei nur noch erwähnt die septische Infection
tuberkulöser Lungencavernen , welche allerdings häufiger zu jauchigen Zer-
störungen der Lunge, als zur Entwicklung weiterer septischer Herde in den
Organen führt. Doch ist die Bildung bakteritischer Endocarditis dabei nicht
selten, welche bisweilen zur Bildung miliarer Abscesse in den Nieren, sowie zur
bakteritischen Myocarditis Veranlassung giebt. Viel wichtiger, aber noch zu wenig
gekannt sind diejenigen Fälle interner Sepsis, welche von der Nasenhöhle und
ihren Nachbarhöhlen ausgehen und zu eitriger Meningitis, sowie durch Vermittlung
des Sinus cavernosus zu allgemeiner interner Sepsis führen können.
SEPSIS. 509
Beiläufig mag hier erwähnt werden der häufigen Erkrankungen des
inneren Ohres bei septischen Processen, wie sie von Schwartze 9) und dann
von Trautmann 10) beschrieben sind: Hämorrhagien in der Schleimhaut der Pauken-
höhle, in den Zellen des Warzenfortsatzes und in der Tubarschleimhaut. Traut-
mann fand daselbst mit Mikrococcen erfüllte Arterien ; Schwartze beobachtete
Perforationen des Trommelfells. Man wird auch bei diesen Processen unter-
scheiden müssen zwischen solchen, bei denen die septischen Organismen auf dem
Wege der Schleimhäute, und solchen , in denen sie auf dem Wege der
Blutbahn in die Gewebe des Mittelohres gelangen. Zu den ersteren gehören
alle jene Fälle von Secretretentionen in dem Warzenfortsatz und in der Pauken-
höhle, welche in Folge catarrhalischer Processe sich herausbilden und zu schweren
Störungen führen können, indem der Infectionsprocess auf den Sinus transversus
und das Kleinhirn übergreift. Dass auch in diesen Fällen der anfängliche
catarrhalische Process erst dem späteren Eindringen septischer Organismen gleichsam
die Bahn eröffnet, geht schon aus der Seltenheit dieser Complication gegenüber
ölen so überaus häufigen Mittelohrcatarrhen hervor. Noch besser aber tritt dieser
mechanische Effect hervor in denjenigen Fällen, in denen die Retention von
epithelialen Massen , welche die sogenannten Cholesteatome in den Zellen des
Warzenfortsatzes bilden, durch Usur der Knochen dem Eindringen septischer
Organismen gelegentlich Vorschub leistet.
f) Zum Schlüsse ist hier noch daran zu erinnern, dass auch vom Knochen-
system aus äusserst typische Formen interner Sepsis ausgehen können. Allerdings
bleiben dieselben, wie die Geschichte der multiplen Osteomyelitis zeigt, gewöhnlich
auf das Knochensystem selbst beschränkt. Die von mir zuerst in einem Fall
aus der Klinik von Lücke nachgewiesene mycotische Natur dieser Processe lässt
an ihrer Identität mit den septischen Formen keinen Zweifel aufkommen und
bleibt nur die Ungewissheit übrig, auf welchem Wege in diesem Falle die Infections-
erreger in das Knochenmark gelangen. Dass sie in demselben sich vorzugs-
weise an denjenigen Partien entwickeln und zu Abscessbildungen fuhren, welche
am weitesten von den Eintrittsstellen der Arteriae nutritiae in den langen
Röhrenknochen entfernt sind, ist äusserst charakteristisch und zeigt, wie auch in
diesem Gewebe die einer lebhaften Circulation sich erfreuenden Partien der Weiter-
entwicklung von Mikro-Organismen Schwierigkeiten darbieten. Weiterhin zeigen
die subperiostalen Mikrococcenanhäufungen, welche sich an der Diaphyse bilden und
zu ausgedehnter Necrose des Knochens daselbst führen, wie die feste Knochen-
substanz die Weiterverbreitung derselben durchaus nicht beeinträchtigt. Es scheint
demnach, dass die Ueberwanderung aus einem Knochen auf den anderen subperiostal,
wahrscheinlich auch subsynovial erfolgt.
Von besonderer, zum Theil auch diagnostischer Wichtigkeit für die Fälle
von interner Sepsis sind endlich noch die septischen, mycotischen Augen-
affectionen. Die ersten derartigen Fälle, und zwar von metastischer Panophthal-
mitis, sind von Virchow ]1) und H. Müller12) beschrieben worden. Die körnigen,
das Lumen erfüllenden Massen wurden damals für Fett oder Detritus angesehen und
ihr embolischer Ursprung angenommen, ebenso in späteren Fällen. Die mehr
local bleibenden Veränderungen gehören , wie namentlich die sehr zahlreichen
Beobachtungen von Litten erweisen , zu den allerhäufigsten Vorkommnissen bei
allgemeiner, septischer Infection und stellen sich, ebenso wie im Gehirn, auch
in der Netzhaut gewöhnlich zunächst als Blutungen dar, welche, wenn sie etwas
länger bestehen, weissliche Flecke in ihrem Centrüm erkennen lassen. Die letzteren
entstehen nach M. Roth 13) durch die Einlagerung von Körnchenzellen , neben
denen kolbig verdickte, hypertrophische Retinalfasern vorkommen, ähnlich wie bei
der urämischen Netzhautaffection. Die Grundlage dieser Störungen bildet auch
hier die Ansiedlung von Mikrococcen in den Blutgefässen 5 jedoch ist es sehr
bemerkenswerth , dass keineswegs regelmässig innerhalb der Blutextravasate aus-
gedehntere Verstopfungen durch Mikrococcusmassen angetroffen werden. Somit ist
510 SEPSIS.
es mehr eine weit verbreitete Schädigimg in der Widerstandsfähigkeit der Gefäss-
wandung, welche zur Diapedese der rothen Blutkörperchen führt, als die Ver-
stopfung von Capillargebieten. Die letztere mag hierbei wohl indirect durch
Ablenkung des Blutstromes in die freien Gebiete und dadurch hervorgebrachte
Drucksteigerung in denselben mitwirken. Während Roth in seinen Fällen keine
Pilzthromben in den retinalen und chorioidalen Gefässen nachweisen konnte, gelang
dies 0. Kahler u) in einigen Fällen , welche ich ihm aus dem Material des
P r a g e r Institutes für diese Untersuchung zur Disposition stellte. Ich machte
dabei darauf aufmerksam, dass es für diese Fälle nötbig sein werde, die Retina
im Ganzen zu untersuchen. In der That gelang es alsdann leicht, ausgedehnte
mycotische Thromben nachzuweisen, wie dieses auch früher schon Litten gelungen
zu sein scheint. Im ersten Falle ging die Sepsis aus von einer gangränösen
Periostitis des Oberkiefers ; der zweite Fall ist ein bemerkenswerthes Beispiel von
der Combination tuberkulöser Cavernen mit Sepsis (Herzfleisch, Nieren, Leber,
Pia mater und Hauthämorrhagien). Der dritte, ein gleichfalls hämorrhagischer
Fall mit Endocarditis und Nephritis embolica, trat nach Gangrän eines Fingers auf.
Die der Arbeit von Kahler beigegebenen Abbildungen zeigen namentlich sehr
schön die Dilatation der Blutgefässe durch die darin sich weiter entwickelnden
Mikrococcen. Es ist selbstverständlich, dass es sich auch hier nicht um eigentliche
Embolien , sondern um Weiterentwicklung von Organismen handelt, welche, auf
dem Wege des Blutstroms in Gefässgebiete eingeschwemmt, an der Wandung der
Capillaren sich festsetzen und, indem sie sich vermehren, allmälig zum Verschluss
von ganzen Gefässzweigen führen können.
Die Grundlagen und Ursachen jener mannigfaltigen Störungen, welche
wir jetzt mit dem gemeinsamen Namen der Sepsis zusammenfassen können, sind
natürlich solche, welche dem gesunden Organismus fremd sind, aber die Natur
der äusseren Einwirkungen , welche diesen Process hervorrufen , blieb so lange
dunkel, als man sich nicht bemühte nachzusehen, ob und welche greifbaren Ver-
änderungen bei diesem Process in den veränderten Organen noch neben den
cellulären Veränderungen angetroffen werden können. Auch in diesem Falle hat
sich schliesslich die verfeinerte anatomische Methode als diejenige bewährt, welche
in der Erforschung der Krankheitsprocesse die eigentlich grundlegenden Resultate
ergeben hat. So lange die ätiologische Forschung für diese Processe bei der
Annahme ihrer Entstehung durch irgend welche Einwirkung atmosphärischer Ein-
flüsse als Erklärungsgrund des Processes stehen blieb, war ebensowenig eine nähere
Erforschung der eigentlich wesentlichen Ursachen, wie eine auf die Kenntniss
derselben begründete rationelle Therapie möglich. Natürlich verfiel die letztere
völliger nihilistischer Auflösung, die hier um so verderblicher war, als der
Mangel jeglicher Abwehrversuche wesentlich zur Verbreitung dieser Krankheits-
processe beitrug. Besonders auffallend zeigt sich dieses bei den puerperalen
Processen, welche überall da noch floriren, wo Reste jener Auffassung wenigstens
in den unteren Schichten des ärztlichen Personales sich erhalten haben. So war
es z. B. sehr merkwürdig, wie zur Zeit meines Aufenthaltes in Prag das Puerperal-
fieber gerade in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft am meisten
verbreitet war, während die Sterblichkeit in dem Gebärhause, welches nach den
neuen Grundsätzen gebaut war und geleitet wurde, auf ein Minimum herunterging.
Ebensowenig lassen die Versuche, einen chemischen Körper aufzufinden,
welcher als die Grundlage des septischen Processes betrachtet werden kann, einen
durchgreifenden Erfolg erwarten. Denn wie unsere vorhergehende Darstellung
gezeigt hat, handelt es sich um einen Process, der schrittweise von Organ zu
Organ fortschreitet und bei jeder Localisation gleichsam neue Kraft gewinnt. Wohl
mag ein Theil der allgemeinen, vielleicht auch der localen Störungen als eine
-Wirkung chemischer Natur aufgefasst werden. Eine solche würde indess nur eine
vorübergehende Störung hervorrufen, deren Dauer von der grösseren oder geringeren
SEPSIS. 511
Menge des Giftes abhängen würde. Wie bei einem toxischen Process würde daher
nach einer gewissen Zeit der Process durch die Erschöpfung der in den Organismus
eingeführten oder daselbst entstandenen Giftmengen sein natürliches Ende erreichen.
Der Begriff der Fortpflanzung des Processes durch kleinste Mengen einer, wenn
auch unbekannten Substanz, die Vermehrung derselben im erkrankten Körper und
in den einzelnen Krankheitsherden führt unabweislich zu der Annahme eineä
organisirten, mit der Fähigkeit der Reproduction begabten Infectionsstoffes. Ein
Hinderniss für die Entwicklung dieses leitenden Gedankens bildete lange Zeit
hindurch die LiEBiG'sche Gährungstheorie, welche auch nicht belebten Substanzen
diese Eigenschaft, Gährungen hervorzurufen, in unbegrenztem Maasse vindicirte;
erst nachdem eine Eeihe hervorragender Gelehrter, wie Schwann, Helmholtz,
Pasteur u. v. A. eine sehr allmälig sich vollziehende, aber schrittweise sich fort-
entwickelnde Umwandlung unserer Anschauungen über die Zersetzung organischer
Verbindungen herbeigeführt hatte, welche schliesslich zu der allgemeinen Annahme
von der spontanen Unzersetzlichkeit der organischen Materie, wie von der
organisirten Natur der Zersetzungserreger in Gährungsvorgängen führte, gewann
diese letztere Anschauung auch für die septischen Processe ihre volle Bedeutung,
indem nunmehr die körperliche Natur der Zersetzungserreger, sowie ihre Ab-
stammung aus der äusseren Natur Anhaltspunkte für die weitere Erforschung der
eigentlichen Ursachen dieses Processes darboten, welche unseren Forschungsmitteln
zugänglich waren. Lister gebührt das grosse Verdienst, die moderne Auffassung
der Gährungsprocesse auf diejenige der Sepsis zuerst angewendet zu haben, und es ist
wohl nicht zufällig, dass derselbe, gleichwie Pasteur, zum Reinigen der Luft
von Gährungserregern , so . auch zum Abhalten der in der Luft angenommenen
Erreger septischer Processe Baumwolle anwendete und zur Tödtung der auf die
Wunden gelangten infectiösen Keime Substanzen benutzte, welche auch gährungs-
hemmend wirken. So entstand die Methode der antiseptischen Behandlung,
welche, wie bekannt, grosse Gebiete der Chirurgie gänzlich umgestaltet hat
und auch in der internen Medicin anfängt sich geltend zu machen. Nachdem
in der Mitte der Sechziger-Jahre die ersten, damals noch viel bestrittenen Erfolge
dieser Methode bekanntwurden, ergab sich nun die weitere Aufgabe, für dieselbe
die eigentlich wissenschaftliche Begründung zu suchen, welche nur darin bestehen
konnte, auch in den erkrankten Organen die Organismen aufzusuchen, welche die
Theorie als die Erreger des septischen Processes annahm, nachdem der praktische
Erfolg zum Theil schon die Theorie bestätigt hatte. Gelang es, solche Organismen
im erkrankten Körper nachzuweisen, so stellte sich die weitere Aufgabe, durch
den Versuch zu demonstriren, dass dieselben im Stande seien, den septischen Process
hervorzurufen, wenn man sie in reiner Form in den Körper gesunder Thiere einführt.
Viele Forscher haben seit Lister's Entdeckung und durch dieselbe
angeregt, diese Aufgabe von verschiedenen Seiten in Angriff genommen und jeder
hat für die Lösung derselben Beiträge geliefert. Dennoch ist die Aufgabe noch
nicht nach allen Richtungen hin vollständig gelöst worden. Zunächst lassen
sich zwei Gruppen von Forschern unterscheiden, von denen die einen ihr Material
zur künstlichen Erzeugung des Krankheitsprocesses ausserhalb des Organismus
suchten, die anderen dasselbe aus dem erkrankten Organismus zu gewinnen
trachteten. Die ersteren Hessen sich dabei von der Voraussetzung leiten, dass
Fäulniss und septische Processe identisch seien. So dienten, um nur einige hervor-
zuheben, Davaine und in der neueren Zeit R. Koch faulende Substanzen als
Ausgangspunkt ihrer Versuche. Da unter dem Begriffe der Fäulniss jedenfalls sehr
verschiedenartige, ausserhalb des Körpers vor sich gehende Zersetzungen organischer
Substanz zusammengefasst werden, welche nur das Gemeinsame besitzen, dass bei
denselben übelriechende Gase entwickelt werden, so ist es nicht zu verwundern,
dass die Resultate dieser Forschungen sehr verschiedenartige, oft ganz entgegen-
gesetzte waren. Nichtsdestoweniger haben sie im Einzelnen bedeutsame Resultate
ergeben, wie die Steigerung der Wirksamkeit durch fortgesetzte Ueberimpfungen
512 SEPSIS.
von einem Thier auf das andere, welche Davaine für seine, allerdings nicht genauer
anatomisch definirten Erreger septischer Processe fand, und wie die entgegengesetzte
Eigenschaft, das Constantbleiben der Wirksamkeit, welche Koch bei seiner Mäuse-
septicämie constatiren konnte. Es lässt sich darüber streiten, ob hier ein differentes
Verhalten zweier verschiedener Arten niederer Organismen vorliegt, welcher Meinung
ich mich anschliessen möchte, oder ob die Tingleichartigkeit der Wirkung von
zunehmender Verunreinigung abhängt, wie es Koch annimmt. Für die Frage
der Sepsis können dagegen meiner Ansicht nach nur diejenigen Untersuchungen
in Betracht kommen, welche ihr Material dem septisch erkrankten Körper ent-
nehmen ; wenigstens dürfte dieser letztere Weg als derjenige betrachtet werden
müssen , auf welchem am sichersten gleichförmige Resultate erzielt werden. Ich
suchte deshalb, bald nach dem Bekanntwerden der LiSTER'schen Resultate, zunächst
anatomisch den Nachweis des Vorkommens niederer Organismen in septisch
erkrankten Organen zu liefern. Schon 1865 konnte ich für die Pyelo Nephritis lö)
diese Ueberzeugung gewinnen und somit zum ersten Male den Nachweis liefern,
dass von aussen her in den Körper, hier in die Harnblase (Traube), importirte
Zersetzungserreger selbständig und sogar gegen den Strom des Secrets in tiefer
gelegene Körpertheile eindringen, sich daselbst vermehren und Eiterung hervorrufen
können. Erst der deutsch-französische Krieg von 1870 lieferte mir genügendes
Material, um diese Verbreitung der Infectionserreger im Körper auch in trauma-
tischen Sepsisformen Schritt für Schritt verfolgen zu können und den Parallelismus
dieses Vorganges mit den septischen Organveränderungen zu constatiren, wie dieses
oben in Kürze auseinandergesetzt wurde.
Nunmehr stellte sich die weitere Aufgabe heraus, die Entwicklung und die
morphologischen und biologischen Eigenschaften dieser Organismen zu untersuchen.
Es wurde die Isolation derselben, ihre Cultivirung ausserhalb des Körpers in
geeignetem Nährmaterial unternommen und die Wirkung der durch die Cultur
gewonnenen Organismen am Körper gesunder Thiere studirt. Meine damaligen
Assistenten F. W. Zahn 16) (Genf) und Tiegel 17) (Tokio) suchten nach zwei
Richtungen hin die wichtige und damals viel bestrittene Frage der genetischen
Bedeutung der Organismen für Entzündung und Fieber unter meiner Anleitung festzu-
stellen. Der Erstere zeigte, dass es gelingt, durch Fernhaltung äusserer Schädlich-
keiten das Eintreten der Entzündung selbst am blossgelegten Froschmesenterium
für mehrere Tage hintanzuhalten. Der Zweite wies mittelst der Filtration durch
Thonzellen nach, dass die von körperlichen Theilen befreiten Culturflüssigkeiten
keine oder nur eine rasch vorübergehende Temperatursteigerung im Versuchsthier
hervorrufen, während die nicht filtrirten Flüssigkeiten heftige oder lang andauernde
septische Zustände veranlassen. Die morphologischen Verhältnisse und die Ent-
wicklung der in dieser Weise gewonnenen Organismen suchte ich selber weiterhin
festzustellen. Die Cultur derselben in zugeschmolzenen Grlaskammern, welche direct
der mikroskopischen Beobachtung zugänglich waren und in festen durchsichtigen
Nährsubstraten (Hausenblasengallerte) gestattete die directe Verfolgung der Ent-
wicklung derselben von einzelnen Individuen aus. 18) Es zeigte sich , dass aus
kurzen, stäbchenförmigen Körpern durch successive Theilung derselben Mikrococcen-
ballen hervorgehen, die gänzlich übereinstimmten mit den in erkrankten Körper-
theilen gefundenen. Von ihrer Oberfläche lösen sich alsdann einzelne der Mikrococcen
ab, indem sie beweglich werden 5 dieselben wachsen wiederum zu kurzen Stäbchen
heran, die nach kurzer Zeit abermals durch Theilung in Mikrococcen zerfallen
und durch Vermehrung derselben Ballen bilden. Die Bildung der ersten Ballen
erfolgte in etwa 44 Stunden bei gewöhnlicher Zimmertemperatur, die der zweiten
und dritten Reihe von solchen in kürzerer Zeit, in nicht ganz 24 Stunden.
Alsdann waren die Massen bereits so herangewachsen und zahlreich geworden,
dass die weitere Entwicklung der einzelnen nicht mehr verfolgbar war. Noch
bleibt zu erwähnen, dass in diesen späteren Stadien der Entwicklung eigentüm-
liche gregarinenartige, Pseudopodien aussendende Körper entstanden, Formen, welche
SEPSIS. 513
allerdings noch nicht in den Organen bei auf natürlichem Wege entstandener
Sepsis beobachtet wurden. Da diese Bildungen aus einer direct zu beobachtenden
Umwandlung von Mikrococcenbildungen hervorgingen, so kann ich nicht annehmen,
dass es sich um eine Verunreinigung gehandelt habe, sondern muss die Er-
wartung aussprechen, dass dieselben sich auch bei natürlicher Sepsis werden nach-
weisen lassen.
Ich habe diese Art der Spaltpilze mit dem Namen des Mikrosporon
septicum belegt ; den Botanikern von Fach muss es überlassen bleiben, dieselben
in ihr System einzureihen. Was das letztere betrifft, so ist noch keine vollständige
Uebereinstimmung in der Gruppirung und systematischen Anordnung der Spaltpilze
oder Bakteriaceen gewonnen worden. Indessen steht wohl so viel fest, dass dieselben
als eine eigene Gruppe von Organismen betrachtet werden müssen, welche keine
Uebergänge zu den Hyphomyceten darbieten, wie früher auf Grund mangelhafter
Culturen vielfach behauptet wurde. Die einzelnen Formbestandtheile , Morphen,
welche sich in dieser Gruppe vorfinden , wie Stäbchen , Fäden , Coccen u. s. w.
als besondere Gattung oder Species anzuerkennen , wie Ferd. Cohn will , kann
ich mich, nicht entschliessen , da ich mich wenigstens in dem vorliegenden Falle
von dem Uebergänge von Stäbchen in Coccen und umgekehrt , durch directe Beob-
achtung überzeugt halte. Sollten aber auch weitere Untersuchungen Modificationen
in der Entwicklungsgeschichte des Mtkrosporon septtcum ergeben, so bleibt doch der
Nachweis geleistet, dass dieser Organismus die eigentliche, wesentliche Grundlage
der septischen Processe darstellt.
Als weitere Aufgabe ergiebt sich alsdann die Ermittlung des Zusammen-
hanges dieser Organismen mit den function eilen und morphologischen Störungen,
welche sie im erkrankten Körper hervorrufen. In erster Linie sehen wir dieselben
Gewebsnecrose hervorrufen, entweder in der Gestalt ausgebreitetster Gangrän, wie
in den zuerst geschilderten Formen acutester, septischer Gangrän, oder es geschieht
die Herabsetzung und Vernichtung der Lebenseigenschaften der Theile nur in der
unmittelbaren Umgebung dieser Organismen, wie bei der Veränderung der Gefäss-
wandungen, welche zur Diapedese der rothen Blutkörperchen in den hämor-
rhagischen Formen, zur Emigration weisser Blutkörperchen in den eiterigen
Formen führt.
Neben diesen mehr localen Störungen treten solche allgemeiner Natur
hervor, welche zur Veränderung der ßlutmasse und zur Degeneration der zelligen
Elemente in den grossen Unterleibsdrüsen führen. Es ist deutlich, dass diese beiden
Reihen von Veränderungen durch gänzlich verschiedene, aber mit der Entwicklung
der Organismen zusammenhängende Einwirkungen hervorgebracht werden. Freilich
sind die auf diesen Punkt gerichteten Untersuchungen noch nicht zu völligem
Abschlüsse gelangt , doch können schon einige allgemeine Gesichtspunkte auf-
gestellt werden. Entweder nämlich können diese Allgemeinwirkungen durch die
Erzeugung von besonderen, zerstörend auf den Organismus einwirkenden Stoffen
herrühren, oder dieselben werden, wie dieses bei vielen Giften der Fall ist, durch
Sauerstoffentziehung herbeigeführt, oder endlich, was das Wahrscheinlichste ist, diese
beiden Wirkungen kommen nebeneinander vor und bedingen die einen die localen, die
anderen die allgemeinen Störungen bei Sepsis. Was die erstere Reihe von Wirkungen
betrifft, so ist es bekanntlich von Schmiedeberg und Bergmann versucht worden,
aus faulenden Hefezellen den wirksamen Stoff nach denjenigen Methoden abzuscheiden,
welche für die Darstellung von Alkaloiden verwendet werden. Der in dieser Weise
gewonnene N-haltige Körper wurde als S e p s i n bezeichnet ; doch scheint seine
Wirksamkeit keine in allen Fällen gleichmässige gewesen zu sein. Es bliebe
demnach die Aufgabe übrig, diesen oder einen ähnlichen Körper im septisch
erkrankten Organismus nachzuweisen oder in Reinculturen von septischen Organismen
zu gewinnen. Die technischen Schwierigkeiten, welche sich dieser Aufgabe ent-
gegenstellen, sind bis jetzt noch nicht überwunden worden. Dagegen haben uns
andere Untersuchungen von Schmiedeberg die wenigstens per analogiam wichtige
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 33
514 SEPSIS. - SERPYLLUM.
Thatsache geliefert, dass aus gewissen Pflanzenbasen , nämlich denjenigen der
Digitalis purpurea, ein Körper Digitoxin abgeschieden werden kann, welcher
in den allergeringsten Mengen Gewebsnecrose hervorruft. Es kann somit mit
einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden , dass auch die Gewebsnecrosen
bei Sepsis durch ein Umsetzungsproduct der Mikrosporinen bedingt werden. Dass
dieselben ferner reichliche C02 -Mengen entwickeln unter gleichzeitiger tiefer Ver-
änderung des Nährsubstrates (Verminderung des Drehungsvermögens des Leimes)
habe ich selbst gezeigt. lü) Endlich käme noch in Betracht die Blutkörperchen-
auflösende Wirkung dieser Organismen, für welche wir oben Beispiele beigebracht
haben. Das hierdurch bewirkte Freiwerden des Blutfermentes kann, wie die Unter-
suchungen von A. Köhler 20) und anderer Schüler Alex. Schmidt's gezeigt haben,
für die Entstehung febriler Temperatursteigerung bei Sepsis in Betracht kommen,
ebenso wie für die Thrombenbildungen. Bergmann21) hat endlich neuerdings
gezeigt, dass auch andere, im normalen Organismus entstehende Fermente, in die
Blutbahn von Thieren eingeführt, Temperatursteigerung hervorrufen. Dennoch ist
nicht daran zu denken, dass durch irgend einen dieser chemischen Körper oder auch
durch eine Combination mehrerer derselben oder aller das Gesammtbild der Sepsis
hervorgerufen werden kann, dessen progressiv fortschreitende Entwicklung eben
nicht verständlich ist ohne ein organisirtes , vermehrungsfähiges Ferment, den
specifischen Sepsiserreger, mag derselbe nun als Mikrosporon septicum oder
anderweitig bezeichnet werden.
Literatur: *) 0. Weber, Deutsche Klinik 1864 und Billroth, Langenbeck's
Archiv, Bd. II, VI, IX. — 2) Leube, Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. XXII. — 3) Klebs,
die pyrogene Substanz. Centralblatt für die med. Wissenschaft 1868. Nr. 27. — 4) Klebs,
Beiträge zur path. Anatomie der Schusswunden. 1872. — 6) Klebs, Beiträge zur Entstehungs-
geschichte der Endocarditis. Archiv für experimentelle Path. u. Pharm. Bd. IX, pag. 52. —
6) Bibbert, Mikro-parasitäre Invasion der Gehirnrinde. Virchow's Archiv, Bd. LXXX. —
7) Litten, Ueber septische Erkrankungen. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. II. — 8) A. Ceci,
Hämorrhagische Infection. Archiv f. exp Path. und Ther. Bd. XIII. — 9) Schwartze,
Gehörorgan, inKlebs' Handb. der path. Anatomie. Bd. II, pag. 61. — 10) Trautmann, Die
embolischen Erkrankungen des Gehörorgans. Archiv f. Ohrenheilk. Bd. XIV. — ") Virchow,
Archiv, Bd. IX. Ges. Abb.., pag. 111. — 12) H. Müller, Würzburger Verhandl. Bd. VII. —
13) Roth, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. I. — 14) 0. Kahler, Septische Netzhautaffection.
Prager Zeitschr. f. Heilk. Bd I. — ib) Klebs, Handb. d. path. Anatomie. Bd. I, Abth. 2,
pag. 656. — 16) F.W. Zahn. Zur Lehre von der Entzündung und Eiterung. Diss. Bern. 1871.
— ") Tiegel, Ueber die fiebererregende Eigenschaft des Mikrosporon septicum. Diss.
Bern. 1871. [,e) u. 17) auch in: Klebs, Arbeiten aus dem Berner path. Institut 1871—1873.
Würzburg, Stahel 1873.]— 18) Kl e b s , Archiv f. exp. Path. u. Pharm. Bd. I. S. 31. — 19) K 1 e b s,
Archiv f. exp. Path. u. Pharm. Bd. I, S. 443. — 20) A. Köhler, Ueber Thrombose und
Transfusion, Eiter und septische Infection uud deren Beziehung zum Fibrinferment. Diss.
Dorpat 1877, ferner die Dissertationen von Edelberg, Birck und Sachsendahl. —
") E. v. Bergmann nnd 0. Angerer, Das Verhältniss der Fermentintoxicatiou zur Septi-
cämie. Festschrift. Würzburg. 1882- — 2?) Waldeyer Arch. f. Gynäcologie. 1872. III. —
-z) Orth, Untersuchungen über Puerperalfieber, Virchow Archiv. LVIII. S. 437.
E. Klebs.
Sequester, Sequestrotomie, s. „Necrose", IX, pag. 469.
Sermaize, Städtchen zwischen Vitry le Francois und Bar le Duc, östlich
von und fast in gleicher nördlicher Breite wie Paris , hat eine Badeanstalt mit
einer kalten Quelle, als deren Hauptbestandtheile schwefelsaure Magnesia (7 in 10000)
und Kalk-Bicarbonat angegeben werden. B, M. L.
Semeus, Bad im Unter-Engadin, 985 Meter über Meer, mit kalter Schwefel-
quelle, deren fester Gehalt, 7,17 in 10 000, fast nur aus Erdcarbonaten besteht.
Die freie C02 beträgt nach Husemann (1875) 1,23, der Schwefelwasserstoff 0,013.
B. M. L.
Serpentaria, s. „Aristolochia", I, pag. 488.
Serpyllum (Pharm. Germ., Aust. , Gall.). Eerba Serpylli, von
Thymus Serpyllum L. (spxuXXov, Serpolet , Quendel oder Feldkümmel, wilder
Thymian), Labiatae.
SERPYLLUM. — SERRATUSLÄHMUNG. 515
„Die beblätterten , 1 Mm. starken Zweige des Thymus Serpyllum. Die rundlich-
eiförmigen bis schmal-lanzettlichen, drüsenreichen Blätter, höchstens 1 Cm. lang und 7 Mm.
breit, verschmälern sich in das bis 3 Mm. lange Blattstielchen. Die Scheinquirle der kleinen,
weisslichen oder purpurnen Lippenblüthen stehen sehr zahlreich in endständigen Köpfchen.
Der Quendel riecht und schmeckt sehr gewürzhaft." (Pharm. Germ. 1882.)
Enthält ein dem Thyniianöl ähnliches ätherisches Oel (Oleum Serpylli) ;
dient innerlich und äusserlich wie Herba Thymi (innerlich in Pulver, Infus ; das
Oel als Elaeosaccharum ; äusserlich im Infus zu Umschlägen , das Oel zu Ein-
reibungen). In der Pharm. Germ. 1872 bildete Herba Serpylli einen Bestand-
teil der Species aromaticae; ausserdem zur Bereitung des Spiritus Serpylli,
Quendelgeist (wie Spir. Juniperi dargestellt und benutzt).
Serratuslähmung1. Die Lähmungen des M. serratus anticus sind einer-
seits so häufig, andererseits von so hervorragender funetioneller Bedeutung, und
auch in nosologischer Hinsicht knüpft sich an dieselben ein so besonderes Interesse,
dass sie eine specielle und ausführlichere Darstellung weit mehr als die Lähmungen
anderer Abschnitte der Muskulatur des Brustschultergürtels erfordern.
Es geschieht im Grunde nur der Gewohnheit und Bequemlichkeit halber,
dass man von Serratuslähmungen spricht, während es correcter und den Analogien
entsprechender wäre, von einer Lähmung des N. thoracicus posterior,
als des Bewegungsnerven des M. serratus anticus, zu reden. Dieser Nerv ent-
springt mit gewöhnlich drei feinen Zweigen aus den beiden ersten, mitunter auch
der dritten Wurzel des Plexus brachialis, welche, durch den M. scalenus medius
herabsteigend, sich über den Insertionen der Mm. scaleni anticus und medius
zu einem einfachen Geflecht (Henle) vereinigen, aus dem ein Paar feine Zweige
und ein stärkerer, längerer Ast — N. thoracicus longus — hervorgehen.
Jene begeben sich nur zur obersten Zacke, dieser dagegen, an der äusseren Fläche
des Muskels heruntersteigend, bis zur untersten Zacke desselben. Lage und Ver-
lauf der Serratusnerven machen es begreiflich, dass dieselben sowohl unmittelbar
nach ihrem Durchtritt durch M. scalenus medius, wie auch insbesondere der
N. thoracicus longus weiter abwärts auf seinem Verlaufe zum Muskel trau-
matischen und mechanischen Insulten etc. vielfach exponirt sind und daher leicht
zu Motilitätsstörungen des von ihnen versorgten Muskels Veranlassung geben.
Letzterer scheint ausserdem öfters (aber nicht constant!) noch Zweige von den
zwischen seinen Zacken hin wegziehenden vorderen Aesten der oberen Dorsalnerven
(Nn. intercostales) zu- erhalten.
Der M. serratus anticus (unnützerweise vielfach als „viagnus" oder „major"
bezeichnet) entspringt bekanntlich mit 8 oder 9 breiten Zacken von den äusseren Flächen
der acht ersten Rippen, um, die Seitenfläche der Brust umgreifend, mit nach hinten con-
vergirender Richtung seiner Bündel sich an der ganzen Länge des inneren Scapularandes.
besonders am unteren Winkel desselben, zu inseriren. Indem man voraussetzte, dass der
Muskel die beweglichen oberen Rippen gegen das Schulterblatt als punctum fixum hinbewege,
wurde ihm früher eine bedeutende Function als Athemmuskel (Inspirationsmuskel) zuertheilt.
Die Stromeyer'sche Scoliosentheorie fusste hierauf; dieser fasste, wie auch vor ihm Ch.
Bell, den N. thoracicus longus als ausschliesslichen Respirationsnerv („Ar. respiratorius extemus
inferior"), die von den Intercostalräumen kommenden Zweige dagegen als Vermittler der
willkürlichen Bewegung des Muskels , und glaubte dem entsprechend die gewöhnliche, habi-
tuelle Scoliose mit nach rechts gerichteter, oberer Dorsalconvexität von einer respiratorischen
Paralyse des rechten Serratus herleiten zu können. Diese Ansicht bedarf heutzutage wohl
keiner Widerlegung ; sie wird schon dadurch hinfällig , dass der Serratus anticus überhaupt
gar keine regelmässigen, und seiner Grösse und motorischen Bedeutung entsprechenden
Zweige von den vorderen Aesten der Dorsalnerven erhält, im Wesentlichen also nur auf die
Innervation seitens des N. thoracicus posterior beschränkt ist.
Die Action des M. serratus besteht vielmehr wesentlich darin, dass durch ihn
seine Insertionspunkte, der innere Rand und untere Winkel der Scapula, der hinteren Thorax-
fläche genähert und gegen dieselbe angedrückt werden, wodurch gleichzeitig die Scapula um
ihre sagittale Axe gedreht, mit ihrem Acromialtheil etwas erhoben, mit dem unteren Winkel
nach aussen und vorn und etwas nach abwärts dislocirt, der Abstand ihi'es inneren Randes
von der Wirbelsäule beträchtlich vergrössert wird. Man kann sich von dieser Wirkung leicht
durch Faradisation des N. thoracicus posterior oberhalb der Clavicula, oder noch besser des
A7. thoracicus longus in der Achselhöhle an geeigneten Individuen überzeugen, wobei eine
33*
516 SERRATUSLÄHMUNG.
sofortig kräftige Verschiebung der Scapula in der angegebenen Richtung erfolgt, der
Acroraialtheil derselben nach vorn und oben rückt, die Scapula mit ihrer ganzen inneren
Fläche tlügelförmig absteht, während ihr innerer Rand fest an den Thorax angepresst ist.
Bei feststehenden Rippen fixirt demnach der 31. serrutus das Schulterblatt unter der eben
beschriebenen Rotation desselben gegen den Thorax, was namentlich bei Erhebung des Armes
über die Horizontale hinaus von Wichtigkeit ist. Bis zum rechten Winkel nämlich können
die eigentlichen Elevatoren des Armes, M. deltoidens und snpraspinatus, diesen allein heben ;
alsdann aber muss zur weiteren Vervollständigung eine synergische Contraction des Serratus
(sowie auch des mittleren Cucullarisbündels , nach Duchenne) hinzutreten, wodurch das
Schulterblatt auf die beschriebene Weiss nach aussen und vorn rotirt und mit seinem Acromial-
rand erhoben , die Cavitas glenoidalis des Schultergelenkes und der Humeruskopf demnach
ebenfalls in die Richtung nach oben gebracht wird. Fehlt diese Rotationsbewegung der
Scapula, so findet die vollständige Elevation des Armes an der Spannung des unteren Kapsel-
bandes, an den contrahirten Muskeln (Deltoides, Teres major) selbst und vor Allem an dem
dachförmig über den Gelenkkopf hinausragenden Acromion unüberwindliche Hemmungen, so
dass eher eine Luxation des Humeruskopfes aus der Cavitas glenoidalis, als eine weitere
Excursion desselben nach aufwärts eintreten würde.
Beivöllig gelähmtem Serratusmussalso — da die mittleren Cucullaris-
bündel zu schwach sind, um die Rotation und Fixation der Scapula in genügender Weise zu
bewirken — ein Det'ect der Erhebung des Armes über die Horizontale
hinaus nothwendig resultiren. — Aber auch bei der Erhebung des Armes bis zur
Horizontalen, sowie bei Bewegung desselben nach vorn, ist die Mitwirkung des Serratus von
Wichtigkeit, weil derselbe hier im Verein mit anderen Muskeln des Schultergerüstes
(Cucullaris und Rhomboidei, Pectoralis major u. s. w.) zur Feststellung des Schulterblattes
und zum Andrücken desselben gegen den Thorax bei diesen Bewegungen beiträgt. Auch
letztere werden also bei isolirten Serratuslähmungen Störungen von grösserer oder geringerer
Dignität (je nach der Leistungsfähigkeit anderer , synergisch oder antagonistisch wirkender
Scapulamuskeln) darbieten können.
Nach diesen Vorbemerkungen ergiebt sich das symptomatische Bild
der isolirten Serratuslähmungen in seinen Hauptzügen gewisseren aassen von selbst.
Dasselbe erhält seinen charakteristischen Ausdruck durch die in Folge der Serratus-
lähmung entstehende Deformität und die functionelle Behinderung.
Da Deformität, welche in ihren höheren und sozusagen pathognomoniscben Graden
fast immer erst bei längerem Bestehen der Lähmung zur Entwicklung kommt,
zeigt sich in der Ruhestellung des Kranken (ruhigem Herabhängen des Armes)
in der Weise, dass die Scapula in einem der Zugwirkung des Serratus entgegen-
gesetzten Sinne um ihre sagittale Axe gedreht, ihr äusserer Rand demnach mehr
nach unten und der untere Winkel nach oben und innen gegen die Wirbelsäule
gekehrt, zugleich vom Thorax abgehoben ist. Diese deforme Stellung der Scapula
beruht auf der Verkürzung der antagonistisch wirkenden Muskeln, des Levator
anguli scapulae und der Rhomboidei, der mittleren und unteren Trapezius-
bündel, sowie auch — nach Seeligmüllek, — der vom Proc. coracoideus ent-
springenden und diesen nach unten ziehenden Muskeln (Pectoralis major; auch
Coracobrachialis und Biceps). Letztere sind es namentlich, welche die Abhebung
des unteren Winkels, sowie des medianen Scapularandes, vom Thorax vermitteln.
Wenn auch in einzelnen ausgebildeten und älteren Fällen diese charakteristische
Deformität anscheinend vermisst wurde, so ist das wahrscheinlich darauf zurück-
zuführen, dass in derartigen Fällen die Serratuslähmung keine isolirte, sondern
mit partieller Lähmung oder Atrophie des Cucullaris, namentlich seiner unteren
Bündel (Duchenne), oder des Deltoides (Lewinski), des Latissimus dorsi, des
Levator und der Rhomboidei, wie ich dies beobachtet, complicirt war. Bei gleich-
zeitiger Atrophie der Rhomboidei und des Levator anguli scapulae kann aller-
dings auch die charakteristische Dislocation der Scapula bestehen ; dieser Umstand
spricht aber nicht, wie Lewinski meint, gegen ihre Herleitung von der Contraction
der antagonistischen Muskeln, da wahrscheinlich die oberen und mittleren Trapezius-
bündel allein zur Entstehung der Deviation ausreichen. Andererseits dagegen
kann die Deformität fehlen, wenn es sich nur um einen paretischen Zustand, nicht
um eine complete Paralyse des Serratus handelt. — Es ist ja klar, dass die
günstigen Entstehungsbedingungen für die Deformität nur dann vorliegen, wenn
bei völlig aufgehobener Motilität des Serratus und deshalb mangelhafter Fixirung
SEERATUSL AHMUNG. 517
der Scapula letztere den ausschliesslichen Einwirkungen der nicht gelähmten
Antagonisten des Serratus überlassen bleibt. Diese treten anfangs nur bei jedem
einzelnen willkürlichen Bewegungsimpulse vorübergehend in Aötion ; allmälig aber
muss, da die ihre Wirkung hemmende und beschränkende Mitthätigkeit des Serratus
fehlt, die durch sie bedingte Stellung der Scapula zu einer habituellen, bleibenden
werden. Dem entsprechend bleiben auch die Ursprungs- und Insertionspunkte
der noch in normaler Weise innervirten Antagonisten einander dauernd genähert ;
die Contraction derselben wird zur permanenten pathischen Verkürzung, zur
Contractur, welche man — ihrem Hervorgehen aus einer primitiven Lähmung
entsprechend — immerhin als eine paralytische bezeichnen kann. Gerade die
Verhältnisse an einem so frei liegenden, beweglichen und den Zugwirkungen ver-
schiedener grosser Muskeln unterworfenen Skelettheile, wie der Scapula, sind für
die Auffassung dieser aus antagonistischer Contraction und secun-
därer Verkürzung hervorgehenden Deformitäten — wie dies M. Eulenburg
schon vor mehr als 20 Jahren nachwies und wie es, vielfachen Verdunkelungen gegen-
über, neuerdings Seeligmüller besonders betonte — in hohem Grade belehrend.
Die consecutive Deviation der Scapula etwa blos als Belastungsdeformität, als
Wirkung der Schwere des herabhängenden Armes aufzufassen, liegt gar kein
Grund vor; dem Einflüsse dieses Moments würde, wie neuerdings Lewinski
gezeigt hat, die Cucullaris (besonders in seinen mittleren Bündeln) das Gleich-
gewicht halten.
Die functionelle Störung tritt, den obigen Erörterungen gemäss, vorzugs-
weise bei der Elevation des Armes über die Horizontale hinaus hervor ; eine solche
ist nur dann möglich, wenn das Schulterblatt durch manuelle Hilfe in die zur
weiteren Erhebung des Armes erforderliche Lage gebracht und in dieser Lage
passiv erhalten, die rotirende und das Schulterblatt fixirende Wirkung des Serratus
somit theilweise ersetzt wird. Es widerspricht dem nicht, steht sogar damit im
Einklänge, wenn Erb bei einer Kranken Erhebung des Armes bis zur Verticalen
beobachtete, welche aber nur dadurch möglich war, dass die Kranke, bei rück-
wärtsgebeugtem Oberkörper, den Arm mit einer schwingenden Bewegung nach
oben warf und dadurch gleichzeitig eine Luxation des Humeruskopfes nach unten
bewirkte! Eine derartige ; gewiss exceptionelle Aushilfe hat wohl unzweifelhaft
einen ungewöhnlichen Grad von Schlaffheit und Nachgiebigkeit des unteren
Kapselbandes zur nothwendigen Voraussetzung. Noch in einer anderen Weise
kann aber die Elevation bis zur Verticalen, selbst bei vollständiger Serratus-
lähmung, ermöglicht werden, indem nämlich andere Muskeln, und zwar die
besonders kräftig entwickelten oberen und mittleren Cucullarisbündel,
sowie auch die Abductoren des Armes (Deltoides, Supra- und Infra-
spinatus)die bezügliche Function des Serratus compensatoris ch
übernehmen, wie dies in einem von Bäumler neuerdings publicirten, instruc-
tiven Falle beobachtet wurde.
Als ein für Serratuslähmungen charakteristisches Symptom hat W. Busch
das bei Abduction oder Elevation des Armes eintretende Hervorspringen eines
starken Muskelwulstes zwischen dem inneren Rande der Scapula und den Dorn-
fortsätzen der Brustwirbel beschrieben. Diese Erscheinung ist bedingt durch die
Contraction der die Scapula gegen die Wirbelsäule adducirenden Muskeln (untere
und mittlere Cucullarisbündel, Rhomboidei und Levator anguli scapulae), welche
bei fehlender Serratusaction gleichzeitig auch die Adductionsstellung der Scapula,
die Annäherung ihres inneren Randes und unteren Winkels an die Wirbelsäule,
vermitteln. Das Symptom fehlt daher, wenn neben dem Serratus auch die oben
genannten Muskeln ganz oder theilweise gelähmt, resp. atrophirt sind.
Von den anderweitigen Erscheinungen der Serratuslähmung sind diejenigen
hervorzuheben, welche sich auf die consecutive Nutrition sstörung des gelähmten
Muskels und auf das elektrische Verhalten des letzteren, sowie seines Nerven
beziehen. Kommt es bei kürzerem oder längerem Bestehen der Lähmung zu
518 SERRATUSLÄHMUNG.
ausgebildeter Atrophie oder ist von vornherein mehr essentielle Atrophie als
Lähmung vorhanden (Fälle , die ja häufig genug diagnostisch mit einander con-
fundirt werden und in späteren Stadien in der That schwer unterscheidbar sein
können), so markirt sieh dieselbe bei der Inspection der seitlichen
Thoraxpartien, namentlich an sonst muskulös entwickelten Männern, ziemlich
deutlich. Es sind dann auf der gelähmten Seite die den Serratus constituirendeu
Zacken gar nicht oder nur andeutungsweise bemerkbar; die durch den Muskel-
bauch bedingte Wölbung der seitlichen Brustwand fehlt; letztere verläuft daher
flacher und in geradlinigen Distanzen, welche namentlich bei Erhebung des Armes
nach vorn oder seitwärts bis zur Horizontalen hervortreten. Noch deutlicher
freilich spricht in vielen, namentlich älteren Fällen die symmetrisch in ver-
gleichender Weis e geübte indirecte und directe Faradisation des
Serratus. (Die faradische Reizung des -ZV. thoracicus posterior kann — wie
dies V. Ziemssen angegeben hat — nach dem Durchtritt durch den Scalenvs
medius oberhalb der Clavicula, nahe dem Cucullarisrande, vorgenommen werden ;
ich habe jedoch fast ausnahmslos die Reizung des in der Axillarlinie herab-
steigenden Nerven wirksamer und sicherer gefunden.) Häufig ist in veralteten
Fällen die faradische Nervenreizbarkeit vermindert oder selbst ganz aufgehoben,
auch die faradomuskuläre Contractilität in entsprechender Weise beeinträchtigt.
Auch die galvanomuskuläre Contractilität zeigt in solchen Fällen meist mehr oder
weniger starke quantitative Herabsetzung, seltener dagegen quantitativ-
qualitative Anomalien (Entartungsreaction: trägen Zuckungsmodus
mit gesteigerter Erregbarkeit für Schliessungszuckungen, auch überwiegend gestei-
gerter Anodenschliessungsreaction und gleichzeitig erhöhter Erregbarkeit für
mechanische Reize), von 0. Beeger und von mir selbst in je einem traumatischen
Falle beobachtet. Die höchsten Grade der Entartungsreaction oder völliges Ver-
schwinden der galvanomuskulären Contractilität sind bisher, wie es scheint,
wenigstens in den zur Mittheilung gelangten Fällen reiner Serratuslähmung nicht
angetroffen worden.
Als ein nicht eigentlich mit der Lähmung zusammenhängendes, aber die-
selbe ziemlich häufig begleitendes Symptom müssen die Seh merzen erwähnt
werden, welche besonders während des Initialstadiums der Lähmung bestehen
oder auch dieser vielleicht in einzelnen Fällen voraufgehen. Ich beobachtete in
einem Falle äusserst heftige, paroxysmatisch exaeerbirende Schmerzen, welche
besonders über die Schulter- und Oberarmgegend (Hautzweige des N. axillaris
und Nervi cutanei brachii des Plexus brachialis ?) ausstrahlten. Auch c u t a n e
Hyperalgesien der Schulter- und oberen Brustgegend, sowie in
veralteten Fällen cutane Hypalgesien derselben Region können neben der
Lähmung vorhanden sein. Da der N. thoracicus posterior selbst ein motorischer
Nerv ist, so sind diese Sensibilitätsanomalien, gerade so gut wie die Mitlähmungen
und Atrophien anderer Schulter- und Armmuskeln, als Complicationen zu
betrachten, davon herrührend, dass die veranlassende Noxe ausser dem N. thoracicus
posterior, gleichzeitig auch andere, im Plexusbündel oberhalb der Clavicula benach-
barte Stämme des Armgeflechts, Axillaris, Hautnervenstämme des Oberarmes u. s. w.
mehr oder weniger lädirte.
Bezüglich der Pathogenese und Aetiologie der Serratuslähmungen
ist zunächst der Umstand bemerkenswerth , dass die reinen, isolirten Lähmungen
des Serratus fast ausschliesslich einseitig sind, und zwar ganz überwiegend auf
der rechten Seite, meist bei Männern im mittleren Lebensalter zur
Beobachtung kommen. Nur sehr selten (1:8) ist das Leiden beim weiblichen
Geschlechte und ganz ausnahmsweise bei Kindern unter 15 Jahren angetroffen
worden. Die hier und da erwähnten Fälle von doppelseitiger Serratusparalyse
schliessen den Verdacht nicht aus, dass es sich dabei nicht sowohl um eigentliche
Lähmungen, als um amyotrophische Zustände als Initialerscheinungen einer an der
Muskulatur des Schultergürtels beginnenden progressiven Muskelatrophie u. s. w.
SEERATUSLÄHMUNG. 519
gehandelt habe. — Schon die obigen pathogenetischen Verhältnisse machen es in
hohem Grade wahrscheinlich , dass die reinen Serratuslähmungen in der Regel
peripherischen Ursprungs und durch örtlich auf den iV. thoracicus posterior
einwirkende Schädlichkeiten, namentlich mechanische und traumatische
Insulte, herbeigeführt sein dürften. Diese Vermuthung wird sowohl durch die
solchen Schädlichkeiten besonders exponirte Lage des Nerven (vgl. oben), wie
auch durch die genauere Controle des Entstehungsherganges in einzelnen Fällen
von isolirter, einseitiger Serratuslähmung gerechtfertigt. In den betreffenden
Fällen Hessen sich occasionelle traumatische oder mechanische Momente nach-
weisen : Quetschungen der Schultergegend durch Fall, Druck oder Stoss, besonders
beim Tragen schwerer Lasten auf der Schulter (Wiesner) oder beim Druck auf
der Schulter getragener , scharfkantiger Gegenstände , beim Auffallen mit der
Schulter, beim Aufschlagen schwerer Gegenstände (eines Stückes Mauer, Berger)
auf dieselbe; ferner Ueberanstrengungen durch anhaltende, forcirte Bethätigung,
besonders des rechten Armes, wozu in der Beschäftigung der betreffenden Kranken
als Schlosser (Jobert), Seiler (Helbert), Tapezierer (Chvostek), Riemer (Ce.tka),
Feldarbeiter beim Hecheln und Mähen (Hecker) u. s. w. eine begünstigende
Prädisposition vorlag. In anderen Fällen werden die üblichen atmosphärischen
(rheumatischen) Noxen angeschuldigt; das Leiden soll sich nach Schlafen auf
feuchter Erde (Busch), oder an einer feuchten Wand (Marchesse aux), oder bei
Zugluft (Helbert), oder in Folge einer nächtlichen Eisenbahnfahrt (Friedberg)
eingestellt haben. In einzelnen Fällen endlich (Caspari, Berger, Brück,
Bäumler) war eine acute Infectionskrankheit — Ileotyphus — voraufgegangen.
Von einer pathologischen Anatomie der Krankheit ist nicht die Rede,
da Sectionsbefunde bisher nicht vorliegen. Der ganze Verlauf, namentlich die
einleitenden oder voraufgehenden neuralgischen Störungen und die öfters beglei-
tenden, anderweitigen Sensibilitätsstörungen, die bald raschere, bald langsamere
Entwickelung der Atrophie und der elektrischen Reactionsanomalien, die öftere
Complication mit Parese und Atrophie im Bereiche anderer Schulter- und Arm-
nerven (Accessorius , Subscapularis , Axillaris, Triceps) machen es jedenfalls in
hohem Grade wahrscheinlich, dass es sich um traumatische oder entzündliche,
neuritische oder perineuritische Läsionen des N. thoracicus posterior nach
Analogie derjenigen, welche den sogenannten „rheumatischen" Faciallähmungen,
den combinirten Schulterarmlähmungen u. s. w. zu Grunde liegen, handelt. In
den bekannt gewordenen traumatischen und mechanischen Fällen seheint der ein-
wirkende traumatische oder mechanische Insult meist nicht zu einer völligen Dis-
continuität des Nervenstammes (durch Zerreissung oder höchste Grade der Quet-
schung) , sondern meist nur zu unvollständigen Continuitätstrennungen, Quetschungen
oder Erschütterungen minder schwerer Art Anlass gegeben zu haben. Die in
der Regel langsame Ausbildung der Atrophie, das Fehlen schwerer quantitativ-
qualitativer Reactionsanomalien, die meist günstige und rasche Einwirkung einer
zweckmässigen Therapie sind dieser Annahme wenigstens nicht widersprechend.
Die Diagnose der reinen, uncomplicirten und einseitigen Sei'ratus-
lähmungen ist nach den obigen symptomatologischen Hinweisen im Allgemeinen
nicht schwierig. Sie gründet sich besonders auf die Deviation, auf die charak-
teristische Functionsstörung, eventuell auch auf die consecutive Atrophie und die
elektrischen Reactionsanomalien in Nerv und Muskel. Schwieriger kann die
Diagnose sich gestalten, wenn (in frischeren Formen) die letztgenannten Erschei-
nungen fehlen oder nur schwach entwickelt sind, die Deviation und Functions-
störung aber entweder wegen nur incompleter Paralyse des Serratus oder wegen
complicirender, antagonistischer Paresen und Atrophien oder auch aus ander-
weitigen Gründen (siehe oben) nicht deutlich hervortreten. Alsdann kann nur eine
sehr sorgfältige, wiederholt angestellte, die Function, Ernährung, elektrische
Reaction u. s. w. jedes einzelnen Muskels des Schultergürtels berücksichtigende
Untersuchung zum Ziele führen. Von einer primären Contractu r der die
520 SERRATUSLÄHMUNG.
Scapula adducir enden Antagonisten (Levator anguli scapulae, Rhom-
boidei, Cucullaris), welche eine ähnliche Deformität bedingen könnte, unterscheidet
sich die Serratuslähraung wenigstens in frischen Fällen leicht durch das Vor-
handensein passiver Be w e g 1 i c h k e i t. Lässt sich die Scapula mittelst der
aufgelegten Hand ohne erheblichen Widerstand in die normale Stellung zurück-
führen, so ist jene Contractur auszuschliessen , bei welcher das Redressement gar
nicht oder nur unvollkommen ausgeführt werden kann. In veralteten Fällen, bei
entwickelter seeundärer (paralytischer) Contractur , wird namentlich durch die
Ernährungsstörung, die elektrischen Anomalien u. s. w. meist die Unterscheidung
ermöglicht.
Progressive Muskelatrophien, welche an der Muskulatur des Schulter-
gürtels ihren Ausgangspunkt nehmen, sind schon durch die meist bilaterale und
symmetrische Entwickelung , das viel langsamere Zustandekommen der Motilitäts-
störung, die successive Mitatrophie anderer Schulter- und Armmuskeln (Deltoides,
Pectoralis major, Latissimus, Infraspinatus u. s. w.) leicht auszuschliessen.
Die Prognose kann bei isolirten, einseitigen Serratuslähmungen als im
Allgemeinen nicht ungünstig bezeichnet werden. Insbesondere gilt dies von den
frischeren Fällen, während bei veralteten Lähmungen die bereits zu höheren
Graden gediehene Atrophie und die consecutiven Deformitäten der Behandlung
grössere Schwierigkeiten darbieten. Speciell ist natürlich auch die Art und Schwere
der veranlassenden Läsion prognostisch maassgebend ; insbesondere wo dieselbe
traumatischer Natur ist, wird es sich darum handeln, ob etwa eine völlige Con-
tinuitätstrennung des Nerven oder eine Quetschung schwerster Art durch das
Trauma herbeigeführt wurde. Diese Frage ist hauptsächlich durch die elektrische
Exploration nach den für traumatische Lähmungen allgemein geltenden Regeln
zu erledigen.
Die Therapie der Serratuslähmungen besteht in einer entsprechend
localisirten Anwendung der Elektricität , sowie activer und passiver Bewegungen
und der Massage. Mit diesen uns allein zu Gebote stehenden, aber auch in ihrer
Combination eminent wirksamen Heilmitteln kann nicht frühzeitig genug begonnen
werden. Die specielle Anwendungsweise der Elektricität richtet sich nach der
Intensität und dem Alter des Falles und den davon abhängigen Reaetionsverhält-
nissen. In frischeren und leichteren Fällen ist die Faradisation (am zweck-
mässigsten in Form directer, intramuskulärer Reizung, mit schwachen oder höchstens
mittelstarken Strömen) meist ausreichend, wie dies insbesondere auch die Heil-
erfolge Duchenne's und Anderer beweisen. In den schwereren und veralteten
Fällen, bei herabgesetzter oder gar aufgehobener faradischer Nerven- und Muskel-
reizbarkeit, wird man nicht umhin können, dem constanten Strome in den für
peripherische Lähmungen überhaupt üblichen Applicationsweisen (vgl. „Elektro-
therapie") den Vorzug zu vindiciren oder doch galvanische und faradische Ströme
alternirend zur Anwendung zu bringen. Bei nicht ganz erloschener oder bereits
wiederkehrender Motilität des Muskels sind active Bewegungen behufs Anregung
der willkürlichen Bethätigung derselben, am besten nach Art der duplicirten
Widerstandsbewegungen, wie sie unter „Heilgymnastik" näher charakterisirt
wurden, ein wichtiges Unterstützungs- und Förderungsmittel. Vorher und eventuell
daneben ist durch entsprechend ausgeführte passive Bewegungen der Ausbildung
seeundärer Contractur durch Massage der Ernährungsstörung des Muskels möglichst
zu begegnen.
Literatur (von der älteren nur das Wichtigere): Velpeau, Anat. chirurgicale.
1825 (erster Fall von Serratuslähmung). — Stronieyer, Paralyse der Inspirationsmuskeln.
1836.— Marchesseaux, Arcli. gen. de med. 1840, pag. 313. — Desnos, These. 1845. —
Chocsy, Union med. 14 Dec. 1848. — Hecker, Erfahrungen und Abhandlungen im Gebiete
der Chirurgie. 1845. — Duchenne, Electrisation localis^. 2. Auflage. 1861, pag. 766. —
M. Eulen bürg, Klinische Mittheilungen aus dem Gebiete der Orthopädie. 1860; Berliner
klin. Wochenschr. 1869, Nr. 42. — Neu schier, Archiv der Heilkunde. 1862, pag. 78. —
W. Busch, Archiv für klin. Chirurgie. 1863, pag. 39. — Wiesner, Deutsches Archiv für
SERKATUSLÄHMUNG. — SHOCK. 521
klin. Med. Bd. V, pag. 95. — A. Eulen bürg, Lehrbuch der functionellen Nervenkrankheiten.
1871; 2. Aufl. 1878, pag. 206. — Berg er, Die Lähmung des N. thoracicus longus, Diss.
Breslau 1873. — Brück, Fall von Serratuslähmung nach acuter Krankheit, Diss. Breslau
1873. — Erb, Krankheiten der peripheren, cerebrospinalen Nerven in v. Ziemssen's Hand-
buch der spec. Path. und Ther. Bd. XII, pag. 1 (1874, 2. Aufl. 1876). — Lewinski,
Virchow's Archiv. Bd. CLXXIII, 1878. — Bernhardt, Deutsches Archiv für klinische
Med. Bd. XXIV, pag. 380. — Bau ml er, Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. XXV (1879).—
Weber, Deutsche med. Wochenschr. 1880. Nr. 21. — Seeligmüller, Archiv f. Psychiatrie.
Bd IX, Heft 2 und Neurologisches Centralblatt. 1882, Nr. 9. A E
Serres-flnes, s. „Naht", IX, pag. 428.
Sesamöl, das durch Pressen aus dem Samen von Sesamum Orientale L.,
Bignoniaceae , gewonnene fette Oel , goldgelb , geruchlos , von mildem , hanfähn-
lichem Geschmack, dickflüssig, von 0*02 spec. Gewicht, bei — 5° erstarrend,
nicht trocknend. Das Oel wird häufig zur Verfälschung des Oliven- und Mandelöls
verwandt ; hier und da auch gleich den genannten Oelen zur Bereitung von
Oelemulsionen.
Seseli (seseli de Marseille, Pharm, franc.) , Fr uctus 8. , die Früchte
von S. tortuosum. L., Umbelliferae , ein dem Kümmelöl ähnliches , ätherisches
Oel enthaltend und wie Fructus Carvi benutzt.
Setaceum, s. „Haarseil", VI, pag. 154.
Seuchen, s. „ansteckende Krankheiten", I, pag. 341; „endemische und
epidemische Krankheiten", IV, pag. 569.
Sharon bei Leesville, mit kalten Sulphatwässern , neben denen von Avon
die besuchtesten Schwefelquellen New- Yorks. B M L
Shock (englisch Stoss, Schlag, Erschütterung, Anfall) =: die durch
eine heftige nervöse Erregung bewirkte reflectorische Lähmung
der Herz- und Respirationsthätigkeit. Der Name Shock ist von den
Engländern eingeführt für die nach schweren Verletzungen und Operationen ein-
tretenden nervösen Zufälle, die mit dem Tode endigen können, ohne dass irgend
eine ausreichende anatomische oder chemische Veränderung nachweisbar wäre.
Aus dieser Definition geht hervor, dass die plötzlichen Todesfälle an acuter
Septicämie, an Chloroformnarcose, durch Fettembolie, durch Erkaltung zum Shock
nicht zu zählen sind; sie auszuscheiden ist nicht schwer. Schwerer ist die Ab-
trennung des Shocks von Ohnmacht und Gehirnerschütterung, die ihm in mancher
Beziehung nahestehen, doch bleibt nach sorgfältiger Auslese aller zweifelhaften
Zustände eine nicht geringe Zahl von Fällen übrig, welche unter den Krankheits-
begriff Shock fallen, ein Name, der den anderweitig vorgeschlagenen Bezeichnungen
traumatischer Torpor, Wundstupor, Wundschreck entschieden vorzuziehen ist. Es
werden zwei Formen des Shocks unterschieden, der torpide und der erethische
Shock (H. Fischer). Beim torpiden Shock liegt der Kranke still und theil-
nahmslos da , das Gesicht ist verfallen , faltig , die Nasenlöcher erweitert. Die
glanzlosen Augen liegen tief, sind von breiten, dunklen Ringen umzogen, von den
Augenlidern halb bedeckt. Die Pupillen sind weit, reagiren träge, der Blick ist
gleichgiltig oder starr in die Ferne gerichtet. Die Haut und sichtbaren Schleim-
häute sind marmorblass, an Händen und Lippen ein wenig cyanotisch gefärbt, die
Temperatur ist herabgesetzt, die Messung ergiebt l1/^0 unter der Norm in der
Achselhöhle, 1 ° im Rectum. Dabei hängen an Stirn und Brauen grosse Schweiss-
tropfen. Die Sensibilität ist am ganzen Körper stark vermindert, nur bei sehr
schmerzhaften Eindrücken verziehen die Patienten verdriesslich das Gesicht und
machen trag abwehrende Bewegungen. Spontan wird kein Glied bewegt, passiv
erhobene Gliedmaassen fallen wie todt nieder. Doch können, wenn der Patient
nach wiederholter Aufforderung alle seine Kraft zusammennimmt, Bewegungen der
Extremitäten, wenn auch von geringem Umfang und geringer Dauer, ausgeführt
522 SHOCK.
werden. Secessus inscii sind häufig. Der Puls ist kaum fühlbar, sehr frequent,
unregelmässig und ungleich, die Arterien eng, wenig gespannt, die Herztöne nicht
selten sehr unregelmässig und aussetzend. Dabei ist jedoch das Bewusstsein un-
getrübt, die Antworten werden zwar nur träge gegeben, sind aber ganz verständig.
So klagen denn auch die Patienten über Kälte, Ohnmachtsgefühl, Abgestorbensein
aller Gliedmassen. Auch die Sinnesorgane zeigen ihre Schärfe. Die Respiration
ist unregelmässig ; tiefe, lange Inspirationen wechseln mit sehr frequenten, schwachen,
kaum hörbaren ab. Ja mitunter bleibt die Respiration in längeren , höchst
beunruhigenden Intervallen gänzlich aus. Dieser Zustand ist nicht unähnlich dem
der asphyctischen Cholera, von der fehlenden Darmentleerung abgesehen. Dieser
torpiden Form gegenüber unterscheidet man eine erethische Form (Prostration
with excitement) . Solche Kranke werfen sich wild herum, sie stöhnen, schreien
laut und klagen über eine furchtbare, mit Athemlosigkeit verbundene Beängstigung
und das Gefühl totaler Vernichtung. Sie geberden sich wie Tobsüchtige. Das
Bewusstsein ist wohl ungetrübt, aber alle ihre Gedanken werden durch die
entsetzlichen Qualen in Anspruch genommen. Der Puls ist klein, unzählbar, die
Athmung frequent, oberflächlich, die Schleimhäute sind blass, das Gesicht hingegen
geröthet, die Stirn heiss, die Pupillen eng. Die Haut der Extremitäten nicht
immer kühl. Constant ist hier das Erbrechen schleimiger Massen, quälendes
Würgen, brennender Durst. Alle Bewegungen werden mit grosser Hast und auf-
fallendem Zittern ausgeführt, zuweilen fliegen alle Glieder wie im Schüttelfrost.
Die Gesichtsmuskeln zeigen krampfhaftes Spiel, fibrilläre Zuckungen. Die torpide
Form ist die schwerere , sie entwickelt sich bei Verschlimmerung des Zustandes
aus der erethischen Form. Umgekehrt entsteht die erethische Form bei Besserung
des torpiden Shocks. Die erethische Form des Shocks dauert Minuten oder
wenige Stunden, die torpide zieht sich bisweilen durch Tage hin. In beiden
Formen kann der Tod unter den Erscheinungen der tiefsten nervösen Prostration
eintreten, ohne dass die Autopsie ausser den Spuren der directen Verletzung eine
palpable Veränderung in den wichtigsten Organen aufweist.
Uebersehen wir diese Erscheinungen, so haben wir als die wesentlichsten
zu betrachten: den raschen Kräfteverfall, die erhebliche Herabsetzung der Herz-
action , bei geringem Nachlass der Eigenwärme , die Unregelmässigkeiten der
Athmung, die Erhaltung des Bewusstseins bei Schwächung der
Rückenmarksfunctionen.
Shock entwickelt sich nach den verschiedensten Verletzungen. Je
stärker die Erschütterung ist, die am Rumpfe des Menschen durch einen fremden
Körper hervorgerufen wird, desto leichter tritt Shock ein, daher besonders leicht
nach Prellschüssen von Bombensplittern und Kanonenkugeln, Hieben mit dem
Kolben und den verschiedensten stärkeren Knochencontusionen. Perforirende
Flintenkugeln und scharfe Säbelhiebe rufen nicht leicht Shock hervor. Unter den
speciellen Verletzungen einzelner Körpertheile sind die Rückenmarksver letzungen
hervorzuheben. Bei Wirbel frakturen, auch denen der Brust- und Lenden-
wirbel, tritt oft Tod ein, ohne dass die Rückenmarksverletzung selbst den Tod
zu erklären geeignet ist. Oft erholt sich hier der vom Shock betroffene Patient
nicht, sondern liegt ein, zwei Tage bei niedriger Temperatur, kleinem Pulse. In
einzelnen Fällen tritt aber überhaupt erst ein shockartiger Zustand zwei Tage
nach der Verletzung ein , heftige Delirien gehen ihm voran und nach einigen
Stunden erfolgt der letale Ausgang. Auch bei der Meningealapoplexie
treten ausser den auf die Blutungsstelle beschränkten apoplectischen Folgen noch
die des Shocks in Folge der primären allgemeinen Erschütterung ein. Sehr häufig
ist ferner der Shock bei Verletzungen der Bauchhöhle. Es ist durchaus
unstatthaft , hier den Shock mit der Abkühlung der Bauchhöhle zu identificiren
oder von ihr herzuleiten. Diese Abkühlung kann in höherem Grade nur bei
offenen Bauchwunden stattfinden , Shock tritt aber auch schon bei subcutanen Ver-
letzungen des Bauches ein, wo von starker Abkühlung gar keine Rede sein kann,
SHOCK. 523
wie z. B. bei Blutungen in die Bauchhöhle durch Bersten von Blutgefässen, bei
Perforation von Typhusgeschwüren, auch bei Einklemmung von Hernien, selbst
nach glücklicher Reposition von Hernien. Aber auch bei den offenen Wunden
der Bauchhöhle ist die Abkühlung wohl ein erheblicher Factor, aber durchaus
nicht die alleinige Todesursache. Thiere mit entblössten Därmen sterben schon
nach Abfall ihrer Eigenwärme auf 30°, 29°, während Thiere, deren Extremitäten-
muskulatur aus der Wärmeproduction ausgeschaltet ist, bis zu 20, ja 18 und 16°
erkalten werden können, schlagender Beweis dafür , dass die erstere Reihe von Thieren
nicht den Erkaltungstod stirbt , sondern dass hier die Erkaltung , die Wärmedepression
nur ein Glied in der Kette centraler reflectorischer Depressionen auf Herz und Athmung
bildet, welche unter dem gemeinsamen Namen Shock den Tod herbeiführt (Samuel).
Lang bekannt ist schon der GOLTZ'sche Klopfversuch, der diastolische Herzstillstand
durch wiederholtes Klopfen der Bauchdecken bei Fröschen. Wenn dann das
Herz wieder zu pnlsiren beginnt , so empfängt es bei der Diastole fast gar kein
Blut und kann daher bei der Systole keines austreiben , weil eine allgemeine
Lähmung des Gefässtonus, insbesondere auch in den Venen, eingetreten ist.
Insbesondere sind es die Venen des Pfortadersystems, welche alsdann die grösste
Blutmasse in sich bergen. Gutsch wies nach, dass schon Berührung und leichte
Quetschung des Darmes , des Magens , des Ovariums bei Fröschen genügt , um
reflectorischen Herzstillstand auf 3 — 6 Secunden zu erzeugen. Je länger die
Bauchhöhle eröffnet liegt, desto unbedeutendere Eingriffe genügen alsdann. Die
Hyperämie der Eingeweide tritt zuerst in der Umgebung der direct insultirten
Partien auf und wird erst allmälig eine allgemeinere. Die Athmung leidet hier
dauernder als beim Klopfversuch, wird bald insufficient und hört schon viel früher
auf als die Herzaction. Auch bei Säugethieren bewirken Insulte des Peritoneums
starkes Sinken des Blutdruckes. Wie wichtig daher auch bei allen Verletzungen der
Bauchhöhle (Ovariotomie, Laparo-Herniotomie) der Wärmeverlust ist, die Erhaltung
der nervösen Energie zur Verhütung des Shocks ist doch von weit grösserer
Wichtigkeit. Auch nach schweren Geburten, Lithotripsien, selbst nach Catheterismus
ist Shock beobachtet worden. — Nach Erschütterungen und Quetschungen
des Thorax ist Shock ein selteneres Vorkommniss. Auffallend häufig ist er nach
Quetschungen des Hodensackes. Quetschung des Testikels durch Biss
kann den tiefsten Shock und Tod in wenigen Stunden hervorrufen. Schon die
Erschütterung des Hodensacks durch aufschlagende Gummi- und Schneebälle
vermag ohnmachtähnliche Anfälle zu erzeugen. Selbst nach den FRiCKE'schen
Einwicklungen des entzündeten Hodens treten nicht selten Shockerscheinungen ein,
entweder gleich nach dem Verbände, wenn der noch sehr empfindliche Testikel
zu stark comprimirt und gezerrt wurde oder später, wenn er durch spastische
Contractionen des Cremaster hoch gezogen, in den oberen Zirkeltouren eingeklemmt
wird (H. Fischer). Auch Luxationen und heftige Quetschungen der
Finger erregen zuweilen Shock. Shock bleibt selten aus beim Verlust
ganzer Glieder, umfangreichen Zermalm un gen von Knochen und
Weicht heilen. Auch der nach ausgedehnten Verbrennungen und Er-
frierungen rasch eintretende Tod ist in erster Reihe auf Shock zurückzuführen.
Im Allgemeinen erfolgt Shock desto leichter bei Verletzungen, je blutärmer ein
Individuum von Natur ist (Greise, Anämische, schlechtgenährte Personen),
resp. je mehr Blut er bei der Verwundung eingebüsst hat. Ferner desto leichter,
je nervöser, reizbarer der Mensch geworden ist, also bei Soldaten einer
geschlagenen Armee, nach langen Belagerungen, bei nervöser Anlage. Ob Witterung,
resp. Barometerstand, einen Einfluss ausübt, ist noch immer fraglich.
Ausser dem traumatischen Shock wird auch von einzelnen Autoren ein
psychischer Shock statuirt. Dass zu den Neurosen, welche durch Emotion
entstehen, auch eine Schrecklähmung gehört, selbst plötzlicher Tod durch Schreck,
ist ausser Frage. Doch dürfte es nur wenige Fälle von Emotionalparalyse
geben, welche den vollen Symptomencomplex des Shock darbieten. Es handelt
524 SHOCK.
sich in diesen Fällen meist um Lähmung der Medulla spinalis und nur aus-
nahmsweise auch der Medulla oblongata, unter seltenen Umständen des Cerebrums,
mit und ohne nachweisbare anatomische Läsionen durch psychische Einwirkungen.
Zum Shock gehört aber stets nur die plötzliche Lähmung der Herz- und Respirations-
thätigkeit und, wir thun gut, streng daran festzuhalten, nur diejenige plötzliche
Lähmung, die reflectorisch durch nervöse Erregung hervorgebracht ist. Es sind
also hieher jedenfalls nicht zu zählen partielle Krämpfe und Lähmungen aus
psychischen Ursachen, die mit dem Shockbegriff ganz und gar nichts zu thun
haben. In Frage könnten nur die plötzlichen Todesfälle durch Schreck und die
durch Herz- und Respirationsschwäche eintretende Gefährdung des Lebens kommen.
Diese Fälle sind an sich sehr selten. Hier könnte man den von dem Cerebrum
ausgehenden Impuls dem von peripheren Nerven ausgehenden reflectorischen Impulse
gleichstellen. Doch ist es bei der Dunkelheit des Shocks rathsamer, abzuwarten,
ob der Befund in den wenigen Fällen von Schrecktod in der That ein negativer
und wenn dies der Fall ist, ob diese Fälle dann nicht eher als eine psychische
Commotio cerebri nach ihren Symptomen, denn als psychischer Shock aufzufassen
sein werden (cf. unten).
Als eine dritte Form des Shocks wird der Blitzshock geschildert.
Die vom Blitz Getroffenen stürzen bewusstlos hin, bleiben unbeweglich, anscheinend
todt, die Haut ist kalt, mit Schweiss bedeckt, der Puls ist nicht oder nur schwach
fühlbar, die Herzaction bis auf 44 Schläge verlangsamt. Die Respiration ist
schwach , unregelmässig , das Athmungsgeräusch kaum hörbar , die Pupille wurde
eng, auch weit gefunden, alle Glieder sind gelähmt, die Sensibilität herabgesetzt.
Diese Periode des Stupor dauert selten länger als 5 — 10 Stunden, worauf dann
in der Reactionsperiode die Haut wieder wärmer wird, der Puls sich hebt, frequenter
und kräftiger wird, die Respiration zwar sich bessert, aber noch mühsam und
pfeifend bleibt. Bewusstsein, Sprache, Empfindung kehren langsam zurück,
allmäklig treten auch spontane Bewegungen wieder ein. In dieser Art erfolgt
meist Besserung im Laufe vom 6 — 10 Tagen, Tod nur dann, wenn keine gehörige
Reaction eintritt. Auch diese Fälle werden besser zur Commotio cerebri und
nicht zum Shock zu zählen sein.
Noch weniger sind die Todesfälle durch Vergiftung mit Nicotin,
Blausäure, Upas auf einen toxischen Shock zu beziehen, man müsste denn jede
plötzliche Lähmung der Centralorgane mit Shock identificiren wollen, was nicht
zur Klärung, sondern nur zur Verdunklung des Gegenstandes beitragen würde.
Bei der Differentialdiagnose des Shocks handelt es sich vorzugsweise
um drei nahestehende Zustände: um Gehirnerschütterung, Ohnmacht und Collaps.
Die Commotio cerebri hat insoweit einen anderen Ursprung, als, wenn auch
beide Zustände durch eine Art Erschütterung entstehen , es sich bei der Commotio
cerebri stets um eine directe starke Erschütterung des Schädelinhaltes handelt
durch Fall , Stoss , Schlag auf den Kopf , Elektrisirung des Gehirns ; beim Shock
aber tritt eine Reihe ähnlicher Erscheinungen ein, ohne dass das Gehirn durch
das Trauma betroffen worden, auch sind die traumatischen Anlässe selbst oft
sehr viel geringer (Quetschung, Entblössung der Bauchhöhle, Einschnürung des
entzündeten Hodensackes). Beim Shock wird also zunächst das Gehirn selbst gar
nicht getroffen und sodann hat oft auch keine sichtliche Erschütterung statt-
gefunden, sondern wir müssen nur eine nervöse Erregung voraussetzen. Durch
den Shock wird aber auch nicht einmal indirect das Cerebrum afficirt. Die Be-
wusstlosigkeit, welche plötzlich und gänzlich in der Gehirnerschütterung
eintritt und eines ihrer bezeichnendsten und wichtigsten Merkmale bildet, sie fehlt
beim Shock gänzlich. So tief die Kräfte darniederliegen, so miserabel der Puls, so
unregelmässig die Respiration, so schwer krank der ganze Zustand im Shock ist,
— das Bewusstsein ist zwar träge und wenig theilnehmend, bleibtaber unge-
trübt. Es isf geradezu ein starkes Missverhältniss vorhanden zwischen der Integrität
des Bewusstseins und der Herabsetzung aller vegetativen Thätigkeit. Dazu kommt,
SHOCK. 525
dass der Puls in der Gehirnerschütterung meist träge, langsam, jedenfalls aber
regelmässig ist , während er im Shock kaum fühlbar , unregelmässig , ungleich,
wenig gespannt, äusserst frequent ist. In dem einen Falle leidet also das
Sensorium , im anderen nicht ; auch die Herzaction wird in beiden Zuständen im
entgegengesetzten Sinne beeinflusst. Von einer Identificirung kann also keine
Rede sein. Die leidenden Organe sind andere, die Erscheinungen sind andere,
die Ursachen sind nicht einmal immer dieselben. Auch die Ohnmacht lässt
sich unschwer vom Shock trennen. Auch sie geht mit momentaner Bewusstlosigkeit
einher, ist überdies sehr viel flüchtiger als der Shock, wird auch durch ganz
andere Ursachen hervorgebracht (cf. Ohnmacht). — Weit mehr Aehnlichkeit hat
der Shock mit den äussersten Graden des Collapses. In diesen liegt der
Kranke bleich, eingefallen, regungslos, fast ohne Lebensäusserungen, leichenähnlich,
oft eiskalt , mit kaum fühlbarem Puls , kaum merklichem Athem , mit kaltem
Schweiss bedeckt, mit dem Gefühle tiefster Schwäche, entstellten Zügen, Beklemmung
und Angst bei hoher sowohl, wie bei niederer Temperatur. Die durch Fieber
entstandenen, aus demselben hervorgegangenen Collapse sind ätiologisch sehr leicht
von dem traumatischen Shock auseinander zu halten. Pathologisch ist aber die
bis zur Lähmung fortschreitende Schwäche der Herz- und Athmungsfunction hie
wie da dieselbe, nur dass sie beim Collaps durch Fieberursachen bedingt und mit
Fiebererscheinungen auch complicirt ist, beim Shock aber durch nervöse Reizung
reflectorisch hervorgebracht ist. Auch wo der Collaps durch starke Diarrhöen,
heftiges Erbrechen , Ueberanstrengungen , beträchtliche Blutungen in oder auch
ausserhalb des Fiebers bedingt ist, ist er mit Leichtigkeit vom traumatischen
Shock zu unterscheiden. Es genügt, ausser der Constatirung der Ursache, an die
Nebenwirkungen jener Collapsform zu denken.
Zum Verständniss des Wesens des Shocks können wir nach dem Gesagten
lediglich von der einfachsten Form, vom traumatischen Shock ausgehen. In
welcher Weise bringt eine starke Quetschung des Hodensackes, eine heftige
Zerrung der Därme fast momentan eine Depression der Herz- und Respirations-
thätigkeit, eine Schwächung des Rückenmarks hervor? Es kann dies nur auf
dem Wege der Reflexparalyse geschehen. Die intensive Reizung sensibler Nerven,
rapide zu den Centralorganen fortgeleitet, bewirkt die Depression des Vagus-
centrums, vielleicht auch der Herzcentren, der Athmungscentren, der sensiblen und
motorischen Rückenmarkscentren. Dass durch intensive Reizung sensibler Nerven
die Functionen des Rückenmarks sowohl die leitenden, wie die reflexvermittelnden
in hohem Grade geschwächt und selbst vorübergehend auf Null reducirt werden
können, ist ein durch vielfache Beobachtungen bestätigter Satz. Dass die sensiblen
Nerven denselben reflectorischen Einfluss auch auf die Herzaction und auf das
Respirationscentrum üben, geht unter vielem Andern auch aus den obigen Ver-
suchen hervor. Es ist nicht möglich, die Gesammterscheinungen des Shock auf
Lähmung der Gefässnerven überhaupt oder des Darmes insbesondere zurückzuführen,
weil dadurch der rasche Eintritt der Respirationslähmung nicht erklärt wird.
Nicht möglich auch um desswillen, weil die obigen GüTSCH'schen Versuche zeigen,
dass Berührung und Quetschung der Eingeweide reflectorischen Herzstillstand und
Athmungsinsufficienz viel früher erzeugen, als die Lähmung der Gefässnerven des
Darmes eintritt. Endlich ist auch eine so grosse Unempfindlichkeit aller andern
Nervencentren nicht anzunehmen. Ein Insult, der reflectorisch die Gefässnerven voll-
ständig zu paralysiren geeignet ist, kann nicht alle anderen Nerven völlig
intact lassen.
Für die Behandlung des Shocks treten als besonders wichtige Regeln
hervor, dass man während seiner Dauer weder chloroformiren, noch operiren darf.
Nach grossen Verletzungen muss man den Ablauf des Shocks abwarten, also die
Besserung des Pulses , des Aussehens , der Athmung , ehe man , auch dann ohne
Chloroform, operirt. Zur Abkürzung der Dauer des Shocks sind Excitantien,
insbesondere heisser Grog , warmer Rothwein , Bouillon, ferner Campher, Moschus,
526 SHOCK. — SIDERODROMOPHOBIE.
Aether- und Ammoniakpräparate zu empfehlen. Erwärmung des Kranken durch
warme Tücher, Wärmflaschen, Frottiren ist nützlich. Den Aderlass wollen manche
Autoreu dann gemacht sehen , wenn entschiedene Cyanose und Asphyxie bei
kräftigen, vollsäftigen Patienten besteht. Elektrisirung der Phrenici wird empfohlen,
ebenso starke Hautreizung durch Sinapismen. Strychniii wurde als ein Mittel
angerathen , welches die Erregbarkeit der Medulla oblongata erhöht , Calabar,
weil es das Blut aus dem Unterleib in andere Gefässbezirke treibt. Die grossen
Gaben Opium , welche die Engländer empfehlen , haben in Deutschland keinen
Anklang gefunden. Die künstliche Respiration, so lange und so gut es geht
zu unterhalten, wird immer geboten bleiben, so lange noch momentane Lebens-
gefahr droht.
Literatur: Morris, A practica', treatise on Shoh after surgical Operations and
injuries. London 1867. — H. Fischer, lieber den Sliock. Volkmann's klinische Vorträge
Nr. 10, 1870. — Goltz, Ueber den Tonus der Gefässe. Virchow's Archiv, Bd. XXVI. —
Samuel, Ueber die Entstehung der Eigenwärme und des Fiebers. 1876. — Gutsch,
Ueber die Ursachen des Shock nach Operationen in der Bauchhöhle. Halle 1878.
Samuel.
SialagOga (von crwc'Xov, Speichel und ayeiv), sc. remedia : speicheltreibende
Mittel, solche, welche die Speichelabsonderung vermehren, vorübergehend Speichel-
fluss (Ptyalismus) hervorrufen. Von bekannteren Medicamenten und Giften, welche
durch Erregung der Speichelnerven (Secretionsnerven der Speicheldrüsen) die
Absonderung steigern, gehören hierher unter Anderen Coffein, Digitalin, Muscarin,
Nicotin (in kleiner Dosis), Physostigmin und vor Allem das Pilocarpin. Es kann
aber die Speichelsecretion auch reflectorisch angeregt werden durch Substanzen,
welche reizend auf die Geschmacksnerven , die sensiblen Mund- und Zungennerven,
die Geruchsnerven, die sensiblen Magennerven einwirken, wie dies z. B. mit
vielen gewürzhaften, scharfen Substanzen der Fall ist (vgl. „Acria", I, pag. 118).
Endlich können unter Umständen auch Gifte , welche die Speichelnerven lähmen,
die vorübergehende Absonderung eines dünnflüssigen Secrets („paralytischer
Speichel") bewirken , wie man dies beispielsweise experimentell nach Injection
kleiner Cruraremengen in die Arterie der Submaxillardrüse beobachtet.
Sialolith (ciaXov und Xifro?), Speicheistein. — Sialorrhoe (<jixkov und
ps?v), Speichelfluss.
Sibbens, s. „Radesyge", XI, pag. 331.
Siderodromophobie (cicr/jpo? , Spop.o? und (pofioq) , Eisenbahnfurcht , von
Rigler gewählte Bezeichnung eines psychopathischen , eine bestimmte Form der
Hypochondrie darstellenden Zustandes, welcher namentlich bei dem Fahrpersonal
der Eisenbahnen zur Entwicklung kommt und in der Rückwirkung stattgehabter,
resp. selbsterlebter Eisenbahnunfälle, in der krankhaft gesteigerten Furcht vor
solchen seine Ursache findet. Im Wesentlichen handelt es sich daJbei um einen
mit psychischer Verstimmung und hochgradiger Abneigung gegen die berufsmässige
Thätigkeit einhergehenden, der „Cerebral-" und „Spinalirritation" verwandten
nervösen Symptomencomplex , zu dessen anderweitigen Haupterscheinungen der
Kopf- und Rückenschmerz, die Parästhesien und excentrischen Schmerzen in Rumpf
und Gliedern, Angstgefühle, sowie auch leichtere paretische und ataktische
Störungen, Dyspepsien u. s. w. gehören. Unter Umständen kann es sehr schwierig
sein, bei dem mit Siderodromophobie Behafteten die wirklichen unmittelbaren und
mittelbaren Folgen einer Eisenbahnverletzung von den Symptomen der hypochon-
drischen Verstimmtheit und zeitweisen acuten Steigerung derselben nach einem
durchgemachten Eisenbahnunfall zu scheiden — ein Fall , der namentlich auch in
forensischer Hinsicht wegen der aus der Haftpflicht der Bahnverwaltungen sich
ergebenden Ersatzansprüche Interesse darbietet — Vgl. Rigler, „Ueber die
Folgen der Verletzungen auf Eisenbahnen , insbesondere der Verletzungen des
Rückenmarks", Berlin 1879.
SIDEROSIS. — SIMULATION. 527
Siderosis (von GiöV,po;, Eisen), S. pulmonum , s. „Staubkrankheiten".
SiechenMuser, s. „Spitäler".
Siechthum (forensisch). Siechthum ist sowohl in dem dermaligen
österreichischen Strafgesetzbuch (§.156, b) als auch in dem Entwürfe eines neuen
österreichischen Strafgesetzbuches (§. 236) und in dem deutschen Strafgesetzbuch
(§. 224), in den beiden letzteren als eines der Kriterien der schweren Körper-
verletzung, in dem ersteren hingegen als eines der Kennzeichen der qualificirt
schweren Körperbeschädigung aufgeführt. Es waltet nur der scheinbar unbedeutende
Unterschied ob , dass in ersterem von „immerwährendem" Siechthum , welches der
„unheilbaren" physischen Krankheit und der Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlich-
keit der Wiederherstellung gleichgestellt wird, die Rede ist, in beiden letzteren
hingegen nur der „Verfall in Siechthum" erwähnt wird. Verstehen wir nun unter
Siechthum dem Gutachten des königlich sächsischen Medicinalcollegiums zufolge einen
„länger andauernden, chronischen Krankheitszustand" , so werden in Deutschland,
und in der Zukunft auch in Oesterreich, vorkommenden Falles allen Zweifeln Thor
und Thür geöffnet, wenn es sich um die Entscheidung handeln sollte, wie lange
eine in Folge der Verletzung entstandene physische Krankheit dauern müsste, um
dem Sinne des Gesetzes nach als Siechthum, somit als Kriterium einer schweren
Körperverletzung gelten zu können , — während es dem Wortlaute des jetzigen
österreichischen Strafgesetzbuches nach klar ist , dass nur eine unheilbare Krank-
heit als „anhaltendes" Siechthum betrachtet werden kann. Wenngleich wir die
Stylisirung in dem jetzigen österreichischen Strafgesetzbuche für passender erachten,
als in dem deutschen Strafgesetzbuche und in dem österreichischen Entwürfe, so
müssen wir doch der Thatsache Rechnung tragen und somit Siechthum als eine
bedeutende allgemeine und lange dauernde, also nicht durchaus unheilbare,
physische Krankheit definiren und in der Praxis demgemäss unser Gutachten
accommodiren. L. Blumenstok.
Sigmacismus, auch Sigmatismus («rfyf^ = s)i das fehlerhafte oder
unmögliche Aussprechen des S-Lautes.
Sikeranie, s. „Hyoscyamin", VI, pag. 702.
Silbenstolpern, s. „Aphasie", I, pag. 437.
Silvaplana im südwestlichen Ober-Engadin, 1816 Meter über Meer, klima-
tischer Curort mit kalter , eisenhaltiger Gypsquelle , deren fester Gehalt von
Husemann (1873) auf 24 (ohne 2 Atom C02) in 10000 bestimmt wurde. Ausser
Kalk-Sulphat (14,7), Kalk-Bicarbonat (9,5) und etwas Magnesia-Sulphat ist das
Eisenoxydul-Bicarbonat (0,095) beachtenswerth. B M> L
Simaba. Die Früchte der in Columbia einheimischen S. Waldivia,
ebenso wie die von S. Cedron (Cedronnüsse) enthalten einen neutralen, krystallinischen
Bitterstoff (Waldivin, Tanret, C e d r i n , Lewy ; beide anscheinend identisch).
Das Waldivin soll sich mit Alkalien unter Verlust der Bitterkeit und Gelbfärbung
spalten. Die Waldivia- und Cedronfrüchte bilden in Amerika ein geschätztes und
vielbenutztes Amarum. (Vgl. Tanret, Bull. gen. de ther. 1880, pag. 504.)
Simulation (forensisch). Um einer drohenden Gefahr zu entgehen , irgend
einer Pflicht oder verdienten Strafe sich zu entziehen, haben von jeher und zu
allen Zeiten Menschen physische oder psychische Krankheiten simulirt; Sage und
Geschichte zählen sogar die Könige Odysseus und David zu den Simulanten, von
denen Erster er seine schwere Aufgabe unglücklich, Letzterer hingegen mit solchem
Geschicke gelöst hat, dass Fürst Achisch beim Anblick des schäbigen Bettlers,
als welcher David sich ihm präsentirte, ausgerufen haben soll: „Wozu bringet
ihr mir diesen Verrückten , habe ich ja doch deren genug im weiten Lande."
Dass zur römischen Kaiserzeit die Simulation verschiedener Krankheitszustände sehr
528 SIMULATION.
häufig vorgekommen sein musste, folgt daraus, dass Galen es für nöthig erachtete,
eine Abhandlung über den Nachweis der Simulation zu schreiben, wie denn seine
Geschicklichkeit in der Eruirung simulirter Krankheiten nicht wenig den grossen
Ruf mitbegründen half, dessen er sich in der römischen Metropole erfreute. In
der Gesetzessammlung Kaiser Justinians sind Vorschriften für Beamte enthalten,
denen es oblag, sich über den Gesundheitszustand jener Staatsbürger zu ver-
gewissern , welche Krankheiten vorschützten , um öffentliche Aemter nicht über-
nehmen zu müssen. In der Barbarei des Mittelalters wucherte die Simulation
üppig fort, bis ihr die Aufklärung der Neuzeit, besonders aber der Fortschritt
der medicinischen Wissenschaft, wohlthätige Schranken setzte. Gegenwärtig steht
die Häufigkeit der Simulation in umgekehrtem Verhältnisse zur Vervollkommnung
der einzelnen medicinischen Fächer ; die Zahl der Simulanten schmilzt immer mehr
zusammen, nichtsdestoweniger machen sie mitunter noch sowohl den Militär- als
Gerichtsärzten zu schaffen, wenngleich ärztliche Erfahrung und Gewandtheit früher
oder später, je nach der Specialität, welche der Simulant gewählt, je nach dessen
Ausdauer und Geschicklichkeit, den Sieg davonträgt über noch so klug ersonnene
Kunstgriffe des Laien.
Es kann aber auch ausnahmsweise der Fall eintreten, dass der Gerichts-
arzt trotz gewissenhaftester längerer Beobachtung sich nicht die Ueberzeugung zu
verschaffen vermag, ob er einen Kranken oder Simulanten vor sich habe, und es
tritt die Frage an ihn heran , ob er denn berechtigt sei , zu ausserordentlichen,
durch den angeblichen Krankheitszustand des Untersuchten nicht indicirten, über-
haupt nicht ärztlichen Mitteln Zuflucht zu nehmen, um der Wahrheit zu ihrem
Rechte zu verhelfen. Wir erachten es für überflüssig , uns in eine ausführliche
Erörterung dieser Frage , welche , wie die Geschichte unserer Disciplin lehrt , bis
in die jüngste Zeit in den Lehrbüchern an der Tagesordnung stand, einzulassen;
heutzutage bedarf es wohl nicht erst des Nachweises, dass der Sachverständige
zuvörderst nicht das Recht hat, schmerzhafte oder gar grausame Mittel in
Anwendung zu bringen, da er für etwaige unliebsame Folgen derselben verant-
wortlich ist, und dass er ferner sich und die Wissenschaft compromittiren würde,
wenn er, die Aufgabe eines Beobachters und Fachmannes mit jener eines Schergen
vertauschend, dem ihm zur Untersuchung übergebenen Individuum unter Anwendung
inquisitorischer Mittel die Erklärung abzwingen wollte, ob es gesund oder krank
sei, anstatt den einen oder anderen Zustand mittelst wissenschaftlicher Untersuchungs-
behelfe zu diagnosticiren. Selbst bei den älteren und ältesten Schriftstellern
(Foktunatus Fidelis, De relationibus medicorum. Lib. III, Sect. II, cap. 3.
— Paul Zacchias [Quaest. med. leg. Lib. III, Tit. III. Quaest. V, 16, VI, 4].
— Michael Alberti [Systema jurisprudentiae med. I, 199]), welche die An-
wendung ausserordentlicher Mittel bei Simulanten nicht unbedingt perhorrescirten,
finden wir humane Rathschläge, um das ihrer Ansicht nach nothwendige Uebel
einzudämmen; bei Zacchias kann man sogar zwischen den Zeilen lesen, dass er
eher ein Gegner als ein Verfechter dieses inhumanen und unwissenschaftlichen
Verfahrens sei, indem er über die Gepflogenheit eines angesehenen zeitgenössischen
Collegen berichtet, welcher jedem der Simulation einer Geisteskrankheit ver-
dächtigen Menschen zuvörderst eine ansehnliche Tracht Stockprügel appliciren
liess, und zwar seiner Ansicht nach zu dem jedenfalls wohlthätigen Zwecke: „ut,
si vere insaniret , iis verberibus humores ad vapulantes partes diverteret,
sin vero simularet , eorundem verberum virtute vel nolens resipiscertt."
Diese Vertrauensseligkeit gehört freilich einer längst vergangenen Zeit an, aber
es darf nicht verschwiegen werden , dass es noch jetzt hie und da Aerzte giebt,
welche ohne Anwendung ausserordentlicher Mittel der Simulation gegenüber nicht
auskommen zu können glauben, wenngleich sie in der Auswahl derselben vor-
sichtiger und humaner geworden. Wenn wir an dem Grundsatze festhalten, dass
es dem Gerichtsarzte nicht geziemt, seiner streng wissenschaftlichen Aufgabe untreu
zu werden und seine Diagnose mit nicht ärztlichen Mitteln zu erzwingen, so fussen
SIMULATION. 529
wir nicht nur auf dem bereits angeführten Grunde, sondern auch auf der That-
sache, dass dermalen die Notwendigkeit, zu solchen Mitteln zu greifen, gar nicht
oder höchstens nur ausnahmsweise eintritt und wir halten dafür, dass es in diesen
gewiss sehr seltenen Fällen für den Gerichtsarzt anständiger sei, dem Untersuchungs-
richter sein Unvermögen , eine bestimmte Diagnose zu stellen , freimüthig einzu-
gestehen , als bei Entlarvung eines Simulanten Handlangerdienste zu leisten , zu
deren Verrichtung man nicht erst Arzt zu sein braucht. Wir erachten es daher
auch für einen Fortschritt, wenn in den neuesten Werken über gerichtliche Medicin
(wie z. B. in dem gediegenen Buche Hofmann's) der Simulation fast gar nicht
mehr erwähnt, wenigstens derselben kein besonderer Abschnitt mehr gewidmet
wird. Der Arzt hat nach allen Regeln seiner Wissenschaft zu untersuchen,
beobachten und diagnosticiren, unbekümmert, ob er einen wirklich oder nur schein-
bar Kranken vor sich hat, und es genügt hiezu vollkommen, wenn der Untersuchende
jene Eigenschaften besitzt, welche schon Galen für genügend zur Entlarvung von
Simulanten erachtet, indem er sagt: „Medicum, qui in hoc notitiae gener e
praestare contendit, in duobus praesertim ' diligenter versatum esse oportet : in
quadam seil, medica experientia et in communi etiam ratione."
Spricht man von Simulation krankhafter Zustände, so hat man sowohl
jene psychischer als physischer Anomalien im Sinne.
Sonderbarerweise galt den älteren Schriftstellern (wie z. B. Zacchias)
die Simulirung von Geisteskrankheiten nicht nur als häufig vorkommend,
sondern auch als leicht durchführbar. Nach den Erfahrungen der Jetztzeit ist
weder das eine noch das andere richtig. Wenn schon die jetzigen Gerichtsärzte
auf Grund ihrer diesbezüglichen, freilich bescheidenen Erfahrung, immer mehr zur
Einsicht gelangen , dass sie kaum je in der Lage sind , einen der Irrsinn
simulirenden Angeklagten von Angesicht zu Angesicht zu schauen, so fällt die
Angabe eines so erfahrenen Irrenarztes wie Schule um so schwerer in die
Waagschale, wenn er versichert, in einer vieljährigen Praxis in der Musteranstalt
zu Illenau unter Tausenden von Kranken auf keinen einzigen Simulanten gestossen
zu sein. Woher kämen nun die vielen Geisteskrankheit simulirenden Individuen,
von denen in älteren Werken die Rede ist? Unseres Erachtens grösstentheils
daher , dass unsere Vorgänger nur zu oft Verrath witterten und daher mit Vor-
eingenommenheit an's Werk gingen; man braucht nur bei älteren Schriftstellern,
so z. B. bei dem sonst humanen Fidelis, den Abschnitt nachzulesen, welchen er
den Bettlern , deren Simuliren und staatsgefährlichem Treiben überhaupt widmet,
um sich die Ueberzeugung zu verschaffen, dass unsere eben ausgesprochene Ansicht
nicht unberechtigt sei. Wenn es ferner eine nicht zu leugnende Thatsache ist,
dass früher recht häufig Geisteskranke, besonders psychisch degenerirte Individuen,
aus Gründen, in deren Erörterung wir an diesem Orte nicht eingehen können,
für geistesgesund erklärt wurden, so lag auch hierin eine Ursache des angeblich
häufigen Vorkommens der Simulation des Irrsinns. Es ist endlich nicht zu über-
sehen, dass notorische Geisteskranke nicht gar selten einen Hang zum Simuliren
haben; ein Grund mehr, weshalb früher, da dieses Symptom des Irrsinns nicht
als solches erkannt war und mit Simulation überhaupt zusammengeworfen wurde,
von besonderer Häufigkeit der letzteren die Rede sein konnte. — Was nun die
Leichtigkeit, mit welcher Geisteskrankheiten vorgeschützt werden können, anbetrifft,
so stimmen jetzt Irren- und Gerichtsärzte darin überein, dass der Simulant, welcher
sich den Irrsinn als seine Specialität gewählt hat, eine sehr schlimme Wahl
getroffen hat. Sehr treffend und überzeugend weist Krafft - Ebing- auf die
Schwierigkeit der Aufgabe hin, welcher sich der Schauspieler unterzieht, wenn er
auf der Bühne wahrheitsgetreu einen Geisteskranken darstellen soll. Und doch
hat der Schauspieler den grossen Vortheil für sich , dass er eine bereits fertige,
vom Dichter vorgezeichnete Rolle findet und dieselbe durch relativ sehr kurze Zeit,
höchstens 1 — 2 Stunden lang, zu spielen hat. Ganz anders der Simulant ; er muss
seine Rolle selbst schaffen und dieselbe tage-, ja sogar wochen- und monatelang
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 34
530 SIMULATION.
consequent durchführen können. Und wenn es zugestandenermassen eines hervor-
ragenden dichterischen Talentes bedarf, um eine wahre, aus dem Leben
gegriffene Eolle eines Irrsinnigen zu schaffen, und eines nicht minder grossen
darstellenden Talentes , um die Schöpfung des Dichters nicht zu verunstalten, —
wie sollte da im Vorneherein von einem Durchschnittsmenschen erwartet werden
können, dass er im Stande sein werde, die vereinten Leistungen des Dichters und
Darstellers zu überbieten ? Das wird wohl männiglich zugegeben , aber nun
behauptet man wieder, dass besonders verschmitzte Individuen, zumal solche,
welche irgendwie Gelegenheit hatten, Geisteskranke zu beobachten (z. B. Kranken-
wärter) , im Stande seien , den Irrsinn mit Geschick und Erfolg zu simuliren.
Dabei lässt man jedoch ausser Acht , dass es sich hier nicht blos um mehr oder
weniger geschickte Nachahmung einzelner Krankheitssj7mptome , sondern um die
ti*eue und consequente Darstellung einer bestimmten Krankheitsform handelt, wozu
selbst dem geschicktesten Betrüger die Befähigung für die Dauer abgeht. Er
übertreibt gewöhnlich die einzelnen Symptome, wird unconsequent in der Darstellung,
fallt aus seiner Bolle , verräth sich dadurch und wird mit Leichtigkeit entlarvt.
Der Gerichtsarzt, welcher in der Psychiatrie bewandert ist, wird daher jedesmal
mit dem Simulanten leichtes Spiel haben , mag Letzterer was immer für eine Form
des Irrsinns vorschützen wollen; am ehesten verräth sich Derjenige, welcher den
Maniakalischen spielen will, er hat nämlich nicht die nothwendige Ausdauer, weil
ihm das Gefühl der Ermüdung nicht abgeht , wie dem wirklichen Maniacus ; der
Pseudomelancholiker glaubt fälschlich recht unsinnig erscheinen zu sollen ; der den
Blödsinn Simulirende kann nicht lange genug apathisch sein, die psychischen
Degenerationen aber mit ihrem chamäleonartigen Decorationswechsel eignen sich
schon gar nicht für Simulanten. — Bei so bewandten Umständen , da kaum je
ein Gerichtsarzt in die Lage kömmt, seinen Scharfsinn an Geisteskrankheit wirklich
simulirenden Angeklagten zu üben , ist es vollkommen überflüssig , an ausser-
ordentliche Mittel, wie z. B. an die vor einem Decennium von Amerika her
empfohlene Chloroformnarcose zu denken , um Simulanten zu überführen ; gegen
dieses Mittel hätten wir speciell noch einzuwenden, dass es erstens nicht ungefährlich
und zweitens gar nicht beweisend ist, da eine unmittelbar nach dem Erwachen
aus der Narcose etwa gemachte Aeusserung noch keineswegs vertrauenswürdig
sein muss. — Ungleich häufiger als der Simulation begegnen wir der Dissimu-
lation von ps}Tchischen Anomalien, zumal im Civilverfahren, wenn dem Kranken
daran gelegen ist, der Uebergabe an eine Lrenanstalt oder der Verhängung der
Curatel zu entgehen , oder aber aus der Anstalt entlassen und von der Curatel
befreit zu werden. Erfahrungsgemäss gelingt den Kranken die Dissimulation viel
eher als den Gesunden die Simulation ; viele Irre gehen frei herum und gelten in
der Gesellschaft für gesund , während ihre nächste Umgebung längst von ihrer
Krankheit überzeugt ist; andere wissen selbst den Anstaltsarzt zu täuschen, indem
sie Hallucinationen und Wahnideen verheimlichen , um als gesund erklärt und
entlassen zu werden. Aufmerksame und längere Beobachtung führt auch hier
zum Ziele.
Aber auch die Simulation physischer Krankheiten giebt dem
Gerichtsarzte nicht überflüssig viel zu schaffen. Wir haben es auch in dieser
Beziehung in foro viel weniger mit wirklicher Simulation als mit Uebertreibung
thatsächlich bestehender Leiden und Gebrechen, sowie mit nicht begründeter Her-
leitung des Ursprunges derselben von einem erlittenen Trauma zu thun. Es kömmt
vor, dass Linsenstaar, Trommelfellperforation, Schwerhörigkeit, Zahnmangel,
Ankylosen, Hernien, Prolapsus uteri et vaginae, Hydrocelen, Orchitis u. s. w.,
u. s. w. als Folgen der Verletzung angegeben werden, oftmals, um die Straf-
würdigkeit des Beschuldigten zu erhöhen, mitunter aber auch in gutem Glauben ;
so z. B. wird Mancher durch einen in die Gegend des Auges, Ohres oder
des Unterleibes erlittenen Schlag erst auf eine früher bestandene Linsentrübung,
Trommelfellrnptur oder Hernie aufmerksam gemacht und glaubt daher , dieselbe sei
SIMULATION. 531
traumatischen Ursprunges. Wirklicher Simulation begegnet man hie und da bei An-
geklagten, welche durch Vorschützung einer Krankheit, z. B. Epilepsie, »Schwach-
sichtigkeit oder Schwerhörigkeit sich zu exculpiren hoffen, oder das Erscheinen bei
der HauptverhandliiDg verschieben, oder auch bei Verurtheilten, welche den Antritt
der Haft verzögern wollen. In allerjüngster Zeit mögen auch Fälle von Simulation
unter jenen Bürgern vorkommen , welche von einem lästigen Ehrenamte , jenem
eines Geschworenen nämlich , sich befreien wollen , wie dies in grösserem Maass-
stabe schon zur Zeit Kaiser Justinians der Fall gewesen. Immerhin ist die Zahl
der körperliche Krankheiten und Gebrechen Simulirenden eine verschwindend
kleine und noch viel seltener bietet der Nachweis der Simulation in foro besondere
Schwierigkeiten dar.
Unter den physischen Krankheiten, welche relativ am häufigsten simulirt
werden sollen , nehmen die Neurosen, besonders die Hauptrepräsentantin der-
selben, die Epilepsie, den ersten Platz ein. In den Lehrbüchern wird die
Häufigkeit der Simulation dieser Neurose mit Nachdruck hervorgehoben und die
Mittel zur Entlarvung ausführlich aufgezählt. Wir siud in einer vieljährigen
gerichtlichen Praxis keinem einzigen simulirenden Epileptiker begegnet und müssen
uns daher für die Seltenheit dieser Simulation erklären. Es kommt freilich vor,
dass Epileptiker , welche eine Verletzung erlitten , vor Gericht behaupten , dass
ihre Anfälle vom Trauma herrühren oder wenigstens seitdem stärker und häufiger
auftreten, aber es wäre kaum je ein Mensch in der Lage, einen typischen Anfall
in Gegenwart des Arztes vorzuschützen , ohne sich sofort zu verrathen ; anders
verhält sich die Sache, wenn die vermeintlichen Anfälle zur Nachtzeit, überhaupt
in Abwesenheit des Arztes , eintreten sollen ; da dies jedenfalls möglich ist , so
wäre eine längere Beobachtung erforderlich, um sich durch eigene Anschauung
Gewissheit zu verschaffen. Dann ist aber für den erfahrenen Arzt jede ausser-
gewöhnliche Massregel überflüssig und man braucht wahrlich nicht erst dem
Simulanten einen brennenden Zündschwamm in die Nase zu stecken, wie es einmal
thatsächlich vorgekommen ist, um ihn zu entlarven.
Functionsstörungen der höheren Sinnesorgane werden unserer
Erfahrung nach noch am häufigsten thatsächlich simulirt, allein viel seltener von
Seiten der Angeklagten , als vielmehr seitens der Beschädigten , welche wiederum
den wirklich erlittenen Schaden zum Nachtheile des Thäters übertreiben wollen.
Da es viel zu unbequem und schwer fiele, gänzliche Blindheit oder Taubheit
vorzuschützen, so wird zu Schwachsichtigkeit oder Schwerhörigkeit,
oder auch zu einseitiger Blindheit oder Taubheit Zuflucht genommen.
Freilich hat der Simulant, welcher Sehstörungen zu seiner Specialität gewählt hat,
eine schlechte Wahl getroffen. Seitdem durch Erfindung des Augenspiegels die
frühere Definition der Amaurose , als einer Krankheit , in welcher sowohl der
Kranke als der Arzt nichts sehen , hinfällig geworden , kommt Simulation voll-
ständiger, beiderseitiger Amaurose gar nicht vor; dafür werden noch häufig
Amblyopie, einseitige Blindheit, Refractions- und Accommodationsanomalien simulirt,
freilich ohne Erfolg, wenn der Untersuchende Specialist ist. Untersuchung mittelst
des Augenspiegels , prismatischer (v. Geaefe , Alfred Graefe , Welz) und
farbiger Gläser (Kugel), sowie mittelst des amerikanischen Stereoscops (Rabl-
RüCkhard) , Sehproben und concaver , convexer und cylindrischer Brillengläser
u. s. w. geben hinreichende Gewähr, dass der wahre Sachverhalt constatirt wird.
— Weniger exact ist der Nachweis simulirter Gehörstörungen, besonders der
beiderseitigen Schwerhörigkeit, leichter jener der einseitigen Taubheit (Schlagen
der Uhr, Stimmgabel, MüLLER'scher Versuch u. s. w.). Auch hier bedarf es nur
der genauen Untersuchung seitens eines Fachmannes.
Nur ausnahmsweise dürfte es sich ereignen , dass in foro andere Krank-
heiten, wie etwa Lungen- oder Herzleiden, Incontinenz des Urins oder Bewegungs-
störungen simulirt werden ; häufiger kommt Dissimulation mancher Leiden , wie
z. B. des Nachtrippers u. s. w. vor (bei der Nothzucht Angeklagten).
532 SIMULATION. — S1NAPIS.
So schrumpft denn das Gebiet der vorgeschützten Krankheiten für den
Gerichtsarzt immer mehr zusammen und die Simulation verliert für ihn immer
mehr an Bedeutung. Viel mehr als dem gerichtlichen Sachverständigen geben die
Simulanten dem Militärarzte zu schaffen , zumal in jenen Ländern , in welchen
allgemeine Dienstpflicht eingeführt wurde oder in denen der Dienst ein vieljähriger
ist. Wenn selbst die Häufigkeit des Selbstmordes in manchen Ländern mit der
allgemeinen Wehrpflicht in Zusammenhang gebracht wird, was Wunder, wenn
Selbstverstümmelungen oder Simulation bei Stellungspflichtigen etwas nicht ungewöhn-
liches sind. So hat denn der Militärarzt auch mit simulirten Krankheiten zu thun,
welche dem Gerichtsarzte gar nicht vorkommen, wie z. B. Brustschwäche, Unter-
leibsbeschwerden, Schielen, Conjunctivitis, Ohrenfluss, Neuralgien, Hautkrankheiten
u. s. w. In einer Beziehung muss der Gerichtsarzt wiederum dem Militärarzte
die Hand reichen, und zwar auf dem Gebiete der Selbstverstümmelungen.
Dieselben werden von geistesgesunden Individuen nur vorgenommen, um sich vom
Militärdienste zu befreien, allein da sie strafgesetzlich verfolgt werden, so wird
gewöhnlich derjenige, welcher einer Selbstverstümmelung geziehen wird, dem Ge-
richte übergeben, und Sache des Gerichts arztes ist es dann, auf Grund seiner Unter-
suchung zu erklären, ob die Angabe des Untersuchten bezüglich der Provenienz seines
Schadens auf Wahrheit beruhe oder nicht. Verstümmelungen der Finger, besonders
der rechten Hand, Hornhautnarben, Linsenstaare, sind jene Defecte, welche meistens
zur Begutachtung vorliegen und die Beurtheilung kann mitunter sehr schwierig sein.
Literatur: Ausser den speciellen Fachwerken vgl. Derblich, Die simulirten
Krankheiten der "Wehrpflichtigen. Wien und Leipzig, Urban und Schwarzenberg 1880, und
Heller, Simulationen und ihre Behandlung, Fürstenwalde 1882. T di L i
' ö' L. Blumensto k.
Sinapis, Senf. Officinell ist der sogenannte schwarze Senf, Semen
Sinajjis (nigrae) , die Samen von Brassica nigra Koch (Sinapis nigra L.J,
einer einjährigen , im grössten Theile von Europa wild wachsenden , in manchen
Gegenden im Grossen cultivirten Crucifere.
Sie sind eirund oder fast kugelig mit circa 1 Mm. Durchmesser, an der meist
dunkelrothbraunen Oberfläche sehr fein netzig-grubig, mit dünner Samenschale, welche einen
eiweisslosen grünlichgelben gekrümmten Keim umschliesst.
In Wasser schwillt der schwarze Senf etwas auf und wird schlüpferig
(Epithel schleimführend) ; gekaut entwickelt er rasch einen scharfen, brennenden
Geschmack ; mit Wasser zerrieben giebt er eine weisslichgelbe , sauer reagirende
Emulsion unter Entwicklung eines durchdringend scharfen Geruchs in Folge der
hierbei stattfindenden Bildung des ätherischen Senföls.
Dieses ist nämlich in den Senfsamen nicht vorgebildet enthalten (die ganzen Samen
und das trockene Pulver derselben sind geruchlos) , sondern es geht erst aus der Spaltung
der zu den stickstoffhaltigen Glycosiden gehörenden, in den Samen stets an Kalium gebun-
denen Myronsäure (C10 H19 NS2 O10) hervor, welche, wenn die zerriebenen Samen mit "Wasser
versetzt werden, unter dem Einflüsse des neben anderen Protein Stoffen in dem Samen vorhandenen,
als Ferment wirkenden Myrosins in ätherisches Senföl, Traubenzucker und saures Kalium-
sulfat zerfällt. (Myronsaures Kalium (Sinigrin), C10 H18 KNS2 O10 = Senföl, C4 H5 NS, Trauben-
zucker C6 HI2 06 und saures Kaliumsulfat KH S04). — Nach Piesse und Strausell (1880)
beträgt die Menge der Proteinstoffe überhaupt 5"/0, jene des myronsauren Kali 1'7%. Von
sonstigen Bestandtheilen enthält der schwarze Senf an 25% eines milde schmeckenden fetten
Oeles und 19% Schleim (vom Epithel); der "Wassergehalt der Samen übersteigt nicht 7 bis
8% ; der Aschengehalt wird" mit 4 — 5% angegeben.
Das ätherische Senföl, Oleum aethereum Sinapis — durch
Destillation aus den gemahlenen, durch kaltes Pressen vom fetten Oel befreiten,
mit Wasser macerirten Samen erhalten, wobei die durchschnittliche Ausbeute etwa
0-5 °/0 beträgt — ist, wenn vollkommen frisch, farblos, gewöhnlich aber gelblich oder
gelb gefärbt, dünnflüssig, leicht in Alkohol und Aether, schwer in Wasser (in
100 — 150 Th.) löslich; sein specifisches Gewicht schwankt zwischen l'Ol — 1*03.
Es besteht wesentlich aus Schwefelcyanallyl, enthält aber nach "Will wechselnde,
wenn auch nur geringe Mengen von Cyanallyl oder von einer diesem isomeren Verbindung
beigemischt. Schon deshalb kann das gleichfalls im Handel vorkommende künstlich dar-
gestellte Seuföl damit nicht völlig identisch sein.
SINAPIS. 533
Das ätherische Oel ist der Träger der therapeutisch verwertheten Wirkung
des schwarzen Senfs. Dieselbe ist eine örtlich stark reizende, entzündungserregende,
so dass bei Application der gepulverten, mit Wasser angerührten Hamen (als
Senfteig, siehe weiter unten) auf die Haut in wenigen Minuten Gefühl von Prickeln,
welches rasch in starkes bis zur Unerträglichkeit sich steigerndes Brennen über-
geht und lebhafte Röthung an der Applicationsstelle entsteht. Bei längerer Ein-
wirkuug kommt es zur Entwicklung von Bläschen oder Blasen und allenfalls selbst
zur Bildung von meist langsam heilenden Geschwüren.
Hei interner Einführung kleinerer Mengen der gepulverten Samen beob-
achtet man Prickeln und Brennen im Munde und Schlünde und Gefühl von Wärme
im Magen. Massig genossen mit Speisen, befördert der Senf deren Verdauung,
während durch übermässigen Gebrauch desselben es leicht zu Verdauungsstörungen
kommt. Grössere Gaben (5'0 — 10*0) rufen Schmerz in der Magengegend und
Erbrechen hervor und grosse Mengen können zu einer mehr weniger heftigen
Magen-Darmentzündung führen.
Man schreibt dem Senf auch diuretische Wirkung zu, welche aber sicher
nicht nachgewiesen ist.
In gleicher Art, nur selbstverständlich weit intensiver, wirkt das ätherische
Senföl auf die Haut und die Schleimhäute. Beim Riechen erzeugt es ein ausser-
ordentlich schmerzhaftes Stechen und Brennen in der Nase, starkes Thränen, auf
die Zunge in ganz kleiner Menge gebracht, sehr heftiges Brennen.
Zusatz von Senföl liebt die Gerinnbarkeit einer Eiweisslösung beim Kochen auf.
Auch soll es die Milchsäure-, alkoholische und faulige Gährung verzögern.
Bezüglich seiner entfernten Wirkungen liegen namentlich ältere experi-
mentelle Untersuchungen von Mitscherltch (1843), neue von Henze (1878) vor.
Ersterer bezeichnet es als am stärksten giftig wirkend von allen unter-
suchten Oelen. Durch 4-0 wurden Kaninchen in zwei Stunden, durch 15*0 in
15 Minuten getödtet. Als wesentlichste Vergiftungserscheinungen hebt er hervor:
Grosse Frequenz des Herzschlages bei rasch abnehmender Sensibilität, zunehmende
Mattigkeit, Abnahme der Stärke des Herzschlages, erschwerte Athmung, Bauchlage,
wiederholt eintretende Convulsionen , verlangsamte Athmung, immer grössere Un-
empfindlichkeit, Abnahme der Temperatur in den extremen Theilen, Tod. Das Oel
wird resorbirt; im Blute, in der Exspirationsluft und in der Bauchhöhle war es
durch den Geruch sehr deutlich nachweisbar, während der Harn einen etwas
anderen, meerrettigartigen Geruch hatte. Magen- und Darmcanal waren nur schwach
entzündet, die Gefässe aber stark mit Blut gefüllt und das Epithel abgestossen.
Auch R. Henze (Medic. Centralbl. 1873. Schmidt's Jahrb. 1880) hebt die grosse
Giftigkeit des Senföls hervor. Seine Wirkungen stimmen im Wesentlichen mit jenen des
Eosmarinöls, des Thymols und anderer diesen analog zusammengesetzter Oele überein , so
dass nur quantitative Differenzen bestehen. Es bewirkt Reizung und schliesslich Lähmung des
Gefässnervencentrums, starken Temperaturabfall etc.; die Exspirationsluft riecht nach jeder
Art der Beibringung des Oeles nach Knoblauch; Meerrettiggeruch des Harns war nur selten
bemerkbar. In den Leichen der Versuchsthiere fand sich nach Injection des Mittels in den
Magen eine diffuse Röthung des Coecum nebst grossen Blutextravasaten und Hämorrhagie.
Es wird ferner hervorgehoben, dass nach länger fortgesetzter Injection des Senföls in eine
Vene das arterielle Blut eine zuletzt in's bräunliche spielende kirschrothe Earbe annimmt.
Die Muskelirritabilität, die Darmperistaltik und die Urogenitalorgane werden durch das Oel
nicht beeinflusst. Künstlich dargestelltes Senföl wirkt ganz gleich dem aus den Samen
gewonnenen.
Therapeutische Anwendung. Zur therapeutischen Anwendung
kommen die gemahlenen Samen, das Senfmehl, Farina seminum 8inap>is)
welches stets frisch bereitet vorräthig sein soll, und das ätherische Oel.
1. Senfmehl. Intern diätetisch in bekannter Weise als Zuthat zu
Fleischspeisen, ärztlich selten mehr benützt als Diureticum (Serum lactts sinapisatum
50'0 Far. auf 1 Liter Milch) namentlich und in manchen Ländern als Emeticurn
(1 Thee- bis 1 Esslöffel voll mit Wasser) besonders bei narkotischen Vergiftungen.
Extern sehr viel benützt als hautröthendes Mittel (s. Bd. V, pag. 23,
„Epispastica") , besonders in Form des bekannten Senfteigs, Sinapismus
531 SINAPIS. — SINNESTÄUSCHUNGEN.
( 'ataplasma Sinapis), bereitet aus gleichen Theilen Senfmehl und Wasser. Man
nimmt am besten lauwarmes, nicht heisses Wasser, welches letztere, indem es das
Myrosin zur Gerinnung bringt und dadurch unwirksam macht, die Zerlegung des
Sinigrius hindert, ebenso ungünstig wirken Zusätze von Essig, Weingeist u. a.
Auch zu allgemeinen und örtlichen Bädern (Bd. V, pag. 23), zu reizenden
Clysmen (Infus. 10*0 — 15*0 : 100-0 — 150*0), zu Gargarismen (bei Scorbut ; Infus.
5-0 — 10*0 : lOO'O), als Zusatz zu reizenden Umschlägen, trockenen Bädern etc.
Das als Ersatz des Senfteigs im Handel vorkommende Senfpapier, Charta
sinapis ata, besteht aus Fliesspapier, auf dessen einer Seite mittelst eines Klebemittels
entöltes Senfpnlver lixirt ist. Es wird mit Wasser befeuchtet applicirt , ist recht bequem,
verliert aber bei längerem Liegen an "Wirksamkeit.
2. Oleum aethereum &inap>is, ätherisches Senföl. Nur extern —
die empfohlene interne Anwendung (bei chronischem Magencatarrh, bei Hydrops etc.)
scheint sich nicht bewährt zu haben — statt Senfteig als hautröthendes Mittel zu
Einreibungen , besonders bei schmerzhaften AfFectionen verschiedener Art , am
häufigsten in alkoholischer Lösung (1 — 3°/0), seltener mit fettem Oel (Ol. Olivae,
Ol. Amygd.) oder Glycerin (2 — 5%)- Ganz zweckmässiges officinelles Präparat.
S piritus Sinapis , Senfgeist, Senfspiritus, Pharm. Germ, et Austr.,
eine Lösung von 1 Th. Ol. Sinajjis in 50 Th. Spir. Yini conc. Nur extern zu
reizenden Einreibungen.
Der nicht officinelle weisse Senf, Semen Sinapis albae (S. Erucae), die
Samen von Sinapis alba L., einer bei uns sehr häufig vorkommenden Crucifere , wird
diätetisch gleich dem schwarzen Senf benützt, dem gegenüber er sich durch eine etwas mildere
Wirkung auszeichnet. Neben fettem Oel und Myrosin enthält er an Stelle des myronsauren
Kalis das Sinaibin, ein krystallisirbares, nicht in Aether, leicht in Wasser und kochendem
Alkohol lösliches Glycosid, welches eine analoge Zusammensetzung hat wie jenes und durch
Spaltung, neben Zucker, saures schwefelsaures Sinapin und Sinalbinsenföl liefert (Will und
Laubenheimer 18S0). Dieses letztere ist eine nicht flüchtige, ölartige, auf der Haut
blasenziehend wirkende Flüssigkeit, von anfangs süsslichem, dann brennend scharfem Geschmack.
Mit Wasstr vei rieben bleibt der weisse Senf daher geruchlos und giebt bei der Destillation
kein ätherisches Oel, wohl aber schmeckt er brennend scharf, wenn auch etwas weniger als
der schwarze Seuf. Vogl
Sinapiskopie , die der Metalloskopie (s. diesen Artikel) analoge Prüfung
der localen Sensibilitäts Veränderungen durch Senfteige (Adamkiewicz).
Sinapismus, Senfteig, s. o. „Sinapis".
Siliestra (Val). In diesem Thale des Unter-Engadins entspringen die in
letzter Zeit berühmt gewordenen arsenhaltigen Sinestraquellen, schwach alkalische
Kalksäuerlinge. Versendet wird die Konradinsquelle (durch Apotheke Lavatee in
Zürich). Sie enthält in 10000 an festen Salzen (incl. 2 Atom C02) 25,5: Bor-
saures Natron 1,0940, arsensaures Natron 0,0199 , Bromnatrium 0,0361 , Chlor-
natrium 6,0166, schwefelsaures Natron 2,0592, Natronbicarbonat 3,1401, Magnesia-
bicarbonat 3,5381, Kalkbicarbonat 15,0572, Eisenbicarbonat 0,3219 etc. Die
bisher gemachten Erfahrungen über die Heilkräfte dieses merkwürdigen Wassers
sind noch gering. BML
Singnltus, s. „Kespirationskrämpfe", XI, pag. 450.
Sinnestäuschungen (Hallucinationen, Sinnesdelirien, Sinnesvorspiegelungen,
Phantasmen, Trugwahrnehmungen und andere Synonyme) sind in das Bewusstsein
tretende Sinneswahrnehmungen ohne jede oder wenigstens ohne entsprechende
Erregung der betreffenden Sinnesapparate (im weiteren Sinne) mit Projection nach
aussen. Je nachdem eine Erregung des Sinnesnerven gänzlich fehlt , oder eine vorhan-
dene zu einer nicht adäquaten Wahrnehmung Veranlassung wird, unterscheidet man seit
Esquieol die Hailucina tion im engeren Sinne von der Illusion (s. diese).
Der Hallucinirende sieht Personen und Gegenstände leibhaftig und genau vor sich
stehen und sich bewegen, er hört Stimmen und andere Laute, ohne dass irgend welcher
Anlass dazu äusserlich erkennbar ist. Wenn dagegen Jemand aus irgend welchen
elementaren Geräuschen Worte und Unterhaltungen hört, so ist er einer Illusion
SINNESTÄUSCHUNGEN. 535
unterworfen. Es ist aber bereits bei dem Artikel „Illusion" davon die Rede ge-
wesen, dass mit diesem Ausdrucke mehrere verschiedenartige und von den eigent-
lichen Sinnestäuschungen abzutrennende Vorgänge bezeichnet worden sind. An
derselben Stelle ist auch bemerkt worden, dass nach Ausscheidung dieser fälschlich
unter die Sinnestäuschungen rubricirten Illusionen die Hallucinationen bei Gelegen-
heit wirklicher Sinneseindrücke nicht so häufig vorkommen und nicht von solcher
Bedeutung sind, um sie als eine besondere Klasse neben die von äusseren Reizungen
ganz unabhängigen Hallucinationen hinzustellen. Es soll daher zunächst der Ein-
fachheit wegen von jenen Vorgängen ganz abgesehen werden.
Gemäss der oben gegebenen Definition schliessen wir von den Sinnes-
täuschungen auch alle diejenigen Erscheinungen aus, welche auf physiologischen
oder pathologischen Vorgängen in den Sinnesorganen selbst beruhen. Es sind dies
die entoptischen Erscheinungen (Mückensehen, Phosphene u. a.) und die intra-
auriciilären Geräusche, alle Sensationen, Geruchs- und Geschmacksempfindungen,
für welche sich eine Ursache an den peripheren Endorganen nachweisen lässt,
was bei den letzteren Sinnen oft schwer zu beurtheilen ist. In allen solchen Fällen
ist die Endausbreitung des Sinnesnerven , wenn auch durch innere Ursachen , so
doch ebenso wie durch von aussen gekommene Einwirkungen erregt worden; der
Nerv hat die Erregung in normaler Weise weiter geleitet und das percipirende
Organ hat die entsprechende, normale Wahrnehmung dem Bewusstsein zugeführt.
Es kann dabei von einer Sinnestäuschung nicht die Rede sein, wie schon daraus
hervorgeht, dass solche Empfindungen nicht nach aussen verlegt, sondern richtig
an der entsprechenden Stelle localisirt werden. Ebenso und aus demselben Grunde
sind alle diejenigen Wahrnehmungen von den Sinnestäuschungen abzusondern,
welche durch Reize entstehen, die die Nerven in ihrem Verlaufe bis zum und die
Fasern im Gehirn treffen. Der Blitz, welcher bei Durchschneidung des N. oder
Tractus opticus an irgend einer Stelle, der Knall, welcher bei Berührung der Fasern
des N. acusticus ensteht, auch der üble Geruch, welcher durch einen dem Bulb.
und Tract. offact. aufsitzenden Tumor bedingt wird, sie alle sind, wenn auch
abnorm entstandene, doch normal weiter geleitete und zur Wahrnehmung gelan-
gende Nervenreizungen. Was von den noch zu distincten Strängen vereinigten
Nervenfasern gilt, gilt auch von ihrer weiteren Fortsetzung innerhalb des Gehirns,
deren anatomische Kenntniss zum Theil noch sehr mangelhaft ist. Wenn auch im
einzelnen Falle oft die Unterscheidung recht schwer sein kann, so ist doch fest-
zuhalten, dass, so lange es sich um einen an irgend einer Stelle der Nervenleitung
entstandenen, im Uebrigen normal weitergeleiteten und normal zur Wahrnehmung
gelangenden Reiz handelt, von einer Sinnestäuschung nicht gesprochen werden
kann. In allen diesen Fällen sind es auch, so lange nicht noch anderweitige patho-
logische Zustände vorhanden sind, nur ganz elementare Erscheinungen, welche zur
Wahrnehmung gelangen. Es werden nicht Personen oder bestimmte Gegenstände,
sondern Lichterscheinungen oder Schatten gesehen; es werden nur Geräusche,
keine Worte oder Unterhaltungen gehört. Es ist ferner (bei Abwesenheit anderer
pathologischer Zustände) das Bewusstsein im Stande, ein richtiges Urtheil über
die Vorgänge zu gewinnen, ihr blos subjectives Vorhandensein zu controlliren und,
wenn es selbst momentan getäuscht werden sollte, doch bald ihre Entstehung aus
inneren Bedingungen zu erkennen.
Wenn unter Sinnestäuschungen solche Wahrnehmungen verstanden werden
sollen, welche in das Bewusstsein treten, so sind ferner von ihnen abzutrennen
die im Zustande von Bewusstlosigkeit entstandenen. Mit Recht definirt Hagen die
Hallucinationen als das „leibhafte Erscheinen eines subjectiv entstandenen Bildes
(Tones, Wortes u. ä.) neben und gleichzeitig mit wirklichen Sinnes-
empfindungen und in gleich er Geltung mit diesen". Dadurch werden
alle Zustände ekstatischer Art ausgeschlossen, in denen der Kranke der Aussen-
welt entrückt ist. Wenn eine Frau bei Incision eines Panaritium sich plötzlich
auf eine schöne Wiese am Rande eines Baches versetzt sieht und Blumen für ihre
536 SINNESTÄUSCHUNGEN.
Freunde zu pflücken glaubt, so gehört diese Erscheinung nicht in das Gebiet der
Sinnestäuschungen im strengen Sinne des Wortes. Bei der Hallucination treten
neben der wirklichen Welt einzelne Sinnesempfindungen auf, die nicht zu ihr
gehören, während bei der Ekstase das Individuum mit seiner ganzen Vorstellungs-
thätigkeit der wirklichen Welt entrückt ist und von ihr nichts mehr gewahr wird.
Es sind daher auch die bei hypnotisirten Personen theils spontan , theils durch
äussere Einwirkung auftretenden Sinnesempfindungen (hypnotische Hallucinationen
Pohl's) von dem Gebiete der Sinnestäuschungen auszuschliessen. Dass auch in
diesen Fällen die Unterscheidung oft nur schwierig festzuhalten ist, dass vielfache
Uebergänge der verschiedenen Zustände in einander vorkommen können, dürfte
nicht auffällig sein.
Irrthümlicher weise werden bei Geisteskranken nicht selten Hallucinationen
angenommen, ohne dass solche vorhanden sind. Viele Patienten, besonders Para-
lytiker, äussern ihre Vorstellungen von angenehmen oder unangenehmen Ereignissen
so lebendig, als ob sie sie wirklich erlebten. Eine einigermaassen aufmerksame
Beobachtung zeigt aber, dass sie dabei entsprechende sinnliche Empfindungen nicht
haben, dass es sich nur um Einfälle handelt. Wenn ein Paralytiker angiebt, er
habe Besuch von seiner Frau gehabt, oder es kämen viele schöne Mädchen zu
ihm in's Zimmer, so braucht er weder jene, noch diese wirklich gesehen zu haben,
sondern in seiner gehobenen Stimmung erzählt er von diesen (sie motivirenden)
Ereignissen, wie er ein anderesmal seine Besitztümer oder seine Stellung rühmt.
Durch Fragen kann er in solchen Fällen zu allen möglichen Beweisen für die
Wahrheit seiner Angaben inducirt werden, auch dazu, dass er wirklich jene Per-
sonen gesehen. Andere Patienten sprechen von Feuersbrünsten und sonstigen
Unglücksfällen mit solcher Ueberzeugung, als wohnten sie ihnen wirklich bei, aber
auch hier handelt es sich meist nur um Vorstellungen, nicht um wirkliche sinn-
liche Eindrücke.
Die Erscheinungsweise der Sinnestäuschungen kann sehr verschieden-
artig sein. Wir sehen Patienten, welche beständig einen Punkt im leeren Raum
fixiren, und erfahren oft erst nach langer Zeit, dass sie in dieser Richtung ein
Bild, eine bestimmte Person und Aehnliches gesehen haben. Andere sehen zahl-
reiche Gegenstände derselben oder verschiedener Art, greifen nach ihnen, bewegen
sich darnach hin u. dgl. m. Die gesehenen Gegenstände können denselben Platz
im Räume behalten oder sich bewegen. Sie können in Formen und Farben mehr
oder weniger deutlich , ganz plastisch oder flach , frei im Räume oder an eine
Fläche gebunden erscheinen. Bei den Gehörstäuschungen sind es meist bestimmte
Worte, die gehört werden : Ausrufe, Scheit- und Drohworte, zuweilen ganze Unter-
haltungen , an denen sich entweder der Kranke selbst betheiligt , oder denen er
lauscht. Diese „Stimmen" können laut oder leise tönen und bekannten oder
fremden Personen angehören ; sie können als Männer- oder Frauenstimmen erkannt
werden u. dgl. m.
Noch mannigfacher erscheinen die Täuschungen im Gebiete der Gefühls-
(Tast- und Gemeingefühls-) Nerven, doch ist bei ihnen, wie beim Geruch und
Geschmack, die Unterscheidung der Sinnestäuschungen im eigentlichen Sinne von
anderen ähnlichen Erscheinungen gewöhnlich sehr schwer. Auch sind von
praktischer Bedeutung besonders die Hallucinationen des Gesichts und Gehörs,
auf welche daher hauptsächlich hier Rücksicht zu nehmen ist. Als Beispiel einer
Gesichtstäuschung möge aus dem Berichte eines genesenen Kranken das folgende
angeführt werden. „Ich bemerkte eine übergrosse, weisse Figur (wie bei einer
Laterna magica) , die sich allmälig von der Wand abhob , endlich voll wie ein
Marmorgebilde heraustrat, die Züge meiner seligen Mutter annahm und wie winkend
die Hände langsam nach mir zu emporhob." Derselbe Patient, ein Alkoholist,
hörte Bemerkungen auf sich bezüglich , wie : „Das ist der Schweinhund , schämt
sich der Mensch nicht hierherzukommen!" — „Das ist ja ein ganz gemeiner
Schuft, wer sieht es dem Menschen an!" und er führte in derselben Nacht einen
SINNESTÄUSCHUNGEN. 537
ganzen langen Dialog mit einem vermeintlichen Gegner, der in folgender Weise
begann: „Seh., Seh. (Name), wachst Du?" Ja! „Du wirst jetzt augenblicklich
den Saal verlassen!" Warum? Ich kann nicht gehen, ich bin unwohl. „Du
wirst dennoch gehen, hörst Du!" Und so geht das scheinbare Zwiegespräch lange
Zeit fort.
Es würde zu weit führen , Beispiele dieser Art hier weiter auszudehnen
und möge zu dem Zwecke, die Erscheinungsweise der Hallucinationen zu erläutern,
auf die easuistische Literatur, speciell auf zwei vom Verfasser ausführlich ver-
öffentlichte., besonders demonstrative Fälle von Delirium potatorum verwiesen
werden, auf welche noch weiter zurückzukommen sein wird.
Die Stärke und Deutlichkeit der abnorm entstandenen Sinneswahr-
nehmung kann verschiedene Grade erreichen. Die Bilder werden von Einzelnen
als matte, abgeblasste bezeichnet, sind aber bei Anderen von grösster Schärfe
und Helligkeit. Die Stimmen können wie ein leichtes Mittönen der Gedanken,
aber auch wie deutliche, laut gesprochene Worte vernommen werden. Von
Interesse ist dabei, dass viele Genesene angeben, dass mit dem Fortschreiten der
Besserung ihres Zustandes die Sinnestäuschungen an Deutlichkeit und Stärke ab-
genommen haben, sozusagen verblassten (vgl. z. B. Kaxdixsky und den vom
Verfasser veröffentlichten Fall Scheute), während andererseits nicht selten beobachtet
wird, dass sie auch im Beginne pathologischer Zustände einen weniger prägnanten
Charakter haben. Mögen aber auch die Sinnestäuschungen mehr oder weniger
deutlich erscheinen, zu betonen ist, dass sie mit verhältnissmässig seltenen Aus-
nahmen für den Hallucinirenden Bealität besitzen. Sie sind für ihn vorhanden,
wie nur irgendwelche wirklichen Sinneseindrücke und wirken in derselben Weise
überzeugend auf ihn ein. Ja, sie haben nicht selten eine noch stärkere Ueber-
zeugungskraft als die auf regelmässigem Wege zu Stande gekommenen Wahr-
nehmungen. Während bei diesen die einzelnen Sinne sich gegenseitig möglichst
ergänzen, auch das Urtheil controllirend einwirkt, ist dies bei den Sinnestäuschungen
nur ausnahmsweise und unter besonderen Umständen bis zu einem gewissen Grade
der Fall. Der Geisteskranke, welcher eine brennende Kerze in der Thür sieht,
die ihm den Tod bedeutet, geht auf Geheiss an die Thür heran, greift nach dem
vermeintlichen Lichte, und obgleich er nichts davon fassen kann , besteht er fest
darauf, dass er ein Licht wirklich sieht. Der Kranke, welcher sich beschimpfen
hört, wird, mitten auf's freie Feld gestellt, auch wenn auf weite Entfernungen
Niemand zu sehen ist, bei seiner Behauptung bleiben, dass die Stimmen wirklich
vorhanden sind. Er wird in beiden Fällen eher zu allen möglichen und un-
möglichen Erklärungsversuchen greifen, oft zu solchen, die allen physikalischen
Gesetzen und vernünftigen Ueberlegungen widersprechen, als dass er zugeben
würde, dass die Bedingungen der von ihm wahrgenommenen Erscheinungen in
ihm selbst zu suchen sind. Es ist deshalb auch zwecklos, mit dem Kranken
über seine Hallucinationen zu diskutiren. Im besten Falle gelingt es, für kurze
Zeit die Aufmerksamkeit abzulenken und dadurch vorübergehend die Sinnes-
täuschungen zurücktreten zu lassen , dem Kranken aber die Ueberzeugung von
ihrer Realität zu nehmen, ist unmöglich. Er antwortet dem Arzte : Wenn ich
annehmen sollte , dass das , was ich sehe und höre, nicht wirklich vorhanden ist,
so müsste ich zweifeln, dass ich Sie wirklich sehe oder höre. Diese eminente,
überzeugende Kraft der Sinnestäuschungen ist es auch , welche den Kranken so
oft zu sinnlosen und gefährlichen Handlungen veranlasst und ihnen dadurch auch
eine besondere Wichtigkeit für die Beurtheilung des Zustandes hinsichtlich der
damit verbundenen Gefahren verleiht.
Der Inhalt der Sinnestäuschungen ist im Allgemeinen bedingt durch
die herrschenden Vorstellungen, durch Affeete und Stimmungen. Dafür spricht
schon die eben erwähnte schnelle und überzeugte Annahme der Erscheinungen,
welche sich am Besten durch eine genaue Uebereinstimmung mit dem sonstigen
Vorstellun°rsinhalte erklärt. Wenn auch hierbei Ausnahmen wohl vorkommen, so
538 SINNESTÄUSCHUNGEN.
kann man doch im Grossen und Ganzen die Hallucinationen mit Lelut als nach
Aussen projicirte Gedanken bezeichnen. Zwar widerspricht diesem Satze Kaxdinsky,
indem er anführt, dass seine (selbsterlebten) Hallucinationen keinen Zusammenhang
mit den Erinnerungen hatten. Die Erinnerungen (Gedanken oder Vorstellungen?)
gingen unabhängig ihren eigenen Gang, unterbrochen von Hallucinationen, die in
keiner Beziehung zu ihnen standen, und niemals gingen sie in letztere über.
Kaxdinsky übersieht hierbei , dass ein grosser Theil der Gedankenverbindungen
(namentlich im kranken Zustande) unbewusst vor sich geht, und dass deshalb oft
eine Vorstellung scheinbar unvermittelt auftaucht. Da der Gang seiner Gedanken
unterbrochen wurde durch die Hallucinationen , nicht neben ihnen weiter ging,
so lässt sich die thatsächliche Beobachtung auch so erklären, dass der Gang der
(bewussten) Gedanken durch unbewusst (auftauchende, aber) nach aussen projicirte
Vorstellungen unterbrochen wurde. Andererseits sind die Fälle nicht selten , in
denen sich der Zusammenhang der Hallucinationen mit den Vorstellungen direct
nachweisen lässt. So kommt es häufig vor, dass Kranke beim Lesen versichern,
dass sie alle Worte laut vorlesen hören , während andere behaupten , dass ihre
Gedanken von anderen Personen ausgesprochen werden. Maudsley berichtet von
einem Herrn, der Gehörstäuschungen unterworfen war und später in der Besserung
angab , dass er , so oft er es versucht habe , im Stande gewesen sei , die Worte,
die scheinbar von einer anderen Person an ihn gerichtet wurden, im Voraus
zu errathen. Jolly berichtet von einem Kranken, der bisher nicht hallucinirt
hatte, dass er während der Galvanisation des (erkrankten) Ohres die Empfindung
hatte, „als ob seine Gedanken laut würden". In dem vom Verfasser mitgetheilten
Falle des Seh. machten sich, als in Folge der eintretenden Besserung eine ruhigere
und weichere Stimmung eintrat, neben den vorher allein gehörten Vorwürfen und
Scheltworten auch tröstende und entschuldigende Stimmen bemerklich. In einem
anderen vom Verfasser mitgetheilten Falle (des Candidaten 0. Kr.) konnte der Kranke
durch innerliches Becitiren von Gedichten entsprechende Scenen sich vor Augen
führen. Auch Lazarus sah nach einer Leichenvision alle Personen , die er sich
zur Controlle der Erscheinung vorstellte, als Leichen. Diese und ähnliche Fälle
lassen die innige Verbindung des Inhaltes der Sinnestäuschungen mit dem Vor-
stellungsinhalte und den Stimmungen deutlich erkennen und lassen das analoge
Verhalten auch in anderen Fällen annehmen , wo diese Verknüpfung nicht so
deutlich hervortritt. Andererseits scheint in nicht gerade seltenen Fällen der
Inhalt der Hallucinationen auch durch die Natur der veranlassenden Krankheit
beeinflusst zu werden, theils indirect durch Einwirkung auf die Vorstellungs-
thätigkeit und Stimmung, theils auch direct. In letzterer Beziehung sei nur des
Alkoholismus gedacht mit den bekannten Erscheinungen zahlreicher Thiere in
acuter, mit den fast ebenso constanten Gehörstäuschungen in der chronischen
Form. Auch andere Intoxicationszustände zeigen, wie bekannt, nicht selten fast
charakteristisch zu nennende Sinnestäuschungen (Belladonna, Chinin, Haschisch u. A.).
Dagegen scheint in anderen Fällen, z. B. in solchen, bei denen periphere Beize
Veranlassung zu Hallucinationen geben, die Einwirkung eine mehr indirecte zu sein.
Hierher dürften die obseönen Worte und vermeintlichen geschlechtlichen Angriffe
gehören, über welche sich geisteskranke Frauen mit sexualen Leiden beklagen u. a. m.
Von grossem Interesse, wenn auch nicht gerade sehr häufig, sind die-
jenigen Fälle, bei denen eine Modification in der Erscheinungsweise
der Sinnestäuschungen, wie sie vorher im Allgemeinen dargestellt wurde, unter
gewissen Umständen beobachtet wird. Es gehört dazu, dass in einzelnen (seltenen)
Fällen die Gesichtstäuschungen beim Schliessen der Augen, die Gehörstäuschungen
bei Verstopfung der Ohren, wenn auch nur vorübergehend, verschwinden können.
In anderen Fällen wurden Gesichtshallucinationen bei nicht paralleler Einstellung
der Sehaxen doppelt gesehen. In einzelnen Fällen lässt sich constatiren, dass die
Gesichtstäuschungen beim Näherkommen zu wachsen scheinen (Einfluss der Accom-
modation), oder dass die in der Ferne gesehenen Figuren klein, die in der Nähe
SINNESTÄUSCHUNGEN. 539
gesehenen gross sind (vgl. z. B. den vom Verfasser veröffentlichten Fall des Can-
didaten 0. Kr.). Dass auch die Farbe der hallucinirten Gesichtserscheinung von
äusseren Umständen abhängig sein kann, lehrt der schon berührte Fall von
Lazarus, der einen Bekannten als Leiche sah, und der wohl mit Recht die
Leichenfarbe auf die im Allgemeinen grüngelbe Farbe seines Sehfeldes bezog,
welche entstanden war, nachdem er lange und angestrengt bei rothbraunvioletter
Beleuchtung des Himmels nach einem entfernten Gegenstand ausgeschaut hatte.
Hierher gehört auch der interessante Fall von Pick, dessen Patient Hallucinationen
eines Auges hatte, welche entsprechend einem Defecte des Gesichtsfeldes dieses
Auges nur die obere Hälfte der gesehenen Objecte zeigten. Ueberhaupt sind die
Fälle einseitiger Gesichts- und Gehörstäuschungen nicht selten, und schon Michea
stellte eine ganze Anzahl von solchen (Hallucinations dedoublees) zusammen
und zeigte, dass bei ihnen auch Anomalien der betreffenden Sinnesorgane auf der-
selben Seite vorhanden waren. In einem Falle verschwanden nach Beseitigung
einer Otitis media auch die Gehörstäuschungen derselben Seite. Auch Koeppe
konnte in vier Fällen einen Zusammenhang von Gehörstäuschungen mit Ohren-
leiden nachweisen und erzielte Heilung der ersteren durch Behandlung der er-
krankten Ohren. Zander hatte unter hundert Geisteskranken acht farbenblinde
Patienten, welche sämmtlich auch Gesichtstäuschungen unterworfen waren. — An
diese Fälle nun, welche eine Einwirkung peripherer Vorgänge in den Sinnes-
organen auf die Entstehung und Erscheinungsweise der Sinnestäuschungen un-
zweifelhaft erkennen lassen, schliessen sich auch die Fälle an, bei denen ein Reiz
der Sinnesapparate vorhanden ist , aber nicht zu einer entsprechenden Wahr-
nehmung, sondern zu einer anderweitigen Wahrnehmung (einer Hallucination) Ver-
anlassung giebt. Wie schon oben und in dem Artikel „Illusionen" bemerkt ist,
sind diese Vorkommnisse nicht so häufig wie gewöhnlich angenommen wird, wenn
man streng daran festhält, dass es sich um eine wirklich sinnlich veränderte
Wahrnehmung dem Reize gegenüber handeln muss, dass alle jene Fälle aus-
geschlossen sind, bei denen es sich nur um eine Ergänzung undeutlicher und
unsicherer oder um eine Deutung normal wahrgenommener Objecte handelt. Eine
strenge Kritik in dieser Richtung ist, wenn auch oft sehr schwierig, doch durch-
aus nothwendig. Eine solche wirklich sinnliche Umsetzung, nicht Umdeutung des
äusseren Objectes machte sich in dem vom Verfasser beschriebenen Falle des Seh.
erkennbar. Der Patient, im Tepidarium eines Römischen Bades befindlich, lauschte auf
das Gesprudel der Wasser tropfen, welche in Schalen herabfielen und ein melodische3
Geräusch hervorbrachten , unterstützt durch den den Schall begünstigenden Bau
des Gemachs. Unter dem Einflüsse dieser bestimmten wirklichen Gehörsempfindung
begann der Kranke, der bisher psychisch zwar schon sehr erregt war, aber noch
keine Sinnestäuschungen gehabt hatte, zu halluciniren. Er erzählt : „Ich sass so
kurze Zeit, der Bademeister war hinausgegangen, als ich plötzlich leise, schnell
sprechende Mädchenstimmen vernahm, die aus dem anstossenden Sudatorium her-
zukommen schienen, und sich über den dasitzenden Schwitzenden lustig machten
u. s. w." Als auf seine Beschwerde die eine der Röhren geschlossen wurde, hörte
das Geplätscher auf „und mit ihm auch das Gerede. Er öffnete sie wieder: von
neuem Geplätscher, von neuem Gerede". Hier zeigt sich wie durch ein Experiment,
dass die Entstehung der Sinnestäuschungen, so vorbereitet sie offenbar durch den
Krankheitszustand schon war, doch noch einer wirklichen Sinneserregung als ver-
anlassendes Moment bedurfte. Weiterhin bei stärkerer Entwicklung des krankhaften
Zustandes bedurfte es eines solchen Anlasses nicht mehr zur Erzeugung der zahl-
reichen, den Kranken vollständig in Anspruch nehmenden Gehörshallucinationen.
In diesem Falle ist eine wirklich sinnliche Umänderung des Sinnenreizes vor-
handen ; eine ganz andere Perception als die dem Reize adäquate findet statt.
Der Wahrnehmungsantheil des Eindrucks tritt gegen den eingebildeten völlig
zurück, der Sinnesreiz ruft übermässige Einbildungseffecte hervor und durch diese
wird die Wahrnehmung nach Inhalt und Form mannigfach verändert, wie dies
540 SINNESTÄUSCHUNGEN.
Wündt (nach Emminghaus) von seinen „phantastischen Illusionen" beansprucht.
Ebenso verhält es sich, wenn ein Irrer aus dem Gesang der Vögel die Worte :
„Du bist trunken!" aus dem Läuten der Glocken Schimpfworte hört. Es würde
aber kaum in dieselbe Kategorie gehören, wenn der Kranke Seh. in Folge des
metallischen Geräusches der fallenden Wassertropfen etwa annehmen würde, es
würde nebenan schon das Geld aufgezählt, mit dem seine Verfolger bezahlt werden
sollten oder ähnliches. Eine derartige Deutung könnte er in krankhafter (illuso-
rischer) Auffassung dem ganz normal pereipirten Sinneseindruck geben. So ist es
auch nicht zu den Sinnestäuschungen zu rechnen, wenn ein Irrer in der Unter-
haltung die Worte des Arztes als eine Beschimpfung auffasst u. a. m.
Unter strenger Handhabung eines derartigen kritischen Massstabes sind
nun, wie bemerkt, die Fälle nicht gerade häufig, in denen sich die Entstehung
von Sinnestäuschungen unter dem Einflüsse wirklicher Sinnenreize nachweisen
Hesse. Indessen sind diese Reize nicht immer durch äussere Objecte bedingt. Sie
können aucli durch physiologische und pathologische Vorgänge in den Sinnes-
organen selbst oder in ihren Nerven bedingt sein. Die entoptischen Erscheinungen
und intraauriculären Geräusche, die durch pathologische Processe in den Nerven
entstehenden elementaren und unbestimmten Sinnesempfindungen (Funken, Flammen,
Lichter, Töne und Geräusche etc.) sind gerade ihrer vagen Beschaffenheit wegen recht
geeignet in andere sinnliche Wahrnehmungen umgesetzt zu werden. Noch mehr
ist dies bei den an sich wenig präcisen Empfindungen im Gebiete der Gefühls-,
Geruchs- und Geschmacksnerven der Fall, so dass hier einerseits eine reiche
Quelle von Sinnestäuschungen vorliegt, andererseits die Unterscheidung meist sehr
schwierig wird, ob es sich im einzelnen Falle wirklich um eine solche, oder um
die krankhafte Deutung eines normal appereipirten Nervenreizes handelt. In ein-
zelnen Fällen lässt sich der Uebergang wohl erkennen ; so in dem von v. Graefe
beobachteten Falle von Atrophie beider Augen, in denen der Kranke längere Zeit
nur Farben und Lichterscheinungen, später aber Bilder, Köpfe von Pferden und
Eseln, auch Menschen und bekannte Personen erblickte, und in dem die Durch-
schneidung der Sehnerven von gutem Erfolge war. Schwieriger gestaltet sich die
Beurtheilung , wenn z. B. bei sklerotischer Schrumpfung der Riechkolben
Geruchstäuschungen beobachtet wurden (Meschede) ; es wird , wenn der
Patient z. B. von Leichengeruch oder dgl. spricht, häufig zweifelhaft bleiben,
ob er der durch den Reiz bedingten Geruchsempfindung nur eine bestimmte
Deutung giebt, oder ob er sie wirklich in der speciellen Weise des Leichen-
geruchs wahrnimmt.
Was das Vorkommen der Sinnestäuschungen anbelangt, so wird von
allen Autoren angegeben , dass sie ungemein häufig sich finden. Selbst wenn
man, was im Allgemeinen nicht geschehen ist, Alles das ausschliesst , was nach
den obigen Erörterungen nicht dazu gehört, und wenn man dabei mit strenger
Kritik zu Werke geht, sind sie noch immer als oft vorkommende Erscheinungen
zu bezeichnen. Die angegebenen Zahlen Verhältnisse (Esquirol bei 80°/0, Falret
bei Vsj Michea 108 unter 206, Marce 102 bis 105 unter 208, Luvs 128 unter
402 u. A.) haben wenig Interesse , da sie sich nur auf Geisteskranke in Irren-
anstalten beziehen, und kaum auf sorgfältigen Erhebungen nach jener Richtung hm
beruhen dürften.
Zwischen den Täuschungen der einzelnen Sinne ist ein Unterschied in der
Häufigkeit wohl vorhanden. Im Allgemeinen überwiegen bei den Geisteskranken
im engeren Sinne die Gehörshallucinationen , während in anderen (acuten und
toxischen), mehr den Delirien sich nähernden Zuständen die Gesichtstäuschungen
häufiger zu sein scheinen. Offenbar hängt die erstere Erscheinung damit zusammen,
dass das Gehör das Vorstellungsleben stärker beeinflusst, und dass das Denken
durch Wortbilder mehr unterstützt wird, als durch Gesichtsbilder. In dieser
Beziehung ist es nicht ohne Interesse , dass ein vom Verfasser beobachteter Taub-
stummer , der an langjähriger Geistesstörung leidend , stark hallucinirt , dabei
SINNESTÄUSCHUNGEN, 541
in den leeren Raum hinein scharf fixirt, und in seiner Fingersprache sich offenbar
mit vermeintlichen anderen Personen unterhält. Nächst den beiden höheren Sinnen,
wenn nicht noch über ihnen stehend, dürfte hinsichtlich der Häufigkeit von
Hallucinationen das Gefühl in Betracht kommen ; doch ist bei diesem die Be-
urtheilung, ob nicht ein wirklich vorhandener Eeiz zum Bewusstsein kommt,
und ob nicht eventuell ein solcher nur falsch gedeutet wird, meist sehr schwer,
und lassen sich deshalb bestimmte Angaben über die Häufigkeit der Sinnes-
täuschungen im Gebiete der Sensibilität nicht machen. Ebenso verhält es sich
mit Geruch und Geschmack, bei denen sicher constatirte, echte Hallucinationen
nicht allzu häufig sind.
Die Zustände, bei denen Sinnestäuschungen zur Beobachtung kommen
können, sind sehr verschiedenartige. Unter den Geistesstörungen im engeren Sinne
sind es zunächst die einfachen, uncomplicirten , mehr functionellen , welche in
Betracht kommen. Unter den sogenannten primären Formen wird reine Manie
nur selten von wirklichen Hallucinationen begleitet; häufiger sind sie schon bei
der Melancholie, wenn dieselbe die leichteren Grade melancholischer Verstimmung
überschreitet. Es ist von Hagen zuerst und mit Recht hervorgehoben worden,
dass bei der sogenannten circulären Geistesstörung (Folie a double forme) Hallu-
cinationen fehlen. Auch einem anderen, von demselben Autor ausgesprochenen
Satze kann man im Allgemeinen (nicht ausnahmslos) zustimmen, dass nämlich eine
Melancholie, die mit Sinnestäuschungen verbunden ist, nicht in eine reine acute
Manie übergeht , sondern entweder in Genesung endet , oder chronisch wird.
Häufiger sind die Hallucinationen bei den chronischen Geistesstörungen, bei der
Verrücktheit. Die primäre Verrücktheit entwickelt sich zu einem grossen Theile
mit und unter dem Einflüsse von Sinnestäuschungen. Eine gewisse Kategorie
von Geistesstörungen besteht im Wesentlichen in dem Auftreten von Gehörs-
täuschungen, die oft ohne jeden Affect den Kranken vollständig in Anspruch
nehmen, ihn dazu bewegen, sich von seiner Umgebung zurückzuziehen, und die
durch diese selbstgewählte Isolirung ihn schnell der Verblödung entgegenführen.
Diese „hallucinatorische" Verrücktheit fasst J. LüYS offenbar bei seinen Be-
merkungen über Hallucinationen besonders in's Auge. Aber auch in anderen
chronischen Geisteskrankheiten sind Sinnestäuschungen nicht selten zu beobachten,
so beim chronischen Alkoholismus, im hypochondrischen und hysterischen Irr-
sinn u. a. Dagegen gehören sie nicht zum Bilde der geistigen Schwäche (Idiotie,
Imbecillität), so lange diese nicht mit anderen Zuständen sich complicirt. In wie
weit die paralytische Geistesstörung mit Sinnestäuschungen verbunden ist, ist in
letzter Zeit mehrfach discutirt worden. Geht man bei dieser Frage mit strenger
Kritik zu Werke, scheidet man namentlich alle jene Aeusserungen der Paralytiker
aus, bei denen es sich nur um momentane Einfälle, nicht um wirkliche Sinnes-
wahrnehmungen handelt, so muss man entschieden die Meinung festhalten, dass
in der paralytischen Geistesstörung Hallucinationen nur selten vorkommen. Doch
giebt es andererseits einzelne Fälle, in denen sie in frühen Stadien, ehe die
geistige Schwäche stärker hervortritt, sehr deutlich beobachtet werden, ja selbst so
dominirend auftreten können, dass die Diagnose der Paralyse auf Schwierigkeiten
stösst, und eine hallucinatorische Verrücktheit vorgetäuscht werden kann. Ausser-
dem leiden Paralytiker, welche entweder vor ihrer Erkrankung, oder in bekannter
Weise im Anfangsstadium derselben in alkoholischen Getränken excedirt haben,
häufiger (besonders in Erregungszuständen) an Hallucinationen. Häufiger als bei
der Paralyse werden solche bei senilen Geistesstörungen, und auch bei den die
organischen Hirnkrankheiten begleitenden Zuständen geistiger Schwäche gefunden,
in den letzteren oft in eigenthümlicher, an den Alkoholismus erinnernder Form.
Im Allgemeinen aber lässt sich wohl sagen, dass wirkliche Sinnestäuschungen viel
häufiger sind in den Geistesstörungen , welche als die nicht organisch bedingten,
functionellen bezeichnet werden, als in den auf nachweisbaren anatomischen Ver-
änderungen des Gehirns beruhenden.
542 SINNESTÄUSCHUNGEN.
Von anderweitigen krankhaften Zuständen des Gehirns sind besonders
diejenigen von Sinnestäuschungen begleitet, welche auf Erschöpfung und mangel-
hafter, oder veränderter Ernährung beruhen. Die nach schweren acuten Krank-
heiten (Typhus z. B.) sieh einstellenden, mehr oder weniger lange anhaltenden
Zustände von Verwirrtheit, ebenso die bei chronischen Krankheiten allmälig ein-
tretenden, zeichnen sich in dieser Beziehung besonders aus. Dasselbe gilt von
den Delirien des Fiebers. Congestive Zustände, wie sie besonders in Folge von
unterdrückten normalen oder pathologischen Ausscheidungen (Menses , Hämor-
rhoiden) sich einstellen, sind häufig von Halluzinationen begleitet. Auch alle
anderen Anomalien in der Ernährung des Gehirns, so jede stärkere Anämie,
können zu Sinnestäuschungen Anlass geben. Besonders sind in dieser Richtung
verschiedene Giftstoffe anzuführen, wie Opium, Belladonna, Haschisch, Chinin,
besonders aber der Alkohol u. A., deren Einführung in acuter wie chronischer
Form Sinnestäuschungen entstehen lassen kann, oft, wie schon angegeben, in ganz
spezifischer Art. In manchen Fällen haben die so erzeugten Hallucinationen das Eigen-
tümliche, dass sie bis zu einem gewissen Grade als solche erkannt werden können,
dass ihnen das erkrankte Individuum gewissermassen beobachtend gegenübersteht
und späterhin objeetiv darüber berichten kann (so in dem von Freusberg
berichteten Falle von Hanfrausch u. a.). Zu den Hallucinationen, welche einer
mangelhaften Ernährung des Gehirns ihre Entstehung verdanken, gehören auch
diejenigen, welche in Folge von Erschöpfung und Inanition nach grossen
Anstrengungen und Entbehrungen (bei Schiffbrüchigen, Wüstenwanderern u. ä.)
beobachtet worden sind.
In dieselbe Kategorie zu rechnen dürften auch die Sinnestäuschungen
sein , welche in dem dem Einschlafen vorausgehenden Zustande , also gewisser-
massen physiologisch, nicht gerade selten sind, und die fast jeder auf die inneren
Vorgänge aufmerksame Mensch an sich selbst mehr oder weniger häufig zu beob-
achten Gelegenheit hat. Bald sind es Gestalten, die man vor oder nach dem
Schlüsse der Augen sieht, bald hört man Namen oder dergleichen rufen, zeitweilig
erscheinen Gegenstände , mit denen man sich den Tag über anhaltend und
angestrengt zu beschäftigen genöthigt war , vor Augen (Henle's Sinnengedächt-
niss). In diesen Fällen verschwindet die Hallucination nicht nur , sondern sie
wird auch gewöhnlich richtig als Täuschung erkannt , so bald man , oft gerade
unter ihrer Einwirkung, wieder vorübergehend wacher wird. (Für diese im inter-
mediären Zustande zwischen Wachen und Schlafen eintretenden Sinnestäuschungen
ist fälschlicherweise von Kandinsky der auf die Erscheinungen des Hypnotismus
bezügliche Ausdruck: „Hypnotische Hallucinationen" angewandt worden.) Endlich
giebt es Personen, welche im Stande sind, willkürlich bis zu einem gewissen Grade
Hallucinationen zu erzeugen, indem sie durch sehr lebhaftes, intensives und lange
anhaltendes Vorstellen von Gegenständen sich dieselben plastisch sichtbar machen
können. In mehr oder weniger hohem Grade ist diese Gabe wohl allen Künstlern
eigen, findet sich aber auch sonst nicht gerade selten bei leicht erregbaren
Naturen. Auch hier kann man wohl von einer gewissermassen localisirten , par-
tiellen Erschöpfung durch die angestrengte Vorstellungsthätigkeit als Veranlassung
der Sinnestäuschung sprechen. — Im Allgemeinen ist noch anzuführen, dass
Kinder sehr leicht und bei oft recht geringen Anlässen halluciniren.
Man hat vielfach davon gesprochen, dass auch geistesgesunde Personen
halluciniren können. Wenn man von den eben erwähnten Zuständen absieht, die ja
immerhin als physiologische betrachtet werden müssen, die aber nicht die volle
psychische Leistungsfähigkeit repräsentiren , so dürfte dieFrage sich wesentlich,
daraufhin zuspitzen, was man als Geistesstörung ansieht. Wenn man darunter nur
solche Zustände versteht, welche gewisse curative und sociale Folgen (Anstalts-
behandlung , Vormundschaft etc.) haben müssen , so kann man sicher nicht alle
Personen, welche halluciniren, als geistesgestört bezeichnen. Wenn man aber
von einem anderen Standpunkte ausgeht, so wird man die Hallucination an sich
SINNESTÄUSCHUNGEN. 543
immer als eiiie pathologische psychische Erscheinung bezeichnen müssen. Die
Discussion dieser Frage ist dann im Ganzen von wenig Interesse ; sie hat ein
solches nur dadurch erlangt, dass man gestützt auf das vermeintliche Vorkommen
von Sinnestäuschungen auch bei geistesgesunden Personen die Bedeutung derselben
für die Beurtheilung zweifelhafter Geisteszustände herabsetzen wollte. Mit Rück-
sicht hierauf ist zu bemerken, dass das ganze Material, welches zu der Annahme
geführt hat , dass auch geistesgesunde Personen halluciniren können (immer
abgesehen von den schon erwähnten Zuständen) , ein sehr zweifelhaftes ist. Alle
Autoren fuhren immer wieder dieselben Fälle an, die meist mehr oder weniger
historisch bekannte Persönlichkeiten betreffen. Alle diese Fälle sind nur anekdoten-
artig erzählt, ohne jede Prüfung zunächst des thatsächlichen Hintergrundes, dann
des Zustandes der betreffenden Personen überhaupt oder wenigstens zur Zeit der
berichteten Sinnestäuschung. Von einzelnen werden gleichzeitig andere, oft sehr
bedeutende (körperliche und geistige) Krankheitserscheinungen berichtet, aber
nicht berücksichtigt ; bei anderen handelt es sich gar nicht um wirkliche Sinnes-
täuschungen, sondern nur um die den meisten Menschen geläufigen Ergänzungen
unbestimmer Sinneseindrücke. So wird vielleicht ein oder der andere Fall faber
sicher nur wenige) übrig bleiben, in dem gelegentlich einmal unter dem Einflüsse
unbekannt gebliebener Verhältnisse eine Sinnestäuschung auftauchte , aber auch
bald als solche erkannt wurde. Auf die einzelnen darauf bezüglichen Erzählungen
näher einzugehen, dürfte hier nicht am Orte sein.
Der Einflu s s , welchen die Hallucinationen auf die geistige Thätig-
keit der an ihnen leidenden Personen ausüben, ist in den meisten Fällen ein
sehr bedeutender. Zwar kommt hierbei das eigentliche Grundleiden sehr in Betracht,
und es ist schon bemerkt worden , dass in gewissen Fällen das "Trtheil über den
Sinnestäuschungen stehen und entweder sofort oder bald eine Correctur ausüben
kann. Doch sind diese Fälle verhältnissmässig selten und fast nur bei den physio-
logischen Erschöpfungszuständen zu beobachten. Bei anderen (pathologischen) Zu-
ständen, und dies gilt besonders von den Intoxicationen und ähnlichen Zuständen
von mehr delirirendem Charakter, wechseln die Hallucinationen sehr schnell, gewinnen
im Vorstellungsleben keinen festen Boden und sind nach Beendigung der Krank-
heit entweder aus dem Gedächtniss geschwunden oder bleiben , als Täuschungen
richtig erkannt , ohne Einfluss auf den Gedankeninhalt. Doch kommt es hierbei
wohl vor, dass eine oder die andere Sinnestäuschung isolirt sich längere Zeit als
wirkliche Erfahrung behauptet und zu Wahnvorstellungen Veranlassung geben
kann. Wie schon bemerkt, ist es in solchen Zuständen nicht gerade selten, dass
der Kranke während der Hallucinationen sich ihnen gegenüber wie ein mehr oder
weniger unbetheiligter Beobachter verhält , dass er die Erscheinungen , immerhin
im Glauben an ihre Realität, als ein für ihn irgendwie veranstaltetes Schauspiel
betrachtet. Doch gilt dies meist nur von Gesichtstäuschungen, während Gehörs-
täuschungen im Allgemeinen weit stärker erregend auf das Gemüth einwirken. — Bei
den Geisteskranken im engeren Sinne ist der Einfluss der Sinnestäuschungen ein sehr
bedeutender. Zwar kommt es bei leichteren Graden ps}7chischer Störung und im
Beginne derselben wohl vor, dass der Kranke nicht vollständig von der realen
Existenz seiner Täuschungen überzeugt ist. Er äussert: es ist mir so, es kommt
mir so vor, als ob ich das höre; er bezeichnet die Worte als „innerlich
gesprochene" , als „geistige Sprache" u. dgl. („Psychische Hallucinationen"
Baillarger's). Aber sehr bald und in den meisten Fällen von vornherein stehen
die Sinnestäuschungen dem Geisteskranken als ganz reale, den normal zu Stande
gekommenen vollkommen ebenbürtige, oder sie an Einfluss noch übertreffende
Wahrnehmungen gegenüber. Sie verfälschen ihm die Aussenwelt und seine Bezie-
hungen zu ihr von vornherein und in immer mehr zunehmendem Maasse. Jede Hallu-
cination, an sich schon durch das mangelnde Urtheil über ihre Entstehung eine
Wahnvorstellung erzeugend, giebt zu neuen Wahnvorstellungen Veranlassung.
Der Kranke erklärt die gehörten Worte durch Feindseligkeit Anderer, die gesehenen
5J4 SINNESTÄUSCHUNGEN.
Figuren als Eingebungen und göttliche Wunder, die Gefühls-, Geschmacks- und
Geruchstäuschungen durch fremde Einwirkungen der verschiedensten Art, durch
Medicamente und schädliche Stoffe, durch Elektricität u. s. w. So wird die Bildung
von Wahnideen und Wahnsystemen durch die unmittelbare Einwirkung der Hallu-
cinationen besonders gefördert. Sie bringen nicht minder lebhafte Gemüthsbewe-
gungen hervor, erwecken Angst, Zorn und andere Affecte. Dass und wie sie in
einzelnen Fällen die schnelle Verblödung des Kranken herbeifilhren , ist bereits
erwähnt worden. Sehr häufig sind mehr oder weniger gefährliche Handlungen
(Mord und Selbstmord) aus dem Einflüsse von Sinnestäuschungen zu erklären, entweder
unmittelbar, indem sich der Kranke direct zu der Handlung auffordern hört, oder
mittelbar, weil er an seinen vermeintlichen Feinden sich rächen, der Quälerei ein
Ende machen will u. ä. Nach alledem ist es kaum nöthig, auf die grosse sociale
Bedeutung der Hallucinationen aufmerksam zu machen. Ein hallucinirender Kranker
ist immer eine Gefahr für seine Umgebung, und wenn ein Geisteskranker dieser
Art oft auch lange Zeit seine Sinnestäuschungen verbergen und unerkannt unter
den gewohnten Verhältnissen weiter leben kann, so kommt doch bei Jedem ein-
mal die Zeit, wo er durch eine scheinbar ganz unvermittelte Handlung seine
Krankheit und meist damit auch seine Gefährlichkeit documentirt. Auch in der
Geschichte haben die Hallucinanten nicht selten eine grosse Rolle gespielt. „Die
Geschichte der Hallucination" , sagt v. Krafft-Ebing , „enthält einen Theil der
Geschichte des Culturlebens aller Völker und Zeiten und ist ein Spiegel der
religiösen Anschauungen derselben. Hallucinationen haben bedeutsame geschicht-
liche Ereignisse mit veranlasst (Kreuzesvision Constantin des Grossen) , Religionen
gestiftet (Mohamed), zu den kläglichsten Verirrungen in Gestalt von Hexenprocessen,
Aberglauben und Gespensterspuk geführt. Sie haben eine wichtige Bedeutung für das
Entstehen von Sagen und Märchen gehabt." — „Unendlich häufig sind," fährt
derselbe Autor weiterhin fort, „Hallucinationen in der Geschichte der Klöster,
wo nervöse Disposition , Kasteiung , Entziehung des Schlafes , intensive Concen-
tration des Vorstellens auf wenige Vorstellungen und dadurch gesteigerte Phantasie,
vielleicht auch Onanie zusammenwirkten, um jene zu provociren."
Es ist nunmehr die Frage nach dem Orte, wo, und nach dem Processe,
durch den die Sinnestäuschungen entstehen, zu beantworten. Hinsichtlich des Ortes
sind die Meinungen von jeher getheilt gewesen. Während die meisten Autoren,
welche genauere Beobachtungen anzustellen in der Lage waren, ihnen einen cen-
tralen Ursprung vindicirten, wollten andere ihren Sitz in die peripher gelegenen
Organe, in die Sinnesorgane selbst verlegen. Nach der ganzen bisherigen Erörte-
rung ist die letztere Alternative ausgeschlossen. Dagegen spricht, um es kurz zu
wiederholen, zunächst das Vorkommen von Hallucinationen auch bei fehlenden
Sinnesorganen und bei unterbrochener Leitung zwischen diesen und dem Gehirne.
Dann sind es nicht einfache, elementare Sinnesempfindungen (Funken, Schatten,
Geräusche), welche zur bewussten Wahrnehmung gelangen, wie dies bei physio-
logischen und pathologischen Vorgängen in den Sinnesorganen und den Nerven-
bahnen der Fall ist, sondern bestimmte, in der Wirklichkeit vorhandene Gegen-
stände, Worte u. s. w., welche meist einen Zusammenhang, oft einen sehr logischen,
unter sich und mit dem hallucinirenden Subjecte haben. Ferner ist das Bewusstsein
leicht im Stande, den Ursprung der nicht central entstandenen Sinnesempfindungen
trotz ihrer scheinbaren Verlegung nach aussen zu beurtheilen und zu controliren.
Nicht minder fällt für die centrale Entstehung der Sinnestäuschungen in's Gewicht,
dass in einzelnen, nicht gerade seltenen Fällen ihre Uebereinstimmung mit den
Gedanken und ihre Abhängigkeit von den Stimmungen sich direct nachweisen
lässt. Endlich finden sie sich zumeist denjenigen Zuständen zugesellt, welche mit
anderweitigen psychischen Störungen verbunden sind und so ihren centralsten
Ursprung unzweifelhaft documentiren. Diesen Gründen gegenüber können die
wenigen Fälle , in denen sich bei hallucinirenden Personen eine Erkrankung der
Sinnesorgane oder ihrer Nerven fand, nicht für eine peripherische Entstehung
SINNESTÄUSCHUNGEN. 545
beweisend sein. Sie sind bei strenger Kritik zum grossen Theil von dem Gebiet
der Sinnestäuschungen überhaupt auszuschliessen, zum anderen Theile beweisen sie
nur, dass periphere Vorgänge modificirend auf den centralen Vorgang einwirken
können, wie dies bereits erörtert ist. Dieselben Gründe lassen auch bestimmte
Theile des Gehirns , welche von einem oder dem anderen Autor als Sitz der
Hallucinationen in Anspruch genommen wurden, als nicht berechtigt dazu erscheinen.
Der Boden des vierten Ventrikels, die Corpora quadrigemina, der Balken, das
Centrum semiovale, der Thalamus opticus und andere Gehirntheile sind in früherer
Zeit, gestützt auf ganz vereinzelte, oft wenig kritisch bearbeitete Beobachtungen,
als der Ort der Entstehung der Sinnestäuschungen betrachtet worden, aber weder
fanden diese Versuche Anerkennung und Beistimmung, noch können sie einer
eingehenden Kritik Stand halten. Auch die neuesten Anschauungen von Luys, der
den Thalamus opticus bei Hallucinanten als das erkrankte Organ erkannt haben
will, werden kaum auf eine grössere Verbreitung zu rechnen haben, da schon
ihre pathologisch-anatomischen Grundlagen bei Jedem, der eine grössere Zahl von
Gehirnen untersucht hat, berechtigtem Zweifel begegnen werden, und ein Beweis
für die Beziehung der Sinnestäuschungen auf die vermeintlichen Läsionen der
Thalami gänzlich fehlt. Vielmehr kann es aus den vorstehend angeführten Gründen
keinem Zweifel unterliegen, dass die Hallucinationen einen ganz centralen Ursprung
haben müssen, dass sie dort entstehen müssen, wo in der Norm der von der
Peripherie einwirkende, durch die Nervenbahnen weiter geleitete Reiz als Empfindung
bewusst wird und zugleich mit anderen zur Wahrnehmung bestimmter Objecte
führt, und es wendet sich nach dem heutigen Stande der Anatomie und Physiologie
des Gehirns die Aufmerksamkeit notwendigerweise , unter Ausschluss aller sub-
corticalen Gehirntheile, den als Sinnescentren bezeichneten Partien der Hirnrinde
zu. Dort , speciell für die Gesichts- und Gehörshallucinationen in den Scheitel-,
Hinterhaupts- und Schläfenwindungen^ haben wir die tMp^Hngsstätten der Sinnes-
täuschungen zu suchen. / T r r-> V\
Es ist nicht nothwendig, dkss die Veränderungen^ iFelphe ihnen zu Grunde
liegen, immer anatomisch sichtbare sind. Im Gegentheil nflfu^s man bei Erschei-
nungen , welche , wie die Hallucinationen , schon bei Ermüdung , bei Einführung
gewisser Stoße in das Blut und unter anderen ähnlichen Einflüssen entstehen und
wieder vergehen können, annehmen, dass sie zur Grundlage nicht eine dem Auge
erkennbare Läsion zu haben brauchen, dass es sich vielmehr dabei nur um Ver-
änderungen in der Ernährung, um eine erhöhte Erregbarkeit handelt, wie sie auch
sonst die Ermüdung und veränderte Ernährung der Nervensubstanz zu begleiten
pflegt, dass sie zu den sogenannten functionellen Störungen gehören. Daher erklärt
es sich auch, dass Hallucinationen gerade bei den organisch begründeten Hirn-
krankheiten nicht allzu häufig sind. Andererseits lassen sich doch Thatsachen
anführen, in denen ein Beweis für den Sitz der in Rede stehenden Erscheinungen
in den corticalen Sinnescentren auch auf pathologisch - anatomischem Gebiete
gefunden werden kann. Es kommen dabei weniger Beobachtungen von Hirn-
läsionen bei hallucinirenden Kranken in Betracht (Tambueini), die zum Theil
nicht so ganz beweiskräftig sind, als vielmehr einige allgemeine Erfahrungen. So
hat Verfasser schon bei Gelegenheit des Falles Scheute auf die Delirien der
Alkoholisten und ihre Vergleichbarkeit mit dem Tremor in der motorischen Sphäre
aufmerksam gemacht, ein Factum, das umsomehr in's Gewicht fällt, als die
anatomisch nachweisbaren cerebralen Folgen des Missbrauches jenes Genussmittels
sich doch hauptsächlich in der Pia der Convexität bemerklich machen. Es möge
hier noch die folgende Erfahrung hervorgehoben werden. Es ist weiter oben
schon erwähnt, dass die Sinnestäuschungen bei paralytischer Geistesstörung im
Allgemeinen selten sind, dass aber einzelne Fälle vorkommen, in denen sie als
wesentliche und frühe Symptome beobachtet werden , so dass selbst Verwechs-
lungen mit hallucinatorischer Verrücktheit möglich sind. In einigen dieser Fälle
nun, welche zur Obduction kamen, hatte Verfasser Gelegenheit zu sehen, dass die
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 35
546. SINNESTÄUSCHUNGEN.
bei der paralytischen Geistesstörung sonst besonders über den Vorderlappen sich
zeigenden Veränderungen (Trübung und Verwachsung der Pia mit der Corticalis,
so dass sie sich ohne Adhärenz der letzteren nicht abziehen liess) , in besonders
ausgesprochenem Grade hinter der hinteren Centralwindung (Scheitellappen und
Schläfenwiudungen) sich fanden , wo sie sonst bekanntlich am wenigsten aus-
gebildet sind. Auch Schwund der Marksubstanz des Hinterhauptlappens, Erwei-
terung vorwiegend des hinteren Horns der Seitenventrikel wurde in derartigen
Fällen vom Verfasser beobachtet. Es ist selbstverständlich, dass auch in solchen
Fällen die post mortem gefundene Veränderung nicht direct zur Erklärung der
oft lange vorher zur Erscheinung gekommenen Hallucinationen herangezogen
werden kann, sondern dass meist die ihr vorangegangenen Processe mit ihrem
Einflüsse auf die Rindenzellen in's Auge zu fassen sind, und dass es sich auch
hier um Ernährungsstörungen und Veränderungen der Erregbarkeit oder um Er-
regungen (durch Fluxion etc.) handeln kann.
Um noch einmal zusammenzufassen, was sich über das Wesen der Sinnes-
täuschungen aussagen lässt, so sind sie Symptome krankhafter Vorgänge in den
corticalen Sinnescentren. Ueber die eigentliche Natur dieser Vorgänge lässt sich
Bestimmtes nicht aussagen ; sie beruhen verhältnissmässig nur selten auf anatomisch
erkennbaren Läsionen, in der grossen Mehrzahl der Fälle dagegen auf Störungen
der Ernährung , auf abnormen Erregungen oder Veränderungen der Erregbarkeit,
kurz sie sind function eller Art. Als entferntere Ursachen treten alle diejenigen
auf, welche bei einzelnen Individuen eine erhöhte Erregbarkeit des Nerven-
systems überhaupt veranlassen, vor Allem also die angeborene oder erworbene
neuropathische Disposition. Alle Einflüsse, welche die Ernährung des Gehirns
beeinträchtigen oder verändern, können zur Entstehung von Sinnestäuschungen
Anlass geben: acute und chronische Krankheiten jeder Art, Anämie und
Chlorose , Vergiftungen , Ueb er anstr engung , Entbehrungen , Excesse , Masturbation
und andere. Nicht unwesentlich unterstützt werden alle diese Ursachen durch
(selbstgewählte oder aufgezwungene) Isolirung und Abhaltung oder wenigstens
Verminderung normaler Sinnesreize (in Gefängnissen , Klöstern u. s. w.) , durch
Concentration der Gedanken und Anderes. Vorübergehend und vereinzelt können
sie auch unter physiologischen Verhältnissen eintreten, wie dies fast bei allen
nervösen Erscheinungen der Fall ist. — Ohne eine weitere Eintheilung der
Sinnestäuschungen für nothwendig zu erachten , und unter Reservirung des
Ausdruckes „Illusion" für andere, diesem Gebiete gar nicht angehörige Er-
scheinungen , ist zu bemerken , dass die centralen Vorgänge in nicht allzu
seltenen Fällen sich compliciren können, mit solchen an der Peripherie, in
den Sinnesorganen, in den Nerven und deren intracerebralen Fortsetzungen, und
dass dadurch die Erscheinungsweise der Sinnestäuschungen modificirt, in einzelnen
Fällen sogar die Entstehung der Sinnestäuschung beeinflusst werden kann. —
Endlich ist noch das Verhalten des Bewusstseins den Hallucinationen gegenüber
zu beachten, und zu bemerken, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle diese Er-
scheinungen ebenso aufgenommen und verarbeitet werden, wie die in normaler
Weise zu Stande gekommenen Wahrnehmungen der Aussenwelt, dass sie nur ganz
selten gleich nach ihrer Entstehung als Trugbilder erkannt und demgemäss
behandelt werden. Es erklärt sich dies dadurch, dass in der beiweitem grösseren
Zahl der Fälle auch die anderen psychischen Functionen gestört sind, dass das
Gehirn in grösserer Ausdehnung erkrankt ist, während nur ausnahmsweise, eben
bei den sozusagen unter physiologischen Verhältnissen entstandenen Hallucinationen,
die zu ihrer Entstehung nothwendigen Bedingungen bei sonst intactem Gehirn in
dem corticalen Sinnescentrum vorhanden sind.
Die Diagnose der Sinnestäuschungen ist im Allgemeinen nicht schwierig.
In vielen Fällen spricht der Kranke direct davon, dass er Objecte wahrnimmt,
ohne dass dieselben für Andere wahrnehmbar sind, in anderen verräth er dies
wenigstens indirect durch einzelne Aeusserungen. In manchen Fällen kann man
SINNESTÄUSCHUNGEN. 547
die Hallucinationen aus dem Verhalten der Patienten, aus der lausehenden Stellung,
aus eigenthümlicher Haltung, aus Handlungen und Unterlassungen, oder aus dem
Widerstreben gegen nothwendige Handlungen (Nahrungsaufnahme u. dergl.)
erschliessen. In vielen Fällen freilich suchen die Kranken auch ihre Hallu-
cinationen zu verbergen , sie sprechen nicht nur nicht spontan davon , sondern
leugnen sie auch, oft mit grossem Geschick, bei dahin gerichteten Fragen direct
ab. Es ist dann oft eine längere und sehr genaue Beobachtung nothwendig, um
ihr Vorhandensein aus dem Benehmen zu errathen. — Schwierigkeiten kann es
oft machen, die Sinnestäuschungen von den schon mehrfach erwähnten ähnlichen,
aber doch von ihnen zu trennenden Vorgängen, den Ergänzungen und Umdeutungen
reeller Sinneswahrnehmungen (Illusionen), von blossen Einfällen, von Symbolisirungen
Tl. dergl. zu unterscheiden. Es ist dann immer möglichst streng der Maassstab
der wirklich sinnlichen Wahrnehmung anzulegen ; doch ist schon bemerkt worden,
dass bei den niederen Sinnen die Differenz oft kaum zu constatiren ist. — Sind
die Sinnestäuschungen als solche erkannt, so hat sich die Frage nach der zu
Grunde liegenden Veränderung in den corticalen Sinnescentren, sowie nach den
entfernteren Ursachen anzuschliessen, ferner, ob sich eine Betheiligung peripherer
Organe nachweisen lässt, und wieweit das Bewusstsein durch sie beeinflusst wird.
Zur Beantwortung dieser Fragen ist der ganze Zustand des Kranken in Betracht
zu ziehen, speciell mit genauer Berücksichtigung der Sinnesorgane.
Die Prognose der Sinnestäuschungen hängt vollständig von dem sie
verursachenden Leiden des Gehirns ab. Sie ist günstig bei den Zuständen, welche
auf Anomalien der Ernährung zurückzuführen sind, bei den mehr acuten, delirien-
artigen Zuständen, bei Intoxicationen, wenn sie nicht in chronischer Form längere
Zeit eingewirkt haben, bei Erschöpfungszuständen, Anämien u. dgl. Sie ist
ungünstig bei den eigentlichen Psychosen mit Ausnahme der primären melan-
cholischen Verstimmung, besonders aber bei den aus neuropathischer Disposition
hervorgehenden, meist in der Pubertät (bei Onanisten) oder (bei Frauen) im
Climacterium auftretenden Psychosen, bei denen die Hallucinationen scheinbar
isolirt, ohne anderweite psychische Abnormitäten das wesentlichste Symptom sind
und, ohne eigentlich einen Affect zu verursachen, doch den Kranken beständig in
Anspruch nehmen. Es ist schon bemerkt worden, dass es bei den acuten Zuständen
ein günstiges Zeichen ist, wenn die Hallucinationen zu erblassen, leiser und
undeutlicher zu werden scheinen, an plastischer Gestaltung und Lebendigkeit ab-
nehmen, dass umgekehrt der Process intensiver wird, so lange jene Eigenschaften
noch sich steigern. Dass in den Fällen, bei denen sich die Mitwirkung eines
peripheren Factors erkennen lässt, die Prognose, wenn seine Beseitigung möglich
erscheint, sich günstiger gestaltet, kann im Allgemeinen wohl zugegeben werden,
doch lehrt gerade hier die Erfahrung, dass, wenn nicht gleichzeitig das centrale
Leiden gehoben werden kann, die Hallucinationen, wenn auch in anderer Form,
weiter bestehen können.
Eine Behandlung erfordern die Hallucinationen als solche eigentlich
nicht. Sie hat sich gegen das Grundleiden zu richten und kann hierbei durch
geeignetes Regime, kräftigende Diät und Tonica in entsprechenden Fällen Erfolge
erzielen. Auch ist dort, wo sich eine Erkrankung der Sinnesorgane und ein
Einfluss derselben auf die Sinnestäuschungen nachweisen lässt, oder wo andere
periphere Ursachen vorhanden zu sein scheinen, die Beseitigung derselben an-
zustreben. Eine symptomatische Behandlung der Hallucinationen in Fällen, bei
denen die Ursache nicht zu erkennen oder nicht zu beseitigen war , speciell in
den chronischen Psychosen , ist zwar vielfach versucht worden , hat aber bisher
nicht zu günstigen Resultaten geführt. Weder die narcotischen Arzneimittel, noch
Antiphlogistica , Laxantien und Ableitungen aller Art, weder mechanische Ein-
wirkungen (durch anhaltendes Verschliessen der Augen und Verstopfen der Ohren),
noch die mit grossem Vertrauen versuchte elektrische Bebandlung können sich
irgend welcher dauernder Erfolge rühmen. Das Bestreben jedes rationell denkenden
35*
548 .SINNESTÄUSCHUNGEN. — SKAPHENOKEPHALIE.
Arztes muss es sein, immer und immer wieder nach den Ursachen der Sinnes-
täuschungen im einzelnen Falle zu forschen und sie zu bekämpfen, den Hirnzustand
oder oft genug den Zustand des Organismus im Ganzen zu beeinflussen; dann
wird es ihm wenigstens in einzelnen Fällen gelingen , den Kranken zu helfen.
Die symptomatische Behandlung ist meist nur ein unsicheres Probiren und hat den
wesentlichen Nachtheil, die Aufmerksamkeit von dem wesentlichen Ziele abzulenken.
Die Literatur der Sinnestäuschungen findet sich ausführlich erwähnt in den
Lehrbüchern der Psychiatrie von Griesinger, von Kraf ft-Ebing, Schule, Emming-
haus u. A. Nur aus den letzten Jahren seien hier einzelne Aufsätze besonders angeführt;
doch kann Verfasser nicht umhin, auch auf die von ihm selbst veröffentlichten älteren casui-
stischen Beiträge noch hinzuweisen, weil sie bisher keine Berücksichtigung gefunden haben, und
weil sie ihm gerade für solche Aerzte wichtig zu sein scheinen, welche eigene Beobachtungen
in dieser Beziehung zu machen nicht in der Lage sind. — Freusberg, Ueber die Sinnes-
täuschungen im Hanfrausch. Allg. Zeitschr. f. Psych 1878. Bd. XXXIV, pag. 216. — Me sehe de,
Starke Geruchshallucinationen mit ausgeprägter Degeneration der Riechkolben. Gehörshallu-
cinationen bei localisirter Degeneration der Acustici. Ebenda 1878. pag. 261. — Zander,
Allg. Zeitschr. für Psych. 1879. Bd. XXXV, pag. 696. — Ball, Uevue scientißque. Mai,
1880. — A. Tamburini, Sulla gtnesi delle allucinazioni. Bivist. speriment. di freniatria.
1830. pag. 126. — Kandinsky, Zur Lehre von den Hallucinationen. Archiv für Psych, und
Nervenkrankh. 1880. Bd. XI, pag. 453. — A. Pick, Beiträge zur Lehre von den Hallucina-
tionen. "Wiener Jahrbücher für Psych. 1880. Bd. II, pag. 44. — J. Luys, Traitd clinique et
pratique des maladies mentales. Paris 1881. pag. 389 sq. — Regis, Des hallucinations uni-
laterales. L'encephale. 1881. Nr. 1. — Pohl, Der hallucinatorische Process. "Wiener Jahr-
bücher für Psych. 1881. Bd. III, pag. 107. — Wilh. Sander, Zwei Fälle von Delirium
potatorum. Archiv für Psych, und Nervenkrankh. Bd. I, pag. 487. — "Wilh. Sander, Ein
Fall von Delirium potatorum als casuistischer Beitrag zur Lehre von den Sinnestäuschungen.
Wiener psych. Centralbl. 1877. Nr. 8 und 9. "W Sander.
Sinzig in Rheinpreussen , 65 Meter hoch gelegen , hat einen alkalisch-
muriatischen Säuerling, der analog dem Selterser Wasser ist ; wird stark versendet.
Die wind geschützte , reizende Lage am Eingange in das romantische Ahrthal
macht Sinzig geeignet zu einem Traubencurort. K.
Siphonom (von o&pwv, Röhre), Röhren geschwulst, siehe „Cylindrom",
III, pag. 570.
Siradan, Dorf, 1 Kilom. von Sainte-Marie (s. Marie) in den Hochpyrenäen,
450 Meter über Meer, mit Sulphatquelle von 13° C. Diese hat in 10000:
Chlor 0,028, Schwefelsäure 1,041, Kohlensäure 1,6, Natron 0,547, Kali 0,013,
Kalk 6, Magnesia 1,049. Das bei Digestivleiden, Blasencatarrh etc. gebrauchte
Wasser wird stark versendet.
Castillon, Notice s. Sir. 1851. B. M. L.
Sirenenbildung, Sirenomalie, s. „Missbildungen", IX, pag. 141.
Siriasis (az^iv.aiq von creiptos, brennend) = Hitzschlag, Sonnenstich.
Sisymbrium. Zwei Arten dieser zu den Cruciferen gehörigen Familie
finden in der franz. Pharmacopoe Anwendung: S. Alliaria Midi. (Erysimum
ÄLliaria L., Alliaire) und S. officinale DG. (Erysimum officinale L.; VÜar,
Tortelle, Herbe aux chantres) . Das frische, blühende Kraut enthält ein scharfes,
ätherisches Oel und kommt in ähnlicher Weise wie Herba Gochleariae u. dgl.
zur Benutzung. 8. officinale bildet auch einen der Bestandtheile des „Sirop
d' erysimum composeu (Syrupus de Erysimo compositus, Sirop de chantre).
Sitophobie (oder Sitiophobie, von cito?, emov, Speise und <pößog,
Furcht), die Furcht vor Nahrungsaufnahme, Nahrungsverweigerung (der Irren).
Von Guislain herrührende Bezeichnung. Vgl. „Melancholie", VIII, pag. 618.
Situs inversus, s. „Dextrocardie", IV, pag. 73.
Skaphenokephalie, Skaphokephalie (von <j>ta<p7), Kahn und xe<pa).7i, Kopf),
kahuförmige Deformation des Schädels.
SKATOL. — SKLEREKTASIE. 549
Skatol, eine im Darminhalt enthaltene, bei der Fäulniss der Eiweisskörper
meist neben Indol entstehende , fäcal riechende Substanz von der Formel C9 H9 N
(Nencki), die nach E. und H. Salkowski aus einer im sauren Aetherextract der
Fäulnissflüssigkeiten in kleinen, weissen Körnchen krystallisirenden , bei 161°
schmelzenden „skatologenen Substanz" (vielleicht einer Skatolcarbonsäure ?), durch
Spaltung in Kohlensäure und Skatol hervorgeht. Nencki erhielt das Skatol rein bei
achttägiger Fäulniss von Gehirnsubstanz in einer Temperatur von durchschnittlieh 36°
(nicht über 40°). Von Indol ist das Skatol durch Auflösung des Gemisches in
wenig absolutem Alkohol und Fällung mit Wasser zu scheiden, wobei das Indol
in Lösung bleibt , während das Skatol sich ausscheidet. — Nach Beyer entsteht
das Skatol auch bei der Darstellung von Indol aus Indigo neben dem ersteren
und nach Zerstörung des Indols durch Destillation mit Natronlange als eine nicht
fäcal, sondern stechend riechende, bei 93 — 94° schmelzende Masse. Innerlich
oder subcutan, bei Thieren angewandt, wirkt dasselbe toxisch, jedoch schwächer
als Phenol, und wird als gepaarte Schwefelsäure im Harn abgeschieden.
Skerljevo, s. „Radesyge", XI, pag. 331.
Skleradenitis (von axl'^oq hart, und ä&yjv), Drüsenverhärtung; s. „Bubo"
II, pag. 622, 633.
Sklerektasie. Ausdehnungen der Sklera, die immer mit Verdünnung
dieser Membran verbunden sind, können entweder die ganze Bulbuskapsel betreffen;
oder sie können partiell sein.
Die ersteren, die also eine Vergrösserung des Bulbus voraussetzen, sind
entweder angeboren oder sie sind die Folge von Iridochorioiditis oder von
staphyiomatösen Entartungen der Hornhaut. Man bezeichnet die Erkrankung dann
als Hydrophthalmus, Buphthalmus, Megalophthalmus, Bulbus ectaticus. Die Ursache
des Leidens liegt nie in der Sklera selbst. Siehe „Buphthalmus" und „Staphylom".
Die partiellen Sklerektasien bezeichnet man im Allgemeinen als Skleral-
staphylome, obwohl es sich hiebei nicht wie bei den Hornhautstaphylomen um
eine Verschwärung , um einen Durchbruch der Membran handelt. Doch haben
beide Processe das gemeinsam, dass sie nur unter Betheiligung der Uvea zu Stande
kommen , denn eine staphylomatöse Entartung tritt nur dann ein , wenn die ent-
zündlich erkrankte Uvea mit der Sklera verklebt und im weiteren Verlaufe atrophirt
ist. Je nach der Lage der Sklerektasie unterscheidet man vordere, äquatoriale
und hintere Skleralstaphylome.
Sie sind entweder rundliche, ziemlich flache Erhabenheiten von Erbsen-
grösse und darüber, welche glatt oder bucklig sind und wegen der Verdünnung
der Sklera und je nach dem Grade derselben eine lichter oder dunkler graue
Farbe besitzen; oder sie sind nächst der Cornealperipherie sitzende und dieser
parallel verlaufende erhabene Wülste von grauer Farbe, welche häufig colonartig
quere Einschnürungen besitzen und manchmal eine ziemliche Strecke des Corneal-
randes einnehmen ; man bezeichnet sie dann als Staphyloma annulare.
Betrifft die Ausdehnung diejenige Partie des Skleralfalzes , welcher vor
der Insertion der Iris liegt und der Region des Ligamentum jpectinatum entspricht,
so nennt man sie Intercalarstaphylom. Es besteht meist in einer gleich-
förmigen ringartigen Ektasie und es wird der Winkel, welcher sich an Stelle der
Grenze von Cornea und Sklera befindet, dabei vollständig verstrichen. Meist
markirt sich der Limbus als scharfe Linie.
In anderen Fällen ist es das Corpus ciliare selbst, welches ausgedehnt
wird. Die Irisinsertion und die Firsten des Ciliarkörpers sind dabei (wenigstens
in den hochgradigen Fällen) nach vorn gedrängt und der vom Ligamentum
pectinatum eingenommene Raum ist aufgehoben. Diese Ciliarstaphylome
liegen deutlich weiter nach rückwärts als die eben erwähnten intercalaren und es
bilden sich häufig wulstförmig angeordnete Gruppen von Ektasien.
550 SKLEREKTASIE. — SKLEREMA NEONATORUM.
Alle weiter nach rückwärts gelegenen Staphylome bezeichnet man als
Aequatorialstaphylome.
Alle diese in der vorderen Bulbushälfte gelegenen Skleralstaphylome
könnten nur mit Ektasien durch Neoplasmen im Bulbus verwechselt werden. Ihre
Unterscheidung unterliegt wenig Schwierigkeiten. Wegen der oft enormen Ver-
dünnung der Sklera lassen sie sich bei focaler Beleuchtung von der Seite oder
auch in geeigneten Fällen von innen her durchleuchten und durch einen Sonden-
knopf vorübergehend eindrücken; Symptome, die bei Geschwülsten fehlen.
Was das hintere Skleralstaphylom, das sogenannte 8taphyloma posticum
betrifft, so beruht dies meist auf anderen Ursachen. Es wurde zuerst von Scarpa
aufgefunden , die richtige Deutung ist ein Verdienst v. Arlt's. Wir wissen von
ihm, dass die typische Myopie in einer Ausdehnung des hinteren Poles ihren Grund
hat, in einer Ausdehnung der Sklera, die mit Verdünnung dieser Membran einher-
geht , bei der wohl auch entzündliche Veränderungen der Chorioidea vorkommen
können (Sclerotico- Chorioiditis posterior), bei der jedoch die den eigentlichen
Skleralstaphylomen zukommende Verklebung von Chorioidea und Sklera mangelt.
Sie werden bei dem Artikel „Refraction" abgehandelt.
Das sogenannte Staphyloma posticum der Ophthalmoskopiker , womit
die bei Myopie vorkommende an den Sehnerveneintritt sich anschliessende sichel-
förmige oder in höheren Graden ringförmige weisse Figur bezeichnet wurde , die
der Ausdruck des Fehlens der Chorioidea innerhalb derselben und nicht der einer
Ektasie ist, gehört natürlich noch weniger hieher.
Zweifelhaft ist auch die Stellung gewisser circumscripter Sklerektasien,
die genau dem hinteren Pole entsprechen und innerhalb deren die Chorioidea fehlt.
Sie sind angeboren und zeigen sich dem Augenspiegel als scharf umschriebene, mit
Pigment umsäumte weisse Stellen, innerhalb derer einzelne Gefässstreifen und
Pigmentanhäufungen zu sehen sind ; sie lassen sich leicht als tiefe sackige Aus-
buchtungen erkennen. Ein Theil derselben dürfte wohl auf intrauterinäre Ent-
zündungen zurückzuführen sein ; einige sind vielleicht als Colobome aufzufassen,
analog den Chorioidalcolobomen , die dem fötalen Augenspalt entsprechend im
unteren Bulbusabschnitte vorkommen, und innerhalb welcher gleichfalls die Sklera
sackig ausgebaucht ist.
Bezüglich der in glaucomatösen Augen auftretenden Skleralstaphylome
siehe den Artikel „Glaucom".
In Betreff der Therapie der Skleralstaphylome ist nur zu erwähnen, dass
bei ganz frischen, in der Entwicklung begriffenen Formen, welche mit Druck-
steigerung einhergehen , und bei welchen es sich noch um Erhaltung des Seh-
vermögens handelt, mit Vorsicht eine Iridektomie versucht werden kann. In allen
anderen Fällen sind operative Eingriffe wegen Glaskörperverflüssigung und drohender
Blutungen contraindicirt und nur die Enucleation gestattet, wo sie nothwendig
erscheint. Siehe auch den Artikel „Staphylom".
Was die Literatur betrifft, muss auf die Lehr- und Handbücher ver-
wiesen werden. Reuss.
Sklerema adultorum, s. Skleroderma.
Sklerema neonatorum (Skierödem). Unter Sklerema neonatorum
verstehen wir gemeinhin eine unter lebhaftem Sinken der Eigenwärme
einhergehende Verhärtung der Haut und des unter ihr liegenden
Zell- (und Fett-)gewebes mit oder ohne Infiltration von Serum
unter die Haut des Neugeborenen.
Die erste Mittheilung stammt wahrscheinlich von Umberius, einem Arzt
in Ulm, der im Jahre 1718 von einem im achten Monat der Schwangerschaft
geborenen Kinde spricht, das so hart wie Stein und kalt wie Eis lebend zur
Welt kam. Die nächstfolgenden Beobachtungen theilten Curcio, Reddelius,
Auvity, Deumann und Underwood mit. Alsdann mehrten sich die Notizen über
SKLEREMA NEONATORUM. 551
das Sklerem , das Gegenstand zahlreicher Dissertationen wurde. Namentlich aus
Findelhäusern hörte man öfter von jenem eigentümlichen Krankheitszustand,
über dessen Wesen noch heute mancherlei Controversen herrschen, wie schon die
zahlreichen Namen , die für die Krankheit gebräuchlich sind , beweisen. Als
Synonyma gelten : Sklerema, Skieroma, Sklema, Sklerysma, Sklerodermia,
AI gidite progressive, Oedema neonatorum, Induratio telae cellulosae,
In eher atz o adiposau. s. w. — Ausführliche Beschreibungen wurden namentlich
von den Kinderärzten zu Anfang des 19. Jahrhunderts gegeben, so von Under-
wood, West in England, Legroux, Leger, Troccon, Billard, Valleix , später
Hervieux und Bouchut in Frankreich, Fleisch, Fleischmann, Bednar,
Löschner, Meissner, Hennig in Deutschland. In neuester Zeit trugen namentlich
Clementowsky und Pareot dazu bei, die irrigen Anschauungen über diese Krank-
heit zu berichtigen und einer geläuterten Auffassung über Wesen und Ursache
derselben Eingang zu verschaffen. — Dies war um so wichtiger, als bis dahin
zwei Krankheitszustände mit einander verwechselt und zusammengeworfen wurden,
die streng genommen nichts mit einander zu thun haben, nämlich das Sklerem
und das Oedem der Neugeborenen. Ich will gleich hier bemerken, dass uns in
unserer Abhandlung hauptsächlich das Oedem beschäftigt, auf das sich
die meisten unter dem Namen Sklerema veröffentlichten Mit-
theilungen beziehen, und möchte mit Rücksichtnahme auf die Thatsache,
dass bis in die jüngste Zeit der Name Sklerem ganz allgemein für das Oedem-
beibehalten wurde, für unsere Krankheit den Namen Skierödem vorschlagen.
Wir werden übrigens unten auf das Verhältniss des Sklerems zum Oedem aus-
führlich zurückkommen.
Pathogenese. In der ersten Zeit brachte man das Sklerem, i. e. Oedem
der Neugeborenen, in Verbindung mit angeborenen Herzfehlern. Klappenfehler,
das Offenbleiben des Foramen ovale, des Ductus art. Botalli sollten direct zur
Zellgewebsverhärtung führen. Später wollte man die Krankheit als Folge einer
Pneumonie beim Neugeborenen ansehen, wahrscheinlich in Folge der häufigen
Coincidenzerscheinungen beider Processe. An Stelle der Pneumonie trat dann die
Atelektase. Noch um das Jahr 1860 meinte Ch. West: „Wir sind überzeugt,
dass dieser früher für Pneumonie gehaltene Zustand nur von der fehlenden Aus-
dehnung der Lunge herrührt, und begreifen wohl, wie unmittelbar nach der Geburt
durch den Einfluss der Kälte, schlechter Nahrung und schlechter Luft im Findel-
hause die Respiration nur mangelhaft eingeleitet werde. Somit sinkt die Eigen-
wärme, das noch zum Theil durch die ungeschlossenen fötalen Oeffnungen fliessende
Blut stockt in seinem Laufe, erzeugt passive Ergüsse in den grossen Höhlen des
Körpers und hydropische Anschwellung der Oberfläche. Die vorhandenen Eigen-
thümlichkeiten des Oedems entkräften nicht diese Erklärung für die Entstehung
derselben." — Auch Billard sah das Wesen der Erkrankung in der Hydropsie.
Roger dagegen glaubte dies nicht, da es Fälle von Sklerem gäbe, bei denen
keine Spur eines Oedems sich bemerklich macht, und Bouchut hielt das Oedem
nur für ein Symptom des Sklerems und legte ihm dieselbe Bedeutung bei, wie bei
Herzkranken und unter Umständen, wo mechanische Hindernisse in der Capillar-
circulation vorhanden sind. Carminati, Henke, Gölis u. A. suchten das
Wesen der Krankheit in einer entzündlichen Stase, und Rokitansky ging sogar
so weit, dass er alle Theorien, die zur Erklärung der Zellgewebsverhärtung auf-
gestellt wurden und nicht dem entzündlichen Ursprung des (Oedems) Sklerems
das Wort redeten, geradezu für falsch erklärt. Virchow neigte sich insofern
der Ansicht Rokitansky^ hin, als er die Induratio telae cellulosae neonatorum
der Elephantiasis anreihte. Hennig hielt das Sklerem für eine asthenische Ent-
zündung. Clementowsky macht indessen geltend, dass die Hyperämie des ödema-
tösen Sklerems keine active, sondern eine passive, mechanische ist, auch ander-
weitige Erscheinungen einer Entzündung sich weder klinisch noch anatomisch finden
lassen. „Jene Masse von Zellen, welche die Entzündung charakterisirt , findet
552 SKLEREMA NEONATORUM.
sich weder in der Haut noch im Unterhautzellgewebe ; die Faserbündel des Binde-
gewebes sind keineswegs vermehrt und die übrigen Elemente geben keine An-
zeichen von Atrophie; die Fettkügelchen der Zellenfettschicht, die sich bei der
Wucherung der Faserbündel vorzugsweise diesem Processe preisgegeben sehen,
bewahren in dem ödematösen Sklerem der Neugeborenen ihre Integrität und
haben ein vollkommen normales Ansehen." Wenn man hie und da einige Zellen
in der Theilung begriffen findet, so entspricht dies einer physiologischen
Entwicklungsphase des Zellgewebes beim Neugeborenen, es
hängt dies einfach mit den Wachsthumserscheinungen der noch embryonalen Gewebe
der Neugeborenen zusammen und ist um so begreiflicher, wenn man bedenkt,
dass die Haut der Neugeborenen sich in Folge des neuen und ungewohnten
Reizes der atmosphärischen Luft sich auch in einem gewissen Grade von Reizung
befindet. Immerhin möchte ich darauf aufmerksam machen , dass ich kürzlich
freilich in der durch Einstich entleerten ödematösen Flüssigkeit eines sklere-
matösen, mit Lues hereditaria behafteten Neugeborenen, der keine Spur einer
Puerperalinfection zeigte, zahlreiche weisse und rothe Blutkörperchen wahrnahm,
während doch gemeinhin angenommen wird, dass das Oedem die Eigenschaften
eines gewöhnlichen hydropischen Serums darbietet (Vogel). Was die gallertigen
Massen im Unterhautzellgewebe beim Skierödem anlangt, so haben auch diese nichts
mit einer Entzündung oder einem lymphatischen Oedem (Viechow) zu thun,
sondern lassen sich einfach aus den Untersuchungen Al. Schmidt's: Ueber den
Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung (Arch. f. Anat. u. Physiol. 1861)
erklären. So erscheint es denn in der That, als ob das Oedem beim Skierödem
nicht als Consecutiverscheinung einer Entzündung auftritt und überhaupt nichts
Specifisches besitzt. Die Härte der ödematösen Theile, die in Ausnahmefallen fast
die Höhe wie beim symptomatischen Sklerema (adiposum) erlangt, hängt auch nicht
von der Qualität, sondern einzig und allein von der Quantität ab. Je bedeutender
diese, desto mehr muss die Nachgiebigkeit der ausgedehnten Bedeckungen erschöpft
werden, und desto mehr die Härte in die Erscheinung treten.
Wie kommt nun aber das Oedem zu Stande? So verschieden auch die
Ansichten darüber früher waren, so sind doch alle Autoren der Neuzeit darüber
einig, dass die letzte Ursache in einer Behinderung der Blut-
circulation zu suchen ist. Nach der Anschauung der älteren Autoren
sollte diese Circulationsstörung erst eine secundäre sein. So meinten Bouchut,
Löschnee, Letoueneau und Andere. Letoueneau erkannte, wie Ch. West,
in der Respirationsstörung und Unwegsamkeit der Alveolen (Atelektase) die letzte
Ursache des Sklerems und identificirte dasselbe deshalb geradezu mit der Asphyxie,
eine Ansicht, deren Unhaltbarkeit schon daraus erhellt, dass eben die meisten
asphyktischen Neugeborenen nicht sklerematös werden. Das Gleiche gilt von der
Algidite progressive Heevieux's , so dass dann dieser auch selbst erklärte , das
Massgebende für die Krankheit sei die gehemmte Wärmeentwicklung,
nicht das Oedem oder Sklerem , die nur gelegentlich als Symptome hinzutreten
könnten. Löschnee wieder sah die Abnahme der Körpertemperatur, das Sinken
der Eigenwärme nur als eine Folge der Störung in der Gesammternährung
und der dadurch herbeigeführten Behinderung der Circulation und Respiration an.
Hennig nahm als Grund der gestörten Circulation eine Paralyse der Hautgefässe
an , Vogel leitete die peripherische Transsudaten (Oedem) und die Temperatur-
abnahme von einer mangelhaften Herzinnervation ab, und Rigal erkannte in der
Insufficienz des Herzens und der Saugadern den Ausgangspunkt für alle
Symptome, die das Skierödem bilden. Interessant ist immerhin, dass Demme bei
der Section eines an Sklerem verstorbenen Kindes eine deutlich ausgeprägte Herz-
verfettung, namentlich des rechten Ventrikels fand. Wenn auch die Schwäche
des Herzens und träge Circulation eine grosse Rolle spielen mag für das
Zustandekommen des Skierödems, da die meisten der davon ergriffenen Neu-
geborenen nicht entwickelt , nicht völlig ausgetragen sind , einen kaum fühlbaren
SKLEREMA NEONATORUM. 553
Puls haben , unvollkommen und oberflächlich athmen , wodurch sich auch die
Stauungserscheinungen und das Oedem hinlänglich erklären mit seiner Ausbreitung
dem Gesetz der Schwere nach, so muss doch andererseits hervorgehoben werden,
dass diese Schwäche der Blutbewegung, der Herzinnervation, der
Ernährung, der Respiration allein nicht ausreichen könne, um das
Skierödem zu erzeugen. Sehr treffend bemerkt denn auch Clementowsky, dass
Kinder mit angeborener Lebensschwäche, d. h. nicht ausgetragene, an und für
sich nicht sklerematös werden; zwar bekommen sie in Folge ihrer Herzschwäche
ein Oedem an den Unterextremitäten , allein der Unterschied zwischen den nicht
ausgetragenen und sklerödematösen Kindern besteht darin, dass bei den ersteren
die Herzkraft allmälig mit dem Alter des Kindes zunimmt und damit das Oedem
verschwindet, während umgekehrt bei den letzteren in lawinenartiger Progression
die Herzschwäche und vor Allem die ödematöse Infiltration an Intensität und Ex-
tensität bis zum Tode zunehmen. Von 275 Kindern, die nicht ausgetragen waren,
und die Clementowsky zu diesem Zweck beobachtete, bekamen 182 Verhärtung
der Waden, 93 blieben frei. Von den 182 blieben unter Abnahme dieser Erscheinung
und zunehmender Kraft 34 am Leben , während bei 52 allgemeines Skierödem
auftrat. Die restirenden &6 verloren ihr Oedem der Extremitäten, entwickelten
sich anfangs gut und starben späterhin an zufälligen Krankheiten, unabhängig
von dem Skierödem. — Nach alle dem erscheint es uns nöthig, zur Entstehung
der Skierödeme neben den genannten Momenten noch eine krankhafte Dis-
position des Blutlebens, respective der Gefässwände (Lockerheit
der Capillargefässe , Clementowsky) anzunehmen. — Alles das bezieht sich
natürlich nur auf das Oedem der Neugeborenen , auf das Sklerema oedematosum
oder Skierödem. Anders verhält es sich mit dem Sklerem im engeren Sinne, dem
Sklerema adiposum der früheren Autoren. Billard hielt dasselbe für ein
cadaveröses Phänomen , das höchstens noch in der Agonie kurz vor dem Tode
auftreten könne und sich als eine Gerinnung des Unterhautfettes in Folge der
gesunkenen Körpertemperatur markire. Aehnlich sprachen sich Valleix und
Bouchüt aus. Nach ihnen entwickelt sich dieses Sklerem nur am Ende lang-
wieriger Krankheiten mit profusen Säfteverlusten. Das Sklerem ist demgemäss
keine selbstständige Krankheit, sondern hat nur eine sympto-
matische Bedeutung. Die Krankheiten , bei denen wir es hauptsächlich
beobachten können , sind die mit Durchfall einhergehenden Darmaffectionen der
ersten Lebenszeit ; der Enterocatarrh, die Enteritis, der Brechdurchfall. Sehr selten
sehen wir es auch bei gewissen Formen der Pneumonie. Rilliet und Barthez
hielten übrigens das Skieremu (adiposuvi) für eine selbständige Krankheit und
auch Clementowsky, der streng zwischen Sklerema oedematosum und adiposum
unterschieden wissen will, glaubt in letzterem nicht blos ein Symptom erkennen
zu dürfen, das sich in der Agonie der genannten Krankheiten einstellt, da es
eine Reihe von Fällen giebt, wo dasselbe selbst 2 — 3 Tage lang und mehr vor
dem Tode bestanden haben soll. Ich selbst muss nach meinen Erfahrungen mich
vollkommen der Ansicht der älteren Autoren anschliessen. Auch ich er-
kenne in dem Sklerema (adiposum) nur ein Symptom, und zwar
ein Symptom der Bluteindickung bei plötzlichen überstürzten
und massigen Wasserausscheidungen und Serumverlust, wie sie
namentlich bei der Cholera infantum und den Sommerdiarrhöen
der Säuglinge vorzukommen pflegen. Darum stimme ioh auch Wider-
hofer. ganz bei, wenn er meint, dass die parenchymatösen Flüssigkeiten zur
Deckung des für den Blutkreislauf so verhängnissvollen Verlustes zwar herangezogen
werden, dass dies aber nicht hinlangt, um den gewünschten Ausgleich in unserem
Körperhaushalt zu erzielen. Es kommt zu hochgradigen Stauungen und
selbst Thrombosen in den verschiedensten Capillarbezirken mit
Lähmung der vitalen Centren nach umfangreichster Eindick ung
des Blutes und Austrocknung der Körperorgane, die sich schon
554 SKLEREMA NEONATORUM.
in vivo an der Trockenheit der sichtbaren Schleimhäute documentirt. Dass es
unter solchen Umständen aber nicht mehr zu einer serösen Transsudaten , zum
Oedem kommen kann , sondern zum einfachen Sklerem , ist begreiflich, und bin
ich der Meinung, dass man auch für diesen Zustand den Ausdruck Sklerem (früher
Sklerema adiposum) im Gegensatz zum Skierödem (früher Sklerema oede-
matosum) beibehalten soll. Das Sklerem aber entspricht der athreptischen Indu-
ration Parrot's. Wir werden auf die Unterschiede beider Krankheitszustände bei
der Anatomie näher eingehen. Gemeinsam ist beiden nur ein pathogenetisches
Moment, das ist die hochgradige mit dem Sinken der Eigenwärme verbundene
Schwäche , mag sie nun wie beim Skierödem angeboren oder wie beim Sklerem
erworben sein.
Beide haben aber mit der Sclerodermia adultorum nichts zu thun. Zwar
kommt letztere durchaus nicht ausschliesslich beim Erwachsenen vor, es finden
sich vielmehr unter 27 in der Literatur gesammelten Fällen 6, die allein dem ersten
Lebensjahre angehören, aber das Sklerem und die Sklerodermia zu identificiren,
wie Thirial wollte, oder mit Hennig die erstere für eine Vorstufe der letzteren
zu halten, ist klinisch und anatomisch absolut unbegründet und schon Roger,
Le Breton, Hervieux, Gilette und namentlich Rayer haben das Unhaltbare dieser
Anschauung dargethan. Man vergleiche diesbezüglich den Artikel „Sklerodermie".
Aetiologie. Die meisten von Skierödem befallenen Kinder sind mit
angeborener Lebensschwäche frühgeborene Neugeborene, bei denen die Energie
des Herzmuskels an und für sich herabgesetzt ist. Gewöhnlich beginnt die Affection
mit dem zweiten bis vierten Lebenstage. Nach dem achten Tage nur selten (Ritter,
Rayer, Bouchtjt). Congenital ist sie nur ausnahmsweise von Umberitjs, Suckling,
Billard beobachtet. Ungünstige Aussenverhältnisse , Kälte, schlecht ventilirte
Wohnräume, qualitativ und quantitativ ungenügende Nahrung, scheinen ihrer
Entstehung besonders förderlich zu sein. Daher stellen die Kellerwohnungen der
Armen, die Massenquartiere des Proletariats, Findelhäuser u. s. w. das grösste
Contingent. In der Privatpraxis wird man selten einen Fall von Skierödem zu
Gesicht bekommen. Jörg, Danyatj, Moreau u. A. haben niemals Sklerem gesehen.
Rayer hatte in einem Zeiträume von fünf Jahren, trotz seines enormen Materials,
das in den Ammenbureaus den ärmsten Classen zuzählte, nur 3mal, und in der
ganzen Zeit seiner Privatpraxis nur 2mal Sklerem zu beobachten Gelegenheit. Im
Findelhause zu Paris dagegen sollen nach seiner Angabe damals jährlich mehr
denn 150 Fälle vorgekommen sein. Auch Billard giebt an, im Jahre 1826 unter
5932 Findelkindern 240 mit Sklerem behaftete (i. e. 4*4°/0) gesehen zu haben;
doch muss hier bemerkt werden, dass die hohe Zahl wahrscheinlich aus der Ver-
wechslung von Sklerem und Skierödem resultirt. Worin in letzter Instanz die
Ursache der hohen Frequenz in diesen Anstalten gelegen ist, darf keineswegs als
bekannt angesehen werden , da man in einem wohl organisirten Findel-
hause kaum auf mangelhafte Bekleidung, Pflege, Ernährung,
schlechte Ventilation zurückgreifen d a r f, obwohl letzteres, namentlich
bei Ueberfüllung der Räume , vielleicht noch am leichtesten passiren dürfte.
Hervieux freilich beschuldigte die anhaltende Rückenlage der jüngeren Kinder
in solchen Anstalten in Verbindung mit Unzulässigkeiten der Ernährung, wodurch
der Blutkreislauf nachtheilig beeinflusst werde, wie man schon aus den vielen, bei
diesen Kindern auftretenden Atelektasen der Lunge und lobulären Pneumonien
schliessen könne, die die häufigsten Coincidenzerscheinungen beim Sklerem bildeten.
Jedenfalls wird man auf eine Summe von socialen und hygienischen
Missständen zurückgreifen müssen , die hier für die Häufigkeit des Skierödems
maassgebend wären. Diese selbst aber muss unter den heutigen Verhältnissen in
derartigen Instituten stark angezweifelt werden. Am meisten dürfte noch der
deprimirende Einfluss der Kälte auf die Organe des Kreislaufs, namentlich bei
nicht ausgetragenen Kindern geltend gemacht werden, obwohl aus den Findelhaus-
beobachtungen Billard's dies nicht hervorgeht.
SKLEREMA NEONATORUM. 555
Ob endlich auch bei dieser Affection ein Contagium eine Rolle spielt,
ist bisher nicht zu entscheiden. Einzelne mit Icterus, Omphalitis, Phlebitis umbili-
calis, Erysipelas und Phlegmone complicirte Fälle lassen es wenigstens nicht
unwahrscheinlich erscheinen, dass die Puerperalinfection der Neugeborenen ätio-
logisch mit dem Skierödem in Verbindung stehen kann. —
Pathologische Anatomie. Bei dem symptomatischen Sklerem
(Sklerema adiposumj finden wir , abgesehen von den durch die Grundkrankheit
bedingten Veränderungen, entsprechend den obigen Angaben, hochgradige Atrophie
und Vertrocknung der Haut mit Verdichtung ihrer Schichten, Bindegewebs-
wucherung und Fettschwund. Die Fettzellen sind zu eiförmigen, fast fettlosen
Gebilden geschrumpft, mit deutlich wahrnehmbaren Kernen. Das Lumen der Blut-
gefässe der Haut ist meist so reducirt , dass man dasselbe nicht erkennen kann.
Die starre Haut haftet fest an der Unterlage. Wesentlich anders gestaltet sich nun
das Bild bei unserer Krankheit, dem Skier ödem. Hier ist die asbestglänzende,
gespannte, häufig marmorirte oder alabasterweisse Haut stets von der Unterlage
bedeutend abgehoben, in Folge der ödematösen Infiltration des subcutanen Gewebes.
Ist die Infiltration eine sehr massige, so macht sich auch hier, je mehr die Aus-
dehnbarkeit der Haut erschöpft ist, eine nicht unbedeutende Starre der Haut mit
Cnbeweglichkeit der Theile bemerklich, wie das für das Sklerema (adiposumj
so charakteristisch ist, obwohl sie nie den Grad erreicht wie bei diesem. Sticht
man in die ödematöse Haut ein, oder macht man einen Einschnitt in dieselbe, so
sickert tropfenweise seröse, klare, zum Theil mit Blut gemischte und dann fleisch-
farbene Flüssigkeit aus, die zuweilen sehr schnell an der Luft gerinnen soll. Das
Fettgewebe erscheint auf dem Durchschnitte meist krümmlig oder körnig, nach
Bednar's Angabe zuweilen zu einer gelbbraunen Masse verdichtet.
Die inneren Organe befinden sich meist im Zustande der Hyperämie, so
die Gehirnhäute, das Gehirn, Lunge, Leber und Nieren. Zuweilen findet man das
Gehirn ödematös, von weisslich-heller Farbe, stark erweicht. Seröse und blutige
Ergüsse in die Ventrikel, Extravasate in die Substanz des Gehirns gehören zu
den Ausnahmen. Hypostatische Pneumonie, Atelektasen an den abhängigen Lungen-
partien, Ecchymosen auf dem Pericard und auf der Pleura, seröse und blutige
Ergüsse in den Pleurasack und in das Peritonäum sind die gewöhnlichen Befunde.
Seltener findet man ein beträchtliches peritonäales Exsudat vor und Erweichungen
in Leber, Milz, Niere und "Herz, die nach Buhl's Auffassung als Folgen paren-
chymatöser, durch das Oedem bedingter Entzündungen zu betrachten wären. In
vereinzelten, mit Puerperalinfection einhergehenden Fällen findet man Entzündungen
und Vereiterungen der Gelenke , Abscesse der Haut und Muskelsubstanz , auch
gallertige Infiltration der Muskelbinden (Vogel).
Symptomatologie. Die örtlichen Erscheinungen von Seiten der Haut,
die spätestens nach dem sechsten Lebenstage hervortreten , sind so bedeutungsvoll
und auch für das Auge imponirend, dass ihnen gegenüber die allgemeinen ge-
wöhnlich ganz in den Hintergrund treten. Da die meisten von Skierödem befallenen
Kinder mit angeborener Lebensschwäche behaftet sind, so zeichnen sie sich von vorn-
herein durch träge Bewegungen, anhaltenden Schlaf, erschwertes
Saug vermögen aus. Die Respiration ist oberflächlich, unregelmässig, verlangsamt;
der Puls ist klein aussetzend, unregelmässig beschleunigt, schwer fühlbar. Die
Herztöne sind kaum hörbar, die Eigenwärme ist um 1 — 2°/0 unter die Norm
gesunken. Sobald sich Oedem und Induration der Haut bemerklich machen, treten
diese Erscheinungen noch prägnanter hervor. Die Nahrungsaufnahme wird gänzlich
verweigert, ist auch wohl unmöglich, die Athmung stockt, die Kälte der äusseren
Bedeckungen nimmt zu , die Bewegungen sind fast gänzlich sistirt. Ab und zu
vernimmt man ein klägliches, kummervolles, unterdrücktes und umflortes oder
quiekendes Geschrei , dessen eigentümliches Timbre von dem Oedem der Stimm-
bänder und des Kehldeckels herzuleiten ist. Die Urinsecretion ist spärlich, der
Stuhl retardirt.
556 SKLEREMA NEONATORUM.
Die mehr und mehr ausgedehnte, glänzend gespannte Haut ist gleich-
förmig blassgelb oder marmorirt, hie und da mit Ecchymosen besetzt. Gewöhnlich,
dem Gesetze der Schwere folgend, breitet sich das Oedem , an den Waden und
Schenkeln beginnend , auf den Hals , auf die Arme und Hände aus ; die Theile
erscheinen wachsartig oder asbestglänzend, die Faltenbildung ist aufgehoben. All-
mälig werden auch die Scham-, die Nabelgegend, Hinterbacken und Rücken
ergriffen, nur in den seltensten Fällen auch die vorderen Brusttheile.
Während die Spannung der von Oedem befallenen Theile immer mehr
steigt, die Temperatur auf 29, 25, 22° C. sinkt*), die Athmung steroorös und
langsamer wird , Puls- und Herztöne nicht mehr wahrzunehmen sind , erlischt
gewöhnlich unter sichtbar zunehmender Schwäche und lethargischem Schlafe das
Leben. Nur in seltenen Fällen beschliessen partielle oder allgemeine tonische
Krämpfe die traurige Scene.
Als Complicationen beobachtet man am häufigsten Pneumonieen, ohne dass
diese jedoch zu einer wirklichen Temperatursteigerung , ausser im Beginne , Ver-
anlassung geben. Im Uebrigen hat man Icterus, Erysipelas, Pemphigus, Furunculosis
oder in seltenen Fällen Peritonitis , Arteriitis umbilicalis und Meningitis zugleich
mit dem Skierödem oder im Verlaufe desselben sich entwickeln sehen. In einem
Falle sah ich Skierödem bei einem mit Syjphilis hereditaria behafteten Kinde.
In den meisten Fällen dauert der Process 5 — 8 Tage, selten länger, bis
zu 20 Tagen. Durch die Complicationen gestaltet sich die ohnehin ungünstige
Prognose absolut schlecht. Die Sterblichkeit beziffert sich durchschnittlich auf
80 — 90%. Ch. West meinte, dass % der von Skierödem befallenen Kinder im
Findelhause zu Paris starben. Rayer äussert sich noch ungünstiger: „nach dem,
was wir gesehen und gelesen haben, glauben wir nicht, dass man in der grossen
Zahl von Fällen, die im Pariser Findelhause jährlich vorgekommen sind, zwei bis
drei Heilungen aufführen kann." Carminati dagegen meint, in Mailand würde x/3
der erkrankten Kinder gerettet. Die von mir beobachteten Kinder starben alle.
Kommt es zur Besserung, so sollen die erkrankten Hautstellen an Spannung ver-
lieren , weicher werden , die Bewegungen zunehmen , die Respirationsbewegungen
namentlich ausgiebiger werden. Mit der weiteren Abnahme des Oedems werden
Respiration und Puls kräftiger und accelerirter, die Sauglust beginnt, das Geschrei
wird normal, die Haut feucht und faltig. Alsdann beginnt die Reconvalescenz, die,
während die Haut sich schuppt, die Secretionen normal werden, 10 — 30 Tage in
Anspruch nimmt.
Diagnose. Nach dem Mitgetheilten ist die Diagnose leicht. Verwechs-
lungen mit Erytipelas neonatorum können leicht vermieden werden, wenn man
die fieberhaften und gastrischen Erscheinungen , den vermehrten Durst , die
Hautbeschaffenheit berücksichtigt. Die Skier od ermia (adultorum) hat mit dem
Skierödem überhaupt nichts gemein, so dass es überaus befremdend klingt, wenn
Hennig in der Skier osis adultorum doch nur „die weiter gediehenen Anfänge
des Sklerema neonatorum" erkennen kann. Was das Skier ödem und Sklerema
(adiposum) anlangt, so ist beiden gemeinschaftlich die hochgradige Schwäche, mag
sie nun angeboren sein , wie im ersten , oder erworben , wie im anderen Falle.
Gemeinschaftlich sind in Folge dessen auch beiden Krankheitszuständen die aus
der Schwäche resultirenden Erscheinungen, die Herzschwäche, die oberflächliche
Respiration, das Sinken der Eigenwärme, die Schlafsucht. Allein das Sklerema
adiposum hat nur symptomatische Bedeutung, als Schlussglied einer Reihe
erschöpfender Krankheitsprocesse , das Skierödem dagegen ist eine Krankheit sui
generis, unabhängig von anderen Krankheiten. Bei ersterein ist die Haut gespannt,
glanzlos, atrophisch, eng, prall und fest der Unterlage anhaftend, nicht von ihr
abhebbar, hart wie Stein, in Folge des festen, hammeltalgähnlichen Panniculus
adiposusj so dass der Fingerdruck keine Grube hinterlässt; die Gliedmassen sind
*) Die geringste Temperatur, die ich beobachtete, betrug 29'8° C.
SKLEREMA NEONATORUM. 557
vollkommen immobil. Beim Skierödem hingegen ist die Haut elastisch gespannt,
voller Glanz, weit und ausgedehnt und von der Unterlage abgehoben. Bretthärte
und totale Immobilität fehlen , der Fingerdruck hinterlässt fast stets eine Grube.
Alle diese Unterschiede sind sehr prägnant. Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen,
dass gelegentlich Skierödem und Sklerem zugleich bei einem Individuum zur
Beobachtung kommen. So trat bei einem von Skierödem befallenen Kinde durch
besondere Umstände eine so hochgradige Atrophie ein, dass nun nach Aufsaugung
des Oedems allmälig unter hochgradigem Marasmus sich Sklerem entwickelte.
Therapie. Da in der Mehrzahl der Fälle frühgeborene, mit angeborener
Lebensschwäche behaftete Kinder von dem Skierödem befallen werden, so hat man
bei derartigen Kindern gleich nach der Geburt gewisse prophylactische Maass-
regeln anzuwenden, um den Ausbruch der Krankheit zu verhüten.
Das Gebärzimmer sei nicht dumpfig, feucht oder zugig. Ist der Neu-
geborene apnoisch, so meinte Hennig, solle man vor der Unterbindung der Nabel-
schnur 1 — 2 Esslöffel Blut aus dem Nabelstrang lassen. Mich dünkt, man soll
sofort für die Manipulationen Sorge tragen, durch die man die schwache, ober-
flächliche und aussetzende Respiration flott macht. Gelingt dies, so hülle man das
Kind in gewärmte Watte oder Fettwolle ein, die man mit aromatischen und
belebenden Dämpfen durchräuchern .lassen kann. Man umgebe das Kind stets mit
Wärmflaschen oder warmen Sandsäcken. Sehr zweckmässig sind die im Moskauer
Findelhause üblichen Metallwiegen mit doppelten Wandungen, durch die man
continuirlich warmes Wasser fliessen lässt. — Jedwede Blutentziehung im Hennig'-
schen Sinne, oder wie sie Paletta, Duges, Leger und Valleix übten, ist zu
verwerfen, sie vermehrt die Schwäche und begünstigt die progressive Temperatur-
abnahme.
Reizende Einreibungen mit Branntwein, subcutane Aetherinjectionen, warme
Mandelöleinreibungen mit Zusatz von Spiritus camphoratus sind im Beginne des
Leidens zu versuchen. Wollen die Kinder nicht saugen, oder können sie es nicht
mehr, so flösse man ihnen theelöffelweise Milch mit russischem Thee und einem
Tropfen Rhum ein ; am besten wird dies gelingen mittelst der von m i r construirten
Saugflasche, die eine natürliche Säugpumpe darstellt, wodurch die Selbstbethätigung
des Kindes beim Trinken nicht nothwendig ist. Empfehlenswerth sind ferner kleine
Dosen von gutem Bordeaux , stark gezuckert und mit einigen Tropfen Pomeranzen-
essenz oder Zimmttinctur gemischt, sowie überhaupt alle Mittel, die die Energie
der Innervation scentren für Athmung, Blutbewegung und Wärmeproduction unter-
stützen. Früher wandte man vielfach Fomentationen und Cataplasmen an, Paletta
liebte warme, mit Campher und Chamillen vermischte Mehlumschläge; Auvity,
Carminati und Rochatjx versuchten erweichende, mit aromatischen Kräutern
versetzte Fomente und heisse Sandbäder. Rocbaux und Legraux übten die
Massage. Durch methodische Knetung und Streichung, in der Richtung von der
Peripherie dem Centrum zu, sollten die Blutstasen beseitigt, die Circulation
angeregt und die Respiration belebt werden, indem der Neugeborene den durch die
Manipulationen hervorgerufenen Schmerz zu äussern strebt. Späterhin verband
Legraux das Kneten mit passiven Bewegungen der Extremitäten, Beugungen und
Streckungen, die er in bestimmten Tempos innerhalb 24 Stunden 6 — 8mal wieder-
holen Hess. Hierdurch will er in einigen Fällen binnen 4 Tagen Heilung erzielt
haben ; zuerst schwand das Oedem, die Hautfärbung wurde normal, die Respiration
vertiefte sich, die Eigenwärme stieg. Hervieux, der im Hospiz der Maternite die
befallenen Pfleglinge mit Wärmflaschen, heissen Dämpfen und aromatischen Bädern
behandelte, ohne einen günstigen Erfolg zu erzielen, und die natürliche Erwärmung
des Kindes durch Contact mit der mütterlichen Atmosphäre für bei weitem ratio-
neller hält, glaubt, dass Legraux offenbar mit besserem Materiale zu thun gehabt
haben muss , d. h. mit Neugeborenen , die in jeder Beziehung unter günstigeren
Verhältnissen sich befanden, wenn er seiner Methode so treffliche Resultate nach-
rühmt; mit den enfants trouves der Findelhäuser würde er gewiss dabei wenig
558 SKLEREMA NEONATORUM. — SKLERITIS.
Glück gehabt Laben. Immerhin verdient seine Methode Beachtung ; er sowohl wie
Rochaux, Bakthez und mehrere neuere Autoren rühmen das Verfahren. Legendre
verband die methodische Massage mit aromatischen Bädern. Letztere dienten zur
Erwärmung der Kinder, erstere zur Anregung der Respirationsbewegungen in
Folge des Schmerzes, wodurch wiederum die Circulation in Gang gebracht wurde.
In der Summation dieser Wirkungen liegt der eventuelle günstige Erfolg.
Wo die Lungen mit Secret überfüllt, Atelektasen und pneumonische Ver-
dichtungen aufgetreten sind , da empfehlen sich warme Regendouchen , innerlich
Liquor Ammonii anisat. als excitirendes Expectorans. West empfahl Brechmittel
aus Ipecacuanha, Hennig Apomorphin.
Als Nährmittel diene Muttermilch mit Zusatz einiger Tropfen Spiritus
aethereus. Auch während der Reconvalescenz hat man der diätetischen und
excitirenden Behandlung volle Aufmerksamkeit zu schenken und warme aromatische
Bäder bis zur völligen Genesung fortzusetzen.
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et rigido ; Ephemerid. acad. naturae curios. Cent. IX. Observat. Bd. XXX, pag. 62. —
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Heyfelder, Henke, Meissner, Rilliet, Bouchut, "West, Steiner und Gerhardt.
Soltmann.
Skleritis besteht in einer entzündlichen Infiltration des Gewebes der
Sklera , an welcher sich das umgebende subconjunctivale (episklerale) und con-
junctivale Gewebe nur secundär betheiligt. Der Name Skleritis ist der Bezeichnung
Episkleritis vorzuziehen, welche von Einzelnen gebraucht wird, die von
einer anderen Auffassung über den Sitz des Uebels ausgingen (Wichierkiewicz).
Eine wirkliche Episkleritis dürfte die Subconjunctivitis Hieschberg's (Graefe's
Klin. Vorträge) sein.
In der Zone der Sklerotica, welche zunächst der Cornea liegt, treten
runde, licht oder dunkelbläulich roth gefärbte Flecken auf, welche über das normale
Niveau deutlich in Form eines flachen Hügels vorgewölbt erscheinen. Gewöhnlich
SKLERITIS. 559
besitzen sie einen beträchtlichen Durchmesser von 1/2 — 1 Ctin. und darüber. Die
über ihnen befindliche Bindehaut pflegt ebenfalls injicirt zu sein ; durch Verschieben
derselben sieht man jedoch leicht, dass die Schwellung nicht ihr, sondern der
darunter liegenden Sklera angehört. Oft sind die Knoten beim Drucke sehr
schmerzhaft. Subjective Beschwerden können vollständig fehlen, doch kommen auch
Lichtscheu, Thränenfluss und Ciliarschmerzen mitunter sogar in heftigem Grade vor.
Sehstörung, insoweit sie nicht hiedurch bedingt wird, rührt stets von den gleich
zu erwähnenden Complicationen her.
Nachdem ein solcher Knoten mehrere Wochen bestanden hat, wird er
flacher, blasst ab und es kann vollständige Heilung eingetreten sein. Häufiger
entstehen jedoch während der Rückbildung des einen Hügels an anderen Stellen
neue Herde und dadurch wird die Dauer des Leidens sehr verlängert, oft auf
viele Monate. Es können auch längere, selbst Jahre lange Pausen zwischen den
einzelnen entzündlichen Anfällen eintreten.
Die Skleritis combinirt sich öfters mit Entzündung der Iris und der
Cornea, und gestaltet sich dadurch zu einem viel schwereren uud für das Seh-
vermögen gefährlicheren Leiden, v. Arlt theilt die Skleritis hiernach überhaupt in
zwei Gruppen, in die einfache und in die Combi nirte Skleritis (Kerato- vel Uveo-
scleritis); Schweigger thut dasselbe.
Bei der schwereren Form treten auf der Cornea, besonders wenn die
Herde sich nahe an derselben befinden , zunächst ihrer Peripherie , aber mitunter
auch mehr im Centrum, rundliche, trübe Flecken auf, welche nicht geschwürig
zerfallen , und in der Regel bleibende Trübungen zurücklassen , die dann in der
Farbe der Sklera gleichen, so dass die Grenze der letzteren, wenn die Trübungen
randständig sind, gleichsam in unregelmässiger Weise in die Cornea hereingerückt
scheint (Sklerosirung der Cornea, sklerosirende Keratitis). Sie entstehen durch
Einbettung von Fett oder kalkähnlichen Körnchen und durch Bildung von Binde-
gewebe zwischen den einzelnen Corneallamellen. In anderen Fällen ist es eine
typische interstitielle Keratitis (scrophulosa oder ex lue congenita), welche gleich-
zeitig mit Skleritis auftritt oder sich letzterer in ihrem Verlaufe beigesellt.;
v. Arlt beschreibt als seltenes Vorkommniss Fälle, bei denen in der
Cornealperipherie unter starker Ciliarinjection , Lichtscheu und Thränenfluss, licht-
graue oder lichtgelbe Infiltration des Skleralfalzes auftritt, welche noch etwas in's
Bereich der Cornea hineinreicht, leicht aufgewölbt erscheint, die Form eines Meniscus
darbietet, an dessen Concavität sich eine schmale, hofähnliche Trübung anschliesst,
die nach der Heilung grauweiss aussieht und sich von einem Arcus senilis, für
den sie gehalten werden könnte, durch ihr unmittelbares Anschliessen an die
Sklera unterscheidet. Ich habe erst in letzter Zeit zwei solche Fälle gesehen; an
dem einen fehlte jede Hervor Wölbung , doch konnte man ihn durch gleichzeitiges
Vorhandensein eines anderen skleritischen Herdes mit Sicherheit als Skleritis
diagnosticiren.
Ebenso wie die Cornea kann die Iris oder auch das Corpus ciliare
an der Krankheit participiren und gerade diese Complication ist es , welche das
Sehvermögen in unheilvoller Weise alteriren kann.
Wie bereits erwähnt, kann die Skleritis in vollständige Heilung enden.
Es bleibt für einige Zeit oder auch für immer eine schmutzige, grauliche, oder
schiefergraue Färbung der befallenen Skleralpartien zurück, welche jedoch das
Auge ausser in cosmetischer Hinsicht in keiner Weise schädigt ; dies gilt besonders
von der einfachen Form. Bei der complicirten Form kann es aber, wenn nach und
nach die ganze um die Cornea gelegene Skleralzone von der Entzündung ergriffen
wurde, zu einer solchen Verdünnung der Sklera kommen, dass diese dem normalen
Binnendrucke des Auges nachgiebt und ektatisch wird. Es geschieht dies in
doppelter Weise. Entweder rückt die Cornea in toto nach vorn und es bekömmt
der Bulbus eine mehr birnförmige Gestalt, oder es wird die verdünnte Partie
wulstförmig vorgebaucht, so dass dann der Augapfel nicht nur von vorn nach hinten
SKLERITIS. — SKLERODERMA.
länger geworden ist, sondern auch überhaupt in toto vergrössert wurde ; es kommt
zur Bildung: eines Staphyloma corporis ciliaris oder eines Intercalarstaphyloms.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Skleritis immer mit einer allgemeinen
Gesundheitsstörung im Zusammenhange steht, wenn dieselbe auch nicht in allen
Fällen aufzufinden ist. Vor Allem gehören hieher Scrophulose und angeborene
oder erworbene Syphilis, von welcher die erstere meist die combinirte Form
hervorruft. Bei Frauen müssen oft menstruale Störungen als Ursache angenommen
werden ; auch chronischer Rheumatismus (v. Wecker) scheint nicht selten die
Veranlassung zu sein.
Dem entsprechend wird auch die Behandlung vor Allem eine allgemeine
sein müssen. Man wird Jodmittel (Jodkali und jodhaltige Mineralwässer), Eisen-
präparate oder Mercurialien je nach dem Grundleiden in Anwendung bringen; in
vielen Fällen ist es gerathen , salicylsaures Natron (2 — 3 Gramm pro die) durch
einige Zeit nehmen zu lassen. Auch Pilocarpininjectionen wurden empfohlen. Ausser-
dem ist die Diät zu regeln und sind leicht solvirende Mittel, vorzugsweise
Mineralwässer, sehr am Platze. Besonders werden diese in Anwendung gezogen
werden, wenn die Grundursache nicht bekannt ist.
Eine locale Therapie ist in vielen Fällen nicht nöthig. Atropin wird stets
dann einzuträufeln geboten sein , wo Irits vorhanden ist oder droht ; bei der
nicht cornplicirten Form ist es nur in seltenen Fällen nothwendig, wenn es die
subjectiven Beschwerden verlangen. Bei einem Herrn, bei dem die Krankheit
sicher mit rheumatischen Gelenksaffectionen in Connex stand , und der bei jeder
accommodativen Anstrengung starke Schmerzen hatte, wurden diese durch Atropin
vollkommen gehoben.
In neuerer Zeit wurden namentlich zwei Proceduren empfohlen. Adamtk
scarificirt die skleritischen Herde mittelst eines tiefen Einschnittes (eventuell 2 — 3),
Schöler spaltet die Bindehaut und schabt dann mittelst eines DESMARBES'schen
Scarificateurs die erkrankte Partie wiederholt ab, bis heftige Blutung entsteht, und
empfiehlt dieses Verfahren namentlich bei starken Schmerzen. Wicherklewicz schabt
mit einem scharfen Löffel. Ein zweites Verfahren, dem gute Erfolge, namentlich in
Beziehung auf die Dauer der Krankheit nachgerühmt werden, ist die Massage, die
zuerst von Herm. Pagenstecher angerathen wurde. Klein übte sie gleichfalls.
Literatur. Von den Lehr- und Handbüchern ist besonders Sämisch in Graefe-
Sämisch's Handb. Bd. IV und v. Arlt, Klin. Darstellung der Krankheiten des Auges zu
envähnen. Ausserdem siehe: Wicherkiewicz, Centralbl. für prakt. Augenheilk. 1880
und 1878. — Adamük, Ibid. 1878. — Herrn. Pagenstecher, Ibid. 1878 und Archiv
für Augenheilk. Bd. X. — Scholl er, Jahresber. seiner Anstalt. 1878 und 1879. — Klein,
Wiener med. Presse 1882. r,
K e uss.
Skleroderma. Sclerema adultorum ist die Bezeichnung , unter
welcher Tbtrial im Jahre 1845 die nun zu besprechende, höchst eigenthümliche
und vor ihm nur von Cürcio (1752), Henke (1809) und Alibert (1817)
unverkennbar beschriebene Hautaffection vorgeführt hat. Später tauchten für dieselbe
noch die Namen Skleroderma , Skieroma , Chorionitis , Sclerostenosis cutanea
(Forget), Cutis tensa chronica (Fuchs) , „Keloid von Addison" , E' ejjhantiasis
sclerosa (Rasmussen) , cicatrisirendes Hautsklerem (Wernicej:) , Sclerosis telae
cellulosae et adiposae (Wilson) u. A. auf. Es dürfte jedoch gerathen sein, die
Bezeichnung Skleroderma (sc. adultorum) festzuhalten, gegenüber dem anknüpfend
zu besprechenden Sclerema neonatorum.
Von der im Ganzen seltenen Sklerodermie liegt in der Literatur eine
genügend reiche Casuistik vor, die gegenwärtig bis an 70 Fälle hinanreichen
dürfte, darunter mindestens zehn meiner eigenen Beobachtung. Dennoch ist unsere
Kenntniss über diese Krankheit kaum weiter gelangt, als bis zu einer ziemlich
exacten äusseren Symptomatik.
Symptomatologie. Scleroclerma , Sclerema adultorum ist eine
chronisch verlaufende Erkrankung und charakterisirt sich durch spontan, ohne
SKLERODERMA. 561
Entzündungserscheinungen oder merkliche Alteration des Gesammtorganismus auf-
tretende, diffuse , brettartige Härte , Starrheit und relative Verkürzung einzelner
beschränkter, oder sehr ausgebreiteter Hautpartien.
Die Affection befällt in unregelmässiger Weise die verschiedensten Haut-
stellen, vorwaltend der oberen Körperhälfte, seltener die Unterextremitäten und
beschränkt sich entweder auf kleinere Hautbezirke, zwischen welchen die übrige
Haut vollständig normal bleibt, oder ist über grosse Hautstrecken , den Rücken,
die Gliedmassen , das Gesicht , diffus ausgebreitet. Je nach diesen Verhältnissen
der Localisation , Ausdehnung, sowie des Stadiums , in welchem sich der örtliche
Process und die Gesammterkrankung befinden, präsentirt sich auch der individuelle
Fall der Sklerodermie unter einer bald mehr allgemein zutreffenden, bald origineller
gestalteten Form.
Das prägnanteste Symptom liefert die Sklerose der Haut. Sie erscheint
in Form von thaler- , flachhandgrossen und grösseren , unregelmässigen Flecken,
bandartigen , stramm angezogenen , eingesenkten oder leistenartig vorspringenden
Streifen, oder als diffuse und gleichmässige Verdichtung der ganzen Decke. Die
sklerosirte Hautpartie springt massig vor, oder ist flach, oder etwas eingesunken,
an der Oberfläche glatt, oder mit gerunzelter, dünnschuppiger Epidermis bekleidet,
speckartig glänzend, oder matt, fahlweiss, wachsartig, oder wie Alabaster, oder
rosa- bis braunroth, manchmal mit Sommersprossen ähnlichen, von weissen, pigment-
losen und etwas eingesunkenen Punkten und Strichen untermischten , gelb- bis
dunkelbraunen Pigmentflecken besetzt , oder diffus dunkelbraun bis bronzebraun
gefärbt. Unter dem Drucke des Fingers entsteht an der sklerosirten Haut keine
dauernde Einsenkung und fühlt sich dieselbe bretthart, starr, kühl an, wie an
einem gefrorenen Leichnam. Sie kann kaum, oder gar nicht in eine Falte gehoben
oder über ihrer Unterlage, Fascien, Muskeln, Periost, verschoben werden, so dass
sie an die letzteren kurz angelöthet, mit ihnen eins zu sein scheint. Zugleich ist
sie verkürzt, für den von ihr umhüllten Inhalt zu enge geworden. Ueber die Beuge
der Arm- und Fingergelenke laufend fixirt die Sklerose diese in halber Beugung
und wird die Haut der Streckseiten passiv gespannt. Ist das Gesicht befallen,
erscheinen dessen Züge wie erstarrt, ganz und gar unbeweglich, unfähig des
geringsten Mienenspieles. Weder Schmerz noch Freude vermag das „versteinerte"
Antlitz zu verändern, als war' es in Marmor gehauen. Durch die Verkürzung
der unbeweglich-starren Haut ist zugleich die Nase verschmächtigt , der Mund
verkleinert und nur unvollkommen zu öffnen. Streifenförmige sklerotische Haut-
stellen senken sich manchmal, wie von einem subcutanen strammen Band angezogen,
tief unter das Hautniveau, oder springen auch mit einem Rande leistenförmig vor.
Derartig streicht öfters die Sklerose über die Mamma, deren Wölbung in zwei
Hälften theilend, oder die Warze nabeiförmig einziehend. Die Temperatur der
sklerosirten Hautstellen ist normal, manchmal massig erhöht, in der Regel jedoch
um ein Geringes, bis zu l1/2°, niedriger als an der normalen Haut. Druck wird
ziemlich schmerzhaft empfunden, während subjectiv selten Schmerz oder Brennen,
meist nur Spannungsgefühl und Jucken , oder tief (in den Knochen sitzende)
Schmerzen wahrgenommen werden. Die Tastempfindung ist meist normal, selten
etwas abgestumpft. Die Schweisssecretion an den verhärteten Hautstellen ist nur
einigemal unbedeutend alterirt, die Talgsecretion normal gefunden worden. Ebenso
hindert die Sklerodermie auch in anderer Rücksicht zunächst nicht die Nutritions- und
Functionsfähigkeit der von ihr befallenen Cutis, so dass dieselbe z. B. auf chemische
und mechanische Reize in Entzündung und Verschwärung gerathen kann und von
Erysipel, Acne, Variola, Zostereruption betroffen gesehen worden ist.
Auch die Schleimhaut der Zunge, des Zahnfleisches, des weichen Gaumens,
Pharynx war in einzelnen Fällen (Arning, Sedgwick, Fagge), je einmal auch
die Scheide mitsammt der Vaginalportion (Heller) und die Kehlkopfauskleidung
der Sitz von harten, bandartigen, retrahirten Streifen.
Real-Eucyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 36
SKLERODERilA.
Die Entwicklung der Sklerodermie erfolgt meist in der vorher örtlich
gar nicht alterirten Haut ziemlich acut und unvermerkt binnen wenigen Tagen.
Zufällige Berührung, oder das Gefühl von Spannung macht die Kranken erst auf
die Veränderung aufmerksam. Nicht selten auch geht der Verhärtung an manchen
Stellen ödematöse, teigige Infiltration oder lebhafte Injectionsröthe durch einige
Tage voraus. Mit der charakteristischen Sklerosirung der Hautstelle hat der Process
örtlich seinen Höhepunkt erreicht. Der sklerotische Plaque oder Streifen kann
nunmehr durch verschieden lange Zeit stationär bleiben, oder nach der Nachbarschaft
sich vergrössern , was bisweilen , namentlich bei den scharf begrenzten Flecken,
unter Voranschreiten eines rosenrothen Injectionshofes erfolgt.
Der weitere Verlauf kann sich nunmehr in zweifacher Weise gestalten.
Entweder schwindet die Sklerose vollständig und erlangt die Hautstelle ihre frühere
Beschaffenheit. Geschmeidigkeit und Beweglichkeit, u. z. mag dies an einzelnen
Partien schon nach wenigen Tagen, an anderen erst nach vielen Monaten erfolgen ;
damit ist allerdings nicht auch ein Erlöschen der Gesammterkrankung gegeben,
da im Gegentheil zumeist gleichzeitig andere Hautstellen, oder auch bereits einmal
genesene wieder neuerdings von dem Processe befallen werden. Oder die anfangs
derbe , hart und dick sich anfühlende sklerotische Haut wird atrophisch : dünn,
pergamentartig, narbig weiss oder roth glänzend, unregelmässig pigment-gesprenkelt,
aufs höchste verkürzt, gespannt und fixirt: auch das unterliegende Fettpolster,
ja auch die Muskeln schwinden unter ihrem Drucke, so dass die atrophische
Haut fast direct dem Knochen angelöthet zu sein scheint. Es kommt in ihr oft
zu Verschwärung. namentlich über den Streckseiten der Gelenke. Dieser Zustand
darf demnach nicht . wie dies früher versucht worden , als eine besondere Form
cicatrisirendes Hautsklerem, Webxicke . gegenüber dem früher geschilderten und
als Sclerema elevatum sich darstellenden aufgefasst werden, sondern nur als End-
stadium ('Stadium atrophicum) des mit erhabener Verdickung Stadium elevatum)
beginnenden Processes der Sklerodermie. Vom atrophischen Stadium ist eine Eück-
kehr zur Norm nicht mehr möglich.
Verlauf und Ausgang der Krankheit hängen von dem geschilderten Verlaufe
des örtlichen Processes ab. Mehrere Jahre hindurch kann die Sklerodermie mit
abwechselnder Localisation bestehen und, wie dies in wenigen Fällen beobachtet
worden, heilen, indem die Haut wieder normal wurde und keine neue Sklerose
auftrat. In den meisten Fällen aber nehmen sowohl die Sklerosirungsherde , auch
bei anfänglichem Schwanken an Zahl und Ausdehnung zu und den Ausgang in
Schrumpfung. Damit wird auch der Process nicht nur für die Haut, sondern für
den Gesammtorganismus bedenklich. Obgleich das Allgemeinbefinden weder im
Beginne, noch auch innerhalb der ersten Jahre der Erkrankung beeinträchtigt zu
sein scheint, die Kranken gut genährt und in keiner wichtigen Function gestört sind,
so schleicht doch allmälig unter Gemüthsverstimmung. Schlaflosigkeit, rheumatischen
und neuralgischen Schmerzen ein Zustand von allgemeiner Ernährungsdepression
oder ausgesprochenem Marasmus herbei. Ein typisches Bild dieser späteren Stadien
zu entwerfen, gestattet das bisherige Beobachtungsmaterial noch nicht. Der tödtliche
Ausgang, welcher in etwa einem Dutzend Fällen bisher beobachtet worden ist
FÖBSTER, KÖHLEE, GlNTRAE, AüSPETZ , ASXING . RASMUSSEN, SlEIX , WaETEB,
Rossbach, Hellee, Madeb-Cbiabi) . erfolgte unter den mannigfachsten, wie es
scheint . individuellen und nicht mit dem Processe in der Haut direct zusammen-
hängenden Complicationen. als : Morb. Brightii. Emphysem . Bronchiektasie. Lungen-
tuberkulose. Pneumonie, Vitium cordis. Anämie.
Anatomie. Die anatomische Veränderung, welche der so ganz eigen-
artig sich präsenttienden Sklerodermie zu Grunde liegt, zu eruiren. ist bisher nicht
gelungen . obgleich sowohl todte . als vom Lebenden exscindirte Haut wiederholt
und zum Theile %on hervorragenden Histologen untersucht worden ist. Ueberein-
sümmend constatiren alle Entersueher eine Verdichtung und Verdickung des
Bindegewebsfilzes der Cutis, neben Vermehrung der elastischen Fasern, auf Kosten
SKLERODEKMA. 563
der Unter hautzellschichte und der atrophisirenden Fettläppchen, so dass das homogen
beschaffene , derbfaserige und engmaschige Cutisgewebe bis dicht an die Fascie
oder Periost reicht und ohne lockere Zwischenschichte diesen anhängt. Nebstdem
wird Pigmentreichthum im Rete und im Corium, Ektasie der Schweissdrüsen,
Hypertrophie der organischen Muskelfasern (Neumann, Rossbach) angegeben,
welche Veränderungen jedoch mehr von consecutiver Bedeutung zu sein scheinen.
Wesentlicher dürfte vielleicht sein die Verengerung der Gefässe, welche theils
durch dicht anliegende Parallelzüge von sklerosirten Bindegewebsfasern, theils durch
Lymphzellenlagen comprimirt zu sein scheinen, die streckenweise die Gefässe in
mehrfacher Breite der letzteren scheidenartig umgeben (Rasmussen, Kaposi). Allein
ich vermag dennoch nicht, wie Chiari meint, den Zustand als einen aus Ent-
zündung hervorgegangenen anzusehen, da sowohl klinisch, als histologisch alle
Merkmale derselben fehlen, in letzterer Beziehung namentlich constatirt werden
muss, dass auch in frischen Sklerosisherden weder Ausdehnung der Gefässe, noch
ödematöse Erweiterung der Gewebsmaschen sich vorgefunden hat. Verödung der
Follikel und Drüsen stellt sich erst im Stadium atrophicum ein.
Aetiologie. So ist denn rücksichtlich der Ursache nicht einmal der
die Haut selbst betreffenden Veränderung, geschweige denn des Gesammtprocesses
der Sklerodermie eine Aufklärung durch die anatomischen Untersuchungen bisher
gewonnen worden. Nur in Heller's Fall mochte das Vorkommniss einer Verödung
des Ductus thoracicus die Annahme gestatten, dass eine Rückstauung und Stagnirung
der Lymphe in der Cutis und als deren Folge die Hypertrophie zu Stande kam.
Obgleich auch ich vor Jahren ein stellenweises Stagniren der Lymphe in den
Gewebsräumen der Cutis als Grundlage der örtlichen Veränderung anzunehmen
geneigt war, auch Auspitz neuerlich die Affection auf Stauung der Lymphe zurück-
führt, so glaube ich doch nicht, dass ein mechanisches Hinderniss in einem Lymph-
Sammelgefässe dafür beschuldigt werden kann , da die Sklerodermie nicht dem
Sammelgebiet eines Lymphgefässes entsprechend, sondern ganz unregelmässig
localisirt auftritt und andererseits bei exquisit mechanischer Stauung der Lymphe
eine andere Art von Hypertrophie (Elephantiasis Arabum), aber nicht die ganz
specifische Sklerodermie sich entwickelt. Man darf daher wohl eine vom Central-
nervensystem influencirte trophische Störung als entfernte Ursache der Krankheit
annehmen, obgleich eine solche materiell noch nicht erwiesen werden konnte. Damit
stimmte vielleicht auch die Angabe Einzelner, dass die Krankheit wenige Tage nach
einer heftigen Gemütbsbewegung, grossem Schrecken , aufgetreten sei. In anderen
Fällen wird vorausgegangenes und recidivirendes Erysipel , oder Rheumatismus
angegeben ; in der Mehrzahl jedoch fehlt es an jeder plausiblen ätiologischen
Grundlage. Das weibliche Geschlecht participirt zu drei Viertheilen an der vor-
liegenden Summe der Sklerodermie- Fälle. Dass unter solchen Umständen, und da
auch Personen mit Herzfehlern, Morb. Brightii, Tuberkulose und anderen die
Ernährung alterirenden Complicationen darunter sich befanden, auch Chloranämie mit
unter den Ursachen aufgeführt wird, ist begreiflich, aber nicht aufklärend, da bei den
Meisten, wenigstens in den ersten Jahren, die Ernährung ganz gut zu sein scheint.
Die bisherigen Fälle betrafen vorwaltend Personen mittleren Lebensalters,
doch sind auch einzelne Erkrankungen an älteren Individuen, sowie an sechs- und
zweijährigen (Cruse) Kindern gesehen worden.
Diagnose. Die Diagnose der Sklerodermie fällt nicht schwer, wofern
das Stadium elevatum zugegen ist. Auch der minder Erfahrene wird, sobald er
beim Anfühlen der Haut den Eindruck erhält, als wenn er einen gefrorenen Cadaver
unter den Händen hätte, sofort an Skleroderma denken. Das (wahre) Keloid fühlt
sich nie so starr und unbeweglich an und erscheint auch nie in diffuser Ausbreitung.
Im atrophischen Stadium dagegen, sowie wenn nur ein einzelner Herd zugegen,
kann die Unterscheidung gegenüber gewissen Formen der Lepra (Morphaea atro-
phica et lardacea Wilson und Pigment-Lepra), sowie Xeroderma mihi, ihre
Schwierigkeit haben.
36*
564 3KLER0DERMA. — SODEN.
Prognose. Die Vorhersage bei Sklerodermie ist nicht günstig, da die
meisten Fälle unbestimmt lange dauern und in's Stadium der Atrophie gelangen,
von wo eine Rückkehr zur Norm nicht mehr möglich ist. Es scheint sogar durchwegs
Marasmus und direct, oder durch eine in diesem begründete Complication , das
letale Ende der endliche Ausgang der Krankheit zu sein. So lange aber nur
das Stadium Scleroseos zugegen , kann immerhin die Hoffnung auf Genesung
aufrecht gehalten werden.
Behandlung. Die Therapie, obgleich in keiner Beziehung verlässlich,
kann doch in diesem Stadium und in einzelnen Fällen Erspriessliches leisten, wofern
sie darauf gerichtet ist, die allgemeine Ernährung und den Stoffumsatz anzuregen.
Es empfehlen sich innerlich Roborantia, Eisen, Chinin, Amara, Leberthran, Arsen,
nebstdem Wannen-, Dampf-, Moor-, Eisen- und Soolbäder, im Sommer Milch- und
Trinkcuren, Aufenthalt im Gebirge, See- und Flussbäder. Oertlich können noch
milde Fette, Salben von Cuprum oxydat., Glycerin, Vaseline eingerieben und mit
methodischer Massage verbunden werden. Inunctionen mittelst Ungu. cinereum
und Jodkali innerlich haben sich unwirksam erwiesen. Dagegen wollen Einige
von der Anwendung des constanten Stromes günstige Einwirkung erfahren haben.
Kaposi.
Sklerom (<ncA™xi>fi.a), Verhärtung = Sklerose.
Skleronyxis , Skleroticonyxis (rr/lr,fa und vutresiv, durchbohren) , siehe
„Cataract", III, pag. 57.
Sklerophthalmie (<7x,A7)p6? und ö^S-aAps) = Xerom, Xerophthalmie,
Trockenheit des Auges (der Bindehaut), z. B. bei Dacryadenitis.
Sklerose (T/.).r'pw7'.; von <r/j;rtzU) , Verhärtung , Induration. — Sklerose
des Gehirns, vgl. „Gehirn", V, pag. 583; des Rückenmarks, vgl. „Myelitis
chronica", IX, pag. 379, Seitenstrangsklerose, Tabes dorsalis.
Sklerotomie, s. „Glaucom", VI, pag. 92.
Sklerotyrbe, s. »Paralysis agüans", X, pag. 322.
Skybala (ocußaÄa), verhärtete Kothmassen.
Smegma (ay.rffu.v.), Präputialsecret, s. „Balanitis", I, pag. 727.
Smeksz oder Tatra-Füred in Ungarn, nächste Eisenbahnstation Poprad-
Felka der Kaschau-Oderberger Eisenbahn, 1011 Meter hoch gelegen, hat mehrere
an Kohlensäure reiche Säuerlinge. Neu-Tatra-Füred ist als Sanatorium mit Höhen-
lage, ähnlich wie Davos, auch für den Winter eingerichtet. Im Herbste Traubencur.
K.
Smilacin, s. „Sarsaparilla", XI, pag. 682.
Sodbrennen, s. Dyspepsie, IV, pag. 239.
Soden, Provinz Hessen-Nassau, am Fusse des südlichen Abhanges des
mittleren Taunus, in einem muldenförmigen, sich von OSO. nach NNW. erstreckenden
Thale, 142 Meter hoch gelegen, Eisenbahnstation, zeichnet sich durch sein günstiges
Clima wie durch seine zahlreichen kohlensäurehaltigen Kochsalzquellen aus, deren
Temperatur von 15 — 30° C. differirt. Das Clima ist sehr milde und gleichmässig.
Die mittlere Jahrestemperatur beträgt -f 10° C, das Mittel der Sommertemperatur
-fl8-7°C. Der Feuchtigkeitsgehalt der Luft ist nicht unbeträchtlich und ziemlich
constant; heftigere Windströmungen sind selten. Diese Beschaffenheit des Climas
eignet sich besonders für Kranke mit gesteigerter Erregbarkeit des Blutgefäss-
und Nervensystems, catarrhalische Affectionen der Respirationsorgane mit massiger
Secretion der Schleimhäute.
Die Kochsalzwässer Sodens, welche durch Zahlen bezeichnet werden,
sind in ihrer Zusammensetzung verschieden und bilden zwei Gruppen : die kohlen-
sauren Alkalien und Erden führenden und die reinen Kochsalzwässer. Zur ersten
SODEN.
SODOMIE.
565
Gruppe gehören die Quellen I, III und X, in ihrer Temperatur zwischen 18*7°
und 24° C schwankend und wenig gehaltreich. Zu der zweiten Gruppe, der reinen
Kochsalzquellen, gehören die Quellen IV, VI A, VI B, VII, XVIII, XIX.
Diese sämmtlichen Quellen werden zum Trinken benützt , manche , wie
Nr. III und IV, mit Zusatz von Ziegenmolke; zu Bädern verwendet man die
Quellen IV , VI A und B, VII und den erbohrten Soolsprudel XIX. Die in der
Nähe Sodens befindliche Neuenhainer Quelle ist ein Eisensäuerling.
Es enthalten in 1000 Theilen Wasser:
Chlornatrium . . .
Chlorkalium . . .
Chlorlithium . . .
Schwefels. Kali . .
Kohlens. Natron . .
Kohlens. Magnesia .
Kohlens. Eisenoxydul
Summe der fest. Bestandtheile
Freie Kohlens. in Cc.
Temp. in Grad 0. .
Quelle
I | III | X | IV | VIA | VI B | VII 1 XVIII | XIX
Milch-
brunnen
Warm-
biunnen
Schlangen-
bad
Sool-
bruiinen
Wilhelms-
brnnnea
Schwefel-
brunnen
Major
Wiesen-
brunnen
Sool-
sprudel
2-425
0-136
0-0006
0-837
0-012
0^280
0-007
3-425
0119
0-0022
0-048
0-134
0-378
o-ooi
0-298
0-012
0-018
0-018
0 058
0-006
14-232
0-656
0-0045
0-314
0-142
0-015
13554
0329
0-167
0-039
10-073
0338
0-156
0-028
14-400
0-530
0 003
0 030
0-187
0-028
11-231
0-265
0185
0-028
14550
0-539
00015
0-073
0-066
3'399
1156
18-7
4-781
951-4
24-3
0603
122-6
18 9
bis
19-7
16-925
845-1
21-5
14-447
1500-0
18-7
11-645
1250-0
17
16737
1069-8
19-7
12-968
1312-5
12
16-867
756-0
30 5
Die vorzüglichsten Indicationen für den Curgebrauch in Soden sind:
1. Chronische catarrhalis che Erkrankungen des Magens und Darmes
bei zarten, schwächlichen, reizbaren, scrophulösen Individuen.
2. Chronische Kehlkopf- und Bronchialcatarrhe zarter, leicht zu
Gefässerregung oder Erkältung neigender, sowie scrophulöser Personen. Lungen-
phthise in nicht vorgeschrittenem Stadium.
3. Scrophulose, namentlich die erethische Form, leichte Formen von
Chlorose und Anämie, verschiedene Erkrankungen der weiblichen
Sexualorgane. Die Cureinrichtungen sind sehr gut. K.
Soden bei Aschaffenburg in Baiern (nächste Eisenbahnstation Obernburg)
liegt 141 Meter hoch in einem Bergkessel und besitzt eine jod- und bromhaltige
Soole von 1-4 Pevcent Kalksalzgehalt, die zu Bädern, und eine schwache Kochsalz-
quelle, welche zu Trinkcuren benützt wird. Die Soole enthält in 1000 Theilen
Wasser, 21*05 feste Bestandtheile, darunter:
Chlornatrium 14-57
Brommagnesium . 0*067
Chlorcalcium 5-14
Chlormagnesium 0*64
Schwefelsaurer Kalk 0'71
Die Kochsalzquelle hat in 1000 Theilen : feste Bestandtheile 8-41, darunter
Chlornatrium 5*21, Chlorcalcium 2-45, Chlormagnesium 0*311. K.
Sodomie (forensisch). Unter Sodomie versteht man gewöhnlich geschlecht-
liche Vermischung mit Thieren. Diese Bezeichnung ist jedoch nicht richtig, da
die Unzuchtsform, wegen welcher laut biblischen Angaben Sodoma und Gomorrha
dem göttlichen Strafgericht verfielen, offenbar Päderastie gewesen war. Daher
wird auch der Ausdruck Sodomie von manchen Autoren, insbesondere von Tardieü
{Attentats aux moeurs, 7. Aufl. 1878) mit Päderastie identificirt und nur insofern
ein Unterschied gemacht, als mit letzterem Ausdruck etymologisch richtig die
„Knabenschändung" katexochen , mit ersterem die übrigen Formen des „Coitus
analis" bezeichnet werden. Für die geschlechtliche Vermischung mit Thieren hat
Tardieu (1. c. 10) die Bezeichnung „bestialite".
566 SODOMIE.
Die einschlägigen strafgesetzlichen Bestimmungen lauten:
Deutsches Strafgesetz. §. 175: Die widernatürliche Unzucht, welche . . . ,
von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniss zu bestrafen; auch kann auf
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Oesterre ichisch es Strafgesetz. §. 129: Als Verbrechen werden auch nach-
stehende Arten der Unzucht bestraft: I. Unzucht wider die Natur, das ist a) mit Thieren,
§.130. Die Strafe ist schwerer Kerker von 1 — 5 Jahren.
Gerichtsärztliche Untersuchungen wegen Sodomie sind sehr seltene Vor-
kommnisse. Meist handelt es sich dann um geschlechtlichen Missbrauch weiblicher
Thiere durch Männer. In der Regel sind es grössere Thiere, die auf diese Art
missbraucht werden : Stuten , Kühe , Ziegen , seltener Hündinnen. Nach Tardieü
(1. c.) wurde 1867 in Paris ein 35jähriger Mann verurtheilt, der wiederholt —
Hennen missbraucht hatte und bei frischer That erwischt wurde und auch
Schauenstein (Lehrb. der ger. Med. 1875, pag. 161) erwähnt eines der-
artigen Falles.
Noch seltener ist Sodomie mit männlichen Thieren von Seite weiblicher
Individuen. Fälle dieser Art werden von Schuhmacher, Pf^ff (Das Haar in
forensischer Beziehung, 1866, pag. 79) und Schauenstein (1. c. 161) berichtet.
Ob es sich um wirklichen Coitus oder anderweitige Unzucht handelte, muss dahin-
gestellt bleiben.
Merkwürdigerweise berichtet Tardieu auch über einen Fall, wo in
Frage stand , ob ein Mann von einem männlichen Hunde sich habe per anum
gebrauchen lassen können. Der Mann wurde nämlich im Walde in einer
so zu deutenden Situation überrascht, gab jedoch beim Verhöre an, er habe
sich von dem Hunde blos belecken lassen, um die von einem Eczem der After-
spalte herrührenden Schmerzen zu lindern !
Begreiflicherweise ist der Gerichtsarzt nur ganz ausnahmsweise in der
Lage, in derartigen Fällen zur Constatirung des Thatbestandes beizutragen. Am
ehesten wäre dieses in ganz frischen Fällen möglich, da vielleicht mitunter Sperma
in den Genitalien des missbrauchten Thieres, oder Haare von letzterem an den
Genitalien des Thäters , oder in der Nähe derselben gefunden werden könnten.
So fand Kutter (Vierteljahrsscbr. für ger. Med. 1865, II, pag. 355) in der
Eichelfurche eines Knechtes , der beim Missbrauch einer Stute erwischt worden
war, ein Pferdehaar und Pfaff (1. c.) zwischen den Schamhaaren einer Dienst-
magd, die man in verdächtiger Attitüde mit einem grossen schwarzen Hunde
angetroffen hatte, ein schwarzes Hundshaar.
Der geschlechtliche Missbrauch von Thieren, insbesondere von weiblichen,
ist, wie aus der Bibel (3. Buch Mosis XVIII, 23, XX, 15, 16 — 5. Buch
XVII, 21) und aus der Mythologie zu ersehen, ein uraltes Laster. Im Orient soll
derselbe nach Pollak's Angaben (Wiener med. Wochenschr. 1861, pag. 629)
noch heutzutage sehr häufig , insbesondere unter den persischen Soldaten sein,
die auf Märschen auf diese Weise ihre Lastthiere brauchen. Auch soll beim
Volke diese Bestialität als ein untrügliches Heilmittel gegen Gonorrhoe und
Syphilis gelten und sogar von Aerzten verordnet werden! Bei uns können am
ehesten Individuen auf dieses Laster verfallen , welche , wie z. B. Hirten , Stall-
knechte , im beständigen Verkehr mit gewissen Thieren leben und denen zu
normaler , geschlechtlicher Befriedigung wenig Gelegenheit geboten ist. Auch
Onanisten können auf derartige Ideen verfallen. Ganz besondere Beachtung ver-
dient aber der Umstand, dass die Sodomie auch als Ausdruck psychopathologischer
Zustände vorkommen kann, insbesondere als Theilerscheinung originär anomaler
psychischer Constitution (Moral insanity) , bei welcher bekanntlich verschiedene
Perversitäten des Geschlechtstriebes zu einem häufigen Constituens des Krankheits-
bildes gehören. (Eine Zusammenstellung einschlägiger Beobachtungen siehe mein
Lehrbuch der ger. Med. 2. Aufl. pag. 748 u. s. f.) E Hofmann.
SOLANIN. 567
Solanill. Solaninum. Herkunft. Das Solanin ist in den Theilen der
Solanumarten enthalten, wenn auch je nach der Species in wechselnden Mengen.
Nächst seinem Vorkommen in der Kartoffelpflanze, S olanum tuberosum L.,
interessirt den Arzt vorzüglich die Gegenwart des Solanin in den beiden anderen
Solaneen: Solanum dulcamar a L. und Solanum nigrum L. Ersteres,
bekannt unter den Namen: Bittersüss, Hirschkraut, Mäuseholz, wilde Stockwurz,
wildes Süssholz, Wasserranken, Waldnachtschatten, kletternder Nachtschatten, Alp-
ranken ist eine strauchartige , bald mehr liegende , bald mehr aufgerichtete , an
nassen Stellen, in Gesträuchen und an Flussufern wachsende, verbreitete Pflanze
mit blauen, in Doldentrauben stehenden Blüthen , die einigermassen an die blau-
violetten Blüthen der Kartoffel erinnern, aber kleiner und von der Peripherie aus
bis fast zur Basis eingeschnitten sind. Die Blätter sind kahl oder kurzbehaart,
dunkelgrün, die Früchte hängen und sind unreif grün, bei völliger Reife roth
und den Früchten der Spargelpflanze ähnlich. Gekaut schmecken die Stengel erst
bitter, dann eigenthümlich süsslich. Der schwarze Nachtschatten, Solanum
nigrum, wächst an wüsten Plätzen, auf Schutt etc. mit aufrechtem, ästigem Stamm,
seine Blätter sind meist buchtig-gezähnt, haarig oder haarlos, die Aeste zuweilen
mit weichen Stacheln versehen. Die Blüthen stehen fast in Dolden , sind weiss
und die Staubbeutel, wie bei S. d'ulcamara, gelb. Die kugeligen Früchte sind
unreif grün, später schwarz, zuweilen indess auch mennigroth, gelb, weisslich
oder grünlich. Die ganze Pflanze hat einen ekelhaften Geruch.
Zur Gewinnung des Solanin benutzt man am vortheilhaftesten die Früchte
der Kartoffelpflanzen, da die übrigen Solaneen, ebenso wie auch die Keime der
gewöhnlichen Kartoffelknollen zu geringe Ausbeute geben. Otto erhielt aus
250 Pfund frischer Kartoffelkeime nur bis zu einem Loth Solanin.
Darstellung und chemische Eigenschaften. Zuerst aufgefunden
und dargestellt wurde das Solanin im Jahre 1821 von Desfosses. Nach den
Untersuchungen von Moitessier ist seine Formel C42 H35 N014, nach den jüngeren
Angaben Gmelin's dagegen fehlt dem Solanin der Stickstoff und es muss ihm die
Formel C88 H72 O30 zugeschrieben werden. Zur Darstellung extrahirt man nach
Wachenroder die zerquetschten Kartoffelfrüchte mit schwefelsäurehaltigem Wasser
und fällt darauf die Schwefelsäure mit Kalkhydrat aus, wobei das sich abscheidende
Gyps das Solanin mit niederreisst. Das ganze Präcipitat wird sodann mit heissem
starkem Alkohol behandelt, der das Solanin aufnimmt und dasselbe nach dem
Erkalten in Form von krystallinischen Platten und Schuppen ausfallen lässt. Löst
man Solanin in salzsäurehaltigem Wasser und extrahirt nach Zusatz von Ammoniak
mit absolutem Alkohol, so erhält man aus diesem das Solanin in Form von farb-
losen, seideglänzenden Nadeln von beträchtlicher Länge.
Das reine Solanin ist in Wasser kaum, in Alkohol schwer löslich. Warmer
Amylalkohol löst das Solanin auf, nach dem Erkalten gelatinirt die so erhaltene
Flüssigkeit stark. In verdünnten Säuren löst sich das Solanin leicht. Der Geschmack
des Solanin ist bitter, etwas brennend, es reagirt schwach alkalisch, wohingegen
seine Salze, die in Wasser löslich sind, demselben eine saure Reaction geben.
Erwärmt man eine Spur Solanin mit einem Tropfen ganz verdünnter (1 : 100 Wasser)
Schwefelsäure, so bildet sich zuerst eine krystallinische Masse, die beim weiteren
Erwärmen erst leicht roth, dann purpurroth, endlich braunroth wird. Während des
Erkaltens wird die Probe violett, dann schwarzblau und endlich grün. Eine
gesättigte Lösung von metallischem Jod in Wasser wird auf Zusatz von verdünnter
Solaninlösung dunkelbraun.
Gemäss seinem Verhalten gegenüber verdünnten Säuren muss dem Solanin
der Charakter eines Glykosides zugesprochen werden. Schon in der Kälte liefert
das Solanin mit verdünnter Salz- oder Schwefelsäure Zucker und das sogenannte
S o 1 a n i d i n , das in Wasser sozusagen nicht, wohl aber in Alkohol und Aether
sich löst und entweder in seidenglänzenden Nadeln oder vierseitigen Prismen
krystallisirt. Das Solanidin schmeckt, wie das Solanin, bitter, reagirt etwas mehr
568 SOLANIN.
alkalisch und wird aus salzsaurer alkoholischer Lösung durch Platinchlorid aus-
gefällt. Behandelt man Solanin in der Kälte mit concentrirter Salzsäure, so bildet
sich Solan i ein. Schliesslich sei noch erwähnt, dass aus dem Solanum dulcamara,
zumal dessen officinellen Stengeln, die höchstens Spuren von Solanin enthalten,
noch ein weiterer Körper isolirt worden ist, der früher den Namen Pikroglycion
führend, von Pelletier für ein Gemenge von Zucker und Solanin erklärt wurde.
Wittstein hat dagegen festgestellt, dass es sich in der That um eine besondere
Base handelt, er nannte dieselbe : Dulcamarin.
Wirkung auf den Organismus. Die Ansichten und Meinungen über
das Verhalten des Solanin auf den lebenden Körper gingen bis in die neuere Zeit
ziemlich auseinander. Der vorzüglichste Grund der Differenz in den Angaben der
einzelnen Autoren liegt wohl darin, dass dieselben mit Präparaten von wechselnder
Qualität gearbeitet haben, ferner auch in einer nicht überall gleichmässig geübten
Berücksichtigung des chemischen Verhaltens des Solanin , d. h. des Umstandes,
dass sich dasselbe mit Leichtigkeit, zumal im Contact mit verdünnten Säuren,
spaltet. Was bis jetzt Positives über die Wirkung des Solanin und seines Spal-
tungsproduetes, des Solanidin, bekannt ist, soll in Folgendem dargestellt werden.
Wirkung auf Gehirn- und Nervensystem. Kaltblüter, wie
Frösche und Tritonen, werden nach den Untersuchungen von Husemann und
Balmanya nach subcutaner Injection von essigsaurem Solanin oder grosser Mengen
der reinen Substanz sehr rasch und total gelähmt. Applicirt man dahingegen das
Solanin ungelöst unter die Haut, so tritt zunächst nur eine Verminderung in der
Beweglichkeit der hinteren Extremitäten auf. Diese Lähmungserscheinungen nehmen
dann allmälig grössere Dimensionen an, bis sie, sich über den ganzen Körper hin
erstreckend, zur völligen Paralyse werden. Mit zunehmender Intensität der Lähmung
nimmt auch die anfänglich noch erhaltene Reflexerregbarkeit mehr und mehr ab.
Nach dem völligen Erlöschen derselben bleibt die Reactionsfähigkeit der Nerven
und Muskeln auf elektrische Reizung noch einige Zeit lang bestehen. Unterbindung
einer Schenkelarterie verhütet den Eintritt der Lähmung an der betreffenden
Extremität nicht, setzt auch den Zeitpunkt des Eintrittes derselben nicht heraus,
woraus zu schliessen ist, dass die lähmende Kraft des Solanin die Nervencentren
direct trifft.
Aehnliche, wenn auch nicht zur vollkommenen Paralyse sich ausbildende
Lähmungserscheinungen beobachtet man auch am Warmblüter. Bei Kaninchen
beschränken sich dieselben auf Herabsetzung der Muskelkraft an den vorderen
Extremitäten und am Nacken. Dazu kommen zuckende Bewegungen innerhalb
einzelner Muskelgruppen zumal am Thorax und den Extremitäten. Die Sensibilität
wird ziemlich bedeutend herabgesetzt, die Thiere gerathen in einen Zustand von
Apathie. Die bei tödtlichen Dosen schliesslich eintretenden Krämpfe lassen sich
auf die , durch die Lähmung der Thoraxmuskulatur bedingte Respirationsverhin-
derung zurückführen.
Bei Versuchen am Menschen ergab sich nach den Mittheilungen von
Scheofe , dass kleinere Gaben von Solanin eine gesteigerte Empfindlichkeit der
Haut und Rieselgefühl nach dem Verlauf der Wirbelsäule bei Berührung der Haut
hervorrufen. Dann entwickelt sich eine massige Betäubung ohne vorhergehende
Aufregung, Schläfrigkeit, häufiges Gähnen und geringe klonische Krämpfe in den
unteren Extremitäten. Nach grösseren Dosen tritt Brustbeklemmung ein, der Kopf
ist heiss, schwer, eingenommen und schmerzhaft, es besteht Schwindel und grosse
Neigung zum Schlaf, jedoch ohne die Fähigkeit , schlafen zu können. Die Haut
fühlt sich trocken an, man empfindet Jucken in derselben, es besteht ein allgemeines,
starkes Schwächegefühl.
Man hatte früher die Ansicht gehegt, es sei das Solanin ein Narcoticum
wegen der Neigung zum Schlafe, die nach dem Genuss desselben beobachtet wird.
Jedoch ist weder bei Thieren noch am Menschen der Eintritt wirklichen Schlafes
unter der genannten Bedingung beobachtet worden, wie es denn auch Fronmüller
SOLANIN. ■ 560
bei Kranken nie gelang, den Schlaf herbeizuführen , selbst nicht nach Verbrauch
von 0'2 und 025 Grm. Solanin.
Derselbe hier geschilderte Wirkungscomplex tritt auch ein, wenn anstatt
des Solanin Solanidin verwandt wird. Jedoch besteht nach einer Seite hin eine
wesentliche Differenz zwischen den beiden genannten Körpern. Während nämlich
das Solanin auf die Pupille gar nicht einwirkt, bedingt das Solanidin eine
deutliche Mydriasis, die bei Kaninchen schon ziemlich früh beobachtet wird. Dieser
Unterschied in der Wirkung beider Substanzen erklärt die Beobachtung Fronmüller's,
der in einigen Fällen bei Menschen nach Solaninaufnahme Mydriasis wahrnahm.
Es ist nämlich sehr wohl denkbar, dass in diesen Fällen ein Theil des Solanin,
vor seiner Resorption, durch die freie Säure des Magens gespalten wurde und so
neben dem Solanin auch Solanidin in Wirkung treten konnte.
Wirkung auf das Herz und die Athmung. Aus den Unter-
suchungen von Clarus, deren Resultate späterhin auch von anderen Seiten bestätigt
worden sind, ergiebt sich, dass nach Aufnahme von Solanin die Pulsfrequenz
gesteigert wird, proportional der angewandten Menge des Giftes. Die Steigerung
zeigt sich am deutlichsten in den ersten Stunden nach der Einführung des Solanin,
dann tritt allmälig eine Herabsetzung der Herzaction ein, die indess durch erneuerte
Darreichung von Solanin wieder in das Gegentheil umgekehrt werden soll. Mit
Zunahme der Zahl nimmt die Stärke der einzelnen Pulsschläge ab. Das Verhalten
des Herzens ist dem der Respiration gerade entgegengesetzt : Letztere nimmt nach
kurzer, vorangehender Steigerung rasch an Frequenz ab, und zwar auch proportional
der Höhe der aufgenommenen Dosis. Doch fanden Husemann und Balmanya,
dass dieser Gegensatz zwischen Respiration und Herzthätigkeit nicht in allen
Fällen in gleicher Weise zum Ausdruck gelangt. Sie sahen nach mittleren tödt-
lichen Dosen mitunter primäre Abnahme des Pulses, die längere Zeit anhielt und
von gesteigerter oder fast normaler Respirationsarbeit begleitet war.
Wirkung auf die drüsigen Organe. Clarus beobachtete bei einem
Selbst versuche das Auftreten von Schweiss, lässt es indessen dahingestellt sein,
ob das Solanin denselben hervorgerufen habe. Schroff beobachtete, wie schon
angeführt, im Gegentheil Trockenheit der Haut nach der Aufnahme desselben
Stoffes. Ebenso besteht zur Zeit noch ein Widerspruch über die Frage, ob das
Solanin die Speicheldrüsen zu vermehrter Secretion veranlasse oder nicht, Schroff
sah beim Menschen Salivation auftreten, Husemann und Balmanya konnten
dieselbe bei ihren Versuchen an Kaninchen nicht wahrnehmen. Dahingegen ist es
eine von allen Beobachtern bis jetzt zugegebene Thatsache, dass der Magen auf
die Aufnahme von Solanin in den meisten Fällen mit Erbrechen, und, wo dieses
nicht zu Stande kommt, durch Aufstossen und das Hervorrufen des Gefühles von
Nausea reagirt. Es ist fraglich, ob es sich bei dieser Erscheinung um eine directe
Affection der Magenschleimhaut als solcher, oder aber um eine Erregung des
Brechcentrums handelt. Für die letztere Ansicht spricht die Thatsache, dass das
Erbrechen ohne vorhergehende schmerzhafte Gefühle auftritt, sowie dass nach dem
Tode von mit Solanin vergifteten Thieren sich die Magen- und Darmschleimhaut
in normalem Verhalten vorfinden. Auf die, beim Menschen nach Genuss solanin-
haltiger Pflanzentheile beobachteten gastro -enteritischen Erscheinungen und Diarrhoeen
werden wir weiter unten noch näher zurückkommen. Die übrigen Drüsen des
Abdomens , vor allem Leber und Nieren , werden durch Solanin , wie es scheint,
nicht wesentlich afficirt.
Wirkung auf die Temperatur. In Hinsicht auf die Beeinflussung
der Körpertemperatur besteht ein auffallender Gegensatz zwischen dem Solanin und
dem Solanidin. Während nämlich das Solanin die Eigenwärme beträchtlich herab-
zusetzen vermag, tritt nach der Einführung von Solanidin das gerade Gegentheil,
Zunahme der Körpertemperatur, ein. Husemann und Balmanya sahen bei
Kaninchen einmal nach subcutaner Injection von 0*2 Grm. essigsauren Solanins
im Verlauf von drei Stunden einen Abfall von 38-8° auf 35'8° eintreten, worauf
570 SOLANIN.
sich dann gegen Ende der genannten Zeitdauer wieder eine Hebung auf 36-7°
zeigte. Bei einem anderen Thier sank nach Einführung von 0'75 Grm. Solanin
die Temperatur innerhalb zwei Stunden von 37-7° auf 34*30. Allerdings trat in
diesem Falle einige Minuten nach der letzten Messung der Tod ein. Dagegen
erhielten dieselben Beobachter bei ihren Versuchen mit Solanidin constant ein deut-
liches Ansteigen der Temperatur, einmal um einen Grad und ein anderes Mal
sogar über zwei Grad.
Aus dem, was wir bis jetzt an positiven Daten über die Wirkungsweise
des Solanin besitzen, ergiebt sich also, dass wir dasselbe in erster Reihe und
vorzüglich als ein Nervengift anzusprechen haben. Die sämmtlichen bis jetzt beob-
achteten Vergiftungssymptome nach der Aufnahme von reinem Solanin weisen darauf
hin, dass dasselbe von den nervösen Centren aus wirkt, von ihnen aus gehen
die Lähmung der Muskulatur, die eigentümlichen Erscheinungen seitens des Sen-
soriums sowie auch , wie es wenigstens den Anschein hat , die Beeinflussung der
Herzthätigkeit, der Respiration und der Temperatur.
Bei Versuchen, die Husemann und Balmanya mit dem Extract der
Dulcamara anstellten, fanden sie, dass die specifische Solaninwirkung, die Lähmung
der Nerven, die Erscheinungen von Seiten der Respiration und Circulation durch
das gleichzeitig anwesende Dulcamarin nicht modificirt wurde. Dahingegen erzeugte
das Extract bedeutende Entzündung des Magens, die indess sich nicht bis auf den
weiteren Verlauf des Darmes erstreckte und mit einer Erhöhung der Temperatur
einherging.
Die therapeutische Bedeutung des Solanin ist einstweilen gleich
Null zu setzen. Man hat es als Hypnoticum versucht, aber ohne Erfolg, man
glaubte ihm bei Syphilis und chronischen Erkrankungen der Haut die Veränderungen
zuschreiben zu müssen, die ein längerer Gebrauch von Dulcamaradecoct scheinbar
herbeigeführt hatte. Ebensowenig hat das Solanin irgend welche Bedeutung bei
den verschiedenen asthmatischen Affectionen, höchstens könnte man eine vorüber-
gehende, palliative Wirkung bei spasmodischen Beschwerden der Athmungsorgane
annehmen.
Toxikologie des Solanin. Vergiftungen mit reinem Solanin sind
bis jetzt nicht beobachtet worden , natürlich mit der Ausnahme da , wo es sich
um Selbstversuche zu wissenschaftlichen Zwecken handelte. Sie kommen dagegen
häufiger zu Stande durch den Genuss solaninhaltiger Pflanzentheile. Was in dieser
Hinsicht das Solanum dvlcamara anbelangt , so kann ich dessen mindestens
minimale Giftigkeit für die Fälle, wo nur die frischen Stengel gekaut werden,
aus eigener reichlicher Erfahrung verbürgen. In der Elementarschule, die ich in
meiner Jugend besuchte — in einer grösseren Stadt am Niederrhein — kaute im
Frühling alles Bittersüssstengel. Die dortige Umgegend war reich an dieser
Pflanze und es galt für eine Art von nobeler Passion , ergiebige Standorte zu
kennen und sich und die Mitschüler mit dem „wilden Süssholz" oder „Judenholz",
wie es dort auch genannt wurde, zu versehen. Ich habe weder an mir selbst
noch an anderen je übele Folgen nach diesem, allerdings etwas zweifelhaften,
Vergnügen des Kauens von Bittersüssstengeln auftreten sehen. Ueber die Früchte
von Dulcamara existirt eine Angabe von Floyer, nach welcher ein Hund auf
den Genuss von 30 Beeren tödtlich vergiftet worden sein soll, indess fragt es
sich, ob es sich hier, wie auch in den wenigen ähnlichen Fällen , die zur Beob-
achtung gekommen sind, nicht um die Früchte von Solanum nigrum gehandelt hat.
Anders verhält es sich mit dem Solanum nigrum: Dasselbe ist positiv
giftig, und es existiren darüber mehrfache Angaben in der Literatur. Ausser der
von Maly mitgetheilten narcotischen Wirkung, die durch das Aufhängen blühender
Nachtschattenpflanzen in den Wiegen und Betten kleiner Kinder auf diese hervor-
gerufen wird, ein Brauch, der in Böhmen, Ungarn, wie auch in einzelnen Gegenden
Deutschlands im Schwünge, jedenfalls als schädlich und verwerflich erachtet werden
muss, sind Vergiftungen und Todesfälle nach dem Genuss des frischen Krautes
SOLANIN. 571
und der Früchte zu verschiedenen Malen, meist bei Kindern, beobachtet. Anstatt
einer Herzählung der einzelnen Intoxicationssymptome mögen hier zwei charak-
teristische, von Magne behandelte und bekannt gemachte, Vergiftungsfälle mit-
getheilt werden :
Zwei Mädchen, Rose D. und Marie M. , beide 3ll2 Jahre alt, gingen
Abends 5 Uhr mit der Witwe M. auf's Feld. Die Kinder blieben an einem von
Mauerwerk umschlossenen Wege zurück und wurden dort, ruhig spielend, von der
Frau M. verlassen. Als man Abends gegen 7 Uhr nach Hause zurückgekehrt war,
wollte die Marie M. nicht essen, klagte um 8 Uhr über Leibschmerzen und ver-
langte in's Bett. Einige Tage vorher hatte Diarrhoe bestanden , das Kind war
aber jetzt wieder völlig frei davon. Gegen 9 Uhr nahmen die Leibschmerzen zu,
es stellte sich Uebelkeit und Erbrechen ein , dazu kamen grosse Unruhe und
Delirien. Diese Symptome nahmen mehr und mehr zu, gegen Mitternacht Hess sich
das Kind kaum noch im Bette halten, delirirte und murmelte allerlei vor sich
hin. Während der Nacht wurden nur Hausmittel angewandt. Als Magne gerufen
wurde, fand er die kleine Patientin mit aufgetriebenem und gespanntem Leibe,
der Puls war frequent und kaum fühlbar, das Athmen war stürmisch, das Gesicht
bleich und die Pupillen ganz dilatirt. Dabei bestanden unruhige Bewegungen der
Glieder, Flockenlesen und Bewusstlosigkeit. Sofort angeordnete Brechmittel, Tartarus
emeticus, warmes Wasser und Oel, hatten keinen Erfolg, Klystiere von Salzwasser
und Seife riefen nur einige gallige Stuhlentleerungen hervor. Unter zunehmender
Hinfälligkeit trat der Tod ein. Die Section konnte nicht gemacht werden.
Das zweite Kind war gleichfalls die ganze Nacht hindurch sehr unruhig
gewesen und hatte hallucinirt, war jedoch gegen Morgen eingeschlafen. Nach dem
Erwachen hatte das Gesicht einen schreckhaften Ausdruck , die Pupillen waren
stark dilatirt. In den nach Klystieren erfolgten Stühlen Hess sich nichts von Solanum-
resten auffinden. Nach wieder eingetretenem Schlafe erwachte das Kind ohne
andere Krankheitszeichen als eine massige Mydriasis. Bei der Befragung der
genesenen Patientin stellte es sich heraus, dass die Kinder sich an dem oben
erwähnten Platz aus Blättern einen Salat gemacht hätten, von dem die Marie M.
viel, die Rose D. aber wegen des schlechten Geschmackes nur wenig genossen
habe. Magne fand an der bezeichneten Stelle noch eine Menge Exemplare
von Solanum nigrum , auch lagen noch Bruchstücke einzelner Pflanzen umher.
Die Diagnose konnte also mit Sicherheit auf stattgefundene Solaninvergiftung
gestellt werden.
Das Zustandekommen einer Solaninvergiftung durch den Genuss unreifer
Kartoffeln oder deren Keime erscheint zur Zeit noch fraglich und lässt sich in
vielen Fällen wohl auf andere nebensächliche Factoren zurückführen. Man hat
beim Menschen nach dem Verzehren unreifer oder keimender Kartoffeln oder der
Kartoffelfrüchte als erstes Symptom Erbrechen beobachtet, begleitet von Unruhe,
erschwerter Respiration und Vermehrung der Herzschläge. Die Pupillenerweiterung
ist meist nicht sehr stark, oft kommt es zu Diarrhoeen, darin die unverdauten
Kartoffelstücke mit ausgeführt werden. Die Erscheinungen vom Magen und Darm
aus treten gewöhnlich ganz in den Vordergrund, es kann sich das vollständige
Bild der Cholera entwickeln. Ausserdem hat man das Auftreten von Gesichts-
erysipel mit Blasenbildung, sowie Muskel- und Gelenkschmerzen beobachtet. Bei
weiterer Ausbildung der Erkrankung kann unter Schwinden des Bewusstseins,
eintretendem Delirium cordis und ausgeprägter Dyspnoe der Tod erfolgen.
Bedenkt man indessen, dass, abgesehen von den Fällen, wo die Kartoffel-
früchte genossen wurden , die Giftquantitäten , die mit den Kartoffelkeimen oder
den rohen Knollen in den Organismus gelangten, doch immer nur geringe sein
konnten, zumal da doch vorher die genannten Materialien noch gekocht wurden,
so fragt es sich noch, ob man es nicht mit einer ähnlichen Krankheitsform zu
thun gehabt hat, wie sie überhaupt nach dem Genuss unreifer oder verdorbener
Pflanzenproducte zu Stande kommt, und die in der Mehrzahl der Fälle unter dem Bild
572 SOLANIN. — SOLEC.
einer Gastroenteritis auftritt. Ueber die sogenannten chronischen verbreiteten
Solaninvergiftungen, wie deren M'Cormack eine berichtet, spricht auch v. Boeck
sein Bedenken aus mit Betonung der allgemeinen schlechten Ernährungsverhältnisse
der befallenen Gegend.
Dass das Solanin bei Kartoffelfütterung mit oder ohne Anwesenheit von
Keimen beim Vieh nicht als die Ursache von Erkrankungen angesprochen werden
darf, hat Fraas nachgewiesen. Auch er weist darauf hin, dass die Thiere in den
an den Kartoffeln hängenden Keimen, die auch nur dann , wenn sie noch kurz
sind, einigermaassen reichen Gehalt an Solanin besitzen, viel zu wenig Solanin-
salze bekommen, als dass diese eine Wirkung ausüben könnten. Man hat auch die
nach Fütterung mit Kartoffelschlempe auftretende Erkrankung des Viehes auf das
Solanin zurückführen wollen, gewiss mit Unrecht, wenn man erwägt, welche Processe
die Schlempe bis zur Fütterung durchgemacht hat und wie mancherlei schädliche
Producte der Gährnng, zuweilen auch der Fäulniss mit in Frage kommen müssen.
Erwähnt sei schliesslich noch, dass Larrey während des Feldzuges in
Aegypten Vergiftungen durch Dattelbranntwein beobachtet haben will, der dort
zuweilen mit den Bestandtheilen von Solanumarten verfälscht werden soll.
Therapie der Solaninvergiftung. Die Behandlung einer Ver-
giftung durch Nachtschatten oder andere solaninhaltige Pflanzenbestandtheile muss
eine rein symptomatische sein. Wenn eine genügende Aetiologie fehlt, ist die
Diagnose sehr schwierig, unterstützt kann dieselbe werden durch die mit dem
Erbrechen zur Erscheinung kommenden genossenen Früchte etc. Bei nicht
bestehendem Erbrechen ist dasselbe, wenn man bald nach der Vergiftimg eingreifen
kann , hervorzurufen , im Uebrigen hat man ein , der drohenden oder schon
bestehenden Gastroenteritis entsprechendes Curverfahren einzuleiten. Bei einer
bestehenden Vergiftung mit Nachtschatten wäre jedenfalls Morphin zu versuchen
wegen der grossen Aehnlichkeit , die sich in dem Krankheitsbild mit einer Ver-
giftung durch Belladonna zeigt.
Nachweis des Solanin. Derselbe ist schwierig zu führen, wenn es
sich um das Auffinden des Giftes in den Darmentleerungen oder in den Darm-
contentis nach dem Tode handelt. Man muss versuchen, das Solanin aus denselben
durch heissen Amylalkohol abzuscheiden und dann dasselbe weiterhin zu prüfen,
um seine Identität festzustellen , und um es vom Morphin , welches gleichfalls in
den Amylalkohol übergeht, zu unterscheiden.
Literatur: Dunal, Histnire naturelle mddicale et economique des Solanum.
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Bd. III, 1878. — v. Boeck, Ziemssen's Handb. der spec. Path. u. Ther. Bd. XV, 1880. —
Vogl, Dieses Werk, Artikel „Dulcamara". •□■ c -, ,
" Hugobcnulz.
Solec, Dorf bei Staszow, in Russisch-Polen, mit Schwefelsalzquelle und
einfachen Bade-Einrichtungen. B. M. L.
SOMNAMBULISMUS. — SONDEN. 573
Somnambulismus; Somuiatio, vgl. „Lethargie", VIII, pag. 269.
Somnolenz (somnolentia) , Schläfrigkeit ; Halbzustand zwischen Schlaf
und Wachen oder minder tiefer Schlafzustand in Krankheiten.
Sonden. Lange bevor der Chirurg Auge und Ohr zum Zwecke der
Diagnostik mit den verschiedensten Apparaten zu bewaffnen verstand, finden wir
in der Hand des Chirurgen die Sonde, ein Instrument, zu welchem derselbe in
manchen Fällen zu greifen sich gezwungen sieht, wenn er seine Diagnose mit
Sicherheit stellen oder eine vollständige Heilung erzielen will. Wenn nun auch
die Sonde in neuerer Zeit dem fein fühlenden Finger in mancher Beziehung weichen
musste, so ist sie doch da unentbehrlich, wo eine Digitalexploration entweder
nicht möglich oder nicht ausreichend ist. Doch liefert die Benutzung der Sonde
nicht so sichere Resultate, wie die Untersuchung mit dem Finger, und daher ist
letztere in allen Fällen, wo ein genügender Raum zur Untersuchung vorhanden
ist, der Sondirung vorzuziehen; ja in wichtigen Fällen ist man sogar berechtigt,
eine Wunde oder Fistel zur Ermöglichung der Digitalexploration mit dem Messer
zu erweitern.
Unter Sonden (sondes, radioli, specüla) versteht man mehr oder weniger
lange , dünne , stabförmige Instrumente , welche den Zweck haben , entweder zu
diagnostischen oder zu therapeutischen Zwecken in normale oder abnorme Canäle
und Höhlen des Körpers eingeführt zu werden. Das Material, aus denen dieselben
gearbeitet werden, ist verschieden; die einen bestehen aus Silber, Neusilber oder
Stahl, andere aus einer elastischen Substanz. Die Sonden, welche man gewöhnlich
zur Sondirung von Wundcanälen gebraucht, werden meist aus Silber oder Neusilber
gefertigt. Dieselben besitzen vor den früher oft angewandten Stahlsonden den
Vorzug, dass sie nicht rosten, leicht rein und glatt zu erhalten sind, wodurch
eine Wundreizung sowie septische Infection bei der Sondirung leichter zu vermeiden
ist. Zudem haben sie vor den starren Sonden noch das voraus, dass sie vermöge
ihrer Biegsamkeit auch zur Sondirung winkelig geknickter Canäle benutzt werden
können. Früher bediente man sich zu diesem Zwecke der Sonden aus Fisch-
bein , Schildplatt , Darmsaiten u. s. w. ; doch jetzt werden diese nur noch in
einzelnen Fällen in Anwendung gezogen, z. B. bei Sondirung des Oesophagus, der
Urethra, des Rectums. Hier sind die elastischen Sonden den andern vorzuziehen,
weil Verletzungen der Schleimhäute mit denselben eher vermieden werden können.
Die Sonden dienen sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen
Zwecken, und je nach ihrer Bestimmung ist ihre Länge, Dicke und Form eine
andere. Man kann dieselben in zwei Hauptgruppen eintheilen : a) in Untersuchungs-
sonden, b) in Leitungssonden. In den Bereich der ersteren fallen diejenigen Sonden,
welche entweder zum Zwecke der Diagnose oder der Therapie in Canäle oder
Höhlen eingeführt werden, während die letztere die Sonden umfasst, die dem
schneidenden Messer zur Leitung dienen.
Von den Untersuchungssonden ist die einfachste 1. die sogenannte Knopf-
sonde. Sie besteht aus einem etwa sechs Zoll langen , dünnen Silberstäbchen,
dessen eines Ende mit einem olivenförmigen oder kugelförmigen Knöpfchen versehen,
das andere stumpf abgerundet ist. Ganz besonders dient dieselbe zur Sondirung
der in die Tiefe gehenden Wundcanäle (z. B. Schusswunden) und Fistelgänge, um
sich über die Tiefe und Ausdehnung derselben zu orientiren, die Anwesenheit
eines Fremdkörpers oder Sequesters nachzuweisen.
2. Neben dieser einfachen Knopfsonde findet man in jedem chirurgischen
Besteck die doppelte Knopfsonde. Von der vorigen weicht dieselbe nur insofern
ab, als sie an beiden Enden ein Knöpfchen trägt ; im übrigen verfolgt sie denselben
Zweck wie die einfache Knopfsonde. — Die Dicke dieser Sonden schwankt zwischen
der Dicke von 2 Mm. bis zur Haardicke. Im letzteren Falle nennt man sie
3. Haarsonden. Diese sind dazu bestimmt, enge Canäle (Duct. Steno-
ntanus , Duct. Warthonianus , Ganal. lacrimalis , Duct. naso-lacrymalis) und
574 SONDEN.
Fisteln zu sondiren. Oft werden diese Sonden zur bequemeren Führung in der
Mitte noch mit einer blattförmigen Platte versehen.
4. Um auch die Handhabung der gewöhnlichen Knopfsonde zu erleichtern,
hat man dem einen Ende derselben die Form eines Myrthenblattes gegeben —
Myrthenblattsonde. Diese Form des Griffendes entsprach früher noch einem
besondern Zwecke. Zur Zeit nämlich, als die Salben- und Pflastertherapie in der
Chirurgie noch mehr geübt wurde, benutzte man das Myrthenblatt zum Salben-
und Pflasterschmieren. Auch kann man dasselbe gelegentlich zur stumpfen Trennung
der Gewebe gebrauchen.
5. Einer andern Modifikation der Knopfsonde begegnen wir in der Oehr-
sonde. In ihrer Gestalt weicht sie von der einfachen Kopfsonde nicht ab ; nur
ist das eine Ende derselben mit einem Oehre versehen. Sie muss, um ihr eine
der Richtung des Wundcanales entsprechende Krümmung geben zu können , wie
die gewöhnliche Sonde ebenfalls biegsam sein, und ist daher auch aus einem
Silberstäbchen gefertigt. Die Oehrsonde, welche übrigens in der neueren Zeit sehr
selten in Anwendung gezogen wird, dient dazu, Fäden, Drains etc. durch die
Gewebe zu ziehen, indem sie gleichsam eine stumpfe Nadel repräsentirt.
6. Ihr ähnlich, nur von doppelter Länge und entsprechender Dicken-
zunahme in ihrer mittlem Partie, ist die sogenannte Schrauben- oder Bauchsonde.
Um die Aufbewahrung dieser Sonde in der Verbandtasche zu ermöglichen, hat
man dieselbe in ihrer Mitte mit einer Schraubenvorrichtung versehen. Dieselbe
lässt sich dadurch in zwei Hälften zerlegen ; die eine Hälfte hat oben ein Knöpfchen,
unten ein Schraubengewinde, die andere trägt dem Knöpfchen entsprechend ein
Oehr, dem Schraubengewinde entsprechend eine Schraubenmutter. Auch diese
Sonde hat sich in unserer Zeit nur eines seltenen oder gar keines Gebrauches
zu erfreuen.
Die bisher erwähnten Sonden dienen (mit Ausnahme der Oehrsonden) fast
ausschliesslich zu allgemeinen Zwecken. Es giebt aber auch Untersuchungssonden,
die in ganz bestimmten Fällen zur Feststellung der Diagnose angewandt werden.
Hierher gehören: 1. die Kugelsonde von Nelaton; 2. die elektrische
Sonde, wie sie von Liebreich in die chirurgische Praxis eingeführt wurde.
Die Kugelsonde von Nelaton repräsentirt sich als eine gewöhnliche Knopf-
sonde, welche an Stelle des silbernen Knöpfchens ein solches aus Porzellan
besitzt (s. Fig. 47). Sie dient zum Nachweise von Kugeln in Schuss-
canälen. Reibt sich der Porzellanknopf auf einer Kugel, so bleiben Spuren
von Blei auf demselben zurück, welche man nach Herausnahme der Sonde
als schwarzen Fleck erkennt. So lässt sich mit Hülfe dieser Sonde das Vor-
handensein einer Kugel in einem Schusscanal mit Sicherheit nachweisen.
Weniger zuverlässig und mehr complicirt ist die elektrische Sonde
(s. Fig. 48). Dieselbe hat die Gestalt einer einfachen Sonde, die an ihrem
unteren Ende durch Leitungsdrähte mit einer kleinen Batterie in Verbindung
gesetzt ist, oben in zwei feine, isolirte Spitzen endet. Stossen diese Spitzen
in dem Wundcanale auf ein Geschoss, so wird hierdurch die Kette ge-
schlossen, welches durch Läuten eines Glöckchens oder Bewegungen einer
Magnetnadel angezeigt wird. An Stelle der Sonde mit den isolirten Spitzen
kann man sich auch einer Zange ähnlich der amerikanischen Kugelzange
bedienen, deren Branchen man mit den Leitungsdrähten der Batterie ver-
bindet. Doch muss dieselbe in den Wundcanal so eingeführt werden, dass die
Spitzen der Branchen sich nicht berühren.
Es existirt nun noch eine sehr grosse Anzahl Sonden , die sowohl zu
diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken benutzt werden. Wir erwähnen
z. B. nur die Schlundsonden, Sonden für die Urethra, Rectalsonden, Uterussonden,
Steinsonden u. s. w. Doch wollen wir hier nicht näher auf dieselben eingehen,
sondern nur auf die betreffenden Artikel hinweisen, wo dieselben einer eingehenden
Betrachtung gewürdigt sind.
SONDEN. — SOOR.
575
Fig. 48.
Als zweite Hauptgruppe unterscheiden wir die Leitungssonden, gewöhnlich
Hohlsonden oder Furchensonden genannt. Dieselben werden gewöhnlich aus »Silber
oder Neusilber gefertigt und sind in ihrer ganzen Länge mit einer auf dem Quer-
schnitte entweder halbrund oder spitzwinkelig
erscheinenden Rinne versehen. Das vordere
Ende ist abgerundet, muss jedoch so spitz
sein, dass es bequem zwischen den Gewebs-
theilen vorwärts geschoben werden ; das hintere
Ende ist zur bequemeren Führung mit einem
blattförmigen oder rundlichen Handgriffe ver-
sehen, welcher in der Mitte meist noch einen
Spalt besitzt , der, nebenbei bemerkt, früher
zur Operation des Anchyloglosson benutzt
wurde. Es giebt jedoch auch Leitungssonden,
die an ihrem vorderen Ende scharf zugespitzt
sind (Sondes a panaris). Diese werden
entweder aus Silber oder Stahl gearbeitet ;
im ersteren Falle tragen sie an ihrem vorderen
Ende eine stählerne, lanzenförmige Spitze.
Die Leitungssonden dienen, wie schon
der Name sagt, dem Messer bei Durchtrennung
der Gewebe zur Leitung. So landen sie z. B.
Anwendung bei der Operation der Phimose,
beim Bruchschnitte, bei Erweiterung von
Fistelgängen u. s. w. Es soll dadurch einer
Verletzung der Weichtheile durch die Spitze
des Messers vorgebeugt werden, indem dieses
mit seiner Spitze auf der Rinne der Sonde reitet.
Das Verfahren bei Anwendung der
Sonde (d. i. die Sondirung) zu diagnostischen
Zwecken geschieht auf folgende Weise : Nach-
dem man den Kranken in die entsprechende
Lage gebracht hat — bei Sondirung natür-
licher Canäle so , dass dem Instrumente ein
unbehindertes Eindringen gestattet ist, bei Sondirung abnormer Canäle wenn
möglich in die Lage, in-: welcher die Verletzung erfolgt ist — fasse man
das gut gereinigte und streng desinficirte Instrument leicht zwischen Daumen
und Zeigefinger und führe es in die äussere Oeffnung des zu untersuchenden
Canals ein. In dem Canäle wird dasselbe dann so lange langsam und vorsichtig
vorwärts geschoben, als dieses ohne Hinderniss geschehen kann. Findet die
Sonde einen Widerstand , so darf man diesen nicht durch forcirten Druck über-
winden wollen, weil sonst leicht Verletzungen entstehen oder falsche Wege ge-
bahnt werden können. Man zieht dieselbe vielmehr vorsichtig etwas zurück und
sucht in einer anderen Richtung vorwärts zu dringen. Hat man dann den krank-
haften Canal nach allen Richtungen erforscht , über seinen Verlauf und seine Aus-
dehnung die gewünschte Klarheit gewonnen , so zieht man die Sonde auf dieselbe
Weise wieder heraus, wie sie eingeführt wurde. Vor allem ist jedoch auf die
strengste Desinfection des Instrumentes vor der Sondirung zu achten. w
Sonnenstich, s. „Armeekrankheiten", „Hitzschlag".
Soolen, Soolbäder, s. „Kochsalzwässer", VII, pag. 521.
Soor. Synonyma: Schwämmchen, Mehlmund, Mahle, Muguet
(millet, blanchet), Stomatomy cosis , Stomatitis aphtojphyta.
Der Soor, schon den Aerzten des Alterthums bekannt, aber bis in die
Neuzeit stets mit anderen Mundaffectionen verwechselt, ist eine speci fische
576 SOOR.
Mycose der Schleimhäute mit atypischem Verlauf, die vorzüg-
lich Kinder in den ersten Lebenswochen befällt. Die vegetabilisch-
parasitäre Natur der Krankheit wurde um das Jahr 1840 ziemlich gleichzeitig
von Berg, Gruby, Langenbeck entdeckt, jedoch ist bis auf den heutigen Tag
die Pilzspecies keineswegs vollkommen erforscht. Ursprünglich Oidium albicans
genannt, wurde der Pilz von Robin und Hallier als Oidium lactis (Ferment-
pilz der Milchsäuregährung) gedeutet. In der Neuzeit fasst man ihn als Saccharo-
myces auf. Grawitz identificirt ihn mit dem Kahmpilz, Mycoderma vini , eine
Pilzspecies , die allenthalben vorkomme ; Rees läugnet dies , da er Kahmpilz und
Soorpilz trotz aller Aehnlichkeit bei Züchtung und Culturen nie in einander über-
gehen sah; doch lässt Rees die systematische Stellung des Pilzes in suspenso.
Als feststehend gilt jetzt ganz allgemein, dass der Pilz mit dem Oidium lactis
nicht identisch ist, wie man früher gewöhnlich annahm (Hessling) , dass
derselbe mit der Milchsäuregährung überhaupt gar nichts zu thun
hat. Mikroskopisch erkennt man ein aus doppelt contourirten , glashellen
gegliederten Fäden, mit kurzen sich untereinander verflechtenden Ausläufern
(Gaudier) bestehendes Fachwerk. An den Enden der Fäden befinden sich die
kolbigen Fruchtträger. Zwischen dem Fachwerk findet man massige, rundliche,
meist gruppirte, stark lichtbrechende Sporen, ganz ähnlich den Hefezellen,
aus denen durch Knospung die Fäden entstehen. Zuweilen treten aber den Fäden
gegenüber diese Sporen im mikroskopischen Bilde in ganz enormer Massenhaftig-
keit auf, so dass es dann scheint, als ob der Soorpilz im Stadium der Hefebildung
bleibt, ohne dass es zur Weiterentwicklung in Fäden kommt (namentlich wenn
reichliche Mikrococcen gleichzeitig vorhanden sind). Neben diesem dem Pilz
angehörigen Fachwerk, findet man gewöhnlich unter dem Mikroskop zahlreiche
Epithelien und Schleimkörperchen zerstreut, namentlich im Beginne des Leidens,
da v o r der Entwicklung der Mycose stets die Mundschleimhaut erkrankt
ist. Auf gesunder Mundschleimhaut wenigstens konnte ich niemals Soor
entdecken. Die Mundschleimhaut aber bildet den Centralstock seiner Ansiedlung.
Fast immer trifft man ihn anfangs an der Zungenspitze, an den Zungenrändern
und namentlich an der Innenfläche der Lippen, dort wo die Glandulae muciparae
besonders entwickelt sind. Allmälig verbreitet sich der Pilz dann, je günstiger
der Boden , d. h. je günstiger die Nährbedingungen für seine Ansiedlung nach
rückwärts zur Zungenwurzel, zur Wangen und Gaumenschleimhaut, wo man ihn
leicht in Gestalt feiner, isolirter, mattweisser oder schmutziggelblicher, reifähnlicher
Schleimhautbeschläge erkennt. Mit der Dauer des Leidens nimmt die Wucherung
des Pilzes an Intensität und Extensität zu, so dass man in einem späteren
Stadium mit unregelmässig umrandeten , fest i n und unter die Schleimhaut der
Zunge und Wange eingebetteten, hügligen, blassgraugelben und borkenähnlichen
Schichten von dichter Mächtigkeit zu thun hat. Diese bilden namentlich an den
versteckten und geschützten Höhlungen der Mundhöhle grosse und schwer ohne
Verletzung zu entfernende Conglomerate , so z. B. am Boden der Mundhöhle und
an dem hinteren Alveolarwall des Oberkiefers. In den meisten Fällen bleibt der
Soor auf die Mundschleimhaut beschränkt, doch macht er in hartnäckigen Fällen
auch Streifzüge auf die hintere Rachenwand bis zum Oesophagus abwärts. Auf
der Oesophagusschleimhaut haften die Soormassen meist nur locker an; zuweilen
jedoch durchdringt der Pilz auch das submucöse Gewebe (Vjrchow) und tapezirt als
fester , dicker Rasen den gesammten Oesophagus aus , so dass es selbst zu gänz-
licher Verstopfung des Lumen der Speiseröhre kommen kann. Dies haben
Virchow, Buhl und Liebermeister u. A. beobachtet. Nach Durchwanderung der
tiefen Epithelschichten kann der Soor selbst in das Lumen der Blutgefässe ein-
dringen (Wagner), und so durch Transport der Pilzsporen zu den sogenannten
Soormetastasen führen , wie solche z. B. im Gehirn von Zenker und Ribbert
gefunden sind. Ueber die Cardia hinaus nach abwärts scheint der Soor sich nicht
anzusiedeln. Im Magen sollen nach Parrot die hintere Magenwand, längs der
SOOR. 577
kleinen Curvatur und die Cardia seine Lieblingsstätten sein. Robin und Parrot
wollen ihn auch im Coecum und Ileum gefunden haben ; doch handelt es sich
wahrscheinlich in diesen, wie in den von Klebs und Pleskuda gemachten Beob-
achtungen nicht um Pilzansiedlungen, sondern um locker und frei im Intestinalrohr
sich befindliche , verschluckte Soorballen. Gemeinhin nimmt man an , dass die
Magen- und Darmschleimhaut für die Ansiedlung des Soor keinen günstigen
Boden liefert.
Auch in den Lungen haben Parrot und Birch-Hirschfeld Soor ent-
wickelt gefunden.
Wie nach abwärts, so wuchert umgekehrt der Mycel auch nach aufwärts,
sich durchaus nicht nur an die Pflasterepithelstätten zu—halten, wie Seux meinte,
denn man findet bei Kindern mit angeborener Gau^e^s^alite auch die Schleimhaut
des Vomer und der Couchen mit Soormassen enQlt; C
Symptomatologie. Aus dem Mitgetheilten ergiebt sich schon , dass
das Krankheitsbild ein sehr mannigfaches ist , je nacr? 4lit&s$|lifyTin'd"' Extensität
der Wucherung als solcher, dann aber je nachVdet demj^^r zu Gründe/liegenden
Krankheit. Uns interessiren hier zunächst diesem Soor alk^n ungehörigen
Symptome. Obenan stehen die örtlichen Erscheinun^e^^^£?]^3dü^V^Ausnahmslos
besteht bei sonst gesunden Kindern nach meinen Beob~ac1rtmigen vor dem Beginn
des Soor ein Erythem der Mundschleimhaut. Die Zunge namentlich zeigt durch
Schwellung ihrer Papillen eine sammtartige, höckerige Oberfläche , die durch Ab-
stossung des Epithels zuweilen wie mit Blutpunkten besetzt ist. Gewöhnlich
freilich wird dies übersehen , da die Kinder dem Arzt erst präsentirt werden,
wenn mehr weniger mächtig vereinzelte oder confluirende Soormassen die Schleim-
haut bedecken. Fast immer bemerkt man dieses Erythem auch noch zu späterer
Zeit an der Innenfläche der Wangen und Unterlippe. Auf dieser dunkelrothen,
bläulich violetten, seltener durch complicirende Darmstörungen und allgemeine
Anämie herbeigeführten anämischen, blassblauen Schleimhaut sieht man
nun die anfänglich hirsegrossen , weissen Tüpfelchen von käsiger Beschaffenheit,
die dem Kinde wenig oder gar keine Unbequemlichkeiten machen. Bald jedoch,
theils durch die intensive Entzündung und durch die dickeren Soorrasen, unter
denen die Schleimhaut ausnahmslos erodirt ist und leicht blutet, stellen sich
Schmerzen beim Saugen ein. Das Kind schreit beim Saugen, lässt oft die
Brustwarze los, macht wegen des üblen Geschmackes im Munde leere Kau-
bewegungen und erbricht. Leichte Fieberbewegungen finden sich häufig, die
Unruhe nimmt dann zu, es treten Schluckbeschwerden ein in Folge der erschwerten
Beweglichkeit, Starr wandigkeit und serösen Durchtränkung der Gaumenbögen und
Angina. Wird die Krankheit dann nicht schnell behoben, so tritt gewöhnlich
nach gänzlicher Nahrungsverweigerung, unter hochgradiger Abmagerung und
schnellem Verfall der Kräfte, ein Darmcatarrh oder eine Gastroenteritis ein, wenn
solche nicht bereits vorher bestanden haben, die gewöhnlich schnell den letalen
Ausgang herbeiführen. In anderen Fällen kommt es durch Uebergreifen des Soor
auf Kehldeckel oder Oesophagus, wie oben geschildert, zu Erstickungsanfällen und
selbst zum Erstickungstod. Zuweilen verhungern die Kinder im wahren Sinne
des Wortes, wenn das Lumen des Oesophagus vollkommen verlegt ist. Hier
erreicht dann die Abmagerung einen enorm hohen Grad ; die Schädelknochen sind
terassenförmig übereinander geschoben , das Antlitz greisenhaft , weil die Haut zu
weit wird für das durch den Fettschwund verkleinerte Gesicht, die Augen sind
halonirt, liegen tief in ihren Höhlen, der Athem ist kühl, die Stimme erloschen,
der Puls unfühlbar, die Extremitäten fühlen sich eiskalt an und so erlischt das
Leben gewöhnlich ohne vorhergehende Convulsionen. Doch kommen derartig
schwere Formen des Soor nur sehr selten und dann nur bei mit oder ohne
Absicht vernachlässigten und künstlich gepäppelten Kostkindern vor. Nicht
selten beschliesst unter solchen Umständen eine durch Aspiration von Soormassen
bedingte Bronchopneumonie das Leben. Auch auf der Mastdarmschleimhaut, an
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 37
578 SOOR.
den weiblichen Genitalien, auf der exeoriirten Haut in der Umgebung des Mundes,
am Kinn, am Halse, bat man Soormassen bemerkt.
Gewöhnlich endet die Krankheit, wenn rechtzeitig und energisch die locale
Behandlung der Mundhöhle eingeleitet ist, binnen wenigen Tagen günstig. Recidive
sind häufig, wahrscheinlich sind es Nachschübe, wenn das Leiden noch nicht
gänzlich getilgt war. In solchen Fällen nimmt dann der Soor einen chronischen
Verlauf, verschwindet und erscheint von Neuem mehreremal wieder und kann sich
Monate lang hinziehen, ohne dass es freilich zu gefährlichen Complicationen zu
kommen braucht.
Aetiologie. Die Krankheit verschont kein Lebensalter, am häufigsten
werden jedoch Kinder in den ersten Lebenswochen von Soor befallen ; namentlich
Frühgeborene , schwächliche und künstlich ernährte Neugeborene sind besonders
disponirt. Veron glaubte, dass sich Soor bereits intrauterin entwickeln könne,
doch hat man bisher noch nicht Soor bei der Geburt selbst nachweisen können.
Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist die Affection selten, sie entsteht fast
ausnahmslos seeundär in einer vorgeschrittenen Epoche einer schweren Krankheit,
Scharlach, Typhus, Pneumonia chronica, Phthise und erscheint dann meist als
sicherer Vorbote des nahen Todes.
In Findelhäusern, Spitälern, Waisenhäusern u. s. w. herrscht Soor zuweilen
epidemisch ; sie sind die Brutstätten des Pilzes , dessen Keime überall in der
Atmosphäre verbreitet sind und hier bei geschwächten, siechen, kranken Organismen
den günstigsten Boden zu ihrer Ansiedlung und Sprossung finden. Jahreszeit und
Temperatur scheinen nicht von sonderlichem Einfluss auf die Entstehung des Soor
zu sein , man beobachtet ihn gleichmässig zu allen Jahreszeiten , vielleicht etwas
häufiger zur Zeit der feuchten Niederschläge.
Die überwiegende und enorme Häufigkeit der Mycose in den ersten
Lebenswochen muss aber ihren Grund haben. Früher glaubte man , denselben in
der durch Zersetzung der Milchreste hervorgerufen sauren Reaction der Mundhöhle
gefunden zu haben und schon Sylvius und Amatus LasitanüS haben wohl aus
diesem Grunde dem Soor den Namen Lactamina s. Luctamina gegeben.
Allein eine solche Annahme ist nicht zulässig. Schon die Thatsache, dass eine
Zahl von mit Soor behafteten Neugeborenen in den ersten Lebenstagen absolut
keine Milch erhielten, spricht dagegen. Anderseits ist die saure Reaction der
Mundhöhle bei Neugeborenen nach Ritter's Untersuchungen die Regel und gehört
auch bei älteren, gesunden Säuglingen, wie ich häufig beobachtete, durchaus nicht
zur Ausnahme. Die Acidität der Mundhöhle spielt demgemäss ebenfalls keine , oder
jedenfalls nur eine nebensächliche Rolle für das Zustandekommen des Soor.
Anderseits wissen wir , dass Protei'nsubstanzen und Stoffe , die der Säurebildung
fähig sind , einen günstigen Boden für die Mycose abgeben und auch bei Impf-
versuchen und Culturen bildeten Lösungen von Amylum, Rohr- und Milchzucker,
Kirschsaft, Mohrrüben etc. vortreffliche Nährflüssigkeiten.
Wenn man ferner bedenkt, dass man in dem Mundsecret ganz gesunder
Kinder bei der mikroskopischen Untersuchung häufig Sporen findet, die morpho-
logisch dem Soor ganz gleichartig sind, die sich aber niemals zum Soor weiter
entwickeln, so ist es klar, dass es noch etwas ganz besonderes sein muss, was
die Ansiedlung, Keimung und Weiterentwicklung des Pilzes in der Mundhöhle
begünstigt. Dies erhellt auch aus der Thatsache , dass Epstein wiederholt con-
statiren konnte, dass ein Kind, welches zugleich mit einem soorkranken Kinde
von derselben Amme gesäugt wurde , dennoch vollkommen gesund blieb , Soor
nicht acquirirte. Auch gelang es mir trotz mehrfacher Wiederholungen nicht, in
die intacte Mundhöhle gesunder Säuglinge gebrachte Soormassen zur Ansiedlung
und Keimung zu bringen. War jedoch die Mundhöhle der Versuchskinder catarrhalisch
erkrankt, oder die Zungen-, resp. Wangenschleimhaut durch mechanische Reizung
ihres Epithels beraubt, so gelang es mir, Soor zu übertragen. Schon die alten
Pädiatriker ahnten dies, denn Billard, der von der mycotischen Natur des Soor
SOOR. 579
nichts wnsste , erklärte den Soor für einen „titomatite avec une alteration de
secretion". „Eine verletzte oder wenigstens ihres Epithels beraubte,
kranke Schleimhaut der Mundhöhle ist also zur Ansiedlung
n ö t h i g , auch Epstein ist dieser Meinung. Es scheint hier ein ähnliches Ver-
hältniss vorzuliegen, wie beim Obst, wo der Schimmelpilz nur die durch Verletzung
der Decke schadhaft gewordenen, sogenannten „angestossenen" Früchte angreift,
die intacten dagegen frei lässt. Der Grund , dass es nur , oder wenigstens
meistentheils Neugeborene sind, die Soor acquiriren, ist offenbar ein physio-
logischer. Die Unvollkommenheit der Mundhöhlenschleimhaut, resp. der Mund-
höhlensecrete, die Trockenheit derselben in Folge des Speichelmangels mag
den Neugeborenen zur Stomatomycosis disponiren. Wenn demgemäss ältere Säug-
linge viel seltener unter sonst gleichen Umständen von Soor befallen werden, so
läge dies darin, dass dem zu dieser Zeit schon reichlich abgesonderten Speichel
eine gewisse antimycotische oder antifermentative Wirkung zu vindiciren wäre.
So ungefähr stellt sich auch Epstein die Sache vor. Hiermit erledigt sich
auch die Frage von der Contagiosität. Der Pilz wuchert nur da, wo er
den für seine Existenz und Weiterentwicklung vorbereiteten Boden findet.
Wenn Gkawitz junge Katzen oder Hunde mit cultivirten , in Milch suspendirten
Chonidien fütterte, beobachtete er keine Uebertragung , wohl aber, wenn er
neugeborene (2- — 6 Tage alte) Thiere derselben Species damit fütterte, weil die
Milch dann nicht vertragen wurde und eine Ernährungsstörung setzte. Wenn
ich auch diese Deutung nicht widerlegen kann und der Ernährungsstörung
(Dyspepsie, Enterocatarrh) gern eine dispositionelle Bedeutung für den Soor
zuerkennen will, so wäre es nach diesen Versuchen keineswegs ausgeschlossen,
dass durch die bei den Fütterungs- oder Ernährungsversuchen wohl kaum ver-
miedenen Verletzungen der Mundhöhle der neugeborenen Thiere der günstige
Boden für die Ansiedlung des Soorpilzes herbeigeführt wäre. So ist es auch wohl
zu erklären , warum Kinder an der Ammenbrust gerade dann leicht von Soor
befallen werde, wenn Fehler der Brustwarzen, oder „schwer gehende" Brüste,
Entzündungen u. s. w. der Mamma vorhanden sind, weil eben unter solchen
Umständen sich die Säuglinge, namentlich bei angestrengtem Saugen, leicht die Mund-
höhle selbst verletzen können. Das Primäre ist auch hier die Stomatitis erythematosa.
Wenn man ferner den Ernährungsstörungen, wie sie bei gepäppelten Kindern vor-
kommen, eine besondere Disposition für Soor zuschrieb, so darf man nicht vergessen,
dass gerade solche Kinder vorzugsweise mit Amylaceen gefüttert sind, die, wie wir
oben angaben, für Soorculturen vortreffliche Nährflüssigkeiten abgeben, und dass
derartig gepäppelte Kinder gewöhnlich nicht sonderlich gepflegt und gereinigt
werden, namentlich der Reinlichkeit der Mundhöhle kaum irgend welche Auf-
merksamkeit geschenkt wird , und man bei derartigen Kindern kaum je eine
mehr weniger intensive Stomatitis, Erosionen der Mundschleimhaut und dergleichen
mehr vermissen wird. So erklärt es sich denn aber auch , dass bei solchen
Kindern die Dyspepsie, der Enterocatarrh, die Enteritis vor dem Soor bestanden
haben , ohne dass sie die Ursache des letzteren sind. Wenn Hausmann die
Häufigkeit des Soor neuerdings wieder (cf. oben) von der Uebertragung desselben
durch die Scheidenschleimhaut der Mütter während der Entbindung auf die Mund-
höhle des Kindes ableitete, so steht er mit dieser Behauptung, für die er den
Beweis schuldig geblieben ist, allein da.
Diagnose. Für den aufmerksamen Beobachter beruht nach den oben
gemachten Schilderungen die Diagnose nicht auf Schwierigkeiten. In zweifelhaften
Fällen ist die mikroskopische Untersuchung nothwendig, namentlich wenn es sich
um etwaige Verwechslung des Soorpilzes mit anderen in der Mundhöhle des
Kindes vorkommenden Schimmelpilzen und Schizomyceten handelt. Verwechslungen
. mit Aphten können kaum vorkommen , desgleichen nicht mit dem sich häufig
in der Mundhöhle locker anlegenden Casei'ngerinnseln. Der Flächen croup der
Mundschleimhaut des Kindes kennzeichnet sich durch grössere rundliche,
37*
580 SOOR.
membranöse, asbestglänzende Herde mit dem entsprechenden geröthetcn und
erodirten Grunde.
Prognose. Die Prognose hängt von der Intensität und Extensität des
Krankheitsprocesses, vom Alter und Kräftezustand des Kindes ab. Je jünger und
schwächer die Kinder, je mehr Complicationen, um so schlechter ist die Aussiebt.
Unter ungünstigen Verhältnissen wird die Sterblichkeit auf 22°/0 berechnet. Die
hohe Zahl erklärt sich wohl in solchen Fällen nur durch die Complicationen des
Soor mit acuten oder chronischen Magendarmcatarrhen. Künstlich — mit con-
densirter Schweizermilch, NESTLE'schem Mehl und anderen Surrogaten — genäbrte
Kinder sind besonders gefährdet. Bei Brustkindern stellt der Soor meist ein
unschuldiges Leiden dar, wenn rechtzeitig die geeignete Reinigung der Mundhöhle
des Kindes einerseits und der Brustwarzen der Mutter oder Amme anderseits
vorgenommen wird. Unter allen Umständen ist der Soor eine unangenehme Er-
scheinung, weil er bei längerem Bestand mehr weniger die körperliche Entwicklung
der Kinder schädigt.
Therapie. Die prophylactische Behandlung erstreckt sich auf zweck-
mässige diätetische Maassregeln, Ernährung durch die Brust, durch tadellose Kuh-
milch, mehrmalige Waschungen der Mundhöhle mit frischem Wasser nach jeder
Mahlzeit, Vermeidung des Schnullers (Lutschbeutel) , gründliche Ventilation der
Wohnräume. Die Erfüllung dieser Maassregeln bildet auch die conditio sine qua
non, wenn bereits das Kind an Soor erkrankt ist.
Zur Beschränkung der Localaffection genügt in leichteren Fällen
Entfernung der locker anhaftenden Vegetationen mit einem Leinwandläppchen oder
Spatel und nachfolgende Desinfection der erkrankten Partieen, sowie der gesammten
Mundhöhle durch Bepinselungen mit Öprocentiger Boraxlösung. Man achte dabei
namentlich auf die Krypten in der Mundhöhle , unter der Zunge , hinter den
Alveolarfortsätzen , an den hinteren Backentaschen , wo sich die Pilzwucherungen
zu verbergen pflegen. Die Reinigung der Mundhöhle soll in dieser Weise mindestens
4 — 6mal des Tages nach jeder Mahlzeit vorgenommen werden.
Man hat gegen den Soor zahlreiche Mundwässer und Gargarismen vor-
geschlagen, unter denen das Kali chloricum und der Borax die erste Stelle
einnehmen. So sehr ich auch die Vorzüge des Kali chloricum bei den meisten
Mundaflectionen der Kinder anerkenne, so ist beim Soor seine Leistungsfähigkeit
eine sehr massige und steht weit hinter der des Borax (10*0 : 100*0) zurück.
Alle Gargarismen und Mundwässer sollen ohne Honig und Syrupzusätze gegeben
werden, da diese gerade für Soorculturen die geeignetsten Nährflüssigkeiten sind.
In hartnäckigeren Fällen hat man Lösungen von Tinct. Ratanha und Spirit.
vini, Kupfervitriol, Zincum sulphuricum empfohlen. Bohn empfiehlt Einpinse-
lungen mit Lösungen von Argentum nitricum (0*2 — 50*0), Vogel hat damit
Erfolge erzielt, Henoch wendet Lösungen von 1*0 : 100*0 an. Auch Carbol-
lösungen (l°/0), Lösungen von Acidum oxalicum (0*5 — 100*0), Alumina acetica
(10°/0) und neuerdings von Resorcin (l°/o) sind mehrfach in Anwendung gezogen
und gerühmt. Mir haben zuweilen Lösungen von unterchlorigsaurem Natron neben
Chlornatrium und doppeltkohlensaurem Natron (Liquor Natri chlorati) vortreff-
liche Dienste geleistet; auch der Spiritus aetheris chlorati (3*0 — 100*0) und
eine Verbindung von Tannin und Borax (Acidi tannicis 2*0, Borax 2*0, Aeth.
sulph. 20*0) sind als Pinselwässer mit Vortheil zu verwenden. Wo mit dem Soor
anderweitige Ernährungsstörungen auftreten, bringe man das Kind unverzüglich
an die Brust ; gelingt es nicht, den Kindern eine Amme zu verschaffen, oder sind
sie zum Saugen bereits zu schwach, so muss man versuchen, tadellose Kuhmilch
theelöffelweise , am besten wohl mit der von mir construirten Saugpumpe, bei-
zubringen, bei welcher die Selbstthätigkeit des Kindes ausgeschlossen ist (cf. Jahrb.
für Kinderheilk. XII, 1878, pag. 406). Wird Kuhmilch nicht vertragen, versuche
man gut gesüssten russischen Thee mit Zusatz von Burgunderwein.
SOOR. — SPA. 581
Treten durch Verstopfung der Speiseröhre mit Soormassen gefahrdrohende
Zustände ein , so kann man , wie dies Rinecker mit Erfolg gethan hat , durch
Einpinselung einer Kupfervitriollösung versuchen, Erbrechen hervorzubringen, um
den Soorpfropf möglichst schnell zu entfernen. Auch subcutane Apomorpliininjec-
tionen könnten unter solchen Umständen mit Vorsicht Verwendung finden.
Literatur: Ketelaer, Batav. 1672. Diss. De Aphtis. — Rolfincius, Diss.
Jenae 1672. — Ch. Starck, lieber das Schwämmchen. Jena 1782 u 1784 (Huschke mit
Anmerkungen). — Marc, Diss. De Aphtis. Berlin 1819. — Heyfelder, Ueber die Krank-
heiten der Neugeborenen. Leipzig 1825. — Lelut, Arch. gen. März 1827. — Gruby,
Compt. rend. 1842. pag. 634. — Fr. Tb. Berg, Ueber das Schwämmchen der Kinder. Aus
dem Schwedischen übersetzt v. Gerh. v. d. Busch. Bremen 1818- — Kronenberg, Journ.
für Kinder. Bd. IV, pag. 164, Bd. VIII, pag. 2, Bd. JX, pag. 1. — R obin , Iiistoire naturelle
de vegetaux parasit. pag. 448. 1853. — Reubold, Virchow's Archiv. Bd. VII, 1854. —
Seux, Becherches sur les unaladies des nouveau-nes. pag. 17. — Billard, Tratte' des
maladies des enfants nouveau-ne's. pag. 69. 1829 (Meissner) — V alle ix, Clinique des
muladies des enfants nouveau-ne's. pag. 59. 1839 (Bressler, deutsch). - — Hauner, Journ. für
Kinderkrankh. Bd. XVI, pag. 215, — Vogel, Handb der Kinderkrankh. — Lieber-
meister, Virchow's Archiv, pag. 426. 1864. — Burkardt, Ueber Soor und seinen Sitz.
Charite-Annal. Bd. XII, 1864. — Wegner, Jahrb. für Kinderheilk. pag. 58. P68. —
Quinquaud, Arch. de physiol. pag. 295. 1868. — Bohn, Mundkrankheiten der Kinder.
Leipzig 1866. — Buhl, Centralbl.. für med. Wissensch. Nr. 1. pag. 3. 1868. — Ritter
v. Rittershain, Jahrb. für Physiol. u. Pathol. pag. 143. 1868. — Parrot, Du muguet
gaztrique. Arch. de physiol. pag. 504. 1869. — Grawitz, Beiträge zur systematischen
Botanik der pflanzl. Parasiten. Virchow's Archiv. Bd. LXX. pag. 546. 1870. — Hausmann,
Die Parasiten der weibl. Geschlechtsorgane. Berlin 1870. — Schiffer, Die saccharificirende
Eigenschaft des kindl. Speichels. Archiv für Anat. 1872. — Birch-Hirschfeld, Soor-
knötchen in pneumonischen Herden. Jahresber. der Gesellsch. für Natur- u. Heilk. pag. 31.
Dresden 1875. — Rees, Ueber den Soorpilz. Erlangen physik.-med. Sitzungsber. 1877 und
1878. — Grawitz, Allgem. med. Centralzeitung 1877 und Grawitz, Die Stellung des
Soorpilzes in der Mycologie der Kahmpilze. Virchow's Archiv. Bd. LXXIII, 1878. — Vogel,
Ziemssen's Handb. Th. VII, I. pag. 6 1 . 1878. — Epstein, Prager med. "Wochenschr. Nr. 5. 1880
Soltmann.
Sopor, tiefer Schlafzustand; hoher Grad von Benommenheit des Sensoriums
in Krankheiten. Soporifica (sc. remedia) , tiefen Schlaf erzeugende Mittel
= Hypnotica.
Spa, Städtchen der Provinz Lüttich, unter 23° 33' Östlicher Länge,
50° 29' nördlicher Breite, 250 Meter über Meer, altberühmt wegen seiner kalten
Eisensäuerlinge. Diese sind theils in der Stadt gelegen (Pouhon, Prince de Conde),
theils ausserhalb, 90 bis 160 Meter oberhalb Spa: Tonnelet 1,5 Km. NOO von
Spa, Sauveniere und Groesbeek 2 Km. SO von Spa, Geronstere etwa 5,5 Km. S
von Spa; die erbohrte Badequelle Marie-Henriette 3 Km. von Spa. Die Quellen
enthalten wenig Salze; der in seinem Gehalte etwas wechselnde Pouhon meist
unter 5, die übrigen unter 2 — 2,5 in 10 000. Ich gebe hier die Analyse des
Pouhon, welche 1874 von einer Commission ausgeführt wurde:
Chlornatrium 0,540
Schwefelsaures Natnon . . . 0,222
Natron-Bicarbonat 1,222
Kali- „ 0,118
Magnesia- „ 0,183
Kalk- „ 0,405
Eisen- „ ..... 1,965
Mangan- „ 0,039
Kieselsäure 0,190
Thonerde 0,143
Andere fanden nur 0,71
bis 0,88 Eisen -Bicarbonat,
ich im Jahre 1865 0,768.
Die Commission fand Eisen-
Bicarbonat in: Sauv. 0,771
(ich 0,702), Geronst. 0,556
(ich 0,509).
Einen schwachen , aber
unbeständigen Antheil an
HS haben mehrere der
Quellen.
Summe 5,027
HS 0,0011
C02 25,528.
Der medicinische Gebrauch ist der der reinen Eisensäuerlinge
582 SPA. - SPARADRAP.
Das Bad ist eine Musteranstalt; sie ist auch zu Kaltwasserbädern ein-
gerichtet. Erwärmung des Wassers mit Dampf. Das Wasser (Pouhon , Conde)
wird viel versendet.
Literatur: Scheuer, Etudes. Brux. 1877. — Lezaack, 1871. — Lersch,
Kohlens. Eisen wässer von Spa, 1868, und Monogr. des eaux m. de Spa. Spa 1869.
B. M. L.
Spanämie, s. „Ischämie", VII, pag. 299.
Sparadrap (aus dem griechischen Worte «jrcstpio und dem französischen drap
zusammengesetzt) werden mit einer klebefähigen Schichte überzogene Gewebe
(Leinen und Baumwollzeuge , Seidenstoffe, Goldschlägerhäutchen) genannt. Sie
haben die Bestimmung, bald zu Adhäsivzwecken, bald nur als Träger arzeneilich wir-
kender Substanzen zu dienen. Im gewöhnlichen Leben pflegt man sie schlecht-
weg Pflaster zu nennen. Die zu ihrer Anfertigung in Verwendung kommenden
Klebestoffe sind entweder die gebräuchlichen Pflastermassen oder sie bestehen aus
vorher flüssig gemachtem Leim, Gummi, aus Harzlösungen oder Collodium. Je nach
Wahl der klebenden Substanz wird der Sparadrap ein Leimpflaster (Emplastrum
(jlutinosum) , Gummipflaster (Emplastrum gummatum) , Collodium-
pf last er (Emplastrum Collodii), und bei Anwendung von Pflastermassen ein
Streichpflaster (Emplastrum linteo txtensum) genannt. Werden Papier-
stücke für jene Zwecke mit einem der hier gedachten klebenden Ueberzüge ver-
sehen, so heisst das Product ein Pflasterpapier (Charta emplastica).
Ein solches ist das sogenannte ostindische Pflaster papier (Charta adhaesiva
vel vegetabilis indicaj, auf einer Seite mit glycerinhaltigem Gummischl eim überzogenes, feines
Papier; nach Hager: Goldschlägerhäutchen, mit einer Mischung aus conceutrirter Gummi-
lösung, etwas Zucker, Glycerin und schwefelsaurer Thonerde überstrichen. Echte Pflaster-
papiere sind das (Bd. X, pag. 367) erwähnte Gichtpapier — Charta resinosa — und diesem
ähnliche Erzeugnisse, wie die Charta picea der französischen Pharm, und das englische
Gichtpapier. Blasenziehende Pflasterpapiere sind Charta mezereala und
Charta episp astica Pharm. Gall., erstere mit Zusatz von Extr. Mezerei, letztere mit
Pidv. Caniharidum bereitet. Man schneidet die Pflasterpapiere in Stücke von der erforderlichen
Grösse und Gestalt und klebt sie mit der glänzenden Seite auf die Haut.
Leimpflaster werden durch öfter wiederholtes Ueberziehen von Seide
oder sehr feinen Baumwollgeweben mit einer Hausenblasen- oder Leimlösung dar-
gestellt. Officinell ist das Emplastrum adhaesivum anglicum, vel
Tafetas adhaesivus , auch Emplastrum Woodstockii genannt. Gut bereitet,
haftet es nach dem Aufkleben so innig, dass es selbst bei Zutritt von Wasser
vermöge seiner mit einer Harzlösung überzogenen Aussenschichte sich nicht bald
ablöst. Man schneidet dasselbe im Falle des Bedarfes in Streifen, die man, durch
Benetzen klebend gemacht, aufträgt. Auch Balsame mit Zusatz von Harzen
geben, in Aetheralkohol gelöst, nach dem Trocknen eine gut klebende Schichte,
die etwas erwärmt werden muss, bevor sie auf die Haut gebracht wird. Sparadrape
dieser Art sind Taffetas vesicans (Pharm. Austr., 1855) und Emplastrum
Mezerei cantharid atum, Pharm. Germ. (Bd. II, pag. 666). Zur Dar-
stellung des ersteren wird Taffet auf einer Seite mit einem ätherischen Auszuge
der Canthariden, in dem als Klebstoffe: Mastix, Sandarak und Terpentin auf-
gelöst sind, wiederholt überzogen. Werden statt mit Leim- oder Harzlösungen zarte
Seidengewebe mit Klebäther überstrichen , so resultirt ein s. g. Collodium-
pf last er. Die Collodiumschichte muss jedoch eine solche Beschaffenheit haben, dass
sie durch Bethauen mit alkoholhaltigem Aether sofort die nöthige Klebekraft erhält.
Zur Gewinnung des officinellen Leimpflasters wird ein Stück auf einer
Rahme gespannten Taffets mit Hausenblasenlösung (1:20 Aq.) mehremal nach einander über-
strichen, nachdem man diese mit 1 Th. "Weingeist und '/io Honig versetzt hat, damit der Leim-
überzug elastisch und nicht brüchig ausfalle. Zuletzt wird die freie Seite mit einem
dünnen Harzüberzug aus Perubalsam in 4 Th. Benzoetinctur versehen, der dem Sparadrap
zugleich einen angenehmen Geruch bleibend gewährt. Für 1 [^Meter Taffet werden beiläufig
25 Grm. feinster Hausenblase erfordert. Setzt man der Leimmischung für je 10 Grm. 1 Ctgrm.
canthari densaur es Kali zu, so erhält man ein recht brauchbares Taffetas (Spara-
drap) vesicans, und bei Anwendung von Morphin und anderen narkotischen Extracten
ein Taffetas narcotis atus.
SPAKADRAP. 583
Man hat den Leimpflastern die Gummipflaster als billigeres Ersatzmittel zu
substituiren versucht. Producte dieser Art sind Kauvin's Emplastrum gummosum,
Dede's Sp aradrap gommd und Fort's Sparadrap ä la Gly cerin. Letzteres
gewinnt man durch Ueberstreichen eines feinen und glatten Leinwand- oder Baumwollzeuges
auf einer Seite mit einer Lösung von 5 Th. Gummi mit 8 Th. Wasser und ebenso viel
Glycerin. Die Gummipflaster haben den Uebelstand, zu steif an den Hautstellen aufzuliegen
und sich bald von denselben abzulösen.
Für den gewöhnlichen Bedarf werden die Pflaster mit einer Spatel
oder dem hiezu bestimmten Pflastermesser auf Leinwand- Baumwoll- und Seiden-
gewebe, nöthigenfalls auf Lederstücke oder Papier aufgestrichen. Die Erzeugung
bedeutenderer Quantitäten gestrichenen Heftpflasters, wie sie in grösseren Heil-
anstalten und auf dem Kriegsschauplatze angefordert werden, lassen sich ohne
Benützung tauglicher Pflaster-Streichvorrichtungen (Sparadrapmaschinen)
kaum bewältigen. Die mit Hilfe derselben erzeugten Sparadrape stehen , was
ihre praktische Verwendbarkeit betrifft, den durch Streichen mit der Hand
erhaltenen im Allgemeinen und nicht unbedeutend nach. Sie besitzen vor
Allem nicht jenen Grad von Klebekraft, wie ihn die chirurgische Praxis zu
Contentivverbänden , zu Compressions- und Distractionszwecken erheischt und tragen
überdies den Uebelstand, dass ihre Klebeschichte nicht fest genug am Gewebe
haftet und in Folge dessen in der Kälte oder nach längerer Aufbewahrung sich
von ihrer Unterlage leicht trennt, ja in ganzen Blättern ablösen lässt, so dass
die aufgelegten Pflasterstreifen beim Abziehen von der Haut ihre klebende Masse
auf derselben zurücklassen, _ von der sie oft erst durch nachdrückliches Reinig« n
mit Terpentinöl oder Benzin entfernt werden können. Man hat den Fehler der
zu geringen Klebefähigkeit durch Zusatz von verschiedenen harzigen Substanzen,
namentlich Terpentin, abzuhelfen gesucht. So schreibt die österr. Pharm, für
die Erzeugung des Emplastrum diachylon linteo extensum vor,
dass das (ohnehin harzreiche) Emplastrum Plumbi gummi rest'nosuw,
welches die Basis dieses Sparadraps bildet, geschmolzen und mit 40 Proc. gemeinem
Terpentin versetzt werde. Eine solche Pflastermischung reizt bei längerem
Liegen zu sehr zartere Hauttheile, noch mehr wunde Stellen, erweicht übermässig
während der wärmeren Jahreszeit und klebt gerollt so innig an der Unterlage,
dass sie sich selbst vom Paraffinpapier nicht mehr leicht, noch vollständig abziehen
lässt , und beim Ablösen der Pflasterstreifen von den damit bedeckten Hautstellen
die Pflastermasse theilweise auf denselben sitzen bleibt.
Mille, und früher Swediaur, glaubten in einem Zusatz von Kaut-
schuk das Mittel gefunden zu haben, einerseits die Klebefähigkeit des zu
Adhäsivzwecken bestimmten Sparadraps zu erhöhen, anderseits zu verhüten, dass
sich die Klebschichte vom Stoffe nicht ablöse. Um ein solches Kautschuk-
Sparadrap zu gewinnen, schlägt Ersterer vor, eine durch Digeriren von Kautschuk
mit 10 Th. Terpentinöl erhaltene Lösung, zur Syrupconsistenz verdunstet, mit
25 Th. Emplastrum diachylon gummosum (Pharm. Gall.) zu mischen.
In den Fällen, wo grössere Körperflächen mit Sparadrap zu bedecken sind, hat
man, um die Hautperspiration nicht zu beeinträchtigen , solches durchlöchern zu
müssen geglaubt und sich für diesen Zweck eines eigenen Instruments, Per-
forator genannt, bedient. Die so behandelten Pflaster werden perforirte,
auch poröse genannt.
Je nach ihrer Construction erfüllen die Pflasterstreichmaschinen mehr
oder weniger vollkommeu ihren Zweck. "Was die Wahl der zur Anfertigung von Sparadrap
dienenden Web est off e betrifft, so eignen sich erfahrungsgemäss am besten mittelfeine
Baumwollzeuge oder Halbleinen, die mindestens auf einer Seite nicht appretirt sein dürfen.
Auf diese wird die Pflastermasse aufgetragen, damit die den Faden bildenden feinen Härchen
sie an ihrer Unterlage besser festhalten. Die Operation der Sparadraperzeuguug
besteht zunächst darin, dass man den zu überstreichenden Baumwollstoff (Shirting) von der
erforderlichen Breite straff anspannt, und dessen vorderes Ende unter den aus Eisen ge-
fertigten, genau einstellbaren, unten offenen Trog der Sparadrapmaschine einstellt derart, dass
der Baumwollstreifen von dessen unterem Bande kaum merklich absteht. Hierauf wird die
geschmolzene Pflastermasse, wenn sie durch Abkühlen dickflüssig geworden, in den Trog ein-
gegossen und sobald dies geschehen, das an einen Kloben befestigte Endstück des Zeuges
584 SPARADRAP. — SPASMUS GLOTTIDIS.
gefasst und, laugsam rückschreitend, unter dm Troge durchgezogen. Um dem so
gewonnenen Sparadrap die nöthige Klebefähigkeit zu gehen, und zugleich ein innigeres Haften
der Pflastermasse am Stoffe selbst zu erzielen, ist es zweckmässig, die Klebefläche sofort
mit einem Pflastermesser allseitig zu überstreichen , was bei der Gleichmässigkeit der noch
weichen Pflasterschichte ohue Anstrengung in kurzer Zeit sich bewerkstelligen lässt. Ob
dies gehörig geschehen, erkennt man an dem Auftreten eines glänzenden Schimmers auf der
früher matten Fläche. Unbedeckt gebliebene Stellen, durch Faltenbildung oder aus anderen
Ursachen , können bei dieser Operation leicht mit der nöthigen Pflasterschichte versehen
werden. Zur Herstellung eines Sparadrapstückes von 5 Meter Länge bei 04 Meter Breite
bedarf es kaum einer Stunde. Das ofncinellc Einplastrum Plumbi gummi resinosum
(Pharm. Austr.) giebt einen ausdauernden, geschmeidigen und gut klebenden Sparadrap, doch
ist es nöthig, der Pflastermasse, bei Anwendung in kälteren Jahreszeit 10 Proc, sonst nur
5 Proc. von Ung uentum terebinthinatum (Axung. porc, Sebi ana 1, üerebinth. com. 2)
zuzusetzen.
Zum Zwecke längerer Aufbewahrung und Conservirung der Sparadrape ist es
geboten, dieselbe mit Paraffinpapier zu belegen, welches sich als die beste Unterlage
Behufs Verhütung des Festklebcns der Pflasterschichte bewährt hat. Locker eingerollt, ist der
Sparadrap in eiuein Blechkasten sorgfältig zu verschliessen, damit die Pflastermasse nicht zu sehr
eintrockne. So wenig als der Sonnenhitze, darf der Sparadrapvoriath der "Winterkälte aus-
gesetzt werden , da durch letztere die Pflasterschichte so hart und spröde wird , dass sie
beim Aufrollen an den Beugungsstellen sich vom Stoffe iu grösseren oder kleineren Partikelcheu
allenthalben loslöst. Ein der Kälte ausgesetzt gewesener Sparadrap darf nicht früher
aufgerollt werden, als bis er durch längeres Liegen in der Zimmertemperatur seine Bieg-
samkeit wieder erlangt hat. Da nach einiger Zeit jeder Sparadrap seine Klebekraft einbüsst
und sich vom Zeuge abzulösen beginnt, so muss es als Regel gelten, nie ein grösseres Quantum
davon, als dem nächsten Bedarfe entspricht, in Vorrath zu halten. Um längere Zeit auf-
zubewahrende Sparadrape in brauchbarem Zustande zu erhalten, ist es nöthig, sie von Zeit
zu Zeit mit einer Spatel zu überstreichen und die durch Erhärten spröde gewordene Pflaster-
schichte vorher mit einem in Terpentinöl getauchten Schwämmchen zu überziehen.
Literatur: Bernatzik, Commentar zur österr. Milit.-Pharm. "Wien 1874. —
Handb. der Arzeneiverordnungslehre. Bd. I, mit 202 Holzschnitten. Wien 1876. — Hager,
Handb. der pharmaceut. Praxis. Berlin 1878. — Mohr, Lehrb. der pharmaceut. Technik.
Braunschweig 1853. — Dorvault, L'Officine de Pharmacie pratique. Paris 1875.
Spartein, s. „Genista", V, pag. 712.
SpasmopMlie, Spasmus, s. „Convulsionen", III, pag. 471.
Spasmus glottidis (Laryngospasmus , Laryngismus strididus, Asthma
Millari , franz. Laryrtgite stridulevse , ital. Spasmo della glottide , deutsch
Stimmritzenkrampf, engl. Cr amp of the glottis) besteht in einem partiellen
oder completen, krampfhaft auftretenden Verschluss der Stimm-
ritze, in Folge welcher mehr oder weniger ausgesprochene
Erscheinungen der Asphyxie veranlasst werden können.
In vielen Fällen ist der Laryngospasmus durch keinerlei anatomische Ver-
änderungen an dem Stimmbildungs- oder Athmungsapparat herbei-
geführt. Man betrachtet denselben vielmehr als eine Neurose des Kehl-
kopfes. Er gehört vorwiegend in die Reihe der Reflexneurosen und ist als
eine Erscheinung zu betrachten, die mit einer vorliegenden primären Erkrankung
innig zusammenhängt.
Am häufigsten wird der Stimmritzenkrampf bei rachitischen
Kindern beobachtet. Mit Recht betonen sämmtliche Autoren, dass für das
Zustandekommen des Laryngospasmus in der Mehrzahl der Fälle die Rachitis
die Ursache abgiebt. Das Auftreten von laryngospastischen Anfällen hängt bei
Rachitis einerseits von dem Grade der rachitischen Veränderungen
und anderseits von der Erregbark eit des Nervensystems ab. Ursprünglich
glaubte man (Elsässer u. A.), dass der Spasmus glottidis eine Folge der vor-
handenen Craniotabes sei. Die Theorie, dass die Anfälle durch Druck auf
das Hinterhaupt hervorgerufen werden, kann für einzelne Fälle richtig sein,
genügt jedoch nicht, um das Vorkommen des Stimmritzenkrampfes bei rachitischen
Kindern vollständig zu erklären, indem die hier in Rede stehende Erkrankung
auch bei solchen rachitischen Kindern beobachtet wird, die keine Craniotabes
haben; bei rachitischer Missstaltung des Thorax oder auch bei massigen
SPASMUS GLOTTIDIS. 585
rachitischen Veränderungen des gesammten Skelettes ohne Craniotabes treten
häufig laryngospastische Anfälle auf. Nichtsdestoweniger lässt sich nicht leugnen
dass die Craniotabes und insbesondere die hochgradige rachitische Missstaltung
des Thorax, die Hühnerbrust, den wesentlichsten Einfluss auf die Ent-
wicklung des Laryngospasmus ausüben, so dass bei Vorhandensein derartiger
rachitischer Erscheinungen, der Laryngospasmus viel häufiger auftritt, als bei
geringgradigen rachitischen Veränderungen des gesammten Skelettes. Der Laryngo-
spasmus hängt innig zusammen mit dem Verlauf der Rachitis. Nicht in jedem
Stadium der Rachitis entwickelt sich Spasmus glottidis. Nur zur Zeit, wo der
rachitische Process in acuter Weise Fortschritte macht, pflegen sich laryngospastische
Anfälle einzustellen ; verlauft die Rachitis langsam, so sind die Anfälle im Beginne
selten und nicht intensiv; gestaltet sich der Verlauf der Rachitis sehr acut, so
werden die Anfälle ven Spasmus glottidis häufiger , ja sehr häufig, und erlangen
die höchsten Grade. Mit dem Nachlass der rachitischen Erscheinungen werden
die Anfälle von Laryngospasmus seltener und mit dem sich einstellenden Stillstande
oder Besserung des primären Processes pflegen auch die laryngospastischen Anfälle
aufzuhören. Da bekanntlich im Frühjahr und im Herbst, während der feuchten,
nasskalten Witterung, die meisten Verschlimmerungen und acuten Nachschübe des
rachitischen Processes beobachtet werden , so ist auch die Spasmus glottidis in
diesen Jahreszeiten am allerhäufigsten, während es im Sommer, wo gewöhnlich die
Rachitis sich bessert, nur selten zur Entwicklung von Spasmus glottidis kommt.
Das Auftreten von Laryngospasmus zur Zeit, wo die Rachitis Fortschritte
macht, ist durch eine krankhaft gesteigerte Erregbarkeit und
Reflexthätigkeit des Nervensystems bedingt, die sich zu dieser Zeit in
Folge der tiefgreifenden Ernährungsstörung , sei es in Folge Anämie , sei es in
Folge gestörter Ernährung der Nervencentra , bei rachitischen Kindern constant
einstellt. Die Schlaflosigkeit , die grosse Reizbarkeit und wandelbare Gemüths-
stimmung, das leichte Erschrecken, Zusammenfahren und Zucken, das häufige
Farbenwechseln etc. etc. sind wohl die Erscheinungen, die uns auf der Höhe der
Rachitis die vorhandene krankhafte Erregbarkeit und erhöhte Reflexthätigkeit des
Nervensystems bekunden. Allerdings kommt dieselbe nicht bei jedem Fall von
Rachitis vor; wo die vom rachitischen Processe gesetzte Störung der gesammten
Ernährung geringgradig ist, fehlt dieselbe gänzlich; in solchen Fällen beobachtet
man auch keinen Spasmus glottidis. Nur wo eine solche krankhaft
gesteigerte Erregbarkeit und Reflexthätigkeit des Nerven-
systems vorliegt, kommt es unter der Einwirkung der verschiedensten Störungen
und peripheren Reize zur Entwicklung von Spasmus glottidis.
Bei hochgradiger Missstaltung des Thorax ist gewöhnlich eine plötzlich
eintretende Störung in dem Rhythmus der Respiration die veranlassende Ursache
des Spasmus glottidis. Wird durch einen Hustenanfall , Schreien , schroffen
Wechsel der Temperatur, Gemüthsbewegungen, eine plötzliche Störung der ohnehin
durch die Missstaltung des Thorax erschwerten Respiration bedingt , so pflegt der
Kranke durch tiefe, rasch aufeinanderfolgende Inspirationen das respiratorische
Gleichgewicht herzustellen; in Folge dessen wird die Herzthätigkeit frequenter,
der Rückfluss des Blutes behindert und so eine Stauungshyperämie des Gehirns
und der Medulla ohlongata gesetzt, die die nöthigen Bedingungen zur Auslösung
des laryngospastischen Anfalles abgiebt.
In einer anderen Reihe von Fällen ist ein peripherer Reiz, welcher von
^dem Pharynx, Larynx, Trachea, Bronchien oder der Lunge ausgeht , eine periphere
Vagusreizung bewirkt und so zum Glottiskrampf, begleitet von Herzstillstand und
plötzlicher Hirnanämie führt. Ein solcher peripherer Reiz kann durch eine plötzliche
catarrhalische Schwellung und Reizung der Rachen-, Laryngeal-, Tracheal-, Bronchial-
schleimhaut, durch mechanische Reizung in Folge Verschluckens unpassender
Nahrungsmittel, durch plötzliche Einwirkung von Kälte, Wärme etc. entstehen. In
Folge des Laryngospasmus kommt es in solchen Fällen zu eclamptischen Anfällen.
58b SPASMUS GLOTTIDIS.
Auch kann noch zur Entstehung des Laryngospasmus die Reizung des
Pneumogastricus in Folge Ueberfüllung des Magens , Ueberfütterung , Dyspepsie,
Darmcatarrhe , Meteorismus etc. etc. führen. Mit Recht betrachten Reid und
Flesch die Reizung der gastroenterischen Aeste des Vagus in Folge der Dyspepsie,
der Darmcatarrhe als einen der häufigsten Ausgangspunkte zu dem reflectorischen
Krämpfe der Stimmritze. Auf Grundlage der Versuche von Mayer und Pribram
ist eine solche reflectorische Erregung der vasomotorischen Centra von den
peripheren Magenenden des Vagus leicht erklärlich. Ebenso wird auch die Be-
hinderung der Respiration durch Höherstehen des Zwerchfells in Folge der Ueber-
füllung des Magens , der Gedärme mit Fäcalmassen , das Zustandekommen des
Spasmus glottidis begünstigen.
Schliesslich können bei sehr hochgradiger Rachitis , wo es durch wieder-
holte Darmcatarrhe und Enteritiden zu einer bedeutenden Störung der Ernährung
gekommen ist, auch direct in der Blutmasse circulirende Schädlichkeiten einen
Reiz auf das Vaguscentrum ausüben und so einen Spasmus glottidis veranlassen,
da in solchen Fällen in Folge der hochgradigen Schwellung der Solitärdrüsen,
PAPER'schen Plaques und der Mesenterialdrüsen eine wesentliche Störung der
Verdauungs- und Assimilationsverhältnisse vorliegt.
Man hat auch die Dentition vielfach als eine Ursache des Glottiskrampf
angesehen. Wie Steffen richtig bemerkt, entbehrt es bis jetzt jedes stricten
Beweises, dass die Dentition im Stande sei, auf dem Wege des Reflexes Anfälle
von Spasmus glottidis auszulösen.
Eine weitere Ursache des Larynxkrampf ist unter besonderen Umständen
der Hydrocephalus chronicus. So lange derselbe keine Fortschritte
macht oder nur so langsam zunimmt , dass es hiebei zu keinen Reizungs- oder
Druckerscheinungen kommt, fehlt auch der Spasmus glottidis. Allein in jenen
Fällen, wo plötzlich unter den Erscheinungen von Gehirnreizung oder Gehirndruck
ein acuter Nachschub erfolgt, kommt es zuweilen zur Entstehung von laryngo-
spastischen Anfällen. Der Glottiskrampf ist in derartigen Fällen nur eine Theil-
erscheinung des eclamptischen Anfalles ; der Anfall beginnt entweder mit Spasmus
glottidis oder derselbe endigt mit einem heftigen Kehlkopf krampf, welcher
gewöhnlich zum vollständigen Verschluss der Glottis und zur Asphyxie führt.
Solche Anfälle wiederholen sich, so oft sich ein eclamptischer Anfall einstellt und
hören auf, sobald die den acuten Nachschub begleitenden Gehirnerscheinungen
nachlassen. Da der Hydrocephalus chronicus eine häufige Complication der
Rachitis ist, so wirken, wenn beide Erkrankungen nebeneinander vorliegen, in
solchen Fällen nebst der centralen Ursache auch die früher erwähnten peripheren
Reize und können neben dem Hydrocephalus einen Reflexkrampf der Stimmritze
veranlassen. Es sind dies wohl die schwersten Fälle von Laryngospasmus, die sich
durch viele heftige , von Convulsionen und Asphyxie begleitete Anfälle auszeichnen.
Auch bei Mikrocephalie, wenn gleichzeitig eine hochgradige Makroglossie
vorliegt, sah ich wiederholt Laryngospasmus auftreten.
Eine der wichtigsten Ursachen des Spasmus glottidis ist ferner die
Schwellung und Verkäsung der Bronchialdrüsen. Die Entstehung
des Laryngospasmus erfolgt entweder in Folge der directen Reizung des Nerv.
laryng. recurrens , die durch Entzündung, Druck auf denselben, Verwachsung mit
demselben bewirkt sein kann oder durch locale Reize, die von der geschwellten
oder comprimirten Schleimhaut der Trachea hervorgehen. Auch ohne Rachitismus
kommt es in solchen Fällen zur Entwicklung von Laryngospasmus. Allerdings
beginnt hier der Anfall gewöhnlich mit einem eigenthümlichen Hustenparoxysmus ;
es sind kurze, krampfhafte Hustenstösse , die von einer eigenthümlich krähenden
Inspiration begleitet sind, die in den hochgradigen Fällen sich mehrere Male
hintereinander wiederholen und schliesslich durch completen Verschluss der Glottis
einen förmlichen Erstickungsanfall veranlassen. In vielen Fällen liegen als Ursache
des Stimmritzenkrampfes sowohl die Rachitis als auch die Schwellung der Bronchial-
SPASMUS GLOTTIDIS.
587
drüsen vor. Wo diese beiden Ursachen combinirt sind, erlangt der Spasmus
glottidis die grösste Heftigkeit und Häufigkeit und pflegt gewöhnlich durch
Asphyxie zum letalen Ausgang zu führen.
Vielfach wurde die Schwellung der Thymusdrüse als die häufigste Ursache
des Glottiskrampfes angesehen. Die Ergebnisse der Obductionen haben nach den
übereinstimmenden Berichten sämmtlicher Autoren eine solche Schwellung der
Thymusdrüse nicht constatiren können.
In einzelnen Fällen, wo gleichzeitig ein acuter, mit hochgradiger Schwellung
verlaufender Catarrh des Pharynx , Larynx , Trachea , Bronchien vorliegt , kann
besonders im Säuglingsalter, sei es durch Secret- oder sei es durch Pilzbildung,
in Folge der Reizung der betreffenden Verästelungen des Vagus zum Spasmus
glottidis kommen. Ein Beispiel hiefür ist der Catarrhus suffocat. neonatorum, die
Laryngitis catarrhalis und die Pertussis, bei welchen auf der Höhe der Erkrankung
der Spasmus glottidis zuweilen einen so hohen Grad erreichen kann, dass Er-
stickung eintritt. Streng genommen gehören diese Fälle nicht zum Laryngospasmus
als selbständige Krankheit, da der Spasmus nur ein Symptom und eine Folge der
primären Erkrankung ist. Es ist selbstverständlich, dass in solchen Fällen, wenn
gleichzeitig Rachitis oder Hydrocephalus chronicus, oder eine Schwellung der
Bronchialdrüsen vorliegt, der Spjasmus glottidis viel häufiger und intensiver auftritt.
Auch kann der Laryngospasmus bei sonst gesunden Individuen durch
örtliche Ueberreizung des Kehlkopfes, durch anhaltendes Schreien,
durch Geschwülste, die eine Compression auf den Larynx aus-
üben, wie Hypertrophie der Schilddrüse, ferner durch Geschwülste
im Larynx selbst, die beweglich sind und die leicht an- und
abschwellen (Polypen), durch fremde Körper im Pharynx, Oeso-
phagus oder Kehlkopf entstehen ; auch kann der Stimmritzenkrampf bei
Krankheiten der Epiglottis (Diphtheritis , Croup), bei Ulcerationen
und Abscessen im Larynx auftreten. Bei Erwachsenen kommen ausser-
dem noch als Ursache des Laryngospasmus Reizungszustände der weiblichen
Sexualorgane und namentlich des Uterus, die besonders zur Zeit der Pubertät auf
dem reflectorischen Wege zum Spasmus glottidis führen.
Schliesslich wird der Spasmus glottidis zuweilen als Theilersch einung
der Epilepsie, der Chorea, des Tetanus und der Hydrophobie beobachtet.
Der Spasmus glottidis kommt sowohl bei Erwachsenen als auch bei
Kindern vor. Im Kindesalter ist derselbe am häufigsten. Ich habe binnen zehn
Jahren auf meiner Abtheilung der Wiener allgemeinen Poliklinik 329 Fälle von
Spasmus glottidis beobachtet. Die Mehrzahl der Autoren behauptet, dass der
Laryngospasmus bei Knaben häufiger als bei Mädchen vorkomme. Von den 329
von uns beobachteten Fällen waren 199 Knaben und 130 Mädchen. Bezüglich
des Vorkommens des Spasmus glottidis nach dem Alter haben Rilliet und
Barthez denselben vorwiegend bei Kindern im Alter zwischen 3 Wochen und
18 Monaten beobachtet. Steiner hat unter 226 Kindern 174 im 1. Lebensjahre,
52 im 2. oder 3. Lebensjahre gefunden. Salathe sah von 24 Fällen 4 bei
Neugeborenen, 9 bei 1 — 6 Monate alten, 6 bei 6 — 12 Monate alten, 1 bei einem
12 Jahre alten Kinde. Steffen und Flesch beobachteten die weitaus grösste
Mehrzahl der Fälle im Alter von 4 Monaten bis zum vollendeten 2. Jahre. Von
den
von mir beobachteten Fällen
waren :
5 Tage alt =
1
5
Monat
alt
= 17
1
1/2 Jahre
alt = 64
7 —
55 55
1
6
55
55
= 21
bis 2
n
„ = ™
2 Wochen „ =
1
7
55
55
= 31
2-
-3
!5
„ =20
^ 55 55 —
2
8
55
55
= 23
8-
-4
55
„ = 2
1 Monat „ ==
2
9
55
55
z= 24
7
55
„ = 1
^ 55 55 ~
4
10
55
55
— 26
8
55
„ = 1
3 55 T) —
14
11
51
55
= 9
10
55
„ = 1
4 ,., „ =
7
1
Jahr
55
= 24
588 SPASMUS GLOTTIDIS.
Sowohl in der Poliklinik als auch in der Privatpraxis habe ich bei Neu-
geborenen in den ersten Tagen nach der Geburt wiederholt Laryngospasmus
beobachtet. In dieser Hinsicht stimmt meine Erfahrung mit jener von Salathe
und Flesch. In allen Fällen fand ich, wie bereits von Flesch hervorgehoben
wurde, dass der Spasmus glottidis mit Colikanfällen in Folge von Dyspepsie
zusammentraf. Er scheint somit in solchen Fällen auch die Bedeutung eines von
Reizung der Gastrointestinalnerven hervorgehenden Reflexkrampfes zu haben.
Bei Erwachsenen findet man die hier in Rede stehende Krankheit vor-
wiegend bei dem weiblichen Geschlechte und am ehesten zur Zeit der geschlecht-
lichen Entwicklung. Mit dem zunehmenden Alter wird diese Krankheit seltener.
Steffen und mit ihm die Mehrzahl der Autoren behaupten, dass der
Spasmus glottidis überwiegend während der kalten Jahreszeit vorkommt. Die
Häufigkeit der von mir beobachteten Fälle nach den einzelnen Monaten gestaltet
sich folgendermaassen :
Jänner = 24
Februar =36
März = 61
April =66
September = 7
October =11
November = 18
December = 13
Mai = 39
Juni =26
Juli =16
August = 12
Es fallen somit auf die Wintermonate von October bis Ende April
219 Fälle. Nach meiner Erfahrung ist der Laryngospasmus von Jänner bis Ende
April am häufigsten; von da an nimmt die Häufigkeit ab und im Sommer und
Herbst wird die geringste Anzahl von Spasmus glottidis beobachtet.
Gerhardt betrachtet den Spasmus glottidis in manchen Familien
als erblich.
Die Erscheinungen des Spasmus glottidis gestalten sich verschieden,
je nachdem der Laryngospasmus bei Kindern oder bei Erwachsenen auftritt. Im
Kindesalter, wo die Glottis eng und kurz ist und wo wegen der Nachgiebigkeit des
knorpeligen Gerüstes des Kehlkopfes der Krampf eine stärkere Verengerung der-
selben hervorrufen kann, unterscheidet man verschiedene Grade von Spasmus
glottidis. Je nachdem primär über den Spasmus glottidis ein Krampf des Dia-
phragma (Apnoe) vorwiegt, je nachdem der Anfall bloss in einer mehr oder minder
andauernden Contraction der Musculi arytaenoidei besteht, ohne Betheiligung anderer
Muskeln (Frenoglottismus) und ferner je nachdem der Glottiskrampf von Krämpfen
anderer Muskeln , Diaphragma , Respirationsmuskeln , Bauchmuskeln etc. , ja von
einem Krämpfe der gesammten Muskulatur (Eclampsie) begleitet ist, gestaltet sich
das Krankheitsbild höchst verschieden.
In den geringen Graden besteht der Anfall in einer ein- oder mehrere
Male rasch hintereinander sich einstellenden ziehenden, pfeifenden, weit hörbaren
Inspiration; hierbei werden die Augen des Patienten starr, die Pupille eng, der
Puls und die Herzaction beschleunigt, unregelmässig, die allgemeine Decke blass,
die Schleimhäute bläulich gefärbt; nach wenigen Secunden schwinden diese Er-
scheinungen und der Kranke zeigt allmälig wieder normale Verhältnisse.
In anderen Fällen erblassen die Kinder kurz vor dem Anfall und
ohne alle Vorboten tritt plötzliche Stockung der Respiration ein, sonach mehrere
rasch aufeinanderfolgende krampfhafte, pfeifende Inspirationen, die von einer
keuchenden Exspiration gefolgt sind.
In den hochgradigsten Fällen von Laryngospasmus führt
die krampfhafte , ziehende Inspiration zu einem completen Verschluss der Glottis ;
hierbei tritt vollständiger Stillstand der Respiration, hochgradige allgemeine
Cyanose, schneller schwacher Puls und Herzthätigkeit , bei längerer Dauer der
asphyctischen Zustände verminderte Wärmebildung und Anästhesie der Haut ein.
Wie bereits oben angedeutet wurde, kann sich der Krampf in Folge des
Spasmus glottidis auf viele andere Nervenbahnen ausdehnen und auf diese Weise
eine grosse Reihe von begleitenden Erscheinungen veranlassen. Wo gleichzeitig
eine krampfhafte Erregung der Respirationsmuskeln stattfindet (Diaphragma,
SPASMUS GLOTTIDIS. 589
Brustmuskeln), wird der laryngospastische Anfall von auffallenden Unregelmässig-
keiten des Respirationsrhythmus , vorwiegend von rasch aufeinanderfolgenden
Inspirationen, ohne merkliche Exspiration begleitet. Wo die Augennerven an den
Krampf theilnehmen, beobachtet man während des Anfalles Aufwärtsrollen der
Bulbi, Strabismus, enge Pupille etc. In hochgradigen Fällen kommt es sogar zu
spastischen Contracturen der Finger , der Zehen , der Flexoren des Vorderarms
und zu trismusartigen Contractionen der Masseteren und der Temporalmuskeln.
In den geringgradigen Anfällen ist das Bewusstsein ungestört , während
in den hochgradigen sowohl die Sensibilität, wie auch das Bewusstsein erloschen sind.
Der Anfall dauert nur einige Secunden oder höchstens 2 — 4 Minuten,
durchschnittlich pflegen leichtere Anfälle eine kürzere Dauer zu haben.
Der Spasmus glottidis endet mit einer oder mehreren pfeifenden Inspi-
rationen , die bald schwach , bald stark sind. Sonach stellt sich die Respiration
ein. Dieselbe ist im Beginne unregelmässig und erlangt nur allmälig ihren
normalen Rhythmus ; das Bewusstsein kehrt langsam zurück , die Herzthätigkeit
wird gleichzeitig kräftiger und regelmässiger , die Cyanose schwindet langsam ;
hierbei wird die Haut zunächst blass und nimmt nur allmälig ihre normale Farbe
an. Die etwa vorhandenen spastischen Contracturen von den verschiedenen
Muskelgruppen hören auf, sobald die Respiration ihren normalen Rhythmus erlangt
hat. In einer Reihe von Fällen folgt auf den Anfall Schlaf. Wo dies nicht der
Fall ist, bleiben die Kinder nach dem Anfall mürrisch, verdriesslich. Wenn die
Anfälle nicht rasch aufeinander folgen , erholen sich die Kinder bald , während
im gegenteiligen Falle dieselben durch längere Zeit eine hochgradige Aufregung
bekunden und erhöhte Reflexerregbarkeit zeigen, so dass auf die geringste Ursache
ein neuer Anfall eintritt.
Wie ich bereits in der Aetiologie angedeutet habe, wird der Anfall in
jenen Fällen, wo der Spasmus glottidis durch eine Pharyngo-Laryngo-Tracheitis
oder durch Schwellung der Bronchialdrüsen veranlasst wird , durch kurze krampf-
hafte Hustenstösse , die von einer eigenthümlich krähenden Inspiration begleitet
sind, eingeleitet.
Bei Erwachsenen gestaltet sich der laryngospastische Anfall höchst ver-
schieden. Oft besteht der Anfall nur in dem plötzlich eintretenden Gefühl der
Verengerung des Kehlkopfes; in anderen Fällen gestaltet sich der Anfall ähnlich
wie bei Kindern, beginnt gewöhnlich mit einer pfeifenden, krähenden Inspiration,
es folgt sonach eine geräuschvolle Exspiration und leichte Zuckungen der ver-
schiedensten Muskelgruppen. In hochgradigen Fällen kommt es auch bei Erwach-
senen zu einem completen Verschluss der Glottis, begleitet von Cyanose und
allgemeinen Krämpfen. Bei hysterischen Individuen und bei Chorea besteht
zuweilen der Anfall in krampfhaften Inspirationen, welche sich kurz und rasch
hintereinander wiederholen und von convulsivischen heftigen Exspirationen mit
gellendem Hustenton unterbrochen sind.
Je nach der zugrundeliegenden primären Erkrankung stellen sich die An-
fälle von Spasmus glottidis nur selten ein, etwa jeden Tag oder nur nach mehr-
tägiger Pause, oder wiederholen sich mehrere Male in einem Tage, so dass in den
hochgradigen Fällen 30 — 50 Anfälle per Tag vorliegen können.
Das Auftreten der Anfälle ist an keine Tageszeit gebunden, sie können
sich sowohl bei Tag , als auch bei Nacht einstellen. Ihre Häufigkeit wird durch
verschiedene Gelegenheitsursachen begünstigt. In dieser Hinsicht sind zu erwähnen :
Gemüthsbewegungen , Weinen, Freude, Schreck, Furcht, plötzliches Aufwecken,
Magenüberladung, Hustenreiz, rasches und gieriges Trinken, mechanische Reizung
des Rachens durch unpassende Nahrungsmittel, Colikanfälle , Einwirkung von
kalter Luft etc. etc. In einzelnen Fällen scheint auch die Körperlage einen
gewissen Einfluss auf die Häufigkeit des Anfalles auszuüben; man beobachtet
nämlich, dass oft beim Niederlegen oder Aufheben des Kindes der Anfall sich
einstellt.
590 SPASMUS GLOTTIDIS.
In zahlreichen Fällen hat man während des ganzen Verlaufes nur leichte
Anfälle. Zuweilen sind die Anfälle nur im Beginne leicht und gestalten sich im
weiteren Verlaufe mit den eintretenden Verschlimmerungen der primären Erkrankung
sehr heftig und gefahrdrohend.
Die Dauer des Laryngospasmus hängt lediglich von der primären Er-
krankung ab. Oft gehen die Anfälle mit dem Besserwerden der primären Erkrankung
in wenigen Tagen vorüber, während, wo die primäre Erkrankung derart ist, dass
sie durch längere Zeit unverändert bleibt, auch der Laryngospasmus durch Monate
fortbestehen kann. Auch kann der bereits geheilte Laryngospasmus sich wieder
einstellen , sobald die primäre Erkrankung reeidivirt , oder neue Nachschübe eine
Verschlimmerung derselben bedingen.
Zumeist schwinden die Anfälle, ohne irgend welche Folgen zu hinter-
lassen. Allein in den hochgradigen Fällen compliciren sie sich nicht selten mit
ecl amptis chen Anfällen. Das Krankheitsbild gestaltet sich dann auf folgende
Weise: Plötzlich Mitte der Gesundheit wird der Patient von einer spastischen,
ziehenden Inspiration befallen, nach mehreren krampfhaften ziehenden Inspirationen
tritt Stillstand der Respiration, Bewusstlosigkeit , stierer Blick, weite Pupillen,
heftige unwillkürliche Zuckungen der gesammten Muskulatur, hochgradige, all-
gemeine Cyanose, Unregelmässigkeit und Schwäche der Herzthätigkeit ein. Solche
Anfälle können nach sehr kurzer Dauer schwinden oder wiederholen sich in sehr
kurzen Zwischenräumen, so dass der Patient beinahe continuirlich von derartigen
eclamptischen Anfällen überfallen wird.
So drohend die Erscheinungen beim Laryngospasmus sein können, so ist
es relativ sehr selten, dass der Anfall zum Tode führt. Nichtsdestoweniger darf der
Arzt die Möglichkeit einer Erstickung, sowohl in den leichten als auch in den
hochgradigen Fällen nicht ausser Acht lassen. Jeder erfahrene Arzt erlebt einen
solchen letalen Ausgang. Bei genauer Prüfung der letal endigenden Fälle ergiebt
sich, dass die Gefahr einer Erstickung in Folge Spasmus glottidis durch besondere
Umstände bedingt wird ; am allermeisten scheint den letalen Ausgang eine hoch-
gradige Missstaltung des Thorax (Hühnerbrust) zu begünstigen; ferner
Scoliose, Kyphose, chronischer Hydrocephalus, Schwellung
der Bronchialdrüsen, hochgradige gleichzeitige Bronchitis,
chronische Pneumonie, pleuritische Exsudate oder pleuritische
Anwachsungen, Lungenemphysem, angeborene oder erworbene
Herzfehler, fremde Körper oder Neugebilde im Larynx.
Der letale Ausgang erfolgt entweder plötzlich durch Apnoe in Folge
der Verschliessung der Glottis, oder auf der Höhe des Anfalles durch completen
Verschluss der Glottis , wobei in Folge des Anfalles Cyanose , Kohlensäurever-
giftung und allmälig Tod durch Asphyxie eintritt. Auch kann der Tod durch
einen heftigen, lang dauernden eclamptischen Anfall oder durch dessen Folgen
herbeigeführt werden. Schliesslich in hochgradigen Fällen, wo täglich 20 bis
30 Anfälle sich einstellen, kann, wenn dieser Zustand mit abwechselnder Besserung
und Verschlimmerung durch Wochen und Monate ohne vollständige Pausen
andauert, der Tod durch Erschöpfung herbeigeführt werden.
Bei der Obduction der an Spasmus glottidis verstorbenen Kinder fand
man in der überwiegenden Zahl der Fälle rachitische Veränderungen , und zwar
einmal an den Kopfknochen in Form der Kraniotabes oder der periostalen Auf-
lagerung, ein anderes Mal diese allein oder gleichzeitig an den Thoraxknochen, sowohl
als einfache Schwellung der Rippenepiphysen, wie auch als hochgradige Missstaltung
des Thorax (Hühnerbrust) , oft auch an der Wirbelsäule als Scoliosis hyphotlca
an der Scapula, an den Schüsselbeinen, langröhrigen Knochen etc. etc. Häufig
war mit der Rachitis der Schädelknochen chronischer Hydrocephalus oder in
einzelnen seltenen Fällen HypertropMa cerebri vergesellschaftet. Gleichzeitig mit
den Symptomen der Rachitis findet man im Darme Schwellungen der Solitär-
drüsen, PAPER'schen Plaques und der Mesenterialdrüsen , als die Reste der vielen
SPASMUS GLOTTIDIS. 591
recidivirenden chronisch verlaufenden Darmcatarrhe , die allmälig zum Rachi-
tismus führten.
Bei jenen Kindern , die während eines eclamptischen Anfalles sterben,
findet man eine venöse Hyperämie der Pia, zuweilen auch der Gehirnsubstanz
oder Oedem der Pia und serösen Erguss in den Ventrikeln. Im Allgemeinen
sind bei allen Fällen mit der Rachitis mehr oder weniger hochgradige Erschei-
nungen der Gehirnanämie vorhanden.
Die Bima glottidis ist bei jenen Kindern , die während des Anfalles ver-
storben sind, immer theilweise verengt , an derselben finden sich Veränderungen ;
fremde Körper, Polypen oder anderweitige krankhafte Erscheinungen nur in jenen
Fällen, wo diese erwähnten Momente den Laryngospasmus veranlassen. In den
anderen Fällen zeigt die Bima glottidis keine Veränderungen.
In einer ganz kleinen Reihe von Fällen findet man einzelne oder alle
Bronchialdrüsen mehr oder weniger vergrössert oder im Stadium der mehr oder
weniger fortgeschrittenen Verkäsung. Die genaue Untersuchung der Nerven ergiebt
in einzelnen Fällen Verwachsungen der genannten Drüsen mit dem Nerv.
laryng. recurrens.
Die Lungen sind bei Kindern, die während des Anfalles starben, meistens
in geringen Graden emphysematisch, besonders an den vorderen Rändern.
Ausserdem begegnet man verschiedenen zufälligen Befunden, wie Atelectase
bei gleichzeitiger hochgradiger Hühnerbrust, chronische Pneumonie, zuweilen ver-
altete Veränderungen an der Pleura, Veränderungen im Herzen, besonders Er-
weiterung des rechten und Hypertrophie des linken Ventrikels.
Die Thymusdrüse bietet meistens keine Anomalie.
Die Anhaltspunkte zur Stellung der Diagnose entnehmen wir zunächst
aus den charakteristischen Merkmalen des Anfalles selbst. Wir haben als charak-
teristisch bereits hervorgehoben: den plötzli chen Beginn, die den Anfall
einleitende pfeifende oder krähende Inspiration, die kurze
Dauer desselben, ferner die den Schluss des Anfalles bildende,
krampfhafte, krähende Inspiration, die zur Cyanose oder zum
vollständigen Stillstand der Respiration führt; ebenso wichtig für
die Diagnose sind die freien Int ermissio n en zwischen den einzelnen
Anfällen. Wo der Laryngospasmus, durch einen fremden Körper , Polypen oder
anderweitige pathologische Veränderungen der Glottis , bedingt ist , ferner in
jenen Fällen, wo derselbe in Folge eines Catarrhs des Pharynx, Larynx, durch
Pertussis oder Schwellung der Bronchialdrüsen entsteht, wird uns die Anamnese
wichtige Daten liefern und der Nachweis der primären Erkrankungen eine wesent-
liche Stütze für die Diagnose sein. Die genaue Untersuchung des gesammten
Organismus wird uns am besten vor diagnostischen Irrthümern schützen, indem die
Diagnose Spasmus glottidis nur in jenen Fällen statthaft ist, wo die Behinderung
der Respiration in Folge einer materiellen Erkrankung der Gehirnhäute, des Gehirns
und der Medulla, der Athmungsorgane und des Herzens ausgeschlossen werden kann.
Die Prognose richtet sich nach der Intensität und Häufigkeit der Anfälle
und nach der veranlassenden primären Erkrankung. Beide Momente müssen bei der
Stellung der Prognose gewissenhaft erwogen werden. Alle Fälle von Larygospasmus,
welche auf dem Wege des Reflexes entstanden sind, lassen eine günstige Prognose
zu, nur wenn die Ursache behoben werden kann. Bei hochgradiger Schwellung
der Bronchialdrüsen, bei hochgradiger catarrhalischer Erkrankung der Luftwege,
bei hochgradigem Hydrocephalus etc. etc. ist aus dem Grunde bei der Stellung der
Prognose auch in jenen Fällen , wo die Anfälle leicht sind , die grösste Vorsicht
geboten. Leichte Anfälle, besonders wenn sie aus einzelnen pfeifenden Inspira-
tionen bestehen und nur zu einer geringen Cyanose führen , ohne Störung des
Bewusstseins und in grossen Intervallen auftreten , lassen eine günstige Prognose
zu, wenn die Kranken kräftig sind und die primäre Erkrankung geringgradig
und von keinem der bereits erwähnten üblen Umstände begleitet ist, die den
502 SPASMUS GLOTTIDIS.
Eintritt des letalen Ausganges begünstigen. Sehr schwere Anfälle können ohne
nachtheilige Folgen bleiben , wenn nur die primäre Erkrankung geringgradig ist
und derart , dass eine baldigo Heilung zu erwarten steht. Am günstigsten sind
im Allgemeinen jene Fällen von Spasmus glottidis , die im Gefolge der Rachitis
auftreten. Ich habe bereits in der Aetiologie dargethan, dass bei geringgradigen,
rachitischen Veränderungen der Spasmus nur in Form von leichten Anfällen auf-
tritt und bald aufhört mit der Besserung der primären Erkrankung ; ebenso wurde
bereits hervorgehoben , dass der Verlauf der Rachitis einen wesentlichen Einfluss
auf den Verlauf und die Intensität des Spasmus glottidis übt. Man wird deshalb in
jenen Fällen, wo die Rachitis sehr acut verläuft und wesentliche Störungen des
gesammten Knochengerüstes bedingt, mit der Prognose sehr vorsichtig sein, da in
solchen Fällen eine lange Dauer und Intensität des Spasmus zu erwarten steht und
die Möglichkeit des letalen Ausganges vorliegt. — Ebenso wird sich die Prognose
günstig gestalten, sobald es durch zweckmässige Nahrung, hygienische Verhältnisse
und Medication gelingt, eine Besserung oder Stillstand des rachitischen Processes
zu erzielen, da, wie ich bereits angeführt habe, gleichzeitig auch der Spasmus
glottidis schwächer wird und gänzlich aufhört. Bei der Stellung der Prognose
berücksichtige man stets jede eintretende Verschlimmerung des rachitischen Pro-
cesses, die eine Verschlimmerung oder eine Recidive des Spasmus glottidis
bedingen kann.
Bezüglich der bei Spasmus glottidis beobachteten Sterblichkeit müssen
wir Steffen's und Flesch's Ansicht beipflichten, dass bezüglich der Gesammt-
heit der Fälle dieselbe nicht so hochgradig ist, wie von vielen anderen Autoren
angegeben wird. Unter 329 Fällen von Sp>asmus glottidis, die ich beobachtet
habe, wurden nur 8 Todesfälle gemeldet.
Therapie. Aufgabe der Behandlung ist die Berücksichtigung des Anfalles
und die Bekämpfung der primären Erkrankungen und aller jener Bedingungen,
die den Anfall hervorrufen. Bei leichten Anfällen wird ein Eingreifen während
des Anfalles selten nothwendig sein, man wird höchstens die Fenster öffnen, um
durch Zufuhr von frischer, reiner Luft rasch eine Belebung der Respiration zu
bewirken. Wenn die Anfälle länger andauern und heftig sind, ist wohl zweck-
mässig, die Kranken zu entkleiden, aufzusetzen und durch Anspritzen mit kaltem
Wasser, oder durch kalte Begiessungen , -kalte Douchen oder kalte Abreibungen
den Anfall abzukürzen ; auch andere Hautreize können angewendet werden , wie
Senfteige, wiewohl sie nach meiner Ansicht bei der vorhandenen erhöhten Reflex-
erregbarkeit weniger zweckmässig sind, als die früher erwähnten hydriatischen
Manipulationen.
In schweren Fällen genügen die hier erwähnten Massregeln nicht, um
den Anfall zu unterbrechen, und da die Erstickungsgefahr sehr gross ist, so ist
es wohl nicht statthaft, sich passiv zu verhalten. Flesch's Ansicht, dass beim
Spasmus glottidis auch in schweren Fällen ein passives Verhalten das Zweck-
massigste sei, kann ich durchaus nicht theilen. Wo Asphyxie droht oder bereits
eingetreten ist, muss der Arzt zur Rettung des Kranken zur symptomatischen Be-
kämpfung derselben schreiten. Ich pflege in solchen Fällen zunächst die Zunge
des Kranken mit zwei Fingern fest anzufassen und gewaltsam aus der Mundhöhle
herauszuziehen; durch eine derartige Bewegung der Zunge wird auch der Kehl-
kopf nach aufwärts bewegt und in Folge dessen häufig einzelne tiefe Inspirationen
veranlasst. Wenn trotzdem die Respiration nicht in Gang kommt, wende ich die
Elektricität an. Oft genügt die leichte Faradisation des Nervi phrenici oder der
allgemeinen Decke am Brustkorbe und am Halse, um die Respiration wieder zu
Stande zu bringen. — Wenn dies nicht hinreicht, ist die kräftige Anwendung
des constanten Stromes (Wirbelsäule, Brustkorb) von grossem Werthe. Wenn
trotzdem die Asphyxie fortdauert, greife ich zur Catheterisation des Kehlkopfes.
Die Einführung eines Catheters in den Kehlkopf (besser einer sogenannten Tubage-
röhre) ist, wenn man gewissermaassen geübt ist, leicht ausführbar, da die Rima
SPASMUS GLOTTIDIS. 593
glottidis nie vollständig geschlossen ist. Häufig reicht die blosse Einführung des
Catheters hin, um sofort die Respiration in Gang zu bringen. Ich halte die
Catheterisation der Luftröhre, wie sie eben zuerst von Weinlechner, empfohlen
wurde, für das beste Mittel, um das Kind vor Erstickung zu retten.
In jenen Fällen, wo die Einführung des Catheters keine Respirations-
bewegungen veranlasst, pflege ich durch den Catheter Luft einzublasen und durch
den entsprechenden Druck an den Seitentheilen des Thorax die Exspiration zu
bewerkstelligen. Wenn der Stillstand der Respiration schon einige Minuten gedauert
hat und der Patient bereits pulslos ist, so ist es zweckmässig, gleichzeitig mit der
Einleitung der künstlichen Respiration auch die Elektricität anzuwenden. Die
hier erwähnten Maassregeln sind durch längere Zeit fortzusetzen, und zwar
bis die Respiration wieder normal wird. Nach meiner Erfahrung dauert die
Asphyxie und der Scheintod , in Folge des Spasmus glottidis , oft längere Zeit ;
man stehe deshalb nicht zu früh von dem Belebungsversuche ab.
Mit Hilfe der hier angeführten Belebungsmaassregel gelingt es oft in den
schwersten Fällen, wo der Stillstand der Respiration und die Asphyxie schon
mehrere Minuten gedauert haben , die Kinder zu retten. Wer sich in solchen
Fällen passiv verhält und nicht gewissenhaft Alles anwendet, was oben angeführt
wurde, wird manches Kind verlieren, welches bei einem energischen Eingreifen
gerettet werden konnte. Einige Autoren haben zur Bekämpfung der Asphyxie
die Vornahme der Tracheotomie empfohlen. Wenn man das oben angeführte
Verfahren anwendet, ist diese Operation überflüssig : in jenen Fällen, wo es durch die
Elektricität und durch Catheterisation sowie durch Einleitung der künstlichen Respi-
ration nicht gelingt, den Patienten zu retten, bleibt auch die Tracheotomie erfolglos.
Von vielen Seiten wurden zur Bekämpfung des Anfalles Chloroform -
inhalationen empfohlen. Dieselben sind bei Kindern anwendbar nur in jenen Fällen,
wo der Spasmus glottidis als Theilerscheinung eines eclamptischen Anfalles auf-
tritt. Wo reine, heftige laryngospastische Anfälle vorliegen, ist die grösste Vorsicht
in der Anwendung von Chloroform zu empfehlen; bei Säuglingen und bei
rachitischen Kindern vermeide ich, bei blossem Spasmus glottidis, die Anwendung
des Chloroforms. Bei grösseren Kindern und bei Erwachsenen, wo der Laryngo-
spasmus als Reflexkrampf auftritt, im Gefolge von Hysterie oder Chorea, können
die Chloroforminhalationen gute Dienste leisten.
Dasselbe gilt von den subcutanen Injectionen von Morphin: derartige
Mittel können bei grösseren Kindern und Erwachsenen nur angewendet werden,
wenn der Spasmus glottidis als Reflexkrampf auftritt. — Henoch räth , um
der enormen Häufigkeit der Anfälle und der daraus hervorgehenden Erschöpfung
des Kindes ein möglichst rasches Ziel zu setzen , die Anwendung von Morphium
(Morphii muriatic. O01 , Aq. dest. 35*00, Syrupi Althaeae 15*00, M. D. S.
2 — 3mal täglich 1 TheelöfFel voll zu geben). Es lässt sich nicht leugnen, dass,
wo die Reflexerregbarkeit der Kinder sehr erhöht ist, durch Morphin günstige
Resultate erzielt werden können, allein es ist bei der Anwendung von Morphin
stets die Vorsicht zu beobachten, das Mittel auszusetzen, sobald Ruhe und Schläfrig-
keit eintritt.
Neben der Bekämpfung- des Anfalles kommt bei der Behandlung des
Spasmus glottidis die Berücksichtigung der Reflexreize in Betracht, welche
erfahrungsgemäss im Stande sind, bei der vorhandenen Disposition des Kranken
Laryngospasmus hervorzurufen.
Man bekämpfe zunächst alle jene Gelegenheitsursachen, die einen Anfall
hervorrufen, könnten • in dieser Hinsicht leisten sorgfältige diätetische Maassregeln
ausgezeichnete Dienste.
Man vermeide zuvörderst jede Aufregung und Gemüthsbewegung des
Kranken : Ruhe in jeder Hinsicht ist dringend geboten. Flesch's Rath , die
Kinder durch zwei Tage im Bette zu halten, ist nur in einzelnen Fällen ausführbar ;
unruhige , widerspenstige Kinder müssen beständig am Arme getragen werden.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII, 38
594 SPASMUS GLOTTIDIS.
Man sorge in der Krankenstube für häufige Erneuerung der Luft; man
schütze jedoch die Kinder vor zu kalter Luft, und man vermeide insbesondere
den grellen Uebergang von der warmen in die kalte Luft.
Wo ein Catarrh des Pharynx oder Larynx die Quelle von Reflexreizen
abgiebt , ist die sorgfältige Behandlung eines derartigen Catarrhs mit Inhalationen
dringend geboten. Ich wende für Kinder in solchen Fällen gern Tannin in
Verbindung mit Aq. Lauroceras. an (Rp. Tannini pur i 4'00, Aq. fontis 200'00,
Aq. Lauroceras. 1O00, D. S. mittels Siegle's Pulverisateur 3 — 4mal täglich zu
inhaliren). Ebenso können Terpentinöl-, Soda- und Kochsalzinhalationen ange-
wendet werden.
Von der grössten Wichtigkeit ist ferner, jede Ueberfütterung oder
unzweckmässige Nahrung zu vermeiden, da erfahrungsgemäss in Folge der auf
diese Weise stattgefundenen Reizung der Magennerven leicht reflectorisch bei
der vorhandenen Disposition Sqjasmus glottidis veranlasst werden könnte. Man
gebe deshalb in den ersten Tagen, um auch jede Reizung beim Schlingen zu
vermeiden , nur flüssige Nahrung und erst nach erfolgter Abnahme der Reflex-
erregbarkeit schreite man, entsprechend dem Alter des Kindes, zu einer breiigen
und dann festen Nahrung. Bezüglich der Quantität gebe man die Nahrung nur
alle drei Stunden, und in einer, durchaus dem Alter des Kindes entsprechenden Menge.
Für Kinder unter einem Jahre ist wohl die Frauenmilch am besten. Flesch
räth, bei künstlich genährten Kindern die Saugflasche ganz zu verbannen, und
die Milch mit dem Schiffchen, und die Suppe mit dem Löffel zu geben; ich
würde Flesch's Rath nur in jenen Ausnahmsfällen befolgen, wo die Reizbarkeit
der Kinder so gross ist, dass schon beim Ansetzen der Flasche constant der
Anfall eintritt.
In jenen Fällen, wo eine vorhandene Dyspepsie den Boden für die Aus-
lösung des Reflexkrampfes abgiebt , ist die Behandlung derselben durch zweck-
mässige Nahrung, Ordnung in der Darreichung der Brust und der Nahrung über-
haupt, ferner die Anwendung der entsprechenden Medicamente: Alkalien, Acida,
Amara, Rheum etc. , je nach der vorliegenden Indication dringend geboten. Ich
verweise in dieser Hinsicht auf den Artikel „Dyspepsie".
In allen Fällen ist es nothwendig, den Darm von den Kothmassen und
Gasen zu befreien. Flesch's Rath, in jedem Falle von Spasmus glottidis mit
der Anwendung eines Clysma die Behandlung zu eröffnen, ist gewiss sehr zweck-
mässig. Ich wende mit Vorliebe Irrigationen mit lauem Wasser, bei Säuglingen
mit 500 — 700 Gramm, bei grösseren Kindern mit 1 Liter, an, weil dieselben viel
prompter und ausgiebiger als die Clysmata wirken.
Gegen den Sp>asmus glottidis selbst wurde eine grosse Reihe von
Medicamenten empfohlen.
Pagenstecher und Steiner loben die Wirkung der Zinkpräparate;
ich sah nie einen Erfolg von denselben. Andere Autoren haben von Kupfer-
präparaten, Gold, Nitras Argenti, Belladonna, Morphin, Opium, Cannabis etc. günstige
Resultate gehabt. Die Mehrzahl der Beobachter ist wohl heute überzeugt, dass
derartige Mittel von keinem Nutzen sind.
Auch bezüglich der von einzelnen Autoren gerühmten Wirkung des
Moschus , und der Asa foetida , bin ich zur Ueberzeugung gelangt , dass solche
Mittel für die Heilung des Spasmus glottidis belanglos sind.
Viel besser als die Anwendung der genannten Mittel erweist sich die
eingehende und gründliche Behandlung der primären Erkrankung.
Wo der Spasmus glottidis in Folge der Rachitis auftritt, leistet eine
antirachitische Therapie das Beste. Ich verweise in dieser Hinsicht auf den
Artikel „Rachitis" dieses Werkes , wo die Behandlung dieser Krankheit ausführlich
besprochen wurde. Es genüge hier, nochmals zu betonen, dass eine tadellose und
naturgemässe Ernährung von der grössten Wichtigkeit ist. Als Ersatz für die
Frauenmilch wähle man stets nur eine gute Kuhmilch, die nach dem Alter des
SPASMUS GLOTTIDIS. — SPASMUS NUTANS. 595
Kindes zu verdünnen ist. Wenn dieselbe nicht verdaut wird, so ist die Mischung
der Kalbsbrühe mit Milch und Biedert's Rahmgemenge zu versuchen. Alle
Amylacea sind selbstverständlich zu vermeiden. Auch Kinder im Alter zwischen
1 — 2 Jahren sollen nur mit guter, frischer Kuhmilch, Suppe, Fleisch, sowie Eiern
genährt werden , ausserdem können kleine Mengen von Leguminosenmehl als
Zusatz zur Suppe oder zur Milch versucht werden.
Gegen die Rachitis selbst wirkt günstig der Aufenthalt an der Seeküste,
oder wenigstens am Lande. Es ist nicht selten , dass der Laryngospasmus in
Folge der Luftveränderung aufhört. Ausserdem sind Salzbäder, kalte Waschungen
und Abreibungen von günstiger Wirkung. Von Medicamenten wende ich bei
rachitischen Kindern, wenn sie von Spasmus glottidis befallen sind, beinahe aus-
schliesslich Leberthran an. Bei Kindern im Alter unter zwei Jahren verschreibe ich
den Leberthran in Form einer Mixtur, in Verbindung mit Tinct. Valerianae
(Olei jecoris Aselli flavi 10*00, Pidv. gumm. arabic, Aq. fontis aa. q. s. ut
fiat Mixt, colaturae 100*00, adde Tinct. Valerianae 2*00, D S. 3 — 4 Esslöffel
voll des Tages zu geben). Wenn die Anämie hochgradig ist , verordne ich
gewöhnlich als Zusatz zu obiger Leberthranmixtur , anstatt Tinct. Valerianae,
Tinct. ferri pomati.
Mit dieser Therapie habe ich beim Laryngospasmus der rachitischen
Kinder die meisten Erfolge gesehen.
Wo der Laryngospasmus durch einen chronischen Hydrocephalus ver-
ursacht wird, wende ich, so lange Gehirnreizung oder Gehirndruckerscheinungen
vorliegen, Jodkali an (Kali jodati 1 — 2*00, Aq. fontis 90, Syrupi simplicis 10*00,
D. S. 2stündlich 1 Esslöffel voll zu geben). Wenn allgemeine Convulsionen mit
dem Laryngospasmus vergesellschaftet sind, so ziehe ich die Anwendung von
Bromkali oder Natr. hydrobromic. vor. (Kali bromati 2 — 300, Aq, fontis 90*00,
Syrupi ruh. idaei 10*00, D. S. 2stündlich 1 Esslöffel voll zu geben, oder Natri
hydrobromic. 2 — 3*00, Aq. fontis 90*00, Syrupi simpl. 10*00 D. S. 2stündlich
1 Esslöffel voll zu geben.) Zur Bekämpfung der eclamptischen Anfälle leistet
auch Chloralhydrat intern (1 — 2"/0ige Lösung) oder als Clysma gute Dienste.
Wo mit dem Spasmus glottidis eine Schwellung der Bronchialdrüsen
vorliegt, wende ich Ferr. jodat. sacch. an (Ferri jodat. sacch. 1*00, Saccli.
a7bi 2*00. Div. in Dos. X.; D. S. 3 — 4 Pulver des Tages zu geben). Bei
gleichzeitig vorhandener Rachitis Leberthran pur oder in Verbindung mit Jodeisen
(Olei jecoris Aselli -flavi 100*00, Ferri jodat. sacch. 10*00, stet per 48 horas,
deinde decanta, D. S. 2 Esslöffel voll des Tages zu geben). Bei Säuglingen ver-
schreibe ich es als Mixtur (Olei jecoris Aselli flavi 10*00, Pulv. gumm. arab'ic,
Aq. fontis aa. q. s. ut fiat Mixt, colaturae 100*00, adde Syrupi ferri jodati
10*00, D. S. 3—4 Esslöffel voll des Tages zu geben).
Wir haben bereits oben angedeutet, dass in jenen Fällen, wo der Spasmus
durch Catarrhe veranlasst wurde, die Behandlung derselben mit Inhalationen, mit
Expectorantien, mit Narcoticis, je nach der vorliegenden Indication, noch die meisten
Resultate aufzuweisen hat.
Wo Geschwülste vorliegen, die durch eine Compression auf den Larynx
Spasmus glottidis hervorrufen, oder wo derselbe durch Geschwülste im Larynx
(Polypen) oder fremde Körper veranlasst wird, ist die entsprechende chirurgische
Behandlung sofort einzuleiten.
Wenn bei Erwachsenen der Spasmus glottidis zur Zeit der geschlechtlichen
Entwicklung, oder in Folge von Hysterie und Chorea auftritt, ist die Anwendung
von kalten Abreibungen, Elektricität, Eisen, Eisenbädern, Chloralhydrat, Bromkali etc.
am besten wirkend. M o n t i.
Spasmus imtans. Der Spasmus nutans, Nictitatio spastica,
Salaam- oder Grüss kämpf (Newnham) gehört zu den im Kindesalter zweifel-
los am häufigsten isolirt vorkommenden klonischen Krämpfen und äussert sich,
33 *
59Ö SPASMUS NUTANS.
entsprechend dem vom JV". accessorius versorgten Muskelgebiet, in heftigen, bald
einseitigen , meist rhythmisch abwechselnden Contractionen des Cucullaris , Sterno-
cleidomastoidens , Kectus capitis u. s. w. Je nach der Betheiligung der einzelnen
genannten Muskeln entstehen jene pagodenartigen Bewegungen des Kopfschütteins,
des Kopfnickens oder bei einseitiger Erkrankung ruckweise zuckende Bewegungen
des Kopfes nach der gesunden Seite zu, mit Emporhebung des Kinnes (M. sterno-
cleidomastoideus) oder Rückwärtssenkung des Kopfes den Schultern zu (M. cucul-
laris). Während des Schlafes pflegen wohl ausnahmslos die Bewegungen zu sistiren.
Fast niemals beginnt der Krampf plötzlich. Meist gehen demselben eine
Reihe unbestimmter Vorboten voraus , Appetitlosigkeit , Stuhlverstopfung , Fieber-
bewegungen, Zuckungen im Gebiete des Facialis; dann beginnt die eigentliche
Nickbewegung , zuweilen in solcher Intensität , Extensität und Frequenz, dass der
Kopf mit Heftigkeit und grosser Schnelligkeit 60 — 120 Mal in der Minute den
Knieen zugeschleudert wird. In der Mehrzahl der Fälle erstreckt sich der
Paroxysmus auf Stunden und wüthet mit solcher Heftigkeit, dass Kauen, Schlingen,
Sprechen erschwert und zeitweise ganz unmöglich sind. In selteneren Fällen
wiederholt sich der Krampf nur wenige (5 — 6) Mal in der Minute und hält
i/4 — 1/2 Stunde an. Eine Fixirung des Kopfes gelingt kaum, der blosse Versuch
dazu ist äusserst schmerzhaft. Gelingt die Fixation des Kopfes, so sistiren auch
die Krämpfe; jedoch tritt dann gewöhnlich Nystagmus oder Blepharospasmus auf.
Ueberhaupt irradiirt der Krampf gern nach benachbarten Nerven gebieten. Blepharo-
spasmus, Nystagmus, Strabismus, seltener Trismus und clonisch-tonische Extremitäten-
krämpfe kommen zur Beobachtung. Sensible Reizerscheinungen fehlen in der
Mehrzahl der Fälle, wenigstens bei Kindern ; ältere Individuen klagen über Kopf-
schmerzen, Müdigkeit, Formicationen , diffuse Hyperästhesien. Druckpunkte hat
man namentlich an der Wirbelsäule, an einzelnen Dornfortsätzen und im Verlauf
des Accessoriusstammes finden wollen. Von Lähmungen wird selten berichtet.
Ich beobachtete bei einem achtjährigen Knaben eine Radialisparalyse bei einer
vom Intestinaltractus auftretenden reflectorischen Form des Sjyasmus nutans.
Die Prognose ist quoad valetudinem completam stets dubios. Nicht
ganz selten, sogar bei rein reflectorischen Formen, die recidivirten , hat man den
Uebergang in Epilepsie wahrnehmen können. Faber, Henoch, Bonnet haben
derartige Beobachtungen gemacht und Newnham hat von schweren psychischen
Depressionszuständen, die zum Blödsinn führten, Mittheilung gemacht. Nach einer
Zusammenstellung von 13 Fällen in der Literatur durch Hochhalt endeten 2 in
Genesung, 2 in Epilepsie, 6 führten zu Hemi- und Paraplegie, 1 zu Aphasie, 8 zu
Idiotismus. Die Psyche leidet auf die Dauer freilich fast ausnahmslos ; das Leben
wird den Kranken zur Qual, so dass dieselben sogar zu Selbstmordversuchen
getrieben werden. Meist dauert der Krampf, wenn er nicht schnell abheilt, durch
das ganze Leben an. Complete Heilungen bei mehrjährigem Bestände gehören zu den
grössten Seltenheiten.
Ueber die Aetiologie des Nickkrampfes ist wenig Positives bekannt.
Wir vermuthen hur, dass die reflectorischen Formen bei Kindern innerhalb des
ersten Lebensjahres mit der Dentition in innigster Beziehung stehen (Reflex vorn
Trigeminus), wenigstens beweisen dies die Beobachtungen von Romberg, Eberth
und namentlich Henoch, der noch kürzlich eine Reihe zuverlässiger Beobachtungen
mitgetheilt hat. Auch Wurmreiz und anderweitige dyspeptische Reize, rheumatische
Noxen (Gerhardt, Erb), namentlich Durchnässung des Körpers, plötzliche Abkühlung
während der Sonnenhitze werden als Ursachen geltend gemacht. In der Mehrzahl
der von mir beobachteten Fälle war ein Trauma vorhergegangen, das meist den
Schädel oder die Wirbelsäule (Spondylitis) getroffen hatte. Nur einmal sah ich
Spasmus nutans nach Masern und Scharlach , niemals nach Typhus und Pocken,
obwohl auch hiervon Beobachtungen vorliegen. Endlich können natürlich eine Reihe
cerebraler und spinaler Erkrankungen , Erweichungen , Entzündungen , namentlich
Meningitis spinalis (Newnham) und cerebrospinalis (ich), Quetschungen, Tumoren
SPASMUS NUTANS. — SPECIES. 597
(Eberth, Steiner) den Krampf hervorrufen. Willshire verlegte den Angriffs-
punkt für den Krampf in die Grosshirnganglien ; dies hat wohl namentlich für
diejenigen Fälle Geltung, die bei der Hysterie (Neurasthema cerebralis) und
der sogenannten Chorea magna vorkommen. Die meisten Paroxysmen werden
durch körperliche und geistige oder psychische Erregungen veranlasst.
Ueber die Therapie ist wenig zu sagen. Am zugänglichsten sind der
Behandlung die durch gastrische Reize hervorgerufenen reflectorischen Formen.
Hier wird man durch Abführmittel , Anthelminthica , Tonica amara vorzugehen
haben. Bei Anämischen, nach acuten Krankheiten, bei scrophulösen und rachitischen
Kindern empfehlen sich, neben zweckmässiger blander aber nährender Diät, die
leicht verdaulichen und leicht assimilirbaren Eisenpräparate, Ferrum lacticum,
Ferrum phosphoricum , Ferrum pyrophosphoricum c. Ammonio citrico , pyro-
phosphorsaures Eisenwasser und dergleichen mehr. Bei chronischer Koprostase
versuche man in solchen Fällen Oleum jecoris Aselli mit Oleum Bicini in
Gummiemuision.
Die Erfahrungen mit Chloralhydrat , mit subcutanen Morphiuminjectionen
entsprechen nicht den gehegten Erwartungen. Auch dürfen Morphiuminjectionen
bei Kindern nur mit äusserster Vorsicht in Anwendung gezogen werden. Auch
die Erfolge des so gerühmten Bromkalium, des Jodkalium, Arsenik, Atropin u. s. w.
sind sehr bedingte. Bäder, Vesicantien, Sinapismen, Blutentziehungen haben meist
schädlich gewirkt, die Galvanisation quer durch den Kopf und den Halssympathicus
(Stich) haben nur temporäre Besserung erzielt.
Spontanheilungen nach dem Zahndurchbruch beobachtete Henoch in einigen
Fällen. Demme heilte ein Kind durch Fixation des Kopfes mittelst Drahtkorb,
Einpinselungen von Jodtinctur und Eisumschlägen. Ich heilte einen reflectorischen
Nickkrampf durch täglich 2 — 3 Mal wiederholte Aetherzerstäubungen auf die vom
Krämpfe ergriffenen seitlichen Halspartien. Diefeenbach , Stromeyer übten die
Myotomie ; Busch , freilich erfolglos , die Neurectomie am Nervus accessorius.
Literatur: Lehrbücher der Nervenkrankheiten von Romberg, Hasse, Eulen-
burg, Duchenne, Rosenthal, Benedict, Erb u. s. w. , der Kinderheilkunde von
Steiner, Fleischmann, Gerhardt, Soltmann (Gerh. Bd. V, erste Abtheilung mit
ausführlicher Literaturangabe) und Henoch. — Newnham, Eclampsia nutans or Salaam
convidsion of infancy. Brit. record of Obstr. m. 1849. — Henoch (Romberg), Klinische
AVahrnehmungen 1851, pag. 57. — Ebert, Charite-Annalen 1850, Bd. I. — Schützen-
berger, Gaz. med. de Strasbourg. 1867, 9. ■ — Fournier, These. Strassburg 1870. —
Stich, Deutsches Archiv für klin. Med. Bd. XI, 1873, pag. 524-532. — Hochhalt, Pester
med. Presse, 21. August, 1877. — Demme, Jahresbericht des Jenner'schen Kinderspitals 1878.
S ol tmann.
Species (Theegemische) werden Gemenge gröblich zerkleinerter, in der
Regel vegetabilischer Arzeneikörper genannt, welche nicht direct in Anwendung ge-
bracht werden, sondern erst dann, wenn sie die für den Heilzweck geeignete Form
erhalten haben. Intern zu gebrauchende Species werden im Hause des Kranken
nach Anordnung des Arztes kalt oder heiss aufgegossen, schwieriger extrahirbare
abgekocht und tassenweise, selten löffelweise genommen. Zum ausser liehen
Gebrauche bestimmte Species werden abgekocht oder infundirt als Mund- und
Gurgelwässer, zu Einspritzungen, Umschlägen und Bädern, oder in Form von
Cataplasmen, trockenen Bähungen und Räucherungen verwendet. Die Anweisung
zum Gebrauche der Species wird gewöhnlich mündlich gegeben und in der Signatur
solche nur allgemein angedeutet. Enthält das Speciesgemisch therapeutisch
wichtigere Bestandteile, so ist es zweckmässig, dasselbe in Dosen abgetheilt zu
verordnen. Ist dies nicht geschehen, so müssen die Partialquantitäten approximativ
nach Thee- und Esslöffeln im Recepte angegeben werden. Je ein gestrichener
Esslöffel von Blatt- und Blüthentheilen wird beiläufig auf 3 Grm., von Rinden,
Hölzern, Wurzeln und Samen auf 5 Grm., von Salzen auf 10 Grm., ein gehäufter
Esslöffel nahezu doppelt so hoch geschätzt. Der Gebrauch der Species hat vor
anderen Arzeneiformen den Vorzug der Kostenersparniss, da die Zubereitung der
598 SPECIES. — SPERMATOPJtHOE.
arzeneilichen Mittel im Hause des Kranken stattfindet, womit auch die jeweiligen
Kosten der Verabreichungsgefässe entfallen; ausserdem bieten sie noch den Vortheil
grösserer Annehmlichkeit, da Patienten die vor ihren Augen bereiteten Medicamente,
selbst übelschmeckende, mit weit geringerem Widerwillen als sonst nehmen.
Die Bereitung der Species bestel.t lediglich in einem genauen Durchmischen der
hierfür zweckentsprechend zerkleinerten Arzeneikörper. Die zu mischenden Ingredienzen dürfen
in der Grösse ihrer Theilchen nicht zu sehr differiren, da sich sonst die kleineren Partikelchen
von den grösseren absondern und am Boden der Schachtel oder Düte, in der sie dispensirt
sind, ansammeln würden. Lässt sich eine genaue Mengung nicht erzielen, so sind die Species,
portionsweise getheilt, zu verordnen. - Die Vorschriften für die officinellen
Species der deutschen und österr. Pharm, weichen in Hinsicht auf die Menge und Beschaffenheit
ihrer Bestandl heile mehr oder weniger voneinander ab; so die der Species ad infusum
pectorale\müi Spec. emollientes (I., pag. 205), die der Spec. laxan tes (s. „Senna")
Und Species aromaticae (Herb. Orif/an., fol. Sahiae, -Menth, crlsp., flor. Lavand. ana
pari, aeq) Die Pharm. Germ, schreibt für die aromatischen Species andere Labiatenkräuter
nebst Cubeben und Gewürznelken vor. Ausserdem finden sich noch in der letzteren Speci es
ad, Gargarisma (I, pag. 205) und Species ad decoctum lignorum (VI, pag. 138),
während solche in der Pharm. Austr. fehlen, in der dafür Species Althaeae (I, pag. 205]
und Species amaricant es (Herb. Absinlhii, Centaur. min., flaved. Äurant. ana 20, fol.
Trifol. fibr., rad Calam. arom., -Oentian. ana 10, cort. Cinnam. 2%5) vorkommen.
Bernatzik.
Speciflca (speeifische Mittel) ist der Ausdruck für solche Heilmittel, denen
eine besondere Wirksamkeit gegen bestimmte krankhafte Zustände zukommen soll,
so dass sie diese in unerklärbarer Weise mit Sicherheit zu heilen vermögen. So
wird beispielsweise das Chinin ein Specificum gegen Intermittens , Quecksilber
und Jod für die Behandlung der Syphilis, letzteres auch gegen Kropf , und Eisen
gegen Chlorose genannt. Bei dem Dunkel der Vorstellungen von den Vorgängen
im gesunden und kranken Organismus , sowie den Beziehungen der Arzenei-
mittel zu diesem, waren die älteren Aerzte um so eher geneigt, gewissen Mitteln
absonderliche Eigenschaften in diesem Sinne zuzuschreiben. Eine speeifische
Arzeneikraft in der vollen Ausdehnung des Wortes giebt es nicht. So wenig,
als die Krankheiten speeifisch eigenthümliche Zustände sind, kann auch von ausser-
ordentlichen oder gar übernatürlichen Heilkräften die Rede sein. Das Wort
„speeifisch" wird daher ärztlicherseits nur noch in sehr eingeschränkter Be-
deutung gebraucht, ebenso in Betreff der Heilwirksamkeit gewisser Mittel gegen
bestimmte Krankheitszustände oder Krankheitssymptome, als auch in Hinsicht auf
die besonderen physiologischen und arzeneilichen Beziehungen zu gewissen Organen
und Systemen des Körpers. Man hat das Wort Specifica auch noch auf
gewisse, das Zustandekommen von Krankheiten verhütende Mittel (Vaccine) ,
ausserdem auf die eigenthümliche Beeinflussung bestimmter Personen (mit Rücksicht
auf ihre besondere quantitative und qualitative Empfänglichkeit) durch medicamentöse
Mittel ausgedehnt, in Folge deren letztere nur bei diesen sich heilsam verhalten,
bei anderen aber ohne Erfolg bleiben sollen. Von den hier erörterten Gesichts-
punkten aus werden somit Specifica mor~borum curativa et pro-
phylactica, Specifica organorum vel localia (Electiv- oder Wahl-
mittel, auch Organheilmittel genannt), Sp eeifica symptomatum und
Specifica individualia (H. E. Richter) unterschieden. Bernatzik
Speckentartung , Speckleber, Speekmilz etc., s. „Amyloidentartung",
I, pag. 257.
Spedalskhed, s. „Lepra", VIII, pag. 232.
Speichel fluss, s. „Secretionsanomalien", XII, pag. 429.
Speichelsteill, s. „Concrementbildungen", III, pag. 402.
Spermatitis (cr-ip^a), Samenstrangentzündung.
Spermatocele (Gnippz und joftty Samenbruch), s. „Hoden", VI, pag. 560.
Spermatorrhoe (<77rep[/.a und p'siv, Samenfluss), s. „Pollutionen", XI, pag. 6.
SPEZZIA. — SPINA BIFIDA. 599
Spezzia, s. „Seebäder".
Sphacelus (<7<p3bts"Xo;), kalter Brand, s. „Brand", II, pag. 416.
Sphenencephalie , Sphenokephalie (<7<p^v = Keil, Keilbein und bpdyuXoc,
xz^xki]), keilförmige Deformation des Schädels , durch Synostosen der Pfeilnaht.
Sphincterotomie (ff^iyXTi^p und Top)), Durchschneidung des Sphincter
ani, s. „Mastdarm", VIII, pag. 630.
Sphygmographie (<7©uy(xö;, Puls und yp<k<pzvi), Sphygmomanometrie,
Sphygmometrie, s. „Graphische Untersuchungsmethoden" und „Puls", XI, pag. 209.
Sphygmophonie (<7<puy[/.6s und «pcoveiv), die Auscultationserscheinungen an
den Arterien, s. „Auscultation".
Spigelia. Herba Sp i g eliae, das blühende Kraut von 8. anthelmia L.,
Loganiaceae (Spigelie anthelminthique , Pharm, franc.), ein als „Spigelin" be-
zeichnetes , in Wasser, Alkohol und Säuren lösliches , in Aether wenig lösliches,
bitteres emeto-cathartisches Acre enthaltend; ehedem als Anthelminthicum inner-
lich (in Pulver , Electuarien , Decoct) , sowie auch (ebenfalls in Decoctform) zu
Clystieren verwerthet.
Spilanthes oder Spilan thus (Parakresse, cresson de Para). Herba
Spilantkis (Pharm. Germ. 1872), Herba Spilanthi florida (Pharm.
Austr.), Folia und Gapitula Spilanthis (Pharm, franc.), von Spilanthes
oleacea L. (8ynanthereae Senecionideae) ; Südamerika; bei uns in Gärten gezogen.
Das blühende Kraut mit ästigem Stengel, eirunden, ausgeschweift gekerbten, am
Rande scharfen Blättern, mit dickem, eiförmigem, scheibenförmigem, anfangs braunem, späterhin
gelbem Blüthenköpfchen. Beim Kauen vou brennendem Geschmack, reichlichen Speichel-
fluss erregend.
Das blühende Kraut enthält ein dem Pyrethrin ähnliches Acre (Spilanthin),
fand daher früher nach Art der Acria digestiva als Kaumittel, Zahnmittel, auch
(in Presssaft oder Infus) als Antiscorbuticum, Antihydropicum u. s. w. Benutzung.
Die Pharm. Germ. 1872 hatte eine Tinct. 8pilanthis composita (durch
Digestion von je zwei Theilen gepulverter Herba Spilanth. und Bad. Pyretliri
mit 10 Theilen 8pir. du.) , von braungrüner Farbe ; äusserlich , als Zusatz von
Mund- und Gurgelwässern u. dgl. (in der neuen Ausgabe wegfallend). Aehnlich
Tinct. Spilantlii oleracei composita der Pharm. Austr. (Tinct. Paraguay-Roux) ,
40-0 Her ba Spü., 20-0 Bad. Pyrethrin 120-0 Spir. drei Tage digerirt, fütrirt.
In der franz. Pharmacopoe Alcoolature de cresson de Para (lOtägige Maceration
von 1000 Grm. der Blätter mit ebenso viel 90perc. Alkohol).
Spiloplaxie (von cxtko<;, Fleck und izlvl, plaque), s. „Lepra", VIII, pag. 232.
Spilus (citfkoc, Fleck), s. „Nävus", IX, pag. 412.
Spinabad, IV2 Stunde von Davos, mit kalter Schwefelquelle. b. M. L.
Spina bifida. Unter dem Namen Spina b ifida werden alle diejenigen
Missbildungen am Rücken zusammengefasst , welche mit einer Spalt- oder
Defectbildung im Bereiche des Spinalcanals verbunden sind. Die äussere Form
der Missbildung kann aber sehr verschieden sein, je nachdem die Spaltung der
Skelettheile offen, oder durch die daraus hervortretenden Theile des Inhaltes
des Spinalcanals, sowie die äusseren Weichtheile geschlossen ist.
Weitere Verschiedenheiten ergeben sich aus dem höheren oder geringeren
Grade der Spaltung, aus der verschiedenen Betheiligung des Rückenmarks und
seiner Häute, aus der Ansammlung von Flüssigkeiten in diesen Theilen und
endlich aus dem Sitz der Missbildung.
Es haben die verschiedenen Formen der Spina bifida hiernach sehr
verschiedenartige Namen erhalten und zu verschiedenartigen Deutungen Anlass
gegeben.
UOO SPINA BIFIDA.
Synonyma: Hiatus spinalis , Fissure spinale (Geoffroy
St. IIilaire), Rhachischisis, Wirbelspalte, Hydrorhachis, Hydro-
rhachitis (Sauvages), Hy drorhachia (P. Frank), Wassersucht des
Spinal canals, Myelocele, My elomeningocele, Meningocele' u. a.
Für die oberfliicbliche Betrachtung theilen sich sämmtliche Fälle von
Spina bifida in die beiden oben angedeuteten Haupt-Kategorien: Bei der ersten
handelt es sich um einen offenen Defect, in dessen Grunde man die gespaltene
Wirbelsäule liegen sieht; für diese Fälle ist diese Bezeichnung Wirbelspalte,
Rhac h is c h is is sensu st r ic t o zu reserviren. Dieselbe ist stets mit partieller
oder totaler A m y e 1 i e und A d e r m i e verbunden. In der zweiten Kategorie
handelt es sich um eine Geschwulst, einen mehr oder weniger geschlossenen
Sack, welcher nach aussen hervorragt. Fast stets ist dabei eine Ansammlung
von Flüssigkeit in den hervortretenden Theilen vorhanden, durch welche eine Art
Cystenbildung entsteht. Man pflegt alle diese Formen als Hydrorhachis zu
bezeichnen, ein Name, welcher mit dem Ausdruck Spina bifida fast identificirt
ist. Es giebt aber Fälle, in welchen die Ansammlung von Flüssigkeit auf das
Innere des Spinalcanals beschränkt bleibt, entweder in dem dilatirten Central-
canal {Hydrorhachis interna, Hydromyelus , Hydromyelie) , oder in den Häuten
(Hydrorhachis externa), also Hydrorhachis ohne Spina bifida, sogenannte
Hydrorhachis incolumis — und andererseits giebt es Spina bifida ohne
Hydrorhachis. Es erscheint daher zweckmässiger, um den alten Namen in Ebren
zu halten, diese Kategorie als Spina bifida cystica zu bezeichnen.
Bei der Bildung der Spina bifida kommen folgende Theile in Betracht, deren
Antheil an den Veränderungen sehr verschieden ist: 1. Die knöcherne Wirbelsäule mit ihren
Bändern und Gelenken. 2. Die Häute des Bückenmarkes. 3. Das Rückenmark und die Nerven-
muskeln. 4. Die äusseren "Weichtheile.
1. Die Spalt- oder Defectbildung der "Wirbelsäule (Fissura spinalis, Bhachi-
scldsis) kann dargestellt werden: a) Durch eine unvollkommene Vereinigung der Bogentheile ;
b) durch Defect der Bogentheile; c) durch Defect anderer Theile als der Bögen, Lücken in
den Bandapparaten u. s. w. ; d) durch Spaltung der "Wirbelkörper mit oder ohne die bereits
genannten Anomalien (Shachischisis anterior, im Gegensatze zu der Spaltung am hinteren
Umfange oder Rhachischisis posterior).
2. Die Veränderungen der Häute des Rückenmarkes bestehen der Haupt-
sache nach entweder : a) in einer Defectbildung, oder b) in einer cystenähnlichen Aus-
buchtung durch Flüssigkeit in den subarachnoidalen Räumen, oder auch in abgesackten Theilen
der Dura mater (Meningocele).
3. Von besonderer "Wichtigkeit ist die Betheiligung des Rückenmarkes selbst
bei der Missbildung, welche sehr verschiedener Art sein kann, a) Verwachsung mit den
äusseren "Weichtheilen und Formveränderungen , welche dadurch bedingt sind ; b) Höhlen-
bildung im Innern, durch Dilatation des Centralcanals (Hydromyelie) ; c) Defectbildung durch
mangelhaften Schluss der Anlage zo einem Rohr oder frühzeitige Zerstörung; d) ander-
weitige Formveränderungen, Spaltung, partielle Verdoppelung u. s. w.
4. Für die äusseren "Weichtheile kommt endlich in Betracht: a) Mehr oder
weniger vollständiger Defect der Epidermis und Cutis (Adermie) ; b) veränderte Beschaffenheit
der Cutis und des subcutanen Gewebes.
Dazu kommen endlich secundäre Veränderungen entzündlicher oder gangränöser
Art, welche zu Ulcerationen, secundären Defectbildungen, Perforationen führen können.
Die Spina bifida kann an allen Theilen des Rückgrates ihren Sitz haben,
und zwar gilt dies sowohl von der Rhachischisis s. str. als von der Spina
bifida cystica.
Die erstere kann die ganze Wirbelsäule betreffen (Rh. totalis), und
ist dann wohl ausnahmslos mit der analogen Missbildung des Schädels (Cranio-
schisis mit Aneucephalie) verbunden, oder sie findet sich ebenfalls mit derselben
am Halstheil (Rh. cervicalis) und mehr oder weniger weit nach abwärts. Oder
aber sie tritt unabhängig von jener am Rücken und Lendentheil der Wirbelsäule
auf, dann aber meist mit anderweitigen Entwickelungsstörungen verbunden.
Die Spina bifida cystica findet sich am oberen Theil der Wirbelsäule
entweder als directe Fortsetzung der analogen Missbildung des Gehirns (Ence-
phalocele posterior) oder unabhängig von derselben (Sp. bi f. cervicalis),
ferner im mittleren Theil als Sp. bifi. d orsalis, und am häufigsten — im
SPINA BIFIDA. 601
Bereiche der Lendenwirbel und des Kreuzbeins (Sp. bifida lumbalis und
lumbo-sacralis), seiteuer am Kreuzbein allein (Sp. bif. sacralis), daran
schliessen sich endlich diejenigen Formen von Meningocele, die aus dem
normalen Hiatus sacralis nach abwärts hervortreten.
A. Spina bifida cystica (Myelocele und Meningocele).
Eine vollkommen scharfe Trennung der beiden Formen, welche in prak-
tischer Beziehung von grossem Werth sein könnte, lässt sich nicht wohl durch-
führen. In manchen Fällen ist die Betheiligung des Rückenmarkes bei der Spina
bifida eine so geringfügige, dass der cystische Theil der Geschwulst lediglich den
Häuten angehört, während in dem Stiel noch ein Rest der Verbindung mit dem
Rückenmark selbst erhalten sein kann. In diesen Fällen ist man streng genommen
nicht berechtigt, von einer Meningocele zu sprechen, obgleich für die chirurgische
Praxis die Cyste als gleichbedeutend mit einer solchen betrachtet werden kann.
Die reinen Meningocelen beschränken sich auf gewisse Theile des Wirbelcanals,
aber selbst bei diesen dürfte es sich stets um eiue Verbindung mit dem Rücken-
marke durch Vermittelung eines Nervenastes oder des Filum terminale handeln.
Die grössere oder geringere Betheiligung des Rückenmarks wird sich bei der
Betrachtung der verschiedenen Formen ergeben.
1. Spina bifida lümb osacr alis (Myelomeningocele).
Bei weitem am häufigsten kommt die Sp. bif. cystica in der Lumbo-
sacralgegend vor, und zwar gerade in der am meisten typischen Form.
Am lebenden Individuum stellt sich die Missbildung als rundliche
Geschwulst von verschiedener Grösse dar — beim Neugeborenen in der Regel
von der Grösse einer Nuss bis zu der eines kleinen Apfels — welche die Gegend
der unteren Lendenwirbel und oberen Kreuzbeinwirbel, in der Regel genau in der
Mittellinie einnimmt. Zuweilen erstreckt sich die Geschwulst weiter nach aufwärts,
bis an die unteren Brustwirbel, in seltenen Fällen nimmt sie die ganze Sacral-
gegend ein. Die Consistenz ist fluctuirend, mehr oder weniger prall ; die Geschwulst
erhebt sich entweder ziemlich allmälig, oder sie ist an der Basis etwas einge-
schnürt, und man fühlt hier unter der Haut einen die Basis umgebenden harten
Rand, welcher von den auseinander gewichenen Bogentheilen der Wirbel herrührt.
Zuweilen ist jedoch die Oeffnung im Spinalcanal so eng, dass dieselbe unter der
Geschwulst nur sehr undeutlich oder gar nicht fühlbar ist, und erst nach der
Entleerung der letzteren wahrgenommen werden kann. Die die Geschwulst über-
ziehende Haut ist entweder glatt und von ähnlicher Beschaffenheit wie die Um-
gebung, oder sie ist von narbigem Aussehen und sehr verdünnt. Die Mitte der
narbigen Partie ist nicht selten etwas vertieft. In anderen Fällen ist die äussere
Beschaffenheit wesentlich abweichend. Der convexe Theil der Geschwulst ist von
Haut entblösst und wird durch eine glatte, schleimhautähnliche, feuchte Fläche
von röthlicher oder bräunlicher Farbe gebildet, welche sich von der umgebenden
normalen Haut durch eine scharfe Grenze absetzt, oder es findet sich zwischen
dieser und dem mittleren Theile noch eine intramediäre Zone von narbiger Be-
schaffenheit und weisslicher oder bläulicher Farbe, welche deutlich mit zarter
Epidermis überzogen ist, und dadurch vollständig an den sich überhäutenden Rand
einer Geschwürsfläche erinnert. In diesen Fällen ist der von Haut entblösste Theil
in der Regel vertieft, während die Haut in der Umgebung wallartig erhaben und
nach der Mitte zu von radiär verlaufenden Furchen durchzogen ist, welche der
Oberfläche zuweilen eine stark runzelige Beschaffenheit verleihen. Endlich kann
der von Haut entblösste mittlere Theil noch stärker vertieft, geradezu buchtig
eingezogen sein, und eine Art Spalt zwischen der wulstig hervortretenden Haut
darstellen, aus welchem etwas Feuchtigkeit hervorsickert. Man kann diese Form
als Spina bifida aperta bezeichnen.
Abgesehen von diesen Verschiedenheiten der äusseren Beschaffenheit,
welche die Spina bifida sofort bei der Geburt darbieten kann, sind secundäre
Veränderungen in Folge von Ulceration oder Gangränescenz der Geschwulstoberfläche
SPINA BIFIDA.
mit Perforation «»der Zerstörung des grösseren Theiles der Wandung nicht
selten. Ist durch eines dieser Ereignisse, oder auch durch Trauma, z. B.
Quetschung bei der Geburt, oder durch operative Eingriffe der flüssige Inhalt der
Geschwulst, wenn ein solcher noch vorhanden war, entleert, so collabirt die
letztere, faltet sich an der Oberfläche, und es lassen sich die Difformitäten der
Wirbel im Grunde der Geschwulst hindurchfühlen; zuweilen kann man im Innern
der letzteren auch eine Anzahl derberer Stränge, vom Rückenmark und den Nerven
herrührend, wahrnehmen.
Bei der Palpation ist die cystische Geschwulst in der Regel nicht
schmerzhaft, bei stärkerem Druck treten Schmerzen auf.
Bleiben die Kinder am Leben, so vergrössert sich die Geschwulst all-
mälig und kann beispielsweise im ersten Lebensjahre bis zur Grösse eines Kinds-
kopfes und mehr heranwachsen, wobei in der Regel die Consistenz praller, die
Haut über der Geschwulst mehr und mehr verdünnt wird.
Die Difformität des Skeletts pflegt in solchen Fällen von Spina bifida
lumbosacralis sehr übereinstimmend in einem Defect der Processus spinosi und
der angrenzenden Theile der Wirbelbögen zu bestehen, so dass die Reste der
letzteren zu beiden Seiten die Wirbelsäule begrenzen, und am oberen uud unteren
Umfang allmälig sich der Mittellinie nähern. Die Spalte kann sich auf einen oder
zwei Wirbel, beispielsweise die beiden letzten Lumbal wirbel beschränken, so dass
die Geschwulst aus einer ziemlich engen Oeffnuug hervorzutreten scheint, in der
Regel geht sie indess noch auf dem oberen Theil des Os sacrum über, und
kann sich bis in den normalen Hiatus sacralis fortsetzen, in anderen Fällen
erstreckt sie sich weiter nach aufwärts bis an die Brustwirbel, so dass der
ganze untere Theil der skelettirten Wirbelsäule, von hinten gesehen, eine offene
Rinne darstellt.
Eröffnet man die cystische Geschwulst von hinten her, so sieht man in
der Regel aus dem noch geschlossenen oberen Theil des Wirbelcanals das untere
Ende des Rückenmarkes hervortreten und sich in leicht nach hinten concavem
Bogen nach der Mitte der Wand des Sackes begeben; daneben verlaufen mehr
oder weniger zahlreiche Nerven wurzeln, entweder an der Innenfläche der Wand,
oder frei durch die Höhle — aber in rückläufiger Richtung, so dass sie von dem
fmrten Ende des Rückenmarkes zu entspringen scheinen, um sich nach den weiter
oben gelegenen Intervertebrallöchem zu begeben. Sie gelangen zu diesen, indem
sie die Wand des Sackes durchbohren, die Spinalganglien liegen ausserhalb der-
selben. Aus diesem Verhalten geht hervor, dass, wie oben bemerkt, das Rücken-
mark erstens sehr viel weiter abwärts reicht als normal, denn wenn man es in
die natürliche Lage zurückbringen würde, würde dasselbe das Ende der Wirbel-
säule erreichen: zweitens, dass eine eigentliche Cauda equina nicht existirt. Das
untere Ende des Rückenmarkes selbst zeigt indess nicht selten ebenfalls eine von
der Norm sehr abweichende Beschaffenheit, indem es sich nicht allmälig zuspitzt,
sondern im Gegentheil stärker anschwillt und sich mit breiter Fläche an die
Innenwand des Sackes anheftet. Ja, es kann sogar an der Innenfläche des Sackes
in eine flache Ausbreitung übergehen , in welcher man mikroskopisch nervöse
Elemente in inniger Verbindung mit der fibrösen Schicht vorfindet (cf. Tourneux
et Martix. 36) Dies ist allerdings nicht immer so : in manchen Fällen endet das
Rückenmark an der Eintrittsstelle in den Sack und scheint sich direct in eine
Anzahl von Strängen aufzulösen, welche in der Peripherie des Sackes verlaufen
und sodann ebenfalls eine rückläufige Richtung annehmen.
Ist dagegen keine eigentliche mit Flüssigkeit gefüllte Cyste vorhanden,
sondern in der Mitte des wallartigen Hautwulstes eine von Haut entblösste Stelle,
so findet man, dass diese sich in der Tiefe direct in das untere Ende des
Rückenmarks fortsetzt, ja es kann in solchen Fällen in der Mitte des Defectes
eine kleine trichterförmige Oeffhung vorhanden sein, welche direct in den Central-
canal des Markes hineinführt.
SPINA BIFIDA.
603
Fig. 49.
Am übersichtlichsten treten die Verhältnisse des Rückenmarks und der
Nerven zu der Wand des Sackes und der Wirbelspalte an einem medialen
Sagittalschnitt hervor, wie ihn z. B. Viechow 2C) abbildet. Auch die unten-
stehende Figur ist nach einem derartigen Präparat gezeichnet, welches von einem
14 Tage alten Kinde weiblichen Geschlechtes stammt.*)
Das Kind hatte eine cystische Geschwulst der Lumbosacralgegend von der Grösse
eines Tanbeneies mit zur "Welt gebracht; der mittlere Theil der Geschwulst war etwa im
Umfang eines Markstückes frei von Epidermis ; dieser Theil setzte sich durch eine tiefe Furche
von der mit Haut bekleideten Umgebung ab. An der Basis war die Geschwulst scharf
abgesetzt , sogar leicht eingeschnürt , indess tritt diese Einschnürung an der Figur in Folge
der Erschlaffung der Cystenwand stärker
hervor, als anfangs der Fall war. Es war
hier der Versuch gemacht worden, den
Sack durch Umschnürung an der Basis
zum Absterben zu bringen, um ihn dann
abzutragen. Es hatte dies jedoch den-
selben Erfolg gehabt, wie in den von
T u 1 p i u s mitgetheilten Fällen ; das
Kind war nach kurzer Zeit gestorben,
nachdem die ersten Zeichen der Gangrän
sich an der Wand des Sackes gezeigt
hatten. An der Leiche war die Geschwulst
zusammengesunken, sie liess sich jedoch
von dem Wirbelcanal aus leicht mit
Flüssigkeit füllen. Auf dem Durchschnitt
der Wirbelsäule zeigt sich der Defect
der hinteren Wand des Spinalcanals, im
Bereiche des ganzen Kreuzbeines und
des 5. Lendenwirbels. Das untere Ende
des Rückenmarkes tritt mit starker
Biegung aus dem Spinalcanal hervor,
und begiebt sich horizontal nach hinten,
woselbst es sich, allmälig an Dicke zu-
nehmend , in dem mittleren Theil des
Sackes anheftet, und ohne bestimmte
Grenze in die WanduDg der Geschwulst
übergeht. Von dieser Gegend aus ver-
laufen mehrere Nervenstränge in rück-
läufiger Richtung nach der Basis der
Geschwulst, um sodann durch die Wand
derselben nach aussen zu gelangen. Die
Innenfläche der Cyste ist im Uebrigen
glatt und glänzend. Die Dura mater
Spina bifida cysticalumbo-sacralis, yon einem Kinde m t ih COntinuirlich bis in die Wand
von 14 Tagen; medialer Sagittalschnitt. Q , ,
Natürliche Grösse, nach einem Präparate des Verf. im l m, ., .,, .?, ', ..„, , .,
pathol. Institute zu Breslau. grossen Theil mitbilden hilft, auch lhrer-
a iVedulla sinn., welche mit ihrem unteren Ende in der seits mit der äusseren Bekleidung der
Mitte der cystischen Ausstülpung festhaftet. & Die Geschwulst verschmolzen. Eine besondere
Nervenstämme gehen in rückläufiger Richtung durch Araciinoidea ist an der Innenfläche der
den Sack zurück, c Korper des 5. Lendenwirhels (Pro- ' . , , , .... , . ,
möntorium). Cyste nicht zu erkennen, vermutniich ist
sie mit der Dura innig verbunden. Das
Unterhautfett hört an der Basis der Geschwulst auf. Der untere Theil des Hiatus ist durch
lockeres, gefässreiches Gewebe ausgefüllt. Bemerkenswerth ist an diesem Durchschnitt noch
die sehr auffällige Veränderung in der Richtung der Wirbelsäule, welche in ihrer Krümmung
an die Form beim Erwachsenen erinnert, während die kindliche Wirbelsäule normalerweise
noch fast geradlinig verläuft. Dem entsprechend bildet auch die hintere Begrenzung des
Rumpfes unterhalb der Geschwulst nicht die directe Fortsetzung des oberhalb gelegenen
Abschnittes, so dass man den Eindruck erhält, als sei die Wirbelsäule in der Gegend der
Geschwulst eingeknickt.
Das beschriebene Verhalten des Eückenmarks zu der Wand des Sackes
kehrt in der Mehrzahl der Fälle von Spina bifida lumbo-sacralis wieder und wir
finden es ganz übereinstimmend in den älteren und neueren Beschreibungen von
Apinus3), Morgagni6), Cruveilhier 12), Virchow25'26), Ranke 29), Hofhokl 30),
*) In dem Artikel „Missbildungen", Bd. IX, pag. 138 ist bei dieser Figur das
Alter des Kindes nicht ganz richtig angegeben, was jedoch irrelevant ist.
(304 SPINA BIFIDA.
KOCH87) U. A. dargestellt. In solchen Fällen von Spina bifida, seien sie
geschlossen oder offen, in welchen das Rückenmark nur bis zu dem oberen Rande
der Spalte reicht, scheint das untere Ende frühzeitig zu Grunde gegangen zu sein.
An einem sehr lehrreichen Präparat der Giessener Sammlung, welches noch von
Sömmerring stammt, beginnt die Spalte des Wirbelkörpers bereits im 11. oder 12. Brust-
wirbel, und reicht von da ab nach abwärts. Die Cyste, welche den Defect bedeckt, ist er
öffnet, und man sieht, wie die Häute des Rückenmarkes direct in die Wand derselben über-
sehen. Das Rückenmark hört am oberen Ende der Cyste auf, indem seine Substanz allmälig
abnimmt (Genaueres ist nicht mehr zu erkennen). Die Innenfläche der Cyste ist glatt, die-
selbe wird aber an beiden Seiten von Nervensträngen durchzogen, welche unabhängig vom
Rückenmark von der hinteren Wand der Cyste ausgehen und die vordere durchbohren. Unter
der zurückpräparirten und zur Seite geschlagenen Geschwulst sieht man nun ähnlich, wie in
der Abbildung bei Cruveilhier (Lief. XVI, Fig. 4) die Stränge der Lumbal- und Sacral-
nerven mit ihren Ganglien hervortreten, und sich nach den Intervertebrallöchern begeben.
Was die Ansammlung von Flüssigkeit betrifft, so ist dieselbe unserer
Meinung nach unwesentlich, wenn sie auch den Charakter der Geschwulst nach
aussen hin bestimmt. Auch in den Fällen von Sjn'na bifida, in welchen keine
eigentliche nach aussen prominirende Geschwulst vorhanden ist, kann man sich
überzeugen, dass die Verhältnisse im Wesentlichen dieselben sind. Die eingezogene
Stelle in der Mitte, welche eine schleimhautähnliche Beschaffenheit zu haben pflegt,
manchmal aber auch narbig ist , ist nicht entstanden in Folge eines Zerplatzens
der Cyste intra uterum 5 man kann sich vielmehr überzeugen , dass die Flüssig-
keit auch in diesen Fällen noch in dem subduralen Räume ihren Sitz hat, ganz
wie in der Figur 48 , nur mit dem Unterschiede , dass die Höhle oft sehr wenig
umfangreich ist. Ja, dieselbe kann sogar stellenweise oder ganz obliteriren. Der
Hauptunterschied zwischen den beiden Formen ist der, dass in dem einen Falle
die Anwachsungsstelle des Rückenmarkes sich überhäutet hat, im anderen Falle nicht.
Als ein Beispiel der zweiten Form mag folgende Abbildung einer Spina bifida,
ebenfalls im Sagittalschnitt folgen, welche sieb von der gewöhnlicben Art niebt unwesentlicb
durch das höber Hinaufreichen des Defectes unterscheidet. Das Präparat stammt von einem
Neugeborenen männlichen Geschlechtes. Wie aus der Figur ersicbtlicb, reicht die Spaltung
hier bis zum neunten Brustwirbel; es handelt sieb also bereits um eine Spina bifida dorso-
lumbo sacralis. Aeusserlicb (AJ stellt sieb dieselbe dar als flacbe, wallförmige Erhabenheit
von 4'5 Cm. Breite und 7 Cm. Länge, welche drei Zonen erkennen liess , nacb aussen den
mit Haut bekleideten Wall, sodann eine glatte, narbenähnliche Zone , von sehr verschiedener
Breite , im frischen Zustand von bläulich-weisser Farbe , und sodann eine centrale elliptische
Fläche von 4*5 Cm. Länge und 2 Cm. Breite, welche im unteren Abschnitt flach gewölbt,
im oberen eingezogen war. Diese Fläche war roth , feucht , schleimhautähnlich. Auf dem
Durchschnitt zeigt sich nun zunächst, dass in dem ganzen Bereich der flachen Erhabenheit
eine fremdartige Bildung eingetreten ist, gerade, als wenn hier ein Stück eingesetzt wäre.
Unterhalb dieser Stelle, etwa in der Höhe des ersten Sacralwirbels, beginnt das normale
Unterhautfettgewebe mit einer scharfen Grenze. Das Rückenmark ist in diesem Falle,
entgegen dem gewöhnlichen Verhalten, abnorm kurz — es endet am zwölften Brustwirbel —
ausserdem sehr dünn. Es löst sich an seinem unteren Ende in eine Anzahl Stränge auf,
welche sich an dem oberen Ende der gerötheten Stelle an einem Punkte fixiren, welcher
äusserlich sich durch eine Vertiefung bemerklich macht. Das Ende des Rückenmarkes ist
von einer Erweiterung des subduralen Raumes umgeben , welche jedoch nach aussen nur
eine sehr geringe Erhabenheit verursacht ; unterhalb der Insertion des Rückenmarkes kommt
ein zweiter grösserer, mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum zum Vorschein, welcher ebenfalls
von der Dura gebildet ist, aber abgekapselt erscheint; einige kleinere spaltförmige Räume
sind in der Nähe vorhanden. Bemerkenswerth ist die Beschaffenheit der Wandung; in dem
unteren narbenähnlichen Abschnitt ist dieselbe dicht, fibrös, in dem mittleren Theil besitzt
sie ein eigenthümliches schwammiges Gefüge. — Von besonderer Wichtigkeit ist hier ferner
noch das Verhalten der Wirbelsäule, welche zwar in der normalen Weise gestreckt verläuft,
aber im Bereiche der unteren Lendenwirbel ganz unregelmässige Knochenkerne enthält. Auf
dem Durchschnitt sind fünf solcher Knochenkerne erkennbar, welche die Stelle von 2 (oder 3 ?)
Wirbelkörpern einnehmen und an der Hinterfläche einen starken Vorsprung bilden. Es liegt
hier also eine schwere Störung der Wirbelkörperbildung vor, welche an die von Cruveilhier
(Lief. VI, Taf. 3) und Rindfleisch22) beschriebenen Fälle erinnert. Aus alledem geht
hervor, dass es sich hier bereits um einen complicirten Fall handelt, welcher sich von der
gewöhnlichen Form der Spina bifida lumbalis nicht unbeträchtlich unterscheidet.
Ueber das mikroskopische Verhalten der Wand des Sackes liegen einige
neuere Untersuchungen von Hofmokl und Tourneux und Martin vor 30' 36),
welche ziemlich übereinstimmende Resultate ergeben haben. Im Bereiche des
SPINA BIFIDA.
605
überhäuteten Theiles der Geschwulst ist die Reihenfolge der Schichten diese :
Zunächst die Epidermis in der gewöhnlichen Beschaffenheit, aber in der Regel
sehr zart, sodann eine faserige Schicht, welche der Cutis entspricht, sich von
Fig. 50.
Spina bifida lumbo-dor salis. Von einem Neugebornen. Natürliche Grösse. Nach
einem Präparate des Verf. im pathol. Institute zu Breslau.
A, Ansicht der Spina bifida von hinten.
a der Hautwulst, b der längliche Hautdefect von blassrother Farbe, schleimbautähnlicher
Beschaffenheit, c Nabelartige Vertiefung, die Anhaftungsstelle des Rückenmarks andeutend.
d dünnhäutiges Gebiet von narbenähnlicher Beschaffenheit.
B. die Wirbelsäule, in der Medianebene sagittal durchschnitten.
a — a> Begrenzung des Hautwulstes, b — b' Begrenzung des Hautdefectes. c Vertiefung an
der Anheftungsstelle des Rückenmarkes, d derbfaserige Gewebe, e abgeschnürter Hohl-
raum mit glatter Wand ; einige kleinere in der Umgebung. / Fett, g Rückenmark mit den
Häuten. — Vertebra thoracica 8—12. Vert. lumbalis 1 — 3. Unterhalb dieser Wirbelkörper
eine unregelmässige Bildung der Wirbel.
G06 SPINA BIFIDA.
derselben aber durch die Abwesenheit von Drüsen und Haarbälgen unterscheidet;
darunter folgt eine mehr oder weniger ausgebildete, lockere Schicht, dem Unter-
hautgewebe entsprechend, welche aber auch ganz fehlen kann, so dass die Faser-
schicht der Cutis entweder direct mit der der Dura entsprechenden innersten
Schicht des Sackes oder an der Stelle, wo das Rückenmark anhaftet, mit der
Substanz desselben zusammenhängt. Der Durchschnitt zeigt in diesem Falle also
die durch Bindegewebe untereinander und mit der Faserschicht vereinigten Bündel
von Nervensubstanz. (Die Dura kann sich an diesen Stellen nicht wohl ein-
schieben, wie Hofmokl annimmt; vielmehr liegt die Ausbreitung der Nerven-
substanz , die Nappe medullaire von Tourneüx und Martin , zwischen
Faserschicht auf der einen und der Dura auf der anderen, inneren Seite.)
2. Spina bifida dorsalis und cervicalis.
Weit seltener als in der Lenden- und Kreuzbeingegend kommt die Spina
"bifida im Bereiche der Rücken- und Halswirbelsäule zur Beobachtung. Sie ist
an diesen Stellen wesentlich dadurch von der eben besprochenen Form unterschieden,
dass sie nicht am Ende des Rückenmarkes, sondern in der Continuität desselben
auftritt. Es handelt sich aus diesem Grunde nicht um ein vollständiges Heraus-
treten des Rückenmarkes aus dem Wirbelcanal, sondern meistens um eine strang-
förmige Verbindung zwischen Rückenmark und der Cyste , welche auch hier im
Wesentlichen durch die Häute gebildet wird.
Die Geschwulst ist in der Regel bei der Geburt nur von geringer Grösse,
aber es kommt auch hier ein allmäliges Anwachsen in späteren Jahren zur
Beobachtung. Die Geschwulst ist in der Regel halbkugelig, zuweilen an der
Basis stark eingeschnürt, gestielt. Bei der anatomischen Untersuchung zeigt sich,
dass dieselbe durch eine enge Oeffnung mit dem Wirbelcanal communicirt, welche
in der Mitte der Bogen gelegen ist und sich häufig auf einen oder zwei Wirbel-
bögen beschränkt. Durch diese Oeffnung tritt ein Fortsatz der Dura mater,
welche sich dann in der gewöhnlichen Weise verdickt und an der Innenwand der
Cyste ausbreitet. Der von der Ausstülpung der Dura gebildete rundliche Stiel
lässt sich nach Abtragung der Cyste aus der Oeffnung des Wirbelcanals hervor-
ziehen. Die Bethe'ligung des Rückenmarkes ist insofern verschieden , als
dasselbe in einer Reihe von Fällen nur in Form eines stumpfen Kegels oder
Zapfens in der Richtung des Geschwulststieles ausgezogen ist, während in anderen
Fällen ein längerer Fortsatz desselben sich durch den Stiel der Geschwulst in das
Innere derselben erstreckt und hier mit der Wand in Verbindung tritt. An der
Bildung des Fortsatzes betheiligt sich sowohl die weisse als die graue Substanz,
ja es kann auch der angrenzende Theil des Centralcanals beträchtlich erweitert
sein und sich in den ausgestülpten Theil hineinbegeben.
Beobachtungen dieser Art sind von Sandifort 7), Natorp 14), V. Bären-
sprung 19), Förster 23), Virchow 25) u. A. mitgetheilt.
Als Beispiel sei liier die Beobachtung von Natorp angeführt. Bei einem Knaben
von sechs Wochen fand sich eine etwa kindskopfgrosse Geschwulst in der Gegend des 1. bis
6. Rückenwirbels, welche seit der Geburt sehr allmälig gewachsen war. Die Haut, welche
die Geschwulst bedeckte , war stark gespannt , dünn , von Gefässen durchzogen , in der Mitte
stellenweise von narbigem Aussehen. Bei starkem Druck äusserte das Kind Schmerz , hatte
aber sonst keinerlei Beschwerden. Es wurde nach A. Cooper's Vorgang die Acupunctur
versucht, doch ohne Erfolg,, sodann wurde zur Exstirpation geschritten. Nach Durchtrennung
der ziemlich dicken Weichtheile an der Basis entleerte sich etwas Flüssigkeit. Zugleich kam
ein zweiter innerer Sack zum Vorschein, der mit engem Stiel der Wirbelsäule aufsass , sehr
gespannt, durchscheinend und glänzend wie eine Elfenbeinkugel war. Beim Abschneiden dieses
Sackes an der Basis blieb derselbe geschlossen , aus der Schnittfläche an der Wirbelsäule
entleerte sich aber etwas Serum. Das Kind starb am folgenden Tage. Sectio n: Die Proc.
spinös, des 7. Hals- und 1. Rückenwirbels sind durch eine etwa erbsengrosse Oeffnung ein-
genommen, durch welche die Häute des Bückenmarkes austreten. In der Mitte derselben
bleibt eine kleine Oeffnung, durch welche man vermittelst eines eingeführten Tubulus die
Arachnoidea unter der Dura längs des ganzen Rückenmarkes aufblasen konnte.
Das Rückenmark selbst, dessen hintere Wurzeln in der Umgebung der afficirten
Stelle in die Fissur hineinragen, ist von dieser Stelle an bis zum 5. Brustwirbel
SPINA BIFIDA 607
gespalten; von der Spalte aus kann der Centralcanal , welcher aufwärts, verschlossen ist,
nach abwärts in der ganzen Länge aufgehlasen werden. Der Spiüalcanal ist in dieser Gegend
leicht erweitert, Arachnoidea und Dura an der Oeffnung der Wirbel mit einander verwachsen.
Besonders bemerkenswerth ist in diesem Falle erstens das Verhalten des
Rückenmarkes, welches sich an der Ausstülpung nicht betheiligt, aber gespalten
ist, und sodann der Zustand des Sackes, welcher ganz abweichend von dem
gewöhnlichen Befunde aus zwei durch Flüssigkeit von einander getrennten Schichten
besteht, deren innere durch die Dura mater und Arachnoidea und deren äussere
durch die äusseren Bedeckungen gebildet wird.
In dem von Virchov kurz mitgetheilten Falle „zeigte die anatomische
Untersuchung, dass der Sack (in der Mitte der Dorsalgegend) nicht in der Mittel-
linie , wie gewöhnlich , sondern lateralwärts hervorgestülpt war , dass allerdings
der grössere Theil desselben eine wässerige Flüssigkeit enthielt, in welcher unter
anderem auch Harnstoff gefunden wurde, dass aber in der Tiefe auch das Rücken-
mark betheiligt war, und zwar in der Weise, dass der obere Theil desselben sich
unmittelbar an den Sack inserirte und die Höhle des letzteren in offener
Communication stand mit dem erweiterten Centralcanal, während der untere Theil
sich gleichfalls an den Sack anschloss, aber eine freie Communication sich nicht
nachweisen liessu. Virchow : spricht die Ansicht aus , dass es sich in solchen
Fällen um partielle cystische Hydrotnyelie handelt.
In den Fällen von Sandifort 7) (Taf. 193) und Förster23) (Taf. 16,
Fig. 6) war ein strangiörmiger Fortsatz des Rückenmarkes vorhanden, in der
Beobachtung von v. Bärensprung zeigte das Rückenmark an seinem hinteren
Umfange eine stumpf kegelförmige Erhebung, an welcher sich die weisse und graue
Substanz betheiligte.
3. M ening ocele spinalis.
In denjenigen Fällen, in welchen der mit Flüssigkeit gefüllte Sack ledig-
lich durch eine Ausstülpung der Häute des Rückenmarkes zu Stande kommt , ist
man berechtigt, von einer Meningocele oder Hyd r omenin gocele
spinalis zu sprechen. Es geht aber schon beispielsweise aus der angeführten
Beobachtung von Natorp hervor, dass das Rückenmark selbst in hohem Grade
verändert sein kann, auch wenn es nicht direct sich an der Ausstülpung betheiligt,
so dass derartige Fälle sich genetisch eng an die eigentlichen Myelocelen
anschliessen. In der That wird man auch in den meisten Fällen sogenannter reiner
Meningocele nachweisen können, dass die Ausbuchtung der Häute in enger Ver-
bindung mit nervösen Theilen steht, seien dies nun einzelne Nervenwurzeln oder
äsLSJFilum terminale. Im oberen Theile der Halswirbelsäule kann ferner die Meningeal-
hernie in directer Verbindung mit dem Gehirn stehen, also eigentlich eine Hydren-
cephalocele occipitalis darstellen, bei welcher sich der Defect der Hinterhaupts-
schuppe mit einer Spaltung der Wirbelbögen verbindet. Ja , es kann sogar der
von den Häuten des Gehirns gebildete Sack durch eine Spalte der Wirbelkörper
und der Schädelbasis an dem vorderen Umfang der Wirbelsäule zum Vorschein
kommen (Cruveilhier 12) , Lief,, 19, Tab. 5). Abgesehen von diesen Fällen
kommt die Meningocele spinalis so gut wie ausschliesslich an dem unteren Ende
der Wirbelsäule zur Beobachtung, und zwar kann die Veränderung der Wirbel-
säule dabei eine sehr verschiedenartige sein. Die Spaltbildung kann ganz fehlen,
so dass man die Bezeichnung Spina bifida nicht auf diese Fälle anwenden kann.
Der mit Flüssigkeit gefüllte Sack der Meningocele kann an sehr ver-
schiedenen Stellen hervortreten, selten wohl genau in der Mittellinie (zum Unter-
schied von der Myelocele); häufiger nach der Seite oder nach abwärts (am unteren
Ende des Wirbelcanals) , sehr selten nach vorne. In der Regel erreichen diese
Cysten einen bedeutenderen Umfang, als die eigentliche Sjrina bifida cystica, was
zum Theil wohl darin liegen mag, dass die Individuen länger am Leben bleiben
und im Laufe der Zeit der ursprünglich kleine Sack sich durch stärkere Ansamm-
lung von Flüssigkeit mehr und mehr ausdehnt. Es sind derartige Geschwülste
ÖOS SPINA BIFIDA.
beobachtet worden, welche bei der Geburt haselnussgross waren und im Laufe
der Zeit bis zum Umfange eines Kinds- oder selbst Mannskopfes heranwuchsen.
Die Oeffnung, durch welche der ausgestülpte Sack mit dem Spinalcanal
in Verbindung steht, liegt entweder zwischen zwei Wirbelbögen (Cruveilhier
Lief. 39), oder an Stelle eines oder mehrerer Bögen der Lenden- oder Kreuzbein-
wirbel (Braune, Fall von Krieger 24), oder sie entspricht einem der hinteren oder
vorderen Intervetebrallöcher. In anderen Fällen tritt der meningeale Sack direct
aus dem Hiatus sacralis hervor, und endlich können Theile der Wirbelkörper
fehlen, oder diese können in der Mitte gespalten sein (Rhachischisis anterior).
Die Cysten dieser Art können daher ein sehr verschiedenartiges Verhalten dar-
bieten. Gemeinschaftlich ist ihnen in der Regel, dass sie fluctuirende, mit klarer
Flüssigkeit gefüllte Säcke darstellen , welche sich an verschiedenen Stellen am
unteren Abschnitt des Rumpfes hervorwölben, indem sie die sie umgebenden Weich -
theile in verschiedener Weise dislociren und sich zwischen ihnen hindurchdrängen.
Die sie überziehende Haut ist von der der Umgebung nicht verschieden, kann aber
bei zunehmendem Umfang der Geschwulst prall gespannt und sogar gangränös
werden, oder auch vorher bersten, wenn die Geschwulst durch ein Trauma getroffen
wird (Fälle von Budgen 5) Cruveilhier, Lief. 39).
Bei der Eröffnung findet man die Innenfläche der Cyste glatt, wie von
einer serösen Membran überzogen; ihre Höhlung communicirt durch eine mehr
oder weniger enge Oeffnung mit dem Subduralraum. Die Dura selbst lässt sich
direct in die Wand des Sackes verfolgen, und zwar ist sie hier in der Regel
stark verdickt, aber weicher, nach aussen mit den äusseren Bedeckungen fest
vereinigt. Eine besondere Arachnoidealschichte lässt sich in der Regel nicht nach-
weisen, dagegen treten durch die Communicationsöffnung entweder einzelne oder
mehrere Nerven, welche in der Wand verlaufen oder frei durch die Höhle hindurch-
ziehen, zuweilen auch schlingenförmig umbiegen (Cruveilhier, Lief. 39, Kroner
und Marchand 3s). Dies ist besonders der Fall , wenn die Oeffnung einem Inter-
vertebralloch entspricht. Handelt es sich dagegen um den Hiatus des Os sacrum,
so pflegt das Filum terminale des Rückenmarkes sich direct in den Sack fort-
zusetzen (L. Fleischmann27).
Zuweilen kann die Cyste durch die Bildung von abgeschnürten Höhlen
mehrkammerig werden. Es kann endlich durch secundäre Wucherung der Gewebs-
bestandtheile, reichliche Geschwulstbildung das ursprüngliche Aussehen sehr ver-
ändert werden.
Diese Fälle von Meningocele sacralis, welche am unteren Abschnitt des
Rumpfes hervortreten, bilden die eine Abtheilung der sogenannten Sacraltumoren,
welche von den eigentlichen Sacralteratomen zu unterscheiden ist. Eine Anzahl
reiner sacraler Meningocelen oder Hydrorhachis findet sich bei Braune 24) zu-
sammengestellt. Andere derartige Beobachtungen finden sich bei Cruveilhier,
Virchow, Förster u. s. w.
Hier nur einige Beispiele, welche die verschiedene Art der Betheiligung
der Wirbelsäule zu illustriren geeignet sind:
Fall 1. In einem der ältesten bekannten Fälle dieser Art, welcher allerdings nicht
durch die Section aufgeklärt ist (Budgen5), erreichte der Sack „in der Gegend der untern
Wirbel" bei einem Mädchen von 17 Jahren die colossale Grösse einer Ochsenblase. Der Sack
platzte, als das Mädchen im Bette lag. Es fand sich eine fingerweite Oeffnung in denWirbeln.
Der Tod erfolgte 4 Tage später. Budgen hielt die Geschwulst für die dislocirte Harnblase.
2. Beobachtung von Velpeau-Cruveilhier 12) (L. 39). Junges Mädchen
von 17 Jahren, welches seit ihrer Geburt eine Geschwulst am Rücken besass, die allmälig
zwei Fäuste gross wurde, die Trägerin aber nicht am Arbeiten hinderte. In Folge eines
heftigen Stosses platzte die Geschwulst ; es floss reichlich Wasser ab, worauf nervöse Störungen
folgten und der Tod eintrat. Bei der Section fand man die Cauda equina ganz intact,
nicht prolabirt. Ein einziges Nervenfilament, den hinteren Wurzeln
angehörig, drang in den Tumor und bildete hi er ei ne S chlinge. Der Sack
communicirte mit dem Wirbelcanal durch einen ganz engen Gang zwischen letztem Lenden-
wirbel und Os sacrum (auf Kosten der Ligamenta flava). Wirbel- und Dornfortsätze
waren normal.
SPINA BIFIDA.
609
3. Fall von Vir chow-För s t er 26), pag. 100. 23) Taf. XXVI. 22. 23). Geschwulst
der Sacralgegend bei einem 23jährigen Frauenzimmer, hinten und mehr seitlich. Haupt-
beschwerden waren incomplete Incontinentia urinae und Schwäche der unteren Extremitäten.
Die Geschwulst wuchs bis zu einem Umfange von 62 Centimeter, wurde mehrfach punctirt,
worauf der Tod an eiteriger Meningitis erfolgte. — Der Sack communicirte durch einen
engen, dickwandigen Canal mit dem Sacralcanale ; die Bögen des Kreuzbeins, mit Ausnahme
des ersteren, fehlten, ebenso auch die rechten Hälften der Körper des 3., 4., nnd 5. Kreuz-
beinwirbels ; das Steissbein war mit der Spitze nach rechts verbogen und half so eine
Oeffnung schliessen aus welcher der Sack der Hydrorhachis promini rte. Auch in diesem Falle
war die Geschwulst anfangs für eine Hernia vesicae ischiadica gehalten worden.
4. Der sehr merkwürdige Fall einer Mening ocele sacralis anterior — der
einzige bis jetzt bekannte — wurde vor einiger Zeit vom Verfasser beobachtet , und nebst
der Krankengeschichte (von Dr. Kroner)85) mitgetheilt. Derselbe betraf ein junges
Mädchen von 20 Jahren, welches mit rechtsseitigem Pes varus geboren war. Auch war das
rechte Bein schwächer als das linke. Nach einem Falle auf den Leib (vier Monate vor
ihrer Aufnahme) bekam sie ziehende Schmerzen im Leibe , und sie bemerkte seitdem eine
Geschwulst im Leibe, die allmälig grösser wurde. Auch hatte sie vielfach Kopfschmerzen,
Uebelkeit und Brechneigung. Man constatirte bei der Untersuchung in der gynäkologischen
Klinik zu Breslau eine umfangreiche cystische Geschwulst im kleinen Becken, durch welche
der Uterus nach oben gedrängt war, und vermuthete daher eine Cyste des Ligamentum
latum. Durch eine Punction von der Scheide aus wurden 3000 Cc. wasserklarer, dünner
Flüssigkeit entleert , welche T007 spec Gewicht hatte , fast frei von Eiweiss war , und bei
der mikroskopischen Untersuchung nur spärliche, platte Epithelzellen erkennen liess. Nach
kurzer Zeit füllte sich die Cyste von Neuem, die Oeffnung wurde erweitert, die Höhle drainirt,
indess trat sehr bald der Tod unter auffallenden meningitischen Erscheinungen ein. Bei der
Section fand sich nun die Höhle des kleinen Beckens durch eine über zwei Fäuste grosse
cystische Geschwulst ausgefüllt, durch welche der (zweihörnige) Uterus nach aufwärts gedrängt
war. Die Cyste war mit Blut gefüllt. Dieselbe war mit der Aushöhlung des Kreuzbeines
fest verwachsen, und hier fand sich ein enger Canal, welcher etwa in der Mittellinie, unter-
halb des ersten Kreuzbeinwirbels, schräg nach aufwärts in den Spinalcanal führte, und direct
in die Höhle der Dura mater überging. Die Auskleidung des Canals sowie die Wand der
Cyste erwies sich als directe Fortsetzung
Fig. 51. der Dura mater ; das Rückenmark reichte
ungewöhnlich weit nach abwärts, und war
an seinem unteren Ende, so weit sich nach
die Durchsägung der Lendenwirbelsäule
und des Beckens noch feststellen liess,
gespalten. In der "Wand des Canals verlief
ein Nervenstamm, welcher sich noch eine
Strecke weit in die Cyste hinein fort-
setzte, sodann aber nach aussen trat.
Es fand sich ausserdem eine sehr hoch-
gradige eiterige Meningitis , welche sich
vom Rückenmarke nach aufwärts bis in
die Schädelhöhle hinein fortsetzte. An
dem macerirten Becken zeigte sich, dass
die sämmtlichen "Wirbelbögen intact waren ;
dagegen war der Körper des ersten Sacral-
wirbels in der Mitte gespalten, die beiden
Hälften durch Bandmasse vereinigt; von
dem Körper des zweiten Sacralwirbels fehlte
die rechte Hälfte, und der hierdurch ent-
standene Defect war mit dem ersten vor-
deren Sacralloch vereinigt, durch welcher
der Stiel der Geschwulst hervorgetreten
war. (Fig. 51.)
Das rechte Bein war atrophisch, der
Fuss verkürzt, und in hochgradiger Klump-
fussstellung.
In einem von H u g e n b e r g e r 33) mit-
getheilten Falle , welcher jedoch streng
genommen nicht hiehergehört , war der
Sacralcanal durch eine Hydrorhachis aus-
gedehnt, und seine "Wand mehrfach durch-
brochen , so dass der Sack der Rücken-
markshäute sich in das kleine Becken
hineinwölbte. Hofmok'l erwähnt einen Fall von Meningocele, bei welcher der Sack in die
Fossa iliaca ragte ; doch fehlt eine genauere Angabe. Hierher gehören wohl auch die Fälle
von Newbigging und Hewett ("W. Koch37), pag. 41).
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII, B9
V-~~_
a
vg'
Meningocele sacralis anterior mit EhacMscMsis anterior.
lU der natürlichen Grösse. Sagittalschnitt des Beckens.
c Cyste, r Rückenmark, o Ovarium, u Uterus, v Blase,
ur Urethra, s Symphyse, vg Vagina, a Anus, v 3. "Ver-
tebra lumbalis III.
610 SPINA BIFIDA.
Die Flüssigkeit der Spina bifida, welche mit der Cerebrospinalflüssigkeit identisch
ist, hat in der Regel die gleiche Beschaffenheit wie diese; sie ist wasserklar, von geringem
specifischen Gewicht 1005—1008), nnd enthält sehr wenig Eiweiss, so dass sie beim Kochen
nur eine schwache Trübung giebt. Der Geschmack ist etwas salzig.
Die Analysen verschiedener Cerebrospinalflüssigkeiten von C. Schmidt nnd Hoppe-
Seyler ergaben 980— 989"5 Wasser und 10'5 — 20 feste Substanz. Schmidt macht auf den
hohen Kaliumgehalt aufmerksam, der eine bestimmte Unterscheidung der Cerebrospinalflüssig-
keit von allen Transsudaten giebt, aber nach Hoppe-Seyler wohl nur in solchen Flüssig-
keiten gefunden ist, die der Leiche entnommen sind. Verschiedene Analysen der Flüssigkeit
zweier Fälle von Spina bifida ergaben:
986-88 bis 989 80 Wasser,
10 20 „ 13-28 feste Stoffe,
davon 0-55 „ 2-46 Albumin,
2-0 bis 2-83 Extractstoffe,
7-20 „ 821 lösliche Salze,
0'45 „ 1'15 unlösliche Salze.
In der normalen Cerebrospinalflüssigkeit findet sich nach Hoppe-Seyler kein
Zucker, auch in Spina bifida- und Hydrocephalusflüssigkeit fehlt die Kupferoxydreduction in
der bei der ersten Punction erhaltenen Flüssigkeit ; in den nachher abgelassenen Flüssigkeiten
ist Zucker meist erhalten (s. Hoppe-Seyler Physiol. Chemie 1881, pag. 604).
Durch die Punction, namentlich wenn sie mehrfach wiederholt ist, oder wenn ent-
zündliche Erscheinungen aufgetreten sind, wird der Charakter der Flüssigkeit selbstverständ-
lich sehr verändert. — In alten grossen Cysten von Spina bifida und Meningocele, für deren
Inhalt selbstverständlich dasselbe gilt, ist die Flüssigkeit meist gelblich.
B. Die Rhachischisis.
Die offene Spaltbildung der Wirbelsäule, die Rhachischisis sensu stricto
ist in der Regel mit der analogen Missbildung des Schädels, der Anencephalie oder
Cranioschisis verbunden, und zwar erstreckt sie sich in diesen Fällen verschieden
weit nach abwärts, als B. cervicalis, wenn sie sich auf den Halstheil beschränkt,
B. totalis, wenn sie die ganze Wirbelsäule betrifft. Die Bogentheile der Wirbel
fehlen hierbei vollständig, oder sie sind wenigstens nur durch kurze Vorsprünge
zu beiden Seiten angedeutet, so dass es den Eindruck macht, als sei der Wirbel-
canal flach auseinandergelegt. Die Haut fehlt im Bereiche der Spalten vollständig,
der Grund derselben ist von einer feuchten röthlichen Membran ausgekleidet, in der
Mittellinie ist nicht selten noch ein flaches, bandförmiges Gebilde erkennbar, welches
das Rudiment des Rückenmarks darstellt. An der den Wirbelkörpern aufliegenden
vorderen Fläche der Membran inseriren sich die Spinalnerven.
In allen Fällen von totaler oder cervicaler Rhachischisis ist die Wirbel-
säule selbst hochgradig verändert, im Halstheil mehr oder weniger stark lordotisch
gekrümmt ; im Bereiche der Krümmung pflegen die Wirbelkörper unvollkommen
entwickelt und mit einander verschmolzen, und daher an Zahl vermindert zu sein.
Es wird hierdurch die eigen thümliche Gestalt des Halses und Rumpfes derartiger
Missbildungen bedingt (Fig. 52).
Seltener finden sich ähnliche Knickungen im unteren Theile der Wirbel-
säule bei BhacMschisis totalis.
Es kann jedoch dieselbe Spaltbildung auch unabhängig von der An-
encephalie im Bereiche der Rücken- und Lendenwirbel vorkommen, wobei sich dann
ebenfalls eine Knickung an den betreffenden Stellen findet, so dass der unterhalb
gelegene Abschnitt des Rumpfes einen starken kyphotischen Vorsprung nach
hinten bildet.
In solchen Fällen sind in der Regel noch anderweitige schwere Miss-
bildungen vorhanden, Eventration, Ectopie der Harnblase mit Spaltung der Geni-
talien u. s. w.
Meist bleibt die Spaltbildung auf den hinteren Umfang der Wirbelsäule
beschränkt, seltener betheiligen sieh dabei die Wirbelkörper durch Unregelmässig-
keiten der Verknöcherung, Vermehrung der Knochenkerne, Verschiebungen derselben
in der Längsaxe u. s. w. , Zustände, welche im Allgemeinen als BhacMschisis
anterior zusammengesetzt werden.
Die BhacMschisis anterior braucht nicht immer mit einer B. posterior
verbunden zu sein, wie aus dem obigen Beispiel der Meningocele sacralis anterior
hervorgeht, indess ist das erstere das häufigere. Die älteren Fälle, welche als
Spaltung der Wirbelkörper aufgefasst wurden, und in diesem Sinne noch vielfach
SPINA BIFIDA.
611
citirt werden, sind indess meist so ungenau beschrieben, zum Theil mit so wenig
Sachkenntniss, dass sie nicht mit Sicherheit hierherzurechnen sind. Dieselben sind
a. a. 0. vom Verfasser zusammengestellt und beurtheilt (s. Kroner und Marchand 35).
Wohl constatirte Beobachtungen dieser Art ausser der obigen sind beschrieben
von Crüveilhier 12) (Lief. VI, PI. III. und Lief. XIX, PI. V, VI; der zweite
dieser Fälle ist citirt im Artikel „Missbildungen" pag. 118), Rindfleisch «■ 22),
Svitzer10), Levy18), Morel-Gross32), Rembe28).
Saerittalschnitt durch die Mitte des Kopfes und des oberen Theiles des Rumpfes eines
Anencephalus mit totaler Rhachischisis. Starke Einknickung der Halswirbelsaule.
a Oberlippe, & Unterlippe (der Mund geöffnet), c Oberkiefer- AI veolarfortsatz, d Unterkiefer,
e Zunge f Nase, g Nasenbein, h Rudiment des Stirnbeines, i die freiliegende Schadelbasis,
fc die beiden verschmolzenen Keilbeinkörper, l das Os basilare, m Rudimentärer Atlas,
n Dens epistrophei, o Verschmolzene Wirbelkörper am Halse, p Weiches Gewebe, q Oeso-
phagus, r Herzbeutel, * Sternum, t Kehlkopf (etwas seitlich getroffen», u Thymus, v Nasen-
scheidewand, w Pharynx.
In der Mehrzahl dieser Fälle handelt es sich um Anencephalie mit totaler
Rhachischisis, wobei sich herniöse Ausstülpungen der Brust- und Bauchorgane
durch die mehr oder weniger weite Wirbelspalte gebildet hatten, so dass beispiels-
weise ein Theil des Dünndarms durch eine gleichzeitig vorhandene Zwerchfellhernie
in die Brusthöhle, und von hier aus durch eine Lücke in die Halswirbelsäule
nach hinten hervorgetreten war.
Hierher gehört ferner allem Anschein nach ein sehr bemerkenswerther Fall, welcher
von Küster17) (pag. 15) kurz citirt wird. „0.1.1*
Skelett einer Dienstmagd von 42 Jahren (aus der Sammlung v. S. Schultz e in
Greifswald). Spaltung der Bögen sämmtlicher Lendenwirbel bis zur Mitte des Os sacrum und
der Körper desselben bis in's Becken. Linksseitige Scoliose und ankylotische Verwachsung
eines grossen Theiles der Brustwirbel und der Kippen.
39*
612 SPINA BIFIDA.
Geschichtlich e Bemerkungen.
Die uns hier beschäftigende Missbildung hat bereits in früher Zeit die Aufmerk-
samkeit der Aerzte auf sich gezogen, was bei der relativen Häufigkeit des meist zum ToJe
führenden Uebels nicht Wuuder nehmen kann. Aus dem Alterthum sind indess, wie es
scheint, keine sicheren Nachrichten darüber vorhanden. Nach Morgagni's Ausspruch soll,
B a u h i n der Erste gewesen sein, welcher die cystische Form, und zwar in der Lendengegend,
bei einem Mädchen von 17 Wochen, beschrieben hat, doch ist die Schilderung nicht ganz klar.
Bereits früher (1563) soll Forestus eine Geschwulst dieser Art am Nacken eines
zweimonatlichen Mädchens erwähnt haben, welche aber vielleicht mit dem Schädel zusammen-
hing (cf. Moeckel10) (pag. 4).
Der Name „Spina bifida" stammt von Tulpius, von welchem auch die erste
.sichere Beschreibung und Abbildung der Missbildung herrührt (1641). 1) Tulpius erwähnt
6 Fälle seiner eigenen Beobachtung; in dem einen genauer berichteten sass die Geschwulst
in der Lendengegend mit eiuem engen Stiel auf. Ein Chirurg umschnürte den Stiel mit einem
Faden, um die Geschwulst dann nach dem Absterben zu excidireu, aber bevor es dazu kam,
siarb das Kind. Bei der anatomischen Untersuchung fand Tulpius das Rückgrat wie zer-
rissen und im Innern eine so reichliche Nervenausbreitung, dass es unmöglich gewesen wäre,
die Geschwulst zu entfernen. Die Spalte reichte von den letzten Brustwirbeln nach abwärts
und seitlich bis zu den Darmbeinen. Der Grund der Spalte soll nach Angabe Tulpius'
durch das Peritoneum bedeckt gewesen sein. Man hat hieraus geschlossen, dass es sich in
dieser Beobachtung um eine Spaltung der Wirbelkörper gehandelt habe. Die Abbildung giebt
hierüber keinen Aufschluss.
Auch der Nachfolger Tulpius', Fr. Ruysch, giebt einige kurze aber treffende
Beschreibungen der Spina bifida mit guter Abbildung (1691). 2) Er selbst hat das Uebel
zehnmal gesehen, am häufigsten in der Lendengegend, auch am Bücken, einmal in der Nacken-
gegend. Er vergleicht die Spina bifida mit dem Hydrocephalus ; es sei klar wie die Sonne,
dass es sich um einen Hydrops eines Theiles der Medulla oblonga'ä handle.
Seitdem mehren sich die Beobachtungen. — Hier seien nur die Fälle von Apinus3)
(1702) und von Mayer (1712) 4) kurz erwähnt, von denen sich der Erstere an Ruysch
anlehnt. Seine (mit einer sehr mangelhaften Abbildung) versehene Beschreibung ist von
besonderem Interesse, weil er zuerst darin angiebt, dass das untere Ende des Rückenmarks
sich in der Mitte der Geschwulst inserirt. G. D. Mayer constatirte in seinem Falle den
Zusammenhang der mit Wasser gefüllten Cyste mit dem Spinalcanal und dem Schädel, welcher
zugleich hydrocephalisch war. Schrader, Mauchart, Trewius und Andere haben über
weitere Fälle berichtet. Nicht alle Autoren waren indess in ihrer Deutung der Geschwulst
gleich glücklich ; bei einigen ist die Vermuthung ausgesprochen, dass die Geschwulst mit der
Blase zusammenhänge und Urin enthalte, Die gründlichste Behandlung erfährt die Spina bifida
durch Morgagni6) (Lib. I, Ep. XII, 9-16).
Ueber die Herkunft und den Sitz des Wassers war man verschiedener Ansicht,
abgesehen von der eben erwähnten ganz irrigen Angabe. Die Einen nahmen ,an , dass das
Wasser in der Höhle der Dura mater abgesondert werde und die Häute allmälig ausdehne,
Andere meinten, dass es vom Schädel herabfliesse, wofür namentlich die Fälle mit gleich-
seitigem Hydrocephalus zu sprechen scheinen, Andere hielten dafür, dass es von einer wässerigen
Degeneration der Nervensubstanz, von einer abnormen Zunahme des Nervenfluiduni herrühre,
durch welche das Rückenmark zerstört wurde. Gegen letztere Annahme schien aber der bereits
erwähnte Umstand zu sprechen, dass in einigen Fällen entweder das Rückenmark selbst oder
wenigstens Nervenausbreitungen unversehrt im Innern der Geschwulst gefunden wurden. Bei
der Spina bifida lumbalis handelte es sich nach Morgagni's Ansicht entweder um die mit
einander zu einem soliden Körper vereinigten Nerven der Cauda equina, welche sich an der
Wand des Sackes fixirten, oder die Nerven verliefen peripherisch in der Wandung. In den
Fällen von Spina bifida dorsalis könne das Rückenmark unterhalb erhalten sein. Morgagni
überzeugte sich aber bald selbst bei einem Knaben von 10 Monaten, welcher nach der Punc-
tion einer grossen Spina bifida lumbalis gestorben war, davon, dass das untere Ende des
Rückenmarks, welches vollkommen fest war, und die weisse und graue Substanz deutlich
erkennen liess, sich nach hinten wandte und mit den davon abgehenden Nerven ungefähr in
der Mitte der Wand des Sackes fest angeheftet war (Ibidem Nr. 16. 1745).
Entwickelung. Wenn wir auch auf dem Wege der morphologischen
Untersuchung der fertigen Missbildung ein Verständniss derselben anbahnen können,
so ist dies doch in vollkommener Weise nur durch die Entwickelungsgeschichte,
durch directe Beobachtung der im Entstehen begriffenen Bildungs-Anomalie möglich.
Die Spina bifida hat von Alters her zu sehr zahlreichen Hypothesen
zu ihrer Erklärung Anlass gegeben, von denen aber nur ein kleiner Theil noch
ein Anrecht auf unsere Beachtung hat. Ganz besonders häufig ist bei dieser Miss-
bildung, wie bei so vielen anderen, ein psychischer Einfluss angeschuldigt. Durch
einen Fall auf den Rücken, durch einen Stoss, der die Lendengegend der
Schwangeren traf, sollte in derselben Gegend bei dem Embryo der Tumor hervor-
SPINA BIFIDA. 613
gerufen worden sein, ja, in dem bekannten Falle von Tulpius wird sogar erzählt,
dass der Tumor der Lendengegend deutlich die Gestalt einer Rübe besessen habe,
weil der schwangeren Mutter unvorsichtigerweise eine Rübe verweigert worden sei
und sie darüber ohnmächtig auf den Rücken gefallen sei. Wir werden unwill-
kürlich an diese naiven Vorstellungen erinnert, wenn wir in der sonst vorzüglichen
Arbeit von Tourneux und Martin erwähnt finden, dass die Mutter des dort
beschriebenen Embryo mit Spina bifida in den ersten Wochen ihrer Schwanger-
schaft eines ihrer Kinder , welches mit POTT'scher Kyphose der Lendengegend
behaftet war, pflegte, und in Folge der damit verbundenen schmerzlichen Eindrücke
abortirte.
Lange Zeit, man kann sagen fast bis auf den heutigen Tag, ist der
Punkt streitig gewesen, ob die Spaltbildung des Rückgrates das Primäre und die
Ansammlung von Flüssigkeit das Secundäre, oder ob das Umgekehrte der Fall sei.
Bereits Fr. Ruysch war der Ansicht, dass der normale Verschluss der
Bogentheile nicht zu Stande komme wegen der Ausdehnung der Rückenmarks-
häute durch Wasser. Diese Ansicht hat bis in die neuere Zeit viele Anhänger
gehabt. Auch die Formen der offenen Rhachischisis mit oder ohne Anencephalie
erklärte man so, dass ursprünglich ein geschlossener, mit Flüssigkeit gefüllter
Sack vorhanden gewesen sei, der nachträglich platzte und nun die hintere Fläche
der Wirbelkörper und der Schädelbasis entblösst, oder doch nur mit spärlichen
Resten der Nervensubstanz und der Häute bedeckt, zu Tage treten Hess.
Förster vertritt diesen Standpunkt unter den neuen Autoren, ebenso
Ahlfeld. 39) Wir besitzen nun allerdings einige Beobachtungen von frühzeitigen
Embryonen, mit starker hydropischer Ausdehnung des Medullarrohres (Hydromyelie),
welche jener Auffassung zur Stütze dienen ; eine der bekanntesten ist die von
Rüdolphi, indess sprechen gewichtige Gründe gegen eine Verallgemeinerung dieser
Thatsache.
Meckel, welcher die Spina bifida und die damit verwandten Formen
mit vollem Recht als Hemmungsbildungen auffasste, sprach sich im Ganzen,
entsprechend seiner dynamischen Anschauungsweise , gegen jene Ansicht aus,
wenn er sie auch für gewisse Fälle zuliess. Er suchte den Grund der Hemmungs-
bildung vielmehr in einer mangelnden Bildungsenergie. Aehnlich auch G.
Fleischmann. 8)
Sehr wichtig war für das Verständniss der Spina bifida, besonders der
tiefer am Rücken vorkommenden Formen, die genauere Erkenntniss des Verhaltens
des Rückenmarks und der Nervenwurzeln zu der Wand des Sackes. Es war
namentlich der Umstand, dass das Rückenmark bei der Spina bifida lumbo-
sacralis weit tiefer hinabreicht, als normal , und dass es an seinem Ende mit
den äusseren Weichtheilen in inniger Verbindung tritt, welcher zum Nachdenken
aufforderte. Bereits Morgagni und einige Aeltere haben jenes Verhalten des
Rückenmarks angedeutet und Meckel beschrieb dasselbe, ebenso wie den eigen-
thümlichen Verlauf der Nerven wurzeln bei jener Missbildung. Eine genauere
Kenntniss des Zustandes von Rückenmark und Nerven bei der Spina bifida
lumbo-sacralis verdanken wir jedoch erst Cruveilhier und Virchow.
Cruveilhier bespricht die Hypothese, dass die Ansammlung einer Flüssig-
keit eine herniöse Vorstülpung der Häute des Rückenmarks zwischen zwei Wirbeln
hervorbringe, und dass in Folge dessen eine unvollkommene Vereinigung der
benachbarten Wirbelbögen zu Stande kommen könne. Indess würde dies doch
nicht die erwähnten Verhältnisse des Markes und der Nerven erklären, wenn man
nicht eine vorgängige Adhäsion des Markes und seiner Hüllen an den äusseren
Bedeckungen zuliesse. Ja, es ist nicht einmal nöthig, eine Vermehrung der
Cerebrospinalflüssigkeit anzunehmen, wenn die Adhärenz und der daraus hervor-
gehende Defect des Knochens einmal da ist, so ist es ganz einfach, dass die
Cerebrospinalflüssigkeit sich dahin begiebt, wo am wenigsten Widerstand ist.
Ueberdies würde in vielen Fällen die geringe Menge der Flüssigkeit gar nicht
614 SPINA BIFIDA.
zur Erklärung der Ausbuchtung genügen. Immerhin muss bemerkt werden, dass
jene Adhärenz des Markes nicht für alle Fälle gilt. Cruveilhier selbst berichtet
bei einer späteren Gelegenheit über einen solchen Fall aus der Praxis von Velpeau,
bei welchem das Rückenmark und die Gauda equina ganz intact waren und nur
ein einziges Nervenfilament in den hydrorhachischen Sack eintrat (s. oben).
Virchow hebt ebenfalls die Betheiligung des Rückenmarkes und der
Nerven bei der Spina bifida lumbo-sacralis hervor und nimmt zur Erklärung
eine primäre Verwachsung jener Theile mit der Haut an, während er für andere
Fälle auch andere Erklärungen zulässt. 25, 26)
In neuerer Zeit hat Ranke in München 29) ebenfalls jene Entstehungs-
weise der Spina bifida vertheidigt. Er präcisirte seine Ansicht später dahin,
dass es sich nicht eigentlich um eine Verwachsung des Rückenmarks mit den
äusseren Theilen handelt, sondern um eine unvollkommene Trennung des
Medullarrohres vom Hornblatt.
Hofmokl 30) sucht dem gegenüber durch verschiedene Gründe den Nach-
weis zu führen, dass die Verwachsung zwischen dem Rückenmark und der Wand
des Sackes nicht primär, sondern erst seeundär im Laufe des intrauterinen Lebens
zu Stande komme; doch erscheinen seine Gründe sehr wenig stichhaltig.
Es fehlte immerhin bis in die neueste Zeit an dem directen Beweis durch
die Untersuchung früher Stadien der Missbildung, welche für viele andere Formen
bereits so wichtige Resultate geliefert hat. Diese Lücke ist theilweise ausgefüllt
worden durch Dareste, Tourneux und Martin, Lebedeff ; wozu als Ergänzung
die mikroskopischen Befunde von W. Koch und Hofmokl hinzukommen.
Zur genetischen Erklärung der Spina bifida müssen wir auf eine sehr frühe Zeit
der Embryonalanlage zurückgehen, wie denn überhaupt die meisten Missbildungen in eine
viel frühere Zeit zurückreichen, als gewöhnlich angenommen Avird.
In der ersten Anlage wird das Centralnervensystem bekanntlich durch die
sogenannte Medullarplatte dargestellt, „welche mit dem Hornblatte (seitlich) ununter-
brochen zusammenhängt und nach und nach zu einem Halbcanale sich umwandelt, dessen
nach der Rüekenseite ofiene Rinne die Rücken furche und dessen Begrenzungsränder die
Rücken wülste heissen" (Kolli k er, rEntwicklungsgeschichte", pag. 502). Allmälig
erfolgt durch Verschluss dieser Rinne am Kopf und am Rumpf die Bildung des Medullar-
rohres, welches in seinem hinteren (unteren) Ende noch etwas länger offen bleibt Doch
lässt sich nach den neueren Untersuchungen von His annehmen, dass beim menschlichen
Embryo die Bildung des Medullarrohres in der dritten "Woche bereits abgeschlossen ist, also
zu einer Zeit, in welcher der ganze Embryo eine Länge von 2 — 3 Mm. besitzt.
Während die Seitentheile der Halbrinnen sich zum Rohre schliessen, vereinigt sich
darüber auch das Hornblatt, und sodann erfolgt von den Urwirbeln aus das Hineinwachsen
der Rückenplatten zwischen Medullarrohr und Hornblatt. Nachdem sich die Rückenplatteu
in der Mittellinie geschlossen haben, bilden sich in ihnen die knorpeligen Anlagen der
Bogentheile der Wirbel , welche ebenfalls allmälig der Mitte zustreben und sich hier ver-
einigen. Auch die knorpelige Anlage der Wirbelkörper lässt in sehr früher Zeit (bei
Embryonen von circa 1 Cm. Länge) zwei seitliche Massen neben der Chorda dorsulis erkennen,
welche aber sehr bald mit einander verschmelzen und die Chorda ringförmig umgeben, so
dass man sehr bald nur von einer einfachen Anlage der knorpeligen Wirbelkörper reden
kann. An dem untersten Theil der Wirbelsäule scheinen sich die beiden Hälften länger zu
erhalten als oben (Rosenberg).
Das Rückenmark reicht noch bei dem Embryo aus dem dritten Monat bis an das
Ende des Spinalcanals, in die Gegend des Steissbeins, woselbst es allmälig konisch sich
zuspitzt und mit einer kleinen Anschwellung endet , in welcher eine Höhlung, als Fortsetzung
des Central canals, sich findet. Ein Filum terminale ist also noch nicht vorhanden. Erst
später rückt das Mark allmälig hinauf, bis das Ende , der Conus medullaris, sich in der
Höhe des ersten und zweiten Lendenwirbels befindet
Tourneux und Martin 3g) waren in der seltenen Lage, einen mensch-
lichen Embryo von 8 Mm. Länge in den Eihüllen , mit Spina bifida, d. h. mit
Persistenz der Medullarrinne am unteren Ende des Körpers zu erhalten.
Das Ei, welches mit Ausnahme der Rückenfläche mit langen Zöttchen besetzt war,
mass 11, 17 und 21 Mm. An dem stark gekrümmten unteren Ende des Rückens des sonst
wohlgebildeten Embryo bemerkte man zwei kleine, durch eine Furche getrennte Längswülste.
Dareste, welchem der Embryo vorgelegt wurde, erkannte den Zustand als Persistenz der
Rückenfurche. Während im oberen Theil des Rückens das Medullarrohr vollständig aus-
gebildet war, zeigte sich auf Querschnitten durch den unteren Theil, dass die Medullarplatte
SPINA BIFIDA. 6!5
hier nicht geschlossen war und an beiden Seiten continuirlich in die Epidermis überging.
Der Uebergang vom Mark zur Epidermis geschah ziemlich plötzlich ; auch zum mittleren
Keimblatt fand an derselben Stelle ein Uebergang statt , jedoch so allmälig, dass man nicht
erkennen konnte, wo das Mark aufholte. Die vorderen Nervenwurzeln waren ebenso erkennbar,
wie an dem normalen Querschnitt, die Spinalganglien waren an Form und Verhalten wesent-
lich verändert.
Die Verfasser sind der Ansicht, dass dieser Zustand bei dem Embryo
von 8 Mm. in der That das Anfangsstadium der Spina bifida mit Cystenbildung
darstellt. Das Wesentliche ist der mangelhafte Verschluss der Rückenfurche,
oder, was dasselbe ist, die mangelhafte Trennung der Medullarplatte von dem
Hornblatt. Diese selbst ist aber nach der Ansicht der Verfasser die Folge einer
Bildungshemmung der Rückenplatten. Die Bildung der Bogentheile der Wirbel
kann nicht zu Stande kommen. Später kann wohl ein Hinüberwachsen der
Epidermis, zum Theil auch der Haut, stattfinden, wodurch die Medullarplatte ver-
deckt wird, häufig bleibt aber unter den äusseren Bedeckungen die flache Aus-
breitung von Nervensubstanz erkennbar, welche direct in das Rückenmark über-
geht, andererseits mit der Epidermis zusammenhängt. In diesen Fällen öffnet
sich der Centralcanal frei nach aussen. In anderen Fällen bildet sich eine fibröse
mit Epidermis bekleidete Schicht an der Oberfläche aus , welche sich durch die
Abwesenheit von Drüsen und Haarbälgen auszeichnet. Die cystische Geschwulst
entsteht durch Ausdehnung der Subarachnoidealräume durch Cerebrospinalflüssigkeit.
Von der Markplatte, die beim Neugeborenen einen integrirenden Theil der Wand
des Sackes ausmacht, können Nervenwurzeln ausgehen, die sodann in rückläufiger
Richtung den Tumor durchziehen und zu den Intervertebrallöchern treten.
Dareste hat gegenüber Tourneux und Martin die Ansicht ausgesprochen,
dass in solchen Fällen, wie in dem beschriebenen, kein hydrorhachischer Sack
sich entwickelt , sondern dass die Reste der Medullarplatte flach im Grunde der
Spalte ausgebreitet bleiben. Indess erscheint die Entstehungsweise der cystischen
Spina bifida auf dem von Tourneux und Martin angegebenen Wege sehr plausibel.
Dareste31) stellt vier verschiedene Modi der Entstehung der Spina bifida und
die analogen Zustände am Kopfe auf. Immer handelt es sich aber um eine Hemmungsbildimg
der Rückenplatten , die aber durch einen besonderpn^^srancl des ^«enÖSthiervensystems
bedingt ist. /CT ^r**^ SA
Diese vier Möglichkeiten sind : <«* \
1. Die Medullarplatte schliesst sich nicht zum Rohr, sondern behält ihren Charakter
als seröses Blatt im Grunde der Furche. I /
2. Das Rohr schliesst sich, aber späteA als^nornnd"f*ffie" ^Vereinigung desselben
erfolgt durch Theile des serösen Blattes, die normalerweise nicht an der Bildung des Markes
theilnehmen ; es bleibt dann partiell oder total ein häutiger Sack mit seröser Flüssigkeit.
3. Die Medullarplatten schliessen sich vollständigT^-abop 'SpSter als normal , doch
erfolgt die Trennung von dem serösen Blatt, die Rückenplatten können sich in der Mittel-
linie nicht knöchern vereinigen; ihre Vereinigung kommt nur durch Haut und Meningen,
oder die letzteren allein zu Stande.
4. Das Medullarrohr ist vollständig entwickelt, aber seine Theile sind partiell oder
total comprimirt durch die Kopfkappe des Amnion , die in ihrer Entwicklung gehemmt ist,
Haut und Meningen vereinigen sich in der Mitte, aber die Theile des Skeletts bleiben
getrennt. (Ursprung der Hirnhernie und der Exencephalie.)
Lebedefe 38) hat bei seinen Untersuchungen , die er grösstenteils an
Hühnerembryonen, aber auch an einem menschlichen Embryo angestellt hat,
hauptsächlich die Entstehung der Anencephalie im Auge gehabt. Er nimmt zwei
Arten der Veränderung an, die ebenso auch bei der Spina bifida eine Rolle
spielen können ; entweder wird die Medullarplatte verhindert, sich in ein Medullar-
rohr umzuwandeln, oder das schon ausgebildete Medullarrohr geht wieder zu
Grunde. Die ursprüngliche Ursache dieser Veränderungen ist rein mechanischer
Natur, sie liegt nach Lebedeff's Ansicht in den meisten Fällen in den starken Ver-
krümmungen des Embryokörpers, welche diese Anomalie begleiten. — Es ist
allerdings einleuchtend, dass im Falle einer starken kyphotischen Krümmung des
Embryonalkörpers das Medullarrohr an der Stelle der stärksten Krümmung
abgeplattet und unter Umständen zerstört werden kann und dass eine ähnliche
Störung seiner Entwicklung stattfinden wird bei einer starken Krümmung oder
616 SPINA BIFIDA.
Knickung in der entgegengesetzten Richtung. Es fragt sich dabei noch immer,
wodurch die Krümmung hervorgerufen wird. Dem mangelhaft entwickelten Zustand
des Amnion gesteht Lebedeff keinen unmittelbaren Einfluss zu.
W. Koch37) äussert sich in Bezug auf die Entstehung der Rhachi-
schisis erstens gegen die Annahme eines primären Hydromyelus, welcher platzte,
zweitens aber auch gegen die Annahme von Ursachen , welche ausserhalb der
Medullarplatte und der Urwirbelmasse belegen sind. Vielmehr zwingt Alles zu
dem Schluss, dass die Medullarplatte und die Urwirbelmasse selbst als Ausgang
der Entwicklungsstörung zu betrachten sei. Auf keinen Fall schliesst sich die
Medullarplatte zum Rohr, verharrt vielmehr in flächenhafter Ausdehnung.
In Bezug auf die cystischen Formen (Myelocele) schliesst sich Koch der
Ansicht an, dass es sich hier nur um eine unvollständige Trennung der Medullar-
platte vom Hornblatt handeln könne.
Unserer Ansicht nach erklären sich sämmtliche Veränderungen bei
der Spina bifida cystica am einfachsten und ungezwungensten aus der Ausnahme
einer circumscripten unvollkommenen Trennung der Medullarplatte vom Hornblatt,
und da eine solche durch die Beobachtung am Embryo bestätigt ist, so kann das
Vorkommen nicht bezweifelt werden. Zweifelhaft kann nur die Deutung sein, ob
es sich in solchen Fällen, wie in dem von Toueneux und Martin, um die erste
Anlage einer Spina bifida cystica oder einer Rhachischisis handelt. Offenbar wird
dies der Hanptsache nach von der Ausdehnung der atficirten Stelle abhängen.
Ist sie beispielsweise auf das unterste Ende des Embryo beschränkt, wie bei
Toueneux und Martin , so wird daraus eine Spina bifida sacro-lumbalis her-
vorgehen können. Das Medullarrohr bleibt an dieser Stelle längere Zeit offen
als normal , oder es kann selbst dauernd als Platte bestehen bleiben ; durch
die bleibende Verbindung mit dem Hornblatt (zugleich mit Theilen des mittleren
Keimblattes) wird das untere Ende des Medullarrohrs fixirt und verhindert, später
hinaufzurücken , während die Wirbelsäule stärker wächst. Selbstverständlich
wird die Vereinigung der Rückenplatten am hinteren Umfang des Medullarrohrs
an der betreffenden Stelle gehindert , es bildet sich eine Spalte der Bogentheile.
Die Ansammlung der Flüssigkeit ist eine seeundäre Erscheinung. Dieselbe durch
einen primären hydropischen Zustand des Spinalcanals zu erklären , ist unserer
Ansicht nach undenkbar. Etwas mehr Wahrscheinlichkeit hat die Annahme einer
primären Hydrorhachis interna oder Hydromyelie, indess glauben wir auch diese
in den Fällen, wo sie beobachtet wird — und diese sind im Ganzen recht selten
— als seeundäre Erscheinung auffassen zu könneu. Das Zustandekommen eines
primären Hydromyelus in der Continuität der Medulla spinalis können wir uns
nicht wohl vorstellen, eher ist das möglich am unteren Ende des Medullarrohrs,
wo Derartiges auch ohne Spaltbildung der Wirbelsäule thatsächlich beobachtet
wird. Ist dagegen die Trennung der Medullarplatte von dem Hornblatt verzögert,
schliesst sie sich an dieser Stelle erst zu einer Zeit, in welcher es im übrigen
Theils bereits vollständig zum Rohr umgewandelt ist , so ist die Veranlassung
zur Ectasie des Rohres an dieser Stelle sehr leicht gegeben , umsomehr , als aus
derselben Ursache eine dauernde Verbindung zwischen den Häuten , resp. der
Medulla und den äusseren Weichtheilen bestehen bleibt. Es kann also an dieser
Stelle sich eine partielle Ectasie des Medullarrohrs ausbilden (Fall von Sandifort 7),
(T. 193), die zuweilen sehr umfangreich sein kann (Viechow2£), oder die
auseinandergezogenen Hälften des Medullarrohrs wandeln sich zu getrennten
Canälen um (Vrolick20), oder sie bedingen eine Spaltung des Rückenmarks
(Natorp1*).
Man hat gemeint , das Vorkommen eines primären Hydromyelus sei am
unteren und oberen Ende des Medullarrohrs dadurch begünstigt , dass an beiden
Stellen die Hinterwand des Rohres weniger resistent sei (His' Gummischlauch-
theorie). Am unteren Ende des Rückenmarks ist zweifellos von Bedeutung für
die Häufigkeit der Spina bifida, dass das Rohr sich an dieser Stelle am spätesten
SPINA BIFIDA. 617
schliesst; für das obere Ende des Rohres stimmt jene Annahme gar nicht
zu, denn das Vorkommen der Spina bifida gehört hier zu den grössten
Seltenheiten, und zwar vertheilen sich die Fälle gleichmässig auf Hals- und
Rückentheil. Uebrigens muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass nicht in
allen Fällen von Flüssigkeitsansammlung im Rückenmark bei Spina bifida eine
wirkliche Hydromyelie vorliegt, sondern es kommt auch hier, wie bei der so-
genannten Syringomyelie des späteren Lebens, zu Spaltbildungen und Flüssigkeits-
ansammlung in der Substanz des Rückenmarks selbst (W. Koch 37) , Fig. 16).
Die Entstehung der Meningocele dürfte der Erklärung am meisten
Schwierigkeit verursachen ; aus dem oben näher beschriebenen Verhalten des
Sackes zu Nervenwurzeln oder dem Filum terminale ist wahrscheinlich, dass
hier ein ähnlicher Vorgang stattfindet, wie dort am ganzen Rückenmark , nur mit
dem Unterschied, dass hier die Verwachsung (resp. unvollkommene Trennung) nicht
immer zwischen Nervensubstanz und Hornblatt stattfindet, sondern dass Theile des
mittleren Blattes in Betracht kommen.
Was die Entstehung der Rhachischisis betrifft, so müssen wir annehmen,
dass hier verschiedene Dinge eine Rolle spielen können ; ein hydropischer Zustand
des Med u Harr ohrs, Lageveränderungen der Wirbelsäule (Knickung des Embryonal-
körpers), Verwachsung des Amnion, mangelhafte Trennung der Medullarplatte von
dem Hornblatt und Bestehenbleiben des flächenhaften Zustandes der ersteren.
Welchem dieser Momente eine grössere Rolle zuzuschreiben ist, das wird in den
einzelnen Formen der Rhachischisis verschieden sein und lässt sich für alle über-
haupt noch nicht sicher entscheiden.
Ein primärer Hydrops des Medullarrohrs in der ganzen Ausdehnung des-
selben mit nachträglichem Zerplatzen ist unserer Meinung nach der seltenste
Fall. Auch ist dieser Zustand kaum geeignet, die Entstehung der so constanten
Lordose der Halswirbel zu erklären, welche auf eine stärkere mechanische Zug-
wirkung hindeutet, als sie durch die einfache hydropische Ausdehnung eines so
zarten Gebildes, wie das Medullarrohr, ausgeübt werden kann. *)
*) In dem Artikel „Missbildungen" habe ich. für die Entstehung der Anencephalie
und Rhachischisis mit Adermie Verwachsungen des Amnion mit der Oberfläche des Embryo
in Anspruch genommen (pag. 118 unten und pag. 135) Vielleicht habe ich diese Hypothese
in eine etwas zu bestimmte Form gekleidet ; denn es handelt sich eben nur um eine Hypo-
these, so lange die directen Beobachtungen des Zustandes in frühester Zeit fehlen. Das
ebendaselbst angeführte Citat von Dar est e ist insofern nicht ganz zutreffend, als nach der
Meinung von Dareste bei der Anencephalie weniger eine Verwachsung mit dem Amnion,
als vielmehr eine Hemmungsbildung der Kopfkappe eine Rolle spielt. Ich bemerke dies, um
ein Missverständniss zu vermeiden. Perls hat sich der Ansicht vonDareste angeschlossen
(Lehrb. der allgem. Pathol. II, pag. 283). Die schematische Darstellung, Missbildungen,
Fig. 17 B, bezieht sich zunächst nur auf die Exencephalie und soll zur Erläuterung der Fig. 18, 19
dienen, wie auch im Text angegeben ist und wie ich gegen die Einwendungen Ahlfeld's39)
(pag. 291) hervorhebe.
Was die Zeit betrifft, in welche die Entstehung der Missbildung zu verlegen ist,
so mache ich in dieser Beziehung einen Unterschied zwischen Acra nie mit Anenceph alie
und Acranie mit Exencephalie; in Betreff der ersteren nahm ich als Ursache der
Hemmungsbildung eine Verwachsung des Amnion mit der Oberfläche des Embryo an , „und
zwar in einer sehr frühen Zeit, in welcher das Medullarrohr als solches noch nicht aus-
gebildet war" (daselbst pag. 135); für die letztere dagegen „zu einer Zeit, in welcher bereits
das Gehirn seine Ausbildung zum Theil erlangt hatte" (pag. 136). Die Erklärung der gleich-
zeitigen Rhachischisis bei Anencephalie betrachtete ich als Folge einer auf dem Rückentheil
des Embryo ausgedehnten amniotischen Verwachsung (pag. 118, 138).
Für die Exencephalie ist die Entstehung durch Verwachsung mit dem Amnion
durch sehr zahlreiche Beobachtungen ausser Zweifel; in Bezug auf die Anencephalie mit
Rhachischisis ist mir die Hauptsache die Bildungshemmung zu einer Zeit, in welcher das
Medullarrohr noch nicht geschlossen war, möglich, dass den amniotischen Ver-
wachsungen hierbei eine zu grosse Rolle eingeräumt wurde und dass auch andere
mechanische Momente mit in Betracht kommen. Gegenüber dem Einwände Ahlfeld's, dass
die obige Hypothese die gleichzeitige Spaltbildung von Kopf und Rücken nicht erklären
würden , möchte ich vielmehr hervorheben , dass die Annahme eines frühzeitigen Hydrops
hierzu noch viel weniger geeignet ist. Gerade die Fälle von Schlegel39) (Taf. 48, 1) und
618 SPINA BIFIDA.
Cornplicationen und Folgezustände der Sp in a b ifid a.
Es können hier nur die cystischen Formen berücksichtigt werden, da bei der
Rhachischisis das extrauterine Leben unmöglich ist und die diese Missbildung
begleitenden Zustände daher lediglich theoretisches Interesse haben.
Im Vordergrund stehen selbstverständlich die Störungen von Seiten des
Nervensystems. Sehr häufig ist gleichzeitig mit Spina bifida Hydrocephalus vor-
handen, entweder angeboren, oder kurz nach der Geburt entstanden. Es erklärt
sich dies wahrscheinlich in der Weise, dass bei dem Vorhandensein einer ungewöhn-
lich nachgiebigen Stelle der Wand des Spinalcanals eine stärkere Transsudaten
von Cerebrospinalflüssigkeit stattfindet (deren Ort wahrscheinlich allein in den
Plexus chorioidei zu suchen ist). Wird nun gegen Ende des intrauterinen oder
im Beginn des extrauterinen Lebens die Wand des Sackes der Spina bifida
derber, hauptsächlich durch die fortschreitende Ueberhäutung, so hält zwar die erhöhte
Transsudation noch an , aber sie führt weniger zur Ausdehnung des Sackes der
Spina bifida, als zur Erweiterung der Hirnventrikel und Ausdehnung der Nähte.
Am deutlichsten ist dies in solchen Fällen zu beobachten, in welchen ein gewisses
Wechselverhältniss zwischen der Spina bifida und dem Hydrocephalus besteht.
War nämlich, wie das nicht selten vorkommt, die Spina bifida vor der Geburt
offen, so dass ein allmäliges Aussickern der Flüssigkeit stattfindet und es tritt
nun allmälig die Vernarbung des Sackes ein , so entwickelt sich gleichzeitig der
Hydrocephalus. In einem derartigen Falle , welchen ich in Halle zu beobachten
Gelegenheit hatte, erreichte der Hydrocephalus nach dem Aufhören der Absonderung
aus der Spina bifida einen enormen Umfang. Ein ganz analoger Fall wird von
Morgagni citirt 6) §. 9. Umgekehrt beobachtet man bei der Entleerung der Cyste
der Spina bifida bei bereits bestehendem Hydrocephalus ein Zusammensinken
desselben und andererseits bei Druck auf die noch nicht eröffnete Geschwulst
zuweilen ein deutliches Anschwellen der Fontanellen.
Sehr merkwürdig ist die Beobachtung von Genga und Lancisi , welche
bei einem hydrocephalischen Knaben nach einem Monat eine Spina bifida zur
Entwicklung kommen sahen (welche selbstverständlich schon vorher vorhanden
gewesen war), nach deren Function die Flüssigkeit bei Druck auf den Kopf
hervorsprudelte, worauf Heilung eingetreten sein soll (Morgagni).
Eine der häufigsten Begleiterscheinungen der Spina bifida der ver-
schiedensten Art sind Schwächezustände, Lähmungen der Extremitäten, besonders
aber Contracturen und die daraus folgenden Deformitäten, besonders Klumpfuss-
bildung. Diese können unter Umständen für die Diagnose von grosser Wichtigkeit
sein, da sie zuweilen das einzige Symptom bilden, welches auf eine Affection des
Nervensystems hindeutet. Bei der Spina bifida lumbo-sacralis höheren Grades
sind nicht selten beide unteren Extremitäten deformirt, zuweilen stark verkrümmt
und kreuzweise übereinander nach aufwärts geschlagen, wobei zuweilen auch
angeborene Luxationen im Hüftgelenk vorkommen. In anderen Fällen beschränkt
sich die Deformität auf den einen Fuss, welcher dann, wenn das Leben erhalten
bleibt, dauernd schwächer und verkürzt sein kann. Dass dies nicht blos bei der
eigentlichen Myelocele, sondern auch in Folge einer Meningocele der Fall sein
kann, lehren die Beobachtungen von Förster, Kroner und Marchand u. A.
Auch die Spina bifida cervicalis kann mit analogen Functionsstörungen
der oberen Extremitäten verbunden sein, wie in dem bekannten Fall von Sandifort
berichtet wird.
Gelegentlich werden noch anderweitige Innervationsstörungen erwähnt,
Lähmungen der Sphincteren der Blase und des Rectum, Incontinenz des Urins.
Rudolphi (Taf. 42, 2), welche beide übrigens wahrscheinlich denselben Embryo betreffen,
der zweite von Rudolph i (Taf. 43 , 2), endlich der sehr bemerkenswerthe von Tie de-
in an n (Taf. 48, 14, 15), welche Formen des embryonalen Hydrocephalus darstellen, würden
niemals die typische Anencephalie zur Folge haben können. Die beiden zuletzt erwähnten
beschränken sich sogar auf die Scheitelgegend.
SPINA BIFIDA. 619
Anderweitige Missbildungen kommen in Gemeinschaft mit Spina bifida
nicht selten vor , namentlich im Bereiche des unteren Abschnittes des Rumpfes.
Dahin gehören Anus imperforatus , Spaltungen der vorderen Bauch wand, Ectopie
der Harnblase u. s. w.
Verlauf und Ausgänge. Bei weitem in den meisten Fällen führt
die Spina bifida in kurzer Zeit zum Tode. Ist die Geschwulst vollständig über-
häutet, so ist der gewöhnliche Gang der, dass dieselbe nach der Geburt allmälig
mehr ausgedehnt und gespannt wird, dass die Haut sich erodirt, wozu Unreinigkeit
und Rückenlage das Ihrige beitragen, endlich gangränös wird und dass nun an
einer Stelle ein Durchbruch erfolgt. Hat der Abfluss des Inhaltes einige Tage
gedauert, so treten nervöse Erscheinungen auf, Sopor, Convulsionen und Tod.
Dasselbe ist in der Regel der Fall bei der offenen Spina bifida. Zuweilen platzt
der Sack bei der Geburt des Kindes, worauf dann sehr bald der Tod erfolgt.
In anderen Fällen kann der begleitende Hydrocephalus den Tod beschleunigen.
Selbstverständlich hängt der Verlauf sehr wesentlich ab von der Art der Be-
theiligung des Rückenmarks ; die eigentliche Myelocele wird die ungünstigste
Prognose geben, während in solchen Fällen, in welchen der Sack lediglich durch
die Häute gebildet wird und nur durch eine enge Oeffnung mit dem Spinalcanal
zusammenhängt, das Leben am längsten erhalten
Flg- 53, bleiben kann. Ein Knabe mit Spina bifida cervicalis,
welchen Sandieort7) abbildet (Taf. 193), starb
erst im 13. Lebensjahre. Am günstigsten sind die
Fälle von reiner Meningocele, welche am unteren Ende
des Rumpfes vorkommen ; wir besitzen mehrere der-
artige Beobachtungen, in welchen ein Alter von 17,
20 und mehr Jahren erreicht wurde (auffallend
häufig beim weiblichen Geschlecht; vgl. die oben
angeführten Fälle). Aber auch in diesen erfolgte der
Tod, sei es in Folge der spontanen Ruptur des
Sackes, oder in Folge von Trauma, welches gelegent-
lich Anlass zum schnelleren Wachsthum des Sackes
wurde.
Sehr selten wird eine so lange Lebensdauer
bei der Spina bifida lumbo-sacralis beobachtet, weil
es sich hier in der Regel um ausgebildete Myelocele
handelt.
Die beistehende Abbildung nach einer Photo-
graphie, welche ich der Güte des Herrn Prof. Riegel
verdanke, zeigt eine kleine Spina bifida sacralis
Kleine Spina bifida sacralis, bei einem Manne von 22 Jahren, welcher vor
von einem Manne von 22 Jahren. einiger Zeit auf «jer medicinischen Klinik zu Giessen
Nach einer Photographie. beo£aclltet wurde. Das linke Bein des Manues ist
etwas kürzer und schwächer als das rechte, dem entsprechend steht der rechte Darm-
beinkamm etwas höher als der linke. Die Geschwulst fühlte sich weich, fluctuirend
an, bei stärkerem Druck auf dieselbe empfand der Kranke Schmerz, der in das
linke Bein ausstrahlte; ausserdem bestand Harnträufeln. Man konnte an der
Basis der Geschwulst einen rundlichen Defect in der Gegend des 2. Sacral wirbeis
durchfühlen.
In seltenen Fällen wird eine Art Spontanheilung der Spina bifida beob-
achtet, welche selbstverständlich nicht eine vollständige Beseitigung des üebels,
wohl aber eine Obliteration des Sackes und der Communication desselben mit dem
Spinalcanal herbeiführen kann. Fälle dieser Art sind von Crampton, Camper,
Ferris, Hewett und v. Bärensprung mitgetheilt. 10)
Die Beobachtung des Letzteren betraf ein Kind, welches bei der Geburt in der
Gegend der oberen Biustwübel einen häutigen Sack von 2 Zoll Durchmesser und etwas
620 SPINA BIFIDA.
schmälerer Basis trug. Der Sack war gefallet und schlaff, enthielt offenbar keine Flüssigkeit;
man fühlte in der Tiefe einen kleinen Defect in der Gegend des Dornfortsatzes des 3. Brust-
wirbels. Im Alter von fünf Monaten erkrankte das Kind an einen Darmcatarrh ; während
dieser Erkrankung wurde die Haut des Sackes empfindlich, erodirt und endlich gangränös,
doch reinigte sich das Geschwür. Indess starb das Kind bald darauf im Alter von sechs
Monaten an einer heftigen Coryza. Bei der anatomischen Untersuchung zeigte sich, dass die
Geschwulst keine Flüssigkeit enthielt, sondern aus einer festen fibrösen Substanz in Form
einer Scheibe von 2 Zoll Durchmesser und ' */a Zoll Dicke bestand. Von dieser fibrösen Masse
ging ein hohler Stiel in die "Wirbelspalte hinein, der eine Fortsetzung der Rückenmarkshäute
darstellte. Das Rückenmark zeigte an der betreffenden Stelle eine stumpfe, kegelförmige
Anschwellung, deren Spitze in die Wirbel spalte hineinragte und von der Arachnoidea
umschlossen war, welche ihrerseits den hohlen Stiel von innen auskleidete. Die Anschwellung
des Rückenmarks bestand hauptsächlich aus einer Zunahme der grauen Substanz.
Wenn auch in diesem Falle der Tod des Kindes erfolgte, so zeigt doch
das anatomische Verhalten der Spina bifida sehr deutlich, in welcher Weise dieser
Zustand zur Heilung gelangen kann.
Ich selbst war vor einiger Zeit in der Lage, die unzweifelhaften Reste
einer derartigen vollständig verheilten Spina bifida cervicalis als zufälligen
Befund an der Leiche einer älteren Frau zu constatiren (noch nicht publicirte
Beobachtung).
Therapie der Spina bifida. Aus dem Vorhergehenden dürften
sich die Grundsätze zur Genüge ergeben, welche bei der Behandlung der Spina
bifida maassgebend sein müssen. Im Allgemeinen darf man wohl noch immer die
Warnung des Tulpius gelten lassen: „ne tumorem hunc improvide aperiant
chirargi, sed vitent obm'oci ignonimiam, infallibiliter inde ij>sis eventuram /"
Die älteren Autoren sind alle darüber einig, dass der Tod fast stets erfolgt, wenn
die Spina bifida eröffnet wird.
Die Ursache des Todes ist dabei in den meisten Fällen nicht die Menin-
gitis, die sowohl in Folge der spontanen Perforation als der Punction eintreten
kann, sondern augenscheinlich die directe Einwirkung auf das Nervensystem durch
den Abfluss der Cerebrospinalflüssigkeit. Es ist von grossem Interesse, dass zu-
weilen unmittelbar nach der Entleerung der Cyste durch die Punction tiefer
Schlaf, Sopor eintritt (Ranke, Hofmokl) , welcher vorübergeht, wenn sich die
Flüssigkeit wieder ansammelt und die intracraniellen Druckverhältnisse wieder
dieselben geworden sind. In der Regel erfolgt die Wiederfüllung der Cyste sehr
bald, schon am folgenden Tage nach der Punction, so dass der Erfolg derselben
ein sehr vorübergehender ist. A. Cooper hat häufig wiederholte Acupunctur vor-
geschlagen, wohl hauptsächlich in der Absicht, um zugleich mit der Entleerung
eine adhäsive Entzündung im Innern der Cyste zu erzeugen. Die Application des
Haarseils sollte wohl dasselbe beabsichtigen, war aber stets von üblem Erfolge
begleitet. In neuerer Zeit ist die Injection einer verdünnten Jodlösung in die
Cyste empfohlen worden, und nach den Angaben verschiedener Aerzte mit sehr
gutem Erfolg, selbst in solchen Fällen von Spina bifida htmbo-socralis , in
welchen das Rückenmark in den Sack eintrat (cf. Hofmokl 30). Aber es ist ohne-
weiters ersichtlich , dass ein solcher Erfolg höchstens ein sehr vorübergehender
sein kann, denn gerade in jenen Fällen dürfte die Anwesenheit von Flüssigkeit
in der Umgebung des adhärenten Rückenmarks noch am besten geeignet sein,
dasselbe vor Läsionen zu schützen, ganz abgesehen von anderen Folgezuständen,
welche die Obliteration des Sackes begleiten können. Eine solche ist nur rationell
zu erstreben in Fällen, in welchen man sicher sein kann, dass die Höhle nur
Flüssigkeit enthält, und durch eine sehr enge Oeflfnung (oder durch einen bereits
obliterirten Canal) mit dem Spinalcanal in Verbindung steht. Aber dies zu ent-
scheiden ist leider sehr schwierig. Dass auch die Exstirpation des Sackes mit
Vortheil ausgeführt werden kann, ist einleuchtend, es fragt sich aber dennoch,
ob es nicht rathsam ist, die in solchen Fällen harmlose Geschwulst sich selbst
zu überlassen und einfach vor Schädlichkeiten durch Druck und Stoss zu schützen.
Der Versuch, einen solchen Sack abzubinden, wenn man nicht ganz genau weiss,
SPINA BIFIDA. 621
was darin ist , ist selbstverständlich verwerflich genug, wird aber nichtsdesto-
weniger hie und da aus Unkenntniss der anatomischen Verhältnisse unternommen.
Wie sehr diese Unkenntniss sich rächt, zeigt die casuistische Literatur der Spina
bifida zur Genüge , und der alte Tulpius war zu seiner Warnung vollkommen
berechtigt.
Wernitz hat in seiner sehr fleissigen Dissertation34) (pag. 91) 153 Fälle
von Spina bifida, welche einer verschiedenen Behandlung unterworfen wurden, zu-
sammengestellt. Es wurden behandelt :
Mit Compression .... 4 davon geheilt 4 gestorben —
„ Punction 57 „ „ 17 „ 40
„ Injection 55 „ „ 42 „ 13
„ Ligatur 16 „ „ 10 „ 6
,, Incision 5 „ „ 2 „ 3
„ Excision 8 „ „ 6 „ 2
„ Amputation ..... 5 „ „ 4 „ 1
Plastische Operation . . . 3 „ „ 1 „ 2
153 davon geheilt 86 gestorben 67.
Indess berechtigt diese verhältnissmässig günstige Zahl der geheilten
Fälle zu keinen besonderen Hoffnungen, da erstens die ungünstig verlaufenen
Fälle nicht alle veröffentlicht zu werden pflegen, und zweitens die Beobachtungs-
zeit meist eine zu kurze ist und das endgiltige Resultat selten mitgetheilt wird.
Ausserdem sind die Formen der Spina bifida prognostisch sehr different.
Die therapeutischen Grundsätze, welche W. Koch 37) (pag. 55) ver-
tritt, sind gewiss sehr gerechtfertigt: „Es wird sich für den Arzt zunächst
darum handeln, eine von derber fester Haut bedeckte, nur allmälig sich aus-
dehnende Geschwulst zu beseitigen, d. h. bis womöglich gegen das Niveau der
Bruchpforte zurückzuführen, aus deren unvermeidlicher Compression, Zerrung u. s. w.
eine gefährliche Steigerung des intracraniellen Druckes , andererseits eine auf die
Dauer nicht gleichgültige mechanische Beleidigung des Conus medullaris sich
ergeben müsste." Voraussichtlich genügen diese Forderung zu erfüllen :
1. Methodische und vorsichtige Compression der Geschwulstoberfläche.
2. Injection solcher Mittel in das Parenchym, nicht in der Höhle
der vorgelagerten Cystenhüllen , welche Schrumpfung derselben zu Wege bringen
(Jodjodkaliumlösung).
3. Wiederholte Ausrottungen von zungenförmigen Streifen aus der Haut
des Myelocelesackes an der Basis und den Seitentheilen , unter Vermeidung
der Verletzung der Dura.
In Fällen, in welchen in der Mitte der Spina bifida ein Substanz-
verlust vorhanden ist, ist nach Koch zum Schutze des freiliegenden Conus
medullaris die Plastik geboten.
Literatur: *) Nie. Tulpii, Observationes medicae. Amstelodami 1641 (Ed. nova
1672)- — 2) Ferd. ßuyschii, Observationum med. chir. Centuria. Amstelodami 1691.
Observ. 34, 35, 36. — s) Joh. Lud. Apini, De Spina bifida. Observ. 153- Miscell.
s. Ephemerid. Äcad. Caes. Leopold, nat. curios. Dec. III. Ann. IX. 1702. — 4) Godofr.
Dav. Mayeri, Obs. 127. Ephemerid. Ac. Caes. Leopold. Centuria. I, II, 1712. —
5) JobnBudgen, Philosophical Transactions. Nr. 410 (1724). — 6i J. B. Morgagni,
De sedibus et causis morborum. Lib. I. Ep. XII, 9—16. (Beobachtung a. d. J. 1745)
1761. — 7) Gerhard Sandif ort, Museum anatomic. acad. Lugd. Batav. 1793 — 1835. —
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— 9) J. Fr. Meckel, Patholog. Anatomie. Bd. I, 1812. — 10) A. F. Möckel, De Eydro-
rhachitide. Commentatio path.-chir. Lips. 1822. — ") Ollivier, Krankheiten des Rücken-
marks. 1824. Uebersetzt von Radius. — 12) Cruveilhier, Anatomie pathologique. Paris
1824—1842. Livr. VI, PI. 3. Livr. XVI und XIX, PL 5-6. Livr. XXXIX. — 1S) Isidor
Geoffroy St. Hilaire, Traite de Teratologie. Bd. I. Paris 1837. — 14) Natorp, De
spina bifida. Dissert. inaug. Berol. 1838. — 15) Svitzer im Archiv f. Anat. und Physiol.
v. J. Müller, 1839 — 16) v. Ammon, Die angeborenen chirurgischen Krankheiten des
Menschen. Berlin 1842. — 17) Fr. Küster, De spina bifida disquisitio. Diss. inaug.
Gryphiae 1842. — ls) C. E. Levy, Archiv für Anatomie und Physiologie von J. Müller,
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Bd. V. 1872, pag. 308. — 2S) J. Rembe, Beitrag zur Lehre von der "Wirbelspalte.
Erlangen 1877. — 2P) J. Ranke, Tageblatt der Naturforscher- Versammlung , München 1877
und Jahrbuch der Kinderheilkunde, 1878, Bd. XII. — M) Hofmok], Wiener med. Jahr-
bücher 1878. — 31) Dareste, Productiou arlificielle des ntonstruosite'i. Paris 1877. — Der-
selbe, Comptes rendus de l'Acad. des Sc. Paris 1879, 15. Dec. — S2) Morel, Archives de
Tocologie. 1878, pag. 626. — 3S) Hugenberger, Archiv für Gynäkologie. Bd. XIV. 1879,
pag 1. — 34) Wernitz, Spina bifida. Dissert. inaug. Dorpat 1880. — 35) Krön er und
Marchand, Archiv für Gynäkologie. Bd. XVII, 3, 1881. — 36) Tourneux et
Martin, Journal de l'anat. et de la physiol. 1881, pag. 1, pag. 283. — 87) "W. Koch,
Mittheilungen über Fragen der wissenschaftl. Medicin, Heft I. Beiträge zur Lehre von
der Spina bifida. Cassel 1881. — 88) A. Lebedeff, Virchow's Archiv. Bd. LXXXVJ,
pag. 263, 1881. — 39) Ahlfeld, Die Missbildungen des Menschen. 2. Lief., Leipzig 1882.
Marchand.
Spina ventosa, s. „Gelenkentzündung", V, pag 672.
Spiiialirritation, vgl. „Neurasthenie", IX, pag. 559.
Spinallähmung, Spinalparalyse würde etymologisch jede von einer
organischen oder functionellen Erkrankung der Medulla spinalis abhängige
motorische Lähmung genannt werden können. Wenn aber bei mehr oder minder
erheblicher Leitungsunterbrechung des Rückenmarks, sei es durch Compression
oder durch transversale oder diffuse Myelitis oder Sclerose oder anderweitige
Texturerkrankungen (Hämatomyelie, Tumoren, Tuberkel u. s. w.), der sich aus
Lähmungserscheinungen, Sensibilitätsstörungen, Störungen der Blasenfunctionen,
später Decubitus u. s. w. zusammensetzende Symptomencomplex der Paraplegia
spinalis (vgl. Bd. X, pag. 319 und Bd. IX, pag. 372—376) oder bei halb-
seitiger organischer Erkrankung die Bd. VI, pag. 239 u. ff. als „Halbseitenläsion
des Rückenmarks" behandelte Hemiparaplegia spinalis (typische Com-
bination von gleichseitiger Lähmung und Hyperästhesie mit gekreuzter Anästhesie)
beobachtet wird, so ist hierfür die Bezeichnung „Spinallähmung" nicht wohl
gebräuchlich. Vielmehr wird als Spinallähmung sensu strictiori nach der gang-
baren neuropathologischen Nomenclatur eine wesentlich rein motorische Läh-
mung bezeichnet, zunächst um ohne Präjudiz über den anzunehmenden anatomi-
schen Process und seine specielle Localisation im Rückenmark ihre spinale
Pathogenese auszudrücken, womit für manche anatomisch und klinisch noch
nicht weiter bekannte Lähmungsformen ihre topische Diagnostik bisweilen erledigt
ist. Durch ein Epitheton kann eine Spinallähmung weiter als schlaffe (flaccide)
oder atrophische (amyotrophische) oder spastische (rigide) zu einer
bestimmten symptomatologischen Form charakterisirt werden, auch ohne
Rücksicht auf die Entstehung und den Verlauf, meist aber schon im Hinblick auf
eine muthmassliche Localisation des Processes sowohl im Längs- als Querschnitt
des Rückenmarks gemäss bekannter functioneller Dignität seiner Abschnitte. Auch
werden diese symptomatologischen Bezeichnungen bei weniger strenger Definition
der Spinallähmung wohl auch zur Skizzirung der verschiedenen Lähmungs-
varietäten der gemischten motorisch-sensiblen Paraplegie und Paraparese verwendet.
Noch enger werden aber gewöhnlich unter den Bezeichnungen atrophische
und spastische Spinallähmung bestimmte klinische Krankheits-
formen verstanden und aus denselben weiterhin mit mehr oder minder Sicherheit
sowohl auf einen bestimmten anatomischen Process im Rückenmark als namentlich
auf entsprechende Localisation desselben im Rückenmarksquerschnitt (eine System-
erkrankung) geschlossen.
Bei dieser etwas schwankenden Definition der Spinallähmung soll dieser
Artikel zunächst ihre klinischen Erscheinungsformen namentlich für das praktisch-
SPINALLÄHMUNG. 623
diagnostische Bedürfniss darstellen, unter Hinweis auf die entsprechenden, meist
vom anatomischen Eintheilungsprincip ausgehenden Rückenmarks-Artikel dieses
Werkes , und so eine Ergänzung derselben bilden. Dann sind aber hier noch
einige Lähmungsformen anzureihen, deren spinale Pathogenese zwar höchst wahr-
scheinlich ist, für welche aber deckende anatomische Befunde nicht oder noch
nicht genügend vorliegen und zuweilen auch nicht einmal aus einer speciellen
symptomatologischen Lähmungsform erschlossen werden können (die acute
LANDRY'sche Paralyse, die secundären Spinallähmungen, d. h. die
Reflexlähmungen, Spinallähmungen nach acuten Krankheiten u. s. w.).
I. Atrophische Spinallähmung.
Behufs der allgemeinen Begriffsbestimmung der atrophi-
schen Spinallähmung ist von der atrophischen Lähmung überhaupt
auszugehen, als welche jede Paralyse oder Parese zu bezeichnen ist, in deren
Verlauf Atrophie der gelähmten Muskeln eintritt. Dabei kommt aber diejenige
verhältnissmässig geringe Muskelabmagerung nicht in Betracht, welche auch bei
cerebralen und spinalen und leichten peripheren Leitungslähmungen (vgl. Bd. X,
pag. 318) gewöhnlich nur mit leichter Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit
(vgl. Elektrodiagnostik, Bd. IV, pag. 422) vorkommt, sondern wesentlich die de ge-
nerative Atrophie, welche sich durch ihre rapidere Entwicklung, meist auch
durch Schmerzhaftigkeit der Muskeln auf Druck, namentlich aber durch den ab-
normen elektr o -diagnostischen Befund der Entartungsreaction
der galvano-muskulären Erregbarbeit bei aufgehobener oder herabgesetzter Nerven-
erregbarkeit für beide Stromesarten kennzeichnet (vgl. Bd. IV, pag. 423 — 427).
Die Unterscheidung einer ausgebildeten atrophischen Lähmung von einer
primären Muskelatrophie ist bisweilen schwierig, wird aber zunächst durch die
Anamnese ermöglicht, indem bei der atrophischen Lähmung die Paralyse allemal der
Atrophie vorausgeht, während bei der genuinen Muskelatrophie die motorische
Schwäche nur mit dem Verlust an Muskelsubstanz Schritt hält. Ferner bleibt bei
der Muskelatrophie die faradische Erregbarkeit der vorhandenen Muskulatur propor-
tional erhalten (vgl. Bd. IV, pag. 422 und Bd. IX, pag. 342), während bei der
atrophischen Lähmung der Muskelschwund hinter der verhältnissmässig viel grösseren
Alteration der Nervenerregbarkeit und faradischen Muskelerregbarkeit zurück-
bleibt. Auch ist die zuweilen bei Muskelatrophie beobachtete partielle Entartungs-
reaction (Bd. IV, pag. 426) niemals so exquisit entwickelt wie bei atrophischer
Lähmung, so dass also schwere und schwerere Mittelform der Entartungsreaction
mit grosser Wahrscheinlichkeit für letztere spricht.
Atrophische Lähmung in dem eben definirten Sinne kommt nach
unseren jetzigen Kenntnissen nur vor bei anatomischen Erkrankungen
der peripheren motorischen Nerven (vgl. Neuritis, Bd. IX, pag. 588) gelegentlich
Ibis zu den motorischen Wurzeln aufwärts oder hei Rückenmarkserkran-
kungen, welche ihren intramedullären Verlauf oder häufiger die grauen
Vordersäulen, insbesondere die in ihnen gelegenen multipolaren Ganglienzellen
als Kernregionen der gelähmten Muskelnerven betheiligen. Dabei ist der ana-
tomische Process als solcher gleichgiltig, wenn er nur im Gegensatze zu der
chronischen parenchymatösen sklerosirenden Atrophie der progressiven Muskel-
atrophie (vgl. Bd. IX, pag. 350) mit einer gewissen Acuität die vordere graue
Substanz afficirt , indem die verschiedensten anatomischen Erkrankungen [Myelitis
transversa und diffusa (Bd. IX, pag. 385), Poliomyelitis anterior (Bd. VII,
pag. 376 und Bd. XI, pag. 3), Hämatomyelie (Bd. VI, pag. 188), Rückenmarkstumoren
(Bd. IV, pag. 426), neuerdings auch Tuberkel (Zunker1)] als anatomische Basis
atrophischer Spinallähmungen gefunden worden sind. Der häufigeren Localisation
der entweder doppelseitig als Paraplegie oder einseitig als Monoplegie
auftretenden atrophischen Spinallähmung an den Unterextremitäten entsprechend,
betreffen die meisten Befunde die Lendenanschwellung, sind aber auch bei der
ebenfalls doppelseitig (Diplegia brachialis) oder einseitig (Monoplegia brachialis)
624 SPINA LL AHMUNG.
vorkommenden atrophischen Spinallähmung der Oberextremitäten in der Cervical-
anschwellung constatirt worden (vgl. Bd. XI, pag. 5). In dieser Beziehung besonders
lehrreich sind zwei von mir -) beschriebene Fälle, in welchen beide Male nach
Sturz aus bedeutender Höhe an den Unterextremitäten sich der für eine Halb-
seitenläsion des Rückenmarks charakteristische Symptomencomplex der Hemi-
paraplegia spinalis zugleich mit partieller degenerativ- atrophischer Lähmung der
dem gelähmten und hyperästhetischen Bein entsprechenden Oberextremität ent-
wickelt hatte. Mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte eine halb-
seitige Hämatomyelie im untersten Theil der Cervicalanschwellung sowohl die halb-
seitige Leitungsstörung des Rückenmarks als durch Betheiligung der entsprechenden
Kerne der Vordersäulen die partielle atrophische Armlähmung bewirkt. Es war
hier also die BROWN-SEQUARD'sche Lähmung der Unterextremitäten gewisser-
maassen der klinische Ausweis für die spinale Pathogenese der atrophischen
Lähmung der einen Oberextremität, welche sonst allenfalls auch peripheren
Ursprungs, z. B. durch Plexusläsion, hätte sein können. In der That bietet
nämlich die Diagnose der atrophischen Lähmung überhaupt bei sachgemässer
elektrodiagnostischer Untersuchung kaum eine Schwierigkeit , während die
Differentialdiagnose zwischen einer peripheren (neuritischen)
atrophischen Lähmung und atrophischen Spinallähmung sehr
schwierig, wenn nicht unmöglich sein kann (vgl. Bd. IX, pag. 590 und
weiter unten).
Je nachdem die atrophische Spinallähmung sich als reine in Folge pri-
märer und ausschliesslicher Erkrankung der vorderen grauen Substanz (Poliomyelitis
anterior) entwickelt oder als Theilerscheinung (secundär) zu anderen Rücken-
marksaffectionen (diffuser Myelitis , Strangsklerose) , gelegentlich auch zu Tabes
(Bernhardt3) hinzutritt, kann dieselbe in eine protopathische und deu tele-
pathische Form classificirt werden, welche letztere sich vielfach mit den von
Charcot 18) aufgestellten deuteropathischen spinalen Amyotrophien (vgl. Bd. IX,
pag. 349) decken dürfte (E. Remak 4).
Von den speciellen klinischen Krankheitsbildern der atro-
phischen Spinallähmung ist ihr Prototyp , die verhältnissmässig häufigste,
dem kindlichen Alter eigenthümliche , acut entstehende Form als spinale
Kinderlähmung, bereits Bd. VII, pag. 375 u. ff. abgehandelt worden, auf
welchen Artikel hier zu verweisen ist.
Nachdem vorher schon M. Meyer5) von Erwachsenen zwei nach
Masern entstandene einschlägige Fälle bei Zwillingen beschrieben hatte, war es
Duchenne 6) , welcher auf Grund eigener klinischer Beobachtungen von der
spinalen Kinderlähmung, namentlich durch den Verlust der faradischen Erregbar-
keit, analogen Lähmungsformen bei Erwachsenen zuerst drei ziemlich gut charak-
terisirte klinische Krankheitsbilder aufstellte und in der später zum Theil bestätigten
Voraussicht, dass auch diesen Fällen degenerative Alterationen der grauen Vorder-
säulen des Rückenmarks zu Grunde liegen würden, mit folgenden für sich selbst
sprechenden, etwas langathmigen Bezeichnungen belegte: 1. Paralysie spinale
aigue de Vadulte (par atrophie des cellides anterieures de la moelle) ; 2. Para-
lysie generale spinale anterieure subaigue; 3. Paralysie generale diffuse sub-
aigue. Davon hat die zuletzt genannte Krankheitsform, meist schlechter Prognose,
bei welcher die atrophische Lähmung der Extremitäten bei den complicirenden
Sensibilitätsstörungen , der Betheiligung der Blasenfunctionen und Reflexerregbar-
keit, gelegentlichen Contracturen , Decubitus u. s. w. als Theilerscheinung einer
transversalen oder diffusen acuten oder subacuten Myelitis aufzufassen ist, ent-
sprechend dem im Eingange dieses Artikels erörterten Sprachgebrauch der „Spinal-
lähmung" ihr Bürgerrecht in der Rückenmarkspathologie nicht zu behaupten
vermocht. Dagegen hat sich namentlich die erste, auch anatomisch am besten
erhärtete Form (vgl. „Poliomyelitis", Bd. XI, pag. 4) als „acute Spinallähmung",
besonders nachdem durch den Nachweis der galvanomuskulären Entartungsreaction
SPINALLÄHMUNG. 625
(Bernhardt 7) , Erb &) u. A.) ihre klinischen Kriterien gegenüber anderen
Lähmiingsformen vermehrt waren, immer schärfer abgegrenzt und durch Westphal 9)
die besonders prägnante Bezeichnung „acute atrophische Spinallähmung"
erhalten. Ihr reiht sich als zweite Form naturgemäss die subacute oder
chronische atrophische Spinallähmung (Erb10) an. Es haben diese
rein klinischen Bezeichnungen vor den anatomischen, als Poliomyelitis anterior
(acuta und subacuta) (Kussmaul n) den Vorzug, dass sie bei der oben angedeuteten
Möglichkeit verschiedenartiger anatomischer Processe im Rückenmark diesen selbst
bei der klinischen Diagnose in suspenso lassen.
1. Acute atrophische (amyotrophische) Spi nal lähmung (d er
Erwachsenen).
Als Aetiologie derselben ist viel häufiger als bei der spinalen
Kinderlähmung (vgl. Bd. VII, pag. 383) eine heftige Erkältung mit Be-
stimmtheit ermittelt worden, z. B. Schlafen im Schnee, nackt in Folge einer
Wette (Duchenne 6), Waten durch einen Fluss (Kussmaul 1X), kaltes Bad im erhitzten
Zustande (Althaus12) oder nach geschlechtlicher Aufregung (Miles13) u. s. w.
Rank 14) fand die Erkältung unter 36 von ihm zusammengestellten Fällen 25mal
(7O°/0), F. Müller15) unter 47 Fällen ebenfalls 25mal (53°/0) ausdrücklich ver-
merkt. Dagegen ist eine rheumatische Aetiologie in dem Sinne, dass
die Lähmuug bei sonst zu Polyarthritis rheumatica disponirten Individuen auftrat
und auf Salicylsäuregebrauch zurückging, nur von Litten 16) in zwei wahrschein-
lich nicht hierher gehörigen Fällen temporärer Lähmung beobachtet worden.
Seltener wurde Ueberanstrengung durch Märsche oder excessive Muskelarbeit
beschuldigt (Duchenne6). In 9 von den von F. Müller15) zusammengestellten
Fällen war die Lähmung ganz ohne ersichtliche Ursache aufgetreten. Die nach
den von M. Meyer 5) an Zwillingsbrüdern beobachteten Fällen zu vermuthende
hereditäre Prädisposition hat die Erfahrung nicht bestätigt, ebenso wenig
wie Syphilis, Tuberkulose u. dgl. eine sichere Rolle zu spielen scheinen.
Dagegen sind, wie bei der spinalen Kinderlähmung (Bd. VII, pag. 383), acute
Krankheiten als ätiologische Momente auch der acuten atrophischen Spinal-
lähmung der Erwachsenen insofern im Auge zu behalten, als wahrscheinlich
manche atrophische Lähmungen unklarer Pathogenese nach denselben, besonders
auch nach Puerperaler k rank un gen hierher gehören (Erb10).
Von den oben genannten ätiologischen Momenten hängt es wahrscheinlich
ab, dass die acute atrophische Spin all ähmung der Erwachsenen noch mehr als die
der Kinder das männliche Geschlecht bevorzugt (75% nach Rank11),
34 männliche auf 13 weibliche Fälle (F. Müller15), dass dieselbe, wenn auch
bis in die Sechziger hinauf auftretend, in der Mehrzahl der Fälle jüngere
Individuen bis zum 30. Jahre befällt (Duchenne0), Rank14), F.Müller15).
Symptomatologie. Nach Einwirkung einer der oben bezeichneten
Schädlichkeiten oder auch ohne dieselbe leiten das a c u t e Krankheitsstadium
gewöhnlich schwere Allgemeinerscheinungen ein. Es ist leicht ver-
ständlich, dass beim Erwachsenen das Initialfieber häufiger anamnestisch ermittelt
oder ärztlich beobachtet wurde (Duchenne 6), Kussmaul n), Erb 8), F. Schultze 17),
Charcot18), Rank14), F. Müller13) u. A.) und nach dem letztgenannten Autor
unter 47 Fällen nur 6mal gefehlt hat. Es kann mit Frost einsetzen, die Tempe-
ratursteigerung sehr erheblich sein, Oerebralerscheinungen, Kopfschmerz, Verdriess-
lichkeit, Reizbarkeit, Somnolenz, Betäubung, Delirien oder gastrische Symptome
(Uebelkeit und Erbrechen) können dasselbe begleiten und ihm einen typhoiden
Charakter verleihen. Ebenso wie seine Intensität ist seine Dauer wechselnd
zwischen 24 Stunden bis zu 2 Wochen oder mehr, berechnet sich nach einer Zu-
sammenstellung von F. Müller15) auf durchschnittlich 7 Tage, währt also erheb-
lich länger als bei der Kinderlähmung (vgl. Bd. VII, pag. 379) , während die
bei dieser vorkommenden Convulsionen beim Erwachsenen nicht beobachtet zu
sein scheinen.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 40
626 SPINALLÄHMUNG.
Mit diesen Störungen des Allgemeinbefindens gehen im Initialstadium sehr
viel häufiger als bei der spinalen Kinderlähmung (Bd. VII, pag. 381) spontane
Schmerzen im Verlauf des Rückens und Kreuzbeins (Duchenne6) u. A.), aber
auch im Bereich der später gelähmten Extremitäten (Erb 10) u. A.) einher, welche
sogar von F. Müller lf) als ziemlich constantes 1 — 14 Tage dauerndes Symptom
unter 47 Fällen 35mal angegeben wurden. Diese Schmerzen der Entwicklungs-
periode dürften weiterhin besondere Aufmerksamkeit verdienen, da Leyden 19)
auf Grund fremder und eigener anatomischer Beobachtungen von generalisirten
atrophischen Lähmungen mit negativem oder geringfügigem Rückenmarksbefund
bei ausgesprochener multipler peripherer Neuritis den Nachweis versucht hat, dass
die meisten als Spinallähmungen angesprochenen atrophischen Lähmungen primär
neuritischen Ursprungs sind und als klinische Erscheinung derselben auf die peri-
pheren Schmerzen grosses Gewicht gelegt hat (vgl. „Neuritis" Bd. IX, pag. 589).
So sehr auch die Berechtigung dieser Ansicht für einzelne hieher gerechnete
Fälle ohne Obductionsbefund zuzugeben ist, so ist doch andererseits hervorzuheben,
dass auch gerade in acuten Fällen generalisirter atrophischer Lähmung mit ana-
tomisch erwiesenem poliomyelitischen Befund von F. Schultze17, 20) und ganz
neuerdings von R. Schulz und F. Schultze21) und ebenso wie in dem älteren
Fall von Bernhardt 7) auch in vier neueren klinischen Beobachtungen von Proust
und Comby 22) initiale Schmerzen ausdrücklich in Abrede gestellt wurden.
Dieses kaum je eine exacte Diagnose ermöglichende Initialstadium wird
durch den Eintritt der motorischen Paralyse aufgeklärt, welche, wenn auch
nicht apoplectiform , wie bei der Hämatomyelie , dennoch der Kinderlähmung
einigermaassen entsprechend (vgl. Bd. VII, pag. 379) ziemlich rapide, mitunter
über Nacht, seltener eine, meist mehrere oder alle Extremitäten (aufsteigend oder
absteigend), und zwar häufiger die Unterextremitäten, bisweilen aber auch nur die
Ob er extr emitäten allein (Bernhardt23) u. A.) befällt. Indessen erfolgt die Ent-
wicklung der Lähmung nicht selten im Gegensatz zur Kinderlähmung etwas
langsamer, zuweilen in Schüben innerhalb einiger Tage, so dass vielfache Ueber-
gangsfälle zu der folgenden chronischen Form vorkommen. Da die Haut Sensi-
bilität in allen reinen Fällen normal bleibt, niemals Decubitus eintritt,
auch Störungen der Blasenfunctionen, abgesehen von gelegentlich vor-
kommender vorübergehender Schwäche fehlen, die Potenz erhalten bleibt,
und auch das Knochensystem im Gegensatz zur Kinderlähmung bei dem vollendeten
Knochenwachsthum unbetheiligt bleibt, die Kranken überhaupt während des weiterhin
eminent chronischen Krankheitsverlaufes sich trotz ihrer mehr oder minder hoch-
gradigen Hilflosigkeit eines guten Allgemeinbefindens zu erfreuen pflegen, so ist
noch mehr als bei der Kinderlähmung die Semiotik der acuten atrophischen
Spinallähmung der Erwachsenen durch die Form, die Verbreitung und den
Verlauf der motorischen Lähmung erschöpft. Höchstens dass noch als vaso-
motorische oder trophische Störungen derHaut der gelähmten Glieder
gelegentlich auftretendes leichtes Oedem im Beginne, später Kälte, Blässe oder
auch massige Cyanose , ferner Unterdrückung der Schweisssecretion auch mit
Wiederkehr bei der Restitution (Adamkiewicz 2i) zu erwähnen wären.
Lähmungsform. Elektrisches Verhalten. Gemäss der im Ein-
gange dieses Abschnittes gegebenen allgemeinen Definition der atrophischen Spinal-
lähmung gehören nur Spinallähmungen hierher , bei welchen , wenn auch nur in
einem Theil der ursprünglich gelähmten Muskeln, degenerative Atrophie auftritt.
Da also erst durch die elektrodiagnostischen und trophischen Alterationen der
gelähmten Muskeln eine Lähmung als atrophische Spinallähmung charakterisirt
wird, so geht es nicht wohl an, gelegentlich beobachtete generalisirte Lähmungen
analoger Entstehung hierher zu rechnen, für welche allerdings ohne vorliegende
anatomische Befunde zwar ebenfalls poliomyelitische Läsionen angenommen wurden,
bei welchen aber, ohne dass irgend welche Veränderungen der elektrischen Erreg-
barkeit und Muskelatrophie überhaupt zu Stande gekommen sind, im Verlauf mehr
SPINALLAHMÜNG. 627
oder minder langer Zeit, mitunter relativ schnelle Wiederherstellung eintrat (Eisen -
lohr25), Litten. 16) Diese dürften vielmehr als Abortivformen der acuten tödtlichen
Spinalparalyse (vgl. Abschnitt IV dieses Artikels) aufzufassen sein (Eisenlohr 2ö).
Die acute atrophische Spinallähmung ist von vornherein eine schlaffe
(flaccide) Lähmung; wenigstens in denjenigen Muskeln, welche definitiv oder
längere Zeit gelähmt bleiben, sind die Hautreflexe ebenso wie die Sehnen-
phänomene alsbald erloschen.
Schon nach wenigen Tagen, nach einer Beobachtung von F. Müller16)
schon vom 4. Tage an, treten in den dauernd oder längere Zeit gelähmt bleibenden
Nerven und von ihnen versorgten Muskeln (vgl. unten) die für eine schwere
degenerative Lähmung charakteristischen elektrodiagnostischen Symptome auf (vgl.
Bd. IV, pag. 426), indem die Nervenerregbarkeit, und zwar angeblich die fara-
dische noch etwas früher als die galvanische (F. Müller15), dann auch die
faradische Muskelerregbarkeit rapide abnehmen und in den schwer gelähmten
Muskeln schon vom 5. oder 6. Tage ab erloschen sein können. Weiterhin tritt
meist im Verlaufe der 2. oder 3. Woche vorübergehende, nach F. Müller15)
nur 6 — 10 Tage anhaltende und wohl deswegen nur selten (Bernhardt 7' 3),
F. Müller15) beobachtete erhöhte galvanomuskuläre Entartungsreaction auf,
welche alsdann in die lange Zeit andauernde herabgesetzte E A R übergeht. In
einzelnen Muskeln kommt gegenüber dieser schweren EAR schwerere Mittelform
derselben vor, auch mit der von mir sogenannten faradischen EAR der Muskeln
(vgl. Bd. IV, pag. 425).
In innigem Zusammenhang mit diesen elektrischen Symptomen tritt besonders
in den Muskeln , deren elektrische Nervenerregbarkeit erloschen ist , alsbald,
gewöhnlich schon vom 10. Tage an, sehr erhebliche Abmagerung mit S c hm erz-
haft igk ei t derselben für Druck auf (vgl. Bd. VII, pag. 380; Bd. IX, pag. 590),
so dass der Umfang der gelähmten Gliedabschnitte späterhin um mehrere Centi-
meter vermindert zu sein pflegt; bei günstigem Verlauf (vgl. unten) können sich,
regelmässig aber erst längere Zeit nach wiedergekehrter Motilität, sowohl die
elektropathologischen Reactionen (vgl. Bd. IV, pag. 423 und 426) als die Muskel-
atrophie zurückbilden. Bisweilen nimmt aber das Volumen der gelähmten Muskeln
auch in unheilbaren Fällen durch interstitielle Lipomatosis wieder erheblich zu,
was an der weichen Consistenz und der für beide Stromesarten geschwundenen
elektromuskulären Erregbarkeit erkannt wird.
Verbreitung und Localisation der Lähmung. Wie bei der
atrophischen Kinderlähmung bildet sich die ursprünglich über mehrere oder alle
Extremitäten verbreitete Paralyse meist in einzelnen Gliedabschnitten und Muskeln
nach kurzer Zeit zurück, um sich in anderen für längere Zeit oder dauernd zu
begrenzen. Nur die Extremitäten sind meist von der Lähmung betroffen, höchstens
meist vorübergehend noch die Nacken- und Rückenmuskeln , während die Bauch-
muskeln, besonders aber die Augen- und Gesichtsmuskeln, frei bleiben, und die
Schling- und Athemmuskeln nur in ganz vereinzelten Fällen erreicht werden (vgl.
unten). Die Extremitätenlähmung kann von vornherein oder nach vorübergehender
generalisirter Lähmung als Monoplegie oder als Paraplegie der Unterextremitäten,
als Diplegia brachialis (Bernhardt 23), M. Rosenthal 26), als gekreuzte Lähmung,
als Hemiplegie oder endlich als generalisirte Extremitätenlähmung (Duchenne 6)
u. A.) sich localisiren. Letztere ist im Gegensatz zur Kinderlähmung, bei welcher
die Monoplegien überwiegen (vgl. Bd. VII, pag. 380), beim Erwachsenen verhält-
nissmässig sehr viel häufiger (nach Rank14) 55°/0 aller Fälle), allerdings nicht
in dem Sinne, dass an sämmtlichen Extremitäten totale Lähmung aller Nerven und
Muskeln mit den beschriebenen Erregbarkeitsveränderungen vorhanden ist. Vielmehr
kann als die Regel gelten , dass sowohl bei den Monoplegien u. s. w. , als den
generalisirten Lähmungen einzelne Gliedabschnitte und in denselben einzelne
Muskeln der Lähmung und den elektrischen Alterationen entgangen sind. Das
genauere Studium der Localisation der degenerativ gelähmten Muskeln, auch
40*
628 SPINALLÄHMUNG.
bei spinaler Kinderlähmung, besonders auch unter Heranziehung der folgenden
chronischen Form, hat nun ergeben, dass es sich nur scheinbar um Zufälligkeiten
handelt, sondern dass gewisse Localisationstypen immer wieder herauszuerkennen
sind (E. Remak 27-4), Erb10), Bernhardt23), Adamkiewicz24), F. Müller1'),
FEBRIER28). So bleibt am Oberschenkel bei atrophischer Lähmung des Cruralis-
gebietes häufig der Sartorius frei (Erb 8), E. Remak 27> 4), Bernhardt 3), Rank 14),
im Peroneusgebiete der Tibialis anticus frei bei Erkrankung der Mm. extensores
digitorum und peronei (Frey11), E. Remak27), Adamkiewicz24) u.A.), während
in anderen Fällen gerade der Tibialis anticus allein am Unterschenkel degenerative
Lähmung darbietet (Duchenne g), Erb 8), Seguin 29), E. Remak 4), F. Müller 16).
Viel durchsichtiger sind diese Verhältnisse an der Oberextremität, an welcher
besonders der Supinator longus gegenüber den anderen vom N. radialis ver-
sorgten Vorderarmmuskeln eine constante Selbständigkeit insofern bewahrt, als
er einerseits bei der gerade an der Streckseite gewöhnlich am intensivsten aus-
gebildeten Vorderarmlocalisation der Lähmung intact bleibt (E. Remak 27, 4) u. A.
von mir4) als Vorderarmtypus der atrophischen Spinallähmung bezeichnet),
dagegen bei sonst ganz intacter Vorderarmmuskulatur er andererseits ganz allein
erkrankt sein kann, bei regelmässig eoineidirender atrophischer Lähmung der
Beugemuskeln am Oberarm (Biceps und Brachialis internus). Mit letzterer Läh-
mungscombination (mein4) Oberarmtypus) pflegt atrophische Deltoideuslähmung
einherzugehen , welche aber auch isolirt vorhanden sein kann (Duchenne 6),
F. Müller 15). Am Deltoideus verhält sich der acromiale Theil häufig noch ver-
schieden von den anderen beiden Dritteln (E. Remak 27), Bernhardt 3), Ferrier 28),
von denen der erstere mit dem Serratus anticus major, die letzteren mit dem
Infraspinatus und den Rhomboidei zusammen erkrankt zu sein lieben (Ferrier 28).
Alle diese Einzelbeobachtungen habe ich27,4) zuerst unter gemeinschaftliche
Gesichtspunkte durch die schon im Artikel „Bleilähmung", Bd. II, pag. 265,
erwähnte Annahme zu bringen versucht, dass diese Muskeln deswegen in bestimmten
mit ihrer functionellen Synergie zusammenhängenden Combinationen erkranken oder
von der Erkrankung verschont bleiben, weil die sie vertretenden motorischen
Ganglienzellen der grauen Vordersäulen des Rückenmarks nach entsprechenden
functionellen Gruppen angeordnet sind, ohne Rücksicht auf die peripheren Inner-
vationsbezirke der einzelnen Nervenstämme. Es besteht also keine räthselhafte
Immunität irgend eines Muskels vor der atrophischen Spinallähmung, sondern es
kehren nur, wenn der poliomyelitische Process, sei es acut oder chronisch, in ver-
schiedenen Fällen dieselben Spinalsegmente (Byrom Bramwell 30) ergriffen hat,
auch die analogen Localisationstypen immer wieder. Als experimentelle Beweise
dieser durch einzelne pathologisch - anatomische Befunde (Prevost und David31),
F. Schultze 20), Kahler und Pick 32) gestützten Hypothese liegen neuere Experi-
mentalunter suchungen von Ferrier und Yeo 3S) einerseits und Paul Bert und
Marcacci 34) andererseits vor, welche bei isolirten Reizversuchen an den blossgelegten
motorischen Rückenmarkswurzeln, die ersteren des Affen, die letzteren von Katzen und
Hunden, durch Beobachtung der sich regelmässig contrahirenden Muskeln feststellten,
dass die von einer Wurzel innervirten Muskeln einer coordinirten Synergie vorstehen.
Ferrier 28) hat kürzlich im Anschluss an seine Experimente die den verschiedenen
Wurzelhöhen der Cervical- und Lumbalanschwellung entsprechenden Lähmungs-
localisationen als ebenso viele Wurzeltypen der Localisation festzustellen versucht,
unter Mittheilung von Beobachtungen, welche wesentlich meine Angaben bestätigen.
Nach denselben entspricht beispielsweise mein schon durch eine anatomische Beob-
achtung von F. Schultze20) entsprechend localisirter „Oberarmtypus" seinem
4. und 5. Cervicalwurzeltypus und wird geradezu als „oberer Cervicaltypus"
bezeichnet, während atrophische Lähmung der Binnenmuskeln der Hand und des
Vorderarms (mein „ Vorderarm typus") seinem 8. Cervical- und 1. Dorsalwurzel-
typus entspricht. Die schon von Duchenne e) urgirte und von mir bestätigte
Seltenheit der Tricepslähmung am Oberarme wird von Ferrier28) durch seine
SPINALLÄHMUNG. 629
mehrfache Vertretung in drei Cervicalwurzeln erklärt. Für die Lumbaianschwellung
reichen die vorliegenden Befunde noch nicht zur bestimmten Aufstellung ähnlicher
Localisationstypen aus (E. Remak4), Ferrier28); nur die Analogie des Tibialis
anticus mit dem Supinator longus ist unverkennbar (E. Remak 4). Diese auch
anatomisch-physiologisch interessanten eigenthümlichen Localisationen der atrophischen
Spinallähmung beanspruchen deswegen ein grösseres praktisches pathologisches
Interesse, weil man auf Grund derselben bisweilen einer atrophischen Lähmung
ihre spinale Pathogenese ansehen kann, allerdings mit dem Vorbehalt, dass auch
durch Wurzelerkrankungen oder partielle Läsionen von Plexusabschnitten (vgl.
Bd. XI, pag. 333) spinale Localisationen vorgetäuscht werden können (E. Remak 4).
Da ganz vereinzelte progressive tödtliche Fälle (vgl. unten) vorläufig
ausser Betracht bleiben dürfen, so sind dem Verlaufe nach wesentlich zwei
Krankheits formen der acuten atrophischen Spinallähmung zu unterscheiden,
je nachdem die dann ursprünglich ausgebreitete oder generalisirte Lähmung
allmählich in langsame Heilung übergeht (temporäre Form (Frey11) oder meist,
ebenfalls nach theilweiser Restitution dieselbe in einzelnen Gliedabschnitten
definitiv bleibt.
Bei der ersten Form stellt sich also auch in den degenerativ atrophischen
Muskeln frühestens von der 4. Woche ab, meist erst im Verlauf des 2. oder
3. Monats schwache Beweglichkeit wieder ein, welche binnen 6 Wochen bis zu
einem Jahre oder noch länger ganz allmählich zur völligen Wiederherstellung
führt, während die genauere Untersuchung noch partielle Muskelausfälle, beispiels-
weise im Tibialis anticus (Duchenne6), E. Remak27), Charcot 18) u. A.) noch
später entdecken kann. Nach Rank14) kommen auf 36 Fälle 6 (1 6 °/0) vollständige
Heilungen. Dass die elektrischen Reactionen bei diesen erst sehr viel später als
die Motilität zur Norm zurückkehren, wurde bereits erwähnt ; noch nach Jahren
sind partielle Defecte oder erhebliche Erregbarkeitsherabsetzung nachweisbar.
Bei der zweiten durch die Mehrzahl der Fälle repräsentirten Form ist aber
diese Wiederherstellung eine ganz unvollständige, indem in wechselnder Verbreitung,
immer aber den beschriebenen Localisationstypen sich anschliessend, die atrophische
Lähmung oft mit nachträglicher Verfettung definitiv bleibt und mehr oder minder
hochgradige Hilflosigkeit zeitlebens bedingt. Durch oft erstaunliche Ausnutzung
der nicht gelähmten Muskeln, z. B. des Beckens bei paraplegischer atrophischer
Spinallähmung, tritt dann trotzdem im Laufe der Zeit noch verhältnissmässig gute
Beweglichkeit und leidliche Gehfähigkeit bei Krückengebrauch wieder ein , meist
mit watschelnder Gangart, welche durch die gelegentlich forcirte schleudernde
Hebung der Beine bei hängendem Fussgelenke flüchtig an die tabische Gangart
erinnern kann. Wenn nicht, wie bei der Kinderlähmung, noch nachträglich Contracturen
und schwere Deformitäten der gelähmten Extremitäten entstehen, so liegt dies
einmal, wie bereits erwähnt, an dem vollendeten Knochen wachsthum, andererseits
daran, dass denselben durch feste Stiefel u. s. w. vorgebeugt zu werden pflegt.
Die Diagnose der acuten atrophischen Spinallähmung kann gegenüber
den durch transversale oder diffuse Rückenmarksprocesse bedingten
Lähmungen nach der im Eingange dieses Abschnittes gegebenen allgemeinen
Begriffsbestimmung der atrophischen Spinallähmung durch das Fehlen von Sensi-
bilitätsstörungen u. s. w. keine Schwierigkeiten machen. Es ergiebt sich aber aus
dieser Definition unmittelbar, dass im chronischen Krankheitsstadium die Differential-
diagnose gegenüber den chronischen atrophischen Spinallähmungen,
dann den Lähmungen in Folge von Hämatomyelie, Sy ringomyelie und
Rückenmarks tumoren der grauen Substanz nur durch die Kenntniss des
klinischen Verlaufes ermöglicht werden kann. Ganz besondere Aufmerksamkeit
erheischt aber bei der ähnlichen Entwicklung die Unterscheidung von der m u 1 1 i p 1 e n
degenerativen Neuritis (vgl. Bd. IX, pag. 589), gegenüber welcher als
negative Kriterien der unter Umständen schmerzlose Verlauf, das Fehlen von
Schwellungen und Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstämme, der Mangel von
630 SriNALLÄHMUNG.
den gelähmten Nerven entsprechenden unästhetischen Zonen , als positive Merkmale
die nicht an die Verbreitung einzelner Nervenstämme geknüpfte, sondern speeifisch
spinale Localisation der atrophischen Lähmung (vgl. oben) in's Gewicht fallen.
Gerade auf Grund der letzteren kann endlich eine Verwechselung mit acuten generali-
sirten Bleilähmungen vorkommen (vgl. Bd. II, pag. 263), wenn nicht die
Anamnese oder andere Erscheinungen des Saturnismus die Aetiologie aufklären.
Die Prognose der acuten atrophischen Spinallähmung schien bisher, da
sie allemal vor den Athemnerven u. s. w. Halt zu machen pflegte, quoad vitam
so sehr eine gute, dass in dieser Beziehung gerade der Nachweis der degenerativen
Lähmung, namentlich also des Absinkens der elektrischen Nervenerregbarkeit nach
einigen Tagen bei acuter generalisirter Lähmung gegenüber der acuten tödtlichen
Spinalparalyse als von günstigster Vorbedeutung angesehen werden durfte (West-
phal 9). Nun haben aber zwei neuere Fälle (Jaffe 3fi) , B. Schulz und
F. Schultze21), wahrscheinlich bemerkenswertkerweise auf syphilitischer Basis,
in welchen die Lähmung auf die Athemmuskeln mit tödtlichem Ausgang fort-
schritt , trotzdem die elektrische Untersuchung degenerative Lähmung und die
Obduction in dem zweiten Falle poliomyelitische Alterationen auch in der Medulla
oblong ata ergeben hat, bewiesen, dass auch diese Regel nicht ohne Ausnahme ist.
Immerhin kann aber mit grosser Wahrscheinlichkeit die Prognose der acuten
atrophischen Spinallähmung für das Leben, natürlich abgesehen von intercurrenten
Erkrankungen, als eine gute angesehen werden.
Anders steht es aber mit der functionellen Wiederherstellung, welche im
besten Falle erst nach Monaten einzutreten pflegt und auch dann noch selten
vollständig ist. Je längere Zeit die degenerative Lähmung besteht, desto geringer
ist natürlich die Aussicht auf Rückbildung, so dass, wenn nach mehrmonatlichem
Bestehen der Lähmung keine Spur einer Wiederkehr der Beweglichkeit zu ent-
decken ist, die Hoffnung auf dieselbe immer geringer wird.
Therapie. Ob die Salicylsäure oder das salicylsaure Natron eine
Spinallähmung zu coupiren vermögen (Litten16), erscheint nach den oben über
die zu Grunde liegenden Beobachtungen geäusserten diagnostischen Bedenken
mindestens zweifelhaft. Im Initialstadium wird der antiphlogistische Heil-
apparat (örtliche Blutentziehungen Blutegel, Schröpfköpfe u. s. w.) an den der
Lendenanschwellung oder Cervicalanschwellung entsprechenden Rückenregionen,
Eisapplication , Einreibung von grauer Salbe an denselben , ferner Abführmittel
(Calomel, Senna u. s. w.) empfohlen (Ebb 10). Von Medicamenten kann nach den
Empfehlungen von Hammond 36), Althatjs 12), Seguin29) das Ergotin allein oder
in Verbindung mit Belladonna (10 Grm. Ergotini mit 0*02 Atropini sulfurici zweimal
täglich V3 — 1 PßAVAz'sche Spritze subcutan, F. Müller10) versucht werden, so
fraglich auch ihr Einfluss auf die Entwicklung des poliomyelitischen Processes ist.
Nachdem sich die von ihm abhängige atrophische Lähmung etablirt hat, ist im
zweiten chronischen Krankheitsstadium behufs Beförderung der Repa-
ration der poliomyelitischen Krankheitsherde und der seeundären Nerven-Muskel-
degeneration das Jodkalium, lauwarme Bäder oder Hydrotherapie an-
wendbar. Am besten entspricht den causalen sowohl als den symptomatischen
Indicationen im Lähmungsstadium die elektrotkerapeu tische Behandlung
insbesondere mittelst des galvanischen Stromes nach den Bd. IV, pag. 451 dar-
gelegten Grundsätzen. Durch locale stabile Galvanisation der entsprechenden Rücken-
marksabschnitte (gewöhnlich mit der Anode) soll in loco morbi die Rückbildung
befördert werden, während die labile Galvanisation der gelähmten Nerven und
Muskeln (mit der Kathode) die peripheren Regenerationsprocesse anregen soll,
jedenfalls aber die functionelle Restitution während des Heilungsstadiums oft mit
unmittelbaren Besserungserfolgen beschleunigt. Die galvanische Behandlung kann
(im Anfang mit schwachen Strömen) schon frühzeitig begonnen werden und ist ein
Erfolg erst nach längerer Zeit mit grosser Consequenz fortgeführter Behandlung
zu erwarten. In denjenigen Fällen, in welchen eine Rückbildung der Lähmung
SPINÄLLAHMUNG. 631
ausbleibt, können weiterhin geeignete orthopädische Vorrichtungen noch viel dazu
beitragen , eine relative Gebrauchsfähigkeit der gelähmten Extremitäten wieder
herzustellen (vgl. Bd. III, pag. 712 und Bd. VII, pag. 459).
2. Chronische oder subacute atrophische (amyotrophische)
Spinallähmung.
Diese zum Theil sich mit der zweiten von Duchenne 6) schon 1853
aufgestellten subacuten Vorderhornlähmung (vgl. oben) deckende klinische Krank-
heitsform ist durch das Vorkommen von atrophischen Lähmungen berechtigt,
welche durch ihren degenerativen Charakter und ihre Verbreitung sich eng an die
vorige Affection anschliessen, aber sich von ihr durch ihre langsame Entwicklung
unterscheiden, von der früher mehrfach mit ihr confundirten progressiven Muskel-
atrophie aber wieder durch ihren schnelleren Verlauf und namentlich dadurch sich
abheben, dass die Lähmung allemal der Atrophie vorausgeht (vgl. oben).
Die spinale Genese, das heisst die pathologisch -anatomische
chronisch-poliomyelitische Basis dieser von Charcot 18) als chapitre
cVattente bezeichneten Fälle gilt aber trotz mehrerer positiver anatomischer Befunde
von Charcot und Joffroy 87), Cornil und Leplne 38), Webber 39), Dejerine 40),
Ketly 41), Bäumler 42) von chronischer Degeneration der Vordersäulen mit Schwund
der multipolaren Ganglienzellen für einzelne Autoren als noch nicht genügend
gesichert und sind erstere wohl deshalb im Artikel „Poliomyelitis", Bd. XI, pag. 1,
übergangen worden. Wie bereits oben bei der acuten atrophischen Spinallähmung
erwähnt, hält namentlich Leyden 19) diese Befunde für eine primäre spinale Genese
nicht für beweisend und fasst sie als secundär in Folge multipler peripherer
Neuritis entstanden auf, deren subacuter, Bd. IX, pag. 589 besprochener Form
derartige Fälle zuzurechnen seien. Da er auch hier in klinischer Beziehung auf
die bisweilen beobachteten initialen Schmerzen grosses Gewicht gelegt hat, so ist
es von Interesse, dass in einem neuerdings von F. Neumann43) veröffentlichten
Falle chronischer generalisirter atrophischer Lähmung mit anatomisch wohl con-
statirter Alteration der grauen Vordersäulen die peripheren Nerven wesentlich
intact befunden wurden , obgleich intra vitam über starke Schmerzen in den
gelähmten Gliedern geklagt war. Andererseits aber kommen ausgebreitete atrophische
Lähmungen vor und habe ich4) selbst solche beschrieben und neuerdings wieder
beobachtet, welche sich ganz schmerzlos entwickelt haben und zu keiner Zeit
andere sensible Erscheinungen darbieten als höchstens Empfindlichkeit der gelähmten
Muskeln auf Druck. Allem Anschein nach liegt auch hier die Wahrheit in der
Mitte, indem sowohl auf spinaler als peripherer Basis atrophische Lähmungen vor-
kommen, und wird es der Zukunft vorbehalten sein, die differentialdiagnostischen
Kriterien beider noch genauer festzustellen.
Aetiologie. Ausser den schon für die acute Form angeführten ätiolo-
gischen Momenten würde als weiteres vielleicht äusserst wichtiges die chronische
Bleivergiftung in Betracht kommen, wenn anders die ihre klinischen Eigen-
thümlichkeiten am besten erklärende chronisch-poliomyelitische Genese der Blei-
lähmung aufrecht erhalten werden kann (vgl. Bd. II, pag. 263 u. ff. und Bd. IX,
pag. 583). In der That ist die Uebereinstimmung mancher Fälle chronischer
atrophischer Lähmung nicht toxischer Aetiologie mit der typischen Bleilähmung
bis in die Details hinein eine so frappante (E. Eemak27-4), Erb10) u. A.), dass
noch immer nach meiner festen Ueberzeugung an einen verschiedenen Aus-
gangspunkt nicht gedacht werden kann, und es mir unverständlich geblieben ist,
weshalb Ferrier 2S), welcher gegen die spinale Genese aller sogenannten atrophischen
Spinallähmungen nicht das mindeste Bedenken äussert , für die Bleilähmung eine
regelmässig periphere Entstehung annehmen zu müssen glaubt.
Vorkommen. Im Gegensatz zur acuten atrophischen Spinallähmung,
welche das kindliche und jugendliche Alter bevorzugt, tritt die chronische Form
niemals bei Kindern und am häufigsten zwischen dem 30. und 50. Lebensjahre
632 SPINALLAHMÜNG.
auf (ERB l0). Sie ist eine ziemlich seltene, jedenfalls viel seltenere Krankheit, als
die häufig mit ihr verwechselte progressive Muskelatrophie.
Sj'mptomatologie. Ohne besondere Vorboten und mit nur geringen
gelegentlichen Störungen des Allgemeinbefindens , zuweilen unter Rücken-
schmerzen und ziehenden Gliederschmerzen entwickelt sich leichte Ermüd-
barkeit und motorische Schwäche einer oder mehrerer Extremitäten , welche
allmählich in mehr oder minder vollständige Lähmung einzelner Muskelsysteme
derselben übergeht.
Die Lähmung ist stets eine schlaffe; die Hautreflexe und die
Sehnenphänomene in den gelähmten Muskeln sind entweder aufgehoben
oder sehr vermindert, letztere jedenfalls im Gegensatz zur amyotrophisch-
spastischen Spinalparalyse zu keiner Zeit gesteigert. Meist beginnt die Lähmung
in den Unterextremitäten , und zwar gewöhnlich in den Unterschenkelmuskeln
besonders der Streckseite früher als in den Oberschenkel- und Hüftmuskeln (auf-
steigende Form) , weniger häufig an den Oberextremitäten , und dann auch mit
Vorliebe in den Streckern am Vorderarm [absteigende Form (Duchenne 6)]. Es
kommen aber auch Fälle vor, wo sich die Lähmungserscheinungen wesentlich auf
die Oberextremitäten beschränken (Diplegia oder Paraplegia cervicalis [M. Rosen-
thal 2C), Bernhardt44), E. Remak4) u. A.]). Mitunter und, wie es scheint,
namentlich in solchen Fällen, wo die chronische atrophische Spinallähmung deutero-
pathisch zu anderen Rückenmarksaffectionen , z. B. zu Tabes hinzutritt , braucht
die Lähmung ein beschränktes Gebiet (einen Daumenballen, Streckseite des Ober-
schenkels, ein Peroneusgebiet) nicht zu überschreiten , welche Varietät man als
circumscripte chronische Spinallähmung bezeichnen kann (Kahler und Pick45).
Meistens aber werden nacheinander mehr oder minder schnell, innerhalb von
Wochen oder Monaten, allmählich immer neue Muskelgruppen befallen, so dass
immer neue Defecte an Muskelfunction zu verzeichnen sind. Endlich erkranken
in einzelnen Fällen, meist wenn schon die Lähmung der Oberextremitäten sehr
vorgeschritten ist und zuweilen auch die Nackenmuskulatur sich betheiligt hat, die
Lippen-, Schling- und Zungenmuskeln (Duchenne 6) , Coenil und Lepine 38),
Rosenthal 26), Bernhardt 44), E. Remak 4) u. A.), so dass durch diese bulbär-
paralytischen Symptome das Leben bedroht werden kann.
Die Lähmung wird alsbald als atrophische durch die elektrischen
Alterationen und die Muskelatrophie charakterisirt. Erstere entsprechen
im Allgemeinen denjenigen der acuten Form mit der Modification, dass dem
chronischen Verlauf gemäss hier noch allerlei Uebergangsformen vorkommen, so
an demselben Individuum in einzelnen Nerven schwere, in anderen nur schwere
Mittelform der EAR, auch mit faradischer EAR (E. Remak4) vgl. Bd. IV,
pag. 425), weiterhin gelegentlich ein von den Lähmungserscheinungen anscheinend
unabhängiger Ablauf der elektrischen Erregbarkeitsveränderungen (vgl. Bd. IV,
pag. 426), während bei den leichtesten Formen der Mittelform der EAR der
Muskeln die Nervenerregbarkeit vollkommen oder fast völlig erhalten bleibt und
dementsprechend keine vollständige Paralyse, sondern nur Parese vorzuliegen pflegt
(Erb 46). Mit diesen elektrischen Alterationen geht im Allgemeinen die Muskel-
atrophie insofern ziemlich parallel, als sie bei der schweren EAR gewöhnlich am
stärksten , bei den leichten Formen dagegen geringer und weniger rapide sich
entwickelt, niemals aber so hohe Grade erreicht, wie die ausgebildete progressive
Muskelatrophie (E. Remak 4). Mitunter ist statt der gewöhnlichen Abmagerung und
Schlaffheit der gelähmten Muskeln in späteren Stadien auffallend harte brettartige
Consistenz beobachtet, welche wahrscheinlich auf interstitiellen sclerosirenden Binde-
gewebsformationen beruht (Kahler und Pick 45). Häufig sind die Muskeln auf
Druck empfindlich und sind zuweilen fibrilläre Zuckungen derselben zu bemerken
(Chaecot18), E. Remak4).
Die genauere Localisation der gelähmten und von den Alterationen
der elektrischen Erregbarkeit betroffenen Muskeln schliesst sich eng an die von
SPINALLÄHMUNG. 633
der acuten Form beschriebenen Typen an. Bei dem chronischen Verlauf ist es
hier noch leichter zu überblicken , dass wesentlich functionell zusammengehörige
Muskeln zusammen oder kurz nach einander erkranken. So beginnt an den Ober-
extremitäten bei absteigender Ausbreitung erst die Vorderarmlähmung, wenn der
den Supinator longus mit betheiligende Oberarmtypus der Lähmung schon aus-
gebildet ist. Bei der Vorderarmlocalisation zeigt sich insofern überraschende Ueber-
einstimmung mit der Bleilähmung, als der Abductor pollicis longus meist noch
intact ist, während die Extensoren der Finger und des Handgelenks schon stark
gelitten haben nnd dieser Muskel zusammen mit den Daumenballenmuskeln zu
erkranken pflegt (E. Remak4), vgl. Bd. II, pag. 259). Selbstverständlich können
aber auch bei mehrfacher spinaler Localisation Üombinationen des Oberarm- und
Vorderarmtypus vorkommen.
Die Hautsensibilität bleibt in der Regel ganz normal ; dennoch sind
leichte Sensibilitätsstörungen in wahrscheinlich nicht ganz reinen Fällen beob-
achtet worden (Duchenne6), Erb10), Kahler und Pick45). Ausnahmslos fehlen
Störungen von Seiten der Blasen- und Mastdarmfunctionen und der Potenz, und
niemals tritt Decubitus auf.
Als selten beobachtete Complicationen sind Gelenkschwellungen
der Matacarpophalangealgelenke und Schwellungen der Sehnenscheiden
der Extensoren am Vorderarmrücken bei der Vorderarmlocalisation der chronischen
atrophischen Spinallähmung zu erwähnen (E. Remak4), vgl. Bd. II, pag. 261).
Der Verlauf der chronischen atrophischen Spinallähmung ist keineswegs
immer ein progressiver, weshalb ihr dieses Epitheton nicht gebührt (Duchenne 6).
Zunächst bleibt die circumscripte Form häufig zeitlebens stationär; dann ist
späterhin die Unterscheidung zwischen einer abgelaufenen atrophischen LähmuDg
oder genuinen Atrophie nur mit Hilfe der Anamnese über die Reihenfolge der
Lähmung und Atrophie möglich. Bei der generalisirten Form tritt in einzelnen
Fällen, nachdem monatelang die Lähmung sich ausgebreitet hat, nach einem oft
mehrmonatlichen Stillstand nun ganz allmähliche Rückbildung, selten bis zur völligen
Heilung ein (Duchenne6), Erb10), M. Rosenthal26), Kahler und Pick45).
Dies sind gerade diejenigen Fälle, in welchen bei der Restitution die elektrischen
Erregbarkeitsverhältnisse sich ziemlich verwickelt darstellen können (Bd. IV,
pag. 426). Diese Rückbildung, welche den Fällen mit leichter Mittelform der Ent-
artungsreaction wesentlich schneller regelmässig zuzukommen scheint, ist aber in
anderen Fällen nur eine sehr unvollständige oder lässt vergeblich auf sich warten,
so dass die oft die völlige Hilflosigkeit der Patienten bewirkende atrophische
Lähmung permanent bleibt. Schliesslich kann eine intercurrente Affection oder
selten auch die hinzutretende amyotrophische Bulbärparalyse direct zum Tode führen.
Die Diagnose stützt sich hauptsächlich auf den im Gegensatz zur
vorigen Affection subacuten oder chronischen Beginn einer der nachfolgenden
Muskelatrophie oft allerdings nur wenig voraufgehenden, keinem einzelnen peripheren
Nervengebiete, sondern den spinalen Localisationen entsprechenden Lähmung ohne
Sensibilitätsstörungen. Wenn dies die wesentlichen unterscheidenden Merkmale
gegenüber der multiplen chronischen Neuritis sind, so kann andererseits
die Unterscheidung von der Bleilähmung naturgemäss oft nur bei Ausschluss
saturniner Aetiologie und anderweitiger Bleisymptome ermöglicht werden. Ebenso
kann dieselbe gegenüber der progressiven Muskelatrophie bei schleichend
verlaufenden Fällen schwierig sein, zumal hier Uebergangsfälle vorzukommen
scheinen (z. B. bei Syringomyelie). Dennoch ist gerade diese Unterscheidung
von besonderer praktischer Wichtigkeit, indem die atrophische Spinallähmung im
Gegensatz zur progressiven Muskelatrophie unter Umständen eine reparable Krankheit
ist und bei den berichteten Heilungen ersterer Affection unter irgend welchen Behand-
lungsmethoden diagnostische Irrthümer sehr wohl mit untergelaufen sein können.
Die Prognose ist für die Lebensfähigkeit bei den ganz circumscripten
Formen eine unbedingt gute und bei den fortschreitenden nur dann eine schlechte,
634 SPINALLÄHMUNG.
wenn Atlicm- und Schlingbeschwerden u. s. w. auf eine Betheiligung der Bulbus-
kerne deuten. Für die Wiederherstellung ist die Prognose in den schweren Füllen
immer höchst zweifelhaft, indem man die auch bei diesen jedenfalls Monate
beanspruchende Restitution mit Sicherheit nicht voraussagen kann. Dieselbe scheint
übrigens um so unwahrscheinlicher, je schwerer der elektrodiagnostische Befund
ist und je länger die Lähmung bereits währt. Unbedingt gut erscheint dagegen
die Prognose der Fälle mit der leichten Mittelform der EAR (Erb46).
Die Therapie der chronischen atrophischen Spinallähmung ist wesentlich
dieselbe wie bei der acuten und nur nach den allgemeinen Grundsätzen der Be-
handlung chronischer Rückenmarksaffectionen zu modificiren. Auch hier dürfte eine
sachgemässe galvanische Behandlung noch am ehesten Aussicht gewähren , die
Regenerationsprocesse zu beförderu.
II. Spastische Spinalparalyse.
Spastische Paralyse überhaupt kann diejenige Lähmungsform
genannt werden, welche sowohl bei den noch thunlichen activen , als besonders
bei passiven Bewegungen der gelähmten Glieder je nach dem Grade ihrer Ent-
wicklung durch leichte Muskelspannung oder Muskelstarre (Rigidität)
oder Contractur (vgl. Bd. III, pag. 460), seltener durch spontane
Spasmen derselben charakterisirt ist. Als gemeinschaftliches Kriterium aller
spastischen Lähmungen hat man neuerdings die Steigerung der sogenannten Sehnen-
phänomene (Westphal 47) , oder Sehnenreflexe (Erb48) kennen gelernt.
Darunter 'wird die physiologisch 'wahrscheinlich allen und Dur vermöge ihrer gün-
stigen topographischen Verhältnisse einzelnen Muskeln [Extensor quadriceps femoris , Trlceii
surae u. s. "w.) besonders deutlich zukommende Eigenschaft verstanden, auf Beklopfen oder
Dehnung ihrer Sehnen mit schneller Contraction zu antworten. Die günstigste Bedingung
zur Erzeugung dieser Bewegungserscheinungen gewährt eine Stellung der betreffenden Extre-
mität , welche die Sehne des zu untersuchenden Muskels in mittlere Spannung versetzt,
beispielsweise zur Darstellung des Contractionsphänomens des Extensor quadriceps (des Unter-
schenkel- oder Kniephän omens (Westphal47), oJer Patellarsehnenreflexes
(Erb48), die mittlere Bengestellung des Kniegelenks bei leichter Percussion der Patellarsehne
mittelst des Percussionshammers oder des Ulnarrandes der Band. Das Kniephänomen ist
physiologisch stets vorhanden ("W estphal47), oder fehlt bei Gesunden jedenfalls nur sehr
ausnahmsweise (Berger4£), Gowers50), Eulenburg51). Das Fussphänomen ("West-
phal4"), (der Eussklonus, Erb46), Trepidation provoquee der Franzosen), welches nur
unter pathologischen Verhältnissen bei erhöhter Spannung der Wadenmuskeln vorkommt,
entsteht durch anhaltende Dorsalflexion des Fusses von Seiten des Untersnchers als rhvthmisches
Bewegnngsspiel dadurch, dass die unterhaltene Dehnung der Achillessehne immer von Neuem
Zusammenziehung der VTadenmuskeln bewirkt.
"Wenn auch durch Experimentaluntersuchungen als Vorbedingung des Zustande-
kommens dieser Phänomene die Integrität bestimmter spinaler Reflexbögen nachgewiesen ist
(F. Schnitze nnd Fürbringer52), Tschirie w53), Senator54), so haben doch ander-
weitige, zum Theil Zeit messende Versuche ("Waller55), Prevost und "Waller56),
A. E nlenburg51), "Westphal5'), de "Watteville 5&) wahrscheinlich gemacht, dass das
Ccnrractionsphänomen als solches nicht als Reflexbewegung aufzufassen, sondern von unmittel-
barer Erschütterung der gespannten Sehne abhängig zu machen ist , wozu ein reflectorisch
unterhaltener mittlerer Spannnngsgrad der Muskeln (Tonus) nothwendig erscheint ("West-
phal*7,57). Jedenfalls verdient also die Bezeichnung „Sehnenphänomene''' vor derjenigen der
„Sehnenreflexe" als weniger präjudicirend den Vorzug.
Während reine spastische Contractur ohne Lähmung gelegentlich auch
reflectorisch auf Grund peripherer Reizmomente, z. B. das Fussphänomen bei
Gelenkrheumatismus des Fussgelenkes (E. Remax, Westphal 47), oder Periostitis
des Unterschenkels (E. Remak) vorkommen kann und ferner Steiger ung der
Sehnenphänomene auch bei Phthisikern , Typhuskranken und Reconvaleseenten
beobachtet worden ist (Strümpell 59), kommt die echte spastische Lähmung
niemals bei peripheren, sondern nur bei centralen Lähmungen vor, meist
auf organischer Basis, seltener auch bei Hysterie (Charcot 1S). So sind bei
cerebralen Hemiplegien, sowohl den gewöhnlichen, als besonders den-
jenigen mit Contracturen , die Sehnenphänomene, so das Kniephänomen an der
gelähmten Seite meist erheblich gesteigert, das Fussphänomen in der Regel an
dieser besonders stark, zuweilen aber auch an der nichtgelähmten Seite, jedoch
SPINALLAHMÜNG. 635
weniger stark vorhanden (Westphal 47), Dejerine co). Aber auch spastische
Cerebralparaplegie ist bei doppelseitigen Hemisphärenläsionen , bei Hydro
cephalus chronicus (R. Schulz 61), bei Ponsaffectionen, z. B. Sarcom der Brücke
(R. Schulz61) beobachtet worden.
Die spastische Spinalparalyse im weiteren Sinne ist somit
als spastische Paralyse spinaler Pathogenese zu definiren und als
Theilerscheinung mannigfacher Rückenmarkserkrankungen, besonders der Myelitis
chronica schon seit Ollivier bekannt und Bd. XI, pag. 384 beschrieben worden.
Die spastische Spinalparalyse im engeren Sinne ist eine
auf Grund klinischer Beobachtungen zuerst von Erb 62) aufgestellte , diejenigen
Fälle chronischen Verlaufes umfassende Krarkheitsform , bei der eine spastische,
von Spinalerkrankung abhängige Lähmung die einzige oder wesentlichste
Krankheitserscheinung ist.
Für diesen relativ häufigen klinischen Symptomencomplex wurde von
Erb 62) zum Theil anf Grund der namentlich von französischen Autoren vertretenen
Ansicht, dass das Auftreten spastischer Erscheinungen bei centralen Lähmungen,
namentlich bei Hemiplegien, mit der Entwicklung der secundären Degeneration der
Hinterseitenstränge in ursächlichem Zusammenhang stünde (vgl. Bd. III, pag. 778),
als anatomische Basis eine aufsteigende pr i m ä r e systematische Seiten-
strangsklerose vermuthet und sogar diese anatomische Krankheitsbezeichnung
von Berger 63) angewendet , während Charcot 18) , der auf Degeneration der
Hinterstränge beruhenden Tabes atactica entsprechend, für dieselbe Affection,
ebenfalls unter Präsumption einer primären Lateralsklerose, den Namen Tabes
spasmodica empfiehlt.
Gegen diese Aufstellung einer neuen anatomischen Rückenmarkssystem-
erkrankung ohne genügende pathologisch-anatomische Grundlage haben sich als-
bald Westphal 64) und besonders Leyden c5) erklärt , welcher die spastische
Lähmung nur als ein ziemlich häufiges Symptom verschiedener Rückenmarks-
krankheiten (Compressionsmyelitis , acute und chronische Myelitis , Meningitis
spinalis , Rückenmarkssyphilis , multiple Sklerose) , nicht aber als eigene Krank-
heitsform gelten lassen will. Diese Ansicht scheint durch eine Reihe von Obductions-
befunden von als spastische Spinalparalysen angesprochenen Fällen gestützt zu
werden, von denen allerdings kaum einer genau den Anforderungen des ERB'schen
Symptomencomplexes entspricht (Charcot 66). In diesen wurde nämlich nicht die
vermuthete systematische Seitenstrangsklerose gefunden, sondern, abgesehen von
schon erwähnten cerebralen , auch sehr verschiedenartige spinale Befunde (Hydro-
myelus mit Seitenstrangsklerose (Strümpell 67) , Gliom der Medulla oblongata
mit secundärer Degeneration der Seitenstränge (R. Schulz61), Pachymeningitis
hypertrophica dorsalis mit Compressionsmyelitis (R. Schulz fi8), diffuse Querschnitts-
myelitis des Dorsalmarks (Strümpell 67) , R. Schulz 68) , Cahen 69) , multiple
Sklerose (Pitres 70) , combinirte Systemerkrankung der Seiten- und Hinterstränge
(Westphal %i) , während die im Artikel „Seitenstrangsklerose" nachzulesenden
einwandfreien reinen Befunde derselben noch äusserst spärlich sind. Jedenfalls
weisen die bisherigen pathologisch- anatomischen Untersuchungen darauf hin, dass
dem relativ häufigen Symptomencomplex der spastischen Spinalparalyse eine reine
Systemerkrankung der Seitenstränge nur sehr viel seltener zu Grunde liegen kann,
als ursprünglich von Erb C2) u. A. angenommen wurde. Auch liegen klinische
Fälle spastischer Spinalparalyse mehr acuten Verlaufes vor, welche nach mehr
oder minder langer Zeit oft innerhalb weniger Wochen in vollständige, sei es
zeitweise (Westphal 64) oder definitive Heilung übergingen (v. D. Velden 71),
Heuck72), R. Schulz 6ö) u. A., so dass also eine schwere ausgedehnte anatomische
Erkrankung der Seitenstränge mit einiger Sicherheit bei diesen auszuschliessen
war. Ebenso muss dahingestellt bleiben, ob das von Brunelli73) neuerdings
beschriebene Vorkommen von spastischen Spinalparalysen nach chronischer
Vergiftung mit Latliyrus sativus für eine systematische, oder auch nur
636 SPINALLÄHMUNG.
überhaupt für eine anatomische Rückenmarkserkrankung zu verwerthen sein wird,
welche ja ohnedies bei den hysterischen (Charcot 18, gg) und bei den bei Wirbel-
erkrankungen auftretenden mitunter vorübergehenden Formen ( Westphal 64) un-
wahrscheinlich ist.
Wenn demnach für den Symptomencomplex der spastischen
Spinalparalyse die congruente anatomische Basis einer Systemerkrankung
oder auch nur überhaupt irgend einer anatomischen Rückenmarkserkrankung vor-
läufig noch fehlt, so wird es doch allseitig als ein Verdienst Erb's anerkannt,
diesen klinischen Symptomencomplex herausgehoben zu haben. Zu seiner späteren
auch anatomischen Abgrenzung wird, wie schon Westphal04) betont hat, es
nothwendig sein, sich strenger nicht blos an die klinische Lähmungsform, sondern
auch an das ganze eigenthümliche chronische Krankheitsbild zu halten, als dies
bisher vielfach geschehen ist.
Die Aetiologie der spastischen Spinalparalyse ist in der Regel
unbekannt. Bei dieser chronischen Affection scheinen weder constitutionelle
Krankheiten, noch auch die Erkältung eine Rolle zu spielen. Letztere ist
auffallenderweise gerade bei einzelnen nicht streng hierhergehörigen acnten Fällen
öfter als unmittelbare Veranlassung ermittelt worden (v. d. Velden71), Heuck72).
Mehrfach beobachtet ist das Auftreten der spastischen Spinalparalyse nach a c u t e n
Krankheiten, besonders nach Typhus (Leyden °5) , Strümpell67) und
gelegentlich nach Verletzungen der Wirbelsäule (Berger63), von mir
auch einmal im Anschluss an eine Contusion eines Fusses. Bei der kindlichen
Form war zuweilen der Einfluss neuropathischer Belastung, früh-
zeitiger Geburten und von Verwandtenehen der Eltern wahrscheinlich
(Seeligmüller 74), Ruprecht 75).
Vorkommen. Die spastische Spinalparalyse ist, wenn auch weniger
häufig als die Tabes, eine ziemlich oft vorkommende Form der Rücken-
markserkrankung, betrifft häufiger Männer als Frauen (Berger63), Erb62),
Charcot18) und entwickelt sich meist erst im reiferen Alter zwischen dem
30. und 50. Lebensalter (Erb 62). Bald nachdem aber das Krankheitsbild der spasti-
schen Spinalparalyse definirt war, wurde die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass
ganz analoge Lähmungsformen auch im kindlichen Alter und zwar schon
in den allerersten Lebensjahren meist wohl angeboren nicht gerade selten vor-
kommen (Erb 62, 76), Seeligmüller74) und von letzterem Autor nachgewiesen, dass
schon von v. Heine, Little u. A. diese kindliche Lähmungsform beschrieben ist.
Allerdings fehlen hier für eine spinale Pathogenese beweisende pathologisch-
anatomische Befunde noch völlig und ist bei der gelegentlichen Complication mit
später Erlernung der Sprache, Strabismus , Stupidität , vielmehr an cerebrale oder
cerebrospinale , von Förster 77) mit Birch- Hirschfeld neuerdings auch in einem
Falle anatomisch constatirter Sklerose zu denken.
Symptomatologie. Die Entwicklung der allemal die Unter-
extremitäten zunächst betreffenden spastischen Spinalparalyse ist in den typischen
Fällen eine äusserst schleichende. Oft erinnern sich die Kranken, schon längere
Monate, bevor ihnen die Beweglichkeitsstörung ihrer Beine auffällig wurde , nicht
mehr die frühere Gelenkigkeit und Behendigkeit derselben gehabt und namentlich
die Fähigkeit verloren zu haben , schnell zu laufen. Damit gehen mitunter leichte
sensible Reiz er scheinungen, ziehende Empfindungen im Rücken und
dumpfe Kreuzschmerzen vorübergehend einher, während heftige und anhaltende
Schmerzen der Wirbelsäule und der Extremitäten bei der ohnehin etwas schwan-
kenden Begrenzung des Krankheitsbegriffes diagnostische Bedenken einflössen
sollten. Allmählich nimmt dann die Beeinträchtigung der Gehfähigkeit zu , indem
die Beine nach mehr oder minder längerem Gebrauche müde und bleischwer
werden , nach meinen Erfahrungen aber auch gerade im Beginne des Gehens
ungelenkiger und steifer sind, als wenn die Kranken im Gange sind. Dieser wird
dann bei schon deutlicher entwickelter Parese auch objectiv eigenthümlich schwer-
SPINALLÄHMUNG. 637
fällig, schleppend, und zwar häufig in einem Beine mehr, welches dann als das
allein kranke empfunden werden kann. Die Oberschenkel werden nur unvoll-
kommen gehoben, mitunter schon jetzt aneinander adducirt gehalten, die Knie
wenig gebeugt, die Fussspitzen stossen leicht an irgend welche Hindernisse an
und scharren weiterhin oft hörbar am Boden. Nicht selten haben die Kranken
namentlich über nächtliche schmerzlose Zuckungen der Beine und Zittern
derselben zu klagen.
Die ärztliche Untersuchung ergiebt in diesem ersten Krankheitsstadium
leichte, meist in allen Muskelgruppen gleichmässige Abnahme der Excursion
und motorischen Kraft der Bewegungen der Unterextremitäten , und zwar
bedeutender an dem stärker schleppenden Beine, das Fehlen auch der gering-
sten Sensibilitätsstörungen der Haut und des Muskelgefühls, keine
Abnahme der erhaltenen Sicherheit der Einzelbewegungen durch Augenschluss,
durch welchen auch die Fähigkeit zu stehen und gehen keine Einbusse erleidet.
Alsbald ist auch schon besonders nach activen Bewegungen die Stei-
gerung der Sehnenphäno mene leicht wahrnehmbar. Das Kniephänomen,
welches auch in der Norm Intensitätsschwankungen erkennen lässt, ist über diese
hinaus , und zwar an der von der Lähmung stärker betheiligten Extremität noch
erheblicher gesteigert; oft beantwortet der Extensor quadriceps einmaliges
leichtes Anklopfen der Patellarsehne mit wiederholtem Emporschnellen des Unter-
schenkels. Das Fussphänomen ist alsbald auch hervorzurufen; bei seiner
geringeren Ausbildung giebt das Fussgelenk der passiven Dorsalflexion des Fusses
unter Verkleinerung der Excursion der Zitterbewegungen allmählich nach, bei höherer
dauert das Fusszittern so lange an, als die Dorsalflexion unterhalten wird. Wenn
schon dabei ein gewisser Widerstand der Muskulatur bemerkt wird, so macht
sich auch anderweitig Muskelspannung und Rigidität bei passiven
Bewegungen geltend , oft geringer bei langsamen , als bei schnellen Bewegungs-
versuchen, und lässt bisweilen, besonders bei Beugungsversuchen des Kniegelenkes
einmal überwunden, plötzlich nach (Taschenmesse rphänomen, v. d.
Velden 71). Mit der Steigerung der Sehnenphänomene gehen die Hautreflexe
keineswegs parallel, welche nur selten gesteigert sind und dann indirect Sehnen-
phänomene hervorrufen können, meist aber normal oder selbst herabgesetzt zu
sein pflegen.
An den Muskeln tritt keine Atrophie auf, nur bei älteren Fällen mit-
unter ganz leichte Abmagerung.
Demgemäss bleibt die elektromuskuläre Erregbarkeit für beide
Stromesarten ganz normal; niemals tritt Entartungsreaction auf. Auch die
elektrische Nervenerregbarkeit zeigt niemals irgendwelche wesentliche
Alterationen, nur mitunter eine leichte lediglich durch exacte Methoden nach-
weisbare Erregbarkeitsherabsetzung (vgl. Bd. IV, pag. 422).
Anderweitige spinale Symptome , wie Störungen der Potenz und der
Blasen functionen, fehlen oder zeigen letztere nur eine vorübergehende Störung
(Erb 62). Treten diese oder Sensibilitätsstörungen irgendwie deutlicher hervor , so
haben diagnostische Bedenken über die Reinheit des Krankheitsbildes obzuwalten.
Denn es ist zu berücksichtigen, dass nicht allzu selten Myelitiden des Dorsalmarks
unter dem Bilde der spastischen Spinalparalyse einsetzen können und erst später
deutliche Sensibilitätsstörungen und Blaseninnervationsstörungen , auch Decubitus
hinzutreten (Leyden05) u. A. , vgl. Bd. IX, pag. 376). Andererseits kommen
auch Fälle vor, bei welchen nach vorübergehenden Sensibilitätsstörungen dieselben
später ganz fehlen und in der That der reine Symptomencomplex der spastischen
Spinalparalyse übrig bleibt (Westphal Gi).
Auch im weiteren äusserst chronischen Verlauf e zeigt sich in
reinen Fällen nur gradweise Zunahme der oben beschriebenen Lähmungs- und
spastischen Symptome, indem einerseits die Paraparese meist innerhalb von
Monaten oder Jahren allmählich zunimmt, selten aber nur in eine vollständige
638 SPINA L LÄHMUNG.
Paraplegie überseht, indem andererseits die Muskelspannungen zu anfallsweisen
oder permanenten Contracturcn sich steigern, ohne dass auch weiterhin Sensibilitäts-
störungen , Blasenlähmung , Decubitus hinzutreten. In der Regel handelt es sich
um Streckcontracturen der Beine, so dass auch im Sitzen dieselben im Knie
gestreckt bleiben und die Füsse starr in leichter Equinusstellung stehen. Soweit
die Kranken noch im Stande sind allein oder geführt zu gehen, besteht die oben
geschilderte spastische Gangart mit kleinen steifen Schritten und balancirenden
Bewegungen des Oberkörpers, oft mit Neigung nach vorn zu fallen, oder seltener
die von Erb02) beschriebene Modification derselben, dass durch Contractur der
Wadenmuskeln bei jedem Schritte die Fersen sich erheben und durch das Fuss-
zittern beim Aufsetzen eine eigenthümlich hüpfende Gangart entsteht, aus welcher
einzelne früher beschriebene Fälle sogenannten saltatorischen Reflexkrampfes aller
Wahrscheinlichkeit nach zu erklären sind.
In einem letzten glücklicherweise nur selten erreichten Krankheitsstadium
tritt völlige Unfähigkeit ein zu gehen. Die Kranken liegen dann mit durch Con-
tractur der Adductoren des Obersehenkels aneinander gepressten Knieen mit
Streckcontractur der Beine. Die Steigerung der Sehnenphänomene hat so zu-
genommen , dass durch forcirte Beugung des Kniegelenkes (Westphal 47) , oder
durch Herabziehen der Patella (Erb 62) ein dem Fussphänomen analoger , lang
dauernder Zitterkrampf der Oberschenkelmuskeln hervorgerufen werden kann und
die geringste Erschütterung des Lagers genügt, die höchsten Grade des Fuss-
zitterns herbeizuführen , welche schon früher von Brown - Sequard mit der
unpassenden Bezeichnung Epilepsie spinale belegt waren.
Dieser Ausgang in eine vollständige motorische Paraplegie ist aber ver-
hältnissmässig selten, indem in der Regel die spastische Lähmung innerhalb von
Monaten und Jahren allmählich bis zu einem gewissen das Gehen meist noch, zuweilen
mit hüpfender Gangart, ermöglichenden Grade fortschreitet, dann aber durch viele
Jahre, 12 und mehr, stationär bleiben oder namentlich unter geeigneter Behand-
lung Remissionen darbieten kann.
Mehr oder minder früh ist in einzelnen wenigen Fällen auch ein Fort-
schreiten der spastischen Lähmung auf die Oberextremitäten , mitunter auch nur
auf eine beobachtet werden , so dass auch hier spastische Contractur , besonders
der Pectorales und Erschwerung und Verlangsamung der Beweglichkeit, deutlich
vom Intentionszittern oder der Ataxie unterscheidbar, bei erhöhten Sehnenphänomenen
vorhanden sind. Es versteht sich von selbst, dass, da die anatomische Basis der
spastischen Spinalparalyse als systematische Seitenstrangsklerose noch keineswegs
genügend sichergestellt ist, gerade in diesen Fällen immer eher an multiple Sklerose
gedacht werden muss. Noch zweifelhafter ist, ob Fälle spastischer Spinalparalyse, bei
denen Verlangsamung der Sprache, sowie anderweitige bulbäre Lähmungserschei-
nungen vorhanden sind, überhaupt hierher gerechnet werden dürfen.
Die kindliche Form der spastischen Spinalparalyse macht nur selten
vor Ende des ersten Lebensjahres Krankheitserscheinungen , indem nur zuweilen
schon vorher der Wärterin aufgefallen ist, dass die Beine sich nicht natürlich
bewegen und spreizen lassen. Meist wird aber erst bei den ersten Gehversuchen ent-
deckt, dass die Beine mit steifen aneinander gepressten Knieen, die Füsse in
leichter Fussspitzstellung aufgesetzt und sehr wenig von einander gebracht und
gehoben werden, so dass das Gehen sehr schwer und unvollkommen gewöhnlich
erst im 3. oder 4. Lebensjahre erlernt wird und dadurch pathologisch bleibt,
dass unter balancirenden Bewegungen des Oberkörpers die Füsse oft gekreuzt,
nach wenigen kleinen Schritten immer wieder in Equinusstellung aufgesetzt werden,
ein eigenthümlich hüpfender oder springender Zehengang, bei welchem rasche
Abnützung des Zehentheils des Schuhwerkes einzutreten pflegt.
Die Untersuchung ergiebt auch hier nirgends absolute Paralyse, sondern
nur Parese und motorische Schwäche mit starker Rigidität der Muskeln,
besonders der Adductoren des Oberschenkels, welche nach Gehversuchen am
SPINALLÄHMUNG. 639
stärksten zu sein pflegt, während die Sehnenphänomene zwar meistens deutlich
gesteigert sind, aber nicht in allen Fällen (Seeligmüller 24), E. Remak) vielleicht
dann nicht, wenn die für die Erzeugung derselben nothwendige mittlere Spannung
der Muskeln tiberschritten ist. Sensibilitätsstörungen leichterer Art können
bei Kindern tibersehen werden und gelegentlich vorkommende Blasenstörungen
finden in diesem Alter oft nicht die entsprechende pathologische Würdigung, so
dass gerade hier die Unterscheidung spastischer Spinalparalysen von
diffusen Myelitiden und Sklerosen ungewiss bleibt. Wenn Contracturen auch in den
Oberextremitäten vorhanden sind , so pflegen auch späte Erlernung der Sprache,
Stupidität u. s. w. eine cerebrale oder cerebrospinale Genese der spastischen
Kinderlähmung wahrscheinlich zu machen (vgl. oben). Auch bei dieser ist
der Verlauf ein eminent chronischer, indem, wenn überhaupt, erst nach langer
Zeit, die Bewegungsfähigkeit und der Gang etwas besser werden können
(Ruprecht 75).
Neben diesen reinen Formen der spastischen Spinalparalyse haben
Berger63) und Erb62,78) auf Grund der Beobachtung, dass der Symptomen-
complex derselben mit anderweitigen spinalen Erscheinungen, besonders mit
Sensibilitätsstörungen, lancinirenden Schmerzen, Ataxie,
Schwanken bei geschlossenen Augen und Blasenstörungen com-
binirt vorkommt, Mischformen der präsumirten Seitenstrangsklerose
mit tabischer Hinterstrangsklerose angenommen. Da zur Aufstellung
derselben ausreichende anatomische Befunde noch nicht vorliegen, so muss es
dahingestellt bleiben , ob solche thatsächlich vorkommende Krankheitsfälle nicht
meistens von unregelmässig localisirten myelitischen oder sklerosirenden Processen
abhängen, die spastische Spinalparalyse hier also nur eine Theilersch einung dieser
Affectionen ist , oder es sich in der That um combinirte Systemerkran-
kungen handelt. In Betreff letzterer ist das von Westphal 64) auf Grund ein-
schlägiger klinisch-anatomischer Beobachtungen gewonnene Resultat zu erwähnen,
dass das von ihm etwas weiter gefasste Krankheitsbild der spastischen Spinal-
paralyse (m i t Sensibilitätsstörungen und Blasenstörungen) durch strangförmige
Erkrankung der Seitenstränge bedingt sein kann in Verbindung
mit Erkrankung der Hinterstränge, wenn letztere nicht bis in
den Lendentheil (untersten Brüstt heil?) herabreicht.
Als zweite Mischform der spastischen Spinalparalyse beschrieb Erb 62) Fälle,
in welchen zu derselben partielle degenerativ-atrophische Lähmung
z. B. der Daumenballenmuskeln wahrscheinlich durch Uebergreifen des Krankheits-
processes auf die vordere graue Substanz hinzutritt, so dass eine Uebergangsform
zu der amyotrophisch- spastischen Spinalparalyse (vgl. unten III.) vorliegt.
Beiläufig ist die ganz unbewiesene Hypothese Seeligmüller's74) anzuführen,
dass Bd. III, pag. 460 und Bd. IX, pag. 354 , auch als Myotonia congenita Bd. IX , pag. 397
erwähnte eigenthtimliche meist angeborene Krankheitszustände von Muskelsteifigkeit
mitunter mit Muskelhypertrophie, aber ohne alle Lähmung, bei welchen die Sehnenphänomene
übrigens nicht gesteigert sind, ebenfalls mit Erkrankung der Seitenstränge in Zusammen-
hang zu bringen und als hypertrophische spastische Spinalparalyse auf-
zufassen wären.
Die Pathogenese der spastischen Spinalparalyse ist bei
ihrer wechselnden pathologisch-anatomischen Basis sehr verschiedenartig. So viel
scheint festzustehen, dass, wie schon Erb in der zweiten Auflage seines Lehr-
buches seine frühere Ansicht modificirte, das Symptomenbild der spastischen
Spinalparalyse überall da auftritt, wo eine sich langsam entwickelnde
Erkrankung (auch Compression) der Pyramidenbahn (vgl. Bd. III, pag. 713)
an irgend einer Stelle ihres langen Verlaufes vorliegt.
Die grösste Schwierigkeit macht die Erklärung der spastischen
Erscheinungen, insbesondere der Steigerung der Sehnenphänomene,
für welche die, auch ohne dass jene intra vitam voraufgegangen sind, zuweilen
anatomisch eonstatirte Seitenstrangsaffection allein nicht verantwortlich gemacht
640 SPINALLÄHMUNG.
wird, sondern ein von ihr ausgehender dynamischer Reizzustand der
multipolaren Ganglienzellen der grauen Vorderhörner, durch welchen ein erhöhter
Tonus (Hypertonus) der Muskeln entstehen soll (Charcot 66), Lion 79). Nach einer
älteren Anschauung werden die spastischen Erscheinungen und gesteigerten Sehnen-
phänomene durch den Ausfall in den Seitensträngen verlaufender reflexhemmender
Fasern erklärt (Berger G3) , Erb °2) , welche Theorie neuerdings Adamkiewicz 80)
dahin modificirt und erweitert hat, dass er den Tonus der Muskeln unter dem
Einfluss einer doppelten Innervation stehend annimmt, derjenigen der Hinterstränge,
welche ihn unterhält, und derjenigen de* Hinterseitenstränge, welche ihn hemmt,
so dass durch einen Defect von Seitenstrangsfasern die spastische Parese erklärt
werden könnte.
Die symptom atologische Diagnose der spastischen Spinalparalyse
kann weder gegenüber den niemals spastischen peripheren noch den ebenfalls
flacciden atrophischen Spinallähmungen (namentlich auch nicht für die spastische
Kinderlähmung gegenüber der atrophischen), noch gegenüber der durch das Fehlen
der Sehnenphänomene , lancinirende Schmerzen , Sensibilitätsstörungen , Ataxie,
Blasenstörungen u. s. w. charakterisirten Tabes schwanken. Schwieriger kann,
wie bereits angedeutet, in einzelnen Fällen, namentlich auch bei zunächst ein-
seitiger Lähmung die Unterscheidung von cerebralen oder auch cerebrospinalen
Processen sein, in welcher Beziehung das Fehlen aller Cerebralsymptome, die
Nichtbetheiligung des Facialis, des gleichseitigen Armes, der Sprache u. s. w. den
Ausschlag geben müssen.
Wenn die symptomatologische Diagnose gesichert ist, wird es aber von der
grössten praktischen Wichtigkeit sein, substantielle chronische (systematische oder
nicht systematische, auch multiple) Rückenmarkserkrankungen von einer Rücken-
markscompression, etwa in Folge von Erkrankungen der Wirbel oder der Rücken-
markshäute, meist syphilitischer Natur, zu unterscheiden, in welcher Beziehung
die Anamnese, Deformitäten oder örtliche Empfindlichkeit der Wirbelsäule, circum-
scripte Parästhesien oder Anästhesien im Bereiche der Intercostalnerven und
andere sogenannte Wurzelsymptome (vgl. Bd. XI, pag. 536) wichtige Fingerzeige
abgeben können.
Die Prognose ist für das Leben bei dem chronischen niemals auf für
dasselbe wichtige Organe übergreifenden Verlaufe und dem Mangel aller sonst bei
Rückenmarkserkrankungen gefährlichen Complicationen , wie Blasen- und Nieren-
affectionen, Decubitus u. s. w. stets eine gute. Dass in einzelnen Fällen meist
mehr acuter Entstehung völlige Heilung eingetreten ist, wurde bereits angeführt.
In der Regel handelt es sich aber um eine unheilbare Affection, welche indessen
nicht den im Allgemeinen progressiven Charakter der Tabes hat , sondern durch
viele Jahre stationär zu bleiben pflegt und unter geeigneter Behandlung bis zu
einem gewissen Grade besserungsfähig ist.
Die Therapie der spastischen Spinalparalyse muss zunächst, wenn
irgendwie die Verwechslung mit einer oft unter diesem Bilde auftretenden syphili-
tischen Spinalaffection möglich ist, der causalen Indication durch eine energische
aber vorsichtig geleitete antisyphilitische Cur zu genügen versuchen, da unter
dieser Bedingung noch am ehesten nach vorliegenden auch von mir zuweilen
bestätigten Erfahrungen vollständige Heilung zu erwarten ist. Bei den echten
chronischen spastischen Spinalparalysen ist die Therapie nach den dafür bei
chronischen Rückenmarkskrankheiten überhaupt massgebenden Grundsätzen zu
leiten. Von inneren Mitteln können Jodkalium , Argentum nitricum, welches
auch nach meinen Erfahrungen gelegentlich Erfolge zu haben schien, vielleicht
noch Auro-Natrium chloratum (v. D. Velden71) in Anwendung gezogen werden.
Nehmen die Spasmen und Contracturen sehr überhand, so können Bromkalium,
Bromnatrium , Bromammonium in grossen Dosen (Charcot 18) von Nutzen sein,
während Belladonna unwirksam zu sein pflegt, Morphium die Spasmen sogar
steigern kann (v. d. Velden71) und Strychnin unter allen Umständen contra-
SPINALLÄHMUNG. 641
indicirt ist (Erb °2). Von äusseren Behandlungsmethoden ist die
Hydrotherapie anscheinend gelegentlich von Erfolg begleitet, besonders aber hat
die consequente Rückenmarksgalvanisation nach den Bd. IV, pag. 450 u. ff.
besprochenen Methoden nach den Erfahrungen von Erb 62) u. A. , welche ich
mehrfach bestätigen konnte, zwar nur sehr selten wohl Heilungs-, aber doch häufig
sehr erhebliche Besserungserfolge aufzuweisen.
Dagegen dürfte es sehr zweifelhaft sein, ob die Bd. IX, pag. 522 auch
für diese Affection empfohlene, hier übrigens noch am ehesten rationelle Nerven-
dehnung nach den gänzlichen Misserfolgen Westphal's 81) noch weiter erprobt
werden soll.
Die spastische Kinderlähmung, bei welcher ebenfalls die con-
sequente Rückenmarksgalvanisation einige Erfolge aufzuweisen hat (Erb 62),
Ruprecht 7ö) , erfordert namentlich in Fällen von Zehengang als letzte zuweilen
noch erfolgreiche Massnahme eine chirurgisch-orthopädische Behand-
lung durch fixirende Verbände, auch nach vorausgeschickter Tenotomie der Achilles-
sehne (Ruprecht 75). Jedenfalls dürfte es sich aber empfehlen , die Verbände so
einzurichten, dass die Kinder damit gehen können (Seeligmüller74).
III. Atrophisch- (amyotrophisch-) spastische Spinalparalyse.
Als atrophisch-spastische Spinallähmung im Allgemeinen
kann man diejenige spinale Lähmungsform bezeichnen, bei welcher eine von vorn-
herein atrophische oder ursprünglich spastische und nachher erst atrophische
Lähmung einzelner Muskeln mit spastischerLähmung anderer einhergeht.
Da die atrophische Spinallähmung allemal von Erkrankung der den gelähmten
Muskeln entsprechenden Kernregionen der grauen Vordersäulen oder des intra-
medullären Wurzelverlaufes, die spastische dagegen von spinaler Leitungslähmung
der Pyramidenbahn abhängig zu machen ist, so ist bei circumscripten die graue
und weisse Substanz betheiligenden Rückenmarkserkrankungen in den dem affi-
cirten Spinalsegment entsprechenden Muskeln atrophische, in den unterhalb
gelegenen spastische Lähmung zu erwarten. Bei derartigen Erkrankungen nur
des obersten Theiles der Lendenanschwellung kann also gelegentlich selbst an
derselben Unterextremität atrophische Lähmung des Oberschenkels mit spastischer
Lähmung des Unterschenkels einhergehen. Viel häufiger wird aber bei Affectionen
der Halsanschwellung atrophische, meist mit Contracturen vergesellschaftete Lähmung
der Oberextremitäten bei exquisit spastischer Lähmung der Unter-
extremitäten mit oder auch ohne Sensibilitätsstörungen der letzteren beob-
achtet sowohl bei der die Pachymeningitis cervicalis hypertrophica (vgl. Bd. X,
pag. 291) complicirenden als bei primärer chronischer Cervicalmyelitis (Leyden 82, 83),
Killian 84) (vgl. Bd. IX, pag. 386) , ebenso aber auch bei Tumoren der Hals-
anschwellung , z. B. in einem kürzlieh von F. Schultze 85) beschriebenen Falle
von Gliomatose des Halsmarks. Bei weiterer Ausbreitung der cervicalen Affection
bis in die Medulla oblongata hinauf treten weiterhin bulbärparalytische Symptome
hinzu (Leyden83), Killian84), F. Schultze85), so dass ein mit der nunmehr
zu schildernden Affection auffallend übereinstimmendes klinisches Krankheitsbild
entstehen kann.
Die amyotrophisch-spastische Spinal- oder genauer Spinal-
oder Bulbärparalyse im engeren Sinne ist die correspondirende klinische
Bezeichnung der zuerst von Charcot 18> 66) aufgestellten und mit dem anatomischen
Krankheitsnamen: amyotrophische Lateralsklerose belegten symme-
trischen mit Alteration der grauen Vordersäulen combinirten
Seitenstrangsklerose, für deren pathologisch-anatomische Darstellung auf
den gleichnamigen Artikel verwiesen wird. Es darf aber auch an dieser Stelle
nicht verschwiegen werden, dass die Existenzberechtigung dieser übrigens durch
mehrere congruente anatomische Befunde auch von anderen Autoren bestätigten
lpeciellen Krankheitsform auf das Nachdrücklichste von Leyden 82, 86, 83) nament-
sich deswegen bestritten wird, weil er denselben anatomischen Befund als der
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 41
642 SPINALLÄHMUNG.
gewöhnlichen schlaffen Form der amyotrophischen Bulbärparalyse (vgl. Bd. II,
pag. 636) häufig zukommend in Anspruch nimmt und nicht für zwei klinisch
wesentlich verschiedene Krankheiten verantwortlich zu machen vermag. Dem hier
nach dem Vorgange von Charcot 18) u. A. als der amyotrophischen Seite n-
strangsklerose zukommend darzustellenden Symptomencomplex soll nach
Leyden 86, 83) nicht ausnahmsweise, wie bereits oben angedeutet, sondern regelmässig
eine nicht systematische, sondern diffuse chronische Cervicalmyelitis zu Grunde liegen.
Die Aetiologie der amyotrophisch-spastischen Spinal- und Bulbär-
paralyse ist in der Regel nicht zu ermitteln. Nur in einem Drittel der Fälle
konnte Erkältung, einmal ein einige Zeit voraufgegangener Sturz (Charcot18),
einmal ein Schlag in den Nacken (Eisenlohr 87) verantwortlich gemacht werden.
Wie dies auch von der gewöhnlichen schlaffen Bulbärparalyse bekannt ist (vgl.
Bd. IV, pag. 514), wurde auch die Entwicklung dieser Affection in unmittelbarem
Anschluss an eine starke Gemüthsaufregung (Schreck) beobachtet
(Adamkiewicz 88). In einem von mir untersuchten, einen 23jährigen Soldaten
betreffenden einschlägigen noch nicht abgeschlossenen Falle entwickelten sich die
Lähmungserscheinungen der Arme einige Zeit nach einem Schrecken und
gleichzeitiger übrigens vergeblicher Ueberanstrengung der Erster en, mittelst
der Zügel die durchgehenden Pferde eines Wagens aufzuhalten. Während über
die Beziehungen der Heredität zu dieser Erkrankung beim Erwachsenen Nichts
feststeht, betrafen die nahezu einzigen bisher bekannt gewordenen Fälle des kind-
lichen Alters vier aus einer Verwandtenehe entsprossene Geschwister (Seelig-
müller u).
Vorkommen. Abgesehen von der soeben erwähnten übrigens noch
nicht durch die Obduction verificirten kindlichen Form, ist die amyotrophisch-
spastische Spinalparalyse eine immerhin seltene , von Charcot 18) zuerst nur auf
Grund von höchstens 20 zum Theil noch streitigen Fällen beschriebene Erkrankung
des erwachsenen Alters, zwischen dem 26. und 50. Jahre, vielleicht etwas häufiger
bei Frauen (Charcot 18).
Symptomatologie. Man hat drei Krankheitsstadien (Charcot18),
oder vielmehr drei meist nacheinander auftretende Krankheitslocalisationen zu
unterscheiden, die erste an den oberen, die zweite an den unteren Extre-
mitäten, die dritte im Bereich der Bulbärnerven.
Die Affection beginnt ohne Fieber und ohne Störungen des Allgemeinbefin-
dens, namentlich auch im Gegensatz zur Pachymeningitis cervicalis Tiypertroyylüca
ohne Nackenschmerzen mit Steifigkeit und allmählich zunehmender
Schwäche der Arme, meist erst in dem einen , nach einiger Zeit auch im
anderen, zuweilen mit lästigen Parästhesien und spannenden Schmerzen in denselben.
Fast regelmässig haben die Kranken schon vorher schmerzlose Zuckungen an
ihnen gespürt, welche ausgebreiteter und stärker als fibrilläre unregelmässig bald
hie bald da besonders an den Schulter- und Oberarmmuskeln sichtbar sind. Alsbald
sind die Sehnenphänomene auffällig gesteigert. Weiterhin entwickelt sich
eine bei activen und passiven Bewegungs versuchen der Oberextremitäten erkennbare
Muskelspannung und später Contractur besonders der Mm. pectorales,
der Beuger des Ellenbogens, des Handgelenks und der Finger, so dass die Arme
adducirt in rechtwinkliger Beugestellung des Ellenbogengelenks, die Hände stark
pronirt, das Handgelenk volarflectirt, die Finger eingeschlagen gehalten werden.
Die Versuche, die contracturirten Extremitäten zu bewegen, sind schmerzhaft,
ersichtlich deswegen, weil die Dehnung und Palpation der Muskeln empfindlich
ist. Ziemlich schnell entwickelt sich nun Abmagerung, welche sich im Verlaufe
weniger Monate zu bedeutender Atrophie en masse steigert, zwar kein Muskel-
system verschont, aber doch regelmässig auch hier in einzelnen (Schulter und
Streckseite des Vorderarms) besonders hohe Grade zu erreichen pflegt. Durch
diese Mischung von Contractur und atrophischer Lähmung entstehen Deformitäten,
z. B. rechtwinklige Volarflexion des Handgelenks, wie sie in diesem Grade bei
SPINALLÄHMUNG. 643
anderen Formen atrophischer Lähmung kaum vorkommen. Mit noch weiter fort-
schreitender besonders an der Hand oft skelettartiger Atrophie lassen die Con-
tracturen und ebenso die Steigerung der Sehnenphänomene wieder nach, so dass
letztere an den ganz atrophischen Muskeln später fehlen können. Dieselbe Steifig-
keit und Contractnr befällt auch bisweilen schon anfangs die Nackenmuskeln, so
dass der Kopf dadurch geradezu unbeweglich festgestellt sein kann (Ciiarcot 18),
während in einem späteren meist schon mit vorgeschrittener Bulbärparalyse com-
plicirten Krankheitsstadium im Gegentheil der Kranke nicht im Stande ist, den
Kopf zu tragen, und dieser bei enormer Atrophie der Nackenmuskeln völlig der
Schwere überlassen bleibt (Charcot 66), Adamkiewicz 88).
Charakteristisch für diese Cervicalparaplegie ist, abgesehen von den ihr
eigenthümlichen spastischen Erscheinungen , sowohl gegenüber der progressiven
Muskelatrophie als der chronischen atrophischen Spinallähmung, dass innerhalb viel
kürzerer Zeit durchschnittlich schon innerhalb 6 Monaten, sich die hochgradigste
atrophische Lähmung ausbildet, bei welcher übrigens immer noch die Lähmung
und nicht die Atrophie die Situation beherrscht (Charcot 18).
Das elektrische Verhalten der Nerven und Muskeln der Ober-
extremitäten ist in den verschiedenen Beobachtungen nicht übereinstimmend gewesen.
Nach Charcot 1S) bleibt, wie bei der progressiven Muskelatrophie, die faradische
Erregbarkeit erhalten. Die Beobachtung Erb's10) über Mittelform der EAR (er-
haltene Nervenerregbarkeit, erhöhte galvanomuskuläre Entartungsreaction) hat ihre
Beweiskraft verloren, seitdem die anatomische Untersuchung von F. Schultze 85)
seinen Fall als nicht hierher gehörig ergeben hat. Aber auch in anatomisch
bestätigten Fällen ist Mittelform der EAR und in einzelnen Muskeln schwere EAR
beobachtet worden (Pick8w), Eisenlohr87), während Adamkiewicz 88) zwar eben-
falls schwere und Mittelform der EAR fand, aber ausserdem im Verlauf einer nur
dreitägigen Beobachtung noch sehr complicirte, zu weitgehenden Schlussfolgeruugen
verwerthete und schon Bd. IV, pag. 426 kritisirte Erregbarkeitsverhältnisse. In
mehreren Fällen konnte aber EAR nicht nachgewiesen werden, sondern die Erreg-
barkeit war entweder normal oder entsprechend herabgesetzt (Berger 90), Kahler
und Pick45), Moeli 91), Seeligmüller71). Diese Differenzen dürften vielleicht auf
eine mehr oder minder acute Entwicklung der seeundären Muskelatrophie zurück-
zuführen sein.
Die das zweite Krankheitsstadium inaugurirende Lähmung der Unter-
extremitäten entwickelt sich nach Charcot18) 2 bis 3 Monate nach Beginn
der Oberextremitätenaffection, scheint aber eben so oft auch gleichzeitig mit dieser
(Berger 90), Pick 89), Kahler und Pick 45) oder selbst vor dieser (Charcot 13),
Moeli91) auftreten zu können. Auch hier gehen gewöhnlich ziemlich starke
Zuckungen der Muskeln der allmählich sich einstellenden Parese vorauf, welche alle
Charaktere der spastischen Spinalparalyse an sich trägt, so dass für ihre
Beschreibung auf Abschnitt II dieses Artikels zu verweisen ist. Die Rigidität und
Contractur bei hochgradiger Steigerung der Sehnenphänomene, in den höheren
Graden mit spontanen Zitterkrämpfen, scheint auch hier häufig die active Beweg-
lichkeit mehr zu hindern, als die eigentliche Lähmung. Dieselbe kann sich weiterhin
zu absoluter spastischer Paraplegie steigern, ohne dass auch hier die Sensibilität
oder die Blase betheiligt zu sein pflegen, oder Decubitus auftritt. In den Endstadien
des Krankheitsprocesses soll auch an den Unterextremitäten Muskelatrophie ein-
treten, welche aber niemals, auch nur annähernd, den hohen Grad erreicht, wie
an den Oberextremitäten, und ebenso nicht von einem wesentlichen Nachlass der
spastischen Symptome begleitet zu sein pflegt. Auch sind schwerere Abnormitäten
des elektrischen Verhaltens, soweit ich die Literatur übersehe, noch
niemals an den Unterextremitäten beobachtet worden.
Die dritte Krankheitslocalisation tritt 6 Monate bis ein Jahr nach Beginn
der Krankheit mit den bulbärparaly tischen Erscheinungen hinzu,
welche ein nothwendiges Glied dieser Krankheit bilden sollen (Charcot 18), zuweilen
41*
til-l SPINAL LÄHMUNG.
aber ausbleiben, wenn bei chronischerem Verlauf durch intercurrente Krankheiten
der Tod vor ihrer Entwicklung eintritt (Moeli 9 ') , mitunter aber auch manchmal
wieder die Scene eröffnen (Adamkiewicz 88), Ferrier 92). Sie bestehen in Zungen-
und Gaumenlähmung mit Deglutitions- und Articulationsstörungen mit allmählicher
Entwicklung von Zungenatrophie anzeigender Einkerbung ihrer Oberfläche unter
fibrillären Zuckungen derselben. Dazu tritt Schwäche der Lippenmuskeln, so
dass das Spitzen des Mundes nicht möglich ist. Bei aufmerksamer Beobachtung
soll namentlich im Anfange eine gewisse maskenartige Starre der Züge bei
starker Ausprägung der Nasolabialfalten und leichter Contractur der Stirnmuskeln
dem Gesicht ein etwas von der gewöhnlichen schlaffen (atonisehen) amyotrophischen
Bulbärparalyse abweichendes Aussehen verleihen (Charcot co). In den höchsten
Graden treten bei völliger Anarthrie und Deglutitionsparalyse durch Betheiligung
der Vaguskerne Suffocationsanfälle und schliesslich Respirationslähmung hinzu,
wenn nicht schon vorher , wie das fast die Regel zu sein scheint, eine intercurrente
Pneunomie den letalen Ausgang herbeigeführt hat.
Elektrische Anomalien im Bereich der gelähmten Lippen- und Zungen-
muskeln, namentlich deutliche EAR, scheinen bei den durch die Obduction veri-
ficirten hierher gehörigen Fällen von Bulbärparalyse nicht wie bei den gewöhnlichen
Formen (vgl. Bd. IV, pag. 427) beobachtet zu sein. Dagegen ist die von Erb 93)
bei schlaffer Bulbärparalyse beobachtete Steigerung der Haut refl exe in
den Gesichtsmuskeln auch hier von Eisenlohr 87) gesehen worden.
Der stets progressive Verlauf der amyotrophischen - spastischen
Spinalparalyse ist im Vergleich zur progressiven Muskelatrophie und chronischen
atrophischen Spinallähmung ein schneller, indem dieselbe mitunter schon innerhalb
8 Monaten (Kahler und Pick 45) , durchschnittlich innerhalb 3 — 4 Jahren zum
Tode zu führen pflegt, wenn auch davon Ausnahmen etwas langsameren Ablaufs
vorkommen, gerade wie sich auch das Auftreten der einzelnen Krankheitsphasen,
wie bereits angedeutet, gegenseitig verschieben kann. Namentlich scheint dies von
den von Seeligmüller 74) beschriebenen kindlichen Fällen zu gelten, bei denen
schon von vornherein nach allmählicher Entwicklung vom 9. Lebensmonate ab
näselnde Sprache vorhanden war, der älteste Fall aber nach schon 12jähriger
Dauer noch lebte.
Die Pathogenese der amyotrophisch-spastischen Spinal- und Bulbär-
paralyse wird aus dem anatomischen Befund der amyotrophischen Lateralsklerose
heraus so erklärt , dass die spastische Paralyse in der im Abschnitt II dieses
Artikels erörterten Weise von der Seitenstrangsklerose abhängig zu machen ist,
während die Entwicklung der Muskelatrophie dem Schwunde der multipolaren
Ganglienzellen der Vorderhörner und die amyotrophische Bulbärparalyse dem
Uebergreifen dieses Processen auf die betreffenden Kerne der Medulla oblongata
entspricht. Auch das bereits oben erwähnte befremdliche Verhalten, dass derselbe
anatomische Befund einmal die gewöhnliche schlaffe amyotrophische Bulbärparalyse
mit ebenfalls schlaffer Muskelatrophie, bei der vorliegenden Affection aber die
spastische Lähmung mit Atrophie erklären soll , haben Kahler und Pick 45) durch
die auch pathologisch-anatomisch gestützte Annahme aufzuklären versucht, dass
die Lateralsklerose bei letzterer Affection an einer höheren Stelle (vielleicht schon
im Gehirn) beginnt und erst, nachdem dieselbe vollständig ausgebildet ist, die
Vordersäulenatrophie nachträglich hinzutritt.
Die Diagnose des Symptomencomplexes der amyotrophisch-spastischen
Spinal- und Bulbärparalyse kann in den typischen Fällen bei den ganz charak-
teristischen Symptomentrias einer ohne Nackenschmerzen aufgetretenen spastisch-
atrophischen Cervicalparaplegie, einer spastischen Spinalparalyse der Unterextremitäten
und einer amyotrophischen Bulbärparalyse gegenüber ähnlichen Affectionen (Pachy-
meningitis cervicalis hypertrophica , chronische atrophische Spinalparalyse, mul-
tiple degenerative Neuritis, progressive Muskelatrophie u. s. w.) keine Schwie-
rigkeiten bereiten. Anders steht es auch hier gemäss den noch obwaltenden
SPINALLAHMUNG. 645
pathologisch-anatomischen Controversen und der jedenfalls sehr bedeutenden klinischen
Uebereinstimmung mancher nicht systematischer Erkrankungen an Cerviealmyelitis
und Tumoren auch für geübte Diagnostiker mit der Sicherheit der anato-
mischen Diagnose einer combinirten Systemerkrankung der Seitenstränge
und grauen Vordersäulen, welche vorläufig nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose
sein wird.
Die Prognose ist allemal sowohl für die Wiederherstellung als für
das Leben eine ganz schlechte, indem noch kein Fall von Heilung bekannt ist,
die Krankheit vielmehr binnen weniger Jahre unaufhaltsam zum letalen Aus-
gange führt.
Die bisher ganz ohnmächtige Therapie ist nach den für chronische
Rückenmarksaffectionen geltenden Grundsätzen zu leiten. Auch hier dürften vom
innerlichen Gebrauch des Jodkalium und der Nacken- und Rückengalvanisation
noch am ersten wenigstens vorübergehende Erfolge zu erwarten sein. Werden die
spastischen Erscheinungen sehr lästig, so kommt die bei der vorigen Affection
(unter II. dieses Artikels) angeführte symptomatische Medication in Betracht.
IV. Acute LANDRY'sche Spinalparalyse.
Geschichtliches. Begriffsbestimmung. Von Landry ,Ji) wurde
1859 als „Paralysie ascendante aigue" eine Krankheit beschrieben, welche unter
den Erscheinungen einer rasch von unten nach oben aufsteigenden, zuletzt
die Schling, Sprach- und Athemmuskeln ergreifenden Lähmung in der Regel
zum Tode führt, ohne dass der regelmässig negative Obductionsbefund
der Nervenapparate ihre Pathogenese aufklärt. Obgleich durch mehrere den
negativen anatomischen Befund bestätigende Beobachtungen auch deutscher Autoren
(Küssmaul 95), Bernhardt 96) die Besonderheit dieser Affection wiederholt hervor-
gehoben war, wurde nach der Duchenne 'sehen 6) Aufstellung der von Vorderhorn-
erkrankung abhängigen generalisirten Lähmungen (vgl. den Abschnitt I dieses
Artikels), namentlich von der CHARCOT'schen Schule der Versuch gemacht, denselben
auch diese Krankheit als acuteste Unterart, also etwa nach der jetzigen pathologisch-
anatomischen Nomenclatur als Poliomyelitis anterior acutissima einzuordnen
(Petiteils 97) u. A.), bei welcher nur wegen des rapiden Verlaufes die für jenen
pathognomonischen Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit ausbleiben sollten
(Bernhardt 96) u. A.).
Es ist Westphal's 9) Verdienst, den durchaus negativen anatomischen
Befund des Nervensystems besonders des Rückenmarks und der Medulla
oblongata in mehreren mit allen neueren Hilfsmitteln genau untersuchten Fällen
erhärtet zu haben, welche ausserdem durch die vollständige (in zwei dieser
Fälle von mir bis zum tödtlichen Ausgang constatirte) Integrität der elek-
trischen Nerven- und Muskelerregbarkeit während ihres ganzen zum
Theil mehrwöchentlichen Verlaufes sich als deutlich verschiedene Krankheit von den
im Abschnitt I dieses Artikels behandelten Aficctionen abhoben.
Da trotz mehrerer neuerer noch anzuführender verschiedenartiger positiver
anatomischer Befunde die Thatsache des Vorkommens von fortschreitenden tödt-
lichen Lähmungen ohne anatomische Grundlage im Rückenmark u. s. w. durch
Westphal 9) sichergestellt ist, so muss diese vorläufig noch nach keinem ana-
tomischen Eintheilungsprincip unterzubringende klinische Kranheitsform hier ihre
besondere Stelle finden. Da es sich aber eben nur um eine klinische Affection
ohne oder jedenfalls ohne übereinstimmendes anatomisches Substrat handelt, so ist,
wenn anders es überhaupt darauf ankommt, verschiedene Affectionen auseinander-
zuhalten , für dieselbe auch genau das von Landry 94) und besonders von West-
phal 9) aufgestellte Symptomenbild festzuhalten , zu welchem die völlige
Integrität der elektrischen Erregbarkeit in allen Krankheits-
stadien gehört. Daran darf auch der Umstand nichts ändern, dass neuere Fälle
vorliegen (Jaefe 35), R. Schulz und F. Schultze 21) , welche tödtlich nach Be-
theiligung der Bulbärnerven verlaufen sind, obgleich schwere elektrodiagnostische
646 SPINALLÄHMUNG.
Alterationen sie als atrophische Spinallähmungen erwiesen hatten. Ist es doch auch
sonst nicht in der Nosologie üblich, lediglich wegen ihres tödtlichen Verlaufes
klinisch und anatomisch verschiedene Krankheiten zusammenzuwerfen. Es ist
deshalb die auf Grund dieser bereits anderweitig von mir classificirten Fälle (vgl.
unter Prognose des Abschnittes I, 1 dieses Artikels) neuerdings wieder von
R. Schulz und F. Schultze21) entwickelte Ansicht, dass vielleicht eine fort-
laufende (also zusammengehörige) Kette von AfFectionen von den leichtesten
atrophischen Spinallähmungen bis zur acuten tödtlichen LANDRY'schen Paralyse
bestände, zurückzuweisen und diese vielmehr als Krankheit sui generis festzuhalten.
Dieselbe kann aber als „tödtliche" in der Krankheitsbenennung deswegen nicht
bezeichnet werden, weil klinisch immerhin übereinstimmende und also vielleicht hierher
gehörige Fälle mit Ausgang in Heilung beobachtet sind, ebenso wie das LANDRY'sche
Epitheton aufsteigend als nicht allemal zutreffend deswegen fallen gelassen werden
muss , weil wenn auch allerdings selten Fälle absteigenden Verlaufes vorkommen
(Pellegrino-Levi 98), Bernhardt 90), Strübing ").
Als Aetiologie der LANDRY'schen Paralyse konnte mehrfach Erkäl-
tung ermittelt werden (Hayem 10°), Leiblinger 101), Eisenlohr 25), Strübing").
Auffallend häufig hat sich dieselbe in der Reconvalescenz acuter Krankheiten
entwickelt, so nach Pocken (Chalvet 102) , Bernhardt96), nach Diph-
theritis (Westphal 9), nach Typhus (Leudet103), Kümmell 104). Auf Grund
anamnestisch ermittelter syphilitischer Antecedentien wurde mehrfach die Syphilis
als ätiologisches Moment beschuldigt (Landry 94), Kussmaul 95) , ganz besonders
aber dann, wenn die Erscheinungen der acuten aufsteigenden Paralyse unter anti-
syphilitischer Behandlung zurückgingen (Bayer105), Chevalet 106). Trotzdem ist
der nicht einmal aus der Statistik sich ergebende ätiologische Zusammenhang mit
der Syphilis schon deshalb sehr zweifelhaft , weil bei syphilitischen Affectionen
anatomische Läsionen gefunden zu werden pflegen (Erb 10), vgl. Bd. XI, pag. 542).
Als vorläufig vereinzelte Beobachtung ist der von Baumgarten 107) für seinen
Fall vermuthete Zusammenhang mit einer vorausgegangenen Hauteinreibung mit
Pferdefett zu erwähnen, welches wahrscheinlich von einem Thiere mit Milzbrand
herrührte.
Vorkommen. Die LANDRY'sche Paralyse ist eine glücklicherweise sehr
seltene Krankheit des mittleren Lebensalters zwischen dem 20. und 40. Jahre,
ist aber auch bei noch älteren Individuen und sogar bei Kindern beobachtet
worden (Gru1'8), Kahler und Pick109). Sie soll sehr viel häufiger beim männ-
lichen Geschlecht sein (Pellegrino-Levi 98).
Symptomatologie. Nach dunkeln, sich mitunter durch Wochen hin-
ziehenden Vorboten, wie allgemeinem Unbehagen, ziehenden Schmerzen im
Rücken und Nacken, ein geschlaf enem Gefühl der Extremitätenenden , beginnt die
Krankheit ohne Fieber, welches auch weiterhin mit seltenen Ausnahmen ganz
fehlt, mit motorischer Schwäche und Parese einer Unterextremität,
welche bald mitunter schon innerhalb von Stunden, meist aber innerhalb eines
oder höchstens einiger Tage auf die andere übergreift. So lange die Kranken noch
gehen können, ziehen sie die Beine nach, die Kniee knicken ein, so dass ein Stock
zu Hilfe genommen wird. Binnen Kurzem geht die Parese in vollständige Paralyse
über, so dass die Kranken bald paraplegisch an's Lager gefesselt sind, von dem
sie meist nicht mehr aufstehen sollen. Bis auf ganz leichte Zehenbewegungen oder
frustrane Bewegungen auch anderer Muskeln besteht schlaffe Paraplegie mit völliger
Resolution ohne alle spastischen Erscheinungen. Nicht lange nachher wieder inner-
halb von Stunden bis einigen Tagen stellt sich Parese der Rumpf-, d. h. der
Becken-, Bauch- und Rückenmuskeln ein, so dass die Fähigkeit verloren
geht, sich aus der Rückenlage aufzurichten , zu sitzen , oder sich aus sitzender
Stellung langsam niederzulegen, ferner die Bauchpresse anzuwenden. Nun beginnt
wieder nach einer kurzen Pause Schwäche in einem oder dem anderer Arme,
sei es des Händedrucks oder der Schulter- und Oberarmbewegungen. Nicht lange
SPINALLAHMUNG. 647
dauert es, so bestellt auch hier bis auf geringe Beweglichkeitsreste Paralyse und
bald wird auch der andere Arm in derselben Weise ergriffen.
Meist schon ehe so vollständige Hilflosigkeit durch Lähmung aller vier
Extremitäten mit passiver Rückenlage eingetreten ist, haben sich ganz allmählich
zunehmende Schling- und weiterhin Sprachstörungen eingestellt. Anfangs
können grössere Bissen nur bei gewisser Kopfhaltung ohne Anstrengung verschluckt
werden. Alsbald erfolgt jede Deglutition mit sichtbaren Würgebewegungen , es
tritt Verschlucken mit Husten und bei bereits vorhandener Velumparalyse Regur-
gitation von Flüssigkeiten durch die Nase ein; bisweilen leiden auch die Kinn-
muskeln und die Fähigkeit den Mund zu öffnen. Jede Mahlzeit wird so immer
mehr zur Qual für den meist bei gutem Appetit befindlichen Patienten und seine
Umgebung, so dass schliesslich die Ernährung durch die Schlundsonde unab-
weisbar wird.
Da das Allgemeinbefinden und das Sensorium ganz intact bleiben, so
müssen die Kranken mit klaren Sinnen von Tag zu Tag eine Function nach der
andern schwinden sehen. Denn auch die S p r a c h e ist unterdessen näselnd und
undeutlich geworden, die Stimme zuweilen rauh und heiser; allmählich nimmt
die Articulationsstörung bis zur völligen Unverständlichkeit zu, so dass der ganz
bewegungslose Kranke nicht einmal seine Wünsche und Klagen verständlich machen
kann. Dann treten Störungen der Athmung hinzu, welche durch Zwerchfell-
parese in den costalen Typus bei gesteigerter Frequenz übergeht, Suffocations-
anfälle, bis endlich Respirationslähmung nach Umnebelung des Bewusst-
seins die deswegen um so ergreifendere Krankheitsscenerie schliesst, als es sich
gewöhnlich um junge kräftige Individuen handelt.
Dieses nur in groben Zügen geschilderte Krankheitsbild kann einige
Modifikationen erleiden dadurch, dass gelegentlich einmal die Arme vor den Beinen
erkranken, die bulbären Symptome schon verhältnissmässig früh auftreten, ferner
das Tempo, in welchem die Lähmungserscheinungen fortschreiten, in verschiedenen
Fällen verschieden ist. Jedenfalls wird aber auch bei dieser Spinalparalyse das
ganze Krankheitsbild wesentlich durch die motorische Paralyse beherrscht,
welche, wie schon erwähnt, allemal eine schlaffe (flaccide) ist.
Die Reflexerregbarkeit ist nur in einem in Heilung übergegangenen,
also möglicherweise nicht hierhergehörigen Fall gesteigert gefunden worden (Eisen-
lohe, 25). Meist war sie vermindert oder ganz erloschen (Westphal 9), Vülpian no),
ElSENLOHE n2).
Die Sehnenphänomene waren niemals gesteigert ; nie scheint das
Fussphänomen beobachtet zu sein. Sie fehlten dagegen in einzelnen besonders
nach dieser Richtung untersuchten Fällen völlig (Westphal 9), Kahlee und Pick 109)
und kehrten bemerkenswertherweise in einem Falle nach der Heilung wieder (Kahler
und Pick109).
Die elektrische Nerven- und Muskelerregbarkeit ist in allen
sicher hieher gehörigen Fällen auch längerer Dauer bis zu 4 Wochen und etwas
mehr stets normal gefunden worden (Kussmaul05), Pellegeino-Levi 98), Been-
haedt 96), Westphal und E. Remak 9), Eisenlohe 112), Kahlee und Pick 109),
Kümmell 104), so dass dieser negative klinische Befund unter Umständen geradezu
als pathognomonisch für diese Affection gelten muss. Dementsprechend tritt
niemals irgend eine erhebliche Muskelatrophie, sondern höchstens bei
längerer Dauer leichte Abmagerung auf.
Abgesehen von den Bulbärnerven werden andere motorische Cerebralnerven
nur selten afficirt. Nur ausnahmsweise wurde D i p 1 o p i e beobachtet (Pellegeino-
Levi90), einmal Accommodationsparese (Beenhaedt 96), zweimal einseitige
Pupillendilatation (Chalvet 102), Westphal9). Von Kümmell104) wurde
nacheinander aufgetretene Facialisparalyse beider Seiten beschrieben.
Gegenüber entsprechend schweren Fällen acuter Myelitis ist bei den
hochgradigen sonstigen Lähmungserscheinungen sehr auffällig die regelmässige
G48 SPINALLÄHMUNG.
Integrität der Sphincteren des Mastdarms und der Blase. Gelegentlich
ist zwar vorübergehende Harnretention , aber niemals Incontinentia urinae et alvi
beobachtet worden.
Die Sinnesnerven leiden ebensowenig wie das Sensorium, letzteres
nur bei intercurrentem Fieber und in der Agone. Dagegen ist die Sensibilität
nicht blos subjeetiv im Anfang und im weiteren Verlauf durch abgestorbenes
Gefühl der gelähmten Glieder betheiligt, sondern auch objeetive Sensibilitäts-
störungen sind mehrfach constatirt worden (Landry91), Hayem1u0), Eisenlohr25),
Westphal9), Vulpian110), Emminghaus111), Kahler und Pick109), wenn auch
mitunter selbst in neueren Beobachtungen (Eisenlohr 112), Strübing ") dieselben
vermisst wurden. Niemals handelt es sich aber wieder im Gegensatz zur acuten
Myelitis um ausgebreitete und schwere Anästhesien, sondern nur um leichte, lediglich
die Extremitätenenden (Westphal 9) betreffende Alterationen der Tast- , Schmerz-
(von Emminghaus 10) und Kahler und Pick 109) auch verlangsamt beobachtet),
oder Temperaturempfindung, für welche Kahler und Pick 109) in zwei Fällen eben-
falls sehr auffällige Verlangsamung fanden, gelegentlich auch des Muskelgefühls
(Westphal 9).
Aus der Geringfügigkeit dieser Sensibilitätsstörungen und dem Fehlen von
Blaseninnervationsstörungen u. s. w. ist zu erklären, dass niemals Decubitus
aufzutreten scheint.
Von anderweitigen nicht nervösen Symptomen ist vielleicht die von Kahler
und Pick109) und von Kümmell104) auch bei Lebzeiten constatirte Milz-
schwellung von Wichtigkeit.
Der Verlauf der acuten LANDRT'schen Paralyse ist entweder ein rapider,
indem sie schon binnen 2 — 3 Tagen zum Tode führen kann ; in anderen Fällen,
besonders wenn die Lähmungserscheinungen etwas langsamer fortschreiten, können
bis zum tödtlichen Ausgange 2 oder 3 bis wohl höchstens 5 Wochen verfliessen.
Ausser dieser pernieiösen Form kommen aber auch Fälle mit ebenso
rapider, innerhalb weniger Tage fortschreitender Entwicklung der Lähmung vor,
welche bei einer gewissen Ausbreitung derselben innehalten und dann gewöhnlich
in der Art, dass die zuletzt erkrankten Glieder zuerst wieder bewegungsfähig
werden, schrittweise langsam innerhalb von mehreren Wochen, meist 10 bis 14
bis zur völligen Rückkehr der Beweglichkeit sich bessern. Es sind dies nicht blos
auch als Abortivform der LANDRY'schen Paralyse bezeichnete Fälle, bei denen es
noch nicht zu einer Erkrankung der Bulbärnerven gekommen war, sondern selbst
diese können schon betheiligt gewesen sein (Emminghaus 1U). Allerdings ist dabei
immer ein Irrthum der Diagnose im Auge zu behalten (Vulpian 110), indem in der
That viele der als geheilt angeführten Fälle einer strengen Kritik deswegen nicht
Stand halten , weil abweichende Symptome , wie starke Schmerzen , Haut- und
Muskelhyperästhesie, schwerere Blasenstörungen, besonders aber Alterationen der
elektrischen Erregbarkeit mit nachfolgender Atrophie (Labadie-Lagrave U3),
Levi 114) u. A.) sie als nicht hierher gehörig charakterisiren.
Die pathologisch-anatomische Untersuchung der Nervenapparate
(Gehirn, Medulla oblongata, Rückenmark, periphere Nerven) hat zunächst in zahl-
reichen auch mikroskopisch genau untersuchten Fällen (Vulpian110), Cornil und
Ranvier 97), Bernhardt 96), Westphal 9), Kahler und Pick 109) ein durchaus
negatives Resultat ergeben und wurden ältere geringfügige positive Befunde
(Hayem 10°), Lockhart Clarke 115), Kiener 102) von Westphal 9) als ganz irre-
levant und nicht geeignet bezeichnet, die schwereren Krankheitserscheinungen
zu erklären.
Ein seitdem von v. d. Velden 116) veröffentlichter interessanter Fall von
disseminirter Myelitis der weissen Rückenmarksstränge ist als klinisch ganz ver-
schieden nicht zu verwerthen.
Es muss dahingestellt bleiben, ob andere neuere Befunde, wie theilweise
parenchymatöse Neuritis der vorderen Wurzeln (Dejerine und Goetz 117) Exsudat-
SPINALLAHMUNG. 649
massen um den Centralcanal und in der vorderen Längsspalte des Rückenmarks
(Baumgarten 107), ein analoger Befund und ausserdem capilläre Blutextravasate
und Exsudatbildungen in der Medulla oblongata und im Pons (Eisenlohr 112),
ferner frische symmetrisch gelegene Stecknadelkopf- bis erbsengrosse hämorrhagische
Affectionen des untersten Theiles der Medulla oblongata (Kümmell 104) eine
grössere Bedeutung haben und nicht vielleicht zum Theil als secundäre agonale
Producte aufzufassen sind.
Bei dieser geringen Ausbeute der nervösen Befunde ist es von grossem
Interesse, dass die schon in früheren Fällen mehrfach namentlich von Hayem 10°)
und Baumgarten 107) beobachtete parenchymatöse Schwellung der grossen
Unterleibsdrüsen, besonders der Milz, seitdem Westphal 9) die Aufmerk-
samkeit auf diesen auch von ihm bestätigten Befund gelenkt , anscheinend regel-
mässig wieder gefunden worden ist (Eisenlohr112), Kahler und Pick109),
Kümmell104). Dagegen ist das von Baumgarten107) im Blute constatirte Vor-
kommen von Bakterien bei darauf gerichteten Blutuntersuchuugen (Westphal9),
Kahler und Pick 105) noch nicht wieder bestätigt worden.
Die Pathogenese der acuten LANDRY'schen Paralyse ist bei den
nahezu völlig negativen anatomischen Befunden des Nervensystems ganz unklar,
indem auch diejenigen Autoren , welche neuerdings wieder mikroskopische Ver-
änderungen zu constatiren vermochten, ihre Unzulänglichkeit zugestehen, die Krank-
heitserscheinungen zu erklären.
Namentlich kann wohl die vermuthete Zugehörigkeit dieser Affection zu
den acuten Vorderhornerkrankungen als völlig widerlegt betrachtet werden. Eher
wäre noch nach dem Vorgange von Leyden 118) , auch auf Grund der Befunde
von Eisenlohr112) und Kümmell104) an eine primäre acute Erkrankung
der Medulla oblongata zu denken, obgleich auch, abgesehen von den in
dieser Richtung durchaus negativen Untersuchungen von Westphal 9), die von den
Unterextremitäten allmählich aufsteigende und erst gradatim die Bulbärnerven er-
greifende Ausbreitung der Lähmung ganz abweichend von der Enstehung acuter
meist mit Schwindel und Cerebralerscheinungen einsetzender Bulbärparalysen ist.
Auch das Schwinden der Sehnenphänomene dürfte nach anderweitigen Erfahrungen
(vgl. Abschnitt II dieses Artikels) mit einer localen Affection der Medulla oblongata
ganz unvereinbar sein. Unter diesen Umständen bleibt vorläufig nichts weiter übrig,
als von anatomischen Erkrankungen des Nervensystems abzusehen, und nach dem
Vorgange von Landry S4), Hayem 10°), Bernhardt 96), Westphal 9) an eine vorläufig
räthselhafte Intoxication desselben zu denken, für welche die parenchymatöse
Schwellung der Unterleibsdrüsen zu sprechen scheint, während die Vermuthung
einer Bakterienkrankheit noch ungenügend gestützt ist.
Die Diagnose der LANDRY'schen Paralyse kann bei der fieberlosen und
schmerzlosen acuten Entwicklung einer schlaffen Lähmung ohne Erregbarkeits-
störungen gegenüber anderen centralen und peripheren La hm u ngsformen
nicht schwierig sein, eigentlich nur gegenüber einer acuten diffusen Myelitis
schwanken, gegenüber welcher das Fehlen von Fieber, von Reizerscheinungen aller
Art, von ausgedehnten Sensibilitätsstörungen, von Blasenlähmung, vielleicht auch
das Fehlen der Sehnenphänomene entscheidend sein werden. Namentlich wenn erst
die Bulbärerscheinungen hinzugetreten sind, dürfte die ominöse Diagnose gesichert
sein, da die acute Bulbärparalyse in anderer Weise apoplectisch auftritt.
Nicht überflüssig scheint es aber für die Anfangsphasen auf die Möglichkeit einer
Verwechselung mit zuweilen in ähnlicher Weise auftretenden hysterischen
Lähmungen hinzuweisen, in welcher Richtung, abgesehen von den anamnestischen
Angaben, auch vielleicht das Verhalten der Sehnenphänomene die Differential-
diagnose ermöglichen wird.
Die Prognose der LANDRY'schen Paralyse ist bei gesicherter Diagnose
fast immer eine sehr schlechte, indem der tödtliche Ausgang mit den erwähnten
seltenen Ausnahmen in nicht zu langer Zeit zu erwarten ist.
650 SPINALLÄHMUNG.
Die Therapie ist in den tödtlichen Fällen bisher ganz ohnmächtig
gewesen, das Fortschreiten der Lähmnngserscheinungen aufzuhalten. Ob dieselbe
überhaupt zu den sogenannten Heilungen von dieser Affection irgend etwas bei-
getragen hat , ist umsoweniger zu entscheiden , als diagnostische Irrthümer mit
untergelaufen sind. Dies gilt namentlich von der auf Grund der LEVi'schen 114)
Beobachtung, von W. Busch118) warm empfohlenen Application des Ferrum
candens am Rücken , so dass vorläufig noch eine wissenschaftliche Berechtigung
fehlt, die ohnehin schweren Leiden der Patienten durch dies die Rückenlage sehr
erschwerende heroische Mittel zu vermehren.
Von anderen zuweilen mit Erfolg gekrönten Behandlungsmethoden sind
ausser der bereits erwähnten antisyphilitischen Behandlung, welche in
jedem in dieser Beziehung verdächtigen Falle energisch einzuleiten sein wird, zu
erwähnen : die Application von Eisbeuteln an der Wirbelsäule bei innerlicher Ver-
abreichung von Seeale cornutum (Emminghaus ni) und dann die auch von Erb 10)
empfohlene frühzeitig anzuwendende Rückenmarksgalvanisation (Eisen-
lohr 112), Kahler und Pick109).
Weiterhin werden blutige und trockene Schröpfköpfe, wiederholte Vesi-
cantien am Rücken, Anregung der Hautthätigkeit , von innerlichen Mitteln Jod-
kalium empfohlen.
Selbstverständlich ist die aufmerksamste Pflege und tonisirende Ernährung
nöthigenfalls mit der Schlundsonde, und bei günstig verlaufenden Fällen eine ent-
sprechende Nachbehandlung mit Elektricität u. s. w. erforderlich.
V. Secundäre Spinalparalysen.
Als secundäre Spinalparalysen sollen nach dem Vorgange von Leyden 82)
hier einige Lähmungsformen , gewiss zum grössten Theil wenigstens spinalen Ur-
sprungs , zusammengefasst und cursorisch besprochen werden , welche wegen der
noch fehlenden oder jedenfalls sehr verschiedenartigen pathologisch- anatomischen
Basis in den nach diesem Eintheilungsprincip abgefassten Artikeln dieses Werkes
nicht oder nur ganz beiläufig berücksichtigt werden konnten, aber auch wegen
ihrer wechselnden Symptomatologie nicht einmal, wie die bisher hier abgehandelten
Aflectionen, eine systematische symptomatologische Darstellung zulassen. Gemeinsam
ist diesen seeundären Spinalparalysen daher nur, dass sie das Nervensystem nicht
primär, sondern erst im Gefolge irgend welcher anderer Affectionen seeundär
befallen, so dass für ihre Classification gerade das ätiologische Moment
allein maassgebend ist.
1. Spinale Reflexlähmungen. Als Reflexlähmungen wurden von
Stanley 120) und Graves 121) schon vorher als sympathische Paralysen bekannte,
meist schwere in der Form der Paraplegie auftretende Lähmungen im Gefolge von
Erkrankungen anderer Organe, besonders des Darmes, der Harnwege und
des Uterus bezeichnet, weil auf Grund negativer anatomischer Befunde
am Rückenmark eine functionelle Lähmung desselben reflectorischen Ursprungs
anzunehmen wäre.
Die Richtigkeit dieser Beobachtungen vorausgesetzt, sind zu ihrer Erklä-
rung zwei Theorien der Reflexlähmung aufgestellt worden, die vasomotorische
Theorie von Brown-Seqüard 122), nach welcher die Lähmung von einem durch
den peripheren von dem erkrankten Organe ausgehenden Reiz herbeigeführten
Gefässkrampf im Rückenmark abhängig zu machen ist, die Erschöpfungs-
theorie von Jaccoüd 123), nach welcher jener Reiz das im Rückenmark gelegene
Centrum erschöpfen und dadurch zu neurolytischer Lähmung führen soll
(vgl. Bd. IX, pag. 593).
Von einigermaassen diese letztere Theorie stützenden Experimentalunter-
suchungen sind, nachdem Combaire's 124) Angabe, dass nach Nierenexstirpation
Lähmung der Beine einträte, schon von Leroy d'Etiolles 125) bei Wiederholung
dieser Versuche nicht bestätigt werden konnte, besonders derjenigen von Lewisson 126)
und Soltmann 127) zu erwähnen, welche zeigten, dass starke Reizung von
SPINALLÄHMUNG. 651
Eingeweiden , z. B. heftiges Drücken der hervorgezogenen Niere, vorübergehend die
Rückenmarksinnervation hemmen und eine die Compression einige Zeit überdauernde
vollständige Paraplegie mit erloschener Reflexerregbarkeit bewirken kann. Aller-
dings ist der Unterschied der in diesen Experimenten vorübergehend wirkenden
sehr heftigen Reizung von den nur massigen Reizwirkungen einer schon länger
bestehenden meist chronischen Organerkrankung so evident, dass an eine einfache
Uebertragung dieser Versuchsergebnisse auf die gewöhnlichen sogenannten Reflex-
lähmungen nicht zu denken ist (Leyden 82).
Abgesehen aber davon, dass von Jaccoud 123) der überzeugende, auch
weiterhin stets im Auge zu behaltende Nachweis geliefert worden ist, dass bei
einem grossen Theil der zu Grunde liegenden Beobachtungen, namentlich von
Paraplegiae urinariae es sich entweder um zufällige Complicationen handelte oder
der klinische Causalnexus geradezu umgekehrt war , ist diesen Reflexlähmungs-
theorien wenigstens für die meisten derartigen Lähmungen dadurch der thatsäch-
liche Boden entzogen worden, dass, wie schon Romberg-128) vorausgesagt hatte,
genauere anatomische Untersuchungen unter Zuhilfenahme des Mikroskops zur Er-
klärung der Lähmungserscheinnngen durchaus genügende Befunde ergeben haben.
Neben anderweitigen Erkrankungen verschiedener Art, wie Meningitis acuta spinalis
(Gull 129) , Peripachymeningitis purulenta (Mannkopf 13°), Neuritis ischiadica pro-
pagata bei Peritonitis und Atheromatose der Beckenarterien (Kussmaul 131), wurden
namentlich myelitische Herde von Gull128), Leyden132), Laveran133) gefunden
(vgl. Bd. IX, pag. 367).
Da Leyden132) die Beobachtung machte, dass die der Paraplegia
urinaria zu Grunde liegenden myelitischen Erweichungen von der Stelle des
Rückenmarks ausgingen, wo die Blasennerven ein- und austreten, glaubte er diese
nur noch mit Unrecht sogenannten Reflexlähmungen auf eine im Artikel „Neuritis"
Bd. IX, pag. 584 schon mit Berücksichtigung ihrer experimentellen Grundlagen
besprochene Neuritis disseminata migrans mit consecutiver Myelitis zurückführen
zu sollen.
Wenn nun auch am angefahren Ort auseinandergesetzt wurde, dass die vor-
liegenden Experimentaluntersuchungen nicht ohne einen gewissen Zwang zur Erklä-
rung dieser pathologisch- anatomischen Thatsachen herangezogen werden können,
so genügen doch letztere an und für sich völlig, für den grössten Theil der früher
als Reflexlähmungen bezeichneten Lähmungen eine rein functionelle Läsion aus-
zuschliessen , sondern vielmehr eine anatomische (neuritische , paehymeningitische
oder myelitische) Basis anzunehmen. Daraus erklärt sich, dass diese Lähmungen
in der Regel von anderen durch entsprechende anatomische Erkrankungen bedingten
sich in keiner Weise unterscheiden, weshalb auch eine Beschreibung ihrer
Symptomatologie , ihres Verlaufes , Prognose u. s. w. füglich unterbleiben kann.
Als Reflexlähmungen im engeren Sinne hat man wohl nur noch das
Recht, diejenigen seltenen und merkwürdigen Lähmungen festzuhalten, welche im
unmittelbaren Anschluss an eine periphere Erkrankung entstehen, dann aber
gewöhnlich auch nicht die in den vorigen Abschnitten dieses Artikels geschilderten
klinischen Symptome einer von organischer Ursache irgend welcher Localisation
abhängigen Spinallähmung darbieten, sondern sich durch den Mangel von Störungen
der Ernährung, der elektrischen Erregbarkeit, der Reflexerregbarkeit, der
Sehnenphänomene und von wohl charakterisirten Sensibilitätsstörungen u. s. w. als
rein functionelle Paraplegien und Paraparesen mitunter mit Tremor kennzeichnen,
besonders aber dadurch sich auszeichnen, dass sie nach Beseitigung des Grund-
leidens mitunter bald zurückgehen (Charcot 18), Vulpian uo) u. A.)
Die meisten der nach Erkrankungen anderer Organe sich entwickelnden
seeundären Spinalparalysen gehören aber nicht dieser Kategorie an, sondern sind
auf eine mehr oder minder schwere anatomische spinale Erkrankung zurück-
zuführen , deren Pathogenese , ob sie auf in der Continuität fortgeleitete oder
ä distance entwickelte Processe zurückzuführen ist , dahingestellt bleiben muss.
652 SPINALLÄHMUNG.
Zunächst gilt dies von den meisten Lähmungen in Folge von Erkrankungen
der Harn- und männlichen Geschlechtsorgane, wie sie seltener von
der Niere (Stanley120), Leroy d'Etiolles120), Hermann134), häufiger von
der Harnblase, insbesondere bei Rcizungszuständen des Blasenhalses, von
Blennorrhoen, Gonorrhoen und Stricturen der Urethra (Stanley120),
Leroy d'Etiolles 125) u. A.), zuweilen nach innerlichem Gebrauch von Cantha-
riden, von Prostatahypert rophieen und Prost ataabscessen (Leroy
d'Etiolles126), von Hydro celen (Lücke, Leyden 82) auszugehen scheinen.
Fast in keinem Falle handelt es sich nach Leyden 82) um eine Reflexlähmung im
oben definirten Sinue, weshalb die Erscheinungsformen dieser Lähmungen sowohl
nach der Intensität als der Lähmungsform, der Prognose u. s. w. sehr verschieden sein
können. Am ehesten entsprechen den Anforderungen einer echten Reflexlähmung
gelegentlich bei Phimosen beobachtete Paraparesen der Unterextremitäten,
welche nach der Operation zurückzugehen pflegen (Hunt 135), Sayre 136).
Eine zweite Gruppe solcher secundärer Spinalparalysen sind die von
Reizungen der Schleimhaut des Intestinaltractus abhängigen Läh-
mungen, vielleicht einzelne der noch wenig aufgeklärten Dentalparalysen
(Soltmann 127) , besonders aber die Lähmungen nach Dysenterie (Josef
France, Graves 121), Fräser 136) u. A.), nach Gebrauch drastischer Abführ-
mittel (Hervier 138), nach hartnäckigen Diarrhoen und bei Wurmreiz,
besonders der Kinder (Jos. France, Moennich), von denen die zuletzt genannten
Formen meist guter Prognose in der That am ersten die Auffassung als functionelle,
vielleicht anämische Erschöpfungslähmungen zulassen (Leyden 82), Barie 139).
Eine dritte Gruppe bilden die nach Erkrankungen des Uterus
auftretenden Lähmungen, deren Pathogenese sehr verschieden sein kann. Am
allerhäufigsten handelt es sich wohl bei der grossen Frequenz von chronischen
Uterinaffectionen um rein zufällige Complicationen ; sehr selten ist die directe
Fortpflanzung des anatomischen Processes nachgewiesen. Soweit echte Reflex-
lähmungen angenommen werden dürfen, ist die Unterscheidung von hysterischen
Paralysen sehr schwierig, wenn nicht unmöglich (vgl. Bd. VII, pag. 69). Es
sind jedoch Fälle bekannt gegeben , wo nach Beseitigung von Metritiden und ander-
weitigen Uterinaffectionen (Lisfranc 140) , Nonat 141) u. A.), oder Reposition eines
Prolapses (Romberg128), Heilung länger bestehender Paraplegien eintrat, oder
andererseits solche, welche nach einer traumatischen Läsion dieser Theile, z. B. durch
Elektrisation der Vaginalportion (Echeverria 142) , oder Einbohrung einer Nadel in
die Vagina (M. Rosenthal143) aufgetreten waren und nach Beseitigung der
Noxe schnell zurückgingen.
Als vierte Gruppe können ebenfalls den Reflexlähmungen zugerechnet
werden nach traumatischen Verletzungen irgend welcher Art an Stellen
hinzutretende Lähmungen, welche von dem Trauma in nicht erkennbarer Weise
getroffen worden sind. Man hat nach Leyden82) diejenigen Fälle, wo nach
erlittenen Traumen, besonders nach Amputationen (Beneddxt 144), ferner
auch nach Schuss Verletzungen (Bumke145) Lähmungen oft mit Coutracturen
und klonischen Krämpfen allmählich hinzutreten und sehr wohl von fortgeleiteten
neuritischen Processen abhängen können, auseinander zu halten von den sehr
interessanten und seltenen Beobachtungen von Mitchell, Keen und Morehouse 146),
in welchen nach einer S chuss wunde, sobald die erste Erschütterung nach der
Verletzung vorbei war, Lähmungen in einem mit dem verletzten Gliede nicht im
Zusammenhang stehenden, entfernten Theile entdeckt wurden. Diese sich gewöhn-
lich unter einer geeigneten Behandlung schnell bessernden Lähmungen sind viel-
leicht als echte Reflexlähmungen zu deuten und können in ähnlicher Weise von
einer dynamischen Alteration des Rückenmarks abhängig gemacht werden, wie
Vulpian dies nach Landouzy 147) für den seltenen Fall versucht hat, in welchem
in unmittelbarem Anschluss an eine acute Gelenkaffection eine mitunter
schnell vorübergehende Lähmung des betreffenden Gliedes auftritt. Dafür, dass die
SPINALLÄHMUNG. 653
allmählich zu Gelenkaffectionen hinzutretenden Lähmungen dagegen neuritischen
Ursprungs zu sein pflegen, wird auf Bd. IX, pag. 583 und 587 verwiesen.
Die Therapie der Reflexlähmungen muss zunächst auf das
Grundleiden gerichtet sein, indem namentlich bei den seltenen echten Reflexlähmungen
von der Beseitigung von Blasenentzündung, von Blasensteinen, von Gonorrhoen,
Stricturen , Phimosen , Prostataerkrankungen , Dysenterien , Eingeweidewürmern,
Dislocationen der Gebärmutter u. s. w. unter Umständen auch die Heilung der
secundären Spinallähmung erhofft werden darf.
Selbstverständlich ist dann aber ferner auch die Lähmung an und für
sich je nach der anzunehmenden Grundlage derselben nach den dafür mass-
gebenden Grundsätzen innerlich und äusserlich, namentlich auch elektrotherapeutisch
zu behandeln. Besonders bei neuritischen Complicationen pflegt der galvanische
Strom die besten Erfolge zu haben (vgl. Bd. IV, pag. 447 und Bd. IX, pag. 591).
2. Spinalparalysen inFolge von acuten und chronischen
Krankheiten. In entschieden ursächlichem Zusammenhang mit acuten Krank-
heiten aller Art, namentlich mit acuten Infectionskrankheiten und
Exanthemen, wie Typhus, Diphtheritis, acuter Rheumatismus,
Cholera, Puerper alerkrankungen, Erysipelas, Variola, Scarla-
tina, Morbilli treten entweder im Verlaufe der keineswegs immer besonders
intensiven Erkrankung, oder häufiger imReconvalescenzstadium als Nach-
krankheiten, ebenso wie andere nervöse Affectionen (Neuralgien, Hyper-
ästhesien, Anästhesien, Ataxien, Neurosen aller Art) auch Lähmungen auf,
welche mehrfach besonders von Gublek 148) und neuerdings wieder erschöpfend
von Landouzy 147) abgehandelt worden sind, welche aber, abgesehen von der con-
gruenten Aetiologie, nach allerdings nur spärlich vorliegenden anatomischen Befunden,
noch mehr aber auf Grund ihrer meistens ausgesprochenen klinischen Symptome auf
sehr verschiedene Ausgangspunkte zurückzuführen sind. Manche dieser Lähmungen
kennzeichnen sich sowohl durch ihre äpoplectische Entstehung , als durch ihre
hemiplegische Localisation als entschieden cerebraler Natur und sind wahr-
scheinlich Producte encephalitischer (vgl. Bd V, pag. 582) oder embolischer
Processe. Ein vielleicht noch grösseres Contingent, besonders der Typhuslähmungen,
aber auch einzelner Lähmungen nach Pocken, Masern und Scharlach bilden meist
auf ein Nervengebiet begrenzte, zum Theil atrophische, ersichtlich periphere
Lähmungen mit entsprechenden Sensibilitätsstörungen, welche nach vorliegenden
anatomischen Befunden von peripherer Neuritis abhängen (vgl. Bd. IX, pag. 584).
Als secundäre Spinalparalysen inFolge von acuten Krank-
heiten sind hier diejenigen besonders nach Typhus, Diphtheritis, Variola, seltener
nach den anderen oben angeführten Affectionen auftretenden Lähmungen zu berück-
sichtigen, welche sich durch ihre paraplegische Localisation zuweilen mit Sensi-
bilitätsstörungen, selten nur mit Störung der Blasenfunctionen u. s. w. als spinale
Lähmungen charakterisiren. Während Gubler li8) noch bei allen derartigen
Lähmungen eine anatomische Erkrankung des Nervensystems ausschliessen zu
müssen glaubte und bei der von ihm besonders ausgeschiedenen Form mit Muskel-
atrophie letztere als primäres Muskelleiden auffasste und deswegen diese Lähmungen
als Paralysies amyotrophiques (vgl. Bd. I, pag. 285) bezeichnete, liegen jetzt
schon hinreichend anatomische Befunde von Myelitis disseminata (vgl.
Bd. IX, pag. 307) und Rückenmarks Sklerose vor, um wenigstens für die
schweren Lähmungsformen eine anatomische Erkrankung des Rückenmarks an-
zunehmen. Da dieselbe aber verschiedenartig localisirt sein kann, beispielsweise
Roger und Damaschino 149) ganz analoge poliomy elitische Alterationen bei einer
nach Typhus entstandenen spinalen Kinderlähmung beschrieben haben, wie sie
auch sonst bei spinaler Kinderlähmung ohne diese Aetiologie gefunden werden,
so versteht es sich von selbst, dass die nach acuten Krankheiten auftretenden
Spinallähmungen, sobald sie von anatomischen Rückenmarkserkrankungen ab-
hängen , die diesen entsprechenden klinischen Erscheinungen darbieten und daher
654 SPINALLÄHMUNG.
von analogen Erkrankungen anderer Aetiologie sich nicht, dagegen von ander-
weitigen Erkrankungen derselben Aetiologie wesentlich unterscheiden werden.
Da sowohl in anderen Rückenmarksartikeln dieses Werkes als besonders in fast
jedem der vorigen Abschnitte dieses Artikels die acuten Krankheiten unter
anderen ätiologischen Momenten angeführt werden mussten, so würde es zu
unnützen Wiederholungen führen, die verschiedenen auch sonst vorkommenden
spinalen Erkrankungsformen dieser Aetiologie noch einmal einzeln zu schildern.
Es genüge darauf hinzuweisen, dass sowohl Paraplegien mit Sensi-
bilität s s t ö r u n g e n, allerdings selten auch mit Blascnbetheiligung (Leyden 82),
sogenannte spastische Spinalparalysen, die verschiedenen Formen von
atrophischen Spinalparalysen sich im Anschluss an die erwähnten Affec-
tionen entwickeln können. Bei den zuletzt genannten Formen, namentlich von circum-
scripter atrophischer Lähmung werden in einzelnen Fällen dieselben differential-
diagnostischen Schwierigkeiten, wie auch sonst, gegenüber neuritischen Lähmungen
obwalten können. Auch von der acuten LANDRY'schen Paralyse wurde bereits
angeführt, dass sie im Anschluss an Typhus, Variola und Diphtheritis beobachtet
worden ist.
Von diesen auch symptomatologisch entsprechend charakterisirten Lähmungen
nach acuten Krankheiten sind nach Leyden 82) besonders nach Typhus auftretende
von Gübler148) als asthenische bezeichnete Spinallähmungen ausein-
ander zu halten, bei welchen ganz allein die Motilität betroffen ist, dagegen
Sensibilitätsstörungen, Blasenstörungen, Muskelatrophie und wie ich hinzufügen
möchte, auch Affectionen der Reflexerregbarheit und der Sehnenphänomene regel-
mässig fehlen. Zur Zeit, wo die Kranken anfangen zu gehen und zu stehen,
versagen die Beine ihren Dienst. Fast niemals handelt es sich um eine voll-
ständige Paralyse, sondern nur um eine Parese, welche während einiger Zeit noch
zunimmt, um sich nach einigen Wochen unter geeigneter Behandlung zu bessern.
Wahrscheinlich liegen diesen Lähmungen keinerlei schwere Veränderungen irgend
welcher Art, sondern nur Erschöpfung und Anämie zu Grunde.
Während demnach die meisten Spinallähmungen nach acuten Krankheiten
keine speeifische Symptomatologie darbieten, haben die schon im Artikel „Diphthe-
ritis" abgehandelten diphtheritischen Lähmungen schon durch ihre Localisation
ein charakteristisches Gepräge. Da aber auch als schwerere, von Landouzy147)
auffallend häufig in mehr als 60°/0 aller Fälle verzeichnete Form der diphtheritischen
Lähmung Paraparese der Unterextremitäten , meist übrigens mit Ataxie und
Sensibilitätsstörungen gepaart, beobachtet wird, so ist die diphtheritis che
Spinallähmung hier wenigstens zu nennen, zumal einige medulläre Befände
derselben vorliegen (vgl. Bd. IV, pag. 169 und 171).
Beiläufig kann nur berührt werden , dass ein anderer charakteristischer,
weniger in Lähmung als in Ataxie, Zittern, absatzweisen Bewegungen, scandirender
Sprache bestehender und wahrscheinlich auf multipler Sklerose beruhender
Symptomencomplex nach Typhus , häufiger nach Variola von Westphal 15°)
beschrieben worden ist.
Was für die nach acuten Krankheiten auftretenden Spinallähmungen über
den fast regelmässigen Mangel speeifischer Symptome gesagt wurde, gilt ebenfalls
von den auch im Verlauf chronischer Affectionen, besonders der Tuberkulose,
des Diabetes mellitus, auch der Syphilis vorkommenden Spinallähmungen.
Namentlich syphilitische Spinallähmungen sind wohl ausnahmslos auf anatomische
Alterationen der Rückenmarkshäute und des Rückenmarks zurückzuführen, bieten
aber, natürlich abgesehen von anderweitigen syphilitischen Complicationen, an und
für sich in ihrer Symptomatologie nichts Charakteristisches (vgl. Bd. XI, pag. 542).
Als eine seltene Form der Malaria larvata (vgl. Bd. VIII, pag. 538)
mögen hier merkwürdige Fälle von intermittirende n Spinalparalysen
(Macaeio 151% Romberg 128), Hartwig 162) ihre Stelle finden, welche nach Erb 10)
dadurch charakterisirt sind, dass eine bis zur völligen Paralyse fortschreitende
SPINALLÄHMUNG. 655
Lähmung beider Beine, mitunter auch der Arme mit oder ohne Anästhesie und Sphinc-
terenlähmung rasch sich entwickelt, stundenlang anhält und dann manchmal nach
kritischem Schweissausbruch zurückgeht, um nach einer Intermission von ein oder
zwei Tagen in derselben Weise sich typisch zu wiederholen , bis Chiningebrauch
die Anfälle coupirt.
Ebensowenig wie bei den von Landouzy liT) citirten gleichfalls sehr
interessanten, auf Grund von Malaria vorkommenden, vorübergehenden Hemiplegien,
meist mit Aphasie, dürfte auch hier an wesentliche Gewebsalterationen als Patho-
genese zu denken sei.
Der Verlauf und die Prognose der Spinallähmungen nach acuten
und chronischen Krankheiten sind je nach der Schwere der zu Grunde liegenden
Alterationen sehr verschieden und entsprechen den sonstigen Erfahrungen, nur dass
die Prognose dieser Lähmungen im Ganzen etwas besser zu sein pflegt (Leyden 82),
Landouzy147). Besonders günstig, weniger für die Datier der Affection, als für
die schliessliche Wiederherstellung ist die Prognose der oben geschilderten asthe-
nischen Spinallähmungen nach Typhus und verwandten Krankheiten.
Die Diagnose dieser Spinallähmungen bestimmter Aetiologie an und
für sich wird bei bekannter Anamnese sehr leicht sein, ist aber ohne weitere
anatomische Diagnose ohne besonderen Werth. Auch ohne Anamnese unverkennbar
sind häufig diphtherische Lähmungen und Ataxien, unter Umständen auch der
WESTPHAL'sche Symptomencomplex nach Pocken und Typhus und die inter-
mittirenden Spinalparalysen.
Die Therapie ist nur für die letztgenannte Form, in welcher sich das
Chinin als souveränes Mittel bewährt hat und bei den syphilitischen Spinal-
lähmungen eine specifische. Sonst unterscheidet sich die Behandlung der Spinal-
lähmungen nach acuten und chronischen Krankheiten von derjenigen primärer
Formen derselben Art nur dadurch, dass bei diesen Reconvalescenzaffectionen eine
allgemeine roborirende und tonisirende Diät uud Therapie von grosser Wichtig-
keit sein dürfte.
3. Als toxische Spinalparalysen sind ebenfalls den secundären
Spinalparalysen wahrscheinlich manche im Verlauf chronischer Intoxicationen,
besonders mit Blei, Arsenik, Phosphor, Quecksilber, Schwefelkohlenstoff, Tabak,
Campher, Seeale cornutum Alkohol, Lathyrus sativus u. s. w. auftretende Lähmungen
anzureihen, wenn auch die hierfür vorliegenden anatomischen Thatsachen und
Versuchsergebnisse (vgl. Bd. VII, pag. 204 und die einzelnen Artikel) noch ziemlieh
spärlich sind.
4. Als letzte Gruppe von secundären Spinallähmungen mögen die in
Folge von psychischen Einflüssen, durch Schreck und Einbildung
auftretenden, im Artikel „ Emotionsneurosen u , Bd. IV, pag. 515 abgehandelten
Spinalparalysen nachgelesen werden.
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Spinnengift. Bei sämmtlichen wahren Spinnen (Araneida) finden sich
sogenannte Gifthaken (Und s. falces) , d. h. klauenförmige Endglieder der als
Kiefer fungirenden Fühler, deren Spitze die Mündung einer meist im Basalgliede
der Kieferfühler gelegenen , hlinddarmförmigen Giftdrüse trägt , die ein von einer
starken , spiralig verlaufenden Muskelhaut umgehenes Bläschen bildet. Das in
dieser Drüse secernirte Gift ist ein klares, wasserhelles, dickes, öliges Fluidum
von sehr bitterem Geschmacke und stark saurer Keaction , welches bei grösseren
Spinnen in dem Momente, wo die Gifthaken in den Körper eines gefangenen
Thieres oder in die Haut des Menschen eindringen, als Tropfen in die gemachte
Wunde eintritt. Will und Blackwell wollen darin Ameisensäure nachgewiesen
haben, was um so glaublicher erscheint, als die durch das Gift beim Menschen
und bei grösseren Thieren hervorgebrachten Erscheinungen durch Spinnengift
entweder ausschliesslich oder doch fast ausschliesslich auf die Applicationsstelle
sich beschränken. Bei uns kommen Zufälle durch Spinnenbiss nur höchst aus-
nahmsweise vor, da die einheimischen Spinnen, selbst die grösste derselben, die
Kreuzspinne nicht ausgenommen, die Haut nicht zu durchbeissen vermögen und
SPINNENGIFT. 659
bei Versuchen als Folge des Kneifens höchstens einen blauen Fleck zurücklassen.
Anders bei den grossen tropischen Spinnen aus der Abtheilung der Würg- oder
Tapezier spinn e (M y galidäe) , deren Biss kleine Vögel zu töJten vermag,
insbesondere der stark behaarten Vogel- oder Buschspinne , Th eraphosa av i-
cularia Wal eh. (My g ale avicularia Latr.J, des tropischen Amerikas,
und verschiedenen anderen Species von Theraphosa , wie Th. Blond ü, Th.
Javanica in Ostindien und den Inseln des ostindischen Archipels. Neben diesen
colossalen Spinnen leben in den tropischen Ländern auch kleinere, sehr gefürchtete,
welche in ihren Dimensionen die grössten europäischen Spinnen nicht übertreffen,
so die als Arana picocaballo bezeichnete Minirspinne von Costarica, die nach
den Mittheilungen von Fkantzius besonders beim Vieh durch ihren Biss heftige
und lang anhaltende Entzündung erregt; ferner zwei als Katipo bezeichnete
Spinnen Neuseelands, von denen die eine Art ganz schwarz ist und in Gärten
lebt , während die andere auf dem sonst schwarzen Körper am Hinterleibe einen
rothen Fleck trägt und am Seegestade vorkommt ; beide sollen nicht allein heftige
Entzündung und Anschwellung, sondern auch Steifheit der Unterkiefer, Adynamie
mit intensiver Pulsverlangsamung und Sistiren der Respiration, bei Kindern selbst
den Tod herbeiführen. Von europäischen Giftspinnen scheint die Giftspinne von
Andalusien, welche vorzugsweise weidendes Vieh beisst, aber mitunter auch
Menschen angreift , der Arana picacaballo und der südeuropäischen Mauerspinne,
Cteniza caementaria, nahe verwandt zu sein. In Frankreich und Italien wird
auch die Kellerspinne, Seg estria cellaris s. perfida, gefürchtet, in ein-
zelnen Provinzen Italiens die Malmignatte , Lairodectus tredeeim
guttatus F. (Theridi um tredeeim punetatum) , der eine tropische
Giftspinne, die als Theridium Curassavicum bezeichnete Orangenspinne von Curacao,
nahe verwandt zu sein scheint und die bezüglich ihrer giftigen Wirkung mit so
vielen Mythen umgebene Tarantel, Lycosa Tarantula Rossi. Auch in
den Steppen Südrusslands kommen mehrere in Erdlöchern wohnende Spinnenarten
vor, deren Biss giftig wirkt, namentlich der sogenannte Karakurt, L a t r o d e c t u s
lugubris , nach dessen Bisse 33°/0 Kameele, 16°/0 Pferde und 12°/0 Bindvieh zu
Grunde gehen sollen, ferner Lycosa Song ar ensis und Epeira tobata.
Wie bereits bemerkt, sind die Vergiftungserscheinungen vorzugsweise
local entzündliche. Die Schmerzen sind bisweilen hochgradig und können mehrere
Stunden anhalten. Die Schwellung ist meist nicht so hochgradig wie bei den
Verletzungen durch die Giftstachel von Insecten, und das Exsudat, der Art der
Verletzung entsprechend, mehr auf der Oberfläche der Bissstelle abgelagert.
Manche der beobachteten entfernten Erscheinungen dürften auf den Shock durch
die plötzliche schmerzhafte Verletzung der in ihrem Vaterlande meist sehr ge-
fürchteten Thiere bedingt sein. Auch ist es nicht erwiesen, ob die in tropischen
Ländern wiederholt wahrgenommenen tetanischen Zufälle nach Spinnenbiss direct
durch das Spinnengift bewirkt werden, da namentlich in den Tropengegenden die
geringsten Verletzungen mit Wundstarrkrampf sich compliciren können. Auch
bezüglich der Tarantel, die man übrigens in einzelnen Gegenden Italiens durchaus
nicht fürchtet, scheinen die Verletzungen im Hochsommer (Juni- August) am
gefährlichsten zu sein, was man wohl richtiger mit der heissen Jahreszeit
als mit einem besonderen Zustande des Thieres (Paarungszeit) in Zusammenhang
bringt. Die grosse Persistenz von Geschwüren nach dem Bisse grosser tropischer
Spinnen dürfte bei der Verletzung durch die relativ stumpfen Gifthaken und der
unter den Tropen bestehenden Tendenz von Wunden zur Verschwärung etwas
Auffallendes nicht haben. Als Nachkrankheiten werden Icterus und Neuralgien
als Folge des Tarantelbisses in Corsica angegeben (De Santi).
Die in verschiedenen Ländern (Costarica, Neuseeland u. s. w.) übliche
locale Behandlung der Bissstellen mit Ammoniak ist bei der sauren Beschaffenheit
des Giftes nicht irrationell. Im Uebrigen ist die Behandlung eine symptomatische,
den allgemeinen Regeln der Therapie entsprechende. De Santi befürwortet nach
42*
660 SPJNNENG1FT. — SPIROMETRIE.
Erfahrungen in Corsica Scarificationen der Wunden und Schröpfköpfe, später
Opium und Stimulantien.
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für Path. u. Anat. Bd. LXVII, pag. 235. 1869. — Heinzel , Oesterr. Zeitschr. für prakt.
Heilk. pag. 20. 1866. — De Santi, Mem. med. mil. pag. 297. 1863. Husemann.
Spintherismus , Spintheropie (von tyrctv^p, Funke), s. „Photopsie",
X, pag. 562.
Spirillenembolie, s. „Milz", IX, pag. 78.
Spirochaete, s. „Bacterien", „Recurrens".
Spiritas, s. „Alkohol", I, pag. 189.
Spirometrie. Die Spirometrie lehrt uns die Grösse der vitalen Lungen-
capacität und sowohl die Beziehung dieser zu den krankhaften Veränderungen
der Lungen in prognostischer und diagnostischer Hinsicht, als auch die Verwerthung
derselben zur Beurtheilung des Erfolges therapeutischer Maassnahmen. Die vitale
Lungencapacität umfasst die Summe der Respirations- , Reserve- und der Com-
plementärluft oder das Quantum Luft, welches die Lungen von ihrer äussersten
Exspirationsstellung bis zur tiefsten Inspirationsstellung aufzunehmen im Stande
sind, also welches der Mensch nach einer möglichst tiefen Einathmung wieder
ausathmen kann. Ungemessen bleibt die Residualluft oder das Luftquantum, welches
nach Aufgebot aller den Thorax verengenden Kräfte noch in den Lungen bleibt.
Nur beiläufig sei noch erwähnt, dass man unter Reserveluft die Luftmenge versteht,
welche nach einer gewöhnlichen Exspiration noch durch forcirte Exspiration aus
den Lungen ausgestossen werden kann; Respirationsluft die Luftmenge nennt,
welche bei einer gewöhnlichen Exspiration ausgeathmet und bei einer gewöhnlichen
Inspiration eingeathmet wird, und mit Complementärluft die Quantität Luft bezeichnet,
welche man nach einer gewöhnlichen Inspiration durch weitere Forcirung derselben
noch aufzunehmen im Stande ist.
Die vitale Lungencapacität wird gemessen mit dem Spirometer. Obwohl
Halej und Jürin die Vitalcapacität der Lunge (1727) schon festzustellen suchten,
so bleibt doch Hutchinson (1846) der Schöpfer der Spirometrie, an deren
weiterem Ausbau sich später namentlich Simon, Fabius, Schneevogt, Wintrich,
Aenold, C. W. Müller, Waldenburg, Fetzer etc. betheiligten.
Die Construction des Spirometers ist bekannt; es gleicht einem Miniatur-
gasometer und besteht aus einem äusseren und inneren Cylindergefäss. Das innere
Cylindergefäss steht umgekehrt in dem äusseren, welches mit Wasser gefüllt ist,
um die in das innere Gefäss geblasene Luft abzuschliessen , trägt eine Scala,
welche den Luftgehalt des inneren Cylinders nach Cubikcentimetern angiebt, und
ist in der Verticale leicht beweglich. Der innere Cylinder ist entweder äquilibrirt
oder nicht äquilibrirt. Im ersteren Falle geht über eine an dem äusseren Cylinder
an einem Eisenstängelchen angebrachte Rolle eine Schnur nach dem Boden des
inneren Cylinders; am anderen Ende der Schnur ist ein Gewicht angebracht,
welches dem Gewicht des Cylinders gleich ist (Hütchinson's Spirometer). Die
Athmung in das Spirometer geschieht durch einen Gummischlauch mit Mundstück.
Dieser Gummischlauch steht in Verbindung mit dem inneren Cylinder. Beim nicht
äquilibrirten Spirometer (nach Phöbus) ist auf dem nach oben stehenden Boden
des inneren Cylinders eine metallene Röhre angebracht, auf welche der Athmungs-
schlauch geschoben wird. Beim äquilibrirten Spirometer tritt am Boden des äusseren
Cylinders eine BleehrÖhre hindurch nach dem inneren Cylinder und schafft auf
diese Weise die Verbindung desselben mit der Aussenluft, resp. mit dem Athmungs-
schlauch. Einzelne transportable pneumatische Apparate dienen, wie im Artikel
„Pneumatische Therapie" mitgetheilt ist, auch zugleich als Spirometer. Bei der
Athmung am äquilibrirten Spirometer steht der in dasselbe dringenden Luft kein
Hinderniss entgegen; beim nicht äquilibrirten Spirometer hat die Ausathmung den
SPIROMETRIE. 661
Druck des Cylind ergewichtes zu überwinden, welcher jedoch unbedeutend ist und
circa + 1/350 Atm. Druck gleichkommt. Bei gesundem Thorax und bei gesunden
Lungen stört dieser Druck die Ausathmung nicht , verkleinert dagegen bei Er-
krankungen dieser Organe die vitale Lungencapacität um ein Geringes.
Um die vitale Lungencapacität zu erforschen, wird, namentlich unter
Beachtung der sub 7 im Nachfolgenden angegebenen Punkte , stehend nach
einer tiefen Inspiration das Mundstück tief hinein in den Mund auf die Zunge
gelegt , fest mit den Lippen umschlossen und langsam so lange durch dasselbe
in den leeren, inneren Cylinder ausgeathmet, wie es mit Zuhilfenahme aller Kräfte
möglich ist. Der innere Cylinder hebt sich, und am Ende der Exspiration liest
man die Grösse der vitalen Lungencapacität an der Cubikcentimeterscala ab.
Beim äquilibrirten Spirometer bleibt der innere Cylinder in jeder Höhe stehen, beim
nicht äquilibrirten Cylinder niuss man nach erfolgter Ausathmung den Athmungs-
schlauch zusammendrücken, damit das Zurücksinken des Cylinders vermieden wird.
Auch die Inspirationsgrösse kann man messen und zwar durch folgende
Aenderung des Verfahrens. Man füllt den inneren Cylinder mit frischer Luft bis
zu einer bestimmten Höhe und lässt nach einer tiefen Exspiration aus dem Spiro-
meter einathmen. Zieht man von dem vor der Untersuchung vorhandenen Cubik-
inhalt den nach derselben noch vorhandenen ab, so erhält man die Zahl, welche
die Grösse der inspirirten Luft angiebt.
Die Vitalcapacität bei Gesunden ist abhängig:
1. Von der Körpergr ö s s e , mit welcher sie unter allen Einfluss
habenden Momenten am meisten^et3J^|^n|£r^vHuTCHiNSON , Simon, Wintrich,
Arnold, Fetzek, suchten das Abbängigkeitsverhältniss zwischen der ganzen Körper-
länge und der vitalen Lungem%)acität"~Jfe^4^ellerriJVABius und C. W. Müller
(siehe unter 4) das zwischen j äir »ad" fi^i^äne« -^er^Wlirbelsäule, jedoch fehlt hier
wie dort eine Uebereinstimmung in den Resultaten.* Während der grösste Theil
obengenannter Autoren ein iiv\be^t^nrlen*Z^irlen. ausdffiickbares Parallelverhältniss
zwischen der Zunahme der Kör^eää^e^uad^^^^iPnahme der Respirationsgrösse
fanden, konnte Fetzer bei seiner m^ie^al]£ni©w6sie Zeit fallenden, an vollkommen
gesunden Rekruten vorgenommenen spirometrischen Untersuchungen nur finden, dass
die Vitalcapacität im Allgemeinen zwar mit der Zunahme der Körperlänge zunimmt,
dass dagegen kein so regelmässiges Anwachsen stattfindet, dass physiologischer Weise
von einer gewissen Längenstufe auf eine gewisse Vitalcapacität der Lungen geschlossen
werden könne. Man kann demnach nur in weiten Grenzen gehaltene Sätze über
das Parallelverhältniss der vitalen Lungencapacität und der Körperlänge aufstellen
und für Männer bis zum 50. Lebensjahr mit einer Körperlänge von 157 — 160 Cm.
2700—3000 Ccm., von 160 — 165 Cm. 3000—3500 Ccm., von 165—175 Cm.
3500—4000 Ccm., von 175 Cm. und mehr 4000—5000 Ccm. vitale Lungen-
capacität, für Frauen bis zum 50. Lebensjahre bei entsprechender Körpergrössen-
abstufung 2000 — 3000 Ccuu vitale Lungencapacität annehmen.
Fetz er fand bei seinen kleinen Rekruten (157 — 165 Cm. Körperlänge) als Mittel im
Allgemeinen für die Vitalcapacität 3800 Ccm., bei den mittelgrossen Rekruten (165'5 — 175 Cm.
Körperläuge) 4000 Ccm., bei den grossen Rekruten (175 '5 und mebr Centimeter Körperlänge)
4400 Ccm. Es sind also so ziemlich dieselben Zahlen, welche wir angeben, nur erscheint die
Vitalcapacität für die kleinen Leute zu hoch , um als allgemeiugiltige gelten zu können.
Arnold berechnete aus seinen sehr zahlreichen Untersuchungen eine vitale Lungen-
capacität von 2700 Ccm. für eine Körperlänge von 154"5— 157 Cm. und fand, dass auf jede
weiteren 2'5 Cm. Körperlänge eine Zunahme der vitalen Lungencapacität um 150 Ccm.
kommt. Die Arnold'schen Zahlen nahm man bisher als die der Wahrheit am nächsten
liegenden an, sind aber so mathematisch unfehlbar nicht, wie sie scheinen. — Hutchinson
fand als mittleren Werth für eine Körpergrösse von 152 Cm. 2800 Ccm. vitale Lungen-
capacität und ^ür jede weiteren 2'5 Cm. Körperlänge über 152 Cm. ein Wachsen der vitalen
Lungencapacität um circa 131 Ccm. — Simon fand für eine Körpergrösse von 154"5 — 157 Cm.
eine mittlere vitale Lungencapacität von 2300 Ccm. und für jede weitere 2"5 Cm. Körper-
länge eine Zunahme um 150 Ccm. Nach Wintrich's Untersuchungen kommen bei gesunden
Männern von 20 — 40 Jahren auf je 1 Cm. Körperlänge 22—24 Ccm., bei Weibern nur
16 — 17 Ccm. Exspirationsluft.
662
SPIROMETRIE.
2. Von dem Alter. Zweifellos übt das Alter nächst der Körperlänge
einen ziemlieh bedeutenden Einfluss auf die Grösse der Lungencapacität aus und
zwar der Art, dass bis zum 05. — 40. Lebensjahre des Menschen eine Zunahme
der vitalen Lungencapacität , vom 40. Lebensjahre an eine Abnahme derselben
stattfindet, um im Greisenalter auf eine geringe Grösse anzukommen. Die schon
früher genannten Autoren suchten auch hier bestimmte Zahlen zu gewinnen . die
jedoch nur die obigen Sätze im Allgemeinen bestätigen , während sie einzeln
genommen von einander mehr oder weniger abweichen.
Hutchinson fand, dass der Mensch zwischen dem 30. und 35. Lebensjahre
den Höbepunkt seiner vitalen Lungencapacität erreicht, und dass sie von da ab wieder jährlich
um circa 3'5 Ccm. fällt. — Wintrich sah ein Steigen der vitalen Lungencapacität bis zum
40. Lebensjahre des Menschen , und zwar kamen auf 1 Ccm. Körpergrösse bei Knaben und
Mädchen zwischen 6 und 8 Jahren mir 6'5 — 9 Ccm., zwischen 8 und 10 Jahren 9 — 11 Ccm.,
zwischen 10 und 12 Jahren 11 — 13 Ccm. und zwischen 12 — 14 Jahren 13 — 15 Ccm.
Exspirationsluft. Vom 14. Lebensjahre an machte sich der Geschlechtsunterschied mit grossen
Schwankungen je nach der langsameren oder schnelleren Entwickelung des Individuums bemerk-
bar. Zwischen dem 40. nnd 50. Lebensjahre sank die Exspirationsgrösse um ein Geringes,
während zwischen dem 50. und 60. Lebensjahre sich sehr grosse Schwankungen in der Abnahme
der vitalen Lungencapacität zeigten , die abhängig waren theils von dem eher oder später ein-
tretenden Marasmus, theils von sich einstellender Fettleibigkeit. Vom 60- Lebensjahre ab sank die
vitale Lungencapacität unregelmässig, so dass bestimmte Zahlen nicht auffindbar waren. — Nach
Arnold steigt die vitale Lungencapacität bis zum 40. Lebensjahre um circa 160 Ccm., fällt
bis zum 65. Lebensjahre um circa 900 Ccm. und zeigt im Greisenalter eine sehr geringe Grösse.
3. Von dem Geschlecht. Der nicht unwesentliche Einfluss des
Geschlechtes auf die vitale Lungencapacität wurde bereits unter 1 und 2 miterwähnt.
Im Allgemeinen hat das männliche Geschlecht eine grössere Vitalcapacität als das
weibliche. Während die mittlere Exspirationsgrösse bei Männern 3000 — 4000 Ccm.
beträgt, ist sie bei Frauen 2000 — 3000 Ccm., also circa 2/3— 3/4 von der des Mannes.
4. Von dem Thoraxumfang und dem Brustspielraum oder
der Thoraxbeweglichkeit. Arnold fand durch seine zahlreichen Unter-
suchungen , dass die Lungen vitalcapacität in einem bestimmten Verhältniss mit
dem Thoraxumfang und der Thoraxbeweglichkeit einerseits und mit dem Thorax-
umfang , der Thoraxbeweglichkeit und der Körpergrösse andererseits zunimmt.
Nach ihm kommen auf 65 Cm. Brustumfang (auf der Höhe der Brustwarzen
gemessen) 2580 Ccm. und auf jede weiteren 2"5 Cm. Umfang 150 Ccm. Exspirations-
luft. Arnold giebt jedoch dabei nicht an , ob er den Thoraxumfang bei tiefer
Inspiration, bei tiefer Exspiration oder in der Athempause zu Grunde legte. Ferner
berechnet Arnold das Anwachsen der Lungen vitalcapacität auf jedem Centimeter
Körperlänge über 154 Cm. und jedem Centimeter Brustumfang über 65 Cm. bei
Männern und über 140 Cm. Körperlänge und 68 Cm. Brustumfang bei Frauen.
Die folgenden Tabellen enthalten die ARNOLD'schen Zahlen, jedoch in Steigerungen
von fünf zu fünf Centimeter.
Werthtabeile über die Athmungsgrösse des Mannes im Verhältniss zur Körperhöhe
und zum Brust amf an?.
Körperhöhe
Brustumfang in Centimetern
m
Centimetern
65
70
75
80
85
90
95
100
Cubikcentimeter
154
2610
2760
2910
3060
3210
3360
3510
3660
155
2640
2790
2940
3090
3240
3390
3540
3690
160
2790
2940
3090
3240
3390
3540
3690
3840
165
2940
3090
3240
3390
3540
3690
3840
3990
170
3090
3240
3390
3540
3690
3840
3990
4140
175
3240
3390
3540
3690
3840
3990
4140
4290
180
3390
3540
3690
3840
3990
4140
4290
4440
185
3540
3690
3840
3990
4140
4290
4440
4590
190
3690
3840
3990
4140
4290
4440
4590
4740
SPIROMETRIE.
663
Werthtabelle über die Athmungsgrösse des Weibes im Verhältniss zur Körperböbe
und zum Brustumfang.
Körperhöhe
in
Centimetern
Brustumfang in Centimetern
73
78
83
93
98
100
140
145
150
155
160
165
170
Cubikcentimeter
1810
1910
2010
2110
2210
2310
2410 |
1910
2010
2110
2210
2310
2410
2510
2010
2110
2210
2310
2410
2510
2610
2110
2210
2310
2410
2510
2610
2710
2210
2310
2410
2510
2610
2710
2810
2310
2410
2510
2610
2710
2810
2910
2410
2510
2610
2710
2810
2910
3010
2450
2550
2650
2750
2850
2950
3050
Fetzer konnte dagegen auf Grund seiner Ermittlungen an Rekruten
über das Verhalten der Athmungsgrösse zum Exspirations- und Inspirationsumfang
und zum Brustspielraum einen mathematisch so genau anzugebenden, gegenseitigen
Einfluss der hier vorgefundenen Werthe, wie ihn Arnold annimmt, nicht finden,
da sie sich in zu grossen Schwankungen bewegten. Nach Fetzer lässt sich
nur festhalten , dass man im Allgemeinen bei einem grossen Exspirationsumfang
auf eine beträchtlichere Athmungsgrösse, bei einem geringeren Inspirationsumfang
im Allgemeinen auf eine geringere, bei einem grossen Inspirationsumfang und bei
einem grossen Brustspielraum auf eine bedeutendere Athmungsgrösse schliessen kann.
Fetzer's Untersuchungen ergaben sogar , dass die niederen Athmungswerthe bei
grossem Brustspielraum annähernd gleich häufig sind, wie die niederen Athmungs-
werthe bei geringem Brustspielraum, und dass auch bei geringem Brustspielraum
immerhin noch ziemlich häufig hohe Athmungswerthe vorkommen können.
Fetzer's Untersuchungen zeigen ferner, dass die mittelgrossen Zahlen
für die Vitalcapacität bei den verschiedenen Körperlängen, Brustumfangs- und
Brustspielraumgrössen vorherrschen.
C. "W. Müller schlägt einen ,ganz anderen "Weg zur Bestimmung der vitalen
Lungencapacität in ihrer Beziehung zur Körperlänge und zum Brustumfang ein , indem er
aus der Länge der "Wirbelsäule (vom 7. Halswirbel bis zum Steissbein), dem Rauminhalt der
ganzen Rumpfhöhle und dem Brustumfang den Coefticienten berechnet, den er Lungen-
capacitätscoefficienten nennt und welcher im Durchschnitt die Zahl 7 erreicht. Bis jetzt ist
diese Art der Bestimmung der Lungencapacität nicht weiter verfolgt worden, jedenfalls
deshalb, weil das Rechnen mit Gleichungen nicht Jedermanns Liebhaberei ist.
5. Von den Sagittal- und Frontaldurchmessern der Brust.
Fetzer allein untersuchte das Verhalten dieser Durchmesser zur Lungenvital-
capacität. Den sagittalen Tiefenbau der Brust mass Fetzer an drei Punkten, zwischen
dem oberen Rand der Incisur des Brustbeinhandgriffes, der Mitte des Brustbein -
körpers, der Vereinigungsstelle von Brustbeinkörper und Schwertfortsatz und den
am Rücken horizontal gegenüberliegenden Rückenwirbelfortsätzen. Es stellt sich
heraus , dass der Einfluss der Sagittaldurchmesser auf die Athmungsgrösse ein
beschränkter ist, dass sich von einer bestimmten sagittalen Tiefe des Brustkorbes
auf eine bestimmte Respirationsgrösse nicht schliessen lässt, dass, soweit sich ein
Einfluss geltend macht, sich derselbe dahin präcisiren lässt, dass die Athmungs-
grösse um so geringer, resp. um so grösser ist , je geringer, resp. je grösser die
Werthe für die drei sagittalen Durchmesser des Brustkorbes sind, und dass diese
Wahrnehmung besonders für den oberen, weniger für den unteren, am wenigsten
für den mittleren Sagittaldurchmesser der Brust gilt. — Der Frontaldurchmesser
wurde gemessen oben zwischen den Rabenschnabelfortsätzen, in der Mitte zwischen
der kleinen Hautfalte am Uebergang der Brust in die vordere Achselgegend der
einen und der anderen Seite , unten zwischen den Brustwarzen. Fetzer fand,
dass eine constante Wechselbeziehung zwischen der Länge der drei vorderen
Frontaldistanzen und der Athmungsgrösse zwar nicht besteht, doch die Frontal-
distanzen zur Respirationsgrösse immerhin engere Beziehungen als die Sagittal-
6ü4 SPIROMETRIE.
durchmesser des Brustkorbes zeigen, dass von einer bestimmten Länge der drei
vorderen Frontaldistanzen auf einen bestimmten Athrnungsgrössenwerth nicht
geschlossen werden kann, da die Messung der Athmungsgrösse allzu sehr will-
kürlichen Moditicationen unterworfen ist , dass , soweit aber die Respirationsgrösse
überhaupt als ein Kriterium für den Entwicklungsgrad der Brust angesehen werden
kann, zwischen derselben und der Länge der Frontaldistanzen der vorderen Brust-
wand in der Weise ein Parallelverhältniss besteht, dass mit der Zunahme der
Länge der drei Frontaldistanzen der Brust die Vitalcapacität der Lunge ansteigt
und dass dies insbesondere für die obere Frontaldistanz, weniger für die mittlere,
am wenigsten für die untere Frontaldistanz gilt. Zu bemerken ist noch, dass auch
hier die mittleren Inspirationswerthe bei allen sagittalen und frontalen Durchmessern
sich als überwiegend zeigten.
6. Von dem Stand, der Beschäftigung und Lebensweise.
Berufsarten mit sitzender Lebensweise vermindern die vitale Lungencapacität,
während solche , welche mit viel Bewegung im Freien , mit stärkerer Benutzung
der Athmungsorgaue verbunden sind, die Lungenvitalcapacität erhöhen.
7. Von einer Anzahl kleinerer Umstände, und zwar a) von
der Lage des zu untersuchenden Menschen. Liegen vermindert die Respirations-
grösse am meisten, Sitzen weniger, Stehen liefert die grösste Vitalcapacität:
b) von der Füllung des Magens und des Darmes. Durch stärkere Mahlzeiten,
durch Gasansammlungen, Kothanhäufungen im Darm wird die Vitalcapacität
mehr oder weniger herabgesetzt; c) von der Athenifrequenz. Vermehrte Athem-
frequenz durch stärkere Bewegungen vor der Spirometeruntersuchung setzt die
Exspirationsgrösse herab ; d) von Schwangerschaft , welche die Exspirationsgrösse
aber nur massig beinträchtigt.
Erwähnen wollen wir noch, dass Aufenthalt in comprimirter Luft die
Lungenvitalcapacität erhöht, dass Aufenthalt in verdünnter Luft sie vorübergehend
vermindern soll.
Unabhängig ist die Lungenvitalcapacität vom Körpergewicht.
Vitalcapacität bei Kranken. Es handelt sich hier nur um die
Veränderung der Exspirationsgrösse, welche Erkrankungen der Respirationsorgane
mit sich führen; denn bei den Erkrankungen anderer Organe (der Bauchhöhle),
die die Vitalcapacität herabsetzen, hat die spirometrische Messung keinen Werth.
Die Veränderung, welche die Vitalcapacität bei Erkrankungen der Respirations-
organe erleidet, besteht nur in einer mehr oder weniger grossen Verminderung
derselben, und die Abweichungen von den in Bezug auf Körpergrösse und Alter
früher angegebenen Vitalcapacitätswerthen werden hier in Berechnung gezogen,
da , wie wir sahen , Körper länge und Alter den wesentlichsten Einfluss auf die
vitale Lungencapacität üben.
Ebenso wie die Pneumatometrie hat sich auch die Spirometrie bis heute
noch kein besonderes Ansehen beim praktischen Arzt erringen können und selbst
beim Specialarzt spielt das Spirometer eine untergeordnete Rolle. Der Grund liegt
darin , dass , wie wir im Vorhergehenden gesehen haben , die spirometrischen
Messungen an Gesunden uns so schwankende Werthe liefern, dass man sie als
eine sichere Grundlage zur Beurtheilung der spirometrischen Befunde am Kranken
nicht anerkennen kann , dass wir in Percussion und Auscultation , Inspection und
Palpation bei weitem sicherere Hilfsmittel für Stellung der Diagnose und Prognose
bei Lungenerkrankungen haben als in dem Spirometer und dass uns dieses auch
dort nicht mehr sagen kann , wo wir durch jene Untersuchungsmethoden keinen
Aufschluss erhalten können. Den grössten diagnostischen Werth legte man und
legen noch Einzelne den spirometrischen Messungen bei den ersten Anfängen der
Lungenphthise bei , indem man meinte , dass noch nicht mit Plessimeter und
Stethoskop diagnosticirbare Erkrankungen der Lungen durch Veränderung der
vitalen Lungencapacität schon erkennbar seien, eine Annahme, welcher ich und viele
andere Aerzte beizustimmen nicht in der Lage sind.
SPIROMETRIE. — SPITAL. 665
Die Spirometrie hat daher weder einen allgemeinen diagno-
stischen noch einen differentiell-diagnosti sehen Werth — und dadurch
unterscheidet sie sich von der Pneumatometrie , mit welcher man eine Diagnose
mehr oder weniger sicher zu stellen, zu stützen oder zu ergänzen im Stande ist, —
sondern nur einen individuell diagnostischen Werth, insofern, als man
bei einer uns bereits spirometrisch bekannten Person aus einer
eintretenden Verminderung der vitalen Lungencapacität auf eintretende Lungen-
erkrankungen schliessen kann.
Einen grösseren Werth hat die Spirometeruntersuchung für die Beurtheilung
einer eingeschlagenen Behandlungsmethode, indem wir während derselben an dem
Gleichbleiben oder an der Erhöhung der Exspirationsgrösse die Wirkungskraft
oder die Wirkungslosigkeit der Behandlung ersehen. Den Vorwurf, den man der
Spirometermessung namentlich hier macht, dass durch den wiederholten Gebrauch
des Spirometers man sich in der Art und Weise der Athmung an ihm übe und
dass man deshalb allmälig höhere Werthe erhalte, ist unbegründet. Durch wieder-
holte Athmung am Spirometer übt man sich allerdings im Gebrauch desselben, so
dass man gradatim höhere Werthe erhält ; es tritt dann aber ein Moment ein, von
welchem an man stets den gleichen Lungencapacitätswerth erhält, und dieser
letztere muss jeder Beurtheilung in obiger Hinsicht zu Grunde gelegt werden.
Literatur: Hutchinson, Ueber Spirometrie. Med.-chir. Transact. T. XXXIX,
pag. 137—252. 1846. Deutsch von Samosch. Braunschweig 1849. — Wintrich, Krank-
heiten der Respirationsorgane in Virchow's Handb. der spec. Path. u. Ther. Bd. V, Erlangen
1854. Abschnitt: „Spirometrie", pag. 92 — 107. Enthält ausserdem die Literatur über diesen
Gegenstand bis zum Jahr 1854. — Fried. Arnold, Ueber die Athmungsgrösse des
Menschen. Heidelberg 1855. 161 Seiten. 8 Tabellen — Waidenburg, Abschnitt „Spiro-
metrie" in seinem "Werke: Die pneumat. Behandl. der Respirationskrankh. etc. Berlin 1880.
II. Aufl. pag. 108 — 130. Literaturverzeichniss bis 1880. — Knauthe, Handbuch der
pneumatischen Therapie. Leipzig 1876. — Petzer, Ueber den Einfluss des Militärdienstes
auf die Körperentwicklung. Stuttgart 1879. -u- +1
Jv n a u t n e.
Spital, Hospital, Lazarett, Krankenhaus, Nosoconimm, Hopital,
Hospital, spital, infirmery, Osjntale, speciale. Mehrere Jahrhunderte vor Christi
Geburt haben, wie die historische Forschung lehrt, Krankenhäuser in Kaschmir
und Ceylon bestanden. Sie waren von buddhistischen Herrschern erbaut worden
und sind die ältesten Krankenanstalten , von denen uns Kunde erhalten blieb.
Die Griechen und Homer kannten Krankenhäuser nicht ; ihre Hospitien und Vale-
tudinarien waren Anstalten anderer Art. Erst das Christenthum , das christliche
Gemeindebewusstsein , schuf eine geregelte Armen- und Krankenpflege und führte
— ob selbständig oder in Nachahmung der buddhistischen Einrichtungen , lässt
sich nicht bestimmen — die Krankenhäuser in Europa ein. Theils durch die
Opferwilligkeit der Gemeinden, theils durch die Freigebigkeit der Herrscher und
Grossen des Reiches entstanden zahlreiche Humanitätsanstalten in grossem Maass-
stabe, wie z. B. die vom heil. Basilius, Bischof von Kappadocien um das Jahr 370
vor den Thoren von Cäsarea errichtete Basilius , eine Humanitätsanstalt , welche,
aus Armenhäusern , Herbergen , Asylen für gefallene Mädchen , Krankenhäusern,
für die Hieronymus zuerst das Wort vocro/.ojjxia. gebraucht, bestehend, eine kleine
Stadt bildete, und das Orphanotropheum , welches von dem ersten der Comenen,
Kaiser Alexander I. im 11. Jahrhunderte (1081 — 1118) in Konstantinopel rings
um die Paulskirche errichtet worden war und von 10.000 Hilfsbedürftigen und
Kranken bewohnt wurde. Nicht minder grosse Thätigkeit, als der byzantinische
Hof, entfaltete der apostolische Sitz zu Rom , wo sich -im 11. Jahrhundert schon
24 den Diakonen anvertraute Hospitäler befanden.
Frühzeitig schon waren für Aussätzige Sonder-Siechenhäuser, Leprosarien,
auch L aza rushäus er oder Lazarette genannt, entstanden. Sie waren meist
dem heil. Georg geweiht, schon im 7. und 8. Jahrhundert in Deutschland vor-
handen und vermehrten sich im Laufe der Zeit in der ganzen christlichen Welt
ungemein. Diese Anstalten waren aber, wie oben angedeutet, nicht der Behandlung
666 SPITAL.
der Kranken gewidmet, wurden auch nach dem Verschwinden des Aussatzes
meist in Pfründneranstalten und Siechenhäuser, theilweise in Pesthäuser und nur
selten in Krankenhäuser umgewandelt ; die Bezeichnung Lazareth hat sich jedoch,
und zwar vorzugsweise für militärische Krankenhäuser erhalten.
Aehnlich verhält es sich mit den Hospitälern, den Hospizen, welche —
zugleich Gast- und Krankenhäuser — auf den Hauptheerstrassen und vor den
Thoren der Städte errichtet worden waren , mit dem Aufhören der Pilgerfahrten
bis auf die wenigen , noch in unserer Zeit an den Alpenübergängen erhaltenen
Hospize theils eingingen, theils Pfründnerhäuser und Versorgungsanstalten wurden,
welche bis heute in der deutschen Volkssprache als „Spital" bezeichnet werden.
Während der Kreuzzüge entstanden auch die ritterlichen Krankenpflege-
orden , namentlich die Johanniter und der Deutsche Orden , welche zahlreiche
Krankenanstalten stifteten.
In diese Zeit fällt die Gründung des heute noch bestehenden grossen
Hospitales San Spiritu in Rom durch Papst Innocenz III. (1204), welches Sixtus IV.
und Alexander VIII. bis auf 1000 Betten erweiterten, denen seit Benedict XIV.
und Pius VII. noch über 600 zugefügt worden sind.
Diese Gründung bildete den Ausgangspunkt einer grossen Reihe von
Heiligengeist- Spitälern und Krankenhäusern überhaupt, von denen manche sich in
sehr glänzenden Vermögensverhältnissen befanden, wie die Thatsache lehrt, dass
z. B. das Hospital La Casa Santa di Santa Maria Annunciata in Neapel allein
zur Herstellung meiner Kirche 263.000 Dukaten aufwenden, sie von dem Bau-
meister des weltberühmten königlichen Schlosses von Caserta, Ludovico San-
vitelli, ausführen und von den ersten Malern jener Zeit schmücken lassen konnte.
Dem Hospitale des Mittelalters, dem bei dem niedrigen Stande der
damaligen Medicin wissenschaftlich gebildete Aerzte fehlten, hatte die Kirche den
Stempel einer religiösen Einrichtung aufgedrückt. Das christlich-kirchliche Hospital,
dem die helfende menschliche Macht, die Wissenschaft, nicht zu Gebote stand,
suchte seiner Aufgabe durch eine Verbindung der tröstenden Mächte des Lebens,
der Religion und Kunst und durch eine möglichst gute, durch männliche und
weibliche Ordensgesellschaften geübte Krankenpflege gerecht zu werden.
Der Auflösungsprocess, welchem unter der fortschreitenden Trennung des
Staates von der Kirche die weltlich-geistliche Verfassung des Mittelalters anheim-
fiel, und die Kämpfe, welche der Protestantismus wach rief, hatten ein Erlahmen
des Eifers werkthätiger Liebe und den Verfall des Hospitalwesens zur Folge,
„weil an die Stelle des bisher von der Kirche und der Religion empfangenen
Impulses nicht sofort derjenige des Staates, des Gemeingeistes und der
Wissenschaft treten konnte".
Nur die Noth rief noch neue Stiftungen in's Leben, wie die sogenannten
Franzosenhäuser, als am Ende des 15. Jahrhunderts die Syphilis in ver-
heerender Weise sich verbreitete und im 16. und 17. Jahrhundert die Pesthäuser.
Ein weiterer Unterschied zeigte sich gegen früher, dass die seltenen
neuen Krankenhausstiftungen nur von der Wohlthätigkeit Einzelner ausgingen und
die Verwaltung, nicht wie früher, ausschliesslich in den Händen der Geistlich-
keit verblieb.
Gleichwie in Italien lange Zeit hindurch die reichen Adeligen auf ihre
Kosten Krankenanstalten bauten und verwalteten, wurden und werden in England
seit dem vorigen Jahrhundert die meisten Krankenhäuser durch Privatwohlthätig-
keit gegründet und erhalten. Erst in den letzten Jahren haben die Armen-Ver-
waltungen aus dem allgemeinen Säckel einige, vorwiegend für ansteckende
Kranke bestimmte Krankenanstalten errichtet, sonst kümmern sich Staat und
Gemeinde, ausser soweit es sich um die Sanitätspolizei handelt, um die Kranken-
häuser nicht.
In Frankreich nahmen die Herrscher wesentlichen Antheil an der
Gründang oder Erweiterung von Krankenanstalten und an der Verbreitung solcher
SPITAL. 667
Anstalten im ganzen Reiche. In letzterer Beziehung ist insbesondere Ludwig XIV.
zu nennen, welcher zahlreiche alte Kranken- und Aussatzhäuser aufhob und deren
Vermögen und Einkünfte zur Gründung neuer, über das ganze Land gleichmässig
vertheilter Krankenanstalten (1133 in 1130 Gemeinden) verwendete. Unter den
Krankenanstalten Frankreichs , deren Verwaltung bis zur Revolution fast überall
eine selbständige war, hatte das Hotel Dieu in Paris, dessen schon in einer Urkunde
vom Jahre 829 erwähnt wird, eine traurige Berühmtheit erlangt, der maasslosen
Zusammenhäufung von Kranken aller Art und der durch die herrschenden grauen-
vollen Zustände bedingten übergrossen Sterblichkeit wegen.
Der Lärm, der Schmutz und der Gestank in den Räumen dieser endlich
als gemeinschädlich erkannten Anstalt, in welcher nur 486 Betten für je einen
Kranken bestimmt waren, während in 733 grossen, jedoch nicht ganz 2 Meter
langen und 1^2 Meter breiten Betten 4 — 6 Erwachsene — eventuell 2 bis
4 Wöchnerinnen — oder 6 — 8 Kinder lagen, in der nur 7 — 10 Cubikmeter
Luftraum auf den Kranken entfielen und einzelne Säle wegen der von den Be-
wohnern entwickelten Wärme keiner Feuerung bedurften, spottet Tenon's (im
königlichen Auftrage 1788 verfassten) Memoiren zu Folge jeder Beschreibung und
bestimmten die erhobenen Uebelstände den Berichterstatter zu der offenen Erklä-
rung , dass es vielleicht auf der ganzen Welt keine für Gesundheit und Leben
gefährlichere Wohnung gebe, als das Hotel Dieu.
Viele Berathungen fanden statt und viele Vorschläge wurden gemacht,
um Abhilfe zu schaffen. Von diesen ist sehr interessant und historisch wichtig
der Bericht, mit welchem Le Roy im Jahre 1777 der Akademie einen Plan für
das Hotel Dieu vorlegte und denkwürdig sind die Ergebnisse der Commission,
welche auf Veranlassung Ludwig XVI. von der Academie des sciences im Jahre
1786 aus Anlass des angeregten Neubaues des Hotels Dieu berufen worden war
und welcher Lavoisiere, La Place, Darcet, Coulomb, Lassone, Daubenton,
Bailly und Tenon als Mitglieder angehörten.
Prof. F. Gruber veröffentlicht in der vortrefflichen Abhandlung „Neuere
Krankenhäuser" , welche im Jahre 1879 als Bericht über die Weltausstellung in
Paris (1878) erschienen ist, aus Dr. Chassaigne's „Les hopitaux sans etages et
ä pavülons isoles " folgende Stelle aus Le Roy's Bericht :
„Ich sehe mit dem grössten Erstaunen, dass man uns, weit entfernt, aus
den Erfahrungen der Physik und der modernen Medicin Nutzen zu ziehen, im
Jahre 1773 für ein Spital von solcher Bedeutung Projecte vorlegt, welche vor
ein oder zwei Jahrhunderten hätten verfasst werden können. Wahrhaftig, indem
die Projectanten die Hauptsache dem Nebensächlichen opfern, wie dies unter uns
allerdings üblich ist, scheinen sie vergessen zu haben, dass die Decoration das
Letzte ist, worauf man bei einer derartigen Anlage zu denken hat, und dass die
erste und wesentlichste Aufgabe in diesem Falle darin liegen müsse , die Con-
struction derart zu gestalten, dass wenigstens so viel als möglich für eine stets
lautere, von Verunreinigungen freie Luft gesorgt ist. Der Krankensaal ist sozu-
sagen eine Maschine zur Behandlung der Kranken. Der Fussboden, welcher auf
Pfeilern ruht und ein Untergeschoss abschliesst, ist von Strecke zu Strecke in
seiner Mitte mit Oeffnungen versehen, durch welche die Aussenluft Zutritt in den
Saal erhält. Ich nenne diese Oeffnungen Luftbrunnen , weil in der That durch
ihre Vermittlung die Luft, von aussen herangezogen, in den Saal eintreten wird ;
die Menge der zuströmenden Luft wird sich je nach der Jahreszeit reguliren lassen."
„Abgesehen von dieser Art der Unterbauherstellung, welche ich für die
Säle empfehle , damit sie hinreichend über dem Terrain erhöht liegen , könnten
diese sehr leicht construirt werden , ja wenn man will , selbst aus Holz. In der
That, da über diesen Sälen keine anderen gelagert .werden, bedürfen sie weder
sehr starke, noch aus sehr dicken Mauern bestehende Fundamente. Eine ausser-
ordentliche Reinlichkeit und eine möglichst lautere Luft sind aber, man kann es
nicht oft genug wiederholen , die einzigen wahren Maassnahmen , welche man in
668 SPITAL.
diesen Gebäuden mit aller Kraft verfolgen muss; es ist dies aber auch nicht zu
viel verlangt, weil es sich hier um die edelste Aufgabe, um die Erhaltung des
Menschen handelt."
„Es ist wahr, dass ein derartiges Spital durch seine Dispositionen ein
ausgedehntes Emplacement verlangt, aber man kann es nicht genug wiederholen,
es würde unendlich besser für die Kranken sein, sie einzeln in Betten, oder selbst
auf Stroh unter Zelten, in einem Hofe oder Garten unterzubringen, als ihre Zahl
in den Sälen zu vermehren, oder gar sie in den Betten in jener entsetzlichen
Weise zusammenzudrängen, wie dies im Hotel Dieu geschieht."
Die oben erwähnte Commission, welcher Le Roy's Plan und Bericht,
sowie der Bericht über in Frankreich und England gepflogene Erhebungen und
insbesondere auch über das zu Stone-house bei Plymouth (1756 — 1764) für See-
leute errichtete Krankenhaus , welches aus 10 isolirten , je 6 Säle ä 20 Betten
enthaltenden Pavillons für Kranke und 5 Pavillons für Verwaltungszwecke bestand,
die nur im Erdgeschosse durch eine Galerie miteinander verbunden waren, vorlag,
empfahl in ihren Berichten (1786, 1787 und 1788) für einen Neubau die Er-
richtung einzelner, 20 — 30 Toisen von einander abstehenden Pavillons und deren
Anordnung in zwei parallelen Reihen — eine für Männer und eine für Weiber —
und erörterte und begründete die Bestimmungen , deren Erfüllung sie für nöthig
erachtete, wenn ein gutes Hospital geschaffen werden soll.
Die Bedeutung dieser interessanten , der Hauptsache nach von Texon
herrührenden Berichte für die Spitalshygiene und deren Geschichte wolle aus den
folgenden, aus A. Husson's Müdes sur les hojpitaux in Plage's Uebersetzung
wiedergegebenen Stellen entnommen werden :
„Wir schlagen vor, die Gebäude von Osten nach Westen zu richten,
damit die Säle vermittelst der Fenster , welche gegen Norden gerichtet sind,
durch den daher wehenden Wind im Sommer erfrischt werden und damit die Lage
gegen Süden den Kranken ein Tageslicht sichert, welches ihnen immer angenehm
und oft nöthig ist. Wir schlagen keine gewölbten Decken vor, welche zu starke
Mauern und demgemäss zu grosse Kosten verursachen würden, jedoch würde es
nöthig sein, Decken ohne vorspringende Balken herzustellen, damit die inncirte
Luft sich nicht in den Zwischenräumen der Balken halte, von wo sie schwer zu
beseitigen ist. — Die Fenster sollen bis zur Decke reichen, damit die obere, stets
schlechteste Luftschicht einen freien Abzug erhält. — Die Treppen sollen offen
sein, und zwar so, dass die äussere Luft frei ihrer ganzen Höhe nach circulirt."
Ferner heisst es in dem ergänzenden Bericht vom 12. März 1788,
erläutert durch einen Plan, welcher die Bedingungen für ein vollkommenes
Hospital enthält, wie folgt: „In den Sitzungen, welche wir im Monate 1787
abgehalten haben , wurde vorgeschlagen , jene Parallelbauten in isolirte Pavillons
zu trennen ; diese Anordnung haben wir endgiltig angenommen seit der Rückkehr
unserer (nach England abgeschickten) Mitglieder , und wir legen der Akademie
nunmehr die Hauptgrundsätze unseres Hospitalmodells im Nachstehenden vor:
„Alle auf die Einführung und Aufnahme der Kranken bezüglichen Gebäude
befinden sich an der Vorderseite des Hospitals. Es sind zwei gleiche Hälften
vorhanden, eine für Männer, die andere für Frauen; die folgenden Einzelnheiten
gelten für beide."
„Zur Rechten wie zur Linken ist ein kleines Gebäude zu errichten,
welches enthalten soll: 1. Die Loge des Portiers; 2. die zur Aufnahme der
Kranken bestimmten Gebäude, und zwar das Wartezimmer für den Fall, dass
mehrere sich gleichzeitig melden, sodann ein Bureau für den dienstthuenden Arzt
mit einem oder zwei Gehilfen, welche nach der Untersuchung dem Kranken seine
Aufnahmsbescheinigung mit der Bezeichnung des für ihn bestimmten Pavillons
übergeben. Diese Gehilfen, welche unter den der Medicin sich Widmenden gewählt
werden können und nach der darüber geführten Liste abwechseln, sollen das
Register über Zugang und Abgang führen, worin enthalten ist der Name, Stand,
SPITAL. 669
Alter des Kranken, Name seiner Pfarrei, seiner Krankheit und die Zahl der
Tage, welche er bis zu seinem Abgang im Spitale zugebracht haben wird, möge
dieser durch Heilung oder Tod erfolgen."
„Der Kranke gelangt von dem Bureau in ein zweites Zimmer, wo er
seine Kleider gegen die der Anstalt vertauscht. Neben der für diesen Zweck
bestimmten Kammer oder in derselben befinden sich Desinficirungsöfen , Dampf-
kessel und mehrere Bäder zum Baden oder Waschen, wenn es nöthig ist; wahr-
scheinlich wird es in den meisten Fällen genügen, mit dem Schwämme zu waschen."
„Die Räumlichkeiten des Gebäudes enthalten ferner das Depot dieser
Kleider und dasjenige der Spitalskleider, welche dem Kranken bei seinem Ein-
tritte geliefert werden und welche er erst bei seinem Austritte ablegt. In diesem
Saale werden ebenfalls die Sachen der Kranken deponirt, und zwar in so viel
Abtheilungen, als Säle vorhanden sind. Die Kleider jeder Abtheilung tragen die
Nummer des Gebäudes, welchem die Abtheilung angehört, und eine zweite Nummer
mit der Bezeichnung des Eigenthümers. Ein Gehilfe mit zwei oder drei Dienern
wird beauftragt, für die Auswechslungen und den ganzen Dienst dieses Depots
Sorge zu tragen: die Räumlichkeiten dafür sollen sich über dem Erdgeschoss
befinden. — Soviel über dio Dispositionen des Eintritts."
„Die Pavillons sollen im Lichten 24 Fuss Breite auf eine Länge von
etwa 28 Klaftern (toises) haben. Die bei einer Breite von etwa 5 Klaftern vor-
springenden Enden dienen für die erforderlichen Nebenräume der Säle, welche
letztere bei einer Länge von etwa 18 Klaftern 36 Betten in zwei Reihen enthalten
sollen; die Höhe der Säle soll 14—15 Fuss sein und die Fenster, über den
Betten in einer Höhe von 6 Fuss beginnend, bis an die Decke reichen."*)
„Die Pavillons sollen drei Reihen Säle enthalten, von denen die im Erd-
geschosse vorzugsweise für die sich in der Besserung Befindenden, die in den
beiden folgenden Stockwerken für die bettlägerigen Kranken bestimmt sind,
während in der obersten Etage die Räumlichkeiten für den Dienst und die
Magazine sich befinden. Jeder Saal enthält 34—36 Betten, jeder Pavillon daher
102 — 108 ; zu jedem Saal gehören Waterclosets, ein Waschapparat und ein Herd
zum Erwärmen von Speisen und Getränken, ferner ein kleiner Badesaal und eine
Kammer für die barmherzige Schwester oder Krankenwärterin, welche dem Saale
vorgesetzt ist, und zwar ist es wesentlich, dass sich diese Kammer unmittelbar
neben dem Saale befindet, damit jederzeit die nöthige Aufsicht vorhanden ist und
dass auch zur Nachtzeit die Wachthaltende Hilfe zur Hand hat. Alle Säle sollten
ganz gleich sein. In der obersten Etage sind die Wohnräume für das Dienst-
personal, sowie die Magazine aller zu einem Pavillon gehörenden Utensilien
unterzubringen. Die Ueberwachung derselben besorgt die Oberwärterin der drei
Säle. Auch soll dort ein Reservoir aufgestellt sein, welches jeden Saal und vor
Allem die Waschapparate und Waterclosets mit Wasser versorgt. Auch ist Sorge
zu tragen, dass das Regenwasser von den Dächern aufgefangen und in die Säle
geleitet werde; es kann dort zu mannigfachen Zwecken gebraucht werden."
„Jeder Pavillon soll von dem benachbarten, durch einen Zwischenraum,
resp. Garten von 12 Klaftern Breite auf die ganze Länge des Gebäudes, also auf
28 Klafter etwa , getrennt sein. Derselbe soll keine Bäume enthalten , er dient
den Kranken jedes Pavillons als eigener Spaziergang, ist unter Verschluss zu
halten und darf von Niemand Anderem betreten werden. Man kann also nach
Bedürfhiss die auf der Besserung befindlichen, wie die Kranken selbst isoliren.
Die verschiedenen Baulichkeiten sollen jedoch untereinander durch einen Gang
rund um den ganzen inneren Hof verbunden werden, welcher am Fusse der
Treppe jedes Pavillons vorbeiführt. Derselbe soll nicht höher sein, als das Erd-
geschoss, damit er nicht die Circulation der Luft hemmt."
*) Gegen diese Fenster mit hohen Brüstungen spricht sich im Jahre 1804 in einem
Berichte an den Kaiser Clavareau aus, er will Fenster an beiden Seiten des Saales
und in ganzer Höhe desselben.
670 SPITAL.
„In den mittleren Pavillons befinden sich auf der einen Seite die Apotheke,
auf der anderen die Küche mit allem Zubehör, damit dieselben dem Mittelpunkt
so nahe als möglich sind und in gleicher Weise der Bequemlichkeit des Dienstes
und einer gewissen Regelmässigkeit des Geschäftsbetriebes Genüge leisten."
„Die Capelle ist im Hintergrunde am Ende des innern Hofes anzulegen
und hat auf der einen Seite die Räume zum Unterkommen der Priester, auf der
anderen den Operationssaal, dahinter das Leichenhaus zu enthalten. Die Kirchhöfe
müssen, wie die Akademie dies stets betont hat , entfernt von jeder menschlichen
Wohnung, folglich in einer schicklichen Entfernung ausserhalb des Spitales
angelegt werden."
„Der Gang soll also vom Eingang bis zur Capelle eine allgemeine, unter
Dach befindliche Communication herstellen und alle Abtheilungen des Spitals in
Verbindung bringen."
„Allerdings wird für den täglichen Dienst der Weg von einigen Pavillons
um diesen Hof zur Küche und Apotheke vielleicht ein wenig lang sein, aber in
den meisten Fällen wird man den inneren ungedeckten Hof quer durchschreiten
können ; auch soll ein Quergang angelegt werden, welcher den inneren Hof durch-
schneidet und den Weg von der Küche zur Apothekenabtheilung vermittelt. Der-
selbe vereinigt demnach die beiden Pavillonreihen in ihrer Mitte in ähnlicher
Weise, wie dies an den Enden derselben geschieht."
„Dieser Gang, Anfangs nicht projectirt und daher nicht auf den Plan
gezeichnet, soll auf Befehl der Regierung ausgeführt werden; er wird die Höhe
des Erdgeschosses nicht überschreiten und ebenso wie die den innern Hof umgebenden
Gänge als offene Arkadenhalle construirt werden."
„Um sämmtliche Pavillons , sowie um das Capellengebäude soll eine
Strasse von 12 Klafter Breite führen, auf welcher die Leichen unbemerkt zum
Leichenhause, zum Operationssaal und zum Kirchhofe geschafft werden können.
Auf der Breitseite dieser Strasse ist eine Reihe von Schuppen, für Remisen,
Ställe , Holz- und Kohlenmagazine und andere Zugehörigkeiten des Spitales
anzulegen. Es ist wohl darauf zu achten , dass Küche und Apothekengebäude
Keller für sich erhalten. — Soviel über die allgemeine Disposition des Spitals."
„Dem Vorwurfe, welchen man uns machen könnte, dass wir unserem
ersten Berichte gegenüber die Grundsätze für die Einrichtung der Säle geändert
hätten, müssen wir durch die Anführung der bestimmenden Gründe begegnen. Wir
haben uns damals für die ausschliessliche Benutzung des Erdgeschosses und des
ersten Stockes für die Anlage von Krankensälen ausgesprochen, während wir
jetzt auch die obere Etage dazu benutzen. Wir haben das Gute dem Besseren
zum Opfer gebracht; alle Anordnungen haben nothwendige Grenzen."
Im Jahre 1839 wurde das Programm für die Erbauung des Krankenhauses
Lariboisiere aufgestellt, welches von dem TENON'schen wesentlich nur darin abweicht,
dass unter den Pavillons gewölbte Keller angeordnet, die Länge der Säle um
fünf Meter vergrössert, der Kubikinhalt auf 52 Cm. für jedes Bett und die Zahl
der Betten per Saal auf 30 und für das Isolirzimmer auf zwei festgesetzt und
ferner bestimmt wurde, dass die Fensterpfeiler so breit hergestellt werden sollen,
dass zwei Betten an denselben aufgestellt werden können, dass die Fensterbögen
zu entfallen haben, um die Fenster möglichst dicht unter die Decke rücken zu
können , und endlich dass die Erwärmung der Räume durch eine Centralheizung
bewirkt, und für die Ventilation durch besondere Hilfsmittel vorgesorgt werden solle.
In ähnlichem Sinne wurden seither mehrere Spitalsneubauten in Frankreich
ausgeführt und diente das Hospital Lariboisiere auch manchen Neubauten in
anderen Ländern als Vorbild.
Entgegen den fortschrittlichen Bestrebungen, welche bezüglich des Spitals-
bauwesens in Frankreich in der angeführten Weise zum Ausdruck gelangten,
wurde aber der unter Napoleon III. im Jahre 1866 begonnene Umbau des Hotel
Dieu und zwar in nächster Nähe des Ortes, an welchem das alte Hotel Dieu stand.
SPITAL.
671
Fi°r. 54.
in einer Weise durchgeführt , dass die Anstalt , welche bis zu ihrer im Mai
1878 erfolgten Eröffnung per Bett 36.152 Francs gekostet hat, von den Pariser
Spitalsärzten und Chirurgen
als ungeeignet für ein
Hospital erklärt wurde,
mehrfache Abänderungen
erfahren musste und statt
für 800 Kranke, wie das
ursprüngliche Programm
festsetzte , nur für 500
Kranke gewidmet werden
konnte.
Als eine im letzten Jahr-
zehnte von Frankreich aus-
gehende Neuerung verdient
das in dem Jahre 1873
vom Ingenieur C. Tollet
vorgeschlagene Construc-
tionssystem für Spitäler und
Kasernen erwähnt zu wer-
den, durch welches relativ
wohlfeile , nichtsdestoweni-
ger aber solide, dauer-
Baracken in Spitzbogenform
Baracke. — System Tollet.
Fig.r55.
hafte und salubre erdgeschossige Unterkünfte, —
unter Vermeidung von Constructionen aus Holz — geschaffen werden sollen (Fig. 54),
und für dessen Verbreitung in modificirter, den örtlichen Verhältnissen angepasster
Form und Ausführung (Fig. 55) insbesondere die Ingenieure Prof. F. Grub er
und Völckner in Oesterreich eingtreten sind.
In Deutschland und
Oesterreich wurden
im vorigen Jahrhunderte
mehrere grosse Kranken-
anstalten durch aufgeklärte,
die philanthropischen Be-
strebungen ihrer Zeit unter-
stützende Begenten er-
richtet, so 1710 die Charite
in Berlin durch Friedrich L,
das Friedrichs-Hospital in
Kopenhagen durch Fried-
rich V., 1784 das Allgem.
Krankenhaus in Wien durch
Kaiser Josef IL u. dgl.
Im Allgemeinen geschah
aber wenig für die Kranken-
anstalten, welche die Ge-
meinden zu unterhalten
hatten.
In neuerer Zeit hat
dagegen auf diesem Ge-
biete ein entschiedener Um-
schwung zum Guten statt-
gefunden. Die Gemeinden
der Städte, Genossenschaften und Vereine wenden sich der Aufgabe, für ihre
Kranken zu sorgen, mit anerkennenswerthem Eifer zu.
lim
(Zu Fig. 54 und 55.)
672
SPITAL.
W --=■
SPITAL. 673
Bei der Errichtung dieser Krankenanstalten , sowie bei den in neuerer
Zeit zahlreich entstandenen klinischen Hospitälern ist man fast allenthalben bemüht,
den bezüglich der Erbauung und Einrichtung von Krankenanstalten gemachten
Fortschritten Rechnung zu tragen. Dieses Streben und die erzielten Erfolge sind
höchst erfreuliche Thatsachen, deren Bedeutung und Werth dadurch nicht ge-
schmälert werden kann, dass die gute Absicht nicht immer entsprechend verwirklicht
erscheint. Es ist das ja eine Eigentümlichkeit menschlicher Schöpfungen über-
haupt, liegt in der Schwierigkeit der Aufgabe und darin, dass die Ausführung
meist zu einseitig erfolgt und nicht durch das harmonische Zusammenwirken aller
betheiligten, aber auch competenten Factoren zu Stande kommt.
Die Entwicklung wird so zwar verlangsamt , aber aufgehalten wird sie
nicht. Sie hält Schritt mit der richtigen Erkenntniss auf diesem Gebiete und der
Verbreitung derselben.
Die Bestimmung, welche ein Krankenhaus hat, erheischt nicht nur, dass
eine solche Anstalt mit allen jenen Einrichtungen versehen sei, welche zur wirk-
samen Behandlung der Kranken benöthigt werden, sondern auch, und zwar
insbesondere, dass sie den Kranken eine gesunde Unterkunft biete. Es gilt da
nicht blos die Kranken unter die möglichst besten hygienischen Verhältnisse —
des Heilzweckes wegen — zu bringen, sondern auch den Gefahren thunlichst vor-
zubeugen, welche die Anhäufung von vielen und noch dazu kranken Menschen
mit sich zu bringen vermag, es gilt ferner die Kranken vor Erwerbung neuer
Krankheiten im Krankenhause und die Gesunden vor Ansteckung daselbst möglichst
zu bewahren. Das vermag aber nur ein Krankenhaus zu leisten, welches nicht blos
in einzelnen Details den Anforderungen der Hygiene entspricht, sondern in seiner
Totalität eine salubre Anlage bildet und angemessen geleitet und verwaltet wird.
Bei der Wahl der Baustelle für ein Krankenhaus sind zunächst die
Salubritätsverhältnisse der Gegend in Erwägung zu ziehen und zu würdigen.
In der Nachbarschaft von Objecten, welche, wie z. B. Sümpfe, Moräste, stehende
Gewässer, Friedhöfe, Casernen, Seifensiedereien und analoge Etablissements,
Fabriken etc., einen nachtheiligen Einfluss auf den Gesundheitszustand befürchten
lassen, oder wie gewisse Werkstätten (z. B. Schmiede- und Böttcherwerkstätte u. dgl.),
und Werkplätze, grosse stark benützte Strassen, Bahnhöfe u. dgl., durch Lärm die
Ruhe der Kranken stören, sollen Krankenhäuser nicht errichtet werden. Es wird
deshalb empfohlen, die Baustelle für ein Krankenhaus in Städten an die äusseren
Grenzen der städtischen Baulichkeiten, oder auch ausserhalb des Ortes, aber der
leichten Verbindung wegen nicht zu weit von ihm entfernt zu verlegen und den
Platz stets so zu wählen, dass die herrschenden Winde nicht über schädliche
Objecte hinweg das Krankenhaus treffen.
Leider ist es nicht immer möglich, die Oertlichkeit des Bauplatzes in
Bezug auf seine Umgebung so zu wählen, dass allen Anforderungen genügt
werden könne und kommt es selbst, wenn dies der Fall gewesen, nur zu häufig
vor, dass im Laufe der Zeiten durch die Vergrösserung der Städte, durch Verkehrs-
und Industriebauten u. dgl. die ursprünglich gesetzten günstigen Verhältnisse eine
Beeinträchtigung erfahren , die weder vorhergesehen noch durch gesetzliche Be-
stimmungen verhindert werden können. Deshalb muss die Forderung aufgestellt
und kann nicht genügend hervorgehoben werden , dass das Grundstück , welches
eine Krankenanstalt aufzunehmen bestimmt ist, so gross sein soll, dass die für die
Kranken bestimmten Gebäude durch einen bedeutenden, jedenfalls aber hinreichenden
Raum von den nachbarlichen Gründen getrennt seien und es auch bleiben, wenn
eine etwa noch zulässige E Weiterung der Krankenanstalt durchgeführt werden
sollte. Es ist nämlich immer wünschenswerth , dass bei der Errichtung einer
Krankenanstalt auf die Erweiterung derselben von vornherein Bedacht genommen
werde. Der für Gartenanlagen erforderliche Raum ergiebt sich dann in der Regel
von selbst, müsste aber im Gegenfalle in ausreichendem Maasse vorgesehen werden.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 43
674
SPITAL.
Bezüglich der Lage des Bauplatzes an und für sich und der
Beschaffenheit des Baugrundes sind die einschlägigen hygienischen
Momente in Betracht zu ziehen und zu würdigen ; so insbesondere die Beschaffenheit
des Untergrundes sowie die Lage und die Verhältnisse des Grundwasserspiegels.
Sandiger, kiesiger Boden , eine gegen das umliegende Terrain etwas erhöhte Lage,
besonders wenn sie gegen kalte und heftige Winde geschützt ist, und die Nähe
eines Flusses oder wasserreichen Baches von hinreichendem Gefälle sind Verhält-
nisse, welche als besonders vortheilhaft bezeichnet werden müssen. Dagegen würde
ein angeschütteter oder angeschwemmter, mit organischen Zersetzungsproducten
geschwängerter Boden, sowie ein Grund, dem von höher gelegenen Orten möglicher-
weise verunreinigtes Bodenwasser zufliesst oder welcher Ueberschwemmungen aus-
gesetzt ist, das schlechteste Bauterrain bilden.
Dass an einem Platze, welchem die Eignung für die Errichtung einer
Krankenanstalt zugesprochen werden soll, Wasser in hinreichender Menge und
insbesondere auch gesundes und wohlschmeckendes Trinkwasser zur Verfügung
stehen müsse, ist eine Forderung, die als unerlässlich in allen Fällen aufrecht
erhalten werden muss, gleichwie jene, welche für den Untergrund mindestens jene
Beschaffenheit beansprucht , durch welche eine leichte und genügende Drainage
und die Ableitung der Schmutzwässer mit hinreichendem Gefälle ermöglicht wird.
Die Grundform einer Krankenanstalt ist sowohl von der Grösse, resp.
dem Fassimgsraum derselben, als auch von den örtlichen und räumlichen Verhält-
nissen des Bauplatzes und in allen Fällen von sanitären Erwägungen abhängig.
Es lässt sich kaum eine Grundform denken, welche nicht schon als
Grundriss eines Krankenhauses verwendet worden wäre.
Als man anfing Neubauten zu Krankenhauszwecken zu errichten, suchte
man durch eine entsprechende Grundform des Krankenhauses jenen Anforderungen
zu genügen, welche man für nöthig, damals aber auch für genügend hielt, um
den Bedarf an Licht und Luft sicherzustellen.
Jüdisches Krankenhaus in Berlin.
1 Eingang. I <? Zimmer für zahlende Kranke
2 Zimmer für die Aerzte. 7 Operationssaal.
3 Verbindungsgänge. 8 Bäder.
4 Auskleidezimmer. 9 Aborte.
5 Krankensäle. 10 "Wärterzimmer.
Die Krankenhäuser jener Periode bestehen in der Regel aus einem Gebäude,
welches alle für eine solche Anstalt erforderlichen Räumlichkeiten enthält. Sander
fasst die verschiedenen Formen derselben unter der Bezeichnung „einheitliches
Krankenhaus" zusammen.
Gleichwie die Grundform, so ist bei diesen Anstalten auch die Beschaffen-
heit und Anordnung der Krankensäle und deren Nebenräume eine sehr verschiedene.
Es finden sich Krankensäle mit der Bettstellung längs beider Langseiten, von
SPITAL.
675
denen die eine mit Fenstern versehen ist ; es finden sich solche, welche bei grosser
Tracttiefe eine nur relativ schmale, mit grosser Fensteröffnung versehene Aussenwand
und die Bettenstellung längs den Zwischenwänden besitzen, und endlich Kranken-
zimmer, welche bezüglich der Form und Bettenstellung kein System befolgen.
Bei grösseren Krankenhäusern dieser Art bildet der zu Communications-
zwecken unvermeidliche Corridor einen wesentlichen und charakteristischen Bestand-
teil und liegt der Bezeichnung Corridor -Krankenhaus zu Grunde.
Krankenhäuser dieser Kategorie sind in ihren besseren und guten Aus-
führungen in Form eines Hufeisens (Fig. 56), eines einfachen Längstractes (Fig. 57)
oder eines solchen mit mehr weniger vorspringenden Flügeln oder ausgebauten
Seitentracten (Fig. 58, 59, 60) hergestellt und bilden den Uebergang zu den modernen
Krankenanstalten, bei denen nicht nur die für die Verwaltung und die verschiedenen
Administrationszweige erforderlichen Räumlichkeiten — aus dem Zusammenhange
mit den Krankenunterkünften gelöst — in besonderen Gebäuden untergebracht
sind, sondern in denen auch die zur Unterkunft der Kranken dienenden Räume
auf mehrere Baulichkeiten von geringem Umfange vertheilt sind — Pavillon-
oder Blocksystem — und entweder ganz allein stehen oder aber untereinander
Fig. 53.
1 Verbindungsgänge.
2 Kiankensäle.
3 Krankenzimmer.
4 Reconvalescentensaal.
Hospital in Blackburn.
5 Operationssaal und zuge-
hörige Krankenzimmer.
(> Bibliothek und Lesesaal.
7 Capelle.
8 Bäder.
9 Aborte.
10 Küche und Zugehen-.
11 "Wärterzimmer.
und mit den ersterwähnten Gebäuden durch geschlossene oder gedeckte offene
Gänge verbunden erscheinen (Fig. 61, 62, 63, 64).
Unter Pavillon im weiteren Sinne des Wortes ist ein kleineres
isolirt stehendes Gebäude zu verstehen, welches, wenn das Wort auf eine Kranken-
anstalt bezogen wird, alle für eine bestimmte Zweckerfüllung erforderlichen Räum-
lichkeiten einschliesst (Fig. 65, 66, 67). So wird ein für die Krankenunterkunft
bestimmtes und somit einen oder mehrere Krankensäle sammt zugehörigen Neben-
räumen — Krankensaalcomplexe — einschliessendes Gebäude Krankenpavillon
genannt und kann von einem Pavillon für das Bad, die Waschanstalt, die
Administration u. dgl. gesprochen werden. Das im Englischen wie im Deutschen
gebräuchliche Wort „Block" kann, sofern damit der Begriff des Einzelnen, Ab-
gesonderten verbunden wird, im gleichen Sinne angewendet und somit statt der
Bezeichnung Pavillon im weiteren Sinne des Wortes benützt werden.
Unter Krankenpavillon im engeren Sinne des Wortes, auch
schlechtweg Krankenpavillon oder Pavillon genannt, versteht man aber in der
Sprache des Spitalbauwesens ein in bestimmter Form ausgeführtes Krankenunter-
kunftsgebäude, nämlich ein solches, in welchem der eine normale horizontale Decke
besitzende Krankensaal die ganze Breite des Gebäudes einnimmt, dessen beide
43*
676
SPITAL.
Längsseiten somit von Aussenwänden gebildet und mit Fenstern
versehen sind und an dessen Enden sich die Nebenräume befinden.
Aus dem Gesagten ergiebt sich auch, dass die Bezeichnung Pavillon,
Block, sich nicht auf das Materiale bezieht, aus welchem das Gebäude hergestellt
ist, wenn man sieh auch daran gewöhnt hat, unter Pavillon einen stabilen Stein- resp.
Ziegelbau zu verstehen, im Gegensatze zu der den Charakter eines provisorischen
ff?
56
■~ w
WM ö
m *^n Cl-i "
Baues besitzenden Kranken- oder Lazarethbaracke, welche, gleichviel ob
sie aus Holz oder neueren Bestrebungen zufolge aus Eisen hergestellt ist, doch
unter den Begriff Block , Pavillon subsumirt erscheint und deren charakteristisches
Merkmal, ausser dem Passageren der Anlage, die schiefe der Dachneigung ent-
sprechende Decke und der — behufs der sogenannten Dachfirstventilation —
677
3m/m = 5
K. K. Krankenanstalt „Rudolph-Stiftung" in Wien.
A Eingang, Vestibül.
R Portier.
C Aufnahmslocalitäten.
0 Zimmer der Diener.
1 Warteraum.
2 Kanzlei.
3 Zimmer des Beamten.
4 Zimmer des Arztes.
D Ambulatorium und Lese-
zimmer für die Aerzte.
E Zimmer des Primararztes.
v Küche mit Nebenraum
o Vorbereitungsräume :
1 Für Fleisch- und Mehl-
speisen.
2 Für Gemüse.
P Scheuerraum.
1 Portier.
2 Kanzlei des Verwalters.
a Secirsaal.
ß Reinigungs- und Manipula-
tionsraum.
I. Krankenanstalt.
F Grosses Wohnzimmer und
Dormitorien f. Wärterinnen.
/ Cabinet für Wärterinnen,
/i Kleines Zimmer zu dem-
selben Zwecke , eventuell
anderweitig verwendbar.
a Krankensaal.
b Separirtes Zimmer.
c Badezimmer.
d Scheuerranm.
II. Oekonomie-Gebäude.
q Victualien-Magazin.
r Speisezimmer f. das Wart-
personale.
s Zimmer für d^s Küchen-
personale.
u Magazin für Stroh u. dgl.
III. Administrations-Gebäude.
3 Kanzlei der Verwaltung.
4 Zimmer d<=s Apothekers.
5 Apotheke.
IV. Leichenhaus.
y Arbeitszimmer des Pro-
sectors.
o Wohnung d. Leichenhaus-
dieners.
e Vorraum mit Theeherd.
/ Vorraum ohne Theeherd.
Sf Gang.
h Wannenbäder.
i Aus- und Ankleideraum,
fc Douchebad.
I Dampfbad.
m Wohnzimmer für Secundar-
ärzte.
j^ Capelle.
v Desinfectionslocale.
v Gedeckter Hofraum.
tu Kaum für Kehricht u. dgl.
x Hofraum f. Baumaterialien.
?/ Glashaus.
s Warmhaus.
6, 7 Beamtenwohnung.
s Verbindungs^ang.
a Aufbahrlocal»
£ Sacristei.
7) Capelle.
V. Wohngebäude für Beamte und Diener.
678
SPITAL.
durchbrochene mit einem Dachreiter oder einem angemessenen Aufbau versehene
Giebel (Fig. 72) oder ein Sheddach bildet.
Die Widmung eines einzelnen Blocks oder Pavillons für eine möglichst
fferinsre Anzahl von Kranken und bestimmter Pavillons für bestimmte Krankheits-
Fig. 61.
1. Eingang.
2. Verbindungsgänge.
3. Portier.
4. Bureau.
5. Direction.
6. Krankensäle.
7. Krankenzimmer.
Hospital Lariboisiere.
S. Keconvalescentensaal.
9. Bibliothek und Lesesaal.
10. Capelle.
li. Apotheke.
12. Bäder.
13. Aborte.
14. Küche mit Zugehör.
15. "Waschanstalt.
16. Zimmer für die Aerzte.
17. Wärterzimmer.
18. Theeküche.
19. Magazine.
20. Rasenplätze.
gruppen; die Begrenzung der Gebäudehöhe auf Ein Geschoss, die vollständig
gesonderte Lage der einzelnen, mindestens um die zweifache Gebäudehöhe von
einander entfernten Pavillons durch Weglassung aller Verbindungsgänge und die
Freihaltung des zwischenliegenden Gartens von schattigen Baumanlagen sind
SPITAL.
679
Forderungen, die in äusserster Verfolgung der Anschauungen aufgestellt werden,
welche den modernen Spitalsbauten zu Grunde gelegt worden sind.
Ausser den Reflexionen mit den Spitalswesen vertrauter, erfahrener und
weitblickender Männer im Allgemeinen, war es insbesondere die berechtigte Sorge
für ausreichende Aeration und endlich die Kriegsnoth, welche den Anstoss gaben
Fig. 62.
Boston Free Hospital.
zu der in den letzten Jahrzehnten in's Rollen gekommenen Reformbewegung auf
dem Gebiete des Spitalsbauwesens.
Die Unkenntniss der Bedingungen, deren Erfüllung die Beschaffung und
Erhaltung reiner Luft und behaglicher Zustände in bewohnten Räumen erheischt,
und die unter solchen Verhältnissen zu Stande gekommenen, mitunter recht
kostspieligen aber theils fehlerhaften theils unzureichenden Einrichtungen zur
G80
SPITAL.
Ventilation, vermittelten die Annahme und die bis auf die neueste Zeit festgehal-
tene und verbreitete Irrlehre, dass alle besonderen Vorkehrungen zu Ventilations-
zwecken, alle Ventilationsanlagen ungenügend und überflüssig seien und durch
gegenüberliegende Fenster und eingeschossige Gebäude vollkommen ersetzt werden
können , ja dass bei einer anderen Anordnung der Krankenunterkünfte eine ent-
sprechende Ventilation gar nicht möglich sei.
In anderer Beziehung war es der Krimkrieg, welcher in Folge der
enormen Sterblichkeit in den Kriegslazarethen Veranlassung gab , dass dem
Fig. 63.
Allgemeines Krankenhaus der Stadt Berlin, im Friedrichs hain.
Haupteinfahrt.
Apotheke, Bureaus etc.
Wohnhäuser d. Directoren.
Stallungen und Remisen.
Beamtengärten.
Asphaltirte Wege.
Capelle.
Russische u. römische Bäder.
J Oekonomie-Gebäude.
L K essel- und Maschinenhaus.
L Brunnenhaus.
M Eiskeller.
N Leichenhaus u. Begräbniss-
capelle.
0 Ausfahrt für Leichenwagen
P Thorgebäude.
R Luftentnehmer.
S Operationsgebäude.
I — VI Zweistöckige Pavillons.
VII— X Einstöckige Pavillons
der Chirurg. Abtheilung.
XI— XII Zweistöckige Pavil-
lons als Portiergebäude.
Lazarethwesen — um welches sich zu jener Zeit insbesondere auch Miss Florence
Nightingale verdient gemacht hatte ■ — überhaupt und den Krankenunter-
künften insbesondere eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet wurde, und dass
die luftigen Zelte und Holzhütten gegenüber den üblichen Unterkünften in grossen
Gebäuden so zur Geltung kamen, dass die Amerikaner mit Beruhigung daran
gehen konnten, die Holzbaracke systematisch zu Lazarethzwecken auszubilden
und zur Zeit ihres mörderischen Krieges in der Lage waren rasch und nach
SPITAL.
681
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682
SPITAL.
SPITAL.
«383
Bedarf Kriegslazarethe zu schaffen (Fig. 68, 69, 70, 71), welche in Bezug
Zweckmässigkeit und Salubrität als unübertroffen bezeichnet werden konnten.
auf
Fig. 67.
i
Oberbau der Baracke im städtischen Krankenhause in Dresden.
1 Krankensaal.
2 Krankenzimmer.
3 Wärterziramer.
4 "Waschraum und Bad.
5 Abort.
6 Theeküche.
7 Verglaster Raum für
. Reconvalescenten.
8 Verglaster Raum zur
Benützung im Sommer.
0 Gasleitung.
So kam die Baracke auf den Continent, fasste zunächst als Erweiterungs-
raum und Unterkunftsstätte für specielle Krankheitsformen in den Spitälern Wurzel,
vermittelte, dass der in Frank-
reich und England benützte Pavil-
lon in verschiedener Gestaltung
der typische Bestandtheil einer
modernen Krankenanstalt wurde,
und bildet als mehr weniger
modificirter Holzbau oder moderne
Eisenconstruction (Fig. 65, 66, 72
— Fig. 54, 55) das Element
gegenwärtiger und künftiger
Kriegsspitäler (Fig. 73).
So richtig die Erwägungen
sind , aus denen die Forderungen
für kleine, ganz isolirte und erd-
geschossige Pavillons abgeleitet
wurden, so wahr es ist und
bleiben wird, dass eine salubre
Anlage zunächst das Zusammen-
drängen von Kranken ausschliesst,
dass sie die Trennung der für die
Verwaltung und Oeconomie be-
nöthigten Räume von den Kran-
kenunterkünften fordert und über
entsprechende Gartenanlagen ver-
fügen muss , und so sehr ich die
Reform vertrete , welche das
Spitalsbauwesen seit den denk-
würdigen Vorschlägen der von
der Akademie zu Paris in den
Jahren 1786 und 1787 berufenen
Commission erfahren hat, so kann
ich doch nicht umhin, hervorzu-
der besten Absicht über das Ziel
Lincoln -General -Hospital
in Washington City.
a Verwaltungsgebäude, b Pavillons für Kranke.
In der Mitte des freien Baumes die Kücbe, Wäscherei etc
heben, dass, wie so häufig, auch hier in
geschossen worden ist.
684
SPITAL.
Fig. G9.
Einseitige Auffassung und Verwerthung an sich richtiger Thatsachen,
mangelhafte Kenntniss und Unterschätzung der Fortschritte auf dem Gebiete der
einschlägigen Wissenschaften und deren praktischen Verwerthung einerseits, ver-
zeihlicher Autoritätenglaube und Nachahmungssucht andererseits, sind die Ursachen
dieser auch für den Entwickelungsgang menschlicher Schöpfungen im Allgemeinen
höchst interessanten und lehrreichen Erscheinung.
In der That hat es den Anschein, dass sich bereits die wüuschenswerthe
und nöthige Ernüchterung einzustellen beginnt, dass sich die Anschauung Bahn
bricht, dass die Salubrität eines Krankenhauses überhaupt und daher auch, soweit
sie von der baulichen Durchführung abhängt, nicht von einem oder dem anderen
Detail, sondern nur von der entsprechenden Berücksichtigung, Durchbildung und
Durchführung aller in Betracht kommenden Momente beeinflusst wird, dass es
daher gilt, sowohl den sanitarischen als auch den administrativen Rücksichten
nach Maassgabe und im Verhältniss ihrer Bedeutung gleichmässig Rechnung zu
tragen und so ein harmonisches Ganzes zu schaffen.
So sieht man die Holzbaracke, das Element passagerer Krankenhaus-
Anlagen, durch solidere Constructionen ersetzt und die Decentralisationstendenz
mit Rücksicht auf den Dienst-
betrieb und einen zu weitgehenden
Raumbedarf angemessen einge-
schränkt,- man findet neben dem
einfachen und erdgeschossigen
Pavillon, auch dem Doppel-
pavillon und dem zweigeschos-
sigen Gebäude den gebührenden
Platz eingeräumt und wird — es
unterliegt keinem Zweifel - — bei
fortgesetzter Entwicklung des
Bauwesens in sanitarischer Be-
ziehung auch die Vereinigung
von mehr als vier Krankenunter-
kunfts - Elementen (Krankensaal-
Complexen), also die angemessen
begrenzte Verwendung von nicht
zu grossen, nach einem rationell
disponirten Plane mit unterein-
ander verbundenen ausgebauten
Tracten durchgeführten Gebäuden,
neben dem Systeme mit Sälen, Hamniond-General-Hospital, Point Lookut.
welche die ganze Tracttiefe ein- a Administratioiisgebäaae. I d Wäscherei.
nehmen (Pavillon- oder Blocksäle) b Pavillon für Kranke. e Wachhans.
a i tt , .„ . c Küche. I / Tornisterkammer,
und den Krankenpavillons im g Leichenkammer.
engeren Sinne des "Wortes, ebenso
zulässig finden, als zu der Erkenntniss gelangen, dass die Forderung: es seien
alle Krankenunterkunftsgebäude — Pavillons im weiteren Sinne — stets streng
gesondert , also unter Hinweglassung aller Verbindungsgänge zu erbauen , sich nur
so lange aufrecht erhalten lässt, als man die Herstellung von Verbindungsgängen,
welche die Salubrität der verbundenen Krankenunterkünfte nicht beeinträchtigen
und gefährden, für unmöglich hält, weil eine zweckmässige Verbindung jener in
Rede stehenden Objecte , bei denen eine solche statthaft ist, Vortheile bietet , die
nur im praktischen Betriebe einer grossen Anstalt erkannt und gewürdigt werden
können und zu bedeutend sind, als dass sie einer, zwar sehr gut gemeinten, aber
zu weit gehenden einseitigen Auffassung leichthin geopfert werden sollten.
Es wird die Ueberzeugung zum Durchbruch und zum Ausdruck gelangen,
dass die salubre Anlage und Durchführung eines Gebäudes in allen Details für
SPITAL.
685
die hygienische Bedeutung desselben ausschlaggebend ist, dass durch die Theilung
und Vereinfachung der Form allein manche Uebelstände wohl vermindert aber
nicht beseitigt werden können, und dass es ein, wenn vielleicht auch notwendiger
weil durch die Erfahrung berichtigter und daher wohlthätiger Irrthum war, zu
glauben, die Herstellung einer Krankenunterkunft als Baracke oder Pavillon genüge
ohne Weiteres für deren Zweckmässigkeit und Salubrität.
W
CD
Drei Forderungen dagegen sind es, denen bei jeder rationellen Kranken-
hausanlage entsprochen werden muss, und zwar:
1. dass die Krankenunterkünfte im weiteren Sinne des Wortes eigene
ßaumcomplexe zu bilden haben, die von den Räumen , welche zu anderen Zwecken
— Administrationszwecken — benöthiget werden, getrennt sind;
636
SPITAL.
2. dass die Krankenunterkünfte bei grösseren Anlagen nicht in Ein
Gebäude disponirt, sondern tbeils nach dem Geschlechte der Kranken, theils nach
Krankheitsgruppen zerfällt, auf mehrere entsprechend grosse, gesonderte Gebäude
vertheilt werden, und
3. dass jedes Gebäude nicht nur seiner Bestimmung gemäss angeordnet
und eingetheilt, sondern auch nach jeder Richtung hin den Grundsätzen und
Q
Detailforderungen der Gesundheitstechnik entsprechend so durchgeführt werde, dass
es als ein zweckmässiger und vollkommen salubrer Bau bezeichnet werden könne.
Der erstem Forderung kann bei grösseren Anlagen nur durch Errichtung
entsprechender und nach Bedarf gesonderter Gebäude für Administrationszwecke
vollkommen entsprochen, soll aber selbst in den kleinsten, ein einziges Bauobject
SPITAL.
C87
bildenden Krankenhäusern durch eine entsprechende bauliche Anordnung und
Eaumvertheilung Rechnung getragen werden.
Die zweite und dritte Forderung hat eine schon im Eingange für ein
zweckmässiges Krankenhaus angesprochene, hinreichend grosse Bauarea zur Vor-
aussetzung und schliesst insbesondere auch die Herstellung von vollkommen
isolirten und zweckmässig eingetheilten und eingerichteten Pavillons für Infections-
krankheiten ein.
Der dritte Satz endlich spricht eine Forderung aus, welcher bis jetzt
am wenigsten Genüge geschehen und die am schwersten zu erfüllen ist, weil sie
Kenntnisse und Erfahrungen voraussetzt, die der Natur der Sache nach nur sehr
ausnahmsweise sich in ein und demselben Individuum vereinigt finden und erst
dann die nöthige Verbreitung und Würdigung im Allgemeinen und in den
betreffenden Fachkreisen insbesondere erfahren werden, bis eine erschöpfende und
klare Darstellung sie dem all-
gemeineren Verständniss näher
gerückt und die Schule ihre
wirksame Ueberlieferung über-
nommen haben wird. Bis
dahin wird der Hygieniker
noch so manchen und häufig
genug mehr oder weniger
erfolglosen Kampf mit den
Architekten zu kämpfen be-
müssigt sein, sowohl bezüglich
des Gesammtentwurfes gleich-
wie der verschiedenen Details
meist wenig Sympathie und
Entgegenkommen finden und
nur dann durchdringen, wenn
er die betreffenden Gebiete
hinreichend beherrscht , um
eine objective Kritik üben und
selbst sachliche und ent-
sprechende Vorschläge machen
zu können.
Nur durch harmonisches
Zusammenwirken eines mit
dem Lazarethwesen vollkom-
men vertrauten Arztes mit
einem zweckbewussten Archi-
tekten lässt sich derzeit und
wohl auch künftig eine zweck-
mässige Krankenhaus anläge herstellen , welche schon durch die Anlage und Ein-
theilung die Salubrität derselben von vorneherein vermittelt und bei würdiger
Einfachheit der Form auch berechtigten architektonischen Forderungen entspricht.
Die oben aufgestellten Forderungen legen auch die Frage nahe nach der
zweckmässigen Grundform der Krankenunterkunftsgebäude, nach der zulässigen
Höhe derselben und wie sie zweckentsprechend gruppirt werden können.
Die zweckmässige Grundform und Anordnung eines
Krankenunterkunftsgebäudes hängt von der Lösung der Aufgabe ab,
die verschiedenen Typen aufzustellen, welche für die zweckmässige Anordnung
eines vollständigen Krankenunterkunftscomplexes — Saalcomplexes — möglich
und zulässig sind , weil , wie ich schon seit mehr als zwanzig Jahren geltend zu
machen suche, ein normaler Krankensaal mit allem Zugehör eine selbständige
Baracken-Profile (1870/71).
a Baracke auf dem Tempelhofer-Felde bei Berlin.
b Zelt mit Glasbedachung im Hospital zum heil. Geist iu
Frankfurt a. M.
c Baracke im Reservelazareth II und im Vereinslazareth in
Frankfurt a. M.
d Baracke auf dem Tempelhofer-Felde hei Berlin.
e Barackenzelt im Dr. Senckenberg'schen Hospital in
Frankfurt a. M.
/ Neue Baracke im Beservelazarethe II in Frankfurt a M.
g Baracken des Reservelazarethes I, Pfmgstweide, in Frank-
furt a. M.
688
SPITAL.
Einheit, ein Element bildet, aus dessen rationeller Verbindung mit einem zweiten
oder mehreren analogen Einheiten (Saalcomplexen) das zweckentsprechende Kranken-
unterkunftsgebäude (Pavillon im weiteren Sinne des Wortes) resultirt.
Obwohl es nicht nur denkbar, sondern auch thatsächlich möglich ist,
auch ein dreigeschossiges Krankengebäude saluber herzustellen , so sollte doch
an der Regel festgehalten und ohne zwingenden Grund von derselben nicht ab-
gegangen werden , dass ein Krankenpavillon nicht mehr als zwei Geschosse in
jenen Fällen erhalten solle, wo die eingeschossige Anlage localer Verhältnisse
oder Umstände wegen nicht durchführbar erscheint.
Fig. 73.
10 o
iimuim
10
Preuos: Ruthen.
SO ,30 40
50
OD
70 B
10 0
' Wiener Klafter '
D 40 SO 00 70 80
o mo 1
1
1
1 1
i ■ .
1
Baracken-Anlage auf dem Tempelhofer-Felde bei Berlin (1870/71).
L Baracken.
Kx Küche.
K, Waschhaus.
I Verwaltung.
O Operationssaal.
D Zeughaus.
Dh Eiskeller.
D6 Strohschoppen.
T Leicheuhaus.
Die Grundrissform der einzelnen Krankengebäude wird im Allgemeinen
jene eines einfachen Längentractes, mit oder ohne Flügel- oder Mittelrisalite, sein
— Pavillon im engeren Sinne des Wortes — und wenn es sich um einen
grösseren Fassungsraum handelt, einen Längentract mit ein- oder beiderseits vor-
tretenden Flügeln bilden — Pavillon im weiteren Sinne des Wortes. In diesem
Falle soll die Länge der Flügel nicht mehr als den dritten Theil des Längen-
tractes betragen, der Abstand derselben aber mindestens der zwei- bis dreifachen
Höhe desselben entsprechen.
Nach der oben angeführten Regel ist auch der Abstand zwischen zwei
Krankengebäuden zu bestimmen, dabei aber festzuhalten, dass die Höhe des
höheren Gebäudes als maassgebend anzusehen ist.
Bei der Orientirung und Gruppirung der Krankenunterkunfts-
gebäude ist zunächst auf eine günstige Stellung derselben gegen die Weltgegend
SPITAL. 689
und zur herrschenden Windrichtung zu sehen und den vorhandenen Terrain-
verhältnissen entsprechend Rechnung zu tragen.
Bezüglich der Orientirung empfiehlt es sich, Krankenpavillons im engeren
Sinne des Wortes so zu stellen, dass deren Längenachse von Nord nach Süd
gerichtet ist oder bis 45° etwa von dieser Richtung nach der einen oder anderen
Seite — je nach der vorherrschenden Windrichtung — abweicht, diese Regel auch
bei Krankensälen mit Fenstern in zwei einander gegenüberliegenden Wänden zu
beachten und die Fenster von Krankenzimmern, welche nur eine Fensterreihe
besitzen, in der Regel in der nach Süd-Ost, Süd oder Ost gerichteten Wand
anzubringen.
Die Pavillons (Blocks) können mit den Längsachsen entweder in eine
Linie oder einander parallel oder endlich divergirend gestellt werden.
Die Grösse einer Krankenanstalt, welche allen hygienischen An-
forderung entsprechend auf einem Areale von angemessener Ausdehnung angelegt
ist, wird zunächst durch administrative Rücksichten begrenzt. Es ist That-
sache, dass über eine gewisse Grenze hinaus mit der Grösse der Anstalt die
Schwierigkeit der Ueberwachung und Verwaltung wächst, ohne dass letztere
billiger würde.
Mit Rücksicht hierauf wird eine moderne , nach dem Pavillonsysteme im
engeren Sinne des Wortes disponirte Krankenanstalt nicht leicht mehr als 500
bis 600 Krankenbetten umfassen dürfen und können und werden 900 bis 1000
Betten selbst bei einer Anlage, welche so weit centralisirt ist, als dies vom gesund-
heitstechnischen Standpunkte überhaupt zulässig ist , die Grenze bilden , deren
Ueberschreitung nach keiner Richtung Vortheil bringen kann und nur unter ausser-
gewöhnlichen Verhältnissen, wie z. B. im Kriege und eine salubre Barackenanlage
ad hoc vorausgesetzt, zu rechtfertigen sein dürfte.
Bis zu der angegebenen Grenze werden für die Grösse eines zu
errichtenden Krankenhauses, gleichwie für die Gliederung desselben im Allgemeinen
und der Krankenunterkünfte insbesondere die Verhältnisse maassgebend sein, unter
denen die Herstellung des Krankenhauses erfolgt, sowie die Zwecke, denen das-
selbe zu dienen hat.
Es ist nothwendig, diesen Satz ganz besonders hervorzuheben und darauf
hinzuweisen , dass die Ansicht von den Nachtheilen grosser Spitäler , welche
insbesondere durch die Publicationen John Simpson's und Miss Nightestgale's
fast zu einem Dogma erhoben worden sind , gegenüber einer vollkommen salubren
Anlage ebenso unbegründet und unberechtigt ist, als — wie ich schon oben
bemerkte — die Annahme, ein Krankenhaus, eine Krankenunterkunft entspreche
den sanitären Anforderungen, sobald nur ein Pavillonbau, ein Block in die Er-
scheinung tritt. Der in ersterer Beziehung geführte Streit ist ein schlagender
Beweis dafür, wie ein so überaus schätzbares und werthvolles Hilfsmittel der
Forschung, wie die Statistik eines ist, missdeutet und missbraucht werden kann
und wie unerlässlich das Studium der Logik und der naturwissenschaftlichen
Methodik zur objectiven Beurtheilung der Verhältnisse und zu einer richtigen
Feststellung von Thatsachen ist.
Inwieweit und wie bei einem zu erbauenden Krankenhause die Trennung
der Krankenunterkünfte nach Krankheiten und wie jene nach Geschlechtern durch-
zuführen sei, hat den Gegenstand einer sehr eingehenden Erwägung zu bilden und
ist für die Bauform, Grösse, Anzahl und Gruppirung der betreffenden Gebäude
von der grössten Wichtigkeit und dieselbe bestimmend.
Die Trennung der Geschlechter soll in jedem Krankenhause entsprechend
durchgeführt sein. Für die Trennung nach Krankheiten lassen sich keine all-
gemeinen Angaben machen und kann eine thunlichst befriedigende Entscheidung
nur mit Rücksicht auf die örtlichen Sanitätsverhältnisse und auf Grund einer
brauchbaren Localstatistik getroffen werden.
Keal-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 44
690 SPITAL.
Die Krauken einer Heilanstalt lassen sich nach der Beschaffenheit ihrer
Erkrankung zunächst in drei Hauptgruppen oder Abtheilungen theilen , und zwar
in solche mit innerlichen Krankheiten, in solche mit äusserlichen Krankheiten und
in solche mit ansteckenden (Infections-) Krankheiten, und sollen dieser Theilung
entsprechend in besonderen Räumen, und wenn es die Grösse der Anstalt zulässt,
in besonderen Gebäuden untergebracht werden.
Bei grossen Anstalten erscheint eine weitere Zerfällung dieser Haupt-
gruppen angezeigt und werden Abtheilungen für innerliche Krankheiten, für
chirurgische Krankheiten, für Augenkrankheiten, für syphilitische Krankheiten, für
Hautkrankheiten, für Frauenkrankheiten und Gebärende, für Kinderkrankheiten,
für Blatternkranke , für Typhus und Infectionskrankheiten anderer Art errichtet,
und zwar je nach Bedarf auch mehrere für dieselbe Gruppe, da im Interesse
des Heilgeschäftes eine Abtheilung für innerliche Krankheiten nicht über 130, für
äusserliche Krankheiten nicht über 90 und für Syphilis nicht über 150 Kranke,
resp. Betten enthalten sollte.
Ausser den angegebenen, der gewöhnlichen Benützung dienenden Abthei-
lungen soll ein jedes den Anforderungen entsprechende Krankenhaus Reserve-
räume im Betrage von etwa 10 — 12°/0 des Belagraumes zur Ueberbringung der
Kranken während der jährlich vorzunehmenden Reinigung und für ganz ausser-
gewöhnliche Fälle frei verfügbar haben und theils angemessen zerstreute, theils
zu einer kleinen Gruppe vereinigte Separationszimmer besitzen, um Kranke isoliren
zu können , sei es , weil ihr Krankheitszustand dies erheischt , der Stand und
Bildungsgrad des Kranken dies wünschenswerth macht, oder der Kranke sich
durch Bezahlung einer höheren Taxe, wenn eine solche besteht, ein Recht
hierauf erwirbt.
Das wechselnde Verhältniss zwischen den einzelnen Krankheitsgruppen
untereinander und dem Antheil der Geschlechter an denselben bietet bei der
Raumbestimmung, oder Vertheilung und Anordnung der Krankenabtheilungen und
der Krankenunterkunftsgebäude nur zu oft bedeutende Schwierigkeiten, sobald der
ideale Standpunkt verlassen und die praktische Durchführung eines concreten
Falles in das Auge gefasst wird. Diese Schwierigkeiten steigern sich mit der
Zerfällung der Anstalt und kommen beim praktischen Betriebe derselben erst
recht und fühlbar zum Bewusstsein.
Das ist der Grund, warum im Zusammenhalt mit dem über aie hygienische
Bedeutung des Blocksystems an und für sich Gesagten, bezüglich der zu weit
gehenden Decentralisation an den Spruch erinnert werden muss: est modus in
rebus, und warum einer zweckmässigen Krankenhausanlage eine gewisse Elasticität
bezüglich der Raumverwendung innewohnen soll.
Die Forderung , dass in jedem Krankenhause für angemessene Isolirung
jener Personen Sorge zu tragen sei, welche mit einer ansteckenden Krankheit
behaftet sind, kann am besten dadurch erfüllt werden, dass ein vollständig isolirtes,
mit allen Erfordernissen ausgestattetes Gebäude diesem Zwecke gewidmet wird.
Wo eine so vollständige Isolirung unthunlich ist, sollten die in Rede stehenden
Isolirzimmer wenigstens in einem besonderen, einen separirten Eingang von aussen
besitzenden Gebäudetheile untergebracht werden.
Die eben besprochene Vorsorge zur Isolirung ansteckender, nicht epide-
mischer Krankheitsfälle, welche in einem jeden Krankenhause bestehen soll,
schliesst die Errichtung besonderer Anstalten zur Unterbringung solcher Kranken,
die mit epidemisch auftretenden , ansteckenden Krankheiten behaftet sind , nicht
aus und wird die Errichtung von Pocken- und Epidemie spitälern (Seuchen-
häusern) für grosse Städte insbesondere ein in dem Maasse dringenderes Be-
dürfniss werden, als die Erkenntniss sich Bahn brechen wird, dass es kein
wirksameres Mittel giebt, ausbrechende Seuchen zu bekämpfen und zu begrenzen, als
«lie Isolirung der ersten Fälle und die Unterbringung aller Erkrankten in einer
wohleingerichteten Heilanstalt ad hoc. Aus diesem Grunde soll auch das Epidemie-
SPITAL. 691
oder Seuchenhaus einerseits der bestehenden Krankenhausleitung untergestellt und
andererseits mit den nöthigen Einzelzimmern für Mehrzahlende ausgestattet sein,
damit auch den Anforderungen genügt werden könne, welche Kranke, die eine
höhere sociale Stellung einnehmen, zu stellen berechtigt sind.
Ausser den Krankenunterkünften, d. i. den Krankenzimmern und den zu
denselben gehörigen Nebenräumen und den Aufnahmslocalitäten , Kanzleien und
sonstigen Diensträumen, bilden eine entsprechend eingerichtete Apotheke, eine
Kochküche sammt den zugehörigen Eäumlichkeiten, eine Badeanstalt, eine Wasch-
anstalt, ein Leichenhaus; ferner die erforderlichen Magazine und Werkstätten —
eventuell auch Stallungen sammt Zugehör — endlich die nöthigen Wohnungen
für Aerzte, Beamte und das Dienstpersonale und die Räume für den Gottesdienst
Bestandtheile einer vollständigen Krankenanstalt.
Gleichwie die Grösse der Anstalt das Ausmaass und die Vertheilung der
Krankenunterkünfte beeinflusst, ist sie auch maassgebend für das Erforderniss und
Ausmaass der eben aufgezählten Bestandtheile, bei deren Disponirung den hygieni-
schen Anforderungen, gleichwie den Betriebsrücksichten in jeder Richtung Rechnung
getragen werden soll.
Von der Grösse der Anstalt hängt es also wesentlich ab, ob und in welcher
Weise den Seite 685 und 686 ausgesprochenen Forderungen entsprochen werden
kann, und von der Grösse des verfügbaren Areales, von den verfügbaren Geldmitteln,
den climatischen Verhältnissen und der Terrainbeschaffenheit hängt es — wesentlich
beeinflusst von der jeweilig über das Spitalbauwesen und die Krankenhaus-
hygiene geltenden Anschauungen — ab, wie und inwieweit denselben thatsächlich
entsprochen wird.
Kleine Krankenhäuser können aus einem einzigen Gebäude bestehen ; bei
grösseren hat zunächst die Ausscheidung der Administrationslocalitäten und die
Unterbringung derselben in einem besonderen Gebäude, sodann die Absonderung
der mit ansteckenden Krankheiten behafteten Kranken, und endlich nach Maass-
gabe der Grösse des Krankenhauses und der sonstigen Verhältnisse die weitere
Sonderung der Krankenunterkünfte nach den zwei anderen Hauptgruppen, und
endlich nach Krankenabtheilungen überhaupt, sowie die Zerfällung der Verwaltung
und Sonderung der Verwaltungszweige nach Bedarf zu erfolgen.
Für kleine vollständige Krankenhäuser empfiehlt es sich, die Verwaltungs-
localitäten in die Mitte des Gebäudes zu verlegen, dessen in eine Linie gestellten
Seitentracte die Krankensäle — mit Fenstern an beiden Längsseiten — enthalten.
Beispiele kleiner Krankenhäuser bilden das amerikanische reglementarische Post-
Hospital ; das Military Regimental Hospital der britischen Armee. Bei grösserem
Bedarf an Administrationslocalitäten sollen dieselben in einem kleinen besonderen
Gebäude untergebracht werden.
Bei grösseren Krankenhäusern , wo die Front zu lang würde , können
die Krankentracte an den Enden des relativ langen Ver waltun gstractes , welcher
in den oberen Etagen auch Einzelnkrankenzimmer enthalten kann, senkrecht auf
denselben, als nach einer oder nach beiden Seiten gerichtete Flügel angebracht
werden, wodurch das Gebäude die Form eines \ | oder |— | erhält (z. B.
Israelitisches Krankenhaus in Wien [Währing], Fig. 56). Findet in letzterem Falle
eine mehr oder weniger vollständige Abtrennung der Seitentracte statt, so ergiebt
sich der Uebergang zu den decentralisirten Anlagen, bei welchen die Kranken-
unterkunftsgebäude — Blocks, Pavillons — je nach der Grösse und Beschaffen-
heit des verfügbaren Terrains in der mannigfachsten Weise angeordnet werden
können, und zwar entweder ganz frei oder untereinander und mit den Ver-
waltungsgebäuden durch mehr weniger offene, oder aber geschlossene Gänge verbunden.
Beispiele solcher Anlagen sind: Das Swansea new Hospital, das Black-
burn Hospital (Fig. 58), das Herbert Hospital in Woolwich (Fig. 59), das Hospital
Lariboisiere in Paris (Fig. 61), das Boston Free Hospital (Fig. 62), das städtische
44*
692 SPITAL.
Krankenhaus in Leipzig, das städtische Krankenhaus in Dresden, das städtische
Krankenhaus Friedrichshain in Berlin (Fig. 03) , das neue akademische Kranken-
haus in Heidelberg, das städtische Krankenhaus in Wiesbaden (Fig. 64).
Dass die verschiedenartigsten Gruppirungen möglich und auch thatsäch-
lich durchgeführt worden sind, beweisen die Barackenspitäler, welche sowohl ihrer
charakteristischen Baubeschaffenheit, als ihres mehr weniger passageren Charakters
wegen eine besondere Gruppe bilden , grundsätzlich nur Ein Geschoss besitzen
und, wie bereits erwähnt, blos als Kriegslazarethe aber da von grösster Wichtig-
keit sind.
Beispiele solcher Anlagen sind : Das Lincoln General-Hospital (Fig. 08),
das Hammond- (Fig. 69), das Mover- (Fig. 70), das Mac Dougal-General-Hospital
(Fig. 71), das Barackenlazareth am Tempelhofer Felde in Berlin (Fig. 73).
Sind die Krankenunterkünfte in allen Geschossen untereinander ver-
bunden, so entsteht ein Krankenhaus nach dem sogenannten Corridorsystem, dessen
Grundriss nur dann zulässig erscheint, wenn das Gebäude einen zweckmässig
angeordneten Flügelbau bildet , da ein compacter, relativ kleine oder wohl gar ge-
schlossene Höfe enthaltender Bau unbedingt als verwerflich bezeichnet werden muss.
Als Beispiel einer solchen Bauform, und zwar in der hervorgehobenen
Modification eines durch Corridore verbundenen Flügelbaues führe ich die k. k.
Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien (Fig. 60), welche am 28. Jänner 1865 eröffnet
wurde, an.
Dass eine vollkommene Krankenanstalt auch angemessene Gartenanlagen
und die zu wirthschaftlichen Zwecken erforderlichen eingefriedeten Plätze — Wirth-
schaftshöfe — und einen Leichenhof besitzen soll, dass in einer, strengen hygienischen
Anforderungen entsprechenden Weise für die Ansammlung und Beseitigung sämmt-
licher Abfallstoffe zu sorgen und die Wasserversorgung, die Beleuchtung, Beheizung
und Ventilation durch zweckmässige Anlagen sicherzustellen ist, sowie dass man durch
Wahl entsprechenden Baumateriales und geeigneter Bauconstruction den Einwir-
kungen der Bodenfeuchtigkeit und der Bodenluft wirksam entgegen zu arbeiten und
die möglichste Feuersicherheit der Anlage anzustreben, daher auch ein Kranken-
haus in ausreichendem Maasse mit Löscheinrichtungen (Spritzen , Extincteuren) zu
dotiren und durch rationell angebrachte Blitzableiter vor einer schädlichen
Einwirkung der atmosphärischen Elektricität zu schützen hat , kann wohl als
selbstverständlich und einer weiteren Begründung nicht bedürftig hingestellt werden.
Bei der Wichtigkeit einer Krankenhausanlage und mit Rücksicht auf die
vielen Momente, denen Rechnung getragen werden muss, sollen nicht nur zur
Aufstellung des Programmes und Ausarbeitung des Planes die betreffenden Factoren
herangezogen werden, sondern es soll der behördlichen Bewilligung zum Baue stets
eine eingehende, unter Mitwirkung von Aerzten und Gesundheitstechnikern durch-
geführte Prüfung der Elaborate vorangehen.
Aus dem Mitgetheilten ergiebt sich, dass eine allen Anforderungen ent-
sprechende Krankenanstalt, deren Salubrität in erster Linie schon durch die Anlage
gewährleistet zu sein hat, eine relativ grosse Baufläche beansprucht, selbst wenn
man von jener Grundfläche absieht , welche für solche Krankenhäuser reservirt
bleiben sollte, die im Laufe der Zeiten voraussichtlich vergrössert werden müssen.
Während man in früheren Zeiten 50 bis 60 QMeter und auch darunter
auf das Bett veranschlagte, wird gegenwärtig auf das Bett eine allgemeine
Baufläche von 100 □Meter als das bei der günstigsten Lage der Baustelle zu-
lässige Minimum für österreichische Militärspitäler angesprochen, im Allgemeinen
aber für grosse Krankenanstalten eine Baufläche von 150 QMeter und für kleine
selbst eine solche von 200 □ Meter auf das Bett gefordert.
Die Kosten, welche die Erbauung einer Krankenanstalt verursacht, lassen
sich nur durch Anführung bekannt gewordener Daten annähernd ermessen, da
dieselben, abgesehen von den Kosten des Grunderwerbes, die im Allgemeinen gar
SPITAL. 693
nicht zu bestimmen sind, von der Art und Durchführung der Anlage, den nach
Zeit und Ort wechselnden Material- und Arbeitspreisen u. dgl. abhängig sind.
Plage giebt folgende Zusammenstellung über die Herstellungskosten
einiger Krankenhäuser, beziehungsweise Irrenanstalten mit Ausschluss der Kosten des
Grundankaufs und des Inventars, welch' letztere im Durchschnitt wohl mit 1000 Mark
für das Bett veranschlagt werden können:
Osnabrück .... 3408 Mark Baukosten per Bett
München 3426 „ „ „ „
Klingenmünster . . . 3480 „ „ „ „
Schwetz 3519 „ „ „ „
Göttingen .... 3534 „ „ „ „
Frankfurt am Main . 4284 „ „ „ „
Oldenburg .... 5154 „ „ „ „
Als Beispiel , wie sehr die Baukosten durch besondere Umstände , wie
z. B. die Herstellung besonderer Bauformen , Einrichtungen u. dgl. , gesteigert
werden können, führen Roth und Lex an, dass das Bett im Thomas-Hospital zu
London 20.000 Mark , wovon etwa die Hälfte als Kosten des Bodens, im Hospital
Lariboisiere zu Paris 13.789 Mark, wovon 4211 Mark Kosten des Bauplatzes,
im Krankenhause im Friedrichshain zu Berlin 8750 Mark, wovon 1250 Mark Boden-
werth, kostet.
Zur Vermehrung dieser Daten sei noch angeführt, dass die Kosten des
neuen Hotel Dieu in Paris 36.150 Francs, des Communalspitals in Kopenhagen
2790 Kronen, des neuen akademischen Krankenhauses in Heidelberg 5111 resp.
4563 Mark, des Israeliten-Hospitals in Wien 4000 fl. ö. W. per Bett betragen.
Gegenüber diesen für grössere und vollkommene Anlagen geltenden
Ziffern sollen die Seite 719 erwähnten Hüttenspitäler um 700 bis 1000 Mark per
Bett herstellbar sein.
Was endlich die provisorischen Baraekenlazarethe anbelangt, so können
den Angaben zufolge, welche über die im Kriege 1870/1871 in Deutschland ge-
machten Erfahrungen veröffentlicht worden sind, die Herstellungskosten einschliess-
lich der inneren Einrichtung mit etwa 1000 Mark für das Bett angenommen werden.
Für den Entwurf und die Ausführung, sowie für die Beurtheilung einer
zweckentsprechenden Krankenanstalt ist aber ausser der Beachtung der erörterten
allgemeinen Grundsätze die Kenntniss der für die einzelnen Bedürfnisse erforder1
liehen Räumlichkeiten unerlässlich und soll daher das Nöthigste hierüber — unter
der Annahme, dass es sich um eine grosse, vollständig und möglichst vollkommen
ausgestattete Krankenanstalt handle — angeführt werden.
Wie Seite 691 und 692 angegeben wurde, umfasst eine solche Anstalt
folgende Bestandteile :
Die Krankenunterkünfte, also die grossen gemeinschaftlichen Kranken-
zimmer und die Separationszimmer mit den zugehörigen Nebenräumen , als : dem
Vorräume, dem Wasch- und Badezimmer, dem Requisitenraume, dem Abwaschraume,
dem Räume zur Unterbringung des Wärmherdes und des Brennmaterialbehälters, dem
Schlafraume für das Hilfspersonale, dem Aborte ; den Operationsraum, die Recon-
valescentenräume, die Räume für das Wartpersonale;
die verschiedenen Administrationsräume und Wirthschaftsobjecte, als: die
Aufnahmslocalitäten, die Kanzleien für die Direction und Verwaltung, die Apotheke,
die Kochanstalt sammt Eiskeller, die Badeanstalt, die Waschanstalt und die Des-
infectionsanstalt, die Leichenanstalt, die Räume für den Gottesdienst, die Werk-
stätten, die Magazine, die Wohnungen für Aerzte, Beamte und Diener, die Wirth-
schaftshöfe, eventuell auch Stallungen und Remisen.
Eine solche Anstalt bedarf endlich ausser der der Bestimmung der ver-
schiedenenen Räumlichkeiten entsprechenden Einrichtung, zweckmässiger und aus-
reichender Vorkehrungen zur Wasserversorgung, Beleuchtung, Beheizung und
694 SPITAL.
Ventilation, sowie zur Ansammlung und Beseitigung der Abfallstoffe , ferner der
erforderlichen Communicationsgänge , und zum Abschluss der Krankenanstalt im
engeren Sinne der geeigneten Umfriedung.
Zweckmässig und nachakmungswerth ist die Errichtung von angemessen
situirten Reconvalescentenhäusern als exponirte Bestandteile grösserer
Krankenanstalten.
Unterkünfte für die Kranken. Krankenzimmer und zugehörige
Neben räume.
Krankenzimmer. Entgegen der in den alten Klosterspitälern, den
Kriegslazarethen und den Krankenhäusern der romanischen Völker herrschenden
Uebung, Krankensäle mit zahlreichen Betten — 40 bis 90 — zu verwenden,
wird der Belagraum eines gemeinschaftlichen Krankenzimmers gegenwärtig mit
20 Betten festgesetzt und nicht leicht mehr über 28 bis 30 Betten ausgedehnt.
Sowohl die Rücksicht für die Kranken , welche sich in kleinerer Gesellschaft
behaglicher fühlen, als die Thatsache, dass Säle von dem angegebenen Belagraume
von der relativ geringsten Zahl von Krankenpflegerinnen vollkommen entsprechend
versorgt werden können, während bei kleineren gemeinschaftlichen Sälen — eine
gleichwertige Wartung vorausgesetzt — eine grössere Anzahl von Wärterinnen
beansprucht wird , sowie hygienische Erwägungen sind maassgebend für diese
Aufstellung.
Bilden die oben angeführten Zahlen die obere Grenze für den Belag eines
gemeinschaftlichen Krankenzimmers, so sollte unter einen Belag von 10 Betten
für einen solchen Raum aus ökonomischen Gründen nicht gegangen werden.
Diese Forderung schliesst aber selbstverständlich nicht aus , dass ausser
den später zu besprechenden Separationszimmern der einzelnen Complexe, kleine
Krankensäle, mit einem Belagraum bis zu 6 Betten etwa, hergestellt werden.
Solche Krankenräume sollen aber dem Gesagten zufolge nur für besondere Zwecke
hergestellt und benützt werden.
Die Dimensionen eines Krankensaales sollen mit Rücksicht auf die Betten-
zahl, welche derselbe enthalten soll, bestimmt werden, und zwar unter Berück-
sichtigung des Raumes, welche der Heizapparat und das in Betracht kommende
Mobiliar beanspruchen.
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die Grundfläche das wesentlichste
Ausmaass eines Krankenhauses bildet und 9 — 10 □Meter per Bett zu betragen
hat. Je nach der Grösse des Krankenzimmers, resp. der Bodenfläche desselben,
ist die Höhe zu bemessen. Sie soll nicht unter 3#7 und nicht über fünf Meter
betragen.
Soll die Grösse des Krankensaales in der häufig üblichen Weise nach
dem Kubikausmaasse bestimmt werden, so sind, je nach der Zimmerhöhe von
3-7 bis 5 Meter 40 bis 50 Km. per Bett zu rechnen. Es muss jedoch aus-
drücklich aufmerksam gemacht werden, dass die angegebene Raumbemessung mit
Rücksicht auf die Forderung festgestellt erscheint , dass in jedem Krankensaale
stetig ein ausreichender Luftwechsel stattzufinden hat.
Die Krankenbetten, welche normal 2 Meter lang und 0*95 Meter breit
zu machen sind, sollen in der Regel mit den Kopfenden gegen die Mauern gestellt
werden und zwar so, dass zwischen Bett und Wand ein Zwischenraum von
0*50 Meter verbleibe und der Abstand der Langseiten der in einer Reihe parallel
zu einander stehenden Betten mindestens 0-80 betrage. Dieser Abstand entspricht
dem Raumbedarfe für das Kopfkästchen, welches zu jedem Bette gehört und das
angemessene Dimensionen hat, wenn es 0*5 Meter breit und 0"47 Meter tief ist.
Wenn die Fenster in den Langwänden der Krankensäle angebracht sind,
so ist es zweckmässig, die Betten längs dieser Wand blos vor die Fensterpfeiler
zu stellen und die Fensterpfeiler so breit zu machen, dass zwei Betten in dem
angegebenen Abstände vor denselben Platz finden.
SPITAL. 695
In den für Infectionskrankheiten bestimmten Räumen, sowie in Zimmern
für Schwerkranke, empfiehlt es sich, die Fenster so anzuordnen, dass sich zwischen
je zwei Betten ein Fenster befinde.
Werden die Krankenbetten in der angegebenen Weise längs zwei einander
gegenüberstehenden Wänden aufgestellt, so empfiehlt es sich, zwischen den beiden
Bettreihen einen freien Raum von mindesten 2*5 Meter zu belassen, damit die Auf-
stellung des grossen Tisches möglich sei und der Verkehr nicht behindert werde.
Es muss als unzulässig erklärt werden, mehr als zwei Bettreihen in
einem Krankenzimmer aufzustellen.
Erhält ein Zimmer blos eine Reihe von Betten, welche mit ihrer Längen-
richtung senkrecht an die Längenwand des Zimmers gestellt sind, so soll zwischen
der Bettreihe und der gegenüberstehenden Zimmerwand ein Abstand von 3*15
oder mindestens von 2*5 Meter vorhanden sein.
Das Aneinanderreihen von Krankenbetten längs einer Wand, parallel mit
der Längenrichtung zu derselben, ist unzweckmässig und soll vermieden werden.
Zimmer, in denen die Betten längs der Zwischenwand normal aufzustellen
sind, sollen nur zwei und höchstens drei Betten nach der Tiefe des Raumes in
jeder Reihe erhalten.
Die angeführten Verhältnisse begründen mit die Forderung, dass Kranken-
säle für eine Bettenstellung längs beider Längenwänden im Allgemeinen 8*5 Meter
tief gehalten werden sollen und 10 Meter tief gehalten werden können, wenn die
beiden gegenüberliegenden Aussenwände mit Fenstern versehen sind; dass aber
Krankenzimmer für eine Bettenstellung längs der Zwischenwand, wenn deren
Fenster nur in einer Wand liegen, höchstens 6'5 Meter tief zu machen sind.
Die Wände sollen möglichst dichte und glatte Flächen erhalten und
mit lichten, giftfreien Farben getüncht oder mit einem geeigneten Oelfarbeanstrich
versehen werden. Bei der regelmässigen, jährlichen Erneuerung der Tünchung
getünchter Wände hat dem Abkratzen der Mauer die angemessene Glättung der-
selben zu folgen.
Die Decke der Krankenzimmer soll möglichst eben und flach sein.
Es empfiehlt sich schon der Feuersicherheit wegen, dieselbe aus flachen Gewölben
zwischen eisernen Trägern herzustellen. Mass jedoch ausnahmsweise zur Holz-
construction gegriffen werden , so sind verschalte und stuccatorte Tramdecken mit
Fehlträmen anzuordnen und ist, wenn die Decke den Fussboden eines darüber-
liegenden Zimmers zu tragen hat, dieser von den Deckenträmen durch eine
angemessene Schichte von Sand, Lehm und dergl. zu trennen.
Die Fenster sollen in allen ihren Theilen mit Rücksicht auf möglichst
gleichmässige Erhellung der Säle angeordnet werden.
Die Gesammtfläche der in das Freie sehenden Fenster soll wenigstens
1/7 und kann bis x/5 der Fussbodenfläche betragen.
Die innere Brüstungshöhe soll, je nach der in Betracht kommenden
Bettenstellung, 0*85 bis 1'20 Meter betragen und der Sturz der Fenster der
Decke so nahe gerückt werden, als dies die Constructionsverhältnisse gestatten.
Die Fenster sollen als Doppelfenster und stets rechteckig hergestellt
und für Zwecke der Ventilation so eingerichtet werden, dass sich die oberen
äusseren und inneren Flügel gleichzeitig in entsprechender Weise um die betref-
fenden horizontalen Achsen drehen lassen.
Fenster, welche an der Sonnenseite gelegen sind, müssen mit geeigneten
Schutzvorrichtungen (Rollvorhängen und dgl.) ausgestattet, und die Fenster in den
für Augenkranke bestimmten Sälen ausserdem mit Vorhängen von entsprechender
Farbe versehen werden, welche, in der Flucht der Zimmerwand liegend, so ange-
bracht werden müssen, dass alles einfallende Licht abgehalten werde.
Die Thüren der Krankenzimmer, welche nach den Communications-
räumen führen, sollen 1*25 bis 1*5 Meter und mindestens l'l Meter breit und
2*50 bis 2-00 Meter hoch gehalten und zweiflügelig hergestellt werden.
696 SPITAL.
Mit Rücksicht auf die Bergung der Kranken bei Feuersbrünsten empfiehlt
es sich, Krankensäle, welche nicht schon der baulichen Anordnung wegen zwei
Ausgänge besitzen, nach Erforderniss mit angemessen situirten und zweckentsprechend
verschlossenen Nothausgängen zu versehen.
Der Fussboden ist aus Holz, oder, wo eine besondere Heizanlage die
Erwärmung des Bodens vermittelt oder climatische Verhältnisse es zulassen, aus
hartem, undurchlässigem Materiale (Fliessen, Cement, Terazzo u. dgl.) herzustellen.
Wird, wie bei uns, gewöhnlich Holz verwendet, so soll thunlichst hartes Holz
gewählt und nicht ausser Acht gelassen werden, dass Friesböden, aus 0*1 Meter
breiten, 0'03 Meter dicken und nicht zu langen mit Feder und Nuth versehenen
trockenen Brettchen hergestellt, sich am besten bewährt haben.
Die Sesselleisten sind gleichfalls aus hartem Holze zu erzeugen und
angemessen — an den Wänden — zu befestigen.
Jeder Holzboden soll nach der Fertigstellung mit heissem Leinöl getränkt
und der Leinölfirnissanstrich jährlich erneuert werden.
Es empfiehlt sich, in den Boden genau und unverwischbar die Stellung
der Krankenbetten und der übrigen Einrichtungsgegenstände vorzuzeichnen.
Einrichtung der Krankenzimmer.
Es wurde bereits erwähnt, dass die Bettstellen 2 Meter lang und 0*95
breit gemacht werden sollen. Die Höhe derselben soll so gewählt werden, dass
das Niveau des fertigen Lagers sich etwa 0*70 Meter über dem Fussboden befinde.
Die Form der Bettstelle kann und soll gefällig gemacht werden. Bezüg-
lich der Höhe des Kopf- und Fusstheiles können 0*95 und resp. 0*77 Meter als
entsprechende Maasse gelten. Am Kopfende des Bettes muss eine senkrechte
Leiste für die sogenannte Kopftafel angebracht werden.
Als Material für die Bettstellen empfiehlt sich vor allem Eisen, doch
nur bei solider und zweckentsprechender Ausführung. Letztere vorausgesetzt,
können auch Bettstellen von Holz in Anwendung gezogen werden, müssen aber
mit einem guten, aussen eichenartigen und innen einfarbigen Oelfarbenanstrich
versehen sein, und stets in gutem Stande erhalten werden.
Das Stroh als Füllmaterial der Bettstellen, resp. der Strohsäcke, soll
grundsätzlich aus den Krankenanstalten verbannt und durch elastische Betfeinsätze
aus Metall ersetzt werden.
Solche Einsätze werden gegenwärtig in grosser Vollkommenheit und
relativ billig erzeugt. Das Gestelle derselben soll stets aus Eisen — und nicht
wie da und dort üblich aus Holz — hergestellt sein.
Die besten Betteinsätze lassen sich aus Springfedern herstellen; diesen
zunächst stehen die Stahldraht -Matratzen von Jarolimek, welche aus der Länge
nach angeordneten, aus Stahldraht enggewundenen Federn bestehen.
Die schlechteste Sorte bilden die weit verbreiteten sogenannten Draht-
matratzen, ein bekanntlich aus ineinandergedrehten spiralförmig gewundenen
Drähten hergestelltes, zwischen den zwei Enden eines Rahmens ausgespanntes
Metallgewebe.
Man darf bei derartigen Einsätzen nicht einseitige Nachgiebigkeit mit
der für alle Punkte der Fläche zu fordernden Elasticität verwechseln und
nicht übersehen, dass Dauerhaftigkeit sowie leichte Instandhaltung bei der Be-
handlung gebührende Berücksichtigung verdienen.
Jedes Bett soll eine 0'15 — 0*20 Cm. hohe dreitheilige Matratze er-
halten. Als Füllmateriale derselben ist am besten Rosshaar zu verwenden. Zur
Conservirung der Matratzen empfiehlt es sich, zwischen elastischem Betteinsatz und
Matratze eine geeignete Zwischenlage einzuschalten.
Ein Laken von Leinen (Leintuch), ein mit Rosshaar gefüllter Kopfpolster
und eine, mit einem Laken und sogenannten Spiegel überzogene Wolldecke (Kotze)
vervollständigen die Ausstattung des Bettes.
SPITAL. 697
Steckbretter, Hebevorrichtungen, Reifenbahren u. dgl. sind Behelfe,
welche nicht fehlen dürfen und an den Krankenbetten nach Bedarf anzu-
bringen sind.
Bettvorhänge, Betthimmeln u. dgl. sind aus den Krankenzimmern zu
verbannen und mobile Bettschirme nur für die Dauer des thatsächlichen Bedarfes
zuzulassen.
Neben jedem Bette soll ein zweckentsprechend construirtes Kästchen —
Bettkästchen, Kopfkästchen — von 0-5 M. Breite, 047 M. Tiefe und 0-85 M.
Höhe angebracht werden.
In jedem Krankensaale soll ausser dem Wasch- und Geräthetisch ein
grosser Tisch vorhanden sein. Die Platte des letzteren, aus hartem Holze ge-
fertigt und mit heissem Leinölfirniss getränkt, soll mindestens die Dimensionen
der Bettdecken haben und kann auf einem mit gegenüberliegenden Thüren
versehenen, durchgängig offenen und mit Oelfarbe angestrichenen Tisch-
kasten ruhen.
Ein bis zwei Lehnstühle und Fussschemmel, sowie Sesseln (Stühle) in
hinreichender Anzahl sollen im Krankensaale vorhanden sein. In öffentlichen An-
stalten empfiehlt es sich, zweckmässig geformte Lehnstühle aus Eisen zu verwenden
und nach Bedarf mit Polstern zu versehen.
Zur Einrichtung des Krankensaales können noch die zur Beseitigung
der Abfälle dienenden Vorrichtungen, als: die Spucknäpfe, die Spuckschalen, die
Harngefässe, die Leibschüsseln (Steckbecken) und die Leibstühle gezählt werden.
Als Füllmaterial der Spucknäpfe soll nur feiner Sand zugelassen werden. Die
Spuckschalen sollen aus Weissem Steinzeug hergestellt sein und eine solche Form
besitzen, dass sie leicht vollkommen gereinigt werden können. Zum Auffangen des
im Liegen entleerten Harnes sind Urinflaschen und zum Aufsammeln desselben
Standgefässe aus Glas zu verwenden. Nachtgeschirre — aus weissem Steinzeug —
sind nur in beschränktem Maasse zuzulassen.
Leibschüsseln und Steckbecken sollen in geeigneter und eine vollkommene
Reinigung leicht gestattender Form aus Metall, eventuell Steinzeug, hergestellt und
nach Erforderniss unter Anwendung mobiler mit Leinölfirniss durchtränkter Leib-
kränze von Holz o. dgl. in Gebrauch gezogen werden. Der Leibstuhl soll nur
aus einem mit einem Sitzbrette versehenen Gestelle aus Eisen bestehen, welches
allseits offen und mit einer niedrigen Rücken- und Armlehne versehen und bestimmt
ist , einen niedrigen Napf aus Steinzeug von entsprechendem Durchmesser auf-
zunehmen.
Nur ein derartiger Leibstuhl, dessen Napf selbstverständlich nach jeder
Benützung zu leeren und zu desinficiren ist, entspricht den Forderungen, die an
dieses Geräthe gestellt werden müssen. Alle complicirten Einrichtungen und Ver-
schlüsse sind unpraktisch und haben sich nicht bewährt.
Zur Ausstattung eines jeden Krankenzimmers gehört endlich auch noch
ein Wand- und ein Badethermometer. Auf thunlichst richtige und übereinstimmende
Angaben der Thermometer soll in jedem Krankenhause Werth gelegt und darauf
gesehen werden, dass das Stubenthermometer an zweckmässiger Stelle und zweck-
entsprechend angebracht werde.
N e b e n r ä i/nre.
Separationszimmer. Zur IsoliUaig JSth^nMffKer, Operirter, ferner
Kranker, welche mit einer möglicherweise Vansteckenden- Affection behaftet sind,
welche einen üblen Geruch verbreiten oder die Ruhe im Krankensaale gefährden
oder aus anderen Gründen gesondert unterzubringen sind, soll in der Nähe
eines jeden Krankensaales wenigstens ein Zimmer mit zwei bis drei Betten vor-
handen sein.
Bezüglich der Einrichtung dieser Zimmer ist mit Rücksicht auf das über
die Krankensäle Gesagte nur zu bemerken, dass den besonderen Bedürfnissen der
:al.
Krankheitsgruppe für -welche der Saalcomplex bestimm: -prechend Rechnung
Durch zweekmä- . 5 ation und die Anbringung von Doppelthüren —
■wenn dies erf (da sdll — ' ~ - -
i'n in in «mm du: Benützung der na
Z- boQ ferner die Mö« tkxnt geknta - : Fenster mit einem an-
Umrnnrn angeordneten, mobilen n versehen, wenn zier delir:
Kranke aufzunehmen hat.
Was eh- und Badezimmer. Um den Krankensaal von den Aus-
dünstungez he und ler thunliehst zu verschonen.
Interesse der Reinlichkeit überhaupt ■ jedem Kranken unterkunftscompl exe
ein Pmw vorhanden sein, in dein Leiehtkranke und Eeconvaleseenten ihre
liehen Waschungen vorniHrhnwn vermögen und Gelegenheit zum Kämmen und
en finder. und in dem i in fie -
kg—*»« oder sollen und nicht unmittelbar im Kranken -erden
müssen — was nur ganz ausnahmst - ;hehen sollte und wie die ErJ
_ • ■ ■- - . hehen kann — Bäder erhalten können.
:en ökonomisch Z:— izzzrez zer ränmliehe Verhältnisse zu e.ze:
Einschränkung '. -.: nifgesreZrer: Z rze: :. z: rügen, sich
\e Verwendung des angesprochenen Baumes auch als Waschraum be-
ijgJM«- In diesem Falle mus? e mahme I ziehen Waschungen im
Zz:.zzez:: :. '.-. — . '.-.: ._~.e. :': zz_: ::e: :"_ze Zzizzirezizzz-r eines ':es:nderen
ztäsches — in einer Be Beaft ■ les Baurr e a nickt beeinteäektigendea
: errr - _ ~r'_ lez
Dr.: -- und Badezimmer soll hinreichend gross, »wie z-.:-
ventilirbar sein und dir'.:— Z :_: besäaei Da Fnnnbodrii invse nndurcbJ
und so abgeordnet stn, las« ":- :zz iez^Zez gelangaMk! - — e das az
1 levaanc tarifaerfc asm anne Oekertkdkewg ief Bodens rasch und in z— eck-
nüüLJ- - ~e abfliessen könne. Tr: ex Ee "erhältnisse erheischen, mus? Sie
Abflussöffnung mit einem guten Wasservers: Uns s ausgestattet werden.
Az:_ . ' - Warnas sollen — wenigsten? ssw -:.: v.- ka üb e ::en Benetzung
ausge- i 1 — eine wasserdiente Oberhache erkalten
Zz: beide I_ze ist meiner Erfahruz^ zzz:lge Oanent las geeignetste
zzi — iZZeZsre iuzreri: e Die Fensre: -:.-■ 1 eiiensre: ?eiz zz.. soweit
:::e- ::e: gerippt« xka erhalten.
es ItZ zz ien ~:.^ :izz;tZ besosdere isekttsekc z. B. mi: Kz: -
beckes ■ igl mim will, so soll die gewikke Z.z-zzetion nicht nur solid,
sondern auch käekt Ran zzi :z Stand zz kalten -zz Anderwfalfe genagt es,
b£ . _ t wekke essen : z I riner ans glattem , undurerZi nägoa Materiale her-
irea und für ien Äkflam ^schütteten Wassers wagedektetea Platte
auizustellen oder aber Waschbecken . welche einen offenen oder aber verschliess-
-z Ansatz für den Wasserahflass ke aetaea, h aofirte, einfache Gestelle — aus
D — einzusetzen, welche . in geeigneter Weise an der Wand befestigt . den
Baum um üai Becken ~ Z-zzZz zrei lassen, während das verbrauch:-
durch ezze m i inin li ifllii Im Zeirzzz . zer besser durch das im Fussboden z"~e:z-
-z:?preekend _:^ zTze Bnanss : ~ird.
Zz allen Fallen sind i e W :-.:"_- :: iektangen mit zweckmässig geformten
zzi Z?z:zir:ez ^eirer_= zzziez zz
Zz Wasekntatz In — ifiiim lif beflaafig '. 9C Meter Wandlän^e. Vor der
z::::"z::zr. leren 7 Erei:e zzi: beüäafig . ' üeter anzunehmen
— '-■ eiz Zt t 7.aum von wenigstens 1 _' Heta Breite vorhanden sein.
Die Badewanne muss so angebracht se z : m an der freiez Seite, sowie
am Kopf- und Fussende ein hinreichend freier Baum zur Vornahme der unter
umstanden ei^brderlieken Manipulationen vorhaniez
am
Bezüglich der Dimensionen und der Beschaffenheit der Badewannen gilt
das bei Erörterung der Badeanstalt Gesagte.
Mit Rücksicht darauf, dass die Badewanne für die ausnahmsweise in dem
Krankensaale zu verabfolgenden Bäder verwendbar sein soll, sowie auch aus
anderen Gründen empfiehlt es sich, die Badewanne frei, d. h. ausser Verbindung
mit der Zu- und Abflussleitung aufzustellen und zu dem ersterwähnten Zwecke
ein geeignetes, mit Rädern versehenes Gestelle für die Badewanne vorräthig
zu halten.
Ist eine Leitung für kaltes und warmes Wasser vorhand- '1 —
wenigstens in den Badezimmern, in denen mit Rücksicht auf die Krankheitsgruppe,
welcher sie angehören , auch hydropathische Manipulationen vorgenommen werden
— mit der Leitung zu der Wanne auch eine — fixe und mobile — Douche
verbunden und so eingerichtet werden, dass man die Temperatur des zur Wirkung
gelangenden Wassers unmittelbar zu reguliren und abzulesen vermag.
In der Abtheilung für Frauenkrankheiten soll in analoger Weise für
Vaginale! ouehen gcamgt —in.
Ob es in Fällen, wo Leitungen für warmes Wasser nicht bestehen, zweck-
mässiger sei, direct oder aber durch zugehörige Wasseröfen heizbare Badewannen
zu verwenden oder aber das warme Wasser in anderer Weise beschaffen und
eventuell zutragen zu lassen, muss in jedem Sonderfalle erwogen und bestimmt
werden. Fehlt auch die Leitung für kaltes Wasser, so ist das ein Mangel,
welcher nicht ohne nachtheilige Folgen zu bestehen pflegt und in allen Fällen
beseitigt werden sollte.
Requisitenraum. Im Interesse der Ordnung und Reinliehk-e :
erforderlieh, dass die ~ :-.„ rienen Requisiten, welche der Betrieb bewohnter
Räume im Allgemeinen und die Besorgung von Kranken insbesondere unmittelbar
beansprucht, zweckmässig und übersichtlieh untergebracht werden. Dieser Forderung
ist bis jetzt fast nie in angemessener Weise entsprochen worden.
Am besten ist es, dem vorliegenden Zwecke einen eigenen Raum zu
widmen . der die erforderliche Grösse besitzen , sowie hinreichend lieht sein soll
und mit der nöthigen Einrichtung zur zweckmässigen und handlichen Unterbringung*
der diversen Objecte zu versehen ist.
Wo eine derartige Requisitenkammer fehlt oder nicht herstellbar ist, soll
durch Schränke oder Gestelle, welche an geeigneten Orten aufzustellen sind, dem
ausgesprochenen Bedürfnisse Rechnung getragen werden.
Abwaschraum. Zur Reinigung des Essges?iirres und der anderen
Utensilien soll in einem besonderen Räume ein mit einer zweckmässigen Ab-
sperrung gegen die Canalgase und mit einer mobilen Gitterplatte von Holz ver-
sehener Grand aufgestellt und über demselben ein Ausfluss für kaltes und warmes
Walser angebracht werden. Das betreffende Locale soll selbstverständlich hell
und gut lüftbar sein.
Schlaf räum für die Hilfsperson. Mit Rücksicht auf das Seite
über die Unterkunftsräume für das Wartpersonale und das über die Besorgung
des Krankenwartdienstes Gesagte soll in jedem Krankenunterkunftscomplexe Vor-
sorge dafür getroffen werden, dass eine Hilfsperson vorhanden sei, um im Bedarfs-
falle zur Unterstützung der im Dienste befindlichen Krankenpflegerin sofort zur
Hand zu sein. Da eine solche Beihüte, insbesondere während der Macht, von
Belang und die unmittelbare Xähe der betreffenden Hilfsperson von besonderem
Werthe ist und durch keinerlei Signal- oder Allarmvorrichtung ersetzt werden
kann, so soll die erforderliche Schlafstelle in einer zweckentsprechenden
angeordnet werden. Ein besonderes kleines Zimmer diesem Zwecke zu widmen,
erscheint nicht nothwendig und auch nicht rathsam. In der Regel wird es thunlich
sein und sich empfehlen , der Hilfsperson jenen Raum zuzuweisen , welcher im
vorhergehenden Satze für Reinigungszwecke angesprochen wurde und der dem
entsprechend herzustellen und mit den nöthigen Mobilien auszustatten wäre.
700 SPITAL.
Abort. Für jeden Krankenunterkunftscomplex ist ein — im Allgemeinen
zwei Abtheilungen, respective zwei gesonderte Sitze enthaltender — Abort erforder-
lich. Der Anlage und Einrichtung der Aborte, sowie der Instandhaltung derselben
muss besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden, da im Gegenfalle unangenehme
Verhältnisse und Nachtheile nicht zu verhindern sind.
Der Abort soll aus dem Vorräume des Krankenunterkunftscomplexes
zugänglich , aber doch von demselben durch einen luftigen Zwischenraum und
mehrfache Thürverschlüsse getrennt sein. Der Abort soll ferner direct und hell
beleuchtet, ventilirt, sowie heizbar sein und ausserdem thunlichst so situirt werden,
dass die herrschenden Winde die Vermischung der in dem Abortraume enthaltenen
Luft mit der Luft der anstossenden Gelasse nicht nur nicht fördern, sondern der-
selben entgegenwirken.
Der Fussboden des Abortraumes ist undurchlässig und glatt — aus
Steinplatten, Fliessen, Cement o. dgl. — herzustellen. Für die Wände — wenigstens
soweit sie erreichbar sind — empfiehlt sich ein glatter Cementverputz.
Die Thüren , Scheidewände aus Holz , sowie die Verkleidungen der Sitze
u. dgl. sollen mit guter Oelfarbe angestrichen oder doch wie die — aus hartem
Holze herzustellenden — Sitzbretter (Brillen, Klappen) mit heissem Leinöl und
respective Leinölfirniss getränkt werden.
Die weitere Einrichtung der Aborte, respective der Sitze und Becken
hängt von dem für die Abfallbeseitigung gewählten Systeme ab.
Die Wichtigkeit dieser Wahl, sowie deren Abhängigkeit von localen Ver-
hältnissen bedarf keiner weiteren Erörterung. Dasselbe gilt von der Nothwendig-
keit, die Abfallstoffe nach Erforderniss zu desinficirea und das Einströmen von
Cloakengasen in den Abortraum u. s. f. zu verhindern.
Wasserciosets bilden zweifellos die vollkommenste Aborteinrichtung und
soll deren Anbringung daher überall dort erfolgen, wo dies überhaupt möglich ist.
Bei der Wahl der Wasserciosets — deren Construction ziemlich einfach
sein kann — ist insbesondere darauf zu sehen, dass die bewegliche Schale so
beschaffen und angeordnet sei, dass der untere Rand des Abortbeckens sich stets
mindestens 5 Centimeter unter dem Wasserspiegel der Schale befinde und ferner
dass das Ventil im Wasserreservoire leicht zugänglich und so construirt sei, dass
der dichte Schluss nur schwer gestört — und im Bedarfsfalle leicht wieder her-
gestellt werden könne.
Syphonverschlüsse stehen im Allgemeinen der angegebenen Einrichtung
nach , beanspruchen viel mehr Wasser und functioniren nur dann entsprechend,
wenn sie mit Rücksicht auf alle in Betracht kommenden Umstände rationell und
so construirt sind, dass sie leicht gereiniget und in Stand gehalten werden können.
Bei der Aufstellung von Wasserciosets ist endlich auch noch darauf zu sehen,
dass die Einmauerung des Apparates derart erfolge, dass die Entstehung von
Mistwinkeln oder Pfützen unter dem Abortspiegel hintangehalten werde und dass
der Raum unter dem Abortspiegel leicht zugänglich sei.
Muss zu einer anderen Aborteinrichtung gegriffen, respective ein anderes
System der Fäcalienbeseitigung in Anwendung gezogen werden, dann pflegt weniger
noch als die zweckmässige Construction der Aborteinrichtung, der rationelle
Gebrauch und die Instandhaltung derselben Schwierigkeiten zu bereiten.
Manche unter solchen Umständen auftretenden Forderungen, wie z. B.
der Deckelverschluss , die zeitweise Spülung und Desinfection u. dgl. hat man
auch, von der bewussten Mitwirkung der Benützenden unabhängig, mittelst mecha-
nischer Mittel zu erzwingen gesucht und zu diesem Behufe verschiedene Mechanismen
und deren Verbindung mit der Thüre, einem beweglichen Sitzbrette u. dgl.
erdacht und versucht.
So gut gemeint diese Versuche sind, so lässt sich von denselben doch sagen,
dass sie in dem vorliegenden Falle — der vorhandenen Aufsicht wegen — über-
flüssig sind und respective überflüssig gemacht werden sollen.
SPITAL. 701
Zur Einrichtung des Abortraumes gehören auch noch die Vorrichtungen
zur Aufbewahrung der Leibschüsseln, einzelner Krankenstühle zum Zwecke der
ärztlichen Untersuchung und der betreffenden Reinigungsgeräthe.
Für die mit Männern belegten Krankenabtheilungen werden mitunter
auch Pissoirs angesprochen, wohl in der Absicht und dem Glauben hiedurch die
Reinhaltung der Abtritte zu fördern. Die Erfahrung lehrt, dass im Allgemeinen
das Gegentheil erzielt wird, gleichviel ob das Pissoir aus glatten, mit Wasser
überrieselten Wänden hergestellt ist oder ob zweckmässig geformte Porcellanbecken
zur Verwendung gelangen. Ich habe mich deshalb veranlasst gesehen, in dem
meiner Leitung anvertrauten grossen Krankenhause — der k. k. Rudolf- Stiftung
in Wien — die vorhandenen Pissoirs beseitigen zu lassen und der Erfolg hat die
Berechtigung dieser Massregel bestätigt.
Es muss jedoch in dieser Beziehung sowie mit Rücksicht auf das in den
vorhergehenden Alineas Gesagte darauf aufmerksam gemacht werden, dass hier
ausschliesslich von den Aborten die Rede ist, welche einen Bestandteil der ein-
zelnen Krankenunterkunftscomplexe bilden, nicht aber von den Aborten, welche
dem allgemeinen Gebrauche gewidmet sind und daher unter Verhältnissen benützt
werden, welche sich einer entsprechenden Beeinflussung entziehen.
Solche Aborte sollen mit zweckmässigen Pissoirs ausgestattet und mit
solchen Einrichtungen versehen werden, welche geeignet sind, die Bedingungen
sicher zu stellen, deren Erfüllung die gewählte Abortanlage beansprucht, wenn
sie den Forderungen der Salubrität und Reinlichkeit entsprechen soll.
Vorraum. Der Eingang in die Krankensäle soll nicht unmittelbar von
dem Gange (Corridore) oder dem Treppenraume, sondern aus einem Vorräume
erfolgen, dessen Grösse und Form sich aus der Abgrenzung der erörterten zu
Einem Krankenunterkunftscomplexe gehörigen Nebenräume ergiebt.
Dieser Vorraum, in den auch alle anderen zum Complexe gehörigen
Gelasse münden, muss gut — wenn auch indirect — beleuchtet und gut ven-
tilirt sein.
Zugehörige Einrichtungsgegenstände:
Koch- und Wärmherd. Während die Thee- und Cataplasmenküchen,
welche früheren Anschauungen zufolge einen unvermeidlichen Bestandtheil einer
Krankenabtheilung zu bilden hatten, in neuerer Zeit mit Recht nicht mehr an-
gesprochen werden, weil sie arge Unzukömmlichkeiten im Gefolge zu haben pflegen und
als besondere Räume überflüssig geworden sind, so bildet doch eine zweckmässige
Vorrichtung zum Erhitzen von Flüssigkeiten und zum Wärmen und Warmhalten
von Wäsehe , Tüchern u. dgl. einen Einrichtungsgegenstand , welcher in keinem
Krankenunterkunftscomplexe fehlen darf und im Vorräume oder einem anderen
geeigneten , seiner Lage und Bestimmung nach leicht überwachbaren Nebenraume
aufgestellt werden soll.
Ein solcher zweckmässig eingerichteter Koch- und Wärmherd beansprucht
nur geringen Raum , gleichviel ob er für gewöhnliche Feuerung oder aber für
Gasbeheizung angeordnet wird. Im ersteren Falle ist es aus ökonomischen Gründen,
sowie der Zweckmässigkeit und Reinlichkeit wegen empfehlen s wer th , Coaks als
Brennstoff zu wählen und den Herd dem entsprechend einzurichten.
Der kleine Kochraum des Herdes soll verschliessbar und so eingerichtet
sein, dass die sich bildenden Kochdünste aus demselben vollständig abgesogen werden.
Für das Wärmen und Warmhalten von Tüchern, Wäsche u. dgl. kann
entweder durch einen in die Wärmröhre — entsprechend isolirt — eingefügten
Einsatz aus Steinzeug oder aber durch ein zweckmässig angeordnetes Wasserbad
gesorgt werden.
In jenen Fällen, wo keine Warmwasserleitung zur Verfügung steht,
empfiehlt es sich, den Herd so zu disponiren und einzurichten, dass warmes
Wasser ununterbrochen und in der erforderlichen Menge zur Verfügung stehe. In
702 SPITAL.
diesem Falle ist jedoch — wenn die Füllung des Herdreservoirs selbstthätig zu
erfolgen hat — dafür Sorge zu tragen , dass sowohl eine Ueberfüllung als eine
Trockenlegung desselben thunlichst vermieden werde.
Vor Herden, welche für gewöhnliche Feuerung eingerichtet sind , ist der
Fussboden in angemessener Ausdehnung aus Steinplatten herzustellen. Die An-
bringung eines Blechüberzuges ist unschön und auch sonst nicht empfehlenswerth.
Behälter für das Heizmaterial e. Zur Unterbringung des Heiz-
materiales wird ein Behälter benöthigt, der die für etwa 36 Stunden erforderliche
Brennstoffmenge aufzunehmen vermag. Eine Truhe mit einer Abtheilung für das
angemessene zerkleinerte Holz und für Coaks oder Kohle versehen und an einer
geeigneten Stelle des Vorraumes aufgestellt, entspricht den bezüglichen An-
forderungen.
Behälter für die schmutzige Wäsche und Vorrichtung
zu erforderlicher Desinfection derselben. Selbst in Anstalten, welche
die nachahmüngswürdige Einrichtung besitzen, dass der Wäscheaustausch tagsüber
jederzeit oder doch mehrere Male erfolgen kann, ergiebt sich die Nothwendigkeit,
die schmutzige Wäsche innerhalb des Krankenunterkunftscomplexes kurze Zeit
hindurch aufzubewahren. Wo solche Einrichtungen nicht bestehen, bezieht sich die
Ansammlung und Aufbewahrung auf eine längere Zeit, sollte aber 24 Stunden
in der Regel und selbst in Ausnahmsfällen 48 Stunden nie überschreiten.
Her Behälter für die schmutzige Wäsche soll den entsprechenden
Fassungsraum besitzen, gut schliessen und so beschaffen sein, dass er vollkommen
und bequem gereinigt werden kann. Der von mir angegebene Behälter, ein kleiner
niederer Kasten, dessen vordere Wand aus zwei Flügeln besteht und sich öffnen
lässt und der einen aufhebbaren Deckel besitzt, entspricht diesen Anforderungen
und sieht gefällig aus. Ist der Behälter innen nicht mit Zinkblech ausgekleidet,
so sollen die Innenwände mit einem guten, einfarbigen und lichten Oelfarben-
anstrich versehen werden.
Zur Behandlung von Wäsche, welche zu desinficiren oder zu desodori-
siren ist und nicht sofort in entsprechenden Gefässen in die Desinfections- und
Waschanstalt befördert werden kann, ist ein kleiner mit einer Ablassvorrichtung
und einem Deckel versehener Bottich, welcher auf einem Dreifuss circa 300 Mm.
über dem Fussboden aufzustellen ist, sammt Rührholz erforderlich.
Der Aufstellungsort dieser Utensilien innerhalb der dem Complexe an-
gehörigen Nebenräume ist mit Rücksicht auf die sanitären und administrativen
Forderungen zu bestimmen — falls für diesen Zweck nicht ein eigener lichter
Raum gewonnen werden kann, der dann mit einem undurchlässigen Fussboden,
einem Wasserablauf (Ausguss) und mit einer Ausmündung der Wasserleitung zu
versehen wäre und zur Aufstellung des Aschen- und Kehricht- Sammelgefässes, sowie
zur Aufbewahrung der Leibschüsseln und Nachtgeschirre verwendet werden könnte.
In einigen neueren Krankenhäusern befinden sich besondere Schlotte an-
gebracht, durch welche die schmutzige Wäsche aus den Krankensälen — oder
einem Nebenraum derselben — in einen unteren Sammelraum geworfen werden
kann, aus dem sie dann in Körben oder in kleinen Handwagen in die Waschanstalt
befördert wird. Diese Einrichtung wird vielfach als sehr nachahmungswerth
bezeichnet.
Diese Empfehlung ist jedoch mit grosser Vorsicht aufzunehmen, einmal
weil die in Rede stehende Disposition überhaupt nur unter ganz bestimmten bau-
lichen und administrativen Verhältnissen durchführbar ist und dann weil es über-
haupt schwer ist, jene Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, deren Erfüllung
unerlässlich ist, wenn verhindert werden soll, dass die Einrichtung anstatt die
Salubrität zu fördern, die Salubrität gefährde.
Aufzüge. Aufzüge innerhalb der Krankenunterkunftscomplexe werden
nur unter besonderen Dispositions- und Bauverhältnissen einer Anstalt solche
Vortheile bieten, dass sich deren Anlage rechtfertigt.
SPITAL. 703
Ist das der Fall , dann soll nicht nur die Construction, sondern auch die
Situation des Aufzuges sorgfältig gewählt und dafür Sorge getragen werden, dass
der Aufzug nicht eine Quelle der Luftverderbniss werde.
Besondere Krankenunterkünfte und Räume zur Kranken-
behandlung.
Einzelkrankenzimnier. Es hängt von der Grösse und Bestimmung
einer Krankenanstalt ab, ob dieselbe ausser den in den grösseren Krankenunter-
kunftscomplexen enthaltenen Separationszimmern und der Isolirabtheilung für
Infectionskrankheiten u. dgl. noch und wie viele Zimmer für einzelne oder wenige
— zwei bis fünf — Kranke zu erhalten hat und ob und in welchem Maasse
dieselben zu einem vollständigen abgeschlossenen Unterkunftscomplexe zu ver-
einigen sind.
Ist Letzteres der Fall, so sind die Zimmer mit Bücksicht auf bequeme
Zugänglichkeit und den Forderungen einer salubren Anlage gemäss anzuordnen
und mit den erforderlichen Nebenräumen (vgl. Seite 697) zu einer besonderen
Gruppe zu vereinen.
Irrenzimmer. Es ist Aufgabe der Irrenanstalten, Geisteskranke in
Behandlung und Pflege zu übernehmen. Ein Krankenhaus ist hiefür weder ein-
gerichtet noch geeignet. Nichtsdestoweniger soll in jedem Krankenhause Vorsorge
dafür getroffen sein, dass zufällig oder behufs der Beobachtung aufgenommene
Geisteskranke während der Dauer ihres vorübergehenden Aufenthaltes in der
Anstalt so untergebracht werden, dass Selbstbeschädigungen sowohl gleichwie
Störungen anderer Kranken verhindert werden.
Ein passend gelegenes Isolirzimmer, dessen Fenster mit einem Gitter
versehen ist, welches — des freundlicheren Aussehens wegen — aus senkrechten
lichtgrau angestrichenen Stäben besteht und nur der Fenstertheilung entsprechende
Querstäbe besitzt, und in dem — wenn erforderlich — der Ofen entsprechend
verwahrt ist, genügt im Allgemeinen.
Dass es zweckmässig und empfehlenswerth sei, den Fussboden eines
solchen Raumes thunlichst undurchlässig und die Wände so herzustellen, dass sie
eine gründliche Reinigung zulassen, widerstandsfähig und glatt seien, bedarf keiner
weiteren Auseinandersetzung.
Weitergehende Einrichtungen zur Unterbringung Geisteskranker, z. B.
eine Tobzelle, bedarf ein Krankenhaus in der Regel nicht. Sollten solche unter
besonderen Umständen, mit Rücksicht auf die Irrenpflege im Allgemeinen, noth-
wendig sein, so sind dieselben nach den Grundsätzen einer fortgeschrittenen
Irrenbehandlung und so einfach als möglich herzustellen und zu beschaffen.
Räume für das Wartpersonale. Im Allgemeinen soll das Wart-
personale nicht in den für Kranke bestimmten Räumen untergebracht werden,
damit sich dasselbe in dienstfreier Zeit ungestörter Ruhe hingeben könne. Eine
Abweichung von dieser Forderung erscheint nur in ganz kleinen Spitälern zulässig
und ist in besonderen Krankenabtheilungen, z. B. Isolirabtheilungen, geboten.
Aber auch in diesen Fällen soll der für das Wartpersonale bestimmte Raum voll-
ständig von dem Krankensaale getrennt sein, da die da und dort noch fest-
gehaltene Einrichtung , das Wartpersonale in dem Krankensaale selbst in durch
Vorhänge oder Verschalungen abgetrennten Ecken unterzubringen, sowohl eine
nicht zu rechtfertigende Inhumanität gegen das Wartpersonale bildet, als auch in
mehrfacher Weise gegen das Interesse der Kranken selbst verstösst und daher,
wo sie noch besteht, abgeschafft zu werden verdient.
In grösseren Anstalten empfiehlt es sich aus administrativen Gründen,
und zwar insbesondere aus Rücksichten der Ordnung und Reinlichkeit, das Wart-
personale gruppenweise in angemessen gelegenen und eingerichteten Räumen
gern ei ns ch af tlich unterzubringen .
704 SPITAL.
Da in diesen Fällen eine entsprechende Ablösung im Wartdienste statt-
finden muss und das Wartpersonale sich während des Dienstes ununterbrochen mit
der Pflege und der Ueberwachung der Kranken befassen soll, so ist die Anbringung
besonderer — etwa durch ein Ueberwachungsfenster mit dem Krankensaale
communicirender — Diensträume für das Wartpersonale nicht nur überflüssig,
sondern auch aus naheliegenden Gründen schädlich.
Dagegen soll für jeden Krankenunterkunftscomplex , in der Seite 699
angegebenen Weise für die etwa erforderliche Beihilfe Vorsorge getroffen werden.
Ist die Organisation des Wartdienstes derart getroffen, dass ausser den
Krankenpflegerinnen im engeren Sinne des Wortes auch besondere Personen zur
Besorgung der gröberen Arbeit — als Helferinnen — vorhanden sind, so sind
die letzteren entweder in der Seite 699 angedeuteten und als sehr zweckmässig
erprobten Weise oder aber im Gegenfalle gleichfalls in gemeinschaftlichen Schlaf-
sälen unterzubringen.
Die Unterkunftsräume für das Wart- und Hilfspersonale müssen direct
beleuchtet, heiz- und ventilirbar sein und für jede Person mindestens einen Luft-
raum von 25 Kubikmeter enthalten.
An Einrichtungsgegenständen soll für jeden Bewohner ein Bett, ein auch
als Waschstelle verwendbares Bettkästchen, ein Stuhl, ein kleiner Tisch und ein
zum Hängen und Legen eingerichteter Kasten von angemessener Grösse vor-
handen sein.
Operationsraum. Es kann gegenwärtig wohl als eine unbestreitbare
Anschauung hingestellt werden, dass grössere Operationen in der Regel nicht in
den mit noch anderen Kranken belegten Krankenzimmern vorgenommen werden
sollen. Sowohl die Rücksicht für die anderen Kranken desselben Zimmers, als der
Vortheil grösserer Bequemlichkeit und Ruhe für den Operateur und die Möglichkeit
den Operationsraum zur Aufbewahrung des chirurgischen Instrumentariums zu ver-
wenden, zweckmässig einzurichten und mit allen Erfordernissen zu versehen,
begründen diese Forderung, welcher bei Neubauten immer mehr und mehr Rech-
nung getragen wird.
.Ob dieser Raum nun ein Operationssaal oder ein Operationszimmer wird,
hängt mit von der Grösse und Disposition des Krankenhauses ab. In allen Fällen
soll der Operationsraum eine solche relative Lage haben, dass die Operirten
bequem und geschützt in die Krankenzimmer zurückgebracht werden können, und
dass der Raum sehr licht, also je nach Umständen mit Oberlicht oder hinreichend
grossen Fenstern versehen sei.
Die erstere Forderung stösst bei Pavillon-Anlagen im engeren Sinne des
Wortes und ohne Verbindungsgang insoferne auf Schwierigkeiten, als sie nur
durch Herrichtung eines Operationsraumes in jedem betreffenden Pavillon erfüllt
werden kann.
Zweckmässig angebrachte Vorrichtungen zur künstlichen Beleuchtung und
zur Wasserversorgung und das erforderliche Mobiliare, wie Operationstisch, Ope-
rationsstuhl, Instrumenten- und Verbandkästen u. dgl. gehören zur Ausstattung
des Operationsraumes.
Räume zu besonderen ärztlichen Untersuchungen und
Verrichtungen, welche nicht in den Operationsräumen sollten vorgenommen
werden können oder für welche, wie z. B. zur Behandlung in der pneumatischen
Kammer, besondere Einrichtungen benöthigt werden, sollen jenen Anforderungen
entsprechend gewählt und hergestellt werden, von deren Realisirung die volle
Zweckerfüllung abhängt.
Zimmer für den Abtheilungsvorstand. Jedem Abtheilungs-
vorstande soll im Krankenhause ein hinreichend geräumiges und angemessen
eingerichtetes Zimmer zu seinem Gebrauche zur Verfügung stehen.
Reconvalescentenräume. Es bedarf wohl keiner besonderen
Begründung, dass es sowohl im Interesse der Reconvalescenten, gleichwie ihrer
SPITAL. 705
noch kranken Mitbewohner des Krankensaales gelegen sei, wenn den ersteren die
Möglichkeit geboten ist, einen Theil des Tages ausserhalb des Krankenzimmers
in besonderen saluber eingerichteten und angemessen ausgestatteten Räumen —
Tagraum, Reconvalescentenraum — welche unter Umständen auch als Speise-
zimmer für die Betreffenden verwendet werden und, wenn es die Disposition
gestattet, auch einen Balcon zum Sitzen im Freien erhalten können , zuzubringen,
wie dies in manchen Ländern, wie England, Frankreich und Amerika eine viel ver-
breitete Sitte ist. Dagegen muss bemerkt werden, dass diese Massregel leicht und
zweckmässig nur in Pavillons und kleinen Spitälern durchführbar erscheint, während
unter anderen Verhältnissen schon die geeignete Situirung des Raumes und die
erforderliche Ueberwachung der Reconvalescenten erfahrungsgemäss Schwierigkeiten
zu bereiten vermag, welche nicht zu unterschätzen sind.
In Corridorspitälern, welche besonderer Reconvalescentenräume entbehren,
können die Gänge, wenn sie hinreichend geräumig und heizbar sind, als Promenade-
raum verwendet werden.
Da das Rauchen in den Krankenzimmern und deren Nebenräumen un-
statthaft ist, das Rauchen sich aber umsoweniger verhindern lässt, je grösser das
Krankenhaus ist, so empfiehlt es sich im Interesse der Reinhaltung der Anstalt
und der Salubrität, einem entsprechend gelegenen Räume die Widmung als
Rauchzimmer zu geben.
Zu den Reconvalescentenräumen zählen auch die Gärten, welche wie
schon erwähnt in entsprechendem Ausmaasse vorhanden und nach Geschlechtern
getrennt sein sollen.
Inwieferne der zwischen den Krankenunterkunftsgebäuden vorhandene
Raum, welcher stets mit Rasenplätzen zu versehen und mit Strauchwerk ange-
messen zu bepflanzen ist, aber im Allgemeinen nur in beschränktem Maasse
schattige Baumpflanzungen erhalten soll, als Krankengarten im engeren Sinne
des Wortes angesehen und verwendet werden kann, und in welchem Aus-
maasse und in welcher Anordnung besondere einfache, aber Schatten spendende
Krankengärten herzustellen sind, muss in jedem concreten Falle besonders erwogen
und entschieden werden. Dass in dem Garten zweckmässig geformte und ange-
messen situirte Ruhebänke nicht fehlen dürfen, ist wohl selbstverständlich, dagegen
die mehrfach empfohlene und auch da und dort durchgeführte Anbringung ein-
facher Spiel Vorrichtungen von den in jedem Einzelfalle entsprechend zu würdigenden
Verhältnissen abhängig.
Soweit sich der Krankengarten innerhalb der allgemeinen Umfriedung
der Anstalt befindet, wird eine erforderliche Abgrenzung desselben selbstverständ-
lich durch ein Gitter oder einen Lattenzaun bewirkt werden, während die Ein-
friedigung einer Grenzstrecke gegen aussen stets durch eine Mauer erfolgen
sollte, um jeden unzulässigen Verkehr thunlichst zu verhindern.
Anstalten zur zeitweiligen Unterkunft von Kranken im
Freien. Um Kranke während der Jahreszeit, wo dies zulässig ist, längere Zeit
hindurch und entsprechend geschützt im Freien unterzubringen und zu behandeln,
werden sogenannte Luftbuden, Baracken, auch ebenerdige Pavillons
mit freiem überdecktem Vorräume oder Zelte verwendet.
Die Luftbuden sind überdeckte Räume, welche entweder an allen Seiten
offen und blos nach Bedarf durch Vorhänge aus Zeltleinwand o. dgl. verschliess-
bar, oder aber den örtlichen Verhältnissen entsprechend an einer bis drei Seiten
mit einer festen Wand versehen sind.
Die erste in der Literatur verzeichnete Construction dieser Art ist die
Luftbude, welche Biedermann- Günther im Anfange der Vierziger - Jahre dieses
Jahrhunderts in Leipzig aufführen liess und die mehr als zwanzig Sommer für die
schwersten Fälle der chirurgischen Universitätsklinik in Verwendung stand.
Wird die Luftbude mit einem kleinen Pavillon verbunden, also ein
Pavillon oder eine Baracke mit einem freien überdeckten
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 45
706 SPITAL.
Vorräume construirt, so wird ein Raum gewonnen, der eine zweckmässige und
vollkommene Zuthat zu der normalen Krankenunterkunft bildet und in vielen Fällen
mit Nutzen verwendbar ist.
In diesem Sinne, aber auch nur in diesem verwendet, kann die Baracke
einem permanenten Krankenhause mit Vortheil eingefügt werden, während sie
sonst dem im allgemeinen Theile Angeführten zu Folge nur mehr für passagere
Lazarethanlagen — also insbesondere für Kriegslazarethe — in Betracht kommen
sollte , und zwar nach den von der Kriegsverwaltung Nordamerikas festgestellten
Normalien mit der Abänderung, dass die Baracken einen kleineren Belegraum —
statt 00 etwa blos 20 Betten — erhalten sollten und die Erhöhung des Fussbodens
der Baracke über das Terrain-Niveau selbstverständlich überall dort wegfallen kann,
wo die Trockenhaltung des Fussbodens anderweitig sichergestellt erscheint.
In analoger Weise werden Zelte verschiedener Form und Anordnung
zu dem in Bede stehenden Zwecke, zur Isolirung und zeitweiligen Unterkunft von
Kranken während der wärmeren Jahreszeit dort in Anwendung gezogen, wo solche,
nicht aber die besprochenen besseren Krankenunterkünfte zur Verfügung stehen
oder leicht beschafft werden können. Krankenzelte sollten mit besonderer Rücksicht
auf ihre Bestimmung und somit auch so construirt werden, dass selbst bei ungün-
stiger Witterung die Lufterneuerung in zweckentsprechender Weise möglich sei.
Gänge. In den Krankenunterkunftsgebäuden nothwendige Gänge sollen
directes Licht (Seitenlicht) erhalten und je nach ihrer Bestimmung 3*8 — 2*5 Meter
breit sein. Bezüglich der Wände , Decken und der Fussböden , sofern sie von
Holz sind, gilt das bei den Krankensälen Gesagte. Wo nicht besondere Gründe
für die Wahl von Fussböden aus Holz sprechen, empfiehlt es sich, dieselben aus
Steinplatten, Cement u. dgl. herzustellen. Die Gänge sollen gelüftet und, sofern
sie für den Verkehr der Kranken bestimmt sind , auch nach Erforderniss geheizt
werden können.
Mittelgänge sind im Allgemeinen zu vermeiden und nur als kurze
secundäre Zwischen Verbindungen dann zuzulassen, wenn die erforderliche Be-
leuchtung und Lufterneuerung derselben sichergestellt werden kann.
Stiegen. Die in einem Krankenunterkunftsgebäude erforderlichen Stiegen
sollen mit besonderer Rücksicht auf leichte Communication vertheilt und angelegt
werden. Sie müssen licht und direct beleuchtet und feuersicher, also mit Stufen
aus Stein ausgeführt sein. Sind sie für den Transport und Verkehr von Kranken
bestimmt, so müssen sie 2*2 und mindestens 1*6 Meter breit gemacht werden und
gerade Stiegenarme erhalten. Die Stufenhöhe ist mit 0*10 bis 013 M. anzunehmen
und darf 0"15 M. nicht übersteigen. Alle Stiegen sind mit hölzernen Anhalte-
stangen und freitragende Treppen mit einem Geländer von mindestens 1*2 M.
Höhe zu versehen. Die Stiegen sollen mindestens nach 12 bis 15 Stufen Ruhe-
plätze erhalten und lüftbar sein.
Baulichkeiten und Räume zu Administrationszweeken.
Die ganze Krankenhausanlage soll nach aussen angemessen und zwar
nach Bedarf — wie gegen Strassen und begangene Wege — durch eine entsprechend
hohe Mauer abgeschlossen werden. In der Umfriedung sind die nöthigen Thore
anzubringen, aber für gewöhnlich geschlossen zu halten. Der unerlässlichen Ueber-
wachung wegen soll der gewöhnliche Ein- und Ausgang in der Regel blos durch
Ein Thor erfolgen.
Abweichungen hievon haben leicht Unzukömmlichkeiten im Gefolge und
sollen daher nur ausnahmsweise, wenn besondere Umstände dies erheischen oder
rechtfertigen und die erforderlichen Ueberwachungsmaassregeln durchgeführt werdeu
können, zugelassen werden.
Eine geschlossene, hinreichend geräumige Halle oder mindestens eine
überdeckte Durchfahrt soll das bequeme Ausladen zu Wagen angekommener
Kranker auch bei ungünstigem Wetter gestatten.
SPITAL. 707
In der erwähnten Halle, resp. nächst dem Eingangsthore sollen sich die
Loge des Portiers sanimt der daranstossenden Wohnung desselben und die Auf-
nahmslocalitäten befinden.
Die Wohnung des Portiers soll aus einer Küche und zwei hinreichend
geräumigen Wohnräumen bestehen und dieses Ausmaass im Allgemeinen als das
Geringste angesehen werden für die Wohnung eines Bediensteten, der verheiratet
sein darf.
Die Aufnahmslocalitä ten eines grossen Krankenhauses haben zu
umfassen :
Ein Wartezimmer , ein Zimmer für die Diener der Aufnahmskanzlei
(Journaldiener), die Aufnahmskanzlei, ein Cabinet für geheime Untersuchungen
und ärztliche Verrichtungen überhaupt, ein Zimmer für den diensthabenden Arzt,
ein Zimmer für den diensthabenden Beamten, einen Raum für die Tragbahren,
Tragsessel u. dgl.
Besteht die Einrichtung, dass auch ausserhalb der Anstalt wohnende
mittellose Kranke ärztlichen Rath in der Anstalt einholen können, so soll für
Zwecke eines solchen Ambulatoriums ein besonderes zweckentsprechend ein-
gerichtetes Zimmer in der Nähe des Eingangsthores vorhanden sein.
An die aufgezählten Räume, welche selbstverständlich mit den erforder-
lichen Möbeln und sonstigen Einrichtungsgegenständen auszustatten sind, haben
sich naturgemäss die nöthigen Kanzleien anzureihen, die unter Umständen auch
in dem Erdgeschosse jenes Gebäudes untergebracht werden können, welches die
Wohnungen des Directors, des Verwalters, sowie jener Aerzte und Beamten zu
enthalten hat, die in der Anstalt zu wohnen haben. Wie viele und welche Be-
dienstete dieses sind, hängt von der Organisation und den Verhältnissen der
Anstalt ab. Im Allgemeinen lässt sich nur sagen, dass in einer grossen Anstalt
ausser dem Director und dem Verwalter der Vorstand einer chirurgischen Ab-
theilung sämmtliche Subaltern ärzte und Manipulationsbeamte, sowie die Apotheker
und Seelsorger in der Anstalt wohnen sollen. Dasselbe gilt von den Professionisten
der Anstalt und den Dienern, für die es sich empfiehlt, ein besonderes, aber mit
Rücksicht auf die Communication nach aussen angemessen situirtes Wohngebäude
zu errichten.
Der Bedarf an Kanzleien ist nicht nur von der Grösse des Kranken-
hauses, sondern insbesondere auch davon abhängig, in welcher Weise die Kosten
der Krankenverpflegung vergütet werden und hereinzubringen sind.
Im Allgemeinen erfordert eine grosse Krankenanstalt ein Bureau für
den Director nebst geräumigem Vorzimmer, einem Kanzleizimmer und einem
Archiv von angemessener Grösse — das Bureau wenn möglich anstossend an die
Wohnung des Directors — ein Bureau für den Verwalter nebst den nach
Maassgabe der oben angedeuteten Verhältnisse für die Beamten erforderlichen
Kanzleilocalitäten und dem zugehörigen Vorzimmer.
Zu den Räumen, welche ein gut ausgestattetes grösseres Krankenhaus
benöthigt, gehören ferner ein Versammlungs- und Conferenzzimm er
(Commissionszimmer), dessen Situirung in der Nähe der Directionskanzlei zweck-
mässig erscheint, ein Lesezimmer für die Aerzte, das hinreichend geräumig
sein sollte, um die ärztliche Bibliothek aufzunehmen, falls nicht ein eigenes
Bücherzimmer vorhanden oder die Büchersammlung in dem Conferenzzimmer unter-
gebracht ist ; ein Zimmer für die Krankenbibliothek, die in keinem
Spitale fehlen, aber nur harmlose Unterhaltungsliteratur enthalten und unter ärzt-
licher Oberleitung stehen sollte.
Bezüglich der Situation reiht sich an die eben aufgezählten Räume auch
noch die Apotheke an.
Die Apotheke eines Krankenhauses ist und soll in der Regel eine
blosse Dispensiranstalt sein, ein Umstand, welcher für die Grössenverhältnisse und
die Zahl der erforderlichen Localitäten massgebend ist.
45*
708 SPITAL.
Eine solche Apotheke benöthigt :
Ein Dispensirlocale (Expeditionslocale, Apotheke im engeren Sinne), an-
stossend das Inspections- oder Wohnzimmer der Apotheker, ein Laboratorium von
angemessener Grösse, ein Magazin (Medicamentendepöt), sowie Keller und Boden-
raum (Kräuterboden) nach Bedarf, und hat mit der erforderlichen Einrichtung
ausgestattet zu werden.
Eine vollständige Krankenhau sküche benöthigt folgende Räume:
Die eigentliche Kochküche mit einem angemessenen Vorräume zur Speisen-
vertheilung, einen Raum für die Fleischmanipulation und für die Mehlspeisen-
bereitung, nach Erforderniss angemessen getrennt, einen Gemüseputzraum und ein
Abwaschlocale (Spülkammer), einen Raum für das Rohmateriale (Victualienmagazin),
nach Bedarf eine Backstube und Brodkammer, einen Wein- und Bierkeller und
einen Eiskeller.
Zweckmässig ist es, in der Nähe der Küche das Speisezimmer für das
Wart- und das Dienstpersonale anzubringen.
Die eigentliche Kochküche, der Kochraum, soll die erforderliche Grund-
fläche besitzen, hoch, licht sowie luftig und daher mit wirksamen Einrichtungen
für den Abzug der sich bildenden Dünste versehen sein. Der Fussboden soll aus
Steinplatten o. dgl. mit besonderer Rücksicht auf leichte Reinhaltung hergestellt,
und wenn sich Räume über der Küche befinden, die Decke derselben ge-
wölbt werden.
Für die Einrichtung der Küche ist es entscheidend, ob Dampf zum
Kochen verwendet wird oder nicht. In dieser Beziehung lässt sich im Allgemeinen
sagen, dass dort, wo Dampf zur Verfügung steht , der Damplbetrieb Vortheile
und Annehmlichkeiten bietet, die nicht übersehen werden sollten.
Bei der Errichtung einer Dampfküche ist nicht nur auf eine gute Ein-
theilung und Gruppirung der Einzelnapparate des Dampfkochherdes, sondern auch
auf eine handsame Beschaffenheit derselben und auf eine dementsprechende An-
ordnung der Leitungen und Ventile , sowie auf wirksamen Wasserabzug besondere
Rücksicht zu nehmen.
Ausser dem Dampfkochherd muss zur Bereitung der Braten ein gewöhn-
licher Bratherd vorhanden und zur Bereitung von ausserhalb der gewöhnlichen
Kochzeit etwa erforderlichen Speisen nach Umständen ein Gaskochapparat oder
ein kleiner Sparherd vorgesehen sein.
Wenn die Küche nicht für Dampfbetrieb eingerichtet wird, so muss sie
die erforderlichen Kesselherde und einen entsprechend grossen, mit Bratröhren
versehenen Sparherd erhalten, der in grossen Anstalten als Doppelherd con-
struirt sein soll, damit bei vorkommenden Reparaturen Betriebsstörungen ver-
hindert werden.
Die übrige Einrichtung der Kochküche und der aufgezählten zugehörigen
Räume, einschliesslich der Geschirre und sonstigen Geräthe, hat den Bedürfnissen
und den Anforderungen zu entsprechen, welche im Interesse der Zweckmässigkeit,
Reinlichkeit und Salubrität gestellt werden müssen.
Insbesondere ist bei der Anordnung der Localitäten und der Raum-
bemessung darauf zu sehen, dass die Ausgabe und Abtransportirung der Speisen
leicht, bequem und ungestört vor sich gehen könne.
Dass die Küchenlocalitäten die nöthigen Wasserleitungen besitzen sollen,
ist eine selbstverständliche, dass aber dort, wo eine Warmwasserleitung anderen
Ursprunges nicht vorhanden ist, es leicht möglich und zweckmässig ist, das
erforderliche warme Wasser durch die Herdfeuerung nebenbei zu gewinnen und
durch eine entsprechende Reservoiranlage beliebig auszunützen, ist eine noch zu
wenig gekannte und verwerthete Thatsache.
Der Eiskeller, welcher nach der alten, durch die Benennung gekenn-
zeichneten Art oder unter Umständen vorteilhafter als amerikanische Eishütte —
Eishaus — hergestellt werden kann, soll dort, wo die Beschaffung künstlichen Eises
SPITAL. 709
nicht möglich oder zu kostspielig sein sollte, einen so grossen, nach Umständen
auf mehrere Eishütten vertheilten Fassungsraum erhalten, dass auch unter un-
günstigen Verhältnissen ein hinreichender Eisvorrath verfügbar sei.
Badeanstalt. Die Badeanstalt eines Krankenhauses soll für Wannen-,
Dampf- und Douchebäder eingerichtet sein und, wenn es die Verhältnisse gestatten,
auch ein Luftbad enthalten.
Die Grösse des Wannenbades, resp. die Anzahl der Wannen in
demselben ist von der Grösse — der Bettenzahl — des Krankenhauses und davon
abhängig, ob im Krankenunterkunftsgebäude Badeeinrichtungen zerstreut vorhanden
sind und wie sie benützt werden dürfen.
Sind nächst den Krankensälen Badezimmer zur Benützung für Kranke
vorhanden, welche man in die Badeanstalt nicht senden kann oder will, so wird
in der Badeanstalt im Allgemeinen für je 25 — 30 Betten, und wenn solche Bade-
zimmer nicht bestehen, für je 25 — 20 Betten eine Wanne einzustellen sein.
Bezüglich der baulichen Beschaffenheit des Wannenbades gilt das Seite 698
Gesagte und ist nur dahin zu ergänzen, dass der Wasserablauf durch entsprechend
angelegte offene Rinnsale erfolgen soll, welche, um sie als Gangsteig benützen zu
können , mit einem leichten 0*8 M. breiten Holzgitter zu überdecken sind, das
aus circa 1*80 M. langen Stücken besteht, um nach Bedarf und leicht weg-
genommen werden zu können. Ein Bad , dessen Fussboden in der angedeuteten
Art hergestellt ist, lässt sich vollkommen und leicht rein halten, wogegen ein der
ganzen Ausdehnung nach mit einem Lattengitter (Lattenrost) versehenes Bad
sich aller Mühe ungeachtet nicht in Stand halten lässt.
Ich hatte mich lange Jahre in der Rudolph- Stiftung mit einem solchen
Bade abgemüht, bis ich endlich in die Lage kam, den Fussboden in der von mir
angegebenen Weise herstellen zu lassen und so dauernd gründliche Abhilfe
zu schaffen.
Der Baderaum soll durch circa 2*40 M. hohe, ölgetränkte, mit einem
guten Oelanstrich versehene Holzwände in Cabinen für eine oder allenfalls zwei
Wannen getheilt sein, die im letzteren Falle nicht unter 2'30 M. breit und
2*80 M. lang sein sollen.
Die Badewannen sollen 1*45 M. lang und 0*65 M. hoch gewählt werden.
Die Breite soll in der Ebene des oberen freien Randes am Kopfende 0*65 M.
und am Fussende 0'45 M., dagegen am Boden am Kopfende 0'58 M. und am
Fussende 0*43 M. betragen.
Als Materiale empfiehlt sich, wenn man von Steinzeug absieht — was
wohl im Allgemeinen geschehen muss — vor Allem Kupfer, dann emaillirtes
Eisen. Am schlechtesten und allenfalls für wenig gebrauchte Wannen ver-
wendbar ist Zink.
Ein oder zwei Separatbadezimmer für die Aerzte und Beamten sollen in
der Badeanstalt eines grossen Krankenhauses nicht fehlen.
Das Regen- und Douchebad soll zum Douchen von oben und unten die
der Grösse der Anstalt entsprechende Zahl fixer Brausen- und Strahlansätze und
eine Vorrichtung zum Douchen von der Seite besitzen und soll die Einrichtung
derart getroffen sein, dass die gewünschte Temperatur des zur Verwendung
gelangenden Wassers durch Mischung von kaltem und warmem Wasser oder
aber durch Mischung von kaltem Wasser und Dampf an Ort und Stelle erzielt
werden kann.
Das Dampfbad, zu dem stets ein heller Raum verwendet werden soll,
ist mit den erforderlichen horizontalen, in verschiedener Höhe längs der Wand
angebrachten Bankreihen zum Liegen auszustatten. Bezüglich der Wände und des
Fussbodens sowie der Ventilation gilt das im Allgemeinen Gesagte. Das Dampfbad
soll so gelegen sein, dass man unmittelbar aus demselben in das Douchebad
gelange, welches, wo es die Verhältnisse gestatten, noch durch ein Vollbad ver-
vollständigt werden kann.
710 SPITAL.
Als ein weiterer Bestandtheil eines Dampfbades erscheint da und dort
noch die Schwitzkammer, ein luftiges und lüftbares Zimmer, welches mit Lager-
stellen versehen ist, um jene Personen, in Bettlacken eingewickelt, aufzunehmen,
welche nach den Proceduren im Dampfbade im Bette nachschwitzen sollen.
Zu den Bestandtheilen eines Douche- und Dampfbades gehört auch noch
ein zum Aus- und Ankleiden bestimmtes und dementsprechend eingerichtetes
Vorzimmer.
Vollbassins, Piscinen werden wohl nur selten den Bestandtheil
einer Krankenhausbadeanstalt bilden und sollen dies nur dort, wo die verfügbaren
Mittel es erlauben, dass ein steter Zu- und Abfluss von frischem — und für das
laue Vollbassin warmem — Wasser stattfindet.
Alle Badelocalitäten sollen angemessen geheizt und ventilirt werden können.
Zu einer vollständigen Badeanstalt gehört auch noch die Abtheilung zur
Anwendung trocken-heisser Luft, das irisch-römische Bad.
Es genügt zu diesem Zwecke ein aus dem gemeinschaftlichen oder einem
besonderen Aus- und Ankleidezimmer zugänglicher Raum, welcher unter stetigem
Luftwechsel nach Erforderniss so erwärmt werden kann, dass die gewünschte
Temperatur allmälig erreicht und dann gehalten werden kann. So eingerichtet
ersetzt Ein Raum die verschiedenen als Tepidarium (35 — 45° C), Sudatorium
(45 — 62°), Calidarium (65 — 90") bezeichneten Abtheilungen der für continuirliche
Verwendung berechneten irisch-römischen Badeanstalten.
In einem entsprechenden Räume der Badeanstalt, eventuell in den er-
wähnten Vorzimmern müssen die zur Aufbewahrung der Badewäsche (Bademäntel,
Leintücher etc.) erforderlichen Schränke vorhanden sein.
Wenn die Vorrichtungen zur Behandlung von Kranken im perma-
nenten Bade — Hebra's Wasserbett — nicht in den betreffenden Special-
abtheilungen angemessen untergebracht werden können, so wäre der Badeanstalt
ein geeignet gelegenes Zimmer zu diesem Zwecke als Krankenunterkunftsraum zu
widmen und in entsprechender Weise einzurichten.
Waschanstalt. Jedes Krankenhaus sollte seine eigene Waschanstalt
besitzen.
Aus dem Vorgange bei der Wäscherei, welche bei neueren Anlagen
zweckmästig und ökonomisch viel Zeit und Kosten ersparend mittelst Dampf be-
trieben wird, ergiebt sich der folgende Bedarf an Räumlichkeiten :
Ein Raum zur Empfangnahme und Aufbewahrung der unreinen Wäsche;
gut ventilirbar und mit den erforderlichen Abtheilungen zur Sortirung der
Wäsche versehen.
Die eigentliche Waschküche, welche die nöthigen Bottiche zum Ein-
weichen und Einlaugen , sowie zum Beuchen oder Bücken, die Platten zum An-
seifen mit der Hand, dann entsprechende Waschmaschinen, ferner Bassins mit
Schaufelrad zur mechanischen Spülung und Bassins für gewöhnliche Spülung,
sowie zum Nachwaschen mit der Hand und endlich Centrifugaltrockenmaschinen
(Hydroextracteurs) oder weniger zweckmässig hydraulische Pressen zum Ausringen
der Wäsche zu enthalten hat.
Der Fussboden der Waschküche, die gleichfalls ventilirbar sein soll, muss
aus einem undurchlässigen, aber widerstandsfähigen Materiale hergestellt und mit
den nöthigen Wasserabflüssen versehen werden.
Zum Trocknen der Wäsche müssen ausser entsprechend eingerichteten
Trockenböden und der für den Gebrauch im Sommer bestimmten Hängstätte im
Freien, zweckmässig durchgeführte Trockenkammern vorhanden sein.
Eine Roll- und Platt- oder Bügelstube mit der durch Menschen-, Dampf-
oder Wasserkraft getriebenen Rollvorrichtung (Mange) , dem zur Erwärmung der
Bügeleisen nöthigen Herde, den erforderlichen Tischen und Laden und eventuell
auch einer Walzenplätte (Calander). Ein Sortir- und Fliekzimmer mit der erfor-
derlichen Einrichtung.
SPITAL. 711
Das Magazin für die fertige Wäsche, welches hell, heizbar, luftig und
lüftbar sein muss. Die zur Aufbewahrung der reinen Wäschesorten erforderlichen
Stellagen sollen von beiden Seiten und bequem zugänglich sein. Die Anlage zur
Wäscheausgabe ist zweckmässig und so zu disponiren und einzurichten, dass der
Zu- und Abgang sowie die Manipulation selbst ohne Störung vor sich gehen kann.
Bei der Einrichtung der Wäscherei ist darauf Rücksicht zu nehmen,
dass die Wäsche der Gesunden von der Krankenwäsche getrennt behandelt werde
und dass die dem Leichenhause (der Prosectur) gehörige Wäsche in der Des-
infectionsabtheilung zur Reinigung gelange.
Von der Waschküche für die gewöhnliche Wäsche getrennt — also
wenigstens in einer gesonderten , einen eigenen Zugang von aussen besitzenden
Abtheilung des Waschhauses — soll die Wäsche von Personen, welche mit einer
ansteckenden Krankheit behaftet sind , in entsprechend eingerichteten Bottichen
desinficirt und gewaschen werden.
In dieser Abtheilung sind auch die Vorrichtungen zur Desinfection von
Kleidern, Bettzeug, Matratzen u. dgl. überhaupt, sowie jene zur Vertilgung des
Ungeziefers unterzubringen.
Die Vertilgung des Ungeziefers wird entweder in der Ungeziefer-
Vertilgungskammer, in welcher mittelst eines Mantelofens eine Temperatur von
95 — 100° C. erzeugt und erhalten werden muss, bewirkt oder aber durch Ein-
legen der zu reinigenden Gegenstände in eine dichte Kiste (Truhe) in welcher die
Tödtung des Ungeziefers durch Benzindampf erfolgt.
Zur Desinfection von Kleidern, Wäsche, Matratzen u.dgl.
kann nach den Forschungen der Doctoren Wolffhügel, Koch, Gaffky und
Löfflee, gegenwärtig nur Dampf von 100° und darüber in Betracht kommen und
müssen die Vorrichtungen zur Desinfection durch Hitze , gleichviel ob die Luft in
derselben wie gewöhnlich trocken oder nach Liebreich's Rath durch Dampf ange-
feuchtet und so wirksamer zur Anwendung gelangt, sowie die Kammern zur An-
wendung der schwefligen Säure aufgegeben werden, weil die Hitze sowohl wie
die schweflige Säure bei der gewöhnlichen Art der Benützung ganz unzuverlässig
wirken und die wirksame Anwendung derselben nur unter Umständen erfolgen
kann, welche die zu desinficirenden Gegenstände schädigen oder zerstören und
zudem in einer praktisch brauchbaren Weise kaum sicherzustellen sind.
Zur Desinfection durch Dampf von mindestens 100° wird sich ein mit
der Dampfleitung verbundener, gegen Wärmeverlust gut geschützter und mit dicht
schliessendem Deckel versehener Bottich empfehlen, der aber ein Ausblaserohr
besitzen soll, weil sich strömender Dampf bezüglich der raschen und gleichmässigen
Durchwärmung der zu desinficirenden Objecte auf 100° wirksamer als stagnirender
wenn auch höher gespannter Dampf erwiesen hat.
Dort wo ein Dampfkessel zur Erzeugung des erforderlichen Dampfes nicht
zur Verfügung steht, kann der Bottich aus einem offenen Kessel gespeist, resp'.
über demselben angebracht werden.
Gelingt es in diesem Falle nicht, die Temperatur des Dampfes durch
entsprechende Einhüllung des Bottichs unter dem Deckel, der hier zweckmässig
conisch zu gestalten und oben mit einer hinreichend kleinen Ausflussöffnung zu
versehen ist auf 100° zu halten, so kann dies wie die oben erwähnten Forscher
im Einklänge mit dem Ergebniss neuerer physikalischer Beobachtungen angeben,
dadurch geschehen, dass der Dampf einer einen entsprechend hohen Siedepunkt
besitzenden Salzlösung entnommen wird.
Die in der angegebenen Weise behandelten Gegenstände werden nur
massig feucht, trocknen rasch und werden mit Ausnahme von Leder nicht —
oder nur ganz unbedeutend im Ton bei einzelnen Farben — verändert.
Gegenstände von Leder müssen daher, wenn sie nicht vernichtet werden
können, anderweitig, also durch Waschen und resp. Baden in einer thatsächlich
wirksamen Desinfectionsflüssigkeit entseucht werden.
712 SPITAL.
Bei der Disposition der einzelnen Räume der Waschanstalt soll auf eine
die Arbeit fördernde Aneinanderreihung Rücksicht genommen, sowie für ent-
sprechende Communication der Localitäten und die erforderliche Anbringung von
Aufzügen Sorge getragen werden.
Es muss von den Verhältnissen der Anlage und des Betriebes abhängig
gemacht werden, ob die Wohnung für die Wäschebesorgerin, die Oberwäscherin
und jene Wäscherinnen, welche in der Anstalt unterzubringen sind, in einem
Adnexe der Waschanstalt oder in dem betreffenden Wohngebäude unterzu-
bringen sind.
Dampfkesselanlage. Wird Dampf blos zum Betriebe der Bade- und
Waschanstalt und eventuell zur Warmwasserversorgung überhaupt verwendet, also
blos eine relativ kleine Dampfkesselanlage benöthigt, so ist am zweckmässigsten
die Dampfkesselanlage mit der Waschanstalt zu combiniren. Wird dagegen
in einer grossen Anstalt Dampf in ausgedehnterem Maasse zur Beheizung, zum
Heben des Wassers u. dgl. verwendet und deshalb eine bedeutendere Dampfkessel-
anlage benöthigt, so wird es sich empfehlen, die Kes seihau s anläge als ein
Object für sich zu behandeln und mit den zugehörigen Brennmaterialien-Magazinen
unter Berücksichtigung aller in hygienischer und administrativer Beziehung in
Betracht kommenden Momente zu situiren und zweckentsprechend durchzuführen.
Leichenanstalt. Zur Aufbewahrung der Todten bis zu ihrer Beerdi-
gung hat ein besonderes Gebäude verwendet zu werden. Dieses Gebäude ist mit
Rücksicht auf die Windrichtung möglichst abgelegen und so zu situiren und ein-
zufrieden, dass es von den Krankenunterkünften möglichst wenig gesehen werden
kann und ein Einblick in dasselbe gehindert ist. Ein eigener Ausgang soll die
direete Communication nach aussen vermitteln.
Es werden folgende Räume benöthigt:
Eine Leichenkammer (Beisetzkammer), welche licht, heizbar und
lüftbar sein soll, einen undurchlässigen Fussboden und eine gewölbte Decke zu
erhalten hat, deren Fenster, so weit . als nöthig, mit mattem Glase zu versehen
sind und die als Einrichtung die erforderliche Anzahl (circa 2% des Kranken-
belages) Pritschen besitzt, sowie eine verschliessbare Abtheilung für etwa zwei
Leichen, wenn nicht eine besondere Leichenkammer zur Aufbewahrung für ge-
richtliche Fälle hergestellt wird.
Ob zur leichteren Erkenntniss etwaiger Fälle von Scheintod, auf mecha-
nischem oder elektrischem Wege auslösbare Klingelzüge in der Beisetzkammer an-
zubringen und an den Leichen zu befestigen sind, bestimmt das Gesetz.
Die Leichenkammer kann je nach den anderen in Betracht kommenden
Verhältnissen entweder im Erdgeschosse oder im Souterrain angebracht werden.
Ist letzteres der Fall, so ist es zweckmässig , für den Transport der Leichen in
das Erdgeschoss einen Aufzug herzustellen und zweckmässig anzubringen.
Ein Sectionslocal mit anstossendem Räume zum Vereinigen und
Reinigen der Leichen (Abwaschlocale).
Das Sectionslocal (Secirsaal) soll geräumig und muss hell, heiz- und
liiftbar sein , es soll einen undurchlässigen Fussboden sowie die zu einer
entsprechenden Beleuchtung und Wasserversorgung erforderlichen Einrichtungen
in zeitmässiger Anordnung und Ausführung besitzen.
Einen wesentlichen Einrichtungsgegenstand bilden die Sectionstische —
zwei an Zahl.
Als Seetionstisch empfiehlt sich eine entsprechend geformte Steinplatte,
deren obere von einem massig erhöhten Rande umsäumte Fläche so gestaltet und
mit zwei bis drei sich kreuzenden Rinnen versehen ist, dass alle Flüssigkeit in das
die Tischplatte an der Kreuzungsstelle durchsetzende Loch gelangen und abfliessen
kann, und die auf einem Fusse — einer abgestutzten Pyramide — drehbar
befestigt ist. Der Fuss soll hohl und mit einem Thürchen versehen sein , um
SPITAL. 713
ein Gefäss zum Auffangen des Abfliessenden, oder — wenn eine dirccte Ableitung
vorhanden — zum Abscheiden der festen von den flüssigen Theilen aufnehmen,
und die gegen das Eindringen von Ratten durch ein hinreichend enges Gitter
wohlverschlossene Abflussöffnung reinhalten und überwachen zu können.
Ein Schreibtisch und nach Erforderniss ein gewöhnlicher Tisch sammt
den zugehörigen Sesseln, sowie eine Waschvorrichtung bilden die weitere Ein-
richtung des Secirsaales, zu der die nöthigen Präparatenkasten hinzukommen, wenn
das Local auch als Museum verwendet werden muss und vermöge seiner Grösse
verwendet werden kann.
In dem lichten, mit undurchlässigen , entsprechend nivellirten und den
erforderlichen offenen Rinnsalen versehenen sogenannten Abwaschiocale ist auch
das zum Auswässern dienende Wasserbassin aus Stein anzubringen und kann
zweckmässig der Macerations- und der Entfettungsapparat aufgestellt werden.
Anstossend an das Sectionslocal sollen auch die Arbeitsräume für
den Prosector und die sich in der Leichenanstalt beschäftigenden Aerzte und
das Local für das Museum befinden, da die oben erwähnte Benutzung des Secir-
raumes zu diesem Zwecke doch nur ausnahmsweise stattfinden sollte. Dass die
Arbeitszimmer und das Museum, die erforderliche Einrichtung zu erhalten haben,
ist_ selbstverständlich.
Das Aufbahrlocal ist zur Ausstellung der eingesargten Leichen
gewidmet und dementsprechend auszustatten. Ausser der die Verbindung mit
dem Leichenhause vermittelnden Thüre, hat das Aufbahrungslocal auch einen
breiten, unmittelbar in's Freie oder in eine Vorhalle führenden Ausgang zu
erhalten. Unmittelbar neben dem Aufbahrlocale ist die Einsegnungscapelle mit
kleinem Zimmer für die Geistlichen (Sacristei) anzubringen.
Endlich hat das Leichenhaus noch ausser der Wohnung für die Leichen-
diener und den notwendigen Aborten, ein Sargdepöt und einen Raum zur Auf-
bewahrung der Trag- und Fahrbahren, sowie, wenn erforderlich, eine Remise für
die Todtenwägen zu enthalten.
Die C a p e 1 1 e oder der B e t s a a 1 soll leicht zugänglich angebracht und
kann als Zierde der Anlagen architektorisch verwerthet werden. Die Grösse
kann je nach den Verhältnissen mit 15 bis 20 Procent des Krankenbelages
angenommen werden.
Die Schlosser- und die Tischlerwerkstätte, welche in einem
grösseren Krankenhause nie fehlen sollten und entsprechend einzurichten sind,
sollen hinreichend entfernt von den Krankenunterkünften und können, wo
eine Kesselhausanlage benöthigt wird, zweckmässig im Complex derselben
errichtet werden.
An Magazinen benöthigt ein grosses Krankenhaus: das Magazin
für die Kleider der Kranken, welches den hinreichenden dem Kranken-
belage entsprechenden Raum zur Unterbringung der von den Kranken mitgebrachten
Kleider in zweckentsprechend getheilten und angeordneten Fächerstellagen besitzen
soll, kühl aber hell, trocken, luftig und lüftbar sein muss und ausser den erwähnten
Stellagen einen Manipulationstisch von angemessener Grösse zu erhalten hat.
Das Magazin für Bettsort en-Vorräthe — Matratzen, Kopf-
polster, Decken — soll analog beschaffen und gleichwie das Kleidermagazin einen
gedielten mit heissem Leinöl getränkteu Fussboden besitzen.
Das Magazin für Spitalsgeräthe, je nach Umständen aus einem
oder mehreren gesonderten Räumen bestehend, soll trocken und staubfrei sein und
genügenden Raum zur übersichtlichen Unterbringung der vorräthigen Einrichtungs-
gegenstände und Spitalsgeräthe besitzen.
Das Magazin für Mineralwässer und andere zu Spitalszwecken
dienende Materialien soll kühl, aber doch so gelegen sein und geschützt
werden, dass es auch bei strenger Kälte als frostfrei angesehen werden kann.
714 SPITAL.
Die Depots für Brennmaterialien, deren Zahl, Grösse und Be-
Bchaffenheit sowohl von der Grösse und Anordnung der Anstalt, gleichwie von
den zu verwendenden Brennstoffen und den Lieferungsmodalitäten derselben
abhängt, sollen mit Rücksicht auf die Benutzungsverhältnisse ihres Inhaltes situirt
und eventuell nach Bedarf angemessen vertheilt sein.
Ein Depot für Baumaterialien und ein Magazin für Baugeräthe
und einschlägige Vorräthe : wie Oefen , Caloriferes und deren Bestandtheile,
Fütterungen aus feuerfestem Thone, Gas-, Dampf- und Wasserleitungsröhren u. dgl.
kann in einem grossen Krankenhause nicht entbehrt und soll an einem geeigneten
Orte vorgesehen werden.
Ist das Krankenhaus nicht mit elastischen Betteinsätzen, sondern noch
mit Strohsäcken versehen, so muss auch ein trockenes und feuersicheres Magazin
für frisches Stroh und ein Depot für das benützte Stroh vorhanden sein.
Für Aufbewahrung der Feuerlöschrequisiten hat ein zweckmässig gelegenes
und bequem zugängliches Feuerlösch -Requisiten- Magazin, resp. eine
Remise zu dienen.
Bedarf das Krankenhaus eigener Fuhrwerke, so muss für Unterbringung
der Wagen und Pferde in zweckmässig situirter und eingerichteter Remise und
resp. Stallung sammt Zugehör Sorge getragen werden.
Gänge, Stiegen, Aborte. Bezüglich der in den verschiedenen
Gebäuden oder Gebäudetheilen erforderlichen Gänge, Stiegen und Aborte ist
unter Bezugnahme auf das diesbezüglich bei den Krankenunterkunftsgebäuden
Gesagte nur zu bemerken, dass auch die blos für den Dienstverkehr bestimmten
Gänge nicht unter 1*5 Meter breit gemacht werden sollten; dass dasselbe von
den Stiegen gilt, sofern sie nicht Nebenverbindungen dienen, für welchen Fall
bis auf 1 Meter herabgegangen werden kann; endlich dass alle Aborte und
Pissoirs directes Licht zu erhalten haben und erstere thunlichst mit Waterclosets
auszustatten sind.
Die Beheizung soll derart eingerichtet und betrieben werden, dass
die Temperatur in den Krankensälen und den zügehörigen Wasch- und Bade-
zimmern gleichwie den Wohnzimmern auch bei strengster Kälte nach Erforderniss
bis auf 22" 5° C, in den Vorräumen und Aborten auf 18° C. und in den Gängen
auf 15° C. gebracht werden könne, sowohl der Fläche als der Höhe des Raumes
nach die möglichst kleinsten Unterschiede zeige und namentlich in den bewohnten
Räumen leicht nach Bedarf regulirbar sei.
Von der Grösse des Krankenhauses, mehr aber noch von den Geldmitteln,
über welche dasselbe zu verfügen vermag, hängt die Wahl des Systems der
Beheizung ab.
Nie darf hierbei ausser Acht gelassen werden, dass, da die Ursachen,
welche die Abkühlung bewirken, stetig fortwirken, und da wenigstens für die
Krankenunterkünfte eine thunlichst gleichmässige Temperatur angesprochen werden
muss, und zwar unbeschadet der ununterbrochenen Lüftung, es unerlässlich sei,
dass auch die Beheizung entsprechend stetig bewirket werde.
So vollkommen und so leicht dies nun durch Centralheizungen erzielt
werden kann, so sind es doch administrative Rücksichten, welche noch auf lange
hin bei Krankenanstalten von dem empfohlenen Umfange die gegenwärtig üblichen
Centralheizungssysteme fern halten werden , und zwar des für den Nachtdienst
unerlässlichen Betriebspersonales wegen.
Deshalb empfiehlt sich, insolange nicht die Gasheizung durch sogenanntes
Wassergas oder billiges Leuchtgas die bisherigen Localheizungen verdrängt hat,
die Anwendung von rationell und zweckentsprechend construirten, mit Um-
mantelungen versehenen Caloriferes und Füllöfen für die Kranken-
unterkünfte und die bewohnten Räume überhaupt.
SPITAL. 715
Dagegen sprechen Betriebsrücksiehten dafür, dass in Krankenhäusern,
welche nach dem Corridorsystem erbaut sind , oder aber in den verschiedenen
Geschossen Gänge zur Verbindung der einzelnen Tracte besitzen, die Erwärmung
der Gänge und Stiegenhäuser durch eine gruppenweise oder centralisirte Beheizungs-
anlage ad hoc vermittelt werde.
Rechtfertigen und ermöglichen die Verhältnisse die Beheizung der
ganzen Anstalt von einer Centralstelle aus, so kann bei einer grossen Kranken-
hausanlage , so lange nicht Heizgas verwendet werden kann , die volle Zweck-
erfüllung auf die relativ wohlfeilste, einfachste und bequemste Weise nur durch
eine rationell disponirte und zweckmässig durchgeführte Dampfheizungsanlage
erreicht werden.
Ventilation. Bei der Errichtung einer Krankenanstalt soll in rationeller
Weise für Sicherstellung der erforderlichen Ventilation der Räume Sorge ge-
tragen werden.
Die Ventilationseinrichtungen in den Krankenzimmern sollen derart be-
schaffen sein, dass — bei den angegebenen Raumverhältnissen — der Luft-
wechsel unter den ungünstigsten Umständen nicht weniger als 40 Cubikmeter per
Bett und Stunde betrage und nach Erforderniss regulirbar sei.
Der Eintritt der frischen — bei niedriger Aussentemperatur entsprechend
vorgewärmten — Luft , sowie der Abfluss der Zimmerluft muss ohne Belästigung
der Kranken stattfinden.
Der Luftwechsel muss ununterbrochen, also Tag und Nacht, vor sich
gehen. Die Ventilationsvorkehrungen müssen daher so eingerichtet sein, dass sie
nicht von Unberufenen in Unordnung gebracht , oder abgestellt werden können
und dass eine einfache Umschau im Saale genüge , um über die Stellung der
Verschlüsse Aufschluss zu erhalten.
Mit Rücksicht auf die Forderung, dass der Luftwechsel ununterbrochen
vor sich gehe, ferner aus den bezüglich der Centralheizungen angedeuteten
Gründen, sowie auch aus Gründen, welche das Wesen der Anlage und die Kosten
der Durchführung betreffen, empfiehlt sich vor Allem die Anwendung der auf der
Differenz zwischen der Aussen- und Zimmertemperatur beruhenden, sogenannten
natürlichen Ventilation und zwar in der von mir durchgeführten typischen
Ausbildung derselben, resp. nach meinem auf der Temperaturdifferenz
und der Luftströmung, welche durch die natürlichen Ver-
hältnisse jeweilig geboten sind, beruhenden Systeme.
Eine derartige rationell durchgeführte Anlage entspricht bei richtiger
Handhabung den Anforderungen im Allgemeinen vollkommen und leistet selbst
bei geringer Temperaturdifferenz und Windstille Ausreichendes.
Da die letzterwähnten Verhältnisse nur an wenigen Tagen, und da selbst
nur während einzelnen Stunden vorkommen , so ist es im Allgemeinen nicht
nöthig, besondere und zwar der Natur der Sache nach centralisirende Vor-
kehrungen für die angedeuteten Zeiten zu treffen. Will man dies aber, um die
Ventilationsgrösse beherrschen und namentlich zu Zeiten von Epidemien steigern
zu können, so bietet die von mir durchgeführte Verbindung des Systems
der natürlichen Ventilation mit einer centralen — sei es durch
mechanische Mittel wie im Rothschild-Spitale in Wien (Währing), sei es durch
eine Saugesse, wie im Knappschaftskrankenhause zu Eisleben vermittelten, Abfuhr
das Mittel hiezu. Dass die Aufstellung eines Ventilators der Einrichtung und
Anwendung einer Saugesse vorzuziehen ist, liegt in mechanischen Momenten,
dass sich aber die Anwendung des Ventilators nur dort und dann empfiehlt , wo
ein Motor zur Verfügung steht, der eine permanente Wartung nicht erheischt,
oder wo die Anlage und Grösse der Anstalt einen centralen continuirlichen Betrieb
gestattet und rechtfertigt, ist aus administrativen Rücksichten verständlich und
wird durch die Erfahrung bekräftigt.
716 SPITAL.
Diese Verhältnisse sind es auch, welche die seinerzeit und wohl auch jetzt
noch aus vorzugsweise theoretischen Gründen befürwortete Anwendung der mecha-
nischen Ventilation — z. B. des Pulsionssystemes — für Krankenanstalten
im Allgemeinen nicht empfehlenswerth, und nur unter ganz bestimmten, bisher nicht
vorhandenen Voraussetzungen und Verhältnissen anwendbar erscheinen lassen,
ganz abgesehen davon, dass die tadellose Wirksamkeit von Momenten der Durch-
führung und des Betriebes abhängig ist , deren Berücksichtigung und Beherr-
schung viele und selten vorhandene Erfahrung und eine stetige Aufmerksamkeit
erheischt.
Dass es nicht nur keinen Sinn hat, sondern als verkehrt bezeichnet
werden muss, wenn in einer Krankenanstalt eine Anlage für mechanische Ven-
tilation durchgeführt, aber, abgesehen von dem wie, nur während des Tages und
nicht während der Nacht betrieben wird, bedarf keiner besonderen Ausein-
andersetzung.
Es muss aber ganz besonders hervorgehoben werden, dass die zweck -
mässigsten Ventilationsanlagen nicht entsprechen können , sobald sie unrecht oder
nicht mit Verständniss gehandhabt werden. Aus der zur Zeit noch häufig bei
Aerzten und Beamten vorhandenen mangelhaften Kenntniss auf dem in Rede
stehenden Gebiete resultirte das geringe Interesse für dasselbe und dessen Folgen,
als deren bedauerlichste die Verwüstung und Verstümmelung selbst guter Anlagen
bezeichnet werden muss. Diese Verhältnisse werden sich der Natur der Sache
nach nur allmälig, und erst dann bessern , bis die Schule auch auf diesem Gebiete
ihre Mission erfasst und erfüllt haben wird.
Zur Beleuchtung einer Krankenanstalt am Abend und während der
Nacht empfiehlt sich, so lange und wo elektrisches Licht (Glühlampen) nicht ein-
geführt werden kann , der Bequemlichkeit und Billigkeit wegen zunächst das
Leuchtgas.
Da in einem Krankenhause die Stiegen , Gänge und benützten Räume
überhaupt hinreichend, aber mit dem geringstmöglichen Kostenaufwande beleuchtet
werden sollen, so ist nicht nur die Zahl und Grösse der Flammen in's Auge zu
fassen und eine zweckmässige Vertheilung der Flammen anzustreben , sondern
insbesondere auch durch Anbringung zweckentsprechender Druckregulatoren für
eine ruhige und vortheilhafte Ausnützung des Leuchtgases Sorge zu tragen.
In den Krankensälen empfiehlt es sich, die Gasflamme mittelst eines ver-
schiebbaren, mit einem Schirme oder einer Kugel ausgestatteten Hängearmes in
der Mitte des Saales — über dem daselbst befindlichen Tische — anzubringen,
da dies die zweckmässigste Art ist, eine brauchbare Abendbeleuchtung und, wenn
die Ampel bis fast auf Tischhöhe herabgezogen und die Flamme angemessen
reducirt ist, eine entsprechende Nachtbeleuchtung zu erzielen.
Die anderen noch möglichen Arten, die Lichtquelle in einem Kranken-
saale anzubringen — an der Wand frei oder in einer Art Laterne; in Nischen,
welche die ganze Wand durchsetzen und gegen den Krankensaal verglast sind
u. dgl. — haben den Erwartungen nicht entsprochen, und kann die letzterwähnte
Art allenfalls bei kleinen Krankenzimmern als Nachtbeleuchtung verwendet werden,
weun gleichzeitig ein anstossender Raum, z. B. ein Vorzimmer o. dgl. mit be-
leuchtet werden soll.
In kleinen Krankenzimmern ist es zweckmässig, die Gasarme an einer
Wand über einem Tische in einer solchen Höhe anzubringen, dass das Licht zum
Lesen und Schreiben ausreichend sei , und an einem solchen Orte , dass der im
Bette liegende Kranke durch das Licht nicht belästiget werde.
Die Gasarme in den G ängen , Stiegen und öffentlichen Passagen sind
sowohl im Interesse der Beleuchtung, als auch um von Unberufenen nicht
beschädigt oder missbraucht zu werden, in angemessener Höhe anzubringen, und
im Interesse der Reinhaltung der Decke allenthalben mit Rauchschalen zu versehen.
SPITAL. 717
In Anstalten , welche Leuchtgas zu beziehen oder mittelst einer zur
Deckung des eigenen Bedarfes brauchbaren und vortheilhaften Methode selbst zu
erzeugen nicht in der Lage sind, rauss die Beleuchtung durch andere Lichtquellen
vermittelt werden.
Oertliche und commercielle Verhältnisse werden die Wahl des Beleuch-
tungsmaterials beeinflussen, dürfen dies jedoch nur insoweit, als die Rucksicht
für die Sicherheit der Kranken dies gestattet. — Flüssige Brennstoffe sollen
— wenigstens in den Krankenzimmern — nur in Argand'schen Lampen ge-
brannt werden.
Als transportable Lichtquellen sollen nur Kerzen und Wachsstöckchen
verwendet werden.
Wasserversorgung. Eine entsprechende Wasserversorgung ist für
ein Krankenhaus von sehr wesentlicher Bedeutung. Vorzügliches Trinkwasser und
ausreichendes Nutzwasser soll in einem Krankenhause verfügbar sein , und keine
Krankenanstalt vor Sicherstellung des erforderlichen Wasserbezuges errichtet werden.
Ist eine Wasserleitung vorhanden, so empfiehlt es sich, gesonderte Lei-
tungen für das Trink- und das Nutzwasser anzulegen, so zwar, dass das
Trinkwasser aus den, durch eine in der Gebäudesohle geführte Leitung gespeisten,
Steigerohren direct, also thunlichst kühl bezogen werden kann, während das Nutz-
wasser durch Steigerohre in am Dachboden verth eilte und gegen das Einfrieren
entsprechend geschützte Reservoire aus Eisenblech geleitet und von da aus allen
Verbrauchsstellen zugeführt wird.
In jedem Krankenzimmer, sowie an geeigneten Stellen der Gänge, sollen
Ausläufe mit Abflussbecken vorhanden sein, und für das Nutzwasser an den er-
forderlichen Verbrauchsstellen angemessene Auslaufvorrichtungen angebracht werden.
Im Allgemeinen empfiehlt es sich, an den Ausläufen Ventile und nicht
Hähne zu verwenden und in den Höfen und Gärten zur Wasserversorgung bei
ausbrechendem Feuer, sowie für die Bespritzung zweckmässige Hydranten anzu-
bringen. Bei der Führung der Leitungen, wie bei der Wahl und Disposition der
Hydranten, ist entsprechende Rücksicht auf Hintanhaltung des Einfrierens zu
nehmen, und bei der Wahl der Abflussbecken und der Anlage der Abflussleitungen
dafür zu sorgen, dass einerseits das Eindringen von Kloakengasen in die Räume,
und andererseits das Verstopfen der Leitungen verhindert und Letzteres vor-
kommenden Falles leicht wieder behoben werden könne.
Hat eine verfügbare Wasserleitung nicht den hinreichenden Druck, um
die Reservoirs am Dachboden unmittelbar speisen zu können, oder muss das
Wasser aus Brunnen bezogen werden , so muss das Wasser durch zweckmässige
Pumpen, welche je nach den Verhältnissen durch geeignete Kraftmaschinen, mit
Goppeln oder durch Menschenkraft betrieben werden, gefördert werden.
Die Reservoire sollen, um vorkommende Störungen möglichst wenig fühlbar
zu machen und auch zu Feuerlöschzwecken hinreichende Wassermengen verfügbar
zu haben, den Bedarf für zwei Tage aufnehmen können.
Der Wasserverbrauch hängt von mannigfachen Umständen ab. Dadurch
erklärt sich der grosse Unterschied von 100 und mehr Procenten in den bezüg-
lichen Angaben , und dass im Allgemeinen nicht weniger als : für den Bedarf von
Trinkwasser 18 Liter, für den Bedarf von Nutzwasser 180 bis 250 Liter mit
Ausschluss der Waschanstalt, für den Bedarf der Waschanstalt 100 Liter an-
genommen werden sollten, weil der Gesammt- Wasserverbrauch in einigen Anstalten
500 Liter per Kopf und Tag beträgt.
Das in einem Krankenhause in nicht unbedeutendem Ausmaasse benöthigte
warme Wasser kann entweder mittelst einer eigenen Heizvorrichtung, oder
aber dem Kochherd (vgl. Seite 708) erzeugt und an die Verbrauchsstellen, wie
z. B. in die Wasch- und Badezimmer, in die Spülkammer, in Krankenzimmer,
wo die Verhältnisse dies erheischen, wie z. B. in die Krankensäle für chirurgische
718 SPITAL.
Kranke , in das Operationslocale u. dgl. , und wo dies sonst in der Anstalt von Vor-
thoil, geleitet werden, oder es muss auf dem Wärme-, resp. dem sogenannten Theeherde
(vgl. Seite 701 u. 702) oder einem Gaskochapparate nach Bedarf bereitet werden.
Die Gebahr ung mit den Abfallstoffen, resp. die Ansammlung
und Beseitigung derselben , bildet einen wichtigen Gegenstand der Spitalshygiene
und muss schon bei der Anlage der Anstalt festgestellt werden. Zu diesem
Behuf e sollen in jedem speciellen Falle die localen Verhältnisse eingehend studirt
und alle in Betracht kommenden Umstände wohl erwogen werden.
Es unterliegt keinem Zweifel , dass sich in erster Linie eine Anlage
empfiehlt, welche die Anwendung von Water- Closets gestattet und dass
nur dort, wo dies nicht möglich sein sollte, die Schmutz- und Niederschlags-
wässer durch Canäle von zweckmässiger Beschaffenheit und Anlage abzuleiten,
die Fäcalmassen aber in einer den Anforderungen der Gesundheitstechnik ent-
sprechenden Weise anzusammeln und zu entfernen wären.
Dass bei der Anwendung von Unrathscanälen durch entsprechende An-
lage derselben und die Anbringung zweckmässiger und wirksamer Verschlüsse
das Eindringen der Canalgase in die Räume zu verhindern sei , sowie dass im
Allgemeinen und insbesondere bei getrennter oder ungetrennter Ansammlung der
Abortstoffe für vollkommene Desinfection derselben gesorgt werden solle, versteht
sich zwar von selbst, kann aber nicht nachdrücklich genug hervorgehoben werden.
Kehricht, Asche und Dünger sollen an geeigneten Stellen der
betreffenden Höfe in besonderen Behältnissen angesammelt und täglich oder doch
jeden zweiten Tag abgeführt werden.
Diese Behältnisse sollen oberirdisch angelegt sein und einen undurch-
lässigen Boden erhalten. Der Aschenbehälter soll ausserdem feuersicher hergestellt
sein. Im Interesse der regelmässigen Abfuhr empfiehlt es sich, die Behälter nicht
grösser als nöthig zu machen. Die Abfälle sollen im Allgemeinen von oben in
die Behälter geworfen und diese seitlich entleert werden können. Zu diesem
Zwecke sind die Behälter für Kehricht und Asche an einer Seite mit Thüren zu
versehen, welche bis an die Sohle derselben herabgehen, und sind die Behältnisse
nur so hoch zu machen, dass man am Boden stehend es noch vermag, die Abfall-
gefässe in das Behältniss zu entleeren , was in der Mehrzahl der Fälle , um nicht
zu sagen in allen Fällen durchführbar sein wird und wodurch die im Gegenfalle
nöthige Anbringung einiger Stufen umgangen zu werden vermag.
Es ist zweckmässig, die in Rede stehenden Behältnisse längs einer Wand
anzuordnen und gegen Regen durch ein Flugdach zu schützen.
Anstatt in stabile Behälter können Kehricht und Asche auch sofort in
einen der zur Abfuhr bestimmten und entsprechend eingerichteten Wagen entleert
werden , wenn der Wagen in einem besonderen Schupfen unter einer zweck-
mässig angeordneten und bequem zugänglichen Plattform als mobiler Behälter ver-
wendet wird.
Das für die Ansammlung des Düngers bestimmte Behältniss, welches aber
nie an der Aussenwand eines Gebäudes , also auch des Stallgebäudes nicht,
angelegt werden darf, kann entweder mit Thüren an einer Seite versehen oder
aber so zugänglich gemacht werden , dass die eine Seitenwand aus starken , zur
Conservirung mit Steinkohlentheer angestrichenen Brettern hergestellt wird, welche
sich — in Nuthe, die in den Ständern angebracht sind — nach Bedarf einlegen
oder wegnehmen lassen.
Bei der Aufzählung und Erörterung der Erfordernisse für ein Kranken-
haus war nicht nur, wie Seite 693 angeführt wurde, ein grosses, sondern auch
ein stabiles Krankenhaus für die Civilbevölkerung in's Auge gefasst worden, weil,
wenn die Anforderungen für ein grosses, wohleingerichtetes Krankenhaus bekannt
sind, es keinen Schwierigkeiten unterliegt, unter Würdigung des im Allgemeinen
SPITAL.
719
Gesagten den Bedarf und die entsprechende Anordnung für ein kleineres Krankenhaus
bis zum kleinsten Gemeinde- oder Vereinsspital oder für ein besonderen Zwecken
dienendes Krankenhaus (Pockenspital, Seuchenhaus, Kinderspital, Spital für Augen-
kranke, Brustkranke, Syphilitische, für Frauenkrankheiten u. dgl.) festzustellen,
und weil die für ein Civilspital aufgestellten Anforderungen auch für stabile
Militärspitäler Geltung haben und nur bei den unter ganz besonderen Umständen
zur Anwendung kommenden Sanitätsanstalten, wie provisorischen Kriegsspitälern,
Feldspitälern, Sanitätszügen oder fahrenden Lazarethen, Spitalsschiffen oder
schwimmenden Lazarethen mit den nöthigen Einschränkungen , sowohl bezüglich
der äusseren Gestaltung als auch der inneren Einrichtung in einer den betreffenden
Verhältnissen angepassten Form zum Ausdruck und zur Durchführung gelangen.
(Vgl. „Feldspitäler", „Sanitätszüge", „Schiffshygiene".)
Die Mittel zur Erhaltung und Unterhaltung von Kranken-
häusern fliessen aus noch verschiedenartigeren Quellen als die Mittel zur Er-
richtung solcher Anstalten.
Verpflegungsgelder von den Kranken, deren Angehörigen oder Dienst-
gebern, den Genossenschaften, denen der Kranke angehörte, den Zuständigkeits-
gemeinden, dem Lande, Subsidien der Behörden, Corporationen, Zinsen von erhaltenen
Schenkungen oder Erbschaften, das Erträgniss verschiedener Taxen und Abgaben,
sowie Ergebnisse der mannigfaltigsten Sammlungen und Veranstaltungen, bilden
theils für sich , theils , und zwar in der Mehrzahl der Fälle , mehr weniger ver-
gesellschaftet, die Einkünfte der Krankenhäuser, welche am europäischen Continente
— im Gegensatze zu Amerika und England — nur in seltenen Fällen so viel
eigenes Vermögen besitzen , um sich aus dem Ertrage desselben erhalten und die
Kranken kostenfrei verpflegen zu können oder bei denen dies durch die Ueber-
nahme der Kosten auf den Staat oder das Land erfolgt.
Je nach der Art der Entstehung und Erhaltung nehmen die Kranken-
anstalten entweder Kranke ohne Unterschied auf — allgemeine, öffentliche Kranken-
häuser — oder die Aufnahme ist von besonderen Verhältnissen abhängig und auf
bestimmte Personen oder Kreise beschränkt — Privatkrankenhäuser im weiteren
Sinne des Wortes.
Als eine eigenthümliche Sorte der letzterwähnten Gruppe wären die so-
genannten Hüttenspitäler, Cottage-Hospi täler zu erwähnen.
In baulicher Beziehung in die Kategorie der Seite 691 erwähnten kleinsten
Spitäler gehörig, und demgemäss den verfügbaren Mitteln angemessen durchgeführt,
sollen diese Anstalten, deren Erste
Fig. 74.
UasKraiiimpfJcgeliaus inWsler eTlautJ869.
"H
t~
von Dr. Napper in Crangleigh im
Jahre 1859 in England gestiftet
wurde, während unabhängig von
dem Genannten und schon früher
Dr. Menckf denselben Gedanken
gefasst hat, für dessen Verwirk-
lichung — vom Jahre 1858 bis
1870, wo das Hüttenspital in
Wüster imHolstein'schen (Fig. 74)
eröffnet wurde — unermüdet
arbeitete und für die Verbreitung
dieser Institution weiter thätig
ist, auch dem schwerkranken, in ärmlicher Wohnung unter den ungünstigsten
Verhältnisse lebenden und der erforderlichen Aufsicht und Pflege entbehrenden
Landbewohner es ermöglichen , eine entsprechende Pflege zu geniessen.
Dr. Mencke berichtet, dass in England 200 derartige Anstalten bestehen.
Dr. Waeing spricht für ein solches Hospital 1 Bett pro Mille der Bevölkerung
%8i@^gS^j§
720 SPITAL.
an und Dr. Bürdet ausserdem 3 — 4 Betten für je 1000 Köpfe, soweit die
Bevölkerung Arbeitern in Bergwerken, Eisenwerken u. dgl. angekört. Für 8000
bis 10.000 Seelen projectirt Dr. Mencke demgemäss ein Gebäude, welckes zwei
Krankenzimmer ä 4 und zwei Zimmer ä 2 Betten und ein Isolirzimmer, eventuell
noch ein Zimmer für Krätzkranke und ein Zimmer für Syphilitische, ferner die
"Wohnung für die Pflegerin, Küche, Bad und das Aerztezimmer enthält, ferner so
angelegt ist , dass es im Bedarfsfalle vergrössert werden kann , während , wenn
eine Leichenkammer erforderlich ist, dieselbe in einem kleinen Nebengebäude, das
auch in seiner anderen Hälfte zur Aufbewahrung von Gartengeräthen u. dgl. ver-
wendet werden kann, untergebracht werden soll und für genügenden Eisvorrath
durch Errichtung eines kleinen Eishauses zu sorgen wäre.
Um einerseits die erforderlichen Mittel zur Errichtung eines solchen
Spitales herbeizuschaffen und die nöthige Theilnahme der betreffenden Bevölkerung
für die Anstalt zu erwecken und zu erhalten und andererseits zu bethätigen, da3S
durch die Errichtung eines Krankenhauses an einem kleinen Orte ein gemein-
schaftliches ärztliches Interesse befriedigt werden soll, empfiehlt Dr. Mencke der-
artige Anstalten durch allgemeine Betheiligung der Bewohner des betreffenden
Städtchens oder Bezirkes zu Stande zu bringen und jedem Arzte des betreffenden
Bezirkes, für welchen die Anstalt errichtet wurde, das Recht einzuräumen, Kranke
in dieselbe zu legen und darin selbst zu behandeln.
Diese Anstalten sollen nach Dr. Mencke „Wohlthätigkeitsanstalten" sein,
d. h. Krankenhäuser, welche durch das Mitgefühl für Kranke von der allge-
meinen Wohlthätigkeit errichtet werden, keine Zuschüsse vom Staate und selten
solche von Gemeinden bekommen und dazu bestimmt sind, solche Kranke für
eigene Rechnung oder für Rechnung von Vereinen aufzunehmen, welche in ihrer
Wohnung oder in ihrem zeitweiligen Aufenthalt in Erkrankungsfällen nicht
diejenige Pflege, Unterkunft und Behandlung finden können, welche für sie
wünschenswerth ist. Die Oekonomie und Krankenpflege soll durch ein geeignetes
kinderloses Ehepaar, dem für jeden Kranken, der sich in der Anstalt behandeln
lässt, ein bestimmtes Kostgeld bezahlt wird, besorgt werden.
Aus dem Mitgetheilten geht hervor, dass die in Rede stehenden Anstalten
als eine Art Maisons de santS für die unbemittelte Volksclasse gedacht sind, und
aus den bezüglichen Publicationen ergiebt sich, dass sie vorläufig nur in England,
dem Lande des sogenannten freiwilligen Systems der Krankenanstalten mit all'
seinen Schattenseiten aber auch anerkennenswerthen Leistungen , und dann in
Schleswig-Holstein Verbreitung gefunden haben und dass die von den Kranken zu
zahlenden Verpflegungskosten mindestens mit 60 bis 70 Kreuzer bemessen werden
müssen. Die letztere Thatsache weist darauf hin, dass das wirklich Segensreiche
solcher Anstalten nur dort entsprechend zur Geltung kommen kann, wo einerseits
gut organisirte Kranken- Unterstützungsvereine bestehen , an denen sich Landleute,
Arbeiter und kleine Handwerker zahlreich betheiligen , und wo andererseits für
die ganz Mittellosen die Gemeinden in Ausübung der ihnen obliegenden Armen-
pflege aufzukommen bereit sind.
Zweifellos verdient die Absicht, Noth und Elend zu lindern und Hilfe zu
bringen, wo solche nöthig erscheint, in jeder Form der Erscheinung Beachtung und
als ein schöner Zug der Zeit Anerkennung, und müssen in dieser Richtung auch
die die Hüttenspitäler betreffenden Bestrebungen entsprechend gewürdigt werden.
Diese Bestrebungen zielen dahin ab , eine grosse Zahl kleiner Kranken-
anstalten über das Land zu zerstreuen, den Landbewohnern die Spitalspflege
näherzurücken und zugänglicher zu machen, als dies durch die für relativ grosse
Bezirke berechneten Kreis- oder Bezirksspitäler geschieht, die allgemeinere Erkennt-
niss und Würdigung des Werthes derselben zu vermitteln , sowie die Bevölkerung
zu bestimmen, ihren Wohlthätigkeitssinn in ausgiebigem Maasse auch an der
Krankenpflege zu bethätigen, und verdienen in diesem Sinne volle Unterstützung.
SPITAL. 721
Ob aber diese, im Interesse der Kranken gleichwie der öffentlichen
Gesundheitspflege gleichberechtigte und von letzterer nachdrücklichst beanspruchte
Verbreitung und Popularisirung von Krankenhäusern überhaupt und besser auf die
von den Aposteln der Hüttenspitäler in dem von ihnen vertretenen Sinne an-
gegebene Art oder aber dadurch realisirt werden könne, dass grosse oder
mehrere kleine zu einer sogenannten Sanitätsgemeinde vereinten Gemeinden kleine
Gemeindespitäler errichten und aus den einlaufenden, nach Erforderniss durch Zu-
schüsse, eventuell auch durch Acte der Privatwohlthätigkeit vermehrten Mitteln
erhalten, und ob , wo solche Spitäler nach dem freiwilligen Systeme entstanden
sind, sie nicht im Laufe der Zeit in die Verwaltung der Gemeinden oder
Behörden übergehen, wird von den Eigenthümlichkeiten und Verhältnissen der
einzelnen Länder und Gegenden abhängen.
Die Entstehung und Organisirung der Institution wird derselben auch in
formaler Beziehung den entsprechenden Charakter aufdrücken und für ihre Be-
deutung, ihr Gedeihen und ihren Bestand von wesentlichem Einflüsse sein.
Das Angeführte, dessen weitere Verfolgung in das nicht hierher gehörige,
höchst wichtige, aber ebenso complicirte als schwierige Gebiet der allgemeinen
Armen- und Krankenpflege und Versorgung hinüberführen würde, schien noth-
wendig, sowohl um eine anerkennenswerthe Bestrebung zu charakterisiren und
auf deren Realisirung auf die eine oder andere Art hinzuwirken, als auch um
Veranlassung zu nehmen, es nachdrücklichst hervorzuheben, dass das Hüttenspital,
das Spital kleiner Städte, in Beziehung auf die bauliche Anordnung und die Ein-
richtung eben nichts Anderes als ein Krankenhaus kleiner oder kleinster Dimension
ist und daher , wenn auch in der einfachsten Form ausgeführt und nur mit dem
Nothwendigsten dotirt, dennoch allen Anforderungen zu entsprechen hat, welche
in hygienischer Beziehung an ein Krankenhaus gestellt werden müssen und erörtert
worden sind.
Krankenhausbetrieb.
Leitung und Verwaltung. Die Entwicklungsgeschichte der Kranken-
häuser und die Abhängigkeitsverhältnisse derselben liefern den Schlüssel zu den
Verschiedenheiten, welchen man bezüglich der Organisation der Krankenanstalten
im Allgemeinen und der Leitung derselben insbesondere in den verschiedenen
Ländern nicht nur, sondern in den einzelnen Provinzen und Städten eines und
desselben Landes begegnet.
Man findet — obwohl nur mehr selten — die Leitung von Kranken-
anstalten Directoren anvertraut, welche Nichtärzte sind ; man findet sie sogenannten
— aus Aerzten, Verwaltungsbeamten und Laien bestehenden — Spitalscommissionen
übergeben ; man findet an der Spitze von Krankenanstalten Directorien, welche
aus dem ärztlichen und dem Verwaltungsdirector zusammengesetzt sind ; man findet
auch einen Arzt als verantwortlichen Director dem Krankenhause vorgesetzt,
während eine selbständig gestellte Verwaltung die Administration der Anstalt zu
besorgen hat; man findet endlich als Krankenhausdirector einen Arzt in einer
Stellung, welche Verantwortlichkeit und Autorität nach jeder Richtung hin vereinigt.
Es würde zu weit führen, die Ursachen und Wirkungen dieser Verhält-
nisse zu erörtern, es genüge im Allgemeinen zu bemerken, dass allgemeine Ge-
sichtspunkte der öffentlichen Verwaltung, Unkenntniss oder ungenügende Würdigung
hygienischer Verhältnisse und Postulate und zu nicht geringem Grade menschliche
Schwächen mehr weniger und in mannigfacher Verschlingung Antheil an diesen
— mitunter höchst sonderbaren — Schöpfungen haben und dass nicht selten
kleinen , oft nur scheinbaren oder vorübergehenden administrativen Vortheilen,
wichtige sachliche Momente geopfert werden.
Wer mit dem Spitalswesen in allen Details thatsächlich vertraut ist, wer
die Aufgaben eines Krankenhauses kennt, wer es übersieht, welche Bedeutung die
Verwaltung eines Krankenhauses für die Hygiene desselben hat, wie unerlässlich
Keal-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII. 46
722 SPITAL. .
medicinische sowie specielle naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse zum
Verständniss und zur Würdigung hygienischer Fragen , Verhältnisse und Durch-
führungen sind, und wer das Krankenhaus als einen in sich geschlossenen
Organismus würdigt, wird und muss anerkennen, dass nur ein medicinisch durch-
gebildeter Mann, ein tüchtiger Arzt berufen sein kann, ein Krankenhaus zu leiten,
und dass die Leitung eines Krankenhauses eine einheitliche sein muss, dass daher
das gesammte ärztliche und administrative Personale dem Director zu unterstehen
hat und der verantwortliche Leiter mit jenen Machtvollkommenheiten ausgerüstet
sein soll, welche zur wirksamen Durchführung der ihm zugewiesenen Aufgabe
erforderlich sind.
Aus dem Gesagten folgt aber auch, dass der Stand als Arzt allein zur
Uebernahme und erfolgreichen Durchführung der Leitung eines Krankenhauses
nicht genügt, sondern dass dieselbe eine specifische Berufsausbildung voraussetzt.
Die Erkenntniss , dass dem so sei , wird sich erst allmälig Bahn brechen , aber
nicht verfehlen, gute Früchte zu tragen.
Wie in so manchen Dingen hat der gesunde Sinn der Amerikaner aucli
hier das Richtige getroffen und das Princip einer rationellen Spitalleitung zu klarer
Durchführung in organisatorischer Beziehung gebracht, und zwar sowohl beim
Militär wie im Civile. Die Bestimmungen, welche seit dem Secessionskriege in den
Vereinigten Staaten Nordamerikas von der Kriegsverwaltung der Vereinigten
Staaten erlassen worden sind, können in mehrfacher Beziehung als mustergiltig
angesehen werden und waren von grosser Tragweite. Die Kriegsverwaltungen
mehrerer Grossmächte, Deutschland an der Spitze, haben bereits das gleiche
Princip angenommen; die anderen werden zweifellos folgen.
Es ist interessant und bedeutungsvoll, dass gerade im Militär, wo die
Stellung der Aerzte in mehreren Staaten noch so Manches zu wünschen übrig
lässt, die- Frage der Krankenhausleitung im richtigen Sinne aufgefasst und gelöst
worden ist, und gewiss sehr sonderbar, dass in einem Staate zu gleicher Zeit, als
die Kriegsverwaltung den in Rede stehenden Fortschritt durchführte, die Civil-
verwaltung die Krankenanstalten im entgegengesetzten Sinne organisirte.
Mit Rücksicht auf die Verhältnisse eines Krankenhauses und die Auf-
gaben des Directors eines solchen muss die Forderung ausgesprochen werden,
dass der Leiter einer grossen Krankenanstalt im Interesse seiner gedeihlichen
Wirksamkeit nicht verpflichtet sein soll, auch Stationsdienste zu leisten, was nicht
ausschliesst, dass es ihm unbenommen bleibe, eine etwa betriebene Specialität
weiter zu cultiviren und sich die Besorgung einer betreffenden kleinen Abtheilung
ad hoc vorzubehalten.
Aus demselben Grunde sollte dem Director einer grossen Krankenanstalt
auch die Krankenbehandlung ausser der Anstalt untersagt und nur gestattet sein
Consiliar-Praxis auszuüben, und sollte der Gehalt eines Krankenhausdirectors mit
besonderer Rücksicht auf diese, an manchen Orten thatsächlich durchgeführte,
Beschränkung bemessen werden.
Der Director einer Krankenanstalt soll in der Anstalt, resp. im Weichbilde
derselben wohnen. Dienstesrücksichten erheischen dies. Wo ein Unterschied zwischen
Natural- und Dienstwohnungen gemacht wird, hat der Natur der Sache nach die
Wohnung des Krankenhausdirectors in die letztere Gruppe eingereiht zu werden.
Die Verwaltung eines Krankenhauses im weiteren Sinne des Wortes
umfasst die Krankenwartung, die Besorgung der Apotheke, die sogenannte Oeko-
nomie (Aufsicht über die Vorräthe, Gebahrung mit den Materialien, Betrieb der
Küche, Wäscherei, Heizung, Beleuchtung u. dgl.), das Rechnungswesen und die
Casseverwaltung, die Buch- und Protokollführung, sowie die zur Evidenzhaltung
und Hereinbringung der Verpflegskostenbeträge erforderlichen Amtshandlungen je
nach den in den verschiedenen Ländern, Städten und Anstalten bestehenden höchst
verschiedenartigen Vorschriften und Gepflogenheiten.
SPITAL. 723
Tüchtige und verlässliche Verwaltungsorgane müssen dem Director eines
Krankenhauses zur Verfügung stehen, wenn die Zwecke des Krankenhauses ver-
wirklicht werden sollen, da die Verwaltung — mit Ausnahme des Rechnungs-
wesens und der Verpflegskosteneinhringung — mit der Hygiene des ganzen
Institutes in innigem Zusammenhange steht und das Wohl der Kranken gefährdet
erscheint, sobald ein Krankenhaus in einem anderen Sinne verwaltet wird. Dieser
in der Natur der Dinge wurzelnde Zusammenhang zwischen der Leitung und
Verwaltung eines Krankenhauses lässt die da und dort versuchte Trennung
der Leitung eines Krankenhauses und der Verwaltung desselben, ebenso wie die
Unterordnung der ärztlichen Dienstleistung unter die Administration der Anstalt, als
eine auf unrichtiger und widernatürlicher Grundlage ruhende Maassregel erscheinen,
welche den Anstalten nie zu wahrem Nutzen gereicht. Die Unterordnung der
Verwaltung unter die verantwortliche, ärztlicher Leitung — die Direction — einer
Krankenanstalt schliesst aber nicht aus, dass die Buch- und Cassaführung von dem
Vorstande der Administration — dem Verwalter — unter seiner eigenen persönlichen
Verantwortung besorgt werde.
Gleichwie für den Director muss auch für die Verwaltungsorgane — den
Verwalter an der Spitze — eine besondere Berufsbildung angesprochen werden,
und zwar nicht nur bezüglich des formellen Dienstes, sondern insbesondere in
Betreff der Salubritätsangelegenheiten und deren Durchführung. Tüchtige Ver-
waltungsbeamte in diesem Sinne sind der grossen Zahl von Krankenanstalten
ungeachtet nicht in erwünschtem Masse häufig zu finden. Der geringe Beamtenstand
eines Krankenhauses, die Provenienz desselben und die Besoldungsverhältnisse
erschweren meist die Heranbildung und Heranziehung eines den Anforderungen
entsprechenden Nachwuchses.
Die Verwaltung eines Krankenhauses beansprucht zwar einen mit dem
Umfange eines Krankenhauses und der Einrichtung desselben verschiedenen, aber
selbst bei einer grossen Anstalt nur geringen — vier bis sechs Personen um-
fassenden — Beamtenstand, sofern man von den für die Verpflegskostenherein-
bringung erforderlichen Beamten absieht, deren Zahl von den durchzuführenden
Amtshandlungen abhängt.
Die Zahl der erforderlichen Diener (Portiere, Amtsdiener, Hausdiener ver-
schiedener Art, Professionisten, Taglöhner u. dgl.) hängt gleichfalls von der
Grösse und Einrichtung der Anstalt ab. Es empfiehlt sich, die Diener angemessen
zu bezahlen und mit dem Anrechte auf Versorgung (Provisionirung) nach be-
stimmter Dienstzeit, aber nicht fix im sonst üblichen Sinne anzustellen.
Apotheke, Küche und Wäscherei sollten in jeder grösseren
Krankenanstalt in eigener Regie geführt werden. Es ist dies auch in den
meisten Ländern wie z. B. in Amerika, Belgien, Dänemark, Deutschland, England,
Frankreich, Holland, Italien, der Schweiz der Fall und scheint so selbstverständlich,
dass es schwer zu begreifen ist und auf, nach mehrfacher Richtung hin, wenig
erfreuliche Verhältnisse hindeutet, wenn da und dort das Pachtsystem grundsätzlich
durchgeführt ist und demselben das Wort geredet wird. Allerdings setzt die
eigene Regie tüchtige , ihrer Aufgabe gewachsene Leiter und Organe voraus,
denen die erforderliche Stellung eingeräumt und das nöthige Vertrauen geschenkt
wird. Sie wird dann nicht mehr kosten als der thatsächlichen Leistung entspricht,
aber die angewendeten Beträge werden den Kranken und der Anstalt zu Gute
kommen. Dementgegen scheint das Pachtsystem durch seine fixen Tarife eine
gewisse Uebersichtlichkeit und Sicherheit zu gewähren, für die Oberbehörde, welche
die Gebahrung der Anstalt zu überwachen hat, manche Bequemlichkeiten zu bieten
und wohlfeiler zu erscheinen. Letzteres mag relativ der Fall sein, wird aber
sachlich selbst unter den günstigsten Verhältnissen und bei reeller Gebahrung, der
thunlichsten Ueberwachung ungeachtet, stets ein Irrthum sein und bleiben.
46*
7^4 SPITAL.
Wird aber das Pachtsystem beliebt oder als Notwendigkeit erachtet, so
soll die Entlohnung wenigstens in einer den Schwankungen der Lebensmittel- und
Materialpreise entsprechend Rechnung tragenden Art erfolgen, wie dies z. B.
bezüglich der Verköstigung seinerzeit in der k. k. Krankenanstalt Rudolph-Stiftung
in Wien und seither in allen drei k. k. Krankenanstalten daselbst durchgeführt
worden ist.
Dass aber in allen Fällen die in der Anstalt vorkommenden Maurer- ,
Schlosser- und Tischlerarbeiten , sowie verschiedene an der Wasser- und Gas-
leitung und den Aborten u. dgl. erforderlichen Reparaturen durch hiefür bestellte,
dem Anstaltsverbande angehörende Professionisten in eigener Regie durchzuführen
seien, wurde bereits Seite 713 angedeutet, und muss ganz besonders hervor-
gehoben werden.
Ordinirende Aerzte und Hilfsärzte.
An der Spitze der einzelnen Abtheilungen eines Krankenhauses (vergl.
Seite 690), steht der ordinirende Arzt (Primararzt, Oberarzt, Stationsvorstand
u. dergl.), welcher, von den ihm beigegebenen Subalternärzten (Secundarärzten,
Assistenzärzten, Internisten u. dgl.) unterstützt, nicht nur die ihm zugewiesenen
Kranken zu behandeln, sondern auch die administrativen Angelegenheiten im
weiteren Sinne des Wortes, sowie die hygienischen Bedürfnisse der Abtheilung
wahrzunehmen und innerhalb des ihm zustehenden Wirkungskreises entsprechend
zu beeinflussen hat.
Damit dies gut möglich sei, dürfen die Abtheilungen nicht zu gross gewählt
werden, etwa zwischen 110 bis 130 Betten für medicinische, 75 bis 90 Betten für
chirurgische Kranke und 120 bis 150 Betten für Syphilis- und Hautkrankheiten.
Die Abtheilungsvorstände in grossen Krankenanstalten sollen tüchtige
Aerzte und resp. Specialisten von wissenschaftlicher Bedeutung, und befähigt sein
zu unterrichten. Es empfiehlt sich, die betreffenden Stellen im Wege eines Con-
curses zu besetzen.
Bezüglich der Besoldung und der Berechtigung zur Privatpraxis sollte
wie bei dem Director vorgegangen werden
Es empfiehlt sich, wenigstens einigen Abtheilungsvorständen , vor Allem
aber dem Vorstande der chirurgischen Station einer grossen Krankenanstalt, Natural-
wohnungen in, resp. bei der Anstalt einzuräumen.
Jedem Abtheilungsvorstande sollten ein Assistenzarzt und zwei Secundar-
ärzte oder Praktikanten zugewiesen sein, welche abwechselnd den Inspections-
dienst in der Station zu besorgen und in einem bestimmten Turnus mit den Hiifs-
ärzten der anderen Abtheilungen den Dienst im Aufnahmsbureau zu leisten haben.
Die Ernennung und Entlassung der Subalternärzte fällt in der Regel in
den Wirkungskreis des Directors. Mitunter werden die Assistenzärzte, welche
berufen sind, den betreffenden Abtheilungsvorstand in Verhinderungsfällen zu ver-
treten, im Wege eines Concurses gewählt und über den unter Mitwirkung der
Abtheilungsvorstände von der Anstaltsleitung erstatteten Vorschlag von der Ober-
behörde bestellt.
Die Subalternärzte haben in der Krankenanstalt Dienstwohnungen zu
erhalten und zu bewohnen, und sollen wenigstens an den Tagen, wo sie den
Inspectionsdienst zu versehen haben, die Kost von der Anstalt erhalten.
In manchen Krankenanstalten erhalten die Hilfsärzte die ganze Ver-
pflegung und speisen entweder gemeinschaftlich oder aber an der Tafel des
Hospitalmeisters, Verwalters u. dgl.
Die Krankenwartung, wird theils durch Wartpersonen aus dem
Laienstande, dem Civile, theils durch solche, welche geistlichen Genossenschaften
angehören, besorgt. Es werden im ersteren Falle entweder Wärter für kranke
Männer und Wärterinnen für kranke Frauen, oder aber weibliche Kranken-
SPITAL. 725
pflegerinnen für beide Geschlechter verwendet. Letzteres ist dem Ersteren ent-
schieden vorzuziehen , und hat die in grossem Maasstabe gemachte Erfahrung
die Richtigkeit der von mir in der „Rudolph- Stiftung" eingeleiteten und anderweitig
nachgeahmten Maassregel bestätigt.
Mitunter hat man geglaubt Wärterfamilien anstellen zu sollen , um den
Uebelständen zu begegnen, welche der Krankenpflege in grossen Krankenanstalten
anhaften. Diese Uebelstände wurzeln einmal in der Provenienz und der ungenügenden
Vorbildung des Wartpersonals und dann in den socialen Verhältnissen desselben und
endlich in dem Missverhältniss , welches zwischen diesen Umständen und den
Anforderungen besteht, welche an das Wartpersonale gestellt werden.
In kleinen Anstalten , in Krankenhäusern kleiner Städte , treten diese
Missstände nicht so grell auf und lassen sich mit mehr weniger Erfolg bekämpfen.
Nicht so in grossen Städten, wo die Uebelstände um so greller werden, je grösser
die Städte und die Krankenanstalten sind. Durch Krankenpflegerinnenschulen und
die Krankenpflege betreffende Vereine ist man da und dort bestrebt, die Aus-
bildung der Krankenpflegerinnen zu fördern. Derartige Bestrebungen sind sehr
anzuerkennen und verdienen jede Unterstützung, gleichwie jedes Unternehmen,
welches die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf das Krankenhauswesen lenkt
und das Interesse und den Sinn derselben für dasselbe zu wecken und wach zu
halten geeignet ist.
Krankenpflegerinnenschulen und die Krankenpflege fördernde Vereine
werden Nutzen zu stiften nicht verfehlen; sie sind als Vorbedingung für jede
Reform, und zunächst insbesondere für die Privatkrankenpflege und die Kranken-
pflege im Felde von Werth. Aber über deren unmittelbaren Einfluss auf die
Krankenpflege in Krankenanstalten und auf die Besserung und Beseitigung der
angedeuteten Uebelstände soll man sich keiner Täuschung hingeben , und wird
sich Niemand täuschen, der die einschlägigen Verhältnisse nach allen Richtungen
und genau kennt und erwägt.
Nur von einer fortschrittlichen Aenderung dieser Verhältnisse wäre
allmälig ein befriedigender Erfolg zu erhoffen.
Durch Verbesserung der Stellung der Krankenpflegerinnen , durch Ent-
lastung derselben von der groben Arbeit durch Beigabe von Helferinnen (Dienst-
boten ad hoc) , durch, genaue Regelung des Krankendienstes und der dienstlichen
Beziehungen und Verhältnisse des Wartpersonales, durch eine entsprechende, eine
strenge Trennung des Tages- von dem Nachtdienste sicherstellende Arbeitseinthei-
lung und die hieraus den gegentbeiligen Verhältnissen gegenüber resultirende,
relative Vermehrung des Wartpersonales, durch Gewährung angemessener Urlaube,
durch Aussicht auf Altersversorgung oder einen Sustentationsbeitrag (Provision)
nach bestimmter, tadellos vollstreckter Dienstzeit, ausserdem aber durch ent-
sprechenden Unterricht und angemessene anständige Behandlung des Wartpersonals,
kurz, durch Verbesserung und Hebung der socialen Stellung desselben , sollte all-
gemein auf allmälige Heranziehung gebildeterer und entsprechenderer Elemente
zur Krankenpflege in den Spitälern hingewirkt werden.
Selbst aber wenn die eben angedeuteten Verhältnisse thatsächlich herbei-
geführt werden sollten, dürften bei uns sociale Verhältnisse und Vorurtheile die
Stellung einer Hospital - Krankenpflegerin noch lange nicht so angesehen und
geachtet erscheinen lassen, dass sie — wie dies z. B. in England der Fall ist —
dem heranwachsenden weiblichen Geschlechte gleich anderen Berufszweigen, wie:
Lehrfach,, Eisenbahn-, Post- oder Telegraphendienst, Buchhaltung u. dgl. begehrens-
werth erscheinen sollte und in hinreichender Zahl.
Insolange es nicht gelungen sein wird, das allgemeine Interesse de3
grossen Publikums gleichwie in Amerika , England u. a. 0. für das Krankenhaus-
wesen und die Krankenpflege zu wecken und wach zu erhalten , insolange ist
eine durchgreifende und befriedigende Umwandlung der bezüglichen gegenwärtigen
Verhältnisse nicht gut zu erwarten.
726 SPITAL.
Selbst der im Jahre 1870 in Wien durchgeführte Versuch, auf Ver-
besserung der Krankenwartung durch Bestellung weiblicher Aufsichtsorgane —
der Präfectinnen, einer Art head nurses als Stationsvorsteherinnen — hinzuwirken,
musste, ganz abgesehen davon, dass die erfolgreiche Durchführung einer derartigen
Neuerung die Aenderung so mancher bestehender Verhältnisse zur Voraussetzung
gehabt hätte, wegen Mangel an geeigneten Individuen aufgegeben werden.
Aber all' das darf und soll nicht abhalten , das Ziel auszustecken und
die Erreichung desselben durch alle als geeignet erachteten Mittel anzustreben.
Wie war vor wenigen Jahrzehnten das Wartpersonale und dementsprechend
die Krankenpflege in den Krankenhäusern Englands beschaffen und auf welcher
Stufe befinden sie sich, in Folge der öffentlichen Theilnahme und der in dem oben
angedeuteten Sinne eingetretenen Veränderung der Verhältnisse, heute !
Geistliche Genossenschaften haben seit ältester Zeit nicht nur Krankenstalten
gegründet und unterhalten , sondern sich auch der Krankenpflege gewidmet , und
nicht selten die Verwaltung von Civilanstalten übernommen. Letzteres hat vielfach
zu Unzukömmlichkeiten geführt und dazu beigetragen, die Uebelstände fühlbarer
und unerträglich zu machen, welche der Natur der Sache nach und aus den
bei Erörterung der Aufgaben der Leitung eines Krankenhauses angeführten Um-
ständen nothwendig dort auftreten mussten, wo das Verständniss für die Sache
oder der gute Wille und die Kraft demselben Rechnung zu tragen fehlten, und
Frictionen zwischen den geistlichen und den Krankenhausinteressen zugelassen
wurden. Zu den Schwierigkeiten , die aus den angedeuteten Verhältnissen ent-
sprangen , traten die anticonfessionellen Strömungen der Zeit und aus beiden
Momenten resultirte die Beseitigung der Krankenpflege durch religiöse Genossen-
schaften (Schwestern, Diakonissinnen u. dgl.).
Die grellen Missstände, welche die Verwendung von Pflegerinnen
(Wärterinnen) aus dem Civile in grossen Anstalten im Gefolge zu haben pflegt,
waren Veranlassung, dass in neuerer Zeit wieder die Aufmerksamkeit auf die Heran-
ziehung religiöser Genossenschaften zur Krankenpflege gerichtet wurde, und zwar
insbesondere deshalb , weil die Berufsrichtung solcher Krankenpflegerinnen von
vornherein jene Verhältnisse ausschliesst , aus denen gerade die ärgsten Un-
zukömmlichkeiten bei den anderen Krankenpflegerinnen entspringen. Die Organi-
sation jener religiösen Genossenschaften, welche sich mit der Krankenpflege in
Hospitälern befassen wollen und zu derselben zugelassen werden sollen, muss aber
der Organisation der Krankenanstalten und dem die Heilzwecke und die hygienischen
Erfordernisse hiezu verfolgenden Dienstbetriebe angepasst, und müssen daher die
betreffenden Krankenpflegerinnen im Sinne der für die Krankenpflege im Spitale
bestehenden Instruction, gleichwie jede andere Wärterin verwendet werden können
und gleich diesen dem Director der Anstalt und dem Abtheilungsvorstande nuter-
stehen. Geschieht das , und es kann und muss auch dort geschehen , wo sich
dem naturgemässen Anpassungsprocess noch manche Schwierigkeiten entgegenstellen,
so bietet die Krankenpflege durch religiösen Genossenschaften angehörige Kranken-
pflegerinnen, unbeschadet der selbstverständlich auch bei diesen vorkommenden
menschlichen Schwächen , Vortheile , welche sich durch Krankenpflegerinnen aus
dem Civile, wenn überhaupt, so gewiss noch lange nicht werden erreichen lassen.
Ein richtiges Urtheil über diese Verhältnisse lässt sich nur dort ge-
winnen, wo Gelegenheit vorhanden ist, gleichzeitig und in einer und derselben
grossen Anstalt beide Kategorien von Krankenpflegerinnen, und zwar unter ganz
gleichen Umständen, zu verwenden, und ihr Thun und Lassen, sowie die dasselbe
beeinflussenden Momente objectiv zu beurtheilen. Ich bin in der Lage, dies in
dem zweitgrössten Krankenhause Wiens — der k. k. Rudolphstiftung — zu thun,
bin vorläufig zu den oben kurz angedeuteten Resultaten gelangt und hoffe, durch
die weitere Verfolgung der Angelegenheit zur Klarstellung der einschlägigen
Fragen beitragen zu können.
SPITAL. 727
Bezüglich der Zahl des erforderlichen Wartpersonales kann angeführt werden,
dass zwar im Durchschnitt auf je 10 Betten eine Wartperson gerechnet werden kann,
aber nicht ausser Acht gelassen werden soll, dass es insbesondere des erforder-
lichen Diensteswechsels wegen nothwendig sei, für jeden gemeinschaftlichen Kranken-
saal sammt Zugehör (Krankensaalcomplex) drei Wartpersonen, oder wo den eigent-
lichen Krankenpflegerinnen zur Besorgung der gröberen Arbeit eine Hilfsperson
(Helferin) beigegeben wird , zwei Wärterinnen und eine Helferin beizustellen und
die angegebene Zahl des Wartpersonals angemessen zu vermehren, wenn die
Krankensäle mehr als zwanzig Betten enthalten und voll oder vorwiegend mit
Schwerkranken belegt , oder aber wenn Kranke vorhanden sind , welche eine
besondere Aufsicht und Pflege erheischen. Für die Separationszimmer muss das
Wartpersonale nach Erforderniss beigestellt werden.
Durch Anstellung des Wartpersonales in hinreichender Zahl, sowie durch
entsprechende Dienst- und Arbeitseintheilung soll verhindert werden , dass die
Wärterinnen zum Nachtheil der Kranken und des Dienstes , sowie ihres Wohl-
befindens übermässig in Anspruch genommen werden. Wärterinnen , welche den
Nachtdienst versehen, sollten bei Tage vollständig ausser Dienst gestellt sein. Die
Betheiligung des Wartpersonales an dem Tages- und dem Nachtdienste soll in
entsprechender Weise geregelt und durchgeführt werden.
Das Wartpersonale soll den Localverhältnissen entsprechend möglichst
gut entlohnt werden, in dem Krankenhause wohnen, daselbst die volle Verpflegung
geniessen und einen Dienstanzug, sowie reine Wäsche von der Anstalt geliefert
erhalten. Durch eine Dienstesvorschrift sollen die Rechte und Pflichten, sowie die
dienstlichen Verrichtungen und Beziehungen (Jes — W-arjtpersonales geregelt und
festgestellt werden. /"<0^ ^ E 0 / ,*
ZV ^^^ °y\
Der ärztliche Dienst im KrankenhäUse hat nicht nur die Behandlung
der Kranken im engeren Sinne, sondern "jAJlejBzSül-aWtessen, was zu dem Heil-
zwecke in Beziehung steht , also die gesammte Hygiene der Anstalt und endlich
auch jene Verrichtungen welche, wie die Führung der Krankengeschichten, der
ärztlichen Protokolle, die Ausfertigung von Gutachten, von Verletzungs-, Krankheits-
und Todesanzeigen, Jahresberichte u. dgl. in wissenschaftlicher Beziehung oder im
Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege und des öffentlichen Dienstes überhaupt
nothwendig sind.
Instructionen, welche die Pflichten und Rechte der Bediensteten
grundsätzlich feststellen, sowie Dienstes Vorschriften, welche die dienstlichen
Vorgänge und deren Durchführung darstellen, sollen der Organisation der Anstalt Aus-
druck geben und den Dienstbetrieb regeln. Die angeführte Trennung der Vorschriften
empfiehlt sich deshalb, weil die Instructionen nur mit der Aenderung der Organi-
sation verändert, sonst aber als grundsätzliche Bestimmungen unverändert fort-
bestehen sollen, während die von den Directionen innerhalb ihres Wirkungskreises
unmittelbar zu erlassenden Dienstesvorschriften den wechselnden Verhältnissen und
Anforderungen Rechnung zu tragen und sich denselben anzuschmiegen haben.
Es würde den Rahmen der vorliegenden Abhandlung überschreiten, wenn
auch auf die Details der Organisation und des Dienstbetriebes einer grossen
Krankenanstalt eingegangen werden wollte.
Dagegen dürfte es am Platze sein, zum Schlüsse noch folgende aphoristische
Bemerkungen zu machen.
Die Aufnahme der Kranken ist je nach der Bestimmung und den
Verhältnissen des Krankenhauses und den bezüglichen Landes- oder Ortsvorschriften
in der Regel von verschiedenen Nachweisen oder dem Erläge eines bestimmten
Geldbetrags abhängig und nur in bestimmten Krankenanstalten, z. B. den öffent-
lichen allgemeinen Krankenhäusern, auch ohne die Erfüllung der angedeuteten
Vorbedingungen zulässig und vorgeschrieben, sobald die Notwendigkeit der
Spitalspflege nachgewiesen erscheint.
728 SPITAL.
Zu diesem Behufe und um die dem Krankheitszustande entsprechende
Unterbringung zu veranlassen, wird der sich zur Aufnahme meldende Kranke vor-
her einer ärztlichen Untersuchung unterzogen.
Der ärztliche Dienst in der Aufnahmsstation — der Auf-
nahmskanzlei, dem Journale — wird je nach der Organisation der Anstalt ver-
schieden versehen : häufig durch einen der „den Tag" — die Inspection — in
einer Station habenden Aerzte , welcher in geeigneter Weise — durch Telephon,
Glockenzug — herbeigeholt wird, oder aber in der vollkommensten Ausbildung
dadurch , dass sämmtliche Hilfsärzte der Anstalt in einer bestimmten Reihenfolge
zu einem von dem Stationsdienste grundsätzlich unabhängigen Permanenzdienste
am Journale herangezogen werden, wie dies z. ß. in den drei k. k. öffentlichen
allgemeinen Krankenhäusern "Wiens der Fall ist.
Im ersteren Falle pflegen mitunter die Aufnahmslocalitäten mit einigen
Betten dotirt zu sein — Aufnahmsstation — welche von den aufgenommenen Kranken
bis zu deren Vertheilung , resp. Abtransportirung in die verschiedenen Kranken-
abtheilungen — Stationen — benützt werden, während sonst, und insbesondere
in dem zweiten Falle, die Abgabe der aufgenommenen Kranken in die betreffende
Krankenabtheilung jedesmal sofort unmittelbar nach der Aufnahme erfolgt.
Eine Folge hievon ist , dass in letzterem Falle die Kranken erst in der
Krankenabtkeilnng entkleidet, gereinigt und mit frischer Wäsche versehen werden,
während dies im ersteren Falle in der Aufnahmsstation durch das für diesen
Dienst dauernd oder zeitweise bestimmte Wartpersonale bewirkt wird. Schwere
Verletzungen, sowie Fälle von Infectionskrankheiten sind es, welche bei diesem
Systeme eine ausnahmsweise Behandlung erheischen.
Was für ein Vorgang auch bei der Aufnahme platzgreift, in allen Fällen
sollen den Aufgenommenen Kleider und Wäsche abgenommen und in geeigneter
Weise — stets aber ausserhalb der Krankensäle — aufbewahrt werden.
Es ist selbstverständlich, dass dort, wo es nöthig ist, der Aufbewahrung eine
entsprechende Reinigung und Desinfection vorausgehen müsse.
Die Durchführung der ebenerwähnten Maassregel bedingt es, dass die
Kranken während ihres Spitalaufenthaltes vom Krankenhause aus mit der
erforderlichen Wäsche und Kleidung versehen werden: eine Maass-
regel, die auch in administrativer Beziehung von Bedeutung ist und von der nur
ausnahmsweise und über besondere Bewilligung des Anstaltsleiters in einzelnen
Fällen abgegangen werden soll.
Analoges gilt von den den Kranken gehörenden Lagerbehelfen und anderen
Utensilien, welche mit strenger Consequenz aus den gemeinschaftlichen Kranken-
räumen fern zu halten sind.
Die Besuche bei den in einem Krankenhause untergebrachten Kranken
sollen im Interesse der Behandlung der Kranken und mit Rücksicht auf administrative
Verrichtungen im Allgemeinen nur während einer bestimmten Zeit gestattet sein
und Ausnahmen hievon nur in besonders berücksichtigenswerthen Fällen zu-
gestanden werden.
Im Interesse eines expediten Dienstes empfiehlt es sich , die V e r-
schreibungen der Medicamente imd der Diät nach Krankensälen und
nicht, wie es da und dort üblich, stationsweise durchzuführen.
Bezüglich der Medicamente ist es ferner empfehlenswerth , zur Ver-
schreibung derselben auf den betreffenden Saal lautende Medicamentenbücheln zu
verwenden, welche nicht nur eine wünschenswerthe Uebersicht gewähren, sondern
dem Primarärzte — Oberarzte , Stations vorstände — die Möglichkeit bieten . die
während seiner Abwesenheit bewirkten Medicamentenverschreibungen kennen zu
lernen und zu controlliren.
Dasselbe soll bezüglich der Verschreibung von Speisen und Getränken
der Fall sein und kann durch eine geeignete Anordnung der betreffenden Druck-
sorten erreicht werden.
SPITAL. 729
Gegenüber der scheinbar einfacheren Speisenverschreibung nach Normal-
portionen mit deren variablen Zuthaten und ExtraOrdinationen, empfiehlt sich der
Einfachheit und Schmiegsamkeit wegen die magistrale Speisenver-
schreibnng nach einer bestimmten Speisennorm.
In Bezug auf die normirten Speisen, deren Bereitung und Ausmaass herrschen
je nach Anschauung, Gewohnheit und den örtlichen Verhältnissen die grössten
Verschiedenheiten. Dasselbe gilt von der Art der Speisenvertheilung und
dem Speisentransporte.
Es werden die Speisen schon in der Küche in einzelne Portionen vertheilt
und so transportirt, oder es erfolgt blos die Portionirung von Rindfleisch und
Braten in der Küche, aber die für jeden einzelnen Krankensaal bestimmten
Portionen werden, gleichwie Suppe, Gemüse, Mehl- und Milchspeisen, zusammen in
eigens hiefür bestimmten und bezeichneten Geschirren dahin befördert und dort ver-
theilt, oder aber es wird auch das für jeden Saal entfallende Fleisch im Ganzen
abgegeben und dort erst in Portionen zerschnitten.
Dieser verschiedenen Praxis entspricht auch, wesentlich durch die Ent-
fernungsverhältnisse der Krankensäle von der Küche und die Bauart der Kranken-
häuser beeinflusst, der Speisentransport. Offene oder gedeckte Tragbretter , auf
denen die einzelnen Geschirre neben-, eventuell auch aufeinandergestellt sind,
werden bei der ersten Art, Gefässe aus Metall oder Steinzeug von verschiedener Form
und Anordnung, welche man in Tragkörben oder, wo dies zulässig, oder, wie bei
Pavillonanlagen ohne Verbindungsgang nothwendig ist, in für diesen Zweck be-
sonders construirten Handwägen an den Bestimmungsort befördert , werden in den
anderen Fällen der Speisenvertheilung zum Transport der Speisen benützt und
der Abkühlung der Speisen während des Transportes in mannigfacher, mehr
weniger entsprechender Weise (Hüllen aus schlechten Wärmeleitern, aus mit
warmem Wasser gefüllten Doppelwänden u. dgl.) entgegengearbeitet.
Die Durchführung einer entsprechenden Speisenvertheilung und eines zweck-
mässigen Speisentransportes ist eine mit nicht unbedeutenden Schwierigkeiten
verbundene Aufgabe, deren vollkommene Lösung erheischt, dass die Speisen nicht
nur vollwichtig und richtig vertheilt, sondern den Kranken auch warm und
appetitlich vorgesetzt werden.
Ausser der Beschau eines Verstorbenen im Krankenzimmer,
welche durch den diensthabenden Arzt der betreffenden Abtheilung zum Behufe
der Constatirung des erfolgten Todes und der Erstattung der Todesanzeige vor-
zunehmen ist, soll in jedem Krankenhause auch die vorgeschriebene Leichen-
beschau durch einen an der Behandlung der Kranken unbetheiligten , ad hoc
beeideten Beschauarzt — als welcher in einem grossen Krankenhause naturgemäss
der Prosector bestellbar erscheint — vorgenommen werden.
Dass und warum in grösseren Krankenanstalten für die regelmässige
Durchführung von Leichen er Öffnungen und die Führung ent-
sprechender Sectionsprotokolle besondere Vorsorge zu treffen sei, bedarf
keiner weiteren Erörterung.
Auf die Beachtung aller hygienischen Erfordernisse und
deren Erfüllung soll ein besonderes Augenmerk gerichtet, der Rein haitun g
der Räume, der gesammten Einrichtung derselben, sowie der Kranken
grosse Sorgfalt gewidmet und demgemäss auch eine ausreichende Luft-
erneuerung ununterbrochen unterhalten werden. Die gesammten Kranken-
unterkunftsräume sollen nach Erforderniss, mindestens aber alljährlich
einmal, nach und nach zeitweise geleert und einer durchgreifenden
Reinigung, sowie einer vollständigen , mit Erneuerung der Tünchung und des
Fussbodenanstrichs verbundenen Restauration unterworfen werden.
Dass die Krankengeschichten in einer die wissenschaftliche Ver-
werthung derselben ermöglichenden Weise, die Krankenprotokolle aber so
730 SPITAL.
geführt sein sollen , dass sie in prägnanter Kürze jene Daten enthalten , welche
erforderlich sind, um auch in späterer Zeit brauchbare Aufschlüsse zu geben,
ist eine Forderimg, welche der Natur der Sache nach gestellt werden muss , aber
mit Rücksicht auf die waltenden Verhältnisse nur bei entsprechender Mitwirkung
der Stationsvorstände und fortgesetzter Controle, soweit als überhaupt thunlich,
erreichbar ist.
Die statistischen Berichte der Stationen und der Anstalt sollten
im Interesse der Uebersichtlichkeit und leichteren Verwerthbarkeit allenthalben im
Einklänge mit den Aufstellungen der statistischen Bureaux und auf Grund der ad
hoc vereinbarten Schemen verfasst werden.
Die sich immer mehr und mehr verbreitende Gepflogenheit, die statistischen
Jahresberichte durch Mittheilung wissenschaftlicher Beobachtungen und Er-
fahrungen, sowie durch Darlegung der wichtigsten administrativen Verhältnisse
zu vervollständigen , verdient im Interesse der Fortentwicklung des Spitalswesens
und der Heilwissenschaft festgehalten und allgemein verbreitet zu werden.
Literatur. Die Literatur über Krankenhäuser ist ziemlich umfangreich und
insbesondere seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in rascher Zunahme begriffen. Ausser
den über Krankenhäuser selbständig erschienenen Werken und Schriften , welche — soweit
sie mir bekannt geworden sind — sich in dem folgenden Verzeichnisse in chronologischer
Aneinanderreihung angeführt finden , sind zahlreiche Aufsätze und Abhandlungen in den
medicinischen und technischen Zeitschriften und in einschlägigen Werken , wie z. B. jenen
über Gesundheitspflege, zerstreut. Bezüglich dieser wird auf die deutsche Vierteljahrsschrift
für öffentliche Gesundheitspflege verwiesen, in welcher seit dem Jahre 1870 die vom
Sanitätsrathe Dr. Alex. Spiess verfassten Zusammenstellungen über die in deutschen
und ausländischen Zeitschriften erschienenen Aufsätze regelmässig veröffentlicht werden.
Tenon, Mdmoires sur les Höpitaux. Paris 1780, 1786, 1788. — Joh. Frz. Xav.
Pauk an, Entwurf zu einem allgemeinen Krankenhause. 4 Kupfertfln. gr. 8. Wien 1784
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skopie", IV, pag. 129.
Splenämie (gttX^v, Milz und octaa, Blut) = Leukämie.
Splenisation (der Lunge). Der Zustand blutreicher, gleichmässig dunkel-
blauer oder schwarzrother Beschaffenheit des Lungenparenchyms, wie er bei den
höheren Graden von Hypostase (hypostatischen Pneumonien) der Lungen vorkommt.
Splenitis (v-zlrp), Milzentzündung, s. „Milz", IX, pag. 77. — Spleno-
pathie (<s%Xry und Tratro;), Milzkrankheit. — Splenotomie (ctü^v und TOfdj),
Exstirpation der Milz.
Spodiomyelitis (sttoSio?, aschgrau und ix-jsXö;), s. „Poliomyelitis", XI, pag. 3.
Spondylarthrocace (<7-6vo*iAoc, Wirbel, apftpov und 7.7.7.6c), Wirbelgelenks-
caries. — Spondylitis, Wirbelentzündung. — Spondylomyelitis, Osteomyelitis der
Wirbel —vgl. „Malum Pottii", VIII, pag. 552.
Spondylolisthesis (stüovS'j^o; und okicdr^i^ Verschiebung), s. „Becken",
II, pag. 90.
Spondylolysis (<77w6vo\>ao; und Xuai;), die primitive Lösung der Sacro-
lumbaljunctur bei der Venus hottentote, welche nach Lambl durch eine angeborene
Anomalie des letzten Lendenwirbels — interarticuläre Pseudarthrose desselben —
bedingt wird. Spondyloptosis (ctüovSiAo; und tftöots), die mit Verschiebung nach
vorn , Herabrutschen und Vorfall in die Beckenhöhle verbundene Beweglichkeit
des letzten • Lumbaiwirbels. — Vgl. Lambl, Centralbl. für Gynäkol. 1881, 11.
Spongia, Schwamm; Spongia compressa und cerata, s. „Press-
schwamm", XI, pag. 38.
Spontanamputation (des Fötus), s. „Missbildungen", IX, pag. 116.
Spontanluxation, s. „Luxationen", LX, pag. 435.
Sprachstörungen, s. „Aphasie", I, pag. 434.
Spray, s. „Antisepsis", I, pag. 404.
Springwurm, s. „Oxyuris", X, pag. 273.
Spulwurm, s. „Ascaris", I, pag. 536.
Verzeichniss
der im zwölften Bande enthaltenen Artikel.
Seite
Scarlatina, s. Scharlach 3
Schädelmessung 3
Schädelverletzungen 70
Schändung 82
Schandau 84
Schanker 84
Scharlach 106
Scharlachniere, s. Nierenentzündung . . 133
Schauenburg 133
Scheide, s. Vagina 133
Scheintod 133
Schelesnowodsk 135
Schenkelbeuge 135
Schenkelbruch, s. Brüche 143
Scheveningen, s. Seebäder 143
Schichtstaar, s. Cataract 143
Schiefläge, s. Kindslage 143
Schienenverband 143
Sehiffshygiene 143
Schimbergbad 149
Schinznach 149
Schlachthäuser 150
Schlafsucht 156
Schlammbäder, s. Moorbäder 157
Schlangenbad . 157
Schlangengift 157
Schleimbeutel 178
Schleimgewebsgeschwulst, s. Myxom . .181
Schleimmetamorphose 181
Schlingkrampf 183
Schlottergelenk, s. Pseudarthrose . . . 183
Schlüsselbein 183
Schlundkopf Iy3
Schmalkalden 220
Schmeks, s. Smeks 220
Schmiercur, s. Quecksilber, Syphilis . . ^20
Schminken, s. Cosmetica 220
Schneeblindheit, s. Hemeralopie .... 22ü
Schnellender Finger 220
Schnitt 224
Schnittweyerbad 229
Schnürleber, s. Leberatrophie 229
Schnupfen, s. Nasenkrankheiten .... 229
Schnupfpulver 229
Schönegg 230
Seite
Schooley-mountain-spring 230
Schorf, s. Brand 230
Schrecklähmung, s. Emotionsneurosen . . 230
Schreibekrampf, s. Beschäftigungsneurosen 230
Schröpfen, Scarification 230
Schrumpfniere, s. Nierenentzündung . . 238
Schüttelkrampf, s. Convulsionen .... 238
Schüttellähmung, s. Paralysis agitans , 238
Schüttelmixtur, s. Mixtur 238
Schulbankfrage 238
Schulkinder äugen ' . . 248
Schuls, s. Tarasp 299
Schulterblatt 299
Schultergelenk 307
Schussverletzungen, s. "Wunden .... 333
Schutzbrillen, s. Brillen 333
Schutzpocken, s. Impfung 333
Schwachsinn, s. Blödsinn 333
Schwämme 333
Schwalbach 333
Scbwalheim 333
Schwangerschaft 334
Schwangerschaftsniere , s. Nierenentzün-
dung 363
Schwarzer Tod, s. Pest 363
Schwarzseebad 363
Schwefel, Schwefelpräparate 363
Schwefelbergbad 373
Schwefelkohlenstoff, s. Schwefel, Schwefel-
präparate 373
Schwefelsäure, s. Säuren 373
Schwefelwässer 373
Schwefelwasserstoff 376
Schweiss 381
Schweissfriesel, Schweisssucht, s. Miliaria 394
Schweizerhall 394
Schwimmprobe, s. Kindstödtung .... 395
Schwindel, s. Vertigo 395
Scilla 395
Scintillatio, s. Photopsie 397
Scirrhus, s. Carcinom 397
Scoliose, s. Rückgratsverkrümmungen . . 398
Scolopendrium 398
Scoparia, s. Genista 398
Scorbut 398
736
Seite
Scordium ... • . . • 409
Seorpionengift 409
Scotom, s. Perimetrie 411
Scotopsie 411
Scrophularia 411
Scrophuloderma 411
Scrophulose • 411
Scrotalbruch, s. Brüche 423
Sebolith 423
Seborrhoe 423
Sebnm 423
Seeale cornutum 423
Secretionsanomalien 429
Sectio 434
Section, Sectionsprotocoll 435
Secnndärglaucom, s. Glaucom 437
Sedativa 437
Sediment 438
Seduni 438
Sedlitz , 439
Seebäder 439
Seeclima 444
Seekrankheit 448
Seelenblindheit, Seelentaubheit 450
Seewen 450
Segura 451
Sehnen, Sehnenscheiden 451
Sehnennecke, s. Herzkrankheiten .... 454
Sehnenschnitt 454
Sehprüfungen 454
Seidelbast 461
Seitenlage, s. Becken 4Ö2
Seitens trangsklerose 462
Seifen 468
Selbstdispensation der Aerzte 472
Selbstentwicklung, Selbstwendung . . . 473
Selbstmordstatistik 476
Selbstvergiftung, s. Intoxicatiou .... 486
Selters 486
Semiotik, s. Symptom 486
Semiphimose, s. Balanitis 486
Senecio 486
Senega 487
Senescenz, s. Marasmus senilis 487
Senf, Senfteig, s. Sinapis . . . . • . . 487
Senkgruben, s. Städtereinigung .... 487
Senna • . . . 488
Sensibilitätsstörungen, s. Empfindung . . 490
Sepia, s. Calciumpräparate .... • . 490
Sepsis 490
Sequester, Sequestrotomie, s. Necrose . .514
Sermaize 514
Serneus 514
Serpentaria, s. Aristolochia 514
Serpyllum 514
Serratuslähmung 515
Serres-fines, s. Naht 521
Sesamöl 521
Seseli 521
Setaceum, s. Haarseil 521
Seuchen, s. ansteckende Krankheiten . . 521
Sharon 521
Shock 521
Sialagoga 526
Sialolith, Sialorrhoe 526
Sibbens, s. Radesyge 526
Siderodromophobie 526
Seite
Siderosis, s. Staubkrankheiten 527
Siechenhäuser, s. Spital 527
Siechthum 527
Siguiacismus 527
Sikeranie, s. Hyoscyamin 527
Silbenstolpern, s. Aphasie 527
Silvaplana 527
Simaba 527
Simulation 527
Sinapis 532
Sinapiskopie 534
Sinapismus, s. Sinapis 534
Sinesträ 534
Singultus, s. Respirationskrämpfe . . . 534
Sinnestäuschungen ... • 534
Sinzig 548
Siphonom, s Cylindrom 548
Siradan 548
Sirenenbildung, Sirenomelie , siehe Miss-
bildungen 548
Siriasis • . . . . 548
Sisymbrium 548
Sitophobie 548
Situs inversus, s. Dextrocardie .... 548
Skaphenokephalie, Skaphokephalie . . . 548
Skatol 549
Skerljevo, s. Eadesyge 549
Skleradenitis 549
Sklerektasie 549
Sklerema adultorum 550
Sklerema neonatorum 550
Skleritis 558
Skleroderma 560
Sklerom 564
Skleronyxis, Skleroticonyxis, s. Cataract . 564
Sklerophthalmie 564
Sklerose 564
Sklerotomie, s. Glaucom 564
Sklerotyrbe, s. Paralysis agitans .... 5ö4
Skybala 564
Smegma, s. Balanitis 5b'4
Smeksz 564
Smilacin, s. Sarsaparilla 564
Sodbrennen, s. Dyspepsie 564
Soden 564
Sodomie 565
Solanin 567
Solec 572
Somnambulismus, Somniatio 573
Somnolenz 573
Sonden 573
Sonnenstich, s. Armeekrankheiten, Hitz-
schlag 575
Soolen, Soolbäder, s. Kochsalzwässer . . 575
Soor 575
Sopor 581
Spa .581
Spanämie, s. Ischämie 582
Sparadrap 582
Spartein, s. Genista 584
Spasmophilie , Spasmus, s. Convulsionen 584
Spasmus glottidis 584
Spasmus nutans 595
Species 597
Specifica 598
Speckentartung , Speckleber , Speckmilz,
s. Amyloidentartung . 598
737
Seite
Spedalsklied, s. Lepra 598
Speichelfluss, s. Secretionsanomalien . . 598
Speichelstein, s. ConcrementbilduDgen . . 598
Spermatitis • . 598
Spermatocele, s. Hoden 598
Sperinatorrhoe, s. Pollutionen 598
Spezzia, s. Seebäder 599
Spliacelus, s. Brand 599
Sphenencephalie, Sphenokephalie . . . 599
Sphincterotomie, s. Mastdarm 599
Sphygmographie , s. Graphische Unter-
suchungsmethoden und Puls 599
Sphygmophonie, s. Auscultation . . . .599
Spigelia 599
Spilanthes 599
Spiloplaxie, s. Lepra 599
Spilus, s. Nävus 599
Spinabad 599
Spina bifida 599
Spina ventosa, s. Gelenkentzündung . . 622
Spinalirritation 622
Spinallähmung 622
Spindelstaar, s. Cataract 658
Spinnengift 658
Seite
Spintherismus, s. Photopsie 660
Spirillenembolie, s. Milz 660
Spirochaete, s. Bacterien, Recurrens . . 660
Spiritus, s. Alkohol 660
Spirometrie 660
Spital 665
Spitzenpoeumonie, s. Phthisis . • . . . 734
Splanchnoskopie, s. Diaphanoskopie . . . 734
Splenämie 734
Splenisation 734
Splenitis, s. Milz 734
Splenopathie, Splenotomie 734
Spodiomyelitis, s. Poliomyelitis .... 734
Spondylarthrocace, Spondylitis, Spondylo-
myelitis 734
Spondylolisthesis, s. Becken 734
Spondylolysis, Spondyloptosis 734
Spongia 734
Spontanamputation, s. Missbildungen . . 734
Spontanluxation, s. Luxationen 734
Sprachstörungen, s. Aphasie 734
Spray, s. Antisepsis 734
Springwurm, s. Oxyuris 734
Spulwurm, s. Ascaris 734
Anmerkung. Ein ausführliches Sachregister folgt am Schlüsse des Werkes.
Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. XII.
47
Druck von 6. Gistel & Cie. in Wien.