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Vierteljahrsehrift
NOCIAL- md Wirtschaf (soeschichle
Unter ständiger Mitwirkung
von
Dr. GnoRGESs Espınas (Paris), Prof. Dr. HENRI PIRENNE (Gent),
Prof. Dr. Grus. SaLvıoLı (Neapel), Prof. P. VINOGRADOFF (Oxford)
herausgegeben
Prof. Dr. Sr. BavER Dr, L. M. HARTMANN
in Basel in Wien
Prof, Dr. G. von Bezow, Geh, Hofrat
in Freiburg i. Br.
Bedaktionssekretär: Dr. KURT KASER in Wien
II. Band
— or — -
Verlag von W. Kohlhammer
Berlin W. 35 Stuttgart - Leipzig
Dertfflingerstrasse 16 Urbanstrasse 14 Rossplatz 16
1905
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von W. Kohlhammer in Stuttgart.
Inhalt des dritten Bandes.
I. Abhandlungen.
WUuPrNER, H., Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter
Miss LODGE, Serfdom in the Pyrenees .
FRomevarx, HENRI, Le commerce français à Madagascar a au XVIIe siècle
DARMSTÄDTER, PAUL, Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik .
PEISKER, J., Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren und
Germanen und ihre sozialgeschichtliche Bedeutung .
MÜLLER, JOHANNES, Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spktmittel
alter und zu Beginn der Neuzeit (Erster Teil)
RIFTSCHEL, SIEGFRIED, Die älteren Stadtrechte von Freiburg i im Breis-
gau . . .
PEISKER, J., Die älteren Beziehungen der Slawen 2 zu Turkotataren und
Germanen und ihre sozialgeschichtliche Bedeutung Beau).
VINOGRADOFF, P., Zur Wergeldfrage .
MCLLER, JOHAN NES, Das Rodwesen Bayerns und Tirols“ im Spätmittel-
alter und zu Beginn der Neuzeit (Zweiter Teil, Schluß) . ..
Mınaım, ERNEST, Les débuts de l'établissement John Cockerill à Seraing
IL Miszellen.
v. BeLow, G., Zur Entstehungsgeschichte der Acta Borussica .
SALVIOLI, G. Per la storia della proprietà in Italia .
NURET, M. P. Le traité de commerce franco-anglais de 1786, a propos
d’une publication récente
Heck, Pu., Die Gemeinfreien des Tacitus und das à Ständeproblem der
Karolingerzeit .
IN. Literatur.
Russische Literatur über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Rußland»
in den Jahren 1900, 1901, 1902. Besprochen von W. DEHn.
N. ROSCHKOW |. . 2 2 2 .... . . . . . . . . . .
v. MED GER, WILH., Dr., Wirtschaftsgeschichte der Domäne Lobositz.
Besprochen von JOSEPH SALABA en
152055
152
177
IV Inhalt des dritten Bandes.
SERGEJEWITSCH, Ein neues Werk auf dem Gebiete der Geschichte des
russischen Grundbesitzes. Besprochen von M. BOGOSLOWBEIJ . . 4
KoGLeEr, FERD., Dr., Die Legitimatio per rescriptum von Justinian bis
zum Tode Karls IV.
Ders., Beiträge zur Geschichte der Rezeption und der Symbolik der
legitimatio per subsequens matrimonium. Besprochen von SIEG-
FRIED RIETSCHEL . . » 2 2 2 . . need
Une Bibliographie de «l’Histoire économique et sociales moderne et
contemporaine de la France. Besprochen von GEORGES EspınAs. (
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter.
Von
H. Wopfner (Innsbruck).
Soweit in den letzten Jahrzehnten die Leiheverhältnisse an
Grund und Boden zum Gegenstand wissenschaftlicher Unter-
suchung gemacht wurden, sind dieselben in freie und unfreie
geschieden worden’), Als freie Leihen bezeichnete man jene,
welche das Verhältnis zwischen den beiden im Leihevertrag auf-
tretenden Kontrahenten rein vermögensrechtlich bestimmten, als
unfreie jene Leiheverhältnisse, denen zufolge das beliehene Subjekt
in ein personenrechtliches Abhängigkeitsverhältnis vom Leiheherrn
geriet. Solche unfreie Leihen wurden auch Leihen zu Hofrecht
genannt.
Gegen diese Scheidung ist nun in dem hochbedeutsamen
Werke von SEELIGER: Die soziale und politische Bedeutung der
Grandherrschaft im früheren Mittelalter (1903) Einspruch erhoben
worden. Wenn ich SEELIGER recht verstehe, so verwirft er diese
Scheidung überhaupt”), nicht bloß für {die ältere Zeit. Er faßt
die Ergebnisse seiner Untersuchung in folgenden Sätzen zusam-
men: „Hofrecht war nie ein mit Leihegütern bestimmter Kate-
gerien verbundenes Recht, das die Beliehenen in persönliche
Abhängigkeit oder gar in Unfreiheit zwang“ (S. 191) — „die standes-
rechtliche Wirkung gewisser Leihen müssen wir preisgeben“ (181).
Wegen der engen Verbindung der sogenannten unfreien Leihen
mit dem Hofrecht, ist es nötig, sich über Wesen und Begriff
1) Vgl. die bei RIETSCHEL, Entstehung der freien Erbleihe (Zeitschr.
d. Savignystiftung für Rechtsgesch. XXII. germanist. Abteil.) S. 181 ff. be-
sprochene Literatur.
2) Vgl. SEELIGER, a. a. O. 177.
Vierteljahrschrift 1. Social- u. Wirtechaftsgeschichte. III. 1
9 H. Wopfner
des Hofrechtes vorerst klar zu werden. Das Hofrecht ist ent-
standen aus der Gerichtsbarkeit des Grundherrn über seine
Hintersassen. Die Gerichtsbarkeit über die unfreien Hinter-
sassen ist hervorgegangen aus der ursprünglich unbeschränkten
Disziplinargewalt des Herrn über die Knechte, welche sich seit
der allmählichen Besserung der sozialen Stellung der Unfreien
in eine Gerichtsbarkeit verwandelte, die an bestimmte, vom Herrn
gesetzte Normen gebunden war.
Die Ergebung zahlreicher Freier samt ihrem Eigen in die
Gewalt (Munt) eines Herrn, führte andererseits auch diese in
das grundherrliche Gericht. Das grundherrliche Gericht nun war
beschränkt auf die inneren Angelegenheiten der Hintersassen,
auf ihre rechtlichen Verhältnisse untereinander und zum Grund-
herrn. Mit der aus der Immunität sich ergebenden Gerichtsbarkeit
des Grundherrn steht dieses grundherrliche Gericht in keinem
inneren Zusammenhang, da das letztere auch in Grundherrschaften
nachweisbar ist, die keine Immunitätsprivilegien erlangten ').
Mit dem allmählichen Festwurzeln dieser grundherrlichen
Gerichtsbarkeit über Freie wie Unfreie bildete sich eine bestimmte
Rechtspraxis im grundherrlichen Gerichte aus, nach welcher der
Grundherr bei seinen Entscheidungen vorging. Diese Rechts-
praxis bezeichnen wir als Hofrecht. Wir verstehen also unter
Hofrecht die Summe aller jener Rechtssätze, welche die Bezie-
hungen der grundherrschaftlichen Hintersassen untereinander wie
zum Grundherrn regelten.
Da das Hofrecht auf das Standesrecht der Hintersassen nur
insoweit Einfluß nahm, als es die personenrechtlichen Abhängig-
keitsverhältnisse zwischen Grundherren und unfreien Hinter-
sassen regelte, so mußte es keineswegs notwendig uniformierend
auf das Standesrecht aller grundherrlichen Hintersassen ein-
wirken *).
Mit dieser Auffassung des Hofrechtes scheint aber der
Umstand schwer vereinbar zu sein, daß in zahlreichen älteren
wie jüngeren Hofrechten die Hintersassen als Rechtsgenossen
behandelt und bezeichnet werden, ihre Vereinigung als Genossen-
. 1) Vgl. LAMPRECNT, Deutsches Wirtschaftaleben Ir, 991 ff.
2) Vgl. SRELIGER, a. a. O. 178
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 3
schaft sich darstellt!). Die Genossenschaft setzte aber Rechts-
gleichheit bei ihren Mitgliedern voraus, dieselben mußten
wenigstens in der Hauptsache „pares“ sein.
Besteht also doch jene Ansicht zu Recht, welche behauptet,
das Hofrecht habe uniformierend auf die standesrechtlichen Ver-
hältnisse der grundherrlichen Hintersassen gewirkt?)? Keineswegs.
Schon MAURER wie GIERKE haben hervorgehoben, daß das Hofrecht
wenigstens in älterer Zeit nicht stark genug war, diese in der
standesrechtlichen Verschiedenheit begründeten Gegensätze aus-
zugleichen, daß auch die Unterstellung unter die grundherrliche
Gewalt nicht imstande war, Freie und Unfreie in einer Genos-
senschaft zu vereinigen.
Das Hofrecht mußte daher diese Verschiedenheit berücksich-
gen, wo immer es überhaupt den Charakter eines Genossen-
&haftsrechtes trägt. Es entstanden daher in einem und demselben
Herrschaftsverband mehrere Genossenschaften, bestehend aus
Angehörigen einer bestimmten standesrechtlichen Kategorie grund-
herrlicher Hintersassen. So bestanden z. B. nach dem Wormser
Hofrecht (1023—25) innerhalb des Verbandes der „familia s. Petri“
eigene Genossenschaften der Fiskalinen, der dagewardi und
eoncives®). Ebenso wurden zu Öthmarsen unterschieden die Echte
(Genossenschaft) der sogenannten ,hoffreien“ und die „echte
ofte hörigkeit“ *).
Das Hofrecht darf also sicherlich nicht als Standesrecht der
Hörigen aufgefasst werden, da es vielmehr auf eine verschieden-
artige standesrechtliche Stellung der Hintersassen Rücksicht
nimmt °).
1) Vgl. GIERKE, Das deutsche Genossenschaftsrecht I, 140 und 156 ff.
Diejenigen, welche dem Hofrecht unterstehen, werden in Quellen des früheren
und späteren Mittelalters als consortes, socii, pares, gnossen u. 8. w. bezeich-
net Vgl die Belege bei MAURER, Fronhöfe IV, 1ff., GIERKE, a. a. O. I, 156.
2) Vgl. n. 5.
3) Mon. Germ. hist. LL Sect. IV. Band I. c. 13.26u.a. Cit. GIERKE,
L 157. Vgl. MAURER, Gesch. der Fronhöfe IV, 12.
4) Weitere Belege bei MAURER, a. a. O. IV, 7f. 12.
5) Ich möchte nicht mit SEELIGER jene Meinung, welche in dem Hof-
recht ein Standesrecht der Hörigen erblickt, als die herrschende ansehen.
Schon MAURER, à. a. O. IV, 12 und GiIERKE, a. a. O. I, 157, wiesen auf die
4 H. Wopfner
Vielfach aber, wenn auch nicht allgemein, ist im späteren
Mittelalter eine Ausgleichung zwischen den nach ihrem Standes-
rechte bisher unterschiedenen Gruppen von Hintersassen einge-
treten. Vor allem verschwindet innerhalb der Genossenschaft
der Unfreien der Unterschied zwischen den verschiedenen Klassen
der angesessenen unfreien Hintersassen, so jene zwischen den
Laten und servi casati?).
Es tritt nunmehr eine einzige Klasse von Hörigen auf mit
einheitlichen standesrechtlichen Merkmalen. Ein Stand der Hörigen
gelangt zur Ausbildung; dessen charakterische Kennzeichen sind:
Gebundenheit an die Scholle, Erbgebühr, Bindung an Ehebe-
schränkungen seitens des Herrn. Die geringere standesrechtliche
Qualität dieser Hörigen gegenüber den Freien kommt im Reichs-
weistum von 1282 zur Geltung, in welchem Ehen zwischen Freien
und Hörigen als Ungenossenehen gekennzeichnet werden, bei
denen die Kinder der ärgeren (hörigen) Hand folgen ?).
Die ursprüngliche standesrechtliche Verschiedenheit der grund-
herrlichen Hintersassen zeigt sich zwar auch späterhin in dem
Umstande, dass neben den unter den mannigfaltigsten Bezeich-
nungen auftretenden hörigen Zinsleuten häufig ausdrücklich
grundherrliche Eigenleute erwähnt werden?). Ein Unterschied
zwischen diesen Eigenleuten und anderen Hofhörigen macht sich
jedoch nicht in standesrechtlicher sondern in vermögensrechtlicher
innerhalb des weiteren hofrechtlichen Verbandes auftretenden Sondergruppen
von Hintersassen verschiedenen Standes hin. Ferner tritt auch SCHRÖDER ®,
Deutsche Rechtsgesch. 650, der Ansicht HEUSLERS (Institutionen des deutschen
Privatr. I, 39) bei, daß das Hofrecht nicht als ein Standesrecht zu betrachten sei.
1) Vgl. WrrricH, Grundherrschaft in Nordwestdeutschl. 275. KÖTZSCHKE,
Studien zur Verwaltungsgesch. der Großgrundherrschaft Werden a. d. Ruhr 65.
Über die gewaltsame Herabdrückung freier Hintersassen in die Klasse der
unfreien vgl. SEELIGER a. a. O. 182.
2) Mon. Germ. hist. LL. II, 439. Scnuröpenr* a. a. O. 454. Gegen die
Auffassung der Hörigkeit als Unfreiheit spricht sich HERUSLER, 1, a. a. 0.
134, aus, was mir jedoch nach den Bestimmungen des Reichsweistums von
1282 nicht gerechtfertigt erscheint.
8) Vgl. z. B. tirolische Weistümer I, 201 ff. (Stifteöffnung von ABsAM,
14. Jahrh. (?). „Mair“, „Hausgenossen“ und „Eigenleute“ werden nebeneinander
erwähnt, ohne daß ein Unterschied in standesrechtlicher Hinsicht erkennbar
wäre. Ähnlich ebend. 188 (Hofrecht von STUMM, 15. Jahrh.)
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 5
Hinsicht geltend, indem die Eigenleute teilweise nicht auf herr-
schaftlichen Gütern angesetzt sind, also der Vorteile des Hofrechts
entbehren !).
Gleichwohl ist auch dieses jüngere Hofrecht nicht ein Standes-
recht, denn es ist nicht ausschließlich in seiner Wirksamkeit auf
die Hörigen beschränkt. Auch Freie können, wie wir noch sehen
werden ?), für einzelne ihrer Güter des hofrechtlichen Verkehrs
teilhaftig werden, während es andererseits auch Unfreie gibt, die
außerhalb des Hofrechts stehen’).
Es ist nun eine dem deutschen Recht eigene Gepflogenheit,
Lasten, welche ursprünglich persönlicher Natur waren, auf Grund-
stücke zu radizieren. So ist bekanntlich die landesherrliche
Bede allmählich aus einer von den einzelnen Personen zu ent-
richtenden Steuer zu einer Reallast geworden. Eine derartige
Radizierung trat nun auch hinsichtlich der Hörigkeit ein, und
zwar nach zwei Richtungen.
Es kommt einmal vor, daß die persönliche Hörigkeit gänzlich
verschwindet und nunmehr auch Lasten persönlicher Natur wie
Erbgebühr und Kopfzins in gleicher Weise wie der Grundzins
auf das Leihegut des Hintersassen radiziert werden“). Vielfach
aber wird das ganze Verhältnis der Hörigkeit in der Weise auf
Grund und Boden radiziert, daß jeder, der grundherrliches, dem
hofrechtlichen Verkehr unterworfenes Gut erwirbt, Höriger des
Grundherrn wird, zu diesem in ein persönliches Abhängigkeits-
verhältnis gerät und dementsprechend auch eine Minderung seiner
Freiheit erleidet. Nachweisen läßt sich dieser Entwicklungs-
prozeß erst seit dem 14. Jahrhundert, doch setzt derselbe zweifel-
los vielerorts schon im 12. und 13. Jahrhundert ein.
Diese enge Verbindung zwischen persönlicher Hörigkeit und
Besitz gutsherrlichen Landes kommt am deutlichsten im Absamer
Hofrecht®) zum Ausdruck:
1) Vgl. tirol. Weistümer I. 140 Z. 15 (Hofrecht von STUMM), 209 Z. 21.
2) Siehe unten 6.
3) Vgl. HEUSLER, a. a. 0. I, 89.
4) Vgl. z. B. SEGESSER, Rechtsgesch. der Stadt Luzern I, 158 über
Umwandlung der persönlichen Hörigkeit der Hintersassen des St. Leodegar-
kiosters zu Luzern in dingliche Abhängigkeit.
5) Tirol. Weistümer I, 209 Z. 18 ff.
6 H. Wopfner
„Mer haben si geöffnet, alle unser frawen aigenleut oder die
auf den güetern unser lieben frauen gesessen sin,
die sollen nit heiraten on ains probsts oder maiers willen
und rat.“
In derartiger Verknüpfung mit dem Besitze bestimmter grund-
herrlicher Güter tritt die Hörigkeit auch in dem Weistum von
Emmerke') auf:
Es kan auch keyn freyman eigenbehörige meyer-
dingsgüter, davon halshüner und baulebung gehen, besitzen,
er setze dan eine getreue handt an das meyerdingsguth und er
bleibe also frey.“
Wenn also ein Freier nur dann höriges Gut ohne nachteilige
Folgen für seinen Stand übernehmen kann, falls er einen Treu-
händer stellt, der dem Grundherrn gegenüber als verpflichtetes
Subjekt erscheint, so ergibt sich daraus deutlich genug, daß die
Hörigkeit als Folge des Besitzes grundherrlichen Gutes eintritt *).
Wie die Übernahme hofhörigen Gutes in der Tat eine Herab-
minderung des Standes der Beliehenen herbeiführte, zeigt eine
Leiheurkunde von 1311°), laut welcher die Äbtissin des Klosters
zu Essen, den Töchtern Henrich Scherers, eines (freien) Bürgers
in Dortmund, ein in den Oberhof Huckarde gehöriges Hofgut
verleiht. Die Beliehenen und deren nächste Nachfolger, also
zwei Generationen, sollen frei bleiben: „Persona vero, que hiis
secundis succedet in dictis bonis, sive sit earum proles sive aliter
coniuncta, mancipium erit dicte curtis nostre, cum quo
et se ipsam tenebit secundum ius et consuetudinem curtis predicte
[Hukerte] et mancipiorum ipsius.“
Der ausnahmsweise Aufschub der sozialen Wirkung des Leihe-
vertrages wird ausdrücklich als Akt besonderer Gnade bezeichnet:
„notum facimus [abbatissa] quod nos Gertrudi et Elyzabeth filiabus
... gratiam facere volentes specialem,“ was hier nach
dem ganzen Zusammenhang nicht als bloß formelhafte Wendung
bezeichnet werden darf.
Diese Verknüpfung ursprünglich rein persönlicher, selbständig
1) Grimm, Weistümer IV, 664 $ 19, zit. HEUSLER, a. a. O. I, 36.
2) Weitere Beispiele bei HEUSLER, a. a. O. I, 36.
8) KINDLINGER, Gesch. der deutschen Hörigkeit 361.
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 7
bestehender Abhängigkeitsverhältnisse mit Grund und Boden
kommt in der Sprache der Rechtsquellen zum Ausdruck, die
einen merkwürdigen Parallelismus der verschiedenen Klassen der
Bauern mit verschiedenen Klassen der Bauerngüter aufweisen.
Es werden unterschieden freie, vogtbare, hörige u. s. w. Leute
und entsprechend auch Freigüter, vogtbare und eigenbehörige
Güter ').
Treten wir nun auf Grund der bisherigen Ausführungen an
die Lösung der Frage heran, ob die Scheidung in freie und
ınfreie Leihen gerechtfertigt sei, so werden wir diese Frage
bejahen müssen, da ja jeder Freie, der ein hofhöriges Gut der
geschilderten Art übernahm, zum Hofhörigen herabsank. Weil
andererseits diese Leihegüter dem hofrechtlichen Verkehr unter-
worfen waren und derartige Leiheverträge dem Hofrecht ihre
Ausbildung verdanken, können wir von Leihen nach Hofrecht
sprechen, jedoch mit einer Einschränkung nach zwei Seiten.
Erstens hat nicht jede Leihe nach Hofrecht standesrechtliche
Wirkungen, denn auch das spätere Mittelalter kennt Hofrechte,
die sich auf eine rein vermögensrechtliche Regelung der Bezie-
bungen zwischen Grundherren und Hintersassen beschränken ?).
Es ist also zu unterscheiden zwischen einer Leihe nach strengem
Hofrecht mit standesrechtlicher Wirkung auf den Beliehenen und
einer Leihe nach leichterem Hofrecht mit ausschließlich vermö-
gensrechtlicher Wirkung.
Zweitens aber ist hervorzuheben, daß im früheren Mittelalter,
vor jener Radizierung der Hörigkeit auf das hörige Gut, nicht
jede unfreie Leihe eine Leihe nach Hofrecht sein mußte. Dem
Leiheherrn stand es schließlich frei auch Leihegüter, die dem hof-
1) Vgl. v. Wyss, Die freien Bauern, Freiämter, Freigerichte und die
Vogteien der (stschweiz im späteren Mittelalter (Zeitschr. f. schweizerisches
Recht. XVIIL Abhandlungen) 108. Siehe oben 6. An und für sich würde
diese Sprechweise der Quellen freilich noch nicht beweisend sein im Sinne
der oben vertretenen Ansicht, da schon in fränkischer Zeit mansi serviles,
litiles und ingenuiles erwähnt werden.
2) So z. B. das Stiftrecht von KırzBüHkL (tirol. Weistümer I, 77).
Über rein vermögensrechtliche Regelung der Beziehungen zwischen dem
St. Leodegarkloster zu Luzern und seinen Hintersassen vgl. SEGESSER, a. a. 0.
I, 158 ff.
8 H. Wopfner
rechtlichen Verkehr nicht unterlagen, zu solchen Bedingungen zu ver-
geben, welche nachteilig auf den Stand des Beliehenen einwirkten!).
Ebensowenig wie jede hofrechtliche Leihe als unfrei anzu-
sehen ist, darf auch die Kompetenz des Hofgerichts in Leihe-
sachen als notwendiges Merkmal unfreier Leiheverhältnisse be-
zeichnet werden?). Wo das Hofrecht die Leiheverhältnisse rein
vermögensrechtlich regelt, vermag die Dingpflicht des Beliehenen
vor dem Hofgericht keinerlei standesrechtliche Wirkung auszuüben,
da der Leihemann ja in anderen Beziehungen demselben nicht
untersteht).
Andererseits ist allerdings ein Leiheverhältnis, das gänzlich
oder doch in wichtigen Bestimmungen dem Landrecht untersteht,
entschieden als freies anzusehen, denn ein unfreies Leiheverhältnis
machte den Leihemann unfrei und gestattete daher — im früheren
Mittelalter wenigstens — in Leihesachen keine Kompetenz des
Landgerichts, im späteren Mittelalter aber, wo die Leihe nach
strengem Hofrecht die einzige uns bekannte Form unfreier Leihen
ist, mußte durch die Kompetenz des (niederen) Landgerichts in Leihe-
sachen der Einfluß des Hofrechtes auf Leihegut und Beliehenen
ganz oder doch zum größten Teil faktisch beseitigt werden *).
1) Auf die Existenz unfreier Leiheverhältnisse im früheren Mittelalter
scheint mir eine Urkunde von 968 (Hist. de Metz 79) zit. Warrz, Deutsche
Verfassungsgesch. V? 300 n. 1, hinzuweisen: Der Abt von St. Arnulf in
Metz hat unter genauer Festsetzung von Abgaben und Diensten seine Hinter-
sassen, wie es heißt, von knechtischer Abhängigkeit befreit: „De caetero
tam terras sortium suarum quam quaeque ad se pertinentia nomine ac
iure ingenuitatis habeant.“ Was sollte letztere Bestimmung „die
Güter zu freiem Recht innehaben“ bezwecken als festzustellen, daß aus dem
zwischen Abt und Hintersassen bestehenden Leiheverhältnis keine persönliche
Abhängigkeit, keine Unfreiheit, letzteren erwachsen solle. Es müssen also
unfreie Leiheverhältnisse bekannt gewesen sein.
2) Die Ansicht, daß die Freiheit vom grundherrlichen Hofgericht ein
wesentliches Merkmal aller freien Leiheverhältnisse sei, ward von LAMPRECHT,
Deutsches Wirtschaftsleben I, 2. 925 sowie auch von mir in meinen Beiträgen
zur Geschichte der freien, bäuerlichen Erbleihe Deutschtirols (GIERKES Unter-
suchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte LXVII, 81) vertreten.
8) Vgl. SEELIGER, a. a. O. 156.
4) Die Güter des Klosters Georgenberg in Tyrol sind beispielsweise
durchaus zu freier Leihe ausgetan und unterstehen dementsprechend dem
Landgericht, in welchem sie gelegen sind. So durfte vor allem die Ab-
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 9
Der Unterschied zwischen unfreien und freien Leihen ist auch
im Mittelalter selbst wohl erfaßt worden, indem von einem Besitz
von Leihegut iure ingenuitatis'), von einer Leihe „zu freiem
Baurecht“, „nach freier Leute Recht“ ?) gesprochen wird.
Blicken wir nun auf die bisherigen Ausführungen zurück, so
wäre das Ergebnis derselben folgendes: Das Hofrecht der älteren
Zeit ist kein Recht der grundherrlichen Hintersassen, welches
die ständische Verschiedenheit derselben unterdrückt und uni-
formiert. Soweit es die Leiheverhältnisse an grundherrlichem
Gute regelt, kommt es nicht in die Lage, auf die standesrechtliche
Stellung des Beliehenen einen Einfluß auszuüben. Es regelt das
Personenrecht der Hintersassen auf Grund ihrer persönlichen
Stellung zum Grundherrn, daß es aber bereits im früheren Mit-
telalter persönliche Abhängigkeit vom Grundherrn mit dem Besitz
bestimmter grundherrlicher Güter verbunden habe, ist unerweislich.
Die Existenz unfreier Leiheverhältnisse dürfen wir daher
nur insofern annehmen, als der Grundherr in einzelnen konkreten
Fällen persönlich ein Gut unter solchen Bedingungen verlieh,
welche Unfreiheit des Leihemanns zur Folge hatten. Erst in
späterer Zeit zeigt sich auch im Gebiet des Hofrechts jener dem
deutschen Recht eigene Prozeß der Radizierung, infolgedessen
das Hörigkeitsverhältnis mit bestimmten Grundkomplexen derartig
verbunden wird, daß jeder der dieselben innehat, auch in dieses
Rechtsverhältnis eintreten muß. Erst diese Leihen dürfen wir
als unfreie Leihen nach (strengem) Hofrecht bezeichnen.
Während uns Beispiele von älteren unfreien Leiheverhält-
nissen, die wohl vielfach gar nicht schriftlich fixiert wurden,
nicht vorliegen, fehlt es nicht an Beispielen freier Leiheverträge.
Die Ursache für deren reichlichere Überlieferung, vor allem in
der Form der Prekarie, liegt wohl in der häufigen Verbindung
dieser Leihe mit vorhergehender Schenkung an die verleihende
meierung nicht ohne ein entsprechendes, im öffentlichen Gerichte gefundenes
Trteil vollzogen werden. Das grundherrliche Bauding hat nur das Recht
zar Untersuchung ob die Güter in gutem Stand erhalten werden, ob der
Zins in richtiger Qualität gereicht werde und dgl.
1) Siehe oben 8 n. 1.
2) Vgl. WOPFXER, a. a. O. 100.
10 H. Wopfner
geistliche Anstalt. Die im Interesse letzterer gebotene Aufzeich-
nung solcher Schenkung, zumal die Eintragung in Traditions-
bücher bewirkte, daß die mit den Schenkungen verbundenen
Leiheverträge gleichfalls schriftlich fixiert wurden. Andererseits
mögen auch der Umfang der verliehenen Güter wie der Stand
der Beliehenen nicht selten den Anlaß zur Aufzeichnung ge-
boten haben.
Die herrschende Meinung bezeichnet vor allem die precaria
und das beneficium als die zwei Formen der freien Leihe älterer
Zeit. Was nun das Verhältnis der precaria zum beneficium be-
trifft, so kommt SEELIGER !) auf Grund eingehender Untersuchungen
für die Merowingerzeit zu demselben Ergebnis, zu welchem
RIETSCHEL*) für die ganze Zeit des Auftretens von precaria und
beneficium gelangte, daß nämlich alle Prekarien zu den Bene-
fizialleihen gehören. .
Während nun darüber wohl kein Zweifel herrscht’), daß in
späterer Zeit beneficium eine ziemlich farblose Bezeichnung für
Leihen verschiedenster Art ist, hat SEELIGER gegen die herr-
schende Meinung, die in der precaria ein freies Leiheverhältnis
sieht, Stellung genommen. Zwar hinsichtlich der precaria der
ältesten Zeit bemerkt er: „Das durch precaria geschaffene Leihe-
verhältnis ward als ein freies erachtet“);“ hingegen sagt er von
der jüngeren Prekarie: „Jetzt — seit dem 9. Jahrhundert — liegt
in der durch Hingabe eines Gutes bewirkten Leihe allein das
Charakteristische der Prekarien, liegt allein das, was sie von
anderen Leihen unterschied,“ und fügt dann noch in der Folge
bei: „Naturgemäss sind die persönlichen und dinglichen Verhält-
nisse des Prekaristen zum Leiheherrn sehr verschieden. Schon
die wirtschaftliche Verbindung war keineswegs überall die
gleiche .. . Erst recht verschieden war die Gewalt des Herrn
über die Prekaristen. Hier beruhte das Verhältnis auf einem
rein dinglichen Vertrag Gleichgestellter, dort finden wir straffe
1) A. a. O. 28.
2) Die Entstehung der freien Erbleihe in Zeitschr. der Savignystiftung
für Rechtsgesch. (german. Abteil.) XXII (XXXV), 204.
3) SEELIGER, &. à. O. 45, RIETSCHEL, a. a. O. 204.
4) SEELIGER, a. a. O. 20.
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 11
Abhängigkeit des einen. Kommt es doch vor, daß Prekaristen
unfrei werden, daß die Hingabe der Freiheit der Preis war für
das im Prekarienvertrag empfangene Leihegut').“
Es ist gewiß zuzugeben, daß auch das persönliche Ver-
hältnis des Prekaristen zum Leiheherrn ein sehr verschiedenes
sein konnte. Als unfrei dürfen wir aber das Leiheverhältnis
nur dann bezeichnen, wenn die Unfreiheit in einem innern Zu-
sammenhang steht mit dem Leihevertrag, wenn sie als dessen
notwendige Folge anzusehen wäre.
SEELIGER glaubt, die Prekarie umfasse freie und unfreie Leihen
im Sinne der herrschenden Meinung und führt hiefür als Belege
Prekarien an, in welchen die Prekaristen zugunsten des Leihe-
bern auf ihre Freiheit verzichten‘). In den von SEELIGER bei-
gebrachten Belegen handelt es sich um Prekarien, bei welchen
die Leihe verbunden ist mit einer Schenkung seitens des Be-
iehenen. Wird bei der sogenannten precaria oblatata Gut
geschenkt, welches dem Schenker wieder als Prekarie ver-
hehen wird, so kommen doch auch zahlreiche Fälle vor, wo
anderes Gut geschenkt wird, als dann Objekt der prekarischen
Leihe bildet °).
Fassen wir einmal die von Seeliger angeführten Prekarien
ins Auge! Sie lauten: „Pro recompensatione huius precarie
tradiderunt s. Salvatori . . . semet ipsos suosque deinde infan-
tes.“ Mittelrhein. UB. I, 248 (c. 948).
„Dederunt enim XI mansos . . . et se ipsos cceelesie.“
Hochst-Halb. UB. I, 85 n. 123 (1106).
„Filii [des Prekaristen] subdiderunt se eidem ecclesie servili
iure.+ Westf. UB. Suppl. 102 n. 619 (1011—29).
Sowohl im ersten wie im zweiten Falle erscheint die Auf-
gabe der Freiheit als Gegengabe seitens des Prekaristen. Im
ersten Fall ist die persönliche Hingabe an den Leiheherrn die
einzige Gegengabe, im andern Falle übergeben die Prekaristen
sich selbt, sowie ihre Kinder und außerdem noch 11 Hufen.
In diesen beiden Beispielen, wie im dritten Beispiele steht der
1) A. a. O. 47 ft.
2) A. a. O. 49 n. 2.
8) WOPFNER, @. a. 0. 9.
12 H. Wopfner
Verzicht auf die Freiheit seitens der Prekaristen in keiner
inneren Verbindung mit der Leihe. Man kann hier nicht von
einer standesrechtlichen Wirkung des Leiheverhältnisses sprechen,
der Verzicht auf die Freiheit ist nicht die Folge des Leihe-
vertrags oder der Übernahme von Leihegut, sondern ist bedingt
durch nebenhergehende Abmachungen. Die Natur der vom
Prekaristen dargebrachten Gegengabe ist für den Charakter der
prekarischen Leihe ganz unerheblich ').
Daß am Charakter der Prekarie als eines freien Leihever-
hältnisses auch dadurch nichts geändert wird, daß Unfreie als -
Prekaristen erscheinen, hat schon RIETSCHEL mit Recht hervor-
gehoben ?).
Nichts spricht gegen die Annahme, daß das prekarische
Leiheverhältnis nicht auch in die Kreise des Hofrechts eindrang,
daß dasselbe nicht auch dem Hofrecht unterstellt worden wäre.
Andererseits aber unterliegt es keinem Zweifel, daß die precaria
ihrer Entstehung wie auch ihrem späteren Auftreten nach ein
vor allem dem Landrecht unterstehendes Rechtsverhältnis war).
Schon der Stand vieler Prekaristen tut dies kund‘‘).
Wenn wir nun an die Lösung der Frage herantreten, ob die
freie bäuerliche Erbleihe des 12. und 13. Jahrhunderts, die sich
1) Wenn in einer Prekarie von 1092 (SEELIGER a. a. O. 164 f.) bestimmt
wird, der Prekarist unterstehe bei nachlässiger Zinszahlung dem „iudicium
familiae“, so wird dadurch der Charakter der Prekarie als freier Leihe nicht
berührt (siehe oben 8). Für jene Fälle, wo der Prekarist sich in die Munt des
Leiheherrn begibt (vgl. CARO, Studien zu den älteren St. Galler Urkunden.
Jahrbuch für schweizerische Gesch. XXVI 261, n. 3), gilt dasselbe, was hin-
sichtlich der Ergebung in Unfreiheit bemerkt wurde. Auch dann, wenn die
Prekaristen all ihr Grundeigen übergeben und dann, wie dies eine Urkunde
von 901 (WARTMANN, UB. St. Gallen II. n. 720) zeigt, in ein persönliches Ab-
hängigkeitsverhältnis (sub. tutela) vom Leiheherrn geraten, ist letzteres keine
Folge des Leihvertrages sondern des Umstandes, daß der Prekarist kein
Eigen mehr besitzt und daher seine Stellung im öffentlichen Gericht schädigt.
Vgl. Wyss, a. a. O. 150 ff. und SEELIGER, a. a. O. 75 f.
2) A. a. O. 201.
3) Vgl. HEUSLER, Institutionen des deutschen Privatrechts II, 170.
4) Prekarie des vir inlustris Gozbertus, des Herzogs GIESELBERT, Mittel-
rhein. UB. n. 163. 169; zit. HEUSLER a. a. O. I, 29 n. 5; vgl. ferner Lam-
PRECHT, Deutsches Wirtschaftsleben I/s, 899 f. Salzburger UB. I, 70 ff. n. 4. 8.
16. 28. 37 u. s. w. (10. Jahrh.)
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 13
von Anfang an als ein vom Hofrecht unabhängiges, nicht ihm,
sondern dem Landrecht unterstehendes Leiheverhältnis darstellt,
aus der Leihe nach Hofrecht oder der Prekarie herzuleiten ist,
# müssen wir uns für den Ursprung aus der Prekarie ent-
scheiden, falls sich nachweisen läßt, daß letztere unmittelbar
vor jener Zeit der Ausbreitung freier, nicht hofrechtlicher Erb-
leihen und zu dieser Zeit selbst sich zur Erbleihe entwickelt habe.
RıETScHEL') hat an der Hand der Traditionen an St. Stephan
in Würzburg zuerst den Nachweis erbracht, daß sich aus Pre-
karien, die den Charakter von Vitalleihen trugen, allmählich
Prekarien mit vererblichem Nutzungsrecht herausbildeten.
Hiergegen erhebt nun SEELIGER in seinem bereits öfters an-
geführten Buche Einspruch. Zwar stellt er nicht in Abrede,
daß Prekarien „gewiß oft zu freien Erbleihen geführt“ haben”),
fügt jedoch hinzu: „aber in der Precarienleihe als solcher kann
sicht der Ursprung der freien Erbleihe gefunden werden, die
freie Erbleihe darf nicht als die in bestimmter Richtung fort-
entwickelte Precaria gelten. Alles, was als charakteristisch an
Preearien erkannt wurde, spricht dagegen. Es beruht auf einem
Irrtum, die Precarien an sich als frei und nichthofrechtlich an-
susehen. Wurde doch nachgewiesen, daß mancher Precarist unter
das herrschaftliche Gericht geführt, daß mancher sogar unfrei
wurde. Und dazu kommt vor allem, daß Erblichkeit auch bei
solchem Leiheland stattfand, das nicht im Precarienvertrag ge-
geben wurde?).“
Daß die Prekarie an sich als frei anzusehen sei, hierfür ver-
suchten wir in den vorangehenden Ausführungen den Beweis zu
erbringen’). Wenn SEELIGER darauf verweist, daß bereits im
11. Jahrhundert Beispiele freier Erbleihen aufgewiesen werden
können, die nicht als Prekarien anzusehen sind‘), so scheint
nir dieser Einwand gegenüber RIETSCHELS Darlegungen nicht
beweiskräftig zu sein. Es mögen wohl bereits im 11. Jahr-
hundert freie bäuerliche Erbleiheverhältnisse vereinzelt unab-
1) A. a. O. 214 ff.
2) A. a. O. 190.
3) Siehe oben 10 f.
4) A. a. O. 188 ff.
14 H. Wopfner
hängig von der Prekarie bestanden haben. Da letztere aber von
der Merowingerzeit bis herauf ins 13. Jahrhundert so überaus
häufig und in so weiter Ausbreitung nachweisbar ist!) und
andererseits gerade aus dem von RIETSCHEL benützten Material
die organische Weiterbildung der Prekarie mit zeitlich begrenz-
tem Nutzungsrecht zur Prekarie als Erbleihe deutlichst ersicht-
lich wird, so sind wir wohl zur Annahme berechtigt, daß die
aus der Prekarie herausgewachsenen Erbleiheverhältnisse als
Vorbild für die Begründung zahlreicher freier bäuerlicher Erb-
leihen dienten.
Es steht unleugbar fest, daß bereits in früheren Jahrhunderten,
so im 9. und 10., Prekarien mit erblichem Besitzrecht nicht selten
waren. Diese Tatsache‘) dürfte aber kaum gegen die RIETSCHEL-
schen Ausführungen etwas beweisen. Vor allem kommt es doch
darauf an, daß unmittelbar vor dem Auftreten freier bauerlicher
Erbleihen und in der Zeit ihres beginnenden Auftretens die
Prekarie bereits zur Erbleihe geworden ist. Die Prekarie ist ja
selbstverständlich nicht die Ursache der Ausbildung freier
bäuerlicher Erbleihen, sondern nur der Ursprung, aus welchem
letztere hervorgingen und Vorbild, nach welchem sie sich ge-
stalten. Wenn bereits im 9. und 10. Jahrhundert in St. Gallener
Urkunden die Prekarie sich häufig als Erbleihe darstellt, so kam
sie damals nicht in die Lage, einen ähnlichen Einfluß auf die
Gestaltung der bäuerlichen Leiheverhältnisse auszuüben, weil
jene Umstände, wie innere und äußere Kolonisation, Blüte
des Städtewesens u. s. w. damals noch nicht diese Wirksamkeit
auf Hebung des Bauernstandes im allgemeinen, wie Ausbreitung
freier bäuerlicher Erbleihen im besonderen entfalteten, wie gerade
im 12. und 13. Jahrhundert.
Außerdem darf nicht übersehen werden, daß der wirtschaft-
liche Charakter der älteren prekarischen Erbleihe ein ganz
anderer ist als jener der jüngeren, die uns RIETSCHEL in den
Traditionen an St. Stephan vorwies. Bei jenen von SEELIGER
angeführten älteren Prekarien zu Erbrecht wird ein Zins aus-
bedungen, der in keinem Verhältnis stehen kann zur Grundrente
1) Vgl. RIETSCHEL, a. a. O. 224 ff. WOPFNER, à. à. 0.8 f.
2) die ja auch RIETSCHEL bekannt war, vgl. a. a. O. 208 und 230.
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 15
des verliehenen Gutes’). Dieser Zins hat offenkundig nur die
Bedeutung einer Rekognition des grundherrlichen Eigentums.
Die Würzburger Prekarien stehen hingegen in dieser Hinsicht
den freien bäuerlichen Erbleihen des 12. und 13. Jahrhunderts
viel näher ?).
Daß bei den Prekarien, welche mit vorausgehender oder
nachfolgender Schenkung seitens des Prekaristen verbunden
waren°), sich frühzeitig Erblichkeit des Leiheverhältnisses ent-
wickelte, ist unschwer einzusehen, da hier der Prekarist in seiner
Eigenschaft als Schenker vielfach in der Lage war, die Bedin-
gungen des Leiheverhältnisses vorzuschreiben.
Gegen jene Meinung‘), welche den Ursprung der freien
bäuerlichen Erbleihe des 12. und 13. Jahrhunderts nicht in der
Prekarie, sondern in der Leihe nach Hofrecht sucht, spricht
auch der Umstand, daß bei dieser, soviel wir ersehen können,
vielerorts nur faktisch eine Nachfolge der Erben in das Leihe-
gut besteht, nicht aber rechtlich.
In Tirol war z. B. dieses ältere hofrechtliche Leiheverhältnis
nicht selten derartig geregelt, daß der Beliehene alljährlich ab-
stiftbar war°). Die schlechte Qualität des Leiherechts vieler
Hintersassen kommt am deutlichsten im 13. Jahrhundert in jenen
gewaltsamen Bestrebungen derselben ans Licht, ihr schlechtes
Besitzrecht in ein besseres, erbliches zu verwandeln ®).
1) Zins von 1 den. in n. 780. 799. 804—807. 809. 812. 815; Zins von
2 den. in n. 802, von 5 den. in n. 783, von 2 Hühnern in n. 782 und 803
(WARTMANN, UB. St. Gallen III).
2) Vgl. SCHANNAT, vindemiae litterariae I, 54ff. n, 2. 5. 16. 20. 21.
31. 36 u. 8. w.
3) Die von SEELIGER, a. a. O. 50 n. 2 angeführten St. Galler Prekarien
mit erblichem Besitzrecht gehören in diese Kategorie.
4) Über die Vertreter derselben vgl. RIETSCHEL, a. a. O. 182 ff.
5) Vgl. WorrNER, a. a. O. 69 f.
6) Ebend. 73 ff., vgl. ferner über derartige Bewegungen unter den grund-
herrlichen Hintersassen RtETSCHELS Rezension vorgenannter Arbeit in der
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgesch. II, 328, ferner SEGESSER,
a. a. 0. I, 728 n. 2: Kaiser Friedrich II. entscheidet zuungunsten der ein
erbliches Besitzrecht an den Gütern (eine Beschränkung auf die Sellantgüter
wie SEGESSER annimmt, vermag ich aus der Urkunde nicht herauszulesen)
des Klosters Münster anstrebenden Hintersassen: „et uobis [preposito et fra-
16 H. Wopfner
Das Auftreten dieser Bewegung im 13. Jahrhundert ist jed
zweifelsohne auf das immer weitere Vordringen der freien E
leihe zurückzuführen, wodurch die grundherrlichen Hintersas
erst den Ansporn erhielten, mit besonderem Nachdruck a:
ihrerseits eine Besserung des Besitzrechtes anzustreben. Es
ja eine alltäglich zu beobachtende Tatsache, dass glei
mäßig lastender Druck, in unserm Falle gleichmäßig schlect
Besitzrecht, weniger hart empfunden wird, als ein Druck,
die Angehörigen einer Klasse verschieden belastet.
Die Gründe der Ausbreitung freier Erbleihen bedürfen |
wohl keiner eingehenderen Auseinandersetzung'). Wie schon
Altertum?), so tritt auch im 12. und 13. Jahrhundert die Erble
als die spezifische Leihe für Rottland auf. Die Kolonisation
östlichen und nördlichen Deutschland sowie der regere Aus]
des älteren Siedelungsgebietes haben daher unstreitig zu aus
dehnter Anwendung freier Erbleiheverhältnisse geführt, was di
wieder nicht ohne günstige Rückwirkung auf die allgemeine L;
der grundherrlichen Bauleute blieb und zu einer Besserung
Leiheverhältnisse am älteren Kulturboden führte. So moch
denn auch die hofrechtlichen Leiheverhältnisse, wenn auch ur
anfänglichem Widerstand der Grundherren?), sich in Erbleil
umgestalten.
Der Verfall der grundherrschaftlichen Organisation bewir
seit dem 12. und 13. Jahrhundert ein Zurückdrängen der Leil
tribus] potestatem et libertatem quam cetere ecclesie ad regn
pertinentes usque ad tempora nostra habuisse dignoscuntu
sententia nostre curie . . . concessimus, videlicet ut de dominicalibus ue:
et lunaticis seu aliis beneficiis ad predictas curias pertinentibus utilius
melius quam antea ordinatum fuerit facultatem disponendi habeatis.“
Wenn in Niedersachsen die Laten bereits im 12. Jahrhundert allgen
Erbrecht an ihren Gütern besitzen (WrrricH, Grundherrsch. in Nordw
deutschland 280), so dürfte hier wohl an den großen Einfluß der fr
Kolonistenleihen im nördlichen (Kolonistenrecht von 1106 bei ALTMA
BERNHEIN, ausgewählte Urkunden 146) und östlichen Deutschland zu den
sein, der sich naturgemäß in Niedersachsen früher geltend machte als e
im Süden Deutschlands.
1) Vgl. INAMA, Deutsche Wirtschaftsgesch. II, 208 f.
2) WOPFNER, a. à. O. 61f.
8) Siehe oben 15 n. 6.
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 17
nach Hofrecht zugunsten der Leihen nach Landrecht, denn die
Zersetzung der Fronhofsverfassung entzog auch dem auf dieselbe
aufgebauten Hofrecht den Boden. Am schnellsten äußerte sich
dieser Prozeß in jenen Grundherrschaften oder jenen Teilen der-
selben, in welchen die Streulage des Besitzes der grundherr-
schaftlichen Verwaltung besondere Schwierigkeiten entgegenstellte.
In Tirol beispielsweise lassen sich an den großen weithin
verstreuten Grundbesitz der Klöster Georgenberg, Stams'), Neu-
stift u. a. im 14. und 15. Jahrhundert nur landrechtliche Leihe-
verhältnisse nachweisen. In Niedersachsen wurden zahlreiche
Grundherren durch die Mangelhaftigkeit der Villikationsverfassung
zur Auflösung derselben bewogen. An Stelle der bisherigen,
durch das Hofrecht geregelten Besitzverhältnisse der Laten trat
das Meierrecht, ein dem Landrecht unterstehendes, zeitlich be-
schränktes Leiheverhältnis?).
Daß die Beseitigung der hofrechtlichen Leiheverhältnisse
keineswegs immer einen Vorteil für die Beliehenen bedeutet, zeigt
sich gerade hier in Niedersachsen, wo das vererbliche Besitzrecht
der Laten nach Hofrecht durch Zeitpacht nach Landrecht vielfach
verdrängt wurde ©).
Neben dem Verfall der grundherrlichen Organisation müssen
wir in der erstarkenden landesfürstlichen Macht eine der Ursachen
sehen, welche auf Beseitigung des Hofrechts und damit auch
der hofrechtlichen Leïheverhältnisse hinwirkte. Der Landesfürst
suchte einerseits durch seine Jurisdiktion, andererseits im Wege
der Gesetzgebung den Geltungsbereich des Hofrechts einzuengen ?).
1) Nur innerhalb des Gebietes der Stamser Hofmark, wo der klösterliche
Besitz kommassierter lag, lassen sich im Hofmarksrecht des 16. Jahrhunderts
Spuren einstiger hofrechtlicher Leihen entdecken. Vgl. tirol. Weistümer
I, 56 Z. 21 ff.: Von erst sult ir wissen, daz mein herr von Stams und
sein gotzhauß zu eu und den güetern, darauf ir iesund wesentlich sitzt, vil
mer gerechtikait haben, dann zuo andern des gotzhauß güetern, in der graf-
schaft Tirol gelegen.
2) WITTICH, a. a. O. 324.
3) Wirrrich, a. a. O. 881 ff.
4) Die tirolische Landesordnung von 1404 (publiz. bei; WOPFNER, a. a. O.
Beil. XVID stellt alle bäuerliche Leiheverhältnisse unter den Schutz des
Richters, in dessen Bezirk das Leihegut liegt (Punkt 12); das bayrische
2
Vierteljahrschr. f. Boclal- u. Wirtschaftsgeschichte. III. m
18 H. Wopfner
Ermöglicht und rechtlich begründet wurde dieses Eingreifen der
Landesfürsten in die grundherrschaftlichen Rechte, namentlich
die Rechte der geistlichen Grundherren, durch die Ausdehnung
der landesfürstlichen Vogteigewalt, die allmählich die verschiedenen
Vogteien innerhalb eines Territorium aufsaugte. Die Vogtei aber
gab dem Landesherrn die Befugnis, den grundherrlichen Hinter-
sassen Schutz gegen die Übergriffe der Grundherren zu gewähren,
dann aber auch positive Vorschriften zur Regelung des Verhält-
nisses zwischen Grundherren und Hintersassen zu treffen.
Diese Bestrebungen der landesfürstlichen Gewalt auf Ein-
schränkung der Wirksamkeit des Hofrechts kamen ebensolchen
auf Seite der grundherrlichen Hintersassen, ja überhaupt weiter
Kreise der Bevölkerung entgegen. So fordern Bürger- und Bauern-
stand am Innsbrucker Landtag von 1525 „daz man in gedachter
grafschaft Tirol under ainen landsprauch wonen“ soll und
wenden sich gegen das Verhalten vieler geistlicher Grundherren:
„daz sy sprechen, es soll mit den guetern nach irs stifts und
gotzhaus rechten gehalten werden, daz ist: es sey dem
landsprauch gemäß oder nit“).
Erwiesen sich also bereits seit dem 12. Jahrhundert eine
Reihe von Umständen dem Hofrecht und den Leihen nach Hofrecht
feindlich, so haben sich letztere wie ersteres gleichwohl durch
das ganze Mittelalter erhalten.
Fassen wir die hauptsächlichen Ergebnisse dieser Untersuchung
zusammen, so hat dieselbe vor allem versucht, den Nachweis zu
erbringen, daß jene von der herrschenden Meinung angenommene,
von SEELIGER aber bekämpfte Scheidung der Leiheverhältnisse in
freie und unfreie zu Recht bestehe. Als unhaltbar aber erwies
sich die von der herrschenden Meinung vertretene Gleichstellung
der unfreien Leihen und der Leihen nach Hofrecht.
Wir sind dazu gekommen, in den Erörterungen über die
Natur des Hofrechts uns im wesentlichen der Ansicht SEELIGERS,
Landrecht von 1346 regelt in Tit. 13 cap. 12, 22 u. a. sowie Tit. 15 cap. 1 u. 2
bäuerliche Leiheverhältnisse ganz allgemein ohne zwischen landrechtlichen und
hofrechtlichen Leihen zu unterscheiden. Über Eingriffe landesherrlicher Beamten
in die grundherrliche Gerichtsbarkeit vgl. MAURER, Fronhöfe IV, 490.
1) WOPFNER, 8. a. O. 83 n. 2.
Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter. 19
HEusLers und anderer anzuschließen, daß Hofrecht im allgemeinen
nicht ein Standesrecht, nicht das Recht der unfreien Bauern sei,
sondern nur ein Recht bestimmter Verhältnisse. Es vermag
daher auf den Stand aller ihm Unterworfener nicht jene ihm
vielfach zugeschriebene uniformierende Wirkung auszuüben. Es
ordnet die Rechtsverhältnisse sowohl der freien wie unfreien
grandherrlichen Hintersassen mit Rücksichtnahme auf ihre standes-
rechtliche Stellung.
Das Hofrecht schafft nicht eine einheitliche Masse unfreier
Hintersassen. Geregelt vom Hofrecht bilden sich verschiedene
Genossenschaften grundherrlicher Hintersassen; die Mitglieder
der einzelnen Genossenschaften setzen sich aus den einander
standesrechtlich am nächsten Stehenden zusammen. Diese Ge-
nossenschaften verwischen also nicht den Gegensatz von freien
und unfreien Hintersassen; wohl aber schleifen sich etwa noch
vorhandene Gegensätze innerhalb der einzelnen Genossenschaften
ab. Die unfreien Genossen werden durch diesen Prozeß zu einem
einzigen Stand, dem der Hörigen, verschmolzen. Die einzelnen
Mitglieder dieser letzteren, unfreien Genossenschaften sind einem
strengeren Hofrecht als die freien Hintersassen auf Grund ihres
persönlichen Abhängigkeitsverhältnisses vom Herrn unterworfen.
In dieser Hinsicht tritt nun nachweisbar seit dem 14. Jahr-
hundert eine Änderung ein. Der Umstand, daß Unfreie durch
Jahrhunderte hindurch bestimmte Teile grundherrlichen Landes
in eigener Wirtschaft bestellten, führte zur Anschauung, daß
diese Unfreiheit in engster Verbindung mit bestimmten Grund-
stücken stehe, daß jeder, dem solche Grundstücke vom Grund-
herrn verliehen werden, in das Hörigkeitsverhältnis eintrete.
Nicht nur Pflichten und Rechte, welche nach Hofrecht mit
dem Besitz solcher Grundstücke verbunden waren, das ganze
Hörigkeitsverhältnis selbst ward gleich einer Reallast mit dem
Gut untrennbar verknüpft. Da also die Übernahme solcher
Grundstücke im Leihevertrag ein nicht bloß vermögensrechtliches
sondern auch persönliches, vom Hofrecht geregeltes Abhängigkeits-
verhältnis herbeiführte, müssen wir derartige Leihen als unfrei
bezeichnen.
Indem wir ferner die Prekarie als ein wesentlich freies, dem
20 H. Wopfner
Landrecht entsprossenes Leiheverhältnis darstellten, das sich seit
dem 11. Jahrhundert zur Erbleihe auswuchs, schlossen wir uns
der Meinung RıETSCHELSs an, daß die freie bäuerliche, dem Land-
recht unterstehende Erbleihe des 12. und 13. Jahrhunderts aus
der Prekarie herzuleiten sei.
Serfdom in the Pyrenees
by
Miss Lodge (Oxford).
“Tous les habitants sont francs et de franche condition, sans
tsche de servitude; et nul n’a ni peut prendre aucune suite de
gens demeurant en la dite terre, ni exiger aucun dreit & cause
de la personne et du corsage desdits manants ni habitants ni
aucun d’iceux”’.’)
So say the customs of Soule; and those of Bigorre though
not so explicit, point to considerable freedom.—“Rusticus semper
pacem habeat, nec quisquam pignoret ei boves vel ferra arari”.*)
While in Béarn feudal power was limited by the old ‘Fors’,?) by
the independent spirit of the people, by the privileges possessed
by communes, bastides and rural communities; here if anywhere
the maxim held good “nul seigneur sans titre”.*)
Doubtless a land of mountains is a better home for freedom
1) Fors de la Soule, Rubric 1. Drawn up by Cour de Lixarre 21. Oct.
1520. — From. Haristoy-Pays Basque II, 379. Paris et Bayonne, 1885.
2) Coutumes du Comté de Bigorre (about 1109). Archives départemen-
tales des Basses Pyrénées. E. 368 f° 20. — (All the documents quoted in
this paper being from the same Archives, only the number of the manuscript
wii be given in future.)
3) The Fors of Béarn are a code of written land or custom dating from
the end of the 11tb century. They consist of general regulations for the
whole country of Béarn, the Fors of Morlaas a code of special communal
privileges afterwards extended to navy all towns of the land, the Fors of
Oloron, and others for the 8 important Valleys of Ossau, Aspe and Barétons.
There old customs were re-issued with some additions at various periods, the
earliest forms in evidence been published by MAZURE and HATOULET (Paris
1841, 4°. The reformed fors of Henri II, of which various copies exist are
chiefly useful for the end nf the 16th century.
4) MAZURE and HATOULET, Fors of Béarn, p. 81. — Lods and Ventés
a0t due “sino que lo caver ne pudos mustrar instrument public”.
29 Miss Lodge
than a country of plains, and the sturdy mountaineers of the
Pyrenees, isolated in their valleys, living almost entirely on their
flocks and herds, defending their pasture rights through thick
and thin, were far more able to maintain their liberties against
their lords, and far less likely to be reduced to the lowest stage
of serfdom than the inhabitants of Northern Gascony, and
the country round large Towns such as, Bordeaux and Agen.
But even in the mountainous valleys there are traces of ‘hommes
questaux’ throughout the middle ages; and taking Bearn, Bigorre
and the French Pays Basque as a whole, serfdom undoubtedly
existed as it did elsewhere, but nevertheless with sufficiently
varying conditions and characteristics to make it worth separate
study, and to form an interesting comparison with the more ex-
treme serfdom of the Bordelais.
To reconcile the theory of freedom with the constant mention
of ‘questaux’, it has been suggested that though land may have
been servile, personal serfdom was unknown. That duties,
disabilities and servile dependence were based on tenure is true
here as in all feudal countries, and there is plenty of evidence of
it. In 1374 the Comte de Foix frees from all “questalitat e
subjugacion” the “loc e casau de Casanave”;!) and it is stated
later in the same document that “sa casa en lo dist loc de Prat
qui es questau fo comprees en la dite franquesse”*) and the
Censiers of Béarn) and Bigorre‘) are full of “ostaus questaus”,
‘‘terras questaus”.
But this explanation will not hold good throughout; there
were serfs by status as well as by tenure. Thus in 1318 we
find a man who was a serf ‘tam ratione corporis quam ratione
tenentiarum suarum’”.®) In 1343 an enfranchisement was granted
1) E. 802 f° 86 v° 24. Dec. 1374.
2) E. 302 f° 86 v° 28. Dec. 1874.
3) E. 808 f° 38 v°. Censier de Béarn, 14tb century: “Ostau questau fe
per aubergade XVIII d: morl:”
4) E. 377 128 vw”. Censier de Bigorre 1429: “Lo cap casau de Casande-
bat... estengut de pagar cascun an . . . sivada garie et anhet cum
dessus X sous morlaas per queste tres pes de porii aixi cum los autres
questaux”.
5) E. 759.
Serfdom in the Pyrenees 93
to “soos homis de coos e de casaladge”,') and similarly in
1371 the Comte de Foix “assout e quitat son serf cos e persone
de tote questalitat e subjugacion”.?) Etc. Etc. What is more, in a
Censier of Bearn in 1388 we actually find serfs without any
land at all; this is, as a rule, in the case of younger children
who do not naturally inherit; some are dwelling in a sister’s house
and work for their living;°) others have no house nor land but
pay quête for their body.)
Taking it then as proved that serfs, known as ‘hommes que-
staux’ existed in the part of France now included in the Depart-
ments of Basses and Hautes Pyrénées, and that there might
he serfs by birth as well as by landholding, we must notice
certain circumstances which affected their position, and which
helped to stamp local characteristics and peculiarities upon them.
lt is in the Pyrenean countries, as we have seen, that some
of the earliest governmental and social regulations are found.
The Fors of Béarn with those of Morlaas and Oloron etc. (see
note 3) date in their primitive form from about the 11‘ century;
the customs of Bigorre are of much the same period: and those
of Capsoule though the copy we possess of them is later, were
doubtless a codification of the established usage of the country.
Every Vicomte had to take an oath to observe there rules, and
in the same way the lords of different territories were bound
to do right to poor as well as rich. The Fors of Morlaas, in a
rubric devoted to questaux,°) assert that they are bound to have
enough to live upon, that their lord must give them land sufficient
to nourish themselves and their family, and that the quête to
which they are liable, must never be 80 great as to force them to
1) E. 1916 Notaire de Pardies.
2) E. 302 f° 79 v°.
3) Enquête sur les Serfs de Béarn, 1388. Published by PAUL RAYMOxn.
Bulletin de la Société des sciences, lettres et arts de Pau. (1877—78.)
2 série vol. 7 p. 110: “Viven de lor brasse”.
4) PAUL RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p.121: “No ostau ni terres,
mas per son corps los vesiis qu’en feu paguar 12 morlaas de queste”.
p. 20. “Los quaus enfans eren de segonte molher e no an hostau ni
autre cause”.
5) MAZURE and HATOULET, Fors de Béarn.
94 Miss Lodge
sell their oxen in order to pay it. In the charter granted by
Bernard II to Bigorre in 1098,') the peasants, though bound to
the soil and debarred from hunting or fishing on their own
account, are protected by the state and are permitted to resist
their lord in 2 cases; viz: if he should burn their houses or
seize their beasts.
No doubt these limitations were not always rigidly observed,
but that they were not merely a dead letter is proved by one
article in the Fors of Morlaas,*) which commemorates the depo-
sition of the Seigneur de Mirepeix for declaring in a matter of
imposition that “qui ne puisse qu'il puisse”. The justice of this
vengeance is maintained in the following article which declares
that ‘Dieu ne commande pas qu’on fasse plus qu'on ne peut”,
and therefore no man must be arrested for refusing to pay an
obviously impossible sum.
But still more important to the serf than the written law of
the land, was the independence fostered in the mountain valleys,
and in the privileges granted to the numerous rural communities
or ‘beziaus’ as they were called, which existed particularly in the
hilly and isolated parts of the country. These beziaus were united
together by common privileges, common duties and above all
common pasture; they had a certain amount of self-government,
they could make treaties of peace with other beziaus, and they
could stand shoulder to shoulder in defence of their rights and
customs against their own lords, or even the Vicomte himself.?)
The members of these communities, those inkabitants who shared
in communal expenses and enjoyed communal privileges were
known as beziis or voisias, and they combined something of the
old family tie with something of guild relationship. They were
mutually responsible for one another; they were, in some places,
bound te help their poorer neighbours; they shared in all the privi-
legen grantod to the community, amd they were to the villages
or rural districts much what burgesses were to towns. It was
1) Published by Abbadie. Sovitté Académique des Hantes Pyrénées.
9) Mazunn and Harutuer, Fors de Béarn, p 208
3) Livre Rouge d’Ossau — pamim — (Arch. départem. des Basse:
Pyröutes) nacatalogued.
TR
Serfdom in the Pyrenees. 25
their business to eleet oflicers to condact the affairs of the whole
body, generally a ‘Garde’ or treasurer to oollect dues and taxes
and to pay any provisions owed by the locality to a private lord
or to Monseigneur le Vicomte. And these voisins might even be
‘asestaux’. — Tenurial questaux possibly, privileged questaux pro-
bably, but questaux nevertheless, and not necessarily distingui-
stable from the majority of their fellows. In 1316 the “besiis e
besies de Cauteretz” declare of their own free will “que eds e
lors predecessors eren et ero estadz seissaus e questaus de dreit
e de ley, d’entradgie, d’exido de compra e de fedexoos (due on
birth), e serve condicioo”.') In a Béarn Censier of the 14%
century, “La beziau de Ponsadesus (Ponson-dessus) heren questaus
een l’an present a son estatz afranquidz”.?)
One other custom of the country must be noticed as affecting
te servile as well as the free population, and that was the general
kaning towards primogeniture. The rules as to succession cannot
be said to have been universally the same: in the Valleys of
Barèges and Lavedan primogeniture prevailed without regard to
sex;”) in one street in Lourdes females were excluded by males;
in the Pays Basque the eldest born of either sex succeeded to
ordinary rural property, but in the case of acquired possessions,
if there were no will, all would be equally divided;*) and so
on in great variety, but with a general tendency for the capcasau
or principal estate to fall into the hands of the head of the family,
and for the younger children to live with and work for him, or
to marry with other heads of households, in order that they might
not remain in poverty and dependence on the good will of the
first born. *) |
Whether thanks to the customs of the country, or to the innate
love of the people for freedom, the serfs of the Pyrenees seem
to have been better off than in other places, and were less rigidly
1) LAGRÈZE, La Féodalité dans les Pyrénées. Pau, 1864. Quotation
on p. 494.
2) 2. 909 f° 39 v°.
3) Nosuks, Les Coutumes de Barèges. Toulouse, 1760 12°.
4) Harısrovy, Pays Basque p. 451. Coutumes de Labourd XII
5) JuLES CORDIER, La droit de famille aux Pyrénées, Paris, 1859.
26 Miss Lodge
debarred from the advantages generally enjoyed only by the free.
Thus it may be indicative of a certain respect that the heads even
of servile families are frequently spoken of as ‘senhors’ and ‘daunes’.
In 1357 we read of “Guirande daune d’ambiele notre cessau et
questau”;') and in 1440 a charter of enfranchisement was
granted to “los senhors eus filhs e las filhes” of a piece of questal
land;*) and many other instances could be cited. That they
could be voisins we have already seen, and it is also a peculiarity
of this part of the country to couple ‘ceyssau’ and ‘questau’
together in the way which is so common in the documents both
of the Hautes and Basses Pyrénées. In the Bordelais one great
distinction between serf and free was the payment of arbitrary ‘quête’
in distinction to fixed ‘cens’; but here payers of cens and quête are
mentioned in the same breath. This use of ‘ceyssau’ is certainly
not meant to imply the free ‘censitaire’ of other parts: Lagreze
indeed suggests that as ceyssau are always mentioned first that
may imply some sort of distinction between them;°) but as
a matter of fact this is not universally the case,*) and it seems rather
to put on the same level, serfs paying rent in money or kind with
those paying the typical ‘quête’. But, what is more, quête is by
no means always arbitrary; even in early censiers mention is
often made of a fixed amount of quête, either from an individual
or from a whole village,°) and there is indeed a tendency to
commute most payments into definite sums of money.) Above
all.there is the trace of an idea that the natural condition of man
is to be free not servile, and that this freedom is a question of
u m
1) E. 1596 f° 52. Notaire de Navarrenx. 1857.
2) E, 1767 f° 82 v°. Notaire d'Oloron. 1440.
3) Laurnze, La Féodalité dans les Pyrénées, p. 38.
4) KE. 30% f° 30. “G. de Perent de Monenh e M. sa moelher soos ques-
taux © ceysxans.”
5) E, 317 f* 39. l'ensier de Béarn 1365: “Lo besian de Serse totz en
semps cecl sols de Morlaas de queste”. E. 377 Censier de Bigorre 1429 f° 76.
“Cap casau de KSasera per queste XXI blancs meya garie etc. etc”.
6) EWR C'ensier de Béarn 148 c. 1° 33 v°: ‘‘Geronde questau III d:
tina e IX d: per mierhe aubergade”.
E 389 Censier de Muntanérés 1438 - 65 f* 140°: “XI sols los questaus
de mayesque en mar per Ina herma et argues etc. etc.”
Serfdom in the Pyrenees. 97
status and free parentage, in the little clause inserted so frequently
in charters of enfranchisement: ‘en torna au prumer graa de nature
deu quoau totz em francx en aixi cum si ere nat de francx pay
e may”.')
Every thing seems to point to a condition of modified serfdom
in the Pyrenees, with frequent fixing of services and dues, with
protection by law and possibilities of advance and of independence.
But there is at the same time a reverse side to this picture: the
disabilities of serfs were real enough and in many cases irksome
enough, and there are evidences of real poverty among them,
which seem to imply that with less close supervision they had
likewise less protection and less support.
The most essential characteristic of a serf appears to have
been his attachment to the soil. Monsieur Raymond suggests
that this is the meaning of queste.— As questare means to search,
homme questal he says may mean a man subject to this search, —
a dependant whom his lord may seize if he attempts to go else-
where. *)
The Editors of the Fors of Béarn, though they give ‘questal’
the more probable meaning of subject to quête, notice this liability
to be reclaimed, as a universal condition ; *) and the same is stated
in the 16 century Commentary on the Fors by M. de Maria.‘)
Though there are instances of free men also making promise
not to leave the estate, it is certainly a stipulation rarely, if
ever, absent from the ‘reconnaissance’ of a serf. Thus in 1324
we find; “homi e femne serps e questaus deu Senhor de Clavarie
.. natz e badutz e neuritz en cazau de capanmaron loc e cazau
serp e questau . . . ne dejus sa senhorie nos partiran per poblar
ne per acazar ne per estar part sa voluntat”’°); and in 1404 a
man and his wife declaring that their children are serfs, agree
that they may not leave the seigneurie, and promise that they
1) E. 1699 f° 23. Notaire de Navarrenx, 1405.
E. 1918. Notaire de Pardies 1870: “Tornat au prumer graa de franquessa
axi cum si ere engendrat de franc pay e may etc.”
2) RaYmonD, Enquête sur les Serfs, p. 122.
3) MAZURE and HATOULET, Fors de Béarn, p. 75 note.
4) M. de Maria Avocat, Éclaircissements sur le for et coutume de Béarn. 1551.
ö) E. 948,
28 Miss Lodge
shall come whenever required;') while in enfranchisements it is
a very frequent, though not quite universal clause in the list of
promised privileges “de anar tornar estar habitar poblar e acasar
aqui on lo playra e usar de totes bones condicions de homis e
femnes francx’.”)
Besides being bound to the soil there were other disabilities
and services especially characteristic of serfs, though they varied
in different cases and were not all imposed upon the same in-
dividual.
Arbitrary payments can certainly not be considered as an
essential feature of Pyrenean serfdom; in some cases of-course
they were unfixed, as we find in the Livre Rouge de Bénac where
licence to marry outside the seigneurie was to be paid for “a la
voluntat deu senhor de Castedloboo;”*) but in a charter of 1313
for the inhabitants of Lavedan, 30 sous morlaas was fixed as the
price,‘) and a similar arrangement per house was made elsewhere
for fedexoos?) and for burial dues.°) In the Inquest on the serfs
of Bearn in 1355 a list of fixed dues for the holdings is almost
always given; so much for oublie, so much for arciut, so much for
aubergade, so much for quäte;’) indeed the only constantly
vague item found in that particular censier is castle guard, which
-
1) E. 950. G. de Benet and his wife “fossen tengutz d’anar sercar los
ditz enfantz, e si los troben los torneran juus lo poder deudit senhor”.
E. 948, 1318: “femne serve questau e seissau per tornar en son poder
tote betz que per lus o per son sert mesage seran requeritz”.
E. 1919. Notaire de Pardies 13882. The seigneur of Abos claiming certain
men as serfs declared ‘que negun ni mascle ni femi . . . podin anar poblar
fore son poder mas queus devin poblar jus lor e habitar jus lor, si donxs lo
diit senhor d’Abos ne done lisenti”.
2) E. 302 f° 46 v°.
E. 1767. Notaire d’Oloron 1440. f° 92 v° Certain men were allowed
“per anar ont los playra o per star en losdiitz locs, o per poblar sa en
quinhe senhorie se bulhen, e per usar de tot privilege de franquesse aixi
cum homis francx”.
8) Quoted in LaGrkre, La féodalité dans les Pyrénées, p. 144.
4) LAGRÈZE, p. 144.
6) LAGREZE, p. 240.
6) LAGRÈZE, p. 165.
7) RAYMOND, Enquête sur les Serfs p. 5 etc. etc.
Serfdom in the Pyrenees. | 29
was demanded from each homme questal, and apparently left to
the lord’s discretion,') but in some cases even this may have
been fixed at a special length of time.?)
Serfs were not supposed to sit in judgement nor to make
wills; a man freed in 1370 is allowed ‘per far ordie e testamentz
per entrar en judiament ab luy e ab tote aute persone ;” *) they
could not sell nor give away their land without the lord’s licence ; *)
and from time to time a few curious services are eited, such as
beating the water to keep the frogs quiet at night,°) making bread,
earting wood (a very common duty) or washing tablecloths etc.®)
tbough in many cases it is difficult to be sure whether these
things are owed by serf or free.
A very imteresting document of the 15!" century, an account
of a dispute between the abbot and the questaux of the monastery
of St. Savin (Hautes Pyrénées) gives a list and explanation of many
payments and services which were due, though they need not all
have been essentially servile.’) Here, besides quête and other
payments, those with sheep were bound to send them for 15 nights
on to the Abbot’s land, to supply him with hens at Christmas,
to pay entries and exits on any change of property, (this is as
a rule reckoned a free payment), and to purchase a licence to:
marry or to leave the estate. One of the most interesting dues
was ‘presentia’ explained as a payment which had to be brought
in person, thereby seeuring the presence of the serf on the demesne;
and a very unusual interpretation is given of fedexoos, which
u 1) RAYMOND, Enquête sur les Serfs. Passim.
2) E. 316 f° IF v*. Vicomte de Béarn frees a man “de tot lo servitut.
que lem tengut de far per un an en la garde dessoss casteg cum asson questau
esterlo”.
3) E. 1918 f° 40 v°. Notaire de Pardies, 1370.
4) E. 302 f° 6. 1371. An enfranchisement allows “alianar obligar far
dizen e complir totes lors propris voluntatz de totes los bees e causes”.
E. 358 f° 21. 1826-657. Gifts are held to require “la laudor del senhor””.
5) E. 368. Cartulaire de Bigorre 1062—1263 f° 2: “lo casal — debet
las granolhas far carar” (Lourdes).
6) E. 368. Cart. de Bigorre f° 7: ‘‘e forca e fals e flaget e caval al-
bergar pa far e legna” (Ibos). f° 8: “Lo casal Brunet deu las toalhas
lavar etc. etc.”
7) H. 152 Sentence arbitrale. 1486.
30 Miss Lodge
instead of a due on birth is said to be a commutation of the
service owed by every questau of a years work for the lord; boys
at the age of 14 and girls at the age of 12. This duty was
imposed upon the serfs of Béarn also, and is mentioned in the
Censier of 1388;') probably there also a money payment was
frequently substituted. These conditions do not, as a rule, appear
very oppressive, and the payments and services when fixed were
far from severe; but nevertheless it cannot be denied that
a good deal of poverty and distress existed among the servile
inhabitants, and this is very evident in the Inquest of 1388, a
house to house visitation commanded by Gaston de Foix to discover
what sum the unfree population were ready to offer for the
privilege of freedom. Numbers answer that they have nothing
to give for their liberty,*) some add that they have “no ox nor cow
nor other beast”,*) or that they are “poor men who live by the
work of their hands”;*) one poor old woman of 70, with no
husband nor child and many dues to pay, has no money to
offer.) Etc. Etc.
The chief poverty was among the younger children, owing to
the prevailing custom of primogeniture already mentioned; the
younger brothers and sisters often went out to work, and in the
rare cases where both husband and wife were ‘cadets’ it generally
followed that they had neither “ostau ni terres”.®)
In every village there were abandoned holdings, the families
having either died out or deserted “la terre qui meurt” for more
lucrative employments. The many instances of this dispel the
usual belief that a serf was at least well looked after by his
lord as being a valuable chattel, and shew that dependence was not
incompatible with distress.
All this would doubtless depend on the character of their
individual masters, and from time to time we get traces of real
1) RAYMOND, Enquête sur les Serfs.
2) RAyMmonD, Enquête sur les Serfs, p. 37.
8) RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p. 129.
4) RAYMonD, Enquête sur les serfs, p. 91.
5) RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p. 110, 131.
6) RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p. 76.
Serfdom in the Pyrenees. 31
bad treatment. Complaints were made to Edward I in 1305 by
certain men of Dax, ‘“questaus e homis per son linadge”, that
their lord and his companions “aucigo (killed) 1111 e arso totes
les maizons de la paropia e airrauba todz los beis e tot lo bestiar
et prins los vestimentz’’;') and the story of Gaston Phoebus is
fall of horrors inflicted on the unlucky peasantry.?)
Such things were, however, due to accidental circumstances
rather than inseparable from the condition of a serf. On the
other hand, the close connection between free and unfree, the
constant intermarriages, the difficulty of drawing any distinct line
between the two classes, and the constant disputes in court between
lords and serfs are particularly striking, and point to the very
close relationship which existed amongst members of both ranks.
The holders themselves were frequently confused; thus in 1388
one man says his property is not servile but ‘vassal and censitaire’,
although he has to confess to paying quête;*) while another
claims freedom because he has never paid ‘aubergade’, — a fact
which has certainly nothing:to do with the question, as his neigh-
bours do not fail to point out.*)
The difficulty of ascertaining rank was increased by the
almost total lack of any documents to prove one thing or
the other; a father, wishing to marry his daughter to a free
man, was so doubtful as to her condition, that, having no
document to shew, he promised to purchase her freedom to make
all square.°)
The question of quête again presented endless dificulties.
Was it only paid by questaux, or could it be imposed even on
1) Miscellaneous Rolls Chancery. Bundle 52° 7 (Record Office).
2) Lespy and RAYMOND, Un Baron Béarnais au 15° siècle. Pau, 1878,
2 vols 16°.
3) RAYMoxD, Enquête sur les Serfs, p. 132.
4) RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p. 133.
5) E. 1926. Notaire de Pardies 1396. f° 1: “Cum maridatge sie estat
feyt segont que dixon entre A. de Cazenaue de Suros macip franc une part
e F. felhe de P. d’Osse de Poey d’autre part dizent lo dit A. Son marit
que no sab si ses franque ho o no ni lo diit son pay no sab mustrar nulh
instrument de affranquiment; per so lo diit pay... prometo e autreya....
de affranquir le asson propi cost.”
32 Miss Lodge
free men as the serfs of Montanérès tried to assert?!) A good
deal depended on prescription ; servile duties performed for a number
of years were almost impossible to shake off. Thus in the dispute
already quoted between the abbot of St. Savin and his men, the
abbot said in support of his claim, that he had received servile
dues for 20, 30, 40, 50 or 60 years, and since the memory of
man reached there had been no contradiction; while the questaux
on the contrary asserted that quête and other payments had been
added in recent times;*) and in another place a similar claim
is put forward on the part of the serfs.°)
All this uncertainty was tenfold increased by the complication
of mixed marriages and the doubt as to the effect made thereby
upon status. The Fors of Morlaas say “lo marit no pot affranquir
los homis ni la terra qui ha de sa molher”,*) and neither did
marriage with a freeholder give freedom to a servile wife or a servile
husband; did it then enfranchise the children? To all appearances
this was not necessarily the case. In 1388 a serf, who had
married a free man, offered 10 florins to free herself and her
children;°) the son of a mixed couple, himself having married
a serf, offered 33 florins to free the whole family. One difficult
case which arose was that of a free man and a free wife who
had servile land and did not know what their children would be;
the father considered that they ought to be free, but offered
6 florins to make it sure.®)
1) E. 868. 1326-57. The questaux declare “que los diitz francs e bo-
toyees francs” ought to help them pay the quête; and after much discussion
it was agreed that all ancient holdings should contribute, for though freed
they were still bound to this payment, but that all newcomers were exempt.
2) H. 152. Sentence arbitrale 1486.
8) E. 1600. Notaire de Navarreux 1406 f? 3 v°: “La defence de Pro-
dine danne deudit loc de Clarac de Peyrat son gier disen que egs e lors
predecessors senhors dendiit loc de Clarac lan lotz temps li tengut cum
afranc que memorie no es deu contrari, sees que lodiit Ramon ni 8008 pre-
decessors senhors saurers de Balansun e de Bastanees entro adares nols y
han feyt negun empatch per aquere cause otre los devers e fius costumatz”.
4) MAZURE and HATOULET, Fors de Béarn, p. 172.
5) RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p. 2.
6) RAyMoxp, Enqête sur les Serfs p. 147: “jassie que las filhes no
deyen estar questaus cum sin de francx pay e may”.
Serfdom in the Pyrenees. 33
Occasionally freedom was claimed through the father‘), though
not always with success; but, in one instance, the children of a
serf and free woman were declared free, “car l’enfant sec la
condition de la may”?).
The only security for freedom was a written title, and some,
who had already purchased the privilege at an earlier date, were
still considered as serfs, because unable to find the record of this
transaction *). The titles themselves were not always too explicit;
for example, one woman who had married into a servile family
which was afterwards freed, thought that she herself was included
in the grant of liberty, but was ready to offer 3 florins more if
she were still a serf.
Enfranchisements did become extremely numerous throughout
the 14‘ and especially the 15‘ centuries; the lords were doubt-
less in need of money, and they may have found land, let out
freely for cens, both more lucrative and more likely to be well
cıltivated; besides which it was very usual to grant freedom to a
whole village .or district in order to attract inhabitants. *)
Freedom by gift, by ordination, by residence in a chartered
town were all possible, but by far the most usual method was
purchase,°) and the land then become fief or censive, making regular
payments, and still subject to numerous small exactions of various
kinds, which continued, in many cases practically without change
till the Revolution of 1789.
These enfranchisements usually included, as we have already
1) RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p. 70: “Que son pere ere franc
jassie que lo may fos questave, perque no es questave segont la costume
deus questaus, e no deu res a Moss: car no es questave”. (But was called
w all the same.)
2) RaAyMonp, Enquête ‘sur les Serfs, p. 20. This was done at the
isstigstion of the curé.
3) RAYMOND, Enquête sur les Serfs, p. 233.
4) Enfranchisement of Montaner 1281. Published by MARSEILLAN,
Histoire du Montaner, p. 185: “Gaston Vicomte de Béarn etc. de nostre
rolantat affranquim poublans los homis deu casteg de Montaner . . . per
ks bomis deudit casteg . . . aben jurat autreyat e promes dar e pagar . ..
totz ans . . . cinq cens cinquoante cinq soos de Morlaas de fuis.”
6) E. 1916. Notaire de Pardies 1845 f° 14: “Loquoau affranquiment
fe lodiit n’Auger per some de CCC sous de bons morlaas etc. etc.”
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 8
84 Miss Lodge
seen, liberty to leave the soil, to escape certain dues — such as
quête, aubergade and others, —!) to make contracts and wills,?)
and to enjoy fuller pasture rights;’) but the liabilities still left
were heavy enough, and may have caused many to think twice
before converting their ‚questaue’ into a fief or censive.
Military service, lods and ventes (capsoos,*) and a yearly
payment in recognition of their freedom known as ‘franquau’ 5)
were generally added: while residence, duty of hospitality, certain
labour services and other relics of their old condition were fre-
quently retained,°) and it is pretty evident that if any one lost
by the transaction it was certainly not the lord.
But charters of enfranchisement were not obtained by all,
and as late as the 17 ‘* century a Terrier of Sauveterre enumerates
many questal holdings burdened with payments and services
similar to those of medieval times;?) fixed and commuted no
doubt, but that, as we have seen, was a process begun at a much
earlier date. In 1677, however, it is invariably the land which
is burdened, not the tenants; — the old idea of status has gradually
yielded to the doctrine of tenure, and it is the holding alone, not
the man, which is known as questal.
To sum up the general conclusions to which the documents of
the time seem to point; it would appear that serfdom was well
known in the Pyrenean districts throughout the middle ages, though
on the whole less widespread, less oppressive and less extreme
than in many other parts of France; that the distinguishing and
universal characteristic of the ‘homme questau’ was his inability
DE 90 82 v°: „De totes questes oblies e aubergades e autes
debers e serbitutz que lodiit senhor y ave ni aver y deve cum a son questau
e ceissau.“
2) E. 1918 f° 40 v*. Notaire de Pardies 1370.
3) E. 1768. Notaire d'Oloron 1462. f° 29: “An affranquit e dat pa-
doence at Auger de Lederix . . . pusque padoir e fustar lodiit herm per
la forme que los besiis de Momor y deven fustar e padoir”.
4) E. 2298. Maslaoq 1298: “Dret e ley host e ord e bendes etc.”
E. 1767. Oloron 1440: ‘‘bendes e perparances © capsoos”. |
6) E. 2801. Meritein 1220: “Pour franquan chascune année X sols
morlaas”.
6) See Appendix A and B.
7) C. 1157. Terrier de Sauveterre 1877. See Appendix C.
Serfdom in the Pyrenees. 35
to leave his lord’s estate; that his dues, services and payments
were frequently fixed and that at a fairly moderate fignre; and
that he had greater opportunities for holding his own, for disputing
with his lerd, for sharing in the management of local affairs, and
for shaking off his dependence than the majority of his class;
and that it may have been partly the advantages of his position
and the lightness ef his liabilities which decided many a serf
to remain as he was, although in individual instances poverty,
distress and ill-treatment were the result.
Bat if serfdem be worthy of study in these districts, the
picture of ceuntry society remains very incomplete without a
consideration of the free peasants, who formed the bulk of the
inhabitants in the mountain villages and the backbone of the
rural ‘besiaus’, with their self-sufficiency, their independence,
their freedem frem supervision, and from many of the worst
forme ef feudal oppression.
Appendix.
A. E.2288. Charter of Enfranchisement. Maslacq. 1298.
“Conagude cause sie que cum lo noble senhor Rodger Bernard
compte de Foix Vescompte de Bearn e de Castelbon et la noble
done Margaride comtesse e Vescomtesse de quegs medixs loex
agossan a Maslac de Larbag, vingt casaus questous e seysaus
© pluus, e tractament fos estar feyt enter los diitz senhors dune
part eus homes senhors deus diitz casaus dautre part, de poblar
a Maslac a la franquessa e au for e a las costumes de la biele de
Morlaas. Lesdiitz senhors e done que prometon soberdisso aber
laatrey de lor filh hereter Gaston affranquin losdiitz casaus e las
terres deus casaus © los senhors e las daunes deusdiitz cazaus
enfanz e naturalz naz e anacxer per totz temps egtz poblar
ensemps ab autres poblans en lodiit loc de Maslac a la fran-
quesse e au fer e a las costumes de Morlaas. Et los den plen
poder e licencie franque de far clausure aixi cum los autres locxs
poblaz au for de Morlaas, e donaran a cascum poblant sengles
places de cade tredze arazes de ample e dex sexante arazes de
long enter lo barrar darrer e la carrera public, a sieys diners e
cirmanadge per place, e los donan cade vingt jorndesa de terre
36 Miss Lodge
per laurar o binhes o bergees o fears far, a oeyt 8008 de fius
per los vingt jornades quen fasen cade an cascun deus poblanz
‘per nadau, e los donaren plus dus cenz jornades de terre que
los remangue herme per padoent pero sien tregen dequeres dus
cenz jornades que de la treyte dessen far per jornade, e segont
que lautre fius monte per jornade, e retengon se losdiitz senhors
comte e comtesse sober losdiitz poblanz dret e ley, host e orde,
quant de Larbag exiran, e bendes si lors maysons e places o terres
autres o binhes o bergees o fears la que poblar auren benen, se
es assaver lo capsolz deus dodze diners ung diner, deus dus soos
dus diners, e en aixi de qui ensus deu sol ung diner tant cum
la some montare de m. 8soos mil diners, e presentations a lor
messadge a Maslac per ters die. Si maysons o places o terres
o bergees o binhes o fears benen pagan si larthien per nou dies
apres 0 prenen daqui abant lo capsoos tanz diners cum la somme
deu bende conthiere solz, la ost e lorde exir ab Larbag e las
bendes e las presentations dessus diites se retenguen no contrestan
ni prejudican au for de Morlaas e aus autres caas.”
B. E. 1767. Notaire d’Oloron 1440. Enfranchise-
ment. f° 92 v”. “Coneguda cause sie que en Bertran de Domet
de Goes na Condor sa molher Arnoud son filh e Guiraute sa
molher totz encemps autreyan que no fossatz ni contrestz engavatz
ni decebutz per negune persone deu mon, mas de grat e de lor
voluntat e de lor certe scienci de tot lor dret e feyt certificatz
per lor e per tot lor Ihinadge . . .. an afranquitz quitatz e
renunceatz e deleixatz los locs aperatz Binhou Bergers e Conques
de Goes e de Faget, e los senhors eus filhs e las filhes qui son.
ni seran deusdiitz locs . . . e totz lors bens e causes qui are
an interessi abant auran ab totz lors melhurers e ab totes lors
apperthiences, de totz dretz e debers e de tote senhorie e subjecion
que egs y aben o aber y deben o y poden aber . . . per anar
ont los playra o per star en losdiitz locs o per poblar se en
quinhe senhorie se bulhen, e per usar de tot privilege de fran-
quesse aixi cum homis francx . . . . exceptatz que lo sobre diit
afranquiment los diitz senhors de Domet se arthiencon audiitz
laucx de Binhau etc. certes causes de debers losquoous los senhors
qui son e per temps seran deusdiitz locx son thiencutz de far
Serfdom in the Pyrenees. 37
ausditz senhors de Domet. Soes assaber cada un deus senhors
deusdiitz locx deben mostrar hereter loquoau hereter deu thier
foec biu ens diitz locx e deben complir las causas dejus scrutes,
. .. . deben los diitz hereters far dret e ley en la man deu.
senhor de Domet e a sa bolor man e ban e lo senhor de Binhau
que deu daz de fius cada an . .. XXV soos de bons morlas,
€ los senhors de Berges e de Conques cada XII soos e VI
diers morlaas.
Item e deben moler tot lor blat gros e menut au molii de
Domet totz los sobrediitz pagan punhere acostumade de senhor
€ demorar betz, e si alor betz no poden moler star I noeyt es
si stat la noeyt no aben podut moler que sen podossen anar
moler or se boleran, es si per abenture no bolen demorar betz
ni la noeyt star, pagen aqui la punhere degude e acostumade
que sen pusquen anar. Empero si no demoraben betz ni no
staben la noeyt e sens punhere pagar sen anaben moler en autre
molii, lo sac e lo blat fosse deu senhor si eg en aquere betz
osson mesage en lo camii lo poden encontrar.
Item e mes que deben bater ab las egoes qui lo senhor de
Domet los dara on que eg las se aye fasen tabon marcat cum
bateran los autres besiis de Goes.
Item e si lo senhor de Domet ab abe obs ni ac bole los senhors
deus diitz loc quel deben intrar fidance entro a mil s0os de morlaas
o dequi en jus per 80 que meter los bolera.
Empero la que egs encemps o cada uns lentra e an fidances
lo senhor Domet los ne deu gardar de tot dann, e quant egs se
obligaran per luy queus deu autreyar carte de garenthie ab obli-
gation de totz sons bens.
Item de mes quel deu lo senhor de Binhau en cada an far
X Iheytz (beds; means probably to give night’s lodging to 10 men)
e losdiitz locx de Bergers e de Conques V Iheytz lan, si lo senhor
de Domet ob de hostes que agosse ac bole ni ac abe obs. E plus
quel deben arcoelher (receive) en los locx cada dus cavags o a
roeiis cada noeyt que lheytz faran lo senhor de Domet dan los
se sivade e fee. |
item si los senhors deusdiitz locx . . . bolen bener de las
terres . . que si arthiencon au senhor de Domet bendes e per-
38 Miss Lodge
parances e cap8oos; e si lo senhor de Domet feyte la perparance
no prene la terre onola bole etz a daute la benen cada jornade
quin beneran de la terre qui an a Goes fosse obligade, e aqueg
qui la crompare de pagar VIII diers morlaas de fius per nadau
cada an au senhor de Domet. Item mes se arthiencon que si
los senhors deusdiitz locx o auguns qui ausdiitz locx o en cada
un stessen se logamen egs ni lor bestiar stan ens diitz locx ques
deben logar au senhor de Domet eg dan tant cum antre e fasen
los ac assaber la noeyt dabant. E si feyt a lor assaber la noeyt
egs lo responen que nos bolen logar e puixs se logamen quel
sien tengutz de dar XII diers morlaas de cada betz qui en aquen
guise se logaren a dantz egs ni lor bestiar.” (Limit on pur-
veyance of beasts.)
(In return for this enfranchisement the senhor of Binhau paid
440 sous, the others each 266 sous.)
C. C. 1157. Terrier de la senéchaussée de Sauveterre,
Commune de Lichos. 1677. |
f? 45. «S’ensuivent les maisons questalles et terroirs en de-
pendans assis au territoire de Lichos avec les droits et attributs
qu'ils sont tenus d’en faire au Roy seigneur souverain:
Et en premier lieu tous les dits questaux ont reconnu et
confessé estre tenus et avoir accoutume bailler tous et chascuns
leurs enfans masles, l’ainé excepté, audit seigneur souverain de
Béarn, pour servir chacun pendant une année et faire garde au
chateau d'Orthes sous le commandement du capitaine chatelain
dudit chateau.
Item ont reconnu et confessé être tenus de demander permis-
sion au seigneur souverain lorsqu'ils veulent marier leurs filles
avec des hommes francs et en maisons franches. Item ont
reconnu . . .. de porter de la paille et du bois au chateau
de Sauveterre quand le dit seigneur y faira sa residence et cela
une fois l’année seulement, autant qu'ils en pourrant porter et
comme il leur sera ordonné par ledit seigneur ou par ses
commison messagers. Item que tous ensemble et conjointement
ont accoutumé payer de queste au Bayle de Sauveterre quatre
vingt huit sols deux deniers morlaas; et que ledit Bayle peut
contraindre l’un d’eux a payer la dite somme sans préjudice a
Serfdom in the Pyrenees. 89
celluy qui aura payé de recouvrer des autres questaux leur
eontingente part . . ..
Et continent s’est présenté J. de Harispe habitant de ladite
paroisse lequel stipulantque dessus a juré comme dessus dit et
déclaré tenir et posseder de sa Majesté a titre d’emphiteoze dans
ladite paroisse scavoir une maison questalle scize audit lieu avec
son jardin en dependant . . . item une pièce de terre labourable
etc. etc. pour raison de toutes lesquelles terres et sudite maison
ledit déclarant paye à sa Majesté annuellement outre les droits
reconnus en commun avec les autres questaux : — prime au fermier
du moulin de Sauveterre chaque année demy rasier de froment
à Notre Dame d’Aoust; plus au fermier des aubergades chaque
année à la feste de Notre Dame d’Aoust cen sol et demy mor-
laae . . ..
Dans le lieu de Lichos . . . auroit comparu et se seroit presenté
Maitre Jean de l’Abbat du lieu de Rivehaute, lequel moyenant
serment par luy presté en nos mains sur les quatre Saints Evan-
gilles de Dieu a dit declaré et a reconnu tenir et posseder dans
ladite paroisse en emphitoeze fiefs annuel et perpetuel de sa
Majesté Maitre Jean Henri de Fondeville advocat en parlement
et substitut du procureur du roy en la commission dudit papier
stipulant et acceptant pour sa dite Majesté scavoir une maison
questalle appellée Haritsague . . . . Item a accoutumé de payer
annuellement ou fermier des aubergades quatre sols et demy
tournois payables a chaque fête de Notre Dame d’Aoust.
Item ont accoutume de payer a chascune fête de Noël la somme
de sept sols six deniers tournois de fiefs.
Lesquels biens ils ont promis de bien entretenir en bon père
de famille et ne les transporter en main morte ny autre de droit
prohibée et ne les surcharger d’aucun nouveau fiefs cens n’y rente
au prejudice de sadite Majesté . . . .
Item les maitres de ladite maison de Haritsague ont droit de
moudre lurs grains de toute condition au moulin appellé du
Dommug .... appartenant aux sieurs de Phillipes et de Minville
dudit lieu, et ce franchiment sans payer aucun droit de pugnere
pour la mouleure des dito grains et ont la préférence de se faire
moudre les grains des maitres de ladite maison de Haritsague
40 Miss Lodge, Serfdom in the Pyrenees.
à l’expedition de tous autres . . . . Et parle que de toute
l'antiquité les maitres de ladite maison de Haritsague estoient
tenus et obligés de payer au sieur Begu& de Mongaston annuelle-
ment, deux mesures de avoine, et de deux en deux ans une
pipe et demy de pommade sans eau . . ..
Et incontinent s’est présenté J. de Larrory dit Behetz laboureur
habitant de ladite paroisse lequel stipulant que dessus a juré
comme dessus dit et déclaré tenir et posséder audit lieu de sa
Majesté à titre d’emphiteoze dans ladite paroisse scavoir une
maison questalle avec son jardin et verger en dependent (and
many other pieces of land) .... pour raison de toutes lesquelles
terres et susdite maison ledit déclarant paye annuellement à sa
Majesté outre les droits reconnus en commun avec les autres
questaux scavoir de queste cinq cousseroux de froment qui font
deux mesures et demy payables à chaque fête de Notre Dame
d’Aoust.»
49 Henri Froidevaux
le long du rivage occidental de l’île de Saint-Laurent, le canal
de Mozambique.
Qu'il en ait été de même des marins du Corbin et du Croissant,
les deux navires envoyés à Sumatra en 1602 par la Compagnie
marchande LE LAVAL, DE SAINT-MALO et DE VITRÉ, il serait
inexact de le dire. Durant leur relâche de trois mois dans la
baie de Saint-Augustin, en effet, les équipages des bâtiments
placés sous le commandement du sire Frotet de la Bardelière
n’ont cessé de pratiquer cette forme de commerce qu’est le troc,
échangeant contre des couteaux, des verroteries et des objets d’une
valeur insignifiante les têtes de bétail dont ils avaient besoin pour
leur nourriture et pour l’approvisionnement des deux vaisseaux !).
De même encore ont agi, une quinzaine d'années plus. tard, les
compagnons du «general» Augustin de Beaulieu, le commandant
de la «flotte de Montmorency», qui, beaucoup moins longtemps
que le Croissant et le Corbin, s'arrêtèrent à la baie de Saint-
Augustin avant d'entreprendre de gagner Bantam en traversant
l'Océan Indien?). Les relations de FRANÇOIS PYRARD DE LAVAL
et de FRANÇOIS MARTIN DE VITRÉ, puis celle d’AUGUSTIN DE
BEAULIEU sont très explicites et fournissent la preuve que, dans
les deux cas, le ravitaillement des navires a été le seul souci
1) «Durant nostre séjour en ce lieu, dit FRANÇO1S MARTIN DE VITRÉ, nous
eusmes grande quantité de Beufs, Moutons, volailles et autres rafraichise-
ments, le tout en trocque de peu de chosses, comme seroit des cuillers de
cuivre, jettons et autres chosse de peu de valleur» (Description du premier
voyage faict aux Indes Orientales . . ., p. 22; cf. p. 21 et 80). — «Pour
un getton, ou pour une cuillier d’estain et autres choses de peu de valeur,
rapporte de son côté FRANÇOIS PYRARD DE LAVAI, nous avions un bœuf ou
un mouton» (Discours du Voyage des François aux Indes Orientales .. .;
Paris, 1611, p. 22).
2) La baie de Saint-Augustin «abonde en très grande quantité de bestail,
spécialement de bœufs et moutons; beaucoup de poulles que nous avions pour
chose de peu d'importance: en sorte que pour la valeur d’un sou nous recou-
vrions deux ou trois moutons qui sont très grands, et un bœuf pour la valeur
de dix souls» (Fragment d'AUGUSTIN DE BEAULIEU, cité dans un mémoire qu'on
doit dater de 1681—1632. Bibl. Nat., mss. Fr. 4826, fol. 40). Cf. les détails fournis
par le même auteur dans zes Mémoires du voyage aux Indes Orientales,
p. 15—19 (THÉVENOT, Recueil de divers voyages curieux, t. 1, seconde partie,
p. 1—128).
Le commerce français à Madagascar au XVII siècle.
Par
Henri Froidevaux, Docteur-ès-lettres (Versailles).
Quelque désir que puissent éprouver, aujourd'hui encore, certains
historiens de faire remonter jusqu’au moyen-äge les plus lointaines
origines de la colonisation française, il leur est impossible de
dire que les marins et les négociants normands ont, avant le
XVII: siècle, noué de véritables relations commerciales avec Ma:
dagascar. Sans doute, dans le second quart du XVIe siècle,
des navigateurs normands ou angoumois ont touché sur certains
points du littoral de la grande île; mais ni le bâtiment dieppois
dont, dès l’année 1527, la présence est signalée par le continua-
teur de Barros sur les côtes de Madagascar), ni le navire sur
lequel se serait trouvé Jean Alphonse aux environs de 1540?) ne
semblent y avoir fait le moindre trafic. Quant aux équipages du
Sacre et de la Pensée, ils n’engagerent — le Discours de la Navi-
gation de Jean et Raoul Parmentier en fournit la preuve”), —
aucune relation commerciale avec les indigènes qu’ils rencontrèrent,
alors que, pour se rendre de Dieppe à Ticou, ils remontaient,
1) Joao DE BARKOS, Quarta Decada da Asia, 1. DI, ch. 2, et 1. IV, ch. 6
(éd. de Madrid, 1615, p. 136 et 296).
2) Si toutefois, — comme d’ailleurs nous inclinons fortement à le penser,
— le «gran capitano di mare Francese- de Ramusio est bien Jean-Alphonse.
— Que, d’autre part, Jean-Alphonse ait été à Madagascar, la chose est à
tout le moins vraisemblable, bien qu'il soit impossible de le démontrer soit
en s'appuyant sur le titre même du document publié par RAMUSIO (Navi-
gationi et Viaggi, t. III [6d. de Venise, 1565], fol. 423 r°), soit en se servant
du texte de la Cosmographie universelle et de celui des Voyages adventureux.
3) Discours de la Navigation de Jean et Raoul Parmentier, de Dieppe,
éd. SCHKFER (Paris, Leroux, 1883, in-8), p. 31—41.
Le commerce français à Madagascar au XVII: siècle. 45
vaisseau dieppois de Digart en 1639 ou 1640 :); là ont certainement
abordé le bâtiment dieppois le Saint-Alexis, commandé par Alonse
Goubert, le 20 juillet 1638?) et le navire (dieppois encore) de Coquet
en septembre 1642 *). |
De ces différents bâtiments, comme de ceux qui les ont sans
aucun doute précédés dans les mêmes parages, les équipages
sont naturellement entrés en relations avec les indigènes ; la preuve
en est dans le fait que, vers 1637, Gilles de Régimon, lors de sa
relâche sur les côtes de l’Anosy, recueillit à son bord un Francais
que la tempête avait jeté depuis plusieurs années sur cette partie
du littoral de Madagascar‘) Mais la plupart ne l'ont fait, au
début, qu’en passant, avant de commencer ou après avoir terminé
une campagne dans les eaux de l'Arabie ou de la Perse. De la
même manière comptait agir, en l’année 1638, le capitaine Alonse
Goubert lorsque, après avoir touché aux Mascareignes, il vint
aborder à Sainte-Luce®); mais des circonstances indépendantes
de sa volonté, en prolongeant son séjour sur les côtes de l’Anosy,
en ont fait le premier connu des négociants français qui ont noué
des relations suivies avec les indigènes d’une partie de Madagascar.
I.
Ce n’est nullement dans le dessein de faire du commerce
que le capitaine Goubert quitta le port de Dieppe, le 15 janvier
1638; il se proposait, — après avoir déposé ses marchandises°)
1) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar... .,
dans les Relations véritables et curieuses de lisle de Dladagascar et du Brésil,
p. 24 — Cauche ne parle que de l’arrivée de ce bâtiment, la Marguerite,
à Sainte-Claire; mais cet endroit est très peu éloigné de la baie de Sainte-
Luce, et on peut penser que Digart ne s’est transporté en ce point qu'après
avoir appris, à Sainte-Luce même, le transfert de l'habitation des compagnons
de Goubert à Sainte-Claire.
2) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ..., p. 9.
3) FLACOURT, Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658,
p. 194.
4) Iv., tbid., p. 36.
5) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ...,
p. 18.
6) Il n’est pas sans intérêt de se rendre compte oxactement de ce qu
étaient ces marchandises; Cauche l’explique expressément. «Nostre marchandise,
écrit-il (ouv. cite, p. 2—3), estoit en coral fin et faux, patenostres de verre,
46 Henri Froidevaux
et des approvisionnements de tout genre dans le fortin qu’il aurait
débuté par construire à l’île Maurice, — de faire la course dans
la partie occidentale de l'Océan Indien’); de 1à le nombre consi-
dérable de canons, — vingt-deux, — que portait son bâtiment,
le Saint-Alexis, une flûte montée par un équipage de 97 hommes.
Ayant constaté, lors de son arrivée à Maurice, que des Hollandais
avaient commencé de fonder un établissement dans cette île qu'il
croyait déserte, Alonse Goubert modifia immédiatement son plan
primitif, et, pour ne pas être gêné dans ses expéditions aventurenses
par le voisinage de ces colons, résolut de faire d’un point de la
côte orientale de Madagascar le centre de ses opérations. Les
avantages nautiques de Manafiafy lui étaient sans doute connus,
à tout le moins de réputation; il savait d'autre part qu’on avait
trouvé en certaine abondance dans le pays d’Anosy un métal
blanc très brillant . . . . Ce métal n'était-il pas de l'argent? et,
en cas d’affirmative, ne proviendrait-il pas d’une mine située à
l'intérieur de la contrée? . . . .*) Sans perdre de temps, Alonse
Goubert gagna le port de Sainte-Luce où, dès son arrivée, il
recevait du souverain de l’Anosy, Andrian-dRamaka, l'accueil le
plus hospitalier. Non content en effet de lui faire immédiatement
remettre tout ce qui pouvait être nécessaire au ravitaillement du
Saint-Alexis®), le chef malgache autorisa les Français à s'établir
‚chaisnes, bracelets, pendans d'oreilles, ceintures de toutes coulenrs de terre,
d’esmail, de cristal, de bois, jaiet, cuivre doré et argenté, vrais grenats, perles
de Venise, agates, cornalines, couteaux, miroüers, ciseaux, estuis, eselots,
chapeaux, bonets, sonnettes, clochetes, et autre sorte de quincaillerie, pour
trafiquer avec ceux ès ports desquels nous entrerions».
1) Cauche le reconnait expressément quand il dit que le dessein d’Alonse
Goubert était de «surprendre et combatre les vaisseaux Espagols (sic) que
nous trouverions en mer, et non seulement ceux là, mais encore les vaisseaux
des Mahométans et Gentils qui trafiquoient ès seins Persique et Arabique,
conduits par les Portugais» (Relation du voyaye . . ., p. 3)
2) «Il se trouve une autre espèce de metal que les habitans de cette contrée
appellent Foulafoutchine; c'est ce que Libavius nomme stannum calaem, et
les Allemans Zainch. Ce Voulafoutchine obligea le capitaine Goubert de venir
exprès en ce païs, croyant que ce fut de l'argent et qu’il y en eust une mine»
(FLACOURT, Histoire de la grande Isle Madagascar, 6d. de 1658, p. 147).
8) «Il nous fit delivrer vingt bœufs qui portoient sur le col une grosse
masse de graisse, fort bonne et delicate à manger; quatre chevres au poil
Le commerce français à Madagascar au XVII siècle. 47
à Sainte-Luce, <pourveu qu'ils ne feissent aucun bruit en ses
Etats», et leur promit qu’eil les assisteroit de tout ce qu'il
auroit»!). Peu de temps après, le capitaine français allait rendre
à Andrian-dRamaka, dans son village fortifié de Fanjahira, situé
à dix-huit lieues de Sainte-Luce, la visite qu'il avait précé-
demment reçue de lui, et lui faisait à son tour, à lui et à son
gendre, des présents en remercîment desquels lui étaient offerts 72
bœufs ?).
Cet échange de politesses et de cadeaux marque le début
d'une série de relations amicales et commerciales qui se pour-
suivirent pendant plusieurs années consécutives. Alonse Goubert
aurait vivement souhaité, aussitôt l'habitation de Sainte-Luce achevée,
reprendre la mer et aller enfin chercher dans des parages plus
septentrionaux quelques riches prises, c’est à dire «les vaisseaux
des Mahométans et Gentils qui trafiquoient ès seins Persique et
Arabique, conduits par les Portugois»®); il avait compté sans les
fitvres, — qui ne tardèrent pas à réduire à 50 le nombre de ses com-
pagnons, et le forcèrent bientôt à émigrer à Sainte-Claire, — et
sans les vers, — qui s'étaient attaqués à la coque du Saint-Aleris
et, en quelques mois, la mirent absolument hors d'état de tenir
la mer‘). Renoncant dès lors à ses desseins, Goubert ne chercha
plus qu’à tirer de la situation dans laquelle il se trouvait le
meilleur parti possible et à réunir dans les magasins de son habi-
tation de Sainte-Claire une grande quantité de marchandises; c’est
pourquoi lui et ses compagnons, au lieu d'aller, comme précé-
demment, «par l’isle trocquer de la marchandise contre des poulets,
cabrils, oranges et citrons, pour soulager les malades>»°), se mirent
ras, de diverses couleurs, rondes et replettes; quatre moutons à la longue
queuë, et plate, telle pesant jusques à seise livres; douze chapons comme
les nostres; et du ris, tant que huit nègres en pouvoient porter» (Relation
du voyage que François Cauche a fait à Madagascar . . ., p. 12—18).
1) Ibid., p. 12.
2) Ibid., p. 17.
8) Ibid., p. 3; cf. p. 18: «Il y eust dissention entre le Capitaine et le
Maistre de nostre navire, qui maintenoit . . ., et le Capitaine au contraire
qu'il falloit passer outre et chercher quelque bonne prise».
4) Ibid., p. 18—20.
5) Ibid., p. 18.
48 Henri Froidevaux
à échanger leur cargaison contre des bestiaux?), dont ils mangeaient
la chair et gardaient soigneusement le cuir, ou contre de la cire
et d'autres produits du pays. Si leurs opérations commerciales
ne dépassérent pas les frontières de l’Anosy, la faute n’en est pas
à eux, mais aux indigènes avec lesquels ils tentèrent de nouer
des relations; ces derniers ne répondirent à leurs avances, — dans
l’Ambolo, en particulier — qu’en s’efforgant de les piller et de
les tuer ?).
Bien que leur champ d'opérations commerciales ne fût pas
très étendu, Alonse Goubert et ses compagnons, grâce aux
excellents termes dans lesquels ils vivaient avec les Antanosy,
ne tardèrent pas à réunir dans leurs magasins des marchandises
en quantité considérable, surtout des cuirs, de la cire et
des gommes*). La barque à la construction de laquelle ils
travaillaient depuis longtemps étant enfin achevée, une partie
des marins du Saint-Alexis s’y embarqua, sous le commandement
du maître d'équipage Jacques Soulas, après y avoir chargé
«600 cuirs de bœufs, quantité de cire et gommes du pais, et...
une grande partie de la marchandise que nous avions amenée
de France‘); un peu plus tard le capitaine Goubert et
plusieurs autres de ses compagnons prirent passage, avec des
marchandises également, sur le vaisseau dieppois la Marguerite,
qui regagnait son port d'attache en revenant de la mer
1) C'est ce qui ressort du passage dans lequel Cauche raconte son ex-
pédition dans la vallée d’Ambolo: «nostre dessein, dit-il, estoit de changer
partie de nostre marchandise contre du bestail» (Relation du voyage ...,
p. 21).
2) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ...
p. 21.
8) Cela rèsulte avec évidence de ce que dit Cauche au sujet du charge-
ment de la barque construite avec les débris du Sasnt- Alexis.
4) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ...,
p. 28. -- Aucune mention n'est faite en cet endroit de l’ébène dont le capi-
taine Cocquet ira un peu plus tard faire un chargement à Matitanana (FLACOURT,
Histoire de la grande Isle Madagascar, &d. de 1658, p. 194 et 196); Cauche
sa borne à raconter que «nostre ditte barque . . . fut lestée de bois d’ébène:
(Relation du voyage . . ., p. 38), ce qu'il faut sans doute attribuer à la vo-
lonté de Jacques Soulas, qui, un peu plus tôt déjà, avait engagé le capitaine
Goubert à charger le Saint-Aleris de bois d’ebene (Idid., p. 18).
Le commerce français à Madagascar au XVII: siècle. 49
Rouge'). Telle était toutefois la bonne intelligence existant
entre les sujets d’Andrian-dRamaka et les marins normands que
sept de ces derniers refusèrent de regagner encore la France, et,
de leur plein gré, demeurèrent dans l’Anosy à faire du commerce.
En quelques mots, FLACOURT a résumé l’histoire de ces Ro-
binsons ; ils «se mirent, dit-il?), à traitter de la cire, des cuirs, et
autres choses dans le pays pour leur compte». Dans des mémoires
rédigés d’après les récits de l’un des sept, François Cauche, le
sieur Morisot a écrit un commentaire très intéressant, — parfois
rectificatif, — de ce court passage de FLACOURT, et raconté ce que
devinrent, une fois abandonnés à eux-mêmes, les marins normands.
Après avoir quitté Sainte-Luce, ils s’etablirent dans l’intérieur du
pays, et y fondèrent, avec l'autorisation des chefs Antanosy, deux
comptoirs, l’un à Manhale et l’autre à Fanjahira, trafiquant
(comme l’a dit FLACOURT) avec les indigènes de l’Anosy, mais
pour le compte de la compagnie rouenno-parisienne qui avait
naguère envoyé le Saint-Alexis à Madagascar’), — entreprenant,
comme de véritables marchands ambulants, dans différentes parties
de la grande île de longs et périlleux voyages au cours de l’un
desquels Cauche s’avança jusqu'à la baie de Saint-Augustin,
où il troqua une quinzaine de têtes de gros bétail), — renouve-
lant leur stock de marchandises du mieux qu'il leur était
possible, lorsqu'un navire venait mouiller sur le littoral de
1) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ...,
p. 24: «Il fut . . . résolu qu'ils se chargeroient d’une bonne partie des mar-
chandises qui estoient en nostre magazin pour les porter en France . . ., à
condition que ceux du vaisseau de la Marguerite, commandé par ledit Digart,
partageroient esgallement avec ceux de nostre-ditte compagnie, lors qu'ils se-
roient arrivez en France». |
2) Histoire de la grande Isle Madagascar, ed. de 1658, p. 195.
3) D est impossible d'interpréter autrement cette phrase de Cauche:
«Il [Goubert] avoit laissé à ma charge et à celle de Sébastien Drouard le reste
des marchandises qui estoient au magazin, à condition d’en tenir conte à
la Compagnie, et remettre icelles ès mains de ceux qu’elle m’envoyeroi dans
deux ans» (Relation du voyage . . ., p. 25).
4) Ibid., p. 46. — I convient toutefois de noter qu’à plusieurs reprises,
M ALFRED GRANDIDIER a énoncé des doutes très fortement motivés sur la
réalité des voyages de F. Cauche à l’intérieur de Madagascar. Cf. Collection
des Ouvrages anciens, t. II, p. 440.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 4
50 Henri Froidevaux
l’Anosy'). Ils reussissaient admirableinent, au total, lorsqu'au mois
de septembre 1642 debarqua à Sainte-Luce le commis de la
Compagnie des Indes Orientales, Jacques Prony ou l’ronis.
IL.
Tandis qu’Alonse Goubert, François Cauche et leurs compag-
nons demeuraient enfermés dans le sud de Madagascar, un autre
Dieppois, le capitaine de la marine royale Rigault, qui (à en croire
un document officiel) possédait de «grandes expériences au faict
de la navigation»*) et avait fait «plusieurs entreprises sur mer pour
descouvrir les terres estrangères»*), commençait à porter son
attention sur ces parages de l'Océan Indien. Avait il eu connais-
sance, à la cour, du «dessein touchant les Indes Orientales» proposé
naguère au maréchal d’Effiat par AUGUSTIN DE BEAULIEU, et des
motifs pour lesquels un des conseillers du cardinal de Richelieu,
Isaac de Razilly suivant toute vraisemblance, avait préconisé en 1631
ou 1632 la fondation d’un établissement français à Madagascar *)?
ou bien est-ce sur les quais de Dieppe, par des conversations
avec quelques marins revenus de la partie occidentale de l’Océan
Indien, par la nouvelle du départ du Saint-Alexis et la connais-
sance des desseins de Goubert, que le capitaine Rigault fut amenc
1) Rien de plus explicite A cet égard que le passage du commandement
signifié à Cauche par Prony le 8 avril 1643 dans lequel le commis de la
Compagnie rappelle avoir défendu «aux Francois restez ici de traiter avec
ledit Cocquet et ses hommes d’aucuns cuirs, cire ni bestail, comme aurotent
cy devant fait François Cauche et Sebastien Droüart, se rafraichissans de
marchandises qu’ils auroient pris et trocqué dudit Cocquet et de ses gens,
qu’ils estimoient propres pour le pays» (cet acte est inséré dans l'«avis au
lecteur» placé en tête de la Relation du voyage que François Cauche a fait
à Madagascar).
2) Nous ne connaissons pas la biographie de RiGAULT:; nous savons
seulement qu'il était déjà capitaine de vaisseau à la fin de 1682, époque à
laquelle Richelieu l’envoya en mission à Alger (Paul Masson, Histoire des
Etablissements et du Commerce français dans l'Afrique Barbaresque, p. 46).
8) Expressions employées par Richelieu quand il concéda au capitaine
Rigault le privilège exclusif du commerce à Madagascar (Documents inédits
relatifs à la constitution de la Compagnie des Indes Orientales de 1642.
Bull. Comité de Madagascar, octobre 1898, p. 485).
4) Bib. Nat., mss. Fr. 4826, fol. 39 —40.
Le commerce francais à Madagascar au XVII® siècle. 51
a former le projet d’entreprendre l’exploitation commerciale de
l'île de Saint-Laurent? Toutes ces hypothèses sont également
vraisemblables, et il est certain que le marin dieppois se mit,
à partir de l’année 1639, à faire «pour descouvrir les terres
estrangeres, et entre autres les isles de Madagascard, autrement
de Saint-Laurens, et autres adjacentes, et costes de Mozambicq,
-.. . de grandes despences>').
La récompense de tant d'efforts, ce fut de «trouver les moyens
de faire auxdits païs des habitations de François, et de traicter
et negotier avec les gens du pais des marchandises qui s'en
peuvent tirer contre d'autres marchandises et manufactures de ce
Royaume>»?), puis d'obtenir de Richelieu et de Louis XIII, pour
dix années, le privilège exclusif du commerce avec «lesdites isles
de Madagascard, autres isles et costes adjacentes»*), enfin de
constituer, pour l'exploitation de ce privilège, une société qui prit
le nom de Compagnie française des Indes Orientales“). Toutefois,
pour user des droits que lui conférait l’acte du 29 janvier 1642,
Rigault n’attendit pas que les statuts de la société en formation
fussent définitivement signés ; quelques semaines après l'expédition
des lettres patentes confirmant son privilège, il faisait partir à Mada-
gascar, sous la direction de Prony, «quelques hommes et marchan-
dises . . . pour commencer à prendre possession desdits pais au
désir de ladite concession, et y habituer et travailler à la traite»).
Comme les marins du Saint-Aleris l'avaient fait avant eux.
c'est à Sainte-Luce que les agents de Rigault débutèrent par
s'établir). Avec l’assentiment d’Andrian-dRamaka, ils y construi-
1) Documents inedits . . . Loc. cit., p. 486.
2) Documents inédits . . . Loc. cit., p. 486.
3) Ip., 1bid.
4) On trouvera les statuts de cette Compagnie dans les Documents
médits relatifs a la Constitution de la Compagnie des Indes Orientales de
1642 (Bull. Comité de Madagascar, octobre 1898, p. 490—497).
5) Expressions empruntées à l’article 4 des statuts du 30 avril 1642
(iv, idid., p. 493).
6) «Les sieurs Pronis et Foucquembourg s’establirent au Port de Sainte
Luce, nommé Manghafla [Manafiafy]» (FLACOURT, Histoire de la grande Isle
Madagascar, éd. de 1668, p. 194). Cf. la Relation du voyage que François
Cauche a fait à Madagascar .. ., p. 88 et suiv.
52 Henri Froidevaux
sirent, en attendant l’arrivée de nouveaux immigrants, une habi-
tation à laquelle ils donnèrent le nom d’chabitation Saint-Pierre».
En même temps, Prony, — au devant duquel s'était porté
François Cauche lorsque le commis du capitaine Rigault, dès les
premiers jours qui suivirent son arrivée, se rendit à Fanjahira, —
communiquait aux anciens compagnons d’Alonse Goubert le texte
des différents actes leur interdisant formellement de faire désormais
du commerce à Madagascar sans l’assentiment du bénéficiaire du
privilège royal, et insistait auprès d’eux pour qu'ils le suivissent
à Sainte-Luce. «Nous demeurasmes d’accord, raconte Cauche!),
qu’il me laisseroit six mois de temps pour débiter ma marchandise,
au bout desquels je ne pourrois plus traitter que pour ma nour-
riture et mes habits».
A cette transaction, Prony trouvait sans doute plusieurs avan-
tages: il faisait immédiatement reconnaître par ses compatriotes
établis dans l’Anosy le privilège qu’il était chargé de faire respecter;
il se donnait l'apparence de la générosité en les laissant continuer
leurs opérations commerciales, alors qu'il ne pouvait guère lui-
même en entreprendre encore; enfin il gagnait le temps nécessaire
pour recevoir de France les renforts qui lui étaient promis, et
imposer ensuite par la force, s’il le fallait, l’observance du privilège
royal?). Mais il comptait sans les retards inévitables d'une entre-
prise à ses débuts, sans le climat, sans la mauvaise volonté de
ceux-là même qui l’avaient amené dans la grande île. Le Saint-
Laurent, en effet, le premier navire équipé par la Compagnie
des Indes Orientales à destination de Madagascar, n’arriva dans
la baie de Sainte-Luce que longtemps après le moment où il y
était attendu, le 1° mai 1643 *); dans les premiers mois de son
1) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ..., p. 89.
2) Les termes de l'acte du 29 janvier étaient très nets; Rigault et ses
faturs associés recevaient le privilège du commerce pour dix années, «sans
qu’aucuns autres que ledit Rigault et ses associez puissent faire habitations,
traictes, trafficq et commerce, ny en tirer aucunes marchandises pendant ledit
temps pour apporter en ce royaume par quelque personne et nation que ce
soit, sy ce n’est de leur consentement et par escript, à peine de confiscation
des vaisseaux et marchandises au proffict dudit Rigault et [de] ses associez
(Documents inédits . . . Loc. cit., p. 486 —487).
3) Le texte de FLACOUKRT est très précis à ce sujet: «Le premier jour
Le commerce français à Madagascar au XVII: siècle. 53
séjour à la côte, Prony perdit, par suite de l’insalubrité du climat,
plus de la moitié de ses compagnons (26 sur 40), et tous les
autres furent très éprouvés par les maladies’); enfin les marins
du Saint-Louis, — tel était le nom du bâtiment dieppois sur
lequel Rigault avait embarqué ses agents, — ne se firent pas
faute, tout en chargeant de l’ébène dans le pays d’Anosy et à
Matitanana, de trafiquer, à l’encontre des défenses royales, et avec
les indigènes, et avec les Normands établis à Fanjahira et à
Manhale*). Se montrèrent-ils plus habiles, plus accommodants, plus
larges dans leurs transactions que les envoyés de Rigault? des-
servirent-ils ces derniers auprès des Antanosy? Toujours est-il
que le vide ne tarda pas à se faire autour du comptoir établi à
Sainte-Luce, et Prony dut bientôt reconnaître que <les habitants
de ce lieu ne nous apportoient aucune commodité, tant pour vivre
que pour traitter dans nostre habitation comme ils avoient ac-
oonstume, estans divertis par les hommes du sieur Cocquet et
quelques autres restez du voyage du capitaine Goubert>®). La
ätuation était difficile; à force d'activité et d'énergie, le commis
du capitaine Rigault parvint à la modifier légèrement en con-
traignant François Cauche et ses compagnons à exécuter l’engage-
de May [1643] arriva le Navire Sainct Laurent» (Histoire de la grande Isle
Madagascar, &d. de 1658, p. 195). Cf. la Relation du voyage que François
Cauche a fait à Madagascar . . ., p. 90, qui est aussi précise sur la date
de l’arrivée de ce bâtiment, mais commet une erreur d’un an (1642 au lieu
de 1643).
1) «Proni retourna vers les siens qu'il trouva en piteux estat, la maladie
ea ayant emporté douze en moins de douze jours, et le reste au désespoir . . .
Des quarante qui estoient arrivez pour habiter avec le dit Proni, il n’en de-
meura que quatorze au bout de deux mois» (Ibid., p. 89). Cf. ce que dit
Prony lui-même dans son commandement à Cauche du 8 avril 1648: «... Se
servans des afflictions qu'il auroit pleu à Dieu nous envoyer, nous detenans
us malades» (Ibid., au lecteur).
2) Le 8 avril 1643, Prony fait défense «à tous François, tant ceux qui
seroient venus avec ledit Cocquet que ceux qui seroient restez de Goubert,
de traitter aucune chose qui se trouve en cette Isle avec les habitans, que
comme aux François restez icy de traiter avec ledit Cocquet et ses hommes
d'aucuns cuirs, cire ne bestail» (Relation du voyage que François Cauche
« fait à Madagascar, au lecteur).
3) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar (au
lecteur).
54 Henri Froidevaux
ment qu'ils avaient naguere pris envers lui, et à quitter leurs
comptoirs de l'intérieur pour habiter à Saint-Pierre !); mais contre
les marins du Saint-Louis, que de graves avaries survenues vers
le même temps?) à leur bâtiment près de Matitanana avaient
contraints de renoncer à regagner la France, et qui, établis vers
l’extrêmité méridionale de la côte de l’Anosy, à l’Anse des Galions,
excitaicnt les indigènes contre les habitants de Sainte-Luce et
allaient jusqu’à leur vendre de la poudre et des balles?), Prony
ne pouvait rien. Aussi les magasins de l'habitation Saint-Pierre
étaient-ils à peu près vides quand parut enfin le navire annoncé
depuis si longtemps, le Saint-Laurent.
À en croire FLACOURT, ce bâtiment, armé par la Compagnie
des Indes Orientales aussitôt après sa constitution définitive,
apportait à Madagascar tout ce qui était nécessaire <afin de s’y
fortifier et faire une bonne habitation»‘), et avait été soigneuse-
ment pourvu de «toutes sortes d'outils pour bastir et pour cultiver
la terre»°). Il devait débarquer son chargement, puis repartir
sans perdre de temps après avoir embarqué à son bord les marchan-
dises que l’on comptait avoir été accumulées par Prony dans les
magasins de Saint-Pierre‘). Mais grande fut la déception de
1) Cf. l'avertissement de la Kelation du voyage . . ., intitulé «au Jecteur»,
et la p. 104.
2) C’est ce qui ressort avec évidence du texte de Cauche, 3. cit., p. 90.
8) «Au lieu d'amener le navire au Fort-Dauphin en l’ance de Tholan-
gharen [Itholangare], ils aymèrent mieux le mener eschouer à Ranoufoutchi
ou Ance aux Galions, où ils vendirent la poudre, le plomb, et la pluspart de ce
qu’ils peurent detourner aux grands d’Anossi . . . Ainsi ces voleurs de mate-
lots, à l’appetit du peu de chose qu'ils en retirèrent, livrèrent beaucoup de
poudre, munition et ferremena aux Grands» (FLACOURT, Histoire de la grande
Isle Madagascar, &d. de 1658, p. 196. Cf. id., ibid., p. 278). |
4) Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie n'ont pas fait
de grands profits à Madagascar (à la suite de l'édition de 1658), p. 8.
5) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ...,
. 91.
? 6) «Arriva en ce temps . . . un autre vaisseau François appartenant à
nöstre compagnie, ayant commandement de se charger de ce qu’il trouveroit
avoir esté achepte, ou pris par eschange par ceux qu’on avoit envoyé aupars-
vant dans le vaisseau S. Louis, et de tout ce qui seroit de marchandise en
l'habitation nouvelle de Sainet Pierre, acquis par ceux qu’on avoit envoyé
pour habiter en icelle . . .» (Idid., p. 90—91).
Le commerce français à Madagascar au XVLI® siècle. 85
Gilles de Regimon, le capitaine du Saint-Laurent, en visitant ces
magasins: ils ne contenaient «que les euirs des bœufs qui avoient
este mangez par les François» ')! L’enquöte à laquelle, pour avoir
l'explication d’une telle pénurie, se livra Régimon lui montra
quelles grandes illusions se faisaient à Paris ceux que FLACOURT
appellera un peu plus tard <les Seigneurs de la Compagnie».
«On s’estoit attendu à une grande traitte de cuirs et de cires;
le sieur Pronis trouva que les habitans mangeoient les cuirs des
bestes qu'ils tuoient, et la cire avec le miel, . . . les Nègres se
mocquans d’eux [des Français] lorsqu'ils escorchoient les bœufs
en disans qu'ils perdoient de bons morceaux en escorchans les
bestes>*). Pour compléter sa cargaison, Regimon, en presence
de l’hostilité manifestée par les Antanosy qu’excitaient les mate-
lots du Saint-Louis, dut envoyer Cauche dans l’intérieur des
terres, aux Tapates, pour faire la traite des bestiaux, et son
propre fils a Matitanana, «pour y faire habitation» et pour se
procurer ensuite de l’ébène*) chez les Antavares et chez les Ambo-
hitsmenes. Quelque bien compris que fût ce programme, il ne
fat que très imparfaitement rempli, et huit mois entiers s’écoulèrent
avant que le Saiut-Laurent püt quitter l’anse de Taolankarana
avec une cargaison que les fondateurs de la Compagnie des Indes
Orientales estimèrent peu considérable; de l’ébène, un certain
nombre de peaux, un peu de cire, voilà ce dont elle se composait“).
Pas plus à Taolankarana, — à Fort-Dauphin, — qu’à l’ha-
bitation Saint-Pierre, les agents du capitaine Rigault et de ses
associés ne parvinrent, durant les années subséquentes, à faire
un commerce un peu actif, rien ne le prouve mieux que la très
réelle difficulté éprouvée par les navires de la Compagnie des
Indes Orientales à repartir avec une véritable cargaison. Au Royal,
il fallut dix-sept mois pour «faire sa charge . . . d’hébène, de
| 1) FLACOURT, Cause pour laquelle les Interessez de la Compagnie... p. 8.
2) Ibid., p. 3—4.
3) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar,
p. 91—92 et 100—101; of. aussi p. 104— 106.
4) «1 [Regimon] fut blasmé par les interessez de n'avoir pas apporté
assez de marchandises, quoy que son navire fut chargé d’hébène, et d’un peu
de cuir et de cire» (Cause pour laquelle . . ., p. 4). — Cf. Histoire de la
grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 197.
56 Henri Froidevaux
cuirs et de cire>'), et si le Saint-Laurent, lors de son deuxième
voyage, mit un temps beaucoup moins long à réunir les marchan-
dises nécessaires, il dut toutefois se rendre aux Antavares pour
y recueillir les billes d’ebene dont il avait besoin”) L’hostilite
plus ou moins apparente d’une partie des indigènes à l'égard des
Français contribuait certainement à un tel état de choses‘); sans
doute aussi l’Anosy avait été dévasté en 1646 par un ouragan
qui détruisit les récoltes, causa la mort de nombreuses têtes de
bétail et obligea les habitants privés de riz à manger la plus
grande partie du bétail qui leur était resté“); mais plus grave
encore était probablement l’insouciance dont faisait preuve Prony,
et dont FLACOURT donne une idée quand il écrit: «Le ris, que
la barque apportoit du païs de Manghabé estoit bien-tost dissipé
par son mauvais soin et de ceux à qui il donnoit charge du
Magazin, qui en disposoient aussi de leur costé. Ainsi, faute
d'un bon ordre, les François estoient le plus souvent, tantost
sans ris et ne mangeoient que de la viande, tantost sans viande
et ne mangeoient que du ris>°).
Le gaspillage, voilà ce qui, durant le premier gouvernement
de Prony, a surtout nui au succès des opérations commerciales
de la Compagnie des Indes Orientales, bien qu’elles aient été
le plus souvent très bien conçues et intelligemment menées. Il
ressort en effet du texte de FLACOURT que le chef de la petite
1) FLACOURT, Histoire de la arande Isle Madagascar, éd. de 1658,
p. 200.
2) Ip., ibid., p. 207. — (Comme à son voyage antérieur, le Sarnt-Laurent
partit «chargé d’hébène, cire et cuirs» (Ibid.. p. 207).
8) Sur cette hostilité, voir FLACOURT, Histoire de la grande Isle Madu-
gascar, éd. de 1658, p. 195—196. Cf. Cause pour laquelle les Interesses de la
Compagnie . . ., p. 3 et 4, et Relation du voyage que François Cauche a
fait à Madagascar . . ., au lecteur: : Veu par nous et recognu que les habi-
tans de ce lieu ne nous apportoient aucune commodité, tant pour vivre que
pour traitter dans nostre habitation . . ., estaus divertis par les hommes du
sieur Cocquet».
4) FuAcoUrT, Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie... p. 4.
5) Histoire de la grande Isle Madagascar, 6d. de 1658, p. 198; cf. p. 199
et 204. Voir aussi Cause pour laquelle les Interessez de la Compagnie ...,
p. 5: «Il 5 eut du mauvais soin dudit sieur Pronis pour le menagement des
vivres. dont il arriva grande disette . . .»
Le commerce français à Madagascar au XVII° siècle. 57
colonie française de Fort-Dauphin songea de très bonne heure
à étendre graduellement de tous les côtés son champ d'action.
A peine le Saint-Laurent est-il, en l’année 1644, arrivé à Sainte-
Luce qu'on voit Prony «envoyer douze François demeurer aux
Matatanes [à Matitanana] pour y faire habitation», avec ordre
de pousser plus au Nord, si faire se peut, pour y traiter avec
les indigènes, et «afin aussi de reconnoistre le païs»'). Un peu
plus tard, nouvelle expédition dans une autre direction; c’est le
second de Prony, Fouquembourg, qui part avec un certain
nombre de compagnons «du costé des Ampatres, puis après du
eosté des Machicores, tant pour découvrir ce qu'il y avoit à faire
dans le païs que pour traiter des bœufs pour vivre»). Quand
le navire le Royal eût amené à Fort-Dauphin une centaine de
colons, ce fut mieux encore; les expéditions se succederent alors
sans interruption, si bien que, en dix-sept mois, de septembre
1644 à janvier 1646, «les deux barques firent jusques à sept
voyages de ris, tant aux Matatanes [Matitanana], Antavares, qu’en
Ghalenboulou [la province actuelle de Fénérive], et le sieur
Foucquembourg .... fit plusieurs voyages à la traicte du bestial,
tant aux Machicores [Masikoro], Ampatres [Antampatrana ou habi-
tants des plaines de l’Androy], Mahafales [Mahafaly], Manamboules,
que Yongaive et Anachimoussi, d'où il amena en plusieurs voyages
plus de deux mil cinq cens bœufs»*). Interrompues pendant les six
mois que dura la captivité de Prony'), les expéditions lointaines
recommencèrent aussitôt après l’arrivée du capitaine Lebourg en
rade de Fort-Dauphin, pour se continuer avec une nouvelle activité
après le rétablissement du commis de la Compagnie dans son autorité
premiere; chez les Mahafales, chez les Antavares, dans le pays de
Galemboule et à l’île de Sainte-Marie, enfin à Mascareigne (la
1) FLACOURT, Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658,
. 196.
2) In., sbsd., p. 197—198.
3) In., #bid., p. 199.
4) Ou plutôt simplement ralenties, car FLAcoURT, s'il n’en dit rien dans
son Histoire de la grande Isle Madagascar, écrit dans le factum intitulé
Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie... ., p. 5: «Pendant
sa prison [de Prony], ils ne laissèrent pas d'envoyer au loin dans l'Isle des-
couvrir le pais, en traittant du bestial pour la subsistance du Fort».
28 Henri Froidevaux
future île Bourbon) furent alors faites une série d’expeditions')
dont les unes ont été de simples expéditions de traite, mais dont
quelques autres ont eu pour résultat la fondation de petits comptoirs
dépendants du comptoir principal de Fort-Dauphin?).
En quoi consistait exactement le commerce de ces différents
établissements, voilà ce qu’il serait particulièrement intéressant
de savoir, et ce dont la plupart des documents ne soufflent pour
ainsi dire pas mot. Les livres de comptes que Fouquembourg
rapportait avec lui à Paris, et que brûla après sa mort son as-
kassin Lelièvre °), et aussi les registres de la Compagnie des Indes
Orientales «ontenaient certainement des indications nombreuses
et précises à cet égard; malheureusement, rien n’en subsiste plus
aujourd'hui‘). Ce qu'il est, grâce aux ouvrages de Cauche et
de Flacourt, possible de dire, c’est que les transactions ne se faisaient
pas sous forme de vente et d'achat, mais sous forme d'échange,
de troc®), et que les marchandises recherchées par les Francais
1) V. les p. 206. 207. 210—211. 218. 214—215 de l'Histoire de la grande
Isle Madagascar (64. de 1658).
2) Aux Antavarcs, comme il ressort du rapprochement de deux passages
de Fuacounr (Histoire de la grande Isle Madagascar, p. 207; Cause pour
laquelle les Interessez . . ., p. 7: «Le sieur Bouguier, qui commandoit une
habitation aux Antavares . ..), et A l’île de Sainte Marie, où «on laissa le nommé
Beaumout . . . commander huict Francois que l’on y avoit laissé pour asseurer
les habitans de ladite Isle contre les courses de ceux d’Antongil qui leur
faisoient la guerre, et aussi pour favoriser les Barques quand ils iroient (sic)
à la traitte du ris A (thalemvoulou [Galemboule]» (Histoire de la grande Isle
Modagascar, &d. de 1658, p. 207). — Quant à Mascareigne, Prony ne s’en
servit que comme d’un lieu de déportation (In., sbsd., p. 213. 248 et 2571.
8) V. Fuqauouur, {listoire de la grunde Isle Madagascar, éd. de 1658,
p. 201.
4) Ou du moins il nous a été impossible d’en retrouver, en dépit de
persévérantes recherches, le moindre fragment. Peut-être se trouvaient-ils
dans trois grands cartons qui ont été brûlés à Paris en 1871, lors de l'in-
cendie de la Cour des comptes, avec le reste des Archives de la Cour (Box-
NARSIKUN, Les grandes Compagnies de Commerce, p. 840)
dB) Cuuche l'indique expressément dans sa Relation: il raconte (p. 99
et 100) avair rejoint à Fanjahira em 1648 «an des commis da commandeur
du vaisseau danoise qui avait relâché dans la baie de Fort-Danphin, et avoir
446 «avec iur par tuate la province des Mallegasses, où nous acheptasmes
quatre vingt bweufa, qu'il emmena, avec aix barrile de sel de roche, qu'il fit
Le commerce francais à Madagascar au XVII siècle. 59
etaient en premier lieu les vivres indispensables pour leur sub-
sistance: bestiaux sur pied (beunfs surtout, dont on mangeait la
chair et dont on conservait soigneusement la peau, — moutons,
chèvres), volailles, riz, fruits, miel !), — et les boissons du pays ?);
puis de la cire, des gommes*) et des bois, en particulier de
l’ébène, dont on trouve encore de grandes quantités dans le Sud-
Eat de Madagascar‘). En échange, Prony et ses compagnons
donnaient aux indigènes des objets de pen de valeur, des étoffes,
dex verroteries, des mouchoirs, des couvertures, des coiffes, des
chapeaux, des couteaux, des ciseaux, des rasoirs, des ferrures,
des morceaux de fer ou de cuivre; quant à la poudre et aux
balles, on n'avait garde d’en vendre aux indigènes‘), aux chefs
des quels, le jour où il fallait faire quelque cadeau, on se bornait
a offrir, comme le fit Alonse Goubert à Andrian-dRamaka, «un
chapelet de coral fin cizelé pesant cinq onces, et quelques bracelets
de verre pour les Dames», ou encore des «pierres d’agathes, des
coliers de fausses perles et des chaisnettes de leton blanc»).
Une preuve absolument irrécusable que telle était bien la
manière habituelle d'agir des marins francais qui venaient, vers le
milieu du XVII siècle, trafiquer dans le pays d’Anosy se trou ve dans
le petit manuel de conversation franco-malgache publié à la
suite de la relation de Francois Cauche sous le titre de
porter par des noirs. Cet achapt se fit en troc de r'assades». Précédemment
déjà, en relatant ses transactions commerciales avec les indigènes, Cauche
ne se sert que du verbe troquer (ibid., p. 45—46 et 48).
1) V. les ouvrages de Cauche et de FLACOURT, passim.
2) FLACOURT (Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658,
p. 195), à propos des marins du Saint-Alexis, dit que les <Nègres . . . de tous
costez leur apportoient du vin, ei du miel de quoy en faire».
3) Dans sa relation, Cauche rapporte que «Coquey et ceux de son vaisseau
... se chargèrent de cuirs, de cire, gommes et bois d’ébène pour repasser
en France» (L. cit., p. 89—90).
4) G. GRANDIDIER dans Madagascar au début du XXe siècle, p. 22.
5) En général tout au moins; cependant on voit en 1648 les marins
du Saint-Louis vendre «la poudre, le plomb et la pluspart de ce qu’ils peurent
détourner aux Grands d’Anossi>, ce que FLACOURT leur reproche sévèrement
(Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 196).
6) Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar ...,
p. 17.
60 Henri Froidevaux
«Colloquels] entre le Madagascarois et le François sur les
choses [les] plus nécessaires pour se faire entendre et estre
entendu d’eux>!). Les deux premiers de ces courts dialogues
ont précisément trait aux opérations commerciales usuelles aux-
quelles se livraient les Français dans le Sud de Madagascar; il
convient d’en reproduire ici quelques passages, parce qu’on y
rencontrera une liste assez complète des objets qui, au temps de
Cauche et de Prony, étaient recherchés par les Antanosy d’une
part et par les Français de l’autre, parce qu'on y pourra aussi
saisir, en quelque sorte sur le vif, la manière dont se faisaient
alors les transactions entre les agents de la Compagnie des Indes
Orientales et les habitants de Fanjahira ou de tout autre village
du Sud de Madagascar.
«Le Madagascarois. Que viens-tu faire en la terre de Madagascar?
«Le François. Je te viens apporter beaucoup.
«Le Madagascarois. Qu'est-ce?
«Le François. De l'or, de l'argent, du coral fin, des patenostres
de verre, de fausses perles, du cuivre, de l’estaing, du fer, des
draps, des chapeaux, des souliers.
«Le Madagascarois. Qu'est-ce que ton cœur desire?
«Le François. Je veux de la viande de bœuf, du (sic) mouton,
de chèvre, de[s] chapons, des œufs, des fruicts, des citrons et oranges,
des gros limons, des fèves et du ris blanc.
«Le Madagascarois. Je t'en donneray, et si tu seras le bien
venu en ma maison .... Viens avec tous tes hommes; apporte
tes cofres pleins dans le village de Fanzaire*).
«Le François. Bonjour. Je suis venu en ton village avec mes
hommes et mes cofres pleins.
«Le Madagascarois. Que je voye! Ouvre les serrures . . . .
O que cela est beau! . . . . Donne-moy ce colier de beau coral
1) Aux pages 175—190. — Les réserves faites par FLACOURT sur la
valeur de ces dialogues au point de vue de la langue ne diminuent en rien
leur valeur documentaire pour l'histoire du commerce à Madagascar.
2) Extraits du «premier colloque», p. 175—177.
Le commerce français à Madagascar au XVII: siècle. 61
«Le François. Tiens; je te le donne.
«Le Madagascarois. Tu me fais un grand plaisir. Que veux-
tu que je te donne?
eLe François. De quoy es-tu riche?
«Le Madagascarois. De bœufs chatrez, de moutons, de chèvres
et de chapons.
«Le François. J'en veux bien.
«Le Madagascarois. Viens, Nègre; va-t’en à la montagne quérir
des bœufs; amènes-en quarente chatrez, et dix vaches.
«Le François. C’est beaucoup. Regarde en mes cofres ce que
tu veux.
«Le Madagascarois. Je ne scay. Si tu veux me donner du
petit coral fin, des grenats de plusieurs couleurs, de citron, de
jaune, de rouge et du noir, tu me feras plaisir.
«Le François. Prends-en.
«Le Madagascarois. Je n'en veux point prendre si tu ne
m'en donnes.
«Le François. Tiens! Prens ce collier, attache le autour de
ton col; et ces bracelets de rassades de toutes couleurs assorties
seront pour ta femme.
«Le Madagascarois. Viens-ten en ma maison; elle est la
tienne»').
II.
Il ne semble pas qu’un contact un peu continu avec les blancs
ait modifié les coutumes des indigènes, ni introduit, pendant le
gouvernement d’ETIENNE DE FLACOURT, le moindre changement
dans leur manière d'entendre le commerce. De la fin de l’année
1648 au 12 février 1655, la traite s’est faite exactement comme
par le passé, sous forme de troc; c’est de cette manière que les
babitants de Fort Dauphin se sont, alors qu’ils n'étaient pas en
guerre avec les Antanosy, procuré les vivres dont ils avaient
besoin, et les marchandises qu’ils se proposaient de faire passer
en France pour le compte de la Compagnie des Indes Orientales.
Comment aurait-il pu en être autrement, étant données les habi-
tudes décrites par FLACOURT? «Quant au traficq et commerce
l: Extraits du «second colloque», p. 177—179.
62 Henri Froidevaux
qu'ils ont les uns avec les autres, écrit-il, 4 ne se fait que par
eschange; ils n'ont aucun usage de monnoye; les merceries et
verotteries que les Chrestiens leurs portent leurs servent de mon-
noye, quand ils vont en pais loing-tain acheter des bœufs, du
cotton, de la soye, des pagnes, du fer, des sagayes, des haches,
des coutteaux et autres choses dont ils ont besoin. Ils eschangent
du cuivre pour de l’or et de l’argent et du fer, et font ainsi leur
negotiation par eschange. S’ils ont quelques pieces de monnoye
d’or et d'argent, ils les font fondre pour en faire faire des me-
nilles ou brasselets; ils n’ont pas encores la connoissance du
commerce, ainsi que les Indiens, Arabes et Européens").
La seule modification qu'il soit possible de constater porte
sur la nature même de ces marchandises, dont le nombre augmente
très sensiblement dès les débuts du gouvernement de FLACOURT.
Stimulé par les instructions des «Seigneurs de la Compagnie» et
par les avantages de tout genre qui lui avaient été assurés avant
son départ”), le nouveau chef des immigrés français institua, dès
son arrivée à Fort Dauphin, sur les ressources économiques de
la partie orientale et méridionale de Madagascar, une sorte d'enquête
dont on n’a peut-être pas jusqu'ici fait suffisamment ressortir le
grand intérêt. Entreprises (comme le dit expressément FLACOURT
de l’une d'elles) «afin de descouvrir le pais de Madagascar et
chercher ce qui y est de bon pour porter en France» ?), quelques
1) Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 90. Cf. p. 91:
«II n’y a ny foire ny marché. La foire est où il y a abondance de quelque
chose plus qu’en un autre païs; là le cours y est, là chacun en envoye
faire sa provision». — En rapprocher ce qu'on lit à la page 18 de la Cause
pour laquelle les Interesses de la Compagnie . . .: «Leur trafficq ne se fait
entr’eux que par eschange. Ceux qui ont besoin de cotton en vont chercher
où il y en a en abondance, pour les choses qu'ils portent et conduisent avec
cux, comme bœufs, vaches, ris, fer et racines d’igname, eschangeant ce qu'ils
ont en abondance pour celles qui leur manquent ; et les autres en font de mesme».
2) LORDELOT: Deffenses pour Madame Murie de Cossé, Duchesse de la
Meilleraye, p. 2 (Bib. Nat., Thoisy 89). — Cf. A. MALOTET, Etienne de
Flacourt . . ., p. 101.
8) Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 263. Cf. la
Cause pour laquelle les Interessez de la Compagnie . . ., p. 9: «Pendant
cette année [1649], je fis faire trois voyages en divers endroits où les Fran-
çois n'avoient point encor esté A la descouvertte du pais».
Le commerce français à Madagascar au XVII* siècle. 63
expéditions dirigées par des hommes intelligents et connaissant
déja la manière de s’y prendre avec les indigènes !} ont permis
au successeur de Prony de tirer parti, dès les premières anntes
de son admimistration, d’une foule de richesses naturelles ignorées
ou négligées avant lui. «Je trouvay, écrit-il dans le précieux
factum intitulé Cause pour laquelle les Interessez de la Compagnie
wont pas fait de grands profits à Madagaxcur ?), qu’il y avoit de
l'exquine en abondance, dont je fis traitter environ quatre
milliers, rechercher de la cire, de la gomme Tacamaca, et du
bois d’aloës. Je descouvris qu’il y avoit bien des arbres de
poivre blanc». D’importantes quantités de ces marchandises
saccumulerent bientôt dans les magasins de Fort-Dauphin, et
lorsque, le 19 février 1650, le Saint-Laurent quitta pour la
troisième fois l'établissement de la Compagnie, il put partir,
non plus avec quelques inarchandises seulement, mais avec
une cargaison assez importante”), et beaucoup plus variée que
lex précédentes. «Je fis charger dans le Navire, raconte
FLACOURT, trois mille trois cens cuirs et cinquante-deux
milliers de bois d’alo&s le plus excellent qui soit au monde, nommé
par les Portugais Par d’aguilia et par les médecins Ayallochum,
ontre la cire, l’exquine, la gomme de tacamaca, et autres choses
que Jay envoyées»); il ne manquait, an total, et cela par suite
1) En particulier Le Roy, dont le rôle fut considérable à la fin de l’ad-
ministration de Prony et au début de celle de F.AcoUurr.
2) P. 9.
3) Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie... ., p. 10: «[Le
Navire] estant de retour au Fort Dauphin, les nègres qui apportoient du
bois que j’avois fait coupper pour la charge du navire, se sauverent tous,
disans que le capitaine Le Bourg et le sieur Pronis les vouloient enlever
pour les aller vendre aux Hollandois, si bien que l’on ne pût apporter le
reste de ce bois; et ainsi le navire ınanqua de quelque vingt tonneaux de
ss charge». Cf. Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 261
et 262.
4) Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 262. Cf. la
Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie... .,p. 10, où FLACOURT
indique ce qu'étaient ces «autres choses»; il y nomme le tabac, le santal
citrin (dont il fit embarquer environ 18 tonneaux; v. la p. 261 de l'Histoire
de la grande Isle Madagascar), «diverses sortes de bois de couleurs, ct
d'autres eschantillons et coquillages ct curiositez».
64 Henri Froidevaux
de la mauvaise volonte du capitaine Lebourg et de Prony, que
de l’ébène et du cristal de roche ?.
Pour qu'il n’en fût plus de mêmé à l'avenir, et pour que
l’approvisionnement des magasins de Fort-Dauphin fût assûré d’une
manière constante, FLACOURT aurait souhaité, reprenant une idée
déjà mise en pratique par Prony, fonder le long de la côte orien-
tale de Madagascar un certain nombre de petits comptoirs dans
chacun desquels fussent venus s’accumuler, par les soins de ses
agents, les produits minéraux, végétaux et animaux de la contrée
avoisinante. Pareille manière d'agir s’imposait dans un pays où
«il n’y a ny foire ny marché» et où «la foire est où il y a abon-
dance de quelque chose plus qu’en un autre pais; là, le cours
y est; là, chacun en envoye faire sa provision»*. FLACOURT
avait-il entretenu de ce projet quelques-uns des Français de Fort-
Dauphin? La chose est vraisemblable, puisque, dès le 9 février
1650, M. Nacquart en parlait à Saint-Vincent de Paul; «on dit,
écrivait alors à son Supérieur ce Prêtre de la Mission®), qu'on
fera plusieurs habitations des François, entr’autres deux grandes,
dont l’une au[x An]tavares, proche des Matatanes, à trois journées
de la». — Mais FLACOURT avait compté sans les indigènes qui,
depuis longtemps déjà, supportaient impatiemment la présence
des Francais dans l’Anosy. Aussitôt après le départ du Saint-
Laurent, ils se soulevèrent contre les colons, et, forts de leur
nombre, finirent par les enfermer dans un étroit espace sur le
bord de la mer. Ce n’est done pas avec les Antanosy que,
pendant les cinq dernières années de son administration, FLACOURT
put faire du commerce; la seconde partie de son Histoire de la
grande isle Madagascar est pleine de récits de razzias, d’expeditions
armées accomplies dans l’intérieur du pays pour combattre les
indigènes, pour détruire lenrs villages, pour enlever leurs troupeaux
1) C'est du moins ce que dit FLAcOoUIT aux p. 9. 10 et 11 de son factum;
l'Histoire de la grande Isle Madagascar ne contient aucune accusation
de ce genre (cf. les p. 248—249 et 257—258 de l'éd. de 1658), tout au moins
formulée d'une manière précise.
2) Fuacourt, Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 91.
3) Mémoires de la Congrégation de la Mission, t. IX, p. 98—94. Ci-
tation collationnée sur le manuscrit conservé aux Archives de la Congrégation
de la Mission (registre de Madagascar).
s
Le commerce francais à Madagascar au XVII: siècle. 65
et les amener par la misère et la terreur à se soumettre et à
payer tribut’). Sur un seul point de la côte orientale de l'île
de Saint-Laurent, au total, on voit quelques uns des agents de la
Compagnie faire avec continuité et sécurité, du début de 1649 à
la fin de 1651, quelque commerce: dans l’île de Sainte Marie?)
et sur la côte voisine, dans cette fertile province de Galemboule
ou de Fénérive, veritable grenier à riz dont on peut lire dans l’ouvrage
de FLACOURT une description sommaire, mais enthousiaste ‘).
Eût-il d’ailleurs été possible au gouverneur de Fort-Dauphin
de réaliser ses projets, il se serait trouvé, par la faute de la
Compagnie des Indes Orientales elle-même, singulièrement empêché
pour tirer parti des différents postes dont il projetait la création.
Pour transporter facilement au chef-lieu de la colonie les mar-
chandises réunies dans les comptoirs, des barques lui eussent
été nécessaires, et c’est précisément ce qui, par suite de diverses
circonstances, faisait le plus défaut à FLACOURT. «Comme tout
le négoce ne se fait pas en un endroit, lisons-nous dans la Cause
pour laquelle les Interessez de la Compagnie n’ont pas fait de grands
profits à Madagascar‘), il faut des barques pour aller de costé
et d'autres querir et amasser les choses nécessaires pour la charge
du navire . . . . La faute que les Interessez ont fait[e] en ce
dernier embarquement, c’est de n’avoir pas mis dans le Navire
une bonne barque chargée en fagot, ou bien envoyé un petit
navire de quatre-vingt{s] ou cent tonneaux en compagnie du
navire, quoy qu'on les en eust assez averty[s] avant leur départ;
car en ce païs-là un navire sans barque, c’est un corps sans
1) V. l'Histoire de la grande Isle Madagascar, 6d. de 1688, de la p. 265
À la p. 870, passim.
2) «Les huict Francois y avoient chacun leurs maison et leur jardin,
et quand ils avoient affaire des nègres, ils les aydoyent en tout ce qu'ils
avoient besoin d’eux», raconte FLACOURT aux p. 802—808 de son ouvrage.
C'est le 18 novembre 1651 que les quatre survivants des huit colons envoyés
à l'ile de Sainte Marie au début de l’année 1649 furent ramenés par leur chef
lai-même à Fort-Dauphin.
8) V. le cb. IX de la première partie de l’Histoire de la grande Isle
Madagascar (6d. de 1658, p. 24—25) et surtout le chap. XLIIIT de la seconde
partie (p. 296-—299).
4) Page 11.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. B
66 Henri Froidevaux
ame, et une ou plusieurs habitations sans barque, c’en est de
mesme». FLACOURT en était si persuadé qu'il a fait construire,
à Fort-Dauphin même, une barque de trente tonneaux pour remédier
à cette insuffisance d'outillage économique !).
Si la Sainte-Marie (tel était le nom de cette barque) a surtout servi
au ravitaillement de <l’habitation», cela tient en majeure partie à la
situation très difficile dans laquelle s’est trouvée, à partir de l’année
1651, la petite colonie française de l’Anosy. Ainsi s’explique
également la stagnation dans laquelle, en dépit des beaux projets
de FLAcOURT, le commerce français est demeuré à Madagascar.
A quoi d’ailleurs eft-il servir d’accumuler des marchandises à
Fort-Dauphin? Dès cette époque, la Compagnie des Indes Orien-
tales s'était, pour différents motifs, complètement désintéressée
de ce qui se passait dans l'île de Saint-Laurent; oublieuse des
engagements formels pris à l'égard de FLACOURT avant son départ”),
sans le moindre souci des colons qu'elle avait fait passer à Ma-
dagascar et de ses promesses envers eux, elle n’a pas, à partir
de 1648, envoyé un seul navire ravitailler l'établissement fondé
naguère par Prony, même après avoir obtenu du roi Louis XIV,
en l’année 1652, le renouvellement de son privilège *)! Comment,
sans secours d'aucun genre, sans marchandises de traite‘), les
70 Français placés sous l'autorité de FLAcOURT*) eussent-ils pu
1) Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 263 et 285
et 286. — Cf. Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie . . ., p. 13:
«L'année mil six cens cinquante-trois, je fis renforcer une grande barque de
quarante tonneaux que j’avois fait bastir».
2) Dans son factum, FLACOURT déclare être parti à Madagascar «sur
l'espérance qu’ils me tiendroient ce qu’ils m’avoient promis, que de m’envoyer
tous les ans un navire» (p. 18). Cf. sa lettre du 8 juillet 1654: «y ayant
cinq ans qu'il ne nous est venu de navire, quoy que Messieurs de la Com-
pagnie m’ayent promis d’en envoyer un icy tous les ans» (Histoire de la
grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 361).
8) Nous publierons sous peu le texte de cet acte, qui se trouve conservé
aux Archives du Ministère des Affaires Etrangères, Asie, 2, fol. 8—9.
4) Il ressort de la lettre adressée à Desmartins par Angeleaume le
28 février 1654 que ces marchandises manquaient dès 1651 à Fort Dauphin
(Histoire de la grande Isle Madagascar, 6d. de 1661, p. 405. Cf. p. 408).
5) Tel est le chiffre donné par FLACOURT dans sa lettre du 3 juillet 1654
(l. cit, p. 862). Lors du départ du Saint-Laurent, le 19 février 1650, Fı.A-
Le commerce français à Madagascar au XVII siècle. 67
faire de nombreux échanges, et à quoi leur eft-il servi d’en
faire et d’entasser dans les magasins de la Compagnie des mar-
chandises qui, à la longue, couraient risque de s’y abimer')?
Réduits en l’année 1654, après être demeurés depuis 1648 sans
secours d'aucun genre, à un dénûment extrême, «tous contraincts
d'aller nuds ainsi que les nègres, faute de hardes, de linges et
[de] souliers, pour se vestir et chausser»*), ils étaient vraiment,
suivant l’expression de leur chef, «comme gens abandonnez),
. . . Si bien (ajoute FLACOURT) qu'ils m’avoient souvent reproché
que l’on ne se contentoit pas seulement de les faire servir, mais
que l’on vouloit avoir leur vie et leur sallaire, en les laissant
ainsi si long-temps en ce pais sans assistance et sans espérance
de retourner jamais en France»t).|
Le chef de la colonie a souffert d'autant plus cruellement de
son impuissance qu'il s'était rendu compte des ressources de
Madagascar, et qu'il avait formé, pour l’exploitation et la coloni-
sation systématiques de l’île, un plan raisonné et réfléchi. Ce
plan, il l’a lui-même exposé un peu plus tard avec une certaine
ampleur, et il convient de s’y arrêter quelque peu, parce qu’on
y trouve des idées intéressantes, et aussi parce qu’on y relève,
eur les marchandises demandées par les indigènes et sur les
«possibilités économiques» de Madagascar, des informations pré-
cises. «Afin que, débute par déclarer FLACOURT*), les habitans de
COURT avait gardé avec lui 108 hommes à Fort Dauphin (Cause pour la-
quelle les Inieressez de la Compagnie . . ., p. 11).
1) FLACOURT parle dans son récit de la crainte qu’il avait «que les cuirs
qui estoient icy ne se gastassent à la longue» (Histoire de la grande Isle
Madagascar, éd. de 1658, p. 371).
2) V. la lettre d’Angeleaume à Desmartins datée du 28 février 1654:
«Nous sommes réduits à aller nuds comme les nègres, jusqu’à Monsieur de
FLACOURT, qui n’a pas une chemise» (Histoire de la grande Isle Madagascar,
éd. de 1661, p. 405).
3) Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1658, p. 361.
4) Ip., 5bid., p. 369.
5) V. dans le Factum intitulé Cause pour laquelle les Interesses de la
Compagnie n’ont pas fait de grands profits à Madagascar, les p. 18—37:
«Advantages que l’on peut retirer en l’establissement des Colonies à Mada-
gascar pour la religion et pour le commerce». — Ces pages sont reproduites
dans le chapitre LXXXXI de la seconde partie de l'Histoire de la grande
68 Henri Froidevaux
cette isle se puissent accoustumer à un bon négoce et y prendre
soust, il est besoin d’y establir diverses colonies de François,
qui eux-mesmes (ainsi que par toutes les Isles de l’Amerique)
cultivent le tabac, l’indigo, le cotton, les cannes de sucre; y ra-
massent la soye qui y vient par tout en abondance; y nour-
rissent les vers à soye à la façon de l’Europe; entretiennent grande
quantité de ruches à miel; recueillent les gommes de benjoin,
tacamacha et autres gommes odoriferantes; cultivent la racine
d’exquine, le poivre blanc qui est par tout en abondance ; ramassent
l’'ambre gris le long de la coste de la mer, négligé par les
habitans du païs'); cherchent dans les rivieres plusieurs pierres
précieuses de diverses espèces qui s’y peuvent trouver; observent
les montagnes qui contiennent l'or, et le séparent d’avec le sable
où il se treuve en quelques ruisseaux; establissent des forges de
fer et d’acier, qui y est par tout en abondance; aillent à la chasse
des bœufs sauvages en plusieurs provinces pour en amasser les
cuirs, et conservent ceux des [bœufs] domestiques, que les habitans
nourrissent en grande quantité, et par troupeaux».
Ces colonies affecteraient surtout (comme il ressort nettement
du passage qu'on vient de lire) un caractère agricole et industriel ;
aussi n’y faut-il point faire passer «de vagabonds ny . . . de
femmes desbauchées>?). Comme colons, FLACOURT veut toute autre
chose; «ceux qui sont propres pour Madagascar, dit-il formelle-
ment’), ce sont tous gens de mestier»; ce sont des travailleurs
ayant le moyen de payer leur passage depuis la France jusqu’à
l'île de Saint-Laurent, auxquels seront immédiatement donnces
«des terres pour planter et faire valoir» *); ce sont encore des
laboureurs et des artisans qui, transportés dans l’île aux frais
de la Compagnie, débuteront par y travailler, avec «des gages
médiocres», obligatoirement pendant trois ans pour le compte de
cette même Compagnie, ou enfin des soldats engagés aux mêmes
Isle Madagascar, éd. de 1661, p. 445—464. — Notre citation est empruntée
aux p. 18 et 19 du Factum.
1) C’est ce que faisait, dès 1647, le nommé Alain quand il fut tué (Cause.
pour laquelle . . ., p. 6—7).
2) Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie . . ., p. 30.
8) Ibid., p. 29.
4) Ibid., p. 29.
Le commerce français à Madagasear au XVII: siècle. 69
conditions et susceptibles, une fois leur temps de service expiré,
de s'établir définitivement dans le pays et de travailler, eux aussi,
à sa mise en valeur !).
Tous ces immigrants seront, dès leur arrivée à Fort-Dauphin,
répartis entre différentes colonies qui seront créées simultanément,
si faire se peut, le long des côtes méridionale et orientale de
Madagascar. Par suite de son existence même et aussi pour des
raisons d'ordre géographique, le centre administratif sera placé
a Fort-Dauphin; c’est là que «se doit faire la principale colonie»).
Un établissement sera fondé plus à l'Ouest, à la baie de Saint-
Augustin, tandis qu’un véritable chapelet d’habitations d’impor-
tance variable s’échelonnera le long de la côte orientale (à l’em-
bouchure du Mananjara, au Port-aux-prunes, à l’île Sainte-Marie,
à Antongil) et que deux comptoirs seront fondés aux Mascareignes,
l'un à Bourbon et l’autre à Rodrigue. Quant à l'intérieur des
terres, eneore à peu près inexploré, FLACOURT ne juge opportun
d'y établir qu’une seule colonie, dans le pays des Masikoro, séparé
dela mer par le pays des Mahafaly actuels, «pour y establir des mâteurs
de bœufs ou boucaniers, d'autant que tout ce païs est très-grand
et est remply de bœufs, ou pour mieux dire de taureaux sauvages»).
De ces différents établissements, la plupart doivent essaimer
a leur tour. Non contents de se livrer à la mise en valeur de
la contrée qu’ils habiteront, les colons devront, — FLACOURT le
déclare expressément, — entreprendre des reconnaissances, et
même de véritables voyages d'exploration dans les contrées avoi-
sinantes ‘); puis, dans les endroits reconnus les plus favorables,
«aimer et fouder de petites habitations et des fortins. C’est
ainsi que, de Fort-Dauphin, «l’on peut, déclare FLACOURT, establir
1) Cause pour laquelle les Interessez . . ., p. 28—9%9.
2) Ibid., p. 34.
3) Ibid., p. 34—36.
4) Ibid., p. 36: «De toutes ces habitations, l’on pourroit envoyer des Fran-
wis au nombre de trente ou quarante François à la fois pour descouvrir le
pais en tirant à POüest Norotiest de l’isle, et de ces voyages dependroit toute
ln connoïissance du païs . .. L'on pourroit dans des barques desconvrir toutes
les bayes, caps et bouches de rivières qui sont à l'Oüest de l'isle et vers
le Nord d’icelle, qui n'ont point encore esté descouvertes. Ce voyage seroit
le plus fructueux que l’on pourroit faire».
70 Henri Froidevaux
un fort à Itapere dans !’Islet [la principale des îles Sainte-Claire]
qui est un lieu très advantageux pour commander au port, qui
est fort bon, un autre à Manghafia [Manafiafy], qui est un autre
port, et faire un fort à Sainte Luce qui est l’Islet de Manghafia;
et un autre à Ranoufoutchy [Ranofotsy], qui est aussi une fort
belle ance où un grand navire peut mouiller. Outre que, dans
la province d’Anossi [Anosy|, l’on pourra establir des François
habitans en divers lieux pour cultiver le tabac et les choses qui
sont bonnes à negotier avec les originaires»!). On devra de même,
une fois la colonie des Antavares établie, «en ordonner quelques
autres aux lieux les plus advantageux du pais>?), et, des îles
littorales de Sainte-Marie et d’Antongil, fonder des établissements
sur la terre ferme, et en particulier «soubs-ordonner une habitation
de douze ou vingt hommes à Ghalemboule, et bastir un fort sur
le bord de la mer, proche le lieu où nous bastissons nos cases,
sur la petite eminence qui fait une pointe au fond de la baye,
entre le sable de l’ance et celuy du chemin d’Ambato>?°).
Reliés sans cesse les uns aux autres et à Fort-Dauphin, —
où se trouveront les magasins de la Compagnie, — par «plusieurs
barques longues‘), ces différents établissements seront en outre
en relations régulières avec la France, la Compagnie des Indes
Orientales prenant soin d'envoyer chaque année «au moins un
navire» à Madagascar, et permettant sous certaines conditions
déterminées «& tous marchands de faire equiper des vaisseaux
pour aller negotier en ladite isle»*). Ces bâtiments trouveront
dans les différents groupements de population blanche, comptoirs
et forts disséminés sur le littoral, et surtout à Fort-Dauphin,
tous les éléments de frêt et de chargement qui leur seront nécessaires ;
ils y porteront de leur côté les vivres et objets de toute nature
indispensables pour le ravitaillement de la colonie, ainsi que les
1) Cause pour laquelle les Interessez . . ., p. 34.
2) Ibid., p. 34.
8) Ibid., p. 85. — Cf. aussi ce qui est dit de l'ile Bourbon (p. 35), du
Port aux Prunes (p. 35—86), de la baie de Saint Augustin et du pays des
Masikoro (p. 36).
4) Ibid., p. 34.
5) Ibid., p. 33.
Le commerce français à Madagascar au XVII® siècle. 71
marchandises nécessaires pour trafiquer avec les indigenes'), mar-
chandises dont FLACOURT a soin de donner une liste trop précise
à divers points de vue pour ne pas être transcrite intégrale-
ment ici.
«Les choses bonnes à porter à Madagascar pour y négotier
avec les habitans sont verottories (sic) de toutes couleurs, qui
sont petits grains d’esmail, gros comme graine de cheneviere
(les couleurs bleües, rouges, noires, blanches, vertes, jaunes
et orengées sont les meilleures, et principalement la rouge et
la violette); rassades*) de diverses couleurs, et principalement
la bleüe, dont il faut en plus grande quantité que des autres, la
rouge, jaune, couleur d’aigre-marine, de cristal, et de verre, peu
de blanche et de la noire, de la violette ®) . . . . Les grains de
corail de toutes grosseurs y sont extremement requis, les cornal-
lines rouges et blanches, grosses, longues et en olive; mais il
fant qu’elles soient toutes percées pour enfiler. Les grains d’a-
gathes, grenats et cristal de roche y sont fort requis. Le cuivre
jaune en gros fil et diverses merceries, comme chaisnettes de
cuivre jaune (il ne leur faut rien de fragile et de facile à rompre),
des cizeaux, des couteaux, des haches, des serpes, des marteaux,
des clous, des cadenats, des sefrlrures, des pentures de portes,
des gons, des verroux, des locquets, des scies, des cizeaux de
menuisiers, des rabots, des vrilles, et des vibrequins (sc),
et mille autres broüilleries sont très bonnes à porter dans
lisle pour traitter avec les originaires, pour lesquelles acheter
ils s’efforceront de trouver, chercher et de manufacturer tout ce
que l’on voudra»‘).
Arrêtons, sur cette longue et instructive citation, notre examen
1) Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie . . ., p. 84.
2) «La Rassade est faicte d’une paste d’esmail, dont les grains sont gros
comme des pois de diverses grosseurs» (FLACOURT, ibid., p. 31).
8) Cf. les recommandations faites un peu auparavant à Desmartins par
ANGELEAUME: «Les marchandises du pays, n’oubliez pas d’en envoyer quan-
tté de toutes les sortes, à la réserve de la rossade blanche, noire et fueille
morte, et couleurs couverte{s]; pour toutes autres couleurs, envoyez-en, comme
aussi de toutes sortes de verroteries, corail, cornalines et cuivre jaune tout
tré» (Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1661, p. 405).
4) Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie . . ., p. 30—31.
72 Henri Froidevaux
des grandes lignes économiques du plan de colonisation
formé par FLACOURT durant son séjour à Madagascar, après
une longue et attentive étude des ressources de toute une
partie de la grande île. De ce plan, dont il rêvait de diriger
l'exécution, il lui était impossible, par suite du complet abandon
dans lequel le laissait la Compagnie des Indes Orientales, d’en-
treprendre de réaliser même la plus petite partie. A cette de-
eeption, si cruelle pour un ambitieux tel que le gouverneur de
Fort-Dauphin, s’ajouterent encore d’autres griefs: la singulière
négligence des directeurs de la Compagnie, qui ne songèrent
même pas à profiter du départ des bâtiments envoyés en 1654
dans l'Océan Indien par le maréchal de la Meilleraye pour faire
passer, non des armes et des vivres, mais simplement des ins-
tructions à leurs agents de Madagascar’), puis l’accueil indifférent
glacial, que firent à FLACOURT revenu en France les intéressés de la
Compagnie, et les chicanes pécuniaires qu'ils lui chercherent*). C’en
était trop! FLacourT n'’hésita plus à donner un libre cours à son
ressentiment, et publia le factum intitulé Cause powr laguelle les
Interessez de la Compagnie n'ont pas fait de grands profits à
Madagascar. «La véritable eause, y écrivait-il non sans amer-
tume ni rancœur”), de ce que les Interessez n'ont rien fait et
n’ont point advance leurs affaires de Madagascar, c’est leur negli-
gence, et l'abandon qu'ils ont fait de la meilleure affaire du
monde, si elle eust tombé entre les mains de personnes soigneux
et bien entendus en maniere d'envoyer establir des Colonies aux
pais nouvellement descouverts. Ils ont abandonné leurs terres
lorsqu'ils ont veu la moisson preste à recueillir; et ainsi ont donné
sujet à tous ceux qui sont capables d’en bien juger, de se rire
de leurs simplicité et négligence».
1) Seul, Fouquer écrivit à FLACOURT, et seulement pour lui recomman-
der les deux prêtres de la Mission qui arrivaient à Madagascar {Histoire de la
grande Isle Madagascar, éd. de 1668, p. 365—366). Uf. la dédicace à For-
QUET: «Sans m’y prescrire rien des affaires qus concernent le commerce du
pais, vous n'avez point eu d’autre but que de me recommander les choses qui
regardent les spirituelles . . .»
2) Histoire de la grande Isle Madagascar, 6d. de 1658, p. 882—384, et
Cause pour laquelle les Interesses de la Compagnie . . ., p. 16—17.
8) Page 17.
Le commerce francais à Madagascar au XVII® siècle. 13
IV.
Si précaire qu’ait pu être, pendant le gouvernement d'ETIENKE
DE FLACOURT, la situation de la petite colonie française de Ma-
dagascar, elle ne tarda pas à le devenir davantage encore. Le
directeur de la Compagnie des Indes Orientales avait pris soin
avant de s’embarquer sur l’Ouwrs, un des deux navires frêtés par
le maréchal de la Meilleraye, de pourvoir du mieux qu’il lui
avait été possible de vivres et de marchandises ses compagnons !);
mais les incendies qui, aussitôt après son départ pour la France,
firent de la partie retranchée de Fort-Dauphin*) un monceau
de cendres amenèrent la perte totale des munitions, des appro-
visionnements et des marchandises de toute sorte conservés dans
les magasins ?), si bien qu’au début du mois de mars 1655, les
habitants de ce poste se trouvaient dans un état plus lamentable
que jamais. Avec son énergie eontumière, Prony, à qui FLACOURT
avait délégué son autorité et qui avait déjà manifesté l’intention
de mettre le fort «en bien meilleur estat que le sieur de FLACOURT
1) La chose ne semble pas avoir toujours été très facile, car les provisions
chargées sur le Saint-Georges et sur P’Ours n’arrivörent pas en bon état à
Madagascar. «Notre farine, écrit M. MOUXIER le 5 février 1655, ne s’est
point trouvée meilleure que celle de M. de Pronis, et elle se gatera bientot,
si Dieu n’y met la maïn . .. Notre vin aussi auroit esté mieux en de grands
vases, faicts d’étain ou de verre, pour le préserver de tout danger, de mesme
que l'huile d'olive: (Mémoires de la Congrégation de la Mission, t. IX,
p. 206).
2) I convient en effet de distinguer soigneusement le fort du reste de
l'établissement français de Fort Dauphin. «Le Fort consistoit en la Chapelle,
maison du Gouverneur, . . . une cuisine de pierre, deux pavillons de pierre
qui servoient de prisons, cinq Magazins, un Corps de garde, une boutique
de forge et une autre petite forge, une boucherie, et seize maisons de parti-
culiers . .. L’habitation des François hors le F'ort . . . est composée d’en-
viron quelques cent cinquante cases tant de François que de Nègres qui servent
au Fort» (FLACOURT, Histoire de lu grande Isle Madagascar, &d. de
1661, p. 412—413). — Cf. le plan de Fort Dauphin annexé à l'ouvrage de
FLACOURT.
3) Sur ces incendies, voir dans l'édition de 1661 de l’Histerre de la
grande Isle Madagascar, ia «Relation de ce qui s’est passé en l'Isle de Mada-
gascar depuis le 12 febrier 1665 jusques au 19 janvier 1656» (p. 410—413)
et la lettre de M. BOURDAISE du 10 janvier 1656 (Mémoires de la Congre-
gation de la Mission, t. IX, p. 210—212).
74 Henri Froidevaux
ne l’avoit laissé»"), se mit à l'œuvre pour remédier à ces désastres;
mais la mort ne lui laissa malheureusement pas le temps de mener
à bonne fin ses projets, et s’il put, grâce à la présence du Saint-
Georges dans l’anse de Taolankarana, reconstituer immédiatement
un petit stock d’approvisionnements de toute espèce et de mar-
chandises de traite, c’est à son successeur Des Périers que revient
le mérite d'avoir achevé tant bien que mal la reconstruction, à
côté de l'habitation des Français, d’une nouvelle enceinte fortifiée
à l’intérieur de laquelle furent immédiatement élevées des cases
qui servirent d’arsenal, de magasins, d'habitation pour le gou-
verneur, etc.
Tandis que la reconstruction de leur fort, et la réunion des
vivres nécessaires pour l’alimentation de la colonie occupaient
exclusivement les habitants de Fort-Dauphin ?), le capitaine du
Satit-Georges (le second navire du maréchal de la Meilleraye),
M. de la Forest, faisait ses préparatifs de départ; trafiquer avec
les indigènes de la côte orientale de Madagascar, puis faire la
course dans la mer Rouge, tel était alors son double but“). Aus-
sitôt après le retour des Français envoyés par Prony à la traite
du bétail, il quitta l’anse de Fort-Dauphin, et se dirigea vers
l'île de Sainte-Marie, d’où, tandis qu’une partie de son équipage
travaillait à remettre le Saint-Georges en état de poursuivre son
voyage, il gagnait lui-même l'embouchure du Manantsatra, afin
d'y recueillir «des pierres de cristal de roche» dont il voulait
lester son navire. Malheureusement, le capitaine de la Forest
ignorait de quelle manière il convenait de se comporter à l’égard
des indigènes; par son impatience, ses menaces, ses violences,
il modifia leurs dispositions d'abord pacifiques et amicales, et
finit par se faire assassiner par eux‘)!
De cette mort, qui ne semblait devoir constituer qu’un de ces
1) Histoire de la grande Isle Madagascar, 6d. de 1661, p. 414. Cf. p. 411:
«le sieur Pronis . . . s’estoit vanté qu'il vouloit faire changer le Fort et le
mettre en bien meilleur estat qu’il n'estoit auparavant».
2) C'est «pour assister les Francois» qu'un parti de trente hommes,
commandé par Des Periers, s'était rendu dans le pays des Mahafaly (In., sbid.,
», 413
in, tdid., p. 418.
4) Lo, sbid., p. 414—416.
Le commerce français à Madagascar au XVII: siècle. 75
regrettables incidents presque inévitables au début de toute en-
treprise coloniale, résultèrent bientôt des conséquences désastreuses.
Les indigènes du pays de Galemboulou en prirent prétexte pour
attaquer les habitants des rives du Manantsatra qui, enhardis
par l’impunité dans laquelle les avait laissés l'équipage du Saint-
(reurges, ne craignirent pas de porter à leur tour le fer et la
flamme sur le territoire de leurs agresseurs et menacèrent les
habitants de l’île de Sainte-Marie «de les venir inquiéter, et
brusler leurs villages à cause qu'ils estoient amis des François»).
Lorsque, d’autre part, les colons de Fort-Dauphin apprirent l’as-
sassinat du capitaine de la Forest «fort aymé et estimé d’un
chacun», ils en rendirent immédiatement responsables les grands
du pays d’Anosy, et, sans tenir compte de la soumission dont,
depuis plusieurs mois déjà, ces derniers avaient donné des preuves
multiples, ni de leurs protestations d’innocence, des Périers les fit
emprisonner, puis ignominieusement exécuter ?).
«Les Nègres de Carcanossy [Anosy], écrivait en terminant son
récit l’auteur anonyme de la Relation de ce qui s’est passé en lisle de
Madagascar depuis le 12 febr[ier ] 1655 jusques au 19 janvier 1650,
tesmoignent estre bien aise d’estre delivrez desdits Roandrian,
qui sont les Grands, qui les menagoient de les perdre et les piller
quand il n’y auroit plus de François dans leurs pais; l’on ne scait
u is disent cela par dissimulation ou autrement»°). Cette phrase
significative indique quelles furent pour les colons français les
suites de ces violences impolitiques; l'insécurité devint bientôt
telle que le successeur de Des Periers, Gueston, dut se résigner
a «faire reculer le Fort Dauphin d’une portée de mousquet, par
ce qu'il estoit trop proche du village des nègres, de qui on devoit
appréhender quelque surprise par le feu»*). De cette mesure
1) Relation de ce qui s’est passé en l’Isle de Madagascar depuis le 12 febr.
185 jusques au 19 janvier 1656» (Histoire de la grande Isle Madagascar,
éd de 1661, p. 418).
2) In., ibid., p. 419—492.
3) In., ibid., p. 422.
4) Lettre de M. BOURDAISE à Saint Vincent de Paul, 19 février 1657
(Mémoires de la Congrégation de la Mission, t. IX, p. 302). Citation col-
lationnée sur le manuscrit conservé dans les archives de la Congrégation de
la Mission (reg. de Madagascar).
76 Henri Froidevaux
et de celles qui en furent vraisemblablement les consequences
résulta sans doute un apaisement momentane, puisque, au moment
où le premier des quatre vaisseaux expédiés en octobre 1655
par le maréchal de la Meilleraÿe jeta l’ancre dans la rade de
Taolankarana (29 mai 1656), «les François estoient au Fort-Dauphin
dans un grand calme». La tranquillité dont parle SOUCHU DE
RENNEFORT !) n'existait d’ailleurs que sur un territoire assez restreint,
les nègres tributaires des colons étant, au rapport du même auteur,
«en guerre contre leurs voisins, qui leur reprochoient de s’estre
soumis à un petit nombre d’inconnus>?).
Si, à ces circonstances éminemment défavorables pour des
opérations commerciales suivies, on ajoute ce fait que les mar-
chandises embarquées sur les navires du maréchal de la Meille-
raye n'avaient pas été convenablement choisies, et n'étaient
point celles que recherchaient les indigènes des points où atter-
rirent ces mêmes vaisseaux‘), on s’expliquera sans peine leur
insuecès commercial complet. En dépit de son long séjour à l'île
de Sainte-Marie de Madagascar, puis de sa croisière dans les
parages de l'Océan Indien voisins de la mer Rouge, la Maréchale
dut, au mois de février 1657, eretourner en France sans rien
apporter que son laist»t),
Ni cet insuocès, ni celui de l’armement qui suivit ne deeou-
ragèrent le maréchal de la Meilleraye °); après chaque échec, on
1) Histoire des Indes Orientales, p. 59.
2) Ibid., p. 59. — Cf. également, du même auteur, la Relation du premier
voyage de la Compagnie des Indes Orientales en PIsle de Madagascar,
p. 102: «Les nègres lours tributaires [6taient) en guerre contre leurs voisins,
pour soutenir les reproches qu'ils leur faisoient à main armée de s’être soumis
à de malheureux fugitifs que les crimes, disoient-ils, ou la nécessité de moyens
avoient fait sortir de leur païs>.
B) C’est ce que constate avec découragement dans son journal de bord,
à la date du 21 mai 1658, «le sieur de la Roche Saint-André, fameux capi-
taine de marine»; il y raconte devoir emprunter au charpentier flamand de
la Duchesse «de la troque, ia nostre n’estant [pes] bonne; le cuivre jaune
est fort estimé» (Arch. Ministère des Colonies, C 5, Madagascar, carton n° 1}.
4) «Relation de Madagascar depuis l’an 1656 jusqu’en l’an 1687», dans
FLAUOURT (Histoire de la grande Isle Madagascar, éd. de 1661, p. 427).
5) Voir le récit contenu aux p. 423 —481 de l'Histoire de la grande Isle
Madagascar (éd. de 1661), et les différents documents relatifs à ces deux
Le commerce français à Madagascar au XVII" siècle. 77
le voit recommencer avec perseverance, tantöt de concert avec
les actionnaires de la Compagnie des Indes Orientales, tantôt
seul *), à préparer une nouvelle expédition, en tenant compte de
l'expérience chèrement acquise”). C’est seulement en l’année
1661 que, pour la première fois, les efforts de ce remuant et
ambitieux personnage furent couronnés de quelque succès; alors
un bâtiment armé par ses soins deux ans auparavant) et chargé
de marchandises soigneusement choisies, achetées à Rouen, selon
toute vraisemblance chez des marchands auxquels s'était déjà
adressé ETIENNE DE FLACOURT‘), rapporta de Madagascar une
cargaison considérable. Malgré la situation précaire de la colonie
française de Fort Dauphin, en dépit de l’état de guerre dans.
lequel, depuis plus de quatre ans déjà, se trouvait toute la partie
méridionale de l'fle de Saint-Laurent, le capitaine Veron «retourna
chargé de cuirs, de bois d’ebeine, d’indigo, de benjoin, d’aloës,
armements publiés dans le tome IX des Mémoires de la Congrégation de la
Mission. Cf. A. MALOTET, Etienne de F'lacourt, p. 273—274.
1) «Le mois de septembre 1656, le duc de la Meilleraye s’estant accordé
avec les interessez de la compagnie Francoise de l'Orient, pour envoyer un
Navire en Madagascar à communs frais . . .» (Histoire de la grande Isle
Madagascar, éd. de 1661, p. 427—428). — Un an plus tard, en septembre
1657, «le sieur Duc de la Meilleraye faict encor esquiper un autre Navire au
port Loüis . . . pour aller à Madagascar» (In., ibid., p. 481).
2) C’est ainsi qu'en 1656, FLACOURT a été envoyé à Rouen «pour y
acheter les marchandises propres pour la traitte> (Ip., sdid., p. 428). Ainsi
était très intelligemment mis en pratique ce que, dès 1650, M. NACQUART re-
commandait À Saint Vincent de Paul: «Il faudrait avoir suffisamment des
marchandises d’une espèce dont vous ne pouvez estre informé que par quel-
qu'on qui en ait l'expérience» (Mémoires de la Congrégation de la Mission,
t IX, p. 83).
3) Ou plutôt un petit bâtiment frêté au Cap par un Hollandais, et sur
lequel furent chargées les marchandises apportées jusque là par la Maréchale
In., sbid., p. 441).
4) Ce fut certainement le cas pour les marchandises qu’emporta M. ETIENNE,
«mme le prouve le «Mémoire des Marchandises vendues et livrées par Marie
Legrand, veufve de deffunt Thomas le Prevost, Marchand à Rouen, [qui]
demeure rue Gros Horloge, a Rotien> conservé dans les archives de la
Congrégation de la Mission. On sait que FLACOURT était en relations per-
tomelles avec Saint Vincent de Paul; il dut donner des indications pour l’achat
deces marchandises. Aussi nous semble-t-il intéressant de faire connaître ce
Xémoire, que nous publions en appendice.
78 Henri Froidevaux
de muscade et de gomme, avec quelques pierreries, des essays
de mines, de l’ambre gris et d’autres raretez qui ont empêché
Monsieur de la Meilleraye de céder ses droits tant qu'il a vécu»r!).
Convient-il, en l’absence d'indications chronologiques précises,
d'attribuer au succès de cette expédition la résolution prise par
un des anciens fondateurs de la Compagnie de 1642, qui n’avait
jamais cessé de s'intéresser à l’exploitation commerciale de Ma-
dagascar, le célèbre surintendant Fouquet, d'envoyer à son tour
un bâtiment à Fort Dauphin? La Compagnie Caset, qui, en l’année
1656, avait obtenu du roi Louis XIV la concession du privilège
précédemment octroyé à la Compagnie des Indes Orientales”),
avait, à la suite du désastre dans lequel avait péri FLACOURT (1660),
renoncé à faire valoir ses droits sur Madagascar; après avoir
précédemment essayé de s'entendre avec le maréchal de la Meille-
raye, Fouquet résolut alors de se substituer à lui. Il envoya
donc, rapporte SOUCHU DE RENNEFORT*), «pour son interest par-
ticulier courir la mer Rouge à une Fregatte nommée !’ Aigle Noir,
et chargea le sieur Hugo, Hollandois, qu'il en avait fait Capitaine,
de s’emparer de Madagascar s’il le pouvoit sur ceux qui le te-
noient pour Monsieur de la Meilleraye». Arrivé à Fort Dauphin,
Hubert Hugo“), pour se conformer aux instructions qu’il avait
1) SoucHU DE RENNEFORT, Histoire des Indes Orientales, p. 46. — A en
en croire le sieur Gentilot, les peaux étaient encore la partie la plus appréciable
de la cargaison; «les meilleures marchandises que l’on aye receu de Madagascar
sont, dit-il, des cuir[s] qui peuvent bien ayder à payer les despens» (Arch.
Minist. des Colonies, C 2, reg. 2, fol. 87).
2) A. MALOTET a publié intégralement les statuts de la Compagnie Caset
à la fin de son Etienne de F'lacourt, p. 306—314.
8) Histoire des Indes Örientales, p. 46.
4) Est-ce pendant son séjour à Fort Dauphin que Hubert Hugo se
procura «des petites pièces de toille de coton simple, de viron quarante sols»
pour lesquelles, à son retour, il lui fallut «payer plus de unze sols à la ro-
maine, quoy que les dittes toiles soient d’une qualité inconnue et de peu de
valeur; de sorte que, bien loin de deux à trois pour cent, on nous a faict
payer sur le dit pied plus de vingt-cinq pour cent»? Il est impossible de le
dire; mais il est certain que ce marin hollandais a recueilli, au cours de son
voyage, de précieuses informations sur le commerce des Arabes avec Madagascar,
«ce qui, dit-il, est inconnu au commandant et habitans françois qui sont au
Fort Dauphine. C'est même là, pour lui, la raison pour laquelle s’est appauvri
Le commerce français à Madagascar au XVII" siècle. 79
reçues, «proposa au sieur de Chamargou l’embarquement de luy
et de ses gens et sa part en la course, afin de s’emparer de
Madagascar, suivant l’ordre secret que Monsieur Fouquet luy en
avoit donné: mais Chamargou le refusa dans l'espoir de recevoir
bien-tost du secours de Monsieur de la Meilleraye; et ayant appris
que le Capitaine tâchoit de gagner de ses soldats, il empêcha par sa
défiance et par ses soins que Hugo ne se rendist maître du Fort»).
Cependant le maréchal de la Meilleraye se préoccupait de
renforcer la petite garnison de Fort Dauphin, et de coloniser le
sud de Madagascar. Dans les premiers mois de l’année 1663,
il y fit passer une centaine d’&migrants commandés par un <chef
de colonie»), tandis qu’un Prêtre de la Mission, M. ETIENNE,
y conduisait une vingtaine d'ouvriers). Il eût certainement fait
plus encore (différents documents en fournissent la preuve) s’il
ne s'était pas jugé lui-même «moribon et proche de sa fin, et
... pas en estat de faire un si grand effort comme il est dores-
navant necessaire», car il demeurait persuadé du grand avenir
de cette île, dans le sud de laquelle, écrivait-il dans un mémoire
de l’année 1663, «on trouveroit assez de vivres pour avictuailler
tous les vaisseaux que l’on voudroit envoyer à long cours, tant
à la mer Rouge, Sainct (sic) Persique, qu’à l’isle de Zeingland
[Ceylan], la Chine, Bantan, etc., . . . et mesme on y trouverroit
toutes les choses nécessaires pour les retours de France, comme
cristal, hebeine, cotton, tabac, soye, mesmes pierres precieuses,
cuirs et autres choses qui se trouvent dans les ditz Isles>»®).
le sud de J’ile; «il est tout apparamment certain, déclare-t-il, que les plus
riches et puissans habitans de l’isle se sont retirez au plus loin des François,
afin de pouvoir plus facilement négocier avec ceux qui viennent traiter avec
eux aux quartiers les plus advantageux de l’isle». (Ch. GRANDJEAN, Mémotre
présenté à Louis XIV en 1664 par le Hollandais Hubert Hugo pour la
fondation d'une Compagnie des Indes Orientales. Bull. Soc. Etudes Marit.
et Colon., 1893, p. 28 et 13).
1) SOUCHU DE RENNEFORT, Histoire des Indes Orientales, p. 63.
2) Ibid., p. 49.
3) Mémoires de la Congrégation de la Mission, t. IX, p. 458; Souci
DE RENNEFORT, ouv. cite, p. 49.
4) Tous ces termes sont empruntés à un «Memoire pour soustenir l’Eta-
bissement fait par M. de la Meilleraye à Madagascar» (Archives du Ministère
80 Henri Froidevaux
Au moment même où le maréchal de la Meilleraye se portait
ainsi garant de la richesse de Madagascar, la petite colonie fran-
çaise de Fort Dauphin se trouvait, par suite des cruautés inutiles
de son commandant actuel, M. de Champmargou, et de sa jalousie
à l'égard de Vacher de la Case, dans une situation extrêmement
critique '). La contrée qui avoisinait immédiatement l'habitation
étant, depuis longtemps déjà, ruinée par suite «des guerres presque
perpetuelles que les François y avoient portées pendant vingt
ans»?), c’est de plus loin, des provinces voisines de l’Ambolo,
que provenaient les tributs vraiment importants; or ces tributs
en’estoient plus apportez au Fort Dauphin par les Grands de
l'Isle qu’on y avoit soûmis auparavant, parce qu’ils ne redoutoient
pas assez la puissance des François reduits à petit nombre, et
qui estoient désunis»”). Aussi était-il impossible de faire le
moindre commerce et même de se procurer des vivres dans l’Anosy.
C'est pourquoi de Champmargou et la Case réconciliés un peu
plus tard par le capitaine du Saint-Charles entreprirent, après
avoir rétabli leur autorité sur les chefs vassaux, de réaliser par-
tiellement le plan de colonisation préconisé naguère par FLACOURT.
Non contents de faire des reconnaissances et des expéditions
guerrières dans l’intérieur des terres ‘), ils fondent quelques petits
postes le long de la côte orientale de Madagascar, à Manambara,
à Galemboulou, dans l’île de Sainte-Marie‘). Etablis en des points
intelligemment choisis, et échelonnés de manière à assûrer par
mer le ravitaillement de Fort Dauphin, ces comptoirs étaient
destinés à une existence moins éphémère que ceux dont il a été
précédemment question; ils n'avaient pas encore, en dépit des
des Colonies, C 5, Madagascar, carton 1). — Ce fragment de mémoire montre
combien SOUCHU DE RENNEFORT était exactement informé des idées du maré-
chal de la Meilleraye quand il a écrit que «fen Monsieur de la Meilleraye
avoit de si bonnes connoissances des richesses de l'Isle qu’il n’a jamais voulu
céder ses droits» (Histoire des Indes Orientales, p. 400).
1) Sur ce point, v. SOUCHU DE RENNEFORT, Histoire des Indes Orientales,
p. 59—656.
2) SOUCHU DE RENNEFORT, ibid., p. 68.
8) Ib., ıdid., p. 49—50. |
4) In., idid., p. 50.
5) In., #bid., p. 47.
Le commerce français à Madagascar au XVIlI* siècle. 81
dificultés avec lesquelles s'était trouvée aux prises la poignée
de Français qui occupaient Fort Dauphin, été évacués au moment
où, en juillet 1665, l’île de Madagascar passa effectivement sous
la direction de la Compagnie des Indes Orientales de 1664.
V.
Ce n’est pas ici le lieu de raconter comment fut fondée cette
puissante Compagnie, si différente des petites associations privi-
kégiées qui, depuis l’année 1604, avaient été constituées en France
sous le même nom; on sait quelle part active prit personnelle-
ment Louis XIV à la constitution de la Compagnie des Indes
Orientales’), dont l’Académicien Charpentier, dans le Discours
d'un fidèle sujet du Roy touchant l'Establissement d’une Compagnie
françoise pour le Commerce des Indes Orientales?), avait montré
la grande utilité et les avantages au point de vue français, et
avait en même temps esquissé le programme d'action. Avant
toute chose, le gouvernement, désireux de faire œuvre solide et
durable, devait naturellement se préoccuper d’assûrer aux flottes
de la Compagnie, sur la route des Indes, des points de relâche
et de ravitaillement; était-il possible, à cet égard, de trouver
situation plus favorable que celle de Madagascar? Tout concourait
d'ailleurs à corroborer cette impression d’ordre stratégique et éco-
somique, ainsi qu’à confirmer Louis XIV et Colbert dans ce dessein,
et le souvenir de la riche cargaison rapportée de Madagascar en
1661 par le capitaine Véron, et la connaissance des relations
publiées ®), et la lecture des mémoires adressés au Ministre par
le maréchal de la Meilleraye lui-même, par le chevalier de Jant,
1) Se reporter sur ce point au travail de LOUIS PAULIAT, Madagascar
ses Louis XIV. Louis XIV et la Compagnie des Indes Orientales de 1664
(Paris, Calmann Lévy, 1886, in-12 de XXII—404 p.).
2) Paris, sans nom d’imprimeur, 1664, in-4 de 57 p.
3) Celles de FRANÇOIS CAUCHE et de FLACOURT, dont la seconde avait
eu deux éditions (1658 et 1661). D'autres voyageurs avaient incidemment
préconisé un établissement à Madagascar, la Boullaye le Gouz, par exemple,
qu écrivait sur ce sujet en l’année 1657: «Si Sa Majesté vouloit entendre
à ces conquestes, elle se rendroit facilement maistresse de toute l'Isle, et des
costes d’Affrique, où sont les mines d’or» (Les voyages et observations du
sieur de La Boullaye le Gouz, p. 277).
Vierteljahrsehr, f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. Ill. 6
82 Henri Froidevaux
par Hubert Hugo”), par d'autres encore‘). Aussi eomprend-on
que le porte-parole de Louis XIV ait insisté comme il l’a fait,
dans le Discours dun fidèle sujet du Roy, sur l'importance de
Madagascar et assigné comme but aux premières apérations de
la future Compagnie l'occupation et la colonisation de la terre
appelée naguère par les Portugais le de Saint-Laurent. «Il n’y
a pas, déclarait-il*), de lieu plus propre pour faire un magazin
général des marchandises que l’on feroit venir de tous costez
pour estre apportées dans l’Europe». En outre, «la terre y est
admirable pour toutes sortes de grains et d’arbres, et ne demande
qu'a estre cultivée pour estre merveilleuse. Il n’est point neces-
saire comme aux autres Isles, d’y apporter des vivres pour y faire
subsister les colonies; on y trouve de toutes choses en abondance,
et le pays en produit non seulement assez pour nourrir ses ha-
bitans, mais assez encore pour en faire part à d’autres peuples.
Les eaux y sont excellentes, les fruits délicieux, et l’on peut dire
sans exaggeration qu'il est aysé d’en faire un vray Paradis terrestre.
Elle a outre cela des mines d’or si abondantes que durant les
grandes pluyes et ravines d’eaux, les veines d’or se descouvrent
d’elles-mesmes le long des costes et sur les montagnes»*).
Ces assertions optimistes — que semble seul avoir discutées
le sieur Gentilot dans ses curieuses «Remarques et observations d’un
fidèle sujet du Roy sur les discours touchant l'Etablissement d’une
Compagnie françoise pour le commerce d'Orient» °) — se trouvèrent
corroborées par l’arrivée à Port-Louis, au milieu du mois de mai 1664,
du navire le Saint-Charles, le dernier bâtiment envoyé à Madagascar
par le Maréchal de la Meilleraye. Onze mois et vingt jours lui
1) Ces différents mémoires sont conservés aux Archives du Ministère des
Colonies, C 5, Madagascar, carton 1. Le premier a été analysé dans les
Mémoires de la Congrégation de la Mission (t. IX, p. 389—890), le dernier
publié par CH. GrANDJEAN dans le Bulletin de la Société des Etudes Man-
times et Coloniales, 1898, janvier, p. 5—25).
2) V. les différents mémoires contenus dans le registre 2 de la série
C 2 des Archives du Ministère des Colonies, dans lesquels il est accidentelle-
ment question de Madagascar.
3) P. 19 de l'édition in-4.
4) P. 17—18 de l'édition in-4.
5) Archives du Ministère des Colonies, U 2, registre 2, fol. 75—88.
Le commerce français à Madagascar au XVII” siècle. 83
avaient suffi pour se rendre dans l’île de Saint-Laurent, et pour en
revenir «chargé de quantité de cuirs, de cire et de bois d’ébène»,
et «aussi [de] quelques pierreries» '); il en rapportait d’autre part,
a en croire CHARPENTIER, des lettres ne tarissant pas en éloges
sur le pays”). (C’est done un don vraiment royal que fit, dans
de telles circonstances Louis XIV à la Compagnie des Indes
Orientales quand, non content de souscrire personnellement une
somme de trois millions de hvres, il lui concéda à perpétuité,
le 26 mai 1664, «la propriété de l’isle de Madagascar ou Saint-
Laurent avec les isles circonvoisines, forts, habitations et colonies»).
Mais du moins Louis XIV, s’il lui faisait an semblable cadeau,
entendait-il que la grande île dans laquelle il se plaisait à voir
une base solide pour les futures opérations commerciales et co-
loniales de ses sujets, ft de la part de la Compagnie des Indes
Orientales l’objet d’une sollicitude particulière, et fût colonisée
et mise en valeur avant toute autre partie du vaste domaine
dont il lui avait abandonné l'exploitation exclusive. CHARPENTIER
l'avait, dans son Discours d’un fidèle sujet du Roi, donné nette-
ment à entendre“); aussi les syndics décidèrent-ils que le premier
1) CHARPENTIER, Relation de l’Etablissement de la Compagnie I'rancoise
pour le Commerce des Indes Orientales, p. 19.
2) «Nous sommes, déclarait le lieutenant de Maison-Blanche dans une
kttre du 1° janvier 1664, en un pays très-beau, très-bon et très-fertile. Les
Viandes y sont en grande abondance, aussi bien que le Ris. le Vin, le Miel;
mais les guerres que les Naturels #e sont faites ont un peu incommodé le
payse (CHARPENTIER, 1bid., p. 34). Cf. la lettre de M. Etienne citée aux
p. 37—38.
3) Ce sont les termes mêmes de l’article 20 des «Articles et Conditions
sur lesquelles les Marchans Negotians du Royaume supplient très-humblement
le Roi de leur accorder sa Declaration, et les grâces y contenfes pour l’&ta-
klissement d’une Compagnie pour le Commerce des Indes Orientales» (Paris,
1064, in-4 de 21 p.) — Cf. les art. 21 et 22.
4) «11 faut . . . équiper une Flotte, et aller descendre droit dans nostre
Isle de Madagascar, où nous ne trouverons aucune résistance, et commencer
à y faire un grand establissement, qui sera soustenu par de fortes colonies
que l'on continuera d’y envoyer . .. Et ce sera là comme les préliminaires
de nostre grand commerce» (P. 29—30). — «Il paroist maintenant que ce que
jay advancé est très-vray, je veux dire que la demeure de Madagascar cst
préférable en tout à celle que nos voisins ont dans l’Isle de Java, et par
cmséquent que nous ne la devons point négliger» (P. 38).
84 Henri Froidevaux
armement de la Compagnie naissante ne se rendrait pas jusqu'aux
Indes, mais se bornerait, après avoir gagné Madagascar, à explorer
les côtes de. l'Afrique orientale jusqu'à la mer Rouge. C’est
sur la grande île africaine de l'Océan Indien que devaient d’ailleurs
porter presque exclusivement les efforts des agents de la Compagnie,
les instructions des syndics en fournissent la preuve indéniable.
Bien que «l’on n’eät point d'autre intention, pour cette première
fois, que d'aller jetter les fondemens d’un grand establissement»"),
il fut <enjoint expressément aux gens du Conseil d'envoyer aussi-
tost qu'ils seraient arrivez plusieurs brigades dans les dedans
du pays pour informer les habitans de nos desseins, et pour
tascher de les attirer à nous par toutes les voyes de douceur
imaginables, et en leur faisant entendre qu'ils viennent . . . . afin
de traffiquer avec eux, et de leur apporter du Royaume de France
les choses dont ils manquent, . . . . que jamais aucun Negre
ni autre habitant de l'Isle n’en sera enlevé ni transporté pour
estre vendu comme esclave ou pour estre contraint de servir,
mais au contraire que les François leur donneront une protection
entière contre ceux qui leur voudroient faire un pareil traitte-
ment»*). En même temps, et pour préparer l'avenir d’une autre
manière encore, les membres du Conseil Souverain devaient s’at-
tacher avec un soin tout particulier à l’exploration scientifique et
économique *) de l'ile Dauphine, ainsi qu'était dorénavant appelée
Madagascar‘). a
Bien qu'une «seconde flotte, qui sera beaucoup plus puissante,
et par le moyen de laquelle on sera en estat de mettre la dernière
main au Gouvernement de la Compagnie dans cette Isle», dût
1) CHARPEXTIRR, Relation de l'Establissement de la Compagnie . . ., p. 67.
2) In., sbid., p. 84. — Pour comprendre la réserve relative à ia traite,
il convient de rappeler ici que Prony avait naguère, en l'année 1646, fourni
une Cargaison d'esclaves antanoay A un capitaine hollandais qui les transporta
Al’ile Maurice, «ce qui a esté cause que, depuis ce temps-là, il ne se trouva
aucun Nègre en l'habitation tant qu’il y a eu Navire mouillé à l’ancre, et
que lea Nègres du païs eurent en hayne dès ce jour-là les François» (FLA-
COURT, Histoire de la grande Islc Madagascar, 6d. de 1658, p. 209—210).
3 CHARTENTIER, Relation de VEstablissement de la Compagnie .
y. US
4) ln. sded,, p. 108-108.
e >
Le commerce français à Madagascar au XVII" siècle. 85
suivre de très près la première !), les syndics ne negligerent rien
de ce qui pouvait, au point de vue matériel même, aider au succès
de l’entreprise. Non contents de s’assûrer le concours des ad-
ministrateurs qu'ils jugeaient le mieux au courant des affaires de
Madagascar, et des capitaines les plus habiles et les plus
expérimentés, non contents de recruter des marins d'élite, des
gens de métier et des artisans de toute espèce’), ils veillèrent
avec un soin minutieux à fournir leurs agents de «toutes
sortes de marchandises, non seulement de celles dont le débit
pourroit estre avantageux avec les insulaires, mais encore de
toutes les choses necessaires pour la commodité de la colonie»).
Ausai leur fallut-il plus de sept mois pour mettre leurs quatre
premiers vaisseaux en état de quitter la France à destination de
Madagascar (7 mars 1665).
Mais, quelque soin que Colbert et les syndics de la Compagnie
eussent apporté à la désignation de ceux qui devaient présider
aux destinées de la colonie de Fort-Dauphin, ils se tromperent
sar leur valeur. «Les premiers du Conseil n’estoient pas gens
à rendre de grands services . . . et il y avoit des marchands
qui eussent bien conduit des boutiques et des magasins, mais
qui estoient incapables d’une administration politique; et tous
aavoient point l’experience, la fermeté et l'élévation de genie né-
cssaires pour soûtenir une entreprise de cette importance>‘).
En outre, quelques précautions qui eussent été prises pour bien
déterminer les attributions de chacun‘), on n’était pas arrivé à
1) CHARPENTIER, Relation de l’Establissement de la Compagnie pour
le Commerce des Indes Orientales, p. 67—68.
2) V. CHARPENTIER, idid., p. 24 et 73; et SOUCHU DE RENNEFORT,
Histoire des Indes Orientales, p. 6—8.
3) CHARPENTIER, Relation de lPEstablissement de la Compagnie ..., p. 71.
4) Soucat de RENNEFORT, Histoire des Indes Orientales, p. 392. Cf.
p. 91.
5) CHARPENTIER, Relation de l’Establissement de la Compagnie . ..,
p. 68. 75. 86—88. On se rendra compte de la minutie avec laquelle tout
arait été déterminé par l'exemple suivant: «Quant aux affaires de la Com-
Pagnie qui regardent particulièrement le traffic, elle en distribua la direction
eatre les quatre marchands qui doivent estre du Conseil particulier. Ainsi
ele ordonna que l’un d'eux tiendroit les livres et prendroit soin qu'ils fussent
86 Henri Froidevaux
faire en sorte que plusieurs des principaux agents envoyés à
Madagascar eussent dépouillé toute préoccupation personnelle,
qu'ils ne songeassent avant tout à leur fortune particulière, ni
qu'ils vécussent ensemble dans une entente parfaite. C'est ce
dont SOUCHU DE RENNEFORT a, dans sa précieuse Histoire des
Indes Orientales, fourni plus d’une preuve; il a montré comment,
durant la traversée même, se produisirent entre marins, admi-
nistrateurs et marchands des conflits de personnes qui se conti-
nuèrent après l’arrivée à Fort Dauphin !); il a également montré
comment, après le débarquement (14 juillet 1665), <chacun s’appli-
quoit sérieusement à se faire du bien»*). Aussi, malgré que la
flotte eût, selon les expressions mêmes de CHARPENTIER ®), cgé-
néralement de tout ce qui se peut imaginer et de tout ce que
les hommes peuvent désirer», les colons ne tardèrent-ils pas à
y souffrir tellement de la disette que «la derniere extrémité fit
courir à la traite dans quelques Villages des environs, d’où l’on
apporta des racines, des fèves, du miel et quelque ris», et qu’il
fallût bientôt après, «pour soulager le fort», envoyer en expédition,
sous différents prétextes, bon nombre de Français“). Mais ce
n'était là que des palliatifs insuffisants; ce qu'il aurait fallu
modifier, c'était l'esprit de l'administration même de la colonie,
c'était l’âpreté et l’avidité de l’ancien gouverneur, M. de Champ-
tousjours en bon ordre et en parties doubles; que ce seroit luy qui dresseroit
les commissions qu’on donneroit à ceux qu’il faudroit envoyer en parti, pour
faire quelque nouvel Establissement, ou pour la traitte des Marchandises;
. que le quatriesme auroit soin du magazin où seront les marchandises
appartenant à la Compagnie, avec les Drogues et Medicamens, et feroit placer
toutes ces choses séparément et avec le plus d'ordre et de propreté qu'il
pourroit, qu’il tiendroit un registre exact de tout ce qui seroit mis dans ces
magazins, et de ce qui en sortiroit, soit pour aller en traitte, soit pour porter
à quelque nouvelle habitation, de façon qu’on peust tousjours sçavoir la quan-
tité et la qualité des marchandises qui seront sorties du Magazin; et qu’enfin
il ne delivreroit jamais aucune chose sans l’ordre exprès du Conseil» (Ib.
tbid., p. 86—88).
1) P. 35—86. 72—75. 85. 100-101. 392.
2) P. 90.
3) Relation de lEstablissement de la Compagnie . . ., p. 71.
4) SoucHU de RENNEFORT, Histoire des Indes Orientales, p. X.
Le commerce français à Madagascar au XVII* siècle. 87
margou, devenu «commandant les armes de l’isle>'), c'était «la
foiblesse ou l’infidélité du Conseil des Indes>?).
Il serait cependant injuste de ne pas reconnaître que les
chefs de la colonie française de Madagascar ont fait à tout le
moins une parte de leur devoir, et se sont efforcés de satisfaire
à certains articles de leurs instructions. Ce même SoucHU DE
RENSNEFORT, dont l’ouvrage contient de si lourdes charges contre
les membres du Conseil Supérieur, fournit également la preuve
que l'enquête économique prescrite par les Syndics commença
presque immédiatement après l’arrivée du premier convoi à Fort-
Dauphin °), et que, dès le début de l’année 1666, de précieuses
informations de toute espèce avaient été recueillies par leurs
soins sur la partie sud-orientale de l’île, celle (il est vrai) que
les Français habitaient et parcouraient depuis plus de vingt ans,
celle sur laquelle il était le plus facile d'obtenir des renseigne-
ments précis“). En outre un gisement de pierres précieuses y
avait été découvert”), et des marchandises de grand prix avaient
été accumulées dans les magasins de Fort-Dauphin, comme le
prouve la liste des objets composant la cargaison de /a Vierge
de Bon Port, qui fit voile vers la France le 20 février 1666.
Dans la cale de ce navire avaient été entassées «des montres
de pierreries, de minéraux, de gommes, d’épiceries, de terre mêlée
d'or, et d’autres métaux, de bois précieux et de senteur, et de
tout ce qu’on avoit trouvé de riche et de précieux à Madagascar>°),
1) Sur La façon dont fut conduite la négociation qui aboutit à cette
tomination, conformément aux instructions des syndics, v. SOUCHU DE RENNE-
FORT, 3. cit., p. 40—41 et 71—72.
2) Expression de SOUCHU DE RENNEFORT, owv. cité, p. 113.
3) In., ibid., p. 89—90: dès le 10 septembre 1685, le Suint Paul fut
expédié «reconnoitre les lieux où il seroit le plus à propos d'établir des
comptoirs et des correspondances. Il fut chargé d'aller en l’Isle de Sacator
[Soeotora], dans la Mer Rouge, et tant qu’il seroit possible prendre infor-
mation seure de la Côte d’Asie jusques au sein Persique».
4) V. les chapitres XXIV—XXX du livre II de l'Histoire des Indes
Urientales de SOUCHU DE RENNEFORT (p. 118—185).
5) In., sbid., p. 96—97.
6) In., #bid., p. 392. Cf. p. 159, où SOUCHU DE RENNEFORT parle de
tabec, de benjoin, d’ambre gris, de poivre et d’alven.
88 Henri Froidevaux
sans parler de ce qui constituait la cargaison ordinaire des bä-
timents de commerce revenant de l’île de Saint-Laurent, des
cuirs et des billes d’ebene en particulier!) Si, en vue de Guerne-
sey, la Vierge de Bon Port dut, après un combat acharné
contre un vaisseau de guerre anglais, amener son pavillon, puis
s’engloutit dans les flots?), les membres du Conseil Souverain
de Madagascar ne doivent pas être rendus responsables de ce
désastre; ils avaient rempli leur devoir en chargeant à son bord
de telles richesses que, — sans tenir compte de tous les objets
précieux dissimulés dans leurs coffres par les marins de l’équi-
page?), — «on faisoit valoir [ce navire] un milion d’or>»t).
Non content de recueillir des renseignements de tout genre
sur la partie méridionale du pays, le Conseil Souverain de Ma-
dagascar s’est préoccupé de poursuivre son enquête sur la côte
orientale ‘), et même (un peu plus tard) sur la côte occidentale
de l’île‘); et il n’a pas dépendu de lui que le navire Ze Saint-
1) SOUCHU DE RENNEFORT., Histoire des Indes Orientales, p. 169. Cf. les
Mémoires de Fr. MArTın (Arch. Nat., T. 1169, fol. 36 v°), où il est question
de cuirs et de «diverses sortes de gommes». — D’autre part, SOUCHU DE RENNE-
FORT parle de singes et de deux caméléons embarqués sur la Vierge de Bon Port
(Relation du premier royage de la Compagnie des Indes Orientales . . ., p. 298).
2) SOUCHU DE RENNEFORT, Histoire des Indes Orientales, p. 152—160.
3) «Il est certain, écrit SOUCHU DE RENNEFORT (ibid., p. 161), que presque
tous les coffres estoient à double fond et cachoient des pierreries». FRANÇOIS
MARTIN raconte de son côté dans ses Mémoires que «plusieurs des officiers
du navire ainsy qu'entre les passagers avoient l'idée remplie des grandes
richesses qu’ils emportoient avec eux par quantité de topazes, d’amathistes et
d’autres pierres de couleurs . . . dont ces gens la estoient bien garnis> (Arch.
Nat., T 1169, fol. 22 r°).
4) SOUCHU DE REXNEFORT, tbid., p. 161.
5) Les voyages de FRANGOIS MARTIN (dont il sera question un peu
plus bas) en fournissent la preuve, ainsi que les instructions données au
Saint-Paul avant son départ (SOUCHU DE RENNEFORT, Histoire des Indes
Orientales, p. 89 —90).
6) FRANÇOIS MARTIN, dans ses Mémoires inédits (Arch. Nat. T 1169,
fol. 22 r°), raconte que, dès l’arrivée du houcre St. Loue à Fort Dauphin
(12 février 1666), «le Conseil trouva à propos d’envoier ce houcre reconnoitre
la coste de l'Ouest de l’ile pour remarquer ce qu’il y auroit à faire pour
l'avantage de la Compagnie». Cf. CARPEAU PU SAUSSAY, Voyage de Mada-
gascar, p. 179.
Le commerce francais A Madagascar au XVII: siècle. 89
Paul se rendit beaucoup plus loin encore, jusqu’à Socotora et
sur les rivages de l’Arabie et de la Perse'). Le Conseil Souve-
rain a également tenté, en dépit des objections et des répugnances
de M. de Champmargou ?), de vivre en paix avec les indigènes
du sud de Madagascar, et de se procurer du bétail autrement
que par des razzias; il a enfin essayé de fonder plusieurs comp-
toirs ou de maintenir les comptoirs déjà existants à Mas-
eareigne, à Matitanana, à Galemboulou, dans l’île de Sainte-Marie,
à Antongil”). De ces différents établissements, un seul, celui
de Mascareigne, était destiné à un long avenir; quant aux autres,
ils ne devaient subsister que quelques années. Leur histoire,
malheureusement très obscure, est cependant intéressante à étudier;
elle prouve que si, parmi les personnages les plus importants de
la colonie française de Madagascar, «l’ambition et l’avarice estoient
les passions dominantes», si <el'interest particulier l’emportoit
toujours sur le général, et sur celuy de la Compagnie>*), il n’en
était pas de même chez un certain nombre d'agents subalternes.
Rien peut-être, à cet égard, n'est plus significatif que l’histoire
de FRANÇOIS MARTIN, le futur fondateur de la domination
française dans l'Inde.
Envoyé de l’île Mascareigne, où l’avait transporté le navire
PAigle Blanc, à Galemboulou pour y remplir son office de <sous-
1) Non seulement SOUCHU DU RENNEFORT le dit avec précisign, mais
FRANÇOIS MARTIN corrobore son récit quand il écrit avoir reçu du Conseil
«des instructions où l’on me marquoit de passer avec le navire le Saint-
Paul au Bandar Abassy et jusques à Bassora, pour y apprendre des nouvelles
des envoiez par terre» (Arch. Nat., T 1169, fol. 19 r°; cf. fol. 17 r°).
2) V.les Mémotres de FRANÇOIS MARTIN, fol. 16 v°. — Si M. de Beausse
rest enfin décidé à autoriser l’expédition projetée depuis longtemps par M. de
Champmargou, ce fut sous la condition expresse «que le party seroit fait au
som et pour l’interest de Monsieur le duc Masarin» (ibid, fol. 17 r°), l’heri-
ter du maréchal de la Meilleraye. Ainsi s'explique le partage du butin
rapporté par SOUCHU DE RENNEFORT à la p. 112 de son Histoire des Indes
Orientales.
3) Sur tous ces faits, v. l'Histoire des Indes Orientales de SovcHht DE
REXXErORT et les Mémoires de FRANÇOIS MARTIN, passim.
4) Expressions employées par SOTCHU DE REXNEFOR‘T, Histoire des Ind:s
Orientales, p. 391.
90 Henri Froidevaux
marchand» et pourvoir d’une manière toute spéciale à l’appro-
visionnement en riz de Fort Dauphin, Frangois MARTIN se préoc-
cupa, avant même d’avoir gagné le lieu de sa résidence, de
recueillir sur le champ de ses futures opérations commerciales
toutes les informations possibles'); puis, aussitôt arrivé à Fort
Gaillard, — tel était le nom de l’habitation française de Galem-
boulou, — il entra en relations avec les chefs indigènes, et, pour
éviter tout malentendu, débuta par arrêter de concert avec eux
un véritable tarif de transactions. «Nous convînmes, raconte-t-il
dans ses précieux Mémoires encore inédits, avec les maîtres de
village de donner douze grains de rassade d’une mesure de ris
blanc quy contenoit 12 livres de ce grain; les poules à dix grains
chacune”). C’est seulement ensuite que FRANÇOIS MARTIN <ouvrit
la traite», avec un plein succès, puisque en quelques jours, et
bien que sa rassade ne fût point celle que souhaitaient les indi-
gènes, il put réunir 150 barriques de riz blanc et 500 volailles
qu’il s’empressa de faire passer a Fort Dauphin).
C’est au mois de septembre 1665 que FRANÇois Marris,
assisté de dix-neuf Français entrés en même temps que lui au
service de la Compagnie des Indes Orientales, commença de la
sorte à remplir ses fonctions de sous-marchand; jamais jusqu’a-
lors un pareil nombre de colons n'était venu habiter dans le
pays. Rien n’en fournit mieux la preuve que la description de
l'établissement dans lequel débutèrent par se loger Martin et ses
compagnons; «l’habitation des François à Ghalemboule nommé{e]
par eux le fort Gaillard avoit cinquante pas en quarré. Elle
1) Erancoıs MARTIN, Mémoires, fol. 4 v°, 7 v°, 9 v°. — Cf, CARrEAU
DU Baussay (Voyage de Madagascar, p. 91): <Messieurs de la Compagnie y
avoient envoyé du monde pour y traiter du ris, qui y est en abondance, et
à très-bon marché».
2) Fol. 11 vw”. Cf. SOUCHU DE RENNEFORT, Relation du premier voyage
de la Compagnie des Indes Orientales . . ., p. 191: «Le boisseau ne coustant
que douze grain{s] de rassade ou verre . . .».
3) ManriN, Mémoires, fol. 12 r°. SOUCHU DE RENNEFORT, dans sa Re-
lation du premier voyage de la Compagnie des Indes Orientales (p. 191),
ne parle que de 30 tonneaux de riz comme ayant 6t& chargés à cette époque
sur PAigle Blanc, et cela «par l'intelligence des deux anciens François» que
MARTIN y avait trouvés en arrivant.
Le commerce français à Madagascar au XVII® siècle. 91
renfermoit une grande caze, cine autres petites cazes et un ma-
gasin pour garder du ris. Cette habitation estoit ferméfe] de
deux pallissades de gros pieux, distante[s] l’une de l’autre de
dix pieds, à l’exception néanmoins du costé de nord où estoit
l'entrée, et où il n’y avoit qu'une pallissade. Deux formes de
demy tours, aussy de pieux, à deux angles osposez (sic), flan-
quoient les courtines. Au reste, c’estoit la plus mechante scituation
du monde: un terrain bas toujours plein d’eau joignant un grand
bois, en sorte que deux personnes pouvoient à peine passer de
front du costé de l’ouest entre le bois et la pallissade. Il n’y
avoit que la place devant l'entrée de l'habitation quy estoit très
belle. La mer battoit au pied»!). (C'était là des conditions
absolument défectueuses au point de vue de l'hygiène et de la
salubrité; aussi comprend-on sans peine que les fièvres n'aient
pas tardé à réduire le nombre des colons français de Galemboulou,
et que MARTIN, au bout de quelques mois (juillet 1666), se soit
décidé à transférer le Fort Gaillard à quelque distance, <sur une
hauteur . . . et en bel air»?). Au mois de décembre suivant, il
s'établissait dans une nouvelle habitation, «bien plus commode
et bien plus saine», à la construction de laquelle les indigènes
de la contrée étaient, sur l'invitation de FRANÇOIS MARTIN, venus
travailler «par courvées et avec joye>°).
Rien, peut-être, mieux que ce petit fait, — qui se reproduisit
a plusieurs reprises l’année suivante‘), — ne prouve combien le
sous-marchand de Galemboulou avait su, par sa douceur et par
sa scrupuleuse honnêteté, gagner l’amitie des indigènes du pays.
Ir venaient au reste d'eux-mêmes vendre au Fort Gaillard tout
le-riz dont ils n’avaient pas besoin pour leur consommation per-
sonnelle, et c’est ainsi que MARTIN put, à différentes reprises,
charger de grandes quantités de riz sur les bâtiments que les
vhefs de la colonie de Fort Dauphin envoyèrent dans ce but à
1) F. Mırrın, Mémoires, fol. 11 v°.
2) In., idid,, fol. 24 r°.
3) Iv., ibid., fol. 28 r°.
4) V. le fol. 81 v9: «Je fis bastir des magasins au bord de la mer, à
dix pas de l’endroit où les chaloupes abordoient, pour la facilité de l’embarque-
ment. ex nègres y travaillèrent par courvées.» Cf. encore le fol. 32 r°.
99 Henri Froidevaux
Galemboulou. Ses Mémoires montrent Martin!) faisant passer au
mois d'août 1666 100 tonneaux de riz sur le Suint-Paul, au mois
de Mai 1667 140 barriques sur le même bâtiment, puis, sur un autre
navire, 180 barriques quelques semaines plus tard, et, sur un autre
encore, 200 barriques en août suivant, 80 sur le Saint-Robert en
novembre 1667, enfin, bien que les sauterelles eussent un peu aupara-
vant ravagé tout le pays, 150 barriques sur le Petit Saint-Jean
au mois de mai 1668 *) Le mérite de MARTIN paraîtra plus con-
siderable encore si l’on songe que le sous-marchand de la Com-
pagnie est loin d’avoir toujours eu en magasin les verroteries que
les indigènes accentaient seules en paiement, et qu'il lui fallut user
1) MARTIN, Mémoires, fol. 24 r°, 31 v°, 82 r°, 32 v°, 38 v°, 48 r°.
2) Les faits énoncés par MARTIN trouvent leur confirmation dans ce
passage d’une lettre de M. RouuET, prêtre de la Mission, en date du 15 oc-
tobre 1667: «Galemboule . . . est une contrée sur la côte de la mer, à 150 ou
200 lieues d’ici, vers l’île Sainte Marie. Les Français y ont un fort, et c’est
de là que nous tirons la plus grande partie de notre riz» (Arch. de la
Congrégation de la Mission, reg. de Madagascar). De son côté, CARPEAU DU
SAUSSAY reconnaît que, lors de son passage au Fort Gaillard avec 3. de
Champmargou en mai 1666, on embarqua sur le Taureau ‘autant [de riz]
que notre navire en pouvoit porter» (Voyage de Madagascar, p. 91). 11 semble
donc, dans de telles conditions, que rien ne subsiste de l’accusation formulée
contre MARTIN par SOUCHU DE RENNEFORT dans les termes suivants: «Depuis
que P’Aigle Blanc étoit party de Galamboulle pour le Fort Dauphin, le com-
mandant du Fort Gaillard avoit entièrement gasté le commerce» (Æelation du
premier voyage de la Compagnie des Indes Orientales . . ., p. 220). Au reste,
MARTIN lui-même explique dans ses Mémoires comment une telle accusation
a pu être portée contre lui (fol. 17 v° et 19 v’). — On trouve une précieuse
confirmation de la véracité de MARTIN dans la lettre collective écrite par de
FAYE et CARON le 14 octobre 1667 (Arch. Ministère des Colonies, C 5, Ma-
dagascar, carton 1); ils y disent avoir «tiré» de Galemboulou «depuis leur
arrivée 320 bariques de rys et environ 200 poules». Or ce chiffre de 320
bariques concorde exactement avec celui que donne MARTIN pour ses deux
premiers envois de l’année 1667. On peut d’autre part, en admettant que
le copiste a mal transcrit le chiffre contenu dans l'original, constater que
les directeurs accusent réception de 520 bariques, ce qui est encore le
chiffre total indiqué par MarriX pour ses expéditions de rig entre mai et
août 1667. — Tenir compte enfin de la mention que poste la carte de la côte
N. E. de Madagascar dressée par DUPRÉ-EBERAPD en 1667: «Galanboulle ou
nous chargions du Rys ou Foul Point» (A. Grandidier: Atlas de ?’Flistoire
de la Géographie de Madagascar, pl. 30, n°. 1),
Le commerce français à Madagascar au XVII* siècle. 93
parfois de toute son habilete, de toute son influence sur les habitants
de la contrée pour les déterminer à se contenter, en échange de leur
riz, de marchandises dont ils ne faisaient aucun cas. «La rassade
ne les satisfaisoit [pas], rapporte-t-il quelque part !), pour ce qu’elle
estoit de diverses couleurs, et il n’en faut que de la bleue et de la
rouge”); mais comme l’on ne m’en avoit donné que fort peu de
ces deux couleurs, j’estois obligé d’en mesler d’autres parmy celles-
la... Le capitaine du houcre le Saint-Louis, raconte-t-il un
peu plus loin°®), me remit les marchandises de traite qu’il estoit
chargé de me rendre, mais très mauvaises pour la contrée de
Ghallemboulle. . . . J’envoiay avertir les noirs de la contrée
de l'ouverture de la traite; les marchandises ne leur plaisoient
pas . . . Je leur promis qu’il y en avoit de meilleures dans un
autre vaisseau que j’attendois dans peu de jours, mais qu'il
falloit qu'ils prissent celles que je leur montrois. Ils s’y ren-
dirent, quoy qu'avec peine>*). Parfois, en dépit de tous ses efforts,
MARTIN ne parvenait pas à amener les indigènes à se contenter
des seules marchandises dont il pouvait disposer, à moins qu'il
ne trouvät des alliés tout à fait inattendus dans les femmes du
pays; c’est ce qui se produisit au moins dans une occasion, en
l'année 1666. «Nous avions, écrit-il*), ouvert la traite du ris ...
Les maîtres de Villages de la contrée vinrent en troupes visiter
la rassade que nous avions pour traiter. Ilz amenèrent leurs
femmes avec eux. L’on leur fit voir les sortes. Cine ou six
de ces dames quy passoient entre les autres pour avoir l’adresse
de se bien mettre, . . . choisirent les rassades, les assortissant
par couleurs pour donner plus d’agreement (sic) aux colliers,
aux brasselets et aux autres ajustemens à quoy elles les em-
ployent: et après en estre convenues entr’elles, elles s’a[rjreterent
a demander de ces sortes de rassades. Les maris les considerans
ne trouvèrent pas qu’elles pussent leur servir à traiter dans les
1) Mémoires, fol. 11 v°.
2) Rapprocher cette indication de celles fournies par Flacourt dans son
factum (p. 31) et citées plus haut.
3) MARTIN, Mémoires, fol. 31 r°.
4) Ibid., fol. 31 v°.
5) Ibid., fol. 60 r°.
94 Henri Froidevaux
contrées voisines pour en tirer ce qu’ilz avoient besoin; ilz le
représentèrent à leurs femmes, mais elles tinrent ferme, et ils
furent obligez d'en passer à ce qu'elles avoient résolu. Mon
second, quy estoit auprès de moy et quy avoit observé fort sérieuse-
ment leurs façons de faire, et leur opiniatreté ensuite au choix
des rassades, s'écria avec une espèce d’emportement: «Et quoy!
faut-il qu’elles soient les maîtresses partout!» Elles se firent
expliquer ce qu’il avoit dit, mais elles n'en firent que rire.» —
C'est encore d’une manière toute pacifique, et en leur faisant
valoir les avantages de différente nature que la présence des
Français de Fort Gaillard leur assûrait, que FRANÇOIS MARTIN est
arrivé à se procurer (non d’ailleurs sans quelque difficulté) les
têtes de bétail dont il avait besoin”). Il sut au total, grâce à
une conduite faite de douceur, d'énergie, d’habilete et de stricte
loyauté tout à la fois, obtenir beaucoup des indigènes du pay:
de Galemboulou, sur la constance et la fidélité desquels il ne
se faisait d’ailleurs aucune illusion; il sut donner une véritable
vie au comptoir qu'il dirigeait et en faire, — ce qu’on attendait
surtout de lui, — jusqu’au jour où il le quitta définitivement
(6 septembre 1668), un véritable magasin de vivres pour la colonie
française de Fort Dauphin.
A cette tâche extrêmement utile, mais modeste, ne s’est pas
borné FRANÇOIS MARTIN; il a aussi, pour obéir aux instructions
que lui avaient données ses chefs, étudié avec un soin minutieux
le pays qui environnait le Fort Gaillard; et il en a laissé une
description extrêmement précise, et du plus haut intérêt). Sans
doute, on n’y trouvera pas sur la géographie physique de la
contrée les renseignements qu'ont pris l’heureuse habitude de
fournir les voyageurs contemporains; mais sur ses productions
végétales et animales, sur les mœurs et coutumes de ses habi-
tants, sur ses <possibilités économiques», on peut y relever de
multiples indications de très grande valeur. On en relèvera aussi
dans la relation des différentes reconnaissances que MARTIN a fait
1) Mémoires, fol. 24 v°, etc. Cf. aussi fol. 57 v°.
2) Nous comptons publier cette description, qui se trouve aux fol. 53 v’—
63 r° des «Memoires sur l'Etablissement des Colonies Francoises aux
Indes Orientales».
Le commerce français à Madagascar au XVII" siècle. 95
faire par ses lieutenants, ou qu'il a lui-même exécutées au Sud,
au Nord et aussi à l'Ouest de Fort Gaillard; l’une d’entre elles, qui
faillit avoir une funeste issue, l’a mené à la fin de 1667, avant tout
autre Européen, jusque dans le pays d’Amboët, l’Antsihanaka contem-
porain, et jusque sur les bords du lac Alaotra, où il s’est trouvé en
contact avec des populations chez lesquelles l’influence des Hovas se
faisait déjà sentir’). C’est à l’échec de cette expédition, dont le Con-
seil des Directeurs de la Compagnie avait formellement décidé
l'exécution *), que certains documents attribuent l’abandon, au
mois d'avril 1669, du comptoir français de Galemboulou*); ne
serait-il pas plus exact de l’attribuer, — puisque ce comptoir avait
subsisté jusqu'alors et qu'il avait même continué, en dépit de
cet insuccès, à rendre de réels services, — à l’incapacité du suc-
cesseur de FRANÇOIS MARTIN à Fort (Gaillard ?
VI.
Tandis que ces évènements se passaient sur la côte orientale
de Madagascar, la grande flotte dont les navires partis de Brest
au mois de mars 1665 ne constituaient que l’avant-garde était
enfin arrivée à Fort Dauphin (février-mars 1667)*). Grande fut
1) Qu'il me soit permis de renvoyer pour ces différents points à deux
etudes que j’ai publiées naguère sur Un erplorateur inconnu de Madagas-
car au XVIIe siècle, François Martin (Bull. Gécg. Hist. et Descr., 1896,
p. 38—77, carte) et Un voyage dans les lagunes de la cute orientale de Ma-
dagascar en 1666 (R. de Géog., 1896, t. XXXIX, p. 434—444, carte).
2) Cf. fol. 37 v°: «Le Conseil trouva à propos de me renvoier à Ghalem-
boule y faire un parti dans les terres pour garnir de bestial cette habitation
et celles de Sainte-Marie et d’Antongil . . . Je fis beaucoup de difficultez pour
m’exempter de ce voyage . .. J’en vint feëc) jusques là de demander à Monsieur
de Faye mon congé pour repasser en France plus tost que de faire ce voiage».
Finalement, MARTIN se décida à retourner à Galemboulou, par considération pour
le directeur de Faye.
8) «La cause pour laquelle on a este obligé d'abandonner ces postes
provient de la faute du S" ManrTiN et de sa mauvaise conduite dans l'exécution
de son entreprise contre les Amboittes» c’est A dire les Silanaka (Relation des
Remarques qui ont este faites sur les principalles bayes, ances et havres de
Plde Dauphine et isles adjacentes. Arch. Ministère des Colonies, C 6,
Madagascar, carton 1). — Cf. aussi, moins hostile A MARTIN, l'Histoire des
Indes Orientales de Soucau de RENNEFORT, p. 246—247.
4) G. SanxT-Yvrs et J. Fournier, Le voyage de J'rançois de I.opex,
96 Henri Froidevaux -
la deception de M. de Montdevergue, le nouveau gouverneur de
la colonie, et des directeurs de la Compagnie en constatant que
la réalité ne répondait nullement à ce qui leur avait été dit en
France de Madagascar. «Le Fort Dauphin, écrivaient quelques
mois plus tard, dans une lettre collective, les directeurs DE FAYE
et CARoN), est un lieu nullement propre à faire un Etablisse-
ment, étant un lieu fort malsain . .. Il y a grande apparance
que le profit ne rendra de longtems la dépense qu'il faudra faire
pour ces établissements, si la côte du Ouest de cette isle ne pro-
duit autre chose que la Côte de l’Est, dont jusqu'à présent ils n’ont
connû aucunne production que l’on puisse porter en France . .
Tout ce qui est connû est la province d’Anossy [Anosy], Amboulle
[Ambolo] et Manemboulle qui en sont les provinces voisines . .. Tout
ce pays, avec quelques autres petittes provinces en dépendantes (sic)
jusqu'aux Matatannes [Matitanana] contiennent plus de 60 lieues de
chemin, en long et en large, où il n’y a nul negoce à faire que des
racines dans la saison; ... à peine les habitans cueillent-ils du ris
pour les nourfrlir. . . . Ils ont été autrefois fort riches en bétail; ...
il n’y avoit pas moins de cent mil bêtes dans cette étendue de
pays, mais . . . à peine s’y en trouveroient-ils (sic) 4000 par les
guerres qui se sont faites entre les Roys, ou que les François leurs ont
fait[es], ce qui cause la difficulté de subsister . .. Si ce qu’ils ne
connoissent pas ne donne autre chose que ce qui leur est connû, il
n’y aura jamais rien à espérer, étant certain que depuis la baye
d’Antongille jusqu'à celle de St. Augustin, du côté de l'Est par le Sud,
il n’y aura jamais rien à espérer que du riz; et encorre ne sçait-on pas
si on pourra en avoir suffisamment pour tenir les magazins fournis.»
En présence d’un tel dénûment, les directeurs avaient dû,
dès leur arrivée dans le pays, faire bon marché des instructions
qui leur avaient été remises avant leur départ. «Ils disent, lisons-
nous dans l'analyse détaillée d’une lettre un peu postérieure ?),
marquis de Montdevergues, de la Rochelle à Madagascar, 1666—1667 (Bull.
Géog. Hist. et Desc., 1898, p. 114—137).
1) Lettre du 14 octobre 1667 (Arch. Ministère des Colonies, C 5, Mads-
gascar, carton 1).
2) Lettre du 24 octobre 1667 (Arch. Minist. des Colonies, C 5, Mada-
gascar. carton 1).
Le commerce français à Madagascar au XVII* siècle. 97
que . . . les premieres loix obligent de songer à se loger et
nourrir, et qu'ils ont crû que leurs soins devoient plustost estre
appliquez à faire venir de quoy nourrir les habitans et subvenir
à leurs nécessitez de maladies que de leur faire publier un grand
nombre de règlemens; qu’à la vérité ils n’ont pas trouvé à l’Isle
Dauphine ce qu'ils pensoient, que dès le commancement ilz ont
travaillé à ramasser le ris du pays qui leur coustoit cinq sols
la livre, et estoient contrainctz de le donner à deux sols pour
faire vivre les gens et esviter la dernière nécessité; qu’ils ont
este obligez de donner pour la subcistance (sic) quarente sols
par jour aux marchands, vingt-cinq sols aux soubz-marchands,
quinze sols aux commis, vingt sols aux chefs de colonie, et six
sols aux colons jusques aux enfans à la mamelle» Pour dimi-
nuer la population de Fort Dauphin, il leur fallut renoncer à
faire (comme on l’avait décidé dans le conseil des directeurs métro-
politains) différentes colonies dirigées par des chefs choisis en
France même, rompre les contrats passés avec eux, et leur offrir
«de chercher dans la terre quelque place qui fût propre à un
chacun d'eux», leur représentant «que l’on leur donneroit de la
marchandise pour envoyer à la traite, et que par ce moyen ils
touveroient mieux leur compte». Mais les chefs de colonie,
«s’estans tous imaginez qu'ils vivroient sans rien faire, et que
leurs gens les serviroient en esclaves», refusèrent unanimement
d’adherer à ces propositions.
D'ailleurs, s’ils les avaient acceptées, quelles marchandises leur
aurait-on pu donner epour envoyer à la traites? Sans doute,
on a eu soin de charger, à bord des dix navires qui composaient
la flotte, des marchandises de tout genre, surtout celles qu’on
savait être appréciées des indigènes du sud de Madagascar; mais
actuellement les habitants du pays ne s’en contentent plus. «En
la province d’Anossy [Anosy], écrivent les directeurs, ils sont sy
rebuttez de rassades et de cuivre qu’ils n’en veulent plus du tout,
pas seulement pour des citrons, oranges, qui ne leur coustent qu’a
prendre dans le bois, de sorte qu’il leur faut des ménilles d’argent
pour les volailles et pour les travaux que l’on leur fait faire» !).
Ce que les directeurs DE FAYE et CARON ne disent pas, le médecin
1) Lettre du 24 octobre 1667 (Arch. Minist. Colonies, C 5 carton 1).
Vierteljahrsehr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 7
98 Henri Froidevaux
Dellon n’a pas craint de le publier un peu plus tard: il est une
autre marchandise & laquelle il faut recourir parfois pour obtenir
des indigènes ce que l’on désire, c’est «l’eau de vie, qu’ils ap-
pellent Chicaf'); entre toutes les marchandises qu'on leur peut
offrir, aucune ne leur est si agréable»?). Voilà pour les habi-
tants de la partie méridionale de l’île; ailleurs, on accepte encore
les objets de traite, mais, par suite d'une inadvertance inexplicable,
ce sont précisément les marchandises les plus prisées des Mal-
gaches qui font alors défaut. «On ne laissa pas, rapporte Mont-
devergue lui-même dans un mémoire un peu postérieur *), . . . d’en-
voyer incontinent et sans perdre un moment un navire à Galemboule
pour chercher des vivres avec ce que l’on pät trouver de marchan-
dises propres, qui sont la seule rassade bleuë à l’exclusion de
toutte autre, hormis un peu de rouge et de jaune; et il s’est
rencontré par malheur que la bleué est celle dont il y avoit le
moins dans les assortimens de nos cargaisons, ce qui ne peut
pas avoir été fait par ignorance, puisque [de] tous les particuliers
qui en avoyent apportés (sic) pour leur compte, il n’y en avoit
pas un qui se fut chargé d’autre que de la bleuë, sachant bien
que c’estoit la meilleure, ce qui doit servir d'avertissement impor-
tant pour l’advenir au choix et à l’achapt des rassades. Aux
provinces voisines de celle-cy, et presque jusque à la coste d'Ouest,
au lieu de rassade, il faut de petites verotteries (sic) dont les
meilleur[e]js sont la rouge et une certaine feuille-morte aurore, et
avec cela le cuivre jaune. Ils] font grand cas des cornalines,
des agates et du corail; les magasins sont denués entièrement
de toutte[s] ces sortes de marchandises.»
1) Relation d’un Voyage des Indes Orientales, éd. de 1685, t. L p. 33. —
Il est juste cependant de noter que, dans leur lettre du 14 octobre 1667,
DE FAYE et CARON avaient mentionné l’eau de vie parmi les objets de troc
employés au comptoir français de Matitanana; «aux Matatannes . . ., la
Compagnie y a une habitation commandée par le Si Desroquettes qui fournit
aux troupes et colons de quoy vivre pour peu de choses, en troque de diffé-
rentes marchandises, et d'eau de vies (sic), huilles, vinaigres et autres rafrai-
chissements» (Arch. Minist. Colonies, C 5, Madagascar, carton 1).
2) Dellon, ouv. cite, éd. de Cologne, 1709, t. I, p. 46.
8) Mémoire sur l’estat présent de Pislle (sic) Dauphine, ce dixième febverier
MCC. soixante et huict (Arch. Minist. des Colonies, C 5, Madagascar, carton 1).
Le commerce français à Madagascar au XVII: siècle. 99
De telles constatations n'étaient pas faites pour stimuler beau-
coup le zèle des directeurs de la Compagnie des Indes Orientales,
ni pour les exciter à faire du commerce; aussi semblent-ils s’être,
au début de leur séjour à Fort Dauphin, laissé aller à un véri-
table decouragement — tel est du moins l’état d'esprit dont témoi-
gnent leurs lettres'), — et n'avoir pas pris, à l’égard d’un stock
considérable de cuirs les mesures conservatoires auxquelles ils
auraient dû recourir”). Bientôt cependant ils se ressaisirent et
s’appliquèrent, dans leurs différents conseils de commerce, de sub-
sistance et de colonie”), à tirer de la situation le meilleur parti
possible. Tandis que le Flamand Caron passait dans l’Inde sur
an navire chargé d’argent et de marchandises, le directeur DE
FaAyE demeurait à Madagascar, où M. de Montdevergue, en dépit
de la mésintelligence qui avait régné entre les délégués de la
Compagnie et lui-même, le représentant du roi‘), n'avait cessé
de travailler avec énergie à modifier une situation singulièrement
précaire. Par ses soins, la citadelle de Fort Dauphin avait été
mise en meilleur état de défense ; à l’intérieur de l’enceinte avait été
élevé, à côté de petits magasins couverts de paille où vivres et
munitions se trouvaient entassés pêle-mêle *), un bâtiment de pierre
1) Celle du 14 octobre 1667 en particulier. V. aussi la lettre de CARON
datée du 15 octobre, analysée par G. SAINT-YVES dans Quelques documents
sur Madagascar au XVIIe siècle, 1667—1671 (Bull. Géog. Hist. et Desc.,
1900, p. 178). Cf. ce que dit MARTIN: «Le mauvais estat où l’on avoit trouvé
Tile avoit jetté les personnes du Conseil dans un[e] espece de letargie quy leur
faisoit oublier ce qu’ils devoient à leur employ» (fol. 36 r°).
2) Marrix le rapporte formellement dans ses Mémoires, fol. 36 r°:
«Par une négligence très blämable, l’on laissa emporter par la mer 3 ou
quatre mille cuirs quy estoilen]t le revenu le plus solide de l'île que l’on
roioit bien qu'il falloit faire retirer du lieu où ils estoient sy l’on ne les
vouloit perdre.» Il a parlé un peu plus haut du «peu de soin que l’on apor-
toit A la conservation des marchandises et des effets de la Compagnie».
3) C'est par SOUCHU DE RENNEFORT (Histoire des Indes Orientales,
p. 226) que l'existence de ces différents conseils nous est connue.
4) SOUCHU DE RENNEFORT, tbid., p. 226 et 395; cf. p. 318.
6) V. le Mémoire du 10 février 1668 (Arch. Ministère des Colonies, C 6,
Madagascar, carton 1): «Point d'église qu’un petit lieu bien chetif couvert de feuilles,
les magasins de mesme étoffe». Cf. MARTIN, Mémoires, fol. 36 r°: «Il n’y avoit
q{u’Jan magasin avec un estage au-dessus où tout estoit en confusion, les merceries,
les quincailleries, les armes, etc., meslez l’un parmy l’autre et ainsy tout en désordre».
100 Henri Froidevaux
susceptible de «servir de couvert aux principaux officiers, et,
en un besoing, de magazin» ; on s'était «particulièrement attaché
à faire un chemin pour dessandre (sic) à la marine et faciliter le
transport des marchandises» ; les environs de Fort Dauphin avaient
été remis en culture !), enfin de nouvelles reconnaissances avaient
été faites sur le littoral de Madagascar, et même quelques pointes
poussées à l’intérieur des terres. C'était là des résultats appre-
ciables, qui expliquent comment, la confiance étant rentrée dans
l'esprit des chefs de la colonie, on se remit, vers le milieu de
l’année 1668, à faire quelque commerce.
Bien qu’on s’obstinât à leur expédier de France des marchan-
dises de traite dont les indigènes ne voulaient point, en parti-
culier des rassades de couleurs sombres”), les agents de la
Compagnie parvinrent bientôt à réunir une cargaison «de cuirs,
d’indigo, d’aloës, de montres de gomme et de poivre de Mada-
gascar» qu'ils chargèrent en 1668 sur le Saint-Jean lorsque ce
navire, à son retour des Indes, fit escale à Fort Dauphin avant
de regagner la France”). Un peu plus tard encore, durant les
années 1670 et 1671, deux autres bâtiments au pavillon fleur-
delysé, la Force et la Marie, apporterent dans la métropole ces
mêmes marchandises que, depuis longtemps déjà, y introduisaient
tous les bâtiments qui s’arrêtaient à Madagascar, c’est à dire — sans
parler d'animaux rares ou de curiosités d’especes diverses — des
cuirs, du benjoin et de l’aloës *). Mais il était trop tard ; la Compagnie
1) V. les Mémoires du 10 février et du 1° octobre 1668 (Arch. Minist.
Colonies, C 5, Madagascar, carton 1).
2) Le témoignage de SOUCHU DE RENNEFORT (Histoire des Indes Orien-
tales, p.248) est formel sur ce point ; les navires ?’ Aigle d’Or et la F'orcearrivèrent
en août et septembre 1668 à Fort Dauphin «tous deux garnis d’une sorte de rassade
noire et d'autres couleurs tristes, qui n’y estoit point du tout de commerce».
3) SOUCHU DE RENNEFORT, 1bid., p. 244 et 249.
4) SOUCHU DE RENNEFORT le dit avec précision: «Except& les cuirs, le
benjoin et l’aloës qu'ils prirent à Madagascar» (Histoire des Indes Orientales,
p. 359). — Sur les animaux rapportés par /a Marie, v. le «Journal succinct
du voyage du vaisseau la Marie», publié par G. SAINT-YVES dans Quelques
documents sur Madagascar au XVIIe siècle (Bull. Géog. Hist. et Desc.,
1900, p. 190—191). — Nous savons d'autre part par Dubois que le houcre
le Sdint-Denys, parti de Fort-Dauphin en mars 1670 avant la Force et la
Marie, rapporta en France une cargaison «de cuirs et vituailles» (Les Voyages
Le commerce français à Madagascar au XVII: siècle. 101
des Indes Orientales, découragée par ses insueeës et aussi par les
lettres reçues de ses agents en 1668, avait dans l'intervalle rétrocédé
l'ile de Madagascar au roi, que ses déboires successifs avaient
amené à renoncer au projet de coloniser ce pays. «Il semble,
déclarait CoLBERT dès le 8 mars 1669), que cette isle peut et
doit estre considérée comme un entrepost de convenance, et non
de nécessité»; aussi déeida-t-on de n’y plus expédier désormais
«aucuns vivres ni rafraischissements>, «d'envoyer en droiture les
vaisseaux des Indes en France, sans toucher à l’Isle Dauphine,
à moins qu'ils n’y soyent contraints par une nécessité absolne
du tempe>’), enfin, un peu plus tard, de «retraneher toutes les
dépenses de Fiske Dauphine et l’abandonner entièrement & ses
habitane>°). Tel fut, en effet, dès l’année 1670, le plan adopté;
voilà comment, dans son mémoire en date du 1° août 1671,
Blanquet de la Haye, estimant (selon les expressions de CoLBERT)
«que l’on ne peut faire des colonies considérables dans la
première [l’île Dauphine] et qu’il faudra en faire dans la seconde
[Bourbon], à eause de sa fertilité, de son bon air, de l'abondance
de ia chasse et des autres commodités que lon y peut trouver» *},
conseillait de «peupler de soldats et d'habitans» l’île Bourbon,
dans laquelle il voyait la future escale des bâtiments français
sur la route de l’Inde et de l’Extrême-Orient *).
Toutefois, et quelque eonvaineus qu'ils fussent «que l'isle
fuits par le Sieur D. B. aux isles Dauphine ou Madagascar, et Bourbon ou
Mascarenne, ès années 1669. 70. 71 et 72, p. 67).
1) «Mémoire sur l’estat présent de la Compagnie orientale de France
dans l'isle Dauphine et dans les Indes», 8 mars 1689 (CLEMENT, Lettres, ins-
tructions et mémoires de Colbert, t. III", p. 420; cf. tbsd., p. 421).
2) In, sbed., t. ILT?, p. 421.
3) Mémoire pour la Compagmie des Indes Orientales; Paris, 30 décembre
1870» (Ip., sbid., t. Ill *, p. 608). Une minute antérieure d'un fragment de
la même instruction, conservée aux Archives du Ministère des Colonies (C 2,
vol 2), porte: «Examiner s’il y a encores quelques ordres à donner pour re-
trancher toutes les dépenses de l’isle Dauphine où l’abandonner entièrement
à ses habitans» (fol. 286 r°).
4) Lettre de CoLB&rT à M. de la Haye, 30 juin 1672 (Iv., idid., t. LIT,
BR. 547).
5) Un mémoëre inédit de M. de la Haye sur Madagascar (Bull. Comité
de Madagascar, septembre 1807, p. 117—118; cf. p. 116).
102 Henri Froidevaux
Dauphine n’est pas propre pour le commerce des Indes>'), ni
Louis XIV ni COLBERT ne songeaient à l’abandonner. Le 20 mars
1669, le roi l’avait donné nettement à entendre à Montdevergue;
en relisant la correspondance du gouverneur de l’île, afin de
«penser à faire repasser en France le nombre de mes sujets qui
ne pourroient y subsister», il «n’avoit pas eu de peine à se
persuader» que Madagascar, «estant cultivée, deviendroit assure-
ment très fertile, et, par conséquent, qu’il suffisoit d’y porter les
colons en leur faisant connoistre que leur subsistance et leurs
avantages consistoient en leur travail»?). — «L'autorité du com-
mandement que je vous ay confié, avait-il écrit à Montdevergue
quelques jours auparavant), s’accorde bien peu avec l'esprit de
marchandise» ; aussi, quelques mois après, dans ses instructions
à M. de la Haye, CoLBERT déclare-t-il que, dans l'avenir le plus
rapproché, «la fin principale doit estre de faire subsister les colonies
des François qui sont establis dans le pays». (C’est seulement
plus tard, «par succession de temps», qu'on pourra envisager
l'éventualité de la conquête de Madagascar entière, de son ex-
ploitation commerciale, et de son utilisation pour «faire quelque
establissement dans l’Afrique»{).
Blanquet de la Haye était donc dans l’esprit et dans la lettre
de ses instructions quand il fit reconnaître quelques points des
côtes de Madagascar, — entre autres la baie de Saint-Augustin,
où ses envoyés nouèrent de courtes relations commerciales avec
les indigènes *), — et quand, en quittant Fort Dauphin, il fit
ı Lettre de COLBERT à M. de Saint-Romain, ambassadeur à Lisbonne;
Saint-Germain, 28 août 1670 (CLÉMENT, Lettres, instructions et mémoires de
Colbert, t. IIP, p. 495).
2) Louts XIV à M. de Montdevergue; Paris, 30 mars 1669 (In., ıbid.,
p. 498). — A ce moment là même, Montdevergue écrivait en France que
Madagascar «ne vaut rien, mais je vous dis, Monsieur, à vous à qui je parle
librement, absolument rien» (Arch. Aff. Etr., Asie, vol. 2, fol. 11 v°).
8) Lowıs XIV à M. de Montdevergue; Paris, 9 mars 1669 (In., 5b5d., p. 429).
— «Le commandement des armes ne s'accorde guère avec le commerce»,
écrit de son côté CoLBERrT à Caron le 81 mars 1669 (In., ıdid., p. 488);
cf. encore sa lettre au directeur de Faye, de la même date (p. 440).
4) CLKMENT, Lettres, instructions et mémoires de Colbert, t. III®, p. 464.
5) Les bâtiments de Jules et la Diligente s’y rendirent «pour en tirer
des ritz (sic), vivres, et observer les lieux, ports et rades, hâvres et récifs
Le commerce francais à Madagascar au XVII® siècle. 103
évacuer l’île par les agents de la Compagnie des Indes, qui
navaient plus rien à y faire. Mais ne manqua-t-il pas de mesure
en emmenant les officiers du roi, et en ne laissant que <ceux
qui avoient commandé du temps de Monsieur de la Meilleraye,
les anciens habitans, et quelques missionnaires qui voulurent
demeurer»')? N’en manqua-t-il pas plus encore en abandonnant
ces colons dans un dénuement complet? «Une grande flotte est
passée, écrit un missionnaire, M. Roguet, le 26 octobre 1671”),
et au lieu d’y laisser du renfort [a Fort Dauphin], elle en a retiré
les meilleurs soldats; au lieu de lui fournir des rafraichissements
et des choses nécessaires à la vie, elle a refusé d’y laisser un
baril de poudrer. De bonnes paroles, les discours prescrits par
COLBERT pour «les exciter fortement au travail et à la culture
de la terre») pouvaient-ils suppléer à l’absence des approvisionne-
ments de toute espèce indispensables au développement de la
colonie de Fort Dauphin? En réalité, M. de la Haye avait, comme
toujours, manqué à la fois de modération et d'initiative dans
l'application de ses instructions; c’est ce dont COLBERT, après
avoir reçu les lettres dans lesquelles le vice-roi lui exposait ce
qu'il avait fait à Madagascar, se rendit très nettement compte.
S'il ya, écrivit-il alors à M. de la Haye, bon nombre de François
establis à l’isle Dauphine qui y veulent demeurer, il faut appuyer
cet establissement, l’augmenter par tous [les] moyens possibles;
mais s’il couroit risque d’estre enlevé par les naturels du pays,
où que l'infertilité de la terre fust telle qu’il fust impossible
d'augmenter les colonies en cela, il seroit bon d'inviter, et mesme
arconvoisins» (Suite du journal du Navarre. Arch. Marine, B 4, Campagnes,
voL 4, fol. 813 r°). — «Pour cet effet, on a fait embarquer des François qui
parlent la langue, ausquels on a donné pour troquer de la cornaline, pagnes et
rassade» (Journal du Voyage des grandes Indes, 1, p. 65—66). — Selon
Cauche, les indigènes des environs de la baie de Saint-Augustin ne voulaient
accepter comme marchandises de traite que «des longues cornalines et grenats
de Venise de couleur de citron, qu’ils appellent Vaques, et les Tapates £ts-
ds» (Relation du voyage que François Cauche a fait à Madagascar . . .,
p- 46)
1) SOUCHU DE RENNEFORT, Histoire des Indes Orientales, p. 383.
2) Mémoires de la Congrégation de la Mission, t. IX, p. 572.
3) CLÉMENT, Lettres, instructions et mémoires de Colbert, t. III*, p. 464
(Expressions contenues dans l’«Instruction pour M. de la Haye»).
104 Henri Froidevaux
de foreer les habitans on de changer de poste dans la mesme
isle ou de passer dans l'isle Bourbon>?!),. Néanmoins COLBERT
ne modifia nullement sa ligne de conduite & l’egard des colons
de Madagasear; «au lieu d’apporter des rafratekissements et des
munitions pour la conservation de la eolonie, les navires ne sont
chargés que de lest», constatait avec douleur M. Roguet dès le
26 oetobre 1671*). Bientôt même, les bâtiments français reçurent
l’ordre de se rendre à Mascareigne sans toucher à Fort Dauphin.
Cependant le denuement de la petite eolonie était absolu;
rien ne le prouve mieux que la lecture de l’inventaire des maga-
sins dressé au mois de juillet 1673°). Se voyant abandonnés
du roi, dépourvus de tout ou de presque tout, serrés de plus en
plus près par les indigènes soulevés contre eux, les malheureux
eolons ne pouvaient plus ni cultiver la terre ni faire le moindre
commerce. C’est alors qu'ils adresserent à Louis XIV une supplique
désespérée, dans laquelle ils lui demandaient d’avoir pitié d’enx, «sy
tel estoit son bon plaisir de les retirer d’icy . .. Ils ont creu, ajou-
taient-ils, que leur establissement y seroit de durée; pourguoy
ils y ont employé tous leurs travaux, leurs soings, et entièrement
consommé leur jeunesse». Plaise à Sa Majesté d’ordonner
«qu’ils seront mis en lieu où ils trouveront quelques soulagement,
et qu'ils pourront passer avee eux tel nombre de noirs qu’il
lui plaira, lesquels les suivront volontairement»‘). Mais ils avaient
trop attendu! Avant que leur touchante requête, datée du 28 fe-
vrier 1674, füt parvenue en France, la colonie de Fort Dauphin,
| DAM de la Haye; Saint-Germain, 30 juin 1672 (CLÉMENT, Lettres,
instructions et mémotres de Colbert, t. III’, p. 547).
2) Mémoires de la Congrégation de la Mission, t. IX, p. 578.
8) «Inventaire des magasins du sieur Hénoq, commissaire général du Roy
à l’île Dauphine; 1673> (Arch. Ministère des Colonies, C 5, Madagascar,
carton 1). Les marchandises de traite qui s’y trouvent alors sont: «672 agattes
grosses et petittes, pesans 5 livres 9 onces; . . . dix huict mil huict cent
soixantte seige livres et demye de rassades; . . . 340 menilles de cuivre,
730 menilles d’estaing; . . . . 13 livres de cuivre rouge du Japon en barres:
. . -. 209 livres 5 onces 6 gros de Samsam; 12 livres 18 onces demy gros
de Cornalinnes» (p. 13. 16. 16. 19 de l’Inventaire).
4) Le texte de cette supplique, dont l’original est conservé dans les Arch.
du Ministère des Colonies (C 5, Madagascar, carton 1), a été publié dans les
Mémoires de la Congrégation de la Mission, t. IX, p. 588.
Le commerce français à Madagasear au XVII® siècle. 105
dépourvue de tout et réduite à quelques habitants, avait dû être
éracmée (9 septembre 1674) par les 63 personnes qui avaient eu
ka fortune d'échapper au massacre du 27 août précédent.
Personne ne tenta, pendant le règne de Louis XIV, de relever
le pavillon fleurdelysé à Madagasear; l’île demeura, dans un autre
sens que l’avait souhaité COLBERT, «abandonnee entièrement à
ses habitans». Mais, en dépit de l’éehec retentissant subi par
le roi et par la Compagnie des Indes Orientales, tout le monde
netait pas convaincu de l’inutilité de l'occupation de la grande
terre, ni de sa non-valeur économique. «Les Européens, écrivait
encore SOUCHU DE RENNEFORT en 1688"), n’ont rien aux endroits
qu'ils occupent dans l'Afrique, l’Amérique et l'Asie, qu'on ne
trouve à Madagascar . . . Si les autres nations de l’Europe qui
ont abordé Madagascar ne s’y sont pas establi[e]s, elle n’en doit
pas pour cela estre moins estimée». (C'était, prononcée par un
homme intelligent, indépendant et compétent à la fois, la justi-
fication des idées de Cauche?), de Rigault, de FLACOURT, du
maréchal de la Meilleraye, de Louis XIV et de CoLBERT; elle
était trop contraire aux derniers résultats obtenus pour pouvoir
trouver dans la nation, et surtout chez les négociants du royaume,
le moindre écho.
1) Histoire des Indes Orientales, p. 400-401. — Cf. les Voyages du
Sieur D. B., p. 157: «La Compagnie des Indes Orientalles a voulu faire des
établissemens en cette Isle. Plusieurs colonies y ont esté passées à ce sujet,
qui n’ont point reüssi. Cependant l’on pourroit tirer bien du profit et de
l'atilité de l'Isle».
2) Voici la conclusion du récit de Cauche: «Je m’estonne comme cette
isle, si grande, si peuplée et si fertile, ayant . . . des mines de fer, d’or et
d'argent, des gommes, des résines et du sel, que les vagues et vents de la
ner laissent dans les trous des rochers, des forests, du coton, du mahault,
ds roches entières de cristal dans la provmee d’Anthongil, où, foüissant dans
les ruisseaux qui en sortent on trouve des esmeraudes et des saphyrs, comme
& talgue dans les montagnes des Machicores et Madegasses, n’a encere attiré
de nestre France des colonies entières pour s’en rendre maistres . .. Outre
ces raisons, il n’y a point de païs au monde dont la situation soit plus à
timer, cette Isle estant entre les deux Indes comme arbitre de la conqueste
des unes et des autres, ayant tout ce qu’il est nécessaire pour la navigation,
tation et nourriture de Fhemme» (Relation du voyage que François
(auche a fait à Madagascar . . ., p 173—174).
106 Henri Froidevaux
Appendice.
«Mémoire des marchandises vendues et livrées par MARIE
LEGRAND, veufve de deffunt Thomas le Prevost, marchand à
Rouen, [qui] demeure rue Gros Horloge, à Roüen !).
eN° 1. 50 mille grains bleux matte
Turquie
25 mille grains aigremarine
(sic)
25 mille grains violet
26 mille jaune d'œuf
_25 mille grains noirs
151 mille grains de couleur
pesent . . . . . . 36 livres
Tous les paquets mar-
quez ?)
«N°2. 15 mille grains mate Turquie
4 mille jaune d'œuf
20 mille grains aigremarine
(sic)
10 mille violet
19 mille crystal
5 mille noirs
5 mille blancs de lait
5 mille vert clair
6 mille feuille morte
89 mille grains de couleur
poize (sic) . . . . . 72 livres '/
Tous les paquets marquez
Re ee ee ©
1) Ce «mémoire» fait partie de l’«Inventaire des choses envoyées en Mada-
gascar en l’année 1659, en octobre. M'° Estienne, Faydin, Davroux et de
Fontaynes, prebstres destinez pour Madagascar» (Archives de la Congrégation
de la Mission, registre de Madagascar, p. 82—34). — Il est très intéressant,
car il contient, le plus souvent avec les prix courants en France, la liste la
plus complète des marchandises employées au XVII* siècle pour commercer
avec les indigènes de Madagascar.
2) On trouve en marge les trois majuscules SLA. C’est là, selon nous,
la marque des paquets destinés aux Prêtres de la Mission ou de Saint Lazare.
Le commerce français à Madagascar au XVIT- siècle. 107
«N°3. 15 mille grains matte Turquie
9 mille 800 cens (sic) —
crystal
16 mille aigremarine (sic)
5 mille jaune d'œuf
5 mille feuille morte
5 mille vert mate
5 mille vert clairs (sic)
_5 mille noirs
_65_ mille [800] grains ') de cou-
leurs poize (sc) . . . 105 livres
212 livres 4°)
«212 livres !/a ) grains, sçavoir n°2,
n° 3 à 23 sols la livre . . . 244 livres 7 sols [6 deniers]
«Monte la partie en l’autre costé à la
somme de . . . . . . . 244 livres 7 sols [6 deniers]
«Verot a la livre
«2 masse[s] ?) de violet
1 masse bleue matte Turquie
l masse verte matte
1 masse blanc de let (sic)
l masse vacque“)
1) Texte du manuscrit: «70 mille grains de couleurs».
2) Texte du manuscrit: 212 livres °/..
8) «On compte par masses les verroteries de diverses couleurs qu’on
porte en Guinée, aussi bien que les rassades qui font pareillement une partie
du commerce qui se fait sur cette côte d'Afrique. La masse des verroteries
est de vingt mille grains, et pèse de trois livres et demie à quatre livres.
La masse de la rassade n’est que de quatre mille grains, et ne pèse qu'une
ivre» (SAVARY DES BRUSLONS, Dictionnaire Universel de Commerce, éd. de
Copenhague, t. III, col. 816, v° Masse).
4) La couleur vacque devait être une couleur rousse, se rapprochant de
celle du poil de la vache. Aucun dictionnaire ne signale à notre connaissance,
l'adjectif vacque; le seul endroit où nous ayons trouvé quelque chose s'y rap-
portant peut-être un peu est le Pictionnaire de l’ancienne langue française
de FREDERIC GODEFROY, t. VIII, p. 128. Nous copions textuellement ce
passage: « Vacque, adj.? — ‘Premièrement que les dis draps velus appelés
vecqgues, soient ourdis en XXII aunes de loncq . . .» (29 nov. 1407, reg. des
Mét., fol. 69 r°. Arch. Tournai). — Subst. «Sera reservé les draps velus et
108 Henri Froidevaux
1 masse rouge
_2 masses blanc rayé
_3 mafsjse[s] gros verot poize 23
livres à 30 sols la livre . . 34 livres 10 sols
1 mille 9 cens gros rouge
11 mille rouge plus moyen
13 mille petit rouge
25 mille 9 cens rouge poize 21 li-
vres !/ı à 40 sols la livre . 42 livres 10 sols
«Petit verot au respect du gros;
mais je n’ay pas mis le petit, celuy
que j’ay mis est du moyen.
mase verot rouge
mase/[s] bleue aigremarine
mase bleue mate Turquie
mase[s} crystal
mase[s] noir
mase[s] blanc de let
mase[s] violet
mase vacque
mase[s] Jaune d'œuf
mase{s] citron
mase[s] vert clair
mase[s] vert mate
24 mase{s] verot assorties de cou-
leurs 35 sols . . . . . . 42 livres
363 livres 7 sols 6 der
«Monte[nt] les parties à cocté à
la somme de . . . . . . . . 363 livres 7 sols 6 der
lo von = ww own -
ceux que l’on appelle communsument draps de vaeque> (18 oct. 1408, re
Mét., fol. 117 v°. Arch. Tournai)». — Il convient de rapprocher d
textes le passage dans lequel Cauche raconte que les Masikoro ne veu
Rai troquer leurs marchandises que contre «des longues cornalines, et g1
de Venise de couleur de citron qu’ils appolèant Vaques» (Rekitton du v
que P'rançois Cauche a fait à Madagasear . . ., p 48).
Le commerce français À Madagascar au XVII: siècle. 109
N°1. Un Paquet.
1 mille gros ollive crystal
rayé de blanc.
1 mille grains rouet !) rayé de
blanc
l mille grains bleu rayé de
blanc
poize{nt] les 3 mille 5 livres à
30 sols la livre . . . 7 livres 10 sols.
N°3. 1 mille ollive dorée, 5 livres
10 sos. . . 5 livres 10 sols
«\'4. 2 millegrosgrains doré brodé,
4 livres 10 sols. . . 9 livres
(N°5.2 mille grains brodé doré,
3 livres 10 sols. . . 7 livres
«\'6.1 mille grains bleu frizé,
30 sols. . . 1 livre 10 sols
«7.1 mille grains bleu frizé de
jaune, 22 sols . . . 1 livre 2 sols
«\'8.6 mille grains jaspe picoté
de plusieurs façons et de
plusieurs couleurs, 18 sols
[le] mille . . . . 5 livres 8 sols
«Dans une petite ca[s]sette, [vous]
trouverez ce qui suit, sgavoir:
2 douzaines de bagues, facon
dobleu (sic)?), 42 sols. . . 4 livres 4 sols
4 [douzaines] de croix à perle
facons d’or, dix sols . . . 2 livres
3 [douzaines] de bagues] d’al-
liance doréefs] forte[s], 10 sols 1 livre 10 sols
3 [douzaines] de bagues (agone
d'argent, 3 sol8 . . . , 9 sols
1 Rouet est sans doute le même adjectif que Zoe, roué, roet, rouet,
qui signife: «orné de figures de roue, de rosaces, de petits ronds, de paillettes».
(Fr. Gongraoy, Dictionn. de l’anc. langue française, t. VII, p. 217°).
2) Nous n'avons trouvé ce mot nulle part.
110 Henri Froidevaux
2 [douzaines] de croix, fagon de
crucifix eslevez, en bosse atta-
chez sur la croix, 16 sols
2 [douzaines] de piece à dia-
mans-ruby et emeraude, à 24
sols en
«pour le boucauet '') et le port, 45 sols
1 livre 12 sols
2 livres 8 sols
2 livres 5 sols
414 livres 15 sols 6 den
«20 onces de corail très fin, à 6
livres l’once
11 onces de corail commun, à 3
livres 4 sols l’once .
1 chapelet de faux corail très
gros bien fait . . . .
42 agathesd’Oriantou Sambaises?)
et15 canons de coralline rouge,
a 20 sols piece .
300 grains de cornalline, agathes
d’Orient et de erystal, a un sol
5 pièces de crystal taillées .
1 paquetdediversessortes degros
grains de differentes couleur
1 paquet de corail fin
®
plus considerables.
«23 mille d’or pezant 4 onces et
gros, a 54 livres l’once, le tout
1) Pour l’emballage.
«Mémoire des Marchandises les
120 livres
22 livres 4 sols
4 livres
56 livres
15 livres
5 livres
40 livres
222 livres 15 sols
2) Ici s'arrête sans aucun, doute le mémoire des marchandises vi
et livrées par MARTE LEGRAND. Mais l'inventaire des objets empo
Madagascar par M. Etienne et par ses compagnons contient enco
certain nombre d'indications trop précises pour ne pas être publiées ici
8) Ce mot ne se trouve nulle part. — On sait que les véritables
d'Orient étaient beaucoup plus estimées que les autres, car elles 4
beaucoup plus dures et d’un poli beaucoup plus beau (Savary des Bn
Diet. cité, t. I, col. 589, v° Agate).
Le commerce français à Madagascar au XVII® siècle. 111
«57 menilles d'argent pezant
4 mars!), une once, 2 gros et
demy, à raison de 42 livres
le mart (sic) compris la façon 175 livres
«2 douzaines d’alliances . . . 15 livres
«50 livres de fil de cuivre pour
faire des menilles . . . . 655 livres.
«il est à remarquer que, des marchandises cy dessus, la rassade
rouge et bleue, aigremarine (sic) et jaulne grosse est excellente
pour Mangabets. — Pour Anosse [Anosy], verot rouge, vaque,
vollet, vert clair, petit cristal, aigremarine (sic) et bleue, cuivre,
argent et or.
«Manamboulle, cuivre et rassades de toutes couleurs.
«Aux Ampattes, euivre et verot de toutte couleur.
«Rassade de toutes couleurs grosse ?).»
1) Il s'agit ici du marc, c’est à dire du poids le plus usité en France pour
peser l'or et l’argent Le marc était divisé en 8 onces, ou 64 gros, ou
1% deniers, ou 4.608 grains. (D’après le Dictionnaire Universel de Commerce
de Savary des Bruslons, éd. citée, t. III, col. 272, v° Marc).
2) I ne faudrait pas conclure de la lecture de cet inventaire que les
Prötres de la Mission ont jamais cherché à faire du commerce à Madagascar,
ni M Nacquart ni ses successeurs n’ont eu pareille idée, et aucune Compagnie
ne leur aurait ainsi permis d’empiéter sur son privilège exclusif. Du mains
leur laissait-on emporter quelques marchandises pour subvenir à leurs bassins,
récompenser les services qui leur étaient rendus, et venir en aide à leurs
néophytes, comme le montrent différents textes dont l'inventaire qu’on vient
de lire constitue la pièce justificative en même temps qu’un document précieux
pour l’histoire du commerce français à Madagascar au XVII: siècle.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik.
Von
Paul Darmstädter (München).
2. Über die auswärtige Handelspolitik Napoleons I.
„Wenn der englische Handel zur See triumphiert, so ist das
darin begründet, dass England zu Wasser am mächtigsten ist.
Es ist deshalb in der Ordnung, dass, da Frankreich zu Lande
am stärksten ist, der französische Handel auf dem Festland
triumphiert; sonst ist alles verloren ').“ Diese Worte, die Napoleon
am 23. August 1810 an den Vizekönig Eugen richtete, können
als das Programm der auswärtigen Handelspolitik Napoleons be-
zeichnet werden.
Im 18. Jahrhundert hatte das überseeische Geschäft eine
überragende Stellung im französischen Wirtschaftsleben eingenom-
men. Frankreiclı setzte einen erheblichen Teil seiner Erzeugnisse
in seinen Kolonien ab und versorgte außerdem mehrere europäische
Länder mit Kolonialwaren, die es von den Antillen bezog).
Dieser gewinnbringende Handel — der Handel mit den fran-
zösischen Kolonien betrug 1787 345,9 Millionen bei einem Ge-
samtaußenhandel von 1073,1 Millionen Livres?) — war jetzt fast
ganz vernichtet, und es galt, Ersatz für ihn zu beschaffen. Wo
1) „Vous ne devez jamais perdre de vue que, si le commerce anglais
triomphe sur mer, c’est parce que les Anglais y sont les plus forts; il est
donc convenable, puisque la France est la plus forte sur terre, qu’elle y fasse
aussi triompher son commerce; sans quoi tout est perdu.“ Correspondance
de Napoleon I. 21,60.
2) Vgl. oben S. 576 f.
3) Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Teil der von den
Kolonien importierten Erzeugnisse wieder ausgeführt wurde.
Paul Darmstädter, Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 113
konnte er anders gesucht werden, als in den Staaten des Kontinents,
die durch die Waffen dem französischen Einfluss unterworfen
waren? Wie die britische Industrie das Erbe Frankreichs jen-
seits des Ozeans angetreten hatte, so sollte jetzt die französische
Industrie England vom festen Lande vertreiben. Die Kontinental-
sperre hatte keineswegs nur den negativen Zweck, die englischen
Waren fernzuhalten, sondern zugleich einen sehr positiven Inhalt:
Die Herrschaft der französischen Industrie sollte an die Stelle
der englischen treten, Frankreichs Fabriken die Länder des euro-
päischen Festlands mit industriellen Erzeugnissen aller Art ver-
sorgen; wie die Seegewalt Englands die Suprematie der englischen
Industrie im überseeischen Handel bedingte, so sollte die mili-
tärische Vorherrschaft Frankreichs auf dem Kontinent mit der
wirtschaftlichen Hand in Hand gehen.
Wie die Ausführung dieser Idee gedacht war, und wie sie
in einem Lande auch verwirklicht worden ist, soll im folgenden
näher erläutert werden’).
I.
Viele Zeugnisse beweisen das grosse Interesse, das Napoleon
dem französischen Außenhandel entgegengebracht hat. Bald
wünscht er Auskunft darüber, warum die Lyoner Fabrikanten
die ausländischen Bestellungen nicht befriedigen, bald macht er
darauf aufmerksam, daß man in Mailand Garn und baumwollene
Gewebe brauche. Auf dem Schloß zu Finkenstein ist er auf die
Förderung des südfranzösischen Tuchexports nach der Levante
bedacht, und während des österreichischen Feldzugs von 1809
äussert er sein lebhaftes Missvergnügen darüber, dass die Bureau-
kratie nicht genug für den französischen Außenhandel tue. „Man
1) Die Darstellung stützt sich in der Hauptsache auf Akten des Pariser
Nationalarchivs und des Staatsarchivs zu Mailand. Von gedruckten Quellen
kommt die Correspondance de Napoléon I. fast ausschließlich in Betracht.
In der Literatur finden sich über diese Materie, soweit mir bekannt, nur
wenige Andeutungen. Es kann deshalb bei der Weitläufigkeit des Stoffes
nicht befremden, wenn ich nur die Handelspolitik gegenüber dem Königreich
Italien ausführlich behandle, mich im übrigen aber darauf beschränke, die
Tendenz der napoleonischen Politik herauszuarbeiten. Vielleicht regt diese
Arbeit zu weiteren Spesialuntersuchungen an.
Vierteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. IIl. 8
114 Paul Darmstädter
hätte, so schreibt er, den Einzug der französischen 'Truppen be-
nützen, und Kaufleute und Fabrikanten dazu ermuntern sollen,
Tuchwaren, Porzellan und andere in Österreich sonst mit hohen
Zöllen belastete Waren jetzt dorthin auszuführen. Zahlen doch
Tuche allein 60°/0 Ich hätte sie — und mit Recht — vom
Zoll befreit und die Magazine Wiens damit vollgepfroptt. Aber
das Bureau (im Ministerium des Innern) denkt an nichts und
tut nichts').*
Die Auffassung, die wir in diesem Aktenstück ausgesprochen
finden, dass die französischen Siege dazu dienen sollten, fran-
zösischen Waren in den besiegten und unterworfenen Staaten
Eingang zu verschaffen, ist für die napoleonische Handelspolitik
durchaus charakteristisch. In der/Tat hat Napoleon den Wunsch
gehabt, das von ihm geschaffene politische System, die Unter-
werfung des europäischen Festland» unter den Willen Frankreichs,
zu einem ebensolchen kommerziellen System zu erweitern. Ein
grosses Wirtschaftsgebiet sollte erstehen, in dem englische Waren
ausgeschlossen, französische Produkte aber ebenso frei und un-
gehindert passieren sollten wie die französischen Soldaten. Man
könnte vermuten, Napoleon habe eine allgemeine Zollunion
Europas oder doch nur der von Frankreich abhängigen Staaten
mit völligem Freihandel innerhalb des geeinigten Gebiets beab-
sichtigt. Das war indes seine Meinung nicht. So wenig er daran
dachte, die verbündeten Staaten in der Politik als gleichberechtigt
anzusehen, ebensowenig wünschte er ihren Waren Gleichberech-
tigung einzuräumen. Französische Erzeugnisse sollten überall
Eingang finden; dagegen verschloß er den französischen Markt den
fremden Produkten. Das handelspolitische System des Kaisers
war nicht auf die Interessengemeinschaft gleichberechtigter Staaten,
sondern auf die Waffengewalt Frankreichs begründet.
Der Verwirklichung dieser Gedanken diente in erster Linie
die gegen die englischen Waren gerichtete Gesetzgebung. Da
Frankreich nach England der bedeutendste Industriestaat des
Kontinents war, so musste der Ausschluss englischer Erzeugnisse
der französischen Industrie zugute kommen. Aber auch darüber
—
1) Correspondance 15,68. 202. 17,254. 19,529. 20,35. 21,274.
Studien zur napoleunischen Wirtschaftspolitik. 115
hinaus beabsichtigte man den französischen Erzeugnissen eine
Vorzugsstellung eingeräumt zu sehen, und zwar durch Tarif-
rertrâge mit differentieller Begünstigung französischer Waren. Im
Jahre 1806 war seitens der französischen Regierung ein um-
fassendes System von Handelsverträgen mit den angrenzenden
Staaten geplant, durch die französische Waren überall Vorzugs-
behandlung genießen sollten. Da in Frankreich die meisten fremden
Erzeugnisse verboten waren, hätten die französischen Gegen-
kistungen nur den Charakter von Scheinkonzessionen getragen.
Es bedarf noch näherer Untersuchung, ob diese Aktion am
Widerstand der fremden Regierungen gescheitert ist, oder ob
Frankreich sich davon überzeugt hat, sein Ziel auch auf anderem
Wege ebenso sicher zu erreichen, genug, es ist nur ein einziger
Tarifvertrag, und zwar mit dem Königreich Italien zustande
gekommen. Ehe wir aber auf diesen des näheren eingehen,
wollen wir noch einen kurzen Blick auf die handelspolitischen
Beziehungen zu einigen anderen Staaten werfen.
Der Vertrag, den Frankreich am 24. Mai 1806 mit dem
Königreich Holland abschloß, bestimmte im Artikel 10, dass
ein Handelsvertrag zwischen beiden Staaten die politische Allianz
ergänzen solle’). In der Tat ist ein solches enges kommerzielles
Bündnis von französischer Seite in Aussicht genommen worden.
Champagny sprach sich in einem Bericht vom 10. September 1806
für einen Handelsvertrag aus, durch den französische Weine und
Fabrikate gegenüber Erzeugnissen anderer Staaten begünstigt
werden sollten?). Dann forderte der Kaiser am 11. Januar 1808
den Minister des Inneren auf, ihm über die Mafregeln zu be-
riehten, die man ergreifen könnte, um in Holland (Spanien und
Italien) für Frankreich günstigere Zolltarife zu erwirken?). In der
Antwort wurden eine Reihe von Wünschen geäußert, deren Er-
fillung man vom Kaiser begehrte‘): die Herabsetzung der hol-
indischen Transitzölle, der Flußabgaben auf der Maaß, der Zölle
auf Wein, Hüte, Lederwaren, Eisen-, Töpferwaren und Seiden-
1) Archives nationales A F 1V 1704.
2) Arch. nat. F 12,534.
3) Correspondance 18,240.
4) Arch. nat. F 12,622.
116 Paul Darmstädter
stoffe. Ob Napoleon auf diplomatischen Wege sich dieser
Wünsche angenommen und tatsächlich Änderungen des hollän-
dischen Tarifs erwirkt hat, habe ich nicht zu ermitteln vermocht.
Nach der Annexion wurde Holland am 1. Januar 1811 in das
französische Zollgebiet einbezogen '!).
Das wirre Durcheinander des deutschen Zollwesens muß,
so verkehrshindernd und handelsfeindlich es auf den ersten Blick
erscheinen mochte, doch kein Hindernis für den französischen
Export gebildet haben. Als Napoleon am 30. Juli 1807 sich
danach erkundigte, welche Begünstigungen der französische Handel
in den Rheinbundsstaaten wohl wünschen möchte, und welche
Mafregeln zu ergreifen wären, um dort den Absatz französischer
Fabrikate zu befördern ?), antwortete der Minister Champagny,
daß wenig Ursache zu Klagen über den Stand der Dinge im
rheinbündischen Deutschland vorhanden sei; die kleinen Staaten
seien nicht imstande, eine Frankreich feindliche Schutzzollpolitik
zu treiben; Sache Frankreichs sei es, zu verhüten, daß die
neugebildeten größeren zu einer Politik der Absperrung über-
gingen. Vielleicht könnte man die Einführung neuer Zölle im
Bundesgebiet von der Genehmigung des Protektors abhängig
machen. Ferner sollte man darauf sehen, daß die Transitzölle
nicht mehr als 1°/o vom Werte der Waren betrügen, und die
Einfuhrzölle auf die Hauptartikel des französischen Exports,
Wein, Seiden- und Tuchwaren 10° des Werts nicht. &ber-
schritten °). Zum Abschluss von Handelsverträgen mit den Rhein-
bundsstaaten war somit für Frankreich kein Anlaß vorhanden.
Ein formelles Einspruchsrecht des Protektors gegen Zollerhöhungen
im Bundesgebiet hätte mit der feierlich garantierten Souveränität
des Fürsten in zu großem Widerspruch gestanden, als daß Napoleon
sich diese Forderung zu eigen gemacht hätte. Es wäre um so
überflüssiger gewesen, da er die Macht besaß, auch ohne ein
formelles Interventionsrecht seinen Willen durchzusetzen, und
von dieser Macht, wo es ihm gut schien, auch unbedenklich Ge-
brauch gemacht hat. So verlangte er 1808 von Baden die Er-
—
1) Bulletin des Lois 4. Serie 13,372.
2) Correspondance 15,456.
3) Arch. nat. A F IV 1060.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 117
mäßigung der Transit- und Einfuhrzölle auf französische Weine,
von Bayern die Herabsetzung des Weinzolles von 3 auf 2 Gulden
pro Zentner. In beiden Fällen wurde seinem Wunsche ent-
sprochen !). Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß der Kaiser
such in anderen Fällen seinen politischen Einfluß in Deutschland
den wirtschaftlichen Interessen Frankreichs dienstbar gemacht hat).
Im Jahre 1812 hat Frankreich den Versuch unternommen,
den größten Rheinbundsstaat seinem wirtschaftlichen System an-
sugliedern. Im Königreich Bayern war am 23. September 1811
ein neuer Zolltarif erlassen worden, der wegen seiner aus-
gesprochen schutzzöllnerischen Tendenz das lebhafte Mißfallen
Frankreichs erregte. In einer Unterredung, die der bayrische
Gesandte, Baron Cetto, im Januar 1812 mit dem französischen
Minister Maret, Herzog von Bassano, hatte, sprach sich dieser
mit einer Zurückhaltung, deren sich die französische Regierung
im Verkehr mit ihren Verbündeten durchaus nicht immer be-
feißigte, dahin aus, dass Bayern nur von einem zweifellosen
Souveränitätsrecht Gebrauch gemacht habe, und der Kaiser weit
entfernt davon sei, ihm deshalb Vorwürfe zu machen. Frankreich
verlange von Bayern nichts, was nur im geringsten den bayrischen
Interessen nachteilig sei, aber es wäre doch möglich, durch gegen-
seitige Konzessionen zu einem Einvernehmen zu gelangen. Maret
machte dann den Vorschlag, einen Handelsvertrag abzuschließen
nit wechselseitiger Begünstigung derjenigen Erzeugnisse der
beiden Länder, welche das andere nicht selbst produziere°).
Diese Anregung hat keinen Erfolg gehabt, aber sie zeigt doch,
wie konsequent die französische Handelspolitik an ihren Ideen
festgehalten hat.
Sonst habe ich für eine differentielle Begünstigung fran-
1) Arch. nat. F 12,534. Moniteur 11. April 1808.
2) Ganz allgemein, doch ohne einzelne Staaten zu nennen, sagt GEORGIUS
(FARNENBERG8 Magazin 5,292): „Es wurden ihnen (d. h. den französischen
Waren) nicht nur nirgends neue Einfuhrverbote entgegengesetzt, sondern es
wurden auch ältere aufgehoben, oder die aufgelegten Abgaben vermindert,
oder ihnen sogar ausschließend der Eingang verstattet, und eine Gleichheit
ait den einheimischen Erzeugnissen eingeräumt.“
3) Münchner Geheimes Staatsarchiv. M A III, 11. Bericht Cettos an den
König vom 25. ‚Januar 1812.
118 Paul Darmstädter
zösischer Waren in den Rheinbundsstaaten, selbst in Westfalen
und Berg keinerlei Anhaltspunkte gefunden. Dagegen berichtet
Fahnenberg, daß französische und sächsische Tuche im Herzog-
tum Warschau sich einer Vorzugsbehandlung erfreuten !).
Die politische Allianz mit dem Zaren hatte auch eine freilich
nur sehr kurze Zeit währende handelspolitische Freundschaft mit
Russlandim Gefolge. Der Anschluß des Zarenreichs an das Kon-
tinentalsystem bedeutete naturgemäß eine Begünstigung der fran-
zösischen Industrie, und namentlich im Jahre 1808 scheint die
französische Ausfuhr dorthin eine große Steigerung erfahren zu
haben. Doch schon damals machten gescheite Beobachter darauf
aufmerksam, daß Rußland auf die Dauer nicht imstande sei,
die französische Einfuhr zu bezahlen. Es pflege seinen Import
mit Waren wie Holz, Hanf und Flachs zu begleichen, für die Eng-
land, nicht aber Frankreich aufnahmefähig sei. Dieser Zustand,
so schrieb 1808 die Lyoner Handelskammer, könnte solche Ver-
hältnisse herbeiführen, daß die schönsten politischen Kombinationen
dadurch gestört würden?). Es hat zwar nicht an Projekten ge-
fehlt, die kommerziellen Beziehungen zwischen beiden Kaiser-
reichen aufrecht zu erhalten, aber ein positives Ergebnis ist nicht
erzielt worden. Die wirtschaftlichen Interessen mußten Rußland
auf die Seite der Gegner Frankreichs treiben. Der Ukas
Alexanders vom 31. Dezember 1810 bedeutet die wirtschaftliche
Kriegserklärung an Frankreich.
Auch in der Türkei wußte Napoleon seinen politischen
Einfluß zur Begünstigung des französischen Handels auszunützen,
und die Hohe Pforte im Frühjahr 1807 zum Verbot englischer
und zur Aufnahme französischer Erzeugnisse zu veranlassen °).
Da aber die Engländer das Mittelmeer beherrschten, 80 vermochte
der Levantehandel seine frühere Bedeutung nicht wieder zu ge-
. 1) FAHNENBERG 2,470. Dekret vom 22. Mai 1811. Durch ein Dekret
vom gleichen Tage wurde die Einfuhr preußischer Baumwollwaren in War-
schau verboten. (Gesetssammlung des vormaligen Herzogtums Warschau,
übersetzt von LAUBE 8,949). Nach FAHNENBERG 6,292 und 296 scheint
sich die Begünstigung französischer Produkte noch auf andere Waren be-
zogen zu haben.
2) Arch. nat. F 12, 622. A F IV 1060.
3) Correspondance 15,68. 202.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 119
winnen. Der Kaiser faßte nun den Plan, den Handel nach dem
Orient durch die illyrischen Provinzen zu leiten; auch hier
wollte er die französischen Kaufleute begünstigt wissen: in den
Dekret vom 27. November 1810 sprach er die Befreiung der
durch Illyrien nach dem Orient versandten französischen Waren
von allen Transitzöllen in Italien und Illyrien aus!) Obwohl
Napoleon sich von der neu erschlossenen Handelsstraße — sie
führte von der französisch-italienischen Grenze bei Vercelli über
Brescia, Venedig, durch Friaul und Dalmatien nach Kostanizza
an der Save und von dort durch Bosnien nach Saloniki —
große Vorteile versprach, scheint der praktische Erfolg infolge der
Länge und Unsicherheit des Weges ein recht bescheidener ge-
wesen zu sein. Die Gesamtausfuhr via Kostanizza hat 1811 2,6,
1812 3,7 Millionen Frs. betragen’).
Außer der Befreiung von den Durchfuhrzöllen enthielt der
illyrische Zolltarif vom 27. November 1810°) auch namhafte Be-
günstigungen für den französischen Export nach Illyrien selbst‘).
Die Erzeugnisse des Kaiserreichs sollten im allgemeinen nur die
Hälfte der Zollsätze des Generaltarifs entrichten. Manche Artikel
waren indes durch einen Spezialtarif weit stärker begünstigt’), und
Baumwollstoffe, Tuche, feine Leinenwaren, Strumpfwaren, Steingut,
Porzellan und Kurzwaren wurden nur zugelassen, wenn sie aus dem
französischen Kaiserreich oder aus dem Königreich Italien stammten.
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß diese Maßregeln gegen die
österreichische, besonders gegen die Wiener Industrie gerichtet waren.
1) Bulletin des lois 4. Serie 18,521 ff. Vgl. Correspondance 21,89 ff.
2) FAHNENBERG 6,182.
3) Während das Zollgesetz in Bulletin des Lois veröffentlicht wurde, scheint
die Publikation des Zolltarifs unterblieben zu sein. Vgl. FAHNENBERG 2, 218.
Ich fand ein Exemplar des Zolltarifs in der alten Registratur der K. General-
direktion der Zölle und indirekten Steuern zu München Nr. 188.
4) Alle diese Begünstigungen kamen auch dem Königreich Italien zugute,
doch war der Nutzen für die italienische Industrie natürlich viel geringer
als für die französische.
6) So =. B. zahlten Lederwaren nach dem allgemeinen Tarif 20 fl. pro
/eatner, nach dem Spezialtarif 8 fl., Bijouterien pro Unze 5 fl. bezw. 30 Kreuzer,
Modewaren pro Pfund 6 fl. bezw. 1 fl. Ein Kastorhut zahlte nach dem all-
gemeinen Tarif 2 fl. Zoll, ein Dutzend nach dem Spezialtarif 1 fl. 30.
120 Paul Darmstädter
Der Vertrag, den der Kaiser am 26. Vendemiaire XII mit
Spanien abschloss, bewilligte Frankreich die Meistbegünstigung
und Transitfreiheit für die nach Portugal gehenden Tuche; im
achten Artikel war der Abschluß eines besonderen Handelsver-
trags in Aussicht gestellt’). Die französischen Industriellen und
Kaufleute wünschten um so lebhafter die Beziehungen zu Spanien
durch einen Vertrag geregelt zu sehen, als gerade dessen Handels-
politik vielfachen Anlaß zu Klagen gab. Das’ spanische Zoll-
system wäre kompliziert und undurchsichtig, seine Handhabung
willkürlich und schikanös, die Zölle für die meisten Waren fran-
zösischer Herkunft exorbitant hoch, zum Teil geradezu prohibitiv ?).
Gewiß berühren diese Beschwerden eigentümlich in dem Munde
von Franzosen, denn alle Klagen, die über Spanien erhoben
wurden, trafen mindestens ebensosehr auch auf das französische
Zollsystem zu, aber die handelspolitischen Ereignisse unserer
Tage lassen es ganz verständlich erscheinen, daß man beim
Nachbar bitter tadelt, was man bei sich zu Haus für selbstver-
ständlich erachtet.
In Spanien war man auch durchaus nicht geneigt, auf die
französischen Wünsche einzugehen. Man behauptete, die nationale
Industrie würde ruiniert werden, wenn man sich zu Zollherab-
setzungen verstünde. Obwohl Napoleon die Abstellung der fran-
zösischen Beschwerden verlangt hatte, scheint Frankreich doch
nichts erreicht zu haben), und in dem Aktenstück vom 24. April 1808,
das die Absetzung der bourbonischen Dynastie rechtfertigen sollte,
ist auch von den Klagen des französischen Handelsstandes über
die spanische Zollpolitik die Rede. „Die spanischen Zollgesetze,
so heißt es, waren hauptsächlich gegen den französischen Handel
gerichtet. Sie waren bemerkenswert durch ihre Willkür und
ihren beständigen Wechsel. Diese Veränderungen waren nicht
bekannt, denn sie wurden nicht publiziert. Nur auf den Zoll-
ämtern konnte man erfahren, daß das Gesetz von gestern heute
1) Arch. nat. A F IV 1704 Espagne.
2) Arch. nat. A F IV 1060. F 12,584. Vgl. auch P. J. REHFUES,
Spanien nach eigener Ansicht im Jahre 1808. Frankfurt 1818 S. 558 und 625.
3) Correspondance 12,87. 89. 14,406. Nur den freien Transit französischer
Waren nach Portugal gestand Spanien zu. Moniteur vom 3. Januar 1808.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 121
nicht mehr galt. Alle von Franzosen und für französische Inter-
essen gemachten Reklamationen wurden verworfen, und während
Spanien so gegen Frankreich und seinen Handel Krieg führte,
waren seine Häfen dem englischen Handel geöffnet“ !).
Nach dem Sturze der bourbonischen Dynastie suchte man
Spanien auch in wirtschaftliche Abhängigkeit von Frankreich zu
bringen; im Zolltarif von 1810 wurden die meisten französischen
Wünsche berücksichtigt. Obwohl auch damals, wie Champagny
in einer ausführlichen Denkschrift mitteilte, eine differentielle
Begünstigung französischer Waren nicht zu erlangen war — man
wollte wahrscheinlich die Regierung König Josephs nicht völlig
diskreditieren — und auch nicht alle von den französischen
Industriellen erhobenen Forderungen Annahme fanden, bot der
neue Tarif dem französischen Handel doch große Vorteile. „Im
neuen Zolltarif, schreibt Champagny, finden sich nicht mehr die
verschiedenen Kombinationen, welche der Geist des Übelwollens
ersonnen hatte, um Frankreich zu schädigen.“ Alle Prohibitionen
seien beseitigt, und wenn auch auf Tuch- und Seidenwaren die
Zölle höher wären, als man es im französischen Interesse wünschen
mochte, so wäre die Herabsetzung der Zolisätze doch recht er-
heblich. Für die Varre Tuch wurde der Zoll von 24 auf 18 Realen
ermäßigt, Seidenband künftig mit 25 statt mit 42 Realen pro
Pfund verzollt, Spitzen entrichteten 75 statt 112 Realen. Noch
günstiger war der Tarif für die Leinwandindustrie. Der Unter-
schied zwischen feiner und grober Leinwand fiel fort, und die
feinen französischen Leinenwaren wurden mit den gewöhnlichen
schlesischen gleichgesetzt, eine Bestimmung, die tatsächlich einer
Begünstigung Frankreichs gleichkam. Der Zoll auf Hüte wurde
auf die Hälfte, auf Quincaillerie auf "/s—'/ı ermäßigt; Baum-
wollstoffe, die bisher meist verboten waren, wurden jetzt gegen
mäßige Zölle zugelassen °.. Dieser Tarif, der die Grundlage für
spätere Handelsvertragsverhandlungen abgeben sollte, hätte unter
anderen Verhältnissen für Frankreich recht vorteilhaft sein können;
im Jahre 1810 ist er für die französische Industrie kaum mehr
von Vorteil gewesen.
1) Correspondance 17,36,
2) Arch. nat. F 12,620. 621
122 Paul Darmstädter
In Portugal hatte Frankreich schon durch den Vertrag vom
7. Vendemiaire X (29. September 1801) die Zulassung für feine Tuch-
waren erreicht, und im Vertrag vom 28. Ventöse XII (19. März 1804)
sogar die Beseitigung der portugiesischen Einfuhrverbote auf
Seidenwaren, Spitzen, Batist, Bijouterien und Leinwand durch-
zusetzen gewußt; doch sollten diese Bestimmungen erst nach den:
Seefrieden in Wirksamkeit treten'). Allein der weite Landweg
und die Schwierigkeiten, die Spanien dem Transit in den Weg
legte, hinderten die französische Tuchindustrie daran, von der
ihr eingeräumten Begünstigung Gebrauch zu machen?), und als
Spanien endlich die Durchfuhr durch sein Gebiet freigab, machte
der Krieg den Export nach Portugal unmöglich.
Mit dem Königreich Neapel beabsichtigte man einen Vertrag
auf einer ähnlichen Grundlage abzuschließen, wie er 1808 mit
Italien zustande gekommen ist, d. h. mit differentieller Begünsti-
sung der wichtigsten Erzeugnisse der beiden vertragschließenden
Staaten. Zu dem Abschluß eines Handelsvertrags ist es zwar —
aus welchen Gründen habe ich nicht zu ermitteln vermocht —
nicht gekommen, wohl aber zu einer weitgehenden Bevorzugung
des französischen Imports im italienischen Süden. Durch ein
Dekret vom 9. Januar 1808 wurde die Einfuhr aller Baumwoll-
fabrikate, soweit sie nicht aus Frankreich und dem Königreich
Italien stammten, kurzerhand verboten‘), so dass, da die ein-
heimische Baumwollindustrie nicht nennenswert, die italienische
unbedeutend war, der französischen ein Monopol im Königreicl
eingeräumt wurde. Im folgenden Jahre, 1809, verlangte der
Kaiser eine Begünstigung der französischen Tuchindustrie*), und
der Zolltarif vom 31. August 1810 kam dem in weitem Maße
1) A F1V 1705 Portugal. Turens 3,186 f.
2) A F IV 1060. F 12,534.
8) Bullettino delle leggi del regno di Napoli 1808 Nr. 7: „L’introduzion«
di tutte le mercanzie di cottone manifatturate siano bianche o stampate di
qualunque natura è proibita nel nostro regno. Sarauno soltanto ammess
cottoni manifatturati che saranno accompagnati da un certificato che prov
eusere stati manifatturati in Francia o nel regno d'Italia.“
4) „Les draps de France payent un droit. Rendre un decret pour exemte:
de ce droit les marchandises françaises et surtout les draps. Napoleon aı
Murat 14. Okt. 1809. Correspondance 19,575.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 123
entgegen. Für alle Arten von Tuch, das aus Frankreich stammte,
warden die Zölle herabgesetzt, und auch für Leinen- und Baum-
wollgewebe wurden die Abgaben ermäßigt'). Napoleon scheint
sich indes davon überzeugt zu haben, daß das Verbot fremder
Produkte für die französische Industrie größeren Vorteil bot, als
die differentielle Begünstigung: am 18. Oktober 1810 forderte Zır
er den König von Neapel dazu auf, für alle nicht französischen „
Wollen- und Seidenwaren ein Einfuhrverbot zu erlassen’). Schon
am 30. Oktober kam Murat diesem Wunsche oder vielmehr Be- Fi
fehle nach. Die den Franzosen am 31. August 1810 gewährten uch
Zollermäßigungen wurden zwar aufgehoben, dafür aber alle /ef «
Baumwoll-, Woll- und Seidenfabrikate, die nicht französischen
Ursprungs waren, in Neapel verboten*). Selbst vom Königreich
Italien, dessen Produkte noch 1808 der gleichen Begünstigung
wie die französischen teilhaftig geworden waren, war jetzt nicht
mehr die Rede, wahrscheinlich, weil man die Konkurrenz der
oberitalienischen Wollindustrie fürchtete. Endlich erfuhr die
französische und italienische Einfuhr noch eine allerdings weniger
wichtige Begünstigung durch ein am 13. Februar 1812 erlassenes
Dekret. In diesem wurden die Zölle für eine Anzahl von Waren
verdoppelt, doch blieben für Produkte französischer und italienischer
Herkunft die alten Zollsätze in Kraft*).
Der französische Handel wurde also im Königreich Neapel
auf doppelte Weise bevorzugt: durch niedrigere Zollsätze und
den Ausschluß fremder Konkurrenz. Nur in einem Lande‘) hat
eine noch weitgehendere Begünstigung des französischen Exports
stattgefunden: im Königreich Italien.
1) Bullettino 1810 S. 125 ff.
2) Lecestre Lettres inédites 2,82 Nr. 708.
3) „A contare della pubblicazione del presente non sarà piu ammessa nel
reguo alcuna specie di panni o mercanzie di cotone o di seta, che non pro-
veaga dalle fabbricche dell’Impero francese“. Bullettino 1810 S. 224.
4) Bullettino 1812 S. 210. Die Zollerhöhung betraf z. B. verschiedene
Metalle wie Zinn, Kupfer und Antimon, Holzarten wie Mahagoni, Buchsbaum
und Blauholz, Fischereierzeugnisse aller Art, wie Heringe, Stockfische, Sar-
diaen und Schwämme; ferner Galläpfel, Sumaeh, Pottasche, Soda, Käse
und Häute.
5) Abgesehen von Illyrien, das indes eine französische Provins war.
1234 Paul Darmstädter
IL.
Der die napoleonische Handelspolitik beherrschende Gedanke,
daß die unterworfenen Länder dazu bestimmt seien, Absatzgebiete
für französische Erzeugnisse zu bilden, ist nirgends mit solcher
Entschiedenheit durchgesetzt worden wie im Königreich Italien).
Bereits das Direktorium hatte die Ergänzung der politischen
Allianz durch ein enges handelspolitisches Bündnis mit der Cisal-
pinischen Republik beabsichtigt. In dem Vertrag vom 27. Ventôse VI
war bestimmt worden, daß alle Prohibitionen gegenüber fremden
Staaten für die Beziehungen der beiden Republiken untereinander
keine Anwendung finden und kein Zoll im wechselseitigen Ver-
kehr 6°/o des Wertes der Ware übersteigen sollte. Da aber
diese Bestimmung erst nach dem Abschluß des allgemeinen
Friedens in Kraft treten sollte, so war vorläufig eine gegenseitige
Begünstigung vorgesehen, die 50 °/o der geltenden Zölle betrug’).
Dieser Vertrag ist infolge der kriegerischen Ereignisse, die den
Untergang der Cisalpinischen Republik herbeiführten, nie zur An-
wendung gekommen. Es war Napoleon vorbehalten, den Gedanken
der engen wirtschaftlichen Verbindung der beiden lateinischen
Schwesternationen wieder aufzunehmen und zur Durchführung
zu bringen, allerdings mit der völligen Unterordnung Italiens
unter den mächtigen Nachbar.
Nachdem schon durch die Verordnung vom 27. Juli 1805 das
Verbot englischer Erzeugnisse im Königreich Italien ergangen
war, erließ der Kaiser am 10. Juni 1806 ein weiteres Dekret,
das scheinbar auch gegen die englischen Waren gerichtet war,
in Wirklichkeit aber der französischen Industrie eine Vorzugs-
stellung in Italien verschaffen sollte. Unter englischen Erzeug-
nissen wurden nämlich nicht nur in England hergestellte Waren
verstanden, sondern folgende Warenklassen wurden, ganz gleich
welcher Herkunft, als englisch bezeichnet: 1. Samt aus Baum-
wolle, Stoffe und Tuche aus Wolle, Baumwolle und Haaren, und
aus diesen Rohstoffen gemischte Zeuge, Piqués, Basins, Nankins
und Musselines. 2. Bänder und Schleier. 3. Knöpfe aller Art.
1) Es sei bemerkt, daß wenn ich von Italien schlechtweg spreche, stets
das Königreich Italien gemeint ist.
2) Arch. nat. A F IV 1704 Italie.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 125
4. Töpferwaren. Die Einfuhr aller dieser genannten Waren wurde
durch das Dekret verboten, sofern sie nicht — das war der
wichtigste Punkt des Gesetzes — aus Frankreich stammten).
Da in Italien selbst diese Erzeugnisse gar nicht oder jedenfalla
nicht in genügender Menge hergestellt wurden, war somit der
französischen Industrie ein Monopol oder mindestens eine sehr
bevorzugte Stellung auf dem italienischen Markt eingeräumt ?).
Unter diesen angeblich gegen den englischen Handel gerichteten
Maßnahmen verbarg sich also eine Begünstigung Frankreichs und
eine schwere Schädigung nicht nur Großbritanniens, sondern auch
der befreundeten und verbündeten Staaten. Die böhmischen und
mährischen Fabrikanten, die bisher Tuche nach Italien exportiert
hatten, die Sachsen und Schweizer, die baumwollenen Samt
und Musselin geliefert hatten, wurden ebenso und vielleicht in
noch höherem Grade betroffen, als die Engländer°?). Die Absicht
und Wirkung dieser angeblichen Bekämpfung des britischen
Handels war nicht nur die, daß die britische Industrie den
1) Der Text des Edikts ist der folgende:
& 1. L’introduzione delle merci manifatturate provenienti sia dalle fab-
briche sia dal commercio inglese & proibita tanto per mare quanto per terra
in tutta l’estensione del regno d’Italia.
$ 2. Sono riputati provenire dalle fabbriche inglesi qualunque ne sia
l'origine gli oggetti qui sotto specificati tranne quelli che vengono
ds Francia con certificati di fabbrica, vidimati dai prefetti e con ispedizioni
di uscita rilasciate dagli agenti delle dogane imperiali:
1. I velluti di cotone, le stoffe e panni di lana, di cotone e di pelo o
misti di queste materie, ogni sorta di piqué, basini, nankini, e di mussoline.
2. le fetucce e i veli.
3. bottoni d'ogni specie.
4. qualunque majolica conosciuta sotto il nome di terra di pipa ossia
terraglia d’Inghilterra.
2) Durch ein Dekret vom 12. Januar 1807 (Bollettino delle leggi del
regno d’Italia 1807 S. 42) warden Bänder und Schleier-aus dem Erofter
zogtum Berg zugelassen, aber durch ein Edikt vom 28. Dezember 1807 wie-
tr verboten. Auch für Bayern war im 3 IB des am 2. Januar 1808 abge-
shlossenen italienisch-bayrischen Handelsvertrags eine Ausnahme von den
Bestimmungen des Dekrets vom 10. Juni 1806 beabsichtigt, doch ist der Ver-
tag nie zur Ausführung gelangt.
3) Sehr bedeutend war auch die Schädigung der Interessen Bayerns, wie
ih in einem Aufsatz demnächst zu zeigen gedenke.
126 Paul Darmstädter
italienischen Markt verlor, sondern daß die französische ihn ge-
wann. Elbeuf und Louviers, Eupen und Verviers, Rouen und
Amiens verdrängten nicht nur Manchester und Leeds, Glasgow
und Nottingham, sondern auch Zürich und Basel, Augsburg und
Elberfeld, Mühlhausen in Thüringen und Brünn.
Doeh damit noch nicht genug. Noch immer blieben die
Schweizer gefürchtete Konkurrenten in der Baumwollindustrie.
Als sich Napoleon nach seiner Rückkehr aus dem preußischen
Feldzug, im Juli 1807, nach den Gründen der Erfolge der
Schweizer Kattunfabrikanten in Italien erkundigte'), teilte ihm
der Minister Champagny mit, daß diese infolge der billigeren
Rohstoffpreise, der geringeren Löhne der Arbeiter und der
niedrigeren Transportkosten die französischen Fabrikanten zu
unterbieten imstande seien*). Kurzerhand entschloß sich der
Kaiser zu einem neuen Gewaltstreich, und verbot durch das
Dekret vom 28. Dezember 1807 die Einfuhr aller nicht aus
. Frankreich stammenden Baumwollwaren?).
War somit die ausländische Konkurrenz in der Textilindustrie,
wenigstens vom legitimen Wettbewerb ausgeschlossen, so galt es
jetzt den Franzosen auch gegenüber den italienischen Fabriken
günstigere Bedingungen zu erzielen sowie in anderen Zweigen
der Industrie und Landwirtschaft, in denen ein Verbot nicht-
französischer Produkte als unzweckmäfßig erschien, den Franzosen
den Wettbewerb sowohl mit dem Ausland als auch mit den
italienischen Produzenten zu erleichtern. Diesem Zwecke sollte
ein Handelsvertrag dienen, der seit 1806 sehr sorgfältig vor-
bereitet wurde. Es ist vielleicht nicht hinreichend bekannt, daß
Napoleon über einen wirtschaftlich geschulten Generalstab ver-
fügte: neben seinen Offizieren und Diplomaten entsandte er
Kommissare nach allen Himmelsgegenden, um sich über die
wirtschaftlichen Verhältnisse des Auslandes zu unterrichten und
1) Correspondance 15,456.
2) A F IV 1060, F 12,534. 536.
3) Bollettino delle leggi 1807 S. 1534: „L’introduzione di tutte le merci
di cotone manifatturate tanto in tele bianche quanto in tele colorate di qua-
lanque natura esse sieno, 6 proibita nel nostro regno d'Italia. Saranno sol-
tanto ammessi i cottoni manifatturati che venissero dalla Francia.“
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 127
für den französischen Handel zu wirken. Ein solcher Kommissar,
namens Isnard, wurde 1806/07 nach Italien gesandt, und seine
Berichte sind neben den Wünschen der Interessenten, die natürliclı
auch gehört wurden, dem Handelsvertrag zugrunde gelegt
worden, der am 20. Juni 1808 zwischen dem französischen
Kaiserreich und dem Königreich Italien abgeschlossen wurde;
formell ein Vertrag, in Wirklichkeit ein Dekret des Kaisers, der
ja zugleich auch als König in Italien gebot.
Nach dem Handelsvertrag!) wurden die Zollsätze für die
wiehtigsten Produkte, welche die beiden Länder untereinander
austauschten, auf die Hälfte ermäßigt. Italien setzte seine Zölle
berab auf Fabrikate der Textilindustrie, Eisenwaren, Luxusartikel,
wie Bijouterien, Uhren, Möbel, Spitzen und Modewaren, auf Hüte,
Lederwaren, Posamentierwaren, Tapisserien, Seife, ferner auf Öl,
Vieh und Erzeugnisse der Fischerei; dagegen ermäßigte Frank-
reich seine Zölle auf einige Erzeugnisse der italienischen Land-
wirtschaft, wie Käse, Öl, getrocknete Trauben, Rohseide, Vieh,
Hanf und Lein, auf Fischereierzeugnisse, ferner auf Feuerwaffen,
Sicheln und Sensen, auf Strohhüte, auf Leinwand, Segeltuch,
Kork und Wachs, auf Taue und Seidengaze. Für alle diese
Artikel blieben zwar Änderungen der Zollsätze zulässig, doch
wurde bestimmt, daß die Waren der beiden Kontrahenten stets eine
Vorzugsbehandlung von 50°/n vor Produkten aus fremden Ländern
genießen sollten; bei den Tuchwaren sollte der Zollsatz °/ı des
bisherigen Zolles nicht überschreiten dürfen. Für einige andere
Produkte, z. B. für feine Weine und Porzellan in Italien, für
Reis und seidene Crêpes in Frankreich wurden die Zollsätze
sebunden X). Endlich wurde noch vereinbart, daß die Transit-
zölle, die Schiffahrts- und Lagerhausgebühren für Angehörige der
beiden vertragschließenden Staaten die Hälfte der Abgaben be-
1) Arch. nat. A F IV 1704 Italie. Der Austausch der Ratifikationen
fand am 8. August 1808 statt.
2) Der Zoll betrug für Porzellan 50 Frs. pro Zentner, für Flaschenweine
% Cent. für den Liter, für Weine im Faß 5 Frs. pro Zentner; gewöhnliche
Weine zahlten die Hälfte des Generaltarifs. Italienische Weine genossen die
gleiche Begünstigung in Frankreich. Außerdem wurden italienische Tuch-
waren, die bisher in Frankreich verboten waren, gegen einen Zoll von Frs. 1,50
pro Meter zugelassen.
128 Paul Darmstädter
tragen sollten, die von fremden Staatsangehörigen zu en
waren.
Die Gesetzgebung, die den Zweck verfolgte, Italien z
mäne der französischen Exportindustrie zu machen, fanı
ihre Vollendung durch das Dekret vom 10. Oktober 181
das völlige Einfuhrverbot aller Baumwoll- und Wollware
Ausnahme der in Frankreich hergestellten, aussprach ı
sogar auf den Transitverkehr ausdehnte'). Also böhmische
und schweizerische Kattune waren nicht nur in Italien ve
sondern durften auch nicht über das Königreich nach
oder Sardinien versandt werden. Eine weitere Begün
der französischen Industrie lag darin, daß die italienische
zollfrei nach Frankreich eingeführt werden durfte, währe
Ausfuhr über die anderen Landesgrenzen hohen Ausfuh
unterworfen wurde?). Die Absicht dieser Maßregel wa
französischen Seidenindustrie den Rohstoff zu verbillige
konkurrierenden Industrien des Auslands aber zu verteue
Die französische Industrie war also im Verkehr mit
durch die napoleonische Handelspolitik auf dreifache We:
günstigt: durch die Verbote fremder Produkte war sie geg
Konkurrenz anderer Länder geschützt, durch die niedrige
gangszölle wurde ihr der Wettbewerb mit der italieniscl
dustrie erleichtert, und drittens wurde ihr der Bezug eine
tigen Rohstofis, der Rohseide, erleichtert.
Welches sind nun die Erfolge dieser Politik geweseı
ist unzweifelhaft, daß Frankreich große Vorteile aus ihr g
hat. Mag es auch richtig sein, daß es den Englände
namentlich den Schweizern trotz der Dekrete gelungen ist,
wollene und wollene Stoffe nach Italien zu schmuggel
1) Nur Bänder aus dem Großherzogtum Berg genossen wi
ihnen 1807 zugestandene Begünstigung. Bollettino 1811 S. 898. D
Dekret vom 29. Februar 1809 (Bollettino 1809 S. 54) wurden auch ir
verfertigte Strumpfwaren im Königreich Italien zugelassen.
2) Dekret vom 26. September 1810. Bollettino 1810 S. 98
Correspondance 21,60. 165.
8) Nach den Berichten des Kommissars Catineau, der die Schw
im Auftrage des Kaisers bereiste, fand der Schmuggel meist über Fr
mit französischen Ursprungszeugnissen statt. Er behauptet, von X
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 129
liegen doch Zeugnisse dafür vor, daß tatsächlich die französischen
Waren die schweizer, englischen, deutschen und österreichischen
Produkte aus Italien verdrängt haben. „Seit Frankreichs Über-
macht auf dem festen Lande, schreibt ein deutscher Reisender,
der 1810 Italien besuchte'), hat die Lage des Handels überhaupt,
und so insonderheit die Vertreibung der Fabrikwaren in Italien
eine ganz andere Wendung genommen. Der sonst unermeßliche
Verkehr zwischen England und Italien ist ganz abgebrochen.
Was Deutschland und die Schweiz betrifft, so sind die Einfuhren
ihrer Fabrikate größtenteils untersagt. Das Wenige, was noch
enzusenden erlaubt ist, leidet unter dem Gesetz der Douanen,
und wird wahrscheinlich früh oder spät ebenfalls dem Verbot
oder doch einer schwereren Belastung unterworfen werden. Es
bleibt dem Lande keine Wahl weder der Güte noch der vorteil-
hafteren Preise übrig. Es muß das meiste seines Bedarfs, gleich-
viel wie es befriedigt wird, von Frankreich annehmen.“ Die von
Napoleon nach Italien entsandten Kommissare, der italienische
Finanzminister, sowie der italienische Generalzolldirektor betonen
in gleicher Weise die Steigerung der französischen Einfuhr in
Italien sowie den Rückgang des Imports aus der Schweiz und
aus Deutschland *).
Eine noch deutlichere Sprache reden die Ziffern der Statistik,
die ja gewiß der Genauigkeit entbehren, aber doch einen rela-
tiren Wert beanspruchen dürfen. Nach der französischen Handels-
statistik °) betrug die Ausfuhr des Kaiserreichs nach dem König-
reich Italien
im Jahre: XI. . . . . 9 Mill. Frs.
. » XI . . . . . 129 „ »
„ n XII . . . . . 18,0 „ n
“ „XIV/1806 . . . . . 401 „ »
„ „ 1807 . . . . . 40,6 „ »
Musselin, die von Frankreich nach Italien gingen, seien 180 Schweizer Ur-
prungs gewesen. Arch. nat. F 12,536.
D) Nesisich Bd. 7 S. 8.
2) Arch. nat. F. 12,585. Mailänder Staatsarchiv: Commercio Stati esteri:
Inghilterra und Finanze, contabilitä, bilanci, dogane 1805/11.
3) Bilans de commerce Arch. nat. A F IV* 488.
Vierteljahrschr. f. Social- n. Wirtschaftrgerchichte. III. 9
130 Paul Darmstädter
im Jahre 1808 . . . . . 44,4 Mill. Frs.
» … 1809 . . . . . 43,8 „ »
s » 18310 . . . . . 51,6 „ u
» 1811 . . . 0.0.6526 „ »
Gewiß darf man nicht übersehen, daß ein Teil der Steigerung
der Ausfuhr auf den Export der Gebiete Italiens, die dem Kaiser-
reich einverleibt wurden, zurückzuführen ist, aber ein sehr be-
trächtlicher Teil der Ausfuhr bestand aus Fabrikaten, die un-
zweifelhaft national-französischen Ursprungs waren’), und so
dürfte das von uns festgestellte Ergebnis, daß die französische
Industrie bedeutende Vorteile aus der ihr in Italien zuteil ge-
wordenen Begünstigung gezogen hat, durch die Statistik eine
weitere Bestätigung erfahren ?).
Weit weniger günstig sind die Folgen der napoleonischen
Politik für die italienische Volkswirtschaft gewesen. Zwar weisen
die Zahlen der Statistik ein bedeutendes Anwachsen der italienischen
Ausfuhr nach dem Kaiserreich auf’), aber es scheint, daß es sich
nicht, wie bei dem französischen Export, um eine wirkliche Ver-
mehrung der Ausfuhr überhaupt handelt, sondern daß die Steige-
rung zum großen Teile auf die Angliederung bisher selbständiger
1) So betrug z. B. der Export von Fabrikaten der Textilindustrie im
Jahre XI nur 2,2 Mill, XII 5,2, 1807 19, 1808 24, 1809 22, 1810 24, 1811
23t/s Mill. Frs.
2) Von dem Gesamtimport Italiens entstammten nach der italienischen
Statistik (Staatsarchiv Mailand: Finanze, Importazioni e esportazioni) aus
dem Kaiserreich:
1810 von 140,4 Millionen 63,0 — 45%
1811 „ 129,6 „ 70,4 = 66 „
1812 „ 140,0 „ 75,5 — 54 „
1813 „ 105,3 » 56,8 — 54 .
3) Der Export Italiens nach dem Kaiserreich betrug, nach der französischen
Statistik, im Jahre XI 5,6, XII 5,3, XIII 6,9, XIV/1806 21,0, 1807 15,6,
1808 27,1, 1809 41,4, 1810 42,8, 1811 43,6 Mill. Frs. Nach der italienischen
Statistik entfielen von der italienischen Gesamtausfuhr auf die Ausfuhr nach
Frankreich:
1810 von 144,3 Millionen 35,5 = 24"/s
1811 „ 132,6 » 64,9 — 49
1812 „ 143,1 » 65,9 = 46 „
1813 „ 112,7 „ 45,5 — 40,
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 131
Staaten an das Kaiserreich zurückzuführen ist; und soweit eine
Vermehrung des Exports nach Frankreich stattfand, war sie durch
den Rückgang der Ausfuhr nach anderen Ländern erkauft.
Alle mir vorliegenden italienischen Zeugnisse sind sich darüber
einig, daß die napoleonische Handelspolitik und ganz besonders
der Handelsvertrag von 1808 für Italien äußerst nachteilig ge-
wesen sind. Man betonte, und mit Recht, daß die französischen
Konzessionen von viel geringerem Werte waren, als die von
Italien Frankreich eingeräumten. Während der italienische Markt
den französischen Fabrikaten aller Art offen stand, blieb die
französische Grenze nach wie vor auch für zahlreiche Produkte
des verbündeten Italien verschlossen. Die Teile Oberitaliens,
die jetzt das Königreich bildeten, hatten immer im regsten
Warenaustausch mit den Landschaften Italiens gestanden, die
dem Kaiserreich einverleibt waren. In den Getreide bauenden
Gebieten von Novara und Vigevano und in der Lomellina, die
zum Königreich gehörten, klagte man darüber, .daß die fran-
zösischen Zollgesetze die Ausfuhr nach dem zwar an Wein reichen,
an Korn aber armen Montferrat nieht zuließen. Die Besitzer der
über ganz Oberitalien verbreiteten Seidenfabriken, die Eigentümer
der Eisenwerke im Gebiet von Brescia, der zahlreichen Woll-
manufakturen in der Umgebung von Verona und Vicenza, sowie
der Baumwollfabriken in Mailand jammerten darüber, daß ihnen
der Absatz nach Piemont, Parma, Piacenza, Genua, Toscana und
Rom nunmehr verschlossen war; die Seidenindustrie war überdies
durch die Annexion des linken Rheinufers geschädigt, wo sie
vormals zahlreiche Abnehmer ihrer Erzeugnisse besessen hatte’).
Noch mehr als durch die Einfuhrbeschränkungen in Frankreich
wurde die italienische Industrie durch die Zollherabsetzungen in
Italien selbst betroffen. Man hat sich in Frankreich den An-
schein gegeben, als ob Italien lediglich ein Rohstoffe produzierendes
Land sei, und es ganz wie eine Kolonie nach dem alten Kolonial-
«ystem behandelt, die Fabrikate vom Mutterland einzuführen ge-
1) Staatsarchiv Mailand, Commercio Stati esteri Francia. Protokolle
des Consiglio generale delle manifatture e commercio. Finanze: Contabilitä
hilanci, dogane, Importazioni, Esportazioni. Arch. nat. F 12,620). 621. De-
mandes faites par les députés du commerce italien.
132 Paul Darmstädter
zwungen war. Italien besaß indes eine gar nicht unbedeutende
Textilindustrie: wenn auch die Baumwollindustrie noch ganz in
den Kinderschuhen steckte, so war dafür die Seidenindustrie
recht entwickelt und auch die Wollmanufakturen, wenigstens für
geringere Tuchsorten, durchaus leistungsfähig; auch andere Gewerb-
zweige, wie z. B. die Hutmacherei, die Eisenwarenfabrikation,
Glas-, Fayence-, Leder- und Seifenfabriken waren im Königreich
vertreten. Aber obwohl Italien nicht das nur Rohstoffe produ-
zierende Land war, als welches es die Franzosen hinstellen
wollten, stand doch die Tatsache fest, daß die italienische
Industrie der französischen in keiner Weise gewachsen war, und
die stete Herabsetzung der Zölle, namentlich auf die Fabrikate
der Textilindustrie, die durch den Handelsvertrag geboten war,
erwies sich als verhängnisvoll. Die Seidenfabriken Italiens ver-
mochten nicht mit Lyon, die Wollwarenmanufakturen nicht mit
Verviers und Eupen zu konkurrieren ').
Die napoleonische Gesetzgebung schädigte die italienische
Industrie aber nicht bloß durch die Absperrung des Kaiserreichs
und die Konkurrenz der französischen Fabriken in Italien selbst,
sondern auch noch durch die Verteuerung, ja zum Teil sogar durch
die Entziehung der Rohstoffe. Die Tuchfabriken der südöstlichen
Teile des Königreichs hatten früher vielfach Wolle aus der römischen
Campagna bezogen. Nach der Annexion Roms wurde das
Wollausfuhrverbot, das im Kaiserreich bestand, auch hier wirk-
sam, und die Fabriken der Marken sahen sich des Rohstoffs
beraubt. Ebenso wurden die Lederfabriken Italiens durch das
Verbot der Ausfuhr von Fellen aus dem Kaiserreich geschädigt).
Während Napoleon die Ausfuhr von Rohstoffen aus dem
Kaiserreich nach Italien untersagte, suchte er umgekehrt dem
Königreich die Rohstoffe zugunsten der französischen Industrie
zu entziehen, vor allem das wichtigste Rohprodukt Oberitaliens,
die Seide. Die Seidenfabrikanten von Vicenza, Padua, Bergamo,
Bologna und Mailand wurden nicht müde, hervorzuheben, für
wie bedenklich sie das Edikt vom 10. Oktober 1810 ansahen.
1) Staatsarchiv Mailand. Consiglio generale di manifatture e commercio
und Commercio parte generale. Arch. nat. F 12,620. 621. A F IV 1712.
2) Staatsarchiv Mailand. Commercio parte generale.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 133
Alle Rohseide, so behaupteten sie, ginge nach Lyon, und die
Konkurrenzfähigkeit der italienischen Industrie, die durch die
niedrigen Einfuhrzölle schon an und für sich vermindert sei,
würde durch die Entziehung der Rohseide noch weiter herab-
gesetzt!).
Man könnte meinen, das Verbot der Einfuhr fremder Textil-
fabrikate sei doch auch der italienischen Industrie zugute ge-
kommen, und es ist von französischer Seite behauptet worden,
das Verbot englischer Fabrikate habe der italienischen Tuch-
industrie tatsächlich genützt. In Italien selbst freilich klagte
man nur über die übermächtige Konkurrenz Frankreichs. Das
Verbot der nichtfranzösischen Waren erwies sich außerdem in
doppelter Weise für Italien als ungünstig. Einmal dadurch, daß
die Konsumenten genötigt waren, diejenigen Waren, die in Italien
nicht hergestellt wurden, und für die die Franzosen jetzt ein
Monopol besassen, teurer als bisher zu bezahlen, zweitens da-
durch, daß infolge des Abbruchs der Handelsbeziehungen mit
Deutschland, Österreich, England und der Schweiz auch die
italienische Ausfuhr nach diesen Ländern geschädigt wurde. Und
nicht nur der Warenaustausch mit dem Norden, auch der Transit-
verkehr, der für manche Teile des Königreichs von großer Be-
deutung gewesen war, hörte fast ganz auf.
Dadurch wurden auch die Staatsfinanzen betroffen. Die Ver-
bote der Einfuhr aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und
England, die Zollherabsetzungen auf die französische Einfuhr
und der Fortfall des Ausfuhrzolls auf die nach Frankreich ex-
portierte Rohseide machten sich durch einen starken Rückgang
in den Zolleinnahmen bemerkbar.
Es ist möglich, daß die vermehrte Ausfuhr einiger landwirt-
schaftlicher Produkte nach Frankreich einen gewissen Ausgleich
für diese zahlreichen Verluste geboten hat; aber es ist sicher,
daß auch die ländlichen Konsumenten von Industrieerzeugnissen
durch den Ausschluss der fremden Konkurrenz und den Zwang,
französische Fabrikate zu kaufen, geschädigt wurden. Unser
Endurteil über die gegenüber Italien befolgte Handelspolitik wird
sich dem Urteil des italienischen Generalzolldirektors anschließen
| 1) Staatsarchiv Mailand. Consiglio generale.
134 Paul Darmstädter
müssen, der sie 1812 folgendermaßen charakterisierte: „Zwei
von den Gesetzen des gleichen Herrschers regierte Völker, die
durch engste politische Union verbunden sind, sollten nicht unter-
einander Rivalen und ungerechterweise eifersüchtig sein, so daß
während die eine ihre Produkte teuer an die andere verkauft
und das, was sie von der andern braucht, an sich zieht, diese
die Früchte ihrer Tätigkeit von den französischen Zolllinien zu-
rückgewiesen sieht !).“
Die Italiener haben es nicht an Versuchen fehlen lassen,
diesen Zustand zu ändern und günstigere Bedingungen für den
italienischen Export, Aufhebung der Ausfuhrverbote auf Rohstofte
in Frankreich, sowie Zollerhöhungen auf französische Produkte
in Italien zu erlangen. Ihr sehr umfangreicher Wunschzettel,
den sie im September 1810 dem Kaiser überreichten, enthielt
Herabsetzung der französischen Zölle bezw. Aufhebung der
Prohibition für Wollwaren, Eisenwaren, Fayencen, Glaswaren,
Bücher, seidene Crêpes, Reis und Aufhebung des Ausfuhrverbots
für Wolle?). Andererseits wünschte man die Erhöhung der
italienischen Zölle auf Tuche, Baumwoll-, Seiden-, Leinwand-
waren und Hüte?). Eine Zollerhöhung könne Frankreich um so
weniger schaden, da die fremde Konkurrenz durch Verbote fern-
gehalten würde.
Die französischen Industriellen, denen die italienischen Wünsche
zur Begutachtung vorgelegt wurden, sprachen sich begreiflicher-
weise gegen ihre Bewilligung aus. Sie behaupteten, daß die
Italiener niedrigere Arbeitslöhne hätten und deshalb imstande
seien, billiger zu produzieren als die französische Industrie. Das
erstere war wohl richtig. Man übersah indes, daß billige Arbeits-
löhne nicht ohne weiteres mit billiger Produktion identisch sind.
Auch an dem Wollausfuhrverbot bat man die französische Re-
gierung festzuhalten, da Frankreich nicht über einen genügenden
Vorrat dieses unentbehrlichen Rohstoffes verfüge. Nur gegen die
Einfuhr von Reis und Büchern erklärten sie, nichts einwenden
zu wollen. Sehr nachdrücklich sprachen sich die französischen
1) Staatsarchiv Mailand. Finanze: contabilità, bilanci, dogane.
2) Arch. nat. F 12,620. 621.
3) Arch. nat. A F IV 1712.
Le j
"
-
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 135
Fabrikanten gegen die in Italien geplanten Zollerhöhungen aus,
die für die französische Industrie einen verhängnisvollen Schlag
(coup funeste) bedeuten würden. Der Handelsvertrag sei für
Frankreich höchst günstig und glücklich gewesen. Jetzt sei
Russland durch den Ukas Alexanders verschlossen, die Ausfuhr
nach Deutschland vermindert, die Unruhen in Spanien hätten
dem Absatz französischer Erzeugnisse nach der pyrenäischen
Halbinsel geschadet; Italien sei das einzige gute Absatzgebiet,
das der französischen Industrie geblieben sei ').
Trotzdem hat sich Napoleon nicht ganz ablehnend gegen die
italienischen Wünsche verhalten. Er willigte in die zollfreie
Zulassung von Reis und seidenen Cröpesein, erhöhte die italienischen
Zölle auf Hüte, gestattete die Ausfuhr der römischen Wolle gegen
einen Ausfuhrzoll von 5 Frs. pro Zentner, und erlaubte auch
die Einfuhr italienischer Wollwaren ins Kaiserreich”). Aber
weiter wollte und konnte er nicht gehen. Gewiß lag es Napoleon
sehr fern, Italien absichtlich zu schädigen, etwa in der Weise,
wie wir es bei der Schweiz nachweisen können; im Gegenteil,
er war bestrebt, soweit es irgend anging, die italienischen Inter-
essen zu berücksichtigen. Wenn indes ein Konflikt zwischen
italienischen und französischen Interessen eintrat, stellte er sich
ganz, auf die französische Seite und kannte keine Rücksicht mehr
für die verbündete Schwesternation. Mit voller Offenheit hat er
die Motive seiner Politik in einem Brief an Eugen ausgesprochen:
„Nehmen Sie die Devise an: Frankreich über alles! Wenn ich
eine große Schlacht verlieren würde, so würden 1, ja 2 Millionen
Männer Frankreichs unter meine Fahne eilen, alle Börsen würden
mir offen stehen, — Italien aber würde mich verlassen. Ich finde
es deshalb eigentümlich, daß man Widerwillen hat, den fran-
zösischen Manufakturen zu helfen . . . Anstatt die Hälfte der
Zölle zu zahlen, müßten französische Waren zollfrei in Italien
eingehen dürfen“*). Frankreich über alles! das war die Devise,
die Napoleon bei seiner Handelspolitik befolgt hat. Es fragt
sich nur, ob bei den Nationen, wie im Leben, der grenzenlose
1) F 12,192. 194. 549. 550. 620. 621. A F IV 1712.
2) Dekret vom 10. Oktober 1810.
3) Correspondance 21,61.
136 Paul Darmstädter
Egoismus auch wirklich den größtmöglichen Vorteil zu verhürgen
imstande ist.
IH.
Es ist wohl sicher, daß dank der napoleonischen Handels-
politik vorübergehend bedeutende Vorteile für die französische
Industrie erzielt worden sind. Französische Erzeugnisse haben
auf vielen Märkten des Kontinents englische, hie und da auch
schweizer, deutsche und österreichische Waren verdrängt und
sind sogar in Italien mit den einheimischen Produkten in er-
folgreichen Wettbewerb getreten. In Frankreich selbst war ihnen
durch den hohen Zollschutz und die Einfuhrverbote der Absatz
gegen den legitimen Mitbewerb des Auslands nahezu gesichert.
Trotz alledem wage ich es zu bezweifeln, daß das napoleonische
System selbst für Frankreich besonders segensreich gewesen ist.
Es zeigt die Verkennung des elementarsten Satzes der Handels-
politik: Wenn du nehmen willst, so gib, es negiert die Gegen-
seitigkeit des Austausches, die die Grundlage jedes Handels-
verkehrs bildet. Indem es Frankreich auf Kosten des Auslandes
bereichern wollte, führte es zu einer schweren Schädigung der
wirtschaftlichen und schließlich auch der politischen Stellung
Frankreichs.
Es ist allgemein bekannt, wie Napoleon die ihm feindlichen
Länder durch Kontributionen ausgesogen hat. Es ist durch ver-
schiedene ältere und neuere Arbeiten festgestellt worden, in wie
hohem Grade der Kaiser durch die Forderung von Kontingenten
die finanziellen Kräfte seiner Verbündeten angestrengt hat.
Weniger bekannt ist es, wie er diese — von den Menschenopfern
und der Steuerlast ganz abgesehen — durch seine Wirtschafts-
politik geschädigt hat.
Frankreich zwang die ihm unterworfenen Staaten zum Ab-
bruch der alten Handelsbeziehungen zu England; aber anstatt
sie durch eine weitherzige Handelspolitik für die Verluste, die
dadurch veranlaßt waren, zu entschädigen, schloß es sich selbst
nicht nur gegen England, sondern auch gegen die Verbündeten
hermetisch ab. Wenn die ausländischen Staaten sich damit ab-
finden mochten, den Markt des alten Frankreich zu verlieren,
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 137
auf dem ihr Absatz an und für sich vielleicht nicht so erheblich
zewesen war, um so schlimmer trafen sie die zahlreichen An-
nexionen. Tausendfache Bande bestanden z. B. zwischen den
deutschen Gebieten rechts und links des Rheins, zwischen den
Landschaften des französischen und des Königreichs Italien. Ich
habe oben bereits darauf hingewiesen, wie sehr die Trennung
durch die französischen Zolllinien in die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse der Lombardei eingrifl. Aber auch in fast allen Teilen
Deutschlands, auf dem badischen Schwarzwald und in Sachsen,
in den Reichsstädten Frankens und Schwabens, im Großherzogtum
Berg und am Fichtelgebirge klagte man über die unübersteig-
liehen Schranken, welche die französischen Einfuhrverbote den
Exportindustrien dieser Gebiete entgegensetzten ').
Aber noch nicht genug damit, die ausländischen Waren aus
dem Kaiserreich fernzuhalten, dessen Grenzen sich fast jährlich
vergrößerten, nicht genug damit, daß jede neue Annexion die
materiellen Interessen der Nachbarstaaten aufs schwerste verletzte,
suchte Frankreich seinen Verbündeten auch noch den italienischen
Markt zu verschließen. Wie Italien durch diese Mafregeln ge-
sehädigt wurde, habe ich zu zeigen versucht. Die Einfuhrverbote
trafen indes natürlich noch mehr diejenigen Länder, welche bisher
Italien mit Fabrikaten versehen hatten, also Österreich, Deutsch-
land und namentlich die Schweiz, die vielleicht von allen mit
Frankreich verbündeten Ländern am meisten unter der napole-
nischen Handelspolitik zu leiden hatte, und nur durch den
allerdings im größten Umfang betriebenen Schmuggel sich einiger-
maßen schadlos zu halten verstand.
Aber diese Handelspolitik, die zu Frankreichs Vorteil erdacht
war, gereichte doch auch Frankreich selbst zum Schaden, und
1) Kreisarchiv München ZA. 7/45, ZA. 7/50, MF. 429/42 (Wollweber in
Ulm. Strumpfmacher in Dinkelsbühl. Nürnberger Industrielle) BEUGNOT
in dem von SCHMIDT in der Revue d’histoire moderne et contemporaine Bd. 5,
N. 608. 611. 615 ff. mitgeteilten Bericht. Arch. nat. F 12,549. 550 (Berg).
FAHNENBERG 1,219 (Muslinfabrikation in Baden) 4,3 S. 185 und CAMILLE DE
Tourxon, die Provinz Baireuth unter französischer Herrschaft. Wunsiedel 1900
3. 86. 91 (Industrie in Bayreuth). NEMNICH 8,49 (Augsburger Kattunindustrie).
Könıe, Die sächsische Baumwollindustrie S. 262. Vgl. auch MoXTGELAS
Memoiren S. 224.
138 Paul Darmstädter
der auf andere abgesandte Pfeil prallte schließlich auf den
Schützen zurück. Frankreich war für seine wichtigsten Indu-
xtrien auf den Export angewiesen, und gerade die Bewohner
der Vasallenstaaten waren die besten Abnehmer französischer
Erzeugnisse’). Bei Berücksichtigung dieser Tatsache muß die
napoleonische Handelspolitik in ganz anderem Lichte erschei-
nen. Mit vollem Recht wies eine Eingabe der Schweizer
darauf hin, daß die wirtschaftliche Schwächung eines Abnehmer:
nicht im Interesse des Verkäufers gelegen sei. „Die Prosperität
der Schweiz, so schrieben sie, sei auch für Frankreich von
Vorteil, da die Schweiz tausenderlei Waren von Frankreich
kaufe. Wenn aber die Schweiz durch die französische Handels-
politik ausgesogen sei, werde sie auch nichts mehr von Frank-
reich kaufen können?“ Aber diese einfache volkswirtschaft-
liche Weisheit, die natürlich auch für die Beziehungen Frank-
reichs zu Holland, Deutschland und Italien zutraf, fand keine
Beachtung.
Und doch hätten außer wirtschaftlichen auch politische Er-
wägungen zu einer Änderung der Handelspolitik führen müssen.
Frankreich war in seinem Kampfe gegen England, für die Durch-
führung der Kontinentalsperre auf den guten Willen der anderen
Festlandsstaaten angewiesen. Konnte man diesen guten Willen
aber von Leuten voraussetzen, die täglich durch die französische
Politik empfindlich geschädigt wurden? Einsichtige Beurteiler
haben wiederholt betont, daß die Kontinentalsperre auch für die
anderen Staaten von Vorteil sein könnte, wenn Frankreich sein
zollpolitisches System ändere und mit den verbündeten Staaten
eine enge handelspolitische Freundschaft schliesse. Nur bei
wirklichem Freihandel auf dem Festlande, der Öffnung der Grenzen
des Kaiserreichs für die Erzeugnisse der verbündeten Staaten,
bei allgemeiner Beteiligung aller Völker am gemeinsamen Gewinn
sei an das Gelingen der Absperrung des Festlands gegen Eng-
1) Vgl. darüber namentlich Öchsıı, Schweizer Geschichte im 19. Jahr-
hundert S. 520 ff. 644 ff. 579 ff. Sehr groß war auch der Schaden für Tirol
durch das Stocken des Verkehrs von Deutschland nach Italien, wie die Akten
des Münchner Kreisarchivs zeigen. Vgl. auch meinen ersten Aufsatz S. 599 ff.
2) Arch. nat. F 12,521.
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 139
land zu denken’). So aber, wie die Dinge lagen, mußten die
Verbündeten sich sagen, daß sie nur Nachteile von der Konti-
nentalsperre hatten, und alle noch so schönen Proklamationen
von der gemeinsamen Bekämpfung des treulosen Albion durch
die vereinte Macht des Kontinents konnten nicht darüber hinweg-
täuschen, daß der Kampf außer dem politischen auch das wirt-
schaftliche Übergewicht Frankreichs zum Ziele habe. Die Ver-
drängung englischer Waren durch deutsche in Deutschland, durch
italienische in Italien wäre vielleicht nicht unpopulär gewesen;
aber wer konnte ein Interesse daran haben, anstatt guter und
billiger Baumwollstoffe aus Manchester teure und schlechte aus
Rouen zu tragen?
Das handelspolitische System Napoleons war auf die Dauer
ebensowenig haltbar, wie sein politisches System. Wie dies auf
der finanziellen und militärischen, so beruhte jenes auf der wirt-
wchaftlichen Aussaugung der dem französischen Einfluß unter-
worfenen Festlandsstaaten zugunsten Frankreichs. Sie sollten
französische Produkte, ja womöglich nur französische Erzeugnisse
kaufen, während Frankreich sich selbst und Italien gegen fremde
Produkte absperrte. Durch diese Politik wurde die wirtschaftliche
Kraft der Verbündeten geschwächt, und der französische Export
mußte schließlich durch eben die Maßregeln leiden, die ihn
fordern sollten. Ferner wurde durch den grenzenlosen wirt-
schaftspolitischen Egoismus Frankreichs der Erfolg des wirt-
schaftlichen Kampfes gegen England in Frage gestellt und
schließlich auch das politisch-militärische Übergewicht. Frankreichs
bedroht.
Es drängt sich am Schlusse noch die Frage auf, welche Motive
den Kaiser dazu bestimmt haben, das Prohibitionssystem anzu-
1) Diese Ideen entwickelt z. B. der vom Kaiser 1811 nach der Schweiz
and Italien in kommerzieller Mission entsandte Catineau la Roche (Arch.
nat. F 12,536). Ebenso ein anonymes Memoire (F 12,643): „Convient-il
qu'entre des états aussi étroitement unis il y ait une double ligne de dou-
anes, qui entrave leurs relations et divise leurs interêts, et ne vaudrait il
pas mieux qu’une seule enceinte les protégeant tous également contre la
“oncurrence étrangère permit dans l'intérieur même du territoire commun
la libre circulation des productions du sol et de l’industrie?“ Vgl. auch
KERSELHAUH, Die Kontinentalsperre S. 119.
140 Paul Darmstädter
nehmen, und dann bei der einmal von ihm angenommenen
Handelspolitik zu beharren.
Wie in so vielen anderen Punkten hat Napoleon auch in der
Handelspolitik an die altfranzösischen Traditionen angeknüpft;
ja streng genommen ist er nur in die Fußtapfen des Direktoriums
getreten, das durch das Dekret vom 10. Brumaire V bereits das
Prohibitionssystem angenommen hatte. Der Kaiser hat es schon
fertig vorgefunden und nur noch weiter ausgestaltet.
Das Hauptmotiv, das ihn dabei leitete, ist stets die Feind-
schaft gegen die englischen Waren gewesen. Auch durch die
Mafregeln gegen ganze Warenkategorien und gegen die Erzeug-
nisse der verbündeten Staaten glaubte er doch in erster Linie
den verhaßten Erbfeind zu treffen. Er war der nicht ganz der
Berechtigung entbehrenden Meinung, daß die Engländer alle
Mittel benützten und vielfach unter falscher Flagge ihre Erzeug-
nisse ins Kaiserreich einschmuggelten. Das radikale Verbot aller
Einfuhr schien so das einzige sichere Mittel zu sein, um den Im-
port englischer Erzeugnisse zu verhindern. Dann läßt sich nicht
verkennen, daß das strenge Schutzzollsystem mit der Staatsauf-
fassung des Absolutismus der napoleonischen Zeit in enger
Wechselwirkung steht. Die Regelung der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse, wie sie dem Kaiser als notwendige Aufgabe des Staates
vorschwebte, ließ sich nur bei einem protektionistischen System
durchsetzen. Die Idee des geschlossenen Handelsstaats ist die
Konsequenz der äußersten Konzentration aller Mittel des Staates
zu einem Zweck, wie sie die napoleonische Monarchie ver-
wirklichte.
Ferner muß man auch erwägen, daß dieser napoleonische
Staat ein sehr großes Territorium umfaßte. Von einem Reich,
das von Lübeck bis Rom reichte, mochte man annehmen, daß
es imstande wäre, sich selbst zu genügen. Und der freie, von
allen Binnenzöllen ungehinderte Verkehr in diesem Gebiet war
in einer Zeit, in der man in anderen Ländern jede Wegstunde
auf einen Schlagbaum stieß, eine gewaltige Neuerung. Wenn
einige weitblickende Männer die Ausdehnung des französischen
Wirtschaftsgebiets auf alle verbündeten Staaten oder gar auf
ganz Europa verlangten, so war dies gewiß ein großartiger Ge-
Studien zur napoleonischen Wirtschaftspolitik. 141
danke, aber es fragt sich, ob er durchführbar gewesen wäre,
und bei einer Öffnung der Grenzen des Kaiserreichs zugunsten
der Erzeugnisse der verbündeten Staaten waltete stets die Be-
sorgnis ob, diese würden nicht die entsprechenden Maßnahmen
treffen, um den Engländern den Import zu verwehren.
Endlich darf man nicht außer acht lassen, daß die französischen
Fabrikanten die kaiserliche Politik unterstützten; die berufenen
Vertreter der französischen Industrie, die Handelskammern und
der Conseil general des manufactures traten nicht nur für alle
vom Kaiser angeordneten Einfuhrbeschränkungen und Verbote
ein (freilich nur, soweit sie Fabrikate betrafen), sondern suchten
sie mitunter noch zu übertrumpfen.
Es sind also gewichtige Gründe der inneren und auswärtigen
Politik, welche die Handelspolitik Napoleons bestimmt haben.
Daß diese die Erbitterung der Völker gegen den Kaiser mit ver-
ursacht und zu seinem Sturze wesentlich mit beigetragen hat, ist
zweifellos. Es mußte aber darauf hingewiesen werden, daß auch
eine anders geartete Handelspolitik mit großen Schwierigkeiten
hätte kämpfen müssen; denn der Beweis, daß das nationale
Interesse nicht notwendig in der vollen Ausnützung der Über-
legenheit einer Nation besteht, wird einem siegreichen Volke
schwer einleuchten, und es lag nicht in der Natur eines Napoleon,
diesen Beweis zu führen.
Miszellen.
Zur Entstehungsgeschichte der Acta Borussica.
Von
G. v. Below (Tübingen).
Die Redaktion der „Zeitsehrift für Social- und Wirtschaftsgeschiehte“
hat mir vor langer Zeit das Referat über die beiden ersten Bände der
Abteilung „Behördenorganisation und allgemeine Staatsverwaltung“ der
„Acta Borussica“ („Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im
18. Jahrhundert, herausgegeben von der Kgl. Akademie der Wissen-
schaften. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsvorwal-
tung Preußens im 18. Jahrhundert.“ Erter Band. Akten von 1701
bis Ende Juni 1714, bearbeitet von G. SCHMOLLER und O. KRAUSER.
Mit einer Einleitung über Behördenorganisation, Amtswesen und Be
amtentum von G. SCHMOLLER. Zweiter Band. Akten vom Juli 1714
bis Ende 1717, bearbeitet von G. SCHMOLLER, O. KRAUSKE und
V. Löwe. Berlin, Verlagsbuchhandlung Paul Parey, 1894 und 1898)
übertragen. Leider habe ich, durch andere Verpflichtungen gebunden,
dem damals mir gewordenen Auftrag in der Zwischenzeit nicht nach-
kommen können. Jetzt noch ein Referat nachzuholen, scheint mir nicht
angebracht zu sein, nachdem schon von anderen Seiten in ausreichender
Weise auf die Wichtigkeit der Publikation hingewiesen worden ist.
Dagegen möchte ich hier eine einzelne Frage erürtern, die nicht bloß
für die Acta Borussica von Bedeutung, sondern von allgemeinem Inter-
esse ist. Ich suche im folgenden festzustellen, wen wir als den
geistigen Urheber dieser Edition anzusehen haben. Eine solche Frage
hat heute erhöhte Bedeutung, da sich täglich die Veröffentlichungen
mehren, die von gelehrten Körperschaften ausgehen und an denen eine
Mehrzahl von Autoren beteiligt ist. Mich interessiert die Frage zu-
nächst vom rein historiographischen Standpunkt aus (als eine kleine
Vorfrage betreffs der von mir geplanten Darstellung der Geschichte
der deutschen wirtschaftsgeschichtlichen Literatur)!), Aber es lockt
mich zugleich, hier einen bescheidenen Beitrag zu dem Problem der
Feststellung des geistigen Eigentums im allgemeinen zu liefern.
SCHMOLLER selbst hat sich mehrfach (z. B. in Bd. I seiner „All-
1) Vgl. Zeitschr. für Sozialwissenschaft 1904, S. 145.
-
..n
°
.
.
G. v. Below: Zur Entstehungsgeschichte der Acta Borussica. 143
“emeinen Volkswirtschaftslehre“) als den geistigen Urheber der Acta
Borussica schlechthin bezeichnet, und andere sind ihm darin ge-
folgt. Er kann sich für dies Verfahren auf das Beispiel anderer
Leiter derartiger gemeinschaftlicher Unternehmungen vielleicht be-
rufen. Wir wollen deshalb im folgenden die Frage, ob ihn irgend-
ein Tadel ftir die Beanspruchung der Autorschaft treffen könnte, voll-
kommen ausscheiden und ganz objektiv das Verhältnis zu ermitteln
suchen.
Eine Anregung zu solchen Veröffentlichungen, wie wir sie jetzt in
den Acta Borussica haben, hat schon RANKE gegeben (vgl. seine
„Zwölf Bücher preußischer Geschichte“, 3. und 4. Bd. S. 167; „Ur-
sprung und Beginn der Revolutionskriege,“ 2. Aufl., S. 261). In dem
Vorwort zum 1. Bande der Acta Borussica („Die preußische Seiden-
industrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich
den Großen“) S. V wird auch auf dahin gehörige Aeußerungen RANKES
hingewiesen. Nach ihm haben andere preußische Historiker, ins-
besondere ERDMANNSDÖRFFER !), die Notwendigkeit verwaltungsgeschicht-
licher Studien betont. SCHMOLLER hat sich dann gewissermaßen be-
rufsmäßig ihnen gewidmet. Ueber die Vorgeschichte der Acta Borussica
speziell berichtet jenes Vorwort folgendes. Im Frühjahr 1887 bean-
tragten die Mitglieder der Berliner Akademie H. v. SYBEL, SCHMOLLER
nnd LEHMANN „auf Anregung des erstgenannten“ als Ergänzung der
politischen Korrespondenz Friedrichs des Großen?) eine umfassende
Publikation über die innere Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahr-
hundert. Das Plenum der Akademie gab dem Antrag Folge. Es wurde
für die Edition eine Kommission gebildet, in die die oben genannten
drei eintraten, SYBEL als Vorsitzender, SCHMOLLER als der, dem „die
übrige geschäftliche und wissenschaftliche Leitung und der regelmäßige
Verkehr mit den Mitarbeitern übertragen wurde“.
Wie man aus dem bisherigen ersieht, kann SCHMOLLER nicht 80
ohne weiteres das Verdienst zugesprochen werden, die Acta Borussica
veranlaßt zu haben. Er ist dann immerhin zum Leiter des Unter-
nehmens bestellt worden. Nun werden zu Leitern in der Regel solche
Autoren gewählt, die durch eigene Editionen auf dem betreffenden oder
einem verwandten Gebiet den Mitarbeitern ein Vorbild geben können;
oft solche, die die betreffende Editionsspecies begründet haben. Es
sei nur an PERTZ und WAITZ in ibrem Verhältnis zu den Monumenta,
an WEIZSÄCKER als Leiter der Reichstagsakten, an HEGEL als Leiter
der Chroniken der deutschen Städte erinnert; hier hatte der Leiter
stets durch eigene Ausgaben das Muster geliefert. SCHMOLLER befand
sich nicht in solcher Lage; er hatte überhaupt kaum eine Edition her-
1) ERPMANNSDORFFER, Graf G. F. von Waldeck (1869), S. IX, nennt
„eine quellenmäßige Geschichte des preußischen Beamtentums“ eine Arbeit,
„deren wir so sehr bedürfen“.
2) Es mag hier darauf hingewiesen werden, daß die Edition der Acta
Borussica in gewissem Sinne eine konsequente Weiterentwicklung älterer Ar-
beiten der Akademie darstellt. Vgl. das von DROYSEN, DUNCKER und SYBEI.
unterzeichnete Vorwort zum ersten Bande der „Politischen Korrespondenz
Friedrichs des Großen“ (1879), S. X.
144 G. v. Below: Miszelle.
gestellt, am wenigsten eine, die hier als Vorbild dienen konnte‘).
Damit soll selbstverständlich seine Wahl nicht -getadelt werden: er
qualifizierte sich durch seine eingehende Beschäftigung mit dem Stoff
zum Leiter. Aber es ist zu konstatieren, daß die Mitarbeiter, die er
jetzt fand, sich nicht nach seinem Vorbild richten konnten, sondern
zu anderen Mustern ihre Hilfe nehmen mußten. Die Vorrede zum
ersten Bande der Acta Borussica (S. XXI) spricht von „eingehenden
Verhandlungen der Beteiligten“: SyBEL und LEHMANN werden also
auch ihre Ansichten über die Art der Edition zur Geltung gebracht
haben. Weiter (S. XXII) heißt er, daß man sich die Edition der
„Politischen Korrespondenz Friedrichs des Großen“ ?) zum Muster ge-
nommen hat. Das Programm für die letztere haben DROYSEN, DUNCKER
und SYBEL entworfen; der Editor der ersten Bände war KOsER. Wir
werden also diesen einen indirekten Anteil an der Ausgabe der Acta
Borussica zuzumessen haben. Es handelt sich hier teilweise um Dinge,
die dem Laien geringfügig zu sein scheinen, die tatsächlich jedoch
keineswegs unwichtig sind. Nun hatte SCHMOLLER für seine Abhand-
lungen über preußische Verwaltungsgeschichte schon viel archivalisches
Material gesammelt, und er hat dies dann für die Acta Borussica zur
Verfügung gestellt (S. XVIII). Natürlich sichert ihm dies einen ge-
wissen Anteil an ihnen. Indessen, ganz abgesehen davon, daß es noch
nichts vollständiges war, so liegt die entscheidende Arbeit doch in der
Zubereitung des Materials, bei Editionen zur neueren Geschichte, bei
dem unermeßlichen Quellenstoff, den sie bietet, namentlich auch in der
Sichtung der Akten, der Aussonderung des Wichtigen. Diese Arbeit
hat bei den ersten Bänden der Acta Borussica HINTZE getan. Die
Vorrede sagt ausdrücklich (8. XXIII): „die ganze Detailausführung
und Fertigstellung . . . stammt von Dr. HINTZE“*). Hierbei verdient
es Erwähnung, daß dieser Schüler WEIZSÂCKERS, eines Meisters der
Edition, ist. Immerhin mag SCHMOLLER als von der Akademie be-
1) Wie verbreitet die Anschauung, daß SCHMOLLER im vollen Sinn der
Urbeber der Acta Borussica sei, ist, dafür liefert ein bezeichnendes Beispiel
GOTHEIN, ein ganz unbefangener Autor, der von den bewährten Editions-
grundsätzen SCHMOLLERS, die im ersten Band der Acta Borussica zur Anwen-
dung gekommen seien, spricht (Annalen des histor. Vereins für den Nieder-
rhein 58, S. 198). Wo hat SCHMOLLER denn „bewährte Editionsgrundsätze“
dargelegt, bezw. angewandt? Die urkundlichen Beilagen, die seine Schrift
„Straßburg zur Zeit der Zunftkämpfe“ enthält, sind nicht besonders gut
ediert (s. Zeitschr. für Sozialwissenschaft 1904, S. 318). Bei der Edition der
Urkunden ferner, die der „Straßburger Tucher- und Weberzunft“ beigegeben
sind, hat die Hauptarbeit StırpAa getan (s. das Vorwort dazu S. VII ff.); über-
dies wurden darin die Grundsätze WEIZsÄCKERs akzeptiert (S. VII).
2) Vgl. S. XXII des ersten Bandes der Acta Borrussica mit S. XVI des
ersten Bandes der Polit. Korr. Wenn an ersterer Stelle fortgefahren wird:
„der wörtliche Abdruck und die auszugsweisen Mitteilungen sind durch
größere und kleinere Schrift im Druck unterschieden,“ so war auch dies
keine Neuerung.
3) Ebenso heißt es in der Vorrede (S. 11) des ersten Bandes der Ab-
teilung über die Behördenorganisation: „Die Einzelredaktion ist durchaus das
Werk und das Verdienst von Dr. KRAUSKE.“
Zur Entstehungsgeschichte der Acta Borussica. 145
stellter formeller Leiter des Unternehmens ihm wertvolle Dienste ge-
leistet haben. Aber so viel ist klar, daß er ganz und gar nicht als
geistiger Urheber der Acta Borussica schlechthin bezeichnet werden
darf; er hat wohl sogar einen geringeren Anteil an ihnen als die
meisten Leiter an ähnlichen Unternehmungen !).
1) Ich benutze die Gelegenheit, um hier noch auf eine weitere Über-
schätzung der Verdienste SCHMOLLERS hinzuweisen. W. NAUDÉ setzt in seiner
Abhandlung „STADELMANNs Publikation über die Tätigkeit der preußischen
Könige für die Landeskultur“, Forschungen zur brandenburg. und preuß.
Geschichte 15, S. 1 ff., eingehend auseinander, daß diese Publikation einen
durchaus unwissenschaftlichen Charakter hat. Er konstatiert mit Befremden,
daß SYBEL STADELMANN die Edition habe übertragen können und daß mehrere
Historiker, z. B. BAILLEU (Deutsche Rundschau 19, S. 824), die Publikation
sehr gelobt haben. Nach seiner Meinung ist das nur möglich gewesen, weil
diese Autoren noch nicht den Einfluß SCHMOLLERS erfahren haben. Seit ihm
sei so etwas nicht mehr möglich. „Es ist ganz wesentlich durch SCHMOLLERS
Verdienst ein Wandel eingetreten: ganze Generationen [!] von Studierenden
haben durch ihn Richtung, Anregung und Methode zu wissenschaftlicher Ar-
beit empfangen, und heute mangeln nicht die Historiker, die mit genügender
staatswissenschaftlich-juristischer Bildung historische Kritik nnd methodische
Schulung verbinden.“ Ich sehe nun die Kritik, die NAUDÉ an STADELMANNS
Publikation übt, als sehr dankenswert an. Aber als Historiograph der
deutschen Wirtschaftsgeschichte fühle ich mich veranlaßt, gegen die falsche
Abgrenzung der Verdienstanteile, die er vornimmt, den entschiedensten Protest
einzulegen. SCHMOLLER hat nämlich nicht nur nichts getan, um auf die
Fehler STADELMANNs den Blick zu lenken, sondern er ist zweifellos in erster
Linie dafür verantwortlich zu machen, daß dessen Publikation trotz ihrer
schon vor langer Zeit festgestellten Mängel bisher noch immer in weiten
Kreisen als eine vortreffliche Arbeit angesehen wurde. Am Schluß seiner
Abhandlung muß NAUDÉ selbst schon in einem Nachtrag zugeben, daB be-
reits 1892 GOTHEIN gegen STADELMANN folgende Vorwürfe erhoben hat:
„dilettantische Art der Quellenbenützung, Mangel an Kritik, panegyrische
Tendenz, Auswahl einiger Aktenstücke aufs Geratewohl.“ Ferner kann er
nicht umhin, anzudeuten, verschleiert es nur leider sehr (vgl. S. 2), daß
G. F.Kxapr im Jahre 1891 (Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit S. 89)
die unbefriedigende Art der Publikation STADELMANNs hervorgehoben hat.
Derselbe hat das meiste von dem, was NAUDE jetzt im einzelnen feststellt,
schon gesagt. Die Mängel waren nun offen dargelegt. NAUDE brauchte
Kxıarpe Sätze nur zu erweitern. Aber man hat auf Fehler STADELMANNS
auch schon viel früher hingewiesen. POSNER, der, soweit es sich um die neuere
Geschichte handelt, Schüler SYBELS war, hat bereits im Jahre 1880 vieles von
dem, was jetzt NAUDE moniert, an der Publikation getadelt (Hist. Zeitschr. 44,
S. 520 f.): „Leider lassen sich gegen Anordnung und Genauigkeit der mit-
geteilten Dokumente . . . mancherlei Bedenken nicht unterdrücken . .. Vor
allem die Genauigkeit in Lesung und Abdruck der Dokumente läßt gar viel
zu wünschen übrig... Das Auffälligste an Flüchtigkeit aber ist geleistet“
u.8. w. Umgekehrt hat STIEDA, der zu den Schülern SCHMOLLERS zu rech-
nen ist, von den „allgemein geschätzten wertvollen Untersuchungen“ STADEI-
MANNS, von seiner „Umsicht“ in der „Gruppierung und Bearbeitung des
Stoffes“ gesprochen (Hist. Zeitschr. 57, 8. 102). SCHMOoLLER selbst benützt
STADELMANNS Arbeiten ganz anstandslos; s. z. B. Jahrbuch für Gesetz-
gebung 1884, S. 1014, Umrisse und Untersuchungen S. 587 und 627. Nur
einmal finde ich bei ihm eine einzelne gegen STADELMANN gerichtete Be-
merkung (Umrisse S. 608 Anm. 1). Wo sich ihm Gelegenheit bot, ein auf-
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 10
146 G. v. Below: Miszelle.
klärendes Urteil über dessen Publikation zu fällen, hat er cs nicht getan
(Jahrbuch 1886, S. 570 ff.; 1888, S. 646). Ja, er hat ihr sogar ein ofüzielles
Lob erteilt. NAUDÉ (S. 30) äußert seine Entrüstung darüber, daß „die epoche-
machenden Forschungen SCHMOLLERs und die dilettantischen und verfehl-
ten Bände STADELMANNS“ im DAHLMANN-WAITZ auf eine Linie gestellt
werden. Nun, in dem von SCHMOLLER mitunterzeichneten Vorwort (5. XI:
zum ersten Bande der Acta Borussica werden STADELMANXS Bände nicht bloß
mit KnArps, sondern auch mit — SCHMOLLERs eigenen Arbeiten auf eine
Linie gestellt! Es wird erklärt, die Akademie wolle mehrere Themata einst-
weilen aus ihrem Programm ausscheiden, weil darüber „schon brauchbare
Arbeiten vorhanden sind“: so die von STADELMANN, Knarr, LEHMANN,
SCHMOLLER U. 8. w. Wenn NAUDE von dem Einfluß SCHMOLLERS eine neue
Ara wissenschaftlicher Arbeit datiert, so müssen wir ferner geltendmachen,
daß STADELMANN selbst und diejenigen, die ihn lobten, schon die Arbeiten
SCHMOLLERS gekannt und mit größter Anerkennung genannt, also sich doch
wohl seinem Einfluß geöffnet haben. Vgl. STADELMANX, Friedrich Wilhelm I
in seiner Tätigkeit für die Landeskultur Preußens S. VI; BAınL.LEv, Deutsche
Rundschau 19 (1879), S. 324 f. Es ist aber auch an die vorhin (S. 148 f.) fest-
gestellte Tatsache zu erinnern, daß SCHMOLLER nie ein Vorbild der Edition
gegeben hat. Einige unter seinem Einfluß stehende Autoren haben sogar
unbefriedigende Editionen geliefert (vgl. Liter. Zentralblatt 1886, Sp. 1076 f£.;
Zeitschr. für Sozialwissenschaft 1904, S. 323). Ein besonders scharfer Gegen-
satz zwischen seiner und STADELMANNS Art läßt sich keineswegs beobachten.
Wenn GOTHEIN STADELMANN wegen seiner „panegyrischen Tendenz* tadelt,
80 ist SCHMOLLER zwar nicht Panegyriker, aber, wie derselbe GOTHEIN her-
vorgehoben hat, wenigstens Apologet. Er wird STADELMANNs Übertreibungen
kaum als solche empfunden haben. Beide huldigen der „biographischen“
Auffassung (ich gebrauche diesen Ausdruck im Anschluß an Knarr, a. a. O.).
Allerdings besitzt ja SCHMOLLER viel mehr Sachkenntnis als STADELMANN
und hat sich nie solcher Schnitzer wie dieser schuldig gemacht. Ob er in-
dessen als ein Autor von ganz hervorragender Akribie (wie ihn NAUDE offen-
bar hinstellen will) gelten kann und ob er besonders strenge wissenschaftliche
Anforderungen stellt, darüber zu urteilen liegt genügendes Material vor, das
ich hier nicht auszubreiten brauche (vgl. z. B. Zeitschr. für Sozialwissenschaft
1904, S. 160 ff. und S. 794 ff... Hiernach werden wir unsere Erörterungen
zu folgendem Urteil zusammenzufassen haben : die bedauerliche Überschätzung
und die zu vertrauensvolle Verwertung der Publikationen STADELMANNS
hätten nicht stattgefunden, wenn man die kritischen Stimmen PosxERs,
Knapps und GOTHEINS beachtet hätte; daß man diese im wesentlichen un-
beachtet ließ, dafür trägt ohne Zweifel in erster Linie SCHMOLLER, dem
man die Führerstellung auf dem Gebiet der preußischen Verwaltungsgeschichte
zuschreibt, die Verantwortung, indem er die Schwächen der Publikationen
STADELMANNS aufzudecken unterließ, bezw. nicht vermochte, ja vielmehr
ihre Brauchbarkeit hervorhob. Von Interesse wäre es noch zu erfahren.
auf wessen Rat SYBEL seinerzeit STADELMANXN die Edition übertragen hat.
Vielleicht geben darüber die Akten der preußischen Archivverwaltung Aus-
kunft. Eine Vermutung liegt nahe.
G: Salvioli: Per la storia della proprietà in Italia. 147
Per la storia della proprietà in Italia
di
G. Salvioli (Napoli).
1.
Nell’ Archivio comunale di Modena si conservano i Catasti fondiari
del secolo XVI ordinati dagli Estensi per l’applicazione dell’ imposta
prediale. I più antico & del 1546, ed ha il titolo di Campione
delle terre del distretto di Modena. Quelli compilati nel 1258,
1262, 1287 secondo quanto dicono gli Annales veteres!) e gli
Statuti del 1327,?) sono andati perduti. Il Campione del 1546, come
l'aitro del 1583 intitolato Campione rusticale, contiene l’elenco
dei proprietari di terre, distribuiti per ville, l’estensione in biolche
(bibulca—Ettare 0,28.36) della terra da ciascuno posseduta, coll’
indicazione dei confini, del valore, del genere delle culture e dell’ im-
posta onde & gravata. Il territorio di ogni villa & diviso in cittadino
e contadino, secondo che le terre apparteugono a rurali che le coltivano
direttamente a conto proprio, o a cittadini che le tengono a boaria 0
a mezzadria.. E questa una distinzione antica che trovasi già negli
Statuti del 1327: dicevansi proprietari del eittadino gli iscritti fra i
dttadini, quelli che godendo i diritti di cittadinanza, avevano il voto e
potevano essere eletti a pubblici uffici. Nel catasto sono soltanto
elencate le terre sottoposte al pagamento dei tributi, restando quindi
escluse quelle del duca, del Comune che aveva anche allora importanti
possessi, dei nobili, del clero e degli enti ecclesiastici. Perciö solo
una parte relativamente piccola era censita, e precisamente la proprietä
allodiale non sottoposta a vincoli e nemmeno a privilegi, quella che
era nelle mani dei rustici e dei semplici cittadini che pagavano imposta,
quantunque qualche volta il catasto li gratifichi dei titoli di ser e di
magnifico. Il numero totale degli iscritti nel Campione & di 520 sopra
un territorio di circa 20 mille ettare, quanta era la superficie delle
ville comprese nel catasto.
Ora la particolarit che presentano questi 520 proprietarii, & la
piocolezza dei loro possessi. La terra appare straordinariamente
frazionata: molti posseggono poche are, i piu poche biolche, rari quelli
ehe hanno oltre 40 biolche (= Ett. 11,34). E nessuno possiede la sua
terra, grande o piccola che sia, in unico corpo, ma il possesso di
cisscuno € rappresentato da molti piccoli appezzamenti tutti piccolissimi,
disseminati nella villa, separati da fondi intermedi, appartenenti ad
altri. Si vede che per quanto antico e sempre in uso fosse a Modena
l'istituto degli Ingrossatori?) incaricati di promuovere le permute, con
facoltä di procedere a vendite forzose se il tratto di terra coltiva fosse
1) MURATORI, Rerum ital. Script. XI ad h. a.
2) Ed. Camport nei Mon. storici delle provincie mod. e par-
mensi.
3) MURATORI, Antiq. italicae II 238.
148 G. Salvioli: Miszelle.
maggiore di 1 iugero o di 2 se a bosco'), non potevan le leggi nei
magistrati impedire ciö che era la conseguenza delle divisioni ereditarie,
delle costituzioni di dote, ecc. Nei Memoriali notarili, che in copia
straordinaria conservansi nell’ Arch. notarile, dal sec. XIII, trovansi
numerosissime le permute, molte delle quali, come attesta il notaio,
avvengono ad istigazione degli Ingrossatori.
Non ostante cio, la terra si mantiene frazionata in piccole quote e
i possessi sparpagliati, cosi che quasi tutti hanno tre o quattro appez-
zamenti in una villa e altri in altre, e i piu rilevanti possessi sono
costituiti da 15 o 20 appezzamenti qua e là sparsi con grande danno
dell’ agricoltura. Questo fatto serve a spiegare la mancanza di bestiame
bovino quale si desume dagli Statuti del 1324 (lib. III rubr. XXXIX).
Le piccole quote eran sfornite degli animali necessari alla cultura, che
si faceva o con animali posseduti da consorzi di vicini o presi in fitto;
cosiche i lavori riescivan sempre superficiali e affrettati, e poi manca-
vano le concimazioni. Da ciö si comprende come, pur essendo scarsa
la popolazione, restando la terra semi incolta per impotenza degli uomini,
le campagne si alimentassero con grani scadenti, l’orzo e la spelta,
e si frequenti fossero le carestie.
Per dare un’ idea della distribuzione della proprietà secondo il
Catasto del 1546, scegliamo la Villa di Collegara con una superficie
di circa 2000 Ett. per quanto si pud desumere dalle Carte dello Stato
maggiore. Detta villa figura in catasto con 44 proprietari, per biolche
654 — Ett. 237, ossia una media di Ett. 4,50 per ciascuno, cosiche
oltre ‘/s della superficie non sono catastate nd gravate d’imposta.
La villa di Portile di circa 1000 Ett. figura con 25 proprietari per
biolche 400 = Ett. 112. Parecchi non hanno più di una biolca, e
i possessi maggiori (della famiglia Crespolano) sono cosi costituiti:
1° possesso composto di 8 appezzamenti di biolche 1 + 1 + 2 +5
+ 5 + 5 + 7 + tavole 45; 2° appezzamenti 14 per biolche 23;
3° appezzamenti 16 per biolche 112. Nella villa di Panzano vi & un
proprietario di 27 piccoli lotti, un altro di 35, un terzo di 50 formanti
una proprietä di biolche 62 = Ett. 17.58. Questo è lo stato normale
di tutta la proprietà catastata, tanto pel cittadino che pel contadino.
Risalendo agli atti notarili del secolo XIII al XV, conservati a
migliaia nell’ Archivio notarile, vediamo nei testamenti, inventari, vendite,
permute predominare non solo la piccola ma la piccoliseima proprietä
anche in una misura inferiore a quella rivelata dal Catasto del 1546.
Tale esistenza di piccoli possessi nel territorio modenese è un fatto
antichissimo, perche giä nelle carte dell’ alto medio evo essi compaiono
non solo attorno alla cittä, ma framezzo alle grandi corti imperiali?),
ai grandi dominii che nel Modenese avevano le chiese di Modena,
1) Statuti di Modena del 1327 ed. Camrorı pref. c. 12.
2) CorTE di Ganaceto: an. 1025 MURATORI, Antig. ital. I 1021.
In. di Bajoaria: an. 970 id. „ „ 116.
Iv. di Solara: an. 1029 id. V 191.
Cfr. Muratorı, Ant.est. 199: TrraBoscHı Mem. moden. I 128; II 186,
27, 38.
Per la storia della proprietà in Italia. 149
Bologna, Reggio, Parma'), il monastero di Nonantola?), ecc. La parte
del territorio non costituita in grandi possessi, molti dei quali fecero
poi parte del patrimonio matildico®), era frazionata in piccole quote.
Cunegonda moglie a re Bernardo fondando un monastero a Reggio, gli
don terre che aveva comprato qua e là nel Modenese da diverse
persone; e nomina 18 piccoli appezzamenti, e altri ne acquistö l’abbate
desingulis hominibust). Una carta di Modena del 816 menziona
8 petiolae di terra da 1 modio e altre di pochi sestari5). Di tali
petiolae & frequente la menzione nelle carte del IX secolo®). Fondi
da 1 a 7 iugeri hanno il titolo di curtes’), e le grandi corti sono
æcompagnate da numerose piccole sortes autonome e coltivate da
massari“). Al secolo X si hanno enfiteusi di 1 jugero, 1 sestario,
Ttavole e 1 piede?), di 4 sestari, 4 tavole e 5 piedi!”) e numerose di
piccolissime quote'!!). Anche allora i proprietari avevano le loro terre
sparse in molti luoghi!?).
Crebbe poi questa piccola proprietä nell’ epoca comunale quando
fa ai livellari di terre ecclesiastiche accordato il diritto di affrancare
le enfiteusi. In questo senso ebbero grande importanza prima una
legge del 1221, poi il trattato stipulato col vescvo Guglielmo nel 1227.
Colla prima legge dichiaravansi libero allodio le terre e case in Modena
e nel circondario per 10 miglia all’ intorno, quando fossero passate al
direttario 3 lire modenesi per ogni sestario di frumento o meno se il
tributo era in derrate. Detta legge voleva che se il canone fosse in
moneta rimanesse l’obbligo di contribuire in perpetuo un denaro per
ogni rata del canone stesso. Coltrattato del 1227 si stabili l’obbligo della
affrancazione dei livelli quando si offrivano 5 soldi imperiali per ogni
denaro del canone??).
Da queste misure origin quella classe di tezolani, onde è si
spesso parola negli Statuti di Modena del 1327, che erano rustici
liberi, coltivatori di terre altrui, a mezzadria (laboratores de medio),
almeno per 12 biolche, ma distinti dagli altri rustici, perchè dovevano
possedere in proprio alcun pö di terre, almeno 4 biolche se del contado,
o un jugero se forestieri. I loro diritti e privilegi erano condizionati
1) Tacout, Memoriestoriche diReggio di Lombardia IIpag. 667
an. 835: Arro Storia della città di Parma I pag. 349 an. 948: SavıoLı
Annali bolognesi I parte I" pag. 173—180.
2) TrraposcHı Storia dell’ Abbazia di Nonantola, II n. 118
an 1014.
3) OVERMANX, Die Besitzungen der Grossgräfin Matilde
ron Tuscien, 1893, pag. 12—20.
4) TACOLI, o. c. II 667 an. 836.
5) TiraposcHı, Mem. moden. In. 12 e 18.
6) In. 1 n. 35 an. 869: n. 125, 127, 130 an. 980.
7) TIRABOSCHI, Storia di Nonant. II n. 20 e 21.
8) 1v., Mem. moden. In. 52 an. 896.
9) Ip. Storia di Nonant. II n. 133 an. 1081.
10) Ip. II n. 66 an. 904.
11) In. II n. 71, 74, 76, 81, 82: an. 904—987.
12) TIRABOSCHI, Storia di Nonant. II n. 117 e 135.
13) Statati di Modena 1327 lib. III r. 70 e 71.
150 G. Salvioli: Miszelle.
a questo possesso, e li perdevano perdendo questo'). Itezolani
del 1327 sono poi i proprietari coltivatori che figurano nei catasti del
secoo XVI.
Le carte del monastero di S. Pietro di Modena e altre inedite del
secolo XIV), non che gli atti notarili mostrano la larga diffusione del
possesso fondiario, nella mani degli stessi artigiani, proprietari, nel
contado, di poche biolche: cid dava all’ economia il carattere che &
prevalente nelle economie domestiche.
In un inventario dei possessi del monastero di S. Domenico del 1450
vedesi come detto monastero avesse 60 fondi sparsi in molte ville, ma
formanti in tutto l’estensione di Ett. 127. Erano il frutto di tante
donazioni e i donanti erano piccoli proprietari?). Cosi fino al secolo
XVI è tipico il grande sminuzzamento della proprietà nel territorio
modenese. (Cid & anche confermato dal Catasto di Carpi del 1448,
nel quale sono registrati i nomi di oltre 1300 persone che posseggono
piu di undici mila appezzamentit).
Ma le relazioni fondiarie non tardarono ad alterarsi. Confrontando
il Catasto del 1546 coi posteriori del 1585, 1595, 1642, 1685, nei quali
€ dato seguire le variazioni avvenute nella distribuzione della terra,
possiamo constatare: I’ la diminuzione del numero dei proprietari:
II’ la diminuzione piu sensibile nel numero dei contadini proprietari o
possessori del rusticale: III” l’arrotondarsi delle quote in unitä agrarie
maggiori. La diminuzione si avverte già nel Campione rusticale del
1583, e si fa piu sensibile nei posteriori. La citata villa di Collegara
ha in catasto solo 500 biolche possedute da 32 persone: il che vuol
dire che 156 biolche sono passate fra le esenti d’imposta, assorbite
dal clero o dalla nobiltà. Anche diminuiti sono i proprietari, ed & da
notarsi che i 32 portano nomi diversi da quelli segnati nel catasto del
1546. La stessa famiglia (Crespolano) che aveva il piu rilevante
possesso, vi figura ma con un possesso ridotto. Nel catasto del 1642
le terre soggette a imposta sono cresciute a 1300 biolche, divise a 45
proprietari, con una media di Ettare 8 per ciascuno. Ma già si notano
possessi di biolche 80 — Ett. 22. Si osserva che le piccole quote
sparse nelle ville si sono aggregate, mercé permute e aquisti, in maggiori
unit e che sono scomparsi i minimi possessi di tavole o di una o
due biolche. Vi è solo uno che ha 2 biolche, un altro 3, un altro 4:
i possessi degli altri 42 proprietari superano le 10 biolche. Nella denunzia
del 1656 i rustici sono divenuti nulla tenenti e raramente incontrasi
ancora chi coltiva un loghetto proprio di poche are. I catasti del secolo
XVII rivelano un altro fatto, cio& il concentrarsi della proprietä, special-
mente nel Basso modenese, nelle mani della nobiltà — proprietà fatta
coll’ aggregazione di piccoli lotti acquistati, come si vede dalle denuazie;
mentre nelle montagne la terra rest frazionata, come lo è tuttora.
1) Stat. id. III r. 3. Campori, Del governo a comune in Modena
II c. XIT.
2) Archivio CAmroRr1 (presso la Bibl. Estense Modena), Atti civili y B 1, 15;
y À 2, 2-3; y I 1, 89.
8) Bibl. estense, mss. Camrorı, Memorie patrie 1881 pag. 82.
4) Presso il Comune di Carpi.
Per la storia della proprietä in Italia. 151
A parte le diverse cause economiche da cui puö essere derivato
tale concentramento, vogliamo indicare l’azione esercitata dai duchi
di Modena che favorirono l’arricchimento della nobiltà di corte e di
uffici, concedendo esenzioni dalle imposte e altri privilegi, che in gran
copia sono nell’ Arch. di Stato. Ecco, per es, un decreto del Duca Borso
del 1497 in favore del Conte Galiazzo de Canossa e un altro del duca
Ercole del 1476 per Paolo Ant. de Trotti coi quali si dà licenza di
poter acquistare qualsiasi quantitä di terra rusticale Il primo aveva
in nove anni, cioë fino al 1506 accumulate biolche 655 in 114 appez-
zamenti «terre aquistade da contadini et da citadini»: il secondo
aveva 89 petie, tutte di poche biolche. Altri doc. del. sec. XVI mostrano
come alcune famiglie della nobiltä estesero i loro possessi acquistande
«terre mere rusticali» per le quali ottenevano l’esenzione dalle imposte.
Cosi gradualmente si compi l’espropriazione dei rustici e dei piccoli
proprietari. Per mezzo dei cambi si costituirono grossi nuclei di
proprietà fondiaria, i quali anche tuttora mostrano il loro derivare da.
tanti piccoli appezzamenti coi molti numeri speciali che ogni fondo
conserva nei moderni catasti,
Per tali vie vennesi formando nel territorio di Modena l’attuale
tipo di possesso fondiario, il quale, se certamente non rappresenta la
grande proprietä, & perö diverso da quello che risulta dai Catasti di
arpi del 1448, di Modena del 1546. Non si possono fare confronti
di cifre, perché mancano in questi i dati pei beni appartenenti al clero
e alla nobiltä, che, come & detto, rappresentavano i ‘/s della superficie.
Oggi ancora la media estensione delle proprietä & nella provincia di
Modena di Ett. 6.40, e nei Comuni di Modena e Carpi di 4.60: & questa
certamente ancora la piccola proprietä: ma che vi sia stato un movi-
mento di concentrazione specialmente a danno dei rurali, una volta
proprietari di terre, per lo piu provenienti da livelli affrancati, è quello
che risulta dai documenti esaminati.
Literatur.
Russische Literatur über die Sozial- und Wirtschafts-
geschichte Ruflands in den Jahren 1900, 1901, 1902.
Mit dem vorliegenden Bericht über die Literatur zur Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte Rußlands in den Jahren 1900, 1901, 1902 be-
zwecken wir, den Fachgelehrten ein möglichst vollständiges bibliogra-
phisches Register der in den genannten Jahren erschienenen wissenschaft-
lichen Werke nebst einer kurzen Inhaltsangabe und einer knappen
kritischen Würdigung, zu liefern. Der Bericht zerfällt in 4 Teile: Der
erste ist den Quellenausgaben, der zweite dem archäologischen Material
und den archäologischen Forschungen, der dritte den geschichtlichen For-
schungen und der vierte endlich solchen populären Arbeiten gewidmet,
welche trotz ihrer gemeinverständlichen Form vermöge ihrer originellen
Ausführung und Auffassung einen wissenschaftlichen Zweck und einen
wissenschaftlichen Wert haben.
I.
Quellenausgaben.
Hier kommen in erster Linie die Arbeiten W. N. STOROZEW:
und 8. A. SCHUMAKOWS in Betracht. STOROZEW redigierte die zweite
Lieferung des ersten Bandes der „Erbregister des Rjasaner Gebietes‘
({ucuoBHA xHurı Pasanckaro xKpası), berausgegeben von der
Rjasaner wissenschaftlichen Archivkommission; SCHUMAKOW hat eine
sehr wertvolle Sammlung von Dokumenten aus dem XVI. und XVII. Jahr-
hundert unter dem Titel: „Hundertregister, Privilegien und Verzeich-
nisse“ (ÜOTHHUBI, TPAMOTBI If 3AIIMHCH) herausgegeben.
Diese Dokumente sind zunächst in den „Verhandlungen der Gesell-
schaft für Geschichte und Altertiimer Rußlands“ — die Gesellschaft
hat ihren Sitz an der Moskauer Universität — und erst dann separat
erschienen.
Die erste Lieferung des ersten Bandes der „Erbregister des Rjasaner
Gebietes“ ist schon im Jahre 1898 erschienen und enthält die Erb-
register des XVI. Jahrhunderts; die zweite Lieferung enthält die
„Hundertregister und Auszüge aus den Erbregistern des XVI. Jahr-
hunderts“ (COTHHA TPAMOTH H TIHCHOBHA BHNIHCH), das heißt Doku-
Referate. 153
mente, welche auf Grund der Erbregister der Grundbesitzer ausgestellt
worden sind und welche Auszüge aus diesen, auf die einzelnen Güter Bezug
nehmenden Erbregistern enthalten, — während sich die Erbregister des
XVIL Jahrhunderts erst im Drucke befinden. Die „Hundertregister“
und die „Auszüge“ aus der Zeit des XVI. Jahrhunderts sind schon
deswegen von großer Wichtigkeit, weil die Mehrzahl der Erbregister
aus jener Zeit verloren gegangen ist und Abrisse dieser Erbregister in
den erwähnten Dokumenten enthalten sind. Die Erbregister aus dem
XVII. Jahrlıundert sind in großer Zahl erhalten, aber größtenteils nicht
abgedruckt. Die in geringer Zalıl abgedruckten Erbregister aus dem
genannten Jahrhundert haben dank den Arbeiten STOROZEws eine sehr
wiehtige Ergänzung erhalten.
Die „Hundertregister“ von SCHUMAKOW enthalten Urkunden und
Auszüge aus den Registern derselben Art, wie sie STOROZEW heraus-
gegeben hat, nur beziehen sie sich auf andere als das Rjasaner Gebiet.
Abgesehen davon hat SCHUMAKOW in seinem Werke eine ganze Reihe
von Urkunden (TPaMOTA) über Austausch von Grund und Boden, von
Schenkungsurkunden und gerichtlichen Streitverhandlungen zwischen
den Grundbesitzern veröffentlicht. Eine Urkunde bezieht sich auf die
Geschiebte der strafrechtlichen Verfassung („Iy6HHA yuperkzeHis),
und behandelt das gerichtliche Verfahren wegen wichtiger Verbrechen
im XVL und XVII. Jahrhundert, eine zweite Urkunde bezieht sich auf
die Geschichte der Salzindustrie im Kostromaer Gebiete im XVII. Jahr-
hundert.
Im Zusammenhang mit diesem Werke steht die im Jahre 1900 in
den „Verhandlungen der Gesellschaft für Geschichte und Altertümer
Rußlands“ erschienene II. Lieferung der „Übersicht der Urkunden des
Ökonomie-Kollegiums“ (O630pb TPaMOTB KO.LIeTit 3KOHOMIH),
gleichfalls von SCHUMAKOW, welche einige Textabschriften und einen
allgemeinen Ueberblick der Beloserskschen Urkunden aus dem XIV. bis
XVII. Jahrhundert enthält. Unter der Bezeichnung „Urkunden des
Ökonomie -Kollegiums“ versteht man die umfangreiche und wert-
volle Sammlung von Urkunden, welche unter Katharina Il. nach der
Säkularisation der Kloster-, Kirchen- und bischöflichen Güter im
Jahre 1764 durch diese zur Bewirtschaftung der konfiszierten Güter be-
stellte Kollegium veranstaltet wurde. Diese Urkunden werden in dem
Moskauer Archiv des Justizministeriums aufbewahrt. Die „Übersicht“
SCHUMAKOWS gibt uns eine wissenschaftliche Darstellung des Urkunden-
wesens des alten Beloserskschen Gebietes (heute Gouvernement Nowgorod)
und eine Abschrift der wichtigsten Urkunden im Anhange, wo das
Hauptaugenmerk auf die für die Wirtschaftsgeschichte so wichtigen
Urkunden der Hundertschaften gerichtet ist.
Einen großen Wert hat ferner die Ausgabe des Gesetzentwurfes
vom Jahre 1589, des sogenannten „Gesetzbuches des Zaren Theodor
Joannowicz“ (ÜyAe6HHKPB napa Heonopa loaHHoBı ya), das übrigens
nie in Kraft getreten ist. Die Veröffeutlichung dieses „Gesetzbuches“
ist von S. K. BOGOJAWLENSKIJ besorgt worden. Es erschien zunächst
in der VII. Lieferung der „Sammlung des Moskauer Hauptarchivs des
154 Reierate.
Ministeriums des Auswärtigen“ und später in separater Ausgabe.
Dieses „Gesetzbuch“ gewährt einen Einblick in die sozialen und wirt-
schaftlichen Verhältnisse Rußlands im XVI. Jahrhundert und ist von
besonderer Wichtigkeit deswegen, weil es den Grundbesitz der Bauern
behandelt.
Sehr viel Material über die Finanz- und Wirtschaftsgeschichte des
west- und südwestlichen Rußland im XV. und XVI. Jahrhundert ist in
der von M. W. DOWNaR SAPOLSKIJ herausgegebenen I. Lieferung der „Ur-
kunden des Litauisch-russischen Reiches“ (AKTH JIHTOBCKO-PYCCKATO
TOCYAAPCTBA) zu finden. Die in dieser Sammlung abgedruckten
Dokumente sind der sogenannten Litauischen Metryk entnommen, d. i.
dem Staatsarchiv des ehemaligen Großftirstentums Litauen, das sich
gegenwärtig im Moskauer Archiv des Justizministeriums befindet. Sie
beziehen sich auf die staatlichen Ausgaben, direkte und indirekte Ein-
nahmen, Handel, Besteuerung der Gemeinden, Abgabepflicht und
Steuerleistung der einzelnen gesellschaftlichen Klassen, Grundeigentum,
Bodenpreise u. 8. w. Leider sind bei der Herausgabe dieser Doku-
mente Fehler mitunterlaufen.
Großen Wert hat ferner die erste Lieferung der „Beiträge zur Ge-
schichte der ökonomischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ver-
hältnisse des alten Kleinrußland“ von N. P. WASSYLENKO, welche unter
: dem Titel „Allgemeine Untersuchung des Grundeigentums in dem Gebiete
der Niezinskschen Garnison“ (l'enepabHoe c.TBICTBie 0 MAETHOCTAXB
© Hbörmnckaro II0JIkA) erschienen ist. Diese „Allgemeine Untersuchung“
bietet eine vollständige wirtschaftliche Beschreibung Kleinrußlands und
ist in den Jahren 1729 und 1730 behufs Ordnung der verworrenen
Grundeigentumsverhältnisse und der Annulierung der gesetzwidrigen
Bodenaueignungen zustande gekommen. WASSYLENKO hat nur einen
Teil dieser Beschreibung und zwar denjenigen, welcher sich auf die
Niezinsksche Garnison bezieht, herausgegeben, die Beschreibung der
Gebiete der anderen neun Garnisonen ist bis jetzt noch nicht ver-
öffentlicht. Von Wichtigkeit ist aber nicht nur die Beschreibung allein,
sondern auch die in ihr enthaltenen Kopien von verschiedenen Grund-
eigentumsurkunden, in welchen sich sehr wertvolle wirtschaftliche Aus-
führungen finden.
P. M. GOLOWATSCHOW hat eine Materialsammlung redigiert und
herausgegeben unter dem Titel: „Das erste Jahrhundert der Stadt
Irkutsk“ ([lepBoe croxbrie HpryTera). Hier sind viele für die
Wirtschaftsgeschichte Sibiriens im XVII. und XVIII. Jahrhundert wert-
volle Dokumente enthalten, wie z. B.: Erbregister, Verzeichnisse der
zu Dienst- und Amtsleistungen bestimmten Personen, Loohnbticher
der Bediensteten, Einnalıme- und Ausgabebücher u. 8. w. Diese
Sammlung würde eine hervorragende Bedeutung beanspruchen können,
wenn nicht zwei Lücken sich zeigten: Erstens sind nicht alle Doku-
mente vollständig (von einigen sind nur Ausztige veröffentlicht) und
zweitens — das ist die Hauptsache — sind bei der Ausgabe einiger
Dokumente schwere Fehler mituntergelaufen.
Diese letztere Bemerkung trifft in weit größerem Maße bei der
Referate. 155
Besprechung des von der Akademie der Wissenschaften herausgesebenen
III. Bandes der „Urkunden des Moskowischen Reiches“ (AKTH
\lOCKOBCKATO TOCYAAPCTBA) zu. Die ersten zwei Bände enthalten
— gleich dem dritten Bande — Ausztige aus den Dokumenten derjenigen
Zentralverwaltung des Moskowischen Reiches („Razrjadnoj Prykas“),
(PA3PAXHHË IIPHKA3P), welcher die Organisation des Militärdienstes,
die Evidenzhaltung der Dienstpflichtigen und die generelle Verwaltung
der stidlichen Grenzgebiete oblag. Die genannten ersten zwei Bände sind
unter der Redaktion des ehemaligen Leiters des Moskauer Archivs
des Justizministeriums, N. A. Popow, erschienen und bieten eine wert-
volle und sorgfältig gesichtete Sammlung historischen Materials. Dieser
Umstand bewog die Akademie der Wissenschaften, die Herausgabe des
Materials auch nach dem Tode Popows fortzusetzen, und mit der
Redaktion des Werkes wurde der Tradition gemäß der Nachfolger
im Amte, D. S. SsaMOKwASSow, betraut. Allein der dritte Band erschien
in so nachlässiger Form und strotzte von so vielen groben Fehlern,
für welche nur der Redakteur verantwortlich gemacht werden kann,
daß sich die Akademie der Wissenschaften gezwungen sah, von der
weiteren Ausgabe abzusehen. Es ist nur zu bedauern, daß solche
wichtige Dokumente, wie sie der dritte Band enthält, in dieser, durch
die Nachlässigkeit des Redakteurs werschuldeten Fassung für wissen-
schaftliche Zwecke nicht benützt werden können. Will man diese
Dokumente studieren, so muß man sie im Original benützen.
Alle obgenannten Quellenausgaben kennzeichnen sich, einige wenige
Teile der Ausgaben von DOWNAR-SAPOLSKIJ und GOLOWATSCHOW und
die Ausgabe SSAMOKWASSOWs in ihrem Ganzen ausgenommen, abgesehen
von ihrer inhaltlichen Wichtigkeit, durch eine äußerst sorgfältige
Wiedergabe des Textes und eine dem Ernst der angestrebten Aufgabe
entsprechende Korrektheit.
In zweiter Linie kommen solche Quellenausgaben in Betracht,
welche sich ein weniger weites Ziel gesteckt haben und daher kein
so umfangreiches Material enthalten.
Dazu gehören vor allem „Gesetzesmaterialien in bezug auf die Regelung
der Verhältnisse der Dorfbevölkerung“ (SaKOHOJaTe.ILHHE MA-
TePiAJIH HO BOIIPOCaMB, OTHOCALUHMCA KB JCTPOHCTBy CE-IBCKATO
nace1eHif) — herausgegeben von der Semstwo-Abteilung des Mini-
steriums des Innern. Davon sind drei Lieferungen erschienen: die
erste im Jahre 1899, die zweite und dritte im Jahre 1900. Das hier
mitgeteilte Material enthält die seitens des Ministeriums des Innern
dem Staatsrat gemachten Vorschläge in bezug auf die Frage der Ent-
eiguung und Verteilung des in dem Besitze der Gemeinde befindlichen
Bauerngrundes, Denkschriften in bezug auf dieselbe Frage, welche
von anderen Behörden ausgegangen sind, und die Verhandlungen des
Staatsrats. In allen diesen Arbeiten findet man interessantes geschicht-
liches Material, z. B.: Mitteilungen über die Familienteilungen der
Bauern in den einzelnen Gouvernements vom Jahre 1874 an u. a.
Aufmerksamkeit erfordert weiter die Veröffentlichung der Schrift-
«tticke des Feldmarschalls B. P. SCHEREMETIEw unter dem Titel:
156 Referate.
„Archiv des Dorfes Woschaznikowo“ (APXHB?R CeJa BolNaskHIIKOBA),
I. Lieferung. Hier befindet sich der Briefwechsel zwischen SCHEREMETJEW
und den Verwaltern seiner Güter im Jaroslawler Gouvernement, Bitt-
schreiben seiner Leibeigenen und die Einnahme- und Ausgabebicher
der Gutsverwaltung. Diese Dokumente, die unter der sehr sorgfältigen
Redaktion J. S. BELJAJEws erschienen sind und sich auf den Anfang
des XVII. und teilweise auf das Ende des XVII. Jahrhunderts be-
ziehen, bieten ein sehr interessantes Musterbild jener Schriftstücke, die
sich noch jetzt bei vielen Gutsbesitzern erhalten haben, zu großem
Teile aber nach und nach verloren gehen. Diese Dokumente haben einen
großen Wert für die Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse zur
Zeit der Leibeigeuschaft, indem sie uns einen Einblick in die Organi-
sation der gutsherrlichen und bäuerlichen Bewirtschaftung, in die Art
der Bauernabgaben, in die Einktinfte des Gutsherrn, in die Autonomie
der Gemeinde und ihr Verhältnis zum Gutsherrn, den Stand der Vieh-
zucht, den Verkauf und den Konsum der wirtschaftlichen Produkte etc.
gewähren.
Die von W. J. und G. S. CHOLMOGOROW herausgegebene X. Liefe-
rung des Werkes: „Historisches Material über Kirchen und Dörfer im
XVL—XVIIL Jahrhundert“ (Hcropnueckie MaTepiaTH 0 HEPKBAXB
H celaxXb XVL—XVII. CT.) bezieht sich auf einen Teil des Moskauer
Gebietes und hat gleich den ersten neun Lieferungen eine gewisse Be-
deutung für die Wirtschaftsgeschichte des alten Rußland, da sie Aus-
ztige aus den alten Erbregistern tiber den Grundbesitz der Pfarrkirchen
enthält. Die Ausgabe zeichnet sich durch große Sorgfältigkeit aus.
Zur Charakteristik der wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt-
bevölkerung und der „Jamsclıiki" (AMIUHKB), d. i. jener Leute, welche
im XVI. Jahrhundert die Staatspost besorgten, dienen vorztiglich
die von J. S. GURLAND herausgegebenen „Dokumente der Stadt Ro-
manowo-Boryssoglebsk“ (AKTH ropoza PomanHoBo-bopHcorıböcka)
und die „Dokumente der Romanower Jamskaja Sloboda“ (AKTH
PoMaHoBcKoïñ SMCKOÏ CI060Abl). Dasselbe gilt von dem von
W. Borıssow herausgegebenen Werke „Erbregister der Stadt Laischew
aus dem Jahre 1568“ (IlmcmoBas KkHnra r. JlammeBa 1568).
Für die Geschichte der Staatswirtschaft sind von Bedeutung die
von À. 8. Lappo-DANILEWSKIJ in der XI. Lieferung der „Jahrbücher
der archäographischen Kommission“ veröffentlichten Auszüge aus den
Verhandlungen tiber die im Nowgoroder Gebiete im XVI. Jahrhundert
üblichen Abgaben für Zwecke der sogenannten „Jemtschuznoje delo‘
(AMuUy>kHoe 1510), d. h. für die zur Pulverfabrikation notwendige
Herstellung von Salpeter.
Die wissenschaftliche Archiv-Kommission von T'wjer benützte die
von der schwedischen Regierung herausgegebenen Berichte ihres an
der Botschaft in Moskau im Jahre 1674 akkreditierten Militärattachés
PALMQUIST und gab einen Teil dieser Berichte mit Abbildungen unter
dem Titel „Die Stadt Twjer im Jahre 1674 nach Palmquist“ heraus.
Dieselbe Kommission hat auch eine Beschreibung der Stadt Twjer
nach den Erbregistern des Jahres 1626 herausgegeben.
Referate. 157
Für die Geschichte des Grundeigentums und der Hauswirtschaft ist
die Beilage zu dem von A. J. KOWALEWSKI veröffentlichten Werke:
„Die Ortschaft Simbuchowo“ (Cesio C1M6yX0Bo) von Bedeutung.
Den größten Wert haben hier die Auszüge aus den Erbregistern.
Um die Besprechung der Quellenausgaben zu beenden, erübrigt
noch, die für die Wirtschaftsgeschichte wichtigen Dokumente, welche
in der periodischen Literatur der Jahre 1900, 1901, 1902 veröffent-
licht sind, aufzuzählen.
Im „Journal der 83ten Sitzung der wissenschaftlichen Archiv-Kom-
mission von Twjer“ findet sich die Beschreibung des Dmitrowschen
Klosters in der Stadt Kaschin und des Grundeigentums desselben im
Jahre 1764. Dasselbe Material ist später mit einigen Vermehrungen
in Buchform unter dem Titel „Die Beschreibung des Dmitrowschen
Klosters in Kaschin“ (OnmcaHnie KammHcKkaro JIMiTpoBckaro
MOHACTHPA) von Archimandrit Arsseny für dieselbe Kommission
herausgegeben worden.
In den „Arbeiten der Rjasaner wissenschaftlichen Archiv-Kommission
Bd. XVL, I. Lief., hat N. P. TSCHEREPNIN das Ausgabebuch des Bogos-
lowschen Klosters aus dem Ende des XVII. Jahrhunderts abgedruckt.
In der IL Lieferung desselben Bandes hat TSCHEREPNIN nach privaten
Familiendokumenten die Preise verschiedener Produkte im XVIIL Jahr-
hundert veröffentlicht. In der XLV. Lieferung der „Mitteilungen der
Tambowschen wissenschaftlichen Archiv-Kommission“ hat W. S. CHoL-
MOGOROW einen Teil des Registerbuches des Tambowschen Ujesd !) vom
Jahre 1671 veröffentlicht. Hier finden sich außerdem: Auszüge aus den
Erbregistern des XVII. Jahrhunderts aus den Ujesden Temnikow, Schazk
und Tambow, das Verzeichnis der Erbgüter des Grafen K. G. Rasvu-
MOWSKY im Schazker Ujesd vom Jahre 1779 und die offiziellen Daten
über die Ernte im Tambower Gouvernement im Jahre 1782.
Sehr viel Material ist im II. Band der „Altertümer“ — der Arbeiten
der archäographischen Kommission der Kaiserl. Moskauer archäologischen
Gesellschaft — zu finden. In der I. Lieferung dieses Bandes hat
P. J. Iwanow das dem Fürsten Dawid Iwanowitsch im Jahre 1493
verliehene Privilegiendokument veröffentlicht. Weiters finden sich dort:
Material zur Geschichte des Budgets des „Rasrjadnoj Prykas“ von
M. W. DOWNAR-SAPOLSKIJ, zwei Privilegien, welche Johann der Schreck-
liche dem Wyssockschen Kloster in der Stadt Sserpuchow (jetzt Mos-
kauer Gouvernement) erteilt hat und welche uns Aufschluss über
das Grundeigentum dieses Klosters und die Steuerexemtionen, die e3
genossen hat, geben — von L. D. WORONZowA und ein Privileg vom
Jabre 1524, aus welchem hervorgeht, daß schon damals bei Wilno.
eine Papierfabrik existiert hat — von M. W. DOWNAR-SAPOLSKI. Die
I. Lieferung enthält ein sehr wichtiges Dokument mit der Beschrei-
bung des Grundeigentums des Wyssockschen Klosters in Serpuchow,
veröffentlicht von L. D. WORONZoWwAa.
In dem XV. Buch der „Vorträge der historischen Gesellschaft
Nestor Letopissez“ (Nestor der Chronist) — die Gesellschaft hat ihren
1) Ujesd heißt Kreis oder Distrikt.
158 Referate.
Sitz in Kiew — batJ. W. LUTSCHIZKY einige Privilegien aus dem XVIL Jahr-
hundert aus der sogenannten „Rumjanzewskaja Opis“ (PyMAIHNeBCKas
oNNMCb) veröffentlicht, d. h. aus dem Bericht über die ökonomische
Lage Kleinrußlands, welcher zur Regierungszeit Katharinas II. unter
dem Generalgouverneur von Kleinrußland Grafen Rumjanzew verfaßt
wurde. Weiter hat LUTSCHIZKY in demselben Buch eine Urkunde des
Hetmans Mazepa aus dem Jahre 1690 veröffentlicht, welche ein Streif-
licht auf die Finanzen und die Finanzwirtschaft KleinruBlands am Ende
des XVII. Jahrhunderts wirft. In demselben Buch hat A. M. LASAREWSKY
drei Briefe aus dem Anfange des XVIII. Jahrhunderts veröffentlicht, _
welche einen Einblick in den ausländischen Handel Kleinrußlands mit
Hanf in jener Zeit gewähren.
Endlich sind mehrere separate, für die Wirtschafisgeschichte Ruß-
lands wertvolle Dokumente in den „Verhandlungen der Gesellschaft für
Geschichte und Altertümer Rußlands“ — die Gesellschaft hat ihren
Sitz an der Universität Moskau — abgedruckt. Im li. Buche der
„Verhandlungen“ vom Jahre 1900 hat J. KUNKIN einen Auszug aus.den
Büchern der Stadt Kaschin samt Umgebung vom Jahre 1629, mr
sich auf die Kirchengrtinde bezieht, und nebst dem die Gesamtangabe .
des kirchlichen und Klostervermögens im Kaschiner Ujesd (jetzt Gou-
vernement Twjer) vom Jahre 1755 veröffentlicht. Im III. Buche hat
A. A. TscHUMIKOW den von ihm im Revaler Stadtarchiv gefundenen
Friedensvertrag zwischen Nowgorod und Pskow einerseits und den
Livländischen Städten andererseits für den Zeitraum 1448—-1449 ver-
öffentlicht, welcher die Handelsbeziehungen Rußlands zu Livland im
XV. Jahrhundert charakterisiert. Im L Buch vom Jahre 1901 hat
J. W. ARSSENJEW einige Urkunden der Ufaer Baschkiren aus dem Ende
des XVII. Jahrhunderts abgedruckt, welche für die Kenntnis der wirt-
svhaftlichen Lage der Wotjaken und Baschkiren zu Beginn der rus-
nischen Kolonisation des mittleren Uralgebietes von Bedeutung sind.
tm Il. Buche finden sich einige Dokumente, welche sehr lebhaft die
Haudelaverhältnigse zwischen Nowgorod und Narva zu Ende des
XV. Jahrhunderts schildern. —
IL.
Archäologisches Material und archäologische Forschungen.
Im engaten Zusammenhange mit den Quellenausgaben stehen die
Sohilderungen des archäologischen Materials und der archäologischen
Wurachungen. Die Ergebnisse der Archäologie sind nattrlich für die
Wirtschaftageschichte von großer Wichtigkeit. Der unten mitgeteilte
Bericht über die archäologischen Ausgaben in den Jahren 1900, 1901
und 1902 handelt nicht von den prähistorischen, skythischen und orlen-
tulisvheu, aundern nur von russischen Altertümern der historischen Zeit.
[u orater Linie kommt hier — nach der Vollständigkeit des In-
kaltes au urteilen — der „Archäologische Jahresbericht“ (ApxeoJlo-
VGA UBTOIMC) von N. Th. BELJASCHEWSK1 in Betracht, welcher
«uwat in der „Kiowskaja Staryna“ und später separat zu erscheinen
uikyt. Wiener Jahresbericht gibt eine vollständige und erschöpfende Über-
Referate. 159
sicht der archäologischen Erwerbungen, welche jährlich in Rußland
gemacht werden. Ferner sind von großer Wichtigkeit die „Berichte
ve kaiserlichen archäologischen Kommission“, die aber mit einiger
erspätung zu erscheinen ptlegen. So sind im Jahre 1900 die Berichte
vom Jahre 1897, im Jahre 1901 die Berichte vom Jahre 1898 erschienen.
In engster Beziehung zu diesen Berichten stehen die „Mitteilungen der
kaiserlichen archäologischen Kommission“.
Die hier genannten Ausgaben haben größtenteils den Charakter von
Nachschlagwerken und bieten die Möglichkeit, den allgemeinen Fort-
schritt der Archäologie in ganz Rußland zu beobachten. Die Schilde-
rung des Materials und der Forschungen über einzelne archäologische
Fragen findet Platz in den Veröffentlichungen der Petersburger und
der Moskauer archäologischen Gesellschaften, wie z. B.in den „Mitteilungen
der kaiserlich russischen archäologischen Gesellschaft“ Bd. XII, I. und
II. Lieferung, oder dem „Altertümer-Berichte der kaiserlichen Moskauer
archäologischen Gesellschaft“ Bd. XVI, XVII, XVIII und XIX. Dazu
gehören auch die „Berichte des X. archäologischen Kongresses in Riga“
und die „Berichte des XI. archäologischen Kongresses in Kijew“. Ohne
alle in diesen Publikationen veröffentlichten und auf die russische
Archäologie beztiglichen Arbeiten aufzuzählen, nennen wir nur die ihrem
Inhalt nach besonders wichtigen. In Betracht kommt hier zunächst
die im XVI Band der „Altertümer“ von N. Th. BELJASCHEWSKU ver-
öffentlichte Arbeit über die Ausgrabungen in der Knjazja Gora (Fürsten-
berg) im Kijewer Gouvernement, 7 Werst von der Stadt Kanew, weiter die
Arbeiten von P. N. MiLJUKow und A. J. TSCHEREPNIN über die Rjasaner
Grabhügel (KYPraHB) und Gräber, veröffentlicht im „Berichte des
X. archäologischen Kongresses“. Für den XI. archäologischen Kongress
hat W. B. ANTONOWITSCH eine vorzügliche archäologische Karte des
Kijewer Gouvernements angefertigt, wie er seinerzeit eine archäologische
Karte des Wolynjer Gouvernements angefertigt hat. Filr das Charkower
Gouvernement hat eine ähnliche archäologische Karte für den XII. archäo-
logischen Kongress in Charkow D. J. BAGALET hergestellt.
Schließlich sind in vielen anderen Zeitschriften von Zeit zu Zeit mehrere
für die Wirtschaftsgeschichte wichtige archäologische Arbeiten erschienen.
Hier bringen wir nur in Erinnerung die Arbeit von N. Th. BELJASCHEWSKIJ,
welche unter dem Titel „Ein merkwürdiger Fund aus der Epoche der
zroßfürsten“ (3aMB4yATenpAbll KIAAB HHOXIH be.INKaTO KHA34)
in der „Kijewskaja Staryna“ 1901, Nr. 10 erschienen ist, sowie die
Mitteilungen PLETNEws über die Grabhügelfunde im Nowotorzsker
Ujesd, Gouvernement Twjer, veröffentlicht im „Journal der 78!@ Sitzung
der wissenschaftlichen Archivkommission in Twjer*.
II.
Forschungen über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Rußlands.
In der vorliegenden Übersicht der Literatur über die Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte Rußlands werden wir unsere Aufmerksamkeit
vorzüglich den Forschungen, welche dieser Geschichte cewidmet
160 Referate.
sind, zuwenden. Diese lassen sich ihrem Inhalte nach in 5 Haupt-
gruppen teilen: 1. Quellenstudien, 2. Arbeiten über die Geschichte der
Kolonisation und der Bevölkerung, 3. Beiträge zur Geschichte der
Volkswirtschaft, &. Werke über die sozialen Verhältnisse, 5. Forschungen
über die Staatswirtschaft.
Umfangreiche Studien aus dem Gebiet der Quellenkunde sind in den
Jahren 1900, 1901 und 1902 nicht erschienen. Hingegen sind mehrere
kleinere, auf diese Frage beztigliche Arbeiten veröffentlicht worden.
W. J. CHOLMOGOROW brachte in der I. Lieferung des II. Bandes der
„Alterttiimer-Arbeiten der archäologischen Kommission der kaiserlichen
Moskauer archäologischen Gesellschaft“ eine Arbeit unter dem Titel
„Über die Auflassungsregister des XVII. und XVIIL Jahrhunderts“
(066 OTKka3HbIXb KHUTAX’b), d. h. über die zur Sicherung des Eigen-
tums an unbeweglichem Vermögen bestimmten Handlungen. Der Verfasser
bespricht hier den Prozeß der Einführung in das Eigentum und der
Besitzergreifung des Grundstückes, wobei er auf die außerordentliche
Wichtigkeit dieser Auflassungsregister für das Studium der Wirtschafts-
geschichte hinweist. Die Auflassungsregister sind sehr oft vollständiger
als die Erbregister, denn sie enthalten Mitteilungen, welche in den
letzteren fehlen, z. B. über die Höhe des Viehstandes, über die Menge
des ungedroschenen Getreides in den Speichern u. 8. w. Der Hinweis
auf diese Quellen und deren Charakteristik, die CHOLMOGOROW gibt, ist
von um so größerer Wichtigkeit, als die Auflassungsregister bis jetzt
von den Forschern fast nie benützt worden sind. J. W. GAUTHIER hat in
der „Zeitschrift des Ministeriums für Volksaufklärung“ 1902, Nr. 3, eine
Arbeit unter dem Titel: „Aus der wirtschaftlichen Quellengeschichte
des Moskauer Ujesd im XVI.—XVII. Jahrhundert“ veröffentlicht.
(MH3B ncropin X034HCTBeHHHXR O1HCaHiti MockoBckaro yb31a
BB XVI.—XVII. B'hKkax'B). Abgesehen von der Aufzählung aller Eingzel-
heiten, welche bei der Zusammenstellung der Erbregister, der Verzeich-
nisse und anderer Bücher mitgewirkt haben, erklärt uns der Autor
einige in den Quellen vorkommende technische Ausdrücke und stellt
deren wahre Bedeutung fest; er erklärt weiter die Entstehung einiger
Beschreibungen, bespricht die technischen Vorgänge bei der Her-
stellung der Erbregister u. s. w. Die Arbeit P. M. GOLOWATSCHOWB:
„Die nächsten Aufgaben der geschichtlichen Erforschung Sibiriens“
(Baurskaltıisı 3alayH MCTOpHYecKaTo OIHCAaHIA CHÔHPH), — er-
schienen in der „Zeitschrift des Ministeriums für Volksaufklärung“ 1902,
Nr. 9 — ist eine Zusammenfassung der vorherigen kritischen Arbeiten
über die Chronisten Sibirieus. Sie enthält Mitteilungen über das ver-
schiedenartigste, unbearbeitete, in den Archiven befindliche Material,
weist auf die Wichtigkeit dieses Materials für die Geschichte der Be-
völkerung, der Kolonisation und der wirtschaftlichen Lage hin und
bringt einen Entwurf zur Ausgabe der wichtigsten Archivdokumente.
N. N. FIRSSOW verneint in seiner in den „Wissenschaftlichen Memoiren
der Kasaner Universität“ 1904, Nr. 4, veröffentlichten Arbeit „Russische
Bilanzregister des XVIII. Jahrhunderts, als geschichtlich-statistisches
Quellenmaterial“ (Pyceris GataHCoBHA4 BB.IOMOCTH XVIII. BBKa.
Referate. 161
KARKBb HCTOPHRO-CTATHCTHYECKIH HCTOYHUKB) die Richtigkeit des
Inhaltes der Register tiber die Ein- und Ausfuhr von Waren im
XVIH. Jahrhundert.
Viel mehr Aufmerksamkeit als den @Quellenforsehungen wurde
der Geschichte der Kolonisation und der Bevölkerung gewidmet.
Hier kommt in Betracht die Arbeit von W. v. DEHN: „Die Be-
völkerung Rußlands nach der V. Revision!) Die Kopisteuer im
XVlll. Jahrhundert und die Bevölkerungsstatistik am kunde des
XVIIL. Jahrhunderts (Hace.ıenie Poccin no naroû pesusin. Iloa-
ymHası TI01ATb BB XVII. B. H CTATHCTHKA HACEJIEHIA BB KOHU
XVELL B.). Dieses Buch bildet den Anfang eines umfangreich angelegten
Werkes, welches auf die Erforschung der Bevölkerungsstatistik in den
35 Gouvernemehts des europäischen Rußland (Groß- und NeuruBland)
am Ende des XVIII Jahrhunderts abzielt. Bis jetzt ist davon der
L Band und der zweite Teil des II. Bandes erschienen. Der I. Band
besteht aus zwei Kapiteln: Im ersten behandelt der Verfasser die Ge-
schichte der Revisionen in Rußland, im zweiten die administrative
Einteilung Rußlands am Ende des XVIII. Jahrhunderts und die be-
zäglichen Veränderungen, welche seit jener Zeit bis zur ersten all-
gemeinen Volkszählung in Rußland (1897) vorgekommen sind. Das
letstgenannte Kapitel bezweckt die Vergleichung der Ergebnisse der
V. Revision (1795— 1796) mit den Ergebnissen der fast genau 100 Jahre
später stattgehabten I. allgemeinen Volkszählung (1897). In einer um-
fangreichen Beilage bringt der Autor in chronologischer Reihenfolge
die in diesem Zeitraume vorgenommenen administrativen Veränderungen
in den hier behandelten Gebieten, separat nach Gouvernements ge-
ordnet. Im II. und III. Band hat sich der Autor vorgenommen, das
faktische Zahlenmaterial aller Gruppen, in welche die steuerpflichtige
and nichtsteuerpflichtige Bevölkerung in der Zeit der V. Revision
zerfiel, zu veröffentlichen. Diese Zahlen sind den Steuerbüchern aus
den Jahren 1797— 1806 entnommen, welche im Departement der direkten
Steuern des Finanzministeriums sich befinden. In diesen, nach einzelnen
Gouvernements geordneten Büchern finden sich Zahlenangaben über
jede Bevölkerungsgruppe und die Steuern, welche dieselbe zu entrichten
hatte. Die Zahl der Gruppen ist eine ungemein große, und die Klassi-
fikation in jedem Gouvernement eine eigentümliche. Dazu hat seit der
Einführung der Kopfsteuer (1724) die Stellung jeder einzelnen Gruppe durch
die Gesetzgebung langsam eine Klärung erfahren. Deswegen hat es der
Verfasser ftir notwendig gefunden, die Geschichte jeder einzelnen Gruppe
von jenem Zeitpunkte (1724) bis zur V. Revision zu studieren, um
die Möglichkeit zu haben, die Ergebnisse der Steuerbücher kritisch
za behandeln. Der II. Band wird jenen Bevölkerungsgruppen gewidmet
sein, welche von der Kopfsteuer eximiert waren, der III. Band den
stenerpflichtigen Gruppen. Im letzten Band endlich, hat sich der Autor
vorgenommen, alle diese Ergebnisse in ein Ganzes zusammenzufassen,
um sie später mit den Ergebnissen der Volkszählung vom Jahre 1897
| 1) Revisionen hiessen die 10 Volkszählungen, die in dem Zeitraum 1718
bis 1857 für die Zwecke der Kopfsteuer vollzogen wurden.
Vierteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 11
162 Referate.
zu vergleichen. In den bereits erschienenen zweiten Teile des LI. Baudes
behandelt der Verfasser einige der steuerfreien Bevölkerungsgruppen:
die aus dem Dienst entlassenen Soldaten, die Frauen und Kinder von
Soldaten und einen Teil der Bevölkerung des im Osten gelegenen Gebiets
von Orenburg. Diese 3 Gruppen zerfallen wieder für sich in eine ganze
von Unterabteilungen. Der Verfasser hofft, den übrigen Teil des Menge
II. Bandes bald veröffentlichen zu können.
Ferner kommt das von der russischen Regierung herausgegebene
Buch in Betracht, welches den Titel führt: „Die Kolonisation Sibiriens
im Anschluß an die allgemeine Ansiedlungsfrage.“ (RO:10HH3ania
CHöHpH BB CBASM CB OÖIMHMB TIepeceJieHYecKIIMb BONPOCOMP).
Dieses Buch ist aus Anlaß der Pariser Ausstellung 1900 erschienen.
(Ein Auszug aus diesem Buch ist in französischer Sprache unter dem
Titel: „Essai sur l’histoire de la colonisation en Sibérie“ erschienen.) Dieses
Buch bringt ein sehr interessantes geschichtliches Material über die
Verschiebung der Bevölkerung des europäischen Rußland über den
Ural hinaus und zwar nicht nur im XIX. Jahrhundert, sondern seit
den ersten Anfängen der Kolonisation Sibiriens. Ein Mangel dieses
Buches ist der zu optimistische Ton, der darin vorherrscht — ein
Mangel, dem man in den offiziellen Ausgaben oft begegnet.
Eine Reihe statistischer Daten, welche sich auf Archivmaterial
stützen und von einigen Erläuterungen allgemeinen Charakters be-
gleitet sind, bringt A. A. KIESEWETTER in seiner Arbeit: „Die Städte-
bevôülkerung Ruflands in der Epoche der ersten zwei Volks-
zählungen“ (Ilocanckoe Hace.IeHie PocciH Bb 9NOXy ABYX'P IIePBhIX»
peBmt3ift), erschienen in der „Zeitschrift des Ministeriums für Volksauf-
klärung“ 1903, I. Diese Arbeit hat auch in dem im September 1903
erschienenen Buche desselben Autors „Die Stadtgemeinden Ruß-
lands im XVIII. Jahrhundert“ (Ilocarckas ouuina Bp Pocciä
XVIII. CT.) Platz gefunden.
Eine Sammlung von Tatsachen, systematisch geordnet, findet sich
auch in dem von LITSCHKOW veröftentlichten Werke: „Die Kolonisation
des Kaukasus am Schwarzen Meer“ (RonoHnsamist KAaBKa3CKaro
\[epHoMOpba).
Ein interessantes Tatsachenmaterial über die Geschichte der Be-
siedlung Rußlands mit Ausländern, entnommen den Archiven und vor
allem dem Moskauer Hauptarchiv des Ministeriums des Auswärtigen,
findet sich in folgenden Arbeiten von G. PISSAREwSKIJ: „Skizzen über
die Geschichte der Fremdenkolonisation in Rußland im XVIIL Jahr-
hundert. Die Berufung der ausländischen Kolonisten nach Rußland
in der Regierungszeit Katharina II.“ („Russky Westnik“ 1900, IID;
„Die Berufung von Kolonisten aus Südeuropa. Skizzen tiber die Ge-
schichte der Fremdenkolonisation in Rußland‘ („Russky Westnik“ 1900)
und „Die Berufung von Kolonisten nach Rußland aus Danzig. Eine
Episode aus der Geschichte der Fremdenkolonisation Rußlands“ (,,Russ-
kaja Myssl“ 1902, IX).
Quellenzeugnisse über den Anfang der russischen Kolonisation an
der oberen Kama und ihren Nebenflüssen im XV. und in der ersten
Referate. 163
Hälfte des XVI. Jahrhunderts sind gesammelt in der Arbeit von
A. A. DMITRYEWw: „Spuren der russischen Ansiedlungen in Groß-Perm
bis zum Auftauchen der Stroganows“ (CJI'BZIH PYCCKHX'B NoceJteHiti
Bb [lepwuu BexmKkoëü 10 TIOsIBJIeHIA CTporaHoBHx'B), erschienen in den
„Arbeiten der Permer wissenschaftlichen Archivkommission“, 4. Lieferung.
Aus den Arbeiten zur Geschichte der Volkswirtschaft
im engeren Sinne des Wortes nennen wir vor allem die Arbeit von
P. J. Iwaxow: „Die Ackerbaugenossenschaften und der Bodenauf-
teilungen bei den freien und leibeigenen Bauern im XVII. Jahrhundert“
(Iosemeiibuble COWahl 11 Hepe]BTH y CBO60AHBHKXB H BAaNb-
IbJecKHXb KPeCTEAHB BB XVII. B.), erschienen in der Zeitschrift
„Alterttimer. Arbeiten der archäographischen Kommission der Moskauer
archäologischen Gesellschaft“, II. Bd., 2. Lief. Nach einem kurzen
Überblick tiber Literatur dieser Frage gibt der Autor eine Charakte-
ristik des gewöhnlichen Typus des nordrussischen Dorfes im XVII. Jahr-
hundert. Sodann schildert er die Geschichte des Grundeigentums der
ländliehen „Skladniki“, d. h. der Teilhaber am gemeinen Grund-
besitz, wobei er auf den im XVIL Jahrhundert beginnenden und fort-
schreitenden Verfall des gemeinsamen Grundeigentums hinweist. An
Stelle der gemeinsamen Bewirtschaftung des Bodens trat immer öfter
die für eine gewisse Zeit vorgenommene Verteilung der Grundstücke,
welche sich sodann in gewissen Zeiträumen wiederholte. Der Verfasser
charakterisiert die Beziehungen der einzelnen Dorfgemeinden zueinander,
die Art und Weise der Grenzmessungen n. s. w. Die Arbeit stützt sich
durchgehend auf ein reiches Archivmaterial, welches dem Autor die
Möglichkeit gab, zu wichtigen neuen Schlüssen zu gelangen. Als Bei-
lage zu dieser Arbeit können die von demselben Verfasser in der Zeit-
schrift , Alterttimer. Arbeiten der archäographischen Kommission der
Moskauer archäologischen Gesellschaft“, Bd. IL, 1. Lief., veröffentlichten
„Skizzen tiber Umfang des steuerbaren Ackerlandes und der Zahl der Haus-
bewohner im Kewrolsky Ujesd im XVII. Jahrhundert (3aMBTKA 0
“&pb OKNaïHOË HAIIHH H HAcesIeHHOCTH AIBOPOBB Bb
eBPO:IRCKOMP VB31B BB XVII. B.) angesehen werden.
Ihrem Inhalte nach steht in engerem Zusammenhange mit der vor-
erwähnten Arbeit Iwanows, die in der „Zeitschrift des Ministeriums für
Volksaufklärung“ 1901, Nr. 11, erschienene Studie von KLOTSCHKOW
„Zur Frage des Skladnitschestwo“ (KB BONPocy 0 CKIAAHIIKAXB).
Der Autor kommt zu folgenden allgemeinen Schlüssen: Die „Sklad-
nitschestwo“ au Grund und Boden ist entstanden: erstens durch das
Verhältnis der Familienzugehörigkeit, zweitens durch die zwischen
nicht Familienzugehörigen geschlossene Vereinbarungen, zusammen zu
leben und zu wirtschaften, drittens durch gemeinsame Arbeit (Artel)
und viertens durch gemeinsamen Besitz von Grund und Boden.
Auf die Überbleibsel der „Skladnitschestwo“ (Miteigentum) an Grund
und Boden) konnte man noch im XVIII. Jahrhundert in Kleinrußland
stoßen, wie dies zu ersehen ist aus dem III. Bande des wertvollen
Werkes von A. M. LasarEwsku: „Die Beschreibung des alten Klein-
rußland“ (Orracaxie crapoit Ma.sopoceim). Diese Arbeit war zum
164 _ Referate.
erstenmal in der „Kijewskaja Staryna“ erschienen, die ersten zwei
Bände schon früher. Dieses Werk ist nicht bloß eine Forschung —
als solche kann es nur teilweise gelten —, sondern auch eine Syste-
matisierung des unbearbeiteten Materials, welches aus nicht heraus-
gegebenen Quellen entnommen ist (wie z. B. aus der ,Rumjanzewskaja
Opis“ und drgl.). Für die Wirtschaftsgeschichte Kleinrußlands hat das.
Werk LAsAREWSKIJs eine hervorragende Bedeutung.
Zur Literatur über die Wirtschaftsgesehichte Westrußlands im
XVI. und XVII. Jahrhundert gehören: Die Arbeit von M. W. Downar-
SAPOLSKIJ „Zur Geschichte der Bodenreform in Livland in den Jahren 1580
bis 1592 (KR HCcTopin NoseMeibHOoM pedopMH BB JIrBonin
BB 1580— 1592 u), erschienen in den „Berichten des X. archäologischen
Kongresses in Riga“, Band III, sowie das Werk von J. J. POBOJNIN
„Das alte Toropez* (Toponemkası CTapaHa), welches Skizzen zur Ge-
schichte der Stadt Toropez und ihres Gebietes enthält. Beide Werke sind
auf Archivmaterial gestützt. Einige wichtige Angaben zur Geschichte
des Grundeigentums in Westrußland bietet nebenbei M. K. LJUBAwSKIJ
in seinem Buche: „Der Litauisch-russische Sejm“ (Landtag) (JIiTOBcko-
pycckift CeÂMD).
Eine Zusammenfassung statistischer Daten aus dem Nowgoroder
Erbregister aus dem Ende des XV. Jahrhunderts gibt uns Archimandrit
SERGIUS (TICHOMIROW) in seinem Werke „Nowgoroder Ujesd der Wot-
skaja Pjatyna nach dem Erbregister des Jahres 1500“ (HoBropolckid
yb3rb BOoTCKOË TATIHH HO HHCHOBOB KHHIB 1500 r.), zu-
nächst erschienen in den „Verhandlungen der Gesellschaft für Geschichte
und Altertiimer Rußlands“ 1899. Wenig neues bringt die 8. Lieferung
des Werkes A. A. DMITRUEWS „Das alte Perm“ ([lepMckaa cTapuna),
welches die Handelsgeschichte des Trans-Uralischen Gebietes behandelt.
Ferner sind zu nennen: der kleine Beitrag von N. Th. BELJAWSKD:
„Zur Geschichte der Handelsbeziehungen des Moskowischen Reiches
im XVII. Jahrhundert“ (KB HCTOPiH TOPTOBHXb CHOIEHIË Bb
MOCKOBCKOMB TOCYAaPCTBB BB XVIL B'BKB) und die Arbeit
W. W. SWJATLOWSKIJ8 junior „Das primitive Geld und die Evo-
lution des altrussischen Geldsystems“ ([IPHMHTHBHHA NeHbIM H
3BOIWIIA APEBHEPYCCKHXP JACHEXKHHXE CHCTEMB), erschienen in
dem „Narodnoje Chosjajstwo“ 1900, Nr. 1, 2, 6. Diese Arbeit enthält
zunächst eine historisch vergleichende Studie zur Geschichte des primi-
tiven Geldes und gibt sodann eine Schilderung der Geschichte des
primitiven Geldes in Rußland.
Um die Übersicht der Literatur zur Geschichte der altrussischen
Wirtschaft zu schließen, erübrigt uns noch auf den III. Band der
„Altertümer des russischen Rechtes“ (JIpeBHoCTu pyccKkoro IIpaBa)
von W. J. SSERGEJEWITSCH hinzuweisen, welcher zunächst unter dem
Titel „Altertümer des russischen Grundeigentums“ in der „Zeitschrift des
Ministeriums für Volksaufklärung“ 1900, 1901 und 1902 erschienen ist.
Der Verfasser behandelt hier Fragen, welche sich auf den Grundbesitz,
die Wirtschaft und das Steuersystem des alten Rußlands beziehen.
Referate. 165
Zum Schluß gibt er eine kritische Übersicht der Literatur. Die Arbeit
stützt sich bloß auf veröffentlichtes Material; zugleich kennzeichnet sie
sich hauptsächlich durch die scharfe Kritik der Ansichten anderer
Forseher und durch einige unerwartete Sehltisse, die jedoch einer näheren,
auf das nicht veröffentlichte Material sich stützenden Prüfung nicht
standhalten. ‚Richtig sind nur einige Einzelheiten über das wirtschaft-
liehe Leben und das Grundeigentum im alten Rußland, doch sind die
diesbezüglichen Erklärungen des Verfassers größtenteils nicht neu.
‚Einige interessante Angaben tiber die Geschichte des russischen
Exporthandels im XVIII. Jahrhundert finden sich im Buche von
W. A. ULsanıtzKky „Russische Konsulate und Konsuln im Auslande im
XVIOIL Jahrhundert“ (Pycckig KOHCYHIECTBA H KOHCYJIh 3aTpannıeti
Bb XVIII. B.) Auf Grund dieses Buches hat J. Ch. OSEROw in
seiner in der ,Russkaja Myssi“ 1900, Nr. 6, veröffentlichten Arbeit
„Der russische Kaufmann und Industrielle im XVII. Jahrhundert“
(Pyeckii KYIeUWB-TPOMAILIEHHHKR BR XVIIL B.) den Versuch
anternommen, die Schilderung des Typus des russischen Unternehmers auf
dem Gebiete des Handels und der Industrie im XVII. Jahrhundert zu geben.
Bei der Übersicht der Literatur zur Handelsgeschichte ist es noch
notwendig, auf folgendes vorzügliche und inhaltsreiche Werk zu ver-
weisen: „Beiträge zur Geschichte und Statistik des Ausfuhrhandels in
Rußland. Redigiert von W. J. POKROwsKyY. I. Bd.: Beitrag zur Ge-
schichte des Ausfuhrhandels in Rußland. — Export und Import im
XIX. Jahrhundert. — Tabellen zum Im- und Export und Zolltarif-
tabellen. Verlag des Zollgebührendepartements.“ (CÖOPHHKB cRBABHIli
No HCTOPiH H CTATHCTHKB BH'bImHeË TOPrOBJH Pocein). Dieser
umfangreiche Band enthält einen Beitrag zur Geschichte des Ausfuhr-
handels in Rußland von den ältesten Zeiten, vom Redakteur verfaßt;
ferner 76 Monographien tiber jeden Handelszweig, Mitteilungen über
die Ein- und Ausfuhr der Warensorten im XIX. Jahrhundert nebst
Daten tiber deren Erzeugung und Verbrauch enthaltend. Diese Arbeiten
sind unter der Redaktion von POKROWSKY veröffentlicht, welcher das
Amt des Chefs der statistischen Abteilung des Zollgebührendepartements
bekleidet. Zum Schluß folgen Tabellen, welche ein sehr reiches Material
zur Geschichte des internationalen Handels und der Zolltarife in Ruß-
land enthalten.
Im Jahre 1900 ist die zweite Auflage des Buches von M. J. TUsan-
BARANOWSKLJ „Die russische Fabrik einst und jetzt. Historisch-öko-
nomische Studie, I. Bd. Die geschichtliche Entwicklung der russischen
Fabrik im XIX. Jahrhundert“ erschienen. Diese 2. Auflage ist um
vieles vermehrt. Da dieses Buch auch in deutscher Sprache erschienen
ist, halten wir es nicht für notwendig, uns dabei aufzuhalten.
Eine Reihe von tatsächlichen Ergänzungen zu der im Buche ‘TUGaN-
BaARANOWSKUS behandelten Geschichte des allmähligen Verfalls der
Hausindustrie in Rußland findet sich in der Arbeit von M. KURTSCHINSKII
„Die russische Hausindustrie (nach den Ergebnissen der letzten 5 Jahre:
1894-1899)“ [Pycckası KYCTAPHAA IIPOMHTILTEAHOCTR], erschienen
in der Zeitschrift „Zisn“ 1901, Nr. 1 und 3.
166 Referate.
In dem Buche „Der bäuerliche Futtergrasbau im europäischen
Rußland außerhalb des schwarzen Ackerlandstriches“ (Moskau 1900)
(KpecTbsitickoe TPABOINOJIbHOe XO84ËCTBO BB HeYePHO3eMHOï
noxocb EBporeïckoït Poccin) stellt sich W. G. BAZAIEW die Auf-
gabe, die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Grasbaues auf
den Bauerngründen in der nördlichen Hälfte des europäischen Rußland
zu schildern. Angesichts der großen Wichtigkeit, welche gegenwärtig
für Rußland die Frage des dem Bauernstande dringend nottuenden
Überganges zu einem intensiveren und vollkommeneren Feldbausystem
in sich birgt, ist das Buch von sehr großem Interesse. Selbstverständ-
lich wird die Schilderung, je mehr sie sich dem XIX. Jahrhundert
nähert, ausführlicher. Sehr nahe verwandt mit diesem Thema sind
die Beiträge des im vorigen Jahre allzufrüh verstorbenen Professors
des Moskauer landwirtschaftlichen Instituts K. A. WERNER, welche in
der Zeitschrift „Chosjain“ 1901 unter dem Titel „Zur Geschichte des
bäuerlichen Futtergrasbaues“ (KB IICTOPiH KPeCTbAHCKATO TPaBo-
OJIBHATO XO3ÆHCTBA) erschienen sind. In einer separaten Broschüre
hat derselbe Autor eine Rede veröffentlicht, die er anläßlich eines
Kongresses in Moskau gehalten hat. Die Broschüre ist unter dem
Titel „Die agronomische Unterstützung der Bevölkerung am Ende des
XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts“ (Moskau 1901)
(ATpoHoMITgeckaa TIOMOINB HaceTeHim BB KOHUB XVII. H Bb
TTepBOH IIOAOBHHB XIX. CT.) erschienen.
In seiner interessanten Broschüre „Die Leibeigenschaftsstatistik.
Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte in der Zeit der Leibeigen-
schaft“ (KpbnoctHnas cTarıcTııka. Mab 3TWI0BB 0 KpBrio-
CTHOMB Xo3alictBb), St. Petersburg 1901, bringt P. von STRUVE eine
Reihe von Beispielen aus dem XVII. und XVIII. Jahrhundert, welche
zeigen, daß es den russischen Gutsbesitzern zur Zeit der Leibeigen-
schaft an den richtigen Mitteln zur genauen Berechnung ihres Ver-
mögens gebrach und daß sie sich durch besondere Verzeichnisse ihrer
Bauern und aller anderen Vermögensobjekte nebst einer Menge von
Einzelheiten zu behelfen pflegten.
J. ILLINITSCH bringt in seinem „Beitrag zur Entwicklungsgeschichte
der polnischen Industrie“ (ÜVepkb Pa3BATiA NOABCKON IIPOMbIN-
JIEHHOCTH) — erschienen im „Nautschnoje Obosrenje“ 1902, Nr. 4,
5, 6, — eine sehr interessante Skizze zur Geschichte des Wirtschafts-
lebens in Russisch-Polen in dem Zeitraume 1780—1900. Er be-
mtiht sich, hier zu zeigen, wie sich Polen aus einem Land mit kleiner
Gewerbeindustrie zu einem Gebiete der Großindustrie entwickelt hat.
In einer ganzen Reihe von Artikeln hat sich N. A. ROSCHKOW zur Auf-
gabe gemacht, den allgemeinen Lauf der wirtschaftlichen Entwicklung Ruß-
lands zu beleuchten und einigen in dieses Gebiet des geschichtlichen Wissens
gehörende Fragen die ihnen gebührende Stelle anzuweisen. Wir erwähnen
hier nur jene Arbeiten dieses Verfassers, welche hauptsächlich wissensehaft-
liche und nicht nur populäre Zwecke verfolgen. Dazu gehören: „Die Natu-
ralwirtschaft und die Formen des Grundeigentums im alten Rußland“
Referate. 167
(Hatypa-ıbHoe xo3AHicTBo II PopMH 3eMJIeB Ia] bHiA BR ApeBHeï
Poccift) —, erschienen in der „Zysn“ 1900, Nr. 9 —, „Die Geld-
wirtschaft und die Formen des Grundeigentums im modernen Rußland“
(enezHoe xo84HCTB0 H OopMH 3eMJIeBJalBHIA BB HOBOÏ
Poceiu) —, erschienen im „Nautschnoje Obosrenje“ 1902, Nr. 2 und 3—,
und „Zur Frage über die ökonomischen Ursachen der Abschaffung der Leib-
eigenschaft in Rußland“ (KE Bonpocy 065 3KOHOMHYECKHXB NIPH-
UAHAXB IIANeHiA KPBIOCTHOIO IIpaBa BB POCCi) —, erschienen
im „Mir Boëy“ 1902, Nr. 2. In den ersten zwei Beiträgen unternimmt
es der Autor, nicht nur den schrittweisen Entwicklungsgang der Formen
des Grundeigentums in Rußland, sondern auch den Zusammenhang
dieser Entwicklung mit der Geschichte der Wirtschaftsverhältnisse zu
zeigen. Der dritte Beitrag bringt ein bisher unbekanntes Zeugnis dafür,
daß schon in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in dem Gebiete
des schwarzen Ackerlandes in Rußland das Institut der freien Lohn-
arbeit sehr verbreitet war, welcher Umstand auf die ökonnmische Not-
wendigkeit der Abschaffung der Leibeigenschaft hinweist. Dieser
Beitrag hat eine PRO Ne seitens W. J. SSEMEWSKUS in dem in der
„Russkaja Myssl“ 1902, Nr. 4, erschienenen Beitrag „Anläßlich der
Publikation RoscHKows über die ökonomischen Ursachen der Ab-
schaffung der Leibeigenschaft in Rußland“ hervorgerufen. Im „Mir
Boiy“ 1 Nr. 9, gibt ROSCHKOW eine Gegenantwort unter dem Titel:
„Ueber die freie landwirtschaftliche Lohnarbeit zur Zeit der Leib-
eigenschaft“ (0 BO:1BHOHAEMHOMB 3eMJIeMBIIBYECKOMB TPYAB PH
KPBTIOCTHOM®B IIPaBB). SSEMEWSKY behauptet in seiner Erwide-
rung, daß sich das von ROSCHKOW angeführte Zeugnis über die freie
Lohnarbeit zur Zeit der Leibeigenschaft bloß auf Neurußland bezieht
und daß ein etwaiges Hintibergreifen der freien Lohnarbeit in das
südlich vom Flusse Oka liegende Gebiet ausgeschlossen sei. Darauf
antwortet ROSCHKOW, daß es bei dieser Frage der Heranziehung des
reichlichen Materials aus den noch erhaltenen Hausregistern und Doku-
menten aus der Zeit der Leibeigenschaft bedtirfe und illustriert seine
Behauptung mit Zitaten aus ebensolchen Dokumenten, welche bis jetzt
nieht veröffentlicht worden sind.
Dem Inhalte nach steht mit den genannten Arbeiten im Zusammen-
hange die in den „Arbeiten der Rjasaner wissenschaftlichen Archiv-
kommission“ 1902, Bd. XVII. 2. Lief. erschienene Arbeit: „Einige Daten
über die Gutsherrnwirtschaft der Familie Polonsky in der ersten Hälfte des
XVIIL Jahrhunderts“ (H'BCKOJIBKO NAHHHXB O0 HOM'BILHULEMPB X03-
aActBb IlonoHckuxb BR riePBo“ no10BAHB XVIIL CTOMÉTIA)
von J. J. PROCHODZOW. Der Autor bentitzte die nicht veröffentlichten
Dokumente des genannten Hauses aus jener Zeit.
Erwähnenswert sind endlich einige Arbeiten, die zwar in bezug auf
die Social- und Wirtschaftsgeschichte keinen wissenschaftlichen Zweck
verfolgen, die aber einige interessante, in dieses Gebiet hinüberspielende
Mitteilungen bringen. Dazu gehört die Broschtire von J. F. TOKMAKOW:
„Die Stadt Egorjewsk samt Gebiet im Rjazaner Gouvernement in
historisch-statistischer Beleuchtung“, I. Teil, Moskau 1901 (Hcroprko-
168 Referate.
CTATHCTHUHECKOE Oliscanie TOPONa Bropbebcka, Pasanckoii
ry6epHiH CR YB3A10MB). Die Broschüre enthält eine interessante
Sehilderung der Geschichte der im Jahre 1845 gegrtindeten Baumwoll-
spinnerei der Gebrüder Ohludow. Ferner kommt in ‚Betracht das Buch
von W. W. SOHANGIN: „Die Stadt Uglitsch in der zweiten Hälfte des
XVIIL Jahrhunderts samt Plan des alten Uglitsch* (T’opoa® Ÿ Tan wTE
BO BTOPOË NONIOBAHB XVIII CT.) Kaluga 1901. ‘In diesem ‚Buche
findet sich der Inhalt eines interessanten Registers, welches sich auf
das Jahr 1767 bezieht und in der Uglitscher Provinzialkanzlei her-
gestellt worden ist. Der Autor hat dieses Register in der Bibliothek
eines Kalugaer Liebhabersammiers von Büchern gefunden. Dieses
Register enthält Daten tiber die steuerpflichtige Bevölkerung der Stadt
Uglitsch, der Ortschaft Mologa und des Uglitscher Ujesd, über die der
‚Bevölkerung obliegenden Abgaben und eine kurze geographische Schilde-
rung der Stadt und ihres Ujesd. Weiter nennen wir das Buch des
Pfarrers N. J. ScHIscHkIN „Die Geschichte der Stadt Jelabuga seit
ältesten Zeiten“ (Fcropia ropora Ena6vım CR ApeBHbilIAX»
BpeMeHr%) Jelabuga 1901. In diesem Buche unternimmt es der Verfasser,
die Geschichte der genannten, im Gouvernement Wjatka liegenden
Stadt seit ältesten Zeiten zu schildern. Es ist dies keine Geschichte,
sondern vielmehr eine chronologische Aufzeichnung von’ Begebnissen ohne
jedwede Verbindung. Jedoch finden wir auf den ersten Seiten inter-
essante, größtenteils noch nicht veröffentlichte Daten über die Ge-
schichte der ersten Ansiedlung dieser Stadt und deren Wachstum im
Laufe des XVII. Jahrhunderts. Endlich nennen wir noch das ‚Buch
von M. P. STEPANOW „Das Dorf Iljinskoje. Historiseher Beitrag“
(Cexo HaprHeroe, IICTOpHYecKifi OUepKb) Moskau 1900. Dieses
Buch enthält eine historische Schilderung des genannten, in der Nähe
von Moskau liegenden Dorfes. Im Jahre 1864 hat die Kaiserin Marie
Theodorowna dieses Dorf erworben und seit dem Jahre 1882 ist es
Eigentum des Großfürsten Sergej Alexandrowitsch. Das Buch enthält
aus Archivquellen entnommene Mitteilungen über die Wirtschafts-
geschichte des Dorfes im XVIL, XVIII und XIX. Jahrhundert.
Indem wir von der Geschichte der Volkswirtschaft zur Geschichte
der sozialen Verhältnisse übergehen, müssen wir in erster Reihe die
Literatur zur Frage tiber die Existenz feudaler Verhältnisse in Rußland
erwähnen, einer Frage, welche für die Fachgelehrten von besonderem
Interesse ist. Das Verdienst, diese schon früher in der russischen
Geschichtsliteratur behandelte Frage neuerdings aufgenommen und die
Lösung derselben versucht zu haben, gebührt N. "P. PawLow- SSILWANSKY.
Noch im Jahre 1898 führte PAWLOW-SSILWANSKY in scinem in den „Mit-
teilungen der kaiserlichen russischen archäologischen Gesellschaft“
Bd. IX, 1. und 2. Lief., erschienenen Beitrag ,Sakladnitschestwo-Patronat“
(BaRIIa AHHYECTBO-UATPOHAT) eine Parallele zwischen dem russischen
Sakladnitschestwo und der westeuropäischen Kommendation durch.
In seinen neuen Arbeiten „Die Immunitäten in Rußland zur Zeit des
Teilfürstentums“ (HMMyHHTeTBb BB YABJHILHOÏË PYCIT) — erschienen in
der „Zeitschrift des Ministeriums für Volksaufklärung“ 1900 und separat —
Referate. 169
und „Die Feudalverhältnisse in Rußland zur Zeit des Teilfürstentums“
(DeonaïBHHA OTHOIMEHIA BB YABIPHOÏ Pycı) — erschienen in der
„Zeitsehrift des Ministeriums für Volksaufklärung“ 1901 und separat —
telt der Autor die Ahnlichkeit der Steuer- und Gerichtsprivilegien
der altrussischen Grundbesitzer und der Immunitäten in Westeuropa
miteinander fest und findet auch in Rußland im XIIL, XIV. und
XV. Jahrhundert den Vasallendienst, das Eigentum am Lehensgut und
die Zersplitterung der souveränen Gewalt. Die Ansichten PAwLow-
SSILWANSKYS sind seitens W. J. SSERGEJEWITSCHs und F. W. TARANOWSKYs
«ner Kritik unterzogen worden. SSERGEJEWITSCH gibt zwar in seiner
Arbeit „Sakladnitsehestwo im alten Rußland“ (Bak.-Ta1HHYecTBo BT
SRE Pycu) — [„Zeitschrift des Ministeriums für Volksaufklärung*,
1%1, Nr. 9] die Ähnlichkeit des Sakladnitschestwo und des Patronats
zu, aber er sieht die Ursachen der Entstehung des Sakladnitschestwo
in der Verschuldung. PAWLOW-SSILWANSKY hat darauf in seiner
Arbeit „Neue Erklärung des Sakladnitschestwo“ (HoBoe 06’BAcHenie
3aK1AA1HHUCCTBA) — erschienen in der „Zeitschrift des Ministeriums für
Volksaufklärung“, 1901, Nr. 10 — erwidert. TARANOwSKY konstatiert
in seinem in den „Warschauer Universitäts-Nachrichten‘“ (1902, IV. Buch)
veröffentlichten Beitrag „Der Feudalismus in Russland“ (Deonamı3mn
BB Poccifi), daß die Argumentation PAWLOW-SSILWANSKYS überzeugend
sei, hält aber dessen Erklärung der Ursachen der unvollständigen Ent-
wicklung des Bojarenfeudalismus für nicht stichhaltig. Bei voller
Anerkennung der wertvollen Arbeiten PAWLOW-SSILWANSKYs müssen wir
dennoch feststellen, daß sich der Verfasser in seinen Ausführungen tiber die
Entwicklung der Feudalverhältnisse im alten Rußland, wo ein vollständig
entwickelter Feudalismus nie existiert hat, einiger Übertreibung schuldig
macht und daß er auch keine volle und richtige Aufklärung der Ursachen
der hier obwaitenden Unterschiede zwischen Rußland und Westeuropa gibt.
Hervorragenden Wert für die Sozial-Geschichte des alten Rußland
hat ferner das Buch von A. S. Lappo-DANILEwSKLT: „Geschichts-
forschungen über die Fesselung der gutsherrlichen Bauern an die Scholl:
im Moskowischen Reiche im XVI.— XVII Jahrhundert“ (Paspfenanisı
No HCTOpIN NPHKpBmIeHin BAIa1BAIHUCCcKUXB KpecTbAHB Bb
MocKkoBCKOMB TOCYAapcTBb XVI. ıı XVII. B.), erschienen im „Bericht
über die Erteilung des 41!rn Preises des Grafen Uwarow“ und separat.
Diese „(eschichtsforschungen“ bilden einerseits eine Besprechung des
von M. A. DJakoxow im Jahre 1898 veröffentlichten Buches „Beiträge
zur Geschichte der Landbevölkerung im Moskowischen Reiche“ (Ouepki
H3b HCTOPIH CesILCKAlo Hacesienisı BB MOCKOBCKOMb TOCyAa-
pCTBB), haben aber, abgeselen von den vielen wichtigen kritischen
Bemerkungen, den Wert einer selbständigen Studie, welche viele neue
Gesichtspunkte über die Frage der Entstehung der Leibeigenschaft in
Rußland eröffnet. Mit besonderer Gründlichkeit erklärt der Autor den
Prozeß der Fesselung der Bauern an die Scholle auf Grund ihrer
dauernden Seßhaftigkeit, desgleichen die verschiedenen Arten der
wirtschaftlichen Hilfe, die der Grundbesitzer dem Bauern angedeihen
ließ, das daraus enstandene Abhängigkeitsverhältnis n. s. w.
110 Referate.
G. N. SCHMELEW schildert in seiner Broschüre „Einige Bemerkungen
über die Einhöfler“ (H'BCKOJIEKO 3ambuanifi 065 ONHOABOPLUAXB)
[Charkow 1901] —, welche sich eigentlich als eine Rezension der von
N. A. BLAGOWESCHENSKY herausgegebenen Studie „Das Viertteilrecht“
(HeTBepTHOE NpaBo) darstellt —, nach publizierten und nicht publi-
zierten Quellen den Prozeß der Entstehung des Einhöflerstandes
(Odnodworzy). So wurden die im XVII Jahrhundert an der stidlichen
Grenze des Moskowischen Reiches wohnhaften Lelınsmänner genannt,
welche keine Bauern hatten und mit eigenen Händen ihren Acker
bauten. Im XVII. Jahrhundert bilden sie einen besonderen Teil der
Domänenbauern. Auch schenkt der Verfasser viel Aufmerksamkeit den
Formen des Eigentums dieser Einhöfler und er zeigt, wie sich dieses
aus dem ursprünglichen Charakter des Skladnitschestwo nach und nach
in erbliches Privateigentum verwandelt hat.
Aus den Arbeiten zur Geschichte der Banernverhältnisse in späteren
Zeiten heben wir in erster Reihe das hervorragende Werk von W.J. SsE-
MEWSKIJ hervor: „Die Bauern in der Regierungszeit der Kaiserin
Katharina IL“ (RpecTEAHe BB HaPCTBOBaHie ITMIePaTPAUH
EKareprHH IL). Der erste Band dieses Werkes ist schon im Jahre 1881
erschienen. Dieser Band ist der Geschichte der gutsherrlichen Leibeigenen
und den „Possessionsbauern“ gewidmet. Unter derletztgenannten Bezeich-
nung versteht man diejenigen Bauern, welche unveräußerliches Eigentum
der Privatfabriken und Hüttenwerke waren. In: Jahre 1903 erschien dieser
Band in zweiter Auflage. Im Jahre 1901 erschien der Il. Band, welcher,
abgesehen von der umfangreichen Einleitung, die Geschichte der der
kaiserlichen Gutsverwaltung unterstehenden Bauern, ferner die Ge-
schichte der Bauern auf den kirchlichen Gütern (diese erhielten nach
der Säkularisation im Jahre 1764 die Bezeichnung „Ekonomitscheskyje“),
die Geschichte der Domänenbauern u. 8. w. enthält. Die Geschichte
aller dieser Gruppen ist auf Grund eines umfangreichen, größten-
teils aus einer ganzen Reihe von Archiven entnommenen Materials
verfaßt. Der Verfasser bringt Daten über die Kopfzahl jeder Gruppe, er
schildert die Verwaltungseinrichtungen und Verwaltungsorgane, denen
die Bauern unterlagen, die Abgabepflichten der Bauern, ihre allgemeine
Lage, die Bauernunruhen u. s. w. Mit großer Ausführlichkeit behandelt
er die Frage des Grundbesitzes verschiedener Bauerngruppen, wobei
er das Hauptaugenmerk der Frage des Überwiegens des gemeinsamen
oder aufgeteilten Grundbesitzes zuwendet. Ein Teil dieses Bandes ist in
einer ganzen Reihe von separaten Abhandlungen (seit dem Jahre 1879)
erschienen. Einige von ihnen sind zu finden: in „Russkaja Myssl“ 1900,
Nr. 1, 3, 4,5; 1901, Nr. 1 und 6; weiter in „Russkoje Bogatstwo“ 1901,
Nr. 1 und 2.
Die Frage des bäuerlichen Grundbesitzes behandelt das Buch von
W. W. (WoRonzow) „Zur Geschichte des Gemeindebesitzes in Rußland“
(Kp HCTOpiH o6mmHH BB Poccifi), Moskau 1902. Die Frage tiber
die Entstehung des Gemeindebesitzes beschäftigt schon lange die
Gelehrtenwelt, doch ist die Frage bis hente nicht gelöst. Angesichts
dessen ist die Ansammlung tatsächlicher, auf diese Frage beztiglicher
Referate. 171
Daten von großer Wichtigkeit, und es erscheint uns daher das genannte
Buch, weil es eben diesen Anforderungen entspricht, von Bedeutung.
Der Autor stützt sich auf sehr wichtige archivalische Quellen und
bringt auf Grund dessen ein sehr interessantes tatsächliches Material
zur Geschichte des Gemeindebesitzes in Rußland. Ein Teil dieses Buches
war früher und teilweise in dem von uns in Betracht gezogenen Zeit-
raum ein der „Russkaja Myssl“ 1900, Nr. 4, 1901, Nr. 12, erschienen.
Aus den kleineren Arbeiten zur Geschichte der Bauernverhältnisse
verweisen wir auf das vorzügliche Buch der Frau J. J. ISNATOWITSCH:
„Die gutsherrlichen Bauern am Vorabend ihrer Befreiung“ (Ilo-
MBINMYbH KpecTbine HAKAHYHB OCBOGOKIEHIA) St. Peters-
burg 1902. Dieses Buch ist zunächst in separaten Abhandlungen in der
Zeitschrift „Russkoje Bogatstwo“ 1900, Nr. 9—12, erschienen. Es
kennzeichnet sich durch die populäre Darstellung, wobei es aber
trotzdem wissenschaftlichen Wert behält, da das von der Verfasserin ge-
sammelte, umfangreiche Material sehr geschickt verarbeitet ist. Die
Verfasserin gibt hier Aufklärung über die Zahl der Leibeigenen am
Vorabend ihrer Befreiung, über die Lage der Zinsbauern (Obrotschnye),
Frohnarbeiter (Barstschinnye) und leibeigenen Dienerschaft (Dworowye),
sodann über die Wirkung der Leibeigenschaft auf das Volksleben und
die dadurch bewirkten Schäden. So hat der Leser die Möglichkeit,
sich auf Grund einer kurzgefaßten Schilderung eine lebhafte Vorstel-
lung von der Lage der Leibeigenen am Vorabend ihrer Befreiung zu
machen. Dank den oben angedeuteten Vorztigen liest man das Buch
vom Anfang bis zum Schlusse mit ungeschwächtem Interesse.
Nicht dasselbe kann man von einem anderen Buch behaupten,
welches derselben Frage gewidmet ist, sich aber eine weiterreichende
Aufgabe gestellt hat. Wir denken an das Buch vou NossoWITScH „Wie
die Bauern aus freien Leuten Leibeigene, und wie sie dann wieder frei
wurden“ (kakb KpeCTLAHe 113B .IW,Iell BOJIBHHXB CTAIH KPB-
IIOCTHbIMH, H 3aTbMBb CHOBA BOIBHHMH) Reval 1901. Das Buch
stellt sich die Aufgabe — wie der Verfasser in der Einleitung selber sagt —,
„eine kurze, womöglich genaue und zusammenfassende Schilderung der
Entstehung, Entwicklung und Abschaffung der Leibeigenschaft“ zu
geben. Man kann jedoch nicht behaupten, daß diese Aufgabe gelöst
worden sei. Das Buch ist sehr oberflächlich gehalten, es verrät den
Mangel an notwendiger Sachkenntnis und hat daher keinen wissen-
schaftlichen Wert, um so mehr als auch tatsächliche Irrtümer darin
zu finden sind.
Zu erwähnen sind hier ferner die interessanten Arbeiten von
Th. Th. Woropoxow: „Die Bauernreform im südwestlichen Gebiete“
(Kpectbancraa pedopMa BB MTO-3ANaAHOMBb KPaB) [„Westnik
Ewropy“ 1900, Nr. 8 und 9] und „Die Bauernfrage im südwestlichen
Gebiete“ (KpecTLAHCKOe A'B:10 BB |TO-3ANaAHOMB Kpab) [in der-
selben Zeitschrift 1902, Nr. 1,2 und 9]. Der Verfasser hat sich im dienst-
lichen Auftrage im Laufe von 8 Jahren im südwestlichen Rußland mit
der Bauernfrage befaßt. In den genannten Untersuchungen schildert er
teilweise auch auf Grund persönlicher Erfahrungen den Prozeß, der
172 Referate.
zur endgültigen Aufhebung der Leibeigenschaft geführt hat. ‘Der vom
Autor in Betracht gezogene Zeitraum liegt zwischen den Jahren 1847
und 1860, d. h. zwischen der Einführung der Inventargesetze, welche
die Regulierung der Beziehungen zwischen Bauer und Gutsherr be-
zweckten, und dem schließlichen Zustandekommen der Reformen.
Denselben Wert, doch in bezug auf ein anderes Gebiet, hat der
Beitrag von A. JEROPKIN: „Die Tendenzen der Rjasaner Adelschaft am
Vorabend der Bauernbefreiung“ (TemneHnim PAsaHCKaro IBOPAH-
CTBa HAKAHYVH'B kpectbancrof pePopMH), erschienen im „Obra-
sowanye“ 1902, Nr. 7. 8.
Zur Geschichte der städtischen Stände in Rußland ist der kleine
Beitrag von A. A. KIESEWETTER nennenswert: „Wählerversammlungen
in den Städten (Possad) im XVII. Jahrhundert“ (Ilocanıckie
H30HPATEJIBHHC CXOAB BB XVIIL CT.), erschienen im „Russkoje
Bogatstwo“ 1902. Dieser Beitrag ist in dem unlängst veröffentlichten
und von uns schon erwähnten Buche desselben Autors: „Die
Stadtgemeinden Rußlands im XVII. Jahrhundert“ enthalten. Auf
‘Grund nicht publizierter Quellen werden in diesem Beitrag Fragen
über die Organisation der Vorstadtversammlungen, deren Funktionen
und Zusammensetzung und ihr Zusammenhang mit den sozialen Ver-
hältnissen des russischen Städtelebens im XVIIT. Jahrhundert erörtert.
Neues, bisher in der Literatur unbekanntes Material gibt dem Autor
die Möglichkeit, viele neue Tatsachen ans Licht zu bringen und sie
zu einem Ganzen zu verknüpfen.
Um die Übersicht der Literatur über die Sozialgeschichte Rußlauds
zu schließen, bedarf es noch des Hinweises auf das von A. TOBIEX ver-
faßte Buch: „Die Livländische Agrargesetzgebung im XIX. Jahrhundert“
(JImpismackoe arpapHoe 3aKOHO1ATEIRCTBO BR XIX. CT.) I. Bd.,
Riga 1900. Der Autor erörtert hier die Geschichte der Bauerngesetz-
gebung in Livland in den Jahren 1804 und 1819. Er hat ein sehr
interessantes und reichhaltiges Tatsachenmaterial zusammengestellt,
welches die (eschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft in Livland
sehr klar beleuchtet, doch hält seine Konstruiernng der abstrakten
Schlüsse bei weitem der Kritik nicht stand. Denn er schenkt den
wirtschaftlichen Grundbedingungen des von ilım erforschten (rebietes
nicht genug Aufmerksamkeit, sondern sieht den Grund der Erschei-
nungen hauptsächlich in der persönlichen Machtsphäre und den zu-
fälligen Umständen. Das Buch ist ursprünglich in deutscher Sprache
erschienen und erst später ins Russische übersetzt worden.
Indem wir zur Literatur über die Finanzgeschichte Rußland:
übergehen und zunächst die Literatur zur Finanzgeschichte des alten Ruß-
land ins Auge fassen, nennen wir vor allem das Buch von M. W. DowNaRr-
SAPOLSKIJ: „Die Staatswirtschaft des Großfürstntums Litauen in der
Zeit der Jagellonen“ (POCV'IAPCTBEHHOC XO3AÏCTBO BE/IHKATO
KHASKECTBA JIHTOBCKATO np ArenToHaxp) Kijew 1901. Es ist
dies der Anfang eines umfangreichen, hauptsächlich auf Archivquellen
beruhenden Werkes. In dem ersten Bande, gleich nach der Einleitung,
wird die Frage jener Einnalımen des Großfürsten von Litanen erörtert,
Referate. 173
welche ihm aus seiner gerichtlich-administrativen Tätigkeit zuflossen.
Ferner behandelt der Autor die Fragen des Staatsvermügens, der
Konsumsteuer, des Miünzwesens, der Zinsen und Abgaben, der Dienst-
leistungen, wie Militärdienst, Vorspannleistung, Quartierpflicht, die Ver-
pfichtung zum Instandhalten der Straßen, Wächterdienste u. 8. w., der
direkten Geldsteuer und drgl. In seinem Werke bringt DOWNAR-
SAPOLSKU viele neue und wertvolle Tatsachen und gibt ihnen eine
richtige Erklärung. Widerspruch ruft bloß die Erklärung der Ent-
stehung des Steuersystems aus der politischen Geschichte des litauischen
Rußland hervor. Richtiger wäre, sich zunächst mit der Wirtschafts-
geschichte zu befassen und erst auf dieser Basis die Finanzgeschichte
zu konstruieren. :
Nicht wenig wichtige und neue Tatsachen finden sich in dem Buche
von J. J. GURLAND: „Die staatliche Pferdepost (Jamskaja Gonba) im
Moskowischen Reiche bis Ende des XVII. Jahrhunderts“ (JImckas
TOHb6A BB MOCKOBCKOMB TOCYAApCTBb 10 KOHHà XVIE CT.)
Jaroslawl 1900. Das Buch bringt die Geschichte der Staatspost im
alten Rußland, nebst einer sehr ausführlichen Untersuchung ihrer Or-
ganisation. Der Verfasser sucht die Ursachen ihrer Entstehung in tata-
risehen Einfitissen und bemtiht sich auch, die Anderungen in ihrer
Organisation zu erklären. Doch kann er in diesen beiden Punkten
den Leser mieht befriedigen, denn er ignoriert den Boden, aus welchem
diese Erscheinungen emporwuchsen, nämlich den Boden der volks-
wirtschaftlichen Verhältnisse. Er tibersieht zum Beispiel, welchen Ein-
fiaß auf die Organisation der staatlichen Pferdepost die Entstehung
der Geldwirtschaft gehabt hat.
Neues Tatsachenmaterial zur Finanzgeschichte des Moskowischen
Reiches im XVII. Jahrhundert bringen folgende Beiträge: „Das Brüeken-
und Mautengeld in Nowgorod und Moskau im XVIL Jahslundert“
(MoctoBaHAa H pBineToyHHA AeHbBIH BB Hogropon& Y MockBb
Bb XVIL BEbKB) von A. 3. LAPPO-DANILEWSRIJ, erschienen in den
„Mitteilungen der geschichtlich-philologischen Abteilung der Kaiserl.
Akademie der Wissenschaften“, V. Bd., Nr. 4. „Die nordrussischen Erb-
register als Quellenmaterial zur Geschichte der Besteuerung“ (C'BBeDHHA
IINCHCBHA KHATH, KAKb MATePialB AA HeTopim 061o0sKkeHis)
voa P. J. Iwanow und „Das Budget des Rasrjads“ (Bionskerp Paspsına)
von W. P. ALEXEJEW. Beide letztgenannten Beiträge sind in der Zeit-
schrift „Altertümer. Arbeiten der archäograpliischen Kommission der
Moskauer archäologischen Gesellschaft“, II. Bd., 1. Lief., erschienen.
Der Finanzgeschichte Rußlands im XVIII. Jahrhundert ist die von
N. N. Fırssow in den „Wissenschaftlichen Memoiren der Universität
Kasan“ 1901 und 1902 und separat erschienene Arbeit „Die Regierung
und die Gesellschaft in ihren Beziehungen zum Ausfuhrbandel in der
Regierungszeit der Kaiserin Katharina IL.“ (IIpaBmtTenbctBo 11 06-
NeCTBO Bb HXb OTHONIEHIH Kb BHbINHeÏt TOPrOBIB Bb LAPC-
TBOBAHIH HMIEPATPHUH EratepitHhl II.) gewidmet. Hier wird die
Geschichte einer besonderen Institution, die den Namen „Kommerz-
Kommission“ („KOMMHCEIA O KOMMEPINITI“) führte, geschildert. Diese
174 Referate.
Kommerz-Kommission hatte sich mit den Fragen des Ausfuhrhandels
zu befassen. Der Autor behandelt einige Finanzprojekte, welche dieser
Kommission vorgelegt wurden. Ferner findet sich in der’Arbeit die Lite-
ratur zur Frage über die Handelspolitik Rußlands im XVII. Jahrhundert,
und es werden außerdem jene Veränderungen auf dem Gebiete der
Handelspolitik einer Erörterung unterzogen, welche zur Zeit Katharina Il.
von der Regierung vorgenommen wurden. Hie und da bringt der Autor
interessante, den Archivquellen entnommene Daten, doch ist sein Vorrat
in dieser Beziehung nicht groß. Man kaun mit Bestimmtheit sagen,
daß sich die Daten verhundertfachen ließen. Andererseits bringt er
vieles, was schon längst bekannt ist. Deswegen kann dieses Buch als
etwas wertvolles nicht betrachtet werden. Ein Teil dieses Buches ist
auch in der Form einer separaten Abhandlung in der „Zeitschrift des
Ministeriums für Volksaufklärung‘ 1901, Nr. 9, erschienen.
Innerhalb des von ung in Betracht gezogenen Zeitraumes sind zwei
Bände — II. und Ill. — des umfangreichen Werkes „Der russische
Staatskredit (1769— 1899), Versuch einer historisch-kritischen Übersicht“
(Pyccxiä TocyAaperBeHnkli kpeamtp [1769 —1899]) von P. P. Mı-
GULIN, Professor an der Universität Charkow, erschienen. Dieses
Werk stellt sich die Aufgabe, eine vollständige Übersicht des russischen
Staatskredits bis auf die Gegenwart zu geben und wird auch dieser
Aufgabe vollständig gerecht. Der I. Band ist im Jahre 1899 erschienen.
Er enthält eine geschichtliche Übersicht des russischen Staatskredits
in der Regierungszeit Katharina IL. und in der darauf folgenden Epoche
und schließt wit der Tätigkeit des Finanzministers N. Ch. Bunge in-
klusive (d. h. bis zum Jahre 1886). Der II. Band ist im Jahre 1900
erschienen. Er behandelt die Epoche der Tätigkeit des Finanzministers
J. A. Wischnegradsky (1887—1892). Der Autor befaßt sich mit den
Konversionen, welche der genannte Finanzminister vorgenommen hatte,
sodann mit dem Eisenbahnkredit und der Eisenbahnpolitik, mit dem
staatlichen Hypothekarkredit und resumiert die Finanztätigkeit Wischne-
gradskys. Der II. Band ist in drei Lieferungen in den Jahren 1901
bis 1902 erschienen. Dieser Band ist der Tätigkeit des Finanzministers
S. J. Witte gewidmet (bis 1902). Die erste Lieferung behandelt die
Konversionsoperationen, welche unter Witte vorgenommen wurden.
Die zweite Lieferung behandelt die Valutareform und die mit ihr ver-
bundenen Kreditoperationen. Die dritte Lieferung behandelt endlich
die Eisenbahnanleihen und die Eisenbahnpolitik. Der höchste Wert
dieses Werkes liegt in der erschöpfenden Vollständigkeit in der Be-
handlung der Aufgabe, die sich der Autor gestellt hat. Der Verfasser
hat nicht nur das auf dieses Thema bezügliche veröffentlichte Material
verwertet, sondern auch das bis jetzt nirgends publizierte Archiv-Material
ausgenützt, welchesihm das Finanzministerium zur Verfügung gestellt hat.
Daher ist die Arbeit MIGULINS von großem Interesse, und dies um 80
mehr als der Verfasser jede von ihm erwähnte Handlung der russischen
Regierung auf dem Gebiete des Staatskredits einer kritischen Beleuch-
tung unterzieht.
In den „Kijewer Universitätsnachrichten“ 1900, Nr. 1, 3, 4, 5, 7, 8,
9 und 12; 1901, Nr. 3 und 4, findet sich die Arbeit von P. L. KOowWANKoO
Referate. 175
„Die wichtigsten Bungeschen Reformen des Finanzsystems in Rußland“
(Tırasa&tinmia pedopMH, IIpoBeneuHua H. X. Byure BB dırman-
coBoH cncreMB Poccin). Diese Arbeit stützt sich nicht auf ein ebenso
reiches Archivmaterial, wie das Werk MıGuLms, doch enthält sie eine
sehr ausführliche Schilderung der finanziellen Maßregeln Bunges. Der
Autor hat für seine Arbeit, abgesehen von dem gedruckten Material,
auch die Schriftstücke aus der Bungeschen Bibliothek benützt, welche
jetst der Kijewer Universität einverleibt ist.
Ein sehr reiches und wertvolles Tatsachenmaterial findet sich in
dem dreibändigen Werke von N. A. KisszINsKy: „Unsere Eisenbahn-
politik nach den Dokumenten des Archivs des Ministerkomitee“
{Hama teTb3H0A0POsKHaA IIO:TATHKA 110 AOKYMEHTAMPB APXHBA
KOMHTETA MHHHCTPOBH). Dieses Werk ist in St. Petersburg im
Jahre 1902 im Verlag der Kanzlei des Ministerkomitee erschienen. In
sehr ausführlicher Weise schildert der Verfasser in strikter Reihenfolge
die Wendungen der russischen Eisenbahnpolitik in der Regierungszeit der
Kaiser Nikolaus I., Alexander II. und Alexander III. Damit ermöglicht
KıssLinskıJ das Verständnis der Grundzüge der Entwicklung der Eisen-
bahnpolitik und der Ursachen der hier vorgenommenen Veränderungen.
Doeh, um zu richtigen Schlüssen zu gelangen, ist es unerläßlich, von der
Darstellungsweise des Verfassers abzuselien, denn die Veränderungen
in der Eisenbahnpolitik lassen sich nicht nach Regierungsperioden ein-
teilen, sondern umgekehrt, jede Regierungszeit zerfällt, wie in vielen
anderen, so auch in dieser Beziehung in verschiedene Perioden. Man
sieht leicht, daß es dem Verfasser an den notwendigen allgemeinen und
weiterreichenden Gesichtspunkten gebricht und es kommen auch des-
wegen einige oberflächliche Erklärungen und sogar ganz unbegriindete
Erläuterungen von Tatsachen vor. Da der Verfasser kein Gelehrter ist,
sondern ein gewissenhafter Sammler und Ordner des Materials, so hat
auch sein Werk nur als eine Schatzkammer für dieses Material eine
große Bedeutung.
IV.
Die wichtigsten populär-wissenschaftlichen Arbeiten über
die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Rußlands.
Von den Arbeiten, welche einen populär-wissenschaftlichen Zweck
verfolgen, trotzdem aber, dank der Originalität ihrer Schlüsse einen
wissenschaftlichen Wert haben, nennen wir in erster Reihe den im
Jahre 1900 in vierter Auflage erschienenen I. Teil des Buches „Bei-
träge zur Geschichte der russischen Kultur“ (Üyvepkit 110 HCTOpin
PYCCKOË KY:IBTYPH) von P.N. MiLstkow. Dieses mit großem Talent
verfaßte Buch enthält unter anderem Beiträge zur Geschichte der Be-
völkerung, der Kolonisation, der Volks- und Staatswirtschaft und der
gesellschaftlichen Organisation und erfreut sich beim russischen Publi-
kum eines großen Erfolges.
P. M. GOLOWATSCHOW befaßt sich eindringlich in seinem Buche
„Sibirien. Natur, Menschen und Teben“ (Unörttpn. Ffnipore, mu,
176 Referate.
SKH3Hb), Moskau 1902, mit der Geschichte der Kolonisation Sibiriens
und mit der (xeschichte der wirtschaftlichen Verhältnisse dieses Reichs-
teiles.
In letzterer Zeit läßt sich in Rußland eine Vermehrung der Zahl der
Handelsschulen beobachten, welche dem Ressort des Finanzministeriums
unterstehen. Diese Vermehrung erklärt sich einerseits durch das An-
wachsen des Handelsstandes — diese Schulen werden größtenteils auf
Privatkosten betrieben und beziehen von der Regierung nur eine ge-
ringe Subvention — und andererseits durch jene relative Freiheit in
ihrer Organisation, welche diese Handelsschulen im Vergleiche mit den
dem Ministerium für Volksaufklärung unterstehenden Mittelschulen ge-
nießen. Zu den Lehrgegenständen der Handelsschulen gehört auch
die Handelsgeschichte, doch ist die Geschichte des russischen Handels
bis jetzt nicht weit vorgeschritten. Es existiert kein Buch, welches
sich zur Aufgabe gemacht hätte, in knapper Form den russischen
Handel im Rahmen der russischen Geschichte zu schildern. Zwar hat
dies J. KosLOWSK1J in seinem Buch: „Kurze Übersicht der Geschichte
des russischen Handels“ (Kpatkif OUepKB HCTopiu PYCCKoH TOp-
l'OBJIH) — Kijew 1900, 2 Lieferungen — versucht. Der Autor ver-
folgt hier zwei Ziele: sein Buch soll als Lehrmittel beim Unterricht
der Handelsgeschichte in den Handelsschulen dienen und andererseits
jedem durchschnittlichen Leser die Möglichkeit geben, sich mit diesem
Thema vertraut zu machen. Allein das Buch trägt den Charakter
einer bloßen Anhäufung von Tatsachen, welche weder zueinander noch
zu den wirtschaftlichen Bedingungen der bezüglichen Epochen in irgend-
welche Verbindung gebracht sind. Das ist ein Mangel, der den Ge-
brauch des Buches erschwert. Allenfalls verdient es, als erster Ver-
such einige Aufinerksamkeit.
Denselben Zweck, den der populären und gleichzeitig für den
Unterricht geeigneten Darstellung nämlich, verfolgt das Buch von
N. A. RoscHKOW : „Lehrbuch der Geschichte Rußlands für Mittelschulen
nnd Selbstunterricht“ (YuUeÖHHKB PYCCKOË HCTOpiH MIA CPEXHAXE
V4YeÖHhIXb 3aBeleHif H AJIA CAMO06pa30BaHiA). Der Verfasser hat
sich bemüht, eine allgemeine und populär-wissenschaftliche Schilderung
des Prozesses der Entwicklung der russischen Geschichte auf öko-
nomischer Basis zu geben. Das Buch enthält hauptsächlich allgemeine
Schemen und Schlüsse bei einem Minimum faktischer, konkreter Tat-
sachen. Denn der Verfasser ist der Meinung, daß die Darstellung des
konkreten Inhaltes dem Vortrag des Lehrers überlassen werden muß
und daß sie den Ausgangspunkt für jene gemeinschaftliche Arbeit
des Lehrers und der Schüler in der Schule bilden soll, welche erst
zu allgemeinen Ausführungen hinüberleitet. Diese allgemeinen Aus-
führungen sollen dann die Schüler zu Hause im Lehrbuch nach-
schlagen und wiederholen können.
Populären Zweck verfolgen ferner folgende Arbeiten desselben
Verfassers: „Stadt und Land in der russischen Geschichte Zur
Wirtschaftsgeschichte Rußlands“ (T'opoap 1 AepeBHA BB PYCckoä
IIcTopif). Es sind dies öffentliche Vorlesungen, welche der Verfasser
Referate. 177
in mehreren russischen Städten gehalten hat, welche sodann in
der Zeitschrift „Mir Bozy‘ 1902, Nr. 4, 5 und 6 veröffentlicht und
nachher als separates Buch erschienen sind. Weiter „Die Entwicklung
der ökonomischen und sozialen Verhältnisse Rußlands im XIX. Jahr-
hundert“ (PasBnTie 9KOHOMHYeCKHXBb H COMIAJIbHHXB OTHOIMeHIH
BB Pocciät XIX. Bra), erschienen im „Obrasowanye“ 1901, Nr. 1,
und schließlich „Die Landwirtschaft im Moskowischen Rußland im
XVL Jahrhundert und ihre Wirkung auf die sozialpolitischen Verhält-
nisse jener Zeit“ (ÜesIbckoe xo3aäcrBo MockoBckof PycH BE
XVL BBKB), erschienen im „Mir Bozy” 1900, Nr. 12. Die letzt-
genannte Arbeit bildet den Versuch einer populären Ausführung jener
Schlüsse, zu welchen der Autor in seinem im Jahre 1899 erschienenen
Buche: „Die Landwirtschaft des Moskowischen Rußland im XVI. Jahr-
hundert‘ gelangt ist. W.v. Deun. N. ROSCHKOW.
Dr. Wıru. v. MEDINGER. Wirtschaftsgeschichte der Domäne
Lobositz. (Wien 1903, C. W. Stern, S. 203, h. 4°.)
Das vorliegende Buch ist eine Dissertationsschrift aus dem staats-
wissenschaftlich-statistischen Seminare zu Halle a. S., der Verfasser
selbst ein Schüler des Altmeisters Prof. Joh. Conrad, der die Behand-
lang dieser Frage auch angeregt hat. Das Werk gesellt sich zu ähn-
lichen, die in diesem Seminare früher entstanden sind und die Geschichte
der deutschen Landwirtschaft darstellen wollen, und „soll einen Beitrag
zur Entwicklungsgeschichte der österreichischen Landwirtschaft bilden“ ;
„das Aktenmaterial wurde jedoch mehr vom allgemein-wirtschaftlichen
Standpunkte aus, als vom landwirtschaftlich-fachlichen durchforscht und
verwertet“. Seine Aufgabe löst der Verfasser in 12 Kapiteln, von denen
die 4 ersten (8. 14-59) das Vormaterial (klimatische und geologische
Verhältnisse, Geschichte, das Maß- und Münzwesen, dann die Flächen-
bewegung der Gegend) liefern, das 5. die gesamte vegetabilische Pro-
duktion (S. 6097), das 6. die ganze animalische Produktion (8. 97
bis 121) und das 7. die industrielle Erzeugung (8. 122—126) bietet.
In den letzten 5 Kapiteln (8. 127—199) werden die Pachtformen, die
Verwaltung, die Untertansverfassung und endlich die Arbeiter- und
Preisverhältnisse besprochen. Es ist eine Erstlingsarbeit mit allen
ihren Licht- und Schattenseiten. Bei dem ziemlich großen Mangel
an einer ausschliesslich wirtschafts- und agrargeschichtlichen Literatur
Böhmens, die von modernem, wenn auch allgemein gehaltenem
astionalökonomischen Geiste getragen würde, können wir dieses Werk
und die Anregung des Prof. Conrad hierzu nur mit Freuden begrüßen
und die Arbeit selbst verdient eine längere Rezension.
Böhmen ist ein wirtschafts- und agrarhistorisch interessantes Land,
welehes im kleinen fast alles bietet, was im großen Maßstabe beinahe
ganz Deutschland. Auch dadurch wird das Territorium beachtenswert,
daß in Böhmen die alten slavischen agrarischen Traditionen des Volkes
mit den deutschen und westeuropäischen Einflüssen in Berlihrung kommen
Vierteljabrsebr. f. Soeial- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 12
178 Referate.
Lobositz selbst liegt an der Elbe im böhmischen Mittelgebirge, in
einer äußerst anmutigen, schönen, klimatisch und geologisch günstigen
Gegend — eine Rheingegend im kleinen — deren Boden demjenigen
am Yang-tse in China gleicht. Bei fortwährendem Besitzwechsel und
Einfluß der äußeren politischen Ereignisse sehen wir die einzelnen
Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung, wo die Domäne sich
konzentriert, vergrößert, und als Hauptunternehmer des ganzen Ge-
bietes auftritt. Besonders lehrreich ist das Kapitel von der pflanzlichen
Produktion, das uns die ungeheuren Schäden der häufigen Kriege und
namentlich des 30jährigen Krieges, dann den Übergang von der alt-
geheiligten, vererbten Brach-, Dreifelder- und Körnerwirtschaft nebst
verschiedenen Arbeitsformen der robot- und zinsungspflichtigen Unter-
tanen (z. B. Flurzwang) zu einer mehr freien, energischen, rationellen
und planvolleren Bewirtschaftungsart der josephinischen Zeit (eigentlich
schon seit dem Jahre 1750) schildert.
Diese neuen Wirtschaftsformen legen ein größeres Gewicht auf den
Wert des Düngers, der Ackergeräte, des Futter- und Kartoffelbaues,
sie haben mehr Verständnis für die Fruchtwechselwirtschaft, Vieh-
haltung und Stallfütterung, sowie für neue Arbeitssysteme nach der
Regulierung der Robot (freie Lohnarbeiter u. s. w.) und äußern sich
endlich im Streben nach einer intensiveren Ausnützung der Fläche, in
der Industrie und Pachtwirtschaft.
Die Schafzucht hat fast denselben Prozeß durchgemacht wie in
Deutschland: eine Steigerung bis zum Jahre 1799 und ein Herabsinken
— infolge der Einschränkung der Hutweidenwirtschaft — bis zum
heutigen Stande. Auch die Rindviehzucht wurde von den Verände-
rungen auf dem Gebiete der vegetabilischen Produktion stark beein-
flußt: im Jahre 1783 begegnen wir neben der alten Körner- und
Brachwirtschaft der Einführung des Klees und um das Jahr 1850 der
Rübe. Fast gleichzeitig erscheint auch hier wie in der Schafwirtschaft
die Beobachtung der Vererbungsgesetze, die ktinstliche Zuchtwahl, kurz
die ersten modernen Zuchtprinzipien, die daa Rindvieh rationell und
planmäßig zu ihren bestimmten Zwecken heranbringen und „erziehen“
wollten. Die alte vegetarische Lebensweise der Bewohner Böhmens
hat vor allem die pflanzliche Produktion berücksichtigt, die animalische
dagegen vernachlässigt; das Rindvieh wurde hauptsächlich als Zug-
und Melkobjekt betrachtet. Erst im 19. Jahrhundert erscheinen hier
neue Nutzungsarten, besonders die Mastviehzucht; neben der Mastung
sehen wir auch die Rücksicht auf die Düngerproduktion. Die Ver-
edlungsversuche in betreff des heimischen Landschlages geschehen im
Wege einer rationellen Ernährung und Fütterung (namentlich der voll-
ständigen Stallfütterung) und in der Importierung von Tiroler und
Schweizer Originalvieh (1805 ff... Mit dem vergrößerten Viehstande
vermehren sich auch die Einnahmen. Aber zugleich tritt auch hier
die Tuberkulose auf. Die Laktizinwirtschaft (nebst dem Kälberabsatze),
sowie die Borsten- und Geflügelzucht wurde den Schaffern in Pacht
gegeben. Die Pferdehaltung litt ungemein unter den häufigen Kriegen
und wuchs wieder etwas nach der Aufhebung der Leibeigenschaft auf.
Von der alten Fischzucht blieb nur die Elbefischereï, die infolge der
Referate. . 179
vielen Fabriken und ihrer Abfälle sehr herabgesunken ist. Zu den
alten Industrialien — Brauerei und Branntweinbrennerei, die jedoch
ans dem rein lokalen Absatze zu einem Großbetriebe nie tibergegangen
sind — kam um das Jalır 1850 die Zuckerfabrik.
Die josephinischen Reformen führten hier infolge des Verlustes der:
ehemaligen billigen Arbeitskräfte (1781) und des anzuschaffenden eigenen
fandus instructus (in betreff der Vermehrung des Zugviehstandes, der
Ackergeräte, dann der Baureparaturen und des Arbeits- und Aufsichts-
personales) zu einem ausgedehnten Pachtsystem (1790), denn der
Betrieb ist jetzt größer und teurer geworden und erforderte überall
neue große Kapitalinvestitionen, die man eben durch die Verpachtungen
vermeiden wollte. Die Pachtformen waren verschiedenartig. Zuerst
wurden die kleineren Meierhöfe parzellenweise und licitando an unter-
tänige Bauern verpachtet, die einer strengen Überwachung unterlagen.
Im Jahre 1812 erscheint die erste Gesamtverpachtung eines Meierhofes
an einen Mann; der Meiereiparzellenpacht hört im Jahre 1829 auf.
Die einzelnen Pächter sind jetzt freier und selbständiger, aber auch
isolierter geworden; sie genießen mehr Vertrauen und werden als
Kapitalisten geschäftsmäßig behandelt. Es ist eine Art Großpacht.
Dies äußert sich in dem Gegenstande, in der Dauer der Verpachtungen!),
in der Pachtszinshöhe und in der Bewirtschaftungsart der Pachtobjekte,
die von denselben neuen Grundsätzen beherrscht wird. Schon seit dem
Jahre 1830 wurde die Rücknahme einzelner Höfe in die Selbstverwaltung
lebhaft erörtert, die dann bis zum Jahre 1876 vollständig durchgeführt
wurde. In betreff der Administration war das alte Dominium eine
kleine, in sich geschlossene Welt für sich. Der Verwaltungsapparat
der friiheren Zeiten war recht einfach, der sich erst mit der Konzen-
trierung des Herrschaftagebietes und mit der intensiveren .Bewirt-
schaftangsart allmählich vergrößerte und differenzierte; die Pflichten,
die Stellung und die Besoldungen der Beamten haben sich den Zeit-
verhältnissen angepaßt. Die Untertanverfassung zeigt uns die ver-
schiedenen Kategorien der Untertanen, deren Urbarial- (nicht Urbariat-)
und Extraurbarialzinsen (in Geld und Natura) und sog. Grundgelder;
daneben bestehen Steuern, Handwerks-, Grund- und Judenzinse, sowie
Monopolverkaufsrechte der Domäne. Auch die (ordentliche und außer-
ordentliche) Robot, deren Ursprung und Entwicklung bis zu deren
Regulierung, Reluierung und Aufhebung in der josephinischen Epoche
samt den Gegenleistungen der Herrschaft lernen wir kennen. Die
Grandkerrschaft verwandelt sich in eine Gutswirtschait. Die alte Patri-
monialgerichtsbarkeit der Obrigkeit tritt allmählich in Hintergrund,
der Untertan wird frei und der Staat gewinnt an weiterer Macht.
Gleichzeitig damit erscheint auch die Kategorie der freien Lohnarbeiter,
deren verschiedene Stufen und wachsenden Löhne, die der modernen
Industriezeit vorangehen. Mit der Darstellung der Preise der Produkte
und des Bodens, sowie mit 2 geschichtlichen Beilagen vom Jahre 1248
und 1801 endet das Buch.
1) Zu denselben gehören auch die sog. Gereutergründe, nämlich Parzellen-
grundstücke, die mit keiner Meierei im Zusammenhange stehen.
180 Referate.
Wir gelaugen zur Kritik, wollen aber zuerst einige Summar-
betrachtungen vorausschicken.
Durch die Wirtschafts- und Agrargeschichte hat die Lokalforschung
ungemein viel an Bedeutung gewonnen; sind ja manche Fragen davon
noch heute aktuell. So z. B. die Angelegenheit der Veredlung des
heimischen Hornviehes. Der einfache Import von Tiroler und Schweizer
Originalrindvieh führte nur zu einer furchtbar hier wütenden Tuberkulose,
die eben diese Methode und ihre Erfolge recht problematisch erscheinen
läßt und in Erinnerung bringt, „daß die Hochzucht durch Stallfütterung
eine allgemeine Widerstandsschwäche und eine physische Hinfälligkeit
zur Folge hat“. Diese Tuberkulose tritt nicht nur auf der Lobositzer
Domäne (seit den 60er Jahren) auf, sondern leider auch in Südbühmen
und wir müssen dem Verfasser diesbezüglich nur zustimmen. Fast
gleichwichtig ist die Frage der Pacht- und Regiewirtschaft des Groß-
grundbesitzes. Spricht die Vergangenheit mehr für das Pacht- oder
für das Regiesystem? Böhmen unterscheidet sich in dieser Hinsicht
recht bedeutend von Deutschland. Während in Deutschland das Pacht-
wesen bis in das 16. (Hannover) und 15. Jahrhundert (Stollberg-Wernige-
rodesche Domänen) zurückgeht, im 18. Jahrhundert seine größte Aus-
dehnung quantitativ und qualitativ erreicht und heute wieder gewaltig
wächst: sehen wir, daß der böhmische Adel bald nach den husitischen
Kriegen das einfache Zinsungs- und Pachtsystem aufhebt und nicht
nur den Boden, sondern auch die landwirtschaftliche Industrie in eigenen
Regiebetrieb übernimmt, der sich noch heute kräftig hält!). Dieser
Umstand ist übrigens nur günetig für Böhmen, weil einige der dortigen
adeligen Archive (wie z. B. der Familie von Pernstein, Zierotin, dann
des Hauses Rosenberg, Schwanberg und jetzt Schwarzenberg, die sowie
der Zahl, als auch der Ordnung, Organisation und Systemisierung
nach nur vorteilhaft hervorragen), eine reiche und noch unbenützte
Fundgrube und einen wahren Schatz für die Sozial-, Wirtschafts- und
Agrargeschichte bilden.
Der Wert der einzelnen Abteilungen des vorliegenden Buches ist
nicht gleich. Die Kapitel, die Flächenbewegung und die pflanzliche
Produktion betreffend, sind ziemlich gelungen. Das Verhältnis zwischen
dem Herren- und Bauernlande, der stete Grundbesitzwechsel und die
dem bisher wachsenden Dominikalbesitze gegenüber geltend gemachten
Besitzrechte des Volkes, das Verhältnis der Fläche zur Aussaat und
besonders die josephinischen Kataster- und Steuerreformen, sowie die
heutigen Arrondierungs- und Kommassationsideen finden hier Ausdruck.
In betreff der vegetabilischen Produktion haben wir schon auf die
alte vegetarische Lebensweise der Landbewohner hingewiesen. Wir
möchten nur beifügen, daß die pflanzliche Produktion eben des-
wegen hier mehr berücksichtigt, aber auch vervollkommnet wurde.
Dies beweist nicht allein die Erzeugung selbst, sondern auch die Küche,
1) Die Ansichten BERGHOrF-Isıngs beruhen jedenfalls in Unkenntnis der
Unterschiede zwischen den Grundbedingungen von Deutschland und Böhmen
(S. 150). Der Unterschied zwischen einst und jetzt in der Bewirtschaftungsart
in Böhmen ist nicht überall so groß; man findet hier alte Traditionen.
Referate. 181
die Konsumtion und die Bedürfnisse!) des Landes im 16.) Jahrhundert.
Die alten Kirchenrechnungen erzählen z. B. von einer großen Bienen-
zucht (Wachsabgaben an die Geistlichkeïit). Die Einftihrung der Kar-
toffeln war jedenfalls eine große Wohltat für das Volk, aber die Erbsen
und Linsen, die von den heutigen Arzten so warm empfohlen werden,
wurden fast gleichzeitig in den Hintergrund gedrängt. Ebenso auclı der
einst blühende Hanf- und Flachsbau, der später vernachlässigt wurde.
Die nicht unbedeutende Schafzucht, die auf heimischen Grund-
bedingungen beruhte, mußte vor der importierten und siegreich vor-
dringenden Hornviehzucht zurückweichen. Die alte, bis in das 15. Jahr-
hundert zurückreichende Teichwirtschaft war früher sehr ausgedehnt,
fortgeschritten und ertragsreich. Die Laktizinwirtschaft war hier längst
bekannt; besonders die Butter- und Käseerzeugung (darunter auch
Ziegen- und Schafkäse), die auch unter dem Naturalzehnt der Unter-
tanen erwähnt wird. Die Eierabgaben derselben (sowie auch Hennen
und Hiihner) sprechen von Geflügelzucht. Die Einktinfte der Lehrer
bestanden auch in Kuchen u. s. w. Die Existenz einer größeren
Borstenviehzucht beweisen die Waldweidezinse. Das alles betrifft natür-
lieh auch die Untertanen und nicht nur die Obrigkeit. Aber die Unter-
tanen bildeten früher einen integrierenden Bestandteil der Domäne, so
daß ihre Wirtschaft auch die Wirtschaftsgeschichte der Herrschaft,
die ja das ganze Gebiet konzentriert, verwaltet und als Hauptunter-
nehmer in ihrem Namen auftritt, bedeutet. Das 16. Jahrhundert im
Vergleiche mit dem 17. und 18. Jahrhundert zeigt, daß die Wirtschafts-
stufe der fraglichen Gegend und des Landes infolge des über 120 Jahre
andauernden Friedens ziemlich hoch und entwickelt war. Die folgenden
1) Die Produktion ist von der Natur, von dem Rohmaterial und Konsum
abhängig. Die Konsumption ist dagegen nur ein Ausdruck der Bedürfnisse,
der höheren und niederen Kultur — siehe z. B. die wachsenden Reinlichkeits-
mittel der Kultur — also etwas, was auch von der Psyche beherrscht und ge-
regelt wird. Und in diesem Sinne (aber nur hier) kann man von einer gewissen
Beseelung der Wirtschaftsstufen — mit dem LAMPRECHT dem BÜUHER gegen-
über — sprechen.
2) Die Bedeutung der neuen Erfahrungen und Errungenschaften des
19. Jahrhunderts kann man nicht bestreiten. Es ist aber auch sicher, daß
auch das 16. Jahrhundert, dessen erfreuliche Entwicklung durch die Schrecken
der Kriege, durch die wachsende wirtschaftliche und soziale Macht des Hoch-
adels und durch die sich befestigende Robot und Leibeigenschaft des alle
Rührigkeit und Klastizität verlierenden Volkes auf lange unterbrochen wurde,
viel fortgeschritten war. Es sind Reformen, oder auch nur neue Formen
der Umgebung, denen sich die Zeit anpassen mußte. In den Urkunden,
Rechnungen, Karten und Aktenstücken könnte man manchen Beweis dafür
lefern. Die Verteilung des Bodens des 16. Jahrhunderts und die blockartige
Form der Grundstücke entsprach gut den damaligen Ackergeräten und der
bestehenden Art der Bearbeitung des Bodens und bildete ohne Arrondierung
eine ziemlich kompakte Masse der einzelnen Bauerngründe. Auch die exten-
sive Dreifelderwirtschaft entsprach der Zeit: es war beinahe kein Absatz,
böchstens in naher Umgebung in einer größeren Stadt, die Bevölkerung war
nicht so zahlreich, die Steuern und Zinse waren niedrig, die Bedürfnisse klein
and infolgedessen war auch die Produktion kleiner und nur für den Haus-
verbrauch bestimint.
182 Referate.
Perioden beweisen dagegen durch ihr Herabsinken, wie fürchterlich
und in ihrem ganzen Umfange noch heute nicht ganz ausgemessen die
Schäden des 30jährigen Krieges waren: nicht nur politisch und staat-
lich nebst der gewalttätigen Einführung der katholischen Kirche und
Religion, sondern auch moralisch und psychisch die angetretene Gebunden-
heit der Geister, die Stupidität des Volkes, das Verschwinden der
Intelligenz und die plötzliche Stille in der Kulturarbeit. In sozialer
Hinsicht sehen wir den vollkommenen Niedergang des Bauernstandes,
das Verschwinden des strebsamen und begabten Kleinadels zugunsten
des Hochadels, der jetzt riesige Latifundien und eine gefährliche
Wirtschaftsmacht auf Kosten der anderen Stände in seinen Händen
konzentrierte; diese Konzentration des Bodens und Kapitals konnte
der Forst- und Teichwirtschaft wohl sehr nützlich sein, die landwirt-
schaftliche und industrielle Produktion mußte sie aber infolge der zu
ausgedehnten und folglich nie gänzlich zu beherrschenden und kaum
intensiv bewirtschafteten Fläche nur hemmen und schaden. Diese
ungünstige und ungleichmäßige Verteilung des Bodens und Eigentums
infolge der Konfiskationen des 30jährigen Krieges zog weiter nach
sich auch die wirtschaftliche Stagnation und Stupidität, eine absolute
Indolenz, einen Verlust der Produktionskraft, des Unternehmungsgeistes
und Fortschrittbestrebens (infolge des Mangels!) an Mitteln) kurz: einen
großen Rückschritt und ein großes Elend, das sich im Verluste von
zwei Dritteln der Population, in augenblicklichen materiellen Ver-
wüstungen und in dauernden wirtschaftlichen und moralischen Folgen
kennzeichnet. Diese fürchterlichen Folgen des 30jährigen Krieges, durch
welche man so manche Erscheinung in Böhmen erklären kann, leben
dort fast noch heute frisch, wirtschaftlich, sozial und moralisch. In
betreff der tierischen Produktion kann man noch beifligen, daß das
16. Jahrhundert auch die Rindviehzucht schon berücksichtigte und gut
zu unterscheiden wußte, welcher Hof mehr dem Jungvieh, dem Zug-,
Galt- oder Melkvieh entsproche. Die Viehdispositionen und Über-
treibungen — der Qualität des Futters auf den Hutweiden oder Wiesen
der Gegend und der Fütterung nach — spielten schon damals, wie
die alten Inventarien, Urbarien und Abschätzungen zeigen, eine gewisse
Rolle. Auch die Bedeutung der wechselseitigen gtinstigen Wirkung
der T'eichwirtschaft und Brauindustrie auf den Ackerbau und die Be-
nützung des Teichschlammes und der Biertreber als Dünger war schon
damals (vor dem 30jährigen Kriege) bekannt; wir lesen ja im 16. Jahr-
hundert sogar von der Teichbesämung und Fütterung der Fische u. 8. w.
Das alles hat uns der Verfasser ungenügend gesagt, wir erfahren vom
16. Jahrhundert sehr wenig.
Gelungener sind die Kapitel von den Verpachtungen, von der Ver-
waltung, von den freien Lohnarbeitern und von den Preisen. Man
muß nur bemerken, daß die Analogie mit dem Raabschen Domänen-
zerstückelungs- und Robotablösungssystem sehr schwach und zufällig
ist (S.132). Die Stellung des Oberamtmanns wurde nicht richtig dargelegt
1) Der Bauer soll eine größere Viehzucht betreiben, er hat aber nicht
so viel Fläche und kann folglich mehr Vieh nicht füttern.
Referate. 183
Der Passus von den Rentengütern ist hier unmöglich. Auch das
Verhältnis der Administration zu der Öffentlichkeit sollte bertick-
sichtigt werden. Über die Finanzierung der Domäne, über die Art
der Verwaltung und ihr Verhältnis zu den Oberämtern konnte
man mehr sagen. Man schreibt gewöhnlich Chaluppner und nicht
Kaluppner (8. 166). Der Name der Georgi- und Gallizinse kommt
schon im 15. und nicht erst im 18. Jahrhundert vor!) (S. 167). In
den Kapiteln von dem Pachtsystem und von den Preisen spricht man
gerne viel auf Grund der allgemeinen Literatur und nicht allein an
der Hand der gegebenen Quellen. Besonders der Teil über die Preise
konnte mehr bringen — der Hinweis auf die Vorgänger genügt nicht
— und wäre rein lokalgeschichtlich zu verarbeiten gewesen, es besteht
ja diesbezüglich überall ein buntes Mosaikbild von Ansichten. In dem
Kapitel von den Lohnsätzen konnte man schon mit dem 16. Jahrhundert
anfangen; im Stile spürt man die Hast der zum Ende eilenden Feder.
Die Untertansverfassung zeigt uns in Lobositz noch mehrere Formen
der Arbeit (z. B. auch die Fußrobot) sowie der außerordentlichen
Abgaben (z. B. Devolutionsgelder) und der aus dem Titel der Patri-
monialgerichtsbarkeit resultierenden Taxen (z. B. Laudemium) u. 8. w.
Die Anmerkung auf S. 173 ist allgemein und gilt nicht für Lobositz.
Das diesbezügliche Archivmaterial ist überhaupt dankbar und konnte
viel mehr herangezogen werden (z. B. 6 Wy, auh6Gy,6G/f.u.a.)
Man kann nur zustimmen, daß die Abteilung über die Jagd weniger
berücksichtigt wurde, denn die dortige Forstwirtschaft war bald von
minderer Wichtigkeit. Es ist aber sehr beachtenswert, daß der Name
Lobosch-Lobositz eben von der Jagd herrührt; das zeigt, wie wildreich
anst diese jetzt industrielle Gegend war. Dagegen müssen wir sehr
bedauern, daß der Obst- und Weinbau, sowie der Elbe-
handel und -Verkehr so stiefmütterlich behandelt er-
scheint?), denn diese drei Gruppen sind eben das, was Lobositz
charakterisiert und von anderen Gegenden unterscheidet; war ja
später Lobositz und der dortige Hafen (nach Leitmeritz) für den nord-
böhmischen Elbehandel und Verkehr mit Sachsen beinahe dasselbe,
was jetzt Aussig ist. Das finden wir nicht genügend betont, der
Anfang und die ältere Entwickelung dieser Wirtschaftszweige
werden zu wenig berücksichtigt. Die Borstenvieh-, Geflügel- und
Pferdezucht wird wenig und die Bienenzucht gar nicht berücksichtigt.
Auch die Industrialien bieten nicht viel. Das Maß- und Münzwesen
wird nach einer Arbeit vom Jahre 1873 geschildert, obgleich schon
1) Das Wort „Ansässigkeit“ erscheint erst im 17. Jahrhundert und
nicht früher.
2) Zur Geschichte des Obstbaues finden wir manches in den Kataster- :
karten — so z. B. topographische Namen der Dörfer und Grundstücke —
«wie in der älteren Literatur (so z. B. Dorf Ruscholka = Birnbaum-
garten u. s. w.) Zur älteren Weingeschichte liefert manches nicht nur
VeseLy (1894), sondern auch das Urkundenmaterial. Die dortige Weinkultur
«heint ihren Ursprung entweder dem Kloster Strahov (1148), oder Altzell
11251) zu verdanken und wird schon im 13. Jahrhundert dokumentarisch
erwähnt.
184 Referate.
viel neuere und bessere bestehen; infolgedessen erscheinen auch alle
Überrechnungen problematisch und unsicher. Der Vorgang und die
Entwicklung des Werkes ist nach bekannten Mustern logisch und gut.
Der Umfang der einzelnen Kapitel läßt dagegen noch manches zu
wünschen übrig; so z. B. auch in betreff der Untertanverfassung.
Das Buch entstand auf Grund der Lobositzer Archivquellen; das
ist sein großer Vorzug. Die Urkunden!) und Karten wurden aber wenig
ausgentitzt (ebensowenig wie die alten Kirchenrechnungen, Stiftsbriefe
und Inventarien), so daß die älteste und ältere Zeit ziemlich karg aus-
geht. Von dem Ursprunge des Herrschaftsbetriebes erfahren wir fast
gar nichts. Zu erwähnen wäre auch die Edition von EDUARD BEYER:
Das Zisterzienserstift und Kloster Alt-Zelle in dem Bistum Meißen
(Dresden 1855, 517—730). Die Rentrechnungen und tiberhaupt Rech-
nungen (und mithin auch die eigentliche Darstellung) fangen erst vom |
Jahre 1650 an, und gehen bis zum Jahre 1783; von den Nebenrech-
nungen wurden auch neuere und ganz neue benützt. Auch die lokale
Spezialliteratur wurde nicht genügend berücksichtigt. Es kämen noch
in Betracht: J. LIPPERT, Sozialgeschichte Böhmens (I. u. II. Band, 1896 und
1898) — zur Information; Mitteilungen des nordböhmischen Exkursions-
klubs (besonders Av. KIRSCHNER: Geschichte der Schiffahrt auf der
Elbe zwischen Leitmeritz und der Landesgrenze bis 1899, 1902, 25);
die Schriften der K. K. Patriotisch-ökonomischen Gesellschaft in
Böhmen, die Abhandlungen einer Privatgesellschaft (später Kgl. böhm.
Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag). Die Vorgänger der jetzigen
wirtschafts- und agrargeschichtlichen Literatur?) nannten gern ihre
Werke: Historisch-statistische Beschreibung, Historische Topographie etc.
Hier wäre auch zu suchen.
Der Hauptfehler dieser Arbeit besteht darin, daß der Statistiker den
Geschichtsschreiber zuviel in Schatten gedrängt?) hat, sowie aus Mangel
an der historischen und kartographischen Methode. Für ältere Zeiten,
wo zifferische statistische Nachweise der Rechnungen fehlen, muß sich
der Historiker mit der bloßen Sicherstellung der einfachen Tatsachen *)
der Urkunden begnügen; die Ziffern sind übrigens nicht immer felsen-
fest und richtig und manchmal sogar fingiert und unvoliständig. In-
folgedessen bemerken wir hier eine häufige Vernachlässigung einer
festen und bestimmten Chronologie. Die agrarisch-historische
Lokalforschung erfordert außerdem eine strenge Induktion, und wo
dies nicht möglich, oder wo breitere Vergleiche zur Schaffung eines
1) Außer den im Archiv verwahrten Urkunden findet man solche: Regesta
dipl. n. n. epist. Bohemiæ et Mor. I. (p. 562, Nov. 1215) bis IV.; Ces. Archiv
(XVIII, 1900, 290) u. s. w.
2) Auch z. B.: Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik (1902,
XXIV, 177).
ı ? Es geschieht oft; siehe z. B. diese „Vierteljahrschrift“, 1904, 1. Heft,
4) Es ist bekannt, dass viele frühe und beachtenswerte Erscheinungen
auf dem wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen Gebiete auch geographisch und
kartographisch sichergestellt werden können. Das gilt besonders von der
Kolonisationsgeschichte.
Referate. 185
reiteren Horizontes und zur | Aı gung gezogen werden
ad allgemeinere Schilderungen s x n : dann muß das betont
erden. Eben infolge dieses Many anıes 'ınduktiver Methode
scheint oft eine irreführende Anaıogie, ja Anachronismus, oberfläch-
the Verallgemeinerung!) oder Darstellung von fremden und
ıtfernten Gebieten und Verhältnissen. Es fehlt eine strenge Unter-
eheidung zwischen dem Allgemeinen und Speziellen. Das Mittel-
ter ist ein wahres Mosaik, wo nur die Detail- und Spezialforschung
olfen kann. Die Behauptungen des Autors sind nicht immer
rehivalisch bestätigt. Das finden wir in der minder glücklichen Wahl
er gedruckten Literatur, die wohl ftir Deutschland, aber weniger
ir Österreich und Böhmen paßt, obwohl auch eine solche dort besteht.
as bekannte Werk GRÜNBERGS schildert die Sache allgemein genug
on oben herab; gilt das speziell für Lobositz, war es dort auch s0?
iese methodischen Schattenseiten finden wir namentlich in dem ge-
hichtlichen Überblick. So z. B. die Deduktionen auf 8. 21, 22 und
3 sind nicht ganz richtig, weil die Urkunde vom Jahre 1248 von Lan
nd micht von Hufen spricht und ungenügend?) übersetzt und ausgelegt
urde. Auf 8. 22, 23 und 24 sehen wir einen zu kleinen kartographischen
xkurs. Statt von Lobositz schreibt der Autor eigentlich mehr von
eitmeritz (S. 36—39, 42, 44-—45), oder bringt ganz allgemeine (8. 25,
3 und 30) und unbegrtindete Behauptungen vor und wird am Ende
cht unwissenschaftlich unobjektiv, so daß er sich in spezialer
orschung selbst dann widerlegen muß (S. 29 und 31, 33 und 34).
as historische Bild Böhmens ist hier nicht ganz positiv und wird
cht selten untibersichtlich, unorganisch und zerrissen. So z. B. auf
‚34 und 35 (wir erfahren nur wenig von dem Lobositzer Elbehandel),
gleich dieses Bild doch zusammenhängend verfolgt werden könnte.
fir wollen in der Geschichte nicht nur statistische Tafeln, sondern
ıch eine geschichtliche Entwicklung haben. Der Wirtschaftshistoriker
il ebenso die statistische, als auch die geschichtliche und
artographische Methode beherrschen. Kurz: so — mit einer
lichen Vernachlässigung der historischen Kritik, Methode und Induktion
- darf man eine Wirtschaftsgeschichte nicht schreiben. Doch — eine
rstlingsarbeit. Wenn auch so manches unvollkommen ist, so bleibt
e Wahl des Themas immerhin glücklich; der Stil ist hübsch, der
ator viel belesen und mit manchen allgemeinen Literaturkenntnissen,
e viel Anregendes bringen und einen hohen Standpunkt bezeugen,
ısgestattet; auch viele Archivquellenstudien wurden an Ort und Stelle
rgenommen?). Es ist ein schwieriges Thema, das nur wenige Vor-
1) Diese gewisse Zuneigung zur phrasenbaften Verallgemeinerung finden
ir fast in allen Teilen der Arbeit; ja auch in dem Kapitel von der vege-
bilischen und animalischen Produktion (Obst- und Weinbau, Schweine-, Ge-
igel- und Pferdezucht, von dem Grundbesitzwechsel und dem Maß- und
ünzwesen, von den Handels- und Verkehrsbeziehungen mit Sachsen. (Von
:itmeritz kann man das nachweisen; ob auch von Lobositz?) Am meisten
it das von dem geschichtlichen Überblick.
2) Die Wiedergabe von beiden Beilagen entspricht weniger den heutigen
iitionsanforderungen. Die diplomatische Beschreibung der Urkunde vom
186 Referate.
r und Vorarbeiten aufw nkann; undankbar, weil sehr umfan
und d nur von I« r ı d Detailbedeutung, dagegen se
. W vi Fragen v btig und für das wirkliche Leb
.1
n AK G amtbild instruktiv, reich und sog
t1 am u { mi en, sollte man das Werk vielme
n D) zur ı „u te der Domäne Lobositz“ nenn
(Loou— 1782 u it n sen wir auch eine Karte des t
Û ı . Register und noch einige bess
gewanite, or |
Wit .( JOSEPH SALABA.
Jahre 1248 fehlt; es ist nämlich ein einfaches Vidimus aus dem 16. Jal
hundert. — Auch die Archivsignaturen vermissen wir ungern.
1) In der Vorrede sagt er selbst, daß es unvollständig und nur e
Voruntersuchung ist. Über die Notwendigkeit der Induktion siehe auf S. 5°—
Daß in betreff der neuen Zeit (Raps-, Zuckerrüben-, Futter- und Hopfe
bau u. 8. w.) auf die Vorarbeit hingewiesen wurde, kann man billigen; d
Arbeit vom Jahre 1878 ist aber nicht besonders gelungen.
Druck von W. Kohlhammer in Stuttgart.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren
und Germanen und ihre sozialgeschichtliche Bedeutung.
Von
J. Peisker.
Engere völkerschaftliche Beziehungen entstehen durch ein
\ebeneinander- oder ein Miteinanderwohnen; naturgemäß ist das
letztere so ziemlich immer, mit wenigen Ausnahmen, ein Über-
einanderwohnen. Wir unterscheiden somit völkerschaftliche Be-
ziehungen durch Nachbarschaft und Beziehungen durch Eroberung,
durch Unterwerfung eines Volkes durch ein anderes Volk oder
Gefolgschaft.
Es ist kein Fall bekannt, daß ein germanisches Volk von
einem slawischen dauernd unterjocht worden wäre, dagegen füllt
ein geradezu ununterbrochener, fortschreitender und siegreicher
Eroberungskampf des Germanentums auf slawischem Boden einen
&rolen Teil, namentlich der mittelalterlichen Geschichte aus.
Dai diese unaufhaltsame Sieghaftigkeit dem einen dieser beiden
Völker so ausschließlich treu blieb, während dem andern Volke
ein ebenso fortschreitendes Zurückweichen und eine hier mehr,
dort weniger harte Unterwerfung und allmählicher Tod einzelner
Teile beschieden war, kann gewiß nicht auf ein bloßes Kriegs-
glück zurückgeführt werden, denn gar so fahnentreu ist bekanntlich
die Kriegsgöttin nicht. Es müssen demnach noch andere, viel-
£&taltige Vorbedingungen hier mitgewirkt haben, welche die
Germanen so unwiderstehlich wehrhaft, die Slawen dagegen so
ünsagbar widerstandsunfähig machten. Rein ethnischer Natur
waren diese Vorbedingungen gewiß nicht, denn die Germanen
find der Baltoslawen nahe Anverwandte; der Grund oder die
Gründe müssen somit politischer Natur gewesen sein, die
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 13
.
188 J. Peisker
Slawen müssen bereits vor ihrer ersten Unterwerfung durch Ge
manen eine entsprechend lange Zeit unter derart ungünstig:
politischen Verhältnissen gelebt haben, daß ihre Kräfte in sta:
licher und gesellschaftlicher Beziehung ganz ausgesogen und :
selbst geradezu mazeriert wurden, um schließlich zur Beute t:
kräftiger, staatlich festgefügter Eroberer zu werden. Und au
dort, wo sich einzelne Slawenvölker wieder aufrichteten, gesch:
es, fast immer nachweislich, nicht durch eigene Aufraffung, sonde
von außen her, durch Fremde.
Welches sind nun die politischen Gründe, die dem Slawentu
die Rolle, man könnte fast sagen von Parias aufzwangen, 1
schließlich dessen Namen sogar zur Bezeichnung der härtest
Knechtschaft zu erniedrigen ?
Ein tieferer Blick in die älteste bekannte geographische La
der Slawen und deren Nachbarschaft wird uns auf die Sp
dieser politischen Gründe führen:
Die ältesten bekannten Sitze der Slawen befanden sich :
nähernd an beiden Seiten des mittleren Dniepr nach Westen u
Nordwesten zu!); wie weit, ist für unsere Frage gleichgült
Dort zählten sie in vorhistorischen Zeiten Kelten und Germar
zu ihren westlichen Nachbarn, während im Südosten, am Pont
unter anderen die eine iranische Sprache sprechenden Wand
hirtenvölker der Skythen hausten. Dies beweisen die keltisch
die altgermanischen und die medischen Lehnwörter in der :
slawischen Sprache.
Die bezeichneten Sitze der alten Slawen können eine z3
reiche Bevölkerung reichlich nähren. Die zumeist langsam fließ
den Gewässer dieser ausgedehnten Ländereien sind fischreich ı
schiffbar, und auf dem festen Lande wechseln Sümpfe und Wies
gründe mit trockenen, für den Ackerbau sehr geeigneten La;
vielfach ab. Die Mannigfaltigkeit in der Bodenbeschaffen!
bietet somit, trotz des rauheren Klimas, solche Vorbedingun;
für einen lohnenden Feldbau einerseits und eine ertragrei
Viehzucht andererseits, wie es in Germanien kaum günstiger sta
Man sollte also glauben und glaubt es auch vielfach, daß
1) L. NIEDERLE, Slovanské starozitnosti I., 1. V Praze 1902, S. 30, Ka
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 189
wirtschaftliche Lage der alten Slawen nichts zu wünschen übrig
ließ; denn je primitiver ein Volk, desto abhängiger ist es von
den Eigenschaften seines Territoriums, und wenn dessen Klima
und Bodenbeschaffenheit so günstig sind, wer sollte dann zweifeln,
daß das Resultat in dem Volksdasein selbst ebenfalls günstig
sein mußte.
Und dennoch ist diese Schlußfolgerung falsch, denn sie ent-
spricht den Tatsachen nicht. Welches sind diese Tatsachen ?
Zunächst die, daß den Slawen für sehr alltägliche, ja, nach
unseren Vorstellungen unentbehrliche Dinge teils ein eigener Aus-
druck fehlt, teils der eigene nicht ausreicht. Bezeichnungen für
Rind (skotz, n#uta), für Nutzmilch (m/e%o), für Pflug (Plugs) und
neles andere sind aus dem Altgermanischen, für geronnene Milch
(twarogs) aus dem Turkotatarischen entlehnt. Wäre dies denkbar,
wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der alten Slawen von
aulen unbehelligt, der günstigen Bodenbeschaffenheit gemäß ent-
wickelt hätten? Gewiß nicht! Andererseits war jedoch die Boden-
natur selbst so freigebig, daß es voreilig wäre, anzunehmen, die
alten Slawen hätten nur deswegen, weil ihre Ausdrücke für Rind,
für Nutzmilch, für Pflug und manches andere zum großen Teil
germanische Lehnwörter sind, erst durch die Germanen Viehzucht
ind Ackerbau kennen gelernt und bis dahin, von allem Anfange
a, man weiß wirklich nicht, wovon gelebt. Kennt ja schon
HERoDoT in jenen Gegenden Völker, die Ackerbau trieben, indem
er im vierten Buche seiner Geschichte unter anderen die Zxu3a
drises und Zxuder yewgyot anführt und hinzufügt, die ersteren
bauen Getreide, nicht zur Nahrung, sondern zum Verkaufe!).
Man sieht, das Rätsel wird durch Herodots Bericht noch
schwieriger, und fast wäre man geneigt anzunehmen, die Übernahme
der angeführten Lehnwörter sei rein zufällig und ohne wirtschafts-
geschichtliche Bedeutung, wenn nicht eine, wenn auch viel spätere
Nachricht vorläge, welche den fraglichen Lehnwörtern erst recht
1) Hgropor IV, 17f. Daß sie von dem Getreide, welches sie selbst an-
gebaut, nicht auch genossen hätten, ist wenig glaubhaft; daß sie jedoch
damit Handel trieben, kann nicht bezweifelt werden, denn eben die griechischen
Städte am Pontus und dem Asowschen Meere, die HERODOT besuchte, waren
Abnehmer dieses Getreides.
190 J. Peisker
ein scharfes Relief verleiht. Es ist dies eine Nachricht des byzan-
tinischen Kaisers Konstantin Porphyrogennetos, der in seiner im
Jahre 952 verfaßten Schrift „über die Staatsverwaltung“ von den
Russen folgendes sagt:
Den Russen sind die Petschenegen Nachbarn und angrenzend,
und oft, wenn sie miteinander nicht im Frieden leben, plündern
sie Rußland und schädigen und verwüsten es gewaltig. Di
Russen sind bestrebt, mit den Petschenegen im Frieden zu leben,
denn sie kaufen von ihnen Rindvieh, Pferde und Schafe, und
auf diese Weise leben sie leichter und üppiger, indem beı
ihnen keines von diesen Tieren vorkommt\).
Dieses hochbedeutsame Zeugnis darf nicht länger unbeachtet
bleiben, wie es bis jetzt geschehen, und zwar auch dann nicht,
wenn es sich, wie anzunehmen, nicht mehr auf das ganze slawische
Russenvolk, sondern bloß auf die den Petschenegen benach-
barten, südrussischen Gebietsteile beziehen sollte. Es auf die
warägischen Beherrscher der russischen Slawen zu beziehen,
geht nicht an, denn eine ausgedehnte Viehzucht der germanischen
Skandinavier kann nicht angefochten werden. Diese den herrschen
den Warägern abzusprechen, dagegen ihren unterworfenen Slawe!
zuzugeben, wäre absurd.
KONSTANTINS Angabe besagt ja genau dasselbe, was die be
1) "Ort xal voiç "Püg ol Harkıvaxiar yeitoves xal önopor Kadtscthausı, %!
route, Otay aM npös AANNAoug elpnvebouor, npardedoug: nv "Pootav x:
lxavüç adthy napaßAdrtovucı al Aupalvovrat,
Erı nal ol 'Püg dr anovdng Exovorv slpnvny Exerv nera Tüv MHarlıvaxıza
&yopäatouar yap 2E abt@v Bdas al Inroug xal npößara, al dx Tobtov ehnap
otepov Btalüar xal Tpupepwtspov, änsel unôëèv TÜV Tposıpnnevov Cowv dv 1
"Poolg xadéotnxev. KONSTANTIN PORPHYROGENNETOS, De administrant
imperio, cap. II. Ausgabe Bonn, 1840, S. 69 im Corpus scriptorum histori:
Byzantinae. Koxsrt. PORPHYR. vol. II.
Wie weit man KONSTANTINS Nachricht mißverstehen kann, zeigt d
Erklärung von UspEnsKkıs: Der russische Norden komme mit seiner Vie
zucht nicht aus und müsse seinen Mehrbedarf aus dem Süden beziehe
Yenenckif, Pycp u BusanTis BB X. BBKB. S. 10, zitiert bei LASKIN : Counnen
KoacrauTaxa BatpaHoponHaro: „O demaxp“ (de thematibus) m ,0 Haporax1
(de administrando imperio). S. 66, Anm., in den YreHuisa Bp HMn. O6mectTE
Hertopiu x IpesnocteA PocciAckixb npn MOCKOBCKOMB Y HHBepcHTert. 1899.
(der ganzen Reihe CLXXXVIH). Mocksa, 1899.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 191
wußten germanischen Lehnwörter kundgeben, und indem diese Lehn-
wörter vielleicht tausend Jahre und darüber älter sind als die Nach-
rieht KONSTANTINS, so erhellt daraus, daß zunächst der durch diese
zwei so lapidaren Belege bezeugte Mangel an Viehzucht ein die
alten Slawen charakterisierender Zustand gewesen ist, welcher
entweder ungezählte Jahrhunderte anhielt oder aber — und dies
liegt naher — nach kurzen oder langen Unterbrechungen immer
von neuem aufkam.
Ein so gänzlicher Mangel an Viehzucht entspricht indes den
Bodenverhältnissen jener Gegenden nicht, denn sowohl die Skythen
as auch die Goten, die Hunnen und alle die nachfolgenden
Völker, welche diese Slawengebiete beherrschten und sich dort
aufhielten, waren Viehzüchter. Wenn es nun bei den Slawen
anders stand, so ist für diesen Zustand kein anderer als der
Grund zu finden, daß die Slawen an einer Viehzucht durch
andere Völker anhaltend gehindert wurden.
Wer konnte nun ein Interesse daran haben, daß die Slawen
keine Viehzucht besitzen? Wohl nur einer, welcher selbst in
der Lage war, auf demselben Gebiete Viehzucht zu treiben, und
zugleich genug Macht besaß, die Weiden ausschließlich für seine
eigenen Herden in Beschlag zu nehmen, überdies jedes er-
reichbare fremde Vieh zu rauben und so dem Unter-
worfenen und auch dem durch Einfälle systematisch
heimgesuchten Nachbarn jedwede Viehzucht unmög-
lich zu machen.
Solche Gelüste sind jedem Reiternomadenvolke eigen,
nur das Maß seines Könnens bringt Unterschiede in dem Erfolge.
Und Reiternomaden hausten mit seltenen Unterbrechungen seit
jeher in den Steppen Südrußlands, von wo aus sie nicht nur die
Slawen fortgesetzt brandschatzten und versklavten, sondern
wiederholt auch viel weiter nach Westen und Südwesten, ja auch
üach Südosten, Iran und Indien, vordrangen.
Ein entsetzlicheres Schicksal kann man sich gar nicht denken,
als das der Slawen war, welchen Sitze in der unmittelbaren Nach-
harschaft der großen Steppe zuteil wurden, dem ständigen Tummel-
platze wilder Nomadenhorden. Diesen waren sie auf Gnade und
Ungnade ausgeliefert, aus deren Klauen keine Rettung winkte;
192 J. Peisker
und kaum hat sich ein Schwarm halbwegs abgenützt un
ruhigt, als ein neuer Sturm aus Zentralasien losging und
der Blitz einschlug, alles um sich her hinwegfegend, vernich
Und man wird die uns so befremdenden sozialen
wirtschaftlichen Zustände der alten Slawen n
verstehen, solange man nicht deren Verhältniszu
herrschenden Nomaden auf das allergenaueste 1
gestellt hat. Anhaltspunkte sind reichlich vorhanden,
die Slawen waren nicht die einzigen Nomadenknechte, sie h
Leidensgenossen, namentlich unter den Iraniern, am Südr
der zentralasiatischen Salzsteppe, dem Brutneste des R
nomadentums überhaupt, durch welches so viel Elend über :
und Europa gekommen ist.
Dort, in Zentralasien, dauerten dieselben sozial- und
schaftsgeschichtlichen, von Reiternomaden geschaffenen Zust
bis zu unseren Zeiten, bis zu den Tagen Skobelevs, welche
Gök-Tepe die letzten Schlupfwinkel dieses Weltunheils zers
Mit der russischen Eroberung ging auch die wissenschaf
Durchforschung Turkestans Hand in Hand; sie bildet b
eine ganze Literatur. Die beste Darstellung verdanken wiı
Arbeiten deslivländischen Naturforschers und Landwirts ALEXA
v. MIDDENDORFF über Ferghana'), das einstige Chanat von Chol
welches im Jahre 1876 dem russischen Reiche einverleibt w
Am südlichen Rande der großen Horde der Kirgisen gel
war dieses von iranischen Tadschiks bewohnte Gebiet sei
denklichen Zeiten den benachbarten turkotatarischen Reiternon
preisgegeben; hier war die Zweischichtung immer zü H
„Der stets nur Feldbau treibende Tadschik — schreibt Mıı
DORFF — steht... . als Ackerbauer immer dem Viehzucht
benden Nomaden türkischen Stammes gegenüber, und deı
hat eine, von höherem Gesichtspunkte dareinschauende S:
wirtschaft diese beiden Gegensätze nur als zwei, zwar
heterogene, aber nichtsdestoweniger sich mit unumgäng!
Notwendigkeit ergänzende Bestandteile derselben Einheit,
1) A.v. MIDDENDORFF, Einblikke in das Ferghana-Thal, in den Mém
de l’Académie Imp. des Sciences de St.-P6tersbourg, VII" ser. Tome !
Nr. 1, 1881.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 193
Landwirtschaftsbetriebes jener Gegenden aufzufassen. China,
Japan, Persien, der Kaukasus, Italien, kurz alle durch Bewässe-
rugen sich hervortuende Gegenden bieten uns übrigens dieselbe
Eigentümlichkeit dar; denn sie ist durch die natürlichen Ver-
hältnisse bedingt: Zentrale Depekoration und zentrale Vegetarianer,
umgeben von Hirten, die fast ausschließlich Fleischnahrung ver-
ehren . . .“)).
Letzteres ist ein befremdlicher Irrtum, der Wanderhirt ist
entschiedener Galaktophage, Milchesser. Er schlachtet, wenn
er nicht besonders herdenreich ist, nur selten ohne Not?), sich
mt dem begnügend, was umfällt. „Im Sommer haben die Kal-
mücken — berichtet PALLAS — bei ihren zahlreichen Herden an
Mich einen Überfluß, und selbige macht alsdenn auch einen
Hauptteil ihrer Nahrung aus ... Im Sommer fehlt es ihnen zur
Speise niemals an Fleisch, welches sie teils durch die Jagd, teils
von ihrem verunglückten oder verreckten Vieh alsdenn im Über-
fui bekommen. Eignes Vieh aber ohne Not zu schlachten, ist
außer bei Reichen und Vornehmen oder bei großen Lustbarkeiten
etwas Ungewöhnliches“ ?); ferner geht MIDDENDORFF zu weit,
wenn er den ferghanischen Dualismus in der Lebensweise als
wumgängliche Notwendigkeit darstellt, wie wir sie in Italien,
China, Japan und anderwärts vorfinden; denn in China, Japan
ist der Vegetarismus nicht durch Zwang seitens einer herrschen-
den Nomadenschicht entstanden, sondern durch Übervölkerung
der bäuerlichen Gebietsteile und den dadurch verursachten Mangel
an Weide, welcher eine milchspendende Viehzucht ausschließt.
Auf großen Gebieten Chinas z. B. sitzen die Menschen so dicht
beisammen, daß sogar der Ackerbau aufhören und dem inten-
sivsten Gartenbau weichen mußte; dies geht so weit, daß ein
Exkrement zu einer Kostbarkeit und der Wanderer angebettelt
wird, nicht weiter zu ziehen, bevor er Kot gelassen. Nutz-
Milch ist sodann eine unbekannte Sache und auf den Märkten
l)A. a. O. 3. 263.
2) RICHARD HILDEBRAND, Recht und Sitte. Jena 1896, S.28 ff. — Über
Milch als Speise siehe VAMBÉRY, Das Türkenvolk. Leipzig 1885, S. 208 ff.
3) PALLAS, Reise durch verschiedene Provinzen des russischen Reichs.
L St Petersburg 1771, S. 314, 319.
194 J. Peisker
höchstens nur Frauenmilch, als Ersatz für Mutter- oder Ammen-
milch erhältlich!). Das einzige Schlachtvieh ist hier Schwein
und Hund. Auch der Vegetarismus einzelner italienischen Gebiete
kann nicht auf den Einfluß des Wanderhirtentums zurückgeführ
werden, hier hängt er mit dem leidigen Kolonate zusammen: dit
Pächter kleiner Hofstellen können hier kein Vieh halten, wei
das spärliche Grasland dem Grundherrn vorbehalten ist.
Der Dualismus Ferghanas kann somit mit den Zustände
Chinas und Italiens nicht verglichen werden, und es ist anzu
nehmen, daß, wenn die herrschende Hirtenschicht in Ferghan
zu einer gewissen Bändigung gelangt wäre, sich die Verhältnis:
etwa wie auf der Balkanhalbinsel entwickelt hätten, wo nebe
der nichtherrschenden galaktophagen wlachischen Schafwande
hirtenschicht, eine auch Hausvieh-, namentlich Rinderzuc
treibende Bauernschicht besteht. Allein die schrecklichen Wüste
Turkestans schütteten immer neue, frischwilde Nomadenhorde
aus, die jedes sich etwa bildende friedliche Gleichgewic
zwischen Hirt und Bauer gleich im Ansatze zerstörten. Und :
paßt wörtlich auch auf Ferghana Konstantins des Purpurgeborene
Bericht über die Russen, denn auch der Tadschik züchtet ke
Vieh, und will er welches haben, dann muß er es von de
Nomaden erwerben.
„Sehr bezeichnend — berichtet weiter MIDDENDORFF — f
die Ausschließlichkeit, mit welcher der Tadschik nur Ackerbau
ist und seine Ergänzung im Nomaden sucht und findet, ist d
Umstand, daß ich es nur als Sage anführen kann, es gäbe irgen
wo einen Tadschik, der Herden weide, wobei aber sogleich hinz
gefügt wurde, daß seine Viehzucht, gleichsam selbstverständlic
sich auf Schafe beschränke“ *).
„Eine der interessantesten Erscheinungen in Ferghana bie!
die sonderbare Ineinanderzwickung der intensivsten Kultur u:
des Primitivzustandes nomadischen Zelt- und Hirtenlebens. H
man daheim an der Hand der Geschichte den Gang der Geschic!
1) MARTIN, L’alimentation en Chine. BULLETIN de la Société d’acı
matisation 1872, S. 609, zitiert bei RUDOLF Dvoräk, Z éinské domäcno:
V Praze 1891, S. 26.
2) MIDDENDORFF, a. a. OÖ. S. 268.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 195
satttam verfolgt und in Erfahrung gebracht, wie seit langen
Jahrhunderten mongolisch-türkische Völkerschaften in steter Auf-
einanderfolge die iranischen Tadschik unterjocht; wie in letzter
Instanz die indolenten, aber raublustigen Usbeken . . . ihr Joch
den betriebsamen Iranern (Tadschik und Sarten) aufgezwängt und
sie bis zur letzten Stunde gebrandschatzt, so vermag man es
anfangs kaum zu fassen, daß die Scharen früherer Herrscher mit
einem Schlage in Nichtigkeit dahingesunken sind und man nur
zweierlei himmelweit voneinander abstehende Entwickelungs-
zıstände des Hauswesens in kaum glaublicher Weise in- und
durcheinander verschlungen vor sich sieht. Und das merk-
wirdigste ist, daß der frühere Herrscher in entschieden unter-
geordneter Stellung neben seinem früheren Sklaven, dem Iraner,
erscheint.“
„Den Ausdruck Sklave mag man vielleicht an diesem Orte
unpassend finden; er dürfte es aber wohl nur insofern sein, als
die wirkliche Sklaverei mit Einschluß des Sklavenverkaufes auf
offenem Markte, in Mittelasien mit dem Einzuge der Russen auf-
hörte. Beachten wir aber, daß es ein nur zu wahres Wort ist,
eg rege sich mit den Anfängen der Seßhaftigkeit und des Acker-
baues auch das Verlangen nach Sklavenarbeit, welche in ihrem
Gefolge stets Willkürherrschaft nach sich ziehe, so bleibt es Tat-
sache, daß die Iraner Ferghanas, fort und fort aus einer Hand
in die andere übergehend, im Schweiße ihres Angesichts Kanäle
gegraben, Felder bebaut, hunderterlei Künste geübt, um ihren
Uberwindern nach deren Belieben den Löwenanteil zu zollen.
Diese setzten wohl Herrscher nebst Trabanten über die Üher-
wundenen hin, aber das waren nur Einzelne, welche im Voll-
gefühle ihrer unbeschränkten Gewalt den Schwelgereien und
Simengelüsten sich ergaben, während die Masse der siegreichen
\omaden dem gewohnten Treiben nicht zu entsagen vermochte.
Unwiderstehlich zog sie der Drang der angeborenen Gewohn-
heiten zu der freien Luft der Alpenmatten, der hochebenen Steppen
hinauf, sobald die Boten des Frühjahrs sich einstellten. Ja nur
tin Teil der Nomaden kehrte zum Winter in die Umgebungen
der interworfenen besiedelten Orte zurück“ !).
A. a. 0. 8. 827 f.
196 J. Peisker
Ebenso VAMBÉRY: „Dort, wo Nomaden auf unabsehbare
wüsten Steppen in der unmittelbaren Nähe eines zivilisiert
Landes sich befinden, dort ist Raub und Sklaverei immer me
oder weniger unvermeidlich. Die wüste, arme und nackte Nat
hat ihre Kinder mit einer unbändigen Lust zu Abenteuern u!
überlegenen physischen Kräften ausgerüstet; was der dürre Bod
ihrer Heimat ihnen versagt, das müssen sie bei ihren mehr g
segneten Nachbarn suchen. Der Verkehr geschieht nur selt
auf freundlichem Wege, und da der beraubte und hart m
genommene friedliche Ackerbauer den gutberittenen Nomad
über die Grenze der spurlosen Sandfelder nicht verfolgen ka
und es auch nicht wagt, so kann letzterer, geschützt vom Bo
werk seines heimatlichen Terrains, seinen räuberischen Vergn
gungen ganz ungestraft nachhängen. In dieser unglücklichen La
befanden sich früher die Städte am Rande der Sahara und d
Wüste Arabiens; in letzterer sind noch heute die Karawanen d
größten Gefahren ausgesetzt, und Persien muß dieses Elend ı
um so größerer Wucht empfinden, da die an seiner Nordgren
befindlichen Wüsten die ausgedehntesten und schrecklichst:
deren Einwohner aber auch die wildesten aller Nomaden sind“ ?).
Was ist das, ein Wanderhirt, ein Reiternomade? Was zwa
den Nomaden, es zu werden? Wo und wovon lebt er, und warı
lebt er so? Muß er so leben und nicht anders?
Er ist der Sohn und Produkt der ganz eigentümlichen Sa
steppen und Salzwüsten Zentralasiens. Diese bestehen aus eir
Reihe von sehr flachen Senkungen, in denen die Wassernied:
schläge entweder von dem Boden bald aufgesogen werden oc
zu einem Sumpfe oder Salzsee zusammenfließen, welche im So
mer austrocknen. Der Steppenboden ist nicht gleichmäßig: «
Lößsteppe mit lockerer, sehr fruchtbarer Erde, die Sandwü:
mit feinem, unfruchtbarem Sande, die Kiessteppe mit spärlich«
Graswuchs und die Stein- oder Schuttsteppe, der Vegetati
günstig?). Das Klima ist unausgeglichen. Im Winter weht ı
1) VÄMBERY, Skizzen aus Mittelasien. Leipzig 1868, S. 162.
2) Über die Entstehung und den Charakter der turkestanischen Wüst(
region siehe FRANZ v. SCHWARZ, Sintfluth und Völkerwanderungen. Stu
gart 1894, S. 492 ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 197
wochenlang von Nordwesten her ein kaum erträglicher Sturm-
wind, der den lockern Schnee aufwirbelt. Dieser bleibt ge-
wöhnlich nicht lange liegen, fällt jedoch auch noch anfangs Juni,
worauf plötzlich der heiße Sommer mit der großen Dürre eintritt.
Ebenso schroff ist auch der Übergang zum Winter, denn einen
Frühling und Herbst gibt es nicht.
Irgendein Ackerbau ist hier, der sommerlichen Trockenheit
wegen, ohne künstliche Bewässerung unmöglich, und auch die
Tierwelt findet eine ganze Hälfte des Jahres, den Sommer über,
keine Nahrung. Sobald das Gras anfängt zu verdorren, entsteht
eine allgemeine Flucht von Tier und Mensch, und sie muß recht-
zeitig ergriffen werden, um schnell genug Orte mit hinreichender
Weide zu erreichen, zum größeren Teil in den weiten Norden,
auf ungeheure Entfernungen. Hier liegen die Sommerweiden,
und wenn diese im Herbst durch Verschneiung versagen, dann
heißt es, den Rückzug in die Winterquartiere der Lößsteppe und
der Salzwüste antreten. Die westturkestanische Steppe
ınd Wüste bildet somit — im Gegensatze zu Ostturkestan —
erstim Zusammenhange mit den angrenzenden nôrd-
lichen, sibirischen Gebieten die nötige Verbindung
zn einem, wenn auch überaus harten Dasein für
Mensch und Tier und schafft mit Ostturkestan zu-
sammen den Zustand des Wanderhirtentums, welches
zugleich ein Reiternomadentum ist, denn ein Wagen
wäre auf den pfadlosen Wanderungen über Berg und Tal, über
Fluß und Sumpf ein Ding der Unmöglichkeit, und alles Hab und
Gut kann nur auf dem Rücken von Saumtieren vorwärtsgebracht
werden.
Das strenge Reiternomadentum kennt keine Rinderzucht. Das
Rind verdurstet bald, es ist nicht schnellfüßig und ausdauernd
renug, um die ungeheuren Wanderungen mitmachen zu können;
8 ginge an Erschöpfung zugrunde, bevor es im Frühjahr die
Sonmerweiden und im Herbst die Winterquartiere erreicht haben
Würde. Auch bietet ihm die Steppe für den Winter keine ent-
‘prechende Nahrung, und der Hirt hätte keinen besonderen Nutzen,
weil das wandernde Rind keine oder wenig Milch gibt und als
Tragtier dem Pferd und Kamel an der unerläßlichen Schnelligkeit
198 J. Peisker
bedeutend nachsteht. Das eigentliche Zucht- und Nährtier d
zentralasiatischen Nomaden ist das Schaf und neben ihm das Pfer
Gleichwie das Kamel auf vereinzeltes, garstiges Dorne
gesträuch der Salz- und Sandwüsten, das der Mensch nicht t
rühren kann, ohne sich zu verwunden, angewiesen ist, so d
Schaf auf die unscheinbaren Grashalme, auf die Salzkräut
die Artemisien [Wermutpflanzen] und das Blattwerk des mind
bewaffneten Krüppelgestrüppes auch dort, wo die Salzwüste ihr
Wüstencharakter am ausgeprägtesten darbietet, und wo man |
flüchtiger Umschau keine Vegetation auf der glitzernden Sa
kruste sieht, sich wundern muß und es kaum begreifen kaı
wie sich das Schaf zum Beispiel in der öden, wasserlos
Karakumwüste [südöstlich vom Aralsee] nährt und gar fett wi
wenn eben nicht überall das Salz sichtbar würde. Als Weid
haben nämlich die Salzwüsten für die Viehzucht eine hervorragen
Bedeutung, im Gegensatze zu den Kieswüsten. Selbst dort, '
sie nicht reicher mit Kräutern bestanden sind als diese, ze
sich die unvergleichlich wirksamere Nährkraft ihrer Pflanzen
dem Zustande des Viehes, welches, im ausgehungerten Zustan
zur Frühjahrszeit auf die scheinbar von jeglicher Vegetation e
blößten Salzflächen aufgetrieben, in wenigen Tagen auflebt. Oh
Salz gibt es eben keine gedeihliche Schafzucht ').
Dies alles gilt nur vom Herbst, Winter und Frühling, währe
in der warmen Jahreszeit das Schafvieh auf den weitentfernt
Sommerweiden des Salzes entbehren muß. Dieses Wechselleb
zieht oft schwere Folgen nach sich, welchen vor allen andeı
Gewerben das lebende Kapital des Hirten, zumal unter d:
Einflusse kontinentaler klimatischer Gegensätze, unterworfen i
Hiezu tritt die Sorglosigkeit, mit welcher der primitive Mens
nur dem Augenblicke lebt, auf die unmittelbare Zukunft ;
1) MIDDENDORFF, a. a. O. 8.27, 289. Daher steigen die Kirgisen Eı
Juli von den Vorbergen des Alatau herab, um das inzwischen gereifte (
treide einzusammeln und das Vieh die auf dem Salzboden wachsenden Kräu
abweiden zu lassen. Sie behaupten, daß die Gräser auf den Bergen w
nahrhaft, aber allzu süßwasserhaltig seien, und daß das Vieh zum Gedeil
der ergänzenden salzhaltigen Kräuter bedürfe. ALEX. PETZHOLDT, Umsct
im russischen Turkestan. Leipzig 1877, S. 306.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 199
nicht bedacht ist, weder sich selbst, noch seinem Vieh Vorräte
sammelt. Sein Schaf, sein Pferd, sein Kamel müssen sich die
Asung nötigenfalls aus dem Schnee selbst herausscharren,
mag die Schneeschicht noch so hoch sein; bleibt der Schnee
immer hinreichend schütter, dann frettet sich das Vieh immer
noch den Winter durch, wenn auch erschöpft und bis an die
Knochen abgemagert; aber wehe auch dem reichsten Herden-
besitzer, wenn Glatteis eintritt und das Vieh sich das spärliche
Futter nicht herausscharren kann; dann folgt ein massenhaftes
Sterben, und der Wanderhirt erlebt noch unvergleichlich Schlim-
meres, als ihm jemals die schrecklichen Geißeln: die Viehpest
und die Beulenseuche, verursachen können. Gestern noch ein
hochmögender Krösus, heute ein Bettler, dem Verhungern preis-
gegeben, nicht einmal imstande, sich von der Stätte des Schreckens
zu füchten, denn ohne zahlreiches Lastvieh kann er die weite
Wanderung nicht antreten ').
Was bleibt ihm dann übrig? Sich in die Knechtschaft eines
glücklicheren Genossen zu begeben, den das Viehsterben nicht
80 hart mitgenommen hat, und Hirtenknecht zu werden, oder
auf Wucherzinsen von seinem Nachbar neues Vieh aufzunehmen,
oder aber irgendwo am Rande der Steppe, an einem Wasserlaufe
Ackerbau anzufangen, ein Comru, Elender, zu werden, verachtet
von seinem Nachbar, den er vielleicht noch gestern an Reichtum
ind Ansehen überragt hatte. Denn als das schwerste Unglück
und Erniedrigung fühlt es der Sohn der freien Natur, wenn er
im Schweiße seines Angesichtes den Boden bearbeiten soll, und
Solange kein Unheil über seine Herden vernichtend hinweg
geschritten und ihn nicht vollständig niedergeschmettert hat, ergibt
er sich nicht in das schreckliche Schicksal, das Mohammed ge-
ächtet und verflucht hat mit den Worten: ‚wo nur dieses Werk-
ug [der Pflug] hindrang, hat es stets Knechtschaft und
Schande mit sich geführt“.
Die Züge der Reiternomaden von den Sommerweiden zu
den Winterquartieren und umgekehrt pflegt man sich als eine
imbervagierende Wanderung vorzustellen. Diese Vorstellung
—__
1) MIDDENDORr, a. a. O. S. 263.
200 J. Peisker
— setzt MIDDENDORFF fort — ist durchaus unrichtig; denn nicht
einmal der Urjäger paßt in die Kategorie der Vagierenden, weil
selbst das Wild, auf das er angewiesen ist, nicht bewußtlos in
der Urnatur umherirrt, sondern seine bestimmten Reviere kennt,
innerhalb deren es seinen bestimmten Kreislauf zurücklegt,
den ihm der Wechsel der Tages- und der Jahreszeiten anweist;
er wandert wohl über unermeßliche Strecken hin und zurück,
jedoch immer wieder, hüben wie drüben, zu den althergebrachten
Standörtern strebend.
Genau ebenso der Reiternomade, der Wanderhirt. Der
europäische Landwirt darf dessen Treiben nicht anders als eine
regelmäßige Wechselwirtschaft betrachten, eine Wechselwirtschaft,
welche sich über unermeßliche Wanderungsfelder erstreckt. Die
Kirgisen, welche MIDDENDORFF zu Ende des Winters am Aralsee,
am unteren Laufe des Syrdarja traf, wo ihre Herden den Boden
förmlich niedergetrampelt hatten, fand er wenige Monate später
bei seiner Rückreise nicht mehr vor. Alles war öde, menscher-
und tierleer. Die mißhandelte Natur suchte sich zu erholen,
hie und da Pflanzen ansetzend oder aus alten Wurzelstöcken
Schosse treibend.. Wo war das frühere Gewimmel geblieben?
Das tummelte sich 10 Breitegrade, also mit Rücksicht auf die
Zickzackbewegung mehr als anderthalbtausend Kilometer nörd-
licher, in den Steppen von Troick und Omsk, brachte Monate
zu auf der Wanderung dorthin, Monate auf der Wanderung zu-
rück, macht im ganzen einen Weg von mehr als dreitausend
Kilometern aus! Selten bleibt das Zelt über zwei Wochen,
manchmal auch nur einen Tag oder einen halben auf demselben
Platze. Zu jeder Jahreszeit will im Durchwandern derselbe, seit
Urzeiten her bezogene Weidegrund aufgesucht sein. Sorgsam
werden für den Winter besondere Weidegründe zu Scharr-
futter unberührt erhalten. Nur große politische Erschütte-
rungen reißen Lücken ein, drängen fort aus dem gewohnten Ge-
leise oder eröffnen Breschen, in welche hineingerückt werden
kann. So leer es oft auch aussieht, die Gegend ist dennoch
besetzt, bloß zu einer anderen Zeit besucht und etwa unserem
Brachacker vergleichbar. Wenn die einzelne Jägerfamilie des
Nordens, um leben zu können, viele Quadratwerste umfassen
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotatoren etc. 201
uß, so gehört in der Steppenwüste wohl auch eine Quadratwerst
ar Lieferung des Jahresbedarfs für jedes Haupt Vieh, denn im
lübenden Sommer verdorrt rasch alle Vegetation. Besser nährt
er Winter, wenn es nicht Glatteis setzt.
Wie in den Steppen der aralkaspischen Senkung, so auch ver-
ält es sich mit den Kirgisen Ferghanas, nur daß diese außer
ler horizontalen Verschiebung sich auch noch um 3000 Meter
rheben oder senken. Diese haben den Vorteil dichtberaster
Vorberge, immergrüner, saftiger Alpenmatten und endloser Hoch-
teppen für sich ... Auch darin sind die südlichen Gebirgskirgisen
in Vorteile, daß ihre Wintersitze sich mehr verteilen, denn die
einen ziehen zum Winter talwärts, dem Schnee in die Vor-
berge und endlich in die Schilfdickichte und Salzwüste weichend ;
uterdessen die anderen hinaufrücken, in den schneearmen Hoch-
ebenen des „Rückens der Welt“ das bessere Winterfutter suchend,
dort, wo die massige Erhebung des Erdgerüstes die mächtigsten
Grate Mittelasiens [Karakorum, Himalaya und Thien-Schan] zu-
sammengeschmiedet hat. Oder sie ziehen zu den Steppen des
Alaj-Tales hinauf, wo in der Höhe von 2600 Meter ausgedehnter
Ackerbau von ihnen betrieben wird, hoch über den letzten
Ansiedlungen, welche auf 1400 Meter stehen bleiben. Im Früh-
jahr suchen sie in den schrofieren Gebirgsketten die steilen,
sonnenbeschienenen Felsgehänge auf, zumal Tonschieferwände,
welche sich am frühesten vom Schnee entblößen; das Vieh vor
lem Hungertode errettend ').
Dies ist der höchste Getreidebau der Welt, in 2600 Meter
löhe. Angebaut wird Sommerweizen, Hirse und Gerste, und zwar
lurch Arbeiter oder Sklaven, während der Nomade noch höhere
tegionen beweidet. Erst nach seiner Rückkehr im Herbste wird
bgeerntet‘). '
ALEXANDER V. MIDDENDORFF deckt hier die für das Auge
ines Sprach- oder Geschichtsforschers kaum sichtbaren Zu-
ammenhänge zwischen Salzwüste und dem berittenen Schafwander-
irtentum mit dankenswerter Klarheit auf, und es ist noch der
rage nachzugehen, ob auch irgendein Zusammenhang zwischen
1) A. a. O. S. 329f. Näheres darüber bei ALEX. PETZHOLDT, 9. 317 ff.
2) PETZHOLDT, a. a. O. S. 320.
202 J. Peisker
dem Schafwanderhirtentum und den turkotatarischen Völkern be-
steht, ob nämlich die Turkotataren bereits als Schafwanderhirten
in die Salzsteppe eingebrochen oder aber erst dort zu solchen
geworden sind.
Aufklärend für diese Frage sind die Forschungen VANMBERTE.
Dieser merkwürdige Mann hat, als Bettelderwisch verkleidet
und mit einem seltenen Sprachentalent ausgestattet, diese schreck-
lichen Steppen und Wüsten noch vor der russischen Eroberung
durchwandert und den turkotatarischen Sprachschatz kritisch
zergliedert. Er fand, daß nicht das Schaf, sondern „das
Pferd und das Rind als die ersten Haustiere des
Türken im vorgeschichtlichen Zeitalter betrachtet
werden müssen. ... In dieser Annahme bekräftigen uns
[VAMBÉRY] besonders die geographischen Verhältnisse der tür-
kischen Urheimat, auf welcher waldbedecktes Hügelland mit
baumlosen, aber grasreichen Ebenen abwechselten und alle
Bedingungen zur Pferde- und [Rind-]Viehzucht vorhanden waren,
ebenso wie im entgegengesetzten Falle nach der richtigen An-
nahme AHLQUISTS bei den uralaltaischen stammverwandten
Finn-Ugriern, die in der unwirtbaren Heimat im hohen Norden
nur auf Jagd und Fischfang angewiesen waren, das Renntier
und der Hund als die ersten Haustiere angesehen werden müssen.
Einen ferneren Beleg zu dieser Annahme finden wir noch heute
in dem Umstande, daß die Rinderzucht trotz der verschwindend
geringen Ausdehnung, in welcher sie bei den türkischen Nomadeı
sich vorfindet, in den sumpfigen Waldgegenden noch immer ge
pflegt wird; daher ihr Vorhandensein bei den Karakalpaken in
Deltagebiete des Oxus und im vergangenen [18.] Jahrhunder
an der Mündung des Syr-Darja, und daher denn auch ihr all
mähliches Abhandenkommen und die Ersetzung durch Schafzuch
dort, wo die türkischen Volkselemente vom baumreichen Landı
in die Steppe gedrängt worden waren. Wo eine Sprache, wi
dies im Turkotatarischen der Fall ist, sowohl in Bezeichnunge
der verschiedenen Gattungen als auch in den einzelnen Alters
stadien des Hornviehes einen so reichen Wortschatz aufweis
und in solch genauer Detaillierung sich ergeht, wie wir dies im
Abschnitt über Geschlecht und Altersstadien (S. 63) gesehen, dort
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 903
muß die [Rind-]Viehzucht einen sehr bedeutenden Zweig des
Lebensunterhaltes ausgemacht haben und mit der Existenz des
betreffenden Volkes eng verbunden gewesen sein, obwohl heute
und schon seit historischem Gedenken bei dem türkischen No-
maden die Schafzucht die erste Rolle einnimmt und obwohl das
Rindfleisch heute als Nahrungsstoff bei allen Türken, ja in ganz
West- und Mittelasien nur höchst selten gebraucht wird“ °).
VAMBERY bespricht sodann den überaus reichen turkotatarischen
Wortschatz in bezug auf Pferde- und Rinderzucht, während das
Schaf sehr geringe Anhaltspunkte für die Etymologie bietet.
Die Turkotataren sind somit erst durch Zwang der turke-
stanischen Salzsteppen und Salzwüsten, welche eine Rinderzucht
ausschließen, zum reinen Schafwanderhirtentum veranlaßt worden,
wie die oben vorgebrachte, wenn auch knappe Charakterisierung
des Landes nichts anderes denken läßt.
„so wie das Tier, vom Instinkt des Hungers und des Durstes getrieben,
anf den Bergen und in den Tälern, in Wäldern und auf der Steppe die zu
seinem Unterhalt nötige Nahrung suchend umherstreift, ebenso hat der Mensch
im Urzustande seiner Existenz, als es ihm noch an Mitteln zur künstlichen
Herbeischaffung seiner Nahrung mangelte, von einem Platz zum andern
wandern, d. h. ein nomadisches Leben führen müssen. Zuerst allein
nit seiner Familie und Angehörigen umherziehend, mußten im späteren Ver-
anfe, als er Tiere gezähmt und Tierzüchter geworden, die Grenzen der
engeren Heimat um so mehr erweitert werden, da die ihm folgende Herde
das Gras der Triften bald abgeweidet und er, um seine eigene Nahrung zu
üichern, auch für die Nahrung seiner Haustiere zu sorgen hatte. So ent-
standen die Hirtenvölker[?)] ... ., deren Größe ebensosehr nach der Beschaffen-
heit des Bodens und nach den Bedingungen des Klimas variierte, als die
längere oder kürzere Dauer des primitiven oder nomadischen Zustandes von
1) VAMBÉRY, Die primitive Cultur des turko-tatarischen Volkes. Leip-
zig 1879, S. 186 f. Trotzdem die Turkotataren seit historischem Gedenken,
mit geringen Ausnahmen keine Rinderzüchter mehr sind, haben sie dennoch
dre einstige, so überaus reiche Nomenklatur für Aird bewahrt. Es ist dies
ein für uns wichtiges Analogon zu den Slawen, welche ihren nicht unbe-
deutenden eigenen Wortschatz für Horn- und Schmalvich aus jenen vor-
historischen Zeiten herübergerettet haben, als sie noch, von Uralaltaiern unbe-
einflußt, Viehzucht treiben konnten.
2) Näheres über das Nomadentum als Produkt der Steppe siehe bei
Ev. Hınx, Das Alter der wirtschaftlichen Kultur der Menschheit, Heidelberg
105, S. 91 ff.
Vierteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftegeschichte. III. 14
204 J. Peisker
den im eigenen Kreise vorgefallenen oder in den Nachbarländern entstandenen
politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen abhing. Mit Hinblick auf
den ersterwähnten Umstand wird es klar, [von mir gesperrt:] warum die
uralaltaische und speziell die turkotatarische Rasse der
Mehrzahl nach nomadisch ist und warum sie trotz der ge
waltigen Zeitstürme, die über den von ihr bewohnten Teil
Asiens wegtobten, selbst bis in die Gegenwart hinein dem
Wanderleben mehr treu geblieben als jedwedes Volk anf
Erden; denn es ist heute allbekannt, daß solche einge
fleischte Nomaden, wie die Türken, weder in Afrika und
Amerika, noch auch in Australien sich vorfinden, noch vor
gefunden wurden. Mit den weit ausgedehnten Stepper
regionen der innerasiatischen Welt, die von der östlichen
Mongolei... über Ostturkestan nach der Ostküste des Kaspi-
sees sich hinziehen, hält keine uns bekannte Steppenregion
den Vergleich aus... Diese Spezialität der Bodenverhält-
nisse muß daher als Hauptursache der ethnischen Eigenheit
der turkotatarischen Rasse hingestellt werden. Auf diesen
unabsehbaren Flächen der besagten Teile Asiens haben sich
von jeher die Hirtenvölker uralaltaischer Abkunft herum
getummelt..., denn so wie die Mongolen z. B. von jeher in
Süden des Sajangebirges und auf der großen Gobi- oder
Schamosteppe zuHause waren, ebenso können die Türkenals
AutochthonendesvomAltaibiszumKaukasussich erstrecken
den Steppengebietes betrachtet werden.“
„Wenn wir ... die in den türkischen Kulturwörtern vorhandenen ein-
zelnen Lichtfaden in eine Fackel zusammenfassen und beim Lichte derselben
in die Dunkelheit des vorgeschichtlichen Zeitalters zurückblicken, so werden
wir sehen, ‚daß wir es hier mit einem seinem innersten Wesen nach durch
und durch nomadischen Volke zu tun haben, dessen überwiegende Mehrzahl
seit undenklichen Zeiten auf den weiten, mit Gras und Schilf bedeckten Niede-
rungen Asiens vom Altai bis zur Wolga mit seinen Pferde-, Schaf- und
Kamelherden umherirrte, nur von Milch, Fleisch und Fett der Tiere sich
nährte und nur mit den Häuten der Tiere sich kleidetet. Ja, wir haben in
den Türken ein Volk vor uns, das, infolge der Bedingungen seiner UrexistenZ,
von einer steten Wanderlust ergriffen ..., in der Sucht nach günstigere)
klimatischen und territorialen Verhältnissen, schon sehr früh den Steppen-
gürtel seiner Heimat zu durchbrechen sich bemüht, die benachbarten Völker
mit ewigem Krieg heimgesucht hat; schließlich ein Volk, das im . .. Gedränge
des ethnischen Chaos Hochasiens zuerst nach dem Süden, resp. Südwesten
aufgebrochen war und hiernach als jener Zweig des uralaltaischen Stamme®
betrachtet werden muß, der in die Geschicke der abendländischen Welt im
Mittelalter sowohl als in der Neuzeit am kräftigsten eingegriffen hatte
Dieser Vorteil wird nun allerdings den Türken von gewisser Seite streitig
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 205
emacht, indem neuere Forscher dies den Ugriern vindizieren, und die ethnische
iomenklatur eines HERODOT mit den heutigen Namen ugrischer Völkerschaften
lentifizierend, Wogulen, Zürjänen, Mordwinen und Wotjaken im vorchrist-
chen Zeitalter bis an den Ufern des Kaspisees wohnen lassen, ja die Exi-
tenz der Ugrier in Persien und Assyrien nachweisen wollen. Mit dieser
usgeburt einer zügellosen Einbildungskraft, die zumeist von solchen Gelehrten
errührt, die weder das Volk, noch die Sprache der Ugrier und Türken
ennen, wäre es in der Tat schade, sich eingehender zu befassen. Die heutige
ithnologie braucht nicht und darf auch nicht mehr auf Hirngespinste bauen,
ie kann in ihrem Dienste nur Tatsachen oder deren Stellvertreter, die Über-
este der Kultur und die sprachlichen Monumente verwerten, und weil von
ieser uralten geistigen und weltlichen Herrschaft der Ugrier im Süden kein
terbenswörtchen, kein Atom der Erinnerung sich erhalten hat, so beharren
rir bei unserer früheren Annahme, daß die geographische Verbrei-
ung der Türken im hohen Altertum von der heutigen nur
enig verändert war, sowie im allgemeinen die im Anfange des ge-
xhichtlichen Zeitalters vorgefundenen ethnischen Gruppierungen der Ural-
dtaier gewiß schon seit Jahrtausenden sich nur wenig verändert hatten.
Wogulen, Ostjaken und Zürjänen haben seit Menschengedenken und gewiß
wich im hohen Altertum schon in ihrer heutigen Heimat gewohnt und sind
ücht vom Süden her dort eingewandert ... Hiermit soll nicht gesagt sein,
iaß die an Zahl grösseren und mächtigeren Stämme, wie z. B. das Türken-
rolk, ihre zeitweiligen Wanderungen nach dem Süden und nach dem Westen
ticht schon früh begonnen hätten. Oh nein! Die Wanderungen der Türken
iber die Wolga, die Pontusländer nach Pannonien oder über den Oxus und
in Görgen nach den Kultursitzen der iranischen Menschheit müssen gewiß
schon lange, lange vor Christi Geburt versucht worden und teilweise auch
olführt worden sein ...“!).
Man sieht, die Kontroverse unter den Orientalisten über
lie ältesten erkennbaren Steppenbewohner Zentralasiens spitzt
ich nicht in die Frage zu, ob Arier oder Uralaltaier,
ondern ob Ugrier oder Turkotataren, welche beide Uralaltaier
ind !
Wer war nun vor den Uralaltaiern in den Salzsteppen
lentralasiens? Man behauptet, Arier, und zwar ostarische
'ölkerschaften. Und worauf stützt man diese Behauptung? Auf
ine andere Voraussetzung, daß nämlich Alexander der Große
uf seinem Zuge nach Innerasien angeblich keine Uralaltaier
wischen dem Oxus und dem Jaxartes vorgefunden habe, weil
lie Griechen sonst eine Nachricht darüber hätten zurückbringen
mn
1) VAMBERY, Das Türkenvolk. Leipzig 1885. S. 171 f., 57 ff.
206 J. Peisker
müssen!). Dieser negative Beweis kann nicht gelten, denn die
Nomaden Turkestans hatten und haben so häufige, ja stete,
wenn auch immer feindselige Beziehungen zu den arischen Iraniern,
daß durch den ewigen Menschenraub und Verpflanzung ganzer
Völkerschaften notwendigerweise eine starke Blutmischung ent.
stehen und fortschreiten mußte, wodurch die schärfsten Gegensätze
in der äußeren Erscheinung schon frühzeitig verloren gingen.
Bekanntlich ist ganz Zentralasien seit Jahrtausenden im fortschreitenden
Vertrocknen begriffen; die Wüstenregion rückt infolgedessen immer weiter
vor. Ein beständiger Rückgang aller turkestanischen Seen, Flüsse und
Gletscher ist historisch nachweisbar und wird seit der russischen Eroberung
sorgfältig registriert. Mit der Vertrocknung schreitet eine merkliche Ver-
schlechterung des Klimas fort, die sich namentlich in einer Vergrößerung
der Kontraste zwischen der Kälte des Winters und der Hitze des Sommers
kundgibt. Die Folge ist eine allmähliche Umwälzung in der Flora und Fanns;
so gab es zu Alexanders Zeiten in Ostturkestan Löwen und Tannen, von
denen heute keine Spur mehr vorhanden ist?). „Zentralasien hat also seit
dem Abfluß des Mongolischen Meeres, welcher die allmähliche Austrocknung
oder wenigstens den beständigen Rückgang auch aller übrigen zentralasiati-
schen Seebecken zur Folge hatte, sein Aussehen vollständig verändert und
sich aus einem fruchtbaren Land mit einer, wie aus den spärlichen Überresten
hervorgeht, außerordentlich reichen Vegetation in eine trostlose Wüste ver-
wandelt. Eine solche radikale Veränderung des Klimas und Bodens konnte
natürlich an den Bewohnern dieses so schwer heimgesuchten Gebietes nicht
spurlos vorübergehen. Als auf den hohen Gebirgstälern die Winterkälte immer
größer wurde und der Winter selbst immer früher und früher eintrat, blieb den
ansässigen und ackerbautreibenden [arischen] Bewohnern derselben nichts
übrig, als ihre Heimat zu verlassen und sich, wie der Zendavesta angibt, nach
den tiefer gelegenen Tälern zurückzuziehen. In den niedrigen Tälern und in
der Ebene waren aber die Verhältnisse nicht viel besser; denn hier wurde
infolge der fortwährenden Verringerung der Niederschläge ein Stück Kultur
land nach dem andern in eine Sand- und Kieswüste oder wenigstens in eine
nur als Viehweide zu gebrauchende Steppe umgewandelt. [Von mir gesperrt:]
Den von diesem Schicksal betroffenen Ackerbauern blieb
1) F. A. UKERT, Geographie der Griechen und Römer von den frühesten
Zeiten bis auf Ptolemäus. III. Teil, 2. Abteilung. Auch mit dem Titel:
F. A. UKERT, Skythien und das Land der Geten oder Daker nach den Ansichten
der Griechen und Römer. Weimar 1846, S.275. — Vgl. Franz v. Schwarz
Turkestan. Freiburg i. Br. 1900 (Bibliothek der Länder- und Völker
kunde XIV), S.8f£.
9) Franz v. Schwarz, Sintfluth und Vülkerwanderungen. Stuttgart 189%
S. 346, 489 ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 207
ıachdem Verlust ihrer Felder nichts anderes übrig, als sich
edislich auf die Viehzucht zu beschränken, d.h. sich in
\omaden zu verwandeln... Nomaden brauchen zu ihrer Ernährung
inen viel größeren Raum als Ackerbauer; Zentralasien war also, als sich
in Gebiet nach dem andern in Steppen oder Wüsten und die Bewohner sich
us Ackerbauern in Nomaden verwandelten, nicht mehr imstande, seine ganze
isherige Bevölkerung zu ernähren, und die unausbleibliche Folge war, daß
ın Teil der Bewohner das Feld räumen und auswandern mußte“ ').
Franz v. Schwarz hat durch seine Darstellung der Umwälzungen in den
%denverhältnissen Turkestans unsere Kentnisse wesentlich gefördert; allein
“ine Annahme, die einst ackerbauende Bevölkerung hätte infolge dieser,
rohl sehr allmählichen Veränderungen zum Nomadentum schreiten müssen,
st gewiß ganz verfehlt. Der Bauer wandert aus, oder er geht, wenn ihn
win Boden nicht mehr nähren kann, zugrunde; zum Nomaden wird er
ücht. Wo soll er die dazu nötigen Tiere geschwind hernehmen, sie be-
bandeln und mit ihnen plötzlich wandern lernen, im Winter in die Wüste,
im Sommer in weit entfernte Regionen, die er nicht einmal dem Namen
nach kennt! Die bäuerliche Lebensweise ist von der wanderhirtlichen und
noch dazu reiternomadischen so diametral verschieden, daß ein Übergang von
der ersteren zu der letzteren durch keine eintretende Not erzwungen werden
kann. Der Hirt kann Bauer werden, nachdem er es von einem andern Bauer
gelernt hat; kann aber ein Bauernvolk zu Nomaden in die Lehre gehen?
Würde der Nomade eine damit verbundene Schmälerung seiner eigenen Weide
zulassen ?
So können sich die Dinge nicht entwickelt haben! Eine Abnahme des
Kulturbodens durch NaturkräftehattenichtdiesenWechselinder Lebens-
form der bisherigen Einwohner zur Folge, sondern einen fort-
schreitenden Rückgang in der Population. Nur in dieser
Richtung konnte Luft gemacht werden. Der Ackerbauer wich einfach als
solcher der Ungunst der neuen Verhältnisse, und seine verwüstete und
‘on ihm verlassene Heimat blieb so lange leer, bis ein anderes Volk, das sie
%, wie sie geworden ist, zu nutzen schon von Haus aus verstand, sie ein-
am. Diese neue Bevölkerung muß eben schon reiternomadisch gewesen
sein, als sie dorthin einbrach, und der Einbruch konnte nur von dem Norden
her, ans Sibirien geschehen, also durch Uralaltaier!
1) A. a. O. S. 496. — Der letzte Satz enthält einen Trugschluß, der
ütrebliche Übergang vom Ackerbau zum Nomadentum hätte ja einen ge-
“atigen und zwar gleichzeitigen Rückgang der Population zur Folge haben
üüssen! Es kann somit nach diesem bereits vollbrachten angeblichen Über-
fase keine Rede von der „ganzen bisherigen Bevölkerung“ sein; es hätte
Yielmehr eine Auswanderung des größten Teiles der Einwohner diesem Über-
Range vorangehen, die Auswanderer hätten nicht bereits als Nomaden, sondern
ücch als Bauern den Platz räumen müssen und bloß der daheim gebliebene
kleine Rest hätte — wenn überhaupt! — zum Nomadentum übergehen können.
208 J. Peisker
Die Konstruktion eines vorhistorischen arischen Reiternoma«
ist somit FRANZ v. SCHWARZ nicht gelungen, und das turkotatarische
nomadentum Turkestans ist vermutlich so alt wie die reiternomadische }
der Salzsteppen selbst.
In der arischen Völkerfamilie ist für ein Reiternomac
kein Raum, das beweist schon der arische Sprachschatz. VW
unter den Ariern ein Reiternomade vorfindet, ist er ein Zuge
Von der Salzsteppe weggedrängt oder weggelockt durch A:
auf Beute und Wohlleben, lagert er sich gierig als eine i
abgeschlossene Schicht über ein ackerbauendes Volk, und
einem, das er unterbekommt; das wird zum Parier und ble
auch nachdem der Peiniger die Sprache des Unterjochte
genommen, sich entnationalisiert hat. Der Turkotatare ma;
auch dann noch eine Zeit lang ethnisch mehr oder wenige:
altaier bleiben, sprachlich erscheint er jedoch fortan als Ar
Das gilt in erster Reihe von den Skythen.
*k X
*
Nach HEropoT') umfaßten die Skythen mehrere \
schaften von offenbar nicht derselben Rasse: Die königli
Skythen, das waren die „Zapfersten und zahlreichsten (5.
Skythen, die sehen auch die übrigen Skythen für ihre K
an“; die Nomadenskythen, Wanderhirten der Steppe,
jedweden Ackerbau; „die Kallipiden, die sind helle
Skythen; über diesen ein anderes Volk, ... die Alaz
diese und die Kallipiden haben sonst dieselben Sitten w
Skythen, aber sie säen auch Korn“ [also den heutigen
kirgisen gleichzustellen]; überdies zwei Völker, welche HE
die Exudaı yenpyoi und die Zxudxt xporfipes nennt. Die Sp:
der königlichen und wohl auch die der Nomadenskythe
iranisch, aber ihre Lebensweise zeigt derart turkotatarisch
men, daß sie bereits von B. G. NiEBUHR als , sibirisch-mongol
erkannt wurden ’?).
1) HERODOT IV. 17, 18, 19, 20.
2) B. G. NIEBUHR, Kleine historische und philologische Sc
1. Sammlung. Bonn 1828, S. 352 ff. Untersuchungen über die Ge:
der Skythen, Geten und Sarmaten. Nach einem 1811 vorgelesenen
neu gearbeitet 1828.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 209
Dieselbe Ansicht vertritt auch Sarakik im Jahre 1837!) aus-
ührlich, während Zeuss in demselben Jahre die Skythen — nach
jöckH?) — den Medopersern, also Ariern, zuweist?).. Ihm
chließt sich auch UKERT*) und MÜLLENHOFF°) an.
Gegen eine nichtarisehe Herkunft der Skythen sprechen nach
IÜLLENHOFF folgende Gründe, die ich zur leichteren Übersicht
lumeriere :
1. „Ein blick auf die werke der schönsten griechischen kunst,
ie auf der Krim und in den gräbern der scythischen könige
n dem von Herodot 4, 53. 50. 71 bezeichneten besirk an der
Samara gefunden sind und scythische fürsten und leute mit
illem detail ihrer erscheinung darstellen, genügt um sich zu
überzeugen, daß dies keine Nordasiaten waren.“
Dagegen ist — auch wenn man statt „Nordasiaten“ Zentral-
asiaten setzt — einzuwenden, daß so ziemlich bei allen Völkern,
namentlich Eroberern, es gerade die Fürsten sind, welche Aus-
länderinnen heiraten, wodurch die Nachkommenschaft den natio-
nalen Typus gleich verlieren muß; ebensowenig, wie von dem
Aussehen der türkischen Sultane auf die Rasse der Osmanen,
kann von den Darstellungen der skythischen Könige auf die
Abkunft der Skythen geschlossen werden. Und auch bei dem
Sktbenvolke selbst, zur Zeit HERODoTs, kann sich die Frage
nicht, ob arisch oder turkotatarisch, zuspitzen, sondern bloß nach
im Ursprunge des Volkes ausgehen. Denn Nomadenhorden,
welche nachweislich derart voneinander weit entfernte Völker unter-
rorfen und beherrscht, müssen doch sehr viel fremdes, arisches,
mitisches und anderes Blut aufgenommen und so ihre einstige
1) P. J. Sarakık, Slowanské Starozitnosti, I. V Praze 1837, 8. 233 f. —
°.J. SCHAFARIK, Slawische Alterthümer. Deutsch von Mosıc von AEHREN-
ELb, herausgegeben von WUTTKE, I. Leipzig 1843, S. 279 f.
. 2) Corpus inscriptionum Graecarum edidit A. BoECKHIVs, II. Berolini 1843,
88,
3) ZEUSS, Die Deutschen und die Nachbarstämme. München 1837, S. 286 ff.
4) F. A. UKERT, a. a. 0.
5) MCLLENHOFF, Über die herkunft und sprache der pontischen Scythen
nd Sarmaten, in den Monatsberichten der Kgl. preuß. Akademie zu
krlin, Jahrg. 1866, S. 549 ff. Mit Nachtrigen des Verfassers abgedruckt
ı MÜLLENHOFF8 Deutscher Altertumskunde, 3. Bd. Berlin 1892, S. 101 ff.
210 J. Peisker
Rassenreinheit längst eingebüßt haben, wobei der ursprüngliche
Typus immer mehr verblaßte.
Über eine solche Blutmischung bei den Skythen selbst be-
richtet HERODOT, IV 1—3:
. in der Verfolgung der Kimerier fielen [die Skythen]
in Asien ein und entrissen den Medern die Herrschaft ... Als
aber die Skythen 28 Fahre fortgewesen aus ihrem Vaterland
und nach So langer Zeit nun wieder heimzogen, so wartete ihrer
ein neuer Kampf, ... denn sie fanden ein nicht unbedeutendes
Heer, das sich ihnen entgegenstellte. Nämlich die Weiber der
Skythen waren, als ihre Männer so lange wegblieben, zu ihren
Knechten gegangen. Es blenden die Skythen aber alle ihre
Knechte der Milch wegen, die ihr Getränk ist... Wenn sie
die Milch gemolken, schütten sie sie in... Butten, und ringsum
stellen sie ihre blinden Knechte, die rühren die Milch um [rühren
Butter] ... Darum blenden die Skythen alle Gefangenen ...
Von diesen Knechten nun und von ihren Weibern war ihnen
ein Junges Volk aufgewachsen ... (nach FRIEDR. LANGE).
Während also die Skythen in Medien 28 Jahre lang mit
medischen Frauen Umgang pflogen und die mit diesen gezeugten
Söhne offenbar mitnahmen, ließen sich in ihrer Abwesenheit ihre
Frauen mit ihren Knechten ein. Ist eine radikalere Blut-
mischung innerhalb einer einzigen Generationdenk-
bar?
Langjährige Abwesenheit sämtlicher waffenfähiger Männer, welche auf
Raubzügen in weit entfernten Ländern festgehalten wurden und den Rückzug
verlegt fanden, war die natürliche Folge der ganzen nomadischen Leben’
weise, und es braucht durchaus keine Fabel zu sein, daß inzwischen die
daheim gebliebenen Weiber mit den nicht mehr kriegstüchtigen Greisen, die
nach und nach wegstarben, die Herrschaft über die Sklaven führten und
durch diesen Umstand sich veranlaßt sahen, selbst dem Kriegshandwerk —
als Amazonen — obzuliegen.
Von den Amazonen haben sich bei den Griechen folgende Vorstellunge?
ausgebildet: Im Nordosten von Kleinasien, wohin auch schon Homer weist;
bestand ein großer Staat aus kriegerischen Frauen, an deren Spitze eine
Königin stand und in welchem entweder die Männer ganz ausgeschlossél
oder bloß zum Behufe der Erhaltung des Geschlechtes geduldet waren, aber
im Zustande der Knechtschaft und mit Beschäftigungen betraut, welche sonst
die Frauen verrichten, verstümmelt an Armen und Schenkeln, damit sie, der
Rs
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 211
afenführang beraubt, der Herrschaft der Frauen nicht gefährlich würden.
e Frauen allein führten die Waffen und machten auch Eroberungszüge bis
ch Griechenland. Ihre männliche Nachkommenschaft töteten oder ver-
immelten sie oder schickten sie über die Grenze zu ihren Vätern; denn
ter der Voraussetzung, daß die Amazonen keine Männer unter sich im
nde hätten, erzählte man, sie hätten mit einem benachbarten Männervolke
r Fortpflanzung jährlich eine Zeitlang in dem Grenzgebirge ehelichen Um-
ng gepflogen),, Diese Nachrichten haben die Griechen nicht erfunden,
weis dessen HERODOT IV, 110: Die Amazonen werden von den Skythen
paara genannt, das bedeutet in unserer Sprache Männertöter, denn olöp heißt bei
im der Mann, raté töten, Was MÜLLENHOFF mit ZEUSS in Otpérata erklärt,
der Bedeutung von Männerherrinnen, männerbeherrschenden Amazonen,
ruxoxpatcüpevot, wie die Sauromaten von EPHOROS charakterisiert werden?).
ch Justin, II. 4 waren die Amazonen die hinterbliebenen Frauen von
ythen, welche an den Thermodon ausgewandert und dort im Kriege um-
kommen waren.
HiırpoKRATES (geb. um 460 v. Chr.) berichtet: /z Zuropa gibt es einen
Yhenstamm, welcher um den Mäotischen See herum wohnt und sich von den
rigen Stämmen erheblich unterscheidet; man nennt ihn die Sauromaten. Die
‘auen aus jenem Volksstamme reiten, schießen mit dem Bogen, schleudern den
urfsper vom Pferde herab und kämpfen, solange sie Jungfrauen sind, gegen
' Fände., Sie werden nicht cher defloriert, als bis sie drei Feinde erlegt haben,
d erdulden nicht cher den Coitus, als bis sie die gesetslich vorgeschriebenen Opfer
rgebracht haben. Diejenige, welche sich einen Mann erwählt hat, gibt das Reiten
f solange nicht die Notwendigkeit eines gemeinsamen Feldzuges eintritt. Die
he Brust fehlt ihnen. Solange sie nämlich noch unmündige Kinder sind, lesen
' Mitter den Mädchen ein zu diesem Zwecke hergestelltes glühendes Eisen an die
‘he Brust, und diese wird so versengt, daß ihr Wachstum gestört ist, sie aber dafür
le Araft und Fülle an die rechte Schulter und an den rechten Arm abgibt?).
Auch das Mittelalter kennt Amazonen in Europa: IBRAHÎM IBN JAK(8B
hielt von Kaiser Otto I. Nachricht von der westlich von den Rüs belegenen
tt der Weiber“: ... sie werden von ihren Sklaven schwanger, und wenn
K von ihnen einen Sohn gebiert, tötel sie ihn. Sie reiten und ziehen in eig.ner
ron in den Kricg .. «*).
li TOEPFFER in PAULY’s Real-Encyclopädie der klassischen Altertums-
senschaft. Neue Bearbeitung herausgegeben von WissowA. I,2. Stutt-
rt 1894, 8. v. Amazones, Spalte 1754 f.
2) MÜLLENHOFF, a. a. O. S. 106.
3) HrPPOKRATES, Sämtliche Werke, übersetzt von R. Fucus. I. München
%,8.395f. Ilspi Gépov cap. 17 (24).
4) IHRAHIM-IBN-JAK0rs Reisebericht über die Slawenlande aus dem
bre 965. Von Fr. WESTBERG. St. Petersburg 1898, S.56 (Mémoires
l'Acad. Imp. des Sciences de St.-Pötersbourg. VIII* ser. Classe hist.-philos.
L II. No. 4).
212 J. Peisker
Eine Parallele dazu bieten vielleicht die Awaren nach FREDEGAR cap. #8:
Jedes Jahr kamen die Chunen zu den [böhmischen] Slawen ...,; dann nahmen
sie die Weber „.. der Slawen und schliefen bei ihnen, und zu den übrigen Mif-
handlungen mußten die Slawen den Chunen noch Abgaben sahlen. Die Söhne dır
Chunen aber, die diese mit den Weibern ... der Wenden erzeugt hatten, ertrugen
endlich solchen Druck nicht mehr, verweigerten den Chunen den Gehorsam und
begannen „.. eine Empörung... .').
So wie die Skythinnen nach HERODOT, mögen etwa auch die Awaren-
weiber während der häufigen Abwesenheit ihrer Männer die Herrschaft als
Amazonen geführt haben, so daß auch die böhmische Amazonensage
— Kosmas I. 9 — durchaus nicht ganz aus der Luft gegriffen sein mud.
SEVERCOV schildert die Frauen der Kara-Kirgisen so: Die Weiber
zeichnen sich überhaupt durch eine freie Gesinnung aus und erkennen keine
Gewalten über sich an, wenigstens nicht in ihrem alltäglichen häuslichen
Leben, wo das Weib allerdings unausgesetzt in der Kibitke arbeitet, aber
durchaus nicht Sklavin, sondern volle Hausfrau ist und den trägen Nomaden
etwas hochfahrend behandelt; dieser ist ihr sogar gehorsam und macht oft
ihren unterwürfigen Diener; sie verwendet ihn freilich nicht zu eigentlichen
Arbeiten, aber manche gewandte Kirgisin weiß ihn auch dahin zu bringen.
Nur bei den Festmahlzeiten erscheint die Frau als die demütige Dienerin des
Mannes und ißt nicht mit den Männern, sondern nach ihnen von dem, wa
übriggeblieben ist; dies geschieht aber deshalb, weil sie als Wirtin zuerst
ihre Gäste bewirten muß. Im gewöhnlichen Familienleben fällt die Role
des Demütigen nicht selten dem Manne zu... und deshalb waren die Kir
gisen ... ganz demütig, als die Kosaken in ihren Kibitken zu [plündern]....
begannen, während die Kirgisinnen ihnen [den Kosaken] scharf zu Leibe
gingen. Wie dem aber auch sein mag, soviel ist gewiß, daß der Kirgist,
wenn er tapfer ist, dies nur zu Pferde und außerhalb seiner Wobnung ist
— die Kirgisinnen dagegen sind dies zu Hause, in ihrer Kibitke, wo der
Mann gewissermaßen nur Gast ist, und zwar nach Möglichkeit gepflegt wird,
aber nichts mitzureden hat und sich ganz passiv verhält, die Frau aber
selbständige, unumschränkte Herrin ist. Bei Überfällen auf die Auls er-
sreifen die Kirgisen ihre Gewehre und eilen zu ihrer Pferdeherde, die Frauen
aber halten stand und verteidigen sich. Wenn sodann die Männer zu Pferd
gestiegen sind, stürzen auch sie sich auf die Angreifer). PETZHoLpT meint,
diese Schilderung dürfte nur für die östlich wohnenden Stämme gelten‘)
1) Nach O. ABELS Übersetzung in den Geschichtschreibern der
dentschen Vorzeit. VII. 3. Berlin 1849, 9. 32; in der zweiten Gesamtausgab®
XI. Band. Leipzig 1888, S. 26.
2) SEWERZOWS Erforschung des Thian-Schan: Ergänzungsheft \r. 43
zu PETERMANNS Geograph. Mitteilungen 1875, S. 76.
3) ALEX. PETZHOLDT, Umschau im russischen Turkestan. Leipzig 187
S. 316.
11,
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 213
Angesichts dieser Tatsachen könnte den antiken Amazonensagen viel
ihres innewohnen. Gingen die Männer auf einem Kriegszuge unter, dann
:b den Frauen, wollten sie ihr Staatswesen unabhängig von außen erhalten,
hts anderes als ein Konnubium mit ihren Sklaven übrig. Und ebenso, wie
‘ Turkmene der Neuzeit den Sklaven, denen er seine Herden zum Hüten
rertraut, die Sehnen an den Fersen durchschneidet, damit sie ihm mitsamt
ı Herden nicht durchgehen '), so haben auch die antiken Amazonen ihre
tten-Sklaven an Armen und Schenkeln verstümmelt. Sonst pflegten, nach
RODOT IV, 2., die Skythen alle ihre Sklaven zu blenden?).
Wie rasch ein Nomadenvolk zu einer ausgiebigen Blutmischung
angt, sehen wir auch an den Magyaren. Als ihre Kriegs-
rden einmal auf einem Plünderungszuge begriffen waren, nützten
e Abwesenheit die mit Simeon von Bulgarien verbündeten
tschenegen zu einem Überfall der daheimgebliebenen An-
bôrigen aus. Die zurückgekehrte Kriegshorde fand ihr Heim
sgemordet?) und mußte fremdrassige Weiber nehmen, das
rauben, so daß, wenn sie bis dahin, was undenkbar ist, rein-
sig war, schon ihre Söhne zu 50°/o nichtmagyarisches Blut
fwiesen. Dieser Fall war gewiß nicht vereinzelt, er ist vielmehr
r alle Nomaden typisch, welche, ihre Familien unter einer nicht
nug starken Bedeckung daheimlassend, über fremdrassige Völker
rfallen und zugleich einander bekämpfen; denn bei dem furcht-
ren Getümmel, in dem die sibirisch-turanischen Reiterhirten
ständig schwärmten und einer dem andern die Beute strittig
ıchte, ist vorauszusetzen, daß geradezu ein jedes solches Volk
mindest einmal auf ähnliche Art um Weib und Kind gekommen
‚war ja die ganze Kriegsweise des gelben Mannes seit jeher
fTücke, Hinterhalt und Umgehung des Feindes angelegt, und
aaltaier konnten sich reinrassig nur dort erhalten, wo sie
mer nur ihresgleichen gegenüberstanden. So kommt es, daß
r gelbe Mann ziemlich rein bloß im Norden und Nordosten
1) WENJUKOW, Die russisch-asiatischen Grenzlande. Leipzig 1874, S. 483.
2) Über Blenden kriegsgefangener Aksakale (Volksältesten) in Chiwa
. VAMBERY, Reise in Mittelasien, Leipzig 1865, S. 114. 2. Aufl. 1873, S. 119.
3)... ol Hartıxaxttar.... tag adıav pautÂlag navrsAög dEnpdvıoav.. .
NSTANTIN PORPHYROGENNETOS, De administrando imperio cap. 40. —
v. TIMON (Ungarische Verfassungs- und Rechtsgeschichte, übersetzt von
ILLER, Berlin 1904, S. 38, Anm. 45) hält die Nachricht für stark über-
‘ben.
214 J. Peisker
Asiens vorzufinden ist, während er gegen Süden und Westen so
unmerklich in das Ariertum übergeht, daß es nicht möglich ist,
irgendeine Grenze zwischen ihm und der weißen Rasse wahr-
zunehmen.
Belege dafür liefert VAMBÉRYS uns schon bekanntes Werk über das
Türkenvolk auf jeder Seite. Wollen wir einiges davon hervorheben:
Das Aufstellen eines speziell türkischen Nationaltypus ist an-
gesichts der vielartigen und vielfachen Beimischung fremden Blutes ... kein
leichtes Ding; doch glauben wir der Wahrheit so ziemlich nahe zu kommen,
wenn wir den Kirgisen als den eigentlichen typischen Türken hinstellen; den
Kirgisen, der noch heute am supponierten Ursitze sich befindet, der in
den Strom der weltgeschichtlichen Begebenheiten nicht so stark und nicht 50
häufig hingerissen wurde und daher auch der primitiven türkischen Lebensweise
viel treuer geblieben ist als seine tibrigen Stammesbrüder. Die vorherr-
schenden Momente ... bilden... der kurzgedrungene Kürperbau mit
breitenstarken Knochen, eingroßerKopfvonbrachycephaler
Form, kleine Augen mit schrägem Zuschnitt, niedere Stirn,
platte Nase, breites Kinn, spärlicher Bartwuchs, schwarze
oderbraune Kopfhaareund dunkle, fastgelbliche Hautfarbe.
Stellen wir nun einen solchen Türken dem Mongolen zur Seite, so werden
wir finden, daß auch letzterer durch sämtliche erwähnte Merkmale sich her-
vortut, mit dem Unterschiede, daß diese Charakteristik bei ihm schärfer
hervortritt und demnach dem Türken gegenüber den eigentlichen Urtypus
repräsentiert (S. 61 f.)
Die Kara-Kalpaken [am Amu Darja] sind mit Nichttürken stark
gemischt, zeichnen sich durch höhere Gestalt, durch kräftigen Knochenbau
und namentlich durch reicheren Haarwuchs nicht nur vor den Kirgisen und
Turkomanen, sondern auch vor dem durch arische Blutmischung stark im-
prägnierten Özbegen aus. Sie haben einen großen Kopf mit flachen,
vollem Gesichte, große Augen, Stumpfnase, wenig vorstehende
Backenknochen, plattes, wenig gespitztes Kinn, auffallend lange Arme und
breite Hände. Daher der Spottreim: „Der Kara-Kalpakhateinflaches
Gesicht und ist selbst flach“ Im Gesichtsausdruck nähert er sich
wohl am meisten dem Özbegen, doch nicht so, was die höhere Statur und
namentlich den langen Bart und das reiche Kopfhaar anbelangt.
und da letzterwähnte Eigenheit von den arabischen Geographen den Petsche-
negen nachgerühmt wird (was ungarische Historiker auch bezüglich der
Petschenegen in Ungarn bestätigen), so hat die Annahme wohl etwas für
sich, daß die Kara-Kalpaken mit den letzteren verwandt oder gar identisch
sind. Wie diese beiden Völker zu den dem türkischen Physi-
kum fremden Eigenheiten gekommen sind, ist allerdings nicht
so leicht erklärlich, doch Tatsache ist es, daß nicht nur Petschenegen und
Kara-Kalpaken, sondern auch andere im 9. und 10. Jahrhundert in den Pontus-
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 215
lindern hausende Türken als von hoher Statur und mit reichem Haarwuchs
versehen geschildert werden. So werden die alten Magyaren von den Chro-
nisten gezeichnet, und ähnlich ist auch das Bild, welches von den in Ungarn
eingedrungenen Kumanen entworfen wird. Dieses ethnographische
Rätselkann nurdadurch einigermaßen gelöst werden, wenn
wirden intensiven Verkehr dieser Türken mit den benach-
barten Ariern des Kaukasus und Irans in Erwägung ziehen,
und so wie Turkomanen und Özbegen der Neuzeit durch
persische Sklaven und Tadschiken so manche Charakteristik
des Iraniertums erhalten, ebenso sind Petschenegen, Kara-
Kalpaken, KumanenundMagyarenimAltertumentturkisiert,
Lh teilweise iranisiert worden (S. 377f.).
Das Physikum der in drei Gruppen zerfallenden Krimtataren ist:
a) Die eigentlichen Steppenbewohner, irrtümlich Nogaier genannt, sind
von mittlerer Statur und kräftigem Körperbau, dunkelgelber Gesichtsfarbe ;
de Backenknochen ragen merklich hervor; ihr dunkles Auge hat einen
schmalen und schräg hinlaufenden Schnitt; die Nasenflügel breit, Ohren groß
und herabhängend, Kopfhaare schwarz, Bartwuchs äußerst schwach. —
b)Die Gebirgstataren sind wesentlich anders: von hohem Wuchse,
starker, leichter, zierlicher Gestalt; die Gesichtsfarbe nähert sich der der
Kaukasier; große und dunkle Augen, dichtes, schwarzes Kopf- und
Barthaar; sie stellen imallgemeineneinenschönen Menschen-
schlag vor. — e) Die litoralen Tataren, wahrscheinlich ein Gemisch
der schon früher dort eingedrungenen Türken mit den von alters her dort wohnen-
den Griechen, Römern und den später infolge Sklaverei dahin gelangten
Tscherkessen, Polen, Rumänen, Deutschen und Magyaren, das erdenklichst
bunteste Bild physischer Merkmale; sie haben unter dem südlichen Himmel
des nationalen Urtypus sich beinahe gänzlich entkleidet. Sie sind von hohem
und starkem Körperbau, mit ovalem Gesicht, schönen, funkelnden
Augen, glanzvollem, schwarzem Haar, und die längliche
Nase tut sich bisweilen durch einen feinen römischen oder
griechischen Schnitt hervor. Man begegnet namentlich in
denzwei letzten Fraktionennichtselten vollkommenidealen
Franenschönheiten, wie dies auch indereuropäischen Türkei
der Fall ist. — Die südlichen Tataren, von brauner Gesichtsfarbe,
langer Nase und großem Auge, lassen die stark griechische
ündteilweiserömische Blutmischungleichterkennen (S.529f.).
Und mit den Skythen soll es sich anders verhalten haben ?
Man vergleiche nur „die Werke der schönsten griechischen Kunst“
Südraflands, welche MÜLLENHOFF heranzieht — herausgegeben
von Graf J. ToLstos und N. KoNDAKOv — )); die sind übrigens
bh l'papr H. Torcroñ ı H. KosnakopBTs, Pycerkia ApeBnocrin BR
LAMATRHKAXE HCKYCCTBA. IL. C. Ierep6ypr® 1859.
216 J. Peisker
jünger als die Berichte HEROvVoTs und HIPPOKRATES’, und in
der Zwischenzeit muß sich doch der einstige uralaltaische Typus
der Skythen durch Blutmischung noch mehr abgeschwächt haben.
Es kommen hier hauptsächlich folgende Skythenbilder in Be-
tracht:
1. Der Friesstreifen einer herrlichen griechischen Elektrumvase
(Goldsilberlegierung mit 20°/ Silber) aus dem Kul-Obischen
Kurgan bei Kertsch (Jenikale) in der Krim. [Plan des Kurgan
a. à. O. S. 85.] Die Szenerie besteht aus einer Gruppe von sieben
in der Steppe lagernden Skythen. Die erste Figur stellt, nach
dem diademartigen Stirnband zu schließen, einen skythischen
Machthaber dar, welcher, europäisch sitzend und auf eine Lanze
gestützt, den Bericht eines auf orientalische Art hockenden Kriegers
entgegennimmt. Daneben bespannt ein anderer Kriegsmann seinen
Bogen mit der Sehne. Rechts von diesem untersucht der vierte
Skythe die verletzte Kinnlade seines Genossen, während der
siebente den verwundeten Fuß des sechsten verbindet. Alle sind
in Ledergewänder (wahrscheinlich mit dem Fell nach innen) ge-
kleidet, und die Füße stecken in weichen Lederschuhen ohne
Sohle. Es sind offenkundige Reitergestalten').
2. Ein Goldplättchen, einen feisten Skythen darstellend; die
rechte Hand hält ein Trinkgefäß, die linke einen Köcher. Aus
demselben Kul-Obischen Funde’).
3. Der Friesstreifen einer ebenso prächtigen griechischen Silber-
vase aus dem tertomlyckischen Riesenkurgan bei Nikopol am
Dniepr*) mit 8 Pferdebändigern, bei denen jedoch nur die Ge-
stalten, nicht aber auch die Gesichter deutlich genug sind.
Über diese Skythenbilder verdanke ich den Anatomen Prof. HoLL
in Graz und Hofrat ZUCKERKANDL in Wien folgendes Gutachten:
Prof. Hour:
„Allgemeiner Charakter: Der ganze Körper ist gedrungen, klein,
aber massig, in der unteren Körperhälfte fast plump. Das plumpe Aussehen
1) Der Fries, zur Gänze abgewickelt (a. a. O.S. 143), bei uns Bild I mit
Figuren a—g. Einzelne Figuren vergrößert (a. a. O.S. 1 und 142), bei uns
Bild II, Fig. d—g, und III, Fig. ce.
2) A. a. O0. S. 61, bei uns Bild IV.
3) A. a. O. S. 136—138, bei uns Bild V.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 217
ist vielleicht bedingt durch die Gewandung; wenn dies nicht der Fall, so
würde der Unterkörper auf kräftiger Muskulatur eine ziemliche Fettansamm-
lung aufweisen. Die bewegten Gestalten (Bild V), die denselben Körperbau
wie die Gestalten I—-IIIl, b—g zeigen, lassen vermuten, daß die Plumpheit
auf die schwere oder steife Gewandung|['] zurückzuführen ist. Sicher handelt
es sich um starkknochige, muskulöse Gestaltungen.
Die Köpfe erscheinen mit Rücksicht auf den gedrungenen Körperbau
der Gestalten groß. Der Hirnschädel ist hoch und eher kurz als lang; die
Stirngegend breit, eher hoch als nieder und prominent; ein Fall (f) zeigt
eine niedere Stirne, was aber vielleicht durch den tiefen Haaransatz bedingt
ist. Das Kopfhaar lang, schlicht und nicht reichlich. Nach den Figuren e
(und f) zu urteilen, wäre das Kopfhaar nur in der vorderen Scheitelgegend
erhalten, der übrige Teil geschoren; das in der bezeichneten Gegend erhaltene
Kopfhaar ist ausnehmend lang, an der Wurzel zu einem Knoten verschlungen,
und vom Knoten bedeckt es perückenartig den ganzen Hirnschädel und reicht
über diesen in die Nackengegend.
Der Gesichtsschädel weist mit Ausnahme einer Gestalt (a) durchgehends
einen groben (jedoch nicht wilden) Typus auf, der auch fremdartig erscheint;
das Gesicht der Gestalt a erinnert an griechische Typen. Die Grobheit der
übrigen Gesichter wird bedingt durch den massigen Knochenbau, welcher, da die
denselben deckenden Weichteile nicht mächtig entwickelt sind, das charak-
teristische Aussehen des Gesichtes in voller Schärfe betont. Der Gesichts-
schädel ist hoch und breit, fast viereckig; die große Breite erstreckt sich
auch auf das Untergesicht (Unterkiefer), weshalb die Jochbeingegend, obwohl
dieselbe sehr breit ist, dennoch nicht besonders ausladend erscheint.
Auffallend hoch ist das Obergesicht (Nasen- und Oberkieferkörper-
gegend), und besonders niedrig die Oberlippengegend, was an viele
griechische Gestaltungen erinnert. Infolge der mächtigen Entwicklung des
Unterkiefers ist die Kinngegend hoch und vorspringend. Ganz eigen-
tümlich ist die hohe, steile, im Verhältnis nicht breite Nase, mit ihrer
mächtig emporgehobenen, schmalen Wurzel, so daß die Profillinie des Nasen-
daches mit dem Stirnprofil in einer Flucht zu liegen kommt. Das Stirn-
\asenprofil ist steil und ganz hervorragend ausladend, so daß der innere
Augenwinkel und durch die starke Ausladung des obern Augenhöhlenrandes
das ganze Auge stark in die Tiefe verlegt ist.
Eine nicht gewöhnliche Eigentümlichkeit zeigt der erwähnte Kontur,
insofern derselbe nicht gerade verlaufend ist, sondern eine Wölbung und
eine Einziehung aufweist; die letztere findet sich an der Stelle der gewöhn-
lichen Einsenkung der Profillinie an der Nasenwurzel, die erstere knapp
oberhalb der Einsenkung, also in der Stirngegend. Die Wölbung betrifft
eıtweder nur den unteren Teil der Stirne (d), oder sie wölbt die ganze
Stime (N). Eine scharfe Einsattelung zeigt die Profillinie in der Gegend
der Nasenwurzel an der Gestaltung c, was wenigstens aus der vergrößerten
1) Leder, wahrscheinlich mit dem Fell nach innen.
218 J. Peisker
Abbildung III hervorzugehen scheint; das Urteil kann jedoch kein sicheres
sein, da der Gesichtskontur in der Zeichnung auffallend dick gehalten ist.
Der Augenhöhleneingang ist groß, weit. Der obere Lidrand
überschneidet den untern in der Gegend des äußeren Augenwinkels, und zwar
in einem Falle (f) besonders stark, so daß die Länge der Lidspalte in diesem
Falle auffallend kurz erscheint; in allen anderen Fällen erscheint die Länge
normal. Mit Ausnahme des eben erwähnten Falles (f) erscheint die Lidspalte
gerade verlaufend. Das obere Augenlid ist hoch. Trotz der durch die
Bildung der Stirne und Nase bedingten Tieflagerung des Auges muß das
selbe doch als prominent bezeichnet werden. Es erscheint auch groß; die
Größe bezieht sich aber selbstverständlich nicht auf den Augapfel, sondern
auf die denselben umgebenden, sichtbaren Weichteile. Die Augenbrauen
(Haare) selbst scheinen nicht dargestellt zu sein; die Wulstung über den
Augen scheint einzig und allein nur den knöchernen oberen Augenhöhlenrand
zu betreffen.
Die Nase ist lang, schmal, stark vorspringend und steil (vielleicht Aus
nahme Figur e IH).
- Der Mund ist in Anbetracht des breiten Gesichtes nicht auffallend breit;
niedrig ist die Oberlippe, so daß die Höhe der Mundgegend namentlich von
der Unterlippen-Kinngegend erzeugt wird. Die Lippen fleischig, jedoch nicht
wulstig. Das Barthaar ist schlicht und nicht besonders reichlich ; es scheint
wie das Kopfhaar geschmeidig und schwer zu sein und bei den verschiedenen
Stellungen des Kopfes dem Gesetz der Schwere zu folgen (c, d, f). Die
Oberkiefergegend und auch die Jochbeingegend sind frei von Barthaaren,
so daß sich der Vollbart an der Seite des Gesichtes nur längs des aufsteigen-
den Astes des Unterkiefers erstreckt.
Wie schon erwähnt, sind die Weichteile des Gesichtes nicht massig, wes-
halb die Grundzüge des Skelettbaues des Gesichtes durch die Weichteile nicht
verwischt werden, und das Charakteristische der Gesichter, welche als fremd-
artig bezeichnet werden müssen, nicht durch die Weichteile, sondern durch
das Gesichtsskelett bedingt ist.
Das hervorstechende Merkmal an allen Gesichtern ist die Ge
staltung der Stirn-Nasengegend und die niedere Oberlippen-
gesend.
Während die Figuren d—g ein und denselben Typus aufweisen, welchen
auch, von ganz geringen Abweichungen abgesehen, die Figuren b und e
zeigen, unterscheidet sich Figur a in dem Gesichte ganz auffällig von den
übrigen Gestaltungen. Das ganze Gesicht dieser Figur a weist einen feinen
Gesichtstypus auf, welcher sehr erinnert an den klassischen Gesichtstypus
der griechischen Kunstwerke.“
Hofrat ZUCKERKANDL:
„Ich bin mit dem ausgezeichneten Gutachten Horrs, einen Punkt aus-
genommen, ganz einverstanden. Dieser betrifft die Haarform. Hor.L meint,
daß das Kopfhaar nur in der vordern Scheitelgegend erhalten, zu einem
(EFT 'S "II Hsouaaıq Blıyseny ‘AOMVANOM D LOISIO I)
"wiIy 19P ur YISUOM Ioq UBSINY UAYdBIgO-TNY WOP SNB ASBAWNINALT JIOUI9 UAFIIISSILIT
"668 “HOIS'S oz ‘I pııq
CIS IL AOMVONOM N lOLS'IOL) ‘H 918 's az 5—p ANG IL DPI
Bild III. Figur c, zu S. 216 ff.
(ToLSTOJ & KOoNDAKOV 1., S. 142.)
Bild IV, zu 8. 216 ff., 220 f.
Goldplättchen aus dem Kul-Obischen Kurzgan.
(Tozsros & KONDbAKOV IL, S. 61.)
(GEL 'S "TI AOMVAXOM 9 LOLSIOL)
ıdatug we [odoyIy 19q UVHINM UAYOSIYIKLMOI1I,) WP SNB IEBAIIAIIS IOUI9 UOFLIAEKILIT
‘686 Y9Iz 's nz ‘A PIS
Bild VI, zu S. 224.
Junger Mongole (nach Photographie).
(R\rZzEL, Völkerkunde III. Leipzig 1888, S. 332.)
Bild VII. Kara-Kirgise, zu S. 224 f.
(Nach einer Aufnahme von G. Merzbacher.)
(v. SCHWARZ, Turkestan. Freiburg i. Br. 1900, S. 24.)
m 2 —
Bild VIII Kura-Kirgise, zu S. 224 f.
(Nach einer Aufnahme von G. Merzbacher.)
(v. SCHWARZ, 8. 24.)
Bild IX. „Slawisch-samojedischer Mischling“, zu S. 225.
(Nach Photographie.)
(Mibpbexporrr, Reise in den äußersten Norden
und Osten Sibiriens. St. Petersburg 1875, 8. 1615.
Taf. 16, Fig. 9.)
Bild X. Turkmenischer Ältester, zu S. 224.
(Nach einer Aufnahme von G. Merzbacher.)
(v. SCHWARZ, S. 25.)
Bild XI, zu S. 224.
Der magyarische Wanderhirt Josef Varga aus Zala.
Jahre alt. Langschädel, Schmalgesicht. (HERMAX, Zur Frage
s magyarischen Typus. In den Mitteilungen d. Anthropol.
Ges. in Wien. 35. Bd. 1905. Taf. 8.)
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 219
Knoten verschlungen und, vom Knoten bedeckt, perückenartig nach hinten
selegt sei, der ganze übrige Teil des Schädels soll dagegen geschoren sein.
Ich habe trotz wiederholter Betrachtung der Bilder mich hievon nicht über-
tungen können. Die Haare der vorderen Scheitelgegend sind vielmehr kurz
zeschnitten und entweder schopfartig (d, f) oder in Form eines Knopfes (e)
nach oben vorspringend, oder wie auf IV glatt nach vorn gelegt. Es ist
m übrigen nicht ausgeschlossen, daß es sich auch auf Figur e um eine
schopfartige Frisur handelt und der Haarknopf nur durch die Veränderung,
lie der Schopf durch die Handhaltung der Figur d erlitten hat, vorgetäuscht
wird. Das übrige Kopfhaar ist einfach nach hinten gekämmt und wurzelt,
wie Figur f lehrt, am Scheitel seitlich und oben. Für das Geschorensein
des Kopfes in der hinteren Scheitelgegend könnte nur auf Figur d verwiesen
werden, der aber Figur f gegenüberzustellen ist, auf welcher ganz deutlich
die hintere Scheitelgegend mit Haaren versehen ist.“
Die Skythengesichter werden hier wiederholt als fremdartig
bezeichnet; sie sind nicht das, was man arisch zu nennen pflegt,
aber ebensowenig weisen sie mongolischen Typus auf; etwas
anderes läßt sich von einem solchen Mischvolk eben nicht erwarten.
Nebst diesen Funden klassischer Kunstwerke birgt indes die
Steppenregion eine Menge roh bearbeiteter Steinstatuen, auf
denen der Uralaltaier deutlich erkennbar ist.
So schreibt KLAPROTH: „Auf dem halben... Wege zwischen
Bezopasnoj und . . . Donskaja fanden wir . . . die zwei Stein-
bilder, die schon GÜLDENSTÄDT beschrieben hat, und wovon das
erste männlichen und das andere weiblichen Geschlechtes ist.
Diese unförmlichen Figuren, die oft nur auf der einen Seite und
aıch da gewöhnlich nur vom Kopf bis zu den Knien ausgearbeitet
... sind, finden sich in der ganzen Gegend häufig. Sie gleichen
last unseren Halbstatuen in alten Gärten, die Faunen und Satyrn
vorstellen . .. und haben eine rein mongolische Gesichtsbildung.
Gewöhnlich sind sie sitzend [— äber auch stehend, wie bei
ViuBÉRY, Fig. 5 —] vorgestellt, und die männlichen Figuren
‘cheinen mit einem Brustharnisch und einem langen, engen,
is zum Knie gehenden Rocke bekleidet zu sein. Die weib-
ichen aber haben bloße, herunterhängende Brüste und einen viel
ürzeren Rock oder auch nackte Schenkel. Sie unterscheiden
ich durch einen breiten Halsschmuck und durch eine darüber-
angende Korallenschnur. Ihr Kopfputz ist sonderbar und doppelt
ufeinandergesetzt, dahingegen die Männer kleine, spitzige, den
Vierteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 15
220 J. Peisker
chinesischen ähnliche Mützen haben und hinten eine lange, herunter-
hängende Haarflechte. AlleFigurenohne Ausnahme halten
vorderSchameinlängliches Trinkgefäß, das aber oft nur
einem Viereck gleicht. Solche Steinbilder sieht man häufig in dem
westlichen Teil der Steppe im Norden des Kaukasus ....., sowie auch
in Menge zwischen dem Don . .. und Dniepr. Ja, ich habe selbst
eine ähnliche silberne Figur von der Länge eines Fingers erhalten,
die... an der Kuma gefunden war, nur mit dem Unterschiede, daß
sie... gar keine Hände hatte. Diese Statuen tragen das Gepräge
eines hohen Alters an sich und es scheint, daß sie schon zur Zeit des
AMMIANUS MARCELLINUS vorhanden waren, denn dieser sagt, als er die
Hunnen beschreibt: Sze sind... so krumm, daß man sie für auf
zwei Füßen gehende Tiere halten könnte, oder für solche grob gear.
beitete Pfeiler in menschlicher Gestalt, wie man sie an den Ufern
des Pontus sieht“ !). Das steht bei AmmıAn XX XI, 2 allerdings nicht,
sondern: ... #4 bipedes existimes bestias vel quales in conmargt-
nandis pontibus effigiati stipites dolantur incompte. Von Brücken
(pontes) ist hier die Rede, nicht vom Schwarzen Meere (Pontus)!
Die bei allen diesen Steinfiguren vorkommenden Trinkbecher sollen offen-
bar die Toten, denen sie geweiht sind, besonders kennzeichnen und hängen
vielleicht mit HERODOTS Bericht (IV. 65 f.) zusammen:
Mit den Köpfen... der ürgsten Feinde thun [die Skythen] also: Ein jeglicher sägt
alles ab, was unter den Augenbrauen ist, und reinigt es. Und wenn es ein armer Mann
ist, so umzieht er es blos von außen mit Rindsleder und braucht es so; ist er aber
reich, so übersicht er es auch mit Rindsleder, inwendig aber vergoldet er es, und st
braucht er es als Trinkgefäß ... Einmal jährlich mischt der Oberste des Besirks ...
einen Krug mit Wein, davon trinken alle Skythen, die da Feinde erschlagen haben:
die aber dergleichen noch nicht getan, die kosten nicht von diesem Wein, sondern sitsen
ungechrt beiseite... Die aber... recht sehr viele Feinde erschlagen, die haben gleich
zwei Becher und trinken zugleich aus allen beiden. (Nach FRIEDR. LANGE.)
Zu vergleichen die Skythenfigur mit dem Trinkgefäß auf Goldplättchen
Bild IV, die sodann einen Helden darstellen würde, welcher bei solchen
feierlichen Gelagen trinkberechtigt war?).
1) JUL. v. KLAPROTH, Reise in den Kaukasus und nach Georgien, I.
Halle und Berlin 1812, S. 2698f. — Von KLArroTHs Beschreibung einiger-
maßen abweichende, viel rohere Steinbilder von turkestanischen Kurganen
bringt A. PETZHOLDT, Umschau im russischen Turkestan. Leipzig 1877,
S. 34 f. — Weitere acht bei VÄMBERY, Das Türkenvolk, Tafel zu S. 30.
2) HEropor IV. 10: ... Und von dem Skythes, dem Sohne des Herakles,
stammen alle Könige der Skythen von jeher; und von der Schale [die an dem
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 291
2. „Auch Hippokrates (de aëre $ 91 f.), wo er die körper-
rschaffenheit der Scythen bespricht und ihre besonderheit aus
er lebensweise des volks und den einflüssen des klimas ableitet,
bergeht gerade die auffallendsten merkmale des mongolischen
pu $ Ye,
HIPPOKRATES, Über Luft, Wasser und Örtlichkeit, Kap. 18 (25): Was
er die Körperbeschaffenheit der übrigen [nämlich nichtsarmatischen] Skyther
Hangt, daß sie nämlich nur untereinander, aber nicht mit
sderen [dem HIPPOKRATES bekannten] verglichen werden können,
ı wäre darüber genau dasselbe su sagen wie über die Ägypter, abgesehen davon,
18 die cinen unter der Hitse, die andern unter der Kälte zu leiden haben...
romalen nennt man sie, weil es bei ihnen keine Häuser gibt, sondern sie vielmehr
sürtel hing, welchen Herakles der Mutter des Skythes übergeben hatte]
rügen die Skythen noch bis auf den heutigen Tag Schalen an
hren Gürteln... Dazu bemerkt FRANZ v. SCHWARZ (Sintfluth und
Félkerwanderungen, Stuttgart 1894, S. 332), welcher 15 Jahre in Turkestan
gelebt: „Diese Sitte ist bei den Sarten, Tadschiken und Galtschas im all-
gemeinen Gebrauch, und Niemand begibt sich auf Reisen oder auch nur auf
inen Ausflug, ohne seine Trinkschale mitzunehmen. Sie gebrauchen dazu
tigene abgepaßte Futterale aus Leder, welche schon mit der Schale verkauft
werden und entweder an den Gürtel oder den Sattel gehängt werden. Auch
m Hause tragen sie gewöhnlich ihre Trinkschalen in das Gürteltuch gewickelt
ei sich.“
Die mit Leder überzogenen Trinkschalen der Skythen dürften somit auf
urkestanische Herkunft dieses Volkes hinweisen. Ebenso die mit Figuren
ezierten Goldplättchen selbst: Fr. v. SCHWARZ sagt (a. a. O. S. 338): „In
en Gallischen tumuli der Cöte d’or, sowie in denen am rechten Ufer der
veren Donau hat man mannigfache Schmuckgegenstände gefunden, welche
it geschlagenen Goldplättchen verziert waren. Ebensolche Goldplättchen
it man in den Skythengräbern Südrußlands gefunden. So entdeckte vor
ırzem... VESELOVSKLJ in einem Kurgan in der Nähe von Simferopol das
rab eines skythischen Heerführers. Kleidung und Mütze der Leiche waren
it Goldplättchen geschmückt, und ein sehr gut gearbeitetes ..., welches
nen Adler darstellte, verzierte auch den Köcher... [Es] besteht auch
ate noch die ganze Goldarbeiterkunst der Sarten und Tadschiken lediglich
der Herstellung solcher getriebener Goldplättchen, welche sie hauptsäch-
h zur Überkleidung von silbernen Schmucksachen verwenden. Gegenstände
s massivem Golde, wie Fingerringe, Armspangen, Ohrgehänge u. dergl.,
be ich bei den Eingeborenen Turkestans nie zu Gesicht bekommen. Die
den Gallischen und Skythischen Gräbern aufgefundenen Goldplättchen
ammen daher offenbar ebenfalls aus Turkestan.“
1) UKERT a. a. 0. S. 278 f.
222 J. Peisker
auf Wagen wohnen... Die Wagen werden teils von 2, teils von z Foch hörnerloser
Ochsen gesogen... In diesen Wagen halten sich die Frauen mit den
Kindern auf, die Männer aber sitsen su Pferde. Es folgen ihnen die
Schafe „.. die Rinder und die Pferde. Man pflegt aber so lange Zeit an demselben Orte
zu bleiben, als das Futter für die Tiere ausreicht; geht es aus, so wandern sie nach
einen andern Landstriche weiter. Sie essen gekochtes Fleiseh, trinken Stutenmilck
und nühren sich von Pferdekäse... Kap. 19 (26): Was die Jahreszeiten und
den Körperbau der Menschen angeht, so ist das Skythenvolkvon den übrigen
Menschen sehr verschieden und gleicht nur sich selbst wie auck
das Ägyptervolk... Der Wechsel der Jahreszeiten ist ja doch nicht so groß
und nicht heftig, sondern gleichmäßig und ohne viel Veränderung. Daher kommt
es, daß sie einander auch in bezug auf die Körperform ähnlich
sehen. Sie genießen immer die gleiche Kost ... und halten sich von körper-
lichen Übungen fern... Aus diesen zwingenden Gründen haben sie einen wohl.
genährten, fleischigen, ungegliederten, feuchten und schlafen Körper (à
sldean abtüv naxda dotl xal capxmdea xal ävavdpı xal byp& xal Grova)
Ihr Unterleib ist von allerfeuchtester Konstitution (bypöraraı) . . . vielmehr
gleichensieeinander wegen des Fettreichtumsundder Unbehaarl-
heit (Bta miusAv Te nal duv nv odpxa Ta [te] Elder Eorxev Allo)
die Männer den Männern, die Frauen den Frauen... Kap. 20 (27): ... Ba
fast allen Skythen, soweit sie Nomaden sind, wird man finden, daß sie verbranai
sind an den Schultern, Armen, Handwurzeln, der Brust, den Hüften und de
Lenden, und zwar aus keinem andern Grunde als wegen der Feuchtigkeit und
Schlaffheit ihrer Konstitution; denn sie können infolge ihrer Feuchtigkeit und
Schwächlichkeit weder einen Bogen spannen, noch mit an der Schulter eingelsgiem
Wurfspeere angreifen [wohl Begleiterscheinungen des Rheumatismus!]. Hrn
sie aber von der Hitze versengt werden, trocknet die meiste Feuchtigkeit aus ihren
Gelenken aus, und ihr Körper wird dadurch straffer, besser genährt und mehr St
gliedert. Ihr Korper hat einen leichten Fluß und ist breitbrüstig (boinà D vivra:
xat nÂatéa), zunächst weil man bei ihnen die Kinder nicht in Windeln einwickeli
wie bei den Ägyptern und weil sie wegen des Reitens, um einen guten Sitz zu haben,
diesen Brauch nicht kennen, in zweiter Linie aber wegen ihrer sitzenden Lebens
weise. Denn solange die Männer noch nicht auf Pferden reiten können, silzth
sie die meiste Zeit auf den Wagen und gehen wegen des Wohnungswechsels und
des Herumwanderns nur wenig su Fuße; die Frauen aber haben einen erstaunlich
leichten Fluß im Körper und sind von schwächlichem Körperbaue. Kap. 21 (8):
Das Skythenvolk ist wegen der Kälte gelbrot [nubbéy] . .. Infolge de
Kälte wird die weiße Farbe versengt und wird gelbrot. Bei einer solchen Korper
beschaffenheit können sie nicht sehr fruchtbar sein, denn der Mann hat nur set
den Trieb zum Coitus ... Zudem werden sie auch noch durch das fortwährend
Schütteln auf dem Pferde zum Beischlaf untüchtig. Das ist bei den Männer
der Grund der Impotenz. Bei den Frauen ist hingegen der Fettreichtum und dit
Feuchtigkeit des Fleisches daran schuld... Sie selbst aber haben keine Körper-
bewegung, sind feist, und ihr Leib ist kalt und schlaf. Aus diesen zwingenden
A nn ee in mas ue
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 293
ünden ist das Geschlecht der Skythen kinderarm. Einen treffenden Beweis dafür
ern unsere skythischen Sklavinnen,; sobald sie sich nümlich mit einem Manne
ainigen, empfangen sie, wel sie viel Körperbewegung haben... [Der letzte
tz beweist, daß HIPPOKRATES mit der Körperbeschaffenheit der Skythen
on von Haus aus vertraut war.] Kap. 22 (29): /m üdrigen sind aber auch die
isten Leute im Skythenlande Eunuchen, gehen weiblichen Berufen
ch, reden genau so wie die Weider‘. [Das Eunuchentum der „meisten“
\siotor] Skythen dürfte auf einer Verwechslung mit der tberwiegenden
rtlosigkeit beruhen].
MÜLLENHOFF hat recht, HIPPOKRATES „übergeht gerade die
ıffallendsten Merkmale des mongolischen Typus‘, nämlich
hiefgeschlitzte Augen und stark hervorragende Backenknochen;
ıch hatte er keine solchen Uralaltaier vor sich, auf welche
ie Worte Rabbi Benjamins ben Jona von Tudela, eines
«isenden des 12. Jahrhunderts, passen würden: sze haben keine
Vasen, sondern atmen durch zwei kleine Lôücher*); dagegen be-
ont HIPPOKRATES das vierte auffallende Merkmal: Unbehaartheit,
'unuchisches Aussehen, teilweise im scheinbaren Widerspruche
u den, allerdings jüngeren griechischen Skythenbildern°); in
ler Zwischenzeit muß eben die fortgesetzte Blutmischung mit den
Nachbarn die Skythen dem Uralaltaiertum noch mehr entfremdet
haben.
Auch ist MÜLLENHOFF beizupflichten, daß, indem HIPPOKRATES
‚gerade die auffallendsten Merkmale des mongolischen Typus“ [näm-
1) HıppoKRATES, Sämmtliche Werke. Ins Deutsche übersetzt von Ro».
Frchs, München 1896, S. 396 ff. Diese Übersetzung ist nicht überall genau.
HrPoKRATES sagt z. B.: nußßev d& 16 yévos ati to Exvtxév: Fuchs über-
Kit: sicht... gelbrot aus; HIVPOKRATES: Tüg de Aydbas Eluovor Lebyea
ir päv 200, Tag d& tpix Bowv, also 2—3 Joch, Paar (= 4—6) und nicht,
me Ficns übersetzt, 2—3 Rinder! GrımM gibt beide Stellen ganz richtig
nieder (HIPPOCRATES Werke tibersetzt von J. F. C. GRIMM, revidirt von
/LIENHAIN. I. Glogau 1837, S. 208, 206).
2) A. v. MIDDENDORFF, Einblikke, S. 383.
3) Auf der Kul-Obischen Vase (Bild I) haben sämtliche Skythen [HoLL:
schlichte, nicht besonders reichliche“] Bärte; allein es sind dies lauter ältere
änner, offenbar Feldhauptleute, welche vor ihrem Könige zur Berichterstattung
schienen sind. Dagegen weist die Certomlyckische Vase (Bild V) unter den
ht Gestalten zwei bartlose und drei bartarme Gesichter auf. Bedenkt man,
18 auch die bartärmsten Uralaltaier zwar erst in höherem Alter, aber dennoch
nen, wenn auch spärlichen Bart erhalten, so besteht zwischen dem Berichte
IPPOKRATES’ und den Vasenbildern kein wesentlicher Widerspruch. —
994 J. Peisker
lich schiefe Augen und sehr stark hervortretende Backenknochen]
übergeht, sie ihm an den Skythen nicht aufgefallen sind. Allein
sollte man aus der uralaltaischen Völkerfamilie alle Völker streichen,
welche mit diesen zwei Merkmalen so wenig wie die Skythen
behaftet sind, dann müßte gar vielen Turkotataren, ja auch
Mongolen ihr uralaltaischer Ursprung überhaupt abgesprochen
werden. Sind ja nicht einmal alle Mongolen [im engeren Sinne]
schiefäugig, wie die Portraits eines jungen und eines alten Mannes
bei RATZEL') zeigen. Die Kara-Kirgisen, nach VÄNMBERT
die relativ reinsten Türken, weichen nach den Aufnahmen
MIDDENDORFFS°), JADRINCEVS*), Dr. GOTTFRIED MERZBACHER®')
und FUTTERERS°) von dem von MÜLLENHOFF geforderten „mongo-
lischen Typus“, dem Ariertum zu, bedeutend ab. Und was soll
man erst zu dem „turkmenischen Ältesten“ (Aksakal) MErz-
BACHERS®) sagen mit dem prächtigen salisburyschen Vollbarte,
oder zu dem ganz und gar nicht ,mongolisch“ aussehenden,
dolichokephalen magyarischen Wanderhirten Varga und anderen
Gesichtern bei HERMAN’)! Und dennoch sind sie alle Uralaltaier,
freilich mit mehr oder weniger starker arischer®) Beimischung.
1) RATZEı, Völkerkunde III., Leipzig 1888, S. 332f.; bei uns Bild Vl.
2) A. v. MIDDENDORFF, Einblikke, S. 388, 398f., Taf. VII.
3) Jadrinzew, Sibirien, Jena 1886, zu S. 113.
4) Franz v. ScHWARZ, Turkestan. Freiburg i. Br. 1900 (bildet den
14. Bd. der Bibliothek der Länder- und Völkerkunde) S. 24. Bei un
Bild VII und VIII.
5) K. FUTTERER, Durch Asien. I. Berlin 1901, S. 60, 82f., 517-519
Taf. I. II.
Ujfalvys (Expédition scientifique française en Russie, en Sibérie
et dans le Turkestan. Paris 1878—1880) reiche Portraitsammlung uni
anthropologische Messungen mit heranzuziehen, ist nach MInDENDORF'8
(a. a. O. S. 384 ff.) Kritik nicht ratsam.
6) Schwarz S. 25. Bei uns Bild X.
7) HERMAN Orr6, A magyar nép arcza és jelleme. Budapest 1%%,
S. 124 (bildet den 70. Band von Természettudoményi Könyvkiadö-väll«
lat). — OTro HERMAN, Zur Frage desmagyarischen Typus, in den Mitteilungen
der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. 35. Bd. 1905 Taf. 8. Bei uns Bild XI.
8) Die termini arisch, semitisch u. 8. w. stehen nicht mehr auf der Höhe
der anthropologischen Wissenschaft; es soll hier darunter nur das verstanden
werden, was man aus Mangel einer besseren Terminologie arisch, semitisch u. dgl.
zu nennen pflegt.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 225
Vergleichen wir nun die griechischen Skythenbilder mit
[ERZBACHERS Portraits, dann können wir eine gewisse Ähnlich-
eit mit dessen zwei Kara-Kirgisen (bei uns Bild VII und VII)
icht von uns weisen, besonders wenn man sich zu dem Ober-
esicht des ersteren das Untergesicht des zweiten hinzudenkt.
ım auffallendsten ist aber die Behaarung der Skythen: Augen-
rauen sind bei ihnen ebensowenig wahrzunehmen wie bei MERZ-
ACHERS Kara-Kirgisen. „Das Barthaar ist schlicht und nicht
wsonders reichlich ... Die Oberkieferkörpergegend und auch
he Fochbeingegend sind frei von Barthaaren, so daß sich der
Vollbart an der Seite des Gesichtes nur längs des aufsteigenden
Astes des Unterkiefers erstreckt.‘ Diese Worte HoLzs über die
Skythen gelten auch von den Kara-Kirgisen MERZBACHERS und
FUTTERERS!). — Auch das Kopfhaar ist bei allen Skythen-
fguren schlicht und nicht reichlich. Solche schlichte und schüttere
Mähnen herrschen unter allen, auch den stark vermischten Ural-
altaiern vor, und ein prächtiges Beispiel bietet der „slawisch-
samojedische Mischling“ bei MiDDENDORFF?), dessen Haartypus
uit dem skythischen identisch ist. Die von FUTTERER an 3 Kir-
gisen, 1 Dunganen und 2 Sarten vorgenommenen anthropolo-
“schen Aufnahmen ergaben ebenfalls ein schlichtes und nur bei
dem dritten Sarten (Aufnahme Nr. 5) ein welliges, diekes, hartes
Haar. MERZBACHER teilt mir mit: „Daß Kirgisen, Turkmenen,
Narten straffe Haare haben, kann ich bestätigen, wenigstens in
len einzelnen Fällen, wo ich Individuen zu sehen Gelegenheit
atte, deren Schädel nicht rasiert war“.
Andererseits weisen die Skythenbilder trotz ihrer Fremdartig-
1) A. v. MIDDENDORFF a. a. O. S. 400: „Den Syr entlang... fand ich
:i ihnen [Kirgis-Kaisaken] ... die eng, aber nur horizontal geschlitzte
ugenspalte bei fast allen. Einige hatten bedeuteud mehr Bart, ais dem
ongolen zukommt, aber stets war der Übergangsraum vom Barte zum
‘hnauzbarte vollkommen haarlos. Das scheiut ein sehr beständiges Kenn-
ichen zu sein. Am wenigsten mongolisch war... oft die Nase, nämlich:
ch erhaben, scharfrückig und oft mit schöner Doppelkrümmung des Firstes,
ı Profile.“
2) A. TH. v. MIDDENDORFF, Reise in den äußersten Norden und Osten
biriens IV. 2, bearbeitet von A. v. MiDDENDORrr. St. Petersburg 1876,
1615. Taf. XVI Fig. 9. Bei uns Bild IX.
926 J. Peisker
keit ebenso, wie die heutigen Krimtataren, auf starke arische,
namentlich aber griechische Beimischung:
Hour über dieSkythengesich- VAMBÉRY über die Gebirgs- und
ter: Das Gesicht der Gestalt a auf der | litoralen Tataren der Krim: Grof
Elektrumvase ist von einem feinen Typus, | Augen und die längliche Nase tut sich
der an den klassischen der griechischen | bisweilen durch einen feinen römischen
Kunstwerke erinnert. Be den übrigen | oder griechischen Schnitt hervor. Die
Gestalten ist besonders niedrig die Ober- | südlichen Tataren mit langer Nase url
lippengegend, was an viele griechische | großen Augen lassen die starke griechisch:
Gestaltungen erinnert. Das Auge groß, | oder teilweise römische Blutmischunz
die Nase lang, schmal, stark vorspringend | leicht erkennen.
und steil.
Auf dem Boden Südrußlands haben demnach die Skythen und
später die Tataren dieselbe somatische Metamorphose von den
Uralaltaiertum zum Halbariertum durchgemacht.
Von den Gesichtern wenden wir uns jetzt den Gestalten zu:
HozL über die Skythengestalten: VAMBÉRY über die Kirgisen: kur:-
Gedrungen, klein, massig, starkknochig, | gedrungener Körperbau mit breite,
Kopf groß. [HıPPOKRATES: Hautfarbe | starken Knochen, Kopf groß, dunkl,
gelbrot.] fast gelbliche Hautfarbe.
Somit zeigen sowohl die Gesichter als auch die Gestalten der
Skythen deutliche Merkmale turkotatarischer Zusammengehörigkeit.
Dahin weisen auch die skythischen Sitten und Bräuche:
Im Anschluß an NIEBUHR, SAFARIR u. a. urteilt KIEPERT!):
„Während manche, den Griechen auffallende Züge skythischer
Lebensweise auch anderen Barbarenvölkern gemeinsam sind[?),
1) HEINRICH KIEPERT, Lehrbuch der alten Geographie. Berlin 1878,
S. 343 f.
2) Zu solchen zähle ich auch die skythische Art des Wabrsagens durch
Weidenruten, die aus Bündeln auseinandergelegt wurden, woraus man dann
die Zukunft deutete (HERODOT IV., 67. Von den Alanen: AMMIAN XXXL, 2, 24).
Dies wird mit Vorliebe mit einem ähnlichen Brauche der Germanen verglichen:
... virgam frugiferae arbori decisam in surculos amputant...(TACITUS, Germania
10) und wäre ein prächtiger Beleg für eine arische Herkunft der Skythen,
wenn nicht Marco PoLo dasselbe von den Mongolen berichten würde:
Dschengis-Chan ließ vor dem Kampfe mit Ong-Chan orakeln. Die Zauberer
spalteten ein Rohr entzwei, benannten die eine Hälfte Dschengis, die andere
Ong. Die des ersteren fiel obenan, als Vorzeichen seines Sieges. (MARCO POLO,
im französischen Urtext cap. 67, in der lateinischen Übersetzung von Frä
Pipino cap. 53, in der italienischen bei A. Bartoli cap. 55.). — Ähnliches bei
VAMBÉRY, Ursprung der Magyaren, Leipzig 1882, S. 29.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 227
auch das Haremsleben der stets in den Zeltwagen verschlossen
gehaltenen Weiber nur allgemein asiatische Sitte ist, finden sich
andere, gerade für die Skythen charakteristische Sitten in über-
raschender Ähnlichkeit nur bei den turanischen Nomadenvölkern
Inner- und Nordasiens, in äußerster Schärfe noch heute bei den
Völkern speziell mongolischer Abkunft wieder: so die von frühester
Jugend an geübte Gewöhnung an das Reiterleben und damit zu-
sammenhängend die Vorliebe für den Genuß des Pferdefleisches,
der gesäuerten Pferdemilch und des Pferdekäses, die Berauschung
durch Dampfbäder von Hanfsamen, das Brennen der Weichteile des
Körpers als Mittel gegen rheumatische Schmerzen, das Vergiften
der Pfeilspitzen, endlich Züge äußerster, aller Sitte arischer Völker
widerstrebender Roheit bei den mit massenhaften Menschen-
opfern verbundenen Begräbnissen der Fürsten und anderen reli-
giôsen Zeremonien. Schlachten der Lieblingsfrauen, der Diener-
schaft u. s. w. auf dem Grabe, Aufstellung der ausgestopften
Leichen gemordeter Krieger zu Pferde um das Grab war, wie
bei den alten Skythen, Sitte bei den Mongolen des Mittel-
alters...“ 1),
„Diese Spuren nordasiatischer Verwandtschaft wer-
den bestätigt durch das, was als schärfer blickender
Naturforscher HipPoKRATES über die körperliche Er-
scheinung der pontischen Skythen mitteilt, indem
er die Grundverschiedenheit derselben von allen
übrigen, damals den Griechen bekannten Völkern
betont und als charakteristische Merkmale außer
gelblicher Hautfarbe (rufiov) namentlich Fettleibig-
keit, Bartlosigkeit und deshalb unmännliche Gestalt
hervorhebt, Züge, die sich in solcher Schärfe be-
kanntlichnurinnerhalbdersogenannten mongolischen
Rasse wiederfinden, während sie den Eigenschaften
derindoeuropäischen Völkerfamilie fremdartig gegen-
überstehen“ ?).
HippoKRATES betont, daß in Beziehung auf das Äußere der
1) Vgl. die von NEUMANN, Die Hellenen im Skythenlande, Berlin 1855.
angeführten Beispiele.
2) Von mir gesperrt.
2928 J. Peisker
Skythen und auf die Jahreszeiten es sich so verhalte wie bei
den Ägyptern, da das skythische Volk sich so sehr von den
anderen Völkern unterscheide und sich nur selbst gleiche. Könnte
H1PPOKRATES 80 etwas von einem arischen Volke sagen? Und
wenn nun die Skythen von allen übrigen Völkern im Aussehen
derart grundverschieden sind, welche andere Rasse ist hier denk-
bar, als die uralaltaische? Keine, gar keine!
3. „erodot verliert über jene [Körperbeschaffenheit der
Skythen] nicht einmal ein wort, aber sobald er von den abge-
fallenen königlichen Scythen zu den Argimpaeern am untern
Ural gelangt, hebt er die abweichende gesichtsbildung, durch
die sich diese auszeichnen und als Tataren zu erkennen geben,
hervor; was allein schon genügt, um die Scythen zum arischen
stamme zu rechnen. Denn keine andere wahl bleibt, zvenn
nemlich die Budinen und ihre nachbarn an der Wolga zum
finnischen gezählt werden müssen, da Ferodot diese wiederum
von jenen bestimmt unterscheidet.“
Es ist nicht ganz richtig, daß in bezug auf die Skythen HERODOT
„die abweichende Gesichtsbildung“ der Argippäer hervorhebt
sondern er sagt!) ohne irgendeinen Zusammenhang mit den
Skythen, sie „sollen Kahlköpfe sein von Kind an, Männer wie
Weiber, und Stumpfnasen und ein langes Kinn haben, auch eine
eigene Sprache sprechen, kleiden sich aber wie die Skytben ...“
,Kahlkôpfe“ gewiß nicht von Natur aus, sondern aus Mode,
und das ist kein Rassenkriterium. — In der Plattheit der Nase
gibt es bei den Turkotataren eine ganze Stufenleiter, und indem
Herovor diese Eigenschaft bei den Argippäern hervorhebt und
bei den Skythen nicht, so kann daraus höchstens der Schluß ge-
zogen werden, daß die Nasen der Skythen nicht platt waren. —
Die Verschiedenheit der Sprache ist unter Umständen auch kein
Beweis für eine Verschiedenheit der Rasse, und es ist bekannt,
daß eine Gleichheit der Tracht mitunter länger anhält als die
Gleichheit der Sprache.
MÜLLENHOFF führt aus HERODOT für das Ariertum der Skythen
einen Beweis ex silentio. Kann HrroDoTs silentium HıpPo-
1) HERODoT IV. 28.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 229
KRATES’, ebenfalls eines Augenzeugen, deutliche Ausführungen in
ihr Gegenteil umstoßen ?
4. „Aus dem zustande, in dem die Arier oder Indogermanen
sich vor ihrer trennung und im stadium derselben befanden,
war der übergang in die lebensweise der steppenvölker immer
leicht möglich, sobald die not und die natur des zum aufenthalt
erwählten Landes dazu zwang.“
„Die Lebensweise der Steppenvölker“, was soll man sich
darunter vorstellen? Doch nur Gewohnheiten und Bedürfnisse,
welche mit dem Reiterhirtentum ursächlich verknüpft sind,
nicht aber Bräuche, die damit in gar keinem Zusammenhange
stehen und besonderen Völkern oder sogar Völkergruppen eigen
sind. Und just derartige Bräuche der Skythen, die wir oben
kennen gelernt haben, sind Uralaltaiern als solchen eigentümlich
und den Ariern wildfremd.
Aber auch nach einer solchen Einschränkung des Begriffes
„Lebensweise der Steppenvölker“ muß jede Möglichkeit abgelehnt
werden, als ob je Arier irgendwo sich hätten für ein Steppen-
leben als Reitervolk ausbilden können; „leicht möglich“ ist leicht
gesagt, jedoch mit Ausschluß von Beweisen. Wo ist es geschehen ?
So viel bekannt, nirgends. Man kennt keine Steppe mit
arischen Reiternomaden. Alle Steppen Osteuropas und
Zentralasiens wurden, soweit unsere Nachrichten reichen,
immer und immer nur von turkotatarischen Reiterhorden
heimgesucht und behauptet. Ein Blick auf die Karte überzeugt
uns, daß in den westturkestanischen Steppen arische Nomaden nie
hausen konnten, denn diese Steppen sind, wirtschaftlich genom-
men, ein Anhängsel nicht von Nordiran, sondern von Südsibirien.
Der Südsibirier zieht, wenn seine Sommerweide einschneit,
nach dem Süden in die Salzsteppe zum Wintern, dagegen
wäre es von dem iranischen Arier Selbstmord, wollte er zum
Wintern nach dem Norden ziehen. Wollte man annehmen, daß in
den westturkestanischen Steppen und Wüsten vor den Uralaltaiern
arische Reiterhirten, sogar noch zu Alexanders von Makedonien
Zeiten, hausten, dann müßte man ihnen zu den westturkestanischen
Winterquartieren auch noch die angrenzenden südsibirischen
Sommerweiden anweisen. Und das kann niemandem beifallen.
230 J. Peisker
weil am unteren Ural schon zu HERODOTS Zeiten das Volk der
Argippäer saß, welches unzweifelhaft uralaltaisch war, denn nach
HERODOT Buch 4, cap. 23 hatten beide Geschlechter kahle Köpfe,
Stumpfnasen und ein langes Kinn.
Westturkestan bildet — dies kann nicht oft genug wieder-
holt werden — eine unübersteigbare Völkerscheide nur für deu
Südasiaten, nicht aber für den Sibirier, für den ist es ein offenes
Land. Der Kirgis-Kaisak bedarf, wie alle seine Vorgänger, zur
Winterweide der turanischen Salzsteppen so unumgänglich, daß
er von ihnen nicht zu trennen ist, dagegen sind diese Salzsteppen
und Wüsten für den Iranier nur Gegenstand des Schreckens; sie sind
fürihn durchaus unwirtlich, er meidet sie, kann sie nicht brauchen,
bedarf ihrer nicht einmal, denn er hat daheim bessere, warme
Winterquartiere in der Nähe seiner Sommerweiden. Wird er seine
Herden des Winters in die furchtbare Steppe, viele Breitegrade
nach dem Norden treiben, wo Schnee fällt und Glatteis dem
Vieh mit dem Hungertode droht, wenn es zu Hause sonnige,
schneefreie Winterweiden hat? Eben dieser Unterschied in der Ent-
fernung zwischen Sommer- und Winterweide macht einerseits den
Südsibirier zu einem ewig wandernden Reiterhirten, anderer-
seits den weidenden Teil der Arier zum einfachen, wenigstens
einigermaßen fest angesiedelten Viehzüchter. Nichts zieht den
Iranier nach dem Norden, es wäre denn das Bedürfnis, sich von
dort aus Ruhe zu verschaffen, den Räuber zu züchtigen; allein
er vermag nicht einmal ein solches Bedürfnis in Tat umzusetzen,
er kann, wie wir von VÄMBERY gehört haben, den gut be-
rittenen Nomaden über die Grenze der spurlosen Sandfelder
nicht verfolgen; er wagt es auch nicht, und so darf letzterer,
gestützt vom Bollwerk seines heimatlichen Terrains, seinen
räuberischen Vergnügungen ganz ungestraft nachhängen. Die
Sage von der Niederlage und dem Untergange Kyros des Älteren
ist in dieser Hinsicht sehr belehrend, und ebensowenig konnten
Dareios I. und Alexander der Große die Skythen fassen.
Dagegen ist Iran Gegenstand höchster Sehnsucht der süd-
sibirisch-turkestanischen Reiternomaden, da können sie plündern
nach Herzenslust, und gelingt es ihnen, sich hier lang genug als
Herren zu behaupten, dann lernen sie auch die Sprache der
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 231
Unterjochten. Die nomadischen Herren teilen sich: die einen
bleiben dem bisherigen Wanderhirtenleben treu und bewahren
ihre Nationalität auch der Sprache nach; die anderen dagegen,
welche in die Steppe nicht mehr zurückkehren und inmitten der
unterjochten Bauernschaft Winterquartiere beziehen, die werden
schnell zweisprachig und vergessen schließlich ihre eigene Sprache,
werden arisch der Zunge nach. Gelingt es dann den Iraniern,
das Joch abzuschütteln und den Eindringling zu vertreiben, dann
sucht dieser, nun: iranisierte Turkotatare andere Länder heim.
So die Skythen.
MÜLLENHOFF will aber von arischen Steppenvölkern direkt
wissen:
d. „Selöst mehrere persische stämme lebten als nomaden
(Herodot I. 125), zum teil auch die Parther (Plinius 6, $ 112,
113), ja diese sollen ehemals Scythen gewesen sein..., auch die
Sogder und Baktrer sich nicht viel von den nomaden unter-
schieden haben (Strabo P. 517) und unter den turanischen
völkern waren die Apuxxar bei Ptolemaeus an der mündung des
Jaxartes wohl nicht die einzigen von arischer abkunft: die
Ava, d.:. die nichtarischen Exidaı bei Ptolemaeus im norden
Turans lassen auch auf ihren gegensatz in südlicheren strichen
schließen.“
Die Heranziehung dieser Völkerschaften zur Lösung der
Skythenfrage hätte nur dann ein Gewicht, wenn wenigstens bei
einigen — soweit sie Reiterhirten waren! — die arische Abkunft
zumindest wahrscheinlich wäre; von einer solchen kann jedoch
keine Rede sein, wir haben es auch hier mit Turkotataren
zu tun. „Die Sprache der Parther, in welcher dieser Name
Vertriebene oder Ausgewanderte bedeuten soll, wird ein Ge-
misch medischer und skythischer genannt, auch ihre herrschende
Lebensweise als Reitervolk und ihre, durch den Philbellenismus
der arsakidischen Könige bezeugte Toleranz, ja Indifferenz
gegenüber dem religiösen Eifer der echten Perser und anderen
Anhänger der zoroastrischen Lehre, bezeichnet sie als einen
auf arischen Boden eingedrungenen turanischen [turkotata-
rischen] Nomadenstamm, der auch in der nach ihm benann-
ten, wenig ergiebigen, nur an Weideplätzen reichen Landschaft
232 J. Peisker
größtenteils sein Hirtenleben weiterführte“, bemerkt KiePerr'
und führt nebstdem die ein korruptes Neupersisch reden-
den, aber in ihren Gesichtszügen und ihrer gesamten Körper-
bildung die mongolische Herkunft unverkennbar verratenden
Aimâq oder Hezäre (= „Wanderstämme“) des inneren Afgha-
nistans“ ?) mit als Beweis an, wie wenig man berechtigt ist, an
der turkotatarischen Abkunft der Skythen nur deswegen zu
zweifeln, weil ihre Sprache eine iranische war.
MÜLLENHOFF setzt fort:
6. „Der gegensatz in dem die ackerbauenden Iranier, dit
anhänger der Ormusdreligion, schlechthin zu den reitervölkern
Turans standen, läßt sich dem der Juden zu den ihnen stamm-
verwandten Philistern und Phöntziern vergleichen. Ein zweifel
an der arischen herkunft der Skoloten [Skythen] kann wenigstens
von dieser seite nicht wegen mangelnder analogie erhoben werden.“
Es wird auch kaum jemandem einfallen, einen Zweifel von
dieser Seite zu erheben, und es steht mit dem Ariertum der Skythen
schlecht, nachdem es nur diese Analogie zur Stütze hat. Diese
Analogie findet ihresgleichen nicht unter den Ariern, sondern
bloß unter den Uralaltaiern. Nur die Uralaltaier und die
Semiten bewohnten Länder mit eingeschlossenen Stepper,
deren Natur und Größe zur Entstehung eines Reiternomadentums
führen konnte; die arischen Ländergruppen enthalten jedoch
solche Gebiete einmal nicht, daher konnte sich unter den Arien
ein derartiger Gegensatz zwischen Reiterhirtentum und Ackerbau
1) KIEPERT, à. a. 0. 8. 66 f.
2) A. a. O. S. 345. Aimäg ist jedoch nicht, wie KIEPERT glaubt, ein
Völkername: vergl. PALLAS, Reise durch verschiedene Provinzen des rus-
sischen Reichs, I., St. Petersburg 1771, S. 328: „Die kalmückischen Stämme sind
von je her gewissen Oberhäuptern untertan gewesen, deren Recht und Gewalt
über die Unterworfenen erblich fortgepflanzt wird, und noch itzt ist die
ganze Nation unter dergleichen kleinen Fürsten verteilet, welche sich den
Titel Vojonn beilegen lassen und dem über sie ernennten Chan wenig gt-
horchen. Die Haufen, über welchen sich die Herrschaft eines solchen Nojons
erstreckt, wird eine U/zss genannt und ist in kleinere, nicht weit voneinander
kampierende Haufen oder Aimaks abgeteilet, über welche gewisse Edle,
deren Titul Saissang ist, gebieten. Jeder Aimak verteilt sich wegen der
Viehweide wiederum in Gesellschaften von 10—12 Gezelten, die einen soge-
nannten Chatun ausmachen.“
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 933
iicht entwickeln, wie er sich bei den Semiten und den Ural-
ltaiern vorfindet und durch die letzteren auf dem Wege der
iroberung in arische Gebiete erst hineingetragen wurde. Über-
lies ist es keineswegs so ganz sicher, daß zwei Reiternomaden-
atstehungsherde vorliegen, ein uralaltaischer in Zentralasien und
in semitischer in Arabien, denn es ist leicht möglich, daß Ural-
ltaier, die ja auch Mesopotamien beherrschten, Arabien, wo bis
ahin keine Wanderhirten zu sein brauchten, in unvordenklichen
‚iten einnahmen und sich dort allmählich semitisierten.
Daß sich der Wanderhirte unter einer fremdsprachigen Be-
ölkerung entnationalisiert, dafür könnten zahlreiche Beispiele
bracht werden:
HERODOT erwähnt — um bei den Skythen zu bleiben —
berhalb des Emporiums der Borystheniter, zuerst der Kallipider,
welche griechische Skythen seien, éôvres Ames Zxidar').
Diese wechselten somit zumindest zweimal die Sprache. —
Von den korrupt neupersisch sprechenden turkotatarischen , Aimâq“
im Innern Afghanistans war oben die Rede. — Nach IBRÂHîM
IBN JARÔB sprächen „mächtige Stämme aus dem Norden slawisch
infolge ihrer Vermischung mit ihnen; so die Petschenegen, ...
und Chasaren.“ — Die türkischen Bulgaren slawisierten sich unter
den unterworfenen Balkanslawen gänzlich. — Und erst die
romanisierten Schafwanderhirten der Balkanhalbinsel, die Wlachen,
welche erst im Laufe des späten Mittelalters und der Neuzeit teils
serbisch oder kroatisch, teils bulgarisch, teils neugriechisch wurden
ind noch werden, je nachdem, wo sie eine hinreichend lange Zeit
mit ihren Herden gewintert haben und wintern?). Das sind ganz
andere Analogien, welche die uralaltaische Abkunft der Skythen
uit deren iranischer Sprache harmonisch binden.
‚ Somit ist nicht ZEuUSS-UKERT-MÜLLENHOFF, sondern NIEBUHR-
SAFARIK-KIEPERT beizupflichten, und die Skythen sind für
1) HERODOT IV., 17: ... die K'allipider haben sonst dieselben Sitten wie die
Sythen, aber sie säen auch Korn und essen Zwiebeln und Knoblauch und Linsen
md Hirse. Also Nomaden mit einigem eigenen Feldbau wie die heutigen
Kara-Kirgisen.
2) Über das wlachische Schafwanderhirtentum folgt eine besondere Ab-
andlung.
934 J. Peisker
‘iranisierte Uralaltaier zu erklären. Wohl würdigte auch
Sararik eingehend die Verwandtschaft der skythischen Sprache
mit den iranischen'), war jedoch zu vorsichtig, um Abkunft und
angenommene Sprache nicht auseinanderzuhalten.
„Diese wunderliche Erscheinung — schließt er — erklärt sich
teils durch das dereinstige Wohnen der Skythen tief in Asien,
vielleicht in der Nachbarschaft der Meder und Perser, teils in
dem mehr als 28 jährigen Aufenthalte in Medien (633— 605 v. Chr.),
teils endlich durch die Nachbarschaft mit den Sarmaten, einem
medischen Stamme, mit dem sie viele Jahrhunderte lang ver-
kehrten und in Sitten und Sprache sich vermischten . . .“i).
Von der letzteren Erklärung, der Nachbarschaft der „medischen®
Sarmaten, kann man getrost gänzlich absehen ?), und der so kurze,
etwa 28jährige Aufenthalt in Medien dürfte ebensowenig zur
Iranisierung ausgereicht haben, eine viel längere vorhistorische
Herrschaft der Skythen irgendwo in Iran anzunehmen sein.
Auf ihren riesigen Wanderungen haben die Skythen gar viele,
in ihrer Lebensweise grundverschiedene Völker heimgesucht, sie
nach Belieben verpflanzt und sich mit ihnen vermischt; das süd-
russische Skythien bildete ein dementsprechendes ethnographische
Kaleidoskop, und die heutige ethnische Buntheit dieser Länder
— über die Krimtataren siehe oben S. 215 — ist dessen bloße
Fortsetzung.
So findet VAMBÉRY, „dass der Bericht HERODOTS von den mit Zelten
überspannten Wagen, von dem Gebrauch des Dampfbades, von der Toilette
der Weiber mittelst Zerreibung von Cedern- und Weihrauchholz, welcher an
den heutigen Gebrauch der Henna im Kaukasus und in Persien erinnert, sowie
schließlich der Bericht von den Ackerbau treibenden Skythen ... streng ge
nommen nicht in den Rahmen eines Sittenbildes der eigentlichen Nomaden
passt, da die Verwendung von Holz durch den Aufenthalt in einer Wald-
gegend bedingt ist, ebenso wie die ausschließliche Beschäftigung mit der
1) SCHAFARIK, a. a. O. I. S. 282 ff.
2) SCHAFARIK, a. a. O. S. 284 f., nach dem Originaltext berichtigt.
_ 8) Ebensowenig begründet, wie die arische Abkunft der Skythen, ist die
Annahme, auch die Sarmaten wären Arier gewesen und es blieb erst KIEPERT
vorbehalten, „ihre dauernd nomadische Lebensweise“ hervorzuheben, „welche
vielmehr auf die Vermutung eines Zusammenhanges mit den bekanntlich auch
auf iranischem Boden von jeher weit verbreiteten turanischen [turkotatarischen]
Reitervölkern führt“. KiEPERT S. 346, Anm. 1.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 235
Scholle sich nicht auf das Leben in der nackten Steppe beziehen kann ...
Wir erfahren ferner, daß gewisse Skythen sich auschließlich mit der Vieh-
ııcht beschäftigen, daß sie Kumis trinken, daß sie mittelst Stäben wahr-
agen, wie e8 AMMIANUS MARCELLINUS bei den Hunnen gewahrte, und wie
liese Sitte noch heute in Zentralasien besteht ..., daß sie ihre Leichen nach
lem Ritus der turkotatarischen Schamanen bestatten u. 8. w.... lauter solche
\ndeutungen, die ebensosehr auf das Leben einer ganz nomadischen
resellschaft passen, als die früheren Bemerkungen streng genommen
ur die Lebensart einer halbnomadischen Gesellschaft darstellen
öanen“. Daraufhin gelangt VAMBÉRY zu der Hypothese, „daß die eigent-
chen Skythen, d. h. die drei königlichen Stämme ..., sowie die Ackerbau
reibenden Stämme... ., vielleicht auch die Agathyrsen und Sauromaten [Sar-
ıaten] nicht Uralaltaier, daher eventuell Arier waren, ebenso wie die ver-
randten und fremden Grenzvölker teils für Mischlinge, teils für entschiedene
ingehörige des uralaltaischen Stammes zu nehmen sind ... und
ndem wir ... [diese Hypothese] aufstellen, müssen wir BRUUN und MÜLLEN-
{or entschieden widersprechen, die der Meinung sind, daß die nomadische
Existenz nicht als Argument gegen das Iraniertum der Skythen gelten könne,
ia auch andere Iranier ohne feste Wohnsitze waren (?), und da der Mensch
m allgemeinen, welchem Stamme er auch immer angehôre, von den lokalen
Eigenheiten des ihm zur Wohnung dienenden Bodens abhängt... Einzelne
Zweige der großen Türkenfamilie mögen wohl in die triftenreichen Täler
der Alpenregionen zersprengt worden sein, ...2. B. ... Karakirgisen im
Altei und in Pamir ..., doch das Gros dieses Volkes war ... von jeher mit
der Natur der baumlosen Steppe engstens verbunden ..., so wie sich die
wischen Völkerelemente von jeher durch die seßhafte Lebensweise ... aus-
zeichneten (denn von arischen Nomaden hat die Geschichte
keine Daten aufbewahrt, und die Gegenwart kann nur das
talbnomadische Völkchen der Déeméidis am Murgab ver-
ttichnen). Und da dem so ist, nehmen wir nicht Anstand,
im südöstlichen Teile der uralaltaischen Rasse, d. h. bei
len Türken, ein so geartetes Verhältnis, wenngleich nicht
wfJahrtausende, sicherlich aber auf Jahrhunderte zurück-
üsetzen, demnach die Annahme zu wagen, daß jener Teil
les Herodotischen Skythiens, der sich vom mäotischen See...
lordüstlich ... gegen die Wolga erstreckte, von Völkern
tralaltaischer Rasse, sehr wahrscheinlich von Türken be-
‚ohntwar, wobeijedochdie Möglichkeitnichtausgeschlossen
st, daß sich einzelne Fraktionen dieser Rasse oder des
etzterwähnten [d. i. Türken-] Volks schon inmitten der so-
'enannten pontischen Skythen befunden haben“).
So lebrreich VAMBÉRYS Ausführungen auch sind: der Versuch des großen
(enners Zentralasiens, die königlichen Skythen in bezug auf die Abkunft von
l) VAMBÉRY, Ursprung der Magyaren, S. 9 ff.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftegeschichte. III. 16
236 Ä J. Peisker
den Nomadenskythen zu trennen, scheint mir nicht geglückt zu sein.
Die Königlichen waren ja Herren, Anführer der Nomaden '), mit denen sie
halb Asien durchzogen, etappenweise unterwarfen, und die Geschichte der
uralaltaischen Eroberer kennt kein Beispiel einer solchen arischen An-
führerschaft, während gerade umgekehrt uralaltaische Machthaber es meister-
haft verstanden, arische Völker zu mobilisieren und ihren Zwecken dienst-
bar zu machen. Millionen von Germanen und Slawen waren Kriegsknechte
der an Zahl viel geringeren Hunnen und Awaren, dagegen hat es, soviel
bekannt, türkische Völker als Kriegsknechte arischer Eroberer — und noch
dazu für so ungeheuere Wanderungen — nie gegeben. Noch weniger denkbar
ist es, daß ein uralaltaisches Reiternomadenvolk inmitten seines ureigensten
Elementes, der Steppe, einen von Haus aus arischen und derart isolierten
Gebieter (wie die königlichen Skythen, wenn sie Arier gewesen wären) hätte
dauernd ertragen mögen. Dazu ist nur ein äußerst flinkes Reitervolk ge-
eignet, und von einem arischen Reitervolke hat man keine Kenntnis. Er-
scheinen nun die königlichen Skythen VAMBÉRY nicht notwendig türkisch,
so sind sie als Arier noch viel weniger denkbar. Bleibt die dritte Eventuali-
tät: Die königlichen Skythen sind ebenfalls ein Mischvolk, ihr Grundstock
kann jedoch nicht arisch, muß somit uralaltaisch sein.
Wollen wir noch VAMBÉRYSs Unterscheidung zwischen den eigentlichen
und den bloß nominellen Skythen, die leicht zu Mißverständnissen führen
könnte, näher beleuchten:
Der Hauptstock der ackerbauenden Skythen kann allerdings kaum zu
den eigentlichen Skythen gezählt werden und wird zu diesem Namen suf
dieselbe Art gekommen sein wie die slawischen Bulgaren, auf welche ihr
heutiger Name von ihren uralaltaischen Unterjochern übergegangen ist
Allein ein Teil der ackerbauenden Skythen kann immerhin echt skythischer
Herkunft gewesen sein, denn auch andere Reiterhirten gelangten schließlich
zum Ackerbau, sei es, daß sie um ihre Herden kamen und dadurch zu einer
Bodenbestellung gezwungen wurden, sei es, daß sie in Gegenden vor
drangen, in denen neben der Viehzucht auch ein Ackerbau leicht und er
folgreich betrieben werden konnte. So die Gebirgskirgisen des Alaj-Talei
in Ostturkestan, wo sie in der Höhe von 2600 Meter einen ausgedehnten
Ackerbau, wenn auch durch Arbeiter oder Sklaven, betreiben (siehe oben S. 201}
Die „eigentlichen Skythen, d.h. die drei königlichen Stämme“, ist VA-
BERY geneigt, ebenfalls zu den Nichturalaltaiern zu zählen, mit Rücksicht
auf den „Bericht HERODOTs von den mit Zelten überspannten Wagen, von
dem Gebrauch des Dampfbades, von der Toilette der Weiber mittels
Zerreibung von Cedern- und Weihrauchholz, ... [was] streng genommei
nicht in den Rahmen eines Sittenbildes der eigentlichen Nomaden paßt, ds
1) HrRoDoT IV, 20: Fenszits des Gerrhos aber kommt dann das sogenamn!
Königsland, da wohnen die tapfersten und die meisten Skythen, die sehen auch
die übrigen Skythen für ihre Knechtean.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 237
:rwendung von Holz durch den Aufenthalt in einer Waldgegend be-
ist“.
agegen wäre einzuwenden:
108 die Weiber und Kinder der Skythen lebten nach
30T und HIPPOKRATES auf Wagen, die Männer dagegen
n Reiter. Warum lebten auch die Männer nicht mit auf den Wagen,
ısere Zigeuner und andere dnaföß.o:? Oder: Warum saßen auch die
nnen nicht zu Pferde, wie (nach HIPPOKRATES, siehe oben S. 211) die
tinnen ?
ier liegt ein scharfer Dualismus in der Lebensweise eines und des-
Nomadenvolkes vor. Das Reiterleben weist auf eine Heimat hin,
s ungünstige Terrain jeden Wagengebrauch ausschließt, und setzt eine
sweise voraus, die außerordentlich weite und rasche Wanderungen er-
tk Durch beides wird die merkwürdige Fertigkeit gezeitigt, das trans-
le Haus, das Zelt, mit all seinem Inhalt oft täglich, mitunter auch
fter auseinanderzunehmen, auf Saumtiere zu verladen und anderswo im Nu
‘ aufzuschlagen. Das Gegenteil davon ist das Wagenleben; dieses
»in dazu besonders günstiges Terrain voraus und rechnet nicht mit so
ı und raschen Wanderungen. Das ewige Abbrechen und Neuaufschlagen
te entfällt hier gänzlich.
an sieht, der Unterschied zwischen Reiterleben und Wagenleben ist
valtig, daß es nicht glaubhaft erscheint, als ob diese beiden Lebens-
ı bei einem und demselben Volke in einer und derselben Heimat hätten
ch aufkommen können. Wäre ein Teil der Skythen-Nomaden, Mann
Veib, beritten und der Rest zu Wagen gewesen, dann läge eine Er-
g nahe: Ein Reitervolk habe sich über Hamaxobier geschoben.
arf man dies auch von den Skythen vermuten, bei denen diese scharfe
ang nach Mann und Weib ging?
hne Zweifel! Man erinnere sich nur des Schicksales der Magyaren,
bei der Rückkehr von einem Raubzuge ihr Heim ausgemordet fanden
oben S. 213). Dasselbe muß auch den Skythen widerfahren sein und
'eranlaßt haben, sich nach anderen Weibern umzuschauen. Wo konnten
och geschwind solche hernehmen, als von einem ansässigen Volke, das
ı Weges überfielen !
ie so geraubten Weiber verstanden sich jedoch auf das Reiten nicht,
reniger auf das ihnen wildfremde Leben und Wirtschaften in abbrech-
Zelten. So blieb den Skythen nichts anderes übrig, als sich der plötz-
Not anzupassen und ihre Behausungen so einzurichten, daß das un-
:he Wanderleben zwar aufrecht bleibe, aber die Zelte derart hergestellt
ı, damit sie nicht in einem fort auseinandergelegt, verladen und wieder
fgerichtet werden müßten, somit die Weiber ihre bisherige Lebens-
so weit, als nur möglich, weiterführen könnten. Man stellte also die
auf Räder, und so kam eine neue, bis dahin bei den Skythen un-
te, durch das Terrain der grasreichen und ganz ebenen südrussischer
»
238 J. Peisker
Steppe begünstigte Daseinsform zustande, das Leben auf Wagen bei den
Weibern, während die Männer auch fernerhin dem Reiterleben treu blieben.
Der so entstandene Dualismus in der Lebensweise von Mann und Weib
beschränkte sich indes auf diesen Umstand allein keineswegs, er ist auch
sonst deutlich wahrnehmbar, zunächst in einer recht charakteristischen Einzel-
heit:
Die Skythen badeten nämlich ganz anders als die Sky
thinnen. Darüber berichtet HERODOT IV. 75:
. Von diesem Hanf nun nehmen die Skythen die Körner und kriechen
unter ihre Filszelte und werfen die Hanfkörner auf die glühenden Steine. Und
wenn die Körner darauf fallen, so rauchen sie und verbreiten einen solchen
Dampf, daß kein hellenisches Dampfbad darüber kommt. Die Skythen aber heulen
vor Freude über den Dampf. Das gilt ihnen als Bad, denn im Wasser baden
sie sich gar nicht.
Ihre Weiber aber reiben auf einem rauhen Stein Zypressen- und Zedern- und
Weihrauchholz und gießen Wasser dazu. Und sodann bestreichen sie sich damit,
das nun ein dicker Brei geworden, den ganzen Leib und das Gesicht. Dadurch
nun bekommen sie sowohl einen lieblichen Geruch, als auch, wenn sie am folgenden
Tage den Überzug abnehmen, werden sie rein und glänzend.
Die Männer badeten im Wasser gar nicht, und dies weist auf
eine wasserlose Wüste hin, direkt nach Westturkestan als Urheimat der
Skythen. Den Xarf werden sie jedoch erst auf ihren Raubzügen in Medo-
persien oder Armenien kennen gelernt haben, denn dorthin deutet das sky-
thische Wort xd&vvaßıg, persisch kanad, armenisch Aanaf. Auch die heutigen
Turkotataren haben dafür kein eigenes Wort, ihr Ausdruck kendir ist eben-
falls ein persisches Lehnwort'). In Medopersien oder in Armenien ist dem-
nach der Ursprung des Hanfbades zu suchen, und die Skythen konnten diesem
Genusse auch in Südrußland um so eher frönen, nachdem dort der Hanf wild
wuchs und auch angebaut wurde”).
Ganz anders badeten die Skythenweiber, welche keine derartige Scheu
vor dem Wasser hatten: Sie mischten es mit geriebenem wohlriechenden
Holz und bestrichen sich damit. Die dazu verwendeten Holzgattungen kommen
indes weder in Turkestan noch in Südrußland vor und wurden wohl durch
Handel oder Tribut von auswärts bezogen. Vielleicht sind sie ein Fingerzeig
dafür, woher die geraubten Skythenweiber stammen: etwa aus Medopersien
oder Armenien.
Dadurch glaube ich VAmBErYs Bedenken gegen eine uralaltaische Ab-
kunft „der eigentlichen Skythen, d. h. der drei königlichen Stämme“ einzeln
behoben zu haben.
Mit der Frage nach der Zugehörigkeit der Skythen ist nichts
1) Näheres darüber werden wir weiter unten, bei der Besprechung der
altgerm. Lehnwörter im Slawischen, Gruppe VII, 8. v. #onoplja vernehmen.
2) HERODOT IV, 74: ... xal abtopätn xai onetponévn œüstas.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 239
erreichen, solange sie dahin zugespitzt bleibt: ob arisch, ob ural-
aisch. Die Kontroverse darüber dauert nun fast ein ganzes
hrhundert, zeitigte bereits eine große Literatur — NIEDERLE
t sie sehr sorgfältig zusammengestellt!) —, arbeitet jedoch
rt nur mit einem und demselben Material: Einerseits mit der
‘ugenschaft des HIPPOKRATES, eines so einwandfreien Fach-
annes, zugunsten der uralaltaischen Herkunft der Skythen,
ıdererseits zugunsten deren arischer Herkunft mit den ebenso
nwandfreien Argumenten der Ikonographie und der skythischen
prachenreste. Statt nun alle diese drei Quellen als gleich-
ertig hinzunehmen, wägt man HipPOKRATES’ Zeugnis mit den
brigen zweien gegenseitig ab, als ob das, was HIPPOKRATES
it eigenen Augen gesehen und als kundiger Naturforscher erfaßt,
ie übrigen zwei ebenso unanfechtbaren Zeugnisse aufwiegen oder
'on ihnen aufgewogen werden könnte. Nein, so etwas gibt es
infach nicht, HIPPOKRATES behält ebenso recht, wie die übrigen
wei Quellen, und zwar jede für eine bestimmte Zeit, einen be-
timmten Raum und ein bestimmtes Produkt der beiden: Die
teiterskythen der Ikonographie sind nicht oder nicht mehr die
artarmen Reiterskythen des HiPPOKRATES; auch die Reiterskythen,
lie königlichen und die nomadischen, waren auf Südrußlands
joden nie von einer gleichmäßigen Mischung, ebensowenig
fie es die heutigen Krimtataren sind, und büßten von ihrem
rprünglichen uralaltaischen Typus ein Merkmal nach dem andern
IImählich ein. —
MIDDENDORFF belebrte uns über das Verhältnis des herrschen-
:n turkotatarischen Reiterhirten zu dem unterjochten arischen
adschik in Ferghana. Dieser ist Vegetarier ohne Viehzucht,
lglich auch ohne Milchnahrung. Es fragt sich, ob wir dasselbe
ch in dem skythischen Staatswesen suchen können. Nach
ERODOT standen den Nomadenskythen, vowadss Zx59o, ohne
rendeinen Ackerbau, ackerbauende Skythen, Lxudar wootñoss
d Ixudar Yewoyoi gegenüber?). Waren diese auch reine Acker-
uer, Vegetarier, ohne Milchnahrung, wie die Tadschik ?
1) L. NIEDERLE, Slovanské staroitnosti. I.2. V PRAZE 1904, S. 257 ff.,
1 ff.
2) HERopDor IV. 17, 18.
240 J. Peisker
EpHoros — 4. Jahrhundert v. Chr. — sagt, die Sitten so-
wohl der Skythen als auch der Sauromaten wären nach dm
einzelnen Völkern sehr ungleich. Einige wären so roh, daß su
auch Menschen essen, andere hingegen enthalten sich sogar
aller Tiere ).
Die Sage von einem skythischen oder einem sarmatischen
Kannibalismus mag vielleicht eine andere Roheit zur Unterlage
haben, wie etwa jene war, welche tausend Jahre nach EPrHoros
den Sklawenen oder den PAysonitern an der unteren Donau von
PsSEUDO-CAESARIUS von Nazianz zugeschrieben wird: ... d«
einen essen mit Vorliebe Weiberbrüste, weil sie der Milch voll
sind, ... die andern dagegen enthalten sich des gesetzlichen
und unbedenklichen Fleischgenusses .. .“?).
Also kannte schon EpnHoros im 4. Jahrhundert vor
Christo, ebenso wie PsEUDO-CAESARIUS im 6. Jahrhundert
nach Christo am Pontus eine vegetarische Volksschicht
neben fleisch- und milchessenden Nomaden.
* x
x
Wir haben gesehen, daß überall, wo sich der uralaltaische
Reiterhirt [in einer genügenden Anzahl] über ein ackerbat-
treibendes Volk schiebt, dieses Volk zum Vegetariertum, ohne
Milchnahrung, verurteilt wird; die Berichte EpHoros’, PsEUD0-
CAESARIUS’, KONSTANTINS des Purpurgeborenen, MIDDENDORFFS
decken sich da vollständig. Dies gilt also auch von den alten
Slawen, und die germanischen Lehnwörter für Rind, Milch und
anderes sind ein weiterer Beleg dafür. Dieser Zustand war auch
bei den Slawen eine unvermeidliche Folge der uralaltaischen
Herrschaft, er währte so lange und wiederholte sich so oft, als
der Wanderhirte seinen schweren Fuß auf den Nacken des g®
knechteten Slawen gesetzt hielt, und dies war, periodisch, seit
undenklichen Zeiten der Fall.
1) EPHOROS, bei STRABO VII. 302. Fragmenta historicorum graecorul
auxerunt C. et TH. MÜLLERI. I. Parisiis 1858, S. 256.
2) MCLLENHOFF, Deutsche Altertumskunde. I. Berlin 1887, S. 367. — Der
Genuß der Weiberbrüste dürfte sich etwa auf eine perverse Gier reduzierel
stillenden Weibern die Milch auszusaugen, wobei die Brüste mitunter wund
gebissen wnrden.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 241
Eine ungünstigeregeographische Lage, mit Rück-
cht auf die fürchterliche Nachbarschaft, hätten
e Slawen auf dem ganzen Erdenrund nicht finden
innen; in der nächsten Nähe der uralaltaischen
auberhorden ansässig, mußten sie zu einem der
ißhandeltsten Völker werden, welche die Welt-
eschichte kennt; während die meisten der übrigen
festarierauch anihrer geistigen Entwicklung bauen
ndin der Zivilisation fortschreiten konnten, ächzte
och ungezählte Jahrhunderte hindurch der Slawe,
nter den Awaren zu einem Zugvieh erniedrigt, in
ler unwürdigsten Knechtschaft, an der sogar sein
igener Name schließlich haften blieb: Siuawe —
Sklawe!). —
D) G. Baisr schreibt: „Gustav KŒRTIN&G (Lateinisch-romanisches Wörter-
juch, Paderborn 1891, 8. v. “sc/avus 7275) stimmt MACKEL bei, welcher
‘[J]l als organische Lautentwicklung im Romanischen überhaupt betrachtet,
md erklärt im selben Satz s/c]/- als besondere italienische, durch die zahl-
reichen (?!) mit exc/- anlautenden Worte bestimmte Erscheinung: eine Variante,
ie der von ihm abgewiesenen Auffassung viel näher steht als der gebilligten.
MACKEL hatte in der Tat nichts erwiesen, sondern aus dem Material, das
er bei mir fand, herausgenommen, was für die von mir bestrittene Ansicht
sprechen konnte, übergangen, was ihr widerstritt. Eine materielle Berichti-
gung wäre gerade bei sckiavo möglich gewesen. Nach der üblichen Auf-
ssung, wie sie DrEz bietet und Mık1.osıch (Etym. Wtb. 1886) gelten
läßt, nahm ich an, mlat. sc/avus in der übertragenen Bedeutung (als Volks-
tame ja schon bei PROKoP und JORDANIS) sei von den Deutschen ver-
nittelt worden. Schienen doch auch die Belege bei Ducange dem zu ent-
sprechen, sagt es doch ausdrücklich MAkkArı I. 92. Trotzdem ist es ein
isterischer Irrtum. Die Deutschen nannten ihre östlichen Gegner Wenden,
md so steht auch im rechtlichen Sinn im Sachsenspiegel gegenüber sc/avus
der lateinischen Redaktion. ZxAaßnvoi, Sc/aveni, Slovenen (gegen die Ableitung
von siovv, Rede, und damit die Auffassung als allgemeiner Volksname MiıK1.o-
‘In a a. O.) ist Name des südslawischen Stammes, der als der erste der
Rasse im VI. Jahrhundert an der unteren Donau den Romaeern gegenüber-
rat; sie werden von dort durch die Awaren bald zum Haemus und nach
[yrien vorgedrängt, kamen hier mit den Bayern in Berührung, waren aber
gleich unmittelbare (nur durch die Adria getrennte) Nachbarn Italiens.
Als allgemeine Bezeichnung einer bestimmten Klasse der Eigenen (aus ge-
kauften Kindern — das waren nicht nur Kriegsgefangene, auch hungernde
Eltern verkauften die Söhne — gebildeter Truppen), erscheint die Benennung
242 J. Peisker
Die Germanen und die Slawen erscheinen bereits am Anfange
der Geschichte in jeder Beziehung so grundverschieden, daß das
Bestreben der Wissenschaft, die Ursachen dieser Erscheinung
aufzudecken, nur zu begreiflich ist. Daß dies bisher nicht ge
lungen, kann nicht befremden, denn man suchte sie in den beiden
Völkern selbst: in ihren anscheinend angeborenen Charakteren,
in ihren geistigen Eigenschaften und ich weiß nicht worin allem.
Auch die Schädelbildung zog man heran: hie dolichokephale
Germanen, da brachykephale Slawen. Heute weiß man, daß auch
zuerst bei den spanischen Arabern in der ersten Hälfte des X. Jahrhunderts,
in einem Zusammenhang, der Wort und Sache als erheblich älter erkennen
läßt (s. Dozy, Gesch. der Mauren, II. 38). Damit werden wir ohne Fragt
auf Italien hingewiesen, im Mittelalter zu jener Zeit das Emporium des
Menschenhandels, der Venedig zur großen Stadt machte und die gefallen
Roma ernähren half. Allerdings haben auch die Byzantiner die Epenthe:
des c (vgl. dazu Ztschr. f. d. Ph. VI. 480), und JorpAanıs könnte von ihnen
abhängig sein, aber gegenüber isckia u. s. w. werden wir nun allerdings zu
dem Ergebnis kommen, daß sc/ für s/ italienisch (und provencalisch, nicht
aber französisch und spanisch ...) in allen bekannten Fällen steht, das Wort
als slawisch-italienisch bezeichnen dürfen, ohne uns allerdings die Kürzung
der Endung erklären zu können“ (Zeitschrift für französische Sprache
und Litteratur, herausgegeben von BEHRENS. Band XIII, 2. Hälfte. Oppelo
und Leipzig 1891, S. 190 £.).
Zusammenfassend sagt KLUGE, Etym. Wtbch. der deutschen Sprache®
8. v. Sklave: „Zu Grunde liegt die byzantinische Bezeichnung der Südslawen
als 'EoxAaßnvot, die in Italien im 8./9. Jahrhundert die Bedeutung ‚er
(als Sc/avus) annahm, die dann über Italien nach Deutschland wanderte (die
eigentliche Benennung der Slawen in Deutschland war im Mittelalter Wenden
Winden); die Bezeichnung Sklaven kann nicht vom slawischen Osten aus
gegangen sein, weil keine westliche slawische Völkerschaft sich je Sk/æ
genannt hat (aslow. Slovenins)*.
Die Entstehung des Wortes in dieser Bedeutung dürfte auf den Slawen“
raub und Handel der Uralaltaier zurückzuführen sein. So berichtet IB*
Rosrex [vor 913 n. Chr.]: ... Die Magyaren [am Schwarzen Meere] Aerrsch#
über sämtliche mit ihnen benachbarten Slawen, zwingen sie zur Erfüllung
schwerer Pflichten und gehen mit ihnen wie mit Gefangenen um ... Sie bekrieg*
die Slawen, machen Sie zu Gefangenen... Wenn die Magyaren mit ihren Ge-
fangenen nach [der Stadt] Aerch kommen, ziehen die Römer [Griechen] #7
entgegen, alsdann die Magyaren... die Gefangenen übergeben und dafür "
Tausch... griechische Waren erhalten. VÄMBERY, Der Ursprung der Magyare?-
Leipzig 1882, S. 116.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 243
er Slawe ursprünglich relativ langschädlig war’) und erst seit
istorischen Zeiten zur Kurzschädlichkeit fortschreitend hineilt. Wir
aben somit keinen Grund zur Annahme, der in jeder Beziehung so
roße Unterschied zwischen den Germanen und den Slawen wäre
ranfänglich und in der Rasse gelegen; vielmehr erhellt aus allem,
ras wir über das Reiternomadentum gehört haben, zur Genüge, daß
iealten Slawen so, wiesie die Geschichte kennt, erst
n der uralaltaischen Folterkammer geworden sind.
Dadurch haben wir auch schon einen festen Boden für die sla-
rische Vorzeit gewonnen und können mit einer größeren Aussicht auf
Erfolgan die Prüfung derältesten erkennbaren Beziehungen zwischen
den Slawen und den Germanen herantreten. Sie äußern sich uns,
nachdem alle übrigen Quellen der Vergessenheit verfallen sind,
einzig und allein in den germanischen Lehnwörtern im Altslawischen.
Diesen so kostbaren kulturgeschichtlichen Born hat SAarAkik
erschlossen und eine Reihe solcher Lehnwörter im ersten, 1837
erschienenen Bande seines Werkes über die slawischen Altertümer
veröffentlicht ?). Sodann folgten die Untersuchungen von MixLo-
Sich vom Jahre 1867°), von MATZENAUER vom Jahre 1870“),
von UHLENBECK vom Jahre 1893°), von Hırr vom Jahre 1898)
und von RicH. LoEwE vom Jahre 1904°). Den ersten Ver-
l) L. NIEDERLE, Slovanské staroZitnosti. I. 1. V Praze 1902, S. 108 f.
9 SAFARJR, Slowanské Starozitnosti. I. W Praze 1837. In deutscher
Übersetzung: SCHAFARIK, Slawische Altertümer I. Leipzig 1848. Die von
ihm als gotisch angesehenen behandelt er auf S. 429 und die altnordischen
auf 5. 440 der deutschen Ausgabe. In der Originalausgabe S. 347 und 356.
3) MIKLOSICH, Die Fremdwörter in den slawischen Sprachen, in den
Denkschriften der Kaiser. Akademie der Wissenschaften. Wien 1867,
Phil-hist. Kl. Bd. 15. Ferner: MikLosicH, Etymologisches Wörterbuch der
!lawischen Sprachen. Wien 1886.
4) MATZENAUER, Cizi slova ve slovanskych reëech. V Brné 1870.
5) UHLENBECK, Die germanischen Wörter im Altslavischen, im Archiv
für slavische Philologie XV. Berlin 1893, S. 481 ff.
6) H. Hırr, Zu den germanischen Lehnwörtern im Slavischen und
Baltischen in PAUL und Brauxes Beiträgen zur Geschichte der deutschen
Sprache und Literatur, XXIII. Band. Halle a. S. 1898, S. 330 ff.
T) Rıch. LOEWE, Altgermanische Elemente der Balkansprachen.
I. Slawisch, in Kuss Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung.
Bd. 39, N. F. 19, Gütersloh 1904, S. 313 ff.
i..
PR)
.
244 J. Peisker
such, die germanischen in Verbindung mit den übrigen Lehn-
wörtern im Altslawischen [und fortsetzend im Polnischen] in ihrer
Gesamtheit kulturgeschichtlich zu gliedern, unternahm Bkück-
NER im Jahre 18981) Dies wären nur die hauptsächlichsten
Arbeiten über diesen so schwierigen Gegenstand voll Unsicher-
heiten, Kontroversen und Zweifel.
UBLENBECK, an welchen wir uns in erster Reihe zu halten
haben, nahm in sein Verzeichnis nur solche Wörter auf, die er
nach den lautlichen Kriterien für zweifellos entlehnt hält, und
Hırr wird kaum unrecht haben, wenn er meint, es sage uns die
Wahrscheinlichkeitsrechnung, „daß auch von den Wörtern die
lautlich genau übereinstimmen, viele entlehnt sein können ...“))
Jedenfalls ist Hırr beizupflichten, daß bei solchen lautlich ge
nauen Übereinstimmungen erst andere Gründe die Wagschale
nach der einen oder andern Richtung werden sinken lassen.
Dies hat Hırr an mehreren solchen Wörtern unternommen und
vieles Wichtige zur Lautlehre der germanischen Lehnwörter im
Slawischen hinzugefügt.
Für die Fragen, die uns jetzt beschäftigen, sind diese Lehr-
wörter nicht so vom sprachlichen, als vorwiegend vom sachlichen
Standpunkte wertvoll, wir werden sie daher nicht alphabetisch,
sondern nach realen Gruppen zusammengestellt vorführen und
von den ganz offenkundig althochdeutschen, als für unsere Fragen
viel zu späten, absehen.
Was hier geboten wird, ist lediglich eine, wenn auch recht
mühsame Kompilation, denn in philologieis bin ich Laie. Zur
Vermeidung augenscheinlicher Fehler erbat ich mir von mehreren
Fachmännern Rat, und BERNEKER, JaGié, MURKO, STREKEL)
UHLENBECK, ZUBATY hatten die besondere Güte, die Korrektur-
bögen zu lesen und mit reichen Anmerkungen und Warnungen
zu versehen. Nach diesen berichtigte ich meine Kompilation,
und jene füge ich, soweit es der beschränkte Raum zuläßt, als
Nachträge jedem einzelnen Lehnworte bei. — Abkürzungen:
1) A. BRÜCKNER, Cywilizacja i jezyk. Szkice z dziejöw obyezajowosd
polskiej, in der Bibljoteka Warszawska, 1898, tom 3 und 4, und dan!
selbständig mit Berichtigungen, Warschau 1901.
2) HIRT, a. a. OÖ. S. 830.
ie älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc.
ehe aksl. kärnt. = kärntnerslowenisch
altenglisch klruss. — kleinrussisch
altfriesisch kroat. = kroatisch
: altgermanisch lat. = lateinisch
Ithochdeutsch lett. — lettisch
\tindisch lit. = litauisch
ärisch magy. = magyarisch
ltkirchenslawisch, oder
rarisch oder altslowenisch
mhd. = mittelhochdeutsch
mlat. = mittellateinisch
altniederdeutsch mndd. = mittelniederdeutsch
angelsächsisch mndl. = mittelniederländisch
altnordisch ndd. = niederdeutsch
altpersisch ndl. = niederländisch
rmenisch nhd. = neuhochdeutsch
altrussisch npers. = neupersisch
= altsächsich nslow. = neuslowenisch
altserbisch nsorb. = niedersorbisch oder
altslawisch niederlausizisch
aksl. osorb. = obersorbisch oder ober-
avestisch lausizisch
ulgarisch polab. = polabisch oder elbe-
sechisch oder böhmisch
änisch
slawisch
poln. = polnisch
leutsch | rum. = rumänisch
nglisch russ. — russisch
nnisch schwed. = schwedisch
germanisch serb. = serbisch
tisch | skand. = skandinavisch
- griechisch | skr. = sanskritisch
»chdeutsch | slaw. = slawisch
olländisch slow. = slowenisch
indoeuropäisch oder indo-
slowak. = slowakisch
245
nisch | urgerm. = urgermanisch
siehe ideur. vorahd. = voralthochdeutsch
ch weissruss. = weissrussisch
saikawisch westgerm. = westgermanisch
Gruppe I.
Natur.
»,in einzelnen slaw.Sprachen in der Bedeutung von Kiefer,
te, Tanne, Kieferwald, Fichtenwald, Nadelwald. angls.
a, Wald, Hain, nach Hırr entlehnt, nach UHLENBECK
rwandt. — Nachtrag. BERNEKER: nicht zu entscheiden.
246
J. Peisker
aksl. brög®, Ufer, got. bairgahe: = Gebirge, abgeleitet von germ.
4
*berga. Nach Ausweis von arm. darder = hoch, arett.
ber&sant hatte das Wort palatal und ist deshalb nach Hm
als entlehnt anzunehmen. Nach UHLENBECK (Etym. Wibeh
d. got. Spr.) urverwandt oder vielleicht aus dem Gem
entlehnt. — Nachtrag. UHLENBECK: gegen Entlehnung spräch
etwa die abweichende Bedeutung. — BERNEKER: halte e
für entlehnt; aksl. dr&gs übersetzt xoruvos; brégyni, fem
heißt ‚Hügel‘; klruss. #14 auch ‚Hügel‘, ebenso bulg., serh.
slow., Gech., slowak., poln. (dial.) und sorb. Also fas
durchwegs ‚Hügel‘.
brrdo, Hügel, in den jüngeren Mundarten auch Weber
kamm. Das Russische hat dördo, wonach — nach UHLE*
BECK — ein ursprüngliches slaw. *derdo anzusetzen ist
Man dachte an das gotische daurd, germ. *borda (= Brett)
aber, nach UHLENBECK, mit Unrecht, weil dieses in
slawischen *dord-, aksl. *drad-, also nicht drado gegeben hätte
Vielmehr könne man es für entlehnt halten aus gem
*berd (bred): mndl. dert, ndl. derd, ahd. bret, angls. bre
(= Brett). Die germanische Metathesis in derd (neben dred
wäre also, meint UHLENBECK, sehr alt und nicht nur au
das Niederländische beschränkt. — Hırr läßt jedoch UHLes
BECK8 Einwendung nicht gelten und vertritt die Herleitun
des slaw. Wortes aus got. dJaurd. — Nachtrag. STREKEL
gegen Entlehnung aus got. daurd oder einer andern gel
manischen Form spricht die Bedeutung des germanische
Wortes (= Brett), die mit ‚Hügel‘ nicht vereinbar ist. BE!
NEKER: Das Wort ist echt slawisch, hat aber mit daurd nich!
zu tun. Vgl. Zupitza, Kuxxs Ztschr. 36, S. 65.
buky, Buche, Buchstabe. Alte Entlehnung aus germ. *504
(ahd. duohha, angls. dece, Buche, got. döka, Buchstabe). -
Neben duky auch noch aslaw. *du%s (weil Gech., pol
bulg., russ. 52), aus einem germ. Masculinum *döka (la
fagus). So UHLEXBECK. Nach Lorwe (S. 330) dürfte ds
Wort aus dem Balkangermanischen sein. Als Lehnwo
schon bei MıkLosicı angeführt.
dol®, Loch, Grube, Tal. got., asächs., ndl. dal, nach KırG
v—
8,
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 247
(Etym. Wtbch. d. d. Spr.), UHLENBECK, BRUGMANN (Kurze
vergl. Gramm. d. indogerm. Spr., Straßburg 1904, S. 344)
urverwandt, nach Hırr entlehnt, weil die Bedeutung mit
dem Germanischen übereinstimme, gegenüber dem griech.
$0%05. Nachtrag. UHLENBECK: HiRTs Argument ist nicht
zwingend. — BERNEKER: Entlehnung wahrscheinlich.
chlad»#,Kühle, auchnochnach UnLEnBEcK (Arch. f.sl. Phil. 15)
offenbar aus germ. *£a/da, obwohl das cz nicht erklärt sei;
zu vergleichen aksl. cA/opots, Getöse, von *cklopat:, klappen,
aus der Sippe von anord. #/appa. Fünf Jahre vor UHLEN-
BECK (ebenfalls im Arch. f. sl. Phil., Bd. XI, S. 386) lehnt
KozLovski mit JAGIC eine german. Herkunft dieses Wortes
ab, eben von wegen des unerklärlichen y, und stellt es als
urverwandt zu aind. Alad, sich erfrischen, kladuka, kühl,
frisch. KozLovskıs leitet cAlads von einer slawischen
Wurzel *cAold- her. UHLENBECK kam später noch einmal auf
diesen Gegenstand zurück und macht im Arch. f. sl. Phil.,
Bd. 16, 1894, S. 381 gegen KozLovskıJ folgendes geltend:
da slaw. chlads auf ein *cholds zurückgehe, sei seine auf-
fällige Ähnlichkeit mit altindisch 4/44 jedenfalls nur zufällig.
Deswegen wäre die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Ver-
wandtschaft freilich nicht ausgeschlossen, bewiesen aber
wäre sie nur, wenn es sichere Fälle gäbe, in welchen slaw.
ch dem skr. % gegenübersteht. Daher findet UHLENBECK
auch jetzt die alte Annahme, c//ads sei ein germanisches
Lehnwort, bei weitem wahrscheinlicher, und an dieser Wahr-
scheinlichkeit hält er auch in der 2. Auflage seines Ety-
mologischen Wörterbuches fest. Nachtrag. BERNEKER: wird
wohl recht haben. — STREKELJ: wegen ck statt des er-
warteten # (vgl. #/adezs) kann Entlehnung aus dem Ger-
manischen doch nicht als erwiesen gelten und dürfte das
germanische Wort von dem slawischen trotz Ähnlichkeit in
Laut und Bedeutung zu trennen sein. CAlopots u. 8. w.
beweist nichts, weil von einem Schallwort abgeleitet.
chlem’, Hügel, aus germ. *.o/ma, anord. kolm, kleine
Insel, angls. Aodr, Meer. Schon von MiKLosicx als wahr-
scheinliches Lehnwort anerkannt.
248
J. Peisker
aksl. chraëStr, Käfer; nach MixLosicx beruht es auf (
vedro, heiteres Wetter,
hrenst-, hrensk- und bedeutet ursprünglich „den summe:
nach UHLENBECK aus got. ramster, Heuschrecke. — Na
UHLENBECK: Jetzt stimme ich mit MikLosicx i
(PBB. 30, 316). — BERNEKER ebenso. — MURKO
Wort ist mit regelrechtem slawischen Ablaut.
chvost», Schwanz, nach UHLENBECK aus einer germ
von mnd. gxast (= Knorren), dän. ost (Laubbi
schwed. guast u. s. w., nach STREKELJ (Archiv f
Philol. 27, S. 48f.) urverwandt.
kladezs, Quelle, nach UHLENBECK aus einem gern
dinga, eine Ableitung von #a/do-; vgl. MIKLOSICH 8. v. ko
loky, Lacke, nach UHLENBECK aus germ. */akk5, ahd.
mnd. /ake, nach LOEWE (S. 330 s. v. du%y) vielleic
dem Balkangermanischen.
ovosSts, Baumfrucht, serb. voce, &ech. und poln.
klruss. ovoë, ein altbekanntes Lehnwort aus dem
(MıkLosicH), Nach UHLENBECK aus einer germ. M
obwohl es schwer zu sagen ist, aus welcher. Es is
KLUGE ein westgermanisches Wort, ahd. odas, nd
angls. ofet. — Nachtrag. BERNEKER: sehr unwahr:
lich; ich halte beinahe eher das germanische Wo
entlehnt.
strekr, Storch, nach UHLENBECK für urslaw. szer4
dem German.; anord. sZorkr, angls. storc, ahd.
(griech. ropyoc, Geier). Auch MixLosicH hält das
und das germ. Wort für unverwandt, ohne sich al
entscheiden, von welchem der beiden Völker entlel
Nachtrag. STREKELJ: Da das Wort russ. szerks (heute s
lautet (nicht *s/orks), so ist Entlehnung aus dem (
nischen fraglich, wiewohl die germanische Wortform v
die slawische beeinflusst hat.
nach Hiırr aus dem Germ.;
weder, ahd. wetar (= VW
falls man dieses mit aksl
vedr®, heiter, - (Wind) vergleicht.
SL,
nl
Ced», Leute,
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 249
Nachtrag. BERNEKER: Entlehnung möglich, aber nicht
strikt beweisbar. — ÜHLENBECK: sehr unsicher, denn véfrs
zur Wurzel *ze-, wehen, und aengl. weder, ahd. wetar
passen nicht recht zusammen wegen des Vokalismus. —
STREKELJ: vedro, vedrs ist wohl von vetrs zu scheiden ;
bei Identität des germ. Wetter mit vetre würde man im
Germanischen einen andern Wurzelvokal erwarten. Auch
BRUGMANN (Kurze vergl. Gramm. S. 346 zu *wedhro) hält
vedro und Wetter für urverwandt.
zupel», Schwefel, nach UHLENBECK aus slaw. *ZvsPels, das
auf got. swzbls zurückgehe. Schwierigkeit gäbe das 2 in
Zupels, und wohl aus diesem Grunde läßt jetzt UHLENBECK
in seinem Etym. Wtbch., 2. Aufl., 1900, die Herleitung aus
dem Got. fallen, ohne sich zu entscheiden, aus welcher
germ. Sprache das Wort entlehnt ist. Angls. swöfel, ahd.
swebal. — Nachtrag. MurKko: Auf bajuwarischem Boden
(wegen 2) in althochdeutscher Zeit nur von Südslawen ent-
lehnt; die russischen Belege stammen aus dem Altkirchen-
slawischen.
Gruppe II.
Mensch, Volk.
nach UHLENBECK aus germ. *kında = ahd.
chind, asächs. kind, mndl. kind. MiKLOSICH
meint, daß, „wenn man Crdo mit d. kind
als verwandt ansähe, würde man Cedo für
entlehnt halten“. Nachtrag. BERNEKER:
müßte uralte Entlehnung sein.
kurbva, meretrix, nach UHLENBECK, Etym. Wtbch.?, s. v.
hors entlehnt aus einem germ. Worte, etwa *%körwa, anord.
hôra, angls. kôre. Hırr (PBBeiträge 23, S. 343): Aksl.
kursva kann... nicht ohne Schwierigkeiten aus got. körs
abgeleitet werden, denn woher stammt das 3 ? Nach
JÜTHNER (Wiener Studien 26, S. 156f.) ist Zursva mit
altgriech. xopfx urverwandt.
navs, Leiche, nach UHLENBECK aus got. navi-, nom. naus. An dieser,
noch im Arch. f. sl. Phil. Bd. 15 vertretenen Ansicht hält UHLENBECK
im Etymologischen Wörterbuch nicht mehr fest und läßt die Möglich-
tedo, Kind,
250
aksl.
J. Peisker
keit offen, daß das slawische Wort zu dem slawischen Verbum y;
naviti, ermüden, gehört. So auch BRÜCKNER im A. f. sl. Phil. XXIII. 8.626.
— Nachtrag. UHLENBECK: Jetzt halte ich mit GRIENBERGER narı
für urverwandt mit »aus (s. PBBeiträge 30, S. 303).
raka, Grab, aus *orka, nach UHLENBECK aus einem gem.
*arka (got. arka); nach LOEWE (S. 322) werde man das
der hochdeutschen Lautrerschiebung entbehrende aksl. raka
neben dem folgenden *raky auf asächs. *arka zurück-
führen. Nachtrag. MurKo: Speziell bei den Südslawen,
wahrscheinlich romanisch (vgl. J. KonsT. JIRECEK, Denk-
schriften d. Wiener Akad., phil.-hist. Kl. 48, S. 36).
*raky, Sarg, aus “orky, rekonstruiert aus dem Gech. rakev,
kroat. rakva, nach UHLENBECK aus einem noch älteren
germ. *arkö entlehnt.
Gruppe III.
Kleidung.
skute, Saum des Kleides, nach UHLENBECK aus gem.
*skauta, got. skauts, anord. skaut, ahd. scôz, Rockschoß.
sraka, sraky, Kleid, nach Hırr aus dem Germanischer;
mlat. sarca, anord. serkr (st. *sarki-), angls. ser
(st. *sarkjon-), got. *sarko. MıkLosicH, Etym. Wtbch. sagt
darüber s. v. sorka: „Das Wort ist nur aslow., nslow.
weißruss. und russ.“ „Aus dem slaw. sor2a soll anord.
serkr, Hemd, angls. serce, Panzer, stammen: es sei aus
Rußland nach Skandinavien und von da nach England gt-
bracht worden ... Man beachte lat. *sarica, woraus ahl.
serih.“ Man sieht, MıkLosıcH selbst erklärt sich für eine
Entlehnung nicht. Vgl. MERINGER in den „Indogerm.
Forschungen“ XVII, S. 158f.: zu lat. sarcio, griech. &%%
opxos. Nachtrag. MurKo: Das Wort kam vom Süden, aus
dem Lateinischen.
Gruppe IV.
Gerät.
aradije, orondije, Apparat, Werkzeug, Sache, nach
ÜHLENBECK aus andd. (anord. ist ein Druckfehler) arund:.
Hırr führt es auf ahd. ärunti nach MıkLosıch zurück.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 251
achtrag. UHLENBECK: Jedenfalls aus dem Niederdeutschen,
enn es erklärt sich wohl aus ärunxdi, nicht aber aus ärunti.
ljudo, neben d/jude, Schüssel. Nach MikLosicx geschah
ie Entlehnung aus dem Deutschen in der ersten Periode:
3; setze den Stamm dzxda voraus. Nach UHLENBECK ent-
'hnt aus got. dzuda-, nom. dzu>s (Tisch). Slaw. #7 wurde
utgesetzlich 4/7, serb. dljudo = irdene Schüssel, poln.
luda = hölzerne Schüssel, osorb. und nsorb. #/#do = Tisch.
achtrag. MurKo: Wahrscheinlich aus dem Gotischen.
Über die Beziehungen zwischen Schüsse! und Tisch schreibt R. ME-
INGER!): „In ältester Zeit gab es bei Germanen und Slawen keinen
isch in unserm Sinne (wohl auch sonst nicht), sondern Bretter, von
men man aß. Daher die vielfachen Schwankungen der Sprachen
ı Bezug auf die Bedeutungen Schüssel und Tisch. Dann kommen
rößere Bretter auf, für mehrere Personen, niedere Tische. ... In un-
‘kannter Zeit erhält das Speisebrett ein höheres Untergestell, einen
‘hragen. Erst durch das Zusammenwachsen beider entsteht unser
isch. Die Entwicklung hängt mit der Vergrößerung der Räume
ısammen, denn früher ist kein dauernder Platz für den Tisch im
ause, und er wird nach dem Gebrauche entfernt, vgl. ‚Tisch aufheben‘.
ie Slawen benannten den vierbeinigen Tisch, sowie den Einzelsitz s/o/e
egen der Ähnlichkeit, da ja der alte Stuhl keine Lehne hatte. Im
Itnordischen heißt 50/7 sowohl das Gestell der Bank als auch das
s Tisches.“
»ska, Brett. Dieselbe Bedeutung hat das Wort auch heute
n Slawischen; (polab. daisko = Tisch ist viel später ent-
hnt aus ndd. disk, wie ai für 2 zeigt); griech. Ötoxog, lat.
iscus, ahd. disk, tisc (Tisch, Schüssel. Mıkrtosıcn hält
as slawische Wort für eine uralte Entlehnung, ohne er-
lären zu können, auf welchem Wege, da das 3 in dsska
em 3 gegenüber in dis£ Schwierigkeiten macht. — Nachtrag.
uBATŸ: Das 3 dürfte heute nicht so schwierig sein. Es
ängt mit der lautgesetzlichen Tendenz zusammen, welche
or breiten Silben (Silben mit breiten Vokalen) auch noch
anche andere 3 statt s am Gewissen hat, z. B. fenskz im
188. /onkij u. A.
t. MEKINGER, Die Stellung des bosnischen Hauses und Etymologien
usrath, Sitzungsberichte der Wiener Akademie, phil.-hist. Kl.
ınd 144, VI., S. 96.
ljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 17
252
aksl.
J. Peisker
MERINGER sagt a. a. O. S. 84 f.: In den germanischen Sprache
hat das aus lat. discus entlehnte Wort die Bedeutung Tisch, Shüss
Speise angenommen. ... Die Entstehung des Wortes muß vor d
zweiten Lautverschiebung stattgefunden haben, ... und man kann Kit
(Etym. Wörterbuch s. v. 754) wohl zustimmen, wenn er sie etı
gleichzeitig ansetzt wie die von Schüssel (lat. scutula, scwtella), Flasc
(lat. etwa *vasculum), Kessel (catillus), Wo das Wort discus zuerst (
Bedeutung von Tisch angenommen habe, sei sehr schwer zu entscheide
Die ganze Sachlage weise darauf hin, daß die Slawen das Wort v
den Germanen auch schon vor der zweiten Lautverschiebung üb:
nommen haben, denn hier war der Tisch im wesentlichen ein Bre
und so mögen die Slawen eine gewisse Art wohlgeglätteter Brett
danach bezeichnet haben. Dem Sinne nach sei, schließt MERINGr
eine andere Herleitung des slawischen \Vortes vorläufig ausgeschlasse
kotple, Kessel. Nach MikLosicH ein germanisches Leh
wort. Die Entstehung falle in die erste Periode. Na
UHLENBEcK entlehnt aus got. Zatils. Nachtrag. UHLENBEC
kann doch vorgotisch sein, denn die ahd., anord. (u. s. w
Formen beruhen auch auf *2atila-. Murko: Zu bedenke:
daß das germ. Wort selbst auf lat. catinus, Schüssel, od
dessen Diminutiv catillus zurückgeht.
*kruk®#, “krjuk®#, Haken, nach UHLENBECK zu erschließt
aus klruß., poln. Zru%, klruß., weißruss., russ. Zrjuk, we
es schon in alter Zeit aus germ. *£röka (anord. Zrökr) en
lehnt sein müsse. Nachtrag. Murko: Nur von den Russ
und Polen entlehnt, augenscheinlich von Warägern, vie
leicht in späterer Zeit.
*kuka, Haken: bulg., serb. £u2a, Haken, aksl. Zukonos
krummnasig, nach UHLENBECK aus einem agerm. *hökı
mndd. %ö, angls. Aöc, ndl. koek. Nachtrag. STREKEL
Aus agerm. köka, angls. Æôc u. s. w. könnte kaum uk:
sondern nur ein *chuka cntlehnt werden. — UMHLENBECH
Jetzt halte ich das Wort für echt slawisch (s. mein Et
Wtbch. d. aind. Spr. 56). — Murko: nicht entlehnt.
misa (Schüssel), slov. »zzza (Tisch, Nach Hirr ge
manisches Lehnwort, got. »zes, ahd. meas, mias. Fi
slov. »zisa (Tisch) nimmt auch MikLosicH wegen des
deutschen Ursprung an, aber xzsa, mit s stammt nat
MikLosicH, Etym. Wtbch., s. v. #2sa, vielleicht doch at
sl.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 253
dem Lateinischen, das auch in später Zeit ein tonloses s
zwischen Vokalen zu kennen scheine. Eine Entlehnung
des Wortes #1sa unmittelbar aus dem Lateinischen und
nicht aus dem Germanischen dünkt jedoch MERINGER !)
als unwahrscheinlich. Nachtrag. MURKO: Entlehnt erst aus
einem ahd. mias, mies.
pila, Feile, Säge, nach UHLENBECK aus einem germ. */z/a.
'plosky, 2/oskva, Flasche, nach UHLENBECK aus einem
germ. *flaskö, ahd. ffasca, anord. faska, ein nach KLUGE
früh unter den Germanen heimisches Wort, das aber bei
der Übereinstimmung mit romanischen Worten für ‚Flasche‘
der Entlehnung verdächtig ist. Nach LoEweE (S. 330 8. v.
buky) dürfte 2/osky aus dem Balkangermanischen entlehnt sein.
sak» (Sack), nach UHLENBECK aus got. sakkus. MIKLOSICH
nimmt eine lateinische Entlehnung an, wegen des tonlosen s.
Nachtrag. UHLENBECK: Aber das s von got. sakkus war
auch tonlos! Jedenfalls ist sa&s erst in das Slawische
aufgenommen, als das kurze & schon zu à geworden war,
denn sonst hätten wir *so%&. — BERNEKER und MURKO:
MiıkLosıcH scheint recht zu haben. — STREKELJ: Wäre es
aus germ. sakkus entlehnt, müsste es *so2s lauten. Die
Slawen haben das Wort wohl von den Romanen, bezw.
Griechen.
stapa, Mörser, nach UHLENBECK aus einem germ. *siampa,
und nicht aus *szampö, das im Slaw. *szqPy gegeben hätte;
es sei also eine Jüngere Entlehnung als brady, buky, loky
u.8. w. Szgfpa ist schon von MiKLosicx als Lehnwort an-
erkannt.
*vréteg®r, Kette, poln. wrseciqgds, klruss. veretjaz. Da-
neben *rdiege in poln. rzeciqdz, russ. retjaz). Das Wort
ist gebildet durch das Suffix Zengjs, nach diesem Suffix
meint MIKLOSICH in seinem Etym. Wtbch. s. v. vertengjü,
es könnte slawisch sein. Dagegen sagt UHLENBECK, daß
wir es hier gewiß mit einem germanischen Worte zu
tun haben, und zwar eben wegen des Suffixes -£g3, aus germ.
l) MERINGER, a. a. O. S. 89.
aksl.
1) Von mir gesperrt.
J. Peisker
-inga, und nämlich mit einem mit w anlautenden Worte,
etwa gern. *werlinga. Analogien gibt es im Überflusse:
aus germ. Penninga (Pfennig), slaw. Pénegs, aus kuninga
(König): #sregs u.8.w. Nachtrag, BERNEKER: Ein *wertinge
gibt’s nicht. Das æ des poln. ist sekundär; es heißt noch
apoln. rzeciqdz, woraus apreuf. ratınsis stammt; zerzecigds
‘ durch volksetymologische Angleichung an zwrsec, 7. B. in
za-wrzed, ‚schließen‘; das kleinrussische ist aus dem Pol-
nischen entlehnt.
vrp&p, Krug, nslow., serb. vrd, beruht nach MikLosich
wohl auf #rceolus, lat. urceus; nach UHLENBECK aus “à,
*arkjs, aus got. alrkeis, ahd. urzol. Nachtrag. Murko:
Ein spezifisch südslawisches Wort aus dem Romanischen,
nur slow. und kroatoserb. Die aksl. Belege stammen von den
Kroaten. Auch lautlich ist die Entlehnung aus dem Romanischen
sehr gut erklärbar (vgl. SrkekeLs in den Denkschriften
der Wiener Akad., phil.-hist. Kl. 50, S. 73 s. v. vrraia).
Gruppe V.
Behausung.
grade, Mauer, nach UHLENBECK wahrscheinlich aus got.
gards, Haus, anord. gardr, Zaun, eingehegter Hof, angls-
geard, Umfriedigung, Garten, Wohnung, asächs. gard, Um-
zäunung, Wohnung, ahd. gart, Kreis. Für diese häufig
bestrittene Entlehnung sprechen nach Hırr vor allem die
Komposita akel. vinograds, got. weinagards und aksl.
vrstograds, got. atrtigards; gotisch a#rti stamme ja selbst
erst aus lat. Lorti-, so daß in diesem Falle die Entlehnung
zweifellos sei. LOEWE (8. 317) meint: „Aus dem Balkan-
germanischen entlehnt sein müssen auch abulg. virograds
und vrstograds [vgl. Gruppe VIII, =. v. vrsts], da hier die
russischen Formen vinograds und vertograds wieder nur
durch Entlehnung aus dem Altbulgarischen erklärt werden
können; das epricht freilich nicht für, sondern
eher gegen Entlehnung auch von abulg. grads...
aus dem (termanischen*!). Nachtrag. STREKEW:
kl.
—,
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 255
Gegen Entlehnung spricht der Umstand, daß das Slawische
auf einer anderen Ablautstufe Z7sds, ‚Stange‘, ‚Stakete zu
Zäunen‘, besitzt, welches im Altpreußischen als serdis
geradezu in der Bedeutung Zaun entlehnt ward; grads
ist also das aus Stäben, Staketen, Gerten gemachte, die
geflochtene Mauer, Zaun; es ward zur Stadt wie
town, Zaun u. 8. w. — vgl. MuRKo, unten Gruppe VIII.
8. V. vrale.
chlévr, Stall, cAl&vina, Haus, nach UHLENBECK (Etym.
Wtbch. aus einem mit got. k/ija, vielleicht verschrieben
für *%/iwa, Zelt, Hütte, verwandten Worte.
Eine andere Erklärung gibt MERINGER: „Die Sippe von aksl. «4/2,
stabulum, cAldvina, domus, ... hat MIKLOSICH ... mit got. #/ija, Zelt,
Hütte, zusammengestellt, und seit der Zeit blieb bei den Slawisten
diese Zusammenstellung ... Niemand hat dabei erklärt, wie der Slawe
imstande gewesen ist, aus got. Alija sein cA/vs zu entlehnen. Hätte
man den Sachen [und nicht allein den Wörtern] einiges Studium
zugewendet, 80 hätte jedermann gesehen, daß aksl. chldvs, Stall, ent-
lehnt ist aus dem lautlich identischen got. Alasw[')], t&poç [Grabhügel],
kynpetov, trotz der anscheinend so verschiedenen Bedeutung... Der
Totenkult geht überall von der Grundidee aus, den ins andere Leben,
das man sich doch nur wieder so wie dieses vorstellen konnte,
Reisenden dazu möglichst gut auszurüsten. So erklären sich alle
Beigaben der ältesten Zeit bis zu unseren Tagen, von Wehr und
Waffen, Speisen, Handgeräten bis zu den Gummischuhen herab. Der
Seefahrer bekam sein Schiff mit, der Ansässige sein Haus. 80 erklärt
sich der ursprüngliche volle Sinn des got. kaiw. Es ist das altertüm-
liche Haus, das man noch dem Toten mitgab, auch zu der Zeit, wo
der Lebende schon ein besseres Wohnhaus hatte.“ — Nachtrag.
BERNFKER: Scheint mir unwahrscheinlich. Persönlich glaube ich so:
got. klaiw war „Grabhügel® und auch „gehöhltes Grab“; vgl. z. B.
Ulfilas, Matth. 27, 60. Die Höhlen aber waren dooh wohl die ältesten
Ställe!
„Die Slawen — setzt MERINGER fort — haben also das Wort *#/aiwa-
entlehnt, als es bei den Goten noch Wohnhaus, Hütte bedeutete. Als
ihre Baukunst sich selbst entwickelte, wurde nur mehr der Sal/ in
der alten, primitiven Weise hergestellt und behielt den Namen, während
das Wohnhaus mit einem neuen Lehnwort aus dem Germanischen,
chyzs (= got. hüs) bezeichnet wurde. Bo reimt sich alles, sprachlich
mr
1) Schon HirT führt chl&v» auf got. “hlaiws, *hlaiwa zurück,
0 3. Bande der PBBeiträge S. 338, 340 f.
256
aksl.
J. Peisker
und sachlich, auf das einfachste zusammen“ 1). — Dagegen UHLEXBEUK,
PBBeiträge 80, S. 291: „MERINGER meint, die Slawen hätten ihr
chlevs, Stall, aus got. #/aiw entlehnt; und das zu einer Zeit, wo das
germanische Wort noch ‚Wohnhaus, Hütte‘ bedeutete. Aber ist Alam,
das in keinem Dialekte etwas anderes als (Grab)hügel‘ oder ‚Grab‘ be
deutet, jemals eine Bezeichnung des Wohnhauses gewesen? Es liegt
doch viel näher, die Bedeutung von #/aiw unmittelbar mit der von
lat. c/?vus zu verbinden. Auch GRIENBERGERS Auffassung von klei
als ‚Lager (der Toten)‘ (S. 37) trägt dem engen Zusammenhang von
hlaiw und c/ivus keine Rechnung.“
chyz’», Haus, nach MıkLosıcH aus dem Germanischen, nacı
UHLENBECK aus germ. **#za mit tönendem s, got. und ahl.
hüs. Wenn nun MERINGERS Erklärung von clés, aus
got. Ælaiw, Grabhügel, zutrifft, dann wäre zu bedenken,
der sachliche Fortschritt von Alasv zu äs, von einer
elenden Grubenhütte zu einem bequemeren Haus hätte
bei den Germanen vielleicht so viel Zeit beansprucht,
daß die slawogotischen Beziehungen dazu nicht au
gereicht haben würden. In diesem Falle könnten dann die
beiden Lehnwörter cAl&vs und cAyzs nicht von einem und
demselben germanischen Volke her sein: Ist cAJeva gotisch,
dann dürfte ckyzs ein nachgotisches Lehnwort sein; ist
jedoch cAyzs aus dem Gotischen, dann wäre cAl&vs vor
gotisch. — Nach LoEwE (S. 334) dürfte ckyzs am ehesten
aus dem Balkangermanischen stammen. Nachtrag. UHLEN-
BECK: Auf ziemlich späte Entlehnung weist das tönende 5.
Im Gotischen war das s tonlos. Darum ist cAyzs sicher
ein nachgotisches Lehnwort. — Murko: Das Wort wanderte
erst vom oberdeutschen Boden zu den Süd- und Nordslawet.
Für die späte Entlehnung spricht auch der Wechsel von s (nslow-
his, hisek, kroat. is) und z, sowie von $ und 2 (z. B. nsloW.
hisa und AiZa) in verschiedenen slawischen Sprachen.
*kotp, zu erschließen aus serb. £ot, Schweinestall, tech.
kot, Hütte, wie auch aus der Ableitung aksl. £ofsce (Keller),
serb. Æotac, kleiner Stall. Nach UHLENBECK aus einer
germanischen Mundart; mndd. #of, nord. kot u. 8. w.
1) MERINGER, Wörter und Sachen, im 16. Bande der Indogerma.
Forschungen, 1904, S. 117 ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 257
«sl. stöna, Mauer, nach UHLENBECK, Etym. Wtbch., urverwandt
mit got. sZains (Stein), nach Hırr entlehnt, weil aksl.
stenens, steinig, felsig, auf got. szaineins hinweist, was auch
UHLENBECK, Etym. Wtbch.?, anführt. Nachtrag. STREKELJ:
aksl. s/dnons, steinig, felsig, ist bei Existenz eines nslow.
stena, Fels, großer Stein, ebensowenig auffallend, wie
kamensns, lapideus. Weder Bedeutung, noch Bildung spricht
demnach für Entlehnung.
»„ tyn’», Mauer, nach UHLENBECK aus einer altgermanischen
Mundart, anord. för, ahd. z##. Für das y in Zyns ver-
gleiche das soeben genannte ckyzz aus germ. *hüza.
Gruppe VI.
Waffe und Krieg.
» brady, Axt, wird nach UHLENBECK wegen des y für ger-
manisch gehalten. Ursprünglich slaw. *dordy aus “bord,
*bordö, das auf germ. *bardö, Streitaxt zurückgehe. Für
das y ist zu vergleichen du£y, creky, chorqgy U. 8. w.
Man findet das germanische Wort in anord. barda, ahd.
barta, andd. barda, mndl. daerde, Streitaxt. Nach LOEWE
(S. 330 8. v. duky) dürfte das slawische Wort balkan-
germanisch sein. — Nachtrag. STREKELI: Das Suffix y
für a hat sich im Slawischen nach wirklichen Entlehnungen
aus dem Germanischen auch in einheimischen Wörtern ein-
gebürgert, weswegen es mißlich wäre, in jeder derartigen
Bildung a priori eine Entlehnung zu sehen, (vgl. meine
Bemerkungen i. d. Denkschr. d. Wiener Ak. ph.-h. Kl. 50
S. 4); daher kann auch drady ganz gut einheimisch sein.
» brenja, Panzer. Nachtrag. UHLENBECK: Kann ebenso
aus anord. drynja wie aus ahd. drunja entlehnt sein; got.
drunjo hätte *dranjy, *branji gegeben.
» -chlastati, zäumen, nach UHLENBECK von germ. *Alasta,
ahd. Alast, angls. Alaest. Nachtrag. Murko: Nur alt-
kirchenslawisch.
+ Choragy, Fahne, nach UHLENBECK aus einem älteren
*chragy, das auf ein noch älteres *cArungü zurückgehe.
Früher führte man das Wort auf got. Arunga (hrugga),
258
akls.
J. Peisker
‚Stange‘ zurück, womit auch MıkLosıch übereinst
UHLENBECK erklärt es aus germ. *Arungö, angls. A
‚Balken‘, mhd. runge. Nach LoEwE (8. 830, s. v.
dürfte es balkangermanisch sein. Das germanische
ist nach UHLENBECK, Etym. Wtbch., unbekannten Urspi
MBCE, ec, nach ÜHLENBECK aus got. mekeis, :
miäker, asächs. mak:, angla. mece. — Nach Loewe (8
stammt 200» wohl aus dem Balkangermanischen. Nac
UHLENBECK: Sehwierigkeit macht der Vokal. Man er
slaw. # Doch ist Entlehnung nicht zu bezweifeln.
plnkr, Menge, Heer. Nachtrag. UHLENBECK: uns
aus welcher altgermanischeu Mundart. Nicht nur a
folk (älter fo/k!), sondern auch angls. folc, afries.
kämen außer ahd. jofc in Betracht. Germ. *fo/ka aus *
wie *kolma aus *Aulmna, Aus den älteren Formen *
und *Aulma ließen sich Z/sks und chlams am beste
klären, aber chronologisch macht das Schwierigkeiten
ströla, Pfeil. Nachtrag. UHLENBECK: Kann nich!
ahd. szrala, das *strala ergeben würde, entlehnt sein,
aber aus einer westgerm. Form *s#ré/a (sowohl ahd. s
wie angls. s#æ/ hatten ursprünglich ein €). Im
nordischen fehlt das Wort.
slömw, Helm, aus *se/ms, *chelms, allgemein als
manisches Lehnwort anerkannt. Nach UHLENBECK
aus got. hzlms, das slaw. *cholms, "Solms, gegeben
sondern aus einem ‘germ. *Aelma, anord. Ajalmr, a
afries., asächs., ahd, Æé/#. Hırr, welcher in den m
altgermanischen Lehnwörtern gotische sieht, verharrt
hier bei einer gotischen Entlehnung.
vitez», Krieger, Held, aus einem älteren v:#ege. MıKLo
„Das Wort ist deutsch: man darf an die Vrfhungt [Futkh:
denken.“ Nach UHLENBECK aus anord. vikingr, Plün
Gruppe VII.
Viehzucht, Haustiere, animale Nahrung.
bravr, animal, aus einem älteren *dorvs; slow.
Schafvieh, Schöps, serb. drav, tech. drav, Schmalvieh,
il.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 259
borovs, geschnittener Eber, nach HırT aus einem germ.
*barw. Zu vergleichen angls. deark, bearg, engl. barrow,
geschnittenes Schwein, ndl. darg, berg, anord. borgr, got.
*bargws (*bargus), ahd. darug und dark, mhd. darc, nhd.
harch (verschnittenes Schwein). Nachtrag. BERNEKER: Laut-
lich ist die Annahme ungemein schwierig zu rechtfertigen.
— Murko: fraglich.
tröda in der Bedeutung vices, grex, aus einem älteren ‘*éerau.
slow.: éréda, löda, Herde, Ordnung, Reihenfolge; daneben £rdilo, aus
kerdèlo, Herde, Schar, Truppe; bulg. érsde, Herde, serb. rd, Herde,
cech. #ida, Wechsel, Ordnung, slowak. érieda, kradl, Herde, poln.
trzoda, Herde, russ. cereda, Cereds (series), cereda dialektisch ‚Herde‘.
Die Formen wie Ard, kradl, beruhen auf dem älteren kerd, got.
hairdha, Herde, ahd. Aerta. Nach MiKLosicH und UHLENBECK ur-
verwandt, nach Hınrr entlehnt aus dem Germanischen. Dagegen äußert
mir Prof. STREKELJI cin schwerwiegendes Bedenken, weil got.
hairda oder ahd. Aerta im Slawischen nicht */erda, £röda, sondern
*Jerda, *Sröda ergeben würde. Solches Bedenken hindert jedoch Hırr
an seiner Ansicht nicht, er läßt in diesem Falle eine Wandlung in
den Zischlanten gelten, wie in aksl. «3 (integer, ganz), das er als
aus got. Aasls (heil, gesund) entlehnt ansieht, während UHLENBECK
und BRUGMANN es für urverwandt halten (PBBeiträge 23.3.332.343).
Nachtrag. Unt.renpeck: Jetzt halte ich Entlehnung von /r/da wohl
für möglich (PBB. 80, 286). Die Entlehnungen mit c4 (7) aus %
wären nieht gleichzeitig mit denen, welche (£) ans A zeigen. —
BERNEKER: Mir ist alte Entlehnung aus einer cenium-Sprache seitens
der satzm-Sprachen wahrscheinlich. — STREKELJ: Wechsel von # und
“ist unmöglich anzunehmen; Æ£ai/- ergibt cd’; ganz regelrecht und ist
gerade wegen - nicht aus got. hais entlehnt (lit. Zailastikan). Das
Wort créda, krd- ist, wenn fremd, zu den Slawen eher aus dem Osten
gekommen, vgl. zend. £aredha, Herde, und ist mit MiKLosiCH von
aind. gardhas, Schar (mit 4’) zu trennen. — ZUBATY: „karcdha dürfte
in der Avesta nicht vorkommen. BARTHOLOMAE (Altiranisches Wörter-
buch, Straßburg 1904) 348 liest an jener Stelle anders (?vitö-xradayd
statt -rarsdayd),; irgendein #ar2da- neben den bestehenden sar»da- ‚Art‘,
‚(rattung‘, ist a priori unwahrscheinlich“.
Die Kontroverse dürfte somit dahin auslaufen, ob ér4da und kradio
aus dem Germanischen oder aus dem /ranischen entlehnt sei. Für den
Sozialhistoriker ist jede von den beiden Erklärungen annehmbar, die
letztere unter Hinweis auf die, eine iranische Sprache sprechenden
Skythen, bezw. Sarmaten.
+ ehr»st», Hund, nach Hırr ein germ. Lehnwort, got. *Arupja,
260
aksl.
J. Peisker
angls. 4rydda, ahd. rudo aus *Arudio, Rüde. Das anlat
Ar ist für das Germanische nicht gesichert, werde jedoch
das Slawische festgelegt. Nachtrag. MURKO: Ungewil
-t zu erklären? — STREKELJ: chrets kann nicht *%:
hrydda sein; außer #{ widersteht dem die Lautfolge des
Wortes: russ. cAorts weist auf ein ursprüngl. *cAer!i
‚während *Aru>ja im Russ. *cArots ergäbe.
meso, Fleisch, got. mimz, krimgot. menus (nach ÜHLENDEK,
Wtbch. d. got. Spr.?, sei dieses merus wohl *mems zu lesen).
. HmRT ein germanisches Lehnwort „wegen der Betonung in ser
und weil auch Wörter wie got. #/aifs, miluks, biuds entlehnt si
Nachtrag. UHLENBECK: Ich halte <so bestimmt für ei
slawisches Wort (= skr. mänısa- u. 8. w.).
mléko (neutrum), Milch, aus einem älteren *ze/k
germanisches Lehnwort längst bekannt. MiKLosIcH:
Wort weicht vom slaw. »ze/z- und vom lit. #e/2- ab:
vielleicht in der ersten Periode aus dem Germani
entlehnt worden: got. #:/4k#5s (feminin.) aus »z2/%s, ahd. r.
anord. mjolkr“, angls. meoloc, milc, engl. milk, ndl.
asächs. miluk. —
KLUGE, Etym. Wtbch. s. v. Milch: „Unmittelbare
sammenhang der germanischen Sippe mit der Wurzel
in melken kann nicht zweifelhaft sein. Auffällig is!
eine gemeinindogermanische oder wenigstens eine wes
germanische Bezeichnung für Milch fehlt, während V
idg. »zelg-, germ. melk- ‚melken‘ in allen westindogermani
Sprachen auftritt. Griech. ÿaAx (statt yadaxr-), la
(statt Zact-) können nicht zu Wurzel ze/g- gehören.
aksl. #:/2k0o (aus *melko) mit seiner slawischen Sippe
aus dem altgermanischen Worte entlehnt sein, da für
bei einem urverwandten Worte g zu erwarten wäre
MiKkLOSICH hält gerade die gotischen Lehnwörter für die äl
hier hat er mit seiner „ersten Periode“ recht, aber ein goti
Lehnwort ist es eben nicht. Das letztere erkannte als erster JAC
Arch. f. sl. Phil., XI. Bd, 1888, S. 308, denn die got. Form iluss ı
ahd. miluA wollen zum slaw. #/#k0 als einem germanischen Lehnwoı
gut stimmen, man müsse sie erst auf *:/4- zurückführen, um da
mi?ko davon ableiten zu können, was allerdings nicht ui
lich sei, da man ja im anord. mjö/kr habe. Allein die Übereinstiı
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 261
des Althochdeutschen mit dem Gotischen sichere dem germanischen
Worte die Form mil/uk für ein so hohes Alter, daß es immerhin be-
denklich sei, diese Operation an dem Worte vorzunehmen, um das
slaw. ko davon herzuleiten. Schwierigkeiten mache auch die
Verschiedenheit des Geschlechtes. In allen germanischen Sprachen ist
nämlich das Wort ein Femininum, dagegen in allen slawischen ein
Neutrum. Man werde schwerlich in Abrede stellen können, daß bei
der Entlehnung aus dem Femininum *milks im slaw. "midi, ein
Femininum, zu erwarten wäre. Diese Tatsache, sowie auch das Vor-
handensein eines andern Wortes im Slawischen, nämlich z/eivo (Biest-
milch) in allen slawischen Sprachen und die Abwesenheit eines Lehn-
wortes von miluks im Litauischen, alles das zusammen veranlaßte
JAGIC die Frage aufzuwerfen, ob nicht das Wort dennoch nach der
Wortbildung echt slawisch sein könnte. JAGIC sieht in midko eine
Weiterbildung eines konsonantischen Stammes Nominativ "mid, aus
*milz, Genetiv midze, wovon auch das erwähnte midzivo her wäre.
„Es kommt darauf an, ob es irgendwie wahrscheinlich ist, einen neu-
tralen konsonantischen Stamm *mid- *midse anzusetzen — das muß
ich allerdings der Beurteilung der vergleichenden Sprachforscher über-
lassen. Briefliche Mitteilungen ... B. Lsarunovs lauten dahin, daß
die Petersburger Freunde (Prof. FORTUNATOvV, KORSCH, AL. SACH-
MATOV u. 8.) eine solche Ansetzung nicht wahrscheinlich finden, folg-
lich vorziehen, an der Entlehnung festzuhalten. Was das Genus an-
belangt, so meinen sie, es habe sich das ‚Lehnwort‘ idko an das
früher vorhandene //zivo, welches wahrscheinlich einmal die allgemeine
Bedeutung ‚Milch‘ hatte, angelehnt. Eine derartige Zurechtlegung läßt
sich ganz gut hören, doch ... kann ich auch nicht recht einsehen,
warum bei dem Vorhandensein des Wortes izivo in der allgemeinen
Bedeutung, diese später eingeschränkt worden wäre, da ja in der Regel
gerade das Gegenteil davon stattzufinden pflegt“.
Dennoch ist diese Einschränkung eingetreten und ist
ganz natürlich, wie wir weiter unten, S. 308 ff., sehen werden.
UHLENBECK, Etym. Wtbch. der got. Spı.?, hätte gegen JAGIC’ Aus-
führungen nicht viel einzuwenden, findet jedoch das Ansetzen eines
solchen Stammes wie *midz- zu hypothetisch. — Auch KIRSTE, Archiv
f. slaw. Philol., Bd. XH, 1890, S. 307, hält das Wort ms/dko für slawisch,
stellt es jedoch zunächst zu griech. pnäprtw, ich fasse, lat. muw/cco, indem
er von einer Wurzel *me/k- ausgeht, als einer Nebenform von *meis-,
lat. mulgeo.
Die Annahme, »1/%0 wäre kein germanisches Lehnwort, hat indes
keinen Anklang gefunden und auch ALEX. BRÜCKNER, der sonst gar
manches ablehnt, was UHLENBECK und HirT zu den germanischen
Lehnwörtern zählen, führt in seinem schon genannten Werke: Cywili-
zacja i Jezyk S. 27 auch /ko unter den Lehnwörtern an.
262
J. Peisker
Lorwe (S. 317 und 333) denkt an eine balkangermanische Herkunft.
etwa von den Gothi minores, von denen Jordanis 51 sagt: ... gens multa,
sed paupera et imbellis, nihil abundans nisi armento diversi generis pecorum el
pascua ... parum habens tritici... Vineas veronec...nam lacte aluntnr plerigue.
UHLENHECK entscheidet sich in seinem Verzeichnis (Arch. f. sl
Phil, Bd. 15) auch nicht für eine Entlehnung des Wortes aus den
gotischen oder althochdeutschen, sondern aus einem ‘ri.
Diese Zurückhaltung wird von Hırr im 23. Bande der PBBeiträge
S. 341 abgelehnt mit den Worten:
„Auffällig sind einige Formen. Abulg. #ems ist nach UnrF\-
BECK nicht aus got. #i/ms [das wie wir schon gehört haben, im Sl-
wischen nicht Xms, sondern sms gegeben hätte], sondern aus einem
*helma entlehnt, und &ddg [K2sti, zahlen] stammt nicht aus got. zulden,
sondern aus einem *geldan. Letzteres halte ich — nämlich Hut —
indessen nicht für entlehnt. Diese Voraussetzung würde keine
Schwierigkeiten bereiten, nur müßte bemerkt werden, daß sie nicht
bewiesen ist. Über abulg. »/22o aus *melko hat sich UHLENBECK nicht
geäussert. Got. heißt es miluss, ahd. miluk. Aus beiden könnte die Form
nicht stammen. Aber es fehlt jedes Beispiel für die Behandlung
des aus germ. e/ en'standenen gotischen #. Wir dürfen nicht
ohne weiteres das von der Lautgruppe #/ gewonnene auf 57 übertragen,
denn ist ja aus e/ hervorgegangen. Schon SCHERER hat vermute,
daß got. 5 für zwei verschiedene Laute geschrieben werde, ZGDS
51 Anm., vgl. dazu Braune, Beiträge, 9. 548 und WREDE hat
dies QF. 68, 162 weiter begründet, und das Slawische unterstützt seine
Annahme entschieden. Denn weßhalb sollten — schließt Hırr senc
Polemik — gerade diese zwei oder drei Wörter aus einem nicht
gotischen Dialekt entlehnt sein ?“
Das ist der springende Punkt: warum gerade "lie
nicht gotischen Ursprungs sein sollte. Eben weil Hırr meint, daß
die Goten den ausschlaggebendsten Einfluß auf die Slawen geübt
haben. Hirr läßt sich hier also nicht von philologischen Gründe,
sondern von historischen Rücksichten leiten:
„Leider lässt sich nicht feststellen, in welche Zeit die frühesten Ent-
lehnungen fallen. Aber mit grosser Wahrscheinlichkeit dürfen wir doch
die Goten als die ersten anschen, die einen nachhaltigen Einfluss auf die
slawischen Sprachen ausgeübt haben“ (a. a. O. S. 344).
Auch wenn dies richtig wäre, so müßte doch der früheste von
dem ersten nachhaltigen Einflusse genau auseinandergehalten und ja
nicht verwechselt werden, denn sonst bleiben wir für immer in der
bisherigen Konfusion stecken, aus welcher uns UHLENRECK mit seiner
voraussetzungslosen Analyse germanischer Lehnwörter im Slawischen
(Arch. f. sl. Phil. Bd. 15) herauszuhelfen trachtet, indem er sich um
die uns geläufige politisch-histurische angebliche Reihenfolge des
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 263
germanischen Einflusses einfach nicht kümmert und nur die Laut-
gesetze sprechen läßt. Seine Ausführungen stimmen nicht immer mit
dieser politisch-historischen Reihenfolge und werden deswegen von HırT
bekämpft, weil HIRT von dieser Reihenfolge ausgeht und über-
sieht, daß, wenn diese zwei Faktoren in Widerspruch geraten, nicht
gerade die Geschichte, eigentlich unsere Geschichtskenntnis recht
haben muß, sondern eher diese Reihenfolge unrichtig sein dürfte.
In dieser Richtung aber ist die Sache zu prüfen. Zu einer solchen
Prüfung fehlen jedoch dem historisierenden Philologen die nötigen Quellen
und Daten, denn von älteren, vorgotischen slawo-germanischen
Beziehungen berichten die Griechen und Römer bekanntlich nicht.
Diese Frage wird also weder die Philologie, noch die Geschichte
lösen, sondern die Sozialgeschichte, und die wird sich hüten, nach dem
Grundsatze vorzugehen: Quod non est in actis, non est in mundo,
denn die Sozialgeschichte ist schon gewöhnt, mit einem Material zu
arbeiten, welches quellenmäßig gar nicht überliefert ist und höchstens
zwischen den Zeilen herausgelesen werden kann. Die Sozialgeschichte
hat es gelernt, vor einzelnen Überlieferungen gar keinen Respekt zu
haben, dagegen ist sie sehr empfänglich für die Normen und Gesetze,
nach welchen die Entwicklung der Dinge vor sich geht. Diese Ent-
wicklung der Dinge ist jedoch oft nur an der Entwicklung von deren
hörbaren Bezeichnungen, also durch die Terminologie, wahr-
nehmbar, und dadurch erklärt sich auch die viel größere Abhängigkeit
der Sozialgeschichte von der reinen Philologie als von der Geschichte
selbst. Ein nüchterner Sozialhistoriker wird somit nie etwas be-
haupten wollen, was die Sprachforschung als mit den Lautgesetzen
unvereinbar nachweist, er wird höchstens nur Einwendungen
machen und eine neue, genauere sprachwissenschaftliche Untersuchung
empfehlen, aber nie in solchen Fällen apodiktisch auftreten.
Daher möchte ich auch nicht ganz mit Prof. BRÜCKNRR überein-
stimmen, der im Archiv f. slaw. Phil. Bd. 28 vom Jahre 1901,
8. 623 sagt:
„Wir wissen, wie bei sprachlichen Zeugnissen allein
das Kulturbild verschwommenansfällt, wieeineinziger
Satz eines Historikers oft mehr gewährt als hundert
sprachliche Gleichungen...“
Ein einziger Satz eines Historikers, der mehr gewähren würde
als hundert sprachliche Gleichungen, ist meines Wissens noch nicht
geschrieben worden, dagegen ist es mehr als einmal geschehen, daß
eine einfache sprachliche Gleichung gar viele Geschichtswerke gegen-
standslos machte.
Also kann man nicht oft genug betonen, dass in diesen Dingen
sich nichts halten kann, was von der Sprachforschung nicht
anerkannt wird. Nur das wird aufrecht bleiben, was sowohl vor
264
aksl.
J. Peisker
der Philologie als auch vor der Geschichte die Probe bestanden hat.
— Nun zu mi’ko zurück:
milko ist auf ein älteres *me/ko zurückzuführen und das kann nicht
leicht auf got. miüuss oder ahd. miluh zurückgehen. Diese Schwierig-
keit ist allgemein anerkannt und durch Scherers Vermutung, dab
got. : für zwei verschiedene Laute geschrieben werde, gewiß nicht
behoben.
Übrigens: Warum in die Ferne schweifen! Ist ja ein westgerms-
nisches, voralthochdeutsches Wort »se/%a in der Bedeutung einer Milch-
speise schon aus dem 2. Jahrhundert nach Christo bei GALEN U süber-
liefert’), tatsächlich ist es selbstverständlich noch viel älter. Nachdem
wir also ein nachweisbares westgermanisches, voralthochdeutsches
melka kennen, aus welchem sich ein slawisches *wme/ko, später midko, von
selbst ergibt, können wir getrost jedes Philosophieren über gt.
miluks und ahd. miuh einstellen und sagen: das slawische midkoist
ein westgermanisches, und zwar voralthochdeutsches
Lehnwort.
Nachtrag. UHLENBECK: „Ich halte »zJe2o für entlehnt aus
einer Form *#e/ka (etwa niederdeutsch). Ihre Ausführungen
sind m. E. ganz richtig.“
nuta, bos, boves; russ. dialektisch ist zu/2 für verenia
in der Bedeutung von ‚lange Reihe‘, während russ. dialek-
tisch Cereda, wie wir schon unter diesem Worte bemerkt
haben, Herde bedeutet. Polab. »öta, Herde, Vieh, zötar,
Hirt; slow. #z£a, für Rinderherde dialektisch noch gebräuch-
lich um Kameno am Isonzo, nach WOoLF-PLETERSNIKS
Wörterbuch. Ahd. #05, Vieh, angls. zedt, anord. nauf.
finn. zauta, Vieh. Nach UHLENBECK aus einer altgerma-
nischen Mundart entlehnt. Für das x in ##7a ist zu ver-
gleichen aksl. ugs, Armband, aus einem germ. *daugs,
aksl. ups, Kauf, aus germ. *kaupa u. 8. w. — Nachtrag-
STREKELJ: Bei #ufa ist zwar die unerwartete Nasalierung
1) ... &$edow yodv xai où Tıvag pèv Anäpg m4, närdov da pq, Yuxpo?
nöosı Jsparsudévras y &vioıg Ev où Övov TÔ rpéçpatov Edwxa nnyaivs
AIG xal To Bra xıövog Epuvuévoy, de Ev ‘Pouyg oxsudEstv Edoç Exousr, rpoŸss-
palvovreg TV xatacxsuÿy Tv adtol rposayopeboust Erxéxtav: EBéauaté vs 7%
oùtwg &hurneva roÂkdxte dedsuw ovyxwpoÏvTé pe Aauñéverv aûtoic' dv cl; 277!
Kar À
péAxa, T@v &v 'Ponm xai toto Ev eddoxtnodvtov 808
HATWv, Worep xai 76 Gppéyala (GAILENI Methodi medendi VII, c. 4
(in der Gesamtausgabe von KÜHN, 10. Bd., Lipsiae 1825, S. 467 £.).
SL.
bus
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 265
des Wurzelvokales im Polabischen: #ôfa, nôtar zu beachten,
indes scheint sie sekundär zu sein, weil das Slowenische
ein z statt des aus einem Nasalvokal a erwarteten o bietet:
kärntn. zuinjak, Stier. Das Wort kennt auch das Osorb.:
nutnica, nuknica, Viehhof, Erblehensgut, Vorwerk, #ufnicaf,
Gutsverwalter.
skotr, pecus, Vieh, aber auch pecunia, Geld. Bulg.,
serb., éech., poln. ober- und niedersorb., polab. in der Be-
"deutung von pecus, Vieh. Russ. heute ebenfalls Vieh,
früher auch Geld. Ähnlich wohl auch im älteren Klein-
russischen, nach dem Worte skofnyca, Schatzkammer, zu
schließen.
Skote in der Bedeutung von Vieh kommt somit
in allen slawischen Sprachen vor, daneben in
der Bedeutung von Geld jedoch nicht.
MikLOSICH sagt in seinem Etym. Wtbch. S. 303: „Zusammenhang
von séots mit got. skatis, Geldstück, Geld, ahd. scaz läßt sich nicht in
Abrede stellen: ob Entlehnung stattgefunden und wer entlehnt hat,
ist dunkel“.
Uns wird wohl die Frage nicht dunkel erscheinen, nachdem wir
wissen, daß die alten Slawen, solange und so oft sie sich in turko-
tatarischer Knechtschaft befanden, keine Viehzüchter waren, folglich
kann das Wort nur ein germanisches Lehnwort sein.
Aber aus welcher germanischen Sprache? Hırr im Einklange
mit BRÜCKNER (Cywilizacja i Jezyk, S. 25 f.) leitet es von got. skatts,
Geldstück, Geld, her. UHLENBECK dagegen aus germ. *skatta.
In den einzelnen germanischen Sprachen gestaltet sich die Be-
deutung des Wortes so: got. skatts, Geldstück, Geld, sZattja, Geld-
wechsler, anord. sAafr, Steuer, Tribut, angls. sceatt, kleine Münze,
Geld, Vermögen, afries. ske‘, Geld, Vieh, asächs. scas, Geldstück,
Geld, Vermögen; ahd. scaz, bedeutet nur Geld, ein bestimmtes Geld-
stück, also genau dasselbe, wie im Gotischen.
Der Bedeutungswandel von Vieh und Geld kommt in vielen
Sprachen vor, der bekannteste ist lat. /ec«s und Pecunia, ähnlich eng].
fee (Honorar, Trinkgeld), zu angls. /eok, (Vieh), poln. dydlo, Vieh,
Vermögen; russ. s/afoks, Gut, dialektisch auch Herde u. s. w. „Doch
läßt sich — nach KLUGE, Etym. Wtbch., s. v. Schatz — für das
agerm. *"szalta-, Geld, Geldstück, die Grundbedeutung
Viek durch nichts erweisen.“
Nachtrag. BERNEKER: „Da es etymologisch nicht mit einem Wort
für ‚Vieh‘ zu verbinden ist, so mußte es doch von Hause aus einen
268
J. Peisker
Lehnwort, wahrscheinlich aus got. *anaps, unhaltbar
ist. Hırr selbst nimmt es übrigens nur hypothetisch an: „Man würde
hier ja gern die Annahme von Entlehnung ablehnen, da der Hanf doch
vermutlich eher zu den östlicher wohnenden Slawen als zu den Ger-
manen gekommen ist. Aber das / [in dem slawischen Worte] gegen-
über dem # in griech. xdvvaßıs, lat. cannabis bereitet vorläufig un-
überwindbare Schwierigkeiten. Der einzige Ausweg bliebe, slaw. konoflje
aus einer Sprache stammen zu lassen, die wie das Germanische die
Medien zu Tenues verschoben hätte. Aber bis jetzt ist eine solche
nicht nachgewiesen“ [Nachtrag. UHLENBECK : Das Armenische!]. Soweit
Hırr, PBBeiträge, 23, 343.
Woher und wie kam jedoch das Wort zu den Griechen, Slawen
und Germanen? Vielleicht finden sich doch Fingerzeige, die auf die
Spur führen werden.
Man bedenke: 1. Das Wort ist auch den Persern bekannt. 2. Die
Skythen sprachen eine dem Persischen nahe verwandte Sprache. 3. Die
Skythen kannten den Hanf.
Versuchen wir es also mit der Annahme, die Skythen bätten
Sache und Wort nach Europa gebracht und die Griechen, Slawen
und Germanen damit bekannt gemacht.
Von den Skythen weiß man, daß sie den Hanf nicht zu einer Ver-
arbeitung der Fasern nutzten, sondern daß sie Hanfsamen an-
wendeten. HERODOT berichtet darüber im 4. Buche Kap. 73 bis 75
nach Fr. LANGES Übersetzung:
... Und wenn sie ihn [ihren Verstorbenen] degraden, reinigen sich dit
Skythen auf folgende Art: Nachdem sie sich den Kopf gerieben und gt
waschen, tun sie mit dem übrigen Leibe also: Sie stellen drei Stangen auf,
mit den Spitzen gegeneinander gekehrt, und darüber breiten sie eine Filsdeekt.
die spannen sie recht an und sodann werfen sie glühende Steine in um
Wanne, die in der Mitte zwischen den Stangen und dem Fils steht.
Es wächst auch in ihrem Lande Hanf (x&vvaBiç); der ist dem Lun
sehr ähnlich, abgesehen von der Dicke und der Größe, darin übertrift ihn
der Hanf bei weitem. Er wächst von selber und auch gesät (nat adropätl
xal onstpouévn pÜüstæy). Und von diesem machen sich die Thraker soga'
AÄleider, die sind den linnenen sehr ähnlich, und wer es nicht genau kanrlı
der kann gar nicht unterscheiden, ob es von Lein oder von Hanf ist, und
wer noch in seinem Leben keinen Hanf geschen hat, der wird denken, t
sei ein linnen Aleid.
Aus dieser Stelle ersieht man, daß HERODOT von einer den Grieche?
unbekannten Pflanze spricht und augenscheinlich sie so benennt, wie
er es an Ort und Stelle von den Skythen gehört hatte. Die Skythes
werden somit den Hauf mit demselben Worte benannt haben, wie
später nebst den Griechen auch die Slawen und die Germanen.
HERODVT Setzt fort:
bus
SL.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 269
Von diesem Hanf nun nehmen die Skythen die Körner und kriechen
unter ihre Filsselte und werfen die Hanfkörner auf [die] glükende[n] Steine.
Und wenn die Körner darauf fallen, so rauchen sie und verbreiten einen
solchen Dampf, daß kein hellenisches Dampfbad darüber kommt. Die
Skythen aber heulen vor Freude über den Dampf. Das gilt ihnen als Bad,
denn im Wasser baden sie sich gar nicht.
Die Skythen benützten somit Hanf nicht zum Weben, sondern zu
Bädern, Hanfbädern. Und das haben auch die Slawen wohl vonihnen
gelernt, denn das slawische Wort für Paz und daden hängt allem
Anscheine nach mit dem Worte für #anf zusammen: aksl. 452%, Bad,
slow. Aöpel, Gech. koupel, poln. kgpiel, osorb. kupiel, klruss. kupi?, russ.
kupöle.
Auf die Möglichkeit einer sprachlichen Verwandtschaft zwischen
Hanf und Bad im Slawischen hat bereits MERINGER in seiner Be-
sprechung von SCHRADERS Reallexikon in der Zeitschrift für österr.
Gymn. 1903, 8. 388 hingewiesen. HERODOTs Bericht tritt nun als eine
neue Stütze hinzu, und es dürften die Skythen das Wort für Hanf
an die Griechen, Slawen und Germanen abgegeben haben.
luk»%, Zwiebel, als germanisches Lehnwort längst bekannt.
Nach UHLENBECK aus germ. *lauka, anord. /aukr, ahd. lou
(Lauch), ndl. /0oo2£, nach KLUGE ein urgermanisches Wort,
vielleicht mit air. /4ss (Kraut, Pflanze) [aus *u2sz] ur-
verwandt. Danach wäre die Pflanze westeuropäisch.
*mrrky, gelbe Rübe, Möhre, aus einem älteren merky,
nach UHLENBECK entlehnt aus einer älteren Form von
ahd. »moraha, morha, das dunklen Ursprungs sei; nach
LoEwE aus einem balkangerm. *»orhö. Danach wäre es
ein spätes Lehnwort. Nach Mıkrosıch fällt die Entlehnung
in die erste Periode.
rsdrky, Rettich, nach UHLENBECK aus einem altgerm.
Feminin *redikö, aus lat. radix, nach LoEwE (S. 326)
entweder aus dem Westgermanischen oder aus dem Balkan-
germanischen. Die Pflanze kam nach MıKtosich (Et.
Wtbch. s. v. r#däky) unter den ersten Kaisern aus Syrien
nach Italien, zu den Slawen also sehr spät.
vrte, hortus, vreiograds. vrets ist nach HırrT wohl
aus vreiograds abstrahiert, das auf got. aürtigards,
Baumgarten, zurückgeht, oder eine ähnliche altgermanische
Form; aürtigards zusammengesetzt aus aérti und gards.
ÜHLENBECK, Etym. Wtbch., s. v. a#rtja, gibt einer Be-
270
aksl.
J. Peisker
ziehung des aurt:, Kraut, zu wauris den Vorzug vor der
Annahme, daß aürti aus lat. Aortus entlehnt wäre. Nach
LoEwe (S. 317, 333) ist vretograds balkangermanischer
Herkunft (vgl. oben S. 254f. s. v. grads). Nachtrag. Ber-
NEKER: a#rti- halte ich für Entlehnung aus %Aortus, denn
warum sollte v geschwunden sein? Vgl. waurts! Vrst
erkläre ich aus urslaw. “verts, zu “vera, verti, ‚schließen‘.
Vgl. zur selben Wurzel ver- auch ëech. odora aus ob-vora.
— MurKko: vrets ist ein spezifisch slowenisches und kroato-
serbisches Wort aus dem Romanischen, südslaw. vrstograds
in altkirchenslawischen Quellen ist jünger (vgl. Jacıc in den
Denkschriften d. Wiener Akad., phil.-hist. Kl. 47, S. 63).
Gruppe IX.
Ackerbau und die übrige vegetabile Nahrung.
braësno, Speise, nach MIKLOSICH aus einem ältern *dorfsmo, bulg.
und serb. drasno, Mehl, klr. dorofno, Mehl, russ. éoroïne, Boggenmehl,
dialektisch. Nach UHLENBECK urverwandt mit got. darizeins (= von
Gerste bereitet), von *daris, Gerste, nach Hırr aus dem Gotischen ent-
lehnt. HrrTs Ansicht dürfte sich nicht halten, wenigstens ist bis jetzt
unter den slaw. Getreidenamen kein altgermanisches Lehnwort wahr-
genommen worden, und auch aksl. ders, eine Hirseart, gilt als ur-
verwandt mit got. daris, Gerste, schon wegen Verschiedenheit in der
Bedeutung. — Nachtrag. BERNEKER: HırTs Ansicht ist unwahrschein-
lich, weil meines Wissens kein germanisches Lehnwort im Slawischen
den Übergang von s in cA mitmacht.
chl&öbr», Brot; für germanisches Lehnwort längst gehalten; nach
MiKLOSICH stammt die Entlehnung aus der ersten Periode. Got.
hlaifs (gen. hlaibis), anord. Aleifr, angle. k/éf, ahd. kleid. Dazu noch got.
gahlaiba, ahd. galeipo, Genosse, dem Sinne nach ebenso gebildet, wie
compagnon (aus con und fanis, d. i. von demselben Brote essend, Janis
comestor). Auch engl. /ord aus angls. 4d/ford (got. "Alaidbwards), Herr,
eigentlich wörtlich Brotwart, sowie engl. /ady aus angls. Alae/digt,
domina (eigentlich Brotverteilerin?) [Nachtrag. BERNEKER: nicht Frr-
teilerin, sondern Aneterin, vgl. d@ge, Brotmacherin], enthalten unser hd. Za:?
in der Zusammensetzung. Diese uralten Zusammensetzungen beweisen —
nach KLUGE — das hohe Alter des Wortes /i6 und den jüngern Ursprung‘
des Wortes droi, welches dem Gotischen noch ganz und dem Angel-
sächsischen fast ganz fehle. Dem widerspricht UHLENBECR, Etyn-
Wtbch., welcher s. v. klaifs auch für gotisch ein *dreu) annimmt, zu
erschließen aus krimgot. öroe, anord. draud, angls. éréad, afries. dräd-
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 271
Das slawische c4/2s führt UHLENBECK (A. f. sl. Ph. 15) auf germ.
*hlaiba zurück, Auch KLUGE läßt es aus „einem altgermanischen
Dialekte“ entlehnt sein, wie denn das altgermanische Wort auch in
das Finnisch-esthnische drang: finn. /eipä, esth. /eis, Brot. Hırr hält
dagegen an der älteren Annahme fest, slawisch cAldds sei direkt auf
gotisch Aai/s zurückzuführen, in der von uns schon besprochenen
Meinung, daß wir mit großer Wahrscheinlichkeit die Goten als die
ersten ansehen dürfen, die einen nachhaltigen Einfluß auf die slawi-
schen Sprachen ausgeübt haben. — Nach LOEWE (8. 834) dürfte chl2dz
am ehesten aus dem Balkangermanischen stammen.
Gegen eine Entlebnung aus dem Germanischen überhaupt und”
für eine Urverwandtschaft erklärt sich KozLovskıJ im Arch. f. sl.
Phil. XI, S. 886 und stellt Aai/s und chleds zu lat. Ziöus, libum, Kuchen,
Fladen, unter Annahme einer Grundform *Xloiöko-. Dagegen wendet
UHLENBECK, Etym. Wtbch.*®, s. v. aifs ein, daß die Existenz eines ur-
sprachlichen tonlosen velaren oder gutturalen Spiranten keineswegs für
bewiesen gelten darf (Arch. f. sl. Phil. 16, S. 380 f.). — Es würde uns hier zu
weit führen, auch alle übrigen Erklärungsversuche zu erörtern, man
findet sie in UHLENBECKS Etym. Wtbch., 2. Aufl., und es sei nur noch
erwähnt, was O. SCHRADER in seinem Reallexikon der indogerm. Alter«
tumskunde, Straßburg 1901, s. v. Brot, S. 111 ff. ausführt:
„Die Prähistorie weist auf ein hohes Alter des Brotes in Europa
hin. In den Schweizer Pfahlbauten sind verschiedene Brotarten, und
zwar schon in den ältesten Stationen zutage getreten, die von
0. HEER, Die Pflanzen der Pfahlbauten, S. 9, ausführlich beschrieben
werden. Sie bestehen teils aus Weizen, teils aus Hirse. ‚Bei dem
gewöhnlichen Weizenbrot wurden die Körner stark gerieben, dann mit
Wasser ein Teig angemacht und dieser auf einen heißen Stein gelegt
und wahrscheinlich mit Asche zugedeckt . . . Es waren diese Brote
rundlich, aber ganz nieder; sie hatten nur eine Höhe von 15—25 mm,
bekamen also mehr die Form von Kuchen oder Zelten, wie man in
manchen Gegenden solche flache Brote nennt.‘
Schwieriger ist es — setzt SCHRADER fort —, das Alter des Brotes
in Europa auf sprachlichem Wege festzustellen. Es handelt sich
dabei namentlich um die Reihe: lat. Jöum, gemeingerm. got. Aaifs,
gemeinslaw. aksl. cAldds. Trutz allem, was in neuerer Zeit über das
Verhältnis dieser Wörter zu einander gesagt worden ist..., ist ein sicheres
Ergebnis noch nicht erzielt. Am wahrscheinlichsten dürfte immerhin
die Ansetzung eines ureuropäischen Stammes *4Aloisho- (got. Aldifs),
*kAleibho- (lat. Zibum, aksl. chl2bs), *khlibho- (mhd. /öde—kuoche) im Sinne
von ‚Brotkuchen‘ sein . . .“
Eine charakteristische Eigentümlichkeit der ältesten Brote der
Schweizer Pfahlbauten war ihre Niedrigkeit, sie mochten somit ohne
Hefe bergestellt worden sein. Sicher ist es der Fall bei den dem
Bin.
270
aksl.
J. Peisker
ziehung des a#rt:, Kraut, zu waurts den Vorzug vor d
Annahme, daß aurti aus lat. hortus entlehnt wäre. Na
LoEweE (S. 317, 333) ist vrstograds balkangermaniscl
Herkunft (vgl. oben S. 254f. s. v. grads). Nachtrag. Bi
NEKER: a#rti- halte ich für Entlehnung aus orfus, de
warum sollte # geschwunden sein? Vgl. waurts! Ir
erkläre ich aus urslaw. “verts, zu “vera, verts, ‚schließe
Vgl. zur selben Wurzel ver- auch ech. odora aus ob-voi
— MurKo: vrefs ist ein spezifisch slowenisches und kroa
serbisches Wort aus dem Romanischen, südslaw. vretogre
in altkirchenslawischen Quellen ist jünger (vgl. Jacıc in d
Denkschriften d. Wiener Akad., phil.-hist. Kl. 47, S. 6
Gruppe IX.
Ackerbau und die übrige vegetabile Nahrung.
braisne, Speise, nach MIKLOSICH aus einem ältern *dor!eno, bi
und serb. drasino, Mehl, klr. #orofno, Mehl, russ. éoroïno, Roggenm
dialektisch. Nach UHLENBECK urverwandt mit got. darizeins (=
Gerste bereitet), von *daris, Gerste, nach Hırr aus dem Gotischen :
lehnt. Hırrs Ansicht dürfte sich nicht halten, wenigstens ist bis j
unter den slaw. Getreidenamen kein altgermanisches Lehnwort wi
genommen worden, und auch aksl. ders, eine Hirseart, gilt als
verwandt mit got. daris, Gerste, schon wegen Verschiedenheit in
Bedeutung. — Nachtrag. BERNEKER: HIRTS Ansicht ist unwahrsch
lich, weil meines Wissens kein germanisches Lehnwort im Slawisc
den Übergang von s in cA mitmacht.
ch18b#, Brot; für germanisches Lehnwort längst gehalten; ı
MikLOSICH stammt die Entlehnung aus der ersten Periode. :
hlaifs (gen. hlaibis), anord. 4/i/r, angle. #/éf, ahd. 4/eié. Dazu noch
gahlaiba, ahd. galeipo, Genosse, dem Sinne nach ebenso gebildet,
compagnon (aus con und panis, d. i. von demselben Brote essend, /
comestor). Auch engl. /ord aus angls. Aldford (got. “klaibwaras), F
eigentlich wörtlich Brotwart, sowie engl. /ady aus angls. Alaef
domina (eigentlich Brotverteilerin?) [Nachtrag. BERNEKER: nicht
teilerin, sondern Aneterin, vgl. dëge, Brotmacherin], enthalten unser hd.
in der Zusammensetzung. Diese uralten Zusammensetzungen beweise
nach KLUGE — das hohe Alter des Wortes /a:d und den jüngern Urspi
des Wortes drot, welches dem Gotischen noch ganz und dem An
sächsischen fast ganz fehle. Dem widerspricht UHI.ENBECK, Ei
Wtbch., welcher 8. v. Alaifs auch für gotisch ein *rau) annimmt,
erschließen aus krimgot. droe, anord. éraud, angls. dread, afries. Ö.
u“
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 271
Das slawische «4/3: führt UHLENBECK (A. f. sl. Ph. 15) auf germ.
*Alaiba zurück. Auch KLUGE läßt es aus „einem altgermanischen
Dialekte“ entlehnt sein, wie denn das altgermanische Wort auch in
das Finnisch-esthnische drang: finn. /eipd, esth. /eis, Brot. Hırr hält
dagegen an der älteren Annahme fest, slawisch cAldds sei direkt auf
gotisch Aai/s zurückzuführen, in der von uns schon besprochenen
Meinung, daß wir mit großer Wahrscheinlichkeit die Goten als die
ersten ansehen dürfen, die einen nachhaltigen Einfluß auf die slawi-
schen Sprachen ausgeübt haben. — Nach Lowe (8. 834) dürfte ck/6s
am ehesten aus dem Balkangermanischen stammen.
Gegen eine Entlehnung aus dem Germanischen überhaupt und”
für eine Urverwandtschaft erklärt sich KozLovski im Arch. f. sl.
Phil. XI, S. 386 und stellt #/aifs und ck/2b zu lat. libus, libum, Kuchen,
Fladen, unter Annahme einer Grundform *xloidko-. Dagegen wendet
UHLENBECK, Etym. Wtbch.®, s. v. %ai/s ein, daß die Existenz eines ur-
sprachlichen tonlosen velaren oder gutturalen Spiranten keineswegs für
bewiesen gelten darf (Arch. f. sl. Phil. 16, S. 380 £.). — Es würde uns hier zu
weit führen, auch alle übrigen Erklärungsversuche zu erörtern, man
findet sie in UHLENBECKs Etym. Wtbch., 2. Aufl., und es sei nur noch
erwähnt, was O. SCHRADER in seinem Reallexikon der indogerm. Altere
tumskunde, Straßburg 1901, s. v. Brot, S. 111 ff. ausführt:
„Die Prähistorie weist auf ein hohes Alter des Brotes in Europa
hin. In den Schweizer Pfahlbauten sind verschiedene Brotarten, und
zwar schon in den ältesten Stationen zutage getreten, die von
0. HEER, Die Pflanzen der Pfahlbauten, S. 9, ausführlich beschrieben
werden. Sie bestehen teils aus Weizen, teils aus Hirse. ‚Bei dem
gewöhnlichen Weizenbrot wurden die Körner stark gerieben, dann mit
Wasser ein Teig angemacht und dieser auf einen heißen Stein gelegt
und wahrscheinlich mit Asche zugedeckt... Es waren diese Brote
rundlich, aber ganz nieder; sie hatten nur eine Höhe von 15—25 mm,
bekamen also mehr die Form von Kuchen oder Zelten, wie man in
manchen Gegenden solche flache Brote nennt.‘
Schwieriger ist es — setzt SCHRADER fort —, das Alter des Brotes
in Europa auf sprachlichem Wege festzustellen. Es handelt sich
dabei namentlich um die Reihe: lat. /iöum, gemeingerm. got. Aaifs,
gemeinslaw. akel. c4/263. Trotz allem, was in neuerer Zeit über das
Verhältnis dieser Wörter zu einander gesagt worden ist..., ist ein sicheres
Ergebnis noch nicht erzielt. Am wahrscheinlichsten dürfte immerhin
die Ansetzung eines ureuropäischen Stammes “*#£//oibho- (got. Aldifs),
*khleibho- (lat. libum, aksl. chlöbe), *khlibho- (mhd. /ödse—kuoche) im Sinne
von ‚Brotkuchen‘ sein... .*
Eine charakteristische Eigentümlichkeit der ältesten Brote der
Schweizer Pfahlbauten war ihre Niedrigkeit, sie mochten somit ohne
Hefe hergestellt worden sein. Sicher ist es der Fall bei den dem
272
aksl.
J. Peisker
Pfahlbau des Mondsees entnommenen und im Privatbesitz des Dr. Mat-
thäus Much, Konservators in Wien, befindlichen Brote.
Und in der Tat scheint es, dass sich die Kunst, dem Teige durch
Zusatz von Hefe oder Sauerteig leichtere Verdaulichkeit und größeren
Wohlgeschmack zu geben, in Europa erst verhältnismäßig spät ver-
breitet hat. BENNDORF nimmt in seinem Aufsatze: „Altgriech. Brot“
(erschienen im Eranos Vindobonensis) an, daß die Bekanntschaft mit
dem Sauerteig in Ägypten aufkam und erst in historischer Zeit von
dort zu den Griechen gelangte. In Italien ward der Flamen Dialis
angehalten, farinam fermento imbutam, also mit Sauerteig angemachtes
Mehl, zu vermeiden, eine unzweifelhafte Erinnerung an eine Zeit, in
welcher es noch kein gesäuertes Brot gab. Am thrakischen Fürsten-
hof des Seuthes finden wir nach XENOPHOXS Anabasis VII, 21 aller-
dings bereits grosse gesäuerte Brote (&prot Tupirar), die an die
Fleischstücke angeheftet waren, im Gebrauch; doch mag dies nach der
Ansicht von SCHRADER auf griechischem Einfluss beruhen.
Nachdem die Säuerung des Brotes in Europs bekannt geworden
war, bedienten sich Griechen und Römer zur Herstellung des Sauer-
teigs, wie es bei weinbauenden Völkern zu erwarten ist, vorwiegend
des Mostes, der mit Hirse zusammengeknetet wurde. Es musste daher
— berichtet SCHRADER weiter — den Alten auffallen, wenn sie es
anderswo, wie in Gallien und Spanien, anders fanden. Prixivs (Hist.
nat. XVIII, 68) erzählt, daß man sich in den bierbrauenden Ländern
Gallien und Spanien der Hefe des Bieres zur Anfertigung des Sauer-
teigs bediente, eine Kunst, die den cezeri, worunter nur die übrigen Bar-
baren des Nordens, also auch die Germanen verstanden werden können,
damals noch nicht geläufig war. Deren Brot war demnach damals noch
ungesäuert, schwer und unverdaulich ... Von dem gallisch-romanischen
Westen ging dann in der germanischen Welt die Festsetzung des
Stammes *örauda in der Bedeutung ‚Brot, gesäuertes Brot‘ aus.
Diese Zusammenstellung SCHRADERs von Daten über Laib und
Brot ist lehrreich und ladet zur Vorsicht ein, dem etwaigen
Lehnworte c#/b im Slawischen eine besondere kulturgeschichtliche
Bedeutung zuzuschreiben; wir wissen eben vorderhand nicht, was
dieses Lehnwort, falls es eines ist, überhaupt zu bedeuten hat. Aber
ganz bestimmt können wir annehmen, dass die Slawen schon vor
der behaupteten Entlehnung des Wortes irgend ein Brot haben mussten,
denn ungesäuertes, in der Asche von Kamelmist gebackenes Brot
kennt auch der turkotatarische Wanderhirt Zentralasiens. Wenn das
Wort cklebe überhaupt germanischen Ursprungs ist, so wurde mit ihm
höchstens irgendeine besondere Art des Brotes, vielleicht sogar nur
eine besondere Form übernommen. — Vielleicht hängt das fragliche
Lehnwort mit der Auflage eines bestimmten Brottributes zusammen.
ol», sicera, berauschendes Getränk aus Getreide oder Obst, slow. oe,
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 273
olej, vol, Bier, russ. o/s (oleum), preuss. e/w, lit. alus, lett. allus, Bier.
Nach HrRT aus dem germ., anord. o/, angls. ealu. — Nachtrag. BERNFKER:
Möglich, aber lautlich nicht zu erweisen. — STREKELJ: Nach E. KUHN
(K. Zs. 35, S. 314) ist auch das ungehopfte Bier (lit. «as, finn. «/«t)
durchaus nicht erwiesen als germanisch, noch weniger gilt dies vom
gehopften (fivo, pyvas, beor). Das kärnt. olej ist verführerisch für die
Ableitung des ersteren aus oleum (HEHN° 149); indes ist es eine erst
ganz junge Deminutivbildung mit Dialektsuffix + von od, gesprochen wow.
aksl. plug», Pflug, in allen slawischen Sprachen gleichlautend.
Nach UHLENBECK aus germ. *plöga, anord. plögr'), ahd.
pfluog, ndl. ploeg, angls. plöh. Vgl. LoEwE S. 316. —
Nach MERINGER?) gehört das Wort Zfug zum Verbum
pflegen, daher echt germanisch. „Wenn aber, führt MERINGER
aus, Pflug formell unweigerlich ‚das ist, womit man Zfegt,
wie /uoc ‚das, wo man liegt‘, dann ist die Grundbedeutung
von Pflegen 80 viel als ackern (und weiter, den Acker be-
stellen) gewesen ... Im deutschen Worte Pflege = ‚Ver-
waltung eines Gutes, eines Landbezirks‘ (SCHMELLER L.
Sp. 448) sind wir der alten Bedeutung noch recht nahe“
1) P. v. MÖLLER, Strödda Utkast rörande Svenska Jordbrukets Historia,
Stockholm 1881, S. 134, sagt zur Geschichte des Wortes /ogr: „In den Edda-
liedern wird drdr und flögr gleichzeitig gebraucht, z. B. im Rigsmäl, wo es
von dem ‚Karl‘, oder dem freien Bauer heisst: daß er drder machte, Häuser
und hohe Scheunen zimmerte, Karren machte und den plog fuhr (körde
flog).* Hieraus dürfte jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß der
arder und der heutige plog schon damals in Skandinavien angewendet wurden,
selbst wenn man das genannte Eddalied weit jünger ansetzt, als bisher an-
genommen wird. In den schwedischen Landschaftsgesetzen wird der plog
nicht genannt, sondern erst in Kristoffers landslag von 1442. Wohl kommt
an einer Stelle des jüngeren westgötischen Gesetzes «plöghia vor, für pflügen
über die Grenzscheide in eines andern Bereich, und ebenso in einer jüngern
Abschrift des Skänelag das Wort Zlögkia, welches jedoch in einer älteren
und von SCHLYTER benutzten Handschrift mit ærie, ärja, wiedergegeben
wird. Sollte man deshalb nicht aus den Worten im Rigsmäl: „machte Karren
und fuhr den Pflug“ schließen können, daß dieser plog ein Karrenärder gewesen ?
In Schweden werden die Benennungen stäng-ärder und kärrärder nicht mit
dem des plog verwechselt, aber in Deutschland... wenden Autoren, z. B.
Rat, das Wort /fug sowohl für ärder oder Haken (krok) wie auch für
Pfiug an.“ Die Stelle verdanke ich Kar RHAMy».
2) MERINGER, Wörter und Sachen, in den Indogermanischen
Forschungen, 1904 Bd. 16, S. 184 ff., Bd. 17 S. 100 ff.
274
aksl.
J. Peisker
(JF. 16, S. 186). „Von Pfegen, Pflug, kann man,
RINGER S. 187 weiter fort, unmöglich Pfloc# tre
ndl. plug (Propf), engl. flug (Pflock). Die Be
sind überall ‚zugespitztes Holz‘, ‚Stöpsel‘ ...
Holzpflug paßt es sehr gut').“
Über Wort und Gerät Pfug bei den Slawen
besondere Abhandlung.
Gruppe X.
Verkehr, Handelsartikel, Geld.
bug», Armband, nur in glagolitischen
(MıkrosicH), ein altbekanntes Lehnwort, nach U
aus germ. *dauga, andd. baugr, ahd. Boug, ar
ceta, Münze, nach UHLENBECK aus einem germ. *#:
zu vergl. got. Zintus, Pfennig, auch im German
Fremdwort. Vgl. Kossmann, PBBeiträge 30,
godovable, Seide, nach UHLENBECK aus einem
deutschen *godawebbi, ahd. gotawebbi, angls. god
gewebe, Gewebe zu gottesdienstlichen Zwecken). —
Murko: Wahrscheinlich auch nur nordslawisch,
altkirchenslawischen Beispiele (MixLosicH, Lex. ]
8. v. godovabl:) sind wohl russischer Herkunft.
christlicher Zeit entlehnt. — STREKELS: Dürfte wi
sein, weil es im ersten Teil zu got. gwpa- besse
zu goda-; wenigstens weist tech. zedvab, poln. 7e
altes *gzdsvabls hin. In godovadls haben wir ir
für 3 wohl russischen Einfluß, das zweite o berul
Einwirkung des Kompositionsvokals o.
kupt, kuplja, Kauf, nach MikLosıch aus dem
in der ersten Periode entlehnt. Nach UHLENBECK
*kaupa, *kaupja, “kaupjan (kaufen) [neben got
lichva, Wucher, nach UHLENBECK abgeleitet
lethwan, leihen. Es setze ein germanisches fen
(aus *erhwö) voraus.
1) Anders K. RHAMM, Ethnograph. Beiträge zur germanisc
Altertumskunde. I. Die Großhufen der Nordgermanen. Braunsc
S. 549 f.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 275
akel. myto, Lohn, Gewinn, in einzelnen slawischen Sprachen
auch in der Bedeutung Zoll, Maut, ein altbekanntes
Lehnwort. Nach UHLENBECK entweder aus ahd. #4#/a oder
got. möta. Nach Lowe (S. 323) wird man yo am besten
wohl aus demjenigen germanischen Dialekte herleiten, in
dem es selbst bezeugt ist, ohne dort Lehnwort zu sein, aus
dem Altnordischen.
» Péneg®e, péneds, denarius, ein altbekanntes Lehnwort,
nach ÜHLENBECK aus einem germ. *denninga (anord. penningr,
ahd. pfennig).
» skplezp, aus einem älteren *s2/engs, Münze, nach MiKLo-
sicH germanisches Lehnwort aus der ersten Periode, nach
UHLENBECK aus got. skilliggs, Schilling. — Nachtrag. UHLEN-
BECK: Kann ebensogut aus einer anderen altgermanischen
Mundart entlehnt sein.
„ usereg#, Obrring, nach MikLosicH ein germanisches
Lehnwort aus der ersten Periode, nach UHLENBECK aus
got. *ausa-hrigga. — Nachtrag. Murko: Wahrscheinlich
nur südslawisch, erst von den Goten am Balkan; russ.
serega ist fernzuhalten. — UHLENBECK: Das s von wseregs
weist bestimmt auf das Gotische, denn die übrigen ger-
manischen Mundarten haben > aus z/ Aus germ. z wäre
bei Entlehnung in das Slawische kein s geworden, sondern
das z wäre unverändert geblieben.
-» “Yareg®, zu ermitteln aus russ. varjag, dial. fremder
Krämer, varjaga, Dieb, klruss. varjah, starker, großer Mann,
nach UHLENBECK aus anord. vaeringi. Die nordischen Eroberer
Rußlands hießen Vaeringjar. — Nachtrag. STREKELJ: Das
Wort ist doch erst altrussisch, wie Korljage, Karlingr, Kolb-
jage, Kylfingr und ähnliche spätere Entlehnungen des
9. Jahrhunderts, beweist also nichts für die älteren slawo-
germanischen Beziehungen.
» 2lödg, 2/2stı, zahlen, büssen, aus dem Stamme Ze/d, nach
MikLosicx in der ersten Periode entlehnt, nach UHLENBECK
nicht aus got. gz/dan, das im Slawischen “2/44, *Zlesti
ergeben hätte, sondern aus einem germ. *geldan (gelten).
Der gemeingermanische Stamm ge/p- ist nach KLuar
276
aksl.
J. Peisker
(8. v. gelten) auf vorgermanisch gsel-t zurückzu
verlange, daß aksl. 2/£dq ein germanisches Le!
Dagegen hält es Hırr (S. 341) und LoEwE (S. &
für entlehnt.
Gruppe XI.
Staat, öffentliche Gewalten, Volk.
c&sarb, Kaiser. ÜHLENBECK leitete es im Arch. f. sl.
got. kaisar her, jetzt, in seinem Etym. Wtbch.?, aus ahd. #
KLUGE. Nach LOEWE (S. 831 f.) ist es balkangermanischer
Nachtrag. STREKELJ: Ist: entweder gotisch oder griec
scheinlicher das erstere; aus ahd. keisar würde man für
3 erwarten.
*jebeda, Schikane, *jebedsniks, Beamter, Verl:
erschließen aus russ. jabedniks, eine Art Bea
leumder, ein altbekanntes Lehnwort, nach UHLE
einer altgermanischen Mundart, ahd. ambahti, got
ein gemeingermanisches Wort, welches nach K
Amt wieder aus dem gallischen ambactus er
Daß slaw. *jededa schon in altslawischer Zeit eı
muß, lehrt nach UHLENBECK das anlautende 7a im]
aus älterem ge oder je, denn sonst wäre der A
bewahrt geblieben. — Nachtrag. UHLENBECK: Ai
steht gewiß anord. embaetti! — Murko: Das W
im Russischen.
kenegr, konedze, Fürst, slow., serb. Ares, ein al
Lehnwort aus germ. *kuninga.
ljud®#, nach Hırr entlehnt; ahd. ut (Leute), nach Kı.ı
BECK und sonst allen urverwandt. — Nachtrag. Zus
einheimisch sein: lett. Zaudis (plur! ‚Leute‘), lit. audi.
meines Volk‘), und zwar in der lautgesetzlich erwarteten
sok®, Ankläger, nach UHLENBECK aus der Sipy
sakan. Nachtrag. BERNEKER: sokz, sociti kann
mit got. salhkwan, lit. sakyti urverwandt sein. —
Dürfte einheimisch sein, eher zur Wurzel seg- in
(ist im lit. durch se£x ‚folge‘ vertreten); die sp
deutung im Slawischen weist darauf hin.
*vira, zu erschließen aus dem altrussischen VW
Wehrgeld, altbekanntes Lehnwort, nach UHLEN
—
SL.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 277
Verballhornung einer altgermanischen Form von hd. Wekr-
geld. — Nachtrag. UHLENBECK: Jetzt halte ich es, durch
L. v. SCHROEDER (in dem Festgr. an KR. v. RoTH 49 ff.)
überzeugt, für ein echt slawisches Wort, urverwandt mit
aind. varra-.
vlada, ich walte, herrsche, nach Kruse, Etym. Wtbch.
s. v. walten, scheint dem Germanischen früh entlehnt zu
sein, was UHLENBECK, Etym. Wtbch. d. got. Spr., 2. Aufl.,
8. v. waldan, bezweifelt hat, aber jetzt (PBBeiträge 30,
S. 323f.) anerkennt; got. und asächs. wa/dan, afries.
walda. HırT (Beiträge 23, S. 337) entscheidet sich nach
seiner ganzen Disposition für die gotische Quelle, aber nach-
dem das Wort auch im Altsächsischen und Altfriesischen
ebenso lautet, so ist Hırrs Herleitung zu mindest nicht
zwingend. MiKLoSIcH weist eine Entlehnung überhaupt ab.
Nachtrag. BERNEKER: Vgl. PBB. 30, 324. anord. o/l: setzt
idg. £ voraus; daher dürfte das slawische Wort doch ent-
lehnt sein. — STREKELI: Bei Vorhandensein eines anders-
stufigen, bezüglich der Konsonanten mit dem slawischen
Wort aber vollständig übereinstimmenden lit. ve/d£ti, regieren,
besitzen, paveldeti, ererben, apreuß. weldisnan, Erbe, ist
Entlehnung von v/adg nicht annehmbar.
Gruppe XII.
Religion.
erpky, Kirche, ein altbekanntes Lehnwort, nach UHLENBEUK aus
germ. *kirkö. Dem Gotischen ist das Wort fremd. Und dennoch
müssen es die westgermanischen Stämme nach KLUGE durch gotische
Vermittlung aus dem Griechischen übernommen haben, da in der
römischen Kirche das Wort nie zur Geltung kam. Gotisch wäre
nach KLUGE ‘éyreikô vorauszusetzen. Slawisch crs%y, früher creky,
ist jedenfalls ein spätes Lehnwort. — Nachtrag. UHLENBECK: ob-
wohl älter als die zweite Palatalisierung. — LoEwE (S. 327) denkt
an die Ostgoten in Rußland.
pop», Priester, Pfaffe, nach UHLENBECK aus einer germanischen
Mundart. In das Germanische kam es aus dem Griechischen: ranûç,
clericus minor, zum Unterschiede von rarag, Papst. In Deutschland
mag es schon im 6. Jahrhundert verbreitet gewesen sein. Im Slawi-
schen also ein sehr spätes Lehnwort.
278
J. Peisker
sgbota, Samstag, nach MIKLOBICH und UHLENBECK aus germ. *sambat.
Offenbar ist, nach KLUGE 8. v. Samstag, ein etwa im 6. Jahrhundert
bestehendes orientalisches sawmdato durch das Griechische, mit dem
Arianismus, zu den Oberdeutschen und Slawen gekommen; doch falle
es auf, daß Ulfilas saödatö dags ohne Nasalierung sagt. Wenn überhaupt
aus dem Germanischen, ist slaw. sgéota ein sehr spätes, deutsches
Lehnwort. — Nachtrag. BERNEKER: Vgl. G. MEYER in den Idg.
Forsch. 4, 8. 326 ff.
Wahrscheinlich sind alle die drei Lehnwörter dieser XII. Gruppe,
croky, pops, sgbote, nachgotisch und würden dann für unsere Fragen
gänzlich entfallen.
Gruppe XII.
Exotika.
lev», Löwe, nach Hırr aus got. */zwa.
*opica, Ableitung von *opa, Affe, nach UHLENBECK aus
einer germanischen Mundart, got. *apa.
ospl%, Esel, beruht nach MiıkLosıch wohl auf dem Ger-
manischen. Nach UHLENBECK, Etym. Wtbch.?, aus germ.
*asilu oder *asila, got. asilus, ahd. und asächs. esz/. Nach
KLUGE stammt die germanische Sippe — etwa im 1.
oder 2. nachchristl. Jahrh. — aus Italien.
*pigy, Feige, nach UHLENBEcK alte Entlehnung aus einem
germ. *figö; Nach LoEwe (S. 325) wahrscheinlich aus dem
Westgermanischen.
smoky, Feige, nach UHLENBECK sicher ein germanisches
Lehnwort, weil sonst das y unerklärbar wäre, aber nicht aus
got. smakka, sondern aus einem germ. *smakkö. Nach
LoEwE (S. 325, 330 s. v. 5u%y) wahrscheinlich aus dem
Balkangotischen.
velsbadr, Kamel, alte Entlehnung aus got. #/bandus,
nach MIKLoSICH und UÜHLENBECK.
vino, Wein, nach UHLENBECK aus germ. *vina, got. wein.
Nachtrag. MURKO: Aus sachlichen Gründen können die Entleb-
nungen dieser Gruppe nicht alt sein.
Gruppe XIV.
Abstrakta und übriges.
brögg, bewahre, behüte, nach HırrT aus got. dairgen,
bergen. Nach UHLENBECK und anderen urverwandt, 3
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 279
auch Murxo in der D. Lit.-Zeitg. 1904, Spalte 3145 (dazu
noch: Örzern in MaruLics Judita, Akad. Rjeënik I. 647). —
Nachtrag. BERNEKER: urverwandt wegen des alten Ablauts
(part. praet. act. drsg3Je).
L dumati, denken, duma, Rat, consilium, nach MikLosicx
in der ersten Periode entlehnt. Nach UHLENBECK, Etym.
Wtbch., aus dem Germanischen. Got. doms, Urteil. Vgl.
LOEWE, S. 316. — Nachtrag. Murko: Für alle Slawen
wenig beweisend, weil nur russisch und bulgarisch.
glum'e, scena, g/uma, Unverschämtheit, nach UHLENBECK
aus dem Skandinavischen. Anord. g/aumr, Getöse.
goberdzr, reichlich, fruchtbar, schon von MiKLosıcH als
wahrscheinlich aus got. gabeigs, reich. ÜHLENBECK hält
es für sicher.
’gomonv, Lärm, nach UHLENBECK aus dem Skandi-
navischen. Anord. gaman. — Nachtrag. ÜHLENBECK:
Könnte auch westgermanisch sein. — Murko: Entlehnung
zweifelhaft; nur nordslawisch.
gonesti, gonszngti, errettet werden, nach MIiKLOSICH in
der ersten Periode entlehnt. Nach UHLENBEcK, Etym.
Wtbch. s. v. ganisan, genesen, ist das slawische Wort eine
alte Entlehnung aus dem Germanischen. — Nachtrag. ÜHLEN-
BECK: Gewiß nicht gotisch, denn das Gotische hat hier
stimmloses s.
gonoziti, erretten, nach UHLENBECK, Etym. Wtbch. s. v.
ganasjan, ist das slawische Wort aus germ. ganazjan schon
früh entlehnt worden. |
gorazd®e, erfahren, machte MIKLOsSICH Schwierigkeiten, und
er gab seine frühere Annahme einer Entstehung aus got.
ga + razda, Sprache, in seinem Etym. Wtbch. wieder auf.
UHLENBECK, Etym. Wtbch. s. v. zasda, hält an dieser Her-
kunft aus einem nicht belegten got. *garazds= ga +rasda fest.
gotov®%, fertig, nach UHLENBECK aus einem got. *gafaws,
von gataujan, machen. — Nachtrag. BERNEKER: Ich halte
es nach G. MEYER, Alban. Wtbch. 121 (gas) für zum
mindesten zweifelhaft.
chabiti se, abstinere, nach UHLENBECK aus got. gahaban
280
aksl.
J. Peisker
stk, davon auch aksl. ochaba, volles Eigentum. — Nachtrag.
STREKELJ: Die Wörter können neben slow. osaben, aksl.
oSajati, osavatı, chabiti u.s. w ‚abstinere‘ nicht entlehnt
sein (vgl. Archiv f. sl. Phil. 27, S. 43f.).
chapati | beißen, nach UHLENBECK aus einer altgerma-
chopiti,}) nischen Form von niederl. Aappen, etwa *happon.
— Nachtrag. UHLENBECK: Sehr unsicher. — Murko: Nicht
entlehnt, vgl. STREKELS im Archiv f. slaw. Philol. 27 S. 68.
chadog%, peritus, erfahren, altbekanntes Lehnwort, nach
MIKLOSICH und UHLENBECK aus got. kandugs, weise.
chlakr, ehelos, nach UHLENBECK, Etym. Wtbch., aus
*cholks, kann aus got. kalks, arm, dürftig, gering, entlehnt
sein. Anders Prusik, KUHNS Zeitschr. 33, 157. PEDERSEN,
IGF. 5,64. Nach MiKLosıcH 8. v. cho/sts ist die Zusammer-
stellung zu got. 4a/ks unsicher. — Nachtrag. Murko: Un-
sicher, vgl. STREKELJ, Arch. f. sl. Ph. 27, S. 45.
chlopot®r, Getöse, *cAlopati, klappen, nach UHLENBECK
aus der Sippe von anord. #/appa, ahd. chlaphön. — Nachtrag.
UHLENBECK: Unsicher. — STREKELJ: Neben südslaw. #/opot
klopotati, klepati u. s. w. ist es nur als onomatopoetische
Bildung aufzufassen (vgl. Archiv f. sl. Phil. 25. S. 413f.).
chlujati, fließen, nach UHLENBECK aus germ. *flöjan. —
Nachtrag. ÜHLENBECK: Unsicher. — BERNEKER: Sehr
zweifelhaft.
*chvat®?, dreist, zu an. Avatr, scharf gestellt. — Nachtrag
STREKELJ: russ. chvats, dreister Mensch, gehört zur slav.
Wurzel chst: chytati, chvatiti, chytre: ‚der dreist, schnell
Zugreifende‘ und ist von anord. Avatr zu trennen, welche
übrigens wohl *chvots gäbe.
*chvilja, tech. cAväle, Zeit, nach UHLENBECK, Etym. Wtbcb.
aus dem Germanischen, got. Awezla.
jetati, seufzen, aus einem älteren *jekdti, nach UHLEN-
BECK wahrscheinlich aus einer altgermanischen Form vo
mnd., nhd., ndl. jarnken. — Nachtrag. UHLENBEOK: Ur
sicher. — BERNEKER: unwahrscheinlich. — Murko: Ei
Wort mit regelrechtem slawischen Ablaut: jenk-, jonk-! Kei
Lehnwort. — STREKEIW: Das Verbum ist im Slawischer
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 281
primär, was sehr gegen Entlehnung spricht. Doch ist es
von slow. jokatz, weinen, zu trennen, weil dieses wie javkati
von Jo mit Suffix £a gebildet ist, wie kajk. jo2ati (nicht
*jukati) beweist.
. kusiti, kosten, nach UHLENBECK aus got. kausjan.
18k», Medizin, als Lehnwort altbekannt, nach UHLENBECK
aus dem Germanischen. Got. /ökeis, Arzt.
lest», Betrug, kann nach UHLENBECK, Etym. Wtbch., aus dem
Germanischen entlehnt sein, got. /zsZs, anord., angls., asächs.,
ahd. /st.
moga, ich mag, nach Hırr entlehnt, got. mag. Nach
UHLENBECK und anderen urverwandt. — Nachtrag. BER-
NEKER: Vgl. UHLENBECK PBB. 30, S. 299.
mozols, vibex, nach ÜHLENBECK aus einer altgermanischen
Form von mhd. ##asele, Blatter, Geschwür. Nach MiIKkLo-
SICH urverwandt. — Nachtrag. UHLENBECK: Jetzt halte ich
es für urverwandt; vgl. ZUPITZA in Kunss Zs. 37, S. 396 ff.
ockt®, Essig, altbekanntes Lehnwort, nach ÜHLENBECK
aus got. akest (aket).
syt®%, satt. UHLENBECK, Etym. Wtbch. s. v. saps: man
vermutet Entlehnung aus dem Germanischen (oder Lit.?). —
Nachtrag. BERNEKER: Ganz ausgeschlossen! y ist allenfalls bei
Urverwandtschaft, nie und nimmer aber bei Entlehnung zu er-
klären. — Es gibt kein litauisches Lehnwort im Urslawischen.
$tir®, lauter, rein, nach UHLENBECK, Etym. Wtbch., scheint
es aus got. sZeirs, klar, deutlich, entlehnt zu sein. — Nachtrag.
UHLENBECK: Könnte auch einer andern altgermanischen
Mundart entstammen. — Murko: Nur nordslawisch!
\un wären wir mit der Herzählung der mit mehr oder weniger
ht für altgermanisch geltenden Lehnwörter im Slawischen zu
ıde. Ist dies bei der noch immer herrschenden Unsicherheit schon
reinen Slawisten heiklich, so ist es für einen Nichtphilologen ein
fährliches Wagnis; für ein „frisch gewagt, halb gewonnen“ ist
nig Aussicht, hier entscheiden einzig und allein, wenn richtig
handhabt, die Lautgesetze, und mit diesen läßt sich nicht feil-
hen,
Dennoch mußte ich das Wagnis auf mich nehmen, denn
in Problem kann nicht warten, bis sich die Sprachforscher
282 J. Peisker
geeinigt haben, und überdies ist auch die Provokation einer der
Wege, die zur Erschließung der Wahrheit führen. Es war nötig,
die Lehnwörter, wenn auch nicht vollständig — denn wer ver-
möchte es! —, so doch in einer größeren Anzahl vorzuführen,
nicht etwa, weil sie alle sachlich, den Gegenständen nach, für
uns von Belang wären, sondern damit man den Einfluß der ein-
zelnen germanischen Mundarten einigermaßen abwägen kanı.
Und da bringt uns schon eine oberflächliche Abwägung eine
nicht geringe Enttäuschung: Die Größe des gotischen Ein-
flusses wurde bisher gewaltig überschätzt. Am zahlreichsten sind
die gotischen Lehnwörter noch in Gruppe XIV, Abstrakta und
übriges, vertreten, und das ist leicht erklärlich, wenn man er-
wägt, daß frühzeitige Christianisierungsversuche in den Slawen-
läandern von den Goten ausgingen und das Verkünden des
Evangeliums den besten Anlaß gab, für gewisse Abstrakta, für
welche das Slawische nicht reichte, gotische Wörter zu entlehnen.
Sonst kämen etwa nur noch folgende gotischen Lehnwörter in Be
tracht: Aus Gruppe IV: d/judo (Schüssel), ? kotels (Kessel), ? sat
(Sack); Gruppe V: cAl&vs (Stall), ?stöna (Mauer); Gruppe Vl:
?choragy (Fahne), ? msce (Schwert); Gruppe X: ? godovabls (Seide),
lichva (Wucher), ? myto (Gewinn), ?sko/eze (Münze), ? useregs
(Ohrring) ; Gruppe XI: ? so&s (Ankläger) ; Gruppe XIII: /svs (Löwe),
velsbads (Kamel). Alles Lehnwörter, aus denen man keine weit
gehenden sozialgeschichtlichen Schlüsse ziehen kann.
Die soziologisch allergewichtigsten Lehnwörter im Slawischen
sind jedoch weder gotisch, noch altnordisch, sondern west-
germanisch, und zwar nicht althochdeutsch: Z/ugs (Pflug), #/4#0
(Milch), »a2a (Rind), wahrscheinlich auch s£02s (Vieh, Schatz). Davon
ist »s/dko für uns ein wertvoller Wegweiser. Es setzt, wie schon
oben S. 264 dargestellt worden, ein germ. melka voraus. Dies
Form ist bereits für das zweite Jahrhundert n. Chr. direkt be
zeugt, tatsächlich aber viel älter. Gotisch lautete es zmaluks,
uékxx kann somit nach Rom nur aus Westgermanien gelangt seid;
und zwar von da nur aus einer von jenen Mundarten, in dene
es mit e und nicht mit 7 lautete. Dies trifft bloß im ndl. (meik)
und angls. (»zeoloc) zu, während das Wort im Hochdeutsche
seit jeher, so wie im Gotischen, ; hatte. Die Mundart, aus welcher
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 283
8 Galenische ueAsx herrührt, war demnach entschieden eine der
ederdeutschen.
Weiter hörten wir, daß auch germ. *sZatta-, woraus slaw.
ot» (pecu, pecunia) wurde, nur in einer niederdeutschen Mund-
t, nämlich der altfriesischen, in derselben Doppelbedeutung be-
ugt ist. An sich allein würde dies freilich nichts beweisen,
dem das Wort auch in anderen germanischen, nord- und ost-
ermanischen, ja auch hochdeutschen Mundarten dereinst dieselbe
oppelbedeutung haben konnte; allein im Zusammenhange mit
er niederdeutschen Herkunft des Wortes z/2ko darf man die
löglichkeit nicht a priori abweisen, daß skote ebenfalls aus
iner niederdeutschen Mundart abstammt, denn sachlich läßt sich
Milch“ von dem in Germanien hauptsächlich milchspendenden
'iere, dem Rind, nicht ohne weiteres trennen'). Allerdings dürfte.
skatta im Urgermanischen in erster Reihe ‚Vieh‘ bedeutet haben,
ber in einer gar zu weit vergangenen Zeit, aus welcher kein
Æhnwort in das Slawische gelangen konnte. S%ots ist demnach
rahrscheinlich, #7/240 dagegen sicher ein westgermanisches, und
war nicht althochdeutsches Lehnwort.
Westgermanen waren es somit, welche in vorhistorischer Zeit an
lie Slawen grenzten und sie ab und zu beherrschten, schon lange
kvor vom Norden her aus Skandinavien die Goten nach dem Süden
ingebrochen sind und sich zwischen die Westgermanen und die
lurch westgermanische Gefolgschaften beherrschten Slawen ein-
keilt haben.
Für diese Annahme spricht vielleicht auch die slawische Be-
iennung der Deutschen: aksl. zdmace, nslow. nemec, bulg. nemec,
erb. nijemac, tech. nômec u. 8. w. polabisch zemac, vornehmer
unger Bursche —; rum. nernc, magy. nemet, zig. Namco, ninco.
\ach MiKkLosicH (Etym. Wtbch.) „von 26% ‚mutus‘, bei NESTOR
tuch ‚fremd‘: nemocs ist ein ‚Fremder‘?), dann ein ‚Deutscher‘ “.
1) Das Rind der Wanderhirten Asiens gibt allerdings keine oder wenig
Ülch und wird nur als Lasttier verwendet. Auch das chinesische Rind wird
ücht gemolken, aber aus einem ganz anderen Grunde: Der Chinese verabscheut
eden Milchgenuß. Bei den Germanen war dies jedoch nicht der Fall.
2) Nachtrag. BERNEKER: Diese Bedeutung ist mir bei NESTOR nie
tgegnet, möchte sie auch ohne Beleg unbedingt bezweifeln.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschafirgeschichte. III. 19
284 J. Peisker
Die Etymologie von zes, stumm, vertrat bekanntlich auch
Zeuss'). Anders äußert sich Sarakik: „Bei den Slawen
hießen die Deutschen seit undenklichen Zeiten Mémci. Einige
leiten diesen Namen von dem deutschen Volke der Vemetes’),
andere von #é»ÿ, d.h. Fremdsprachiger, ab, ohne daß man bis
jetzt bestimmen könnte, welche von diesen Erklärungen richtiger
sei. Die Nemetes, ein germanischer Volksstamm, wohnten auf
dem linken Rheinufer in der Gegend von Worms und Speier,
in der Nachbarschaft der Wangionen und Triboker. CAESAR und
Tacırus erwähnten sie’)... Auch in Gallien gibt es indessen
Städtenamen Nemetum, Nemetacum, Nemetocenna, und in der
keltischen Sprache soll das Wort zemet Heiligtum, Tempel be
deuten‘). Dennoch würde ich nicht zögern, diese Erklärung
als richtig anzuerkennen, wenn erwiesen werden könnte, daß die
Nemeter einmal in der Nachbarschaft der Slawen gewohnt haben.
Die, welche x&2y für die Wurzel dieses Namens halten, berufen
sich auf den Namen der Slawen, als ob von s/ovo herrührend;
jedoch mit viel besserem Grunde könnten sie sich auf Nestor
berufen, der schreibt: Das jugrische Volk ist ein fremder Stamm
(jazyk jest njem) [Nachtrag. BERNEKER: Kann hier auch nver-
ständlich bedeuten] and wohnt mit den Samojeden nordseits').
1) Zevss, Die Deutschen und die Nachbarstämme, München 1837, 5. 68,
Anm. 1.
2) CHR. GUTTL. ARNDT, Über den Ursprung und die verschiedenartigt
Verwandtschaft der europäischen Sprachen. Nach Anleitung des russischen
allgem. vergl. Wôrterbuchs. Hg. v. KLÜBER. Frankfurt a. M. 1818, S. 251 u.&
8) CAESAR I, 51; Tacrrus, Annal. XII. 27. Germ. c. 28.
4) ,ADELUNGS Mithridates II. Berlin 1809, S. 65. — Die Nemeter erklärt
auch UKurT, A. Geogr. IV. S. 356 f. für Germanen, nicht für Gallier. —
W. v. Hussorvr, Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner voß
Hispanien vermittelst der baskischen Sprache. Berlin 1821, S. 103 sagt, da
Wort Nemet sei ein keltisches, das Volk der Nemeter sei aber ein deutsches;
in Gallien angesessenes. — Möglich, daß die Teutonen den Namen Nemete
von den Kelten erhalten haben. Wie, wenn mit der Ankunft der Kelten je
seits der Karpathen auch der Name Nemeti, Nemci, zu den Slawen gekommen
wäre, bei denen vordem nur der Ausdruck Zjudi, Tuëdi, Cuzi (= Teutonti
Thiudisci) im Gebrauch war?
5) „Kananzın, Istor. gosud. ross. II. 38. Anm. 64. Karanızın erklärt
‘em = inoplemennyj [= von fremden Stamme].*
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 285
‘ Ableitung ist auch das £ in dem Namen Nemec gün-
“1
in sieht, Sarakik neigt eigentlich denn doch Arnprs Er-
ıg des Wortes zdmsce von dem Volksnamen der Nemeter
ır macht er die Annahme dieser Erklärung von dem Nach-
abhängig, daß die Nemeter einmal in der Nachbarschaft
lawen gewohnt haben.
ute kann man Sarakiks Forderung schon einigermaßen
ommen und den, wenn auch nicht urkundlichen, so doch
geschichtlichen und jedenfalls gleich gewichtigen Nachweis
gen, daß den Slawen dereinst die Westgermanen, und
die später westlichsten, benachbart gewesen sind, weil ge-
lie soziologisch bedeutendsten altgermanischen Lehnwörter
rmanisch sind. Ist — von anderen Wörtern abgesehen —
sicher und s2o#s (Rind, Schatz) wahrscheinlich aus einer
deutschen Mundart entlehnt, warum soll die Herkunft
'ortes zdnc# (‚der Deutsche‘) von dem Namen der Nemeter
kbar sein? Sind ja die Sitze der Nemeter (bei Worms)
lie der Niederdeutschen überhaupt gleich weit von den
ten der alten Slawen entfernt; durchzogen ja die Goten
Europa, von Skandinavien nach der Krim und von dort
ach Spanien, so daß diese Ostgermanen schließlich von
Germanen am westlichsten zu wohnen kamen. Krim—
en, das sind also ungleich größere Entfernungen. Somit
ıdet zwar Sarakiks Hauptbedenken gegen die Herkunft
fortes #émece von dem Namen der Nemeter, sicher ist
ı diese Ableitung dadurch nicht geworden, weil das sprach-
Bedenken SaraRiks— das 2 spricht direkt für #2»3! — auf-
bleibt?); überdies gibt es für die z&s-Ableitung auch
SCHAFARIK, à. &. O. I. S. 443 ff. nach der Originalausgabe berichtigt.
Nachtrag. Ein zweites Bedenken äußert mir BERNEKER: „Gegen
rleitung [aus dem Namen der Nemeter] spricht vor allem das slaw.
-&s,; doch halte ich sie im ganzen nicht für unmöglich.“ — ÜHLENBECK:
+ könnte aber ursprünglich alle Nichtslaven bezeichnet und später
3edeutung eingeschränkt haben. (Nicht daß ich die ###5-Ableitung
meter-Etymologie gegenüber verteidigen will). — MIKKoLA (in KLUGEs
chrift für deutsche Wortforschung. VI. Straßburg 1905, S. 372):
h ist es sehr verlockend, sémsce von dns herzuleiten, dessen ursprüng-
286 | J. Peisker
noch ein sachliches Analogon, das ich Murko verdanke: Die
makedonischen Türken nennen nämlich, wie KaxCov berichtet,
die slawischen Muhamedaner di/sezi, ‚die Zungenlosen‘’). Bleibt
somit die 7ss-Ableitung bei ihrem Gewicht, so ist anderer-
seits auch die Memeter-Etymologie sprachlich nicht unmöglich
und sachlich nicht unbegründet. Allein, von der Herkunft des
Wortes Vémecs ganz abgesehen, genügen schon die übrigen west-
germanischen Lehnwörter zum Beweise, daß in vorgeschichtlichen
Zeiten, vielleicht irgendwo an der unteren Weichsel oder nordöst-
licher, niederdeutsche Völkerschaften gewohnt und von dort aus
Finnen und Slawen unterworfen haben.
Die auf diesem Wege in das Slawische geflossenen west-
germanischen Lehnwörter sind vorgotisch, aus vorchristlichen
liche Bedeutung nicht ‚mutus‘, sondern ‚nicht verstehend' ist: #2» = n° (vgl.
avest. »a2)- ims, vgl. fo-jirng, ‚ich verstehe‘, aber trotzdem ist diese Etymologie
sehr wenig überzeugend, insbesondere weil man bei der Erklärung des Wortes
nemeco von nem» seine Zuflucht zu der durch nichts begründeten Voraur
setzung nehmen muß, daß jeder Fremde und Ausländer ndmecs (Deutscher)
benannt worden wäre. [— MurKo: Das ist in Rußland allgemein noch heute
der Fall, wo dem Volke speziell auch die österreichischen Slawen als Nimy
gelten; man kann aber schon in der Umgebung von Krakau über Fremde
die Bemerkung hören, sie „sprechen irgendeine ‚deutsche‘ Sprache" (njejakin
niemeckim jezykem); in Bosnien und Hercegovina ist jeder Ankömmling auf
Österreich ein Svads. —] Nemsc» (Deutscher) — setzt MIKKOLA fort — wa
bloß die Benennung der germanischen Nachbarn. Der Ursprung diew®
Namens dürfte... eher in der Benennung Nemetes zu suchen sein. — Gegen
die Zusammenstellung von slaw. #émece mit Nemetes könne freilich eingewendtt
werden, daß 2 in némsce auf langes 2 hinwiese, während + in NVemetes kurz ist.
Es sei aber zu bemerken, daß kurzes kelt. e auch im got. A2likn gegenüber
gall. celicnon durch langes 2 ersetzt worden ist. Slaw. ###s#ce sei auch über dis
Germanische entlehnt —. Zur Zeit Caesars lebte dieser germanische Stamm a
Rhein. Das war wehrscheinlich ein germanisierter keltischer Stamm, der sich
einst in der Nachbarschaft der Slawen befand. In der Weise bezeichnete nmx®
(Deutscher) ursprünglich die keltischen Nachbarn der Slawen, deren Wohn-
sitze später von den Germanen eingenommen wurden. Von der alten Nach-
barschaft der Kelten zeugen die bisher wenig untersuchten keltischen Worte
in den slawischen Sprachen. Die Übertragung eines Namens von eine
Stamme auf den andern sei eine nicht seltene Erscheinung ... [Der Einheit-
lichkeit halber ersetzte ich die von MIKKOLA angewendeten russischen Formel
mit altkirchenslawischen]. —
1) KnuyogıL, Makenouns. Cora, 1900, S. 49.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 287
siten; die gewichtigste germanische Beeinflussung der Slawen
t somit viel, viel älter, als angenommen wird.
Außer diesen uralten germanischen, waren die Slawen auch
rkotatarischen, teils noch weitaus älteren Einflüssen abwechselnd
aterworfen, wie oben ausführlich dargestellt worden ist. Die
ırkotatarischen Einflüsse, hörten wir, liefen dahin aus, daß die
lawen keine Viehzucht treiben konnten, ohne Milchnahrung
ben mußten. Ihr Fleischgenuß beschränkte sich darauf, was
er Fischfang ergab und die Jagd. Diese dürfte nicht besonders
rgiebig gewesen sein, wenn der herrschende Nomade dabei Vor-
echte beanspruchte, und was nach ihm übrig blieb, verfiel zu-
neist dem Wolfe'). Dagegen kann dem Fischfang einige Bedeutung
‚ugemessen werden.
Zu Vegetariern ohne Milchnahrung wurden indes die Slawen
erst durch die turkotatarische Knechtschaft, zuvor waren sie
Viehzüchter, namentlich Rinderzüchter ebenso wie die Germanen
des CAEsar und TaciTus. Beweis dessen ist ihre ansehnliche ein-
heimische Nomenklatur für Groß- und Schmalvieh, die sie aus alters-
grauen Zeiten über die lange Periode ihres Vegetarismus bis zur
Gegenwart herübergerettet haben, denn es konnte ihnen die Vor-
stellung von diesen Tieren, welche sie ja bei ihren uralaltaischen
Peinigern immerfort sahen, nicht entschwinden ?). Es sind dies
unter anderen: aksl. govedo, Rind, £rava, Kulı (daneben poln.
karw, fauler Ochse), 6y%s, Stier, tele, Kalb, vol, Ochse; ovsca,
Schaf, ovens, Widder, agnecs, jagnecs, Lamm; koza, Ziege,
Rozble, Ziegenbock ; Zrede, Füllen; nebstdem pasq, pasti, weiden,
eigentlich hüten, Jas£uchs, Hirt, Pastva, Herde, fasa, pascuunm,
Slado, Herde. Das wichtigste Zeugnis für eine altslawische Vieh-
zucht ist jedoch das Wort Zufa. BRUGMAnN erklärt es wie folgt:
l) Dort, wo Pseudo-CAESARIUS von Nazianz von den Sklawenen und
Physonitern spricht, berichtet er von den einen, daß sie Füchse, wilde Katzen
und Schweine essen [siehe unten S. 311], wohl aus Mangel an anderem Wild,
welches gegen das viele Raubzeug nicht aufkommen konnte.
2) Auch die turkotatarischen Schafwanderhirten Zentralasiens, welche
sit alteraher kein Rindvieh mehr züchten, noch züchten können, behielten
trotzdem ihre, aus der alten Heimat hergebrachte, noch viel reichere Rinder-
Romenklatur (s. oben S. 208, Anm. 1), weil sie bei ihren Raubzügen in weit
entfernte Gebiete, sogar nach Indien, das Rind überall vorfanden.
LUN
288 J. Peisker
„Dieses allgemeinslawische Wort ist nach seinem ältesten
Gebrauch ‚ein Bezirk, der verwaltet wird‘, und hat in einigen
Gegenden des slawischen Gebiets seinen Sinn spezialisiert, z. B.
poln. Zufa ‚Salzwerkgenossenschaft, Salzbergwerk‘. Dazu das
ebenfalls gemeinslawische 2uPare, ‚Vorsteher einer Zu2a«‘.
Ich verbinde das Wort mit aind. gopé-, ‚Hüter, Wächter‘,
gopäyé-ti ‚er behütet, bewahrt‘ ... £xpa war ursprünglich
‚die Hut‘, dann ‚das, was in Hut und Pflege genommen ist‘,
auch vom Ort, ähnlich wie die ku? für den Platz, wo ge-
hütet wird, die Weide, und die p#ege für den Bezirk, der der
Pflege von jemand anvertraut ist, üblich sind ... Die urslawisché
Form war *geupä, und Zupa ist ein neues Beispiel für das von
J. SCHMIDT gefundene, von E. ZuriTzA, Die german. Gutturale
S. 145, und von BERNERER, Indog. Forschungen X, 117 ff. näher
begründete Gesetz, daß uridg. ez im urslawischen zu # mit Er-
weichung des vorangehenden Konsonanten geworden ist?).“
Neben Z£xpanz steht, auf die Nordslawen beschränkt, far;
tech. pén, Herr, panose, poln. fan, panosza, osorb. pan, panı,
weißruss. fariluha, panSiisna, russ. Panscina, dial. neben
barscina, lit. ponas, lett. pônis, rum. far. Man dachte bisher an
altindisch /@ tueri?), und erst J. GEBAUER kam auf Eigen-
tümlichkeiten, die die Frage einer befriedigenden Lösung zu
führen; er hatte die Freundlichkeit, mir folgendes mitzuteilen:
„Das Wort /dn (und ebenso panne und fani) besitzt im
böhmischen zwei Eigentümlichkeiten: 1. wird es zuweilen Afar
geschrieben und 2. pflegt es eine vokalisierte Präposition 21
haben, z. B. se panem (cum domino, statt s Panem), ode päna
(de domino, statt od fdna) u. dgl. Dies weist auf eine gewiß
andere Lautung hin, als das heutige Zar ist. Vielleicht war der-
einst *gzdan; daraus würden wir sowohl 1. Apar, als auch 2. 5
panem u. dgl. erhalten.“ Hiezu bemerkt HusEr: Aus gsfans ent-
stand nach Verlust des 5: *g2ans, welches sich im altböhm. Apan
1) BRUGMANN, Aksl. 2090 „Bezirk“, in den Indogerm. Forschungeb
XI. 1900, S. 111f. — Auf die Wurzel gexp- hat schon UHLEXBECK (Kurs
gefaßtes etymologisches Wörterbuch der altindischen Sprache, Amsterdam
1899, S. 182) das slawische Wort 2u/a zurückgeführt.
2) MikLosıcn, Etym. Wörterbuch, s. v. fans.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 289
erhalten hat. Dadurch gelangt das Wort fans in nahe Verwandt-
schaft mit Zxpa, Zupans ... Somit haben wir in Zzpans und
pans zwei Wörter von derselben Wurzel mit demselben Suffix
gebildet, nur daß pans ein primäres (ursprünglich *gupänas),
Zwpans dagegen ein sekundäres, von 2a (ursprünglich *geupa)
gebildetes Wort ist". — Die von BRUGMANN auf linguistischem
Wege ermittelte Bedeutung des Wortes 2292 als regio pastoria?),
und dann, im übertragenen Sinne, als die Gesamtheit der regio-
nales, der compastores, ist noch im Altserbischen nachweisbar.
So bestimmt das Gesetzbuch Kaiser Dusans:
„Dorf mit Dorf soll weiden; wo das eine Dorf, dort auch
das andere, ausgenommen die gesetzmässigen Einhegungen und
dte gesetzmässigen Wiesen, (dort) soll niemand weiden.“
„Eine Zupa soll der (andern) Zupa nichts mit Vieh abweiden;
findet sich ein Dorf in derselben Zupa, welches Grundherrn
immer ...: diesem Dorfe soll niemand das Weiden verwehren,
es soll weiden, wo auch die Zupa‘“?).
Ist also £xp9a = regio pastoria, compascua, was ist dann ein
Zupan? In Böhmen ist er ein hoher Würdenträger, in Serbien,
vor Entstehung des Königtums, das Oberhaupt eines großen Ge-
bietes, GrossZupan sogar Staatsoberhaupt. Das alles kann jedoch
nicht die ursprüngliche Bedeutung sein, denn in der turkotata-
rischen, zuletzt der awarischen Hölle schmolz jede einheimische
1) Huser, K etymologii slova fans in den List y filologické, 31. Jg. 1904,
S. 106.
2) Der Reiternomade kennt, solange er die ungeheueren, oft viele Breite-
Grade weiten Entfernungen zwischen Sommer- und Winterweide durchmessen
muß, den Begriff Gau, Zupa, regio pastoria überhaupt nicht, dieser
ütsteht bei ihm erst, wenn er sich über ein anderes, ansässiges Volk lagert,
auf dessen Territorium er hinreichende Sommer- und Winterweiden näher
beigammenfindet und seine angeborene Wanderlust durch Wohlleben und die
Möglichkeit, nicht so weit herumziehen zu wüssen, allmählich ged'mptt ist.
Zum Aufgeben weiter \anderungen kann er auch, wie es bei den Balkan-
omaden, den Wlachen, der Fall ist, durch Umstände gezwungen werden.
% gelangt er zu Weiderevieren mit festen Grenzen, die er nie mehr
überschreitet, und zu diesem, für ihn neuen Begriff entlehnt er jenen Aus-
druck, den er an Ort und Stelle vorfindet.
3) 3aKoHHK Creœana IymanHa, HA HOBO H3140 H oÖjacnno
(r'HosakoBuh. Y Beorpaiy 1898, S. 191. ‘Tran 74, 75.
290 J. Peisker
Organisation restlos; nur die Wanderhirten geboten im Lande
und als solche waren sie die Zupane, als eine besondere
herrschende Volksschicht. Eine derartige, sehr zahlreiche Zu.
panenschicht werden wir noch in Daleminzien (im heutigen König
reich Sachsen) und in Untersteiermark kennen lernen.
Wir sehen, daß die etymologische Bedeutung des Worte:
Zupa, Zupans sich mit der Lebensweise der turkotatarischeı
Wanderhirten vollständig deckt: Die Zxpane = Herren der Zupa
regio pastoria, Weiderevier; der einzelne Zupan = Mitherr in de
Zupa und compastor, Weidegenosse. Und nachdem die Wander
hirten einerseits die ganze Weide ausschließlich für ihre Herdeı
in Anspruch nahmen, andererseits alles Vieh, auf das sie trafen
raubten (darantaD, konnte die geknechtete Slawenschicht gar
keine Viehzucht treiben ').
1) Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf einen störenden Irrtum aufmerk-
sam machen: zæpanos bedeute im Neugriechischen auch den Zirt, und Zufe sei
bei den Südslawen überhaupt im Sinne von Weideplats (RACHFAHL in den
Jahrbüchern f. Nationalök. u. Statist. 3. F. 19. (74.) Bd. 1900, S. 211).
Zupa kommt in diesem Sinne weder bei den Südslawen, noch sonst vor
und :wpanos ist im Neugriechischen gänzlich unbekannt. Gustav MEYER
führt allerdings unter den slawischen, albanischen und rumänischen Lehnworten
im Neugriechischen (Sitzungsberichte der phil.-hist. Kl. der Wiener Aks-
demie 1894, Bd. 130, S. 29) ein slawisches Lehnwort Louravog, praefectus pr«
vinciac, vel civitatis an, aber mit Unrecht, denn in seinen Quellen handelt es sich
dabei ausschließlich um Slawen und nicht um Griechen, es ist eben bloß ein
in byzantinischen, Slawen betreffenden Quellen häufig vorkommendes slawisches
Wort und kein Lehnwort im Neugriechischen. Das längst bekannte net
griechische Wort toopnävng, toondvnç (lies /sodanis), toon&vog, Hirt, Schäfer,
führt G. MEYER seltsamerweise gar nicht an. PAssow, Popularia Carmins
Graeciae Recentioris, Leipzig 1860, S. 637 bemerkt: toondvng = pastor und
leitet es von einem albanesischen Worte ab: tooßdkw. — Die Literatur
verdanke ich Prof. K. KRUMBACHER.
Toourévne, toondvns, taoßavı hat mit slaw. Zupan gar nichts zu schaftn,
es ist das rum. clodan, Schafhirt, türk. (osman.) éoéan (G. MEYER, Elu
Wtbch. der albanesischen Sprache, Straßburg 1891, s. v. /foddn), nach VAX-
BERYS gütiger Mitteilung aus alttürk. &kojsan, Schafhirt; das Wort sei 30°
dem Persischen in das Alttürkische übergegangen.
Prof. Maxım. BrTrxER hatte die Freundlichkeit, sich zu äußern: ,#"
Hirt, wird im Osmanischen nicht gebraucht, dafür hat der Osmane #4"
das aber persischen Ursprunges, nämlich aus persisch *448» (pehl. 444») hervol”
regangen sein soll, mit «statt ; vgl. Zadus, Pantoffel (= neupers. 22-787). Die
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 291
Ein Dasein ohne Viehzucht kannte bei russischen Slawen, wie
h on erwähnt worden, noch KONSTANTIN VII. PORPHYROGENNETOS
zehnten Jahrhundert nach Christo, also nachdem die Slawen
zwischen bereits vielemal auch durch das germanische Joch
gangen sind und während dieser germanischen Beherrschungen
ınz gewiss wenigstens einige Viehzucht treiben konnten; denn
e Germanen waren überhaupt nie Reiternomaden, unbegrenzte
ebiete in einemfort durchwandernd, sondern Viehzüchter, die
ch in Weiderevieren, Gauen, mit einigermaßen bestimmten Kon-
nien abschlossen, innerhalb welcher sie — nach CAESAR, B. G.
V,1; VI,22 — immer neuen Rodungen folgend, Jahr für Jahr
hre Wohnsitze weiterrückten. Die Lebensweise der alten Ger-
nanen ist uns hinreichend bekannt; wir wissen, daß sie den
anterworfenen Völkern nirgends Viehzucht oder Ackerbau ver-
wehrten; sie pflegten ihnen die Lebensbedingungen nur einzu-
schränken, indem sie für sich so viel vorbehielten, als sie und
ihre Herden beanspruchten. So verlangte Ariovist für seine
Sueven von den Äduern das Dritteil des Landes und wollte es
nachträglich um ein weiteres Dritteil erhöhen. Der Westgote
behielt zwei Drittel und beließ dem Römer den Rest. Die mit
den Langobarden nach Italien gezogenen, 575 zurückkehrenden
Sachsen beanspruchten von den Nordschwaben zwei Drittel. Die
Burgunder erhielten in Savoyen zwei Drittel vom Acker!).
„Aber dies geschah nicht unter Räumung jener abgetretenen
Form mit &, d. i. also 2644» oder cp», kommt aber auch im Neupersischen vor.
Sollte dieses etwa mit £ojéan zusammenhängen, indem es ein altes turanisches
Lehnwort wäre — mit Übergaug von # in 4 resp. in 5? Doch vgl. pehlevi
an, Hirt! Horx hält die Formen mit 4 wenn ich ihn recht verstehe, für
dialektisch. Wenn #64» turanisches Lehnwort wäre, müßte es zu den Os-
Manen über Persien gekommen sein, wo die Endung -5a», die an das neu-
Pers. 4än erinnert, dem Worte um so leichter Eingang verschafft haben
konnte; denn es ist wohl nicht anzunehmen, daß die Endung en im alt-
Ürk. koj-san die persische Endung sei, ich meine, daß in #oj-ban eine türkisch-
persische Mißbildung vorliege, wie solche im Osmanischen dort vereinzelt
Yorkommen, wo ein entlehntes persisches Suffix an türkische Elemente an-
gefügt wird!“
1) Mertzex, Siedelung und Agrarwesen der \Vestgermanen und Ost-
Sermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen. I. Berlin 1895, S. 526 r.
292 J. Peisker
Länder, sondern durch Aufnahme der einzelnen deutschen Familie
in die ihr amtlich zugewiesene Wirtschaft eines der Provinzialen
der dadurch gezwungen war, eine Teilung seiner Besitzung übe
sich ergehen zu lassen“ ?).
Wohl war der wirtschaftliche Unterschied zwischen demrômischer
Provinzialen des Westens und dem Slawen des Ostens so un-
geheuer, daß wir die germanischen Einquartierungen in den
römischen Provinzen nicht so ohneweiters auf die Slawenländer
übertragen können, und nur das ist als gemeinsam anzunehmen,
daß sich die Germanen auch in den Slawenländern nicht von
der unterworfenen Bevölkerung auf abgesonderten Gebieten ab-
schlossen, sondern mitten unter den Slawen zerstreut niederließen
und diesen in dem ihnen belassenen Bereiche eine solche Eigen-
wirtschaft gestatteten, wie sie etwa ihre servi zu Tacırus’ Zeiten
führten.
Darüber berichtet Tacırtus?) im Anschlusse auf die Würfel
spielwut der Germanen: ist alles verspielt, dann setzt der Ver
lierende die eigene Freiheit und Person auf den letzten Wurf
und mißlingt auch dieser, dann begibt er sich ohne Widerstreben
in die servitus.
Servos condicionis huius per commercia tradunt, die ser
dieser Art verhandeln die Germanen nach auswärts, um sich
selbst der Schande des Gewinns zu entledigen. Ceteris serus
non in nostrum morem discriptis per Jamiliam ministertis
utuntur, die übrigen servi gebrauchen sie nicht nach römischer
Weise, so daß die verschiedenen Dienstleistungen unter die ein-
zelnen servi partienweise verteilt wären?). Anders bei den
Germanen, deren servi alle Arbeiten gewissermaßen selbständig
auf den ihnen eingeräumten Anwesen verrichteten; zu einer Dife-
renzierung landwirtschaftlichen Betriebes ist es noch nicht ge
kommen, die ja erst bei Großwirtschaften, welche dort nod
nicht bestanden, nötig wird.
suam quisque sedem, Suos penates regit, der germanische
servus hat sein besonderes Heim, seinen besonderen Herd, im
1) A. a. 0.1. S. 521.
2) TACITUS, Germania c. 24, 26.
3) RICHARD Hii.DEBRAND, Recht und Sitte. Jena 1896, S. 102.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 293
satze zu dem römischen, kasernierten Sklaven. Der ger-
‘he servus wirtschaftete also einzeln für sich; er war auf
ı Anwesen eine besondere und abgesonderte Wirtschafts-
{.
umenti modum dominus aut Pecoris aut vestis ut colono
it et servus hactenus paret, der germanische Herr legt
ı servus so, wie der Römer seinem colonus, dem kleinen
ter, der kein Sklave ist, Abgaben an Getreide oder Vieh.
Jleiderstoffen auf, und nur so weit steht der germanische
in Pflicht, weiter gehen seine Verpflichtungen nicht.
r servus der Germanen zinst ein Gewisses an Getreide
ieh oder Gewebe, und was er darüber erzeugt, behält er
h, während der kasernierte römische Sklave alles und wo
n aufgetragen wird, verrichten ımuß, ohne etwas zurück-
en zu dürfen.
tera domus officia uxor ac liberi exsequuntur, der Ger-
hat keine Haussklaven, die in seinem Hause Arbeiten zu
ıten hätten, denn seine servi besitzen ihre besonderen und
nderten Anwesen, und die häuslichen Arbeiten im Hause
rermanen besorgt seine eigene Frau und seine eigenen
r. Der Germane kannte eben keinen Luxus, sein Haus war
1, so auch seine Bedürfnisse, und dazu reichte die Arbeit
rau mit Kindern aus.
rberare servum ac vinculis et opere coercere rarum, den
zu geißeln oder mit Fesseln und Zwangsarbeit zu strafen
ten, zum Unterschiede zu dem römischen Sklaven, dessen
Arbeit dem Herrn gehörte, folglich widerwillig geleistet
Der römische Herr brachte die überschüssigen Erzeug-
seiner Sklaven zum Verkaufe auf den Markt; solche Märkte
jedoch in Germanien unbekannt, dort wurde nur so viel
t, ala der Hausbedarf erforderte, und dieser war leicht
ald befriedigt. Der servus des Germanen hatte bestimmte
en zu entrichten und sonst nur für seine Lebensbedürfnisse
gen; es lag demnach kein Anlaß vor, ihn durch Zwang
rbeit anzutreiben, seine Kraft auszupressen wie bei den
Itreibenden römischen Sklavenhältern.
cidere solent, non disciplina et severitate, sed impetu et
294 J. Peisker
ira, ul inimicum, nisi quod impune est, der Germane mag seinen
Sklaven wohl töten, nicht um zu züchtigen, aus Strenge, sondern
aus Ungestüm und Zorn, wie einen Feind; das war nicht straf
bar, denn der servus war des Herrn Sache, Eigentum, wie Pfer
und Ochse; die Tötung eines servus, der nicht ihm gehört
mußte er wohl durch Zahlung des bestimmten Wergeldes büßen
Der servus des Germanen war somit zwar ein freies Eigentun
des Herrn, wirtschaftete jedoch auf seinem abgesonderten Anweser
und blieb nach Ableistung gewisser Giebigkeiten sonst so ziemlie
ungeschoren, solange er es verstand, Zorn und Argwohn des Hem.
an dessen Belieben sein Leben hing, von sich fernzuhalten.
Indes darf ein wichtiges Moment nicht übersehen werden.
welches zwar von TaciTus nicht ausdrücklich bezeugt wird, sich
jedoch von sich selbst ergibt: Ist nämlich der servus trotz seinel
wirtschaftlichen, sit venia verbo, Selbständigkeit ein unbedingte:
Eigentum des Herrn, das dieser ganz nach Belieben auch ver-
nichten kann, so gilt dasselbe auch von allem, was der servi
besitzt; das wurde ihm nur zu seinem Lebensunterhalt belassen.
ein Recht und namentlich ein Erbrecht darauf hat er nicht. Und
nachdem die altgermanischen Lehnwörter im Slawischen eine
westgermanische, vorgotische als die älteste erkennbare ger
manische Knechtschaft der Slawen unwiderleglich bekunden, #
ergibt sich daraus sogar die Möglichkeit, daß sich unter den serr
der Germanen bei Tacırus Nachkommen von aus Osteuropa mit
gebrachten slawischen Knechten befanden, denn das auswan
dernde Herrenvolk wird nicht seine kostbarste Habe, seine semi
gänzlich im Stiche gelassen haben. Ist dies richtig, dann wa
auch das taciteische Staatswesen zweischichtig: eine stammfremd
germanisierte Bauernschicht, von einer germanischen Herren
schicht beherrscht.
Nun haben wir erfahren, wie der turkotatarische Reiterbir
und wie der germanische Vichzüchter knechtet, und sind in de
Lage, diese zwei Formen der Knechtschaft gegenseitig abzu
schätzen. Die germanische Knechtschaft äußerte sich in einer aD
haltenden, einigermaßen geregelten, wenn auch harten Beherrschuß}
durch im Lande selbst, inmitten der Unterworfenen, dauer‘
weilende Herren; die turkotatarische dagegen in steter Todes
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 295
mgst vor dem Einbruche der auswärts hausenden oder im
Slawenlande bloß winternden Horden, die, so oft es ihnen einfiel,
len Unterworfenen plünderten und das Land mit Mord und Brand
iberzogen, wogegen die, jeder Organisation durch die ewige
Knechtschaft beraubten Slawen wehrlos waren. Und so kann
es nicht wundernehmen, wenn Slawen die germanische Knecht-
schaft denn doch vorzogen und zu Germanen sogar Gesandt-
schaften schickten mit der flehentlichen Bitte, die Herrschaft über
ie zu ergreifen, wie dies von den Russen der Chronist NESTOR
ausführlich berichtet:
Im Fahre 6367 (= 859) nahmen die Waräger, die von jen-
sets des Meeres eingebrochen sind, von den Tschuden und Slo-
onen und Meriern und Vesen und Krivicen Tribut; und die
Chasaren (ein uralaltaischer Volksstamm) zakmen von den Pol-
janen und den Sjeveranen und Vjaticen: je ein weisses Eich-
hörnchenfell von jeder Herdstelle (dym) . . . Im Jahre 6368,
6369, 6370 (= 860—862) vertrieben sie die Waräger über das
Meer und entrichteten ihnen den Tribut nicht. Und sie fingen
an, sich selbst zu regieren, aber es war kein Rechtssustand
unter ihnen, und es stellte sich Geschlecht gegen Geschlecht, und
Hader war unter ihnen, und sie fingen an, einander zu bekriegen.
Und sie sagten: Lasset uns einen Knjaz aufsuchen, der
uns beherrsche und rechtlich richte. Und sie gingen über
das Meer zu den Warägern, den Russen, denn so hiessen diese
Waräger: Russen, so wie die einen sich Svejen (Schweden),
die anderen Nurmanen, Angljanen und die anderen Goten
nennen, so auch diese. Es sagten den Russen die Tschuden,
Slovinen, Krivicen und Vesen: Unser Land ist gross und
Sruchtbar, aber keine Ordnung ist darin; kommet,
über uns zu herrschen und uns zuverwalten. Und es
Drachen drei Brüder auf mit ihren Geschlechtern, nahmen alle
Russen mit und kamen. Und es liess sich der älteste in Ladoga
(wohl Novgorod) nieder, Rurik, und der zweite, Sineus, in Belo-
“tro, und der dritte, Truvor, in Izborsk. Und von diesen
Warägern erhielt seinen Namen das russische Land ...').
u) HECTOPL. Russische Annalen in ihrer Slavonischen Grundsprache ver-
glichen, übersetzt und erklärt von A. L. ScnLözer, 2. Teil, Göttingen 1802.
296 J. Peisker
Nicht, als ob die germanische Herrschaft besonders mild ge-
wesen wäre; dies war sie, wie wir gesehen, wahrlich nicht, aber die
uralaltaische war noch viel schrecklicher und durchaus bestialiseh.
Dem Germanen war der slawische Bauer, der Smerd, etwa wie
ein Haustier, mit einer gewissen Pflege, dagegen dem Uralaltaier
ein Jagdtier, das man zu Tode hetzt oder zum Verkaufe einfängt.
So berichtet NESTOR:
Als das Slovenenvolk an der Donau wohnte, brachen von
Skythien, das ist dem Chasarenlande, die sogenannten Bulgare
ein und liessen sich an der Donau nieder. Und sie waren be-
dränger der Slovenen. Hierauf kamen die Weissen Ungarn und
erbten das Slovénenland . . . Um diese Zeit waren auch die
S. 153 ff. — SCHAFARIK, a, a. O. II. S. 68 f. — Chronica NEsTorıs. Textum
russico-slovenicum edidit MIKLOSICH. Vindobona 1860 S. 9 f.
Ähnliches trug sich etwa 238 Jahre zuvor bei den böhmischen Slave
zu, nach FREDEGAR, Historia Francorum (geschrieben um das Jahr 660) cap. #8:
Anno XL regni Chlothariae (also 623—624) homo nomen Samo, nalione Franc
de pago Senonago, plures secum negutiantes adciuit, exercendum negucum 8
Sclauos coinomento Vuinedos perrexit. Sclauiiam contra Auaris coinomento Chunis
et regem eorum Gagano ceperant reuellare. Vuinidi Befulci Chunis fuerant ion
ab antiquitout cum Chuni in exercitum contra gentem qualibet adgrediebant, Chuni
pro castra adunatum illorum stabant exercitum, Vuinidi wero pugnabant. S «
uincendum preualebant, tunc Chuni predas capiendum adgrediebant; sin aultm
Vuinidi superabantur Chunorum auxilio fulti uirebus resumebant ; ideo Befulti
uocabantur a Chunis eo quod dublicem in congressione certamine westila priliet
facientes ante Chunis precederint. Chuni aemandum [hiemandum] orr':
singulis in Esclauos ueniebant, uxores Sclauorum et filie
corum strato sumebant, tributa super alias oppressiones Scluni
Chunis soluebant. Filii Chunorum quos in uxores Vuinodorum et ji
generauerunt tandem non subferentes maliciam ferre et oppressione Chunori®
dominacione negantes ut supra memine ceperant reuellare. Cum in exercito Vuinidi
contra Chunus fuissent adgressi Samo negucians quo memoraui superius (UM
ipsos in exercito perrexit, ibique tanta ei fuit utiletas de Chunis facta u[t] mirs"
fuisset et nimia multitudo ex eis gladio Vuinidorum trucidata fuisset. Vuinid
cernentes utilitatem Samones eum super se elisrunt regem, ubi XXX et V ani
regnauit feliciter .., G. MONOD, Études critiques sur les sources de l'histoirt
Mérovingienne. II. La compilation dite de ,Fredegaire“. Texte. Paris 158,
S. 138 f. — Monumenta Germ. hist., Scriptores rer. Meroving. II. FREE
GAR C. 48.
Wie später die Waräger Russen, wurde Samo von den aufständische!
Slawen gebeten, sich mit seiner Gefolgschaft an ihre Spitze zu stele.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 297
waren (Obre), die mit Kaiser Heraklius Krieg führten, und
fehlte wenig, dass sie ihn gefangen hätten. Die Awaren
kriegten die Slovènen und marterten die Duljeber, ein
ovénenvolk, und taten Duljeberfrauen Gewalt an. Und wenn
n Aware eine Fahrt zu unternehmen hatte, so liess er weder
n Pferd, noch einen Ochsen vorspannen, sondern befahl, drei
ler vier oder fünf Frauen an den Wagen zu spannen und den
waren zu fahren; und so marterten sie die Duljeber').
Eingehender schildert die awarische Knechtschaft FREDEGAR:
Schon von alten Zeiten her wurden die (böhmischen) Wenden
n den Chunen (Awaren) als „Befulcı“ gebraucht, so dass,
enn die Chunen gegen irgendein Volk ins Feld zogen, sie
löst sich vor dem Lager aufstellten, die Wenden aber kämpfen
ussten. Siegten nun diese, so rückten die Chunen vor, um
eute zu machen; unterlagen jedoch die Wenden, so sammelten
e, auf der Chunen Hilfe gestützt, neue Kräfte. Darum wur-
m sie Befulci von den Chunen genannt, weil sie vor ihnen
nherzogen und im Treffen einen doppelten Kampf bestanden.
edes Fahr kamen die Chunen zu den Slawen, um bei ihnen
überwintern; dann nahmen sie die Weiber und Töchter der
lawen und schliefen bei ihnen, und zu den übrigen Misshand-
mgen mussten die Slawen den Chunen noch Abgaben zahlen.
he Söhne der Chunen aber, die diese mit den Weibern und
öchtern der Wenden erzeugt hatten, ertrugen endlich diesen
ruck nicht mehr, verweigerten den Chunen den Gehorsam und
gannen . . . eine Empörung).
l) HEcror® a. a. O. S. 112 ff. — SCHAFARIK, a. a. O. U.S 58 f. —
üsgabe MikLosICH S. 5 f.
2) Nach O. ABELs Übersetzung in den Geschichtschreibern der
ltechen Vorzeit VII 3, Berlin 1849, S. 32; in der 2. Gesamtausgabe XI. Bd.,
äpzig 1888. S. 26. Text siehe oben S. 296 Anm.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Bericht in der „Kirchengeschichte“
# syrischen Monophysiten JOHANNES, Bischofs von Ephesus oder Asia,
er die in das oströmische Reich im Jahre 581, also 42 Jahre früher, ein-
!brochenen Slawen besprechen, weil er sich ohne Heranziehung der An-
ben Fredegars nicht leicht verstehen lässt: VI. Buch, 24. Geschichte, von dem
hindlichen (e. garstigen) Volke der sogenannien Awaren: Dieses Volknun, das nach
ins Haaren Awaren heisst, kam in den Tagen des Kaisers Justinianus und
298 J. Peisker
FREDEGARS Bericht darf gewiß nicht dahin verstanden werden, als ob
die Slawen den Sommer über von den Awaren ganz frei gewesen wären. Soun-
klug waren die Awaren wohl nicht, denn sonst hätten sich die Slawen
immer wieder zusammenschließen können und von den Awaren von neuen
liess sich im römischen Lande sehen ... [Zu Zeiten Kaiser Tiberius’], ; dritten
Jahre seiner Regierung nach Justins Tode [581], ließen sie eine Brücke über
die Donau schlagen und verlangten, er solle ihnen entweder die Stadt Syrmium
am Übergange jenes Flusses geben . . ., oder sie wollten mit ihm kriegen „. . Er ar
liess sich durchaus nicht dazu bewegen . . . sie versammelten sich . . . und baulın
eine zweite Brücke ... 25. Geschichte: /m dritten Jahre ... der Regierung des sit
reichen Tiberius [681] zog das verwünschte Volk der Slawen aus, durchzog gans Hellas,
die thessalischen und thrakischen Provinzen, nahm viele Städte... . ein, verheerle..-
und beherrschte das Land und wohnte darin ganz frei und ohne Furcht, wie ın
seinem eigenen. Das dauerte vier Jahre lang und so lange als der Kaiser mit dım
Perserkrieg beschäftigt war und alle seine Heere nach dem Orient schickte, De-
durch hatten sie im Lande freies Spiel, bewohnten es und breiteten sich bald darin
aus, bis Gott sie [hinaus] warf, Sie . . . Plünderten aber bis sur äussern
Aauer [die Kaiser Anastasius zum Schutze Konstantinopels hat errichten
lassen], so dass sie alle kaiserlichen Herden . . . und die der übrigen erbeutdin.
Und siehe! bis auf den heutigen Tag, welches das Jahr 895 [d. i. 584] +
wohnen .. . sie in den römischen Provinsen, ohne Sorge und Furcht, plündernd,
mordend und brennend, sind reich geworden und besitzen Gold und Silber, Pft rdı-
herden und viele Waffen und haben gelernt, Krieg su führen, mehr als die Römer.
[Und doch sind es] einfältige Leute, die sich ausserhalb der Wälder und kei:
freien [Gegenden] nicht sehen zu lassen wagen und nicht wissen, was eine Wüft
sei, ausgenommen zwei oder drei Lonchadien, d. h. Wurfspiesse. JOHANNE
von Ephesus, Kirchengeschichte. Aus dem Syrischen übersetzt von SCHÖöX-
FELDER. München 1862, S. 253 ff.
Die Slawen erschienen auf dem Balkan mit den Awaren gleichzeitig,
als ihre Knechte, befulci nach Fredegar, als Vortruppen, die zu kämpfen
und zu siegen hatten, wonach erst die Awaren losbrachen und Beute
machten. Diese hatten es als Reiternomaden besonders anf die Herden,
namentlich Pferde, abgesehen, auf Viehraub, die berüchtigte baranta, de
den turkestanischen Wanderhirten bis zu ihrer Niederwerfung durch die
Russen ein Hauptvergnügen war (VAMBÉRY, Das Türkenvolk. Leipzig 188;
Ss. 306). Als Wanderhirten hielten sich die Awaren im Sommer, der Weide
wegen in den Bergen und Waldregionen auf, in kleine Horden voß
wenigen Jurten zerstreut, und viele Slawen mussten mitziehen, u8
die erbeuteten Herden hüten zu helfen. Dadurch erklärt sich die Angabe
JOHANNES’, daß sie sich außerhalb der Wälder und holzfreien Gegende®
nicht sehen zu lassen wagen, was an sich eine alberne Bemerkung wär
Die Angabe von ihrer Kriegsuntüchtigkeit stimmt im allgemeinen, 44
brachte ihre endlose Knechtschaft mit sich. — In Übereinstimmmg
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 299
orfen werden müssen. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Awaren
'e Garnisonen und eine besondere Verwaltung unter den Slawen auf-
rielten, um die Geknechteten im Zaume zu halten, die auferlegten
keiten einzutreiben und die nötigen „Befulci“ auszuheben, indes der
tock der Awarenhorden jedes Frühjahr die Slawendörfer verließ, um
nen Herden den Sommer über die Gebirge zu beweiden.
HANNES von Ephesus sagt auch der wenig ältere PROKOPIOS (+ 558),
lo Got. II. 14], die Slawen kämpften zu Fuß mit kleinen Schilden
urfspießen, ohne Panzer, einige sogar ohne Leibrock und Mantel,
t einer Bruch um Hüfte und Lenden . . . aber sie wären nicht bös-
der schurkisch, vielmehr arglos und einfältiger Sinne. Daßhier JOHANNES
hesus Awaren von Slawen nicht unterscheidet, ist erklärlich, nicht nurdurch
schung zwischen uralaltaischen Herren und slawischen Knechten, sondern
lurch die mehrfach beobachtete Tatsache, daß der Wanderhirt die
e des Volkes lernt, in dessen Mitte er Winterquartiere nimmt. So sind
then medisch, Millionen von Rumänen slawisch, griechisch, albanesisch
len, und IBRAHIM IBN JAKÜB sagt XI.: Mächtige Stämme aus dem
[welche sich einiger der Slawenländer bemächtigt haben und zwischen
wohnen], sprechen slawisch infolge ihrer Vermischung mit ihnen. Die
nsten von diesen sind Trsjkin, die Ongliin, die Petschenegen, die Russen
e Khazaren (Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit. X. 6.
{IND und ABRAHAM JAKOBSEN. 2. Aufl. Leipzig [1891], S. 144).
lawen“ haben auch den Peloponnes überschwemmt und ihm, wie einige
a, den heutigen Namen Morea gegeben. Sie sind als Volk spurlos
wunden; dies wäre nicht leicht denkbar, wären sie Bauern gewesen,
m erklärlich, wenn man annimmt, sie waren vorwiegend Hirten, slawi-
Uralaltaier, welche dann in der übrigen Bevölkerung aufgegangen
wie später so viele rumänische einstige Wanderhirten Griechenlands.
ı wäre das Gegenteil dessen richtig, was SaraRik meint: „Wer weiß, ob
raren, welche sich im Jahre 589 im nördlichen Peloponnes ansiedelten
rt 218 Jahre verblieben, nicht ganz oder wenigstens zum Teil Slawen
m sind, zumal diese, die Kampfgenossen jener, so häufig Awaren ge-
werden“ (SCHAFARIK, &. a. 0. II. S. 191), Slawische „befulci“ werden
ils dabei gewesen sein.
itreffend urteilt KRUMBACHER: „Die Awaren bilden den Slawen gegen-
ur eine wenig zahlreiche Adelskaste. Es ist übrigens bemerkenswert,
. diesem Jahrhundert meist numerisch schwache uralaltaische Stämme
nen und Slawen unterjochen; sie müssen also eine militärische, politische
eistige Superiorität besessen haben; man denke an die Hunnen (als
rren der Goten und anderer Germanenstämme, die Awaren, die Bul-
* — KRUMBACHER, Geschichte der Byzantinischen Literatur. 2. Aufl.
en 1897, S. 944 Anm.
tteljahrsehr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 20
300 J. Peisker
Und der arabisch schreibende Perser Igx RosTEH [Is Dasri]
berichtet (vor dem Jahre 913):
Sie [die Magyaren] /eben in Zelten und ziehen auf Futter-
und Weideplätzen herum. Ihr Land ist ausgedehnt. An einer
Seite grenzt es an das Römische (= Schwarzse) Meer, in welches
zwei Flüsse münden ... Beim Herannahen der Winterzat
ziehen die näher wohnenden an einen dieser Flüsse, bleiben dort
solange der Winter dauert, indem sie sich mit Fischfang br-
schäftigen . . . Das Land der Magyaren ist reich an Bäumen
und Wasser, der Boden ist feucht, und es gibt auch viel Acker-
land. Die Magyaren herrschen über sämtliche mit ihnen br
nachbarten Slawen, zwingen dieselben zur Erfüllung schwerer
Pflichten und gehen mit ihnen wie mit Gefangenen um. Di
Magyaren sind Feueranbeter. Sie bekriegen die Slawen, machtn
dieselben zu Gefangenen und führen sie längs dem Meeresuftr
nach einer zu dem Römerlande gehörigen Stadt, namens Kerch
Wenn die Magyaren mit ihren Gefangenen nach Kıerch
kommen, ziehen die Römer [Griechen] zAnen entgegen; alsdann
die Magyaren sich mit ihnen in Handel einlassen, die Gt
fangenen übergeben und dafür im Tausch griechische Brokat,
Teppiche und sonstige griechische Waren erhalten‘).
Genau so verfuhren bis zu ihrer Unschädlichmachung durch
die Russen die Reiterhirten Zentralasiens mit den Persern. Sie
überzogen das unglückliche Land mit ununterbrochenen Raub-
zügen, machten dabei alles, was sich zur Wehr setzte oder nicht
fortgeschleppt werden konnte, nieder, und was arbeitsfähig war,
verkauften sie in die Sklaverei. „Man rechnet — erzählt Vir-
BERY —, daß unter den Tekketurkmanen gegenwärtig [nämlich 1865]
mehr als, 15000 Reiter Tag und Nacht auf räuberische Exkur-
sionen sinnen, und man kann sich leicht eine Vorstellung davon
machen, wie viele Häuser und Dörfer, wieviel Familienglück von
diesen habsüchtigen Räubern zerstört wird.“
„Die Hauptfrage im Leben des Turkmanen ist die alaman, d. h. Raub-
gesellschaft ... Er ist sogleich bereit, sich zu bewaffnen und sein Pferd st
besteigen, sobald er eine Einladung ... erhält. Der Plan zu einem solche?
Unternehmen wird immer selbst vor den nächsten Anverwandten geheimgt”
1) VÄnserv, Der Ursprung der Magyaren. Leipzig 1882, S. 116.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 301
ten, und nachdem der Serdar (Anführer) gewählt, von einem Mollah der
gen gespendet ist, begibt sich nach Anbruch des Abends jeder auf ver-
iedenem Wege nach dem früher zum Sammelplatz bestimmten Ort. Der
griff geschieht immer entweder zur Mitternachtsstunde, wenn man gegen
wohnte Orte rückt, oder bei Sonnenaufgang, wenn eine Karawane oder
ndliche Truppe angegriffen werden soll. Der Angriff der Turkmanen ist
e bei den Hunnen und Tataren, eher ein Überfall zu nennen; die At-
'kierenden teilen sich ... und stürzen von mehreren Seiten auf den nichts-
nenden Raub zwei-, selten dreimal, denn ein turkmanisches Sprichwort
gt: Versuche zweimal, aber kehr das drittemal um. Der Angegriffene muß
ır entschlossen sein oder sich sehr stark fühlen, um einer derartigen Über-
mpelung Widerstand zu leisten; bei den Persern ist dies nur selten der
ll, und sehr häufig ereignet es sich, daß ein Turkman gegen fünf, oft
ch mehr Perser mit Erfolg den Kampf aufnimmt ... ‚Oft geschieht es‘,
gte mir ein Nomade, ‚daß die Perser aus Furcht die Waffen wegwerfen,
ricke verlangen und sich gegenseitig binden. Wir brauchen nur vom Pferde
‚steigen und den letzten zu binden‘ ... ich bin fast geneigt, zu glauben,
ß es der alte, in der Geschichte bekannte Schrecken vor den Tataren des
rdens ist, der sogar den Kühnsten seines Mutes beraubt. Und doch wie
uer muß die Feigheit gebüßt werden! Wer beim Überfall niedergehauen
rd, ist glücklich zu schätzen. Dem Mutlosen aber, der sich auf Gnade und
ıgnade ergibt, werden die Hände gebunden, und entweder nimmt ihn der
iter auf den Sattel, wobei ihm die Füße unter dem Bauch des Pferdes
sammengebunden werden, oder er treibt ihn vor sich her oder bindet ihn...
| den Schweif des Pferdes. Auf ... tagelangem Wege muß er dem Räuber
die öde Heimat folgen.“
Die Gefangenen, welche von ihren Angehörigen nicht losgekauft werden
mnten, wurden nach Chiwa, Buchara u. s. w. in die Sklaverei verkauft, und
!iche man zum Viehhüten zurückbehielt, denen wurden die Sehnen au den
sen durchgeschnitten, damit sie nicht fliehen können).
Die Berichte FREDEGARS, IBN RosTEHs und NESToRs bilden
n Ganzes, sie stellen dar die Skylla und die Charybdis, die
sei voneinander so verschiedenen Formen der Knechtschaft,
sischen denen das Slawentum ungezählte Jahrhunderte lang
in und her pendelte. Namentlich ist Nzstors Bericht von einer
greifenden Lebenswahrheit: Die Slawenvölker schmachten in
sei getrennten Knechtschaften. Gegen die eine, die uralaltaische,
bt es am Rande der Steppe überhaupt kein Aufkommen von
nen aus, denn der Räuberhirt ist nicht verdrängbar, er hält
1) VAMBÉRY, Reise in Mittelasien. Leipzig 1865, S. 254 f., 62—69, 1% f.
‚Aufl. Leipzig 1878, 8. 298 f., 65—71, 211]. — Wensukow, Die russisch-
tischen Grenzlande, Leipzig 1874, S. 488.
302 J. Peisker
nicht Stand und kann nicht in seinen Steppen erfolgreich
griffen werden; er verschwindet wie der Blitz, um bald w
von einer andern Seite einzuschwärmen. Dagegen ist deı
manische Unterdrücker wohl verdrängbar und wurde wied
verdrängt; allein was nützt dies dem sodann freigewor:
Slawen, nachdem er die erkämpfte Freiheit zu genießen
gelernt hat, sich staatlich aus sich selbst nicht organisieren |
Dies letztere gilt übrigens von jedem solchen Knechtenvolke;
die taciteischen servi der Germanen hätten sich, wenn ihne
Vertreibung ihrer Herren gelungen wäre, kaum aus sich selbs
richten können. Der Slawe konnte wohl ab und zu da
manische Joch abschütteln; was tauschte er aber dafür
Freiheit? Nein, sondern Anarchie, das dritte, nicht we
schwere Unglück, und mußte schließlich die Wiederkehr
germanischen Herrschaft erbitten, die ihn ja unmittelba
vor zur Empörung trieb.
Über eine der germanischen, nämlich die altnordische
schaft gibt uns der Lehnwörterschatz einigen Aufschluß, und
das Wort aksl. vifeze, welches UHLENBECK wohl richtig aus a
vikingr ableitet (siehe oben S. 258). Die Schrecken der Wiki
züge hat auch Westeuropa verkosten müssen, und sie sin
aus der Geschichte wohlbekannt. Die Skandinavier unterw
wiederholt die nördlichen Slawen schon seit alters her!
ließen sich dort als ViZingr nieder. Das Wort wurde in
wischen Munde zu vifeze und bedeutete noch zur Zeit
deutschen Herrschaft bei den Daleminziern die Schich!
Krieger, Kriegsknappen zu Roß. Die deutschen Urkunden nt
sie Withasen?). Hier waren sie eine Art milites a;
1) SCHAFARIK a. a. O. I. S. 66 ff.
2) 1122 wird bestätigt, daß der edle Wigmann alle seine Güte
Kloster Kaltenbrunn vermacht hatte, cum eo iure hominum et pracdioru:
sui anlecessores ipsis fruebantur, homines scilicet in quingue iustitiis, ul ei
knechte, zmurde, lazze, heyen, horum quemcumque secundum genus suum.
1181 wird in den Vogteirechten des Petersklosters auf dem Laute
bestimmt, dass s/atutis tantum temporibus seniores villarum, quos lingu
supanos vocant [das sind die „eldesten“ der vorigen Urkunde], ei in egu
vientes, id est withasii [vicazi, die ,knechte“ der vorigen Urkunde], ad«
vinciale jus, quod lantdinc dicitur, veniant, qui, quac dicuntur, jubentur, a;
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 303
üher wohl mit leibeigenen Hintersassen; unter den 210 Dörfern,
ie bis in das 14. Jahrhundert unmittelbar unter dem Amte
‘eifen standen, waren nach dem Bedeverzeichnis des Amtes
rom Jahre 1334) 60 sub rusticis qui dicuntur Witsezen, die
brigen unter Zupanen als Ortsvorstehern !). Unstreitig waren
owohl die Zupane als auch diese Withasen Nachkommen von,
len Slawen volksfremden, mit der Zeit slawisierten Machthabern,
ınd zwar die Withasen direkte Nachkommen von nordischen
Wikingern. Das Leben und Treiben der Wikinger in den
Slawenländern wird von der Saga von den Jomswikingern
deutlich beleuchtet:
Palnatoki war der waffengewaltigste Wikinger unter seinen Zeitgenossen.
Nachdem er in Irland erfolgreich geplündert, gedachte er im Wendenlande zu
heeren. Damals herrschte über Wendenland der heidnische König Burisleif,
dem Dänenkönig zinspflichtig. Der slawische Name soll uns nicht täuschen,
er war wohl entweder turkotatarischer oder, wie die russischen Rurikiden,
nordischer Herkunft. Mit dem Eindringling ließ er sich in einen Kampf gar
nicht ein, sondern bot ihm die Herrschaft über das Land, das Jom hieß, an,
auf daß er das Reich mit ihm gemeinsam verteidige, wenn Krieg entstünde.
Palnatoki nahm an und baute eine starke Seeburg mit einem trefflichen Hafen,
die Jomsburg. Dann gab er seinen Wikingern Gesetze, welche die Zucht
aufs höchste steigerten und die Besatzung unüberwindlich machten. So saßen
sie zu Jomsburg in gutem Frieden und beobachteten die Satzungen. Jeden
Sommer fuhren sie aus der Feste und heerten weit herum in den Landen.
Am Sterbebette empfahl Palnatoki Sigwald zu seinem Nachfolger. Burisleif
entgegnete: „Oft waren eure Ratschläge trefflich, und es soll auch der, den
ihr jetzt gebt, befolgt werden... Wenn wir zu fürchten haben, nicht
länger deines Rates zu genießen, so sind wir um so mehr verpflichtet, deinen
letzten zu erfüllen. Bei dir war unsere größte Stärke gelegen, und unser
Reich haben seit deiner Herkunft fremde Völker weniger beängstigt.“ So
wurde Sigwald Anführer der Jomswikinger, verstand es aber nicht, die Zucht
aufrechtzuerhalten. Den König Burisleif stellte er vor die Wahl: entweder
—_
Saluuntur, suis referant, ceteri liti, videlicet hoc est zmurdi, qui quolidiano
rzirio imperata faciunt, et hi, qui censuales [—1azze] ecclesiæ, vel proprii
[= heyen] sunt, apud se domi mancant. — KNO'THF, Die verschiedenen Klassen
äawischer Höriger in den wettinischen Landen während der Zeit vom
IL bis zum 14. Jahrhundert, im Neuen Archiv für sächsische Geschichte
N Altertumskunde. IV. Band. Dresden 1883, S. 3 f. — MEITZEN, a. a. 0.
Sl.
hB. v. SCHÖNBERG, Geschichte des Geschlechts von Schönberg. (Leip-
218 1878) Band II, S. 253. — MEıTzen, a. a. O. II. S. 241. 492.
4 J. Peisker
side er E> Jınsswrg aar oder erhalte Burisleifs Tochter Astrid zur Frau. Der
KSnig antuwor'ete: „ich habe sie einem höherstehenden Manne zu vermählen
gedacht. ais du bist. Aber ich habe es nötig, daß du in der Jom:burg
bieidet, ind wir wollen nom Rat halten...“ Hierauf sagte er zur Tochter: „Ich
“insehle, dab wir diese Angelegenheit in Klugheit schlichteten und doch s,
dad NMrwaid nicht vou Jomsburg fortführe, denn ich bedarf seiner sehr zur
Landesverteidigung meines Reiches. Astrid entgegnete: „Ich will Sigwald mit
richten zum Gemabl ... \Will er durchaus die Heirat, so soll er nichts
«erinces erfüllen: er soll Windland von dem Zinse befreien, so daß es den
Dinenkönige nichts mehr zu entrichten hat, und dann muß er machen, daß
Dinemarks König Iwein hierherkomme mit nicht mehr Begleitern, als As
ir ihn in voller Gewalt habt . . .“)
Die Erzählung ist die beste Illustration zu der Botschaft der
Slawen an die Waräger Russen in der Chronik NESTOoRs: Der
wehrlose Slawe fügt sich den Wikingern freiwillig, denn er weil,
dab sie sonst gewaltsam vorgehen würden. Für den alten Slawen
“ab es nur drei Möglichkeiten: entweder eine uralaltaische oder
eine germanische Herrschaft oder Anarchie, und diese drei Zr
stände machen so ziemlich seine ganze Vorgeschichte aus. Dakei
ist wahrzunehmen, daß es in der Regel nicht ein ganzes Ger
manenvolk, sondern nur eine wenig zahlreiche, aber waffengewandte
Gefolgschaft war, die sich großer Slawenländer zu bemächtige
verstand. In wenigen Generationen hörte sie jedoch auf, en
fremdes Element zu bilden, sie ging unter den Unterworfene
sprachlich unter. Dieser sprachlichen Assimilierung verfielen sud
die Waräger Russen, die das ganze Slawenland von den
äußersten Norden bis zu dem Schwarzen Meere unterworfe
hatten, und schon der vierte warägische Beherrscher Rußland,
Svjatoslav, war der Sprache nach slawisch. Man muß sich dem
nach einen solchen germanoslawischen Staat so vorstellen, da
einer an Zahl verschwindend kleinen Herrenschicht germanische
Herkunft und Kriegstüchtigkeit eine sehr zahlreiche, unbewehrt
«lawische Bauernschicht unterstand. Die den Warägern unter
tänige Slawenschicht hieß Smerden. Dieser Name ist ol
Zweifel älter als die älteste germanische Beherrschung der Slartl
1) F. KuuLr, Die Geschichte Palnatokis und der Jomsburger nach &#
jüngsten altnordischeu Bearbeitung erzählt. Graz 1891—1892, im xl
und XXII Jahresbericht des Zweiten Staats-Gymnasiums in Gr
Zeile 489—543, 839—887, 994.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 305
I dürfte mit einer der turkotatarischen Knechtschaften zusammen-
ıgen, wenn er sich auch aus dem Turkotatarischen ebensowenig
lären läßt wie aus dem Germanischen. „Man denkt — sagt
{LOSICH — an smerd- (= stinken) und an pers. »zard, Mann:
das erstere wahrscheinlich, an das letztere sicher mit Un-
ht“'). Die Ableitung von persisch »erd rührt von Sarakik
, der es unter den von ihm für sarmatisch gehaltenen Lehn-
rtern anführt*). „Man bedenke aber — schreibt mir UHLEN-
UK —, daß npers. #ärd im altiran. *marta- lautete! Wäre
raus nicht cher russ. (statt des heutigen smerds) morot, poln.
att smard) mrot entstanden?“ Es ist somit wahrscheinlicher,
ß schon die ersten turkotatarischen Bezwinger der Slawen das
ort smerdso — welches sodann denn doch auf aksl. smrad£ti, stinken,
rückginge — entweder bereits vorfanden oder aber, selbst rasch
wisiert, bildeten, indem ihnen als Galaktophagen und Bewohnern
8 luftigen Zeltes, insbesondere aber als Angehörigen der gelben
sse, der slawische Bauer als Vegetarier mit seiner elenden dumpfen
'hausung, namentlich aber als Arier, gar widerlich stinken mußte.
Der Japaner Dr. ADACHI®) schreibt: „... Für die Japaner ist der
ruch der Europäer sehr auffallend, besonders der der Europäerinnen.
ist stechend und ranzig, ... bald süßlich, bald bitter. Oft... so
rk, daß er das ganze Zimmer erfüllt... Man könnte glauben, dab
: Europäer von ihrem eigenen Geruch nichts wissen oder ihn doci
uiger empfinden als die Japaner. Soviel aber ist gewiß, daß die Euro-
?r nicht wissen, daß ihr Geruch ihnen eigentümlich ist ... Die meisten
paner... finden den Geruch der Europäerinnen anfangs sehr widerlich, nach
maten aber nicht mehr, endlich oft sogar mehr angenehm und wollüstige
rstellungen hervorrufend ... Der Geruch steht zweifellos mit der Ge-
lechtstätigkeit in Zusammenhang ... Was für Geruch die gelben Rasseu
ven, ist diesen selbst nicht bekannt, und auch ich konnte bei ihnen nicht
en allgemeinen Geruch finden *), wie bei Europäern oder Negern. Aller-
gs kommt auch bei Japanern, aber nur höchst selten?) und meist bei
I) MıkLosıch, Etymologisches Wörterbuch, s. v. swerda,
2) SCHAFARIK, a. a. O. I, S. 359.
3) ADACHI, Geruch der Europäer. GLosus, 83, Band, 1908, S. 14 f.
4) „Man sagt, Chinesen riechen. Dieser Geruch ist aber nicht Körper-
uch, sondern rührt mehr von der Unreinlichkeit her.“
5) „An einen so hochgradigen Geruch, wie ich in Europa jeden Tag zu
bachten Gelegenheit habe, kann ich mich bei Japanern nur in einigen
len erinnern.“
306 | J. Peisker
Frauen „Yeki-shiu“ vor, der dem Europäergeruch gleich ist. Nach chinesischen
medizinischen Büchern kommt dieser Geruch auch bei Chinesen selten vor. Ein
Japaner, der ‚Yeki-shiu‘ [Achselgrubengestank] an sich hat, ist militärfrei. Und
eine mit diesem Geruch behaftete Japanerin ist wegen der Schwierigkeit der
Heirat häufig unglücklich ... Für gewöhnlich riecht die Achselgrube des Japaners
gar nicht, weder für Japaner, noch für Europäer, selbst bei lang vernachlässigter
Reinigung nicht ... Jedenfalls ist es eine unbestreitbare und anffallende Tat-
sache, daß die Schweißdrüsen der Europäer viel größer sind als die der Japaner,
bei denen man die Drüsen makroskopisch nicht finden kann. Man darf aber nicht
allein von stärkerem Schwitzen den Geruch des Europäers ableiten wollen;
stark schwitzende Japaner haben gewöhnlich auch keine riechende Grabe.
Bezüglich mikroskopischer Untersuchungen der Achseldrüsen muß ich einst
weilen auf später verweisen. Worauf es mir hier ankam, war — al im
Gegensatz zu den Japanern — hervorzuheben, daß die Schweißdrüsen der
Achselhöhle bei den Europäern größer sind und daß die Grube riecht“
Es meidet auch der Beduine geschlossene Ortschaften wie die Pest. — Der
turkotatarische Häuptling stellt in das ihm von den Russen gebaute und ge
schenkte Haus sein krankes Vieh ein und schlägt für sich auf dem Hofe sein
Zelt auf. „Der Oezbege gebraucht... noch heute das . . . Steingebäude seins
Gehôftes zur Kornkammer und Stallungen, während er selbst mit Vorliebe
das mitten im Hofe aufgeschlagene Zelt bewohnt. Ja wir haben es mit eir-
gefleischten Nomaden zu tun, weshalb es uns gar nicht wundern soll, Aaw,
Gefängnis und Hölle von ein und derselben Wurzel abgeleitet zu sehen“ !} -
Der alte Germane ließ die schönste eingenommene römische Villa verfallea
und flocht sich daneben seine Hütte. — Nach Eıcır.ıs Vita S. Sturmi abbatis
cap. 7 kam der Heilige, einen Esel reitend, zum Fuldaflusse, ;45 magnen
Sclavorum mullitudinem reperit ... lavandis corporibus se immersisse, quorum
nuda corpora animal... pertimescens, tremere coepil, el ipse vir Dei eorum
foetoremexkorruil...‘)
Während so der turkotatarische, slawisierte Bezwinger der
Slawen die Bauernschaft swrodi, ‚die Stinkenden‘ nannte, nahm
er als ausschließlicher Nutzer der Zzpa, des Weiderevieres, de
Namen £zpan an, welches Wort wir oben S. 289 f. in der Grund-
bedeutung compastor, Weidegenosse, kennen gelernt haben. Und
es ist bezeichnend, daß bei den, von den Waräger Russen unter-
worfenen Slawen zwar die Smerden, nicht aber die Zupane vor-
kommen; diese einstige turkotatarische Herrenschicht unterlag ebe
den Warägern und wurde ausgerottet. Bei einigen Slawenvölken
erhielt sich jedoch diese alte, vorgermanische Herrenschicht der
1) VAMBÉRY, Die primitive Cultur, S. 76.
2) Monumenta Germ. hist. Scriptores II. S. 369.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 307
ıe, so bei einem Teile der Alpenslawen, den Slowenen,
tersteiermark, während sie bei einem anderen Teile von
im heutigen Kärnten, ebenfalls unterging. Bei den Dale-
rn in Meißen finden wir zwischen der Schicht der Zu-
und der Schicht der Smerden die Schicht der Withasen,
‚ ein nordisches Einschiebsel, welches sich etwa so, wie
aga von den Jomswikingern erzählt, in die bestehenden
Itnisse, im Einvernehmen mit den Zupanen oder vielmehr
staatsoberhaupte, als Kriegerkaste einfügte.
ıf diese Art fänden die termini ZuPans, vitese, smerds ihre
iche Erklärung. Es könnte jedoch auffallen, daß die turko-
chen Gewalthaber einen slawischen Titel, Zxpa#, ange-
en hätten, wenn nicht Analoga vorlägen:
is speziell türkisch und aus dem grauen Altertume stammend dünkt
r Titel CAunkiar, osm. Hünkar, Hünkiar, [von mir gesperrt:] nicht
das Wort, das rein persischen Ursprungs ist, sondern
Bedeutung, die tief im Leben der türkischen Nomaden wurzelt und
m Verhältnisse der Familie auf das des Staates übergegangen ist.
nadischen Familienleben wird nämlich das älteste, stärkste und er-
te Mitglied mit dem heiligen Amte der Blutrache betraut und bei
Stämmen als kan güzler (Blutspäher), bei anderen als chunkiar (wört-
essen Angelegenheit das Blut ist) bezeichnet, und in der Tat wird die
Vichtigkeit dieser Pflicht durch nichts so sehr in Relief gebracht,
ch den Umstand, daß die Obliegenheit desselben zum Ehrentitel des
n- oder Stammeshauptes und später ein Attribut der Fürstenwürde
en ist“!).
a anderes Beispiel: „... und es bestanden bei den Türken [= Magyaren]
Stämme, und sie erhoben Niemanden zum Archon über sich, weder einen
sischen, noch einen Fremden, sondern es waren unter ihnen gewisse
#2), Es ist das slawische vojevoda, ‚Herzog‘, daraus magy. vayda,
, vapvoda. MIKLOSICH, Etym. Wtbch. 8. v. vo).
renso können slawisierte Turkotataren von den Slawen das
Zupans angenommen haben.
ir die Wechselfälle in den wirtschaftlichen Verhält-
ı der alten Slawen ist nichts so bezeichnend wie die Nomen-
für Milch. Der Slawe hat für diesen Begriff drei Ausdrücke:
VÄMBERY, Die primitive Cultur des turkotatarischen Volkes, Leipzig
S. 136 f.
:KOXSTANTIN PORPHYROGENNETOS, de administrando imperio cap. 38.
be Bonn S. 168.
308 J. Peisker
1. aksl. *mlözp, gen. /dze, Biestmilch, aus dem S
mels-, dazu das Verbum wilseq, ımlesti, aus snelsti, n
*milése ist zu erschließen aus nslow. »ulezva, mlezivo, miles
mlezivo, slowak. mledzivo, klruss. molozyvo, russ. molozivo,
milch; poln. #/odsivo, Biestmilch, scheint nach MıKLosich,
Wtbch., s. v. mels-, auf russisch »20/ogzvo beruhend, mit
zusammenzuhangen. Durch Steig. mo/zs: serb. m/az, die
die beim Melken auf einmal hervorschießt, bulg. »z/asnica,
bare Kuh. Das slawische z in »ze/s- ist ein palatales £,
ausiyo, lat. mulgeo, irisch #elg, ahd. mölchan, melken
märj, zend. marz, streifen. Der Stamm »e/g-, slaw. mels-,
auf einen näheren Zusammenhang der westidg. Völker geg
den ostidg. (KLUGr, Etym. Wtbch., s. v. me/ken).
Das Wort *#»/#: ist echt slawisch.
2. aksl. und gemeinslawisch tvarog», geronnene
Topfen, nach VÂMBÉRY ein turkotatarisches Lehnwort; dzag
turak, Käse'!); türk. Zorak, Käse (MIKLOSICH); osm. Zurus
gesäuert; jakut. Zur, gesäuerte Milch”). — Griech. rx:
dann ebenfalls ein turkotatarisches Lehnwort.
3. aksl. ml8ko, Milch im allgemeinen, ein westgerman
voralthochdeutsches Lehnwort. Siehe oben S. 260 ff.
Von allen diesen drei Wörtern ist nur eines echt si:
nämlich »z/dzs. Und merkwürdig! Während, etymologis
nommen, es „Milch“ im allgemeinen bezeichnen sollte,
tatsächlich nur an einem Spezialbegriff haften geblieben: |
milch, das ist jene Milch, die vor und gleich nach dem
des Jungen aus dem Euter hervorsprießt, also Säugemilch.
dem wir nun wissen, daß infolge der Nomadenknechtsch
Slawen keine Viehzucht trieben, demnach auch keine Nut:
die gemolken aufgefangen und aufbewahrt wird, kannten
uns die Spezialisierung des altslawischen Ausdruckes für
nicht mehr befremden. Die Slawen kannten eben währen!
1) Vimséry, Cagataische Sprachstudien, Leipzig 1867, S. 260. -
BERY, Die primitive Cultur des turkotatarischen Volkes, Leipzig 187:
— VAMBERY, Der Ursprung der Magyaren, Leipzig 1882, S. 268.
2) VAMBÉRY, Etym. Wtbch. der turkotatarischen Sprachen,
1878, S. 185 f. & 198.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 309
ch langen Zeit nur jene Milch, welche aus der Mutter-
nd dem tierischen Euter, zum Säugen bestimmt, hervor-
die Biestmilch, und auf diese bezogen sie dann den
ck *mleze, welcher zuvor ohne Zweifel Milch im all-
»n bedeutete, die gemolkene miteinbegriffen.
aber bei ihren nomadischen Herren, die doch Galakto-
waren, mußten sie auch Nutzmilch gesehen haben, so
en der Begriff nicht hätte abhanden kommen können? Um
ı Sachverhalt zu ermitteln, müssen wir früher feststellen, in
n Zustande die Nomaden ihre Milch aufbewahren und ge-
nach VAMBÉRYS gütiger Mitteilung verschmähen sie die
ilch überhaupt, denn sie halten sie für ungesund; sie
ie, frisch gemolken, in Lederschläuche, deren gesäuerte
and sie sofort zum Gerinnen bringt und zu Topfen macht.
können die Nomaden gar nicht verfahren, denn für sie
dene Gefäße ob ihrer Schwere und Gebrechlichkeit und
ene Holzgefäße, die nach dem Austrocknen zerfallen,
endbar, da sie alle üherdies schwer verschließbar sind.
mfang, ob voll, ob leer, beibehalten und das nur auf dem
von Lasttieren transportable Wandergepäck überflüssig
ern würden; daher können sie zur Milchbewahrung nur
'hläuche verwenden, das unverwüstlichste Gefäß, leicht ver-
ar und unschwer zu befördern; davon können sie sogar
aufstapeln, die, im leeren Zustande zusammengerollt,
ringsten Raum einnehmen, denn Ersparnis an Umfang
wicht ist für den Nomaden ein wichtiger Vorteil. Somit
hnen den Lederschlauch nichts ersetzen; dabei brauchen
ne Töpferei und Böttcherei zu lernen, auf den ewigen
"ungen, besonders in der baumlosen Steppe, ohnehin nn-
e Geschäfte. Die Slawen sahen somit bei ihren Nomaden-
nur geronnene Nutzmilch, Topfen, Käse, und nahmen
en bei den Nomaden gebräuchlichen Ausdruck auf: turak,
‘im slawischen Munde zu Zvarog wurde.
ı wurden Germanen Herren im Slawenland, und die führten
nz andere Milchwirtschaft, denn sie zogen nicht in einem-
rum, wohnten nicht unter Zelten, Jurten, sondern in
ein Jahr lang auf einer und derselben Stelle. Sie
310 J. Peisker
übten schon Töpferei, verfertigten irdene Schüsseln und Näpfe
mit glatten Wänden, die gewaschen, reingehalten werden konnten,
in denen also die Milch längere Zeit hindurch im süßen Zustande
haltbar war.
Die Slawen kannten die Milch in diesem Zustande als Volks-
nahrung bis dahin nicht, und da sie dafür keinen eigenen Aus
druck besaßen, nahmen sie die germanische Bezeichnung ab
Lehnwort auf.
Mieze — tuarogs — mieko, diese Trias ist der so lange
entbehrte Wegweiser in das fernste, dunkelste Altertum der
Slawen; sie ersetzt diesen teilweise das, was die Germanen a
Tacırus’ Germania besitzen; sie ist sogar älter und läßt nur eine
Deutung zu.
Alles, was uns Reisende des Altertums, des Mittelalters und
der Neuzeit bis zur Gegenwart über das Vorgehen der Reiter-
nomaden gegen die unterworfenen Bauernvölker in vollster Über
einstimmung erzählen; was FREDEGAR über die Cechoslawen,
IBN RosTEH und KONSTANTIN VII. PORPHYROGENNETOS über die
[Südjrussen berichten, alles, was die älteste Schicht der germa-
nischen Lehnwörter im Slawischen in Verbindung mit dem einen
turkotatarischen Lehnworte bezeugen; alles das gestaltet sich har-
monisch zu einem klaren Bilde des abwechselnd von Turkotataren
und Germanen maßgebend beeinflußten altslawischen Daseins voller
Gegensätze, die erst in überaus hartnäckigen Kämpfen zu einigen
sehr labilen Gleichgewicht sich abschleiften.
Das unterjochte Slawentum als Bauernschicht wird von eier
Hirtenschicht beherrscht, die entweder turkotatarisch, reiter-
nomadisch, oder germanisch, viehzüchterisch und kaum selbst mit
eigenem Ackerbau ist. Und eine solche Zweischichtung mil
mehr oder weniger gemilderten Gegensätzen hat sich bei mehrere
slawischen Völkern bis tief in die historische Zeit erhalten, bei
anderen wieder infolge hergebrachter Disposition sogar vol
neuem gebildet.
Dazu stimmen alle übrigen Nachrichten über die alten Slawen:
Den ältesten Bericht entdeckte MÜLLENHOorF in den theologische?
„Fragen und Antworten“, welche vom Patriarchen Photios (+ um 8%)
dem Bruder Gregors von Nazianz, Caesarius von Nazianz (+ 368), zuge”
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 311
ieben, jedoch nach MÜLLENHOFF (Deutsche Altertumskunde, 2. Bd., Berlin
7,8. 368) erst um das Jahr 580 oder wenig später, nach SEECK (PAULY’s
l-Encycl. d. klass. Altertumswissenschaft, neue Bearb. v. WıssowA. 6. Halb-
d, Stuttgart 1897, col. 1800) dagegen vielleicht schon Ende des 4. oder
ang des 5. Jahrhunderts abgefasst worden sind.
Pseudo-CAESARIUS von Nazianz cap. 110: Dög d3 ol &v Bafulüvyt, Erxcı
iv yivavrar, Tÿ puaryanlg tüv önalpmv rraporvodar; ns 8’ dv étépy Tuhpatı
16 ol Zxlaunvot xal Duowvitaı, ol xal AavobBrot npogayopsuöpevor, ol Ev
smonactoßopoücv hôéme, Bra To nenInpacdar Tod Yalaxrog, pu@v dixnv
s brorithoug Talg nétpaic änapdrroviss, ol di nai 176 voplung xal AdraSır-
xpswßoplag Ansyovrar; «al ol pèv bndpxouarv addddetc, aurövonor, àvnyenc-
to, OUvaXüG Avanpoüvisc, auvschrönsvor À ouvoËebovtec, Töv apüv Ayapova
äpyovia, dImnexas xal tag Evdpüpoug xdrrag xal povobs éodiovtes al
Ixov opuyÿ opäs rpooxalobpevor ol di xal ddöngaylas Andixovrar ai
wire. brorattönsvor xal breixovreg !).
Der ungewöhnlichen Ausdrucksweise halber sei hier eine Übersetzung
refügt:
Wie kommt es, daß die Babylonier, wo immer sie sich einfinden, das Laster der
Hschande mit Blutsverwandten begehen? Warum die am andern Ende der Welt
Inenden Sklawenen und Physoniter, die auch Danubier genannt werden,
‘einen mil Vorliebe Weiberbrüste essen, weil sie der Milch voll sind, und die
ıglinge wie Ratten an Felsen zerschmettern, die andern dagegen sich des
lichen und unbedenklichen Fleischgenusses enthalten? Und die einen sind
mn, selbständig, sich keinem Hegemon fügend, häufig ihren Hegemon und Archon
n gemeinsamen Mahle oder Marsche tötend und Füchse und wilde Katzen
! Schweine essend und als Verständigungsruf das Wolfsgeheul anwendend; die
deren enthalten sich dagegen der Gefräßigkeit und ergeben und fügen sich
ı ersten besten.
So befremdlich dieser Bericht auch scheinen mag, enthält er dennoch
| Wahrscheinliches. Zwei denkbar schroffste Gegensätze bestehen da hart
kneinander: Die einen sind Galaktophagen, bisweilen mit
r, sonst allerdings nicht bezeugten, perversen Gier,
illende Weiber zu überfallen und ihnen die Milch auszu-
ugen. Diese Gier ist mit Roheiten verbunden; der Säugling wird von
a Wüterich umgebracht, die Mammilla mitunter weggebissen, und so mag
Übertreibung entstanden sein, daß die Brüste selbst gegessen wurden. Die
deren sind Vegetarier, weil sie keine Viehzucht haben und die Jagd
einem halbwegs regelmäßigen Fleischgenuß nicht ausreicht.
Die einen sind kriegerisch, autonom, fügen sich keinem
trrscher, sondern töten häufig ihren Hegemon, sobald sie
1) MÜLLENHOoFF, Deutsche Altertamskunde 1I. S. 867 aus DucAEuSs’
ibliotheca veterum patrum, Paris 1624, S.588. — Patrologiae cursus
Mpletus. Accurante J.-P. MIGNE. Patrologiae graecae tom. XXXVIII.
iris 1862, col. 985.
312 J. Peisker
seiner überdrüssig werden; sie essen allerlei Raubzeug, weil sie ihre
Herden schonen und ihr Vieh nicht gern schlachten; durch nachgeahmte
Wolfsgeheul geben sie einander Signale'.. Die anderen frönen, wie
alle Vegetarier, der den Karnivoren eigenen Gefräßigkeit nicht, sie
sind überdies wehrlos und fügen sich einem jeden, der über sie her
fällt, T@ Tuxévr..
Ein kriegerisches Volk hat hier ein unkriegerisches, das
sich dem ersten besten fügt, zum Nachbarn und wird es jeden
falls auch geknechtet haben; dies ergibt dann eine Zwei-
schichtung, wie sie schroffer garnicht gedacht werdenkann:
Die herrschende Schicht sind Milchesser, demnach Viel
züchter, mit Fleischgenuß, während die geknechtete Schicht
Vegetarier, also Bauern, sind.
ProKkopios von Caesarea (+ 558), de bello Gothico III. 14: "Ernst & ?
Adyog nepipepöusvog ds Änavras HAYev nyelpovro ev rt tobt "Avcar sys
äravtec, xotvhv di elvar mv npäEtv MElouv.... Ta yap ähun tadta, Zxdaßıri
ze xal "Avtat, oùx Äpxovrar npös Avdpüös Evöc, AAN Ev Bnpoxparig ir
raatoù Brorebovar' xal Ota Toto adrols Ty npayparov dsl té Te Ebuyope
xal ra BüoxoAa ds xorvöv Ayeraı. “Ouolws dE xal Ta Aida (ds sirsiv) Aravız
éxatéporc éatl Ts xal vevöpnorar toûtots Avwtev toi BapBéporg . . . oluoïct Li
ëv xaAdBargc olxtpate Brssanvnnävor oA uèv Ar’ dAAñAwv, duslBovrec Dè dig té
roÂAÀd Tôv The évorxhoews Exagtor x@pov. Die große Zerstreutheit und der
sehr häufige Wechsel des Wohnsitzes kann sich nur auf die Hirtenschicht
der Zupane beziehen, weil der Bauer höchstens nur einmal im Jahre de
jeweiligen Platz aufgeben kann, seinen [Brand]acker verlassend, um einen
1) VAMBÉRY, Primitive Cultur des turkotatarischen Volkes, S. 1%
schreibt: „... die Parole im Krieg, wran, oran oder ören genannt, welche
nach BABERS Aussage zu Kriegszeiten aus zwei Worten bestand, von welchen
das eine auf den einzelnen Stamm, beide auf die Armee Bezug. hatten:
Dieses dünkt mir jedoch eine Sitte spätern Ursprunges, denn in der ältesten
Zeit war die Parole eine einfache, auf die einzelnen Stämme bezügliche,
mittels welcher im Schlachtengetümmel oder in der Dunkelheit der Nacht
das vom Stamme getrennte Individuum seine Angehörigen zu erkennen und
aufzufinden imstande war. Ich habe diese sonderbare Sitte selbst in Er-
fahrung gebracht, und das Schauerliche der Szene, als auf einem nächtliche
Marsche durch die Hyrkanische Steppe das verzweiflungsvolle #ran eines D
stockfinsterer Nacht verirrten Turkomanen zu unsern Ohren drang, ist nÿ
ewig unvergeBlich. Der Mann schrie aus Leibeskräften ein mir unbekannte!
Wort, die turkomanische Reisegesellschaft lauschte lange beklommenen Herzt®®:
doch der Ruf blieb unerwidert. ‚Zs ist cin Tekke-Uran‘, hörte ich sagen, mal
ging seines Weges, und der Verirrte setzte sein Angstgeschrei noch ei®
Zeitlang fort.“ Jeder Stamm hat seine eigene, uralte Parole: urasan, ti}
‘auli, U. 8. W.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 313
ıen anzulegen. Seiustverständlich bezieht sich auch die dnpoxparia nicht auf
unterworfenen Slawen, die Smerden — die hatten als rechtlose Knechte nichts
zureden —, sondern ebenfalls auf die slawisierten Zupane; die lebten
nokratisch, keinen Herrscher, &pxwv, kennend, wie alle Wanderhirten, deren
sit venia verbo — Verfassung patriarchalisch, der Familie entlehnt ist:
kalar = die Grauen, und Afa/ar — die Väter, galten von jeher als
zeichnung für Vorgesetzte und Männer höherer Stellung und höhern Ranges,
s denen mit der Zeit ein besonderes Geschlecht von aristokratischer Färbung
h herausgebildet hat, das ebenso sehr des Ansehens... des gesamten
lkes sich erfreute, als das Oberhaupt im engen Kreise seiner Familie,
d der Aksakal = Graubart, im weitern Kreise seines Geschlechte3")“.
„Während meines Aufenthalts unter den Turkmanen hat mich am meisten
ıppiert, daß ich keinen entdecken konnte, der befehlen, aber auch keinen
ızigen, der gehorchen wollte. Der Turkman selbst pflegt von sich zu sagen:
irsind einVolk ohne Kopf, wir wollen auchkeinenhaben, wir
nd alle gleich, bei uns ist jeder ein König. Bei den politischen
sütutiouen aller übrigen Nomaden findet man mitunter einen Schatten
n Regierung, in der Person der Aksakale bei den Türken... und der
'heich bei den Arabern; bei den Turkmanen ist von diesen allen keine
ur. Die Stämme haben wohl ihre Aksakale, doch genießen diese nur bis
einem gewissen Grade Ehren; man liebt und duldet sie so lange, als sie
re Suprematie nicht durch besondere Befehle oder durch Großtun zu er-
anen geben [ein prächtiges Gegenstück zu dem soeben vernommenen Be-
‘hte des Pseudo-CAEsARıUS über die ihre Häuptlinge häufig tötenden
lawenen oder Physoniter!]. Der Leser wird nun fragen, wie denn diese
rüchtigten Räuber, deren Robeit wirklich grenzenlos ist, miteinander leben
innen, obne sich gegenseitig zu vertilgen. Dies ist auffallend; aber noch
it auffallender wird es scheinen, wenn ich sage, daß trotz dieser schein-
ren Anarchie, trotz aller Wildheit unter ihnen, solange sie sich nicht
fentlicbe Feindschaft erklärt haben, weniger Raub und Mord, weniger Un-
rechtigkeit und Unsittlichkeit vorkommt, als unter den übrigen Völkern
siens, deren soziale Verhältnisse auf der Basis islamitischer Zivilisation ruhen.
ie Bewohner der Wüste werden von einem alten und mächtigen Könige
‚herrscht, ja oft tyrannisiert, der ihnen selbst unsichtbar ist, den wir aber
dem Worte deö (bei den Kirgisen £öre), Sitte, Gebrauch, deutlich erkennen.
ti den Turkmanen wird strengstens befolgt, was der Deb befiehlt, und ver-
scheut, was er verbietet... Auf den Einfluß der Aksakale zurückkommend,
olen wir bemerken, daß diese zwar in den Berührungen mit Fremden,
B. wenn man mit Persien, Rußland oder fremden turkmanischen Stämmen
1 tun hat, im allgemeinen den betreffenden Stamm vertreten, daß sie aber
icht bevollmächtigte Gesandte sind. Wie machtlos sie sind, haben Rußland
nd Persien am meisten erfahren können, da diese mit großen Kosten die
ksakale an sich zu ziehen suchten, um den Räubereien Einhalt zu tun, aber
1) VAMBÉRY, Primitive Cultur, S. 132.
314 J. Peisker
bis heute nur wenig Erfolg hatten. ... Eine Hauptstütze des sozialen Bandes
ist das feste Zusammenhalten sowohl der einzelnen Abteilungen als auch des
ganzen Stammes. Jeder Turkman, selbst das Kind im vierten Jahre, weiß
schon, welcher Taife und Tire es angehört, und er weist immer mit einem
gewissen Stolz auf die Macht oder Zahl seines Clans hin, da dieser eigent-
lich die Waffe ist, die ihn gegen Willkür anderer schützt, und im Fall einen
einzelnen Gliede etwas zuleide getan wird, der ganze Stamm Genugtunng
fordern muß“ !) [vgl. oben S. 307 über den Chunkiar).
„In der mir gegenüber gemachten Äußerung eines turkomanischen Grar-
bartes: ‚Wir sind ein kopfloses Volk, bei uns ist jeder ein Padischah‘ liegt der
eigentliche Grundgedanke der Verfassung der... . Steppenbewohner türkischer
Zunge, und von demselben ist nur dort und dann abgegangen worden, wenn
irgendein Nomadenvolk, durch eine geschichtliche Begebenheit oder durch
sonstige Motive im gewöhnlichen Gange des Alltagslebens gestört, sich zu
einer außerordentlichen Tat gedrängt sah. Sowie der Stamm der Karlık in
Nordosten ... und der Stamm der Turkomanen im Süden des heutigen Zentral-
asiens nur durch das Auftreten der Mongolen unter Déengiz von der ruhigen
Existenz eines Hirtenvolkes auf die Bahn der weltstürmenden Begebenheiten
gedrängt, sich auf eine Zeitlang einem Führer unterwarf und auf dessen
Befehl sich in Bewegung setzte, ebenso haben die 7 oder 8 Stämme der
Magyaren nur dann erst dem Oberbefehle Ärpäds sich untergeordnet, nach
dem sie... von den Petschenegen zum Aufsuchen einer neuen Heimat tei-
weise gezwungen, auf ihren Wanderungen in fremden Landen ... die leitende
Suprematie eines einzelnen anzuerkennen sich genötigt sahen... Die Frage
daher, ob die Regierungsform unter Ärpäd monarchisch oder streng despotisch
gewesen sei, muß auch schon deshalb als eine müßige betrachtet werden,
weil bei Nomaden, nach den Grundbedingungen der Gesellschaft zu urteilen,
nur das Föderativsystem als einzige Regierungsform möglich ist, ‚dies aber
auch nur dort und dann, wo die Interessengemeinsamkeit stark genug it
das im Naturell der Nomaden liegende Gefühl einer unbändigen Willens
freiheit wenigstens einige Zeitlang zu unterdrücken. In solchen Fällen, die
in der Geschichte durch das Erscheinen glücklicher und begabter Heerführer
hervorgerufen wurden, hat es auch unter Vorsitz des siegreichen Helden
wemeinsame Beratungen in Angelegenheiten der zu unternehmenden Schrit®
gegeben, folglich eine Volksversammlung oder Versammlung,
türkisch . . . 7728 oder auch Rat,... türkisch ‘anff..., wie dies in den
Auriltai der Mongolen unter Déengiz geschah, oder in den Aüren der Türke),
ein Wort, das seiner heutigen Bedeutung nach = Gesellschaft, Versammlung
ist, ehedem aber auch 7rsppenabteilung ... bedeutete und in gewissen Teile
des türkischen Sprachgebietes noch den Begriff Gespräch, Beratung ausdrückt
Nun wäre es allerdings eine viel zu kühne Hypothese, wenn wir in diesen
Versammlungen eine Art gesetzgebenden Körpers entdecken sollten... D®
1) VintEry, Reise in Mittelasien, Leipzig 1865, S. 249251. 2. Aufl.
1875, S. 288-290.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 315
‚setz war... nur ein Gewohnheitsgesetz, denn die Grundbedeutung des hiefür
... Türkischen existierenden Wortes ... /öre ist eigentlich das Au/ge-
nmene . . .“1), .
VAMBERY’s Ausführungen über die Turkotataren der Neu-
it decken sich auffallend mit den Nachrichten über die
ten Slawen; ganz natürlich, denn diese „Slawen“, denen die
achrichten gelten, waren nichts anderes als slawisierte
ırkotatarische Herren der Slawen, die Zupanenschicht. —
Nur die Turkotataren der Steppe erfreuen sich dieser, am meisten bei
en Turkmanen auffallenden Ungebundenheit. Anders die Nomaden der
entralasiatischen Gebirge, z. B. die Kara-Kirgisen. Diese zerfallen in Ge-
'hlechter und Stämme, welche von selbstgewählten Ältesten, maraps genannt,
ı ziemlich despotischer Weise regiert werden. Venjukov versichert, daß
ir die am meisten zu schätzenden Manaps diejenigen gelten, die bei ihren
urten einen Galgen haben und sich nichts daraus machen, grösserer Ver-
ebenSchuldige, wozu übrigens ein Räuber nicht gerechnet wird, aufzuhängen *).
Sie sind überhaupt ein sehr unruhiges Volk, mit welchem die früheren chine-
ischen und chokandschen Regierungen schwer fertig werden konnten, und
ur dem Umstande, daß sie sich in eine Menge kleiner Stämme und Ge-
chlechter teilen, die noch obendrein in Feindschaft miteinander leben und
ich gegenseitig bekämpfen und berauben, ist es zu danken, daß sie sich
icht zu einem Ganzen vereinigten, welches leicht der Schrecken der Nachbar-
inder hätte werden können“ ?). —
Der sogenannte MAURIKIOS, Ztparnyıx®v (eine Kompilation, verfaßt wahr-
theinlich knapp vor der Thronbesteigung Kaiser Maurikios’, also vor dem
ahre 582. Vgl. ZACHARIA VON LINGENTHAL, Byzantinische Zeitschrift III.
894, 8. 441) XI. c. 5: Ta Edvyn tüv ZxldBov xal ‘Avtüv époëlaté te xal
Métpond slot anal &Asüdspa, pnôaude douloïodar 7) &pxscdar nsıdöneva [kann
ih nur auf die Zupane beziehen] . . . Eloi dè tolg äntfsvounsvors adroic
mar, al Yiloppovoünsvor adroüg Bracmkovarv &x ténou sl; Tönov où &v dkwvrat,
K sys 81° duéAstav tod bnoëexopévou ouußü tév Eévov BlaBñvar, röAspov
avi xar’ abröv 6 toütov rapadéusvog, oéBag hyobusvoc thv Tod Eévou éxdixnotv.
\uch dieser hohe Grad der Gastfreundschaft ist besonders den turanischen
\omaden eigen: „Nichts kann die Liebe und Anhänglichkeit des primitiven
Menschen zu seinem Heimatsort besser schildern als eben jener Sprachgebrauch,
ach welchem der von der Heimat in die Fremde Geratene als arm und elend
bezeichnet wird, indem das Wort ‚Fremde‘ identisch mit ‚Elend‘ und ‚Ver-
Iassenheit‘ ist. In diesem Sinne ist auch jener außerordentliche Grad von
Freundschaft und Liebe aufzufassen, mit welcher der türkische Nomade zu
1) VAMBÉRY, Ursprung der Magyaren, S. 316, 322 f.
s 2 WExSUKoOw, Die russisch-asiatischen Grenzlande. Leip ig 1874,
If,
i 8) ALEx. PETZOLDT, Umschau im Russischen Turkestan. Leipzig 1877,
. 814 f,
Vierteljahrschr, f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 21
316 J. Peisker
allen Zeiten den Gast, den Mann aus fremden Gegenden aufnahm. Der
Araber nennt den Gast ganz einfach wzsafr, d. h. der Zugereiste; ... wird
aber in Hinsicht der Zärtlichkeit weit übertroffen vom türkischen züsün oder
dücün — Gast, der Grundbedeutung nach der Süße, der Herzige...“'). -
MAURIKIOS setzt fort: Toüg C8 Övrag &v tais alypalwaiarc rap" abrois, oùx
dopiaty Xpövw, Ws TA Aoına Edvn, Ev DouAsig xatézouotv, &AÂG ÉnTÔv Öpllori;
adrorg Ypövov, Ev Th Yvoug adrav norodvrar elts YEAlovoıv dv Toig Liors dva-
Xwp7joat, nerd tivos todo, 7) pévouatv Exelce &Aeddspor xai pilou. Diese Idylie
ist natürlich ein Phantasiegebilde und mit der weiteren Charakterschilderung
desselben Gewährsmannes unvereinbar; in der Wirklichkeit werden es auf denbe-
rüchtigten turkotatarischen a/aman» — siehe oben S. 300f. — gemachte Gefangene
gewesen sein, die man eben in der Absicht raubte, um entweder ein hohe
Lösegeld zu erpressen, oder sie in die Sklaverei zu verkaufen; daß man die,
welche man so nicht verwerten konnte, nach Ablauf bestimmter Jahre al:
Freie und Freunde behandelte, widerspricht allem, was die Völkerkunde lehrt.
Ein Analogon dazu gibt es überhaupt nicht und unter den Turkotataren
am allerwenigsten.
MAURIKIOSs setzt fort: ‘Vréotn 88 adtoïs nAñ dos AAöywv ravroiwv [Zupane!]
xal yevnpätuv &v Impwviaıg Anoxsinevov [Bauern!], xal naliota xéyypcs wi
&ôpou. [Das Wort né<ota besagt, daß sie nebst xéyxpos und ZAvupog auch
noch andere Getreidearten bauten] ... œuloïotv dv Tols Bagéor xai arevk
xai xpnuvhËeot TOROL TüG Hata TÜV ÉxdpOY adtY éyxstpnostc dpydlscke.
Keypnvrar dè Anırndeiwg taig évédpatc nai Toig alpvıdıdanacı xal Ace; D
te vuËt xai uépars Tolläg psŸéèous oxnnarıböpnseve. [Ebenso beschreit
VAMBÉRY die turkmanischen Alamane] ... Kéypnvrar da xat vtéEoig Evlivx
na oayitats pixpals KSXPNLÉVEG Tobi vpapuaxwv [das tun die Turk-
tataren!]... "Avapya 88 xal mamlAnAx övra [die Zupane!] obdE TELv Yındı-
xovatv, oDdE Kara Tv SvoTddönv éxnv Enırmdebouc. naxscyat, obdE &v yuyvok
xal Opaloïs tönoıg yalvscdar... ”Antotot dé slot navrolwg xal dabpupwvor rap
tas ouvdmxac, péBy n&lloy 7 dwporg sluovtec. Atapépou Yäp rem
xpatodonç dv abrois, N où ouufaivouatv, 7) al oupfarvévtov abrèv %
Boxouvra ouvtépus Étepot rapaBaivouot, révrwy évavtimv AAANAOıG œpovoivim
xal pnésvôs TO Etépp rapaxwpsiv Boukouévou® [Geradeso schildert, wie wi
eben gehört, VÄMBERY die Unzuverlässigkeit der bloß ihren 46 beobachtenden,
sonst anarchischen Turkmanen und die Machtlosigkeit ihrer Aksakale] . --
Holüv 2 Evrwv Ény®y [Aksakale] xal douupoves éxévrowv rrpög dla
obx Arondv Tivag abtüv petayxatpiisodar 7 Adyors à dwpotc?) [Russland und
Persien wendeten dieselbe Methode gegen die Turkmanen an].
1) VAMBÉRY, Primitive Cultur, S. 78. PETZHOLDT rühmt a. a. O. 3. 304,
315 die große Gastfreundschaft namentlich der sonst auf Gelegenheit A
Plünderung und Raub wartenden Kirgis-Kaisaken. Vgl. auch VAuBER!
Reise, S. 66£., 2. Aufl. S. 69.
2) ARRIANI Tactica et MArrıcı Ars militaris, ed. J. SCHEFFEBU®
Upsaliae 1664. — SCHAFARIK, II. S. 662 ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 317
Es ist merkwürdig, wie sich der Bericht des MAurikıos über die
awen® mit dem VÄMBERYs über die Turkmanen deckt!
Kaiser LEO (wahrscheinlich Leo HI. der „Isaurier“, 714—741, und nicht
o der Weise, 886—911, nach ZACHARIÄ VON LINGENTHAL, Byzantinische
itschrift, III. 1894, S. 489. — SCHENK, Byzentinische Zeitschrift V. 1896,
298), Taxrıxöv XVIII. $ 79: xai Yüap xal Zxidßor MV note Öte repav
txouv Tod "Iotpov, Ov xai Auvobßıov xadoönev, olg nal npoçsnolëpouv "Popaiot,
Ubépevor vopnadın ac xal abrav töre Sabmvrwv rplv À rspatwdñvar Tév
tpoy al dd Töv Luyöv The Bupatxfic 2Eouolag röv abrwv abytva Droxilvar...
102. ”Hoav 22... 15 gulofsvia xataxdpmg Xpwpeva td ZxAdBwv Yüia, Tv
s vv waradıreiv édixalwauv, AAN” Exoucıv éuotws. 103. Toic Yap drıksvon-
ns dv adrois Nor Kal npäot Eyivovro ptlaompovobpevot . ..1).
Bevor also die Slawen in das byzantinische Reich eingebrochen sind,
madisierten sie in den Gegenden am linken Ufer der unteren Donau. Das
madisieren kann sich jedoch bloß auf die Zupane — damals waren es
raren — beziehen, welche, längst slawisiert, hier zu den von ihnen be-
schten Slawen gezählt werden. Die von LEO so hoch gerühmte slawische
stfreundschaft betrifft — wie schon oben betont — ebenfalls die slawi-
ren Zupane, denn wie konnte der geknechtete slawische Bauer gast-
andlich sein! Auch dem Kara-Kirgisen der Neuzeit ist das Gastrecht heilig,
d niemals wird er einen Gast berauben?®).
Den Bericht JOHAxNES’, Bischofs von Ephesus, 6. Jahrhundert, siehe
en S. 297 Anm. 2 und den IBN RosTEH’s 8. 800. .
Kaiser KONSTANTIN VO. Porphyrogennetos, de admin. imp. (geschrieben
‚Jahr 952) cap. 29: . .. Ma xal ta éxsîos Edvn, oi te XpwBétotr xai
IpBlot xal ZaxAoüpoı xat Tepßouvıntar xai Kavaleïtat xal AtoxAntravoi
À cl Hayavot, ris Tüv “Poualoy BaotAsias épnviécavtes yeyévaorv ltépuduor
À airoxépador, tivi ph dnoxsluevor. äprxovtac BE, Ge Paoı, Tata té
Ivy ph Exsı, rnAhy Courévoucs Yépovtac, xabbçe xai al Acıral
AaBiviar Exouor Tünov.. .S).
KONSTANTINS yépovtec sind nichts anderes als die turko-
tarischen Aksakale („Graubärte®).
JBRAHfM IBN JAKÜB schreibt im Jahre 973:
Cap. 1. Die Lande der Slawen ziehen sich hin vom Syrischen Meere bis
n Ozean nach Norden. Und Stämme des Nordens haben sich eines Teiles be-
Ichtigt und wohnen bis zu dieser Zeit zwischen ihnen [den Slawen]. Sie (be-
hen aus) vielzähligen, verschiedenartigen Stämmen ...
ee
1) Jo. MEURsII operum vol. VI. ex recensione Jo. Lami. Florentiae
BG. SCHAFARIK a. a. O. II. S. 665.
2) PETZHOLDT, a. a. O. S. 316.
8) Corpus scriptorum hist. Byz. Const. Porph. II. recogn. Bekker.
nnae 1840, 8. 128. — MIGNE, Patrologiae Cursus completus. Series
keca posterior, t. CXIII, Parisiis 1864, col. 251.
318 J. Peisker
2. Der Kornpreis ist dort [im Reiche Nâkûrs, wohl des Obotridenfürsten
Nakon, HELMOLD, I. 13] niedrig und das Land ist reich an Pferden, so daß
davon nach anderen Ländern ausgeführt wird...
3.... [Das Land Bwjsläws von Frêga, Prag] ist von allen Landen des
Nordens das beste und an Nahrungsmitteln veichste,; für einen Dinar kaufi
man soviel Weizen, als ein Mann für einen Monat nötig hat, und um dm
selben Preis so viel Gerste, als man braucht, um ein Pferd go Tage lang :s
füttern... Eine bemerkenswerte Erscheinung ist, daß die Bewohner von Böhmen
von dunkler Hautfarbe sind und schwarze Haare haben. Der blonde Typus kommt
unter ihnen nur wenig vor.
Nach ProKoPIıos, Bellum Got. IH. 14 waren die Slawen alle sebr
groß und stark; ihre Haut- und Haarfarbe weder weiß noch
blond, auch nicht gerade schwarz, sondern ganz und garröt
lich: & 88 gopata xal rag xöpas odrs Asuxol dc &yav N Eavdol sloiv obs
nn dc Tö pélay abrois navisilc tétpantar, AAN brépudpol slorv &ravıs'')
Die von IBRÂHÎM bezeugte dunkle Hautfarbe und die schwarzen Haare
der böhmischen Slawen lassen sich leicht aus FREDEGARS Nachricht, cap. 8
erklären: Die Chunen [Awaren] kamen alljährlich sum Überwintern unir
die Slawen; sie schliefen bei den Frauen der Slawen und ihren Töchtern, und
zu den übrigen Mißhandlungen mußten die Slawen den Chunen noch Tri
zahlen. Die Söhne der Hunnen aber, die diese mit den Weibern und Töckern
der Wenden erzeugt hatten, crirugen endlich solchen Druck nicht mehr .. und
begannen... eine Empörung. Der dunkle turkotatarische Einschlag war hie!
so stark, daß er noch 300 Jahre später dem IBRÂHÎM besonders auffel.
7. Und im Westen von den Rüs [ist] die Stadt der Weiber. Sie besitzen Länderriet
und Sklaven. Und sie werden von ihren Sklaven schwanger, und wenn eine vM
ihnen einen Sohn gebiert, tötet sie ihn. Sie reiten und ziehen in eigener Pers
in den Krieg und besitsen Mut und Tapferkeit. Es sagt IBRÂHÎM 1BX JAN
der Jude: Die Nachricht über diese Stadt ist wahr. Ersählt hat sie mir Hua
der König der Rüm [Kaiser Otto I.]°).
8. ... /hr [der Awbäba, gemeint wohl die Wolliner] Gebiet ist morastig und
liegt gegen Nordwesten vom Reich des Mschka [von Polen]. Sie besitzen eine groft
Stadt am Alter mit zwölf Toren und einem Hafen. Für diesen Hafen haben 5
treffliche Ordnungen [vgl. die Saga von den Jomswikingern oben, S. 308] .:-
Ihre Macht ist groß, sie haben keinen König und gehorsamen nicht
einer einzelnen Person, sondern ihre Machthaber sind ihr!
Ältesten [= Zupane, Graubärte]. Dies erfuhr IBRÂHÎM in der unmittelbare
Nachbarschaft, am Hofe Kaiser Ottos I. zu Merseburg und seine Worte deck®®
sich genau mit denen KONSTAXTINS PorPH. über die Südslawen und VA*
HÉRYS über die Turkmanen.
'1) Auch die Germanen waren nicht blond, ExvSoi, flavi, sondern CT TL
(GALENUS), natili (Tacıtus). Vgl. MÜLLENHOFF, Deutsche Altertumskunde I.
Die Germania des TACITUS. Berlin 1900, S. 144.
2) Über die Amazonen siehe oben S. 210 ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 319
. Im allgemeinen sind die Slawen unverzagt und kriegslustig, und wenn sie nicht
nander uneinig wären infolge der mannigfaltigen Verzweigung ihrer Stämme
rsplitterung ihrer Geschlechter, würde kein Volk auf Erden sich an Macht
ren messen können [bezieht sich doch nur auf die slawisierte Herren-
, die Zupane]. Die von ihnen bewohnten Länder sind die fruchtbarsten
ichsten von allen, und sie verlegen sich mit Eifer auf den Ackerbau und
uf andere Arten von Betriebsamkeit und übertreffen darin alle nordischen
[bezieht sich auf die slawische Bauernschicht] ...
„ «Mächtige Stämme aus dem Norden sprechen slawisch infolge ihrer Ver-
ng mit ihnen. Es sind von diesen die Stämme: die Trikin, die Ankliin,
schenegen, die Russen und die Khasaren. Welche Völker mit den Trékin
nkliin gemeint sind, ist noch nicht ermittelt worden; DE GOEJE ver-
unter den letzteren die Magyaren.
, Im ganzen Norden ist Hungersnot nicht die Folge des ausbleibenden
und anhaltender Dürre, sondern des Überflusses an Regen und anhaltenden
assers. Regenmangel gilt bei ihnen nicht für schädlich, da sie wegen der
igkeit des Bodens und der großen Kälte davon keine Sorge empfinden, Sie
n zwei Jahreszeiten, im Sommer und im Frühjahr, und ernten zweimal
le bauen Sommer- und Winterfrucht an]. Und der grösste Teil
Ernte besteht aus Hirse... .').
HIETMAR, Bischof von Merseburg, + 1019: Ziüs autem omnibus, qui
miter Liutici vocantur, dominus specialiter non presidet ullus. Unanimi
» ad placitum suimet necessaria discutientes, in rebus efficiendis omnes
lant. Si quis vero ex comprovincialibus in placito hiis contradicit, fustibus
zur et si forinsecus palam resistit, aut omnia incendio et continua depra-
' perdit, aut in corum presentia pro qualitate sua pecuniae persolvit quanti-
debitae?). Vgl. dazu die Berichte des Pseudo-CAESARIUS von Nazianz
AURIKIOS”, und was VAMBÉRY über die Steppenvölker Zentralasiens sagt.
je Berichte des Pseudo-CAESARIUS, PROKOPIOS’, MAURIKIOS’, Kaiser
KonsTAnTINn des VII. Porphyrogennetos, IrrÄHuims und THIETMARS,
h auf ein halbes Jahrtausend erstrecken, nennen hier zwar überall
Slawen, schildern aber dabei turkotatarische Verhält-
», und es kostet Mühe zur Feststellung, wo der Türke
ört und der Slawe anfängt. Es sind eben ethnisch und
llschaftlich turkoslawische Mischvölker.
) ABRAHAM JAKOBSENS Bericht über die Slawenländer: Die Geschicht-
eiber der deutschen Vorzeit. 2. Gesamtausgabe. X. Jahrhundert, 6. Bd.
kinds Sächsische Geschichten, übersetzt von Schottin. 2. Aufl. Neu
eitet von WATTENBACH. Leipzig [1891], S. 142 ff.; berichtigt nach IBRA-
Iex JaAkOBs Reisebericht ü. d. Slawenlande aus dem Jahre 965 von
VESTBERG in den Mémoires de l’Acad. Imp. des sciences de St.-Péters-
. VII: ser. Classe hist.-philol. Vol. 3, Nr. 4. 1898.
2) THIETMAR, Chronicon, VI. 18.
320 J. Peisker
Nun haben wir eine stattliche Reihe von Berichten g
die sämtlich auf eine ausgesprochene Zweischichtung der SI
mit turkotatarischer Oberschicht hinauslaufen. Dieser Zu
lebte sich derart ein, daß, wenn er mitunter aufgehört hat
sich infolge hergebrachter Disposition sogar von neuem bi
Das letztere war bei allen Balkanslawen der Fall, w
auf der Halbinsel ein zahlreiches Schafnomadentum, die WI:
— ohne Zweifel romanisierte Turkotataren —, bereits
gefunden haben und mit ihnen in einer merkwürdigen Sym
lebten, worüber eine besondere Abhandlung folgen wird.
Eine Zweischichtung mit germanischer Oberseh
haben zuletzt die Waräger Russen behauptet; die slaw
Bauernschaft war die Smerdenschicht').
* *
x
Eine uralte, augenscheinlich vorgermanische Zweischiel
erhielt sich bis in das späte Mittelalter bei den Daleminzie
Meißen, sowie auch bei einem Teile der Slowenen in Unters
mark, und was ich darüber vor acht Jahren geschrieben ?), {
jetzt, aus noch viel älteren Zuständen, die wir soeben ke
gelernt haben, abgeleitet, volle Bestätigung.
Bei den Daleminziern sind unter der deutschen Herr
folgende Volksgruppen wahrnehmbar*):
1122. homines in quinque | 1181. 1. seniores villarum,
iustitiis: 1. eldesten lingua sua sup:
vocant
2. knechte 2. in equis serviente
est withasii
3. zmurde 3. zmurdi
4, lazze 4. censuales ji
5. heyen 5. proprii |
Beide Urkunden halten eine und dieselbe Reihenfolge ein,
1) PEISKER, Zur Sozialgeschichte Böhmens. Die altslowenische Zu]
in der Zeitschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte V. 1897 3. 3
im Sonderabdruck 8. 106 ff.
2) A. a. O. S. 885 (Sonderabdruck S. 99) ff.
3) Die Belege siehe oben S. 802, Anm. 2.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 321
diese Übereinstimmung muß einen gewichtigen Grund haben: Es
liegt hier eine ständige Gliederung der Landbevölkerung vor, bei
welcher nicht übersehen werden darf, daß nur die ersten drei
Klassen slawische, auch sonst in ungezählten Urkunden und
Akten wiederkehrende Bezeichnungen (supani, withasii, smurdi)
führen, während die Klassen 4 und 5 nirgends slawisch benannt
werden.
Nun waren die Smurden, Klasse 3, so vollständig unfrei,
aller persönlichen und dinglichen Rechte so gänzlich bar, daß
sie sogar einzeln frei veräußert und ihre Ehen und Familien be-
liebig gelöst werden konnten. Sie hatten auch gar kein Erb-
recht‘). An Unfreiheit konnte ihnen somit weder Klasse 4
1) 1040 schenkt Kaiser Heinrich III. dem Bistum Naumburg mebrere
Dörfer cum omnibus pertinenciis, appendiciis et utilitatibus suis, videlicet cum
terris cultis et incultis sive etiam utriusque sexus familiis aldionibus vel smurdis.
Er versteht also hier unter den Smurden die älteren, im Besitz gelassenen
slawischen Bewohner. In demselben Jahre verlieh der Kaiser das Dorf Kösen
um omni Perlinenlia, mancipiis utriusque sexus el colonis, qui vulgo vocantur
smurdi. 1043 fügte er das fredium Rogas cum omnibus casis, campis, pascuis,
lois cultis et incullis, mancipiis, zmurdis, lascis, undecunque illuc confluxerint,
cum omnibus suis pertinentiis et utilitate hinzu, und 1041 schenkte er einem
Marquard 10 Königshufen in Taucha cum X smurdis et illorum uxoribus filiis-
Que suis et filiabus, immo cum omnibus suis possessionibus. Im Jahre 1066
werden dem Bistum Naumburg Güter cum omnibus suis pertinentiis, hoc est
“riusgue sexus mancipiis: zmurdis videlicet propriisque hominibus, vineis, agris...
Jorestis, forestariis . . . bestätigt. Nach dem Vergleich Markgraf Konrads
von Meißen mit dem Bischofe von Naumburg vom Jahre 1144 de singulis
Mansıs smurdonum quatuor denarii, et de mansis hospilum duo denarii ad usum
Predicti marchionis persolvantur. Es war dies, nach MEITZEN, die Umwand-
lung einer von allen Untertanen des Stifts an den Markgrafen bisher in Ge-
treide entrichteten Abgabe in Geld. Wie hart aber gleichwohl die Lage der
Smurden sein konnte und ursprünglich zweifellos allgemeiner gewesen war,
2tigt eine Urkunde von 1174, in welcher der Halberstädter Dompropst Rein-
hard über den zur Villikation Hecklingen gehörenden Zehnten in Amersleben
immungen trifft: ... Res litonum, que post mortem ipsorum
@d usus ecclesie spectare debent, si tantum uno talento appense fuerint,
fratres ad supplementum prebendarum cas accipiant, si vero amplioris preci
fuerint, dimidia Pars fratribus, altera pars preposito remaneat.... Mansi et alia
TUE vacaverint, que discreta dispensacione locanda sint, ad potestatem fratrum
"es Piciant, cui vel quomodo aut quare ea locare velint. Folgt der Census. He
‘Mnia dant Sclavi ad reditus prepositi, insuper dantur de banno xxilij sexa-
322 J. Peisker
noch Klasse 5 irgendwie nachstehen. Ein Erbrecht erhielten sie
erst im Jahre 1197 zugleich mit den hien (Klasse 5), wobei
der Klasse 4, der lazze, censuales, nicht einmal gedacht wird,
zum Beweise, daß das Erbrecht dieser Klasse 4 gar nicht frag-
lich gewesen ist, die lazze somit ungleich besser gestellt waren
als die Smurden, Klasse 3, trotzdem beide, sowohl die Smur-
den als auch die lazze, in den Urkunden als coloni, liti
bezeichnet werden, also bestiftet waren. Urkunde 1144 kemnt
zwei Klassen von Bestifteten, sie spricht von mansis smur-
donum und von mansis hospitum und belegt einen Smurder-
mansus mit einer doppelt so hohen Abgabe als den eines hospes.
Weil aber unter diesen hospites nur Klasse 4, die der lazze,
censuales, gemeint sein kann so ergibt sich für sie auch in
dieser Beziehung eine ungleich günstigere Lage als die der
Smurden war.
Am deutlichsten wird aber die Lage der iustitia 3, die der
genaria annone et de vj villis nummus de quolibet hospicio . . . (Codex diplo-
maticus Anhaltinus hg. v. HEINEMANN I. Dessau 1867—1873, S. 408 f.).
Unter diesen slawischen litones können nur dieSmurden gemeint sein.
Dies zur Beleuchtung der Urkunde vom Jahre 1197, in welcher Heinrich VL
bestätigt, daß er auf Bitten seines Getreuen Rüdiger de Lewenberc: smw-
lonum [= smurdorum] ef corum, qui dicuntur hien de officio de Waldeck tt à
officio Hescelini et de offcio Friederici de Frose [also auf kaiserlichen Gütern]
rigorem iuris relaxavimus, statuentes eis talem iustitiam, qualem habent sims
et illi, qui dicuntur hien de Fhezere, scilicet ut, quicungue moreretur, heres persohal
villico iv solidos. Prius enim villici omnem substantiam cor"
accipiebant, quod nobis videbatur miserabile, unde compacienter talem imptr
dimus humanitatem eis et posteris corum, ut heres persolvat predicto villio &
sol. et cum ceteris bonis in pace permaneat. Die ausdrückliche Erwähnung der
Ehefrauen, Söhne und Töchter als Mitgeschenkten in der Urkunde vom
Jahre 1041 besagt implicite, daß diese auch zurückbehalten, somit die
Smurdenehen beliebig gelöst und alle Familienbande gänzlich zerstört werdet
konnten. Vgl. THIETMAR, Chron. II. cap. 9: ... Schavonicae ritu fomilet
quae accusata venundando dispergitur. Monumenta Germ. hist. SS. IH. 3.76
Z. 44 — MEITZEn, a. a. O. II. S. 452 f. — EDUARD OTTO SCHULZE, Die
Kolonisierung und Germanisierung der Gebiete zwischen Saale und Ele,
Leipzig 1896, S. 107 (Preisschriften der Jablonowskischen Gesellschaft
XXXIIT). — PEISKER in der Zeitschrift f. Soz.- und Wirtschaftsgesch. '.
S. 341 f., im SAbdr. S. 105 f. Die Urkunden abgedruckt in Lersıs, 68
schichte der Bischöfe von Naumburg I. 201. 203. 205. 207. 221.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 323
>, censuales, durch die Urkunde vom Jahre 1043 charak-
rt: predium Rogaz, cum ... mancipiis, zmurdis, lascis,
unque illud confluxerint. Es fällt auf, daß hier die Reihen-
der Justitien eine andere ist als in den obigen Urkunden,
ch 5, 3, 4. Der Grund ist in der Beifügung: undecungue
confluxerint zu suchen. Diese Bemerkung kann sich näm-
reder auf Klasse 3, die Smurden, noch auf Klasse 5, die
, proprii, mancipia beziehen, denn beide sind leibeigen,
unfähig, die Scholle, an die sie geheftet sind, zu verlassen
nderswohin confluere,; dies vermögen nur die Hergelaufenen,
1e Scholle nicht Gebundenen, und dies kann nur die Klasse
ze, censuales, die iustitia 4 sein‘). Die Verstellung der
nfolge ist also hier stilistisch begründet.
mit hätten wir jene Momente beisammen, welche die Lage
stitia 4, die der lazze, censuales, deutlich kennzeichnen
ie von den Klassen 3 und 5 scharf abgrenzen: Die lazze,
ıales, sind hergelaufen, einstweilen persönlich frei; sie ge-
ı seit jeher ein Erbrecht, welches den Klassen 3 und 5
pät verliehen wurde, und sind weniger belastet, da sie über-
icht, wie die Smurden, guotidiano servitio imperata faciunt.
ie Stufenleiter der fünf Justitien ist also keine Rangstufen-
. lustitia bedeutet hier keine Rangstufe, sondern Kompetenz,
lie Leiter ist eine Kompetenzleiter. Klasse 3 (smurdi) ge-
nit Klasse 1 (supani) und 2 (withasii) vor andere Kompe-
ı als Klasse 4 (lazze, censuales) und 5 (heyen, proprii),
wird die ungleich höher stehende Klasse 4 (lazze, censuales)
efer stehenden Klasse 3 (smurdi) in der Leiter nachgesetzt.
„Es ist dies die früheste Nachricht, die sich auf das Einströmen vou Ele-
ı der ackerbauenden Masse im alten Reich deuten ließe, wenn man
ers die Lassen als Flüchtlinge auffaßt“, bemerkt E. O. SCHULZE
' Anm 3. Sagt ja HELMOLD, Chronica, I. c. 87 in fine: Zi aucte sunt
liones in terra Slavorum, eo quod confluerent de terris suis
nes Teutonici ad incollendam terram spaciosam, fertilem frumento, com-
! pascuorum ubertate, abundantem pisce et carne et omnibus bonis. Und
im Jahre 961 schenkt Otto I. dem Erzbistum Magdeburg omnem regionem
'mgue vocalum Noeletice . .. cum omnibus ad eas pertinentibus ... mancipiis
onicis et Selavanicis... Monumenta Germ. hist. DD. I. Hanno-
1884, 4° S. 318, Nr. 232.
324 J. Peisker
Man darf eben nicht übersehen, daß die fünf iustitiae die ge-
samte Landbevölkerung umfaßt haben müssen und die Fremden,
nämlich dielazze, welche illuc confluxerunt, sowie dieheyen,
die hergeschleppt wurden, einen ganz anderen Rechtsgang hatten
als die einheimischen supani, withasii und smurdi. Die heyen
standen ja auch in Westfalen und Osnabrück unter eigenen
Scholzen mit einer besonderen, Azensprake genannten Gerichts
barkeit!), während hier die Smurden mit ihrem zus smurdonum‘)
der Supanengerichtsbarkeit unterstanden °), dem Grundsatze ge-
1) KNOTHE a. a. O. S. 33 f. MEITZEN, IL. 451.
2) 1279 entläßt Burggraf Otto von Kirchberg /ratres de Condixe «x
ipsorum servitute nobis in iure smurdonum ab anliquo adstrictos ... datwris
ipsos singulis annis solidum denariorum. MEITZEM, II. 453.
3) 1276 behält sich Graf Konrad von Brehna beim Verkauf der Ober-
gerichtsbarkeit von fünf Dörfern vor, guod tres seniores [= supani] corum
villarum ad iudicium ipsius comilis Vicin ter in anno eant, eiusque iudicii sententies
dictent. Bei dem Landgerichte zu Bautzen aber bestand eine besondere At
teilung für Bauersachen, das „wendische Landgericht“. Seine Schöppen, vol
denen nur zwei Bauern, und zwar wendische, waren, werden in einer Urkunde
von 1436 als Starosten bezeichnet (KNOTHE a. a. 0. 8.10 f.). Der Ausdruck
entspricht — wie MEITZEN II. S. 242 hervorhebt — dem Sinne nach de
seniores, eldesten [= supani].
In der Gerichtssprache für Anhalt und Nienburg a. S. wurde das Wer
dische erst im Jahre 1293 abgeschafft:
1293 ... Nachdem durch Verenderung der Sprachen der Baw zu Bab
verhindert worden und große Ungelegenheit gibt sweyerley Sprachen unter 4
Unterthanen, daher auch viel Dörfer ledig liegen bleiben und wüste werden, &
vergleichen sich hochgedachte Fürsten [Graf Albert I. und Bernhard II. von Ar
halt] mit Conrado dem Apte zu Nienburgk und geben ihm für die verwästlt
Dörfer zu Wiedererbauung deroselbigen go Mark ... mit dem Beschcidt, dp
die Wendische Sprach gentzlich sol ausgelassen und nicht mehr, sondern allein die
Teutsche Sprache in den Gerichten... gebraucht werden. .. Der Text die!
Urkunde ist nicht zu ermitteln. — Codex diplomaticus Anhaltinus. Hers’*
gegeben von Heinemann. II. Dessau 1875, S. 528.
Dasselbe soll für Leipzig 1327 geschehen sein (MEITZEN, IL $. 22).
Der Mitherausgeber des Codex dipl. Saxoniae Regiae, H. ERMISCH, teit
mir gütigst mit: ,Eine Urkunde von 1327, die die oft wiederholte Angie
über die Abschaffung der wendischen Sprache bestätigte, gibt es allem Ar
scheine nach nicht; die Angabe schreibt ein Autor dem andern nach — ®
wäre interessant, ihrer Quelle nachzugehen ...“ Ich konnte sie nur bis zU®
Jahre 1820 verfolgen: „Landgraf Friedrich mit der gebissenen Wangt zerbel
[seinen Altenburger Wenden] 1727 dei Lebensstrafe wendisch su sprechen odır ”"
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 325
Aÿ, daß außer bei handhafter Tat der Sachse nicht über den
enden, der Wende nicht über den Sachsen Urteil finden durfte’).
» mußte also — sagt E. O. SCHULZE — über deutsche und
endische Sachen getrennt, vor besonderer Schöffenbank, ver-
andelt werden, so daß es nicht überraschen kann, wenn von
legitima iura Slavorum“, „placita Slavorum“, „advocati Slavorum“
ie Rede ist, und wenn dort, wo die Wenden zahlreich und lange
ch behaupteten, der Gebrauch der wendischen Sprache vor Ge-
cht sich bis in das 15. Jahrhundert erhielt ?).
Die fünf iustitiae sind somit zu trennen, und dies geht nicht
nders, als daß wir bloß die ersten drei, die der supani, withasii,
murdi, als in der Kompetenz des wendischen Rechtes, des ius
‘lauonicum, dagegen die ungleich höher als die Smurden stehen-
en lazze, censuales, und die den Smurden gleich tief stehenden
eyen, proprii, mancipia als außerhalb dieser Kompetenz stehend
nnehmen.
Wir sehen, die einheimischen Quellen reichen zu einiger Auf-
ellung der sozialen Gliederung hin, und es ist nicht nötig, dazu
uswärtige Zustände zum Vergleiche heranzuziehen; so etwas ist
ekanntlich immet sehr mißlich und so viel als nur möglich zu
richte sich dieser Sprache zu bedienen. Auch wurden alle Wenden für unfähig
rklärt, öffentliche Ämter und Ehrenstellen zu verwalten, ja sie durften nicht ein-
ul ein Handwerk erlernen.“ SCHMALZ, Erfahrungen im Gebiete der Land-
irthechaft. IV. Die altenburgsche Landwirthschaft, Leipzig 1820, S. 16.
Viel später in Schlesien: 1495 befahl Bischof Johann von Breslau seinen
och slawisch redenden Bauern, binnen 5 Jahren deutsch zu lernen, widrigen-
als er sie fortjagen wollte: Do durch sy sich mit Deutschenn undsern Amacht-
fulenn nicht anders, den durch Tolmetschen beredenn und yre Notdorf vorbrengen
Onnen, hot seine fürstliche Gnade mit denselben Woitzern dy do von Polnischer
unge sein und der bisher gebraucht habenn, vorschafft, das sy innerhalb fünf
Foren, itzt noch enander erfoigend, deutscher Sproch üben, reden und der forter
Under kabenn würdenn, dy sollen durch yre Eldern angehaltenn werdenn, das
Je zum ersten Deutsch wol lernen. So aber ir keiner aufs gemelten Woitzitzern
uch seiner Gnoden Gebot unnd deutsche Spruch zu lernen vorachten würde, den
ol seine Gnade aldo unnd anderswo unnder am nicht doldenn, sunder von dann
nn LANGETHAL, Gesch. d. teutschen Landwirthschaft, II. Jena 1850,
. 179,
1) Sachsenspiegel, Landrecht ID. 70, $$ 1—2. Auch Richtsteig
“Andrechts 50 $ 10.
2) EDUARD OTTO SCHULZE a. a. O. S. 99 f.
326 J. Peisker
vermeiden, weil sich derlei Verhältnisse in verschiedenen Staats-
wesen fast nie gleichmäßig gestalten; um so verfehlter wirkt noch
die Parallele, wenn man zur Erklärung eine auswärtige Institution
heranzieht, welche selbst noch unerforscht, sogar viel dunkler
ist als das zu Erklärende. Und es kann nicht oft und laut
genug betont werden, daß zur Erschließung der elbeslawischen,
polabischen Volkszustände namentlich die polnischen, schlesischen
und böhmischen Einrichtungen ganz unverwendbar sind. Einmal,
in vorhistorischer, nicht ergründbarer Zeit, standen sie gewiß
einander nahe; die deutsche Eroberung unterband aber die Ent-
wicklung der Elbeslawen vollständig, während sich die polnischen,
schlesischen und böhmischen Slawen von dieser Seite ungehinderter
entwickeln konnten und gerade um diese Zeit ungeheuer ent-
wickelt haben. Die Supane, Withasen und Smurden kommen
dort in dieser Form gar nicht vor, die einstige Supano-Smurder-
verfassung dieser Länder gehört in vorgeschichtliche Zeiten;
sie war damals bereits gänzlich ausgelebt, geradezu spurlos
verschwunden. Und was aus ihr in mehr oder weniger orga-
nischer Entwicklung sich herangebildet hat, das steht den pola-
bischen Zuständen wildfremd gegenüber. Man lasse daher bei
Besprechung der elbeslawischen gesellschaftlichen Verhältnis
die polnischen, schlesischen und böhmischen Quasianalogien
hübsch beiseite, denn man weiß von dem Wesen der Opolebauern,
smardi, heredes censuarii, Kmeten, decimi, narocznici, milites medil
u. 8. w.u.8. w. noch herzlich wenig, jedenfalls viel weniger als von
den fünf iustitiae in Polabien zur Zeit der deutschen Herrschaft.
Und wenn man schon Analogien zu den polabischen Verbält-
nissen nicht entbehren will, so suche man sie wenigstens dor,
wo solche Volksklassen tatsächlich auch vorkommen. Die Smer-
den z. B. sind im alten Rußland die Gesamtheit der [persönlich
freien] slawischen Bauernschaft ‘) und fordern weit eher einen Ver-
gleich mit den Smurden der Daleminzier heraus, als irgendeine
schlesisch-polnische oder böhmische Volksklasse.
1) CeprteBu4», Pycckia mpuumueckia npesaocrtn. I. C.-IIerepöyp!>
1890, S. 165, in der 2. Aufl. 1902, S. 178 ff.; im Auszuge bei Pkiısker, Zeit
schrift f. Soz.- und Wirtschaftsgesch. V. 1897, S. 842 ff., im Sondersbärack
S. 106 ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 327
ısere Analyse der fünf iustitiae führte zur Annahme,
lie Smurden als die breite Masse der daleminzischen
nschaft anzusehen!), während die lazze, censuales, erst
nd der deutschen Herrschaft Hergekommene sind, infolge-
ı keinen slawischen Namen haben können. Dazu ist dann
be Verhältnis der russischen Smerden ein vollgewichtiges
gon. Daß aber die daleminzischen Smurden leibeigen, da-
die russischen Smerden persönlich frei sind, erklärt sich
die Niederwerfung der Daleminzier durch die Deutschen
lie freiwillige, vielleicht sogar vertragsmäßige Unterwerfung
ıssischen Slawen unter die Waräger Russen, deren früheres
ie soeben abgeschüttelt haben (siehe oben S. 295). Die volk-
n russischen Slawen nahmen die Herrschaft einer ver-
ndend kleinen Herrenschar auf sich, während die geringen
hen der Elbeslawen einzeln, infolge ihrer verzweifelten Auf-
> unter der ungeheuren Wucht der deutschen Weltherrschaft
immer tiefer sanken. Ob jedoch die polabischen Smurden
1057 bekundet Erzbischof Anno II. von Köln, daß Königin Richeza
hloB Salfeld und was sie zu Orla besessen, der Kölnischen Kirche ge-
thabe. Tradidit guogue domina Regina... seruientes .... omnes utriusque
ad hec predia pertinentia ... sub censu duorum denariorum annis singulis
us ipsi et omnis posterilas ecorum sub ea lege permancant, que omnes similem
: ad altare soluunt. Illud quoque firma ratione constituens, ut liberis
mordis, uenatoribus siue cuiuscumque generis hominibus ad hanc
tionem pertinentibus [permaneant], que suis temporibus iura et optimas
udines habuisse probare poterint (Urkundenbuch für die Geschichte
ederrheins, herausgegeben von LACOMBLET, I. Düsseldorf 1840, S. 124,
2). Oben lernten wir schon den Vergleich Markgraf Konrads von
ı mit dem Bischofe von Naumburg vom Jahre 1144 kennen: de singulis
smurdonum quatuor denarii et de mansis hospitum duo denarii ad usum ...
onis persoluantur (Codex dipl. Saxoniae Regiae I. 2. S. 118 Nr. 167).
iesen und auch mehreren anderen Urkunden schließt auch HEINR. LEO
suchungen zur Besiedlung und Wirtschaftsgeschichte des Thüringischen
indes, Leipzig 1900, S. 42, bildet das 3. Heft des VI. Bandes der Leip-
' Studien aus dem Gebiete der Geschichte), daß der Name Smurden
ilen als Bezeichnung für den Gesamtteil der slawischen Untertanen ge-
t wird, während nirgends noch außerdem eine breite Schicht acker-
ler höriger Bevölkerung nachzuweisen ist“. Daß auch in Rußland die
theit der [persönlich freien] slawischen Bauernschaft Smerden genannt
‚ haben wir bereits gehört.
328 J. Peisker
vor der deutschen Unterjochung cbenso oder weniger frei, wie die
russischen Smerden, gewesen sind, bleibt eine offene Frage.
Nun glauben wir die Annahme hinreichend begründet zu
haben, daß die Deutschen bei den Daleminziern drei Volks
klassen vorgefunden haben: die Supane, die Withasen und die
Smurden. Davon scheiden die Withasen, der Berufskriegerstand,
als ein späteres Einschiebsel ’) aus, so daß wir dann nur die
zwei Klassen: die Supane und die Smurden, als die erkennbar
einzigen ältesten Bestände der Daleminzier vor uns hätten. Da-
durch wären wir aber auch in die Vorzeit so weit vorgedrungen,
daß wir organische Zusammenhänge der Gliederung der Dale-
minzier in Supane und Smurden mit den altslawischen Zuständen
erwarten können, wie diese aus den vielfachen und abwechselnden
Knechtungen durch turkotatarische Reiterhirten- und germ-
nische Viehzüchtervölker herausgewachsen sind.
Das Ergebnis für die altslawische Vorzeit lautet kurz: die
slawische Bauernschicht wird von einer nichtslawischen Schicht
von Reiterhirten oder von einfachen Viehzüchtern als Herrenschicht
beherrscht. Läßt sich diese Herrenschicht mitten unter den unter
worfenen Slawen nieder, dann entstehen Weidereviere, und
die heißen Zupen (sing. #vpa). Zupan, supanus, ist jeder
Angehörige der Herrenschicht einer Zupa°). Das Weiderevier,
die Zupa, liegt in bestimmten Konfinien, ist somit zugleich Ver-
waltungsbezirk, Gau.
Das Verhältnis der Herrenschicht zu der Bauernschicht kam
in zwei Formen gedacht werden: Entweder steht Schicht gegen
Schicht, so daß nicht der einzelne Bauer einem einzelnen Hem
hörig ist, sondern die Gesamtheit der Gesamtheit. Oder jeder
Bauer hat einen bestimmten Herrn. Die letztere Form wohn!
ganz gewiß der germanischen Herrschaft inne, während die
erstere der Lebensweise der turkotatarischen Nomadenhorden
entspricht, welche immerfort wandern, heute die, morgen eint
andere bäuerliche Ansiedlung heimsuchend. Und hat eine Horde
eine Ansiedlung verlassen, rückt eine zweite nach, sobald sich
der abgeweidete Platz einigermaßen erholt hat. Bei einem soleben
1) Siehe oben S. 302.
2) Siehe oben S. 290.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 329
echsel und Tausch der Weideplätze konnte sich eine Abhängig-
it von Person zu Person gar nicht entwickeln, es blieb bei der
hängigkeit von Schicht zu Schicht.
Ob diese Form, Schicht gegen Schicht, dereinst auch bei den
leminziern bestanden hat, läßt sich mangels an Quellen nicht
‘hweisen, ist aber wahrscheinlich, weil sie, wie wir sehen
rden, bei den Slowenen Untersteiermarks — bei denen ähn-
ıe Verhältnisse offenkundig sind — nachweislich vorhanden
r. Über die Stellung der daleminzischen Zupane selbst
an jedoch kein Zweifel bestehen. Sie waren zur Slawenzeit
'undherren, denn sie werden auch noch in der spätesten
it, als sie schon längst unter der deutschen Herrschaft hörig
worden sind, seniores genannt, und das kann eben nichts
deres bedeuten als Grund-, Lehensherren'). Nach der Unter-
rfung durch das Deutsche Reich verloren sie wohl den größten
il ihrer Herrschaft, qualitativ und quantitativ, nicht aber alles,
d es ist gewiß ganz verfehlt, sie schon für die ersten Zeiten
t deutschen Herrschaft für bloße Dorfvorsteher mit richterlichen
d administrativen Befugnissen zu erklären; denn sie sind so
ilreich und die Dörfer so klein, daß es von seiten der Deutschen
; reinste Verschwendung gewesen wäre, so viele „Vorsteher“
zustellen, so viele Supanenhuben unverzinst oder wenig ver-
st zu lassen; es ist vielmehr anzunehmen, daß die Zupane,
nigstens in der ersten Zeit der deutschen Herrschaft, gewisse
istungen von den ihnen unterstehenden Smurden weiterbezogen
ben.
* *
x
Viel deutlicher als in Daleminzien liegen die Verhältnisse in
tersteiermark ?); diesen kann man dank dem reichen Material
rar statistisch beikommen:
mm
1) Noch THIETMAR von Merseburg II. 24 bezeichnet den Häuptling der
nden in Zwenkau zur Zeit Ottos des Großen als senior, also mit einem
sdruck, der bei ihm fast stets synonym ist mit dominus oder princeps.
0. SCHULZE, S. 106.
2) Ausführlich behandelte ich den Gegenstand in der Zeitschrift für
dal. und Wirtschaftsgeschichte V. 1897, S. 851 (im Sonderabdruck 115) ff.
330 J. Peisker
Nach dem Rationarium Stirie v. J. 1265—1267 !) ge-
hörte zu den landesfürstlichen Gütern auch das geschlossene
officium de Tyuer (heute Alt-Tüffer, slowen. Debro, südlich
von Cilli). Es bestand aus vier Verwaltungsbezirken, provinciae,
schephonatus, mit je einem schepho an der Spitze, und innerhalb
jeder provincia werden die einzelnen Ortschaften mit der Zall
ihrer praedia (Huben) angeführt. Mit wenigen Ausnahmen steht
an der Spitze einer jeden, auch der kleinsten Ortschaft ein Zupan,
supanus; wie viele praedia er selbst besitzt, wird jedoch nirgends
im officium Tyuer ausdrücklich angegeben, denn es ist selbstver-
ständlich, daß er immer und überall je ein Zweihübner ist, wie
auf den übrigen, im Rationarium verzeichneten Herrschaften‘).
Auch der Zupan ist zinspflichtig, und nur jene vier Zupane,
welche ad personam mit dem Amte eines schepho betraut sind,
zinsen nicht. Bei dieser Gelegenheit erfahren wir nun indirekt,
daß das Gut eines Zupan tatsächlich zweihubig war”).
Die Zinsungen sind nicht in allen, sondern immer nur in
mehreren Ortschaften gleich hoch und werden infolgedessen bei
jeder solchen Gruppe von gleichzinsenden Ortschaften summarisch
angeführt, abgesondert für die Bauern- und für die Zupaner-
wirtschaften, weil der Zupan nach einem ganz anderen Schlüsse
zinst.
Die erste Gruppe der ersten provincia, der sub regimine
schephonis Gyrredei*), umfaßt 7 Ortschaften (Chreinen-Scheyr)
mit 2,2,2,3,2,2,3 praedia und mit je einem Zupan. Der Zupar
von Scheyr ist zugleich der schepho der provincia. Zusamme
umfassen die 7 Ortschaften 30 praedia (16 bäuerliche und 14
1) Fehlerhaft abgedruckt in Rerum Austriacarum Scriptores, edidi
A. RaucH, vol. U. Vindobonae 1793, S. 114 ff.; ich folge dem von Archit*
direktor v. ZAHN kollationierten Exemplar der Grazer Landesbibliothek an
Joanneum.
2) Die ständige Formel lautet: In villa x sunt y predia, de quibus st
panus habet jj.
3) Damals waren mit dem Amte eines schepho die Zupane von Scheff,
Weidiz, Pirch betraut, und bei jeder dieser Ortschaften steht die Bemerkun'
Jbidem habet schepho ij predia, de quibus nichil solvit. Der Sitz des vierte
schepho ist nicht angegeben. RAUCH, a. a. O. S. 128. 181. 132.
4) RAUCH, II. S. 127—129.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 331
\ der 7 Zupane), und weil das praedium eines colonus
ıglich nur einer Bauernfamilie zugewiesen war, so muß
> Zeit gegeben haben, in welcher hier annähernd jede
Familie eine Zupanenfamilie gewesen ist. In 5 von den
chaften ist eine ganze Hälfte des ausgetanen Bodens
ngut.
- Zupane sind hier so zahlreich und im Vergleich zu den
unterstehenden Bauern so außerordentlich stark begütert,
unzulässig ist, in ihnen lediglich Dorfschulzen oder gar
ıaftsbeamte zu erblicken. Kann man ja bei diesen Ort-
n ob ihrer Kleinheit von Dörfern gar nicht sprechen,
inmal recht von Weilern, sondern von einer Art Ortsver-
en, deren Wesen keinesfalls verwaltlicher, vielmehr wirt-
cher Natur sein konnte, weil eine Dreifamilienortschaft
Zupan eingerechnet! — einer besonderen und noch dazu
h dotierten Verwaltung gar nicht bedarf. Und wie erst
m Orte, wo der Zupan bloß einen einzigen!) oder gar
Bauer?) unter sich hatte, ganz allein im Orte saß! Über-
tem iuxta aquam, que dicitur Trevol i predium et supanus (in der zweiten
ı, de Trevül, ex regimine Livtoldi schephonis). RAUCH, I. 180.
Polsenperg i predium et supanus (in der vierten provincia, de regimine
is Zaschirz). RAUCH, IL S. 132.
tem in Zeltz tantummodo supanus (in der dritten provincia, ex regimine
is Jurizla. Rauch, IL S. 131.
dieser Gelegenheit möchte ich auf ein Mißverständnis eingehen, welches
ine unklare Fassung im Rationarium verursacht worden ist. Dieses
‚nämlich über die Praedia im Bachergebirge und im Marburger Felde
n Seiten der Drau:
‘anus Pocher aput Hermannum xij mansi. Quilibet v metretas
num modium [= 6 metretae] avene et xii denarios. Computale denarii
s [d. i. von den 12 mansi zusammen 12 Denare]. — Janso xij mansi
su. — Adelper xuiij mansi simili censu. — In Vogtwin Wichar-
j mansi simili censu. — Aput supanum leben xiij [= 12'J,] mansi
nsu. — Zrala xj mansi. Quilibet iijer metretas tritici el unum
avene, el xij denarios. — Perhtoldus institor xvii mansi simili censu.
'vicus suppanus xvj mansi simili censu. — Ad Perhtoldum altera
msnitz xviiij mansi simili censu. — Aput Jurisse vj mansi. Ilqui-
[= /+] modium tritici et unum modium avene et xii denarios. — Aput
tv) mansi simili censu. — Ad Laurentium vj mansi simili censu. —
)emasen v mansi simili censu. — Aput Domamer viij mansi. Quili-
jabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 2
pa
332 J. Peisker
dies gibt es auch Ortschaften mit je zwei Zupanen. So in Prume
mit 7 Huben, davon 6 besetzt. Von diesen sechs duo suppani
bet ij metretas tritici et j modium avene et vj denarios. — Aput Batsen ti
mansi simili censu. — In Chestenpach xij mansi simili censu, exceptis denariis.
— Supanus Ulricus habet v mansos, serviunt sicut Domamer. — Supansı
Stoyn iüij mansos, serviunt sicut Domamer . ..
Summa Pocher. Summa Urbarum [= hubarum] cxcij [h]uöe.
Supra Pocher. Summa tritici cxxvj modii. Summa avene clxxe [= 114")
modii. Summa denariorum xij marce et iij solidi et xv denarii. RAUCH, IL
S. 172 f.)
Fr. v. KROKES, Verfassung und Verwaltung der Mark und des Herzogthuns
Steier, Graz 1897, S. 442, sieht „da Supane von bedeutendem Grundbesits
und entsprechenden Zinsen“. Und S. 448: „Die besonders in der Marburger
Gegend am Bacher angeführten Supane von bedeutendem Grundbesitz bilden
eine besondere Gruppe, die somit als zinsende Großbauern erscheinen.®
Das ist ein MiBverständnis. Sufanus Pocher aput Hermannum x
mansi bedeutet nicht: 12 Huben des Zupan „am Bacher bei Herman‘,
denn aput Hermannum und die weiteren Personennamen sind hier zugleich als
Ortsnamen zu verstehen; bei jeder Ortschaft wird hier eben der Zupan, oder
der magister villae, iudex angeführt, und daneben die Zahl der bestifteten
Huben genannt. Solche Fälle sind im Rationarium ungezählt, und gleich
drei Seiten zuvor lesen wir: /Lem apud Welygoy xix mansus.... apud Lamkr-
lum xxiij mansus 0.8. w. Aus solchen af“d xy entstehen dann mit der Zeit
regelrechte Ortsnamen, hier und auch sonst in den Slawenländern. So er-
hielt 1268 das Zisterzienserstift Goldenkron mehrere Dörfer im Böhmerwalde,
darunter ©’ Gerc, U Mladone, U Yanka, U Dirka, U Mita, also apud Jirek
apud Mladon, apud Janek, apud Jurik, ad theloneum, welce
im Jahre 1284 $ercenzlag, Budeczlag (Plattetschlag), Senkezlag (Janketschlag)
Jurizlag, Muczstat (Mautstatt) genannt werden (EMLER, Regesta Bohemist
II. Nr. 608 und 1309). Die Ortsnamen der zweiten Urkunde sind Kanzler
namen, die großenteils auf dem Papier blieben, während das Volk selbständig
vorging und manche seiner eigenen Wortbildungen schließlich durchsetstt.
So führt die zweite Urkunde auch den Ortsnamen ZDietohslag, welcher sich
unter den Dörfern der ersten Urkunde nicht ermitteln lässt und U Dictohe
apud Dietoch lauten würde. Das Volk nahm aber den Kanzleiname
Dietohzlag nicht an, sondern bildete aus Ditochov, wie der Ort später genan!
wurde, die Form Zichtihöfen und so heißt das Dorf (wsw. von Krumail
bis zum heutigen Tage.
Solange ein Ortsname schriftlich nicht fest genug fixiert ist und dem
Volke amtlich nicht oft genug vorgesagt wird, ist er vor Änderungen, jt
auch vor gänzlichem Untergang nicht gesichert. Dies gilt besonders vt
jenen, welche von Personennamen abgeleitet sind, auch von den sogenannte
Patronymicis, die man ganz willkürlich und fälschlich auf Sippennamt
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 333
abent kubas iiij, also */s (siehe unten S. 348). — In einer Krainer
Irkunde von 1274 lesen wir: ... suppanus ... Petrus et Ekke-
tardus suppanus eciam de Holaren, item Waltherus suppanus
..de villa Vitigos ... item suppanus Merti ibidem ... Dazu
jemerkt LEvEC: „In zwei Dörfern (Holaren und villa Vitigos)
mrückführt. Die aus Personennamen entstandenen gehen auf den Gründer
»ler einen dereinstigen Besitzer oder Ortsvorsteher zurück und nicht selten
nit diesem gleichzeitig ein, dem Namen des Nachfolgers weichend, z. B.:
1306 ... Boleslaus dux Slesie ... quod ... Lucas, filius quondam Dom i-
Hai et uxor ...de hereditate ipsorum Lukaschowicz dicta, que olim Dom-
Hawics vocabatur...decem mansos ... vendiderunt . .. (MEITZEN, Urkunden
schlesischer Dörfer, Breslau 1863, S. 5; im Codex diplomatious Silesiae IV).
Solange hier Domislaw Grundherr war, hieß das Dorf Domslawice,
unter seinem Sohne Lukasz, mutato nomine, Lukaszowice, und, von Ur-
barbüchern fixiert, verblieb dieser Name bis heute (Luggwitz, nicht Domslau!).
Und so kommt es, daß man von den alten Ortschaften viele gar nicht
mehr finden kann und glaubt, sie wären verschwunden. In vielen Fällen
ist es jedoch nicht richtig, sie haben bloß den Namen gewechselt, manche
Ortschaft sogar mehrmals. Der Besitzer oder der Vorsteher nahm einfach
ıuch den von ihm abgeleiteten Ortsnamen mit ins Grab. Daher lassen sich
such die Ortschaften ... aput Hermannum xii mansi, ... aput supa-
oum Jeben heute nicht mehr ermitteln, und obzwar hier nur Personen ge-
nannt werden, sind es dennoch echte Ortsnamen. [Nachtrag. Hofrat v.
Luscxix : Ist noch heutzutage in der Umgebung von Graz der Fall: Sparbers-
dach heilt Hallerschlössel, Kroisbach im Volksmunde das Baier-
schlössel u. s. w.] Der Supanus Pocher aput Hermannum, Supanus
leben u. 8. w. sind keine „Großbauern“, sondern einfache, zweihubige Zupane
wie die sonstigen im Rationarium.
Dabei ist noch zu bemerken, daß die großen Dörfer des Marburger
geradeso wie die des Pettauer Feldes erst unter der deutschen Herrschaft
entstanden sind. Dies zeigt schon die Anlage der Dorfmarken, und bei ein-
zelnen kann es auch urkundlich nachgewiesen werden.
Jetzt noch einiges über fünf Zupane im Officium Ratkerspurg: Supanus
Grincho. Supanus Waltschin. Supanus Cursay. Supanus Iwanz. Supanus Zlaton.
Supanus Droget. quarum villarum redditus denariorum tamen solventes ignoro ...
Summa totalis prediorum de officio Katgerspurch ccchv et supani xxxili preter
Hos sex supanos antescriptos Chrinko et ceteros. RAUCH, IL. S. 126.
Es sind dies keineswegs Zupane ohne irgendeine Bauernschaft, wie wir
M Zeitz, tantummodo supanus [am Anfange dieser Anmerkung], einen wahr-
senommen haben, sondern Ortschaften, von denen dem inventierenden Nota-
Aus bloB die Zupane, nicht aber die diesen unterstehenden Bauern und
die Zinsungen zur Kenntnis gelangten. Auch hier sind die Personennamen
Ührincho, Waltschin u. s. w. zugleich Ortsnamen!
334 J. Peisker
werden hier je zwei Supanen angeführt; sie können also keines
wegs etwa richterliche oder wirtschaftliche Beamte gewesen sein
denn was hätten zwei solche in einem Dorfe, wie Holaren, da
nur 11 Hufen zählte, zu richten gehabt!“ }).
Nicht jede Ortschaft des officium Tüffer steht unter einem
Zupan. So gleich in der ersten provincia, der sub regimine
schephonis Gyrredei:
Item in Zuchdol iii] predia carent supano ... Item in Slage v
predia ... Item in Lokke inferiori itij predia. Item in Lokke
superiori vj predia. Census vero tllorum iii] mensure tritii
et avene vj. Alia non solvunt, quia sunt de proprietate prix-
cipis et serviunt alia servitia. Item in Gelowe superiori tt
inferiori x1 predia supano carentia ... Item in Hinderberge sin
predia ...?).
Diese predia sxpano carentia der Provinz des schepho Gyrredei
unterstanden ebensowenig wie die de proprietate principis irgend-
einem Zupan, denn sonst müßte im Rationarium irgendeine ent
sprechende Andeutung, etwa „spectant ad supanum in...“ oder
dergleichen vorkommen. Und dennoch müssen diese 6 Ortschaften
mit 44 Huben irgendeine Vorstehung gehabt haben. Welche,
sagt die Summa (Rauch Il. S. 129):
Hec predicta sunt sub regimine schephonis Gyrredei, quorum
summa est lxxzzüij [falsch gezählt!), de guidus xzlii
respiciunt in Sibenekke... Dal hier statt 44 nur 43 Huber
gezählt werden, ist einer der vielen Rechenfehler des Rati-
nariums.
1) WI. LEVEC, Pettauer Studien, in den Mitteilungen d. Anthropol
Gesellschaft in Wien. Bd. XXXV, 1905, 8. 72.
2) Rauch, D. S. 128f. — Ebenso in der dritten provincia des Offciun
Tüffer, apud aquam, que dicitur Schoma, ex regimine schephonis Juris:
... Item in Toplits iij predia sine supano, quem non habet. Item in Wis
ij predia et non habent supanum... Item in Swarsenprunne ij predis «
non habent supanum... Item in Dornberch viij predia preter supanum. (S. 131.}
Dasselbe in der vierten provincia, de regimine schephonis Zaschift:
„.. Item in Haslach v predia et non habent supanum. Item in Dahsenperi“
superiori vij predia et non habent supanum. Item in Dahsenperge inferieri if
Predia et non habent supanum... Item in Torischendorf unum predium si
supano, guem non habet. Desgleichen in Tal maior und minor, Sleife und
Markowitz. (S. 132.)
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 335
Die sieben Ortschaften, in denen kein Zupan war, hatten
omit eine abgesonderte Verwaltung von der Burg Sibenekke
us. Die Bemerkung: guia sunt de proprietate principtis besagt,
laß die Ortschaften mit Zupanen nicht so ohne weiteres de pro-
rietate principis sind; demnach besaß der Zupan irgendwelche,
venn auch beschränkte Proprietätstitel an der Ortschaft, der
:r vorstand.
Wollen wir diesem Proprietätstitel nachgehen, zuvor aber im
Auge behalten, daß hier der Zupan schon aus dem Grunde
xeineswegs als bloßer grundherrlicher Ortsvorstand, Richter,
Schulze ist, weil er, wie wir bereits vernommen haben, in zahl-
reichen Fällen nur zwei, in zwei Fällen nur Einen colonus unter
sich hat, in einem Fall sogar ganz allein, ohne irgendeinen colonus
im Orte sitzt, und so gab es dort herzlich wenig, hier gar nichts
zu richten.
Das officium Tüffer ist ein sehr bewaldetes Hügelland. Laub-
holz (Buche und Eiche) überwiegt im Osten, Nadelholz im Westen.
Das Klima ist rauh, in den Tälern mehr feucht, auf den Bergen
trocken. Tau ist reichlich, Hagel und Überschwemmung nicht
selten. So wurde das nahe hochstiftlich salzburgische officium
Rann anfangs des 14. Jahrhunderts durch Wasserfluten so furcht-
bar verheert, daß von den 448 ausgetanen Huben im Jahre 1309
bloß 129 besetzt waren und 319, somit 71°/, wüst lagen !).
Wie so ein Wolkenbruch so viele Huben derart zerstören
kann, daß die Bauernschaft gar nicht zurückkehrt, läßt sich nach
unseren heutigen Begriffen schwer vorstellen, denn wenn auch
die Gebäude mitsamt den Vorräten weggeschwemmt werden,
Können doch die Felder nicht so gänzlich zugrunde gerichtet
sein. Oder waren die Häuser mit Vorräten die Haupt- und die
Felder eine Nebensache? So undenkbar wäre dies nicht, denn
—
li Liber predialis vrborie ecclesie Salzburgensis in Rayn et Lihten-
walde conscriptus ... anno... 1809. Original im Staatsarchiv zu Wien
(Hs. 862). Nach einer Abschrift des Landesarchivs zu Graz (Sign. 3794) zum
Teil abgedruckt bei PEISKER, a. a. O. S. 361 (128) und 363 (125). — Daß
die Verwüstung durch einen ungeheuren Wolkenbruch geschah, ergibt die
Stelle: In Potatschach sunt hube xiiij, quarum vj iacent in monte. Harum due
Sun possesse. .,
336 J. Peisker
an permanenten Äckern gab es überhaupt sehr wenig in der
Gegend um das Jahr 1309:
In Stanonik sunt hube viiij iure dimidio, quarum 111] sun
possesse, harum suppanus habet ij. Folgt das Schema der
Zinsungen für das ganze officium Rayn ... ef villa, que habe
aratrum, tenetur arare officiali dies tres, unam in vere et duos
in autumpno, et tota villa tenetur ad prandia 1tij official...
In superiori Pyrch sunt hube iij iure medio, quarum suppanus
habet ij ... Folgt das Schema der Zinsungen für alle Ort-
schaften des officium in Lihtenwalde ... ef omnes coloni cum
suppano tenentur officiali ad prandia iiij et si villa habet ix
tegrum aratrum, tenetur officiali in autumpno arare dies duos
et in vere diem unum; vini urne ti] ...
Auf der ganzen Herrschaft Rann und Lichtenwald hat somit
kein einziger Bauer, kein einziger Zupan, der doch immer zwei-
hubig ist, einen Pflug, und erst eine ganze Ortschaft — der Zı-
pan mit seinen Bauern zusammen — wird bestenfalls als Eigen-
tümer dieses Gerätes genannt. Die Bedeutung: et villa, que
habet aratrum; et si villa habet integrum aratrum setzt Ortschaften
voraus, quae non habent aratrum, und Ortschaften, que non
habent integrum aratrum, so daß erst mehrere Ortschaften ar
sammen ein integrum aratrum hatten. An einen Zusammel-
hang mit den Wasserschäden ist hier nicht zu denken, denn sons
müßte es statt „wenn das Dorf ein integrum aratrum hat ..
heißen: „bis das Dorf ein integrum aratrum haben wird ....
Wo kein Pflug ist, dort gibt es auch keine permanenten Äcker,
sondern bloß Schwendäcker. Und gerade in Steiermark wird
nicht nur auf hohen Alpen, sondern auch in niederen Lagen
mit seichtem Humus bis zum heutigen Tage Brandwirtschaft be
trieben: Ein Stück Waldes wird im Hochsommer niedergelegt,
das Dünnholz gleichmäßig ausgebreitet, nach dem Austrocknen a
Ort und Stelle verbrannt, der Boden mit der Haue gelockert und
in die Asche ein- oder zweimal mit Roggen oder Hafer bestellt
Darauf dient er so lange zur Weide, bis er von neuem Wald
angesetzt hat!) Ein Pflug wird und kann dabei gar nicht ar
1) HLUBEK, Die Landwirthschaft des Herzogthumes Steiermark. Gratz 1846
SS 29, 31. — PEISKER, S. 868 (130) ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. ’ 337
gewendet werden, weil er ob der vielen festsitzenden Steine und
nichtverbrannten Wurzeln gar nicht vorwärtskäme; er ist hier
überdies ganz überflüssig'), denn auch ohne ihn erreicht man
großartige Ernten, und das Brandgetreide wird wegen seiner Rein-
heit — alles Unkraut ist ja mitverbrannt worden und neues noch
nicht aufgekommen — zur Aussaat selır gesucht.
Was heute nur auf mageren oder wenig zugänglichen Böden
geschieht, das war dereinst die herrschende Wirtschaftsform über-
haupt, in Untersteiermark an vielen Orten noch im 14. Jahr-
hundert und gewiß auch noch viel später. Die Zustände in Rann
und Lichtenwald sind ein Beleg dafür.
Durch die Brandwirtschaft werden ganz andere bäuerlich-
soziale Verhältnisse vorausgesetzt und gezeitigt, als die unsrigen
sind. Unser Bauer wirtschaftet ganz selbständig, die Brand-
wirtschaft dagegen bindet den Bauer sehr bedeutend an die Nachbar-
schaft, denn sie kann nicht von einem einzelnen auf eigene Faust
ohne Gefährdung des weitesten Umkreises betrieben werden. Sehr
bittere Erfahrungen veranlaßten den Menschen, vorsichtig beim
Schwenden vorzugehen ?); hat der Brand die vorgesteckte Grenze
1) Es ist mir kein Fall bekannt und kommt gewiss nirgends vor, dasa
man eine Schwende, sei es mit dem Pfluge, sei es mit einem Haken bearbeiten
würde, überall wird unmittelbar in die Asche gesät und höchstens mit einer
Haue vorgearbeitet.
2) In Skandinavien: Vetusto tempore unicuique in funiculo distri-
bationis ager proprius divisus et deputatus erat, censusque descriptus, ut
Potsessio sua nulli haberetur incerta, quam pro tributorum susceperat quanti-
tate solvendam. Attamen oborto per occasionem latiore terrarum spatio et
fertiliori, nulli violentiam faciens, quisque contendit pro ingenio et viribus
aliquid superaddere solo quaesito. Et hinc est, quod virgulta noxia impor-
fünitate in vicinioribus silvis nascentia, evulsis cespitibus pro fertiliore agro
formando, igne supposito, conatur auferre, ne radicum quidem capilli et
silvestres asperitates paulatim surgentes, agrorum visceribus inserantur, et
More yiperino prolem sibi foecunditate contraria nutriat, unde se propago
Ventura corrumpat. Cineribus itaque ex cespitum, virgarumque et sarmentorum
ombustione super faciem terrae relictis, mira foecunditas exsurgit, ut siligine
Praesertim, rapisque, et papavere, lino et canapo seminatis, multiplicatus
nascitur fructus. Cavent tamen, ne sit solutus ignis, obvias
Populetur incendio silvas: Et hoc circa rupes et aquas: quarum
obieetu, ne amplius coalescat, metas impermeabiles ponunt. Alioquin evenit,
üt viritim singuli domos exeant a toto territorio, pro restinguendis flammis,
338 J. Peisker
überschritten, dann ist, von der Vernichtung anderer Güter ab-
gesehen, die über den Bedarf geschwendete Strecke auf Jahr-
veluti contra hostes, omnia incendiis et rapinis crudeliter devastantes. OLArs
MAGxuUS, Historia de gentibus sept. Romae 1555, liber XIII, caput V, de
cinericiis et silvestribus agris. Cap. VI spricht de fertilitate talium agrorum.
So schwendet man Hochwälder mit nutzbarem Bauholze. Dort aber, wo
die Brandwirtschaft das ganze Territorium ausschließlich beherrscht, können
keine Hochwälder aufkommen, weil schon viel früher der Platz zum Schwenden
an die Reihe gelangt; da braucht man auch keine Stöcke auszugraben, w
dass die Brandwirtschaft desto müheloser wird, je länger man sie übt.
In Großrußland und Litauen: Agros hoc modo ad sementem praeparant:
Circa festum divorum Petri et Pauli (29. Juni) in aestate, ad festum usque
Assumptionis Mariae (15. Aug.), nemora miricesque exscindere solent, quan
excisionem arbustorum vulgariter Zada appellant. Nam si nemus densım
fuerit, stramine supersternunt, per hyememque sic durare patiuntur. Ver
autem postea redeunte, post Paschatis festum, sole torrido aliquot diebus
ingruente, illam prostrationem praedictam arbustorum, stramine supposito super-
stratoque, succendunt, et in cinerem comburunt; ubi vero terra combureretur,
illic nihil fere nasceretur, ideo ligna incombusta congerunt, in struemgut
composita, denuo succendunt, sicque in illa terra combusta et ir
culta, collectis duntaxat carbonibus ettitionibus superfluis
triticum seminant primo, et supra sementem uno equo juncto
aratro arant et occant, in Russia videlicet. [Der Same wird hier
mit der Zoche (socka, einem zweizinkigen Haken ohne Sohle) eingehakt,
richtiger gesagt, sehr seicht bloß eingescharrt, denn sonst müßte das Saatgetreide
ersticken.] Lituanienim bobus cornibus aratrum [= dieselbe Zoche] trahentibus
arare [= ebenfalls sehr seicht einscharren] solent, tantaque ibi fecunditss
dictu incredibilis subsequitur, ut Cererem in illis regionibus natam affirmares
Eodem modo et hordeum seminatur, metitur et colligitur; nisi quod crassiors
nemora pro hordeo exscinduntur, et pinguiorem terram triticum exigit M
hujusmodi autem agris, per annos sex vel octo fimo stercoreque non super
posito, seminare solent. Quod si arbores nimis altae et crassae, in ea aylva,
ubi seminaturi sint, essent: utpote pinus, fraxini, robora, et id genus aliae:
eas non succidunt: nisi frondes ramosque circumsecant, ne solem agro praef-
piant. Rusticus vero unus, omnes arbores una semel adscensa circumsecabit
non descendendo; instrumentum enim ad id factum, quasi sedile, ad stapedst
similitudinem, secundum proportionem hominis sedentis factum arbori fun
longo appendet; sicque sedens, a puero, fune alia ab arbore ad arborem facile
transfertur: habetque ad latus alligatum lignum curvum, ad id studio praeps
ratum, quo arbori appropinquans firmiter eam apprehendit, quam a verti®
ad radicem usque circumsecat, et frondes illas eodem modo supradicto aestale
redeunte succendit et seminat. Siliginem postea seminant hyemalem, supe!
haec culta novalia, tritico vel hordeo collecto: sed duabus vicibus ad siliginen
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 339
ehnte für jedweden Getreidebau verloren, weil sie schon im Laufe
ines Jahres vergrast und in diesem Zustande brandwirtschaftlich
rare coguntar, quam seminare incipiunt circa festum Assumptionis Mariae
ıV. Augusti. Quod si segnis agricola non absolverit seminationem ad alterum
sstum nativitatis Mariae, quatuor hebdomadis, ad sequentem VIII. diem Sep-
embris, tunc fructifero proventu consueto frustratur. Hanc seminationem
iiginis hyemalem vocant. Vere enim redeunte, aliam, aestivalem vocatam
eminant.
Hier handelt es sich nicht um ständige Brandwirtschaft, sondern um
Rodungen zu permanenten Äckern, welche 6—8 Jahre tragen, ohne gedüngt
ra werden. Das erste Jahr wird, ohne zu pflügen, Weizen und Gerste ge-
säet, und erst nach deren Aberntung wird das Feld zweimal gepflügt und
Mitte August mit Roggen bestellt. Sodann folgt eine Sommerfrucht.
Est quoque alius seminandi mos nuper adinventus, in praedicta prostra-
tione succisioneque nemorum superius descriptorum, hoc modo: Duabus partibus
hordei, tertiam siliginis intermiscere solent, quam commixtionem vere instante,
tempore consueto seminant; eadem aestate hordeum solummodo demetunt,
siliginem vero subter hordeum ad modum graminis paulatim densissime cre-
scentem per hyemem durare sinunt; quae sequente aestate, adeo fecundissime
densissimeque excrescit, ut equo vix eam densitatem penetrare possis, et ex uno
grano 30 pluresve spicae pullulare in tantam altitudinem solent, ut vir equo
insidens vix ex ea appareat. Omnes vero agros Ruteni uno equo proscindere
solent, adeo enim facile aratro terra cedit.
Hic autem ordo in seminandis frumentariis in tota fere Sarmatia obser-
vatur: Primo post festum Paschae triticum seminant, postea siliginem aesti-
valem dictam: ab aestivali seminatione vulgariter ?arzycsa appellatur, ad
differentiam hyemalis siliginis, quae, ut diximus, pro festo Assumptionis
Mare seminatur ad hyemem futuram: unde vulgariter Osimina dicitur. Ex
hac, si aestate seminaretur, nihil prorsus nasceretur, et & contra si aestivalis
ad hyemem pro hyemali seminaretur (quamvis sibi grano similes essent, et
eitndem naturae viderentur), nulli usui esset, sed in gramen inutile verteretur.
[Das ist unrichtig: „Die unzähligen Varietäten... sind bloß Ab- oder Spiel-
arten, die sich verändern und durch Einwirkung äußerer Umstände in einander
übergehen. Dies ist — gegen die gewöhnliche Meinung, selbst der Botaniker,
die überhaupt in der Unterscheidung der Arten und Abarten (species und
Yarietas) bei den unter der Einwirkung der Kunst stehenden landwirtschaft-
lichen Pflanzen noch nicht aufs reine gekommen sind — auch bei dem Sommer-
un Winterweizen der Fall. Wenngleich beide, besonders einige Abarten,
ih'er Natur nach sehr verschieden zu sein scheinen, so kann man doch will-
Fürlich den einen in den andern umwandeln. Indem man den entschiedensten
Winterweizen spät im Winter im Februar oder anfangs März sät, wird er
mit einem Teile seiner Sprossen aufschießen und reifen Samen in demselben
Jahre machen, aber freilich nur einen schwachen Ertrag geben. Sät man
340 J. Peisker
unbestellbar ist. Verzehrt das Feuer ein ganzes großes Wald-
gebiet, welches ganzen Dorfschaften zur alljährigen Schwendung
bisher genügt hatte und auch fernerhin genügen würde, dann
bleibt diesen nichts übrig, als auszuwandern, wenn sie es nicht
vermögen, ihre ganze Wirtschaftsform von Grund aus zu ändern,
und dies geschieht wohl äußerst selten, nur wenn alle Auswege
versagen. Damit erklärt sich auch die auffallende Beweglichkeit
primitiver, nur Brandwirtschaft treibender Völker.
Die Brandwirtschaft erfordert somit gegenseitige Rücksichten,
und diese werden auch ohne Eingreifen einer Obrigkeit geübt,
weil sie zunächst der eigenen Person nützen. Das Bedürfnis
nach Regelung des Vorganges ist so zwingend, daß es gewiß das
den hiervon genommenen Samen im nächsten Frühjahre, so wird er schon
mehr die Natur des Sommerweizens angenommen haben ... und im folgenden
Jahre wird er vollkommener Sommerweizen sein. Dagegen ske man ent
schiedenen Sommerweizen zu Ende Oktobers: kommt ein harter Winter ohne
genugsame Schneedecke, so wird er freilich sämtlich erfrieren, bei günstiger
Witterung aber ziemlich durchkommen, dann früher wie der Winterweisen
in Ähren gehen und reifen. Die hiervon gewonnene Saat wird den Winter
schon besser aushalten ... und im darauffolgenden Jahre wird er gas
Winterweizen sein und später, z. B. zu Ende des Mai gesät, in demselben
Jahre überall nicht in Ähren gehen. Denn der entschiedene Winterweizen
kann so früh gesät werden, ohne emporzuschießen, was der entschiedene
Sommerweizen noch tut, wenn man ihn auch zu Johannis säte“. — „Der
Sommer- und Winterroggen geht auf eben diese Weise, wie der Weizen, ir
einander über.“ A. THAER, Grundsätze der rationellen Landwirthschaft. Vl.
Wien 1813, S. 58f., 79.] Hanc itaque aestivalem circa festum Paschs
seminant. Secundum agri possibilitatem praeperationemque Poloni, Lituati
et Ruteni nigri, cum Masovitis et Prutenis et propter solis beneficium #
regiones temperatiores, priori seminatione longe antecedunt Rutenos albos tt
Moschovitas in Septentrionem vergentes, qui ob intemperiem aëris posterius
his omnibus seminare coguntur; attamen interdum eodem tempore agri
demetunt. Hoc autem mirum est, quod siliginem seminantes aestivalen,
post Paschatis festum interdum, aliquot elapsis hebdomadis, tamen eaden
aestate, ut decet, maturam quasi per octo duntaxat hebdomadas, demetanl,
colligunt et recondunt. Pisa circa ferias D. Adelberti (28. April) ... avens®
et hordeum post Pentecostes festum seminant .. .*
Theatrum orbis terrarum, sive Atlas novus et descriptiones omnius
Regionum. Editae a GviL. et Jo. BLAEU. Amsterdami 1641. I. fol. 19b, %.
— Jo. Janssontr Atlas major I. Amstelaedami 1675. Litvania. — THE.
Prevsz, Litauen vor 300 Jahren. Progr. d. Kgl. Gymn. zu Tilsit 1897/%.
Die älteren Beziehungen der Siawen zu Turkotataren etc. 341
stärkste Band abgibt, welches je den Menschen, auch den sonst
ungefügigsten, an seine unmittelbare Nachbarschaft gefesselt hat.
Das sieht man deutlich auch an den alten Germanen, von
denen gar manche Gelehrte nicht begreifen können, was Cäsar
berichtet:
Niemand hat bestimmte Grundstücke zu Sondereigen, viel-
mehr weisen die magistratus ac principes den einzelnen gentes
cognationesque hominum, qui una coierunt, nur immer auf ein
Jahr Land zur Bebauung an, wo und in welcher Ausdehnung
es ihnen passend erscheint, und zwingen sie, das nächste Jahr
anderswohin zu übersiedeln').
Und doch gibt es nichts Natürlicheres, Zwingenderes. Der einzelne „homo*
könnte ja allein das Schwenden nicht verrichten, es müssen daher alle Mit-
interessenten, die bei den Germanen nach gentes und cognationes neben-
einander leben, sich zusammentun, coire, und die magistratus ac principes
weisen denen, qui una coierunt, so viel an geeignetem Land an, als zur Er-
nährung nötig, also pro numero cultorum, wie TACITUS, Germ. XXVI, be-
richtet; nicht mehr, weil das danebenliegende Wildland für das kommende
1) Agriculturae non student maiorque pars eorum victus in lacte caseo carne
consistit. Neque quisquam agri modum certum aut fines habet proprios; sed
mopis{ratus ac principes in annos singulos gentibus cognationibusque hominum qui
una coierunt, quantum el quo loco visum est agri attribuunt atque anno post alio
transire cogunt. Und von den Sueben: ... Sed privati ac separati agri apud
cos nikil est neque longius anno remanere uno in loco incolendi causa licet.
Neque multum frumento, sed maximam partem lacte atque pecore vivunt multumque
surf in venationibus. CAESAR, Bell. Gall. VI, 22. IV, 1. — RicH. HILDEBRAND,
Recht und Sitte. Jena 1896, S. 57 ff. — Vergl. JoRDANIS 61 (oben S. 262).
Richtig bemerkt J. Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germa-
nischen Altertum. Straßburg 1905, S. 485: „Das agriculturae non student .. .,
das wiederholt fälschlich durch mit Ackerbau beschäftigten sich die Ger-
manen nicht übersetzt wurde, bedeutet vielmehr: auf den Ackerbau legen sie
keinen Wert. Dies wird bewiesen durch die Parallelstelle VI, 29, wo es
mter Bezugnahme auf die eben zitierte Angabe heißt: guod, ut supra demon-
sravimus, minime omnes Germani agriculturae student. Ob MAx WEBER
(Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung, in
Conrads Jahrbüchern f. Nationalök. u. Stat. 83 [3. F. 28] 1904 S. 444)
echt hat, wenn er minime mit omnes verbindet und die beiden Wörter durch
keinerwegs alle übersetzt, ist mir doch zweifelhaft. Die offenbare Beziehung
af die Stelle agricwturae non student (VI, 22), die in den Worten # supra
Kmonstravimus liegt, spricht mehr für die Richtigkeit der üblichen Verbindung
des minime mit student.“
342 J. Peisker
Jahr vonnöten und deswegen zu wertvoll ist, um heuer durch sinnlose
Schwendung auf Jahrzehnte unverwendbar gemacht zu werden; dies würde
ja die Gesamtheit der gentes cognationesque schädigen.
Warum zwingen — cogunt — aber die magistratus ac principes die
Leute, gleich schon das Jahr darauf die Äcker aufzugeben, weiterzuziehen
und Neuland zu schwenden ? Zu wessen Nutz und Frommen ?
Erstens liegt der Zwang in der Bodennatur selbst, welche bei dieser
Wirtschaftsform nur eine Saat ohne besondere Mühe gewährt’).
Zweitens liegt der Zwang in der Lebensweise der Germanen. Dies
nährten sich zu Cäsars Zeiten weniger vom Ackerbau als von Jagd und
Viehzucht: Milch, Käse, Fleisch. Dies gilt allerdings mehr von der Herre-
schicht, weniger von den servi, dem zahlreicheren, großenteils wohl fremd-
rassigen Teil der Bevölkerung, welchem gewiss nur eine beschränkte Vieh-
zucht eingeräumt war’). Die Hauptsorge der germanischen Machthaber
ging also dahin, dass es an dem nötigen Weideland nicht fehle, die Vieh-
zucht vom Getreidebau nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern möglichst
gefördert werde. Und gefördert wird die Viehzucht ebenso wie der Getreide
bau am besten durch einjährige Brandwirtschaft.
Der heurige Schwendacker hat die Mühe des Bauers reichlich gelohnt
und ihm ein Getreide gespendet, das unserem besten nicht nachsteht. Dss
künftige Jahr würde er jedoch erlahmen und üppiges Unkraut mit ansetzen
Dies kann der Bauer gar nicht, der Viehztichter dagegen vorzüglich braucheı.
So zieht der Bauer willig von dannen und der Viehgüchter an seine Stelk.
Daher cogunt auch die magistratus ac principes die feldbauenden homine,
die minderen, ärmeren Leute°), nicht länger, als unbedingt nötig, zuric-
zubleiben und den Platz, auf welchem sie nichts mehr zu suchen haben, #
räumen. Wer von den homines wäre auch so albern, auf einer zweiten Be
stellung derselben Schwende zu bestehen, die nur noch unreines Getreide
liefert, während daneben die beste Ernte winkt; wie könnte er eine zweit?
Saat vor Abweiden schützen, nachdem ringsum alles unbestellt geblieben ist
Den durch Cäsar geschilderten Vorgang erzwang jedoch nicht allein
der wirtschaftliche Vorteil, sondern auch die, das ganze germanische Dasei
durchdringende Notwendigkeit, daß gens an gens, cognatio an cognati,
so wie sie in der Schlachtordnung gegliedert waren, auch daheim immer und
überall nebeneinander wohnen und wirtschaften. Daher wiesen die magi
stratus ac prineipes zuerst den gentes und innerhalb dieser fortgesetzt deu
einzelnen cognationes, nach der Zusammengehörigkeit, der Stufe der Parentel
— so ist nämlich auch das vielbesprochene Taciteische secundum dignationt®
(Germ. c. 26) zu verstehen —, Land an, auf daß Bruder an Bruder, Vatersippe #8
1) HILDEBRAND, S. 66.
2) Daß sie eingeräumt war, lehrt die Zinsung: /rumenti modum dominss
aut pecoris aut veslis ut colono iniungit, et servus hactenus paret. TAC
(rermania, c. 25.
3) HiLDEBRAND, $. 93.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 343
:imsippe und so fortgesetzt bis zur Grenze der ganzen cognatio, tatsächlich
eneinander, zu gegenseitigem Beistand, wohnen könne. Und nachdem
ser Modus Jahr für Jahr geübt worden, ist die Einwendung nichtig, als
die Germanen sich ihre Genealogien nicht immer hätten merken können.
* Stammbaum einer cognatio war doch nicht gar so lang, und wo er ver-
te, wurde das Fehlende fingiert. In der Bibel stehen ja ungleich längere
1ealogien, und wie sehr weit das Gedächtnis einer Sippe gehen kann, er-
sen zum Beispiel die Stammtafeln südslawischer Hausgemeinschaften '),
rie auch die Sippe der sieben Vorväter im turkotatarischen wru£?).
Und indem die Germanen die Schwendwirtschaft nicht der Willkür der
zelnen homines beließen, sondern nach Erfahrungsnormen behördlich hand-
ten, zeigten sie, wie man auch auf einer primitiven Wirtschaftsstufe
'chaus zweckmäßig und geregelt leben, dabei alljährlich wandern und
ınoch alle Blutsbande festgefügt und unversehrt bewahren kann.
Im Gegensatze zu den servi der Germanen konnten die Slawen
der turkotatarischen Knechtschaft keine Viehzucht treiben, das
‚ben wir schon dargelegt. Und daß sie, darin den homines der
ermanen gleich, auch nicht willkürlich schwenden durften, liegt
. der Natur des herrschenden Nomaden, welcher jeden Feldbau
:rachtet, nicht weil dieser seine Macht oder Herrschaft gefährdet,
mdern seiner Natur nach immer die Tendenz hat, der Jagd
der Weide mehr oder weniger Boden zu entziehen). Der Nomade
it den Feldbau nur dort zu, wo dieser ihn nicht stört oder dessen
lerden direkt fördert. Dies gilt besonders von jenen Nomaden,
telche das Herumziehen auf weite Entfernungen allmählich auf-
aben, aufgeben mußten, und sich in bestimmten Weiderevieren,
1) FRIEDRICH 8. KrAuss, Sitte und Brauch der Südslaven. Wien 1885,
“121 f. In Magud’s Hausgemeinschaft ging man bei der Teilung bis auf
len Großvater des Urgroßvaters zurück und erinnerte sich dabei noch dessen
sroßvaters.
2) „Nach nomadischer Auffassung der Affinitätsgrade wird ... die
3renze des ruk durch sieben Vorväter definiert, daher man unter dem Ausdrucke
li ata (wörtl. sieden Väter) Ahnen, Voreltern im allgemeinen versteht; was
iber diese Zahl hinaus sich erstreckt, wird als der weite Verwandtschaftskreis,
Lh. als der Stamm betrachtet. Für die Zusammengehörigkeit der verschie-
ienen tirs (Stämme) hat der Nomade ein schon verhältnismäßig geringeres
Verständnis, und der Begriff Volk, Nation, was er unter z/ versteht, kann
bn schon weniger erwärmen, als die auf Grundlage einer engern Verwandt-
haft ruhende Einteilung der Zre's und der urufs.“ VÄMBERY, Primitive
Cultur, S. 134.
3) HILDEBRAND, S. 92.
344 J. Peisker
Zupen, zurechtfanden. Und auf solche Hirten kann man un-
bedenklich Cäsars Angaben über die Schwendwirtschaft der Ger-
manen paraphrasieren und sagen:
Bei den alten Slawen hatte niemand bestimmte Grundstücke
zu Sondereigen, vielmehr wiesen die Zupane den Bauern, die zu
diesem Zwecke zusammentraten, nur immer auf ein Jahr Land zum
Schwenden an, wo und in welcher Ausdehnung es ihnen passend er-
schien, und zwangen sie, das nächste Jahr anderswohin zu übersiedeln.
Ja, wo steht es geschrieben, daß es gerade die Zupane waren,
welche, wie bei den Germanen die magistratus ac principes, die
altslawische Brandwirtschaft befehligten? Nun, die Zupane waren
eben die einzige Obrigkeit der Slawen), und sonst war niemand
da, welchem an den Schwendungen was gelegen wäre. Sie
kehrten sie selbstverständlich zu ihrem eigenen Nutzen, mit allei-
niger Rücksicht auf die Viehzucht, welche sie auch in Unter-
steiermark, zu Zeiten vor der deutschen Eroberung, den Slaweı,
wie wir noch hören werden, wahrscheinlich noch immer verwebrten.
Nach der deutschen Eroberung bestand aber eine solche Ver
wehrung jedenfalls nicht, denn man findet in Untersteiermark
auch die Bauernschaft zumeist mit viehzinspflichtig.
Die Handhabung der Schwendwirtschaft zu eigenen
Nutzen ist die Grundherrlichkeit selbst, die Zupane
Untersteiermarks waren somit vor der deutschen
Landnahme GrundherrenimvollstenSinne des Worte.
Hob der deutsche Machthaber diese Zupanenrechte vollständig
auf? Mit nichten. Er entzog den Unterworfenen möglichst viel
vom Territorium, um Platz für sich zu schaffen und seine ar-
zulegenden Kolonien. Die Brandwirtschaft selbst und ihre Hand-
habung ließ ‘er jedoch bestehen, und indem er Zupan und Bauer
besteuerte, löste er dadurch die bisherigen sozialen Verhältnisse
noch lange nicht. Unbedenklich kann man annehmen, daß die
Zupane auch fernerhin zu ihrem eigenen Nutzen die
1) Von KONSTANTIN PORPHYROGENNETOS hörten wir oben S. 317, dad
die Slawen außer Zxpanen-Geronten keine sonstigen &pxovtec hatten. Es ware?
das Zupanische Graubärte, Aksakale, seniores, Familienälteste der turko-
tatarischen Herrenschicht. — So auch IsrÄHim 8 und THıETYAR
VI, 18 (oben S. 318 £.).
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 345
hwendwirtschaft handhabten und dadurch gewisse
ste ihrer einstigen Grundherrlichkeit, also ge-
sse Proprietätstitelbehielten. Die altslawische, eigent-
ı turkoslawische Verwaltung und Wirtschaft blieb aufrecht,
daß die bisherige Zupanenwillkür einem gewissen Rechts-
utze weichen mußte. Dadurch wäre die auf S. 335 aufgeworfene
ge nach den, den Zupanen an den Ortsmarken als Weide-
ieren belassenen Proprietätstiteln beantwortet ').
Die absolute, einjährige Brandwirtschaft ohne Pflugarbeit be-
nd in Untersteiermark noch im 14. Jahrhundert, wohl auch
1) Dementsprechend war auch noch nach der deutschen Landnahme
gesellschaftliche Rang der Zupane bedeutend höher als der der Bauern.
vEc fand: „Supanen werden vielfach als Zeugen in Urkunden des Klosters
‚udental in Krain genannt, so z. B. ... 1274: stem suppanus dicte domus
h. Freudental) #ominatus Petrus et Ekkehardus suppanus eciam de Holaren,
n Waltherus suppanus Wolkeri de Reyfenberch de villa Witigos, item filius
sdem suppani, item suppanus Merti ibidem, item Nedel suppanus meus
h. des Urkundenausstellers ...) «{ Zertvicus frater ipsius de Wippach
itteilungen d. Musealvereines f. Krain XIII. 1900, S. 44, Nr. 4)...
teressant ist die Zeugenreihe einer Urkunde von 1322 (a. a. O. S. 53, No. 27):
minus Fridericus sacerdos vicarius de Stein, dominus Hermanus de Gutenveld,
les Rudgerus de Ige, Leonhardus officialis de Vreuncz, Georius suppanus
'Vegaun, Jacobus frater ipsius, Cunradus civis de Laybaco, Fridericus
tarius ibidem, N'ycolaus de Lapide. Wir haben keinen Grund, anzunehmen,
8 die Reihenfolge der Zeugen hier eine willkürliche sei, sondern können
ı zum Beweise des Gegenteiles präsumieren, daß die Zeugen hier, wie es
ist im Mittelalter üblich war, nach gesellschaftlichen Unterschieden gruppiert
erden. Da ist es nun jedenfalls befremdend, daß der Georius suppanus de
tgeun zwischen einem Einschildritter und einem Laibacher Bürger steht. Daß
ein Rittermäßiger gewesen wäre, ist undenkbar, weil die Supanen im
IV. Jahrhundert überall, wo sie sich nachweisen lassen, dem bäuerlichen
erufe obliegen. Trotzdem aber wird er nicht unter den Zeugen bäuerlicher
bkunft angeführt — zu diesen gehört wohl ziemlich sicher der am Schlusse
7 Zeugenreihe genannte Nicolaus de Lapide. Man beachte, daß die Urkunde
loco, qui dicitur Stein, iuxta fluvium qui dicitur Laybach ausgestellt wurde.
8 ist das Dorf Aamnik (Stein), OG. Preser, GBez. Oberlaibach —, sondern
0 Bürgern vorangestellt. Das deutet darauf hin, daß er einen hervor-
genden gesellschaftlichen Rang eingenommen hat, sozial höher als diese
estanden ist. Man wird daraus mit Recht auf eine privilegierte Stel-
ınz der Supanen schließen dürfen.“ VW. LEvEc, Pettauer Studien III. :
Ai Mitteilungen der Anthropol. Gesellschaft in Wien, Bd. XXXV.
‚8. 72.
346 J. Peisker
noch später an vielen Orten, wo eine intensivere Wirtschaftsform
ob der Sterilität des Bodens noch nicht an der Zeit war. Da-
neben und darunter gab es — gewiß nicht erst seit 1309 —
Ortschaften mit je einem Pfluge. Dies lehren die Stellen: 71/4,
que habet aratrum; si villa habet integrum aratrum. Dass
setzt indes permanente Äcker noch lange nicht voraus, sondem
bloß mehrjährige, wohl zumeist zweijährige Schwendäcker: im
ersten Jahre ungepflügt mit Winterfrucht, hier Weizen, bestellt,
sodann im folgenden Frühjahr zur Sommersaat, hier Hafer, ge
pflügt, wohl nicht mit Pflug, sondern mit Haken. Nebstdem gab
es hier gewiß schon frühzeitig Ortschaften, deren Mark teils in
permanenten Äckern (in besonders günstigen Lagen) bestand,
während der übrige Teil noch fernerhin brandwirtschaftlich
genutzt wurde. Dagegen waren die, erst während der deutschen
Herrschaft gegründeten Kolonien wohl von allem Anfang an in
Huben als Wirtschaftseinheiten mit permanenten Äckern ver
messen und rein gerodet. Es sind dies die villae suppano
carentes, die de proprietate principis, in denen kein Zupan‘)
1) Nämlich Zupan imalten Sinne des Wortes. Die deutsche
Kolonisation des den Unterworfenen entzogenen Bodens
teils mitslawischen, teilsmitdeutschen, später slawisiertes
Kolonisten, brachte eine Verschiebung in der Bedeutungdes
Wortes Zufan, indem der Gemeindevorsteher jedes solcher
neuen Dorfes — einer in der Regel vielgrößeren Anlage, als
die alten Ortschaften waren — slawisch ebenfalls den Titel
Zupan führte, obzwar erhier ausschließlich Amtspersonwal,
ohne irgendwelche Privatrechte, wie sie der Zupan einer
alten Ortschaft als einstiger Grundherr besaß. Fortan be
standen also zweierlei villae undsweserlei Zupane, die scharf
zu unterscheiden sind, weil ihr Ursprung und Charskter
grundverschieden war:
1. Altslawische villae, meist kleine Weiler, deren Zups?
gewisse grundherrliche Rechte auf dem ganzen Territoriua
ausübte und — um uns des daleminzischen prägnanten Aur
druckes zu bedienen — der senior [princeps] villae ursprünf
lich war, implicite mit auch Gemeindevorstand (magister
villae), Dorfschulze.
2. Neue Kolonistendôrfer,in der Regel größere Gewanndorf
anlagen, miteinem Dorfmeister (magister villae) an der Spitss
einem einfachen administrativen und richterlichen Dorf
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 347
ı suchen hatte, und in denen jeder Hübner, sei es mit
n, sei es mit gemeinsamem Pfluge seine Hube bestellte.
die Dienstgüter der Officiales, der Amtmänner, lagen in
ıenten Äckern, und der Liber predialis vom Jahre 1309
mt — wie wir schon vernommen —, daß jede Zupanenvilla,
ıbet (integrum) aratrum, dem Amtmanne zu pflügen habe
‘age im Herbst — zweimaliges Pflügen zur Wintersaat —
nen Tag im Frühjahr — einmaliges Pflügen zur Sommer-
-, gerade so wie in den bestbewirtschafteten Gegenden
hlands.
dem Liber predialis vom Jahre 1309 werden die einzelnen
mit einer stereotypen Formel angeführt, so gleich die
1lla :
Stanonik sunt hube viiij (= 8!1:) ... quarum ti] sunt
e (4'/2 waren vom Wolkenbruch zerstört), karum suppanus
ij et servit (folgt der Zins)').
ist die Ortschaft Stolounig ö. von Lichtenwald, n. von
nburg. Die Dorfmark ist 314466 Hektar groß, und war
auch im Jahre 1309, dann kämen auf eine huba genau
ktar, das ist zwei Drittel einer Königshufe.
ist die Frage: Waren alle die einzelnen Huben in festen Rainen,
jeder einzelne Hübner auf seinem eigenen Grundkomplex
aftete, oder waren es in der Regel bloße unberainte Rech-
uben, durch deren Gesamtheit die Brandwirtschaft betrie-
nd vom Zupan jedem Insassen jährlich ein Bestimmtes
'hwenden zugewiesen wurde, während der unbestellte Teil
nde, Schulzen, den man mit demselben Titel, Zupan,
ite und jederzeit absetzen konnte: gidt nichts alf lang
an ist (Puntschart, Herzogseinsetzung und Huldigung in Kärnten,
1899, S. 228).
a muß sich somit jeden Zupan früher genau ansehen, um nicht einen
n Dorfschulzen, magister ville, für einen einstigen Grundherrn, senior
Kauf zu nehmen. Diesen gewaltigen Unterschied zwischen den zwei
ngen eines und desselben Wortes nahm man bisher nicht wahr und
e dadurch die an sich schon komplizierte Zupanenfrage noch mehr.
ird nun durch reine Scheidung der zwei, mit einem Namen belegten
onen leicht lösbar.
PEISKER, a. a. O. S. 361 [123].
eljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 23
348 J. Peisker
zur Weide gemeinsam diente, und zwar zu einer bestimmten An-
zahl von Viehhäuptern für einen jeden Insassen? Nach allem,
was wir bisher von der Brandwirtschaft gehört haben, ist das
zweite als ziemlich sicher anzunehmen. Berainungen der einzelnen
Huben hätten nur dann einen Sinn, wenn die Sondernutzung nur
innerhalb derselben stattgefunden hätte, dadurch wäre aber einem
Eingreifen des Zupan der Boden entzogen.
Die Formel wäre somit aufzulösen: Stanonik umfaßt 8'/s Huben
Landes, d. i. für 8'/2 Anwesen; davon sind 4 besetzt und von
diesen hat 2 der Zupan.
Der Zupan hat immer zwei Huben, bloß in drei, von den
Fluten besonders hart mitgenommenen Ortschaften hat er nur je
1 Hube!). Dagegen:
In Prunne sunt hube vij, quarum sex sunt possesse. Harum
duo suppani habent hubas 1117 et serviunt de duabus suppis iurt
medio (= halben Zins), reliquarum una serviet iure medio anne
Dnt millo CCC. X. Item alıa huba serviet anno Dni M. CCC Xl
sed recessit, et alter serviet anno Dni M. CCC. XII...)
In dieser Ortschaft sind gleich auf einmal zwei Zupane und
dienen von zwei Zupen.
In inferiori Schriemcz sunt hube vj, omnes possesse, iurt
medio, quarum suppant habent ij. Iidem habent hubam i quan
servient anno Domini millesimo CCC. Xle. Item reliquarum
trium hubarum una servit iure medio. Item alie due servint
anno Dnt mille CCC. X. Einschub anderer Tinte: em institui ibiden
swaigam unam cum ovibus lactariis xx que serviet anno Dni M. CCC. X....
1) /n villa Ansachè sunt hube vij iure pleno, quarum suppanuws habe hr
bam i, et serviet de suppa dimidia iure pleno anno Dni M. CU. X.
Îtem huba i servit iure pleno.
Et nota quod predicta villa servire primo incepit anno Dni mille oc. x, M
war eben vollständig zerstört. — pleno iure = im vollen Zinse...
In Zdol sunt hube xij pleno iure, quarum ii] sunt possesse, harum sf
panus habet i et servit de suppa dimidia pleno iure...
In villa Obres sunt hube xvj, quarum ij sunt possesse, harum suppanni
habet jet servit de suppa dimidia iure pleno. Reliqua huba j servit inf
Dieno... PEISKER, S. 361—363 [123—125).
2) PEISKER, S. 363 [125].
3) PEISKER, 8. 361 [123].
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 349
Hier sind wohl ebenfalls zwei Zupane, sitzen gemeinschaft-
h auf der üblichen Doppelhube und haben nebstdem eine dritte
enfalls gemeinschaftlich inne. Es scheint, daß die Schwaige,
> Schäferei, als die vierte, zu der zweiten vollen „Zupa“
alende Hube zu zählen ist. |
In jeder dieser zwei Ortschaften stehen zwei undifferenzierte
ıpane einer verschwindend kleinen Bauerngruppe gegenüber.
iese Erscheinung dürfte jedoch gar nicht vereinzelt in Unter-
eiermark dastehen, denn das schon genannte Rationarium Stirie
om Jahre 1265—1267 meldet aus der ersten provincia offcii
üffer:
Item in loco, qui dicitur Cvom, sunt v supani, quorum
uilibet solvit ovem cum agno, pro porco iij den. pro agno tit],
ro lino iii). Sub eisdem supanıs sunt zuvii] predia, quorum
uodlibet solvit ovem cum agno et quelibet villa illarum solvit
den: pro porco tif, pro lino 17").
„Die Vermutung liegt da nahe, daß die Bewohner des ,locus
ui dicitur Cvom‘ nach Ortschaften und Zupanen noch nicht
lifferenziert waren *), sondern daß hier eine Gruppe von 18 Bauern-
anilien einer Gruppe von 5 Zupanenfamilien unterstanden hat.
Jas Verhältnis der beiderseitigen Zinsungen — kein Getreide!
— verrät, daß auch hier in „Cvom“ das Zupanengut mit zwei
Bauernhuben bewertet war; wir erhalten somit einen Komplex
‚on 28 Huben; davon sind 35-71 °/o Zupanengut, und auf je einen
Éupan kommen durchschnittlich 3°6 Bauernhuben.
Genau so verhielt es sich in einem Orte des Amtes Marburg:
Item in Pechsen xl predia et xj supani, quorum supanorum
quilibet habet ij, tllorum vero xl cuiuslibet census solvit x den).
Pechsen war also im ganzen mit 62 Huben bewertet und
war augenscheinlich ebenso wie ,Cvom“ keine Ortschaft, sondern
1) Rauch, IL S. 129.
2) Es ist bezeichnend, daß auch in der Summa diese 5 Zupane abgesondert
gezählt werden: Zec predicta predia sunt sub regimine schephonis Gyrredei,
Phorum summa est Ixxxxiiij [sic!]. De quibus xliij [xliiij?] respiciunt in Siben-
ek, dy Supani. Aliorum Supanorum est numerus xj [soll heißen viij;
der neunte, als schepho, zinst nicht, ist daher nicht zu zählen].
8) Rauch, II. S. 142.
350 J. Peisker
eine Gegend; wie dort, werden auch hier die den einzelnen Zu-
panen unterstehenden Bauernhuben nicht auseinandergehalten,
auch hier scheint einer nicht differenzierten Gruppe von 11 %r-
panen eine ebensowenig differenzierte Gruppe von 40 Bauen
gegenübergestanden zu sein; 35'48°/o des ausgetanen Bodens
war Zupanengut, und auf einen Zupan kamen im Durchschnitt
3:64 Bauernhuben“ ').
Ich glaube, diese hier geäußerte Vermutung ist hin-
reichend durch die Angaben des Liber predialis über Prunne
und Schriemez inferior gestützt. Hier standen tatsächlich (je zwei)
undifferenzierte Zupane der Bauernschaft gegenüber, daher ist
es möglich, daß auch in Cvom und in Pechsen dasselbe der
Fall war.
Die zwei Zupane in Prunne serviunt de duabus suppis
Was ist hier Zupa? Zupa, einfach = 2 hubae, hätte keinen
Sinn. Zupa = Gemeindeamt, noch weniger, denn in einem
Sieben- oder gar Sechshubenweiler — die vier Zupanenhuben nit
einbegriffen! — wären zwei Gemeindeämter denn doch zu viel.
Eine nähere Erklärung finden wir über das Rätsel im Liber
predialis nicht, müssen sie somit anderswo suchen, freilich dort,
wo dieselben wirtschaftlichen Verhältnisse bestanden haben.
Im Stockurbar der Pettauer Herrschaft v. J. 1495 lesen wir:
Dy Sup Oberhart hat zwelf huebm, das dorff dint aim
ambimann drey phlueg, so es gestifft ist (= wenn es besetit ist).
Stefan Supan hat zwo huebm, Michel... hat I h., Andre...
1 h., die anderen 8 sind öd?).
Und so heißt jedes weitere Dorf als Ganzes eine Sup, mi
je einem Zupan auf einer Doppelhube. Oberhart dient dem Ant-
mann gleich wie das 12hubige Mitterhart drei Pflug, d. i. 3 Tagt
mit dem Pfluge, so wie es auf den Herrschaften Rann und
Lichtenwald 1309 beglaubigt ist.
Dy Sup Niderhart hat achthalb huebm ... und dienn dem
ambtmann zwen phlueg, so das dorff besetzt ist ... Die SW
Grüntl hat achthalb huebm ... und dienn ainen phlueg ..-
1) PEIsKER, S. 356 [118] ff.
2) Landesarchiv zu Graz, Fasc. 50 Nr. 126.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 351
y Sup Gertnitzen hat zwelf huebm ... dint...zwen phlueg
ıd vier tagwerch u. 8. w.').
Wir sehen, auch auf der Pettauer Herrschaft war noch 1495
e altertümliche Pflugrobot nicht von dem einzelnen Bauer,
ndern von der ganzen „Sup“, dem ganzen Dorfe, zu verrichten,
n Beweis, daß auch hier dereinst die Brandwirtschaft die maß-
:bende Wirtschaftsform bildete, geradeso wie in Rann und
ichtenwald, wenn schon vielleicht inzwischen eine intensivere
odenbestellung Platz gegriffen und der einzelne Bauer bereits
it eigenem Pfluge ackerte, denn man vergesse nicht, daß das
ettauer Urbar um rund 200 Jahre jünger ist als der Liber
redialis.
Nun wissen wir, was eine Sup, Zupa ist: eine Dorfmark,
Li. villa cum terris cultis et incultis, cum agris, pascuis, silvis,
quis. Es ist das ein Territorium, dessen teils gemeinsame, teils
Sondernutzung, durch Weide und Saat, nur den Insassen zusteht,
welche außerhalb dieses Territoriums keine geschlossenen Nutzungs-
rechte haben. Hier, auf dem Boden der Brandwirtschaft, ist Zupa mit
auch, ja vornehmlich Weiderevier, durch welches der Schwende-
tumus läuft. In Untersteiermark hat somit das Wort Zupa noch
die altslawische, der altindischen gleiche Bedeutung: Weide-
revier, wie es auch im Altserbischen der Fall war”), und es
ist dabei ganz gleichgültig, daß die altserbische Zupa, als Weide-
revier, den ganzen Gau mit allen darin vorhandenen Ortschaften
ümfaßte, während in Untersteiermark eine jede villa, auch jene,
in welcher ein Zupan ganz allein, ohne irgendeinen „colonus*,
„Vieinus“ saß, eine Zupa für sich ausmachte, eine Folge der
deutschen Herrschaft, welche die alten, großen Zupen auflöste.
Aber in Prunne sind ja zwei Zupane und serviunt de duabus
Suppis! Wie ist dann das zu erklären, etwa dadurch, daß die
an sich schon kleine Ortschaft in zwei Weidereviere tatsächlich
zerfil? Kaum, denn während die vermutlich zwei Zupane in
Schriemez inferior sogar ihre eigenen drei Huben ungeteilt „Aadent“,
lie Zupane zu Prunne noch viel weniger die Weide geteilt haben
a EEE
1) Über supania, supanatus, Zupnica u. dgl. siehe PEISKER,
“2.0. S. 365 [127] Anm. 47.
2) Siehe oben, S. 289.
352 J. Peisker
dürften. Dies ist auch durch die Formel: serviunt de duabus :
suppis gewiß nicht gemeint; jeder Zupan repräsentiert auch hier |
eine Zupa, nur bilden hier die zwei Zupen einen, ungeteilten
Komplex. Die zwei Zupane wirtschafteten mit ihren 2 Bauern
wohl auf einer ungeteilten Siebenhubenmark, zugleich Weiderevier,
Zupa, zinsten jedoch de duabus suppis, von zwei Rechnung
zupen, denn sie galten dem Fiskus ebensoviel, als wenn sie ge-
trennt wären. Prunne war in der Wirklichkeit eine villa, eine
suppa, eine Verwaltungs- und Wirtschaftseinheit, nur
fiskalisch galt sie für zwei villae, zwei suppae, weil sie
unter zwei Zupanen stand.
So auch vielleicht in loco Cvom, mit 5 Zupanen, quorum
quilibet solvit ... Sub eisdem supanis sunt 18 predia, quorum
quodlibet solvit ... et quelibet villa illarum solvit V denarios.
Auch hier dürfte jeder Zupan eine [Rechnungs]villa repräsentiert
haben, die aus ihm und der auf ihn von den 18 Bauern ent-
fallenden Quote bestehen würde, falls es zur Teilung der Bauen
unter die 5 Zupane käme. —
Unterschied sich der Zupan auch in seiner Lebensweise
von dem ihm unterstehenden Bauern? Darüber läßt sich viel-
leicht einiges zwischen folgenden Zeilen des Liber predialis vom
Jahre 1309!) herauslesen:
Amlawicz umfaßt 5 Huben, von denen 2 besetzt sind; davon hat der Zupan à
Lok „5 „ ” »n 3 » n n »n „2
Zdol » 12 » » „ 22 n 2) n nn „ 1
Ponikel „9. n „232 » n n 7 n 2
Suschitze » 8 » » » 3 , n n nn >
Obres » 16 „ » n l'h , „ n nn »+
Prukke » 10 „ 2) „2 » n » »n » À
Poklek n 6 » n » 3 » » ” nn» » À
Diese acht von der Wassersnot furchtbar heimgesuchten Ort-
schaften umfaßten ursprünglich 71 Huben, und von diesen wur
den so viele zerstört, daß noch im Jahre 1309 ihrer 52, als
mehr als 73°/o, wüst lagen. Von den 19 besetzten Huben hatten
die acht Supane 14 Huben, also 74°/o; es wird da in drei Fällen
nur der Zupan als der einzige Insasse angeführt; in einem Falle
1) PEISKER, S. 366 [128] f.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 353
ußer ihm noch ein Halbhübner, in drei Fällen ein Hübner, in
inem Falle 1’/s Hübner.
Ja, hat denn das entfesselte Element just immer vor dem
‚upan Halt gemacht, nur seine „Huben“ verschont, die anderen
erstöürt? Undenkbar! Das Wasser zerstörte das Anwesen des
‚upan ebenso, wie das der Bauern, mitsamt den Vorräten an
setreide zur Nahrung und Aussaat. Während aber der von
uübsistenzmitteln entblößte Bauer an der Unglücksstätte nicht
reiterleben konnte und von dannen ziehen mußte, blieb der
‚upan!); er muß somit noch andere Subsistenzmittel gehabt
aben, die der einfache Bauer nicht besaß. Und worin können
iese besonderen Subsistenzmittel bestanden haben, als in einer
iel stärkeren Viehzucht? Herden lassen sich nicht so gründ-
ich fortschwemmen wie Getreide! Und so drängt diese Unver-
rüstlichkeit der Zupane schon an sich zur Annahme, daß der
üdsteierische Zupan stellenweise auch noch unter der deutschen
lerrschaft mehr Viehzüchter als Feldbebauer war, während bei
en ihm unterstehenden Bauern es umgekehrt stand. Dafür
pricht auch eine andere Erscheinung:
Wollen wir uns zu diesem Zwecke der ersten Gruppe der
rsten provincia des oflicium Tüffer zuwenden, von welcher
uf S. 330 die Rede war. Sie umfaßt 7 Ortschaften (Chreinen-
cheyr) mit 2,2,2,3,2,2,8 Prädien und mit je einem Zupan.
Jeder Zupan dieser Gruppe, mit zwei Huben bestiftet, zinst:
unum porcum vel xij den. el ovem cum agno vel xvj den.
Jede Bauernhube dieser Gruppe zinst:
itij metrelas trilici et avene iiij metretas. Et de eisdem (Bauernhuben) ij
L i.: je drei) so/vunt unum porcum aut xv den, et quodlibet istorum [d. i. jede
la] so/vit unam ovem vel xzuj den.
Der Bauer zinst Getreide (Sommer- und Winterfrucht gleich-
äßig, da es sich hier schon um Winterweizen handelt) und je drei
[uben zusammen ein Schwein und (jede villa) ein [säugendes Mutter-]
chaf. Dagegen zinst der Zupan kein Getreide, sondern ein etwas
eringeres Schwein und ein säugendes Mutterschaf. Wenn es ge-
1) Meine in der Zeitschrift f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch. V. S. 367
SAbdr. 129] versuchte, andere Erklärung, die auch von LEVEC a. a. 0. S. 71
ngenommen wurde, entfällt.
354 J. Peisker
stattet ist, aus den Zinsungen Rückschlüsse auf die Erwerbs-
quellen zu machen, dann war zurzeit, als diese Abgaben auferlegt
worden sind‘), der Zupan zumindest mehr Hirt als der ihm
unterstehende "Bauer.
Die zweite Gruppe umfaßt bloß 2 Ortschaften (Char, Poltz)
mit 5 + 2 Bauernhuben und je einem Zupan.
Jeder Hübner zinst:
siij metretas tritici, item iiij metretas avene,; et tria predia solvunt i porcum
vel xv den. et tota villa ovem cum agno vel xvj den.
Jeder Zupan zinst:
ij metretas tritici et iiij metretas avene, porcum vel xij den, agnum vel iij den.
Die zweite provincia des officium Tüffer, die ex regimine
Livtoldi schephonis, umfaßt 26 Ortschaften unter ebensoviel Zu-
panen, mit 89 Hübnern.
Jeder Hübner zinst:
iiij metrelas tritici et iiij metrelas avene. Item tria redia solvunt porcum
vel xv denarios et iiij predia solvunt ovem cum agno [hinzuzufügen: ve/ xvj dan),
Jeder Zupan zinst:
ij metretas tritici et iiij metretas avene et agnum vel iii] denarios et porcum
vel xij denarios ?).
„Hier zinst der Bauer, so wie dort, Winter- und Sommerfrucht
gleichmäßig; der Zupan dagegen zinst hier auch Getreide, jedoch
ungleichmäßig: ebensoviel Sommerfrucht als der Bauer, aber un
die Hälfte weniger Winterfrucht als dieser. Hier nähert sich,
was Gegenstände der Zinsung betrifft, der Zupan dem Bauer,
aber die Tendenz — vielleicht richtiger noch deren Residuum —
seiner Erwerbsquellen entspricht noch immer der Lebensweis
des Hirten, da erst die Winterfrucht es ist, welche wir als das
maßgebendste Kriterium zwischen dem überwiegenden Hirtenleben,
dem sogenannten Halbnomadentum und der überwiegenden Land
wirtschaft in unserem Himmelsstriche wahrzunehmen haben‘ ')
1) Und diese Abgaben, nämlich die von der ersten Gruppe der erste
provincia, können um Jahrhunderte älter sein als das Rationarium vom
Jahre 1265!
2) Raucs, IL. S. 130.
3) PEISKER, a. a. O. S. 852 [SAbdr. 116] f. — Die Zinsungen sind nicht
in allen Provinzen gleich, oft bloß für gewisse Gruppen von Ortschaften.
Will man nun aus diesen Zinsungen etwas für die Lebensweise des Zupan
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 355
n dieser Darstellung läßt sich nichts hinwegdisputieren.
18 bestätigt Erzbischof Philipp von Salzburg donationem
am loci, ubi suppanus Weschemerresidebat, cum
ıuer gegenüber ermitteln, dann darf man die Zinsung des Zupan
it der des Bauers eines und desselben Ortes vergleichen. Ergeben
»ei Unterschiede, die sich am einfachsten durch einen Unterschied in
vensweise erklären lassen, dann ist man berechtigt, einer solchen Er-
auch Ausdruck zu geben. Die Zinsung eines Zupan mit der Zinsung
‚auers nicht derselben Ortschaft, nicht derselben Zinsungsgruppe zu
hen, ist unzulässig, weil sich die wirtschaftlichen Verhältnisse auf
denen Plätzen denn doch nicht so gleichmässig entwickeln konnten
e die Verschiedenheit der Zinsungen lehrt, tatsächlich auch nicht ent-
haben. Ein derartiges Bergland, wie das officium Tüffer, bietet ja
| Tälern einen anderen Kulturboden als in den höheren Lagen, ein
ist hier dem Ackerbau oder der Viehzucht günstiger oder weniger
als das benachbarte. Stellenweise verschlechtert sich sogar der
mit der Zeit durch Raubbau derart, daß er schließlich eine fernere
ıng nicht mehr lohnt. So lesen wir im Rationarium von einer Ort-
der vierten Provinz officii Tüffer: in Wierst . . . vj predia sunt
inculta et sine spe colendi (RAUCH II. S. 183).
; Zinsung von Weizen (triticum) und von Hafer (avena) bezeichnete
eine Zinsung von Winter- und Sommerfrucht. Diese Bezeichnung
t etwa eine Kombination von mir, sondern eine Tatsache:
‚fer, avena, ist eine einjährige Getreideart, die zur Frucht nur im
x angebaut werden kann, sie ist eine Sommerfrucht überall und zu
>iten.
eizen, triticum, wird in allen Kulturländern sowohl als Sommer-
h als Winterfrucht gebaut, aber man gibt, wo nur möglich, dem
n den Vorzug. Sommerweizen zu bauen, wo Winterweizen gedeiht,
gen jede Erfahrung, denn er ist dem Mißwachs und dem Staubbrand
asgesetzt, und seine Körner sind kleiner und von geringerem Gewicht
ER, Grundsätze der rationellen Landwirthschaft. Für die österreichischen
bearbeitete Ausgabe. VII. Teil Wien 1813, S. 70f.). Der Winter-
war zur Zeit des späten Mittelalters in Deutschland auf tonigem
illgemein bekannt; bei den Nordslawen bezeugt ihn in der zweiten
des 10. Jahrhunderts implicite der Augenzeuge IBRAHIM IBN JAKÜB:
n in zwei Jahrzeiten, im Sommer und im Frühjahr, und ernten zwei-
nd der größte Teil ihrer Ernte besteht aus Hirse“‘ (siehe oben S. 319).
irse wird im Mai gesät, also im Frühjahr, dagegen im Sommer, und
ı manchen Gegenden vorteilhaft schon im August, also im Hochsommer,
nterweizen (THAER, VIL S. 62 $ 54).
ist somit möglich, daß die untersteierischen Slawen den Winterweizen
‘on ihrer früheren Heimat aus kannten, wo nicht, dann haben ihn die
22e 3. Poker
cmriu: Qfisnentsss 22 fermes ques idem Weschemer temit,
fac'am comscatui 12 Cire ad Jasıza ci dem Conuentu
nece:IATIAM fer GRLEESSETER NOSÈTUME ... archieptscopum
Licrhardu:r, prout pr:uilegium fer eundem ... eis tradılum
conlinel . . .”).
-Loeus*, ubi : LI mer residebat ist nicht etwa
die bloße übliche | - ı Zupam. sondern eine gan
Ortschaft, welche Naı des derzeitigen Zupan als On
namen trug (vgl o N. 332 ‚und ein Weiderevier war,
das, dem Kloster ad ] © arium, dem Zupan und seinen
Bauen — wenn überh: t dagewesen sind — abgenon-
men und in das | einve: ibt wurde. Diese Angabe is
für unsere Frage u so w r, als es sich um das Kloster
(seirach handelt, :lehes ı n dem oflicium Tüffer und den
von Lichtenwald liegt ?).
Deutschen frühzeitig eingeführt. Und der slawische Bauer, einmal mit in
vertraut, wird den ungeheuren Vorteil, den diese Getreideart gerade ais
Winterfrucht bietet, doch nicht von sich gewiesen haben. Der Vorteil ®*
steht unter anderem darin, daß die Sa tarbeit geteilt werden kann: Die
Wintersaat, Weizen, im Hochsommer oder im Herbst, die Sommersaat, Hafer,
Flachs, im Frühjahr. Auch dem Schafl :n nutzt der Winterweizen, weile,
namentlich auf Neubruch, zu einem g n Wuchse neigt und in diesem Falle in
Frühjahr, bis Ende April, also gerade zur Zeit anderweitigen Weidemangels, mit
Schafen abgehfitet werden kann (THAER, VII. S. 65) und dann um so besser
gedeiht. Und daß der Winterweizen im 13. Jahrhundert in Untersteiermark
auch tatsächlich gebaut wurde, beweist der oftgenannte Liber predialis vom
Jahre 1309: ef si villa habet integrum aratrum, tenctur offciali in eutunÿn
arare dies duos et in vere diem unum (siehe oben S. 336), das ist: zwei Tage
zur Winterfrucht (Weizen) und einen Tag zur Sommerfrucht (Hafer). Wurde
ja, nach den Zinsungen im Rationarium vom Jahre 1265 und im Liber prediabs
vom Jahre 1309 zu schließen, im südlichen Steiermark (in den Ämtern Tüfer,
Lichtenwald, Rann) vom Getreide nur Weizen und Hafer gebaut! Des
Roggen (siligo) begegnet man, dem Norden zu, erst vom officium Windisc-
Feistritz an. Rauch, II. S. 135 f.).
1) Urkundenbuch des Hzts. Steiermark. Bearbeitet von J. v. ZAE*.
HI, Graz 1908, S. 83.
2) Levee, a. a. O. S. 73: „Der gesamte Besitz eines Supans wi
hier an das Kloster vergabt. Dieser gesamte Besitz aber besteht durchset
nur in Weideland! Mit anderen Worten: War der Supan noch um dis
Mitte des XIII. Jahrhunderts vorwiegend Viehzüchter und Hirt, so "#
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 357
In der ersten provincia officii Tüffer, der sub regimine schephonis
yrredei, lernten wir bereits die Stelle kennen:
Item in loco, qui dicitur (vom, sunt v supani, quorum
welibet solvit ovem cum agno, pro porco ilj denar., pro agno
‘27, pro lıno itig. Sub eisdem supanis sunt xviij predia, quo-
um quodlibet solvit ovem cum agno et quelibet villa illarum
Hvit v denarios: pro porco ii], pro lino tj.
Locus Cvom zinst überhaupt kein Getreide und ist, auch an-
esichts der Urkunde vom Jahre 1248, wohl ebenfalls Weide-
»vier, in welchem nicht nur die Zupane, sondern auch die Bauern
orwiegend Viehzucht trieben; der Boden wird eben für Getreide-
au nicht günstig gewesen sein.
Wollen wir jetzt die ziffernmäßige Höhe der Belastung ins
uge fassen und zu diesem Zwecke an einem beliebigen Beispiele
lie zweite provincia, siehe oben S. 354) berechnen, wieviel der
‚upan zinsen müßte, wenn er dem Bauer darin gleichgestellt, sein Zins
einer Bodenzins und nicht ein bevorzugender Personalzins wäre.
Der Bauer zinst dort: ..
- 4 M. Weizen, 4 M. Hafer, !/s Schwein =5 4, ‘/a Schaf mit
amm = 4 ef.
Gleichgestellt, müßte der zweihubige Zupan zinsen:
8 M. Weizen, 8 M. Hafer, ?/s Schwein = 10 4, ‘/1 Schaf
it Lamm = 8 4.
Er zinst aber:
2 M. Weizen, 4 M. Hafer, 1 Schwein = 12 4, 1 Lamm = 4 4.
An Weizen zinst er somit bloß ‘/4, an Hafer und an Schafzins
ie Hälfte, dagegen an Schweinezins nur zwei Denare, also um
in Unbedeutendes, um den Wert eines Sechstels eines Schweines
ehr, denn er war Gebieter auch der Eichel- und Eckerweide
nd zu einem größeren Auftriebe befugt. Es dürften politische
tücksichten gewesen sein, die den deutschen Machthaber veran-
ten, ihn durch eine recht geringe Belastung günstig zu stim-
en. —
r es stellenweise zu Beginn des XIII. Jahrhunderts — etwa 40 Jahre früher
- noch ganz ausschließlich. Er besitzt kein Ackerland, sondern nur
Veide, und das weist mit Notwendigkeit darauf hin, daß er ein Hirtenleben
ührte.“
358 J. Peisker
Im 13. Jahrhundert wurden in der Südspitze Steiermarks an
Vieh nur Schafe und Schweine gezinst. Auch besondere
Schäfereien werden genannt als Neuanlagen'). Was veranlaßte
diese Neuanlagen?:
Die den Slawen belassenen Gebiete erwiesen sich mit der
Zeit für die Brandwirtschaft an manchen Orten als viel zu klein.
Eine Hube Landes mußte eine Bauernfamilie ernähren, und weil
sie zu knapp bemessen war, konnte dem Boden hinreichend lange
Ruhe zur Erholung nicht belassen werden. Ihre Ertragsfähigkeit
sank durch eine solche Raubwirtschaft immer mehr und versagte
schließlich vollends?). Ganze Ortsmarken wurden nicht mehr
anbaufähig, zur Weide waren sie jedoch immerhin verwendbar.
Man legte also Schäfereien an und kehrte dadurch zu jener
Bodennutzung zurück, welche dereinst die Zupane als reine Schaf-
wanderhirten geübt hatten, denn auch die Gewalt, die man dem
Boden antut, hat ihre Grenzen, über welche hinaus sie selbst
zusammenbricht; und weil der Zupan zum Betriebe einer Schäferei
geeigneter war als ein Bauer, so fielen diese Neuanlagen ver-
mutlich zu seinem Vorteil aus. —
Schweinezucht kann wanderhirtlich nicht betrieben werden,
denn das Schwein ist kein eigentliches Herden- und Weidetier.
Während das Schaf, ja auch das Pferd auch im Winter herden-
weise Nahrung findet, die es unter dem Schnee herausschart,
will das Schwein im Winter gefüttert und eingehegt sein,
sonst verläuft es sich einzeln. Der Nomade führt infolgedessen
keine Schweinezucht. Zu einer solchen ist, nebst reichlicher
Eichel- und Bucheckermast, ein gewisser Grad von Ansässigkeit
des Züchters unerläßlich, wie sie nicht dem Wanderhirten, son-
dern dem Bauer eigen ist. Aber auch für diesen ist eine
Schweinezucht mühsam, weil er das nötige Winterfutter sammeln
oder gar anbauen, und davon ganze Vorräte anlegen muß und
1) Summa vero totalis prediorum officii in Tyuer: Quingenti et xix dj
de quibus xj redacta sunt in octo sweigas. — RAUCH, II. S. 13.
Item institui ibidem swaigam unam cum ovibus lactariis xx. — PEISKER
a. a. O. S. 861 (123).
2) Item in Vierst...vj predia sunt penitus inculta et sine spe coli.
RAUCH, II. S. 133.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 359
ı die Herbstweide an Eicheln und Bucheckern oft jahrelang
leibt. Er kann somit die Schweinezucht nur unregelmäßig
eiben, solange er nicht zu einer regelrechten Stallfütterung
schreiten vermag. In den Eichel- und Eckerjahren hat er
gewaltigen Überfluß, er kann in dieser günstigen Zeit sogar
ıdes Vieh zur Weide aufnehmen, worauf dann oft ein sehr
‘er Futtermangel eintritt.
Man darf demnach als sicher annehmen, daß auch in | Unter-
mark vor der deutschen Landnahme die Zupanenschicht
afzucht und damit Milchwirtschaft trieb, während dem Bauer,
keine Milchnahrung kannte, höchstens das fettspendende
wein, und zwar in einer sehr beschränkten Zahl zur Ver-
ing stand!) Nach der deutschen Landnahme wurde auch
Zupan durch Auflösung der großen Zupen, als Weidereviere,
:nzelne Ortsmarken, OrtsZupen, das bisherige Wanderleben
‚öglich gemacht, auch er wurde allmählich ansässig und kam
lie Lage, ebenfalls Schweinezucht mit zu treiben, wo aus-
hnte Eichen- und Buchenwälder ihn förderten. Dadurch er-
te in gewissen Gegenden die Lebensweise des Zupan und
der Bauern eine weitere Ausgleichung?). Ja, es konnte so
: kommen, daß hie und da, wo der durch Raubbau aus-
gene Boden die Saat nicht mehr lohnte, dafür aber einige
t gewährte, auch der Bauer überwiegend Viehzüchter
de, so, wie sein Zupan einer war, denn wir lesen im Ratio-
um:
.. in loco qui dicitur Cvom sunt v supani, quorum quilibet
Ut ovem cum agno, pro porco tij denar., pro agno ti),
lino itig. Sub eisdem supanis suut xviij predia, quorum
Tibet solvit ovem cum agno et quelibet villa illarum solvit
enarios: pro porco iij, pro lino ij. Hier zinste weder Zupan
1) Über die Rinderzucht läßt sich nichts Bestimmtes sagen und nur
mit einiger Sicherheit annehmen, daß das Rind nicht gänzlich fehlte,
die Awaren ebenso wie die Petschenegen und früher die Nomadenskythen
ler hatten, und zwar als Zug-, kaum als Milchtiere.
2) Die uns schon bekannte Stelle: si villa habet integrum aratrum setzt
)chsengespann voraus, und das würde für das 13. Jahrhundert und wohl
schon für früher auf eine bäuerliche Rinderzucht hinweisen.
360 J. Peisker, Die älter. Bez. d. Slawen z. Turkotataren etc.
noch Bauer irgendein Getreide, sondern nebst Flachs bloß
Vieh!). —
1) Raucx, IL. S. 129. Der Fall ist keineswegs vereinzelt: sin Chrisant;-
torf sunt x predia, de quibus supanus habet ij. Census vero aliorum viij pre
guolibet: mellis i quartale, item tota villa dat i porcum vel x den., agnum vel vi
denarios .., folgen weitere drei Dörfer mit dem gleichen oder fast gleichen
Census. — /n Warissen viij mansus,; solvunt mel et tota villa i porcum. Suppr
dragen x mansi simili censu, Afut Heinricum x mansi simili censu. Apıl
Xvneten viiij mansi; solvunt mel et quilibet i porcum et tota villa à agnum,
Folgen weitere drei Dörfer mit zusammen 22 Huben simili censu. A... (.
S. 141 f., 170.
(Schluß folgt in Heft 4.)
as Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter
und zu Beginn der Neuzeit.
Von
Johannes Müller (Nürnberg).
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung.
Die geographische Grundlage . . . 0. 362—868
Übersicht über die Rodstationen der beiden groben 1 Tiroler Rod-
straßen . . . 2 2 . . . . . + + + 367—372
Erster Teil.
le Entstehnng und Organisation des Rodwesens Bayerns und Tirols
im Spätmittelalter.
1 Ursprung der Transportverbände Bayerns und Tirols
und Verkehrsentwicklung in den Ostalpen während des
Spätmittelalters.
Der Ursprung der Transportverbände Bayerns und Tirols im
13. Jahrhundert. . . 2... 372—382
Die rapide Entwicklung des "deutsch-italienischen Verkehrs im
Bereich der Ostalpen während des 14. Jahrhunderts. . . 382-388
I. Die Organisation des Rodwesens Bayerns und Tirols
im Spätmittelalter.
Die Voraussetzungen der Mitgliedschaft an der Rod . . . . 388—392
Die Organe des Rodwesens Bayerns und Tirols. . . . . . 393-397
Rechte und Pflichten der Rodleute . . . 2 . . . . . . 897—404
HI. Der Transportbetrieb. | |
Die Arten des Transportbetriebes . . . . . 2 . . . . . 404-413
Die Niederlagshäuser und Gutfertiger . . . . + . + + 414—420
(Schluß folgt in Heft 4)
Einleitung.
1. Die geographische Grundlage‘).
Dem Verkehre Mitteleuropas mit Italien standen im Mittel-
alter drei Straßengruppen zur Verfügung, von denen jede nach
Hauptrichtung, Einzelverlauf und nach der Anzahl sowie den
Grad der dabei zu besiegenden Terrainschwierigkeiten ihre Eigen
tümlichkeiten hatte. Die Schweizer Alpenstraßen, durch ds
System der Rhonepässe und der Rheinpässe sowie des erst späte
erschlossenen Gotthardpasses vertreten, stellten die Verbindung |
zwischen Ostfrankreich und Südwestdeutschland einerseits, der
westlichen Hälfte der Po-Ebene andererseits her und konvergierten
nach dem Mittelpunkt dieser Ebene, nach Mailand, das die von de
drei großen Schweizer Seen, dem Genfer, Vierwaldstätter und Bode
see, ausgehenden, bedeutende Paßhöhen (Simplon 2009 m, St
Gotthard 2114 m, Splügen 2117 m) und tief eingerissene Schluchten
durchschreitenden Verkehrswege vollkommen symmetrisch wie i
einem Strahlenbündel zusammenfaßte.
Die Tiroler Alpenstraßen, die im Süden des Gebirgswalle
zwar auch einem Hauptziele, nämlich der Lagunenstadt, zustreb-
ten, unterschieden sich trotz dieser Ähnlichkeit von den Schweizer
Straßen in jeder Richtung. Schon an Zahl — zwei gegen sechs
— hinter diesen bedeutend zurückstehend, kennzeichnete die zwä
von Norden nach Süden führenden Tiroler Straßen, die untere
Straße über den Brenner und die obere Straße über das Rescher-
scheideck, ein eigentümlicher intermittierender Parallelismus, der
durch das Einschieben der breiten krystallinischen Masse der
1) Vgl. hierfür des Verf. Aufsatz „Das spätmittelalterliche Straßen- und
Transportwesen der Schweiz und Tirols“. (Eine geographische Parallele)
Geographische Zeitschrift B. 10 S. Sö fl.
J. Müller, Das Rodw. Bayerns u. Tirols i. Spätmittelalter etc. 363
taler Alpen und der Südtiroler Dolomiten zwischen den mitt-
n Teil der beiden großen Fahrstraßen hervorgebracht wurde.
diese zwei nordsüdlich ziehenden Hauptverkehrsstraßen Tirols,
zum Unterschied von den nur die zentrale Alpenzone traver-
renden Schweizer Alpenstraßen die drei Parallelzonen der Ost-
en in allerdings niedrigen Pässen überschritten !), mündeten
ı Westen vier und von Osten zwei Transversallinien, die
chtpaß-, die Arlberg-, die obere Inntal- und die Stilfserjoch-
aße, die untere Inntal- und Pustertalstrasse ein, die die Ver-
ıdung Tirols mit der Schweizer Rheintalstraße einerseits, mit
r Salzburger-Kärntnerstraße andererseits herstellten.
Die dritte Gruppe der deutsch-italienischen Alpenstraßen des
ttelalters, die kärntnerisch-steierischen Straßen um-
send, nahm ihren Ausgangshauptpunkt im Süden von Venedig,
eich den beiden Hauptverkehrswegen Tirols. Von Venedig über
ntafel bis Villach in einer Linie ziehend, teilte sich von diesem
ehtigen Straßenkreuzungspunkt Kärntens an die Straße zunächst
zwei divergierende Äste, die nordwestlich ziehende Salzburger
d die nordöstlich verlaufende steierische Straße mit dem End-
nkt Wien. Von der letzteren zweigte in Unzmarkt an der
ir wiederum eine direkt nach Norden gerichtete Straße ab, die
er Rottenmann nach Steyer in das untere Ennstal führte und
i Linz an der Donau endete.
Von den drei Straßengruppen soll hier nur die mittlere, die
n Verkehr zwischen der schwäbisch-bayerischen Hochebene
d Venedig vermittelte, betrachtet werden, da einesteils diese
raßen für den mittelalterlichen Handel von ganz hervorragen-
T Bedeutung waren, andernteils dem Verfasser dieser Abhand-
ng ein ziemlich reiches Quellenmaterial für die Geschichte des
rkehrs in diesem Gebiete zur Verfügung stand.
Die obenerwähnten beiden großen Verkehrsstraßen Tirols,
e obere und die untere Straße, hatten nicht von je als Kon-
_
efelder Paß 1176 m, Brennerpaß 1372 m, Peutelsteinpaß 1544 m.
Vierteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 24
364 Johannes Müller
kurrenzwege für den deutsch-italienischen Handel und Verkehr
bestanden, sondern hatten sich als solche erst im Laufe des spä-
teren Mittelalters unter der Einwirkung des stetig wachsenden
Verkehrs von Südwestdeutschland nach Venedig entwickelt. Im
früheren Mittelalter, also etwa bis zum Untergang der Hohen-
staufen, wo das Bedürfnis der raschen Heranführung einer be-
deutenden Truppenmacht aus Deutschland nach Ober- bezw.
Mittelitalien auf die Benützung einer möglichst meridional ver-
laufenden Heeresstraße hinwies, war der Weg von Augsburg über
das Seefeld und den Brenner, sodann durch das Eisack- und
Etschtal die fast ausschließlich von den deutschen Kaisern bei
ihren Römerzügen benützte Heeresstraße, die wir uns in jener
Zeit auch als die Haupthandelsstraße zwischen Süddeutschland
und Oberitalien vorstellen müssen).
Als aber im 13. Jahrhundert der Handel zwischen dem see
beherrschenden Venedig und den mitteleuropäischen Ländern sich
immer mehr entfaltete, als die süddeutschen Handelsemporien,
vor allem Augsburg und Ulm, die wichtigsten Zwischenstatione
zwischen der Lagunenstadt, dem Stapelplatz der orientalische
Waren, und den Rheinlanden, dem fruchtbarsten und dichtes
à dm ue
na à
de hr nr
bevölkerten Gebiete Mitteleuropas, wurden, da wurde nicht nur |
das Bedürfnis nach einem zweiten grossen Verkehrsweg nebei
der Brennerstraße fühlbar, sondern es mußte auch die in der
Brennerstraße bisher eingehaltene meridionale Richtung in die süd-
südöstliche Richtung umschlagen, da der Verkehr nach Venedig
gleichsam alle übrigen Verkehrsadern von Süddeutschland nach
der Osthälfte der Po-Ebene aufsog.
Betrachtet man nun den Verlauf der oberen und der untere
Straße Tirols im einzelnen, so wird man die Abhängigkeit derselbe
einesteils von den großen Faltenlinien der Ostalpen, andernteil
von den die Falten quer durchsetzenden Bruchlinien gewalr.
Durch dieses abwechselnde Einschwenken der beiden große
Verkehrslinien einmal in die Längsfalten, dann wieder in die
Querspalten des Gebirges entstehen jene zahlreichen rechtwink-
1) Vgl. E. OHLMANN, Die Alpenpässe im Mittelalter (Jahrbücher für |
schweizerische Geschichte, 3. und 4. Bd.).
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 365
sen Knickungen, die für die deutsch-venezianischen Handels-
raßen Tirols so charakteristisch sind.
Die obere Straße, die von Ulm bis Kempten das Illertal
nützte, bog bei der letztgenannten Stadt aus der bisher ein-
haltenen Südrichtung in die Südostrichtung ab und behielt
ieselbe mit Benützung der Querspalte von Nesselwang, des un-
ren Vilstales und der Furche von Heiterwang bis Lermoos bei.
ei Lermoos erfuhr die obere Straße Tirols den ersten recht-
inkligen Knick; denn die Wegstrecke von Lermoos über den
ern und Imst bis Landeck verlief in. der nordöstlich gerich-
ten Inn-Gurgl-Talung, die ein Glied der großen, vom Patznaun
is zur Vorderriß reichenden Längsfurche bildet. Die scharfe recht-
rinklige Umknickung wiederholte sich in der oberen Straße noch
ünfmal und zwar jedesmal da, wo ein wichtiges Seitental in die
Hauptstraße einmündete. So traf am Innknie bei Landeck die
Arlbergstraße auf die große, über das Reschenscheideck ziehende
Verkehrsstraße, am Etschknie bei Meran das vom Jaufenpaß
abzweigende Passeyertal, am Etschknie bei Bozen das zum
Brenner führende Eisacktal. Bei Trient verließ die obere Straße
die Etschlinie, schwenkte im rechten Winkel in die Val Sugana
ein und behielt die damit eingeschlagene Westostrichtung bis
Primolano bei. Am letztgenannten Orte, geschichtlich bekannt
durch die Talenge von Kofel (Canale di Brenta), war die letzte
rechtwinklige Ablenkung der oberen Straße, indem die Straße,
anstatt der nach Osten weiterführenden Belluneser-Linie zu folgen,
in dem südlich verlaufenden Brentatal über Bassano und Castel-
franco nach Westen zog und sich bei letztgenanntem Orte, also
ümittelbar vor Venedig, mit der von Treviso kommenden un-
teren Straße vereinigte.
Die untere Straße nahm ihren Ausgang von Augsburg,
folgte dem Lech bis Schongau und zog, die Ammer bei Echels-
bach unweit des Klosters Rothenbuch überschreitend, über Ammer-
sau und Ettal in südöstlicher Richtung bis Oberau, wo sich
uit ihr eine zweite von Augsburg ausgehende, jedoch wenig be-
lützte Straße, die über Mering, Inning am Ammersee, Weilheim
nd Murnau dem Gebirge zustrebte, vereinigte. Von Oberau
ing die Straße über Partenkirchen, Mittenwald und Zir!
366 Johannes Müller
nach Innsbruck, an jedem der vier genannten Orte in einem
scharfen rechten Winkel abbiegend ')., Von Innsbruck bis Oberau
in Tirol oder Franzensfeste, an der Einmündung des Puster-
tales, verlief die Straße wie die heutige Brennerbahn in direkt
südlicher Richtung; von dem letztgenannten Orte an aber schwenkte |
die Hauptstraße, im späteren Mittelalter wenigstens, aus der Süd-
richtung in die ÖOstrichtung um, zog in dieser Richtung dur |
das Pustertal bis Toblach, bog hier in scharfem rechten Winkel |
wieder nach Süden zum Paß von Peutelstein ab und behielt nu |
die Südrichtung auf ihrem ganzen weiteren Verlauf, über Cortms |
d’Ampezzo (Haïden), Pieve die Cadore, Serravalle und Trerie |
ziehend, bis Venedig bei. |
Zwischen den beiden großen, im ganzen parallel verlaufenden |
Hauptrouten Tirols gab es nun im späteren Mittelalter vier Ver- |
bindungsstraßen, von denen zwei am Alpenrand, zwei innerhalb
der Alpen verliefen. Die Verbindungsstraße am Nordrand ging |
von Schongau nach Füssen, dem Lech entlang oder, da schen i
im 14. Jahrhundert eine Wasserrod auf dem Lech von Füsse |
bis Augsburg bestand, auf dem Lech selbst. Die am Südrand
der Palagruppe dahinziehende Querstraße verband Primolano a |
der Brenta mit Capo di Ponte an der Piave. Von den beiden
inneren Verbindungsstraßen endlich verlief die eine, die sog.
mittlere Straße, im mittleren Inntal von Nassereit über Telfs nach
Zirl, die andere im unteren Eisacktal von Franzensfeste bis |
Bozen. Von diesen vier Verbindungsstraßen war die untere Eisack-
straße im späteren Mittelalter die am wenigsten frequentierte; |
denn auf derselben wurde erst in der zweiten Hälfte des 16. :
Jahrhunderts die Rod eingeführt, die auf den drei übrigen, der
Füssen-Schongauer, der Telfser und der Belluneser Straße, schon
lange zuvor im Gebrauch war.
1) Bei Mittenwald stieß die von München herführende bayerische Straße |
auf den Hauptverkehrsweg zwischen Schwaben und Venedig; dieselbe be |
nützte ursprünglich in ihrem ganzen Verlauf das Isartal von München bis |
Mittenwald, führte aber seit Erbauung der Kesselbergstraße unter Hersg |
Albrecht IV. von Wolfratshausen über Benediktbeuren und den Walchenste |
in gerader südlicher Richtung nach Mittenwald.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. | 367
Übersichtüber die Rodstationen der beiden großen
Tiroler Rodstraßen.
Im Mittelalter bestand für Kaufleute, die mit ihren Waren-
igen ein bestimmtes Gebiet kreuzten, nicht nur ein oft sehr
reitgehender Routenzwang sondern es unterlagen die Kaufmanns-
üter auf einer von ihnen benützten Verkehrsstraße auch dem
liederlagsrecht derjenigen Ortschaften, deren Gemeindegenossen
en Transport der Güter zu besorgen oder, nach dem mittelalter-
chen Ausdruck, „auf der Rod zu fertigen“ hatten. Da die
taschheit des Transportes in umgekehrtem Verhältniss zu der
‚ahl der mit Niederlagsrecht ausgestatteten Zwischenstationen,
er sog. Rodstationen, stand, die Höhe der Transportkosten aber
n dem gleichen Maße wuchs, wie sich diese Zahl vermehrte,
o ist es für die Abschätzung des kommerziellen Wertes der
eiden großen Tiroler Rodstraßen zunächst von Bedeutung, die
‚ahl der Rodstätten sowie die Entfernungen derselben voneinander
uf beiden Straßen festzustellen. Aus den bei den einzelnen
todorten angegebenen Höhenzahlen läßt sich zugleich ein un-
efahres Bild von den Steigungsverhältnissen der beiden Routen,
ie trotz der geringen Verschiedenheiten in der Länge und in
er Höhe der Pässe durchaus nicht die gleichen gewesen sind,
ewinnen. Als Ausgangspunkte im Norden seien Schongau und
‘üssen gewählt, da erst von diesen beiden Orten an den beiden
’erkehrswegen der Charakter einer Gebirgsstraße zukommt.
Rodstationen der oberen Straße von Füssen bis Venedig um 1500.
kintfer-
ed Pallhaus und Wage.
Meilen.
Namen, politische Zugehörigkeit
und Meereshöhe der Stationen.
. *Füssen oder Vils, Bistum
Augsburg 797 m. . .
2. Heiterwang, Grafschaft Tirol,
991 m .
3. Lermoos, Grafsch. Tirol, 987 m,
*Fern 1203 m. . . .
. Imst, Grafsch. Tirol, 672 ı m.
. Zams, Grafsch. Tirol, 773 m
Pallhaus und Wage.
Kein Pallhaus und keine Wage.
Pallhaus und Wage.
Pallhaus und Wage.
Pallhaus und Wage.
Où À
368 Jobannes Müller
Rodstationen der oberen Straße von Füssen bis Venedig um 15
tfer-
nun gen
Namen, politische Zugehörigkeit Pallhaus und Wage.
und Meereshöhe der Stationen. Men.
6. Prutz, Grafsch. Tirol, 861 m, Wage, aber nur ein verfa
*Finstermünz 1106 m . 2 Pallhaus.
7. Nauders, Grafsch.Tirol, 1362 m, Kein Pallhaus, aber eine W
Reschenscheideck 1494 m . 8
8. Glurns, Grafsch. Tirol, 915 m 8 Kein Pallhaus, aber eine W
9. Lätsch, Grafsch. Tirol, 648 m 8 Pallhaus und Wage.
*T611 . . Kein Pallhaus, aber eine W
10. Meran oder Ober- und Nieder-
mais, 320 m . . 3 Kein Pallhaus, aber eine W:
11. Terlan, Grafsch. Tirol, 248 m 2 Kein Pallhaus, aber eine Wi
*Bozen
12. Neumarkt, Bistum. Tant |
211 m . 8 Pallbaus und Wage.
13. *Trient, Bistum Trient, 198 m | 4 Kein Pallhaus, aber eine Wa
14. Persen, Bistum Trient, 480 m |; 1'}, | Kein Pallhaus, aber eine Wa
15. Levico, Bistum Trient, 507 m | 1f/, | Offenes Pallhaus und Wage.
16. Castelnuovo (Castelneuf), Graf-
schaft Tirol, 370 m. . . . | 24, | Kein Pallhaus, aber eine Wa
17. Grigno (Grimb), Grafsch. Tirol,
250 m 2
18. *Primolano, Herrschaft Vene-
dig, 217 m . . . 1’,
19. Cismone, Herrschaft Venedig,
205 m . . . 1
20. Carpane, Herrschaft Venedig
148 m . . . | 1'/,
21. Salagna, Herrschaft Venedig 1
22. Bassano, Herrschaft Venedig, |
129 m la
23. Castelfranco . | 8
24. Mestre . | 4
Se €
s Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 369
n der unteren Straße von Schongau bis Venedig um 1500.
tische Zugehörigkeit |nungen
höhe der Stationen. ee |
_ —
u,Hzgt. Bayern, 668 m |
Pallhaus und Wage.
Pallhans und Wage.
d’Ampezzo (Haiden), | Pallhaus und Wage.
Venedie 1224 m .
S, Vito), Venedig,
u, Hzgt. Bayern, | # | Pallhaus und Wage.
‘chen, Bist, Freysing, | Pallhaus und Wage,
te
ald, Bist. Freysing, | | Pallhaus und Wage.
L) ® = =" “ 0] L] [> 2
trafseh. Tirol, 1176 m | 9 Kein Pallhaus und keine Wage.
afsch. Tirol, 620 m. | 2 Kein Pallhaus, eine Wage.
k,Grafsch.Tirol,574m | 8 | Ar ser li
iraf: Tirol | | Pallhaus un ,
rafsch. Tirol, 993 m | 11}, Se u =
rafsch. Tirol, 1370 m | 31}, ein ans, eine Wage.
Grafsch. Tirol, 998m | 4 | Pallhaus und Wage.
h,Grafsch. Tirol, 777m | g | Pallhaus und Wage.
, Bist. Brixen, 835 m | 9 Pallhaus und Wage.
Grafsch. Tirol,1209m | Q | Pallhaus, keine Wage.
oder Ospetale . „| 2 Kein Pallhaus und keine Wage.
ein, 1544 m
|
|
to
Pallhaus und Wage,
in (Valle), Venedig, |
Venedig, 490 m. . 3
'onte, Venedig, 395 m | 9
Venedig, 875 m. . 31e |
e, Venedig, 144 m .| 9
10, Venedig, 62 m . 9
‚ Venedig . . . . 2
‘enedig
einem Stern versehenen Stationen waren Zollstätten; demnach
eiden Straßen von Schongau bis zur venezianischen Grenze
-9) Zollstätten, eine im Verhältnis zu andern mittelalterlichen
3en auffallend geringe Zahl.
370 Johannes Müller
Rodstationen der vier Verbindungswege zwischen der oberen und der
unteren Straße um das Jahr 1500.
Namen und politische Zugehörig-
keit der Stationen. Pallhaus und Wage.
a) Füssen-Schongauer Straße.
. | 4 Pallhaus und Wage.
Pallhaus und Wage.
b) Telfser oder mittlere Straße.
. Nassereit, Grafsch. Tirol
. Telfs, Grafsch. Tirol .
8. Zirl, Grafsch. Tirol
pond
. Füssen, Bist. Augsburg .
2. Schongau, Hrzgt. Bayern
pond
21/3
2
D
Pallhaus und Wage.
Kein Pallhaus, aber eine Wage.
c) Untere Eisackstraße (Franzensfeste-Bozen).
. Bozen, Grafsch. Tirol . . . | x Pallhaus und Wage.
2. Brixen, Bist. Brixen . . . .| Pallhaus und Wage.
pi
d) Belluneser Straße.
. Primolano Herrsch. Venedig .| _,
. Feltre, „ „ . 2:
3. Belluno . „ . 4
DD We
Aus dieser kurzen Übersicht ergibt sich zunächst eine fat
vollkommene Übereinstimmung der beiden Hauptrodstraßen wie an
Länge so auch hinsichtlich der Anzahl der Rodstationen, ferner
die gleichfalls sehr bemerkenswerte Tatsache, daß die unter
Straße mit weit mehr Pall- oder Niederlagshäusern ausgestattl
war als die obere Straße, die eben zu jener Zeit an kommer
zieller Bedeutung schon weit hinter der geringere Terrainschwie-
rigkeiten und günstigere Witterungsverhältnisse aufweisenden
Brennerstraße zurückstand. Auf der unteren Straße entbehrten
nur die mit den Paßübergängen von Bayern nach Nordtirol und
von Südtirol nach Venetien zusammenfallenden Stationen Seefell
und Peutelstein eines Pallhauses wie einer Wage und außer
dem besaß auch Toblach keine Wage. Der Mangel solcher Rod-
stationsattribute bei Seefeld und Peutelstein erklärt sich daraus,
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 371
ß diese beiden Stationen ursprünglich sog. Unterrodstätten,
s heißt Stationen waren, die zwar keine eigene Rod besaßen,
er durch Gewohnheit zu dem Recht gekommen waren, daß an
ıen der Transportwechsel zwischen den Mittenwalder und Inns-
ucker Rodleuten beziehungsweise den Toblacher und Haidener
ıhrleuten stattfand. Solche Unterrodstätten gab es auf den
iden großen Rodstraßen noch je eine, nämlich Leyfers zwischen
>rlan und Neumarkt und Mauls zwischen Sterzing und Mühl-
ıch, von denen jedoch nur die eine, nämlich Leyfers, in dem
er in Betracht kommenden Zeitraum als offizielle Unterrod-
ätte anerkannt wurde, d. h. eine eigene Rodordnung besaß,
ährend die Maulser Fuhrleute mit den Mühlbachern ein Privat-
bkommen getroffen hatten, wonach sie gegen eine entsprechende
‚bfindung die zu Mauls abgeworfenen Güter von ihrem Ort bis
ach Sterzing zu führen hatten. Dieser Pakt hinderte aber die
faulser nicht, von den Kaufleuten noch einen eigenen Überlohn
owie Niederlagsgeld für die zu Mauls durchgehenden Güter zu
ordern.
Abgesehen von diesen offiziellen und halboffiziellen Unterrod-
tätten auf beiden Straßen gab es auf außergewöhnlich langen
strecken noch mehrere, von den Rodleuten nach eigenem Ge-
allen ausgewählte Zwischenstationen, auf denen die Umladung
ler Kaufmannsgüter nach gegenseitigem Übereinkommen zweier
enachbarter Rodstationen per nefas stattfand. Solche wider
todrecht gebrauchte Zwischenstationen waren z. B, zwischen
'chongau und Füssen der Sammeister, ein Wirtshaus oberhalb
«echbruck, zwischen Schongau und Oberammergau Echelsbach
n der Ammer, zwischen Schongau und Spöttingen Asch, zwischen
'eumarkt und Trient St. Michele. An diesen Orten übernahmen
auern bezw. Wirte, die nicht in der Rod waren, die Beförde-
ing der Güter bis zur nächsten Rodstation, selbstverständlich
ieder nur gegen eine entsprechende Entlohnung durch die Kauf-
ate oder deren Faktoren, wodurch die an und für sich hohen
ransportkosten abermals erhöht und die Handelsleute zu stets
euen Klagen über Verletzungen der aufgerichteten Rodordnungen
eranlaßt wurden. Die einfachste Abhilfe dieser Beschwerden, so
lite man glauben, wäre die gewesen, daß die genannten Ort:
372 Johannes Müller
zu Unterrodstätten erhoben und mit Pallhäusern versehen wor-
den wären. Der Versuch hierzu ist bei zweien dieser Orte, näm-
lich bei Asch seitens der Schongauer und bei St. Michele seitens
der Rodleute von Trient, auch mehrmals gemacht worden, aber
jedesmal an dem Widerstand der Kaufleute und Gutfertiger ge-
scheitert!). Die letzteren fürchteten eben nicht bloß eine weitere
Verzögerung des schon jetzt sehr langsamen Transportes ihrer
Güter sondern scheuten vor allem vor der Mehrung der Unkosten
zurück, die sich notwendigerweise bei der Errichtung neuer Rod-
orte durch Fuhrlöhne und Niederlagsgelder ergeben mußten. Wie
hoch sich aber die Kosten für den Transport der Kaufmanns
güter samt den Zöllen, Niederlags-, Wacht- und Faktorengelder
in jener Zeit beliefen, das läßt eine Mitte des 17. Jahrhunderts
angestellte Berechnung der Transportspesen von Venedig nach
Augsburg erkennen. Nach dieser Berechnnng betrugen die Trans
portkosten eines Saumes oder eines Ballens von vier Zentnem
inkl. der Zölle von Venedig nach Augsburg via Trient-Bozer-
Brenner-Seefeld-Schongau 22 fl. 15 kr.?).
Erster Teil.
Die Entstehung und Organisation des Rodwesens Bayerns
und Tirols im Spätmittelalter.
I. Ursprung der Transportverbände Bayerns und Tirol
und Verkehrsentwicklang in den Ostalpen während de
Spätmittelalters.
1. Der Ursprung der Transportverbände Bayerns
und Tirols im 13. Jahrhundert.
Die Benützung der öffentlichen Straßen und schiffbaren Flüsse
für den Transport war ursprünglich ein königliches Regal und
1) Vgl. die Unterhandlungen zwischen der Stadt Augsburg und der Inu
brucker Regierung über die Errichtung einer Unterrod zu St. Michele im Jahre
1533, Augsb. Handelsv.-Archiv LXXXX. Nr. 50 und 56 Fasc., sodann dit
Unterhandlungen zwischen Schongau und den Augsburger Kaufleuten übe
die Errichtung einer Unterrod zu Asch vom Jahre 1548, Augsb. Handelt.
Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 112, 113 und 114.
2) Vgl. Beilage I.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 373
konnte als ein Recht an einzelne Personen oder Korporationen
verliehen werden. Solche Verleihungen fanden wie in anderen
Teilen des Deutschen Reiches schon früh auch in den Alpen-
gebieten Tirols und Bayerns statt, wie z. B. die Venezianer durch
die Kaiser Otto I., Otto I. und Otto III. Freiheitsbriefe für die
Benützung der Flüsse und Landstraßen in ihrem Alpenhinterlande
erhielten’).
Als nun im Laufe des 13. Jahrhunderts die Mehrzahl der
königlichen Hoheitsrechte in die Hände der Territorialherren
überging, war es das Bestreben der letzteren, vor allem die Ver-
kehrshoheiten (Markt-, Münz-, Zoll- und Straßenregal) ganz in
ihre Gewalt zu bekommen, da die daraus fließenden Einkünfte
mit der fortschreitenden Entwicklung der Gewerbe und des Han-
dels im Spätmittelalter als die ergiebigsten Geldquellen der Lan-
desfürsten sich erwiesen?). Der Zeitpunkt für den Übergang der
Verkehrshoheiten aus der königlichen Gewalt in die Hände der
Territorialherren war für die verschiedenen Gebiete des Reiches
verschieden; doch kann man im allgemeinen soviel sagen, daß
die deutschen Territorialherren am Ende des 13. Jahrhunderts
fast durchgehends in den tatsächlichen Besitz der meisten Verkehrs-
hoheiten gelangt waren und im Anfang des 14. Jahrhunderts dieser
Besitz als ein durch Herkommen erworbenes Recht betrachtet wurde.
Was nun das Straßenregal betrifft, so kann wenigstens für Tirol
dieser Zustand im 14. Jahrhundert als rechtlich begründet durch
mehrere Urkunden nachgewiesen werden. In einem von dem
Richter von Aufenstein, Seybold von Colfoß, unter dem 27. März
1337 erlassenen Spruch an die Bauleute von Vinaders, ob dem
Ritten und von Steinach behufs Schlichtung der zwischen den-
selben entstandenen Streitigkeiten über das Recht, die Kaufmanns-
güter von Lueg einerseits gegen Matray, andererseits gegen Ster-
zing zu fahren, wird eingangs erwähnt, daß die von Vinaders
und ob dem Ritten gemeinlich und etliche Bauleute von Steinach
1) Heyp, Levantehandel I. S. 128.
2) Siehe die Verleihung des Wegzolles zu Pöttmes an Heinrich von Gumpen-
derg durch Herzog Ludwig von Bayern vom 24. August 1810 zur Erhaltung
und Ausbesserung der Straßen. Lori, Urkunden zur Geschichte des Lech-
rains, Nr. XXIV,
374 Johannes Müller
einen Hauptbrief der Herrschaft von Tirol vorgezeigt, worin ihnen
das trockene Gut vom Brenner nach den zwei genannten Nach-
barorten „durch Recht und alte Gewohnheit zu führen“ zugestan-
den sei. Die von den Vinadersern und einem Teil der Steinacher
ausgesprochene Bitte um Bestätigung des ausschließlichen Trans-
portrechts wurde von dem Aufensteiner Richter nebst sieben
Thädingern dahin entschieden, daß das Rodrecht am Lueg nicht
den Bittstellern allein, sondern durch Recht und von alter Ge-
wohnheit den Besitzern von 66 Wägen, die in der Urkunde
namentlich aufgeführt werden, zustehe, und daß mit dieser Ent-
scheidung aller weiterer Streit darüber, wer das trockene Gut
fürbaß von Lueg nach Matray und Sterzing führen solle, abgetan
sei!). Der in dieser Urkunde gebrauchte Ausdruck „durch Recht
und alte Gewohnheit“ beweist, daß die Warenbeförderung in
Tirol zu Anfang des 14. Jahrhunderts kein freies Gewerbe mehr
war, das jeder Bauer oder Bürger nach Belieben ausüben konnte,
sondern bereits durch die Landesregierung an bestimmte Be-
dingungen geknüpft war.
Welches waren nun wohl die ursprünglichen Voraussetzungen
zur Erlangung des Rechtes, das Fuhrmannsgewerbe in den Ost-
alpengebieten ausüben zu dürfen? Darauf läßt sich eine durch
gleichzeitige, d. h. mit der Entstehung der Rod zusammenfallende
Urkunden belegte Antwort zwar nicht geben, aber durch Ver-
gleich mit anderweitigen Verhältnissen, z. B. mit denjenigen Grau
bündens, und durch Rückschlüsse von der späteren Organisation
auf die früheren Einrichtungen läßt sich immerhin ein im ganzen
richtiges Bild von dem Rodwesen Bayerns und Tirols in seinem
Anfangsstadium gewinnen.
In den Ostalpen war wie in der Schweiz der Warentranspor
wegen der damit verbundenen großen Gefahren und bedeutenden
Kosten für den Straßenbau von vornherein nicht das Unternehmen
einzelner, sondern ganzer Verbände, die sich entweder innerhalb
einer Stadt, wie Schongau in Bayern oder Innsbruck in Tire,
oderinnerhalb einer größeren Landgemeinde bezw. mehrerer kleinerer
Dörfer und Höfe bildeten. Den Anstoß zur Bildung solcher Trans
1) Vgl. Beilage II.
nm in nn mn m 0 ot GR
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 375
rtverbände erhielten die Bürger der Landstädte und die Bauern
r Dorfgemeinden Tirols und Bayerns, die an den durch das
ebirge ziehenden großen Heerstraßen und Flüssen lagen, zunächst
ohl dadurch, daß sie, als Grundholden einer Herrschaft zu Spann-
ıd Wagendienst verpfliehtet, diese Dienste innerhalb einer Gemeinde
einer gewissen Ordnung verrichteten !). Es lag für die Grundherren,
e innerhalb ihres Bezirks das Straßenregal besaßen, nahe, den
it Spanndiensten belasteten Grundholden als Entschädigung für
ese Last das Recht des Warentransportes zu verleihen“). Die
n Warentransport besorgenden Bauern und Kleinbürger bilde-
n keine in sich geschlossene Zünfte, denn sie betrieben das
ıhrmannsgewerbe neben ihren sonstigen bäuerlichen Beschäfti-
ıngen gleichsam nur als Nebengewerbe*) und entbehrten trotz
hireicher Ordnungen, die von der Obrigkeit zum Teil aufgestellt,
f jeden Fall aber streng kontrolliert wurden, einer eigentlichen
ınftverfassung. Eine solche Verfassung war bei den bayerischen
id Tiroler Rodleuten schon darum ausgeschlossen, weil sich
ren Rodrecht zum Teil — nämlich in den Orten Mittenwald,
ırtenkirchen, Heiterwang, Lermoos, Allgund, Meran, Terlan, Zirl,
ıeg, Sterzing, Mühlbach und Bruneck — auf den Besitz von Lehens-
tern gründete, die ihnen von ihren Herrschaften, den Herzögen von
ıyern, den Grafen von Tirol, den Bischöfen von Freising, von
ixen und von Trient, zu „desto stattlicher Verführung der Kauf-
annsgüter“ verliehen worden waren, die im Laufe der Jahr-
ınderte vielfach zum Eigentum der Rodleute wurden und auf
e bei unverhüteten Beschädigungen von Rodgütern die geschä-
gten Kaufleute ein Pfandrecht hatten). Briefe über solche
1) Vgl. über die Spanndienste der im Gericht Neuhaus (Terlan) gesessenen
üleute König Heinrichs und Grafen von Tirol A. JÄGER, Landständ.
rfassung Tirols I. S. 560, Anm. 4.
2) So belehnte Bischof Konrad von Trient 1192 die Gemeinde Riva mit
m Recht der Schiffahrt nach Ponale und Torbole. Cod. Wanng. S. 116.
3) Vgl. hierüber die von den Kaufleuten in allen ihren Beschwerdeschriften,
B. vom Jahre 1545, über die Rodmängel hervorgehobene Tatsache, daß die
ydleute ihre Gemen (Vieh) nicht allein wegen der Kaufmannsgüter sondern
ch zu ihrer Feldarbeit und anderer Notdurft halten.
4) Vgl. hierzu außer dem obenangeführten Spruch des Aufensteiner
ichters vom Jahre 1337 und anderen Schiedssprüchen des 14. Jahrhunderts
376 Johannes Müller
Lehensverleihungen sind uns namentlich aus der Zeit der Her-
zoge Friedrich IV. und Sigmund von Tirol, die an Brixener
Bürger und Mühlbacher Bauern teils ererbte, teils neu erworbene
Rodlehen vergaben, in großer Zahl überliefert'). Aus diesen
Lehensbriefen geht nun noch deutlicher wie aus den erst später
entstandenen Rodordnungen die Tatsache hervor, daß zwischen
den verschiedenen Rod- oder Pallwägen einer Rod ein scharf
ausgesprochener Rangunterschied bestand, indem man zwischen
einem ersten, zweiten, dritten ete. Pallwagen unterschied und den
Besitzern der ersten Wägen einen gewissen Vorrang unter den
Rodleuten eines Rodbezirkes einräumte. Aus der bevorzugten
Stellung der ersten Rodwägenbesitzer ergab sich bald in ver-
schiedenen Rodbezirken, wie am Lueg (Brenner) und in Sterzing,
die weitere Folge, daß die sog. Vorwägen, deren Besitzer jeden-
falls vermöglichere und darum auch im Fuhrwesen leistung-
fähigere Bauern waren, die Nachwägen beim Warentransport
nahezu ganz verdrängten, so daß das an und für sich für eine
geringe Anzahl von Personen geltende Monopol des Transport-
über die 66 Lehenhöfe von Lueg bis Steinach (z. B. den Spruch des Markgrafe
Ludwig des Brandenburgers vom Jahre 1852, des Herzogs Leopold vom Jahr
1380) vor allem: Ein Anzeigen, wie die beschwärd, so die kaufleut und gtt
fertiger ob der rod und derselben rodleuten in der fürstlichen Grafschaft
Tyroll haben, herkomen sey 1526. Z. B. Folio 11.: „K. M. in Hungan
und Behem oder derselben statthalter, hof- und camerrät der oberüsterreichi
schen lande zu Innsprugg wollen gnediglich und dannocht des ernsts dar
sehen, das die rod, laut herzog Sigmundts herkomen ordnung, mit der an
wägen, darumb sy dann an vil orten guete gueter und anders
haben, stattlich gehalten, dero gelebt und gewart werde. Augsb. Handelst-
Archiv. — Ähnliche Verhältnisse wie in Bayern und Tirol herrschten i
Wallis und Graubünden, wo die Bischöfe von Sitten und von Chur ds
Straßenregal besaßen und die Rodrechte an Bauern und Bürger verliebez
BörLın, Die Transportverbände der Schweitz ff., SCHULTE, Geschichte des
mittelalterlichen Handels I. S. 212.
1) Siehe den Lehensbrief Herzog Friedrichs IV. v. heil. Osterabend 1424
gegeben dem Gerhard zu Brixen um den 3. und 5. Rodwagen zu Mühlbach
und andere Lehenstücke, so denselben anhängig. Bischof Georg v. Brise
bestätigt den Bürgern von Matrei das Recht des Pallwagens, der vor ander‘!
der 1. sei, 30. Dez. 1438. Archivberichte v. Tirol, II. S. 316. — Innsbruck®
Statthaltereiarchiv, Abt. Pestarchiv IX. 159.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 377
etriebs innerhalb einer Gemeinde oft auf einen noch kleineren
reis, nämlich auf fünf bis sechs Fuhrwerksbesitzer, eingeschränkt
rurde *).
Eine Ausnahme von den sonst üblichen Einrichtungen der
‚od in Bayern und Tirol machten die Rodbezirke von Nau-
ers und Neumarkt bezw. der drei Viertel Neumarkt, Auer und
[ontani im Gericht Enn und Caldif. In Nauders waren nämlich
nter den 234 vorhandenen Feuerstätten ungefähr die Hälfte
rotteshausleute des Hochstiftes Chur, mit etlichen Freisassen
arunter, die weder zu Gericht.noch zur Führung der Rodgüter
ebraucht werden konnten. Aus der andern Hälfte der Nauderser
jauern, die Herrschaftsleute und als solche zum Warentransport
erpflichtet waren, wurde mit Rat und im Beisein des Pflegers und
üchters von Nauders alljährlich eine Anzahl Bauern ausgewählt,
lie für das laufende Jahr der Rod gewärtig zu sein hatten ?).
m Gericht Enn und Caldif, wo die drei Viertel Neumarkt,
Auer und Montani alle Kaufmannsgüter von Neumarkt nach Ter-
lan einerseits, von Neumarkt nach Trient andererseits zu führen
hatten, mußten alle in den genannten drei Vierteln eingesessenen
Bauern, die Ochsengemen hatten, der Rod gewärtig sein. Die
Rodpflicht traf aber auf jedes Viertel nur alle drei Wochen je
eine Woche lang, so daß also für die Rodleute dieses Bezirkes
ein dreiwöchiger Turnus durchgeführt war.
Mit dem Bau der Straßen hatten die Rodleute Bayerns und
Tirols im großen und ganzen nichts zu tun, es besorgten das
vielmehr die Gemeinden mit Unterstützung der Landesregierung,
die für den Bau und die Erhaltung einzelner Strecken gewisse
Teile der Zollerträgnisse anwies oder auch die Erhebung eigener
Weglöhne gestattete®). In einzelnen Rodbezirken, wie in dem
Schonganer und Lermooser, waren die Rodleute zur Wiederher-
stellung der durch Wasserflüsse, Schneelawinen und andere Na-
l) Vgl. hierzu die Einleitungssätze zu den Rodordnungen von Lueg und
Von Sterzing vom Jahre 1530. Augsb. Handelsv.-Archiv Fasc. XVI.
2) Vgl. die Rodordnung von Nauders vom Jahre 1530. Augsb. Handels-
Ver.-Archiv Fasc. XVI.
3) So wurden die Wegbaukosten im Gerichte Castelbell und Meran
Aus den Erträgnissen des Zolles an der Töll bestritten.
378 | Johannes Müller
turgewalten zerstörten Wege und Brücken sowie zur Aufstellung
eines Wegmachers verpflichtet, wofür dieselben aber auch einen
Weglohn von allem in ihrem Bezirk durchgehenden Zugvieh, die
Rosse der Rodleute selbstverständlich ausgeschlossen, erheben
durften’).
Das Eigentümlichste an dem spätmittelalterlichen Rodwesen
Bayerns und Tirols war also im Gegensatz zu dem Transport-
wesen der Schweiz das, daß dort nicht die Gemeinden als solche,
sondern meist nur eine beschränkte Anzahl von Gemeinde-
genossen eine Rod bildeten, die die Beförderung der Kaufmanns-
güter sowie der Kammergüter innerhalb ihres Bezirkes gegen
einen bestimmten Lohn übernahmen. Den Straßenbau überließen
diese Roden im großen und ganzen den Gemeinden bem.
der Landesregierung; nur zur Aufbewahrung und zum Schutz
der niedergelegten Güter vor Nässe wurden von den Rodleuten
fast an allen Stationen, aber erst ganz am Ende des Mittelalters,
sog. Pallhäuser errichtet, die aber erst mit Beginn der Neuzeit
als charakteristische Attribute der Rodstationen Bayerns und
Tirols betrachtet werden können.
Nach diesen Grundformen hatte sich die Landrod Bayerns
und Tirols in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters heraus
gebildet. Etwas anders war die Entwicklung der sog. Wasser-
rod, die in beiden Gebieten mindestens seit dem Beginn de
15. Jahrhunderts eingerichtet war und insbesondere auf dem Lecb
von Füssen bis Augsburg, auf der Isar von Mittenwald bis Münchet,
auf dem Inn von Telfs bis Innsbruck und auf der Etsch von
Terlan bis Neumarkt betrieben wurde.
Schon im 12. Jahrhundert wurde auf der Etsch zwischen
Bozen und Mori Schiffahrt zu Handelszwecken betrieben, wie ei
von dem Bischof Albrecht von Trient an eine Schiffahrtsgesel-
schaft zu Mori erteiltes Privileg vom Jahre 1188 bezeugt’). Ds
das „Ripaticum“, d. h. der von allen Flößen und Schiffen auf
1) Vgl. hierzu den 10. Artikel der Rodordnung von Lermoos vom Jahrt
1530, Augsb. Handelsver.-Archiv Fasc. XVI.
2) HORMAYR, Geschichte Tirols II. Nr. 41. Danach hatte jedes vi
Mori nach Bozen gehende Schiff 10 & Berner, jedes mit Getreide beladen®
Schiff, das in Trient ausgeladen wurde, 5 ® Berner Zoll zu zahlen.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 379
er Etsch zu entrichtende Zoll, von den Trientiner Bischöfen um
800 ® Berner jährlich verpachtet wurde, so muß der Güterver-
ehr auf der Etsch zu jener Zeit schon eine ziemlich bedeutende
[öhe erreicht haben’). Auf den den Nordrand der Alpen durch-
rechenden Flüssen hat der Verkehr, entsprechend der lang-
ameren Entwicklung des Handels der nördlichen Alpenländer,
edeutend später als auf der Etsch und dem Gardasee eingesetzt.
Erst mit Beginn des 15. Jahrhunderts, als der Andrang der
‚aufmannsgüter auf den beiden Tiroler Rodstraßen so stark
rurde, daß die Rodfuhren zu Land für die Weiterbeförderung
erselben nicht mehr ausreichten, wurde auch auf dem Inn, dem
ech und der Isar die Wasserrod eingeführt. Schon im Jahre
407 hatten bayerische Kaufleute, insbesondere jene von Mün-
hen, mit einigen Flößern von Mittenwald ein Abkommen ge-
offen, wodurch sich diese verbindlich machten, die aus Welsch-
and kommenden Güter der bayerischen Handelsleute nach einer
ewissen Ordnung auf der Isar nach München zu führen”).
ls nun auch andere deutsche Kaufleute, vor allem die Nürn-
erger, für ihre Güter aus Venedig sich dieser Wasserstraße zu
edienen suchten, stellten die Mittenwalder Floßleute so harte
edingungen bezw. so hohe Frachtforderungen, daß sich die
lerzoge Ernst und Wilhelm von Bayern 1431 ins Mittel legen
außten, um die Mittenwalder zu einem für die Kaufmannschaft
llgemein gültigen Abkommen zu bewegen. Im Jahre 1436 wurde
a Mittenwald die erste Wasserrodordnung aufgerichtet und die-
elbe im Jahr 1450 von dem Bischof Johann von Freising mit
‚em Zusatz bestätigt, daß die in die Rod aufgenommenen Flößer
ei der Stallung der Flöße kein Versäumnis sich zuschulden
‚ommen lassen dürften; widrigenfalls hätten sie dem Kaufmann
len aus ihrer Saumsal entstandenen Schaden zu ersetzen und
außerdem in die bischöfliche Kammer einen ungarischen Gulden
ur Strafe zu zahlen. Diese erste Mittenwalder Wasserrodordnung
vurde im Jahr 1462, als zwischen der Gemeinde und dem Hand-
verk der Floßleute Zwistigkeiten wegen des Gütertransportes
1) A. JAGER, Landständische Verfassung Tirols I. S. 237, Anm. 5.
2) Vgl. J. BAADER, Mittenwalder Wasserrodordnungen des 16. Jahr-
underts. Oberbayerisches Archiv Bd. 37, S. 827.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 25
380 Jobannes Müller
auf dem Wasser entstanden, durch den Bischof von Freising
nach Einholung des Rates der bayerischen Herzoge Johann und
Sigmund ergänzt und diese ergänzte Ordnung im Jahr 1489 von
dem Freisinger Bischof erneuert und bestätigt.
Auf dem Lech hat wohl wie auf der Wertach schon um die
Mitte des 14. Jahrhunderts eine regelrechte Floßfahrt zur Befor-
derung der Kaufmannsgüter bestanden '), doch scheint der Ver-
kehr auf diesem Fluß wie auf der Isar erst zu Anfang de
15. Jahrhunderts größeren Umfang angenommen zu haben. An
26. August 1415 richtete der Rat von Augsburg an den Rat der
Stadt Füssen das Ersuchen, daß dieser ihren Bürger Hans Bal-
mair sowohl zu Land als zu Wasser die Straße wandeln lassen
möge’). In einem am 19. Februar 1446 von dem Flößer-
handwerk festgesetzten Floßlohntarif für die Fahrt von Augsburg
bis Regensburg heißt es eingangs: Es ist zu wissen, daß vor
zeiten eine rod hie zu Augsburg gewesen und das den alten
Leuten kund und wissent ist*). Am 9. Oktober 1418 verlieh
Kaiser Siegmund, der sich eben damals auf der Rückreise vom
Konstanzer Konzil zu Augsburg aufhielt, der durch die bayer-
schen Herzoge Ernst und Wilhelm in der Lechfloßfahrt behin-
derten Stadt die Freiheit, daß niemand befugt sein solle, ihr den
Lechstrom zu verbauen, daß hingegen die Augsburger, wen
ihnen solches widerführe, den Fluß gleichfalls zu verschlage
das Recht hätten‘). Als nun die bayerischen Herzoge unter
dem Vorwand, daß Augsburg von dem durch den Bischof Ner-
ninger über die Stadt verhängten Bann noch nicht ordentlicher-
weise losgesprochen sei, nachmals die Reichsstraße und den Lech-
strom sperrten, befahl der Kaiser am 15. Januar 1419 den Aug
burgern, daß sie den Lech gleichfalls gegen Bayern schützen
schirmen und verschlagen sollten. Dieser kaiserliche Befehl
ist dann wohl wieder der Anlaß dazu gewesen, daß Herzog En#
von Bayern am 29. März 1419 den Landsbergern das Recht
verlieh, von jedem Floß, das bei Landsberg den Lech hinab
1) Stetten, Augsburg. Chronik S. 94 u. 98.
2) Augsburger Briefbuch Ib, Nr. 523.
3) Augsburger Ratsdekrete II. Bd., S. 190.
4) Stetten, Augsb. Chronik S. 148.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 381
ihrt ward, einen Zoll von drei Pfennigen zu dem Strombau
nehmen, „daß allermeniglich, die das Wasser arbeiten und
ıdeln, mit Leib und Gut desto sicherer gefahren mögen und
erdorben bleiben“'). Die sichere Fahrt auf dem Lech scheint
r seitens der bayerischen Herzoge noch des öfteren gehindert
den zu sein; denn im Jahr 1450 z. B. muß der Pfleger von
sen an die Landsberger die Bitte richten, daß dieselben die
sener Floßleut mit ihrem Holz und Wein auf dem Lech sicher
ungehindert, wie von alter Gewohnheit, fahren lassen möchten ?).
Was nun die wesentlichen Einrichtungen der Wasserrod auf
südbayerischen Flüssen betrifft, so waren diese, dem von
Schweizer Gewässern durchaus verschiedenen Charakter dieser
sse entsprechend, von denjenigen der Schweizer Schiffergesell-
aften ziemlich verschieden. Auf den Schweizer Seen und den
iten, ruhiger dahinfließenden Gewässern der Schweiz, wie der
ımat etc., gab es eine wirkliche Schiffahrt mit kleineren oder
Beren Schiffen und von mehreren Gesellschaften auf einem und
nselben Wasser zugleich in ziemlich freier Konkurrenz betrieben.
f dem Lech, der Isar und dem Inn dagegen, reißenden
jengewässern mit stark wechselndem Fahrwasser, konnte nur
‘ Flößerei betrieben werden und diese war naturgemäß wie
: Landrod auf einer bestimmten Strecke des Flusses entweder
den Händen einer ganzen Gemeinde, wie in Mittenwald, oder
den Händen der Flößerzunft, wie in Füssen und Schongau.
f der Isar wechselte die Stallung der Flöße unter den Bürgern
d Inwohnern des Marktes Mittenwald, die in die Wasserrod
standen waren, auf dem Lech lag die Kauffahrteiflößerei in
n Händen bestimmter Floßmeister, also Angehöriger der Flößer-
afte zu Füssen und Schongau, die von den Gemeinden ge-
nnter Städte zur Beförderung der Kaufmannswaren von Füssen
' Schongau und von Schongau bis Augsburg verpflichtet waren.
te Beaufsichtigung der sog. Floßsteller in Mittenwald sowie
* Floßmeister zu Füssen und Schongau fand seitens der be-
mm
1) Lorr, Geschichte des Lechrains II., Nr. 111.
2) 4. Bd. der Akten des Augsburger Hochstiftes im Münchener Reichs-
hir.
382 Johannes Müller
treffenden Gemeinden insofern statt, als die von den Flofstellem
angenommenen Knechte vom Handwerk bestätigt sein mußten
und als der Rat der genannten Städte — in Mittenwald durch
zwei sog. Geschworene der Wasserrod, in Füssen und Schongau
durch sog. Geschaumeister — die Flöß und, was dazu Notdurft
war, auf ihre Brauchbarkeit beschauen ließ, Im übrigen waren
die Wasserrodordnungen, vor allem die Festsetzung der Rodlöhne
auf dem Wasser, an die Zustimmung zunächst der Gemeinden,
sodann der betreffenden Landesregierungen (Herzog von Bayern,
Bischöfe von Augsburg und Freising) gebunden }).
2.. Die rapide Entwicklung des deutsch-italienischen
Verkehrs im Bereich der Ostalpen während des
14. Jahrhunderts.
Um die Wende des 13. und 14. Jahrhunderts nahm der
deutsch-venezianische Handel und Verkehr jenen mächtigen Auf-
schwung, der durch das ganze spätere Mittelalter dauern und
eine der Hauptgrundlagen des materiellen Wohlstandes wie der
hohen geistigen Kultur vor allem der deutschen Reichsstädte
werden sollte. Dieser durch verschiedene Ursachen bedingte
Aufschwung des Handels zwischen Deutschland und Italien am
Anfang des 14. Jahrhunderts machte seinen Einfluß auch auf das
Straßen- und Transportwesen Tirols und Südbayerns, der Haupt-
durchgangsländer von Venedig nach Deutschland, geltend; die Re-
gierungen von Venedig und Tirol sowie die bürgerfreundlichen
deutschen Kaiser Albrecht I. und Ludwig der Bayer suchten
durch entsprechende Maßnahmen den Bedürfnissen des stets
wachsenden Handels und Verkehrs ihrer Länder auf alle môgliche
Weise entgegenzukommen. So erwirkte Albrecht I. durch Unter-
handlungen mit der Signoria in den Jahren 1298, 1305 und 1307
den deutschen Kaufleuten in Venedig bedeutende Zollerleichte-
1) Vgl. außer den Mittenwalder Wasserrodordnungen v. J. BAADER (Über
bayer. Archiv Bd. 37, S. 824 ff.) die auf die Rod auf dem Lech bezüg-
lichen Korrespondenzen zwischen Schongau und den Schongauer Rodfloßleuten
einerseits, der Augsburger Kaufmannschaft andererseits aus der 1. Hälfte
des 16. Jahrhunderts. Augsb. Handelsver.-Archiv LXXXX.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 383
ingen')}. Ludwig der Bayer sicherte im Jahre 1315 allen frem-
en Kaufleuten Schutz und Sicherheit an Leib und Gut, sodann
ie Befugnis zu, sofern sie jemand beleidige, Gewalt mit Ge-
alt abtreiben zu dürfen*). Die Verleihung des Stadtrechtes
n die am Rande des Gebirges liegenden Orte Weilheim, Wasser-
urg (1312), Landsberg (1315) durch Ludwig den Bayer steht
weifellos mit dem damals stark zunehmenden Verkehr durch das
ebirge ebenso im Zusammenhang wie die Verleihung des
iederlagsrechts an die Oberammergauer durch denselben Herr-
:her im Jahre 1332. Die Signoria, die schon im Jahre 1314
ie Zahl der für den deutsch-venezianischen Handel so wichtigen
ensale des deutschen Fondaco in Venedig von zwanzig auf
reißig erhöht hatte?), baute das im Jahre 1318 niedergebrannte
eutsche Kaufhaus am Rialto in vergrößertem Umfange wieder
uf und erließ für die Beamten des Kaufhauses, wie den Haus-
ıeister etc., genauere Verordnungen‘, Am meisten ließen es
ich aber die Grafen Otto und Heinrich von Tirol, die Söhne
feinhards IL, angelegen sein, sowohl durch Begünstigungen der
‘emden Kaufleute als durch Verleihung von Privilegien an ihre
Intertanen und durch Straßenbauten den Warentransport von
nd nach Venedig durch Tirol zu leiten. Im Jahre 1309 (7. Sep-
ember) verlieh Otto, Herzog von Kärnten und Graf von Tirol,
em Regensburger und dem Ulmer Handelsstand einen Freipaß,
ronach jeder Regensburger und Ulmer Kaufmann ungeniert in
nd durch Kärnten und Tirol mit seiner Kaufmannschaft handeln
onnte*) Das den Regensburgern von dem Grafen Otto erteilte
rivileg wurde im Jahre 1312 von dessen Bruder Heinrich,
rafen von Tirol und Titularkönig von Böhmen, bestätigt und
rweitert. Derselbe Fürst schloß in demselben Jahre 1312 mit
1) K. JÄGER, Ulms kommerzielles Leben im Mittelalter S. 699 ff.
2) Nr. 80 des Urkundenbuches der beurkundeten Geschichte Münchens.
3) H. SIMONSFELD, Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig I. Nr. 41.
4) H. SIMONSFELD, Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig I. Nr. 51,
2 und 71.
5) Regensburger Stadtarchiv, außerdem K. JÄGER, Ulms kommerzielles
‚eben im Mittelalter S. 697.-. Den Regensburgern wurde ihr Privileg im
Jahre 1335 durch die Gräfin Margarete Maultasch erneuert.
384 Johannes Müller
dem bayerischen Herzog Rudolf einen Vertrag ab, durch welchen
den Kaufleuten beider Gebiete gegenseitig Schutz zugesichert
und den bayerischen Handelsleuten insbesondere Begünstigungen
bei der Ausfuhr von Wein und Öl aus Tirol eingeräumt wur-
den'). Diese Begünstigungen wurden im Jahre 1329 von dem
Grafen Heinrich, sodann 1344 von dem Wittelsbacher Ludwig,
dem Gemahl der Gräfin Margarete Maultasch, bestätigt und zum
Teil erweitert‘?).
Wie auf diese Weise die Grafen von Tirol zu jener Zeit durch
Verträge mit Nachbargebieten den Handel ihres Landes zu fr-
dern suchten, so auch durch Verleihung von Stadt- und Stapel-
rechten an besonders wichtige Orte und durch die Inangriffnahme
von Straßenbauten sowohl auf den beiden Hauptverkehralinien
Tirols wie auf den Zufuhrstraßen zu denselben. So verlieh Herzog
Otto dem am Ende des 13. Jahrhunderts durch seine Salzberg-
werke rasch emporgekommenen Hall im Jahre 1303 das Stadt-
recht und Herzog Heinrich erhob Meran 1317 zum Rang einer
Stadt®). Sterzing erhielt von Herzog Otto im Jahre 1304 das
- ausschließliche Niederlagsrecht zwischen den beiden Mittenwalde
im Wipptal zugesprochen, nachdem sich die Sterzinger bei ihrem
Landesherrn darüber beschwert hatten, daß etliche Bauleute von
Auterwang, Gossensaß, Mauls und Kalch in ihren Häusern Kauf-
leute, Fuhrleute, Pilger und andere das Wipptal Durchziehende
mit Essen und Trinken versorgten ‘).
Noch bedeutsamer als diese Verleihung von Stadt- und Stapel-
rechten durch die eben genannten Tiroler Grafen war der unter
dem Grafen Heinrich in Angriff genommene Bau der Arlberg-
straße, der Eisackstraße zwischen Bozen und Trostburg und des
Weges durch die Ehrenberger Klause. Mit dem Bau des letzt-
genannten Weges und der Straße über den Arlberg wurde 1309
begonnen und der Bau der Arlbergstraße bis zum Jahre 1335
1) RIEZLER, Geschichte Bayerns II. S. 526.
2) Münchner Urkundenbuch Nr. 69 und 71.
3) JÄGER, Geschichte der landständischen Verfassung Tirols I. 8. 649
und 679.
4) JÄGER, Geschichte der landständischen Verfassung Tirols I. S. 683
und 653.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 385
fortgesetzt'). Ein von dem Grafen Heinrich von Tirol im
Jahre 1330 gemachter Versuch, die bei dem Dorfe Grins steil
an dem Talhang emporsteigende Straße durch Verlegung in die
Tiefe des Stanzer Tales für Fuhrwerke praktikabler zu machen,
scheiterte an dem Widerstand der Grinser, die den Grafen durch
ihre Beschwerde zur Einhaltung des alten Straßenzuges be-
wogen?). Die hervorragendste Leistung auf dem Gebiet des
Tiroler Straßenbaues zu jener Zeit war aber die Eröffnung des
anteren Eisacktales für den Verkehr durch den Bozener Bürger
Heinrich Kunter in den Jahren 1314—1317°?). Wegen der Un-
sangbarkeit der Talengen des unteren Eisack war nämlich bis
cu dieser Zeit die Straße von Bozen nach Klausen über das
Rittenplateau gegangen und zwar in der Weise, daß der Weg
bei Rentsch, gleich hinter Bozen, die Hochfläche hinauf- und bei
Trostburg unweit Weidbruck wieder in das Eisacktal herabführte.
Um nun den langen Umweg über den Ritten zu vermeiden, schloß
der erwähnte Kunter mit dem Tiroler Grafen Heinrich im Jahre
1314 (Sonntag vor Michaeli) einen Vertrag, wodurch sich der
Bozener Bürger verpflichtete, gegen Überlassung bestimmter Zoll-
zefälle auf alle durchgehenden Waren die genannte Wegstrecke
für Saumtiere herzustellen. In einigen Jahren war der Bau der
Straße so weit gefördert, daß sie dem Verkehr von Bozen nach
Klausen dienen konnte. Da dieser nach seinem Erbauer ge-
nannte Kuntersweg aber in der ersten Zeit noch eine recht un-
vollkommene Verkehrsstraße war, für Wagenfuhren unpassier-
bar, so ließ der Markgraf Ludwig, der Gemahl der Margarete
Maultasch, im Jahre 1350 durch seinen Landeshauptmann, Kon-
rad von Teck, über den Ritten eine Wagenstraße bauen, die bei
Rentsch unweit Bozen das Rittenplateau in vielfachen Windungen
erstieg und bei Kollmann wieder auf den Talboden sich herab-
— ——
1) Historisch-statistisches Archiv für Süddeutschland I. S. 225 (Historische
Bruchstücke über das Tiroler Straßenwesen) und Bruchstücke über Tirols
Straßenwesen im Archiv für Geographie und Historie, Jahrg. 1818, S. 361.
2) Verkehrsgeschichte des Arlbergs von H. Biedermann, Zeitschrift des
D.-Ö. Alpenvereins, 16. Bd., S. 418 ff.
3) Vgl. für das Folgende: Die Brennerstraße von O0. WANKA v. RODLOW,
Ss. 124 ff. Prager Geschichtsstudien, 7. Heft.
386 Johannes Müller
senkte. Diese neue Weganlage über den Ritten zur Zeit des
Markgrafen Ludwig dürfte zum Teil durch die damals hervor-
tretenden Bemühungen der Venezianer veranlaßt worden sein,
sich statt des Gotthardweges, der sowohl durch viele Geleits-
herrschaften wie durch den eben ausgebrochenen schweizerisch-
österreichischen Krieg unsicher geworden war, den Brennerweg
neben der oberen oder Reschenscheideckstraße für ihren Waren-
zug von und nach Flandern offen zu halten !).
Ob die Rittener Straße die Erwartungen auf Verkehrsmehrung,
die Markgraf Ludwig bei ihrem Bau auf sie gesetzt haben wird,
erfüllt hat, scheint mehr als zweifelhaft. Kurz vor der Inangrif-
nahme der Rittener Straßenanlage, im Jahre 1339 nämlich, hatte
die Signoria ihre Herrschaft über das Gebiet von Treviso aus
gedehnt und dadurch einen bequemen Zugang zu der bei Serrs-
valle das Gebirge verlassenden Ampezzaner Straße, die vom Piave-
und Boitatal über den leicht passierbaren Peutelsteiner Pal in
das Pustertal hinüberführte, gewonnen. Seit dieser Zeit waren
die Venezianer bemüht, den Warenzug aus und nach Deutsch-
land über die Ampezzaner Straße zu leiten, weil sie mittelst
dieser die ihnen feindlichen Gebiete von Padua und Verona um-
gehen konnten?). Der Verkehr auf der Ampezzaner Straße oder
durch das „Cadober“, wie die Straße nach dem deutschen Namen
des venezianischen Ortes Pieve di Cadore an der Piave von den
Deutschen genannt wurde, ist in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts nach mehreren unverwerflichen Zeugnissen jeden-
falls ein ganz bedeutender gewesen. Im Jahre 1365 schickte
die Signoria eine Gesandtschaft nach Deutschland, speziell nach
Augsburg und nach München, um die beiden Wege nach Flar-
dern durch Tirol, den Caminum Usporgi (Augsburger Weg), d.h.
den Weg über das Reschenscheideck, und den Caminum Bavar#,
d. h. den Brennerweg, zu sichern®). Aus den den venezisii
1) Monk, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins, V. Bd., S. 20. Dansch
schickte die Signoria 1351 an den Markgrafen Ludwig eine Gesandtschaft
mit der Bitte, den venezianischen Handel durch Tirol sowie ultra monts,
d. h. in Bayern, in Schutz zu nehmen.
2) SIMONSFELD, Fondaco I. Nr. 230 und 231.
3) SIMONSFELD, Fondaco I. Nr. 207, 208, 210, 211, 216.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 387
Gesandten mitgegebenen Instruktionen ergibt sich, daß den
ianern vor allem die Sicherung des Weges durch Bayern,
iber den Peutelsteiner und Brennerpaß, am Herzen gelegen
da eine Verzögerung in dieser Sache magni incommodi et
. terrae et mercatorum nostrorum est. Im November des
; 1375 traf der venezianische Senat Verfügungen, um den
'henWarenzug, der infolge des seit 1373 mit den österreichischen
gen Albrecht III. und Leopold III. ausgebrochenen Krieges
er Ampezzaner Straße abgelenkt worden war, wieder über
ianisches Gebiet, speziell über Serravalle und Treviso statt
Padua, zu lenken'). Der Erfolg dieser Maßnahmen Vene-
blieb denn auch nicht aus; denn nach einer über den
>fefferzoll zu Bruneck ?) aus dem 14. Jahrhundert auf uns
ımenen Nachricht erreichte die Zahl der sog. Adritura-
Eilgutwägen, die von Michaeli 1378 bis Sonnenwend 1386
ıeck passierten, allein die stattliche Zahl2066°), was auf einen
tarken Güterverkehr auf der Ampezzaner Straße zu jener
schließen läßt. Zu demselben Schluß gelangt man bei
Betrachtung der bedeutenden Erträgnisse des Zolles am
oder Brenner, die z. B. für die Zeit vom 9. September 1414
September 1415 die stattliche Summe von 1126 Dukaten
en‘). |
if der oberen Straße scheint der Verkehr um die Wende
4. und 15. Jahrhunderts nicht minder bedeutend gewesen
SIMONSFELD, Fondaco I. Nr. 230 und 231.
In dem zum Bistum Brixen gehörigen Bruneck gab jeder sog. Eigen-
oder Adriturawagen, d. h. jeder von Treviso bezw. Schongau durch-
le Wagen außer dem 14 Kreuzerzoll pro Saum nach altem Herkommen
# Pfeffer oder Säcklein sonstiger Spezerei.
SINNACHER, Geschichte des Bistums Brixen V. S. 522.
Von dem Österreichischen Herzog Friedrich IV. war der Stadt Augs-
ür die Augsburger Kaufleuten i. J. 1409 zugefügten Schäden im Wert von
Jukaten 7 fl. Schadenersatz zuerkannt und zur Sicherung der Zoll am
auf mehrere Jahre verpfändet worden. C. JÄGER, Ulms Verfassungs-
ommerzielles Leben im Mittelalter S. 698, Anm. 268. Nach den Quit-
ı Augsburgs an den Lueger Zoller betrug der Zoll vom 9. Sept. 1414
. Febr. 1415: 300 Dukaten, vom 2. Febr. 1415 bis 3. Sept. 1415:
hıkaten. Vgl. das Augsburger Briefbuch Ib, Nr. 390 und 503.
388 Johannes Müller
zu sein als auf der unteren Straße. Nach den in dem Im»
brucker Stadtarchiv aufbewahrten Zollregistern der Zollstätte zu
Pfunds, deren Errichtung den durch eine Feuersbrunst schwer
geschädigten Innsbruckern im Jahre 1395 (2. März) von dem
österreichischen Herzoge Albrecht III. gestattet worden war, pas-
sierten in dem einen Halbjahre des Jahres 1434 (Ende Februar
bis Anfang August) 573 Wägen die genannte Zollstätte'). Wenn
man nun erwägt, daß unter diesen Wägen die zahlreichen Wein-
fuhren der deutschen Klöster als Wägen, welche sich der Zoll-
freiheit erfreuten, nicht einbegriffen sind, so ergibt sich für den
Güterwagenverkehr auf der oberen Straße im Anfang des
15. Jahrhunderts pro Jahr zum mindesten eine Anzahl von 1300
bis 1400 Wägen, eine Wagenmenge, die auch für das 16. Jahrhundert
noch Gültigkeit haben dürfte, da nach einer im Jahre 1560 vor-
genommenen Schätzung des Güterverkehrs zwischen Terlan
und Bozen die Masse der jährlich zwischen beiden Orten beför-
derten Güter auf rund 15000 Ztr. geschätzt wurde”. Für die
weitere Behauptung Chmels, der für die obere Straße im 15. Jahr-
hundert eine stärkere Frequenz als für die untere Straße an-
nimmt), lassen sich nach den bisher zugänglichen Queller-
schriften jedoch keine Beweise beibringen. Der Verkehr auf
beiden Straßen dürfte sich vielmehr in jenem Zeitraum so ziem-
lich die Wage gehalten haben. Gegen das Ende des 15. Jahrhu-
derts aber hat die Brennerstraße die Reschenscheideckstraße, wie
schon oben angedeutet, in bezug auf Verkehrshöhe und Bequen-
lichkeit des Reisens schon bedeutend überflügelt.
II. Die Organisation des Rodwesens Bayerns und Tirols
im Spätmittelalter.
1. Die VoraussetzungenderMitgliedschaftanderRod.
Zur Bewältigung des bedeutenden Verkehrs auf de
beiden großen Tiroler Straßen und auf deren Abzweigung
1) H. BIEDERMANN, Verkehrsgeschichte des Arlbergs, Zeitschr. des DA.
Alpenvereins Jahrg. 1884, S. 418.
2) Bericht des Ritters Simon Botsch (dat. Bozen, 3. Juni 18560) in der
Sammlung älterer Originalurkunden in der Bibliothek des Ferdinandeuns ®
Innsbruck (Bibl. Tirol.), Handschriften Nr. 1155, Stück III. BI. 169.
3) J. CHMEL, Österreichischer Geschichtsforscher II. 2. Heft, LVL
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 389
lurch Bayern war eine straffere Organisation des Transport-
vesens, das wir uns bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts als
ine ziemlich lockere Vereinigung der Bauleute in Tirol bezw.
Æbensleute in Bayern an den großen Verkehrsstraßen vorzustellen
aben, notwendig.
Es ist schon oben, bei der Erörterung des Ursprungs des
todwesens Bayerns und Tirols, darauf hingewiesen worden, daß
ieses Rodwesen im innigsten Zusammenhang stand mit dem
nittelalterlichen Lehenswesen oder mit der Verleihung von Bau-
echten, wie diese Lehen in Tirol genannt wurden. Die Ver-
eihung von Baurechten an unfreie oder hörige Bauern erfolgte
n Tirol wie in Bayern nachweisbar erst im 13. Jahrhundert
nd zwar sollen nach den Angaben des Innsbrucker Schatz-
rchiv-Repertoriums die ersten Fälle von Baurechtverleihungen
uf landesfürstlichen Besitzungen in Tirol unter dem Grafen Mein-
ard Il., dem Zeitgenossen Kaiser Rudolfs I. vorgekommen sein !).
Nährend nun im 13. Jahrhundert die Lehensgüter den Kolonen
‚der Bauleuten nur auf eine Reihe von Jahren, allerhöchstens
wf Lebenszeit, übertragen wurden, wurde es im 14. Jahr-
wundert bald allgemeine Norm, die Baurechte mit dem Erbrechte
‚a verleihen, höchstens mit der Einschränkung, daß die Über-
ragung der Baurechte durch den Baumann auf Verwandte ohne
ausdrückliche Bewilligung des Grundherrn verboten sei. Doch
auch diese Beschränkung fiel im Laufe des 14. Jahrhunderts,
so daß die Bauleute, die durch Generationen auf demselben Gute
sefhaft waren, dieses schließlich als ihr freies Eigentum ansahen
und dieses selbst wie die darauf ruhenden Zinsen und Giebig-
keiten als einen veräußerlichen und verkäuflichen Gegenstand
behandelten ?).
—_—— m
1) Vgl. über diese Verhältnisse A. JÄGER, Landständische Verfassung
irols I. 8. 546 ff.
2) MAIERHOFER, Das Urkundenbuch Neustifts, Nr. 470 erwähnt aus
€m Jahre 1326 einen Fall, wonach einem Bauern dieses Klosters die Bau-
echte eines Maierhofs nicht nur für sich und seine Erben, sondern auch für
eine Brüder und deren Nachkommen verliehen wurden. — Nach Monum.
'oica, Ettal VII. S. 282 verlieh Ludwig der Bayer im Jahre 1830 der ge-
Atnten Bauernschaft von Ammergau das Erbrecht für ihre dem Kloster
‘Ctal zinsbaren Lehensgüter. |
390 Johannes Müller
Die Verleihung von Lehensgütern, deren Besitz die belehnten
Bauern zunächst zum Transport der Kammergüter der Lehens-
herrschaften und erst in zweiter Linie zur Beförderung der Kauf-
mannsgüter durch Bayern und Tirol verpflichtete, scheint nun
allerdings bloß in den ländlichen Gemeinden Südbayerns und
Tirols im Gebrauch gewesen zu sein; denn weder von Schon-
gau in Bayern noch von Innsbruck, Imst, Glurns und Bozen in
Tirol sind uns derartige Lehensbriefe überliefert, wie wir sie s0
zahlreich von den Landgemeinden Bayerns und Tirols besitzen.
Vielmehr stand bei diesen Städten die Rod auf der ganzen Gemeinde,
die zur Stellung einer bestimmten Anzahl von Rodwägen ver-
pflichtet war. Aber auch unter den Landgemeinden waren meb-
rere, wie z. B. Zams und Prutz an der oberen Straße, Tob-
lach im Pustertal, deren Rodfuhrleute der Lehensgüter ganz ent-
rieten!), oder solche, wie die Sterzinger und Terlaner, von
denen nur ein Teil Lehen genoß?). Die Zahl der mit Lehen
begabten Rodleute in den einzelnen Rodstätten war anfangs des
14. und 15. Jahrhunderts jedenfalls größer als in der späteren
Zeit. So stellte Reutte-Heiterwang ursprünglich 82 Rodwägen.
woran 33 Heiterwanger und 49 Reutter Bauern beteiligt waren;
durch die Rodordnung vom Jahre 1530 wurde diese überans
große Anzahl von Rodwägen auf 12 Wägen für ein Jahr in der
Weise reduziert, daß die Heiterwanger aus ihren 33 Rodbauen
alljährlich fünf, die Reutter aus ihren 49 Rodfuhrleuten sieben
Rodleute wählten. Wie bei Reutte, so findet sich auch bei den
meisten übrigen Rodstätten Tirols eine solche Reduktion von
einer größeren Zahl von Rodwägen auf eine beschränkte Anzahl
und zwar meist auf ein Dutzend, bei Innsbruck ausnahmsweise
auf ein halbes Dutzend Rodwägen, die zum Transport der Kauf-
mannsgüter allzeit bereitstehen sollten.
In den Rodstätten Bayerns ist ein solches Zurückgehen der
ursprünglichen Anzahl der Rodbauern eines Ortes im Laufe des
1) Vgl. Schriften und Sachen, so anno 1545 zu Innsbruck gehandelt
worden, insbesondere verantwortung auf der von Toblach beschwärden. Augsl
Handelsvereins-Archiv, LXXXX. Nr. 83.
2) Rodordnung im Gericht Terlan vom Jahre 1530, Augsb. Handel
vereins-Archiv, Fasc. XVI.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 391
päteren Mittelalters nicht wahrzunehmen; in Ammergau, Parten-
irchen und Mittenwald ist die Zahl der Rodbauern (18, bezw. 36,
ezw. 24) im 16. Jahrhundert dieselbe, wie sie im 14. und 15. Jahr-
undert gewesen ist. Zu diesem einen Unterschied zwischen dem
ayerischen und Tiroler Rodwesen kommen nun noch zwei weitere
'erschiedenheiten, die als charakteristische Merkmale der ungleichen
‚ntwicklung des Bauernstandes in Bayern und Tirol zu betrachten
ind. In Bayern, wo die Bauern im großen und ganzen in dem
irbzinsstand verblieben, also auch der Freizügigkeit entbehrten,
lieben die Rodlehen im Besitz wirklicher, ortsansässiger Bauern ;
n Tirol dagegen mit seiner am Ende des Mittelalters zum größ-
en Teil freien Bauernschaft kamen die Rodlehen und damit die
todwägen vielfach aus Bauernhänden in den Besitz von An-
rehörigen anderer Stände, wie uns denn in den Rodordnungen
‘on Sterzing und Mühlbach vom Jahre 1530 neben Bauern bezw.
jürgern dieser Orte landesfürstliche Beamte, so in Sterzing ein
jalzmaier von Hall, in Mühlbach der Pfleger von Steinach und
ler Zöllner von der Mühlbacher Klause, als Rodwagenbesitzer
egegnen |).
Das, was dem Tiroler Rodwesen aber gegenüber dem Trans-
yortwesen der übrigen Alpengebiete einen ganz besonderen Cha-
akter verleiht, ist die Unterscheidung zwischen sog. Vor- und
Nachwägen oder die Rangabstufung zwischen den einzelnen
Wägen einer Rodstätte?). Dieser Rangunterschied findet sich
war nicht bei allen Tiroler Rodstätten, sondern nach den Rod-
rdnungen vom Jahre 1530 nur bei den sieben Orten: Matrei, Lueg,
Sterzing, Mühlbach, Brunneck, Terlan und Allgund. Trotz dieser
Einschränkung der hier erwähnten Einrichtung auf diese wenigen
Tiroler Rodstätten muß dieselbe doch als das hervorstechendste
Kennzeichen des Tiroler Rodwesens bezeichnet werden; denn sie
dient als Beweis dafür, daß auf denjenigen Strecken der beiden
großen Rodstrecken Tirols, auf denen der Verkehr am stärksten
1) Ganz ähnlich lagen die Verhältnisse in Graubünden, wo nach SCHULTE
(Mittel. Handel I. S. 362) Adelige an die Spitze der Porten traten.
2) Tiroler Archivberichte II. 316: Bischof Georg von Brixen bestätigt
den Bürgern von Matrei das Recht des Pallwagens, „der vor andern palwägen
allzeit der erste sei“. Brixen 1488, Dez. 30.
392 Johannes Müller
war, sich eine besondere Klasse von Rodbauern herausbildete,
die das Fuhrmannsgewerbe ex professo betrieben und dadurch
ihre Genossen, die Nachwägenbesitzer, die das Roden neben
ihren bäuerlichen Beschäftigungen nur im Nebengeschäft ans-
übten, mit der Zeit tatsächlich ganz aus der Rod hinaus-
drängten ').
Neben dem Besitz von Rodlehen war in früherer Zeit der
Besitz von mindestens zwei Pferden oder zwei Ochsen Voraus
setzung für den Eintritt in eine Rodgemeinschaft; doch konnten
auch zwei Bauern, von denen jeder nur ein Pferd oder einen
Ochsen hatte, sich zusammentun und miteinander eine Rod neb-
men?). In älteren Rodordnungen, wie in der von Landeck vom
Jahre 1474, waren auch Vorschriften über das Alter des Zug-
viehs enthalten; so durften nach der ebenerwähnten Landecker
Rodordnung weder Strohrinder noch Pferde unter einem Jahr
zum Ziehen der Rodwägen verwendet werden. Die Rodordnungen
des 16. Jahrhunderts enthalten diese Bestimmungen bezüglich
der Zahl und des Alters der Zugtiere nicht mehr; viele Rod-
leute besaßen in dieser Periode, wie die Kaufleute und Gut-
fertiger in ihren Beschwerden gar oft bitter bemerken, weder
Roß noch Wagen, ließen darum die auf sie treffenden Rodfuhren
durch andere Bauern fertigen?), ein Gebrauch, der nach den
mittelalterlichen Rodordnungen Tirols und Bayerns absolut ver-
boten war‘).
1) Sterzinger Rodordnung vom Jahre 1530: „Und dann die ersten schi
wagen sich bißher der verfuerung gebraucht, dadurch es wenig an die sect
nachwagen gelanget, darob sy, dieweil sie nichts minder wie die vorwäge
mit vieh und andern hiezu notturftig gewertig sein müssen, beschwert gehabt“
Augsb. Handelsvereins-Archiv.
2) Landecker Rodordnung vom Jahre 1474, Imster Rodordnung Y0®
Jahre 1485, Tiroler Weistümer III. 2. Jahrg., S. 296 und 163.
8) Vgl. hierzu: Beschwerden, so die kaufleut und gutfertiger ob de
Rod und derselben Rodleuten in der furstlichen Grafschaft Tirol haben.
1529, Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX.
4) Siehe den 3. Artikel der Imster Rodordnung von 1485: „Ein jeden
der in der rod sein will, soll die rod und das gut, so ihm gefellt, selber
fueren und keinem fremden aufgeben.“
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 393
2. Die Organe des Rodwesens Bayerns und Tirols.
Die Kontrolle sowohl über die Rodleute selbst als über die
emen (Zugtiere) und Wägen nebst Geschirr wurde in der
yätmittelalterlichen Periode des Rodwesens viel schärfer gehand-
abt als im 16. Jahrhundert. Noch Ende des 15. Jahrhunderts
egegnet uns in den Tiroler Rodordnungen die Bestimmung,
aß ein Schätzer die Wägen und das Zeug der Rodleute vor
em Aufladen zu prüfen hat; erst wenn jener diese Erforder-
isse des Rodmannes für genügend erfunden hatte, durfte dieser
it seinem Wagen abfahren. Das gleiche Verfahren fand statt
ei den Floßleuten auf dem Lech und der Isar, deren Flöße
urch Aufsichtsbeamte des Rates der betreffenden Stadt auf ihre
'eschaffenheit geprüft wurden, ehe sie die Fahrt flußabwärts an-
‘eten durften !).
Die von den Gemeinden Mittenwald, Schongau, Füssen, Augs-
urg geordneten Aufsichtsbeamtan hatten aber nicht nur die
loge vor ihrer Stallung und Fertigung zu besehen sondern
nußten auch darob sein, daß alle, die an die Rod kamen, d.h.
lie Floßmeister und Floßknechte, dazu geschickt waren. Die
Floßknechte sollten geschworene und vom Handwerk bestätigte
Knechte sein; aber auch die Floßmeister, deren es im 15. Jahr-
hundert in den Wasserrodstätten Bayerns vielleicht dreimal so viel
gab als im 16. Jahrhundert?), waren von den Räten der be-
treffenden Gemeinden zur Stallung der nötigen Flöße und zur
fürderlichen Fertigung der Kaufmannsgüter verpflichtet. Diese
Aufsichtsorgane, wie Schätzer, Verordnete zum Floßwesen, die
dem Mittelalter zur Durchführung eines regelrechten Rodbetriebs
1) Mittenwalder Wasserrodordnung vom Jahre 1450 (Oberbayr. Archiv,
17. Bd., S. 328), außerdem Augsb. Ratsdekret vom 19. Febr. 1446 betreffs
‘lößerei und Rodwesen auf dem Lech, (Augsb. Ratsdekrete II. S. 190).
’gl. hiermit die ähnlichen Einrichtungen in Zürich, H. BöRLIN, Die Trans-
’ortverbände und das Transportrecht der Schweiz im Mittelalter S. 31.
2) Nach der Verantwortung der Augsburger Kaufleute auf der Floßleute
U Schongau begeren vom Jahre 1543 betrug die Zahl der Schongauer FloßB-
Meister, die Kaufmannsgüter beförderten, damals bloß noch 6 bis 7, während
ich früher 24 Floßmeister von diesem Gewerbe ernährten. Augsb. Handels-
€reins-Archiv, Fasc. LXXXX. Nr. 82.
394 Johannes Müller
notwendig schienen, kannte das Rodwesen im 16. Jahrhundert
nicht mehr’). Dagegen finden wir diejenigen Organe, die auch
im Schweizer Transportwesen, wenn auch teilweise unter anderen
Namen, im Mittelalter anzutreffen sind, sowohl im späteren
Mittelalter wie im Anfang der Neuzeit im bayerisch-tirolischen
Rodwesen vertreten.
Da ist zunächst der in der Schweiz unter dem Namen Teiler
(partitor ballarum) bekannte „Aufgeber“ zu erwähnen, der in
der allerersten Zeit den Namen Binder geführt zu haben scheint;
in Reutte und Heiterwang erhielt sich die letzterwähnte
Bezeichnung für dieses wichtige Amt bis in die Mitte des
16. Jahrhunderts‘). Der Aufgeber hatte für die Aufrecht-
erhaltung der vorgeschriebenen Reihenfolge unter den Rodleuten
und für die Verteilung der zu befördernden Waren auf die Fubr-
leute zu sorgen; in vielen Fällen war ihm auch das Amt de
Wagmeisters oder Wägers und damit zugleich die Obhut über
das Pall- oder Niederlaghaus anvertraut. Waren diese beiden
Ämter nicht in einer Person vereinigt, so war ein eigener Wag-
meister aufgestellt, dem das Nachwägen der Ballen und Fässer
oblag, und der für die Genauigkeit der im Pallhaus aufgestellten
Wage Sorge zu tragen hatte. In der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts wurden die Wagen durch die Pfleger der einzelnen
Pflegschaften im Jahre mindestens einmal visitiert und die Wag-
meister im Falle von Mängeln zur Nacheichung ihrer Wagen
nach einer gerechten Wage angehalten’).
Die Besoldung der Aufgeber bestand in den meisten Rod-
1) Instruction, was von wegen eines erbaren raths der statt Augsburg
irer kaufleut halber auf eines raths zu Schongau schreiben und der floBleut
daselbst eingeschlossener supplication weiter gehandelt mögte werden,
anno 1543: die Floß sind vormals, eh sy weggefahren, von raths wegen be
sichtigt worden, geschieht jetzt auch nit mer. Augsb. Handelsvereins-Archir,
Fasc. LXXXX. Nr. 111.
2) Rodordnung von Reutte und Heiterwang vom Jahre 1530. Augst-
Handelsvereins-Archiv, Beilage IV. In Telfs war der Aufgeber zugleich
Fronbote, Telfser Rodordnung vom Jahre 1633.
3) Vgl. hierzu die Rodordnungen Tirols vom Jahre 1572, z. B. die Bod-
ordnung in der Herrschaft Ehrenberg (Reutte, Heiterwang, Lermoos). Auge.
Handelsvereins-Archiv.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 395
stätten in dem sog. Ansaggeld, das zu Anfang des 16. Jahr-
hunderts für einen Lastwagen in der Regel 1 kr. betrug’). In
Augsburg dagegen erhielt der Aufgeber schon im 15. Jahrhun-
dert von jedem Wagen 6 .$ oder 1'/s kr.?). In Terlan, wo
das Aufgeberamt mit dem des Wagmeisters vereinigt war, erhielt
derselbe von jedem Rodführer für das ganze Jahr 14 kr. In
Reutte und Heiterwang erhielten die Aufgeber oder Binder einen
gewissen Anteil am sog. Niederlagsgeld. Die Höhe des Waggeldes
scheint sehr verschieden gewesen zu sein, so daß über die Besoldung
der Wagmeister keine bestimmten Angaben gemacht werden kön-
nen; in mehreren Rodordnungen, wie in der von Allgund (bei Meran)
vom Jahre 1530, heißt es bezüglich des Waggeldes, daß es mit dem
Waggeld gebührlich gehalten werde, damit deshalb niemand klagbar
werde. In der Landecker Rodordnung vom Jahre 1474 ist für zwei
Säume, d. i. 8 Zentner, nur eine Waggebühr von 1 Kr. festgesetzt.
Aufgeber und Wagmeister wurden von den Rodleuten mit
Bewilligung der Obrigkeiten gewählt und von den letzteren beim
Antritt ihres Amtes in Pflicht genommen °); in mehreren Rodstätten,
z. B. in Lätsch und Terlan, wo der Bau und die Erhaltung des
Niederlaghauses bestimmten Familien — selbstverständlich gegen
Vereinnahmung des dort angesetzten Niederlagsgeldes — oblag,
scheint das Aufgeberamt mehr oder weniger erblich gewesen zu
sein‘). Der von der Innsbrucker Regierung im Jahre 1541 ge-
machte Versuch, die Wahl des Aufgebers in Mühlbach durch die
Rodführer und die Kaufleute vornehmen zu lassen, ist, soviel aus
den Akten zu entnehmen ist, als unpraktisch wohl schon wieder im
Jahre 1542 aufgegeben worden”).
1) Vgl. hierzu die Rodordnungen von Innsbruck, Matrei, Zams vom Jahre1530.
2) Vgl. die vom Augsburger Rat v. 14. Dez. 1420 erlassene Ballenbinder-
ordnung nebst Ergänzung v. 18. Nov. 1438 (Augsb. Ratsdekrete, I. Bd., S. 87 ff.
und 457) Beilage Il.
3) Siehe die Tiroler Rodordnungen vom Jahre 1572. Augsb. Handels-
vereins-Archiv.
4) Vgl. die Rodordnungen von Lätsch und Terlan vom Jahre 1530.
Augsb. Handelsvereins-Archiv.
5) Vgl. die Rodordnung von Mühlbach vom Jahre 1541 und den Bericht
des Pflegers von Rodeneck an die Innsbrucker Regierung v. 30. Januar 1542.
Innsbrucker Statthaltereiarchiv, Abt. Pestarchiv IX. 67.
Vierteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 26
396 | : Johannes Müller
Neben diesen beiden in allen Rodstätten vorkommenden
Beamten gab es in einzelnen Rodorten, jedoch nur in den
größeren Städten, wie Augsburg, Innsbruck, Ballenbinder
und Lader oder Aufleger. Die Ordnung der Augsburger
Ballenbinder vom 14. Dezember 1420, die uns in den Rat
dekreten Augsburgs aus dem 15. Jahrhundert überliefert ist,
gestattet uns, sowohl in die Arbeitsweise wie in die Lohn-
verhältnisse dieser für das mittelalterliche Transportwesen so
wichtigen Handwerker einen genaueren Einblick zu gewinnen').
Nach der Augsburger Ballenbinderordnung vom Jahre 1420 und
einer Ergänzung dazu vom Jahre 1438 unterschied man unter
dem Gros der Ballenbinder oder Lader einen Aufgeber und
einen Gastgeber oder Hauswirt, die außer dem letzteren all-
jährlich bei Besetzung des Rates letzterem schwören mußten,
alles getreulich zu halten, was ihnen nach ihrer Ordnung anf-
getragen war. Diese Ordnung bestimmte nun zunächst, daß die
Ballenbinder zwei Parteien oder Gruppen bilden sollten, die beim
Binden der Ballen und Fässer regelmäßig wechseln sollten, beim
Laden aber gemeinsam arbeiten durften. Mit den Kaufleuten
oder Fuhrleuten Gemeinschaft zu haben, war den Ballenbindem
streng verboten; nur die Güter derjenigen Rodleute sollten sie
laden, die sich die obrigkeitliche Erlaubnis von einem der beiden
Bürgermeister hierzu erholt hatten. Auch waren sie gehalten,
alles böse Zeug an Löschen, Blahen und Seilen, das ihnen die
Kaufleute allenfalls zum Binden darreichten, zurückzuweisen und
allein mit Nadeln und Faden zu binden.
Als Lohn erhielt der Aufgeber durch die Fuhrleute von jedem
Wagen 6 „$, von jedem Karren 3 „4; die Ballenbinder erhielten
von den Kaufleuten als Binderlohn für einen Zentner 2 4, als
vom Saum oder Ballen 8 „$, als Laderlohn von jedem Fardel,
d. i. einem Ballen zu 2 Zentnern, bezw. von jedem Lägel 2 4 von
den Kaufleuten und Fuhrleuten zusammen. Übernahm der Haus-
wirt oder Gastgeber die Ladung sog. Sammelgüter, so erhielt er
für einen Karren 3 $ für einen Wagen 6 „$ Laderlohn.
Neben Aufgebern oder Verteilern, Wagmeistern und Baller-
1) Siehe Beilage III. Von Ballenbindern. Augsb. Ratsdekrete v0®
14. Dez. 1420 und 18. Nov. 1438.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 397
ın kam dann in Heiterwang noch ein von den dortigen
:uten gewählter und durch den Richter zu Ehrenberg be-
ter Einnehmer des Niederlaggeldes von Heiter-
g vor, eine vollständig vereinzelte Erscheinung, da in den
en Rodstätten dieses Geschäft von den Aufgebern besorgt
erden pflegte.
inen eigenen Wegmacher hatten die Rodleute von Ler-
und Bichelbach angestellt, wofür aber auch den Lermoosern
esonderer Weglohn, den Bichelbachern die Erhebung eines
ıderen Roßzolles (von jedem Wagenpferd 1 kr., von jedem
of 2 Vierer) zugestanden war.
in bereits dem Rodwesen der Neuzeit angehörendes Organ
das Institut der Gutbestätter in Augsburg, die nicht nur
Ankunft der Fubrleute behufs richtiger Wiederabfertigung
ben aufzuschreiben sondern auch Verzeichnisse über die
ıtümer, Firmenzeichen und Nummern der Güter zu führen
n').
3. Rechte und Pflichten der Rodleute.
a der Schweiz war wie die Arbeitsleistung so auch die Ge-
verteilung unter den Fuhrleuten bezw. Schiffern doppelter
die Schiffergesellschaften betrieben den Transport auf ge-
same Rechnung und dementsprechend wurde auch der An-
ım Gewinn auf die einzelnen, Meister und Gesellen, verteilt.
ler Warenbeförderung zu Land dagegen führte jeder Fuhr-
ı die ihn nach der Reihenfolge treffende Arbeit aus und
> dann direkt den von den Porten — 80 hießen in der Schweiz
bäuerlichen Transportgemeinschaften — festgesetzten Lohn
5.
in Ansatz zu einer solchen zweifachen Art sowohl der Ar-
leistung wie der Gewinnverteilung findet sich in dem Rod-
n Bayerns und Tirols insofern, als bei der Rod auf der
der von den Mittenwalder Floßleuten gewonnene Rodlohn
) Vgl. außer der Instruktion der Gutbestätter in Beilage X P. v. STETTEN,
reibung der Stadt Augsburg, S. 69.
) G. BÔRLIN, Die Transportverbände und das Transportrecht der Schweiz
ittelalter, S. 32 ff.
398 Johannes Müller
vom Rat der Gemeinde Mittenwald und vom Flößerhandwerk zu-
sammen eingenommen und sodann unter die Floßsteller und die
Floßknechte (Steuerer und Fergen) verteilt wurde). Bei der
Mittenwalder Wasserrod, die also in der Art der Gewinnvertei-
lung mit dem Verfahren der Schweizer Schiffergesellschaften
einigermaßen übereinstimmte, fehlte aber vor allem das bei dem
Schweizer Transportwesen zu Wasser hervortretende Moment des
gemeinsamen Besitzes der Transportmittel; denn von den Mitten-
walder Floßleuten, die in die Rod gestanden, stellte jeder die
zwei Flöße, deren Stallung für den Eintritt in die Wasserrod
vorgeschrieben war, für sich selbst und fertigte mit den von ihm
geworbenen Fergen das ihm anvertraute Rodgut. Bei der Wa-
serrod auf dem Lech und dem Inn betrieb jeder Floßmeister mit
seinen Knechten die Floßfahrt auf eigene Rechnung, d. h. die
Flößer erhielten von den Floßmeistern, deren Lohn durch Ver-
träge mit den Augsburger Kaufleuten auf eine gewisse Reihe
von Jahren (anfangs 5, später 10 Jahre) festgesetzt war, einen
nach Übereinkommen bedungenen Lohn, der etwa die Hälfte
des den Floßmeistern zu entrichtenden Fuhrlohnes betragen
mochte *).
Im übrigen herrschte in Bayern und Tirol beim Gütertrans-
port zu Land derselbe Brauch wie in der Schweiz, daß nämlich
jeder Fuhrmann in der durch das Los oder sonstwie bestimm-
ten Reihenfolge innerhalb seines Rodbezirkes zu seiner Arbeit
kam und diejenige Gütermenge, die ihm nach seinem Anteil an
der Rod zukam — es gab nämlich halbe, ganze, doppelte Ro-
den etc. —, auf seinem Wagen von der Niederlage seiner Rod-
stätte bis zur nächsten Niederlage befôrderte. Das Wort Rod,
die oberdeutsche Form für Rotte, hatte also in den Ostalpen
(Bayern, Tirol, Kärnten etc.), gerade so wie in Graubünden zu-
nächst die Bedeutung: Reihenfolge der Fuhrleute, sodann das
Recht des Anteils an dem Transport der auf der Rodstraße be
1) J. BAADER, Mittenwalder Wasserrodordnungen. Oberb. Archiv 37. Bd.
S. 327.
2) Vgl. die Supplikation der Schongauer Floßleute vom Febr. 1543 und
Jan. 1548. Augsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 81 und 1%,
Beilage V.
un En
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 399
förderten Güter. Der anfängliche Sinn des Wortes Rod ergibt
sich, abgesehen von dem besonders in den Rodstätten der Brenner-
straße herrschenden Gebrauch, die Rodwägen nach ihrer Reihen-
folge zu numerieren, vor allem aus der in allen Rodordnungen
Bayerns und Tirols vorkommenden Wendung: und soll eine
umgehende Rod sein nnd bleiben }).
In der Bedeutung „Recht“ tritt uns das Wort Rod schon in
den ältesten Rodbriefen, wie in dem Schiedsspruch des Aufen-
stainer Richters vom 27. März 1337 für die Steinacher Rodleute,
entgegen; doch bezieht sich hier der Begriff Recht nicht auf
einen einzelnen, sondern auf eine ganze Gruppe von Personen,
die auf Grund der Verleihung von Lehensgütern durch die Tiroler
Regierung das Recht der Warenbefôrderung vom Brenner bis
nach Matrei einerseits, nach Sterzing andererseits beanspruchten.
Aus diesem Kollektivrecht erwuchs aber bald ein für eine be-
stimmte Person geltendes Recht, das sowohl vererblich als auch
verkäuflich war. So erfahren wir aus einem von Herzog Fried-
rich IV. im Jahre 1430 an den Thomas Stübel gegebenen Lehen-
brief über einen Hof nebst daranhängenden Fisch- und Jagd-
gerechtigkeiten und über den fünften Rodwagen, der trockenes
Gut von Lueg gen Matrei und Sterzing zu fahren hat, daß der
genannte Stübel den fünften Lueger Rodwagen von seiner Mutter
Sabina von Kalb aus dem Passeyertal ererbt hatte. Aus einem
Lehenbrief des Erzherzogs Siegmund vom Jahr 1483 ist zu er-
sehen, daß die beiden Lehenträger, der Mühlbacher Pfleger Bene-
dikt Gaßner und der Mühlbacher Bauer Eberhard Kaufmann, die
ihnen verliehenen Rodwägen, den 2., 4., 8. und 9. Wagen nebst
dem Pallhaus von Mühlbach, von einem Mühlbacher Bauern namens
Frießinger gekauft haben ?).
1) In der Heiterwanger Rodordnung vom Jahre 1530 heißt es im 3. Ar-
tikel: Die pinder sollen nach der kaufmans diener ansagen die anzahl rod-
fuerer, sovil zu laden werden haben, und an denen es jedesmals in seinem
gebiet nach umbgehender rod irer ordnung nach sein würdet, ... u faren gebieten.
Die Einleitung der Mittenwalder Wasserrodordnung vom Jahre 1436 lautet:
Ferner soll die Stallung der Flöß zu Wein und Trockengut unter den Burgern
und Inwohnern des Marktes ordenlich und fürderlich umgehen. Beilage IV.
2) Rod-Lehenbriefe des Innsbrucker Statthaltereiarchivs.
400 Johannes Müller
Das für den einzelnen Fuhrmann einer Rodstätte geltende Rod-
recht, dessen strenge Einhaltung in den Rodordnungen den Rodleuten
‘ immer wieder eingeschärft wurde, war also nichts anderes als eine
gesetzlich gewährleistete Anweisung auf den Transport eines Gutes
von bestimmtem Gewicht in immer wiederkehrender Reihenfolge.
Die Reihenfolge der Rodleute wurde nun teils durch das Los,
wie z. B. in Imst oder in Landeck), teils durch eine jeden-
falls schon sehr früh ausgebildete Rangabstufung der Wägen,
wie in Matrei, Sterzing ete., festgesetzt. Die für einen Wagen
mit einem Joch (2 Pferde oder 2 Ochsen) bestimmte Gewichts-
einheit betrug, wie sich aus mehreren Rodordnungen ersehen
läßt, 2—2'/a Säume oder 8—10 Zentner‘). Für ein Floß auf
dem Lech sollte eine Ladung, ein sog. halbes Rodgut, ein Ge
wicht von 16—18 Zentnern (4—4!/s Säume) haben°). Es ist
anzunehmen, daß diese Gewichtseinheiten, die vom Ende des
15. Jahrhunderts an als feststehend nachweisbar sind, schon von
Beginn des Rodwesens an galten, da die Zugkraft der Tiere im
Lauf der Zeit dieselbe geblieben ist. Der Rodlohn wurde jedoch
nicht nach der Wagenladung, die ja von 8—10 Zentnern variierte,
sondern nach der Zahl der Säume bemessen. An mehreren
Stationen der oberen Straße, so in Heiterwang, Imst, Nauders,
1) Siehe den 18. Artikel der Imster Rodordnung vom Jahre 1485: Wer
in der Rod sein will, der soll der rod gewertig sein, und wann der auf-
geber einem puitet, soll ain jeder gehorsam sein zu fueren, was im dann mit
dem looß fellet etc.
2) Der 8. Artikel der Landecker Rodordnung vom Jahre 1474 lautete:
„Item mer ist gemacht, das ainer sol auflegen auf ain joch zween su
guets oder dritthalben ungevarlich.“ Der 10. Artikel der Imster Rodordnung
vom Jahre 1485 gebot: „Es soll auch keiner, der ainige rod hab zu fueren
über den Fern oder gen Zambs, genöt sein, wo sich das an den pallen oder
stucken geben mag, mer denn zween sôm.“ — Der 2. Artikel der Rod
ordnung von Pieve di Cadore vom Jahre 1562 sagte: Besagte Gemeinde
(Pieve und Valle) können auf keine Weise von den Kaufleuten gezwungt?
werden, mehr als 24 Fuhren auf einmal zu fahren, wobei auch genannt‘
Fuhren von Ballen wegen der Bequemlichkeit des Fahrens 1000 # nicht über
schreiten sollen. Augsb. Handelsvereins-Archiv.
3) Vgl. hierzu die Beschwerde der Schongauer Floßleute vom Februs
1543 über die Zunahme des Gewichts eines FloBrodgutes von 8—9 Säume?
auf 11—12 Säume.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 401
slurns und Meran, erhielten die Rodleute für jeden geladenen
Nagen noch ein sog. Jochgeld, dessen Höhe von 6 bis zu 12 kr.
chwankte. Außer dem für einen Wagensaum innerhalb eines
todbezirkes festgesetzten Fuhrlohn, den jeder Rodmann von dem
(aufmann oder dessen Agenten sofort nach erfolgter Arbeits-
eistung empfing !), hatten die Rodleute eines Bezirkes noch Anteil
ın dem sog. Niederlagsgeld ihres Rodortes. Dieses Nieder-
agsgeld, das von sämtlichen Rodorten, auch von solchen, die
ein Niederlag- oder Pallhaus hatten, erhoben wurde, war
weierlei Art. Die eigentlichen Rodgüter, d. h. diejenigen Güter,
velche an jeder Station niedergelegt, bezw. umgeladen wurden,
rezahlten ein verhältnismäßig niedriges Niederlagsgeld, im all-
remeinen 1 kr. pro Wagen am Ende des Mittelalters und im
.6. Jahrhundert. Die auf eigener Achse oder mit den sog. Adri-
urawägen durchgeführten und nicht niedergelegten Güter da-
regen mußten ein ganz bedeutend höheres Niederlagsgeld, das
ich bei manchen Stationen der unteren Straße, wie Innsbruck,
loblach, auf 24—25 kr. pro Wagen belief, bezahlen. Dabei
var noch in verschiedenen Rodstätten, wie in Matrei, am Bren-
ıer etc., der feine Unterschied gemacht, daß die von Venedig
1ach Deutschland herausfahrenden Terviswägen mit einem höheren
Niederlagsgeld belastet waren als die von Deutschland nach
/enedig fahrenden Wägen.
Der Anteil der Rodleute eines Bezirkes an dem anfallenden
liederlagsgeld war im allgemeinen ein gleichmässiger, sofern nicht
las für Rodwägen zu zahlende Pallhausgeld einer bestimmten
"amilie für die Pflicht des Baues und der Erhaltung des Pall-
auses zufiel.e. Doch waren in solchen Rodstätten, wie z. B. in
terzing, wo die Besitzer der Vorwägen zur Herbeiführung einer
leichen umgehenden Rod auf ihre altererbten Vorrechte ver-
ichtet hatten, diese Vorwägenbesitzer gegenüber den Nachwägen-
1) In mehreren Rodstätten, wie in Schongau, war es um die Mitte des
6. Jahrhunderts bereits Vorschrift, daß der Rodlohn noch vor der Befürde-
ang der Güter, sobald dieselben verladen waren, an die Fuhrleute ausbezahlt
rurde. Vgl. den Vertrag der in das Gebirg hantierenden Augsburger Kauf-
:ute mit der Stadt Schongau und iren Rodverwandten vom 28. März 1549,
ugsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 119.
402 Johannes Müller
besitzern durch einen größeren Anteil an dem Niederlagsgeld be-
vorzugt. Trat ein Rodfuhrmann außerhalb seines Bezirkes ein
Geding an, so verlor er von dem Tag seines Ausstandes an das
Recht, an dem Niederlagsgeld seiner Rodstätte zu partizipieren').
Der Rodmann durfte das nach der Ordnung ihn treffende Gut
einem Mitrodmann zur Beförderung aufgeben, dagegen einem
Fremden Rodgut zum Transport zu übergeben, war ihm nicht
erlaubt *).
Im Falle der Aufgeber auf die Anzeige der Kaufleute hin
zu viele Rodleute seines Bezirkes aufgeboten hatte, hatten die-
jenigen Fuhrleute, die nichts zu laden bekamen, das Recht, für
ihre Versäumnis den vollständigen Fuhrlohn, wie er ihren Mit-
gespannen, die geladen hatten, bezahlt wurde, von den Kauf-
leuten zu fordern.
Diesen zum Teil recht wertvollen Rechten der Rodleute Bayerns
und Tirols standen aber auch verschiedene Pflichten gegenüber.
Vor allem hatten dieselben mit ihren Gemen, Wägen und not
dürftiger Zugehörung Sommers wie Winters bereit zu sein und
der Rod fleißig zu warten und, sobald sie der Aufgeber zur Rod-
fuhr aufgeboten hatte, ohne Verzug an der Niederlage zu er-
scheinen’). Erschienen sie auf das Ansagen nicht, so hatten
sie den Kaufleuten so viel zu entrichten, als der Fuhrlohn für
die betreffende Rodfuhr betrug‘), Die Rodleute hatten auf die
von ihnen geladenen Güter gut obacht zu geben, daß dieselben
beim Fahren nicht beschädigt und nichts davon verloren oder
entwendet wurde. Einen durch Nachlässigkeit der Rodleute an
den Gütern entstandenen Schaden hatten diese den Kaufleuten
zu ersetzen).
1) Vgl. den 21. Artikel der Imster Rodordnung vom Jahre 1485.
2) Vgl. den 3. Artikel der Imster Rodordnung vom Jahre 1486.
3) In den Rodstätten des Ampezzaner Tales waren die Rodleute an Georgü,
St. Peter und Mariä Geburt wegen der zu dieser Zeit notwendigen Feldarbeiten
von der Rodfuhrpflicht dispensiert.
4) In St. Martino im Ampezzanertal war für eine solche Versäumnis ein
für allemal eine Strafe von 12 Kr. angesetzt. Vgl. Art. 7 der Rodordnung
von Venas vom Jahre 1562. Beilage VI.
5) In Schongau war der Rat der Stadt zum Ersatz des durch Schongauer
Rodleute verursachten Schadens an den Rodgütern verpflichtet, wenn die
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 403
Kammergüter, alles zum Gejaid des Landesherrn Gehörige
nd jeglichen Kriegsbedarf hatten die Rodleute vor allen anderen
rütern zu fertigen. Für den Bau und die Erhaltung des Pall-
auses hatten die Rodleute, wenn dieselben nicht einer bestimm-
»n Familie oblagen, gemeinsam zu sorgen, desgleichen für die
Viederherstellung von Straßen und Brücken, die nicht durch
rottes Gewalt, sondern durch Fuhren und stetiges Hin- und
Viederreisen Schaden gelitten hatten !). In einzelnen Rodbezirken,
rie in Lermoos, Schongau, Mittenwald, waren die Rodleute gegen
‚mpfang eines von der Landesherrschaft eigens ausgesetzten
Veglohnes auch zur Wiederherstellung der durch Naturgewalt
eschädigten Wege verpflichtet ?).
Die Stellung einer Kaution oder Tröstung, wie sie in der
chweiz für den Fuhrmann bei seinem Eintritt in die Rodge-
(ossenschaft vielfach üblich war, ist im Rodwesen Bayerns und
‘irols nicht nachweisbar. Nur bei der Mittenwalder Wasserrod
indet sich der Gebrauch, daß derjenige Floßmann, der in die
tod eintreten wollte, dem Rat von Mittenwald 3 f& Berner zu
ahlen hatte, die der Rat zu keinem andern Zweck, denn zu
emeinem Nutzen des Marktes, anlegen sollte?).
Ausschluß aus der Rodgemeinschaft, und zwar stets nur
ür ein Jahr, erfolgte, wenn ein Rodfuhrmann sich weigerte,
las nach dem Los ihm zugefallene Gut zu fahren, oder wenn er
ein Rodgut einem außerhalb der Rod stehenden Fuhrmann auf-
ab. Der von der Rod Ausgeschlossene hatte, wenn er wieder
n dieselbe stehen wollte, in Imst 10 % Berner zu entrichten ®).
Der Kaufleute Pflicht war es, dem Aufgeber die Zahl der
Nägen zu benennen, die zur Beförderung ihrer Güter notwendig
varen. Begehrte ein Kaufmann von einem Aufgeber mehr Wägen,
todleute solchen Schaden nicht gut tun konnten oder mochten. Vgl. den
'ertrag zwifchen den Augsburger Kaufleuten und der Stadt Schongau samt
eren Rodverwandten vom 28. März 1549.
1) S. Geschichte des Dorfes Oberammergau im Oberb. Archiv, Bd. 20, S. 84.
2) S. oben 8. 377 und 897.
3) Mittenwalder Wasserrodordnungen, Oberb. Archiv, Bd. 37, S. 328.
4) Vgl. die Imster Rodordnung vom Jahre 1485, und zwar Artikel 4,
“und 17.
404 Johannes Müller
als zur Ladung seiner Güter notwendig waren, so hatte er den
Inhabern der überzähligen Rodwägen denselben Fuhrlohn zu zahlen,
den diejenigen Rodleute erhielten, die seine Güter geladen hatten.
Die Bezahlung des Fuhrlohns erfolgte täglich, in den bayer-
schen Rodstätten, wie Mittenwald, Schongau’ (in letzterem, wie
schon oben erwähnt, erst seit 1549), pränumerando'). In man-
ehen Rodstätten, wie in denjenigen des Ampezzaner Tales, hatten
die Kaufleute das Anrecht auf eine bestimmte Anzahl von Fuhren
pro Tag?). Im allgemeinen war jedoch in Bayern und Tirol
bloß die Zahl der Rodwägen vorgeschrieben, die das Jahr über
für die Rodfuhren in Bereitschaft stehen sollten.
III. Der Transportbetrieb.
1. Die Arten des Transportbetriebes.
Da, wie oben mehrfach hervorgehoben, die mittelalterlichen
Transportverbände Bayerns und Tirols entweder aus städt-
scher Initiative hervorgegangen oder auf Grund lehensrechtlicher
Verleihungen durch die Landesherrschaften an Dorfbewohner
bezw. Hofbesitzer entstanden waren, so war der Wirkung»
kreis jedes solchen Verbandes auf das Gebiet der betreffen-
den Stadt- oder Dorfgemeinde beschränkt, d. h. es fand der s0g.
Rodbetrieb oder die Beförderung der Waren durch die Fuhrlente
jedes Rodbezirkes lediglich innerhalb dieses Bezirkes statt. Im
Gegensatz zur Schweiz, wo die Waren von den Fuhrleuten der
einen Port bis an die Grenze der nächsten Port geführt wurden,
erfolgte die Beförderung in Bayern und Tirol von Rodort zu
Rodort oder, da fast an jeder Rodstätte ein Pallhaus oder
ein Niederlagstadel war, von Niederlage zu Niederlage. In den
Niederlaghäusern wurden die Waren von den Rodleuten an die
Aufgeber (Schreiber, Fronboten) überantwortet und von diesen
1) Nach einer Beschwerde der Augsburger Kaufleute über die Rodleute
Bayerns vom Jahre 1530 scheint die Vorauszahlung des Rodlohns zu Anfıng
des 16. Jahrhunderts allgemein üblich gewesen zu sein: „Es ist unser begeret,
daß man kein fuerlon zalen soll, denn man hat die gueter vorgeantworti"
2) Vgl. die Rodordnungen von St. Martino und Pieve di Cadore v2
Jahre 1562. Augsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. XVI.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 405
wieder an die Rodleute des eigenen Bezirkes verteilt; war der
Aufgeber hierin säumig, so war derselbe in gewissen Rodstätten,
wie in St. Martino, einer Strafe und dem daraus erwachsenen
Schaden verfallen’).
In den meisten Pallhäusern war eine Wage aufgestellt, die
zur Kontrolle des Gewichtes der Waren diente. Fehlte eine
Pallhauswage, so geschah das Nachwägen auf der sog. Fron-
wage des Ortes. Doch scheint letzteres nicht allgemein gebräuch-
lich gewesen zu sein, da in der Rodordnung von Au und Leyfers,
einem Rodort ohne Pallhaus, das Nachwägen der Güter auf der
Fronwage, das auf Verlangen der Rodleute zu geschehen hatte,
durch letztere bezahlt werden mußte, wenn sich die von den
Kaufleuten gemachten Gewichtsangaben als richtig erwiesen ?).
An den Wasserrodstätten, wie Schongau, Füssen, Mittenwald,
Telfs, Terlan, Neumarkt, gab es neben den Pallhäusern noch
eigene Lendstädel, die zur Aufbewahrung der auf dem Wasser-
weg zu befördernden Güter dienten.
Die Verwahrung der Güter in den Pallhäusern und Lend-
städeln war Pflicht der Aufgeber, die in den allermeisten Fällen
zugleich die Verwalter der Pallhäuser waren. Die Kaufleute
hatten aber hierfür außer dem sog. Niederlagsgeld, das, wie oben
erwähnt, am Anfang des 16. Jahrhunderts im allgemeinen 1 kr.
für einen Wagen betrug, für solche Güter, die über Nacht im
Pallhaus lagerten, dem Aufgeber für die von diesem bestellten Hüter
noch ein sog. Wachtgeld oder einen Hüterlohn zu bezahlen.
Dieser Hüterlohn betrug für die erste Nacht gewöhnlich das
Doppelte wie für die folgenden Nächte, z. B. 1 kr. pro Wagen
im Sterzinger Pallhaus, ‘/2 kr. für die folgenden Nächte?). Auch
nach der Jahreszeit war der Hüterlohn in einzelnen Rodstätten
1) S. Rodordnung von St. Valle vom Jahre 1562.
2) Rodordnung von Au und Leyfers vom Jahre 1580. Augsb. Handels-
vereins-Archiv Fasc. XVI. Nr. 1.
8) Bericht des Landrichters von Sterzing vom 4. Juni 1541 an die Inns-
drucker Regierung über die Höhe des Niederlags- und Wachtgeldes in Sterzing.
Innsbruck. Stadthaltereiarchiv, Pestarchiv IX. Die gleiche Ermäßigung ge-
nossen die Güter in Mittenwald, wenn sie länger als eine Nacht im dortigen
Pallbaus lagen. Lagerhausordnung von Mittenwald. Münch. Reichsarchiv.
Akten der Grafschaft Werdenfels.
406 Johannes Müller
verschieden; so zahlten die Kaufleute in Toblach im Sommer
4 kr., im Winter 6 kr. Hüterlohn!). Sobald jedoch die Güter
auf die Rodwägen verladen und aus den Niederlaghäusern ver-
rückt waren, trat Haftung der Fuhrleute für etwa entstehende
Schädigungen der Güter ein“). In den bayerischen Rodorten
trat die Gemeinde bezw. die gesamte Rod subsidiär ein für den
Schaden, den ein Fuhrmann nicht zu ersetzen imstande war).
Für Tirol ist eine solche subsidiäre Haftung der Gemeinden für
Schäden, die im Rodbetrieb entstanden und von den einzelnen
Fuhrleuten nicht gut gemacht werden konnten, nicht nachweisbar.
Um die rechtzeitige Beförderung der Rodgüter zu erreichen,
konnte der Betrieb auf zweierlei Weise geregelt werden: ent-
1) Anzaigen, wie die beschwärd, so die kaufleut und guetfertiger ob der
rod und derselben rotleuten in der furstlichen grafschafft Tyroll haben, her-
komen sey. Augsb. Handelsvereins-Archiv, LXXXX. Nr. 83.
2) Telfser Rodordnung vom Jahre 1533: So den kaufleuten ainicher
schaden an iren gütern, so die auf die rodwägen geladen und aus dem uieder-
lagstadl verruckt sind, beschähe oder entstände, soll den oder dieselbe rod-
leut dem kaufmann denselben schaden nach pillichkeit abthun. — Rodord-
nung im Gericht Ehrenberg vom Jahre 1572: Wo sich aber eine oder mehr
hierin (d. h. in der furdersamen fertigung der rodgüter) ungehorsamlich halten
und sy die güter nit nach ordnung fertigen wurden, sollen Jr (d. h. die Richter
und Pfleger von Ehrenberg) gegen denselben nit allein mit gebürlicher
straff verfaren, sondern inen noch darzu auferlegen, den kaufleuten und gut-
fertigern den schaden und nachtail, so inen in einen oder anderen durch in
farlässigkeit und langsame fertigung entstehen würde, abzutragen. Augsb.
Handelsvereins-Archiv Fasc. XVI.
3) Vgl. hiezu ausser dem oben bezüglich Schongaus (Rodvertrag von
28. März 1549) gemachten Bemerkungen folgende Stelle aus einer von den
Partenkirchener Rodleuten gegen die Garmischer Rodleute gerichteten Be
schwerdeschrift vom März 1523 wegen der Weigerung der letzteren, die
Loisachbrücke ferner allein zu unterhalten: Es ist vor augen, daß eine
sorgfeltigere pruckh auf der reichsstrass weit und breit nit zu finden, dem
dieße lantpruckh, über die viel köstlich schwere kaufmansgüter übergees
müssen. Passirt den gütern der kaufleut etwas darauf, so klagen sy nit die
Garmischer, sondern die Partenkircher an; denn wan ainem kaufman ei
schaden auf der pruckhen beschieht, so muß der Partenkircher rodman im
den abtun, so vil das gut wert ist, und wann das ninder ist, so muß eine
ganze rod den schaden gut machen. Münchener Kreisarchiv, Abten der (raf-
schaft Werdenfels. Fasc. 44. Streit zwischen Partenkirchen und Garmisch
wegen Unterhaltung der Loisachbruck 1523. Beilage C.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 407
weder man begrenzte den Zeitraum, der zwischen dem Termin,
da die Kaufleute die Güter ansagten, und der Abfahrtszeit
liegen durfte, oder man bestimmte die Frist, innerhalb welcher
die Güter von einer Rodstätte zur anderen gebracht werden sollten.
Das letzterwähnte Verfahren war im großen und ganzen in den baye-
rischen Rodorten gebräuchlich; denn nach den Rodordnungen von
Schongau, Ammergau, Partenkirchen und Mittenwald war die Liefer-
zeit in der Weise bestimmt, daß ein Wagen von Schongau nach
Ammergau in einem Tag, von Ammergau nach Partenkirchen in
einem halben Tag, von Partenkirchen nach Mittenwald und von
Mittenwald nach Zirl in je einem halben Tag fahren sollte!).
In den Rodorten Tirols wurde dieses bayerische Verfahren
auch zum Teil eingehalten, doch wurde daneben das andere
System, zwischen Ansage- und Abfahrtermin eine Präklusivfrist
zu setzen noch vielfach in Anwendung gebracht. So war z. B. in
den Rodordnungen von Matrei und Sterzing vom Jahre 1530 als
Fahrzeit eines Wagens von Matrei nach Innsbruck, desgleichen
von Sterzing nach Mühlbach ein Tag, von den beiden genannten
Rodstätten an den Brenner als Fahrzeit ein halber Tag vor-
geschrieben. Daneben enthielten die Sterzinger und Matreier
Rodordnungen aber noch Bestimmungen über das Höchstmaß
der Zeit, die vom Ansagetermin der Güter bis zur Abfahrt der-
selben verstreichen durfte. Und ähnlich wie bei Sterzing und
Matrei war auch in den andern Tiroler Rodordnungen auf dop-
peltem Wege für die rechtzeitige Beförderung der Kaufmanns-
güter Fürsorge getroffen ?).
1) Vgl. außer den Rodordnungen von Tirol vom Jahre 1580 die Be-
schwerden der Augsburger Kaufleute ob den bayerischen Rodleuten, Herrn
Leonbart von Eck vom 27. September 1530 überantwortet. Auch im Vene-
zianischen war die Fahrzeit von einer Rodstätte zur andern bestimmt, so war
z. B. nach der Rodordnung von St. Martino vom Jahre 1562 für einen Wagen
von Valle bis Termine ein Tag als Fahrzeit festgesetzt. Augsb. Handels-
vereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 46.
2) Diese Präklusivfrist betrug im allgemeinen 24 Stunden, für Pieve di
Cadore 20 Stunden, für Telfs im Winter 12, im Sommer dagegen, wo die
Rosse auf den Almen waren, 24 Stunden, für den Brenner 18 Stunden, für
Imst ausnahmsweise 48 Stunden. Vgl. den 3. Artikel der Tiroler Rodord-
nungen vom Jahre 1530.
408 Johannes Müller
Die Wasserrodordnungen von Füssen, Schongau und Mitten-
wald enthielten keine derartigen genauen Bestimmungen über
die Dauer der Fahrzeit der Flöße von diesen Orten nach Augs-
burg bezw. nach München, sondern schrieben nur ganz allgemein
fürderliche Fertigung der Rodgüter unter Androhung entsprechen-
der Strafen seitens der Obrigkeiten und etwaigen Schadenersatzes
seitens der Floßmeister an die Kaufleute vor. Die ungleichmäßige
Wasserführung dieser Flüsse sowie die im Winter häufig auf-
tretenden Eisgänge, die z. B. eine von Schongau nach Augsburg
knapp zwei Tage dauernde Floßfahrt gleich um einen ganzen
Tag verlängerten, lassen einen größeren Spielraum in der Fahrzeit
der Flöße gegenüber der Fahrzeit der Landwägen durchaus ge-
rechtfertigt erscheinen.
Die Fertigung der Waren sollte im allgemeinen in der Reihen-
folge vor sich gehen, in der dieselben angesagt wurden. Eines
Vorrangs unter gleichzeitig eintreffenden Gütern erfreuten sich
bei der Fertigung nur die sog. Kammergüter der Landesherr-
schaften und in Kriegszeiten jede Art von Kriegsbedarf').
Die nach dem Los einem Fuhrmann zufallenden Güter hatte
dieser selbst zu führen; nur für den Fall, daß einem Rodmann
das Vieh erkrankt war, sollte der Aufgeber den nächsten in der
Reihenfolge aufbieten?). Daß der Fuhrmann sein Fuhrwerk
meist selbst leitete, selten durch einen Knecht leiten ließ, ist
deshalb anzunehmen, weil die Rodordnungen Bayerns und Tirols
hierüber auch nicht die leiseste Andeutung enthalten. Da-
gegen bestand für die Wasserrod auf dem Lech die Vorschrift,
daß zwei bis drei Rodgüter, also 16—24 Säume, von je einem
Floßmeister in Person geleitet werden sollten*). Auch die
Zahl der Floßknechte war genau vorgeschrieben. Für den Tran
port eines Rodgutes, d. h. eines Gutes von 8—9 Säumen, das auf
zwei Flößen befördert wurde, waren zwei Floßknechte erforderlich;
waren jedoch 10 Säume, bezw. 3 Faß Wein von 42 Ymn auf
1) Vgl. den 11. Artikel der Tiroler Rodordnungen vom Jahre 16590.
2) Vgl. den 3. und 12. Artikel der Imster Rodordnung vom Jahre 14%.
3) Die Information über das Rodwesen von Augsburg bis nach Seefeld
vom 9. Oktober 1665. Handschriftensammlung (Kommerzwesen) der Augsb.
Stadtbibliothek.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 409
dem Wasser zu befördern, so war ein dritter Floßknecht oder
ein dritter Ferge zu der Fahrt heranzuziehen '').
Neben diesem hier gekennzeichneten Rodbetrieb, der auf dem
Monopol der Rodbauern beruhte, gab es aber schon sehr früh
einen freieren Betrieb, der teils von Rodbauern, teils von son-
stigen Fuhrwerksbesitzern einzelner Rodorte behufs schnellerer
Beförderung gewisser Güter, wie Spezereien, Gewürze etc., auf
Eigenachs- oder sog. Adriturawägen ausgeübt wurde. Gelegent-
lich eines Streites der Partenkirchener mit den Mittenwalder
Rodleuten vom Jahre 1381 erfahren wir, daß die letzteren Kauf-
mannsgüter durch Partenkirchen ohne alle Irrung und Nieder-
legung der Waren durchführten, eine Gewohnheit, die nach Aus-
sagen von Zeugen aus Zirl damals mindestens schon vierzig
Jahre im Gebrauch gewesen sei’). Dieser wie in Bayern so
auch in Tirol seit Mitte des 14. Jahrhunderts bestehende Eil-
gutbetrieb°) wird auch durch Urkunden aus späterer Zeit viel-
fach bezeugt, nur daß statt der Bezeichnung Eigenachswägen der
Name Nebenfuhren für die Sache gewählt wird‘) Diese
Nebenfuhren unterschieden sich von den Rodfuhren nicht bloß
dadurch, daß die durch sie beförderten Güter an den Rodorten
1) J. BAADER, Mittenwalder Wasserrodordnungen vom Jahre 1450.
2) Auf Verlangen des Kunz Vogl von Mittenwald sagte vor dem Unter-
richter Khainz von Zirl wegen der stössen zwischen den Partenkirchern und
Mittenwaldern von irer vertigung und niderlegung der waren Heinrich der
Rainer folgendes aus: Was mir um die niderlegung und vertigung derer von
Mittenwald kund war gegen den von Partenkirchen, das im gedacht wol auf
40 jar, das alle zeit die von Mittenwald mit iren wägen on alle irrung und
hinderung gefahren sind, durch Partenkirchen hin und her on alle niderlegung
und on alle säumung. Werdenfelser Akten. Fasc. 34, Nr. 97 des Münchener
Kreisarchivs.
3) Vgl. oben S. 387 den Verkehr von Adriturawägen im Pustertal
(Brunneck) am Ende des 14. Jahrhunderts. Ä
4) Vgl. die Entscheidung Herzog Albrechts III. von Bayern vom Jahre
1455 über den Streit zwischen den Mittenwalder Rodleuten und dem Abt
von Benediktbeuern wegen des Rechtes des letzteren, den Tiroler Wein auf
&ägener Achs durch Mittenwald gen Wallgau und Krien zu führen. Werden-
felser Akten (Fasc. 34) des Münchener Kreisarchivs. — Vgl. außerdem des
Christian Scheuchers, Pflegers von Ehrenberg, mengel und anbringen vom
14. Mai 1508. Innsbrucker Statthaltereiarchiv, Abt. Pestarchiv IX. Nr. 14.
410 Johannes Müller
nicht abgeladen bezw. umgeladen wurden, sondern auch darin,
daß die sich damit befassenden Fuhrleute Feiertags wie Werk-
tags, Tag und Nacht dem Transportgeschäfte oblagen'. Be-
günstigt wurden dieselben im Bayerischen und in Nordtirol be-
sonders dadurch, daß viele Bauern aus der Murnauer und Weil-
heimer Gegend ihre mit Getreide und Heu beladenen Wägen
nach Nordtirol, insbesondere nach Innsbruck, fuhren und bei der
Rückfahrt von Innsbruck Kaufmannsgüter, die mit sog. Tervis-
wägen von Venedig nach Innsbruck kamen, als willkommene Rück-
fracht nach Bayern herausbrachten, ebenso wie diejenigen Bauern
Bayerns und Nordtirols, die zum Abholen des Südtiroler Weines leer
nach Bozen fuhren, Güter der Augsburger Kaufleute bei der Hinfahrt
als Eigenachsgüter nach Südtirol (Bozen, Lienz) befôrderten‘.
Daß sich die Rodleute durch diese Nebenfuhren, die beson-
ders im Sommer schwunghaft betrieben wurden, in ihrem Fahr-
mannsgewerbe stark benachteiligt fühlen mußten, war unausbleib-
lich. Es finden sich darum unter den anfangs des 16. Jahr-
hunderts von den Augsburger Kaufleuten bei der herzoglichen
Regierung über die bayerischen Rodleute eingereichten Beschwer-
den gerade solche über Repressalien der bayerischen Rodleute gegen
die Eigenachsfuhren. In der oben (Anmerk. 2) angeführten
Beschwerde vom Jahre 1530 heißt es z. B. bezüglich der Ammer-
gauer Rodleute: „Sie mögen auch da (d. i. in Ammergau) und
fast an allen Roden nit leiden, so ein Fertiger, so gern eilends
von statt führe, einen Fuhrmann von Murnau, Weilheim oder
Wessobrunn, so herfährt und eilends fertig macht, überkomnt,
daß er demselben auflade. Tut er es aber, so wollen sie ihm
nit mehr fahren und strafen ihn, daß er mit ihnen abkommen
muß vom Wagen 1 fl., und gehören doch Landstraß, Maut und
Zoll dem löblichen Fürstentum Bayern zu; darum es eine rechte
schatzung ist.“ In den Rodordnungen des 15. Jahrhundert,
z. B. in der Imster Rodordnung vom Jahre 1485, war den ein
heimischen Rodleuten gegenüber den fremden Fuhrleuten, die
1) Vgl. die Beschwerden der Augsburger Kaufleute über die bayerischen
Rodleute vom Jahre 1526. Augsb. Handelsvereinsarchiv, LXXXX, Nr. IA
2) Vgl. die Beschwerden der Augsburger Kaufleute über die bayerisch®
Rodleute vom Jahre 1530. Augsb. Handelsvereins-Archiv, LXXXX. Nr. &
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 411
Güter auf eigener Achse durch einen Rodort führten, noch ein
gewisses Vorrecht eingeräumt, indem darin (Artikel 26 der Imster
Rodordnung) ausdrücklich bestimmt wurde, daß, wenn ein Nach-
bar käme, daran die führende Rod stünde, und wollte davon (d.h.
von einem auf eigener Achs gebrachten Gut) nehmen, was die
Rod inhält an Lohn, der Kaufmann ihm dasselbe führen lassen
sollte vor einem andern, der außerhalb der Imster Rod ist. Von
einer solchen Begünstigung der ortsansässigen Rodleute gegen-
über fremden Fuhrleuten bei der Fertigung durchgehender Güter
war man im 16. Jahrhundert sowohl in Tirol wie in Bayern allem
Anschein nach gänzlich abgekommen; ja die Rodleute Tirols sind
zu jener Zeit sogar bemüht gewesen, der Verpflichtung, durch
Terviswägen angefahrene Güter auf der Rod weiter zu befördern,
sich zu entziehen. In dem von der Innsbrucker Regierung zwischen
den schwäbischen Gutfertigern und den Mühlbacher Rodleuten
errichteten Abschied vom 11. Dezember 1535 hieß es ausdrück-
lich, daß die Fertiger der Kaufmannsgüter diejenigen Güter,
welche auf Terviswägen durchs Land geführt worden sind,
fernerhin noch darauf führen dürfen, aber die Rodleute „vor ires
aigenen nutzens wegen“ damit nicht beschweren sollen‘). In
dem von der herzoglich bayerischen Regierung vom 6. Februar 1542
erlassenen Rezeß zwischen den in das Gebirge handelnden Augs-
burger Kaufleuten und der Stadt Schongau lautete die Bestimmung
bezüglich der Eigenachsfuhren folgendermaßen: Doch sollen die
Kaufleute, wie von alters Herkommen, Macht haben, die Güter
anf einer Achs von Augsburg aus gegen Bozen unabgeladen zu
schicken oder wo die zu Schongau abgeladen würden, von dannen
auf einer Achs gegen Bozen fahrenden Fuhrleuten, als denen von
Mittenwald, Partenkirchen, Ammergau, Füssen oder so um Schon-
gau gesessen, zu führen aufdingen, doch daß sie für die Nieder-
lage das gewöhnliche Geld, wie unten gemeldet wird, bezahlen *).
1) Abschied: Fertigung der kaufmannsgüter zu Mühlbach halber, vom
11. Dezember 1535, geschehen zu Innsbruck. Innsbrucker Statthaltereiarchiv,
Abt. Pestarchiv IX. Nr. 56.
2) RezeB vom 6. Februar 1542, zwischen den Augsburgischen in das
gebirg hantierenden kaufleuten und der statt Schongau aufgericht. Augsb.
Handelsvereins-Archiv LXXXX. Nr. 28.
Vierteljahrschr. f. Social- u, Wirtschaftsgeschichte. III. 27
412 Johannes Müller
Nur in den späteren Rodordnungen von Mittenwald, z.B. in
der vom Jahre 1574, hatte sich eine Bestimmung zugunsten der
ortsansässigen Rodleute beim Durchfahren sog. Eigenachswägen von
Seefeld her erhalten. Der 8. Artikel der erwähnten Mittenwalder
Rodordnung setzte nämlich fest, daß ein fremder Fuhrmann, der
Futter oder anderes auf das Seefeld führte und von da bei der
Rückfahrt Seidenballen nach Mittenwald brächte, mit demjenigen
Mittenwalder Rodmann nach billigen Dingen abzukommen hätte,
an dem die Ordnung zu führen sei’).
Die Vorteile, die die Kaufleute von der Beförderung ihrer
Waren durch Nebenfuhren hatten, mußten von denselben durch
nicht geringe Spesen, vor allem durch Niederlagsgelder, die im
Verhältnis zu den von den Rodfuhren bezahlten Niederlagsgeldern
teilweise sehr bedeutend waren, erkauft werden. Die Höhe dieser
Niederlagsgelder der Eigenachsfuhren war nun auf den beiden
großen Rodstraßen Bayerns und Tirols wie auch auf den einzelnen
Stationen der beiden Straßen außerordentlich verschieden. Durch-
schnittlich war das Niederlagsgeld auf der unteren Straße doppelt
so hoch wie auf der oberen Straße, was zweifellos mit dem viel
stärkeren Verkehr auf der Brennerstraße zusammenhing. Als
zweite Eigentümlichkeit der Niederlagsgelder für durchgehende
Terviswägen kann dann noch der Umstand bezeichnet werden,
daß dieselben in den Rodstätten Bayerns um das Drei- und
Vierfache niedriger waren als in den Tiroler Rodorten.
Zur deutlicheren Vergegenwärtigung der die Höhe der Trans-
portkosten wesentlich beeinflussenden Niederlagsgelder sind die _
selben nach den Tiroler Rodordnungen des Jahres 1530 bezw. |
nach Rodverträgen der bayerischen Rodorte mit den Augsburger
Kaufleuten aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts in folgender
Tabelle übersichtlich zusammengestellt.
Höhe des Niederlagsgeldes für durchgehende Güter pro Wagen anno 15%.
Obere Straße. Untere Straße.
Rodort. Kr. Rodort. Ar.
Füssen . . . . . . . . Schongau . . . . . . . . |
Heiterwang . . . . . . 8 | Ammergau . . . . ‚|
1) Mittenwalder Rodbrief vom 18. Juni 1574 Werdenfelser Aktea
. des Münchener Kreisarchivs, Fasc. 34.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 413
es Niederlaggeldes für durchgehende Güter pro Wagen anno 1530.
Obere Straße. Untere Straße.
Rodort, Kr. Rodort. Kr.
ne ee 10 | Partenkirchen . 1
aus von Venedig . 6—7 | Mittenwald . ee. 8
ein nach Venedig . 4-5 | Zil . 2. 2 2 2 . . . . . 4
oo ee + + 4}, | Innsbruck . . 2 . . . . . 25
1 . heraus von Venedig . . 22
1 Matrei hinein nach Venedig . . 14
12—15 Lue heraus von Venedig . . 25
4 8 hinein nach Venedig . . 21
en 2 | Sterzing . rn. 22
ıeraus von Venedig 12 heraus von Venedig . 18
ıinein nach Veneoig 8 Mühlbach hinein nach Venedig . 13
Fe . . . . 4 | Bruneck . ... + + + + + 16
Toblach . . . . . . . . . 24
* Vereinigung mehrerer Rodorte zu einem Verband, wie
i den Rodorten Graubündens der Fall war, ist es in Bayern
rol nicht gekommen; es standen vielmehr die einzelnen Rod-
‚yerns und Tirols das ganze Mittelalter hindurch und noch
Jahrhundert ohne gemeinsame Organe und Einrichtungen
inander, wenn man nicht die von den betreffenden Landes-
ngen (Bayern, Bistum Augsburg, Bistum Freising, Grafschaft
Herrschaft Venedig) zur Schlichtung von Streitigkeiten, die
wischen den Kaufleuten und den Rodleuten ergaben, ein-
en Kommissäre gewissermaßen als Aufsichtsbeamte der
te je eines Landes betrachten will. Erst am Ende des
ırhunderts wurde, wenigstens in Augsburg, eine Behörde
Ten, die den Rodorten Bayerns und des Werdenfelser
; als Aufsichtsorgan vorgesetzt war, nämlich die erst seit
tändig aufgestellten Roddeputierten, die alle 10 Jahre für
ıeuerung bezw. Bestätigung der alten Rodverträge zu sorgen
ıßerdem die Visitation der Rodstätten von Augsburg bis zum
| vorzunehmen hatten ').
Vgl. des Verf. Abhandlung: Augsburger Warenhandel und Augs-
Handelspolitik zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Archiv für
eschichte I. S. 329.
414 Johannes Müller
2.Die Niederlagshäuser und Gutfertiger.
Der an jeder Rodstätte stattfindende Wechsel der Fuhrleute
und Wägen brachte es mit sich, daß die Waren jedesmal abge-
laden und namentlich in der schlechten Jahreszeit unter Dach
und Fach gebracht werden mußten. Zur Aufnahme der abge
ladenen, an stärker frequentierten Plätzen oft wochenlang lagern-
den Güter dienten besondere Häuser, die Niederlags- oder Gred-
häuser, deren Errichtung an die Zustimmung der betreffenden
Landesregierung gebunden war, da die Verleihung des Niederlags-
rechts ein Vorrecht der Landesregierungen war.
Wie oben dargetan, wurde das Niederlagsrecht sowohl in
Bayern als auch in Tirol, besonders am Anfang des 14. Jahrhun-
derts, zur Zeit des mächtigen Aufschwunges des deutsch-vene
zianischen Handels, an verschiedene Orte verliehen. In Bayen
entstanden nun im 14. Jahrhundert zwischen mehreren benachbarte
Orten erbitterte Streitigkeiten über das Recht der Niederlegung
der Waren. So begann die Gemeinde Garmisch im Jahr 1362
mit den Partenkirchern eine förmliche Fehde wegen der Nieder-
lage und des Transportes der Kaufmannsgüter, die erst im Jahr
1408 durch einen Vergleich zugunsten Partenkirchens zum Ab
schluß kam!). Zu ähnlichen Streitigkeiten muß es in jener
Periode zwischen Schongau und Peitingau gekommen sein; den
aus Kundschaftsbriefen des Rates von Nürnberg und von Angr
burg an den Grafen Johann Truchseß zu Waldburg aus dem
Jahre 1412 ist ersichtlich, daß sich die Schongauer damals an
die Kaufleute der genannten Städte gewendet hatten, um sich
von denselben gegenüber den Ansprüchen der Peitingauer be
zeugen zu lassen, daß „die Niederlegung der Waren allweg zu
Schongau und nicht zu Peitingau gewesen sei“ ?).
1) Vgl. den Entscheid des Bischofs Berchtold von Freising vom 13. Mai
1408. Werdenfelser Akten Nr. 25 des Münchner Reichsarchive. Die Parter-
kircher erhielten die Niederlage und für das eine Jahr den Transport &et
Hälfte, für das andere Jahr die Beförderung von zwei Dritteln der Güter
zugesprochen.
2) Schreiben des Rates von Nürnberg, desgl. des Rates von Augsburg
an den Grafen Jobann Truchseß zu Waldburg vom 23. bezw. 24. Juli 1412.
Augsb. Handelsvereins-Archiv, LXXXX. Nr. 7 und 8.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 415
Es ist erklärlich, daß vor Beendigung solcher Streitigkeiten,
rie der eben erwähnten, wenigstens in den Rodorten Bayerns
eine Niederlagshäuser bestanden haben. Das erste derartige
rebäude dürfte wohl das Schongauer Gredhaus gewesen sein,
essen Bau im Jahre 1419 durch einen Freiheitsbrief des baye-
ischen Herzogs Wilhelm vom 24. Dezember 1419 verbürgt ist).
Jie Mehrzahl der bayerischen und Tiroler Niederlagshäuser scheint
rst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gebaut worden
u sein; denn von keinem der übrigen Niederlags- oder Pall-
äuser, wie sie im Ostalpengebiet genannt wurden, wie z. B. von
‘oblach, Mittenwald, geht die Entstehungszeit über das Jahr
440 zurück”). Die verhältnismäßig späte Errichtung der Pall-
Auser ergibt sich auch daraus, daß dieselben in den Rodord-
wngen des 15. Jahrhunderts gar nicht erwähnt werden, während
ich in den Ordnungen des 16. Jahrhunderts genaue Vorschriften
owohl über den Bau wie über die Instandhaltung der Nieder-
agshäuser finden. Trotz dieser Vorschriften entbehrte aber noch
m Jahre 1530 die Hälfte der Rodstätten an der oberen Straße
Tirols der Pallhäuser. Auf der unteren Straße war es in dieser
Hinsicht zu Anfang des 16. Jahrhunderts besser bestellt; denn
ın derselben hatten mit Ausnahme von Zirl und vom Brenner
lamals alle Rodorte Niederlagshäuser. Aber der Zustand mancher
lieser Pallhäuser scheint nach den vielfachen Klagen der Kauf-
eute und Gutfertiger — geringe Größe, ungenügende Versperrung
and Bedachung werden als die Hauptmängel angegeben — nicht
der beste gewesen zu sein’). Der Bau und die Instandhaltung
der Niederlagshäuser war in solchen Rodorten, in denen die Rod
der ganzen Gemeinde zustand, Sache der Gemeinden, in den übri-
xen Orten dagegen Pflicht der Rodleute oder einzelner Familien,
1) Lort, Geschichte des Lechrains, II. Nr. 112.
2) Nach H. J. BIEDERMANN, Das Hochpustertal, Deutschösterr. Alpen-
vereinszeitschrift 1884 3. 40 wird um das Jahr 1440 ein Konrad Arnold als
Lehensbesitzer des Toblacher Pallhauses genannt. — Das Mittenwalder Pall-
haus wurde im Jahr 1471 mit Genehmigung des Freisinger Bischofs Johann
errichtet.
3) Hinsichtlich der Mängel der Pallhäuser vgl. insbesondere die Be-
schwerden der Gutfertiger vom Jahre 1558. Augsb. Handelsvereins-Archiv,
LXXXX. Nr. 188.
416 Johannes Müller
die Lehensbesitzer der betreffenden Pallhäuser waren. Letzteres
war in zwei Rodstätten der oberen Straße, in Lätsch (Familie
von Annaberg) und in Terlan (von Warburg), und in drei Rod-
orten der unteren Straße, in Sterzing (von Firmian), Mühlbach
(Kaufmann und Huber) und in Toblach (Arnold) der Fall
Diese Pallhauslehensträger bezogen als Entgelt für die ihnen
erwachsenden Bau- und Unterhaltungskosten das von jedem der
Rodwägen zu entrichtende Pallhausgeld. Das Niederlagsgeld von
den sog. Terviswägen dagegen, das nach den früher gemachten
Darlegungen bedeutend höher war als das Pallhausgeld, gehörte
den Rodleuten des betreffenden Rodortes.
Wegen der nicht geringen Einnahmen, die die Rodore
aus den Niederlagsgeldern bezogen, lag denselben selbstrer |
ständlich außerordentlich viel an der Einhaltung der durch
die Rod vorgeschriebenen Straßenzüge seitens der Kaufleute
und diese suchten andererseits wieder dem Routenzwang x
entgehen, wofern sie den Transport ihrer Güter auf anden
Straßen oder Nebenwegen mit nur einiger Sicherheit und Koster-
ersparnis bewerkstelligen konnten. Ein geradezu klassisches
Zeugnis für die starre Durchführung des Routenzwanges aus fir
kalischen Gründen bieten die Anordnungen der bayerischen
Herzoge hinsichtlich des Niederlagsrechtes Schongaus. Diese
bayerische Städtchen unweit des Austrittes des Lechs aus dem
Gebirge hat wohl zunächst durch seine günstige Lage an der
unteren Straße Tirols — es lag gerade inmitten der Strecke
zwischen Augsburg, dem kommerziellen Mittelpunkt Oberschwabens,
und Mittenwald, einem wichtigen Kreuzungspunkt zweier bedeuten-
der Rodstraßen —, sodann aber auch durch die konsequente
Behauptung seines Niederlagsrechtes seitens der bayerischen
Herzoge gegenüber den Augsburger Bischöfen seine beiden
Nebenbuhler, die Reichsstadt Kaufbeuren und die bayerische
Landstadt Weilheim, in merkantiler Beziehung jahrhundertelang
überflügelt. Die Bemühungen der bayerischen Herzoge, die Un-
fahrung der Schongauer Niederlage, sei es von Füssen aus über
Bernbeuern oder von Ammergau aus über Baiersoyen, mit allen
Mitteln zu verhindern, begannen mit einem Schreiben des Herzogs
Albrecht III. vom 8. März 1443 an den Bischof Peter von Aug*
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 417
urg, in welchem der Herzog den Bischof in drohendem
‘one aufforderte, die von ihm eingeführte Neuerung, die Kauf-
ıannsgüter in Füssen und Bernbeuern niederlegen zu lassen,
jeder abzuschaffen '. Albrechts III. Nachfolger, die Herzoge
ohann und Siegmund, Albrecht IV., Wilhelm IV., Albrecht V.,
nd in der nachfolgenden Zeit mit der gleichen Energie und
erselben Folgerichtigkeit wie ihr Ahnherr bemüht gewesen, das
rivileg der Schongauer aufrecht zu erhalten, sowohl im Interesse
er Stadt wie zu ihrem eigenem Vorteil, da durch das Umfahren
er Schongauer Niederlage erstere nicht bloß um ihr Niederlagsgeld
ekürzt sondern auch die Zolleinnahmen der bayerischen Fürsten
edeutend vermindert worden wären ?).
Wie ernstlich die Herzoge von Bayern die Schongauer bei ihren
‚echten zu handhaben entschlossen waren, geht aus einem Streit-
il der Schongauer mit einem Weilheimer Fuhrmann wegen
Imfahrung der Niederlage zu Schongau hervor. Der Weilheimer
ürger Gg. Dietmair hatte im Frühjahr 1553 von Spöttingen
us Güter eines Augsburger Kaufmannes auf der Weilheim-
[urnauer Straße nach Bozen geführt und war darum auf der
‚ückfahrt, nachdem die Weilheimer die Auslieferung Dietmairs
n die Schongauer verweigert hatten, auf offener Landstraße bei
[urnau von den Schongauern gefangengenommen, nach Schongau
1) Lori, Geschichte des Lechrains I. Nr. 156.
2) Lort, Nr. 186: Albrecht III. an Herzog Sigmund von Österreich
egen der Umfahrung der Schongauer Straß und Niederlage durch einen
sterr. Untertanen im Jahre 1459.
Lori, Nr. 192: Revers des Abtes von Steingaden wegen der neuerrichteten
echbrücke vom Jahre 1466.
SIMONSFELD, Fondaco, Nr. 508: Versicherung des Rates von Augsburg,
ine Kaufleute zum Befahren der Schongauer Straße anzuhalten, vom Jahre
166, desgl. vom Jahre 1467. Augsb. Handelsvereins-Archiv, LXXXX. Nr. 275.
Lori, Nr. 216: Revers eines Kaufbeurers wegen erlaubter Fahrt durch
ıs Teuffertal nach Kaufbeuren 1490.
Lori, Nr. 255: Vertrag zwischen Bayern und dem Hochstift Augsburg
egen Vermeidung der Straße tiber Büdingen seitens der Kaufleute 1511.
Lori, Nr. 260: Herzog Wilhelm IV. an den Bischof von Augsburg wegen
strafter Umfahrung der Niederlage zu Schongau.
Lori, Nr. 317: Herzog Albrecht V. gestattet den Augsburger Kaufleuten
ısnahmsweise für den Ägidimarkt die Straße über Weilheim.
418 Johannes Müller
gebracht und erst auf eine Bürgschaft hin aus der Gefangen-
schaft zu Schongau entlassen worden. Auf die beiderseitige Klage
bei dem Hofrat Herzog Albrechts V. entschied der letztere, daß
die Weilheimer ihren Bürgern nicht mehr gestatten sollten,
künftig also wider die Rodordnung zu handeln, und daß Dietmair
den Schongauern außer dem Zoll und dem Niederlagsgeld für die
von ihm verfahrenen Güter noch 12 fl. Fuhrstrafe zu zahlen
habe).
Ähnliche Differenzen, wie zwischen Schongau einerseits, Kanf-
beuren und Weilheim anderseits, ergaben sich aus der schroffen
Anwendung des mittelalterlichen Straßenzwanges und Nieder-
lagsrechtes noch an manchen andern Punkten der beiden großen
Rodstraßen Tirols, so zwischen Meran und Mais, zwischen Bozen
und Tramin*'). Auch in diesen Fällen siegte der starre mittel-
alterliche Straßenzwang über das Prinzip des freien Wettbewerbes,
obwohl die Kaufleute, wenigstens diejenigen des 16. Jahrhunderts,
von den Vorteilen des letzteren für den Handel und Verkehr durch-
drungen, in öfter wiederholten, eindringlichen Vorstellungen für die
Freigabe der verschiedenen Straßen für den Warenverkehr bei den
betreffenden Landesregierungen energisch eintraten. In einer dieser
Vorstellungen, von dem Augsburger Handelsherrn Hieronym. Kre$
vom 16. Oktober 1553 an die herzoglich bayerische Regierung
gerichtet, heißt es nach Aufzählung der besonderen Vorteile, die
sich aus der freien Wahl zwischen den beiden Straßen, der
Schongauer und der Weilheimer, für die Augsburger Kauflente
ergeben würden, am Schlusse sehr treffend: Daß aber die von
Schongau gar ein alten privilegio, so ihnen geben worden ik,
auflegen, lassen wir in ihrem Werth bleiben. Da aber ihnen
dieselbige Privilegia geben worden sind, da ist es viel ein andere
gewesen gegen jetztund wie Tag und Nacht, es sind nit soriel
Güter gangen als jetztund, desgleichen nit soviel Wein. Al
wo viel Fuhrleut fahren, da bedarf mau viel Straßen, darz #
1) Rezeß des Herzogs Albrecht V. vom 2. März 1553, daß die GK
der Rodstraß über Schongau nicht entführt werden sollen. Augsb. Handel
vereins-Archiv, XIX. Nr. 5.
2) A. JÄGER. Geschichte der landständischen Verfassung Tirols L S. 6%
und 634.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 419
n die von Schongau zu derselbigen Zeit die Rod selbst ver-
st, so sie jetztund andern außerhalb Schongau mit ihrem
heil jährlich einen Pakt machen und aufgeben, das im Ge-
ch nit gewest ist, als sie ihre Privilegia empfangen haben‘.
Jrsprünglich haben die Kaufleute bezw. deren Faktoren die
r beim Transport auf den Rodstraßen selbst begleitet; aber
der Zunahme des Großhandels in den süddeutschen Handels-
orien gegen Ende des Mittelalters machte sich bei den
schen Handelshäusern das Bedürfnis nach Spediteuren geltend,
die Fertigung der Güter von und nach Venedig gewerbmälig
eben und deshalb den Namen „Gutfertiger“ oder „Ballen-
er“ erhielten. In den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts
len die Gutfertiger neben den Rodleuten als eine in dem
aligen Transportwesen durchaus eingebürgerte Erscheinung
ihnt?). Es ist deshalb anzunehmen, daß es diese Hilfs-
ne des neuzeitlichen Transportwesens mindestens schon zu
ıng des 16. Jahrhunderts gegeben hat. Das erste Auftreten
Gatfertigern in Bayern und Tirol gerade an der Wende vom
zum 16. Jahrhundert würde auch damit übereinstimmen, daß
ler Schweiz erst nach Ausgang des Mittelalters Spediteure
mein vorkommen’).
Bezeichnend für die etwas eigenartige Stellung, die die Gut-
ger schon früh im Transportgewerbe in den Ostalpen ein-
men, ist die Tatsache, daß schon im Jahre 1530 die baye-
en Rodleute bei der bayerischen Regierung über die Miß-
ung der Rodordnungen seitens der Spediteure sich zu beklagen
aß fanden, indem sie denselben vorwarfen, daß sie die Güter
it ordnungsgemäß auf der Rod fortfahren ließen, sondern
ch Bauern aus der Umgegend von Augsburg nach Schongau
ckten, daselbst mehrere Wochen liegen ließen und erst, nach-
ı große Mengen von Gütern sich angesammelt, diese den Rod-
—
1) Berichtung des Hieronym. Kreß, aus was ursachen die straß auf
lheim und Murnau eröffnet werden soll. Dat. Augsburg 16. Oktober
, Augsb. Handelsvereins-Archiv, LXXXX. Nr. 151.
2) Vgl. z.B. die Beschwerde der Augsburger Kaufleute über die baye-
‘en Rodleute vom Jahre 1526. Augsb. Handelsvereins-Archiv LXXXX. Nr. 18.
3) SPRECHER, Geschichte der Republik der drei Bünde II. S. 258.
420 J. Müller, Das Rodw. Bayerns u. Tirols i. Spätmittelalter.
bauern zur Weiterbeförderung übergäben'!). Dieses zur Verein-
fachung des Speditionsgeschäftes eingeschlagene Verfahren, das
im Laufe des 16. Jahrhunders wohl immer größere Dimensionen
annahm, führte endlich am Ende dieser Periode zur Aufstellung
einer eigenen Güterfertigerordnung seitens des Augsburger Rates,
die dann im Laufe des 17. Jahrhunderts noch weiter ausgebildet
und ergänzt wurde?).
1) Vgl. hierzu folgende Stelle aus „Beschwerden der rodleut zu Schongaı,
Ammergau, Partenkirchen, Garmisch und Mittenwald, von Leonh. von Egk dem
Augsburger Ratskonsulenten Heymeran Edelmann am 26. September 15%
überreicht: Darzu so wellen auch diejenigen, so der kaufleutt güter ferttigen,
auf der rod ain guet oder wagen nit vor den andern fueren lassen, und be-
gibt sich manigmals, das sy guetter von Augspurg aus bey den paure
gen Schongau schicken, nach einander ettwa 14 tage oder 3 wochen und
noch lenger die liegen lassen, so wir mit gueter und woll faren möchte,
bis die all zusammen kommen, sollten dann die hauffenweyß hinfueren, das
sich also mittlerweyll zutregt, das dißorts heraus auch gueter kommen, mit
einander hinfueren sollten, welches uns nit wenig beschwerlich, weil die gueter
so lang dagelegen und wir zeit genug gehabt, die rückllichen zu fueren.
Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX. Nr. 46.
2) Vgl. des Verf. Abhandlung: Augsburgs Warenhandel mit Venedig
und Augsburger Handelspolitik im Zeitalter des Dreißigjährigen Kriegt.
Archiv für Kulturgeschichte I. S. 326.
(Schluß folgt in Heft 4.)
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau.
Von
Siegfried Rietschel (Tübingen).
8 1.
Das ältere, lateinisch geschriebene Stadtrecht von Freiburg im
reisgau ist uns bekanntlich in zwei recht verschiedenen Fassungen
halten. Die eine wird uns überliefert in einer aus zwei zu-
ınnmengehefteten Pergamentblättern bestehenden Urkunde'), die
»n alters her im Stadtarchiv von Freiburg i. B. aufbewahrt
ird und lange Zeit als der echte Stiftungsbrief von 1120 ge-
olten hat, bis im Jahre 1829 HEINRICH SCHREIBER die andere
assung entdeckte. Sie fand sich abschriftlich in einem Lager-
uche des Klosters Tennenbach und wurde von ihrem glück-
chen Finder nicht nur veröffentlicht?), sondern auch als die
rsprünglichere Gestalt des Stadtrechts nachgewiesen. SCHREIBER
rklärte diese Tennenbacher Fassung für das zähringische Grün-
lungsprivileg von 1120; die andere, im Stadtarchiv befindliche,
1) Sie ist zuletzt von GAuPr, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters II.
Breslau 1852), S. 28 ff. herausgegeben und wird nach dieser Ausgabe zitiert.
“ber ältere Ausgaben vgl. GAUPP, a. a. 0. IL, S.Bf.; GENGLER, Deutsche
tadtrechte des Mittelalters (Erlangen 1852), S. 131 f.
2) Zuerst gedruckt bei SCHREIBER, Die älteste Verfassungsurkunde der
ladt Freiburg im Breisgau (Freiburg i. B. 1888), 8. 28 ff. Die beste Ausgabe
'etet A. SCHULTE in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. I.
886), S. 193 ff.; nur die von MAURER angebrachten, aus dem Stadtrecht von
Enzingen (1283) entnommenen „Verbesserungen“ sind teilweise recht zweifel-
fter Natur. Abdrücke dieses Textes finden sich bei ALTMANN und BER\-
TM, Ausgewählte Urkunden, 3. Aufl., S. 388 ff. und bei KEUTGEN, Urkunden
T städtischen Verfassungsgeschichte S. 117 ff. Beide haben den Text von
AURERS Lesarten wieder gereinigt. Ich zitiere nach der Einteilung in den
[ztgenannten Ausgaben.
422 Siegfried Rietschel
sei kein Stiftungsbrief, sondern ein sogenannter „Stadtrodel®,
eine „unter Autorität der Stadt selbst verfaßte und daher au
von ihr besiegelte Zusammenstellung der von den Herzogen von
Zähringen erhaltenen Rechte und Freiheiten“’). Der Name „Rodel‘
ist seit SCHREIBER der Aufzeichnung im Stadtarchiv geblieben;
geblieben ist aber auch der Nachweis, daß dieser Rodel au
bürgerlichen Kreisen hervorgegangen ist und daß ihm gegenüber
die Tennenbacher Abschrift zweifellos die ursprünglichere Text-
form darstellt. Dagegen hat SCHREIBERS Ansicht, daß die Tennen-
bacher Abschrift den ursprünglichen Stiftungsbrief darstelle, er-
hebliche Modifikationen erfahren. Die Untersuchungen von Ka
HEGEL?), EUGEN HUBER?), HEINRICH MAURER), EDUARD HEyct')
und PAUL SCHweEizEr®) haben gezeigt, daß nur der Anfang
und Schluß der Aufzeichnung das alte Gründungsprivileg vo
1120 darstellen, daß dagegen die übrigen Teile spätere Bir
schiebungen sind. Als communis opinio hat sich auf Hsezw
Autorität hin folgende Ansicht herausgebildet’):
Die Tennenbacher Urkunde ist aus drei Bestandteilen n-
sammengesetzt. Teil I ist der bald nach der 1120 erfolgten
Gründung ausgestellte Stiftungsbrief Konrads von Zähringen; er
umfaßt die Einleitung, die & 1 bis 5 und den Schluß. Tell
besteht aus den & 6 bis 15; er ist vor 1178 hinzugefügt worden.
1) Vgl SCHREIBER, Verfassungsurkunde S. 21.
2) Vgl. HEGEL in der Kieler Allg. Monatsschrift für Wissenschaft und
Literatur 1854, S. 708 ff., in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrbeiss,
N. F. XI. (1896), S. 277 ff. und in seiner Entstehung des deutschen Städte
wesens (Leipzig 1898), S. 152. Wo HesEL schlechthin zitiert wird, if
der Aufsatz in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins gemeist
3) Vgl. HUBER in der Zeitschrift für schweizerisches Recht XXI. (18%,
S. 8 ff., insbesondere S. 15 ff., 31 f., sowie in seiner Geschichte des schweise
rischen Privatrechts (Basel 1898), S. 80 ff.
4) Vgl MAURER in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrbeiss
N. F. I. (1886), S. 170 ff., V. (1890), S. 476 Anm.
5) Vgl. Hevck, Geschichte der Herzoge von Zähringen (Freiburg i B
1891), S. 583 ff.
6) Vgl. Schweizer, Habsburgische Stadtrechte und Städtepolitik à
den Festgaben zu Ehren Max Büdingers (Innsbruck 1898), S. 2265 #.
7) Sie findet sich bei SCHRÖDER, Rechtsgeschichte, 4. Auf, S. 681;
KEUTGEN, Urkunden S. 177 ff. u. a.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 423
eil III, der an Umfang die beiden ersten Teile um das doppelte
yertrifft und die $$ 12 bis 55 enthält, ist am Ende des 12. Jahr-
ınderts, spätestens in den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts,
ıtstanden. Den Stadtrodel verlegte man bis in die jüngste Zeit
Igemein vor das Jahr 1218.
Wie weit diese Ansicht berechtigt ist, soll im folgenden näher
ıtersucht werden.
$ 2..
Daß Teil III tatsächlich von den beiden übrigen Teilen ge-
ennt werden muß, und zwar sogar in höherem Maße, als es die
sherige Theorie annimmt, werden wir weiter unten feststellen.
n dieser Stelle sollen uns bloß Teil I und Teil II beschäf-
gen, also die Einleitung, $ 1 bis 15 und der Schluß. Die Unter-
heidung der beiden Teile gründet sich darauf, daß nur Einleitung,
; 1 bis 5 und Schluß den Stadtgründer und Stadtherrn in der
sten Person reden lassen, während er in der übrigen Urkunde
. der dritten Person als dux genannt wird ($$ 8, 9, 11, 12,
3, 15). Dem Sprachgebrauch eines Gründungsprivilegs, führt
an aus, entspreche es aber, daß der Stadtgründer in der ersten
erson rede, jedenfalls sei dieser Wechsel zwischen erster und
ritter Person in einer einheitlichen Urkunde unwahrscheinlich
id nur aus einer späteren Hinzufügung von Zusätzen erklär-
»h!). Dieser Argumentation ist zuzustimmen, da auch ein an-
res Moment den Gegensatz der beiden Teile bestätigt. Der
ste Teil kennt nur ein forum (pr., $ 1) Freiburg, also offenbar,
ie es der Gründungsperiode auch durchaus entspricht, eine un-
sfestigte Marktansiedlung. Der zweite Teil aber erwähnt eine
rbs ($$ 8, 11, 15) oder civitas ($ 13), also nach dem Sprach-
ebrauche der Zeit eine ummauerte Stadt. Damit hängt es auch
ısammen, daß die Bürger in Teil II nicht nur, wie in Teil I,
argenses, sondern auch einmal urbani ($ 13) heißen. Ist somit
ie Unterscheidung der beiden Teile durchaus gerechtfertigt, so
nd doch hinsichtlich der Abgrenzung im einzelnen zwei
orrekturen der herrschenden Meinung anzubringen.
1) Vgl. die angeführten Aufsätze von HUBER, MAURER, HEYCK, HEGEL
ıd SCHWEIZER,
424 Siegfried Rietschel
Einmal ist es zweifelhaft, ob 88 6, 7 zu Teil I oder, wie all-
gemein angenommen wird, zu Teil II gehören. Eine Entscheidung
läßt sich nicht fällen, da weder der Stadtherr in ihnen erwähnt
wird, noch die Ausdrücke forum, urbs, civitas, urbani in ihnen
vorkommen ').
Ferner aber gehört von $ 2 der Satz 1, der den Stadtherrn in
der ersten Person reden läßt (burgensium meorum), zwar
sicher zu Teil I, aber ebenso sicher Satz 3 desselben Para-
graphen, der den dux und die edificatio civitatis erwähnt, zu
Teil I. Unsicher könnte höchstens sein, wohin wir Satz 2 zu
rechnen haben, der besonders dadurch interessant ist, daß er die
24 coniuratores fori als ständige Behörde nennt. Ziehen wir in
Erwägung, daß in keiner Quelle der Freiburger Stadtrechtsfamilie
Satz 2 und 3 getrennt werden, daß aber nicht nur im Stadtrodel,
sondern auch in den Handfesten von Bremgarten, Colmar samt
allen ihren Tochterrechten ?) allein Satz 2 und 3 zu finden sind,
während Satz 1 fehlt, so dürfen wir wohl auch Satz 2 als Be-
standteil des Zusatzes ansprechen’).
Wenden wir uns jetzt der Datierung der einzelnen Teile
zu, so trage ich nicht das geringste Bedenken, den so um $?
Satz 2, 3 verminderten Teil I als das echte Gründungsprivileg
Konrads von Zähringen anzusehen. Was die Datierung be
trifft, so ist MAURERS Ansetzung ca. 1140 nur aus einem Miß-
verständnis zu erklären '); das Privileg ist vielmehr gleich nach
der Gründung im Jahre 1120, vielleicht noch in demselben Jahre,
ausgestellt worden.
Dagegen sind die Gründe, die für die Entstehung des Teiles Il
vor dem Jahre 1178 angeführt werden, nicht stichhaltig. Die
herrschende Lehre stützt diese Ansicht darauf, daß schon in den
Gründungsprivilegien der 1178 gegründeten Städte Freiburg i. U.
1) Übrigens rechnet auch HEGEL, Städtewesen S. 152 damit, daß mög-
licherweise noch etwas mehr als die $$ 1—5 zur ursprünglichen Hand-
feste gehört.
2) Über diese Rechte vgl. unten 8.7 ff.
3) Auch HEYCK, a. a. O. S. 584 meint, $ 2 enthalte schon eine Um-
arbeitung, die der zweiten Periode der Freiburger Rechtsbildung angehört,
begründet aber seine Ansicht nicht näher,
4) Gegen MAURER, a. a. O. S. 187 vgl. HEGEL, a. a. O. S. 280.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 425
und Dießenhofen — oder wenigstens in dem Gründungsprivileg
der letzteren Stadt — Teil II benutzt worden sei’).
Die Gründungsurkunde von Freiburg i. U. ist uns nicht
erhalten. Wir besitzen bloß ein Privileg der beiden Grafen Hart-
mann von Kiburg aus dem Jahre 1249), in welchem sie ihren
Bürgern von Freiburg die in praesenti volumine verzeichneten
Rechte bestätigen, die ihnen Herzog Berthold (IV.) von Zähringen
in initio fundationis ville supradicte (also 1178) verliehen habe.
Und nun folgt allerdings ein wahres „Volumen“ von Einzel-
bestimmungen, das selbst bei dem großen Format der Fontes
rerum Bernensium über 12 Druckseiten füllt und das gesamte
alte Freiburger Stadtrecht um mehr als das Doppelte übertrifft.
In dieser Fülle von Rechtsstoff finden sich ganz versprengt ($$ 6,
31, 32, 40, 41, 50) einige Bestandteile von Teil II. Daß dies
Volumen nicht das ursprüngliche Gründungsprivileg darstellt, wird
heute wohl von niemandem bezweifelt. Es ist eine später, wahr-
scheinlich erst im Jahre 1249, zusammengestellte Kompilation
von Rechtssätzen, die meistens wohl schon vorher in Freiburg i. Ü.
gegolten haben. Ob überhaupt etwas aus dem Gründungsprivileg
Herzog Bertholds herrührt, ist nicht sicher. Am ehesten sind es
die SS 1 bis 8, die den Stadtherrn in der ersten Person reden
lassen, während er im weiteren Verlauf der Urkunde immer
nur dominus heißt, und die auch sonst sichtlich einen gewissen
einheitlichen Charakter tragen. Diese Paragraphen zeigen un-
verkennbare Benützung des Teiles I, also der ursprünglichen
Handfeste für Freiburg i. B. von 1120, enthalten dagegen (in $ 6)
von Teil II nur den $ 9, der die Beitragsleistungen der bürger-
lichen Gewerbe für die Romfahrt des Stadtherrn regelt. Ich
glaube nicht, daß man deshalb eine direkte Benutzung von Teil II
annehmen muß, sondern meine, daß hier sehr wohl eine alte,
auch in Teil II verwertete herzoglich zähringische Einzelurkunde
7 1) Vgl. Hevex, a. a. O. S. 584; HEGEL, a. a. 0. S. 284 f.; SCHWEIZER,
a. a. 0. 3. 230 ff.
2) Gedruckt bei GAurpp, Stadtrechte II. S. 82 ff., in den Fontes rer.
Bern. I., 281 3. 298 ff. und am besten zugleich mit einer modernfranzösischen,
«iner altfranzösischen und einer mittelhochdeutschen Übersetzung von E. LEHR,
La Handfeste de Fribourg dans l’Uechtland (Lausanne 1880). Ich zitiere
nach der letztgenannten Ausgabe.
426 Siegfried Rietschel
benutzt worden sein kann. Möglicherweise aber gehört der be-
treffende Paragraph überhaupt nicht zum ursprünglichen Bestand
des Gründungsprivilegs von 1178.
Auch der Versuch, aus der Handfeste von Flumet von 1228!)
das Gründungsprivileg von Freiburg i. Ü. zu erschließen, scheint
mir nicht geglückt*). Gewiß zeigt die auffallende Überein-
stimmung vieler Bestimmungen dieser Handfeste mit der späteren
‘ Handfeste von Freiburg i. Ü., daß Aymon von Faucigny bei der
Gründung der savoyischen Stadt Flumet alles das, was in seinem
Gründungsprivileg zähringisches Recht ist — und dazu gehöre
auch die Bestimmungen von Teil II mit Ausnahme der letzten
vier Paragraphen, $$ 12 bis 15 —, aus Freiburg i. Ü. entlehnt
hat. Aber wir können aus alledem nur schließen, daß im Jahre
1228 diese Rechtssätze in Freiburg i. Ü. bekannt waren, nich
aber, daß sie im Gründungsprivileg von 1178 gestanden haben.
Nicht anders steht es meines Erachtens mit der Benutzung
von Teil IT im Gründungsprivileg von Dießenhofen von 1178.
Auch dies Gründungsprivileg ist nicht im Original erhalten; man
nimmt aber allgemein an, daß es in die Dießenhofener Handfeste
von 1260 wörtlich als erster Bestandteil aufgenommen worden
ist. In dieser Handfeste von 1260°) erneuert und bestätigt Graf
Hartmann d. À. von Kiburg den Bürgern von Dießenhofen quss
dam constitutiones et iura subscripta, die sein Großvater Har-
mann 1178 bei der Gründung ihnen verliehen hat. Und nun
folgen (nach Genglers Einteilung) 21 Bestimmungen, die zım
Teil Bearbeitungen von Rechtssätzen aus Teil I und II der Hand-
feste von Freiburg i. B. sind.
Prüft man aber dies angebliche Gründungsprivileg näher, ®
erweist es sich mit absoluter Sicherheit als ein Konglomerat ver-
‚schiedenartiger Bestimmungen, das seine letzte Redaktion wahr-
scheinlich erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts erfahren hat,
jedenfalls im Jahre 1178 unmöglich entstanden sein kann. Schon
1) Gedruckt von CH. Le FORT in den Mémoires et documents publié
par la société d’histeire et d’arch&ologie de Genève XIX. (1877), p. 146 £
2) Über diese Benutzung vgl. LE FORT, a, a. O. p. 134 ff., ferner de
angeführten Schriften von HUBER, HEYCK, HEGEL und SCHWEIZER.
3) Gedruckt bei GENGLER, Codex iuris municipalis I. S. 762 f.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 497
die Formulierung des Satzes „Stadtluft macht frei“, die $ 17
bietet, ist im Jahre 1178 anderwärts noch durchaus unbekannt).
Wo fände sich aber eine Quelle des 12. Jahrhunderts, die den
Stadtrat als consilium bezeichnet, wie das tatsächlich in der
Dießenhofener Handfeste $$ 2, 14 der Fall ist? Daß wir es hier
nit keiner einheitlichen Urkunde zu tun haben, zeigt ferner der
Wechsel im Ausdruck. In einer Reihe von Paragraphen spricht
ler Stadtherr in der ersten Person (88 1, 3, 4, 6, 18), in an-
leren heißt er comes (88 15, 16, 21), ja an einer weiteren Stelle
vird er sogar vom Standpunkte der Bürger aus als dominus
ıoster bezeichnet. In einigen Teilen heißen die Bürger cives,
n anderen urbani; für die Stadt wechseln die Ausdrücke villa
nd urbs. Allerdings ist es nun möglich und sogar wahrschein-
ich, daß die 88 1, 3, 4, 6, 18, die den Stadtherrn in der ersten
’erson sprechen lassen, die ferner die Ansiedlung ausschließlich
illa und die Bürger ausschließlich cives nennen, aus dem Grün-
ungsprivileg stammen. Aber diese Paragraphen verraten zwar
eutlich die Anlehnung an Teil I der Freiburger Handfeste, haben
edoch mit Teil II nicht die geringsten Berührungspunkte; da-
egen stammt z. B. & 21, der den Stadtherrn comes und die
ınsiedlung urbs nennt, aus Teil Il.
Damit wird die Annahme, Teil II müsse vor 1178 entstanden
ein, hinfällig. Dagegen läßt sich aus dem Inhalte von Teil I
ntnehmen, daß er vor dem Jahr 1218, also vor dem Aussterben
er zähringischen Herzogsfamilie, entstanden sein muß, da der
tadtherr durchweg als dux bezeichnet wird”). Wir kämen also
uf die Entstehungszeit 1120 bis 1218. Eine engere Zeitgrenze
ieße sich nur gewinnen, wenn es gelänge, die Datierung von
‘eil III weiter hinaufzurücken. Wir haben uns also im Folgen-
en mit diesem Teil zu beschäftigen.
8 3.
Während wir Teil II als eine Erweiterung der ursprünglichen
Iandfeste charakterisieren können, steht es anders mit Teil III.
1) Vgl. die Belegstellen bei SCHÜTZE, Die Entstehung des Rechtssatzes:
tadtluft macht frei (Berlin 1903), S. 76 ff.
2) Darüber, daß mit dem dux bloß der zähringische Herzog gemeint
ein kann, vgl. HEYCK, a. a. 0. S. 584 f.
Vierteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte, III. 28
128 Siegfried Rietschel
Teil IH ist keine bloße Erweiterung, sondern eine selbständige,
offenbar in bürgerlichen Kreisen entstandene Rechtsaufzeichnung,
die nur äußerlich mit der erweiterten Handfeste verbunden ist.
Das zeigen einerseits die mehrfachen Wiederholungen, die Teil II
gegenüber den beiden ersten Teilen bietet, und auf die schon
MAURER und HEGEL aufmerksam gemacht haben; die $$ 4, 8 Satz 1,
10, 13, 15 der Handfeste (Teil I und ID) finden sich in etwa
erweiterter und veränderter Form in den $$ 35, 20, 42, 16, 24
von Teil III wieder. Diese Erscheinung läßt sich nur durch die
Annahme erklären, daß Teil III isoliert redigiert und später erst
mit den anderen Teilen verbunden ist.
Zu genau demselben Resultate führt eine Vergleichung von
Teil III mit dem Stadtrodel. Den Grundtext des Stadtrodel:
bildet Teil III oder ein ihm nahe verwandter Text!) Ab
gesehen von einer einzigen Umstellung zweier Paragraphen
(Teil III, 88 44, 45 = Stadtrodel 88 31, 29) und der Au
lassung von sieben Paragraphen ($$ 41, 50 bis 55) bietet der
Stadtrodel die Bestimmungen von Teil III in genau derselben
Reihenfolge. Nur hat der Verfasser des Stadtrodels den Teil MI
in zwei Hälften geteilt und bringt dieselben in umgekehrter
Anordnung (zuerst Teil III, $$ 34 bis 49, dann $$ 16 bis 33),
was MAURER mit vollem Recht daraus erklärt hat, daß der
Verfasser des Stadtrodels eine auf zwei Blättern geschriebene
Vorlage benutzte und beide Blätter miteinander vertauschte.
Diese Vorlage hat der Verfasser des Stadtrodels mit einer au
dem Anfang des Gründungsprivilegs hergestellten Einleitung ver-
sehen, in der fälschlich Herzog Berthold statt seines Bruder
Konrad als der Gründer angeführt wird. Ferner hat er an ver
schiedenen Stellen der Urkunde Sätze eingeschoben, die teils
aus der erweiterten Handfeste entnommen sind, teils neue Be
stimmungen enthalten; unter den letzteren befindet sich ein
längerer Zolltarif. Am Schluß sind (nach der gebräuchlichen
Zählung) 15 neue Paragraphen angehängt worden; dafür sind
die $$ 41 und 50 bis 55 des Teiles III in Wegfall gekommen.
Sowohl der als Grundtext dienende Teil III (bezw. ein ihm ver-
1) Vgl. dazu MAURER, à. a. O. S. 184.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 499
andter Text) wie die aus Teil I und II stammenden Einschiebsel
ıben recht erhebliche textliche Änderungen erfahren.
Auch diese ganze Art der Zusammenfügung von Teil III mit
n beiden ersten Teilen der Handfeste wird nur dadurch ver-
andlich, daß dem Bearbeiter Teil III oder eine diesem Teil III
mliche Urkunde als selbständige Aufzeichnung, nicht als Teil
:r Handfeste vorgelegen hat.
Aber wir können noch mehr feststellen, nämlich daß nicht der
ennenbacher Text von Teil III die unmittelbare Vorlage des Stadt-
dels gebildet hat, sondern daß es einen Text gibt, der inhaltlich
vischen beiden steht und entweder das Zwischenglied zwischen
iden Texten darstellt oder vielleicht auch ihre gemeinsame
orlage getreuer reproduziert. Es ist eine in Bremgarten im
argau aufbewahrte, jeder urkundlichen Formeln entbehrende
echtsaufzeichnung, die nach den neuesten Untersuchungen Paut,
SHWEIZERS etwa in das Jahr 1258 gehört'). Dieser Brem-
ırtener Text, der in seiner ursprünglichen Form auf Bremgarten
ır nicht Bezug nimmt und erst in einer 1309 datierten Be-
atigung in ein Privileg der habsburgischen Herzoge für Brem-
ırten verwandelt worden ist, stellt die Verbindung zwischen
ennenbacher Text und Stadtrodel her. Mit dem Tennenbacher
ext des Teiles III stimmt der Bremgartener Text in der Reihen-
lge der Paragraphen und, von verhältnismäßig kleinen Ab-
eichungen abgesehen, auch in der Textgestaltung überein; er
thält auch die im Stadtrodel fehlenden $$ 41, 50—55. Ferner
hit die Einleitung des Stadtrodels nebst den meisten Zusätzen
sselben. Aber — und das kann kein Zufall sein — an genau
enselben Stellen, an denen sie im Stadtrodel stehen, sind
ı Bremgartener Text die im Tennenbacher Text von Teil III
hlenden 88 2 (ohne Satz 1), 5, 7, 8 (ohne Satz 1), 11, 12, 14 der
sprünglichen Handfeste, sowie der Zolltarif mit seinen Neben-
1) Vgl SCHWEIZER, a. a.0. S.236 ff. Der Bremgartener Text ist nur
sofern gedruckt, als in dem sehr fehlerhaften Abdruck der Bestätigung von
09 von PL. WEISSENBACH bei Kurz und WEISSENBACH, Beiträge zur
schichte und Literatur I. (Aarau 1846), S. 239 ff. die Zusätze, die diese
stätigung dem alten Text gegenüber enthält, eingeklammert sind. Eine
ue Ausgabe wird vorbereitet.
430 Siegfried Rietschel
bestimmungen eingefügt, und zwar mit Ausnahme des $ 5 im
wesentlichen in derselben Textgestaltung, die der Stadtrodel bietet.
Ich weiß für diese Erscheinung nur zwei Erklärungen. Die
eine, scheinbar nächstliegende ist die, daß der Bremgartener Test
die Vorlage des Stadtrodels darstellt, aber selbst auf dem Tenner-
bacher Text beruht, also das Mittelglied zwischen beiden bildet.
Aber diese Erklärung stößt auf Schwierigkeiten, die m. E. die
sanze Hypothese unannehmbar machen. Einerseits müßte man
annehmen, der Redaktor des Bremgartener Textes habe zum
zweiten Male aus derselben Urkunde, der alten Handfeste, ge
schöpft, die schon sein Vorgänger, der Redaktor des Tenne-
bacher Textes, ausgebeutet hat. Andererseits aber — und da
ist noch wichtiger — müßte man annehmen, der Verfasser des
Stadtrodels habe nicht nur eigene Zusätze gemacht, sondern auch
aus seiner Vorlage sieben Paragraphen weggelassen, für deren
Beseitigung auch nicht der geringste Grund ausfindig gemacht
werden kann.
So möchte ich eine andere Erklärung vorschlagen, die alle
Schwierigkeiten auf die einfachste Weise löst. Ich nehme un-
gekehrt an, daß der Tennenbacher Text, den wir ja nur in der
Abschrift von 1341 besitzen, ein Auszug aus dem Bren-
gartener Text ist!) Der Mann, der den Bremgartener Text mit
der Handfeste zu einer einheitlichen Urkunde verband, merkte,
daß sein Text gegenüber der älteren Handfeste Wiederholungen
bot, und ließ dieselben deshalb, soweit sie ihm auffielen, weg,
wobei ihm allerdings einige Wiederholungen doch entgingen.
Ferner hat er die Zollbestimmungen weggelassen, die ja doch
nur etwas Aktuelles, nicht bleibendes Recht darstellten. Der
Bremgartener Text und der Stadtrodel aber stehen wahrscheinlich
nicht im Verhältnis von Mutter und Tochter, sondern von Schwe-
stern; sie gehen auf einen gemeinsamen Urtext zurück, der
weder die Zusätze des Stadtrodels noch die im Stadtrodel
fehlenden sieben Paragraphen der Bremgarten-Tennenbacher
Texte enthielt. Der Bremgartener (und durch seine Vermittlung
1) Dafür spricht auch die inhaltliche Vergleichung, die zeigt, daß in
den meisten Fällen, in denen beide Texte auseinandergehen, der Bremgartener
Text offenbar die ursprünglichere Lesart bietet.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 431
ler Tennenbacher Text) hat den Wortlaut dieses Urtextes, wie
»s scheint, treu bewahrt und nur sieben Paragraphen neu hinzu-
sefügt, während der Stadtrodel sowohl in der Textgestaltung wie
m der Anbringung von Zusätzen viel radikaler vorging'). |
Für das Verhältnis der drei Texte ist es nun wichtig,
zu erfahren, wie weit sie in späteren Rechtsaufzeich-
nungen benutzt sind. Bei diesen Untersuchungen müssen wir
allerdings einige Vorsicht walten lassen. Die Entlehnungen aus
der älteren Handfeste, die Zusätze, die sich in ihnen finden, der
unmotivierte Wechsel in den Ausdrücken?) zeigen uns, wofür ja
auch von vornherein die Wahrscheinlichkeit spricht, daß alle diese
Texte nichts völlig Neues darstellen, sondern manche ältere Einzel-
bestimmung in sich aufgenommen haben. Wenn wir nun in einer
anderen Rechtsaufzeichnung nur einen einzelnen Rechtssatz finden,
der mit einem Paragraphen eines dieser Texte inhaltlich über-
einstimmt, so können wir noch nicht auf eine Benutzung des
betreffenden Textes schließen, sondern werden lieber annehmen,
daß beide aus ein und derselben älteren Quelle geschöpft haben.
So findet sich z. B. der ursprünglich sicherlich isoliert vorhandene
Zolltarif in stark veränderter Fassung in den Handfesten von
Flumet (1228 88 74, 75) und von Freiburg i. Ü. (1249 88 86,
87); die wohl auf ein altes zähringisches Privileg zurückgehende
Bestimmung über die Wiedergewinnung der Gnade des Stadt-
herrn (Bremgarten $ 24, Tennenbach $ 32, Stadtrodel 8 62) tritt
uns in der Bremgartener Formulierung auch in den älteren Be-
standteilen der Handfeste von Dießenhofen (1260 $ 18) und in
der Handfeste von Bern (Ende des 13. Jahrhunderts, $ 39) ent-
gegen; endlich kehrt einer der selbständigen Zusätze des Stadt-
rodels, der $ 76, in etwas verschiedener Form in den Handfesten
von Flumet (1228 8 32) Freiburg i. Ü. (1249 8 107) und Dießen-
hofen (1260 8 14) wieder. Sehen wir von diesen einzelnen Über-
einstimmungen ab, so finden wir, daß die Handfesten von Flu-
1) Der einzige, der sich mit dem Bremgartener Stadtrecht eingehender
beschäftigt hat, ist PAUL SCHWEIZER. Aber auch er hat die Bedeutung
dieser Urkunde nicht voll erkannt.
2) Wir finden abwechselnd burgenses und cives, ferner civitas, urbs,
villa als Synonyma gebraucht.
439 Siegfried Rietschel
met (1228), Dießenhofen (1260) und Kenzingen (1283):
keinen der drei Texte kennen. Ob die Handfeste von Frei-
burg i. Ü. (1249) einen der drei Texte benutzt hat und welchen
von ihnen, ist bei der starken Umarbeitung, in der sie das ältere
Recht bietet, nicht festzustellen. Im übrigen kommen wir zu
folgendem Resultate:
Der Stadtrodel bildet die Grundlage des Freiburger
Stadtrechtsentwurfes von 1275?) und damit der späteren Stadt-
rechtskodifikationen von Freiburg i. B. Außerhalb Freiburgs wird
er zuerst zitiert und neben der Handfeste benutzt von der Hand-
feste von Bern*), die nach den überzeugenden Untersuchungen
Werris‘) eine Fälschung des ausgehenden 13. Jahrhunderts ist.
Der Bremgartener Text liegt sämtlichen Rechten der
Bremgartener Stadtrechtsfamilie zugrunde, so den Handfesten
von Aarau (vor 1309)°), Brugg (vor 1309)°) und Sursee
(14. Jahrhundert)’). Er liefert ferner den Grundstock der Zu-
sätze, die in der Burgdorfer Handfeste (1273)°) zu dem ur-
sprünglichen, aus Freiburg i. Ü. stammenden Bestand gemacht
worden sind. Die 88 78, 134, 186, 187, 188, 189, 190, 191,
192, 193, 194, 195 der Burgdorfer Handfeste zeigen entschieden
mit dem Bremgartener Text eine größere Verwandtschaft als mit dem
Tennenbacher Text oder gar dem Stadtrodel. Der Bremgartener
Text bildet aber endlich auch den Grundtext der Stadtrechts-
1) Gedruckt in der Freiburger Zeitschrift der Gesellschaft für Geschichts-
kunde V. S. 237 ff. und bei MAURER, a. a. O. S. 177 ff., wo auch die Ver
wandtschaft mit der Freiburger Handfeste nachgewiesen wird.
2) Gedruckt bei SCHREIBER, Urkundenbuch der Stadt Freiburg i B. L
S. 74 ff. Über die Verwandtschaft mit dem Stadtrodel vgl. GENGLER, Deutsche
Stadtrechte S. 133 ff.
3) Gedruckt von WELTt in den Rechtsquellen des Kantons Bern, Erster
Teil: Stadtrechte, Erster Band: Das Stadtrecht von Bern I. S. 8 ff.
4) Vel. WELTI, a. a. O. S. IX ff.
5) Gedruckt von W. MERZ in den Rechtsquellen des Kantons Aargat,
Erster Teil: Stadtrechte I. S. 17 ff.
6) Gedruckt von W. Merz, ebenda II. S. 16 ff.
7) Gedrackt und besprochen von v. LIEBENAU in der Zeitschrift für
schweizer. Recht, N. F. II. (1883), S. 328 ff.
8) Gedruckt bei Gaurr, Deutsche Stadtrechte II. S. 120 ff. und Fontes
rer. Bern. III. 58.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 433
ımilie von Colmar, in der Breisacher und Freiburger Recht in
igenartiger Weise miteinander verschmolzen sind, und zu der das
eutsche Stadtrecht von Colmar (1278)') und die lateinischen
tadtrechte von Schlettstadt?) und Neuenburg i. B.*) ge-
ören. Das beweist einerseits die Textgestaltung, die am besten
n Schlettstadter Stadtrecht erkennbar ist und die sich am meisten
er des Bremgartener Textes annähert*); das beweist aber auch
ie Anordnung der einzelnen Paragraphen, die in Übereinstim-
ıung mit dem Bremgartener Text sowohl an den entsprechenden
tellen die Einschiebsel zeigt, die im Tennenbacher Text fehlen,
ie die Paragraphen, die dem Stadtrodel unbekannt sind).
Und der Tennenbacher Text? Welche spätere Stadtrechts-
ufzeichnung hat ihn benutzt? Die Antwort fällt vollkommen
erneinend aus. Außer jener Abschrift im Tennenbacher Lager-
uch von 1341 läßt uns keine Quelle eine Benutzung dieses
'extes alınen; keine Spur davon, daß er je praktische Geltung
ehabt habe, ist vorhanden. Da ist denn wohl die Vermutung
m Platze, daß dieser Tennenbacher Text, der die 8$ 16—55
er heutigen Ausgabe des Freiburger Stadtrechts umfaßt, über-
1) Gedruckt von FRANZ GFRÔRER, Die Entstehung der Reichsstädte
wischen Basel und Strassburg unter Friedrich H. Das Colmarer Recht
’rogr. von Rappoltsweiler 1886), S. 12 ff. Bloße Kopien dieses deutschen
tadtrechts sind das Colmarer Stadtrecht von 1293 und das Recht von
ünster i. E. von 1354; vgl. GENGLER, Deutsche Stadtrechte S. 74 f., 304.
as bei GaurPr, Deutsche Stadtrechte II. S. 175 ff. abgedruckte lateinische
tadtrecht von Dattenried im Sundgau von 1858 beruht nicht, wie GAUPr,
a. O. S. 172f. annimmt, auf dem ursprünglichen lateinischen Text des
olmarer Stadtrechts, sondern ist, wie eine Vergleichung mit dem Freiburger
tadtrecht und den Stadtrechten von Schlettstadt und Neuenburg zeigt, eine
teinische Übersetzung der deutschen Handfeste.
2) Gedruckt. von GÉNY, Schlettstadter Stadtrechte I. (Heidelberg 1902),
9.
3) Gedruckt von A. SCHULTE in der Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins,
.F. I. S. 102 ff.
4) Vgl. z. B. $ 8: altercaverint statt altercati fuerint, reversi statt
gressi etc. Daß nicht der Stadtrodel zugrunde gelegen hat, lehrt fast
der Paragraph.
5) Vgl. dazu die Tabelle am Schluß, besonders in den ersten Paragraphen.
29 des Colmarer Rechts ($ 50 des Schlettstadter Stadtrechte) entspricht
remgarten $ 40, Tennenbach $ 41, fehlt aber im Stadtrodel.
434 Siegfried Rietschel
haupt nie praktische Bedeutung gehabt hat, sondern lediglich
ein Werk des Klosterschreibers von 1341 ist, und daß dieser
Klosterschreiber allein auch schuld ist an der eigentümlichen Ein-
schiebung dieses Textes in die alte Handfeste, die das Tenner-
bacher Lagerbuch bietet. Als Vorlagen hatte er eine Abschrift
der erweiterten Handfeste (Teil I und II) und eine Abschrift des
Bremgartener Textes. Er hat in seiner Kopie die beiden in der
Weise vereinigt, daß er den Bremgartener Text in die Handfeste
einschob ; dabei ließ er den zu seiner Zeit veralteten Zolltarif
und diejenigen Bestimmungen des Bremgartener Textes weg, die
er als bloße Wiederholungen von Bestimmungen der Handfeste
erkannte. Die geringfügigen Varianten des Tennenbacher Textes
gegenüber dem Bremgartener Text dürften meist auf Rechnung
dieses Abschreibers kommen; teils sind es Schreibfehler, teils be-
langlose Änderungen in Ausdruck und Stil.
S 4.
Können wir demnach den Tennenbacher Text als einen spä-
teren Auszug aus dem Bremgartener Text aus unserer weiteren Be-
trachtung ausscheiden, so haben wir uns doch noch näher mit dem
Bremgartener Text und dem Stadtrodel zu beschäftigen.
Wir müssen feststellen, wann und wie diese Texte entstanden sind.
Zunächst besteht wohl darüber kein Zweifel, daß sie beide
bürgerlicher Provenienz sind, und zwar sind sie offenbar
in Freiburg i. B. selbst veranstaltete offizielle Zusammenstellungen
des geltenden Rechtes. Für den Stadtrodel wird das allgemein
angenommen; es gilt aber auch für den Bremgartener Text, der
sonst schwerlich in so verschiedenartige Tochterrechte Eingang
gefunden hätte.
Was die Datierung betrifft, so kann ich mich hinsichtlich
des Stadtrodels nur vollständig den Ausführungen Werris')
anschließen, der nachgewiesen hat, daß der Stadtrodel unmöglich
vor 1218 entstanden sein kann und frühestens in die Mitte des
13. Jahrhunderts fällt?). Der einzige Grund, der bisher für die
1) Vgl. WELT, a. a. O. S. ILff.
2) Während des Druckes dieser Arbeit teilte mir Herr Stadtbibliothekar
Dr. Albert in Freiburg i. Br. mit, daß nach seinen sowohl das paläographische
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 435
Entstehung vor 1218 angeführt wurde, die Benutzung in der 1218
datierten Berner Handfeste, ist heute, nachdem WELT: die Berner
Handfeste als Fälschung des ausgehenden 13. Jahrhunderts nach-
gewiesen hat, hinfällig geworden. Den terminus ad quem für die
Entstehung bietet die Benutzung im Stadtrechtsentwurf von 1275.
Aber auch für den Bremgartener Text, sowie für den
aus der Vergleichung beider zu erschließenden Urtext komme ich
zu dem Ergebnis, daß sie zwar vor das Jahr 1258, aber erst in
die Zeit nach 1218 fallen, wahrscheinlich in die 30er oder 40er
Jahre des 13. Jahrhunderts. Ich will nicht einmal besonderen Wert
darauf legen, daß sich Bestimmungen darin finden, die für den
Anfang des 13. oder gar für das 12. Jahrhundert geradezu Unika
wären, so z. B. gleich die erste Bestimmung $ 1 (Tennenbach
$ 16), die das Vorhandensein des Ausbürgerinstituts voraussetzt,
dessen sonst keine Quelle vor 1231 gedenkt'), ferner den be-
rühmten Satz 8 38 (Tennenbach $ 40): Qui proprium non obli-
gatum sed liberum valens marcham unam in civitate habuerit
burgensis est“, der nach Untersuchungen, die ich bald veröffent-
lichen zu können hoffe, in so früher Zeit ganz unmöglich ist.
Entscheidend sind für mich zwei Gesichtspunkte.
Einmal wird der Stadtherr in sämtlichen Texten ausnahms-
los dominus oder dominus civitatis genannt. Wäre noch der
zähringische Herzog Stadtherr gewesen, man hätte ihm sicher
den Titel dux nicht vorenthalten. Dagegen ist dominus durchaus
der entsprechende Titel für die Nachfolger der Zähringer aus
dem Hause der Uracher Grafen, die sich ja zunächst meist nicht
Grafen, sondern bloß Herren von Freiburg genannt haben”).
wie das ortsgeschichtliche Material eingehend verwertenden Untersuchungen
der Stadtrodel in engstem Zusammenhang mit den Verfassungsumwälzungen
des Jahres 1248 steht.
1) Der betreffende Paragraph setzt die Möglichkeit eines ius civile habere
ohne habitare in civitate voraus. Über die Ausbürger vgl. W. G. ScHMipT,
Die Pfalbürger in der Zeitschr. f. Kulturgeschichte IX. (1902), S. 241 ff.
2) In den von ihnen ausgestellten Urkunden nennen sich bis 1239 die
Uracher nur einmal comes von Freiburg (Fürstenberg. UB. I. 361), dagegen
zweimal dominus castri Freiburg (ebenda I. 180, 192) und siebenmal dominus
von Freiburg (ebenda I. 271, 362, 371, 385, 394, 396, 399). Erst später wird
der Grafentitel häufiger. |
436 Siegfried Rietschel
Noch wichtiger ist eine Stelle in $ 21 (Tennenbach & 29).
Dort heißt es, daß der mit der Anfangsklage Belangte nach seinen
Gewähren per comitiam nostram suchen soll. Unter den Zäh-
ringern wäre dieser Ausdruck absolut unmöglich; weder der Stadt-
herr noch die Bürger konnten von comitia nostra sprechen. Dem
Freiburg war nicht etwa ein Bestandteil einer Grafschaft der
zähringischen Herzoge, sondern lag auf zähringischem Allod und
war von der in anderen Händen befindlichen Breisgaugrafschaft
eximiert!). Erst unter den Urachern hat sich im Laufe de
13. Jahrhunderts der Name der Grafschaft Freiburg für das aus
der zähringischen Erbschaft herrührende Gebiet ausgebildet.
85.
Fassen wir die Ergebnisse der vorangegangenen Uhnter-
suchung noch einmal zusammen, so erhalten wir folgendes Bild
der Freiburger Rechtsentwicklung:
Freiburg i. B. hat im Jahre 1120 oder kurz darauf von seinem
Gründer, dem Zähringer Konrad, eine Handfeste erhalten. die
uns im Tennenbacher Lagerbuch überliefert ist (Einleitung, Schluß
und 88 1—5, event. auch 6, 7, außer $ 2 Satz 2 und 3), und die,
wie es scheint, in der Gründungsurkunde von Dießenhofen 1178,
vielleicht auch im gleichzeitigen Stiftungsbrief für Freiburg i. L.
benutzt wurde.
In der Zeit bis 1218 hat diese Handfeste eine Reihe von
Zusätzen erfahren ($ 2 Satz 2 und 3, $$ 6 bezw. 8—15).
Die so erweiterte Handfeste hat in den Stadtrechten von Flumet
(1228), Kenzingen (1249), Dießenhofen (1260) und Bern (Fäl-
schung aus dem Ende des 13. Jahrhunderts) Verwertung gefur-
den. Auch sie bietet der Tennenbacher Codex.
In der Zeit nach 1218 entstand unter Verwertung einzelner
Bestimmungen dieser erweiterten Handfeste, sowie sonstiger älterer
Einzelrechtssätze in bürgerlichen Kreisen in Freiburg i. B.
eine umfangreichere Rechtsaufzeichnung, die uns in der
1) Vgl. RıEZLER, Geschichte des fürstlichen Hauses Fürstenberg und
seiner Ahnen (Tübingen 1883), S. 41f.; HEYUK, a. a. O. S. 491 ff.; FEHR,
Die Entstehung der Landeshoheit im Breisgau (Leipzig 1904), S. 121,
17f., 55 ff.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 437
ursprünglichen Fassung nicht erhalten ist, aber wohl aus den
späteren Quellen erschlossen werden kann. Auf sie gehen die
beiden offiziellen Bearbeitungen des Freiburger Stadtrechts zurück,
die vor dem deutschen Stadtrechtsentwurf von 1275 in der Stadt
Freiburg i. B. entstanden sind.
Die eine ist uns erhalten in einer etwa 1258 entstandenen
Abschrift, die das Bremgartener Stadtarchiv aufbewahrt (sogen.
Bremgartener Text). Sie hat das Original im ganzen treu
bewahrt und nur um einige Paragraphen vermehrt. Diese Fas-
sung ist den meisten Tochterrechten zugrunde gelegt worden,
nicht bloß denen der Bremgartener Stadtrechtsfamilie, sondern
auch dem Stadtrecht von Colmar, das wieder für zahlreiche
Rechte das Mutterrecht geworden ist, und der Handfeste von
Burgdorf von 1273. Das im Tennenbacher Lagerbuch von 1341
in die Handfeste eingeschobene umfangreiche Stück (Teil III) ist
eine etwas gekürzte, rein private Abschrift dieser Bearbeitung.
In Freiburg i. B. selbst ist sie offenbar bald, jedenfalls schon
einige Zeit vor 1275, durch die andere Bearbeitung der ursprüng-
lichen Rechtsaufzeichnung verdrängt worden, den sogen. Stadt-
rodel. Dieser Stadtrodel hat auch Zusätze aufgenommen, aber
andere als der Bremgartener Text, außerdem aber das Ganze durch
eine aus der ältesten Handfeste hergerichtete Einleitung in die
Form eines stadtherrlichen Privilegs gebracht. Er hat ferner,
wohl infolge eines Versehens, die beiden Hälften des Textes um-
gestellt, endlich hat er die einzelnen Bestimmungen einer starken
Umarbeitung unterzogen. Erhalten ist er uns in der vom Frei-
burger Stadtarchiv aufbewahrten Originalhandschrift.
Dieser Stadtrodel ist die Grundlage für die späteren deutschen
Stadtrechtskodifikationen Freiburgs geworden ; außerhalb Freiburgs
scheint er zuerst am Ende des 13. Jahrhunderts in der Handfeste
von Bern Verwendung gefunden zu haben.
Das Bild, das wir auf diese Weise von der Freiburger
Rechtsentwicklung gewonnen haben, läßt sich viel leichter
in den geschichtlichen Rahmen einpassen als das der herrschen-
den Lehre. Nach der letzteren hat sich in der Zeit von 1120
bis 1218 in dem damals völlig unbedeutenden, kaum in den
Quellen erwähnten Schwarzwaldörtchen eine Rechtsbildung und
438 Siegfried Rietschel
Rechtsaufzeichnung vollzogen, die alles hinter sich läßt, was uns
sonst aus dieser Zeit bekannt ist. Und auf diese überproduk-
tive Periode läßt dann die herrschende Lehre bis 1275 eine Zeit
völliger Stagnation absoluter Sterilität folgen. Wir haben gezeigt,
daß die Entwicklung eine andere gewesen ist, und daß auch in
Freiburg i. B. das 13. Jahrhundert das eigentliche Jahrhundert
bürgerlicher Rechtsbildung und Rechtsaufzeichnung ist.
Unsere Untersuchungen aber geben uns auch neue Anhalts-
punkte für die Kritik des überlieferten Textes. Daß
wir im Tennenbacher Text für die Handfeste selbst, auch in ihrer
erweiterten Gestalt, die ursprüngliche Textform haben, ist nicht
zu bezweifeln. Anders steht es mit Teil II des Textes, der
bürgerlichen Rechtsaufzeichnung. Hier gilt es nicht nur, die wohl
allein durch einen Klosterschreiber des 14. Jahrhunderts vollzogene,
jedenfalls absolut unorganische Verbindung der beiden Rechts-
quellen zu lösen; auch dem Text des Tennenbacher Codes
selbst können wir eine entscheidende Bedeutung nicht mehr bei-
legen. Als textkritisches Material mag diese Abschrift eines sp3-
teren Klosterschreibers neben den anderen abgeleiteten Quellen,
insbesondere den Handfesten von Schlettstadt, Neuenburg und
Burgdorf, Verwendung finden. Als Grundtext aber ist für eine
Ausgabe des älteren Freiburger Rechtes die Bremgartener Auf-
zeichnung von ca. 1258 zu verwenden, die bisher als einzige
unter allen älteren Rechtsaufzeichnungen der Freiburger Stadt-
rechtsfamilie eine kritische Ausgabe hat entbehren müssen !).
1) Da demnächst eine neue Ausgabe des Bremgartener Textes zu er
warten ist und dieselbe voraussichtlich auch statt der völlig sinnwidrigen
Paragrapheneinteilung der bisherigen Ausgabe eine neue bringen wird, hal
ich meinen Plan, eine neue kritische Ausgabe des Freiburger Stadtrechts als
Anhang zu bringen, vorläufig verschoben. Da die Konkordanztabelle von
PAUL SCHWEIZER, à. a. O. S. 250 ff. darunter leidet, daß sie den ungetrennten
Tennenbacher Text zugrunde legt und auf das Recht von Burgdorf, sowk
auf die Colmarer Stadtrechtsfamilie nicht eingeht, habe ich am Schluß einen Er-
satz dafür zu bieten versucht. Soweit die ältere Handfeste und ihre Benutzung
in den späteren Rechten in Frage kommt, reicht SCHWEIZERS Tabelle aus.
Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau. 439
Vergleichende Übersicht der wichtigsten Rechte der
Freiburger Stadtrechtsfamilie.
Mediävalziffern (Spalte I und II außer I, 89, ferner IX, 35) bedeuten
Zugehörigkeit zur Stadtrodelfamilie, die übrigen Ziffern (Spalte III bis X
außer IX, 85, ferner I, 39) zur Bremgartener Textgruppe.
Runde Klammern ( ) bedeuten, daß die betreffende Bestimmung der Vor-
lage gegenüber stark verändert ist.
Eckige Klammern [ ] bezeichnen in Spalte X die alte Freiburger Handfeste,
in Spalte I, daß die betreffende Bestimmung (39) aus einer älteren Urkunde
entlehnt ist.
Die in Spalte IX in doppelte Klammern [( )] gesetzten Bestimmungen
der Burgdorfer Handfeste stammen aus der Handfeste von Freiburg i. Ü.
. II. IV. V. VI.
Brem- Col-
rodel ||garten Aarau | Sursee mar
36 | 1 1 14 . . . 16
(34b)| 37 | 2 2/8 15 4 9 |(28/80)| [(95)] | 17
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| 51 | 56 63 79 | 54
| 52 | 67 190 | 55a
58 | 68 | 55b
Miszellen.
Le traité de commerce franco-anglais de 1786, à pr
pos d’une publication r6cente‘).
Par
M. P. Muret, Agrégé d'histoire.
M. F. Dumas vient d'extraire d'un ouvrage en préparation sur le
relations commerciales de la France et de l’Angleterre aux XVII: @
XVIII: siècles, et de publier à part une étude consacrée au traité de
commerce de 1786. La littérature historique française sur ce sujet
était déjà abondante. Il intéresse en effet, à la fois, les historiens
diplomatiques pour qui le rapprochement franco-anglais après la guerre
d'Amérique constitue un des faits les plus importants et les moins
expliqués de notre histoire du XVIIIe siècle, les historiens économiques
qui considèrent avec raison que le traité de 1786 ouvrit une ère nouvelle
dans l'industrie française et modifia radicalement ses conditions de
production et de vente, ceux des doctrines et des idées qui ne sauraient
se désintéresser de la première application pratique des idées libre-
échangistes professées eu France et en Angleterre au XVIIIe siècle.
Si l’on tient compte en outre des discussions qui eurent lieu sur les
conséquences du traité entre les libre-échangistes et leurs adversaires,
et de l’attrait que présentent pour les historiens les questions longuement
débattues, on comprendra que M. Dumas ait eu d'assez nombreux
prédécesseurs. Je voudrais brièvement marquer quel était l’état de la
question avant la publication de son livre, ce qui me permettra de
mieux dégager ce qu'il a trouvé de nouveau, et quels sont les points
qui après son étude, restent encore iusuffisamment élucidés.
* *
*
On sait quelles critiques passionnées accueillirent en France le
traité de 1786. Jusqu'à la Révolution, les Français subirent trop
vivement et trop directement le contre-coup des conditions écon-
miques nouvelles qu'il établissait pour le juger avec équité. Il semble
cependant, que dès la fin de l'Ancien régime, l'opinion publique sit
revenue de ses préventions contre le traité. Si l’on en juge par le
rapport de Goudard?) au nom du Comité d'agriculture et de commert,
1) F. Dumas, Etude sur le traité de commerce de 1786 entre la Fraxt
et l'Angleterre. Toulouse Privat 1904. In 8°. 197 p.
2) Cf. Dumas, op. cit. p. 186 et 187.
M. P. Muret: Le traité de commerce franco-anglais de 1786 etc. 443
par le vote de l’Assemblée Constituante qui en fut la conséquence,
n'était plus considéré à cette époque comme une œuvre néfaste aux
-érêts du pays, où tout au moins on était capable d’en peser les
antages à côté des inconvénients. Il fallut toutefois pour qu'on
ppréciat avec impartialité et critique le recul du passé, et les douze
nées de prohibition qui suivirent sa dénonciation et qui en firent aux
ux même des hommes de la Restauration un évènement historique.
En 1826 le chancelier Pasquier declara à la Chambre des pairs
jue l'accord de 1786 avait été un des nombreux bienfaits dont la
rance était redevable à Louis XVI, parcequ'avant lui, elle ne con-
uüssait que le régime des prohibitions et qu'à partir de cette époque,
le avait véritablement commencé à suivre la bonne route“). C'était
une opinion un peu tranchante et dogmatique. Depuis les historiens
1 traité ont fait des réserves. Ils se sont expliqués avec plus de
ıances et de critique. Mais, en gros, ils ont presque tous souserit
ı jugement de Pasquier.
ANISSON DUPÉRON dans un court article paru dans le Journal des
wnomistes en 1847?) et intitulé „Essai sur le traité de commerce de
éthuen sur celui et de 1786 dans leurs rapports avec la liberté com-
ciale“ présenta un véritable plaidoyer en faveur du traité, et conclut
je les conséquences mauvaises qu'on lui avait attribuées à la fin de
ncien Regime provenaient du défaut de prévoyance de ceux qui
aient été chargés de l'appliquer. Mais son étude reste superficielle,
ı n’y trouve aucune allusion aux documents des Affaires Etrangères,
aux documents anglais.
La première histoire critique du traité de 1786 documentée sur
8 pièces diplomatiques et des témoignages contemporains est le
récis hisiorique et économique du traité de commerce entre la France
la Grande Bretagne signé à Versailles le 26 Septembre 1786“ de
8 DE BUTENVAL publié en 18695). His DE BUTENVAL formulait des le
but de son livre les quatre propositions suivantes qu'il se proposait
démontrer: 1° Le traité de 1786 n’a été en réalité qu’un corollaire
comme une annexe du traité de 1783. 2° Les traités de 1783 et
1786 étaient l’un et l’autre conformes à la politique traditionnelle
la France. 3° L'opinion en acceptant sans contrôle des assertions
stées tantôt par des préjugés, tantôt par des intérêts privés, très différents
l'intérêt public, s’est égarée et a exagéré ou méconnu les effets de
traité soit sur le développement de notre industrie, soit sur le
yuvement de notre commerce avec l'Angleterre. 4” Ces effets quels
’ils soient, ont été dominés par des conjonctures ou des évènements
mplètement indépendants des prévisions et de la responsabilité des
goeiateurst). L'ouvrage de BUTENVAL conserve aujourd’hui de la
1) Cf. Dumas, op. cit. p. 192.
2) Journal des Economistes T. 17, p. 1 et sq.
3) His DE BUTENVAL, Precis historique et économique du traité de com-
rce entre la France et la grande Bretagne signé à Versailles le 26 Sep-
ndre 1786. Paris 1869. In 8°.
4) His DE BUTENVAL, op. cit. p. 10.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III, 29
444 M. P. Muret: Miszelle.
valeur. Son exposé des négociations est clair et méthodique. Sa
troisième et sa quatrième parties à côté d’assertions inexactes et
reproduites d'ailleurs par les historiens postérieurs jusqu'à M. Dums,
comme le mauvais accueil que reçut le traité en Angleterre!), oon-
tiennent des analyses historiques assez pénétrantes. Pour la première
fois il a étudié d'un peu près, les représentations des Chambres de
commerce françaises contre le traité, et en particulier les observations
de la Chambre de commerce de Normandie et la réponse qu’y fit Dupont
de Nemours?). Il a dégagé non sans critique les circonstances défs-
vorables qui faussèrent l'application du traité en France. Mais ses
deux premières parties sur les origines de l'accord de 1786 sont in-
suffisantes. Il ignore en outre complètement les documents anglais
Enfin on sent d’un bout à l’autre de l’ouvrage une partialité trop évidente
pour les idées libre — échangistes qui lui donne les allures d’un plaidoyer
juridique, plutôt que d’une étude historique critique tenant compte de
la complexité des questions *).
Quelques années après BUTENVAL, en 1873, M. SEGUR-DUPEYRON reprit
le sujet dans son , Histoire des négociations commerciales et maritime
de la France aux XVIIe et XV Ille siècles, considérées dans leures rapports
avec la politique générale“ 4), Il consacra presque tout son troisième
volume au traité de 1786, l'étudiant d'abord sous forme de quatre
dissertations séparées), puis dans un chapitre d’ensemble®). Son
livre présente de la confusion. Il est trop charge de détails et de
citations. Les idées générales se dégagent mal. L'opinion même de
l’auteur sur le traité de 1786 n'apparait pas avec netteté. Il présente
des critiques assez sévères — plusieurs justifiées — sur la façon dont furent
conduites les négociations. Mais sur la valeur du traité une fois signé,
et sur ses conséquences, il ne se prononce pas. On a l'impression
qu'il ne lui est pas favorable. Ce n’est toutefois qu'une impression,
l’auteur se défendant de porter un jugement et se proposant de nous
1) Les conclusions exactes de His DE BUTENVAL sont: que le traité
déplut de l’un et l’autre côté du détroit à peu près également, que les clameurs
les plus vives partirent d’abord d'Angleterre, qu'un premier mouvement de
joie s’y était bien un moment manifesté sur un vague espoir d’avoir dupé ls
France, mais qu’il avait été de courte durée, la presse s'étant à peu pré
unanimement prononcée en sens contraire, que dans les sphères parlemer-
taires, les critiques n’étaient pas moins amères (op. cit. p. 84 et 85).
2) Ch. XV et XVI. Cf. également ch. XVIL Opinion de la Chambre de
commerce de Bordeaux sur le traité (1802).
8) Il y a aussi chez BUTENVAL une sympathie non dissimulée pour l'accord
avec l'Angleterre qui a pu influencer sa thèse. Cf. le chap. X intituk
Digression, où il célèbre les bienfaits de l'alliance anglaise, et s’attendrit
au souvenir de la guerre de Crimée.
4) SÉGUR-DUPEYRON, Histoire des négociations commerciales et maritinés
de la France aux XVII® et XVIII® siècles. Paris 1872—1873. 3 v. In®.
5) Réunies à la fin du T. III sous le titre de Fragment historique: Le
négociation du traité de commerce conclu en 1786 entre la Franc d
l'Angleterre (p. 295 à 473).
6) Histoire du traité de commerce conclu entre la France et P’ Angler
en 1786.
Le traité de commerce franco-anglais de 1786 etc. 445
>nner un exposé rigoureusement objectif. Si son travail est encore
es utile à consulter aujourd'hui, cela tient à ce qu'il a été composé
‘après les documents du Quai d’Orsay!). Non seulement M. SÉGUR-
UPEYRON a lu les dépêches conservées aux Archives du Ministère des
ffaires Etrangères, mais il les cite copieusement, et ses dissertations
‚nt presque des publications de textes. Sa connaissance plus appro-
ındie des correspondances diplomatiques lui a permis de compléter
ır un certain nombre de points l’ouvrage de son prédécesseur. Il
'a pas exposé avec beaucoup de clarté les origines du traité de 1786,
ais en retraçant dans ses premières dissertations les rapports de la
rance et de l'Angleterre au moment du traité de Versailles, en
‘unissant quelques documents sur la situation de l’industrie française
t de l'industrie anglaise en 1786, il nous a laissé les éléments
écessaires pour traiter la question?) Son récit des négociations
st le plus complet de ceux que nous possédons aujourd'hui. En
articulier il a insisté sur les concessions souvent excessives consenties
ar le ministère français, et sur l'incapacité de RAYNEVAL®), et il a
resenté à ce sujet des conclusions que les documents anglais con-
rment entièrement.
Après les deux ouvrages fondamentaux de BUTENVAL et de SÉGUR-
\UPEYRON, les pages consacrées par M. STOURM au traité de 1786 dans
on „Histoire des finances de l'Ancien Régime et de la Revolution“ #)
e contiennent guère de renseignements nouveaux. On y trouve un
ssume methodique et bien ordonné des travaux précédents écrit par
n libre — échangiste convaincu, très partisan du traité.
Tous les ouvrages que nous venons de citer avaient été composés
niquement d'après des documents français. M. CAMILLE BLOCH est le
remier historien qui ait publié quelques pièces anglaises sur la né-
ociation de 1786. Dans son étude sur ,Le traité de commerce de 1786
ntre la France et U’ Angleterre d’après les papiers du plenipotentiaire
nglais“5) il cite quelques fragments de la correspondance de
envoyé anglais Eden, tirés des archives du Foreign Office“). Leur
1) Cités d’ailleurs sans références.
2) Plus particulièrement dans la première négociation qui roule sur la
gnature des préliminaires et la négociation jusqu'à la désignation d’Eden,
t dans la seconde où l’auteur examine les dispositions du ministère français
t du ministère anglais au début des négociations, ainsi que les raisons de
opposition des envoyés français, d'Adhémar et Barthélemy.
8) Il va jusqu’à dire en parlant d’une dissertation de ce dernier „Nous
ésitons après avoir reproduit cette longue dissertation aussi creuse qu’elle
st peu concluante, à nous livrer aux réflexions qu’elle est de nature à faire
aître chez tout homme voué à l'études des choses commerciales“ (p. 469).
4) R. STOURM, Les finances de l'Ancien Régime et de la Révolution. T. II,
. 11 et sq. Paris 1885. In 8°.
6) CAMILLE BLOCH, Etudes sur l'histoire économique de la France
1760—1789). Paris 1900. In 8%. p. 242 et sq.
6) Une partie des documents publiés par M. Br.ocH ne sont pas inédits et
vaient paru dans le Journal and Correspondance of W. Lord Auckland (1861).
£L BLOCH a tiré ceux de ses documents qui sont inédits des archives du
446 M. P. Muret: Miszelle.
intérêt principal est de confirmer les constatations de M. SÉGUR-DUPEYRON
sur les avantages obtenus par les Anglais en cours de négociations.
Mais M. BLOCH n’a pas poussé bien loin ses investigations en Angle-
terre. Sur les raisons qui déterminèrent les Anglais à traiter, sur ls
façon dont le traité fut accueilli à Londres, il ne nous apprend que
peu de choses. Il accepte en particulier l'opinion de His DE BUTENVAL
sur l’impopularit& du traité en Angleterre, et il ne peut s'empêcher
de signaler la contradiction qui existe entre cette impopularité et les
succès diplomatiques dont Eden tirait vanité: il laisse le soin de Is
résoudre aux historiens futurs du traité!).
Il résulte de ce court exposé qu'avant le livre de M. Duxas nous
avions déjà une idée assez nette du traité de 1786. Nous connaissions
ses origines par les études de M. SÉGUR-DUPEYRON, les négociations
auxquelles il avait donné lieu par celles de MM. His DE BUTENVAL, SEGTR-
DUPEYRON et CAMILLE BLOCH, quelques unes de ses conséquences en
France par celle de M. His DE BUTENVAL. Nous possédions comme
une sorte de mise au point des travaux précédents avec les résumés
de MM. STOURM et CAMILLE BLOCH. Néanmoins l’histoire critique du
traité de 1786 restait à écrire. D'abord nombre de détails étaient
encore à préciser. Ensuite, et surtout, une histoire critique du traité
de 1786 suppose un examen attentif des documents anglais, et l’enquöte
de M. CAMILLE BLOCH, au seul dépôt du Foreign Office était à ce point
de vue trop fragmentaire et trop rapide. (C'est par ses recherches
dans les archives anglaises que M. F. Dumas a renouvelé son suje.
Il y a fait des découvertes assez importantes et son apport personne
est assez considérable pour justifier pleinement la publication de son
livre après tant d'autres.
* x *
La correspondance d'Eden conservée au Foreign Office de Londres
où M. CAMILLE BLOCH a été la consulter ne constitue qu'une des sourets
anglaises de l’histoire du traité de 1786. M. DUMAS a depouille au
British Museum une collection de documents autrement abondante et
Foreign Office: Registres 6574 et 575. Il ne parait pas avoir consulté ceur
du Record Office, car il indique à tort que les archives du Record Office pour
les State Papers Foreign s'arrêtent à 1648 alors qu’en réalité elles s'étendest
au XVIII* et même à la plus grande partie du XIX* siècle. On ne trourt
non plus chez M. BLOCH aucune mention de l'important dossier du British
Museum (34.419 et sq.) qui a été la source principale de M. Dumas. Um
description des principaux fonds d'archives anglaises relatifs au traité de 1786
s’imposerait. Nous ne la trouvons ni chez M. BLOCH, ni dans l'opuscuk
actuel de M. Dumas. Souhaitons que M. DumAs nous la donne dans 8
ouvrage d'ensemble sur les relations commerciales franco-anglaises.
1) »L’analyse que nous venons de faire en suivant pas à pas la corre-
spondance de W. Eden amène la conclusion que l’Angleterre parait avoir
pris toutes précautions pour que le traité lui fut le plus profitable possible,
que son dessein fut servi par un plénipotentiaire adroit et que la Frantt
apposta dans la négociation des dispositions conciliantes jusqu'à la faiblésse.
L’bistorien futur du traité aura le devoir d’etablir à plein pourquoi il st
fut pas mieux accueilli en Angleterre que chez nous» (p. 268).
Le traité de commerce franco-anglais de 1786 etc. 447
56!). Elle comprendrait d'après les indications trop superficielles
‘auteur à la fois la correspondance diplomatique d’Eden (qui se
verait ainsi en partie double au Foreign Office et au British
sum), sa Correspondance particulière, et les principales pièces de
ngue enquete sur l’industrie anglaise et l’industrie française, pour-
ie par le gouvernement anglais avant et pendant les négociations.
DUMAS a complété l'étude de ce dossier par celle des documents
ementaires conservés et groupés dans les collections de /’Annual
ster et de la Parliamentary History.
Je tous ces documents dont selon M. DUMAS aucun de ceux qui
ient occupés du traité en France et en Angleterre, n’avait tiré tout
arti possible, quelles conclusions nouvelles l’auteur a-t-il degages ?
Nous passons rapidement sur l'appréciation du rôle de Rayneval,
ur les concessions de Vergennes. M. Dumas estime que Rayneval
quait des connaissances spéciales nécessaises pour un acte d’une
; importance, et „qu’il ne fut pas à la hauteur de la mission qui
était confiée“?). Il établit qu'à plusieurs reprises le négociateur
ais aurait consenti à la France des conditions plus favorables *).
SÉGUR-DUPEYRON avec les documents du Ministère des Affaires
ngères, M. CAMILLE BLOCH avec ceux du Foreign Office étaient
rés à une constatation analogue.
Sur deux points, M. DUMAS, nous parait avoir fait œuvre nouvelle
riginale: 1° Sur les dispositions du gouvernement britannique avant
égociation de 1786. 2° Sur l'accueil réservé au traité en Angleterre.
On admettait généralement avant M. Dumas que les industriels
ais furent presque tous hostiles à l'ouverture des pourparlers avec
‘rance. M. STOURM va même jusqu'à dire qu'ils ne pensaient pas
voir lutter contre les industriels français et qu'ils craignaient que
alance du commerce ne leur fut défavorable. Qu'il y ait eu au
ıt dans le monde industriel anglais défiance contre un rapprochement
mercial avec la France, hésitations à renoncer aux avantages de la
ection et du monopole, on n’en saurait douter. Mais on retire du
> de M. Dumas l'impression que l'hostilité des industriels anglais
re les négociations avec la France ne fut ni aussi générale, ni aussi
luctible qu'on l’a dit. M. Dumas nous présente un tableau de
lustrie anglaise à cette époque qui met en évidence les progrès
lle avait réalisést). Elle était devenue assez prospère pour avoir
in de débouchés plus que de protection. Les industriels anglais ne
vaient pas ne pas en avoir conscience, et leurs lettres à Eden
ıvent en effet qu'ils en avaient conscience). Ils étaient convaincus,
rairement à l'opinion de M. STOURM, qu'ils pourraient lutter contre
1) Les manuscrits cités par M. DUMAS en note portent les numéros
19, 420, 421, 422, 423, 424, 425, 427, 428, 462.
2) DUMAS, op. cit. p. 21.
3) Ib. p. 71 et 91.
4) Ch. Ip. 12 À 15.
5) Cf. le questionnaire adressé aux industriels par le Comité de commerce
. Eden fut élu membre, et les réponses de ces derniers p. 40 et sq.
448 M. P. Muret: Miszelle.
les Français. Même Pitt aurait eu la quasi certitude en traitant, que
sur presque tous les points les industriels anglais l’emporteraient, et il
n’aurait négocié qu’en parfaite connaissance de cause, lorsqu'une enquête
longue et minutieuse lui eut permis de comparer la force de production
de l’industrie anglaise à celle de la France!).
Si on a cru en France jusqu’à M. Dumas, à un mouvement de
protestation générale des Anglais contre les pourparlers de 1786, la
cause en est surtout aux lenteurs et aux hésitations du ministère
britannique avant de les engager. M. SÉGUR-DUPEYRON les avait déjà
constatées, mais sans les analyser avec une précision suffisante. „A
mon avis, écrit M. DUMAS dans sa préface, les historiens du traité n'ont
pas fait suffisamment ressortir la corrélation étroite qui existe entre la
grande réforme financière de Pitt et le traité de 1786“). Cette corré-
lation s’est surtout manifestée dans la période qui a précédé les négo-
ciations. Pitt se proposait de transformer complètement le système
d'impôts anglais, en réduisant les droits de douane, en supprimant ls
plupart des prohibitions, et en augmentant en revanche les taxes de
consommation. Il facilitait par cette réforme l’entrée des marchandises
françaises, et il était naturel qu'il demandât en compensation à la
France un abaissemeut de droits sur les produits anglais. Le rap
prochement commercial a été comme la conséquence de la réforme
financière. On comprend dès lors que Pitt ait tardé à conclure le
premier, tant qu’il n'avait pas arrêté les grandes lignes de la seconde”).
Il faut donc renoncer à l'idée que l'Angleterre fut poussée presque
malgré elle au traité de 1786. Elle montra beaucoup de prudenes,
elle accumula les enquêtes et les renseignements, elle chercha à ®#
ménager tous les atouts, et à ne négocier qu’à coup sûr. Mais elle ne
traita pas, parcequ'elle eut la main forcée.
M. Dumas fait également justice de quelques idées fausses sur la
façon dont les Anglais apprécièrent le traité. Depuis His DE BUTENTAL
jusqu’à M. CAMILLE BLOCH tous les historiens français ont répété que
le traité avait soulevé en Angleterre des protestations unanimet.
M. Dumas estime et démontre que cette idée est erronée{). Il est
inexact de dire que les industriels anglais multiplièrent les pétitions
et les suppliques contre le traité. Toutes ces prétendues pétitions 8
réduisent à une seule qui fut présentée par l’alderman Newnham au nom
de la Chambre générale des manufactures de Londres, et encore ceti
pétition est-elle conçue dans les termes les plus modérés et se borne
t-elle à solliciter l’ajournement de la décision de la Chambre des Com-
munes.. La vérité est que si l'opposition politique fit les plus grands
efforts pour exciter parmi les industriels l'agitation qui aurait sem
ses plans, elle n’y parvint pas. Loin de se rallier à elle, ils adresserent
en grand nombre à Eden des remerciements et des félicitations pour
le soin qu’il avait mis à défendre les manufactures de son pays. Lt
1) p. 17.
2) Introduction VII.
8) Cf. p. 16 et 17.
4) Cf. tout le chapitre VI.
Le traité de commerce franco-anglais de 1786 etc. 449
eul écrit de quelqu'importance que l’on puisse citer contre le traité
st un article du „Morning-Herald“ qui ramasse tous les arguments qui
urent invoqués contre lui. C'est en se basant sur cet article que les
istoriens français ont pu soutenir que le traité déchaîna un mouvement
‘énéral d'opposition. Il est vrai qu’il y eut une opposition violente
ontre le traité dans le Parlement anglais. Mais elle eut beauconp
noins un caractère économique qu'un caractère politique. M. Dumas
a analysant d’après la Parliamentary history les discours que Fox,
jurke et Charles Grey prononcèrent contre le traité n'a pas eu de
reine à montrer qu'ils attaquaient non le traité lui-même, mais le
rincipe d’un rapprochement avec la France. Et s’il était besoin d’une
reuve en dehors des discours eux mêmes, le fait que Pitt fut appuyé
jar les députés des régions industrielles suffirait à l’établir.
L'étude de M. Dumas complète donc et rectifie sur deux points,
u moins, et non des moindres, les travaux antérieurs. Est-ce à dire
qu’elle soit définitive et qu'il n’y ait plus lieu de revenir sur un sujet
que tant de livres paraissent avoir épuisé? Nous voudrions, en termi-
ant, indiquer rapidement quelles questions relatives à ce traité ne
ıous semblent pas avoir été encore suffisamment élucidées.
+ +
*
Le traité de 1786 n'a pas eu seulement un caractère commercial
t économique, Il a eu des raisons et une portée politiques. His DE
3UTENVAL l'indiquait déjà quand il le rapprochait du traité de 1783.
M. Dumas signale lui aussi en quelques mots son importance politique
wu début de son ouvrage , L'une des raisons qui contribuerent le plus
déterminer Vergennes, écrit-il, c’est la raison politique. Il était con-
raincu que l'Angleterre chercherait à prendre sa revanche des défaites
t des humiliations qu'elle avait subies dans la guerre d'Amérique, et
ue le traité de Versailles n’était qu’un répit dans la lutte entre les
leux nations. William Eden reviendra dans plusieurs de ses lettres
ur le but politique que poursuivent les ministres français dans cette
ıegociation commerciale: ils veulent que la France et l'Angleterre
’unissent dans une paix solide et permanente. Vergennes espérait
lonc avec juste raison, que les intérêts commerciaux diminueraient
nsensiblement la haine qui séparait encore les deux nations et rattacherait
"Angleterre au système de paix générale que le ministère francais
’efforçait d'établir en Europe“!). C'est cette raison d’être politique
la traité et la place qu'il occupe dans le système diplomatique de
/ergennes qu'il est nécessaire à notre avis de préciser, si on veut
omprendre l'attitude des négociateurs français. Il ne s’agit pas évi-
lemment de faire à propos du traité une histoire de la politique de
/ergennes, mai: un minimum d'explications est indispendable pour
ous mettre à même d'apprécier une évolution politique singulièrement
aractérisée puisque jusqu’en 1783 tous les ressorts de la politique
rançaise étaient tendus contre l'Angleterre. Le rapprochement franco-
nglais a eu des adversaires, nous l’avons vu, au Parlement anglais.
1) p. 21.
450 M. P. Muret: Miszelle.
Plusieurs diplomates français, restés attachés aux traditions de Choiseul
n’en étaient pas partisans. Nos représentants en Angleterre, le comte
d’Adhemar et Barthélemy se montrèrent dès le début hostiles au prin-
cipe même du traité. Nous voudrions être capables de peser les motifs
des uns et des autres, et pour cela, une constatation d’ordre aussi général
que celle de M. Dumas!) ne nous suffit pas. Nous ajouterons qu'il
n’est pas sans intérêt de déterminer au juste quelle a été la part des
raisons théoriques et les idées libre — échangistes dans la politique
d'entente commerciale avec l’Angleterre, ce qui n’est possible que par
la connaissance des intérêts diplomatiques en jeu dans la négociation,
et de la plus ou moins grande valeur qui leur était attribuée les
deux parties?). Il y aurait donc lieu aujourd'hui encore pour dlucider
toutes ces questions de revenir aux documents des Affaires E
que M. Dumas a trop négligés et que M. SÉGUR-DUPEYRON a consultés
sans beaucoup d'ordre et avec une méthode critique insuffisante.
Nous ne saurions non plus considérer comme définitivement close
l'étude des conséquences économiques du traité de 1786 en France et
en Angleterre. Pour l’Angleterre, M. Dumas s’est borné à des consi-
dérations d’ordre général. Pour la France il a poussé son analyse
beaucoup plus loin que ses prédécesseurs MM. His DE BUTENVAL et
STOURM. Il a dépouillé avec méthode les archives de la Chambre de
commerce de Rouen, et les documents du Bureau du commerce cos-
servés aux Archives Nationales. Il a extrait des cahiers des Etats
généraux publiés par les Archives parlementaires les textes les plus
intéressants relatifs au traité de 1786 et les a commentés avec critique
et mesure”). Mais il ne réussit malgré tout qu'à nous présenter um
esquisse de la question et il ne saurait en être autrement. M. Dumas
en effet distingue comme deux moments dans la répercussion du traité
sur nos industries: d’abord un moment de crise , Beaucoup de nos
industriels habitués à jouir tranquillement d’un monopole que leur con-
ferait la loi, à suivre d’une façon routinière des règlements qui ne
nécessitaient de leur part aucun effort, furent profondément secoués
par la concurrence anglaise qui les obligea à sortir de leur quiétude
et à modifier radicalement leurs conditions de production et de vente“).
Le gouvernement français fut du reste, ainsi que l'avait signalé le
premier BUTENVAL, en partie responsable de cette crise „n’ayant sup-
primé ni les monopoles ni les privilèges qui plaçaient notre industrie
dans des conditions inférieures par rapport à l'industrie anglaise, n'ayant
1) M. Dumas présente en bloc une série d’arguments invoqués par
d’Adhémar et Barthélemy mais sans les commenter et sans en discuter le
plus ou moins de fondement, cf. 23 et 24.
2) J’ajouterai qu'il serait nécessaire de rechercher si la Francc n'a ps
engagé des négociations commerciales avec d'autres puissances (en particulier
les puissances du Nord) quelles principes économiques elle appliquait vis à vis
des autres nations, et en conséquence quelle place ses échanges avec l’Acgie-
terre devaient occuper dans son système général de commerce.
3) Cf. les chapitres VII et IX.
4) p. 192.
M. P. Muret, Le traité de commerce franco-anglais de 1786 etc. 451
ı exigé l’application rigoureuse du traité aussi bien en France qu'en
gleterre, enfin n'ayant pas consulté les principaux intéressés afin
ils pussent se préparer à la lutte“1), A cette période de crise
‘ait succédé d’après Mr. DUMAS une période de relèvement „Quand
Constituante eut proclamé la liberté du travail, écrit-il, quand elle
; supprimé les douanes intérieures et toutes les entraves qui gênaient
ore notre industrie, la lutte devint possible et même facile, et il en
ulta une activité générale dans tous les centres industriels“?). On
t d'après ces conclusions, qu'il ne suffit pas, pour le juger avec
partialité, de constater l'effet immédiat du traité de 1786, mais qu'il
it suivre en réalité le développement de l'industrie française, pendant
# de six ans jusqu’au 1er janvier 1793 date où il fut dénoncé par
ngleterre. Or l’histoire de notre industrie pendant cette periode,
nt donné l’état de dispersion des documents représente un labeur
)rme, et quelle analyse minutieuse sera encore nécessaire pour dégager
fluence du traité de 1786 parmi les causes si complexes et d'origines
diverses qui ont pu en faciliter on en entraver le développement!
us croyons que les conclusions de M. Dumas, qui sont celles de la
part de ses prédécesseurs, sont exactes et dès maintenant vérifiées
r un certain nombre de faits. Mais il ne reste pas moins que le
nier chapitre d’une histoire critique du traité de commerce de 1786
pourra être écrit que quand nous posséderons une histoire complète
l’industrie française à la fin du XVIILe siècle, qui exigera elle même
grand nombre de monographies de détail. Cette même observation
pplique à l'Angleterre. Nous ne savons par nos historiens que bien
a de choses sur les conséquences du traité en Angleterre, et il
pparait pas que nos confrères d'Outre-Manche nous en apprennent
wıconp d'avantage.
e Gemeinfreien des Tacitus und das Ständeproblem
der Karolingerzeit.
Professor Max WEBER hat neuerdings in einer wertvollen Unter-
‘hung die Streitfrage über die Lebensweise der germanischen Voll-
ien einer zusammenfassenden Erörterung unterzogen?). Er tritt,
> ich glaube, mit Recht für die herrschende Annahme bäuerlicher
1) p- 192. Cette attitude du gouvernement français après le traité avait
à été indiquée par His DE BUTENVAL (ch. XVIII). Il parlait en outre
l'hostilité ou de l'indifférence adroite des contrôleurs Calonne, Loménie,
cker, qui pe cherchèrent pas à soutenir le traité ou évitèrent de s’en occuper.
2) p. 192.
8) ,Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung
der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts“ in Conrads J. III. F. B.
(1904) S. 433 —470.
452 Ph. Heck: Miszelle.
Verhältnisse ein. Aber er geht in der Negation der grundherrlichen
Theorie so weit, daß er die servi coloni im wesentlichen, die liberti
ausschließlich den principes zuweist. Man kann diese Schattierung
der berrschenden Lehre als die kleinbäuerliche Theorie der
Gemeinfreien bezeichnen. Sie ist meines Erachtens nicht zutreffend.
Doch will ich meinen Widerspruch nach dieser Richtung bei anderer
Gelegenheit begründen und an dieser Stelle nur gegen eine weitere
These WEBERS Einspruch erheben.
WEBER hat in seiner Untersuchung die ständische Deutung der
karolingischen Volksrechte nicht als Problem behandelt, sondern die
Richtigkeit der bisher herrschenden, von mir angefochtenen Deutung!)
vorausgesetzt und gelegentlich als Grundlage für weitere Schluß-
folgerungen verwertet?). Dennoch glaubt er, einen Beitrag zur Wider
legung meiner Ansicht gebracht zu haben. Er konstatiert am Schluss
seiner Untersuchung): Für Sachsen und Thüringen „geht aus dem
Gesagten in Verbindung mit den Argumenten der Germanisten mit
boher Wahrscheinlichkeit hervor, daß die nobiles der Karolingerzeit
als Nachfahren der principes und nobiles der taciteischen Zeit, also
als ein Stand tiber den Gemeinfreien zu betrachten sind“.
Diese Form der Darstellung erschwert die Nachprüfung. Es läßt
sich nicht mit Sicherheit erkennen, welche Zusammenhänge nach WEBER
die am Schlusse hervortretende Erkenntnis vermitteln sollen. Dennoch
darf das entschieden formulierte Urteil eines so hervorragenden Wirt
schaftshistorikers nicht unbeachtet bleiben. Ich will daher versuchen,
die bestimmenden Momente zu finden. Und zwar glaube ich, daß
diese Eigenschaft zwei Umständen zukommt.
In erster Linie scheint es mir von Bedeutung zu sein, daß WEBER
meine Ausführungen in einem wichtigen Punkte nicht ver
standen hat. — WEBER bezeichnet es*), und zwar in erster Linie,
als meine Ansicht, daß ebenso in Sachsen wie in Franken und überall
sonst ein Volksadel von jeher gefehlt habe. Diese Behauptung habe
ich niemals aufgestellt. Im Gegenteil! Ich habe sie in sorglicher
Vorahnung kommender Auslegungen sowohl in der Gerichtsverfassung’)
1) Vgl. Heck, Altfriesische Gerichtsverfassung 1894, S. 223—8309: „Die
Gemeinfreien der karolingischen Volksrechte“, 1900, „Ständeproblem, Wergelder
und Münzrechnung der Karolingerzeit“. Diese Zeitschr. II. S. 388 ff. S. Bil #.
Der Sachsenspiegel und die Stände der Freien 1905, S. 642—783.
2) Vgl. die Verwertung der sächsischen Eheverbote (a. a. O. S. 454),
des cap. 64 der lex Saxonum (a. a. O. S. 457, 468) und die Zusammenfassung
(S. 469, 470).
3) A. a. O. S. 470.
4) S. 488, 439.
5) Vgl. Altfriesische Gerichtsverfassung S. 368 Abs. 1: „Durch das Ge
sagte soll für die vorfränkische Zeit die Existenz hervorragender Adelr-
geschlechter, entsprechend den von TACITUS erwähnten nobiles, bei Friesen,
Sachsen und Thüringern nicht verneint werden. Aber jedenfalls war dieser
Adel, auch wenn er rechtliche Auszeichnung genossen haben sollte, von den
Edelingen verschieden, deren Rechtsverhältnisse uns bezeugt sind.“
Die Gemeinfreien des Tacitus etc. 453
wie nochmals in den Gemeinfreien!) ausdrücklich abgelehnt?). Ich
vermute in den taciteischen nobileg ebenso wie z. B. BRUNNER Familien
mit politischem Ansehen, vielleicht mit politischen Vorrechten, somit
für Sachsen Geschlechter, aus denen die „satrapae“ gewählt wurden?).
Es ist nun sicher, daß die fränkische Eroberung die Stellung dieser
Geschlechter geändert hat, vermutlich unter Ersatz durch abgeleitete
Rechte (Grafenamt, Lehen). Ich rechne diese Geschlechter natürlich
auch zu den Edelingen. Aber ich sehe in ihrer Existenz keinen An-
lass, den Stand der Edelinge auf diese Familien zu beschränken,
auch wenn ich von den andern Gründen absehe, welche diese Ein-
schränkung unmöglich machen. Ich sehe keinen Anlaß. Denn das
einzige erkennbare Merkmal des taciteischen Volksadels (der Satrapen-
geschlechter) ist politischer Vorrang, allenfalls politisches Vorrecht.
Die quellenmäßigen Vorrechte der sächsischen Edelinge vor den Fri-
lingen sind Vorzug in Wergeld, Buße und Ebenburt. Von einem poli-
tischen Vorrechte findet sich keine Andeutung. Noch niemand hat die
Behauptung aufgestellt, daß ein politisches Vorrecht als notwendiger
Reflex Vorzug des Geschlechts in Wergeld, Buße und Ebenburt zur
Folge haben mtisse. Ebensowenig hat jemand ausdrücklich erklärt,
1) Gemeinfreie S. 6: „Daß die sächsischen Gaufürsten aus besonderen
Geschlechtern gewählt wurden, ist möglich, ebenso, daß diese Geschlechter
noch andere Vorrechte hatten. Aber davon wissen wir nichts. Weahrschein-
lich ist es ferner, daß Geschlechter durch Besitz und Ansehen so hervorragten,
daß wir sie als einen Volksadel oder als Fürstengeschlecht bezeichnen, den
nobiles des TACITUS an die Seite stellen dürfen. Dafür spricht u. s. w.“
Vgl. ferner S. 8, 322.
2) Vermutlich ist WEBER durch SCHRÖDER, Z.R.G.(G.) 24, S. 365, irre
geführt worden. SCHRÖDER betont als ersten „Grundfehler“ meiner Unter-
suchung über die Gemeinfreien „die merkwürdige Nichtbeachtung
des altgermanischen Adels“. Tatsächlich kann sich jeder aus meinem
Buche davon überzeugen, daß ich fortwährend das historisch mögliche Bild
dieser Geschlechter mit den Angaben der Quellen, die sich auf die Edelinge
beziehen, überall verglichen habe, wo immer irgend Veranlassung bestand
(vgl Gemeinfreie S. 4, 6, 43 ff., 89, 93, 95, 101 ff., 234, 286, 287, 310, 312,
314, 822, 332, 344, 345). SCHRÖDER hätte doch nur eine konkrete Stelle
angeben sollen, an der die Heranziehung unterblieben ist, obgleich sie geboten
war. An der Intensität der Berücksichtigung hat es nicht gefehlt. Wenn
das Ergebnis bei mir ein anderes ist als bei SCHRÖDER, so hat dies andere
Gründe. Vgl. HEck, „Der Sachsenspiegel und die Stände der Freien“ S. 660 ff.
3) Vgl. Gemeinfreie S. 6, 322. BRUNNER ist mit Recht der Ansicht,
„daß sich das Merkmal des Standes, der Genuß erblicher Vorrechte für die
nobiles der taciteischen Zeit, nicht nachweisen läßt“. Vgl. zuletzt Grundriß
8. 8. Einen Adel als Stand im Rechtssinn findet auch BRUNNER für die
streitigen Stämme zuerst in den karolingischen Volksrechten bezeugt. Dadurch
rechtfertigt sich meine von SCHRÖDER a. a. O. S. 865 Anm. 2 beanstandete
Bemerkung, daß der fragliche Volksadel nach der Gegenansicht „bald nach
seinem Auftreten wieder verschwunden sei“. Gemeinfreie S. 4. Ich rede
nur von dem Volksadel als Stand im Rechtssinn und habe selbstredend unter-
dem Auftreten das „Erkennbarwerden für die geschichtliche Betrachtung“ ge-
meint, nicht die Entstehung.
456 Ph. Heck: Die Gemeinfreien des Tacitus etc.
WEBER nicht zugeben, daß das von ihm Gesagte irgendwie zugunsten
der herrschenden Lehre ins Gewicht fällt. Sollte ich Zusammenhänge
übersehen haben, so würde eine nachträgliche Aufklärung bei der
Wichtigkeit der Frage und der wissenschaftlichen Autorität WEBER3
dankenswert sein.
Die Gemeinfreien des Tacitus etc. 455
daß er den Durchschnittsbesitz an Land auf 4 bis 5 Hufen!), den
Durchschnittsbesitz an Hörigen auf einige Laten?) veranschlagt. Es
handelt sich also nach ihm bei der Masse der Edelinge um 120—150
Morgen, eine Besitzgröße, die wir heute bei ganz anders ins Gewicht
fallender Bedeutung der Landfläche je nach der Gegend als bänerlich
oder vielleicht als großbäuerlich bezeichnen würden. Ich meinerseits halte
nur für gesichert, daß die Edelinge ein zahlreicher Stand gewesen sind
mit Besitz der verschiedensten Größen unter Vorwiegen der kleineren °).
Die Anhaltspunkte, aus denen WITTIcCH einen Durchschnittsbesitz be-
rechnet, halte ich nicht für ausreichend. Das Bild ist mir in dieser
Hinsicht zu verschwommen. Soweit sich ihm Züge überhaupt beilegen
lassen, scheint es mir durchaus nicht, daß Wrrricx die Durchschnitts-
größe des Besitzes überschätzt hat. Nur bezeichne ich denselben
Kleinbesitzer von 4—5 Hufen, den WiTricH Grundherr nennt, als
Bauern, weil ich mir seine Lebensweise anders denke*). KÖTZSCHKE°)
und SCHRÖDER®) haben Wrirricxs Ausführungen über die wirtschaft-
liche Stellung der Grundherren gebilligt. Es herrscht daher anscheinend
Uebereinstimmung darüber, daß wir in den Edelingen nur zum Teil
große Besitzer, tiberwiegend aber mittlere und kleine Besitzer vor uns
haben. Ich vermag nicht einzusehen, inwiefern diese Besitzverhältnisse
meiner Auffassung der Edelinge widersprechen sollten. Sie ordnen
sich zu den beiden oben hervorgehobenen Elementen des Standes, der
große Besitz zu den alten Satrapenfamilien, der kleine und mittlere zu
den einfachen Vollfreien. Ja, dieses Bild fällt sehr bedeutsam gegen
die Fürstentheorie ins Gewicht, sobald wir eine andere Generalisierung
heranziehen, die in demselben Grade zuverlässig ist wie die von
WEBER verwertete. Es ist Erfahrungssatz, daß bevorrechtete Ge-
sehlechter, welche durch Konnubiumsgrenzen nach unten abgeschlossen
sind, im Laufe der Zeit an Mitgliederzahl abnehmen und an Besitz
wachsen. Die Anwendung dieses Obersatzes auf das quellenmäßige
Bild der sächsischen Edelinge würde ergeben, daß die zalılreichen
Edelinge der Karolingerzeit nicht auf die schon Jahrhunderte früher
seltenen nobiles des Tacitus, sondern auf die früher noch zahlreicheren
ingenui dieses Autors zurückzuführen sind ?).
Wenn man von den beiden hervorgehobenen Fehlerquellen abstra-
hiert, so ist nicht abzusehen, weshalb die kleinbäuerliche Theorie der
taciteischen Gemeinfreien, auch wenn sie völlig richtig wäre, meiner
Deutung der karolingischen Stände im Wege stehen sollte. Ich kann
1) A. a. O. S. 120*.
2) Freibauern S. 290.
3) Ich habe für diese Auffassung zu den in meinen Gemeinfreien vor-
gelegenen Gründen noch andere zuzufügen, namentlich auch wichtige Rück-
schlüsse aus späteren Quellen.
4) Die Konzession Gemeinfreie S. 321 gilt der Erkennbarkeit der Besitz-
grösse, nicht der grundherrlichen Lebensweise. A. M. Wrrrich S. 212, 213.
5) Deutsche Zeitschr. f. Geschichtswissenschaft N. F. II (1897/98) S. 313.
6) Z.R.G.(G.) 24 S. 877.
7) VgL Gemeinfreie S. 322.
456 Ph. Heck: Die Gemeinfreien des Tacitus etc.
WEBER nicht zugeben, daß das von ihm Gesagte irgendwie zugunsten |
der herrschenden Lehre ins Gewicht fällt. Sollte ich Zusammenhänge
übersehen haben, so würde eine nachträgliche Aufklärung bei der
Wichtigkeit der Frage und der wissenschaftlichen Autorität WEBER:
dankenswert sein.
Literatur,
ı neues Werk auf dem Gebiete der Geschichte des
russischen Grundbesitzes.
Prof. SERGEJEWITSCH. Altertümer des russischen Rechtes
I. St. Petersburg 1903. IIpod. Ceprbepnrp. JIpeBHocrn
<kaTO IIPABA T. II C. I. 1903. Die angeführte Arbeit muß
ı zweifellos mit Rücksicht auf die Fragen, welche sie behandelt,
den interessantesten zählen, die auf dem Gebiete der Sozial- und
tschaftsgeschichte Rußlands in den letzten Jahren erschienen sind.
ı größten Teil seiner Aufmerksamkeit schenkt der Autor jenem
mn Problem, das in gleichem Maße sowohl die westeuropäischen als
h die russischen Historiker beschäftigt und das gleichfalls weder
t noch dort eine gleichartige Lösung gefunden hat, nämlich die
ge über die Herkunft der russischen Landgemeinde (06H3HHa).
h im Anfang der sechziger Jahre trat Prof. SERGEJEWITSCH mit
er Kritik der Theorie MAURERS auf und sucht zu beweisen, daß die
neindewirtschaft in Deutschland keine von alters her germanische
cheinung war, daß sie erst sehr spät aufzutreten begann, indem sie
ı in einer langdauernden Zeitperiode vom X. bis zum XVI. Jahr-
ıdert entwickelte. So ist es zu erklären, daß die Lehre FUSTEL
COULANGES über die spätere Herkunft der deutschen Gemeindeord-
g, die den Anschauungen MAURERS, Waız’s und SOHMs entgegen-
etzt war, in der Person des russischen Professors einen warmen An-
ger fand.
Im selben Jahre (1856), als MAURERs berühmte „Geschichte der
'kenverfassung“ erschien, herrschte in Rußland zwischen den Ver-
ern zweier Anschauungen eine lebhafte Polemik über den Ursprung
Landgemeinde (Obschtschina), die die russische Gesellschaft jener
in die Gruppen der Slavophilen und der „Westler“ schied, wobei
Nähe der bevorstehenden Agrarreform diesem theoretischen Streite
besonderes Interesse und eine besondere Leidenschaft verlieh. Für
Slawophilen bildete das Uralter der Obschtschina eine Grundlage
r historischen Weltanschauung. Die entgegengesetzte Ansicht tiber
späten Ursprung dieser bäuerlichen Landgemeinde, wie wir sie gegen-
tig in Rußland vorfinden, und über deren Entstehung unter der Ein-
tung von Regierungsmaßnahmen war damals von dem glänzenden Ver-
458 Referate.
treter der westlichen Anschauung in Rußland, dem Professor der Moskauer
Universität B. N. TCHITSCHERIN geäußert worden. Indem nun Prof.
SERGEJEWITSCH auf jene Polemik zurückgreift und ihre Resultate
ruhig abwägt, findet er, daß beide Seiten in vielem Recht hatten und
in vielem auch irrten, infolge des mangelhaften historischen Materials,
das ihnen damals zur Verfügung stand. Im allgemeinen erweckt die
Lehre TTCHITSCHERIUS immerhin bei ihm viel Sympathie im Gegen-
satz zu anderen Forschern zu Ende des XIX. Jahrhunderts, welche
die Frage über den Ursprung der Obschtschina behandelten und ihn
in die graueste Vorzeit versetzten.
Nach der Meinung des Prof. SERGIJEWITSCH muß man in der Ge
schichte der russischen bäuerlichen Gemeinde zwei aufeinander-
folgende Momente unterscheiden: das Moment der kollektiven Ver-
fügung über den Grund und Boden und das Moment der kollektiven
Nutzung desselben. Das zweite Moment — die kollektive Nutzung
. mit ihren charakteristischen Merkmalen, den gleichen Anteilen und der
periodischen Zumessung, gehört erst in das XVIII. Jahrhundert, in
die Zeit der Einführung der Kopfsteuer, infolge welcher es aufgekommen
ist. Die in die Steuerliste aufgenommenen „Seelen“ werden mit gleich-
großen Landanteilen beteilt, um ibnen die Zahlung der Abgabe zu er-
möglichen. Mit den Aenderungen im Bestande der Seelenzahl, die
durch periodisch wiederholte Zählungen (die sogenannte . Revision‘)
festgestellt wird — kommen auch die periodischen Neuteilungen des
Gemeindelandes unter die Seelen in Gebrauch. So muß man allem
Anschein nach den Einfluß der Kopfsteuer auf die Entstehung der
periodischen Landeszumessung auffassen.
Die Erscheinung der Obschtschina jedoch als kollektives Ganzes,
mit Besitz- und Verfügungsrecht am Gemeinlande, wird dagegen von dem
Verfasser in eine bedeutend frühere Zeitperiode, in die Zeit der beginnen-
den Vereinigung des russischen Territoriums unter der Herrschaft der
moskauischen Herrscher, d. i. in das XIV. Jahrhundert, verlegt. Die Ver-
hältnisse, welche diese Vereinigung begleiteten, waren auch nach seiner
Meinung der Grund für das Entstehen der Obschtschina. Gelegentlich
der Einverleibung der früher selbständigen Staaten in das Gebiet
Moskaus konfiszierte der moskausche Herrscher innerhalb jener eine
beträchtliche Menge privater Ländereien, die zum Teil als Lehen,
d.h. als zeitlicher bedingter Besitz (eine Art beneficium des Westens);
der Kriegerklasse tiberlassen wurden, zum Teil aber wurden sie der
allgemeinen Masse der staatlichen oder, wie man damals sich auszu-
drücken pflegte, der „schwarzen“ („4UePHbXB“) Ländereien suge-
schlagen. Auf diesen Landgebieten entstand denn auch die bäuerliche
Obschtschina.
Zu einer solchen grundlegenden Auffassung gelangte der Autor
durch Betrachtungen, die er über das Schicksal der ausgedehnten
Landkomplexe Nowgorods anstellte, nachdem dieses seine Unabhängig-
keit eingebüßt hatte. Die republikanischen Einrichtungen dieser freien
Stadt ließen ihren mächtigen Nachbarn, den uneingeschränkt herrsche-
den Großfürsten von Moskau, keine Ruhe, ähnlich wie die konstitutio-
nellen Freiheiten Finnlands gegenwärtig die selbstherrschenden Kaiser
Referate. 459
irritieren. Dabei herrschte innerhalb der Republik selbst keine Einig-
keit. Es tobte ein heftiger sozialer Kampf. Die republikanischen
Einrichtungen wurden von der Aristokratie des Landadels und der
Kaufmannschaft hochgehalten. Die Masse des Volkes jedoch, die der
Volksversammlung keinen Nutzen abgewinnen konnte, wenn sie auch
nicht gerade nach Moskau hinneigte, leistete wenigstens diesem
gegenüber keinen Widerstand. Gestützt auf diese Zwietracht ftihrte
Moskau bereits seit lange — seit dem XIV. Jahrhundert — Schlag auf
Schlag gegen Nowgorod aus, bis dieses schließlich im letzten Viertel
des XV. Jahrhunderts als Provinz dem Moskauer Staate einverleibt
wurde. Diese Einverleibung war mit einer Belastung Nowgorods durch
eine kolossale Geldkontribution und mit einer zwangsweisen Versetzung
der hervorragendsten Vertreter der Nowgoroder Aristokratie- nach
Moskau verbunden. Doch blieb es nicht bei der bloßen Vernichtung
der politischen Selbständigkeit; auf die politische Vereinigung folgte
die sozialökonomische. Bald nach der Eroberung in den 80er Jahren
des XV. Jahrhunderts griff eine ausgiebige Konfiskation der Ländereien
der einstigen Nowgoroder Landeigentümer Platz. Wenn es sich um
das alte Nowgorod handelt, darf man sich darunter nicht bloß eine
Freistadt vorstellen in der Art des heutigen Hamburg oder Lübeck.
Man kann es eher mit Rom zur Zeit der Republik vergleichen.
Das war eine Stadtrepublik, zu welcher ein ungeheures Terri-
torium gehörte, das gegenwärtig die Gouvernements Nowgorod,
Petersburg und Olonetz umfaßt. Diese Gebiete standen mit der
Stadt Nowgorod in engster Beziehung und bildeten, wie man damals
sagte, ihren Bezirk (YB31H). Ueberdies dehnte sich ihre Macht tiber
den ganzen Norden des europäischen Rußlands, wo sie ihre Kolonien
grlindete. Diese Ländergebiete Nowgorods befanden sich in privaten
Händen und waren der Gegenstand eines unbeschränkten Privateigen-
tums. Das Privateigentum blühte in Nowgorod, und die Aristokratie
dieses Staates bestand nicht bloß aus Großkapitalisten und Kaufherren,
sondern auch aus Großgrundbesitzern, in deren Mitte wir alle bedeu-
tenderen Familien antreffen, die im politischen Leben der Republik eine
hervorragende Rolle gespielt hatten. Ein bedeutender Teil des Grund
und Bodens gehörte dem Erzbischof von Nowgorod und den. zahl-
reiehen Klöstern. Endlich finden wir neben dem Großgrundbesitz auch
den Kleinbesitz vertreten.
Die Ländergebiete der Großgrundbesitzer, sowohl die der weltlichen
als auch die der geistlichen Eigenttimer, wurden denn auch in den
Ser Jahren des XV. Jahrhunderts von der Moskauer Regierungsgewalt
konfisziert. Es ist ein interessantes Dokument, wenn auch nicht in
seinem vollen Umfange, erhalten geblieben, welches das Studium der
Bodenbesitzverhältnisse des nowgorodischen Gebietes gerade in der
Epoche jener Uebergänge bis ins kleinste ermöglicht. Und zwar eine
Landbesitzaufzeichnung, eine Art Kataster, die von der Moskauer Re-
gierung zu Ende des XV. Jahrhunderts aufgenommen wurde, die 80-
genannten „Pistzowyja Knigi“ („IIMCIHOBHA KHHTH“), ein Dokument
derselben Kategorie, wie das bertihmte englische Domesdaybook. Ein
solches Kataster beschreibt ein jedes Landgut, nennt seinen jeweiligen
Vierteljahrschr, f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 30
460 Referate.
und einstigen Eigentümer, zählt die dazugehörigen Gehöfte, unfreien
Diener und Bauern auf, führt die Ausdehnung der Wirtschaft eines
jeden Gehöftes an, wobei als Maß die Menge des angebauten Getreides
und des gemähten Heues gilt, dann die Höhe der Natural- und Geld-
abgaben, die von den Bauern an den Besitzer geleistet werden, schlief-
lich die Anzahl der Steuereinheiten, die auf jenes Gut kommen. An
der Hand dieser Katastralbticher kann man ein genaues Bild sowohl
tiber die Ausdehnung der Nowgoroder Konfiskation als auch über das
weitere Schicksal jener konfiszierten Güter liefern.
Die Landkomplexe, die derart in die Hände der Regierung gelangt
waren, wurden in zwei Gruppen geteilt. Ein Teil wurde unter die
angesiedelten moskauischen Kriegsleute als Lehen verteilt; der andere
Teil wurde zum unmittelbaren Staatseigentum, dem sogenannte
„schwarzen Lande“ (YePHHA 3eMJIH“). Auf dem Wege dieser tief-
greifenden Umwälzung wurde die Selbständigkeit Nowgorods mit den
Wurzeln ausgerottet. So mußten schließlich die Vertreter der Nor-
goroder Aristokratie, losgerissen von ihrem heimatlichen Boden und
in das Gebiet Moskaus versetzt, in ihrem Widerstande unbedingt er-
lahmen. Die Moskauer Elemente ihrerseits, die in das Nowgoroder
Gebiet verpflanzt wurden, standen den nowgorodschen politischen
Ideen viel zu fremd gegentiber, als daß eine Wiedergeburt der Freiheit
Nowgorods zu befürchten gewesen wäre.
Die nowgorodschen Katastralbtüicher erlauben weiterhin, die wirt-
schaftlichen Veränderungen, die sowohl in der einen als auch in der
anderen Kategorie der konfiszierten Ländereien vor sich gingen, zu
verfolgen. Es stellt sich heraus, daß innerhalb jener Güter, die als
Lehen gegeben wurden, die alten oder jenen sehr verwandte Ver-
hältnisse bestehen blieben. Die neuen Moskauer Grundherren hörten
nicht auf, dieselbe Gattung und die gleiche Quantität von Abgaben
von den Bauern einzuheben, wie es seinerzeit die Nowgoroder Eiges-
tümer taten. Anders standen die Dinge auf jenen Gütern, die im
Besitze des Staates verblieben waren. Diese Landgtiter wurden vom
Herrscher als Zeitpachtgüter an die angesiedelten Bauern gegeben.
An Stelle der gemischten Natural- und Barabgaben, die an den früheren
Grundherrn gesteuert wurden, wurden die Bauern eines jeden Gutes
mit einer Geldsteuer belastet, die an den Fiskus des Herrschers floß.
In den Eigentümlichkeiten dieser Steueranflage sind eben die Gründe
für die Entstehung der bäuerlichen ländlichen Kollektivgemeinde in
der Fassung ihres ersten Momentes zu suchen. Früher wurde nämlich
Jedes von den Dörfern, die in das Gebiet eines Gutes fielen, getrennt
mit den Abgaben zugunsten des Grundherrn jenes Gutes belegt.
Jetzt lastete in den Ländereien, die in den Besitz des Herrschers ge
langt waren, der Bauernzins solidarisch auf dem ganzen Gute, welches
zuweilen aus sehr vielen einzelnen Dörfern bestand. Diese Summe
auf die einzelnen Dörfer und Gehöfte zu verteilen, lag bereits dea
Bauern selbst ob. Einst hatte der Nowgoroder Eigentiümer beztiglich der
Abgabenverpflichtung es mit jedem bäuerlichen Gehöftpächter getrennt
zu tun, der einen Teil seines Bodens in Pacht hatte. Nun hat der fürst-
liche Fiskus mit einer ganzen bäuerlichen Gesellschaft zu schaffen,
Referate. 461
die aus den Bauern sämtlicher Dörfer innerhalb des Landgutes zu-
sammengesetzt war. So entsteht für die Bewohner mehrerer Dörfer
eines und desselben Gutes eine ganze Reihe gemeinsamer Interessen,
welche sie zu einem gewissen Ganzen zusammenschließt. Ihnen allen
ist das Land gemeinsam als Zeitpachtgut tiberlassen worden. Auf sie
fällt die gemeinsame Summe des Bauernzinses, welche sie unter sich
nach dem Ausmaße ihrer Wirtschaft verteilen. Sie sorgen für die
Ergänzung in der Zahl der Gemeindemitglieder, schauen darauf, daß
Landstücke, die zum Anbau taugen, nicht brachliegen, da sonst der
Zinsanteil, der auf jeder einzelnen Wirtschaft der Obschtschina lastet,
größer wird. Ferner erscheinen diese Obschtschinen im Falle von
Streitigkeiten bezüglich des Bodens dieser Gemeinschaften vor Gericht
in der Eigenschaft als Kläger und Angeklagte. Endlich verteilen sie
das Land auf die einzelnen Dörfer der Obschtschina und veräußern
sie sogar (S. 362). So schildert uns der Verfasser die Tätigkeit der
bäuerlichen Kollektivgemeinden, die auf dem „schwarzen Lande“
entstehen. Wie man sieht, unterscheiden sich diese Obschtschinen
von unseren gegenwärtigen durch zwei Züge. Erstens verwirklichen
sie bloß die Verfügung über den gemeinsamen Grund und Boden, eine
kollektive Nutzung gibt es bei ihnen noch nicht. Zweitens ist ihr
Bestand, verglichen mit der Obschtschina unserer Zeit, ein anderer.
Unsere jetzige Obschtschina ist — eine Niederlassung; die altrussische
Obschtschina — eine Vereinigung mehrerer Dörfer, die damals sehr
schwach bevölkert waren: in der Mehrzahl der Fälle bestand das Dorf
aus 2, 3, nicht selten aus bloß einem Gehöft. Die auf dem Wege
eines detaillierten Studiums der Erscheinungen innerhalb des Nowgo-
roder Gebietes am Ende des XV. Jahrhunderts erhaltenen Schluß-
folgerungen überträgt Prof. SERGEJEWITSCH auch auf die vorhergehende
Periode des moskauischen Reiches. Die weitgehende Konfiskation von
Landesteilen unter Johann III. war nichts Nenes. Auch vor ihm ging
Moskau gelegentlich der Eroberung der Fürstentümer so vor, und
überall auf den koufiszierten Gütern entstehen die bäuerlichen Ob-
schtschinen, welche bloß das Verfügungsrecht über das Gemeinland ver-
wirklichen und die finanziellen Angelegenheiten administrativ verwalten.
Vieles in dieser Darstellung bleibt nicht klar genug entworfen und
nicht genügend bewiesen. Am besten sind die Vorgänge studiert, die
sich innerhalb der Grenzen des Staates Nowgorod abspielten. Doch
ist die Uebertragung der Nowgoroder Konfiskation auf die vorher-
gehenden Perioden ziemlich willkürlich. Man kann es nicht als be-
wiesen ansehen, daß überall, wie dies im Nowgoroder Gebiete der
Fall war, das uneingeschränkte Privateigentum der Landobschtschina
vorausging, daß überall die Krongüter auf dem Wege der Konfiskation
jener Privatgüter entstanden und daß bloß auf solchen konfiszierten
Landgebieten Kollektiveinrichtungen zum Vorschein kommen. Im all-
gemeinen anerkennt Prof. SERGEJEWITSCH nicht jene Mannigfaltigkeit
der lokaleu Eigentümlichkeiten innerhalb des ökonomischen Lebens,
des Rechtes und der Verwaltung, welche das Rußland des XVI. und
XVIL Jahrhunderts dem Frankreich des alten Regimes sehr ähnlich
erscheinen läßt. Er ist im Gegenteil geneigt, eine allzugroße Ein-
462 Referate.
heitlichkeit zu sehen, und leugnet jedweden Wechsel der Erschei-
nungen in zeitlicher Hinsicht als auch deren Verschiedenheit im
Raume. „Das XI. und XVII. Jahrhundert — ruft er aus — Kiew,
Moskau, das Kloster Solowetz — tiberall dieselben Einrichtungen!‘
(S. 175). Ferner hätte der Gedanke tiber das Auftreten der kollek-
tiven Bodennutzung als Folgeerscheinung der Kopfsteuer einer bei
weitem ausflihrlicheren Behandlung bedurft. Anzeichen einer solchen
Bodennutzung in verschiedenen Gegenden sind auch vor Einführung
der Kopfsteuer anzutreffen. Wir erlauben uns die Annahme auszu-
sprechen, daß der Kollektivbesitz am Grund und Boden in Rußland
nicht ausschließlich innerhalb der Bauernschaft auf dem „schwarzen
Lande“ sich ausbildete, sondern auch auf den Lehengtitern unter dem
Kleinadel, den die Regierung mit kleinen Landanteilen beteilt hatte.
Aehnlich den gegenwärtigen bäuerlichen Parzellen werden diese Land-
anteile des kleinen Adels, die durcheinander innerhalb dreier gemein-
samer Felder gelegen sind, einem gemeinschaftlichen Saatwechsel und
von Zeit zu Zeit einer eigenen Art von periodischer Neuteilung unter
bodenbesitzrechtlicher Kontrolle der Regierung unterzogen.
Der zweite Teil der dargelegten Untersuchung bleibt beztiglieh des
Wertes der erlangten Resultate weit hinter dem ersten zurück. Er ist
der Geschichte der finanziellen Einrichtungen in Rußland bis auf Peter,
insbesondere der Geschichte der direkten Besteuerung, gewidmet. Vos
den ihm vorausgehenden Forschern auf demselben Gebiete (Prof. Mır-
JUKOw, dem Akademiker LAPpo-DANILEWSKIJ] ist die Evolution des Ab-
gabensystems vom XVI. Jahrhundert an bis auf Peter mit viel Eifer
untersucht worden. Die grundlegenden Erscheinungen dieser Evolution
wurden aufgedeckt: sie bestanden darin, daß die Steuereinheit immer
einfacher wurde und sich mehr und mehr dem einzelnen Steuerträger
näherte. In der Mitte des XVI. Jahrhunderts war eine solche Einheit
die ,Socha“ (,,C0xa“) — ein ungemein großes Gebiet (900-130
Deßjatinen) von Ackerland; in der ersten Hälfte des XVIL Jahr
hunderts die „Tschetwert“, ein bestimmter, lokal und nach der Gattung
der Landbesitzungen unterschiedlicher Komplex von bäuerlichen Ge
höften; in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts zerfällt dieser
Komplex, und zur Abgabeneinheit wird jeder einzelne Hof, der wiederum
seinerseits einen gewissen Komplex von „Seelen“ darstellte. Dieser
Teilungsprozeß geht weiter, und zu Beginn des XVII. Jahrhunderts
wird jede einzelne „Seele“ zur Steuereinheit. So bereitete sich stufen-
weise die Kopfsteuer vor, die von Peter dem Großen eingeführt wurde.
Prof. SERGEJEWITSCH anerkennt diese Art der Evolution ganz und gar
nicht und behauptet, daß die aufgezählten Stenereinheiten in dem Zeit-
raum vom XVI.—XVIH. Jahrhundert nebeneinander vorkommen, #
daß die Kopfsteuer, dieser „große Mißgriff“ Peters, wie er sie nennt
(S. 369), nach seiner Auffassung ganz unvermittelt sich etablierte. Es
ist selbstverständlich keine Frage, wie antihistorisch eine solche Ar-
schauung ist. Im allgemeinen merkt man in dem Werke stets den
feinen Juristen, doch nicht selten ist ein Mangel an historischer Per
spektive zu beobachten. M. BOGOSLOWSEN.
Referate. 463
. FERD. KOGLER (Privatdozent an der Universität Innsbruck), Die
„egitimatio per rescriptum von Justinian bis zum Tode Karls IV.
Weimar, Böhlau 1904. VIII und 120 Seiten. 3 M.
RS., Beiträge zur Geschichte der Rezeption und der Symbolik der
egitimatio per subsequens matrimonium. Weimar, Böhlau. 1904.
.V und 78 Seiten. 2 M. (Sonderabdruck aus der Zeitschrift der
javigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Band XXV, German. Abt.)
Die Rezeption der beiden römischen Formen der Legitimation Un-
jlicher hat sich in Deutschland unabhängig von der großen Rezeption
‚, römischen Rechtes vollzogen; sie ist auch in Ländern erfolgt, die
übrigen eine Rezeption des römischen Rechtes nicht erlebt haben,
Nordfrankreich und, wenigstens teilweise, England. Gerade dieser
jondere Weg, den beide Rechtsinstitute genommen haben, ermög-
it für sie eine Feststellung des Rezeptionsvorganges im einzelnen,
ıe zu dem Problem der Inkomplexu-Rezeption von vornherein Stel-
g nehmen zu müssen. Unter diesen Umständen ist es beinahe ver-
nderlich und wohl nur aus der Scheu vieler Germanisten vor der
ıandlung von Rezeptionsproblemen, vielleicht auch aus dem Herein-
elen von Fragen des kanonischen Rechtes erklärlich, daß bisher die
reption der justinianischen Legitimationsformen noch keine völlig
riedigende Darstellung gefunden hat. Um so freudiger ist es zu
rüßen, daß der schon durch eine steuergeschichtliche Arbeit vor-
haft bekannte Verfasser diese Lücken ausgefüllt und uns in den
den obengenannten Schriften eine treffliche Darstellung der Rezep-
ıwvorgänge geliefert hat.
In beiden Abhandlungen schildert Verfasser den äußeren Verlauf
Rezeption. Während die legitimatio per rescriptum, obwohl erst
- der Mitte des 12. Jahrhunderts der Wissenschaft bekannt, schon
t Innocenz IIL von den Päpsten gehandhabt wird und schon in der
ten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Aragonien, Sizilien, endlich
utschland als legitimatio per rescriptum regis ihren Einzug hält,
. die auf dem dritten Lateranum 1179 von der Kirche anerkannte
itimatio per subsequens matrimonium zwar in Italien und Frank-
:h rasch Eingang gefunden, aber in Deutschland noch bis ins
Jahrhundert hinein um ihre Anerkennung ringen müssen und in
gland bis heute verschlossene Türen gefunden.
Besondere Abschnitte widmet Verfasser der Übertragung der könig-
en Legitimationsbefugnis, insbesondere in Verbindung mit dem
lzgrafentitel, ferner dem Wegfall der Beschränkungen der legiti-
tio per rescriptum, die das justinianische Recht kennt, weiter den
rkungen der königlichen Legitimation. Dagegen nehmen in der
handlung über die Legitimation durch nachfolgende Ehe die sym-
ischen Formen, insbesondere die Verwendung des pallium in Eng-
d, Frankreich und Italien und der Mantelsetzung in Deutschland,
en besonders breiten Raum ein. Auf die einzelnen Ergebnisse hier
zugehen, muß ich mir versagen. Nur soviel mag hervorgehoben
rden, daß sie durchweg auf ein ausgebreitetes Quellenstudium sich
inden und in klarer, sicherer und besonnener Weise gewonnen werden.
Zu irgendwelchen erheblichen Ausstellungen habe ich keinen
464 Referate.
Anlaß gefunden. Die wichtigste Differenz betrifft die Stellung der
Unehelichen im älteren deutschen Recht; da Verfasser aber in dieser
Frage sich auf eine Wiedergabe der Ergebnisse BRUNNERS beschränkt
und nicht eigene Forschung bieten will, verschiebe ich eine Erörterung
dieses Punktes auf eine andere Gelegenheit. Andere Differenzen sind
untergeordneter Natur. So möchte ich nicht wie Verfasser (legitimatio
per rescriptum S. 46 f.) aus der Anfrage der sizilianischen Räte unter
Friedrich II. darauf schließen, daß sich noch keine feste Legitimations-
praxis herausgebildet habe. Über die Anwendbarkeit der legitimatio
per rescriptum in den von Justinian zugelassenen Fällen besteht be
den Räten kein Zweifel; nur dartiber wollen sie Auskunft haben, ob
auch nach dem Tode des Erzeugers auf Antrag des Kindes legiti-
miert werden darf. Nicht einverstanden bin ich mit dem, was Ver-
fasser (ebenda S. 71 f.) über das Legitimationsrecht der deutschen
Landesfürsten sagt. Gerade der österreichische Freiheitsbrief von 152,
den Verfasser anführt, beweist, daß noch damals das Legitimations-
recht kein allgemeines landesherrliches Recht war, sondern den öster-
reichischen Erzherzögen nur kraft besonderer königlicher Gnade n-
stand. Darum ist der einzige, nach Tirol gehörige Fall einer mitte-
alterlichen Legitimation durch den Landesherrn wohl auf ein eber-
solches besonderes, den Grafen von Tirol verliehenes königliche
Privileg zurückzuführen, wie es 1327 die Hennegauer Grafen erhalten
haben (vgl. ebenda 8. 65). Überhaupt können wir auch für die
sonstigen aus dem römischen Recht stammenden oder von den italie
nischen Juristen ausgebildeten königlichen Rechte die Beobachtung
machen, daß sie, wenn überhaupt, dann erst in sehr später Zeit al:
gemeine landesfürstliche Rechte geworden sind. Das gilt z. B. für die
Volljährigkeitserklärung (vgl. Kraut, Vormundschaft II. 8. 86 f.), ferner
für die Erteilung von Wappenbriefen (vgl. HAUPTMANN, Das Wappe-
recht S. 164 ff., 167 ff., 180).
Tübingen. SIEGFRIED RIETSCHEL.
Druck von W. Kohlhammer in Stuttgart.
Jie älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren
ınd Germanen und ihre sozialgeschichtliche Bedeutung.
Von
J. Peisker (Graz).
(Schluß.)
Wollen wir uns jetzt dem gegenseitigen Zahlenverhältnis der
upane zu den Bauern zuwenden. Daß es im ganzen flüssig
rar und durch fortgesetzte Kolonisierung immer mehr verschoben
rurde, ist vorauszusetzen. Immerhin gab es jedoch ganze Gegenden,
uf welchen für Neuanlagen kein Platz gewesen ist, jenes Zahlen-
erhältnis somit konstant blieb:
Das aus vier provinciae bestehende officium Tüffer weist
ach dem Rationarium Stirie v. J. 1265 —1267 folgende Ziffern auf:
I. Die provincia sub regimine schephonis Gyr-
edei: |
Die erste Gruppe umfaßt sieben Ortschaften mit 2,2,2,3,2,2,3
‚auernhuben und mit je einem zweihubigen Zupan. Zusammen
ählt die Gruppe 16 Bauernhuben nebst 14 Zupanenhuben, im
anzen 30 Huben. Auf einen Zupan entfallen 2-29 Bauern, und
6:66°/o des ausgetanen Bodens sind Zupanengut.
Die zweite Gruppe umfaßt bloß zwei Ortschaften mit 5 und 2
sauernhuben und mit je einem zweihubigen Zupan. Zusammen
ählt die Gruppe 7 Bauernhuben nebst 4 Zupanenhuben, im
anzen 11 Huben. Auf einen Zupan entfallen 3-5 Bauern, und
636 °/o des ausgetanen Bodens sind Zupanengut.
Die dritte Gruppe umfaßt sechs Ortschaften supano carentes,
ind augenscheinlich spätere Kolonien und außerhalb der Zupen-
erfassung, denn sie respzciunt (zur Burg) in Sibenekke!).
1) Siehe oben S. 334.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 81
466 J. Peisker
Die vierte Gruppe umfaßt den ,locus“ Cvom mit 18 Bauen-
huben und 5 zweihubigen Zupanen, zusammen 28 Huben. Auf
einen Zupan entfallen 3-6 Bauern, und 35'71°/o des ausgetanen
Bodens sind Zupanengut.
II. Die provincia de Trevül, ex regimine Livtoldi
schephonis umfaßt 26 Ortschaften, davon drei mit je 6, zwei
mit je 5, sieben mit je 4, sechs mit je 3, sieben mit je 2 und
eine mit 1 Bauernhube. In jeder der 26 Ortschaften saß en
zweihubiger Zupan. Im ganzen zählt die provincia 89 Banen-
huben nebst 52 Zupanenhuben, zusammen 141 Huben. Auf einen
Zupan entfallen 3-42 Bauern, und 36:88 ‘/ des ausgetanen Bodens
sind Zupanengaut !).
Il. Die provincia apud aquam Schöma [ex regimine
schephonis Jurizla] umfaßt 20 Ortschaften, von denen 6
keinen Zupan hatten, außerhalb der Zupenverfassung standen.
Von den übrigen Ortschaften umfaßte eine 10, zwei je 8, eine,
drei je 6, drei je 5, drei je 4 und eine keine einzige Bauen-
bube. In jeder der 14 Ortschaften saß ein zweihubiger
Zupan?). Im ganzen zählt die provincia nach Abrechnung
der Zupanlosen Ortschaften 78 Bauernhuben nebst 28 Zupaner-
huben, zusammen 106 Huben. Auf einen Zupan entfallen
557 Bauern, und 26°4°/o des ausgetanen Bodens sind Zı-
panengut.
IV. Die provincia deregimine schephonis Zaschiri
umfaßt 29 Ortschaften, von denen 3 wüst lagen und weitere 8
keinen Zupan hatten, außerhalb der Zupenverfassung standen.
1) Rauce II. S. 129 (kollationiertes Exemplar der Grazer Landesbibli-
thek). In schephonatu Livtoldi umfaßten die 26 Zupanendörfer richtig &,
nicht 88 Bauernhuben, wie ich (Zeitschr. f. Soz.- u. Wirtschaftsgesch. Ÿ.
S. 358, SAbdr. S. 120) irrtümlich berechnet habe. Dadurch verschiebt sic,
wenn auch unmerklich, der Prozentsatz. Das Rationarium (Rauch IL 8. 1%)
führt als Summa prescriptorum prediorum in Trevol Ixxxviij et j [= 88h] 4
xxv supani. Wo bei der Praedienzahl der Fehler steckt, ist nicht zu €
mitteln, dagegen ist die Berechnung der Zupane mit 25 richtig, nachdæ
der 26. als sckepho nicht mitzählt, weil er als solcher nichts zinst.
2) In der Summa prediorum iuxta Schomam (Rauch, S. 131) steht fälse-
lich zviij Supani statt x, nachdem der 14. als schepho nicht zinst, daher
nicht mitgezählt werden soll. |
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 467
on den übrigen 18 Ortschaften umfaßte eine 8, drei je 6, eine 5,
ei je 4, neun je 3, eine bloß 1 Bauernhube. In jeder der 18
rtschaften saß ein zweihubiger Zupan'). Im ganzen zählt die
ovincia nach Abrechnung der Zupanlosen Ortschaften 71 Bauern-
ben nebst 36 Zupanenhuben, zusammen 107 Huben. Auf einen
apan entfallen 3°94 Bauern, und 33°64°/o des ausgetanen Bodens
ad Zupanengut.
Im officium Marburg der Ort Pechsen (siehe oben
349) umfaßte 40 Bauernhuben und 11 zweihubige Zupane, im
ınzen 62 Huben. Auf einen Zupan entfallen 3:64 Bauern, und
5-48°/o des ausgetanen Bodens sind Zupanengut.
Die hier gewonnenen Ziffern geben folgende Übersicht:
Amt | | 'Auf einen] Vom ausge-
Tüffer. unane' Zupanen- Bauern- Im ganzeniZupan ent-|tanen Bnden
pen huben huben Huben „allen ist Zupanen-
Provinz auern gut
2.29 46.66 °;n
8.5 36.36 °%
8.6 85.71 ‘,
3.42 36.88 °/,
557 | 264 %
3.94 | 33.64 °
rt Pechsen | 11 22 40 62 | 3.64 85.48 °%
Von diesen 7 Ortschaftsgruppen weisen drei annähernd, zwei
ogar ganz gleichen Prozentsatz, 1:3°6, auf. Man sieht, es muß
ier einmal eine zahlenmäßig gleiche Dislokation und Aufteilung
er gesamten Bauernschaft unter die einzelnen Zupanenverbän de
tattgefunden haben, denn von sich selbst hätte sich eine solche
rleichmäßigkeit der Prozentsätze bei gleichzeitiger Ungleichmäßig-
1) Trotzdem ist die Summe des schephonatus Zaschitz (RAuCH, S. 133)
dt Supani xviiÿ unrichtig, weil einer davon, als schepho, nicht zinst, dem-
ach abzuzählen is, — Rauch hat (S. 132) zwischen den Orten Sec.
Voderis und Torischendorf ausgelassen: {em in quarto |!) Woderis iij predia
f supanus.
468 J. Peisker
keit in den Einzelfällen nicht entwickeln können. Dieselbe
Gleichmäßigkeit ist einmal gewiß bei allen Gruppen vorhanden
gewesen, auch bei Gruppe 1 und 5; bei diesen hat sie sich jedoch
mit der Zeit stärker als anderswo verschoben: bei Gruppe 1 durch
Wüstungen, bei Gruppe 5 durch Neuanlagen.
DieDislokation konnte daraufhin nur folgendermaßen stattfinden:
Die deutsche Landnahme brachte die alte Zupanenherrlichkeit
zu Falle, und der neue Machthaber schränkte, um so viel Land, als
nur möglich, zu gewinnen, die Gebiete der vorgefundenen Be-
völkerung hubenmäßig ein. Wie die slawische Bevölkerung bis
dahin über das Land ausgebreitet war, darüber können wir auf
dem Umwege über Böhmen Wesentliches ermitteln. Wir hörten
nämlich von FREDEGAR:
Chuni hiemandum annissingulisin Sclavos venie
bant!), die Awaren nahmen alljährlich unter den Slawen ihr
Winterquartiere. Den Sommer über waren sie demnach nicht
unter den Slawen, das ist: dort, wo die Awaren mit ihren Herden
den Sommer über weilten, befanden sich Slawen nicht.
Der Nomade wintert mit seinen Herden in Niederungen und
wandert im Frühjahr den Sommerweiden auf Gebirgen nach. Der
Aware fand somit nur in den Niederungen slawische Bauern vor,
während die Höhen seine ureigenste Domäne bildeten, wo er
keinen Ackerbau zulief. Und richtig finden wir am Anfange
der geschriebenen Geschichte bloß die niederen Gebiete Böhmens
altbesiedelt, während der Gebirgskranz und auch die inneren Gt-
birge eine Wildnis waren, die erst viel später und allmählich
kolonisiert wurde.
Die slawische Bauernschaft in den Niederungen Böhmen
mußte sich nach den Bedürfnissen und Launen der awarischen
Einleger einrichten, für sie wohl auch Wintervorräte an Ge
treide und Heu den Sommer über aufspeichern, und richtig
kommt gerade dort vielfach, wenn auch nicht so massenhaft,
wie in Polabien, bei den Elbeslawen, das merkwürdige Runddorf,
zugleich die einfachste, natürlichste Viehhürde?) vor. „In diesen
1) FREDEGAR c. 48, siehe oben S. 296 f.
2) Pläne und Bilder von Runddörfern bei MEITZEN I. S. 52, II. 466,
Atlas, Übersichtskarte, III. 613 s. v. Runddörfer.
|
l
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 469
tunddôrfern — erklärt MEITZEN I. 52 auf Grund seines reichen
Materials — umgeben die Gehöfte stets einen runden oder ovalen,
ırsprünglich nur durch einen einzigen Weg zugänglichen Platz,
wf welchem das Vieh stehen und leicht abgeschlossen werden
ann. Die Höfe und Giebelseiten der Wohnhäuser drängen sich
ıach diesem Platze eng zusammen; hinter den Häusern aber breiten
ich die nach außen mit hohen Bäumen bestandenen Gärten keil-
Ormig aus und schließen mit einer das Ganze fast kreisförmig
ımziehenden Hecke ab. Dieser Plan überwiegt im Westen, im
ten Sorbenlande“ [wo gerade die Zupane am zahlreichsten vor-
ommen|].
Auch das bis in die neueste Zeit reichende grundherrliche
techt der Schaftrift im Altenburgischen, wie auch sonst in Ober-
schsen und Schlesien, wonach die herrschaftlichen Herden die
äuerlichen Brach- und Stoppelfelder beweideten, geht vielleicht
ı seinen letzten Ursachen auf das einstige Kampieren der No-
ıaden in den Bauerndörfern zurück. Damals nützte es den
lätzen, die dadurch trefflich gedüngt, vielleicht zu permanenten,
it dem Haken bearbeiteten Äckern wurden, während das neu-
sitige Vorrecht der Schaftrift den abgeweideten Bauernfeldern
en Pferch entzog und ihn den herrschaftlichen Grundstücken
ausschließlich zuwandte !).
Die Zupane Untersteiermarks können sich nicht anders ein-
erichtet haben als die Awaren in Böhmen. Den Sommer über
eweideten sie die Sulzbacher (Steiner oder Sanntaler) Alpen
nd winterten inden Niederungen der Drau, wo, analog
it Böhmen, die damaligen Wohnsitze der Bauern-
chicht zu suchen sind. Diese Niederungen, besonders das
raufeld, sind mit großen, nach Königshufen kunstvoll ver-
ıessenen Kolonistendörfern bedeckt?) und wurden offenbar nach
1) Vgl. LANGETHAL, Geschichte der teutschen Landwirthschaft. UI. Jena
860, S. 317. — ScHMALZ, Erfahrungen im Gebiete der Landwirthschaft. III.
ipzig 1817, 8. 288, 247. IV. 1820, S. 49. — KrüÜnrtz’ ökon.-techn. Ency-
lopädie, 189. Teil. Berlin 1825, S. 252 f.
2) Merrzen, II. S. 899, III. 416, Atlas, Anlage 198. — Levec, Pettauer
tudien, in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien.
3and 28 (1898), 2 (1899), 85 (19086).
470 J. Peisker
der deutschen Landnahme den Einheimischen entzogen!) die
Zupane und die Bauern auf die höheren Lagen beschränkt und
mit hubenmäßigen Landquoten abgefertigt. Dies war das Eir-
fachste und auch das Richtigste, was der deutsche Machthaber tun
konnte, um möglichst viel Boden für sich herauszuschlagen, ohne
den Zupanen die bisherige und derzeit unersetzliche Wirtschafts
form ganz unmöglich zu machen. Auf den Bergen und Hügeln
konnte er sich nichts Zusammenhängendes holen, weil das Terrain
zur Anlage von größeren Dörfern, wie sie damals den Deutschen
geläufig war, nicht geeignet ist — hier sind bloß kleine Weile
denkbar — und den Zupanen nicht so viel von der Sommerweide
entzogen werden konnte. Relativ entbehrlicher waren dagegen den
Zupanen nach Auflösung der großen Zupen (Weidereviere) in kleine
Distrikte, Weiler, die Winterquartiere im Draufelde, welches zur
Anlage größerer Dörfer förmlich einlud, trotzdem hier der Boden
mit seiner Schotterunterlage weniger fruchtbar ist. Der Bauen-
schaft war die Entziehung des Draufeldes noch weniger empfindlich,
denn das Schwenden der Abhänge bot ihr ebensogute Brandäcker;
ist ja jedes Geschwend, auch auf dem magersten Boden, für en-
jahrigen Anbau gut genug; die Asche gewährt an sich allein eine
1) Dasselbe hat LEVEC (a. a. O., Mitteilungen d. anthr. Ge. à
Wien, XXV. S. 88) auch im Kremsmtinsterischen ermittelt: Herzog Tassib
schenkte 777 dem Kloster decaniam Sclavorum [d. i. 10 hörige Slawenfamiben]
cum opere fiscali seu tribulo iusto, quod nobis antea persolvi consueverant, ki
omnes predictos Sclavos, quos sub illos actores sunt, qui vocantur Teliop d
Sparuna, quos infrq ierminum manent, que coniuravit ille iopan, qui vost
Physso, et conduxit per girum, illos nominantes Fater abbas et Arn presbytr d
Chumperht iudex et Hleodro comes et Gaerperht iussi a summo principe Tassilm
definire decreverunt et terminum posuerunt (Archiv für Heimatkunde wa
FR. SCHUMI. I. Laibach 1883, S. 4). „Die Bestimmung — urteilt LEVEC -,
daß die Dekanie fernerhin irfra terminum bleiben soll, ist ein deutlicher Hir-
weis darauf, daß dies bisher nicht der Fall war, daß also eine Einengung
ihres brennwirtschaftlichen Gebietes vorgenommen wurde. Man bediente sc
dabei ganz offenbar der Form der Kundschaft und lieB durch den Supa
eidlich bekräftigen, daß das der Dekanie angewiesene Land zu ihrem Unter
halte vollauf genüge. Es scheint also, daß der Gesichtspunkt
des unumgänglichen wirtschaftlichen Bedarfes für die Ord
nung der wirtschaftlichen Verhältnisse nach der deutsches
Landnahme maßgebend gewesen ist.“
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 471
treffliche Ernte, nur darf der Boden nicht naß und Überschwem-
mungen gar zu ausgesetzt sein, und die Delogierung der Bauern-
schaft aus dem Draufelde war auch mit keinen sonstigen Schwierig-
keiten verbunden, weil eben der Bauer hier ohnedies keine
ständigen, sondern bloß einjährige Äcker hatte und jährlich neue
anlegen mußte’). Der frühere Anbau des Draufeldes zur Zeit
der vollen Zupanenherrlichkeit war somit von der geringeren Boden-
qualität ebenso unabhängig und unbeeinflußt wie die nachmalige
Übertragung der Saaten in höhere Lagen infolge der deutschen
Landnahme*).
1) ,Um 1100 schenkt Graf Bernhard von Sponheim dem kärntnischen
Kloster St. Paul in Marchia trans fluvium Dravva hoc sui iuris predium Ras-
wei (= RoBwein), id est stabulariam curtim ... necnon et villam Huonoldisdorf
(westl. v. Marburg) cum omnibus ad hec rite pertinentibus tam in prediis quam
in mancipüs ... postmodum et his addendum [!], donec C hobae conpleantur non
ed quantitatem dimensionis agrorum,sed pro numero curtilium
atque degentium in villavirorum (Urkundenbuch des Herzogthums
Steiermark, bearb. v. J. ZAHN, I. Graz 1875, S. 103). Eine höchst sonderbare
Ausdrucksweise. Und ihre einfachste Erklärung ist durch die Annahme ge-
geben, daß um diese Zeit die Betriebsform des Ackerbaues in diesen Gegen-
den noch die einfache, ungemein primitive Brenn- oder Schwendwirtschaft
war. Bei der Schwendwirtschaft, die ja in Untersteiermark stellenweise tief
in unser [19.] Jahrhundert hinein betrieben wurde, ist von einer feststehenden
und genau vermessenen Hufe, wie eine solche etwa bei der Dreifelderwirt-
schaft zu konstatieren ist, keine Rede. Es gibt noch keine Hufe im tech-
nischen Sinne des Wortes... Der Standort des Ackerlandes wechselt immer
in bestimmten Zwischenräumen innerhalb eines einer Anzahl von Bauern-
familien zugewiesenen Rodegebietes . ..“ LEVEC, a a. O. S. 189.
Somit hat der deutsche Eroberer die nach der Landnahme den Slawen
entsogenen Gebiete in den Ebenen und Flußtälern nicht sogleich fest
besiedeln können, sondern noch jahrhundertelang in der althergebrachten,
brennwirtschaftlichen Form nutzen lassen müssen. Die hufenmäßige
Kolonisation erfolgte viel später, und zwar erst seit dem Jahre 985 (LEVEC,
8. 163); dies darf uns jedoch nicht zu der Annahme verleiten, „daß diese
Gegenden zur Zeit der [deutschen] Landnahme noch unbesiedelt waren‘
(LEvec, 8.85). Nein, sie waren besiedelt, wenn auch nicht fest, sondern mit
fliegenden Dörfern, die den jeweiligen Schwenden Jahr für Jahr nachrückten.
2) Daß Getreidebau auf Bergabhängen begonnen hat, nicht in [tiefen]
Tälern, wird vielfach angenommen und mag am Ende richtig sein, nur soll
man diese Hypothese nicht in historische Zeiten verpflanzen und mit der von
Eouarp Hanx (Die Haustiere und ihre Beziehungen zur Wirtschaft des
472 J. Peisker
Zu diesem Zwecke zählte der Machthaber die vorhandenen
Zupane einerseits und die Bauern andererseits ab, und es stellten
sich dabei 3-6 mal so viele Bauern als Zupane heraus. Nach diesem
Schlüssel verteilte er dann die Bauernschicht unter die einzelnes
Zupanenverbände und wies jedem Verbande so viel Land za,
daß auf jeden Bauer eine und auf jeden Zupan zwei Huben
Landes entfielen. Es wurde dabei just der Schlüssel 1:3-6 an-
gewendet, denn man findet dieses Verhältnis gerade bei den zwei
so auffallenden, voneinander weit entfernten Zupanenverbänden vor:
In loco Cvom sunt v supani ... Sub eisdem supanis sunt
xvti] predia = 1:3'0.
In Pechsen xl predia et xj supani = I:3°04.
In loco Cvom teilte der deutsche Machthaber dem Verbande
Menschen. Leipzig 1896, S. 884 f., 398 ff. 410 — Das Alter der wirt
schaftlichen Kultur. Heidelberg 1905, S. 4f.) abgetanen Theorie von dem
Hirtentum als angeblicher Vorstufe des Ackerbaues verknüpfen, denn die
Entstehung des Ackerbaues ist von der vermeintlichen Hirtenstufe ah
Entwicklungsstadiums der Menschheit gänzlich unabhängig; der Ackerbau
entstand nicht dadurch, daß um ihre Herden gekommene Hirten sich der
Bodenbestellung zuwenden mußten, sondern er entwickelte eich aus dem Hack-
baue, und die ersten Bebauer waren keine gewesenen Hirten, sondern Früchte
sammler. Daß verarmte Hirten zur Bodenbestellung Zuflucht nehmen, s
die benachbarten oder unterjochten Bauern nachahmend, ist eine Tatsache
für sich, die mit der Entstehung des Ackerbaues nichts zu schaffen hat
Während nun der Ursprung des Ackerbaues allenfalls auf [mäßigen, Über
schwemmungen nicht sehr ausgesetzten] Höhen zu suchen ist, so kann daraus
nicht gefolgert werden, daß jedes Volk nach jeder Landnahme zuerst die
Höhen zu bestellen anfing. Diese Folgerung wurde — auch von mir — de
durch gestützt, daß namentlich in vielen Ländern Mitteleuropas auch hobe
Gebirge bis zu den Gipfeln Spuren von Ackerbeeten zeigen. Diese Spurea
hängen jedoch mit dem ersten Anbau nicht zusammen, besonders dort nicht,
wo die felsige Unterlage unter der dünnen Humusschicht von der Pfug-
schar angefurcht ist, denn die einjährige Brandwirtschaft kennt überhaupt
keinen Pflug und auch keine Beete, welche Jabrtausende überdauern würden.
Solche Beete mit pfluggefurchter Steinunterlage sind demnach Spuren nicht
eines primitiven Ackerbaues, sondern einer intensiven, mit Düngung ver
bundenen und durch ungeheure Übervölkerung hervorgerufenen vorgermaai
schen, also vorhistorischen Bestellung permanenter Äcker, welche intensire
Bestellung die Germanen der großen Völkerwanderung jedenfalls nicht fort
setzten, weil sie bloß einjährige Saatfelder kannten und dazu weder st
pflügen, noch zu düngen brauchten.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 473
ler 5 Zupane und den ihnen zugewiesenen 18 Bauern eine Fläche
m Ausmaße von 28 Huben ab und dementsprechend in Pechsen
lem Verbande der 11 Zupane und den ihnen zugesprochenen
O0 Bauern 62 Huben Landes. Dasselbe Verhältnis wurde auch
ki jedem der übrigen Zupanenverbände eingehalten. Das Huben-
naß war nicht allerorten gleich, wie die Berechnungen der ein-
einen Ortsmarken ergeben, es wurde dabei augenscheinlich die
3odengüte berücksichtigt. Weiter kümmerte sich der Machthaber
im die Verbände nicht, es ihrer Willkür überlassend, wie sie
ich auf den ihnen angewiesenen Gebieten einrichten, unter sich
lie ihnen zugesprochene Bauernzahl teilen oder ungeteilt bleiben.
m Amte Lichtenwald lernten wir zwei Ortschaften kennen, Prunne
nd Schriemez inferior, wo je zwei Zupane auf einer ungeteilten
‚upa wirtschafteten, und so war es möglicherweise auch in loco
'vom mit den 5, in Pechsen mit den 11 Zupanen.
Durch die Dislokation beabsichtigte jedoch der Machthaber
eineswegs, die einzelnen Zupane untereinander gleichzustellen,
enn tatsächlich bestand in ihrer Ausstattung mit Bauern die
rößte Mannigfaltigkeit; der Deutsche hatte eben gar kein Inter-
se daran, dem reicheren Zupan etwas zu nehmen, um es dem
meren zu überweisen. Offenbar hatte der einzelne Zu-
an zur Zeit der deutschen Eroberung überhaupt
ein Sondereigen an Hörigen, denn wäre er für sich
rundherr gewesen, dann hätte bei der Neuordnung das gleich-
äßige Verhältnis von 1:3°6 nicht herauskommen können. Dies
2ckt sich genau mit der Lebensweise der Nomaden, welche in
leineren Familienverbänden, Horden, auf weiten Strecken mit
ren Herden herumwandern, heute diesen, morgen jenen Bauern-
eiler heimsuchend, so daß sich ein Abhängigkeitsverhältnis von
erson zu Person gar nicht entwickeln kann. Weidet die Herde
en Platz ab, dann zieht sie weiter. Sofort kann ihr eine zweite
erde nicht nachrücken, denn der abgegraste Platz muß sich
üher erholen. Die Natur selbst erzwingt sich hier eine gewisse
:hlagmäßige Schonung, und eine Art Behörde, magistratus, muß
arüber irgendwie wachen, daß die freien Nomaden rechtzeitig
nd an den bestimmten Plätzen immer Weide finden, ohne ein-
nder zu beeinträchtigen. Das Interesse der hörigen Bauernschaft
474 J. Peisker
kommt dabei erst in zweiter Reihe in Betracht und nur, soweit dadurch
das Interesse der Nomaden nicht geschädigt, vielmehr gefördert
wird. Wacht kein magistratus darüber, dann ist der Bauer
schlecht daran, und die einzelnen Nomadenhorden liegen sich
beständig in den Haaren’).
Diese Lebensweise des Nomaden erklärt es, warum der unter-
steirische Bauer vor der deutschen Landnahme keinen persön-
lichen Grundherrn hatte, haben konnte: Die Gesamtheit der
Bauernschaft hatte eben die Gesamtheit der Zupane zu ihrem
Grundherrn. Dadurch erklärt sich auch, wieso der deutsche
Machthaber die Bauernschaft nach einem und demselben, gemein-
samen Schlüssel dislozieren konnte; hätte er persönliche
Grundherren vorgefunden, dann hätte er nichts zu dislozierer
brauchen, die Bestiftung des Zupan mit zwei und dessen Banen
mit je einer Hube unmittelbar vornehmen können; dies ist jedoch
nicht geschehen, denn der ermittelte Prozentsatz von 1 : 3°6 ergibt
eine peinlich genaue Gleichmäßigkeit in der Verteilung der Bauen-
schaft an die einzelnen Zupanenverbände.
Nachdem nun diese Gleichmäßigkeit des Prozentsatzes 1:36
über jeden Zweifel erhaben ist, wie kommt es, daß dann inner-
halb eines jeden Zupanenverbandes die einzelnen Zupane gar
so ungleichmäßig mit Bauern beteilt sind?
Darauf ist nur Eine Antwort denkbar:
Schafwanderhirten leben den Sommer über in kleinen Lagen,
Horden*), oft nur zu 3—5, höchstens zu 10—12 Jurten, Zelten‘)
weil größere Verbände mit dem vielen Vieh den Platz schneller
abweiden würden, als man bei der Wanderung vorwärtskommer
1) Ein Teil der Balkanrumänen, Wlachen, führt bekanntlich bis heute
ein reines Schafwanderhirtenleben, im Sommer auf den Bergen, im Winter
auf slawischen oder griechischen Bauerndorfmarken. Das Gesetzbuch des
serbischen Zaren Stephan Dusan vom Jahre 1849 bestimmt: Wo ein Wick
oder Albaneser auf einer Dorfmark [selo] lagert, auf derselben Dorfmark sell cs
zweiter, der nach ihnen wandert, nicht lagern. Kampiert er da gewaltsem, dam
soll er zahlen die potka (Raufhandel, dann Buße dafür, im Betrage von 100 Per
per) und was er abgeweidet hat. — 3aKolumxk Crebana ]ymana. Ha 50%
nanao Cr. HoBakoBuh. Y Beorpary 1898 $ 82 S. 196.
2) Turkotatarisch sr, Lager. VÄMBERY, Primitive Cultur, 8. 19.
3) HILDEBRAND, 8. 80.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 475
kann. Die Horden sind nicht beliebig zusammengewürfelt, son-
dern blutsverwandt, es sind cognationes, nach Genealogien ver-
zweigt. Den Vater beerben nur die Söhne, und zwar gleichmäßig.
Soll etwas geteilt werden, was bisher der ganzen Horde gehört
hatte oder ihr zugefallen ist, so kann bei der Teilung gar nichts
anderes als die Stufe der Parentel maßgebend sein, und wenn
ein Mann mehr Söhne hat als sein Bruder, dann entfällt von dem
Großvatergut auf jeden seiner Söhne ein geringeres Erbe als auf
jeden dieser Neffen.
Demgemäß werden auch die unsteirischen Zupanenhorden
nicht sehr volkreich gewesen sein, wie die oben S. 465 ff. ermittelte
Prozentierung unter den einzelnen Verbänden zeigt. In loco Cvom
sind es 5, in Pechsen 11 Zupane; dagegen ist der Verband von
26 Zupanen der zweiten Provinz des Amtes Tüffer für Eine Horde
viel zu hoch und dürfte mebrere einstige Horden umfaßt haben.
Bei der Verteilung der gesamten Bauernschaft der ganzen
einstigen, ungeteilten großen Zupa wurden, wie schon wiederholt
bemerkt, alle Horden von dem deutschen Machthaber ganz gleich-
mäßig bedacht, und einer jeden fielen dabei 3‘6mal so viele
Bauern zu, als Zupane in der Horde derzeit waren, z. B. in loco
Cvom den 5 Zupanen 18 Bauern, und diesen 23 Familien wur-
den dann 28 Huben Landes zugemessen, wovon auf jeden Zupan
eine Quote von zwei, auf jeden Bauer eine von einer Hube
entfiel. Weiter kümmerte sich der Machthaber um die Leute
nicht, und es stand den 5 Zupanen frei, diesen Komplex von
28 Huben als ungeteiltes Weide- und Brandackerrevier more
paterno zu nutzen oder ihn mitsamt der Bauernschaft unter sich
zu teilen. Welche von den beiden Eventualitäten die 5 Zupane
in loco Cvom ausführten, ist nicht sicher, aber bei den meisten
übrigen Verbänden fand eine reine Teilung unter die einzelnen
Zupane statt. Diese Teilung der den Zupanenverbänden gleich-
mäßig zugewiesenen Bauern unter die einzelnen Zupane fiel derart
ungleichmäßig aus, daß z. B. von den 26 Zupanen der zweiten,
vermutlich mehrere einstige Horden bergenden provincia des
officium Tüffer, jener ex regimine Livtoldi schephonis, drei Zupane
je 6, zwei je 5, sieben je 4, sechs je 3, sieben je 2 und ein
Zupan 1 Bauer erhielt. Man würde hier zwei Zupane mit je
476 J. Peisker
einem Bauer erwarten, als Erben eines ZweibauernZupan; der
eine von den zweien konnte sich offenbar nicht halten, sein Aı-
wesen verödete, wie viele andere, im Rationarium vermerkte
Wüstungen.
Nun wolle man nachdenken, ob hier ein anderer Teilungs-
modus denkbar ist als der nach den Stufen der Parentel; ich
weiß keinen.
Dort, wo die Teilung der zugesprochenen Bauern und der
hubenmäßig angewiesenen Bodenfläche unter die einzelnen Zu-
pane rein durchgeführt worden ist, bildete jeder Zupan mit seinen
Bauern zusammen eine wirtschaftliche Einheit, deren Gebiet eine
selbständige Zupa als Weide- und Brandackerrevier ausmachte
und ob der Beschränktheit des Raumes auf die Dauer nur be
strengster Schlagmäligkeit mit Erfolg bewirtschaftet werden konnte.
Die Brandackerwirtschaft haben wir bereits ausfülhr-
lich besprochen. Ihr Erfolg ist bei der ersten Saat qualitatir
glänzend, das Brandgetreide ist das denkbar beste, aber für
einen weiteren Anbau quantitativ von der Bodengüte abhängig
und auch auf einem und demselben Boden nicht dauernd gleich.
Wird der Boden zu stark genützt, dann läßt seine Ertragr
fähigkeit nach und versagt schließlich manchenorts gänzlich.
Und wie diese steigt und wie sie sinkt, sinkt und steigt — im
umgekehrten Verhältnis — die Viehzucht, welche sich die durch
den Raubbau wüst gewordenen Plätze zugute macht. Es gedeiht
somit auch die Viehzucht nicht allerorten gleich und schlägt über-
dies an einem Orte zugunsten der Schafzucht, an einem andem
zugunsten der Schweinezucht aus. Über die Rinderzucht ver-
sagen die Quellen jede Auskunft, herdenweise wurde sie jeden-
falls nicht betrieben.
Die Bewirtschaftung der Zupa als Weide- und Brandacker-
revier bildete den Rest der einstigen Zupanenherrlichkeit; hier
waltete der OrtsZupan zu eigenem Nutzen und hatte dabei selbst
verständlich auch gewisse politische und richterliche Funktionen:
er war unter der deutschen Herrschaft zugleich grundherrlicher
Schulze.
Schon sein doppelter Anteil an Grund und Boden verschaffte
ihm ein großes Übergewicht über seine wenig zahlreichen Hübner,
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 477
nd die Gewalt, die er als Ordner des wirtschaftlichen Turnus
a ganzen Ortsgebiete handhabte, dürfte unter Umständen noch
rückender gewesen sein, als wir uns vorzustellen vermögen,
enn es bildete hier nicht die Hube, sondern der ganze Ort die
leinste wirtschaftliche Einheit: gemeinsam wurde gerodet, ge-
‘bwendet und, wo es der Boden zuließ, mit gemeinsamem
-atrum geackert, gemeinsam einerseits das Gereute gezäunt,
ıdererseits die Schafherden geweidet. Hier war die Hube nicht
as, was man unter einer solchen etwa bei der Dreifelderwirt-
;haft versteht: keine Gewann-, keine Wald-, keine Marschhufe;
ier war die Gesamtheit der Ortsäcker nichts anderes als ein
lock fliegender Quoten, welche alljährlich auf der einen Seite
ch in den Wald vorwärtsschoben und auf der anderen Schlag
ir Schlag in ihm wieder aufgingen !).
Dieses Walten des Zupan zu eigenem Nutzen war unter der
eutschen Herrschaft nicht mehr willkürlich; wir sehen da je
ine Anzahl von OrtsZupen in eine provincia vereinigt: die eine
it 14, die zweite mit 26, die dritte mit 14, die vierte mit 18
ırtszupen. An der Spitze jeder provincia war, ad personam, einer
er Ortszupane als schepho, ein wirtschaftliches Verwaltungs-
rgan, welchem ein preco zur Verfügung stand. Vier solche
rovinciae bildeten die Herrschaft Tüffer unter der Verwaltung
ines officialis, Amtmannes ?).
Nach der in Krain üblichen Terminologie zu schließen, war
er oflicialis der Herrschaft Tüffer zugleich Richter des ganzen
tebietes, die vier schephones, Schaffer, zugleich seine sententiarii,
frteiler, und die vier precones zugleich Schergen*). —
Anders Levec: „Über die Dorfverwaltung im Draufelde [wozu die Herr-
:haft Tüffer nicht gehört] besitzen wir aus dieser Zeit [XIII. Jahrhundert)
ur wenig Nachrichten. An der Spitze der einzelnen Dörfer steht [auch hier]
1) PEISKER, a. a. O. S. 370 [132] f.
2) Ausführlicher: PEISKER, a. a. O. S. 378 [140] ff.
3) 1266: Ulrich Herzog in Kärnten und Herr zu Krain... unsern lant-
ichtern, marchtrichtern, schaffern und schergen . ...
...sensern richtern, urteilern, schergen und ambtleuten ...
... 3udicidbus, preconibus, sententiariis, officialibus . .. .
Urkunden- und Regestenbuch des Herzogtums Krain. Heraus-
regeben von SCHUMI, II. Laibach 1884 und 1887, Nr. 232, 220, 219.
478 J. Peisker
gewöhnlich ein Supan, der regelmäßig eine zinsfreie[‘)] Doppelhufe
innehat... An drei Stellen wird uns iberdies ein Schepho erwähnt:
In Chressendorf xix predia, de quibus Georius schepho habet iij antiqu
sure et preco habet j. Aliorum vero xvj census cuiuslibet soluit ...
Item in Maiori Prechpbhel xxvij predia, de quibus supanus habet ij à
schepfoi. Alia ut supra.
Item in Christantstorf sunt x predia, de quibus supanus habet ij. Census
vero aliorum viij pro quolibet mellis i quartale. Item tota villa dat num porcum
vel x denarios, agnum vel viij denarios, que tollit schepho, ut asserii,
suo iure (RAUCH, a. a. O. 8. 140 f.).“
„Ich glaube nicht fehlzugehen — setzt LEVEC fort —, wenn ich zunächst
feststelle, daß der Schepho Beamte ist und daß ihm als solchen gewisse
Naturaleinkünfte zustehen. Er erscheint neben dem Supan, ist also mit
diesem nicht zu identifizieren. Nur stellenweise scheint das Amt eines Schepho
and des Supans in einer Hand vereinigt gewesen zu sein. Auf diese Weise
sind wohl die drei zinsfreien Hufen des Georius Schepho in Chressendorf
zu erklären; zur Doppelhufe des Supans ist hier als dritte die zinsfreie Hufe
des Schepho dazugetreten. Als Regel wird also wohl anzunehmen sein, dad
beide Ämter, wie in Prechbüchel und Christantstorf, getrennt warez
und dem Schepho außer Naturaleinkünften als Entgelt für
seine amtliche Mühewaltung auch der Besitzeiner zinsfreien
Hufe zugewiesen war.“
1) Dies ist nicht richtig: Zi: sunt proventus prediorum in Marchgurch:
Primo in Superiori Cirkents xij predia, de quibus supanus habet ij. Aliorum vere
x cuiuslibet census solvit... Item supanuseiusdem ville dat de suo iure
offieiali i modium tritici, agnum vel vj denarios, porcum vel xx denaries.
Jtem magistro coquine solvit panem i et pullum et i gorz avene... Item
in media Zurkents sunt viiij predia, de quibus supanus habet ij. Alia vero sotosat
ut supra. Item in inferiori Zirkentz sunt xv predia, de quibus supanus habet ij...
Census vero aliorum . .. cuiuslibet solvit in omni iure ut supra. Cuius sie vilk
summa habebit...et de iure officialis... Hec autem predicta omnia preter
ius supani, in quo specialiter servit officiali [offenbar so wie ia
Superiori Cirkentz]. em in inferiori Wikoyn sunt xviij predia, de quibus supanus
habet ij... Aliorum vero...eensus... Hec autem omnia preter ius supani,
in quo specialiter servit officiali. Item in inferiori Gostyray sunt zii
predia, de quibus habet supanus ij. Alia vero xij cuiuslibet census solvit ut supri...
Hec omnia preter ius supani [in quo specialiter] solvit offr
ciali (Rauch, D. S. 136 ff.).
Dies galt offenbar für alle weiteren Dörfer des ganzen Amtes und wurde
der Kürze wegen nicht mehr bei jedem einzelnen Orte angeführt, sonder
bloß die Abweichung vermerkt: /em in Bobrisach x predia, de quibus supanus
habet ij et servit principis coquine (a. a. O. S. 143).
Der Zupan zinste somit tatsächlich, wenn auch sein Zins nicht
dem Grundherrn, sondern dessen Officialis zugute kam.
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Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren ete. 479
„Es fragt sich nur, was für ein Amt der Schepho bekleidete. Die Be-
zeichnung als solche weist auf einen richterlichen Beamten, und in der
Tat hat auch WERUNSKY, Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte S. 287,
ihn mit dem Vollstreckungsbeamten des Landrichters, dem Schergen (freco)
identifiziert und den Titel Schepho aus einer Rügefunktion des Schergen zu
erklären versucht... So bestechend auch diese Erklärung auf den ersten
Blick erscheinen mag, so muß sie schon aus dem Grunde abgelehnt werden,
weil Precones neben dem Schepho selbständig erscheinen (vgl. die Angabe
über Chressendorf). Dabei ist nun zu beachten, daß dort, wo dies der Fall
ist, der Scherge ein geringeres Maß an Grundbesitz erhält als der
Schepho. Daraus läßt sich schließen, daß dieser im Beamtenorganismus des
Landgerichtes einen höheren Rang eingenommen habe, d. h. wir haben
im Schepho wohl den Nachrichter (subiudex), ein dem Landrichter
untergeordnetes richterliches Organ, zu sehen (dazu v. LuscHın, Geschichte
des älteren Gerichtswesens in Österreich S. 127).“
„Einen anderen Charakter scheint der Schepho im Amte Tüffer zu
haben ... Das Amt eines Schepho wurde [hier] stets durch einen Supan
bekleidet. PEISKER (a. a. O. S. 381, im SAbdr. 143) vermutet, daß Schepho
hier ‚eine nicht ganz glückliche Übersetzung des slawischen Ausdruckes‘ für
die leitende wirtschaftlich-administrative Würde (v/adika) im ehemaligen
Weiderevier, der Zupa, sei... Meines Erachtens ist die Erklärung PEISKERS
jedoch verfehlt. Deutet der Ausdruck selbst, wie auch PEISKER zugeben
mu, auf einen richterlichen Beamten, so ist die enge stilistische Parallele
von schephones et precones gewiß zu beachten. Sie läßt auch auf sachliche
Zusammengehörigkeit beider Ämter schließen. Nicht auf der wirtschaftlichen,
sondern auf der richterlichen Tätigkeit des Schepho liegt der Hauptton.
Aus der Tatsache, daß in Tüffer regelmäßig die Schephones Supane waren,
darf für den Charakter des Amtes nichts gefolgert werden, denn auch zum
Amte der Precones werden — wenn auch nicht immer — Supane genommen.
Ebenso ist es unrichtig, daß die Schephonate nur nach der Person des Schepho
benannt werden (vgl. die Ausdrucksweise /rovincia de Trevül u. 8. w. bei
PFISKER a. a. O. S. 379, im SAbdr. S. 141)... Auch ist es methodisch
verfehlt, wenn PEISKER zur Erklärung des ‚Schepho‘ krainische Urkunden
beranzieht, die Angaben des Rationariums über Schephones im Amte Marburg
aber ganz außer acht läßt. So dürfte denn meines Erachtens auch der
Tüfferer Schepho zunächst ein richterliches Organ, der sogenannte Nachrichter,
gewesen sein. Ebenso, wie stellenweise dem Landrichter selbst, sind auch
ihm daneben Funktionen der wirtschaftlichen Verwaltung übertragen worden.
Daher, von der wirtschaftlichen Seite seines Amtes, stammt auch sein Amts-
bezirk, dessen Vorhandensein PEISKER bewogen hat, ungerechtfertigterweise
von ‚in der Rechtsgeschichte des deutschen Volkes ganz unerhörten Dingen‘
zu sprechen und den Schephonat für eine ‚dem dentschen Wesen wildfremde
Institution‘ zu erklären“ ').
1) Levxc, a. a. 0. S. 164 fl.
480 J. Peisker
Diesen Ausführungen kann ich nicht beitreten.
Zunächst über das Amt Tüffer: LEVEC stimmt mir bei, daß der Schepho
sowohl ein richterlicher als auch ein wirtschaftlicher Verwaltungsbeamter
war, und nur in der Frage gehen wir auseinander, welche von den beiden
die Hauptfunktion sei.
Ich halte die wirtschaftliche Verwaltung als die Hauptfunktion
des Schepho. Dazu führt mich schon der Wortlaut des Rationarium
Stirie vom Jahre 1265 und des Liber predialis von Rann und Lichter-
wald vom Jahre 1809. Im Rationarium lesen wir:
Hic reperiuntur predia officii de Tyuer...
[7.] [tem in Scheyr ij predia, ibidem schepho Tyrridei (1) ij predis, &
quibus nichil solvit..,
Hec predicta sunt sub regimine schephonis Gyrredei, quorum
summa est Ixxxxiiij [1], de quibus xliij respiciunt in Sibenekke et v su-
pani, aliarum supanorum est numerus xj [!].
Summa tritici de schephonatu Gyrdei xxxviijÿ mod...
[1Z] Item de eodem officio in Tyuer ex regimine Livtoldi schephonis
subscripta predia discernuntur, videlicet de provincia de Trees!
(Bach Trifail sw. v. Steinbrück)...
Summa prescriptorum prediorum in Trevol lzxxviij et xxv supani...
[LIL] Item apud aguam que dicitur Schoma...
Item in Weidiz vj predia. Ibidem habet schepho ij predia, de gwibus
nichil solvit ...
Summa prediorum iuxta Schôma cij predia et xviij [!] supani...
Diese provincia war ex regimine schephonis Jurizla, laut einer.
Urkunde vom J. 1279: „... Ztem in Tyuer redditus trecentarum marcarum à
officio quatuor schepfonum, in officio schephonis Gerdei, in officio schephe
nis Leutoldi, in officio schephonis Jurisla, in officio schephonit
Zaschiz. In his vero quatuor officiis sunt nobis assignate quingente vigint dl
quatuor huebae cum dimidia exceptis extractis, inter quas sunt supani
centum et duo‘),
[ZV.] Hec sunt predia de regimine schephonis Zaschirs...
Item in Pirch vj predia. Ibidem habet schepho duo, de quibus nickl
solvit ...
Summa illorum prediorum c et vij [1], et supani xviij.
Summa vero totalis prediorum officii in Tyuer quingenti et xxix (xx!)
et À, de quibus xj redacta sunt in octo sweigas.
Summa vero totalis istorum supanorum c et ij.
1) Original im Wiener Staatsarchive. Nach der Abschrift des steier
märkischen Landesarchives zu Graz. Schlecht abgedruckt bei Lambacher,
Österr. Interregnum. Wien 1773. Anhang, S. 177, nach Herrgott, Num
motheca principum Austriae, pars I. tomi IL Monumentorum Aug. Domus
Austriacae. Friburgi Br. 1752, S. 252.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 481
Summa vero totalis tritici ceclij mod. et iij mensur ..., de quibus sche-
phones et precones recipiunt viij mod. tritici et avene ix mod.
et ij mensur., de porcis viij, oves vii).
er predialis urborie ecclesie Salzburgensis in Rayn et
Lihtenwalde conscr. ... 1309:
Et primo in officio Rayn...
ossissowicz fuerunt hube x, que per aquam sunt destructe. Ibidem residet
Adelpreht schepho. Item duo coloni ibidem de duabus hubis serviunt
sure medio.
ltenburch fuerunt quondam hube x, quarum magna pars destructa est per aquam.
Harum suppanus Radona habet ij, qui est preco et nichil servit.
Officium in Liehtenwalde.
wperiori Welich sunt hube viij pleno iure, quarum schepho suppanus
habet ij pro iure suo et nichil servit...
Lapide sunt 'hube üiij... quarum suppanus habet ii... Item preco
hatet hubam j itidem pro iure suo et nichil servit.
Das officium Tüffer zerfällt in vier provinciae, an deren Spitze stets je ein
zupan als Schepho steht. Nach ihm wird im Rationarium in drei Fällen
e provincia benannt; in einem Falle steht zwar sein Name nicht, die provincia
| bloß nach dem Flusse Sann angeführt; dies hat jedoch nichts zu be-
en, es ist eine bloße Unterlassung des Schreibers, wie die von mir an-
ihrte Urkunde vom Jahre 1279 beweist. Da nun im ganzen Amte Tüfier
provincia nach dem Namen des jeweiligen Schepho — eines der Orts-
ıne —- angeführt wird, so folgt daraus, daß das Amt eines Schepho nicht
inen bestimmten Ort und ein bestimmtes Dienstgut gebunden ist, sondern nach
Tode seines Trägers an einen beliebigen OrtsZupan der provincia über-
en wird. Dasselbe ist auch für die Ämter Rann und Lichtenwald anzunehmen.
Im Amte Tüffer heißt es: sudregimine schephonis Gyrredei ; ex regimine
oldi schephonis; de regimine schephonis Zaschirz, wäre der Schepho vor-
gend Richter, dann wäre statt de regimine wohl ein anderer Aus-
k. z. B. de iudicionatu, zu erwarten. Der Ausdruck de regimine
t schon allein auf einen wirtschaftlichen Verwaltungsbeamten hin,
t aber auf einen, der vorwiegend Richter wäre; daß er auch das letztere
gewesen ist, darüber sind wir alle einig.
Sub regimine schephonis Gyrredei standen 94 Bauernhuben (predia) und
fupane; sub regimine Livtoldi schephonis 88 predia und 25 Zupane; [sub
mine] schephonis [Jurizla] 102 predia und 18 Zupane; sub regimine
phonis Zaschirz 107 predia und 18 Zupane. Davon sind jedoch die
ia der „upanlosen Ortschaften, der s#fano carentes, als später hinzu-
etener Neuanlagen abzuzählen, und zwar in der I. Provinz 44, in der
Provinz 24, in der IV. Provinz 39. Dies ergibt dann, nach Richtig-
ung der fehlerhaften Schlußrechnung des Rationariums'):
1) Siehe oben S. 480.
ferteljabrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgoschichte. III. 82
482 J. Peisker
U: „ HH nn 89 »
I:13 „ „MM. 5» 4» 3 rn n
IV:17 „ Be à Hy 71 »
Ich frage: Wäre für eine so geringe Bauernzahl einer provincia je ein
besonderer Richter vonnöten? Gewiss nicht, wohl aber ein Organ, welches
die den Zupanen und deren Bauern auferlegten Zinsungen eintrieb und an
den officialis des ganzen Amtes Tüffer abführte. Somit bleibt meine ursprüng-
liche Erklärung aufrecht: Der Schepho ist ein wirtschaftlicher
Verwaltungsbeamter, zugleich mit richterlichen Funktionen
als sententiarius.
Die sozialen Zustände des Amtes Tüffer mit den vielen Zupanen stehen im
Rationarium vereinzelt da; sie lassen sich mit den Zuständen gar nicht ver-
gleichen, wie sie namentlich auf dem Marburger [und Pettauer] Draufelde vor-
kommen, dessen durchwegs große Dörfer viel später, erst unter der deutschen
Herrschaft (seit 985) '), angelegt worden sind. Von der Organisation des Amtes
Marburg habe ich demnach bei meiner Analyse des Amtes Tüffer mit vollem
Rechte abgesehen, ja absehen müssen. Dagegen erscheinen in gewissen
Gegenden des benachbarten Krain die Zupane ebenso massenhaft; Levec
führt ja selbst (siehe oben S. 833 f.) zwei Dörfer in Krain (Holaren und die
villa Vitigos) an, in denen ebenso je zwei Zupane vorkommen, wie in Pranse
und Schriemez inferior des Amtes Rann, in der unmittelbaren Nachbarschaft
von Tüffer (siehe oben $. 348 f). Die Krainer Urkunden vom Jahre 1256, die
ich heranziehe, betreffen das ganze damalige Land Krain, die Stellen: sas:
lantrichtern, marchtrichtern, schaffern und schergen. — unsern richtern,
urteilern, schergen und ambtleuten. — iudicibus, preconibus, sententiariis,off-
cialibus beziehen sich demnach mit auch auf diese alten Zupanengebiete. Also
habe ich mit demselben Rechte, mit welchem ich von den späten Kolonien
auf dem Draufelde im Amte Marburg absah, diese Krainer Urkunden heran
gezogen und auf die wahrscheinliche Gleichheit der Sckepkones in Tüffer und
Rann-Lichtenwald mit den Krainer Schafern und Urteilern (sententiarü) hin
gewiesen.
Jetzt noch ein Wort über die schephones des Amtes Marburg selbst
(Rauch II. 8. 136 ff... An der Spitze des Amtes stand auch hier ein offr
cialis, und sein Amtsbezirk zerfiel in zwei Schephonate. Die Stelle
des Rationariums, die sich darauf beziehen, lauten:
Hii sunt proventus prediorum in Marchpurch:
[Z.] Primo in superiori Cirkentz xij predia, de quibus supanus habel ij...
[folgen die Zinsungen], ag %ec solvit [das Dorf] officiali i mensues
tritici [und anderes]. em preconi solvit i gors tritici. Item supess
eiusdem ville dat de swo iure officiali i modium tritici [und anderes}
Item magistro coquine solvit panem unum. Folgen die übrigen Dörfer,
1) LEVEC, S. 163, 167.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 483
darunter: /tem in Ztrelkendorf xij predia, de quibus supanus habet
ij, officialis ij. Alia ut supra. Item in Zammerkowe sunt xvij
predia, de quibus supanus habet ij. Vrbanus schepho à. Alia ut
supra...»
Summa prediorum ex ista parte Trake [am linken Ufer des
Drauflusses] cc minus iiij et xviij supani, qui habent xxxvÿ predia (a. a. O.
S. 141).
[I] Item ex altera parte Trahe: In Chressendorf [Kranichs-
feld, südl. v. Marburg] xix predia, de quibus Georius schepho habet
ij antiguo iure et preco habet }. Aliorum vero xv] census cuiuslibet
solvit tritici i modium | und anderes]... Folgen die übrigen Dörfer,
darunter: /em in Maiori Prechpdhel [Prepola, sö. v. Marburg,
nw. v. Pettau] xzxv:j predia, de quibus supanus habet ij et schepho i.
Alia ut supra... Item in Chrisantstorf [Kroisendorf, nördl.
v. Studenitz] sur? x predia, de quibus supanus habet ij. Census vero
aliorum viij pro guolibet mellis i quartale. Item tota villa dat unum porcum
... agnum ... que toilit schepho ut asserit suo iure. In Pechsen-
dorf xiij predia, de quibus supanus habet ij et precoi. Aliax in
messe et in aliis ut supra in Chrisantzendorf...
Summa prediorum ex altera parte Trakhe [am rechten Drau-
ufer] ccce minus ij...et xxxvj supani, quorum quilibet habet ij predia.
Summa prediorum totalis [in officio Marchpurch] cum supanis de,
sed de eadem summa x sunt penitus inculta.
Die Organisation des Amtes Marburg, namentlich die des Draufeldes,
ammt, wie schon beinerkt worden, nicht aus der slawischen Zeit her, sie
arde erst nach Durchführung einer starken Kolonisation nach der deutschen
ndnahine — seit dem Jahre 985 — durch Vermessung in Königshufen
ngerichtet. Von diesen neuen Zuständen ist ein Rückschluß auf die Tüfferer
erhältnitse nicht zulässig, die Marburger Zustände müssen für sich besonders
handelt werden.
Und wenn LEVEC unter Berufung anf Maior Prechpthel und Christants-
rf sagt: „... der Scheppo ... erscheint neben dem Supan, ist also mit
esem nicht zu identifizieren. Nur stellenweise scheint das Amt eines
hepho und des Supans in einer Hand vereinigt gewesen zu sein,“ so ist
ein MiBverständnis; denn in Maiori Prechpthel saß ebensowenig wie in
ıristantstorf je ein besonderer Schepho, und die Stellen beziehen sich auf
n Georius schepho des [II.] schephonates, des ex altera parte Trahe. Somit
ıtfällt auch LEvEcs Schlußfolgerung: „Auf diese Weise sind wohl die drei
nsfreien Hufen des Georius Schepho in Chressendorf zu erklären; zur
oppelhufe des Supans ist hier als dritte die zinsfreie Hufe des Schepho da-
ıgetreten. Als Regel wird also wohl anzunehmen sein, daß beide Ämter,
ie in Prechbüchel und Chrisantstorf, getrennt waren und dem Schepho außer
sturaleinkünften als Entgelt für seine amtliche Mühewaltung auch der Besitz
ner zinsfreien Hufe zugewiesen war.“
484 J. Peisker
Eher hätte sich LEVEC auf Zammerkowe berufen können. Dort waren
zvij predia, de quibus supanus habet ij, Urbanus schepho i!), Allein auch
diese Stelle berechtigt nicht zu der Annahme, daß hier ein Schepho neben
dem Zupan bestehe, sondern eher neben einem zweiten Zupan, denn zwei
Zupane in einem Orte sind in Untersteiermark und Krain, wie wir bereits
gehört haben, nicht vereinzelt, und wir haben auch vereinzelte ein hubige 2u-
pane kennen gelernt (siehe oben S. 348 Anm. 1).
Auffallender ist es, daß der Schepho des zweiten Schephonates, des ex
altera parte Trahe, mit dem Sitze in Chressendorf, drei Huben daselbst und
überdies in Maiori PrechpŸhel noch eine vierte besitzt. Das erstere ist offen-
bar dem Verfasser des Rationarium (Helvicus notarius, der im Auftrage des
Statthalters König Ottokars IL., Bischof Brunos von Olmütz, die Katastrierung
der landesherrlichen Einkünfte in Steiermark vornahm) ebenfalls aufgefallen;
er untersuchte diesen Fall und vermerkte: /n Chressendorf xix predi, à
quibus Georius schepho habet iij antiquo iure (siehe oben S. 483). Zu ver-
gleichen die Stelle: Zem tota villa [de Chrisantstorf] daf à porcum . .. agnum ...
que tollit schepho ut asserit suo iure. Dies gab der Georius schepho dem
Notarius selbst an, und niemand widersprach. Vielleicht ist die ungewöhn-
lich reiche Bestiftung dieses einen Schepho auf dessen ausgedehnten Amts-
bezirk (370 Huben, die Zupanengüter eingerechnet) zurückzuführen, allein
der Vermerk antiguo iure ist nicht so zu verstehen, daß das Dienstgut seit
jeher dreihubig war, es ist erst mit der Zeit, möglicherweise per nefas, s
groß geworden —*).
Die aus dem Rationarium Stirie v. J. 1265 statistisch er-
mittelten altslowenischen Zustände vor der deutschen Landnahme
lassen sich, wie wir ausführlich dargelegt haben, unmittelbar an die
turko-altslawischen Verhältnisse als deren Fortsetzung anknüpfen.
Waren ja auch die Slowenen von den Awaren geknechtet, und die
awarische Knechtschaft schildert FREDEGAR in taciteischer Kürze
und Deutlichkeit. Und indem wir annehmen, daß es auch bei den
Daleminziern (siehe oben S. 320—329) nicht anders war, tun wir
den geschriebenen Nachrichten, die wir über sie haben, nicht die
geringste Gewalt an. Auch bei ihnen waren die Zupane sehr zabl-
1) Er war schepho des [I.] schephonates, ex ista parte Trahe.
2) Diese Arbeit, gegen die ich hier polemisieren muß, hat LEVEC zum Teil
erst auf dem Totenbette geschrieben, hie und da nur flüchtig mit Bleistift
hingeworfen. Sie wurde von Hofrat LUSCHIN v. ERENGREUTH nur mit Mühe
zusammengestellt und trotz ihrer Unfertigkeit ob ihres seltenen Reichtuns
an Daten und trefflichen Gedanken veröffentlicht. LEVEC selbst hätte sie
wohl noch vielfach umgearbeitet. Dies muß man sich vor Augen halten,
will man den der Wissenschaft so früh entrissenen Gelehrten -- er starb
27jährig — auch nur annähernd nach Verdienst würdigen.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 485
reich, und wenn die Urkunde v. J. 1181 sagt: seniores villarunı,
quos lingua sua supanos vocant, dann setzt die Bezeichnung:
seniores villarum je einen senior villae und nicht je einen
senior villarum voraus. Ein senior villarum, mehrerer
Dörfer, kommt wenigstens in den ersten Jahrhunderten der
deutschen Herrschaft und vielleicht auch später überhaupt nicht vor.
1196 beurkundet Bischof BERTHOLD von Naumburg die sämt-
lichen Einkünfte des Kollegiatstiftes Zeitz mit seltener Ausführ-
lichkeit’). Von den zwölf dabei genannten Dörfern stehen neun
unter je einem sez:or, Zupan, und nur in dreien wird kein Senior
genannt; diese waren vielleicht novae plantationes supano carentes,
wie wir sie in officio Tüffer in Untersteiermark kennen gelernt
haben, oder alte, wiederbesetzte Wüstungen, in denen man den
Zupan zu ersparen die Gelegenheit wahrnahm und sie etwa je
einem benachbarten Zupan angliederte.
Leider läßt sich hier in Daleminzien das ursprüngliche zahlen-
mäßige Verhältnis zwischen Zupanen und Smurden auf größeren
Gebieten nicht mehr feststellen, denn wir besitzen darüber keine
solche Quelle, wie das Rationarium Stirie v. J. 1265; in Dale-
minzien war überdies der Boden ungleich besser, zur Aufnahme
neuer Kolonisten günstiger, und das wird der deutsche Macht-
haber wohl ausgenützt haben, indem er den vorgefundenen Smurden
den Boden knapper zumal, um Platz für neue hospitia zu ge-
winnen. Sagt ja die Urkunde vom Jahre 1174:
Res litonum, que post mortem ipsorum ad usus ecclesie
spectare debent ..., also bewegliches Gut, während die von
ihnen besessenen manst et alia, que vacaverint, que discreta
dispensacione locanda sint, ad potestatem fratrum respiciant,
cui vel quomodo aut quare ea locare velint*),.
Der Grundherr pflegte eben überall, wo es nur anging, durch
Anlegung eines kleineren Maßstabes die mansi zu verkleinern.
Die so gewonnenen superexcrescentiae waren eine namhafte
Einnahmequelle, die bekanntlich König Johann von Böhmen
meisterhaft zu erschließen verstand. Man kann somit von der
1) Codex dipl. Saxoniae Regiae, herausgegeben von POssE und ERMISCH.
L 8. Leipzig 1898, S. 8—11.
2) Siehe oben S. 321 Anm.
486 J. Peisker
späteren Hufenzahl auf die ursprünglichen Wirtschaften im Dorfe
in vielen Fällen nicht mehr schließen, und nur die Anlage jener
Hofstätten, welche den eigentlichen Rundling ausmachen, laßt,
wenn Urkunden und Urbare versagen, noch erkennen, wie klein
die einstige Bauernzahl im Runddorfe gewesen sein mochte.
Man sehe nur bei MEITZEN nach: I. 52, II. 485, III. 363 (8 Dziedzinen),
450 (6 Hufen), 453 (8 Hufen), 456 (6 Hufen); Atlas, Anlage 128.
* *
>
Hart an die Sorbenländer angrenzend, jenseits des Erz-
gebirges, in Böhmen, finden wir am Anfang der geschriebenen
Geschichte Verhältnisse, welche einer gänzlichen Negation der
Zupanenverfassung, wie sie bei den Daleminziern bestanden
hat, gleichkommen. Genau dasselbe gilt von der unmittelbaren
Nachbarschaft der soeben besprochenen Zupanengebiete Unter-
steiermarks, nordwestlich von den Steiner oder Sanntaler Alpen,
im heutigen Kärnten. Und gerade so, wie sich die dalemin-
zische Zupanenordnung mit der untersteirischen deckt, so deckt
sich auch ihre Negation in Böhmen mit jener in Kärnten. Weder
hier noch dort gab es in historischen Zeiten eine Zupanenschicht,
hier und dort stand dem Staatswesen ein Bauernfürst vor.
Dies bekunden die bei der Herzogseinsetzung auf dem Zollfelde
bei Klagenfurt und der zu Vy3ehrad bei Prag üblich gewesenen
Zeremonien.
Eine herrschende Zupanenschicht wird einen Bauer zum
Fürsten nicht nehmen, das ist klar, und nur die Bauernschaft
kann es sein, welche einen ihresgleichen zum Staatsoberhaupt
erhebt; zuvor muß sie jedoch selbst ihrer eigenen Geschicke
alleiniger Herr werden, die Zupanenschicht muß früher verschwur-
den sein. Von irgendeiner Unterwerfung der Zupane durch die
Bauern in der Art, daß die ersteren auch weiterhin Wanderhirten
blieben, ist nichts bekannt, der siegreiche Bauer möchte diese
Landplage schwerlich dulden. Allerdings kennt die Geschichte
auch abhängige, weidezinspflichtige Wanderhirten, und zwar auf
dem ganzen Balkan im Mittelalter und in der Neuzeit, die Wlachen;
aber diese Wlachen sind nicht der Bauernschaft, sondern ebenso,
wie die Bauernschaft selbst, dem Landesfürsten oder einem
anderen Grundherrn zinspflichtig, welchem der Landesfürst den
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 487
wlachischen Weidezins und den bäuerlichen Grundzins abgetreten
hat. Daß aber eine Bauernschaft Zupane beherrschen würde,
kommt nirgends vor und ist an sich undenkbar.
Was konnte nun die Bauernschaft gänzlich frei machen und
einen Bauer auf den Fürstenstuhl bringen? Ein Einbruch von
außen? Gewiß nicht, denn der siegreiche Eingebrochene würde
sich selbst zum Herrscher aufschwingen, und die Bauernschaft
hätte das Nachsehen, sie würde nur den Herrn wechseln, viel-
leicht einen milderen eintauschen, aber ein Bauernfürst aus
ihrer Mitte wäre es nicht. Und gerade ein Bauer hatte den
Fürstenstuhl auf dem Zollfelde bei Klagenfurt inne, sowie auch
die Dynastie der böhmischen Landesfürsten vom Bauer Pfemysl
aus Stadice bei Bilin abstammte. Ein Bauer konnte somit nur
durch eine durchschlagend siegreiche Revolution der Bauernschicht
auf den Fürstenstuhl gelangen, nachdem die Herrenschicht der
Zupane davongejagt oder vertilgt worden war.
An dem Rande der großen Steppe in Rußland und Zentral-
asien hat eine Revolution der Bauernschaft wenig, wenn nicht
keine Aussicht auf Erfolg, denn der flinke Reiternomade ist auf
dem pfadlosen, unermeßlichen Gras- und Wüstenkontinent auch
für einen Kyros, Dareios, Alexander d. Gr. nicht faßbar ; eher noch in
den Pußten Ungarns, besonders aber in den Niederungen der Mur
und Drau, der Elbe, Moldau und Eger, der March und ihrer
Nebenflüsse, wenn er gezwungen ist, dort mitten unter der Bauern-
schaft zu wintern. Hier muß er sich in die einzelnen Bauern-
dörfer verteilen, seine Kraft zersplittern, hier wird er schwächer.
Dies nimmt er jedoch nicht ohne weiteres wahr, und seine
Wildheit und Roheit bringt ihm schließlich Verderben. Und
wie der Reiternomade die unterjochte Bauernschaft zur Ver-
zweiflung treiben kann, das lehrt das Schicksal der Perser und
berichtet FREDEGAR und NESTOR von den Slawen im Awarenjoche.
Die Awaren legten, wie wir bereits S. 296 ff. gehört haben, der
Bauernschaft, in deren Mitte sie seit lange her regelmäßig
winterten, schwere Steuern, hauptsächlich wohl an Getreide und
Heu, auf, weideten ihre Saaten ab und vergewaltigten ihre
Frauen und Töchter. Im Frühjahr zog zwar der Hauptstock der
Bedrücker in die Berge zur Sommerweide, gewiß blieben aber Be-
488 - J. Peisker
satzungen und Obrigkeiten zurück, um die slawische Bauernschaft
im Zaume zu halten und zur Erfüllung der ihr auferlegten
Pflichten anzutreiben. Von Recht und Gericht war da keine
Rede, der Aware hauste nach Willkür und Übermut und alle
staatlichen, gesellschaftlichen, ja sogar Familienbande der Unter-
jochten waren aufgelöst, das Slawenvolk in Atome zerschmettert.
Aufstände der Bauernschaft waren da an der Tagesordnung, und
wie viele mögen im Blute erstickt worden sein, bevor einer ge-
lang! Und auch die beiden siegreichen, auf welche die erwähn-
ten Zeremonien hinweisen, wären längst in Vergessenheit geraten,
wären sie nicht eben durch diese Zeremonien verewigt worden.
Dabei ist es sehr bezeichnend, daß die beiden Orte, Bilin und
Zollfeld, an der äußersten Peripherie der turkotatarischen Macht-
sphäre liegen; dort waren die Wanderhirten eben am schwächsten,
weil von ihrer Basis am entferntesten.
Ist eine Bauernschaft der herrschenden Zupanenschicht los
geworden, dann wird sie alles abstellen, was sie bisher gedrückt
hat. Sie wird
1. das Wanderhirtentum mit Putz und Stängel ausrotten,
2. die Viehzucht, namentlich von Pferd und Rind als Zug-
tieren, frei ausüben,
3. den Feldbau nach bäuerlichen Bedürfnissen einrichten,
eine Besteuerung des Feldbaues nicht dulden, wo nötig
und möglich, permanente Äcker und bäuerliches Grund-
eigentum schaffen,
4. eine geordnete Rechtspflege einrichten,
5. alle diese Errungenschaften für die Zukunft möglichst
sichern, indem sie nach jedem einzelnen Abgang des
Staatsoberhauptes den, welchen sie auf den Fürsten
stuhl, zunächst als Richter, erhebt, zuvor durch eine
regelrechte Wahlkapitulation auf ihre Forderungen
verpflichtet.
Alles das ergibt sich aus der Natur der Dinge von selbst
und wäre auch dann anzunehmen, wenn nichts davon quellen-
mäßig erweisbar wäre.
Orrorars Österreichische Reimchronik, geschrieben
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc.
489
den ersten zwei Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts, erzählt
mlich Vers 19983 ff.'):
1) Orrokars Österreichische Reimchronik, herausgegeben von
SEEMÜLLER, Hannover 1890, in den Monumenta Germaniae historica.
utsche Chroniken. 5. Band, S. 266 f.:
83 Sô dem lant werdent genomen
90
10
von des tôdes getursten
sin erbeherren unde fursten
und daz daz selbe lant
in des riches hant
ledic gedihet,
swem ez daz riche lihet,
der selbe komen sol
ûf ein velt, lit bi Zol,
daz ist ze guoter mäze wit.
darûf ein stein lit.
an dem steine muoz man
schouwen,
daz darin ist gehouwen
als ein gesidel gemezzen.
dâbi ouch nähen ist gesezzen
ein gebiurischez geslehte,
die von altem rehte
darzuo sint bel&ähent,
swem die selben jehent,
der under in der eltist si,
swenn in diu zit wonet bi,
als ich vor gesaget hân,
sö sol der selbe man
ûf den stein sitzen
mit sö getänen witzen,
daz er dävon iemen wiche.
daz si habent von dem riche.
swaz herren in dem lande ist,
die sullen zuo der selben frist
bi dem fursten wesen allesamt.
unde swenne man daz amt
des morgens begêt,
darnäch an der stet
sol man den selben fursten
kleiden,
als ich iu nû wil bescheiden:
20020
20030
20040
20050
er sol sich bewegen
an siniu bein ze legen
zwö hosen von gräbem tuoche
und zw£&n röte buntschuoche,
die man mit riemen swinde
im zuo den beinen binde.
des selben tuochs sol erlegen an
einen roc alsô getän,
der vor und hinden offen si,
kollier sol er wesen fri,
mit vier gêren und niht m6,
und daz er an der lenge gê
ein lutzel für diu knie.
ze hulle sol er tragen hie
ein einvachen mantel gräben,
der sol niht flentschieres haben.
im ist ouch üf dem houbet
ein huot ze tragen erloubet
guphoht in gräber gestalt,
daran vier schiben sint ge-
mält —
die selben hüete kluoc
niulich man datz Kernden
truoc —
diu snuor sol sin einende.
in einer siner hende
sol der helt zier
ziehen einen v&hen stier,
in der andern hend sol er
mit im ziehen her
ein veltphert, daz niht darbe
wiz und swarzer varbe.
und swenn er wirt alsô bereit,
80 sullen wesen sin geleit
an den selben ziten
zuo ietweder siten
zwön herren von frier art,
490
J. Peisker
Wenn dem Lande seine angeerbten Herren und Für
durch die Verwegenheit des Todes entrissen worden sind
dann dasselbe Land dem Deutschen Reiche erledigt anheimf
so muß der, dem es vom deutschen Könige verliehen wird,
ein Feld kommen, das bei Zol liegt, das ist sehr weit. Da
20070
20080
an sinn und witzen wol bewart.
die herren sullen füeren in
für den gebüren hin,
der dä sitzet üf dem stein.
der selbe sol ein bein
ûf daz ander legen,
windischer rede sol er phlegen.
swen si im koment sû nähen,
sd sol er si enphähen
und sol sprechen: ‚wer ist der,
den ir mit iu füeret her?‘
sô sprechent dise zehant:
‚in hät däher gesant,
der des riches voget ist.
dû solt im an diser frist
än underläz und âne sümen
disen stuol rûmen
und läz in sitzen dä.‘
sô spricht diser sâ:
‚des entuon ich niht,
ich werd & beriht,
ob er sin wert sj.‘
8sö sprechent dise dri:
‚daz geheiz wir dir.‘
er sprichet: ,nû sagt mir,
ob ez umb in alsô st,
daz er kristenlicher &
si geloubic unde ganz,
daz dehein irsales schranz
sinem herzen wone bi?‘
‚j&, des ist er fri‘,
sprechent dise zehant.
80 tuot mir mêr bekant
von im solher mære.
ist er ein guot rihteere,
daz erdurch liebe noch durch haz
an dem gerihte iht si laz ?*
200%
20100
20110
20120
Jà, daz geheize wir dir ı
‚noch mêr ich von im wizzeı
spricht der gebür zehant.
‚mac er ditze lant
beschirmen vor freisen,
sö daz er witiben unde wı
geistlichen liuten unde ph
guoten fride mac geschal
sô di dri aber sprechent
des müezen si im s&
ieglicher swern einen eit,
daz daz si diu wärheit,
des er si gefräget hät.
allerörst rûmt er die stat
und underwint sich schieı
des veltpherts und des st
darnäch wirt niht vergezz
swen der herzog ist gese
dä der gebüre saz,
sö muoz er âne underläz
den selben eit tuon,
das er frid schaff und su
und rehtes gerihtes phleg
und ab des gelouben weg
weder strüch noch valle.
alrêrst koment mit schalle
die herren dar und gâher
daz si von im enphâbent
sunderlichen iriu löhen.
swenne daz ist geschehen,
s0 swernt si im alzehant.
allez daz ich hän genant,
daz dem fursten widervare
herzog Meinharten dats Z
an allen dingen widerfuor,
dö man im hulde geswuor
und er daz herzogtum bes
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 491
egt ein „Stein“ [Fels]. An diesem ‚Steine‘ soll man sehen,
aß darein etwas gehauen ist, was wie ein Gestühl [Doppelsits]
wssieht. Nahe dabei ıst ein Geschlecht von Bauern ansässig,
ie von dem alten Recht her [durch das alte Recht] dazu delehnt
nd, daß der, von dem sie selbst aussagen, er ses der älteste
ster ihnen, sobald die Zeit gekommen ist, wie ich vorher be-
ichtet habe, dann muß?!) dieser selbe Mann sich auf den „Stein“
fsen, und swar in der Absicht, daß er davon niemandem
eiche. Dieses [Recht] haben sie von dem Reich. Was es von
erren im Lande gibt, die müssen su derselben Zeit. bei dem
ürsten alle miteinander sein. Und sobald man das Hochamt
w Morgen begangen hat, darnach eben dort muß man den-
den Fürsten bekleiden in der Weise, wie ich es euch jetst
zählen werde: Er muß sich dazu entschließen, zwei Strümpfe
m grauem Tuch an seine Beine anszuzichen und zwei vote
undschuhe, die man mit Riemen fest an die Beine bindet.
on demselben Tuch muß er einen vorn und hinten offenen
ock anziehen, der darf keinen Kragen haben, mit vier Schößen,
wsß nicht mehr, und nur so lang, daß er etwas [vorm] über
e Knie reiche. Als Hülle muß er hier einen grauen Mantel
agen aus einem Stück, der darf keinen Besats haben. Ihm
£ ferner gestattet, auf dem Haupte einen gewölbten grauen Hut
: éragen, woran sich vier bemalte Kugeln [Bollen] Befinden.
bensolche gute Hüte hat man noch jüngst in Kärnten [wirklich]
fragen. Die Schnur darf nur ein Ende haben [keine Quaste|.
"st der einen Hand muß der schmucke Held einen gescheckten
ser führen, mit der andern ein ,,Feldpferd“*), das weiß
dd schwarz gefleckt sein muß. Sobald er auf diese Weise
gerüstet ist, müssen zur selben Zeit auf jeder Seite zwei?)
erren von freier und edler Geburt, die verständige und er-
Ærene [ältere| Männer sind, ıhn geleiten. Diese Herren
üssen ihn zu dem Bauer hinführen, der auf dem „Steine“
tet. Dieser muß ein Bein über das andere legen und sich
1) so ist die mhd. Konstruktion. nhd.: daß der — sich setzen muß.
2) d. i. Stute, die bisher noch auf der Weide gegangen ist.
3) darüber PAUL PUNTSCHART, Herzogseinsetzung und Huldiguug in
irnten. Leipzig 1899, S. 42 ff.
492 J. Peisker
der windischen Sprache bedienen. Sobald sie ihm nahekommen,
muß er sie begrüßen und muß sagen: ‚Wer ist der, den ihr
mit euch herführet*“ Darauf sagen die Angekommenen sofort:
‚Ihn hat hierhergeschickt, der des Reiches waltet. Du mußt
ihm jetzt augenblicks und ohne Säumen diesen Stuhl räumen
und laß ihn sich darauf setzen“ Dann spricht dieser sofort:
‚Das tue ich keineswegs, außer wenn ich vorher darüber unter
richtet werde, ob er dieses Platzes würdig ist Darauf sprechen
die drei!): ‚Das sagen wir dir zu‘), Er spricht: ‚Jetzt
sagt mir zuerst, ob es sich um ihn so verhalte, daß er gans
und vollkommen christgläubig und sein Hers von keinem Glaubens-
irrtum befleckt ist‘ ‚Fa, davon ist er frei‘, antworten diese
sofort. ‚Nun müßt ihr mir noch mehr von solcher Kundschaft
mitteilen: Ist er ein guter Richter, so daß er weder der Zu
neigung noch der Abneigung halber sein Rechtsprechen vernack-
JässigeY ‚Ja, das sagen wir dir gewiß zu‘ ‚Ich muß noch
mehr über 1hn erfahren‘, spricht darauf sofort der Bauer:
‚Ist er imstande [besitzt er die Macht], dieses Land vor Ge.
fahren zu behüten, so daß er für Witwen und Waisen, Mönch
und Priester sichern Frieden zu schaffen vermag” Wenn di
drei wiederum ja sagen, dann sollen sie ihm sofort dar-
über jeder von ihnen sogleich einen Eid schwören, daß es sich
um die Dinge, nach denen er sie gefragt hat, wirklich so ver-
halte. Darnach erst räumt er den Platz und nimmt sofort
das ,,Feldpferd“ und den Stier in Besitz. Sobald sich der
Herzog niedergelassen hat, da, wo der Bauer gesessen war, 50
soll er sofort denselben Eid leisten, daß er nämlich Fried
und Ausgleich schaffen wolle und gerechtes Gericht hegen und
auf dem Wege des Glaubens weder straucheln noch fallen werd.
Dann erst kommen mit Lärmen*) die Herren dorthin und
beeilen sich, jeder von ihm ihre Lehen zu empfangen. Sobald
das geschehen ist, dann schwören sie ihm sogleich.
Alles, was ich erzählt habe, daß dem Fürsten geschehen
muß, das ıst dem Herzog Meinhard zu Zol ganz genau so gt
= m —
1) darüber PUNTSCHART a. a. O.
2) mit dem Begriffe der Verpflichtung.
8) das kann auch den Festlärm, Prunk bezeichnen, z. B. Musik.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 493
n, als man ihm den Huldigungseid leistete und er das
gtum ın Besitz nahm‘).
e Übersetzung verdanke ich Hofrat SCHÖNBACH.
t JOHANNES VON VIKTRING berichtet in seinem etwa 1341
ten Liber certarum historiarum:
„no ... 1280 ... Meinhardus ... tn sedem ducatus sui
pniter collocatur, secundum consuetudinem a priscis tempori-
bservatam. Porro sub monte Karinthiano prope ecclesiam
tri lapıs est, super quem rusticus libertus ponitur per
sionem stirpis ad hoc officium heredatus, tenens in una
bovem discoloratum et in altera equam eiusdem dispo-
15, indutus habitu Pileo calceis rusticalibus, inmobilis
verat. Princeps cum pannerio terre, stipatus nobilibus
litibus, vestibus exuitur pretiosis, et seorsum pallio pileo
2 grisei staminis et calceis corrigiatis eodem modo quo
us induitur per quendam, qui ex Successione hoc habet,
s baculum in manibus: sic procedit. Comes autem Goricie,
palatinus terre est, cum duodecim vexillulis lateri prin-
adherebit; reliqui comites, scilicet Tyrolensis, qui terre
ravius est cum aliis, officiales atque nobiles cum suis
s quanto cultius poterunt principi se coniungunt. Rusticus
x super lapidem sedens Sclavice proclamabit: ,Quts est
mi progreditur sic incedens ® Etrespondetur a consedentibus :
est princeps terre‘ Ad quod ille: ‚Estne iustus iudex,
ns salutem patrie, conditionis libere, ut sit dignus? Estne
tiane cultor fidei et defensor?‘ Respondetur ab omnibus:
et erit At ille: ‚Ergo quo ture me ab hac sede amovere
rt quero® Dicunt omnes: ‚Cum denariis sezaginta, iumentis
discoloratis, et vestibus quibus princeps fuerit investitus;
t quoque domum tuam [richtig statt suam der Hs.| /ideram
isque tributo Et rusticus levi alapa data principi bonum
em iubet esse, et surgens, iumentis predictis sibi attractıs,
pi locum prebet. Princeps stans super lapidem, nudum
sanu gladium habens, vertit se ad omnem partem, ensem
) Dazu A. E. ScrröxgacH, Der steirische Reimchronist über die Herzogs-
rung in Kärnten, in den Mitteilungen des Instituts für österreichische
ichtsforschung XXI. Wien 1900, S. 518 ft.
494 J. Peisker
vibrans, ostendens iustum iudicem omnibus se futurum. El
sicut fertur, spectat etiam ad hunc ritum: princeps ex pileo
rusticali aque frigide potum facit ... Insuper Sclavica qua
hic utitur prolocutione, in conspectu imperatoris cuilibet quers-
lanti de se, et non in lingua alia tenebitur respondere. Sicque
incendiarius quem dicunt ad hoc iure statutum, incensis aliquibus
focis pro reverentia principis, quod de adversa ortum tt
consuetudine, non de sure ...').
Wo es sich um miterlebte Begebenheiten und nicht um per-
sönliche Anschauungen und Deutungen handelt, sind beide Autoren
auch . dann von gleich hoher Glaubwürdigkeit, wenn sie von-
einander abweichen, und es ist PUNTSCHARTS Ansicht beizupflich-
ten, daß in solchen Fällen der eine Autor, OTTOKAr, den Eir-
setzungsritus so darstellt, wie dieser beobachtet werden soll,
während Abt JOHANNES den Vorgang bei einer bestimmten,
späteren Einsetzung (Ottos) als Augenzeuge schildert ?). Dabei ist
1) JOHANNES VICTORIENSIS ... herausgegeben von Boehmer. Stutt-
gart 1843, S. 318f., bildet den 1. Bd. der Fontes rerum Germanicarum,
herausgegeben v. Boehmer. — Viktring liegt südwestlich, Zollfeld nordöstlich
von Klagenfurt.
2) „Der Abt läßt den Bauer die Tiere halten ... Daß dies in seiner
Zeit Rechtens ... gewesen, vermag ich nicht anzunehmen. Der Bauer sl
ja die Tiere als Entgelt erhalten; er kann demnach nicht schon vorber ab
ihr Besitzer auftreten. Im Einklange damit erzählen andere Berichte ... nicht,
daß der Bauer die Tiere halte, sondern daß sie sich rechts und links vom
Herzog in seinem Zuge befinden. Die Angabe des Abtes ist somit irrig..-
Ich vermute, daß sich hier ein Abusus eingeschlichen hat... Insbesondere
aber schließe ich auf einen Abusus daraus, daß zwei Schreiben von Herzog*
bauern davon sprechen, daß der Bauer Pferd und Ochsen „fürstelle“. Des
Bauer muß die Beistellung der Tiere übertragen worden sein, und da konnt
sich wohl unschwer mit der Zeit der Abusus herausbilden, daß der ‚Bauer
mit ihnen beim Steine den Herzog erwartete. Außerdem darf, wie id
glaube, zur Erklärung herangezogen werden, daß die Herzoge zuweilen nicht
mehr zwischen den Tieren einherschreiten wollten. Man mochte dies sh
allzu unwürdig empfunden und daher abgelehnt haben. Ich möchte ar
nehmen, daß JOHANNES selbst den Abusus sah und irrtümlich für Recht
hielt“. P. PUNTSCHART a. a. O. S. 62 f.
Dieser Abusus zog m. E. einen zweiten nach sich: Ottokar spricht ni»
lich v. 20043 ff. und 20105 von einem Stier und einem ,Feldpferd“, ws
der sehr dankenswerten Ermittlung SciiönBAcHs (a. a. O. 8. 526) zufolge et
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 495
sonders zu berücksichtigen, was der letztere über die Einsetzung
erzog Ottos des Freudigen (im Jahre 1335) bemerkt: Multa
men in huius festi observatione sunt improvide pretermissa
«za oblivioni tradita, et ideo quia ab intronisatione ducis
feinhardi, avi huius Ottonis, anni quinquaginta sex circiler
wpulantur').
Der Reimchronist behandelt den Gegenstand ausführlich,
ıgegen befleißigt sich Abt JOHANNES in der ersten Hälfte seiner
hilderung einer uns recht unerwünschten Kürze. Von dem
ze an: Ergo quo ture.... bringt er indes das Allerwichtigste
3r ganzen Zeremonie, wovon OTTOKAR gänzlich schweigt. Dieses
shweigen fällt auf und drängt zur Vermutung, eine entsprechende
telle der Reimchronik sei verloren gegangen oder übersehen
orden, denn die Schilderung des Abtes ist so urwüchsig, so
| das Ganze passend, daß gar nicht daran zu denken ist, als
auch sie ein späterer Abusus wäre. Man wird somit kaum
hlgehen, wenn man dem Reimchronisten bis zu Vers 20103
tute bedeutet, die bisher noch auf der Weide gegangen ist; der
bt bezeichnet dagegen die Tiere als i#menta, Arbeitstiere, und daß er dies
örtlich meint, beweist sein naives Philosophieren: /umenta discolorata
colas terre hiis animalibus terram laborantibus exprimunt, propter
sparos mores à ccleris planis, laboriosam nichilominus et fetosam (JOHANNES
ICT., S. 320). Gewiß gibt auch hier der Reimchronist an, was die Vorschrift
ar, der Abt dagegen, was er gesehen hat. Und das letztere ist leicht er-
ärlich: Seitdem nämlich der Bauer die Tiere selbst beizustellen hatte
'UNTSCHART, 9. 62f.), konnte zwar ein Stier, nicht aber ein „Feldpferd“
ehr zur Stelle sein, weil über ein solches ein armseliges Bäuerlein nicht
rfügt, eine Bauernstute zugleich Zug pferd ist. Und daß unter „Feldpferd“
tsächlich kein Zugtier gemeint sein kann, beweist sein Genosse, der Stier,
stt dessen sonst ein Ochse genannt sein müßte. — Um der Einwendung
rzubeugen, daß auch bei altitalischen Städtegründungen das pomoerium,
e feierliche Umfurchung, mit einem von Stier und Kuh gezogenen Pfluge
geführt wurde, somit auch bei der Herzogseinsetzung der Stier ein Zug-
er sein könne, ist zu bemerken, daß der altitalische Umfurchungsritus offenbar
m einer so altersgrauen Zeit herrührt, als die Kastration des Rindes in Italien
seh unbekannt war, während die Slawen seit Anfang ihrer mehr als tausend-
hrigen turkotatarischen Knechtschaft sie kennen mußten. Hatten ja schon
s Skythen bekanntlich mit Ochsen bespannte Wagen! (UKERT, Geo-
raphie der Griechen und Römer. III. 2. Skythien. Weimar 1846 S. 301, 316).
1) JOHANNES Viıcr., S. 419.
496 J. Peisker
folgt, dann vom Berichte des Abtes die Stelle: Zrgo quo iure
bis zuszum tiudicem omnibus se futurum anfügt und mit dem
Inhalte von Vers 20103 ff. der Reimchronik ergänzt. —
Bemerkenswert ist zunächst die Angabe des Reimchronisten
Vers 19997—20008, das Recht, den Herzog auf den Fürstenstein
zu setzen, stehe dem Ältesten des gewissen Bauerngeschlechtes,
also nach dem Prinzipe des Seniorates, zu. Das Seniorat ist
aber überhaupt kein eigentliches Erbrecht, sondern bloß eine,
wenn auch genau bestimmte Nachfolgeordnung. Auch die Nach-
folge in der Fürstenwürde selbst mag nach dem Seniorate be-
stimmt gewesen sein (wie wir es z. B. von den Polen’) und
den Böhmen ’?) wissen), denn der freigewordenen Bauernschaft
handelte es sich vornehmlich darum, einen geordneten Recht»
zustand zu schaffen und aufrecht zu erhalten, somit immer nur
einen gereiften und erfahrenen Mann als Richter an ihrer Spitze
zu sehen, und dies kann, wenn schon eine Nachfolgeordnung da
sein muß, nur durch das Senioratsprinzip gesichert werden, nicht
aber durch irgendein Erbrecht, welches mitunter auch einen
Minderjährigen, ja sogar ein Kind auf den Fürstenstuhl bringt‘).
Ursprünglich dürfte die Fürstenwürde nicht einmal auf ein be-
stimmtes Geschlecht beschränkt und überhaupt der Älteste von
allen Gaufürsten, wenn den Wählern genehm, zur Nachfolge be
rufen gewesen zu sein‘). Eine regia stirps dürfte sich erst all-
1) M. Kinteckı, Das Testament des Bolestaw Schiefmund. Seniorst
und Primogenitur in Polen. Inaug.-Diss. d. Univers. Breslau. Posen 18%,
S. 60 ff. — MAreEckı, Testament Bolestawa Krzywoustego, im Przewodnik
naukowi iliteracki. Lwöw 1881. SmoiKa, Testament Bolestawa Krzywoustego
in den Rozprawy Akad. Umiejetnoéci, wydz. hist.-filoz. tom. 13. W Kr
kowie 1881. BaLzEn, O nastepstwie tronu w Polsce, in denselben Bor
prawy, Ser. II., tom. 11 (36). Die Literatur verdanke ich Fr. BUJAK.
2) LOSERTH, Das angebliche Senioratsgesetz des Herzogs Bietislaw L
und die böhmische Succession in der Zeit des nationalen Herzogthums. Wies
1882, im Archiv für österreichische Geschichte 64. Bd., 1. Hälfte.
3) M. KANTECKI, $. 42. — PUNTSCHART, $S. 257 f.
4) Treffend urteilt KaxTECKI: „Schon bei solchen Völkern, die noch nicht
in größere Staatenkomplexe vereinigt, sondern in einzelne Stämme geteilt
lebten, sehen wir die einzelnen Stammfürsten unter die Suprematie eines
unter ihnen, des durch Alter und Ansehen ausgezeichnetsten sich beuges.
Einen willkommenen Beleg hiefür liefert uns der Beschreiber des Lebens und
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 497
äblich herangebildet haben, etwa so, daß greise Fürsten sich
iederholt von ihren Gesippten vertreten ließen und diese Vertreter
ınn ob ihrer besonderen Tüchtigkeit, vielleicht über Vorschlag
8 Fürsten und sogar zu dessen Lebzeiten, von dem Volke zur
schfolge berufen wurden. Das Senioratsprinzip blieb dabei,
mmehr innerhalb einer besonderen stirps, auch weiter aufrecht,
i. jedesmaliger Genehmigung des Anwärters durch die Volks-
rtretung ').
r Taten Karls des Grofen, der in seinen Annalen unter dem Jahre 789
on. Germ. Hist. SS. I. Erxtanp, Annales. Cfr. Annales Laureshamenses,
on. Germ. SS. 1.34: Zi venerunt reges terrac illius cum rege vorum Trag-
fo. — Chron. Moissiacense, Mon. (ierm. I. 298) folgendes interessante
eignis berichtet: Sed gens illa (Wiltzorum) yuasıvis bellicosa et in sua numero-
ste confidens, impetum exercitus regii (Caroli Magni) dix sustinere non valuit,
proinde, cum primum civitatem Dragawiti ventum est — nam is veteris
£ltsorum regulis et nobilitate gencris et auctoritate senec-
tis longe pracminebat — cxtemplo cum omnibus suis ad regen de
ritate processit, obsides, qui imperabantur dedit, fidem se regi ac Francis serva-
um iurciurando promisit. Quemceteri Sclavorumprimores acreguli
mes secuti, se regis dicioni subdiderunt. So groß war daher die Ehr-
rcht vor dem durch Alter und Ansehen hervorragenden Dragowit, daB unter
n vielen Stammfürsten kein einziger sein Beispiel unbeachtet zu lassen
gte, obgleich es sich um nichts Geringeres handelte, als um die Anerkennung
ınder Herrschaft, ein Unglück, das für die freiheitsliebenden Slawen das
BBte sein mußte. — Ebenso heißt es, um zu den Böhmen überzugehen,
den Fuldaer Annalen zum Jahre 895 (Mon. Germ. 38. I. 411): 23 (d. i.
ch Regensburg) de Selavania omnes duces Boemaniorum, quos Zuentibaldus
x (von Mähren) a consertio et potestate Baioaricae gentis per vim dudum
sellendo detraxerat — quorum primores erant Spitignewo, Witisla (Spytih-
v und Vratislav, Söhne Boïivojs) — ad regem venientes...., per manus,
mi mos est, regiac potestati reconciliatos se subdiderunt. KANTEUKI, S. 28 ff.
1) InBöhmen bestand die Senioratsnachfolge seit jeher, „aberin einer,
8 Wahlrecht der Großen nicht präjudizierlichen Weise“.
ISEKTH, S. 29.
„Nicht anders lagen die Dinge bei den Wilzen, wie wir aus EINHARDs
nalen zum Jahre 823 erfahren. Kaiser Ludwig hielt... eine Reichsver-
nmlung in Frankfurt ab... Duo fratres, reges videlicet Wiltsorum, contro-
siam inter se de regno habentes al prarsentiam imperatoris venerunt, quorum
nina sunt Milegastus et Cealadragus. Erant idem filii Liubi regis Wiltsorum,
| dicet cum fratribus suis regnum divisum teneret, tamen, proptlerea quod
s$or nalu erat, ad cum lolius regni summa pertinebat. Nach-
m Liub in einer Schlacht gegen die östlichen Obotriten gefallen war, hatte
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 95
498 . J. Peisker
Auch die Kärnter Bauernschaft wußte sich ein Wahlrecht
das Volk der Wilzen dessen Sohn Milegast... guia maior nmatu era,
resem sibi constituit. Das Volk erklärte jedoch den Milegast der Herrschaft
für unwürdig und übertrug dieselbe auf den jüngeren Bruder, worauf beide
an die Entscheidung des Kaisers apellierten“ (LOSERTH, S.61f.). Sea cum is
(Milegastus) secundum ritum gentis commissum sibi regnum forum
digne administraret, illo abiecto, iuniori fratri regium honorem defermt;
yuam ob causam ambo ad praesentiam imperatoris venerunt. Quos cum asdisstl,
et sentis voluntatem proniorem in iunioris fratris honorem agnovisset, statuit,
utis delatam sibi a populo suo potestatem haberet... Hier wird
auch von einem besonderen Inthronisationsritus gesprochen!
„Analog werden die Verhältnisse bei den übrigen wendischen
Völkern gewesen sein. Bei den meisten gab cs landesfürstliche Geschlechter,
in denen das Kôünigtum, Herzogtum oder Fürstentum erblich war, so daß
alle männlichen Sprösslinge daran teilnahmen. Aber cinem blieb die oberste
Leitung der Landesangelegenheiten vorbehalten. Dies war in der Regel unter
mehreren Brüdern der älteste, doch mußte ihm die Nation ihre Zustimmung
geben. Wurde dieselbe versagt oder späterhin zurückgenommen, so ging ds
Recht des Älteren auf einen Jüngeren über, der dem Volke genehm war
(GIESEBRECHT, Wendische Geschichten 1.46). Daß sich neben diesem Vorzugr-
recht des Alters auch das Wahlrecht behaupten konnte, und die Wähler such
hier an das regierende Haus sich gehalten haben, beweist auch die Stell
der Fuldaer Annalen zum Jahre 871: Selavi.... Marahenses ducem suum (Svato-
pluk) Periisse putantes, quendam presbyterum, cius ducis propinguum,
nomine Sclagamarum sibi in principemconstituunt, ei minantes interitus,
nisi ducatum super cos susciperet, — Sclagamar wird, wiewohl er ein Priester
ist, als Verwandter des mährischen Fürstenhauses erhoben; wahrscheinlich
war er unter den Sprossen desselben auch der älteste, da man sonst schwer-
lich einen Priester, der sich den Drohungen zufolge lange geweigert haben
muß, an die Spitze gestellt hätte. — Dieses Senioratsrecht bestand nicht
bloß in Mähren und bei den Elbeslawen, sondern auch in Böhmen. Denn &
steht fest, daß man in Böhmen bei den Herzogswahlen vor und nach
Bretislav immer den Ältesten gewählt hat und daß, falls einmal von dem
Rechte des Ältesten Umgang genommen wurde, diesalseine Verletzung
hestehender Rechte, als eine Kränkung der Rechte anderer
angeschen und von den Chronisten auch als eine solche be.
zeichnet wurde...* Loserrtm, S. 62f.
Anders bei den Russen; die wahrten sich die größte Freiheit, den
Knjaz innerhalb der Dynastie der Rurikiden zu wählen und einen nicht
genehmen abzusetzen. Mit der Wahl war ein ziverädenie, eine regelrechte
Wahlkapitulation, verbunden, und was Sergejevic darüber in Verbindung mit
der Senioratsnachfolge in der Großfürstenwürde an das Tageslicht gebracht.
schlägt die bisherigen Vorstellungen nieder. CeprbeBuyp, Pyeckia
IOPILLIITEEREST APeBROCTIIL. Tom I. Hananie 2. C.-Terep6y pre 1900, S. 7 ff.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 499
nnerhalb einer stirps regia zu wahren'). Dafür spricht auch
lie Institution des später sogenannten Herzogsbauers ?), welcher
vohl als Verweser das Land während eines jeden Interregnums
u verwalten hatte, damit keine Anarchie einreiße, bevor ein
lachfolger gekürt worden war und die Zügel der Herrschaft er-
riffen hatte. Dieser Verweser hatte gleich nach Erledigung des
‘“ürstenstuhles die gesetzlichen Vertreter des Volkes zur Fürsten-
ar einzuberufen und dem erkorenen Anwärter die von alters her
orgeschriebene Wahlkapitulation nach dem uns in seinen Resten
1 ff., 142 ff., 150 ff., 231 f. — Wie lange soll noch die nichtslawische Gelehrten-
‚elt auf eine Übersetzung dieses für die Kenntnis der slawischen Rechts-
eschichte grundlegenden, bereits in der 2. Auflage erschienenen Werkes
rarten ?
1)... coeperunt Huni [Awaren] cosdem Quarantanos hostili seditione graviter
ffligere. Fuitque tunc dux corum Boruth nomine, qui Hunorum exercitum contra
os iturum Bagoariis nunciari fecil rogavitque, cos sibi in auxilium venirc.
Hi quoque festinando venientes, expugnaverunt Hunos et obfirmaverunt Quaran-
3805, servilutigue eos regum subiccerunt, similiterque confines corum. Duxerunique
nde secum obsides in Bagoariam. Inter quos erat filius Boruth nomine Cacatius,
wem fater cius morc christiano nutrire rogavit et christianum facere... El
e Cheitmaro filio fratris sui similiter postulavit. Mortuo autem Boruth, per
wssionem Francorum Bagoarii Cacatium iam christianum factum petentibus
isdem Sclavis remiserunt, et illieumducemfecerunt. Sedille postea tertio
no defunctus est. Iterum autem permissione domni Pippini regis ipsis populis
elentibus redditus est eis Cheitmar christianus factus... Quem
uscipientes idem populi ducatum illi dederunt. Conversio
3agoarıorum et Carantanorum c. 4 (Monumenta (rerm. hist.
criptorum tom. XI, S.7.) Dazu LEVEC, Pettauer Studien III. in den Mit-
eilungen d. Anthropol. Ges. in Wien. XXXV. Band, 1906, S. 81 f.: „Mit Bc-
timmthceit läßt sich diesen Andeutungen nicht nur entnehmen, daß die Karautaner
lawen ihre Fürsten wählten, sondern auch m. E., daß der Erwerb der
‘ürstenwürde an einen Akt der Herrschaftsübertragung [dederunt!] geknüpft
var. Hätte ein einfacher Wahlakt vorgelegen, so hätte der Verfasser der
‚Conversio* wohl ungefähr von einem dacem eligere gesprochen und nicht
len ganz außergewöhnlichen Ausdruck wvcatum dare angewendet. Diese Er-
vägung bestimmt mich anzunehmen, daß damals bereits — also um die
Mitte des 8. Jahrhunderts — ein ganz bestimmter Einsetzungsakt üblich ge-
vesen sein muß, oder daß mit anderen Worten damals bereits die
L«remonie am Fürstensteine in ihrer oben entwickelten ur-
;prünglichen Fassung bestanden hat.“
2) Der Altkärntner Landesherr hieß gewiß Ar: [= kuning, siehe oben
*. 276] und nicht vojerode [= Herzog).
500 ‘|. Peisker
bekannten Rituale abzunehmen. Die Würde des Verwexen,
welche gewiß bis in die Anfünge des Bauernstaates zurückreicht,
wurde immer von neuem in demselben Augenblick lebendig, iu
welchem ein Interregnum eintrat; sie selbst konnte offenbar nicht
von einer Wahl oder einer besonderen Anerkennung abhängir
sein, sondern mußte im voraus feststehen, indem ein bestimmtes,
natürlich ebenfalls bäuerliches Geschlecht damit betraut war, seinen
Âltesten, an Jahren Ältesten, zu diesem Amt zu entbieten. Während
des Interregnums war dieser Bauer der wirkliche Landesherr,
und als solchen sehen wir ihn auch noch im 14. Jahrhunden,
freilich nur noch formal, seines denkwürdigen Amtes walten.
Das Ritual selbst ist ganz fremdartig, ja befremdlich. Einzel-
heiten davon mögen deutschrechtlich scheinen, zum Teil vielleichtnur
einen deutschrechtlichen Anstrich im Laufe der Jahrhunderte
deutscher Herrschaft erhalten haben: das Ganze steht außerhalb
aller deutschen Rechts- und Standesbegriffe. Sagt ja Aht Ju
HANNES im Entwurfe zu seinem Liber certarum historiarum von
der Inthronisation Herzog Orros im Jahre 1335:
„Australes autem quidam cum duce existentes videntes suum
principem sic circumduci et in loco tam humili statut et dign-
tatis huius titulo taliter decorari, vestibus suis Preciosis exui
et rusticalibus indui, plebeio habitu per omnia convestiri, mans
rustica alapari, questiontbus et responsionibus examınarı tt
principem vocibus rusticorum consonancium declarari, mirali
sunt...“').
Es ist dieselbe Inthronisation, bei weleher, wie wir oben gr-
hört, multa.... in huius festi observatione sunt improvide preier-
missa quia oblivioni tradita, was wohl so viel heißen mag, als dafins-
besondere vieles dem Herzog Anstößige teils unterlassen, teils gemil-
dert worden ist. Und wenn trotzdem das österreichische Gefolge über
eine solche Behandlung seines Herzogs, namentlich über den von
Bauernhand verabreichten Backenstreich, so verblüfft war, wie
muß erst dem ersten deutschen Fürsten Kärntens zu Mute gewesen
sein, als er sich der damals noch viel peinlicheren Prozedur hat
unterziehen müssen! War ja doch damals in einzelnen deutschen
1) Pexrsenant, N, 49.
m nn in nn m
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. , 501
olksrechten die Maulschelle als Symbol bei der Besitzergreifung
yn einem Sklaven noch durchaus rechtsüblich! So im langobar-
schen Rechte zur Zeit Karls des Großen: ... dabat ille mox
dafum dicens: tu, inquit, es meus servus‘), und noch im
achsenspicgel: Svenne he ine vertücht hevet. so sal he sik sin
sderwinden mit rechte, mit enem halslage of he wel?). Und
à soll für einen deutschen Fürsten der Empfang eines Backen-
reiches, noch dazu durch Bauernhand, nicht furchtbar gewesen
in, der doch von der ursprünglichen Bedeutung der Zollfelder
eremonie keine Ahnung haben konnte! ...
Wie hat sich nun dieser Ritus, seitdem er dem Volke nichts
ehr nutzte und dem Fürsten so peinlich war, so lange halten
önnen? Wohl nur dadurch, daß er anfangs sehr häufig geübt wurde.
ie vorauszusetzende Senioratsnachfolge brachte nämlich in der
egel bejahrte Männer ans Ruder, so daß man für jede Gene-
tion durchschnittlich mindestens zwei Fürsteneinsetzungen an-
ehmen kann. Jede Einzelheit war somit der ganzen Landschaft
ohlbekannt, und solange der Zweck im Volksbewußtsein lebte,
achte die (resamtheit argwöhnisch über der genauesten Bei-
ehaltung jedes Wörtchens, jeder Bewegung dem Herkommen
emäß. Und diese Wachsamkeit hielt dann noch an, als sich
er Sinu des Ritus längst verdunkelt, unklaren, mystischen Vor-
ellungen Platz gemacht hatte. Auch das spätere Einfließen
irchlicher und zugleich erziehlicher Elemente (v. 20079-—-20083,
0096, 20113f.) muß die Zähigkeit der Zeremonie gegen die
erzogliche Abneigung gestärkt und die Überzeugung lebendig er-
alten haben, welche noch im Jahre 1335 mit den Worten zum
usdruck kam:
..nullum principem terre sue rite posse concedere feoda vel
ıdicia exercere, nisi in eo priscarum consuetudinum lex servetur,
t scilicet super sedem suam sollempniter collocetur?).
Und mochten es auch die deutschen Landesherren schließlich
urchgesetzt haben, «daß die althergebrachte Herzogseinsetzungs-
1) Chronicon Novaliciense 111.14. Mon. Gern. hist. Scriptores VII.
. 101. PUNTSCHART, 140, Anm. 4.
2) Sachsenspiegel Buch 3, Art. 82, $ 9.
3) JOHANNES VICTORIENSIS a. a. O. $S, 419.
ae its
502 J. Peisker
norm nicht mehr bei jedem Regierungsantritt, sondern erst bei
Jedem Dynastiewechsel zu beobachten sei (v. 19983 —19991..
alten Rechtens war es jedenfalls nicht, weil die Norm sonst
längst in Vergessenheit geraten, kein Augen- und Ohrenzeuse
mehr am Leben gewesen wäre.
Nun zum ursprünglichen Kern des Ritus, soweit er sich aus
den beiden Berichten mit einiger Wahrscheinlichkeit noch er-
mitteln läßt:
Den Fürstenstuhl hält während des Interregnums der an
Jahren Älteste eines bestimmten Bauerngeschlechtes als Verweser
inne. Während dieser Zeit ist er der wahre Knez. Er beruft die
Vertreter des Volkes zur Wahl eines neuen Landesherrn ein, jedoch
nicht zur Wahl nach unseren heutigen Begriffen, sondern zur
Prüfung und schliefilichen Annahme eines bestimmten Anwärter.
der dazu laut einer gewissen Nachfolgeordnung, wohl nach den
Senioratsprinzip, prädestiniert ist. Fände man ihn nicht für ge-
eignet oder genehm, dann käme der Zweitälteste in Betracht.
Der Anwärter ist selbstverständlich immer ein schlichter Bauer,
ursprünglich de facto, später fingiert; in Bauerntracht hat er zu
erscheinen, und schon dadurch wird er zu einem Bauer, seitden
er es nicht mehr von Haus aus ist. Er tritt als qualifizierter
Bauer auf, denn indem er einen Stier und eine Zuehtstute mit-
‚führt, erweist er sich als viehzüchtender Bauer, freilich zu
Zwecken der Landwirtschaft, für Wagen und Pflug. „Stier und
Stute repräsentieren da... schlechtweg die Viehzucht, das kenn-
zeichnet schon der Geschlechtsunterschied“, urteilt treffend Scaox-
BACH).
Mit dem Anwärter erscheinen gleichzeitig gewisse Zeugen
„von frier art“ (v. 20052), wohl keine Privatzeugen, sonder
offizielle Vertrauenspersonen des ganzen Bauernvolks. Ihre Würde
stand vermutlich ebenso bestimmten Bauerngeschlechtern nael
dem Senioratsprinzip zu, wie die des Bauers-Verwesers, der auf
dem Fürstensteine sitz. Nun nimmt dieser in Vertretung de
Volkes eine Prüfung des Anwärters vor:
Ob er der Fürstenwürde würdig (v. 20074), das ist son frier arı
1) SCHÔNBACH a. a. 0. NS. 525.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Tuikotataren etc. 303
sei (conditionts libère, ut sit dignus, sagt Abt JOHAXNES), nicht etwa
ein Höriger oder Fremder, dessen Ahnen an der Bauernbefreiung
nicht mitgewirkt haben. -- Oh er ein rechtgläubiger Christ sei,
wohl eine spätere Zutat. -— Ist er cin guter Richter, sine ira et
studio seines Amtes zu walten fähig? --- Ist er ein kriegs-
erfahrener Manu, geeignet, Land und Volk zu schirmen? Die
Zeugen haben jede dieser Fragen abgesondert zu bejahen und
sodann jeder einzeln zu beschwören, die Wahrheit ausgesagt zu
haben.
Dadurch ist der Befähigungsnachweis erbracht, und nun folgt
die symbolische Entgegennahme der Wahlkapitulation, der vertrags-
mäßigen Garantien dafür, daß der Anwärter seinen Fürstenpflichten
auch getreulich nachkommen werde.
Ergo quo iure me ab hac sede amovere debeat quero? nicht
ihn, den „Herzogs“bauer als Privatmann, sondern als Verweser,
als welcher dieser nur dem rechtmäßigen und anerkannten An-
wärter den Fürstenstein zu räumen hat. Der .\nwärter
1. bietet ihm mit den 60 Pfennigen wohl ein Enteelt für die
Erhebung ');
2. gewährleistet ihm [ursprünglich wohl durch ihn der zanzen
Baueruschaft] mit der Übergabe der zwei Zuchttiere symbolisch
das Recht auf freie Viehzucht und Weide für Rind und Pferd;
ursprünglich dürfte auch das Schaf, dessen Wolle der Bauer
nicht leicht missen will, dabei sewesen sein;
3. verbürgt ihm [ursprünglich wohl dureh ihn ebenfalls der
ganzen Bauernschaft| Steuerfreiheit und dadurch auch Grund-
eirentum, was allerdings dem Volke mit der Zeit verloren sing
und dann wirklich nur dem Herzogshauer zugute kam;
4. sibt seine Bauernkleider hin. Wozu? die waren ja wert-
los! Wir werden bald hören, daß bei den Inthronisationen
in Böhmen die auf dem Vysehrad bewahrten, sei es echten, sei
es unechten Reste der Bauernkleider Premysis dem Anwärter
angelegt wurden; ähnlich mag man es auch in Kärnten schalten,
ja die dem „Herzogs“bauer übergebenen Bauernkleider bis zum
Tode des betreffenden Knez als Unterpfand aufbewahrt haben.
1) Vgl. PUXTSCHART, S. 143.
Me tu; + æ
504 J. Peisker
in perpetuam rei memoriam, daß der Knez rechtlich nichts anderes
als ein Bauer sei, nachdem er diese Bauernkleider tatsächlich
und unter Zeugen getragen hatte: der Rock macht den Mann;
5. empfängt vom „Herzogs“bauer, der ihm dabei (nach Abt
JOHANNES) bonum iudicem iubet esse, einen leichten Backenstreich.
Das Symbol paßt indes kaum in diesen Zusammenhang.
6. Nachdem nun der „Herzogr“bauer den Fürstenstein geräumt
und mit den zwei 'Tieren von dannen gezogen, nimmt der Anwärter
dessen Sitz ein (v. 20107) und schwenkt, auf dem „Steine“
stehend, das gezückte Schwert nach allen Windrichtungen — wohl
nicht, wie Abt JOHANNES philosophiert: osfendens, iustum zudicem
omnibus se futurum, sondern als Schirmer des Landes vor
äußeren (tefahren, von welcher Windrichtung her sie auch
kommen mögen!) — und beschwört dann (oder zuvor?) alles das
einzelu, wofür sich früher die Zeugen für ihn verbürgt haben
(v. 20110— 20114).
Erst von nun an ist er der Landesfürst.
Das Übrige ist für unsere Frage weniger wichtig, dabei in
seiner ursprünglichen Bedeutung dunkel und strittig.
Kehren wir noch einmal zu dem Backenstreich zurück. In
1) LEVEC nimmt a. a. O0. S. 76 mit GOLDMANN [siehe unten S. 503 Anm. 3]
S. 19 ff. an, der Schwertritus sei als spätere Zutat auszuscheiden, da er sehr
wahrscheinlicn auf eine ähnliche Zeremonie bei der mittelalterlichen Kaiser-
krönung zurückgehe.
Unmöglich. Der Kaiser, das weltliche Oberhaupt der ganzen Christen-
heit, schwenkt bei seiner Krönung das Schwert als Schirmer des Reichs und
des Glaubens gegen alle Feinde. Auch in allen übrigen Fällen, die GuL»-
MANN anführt, sind es souveräne Landesherren. Ebenso schwang Cols di
Rienzi das Schwert. als eingebildeter Augustus dreimal zur Bezeichnung der
drei Weltteile mit den Worten: Das ist mein, das ist mein und das ist auch
mein! Was aber dem Kaiser, dem Augustus zusteht, das wäre bei dem
Herzog von Kirnten, einem einfachen Reichsfürsten und Lehensmann des
Kaisers, eine unyehcuerliche Anmaßung, welche der Kaiser gar nicht hätte dulden
können. Der Schwertritus auf dem Zollfelde paßt somit auf einen deutschen
Herzog überhaupt nicht, am allerwenigsten schon für jene Windrichtungen,
wo andere Reichslande angrenzen, folglich muß der Ritus älter sein als die
Reichsangehörigkeit Kärntens, aus der Zeit der vollen Unabhängigkeit des
Landes, also aus slawischen Zeiten herrühren und kann durchaus nicht als
eine Nachahmung der Kaiserkrönung gelten.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 505
ıbın ist nach Puntschart „die Versinnlichung der Ausübung
der Gewalt des [Herzogs]bauers zu sehen, und zwar der letzten
Ausübung. Der Bauer erscheint darin zugleich als der Be-
rechtigte zur Übertragung der Gewalt an den Herzog, welche
dadurch sinnenfällig als eine legitime dargestellt wird“),
„Die Versinnlichung der Ausübung der Gewalt des [Herzogs]-
bauers“ durch den Backenstreich ist. sowohl nach deutschen ?)
als auch nach slawischen?) Rechtsgewohnheiten allerdings offen-
bar, der Rest von PuNTSCHARTS Deutung ist dagegen m. E. aus
folgenden Gründen abzulehnen:
Wo immer die Verabreichung eines Backenstreiches stattfindet,
geschieht es zum Zeichen, daß dadurch der Gestrichene in die
Gewalt des Streichenden gelangt. Wäre jedoch dabei mit auch
eine Übertragung der Gewalt gemeint, dann wäre vielleicht
eine Quittierung des Empfanges dieser Gewalt zu erwarten,
indem etwa der Anwärter, sobald er sich auf dem vom Bauer
seräumten „Stein“ niedergelassen hat und dadurch Fürst ge-
worden ist, den Backenstreich zurückgäbe zum Zeichen, daß
der Bauer, der bisherige Verweser, sich fortan in der Gewalt
des Fürsten befinde. So aber bleibt der Backenstreich
auf dem Fürsten sitzen, vorausgesetzt, daß hier zwischen
der Verabreichung der alapa und dem Nachsatze: bonum iudicem
iubet esse nichts weggefallen ist. Hier sind eben zwei Möglich-
keiten denkbar: Entweder ist dazwischen wirklich etwas weg-
sefallen und jeder weitere Streit darüber fruchtlos, oder es ist nichts
weggefallen und der Abt hat Heterogenes zusammengekoppelt :
dann sitzt der Backenstreich. In diesem Falle wäre es jedoch
durchaus nicht belanglos, daß die Verabreichung der alapa ganz
am Schlusse der Tätigkeit des Bauers vor sich geht, und dies
könnte dann bedeuten, daß der den „Stein“ räumende Bauer
seine Rolle nicht nur noch nicht ausgespielt hat, sondern im
1) PUNTSCHART, 8. 142.
2) Zwei davon lernten wir oben, S. 500 f. kennen.
3) PCNTSCHART, 8.141. — E. GOLDMANN, Die Einführung der deutschen
Herzogsgeschlechter Kärntens in den slowenischen Stammesverband. Breslau
1903, S. 166 f., bildet das 68. Heft der Untersuchungen zur deutschen
Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben v. GIERKE.
506 J. Peisker
Gegenteil ihm eine bestimmte Gewalt über dem Fürsten vorbehalten
bleibt, die ihn etwa berechtigt, ja verpflichtet, gegen den Fürsten
ipso iure vorzugehen, wenn dieser, den soeben eingegangenen
Verpflichtungen zuwider, sich an den Rechten der Bauernschaft
treulos vergreifen würde. Träfe diese Annahme zu, dann wäre
durch die Verabreichung des Backenstreichs
‘7. einer der Bauernfreiheit zefährlichen Fürstenwillkür ein
weiterer Riegel vorgeschoben.
Mag indes Punkt 7 stichhaltig sein oder nicht: schon der
ganze Komplex von Punkt 1—6 zeigt zur Genüge, mit welcher
Überlegung und Lebensklugheit, ja mit welchem raffinierten
Mißtrauen die durch bittere Erfahrungen gewitzigte Bauernschaft
es verstanden hat, ihre junge Freiheit möglichst sicherzustellen.
Und in der Tat lassen sich stärkere (rarantien, als jene des Rituals
waren, nicht leicht denken; mit ihnen waren die Hauptbedürtnisse
des vom Zupanenjoche freigewordenen Bauerntums, wie wir sie
oben S. 488, zunächst rein spekulativ, entwickelt haben, wewähr-
leistet.
Anders konstruiert LEvze. Auch er nimmt für die älteste Zeit au.
„daß sich Viehzüchter als herrschende und Ackerbauer als be
herrschte Schichte gegenübergestanden sind. Wenn nun die beiderseitizen
wirtschaftlichen Interessen, wie gezeigt wurde, im Laufe der Entwickluns
zu Konflikten führen müssen, so war es doch keineswegs notwendig — das
heutige Kärnten und Böhmen beweisen es —, daß bei diesen Zusammet-
stößen die Ackerbauernschicht, selbst wo sie die stärkere war und den Siex
davontrug, die Viehzüchter- und Hirtenschicht vollkommen vernichtet!
hätte, weil der primitive Ackerbauer auf die Hilfe und Unterstützung der
Hirten noch angewiesen ist, selbst wenn dieser nicht sein Herr ist'. Es
1) „Ein packendes Beispiel aus halbvergangener Zeit bietet der Balkai.
Hier hat seit dem Mittelalter bis zum Berliner Kongreß eine scharf au-
geprägte Zweischichtung bestanden, und sie besteht in reduziertem Mur
noch heute. Die rumänischen Wanderhirten (Vlachen), die nie eine herrschentr
Schicht gebildet haben, zogen auf dem ganzen Balkan mit ihren Herd
herum; wenn sie im Frühjahre auf die Höhen oder im Herbste in die Niei«
rungen zogen, weideten ihre Herden auf den Stoppelfeldern und Brachäcker
der Bauern und versorgten diese mit Dünger. Als dann nach dem Jahre 19:3
die innerhalb des Balkangebietes errichteten neuen Staatsgrenzen [Serbien
und Bulgariens] dem unbeschräukten Nomadenleben der Vlachen ein En
setzten, brach über die Ackerbauer eine wirtschaftliche Krise herein. Ne
mußten sich entweder Vieh anschaffen, um Dünger zu haben, oder, wo die
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 507
konnte daher der Sieg auch zu einer bloßen Beschränkung der früheren
Herrscher führen; das geschah derart, daß man dem Supan, der, wie
vielleicht zu vermuten ist, kraft eines einem bestimmten Supanengeschlechte
zustehenden erblichen Rechtes zur Herrscherwürde im betreffeuden Staats-
wesen gelangte, bei seiner Einsetzung zum Bewußtsein brachte, daß infolge
jenes Bauernsieges seine Gewalt eine Gewalt von der Bauern
Gnaden sei, er daher ihnen vielleicht ein freies Roderecht, bestimmt aber
zumindest ein gewisses Recht auf Viehzucht — Rind, Pferd, Schwein —
zu verbürgen hat. Hier ist m. E. der Ursprung der kärntnerischen Zere-
monie zu suchen; durch diese Annahme wird es verständlich, warum der
Bauernherzog von Symbolen der Viehzucht umgeben ist, und so wird es
auch erklärlich, daß sich Supanen in gewissen Gegenden Karantaniens in be-
deutender Zahl und in privilegierter Stellung wirklich erhalten haben“ ').
Diese posthume Arbeit von LEvE« blieb unvollendet, und gerade die
angeführte Stelle ist eine bloße Skizze, an welcher der Autor kaum fest-
gehalten hätte, wenn er nicht der Wissenschaft so frühzeitig entrissen worden
wäre, denn bei unserem letzten Gedankenaustausch äußerte er andere Ideen.
Da nun die Skizze dennoch in seine Studie mit aufgenommen werden ınußte,
so bleibt mir nur der Nachweis übrig, daß sein — ich kann wohl sagen:
einstiger — Versuch mißlungen ist, die oben S. 329 ff. dargestellte unter-
steirische Zupanen verfassung *) mit der kärntnerischen Bauern verfassung
des Zollfeldes in Zusammenhang zu bringen, denn:
1. ist in dem Zollfelder Bauernstaate nicht die geringste
Spur von einer Zupanenschicht wahrnehmbar, eine solche
hat dort überhaupt nicht bestanden;
2. ist der Zollfelder Anwärter der Fürstenwürde ein Bauer, und als
solcher erscheint er vor dem Fürstensteine. Die zwei Tiere kennzeichnen
ihn nicht als Zupan von der Bauern Gnaden, sondern als viehzüchten-
den Bauer;
3. ist der primitive Ackerbau auf Hilfe und Unterstützung des Hirten
nicht im geringsten angewiesen; er fulit auf Brennwirtschaft, Hackbau
angeht, rufen sie noch heutzutage die vlachischen Wanderhirten und be-
zahlen sie zu dem Zwecke, daß sie auf ihren Äckern mit den Herden über-
nachten und so den notwendigen Dünger beschaffen. Vgl. Prisker, Slovo
o zädruze, ‘SAbdr. aus Närodopisny Sbornik Ceskoslovanskr IV.
u. V. VPraze 1899) S. 28 ff., vorzüglich auf Grund der Berichte von Jun.
Konst. JIRECEK, Cesty po Bulharsku. VPraze 1888, S. 138...“
1) Levec S. 79 f.
2) und diese meint LEvrC mit den Worten: „daß sich Supanen in
gewissen Gegenden Karantaniens in bedeutender Zahl und in privilegierter
Stellung wirklich erhalten haben“. Karantanien umfaßte nämlich einst auch
den größten Teil Steiermarks.
es
. ir Fer ®,
3
«
508 J. Peisker
mit: ein-, höchstens zweijährigen Saatfeldern, und solche bedürfen keiner
Düngung;
4. trifft der Vergleich mit der Zweischichtung auf der Balkanhalbinsel
nicht zu; hicr handelt es sich um keine primitive Bodenkultur, keinen Hack-
bau, sondern um regelmäßigen Ackerbau mit Haken oder Pflug auf perm-
nenten Äckern, mit Düngung von Stoppel und Brache;
6. Ist nun die Düngung der Bauernfelder durch Zupanenherden gege-
standslos, dann fehlt auch jedes Interesse der siegreichen Bauernschaft an
dem Fortbestande der so verhaßten Zupanenschicht, und da diese gewiß nicht
freiwillig das Feld räumte, so wurde sie entweder verdrängt oder vertilgt
Das nötige Vieh konnte der Bauer fortan selbst halten;
6. Der untersteirische Zupanenstaat und der Kärntner
Bauernstaat sind zwei von einander ganz unabhängige,
heterogene Gebilde, die sich gegenseitig unversöhnlich
abstoßen. Jedes dieser zwei Staatsgebilde will demnach für sich ab-
_æesondert behandelt werden und es ist jeder Rückschluß, welcher immer,
von dem einen auf das andere ganz und gar unstatthaft. Erst die Deutschen
dürften die beiden politisch vereinigt haben, aber unter Beibehaltung
der bisherigen Volksgliederungen. „Quarantanis“ der ältesten Quellen ist
kein politischer, sondern bloß ein ethnischer Begriff, welcher eine Ansabl
- selbständiger Knezentümer ohne Rücksicht auf deren innere Struktur umfaßte.
Dies ergibt schon cap. 7 der Conversio Bagoariorum et C'arantanorem:
... Arn episcopus [Fuvavensis] successor Virgilii [dieser + 784] ... ordnen
presbrteros el mittens in Sclaviniam, in partes videlicet Quarantanas atque inferior:
Panonia: illis ducibus atgue comitibus, sicut pridem Virgilius fecit. Quorum
unus Ingo vocabalur ... Vere servos credentes secum vocavil ad mensam, &
qui corum dominabantur infidedes, foris quasi canes sedere fecit, ponende
ante illos panes et carnem et fusca vasa cum vino, ut sic sumerent viclus. Servis
aulem staupis deauratis propinare iussit ... Tunc interrogantes primi defori
dixerunt: Cur facis nobis sic? At ille: Non estis digni, non ablutis corboribu:,
“um sacro fonte renatis communicare,; sed foris domum ut canes sumerè victus.
Joe facto fide sancta instructi certalim cucurrerunt baptizati. Et sic drinceps
relisio christiana succrescit. Ingo war somit nicht dux oder comes Quarants-
norum, sondern bloß unns ducum atque comitum, der Knez eines der
vielen Karantanervölkchen und zwar eines von Zupanen beherrschten —
servi...et qui eorum dominabantur! — vielleicht eben des untersteirisches
Völkchens, nicht aber des Zollfelder Bauernvölkchens. Die Ingosage hat
daher init der Entstehung des Zollfelder Einsetzungsrituals nichts zu schafes
und wenn Abt Johannes, etwa 1341, bei der Erläuterung dieser Zeremonie
meint: Zr ob hanc causam [d. i. Ingos Gastmahl] etiam investitura principis
in simplices et non in nobiles est transducta'), 80 ist es bloß seine, recht naire
Vermutung, die uns nicht beirren darf.
1) JOHANNNES VICTORIENSIS, a. a. O. S. 320.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 509
Der Bauernstaat umfalite nicht das Gesantgebiet des Slowenen-
olkes, sondern bloß etwa das östlichere Kärnten von heute.
'ohl zu beiden Seiten der Drau. Südöstlich davon, jenseits der
teiner oder Sanntaler Alpen, in Untersteiermark und Nordkrain.
lieb das Zupanentum ungebrochen, #ewifl als besonderer Zu-
ancenstaat mit eigener Verfassung, deren Nachschimmer wir
ach dem Rationarium Stirie vom Jahre 1256 oben dargestellt
aben. Hier bot die wildzerklüftete und geradezu unzugäng-
che, noch heute mit ungeheueren lrwäldern von riesigen
uchen, Fichten und Tannen bedeckte Granitmasse des Bacher-
ebirges, wo Bär und Luchs noch bis unlängst hausten, der be-
'eglichen Hirtenschicht festen Halt; nicht zur Weide, denn dazu
t sie ob ihrer schroffen Abhänge fast unverwendbar und der
iehauftrieb auch heute noch gering'), sondern als sicherer
chlupfwinkel in der Not, wohin sich der Nomade vor feindlichen
inbrüchen zurückziehen und von da aus den Eindringling nach
len Seiten bedrängen konnte. Ihre Winterquartiere nahm diese
lirtenschicht mitten unter den unterworfenen Bauern auf dem
ettauer Felde?), während ihr die Steiner oder Sanntaler Alpen
ar Sommerweide dienten.
Dagegen hausten dereinst die Hirten im heutigen Kärnten
on Natur aus viel ungünstiger, denn hier ist das Klima zu rauh.
m geeignete Winterweiden zu bieten, die in der Regel hohe
chneedecke ließe das Vieh monatelang ohne das nötige Scharr-
itter. Ein Wintern der Nomaden war hier nur möglich, wenn
ie geknechteten Bauern verhalten wurden, um so viel mehr Heu-
orräte den Sommer über aufzustapeln, je weniger an Scharr-
itter zu Gebote stand. Dadurch hätte sich die Lage der Kärnter
auern allerdings noch viel härter gestaltet, als die ihrer unter-
æirischen Volksgenossen. Stand dagegen den Kärnter Nomaden
ie milde, schneearme Sauebeue um Krainburg und Laibach
ffen, dann dürften sie zur Herbstzeit eine Wanderung dorthin,
ber den Loiblpaß — 1370 m - - vorgezogen und die Kärnter
auern wenigstens mit Winterungen unbehelligt gelassen haben.
| 1) JANISCH, Topographisch-statistisches Lexikon von Steiermark, 1. Band,
raz 1878, S. 46.
2) Siehe oben S. 469 ft.
Pe; 1 “
Bee
510 J. Peisker
Dies ist einer wehrlosen Bauernschicht gewiß nicht gleichgültig.
denn anders gestaltet sich ihr Geschick, wenn sie die ständigen
Winterungen der Nomaden über sich ergehen lassen muß oder
wenn sie davon verschont bleibt. Aber in beiden Fällen war die
Begierde nach Befreiung von der Zupanenplage groß, und wurde
der Druck unerträglich oder eine Erfolg verheißende Schwächung
der Bedrücker durch äußere Feinde oder durch Viehseuchea
merklich, dann gelang schließlich einer der Aufstände vollständig,
die Zupane wurden vertrieben oder vertilgt, die Bauern frei. Wie
sich dann die Bauernschaft aufrichtete und von Grund aus neu
organisierte, das lehrt, trotz seiner Verblaßtheit, das Einsetzungs-
ritual, und dieses ist, wie wir gleich hören werden, dem böh-
mischen im wesentlichen so ähnlich, daß wir ein gemeinsames,
erprobtes Vorbild annehmen dürfen, ein traditionelles Vorbild aus
altersgrauer Zeit, zu welchem man zurückgriff, so oft und wo
immer eine der zahlreichen Revolutionen glückte. So wäre die
Ähnlichkeit der beiden Rituale am ehesten zu erklären.
Die Organisation des Kärnter Bauernstaates bewährte sich
allem Anscheine nach glänzend, die Bauernfreiheiten hielten lange
Stand; wurde ja das Ritual sehr oft und Jahrhunderte hindurd
geübt, sonst wäre es dem Volke nicht so tief in Fleisch und
Blut übergegangen.
Ein Bauernstaat ist seiner ganzen Natur nach gegen außen
passiv, nicht angreifend, erobernd, dagegen äußerst zäh in der
Verteidigung, wie die Dithmarschen und die afrikanischen Buren-
staaten. Er ist entschieden kleinstaatlich !), so, was man, etwas
ungenau, patriarchalisch zu nennen pflegt, nur so weit ausgedehnt,
als der Knez-Richter in eigener Person überblieken kann. Macht-
entfaltungen nach außen werden gar nicht angestrebt, der Klein-
staat genügt sich selbst. Wohl sind zu Zwecken aussichtsvollerer
Verteidigung in Kriegsgefahren föderative Zusammenschlüss
mehrerer autonomen Knezentümer unter einem Großknezen, (irof
fürsten von Vorteil ?), wie sie gerade bei den Slawen so vielfach
1) PuntscHArTt, S. 269.
2) Daß auch hier das Senioratsprinzip eine Rolle spielt, hat KAXNTRCKI
— siche oben S. 496 Anm. 4 — gezeigt.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 511
angetroffen werden. Ist die Gefahr vorüber, dann löst sich ein
solcher Zusammenschluß gern auf und überdauert nur selten
seinen Gründer. Erstarkt jedoch die Macht eines solchen Groß-
fürsten zum Nachteile einzelner Föderierten, dann entstehen innere
Gegensätze, die schließlich entweder ebenfalls zur Auflösung der
Föderation oder aber zur direkten Unterwerfung einzelner, um
Wiedergewinnung ihrer Unabhängigkeit ringenden Glieder führen;
im letzteren Falle verschwinden die unterlegenen Knezen, es
kommt zu einer Beamtenregierung der niedergeworfenen Depen-
denzen, die dann wie ein erobertes Land zu Handen des Groß-
fürsten verwaltet und von ihm als sein Privateigentum behandelt
werden, das vererbt, unter seine Deszendenz verteilt werden kann.
Solche durch Unterwerfung erworbenen Dependenzen sind m. E.
der Boden, auf welchem die Entstehung der Paragien, Apanagen
für die jüngeren Prinzen, zu suchen ist, von wo aus diese Insti-
tation schließlich auch in das Stammland herübergreift, nachdem
die Dependenzen in feste Hände, denen sie nicht mehr entwun-
den werden können, gelangt sind und die Fürstenmacht auch in
dem Stammlande maßgebend geworden ist, wie es in Böhmen
der Fall war!) Diese Entwicklung ist in einstigen Bauern-
staaten ebenso denkbar wie in Zupanenstaaten, sie setzt jedoch
in beiden Gebilden eine entsprechende Stärkung der Herrscher-
gewalt voraus.
1) Eine Analyse der böhmischen Zustände führt Loserrn zu dem zu-
treffenden Schlusse: „Anfänglich hatte jeder Stamm sein eigenes Oberhaupt.
Wie aber die gemeinsame (iefahr von außen her die einzelnen Stämme zwang,
nnter eine gemeinsame Leitung zu treten, so gewann jener Stamm, aus
welchen der Herzog gewählt wurde, und dann in weiterer Linie das Gc-
schlecht, welchem der gemeinsame Herzog angehörte, selbst cine weitaus
höhere Bedeutung. Dem Stamme der Czechen, der weder der volkreichste,
noch kriegerischeste war, kam die zentrale Lage seiner Sitze im Innern des
Landes, von wo jedem der Nachbarstämme Hilfe geleistet werden konnte,
dem (teschlecht der Pfemysliden vielleicht auch die nachweisbare Verbindung
mit dem [mährischen] Moimaridenhause zu statten. In schweren Kämpfen,
in einzelnen Fällen auch in friedlicher Weise — für beide Momente fehlt
«s nicht an hinlänglichen Belegen — erfolgte das Aufgehen der Stammes-
fürstentümer.* LOSERTH, S. 41.
Über die Entwicklung des Paragiums siehe KANTECKI, 8. 25 ff. LosERTH,
N. 20 fl.
512 J. Peisker
Solange der Bauernstaat sich nicht in dieser Richtung ver-
schoben hat, ist er an sich ein eminenter Rechtsstaat’); er
entstand nicht durch Eroberung, durch Unterjochung, sondern auf
xrund einer wahlmäßigen Rechtsordnung, die sich das freigewordene
Bauernvolk selbst gegeben hatte. Sicherheit der Person und de
Eigentums ist sein höchster Grundsatz, und nichts wird so streng
seahndet als Tötung, Diebstahl und Brandlegung, davor will der
Bauer zu allererst gesichert sein. Daher bedarf er zunächk
eines weisen, tatkräftigen Richters, und als soleher erscheint auch
der Kärnter Bauernfürst im Lichte des Rituals. Richterliche
Weisheit setzt Lebenserfahrung voraus, die erst in eineın höheren
Alter erworben werden kann, daher ist eine Deszendentalerbfolge
vom Fürstenstuhle ausgeschlossen, der an Jahren Älteste, oder
wenn dieser nicht tauglich oder nicht genehm ist, der Zweitältest
soll Fürst-Richter sein.
Dennoch darf man sich die Einrichtungen eines solchen Bauen-
staates nicht gar zu ideal vorstellen, denn nichts liegt dem Bauer
ferner als abstrakte Selbstlosigkeit. Der Bauer an sich ist em
derber, man kann fast sagen niedriger Egoist, nur für sich frei-
heitsliebend und eines höheren Aufschwungs bar. Auch er wird
seine Knechte gehabt haben, wo er ihrer nur habhaft wurde.
neben ihm konnte nichts, was dem Städtewesen, einer differen-
zierten Arbeit, einer (rliederung der Gesellschaft ähnlich wäre,
so leicht entstehen; so etwas konnte nur gegen ihn aufkommen,
solange jedoch er der Herr war, geschah es nicht. Von einem
xeistigen Fortschritt war da keine Rede. Als abgesagter Feind
jedes solehen haßte der Kärnter Bauer nichts so sehr als da
Christentum, denn er fühlte es instinktiv heraus, daß mit den
Predigern der Nächstenliebe und völligen Gleichheit der Menschet.
die noch dazu erst im Jenseits zur Tat werden sollte, knechtende
Gewalten ins Land kommen und die Bauernherrlichkeit vernic-
ten würden. Daher die vielen Erhebungen gegen die Missionäre.
die sich wiederholt flüchten mußten, trotz der vom Salzburger
Bischof gebotenen Vorsicht: neAll sibi ursurpare, quod decrebs
sanciorum palrum contratret*). -- Das Augenmerk des Frei-
1) Puxsrschiwr, 8. 269 f.
2) [Cheitmar dux Carantanorum] secum habens Maiorianum presbyterer
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 513
bauerntums ist ausschließlich auf Behauptung seiner Freiheit und
Befriedigung des zeitlichen Lebensunterhaltes in schwerer Land-
arbeit gerichtet, höher reicht sein Bestreben nicht. Dabei mag
der Kärnter ein tüchtiger Agrikultor gewesen sein, mit Viehzucht,
sogar mit Stallfütterung im Winter, einer Folge mangelnden
Seharrfutters.
Eine Grundsteuer duldete er nicht und ließ sich diese Frei-
beit bei jeder Fürstenkur in der Wahlkapitulation besonders ge-
währleisten. Ja, nicht einmal einen Fürsten im deutschen Sinne
wollte er haben: sein Ärez war kein König, sondern, wie schon
erwähnt, Richter im Frieden, vojevoda (wörtlich %Aerizogo) im
Kriege, daher auch die slawischen Knezen den Deutschen als
duces erscheinen.
Erst nach der deutschen Landnahme entwickelte sich eine
gesellschaftliche Gliederung im Kärnterlande, die einstige Bauern-
berrlichkeit schmolz allmählich zusammen, ihre Gewährleistung
durch Wahlkapitulation wurde zu einer inhaltsleeren Formalität. Die
in Juvavensi monasterio ordinatum ad presbylerum. Qui admonuil cum ad ipsum
monasterium suum caput declinare in servitium Dei. Et ille ita fecit, ac promisit
se ad ipsam sedem serviturum. Sicut et fecit atque annis singulis ibidem suum
servitium persolvebat, el inde semper doctrinam et officium christiantiatis percepit
usque dum vixit.
Peractis aliquantis temporibus prenominatus dux Caruntanorum petiit Virgilium
episcopum visilare populum gentis illius, cosque in fide firmiler confortare. Quod
ile tunc minime adimplere valuit, sed sua vice misso suo episcopo nomine Modesto
ed docendam illam plebem ... cum aliis clericis, dans ei licentiam ecclesias von-
secrare et clericos ordinare iuxta canonum diffinitionem, nihilque sibi wusurpare
guod decretis sanctorum patrum contrairet. Qui venientes Caranlanis dedieaverunt
ibi ccelesiam S. Mariae... et in aliis quam Plurimis locis. Ibique permansit
ssque ad vilae suac finem. Eo igitur defuneto episcoßo, postwlavit iterum idem
Cheitmar dux Virgilium episcopum, si fieri posset, ut ud se veniret. Quod ille
remnsil orla scditione, quod carmula dicimus. Sed inilo consilio misit
ibidem Latinum presbyterum, et non multo post orta alia seditione exivitl
inde ipse Latinus presbyler. Sedata autem carmula misit iterum Virgilius
episcopus ibidem Maualhohum presbyt'rum ... Mortuo autem Cheitmaro et orta
seditione aliquot annis nullus presbyter ibierat, usque dum W'altunc
dux corum misit iterum ad Virgilium cpiscopum et petiit ibidem presbyteres mittere.
Qui tunc nisit eis Heimonem presbyterum . .. cum aliis clericis.
— Conversio Bagoariorum et Carantanorum cap. 4 und 5.
Mon. Germ. Hist. SS. XI. S. 7f.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 34
514 J. Peisker
altherzebrachte Steuerfreiheit wich anfangs vielleicht freiwilligen,
nicht regelmäßigen Leistungen zu Verteidigungszwecken und
schließlich einer ständigen Besteuerung. Dies dürfte sich dann
auch im Rituale dahin ausgeprägt haben, daß der Landesfürst bei
seiner Inthronisation nicht mehr der Bauernschaft, sondern blob
dem ,Herzogs“bauer, als dem nunmehr einzigen Bevorzugten,
Steuerfreiheit zusicherte. Nebstdem verlor auch der Ritus der
Übergabe der zwei Zuchttiere als Symbol des verbürgten Bauen-
rechts auf Viehzucht seine Bedeutung, man wußte nicht mehr,
was damit gemeint sein sollte, nachdem es seit Jahrhunderten
niemanden ab, welcher die Bauernschaft an ihrer Viehzucht ak
solehen gehindert hätte. Das Symbol der Übergabe der Zucht-
tiere wurde so zu einer leeren Auferlichkeit, die nicht einmal dem
„Herzogs“bauer zugute kam, seitdem er Stier und Stute selbit
„fürzustellen“ hatte).
Für das Bauernvolk war fortan durch das Inthronisation:-
zeremouiell nichts mehr zu holen, es wurde nun ein stummer Zu-
schauer des unverständlich gewordenen Schaustückes, bei welchem
bloß der Fürst und der Herzogsbauer als handelnde, eigentlich nur
darstellende Personen auftraten. Und für dieses E n d stadium trifft
zu, was M. PAPPENHEIM, gewiß unrichtig für die ganze Vergangen-
heit generalisierend, gegen PUNTSCHART eingewendet haben will:
„Das ‚demokratische Moment‘ der Herzogseinsetzung besteht nach der
Ansicht des Verfassers ($$ 134 ff.) darin, daß der Herzogsbauer den Herzog
in den Besitz des Landes und in die Herrschaft über dasselbe einsetzt. KR
geschieht dies erst nach Eınpfang der geforderten Garantien betreffs der
Persönlichkeit des Herzogs und nach Zusicherung der von ihm zu erbringenden
Gegenleistung, und es geschieht durch die Räumung des den Besitz de
Landes darstellenden Besitzes des Fürstensteins. Der Bauer verleihe das
Land als Vertreter des Volks; er und durch ihn das Volk erscheine vor der
Abtretung des Steines als der Besitzer des Landes; das Volk sei als der
Souverain gedacht. Dieser Ansicht des Verfassers können wir uns in ihre@
letzten Teile nicht anschließen. In dem Formalismus der Einsetzung deutet
nichts darauf hin, daß der Bauer sie als Vertreter des Volkes vornehme.
nichts darauf, daß der Bauer vor ihr als Vertreter des Volks auf dem Stein
sitze. Im Gegenteil. Die anwesende Volksmenge nimmt nur als Zuschavera
an der Zeremonie teil; nicht cinmal von einer Beifallsäußerung, wie #
sonst häufig als letzter Überrest einstiger materieller Mitwirkung begegmt.
1) PUNTSCHART, S. 62 f.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 515
ist hier die Rede’). Der Herzogsbauer tritt durchweg als aus eigenem
Rechte handelnd auf. Dem Anspruch des Herzogs stellt er die Frage ent-
gegen, mit welchem Rechte dieser ihn von seinem Sitze entfernen solle. Das
hiefür zu leistende Entgelt wird ihm zugesichert und ausgehändigt. Er
nimmt allein den Übertragungsakt vor. Täte er dies alles als Vertreter des
Volkes, so müßte das doch in irgendeiner Weise erkennbar werden. Der
Inhalt des Einsetzungsaktes spricht aber direkt dagegen. Die Herzogs-
einsetzung kleidet sich in die Form einer entgeltlichen Übertragung des Land
und Landesherrschaft repräsentierenden Fürstensteins unter alsbaldiger Besitz-
emweisung. Die Belehnung des Herzogs durch den König erscheint in diesem
Zusammenhange als die Tatsache, die ihm einen Anspruch auf die Übertragung
verschafft hat. Auch in dem Formalismus der Herzogseinsetzung erscheint
der Bauer insoweit an die königliche Belehnung gebunden, als durch sie die
Person desjenigen bestimmt ist, an den die Übertragung bei dem Vorhanden-
sein der sonstigen Voraussetzungen zu erfolgen hat. Die Übertragung kann
daher nicht einen W ahlakt des Bauern, bez. der durch ihn vertretenen Bauern- .
schaft darstellen; die durch die Wahl zu beantwortende Frage, wer Herzog
werden solle, wird bei der Herzogseinsetzung als beantwortet vorausgesetzt.
Diese dient nicht der wenn auch nur formalen Bestimmung der Person des
künftigen Herzogs, sondern der formal freiwilligen Übertragung der Herr-
schaft an die durch die königliche Belehnung bestimmte Persönlichkeit, deren
Identität und Qualifikation allein durch die dahin gehenden Fragen und Ant-
worten festgestellt und verbürgt werden. Die Übertragung der Herrschaft
aber kann nur erfolgen durch deren zeitigen — wenn auch nur formalen
— Inhaber. Als solcher erscheint der Herzogsbauer, der, kurz gesagt, als
Bauernherzog zu betrachten ist. Als solcher sitzt er auf dem Fürstensteine,
Bein über das andere geschlagen, d. h. in seiner äußeren Erscheinung
das Nachdenken über Geschäfte seines Amtes zur Schau tragend. Aus eigenem
Rechte überträgt er die Herrschaft dem vom Könige Belehnten. Er vertritt
nicht: das Volk in der Wahl des Herzogs, sondern er überträgt die ihm
formell als Bauernherzog zustehende Herrschaft dem vom Könige mit dem
Herzogtum Belehnten. Darin, daß der Königsherzog dieser Übertragung der
Herrschaft seitens des Bauernherzogs bedarf, um in den Besitz des ihm ver-
iehenen Amtes zu gelangen, ist natürlich eine Erinnerung an die Zeit zu
rblicken, wo lediglich ein Bauernfürst die Herrschaft ausübte“ ?).
Nach PAPPENHEIM wäre somit, wenn ich ihn richtig verstehe,
lax Ritual erst mit dem ersten nichtbänerlichen Fürsten aufge-
1) „Die Angabe des Johannes von Viktring (S. 47), es sei auf die erste
‘rage des Bauern von den „consedentes“, auf die zweite und dritte von
‚allen“ geantwortet worden, kann, wie PUNTSCHART (S. 64 f.; vgl. S. 101,
72) zeigt, keinesfalls dem ursprünglichen Sachverhalt entsprechen.“
2) PAPrENHEIM, in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Bechts-
seschichte. 20. Bd., Germanistische Abteilung, Weimar 1899, S. 811 f.
516 J. Peisker
kommen. Ein einheimischer Nichtbauer hätte es nicht sein
können, denn wo der Bauer Herr ist, dort gibt es keinen Edel-
mann'), somit wäre das Ritual zum erstenmal erst bei der In-
thronisation des ersten deutschen Fürsten geübt worden, welcher
die Herrschaft aus der Hand des abtretenden letzten Bauern-
fürsten empfangen haben würde. Aus eigenem Rechte hätte
dieser — um uns der Worte PAPPENHEIMS zu bedienen — die Herr-
schaft dem vom König Belehnten übertragen, das Volk in der Wahl
des Herzogs nicht vertreten, sondern die ihm [damals noch nicht bloß)
formell, [sondern tatsächlich] als Bauernherzog zustehende Her-
schaft dem vom König mit dem Herzogtun: Belehnten übertragen.
Wäre dies richtig, dann hätte eine Vereinbarung über da.
und zwar nicht allein bei der Übertragung der Herrschaft auf den
ersten deutschen Fürsten, sondern bei jeder folgenden Inthroni-
sation zu beobachtende Ritual vorangehen müssen. Dadurch wär
überdies ein für beide Teile, den Bauernherzog und den König-
herzog, vollständiges, dem Volke, das nach PAPPENHEIM dazu gar
nichts zu sagen hatte, gänzlich gleichgültiges Novum entstanden.
Hätte man ein so rohes und dennoch bloß formales, den gleich-
zeitigen Zuständen so ganz und gar nicht Rechnung tragende
Ritual ausbrüten und sich darüber einigen können? Wäre ein
deutscher, noch dazu siegreicher Fürst auf ein derartiges Novum
eingegangen, das ihn zwang, unbewaffnet, im Bauerngewande.
zwei Tiere nachziehend, vor dem Bauer zu erscheinen und von
ihm eine Maulschelle zu empfangen? Hätte er dabei vergessen
können, was eine solche in dentschen Volksrechten bedentet?
Als ein Novum wäre das Ritual dem Kônigsherzog nor
vic! peinlicher gewesen, als es schon an sich war, und seine
Nachfolger hätten es ohne besondere Mühe ad acta legen könne.
wenn cs im Volksbewußtsein nicht schon längst eingelebt gewesen
wäre, das Volk dabei nichts zu sagen gehabt hätte, denn w
hätte das armselige Herzogsbäuerlein die Macht hergenommen.
das Ritual aufrecht zu erhalten, wäre es eben ein Novum gewesen.
das dem Herrscher lästig, ihm, dem Herzogsbauer, zumindest
verkäuflich war und das Volk nichts anging?
1) Sie sechen ouch enkain adel noch gewalt an, wan biderbkait und zoarkail:.
Schwabenspiegel, zitiert bei PUNTSscHART, S. 269.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 517
So kann man sich den Ursprung des Rituals nicht denken.
Es wurzelte vielmehr so tief im Volksbewußtsein, wie nur ein
altersgraues Herkommen als Verkörperung der ganzen Volks-
vergangenheit wurzeln kann, und der erste deutsche Herrscher
fügte sich, seinen nur zu begründeten Ekel niederwürgend, dem
ikm unbegreiflichen und auch dem Volke nicht mehr klaren, aber
um so heiligeren, weil mysteriösen Zeremoniell, das unter den
Fittiehen der Kirche eine höhere Weihe erhalten hatte.
* x
*
Die bäuerliche Herkunft der Karantaner nationalen Dynastie
konnte bloß ınittelbar aus dem Zollfelder Ritual erschlossen wer-
den. Dagegen ist eine ebensolche Abstammung des böhmischen
Fürstengeschlechtes der Premysliden direkt nachweisbar, und diese
bekannten sich ganz offen zum Bauer Premysl als Stammvater:
Der Teilfürst von Znaim, Lutold (+ 1112), Enkel Bretislavs I.!),
ließ die von ihm daselbst erbaute Kapelle zu St. Katharina mit
Wandgemälden schmücken, unter denen sich auch eine Ahnenreihe
des (ründers befindet. Darüber, wie die Gemälde vor ihrer im
Jahre 1892 durchgeführten Wiederherstellung ausgesehen haben,
bestehen zwei Aufnahmen: die eine, in Kontur und Farbe vom
Brünner Musealkustos M. Trapp 1859 ausgeführt und beschrieben,
blieb unveröffentlicht?), die andere in Konturen und mit An-
deutung der Farben bald darauf vom Maler A. D. VySek skizziert?).
Beide Aufnahmen decken sich im ganzen, und man ist auf die un-
genauc Restauration‘) nicht angewiesen. Diese Wandgemälde
wurden, nach dem erhaltenen Datum AMCAI zu schließen, ent-
weder im Jahre 1106 (Afnno] MCVD oder 1111 (MCXT, ausge-
1) LosERTH, a. a. (). Stamintafel.
2) Ist im Besitze der Stadtgemeinde Znaim. Die näheren Angaben dar-
fiber verdanke ich dem Znaimer Gymnasialdirektor WisNARk.
3) A. D. VSSEK, Malirstvi v Cechäch, veröffentlicht in der „Kritickä
Priloha k Närodnim Listüm“. I. V Praze 1864, S. 279 f.
4) Reproduziert und beschrieben von V. HOUDEK, Der „Heidenteinpel“
in Znaim. Mit 15 Abbildungen. Znaim 1900, im 1. Hefte der Beiträge
zur Heimatskunde von Znaiın und Umgebung. — Sehr undeutlich bei A. ProKor,
Die Markırrafschaft Mähren in kuntsgeschichtlicher Beziehung. I. Wien 1904,
< 102
518 J. Peisker
führt und tragen entschieden den Charakter der ersten Hälfte
des 12. Jahrhunderts ').
Den Reigen der Ahnenreihe eröffnet der mit zwei bunten Ochsen
ackernde Bauer Premysl, wie er Ljubosas Botschaft — drei Reiter.
von einem auf einem reichgeschirrten Schimmel sitzenden, mit
einem verbrämten Mantel gekleideten vierten angeführt — empfängt.
Zu seinen beiden Seiten stehen zwei Männer, welche ihm viel-
leicht den Fürstenmantel umgelegt hatten. Mit der Rechten
scheint er auf den vordern stilisierten Baum hinzudeuten, der jene
fabelhafte Haselstaude vorstellen dürfte, welche aus der von
Premysl in die Erde gestoßenen Pflugreute sofort erwuchs und von
deren drei Ästen zwei sogleich verdorrten, während der dritte Zweig
fortgrünte. Hinter Premysl hängt auf einem ebenso stilisierten
Baume eine gelbliche Tasche und darüber ein Paar plumpe. röt-
liche Schuhe mit weißen Sohlen ?).
In derselben Zeit, in welcher die Wandbilder zu Znaim ge
malt worden sind, vielleicht sogar einige Jahre später (1110).
schrieb Kosmas (f 1125) seine bekannte Chronik. Darin lesen wir:
Die Seherin Ljubosa wurde nach ihres Vaters Krok Tode
von dem Volke auf den Richterstuhl erhoben. Sie hatte einen
Grenzstreit zwischen zwei Brüdern zu entscheiden und wurde
von dem einen, der den kürzeren gezogen, beschimpft. Darauf
legte sie ihre Würde nieder und forderte das versammelte Volk auf:
(I, cap. 4) ...,, Ze nunc domum, ut quemvoscraseligatis in dominss,
ego assumam mihi in maritum ...‘ (cap. 5) Postera die... convocant cotux.
congregant populum ... femina residens in sublimi solio concionatur ad aegrti:
viros: „O plebs miseranda nimis, quac libera vivere nescit . .. ei insuetac sercitst
colla sponte submittilis... Aut si nescitis, quac sunt iura ducis, temptabe vi:
ea verbis dicere paucis. Kolgt eine lange Schilderung der Herrscherwillkir.
dem I. Buche der Könige, cap. 8, Vers 9—20 nachgedichtet. Ss Zersistitis ır
incepto ct non jfallitis voto, iam vobis et nomen ducis ct locum, ubi est, indscabe..-
en ultra illos montes . .. dinoscitur esse villa, nomine Stadici [bei Bilin]. Anis ı“
territorio est novale unum ... Ibi dux vester duobus variis bubus arat... Nun...
meum accipite thalarium et clamidem [=chlamydem, Binde. Du Cange, Glossarium|
ac mutatoria duce digna et pergite ac mandata populi atque mea referte viro ct addaık
vobis ducem et mihi maritum. Viro nomen est Premisl‘“ ... (cap.6)... „Ste seen.
1) HOUDLEXK, 8. 22f.; Prokop, S. 197.
2) ViSer, S. 281 hält sie für Holzschuhe; seine Skizze siehe #
Prager Sv&tozor, 32. Jahrg. S. 35. — HOoUDEK, 8. 17.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 519
CUM eguum sequimini, ipse vos ducet ... quia ab illo non semel illa via est
ia“... Jam... appropinquabant villa, ad quam ibant, tum illis fuer unus
viam curril, quem interrogantes ... „Ipsa est, inguit „... villa et ecce vir
remisl prope in agro boves stimulat...“ Ad quem nuncii accedentcs inquiunt:
Vir fortunate, dux nobis diis generatel“ IA sicut mos est rusticis, non
fhicit semel dixisse ... „Salve dux, salve . .. te ducem, te iudicem, te rectorem
protectorem, te solum nobis in dominum eligimus.“ Ad quam vocem vir prudens,
sasi futurorum inscius\), substitit et stimulum, quem manu gestabat, in terram
cit... Corilus [Haselstaude] awiem, qguam humi fixit, tres altas propagines .
sm foliis et nucibus produxit. Viri autem illi... stabant obstupefacti. Quos
le ... invitat ad prandium, et de pera subere contexta excutit mucidum panem ct
rmatici partem?) ... Interca . .. duae propagines sive virgulla duo uruerunt
ceciderunt, set tertia multo altius et latius accrescebat... Zt ille [Premiz]]|:
..Sejalis, ex nostra progenie multos dominos nasci, set unum semper dominari ,. .“
ap. 7) Post hacc indutus veste principali et calciatus calciamento regali, acrem
cendit equum arator,; lamen suae sortis non inmemor, Lollit secum suos
rturnos cx omni parte subere consulos, quos fecit servari in
ssterum et servantur Wissegrad in camera ducis usque hodie
insempilernum...,„O domine, ...ad quid hos coturnos... ad nichilum, nisi ut
oiciantur, aptos nos servare fecisti, non salis possumus admirari ..." „Adhoc
.feciet faciam in aevum servari, ul nostri posteri sciant,
„de sintorti et utscemper vivant pavidi elsuspecti, ne homines
deo sibi commissos iniuste opprimant per superbiam „. .“
ap. 8)... Hic vir, qui vere ex virtutis merito dicendus est vir, hanc efferam gentem
dus frenavit el indomitum populum imperio domuit, et serviluli, qua nunc
emitur, subiugavit, alygue omnia iura, quibus haec terra utitur el rezritur,
lus cum sola Lubossa dictavit?).
1) In zwei Handschriften korrigiert in fraescius.
2) Analog berichtet die St. Gallener und die (riessener Handschrift des
hwabenspiegels von dem Zollfelder Herzogseinsetzungsritual: ... Man legt
m cinen grauen Rock an, umgürte ihn mil einem roten Gürtel, an welchem
Ah cine große rote Tasche befindet... Dahinein lege er seinen Käse, sein Brot
rd sein Gerät... PUNTSCHART, a. a. O. S. 70.
3) Cosmas, c. 4—8. Monum. (ierm. hist. Seriptores tom. IX. 1861,
35f. — Fontes rerum Bohem. I. Pragae 1873, Ss. 10—15. Kosmax
gt hier: Pfemysis Bastschuhe — ob echt oder unecht, ist Nebensache —
rvantur in der Vysehrader Burg bei Prag. Die Richtigkeit dieser Angabe,
elche ja unter der Kontrolle der Zeitgenossen stand, anzuzweifeln, geht
cht an. Man bedenke nur: Kosımas hätte die ganze Geschichte vom Bauer
Femysl erfunden, indem er sie nach klassischen Mustern zusammenflickte. Die
olzen, gewalttätigen Pfemysliden hätten diese sie erniedrigende Herkunft
fort anerkannt, die ersten besten Bauernbastschuhe in die Schatzkammer
sschwind eingestellt und später die nachgedichtete Basttasche linzugefügt;
lia indumenta in die Inthronisationszeremonie aufgenommen, in Stadice
320 J. Peisker
In diesem Berichte stimmt zunächst folgendes nicht: Ljubosa kann nän-
lich nur Fürstin des Cechenvolkes im engeren Sinne gewesen sein, das ist
jenes Slawenstammes, welcher die Umgebung des heutigen Prag bewohnte.
Rings um die Cechen saßen andere Völkchen unter eigenen, selbständigen
Knëézen, und Stadiee lag nicht im Gebiete der Cechen, sondern in einen
andern, entfernten Knözentum unbekannten Namens. Wie wir nun, besonden
von Schlesien aus wissen, war ein solcher slawischer Kleinstaat gegen außdes
durch ein breites Konfinium sorgfältig abgeschlossen, einen durch Verhsw,
preseka, Hag, eingesäumten (Grenzwald?, fJomesn:i Avosd, und
der Verkehr mit den Nachbarstaaten geschah nur an jenen wenigen Stellen,
an welchen ein Steig, semifa, steska, bloß für Saumtiere, nicht für
Wagen eingerichtet, durch den Grenzhag führte. Die Einmündung der semita
in den Grenzhag war durch besonders starke Verhaue (#reseka) hefestügt
und mit einer stets bewachten Landespforte, Porta terrae, zemskä bréns.
versehen. An der Ausmündung der semita stand dann die ebenso eingerichtete
Landespforte des Nachbarstaates*). Der internationale Verkehr zwische
Nachbarstanten war somit nicht so einfach, und es ist ausgeschlossen, dab
die Cechenfürstin Ljubosa aus einer so beträchtlichen Entfernung, vielleicht
drei Hufen Landes plötzlich eingehegt, sie dem Pfemysl, von dem die gutes
Staditzer Bauern bis dahin nichts wußten, angedichtet und befohlen, sie
fortan „Fürstenfeld“ zu nennen; darauf eine Haselstaude gepflanzt, von
welcher die Früchte für die Prager Fürstentafel tributweise abzuliefern waren,
kurz, sich vrandios hänseln lassen und unbewußt einen drolligen Ulk getriebe:
Credat Judaeus Apella' Ich glaube, daß wenn KusmAs die ganze Geschichte.
unbegreiflich warum, erfunden hätte, sie auf dem geduldigen Papier stehe
geblieben wäre, dagegen ihrem Urheber für die unerhörte Schmähung de
Herrschers den Hals gekostet hätte.
1) Im Jahre 1240 erhielt das Heinrichauer Kloster von Herzog Heinrich I.
ein Waldgebiet zwischen dem Bühmersteige und dem Grenzhage. Zur ir
legung des Dorfer Sconewalde Martinus mensuravit silvas claustri a preseript
semita Bokemic usgu ad prestcam, quod dicitur in teutonice hack
Ista... preseca in diebus antiquis et etiam tunc temporis, cum hec agerenist.
circuibat totam terram Zlesie Unde duces antigui nulli emminw i
ac Preseca quieguam secare permisserunt, et hec est ratio, guare tunc temperi
non est lonçgius mensuratum, nisi ad metas huius presece. Martins Vermesuf
erwies sich ala ungenau und der Abt betraute den villicus Johannes mit der
Anlegang. Cum autem ihitem agricultores et destructores silvarum multiplicar enter.
Prhannes cillicus sussit eosdem rustices al durch den khach silvas ddat.
eirenmächtig und nicht im Auftrage des Abtes, dicens, gmia milita ın
crcvite Secant et delent ipsam fresccam. Herzog Heinrich III. war daräbe
sehr ungehalten. (Grünhagen, Der schlesische Grenzwald, in der Zeit
Schrift d. Vereins f. Gesch. u. Alterth. Schlesiens. XII. Breslau 1874, 8. 10.
3) PRiskER, Pomezny hvozd. in Rezeks Sbornik historickÿ. HI
VPrage 1886, S. 174 f.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 531
ber mehrere Landeskonfinien hinaus, einen einfachen Bauer, den Untertan
nes stammfremden Knëzen, herausgegriffen und zum Gemahl erkoren hätte.
8 ist vielmehr anzunehmen, daß Pfemysl kein bloßer ausländischer Bauer,
mdern der Bauernkn&z des benachbarten, oder auch nicht unmittelbar be-
schbarten Staatchens war.
Kossas selbst wußte zwar genau, daß Böhmen zuvor viele selbständige
nésentümer umfaßt hatte — manche davon bespricht er sehr ausführlich —,
ad wenn er diese Tatsache bei der Erzählung der Ljubosasage außer Acht
St, so ist es meines Erachtens dahin zu deuten, daß er sich hier an die
age hält, welche zu seinen Zeiten nichts mehr davon wußte, daß zwischen
ysehrad, der Residenz Ljuboëas, und Stadice, dem Sitze Pfemysls, dereinst
ne Staatengrenze, oder deren mehrere bestanden haben. —
Die Znaimer Wandbilder entstanden im Jahre 1106 oder 1111,
eineswegs aber nach 1112, dem Todesjahre Lutolds; der Maler
onnte somit von der Chronik Kosmas’, deren erstes Buch erst um
as Jahr 1110 vollendet sein dürfte), nicht beeinflußtsein. Anderer-
Ate ist es sehr unwahrscheinlich, daß Kosmas, geboren 1045,
anonikus zu St. Veit in Prag, im Jahre 1106 61 Jahre und 1111
6 Jahre alt, das entlegene und unbedeutende Znaim besucht
nd die Wandbilder besichtigt hätte; es ist somit anzunehmen,
aß der Maler und der Chronist ihre Werke gegenseitig nicht
annten. Um so auffallender ist die Übereinstimmung von Bild
nd Wort; sie beweist, daß sich beide Autoren getreulich an die
yadition gehalten haben, wie sie damals gestaltet war, und
ORMAS ist jedenfalls von dem Vorwurfe freizusprechen, als ob
in diesem Falle etwas Namhaftes hinzugedichtet hätte);
1) LOSERTH, Stadien zu ('osmar von Prag, im Archiv f. österr. Ge-
hichte, 61. Band, Wien 1880, S. 32.
2) Der Vorwurf stützt sich besonders darauf, daß die oben angedeuteten, von
m der Ljuboëa in den Mund gelegten Warnungen vor der Wahl eines dux schon
der Bibel stehen. Sie haben jedoch mit der Sage selbst nichts zu tun, und
»r Ähnliche Anlaß, welcher übrigens in das Ganze sehr gut paßt, mag den
belfesten Mann zu dieser Einkleidung veranlaßt haben. Es ist augenschein-
h ein verdeckter Seitenhieb auf die oft gar zu schreienden Gewalttätig-
ten der böhmischen Landesfürsten, gegen die offen aufzutreten der Kano-
kus nicht den Mut hatte. Ebenso verhält es sich offenbar mit den angeblichen
Jecreta Bracizlai I.“ vom Jahre 1039 (Kosmas II. c. 4) an welche alle
eschichtsforscher und Rechtshistoriker bis zum heutigen Tage «0 fest glauben
BACHMANN, Geschichte Böhmens, I. Gotha 1899, S. 221 vergleicht sie
«ar mit den Beschlüssen des fränkischen Maifeldes!), und die doch nichta
ıderes sind als eine, von KosMAs selbst erdichtete, auf das ungezügelte
522 J. Peisker
im Gegenteil, er vergaß etwas, was an dem Wandgemälde deut-
lich wahrzunehmen ist, nämlich die Basttasche Premysls, die
sich zu seinen Zeiten nebst den Schuhen in der
Vysehrader Burg tatsächlich befunden hat und von
welcher auch noch PuLkAvA spricht:
. Tulerat eciam secum ... [Premysl] calceos et coturnum de subere
Jfactos ... „ea volo facere servari in perpetuum in castro Wyssegradensi . . .“
Que hodierna die in Wyssegradensi ecclesia diligencius conservantur. Nan
in vigilia coronacionis regum Boemie processionaliter obviam dantes canomici e!
prelati futuro regi calceamenta sibi ostendunt et colurnumhumt-
ris suis imponunt, ut memoriam habeant, quod dc paupertate venerunt t
nequaguam superbiant . . .*),
PULKAvA spricht hier im praesens, nicht im perfectum und
sollte schon dadurch vor dem Vorwurfe geschützt sein, gelogen
zu haben; hätten ihm seine Zeitgenossen geglaubt, wenn die
Gegenstände nicht tatsächlich an Ort und Stelle zu sehen gewesen
wären? Hätte PULKAVA so etwas zu behaupten gewagt, wen
Kaiser Karl IV., in dessen Auftrag PuLKAVA ja die Chronik &-
schrieben, bei seiner eigenen Krönung die Zeremonie nicht mit-
gemacht hätte? Gewiß wurde dabei auch diesem König die
Tasche umgehängt und die Schuhe vorgezeigt ?).
Es ist dies ein kümmerlicher Rest einer einst viel reich
haltigeren Zeremonie, welche jedoch im Gegensatze zu der Zell
felder dem Volke mit der Zeit offenbar ganz gleichgültig”.
inzelnen Premysliden unbequem‘) und infolgedessen immer
Gefolge des Herzogs gemünzte, aber auf cin ganzes Volk gar nicht passende
Kapuzinade; um diese um so erfolgreicher und ungestraft vorbringeu zu
können, kleidete sie KOSMAS in ein, von einem längst verstorbenen Herzog
angeblich erlassenes Gesetz. Auch hier ist es kein bloßes Fabuliere,
sondern eine versteckte, allzu begründete Kritik der gerade herrschende
Zustände.
1) PULKAWAE Cronica, abgedruckt in Monumenta historica Bormiar
eollegit G. DoRXER. II. Pragae 1774, S. 76f. — Fontes rerum Bohen.
V. 1893 S. 7.
2) Vorgezeigt, nicht angelegt, weil nicht auf jeden Fuß passend, um
wohl schon morsch.
3) Leicht erklärlich; einem fremden, ihm aufgezwungenen Fürsten x
wegnet das Volk mit mehr Mißtrauen als einem einheimischen.
4) Namentlich von König Wenzel I. (1230—1253), dem Freunde dé
deutschen Minnesangs, wird berichtet, er habe gleich nach seiner Thret-
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 523
ehr zugestutzt wurde. Beweis dessen die Stelle bei THıETMAR
ın Merseburg zum Jahre 1004:
-
steigung sich seiner Herkunft zu schämen begonnen, sein Geschlecht von
aditz vertreiben lassen und das ganze Dorf an Deutsche verschenkt.
ALIMILS Reimchronik, in den Fontes rerum Bohem. III. 1882, S. 171,
:r8 25—28, deutsch Vers 43—49). Ist die Nachricht wahr, dann wurde —
ch der folgenden Urkunde zu schließen — die Vertreibung »päter rück-
ngig gemacht.
1359. Karolus IV... quod... coheredes Ludolphus Zyrota et Cunzie [Ali]
ıdoste, fratres germani de villa Stadiez ... supplicare curarunt, quatenus, cum
ri et progenitores ipsorum sint el fuerint a primordiis incolatus terrac et regni
stri Boemiae heredes liberi, diedici et incolae primi et novissimi villac dictac Stadicz,
race ct praediorum suorum, quibus usi sunt hereditario jure inconcusse, in nullis
orsus factionibus, censibus, seu aliis exactionibus, vel angariis yuibuscungue,
alibus, personalibus atque mixtis, cuipiam obnoxii, prout hacc in gestis et libris
ronicis terrac et regni B. a temporibus Prziemislai, primi ducis Boemorum inde
post aratro assumpli et in ducem B....sublimali ... plenius continentur,
ndem nuper non multis retroactis temporibus praefati heredes ct dicta villa cum
is perlinentiis per injuriam et forte ignorantiam forsilan crassam et supinam
... principe... Johanne B. rege..., olim Henrico de Lippa contra pracdictas
ertates minus provide fuerint concessa, qui cl alii dictam villam sic usque mode
wpantes pracdictis heredibus contra libertates ipsorum quam plurimas interim
pressiones fecerunt — dignaremur .„..eos...restituere libertati pristinac ...
os itagu: ... pracfatas libertates... quas ipsorum progenitores el ipsi cum
atuor laneïs lerrac . .. ct pertinentits omnibus pristinis et primaevis... plenissime
réituimus . .. ct donamus ...; reliquos vero tres terrae lancos ibidem in Stadicz,
is fuerunt dicti Prasemisle, quosque propriis excoluit manibus, pro nobis et suc-
soribus nostris, B. regibus, duximus reservandos. Eximentes eos ct ipsorum ...
redes ab omnibus tributis... Decernimus tamen... ut pracfati heredes...
rgam illam floridam coryli per ipsum Prsiemisl de stimulo suo in agro Stadic:
opagato, continuo foveant ... in memoriam lantac ct talis rei... Volumus
. ut pracfati heredes... omnes ... nuces, quas dictac virgac coryli produxerint,
bis et successoribus nostris . . . tencantur annis singulis fideliter praesentare . .. —
> de x juris Bohemici edidit Herm. JIRECEK, II. 1. Pragae-Lipsiae 1896, S. 464 ft.
Alle Chroniken, mit Ausnahme einer einzigen, nennen Pfemysl rund heraus
en Bauer. Diese Ausnahme bildet CHRisriAxs Legende vom h. Wenzel
d der h. Ludmila, um deren Echtheit und Alter derzeit von neuem ge-
ntten wird. Die vom Verfechter der Echtheit, Jos. PEKAR, als Original-
rt ermittelte Version lautet:...
At vero Sclavi Boemie ipso sub Arcturo positi, cultibus idolatrie dediti velut
uus infrenis sine lege, sine ullo principe vel rectore, vel urbe uti bruta animalia
grsim vagantes, terram solam incolebant. Tandem pestilencie cladibus attriti
andam pithonissam, ut fama fertur, adeunt, postulantes spem consilii responsumque
5924 J. Peisker
Crastina autem die Jlaromirus adveniens populis iura veniam-
que commissi poscentibus ante portam dedit, ilicoque intromissus.
pristinis honoribus magna tocunditate ıinthronizatur, ac tun
depositis vilibus indumentis, pretiosioribus ornatur ...
Muneribus idem delectatus plurimis, ad Wissegradi introducitur,
ibidemque in dominum exclamatur ...').
Unter den vılza indumenta ist nicht etwa gewöhnliche, eu-
fache Gewandung, Alltagstracht zu verstehen, denn auch die Alltags-
tracht eines Prinzen kann nicht als vz/:s bezeichnet werden; eine
Inthronisation ist bei jedem Volke, auch bei den Wilden Afrikas, der
wichtigste Staatsakt, bei dem auch die kleinste Einzelheit genau
nach althergebrachtem Ritual auf das feierlichste vor sich gehen
muß, und alles Gewöhnliche, Alltägliche ausgeschlossen ist. Nach-
dem nun das altböhmische Ritual vorschreibt, daß dem Thron-
anwärter die Basttasche des Bauers Premysl umzuhängen und
dessen Schuhe vorzuzeigen sind, so müssen auch die vilia indu-
menta denselben Charakter getragen haben, als Bauerntracht
aufgefaßt werden, denn die Einzelheiten des Rituals können doch
eines inneren Zusammenhangs nicht entbehrt haben*). Und das
divinacsonis. Quo accepto civitaiem staluunt, nomenque imponunt Pragam. Pl
Minc invento quodam sagacissimo atque prudentissimo wire, cui
tantum agriculture officium erat, responsione phitonisse principem
seu gubernatorem sibi statuunt, vocitalum cognomine Premizl, isncta a
in malrimonio supramemorata phitonissa virgine. Sicque a clade et multiplici peste
tandem cruti, dehinc a supra memorato principe ex sobole eius rectores sen durs
preposuere sibi, servientes demoniorum simslacris el prophanis sacrificiorum ritibas
bachantes, donec ad cxtremum dominatus eusdem regni pervenit ad unum ex cisdem
principibus ortum, vocitatum Boriwoi. (CHRISTIANI monachi vita et pass
»ancti Wenceslai et sancte Ludmile avie eius, herausgegeben von Jos. PExAX.
Nejstarsi kronika Ceskâ. V Praze 1908, S. 184f. (Bibliotheka Histo
rickä V.).
... cui tantum agriculture officium erat — cin Euphemismus für rwsticus? —
Zum Streite um die Echtheit der Legende siehe: B. BRETHOLZ, Cosmas und
Christian. in der Zeitschrift des deutschen Vereines für die Geschichte
Mährens und Schlesiens IX. Brünn 1906, S. 70 ff. und die Erwiderung vos
PEKAï, Nejstarsi Kronika Gesk&, im Ceskÿ Casopis Historickÿ XI. V Pre
1906, S. 267 ff.
1) THŒTMARI, Chron. VI. 9.
2) Daß auch die Karantaner Fürsten im Bauerngewand inthroniæert
worden sind, haben wir bereits vernommen. Von den polnischen Piastes
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 525
uch bei den altböhmischen Inthronisationen ein althergebrachtes
itual eingehalten wurde, wissen wir aus KosmaAs über die Ein-
etzung Bretislavs II. im Jahre 1092, guem advenientem in urbem
yagam ...plebs laetabunda suscepit. Ipse autem . .. episcopus
wm clero et magnifica Processione suscipiens eum in porta
tvitatıs ante templum S. Mariae, deducit ad solium, et secun-
um ritum hutus terrace ab universis comitibus et satrapis
st intronizatus dux tunior Pracislaus'),
Der böhmische Fürstenstuhl?), darin dem Zollfelder gleich,
rar ein inmitten der Prager Burg unter freiem Himmel befind-
cher Felshlock*) und galt als Symbol der fürstlichen Macht.
erichtet der Chronist KADLUBEK (+ 1223) über Lestko II.: Ouoties namgu:
‚galibus eum insigniri regia, ut assolet, poposcisset dignilas, originariae
on immemor conditionis [originarius — Bauer!], in Aaditu sordido prius orchestram
mescendit, regalem ornatum scabello pedum supprimens,; subinde regiis decusatus
ssignibus, scabello insedit, illis extremae fpaupertatis panniculis in supremo
rchestrae suggestu reverentissime collocatis. Magistri VINCENTIT [KADEUBEK|]
hronicon Polonorum I. cap. 15 in den Monumenta Poloniae historica,
ydai A. BŒLOWSKI. I. Lwöw 1872, S. 264 f.
1) Kosmas II. cap. 50.
2) „Der Fürstenstuhl, stol oten oder déden, d. i. solium paternum oder
vitum“, sagt H. JIRECEK, Das Recht in Böhmen und Mähren. I. Prag 1866.
. 68, und seitdem ist diese Unrichtigkeit nicht auszurotten. Stol oten ist
ur durch die gefälschte Grüneberger Handschrift, stol déden überhaupt nicht
elegt; beide Ausdrücke sind aus dem Altrussischen herbeigezogen und auch
ort nicht etwa als irgendein terminus technicus der altrussischen Rechts-
prache aufzufassen; denn wenn z. B. das Volk von Kijev 1112 nach dem
‘ode Svjatoslav-Michails an dessen Vetter Vladimir [Monomach] die Bot-
haft richtet: Betrete, o Fürst. den stol oten i deden (NESroR, Cod. Hypat. 1113),
» ist es kein terminus der Rechts-, sondern einer poetischen Sprache und
edeutet nichts mehr als: den Thron, den auch dein Vater [Véevolod] und
ein Großvater [Jaroslav d. Gr.] innegehabt haben. So sind auch die Aus-
rücke: solium paternum, solium avitum bei KosMAs und dessen Fortsetzern
u verstehen; als termini technici hätten sie ja keinen Sinn in einem Staate
ut Senioratsnachfolge, durch welche ab und zu cin Prinz zur Herrschaft
elangte, dessen Vater, ja sogar auch Großvater auf dem Throne nicht
esessen sind. So Svatopluk (+ 1109), dessen Vater Otto, Teilfürst von Ol-
tz, zeitlebens nicht zur Herrschaft kam. Ebenso Konrad Otto (F 1191).
‚uch Heinrich Bretislavs (+ 1197) Vater ist nicht zur Herrschaft. gelangt.
Die Stammtafel der Pfemysliden siehe unten S. 528, Anm.
8)... principali throno, quodam saxo, quod eliam nunc in medio civitatis [est]...
'INCENTII Pragensis Chronicon in den Fontes rerum Austr. Österreichische
526 J. Peisker
Zur Erlangung derselben war eine Inthronisation auf diesem Fürsten-
stuble unerläßlich, und zwar nach vorangegangener Wahl, welche,
wie wir schon gehört haben, in der Regel den Ältesten der fürst-
lichen Dynastie traf, der uralten Senioratsnachfolge gemäß. Un-
zertrennlich mit dem Wadhlrechte des Volkes ist eine Wahlkapi-
tnlation des Anwärters zu denken, welche sich überdies in der
oben (S. 524) zitierten Stelle bei THIETMAR: ... /aromirus ...
populis iura ventamque commissi poscentibus, ante portam dedit
angedeutet findet. Die Richtigkeit dieser längst aufgestellten
Deutung wird allerdings vielfach bezweifelt, weil nicht völlig aus-
gemacht, indem bei den einheimischen Chronisten keine be-
stätigende Angabe zu finden ist !); das Schweigen der einheimischen
Chronisten ist m. E. nicht ausschlaggebend, denn diese berichten
überhaupt nichts von dem durch KosmaAs nur so vorübergehend
einmal gestreiften rztus hutus terre. Wäre auch diese mager
Erwähnung ausgeblieben, so wüßten wir aus den älteren ein-
heimischen Quellen nicht einmal, daß es überhaupt einen ritus
buius terrae gegeben hat und könnten dann mit demselben U»-
rechte auch die Angabe THIETMARS von den vzlibus indumentis
als unrichtig erklären.
Mehr ist von dem altböhmischen Inthronisationsritual nicht
zu ermitteln; wir müssen uns mit dem Ergebnis begnügen, dab
die Premysliden bäuerlicher Herkunft waren und jeder nach
dem Senioratsprinzip berufene Thronanwärter aus der regia stirps,
wenn von dem Volke gewählt, den Fürstenstein im Bauernkleide
zu besteigen hatte. Dieses Resultat reicht jedoch vollständig zur
Erkenntnis hin, daß wir es hier mit einem merkwürdigen Seiten-
stück des Zollfelder Bildes zu tun und auch für den betreffenden
Teil Böhmens ebenfalls eine siegreiche Bauernrevolution als Ur-
erund anzunehmen haben.
Die Ähnlichkeit der beiden Rituale ist gewiß nicht zufällig.
es läßt sich aber befriedigend nicht erklären, ob sie auf ein
gemeinsames Vorbild zurückgeht, welches man nachahmte,
so oft und wo immer einer der vermutlich zahlreichen Banern-
Geschichtsquellen, herausgegeben von der kais. Akad. d. W. I. Scriptons
V. Wien 1863, S. 95. — Fontes rerum Bohem. II. S. 412.
1) Losertu, Senioratsgesetz, S. 72.
bien.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 597
ufstände glückte, oder oh sie durch einfache Entlehnung von
lem glücklicheren Nachbar entstand. Nur eines erscheint mir
icher, daß nämlich der Bauer Premysl nicht aus dem fränkischen
Kaufmanne Sanıo, nach FREDEGAR dem Befreier der böhmischen
lawen vom Awarenjoche, umgedichtet werden konnte. SCHREUER !)
tützt diese Idee mit der Stammtafel — sieben lose Fürsten-
amen —, durch welche Kosmas den Fürsten Borivoj (} 894)
ait Premysl verknüpft”): „Legt man an diese Stammtafel den
blichen Generationenmaßstab an *), so fällt Neklan etwa in die Zeit
1) SCHREUER, Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte der böhmischen
agenzeit. Leipzig 1902, S. 11f., 4. Heft des 20. Bandes von SCHMOLLERS
taats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen. — SCHREUER, Zur alt
öhmischen Verfassungsgeschichte, in den Mittheilungen des Institute
ir österr. Geschichtsforschung, 25. Band. Wien 1901, S. 397f. Auch im
onderabdruck.
2) Kosmas 1, 9: Premizl... Cui Nezamizl successit in regrum.
fan ubi mors rafuit, Menata principales obtinuit fasces. Quo descendente ab
ge vita, Vogen suscipit rerum gubernacula. Huius post fatum Unezlau rexit
walum. Cuius vilam dum rumpunt Parcae, Cresomisl locatur sedis in arce.
loc sublato e medio, Neclan ducatus potitur solio. Hic ubi vita decessit, Go-
tsvit throno successit... TI. 10: Gostivit autem genuit Borivoy... Dazu
emerkt SCHREUER, Untersuchungen, S. 11 Anm. 1: „Die sagenhaften Fürsten
ach Przemysl sind in der poetischen Ausführung (vgl. LOSERTH im
‚rchiv f. österr. Geschichte 64 [1882] S. 37) bloß als dessen Nachfolger,
icht auch als dessen Deszendenten erwähnt. Dies hindert nicht, daß sie
as letztere tatsächlich sind.“ Dies hindert tatsächlich bloß SCHREUER nicht,
'elcher in derselben Abhandlung LOSERTHS (Das angebliche Senioratsgesetz
es Herzogs Bretislaw I.) das Gegenteil hätte ermitteln können.
3) „Das ist — behauptet SCHREUER — im ganzen wohl zulässig. Von
amo wissen wir, daß er 35 Jahre regiert hat. In das zehnte Jahrhundert
Mlen die drei Generationen: Wratislaw I. (+ 920), Wenzel der Heil. — Bole-
law I. (+ 967) und Boleslaw II. (+ 997). In das elfte Jahrhundert Boleslaw III.
- Jaromir — Udalrich, Brzetislaw I. und Spitihnéw II. — Weratislaw Il.
+ 1092). Ebenso drei Generationen in das zwölfte Jahrhundert. In das
reizehnte Jahrhundert fallen Przemysi Ottokar I. (+ 1230), der stark noch
ı das XI. Jahrhundert hineinreicht, ferner Wenzel I. (+ 1253), Przemysl
ttokar II. (scfallen 1278) und Wenzel II. (beim Tode seines Vaters
Jahre alt, + 1305). Auch J. LiPrErT, Sozialgeschichte Böhmens I. 128 f.,
ıt geneigt, hier ‚nach Art des Chronisten eine Generationszeit durchschnitt-
ch zu 30 Jahren zu rechnen‘. Er zieht aber keine Konsequenzen daraus“.
Solche Konsequenzen, wie sie SCHREUER zieht (daß nämlich die Fürsten-
afel Nezamysl-Hostivit =: sieben Mann, mit auch sieben Generationen aus-
528 J. Peisker
Karls des Großen, Przemysl in die Zeit des geschichtlichen Samo ...
Kin Trugschluß. Die sieben Fürstennamen können denn doch nicht
machen dürfte), können überhaupt nicht gezogen werden. Daß durchschnitt-
lich drei Generationen ein Jahrhundert auszufüllen pflegen, ist allerding
richtig, aber keine böhmische Spezialität, sondern so ziemlich überall der
Fall. Auf diese an sich heilige Wahrheit kommt es jedoch hier gar nicht
an, sondern auf die, von SCHREUER bejahend beantwortete Frage, ob eben die
Fürstentafel Nezamysl-Hostivit als eine Nachfolge von sieben Generationen
mit verstanden werden darf. Den Beweis dazu soll per analogiam der Stamm-
baum der späteren Premyslidenfürsten liefern. Hier der ganze Stammbam
der zur Herrschaft gelangten Premysliden:
1. Premysl. 2. Nezamysl. 3. Mnata. 4. Vojen. ». Unislav. 6. Kres-
mysl 7. Neklan. 8. Hostivit.
9. Bofivoj) I. + ca. 894
SE NEE
10. Spytihnev I. + ca. 912 11. Vratislav I..+ ca. 920
À
12. Wenzel I., der Heilige, + 935 18. Boleslav I. + 967
pen.
14. Boleslav II. + 999
one.
15. Boleslav III. 17. Jaromir 18. Udalrich
+ 1037 + 1035 + 1034
ms” Nommmnen.
[der 16. war der polnische Piastide 19. Bretislav I.
Vladivoj, + 1003] + 1055
20. Spytihnév Il. 21. Vratislav II. 22. Konrad
+ 1061 + 1092 + 1092 |
pa ern mer ee
33. Breti- 24. Bori- 26. Vladi- 37. Sobé- | 25. Srakr-
slav Il. voj IL. slav I. slav I. plak
+ 1100 + 1124 + 1125 + 1140 + 110
— —
Er mate mm‘ ummens— cm.
38, Vladıslav II. | 29.Sobe- 32. Wen-
+ 1174 | slav IT. zel D. |
| +1180 +n.1192 >
\ N —— ——— mm
20. Fried- 33. Pie- 35. Vladi- 84. Hein- 31. Konrad Otto
rich mysl- slav- rich- + 1191
+ 1189 OttokarI. Heinrich Bretislav
+ 1230 + 1222 + 1197
meme,
36. Wenzel I. + 1253
ms mem En.
37. Premysl Ottokar Il. + 1278
on mens ne.
38. Wenzel II. + 1306
a ‚nn
39. Wenzel IH. + 1306.
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 529
uch sieben Generationen derart bezeichnen, daß jedem dieser
‚eben Herrscher ein Sohn oder Neffe nachgefolgt wäre. KANTECKI')
nd LOSERTH wiesen ja sonnenklar nach, es habe in Böhmen
bensowenig wie bei anderen slawischen Völkern irgendein Erb-
:cht auf den Thron gegeben, sondern bloß eine mit freier Wahl
es Volkes verbundene Nachfolgeordnung nach dem Seniorats-
rinzip. Dem scheidenden Fürsten folgte somit in der Regel sein
ohn oder Neffe nicht, sondern sein an Jahren ältester Agnat der
anzen stirpsregia, also zumeist ein alterMann, wenn nicht ein Greis,
essen Regierungsdauer nur in außerordentlichen Fällen „dem
blichen Generationenmaßstab“ SCHREUERS (S. 12, Anm. 2), einem
ollen Viertel- bis Dritteljahrhundert, entsprochen haben kann.
nd hier soll es siebenmal nacheinander geschehen sein?
Samo hatte nach FREDEGAR?) von seinen 12 wendischen
rauen 22 Söhne, und die werden sich auch wieder verzweigt
aben. Wäre nun Samo (+ um das Jahr 658) = Premysl, wie
önnte man dann bei dem geltenden Senioratsprinzip, welches
ı der Regel Fürsten im vorgeschrittenen Mannesalter, ja auch
reise auf den Thron brachte, mit den ersten sechs Männlein
\ezamysl bis Neklan) die lange Zeitperiode bis zu Karl dem
roßen ausfüllen! SCHREUERS Berechnung ist daher falsch und
—
Man sieht: Die Nachfolge von Boïivoj I. bis Premysl Ottokar I. umfaßt
‘hn Generationen, und zwar:
eneration I. (Bofivoj) = 1 Fürst.
» II. dessen Söhne — 2 Fürsten.
„ II. „ Enkel + … = 2 „
n IV. , Urenkel (Boleslav IL.) . = 1 Fürst.
n V. Boleslavs II. Söhne . . .. — 8 Fürsten.
n VI. „ „ Enkel (Bfetislav I.) — 1 Fürst.
„ VII. Bfetislavs I. Söhne . — 8 Fürsten.
„ VII. „ „ Enkel = 6 „
„ IX. „ „ Urenkel — 8 „
„ X. n » Ururenkel . . . . . 5 „
Somit umfassen die zehn Generationen 26, sage sechsundzwanzig Fürsten,
ıd es ist über die gänzliche Haltlosigkeit der Schlußfolgerung SCHREUERS
in Wort mehr zu verlieren nötig.
1) KANTECKI, 8. a. O.
2) FREDEGAR IV. 48.
Vierteljahrschr, f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 35
530 J. Peisker
damit auch die Gleichung: Samo = Premysl. Mit der Fürsten-
reihe Nezamysl-Hostivit ist in dieser Beziehung nichts anzı-
fangen.
Ob Premysl vor oder nach Samo oder mit ihm zugleich ge-
lebt, wer kann das entscheiden! Samo war ein Großfürst, welchen
im Augenblicke der äußersten, gemeinsamen Not eine Reihe von
Slawenstämmen zum Anführer gegen die Awaren erkoren hatte.
Nach seinem Tode zerfiel das riesige Reich. Premysls Bauerr-
fürstentum war dagegen ein Kleinstaat, und noch lange nach ihm
gab es mehrere Fürstentümer in Böhmen. Zunächst war er Fürs
des Biliner Ländchens, in welchem das Dorf Stadice liegt, mit
dem noch heute sogenannten „Königsfelde“, das er eigenhändig
bestellt haben soll. Man beachte nun die so lebhaft an Kärnten
erinnernde geographische Lage dieses Ländchens: Es liegt ein-
gebettet zwischen dem Erzgebirge und den vielen freien Kegeln
des Mittelgebirges (darunter der Mileschauer oder Donnersberg
836 m), jeder Kegel eine schier uneinnehmbare Festung. Wenn
die Biliner den Awaren überhaupt je unterworfen waren, %
bildeten sie jedenfalls die äußerste Grenze des Awarenreiches,
welches jenseits des Erzgebirges nach Daleminzien nicht reichte.
Die zur Verteidigung so überaus geeignete Lage des Biliner
Ländchens spricht jedoch dafür, daß es den Awaren in der von
FREDEGAR geschilderten Weise nicht untertan, sondern eher nur
tributpflichtig gewesen ist. Wahrscheinlich hatte es dereinst eine,
der daleminzischen konforme Zupanenverfassung, und die
dürfte ebenso, wie die daleminzische, auf eine viel ältere turko-
tatarische Knechtschaft, als die awarische ist, zurückzuführen sein.
Wie die Kärnter, wurden auch die Biliner Bauern durch einen
Aufstand ihrer Zupanischen Peiniger los, während ihre unmittel-
baren Nachbarn jenseits des Gebirges, die Daleminzier (eben®
wie die Untersteirer), infolge ihrer mehr offenen Gebiete im Zr
panenjoche stecken blieben. Wie die Kärnter, wählten auch die
Biliner siegreichen Bauern einen aus ihrer Mitte zum Fürsten
und stellten wahrscheinlich ebenfalls ein für alle Zukunft gelten
sollendes Ritual mit Wahlkapitulation fest, durch welches die
wichtigsten Bauernbedürfnisse von jedem Anwärter bei der Be
steigung des Fürstensteines gewährleistet werden sollten. Premyel
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 531
ß nicht gerade der erste Biliner Bauernfürst ge-
sen sein.
Südlich des Biliner Volksstammes, dessen Namen wir nicht
nen, jenseits der unteren Eger und mittleren Elbe saß der
henstamm (im engeren Sinne) in mehr offenen Gebieten und
men, die nicht so leicht verteidigt werden konnten. Hier ist
h der Kern der von FREDEGAR erwähnten awarischen Winter-
rtiere zu suchen; und was diese Landplage der Bauernschaft
tet, haben wir bereits gehört: seit alters her, „ab antiquito“, von
Awaren geknechtet, hatte besonders der Volksstamm der Cechen
fittelbühmen) eine furchtbare Behandlung zu erdulden: alljährlich
en zum Wintern die Awaren, breiteten sich in kleinen Gruppen
r alle Ortschaften der unterworfenen Bauernschaft aus und
sten nach Willkür und Übermut. Sie nahmen die Weiber
. Töchter der Slawen und schliefen bei ihnen, und zu den
igen Mißhandlungen mußten die Slawen den Awaren noch
‚aben zahlen (FREDEGAR). Im Frühjahr zogen zwar die Hor-
zur Sommerweide in die Berge, ließen aber gewiß die
gen Besatzungen und Obrigkeiten zurück, um die geknech-
n Slawen im Zaume zu halten. Unter solchen Umständen
3 jede slawische Rechtspflege, jeder gesellschaftliche Zusam-
ıhang, ja jedes Familienleben längst verschwunden sein, denn
diese Zeit gab es für die Unterworfenen nicht einmal eine
, ein Zustand, der vielleicht zu metrarchischen (matriarcha-
hen) Formen führte'). Infolge einer solchen Behandlung „ab
quito“ mußten alle Keime gesellschaftlichen Lebens ersticken,
Geknechteten von Tag zu Tag widerstandsunfähiger, geradezu
tierter werden, und es ist bezeichnend, daß — nach FREDE-
t — die schließliche Auflehnung gegen die Unholde nicht
den eigentlichen „Slawen“, sondern von den eigenen,
den vergewaltigten Slawenfrauen geborenen Söhnen der
'aren ausging?). Hier, in Zentralböhmen, dürfte der Franke
1) Dahin scheint die böhmische Amazonensage bei KosmAs I, 9 zu
en. Vgl. oben S. 211 ff.
2) Anders SCHREUER, Untersuchungen, S. 20: „Ist aber die Datierung
IREUERS] der Przemysl- und der Neklansage auf Grund der CosMAsschen
nmtafel richtig [siehe oben S. 527, Anm. 2 u.3], so legt sich auch die Vermutung
532 J. Peisker
Samo zum Fürsten gewählt worden sein und von da aus viele
andere Slawenstämme gegen die Awaren vereinigt haben. So
entstand ein föderativer Grofistaat, der bloß auf der persönlichen
Autorität Samos aufgebaut war und mit dessen Tode auch einging.
Man sieht, wie sehr es sich empfiehlt, unter den einzelnen
Stämmen der böhmischen Slawen möglichst genau zu unterschei-
den, denn anders gestaltete sich ihr Schicksal in der offenen
Ebene als in einem durch Gebirge geschützten und leicht zu ver-
teidigenden Tale. In dieser Beziehung ist namentlich zwischen
den Biliner Slawen und den Cechen ein gewaltiger Unterschied
wahrzunehmen; ihre politischen Geschicke konnten nicht gleich
sein, und so kann auch ein Biliner Bauernfürst neben dem
Großfürsten Samo, der zugleich Fürst der Cechen sein mochte,
vor der Wissenschaft bestehen. Der Großstaat zerfiel, einzelne
nahe, daß der Beginn des Zeitalters des Eigentums ... in das Ende des sechsten
Jahrhunderts fällt ..., während das goldene Zeitalter [von mir gesperrt :]
noch rein slavische Verhältnisse unter awarischem Drucke
zeigt. Die Einwirkung der Awaren darf nicht überschätzt
werden. Die dauerte nur während der Winterszeit. Außer
dem konnte sie bei der schwachen Organisation der Unter
drückten keine allzu schweren Spuren hinterlassen. Form
lose Gebilde sind mit Gewalt nicht zu fassen..."“
Was soll man sich hier unter „formlosen Gebilden“ vorstellen? „Rein
slavische Verhältnisse unter awarischem Drucke“, erinnern die nicht an die
Republik mit dem Herrn Großherzog an der Spitze? Konnten „unter awarischen
Drucke“ die Verhältnisse „rein slavisch“ bleiben? Ist nicht vielmehr die
altslawische Desorganisation eben diesem awarischen und überhaupt dem
turkotatarischen Drucke zuzuschreiben, jenen Zuständen ähnlich, denen wir
bei den Tadschiken begegnen? „Transoxanien war den jahrhundertelang
anhaltenden Brandungen des nahen turanischen Völkermeeres zuerst am
meisten ausgesetzt, und die Erschütterung im staatlichen sowohl als im
sozialen Leben war um so schrecklicher. Die tyrannische Willkür der
Eroberer hat hier, so wie überall, nicht nur Fluren verwüstet, sondern jedt
Spur der edleren Gefühle aus der Menschenseele ausgerottet. Das heutige
Mittelasien ist der scheußliche Pfuhl aller jener Laster, die in den mohane
danischen Ländern Westasiens vereinzelt anzutreffen sind“, berichtet au
Autopsie VÄMBERY, Geschichte Bocharas I. Stuttgart 1872, S. XXxVII.
Die Zerstörung jedes Familienlebens durch die Awaren muß ja au
die Slawen in einen Zustand herabgedrückt haben, den wir nicht einmal
recht fassen können. Und da will SCHREUER vor einer Ü'berschätzung ds
awarischen Einflusses warnen!
Die älteren Beziehungen der Slawen zu Turkotataren etc. 533
tämme wurden selbständig, und wenn die von Kosmas über-
eferte Sage nicht täuscht, wurde auf den éechischen Fürsten-
tuhl nach Absterben der eigenen regia stirps (der Samoniden ?)
er Biliner Bauernfürst Premysl berufen und dadurch ein Staat
eschaffen, der kaum ein Sechstel des heutigen Böhmen ausmachte.
)ie zentrale Lage des Cechenstammes und die größere Frucht-
arkeit des Bodens verschafften bald diesem Stamme das Über-
ewicht; aber sein neuer Fürst war dennoch auch mit Fürst der
jiliner Slawen und als solcher mit seinem ganzen Geschlechte
n das Bauernritual gebunden, welches auch noch dann beobachtet
verden mußte, als die Inthronisation fortan auf éechischem
'olksgebiete, auf dem Vyéehrad und später in Prag, vor sich ging.
lier, von den Cechen, wurde dieses Ritual nicht verstanden, war
lem Volke gleichgültig; die einheimischen Chronisten gehen daran
chweigend vorbei, es höchstens mit wenigen Worten ganz nach-
ässig streifend, und erst bei dem letzten Fürsten, der sich dem
titual in dessen Resten unterzogen hatte, dem späteren Kaiser
Carl IV., erfahren wir darüber etwas Näheres?). Dagegen mußte
las Ritual dem Chronisten THIETMAR, gerade, weil er ein Fremder
var, auffallen. Daß es sich bei dieser Gleichgültigkeit der Ein-
wimischen überhaupt so lange erhielt, ist dem Interesse der Kirche
uzuschreiben, jedem antretenden Fürsten des im allgemeinen sehr
rewalttätigen Premyslidengeschlechtes etwas Demut einzuprägen.
* *
*
Die altslawischen Volkszustände sind das Produkt der ab-
vechselnd uralaltaischen, speziell turkotatarischen und der ger-
nanischen Knechtschaft. Diese in den einzelnen Phasen und
vechselseitigen Verknüpfungen zu verfolgen, war Zweck der vor-
iegenden Abhandlung.
Der ganze Stoff wurde dabei nicht erschöpft, sondern vor-
viegend nur das Kriterium der Viehzucht in Betracht gezogen.
ie Analyse des slawischen Ackerbaues und dessen Beein-
lussung durch die Germanen bleibt einer besonderen Unter-
uchung vorbehalten.
1) Siehe oben 9. 522.
Zur Wergeldfrage.
Von
P. Vinogradoff (Oxford).
Wenn ich in der vielfach erörterten Frage über die Be
deutung der Wergeldsätze in den deutschen Volksrechten aber-
mals die Feder ergreife!), so ist es wahrlich nicht, weil ich pr
lemische Auseinandersetzungen für „Annehmlichkeiten der Lite
ratur“ im Sinne des älteren Disraeli (Amenities of literature) ar
sehe. Es scheint mir aber, daß der Verlauf des Streites in letster
Zeit, trotz mancher Mißverständnisse, von wichtigen Errunger-
schaften, und zwar in positiver wie in negativer Hinsicht — u
bezug auf neugewonnene Resultate wie auf verworfene Hyp-
thesen, zeuge. Ich möchte nun in der Kürze angeben, wie ich
von diesem Gesichtspunkte aus die jüngsten Arbeiten von Het
und von HILLIGER?), insofern sie eine Stellungnahme gegen die
von mir verteidigten Ansichten enthalten, beurteile.
1. Umgestaltung von Hecks Theorie.
Es ist von vornherein erfreulich zu konstatieren, daß die au
Hecks Aufstellungen geübte Kritik von seinem eigenen Stand |
punkte aus eine berechtigte und fruchtbringende gewesen ist. Er
hat nämlich in einer in dieser Zeitschrift veröffentlichten Ab
handlung seinen Aufbau für die volksrechtliche Periode gründ-
1) Vgl. meine Abhandlung über „Wergeld und Stand“ en der Zeitschrift
der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. XXII (1902).
2) Pr. Heck, Ständeproblem, Wergelder und Münzrechnung der Kar
lingerzeit in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirts
II. (1904). B. HıLLıcer, Der Schilling der Volksrechte um das Wergeld,
in der Historischen Vierteljahrschrift, 1903. DERSELBE, Der Schillingswer
der Ewa Chamavorum und der Lex Frisionum, Hist. Vierteljahrschrift, 1904
P. Vinogradoff: Zur Wergeldfrage. b3b
ich verändert und einige der wichtigsten früheren Annahmen
allen gelassen. Er glaubt nicht mehr an irgendeine Herabsetzung
ler Bußen in Verbindung mit der Münzreform in karolingischer Zeit.
ig heißt nicht mehr, daß die ursprünglich einheitliche merowingische
ngenuusnorm des Wergelds (200 Solidi) infolge der Münz-
'eränderungen sich spaltete, so daß von nun an den Gemeinfreien
Vergelder und Bußen in großen und den Minderfreien in kleinen
chillingen zugesprochen wurden, oder aber die entsprechenden
‚ahlungen in Kleinschillingen im Verhältnisse von 3 zu 1 ver-
echnet wurden (600 Solidi und 200 Solidi)?).
Es ist nicht schwer einzusehen, daß die Wichtigkeit dieser
‚ugeständnisse eine weit größere ist, als HECK geglaubt zu haben
cheint. Er gleicht einem Seemann, der, um sein Schiff zu retten,
inen Teil der Ladung über Bord wirft, aber bald gewahr wird,
aß das verzweifelte Manöver den vollständigen Schiffbruch nur
eschleunigt. Denn was bietet uns HECK statt der früheren
[ypothese? Einerseits hält er an der Annahme einer Doppel-
ıssung der Wergeldsätze für die Freien in den karolingischen
'olksrechten doch fest, diese Doppelfassung wird als Doppelsinn
uch in den Stellen entdeckt, welche einfach und einheitlich von
‘olidi sprechen, und dieser Doppelsinn muß sich doch in den
regensatz zwischen Vollsolidi und Drittelsolidi, großen Schillingen
nd kleinen Schillingen auflösen?). Andererseits werden sämtliche
'eduktionsstellen auf eine Überführung des Solidus von einem
Verte von 40 Denaren zu einem solchen von 36 Denaren gedeutet
nd ausdrücklich hervorgehoben, daß diese geringfügige Ver-
ınderung keine nennenswerte Bußherabsetzung ausmache?).
arin liegt jedenfalls ein bedenklicher Widerspruch: die zwei
eiten der korrigierten Theorie passen nicht zueinander.
Dann ist es kaum notwendig, daß die schon früher
ervorgehobene Sinnwidrigkeit eines zweideutigen Sprach-
ebrauchs der Rechtsquellen, bei welchem unter dem Ausdruck
olidus allerhand verschiedene Einheiten verstanden werden
1) So früher, z. B. Die Gemeinfreien der karolingischen Volksrechte,
kl, 175, 176, 182, 189, 199, 200.
2) Ständeproblem, 353, 857—863.
8) Ib. 529 ff.
536 P. Vinogradoff
sollten, um so greller hervortritt. Heck bemerkt mit Genugtuung,
daß man nicht einmal mit zwei, sondern mit vier möglichen Inter-
pretationen zu rechnen habe’). Die von ihm angerufene Ana-
logie der norwegischen Rechte verändert sich für diejenigen,
welche ihre Kenntnis norwegischer Verhältnisse aus den Quellen
und nicht aus Hecks Büchern schöpfen ?), in das direkte Gegen-
teil: dort wird nämlich die Art der Zahlung in verschiedenen
Wertzeichen je nach Maßgabe des Standes eben ausdrücklich her-
vorgehoben und nicht doppelsinnigen Deutungen überlassen’).
Außerdem käme es ja in den fränkischen Leges gar nicht mehr
auf Verschiedenheit der Währung an, sondern auf den Gegensatz
zwischen Vollschillingen und Drittelschillingen derselben Währung.
Und, trotz der neugeschaffenen Ausdrücke „Äquivalente“ und
„konträre Substitution“, wer wird Heck glauben, daß vernünftige
Menschen von zwei Berechnungsweisen, die wie 40 und 36
differieren, wie von einem Gegensatz zwischen 40 und 12 sprechen
würden *)? Oder daß Kirchenväter und weltliche Obrigkeiten zur
Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen bemüht waren,
ein Münzsystem, welches unter Theudebert von Austrasien im
VI. Jahrhundert schon eingebürgert war, durchzuführen®)? Die
neue Hypothese stößt also in allen Richtungen an, und es gehört
Hëcxs großartiges — Selbstvertrauen dazu, um sich an der ver-
meintlichen Bestätigung seiner Theorie durch nachträgliche Ent-
1) Ib. 528.
2) Ib. 361: „Wenn übrigens VINOGRADOFF mein Buch vollständig gelesen
hätte, so würde er gefunden haben, daß auch in Norwegen verschiedene
Stände verschiedenes Geld erhalten“.
3) Die Zusammenstellung der Stellen in HERTZBERGS und BUGGEs Glossar
im V. Bande von Norges gamle love, s. v. eyrir.
4) Die erste Fassung des Capitulare von 816 spricht ausdrücklich von
der Größe der Solidi: Ut omnis solutio atque compositio que lege Salics
continetur, in Francia per duodecim denariorum solidos componatur, excepto
ubi contentio inter Saxones et Francos exorta fuerit: ibi volumus ut quadr=
ginta denariorum quantitatem solidus habeat, quem vel Saxo, vel Frisio ad
partem Salici Franci cum eo litigantis solvere debet. — Oder ist das auch ein
gesetzgeberischer Fehltritt, durch den Mangel an Bildung bei den kaiserlichen
Ratgebern und die Unkenntnis der geistlichen Protokollführer zu erklären?
Vgl. Heck, Ständeproblem, 357.
5) Daselbst, 526 ff.
Zur Wergeldfrage. 537
deckungen zu freuen. Jedenfalls sind wir nun alle darin einig,
daß man bei der Annahme einer karolingischen Entwertung des
Vollsolidus zum Trientsolidus eine entsprechende Bußherabsetzung
postulieren muß, falls man nicht auf die Bahn der „äquivalenten
Substitution“ geraten will’).
2. Die karolingische Bußumrechnung.
Wenn wir unter zwölf wirklich zwölf und nicht sechsund-
dreißig verstehen wollen, so erübrigt es noch HıLLıgErs Hypothese,
welche auf eine fortwährende Geltung der Goldwährung und der
Großschillinge auch in der Karolingerzeit ausgeht, zu prüfen. Die
Argumente gegen eine solche Auffassung sind von HECK in
bündiger und überzeugender Weise vorgebracht worden und ich
brauche sie nicht zu wiederholen?). Vom numismatischen Stand-
punkte aus ist aber ein Teil der Ausführungen HILLIGERS
jedenfalls von Wert, nämlich die Besprechung des Ausgangs-
punktes unserer Berechnungen im salischen Münzsystem. Da ist es
wohl HiLuiG:r im Anschluß an BABELON gelungen, endgültig die
Tatsache festzustellen, daß die Berechnung des Denars zu vierzig
Stück auf den Solidus mit seiner Bewertung als Halbsiliqua und
einer Prägung des Goldsolidus zu 21 Siliquen zusammenhänge ).
1) Heck, 529: „Die herrschende Auslegung des Konzilbeschlusses und
des Salischen Münzkapitulars erscheint zwingend, solange man allein die
beiden extremen Schillingawerte von 40 und von 12 Schillingen in Rechnung
zieht und sie als isoliert nebeneinander stehende Größen behandelt. Bei
beiden Gelegenheiten handelt es sich sicher um eine Herabsetzung der Bußen,
aicht um Münzverruf oder um bloße Umrechnung. An beiden Stellen wird
angenommen, daß diese Bußerniedrigung durch Beseitigung der Schillinge zu
40 Denaren, beziehungsweise durch Einführung der Rechnung nach Schillingen
su 12 Denaren bewirkt wurde. Unter den gedachten Voraussetzungen ist
aber eine Bußerniedrigung durch Beseitigung der großen oder Einführung
der kleinen Schillinge kaum anders als in der Weise denkbar, daß in den
mveränderten BuGzahlen der große Schilling durch den kleinen ersetzt wird.“
2) Ständeproblem, 849 ff. 636 ff.
8) Der Schilling der Volksrechte, 175 ff. Ich erlaube mir nur im Hin-
blick auf dies abfällige Urteil HıLLısers über meine Annahmen darauf hin-
zuweisen, daß ich, nach GrROTEs Vorgang, ausdrücklich! davon ausgegangen
bin, daß der merowingische Denar der römischen Halbsiliqua entsprochen
habe. Wergeld und Stand, 127, vgl. Heck, Ständeproblem, 522, Anm. 6.
538 P. Vinogradoff
Eine eigentümliche Schwierigkeit darf aber nicht übersehen wer-
den. Falls der von der Lex Salica benützte Vierzigerdenar der Halb-
siliqua der Theudebertischen Prägung (84 Solidi auf das Pfund
Gold) entspricht, so ist es nicht leicht einzusehen, wie vor
seinem Erscheinen, also vor der „Münzreform von 575“ (Hana)
gerechnet wurde. Deshalb bleibt Heck bei der Zurückführung
des Vierzigerdenars auf das schwerere Constantinische System
(72 Solidi auf das Pfund Gold) und faßt denselben als das
Silberäquivalent der Halbsiliqua, deren 48 auf den Solidus gingen,
Um den Übergang von 48 auf 40 zu erklären, wird eine Ver-
änderung der Relation zwischen Gold und Silber (12 zu 1 statt
ungefähr 13!/s zu 1) angenommen. HiLLısGer und BaABElor
gehen von der annähernden Äquivalenz der Halbsiliqua von 4
und des Denars von 40 auf den Solidus aus, scheiden sich aber
in ihrer Auffassung der älteren merowingischen Münzrechnung.
HILLIGER scheut sich nicht, die Lex Salica in die Zeit nach der
„Münzreform von 575“ — in das Ende des VI. Jahrhunderts su
verlegen'). BABELON vermutet eine viel ältere Prägung de
Solidi nach erleichtertem Münzfuße (84 auf das Pfund) und
deutet auf eine solche bereits die Verwerfung der „gallischen
Solidi“ unter Majorian *) (458). Wir haben zwischen diesen drei
Auswegen, deren jeder eigentümliche Schwierigkeiten darbietet,
zu entscheiden. HEcks Deutung paßt insofern nicht, als die meisten
Deshalb kann ich auch die numismatischen Ausführungen von BABELOX und
Hır.ııGer benützen, ohne meine Grundanschauung und Argumentation auf
zugeben.
1) Der Schilling der Volksrechte, 455.
2) BABELON, La silique romaine, le sou et le denier de la loi des Fran
Saliens. Revue de Numismatique, I. 346. Vgl. DESSELBEN Traité de
monnaies grecques et romaines, 5686—590. Neuerdings hat CAPOBIANEHL
Archivio della Società Romana di Storia patria, XXVII. (1904), 89 ff. vel
XXVI. (1903), 11, eine auffällige Hypothese vorgebracht. Er führt ds
Reduktion der Solidi auf 40 Denare in der Lex Salica auf eine Münsrefors,
um 700, welche die Denarprägung überhaupt eingeführt haben soll, zurück
Ist es aber glaublich, daß die charakteristische Berechnung des Solidus #
40 Denaren, welche in den meisten Handschriften der Lex vorherrscht, 38
einem Übergangszustand der etwa 100 Jahre gedauert haben soll, entsprug®
sei? Und meint der Verfasser wirklich, daß im VI. und VII. Jahrhundert
keine Silbereinheiten im Gebrauch waren?
Zur Wergeldfrage. 639:
'exte der Lex Salica mit Einschluß der karolingischen Emendata
ortwährend nach vierzig Denaren rechnen und auf einen kon-
urrierenden erleichterten Münzfuß der späteren merowingischen
‚eit gar keine Rücksicht nehmen, was doch höchst unwahrschein-
ich wäre, wenn eine Varietät des Solidus, die sich in 36 Denare
uflösen ließ, am Ende des VI. Jahrhunderts kursierte. Die
fiizielle Anerkennung der leichteren Prägung wird denn auch
on HECK bis zur Regierung Ludwigs des Frommen aufgeschoben.
[ILLIGERS Ausweg führt zu einem vollständigen Umsturz unserer
echtsgeschichtlichen Voraussetzungen und würde uns in eine
[enge Schwierigkeiten bei der Interpretation der Lex Salica
elbst verwickeln!). Somit scheint es am wahrscheinlichsten,
aß wir in der Theudebertischen Prägung den Ausdruck eines
gallischen“ Münzsystems zu sehen haben, welcher schon in
er zweiten Hälfte des V. Jahrhunderts im Gebrauch war. Diese
nnahme würde die eigentümliche Reduktion auf 40 bezw.
31/3 Denare erklären, ohne die Lex Salica zu sehr chronologisch
erabzudrücken. Die Münzfunde der merowingischen Zeit weisen
war vorwiegend Solidi der schweren Prägung auf?) — das läßt
ich aber durch die Praxis der kaiserlichen Münzstätten erklären,
nd die Ausrechnung der Summen durch Hinzufügung eines
echstels war nicht schwer. Wie dem auch sei, alle merowingi-
chen Buß- und Wergeldtarife der Lex Salica sind sorgfältig nach
em Verhältnis von einem Solidus zu 40 Halbsiliquadenaren be-
schnet, und die etwas späteren Volksrechte der benach-
arten Stämme, der Ripuarier, der Alemannen, der Baiern weisen
uf Münzsysteme, die, obgleich nicht identisch, doch im großen
nd ganzen auf entsprechenden Verhältnissen aufgebaut waren.
1) Nicht nur die jedenfalls charakteristische Tradition über die Entstehung
ır Lex und die bekannten Stellen, wie de filtortis, de chrenecruda u. dgl,
mdern der ganze Bestand der Lex in ihrem Verhältnis zur Lex Visigothorum
ad Lex Burgondionum einerseits, zur Lex Ripuariorum andererseits sprechen
gegen. HILLIGERS rechtsgeschichtliche Methode ist überhaupt nicht auf
er Höhe seiner numismatischen Kenntnisse. Die unkritische Behandlung
sr „Bußreihen“, welche zu einer Reihe von Entdeckungen führen soll,
Ut besonders auf. Was soll man aber auch z. B. zu den mehrmaligen
nläufen, Stammeswergelder aus der compositio der Frauen abzuleiten, sagen?
2) Darauf macht uns HECK aufmerksam. Ständeproblem, 523.
540 P. Vinogradoff
Demgegenüber tritt nun in karolingischer Zeit eine scharf
‚abweichende Berechnung des Solidus zu 12 Denaren auf. In-
wiefern sie in der Volksübung vorbereitet war, ehe sie in off-
ziellen Akten berücksichtigt und in die Bußtarife der Gesetze
eingeführt wurde, mag vorläufig dahingestellt bleiben. Jedenfalls
ist es klar, daß am Anfange des IX. Jahrhunderts der Solidus
„in argento ad 12 denarios adpretiatus“ in derselben Bedeutung
erscheint, wie früher der Solidus zu 40 Denaren.
Auch besitzen wir mehrere wichtige Nachrichten über die in
der Übergangszeit geltenden Regeln. Namentlich erfahren wir
ziemlich viel über die Eigentümlichkeiten und Schwierigkeiten, mit
welchen die Überführung der Bufansätze in Drittelsolidi im Ge
biete der Lex Salica, in welcher alle Summen ausdrücklich in
Vierzigerdenaren ausgerechnet standen, zu begegnen hatte. Der
Fiskus versuchte eine Zeitlang die freda immerfort nach dem
Maßstabe von 40 Denaren auf den Solidus einzutreiben. Dann
erfahren wir von Verordnungen, welche die Berechnung des
Solidus zu 40 Denaren zugunsten der salischen Franken in ihren
.‚Zusammenstößen mit Friesen und Sachsen aufrecht erhalten.
Entsprechende Privilegien für den ripuarischen Stamm sind nicht
überliefert, und es bleibt uns die Wahl zwischen zwei Vermt-
tungen offen: entweder waren Salier und Ripuarier in dieser Be
ziehung wie in anderen gleichgestellt, worauf möglicherweise das
merkwürdige Wergeld des „Franken“ in der Lex Chamavorım
hinweist. Oder es ist das salische Privileg als ein Ausfluß der
speziellen Gleichung der Lex Salica anzusehen, was auf eine
zeitweilige Ungleichheit zwischen den Hauptstämmen hinweise
würde, eine Ungleichmäßigkeit der Behandlung, welche dadarch
vermindert sein würde, daß die Zahlung der salischen Bußen in
schlechten älteren Vierzigerdenaren geschehen konnte, solange
dieselben im Umlauf blieben'). Eine bestimmte Auskunft laßt
1) Vgl. Rheimser Konzil von 813: ut dominus imperator secundum statutus
bonae memoriae domini Pippini misericordiam faciat, ne solidi qui in legt
habentur per 40 denarios discurrant, quoniam propter eos multa periuns
multa que falsa testimonia reperiuntur. Der Beschluß hatte offenbar sowohl
die rechtliche Anwendung (qui in lege habentur) als auch den faktisches
Umlauf (discurrant) im Auge.
Zur Wergeldfrage. 541
sich zwar aus den Quellen nicht gewinnen '), aber eines scheint
sicher: die erwähnten Maßregeln stammen offenbar aus einer Zeit
des Überganges von einem Münzsystem zum andern, welches mit
der Beibehaltung der nominellen Beträge in Solidi verbunden
war und also tatsächlich das Zusammenschmelzen der Denarsätze-
bekundete.
Die drei sächsischen Rechtsquellen, die Volksrechte der Cha-
maven und der Thüringer sind nach der Einführung der Rech-
nung in Drittelsolidi entstanden und ihre Tarife müssen einheit-
lich in kleinen Schillingen aufgesetzt worden sein. Die sächsischen
Quellen erwähnen zwar eine Schillingdifferenz, aber der Unter-
schied, den sie zwischen dem Solidus zu drei und demjenigen
zu zwei Tremissen machen, entstammt einem ganz anderen Ge-
sichtspunkte, nämlich dem Versuche, das Verhältnis zwischen
sâchsischer und fränkischer Währung zu ordnen. In der stän-
dischen Steigerung der Wergelder und Bußen nach chamavischem
und thüringischen Recht hatte Heck bekanntlich eine Hauptstütze-
seiner Ansicht von der Spaltung des fränkischen Freienstandes
in die zwei Gruppen der adeligen Gemeinfreien und der frei-
gelassenen Minderfreien finden wollen. Die ständische Gliederung
beider erwähnten Rechte (Francus-nobilis; ingenuus-liber; litus-
lazzus) wäre auf die Geltung des ripuarischen Rechtssystems
zurückzuführen, welches auf dem Wege der Usualinterpretation
die Anwendung von Vollschillingen auf die Adeligen und der
Drittelschillinge auf die unteren Stände ausgebildet hätte. Bei
der neuen Wendung von Hecks Theorie ist es nun zwar nicht
abzusehen, in welcher Weise die Ripuarier zu einer Schätzung
ihrer minderen Freien zu Drittelschillingen kommen konnten:
bei der „äquivalenten Substitution“ wäre das erst recht eine Buf-
herabsetzung gewesen?). Dennoch hält HEck daran fest, daß
1) Die Ungewißheit über diesen Punkt kann auf keinen Fall die be-
stimmten Nachrichten über die Vorgänge im salischen Rechtsgebiet außer
Kraft setzen, wie es HILLIGER annimmt, a. a. O., 214. |
2) Nach einigen Andeutungen in HEUKs8 Abhandlung dürfen wir aller-
dings erwarten, die Doppelspiegelung der solidi und der denarii auch auf die
merowingische Redaktion der Lex Salica übertragen zu sehen. Die Vor-
bereitungen zu dieser Ausführung sind aber noch nicht vollendet (a. a. O., 3621.
549 P. Vinogradoff
die erwähnten Rechte und namentlich die Ewa Chamavorum
einen bündigen Beweis für die Drittelung der Beträge der
Minderfreien abgäben. Freilich kommen dabei recht merkwürdige
Kombinationen zustande. Die Lex gibt zwar dem „Francus“ ein
Wergeld von 600 Solidi gegen ein Wergeld von 200 für den
ingenuus, sie gliedert aber die Privatbußen für kleinere Vergehen
wie folgt: 12 Sol. für den Franken, 8 für den ingenuus, 4 für
den Liten, 2 für den Sklaven. Die Abstufung bei dem Wergelde
und bei den Bußen war also eine verschiedene. Sie muß aber,
statuiert HECK, dieselbe gewesen sein. So werden wir denn
aufgefordert, in der Reihe von Bestimmungen, welche diese Bußen
regelt, den Ausdruck Solidus als Vollsolidus, für den Franken
in ec. 17, 18 und als Drittelsolidus für den ingenuus, den Liten
und den Sklaven in cc. 21, 22, 23 zu verstehen. Wenn es c. 22
heißt: „de lito in emendatione solidos 4, in fredo dominico soli-
dos 4“, so dürfen wir ja nicht glauben, daß Buße und fredus in
diesem Falle gleich sind — der fredus ist dreimal größer. „Diese
Erklärung ist einwandfrei, sie ist aber auch die einzig mögliche
und deshalb die einzig richtige“ (a. a. O. 360). „Die Zuver-
lässigkeit der einzelnen mittelbaren Schlußfolgerungen wird da-
durch bestätigt, daß sich der unmittelbare Beweis nachträglich
gefunden hat“ (S. 361). Gegen eine Interpretationskunst, die
sich von der Annalıme freigemacht hat, daß dieselben Ausdrücke
in denselben Sätzen dasselbe bedeuten, läßt sich allerdings nicht
streiten. Für diejenigen aber, die abergläubisch genug sind, an
den ausdrücklichen Wortlaut der Quelle sich zu halten, wird es
nicht ohne Interesse sein, zu konstatieren, daß bei der Abstufung
der Bußen in der Lex Chamavorum dem Franken nur ein Vor
sprung im Verhältnis von 12 zu 8 vor dem ingenuus eingeräunt
wird, während sein Wergeld aufs dreifache veranschlagt wird.
Das ist aber auch der einzige Fall, in welchem auf salischem
Gebiete dem Franken ein entsprechendes Privilegium gegenüber
dem Sachsen und Friesen in der zweiten Fassung des Kapituları
von 816 eingeräumt wird !).
1) Capit. ed. Boretius, I. 269, c. 2: de omnibus debitis solvendis, st
antiquitas fuit constitutum, per duodecim denarios solidos solvatur per totss
Salicam legem, excepto leudes, si Saxo aut Frisio Salicum occiderit, pr
Zur Wergeldfrage. 543
Mit der Lex Frisionum hat es eine eigentümliche Bewandtnis,
a sie augenscheinlich an der Berechnung der Bußen in Voll-
olidi festhält Ich habe einen merkwürdigen Ausdruck des
fberganges zu Drittelbeträgen gerade in dieser Lex gesehen, da
ie trotz der Rechnung in Vollsolidi die Summen der Bußen ver-
ındert und zwar, wie ich glaube, durch drei dividiert. Heck
agegen betrachtet die Verminderung der Grundbußen nicht als
ine Drittelung, sondern als Resultat der Subtraktion eines Drittels
er früheren Ansätze, wobei er den Grund zu dieser Umrechnung
n Übergange von friesischen als zwei Tremissen geschätzten
chillingen zu fränkischen Schillingen von drei Tremissen erblickt.
ind also die friesischen Bußsätze als Drittel- oder als Zwei-
rittelsummen aufzufassen ?
In seiner Polemik gegen meine Ausführungen in dieser Frage
acht HECK zu beweisen, erstens, daß ich seine Ansicht mißver-
tanden habe, zweitens, daß meine Erklärung der Texte wider-
pruchsvoll und fehlerhaft sei. In bezug auf das erstere verzichte
h auf eine Erwiderung und will gerne zugeben, daß HEcK das
iesische und das sächsische Wergeld des Edelings auf verschiedene
Veise ausgerechnet habe'). Was aber die Deutung der Texte
nbetrifft, so scheint mir der Vorwurf widersprechende und un-
alängliche Erklärungen zu geben, auf das Haupt meines Gegners
d denarios solidi solvantur. Infra Salicos vero ex utraque parte de omnibus
ebitis sicut diximus 12 denarii per solidum solvantur, sive de homicidiis,
ve de omnibus rebus.
1) Mir sind übrigens auch jetzt Reduktionen, wie die folgende, verdächtig,
emeinfreie, 259: „Die lex Frisionum gibt dem nobilis eine simpla compo-
tio von 106?/, Solidi. Infolge des Sonderfriedens betrug das effektiv zu
ıhlende Wergeld das Dreifache, also 3 >< 106?/, = 820 Solidi in fränkischer
ünze. In die kleineren einheimischen Solidi nach der Relation 3:2
mgerechnet, stellte sich der Betrag auf 480 Solidi. In beiden Zahlen
nd nun die angegebenen Solidi Vollschillinge, nicht Trientwerte; deshalb
üssen wir sie, wenn wir die Vergleichung mit den sächsischen Zahlen vor-
ehmen wollen, in Triente umrechnen, also nochmals verdreifachen. Dann
bträgt das Wergeld des friesischen Nobilis in karolingischen Trienten 960
ad in leichteren Trienten genau 1440.“ Ist es richtig, in dieser
erechnung die , Relation 3:2“ zweimal zu benützen? Und worauf würde
as Litenwergeld von L. Sax. 16 bei derartigen Berechnungen zusammen-
hmelzen ?
544 P. Vinogradoff
zurückzufallen. Oder ist es nicht etwa widersprechend bei der
Interpretation von Tit. 10 von „neuen Solidi“ zu sprechen und
bei derjenigen von Add. III, 71 von Umrechnung der alten Solid
in neue denarii!)? In Wahrheit sind die Glossen zu beiden
Titeln ganz in demselben Sinne aufgefaßt: in beiden Fällen
handelt es sich um die Feststellung der provinziellen Abweichungen
im Werte der Bußschillinge, und diese Abweichungen werden mit
Hilfe der neuen denarii (denarii de noua moneta), i. e. der
karolingischen Triente notiert. Die meisten Ansätze waren in
ganz Friesland nominell dieselben, aber der Schilling galt nicht
gleichviel in den drei Provinzen, und es wurde versucht, diese
Verschiedenheiten in fränkischer neuen Münze anzugeben. Falls
wir den Fingerzeigen folgen wollen, so stellen sich die Tarife m
fränkischen Trienten folgendermaßen: in Mittelfriesland, welches als
Hauptland angesehen wird, hatte der Adelige ein Wergeld von 240
Trienten, der Freie — 160 Trienten, der Lite 80. In Westfriesland
bekommen wir zweifache Notierungen — 250, 125 und 62!/s: Triente,
oder aber 266°/s, 1331/: und 66?/s Triente. Für Ostfriesland
stellen sich die Trientsummen auf 213°/s, 106°/s und 53'/s. In
ähnlichen Verhältnissen sollten auch andere Bußen berechne
werden. Diese provinziellen Differenzen wurzelten wahrscheinlich
sowohl in lokalen Abweichungen im Gebrauch der Münzen wie
in verschiedener Bewertung der Hauptgegenstände des Wirtschafts-
1) L. Frisionum, I. $ 10: inter Fli et Sincfalam vueregildus nobilis C
solidi, liberi L, liti XXV (solid. denarii III novae monetae). Add. HI. $ 73:
Inter Flehi et Sincfalam solidus est duo denarii et demidius ad novam mone-
tam. Inter Uuisaram et Lauhachi duo denarii solidus est. $ 78: Inter
Laubachi et inter Flehi tres denarii novae monetae solidum faciunt. Ib
allen drei Fällen sieht HECK etwas verschiedenes. Im Tit. I. 8 10 soll sobä
novae monetae eine Umrechnungsnorm bezeichnen, Add. III. $ 73 Angabes
über den Wert alter Schillinge, ausgedrückt in neuer Münze, geben, endlich
Add. III. $ 78 eine dritte Bedeutung haben. „Auch in diesem Zusatze ist
ein Bußschilling gemeint, aber nicht der Schilling für uns verlorener Buf-
zahlen, sondern der Schilling der Lex Frisionum selbst“ (a. a. O. Böll.
Diese Unterscheidungen sind vollständig willkürlich, und jeder Unbefangent
wird einsehen, daß es sich in allen drei Fällen um dasselbe handelt, nämlich
um eine Bewertung der Bußschillinge des friesischen Volksrechtes in neue
karolingischer Münze. Diese Bewertung rechnet mit verschiedenen lokalen Ar
sätzen, aber die Methode und die Terminologie sind einheitlich durchgeführt
4
Zur Wergeldfrage. 545
lebens. Daß die Nachbarschaft dergleichen Unterschiede nicht
ausschloß, beweist der im einzelnen beurkundete Fall der
sächsischen Provinzdifferenzen in bezug auf Bußschillinge'). Die
Einzelheiten für Friesland zu ermitteln ist gegenwärtig un-
möglich. Wir können auch um so mehr darauf verzichten, als die
Haupttatsachen klar genug vorliegen.
Es wäre verkehrt, die vereinzelte ostfriesische Gleichung von
zwei Trienten auf den Solidus und das ostfriesische Wergeld von
106?/s Solidi für den Edeling zu Ausgangspunkten für die Be-
rechnung der gemeinfriesischen Werte zu machen‘). Eher müßte
man von den mittelfriesischen Bestimmungen, welche den Solidus
drei Trienten gleichsetzen und dem Adeligen ein Wergeld von
240 Trienten beimessen, ausgehen. Aber noch sicherer ist es,
die für alle Gebiete gewährleistete Ziffer von 53'/s, also das Wer-
geld des liber zum Ausgangspunkte weiterer Betrachtungen zu
machen. Sie entspricht jedenfalls einem feststehenden volksrecht-
lichen Betrage, der zwar dazu kam, verschiedene Werte je nach
der Landschaft zu repräsentieren, aber ursprünglich als gemein-
friesische Einheit gedacht war. Dasselbe gilt vom Litenwergeld,
während in bezug auf das Adelswergeld, neben verschiedener
Bewertung in neuer Münze, eine bedeutende nominelle Abweichung
gerade im Bereiche von Mittelfriesland, dem Hauptgebiete der
Lex, bezeugt ist’. In Berücksichtigung dieser Tatsachen ist
es außerordentlich unwahrscheinlich, daß wir bei der Zurück-
rechnung der Beträge in ältere volksrechtliche Ansätze mit
einer Reduktion im Verhältnis von zwei zu drei zu tun hätten.
Insofern der Gegensatz zwischen Schillingen im Werte von zwei
und von drei Trienten sich geltend macht, ist er gerade in den
provinziellen Differenzen berücksichtigt. Die Drittelbrüche erschei-
nen aber in allen provinziellen Notierungen und sind daher
durch das Wirken eines Umstandes bestimmt, der gleichmäßig in
1) Vgl. die bekannten Stellen des Capit. Saxonicum, c. II. und der Lex
Saxonum, 66, über den Wert der Solidi in den verschiedenen Teilen des
Sachsenlandes.
2) HECK, Ständeproblem, 553, legt allen Berechnungen grade das ost-
friesische System und die Buße von 106’/s Schillingen zugrunde.
3) 80 Solidi statt 106?/,.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 36
546 P. Vinogradoff
allen Gebieten vorhanden war. In diesem Zusammenhange tritt
der Gedanke einer Anpassung an die allgemeine karolingische
Herabsetzung der Bußbeträge natürlich auf und scheint den
Schlüssel für die sonst so auffallende Aufteilung der Summen zu
bieten. Das Wergeld des liber entspricht als Drittelbetrag dem
ripuarischen Ansatze für den Friesen, nämlich 160 Vollschillingen
ganz genau. Im Verhältnis zu den Bußen des liber werden denn
auch diejenigen der zwei anderen Stände bestimmt').
Il. Der wirtschaftliche Hintergrund.
Sobald der rechtsgeschichtliche Tatbestand klargestellt worden
ist, drängen sich dem Beobachter zwei Fragen unwillkürlich auf.
Wie kam die karolingische Regierung dazu, eine so radikale
Umänderung der Bußen und Wergelder vorzunehmen und darc-
zuführen? Ist die Reihe der betreffenden Maßregeln und Gesetze
als die Äußerung einer planmäßigen Politik oder als der recht-
liche Ausdruck einer allgemeinen sozialen Bewegung aufzufassen?
Dergleichen Fragen pflegen in ihrer Lösung von einer synthetischen
Würdigung der Zusammenhänge des historischen Lebens abzu-
hängen und lassen sich nicht lediglich durch Berufung auf direkte
Zeugnisse erledigen. Das muß auch in unserem Falle berück-
sichtigt werden,: es fehlen aber auch keineswegs bestimmte An-
haltspunkte in den Quellen.
Die Aufgaben welche sich die Karolinger bei ihren Reformen
stellten, waren, wie bekannt, großartig genug: sie schraken nicht
zurück vor der Einführung des Christentums und kirchlicher En-
richtungen durch die Gewalt des Schwertes, vor massenweise
Ausrottung und Verpflanzung von Völkerschaften, vor Versuches,
alte volksrechtliche Ordnungen durch Anwendung der Todesstrafe,
körperlicher Züchtigungen und hoher Bannbußen zu veränden,
vor einem Eindringen in alle Verhältnisse des Volkslebens mittelt
Regierungskommissionen und Inquisitionsprozedur. In allen diese
Richtungen hätten sie bemerkenswerte Vorbilder in der Prasis
der merowingischen Herrscher aufweisen können ?). Aber in be
1) Add. III. 88 71, 72, 73.
2) Vgl. z. B. CutLpeserti IL Decretio (Capit. regnum Franc. L li
c. 5: de homicidiis vero ita iussimus observare, ut quicumque usu temersf
Zur Wergeldfrage. 547
z auf die Veränderung der Bußtaxen sind die Karolinger nicht
liglich als aufgeklärte Despoten aufgetreten. Ihre Regierung hat
r allmählich einen Weg eingeschlagen, der ihr durch den Gang
r volkswirtschaftlichen Entwicklung gewiesen wurde. Ehe der
hilling zu zwölf Denaren für die Entrichtung der Bußen akzep-
rt wurde, war er schon, jedenfalls in Austrasien, in Geschäften
gemein anerkannt')}. Und der ausdrücklichen Bußreform ist
e Münzreform vorangegangen, das heißt — der Zwölferdenar
ırde infolge der wirtschaftlichen Bedürfnisse verbessert und ge-
stigt, che er an die Stelle des verkommenen Vierzigerdenars
i gesetzlich geregelten Zahlungen hintrat. Es wäre ungerecht
ıd tatsächlich unmöglich gewesen, Wergelder und Bußen, welche
den alten, für Vierziger- bezw. Sechsunddreißigerdenaren auf-
stellten Bußtaxen berechnet waren, in neuen Zwölferdenaren
ı fordern, und wenn in der Übergangsperiode entsprechende
ımmen gcfordert wurden, so halfen sich wohl die Beteiligten
ıtweder durch Beschafiung alter Münze oder durch Entrichtung
»n Naturalien zu Werten, welche nominell auf alte Denare be-
‚gen werden mußten, wobei allerlei Mißverständnisse, Zerwürt-
sse und Meineide vorkommen konnten. .
Eine der ersten und wichtigsten Folgen der Einführung neuer
ünze mußte notwendigerweise die Neuregulierung des Maßstabes,
ach welchem Geldzeichen und Naturalien bei Entrichtung der
ußen benützt werden durften, ausmachen. Diese Regulierung wurde
eineswegs aufs Geratewohl durchgeführt. Da die in den ofü-
iellen Tarifen enthaltenen Taxen offenbar in einem gewissen Zu-
ammenhang mit landüblichen Werthen stehen mußten und direkt
ie Größe gesetzlicher Teilzahlungen bestimmten, so können wir
us ihnen im allgemeinen ersehen, inwiefern die karolingische
fünzreform eine reelle Verminderung oder Aufrechterhaltung der
rüheren Bußsätze herbeiführte.
lium sine causa occiderit, vitae periculum feriatur: nam non de precio
edemptionis se redimat aut componat. Forsitan convenit ut ad solutionem
jmisque discendat, nullus de parentibus aut amicis ei quicquam adiuvet, nisi
ini presumpserit ei aliquid adiurare, suum weregildum omnino componat;
juis justum est, ut qui novit occidere, discat morire. Vgl. c. 7.
1) Concil. Leptinense a. 748.
548 P. Vinogradoff
Die sächsischen Tarife, an der Scheide zwischen dem VII.
und dem IX. Jahrhundert in Drittelsolidi aufgestellt, geben Ziffern
für einige der hauptsächlichen Viehsorten, welche den in Vollsolidi
berechneten Taxen der Lex Burgundionum aus dem VI. Jahr-
hundert fast genau entsprechen "). Was die Getreidepreise an-
betrifft, so sind wir leider nicht imstande, entsprechende Be-
obachtungen zu machen, da wir nur in sächsischen Quellen einen
Bußtarif, sonst aber schwankende Marktpreise und Teuerungs-
maxima zur Verfügung haben *).
Die Annahme der Stetigkeit der nominellen Bewertung wird
durch die merkwürdige Tatsache bestätigt, daß bei einer Revision
des ripuarischen volksrechtlichen Tarifs unter Ludwig dem From-
men die alten Sätze für die meisten Gegenstände aufrecht erhalten
wurden®). Was Heck über diese wichtige Nachricht sagt, ist
1) L. Burgundionum (Mon. Germ. LL. II, 44), c. 4, $ 1: de occisi facul-
tatibus is, qui perdidit superius comprehensa mancipia atque animalia, apud
sollicitatorem aut furem si non potuerit invenire, in simplum recipiat, hoc
est pro bove solidos duos, pro vacca solidum unum. Cf. c. 95. L. Saxonum,
Tit. 66, $ 8 (Til, et Corb.) Quadrimus bos duo solidi, duo boves quibus aran
potest quinque solidi, bos bonus tres solidi, vacca cum vitulo solidi duo et
semis. Cf. $ 1. — Solidus tres tremisses id est bos 16 mensium. — Die
Kuh wurde noch 829 auf 2 sol. geschätzt BORETIUS, Cap. IL 17.
2) Korn eignete sich nicht für Entrichtung der Bußen, da die Preise
natürlich höchst schwankend waren. Es wird daher nur im Capitulare Saxo-
nicum und in der L. Saxonum der Wert der Solidi in Getreidemaßen ange
geben. Die Taxen des Nimwegener (a. 806) und wohl auch des Frank-
furter Kapitulars (a 794) sind Maximaltarife, welche Teuerungen vorbeugen
sollten (Cap. reg. Franc., I. 74; 132). Wie bedeutend die lokalen Unter-
schiede der Preise sein konnten, zeigt unter anderem die Vergleichung der
zwei Taxen des Frankfurter Kapitulars, von denen die Markttaxe diejenige
der Domänen um das Doppelte übersteigt. Das kann nicht durch Schwierig-
keiten des Transports erklärt werden, sondern wohl durch den Entschlaf der
Regierung, die Vorräte der Domänen möglichst wohlfeil zu verkaufen. Vgl
die Zusammenstellung der Preise auf alamannischem Gebiete bei SOETBEER,
Forschungen zur deutschen Geschichte, VI. 89 ff, und die Preisangaben aus
dem Werdener Urbar bei HILLIGER, a. a. O. 465.
3) L. Ripuar. 36, $ 11: Si quis weregeldum solvere coeperit, bovem
cornutum videntem et sanum pro 2 solidis tribuat. Vaccam cornutam videntes
et sanam pro 1 solido (Cod. B. per tres solidos Cod. A) tribuat. Eques
videntem et sanum per duodecim solidos (Cod. A pro 7 solidis cod. A) tribust
Zur Wergeldfrage. 549
nicht überzeugend. Die Erwähnung eines Schätzungseides solle
den Werttarif vollständig außer Kraft setzen und die angegebenen
Werte zu bedeutungslosen Antiquitäten reduzieren. Es sollten
nämlich alle genannten Gegenstände statt auf einseitige Forderung
des Zahlers, der sie zu beliebig niedrigem Preise anschaffen
durfte, aber zu gesetzlichem Werte bei der Entrichtung der Buße
benützen konnte, fortan nur in der Höhe des durch Eid garan-
tierten Wertes angenommen werden’). Diese Auffassung des
Schätzungseides ist nichts weniger als zwingend; in Wirklich-
keit war ein solcher Eid bei Taxen nicht ausgeschlossen, sondern
gerade bestimmt die Empfänger der Zahlung vor einer Aufbür-
dung minderwertiger Gegenstände unter dem Vorwande einer
Lieferung von Äquivalenten zu beschützen. Die zahlende Partei
mußte schwören, daß die dargebotenen Naturalien — Rinder,
Schafe, Pferde u. s. w. — wirklich den angegebenen Werten
entsprachen und in bezug auf allgemeine Merkmale war auch
eine gewisse Kontrolle von seiten der Gegenpartei oder des
Gerichts nicht ausgeschlossen ?). Jedenfalls bewegte sich die
Schätzung innerhalb der festgestellten Tarifnormen, welche keines-
Equam videntem et sanam pro 3 solidis tribuat. Spatam cum scogilo pro
8 solidis tribuat. Spata absque scogilo per 3 solidos tribuat. Bruina bona
pro 12 solidis tribuat. Helmo conderecto pro sex solidis tribuat. Scuto cum
lantia pro 2 solidis tribuat. Aucceptorem non domito per 3 solidos tribuat.
Commorsum gruarium pro sex solidos tribuat. Aucceptorem mutatum pro
sex solidis tribuat. — Cap. Hludowici anno 818, 819 (Cap. I. 282), c. 8: in
compositione wirgildi volumus ut ea dentur quae in lege continentur, excepto
accipitre et spata, quia propter illa duo aliquoties periurium committitur,
quando majoris pretii quam illa sint esse iurantur.
1) Ständeproblem, 354.
2) Der Vorgang ist namentlich bei Forderungen auf Schadenersatz
klar. L. Alam. 62: si quis alicui caballum involarerit, adpretiat eum
dominus eius cum sacramento usque ad sex solidos, si tantum valet —
amplius non quaerat, non valet plus — aut minus. Quantum illi ad sacra-
mentum inpraetiaverit, in caput tantum restituat fur. — Bei Schätzungs-
eiden, welche den Wert von Naturalien feststellen sollten, mag sowohl die
Partei als Dritte gehandelt haben. Vgl. L. Salica, 50, 1. Daß eine gewisse
Kontrolle nicht ausgeschlossen war, ist aus den mitunter stark abgestuften
Klassifikationen der bei Zahlungen vorkommenden Naturalien zu ersehen.
Die Auslegung BRUNNERs, Reg. II. 442, scheint mir in diesem Falle nicht das
Richtige zu treffen.
550 P. Vinogradoff
wegs ohne Belang waren. Es läßt sich auch leicht ersehen,
warum bei der Erneuerung der ripuarischen Taxe gerade das
Schwert und der Falke gestrichen wurden: ihr Wert hing von
einer Anzahl Merkmale ab, die schwer zu ermitteln waren, und
die Preise müssen gerade in diesen Fällen außerordentlich diffe-
riert und geschwankt haben; es war nur zu leicht, ihre Vorzüglich-
keit zu behaupten, um einen Abschlag von 7—12 Solidi zu erzielen
und es wäre schwierig gewesen, solchem Mißbrauch abzuwehren.
Die bescheideneren und minder abgestuften Werte des Viehstandes
gaben weniger Anlaß zu Übertreibungen, und in bezug auf das
Alter, die Gesundheit und die allgemeine Tauglichkeit eines Ochsen
oder eines Pferdes ließen sich keine so auffallende Täuschungen
vornehmen.
Die Tatsache steht also fest, daß nach einer ausdrücklichen
und ins einzelne gehenden Revision der ripuarischen Taxe der‘
ursprüngliche, in Vollsolidi aufgesetzte Maximaltarif auch für
das Zeitalter der Kleinsolidi bestätigt wurde. Die auffallende
Stetigkeit der nominellen Werte einiger Hauptgegenstände des
Lebensbedarfes im VI. und im IX. Jahrhundert zeugt von einer
bedeutenden Steigerung des relativen Wertes des Geldes und von
einem entsprechenden Sinken des Wertes von Naturalien. 50
viel wie eine Verdreifachung ist übrigens die Steigerung de
Geldwertes nicht gewesen, denn es ist nicht nur die Zahl der
auf den Solidus gerechneten Denare, sondern auch ihr vermehrtes
Gewicht und bessere Beschaffenheit zu berücksichtigen. Übrigen:
ist daran zu erinnern, daß wir nicht mit Marktpreisen, sondern,
wie es v. INAMA-STERNEGG auseinandergesetzt hat'), mit Ge
brauchswerten, und zwar gesetzlich ausgedrückten Gebrauchs
werten, zu tun haben. Die Abweichungen der wirklichen
Marktpreise konnten mitunter recht groß sein und andererseiß
übten wohl bei der offiziellen Normierung derartiger Werte
einen starken Einfluß volkstümliche Überlieferungen über .£e
rechte“ und „gesetzliche“ Preise. Jedenfalls aber waren der
artige Normen nicht aus der Luft gegriffen, kamen bei unzählige
1) Wert und Preis in den deutschen Volksrechten, Jahrbücher für Nations
ökonomie, XXX., 198 ff. DESSELBEN Dentsche Wirtschaftsgeschichte, I. 1%#
Zur Wergeldfrage. 551
elegenheiten des praktischen Lebens in Betracht und wurden,
ie wir gesehen haben, zuweilen umgestaltet. Deßhalb ist denn
ach ihre nominelle Konstanz ein unumstößliches Zeugnis für
as reelle Sinken der Werte’). Ich brauche nicht mehr darauf
ırückzukommen, daß mir ein solches Sinken in dem Zeitalter,
as sich vom Untergange des römischen Reichs bis zum Aufbau
es karolingischen erstreckt, nicht nur erklärlich, sondern un-
mgänglich erscheint‘, Diese Annahme ist nicht der Grund
ir die Interpretation der konkreten Nachrichten über Münz-
nd Rechtsverhältnisse, wohl aber der Abschluß einer Kette von
eobachtungen, welche schließlich zu einer Gesamtauffassung des
eschichtlichen Zusammenhanges führen.
Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, möchte ich zweier Aus-
ellungen, welche gegen die von mir verteidigte Ansicht gemacht
'orden sind, gedenken, HEcK glaubt in der Lex Chamavorum
en bestimmten Beweis gefunden zu haben, daß die im Chamover-
ınde geltenden Preise im Anfange des IX. Jahrhunderts gerade
ı dreimal größeren Ziffern wie die älteren Werte der Ripuaria
usgedrückt waren, was damit zusammenhänge, daß Drittel-
:hillinge in der Lex Chamavorum, Vollschillinge in der Ripuaria
enützt worden seien?).. Laßt uns im Vorübergehen notieren,
aß wir also mit Drittelschillingen und nicht mit Neunzehntel-
hillingen zu tun haben und daß wir uns also um die „äqui-
alente Substitution“ nicht zu kümmern brauchen. Den Beweis
1) Heck, Ständeproblem, 519, spricht von der „Lehre Inama-Sterneggs
on der großen Konstanz der Werte“ (nicht der Preiszahlen) in der fränki-
ben Periode, gibt aber dieser Lehre eine sehr eigentümliche Wen-
ang. Inama-Sternegg hat nämlich offenbar das Gegenteil von dem gemeint
as ihm von HEck zugeschrieben wird. Vgl. Wert und Preis, 210: „Die...
erhältnisse der Viehwerte ... würden im ganzen die Auffassung begtinstigen,
aB die an sich auffallende Gleichwertigkeit bei den älteren und den jüngeren
ges geradezu durch die inzwischen eingetretene Entwertung des Wert-
‚aßstabes herbeigeführt wurde“. Siehe auch 211. Die Zusammenstellung
er Preise in Inama-Sterneggs Tabellen gibt denn auch die beste Gelegenheit,
ie Konstanz der Preiszahlen zu beobachten.
2) „Mundus jam senescit“, wie sich der Fortsetzer des Fredegar aus-
rückte.
8) A. a. O., 856 ff.
552 P. Vinogradoff
sollen die Wirdirastellen der Lex Chamavorum abgeben'), da es
in bezug auf Schweine, Ziegen und Kleinvieh daselbst heißt,
daß bei ihrer Entwendung der Drittel des Preises als Wirdira
erstattet werden müße. Nun beläuft sich aber die Wirdira bei der
Entwendung eines Schwertes oder eines Pferdes auf 7 Solidi und
eines Ochsen auf 2 Solidi, was im Lichte der „Generalklausel“ in
bezug auf Kleinvieh verbürge, daß wir als den normalen Wert
eines Pferdes oder Schwertes 21 Solidi, eines Ochsen 6 Solidi
ansehen müssen. Das heißt, daß die früheren in der Lex Ripr-
aria dokumentierten Preise infolge der Münzreform auf das Drei-
fache gestiegen seien. Leider vergißt HECK zu sagen, warım
die 7 Schillinge Buße nicht nur bei Diebstählen von Gegen-
ständen, die 21 Solidi wert sein sollten, sondern bei jeder auch
noch 8o unbedeutender Entwendung aus einem Hause vorkomme,
was doch auf einen Strafsatz und nicht auf eine Quote hinweist,
warum der Übereinstimmungen mit der Lex Ripuaria überhaupt
so wenige sind”), warum wir in der Berechnung der Wirdira bei
Kleinvieh an eine Generalklausel denken sollen und warum die
der Wirdira entsprechende Dilatura bei minderen Vergehen
gar nicht bezahlt wurde’). Wenn man alle diese von Heck
vernachlässigten Umstände in Betracht zieht, so scheint es, daß
wir bei der Wirdira oder Dilatura mit einer stufenmäßig jaber
nicht quotenmälßig gesteigerten Strafe zu tun hätten, die sehr
wohl bei wichtigen Gegenständen und in qualifizierten Fällen
dem ganzen Werte der gestohlenen Sachen entsprechen oder ihn
auch übersteigen konnte, während sie bei minderwertigen Objekten
auf ein Drittel des Wertes herabsank oder auch ganz wegfiel.
Eine andere Reihe von Tatsachen, welche gegen die Annahme
einer nominellen Konstanz der Werte vorgebracht wird, hat mehr
1) L. Chamavorum, 25: quidquid in casa furaverit, in wirdira solidos 7.
De warnione in wirdira sol. 7. De spadato caballo solidos 7. De serro solidos 7.
De spata 7. De jumenta solidos 4. De boue solidos 2. De vacca solidos 2.
De porcis et vervecis et animalibus iuvenibus et de capris terciam partem,
quantum valet, in wirdira.
2) Eine Übereinstimmung existiert eigentlich nur in bezug auf Schwert
und Ochs. Die Pferdepreise der Ripuaria sind sehr verschieden, und der
7 Solidi-Preis für ein Pferd erscheint nur vereinzelt in einigen Handschriften.
8) Vgl. BRUNNER, D. Re. II. 625, 626.
Zur Wergeldfrage. 553
euten. Ich meine die zuerst von GUERARD gesammelten
gaben aus Neustrien, welche bedeutend höhere Preise als
den Taxen der Volksrechte angegebenen gerade für den
tand aufweisen '., Der Durchschnittspreis des Ochsen
ı Gütern der Abtei St. Germain des Prés ist auf 8—9 Solidi
schnen, der einer Kuh auf 6 Solidi, u. s. w. Ein paar
nungen, welche an derartige hohe Preise erinnern, lassen
ch in den Volksrechten auffinden*). Diese Preisangaben
ichtig, aber sie heben den Eindruck der nominellen Stetig-
r gesetzlichen Taxen nicht auf. Fürs erste haben wir es
wertungen, welche direkt auf Marktpreise zurückgehen,
und müssen daher die speziellen Umstände des wirtschaft-
tebietes, dem sie entstammen, berücksichtigen. Die Nach-
ft von Paris ist nun jedenfalls eine Gegend gewesen,
in den günstigsten Bedingungen für Geldanhäufung und
rkehr sich befand — hohe Preise dürfen gerade hier nicht
dern’). Außerdem kommt auch eine andere Betrachtung
welche den scharfen Kontrast zwischen diesen neustrischen
und den Tarifen aus dem östlichen Frankreich und aus
ıland abschwächt. Wir befinden uns in diesem Falle,
‚gend je, auf einem Gebiete, wo die Tradition der Vierziger-
sich gehalten haben muß. Aus dem Rheimser Beschluß
wir, daß sie noch um 813 im Umlauf waren. Sind
_ Polyptichum des Abtes Irmino erwähnten Zahlungen,
jedenfalls auf altem Herkommenu beruhen, nicht in minder-
n Vierzigerdenaren angegeben? Etwas ähnliches, näm-
igaben in minderwertigen Geldsorten haben wir wohl in
‘einzelten Summen der Lex Frisionum zu vermuten. Jeden-
nd dergleichen Abweichungen leichter als Ausnahmen zu
n, als die nominelle Konstanz der volksrechtlichen Tarife.
>olyptique d’Irminon, I. 150, vgl. SyErTBEER, Forschungen, VI. 71 ff.
2. B. Cap. de partibus Saxoniae, $ 27.
Jieser Umstand wird von Inama-Sternegg ausdrücklich hervorgehoben,
tschaftsg. I. 513.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter
und zu Beginn der Neuzeit.
Von
Johannes Müller (Nürnberg).
(Schluß.)
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Zweiter Teil.
Die Entwicklung des bayerischen und Tiroler Rodwesens
im 16. Jahrhundert.
I. Die Ordnung des Rodwesens in Bayern und Tirolim
ersten Drittel des 16. Jahrhunderts.
1. Die Tiroler und bayerischen Rodordnungen vom Jahr 1526 . . 556-560
2. Die Rodordnungen Tirols und Bayerns vom Jahr 1530 . . . 560-568
HU. Die Veränderungen im bayerischen und Tiroler
Rodwesen von 1535 bis 1572 . . . . . . . . . 564-577
UL Die Reformen im Rodwesen Bayerns und Tirols
von 1572-1612.
1. Die Tiroler Rodordnungen vom Jahr 1572 und die bayerischen
Rodverträge von 1571—1575 . . . . 20.0... 577-585
2. Die Verbesserungsversuche im Rodwesen Bayerns “und Tirols
von 1581—1597 . . . . . 585-591
3. Augsburger Gutfertigerordnung : von à 1597/98 samt Annexen und
die Ordnung der Gutbestetter vom Jahre 1612 . . . . . b91—599
Beilagen IX. . . . . 2 2 . . . nn . . . . . . . 599-626
Zweiter Teil.
Die Entwicklung des bayerischen und Tiroler Rod-
wesens im 16. Jahrhundert.
I. Die Ordnung des Rodwesens in Bayern und Tirol im
ersten Drittel des 16. Jahrhunderts.
1. Die Tiroler und bayerischen Rodordnungen
vom Jahr 1526.
Die letzten Veränderungen im Tiroler Rodwesen des 15. Jahr-
hunderts waren am Ende der Regierung Herzog Sigmunds,
der für das Tiroler Straßenwesen sowohl durch Bauten wie durch
Aufrichtung neuer Ordnungen viel getan hat, vorgenommen wor
den, indem vor allem Strafen sowohl für die Rodleute ba
säumiger Fertigung der Güter wie auch für die Kaufleute bei zu
spätem Eintreffen der Güter an einer Niederlage festgesetzt wurden‘).
Unter der Regierung Maximilians I, der bald nach seinem
Regierungsantritt verschiedenen Rodorten Tirols, so Prutz 14%,
Reutte 1499, Zams 1500, die Rodordnungen und Niederlagsgelder
bestätigte?), fand zwar im Jahre 1508 anläßlich der Bezablnng
der Rodfuhren, die im Frühjahr dieses Jahres wegen des Vene
tianischen Krieges notwendig gewesen waren, seitens des Ehrer-
berger Richters Christian Scheucher eine Visitation der Rodorte
der oberen Straße von Ehrenberg bis Branzoll (halbwegs zwischen
Bozen und Neumarkt) statt, die eine große Anzahl von Mängeln
der Rod auf der oberen Straße zutage förderte?). Von eine
1) Vgl. die Rodhandlung de anno 1526 zu Innsbruck. Augsb. Handel
vereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 23.
2) Archivberichte aus Tirol I. 346, II. 210 und I. 332.
3) Christian Scheuchers underrichtung vom 27. April 1508, außerdes
Ch. Scheuchers mengl und anbringen vom 14. Mai 1508. Innsbrucker Stadr
haltereiarchiv Abt. Pestarchiv IX. Nr. 14.
|
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 557
Beseitigung dieser Mängel durch Maximilian I. wird uns jedoch
nichts berichtet; aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich der viel-
beschäftigte Monarch über anderen wichtigeren Dingen gar keine
Zeit zur Abstellung der im Rodwesen eingeschlichenen Mißbräuche
genommen; vielleicht haben ihn auch unliebsame Erfahrungen,
wie er sie im Kriegsjahre 1511 bei dem Versuch, die Bergfeste
Peutelstein wiederzuerobern, mit den Tiroler Fuhrleuten machte,
von einem Eingreifen in diese Verkehrseinrichtungen Tirols ab-
geschreckt !).
Zu einer besseren Ordnung im Tiroler Rodwesen kam es erst
unter der Regierung Ferdinands I., der im Jahr 1523 als Statt-
halter Karls V. in Innsbruck seinen Einzug hielt und schon drei
Jahre darnach, im Sommer des Jahres 1526, auf das Anrufen
der nach Italien handelnden deutschen Kaufleute und der Rod-
fuhrleute Tirols zum Eingreifen in das unter Maximilian I. ziem-
lich verwahrloste Rodwesen veranlaßt wurde“). Die von Herzog
Sigmund aufgerichtete Verordnung, daß der Fuhrmann, der durch
sein Versäumen die Abfahrt der ihm durch den Aufgeber ange-
sagten Güter verzôgere, für jeden Wagen 1 Gulden Strafe
zu zahlen habe, war in den letzten Jahrzehnten ganz außer acht
gelassen worden, die Zahl der Rodwägen in keiner Rodstätte
komplett; die Rodleute fertigten vielmehr an fast allen Rodorten der
unteren Straße die ihnen rechtzeitig angesagten Fuhren gerade,
wann sie wollten, und taten auch dies vielfach nur gegen Be-
zahlung eines bedeutenden Überlohnes seitens der Kaufleute
bezw. der Gutfertiger. Weitere Beschwerden der letzteren rich-
teten sich dann gegen das von den Fuhrleuten vielfach geübte
Verfahren, die Güter unterwegs abzuwerfen und sie im Kot und
in der Nässe liegen zu lassen, anstatt sie bis an die Niederlagshäuser
1) Die Tiroler Fuhrleute, die im Jahre 1511 zur Herbeischaffnng der
Geschtitze für die Belagerung Peutelsteins aufgeboten worden waren, ver-
weigerten Maximilian I. den Dienst, weil sie für ihre Dienstleistungen in
den ersten Jahren des venezianischen Krieges (Belagerung von Padua) noch
nicht bezahlt worden waren. A. JÄGER, Gesch. der landständischen Ver-
fassung Tirols, II. 2 S. 471.
2) Vgl. für das Folgende die Akten des Augsb. Handelsver.-Archivs.
Fasc. LXXXX. Nr. 16 bis Nr. 47, außerdem die Rodordnungen Tirols vom
Jahre 1580.
558 Johannes Müller
zu führen. Zuletzt hatten sie sich noch über besondere Mif-
bräuche an einzelnen Rodorten zu beschweren, so über die Forde-
rung eines sogen. Pfefferzolles zu Bruneck (1 f Pfeffer bezw.
30 kr. für je fünf Säume) neben dem gewöhnlichen Zoll von
14!/s alten Kreuzern pro Saum und über das von den Toblacher
Fuhrleuten verlangte Geleitsgeld von 6 alten Kreuzern sowie über
das von den Maulsern verlangte Niederlagsgeld, das um so un-
‚gerechter erscheinen mußte, als Mauls überhaupt keine Niederlage
hatte und die Maulser, die von den Mühlbacher Rodleuten für
die Übernahme der Güter nach einem Privatabkommen bezahlt
wurden, für den Transport jedes Wagens von Mauls nach Sterzing
von den Kaufleuten noch überdies 10—12 kr. verlangten.
Als nun die Gutfertiger im Namen der Kaufleute von Augr
burg am 23. Juli 1526 vor der Innsbrucker Regierung ihre Be
schwerden vorbrachten, zeigten die zu der Rodtagfahrt geladenen
Rodleute der unteren Straße an, daß sie bei der teuren Fütterung
und der Steigerung sonstiger Unkosten ohne Besserung des Lohne
aus der Rod stehen müßten, zumal manche unter ihnen kein Nieder-
lagsgeld erhielten. Da durch gütliche Unterhandlung zwischen bei-
den Parteien keine Einigung zu erzielen war, erteilte die Innsbrucker
Regierung im Namen des Erzherzogs Ferdinand den Gutfertigen
und Rodleuten folgenden Abschied: 1. Die Rodleute haben a
jeder Rodstätte die nötige Anzahl Wägen bereitzuhalten und mit
denselben die Güter, sobald dieselben angesagt worden sind.
unverzüglich zu fertigen sowie an den Niederlagen vor dem
Wetter zu bewahren. 2. Dafür soll den Rodleuten der Lohn, -
den ihnen seinerzeit Erzherzog Sigmund ausgesetzt hat, für die
nächsten drei Jahre pro Saum um etliche Kreuzer, nämlich um |
1 kr. vom Brenner nach Matrei, um 2 kr. von Mühlbach nad
Bruneck, von Bruneck nach Toblach, von Toblach nach Peutel
stein, um 3 kr. von Innsbruck nach Matrei, vom Brenner nach
Sterzing, von Sterzing nach Mühlbach, um 4 kr. von Innsbrac
nach Mittenwald, gebessert werden, von welcher Besserung jedoch
sowohl die landesfürstliche Obrigkeit sowie die Landschaft mi
ihren Kammergütern ausgenommen sind.
Zu derselben Zeit fand zu Bozen durch Kommissäre der Inn
brucker Regierung ein Verhör der Rodleute der oberen Stra&
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 559
on Neumarkt bis Füssen statt und darnach wurde durch
akob Fuchs bestimmt, daß die Rodleute dieser Straße um den
a Bozen festgesetzten Lohn die Güter fertigen und darüber
jemand beschweren sollten.
Gegen die bayerischen Rodleute wurden im Jahr 1526 von
en Augsburger Kaufleuten Klagen ähnlicher Art erhoben wie
egen diejenigen Tirols. Auch in Bayern fehlte es an allen
‚odorten an der nötigen Wagenzahl; auch da wurden die von
en Rodordnungen vorgeschriebenen Fahrzeiten durchgängig
reit überschritten, indem die Rodleute eines Ortes, um von den
‚aufleuten oder den Gutfertigern ein sogen. Wartgeld herauszu-
ressen, absichtlich mit ihren Wagen zu spät anfuhren. Sodann
estatteten sich die Rodleute von Schongau, Ammergau und
fittenwald vor allem den Mißbrauch, die Güter mitten auf der
trecke abzuwerfen und sie irgendeinem Bauern gegen geringes
ntgelt zur Weiterbeförderung in die Niederlage zu überlassen.
jo warfen die Schongauer und Ammergauer die Güter entweder
a Echelsbach an der Ammer, wo der Flußübergang des tiefen
‘aleinschnittes wegen besondere Schwierigkeiten bereitete, oder
u Peiting ab, während die Mittenwalder entweder an der Leu-
asch oder auf dem Seefeld, wo sie Gegenfuhren von den Inns-
ruckern aufnehmen konnten, die Ballen im Kot und in der
lässe liegen ließen. Die Schongauer Rodleute vergingen sich
‘gen die Rodordnung noch insofern, als sie diejenigen Güter,
vie Spezereien, Seidenballen u. 8. w., die die Kaufleute wegen
hrer Kostbarkeit von Schongau nach Augsburg zu Land beför-
lern lassen wollten, der Wasserrod zuwiesen, auf welcher sie im
Winter, besonders bei Eisgang auf dem Lech, arg beschädigt,
venn nicht ganz verdorben wurden. Die Floßleute von Schongau
abren mit ihren Flößen nicht, wie sich’s gebührte, bis an die
‚ande unterhalb Haunstetten, sondern luden die Ballen eine
Meile oberhalb Haunstetten ab, wodurch den Kaufleuten weitere
Costen für den Transport bis zur Stadt erwuchsen.
Da die im Jahre 1526 vorgebrachten Klagen der Augsburger
Taufleute fast genau so, wie sie eben angegeben wurden, bei
len Rodtagverhandlungen während des Augsburger Reichstages
m Jahr 1530 wiederkehrten, so ist wohl anzunehmen, daß im
560 Johannes Müller
Jahr 1526 eine Besserung der Verhältnisse, mochte sie auch von den
bayerischen Rodleuten zugesagt worden sein, nicht eingetreten ist.
2. Die Rodordnungen Tirols und Bayerns vom Jahr 1530.
Auch in Tirol hielt die Wirkung des vom 26. Juli 1526 ge
gebenen Abschiedes der Landesregierung nicht lange nach. Schon
Ende 1526 hören wir wieder von Klagen der Gutfertiger über
die saumselige Fertigung der Kaufmannsgüter durch die Inns-
brucker Rodleute, die ganz offen erklärten, daß sie ihrer Nahrung
nachfahren und der Güter nicht warten wollten'). Diese Be-
schwerden mehrten sich bis zum Jahr 1529, da die dreijährige
Frist für die anno 1526 bewilligte Erhöhung des Rodlohnes ab-
lief, derart, daß sowohl die Augsburger, vertreten durch den
Ratskonsulenten H. Edelmann und den Kaufmann Claus Ehinger,
als auch die Ulmer Kaufleute, vertreten durch Dr. Leonh. Jung,
sowie die Gutfertiger Lederer von Füssen und Kleinhans von
Reutte sich abermals mit ihren Klagen an die Innsbrucker Re-
gierung und die Tiroler Landschaft wenden mußten.
Nachdem die Kaufleute und Gutfertiger nahezu zwei Monate,
vom 15. Januar bis 16. März, sowohl mit der Regierung und
der Landschaft von Tirol als auch mit den Rodleuten der unteren
Straße unterhandelt hatten, wurde ihnen in Anbetracht des Um-
standes, daß mit den Rodleuten der oberen Straße noch keine
Unterhandlungen gepflogen werden konnten, folgender vorläufiger
Abschied gegeben: Die k. Kommissäre hätten trotz alles Fleißes,
eine unbeschwerliche Ordnung aufzurichten, wegen der Abwesen-
heit etlicher Rodleute, deren Bericht man zuvorderst bedurft hätte,
die Sache nicht zu Ende bringen mögen. Habe man über die
anderen Rodorte durch weiteres Verhör genügende Erkundigung
eingezogen, so werde die k. Regierung eine solche Ordnung
machen, daß sich niemand mehr darüber beschweren könne. Bis
zur Aufrichtung und Verkündigung dieser neuen Rodordnungen
sollten Kauf- und Rodleute sich nach dem anno 1526 ergangenen
2) Vgl. für die Rodhandlungen des Jahres 1529: Augsb. Handelsvereins
Archiv Fasc. LXXXX. die Nummern 30 (Notamina wegen Zuwiderhandlung
Bus um.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 561
Die im Frühjahr 1529 angekündigten Rodordnungen Tirols
rschienen denn auch im Dezember 1530 und konnten, wenn
hrer Bestimmung gemäß von den Rodleuten gehandelt wurde,
Is eine entschiedene Verbesserung in dem Tiroler Rodwesen be-
rachtet werden. Die Ordnungen sämtlicher Rodorte Tirols vom
ahr 1530 stimmen mit wenigen Ausnahmen, bei denen es sich,
vie in Nauders und Neumarkt, um ganz besondere Verhält-
isse handelte, im ganzen und großen überein; denn die 11 bis
2 Artikel, aus denen jede dieser Rodordnungen bestand, ent-
ielten in stets genau derselben Reihenfolge folgende Bestim-
aungen:
1. Festsetzung der Anzahl der Rodwägen jeder Stätte und
'nterscheidung der Rodleute nach Rodlehensleuten und sogen.
efreiten Rodleuten.
2. Verpflichtung der Kaufleute bezw. Gutfertiger zur recht-
eitigen Ansage der Güter.
3. Verpflichtung der Rodleute zur rechtzeitigen Abfahrt mit
en ihnen angesagten Gütern.
4. Ordnungsgemäße Numerierung der Güter seitens der Kauf-
eute.
5. Verpflichtung der Kaufleute bezw. der Gutfertiger zur ge-
auen Anzeige der für ihren Gütertransport nötigen Wagenzahl.
6. Strafbestimmungen für die eine Überzahl von Wägen for-
ernden Kaufleute, desgleichen für saumselige Rodleute.
7. Festsetzung der Höhe des Rodlohns pro Saum’).
8. Anweisung zur ordnungsgemäßen Unterhaltung des Pall-
auses und Bestimmung der Höhe des Pallhausgeldes.
9. Bestimmung der Höhe des Niederlagsgeldes für die durch-
ehenden Wagen oder Eigenachsfuhren.
10. Einräumung des Vorfahrrechts für die Kammergüter.
11. Zuweisung des Entscheids etwaiger weiterer Mängel im
todwesen an die Innsbrucker Regierung.
er Rodleute etc.), 82 (Bericht H. Edelmanns vom 19. Januar 1529), 34 (Etliche
eschwerden die obere Straße in Tyrol betreff.), 83 (Schriften und Sachen, so
ano 1529 und 1545 zu Innsbruck gehandelt worden), 91 (Protokoll über
ie Rodhandlung zu Innsbruck vom Jahre 1529).
1) Vgl. das Verzeichnis der Rodlöhne in Beilage XI.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 87
562 Johannes Müller
Neben diesen allen Rodordnungen Tirols vom Jahr 1530
eigenen Artikeln, die, gegen die unter Erzherzog Sigmund ge-
machten Ordnungen gehalten, einen nicht geringen Fortschritt
im Rodwesen darstellten, enthielten dann die Rodordnungen
einzelner Orte noch besondere Bestimmungen einerseits über
den Wegbau, andererseits über die Entschädigung der sogen.
Vorwägenbesitzer durch die Nachwägenbesitzer für den Fall
daß dieselben auf ihre Vorrechte verzichtet hatten. Solche
Entschädigungen genossen die Vorwägenbesitzer in Sterzing,
Bruneck und Toblach, und zwar erstere in Form eines Präzi-
puums aus den Niederlagsgeldern, die acht Brunecker Kirch-
wagen in Form des neunten Teiles des von dem Brixener Bischof
zur Erhöhung des Rodlohnes geleisteten jährlichen Zuschusses
von 36 fl. und die sieben Toblacher Vorwagenbesitzer in Form
einer Abgabe von 4 kr. von jedem Ballen, den die fünf Nach-
wägenbesitzer vom Gasthaus nach Bruneck führten. — Die Rod-
ordnungen von Lermoos, Meran und Terlan enthielten besondere
Anordnungen über den Wegbau in diesen Bezirken, in welchen
den Rodleuten ein eigener Weglohn seitens der Landesregierung
zur Unterhaltung der Straßen und Wege eingeräumt war!').
Auch in Bayern kam es im Jahre 1530 zu Augsburg während
des dort gehaltenen Reichstages zwischen den Kaufleuten und
den Rodleuten zu einem neuen Vergleich, der am 27. September
1530 durch die Räte der Herzoge Wilhelm IV. und Ludwig von
Bayern abgeschlossen wurde. Die oben erwähnten Klagen der
Augsburger Kaufleute über die saumselige Fertigung ihrer Güter,
vor allem über die Abwerfung derselben mitten auf der Strecke
und über die Mehrung des Rodlohns, die für einen Saum vo
Mittenwald bis Augsburg 22 kr. 1 „$ ausmachte, wurden is
August dem bayerischen Kanzler Leonhard von Eck durch eint
Deputation des Augsburger Rates mit der Bitte vorgetragen, vor
allem die unleidliche Steigerung des Rodlohnes abzuschafe.
Nachdem die Vertreter der Augsburger Kaufmannschaft und de
bayerischen Rodleute vor den Räten der bayerischen Herzog
ihre Notdurft vorgebracht, wurde ihnen am 27. September folgende
1) Vgl. hierüber die betreffenden Artikel der Rodordnungen Sterzings
Brunecks, Toblachs, Lermoos, Merans und Terlans vom Jahre 1580.
RÉ
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 563
bschied gegeben: Weil diese Zeit eine gemeine Teuerung und
les in Aufschlag gekommen ist, so sollen die Rodleute bei
evor gemachter Ordnung und Lohn laut des ausgegangenen
ezeß bleiben. Wenn aber die Teuerung wieder aufhören und
e Kaufleute ferner nachsuchen würden, so soll abermals in
ie Sachen gesehen und nach Gelegenheit der Dinge sowohl im
odlohn als was sonst zur Aufnehmung der Straßen dienstlich
t, Ordnung vorgenommen werden. Mittler Zeit sollen die Rod-
ut der Rod mit allem Fleiß warten und die Kaufleut dermaßen
alten und fördern, daß die bayerischen Herzoge nicht veranlaßt
erden, nicht allein die bewilligte Mehrung des Lohnes abzu-
haffen sondern auch in anderer Weise zu strafen ').
Noch ehe dieser Vergleich zwischen den Augsburger Kauf-
‘uten und den bayerischen Rodleuten getroffen worden war,
rar 1. April 1530 ein zwischen den Prälaten von Ettal und
oitenbuch einerseits, der Stadt Schongau und der Gemeinde
mmergau anderseits entstandener Streit wegen des Baues und
er Unterhaltung des Ammerüberganges in Echelsbach durch die
ayerischen Herzoge dahin geschlichtet worden, daß die Schon-
auer und Ammergauer die Lieferung der Steinplatten, des Ge-
tänges und des Geländers am Ammerübergang selbst, der Prälat .
on Ettal aber die Beschüttung und Aufrichtung des Weges inner-
alb Echelsbach übernahmen, wogegen denselben von jedem
eladenen Rodwagen 1 kr., von jedem Roß ein Vierer (!/s kr.)
Veggeld zu nehmen gestattet war. Die Schongauer und Ammer-
auer hatten aus dem anfallenden Weggeld für die Unterhaltung
es Echelsbacher Überganges zusammen einen Wegmacher zu
estellen, zu dessen Besoldung der Prälat von Raitenbuch jähr-
ich zwei Scheffel Korn beizusteuern hatte. Der letztere hatte
ußerdem, wenn der Übergang durch Hochwasser oder sonstige
saturgewalt beschädigt wurde, mit den Schongauern und Ammer-
auern zusammen den Weg wieder herzustellen ?).
1) Vgl. Augsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 35, 42, 48,
6 und 47.
2) Lorı, Geschichte des Lechrains, II. Nr. 272. — Ähnliche Streitigkeiten
regen des Wegbaues wie die hier geschilderten zwischen den Schongauern
ınd Ammergauern und den beiden bayerischen Prälaten erhoben sich im
564 Johannes Müller
II. Die Veränderungen im bayerischen und Tiroler Rod-
wesen von 1535 bis 1572.
Die in dem Jahre 1530 im Rodwesen getroffenen Anord-
nungen, insbesondere die damit verbundenen Rodlohnerhöhungen,
bewirkten, daß es in dem folgenden Jahrzehnt zwischen den
Kaufleuten und den Rodleuten zu keinen bedeutenden Irrungen
kam. Nur in Mühlbach, wo Kaufmannsgüter, die auf eigener
Achse geführt wurden, gerade zur Erntezeit in großer Menge
niedergelegt und den Rodleuten daselbst zur Weiterbeförderung
aufgegeben wurden, wurde die Innsbrucker Regierung im Jahre
1535 zur Schlichtung der zwischen den Gutfertigern Kleinhans
und Lederer und den Rodleuten entstandenen Irrung veranlait.
Die Regierung entschied am 11. Dezbr. 1535, daß die Gutfertiger
die Rodleute mit solchen Gütern, die sie auf eigener Achse nach
Mühlbach brachten, nicht mehr beschweren durften und daß
solche Eigenachsgüter, die in Mühlbach niedergelegt wurden,
dasselbe Niederlagsgeld, nämlich 20 kr. pro Wagen, zu zahlen
hätten, das von den durchgehenden Terviswägen erhoben wurde).
Diese Eintracht zwischen Kaufleuten und Rodleuten wurde
aber in den vierziger Jahren durch Außerachtlassung der Rod-
ordnungen und der zuletzt gemachten Rezesse seitens der Rodleute
zu Beginn des 5. Jahrzehnts wiederum gestört und die Landes
regierungen von Bayern und Tirol darum abermals veranlait,
Jahre 1521 zwischen Mittenwald und dem Abt von Benediktbeuern wegen
Herstellung des Weges durch die Walchensee-Au, dessen sich die Mittenwalder
damals weigerten, weil ihnen der in früherer Zeit von jedem Wagen gegebene
Weglohn von 2 Kr. seit Erbauung der sog. Kesselbergstraße (1492) nicht
mehr entrichtet wurde. Zwischen den Gemeinden Partenkirchen und Gar
misch kam es im Jahre 1523 wegen des Baues der Loisachbrücke zu Zwistig-
keiten. Die Garmischer, denen der Bau und die Unterhaltung der Loisach-
brücke oblag, suchten bei der bischöflichen Regierung von Freising nach,
daß die Partenkircher, die von der Rod durch Gastung und Zehrung de
Fuhrleut den größten Nutzen hatten, die Hälfte der Baukosten der Brüct
übernehmen sollten. Die Partenkircher sträubten sich gegen ein solche
Verlangen höchlichst, da sie die auf der schadbaften Brücke entstehende
Schäden an den Kaufmannsgütern ersetzen mußten. Münchener Kreisarchit
(Werdenfelser Akten Fasc. 44).
1) Abschied der Innsbrucker Regierung, Fertigung der Kaufmannagüter
zu Mühlbach halber. Innsbrucker Statthaltereiarchiv. Pestarchiv IX. Nr. 56.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 565
sich ins Mittel zu legen. In Bayern waren es besonders die
Rodleute von Schongau, und zwar sowohl die Landrodleute wie
die Floßleute, die durch ihre Zuwiderhandlungen gegen die Rod-
ordnung, so durch die Stellung einer ungenügenden Zahl von Rod-
wägen, durch das Abwerfen der Güter zwischen Schongau und
Ammergau bezw. Schongau und Füssen und durch die von den
Floßleuten eigenmächtig vorgenommene Steigerung des Rodlohns,
neue Beschwerden der Kaufleute hervorriefen. Die Klagen der
letzteren über die Mängel der Landrod wurden durch einen
Rezeß der bayerischen Regierung vom 6. Februar 1542 abgestellt,
durch welchen den Schongauern erstens die Bereitschaft zum
Fahren mit zwölf Rodwägen vorgeschrieben, zweitens das Ab-
laden der Güter auf der Strecke, ausgenommen an dem Schon-
gau-Ammergauer Wechsel Echelsbach, verboten und die Forde-
rung eines höheren Niederlagsgeldes als eines halben Kreuzers
per Zentner von solchen Gütern, die durch Augsburger Bauern
nach Schongau gebracht und durch Schongauer Bauern weiter
ins Gebirge befördert wurden, untersagt wurde. Hingegen sollten
die Kaufleute in Schongau künftig nicht mehr, wie bisher oft
geschehen, große Mengen von Gütern zusammenkommen lassen
und von den in Schongau abgeladenen Gütern, welche sie durch
Ammergauer, Partenkirchner oder Mittenwalder Rodleute weiter
führen ließen, 1 kr. Niederlagsgeld pro Zentner bezahlen').
Hatten hier die Kaufleute sich über die Mißstände auf der
Landrod zu beschweren, so fanden etwa zur selben Zeit, nämlich
1543, die Schongauer Floßleute Anlaß, über die geringe Höhe
des Lohnes für eine Fahrt von Schongau nach Augsburg bei
den bayerischen Herzogen Klage zu führen. Dieser Lohn, bis-
her 1 ff Münchener oder 1 fl. 8 kr. für ein Rodgut, d. h.
8 bis 9 Säume, betragend, deuchte den Floßleuten um so un-
billiger, als ein Rodgut, das früher 9 Säume gehalten, seit etwa
2 Jahren 11 bis 12 Säume hielt, der Preis des Floßholzes,
desgleichen der Lohn der Knechte stetig gestiegen war und
den Füssener Rodleuten, die von Füssen bis Schongau nur 4 Meilen,
also nicht einmal die Hälfte des 9 Meilen betragenden Weges
1) Loxı, Geschichte des Lechrains, II. Nr. 800.
566 Johannes Müller
von Schongau nach Augsburg hatten, für eine Fahrt 1 fl. 15 kr,
d.h. 7 kr. mehr als den Schongauer Floßleuten, bezahlt wurden‘).
Die Kaufleute hielten dem wohl entgegen, daß die Ballen in den
letzten Jahren, wenn auch vielleicht größer, so doch nicht schwerer
geworden seien, daß der zur Zeit etwas höhere Preis des Holzes,
der wohl wieder herabgehen werde, die Rodlohnhöhe niemals
beeinflußt habe, und daß der Lohn der Füssener Floßleute von
jeher deshalb höher gewesen sei als derjenige der Schongauer,
weil die Fahrt der ersteren eine viel gefährlichere sei als die
der Schongauer?). — Trotz dieser Einwände wurde der Rod-
lohn der Füssener Floßleute von der bayerischen Regierung im
Jahr 1543 für ein Rodgut zur Winterszeit auf 1 fl. 24 kr., zur
Sommerszeit auf 1 fl. 17 kr. erhöht‘). Schon im Jahre 1548
aber petitionierten die Schongauer Floßleute um eine abermalige
Erhöhung ihres Lohnes und zwar verlangten sie diesmal für
den Transport eines Rodgutes 2 fl., da die Unkosten einer Fahrt
unter normalen Witterungsverhältnissen auf 1 fl. 38 kr. bei
schlechtem Wetter aber noch höher zu stehen kämen). Obwohl
die Kaufleute in ihrer am 26. Februar 1548 übergebenen Ver-
antwortung auf die Supplikation der Schongauer Floßleute er-
klärten, daß sie entschlossen seien, sich in einige Besserung
dieser Rodbesoldung nicht einzulassen’), entschied die von dem
Herzog Wilhelm IV. von Bayern eingesetzte Kommission am
5. April 1548 zu Schongau dahin, daß der Lohn der Schongauer
Floßleute für ein Rodgut auf 2 fl. erhöht werden solle®).
Etwa ein Jahr, nachdem die Schongauer Floßleute die Er-
höhung ihres Lohnes durchgesetzt hatten, gelang es auch den
Land-Rodfuhrleuten, eine bedeutende Besserung ihres Rod-
lohnes von den Augsburger Kaufleuten zu erhalten. Ende de
Jahres 1548 hatten die Kaufleute ihre Beschwerden über die
langsame, oft wochenlang sich hinziehende Beförderung ihre
1) Rodakten des Augsb. Handelsvereins-Archivs Fasc. LXXXX. Nr. öl.
2) Rodakten des Augsb. Handelsvereins-Archivs Fasc. LXXXX. Nr. Ill.
3) Augsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 106.
4) Augsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 108, Beilage V.
5) Augsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 106.
6) Augsb. Handelsvereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 107.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 567
süter durch die Schongauer Rodleute sowie über die eigen-
nächtige Steigerung des Rodlohnes bei dem Herzog Wilhelm IV.
ingereicht und hatten sich dann am 28. März 1549 durch güt-
iche Unterhandlung zweier Abgesandten (Hans Vöhlin der Jüngere
ınd Bernhard Sulzer) mit den Schongauer Fuhrleuten auf folgende
ünf Punkte geeinigt:
1. Alle durch das Cadober aus Venedig nach Schongau
;ommenden Güter werden von den Schongauern, sobald dieselben
nter das dortige Pallhaus angekommen sind, unverzüglich weiter-
‚efördert.
2. Der Rodlohn beträgt von Schongau bis Augsburg pro
entner 10 kr.
3. Der Rat von Schongau sorgt dafür, daß das ganze Jahr
ber 24 Rodwägen in Schongau bereitstehen.
4. Die den Kaufleuten auf der Rod entstehenden Schäden
at der Rat von Schongau zu ersetzen, falls die Rodleute die-
elben nicht gut tun können.
5. Die Kaufleute haben den bedungenen Rodlohn in Schongau
ofort nach Verladung der Güter bar zu erlegen').
In Tirol begannen die neuerlichen Irrungen zwischen den Kauf-
suten und den Rodleuten im Jahre 1541 mit Beschwerden der
fühlbacher über einige Mängel der von der Innsbrucker Regierung
m selben Jahre errichteten Rodordnung für Mühlbach. In dieser
euen Rodordnung von Mühlbach vom Jahr 1541 war nämlich
rotz des im Jahre 1535 gegebenen Abschiedes von denjenigen
rütern, welche mit Eigenachswagen von Schongau, Füssen u. 8. w.
sch Mühlbach kamen und daselbst den Rodleuten aufgegeben
rurden, ein niedrigeres Niederlagsgeld gefordert als von den
us dem Venezianischen kommenden, durchgehenden Terviswagen
nd sodann waren die aus Kärnten kommenden Güter vom
liederlaggeld ganz freigelassen, bezw. bloß mit dem 3 kr. be-
ragenden Pallhausgeld beschwert worden, wofern sie in Mühl-
ach niedergelegt wurden. Nachdem die Innsbrucker Regierung
ehufs Prüfung der Stichhaltigkeit der beiden Beschwerden der
[ühlbacher Rodleute die Berichte der Pfleger, bezw. Landrichter
1) Augsb. Handelsvereins-Archiv Fase. LXXXX. Nr. 119.
568 Johannes Müller
der benachbarten Rodorte Toblach, Bruneck, Sterzing, Matrei
über die Höhe des Niederlagsgeldes für die schwäbischen Eigen-
achsgüter und die Kärntner Güter eingefordert hatte, entschied
sie Dez. 1541, daß die ersteren dasselbe Niederlagsgeld, nän-
lich 20 kr., wie die sogen. Terviswagen und alle trockenen
Güter aus Kärnten, mit Ausnahme von Getreide, Wein, Eisen
und Salz, Niederlagsgeld in Mühlbach zu zahlen hätten).
Zu weiteren Zwistigkeiten zwischen den Kaufleuten und den
Fuhrleuten in Tirol kam es in den Jahren 1545 bis 1547 infolge
der Forderung der Sterzinger und Toblacher Rodleute, ihren
Lohn zu erhöhen. Die Kaufleute glaubten zur Abweisung
dieser Forderungen um so mehr berechtigt zu sein, als sie
ihrerseits nicht geringe Klagen über saumselige Fertigung
der Güter trotz genügenden Lohnes, trotz hohen Niederlags-
geldes, besonderen Geleitsgeldes und bedeutender Zollabgaben
in Toblach und über ungenügende Pallhäuser gerade an diesen
beiden Rodorten vorzubringen hatten. Durch den am 15. Juli
1545 zu Innsbruck erlassenen Rodtagabschied der Tiroler Be-
gierung wurden die Rodleute mit ihrem Verlangen abgewiesen,
ihnen aber doch die Aussicht eröffnet, daß, wo in ein oder zwei
Jahren die zur Zeit bestehende Teuerung sich nicht zum Besseren
wende, ihren Beschwerden durch eine neue königliche Kommission
abgeholfen werden sollte”). Ermuntert durch diesen Sichtwechsel,
petitionierten die Sterzinger und Toblacher schon im Frühjahr
1546 um eine Rodlohnbesserung, worauf die Innsbrucker Re-
gierung eine Rodtagfahrt auf den 31. Mai 1546 nach Innsbruck
ausschrieb. Die Augsburger Kaufleute erklärten jedoch in einer
Zuschrift an die Innsbrucker Regierung vom 21. Mai 1546, das
sie keinen Anlaß hätten, die von der k. Statthalterschaft ar-
gesetzte Tagfahrt zu beschicken, und so unterblieb denn der an-
beraumte Rodtag. Als nun die Statthalterschaft von Tirol im
September 1547 noch einmal einen Versuch machte, die Augr
burger Kaufleute zur Nachgiebigkeit gegen die Forderungen der
1) Vgl. hierzu die Rodwesenakten des Innsbrucker Statthaltereiarchirs
Abt. Pestarchiv IX. Nr. 11.
2) Rodtagabschied vom 15. Juli 1545, dat. Innsbruck. Augsb. Handelr
vereins-Archiv Fasc. LXXXX. Nr. 88.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 569
Sterzinger und Toblacher zu bewegen, wiesen dieselben in ihrem
am 6. Oktober 1547 an die Tiroler Regierung gerichteten Schreiben
erstens darauf hin, daß durch eine neue Rodlohnerhöhung der
Güterverkehr durch Tirol, der nach den Zollausweisen der unteren
Straße seit 1530 nur noch halb so groß sei wie vor 1530, nur
noch mehr verringert werden würde, und daß sie, nachdem ihnen
der Transport auf anderen Straßen als auf denen durch Tirol
schon jetzt per Saum um 1 fl. billiger komme, bei abermaliger
Steigerung des Rodlohns andere Straßen zu gebrauchen gezwungen
seien. Diese Vorstellungen bewirkten, daß die Rodleute von
Sterzing und Toblach sich zunächst mit den anno 1530 bewilligten
Löhnen zufrieden gaben !).
Kaum waren die Sterzinger und die Toblacher mit ihren
Forderungen abgewiesen, so begannen zwei andere Rodorte der
unteren Straße, nämlich Innsbruck und Matrei, um Erhöhung des
Rodlohns nachzusuchen. Doch fanden von diesen Gemeinden nur
die Innsbrucker mit ihrem Gesuche im Jahre 1553 und schließlich
die Imster im Jahre 1555 bei ihrer Landesregierung Gehör, indem
denselben der Lohn nach Mittenwald pro Saum um 3 kr. 3 Vierer
gebessert wurde. Eine bedeutendere Änderung in den Rodlohn-
verhältnissen der Tiroler Fuhrleute trat erst in den Jahren 1558 und
1560 auf den Rodtagen von Imst und Innsbruck ein, indem damals
nach Abstellung verschiedener Beschwerden der Kaufleute über
Zollbelästigungen und Mängel der beiden Rodstraßen (geringhaltige
Wage zu Prutz, schlechtes Pallhaus zu Lätsch und am Lueg,
gefährliche Brücke zu Neumarkt etc.) von den Kaufleuten den
Rodleuten von Glurns, Nauders, Sterzing, Lueg und Haiden der
Lohn um 1 bis l'/s kr. pro Zentner aufgebessert wurde”).
Mit ungleich größeren Schwierigkeiten als in Tirol hatten zu
1) Vgl. hierzu die Nr. 92 bis 101 des Fasc. LXXXX. der Rodwesenakten
des Augsb. Handelsvereins-Archivs. Der hier behauptete Rückgang des Güter-
rerkehrs über den Brenner im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts dürfte viel-
leicht mit dem von 1541 bis 1547 vorgenommenen Umbau der Fernstraße in Ver-
yindung stehen (s. BIEDERMANN, Verkehrsgeschichte des Arlberges), der selbst-
rerständlich eine Zunahme des Wagenverkehrs auf der oberen Straße zur
Folge hatte.
2) Vgl. hierzu Nr. 199, Fasc. LXXXX. der Rodwesenakten des Augsb.
Handelsvereins-Archivs.
570 Johannes Müller
jener Zeit die Kaufleute bei dem Transport ihrer Güter durch
Bayern zu kämpfen. Trotz der Bestimmungen des Rezesses vom
28. März 1549, worin den Schongauer Rodleuten das Halten
von 24 Rodwägen und die ungesäumte Fertigung der nach
Schongau gebrachten Güter von dort nach Augsburg vorgeschrieben
war, herrschte in Schongau ein beständiger Wagenmangel, während
in Mittenwald Schuster und Schneider, die weder Pferde noch
Ochsen besaßen und an den Gütern nur ihre Finanz suchten,
in die Rod eingeschrieben waren. Des weiteren übten die
Schongauer den Brauch, die ihnen überlieferten Güter fremden
Bauern, besonders Burgauern, Bernbeurern, Roßhauptenern, zur
Weiterbeförderung zu übergeben, welche die Güter nach einigen
Meilen Weges wieder abwarfen und auf der Straße liegen ließen.
Ungeachtet ihrer Gewohnheit, der Rodfuhrpflicht sich möglichst
zu entziehen und dafür Weinfuhren aus Südtirol zu übernehmen,
hielten die Schongauer mit aller Strenge darauf, daß ihre Nieder-
lage weder über Kaufbeuren noch über Weilheim umfabren
wurde, damit ihnen das Niederlagsgeld von den Kaufmannsgüten
nicht entging. Endlich hatten die Partenkirchener die Leoisach-
brücke ganz verfallen und den Hohlweg zwischen Partenkirchen
und dem Kienberg in einen solch schlechten Zustand geraten
lassen, daß die Güter beim Durchfahren dieser Passagen auf
ärgste beschädigt wurden').
Die Schongauer beschwerten sich in dem von ihnen erstatteten
Gegenbericht vom Jahre 1552 zunächst darüber, daß die Kauf-
leute je länger, je mehr die Niederlage zu Schongau zu umfabre
pflegten, indem sie ihre Güter fremden Fuhrleuten andingten.
Sodann erklärten sie, daß die in dem Rezeß vom Jahre 1549
enthaltene Vorschrift, eine bestimmte Anzahl von Rodwägen n
halten, aus den alten Rodordnungen nicht zu erweisen sei, dad
übrigens infolge der Gewohnheit der Augsburger Kaufleute, ihre
Güter durch fremde Bauern, besonders Bernbeurer, Burgauer etc.
fertigen zu lassen, ein Dutzend Rodleute in Schongau mit dem
Transport von Rodgütern ihre Nahrung nicht finden würde.
Wenn sie die Güter an benachbarte Bauern zum Weitertranspof
1) Vergl. Supplikation der Augsburgischen Kaufleute etc. v. Jahre 1588
Nr. 185 Fasc. LXXXX. des Augsb. Handelsvereins-Archivs.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 571
zu überlassen pflegten, so habe das darin seinen Grund, daß die
Faktoren der Kaufleute, um die in Schongau aufgehäuften Ballen
rascher auf Märkte und Messen zu bringen, sie zu einem solchen
Verfahren selbst gedrängt hätten. Im übrigen könnten sie in
Anbetracht der Steigerung des Preises aller zum Fuhrwerk nötigen
Dinge die Rodfuhren um den jetzigen Lohn nicht mehr aus-
führen ').
Zur Beilegung der Irrungen beschied die bayerische Regierung
beide Parteien im März 1552 nach Schongau und gab denselben
am 18. März folgenden Abschied: 1. Der Lohn der Schongauer
Fuhrleute, die die Kaufmannsgüter von Schongau nach Füssen
oder Ammergau befördern, wird von 6 kr. auf 6'/: kr. per
Zentner erhöht, doch ist den Rodleuten künftig nicht mehr ge-
stattet, die Güter beim Sammeister oder in Echelsbach abzu-
werfen. 2. Da die Rodleute die Bedingung, daß der Lohn zur
Hälfte in Schongau, zur Hälfte in Füssen oder in Ammergau
bezahlt werden solle, nicht angenommen, so hat der Rat von
Schongau selbst für die Fertigung der Güter zu sorgen und
zwar nach Inhalt des jüngst erlassenen Rezesses, d. h. gegen
bare Erlegung des Lohnes nach Verladung der Güter zu Schon-
gau‘). Ein Jahr, nachdem den Schongauern die oben erwähnte
Lohnerhöhung bewilligt worden war, erhielten auch die Mitten-
walder von dem Bischof Leo von Freising eine Besserung des
Lohnes für die Fahrt von Mittenwald nach Zirl zugebilligt, indem
ihnen von ihrem Landesherrn erlaubt wurde, von einem Saum
(4 Zentner) statt 20 kr. 31 kr., d. h. so viel wie die Innsbrucker
Fuhrleute von Zirl nach Mittenwald, als Lohn zu nehmen).
Trotz dieser Lohnerhöhungen hatten die Kaufleute bald wieder
darüber zu klagen, daß die Schongauer den aufgerichteten Ver-
trägen nicht nachkämen; sie richteten deshalb im Jahr 1553 an
Herzog Albrecht V. die Bitte, ihnen zu gestatten, daß sie fortan
1) Gegenbericht der Schongauer auf der Kaufleute Supplikation vom
Jahre 1552. Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX. Nr. 131.
2) RezeB vom 18. März 1552, Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX.
Nr. 189.
8) Schreiben des Bischofs Leo von Freising an die Mittenwalder vom
10. März 1658. Fasc. 87 der Werdenfelser Akten des Münchener Kreisarchivs..
572 Johannes Müller
nicht allein auf Schongau sondern auch auf Weilheim und
andere Orte in Bayern gegen Bezahlung der gewöhnlichen Zölle
ihre Güter führen dürften. Als besonderen Grund für diese
Neuerung führten die Kaufleute die Tatsache an, daß infolge
der ungenügenden Fertigung der Güter zu Schongau der nieder-
ländische Warenzug schon seit einigen Jahren von der Augsburg-
Schongauer Straße abgewichen und die Richtung über Kempten
und Füssen eingeschlagen habe, wodurch die Zoll- und Maut-
einnahmen des Herzogtums Bayern bedeutend geschmälert würden.
Würde den von den Niederlanden nach Italien handelnden Kanf-
leuten die Straße über Weilheim zu fahren erlaubt, so würde,
da die Weilheimer und Murnauer viel besser mit Pferden ver-
sehen seien als die Schongauer, der niederländische Warenzug
bald wieder nach Bayern gelenkt werden’). Diese Vorstellungen
bewirkten, daß den Kaufleuten durch einen vom 12. August 1553
erlassenen Spruchbrief der bayerischen Regierung für den dies
‚jährigen Ägidimarkt zu Bozen die Führung der Güter auf Weil
heim und Murnau gestattet wurde; doch sollten beide Parteien
durch Kundschaftbriefe und Zeugen ihre Notdurft weiter vor-
bringen *).
Nachdem hierauf die Schongauer am 18. September 155
von dem Schongauer Wagmeister Aug. Widmann und dem Aug*
burger Faktor Hans Megenhard Zeugnisse beigebracht hatten,
daß an dem von den Kaufleuten gerügten Abladen nicht sie,
die Rodfuhrleute, sondern lediglich die Kriegsläufte und die
Faktoren der Kaufleute mit dem langsamen Schicken und ur
zeitigen Ansagen selbst schuld seien°), erließ die herzogliche
Regierung am 6. Oktober 1553 folgenden Abschied: a) Den Kauf-
leuten bleibt es unbenommen, auf einem weiteren Rodtag die von
ihnen aufgestellte Behauptung zu beweisen, daß die Schongauer
Rodleute ihre Güter nicht fertigten. b) Mittlerweile sollen die
Schongauer die Kaufmannsgüter gemäß den Bestimmungen de
Rodvertrages vom Jahr 1542 und der darauf fußenden Rezess
1) Articul, auß was ursachen die straß auf Weilhaim und Murnau «
‚öffnet werden soll. Nr.1, Fasc. LXXXX. des Augsb. Handelsvereins-Ardit.
2) Lorı, Geschichte des Lechrains, II. Nr. 317.
8) Nr. 145 und 148 des Fasc. LXXXX. des Augsb. Handelsvereins-Arcbin
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 573
fertigen, sich dabei vor allem des Abladens der Güter auf der
Strecke enthalten, auch dann, wenn die Faktoren ihnen anderes zu-
muten sollten. c) Die Schongauer sollen die an den Rossen zweier
Fuhrleute von Murnau, des Balth. Fritz und des Paul Deber, vor-
genommenen Pfändungen bis zum Austrag der Sachen aufheben’).
d) Die Kaufleute sollen ihren Anspruch auf Eröffnung der Weil-
heimer Straße, die Schongauer ihre gegenteiligen Ansprüche auf
Durchführung aller von Augsburg nach Italien gehenden Güter
durch Schongau in Schriften beweislich dartun, wonach Herzog
Albrecht V. weitere Erkenntnis und Verordnung tun werde?).
Auf zwei Tagfahrten zu München, am 10. Juli 1554 und am
6. Juli 1555, wurde über die Forderung der Kaufleute, ihnen
die Straße über Weilheim frei zu geben, von den Räten des
Herzogs Albrecht V. zu München verhandelt, nachdem im März 1554
zu Füssen, zu Schongau und zu Murnau auf Befehl des Herzogs
die von den Augsburger Kaufleuten benannten 22 Zeugen aus der
Umgegend von Schongau (4 Echelsbacher Bauern, 7 Füssener
Burger, 2 Soyener, 2 Saulgruber, 3 Roßhauptener Bauern, ein Anker-
walder, ein Sammeister und ein Bernbeurer, ein Forsthöfer) darüber
vernommen worden waren, ob der mehrere Teil der Güter der
Kaufleute seitens der Schongauer zu Echelsbach, am Sammeister
zu Burgau und zu Roßhaupten abgeworfen worden sei’). Da
die Zeugenaussagen nahezu einstimmig dahin lauteten, daß sowohl
zu Echelsbach als auch am Sammeister in Burgau und in Rof-
haupten die Güter von den Schongauern in früheren Jahren ab-
geladen worden und von den Ammergauern bezw. den Burgauern,
Bernbeurern und Roßhauptenern weitergeführt worden seien,
daß aber nach dem jüngst erlassenen Rezeß vom Jahre 1553
1) Den beiden Fuhrleuten war von den Schongauern, als sie im Jahre
1553 nach dem Ägidimarkt 11 Wagen mit Kaufmannsgütern über Weilheim
und Murnau fuhren, je ein Pferd gepfändet worden. Vgl. die Schongauer
und Ammergauer Erzählung aller eingebrachten Handlungen und Petitionen
gegen die Augsburger Kaufleute. Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX.
Nr. 159.
2) Lori, Geschichte des Lechrains, II. Nr. 319.
3) Der Augsburgischen in das Gebürg handtierenden Kaufleut Zeugen-
sagen contra Burgermeister und Rat zu Schongau. März 1554. Nr. 161
des Fasc. LXXXX. Augsb. Handelsvereins-Archiv.
574 Johannes Müller
ihres Wissens ein solches Abwerfen nicht mehr oder ganz aus
nahmsweise vorgekommen sei, so stellte die herzogliche Regierung
zwischen den streitenden Parteien am 6. Juli 1555 den Frieden
dadurch her, daß sie den Schongauern das seit alter Zeit ver-
briefte Niederlagsrecht wahrte, ihnen aber auch das Abwerfen
der Güter an den Zwischenstationen zwischen Schongau und
Ammergau bezw. Füssen strengstens untersagte!). Die Folge
dieser Entscheidung war eine abermalige Lohnsteigerung seitens
der Schongauer und Ammergauer Rodleute in den Jahren 1555
und 1556, indem den ersteren auf ihre Bitte von Schongau nach
Ammergau oder Füssen pro Zentner 7 kr. (bisher 6!/: kr.), den
Ammergauern von Ammergau nach Schongau 6 kr. 3 (bir
her 5/a kr.), von Ammergau nach Partenkirchen 3'!/s kr. (bisher
3 kr.) Rodlohn bewilligt wurden ?).
Doch sollte mit dieser Lohnbesserung vom Jahre 1556, die
zeitlich mit der Steigerung der Löhne der Tiroler Fuhrleute um
die Mitte des 16. Jahrhunderts zusammenfällt, eine ganze
Reihe von Lohnbesserungen im Bayerischen eröffnet werden.
Denn schon 1560 und 1562 erfuhren die Löhne der Schongauer
und Partenkircher, sodann 1566 die Löhne sowohl der Rodlestt
wie der Floßleute zu Schongau neue Steigerungen, so daß im
letztgenannten Jahre die Schongauer pro Zentner nach Augsburg
11 kr., nach Ammergau und Füssen 9 kr., die Flößer für ein
Rodgut nach Augsburg 2 fl. 20 kr. Lohn erhielten?). Und
dabei konnten die Kaufleute nur bei günstiger Witterung auf
bestimmte Beförderung ihrer Güter rechnen; denn bei schlechten
1) Nach einer Bittschrift der Augsburger Kaufleute vom Jahre 158
(Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX. Nr. 188) gestattete Herz
Albrecht V. denselben im Jahre 1558 die Straße über Weilheim 14 Tag
lang, d. h. während des Bozener Ägidimarktes. Nach dieser Bittschrift wir
der bayr. Rezeß übrigens erst am 21. Mai 1558 gegeben worden. Die Kad-
leute, die von Augsburg über Friedberg nach Weilheim fahren sollten, suchis
darum nach, auch über Landsberg nach Weilheim fahren zu dürfen.
2) Schreiben der Augsburger Kaufleute vom 11. Juni 1557 an den Münchze
Hofprokurator Sylvester Koch, Augsb. Handelsvereins-Archiv Nr. 173.
3) Vertrag zwischen der Stadt Schongau und den Augsburgischen Ka
leuten vom 9. Febr. 1566. Lori, II. Nr. 352.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 575
Wegen verlangten die Schongauer statt 11 kr. 12 kr. und statt
9 kr. 10 kr. Fuhrlohn pro Zentner'). Die Aufwärtsbewegung
des Rodlohnes in den sechziger Jahren war übrigens keine Er-
scheinung, die sich bloß auf Bayern erstreckte, sondern läßt sich
um jene Zeit auch in Tirol und im Venezianischen nachweisen.
In dem letzterwähnten Gebiet befand sich die Rod zu Anfang
der sechziger Jahre in einem so verwahrlosten Zustand, daß auf
die Herausschaffung der Kaufmannsgüter, die früher innerhalb
sechs Wochen von Venedig nach Augsburg gefertigt worden
waren, infolge der Verwahrlosung im Venezianischen nunmehr
oft 16 Wochen daraufgingen. Dieser Mißstand veranlaßte die
Kaufleute Augsburgs im September 1562 einen eigenen Gewalt-
haber nach Venedig zu senden, der die Abstellung der Rod-
mängel bei der Signoria zu betreiben hatte?). Die deutschen
Kaufleute zu Venedig schlossen hierauf im Oktober 1562 durch
ihren Vertreter Burkhard mit den Rodorten der Bezirke Pieve
di Cadore (Valle, Pieve, Venas und St. Vito), Belluno, Serravalle,
Conegliano und Treviso neue Verträge ab, laut welchen den
meisten dieser Gemeinden höhere Rodlöhne als bisher, z. B. den
Rodieuten von St. Vito 1!/s kr. Besserung, den Rodleuten von
Valle 4 kr. Besserung, den Rodleuten von Termine ebenfalls
4 kr. Besserung pro Zentner bewilligt wurde”).
Da an der Verzögerung des Transportes nicht nur die Saum-
1) Nach einem Schreiben J. Greiners an einen Schongauer im Jahre 1562
erklärten die Schongauer, daß sie die Güter um den Lohn von 12 Kr. pro
Zentner nach Augsburg nur bei gutem Weg führen wollten. Sie begründeten
ihre neue Forderung mit der außerordentliehen Preissteigerung alles dessen,
was zum Fuhrwerk notwendig sei. So müsse man für ein Roß, das vor
etlichen Jahren noch 14 bis 16 fl. gekostet, jetzt 20 bis 24 fl. bezahlen.
Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX. Nr. 208.
2) Gemeiner Kaufleut allhie, so gen Venedig handeln, Supplikation an
den Rat von Augsburg, die Aufhebung der Rod im Venediger Land betreffend.
Sept. 1562. Augeb. Stadt-Archiv.
8) Rotuli della Pieve di Cadore con hi Communi sopra posti & quella,
delli Communi de Cividat de Belluno, de Conegliano, de Serravalle et Treviso,
neli qualli sono descritti li carradori, che hanno & condur le mercantie de
mercadanti del Fontego di Todeschi per li pretii limitati dalli clarissimi
Signori cinque savii sopra la mercantia. Augsb. Handelsvereins-Archiv.
676 Johannes Müller
seligkeit der Rodleute sondern auch die Gewohnheit der Gut-
‚fertiger, eine möglichst große Zahl von Ballen zu einer Condutta
zusammenkommen zu lassen, schuld war, so erwirkte die Augs-
burger Kaufmannschaft bei dem Rat ihrer Vaterstadt vom 17. Febr.
1564 ein Dekret, wonach den Gutfertigern die Zusammenstellung
einer Condutta von mehr als 27 Wägen oder 3 Rodgütern ver-
boten war. Zur Entschädigung für den den Gutfertigern hiedurch
erwachsenden Ausfall an ihren Einnahmen wurde in demselben
Ratsdekret angeordnet, daß den Gutfertigern künftig die Hälfte
des Fuhrlohns am Abfahrtsort (Augsburg oder Venedig), die
andere Hälfte am Brenner ausbezahlt werden sollte’). Zwei
Jahre nach Erlaß des Ratsdekretes, welches dem eigenmächtigen
Verfahren der Ballenführer einige Schranken setzte, kamen die
Augsburger Kaufleute mit den sogen. Stoßern auf dem Bach,
d. h. den Flößern, welche die Güter von der Lechlände auf dem
Lechkanal zur Stadt beförderten, über den Lohn dieser Hilfs
organe des damaligen Transportgewerbes überein. Die Stoßer
erhielten nach dem am 27. Sept. 1566 abgeschlossenen Vertrag für
den Transport eines Ballens von der unteren Lände, d.h. vom Hoch-
ablaß, bis zur Stadt 6 kr., für das Herbeischaffen eines Ballens da-
gegen von der oberen Lände, d. h. von Haunstetten her, 10 kr. Lohn,
wobei ihnen noch, wenn sie die Ballen sogleich bis zur Fron-
wage brachten, 1 kr. Sondervergütung für jeden Ballen zu-
gesagt wurde”). Im Juni desselben Jahres endlich wurde auf
Verlangen der Kaufleute der seit einigen Jahren nicht mehr ein
geforderte Rotetor-Zoll, wonach von jedem von Venedig kommen-
den und nach Venedig gehenden Zentner Guts 1 £ bezahlt
werden mußte, vom Augsburger Rat wieder in Kraft gesetzt und
so der gemeinen Büchse der Kaufleute, die damals durch Bot
1) Beschwerde der nach Venedig handelnden Augsburger Kaufleute übe
die Ballenführer wegen Annahme zu großer Conduttas, oft 70 bis 80 Wägen,
von Venedig heraus. Febr. 1564. Ratsdekret, betreffend die Größe der
Conduttas der Ballenführer und des Auszahlungsmodus derselben. 17. Fehr.
1564. Augsb. Stadtbibliothek. Handschriftensammlung: De rebus mercantii-
bus Augustanis.
2) Vertrag zwischen den Augsb. Kaufleuten und den Stoßern auf des
Lech vom 27. Sept. 1566. Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXS
Nr. 265.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 577
schaften nach München, Innsbruck und Venedig nicht wenig in
Anspruch genommen wurde, neue Einnahmen zugeführt ').
Wie in Bayern und im Venezianischen so erfuhren auch in
Tirol die Rodlöhne um die Mitte der sechziger Jahre des 16. Jahr-
hunderts an einer großen Anzahl von Rodorten der beiden Straßen,
so in Innsbruck, am Brenner, in Mühlbach, in Bruneck, Lermoos,
Nassereit, Telfs, Terlan, eine Steigerung, die jedoch gegenüber
den damals erfolgenden bedeutenden Rodlohnerhöhungen in Bayern
und im Venediger Gebiet als eine mäßige bezeichnet werden
muß?). Eine allgemeine Lohnerhöhung in Verbindung mit einer
Ergänzung der seit 1530 nicht mehr geänderten Rodordnungen
Tirols sollte erst zu Beginn der siebziger Jahre vorgenommen
werden. Fast zu gleicher Zeit erfuhr auch das bayerische Rod-
wesen wesentliche Umgestaltungen, die erst mit dem Jahre 1611
zu einem gewissen Abschluss kommen sollten.
III. Die Reformen im Rodwesen Bayerns und Tirols
von 1572—1612.
1. Die Tiroler Rodordnungen vom Jahr 1572 und
die bayerischen Rodverträge von 1571—1575.
In dem Zeitraum von 1535—1572, in dem eine wesentliche
Änderung in den Einrichtungen des Rodwesens Bayerns und
Tirols nicht erfolgt war, dagegen der Rodlohn, wenn auch mäßig,
so doch ununterbrochen gesteigert worden war, hatten sich die
Beschwerden der Kaufleute einerseits über eigenmächtige Lohn-
erhöhungen der Rodleute, anderseits über schlecht gehaltene
Wege, Brücken und Pallhäuser allmählich so angehäuft, daß die
Regierung Tirols schließlich nicht umhin konnte, den Klagen des
Handelsstandes durch eine durchgreifende Reform des Tiroler
Rodwesens abzuhelfen und zugleich dem Verlangen der Rodleute
1) Supplik der Augsb. Kaufleute an den Rat wegen Erneuerung des
seit zwei Jahren eingegangenen 1 $-Zolles am Roten Tor. 15. Juni 1566.
Handschriftensammlung der Augsb. Stadtbibliothek (Collectio Herbstiana).
2) Vgl. über die Rodlohnerhöhungen der genannten Orte im Jahre 1566
die Nr. 316, 27, 219, 223, 224, 226, 229, 280, 231, 233, 235, 236, 237 des
Fasc. LXXXX., sodann betreffs des Jahres 1566 die Nummern 246, 247,
258, 256, 257 desselben Fasc. des Augsb. Handelsvereins-Archivs.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 88
578 Johannes Müller
nach einer ausgiebigen Erhöhung des Rodlohns entgegenzukomna.
Die Regelung der Rodlohnverhältnisse war zwar in dem die
Visitation und Reformation der Rodstätten Tirols anordnenda
Kommissionsauftrag des Erzherzogs Ferdinand an die fürstliches
Räte Dionys von Rost zu Aufhofen und Wolfg. Kalmünzer von
Kalmünz nicht erwähnt; aber die ziemlich hochgespannten For-
derungen der Tiroler Rodleute und der starke Nachdruck, den
die fürstlichen Kommissäre bei den Verhandlungen im Jahr 1572
auf die Erledigung dieses Punktes legten, sorgten dafür, daß die
Rodlohnfrage den Kernpunkt der Reformation des Tiroler Rod-
wesens im Jahr 1572 bildete).
Die Visitation der Tiroler Rodstätten wurde von den beiden
Kommissären, dem Schongauer Pfleger Kalmünzer und dem Fen-
steiner Zoller Tannheimer, der an Stelle des verhinderten Hem
von Rost in letzter Stunde zur Bereisung wenigstens der obere
Straße abgeordnet worden war, im Beisein zweier Abgeordneten
der Augsburger Kaufmannschaft, Marx Herzel und Dr. G. Christ.
Gering, sowie zweier Vertreter der Gutfertiger, des O. Kleinhanns
und Raymund Dorn, endlich des Tiroler Wegbereiters Silvester
Lindacher in der Weise vorgenommen, daß die drei genannten
Tiroler Beamten an jedem Rodort in Gegenwart der Rodleute
jedesmal zuerst die von den vier Abgesandten der Kaufleute und
Gutfertiger vorgebrachten Beschwerden des Handelsstandes,
hierauf die Beschwerden und Forderungen der Rodleute um Rod-
lohnerhöhung anhörten. Ließ sich eine Einigung zwischen den
Abgesandten der Kaufleute und Gutfertiger einerseits, den Rod-
leuten eines Ortes anderseits erzielen, so gaben die Kommissäre
jedesmal sofort mündlich den Entscheid, dem Kaufleute bezw.
Gutfertiger und Rodleute nachzukommen angelobten. War ds
gegen zwischen den beiden Parteien eine Einigung im ganze
oder über einzelne besonders kitzliche Punkte, wie über We-
1) Vgl. für das Folgende: Summarisches Verzaichnuß der Commission
Handlung und der darüber von den Commissarien gegebenen ungeferlichen
mündlichen Abschidt betreff. die Visitation und Reformation der Rodsteti
auff der Obern und Untern Strassen in der Grafschaft Tyol im Jar 15%
XVI. 3, sodann Rodordnünyen in Tyroll, anno 1572 alda aufgericht, XVL à
Augsb. Handelsvereins-Archiv.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 579
und Pallhausbauten, nicht herzustellen, so wurden diese Diffe-
renzen ad cameram remittiert, um dann, wenn sie daselbst ent-
schieden waren, dem endgültigen Abschied einverleibt zu
werden.
Die Kommission begann ihre Visitation am 27. April 1572
mit dem Rodort Reutte, brauchte zur Bereisung der Rodorte der
oberen Straße von Reutte bis Grigno im Valsugana 3'/. Wochen,
nämlich von dem genannten Tag bis zum 21. Mai, zur Bereisung
der unteren Straße von Haiden (Cortina) bis Telfs etwa 2 Wochen,
vom 24. Mai bis 7. Juni, zur ganzen Kommissionshandlung in-
klusive der Reise von Grigno nach Cortina, also sechs Wochen,
eine Zeit, in der sich alle Streitpunkte, wie man denken sollte,
gründlich erörtern und auch endgültig entscheiden hätten lassen
können. Und doch fand es die Kommission für notwendig, die
strittigen Punkte von vierzehn Rodstätten, acht der oberen und
sechs der unteren Straße, ad referendum camerae zu nehmen.
Merkwürdigerweise waren unter diesen der Entscheidung der
Innsbrucker Kammer anheimgestellten Streitpunkten keine solche
über Lohndifferenzen. Die Fuhrleute der meisten Rodorte, die
selbstverständlich von dem Grundsatz durchdrungen waren, daß
sie nur dann zu etwas kämen, wenn sie möglichst viel bean-
spruchten, forderten Lohnerhöhungen, die meist ein Drittel, wenn
nicht gar die Hälfte des bisherigen Lohnes betrugen, erhielten
aber von den Kommissären, mit Ausnahme der Rodleute von
Neumarkt und Lermoos, die sowohl nach Terlan wie nach
Trient einen unverhältnismäßig weiten Weg, nämlich 4 Meilen,
zu fahren hatten, durchschnittlich kaum ein Sechstel des bisherigen
Lohnes als Besserung. Im ganzen werden die Rodleute mit den
anno 1572 erhaltenen Rodlohnerhöhungen zufrieden gewesen sein,
da sie nahezu zwanzig Jahre hindurch die Kaufleute mit neuen
Lohnsteigerungen im Frieden ließen.
Zur Entschädigung für diese bedeutende Mehrung der Trans-
portkosten durch Tirol wurden sämtliche Rodordnungen im Jahre
1572 einer Revision unterzogen und die Sorge um die Vollziehung
und genaue Beachtung der revidierten Ordnungen seitens der
Rodleute den Pflegern und Richtern der einzelnen Rodorte auf-
getragen. Die im Oktober 1572 von der Innsbrucker Regierung
580 Johannes Müller
ratifizierten neun Artikel der revidierten Rodordnungen enthielten
folgende Bestimmungen:
1. Auftrag an die Obrigkeiten der Rodorte zur Handhabung
der anno 1530 aufgerichteten Rodordnungen, die bei
ihren Würden und Kräften bleiben sollten.
2. Befehl an die Obrigkeiten zur Bestrafung derjenigen,
die an den Rodstätten oder sonst aus den Säcken
Wolle entwendeten.
3. Befehl an die Obrigkeiten zur unnachsichtlichen Be-
strafung dergegen dieRodordnungen sich verfehlen-
den Fuhrleute.
4. Auftrag an die Obrigkeiten zur Anfertigung vidimierter
Abschriften der Rodordnungen und Aushändigung
dieser Kopien an die Kaufleute und Gutfertiger.
5. Vorschriften über die Sauberhaltung und recht-
zeitige Absperrung der Pallhäuser.
6. Vorschriften über die Justierung der im Pallhaus
aufgestellten Wagen und über die Pflichten der von der
Obrigkeit zu bestätigenden Wagmeister und Aufgeber.
7. Festsetzung der Höhe des Rodlohnes.
8. Vorschriften über den Straßen- und Brückenbau
innerhalb jedes Rodbezirkes, soweit derselbe den Rod-
leuten oblag.
9. Ermahnung der Obrigkeiten zu jeder sonstigen dienstlichen
Förderung des Rodwesens innerhalb ihres Ver-
waltungsbezirkes.
Neben diesen neun Artikeln, die sämtlichen Rodordnungen
Tirols damals eingefügt wurden und die als Kennzeichen des
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer stärker hervor-
tretenden Zuges der Zeit gelten können, alle Gebiete des öffent-
lichen Lebens einer einheitlich geregelten Gesetzgebung zu unter
werfen, gingen dann aus den Verhandlungen des Jahres 157?
noch besondere Ergänzungen der Rodordnungen einzelner Rodorte
hervor, die auf die weitere Ausbildung des Rodwesens im Ost
alpengebiet im 16. Jahrhundert charakteristische Streiflichter
werfen. Als Beispiel einer solchen erweiterten Rodordnung st
die Toblacher Ordnung vom 31. Oktober 1572 nach ihrem wesent
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 581
lichen Inhalt hier skizziert'): Von den 15 Artikeln der Rodordnung
des Jahres 1572 stimmten 10, nämlich die Artikel 1, 2, 6, 7, 8, 12,
9, 10, 11, 15 mit den Artikeln 1, 2, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 12, 13 in
der Ordnung vom Jahre 1530 der hier aufgeführten Reihenfolge
paarweise überein. Im 3. Artikel dagegen, in dem die Fahr-
zeit und die Pflicht der Fuhrleute, die Güter im Falıren
nicht zu beschädigen, ausgesprochen ist, sowie in dem dem
4. Artikel der Ordnung vom Jahre 1530 entsprechenden 5. Artikel
der Ordnung des Jahres 1572 enthält die über die Numerierung
der Ballen durch die Kaufleute viel detailliertere Bestimmungen
als die vom Jahr 1530. So weist Artikel 3 vor allem eine Be-
stimmung über die Erlaubnis des Abwechselns zwischen Tob-
lach und Bruneck im Falle der Begegnung eines Toblacher und
Brunecker Fuhrmanns auf dieser Strecke auf. Der 5. Artikel der
ergänzten Rodordnung brachte eine Bestimmung über das bei
einer Wagenladung zulässige Gewicht, das 24 Zentner nicht
überschreiten sollte. In dem inhaltlich im ganzen überein-
stimmenden 10. Artikel der beiden Rodordnungen bestand der
Unterschied, daß nach der älteren Rodordnung das Pallhausgeld
dem Aufgeber von den Fuhrleuten, nach der. neuen Ordnung
das mit dem Namen Ansaggeld bezeichnete Pallhausgeld, das
übrigens pro Wagen um 3 Vierer gegenüber dem alten Pallhaus-
geld erhöht war, von den Kaufleuten bezahlt werden mußte.
Die Artikel 13 und 14 der neuen Rodordnung, jener über das
Balınmachen bei Schneefall, dieser über den Ersatz verarmter
oder sonst in Abfall gekommener Rodleute durch andere haus-
gesessene Toblacher Bauern handelnd, brachten ganz neue Be-
stimmungen gegenüber der alten Rodordnung herein, die bloß
in dem 11. Artikel, Hüterlohn für die im Freien lagernden Güter
betreffend, ein von den gewöhnlichen Rodordnungsartikeln ab-
weichendes Regulativ enthielt.
Schon ein Jahr vor diesen Änderungen im Tiroler Rodwesen
hatte Erzherzog Ferdinand, besonders auf die Klagen Nürnberger
Kaufleute hin, die die Straße durch das Rheintal nach Mailand
benützten, an den Grafen Jak. Hannibal von Ems, Amtmann
1) Siehe den Wortlaut der Toblacher Rodordnung in Beilage VII.
582 Johannes Müller
zu Feldkirch und Landschreiber zu Bregenz, ein Mandat ergehen
lassen, durch welches derselbe zur Abstellung der Beschwerden
aufgefordert wurde, die die Kaufleute teils durch die Rodlobn-
steigerung der Fuhrleute zu Höchst teils durch die Aufhaltung
der Güter zu Füssach am Bodensee sowie durch die Zollplacke-
reien in den beiden genannten Orten seitens des Zollers und
dessen Gegenschreibers zu erdulden hatten. Die von der Inns-
brucker Regierung hierin getroffenen Anordnungen, die Zurecht-
weisung der eigenmächtig handelnden Rodleute und der ihre Be-
fugnisse überschreitenden Zollbeamten, sind ohne Zweifel als
ein Glied in der Kette der gesamten Reformmaßregeln im Tiroler
Rodwesen zu betrachten ').
1) Manifest Erzh. Ferdinands von Tirol vom 13. August 1571, sodann
Schreiben desselben Fürsten an die Stadt Augsburg wegen der Straße nach Mai-
land Nr. 329 und 830 des Fasc. LXXXX. des Augsb. Handelsvereins-Archivs. —
Das Transportwesen Tirols, dessen Ordnung die Herrscher Österreichs aus
dem Hause Habsburg sich besonders angelegen sein ließen, galt bei der
deutschen Handelswelt als das bestgeordnete unter den Verkehrsinstituten
des Ostalpengebietes, im Gegensatz zu den italienischen Verkehrseinrichtuugen,
die sich, wohl mit Recht, eines minder guten Rufes erfreuten. In dem von
Bernh. Scheffler und Konsorten am 27. Nov. 1596 erstatteten Gegenbericht
auf das Bedenken der damaligen Roddeputierten vom 19. Sept. 1596 werden
die Verhältnisse im Transportwesen Venetiens und Tirols einander in folgender
bezeichnender Weise gegenübergestellt: Weil es auch in Italia an etlichen
Orten gar keine Rod noch Ordnung hat, daselbst auch kein Lohn gesetzt ist,
damit sich der Fuhrmann ersettigen lassen müßte, so muß derwegen en
jeder Gutfertiger selbst Fleiß fürwenden, wie und wo er nicht allein Fuhr-
leut überkomm und zuweg bring, sondern er muß auch, will er anderst seine
Güter fortbringen, mit dem Fuhrmann bis auf sein Wohlbegnügen des Lohn
halber abkommen ...
Dahingegen aber sind in Teutschland und sonderlich in den Oberöster-
reichischen Landen gar feine, löbliche und gute Ordnungen aufs Papier bracht,
wie denn dieser Orten bei allen Rodstetten und Niderlagen aus den Rod-
briefen zu befinden, welche unsers Erachtens nicht wohl verbessert werden
könnten, dann welcher also in einem oder dem andern wider sollche Rod
ordnung handelt, der hat bei jeder Rodstat seine gebürliche Straf auszustehen.
Deswegen wir nicht sehen noch befinden könnten, aus was Ursachen wir aus
solcher der Oberösterreichischen Landen richtigen, ausführlichen und klaren
Rodordnung abweichen sollten (Beilage 21 zu dem Für- und Anbringe
der Roddeputierten an den Rat von Augsburg, das Rodwesen betreffend.
19. Sept. 1596, Augsb. Stadtarchiv).
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 583
Auch in Bayern kam es am Anfang der siebziger Jahre des
16. Jahrhunderts sowohl über den Rodlohn als auch über andere
Einrichtungen des Rodwesens zu neuen Abmachungen, die zwar
keine solche detaillierten Bestimmungen wie die Reformen des
Tiroler Rodwesens vom Jahre 1572 enthielten, die aber doch
in mancher Hinsicht weitere Beschränkungen des freien Trans-
portes der Kaufmannsgüter auch in Bayern bedeuteten.
Die Rodlohnsteigerung im Bayerischen begann, nachdem sie,
wie oben erwähnt, im Jahre 1566 zum Stillstand gekommen war,
im Sommer des Jahres 1571 mit erhöhten Rodlohnforderungen
der Schongauer und Ammergauer Fuhrleute, die durch Verträge
mit den Augsburger Kaufleuten (Schongauer Vertrag vom 27. August
1571, Ammergauer Vertrag vom 15. Oktober 1571) befriedigt
wurden'). Diesen ersten Lohnerhöhungen vom Jahre 1571,
die für den Zentner 1 kr. betrugen (von Schongau nach Ammer-
gau 10 kr. 1 %$ statt 9 kr. 1 ./, von Ammergau nach Parten-
kirchen sowie von Partenkirchen nach Mittenwald 5 kr. statt
4 kr. pro Zentner), folgten aber bald weitere Lohnerhöhungen
im Jahre 1572, 1573 und 1574 nach, so daß im letztgenannten
Jahre für den Transport eines Zentners von Schongau nach
Ammergau bereits 12 kr., von Partenkirchen nach Mittenwald
6 kr. gegeben wurden’). Auch die Floßleute von Schongau,
die die letzte bedeutende Lohnerhöhung im Jahre 1566 durch-
gesetzt hatten, rührten sich im Jahre 1575 wieder und erlangten
durch einen Vertrag vom März 1575 eine Erhöhung ihres Lohnes
von 2 fl. 20 „$ auf 3 fl. für ein Rodgut*). Den Schongauer Fuhr-
leuten wurde außerdem durch die Kaufleute der bisher unter-
sagte Wechsel der Wägen beim Sammeister zwischen Schongauern
und anderen Bauern zugestanden, selbstverständlich mit der
nichtssagenden Klausel, daß durch den Wagenwechsel die Güter
der Kaufleute nicht beschädigt werden dürften.
Zum Ausgleich für diese nicht unbedeutenden Verbesserungen
vereins-Archivs.
2) Vgl. Nr. 8565 und 343 des Fasc. LXXXX. des Augsb. Handelsvereins-
Archivs.
8) Vgl. Nr. 859 Fasc. LXXXX. Augsb. Handelsvereins-Archiv.
584 Johannes Müller
des Lohnes und sonstige Erleichterungen mußten sich die Schon-
gauer und Ammergauer Fuhrleute in einem Vertrag vom Juli 1573
verpflichten, die Güter innerhalb zweier Tage von Schongau nach
Ammergau zu fertigen, und außerdem einen Revers ausstellen,
daß sie im Falle des Zurückgehens der zurzeit sehr hohen
Lebensmittel- und Futterpreise auf den alten Lohn sich zurück-
setzen lassen wollten'). Daß ein solcher Revers für die Kauf-
leute nahezu bedeutungslos war, geht schon daraus hervor, daß
die von ihnen gestellte weitere Bedingung, die Verträge auf
mindestens 10 Jahre Gültigkeit abzuschließen, von den Fuhr-
leuten strikte zurückgewiesen wurde.
Eine besondere Erwähnung unter den das bayerische Rod-
wesen umgestaltenden Neuerungen jener Zeit verdient die von
den Mittenwaldern am 13. Juni 1574 ohne Zuziehung ihrer Landes-
regierung errichtete Rodordnung‘). Der Inhalt derselben laßt
sich etwa in vier wesentliche Punkte zusammenfassen: 1. Alle
Fuhrleute, ob inländisch oder ausländisch, die Güter auf Eigen-
achswägen unabgelegt durch Mittenwald fahren, haben pro Saum
3 kr. Niederlagsgeld zu zahlen. 2. Desgleichen haben alle die-
jenigen Mittenwalder Rodleute, welche auf der Rod nach Mitten-
wald kommende und daselbst niedergelegte Güter weitertühren,
3 kr. Niederlagsgeld pro Saum zu bezahlen. 3. Diejenigen
Fuhrleute, seien es Mittenwalder oder Fremde, welche Fhutter
und dergleichen auf das Seefeld fahren und daselbst als Rück-
fracht Kaufmannsgüter aufnehmen, haben, sofern sie die Güter
in Mittenwald nicht niederlegen, sich mit denjenigen Rodleuten
abzufinden, an denen die Ordnung zu führen steht. 4. Wenn
ein Rodmann, dem Güter zum Fertigen auf der Rod angesagt
wurden, zufällig sein Vieh nicht bei der Hand hat, so haben
1) Vgl. Nr. 842 und 343 des Fasc. LXXXX. des Augsb. Handelsvereins-
Archive.
2) Vgl. J. BAADER, Kulturgeschichtliches aus der bayerischen Grafschaft
Werdenfels. Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte, IV. S. 478. — Die
BAAversche Wiedergabe der Mittenwalder Rodordnung vom Jahre 1574
enthält übrigens einige Sätze, die absolut unverständlich sind. Vgl. die ge
nannte Rodordnung in den Werdenfelser Akten (Fasc. 34) des Münchener
Kreisarchivs.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 585
andere Rodleute demselben ihr Vieh zu leihen; der Leihende darf
das Niederlagsgeld von dem Entleiher selbst einnehmen.
In dem gleichen Jahr, in dem die Mittenwalder ihre neue
Rodordnung errichteten, wurde ein zwischen den Schongauern
und Füssenern ausgebrochener Streit über die Fertigung der Güter
von Schongau nach Füssen durch Herzog Albrecht V. geschlichtet.
Letztgenannter Fürst beabsichtigte nämlich, alle von Schongau
nach Füssen gehenden Güter auf der rechten Lechseite, d. h.
auf der bayerischen Straße über Steingaden und Trauchgau, nach
Füssen zu dirigieren und so seinem Lande den ganzen Nutzen aus
dem Warenverkehr zwischen den beiden Orten zuzuwenden. Im
Gegensatz hiezu verlangten die Füssener, die bereits am 7. Juli
1572 von diesen Absichten des bayerischen Herzogs durch die
Augsburger Kaufleute Kenntnis erhalten hatten‘), daß der ge-
samte Warenzug von Schongau nach Füssen auf der linken Leeh-
seite, also auf bischöflich augsburgischem Gebiet, vor sich gehe.
Herzog Albrecht entschied am 23. Nov. 1574 den Streit in der
Weise, daß er gebot, es sollten die Güter zur einen Hälfte auf
der bayerischen, zur andern Hälfte auf der schwäbischen Seite
von Schongau nach Füssen gebracht werden, doch sollten die
Füssener, wenn sie durch das rechts des Lechs gelegene Lechtor
in ihre Stadt einführen, nur die Hälfte des Weglohnes, nämlich
6 „$S, bezahlen, den die Schongauer beim Einfahren sowohl
durch das Lechtor wie durch das auf schwäbischer Seite gelegene
Kuglertor zu zahlen hatten ?).
2. Die Verbesserungsversuche im Rodwesen Bayerns
und Tirols von 1581 bis 1597.
Trotz aller Rodlohnbesserungen und Strafbestimmungen, be-
sonders seitens der Tiroler Regierung, gegen säumige Rodleute
wollte aber das Rodwesen Bayerns und Tirols nicht mehr in
jenen Schwung kommen, wie es ihn am Anfang des 16. Jahr-
1) Vgl. das Schreiben der Augsburger Kaufleute an den Bischof von
Augsburg vom 7. Juli 1572 wegen der Rodstraße von Schongau nach Füssen.
Nr. 337, Fasc. LXXXX. Augsb. Handelsvereins-Archiv.
2) Lort, Geschichte des Lechrains, Nr. 369 (Vertrag zwischen Schongau
und Füssen vom 23. Nov. 1574).
586 Johannes Müller
bunderts gehabt hatte. Ursache dieses Rückganges des Rod-
wesens war das Ausstehen vieler Bauern aus der Rod zu jener
Zeit') und das Überwiegen der Gutfertiger im Transportgewerbe
gegenüber dem Rodbauernstand; die Gutfertiger aber, die an
keine bestimmte Ordnung gebunden und von keiner Obrigkeit
für etwaige Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen werden
konnten, betrieben das Transportgeschäft nur zu ihrem Nutzer,
ohne irgendwelche Rücksicht auf andere zu nehmen. Diese
Wahrnehmung bewog die Augsburger Kaufmannschaft im
Jahre 1581 (7. März) in einem für den Rat Augsburgs be-
stimmten Bedenken Vorschläge zur Abhilfe der Mißstände im
Rodwesen, die sich aus den Eigenmächtigkeiten der Gutfertiger
ergaben, zu machen?). Diese Vorschläge bestanden in folgen-
dem: Erstens sollten die Gutfertiger nicht mehr als 24 bis
27 Wägen zu einer Condutta annehmen, damit sie die Condutten
selbst begleiten und nicht mehr wie bisher zum Teil durch
täglich wechselnde Knechte führen lassen mußten. Zweitens
sollten die Gutfertiger bei der Abfahrt von Venedig diese Ord-
nung einhalten, daß, wenn der erste Ballenführer in Augsburg
mit seiner Condutta einträfe, der letzte zu derselben Zeit in
Venedig abführe. Drittens sollte von den drei zurzeit allhier
hantierenden Gutfertigern jeder eine Bürgschaftssumme von 800 f.
erlegen, damit die Kaufleute im Falle der Beschädigung ihrer
Güter auf dem Transport davon ihren Ersatz nehmen könnten.
Viertens sollten aus den Augsburger Kaufleuten zwei bis dre
Herren deputiert werden, denen analog den Aufsehern über die
Ordinary-Botenanstalt eine Strafgewalt über die gegen die mei
erstgenannten Bestimmungen sich verfehlenden Ballenführer zu
stehen sollte.
Die Durchführung dieser Vorschläge, die einen hervor
ragend praktischen Blick für die Bedürfnisse des deutsch-italie-
1) Vgl. in dem Schongau-Füssener Vertrag vom 28. Nov. 1574 dt
Stelle: Nachdem jetziger Zeit die von Schongau gar von Fuhrwerk kommes,
also daß sy vor Jaren in die 12 stäter Rodfachren in der Statt gehabt,
deren jetzo nit vil mehr vorhanden, sollen dieselben etc.
2) Vgl. für das Folgende des Verfassers Abhandlung: Augsburgs Ware
handel etc. Archiv für Kulturgeschichte, I. 8. 386.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 587
ischen Warenhandels jener Zeit bekunden, sollte noch ein halbes:
enschenalter auf sich warten lassen. Erst nachdem noch zwei--
al, in den Jahren 1591 und 1597, allgemeine Rodwesen-
mgestaltungen vorgenommen worden waren, kam man in Augs-
urg zu dem Entschluß, eine Gutfertigerordnung aufzustellen und
>) dem Warentransport eine den veränderten Zeitläuften ent-
yrechendere Grundlage zu geben.
Der auf den 1. Oktober 1591 nach Innsbruck einberufene-
odhandlungstag, auf dem der Augsburger Handelsstand durch
ie Kaufleute Jenisch und Dietmair nebst dem Notar Reisner,
ie Gutfertiger durch den Füssener Bürgermeister Hans Spaiser
ertreten waren, beschloß auf der Rodleute unablässige Bitten
aerst eine allgemeine Rodlohnbesserung der Rodstätten der oberen.
trasse, die im Jahr 1587 teilweise eigenmächtige Lohnsteige--
angen vorgenommen hatten'). Den Rodleuten von Ober- und
liedermais, Meran, Allgund und Lätsch wurde in Berücksichtigung-
ırer „weithabenden, beschwerlichen Rodfuhren“ vom Ausschuß:
er Kaufleute eine besondere Lohnerhöhung von 4 kr. gewährt.
wehufs Abstellung der von den Gewalthabern der Kaufleute und
rutfertiger vorgebrachten Beschwerden über mangelhafte Wagen
nd ungleiches Gewicht an verschiedenen Rodorten wurde dem
Vegmacher M. Rottacher von Telfs am 15. Nov. 1591 die Visi--
ıtion bezw. Justierung sämtlicher Wagen der Rodorte der oberen
traße aufgetragen und schließlich am 21. November an sämtliche-
fleger der Rodorte der oberen Straße Befehle darüber erlassen,
ie Rodleute zur genauen Einhaltung der Rodordnungen sowohl
insichtlich der vorgeschriebenen Fahrzeiten und sorgfältigen
'erwahrung der Rodgüter sowie der Ausbesserung der ver--
allenen Pallhäuser, Straßen und Brücken anzuhalten?). Endlich
1) Vgl. hierzu das Rodlohnverzeichnis in Beilage XI. Außerdem: Rod-
andlung zwischen den Kaufleuten und Guetfertigern, so von Augspurg aus
urch Tirol handeln, und Rodfuerleuten in Tirol Rodlons Staigerung und’
nderes betreffend, anno 1591. Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. XVI. Nr. 6.
2) Gegenüber dem Trienter Bischof und Domkapitel, das seit 3 Jahren
on Seife, Feigen und Weinbeeren an der Adlerporten einen Zoll abforderte,
rging ein sonderes Dekret der Innsbrucker Regierung mit dem Befehl, die
eshalb arrestierten Seifentruhen den betreffenden Kaufleuten bezw. Gutfertigern
reizugeben.
588 Johannes Müller
ließ die Innsbrucker Regierung am 28. Nov. an sechs Rodorte
der unteren Straße (Haiden, Gasthaus, Toblach, Mühlbach, Mauls,
Matrei) Anordnungen ergehen, den aufgerichteten Rodordnungen
getreulich nachzukommen und die Wagen und das Gewicht durch
den verordneten Wagmeister von Telfs justieren zu lassen.
Auch die Rodlohnbesserung des Jahres 1591 hatte keinen andern
Effekt, als daß die Kaufleute und Gutfertiger binnen kurzem
neue Klagen über die langsame und unfleißige Beförderung ihrer
Güter und über die abermalige eigenmächtige Steigerung der
Rodlöhne bei den Landesregierungen Bayerns und Tirols vor-
bringen mußten. Zwei von Erzherzog Ferdinand (das eine vom
8. Aug. 1592, das andere vom 15. Dez. 1593) an alle Haupt-
leute, Pfleger, Verwalter, Landrichter, Bürgermeister und Amts
leute Tirols gerichtete Mandate, die den Rodfuhrleuten die ge-
naueste Befolgung der publizierten Rodordnungen bei Vermeidung
hoher Strafen anbefahlen, brachten ebenfalls keine Besserung in
dem Zustande des Tiroler Rodwesens'). Die Stadtpfleger und
Geheimen Räte Augsburgs erklärten in einem anno 1593 über
das Rodwesen erstatteten Bedenken: „Obwohl Erzherzog Ferdi-
nand von Österreich mehr als einmal Handlung gnädigst ange
ordnet, auch darüber an gebürende Ort, sonderlich an die Rod-
stätt gnädigsten Befehl, wie auch an die kaiserlichen Oratoren
zu Venedig und Consules der teutschen Nation daselbst Promv-
torialschreiben ausgehen hat lassen, damit das zerfallene Rodwesen
wieder in Schwung und Aufnehmen gebracht werden möchte, 50
hat man doch bisher nit erfahren, daß dadurch der Sache ge
holfen und das eingerissene Unwesen abgestellt oder einiger
sonderer Nutzen daraus erfolgt wäre.“
Zur Verbesserung des Rodwesens selbst machte der Rat der
Stadt folgende Vorschläge: 1. Die zum Rodwesen gewählten
Deputierten sollen dieses Werk ständig versehen. 2. Von
den Roddeputierten sollen zwei als Bevollmächtigte der Augs-
burger Kaufmannschaft mit den Konsuln des deutschen Hauses
in Venedig unterhandeln, damit die großen Unordnungen im Rod-
wesen auf venezianischem Gebiet beseitigt werden. 3. Der seit
1) Nr. 2 und 8, Fasc. III. der Rodwesenakten des Augsb. Handelsvereisr
Archivs.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 589
1. Jan. 1592 eingeführte 1 kr.-Zoll auf jeden Zentner Wolle,
der auf der Rod geführt wird, soll bei unnachlässiger Strafe
von den Interessenten an die zwei hierzu bestellten Büchsen-
meister einbezahlt und daraus ein Vorrat zur Bestreitung der
auf das Rodwesen aufgehenden Unkosten angesammelt werden.
4. Zu diesem Vorrat soll auch die 2 „$-Kontribution, die von
den nach Bozen handelnden Kaufleuten pro Zentner erlegt wird,
genommen werden.
Die auf Anregung des Augsburger Stadtrats erfolgte Einsetzung
ständiger Deputierten zum Rodwesen sollte schon in den nächst-
folgenden Jahren ihre Früchte tragen. Nachdem die Augsburger
Kaufleute im August 1595 bei der Innsbrucker Regierung und dem
Bischof von Trient Abhilfe der in Tirol und im Trienter Gebiet
herrschenden Unsicherheit der Straßen erlangt hatten’), reichten
sie im Jahre 1596 ihre Beschwerden über die Mängel auf allen
Rodstätten Tirols bei der oberösterreichischen Regierung ein und
baten um gebührliche Mittel, daß sich die Rodleute Tirols mit Ver-
führen der Kaufmannsgüter den Rodordnungen gemäß verhielten,
die Kaufleute nicht mit Überlohn beschwerten, die mangelnden
Rodwägen ersetzten, die baufälligen Pallhäuser renovierten, die
unrichtigen Wagen justierten und die verfallenen Straßen und
Brücken wiederherstellten -).
Die Innsbrucker Regierung berief nun auf diese dringenden
Vorstellungen die Vertreter der Augsburger Kaufmannschaft
und der Gutfertiger zur Verhandlung mit den Rodleuten der
unteren Straße zu einem Rodtag am 10. Febr. 1597 nach
Innsbruck*). Nach achttägigen Unterhandlungen (vom 10. bis
1) Fürschrift des Augsburger Rates für die nach Italien handelnden
Kaufleute an die Ober-Österreichische Regierung zu Innsbruck und an den
Bischof von Trient vom August 1595. Handschriftensammlung der Augsb.
Stadtbibliothek, Abt. Collectio Herbs‘iana S. 67.
2) Vgl. die Gravamina der nach Italien handelnden Kaufleute vom Jahre
1596. Beilage A zu der Relation Christof Schmidts, ‚Jakob Nepperschmidts
und Seb. Reisners als der Kaufleute Gewalthaber zu der Tagsatzung vom
10. Februar 1597.
3) Vgl. hierzu: Relation Christoph Schmidts, Jakob Nepperschmidts und
Seb. Reisners, Notarii, als der Herrn Handelsleut Gewalthaber auf die Tag-
satzung des 10. Febr. 1597 gen Innsprugg abgeordnet. Augsb. Handels-
590 Johannes Müller
17. Februar 1597) der drei Vertreter des Augsburger Handels-
standes und ebensovieler Vertreter der Gutfertiger (Spaiser und
Luzenberger von Füssen, Eisengrein von Augsburg) mit den
Rodleuten von Innsbruck, Matrei, Brenner, Sterzing, Mühlbach,
Mauls, Toblach und Haiden kam man überein, daß sämtlichen
Rodleuten der unteren Straße von Innsbruck bis Haiden Rodlohn-
erhöhungen im Betrage von 3 bis 6 kr. pro Saum (den Luegen
ausnahmsweise nur 1 kr. pro Saum) gewährt werden sollte. In
‚der Zeit vom 21. bis 23. Febr. 1597 unterhandelten die Vertreter
der Kaufleute und Ballenführer mit den bayerischen Rodlenten zu
Partenkirchen, Ammergau und Mittenwald und bewilligten den-
selben ebenfalls Rodlohnerhöhungen im Betrag von 2 bis 4 kr.
pro Saum'). Mit den Rodfloßleuten zu Schongau schlossen
die Bevollmächtigten der Augsburger Kaufleute am 22. Juni 1597
‘einen neuen Rodvertrag, nach welchem den ersteren die Her-
stellung der Flöße aus tauglichem Holz, der Ausschluß anderer
Güter von den mit Kaufmannsgütern beladenen Flößen und der
Ersatz der beim Flößen beschädigten Güter zur Pflicht gemacht,
ihnen aber auch der Rodlohn für ein Rodgut, d. h. 40 Zentner,
auf 3 fl. 46 kr., für ein halbes Rodgut auf 2 fl. 46 Kr. erhöht
wurde ?).
Noch im gleichen Jahre wurden hierauf durch die Innsbrucker
Regierung die Rodlohnverhältnisse der Fubrleute auf der oberen
Straße geordnet und zugleich die im Februar 1597 noch u-
erledigt gebliebenen Streitpunkte zwischen den Kaufleuten und
‚einzelnen Rodorten der unteren Straße wie (Bruneck) entschieden’).
vereins-Archiv, Fasc. XVIII. Nr. 2. — Ferner den Abschied der Innsbrucker
Regierung vom 19. Febr. 1597. Beilage E. zu der Relation vom 10. Febr.
1) Vgl. hierzu den Rodbrief Kaspar Pönfells, Pflegers zu Werdenfels, vom
26. April 1597, desgl. den Vergleich der Ammergauer mit den Kaufleuten
vom 22. Febr. 1597, sodann den Vergleich der Schongauer mit den Kauf-
leuten vom 22. Juni 1597, Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. XVI. Nr. 15.
2) Der Schongau-Augsburger Rodvertrag vom 22. Juni 1597 als An-
hang zu den Beilagen der Abhandlung von der Ober-Österreichischen Regierung
zu Innsbruck im Monat Februar 1597 beigegeben. Augsb. Handelsvereins-
Archiv, Fasz. XVI. Nr. 15, Beilage IX.
8) Relation über die Abhandlung vor der kaiserlichen Ober-Österreich*
schen Regierung und Kammer zu Innsbruck, das Rodwesen durch die Graf:
Das Rodwesen Bayeıns und Tirols im Spätmittelalter etc. 591
Das Resultat dieser Kommissionshandlungen, die sich vom
7. August bis zum 10. September 1597 hinauszogen, war eine
durchgehende Erhöhung der Rodlöhne von Heiterwang bis Grigno
sowie des Lohnes der Fuhrleute zu Bruneck. Die Rodleute der
oberen Straße dagegen erboten ‚sich in den mit ihnen abge-
schlossenen Verträgen, alle Mängel und Beschwerden abzustellen
und alles in guter Ordnung zu erhalten.
3. Die Augsburger Gutfertigerordnung von 1597/98
samt Annexen und die Ordnung der Gutbestetter
vom Jahre 1612.
Zu derselben Zeit, in der die Augsburger Kaufmannschaft
ihre Beschwerden bei der oberösterreichischen Regierung in Inns-
bruck (Sept. 1596) angebracht hatte, hatten die Roddeputierten
des Jahres 1596, L. Liedel und M. Pfeiffelmann, ein Bedenken
an den Rat ihrer Vaterstadt gerichtet, worin sie die nach ihrem
Ermessen notwendigen Mittel zur Richtigmachung des zerrütteten
Rodwesens zur Erwägung stellten. Dieses Anbringen, zum Teil
auf das Bedenken vom Jahre 1581 zurückgehend, faßte folgende
Änderungen im Rodwesen ins Auge: Erstens sollte die Anzahl
der für eine Condutta zulässigen Wagen auf dreißig beschränkt
werden; zweitens sollte kein Kaufmann, der seine Güter auf
eigener Achs von Venedig herausbefördere, die Erlaubnis haben,
die Güter anderer Handelsleute aufzunehmen; drittens sollte be-
bufs Abstellens des Ein- und Überfahrens auf der Strecke der
abwechslungsweise Gebrauch der Rod- und Eigenachsfuhren ganz
verboten sein ').
Diese Vorschläge, von denen besonders die beiden letzteren eine
bedenkliche Einschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit in
— ui
schaft Tyroll bei der Oberen, auch eines Theils der Unteren Straße und
anderen mehr Orten betreff., so beschehen vom 7. August bis auf den 10. Sep-
tember 1597. Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. XVI. Nr. 9.
1) Bedenken, auf Verbesserung das Rodwesen angehend, erstattet von
L. Lidel und Mart. Pfeiffelmann, Deputierten zum Rodwesen, 19. Sept. 1596.
Beilage 2 zu dem Für- und Anbringen des Deputierten zum Rodwesen an
den Rat von Augsburg, Augsb. Stadtarchiv. Vgl. außerdem des Verf. Ab-
handlung: Augsb. Warenhandel etc.
592 Johannes Müller
sich hielten, wurden von-der Mehrzahl der Augsburger Kaufleute
auf das energischste bekämpft und die Ordnung des Gutfertiger-
wesens, die in mancher Hinsicht dringend notwendig war, infolge-
dessen auf ein weiteres Jahr hinausgeschoben. Erst die Er-
fahrungen, die die zu den Innsbrucker Rodtagen abgesandten
Deputierten der Augsburger Kaufmannschaft hinsichtlich der Un-
ordnungen im damaligen Speditionswesen zu sammeln Gelegen-
heit hatten, sollten die Angelegenheit zur Entscheidung bringen.
Die beiden Abgeordneten der Augsburger Kaufleute, Christoph
Schmidt und Jak. Nepperschmidt, schlossen ihren Bericht über
die Innsbrucker Rodhandlungen vom Jahre 1597 mit folgenden
Worten: „Darneben khunden wir aber unangezeigt nit lassen,
daß uns in dieser wehrenden Commission von den Rodleuten
auf unsere Beschwerden mehrmalen entgegengeworfen worden,
es sei die Schuld nit ir der Rodleut, sondern vielmehr der Guet-
fertiger und ihrer Diener, welche selbsten über die Ordnung
schreiten, allerlei Überlohn geben, einander ein- und fürfabren,
auch die Diener manchmal lang sich mutwillig aufhalten und
alsdann die Fuhrleut unter einest zu übertreiben vermeinen, da
sie sonsten, wann sie geburenderweis nach einander fortführen,
einen jeden wohl fertigen thundten und die Waren nit so häufg
zusammenkommen oder also so lang verliegen bleiben wurden,
dannenhero die unvermeidliche Notdurft, daß man zuvorderst mit
denselben auch eine Ordnung machen und eine starke Straf
darauf setzen thue, dann sonsten alle gute Ordnung sambt den
aufgewendten Unkosten, Mühe und Arbeit vergeblich und ur-
sonst wäre.“
Diese Mahnung hatte zur Folge, daß man in Augsburg im
Nov. 1597 eine eigene Gutfertigerordnung errichtete, deren elf
Artikel sich im wesentlichen auf vier strittige Punkte des bir
herigen Speditionswesens bezogen, nämlich auf die durch ds
Los zu entscheidende Reihenfolge bei der Abfahrt der Baller-
führer von Venedig, auf die für eine Condutta zulässige Wagen _
zahl (30 Wagen auf der unteren Straße, 35 Wagen auf der
oberen Straße), auf das Verbot des gegenseitigen Vorfahren
sowie des Überspringens der auf der Rod gefertigten Güter und
auf die Pflicht der Gutfertiger, den von den Kaufleuten verort-
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 593
neten Büchsenmeistern einen spezifizierten Auszug über die von
ihnen herausgefertigten Waren zuzustellen. Diesen in Artikel
1, 2, 3, 4, 5, 6, 10 und 11 der neuen Gutfertigerordnung auf-
gestellten Anordnungen waren dann noch in dem 7., 8. und
9. Artikel Strafbestimmungen für etwaige Übertretungen der An-
ordnungen beigefügt, die, mit einer Geldstrafe von 25 fl. bei
einmaliger Verfehlung gegen die Ordnung beginnend, bis zum
völligen Ausschluß aus der Genossenschaft der Gutfertiger aus-
gedehnt werden konnten').
Zu dieser Gutfertigerordnung vom 15. Nov. 1597 erwies sich
schon nach Ablauf eines halben Jahres eine Ergänzung notwendig,
indem nämlich am 31. Mai 1598 zwischen den damaligen Rod-
deputierten und den Gutfertigern ein Vergleich über folgende
Punkte beschlossen wurde ?).
1. Die Anordnung vom Jahr 1597 bezüglich des Abfahrens
der Gutfertiger von Venedig in einer durch das Los bestimmten
Reihenfolge gilt nur für den Fall, daß zwei, drei oder mehr Gut-
fertiger zugleich miteinander zur Abfahrt in Venedig gefaßt
sein sollten.
2. Die Gutfertiger sind schuldig, bei einer Condutta von
mehr als zwanzig Wagen entweder selbst neben einem tauglichen
Knecht anwesend zu sein oder für die Begleitung einer solchen
Condutta durch zwei verrichtsame Knechte zu sorgen.
3. Die Condutten sind durch die Gutfertiger selbst oder
durch die von ihnen bestellten Stellvertreter auf der oberen
Straße bis Imst, auf der unteren Straße bis Mittenwald
herauszuführen; erst nach Verbringung der Güter in die daselbst
befindlichen Pallhäuser ist der Gutfertiger zur Übernahme einer
andern Condutta in Venedig berechtigt.
4. Ausnahmsweise dürfen die Gutfertiger, wenn sie zu Venedig
mit fünfzehn Wagen gefaßt sind, eine solche kleine Condutta
unter Begleitung eines Knechtes vorausschicken und mit dem
1) Vgl. des Verf. Abhandlung: Augsburgs Warenhandel mit Venedig etc.
(Archiv für Kulturgeschichte, herausgegeben von STEINHAUSEN, |. S. 326 etc).
2) Vergleichung mit den Gutfertigern auf ult. Mai anno 1:98 init ihnen
abgeredt und beschlossen. Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. VII. Nr. bb.
Vierteljebrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 89
594 Johannes Müller
Rest unter eigener Führung oder unter Führung eines zweiten
Knechtes nachfahren.
5. Da laut fleißiger Zusammenrechnung der Gutfertiger für
die Herausbeförderung eines Saumes von Venedig nach Augs-
burg an Unkosten (Belohnung und Zehrung der Knechte, Zoll,
Haus-, Wag- und Trinkgeld) in allem 15 fl. erwachsen, so werden
den Gutfertigern für den Transport eines Saumes von Venedig
nach Augsburg auf der oberen Straße 16 fl, auf der unteren
Straße 16'/4 fl. Fuhrlohn bewilligt.
Eine weitere Mafregel des Augsburger Rates vom Jahre 1598
war der Erlaß einer Instruktion für die Assistenten der Gutfertiger,
d. h. diejenigen Beamten, die die Güter in Venedig anzunehmen
und abzufertigen hatten‘). Diese Instruktion enthielt in sieben
Artikeln folgende Bestimmungen: 1. Die von den Consoli dei
mercantia in Venedig bestätigten Gutfertigerassistenten dürfen
zugunsten irgendeines Gutfertigers beim Abfertigen der Güter
keine Falschheit gebrauchen. 2. Jeder Assistent hat zur Ver-
sicherung der Kaufleute und Gutfertiger eine Kaution von
1000 Dukaten zu stellen. 3. Sie haben beim Auflegen und
Ausbinden der Güter persönlich anwesend zu sein, damit kein
schadhaftes Gut gebunden werde. 4. Sie haben die Fuhrbriefe
samt dem Geld und ein Verzeichnis des Gewichts und der
Nummern der Condutten nach Verladung der Güter in die
Schiffe den Gutfertigern unverzüglich durch die Post heraus
zuschicken. 5. Das auf Rechnung der Güter empfangene Geld
haben sie dem Wagenzugführer oder dessen vertrautem Knecht
durch gewisse Gelegenheit nach Tervis (untere Straße) oder Bas-
sano (obere Straße) zu schicken. 6. Sie haben die Fuhrbriefe
sowohl hinsichtlich der Höhe des Fuhrlohnes (16 fl. pro Saum
auf der oberen Straße, 16!/4 fl. pro Saum auf der unteren Straße)
als auch die Lieferungszeit genau zu prüfen. 7. Sie sollen auf
das für die Güter eingenommene Geld durch Auswechseln et.
1) Verzeichnis der Articul, wessen derjenige, so den guetfertigern di
gueter in Venedig annemen soll, sich zu verhalten, damit den Herrn kauf-
leuten sowohl auch den guetfertigern dadurch gedient werden und dergleichen
unordnung im aufnehmen, wie bisher etlich mal beschehen, verhüet werd.
Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. II. Nr. 4, Gutfertiger betreff.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 595
keine Finanz treiben, den Gutfertigern um alles Empfangen und
Ausgeben bei einer Condutta ein ordentliches Konto geben und
zeitlich berichten, wann sich ein Gutfertiger hineinbegeben soll.
Zu gleicher Zeit, da den Gutfertigern diese ihre bisherige Frei-
heit etwas beschränkenden Bestimmungen auferlegt wurden,
wurden durch ein Dekret des Augsburger Rates die bereits im
Jahre 1593 angeregten Änderungen in dem Rodkassawesen zur
Ausführung gebracht, d. h. die Zollgebühren, die die Kaufleute
bisher zur Bestreitung der auf das Rodwesen aufgehenden Un-
kosten am Roten Tor in Augsburg erheben durften, vereinfacht.
Bis dahin wurde nämlich von jedem Zentner Wolle, die aus
Venedig eingeführt wurde, als Zoll 1 kr. und von jedem Zentner
Gutes, das von Bozen heraus und nach dorthin ausgeführt wurde,
1 2$£ Zoll erhoben. Durch ein Ratsdekret vom 15. Nov. 1597
wurde bestimmt, daß diese beiden Zollauflagen von nun an weg-
fallen, dafür von jedem Zentner ein- und ausgeführten Gutes
am Roten Tor 2 „$ Zoll gezahlt werden sollten. Gegen diesen
allgemeinen Rotentorzoll von 2 „$ pro Zentner protestierte im
Jahre 1598 eine Anzahl Nürnberger Kaufleute, die nach Bozen
Handelschaft trieben, mit der Begründung, daß sie, da sie ihre
Güter auf eigener Achse nach Bozen hinbrächten und ebenso
herausführten, zur Bestreitung der auf das Rodwesen gehenden Un-
kosten der Augsburger Kaufleute nicht angehalten werden könnten.
Nachdem jedoch durch Kundschaftseinziehung bei den Schon-
gauern den Nürnberger Händlern nachgewiesen worden war,
daß sie sich der Rod vielfach gebrauchten, mußten sie sich der
neuen Zollauflage ebenso wie die Augsburger Kaufleute unter-
werfen |).
Bald nach Erlaß dieser Anordnungen des Augsburger Rates
über das Speditionswesen trat in dem Wollhandel insofern eine
bedeutsame Veränderung ein, als die Augsburger die Wolle
1) Vgl. hierzu: Beschwerde der Nürnberger, nach Bozen handeinden
Kaufleute über den 2 3-Zoll pro Zentner Gut, von Bozen oder nach Bozen
auf der Rod zu führen vom 1. Febr. 1598. Außerdem: Schließlicher Bericht
mit eingesandten Beweis und notdürftiger Ablainung der Deputirten zum Rod-
wesen alhie zu Augsburg contra die Nürnberger nach Bozen handelnden
Kaufleute 27. März 1599. Augsb. Stadtarchiv.
596 Johannes Müller
nicht mehr wie bisher zum größeren Teil aus Venedig, sondem
aus Frankreich und den Niederlanden bezogen, wodurch die
Gatfertiger in ihrem Verdienst merklich geschmälert wurden.
Auf Antrag der Roddeputierten erfuhr deshalb die Gutfertiger-
ordnung vom Jahre 1597 im Juli 1611 eine weitere Ergänzung
durch sieben Zusatzartikel folgenden Inhaltes: 1. Die Zahl der
für eine Condutta zulässigen Wagen wird auf 20 bezw. 25
herabgesetzt; 2. als Lieferfrist der Güter von Venedig bis
Augsburg wird die Zeit von 8 bis 9 Wochen bestimnt;
3. den Gutfertigern wird die Begleitung der Condutten bis zur
Lände in Schongau zur Pflicht gemacht; 4. den Augsburger
Handelsleuten ist die Beförderung ihrer Güter durch andere
Frachtfuhrwagenleute als die bestellten Gutfertiger untersagt;
5. der Frachtlohn für einen Saum von Venedig nach Augsburg
wird auf beiden Straßen auf 16'/ fi. festgesetzt; 6. die Zahl der
Wollballen, die ein Wollhändler in einer Condutta unterbringen
darf, wird auf 24 beschränkt; 7. die Benützung der Straße über
Verona statt über Bassano ist gänzlich untersagt. Diesen des
freien Güterverkehr ziemlich einschränkenden Bestimmungen von
23. Juli 1611 war bereits am 12. Juli 1611 ein Ratsdekret voraus
gegangen, das eine noch stärkere Einschränkung der Handels
freiheit der Augsburger Kaufleute gegenüber den fremden Kauf-
leuten bedeutete, indem dasselbe den Augsburger Wollhändler
das Herausführen der Wolle aus Venedig durch ihre eigenen
Diener direkt verbot und sie anwies, bei der Beförderung der
Wolle sich ausschließlich der bestellten Gutfertiger zu gebrauchen.
Die letzte in diese Periode fallende Mafregel des Augsburger
Rates zur Ordnung des Rodwesens ist die am 26. Juli 1612
aufgerichtete Ordnung der Augsburger Gutbestetter'), die folgende
sieben Bestimmungen für diese in dem Augsburger Rodwesea
erst Ende des 16. Jahrhunderts zu findenden Organe enthielt:
1. Die Verpflichtung, die Namen der Fuhrleute und die Zei
ihrer Ankunft auf einer Tafel in der Wage aufzuschreiben.
2. Das Verbot, die Fuhrleute auf der Straße aufzufangen und
ihnen die Einkehr in besondere Gasthäuser zu empfehlen.
u 1) Siehe Beilage X. In Nürnberg war schon 1587 eine Güterbestetter
ordnung erschienen. Vgl. RoTH, Gesch. des Nürnb. Handels, IV. S. 841.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 597
3. Das Gebot, die Fuhrleute genau in der Reihenfolge wieder
wegzufertigen, in der sie in Augsburg angekommen waren.
4. Das Gebot, dem Leumund der Fuhrleute nachzuforschen
und die Güter nur unverdächtigen, zuverlässigen Fuhrleuten an-
zuvertrauen.
5. Das Gebot, den eingenommenen Lohn unter sich gleich zu
teilen, wenn der eine Gutbestetter auch mehr Güter weggefertigt
habe als ein anderer.
6. Das Gebot, genaue Verzeichnisse über die Eigentümer der
Güter sowie über die Zeichen, Marken und Nummern der letzteren,
sodann über die Namen und die Ankunft der Fuhrleute zu führen.
7. Die Bestimmung, daß die Gutbestetter von den Fuhrleuten
nicht mehr Lohn als 2 kr. pro Zentner für ihre Bemühungen
verlangen dürften.
x *
+
Überblickt man die Entwicklung des bayerischen und Tiroler
Rodwesens im 16. Jahrhundert im Zusammenhang, so fällt einem
als das erste bezeichnende Merkmal desselben die konstant
fortschreitende Lohnsteigerung auf, die in der Weise
vor sich ging, daß die Rodlöhne sieh am Ende des 16. Jahr-
hunderts gegen den Anfang desselben etwa verdoppelt hatten.
Denn nach einem am 28. Juli 1565 an die Innsbrucker Regierung
erstatteten Bericht der Augsburger Kaufleute betrug der Rodlohn
für den Transport eines Saumes von Venedig nach Augsburg am
Anfang des 16. Jahrhunderts 8 fl., zur Zeit der Berichterstattung,
also etwa Mitte des Jahrhunderts, 12 fl.') Am Ende des Jahr-
hunderts aber war dieser Lohn, wie oben dargetan, bereits auf
16 fl. gestiegen.
Als zweites charakteristisches Moment in der Entwicklung
des bayerischen und Tiroler Rodwesens in dem hier in Frage
kommenden Zeitraum ist das Zurückgehen der Zahl der
Rodfuhren gegenüber den Eigenachsfuhren zu betrach-
ten, eine Tatsache, die auch anderwärts (Schweiz etc.) in die
Erscheinung trat und auf das Unvermögen der halb der Land-
wirtschaft, halb dem Fuhrmannsgewerbe sich widmenden Rod-
ee |
598 Johannes Müller
leute, den gesteigerten Warenverkehr zu bewältigen, zurückgeführt
werden muß!). Nach einem Bericht der Augsburger Roddeputierten
an den Rat von Augsburg vom Jahre 1611 wurde damals ebe-
soviel Wolle durch die Wollhändler selbst wie durch die Rod-
fuhrleute von Venedig nach Augsburg befördert, ein Umstand,
der dem Institut der Gutfertiger eine stets wachsende Bedeutung
verleihen mußte?).. Aus dieser erhöhten Bedeutung der Gut-
fertiger erklären sich dann wiederum die am Ende des 16. und
anfangs des 17. Jahrhunderts vom Augsburger Stadtregiment
getroffenen Maßregeln zur Ordnung des Gutfertigerwesens, die auch
diese bisher ziemlich frei schaltenden Verkehrsorgane strengeren,
zunftähnlichen Regeln unterwarfen.
Als dritter charakteristischer Zug in der Ausbildung des Rod-
wesens Bayerns und Tirols im 16. Jahrhundert kann das Be-
streben der einzelnen Gemeinden und zum Teil auch
der betreffenden Landesregierungen angesehen werden.
durch den Erlaß besonderer, zugunsten der Rodfuhrleute ge-
troffener Anordnungen das Neben- oder Eigenachsfuhr-
wesen möglichst einzudämmen und den Rodleuten
den Hauptanteil an der Beförderung der Kaufmanns
güter durch die Ostalpen zu sichern.
Dieses Bestreben, das bis jetzt noch ziemlich freie Transpor-
gewerbe gleichsam in zünftische Formen zu bringen, fiel ja mit
dem allgemeinen Zug der Zeit, jede gewerbliche Tätigkeit aufs
genaueste durch obrigkeitliche Anordnungen zu regeln, zusammen,
. 1) Die gewöhnliche Annahme, daß der Güterverkehr zwischen Süddeutsch-
land und Italien im Laufe des 16. Jahrhunderts zurückgegangen sei, mub,
was Augsburg betrifft, entschieden als irrig bezeichnet werden. Nach den
Registern des Rotentor-Zolles, von denen in den noch vorhandenen Schrifier
der Kaufmannsstube glücklicherweise wenigstens einige erhalten gebliebea
sind, betrug das Gewicht der vom Oktober 1588 bis Oktober 1589 durch das
Rote Tor gehenden Güter rund 30000 Ztr., dagegen das Gesamtgewicht der
vom Dezember 1597 bis Dezember 1598 das Rote Tor passierenden Güter über
60000 Ztr. Vgl. Nr. 59 Fasc. LXXXX. Rottorzollbüchl des Pankraz Böckla
von 1538—1540, sodann XI. Fasc. Gemainer Handelsleut neu Contribution -
Schuldbuch über die Güter, so nach Italia durch Tirol heraus- und bhineis-
gefüret werden, gehalten wird, die 2 À von 1 Centner betreffend, 15%.
2) Vgl. des Verf. Abhandlung, Augsb. Warenhandel etc. Archir fir
Kulturgeschichte I. S. 336.
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 599
widersprach aber doch einem Hauptgrundsatz gedeihlicher Handels-
tätigkeit, nämlich dem Befinden des Handelsstandes die freie
Wahl sowohl der Verkehrswege wie der Transportgelegenheiten
zu überlassen. Die Mißachtung dieses Grundsatzes hat in der
Folgezeit neben anderen Ursachen zu einem stets fortschreitenden
Rückgang des ostalpinen Transithandels von Deutschland nach
Italien geführt. Erst nach bitteren Erfahrungen ist man auch
in Bayern und Tirol zur Erkenntnis der Wahrheit gekommen,
daß „das Commercium und alle seine Zweige, also auch das
Fuhrwesen, sich an keine feste Ordnung fesseln lassen, wenn es
nicht leiden soll“.
Beilage I.
Entwurf auf Monat August anno 1668.
Was ein Wagensaum (4 Ctr.) gemainer Güter von Venedig
biß nach Augsburg im Furlon, Zöll, Niderlag- und Factorengelt
neben ander Uncosten, netto gerechnet, costen thuet, wie folgt.
fl. kr.
Denen Calligari, Soranzo und Moschin zallen wir von
einem Wagensaum Wien. Gewichts Fracht von Venedig
samt Zöll und allerhand Uncosten biß nach Bozen
im selbigen Pallhauß . . . . . . + + + 10 30
Niderlag und provision zu Bozen vom Saum 0. 6
Zollstangenzoll am Außgang zu Bozen . . . — 24
Fracht von Bozen nach Brixen vom Saum Wien. franco
aller Zoll. . . . . ee ee + + + 2 —
Uncosten zu Brixen vom Saum . .. +. +. + — 4
Fracht von Brixen nach Sterzing vom Saum . . . + 1 4
Zu Mauls zallen wir von 16 Ctr. Niderlaggelt 2) kr. vom 4
„nn » » n n nn Ansaggelt. 3) Saum
Zu Sterzing Factorengelt von 12 Wagen oder 200 Ctr.
1 fl., Ansaggelt von einem Wagen oder 16 Ctr. 4 Kr.,
Niderlaggelt von einem Wagen 3 3 Kr., betrifft von
einem Saum . . . mn fd
Fracht von Sterzing bis am Lueg vom Saum . — 36
Zoll-Buex vom Ctr. Weinber und Paumwoll 3 Kr.,
600 Johannes Müller
Seide 2 Kr., in einander eine War der andern zu
hilf vom Saum .
Ansag-, Wacht- und Factorengelt vom Saum wie zu
Sterzing
Zoll am Lueg von Weinber, Saiffen u. 1, dergl. schlechten
' Waren vom Ctr. 3 Kr. und bessere Waren 6 Kr.,
eins dem andern zu hilf vom Saum .
Fracht vom Lueg nach Matrey vom Saum . .
Zu Matrey Factorengelt von 12 Wägen, 180 in 200 Ctr.,
zallt man 1 fl, Ansaggeld vom Wagen 4 Kr.,
Niderlaggelt von 16 Ctr. 3 Kr., betrifft ungefar auf
einen Saum . en
Fracht von Matrey nach Innsbruck vom Saum
Zoll zu Innsbruck, eine War der andern zu hilf, vom
Ctr. 1 Kr., Niderlaggelt von 1 Collo (d. i. 2 Ctr.)
3 Kr. thut vom Saum
(Dagegen gibt man zu Innsbruck weiter kein Factoren-,
Wacht- und Ansaggelt.)
Fracht von Innsbruck nach Seefeld vom Saum .
Zoll zu Zirl, von allen Waren gleich, nämlich vom Ctr.
3 +5, thuet vom Saum
Zu Seefeld gibt man dem Gastgeber alda als. eine Ver-
ehrung von einer Condutta von 600—1000 Ctr. 1!/:
bis 2 fl., also vom Saum en
Fracht von Seefeld nach Mittenwald vom Saum |
Zoll zu Mittenwald, eine War der andern zu hilf 1 Kr.,
1 Heller der Ctr., Ansag- und Factorengelt von einer
ganzen Condutta (bis 1000 Ctr.) 1 fl. 30 Kr., Nider-
laggelt von 1 Collo 5 schwarze .#, thuet von einem
Saum
Fracht von Mittenwald nach Partenkirchen vom "Saum
Niderlaggelt zu Partenkirchen von einem Ballen Baum-
wolle 1!/s Kr., und zum Gotteshaus von einem Collo
2 schwarze „$, Ansaggelt von einem Wagen 2 Kr.,
Faktorengelt von einer ganzen Condutta 1 fl. 30 Kr.,
thuet vom Saum ee .
. kr.
18
18
39
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc.
Fracht von Partenkirchen nach Oberammergau vom Saum
Wachtgelt zu Ammergau von wenig oder vil Gut jede
nacht, weil’s kein versperrtes Pallhauß hat, 12 Kr.,
Niderlaggelt von einem Ballen 3 Kr., von einer
ganzen Condutta Factorengelt 1 fl. 30 Kr., thun die
Uncosten vom Saum .
Fracht von Oberammergau nach Schongau vom "Saum
Wachtgelt beim Lech alle Nacht um vil oder wenig Gut
18 Kr., Zoll zu Schongau von einer Rod (36—40 Ctr.)
dem Senner 18 Kr., dem Wagmeister auch 18 Kr.,
welches aber unpillich und weder der Senner noch
der Wagmeister keineswegs befugt sein, von den
Gütern, so nit hinauf in die Stadt kommen, etwas
zu fordern, wie dem allem thut der Saum... auf ..
Fracht von Schongau nach Augsburg auf dem Lech von
einer ganzen Rod (36—40 Ctr.) von Michaeli bis
Georgi 6 fl. 34 Kr., von Georgi bis Michaeli 6 fl.,
vom Saum ineinander
Uncosten zu Augsburg, nemblich Wachtgelt auf dem
Lech jede Nacht, wenig oder vil Gut 30 Kr., Furlon
vom Floß in die Stadt vom Ctr. 3 Kr. thut vom
Saum
Summa:
Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. VIII. Nr. 13.
Beilage II.
1337. März 27.
fl.
uud
22
601
kr.
33
13
15
Ich Seybold von Colfoß, richter zu Aufenstain am herru
Volkhamr stat und an seiner gesellen stat vergnihe und thne
khundt allen den, die diesen brief sehend oder herendt lesen, das
für mich khomen die pauleuth ob der Vinaders und ab dem
Ritten gemainelich und etlich pauleuth vom Steinach und zaigten
mir ein haubtbrief von meiner herrschaft von Tyrol, daran stund,
das sy das druckhen guet, das man da fuert von dem Lueg gen
Matray und von dem Lueg gen Sterzingen, durch recht und alter
602 Johannes Müller
gewohnheit fueren sollen und anders njemant, und solte sy auch
daran bescheinen von der herrschaft wegen, das beschwert die
andern pauleute, und sagten darwider, sy solten es durch recht
und von alter gewohnheit also wol füeren, als sy, und begerten
eins rechten darumb geen in, da gebot ich inen baidenthalben
für mich auf das recht, das sy es aufbrechten gegen einander
mit dem rechten, da khomen sy für mich auf das recht mit vor-
sprechen, da wurden sie beweist von andern leuthen, das sy des
vorgenanten kriegs baidenthailen mit gemainem rath und mit
gueten willen und mit vorbedachten mueth, gingen hinter erbar
leuth, die sy baidenthalben darüber namen und die hernach be-
schriben steend, was die erfunden und gesprochen. Von irend
threuen und von iren gewissen, welliche die wehren, die das
druckhen guet fürbas fueren solten und anders niemandt, da:
solt ein fürgang haben und solt auch anders niemandt fueren.
und solt auch fürbas nimmermehr khein krieg darumb werdeı.
die haben darüber gesprochen und erfunden von iren threuen
der urbaren und der pauleuthen die wägen zu fueren, als hernach
geschriben steet des ersten soll ein wagen fueren Conrad von
Stockhach, der Velter an der pruggen ein, heinrich der Vogel ein.
Getschel und Berchtold ein halben wagen, von des Gaulters lehen
und der Gaulter ein halben Wagen, von Plenckhenhof ein.
zu der Hueben drei, in dem Sachsen zwei, der Zarer ein, Kruize
danz dem furte ein, der Kurter ein, der Schmid in dem Velten
ein, Conrad der Mullner ein, Andre an dem Lueg ein, undter der
Clame ein, der Pallmer ein, der Reihe ein, der Rötschen dans
dem See ein, Hainrich auf dem Steine in dem Vilten ein, Her-
man daselbs ein, der Franke ein, Heinrich des Goldschmidt
Aydam ein, Dietmar und die Witib in dem Ritten ein, Cristan in
Phruns ein, auf der Eben zween, Fürbenschreiner ein, Kürzmanit
ein, in der Lüebl ein, der Nessnen danz St. Leonhart ein, der
Hadirniger ein, die sechs höf auf Vinänders zwelf wägen, auf
der Platz ein, zur Prantstat ein, der Vent ein, Tollütscher zweer,
der Probst von Egg ein, Molgenhof von Egg zween, Rodolf von
Egg zween, Kruz in der Waldeben ein, Ulrich ob der Colfen eins,
der Helt ein, der Nuser ein, Hanns Chnil in dem Pach ein, Par
wiser ein, Conrad der Zährer zween, Meinhart ein, zu dem Podes
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 603
der Kruz, des Zwangerers sun, ein, diese sachen und dieses
krieges sind sprecher und thadinger gewesen; Heinrich der
Schmirner, Heinrich der Lampert, Eberhart der Probst von Müllen,
Heinrich der Prenner, Heinrich der Haubler, Conrad der Synser,
Perchtold von Stainach, und darüber, das dieser spruch und diese
thäding fürbas steeth und ungebrochen bleiben, haben die vor-
genannten sprecher erfunden und gesprochen, das ich den vor-
genannten pauleuthen dieser thädunge und dieses spruchs meinen
brief geben han mit meinem anhangenden insigel. Das ist ge-
schehen nach Christi geburt im 1337. jar am Rupprechtstag in
der fasten.
Augsb. Handelsvereins-Archiv, Fasc. XVI. Nr. 1.
Beilage III.
Von Ballenbindern. Anno 1420. Dez. 14.
Sambstag nach St. Lucien-Tag haben wir die ratgeben der statt
zu Augsburg, ain helliklich mit klainem und allem rät als durch
gemains nuzes und notdorfft willen in der nächstgeschribenen
sach von unsern lieben mitbürgern und kouffleuten etliche ge-
brechen, die sy an binden und bindern hie ze der statt, die man
nennt die ballenbinder, gehebt händ, vernomen und von in aigen-
lich verstanden, also das durch dieselben binder burger und geste
furleut und andere, wie die genennt sind, ye ainer fur den andern,
als mit binden und laden offt gefürdert sind oder gehindert,
nach gunst der binder und auch von inen beschwärt und über-
nomen werden, anders dann umb pillichen oder vorthailichen
bedenkt, solichs furzukomen und zu wenden, so haben wir in
die nachgeschribene ordnung und gesetzte mit ainem wolbedach-
ten mut und gutem raut gesetzt und gemacht, als hienach under-
schaiden ist.
Ballenbinden.
1. So ist ungere maynung, das sy auff zwei parthyen binden
söllen, umb das menigklich dester bas gefürdert werden möge
und wo ain parthy eingant ze binden, das dann die ander parthey
daselbs nit eingan sol ze binden auf die zeit, und weder clain
noch groß miteinander binden sollen, und ob ain kouffmann oder
604 Johannes Müller
ein anderer beid parthy lätt mitainander ze binden, das sy dea-
noch mitainander nit binden sollen, in dehain wy£.
2. Wer sy bitt ze laden, das sy dem auch laden sollen, on
verziehen ungevarlich, welich parthey darzu gebetten wirt.
3. Und ob sich fuegte, das der ander tail ungebetten darzu
gienge, so sollen und mögen sy wol mitainander laden und was
in der laderlon gebürt einnemen von kouffleuten, es sey burger
oder gest, das sy das gelt geleich mit ainander tailen sollen,
nach anzal der person, die denn geschworn binder sind auf baiden
parthyen. Welch tail aber knecht genennt tagwärker, die söllen
kain anzal des laderlons einnemen dann irn gedingten lön.
Vom Binden.
Item man sol in geben ze binden von jedem fardel 10 4
und weder wein noch nichts mer, deßgleichen sol man in geben
von ainem säm an ainem bällin 8 „${ und was sein mer ist, da
sol man in geben von jedem zentner 2 „$ und nach anzal un-
gefarlichen.
Item man sol in geben von ainem fardel ze laden der kouf-
man und der furman jeder 1 .£ und nit mer, deßgleichen von
ainer lägel öls 1 .$ jeder tail.
Von ainer tunnen häringe 1 $ jeder tail.
Von 1 zentner schmär jeder tail der kouffman und der fur-
man 1 Heller und nit mer.
Auffgeber.
Darnach haben wir gesetzt, welicher aufgeber ist oder wirdt,
der sol nemen ze aufgeben von ainem wagenman 6 „$ und von
ainem karrenman 3 „$ und nichts mehr. Und auch vom kouf-
man dehainer aufgeberlon, noch nichtes one geverde.
Aufgeberlon.
Es sol auch ir dehainer von wein, wie der genannt ist, de-
hainerlay auffgeberlon vordern noch nemen, in dehainer weyße.
Auffgeber und binder.
Auch sollen auffgeber und binder die vorgeschrieben gesatst
alle, und auch rechte pannd ze pinnden järlichen, wen man die
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 605
ät besetzt, von neuem sweren getreulichen zehalten und ze tun,
Ile arglist und geverde gänzlich ußgeschaiden.
Pene.
Und welicher es darüber bräch und überfür, das man den
arumb als ainen mainaider erkenn und strauffe nach aines
ıtes raut.
Laderlon.
So haben wir auch gesetzt dem gastgeber oder burger in des
ofpacht wan solicher hab zesamen bringet und ladet, das der
ırman im geben sol von jedem wagen, der da geladen wirt,
Æ# und von dem karren 3 „$ und nit mer one geverde.
Uber laderlon.
Was aber geladen wurd uferhalben des haus, es sey wein
der ander hab, welcherley das wär, davon ist man dem hußwirt
och jemand nichts schuldig ze geben, denn den lader iren lon
Is vor begreiffen stet.
Die ordnung und gesatzt hant man den ballenbindern jeder
arthy ainen zedel geben, als hievor geschrieben stet.
Augsburger Ratsdecreta I, S. 87 etc.
Aufgebern und ballenbindern von vardel zu
beschlagen. Anno 1438. Nr. 18.
Auf afftermontag nach St. Othmarstag ist durch ainen raut
eredt worden mit den ballenbindern und aufgebern, und auch
aff die ayd, so sy darumb gesworn händ, ernstlichen bevolhen,
as sy hinfüro kain fardel mit iren löschen, noch anderm irem
ezeug in dehain wyße beschlagen noch binden sollen, dann
Ilain mit nadeln und vaden und auch mit nieman kain gemain-
hafft haben. Und ob in yemant bösen zeug von löschen,
lahen oder sailern darlegen welte, dem sollent sy mit demselben
zug auch nit binden und auch kain tuch, das sy bös und un-
erecht bedunk, nit einschlagen. Und das sy auch kainen wagen-
‘ann, er sey burger oder gast, nit laden sollen, er sey denn
or by ainem burgermaister geweßen und des seinen schein lossen
606 Johannes Müller
für sy bringen. Und das auch sunderlich mit den wagenleuten
geredt werd, das sy niemant sein gut on glait füren söllen onn
sein wortt und wissen. Weller das darüber tätt, den wölt man
darumb straffen an leib und an gut und nach dem die sach ain
gestalt an ir selbs hett oder gewinne, als auch das ein yeglicher
wagenmann zu gott und den heiligen schweren soll.
Augsburger Ratsdekreta I, S. 457.
Beilage IV.
Rodordnung der Untertanen zu Hayterwang und Reutte.
1530. Dez. 20.
Als eine zeither durch der kaufleut diener und ferttiger etwa
vil mengel und beschwerden fürkhomen, das ire gueter, so auf
der rod durch dis lande der gefürsteten Grafschaft Tyrol gefuert,
langsam geferttigt, auch in etlichen niderlägen nit wol versorgt
und bewart werden, darauf sich K. Mt. zue Hungarn unnd Be-
haimb, uns. gnedigsten herrn statthalter, regenten und cammer-räthe
d. ober-österreichischen Lande durch ire verordnete Commissari
mit fleis erkhundigt und sollich der kaufleut beschwerdte etlicher-
massen befunden, dagegen dieselbe commissarii die rodleut mit irer
einred und begerung, das sy on besserung des fuerlohns dieser zeit
und bei der grossen teurung nit besteen, noch deßhalben die roden
mit ferttigen, noch lenger dobei bleiben muegen, genugsamblich
gehert, wellich der kaufleut mengl und der rodleut beschwerdte
und begerung zu beeden thaillen obermelten statthaltern, regenten
und räthen furgebracht, auch durch sy mit sambt denselben
commissarien notturftiglich fürgenomen, und erwogen sein und
damit die kaufleut bei der straß durch die land bleiben, auch
ire gueter auf der rod jeder zeit geferttigt und dann die rodleut
auch lenger bei der fuer mit zimblicher besserung der belonung,
die sy und die kaufleut erleiden mugen, erhalten werden, so ist
darauf durch berürte statthalter, regenten und camerräthe vor
landsfürstlicher obrigkhait wegen dieser zeit auf das alles eis
abschied gemacht und geben, den beede partheyen also annemes
und dem füran geleben und gehalten, auch die pfleger und
richter jeder ende der roden und niderlagen vestiglich darob
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 607
sein sollen, das dem also folg beschehe. Und laut die ordnung
zu Haitterwang gegeben, wie hernach folgt.
1. Nachdem die von Haitterwang mit recht erlangt haben, das
die niderlag der gueter, so über den Fern herein in das land der
gefürsteten Grafschaft Tyrol gefuert werden, daselbs zu Haitter-
wang sein soll, darbei soll es bleiben.
Als von alter her die von Haitterwang 34 wägen und die von
Reutti 48 wägen, thuet zusammen 82 wägen schuldig sein zu
halten, die kaufmannsgueter, so daselbs hin gen Hayterwang an
die niderlag gebracht und über den Fern in die obberüert Graf-
schaft Tyrol auf der rod zu füern begert werden gen Nassereit
oder gen Ymst zu füern, sollen hinfüran auß dieser großen anzal
12 rodfüerer mit vorwissen, rath und beysein des pflegers zu
Ernberg, nemblich durch die von Haytterwang funf und die von
Reüti siben, jedes jars besonders erkhiest, benennt und ge-
halten, und ein umbgeende rod sein und bleiben. Also wann
das jar vergangen ist, sollen alßdann andere fünf und siben aus
inen benannt, bestellt und dermaßen für und für umbgeend ge-
halten werden, ob sich aber die straß in gebrauchung der rod-
güeter dermaßen meren wurd, das die gemelten zwölf geordneten
rodwägen die güeter nit genuegsam fertigen mechten, sollen sy
der notturfft nach ein merere anzal zu halten schuldig sein, das
an der fertigung nit mangel erscheine.
2. Dieselbe verordnete rodwägen sollen das ganze jar irer
erwellung summer und winters zeit der rod fleißig warten und
berait sein. Also wann kaufmannsgüeter gen Haitterwang an die
niderlag khomen und als vorsteet über den Fern gen Nassereit
oder Ymbst auf der rod zu füeren begert werden, soll der kauf-
mannsdiener oder fertiger derselben güeter solches den pindern
zu Reutti und Haytterwang, da jedes orts einer sein soll, mit
aigentlicher benennung, wievil rodwägen jedes mals zu laden haben
werden, und nemblich der zu Reutti am fürfaren ansagen, damit
sy nit minder noch mer der fuerleut, dann jedes mals zu faren
werden haben, erfordern oder wissen lassen und vergebenlich
umbfahren und versäumniß vermiten bleibe. Dieselben pinter
sollen nach der kaufmannsdiener ansagen die anzal rodfüerer,
sovil zu laden werden haben, und an denen es jedesmals in
608 Johannes Müller
seinem gebiet nach umbgehender rod irer ordnung nach sein
'wurdet, sonderlich sommerszeiten, so ire roß auf den allmen ge-
halten und gewaidnet werden, vormittags fürderlich wissen lassen
und zu faren gebieten.
3. Darauf sollen dieselben rodfüerer, den man also ansagt,
sich jederzeit guetwillig beweisen und mit iren rodwägen und
notturftiglichen zugehörung unverzogenlich erscheinen, laden und
anfahren und die güeter fürderlich gen Nassereit oder Ymbst in
die niderlagen, unter die pallhäuser oder städl, dazue gehörig,
wie sy dann zu thuen beschaiden werden, füeren und überant-
worten, und weder auf gegenfuer noch auß kheiner andern ursach
verziehen, auch die güeter unterwegen noch vor den pallenhäusem
ins kot nit abwerfen. Sy die rodleut sollen auch der güetter.
so sy aufgeladen und in ir gewarsam empfangen, guet acht und
aufsehen haben und höchsten fleiß brauchen, daß solliche güeter
am füeren nit beschedigt, nichts davon verloren, entfrembdet oder
nachtälig werden. Ob aber ainicher schaden oder nachthail
daran entstund, darin soll es gehalten werden wie von alter her-
khomen ist, ungeverlich.
4. Die kaufleut sollen auch ire güeter der ziffer oder zal
nach ordentlich aufgeben oder zu thuen verordnen, damit inen
dieselbe ire güeter nit zerthailt gefüert und von einander bracht
werden.
5. Sy sollen auch im ansagen nit minder noch mer wägen.
dann sovil jedes mals zu laden haben, begeren, und den rod-
fuerleuthen, an denen es derselben zeit sein würdet, verkhünden,
dadurch sy nit vergebenlich um die weg gesprengt werden, das
irig mittler zeit dahambet zu versäumen.
6. Ob aber der aufgeber auf des kaufmanns oder seine
dieners begeren merer wägen dann zu laden haben, begeren oder
ansagen wurde, soll der kaufmann oder fertiger jeden rodfüerer,
so auf sollich sein ansagen und begeren erscheinete und nit zu
laden hat, für sein versäumnis das vollkommen fuerlon, wie
anderer seiner mitgespanne einnem, so zu füern hat, bezallen.
Wellcher rodfüerer aber auf das ansagen nit erscheint, und doch
zu laden haben würd, der soll den kaufleuten, sovil das fuerlos
hat bracht, entrichten. Welcher thail sich des aber setzen oder
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 609
verwidern wurd, der soll, so offt sich das begibt, der obrigkeit
desselben endt auch sovil zu straff geben, als das fuerlohn bracht
het und des nit erlassen werden.
7. Als den rodfuerleuten bißher von Heytterwang unzt geen
Nassereyt, thuet virthalb meilen, von jedem centner kaufmanns-
guet 6 kr., bringt vom wagensaum 24 kr., und geen Imbst,
funfthalb meilen weges, vom centner 8 kr., trifft vom saum 32 kr.,
zu fuerlohn geben worden, ist inen auf ire fürgewendt be-
schwerdten bis auf K. Mt. und derselben nachkhomen wolgefallen
nachfolgende besserungen zu geben bewilligt, nemblich auf jeden
wagensaum bis gen Nassereit 1 kr. und gen Ymbst 2 kr., bringt
hinfüran von jedem saum (säm) geen Nassereit 28 kr., die sollen
inen also darem erfolgen. — Es soll auch ein geschworener weger
und eine fronwag alda zu Haytterwang aufgericht und gehalten
werden.
8. Die von Heytterwang sollen auch daselbs hin ein wolver-
wart und gesperrt pallhauß bauen; da dasselbig pallhauß allezeit
mit gepuren tachungen und aller notturft paulich, wesentlich und
sauber halten, das die kaufmannsgüeter wettershalber und sonst
darin sicher bewart, auch trukhen erhalten und ligen mugen.
Und sollen sonst keine andere wägen noch anderes dann allein
kaufmannsgüeter hineingestellt werden und also allezeit unverlegt
auf der kaufmannsguet ungeirrt warten, dagegen soll inen durch
die kaufleut von einem jeden geladenen rodwagen
jegliche nacht, in der sie darunter enthalten, zu
hilf und steuer 1 Kr. gegeben und sollen solche wägen,
die über nacht zu Haytterwang bleiben, an kein ander ort, dann
unter das pallhauß gestellt werden.
9. Ein jeder Terfis- oder marktwagen, so geladen mit kauf-
mannsgüetern zu Haytterwang unabgelegt durchgefüert wurdet,
soll niderlaggeld zu geben pflichtig sein, nemblich von jedem
roß am wagen 4 Kr. treulich und ungeverlich wie von alter
herkhomen ist, und soll sollich niderlaggelt durch ein vertraute
erbare und gesessene person zue Haytterwang, die
der obrigkeit deßhalb pflicht thuen soll und durch die
rodtüerer beeder orten jedes jarß darzue erwelt, gefordert, fleißig
aingebracht und unverzogenlich in ein gemein versperrte eiserne
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 40
610 Johannes Müller
puchsen, darzue die obrigkeit einen und die rodfüerer
zu Haytterwang den andern und die rodleut zu Reutti den
dritten schlüssel haben sollen, gelegt und zu außgang des jarß in der
weihnachten im beysein des pflegers zue Ernberg oder seines
verwalters, auch dreyer von Haitterwang und dreier von Reutti
sambt den zweien pintern eröffnet, den beiden ihre belonung,
wie von alter herkhomen ist, davon entricht, davon dem Pileger
zu Ernberg der zehent wagen davon geraicht und alsdann
von dem übermaß jeden thail als denen von Haitterwang und
Reutti, so desselben jars die rod gefüert haben und derselben
gewertig gewesen, jedem sein geburend thail darvon gegeben
werden.
10. So Cammerguet oder icht in kriegsleuffen oder landsnot
an zeug lieferung oder andern ins feld oder wohin die notturft
erfordert auf den roden zu füeren verordnet und gebotten wurdet,
dem soll vor allem andern gehorsambliche vollziehung beschehen,
wie von alter herkhomen ist.
11. Und ob khünftig noch icht mereres zu fürderlichen nutz
und aufnemen gebrauchung der strassen dieses orts zu verordnen
nutz und guet sein oder einich mengl, so hierin nit vermelt oder
außtruckht, fürfallen wurden, darinnen sollen die K. Mt. oder
derselben regierung weiter ordnung und befelch zu geben haben,
alles getreulich und ungefärlich, deß zu urkhundt ist vorgemelter
K. Mt. secret innsigl hieran gehengt. Beschehen am 22. December
nach Chr., uns. l. herrn geburt im 1530. jar.
Augsburger Handelsvereins-Archiv, Fasc. XVI. Nr. 1.
Beilage V.
Der Schongauer Floßleut supplication. 1548. Januar.
Ersame, weise, günstig, gebietende herrn burgermeister und
räte. Nachdem wir vormals auch von Euch clagsweiß umb und
von wegen der clainen besoldung, so wir von den kaufman*
güttern, die wir auf der rod verfüeren müssen, haben, um gun
lich hilf und einsehung zu thun erschinen, aber gleichwohl bisher
kain merung erlangen mugen, damit aber E. E. W. unsere be
schwerden merer erfarung empfahen, bitten wir diese schrifte
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 611
gunstlich zu vernemmen. Erstlich so unser ainer ein rodguett alhie
aufladen will, muß er haben zween floß, und so der gen Stain-
gaden khombt, muß er von denselben 2 flössen zu pinden
geben . . . 2 2 . . . . . . . . 15 kr.
nochmals von denselben von Staingaden bis gen
Schongau herab (selbander) zu füeren . . 12 „
auf dieselben flöß mueß er haben 4 leger under
die güetter, damit die von unden auf niht
naß werden, costen . . . . . vw . . . 4 „
darzu umb die undterschlager, auch für die
weyden und kheul . . . . 2. . . . . 6 ,
auch von der rodguet aufzuladen . . . . . 10 ,
zu Zoll . . . . . 9 , 1 hell.
zweyen knechten, die das verfueren, für das
morgenessen . . . 4 ,
denselben 2 knechten von \ Schongau bis gen
Haunstetten zu lon . . . . 2 2 . . . 38 „
thut dieser costen in summa . . . . . 1fl. 38 kr. 1 hell.
So ist aber unsere belonung von ainer rodgutt nit mer dan
1 fl. 24 kr. und so nun dieselbe belonung an obgemelter ausgab
aufgehebt wurdet, besteet, das unser ainer zu jeder rodgutt zu
fueren seins aigen geltts hinzugeben mueß 14 kr. 1 hell. Zu
dem allen tregt sich ye zue, das die winth und ungewitter an
uns khombt, das wir ains tags von hie bis gen Haunstetten nit
faren khönnen, sonder undter wegen bleiben, müessen wir den
zweyen knechten ir jedem ains jeden tags für die zerung 12 8
geben, das also mitt solchen fartten unser belonung, damit wir
unser weyb und klıinder erhalten sollten, nichts über bleibt, son-
der vorhabents gelt hinzu geben müssen; nichts weniger bishero
E. E. W. zu günstigem gevallen und damit gemainer statt die
freyhaitt auch zoll und mäuth durch uns niht entzogen wir auff
pesserung gedult tragen, dieweil aber die zerung ye lenger ye
mer theurer, das die knecht umb die alte belonung nitt mer faren
wellen, ain merers haben, das auch die holtz ain zeitt her nur
in aufschlag gewesen und jetzo noch vill in ain höherung, ur-
sachen der menge volks, so jetzo an dem wasserstrome gelegen,
612 Johannes Müller
das holtz an denselben orten verprennt worden, khumen wirt,
das unser vermugen nitt, umb die alte belonung die rodgutter
zu füeren. Demnach langt an E. E. W. unser gehorsam höchstes
bitten, die wellen derhalben einsehung thun und handlung für-
nemen, das uns ain belonung gegeben werde, dabei wir besten
khontten, wo aber E. E. W. solchs bey den kaufleutten nitt er-
langen, müessen wir uns der rod verziehen und dieselben hiemit
aufgesagt haben, da wir zu unser muehe und arbeit also in ver-
derben khomen wurden, das E. E. W. uns nit gönnen wellen.
Hierauf E. E. W. solches nit ungünstig anzunemen gebetten und
hiemit bevolchen haben E. E. W.
gehorsamen
Mitburger gemaines
handwerkhs die floßleutt.
Augsb. Handelsver.-Archiv, Fasc. LXXXX. Nr. 103.
Beilage VI.
Vergleich in betreff des Führens der Ballen im Orte
Valle bis zur Ortschaft Borca, 27. Oktober 1562, ge
schlossen zwischen den deutschen Kaufleuten, die
im Kaufhaus zu Venedig wohnen, und der Gemeinde
und Hundertschaft von Venas.
1. Genannte Kaufleute und Schaffner der Ballen sind von
heute nach rückwärts gehalten und verpflichtet, nach dem Vertrag.
der mit H. Georg Widemann aus Augsburg unter jüngst ver-
flossenen 18. September über das Fahren der Ballen durch die
Leute der Hundertschaft Venas abgeschlossen wurde, indem sie
dieselben auf der Niederlage von Valle abholen und bis zur Ort-
schaft und Niederlage von Borca fahren, 4'/: Kreuzer vom Zentner
des Gewichts besagter Ballen zu zahlen.
2. Besagte Kaufleute und Schaffner sind gehalten und ver-
pflichtet, für jedes Ballenfuhrwerk einen Kreuzer für das Fuhr
werk zu geben dem Verteiler der Ballen genannter Hundertschaft
von Venas für das Zeichnen und Überweisen besagter Ballen.
3. Die genannten Kaufleute sind gehalten, den Lohn für die
Fuhren jener Ballen Tag für Tag zu zahlen oder das Geld à
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 613
die Hand des Verteilers niederzulegen, damit die Löhne der Ord-
nung nach befriedigt werden.
4. Der Verteiler ist, wenn er versäumen sollte, die Ballen zu
gebührender Zeit zu überweisen, der Strafe und dem Schaden-
ersatz verfallen.
5. Besagte Leute der Hundertschaft von Venas sind, nachdem
ihnen die Ballen zugewiesen sind, gehalten, jeden Tag 12 Fuhren
mit Ballen von den 24 Fuhren, welche die von Valle und Pieve
zuführen, fortzuschaffen.
6. Besagte Leute der Hundertschaft von Venas können nicht
gezwungen werden noch verpflichtet sein, an den Tagen Ballen
zu führen, an welchen davon ausgenommen und frei sind die
Gemeinden von Valle und Pieve, wie an Georgi, St. Peter und
dem Marientag im September, sowie genannte Kaufleute über-
eingekommen sind mit jenen Hundertschaften und für ebenso-
viele Tage.
7. Wenn einer versäumen sollte, die Ballen abzuholen, so
ist er einer Strafe von 12 Kreuzern verfallen und der Kaufmann
kann seine Güter auf die Kosten des säumigen Fuhrmanns fahren
lassen. Sind einem Fuhrmann Ballen zugewiesen und finden sich
dieselben nicht auf der Niederlage, so sind die betreffenden Kauf-
leute ebenso besagter Strafe von 12 Kreuzern und dem Ersatz
des andern Schadens verfallen.
Augsburger Handelsvereins-Archiv, Fasc. XVI. Nr. 5.
Beilage VII.
Vertrag zwischen der Stadt Schongau und den Augs-
burger Kaufleuten. 1571. August 27.
Wir bürgermaister und rhäte der Stadt Schongau bekennen
offentlich für uns und unsere zugehörige rodleut, auch unsere und
Ihre nachkommen thun khundt menigrlich mit disem brif, als auff
Samstag nach Sanct Mathäi tag im jar nach der geburt Cristi
tausend funffhundert sechs und sechzig zwischen unß und ge-
melten unsern rodleutten an ainen und dann den ersamen und
furnemen Matheyssen Haugen, Jacoben Greynern dem eltern und
Lorrenz Pauhoff und allen bürgern zu Augspurg alls vollmächtigen
614 Johannes Müller
gewalthabern der Augspurgischen in das gepürg und Italien
handtierenden kauffleuten am andern thail, durch zween furst-
liche dazu deputierte herrn Commißarios ain spruch und ver-
gleichung habender spänn und irrungen, die rhoden betreffend,
außgesprochen, gemacht und aufgerichtet worden, welcher under
anndern seines inhalts vermag, das die bemelte kauffleut unsern
rhodleutten von jedem centner guett von Schongau auß biß gen
Fuessen oder Amergau, neun kreuzer ain pfennig geben sollen,
wie dann daßselbig von bestimbter zeit an im geprauch alßo er-
halten worden ist, und aber jetzo von wegen unerhörter theure
die bemelte rhodleutt sich umb solchen lohn zu fahren höchlich
beschwärt, auch deßhalben ainer pesserung ires lones an sie die
herrn kaufleut durch uns flehentlich begeern lassen, das demnach
vorgemelte kaufleut samt und sonders uns an stat unsere rhod-
leut bewilligt haben, inen furhin 10 kr. 1 .f von jedem centner
völlig zu lonen, jedoch dasselbig allein auf ein jar lang, von
Michaelis 1571 bis Michaelis 1572 mit der geding, das die
kaufleut dadurch aus bemelten spruch und vertrag innichten ge-
schritten sein wollen. Jedoch ist durch El. Busch, den abgesandten
der Kaufleut bewilligt worden, daß die Fuhrleut, wenn sie die
güter auf einer achs einen tages nicht bis Füssen und Ammer-
gau führen können, dieselben anı Sammeister vor Echelsbach ab-
laden, auf ein ander Wagen laden und des andern Tages bis
mittag nach Füssen und Ammergau führen.
Augsburger Handelsvereins-Archiv, Fasc. LXXXX. Nr. 331.
Beilage VIII.
Rodordnung zu Toblach. 1572, Oktober 31.
Als ain zeitheer durch die khaufleut und guetfertiger auch
derselben factoren und diner, so die straßen mit ihr wahr
durch die fürstlich Grafschaft Tyrol gebrauchen, etwa vil mengel
und beschwerden fürrkomen das ire güeter, so auf der rod
durch berüerte Grafschaft Tyrol gefürrt, langsamb gefertigt, auch
in etlichen niderlagen nit wol versorgt noch bewart werden.
Darauf sich des durchlauchtigsten fürsten und herrn, herrn Ferdi-
nanden Erzherzogen zu Österreich, Herzogen zu Burgund, Grafen
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 615
zu Tyrol unseres gnädigsten herrn, stathalter regenten und camer-
räte der Oberösterreychischen lande durch sondere ire F. Durch-
laucht hierzu verordnete rät und comißarien mit fleyß erkhundigt
und sollich der khaufleut beschwerden etlichermaßen befunden,
dagegen dieselben Irer F. Durchl. rät und comissarien, die rod-
leut zu Toblach mit irer einredt und begerung, das sy one
pesserung rodfuerlons dieser zeit und bey der großen theurung
nit besten noch deßhalben die roden fertigen oder länger darbey
bleyben mügen, genügsamlichen gehört, welche der khaufleutt
mengl und der rodleut beschwerde und begerungen zu beyden
teilen obgemelten stathalter, regenten und camer-räten fürgebracht,
auch durch sy mitsambt derselben irer F. Durchlaucht räten und
comissarien notdurftigelichen fürgenommen und erwogen, und
damit gemelte khaufleut und guetfertiger bey den strassen durch
die land bleiben, auch ire güeter auf der rod jeder zeyt gefertigt
und dann berüerte rodleut auch langer bey der fuer mit zimb-
licher belonung, die sy und die khaufleut erleyden mögen, er-
halten werden, so ist darauf durch gedachten stathalter, regenten
und camer-räte von landt-fürstlicher obrigkeit wegen mit den
hernachbenannten zwölf rodfurleuten zu Toblach diser zeit auf
das alles ain abschied gemacht und gegeben, den beyde partheyen
also annehmen und den fürhin geleben und gehalten, auch der
edle wolgeborn ihro Bernhart Künigl. Freyherr zu Erenburg und
Wart, inhaber der Herrschaften Heunfels und Schönegg irer
F. Durchl. rat und hauptman zum Peitlstein, vestiglich darob
sein solle, das dem also folg beschehe, wirklich nachkhomen
und darwider mit dem wenigsten nit gehandelt werde, und laut
die ordnung, zu obberuerten Toblach gegeben, wie hernach volgt.
1. Als die gedachten 12 rodfuerleut zu Toblach von alter
her alle gueter gen Toblach zum Gasthauß gebracht, und von
dannen weiter auf der rod zu fueren begert werden vom Gast-
haus biß gen Brauneggen und von Toblach zum Gasthaus zu
fueren und zu fertigen schuldig sein, zu sollicher rodfertigung
sollen sy 12 rodwägen mit irer nottürftigen zugehör, als roß,
ochsen, wagen, gschürr und dergleichen unabgängig halten und
soll ain umbgeende rod sein und genannt werden, also wann,
als sich offt begeben mag, auf ainmal nit soviel gueter vorhanden
616 Johannes Müller
sein wurden, das die ernannten rodwägen alle zu füren haten, soll
es die nächst fart, so mer gueter khomen, an denen es vor er-
wunden ist, angefangen werden und also undter inen umbgen
und khainer für den andren mit merer furr der rhodgüter ge-
fortailt, sonder alß für und für threulich und ungeverlich on
vortl gehalten werden.
2. Dieselben zwölf Rodwägen sollen das ganze Jar, sumer
und winters zeiten der rod fleißig warten, und mit aller notdurft
darzugehörig, befaßt sein. Also wann khaufmansgueter, palln,
oder andrers von Venedig, Terfiß oder anderer enden heraus werz
zum Gasthaus in die niderlag oder einwerz von Brauneggen gen
Toblach under das pallhauß oder niderlag daselbst gebracht werden,
sollen die kaufmanß diener oder fertiger derselben gueter solliches
dem aufgeber zu Toblach anzaigen, derselb aufgeber soll alsdann
solliches den vorgemelten rodfüerern, daran es jeder zeit sein wirdet
und sich nach der ordnung gebürt, sonderlich somers, da ire roß
auf der alm gehalten und gewaydet werden, vormittentag und
windters zeiten umb mittentag fürderlich ansagen und zuwissen
thuen.
3. Darauf sollen dieselben rodleut, so man darzu wissen last,
sich yeder zeit guetwillig beweisen und mit den rodwägen des-
selben abends gehorsamtlich erscheinen und laden, alsdann zu
morgens frue ausfaren und weder auf gegenfuer noch aus khainer
andren ursachen verziehen, sonder unverzogenlich die gueter,
wie die noch den alphabet oder zalzeichen von Brauneggen
herauf gebracht werden, dermaßen als von Toblach zum Gast-
hauß an ainem Tage die gueter umb mittentage dahin zu ant-
worten, damit sy die Haidner denselben tag auch mügen auf-
legen und hinweckh füren, und vom Gasthauß gen Brauneggen
in zwayen tagen, welliches endts sy dann zu farn beschayden
werden, unverzogenlich under die pallhäuser oder niderlagen
daselbs füren und davon noch underwegen nit abschlagen oder
in die nässe den khaufleuten zu nachteil und schaden niderwerfen,
allain so sy rodgüeter von Toblach gen Brauneggen fürn und
die rodleut von Brauneggen auch rodgüeter gen Toblach füreten
und also underwegen anainander antröffen, mugen sy den ab-
wechsel sollicher rodgücter wie von alter mitainander doch ur-
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 617
verlezt der khaufmanns güeter wol gebrauchen, auch guet achtung
und aufsehn haben und diesen fleyß gebrauchen, das solliche
gueter am füren nit beschädigt, auch nichts davon entfrembt, ver-
lorn oder wie sich dessen die khaufleut und guetfertiger be-
schwert die woll aus den seckhen gezogen und hernach verkauft
oder sonst, wie das gesein mag, nachteilig oder schadhaft werden.
Ob aber darüber ainicher schaden daran entstünede, damit soll
es gehalten werden, wie von alter herkhomen und an andern
roden in disem landt der geprauch ist ungeverlich.
4. Sie sollen auch alle tag, so anders gueter vorhanden und
inen angesagt worden, zufaren schuldig und verbunden sain,
und für sich selb khain feyrtag machen, noch fürnemen, allein
die feyrtag, so in der land ordnung begriffen, sollen sy wider
iren willen zu füren nit gedrungen werden. Und so sy ein tag
mit geladenen rodwägen gefarn sein, mügen sy den andren
negsten tag, ob sy wollen, feyren und das gemen rasten lassen.
5. Die khaufleut oder guetfertiger sollen auch die rodwagen
oder palln nit schwerer füren oder machen, dann auf vierund-
zwanzig Centner ungeverrlich, damit sy die rodfuerleut und ire
gemen die palln geweltigen mügen. Sy sollen auch ire güeter
der ziffer oder zal nach ordentlich aufgeben oder zu thuen ver-
ordnen, auf das inen dieselben ire gueter nit zerteilt gefüert und
voneinander gebracht worden.
6. Sie sollen auch im ansagen nicht minder noch mer wagen,
dann sovil sy jedes mals zu laden haben, begeren und den
rodfürrleuten, an denen es derselben zeyt sein wirdet, verkhünden,
damit sy nit vergebenlich umb die weeg gesprengt werden, das
irig mitler weyl dahaims zü verabsaumen.
7. Ob aber der aufgeber auf des khaufmanns oder seines
diners begern merer wägen, dann sy zuladen haben, begern oder
ansagen wurde, soll der khaufmann oder fertiger jedem rod-
fürrer, so auf sollich sein ansagen und begern zum Gasthaus
erscheint und nit zuladen hat, für sein versaumbnus das vol-
khomen fürlon wir andren seinen mitgespännen, ainen 80 zu
fürrn hat, bezalen, wellicher rodfürrer aber auf das ansagen nit
erscheint und doch zuladen haben wurde, der soll den khauf-
leuten sovil gelts, als das fürlon hett bracht, verfallen sein, das
618 Johannes Müller
soll im der aufgeber an seiner bezalung aufheben, wellicher thail
sich aber dessen sezen oder verwidern wurde, der soll, so oft
sich das begibt oder zutragt, der obrigkheit desselben ends auch
sovil zu straf geben, als das furlon bracht hatt. —
8. Und nachdem die khaufleut und guetfertiger den rodfürr-
leuten zu Toblach bisher von ain wagensäm, das ist vier Centner
landgewicht, vom Gasthauß bis gen Brauneggen sechsunddreifßig
khreuzer und von Toblach zum Gasthauß achtzehn khreuzer fur-
lon gegeben. Wann sich aber berürrte rodfürrleutt aller hand
schwebenden grossen theurung und das sy bey sollichen lon je
nit bestenn mögen, zum höchsten beklagt, ist inen in ansehung
desselben und damit sy die gueter desto fürderlicher und fleißiger
von ainer rodstadt zu der andern füren und fertigen, solliches
furlon durch obangeregte Irer F. Durchl. rät und comißarii auf
dero gehabten, fürstlichen befehl, auch auf hochernannter F. Dt.
wolgefallen und widerrüffen, dergestalt gepessert worden, also das
inen hinfürter von jedem wagensäm gen Brauneggen vierzig
khreuzer und dann zum Gasthaus zwanzig khreuzer geraicht
werden solle, das bringt auf ein Centner vom Gasthaus gen
Brauneggen zehen khreuzer und vom Toblach zum Gasthaus
fünf khreuzer. —
Aber disen gestaigerten und pesserten lon sollen die rodfur-
leut die khaufleut, Guetfertiger oder ire diener mit beschwern,
sonder die gueter gegen sollichen erhöeten lon (wellicher yeder
zeit wie gemelt auf Irr F. Dt. wolgefallen geraicht werden solle)
unverhindert füren, fertigen und antwurten.
9. Und nachdem siben belehende vorwägen des ennds zu
Toblach sein, sollen die berürten zwölf rodfürleute von jedem
iren geladenen rodwagen, so sy die vorwägen antrifft, den sy
vom Gasthaus gen Brauneggen füren, den ernannten siben vor-
wägen hinfüran nit mer dann vier khreuzer geben, das sy sich
auch für ir gerechtigkhait des vorwagens sollen und haben be-
nügen lassen, doch was der herrschaft Toblach ins ambt gehört,
unvergriffen.
10. So ist hievor durch die rodfürleut dem aufgeber zu Tob-
lach von yedem wagen, den sy vom Gasthauß gen Brauneggen
oder von Toblach zum Gasthaus füren, ansaggeld acht vierer
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 619
gegeben worden, das soll hinfüro durch die khauffleut, wie an
allen andern roden im ganzen landt der gebrauch ist, noch also
bezalt werden.
11. Und als yeder wagen, so geladen mit truckhen khauf-
mannsguetern zu Toblach von Venedig, Terfiß oder andrer enden
derselben strassen herauß oder dieselb straß hineinwerz unabgelegt
durchgefüret werdet, unzther vierundzwanzig khreuzer niderlag-
geld geben hat, dabey last mans noch bleiben, jedoch soll es
damit gehalten werden, wie von alter herkhomen nach gelegen-
hait, wie ainer furet, treulich und ungeverlich, dardurch die fuer-
leut sich des zu beclagen nit billiche ursach haben. Dasselbe
niderlag: oder fürfargelt solle albeg dem gefolgen, so dieselben
wägen der ordnung nach zu fuern antroffen hat, so sollen auch
die gueter, so auf der rod under die niderlag khomen, albeg vor
den andern guetern, so auf der äx khomen, gefüert und befördert
werden.
12. Und nachdem inen verschiner jar auf ir begern ain fron-
wag alda zu Toblach aufzurichten zugelassen ist und ain ge-
schworner weger, der alzeit derselben wag fleissig warte, zu ver-
ordnen, bey demselben mugen sy, ob sy wellen, bleiben, doch
sollen sy die khaufleut mit dem weggelt nit beschwern.
13. So etwa zu zeiten groß schneegefell fallen oder ainich
län oder wassergüß, das die strassen verschüttet wurden, also
das inen den 12 rodfuerleuten die strassen zu prechen oder zu
faren beschwerlich und nit müeglich were, soll inen jeder zeit
der notturfft nach durch die gemein zu Toblach und derselben
mitgenanten zu Prags und Tall geburliche und nottürftige hilff
in eröffnung mit vieh und leuten beschehen, die ain jeder pfleger
und zollner zu Toblach mit allem ernst, wie von alter herkhomen
ist, darzur verschaffen und halten solle, doch sollen sy die rod-
leut mit iren gemen treulich darzu helffen und nit exempt sein.
14. Und wo es sich zutrüge, das aus disen zwölf rodfurleuten
ainer oder mer über khurz oder lang in abfall, verderben oder
schmelerung seiner gueter kheme, also das er seine rodwagen gar
oder halben yr nit mer zufürn vermüglich und sich das bew ertlich
befunden, so soll an desselben stat durch die obrigkheit zu Tob-
lach yeder zeit ain audrer taugenlicher und der rod fürstenndiger
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 621
ersamen und weisen herrn burgermaister und rhat der Statt
Schongau mit den erenvesten und fürnemen wolgedachter heren
kauf- und handelsleut abgeorneten gevollmechtigten, auch zu-
gleich interessirten herrn, Martin Pfeiffelmann, Christof Schmid,
Jakob Nepperschmid und Sebast. Reisman, Notarien, volgender-
massen und auf 10 jar lang, wie es forthin beederseits gehalten
werden soll, gemittelt und bethedingt werden, nemblich und also,
daß fürnemblich
1. Erstlich: Gedachte Rodfloßleut sollen sich mit gueten taugen-
lichen holtzen, so zur beladung der kaufmanßgüeter dienlich,
gefasst machen und guete fursehung thun, damit die pallen und
andere gueter wohl underschlagen, nit genetzt, sondern fein
thruken nach Augspurg gepracht worden mögen.
2. Fürß andere sollen bemelte rodfloßleut Ire knecht oder
wem sie es an ihrer statt zu thun bevehlen, da sy kaufmans-
güeter führen, sich forthin andrer wahren, so wol der personen
alß kauderey oder dergleichen nit aufzuladen, genzlich enthalten
uf daß durch daß überladen den kaufmannsgüetern nit schaden
ervolge.
3. Zum dritten sollen auch sy die rodfloßleut jeder rod mit
gebürender anzahl gewichts, alß vierzig centner, und nit weniger
einßmalß laden, wovern sich aber die gelegenheit der güeter und
pallen schickhen und etwaß über die benambte anzahl gewichts
alß vierzig centner sein möchten, sollt inen das übergewicht, so
viel dasselbige pro rata anlauffen tut, auch bezalt, entgegen aber
wo eß undter sechsunddreißig centner befunden wurde, soll inen
diser abgang der volligen roden auch gleichermaßen am lohn
abgezogen werden. —
4. Beyneben versprechen und zusagen auch vorgedachte rod-
floßleut, im fall durch ire hin- und farlessigkeit den güetern schaden
zuegefüget oder beschehen möchte, daß sy solchen billicherweiß
buessen und abthun wollen, umb derentwillen und auf daß zeit-
lich zusehen, ob durch sy die rodfloßleut den guetern schaden be-
schehen oder nit, sollen sy, so balden sy mit denen bey gewon-
lichen lenden in Augsspurg ankommen, sich bey dem stosser
anmelden, daß fuerbrieflein, so inen alhie gegeben, dem oder wer
sonsten an seiner stat vorhanden sein wurde, uberantworten, die
622 Johannes Müller
gueter besichtigen und auf erfindenden schaden sich fur den
kauffherrn, dem selbige gueter gehörig, selbsten persönlich stellen.
5. Zu schuldiger und gebürlicher ergötzlichkait solcher ir der
rodfloßleut habender mühe und arbait gereden und versprechen
wir vorbenannte gevollmächtigte abgeordnete und interessierte
herrn fur sich und ire zugewandten herrn kauffleute inen rodfloß-
leuten von jeder ganzen rod 3 fl. und 46 Kr. Dann und da es
sich begebe, daß etwaß wenigs der gueter bey der niderlag alhie
ankeme, so die völlige rod der 40 centner nit erreiche, sondern
allain aine halbe rod belangen möchte, solle inen floßleuten all
ain halbe rod 2 fl. 40 Kr. zu lohn gereicht und gegeben werden.
6. Bei diesem allem soll es, wie vorgemelt, zu beeden theilen
die benannte 10 jar bestanndhafft verbleiben, wie dann ehren
vorgedachte abgeordnete und interessirte herrn kauff- und handel;
leut für ire person und dero mitverwanten, auch vorberurte
herrn burgermaister und rhat der Statt Schongau angeregte ire
anbevolhene rodfloßleut dem allen würkliche vollziehung zu laisten
gelobt, versprochen und zugesagt. Zu urkhundt sein dieser ver-
trag zwei gleichlautend aufgericht, davon jeder theil einen zu handen
genummen, auch mit der herrn kauf- und handelsleuten deren
von einem ersamen rhat zu Augsspurg über daß rodwesen depu-
tirten außschüssen benamtlich der erenvesten und fürnemen herrn
Martin Horngachers, Martin Pfeiffelmanns, Daniel Böcklins und
Marx Herzels, alle burger daselbst, dann im namen und anstat
offtgemelter rodfloßleut uf beschehenes bittliches ersuchen mit
gemeiner statt Schongau furgetrucktem insigel bekräfftigt worden.
Geschehen zu Schongau den 22. Juni im 1597 jar.
Augsb. Handelsvereins-Archiv. Fasc. XVI Nr. 15. (Beilage
zur Relation Christ. Schmidts, Jak. Nepperschmidts und Sebast.
Reisners, der handelsleut gewalthaber auf die tagsetzung vom
10. Febr. a. 1597 gen Innsbruck abgeordnet.)
Beilage X.
Ordnung und Articul für die Guetbestetter und
Füerleuth.
Dekretum in Senatu 26. July Anno 1612.
1. Die bestellte guetbestetter sollen ihrem anbefohlenen dienst
622 Johannes Müller
gueter besichtigen und auf erfindenden schaden sich fur den
kauffherrn, dem selbige gueter gehörig, selbsten persönlich stellen.
5. Zu schuldiger und gebürlicher ergötzlichkait solcher ir der
rodfloßleut habender mühe und arbait gereden und versprechen
wir vorbenannte gevollmächtigte abgeordnete und interessierte
herrn fur sich und ire zugewandten herrn kauffleute inen rodflof-
leuten von jeder ganzen rod 3 fl. und 46 Kr. Dann und dae
sich begebe, daß etwaß wenigs der gueter bey der niderlag alhie
ankeme, so die völlige rod der 40 centner nit erreiche, sondern
allain aine halbe rod belangen möchte, solle inen floßleuten al
ain halbe rod 2 fl. 40 Kr. zu lohn gereicht und gegeben werden.
6. Bei diesem allem soll es, wie vorgemelt, zu beeden theilen
die benannte 10 jar bestanndhafft verbleiben, wie dann ehren
vorgedachte abgeordnete und interessirte herrn kauff- und handel:-
leut für ire person und dero mitverwanten, auch vorberurte
herrn burgermaister und rhat der Statt Schongau angeregte ire
anbevolhene rodfloßleut dem allen würkliche vollziehung zu laisten
gelobt, versprochen und zugesagt. Zu urkhundt sein dieser ver-
trag zwei gleichlautend aufgericht, davon jeder theil einen zu handen
genummen, auch mit der herrn kauf- und handelsleuten deren
von einem ersamen rhat zu Augsspurg über daß rodwesen depu-
tirten außschüssen benamtlich der erenvesten und fürnemen herm
Martin Horngachers, Martin Pfeiffelmanns, Daniel Böcklins und
Marx Herzels, alle burger daselbst, dann im namen und anstat
offtgemelter rodfloßleut uf beschehenes bittliches ersuchen mit
gemeiner statt Schongau furgetrucktem insigel bekräfftigt worden.
Geschehen zu Schongau den 22. Juni im 1597 jar.
Augsb. Handelsvereins-Archiv. Fasc. XVI. Nr. 15. (Beilage
zur Relation Christ. Schmidts, Jak. Nepperschmidts und Sebast.
Reisners, der handelsleut gewalthaber auf die tagsetzung vom
10. Febr. a. 1597 gen Innsbruck abgeordnet.)
Beilage X.
Ordnung und Articul für die Guetbestetter und
Füerleuth.
Dekretum in Senatu 26. July Anno 1612.
1. Die bestellte guetbestetter sollen ihrem anbefohlenen diens
Das Rodwesen Bayerns und Tirols im Spätmittelalter etc. 623
und beruef mit gesambten zuethuen, vlaiß und ernst abwarten,
und ire sach treulich und also verrichten, damit der handelsleuth
güeter und wahren zur rechten zeit, ordentlich bestellt und auf-
geben werden, inn sonderheit aber sollen sie auf ain sonderbare
tafel in der waag der fuerleuth namen, umb tag und zeit, wann
ein jeder alhir ankommen ist, mit vleiß ordentlich verzaichnen
und auffschreiben.
2. So soll auch kein guetbestetter wie auch die würth und
gastgeber, noch die irigen durch sich selbst oder andere, den
ankommenden fuerman auf der strassen, vor- und in der statt
verwartten, auffangen, in einen gasthof, der ihm gefellt, füern
nötigen oder einkerrn machen, sondern den fuermann hierinn
seinen frreyen willen und einen jeden außspannen lassen, wo
und in welchem würtshauß er lust hat, bey eines E. rhats ernst-
licher straff.
3. Damit aber under den fuerleuthen eine durchgeende gleich-
heit gehalten und keiner vor dem andern, wir bißhero beschehen
ist, mit güetter, der bestetter gefallen nach, hinauß beladen werde,
sollen die guetbestetter vorthin volgende ordnung hallten, das sie
die fuerleuth, der ordnung und zeit nach, wie sie ankommen seien,
wieder wegfertigen und beladen, sie zören gleich, wo sie wollen,
und solle under ihnen kein underschied gemacht werden, er sei
gleich ein Schwab, Türinger, Flammenspacher oder anderer landsart ;
also das der am längsten hier gewesen, zum ersten mit wahren ver-
sehen und beladen werden solle, nach ihm der ander, so er inen
gefolgt und herkommen ist, und also vortan, wie ihn die ordnung
an der tafel treffen würdet: Doch wann die handelßleutt ainem
oder andern fuerman die güetter zu vertrauen bedenkens hetten,
sollen die bestetter den fuermann solches unverzüglich anzeigen,
damit er nit lang aufgehalten werde.
4. Ferner sollen die guetbestetter auf die fuerleut, in was
geschray, leumunt oder ruf sie seien, bei den andern oder sonsten
vleissige acht geben und guett nachfrag haben und sovil inen
möglich, daran sein, damit die wahren und güetter richtigen,
gewißen und unverdechtigen fuerleuten aufgegeben und vertraut
werden, und da sie von ainem was hören oder erfahren wurden,
welches den handelsleuten oder den wahren zu nachtail geraichen
624 Johannes Müller
möchte, solches getreulich anzaigen und irem besten vermögen
nach allen schaden warnen, wenden und verhüeten helfen.
5. Die guetbestetter sollen auch gegen den handelsleuten und
fuerleuten sich aller beschaidenhait und willferigkeit befleissen,
under ainander guetes vertrauen und ainigkeit hallten, auch wss
sie mit oder ohne ainander wegen bestettigung der guetter von
den fuerleutten zue lohn einnemen und empfangen, under sich
gleich tailen und keiner vor dem andern darbey ein vortel oder
mehreren thail haben, wann er gleich die fuerleut mit mehreren
güettern, dann sein gesell, beladen gemacht hette. Dahingegen
sollen sie sich gleichen vleisses, arbeit und mühe befleissen und
keiner dem andern zu klagen ursach geben.
6. Sy sollen auch büecher und verzaichnussen haben, darein
sie alle wahren, so sie ufgeben, wem sie gehörig, wieviel sie
gewogen, mit was zaichen, mark und numero sie bezaichnet
gewesen, sambt deß fuermanns namen und von wannen er Bey,
item tag und zeit und andrer umbstand mehr ordenlich schrieben
damit man bei ihnen jeder zeit notwendigen bericht deswegen
haben möge.
7. Damit auch der fuerman mit übermessigen lohn nit be-
schwert werde, sollen sie nit macht haben, ein mehreres zu fordern,
dann vom centner zwen kreuzer, es were dann sach, das
die fuerleut ihnen wegen gehabter extraordinary muehe und vil-
feltigen umblaufens auf guettem willen ein sonderbare verehrung
und ergötzlichkait thon wollten.
8. Diesem allem und was ein Ers: rhat noch ferneres künftig
verordnen möchte, sollen die guetbestetter bey irem geschworenen
ayde und verlust ihres diensts auch anderer unnachleßiger straf
treulich und vleissig nachkommen. Der Flammenspacher und
anderer fuerleuth und guetbestetter ordnung ist approbiert und
soll die execution denen übers rowesen anbefohlen werden.
Augsb. Handelsvereins-Archiv. Fasc. I. A. 5.
irols im Spätmittelalter etc.
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8°],
14,
4
61),
10'/,
9/4
814
8
5
12}:
Verzeichnis der Rodlöhne auf der oberen Strasse während des 16. Jahrhunderts.
Lohn per Zentner auf der Herausfahrt.
Rodbezirke.
Grimm p. Castelnöf . . .
Castelnöf p. Levigo . . .
Levigo p. Persen . . . .
Persen p. Trient . . . .
Trient p. Neumarkt . . .
Neumarkt p. Terlan . . .
Terlan p. Meran . . . .
Meran p. Lätsch . . .
Pro Wagen 6 kr. Jochgeld
Lätsch p. Glurns . . . .
Glurns p. Nauders .
Pro Wagen 12 kr. Jochgeld
Nauders p. Prutz . . . .
Prutz p. Zambs . . ..
Zambs p. Imst . . .
Pro Wagen 9 kr. Jochgeld
Imst p. Lermoß . . .
LermoB p. Füssen oder Fils
Füssen p. Schongau . . . |
u — eq
1510 1580 1566 1872 1597
kr. | kr. | kr. | kr. | kr.
. 18 B B Bi
: : 41,16 71/4
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41};| 6 9 110 11!
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51, | 7 | 7 | 8 | 9
5,16 | 7, 10 ‚u
8 7 10%, [18
| |
Les débuts de l'établissement John Cockerill à Seraing.
Contribution à l’histoire des origines de la grande
industrie au Pays de Liège.
Par
Ernest Mahaim, professeur à l’Université de Liège.
Le monde entier connait le nom de Cockerill, qui est celui
du plus grand établissement industriel de la Belgique: en
mars 1905, il occupait 9560 ouvriers et employés; il comprenait
douze «divisions d'entreprise» différentes et utilisait 13000 che-
vaux-vapeur,
En outre, si on le rattache à l'établissement du premier
Cockerill à Liège, en 1807, dont il n’est que la continuation,
il est un des plus anciens. Ainsi, né sous le premier Empire,
grandi sous le tutelaire rêgime hollandais, il a traversé toutes les
commotions politiques et financières du XIX° siècle, connu le
mercantilisme, le protectionnisme et le libre échange. Rival des
grandes maisons européennes, des Krupp, du Creusot, sans avoir
atteint leurs proportions, il a cependant lutté sur tous les marchés
du monde. Il constitue, on peut le dire, l’un des plus beaux
exemples de développement industriel des temps modernes.
Comme la figure de John Cockerill paraît être une des plus
étonnantes que le monde industriel eût connue au début du siècle
dernier, l’histoire économique aurait pu trouver dans ce prodigieux
établissement un champ unique d’observation.
Malheureusement, les documents originaux concernant du
moins la période qui a précédé la constitution de la société
anonyme actuelle (1842) font défaut. En 1880, une inondation
a détruit et rendu illisible une grande partie des archives.
628 Ernest Mahaim
Depuis lors, pour gagner de la place, on en a brulé une autre
partie.
Grâce à l’extrême amabilité de M. le Directeur-Général Greiner,
à qui je me plais à adresser publiquement mes remerciments, le
reste a été mis à ma disposition.
Ce fonds se compose d’une vingtaine de livres de commerce:
grands-livres, livres-journaux, livres de caisse, carnets d'échéance,
de quelques livres de correspondance et copies de lettres; enfn
d’une bonne centaine de liasses de lettres. Ces documents ayant
été sauvés de l’eau et du feu par hasard se rapportent à des
époques différentes et n’ont aucune continuité. Les lettres de
1810 à 1813 sont très-nombreuses. De 1817 à 1822, il n’y a
presque rien. Puis c’est vers 1840, que les documents s’ace-
mulent de façon à éclairer probablement la situation de la firme à
la mort de Cockerill et lors de la fondation de la société
anonyme.
Je voudrais, dans cette étude préliminaire, donner une idée
des renseignements contenus dans les documents relatifs aux
années de début de la maison de Liège (1809—1813).
Mais auparavant, il est nécessaire de tracer brièvement
l’histoire des Cockerill telle qu'elle nous a été contée jusqu'à
présent par les différentes notices qui leur ont été consacrées.
k * k
William Cockerill nous est représenté comme un ouvrier
mécanicien anglais, ou irlandais '), qui s’expatrie en 1797, pour
aller construire des moulins à filer la laine en Suède. Il ne
réussit pas et fait sans plus de succès le commerce de bois
Rencontré à Hambourg par un employé de la maison Simonis
chargé des achats de laines, il est engagé — voyage payé —
pour venir à Verviers y construire ses machines?) (1798). D se
1) J.-8. RENTER, Histoire de Pindustrie drapière au Pays de Lig.
Mémoires de la Soc. d’ Emulation. Nouv. série t. VI. 1881, p. 8. Dans ss
demande de naturalisation française, (1809) il se dit natif de Lubec (sic). Son
acte de décès (Aix-la-Chapelle 1832) le dit né à Hastingden (sic), England.
2) D'après RENIER, qui tient les renseignements de l’agent des Simonis
lui-même, celui-ci dut s’y reprendre à deux fois: une première fois, Cocker)
avait promis de venir à Verviers, mais n’avait pas tenu sa promesse. C'es
Les débuts de l’établissement John Cockerill à Seraing. 699
lia par contrat, envers la maison Simonis et Biolley, à ne travailler
que pour elle. «On lui donnait Fr. 25000 par ,assortiment:
qui se composait d’une droussette, d’une repasseuse ou carde,
d'un moulin gros de 40 broches et de quatre moulins en fin de
60 broches. Ceux-ci se mouvaient par le bras seulement et la
droussette par le bras ou un moteur').» Cockerill était telle-
ment pauvre qu'il était hors d’etat d'acheter le fer dont il avait
besoin et se le fit fournir par ses clients. Il avait alors avec
lui deux de ses fils: William et James.
Les machines, terminées à la fin de l’année 1800, eurent un
succès considérable. Tous les fabricants, concurrents des Simonis,
voulurent en avoir. Mais Cockerill était tenu par son contrat.
It fit venir d'Angleterre en 1802 James Hodson (né à Notting-
ham), mécanicien, qui avait à Londres un petit établissement. Il
lui donna en mariage sa fille Nancy, et ce fut Hodson qui répan-
dit, à Verviers et aux environs, les machines tant désirées.
C'est cette année là, 1802, que John Cockerill vint rejoindre
son père. Il avait, dit-on, 12 ans (étant né à Haslingden dans le
Lancashire le 3 août 17907) et eomme ses frères, il fut mis
immédiatement à l'atelier. On raconte que, laissé en Angleterre
ehez un parent pendant l’absence de son père, ce parent «l’avait
employé aux travaux les plus rudes, sans lui épargner les mauvais
traitements» °) et ne l’avait mis à l’école qu’à neuf ans‘).
Nous ne savons pas grand chose sur les affaires des Cockerill
à Verviers, tandis qu'on répète que celles de Hodson étaient très
florissantes.
l'hiver suivant que le voyageur verviétois le rencontra, par hasard, patinant
sur la glace, et apprit que Cockerill n'avait pas de quoi payer ses frais de
voyage.
1) RENIER, op. eit. p. 187.
2) C’est, du moins, ce que prétend GoBBRT, Les rues de Liège. Verbo
Cockerill, t. I. p. 811. Mais le registre aux baptèmes de Haslingden, consulté
à ma demande par le vicaire (1904) ne porte rien à cette date, ni à aucune
autre de 1790. Par contre, il indique, le 12 avril 1789: John, son of William
und Betty Cockrel. Il en résulterait que Cockerill était d'un an plus agé
qu'il na le eroyait lui-même, et que l'orthographe de son nom a été altérée.
8) Biographie nationale t. IV. col. 281 (notice d’En. MORREN).
4) GOBERT, loc. cit.
630 Ernest Mahaim
En 1807, William Cockerill vient s’etablir a Liege avee sa
famille. «Il monta d’abord, dit BECDELIEVRE'), au pied du
Pont-des-Arches, un atelier de construction pour les machines à
carder et à filer la laine grasse et autres mécaniques pour la
fabrication des draps.» Mais cet atelier devenant bientöt trop
restreint, Cockerill acheta l’Hötel de Forêt, vaste immeuble
situé près du pont du Lycée ou Pont des Jésuites. «En peu de
temps, il construisit une telle masse de ces mécaniques qu'il en
inonda la France et les principales contrées de l’Europe» *). Dans
ses ateliers mêmes, 150 ouvriers étaient occupés, mais un très
grand nombre d’autres travaillaient à domicile?
Le succès des affaires fut tel qu’en 1813, à l’occasion du
mariage de ses deux fils James et John avec deux demoiselles
Pastor d’Aix-la-Chapelle, le père Cockerill leur cédait son éta-
blissement, et se retirait, après fortune faite.
En 1810, il avait reçu la grande naturalisation française, à
la suite d’une récompense «au concours des prix décennauxr°).
Les deux jeunes gens, à la tête de la maison, ne .tardent
pas à lui donner de l’extension et à varier sa production. Des
1815, ils fondent un établissement à Berlin, à la suggestion,
dit-on, de M. Beuth, ministre des finances de Prusse, que leurs
parents avaient eu à loger chez eux en 1814, pendant le passage
des Alliés en Belgique.
La même année, 1815, ils construisent leur première machine
à vapeur.
Le 25 janvier 1817, les Cockerill acqueraient du ni
Guillaume I” des Pays-Bas le Château de Seraing, -ancienne resi-
dence des Princes évêques de Liège. Ce château, tombé dans
1) Biographie Liegeoise 1837, p. 713. La notice de BECDELIÈVRF
a servi à la plupart de ceux qui ont écrit les suivantes. Elle renferme
certainement des erreurs de date. Mais, comme elle a été écrite du vivant
de John Cockerill et peut-être revue par lui, elle présente certaines garanties
d’exactitude que d’autres n’ont point.
2) BECDELIÈVRE, loc. cit.
8) BECDELIÈVRE, loc. cit. D'après une lettre de William Cockerill fl,
datée du 28 avril 1811, les lettres de naturalisation venaient d'arriver à
Liège à cette époque. Le serment d'allégeance ne fut certainement preie
qu'en mai 1811.
Les débuts de l’établissement John Cockerill à Seraing. 631
le domaine public à la Révolution, avait été transformé en hôpital
militaire et en magasin à poudre sous l’Empire.
On ne nous dit pas de qui vint l’idée de cette acquisition:
de Cockerill ou du roi des Pays-Bas’). Toujours est-il que
cette idée ne manquait pas de hardiesse, car, pour l’époque, les
ateliers qu’on y installa parurent gigantesques. Dès le début,
la clientèle du Gouvernement fut assurée a la nouvelle usine,
dans laquelle le roi était d’ailleurs personnellement intéressé.
Il existe encore des cachets de l’époque qui portent: «Koninglijk
Etablissement te Seraing».
Ces ateliers étaient montés pour construire des machines à
vapeur, des machines d'industrie textile (lin et laine) et compre-
naient une filature de laine, qui ne fut maintenue que quelques
années. Tout était disposé en vue des accroissements successifs,
et l’on assure qu’à cette époque «il n'existait rien d’un ensemble
aussi considérable, même en Angleterre»*). «Du jour où la
fondation de Seraing a été résolue, dit un article du Temps de 1840,
cité par M. GoBERT?), les Cockerill se sont faits les premiers,
les plus grands constructeurs de force mécanique, non seulement
de notre continent, mais du monde entier.»
Dès 1820, on voit Cockerill poursuivre l’idée de rendre son
établissement autonome, en produisant lui-même ses matières
premières. Cette année, il demande l'autorisation d'établir un
1) Ep. MORREN raconte une anecdote assez curieuse qui tendrait à faire
croire que les ouvertures furent faites par le roi: «Notre industriel avait été
recommandé au roi par l'honorable comte de Mercy-Argenteau, alors grand
ehambellan; mandé à La Haye, Cockerill répondit à peine aux nombreuses
questions que lui adressa le roi Guillaume, qui, après l’entrevue, ne put se
eontenir. — Mais, mon cher comte, quelle espèce de mnet m’avez-vous
amené lä? — Pas si muet et moins sourd encore, Sire: c’est un esprit précis,
profond, voyant loin et plein d’audace: je viens demander pour lui la faveur
d’une seconde audience. Soit complaisance, soit curiosité, l’audience fut
accordée. Cockerill avait eu le temps de réfléchir sur les propositions
royales; il retrouva la parole et formula des aperçus si justes, des calculs
si positifs qu'il obtint instantanément tout ce qu’il ponvait désirer» (loc.
cit. col. 232).
2) MORREN, loc. cit.
8) Op. cit. t I. p. 818.
632 Ernest Mahaim
baut-fourneau pour fonte au coke!). Cette demande est la
première faite dans la province de Liege; mais le haut-fournean,
commencé seulement en 1823, sous la direction de l'ingénieur
anglais Mushet, ne fut mis en activité qu'en 1826, après celui
de Henri-Joseph Orban à Grivegnée.
En 1823, James Cockerill céda sa part à son frère John,
qui devint ainsi seul propriétaire de la maison de Seraing. Celle-ci
ne tardait pas à se faire une spécialité des machines à vapeur.
En 1824, elle faisait des moteurs de 30 à 50 chevaux pour le
cabotage. L'année suivante, elle livrait «de magnifiques machines
de 240 chevaax pour la marine de guerre de l'Etat néerlandais
(notamment pour la corvette l’Aélas) au grand dépit des con-
structeurs anglais qui trouvaient l’entreprise ridicule et exagérée,
la marine anglaise n’en possédant alors que de 150 chevaux”).
De 1826 à 1828, se place l'installation de la houillière Henri
Guillaume avec ses puits, ses galeries, ses aménagements constitués
dans des proportions alors inusitées*). L'usine était, dès lors,
en possession d’une des sources principales de matières premières,
le charbon.
La révolution de 1830 vint mettre Cockerill à deux doigts de
sa perte. L'Etat néerlandais et le roi Guillaume étaient restés
fortement intéressés dans l'établissement de Seraing: une partie
du prix d’achat du château n’avait pas été payée, et il avait reçu
des avances de fonds. En outre, il avait des relations d’affaires
avec les maisons les plus importantes du commerce et de la
finance des Pays Bas‘). Pendant deux ans, l’activité des atelier:
fut réduite à presque rien. Elle reprit un nouvel essor, en 1834.
quand les négociations avec l'Etat belge pour la cession de sa part
aboutirent à rendre John Cockerill seul propriétaire. Cet évènement
1) P. Jacquemin, Notice sur l'établissement Cockerill à Seraing. Liège
1878, p. 15. — M JACQUEMIN, né en 1822, aujourd’hui encore chef é&
comptabilité à la Cie. Cockerill, est l’un des plus anciens fonctionnaires.
D est entré dans l’etablissement sous John Cockerill lui-même, en 1884. D est
l'auteur d’une série de notices (la première signée de M. Sadoine, date de 1873).
2) JACQUEMIN, loc. cit.
3) JACQUEMIN, loc. cit.
4) JAOQUEMIN, loc. cit. p. 17.
Les débuts de l'établissement John Cockerill à Seraing. 633
fat fêté par la population ouvrière d’une manière qui témoigne
de la solidarité qui existait entre Cockerill et ses ouvriers. Ils
éerivirent sur la porte de l'Etablissement: «C’est da noss to seu»
(C'est à nous tous seuls) !).
En 1835, Cockerill livrait à l'Etat belge «la première loco-
motive et les premiers rails pour l’un des premiers chemins de
fer du continent: celui de Bruxelles à Malines, et d’Ans à Anvers,
établi en exécution de la loi du 1°" mai 1834»).
Une période d'activité débordante s’ouvrit alors. C'était
l’époque du premier établissement des chemins de fer, et les
commandes gouvernementales ne manquaient pas. Mais en 1837
et 1838, une crise financière, réaction de la fièvre industrielle
précédente, abattit un certain nombre de banques bruxelloises et .
ébranla les autres. Cockerill en fut atteint. Un accident de
voiture qui le mit pendant plusieurs semaines en danger de mort
fit penser à sa disparition et contribua, dit-on, à diminuer son
erédit”). Toujours est-il qu'en février 1839, il dut se mettre
en liquidation. Comme son actif fut trouvé valoir vingt-six
millions de francs et son passif dix-huit millions, ses créanciers
lui aocordèrent un «sursis». Une commission composée de six
délégués fut par eux nommée et prit, à coté de Cockerill lui-
même, la direction des affaires de l’usine de Seraing‘).
Fidèle à sa devise «Courage to the last», Cockerill ne se
laissa pas abattre. Il redoubla d'activité. L’un de ses nombreux
projets d'entreprises”) exigeait sa présence en Russie. Il partit
pour St. Pétersbourg, fut atteint de la fièvre typhoïde au retour,
à Varsovie, et y mourut le 19 juin 1840.
On a peine à se figurer qu'à cette époque, un industriel put
avoir fondé et dirigé autant d'entreprises différentes que
Cockerill.
—— ——
1) MORREN, op. cit. col. 2385.
2) JACQUEMIN, loc. cit.
3) MORREN, op. cit. col 236.
4) Des registres aux procès verbaux de cette commission existent encore.
6) Pour Ep. MORREN et M. GOBERT, il s'agissait de construire des
chemins de fer; BEcDeLıkveB parle d'ateliers pour la construction de
maschines à vapeur, locomotives et wagons.
634
Ernest Mahaim
Voici, d’après les biographes, celles qu'il cpossédait» à a
mort, outre les usines de Seraing !):
1°
90
30
49
13°
14°
15°
16°
17°
18°
19°
20°
21°
la fabrique de machines de Liège, au pied du Pont-de-
Jésuites (800 ouvriers);
un tissage mécanique à Liège dans l’ancien couvent des
Récolets, on ne nous dit pas de quel textile;
une fabrique de mérinos, à Liège (on ne nous dit pas où);
une grande filature de coton à Liège, «sur le bord dela
Meuse», «sous la raison Yates et Ci°»;
une fabrique de chaudières au Val Benoit près de Liège;
une fonderie pour le montage à Tilleur près de Liège;
une filature de laine peignée à Verviers;
une autre à Aix-la-Chapelle;
une imprimerie sur coton à Andenne, près de Namur;
dans la même localité, une papeterie;
et une fabrique de terre plastique;
à Spa, il eut certainement un grand établissement inds-
striel. D’après BECDELIÈVRE, c'était «une filature de coton»;
d'après MORREN «il tenta d'établir à Spa un tissage à la
Jacquard, mais il dut y substituer une fabrique de cardes
et de broches» ;
une filature de laine à Berlin;
une autre à Guben (prov. Saxe):
une autre à Grüneberg en Silésie;
une «fabrique de filets» à Cottbus en Basse-Lusace;
une fabrique de draps à Przelborg, en Pologne;
une fabrique de coton à Barcelone;
une maison pour la vente des étoffes de coton à Amster-
dam ;
des «moulins à vapeur pour la fabrication du sucres à
Surinam ;
des mines de zinc à Stolberg.
Il était «interesse pour de fortes partes>, dit BECDELIEVRE:
1°
—— me
«dans les hauts-fourneaux du département du Gard;
1) Dans cette énumération, je suis principalement BECDELIÈVRE qti
écrivait en 1837 ou 1889. Je le complète par MORREN, loc. cit.
Les débuts de l’&tablissement John Cockerill à Seraing. 635
2° dans quatre houillières;
3° dans les hauts-fourneaux d’Ougree;
4° ceux de l’Esperance;
5° et de Chatelineau;
6° dans une fabrique de fusils de guerre;
7° dans une grande manufacture pour la filature et le tissage
du lin à St. Denis près Paris.»
Au moment de sa mort, outre les ateliers de construction de
achines près St. Petersbourg, il «commençait l’exploitation d’une
yuilliere dans les environs de St. Etienne, où il se proposait
établir des hauts-fourneaux et une fabrique de fer par cylindres».
'auteur ajoute: «Cette nomenclature est loin de comprendre
us les divers établissements auxquels M. Cockerill est intéressé».
Voilà donc, dès 1840, un industriel de grand style. A lire
tte énumeration, on croirait voir l'inventaire des affaires d’un
aancier tout à fait contemporain. Je me demande si, à l'époque
ont il s’agit, il y avait beaucoup d'hommes d’affaires, en
ngleterre et sur le Continent, dont la situation pouvait se com-
arer à celle de Cockerill.
Sa mort brisa le lien entre toutes ces entreprises, rendit plus
récaire encore l’état des affaires de Seraing. Cockerill n’avait pas
‘enfant légitime ; ses héritiers n’acceptèrent sa succession que sous
énéfice d'inventaire. Les créanciers qui géraient l’établissement
e Seraing résolurent, avec les héritiers, de le mettre en société
ıonyme: l’acte est du 8 avril 1842. La société était constituée
1 capital de 12 500 000 francs «répartis en actions de 1000 francs
1acune entre les divers créanciers, jusqu'à concurrence de 65 p. c.
2 leurs créances’). Elle fut placée sous la direction de M. Con-
d-Gustave Pastor, l’un des héritiers, qui était attaché à Seraing
epuis 1817.
L'historique de la Sociéte anonyme serait hors de propos ici.
* *
*
On a pu apercevoir, par ce qui précède, l'intérêt de l’histoire
e8 débuts de Cockerill. C’est l’histoire de l'apparition de la
1) A. LECOCQ, Description de l'établissement John Cockerill à Seraing.
iège 1847, p. 7.
636 Ernest Mahaim
grande industrie et de la substitution des machines au travail
à la main dans l’une des industries textiles, l’industrie de la laine.
Il est toujours très difficile de résoudre les questions de priorité,
spécialement dans la technique industrielle. La réalisation mat.
rielle d’un procédé ou d’une machine ne se laisse pas dater
toujours comme un éerit, un imprimé. La difficulté augmente
quand il s’agit de diffusion, d'imitation de procédés ou d'instru-
ments déjà connus, qui peut se faire en plusieurs endroits en même
temps.
Nous ne sommes pas à même d'affirmer, avec M. Renier, que
«Verviers eut la gloire de voir construire sur le continent le premier
moulin mécanique appliqué à la laine"), ce qui est très-possible.
Par plus que nous ne sommes à même de trancher la querelle
entre le Hainant et le pays de Liège à propos de la priorité de
l'emploi des machines à vapeur rotatives *).
Mais, à tout prendre, cela n’a guère d'importance dans l'histoire
qui nous occupe. William Cockerill a été certainement parmi
les premiers agents de la révolution industrielle. Dans quelle
mesure est-il inventeur? C'est ce qu'il est probablement impossible
de déterminer. En tout cas, il n’avait pas besoin d'être inventeur
pour Jouer un rôle historique: il lui suffisait de reproduire les
machines qui étaient, depuis quelques années, en usage en Ar-
gleterre.
On notera que c’est par les industries textiles, en Belgique
comme en Angleterre, que la révolution a commencé; la machine
à vapeur, et la transformation de l’industrie du fer sont venues
ensuite.
À peu près en même temps que Cockerill à Verviers dans
l’industrie de la laine, Liévin Bauwens introduisait les machine
cenant d'Angleterre dans l’industrie du lin et du coton‘). Mais
Bauwens était un riche négociant. Il importait, en même temp:
que les machines, des ouvriers anglais. Cockerill était ouvrier
lui même. Il représente le ferment qui fait lever la pâte: c'est
1) Op. cit. p. 168.
2) V. BRIAVOINNE, De Pindustrie en Belgique (1839) t. L p. 238.
8) V. N. DB PAUW, Liévin Bauwens. Son expédition en Angleterre 4
son procés à Londres (1798—1799). Gand 1908, p. 24.
Les débuts de l’établissement John Cockerill à Seraing. 637
l'agent actif, qui crée, autour de lui cette «onde d'imitation»
dont parle souvent GABRIEL TARDE, et que nous observons si
clairement ici.
À peine ses premiers «moulins» sont-ils en mouvement, que
tous les «fabricants» en veulent; et cela se conçoit: «à l'aide
de trois personnes un moulin devait pouvoir filer par jour 400
écheveaux, c’est à dire remplacer deux cents bras» !). La nouvelle
machine est ainsi l’objet d’un cdésir> intense, basé sur une
«croyance» solide, qui lutte victorieusement contre les anciens
sentiments, les anciens désirs et les anciennes croyances. La
révolution est faite dans les esprits. Elle passe bientôt dans
les actes. Autour de James Hodson, ferment de second ordre,
appelé ou retenu par Cockerill, c’est une serie de machines,
c’est une pléiade d'ouvriers, étrangers et indigènes, qui répandent
les nouveaux procédés. Le rayonnement imitatif dépasse Verviers,
gagne d’abord les localités toutes proches de l’ancien Limbourg et
l’ancienne principauté de Stavelot où l’industrie de la laine est
pratiquée. Aig-la-Chapelle compte également beaucoup des pre-
miers clients de Hodson.
Puis, avec une rapidité qui étonne étant donné la lenteur des
communications, ce sont les centres drapiers du Nord de la
France qui prennent part à la rénovation. Une fois Cockerill
installé à Liège, sa clientèle se forme en France.
C'est à cette époque que se rapportent les documents que
je veux analyser ici.
Les plus anciens remontent à 1808. Ce sont des comptes
et des factures de fournisseurs de matières premières ou d'accessoires.
Tout d’abord, des pièces de fonte moulées étaient fournies
par la fonderie de Raborive, près d’Aywaille, sur l’Amblève,
appartenant à M° Dancion de Ville. C'était une usine à fer déjà
ancienne; elle avait été établie probablement en 1751 «à l'instar
des ouvrages de poëlerie de Theux (Liège) pour fabriquer des
poëles, poëlons, pelles à feu, couvercles de pots etc.»*). La
forge de Raborive travaillait surtout les gueuses venant du
1) RENIER, op. cit. p. 167.
2) A. WARZÉE, Exposé historique de l'industrie du fer dans en province
de Liège. Mem. de la Société libre d’ Emulation, t. I. (1860) p. 511.
638 Ernest Mahaim
fourneau de Férot, appartenant au même propriétaire. Vers
l'an X, c'est à dire cinq ou six ans avant la correspondance
avec Cockerill que nous possédons, «seize à vingt ouvriers étaient
employés au fourneau, et dix à la forge; 700 à 800 ouvriers
étaient occupés à charrier, à couper du bois, à fabriquer du
charbon etc. Le minérai de fer était acheté au prix de5
à 11 fr. le char, suivant la qualité»".
C'est à cet établissement, très réputé à l’époque dont il
s’agit, que Cockerill commandait des pièces de forge dont il
avait besoin pour faire ses machines. Souvent, c'était d’après
un modèle (en bois?) et il arrivait que la confection de la pièce
nouvelle présentait de grandes difficultés ?).
Nous avons le «Compte de toutes les factures envoyée à
Monsieur Guillaume Cockerill» du 1° juillet 1808 au 6 février 1809,
c'est à dire un à deux ans après l’installation de Cockerill à Liège.
Les postes du compte sont libellés de la manière suivante:
«Envoyé à Monsieur G. Cockerill, Mécanicien etc. ete., de
Raborive à Liège franc de port par le batelier Lagasse de
Remouchamps *), des pièces mécaniques fer coulé savoir, sept
grandes roues pesant 485 livres, qui avec 51 pièces pesant 948
livres, lui envoyées le 21 juin dernier, font ensemble 58 pièces pesant
toutes ensemble 1433 livres, à fl. 16 le cent, poste ... 229 (fl
5 (sous) 2 (liards).»
Les cent livres de pièces de fer coulé se payaient done 16 fl.;
la crehausse» des pièces se payait 6, 10 sous, 1 fl. ou 1 fl. 10 sous
la pièce. Que valait ce florin alors? C’est ce que je n’ai pa
encore été à même de déterminer.
Les pièces commandées sont des roues, des rouages, des
«demi-lunes> et surtout des «pieces mécaniques» non dénommées.
En additionnant leur poids, je trouve (pour la fourniture du
21 juin 1808 au 6 février 1809) un total de 23703 livres, soit
environ 11850 kilogrammes. Cockerill devait de ce chef à
M"° Dancion de Ville la somme de 5246 fl. 18 8. 2 d. IN fai
sait des remises de 500 et de 1000 fl. à la fois.
1) WARZEE, loc. cit. p. 513.
2) Lettre de Mme Dancion de Ville, à G. Cockerill, de Férot, 1® févr. 1810.
8) L’Amblöve était alors navigable.
Les débuts de l'établissement John Cockerill à Seraing. 639
Quarante sept lettres subséquentes, de 1810 à 1813, montrent
que la maison de Raborive continua à fournir longtemps Cockerill
dans les mêmes conditions. Il est impossible de faire le compte
total, dans l'ignorance où nous sommes si la correspondance est
complète.
Mais il est certain que la forge de Raborive n'était pas seule
à fournir Cockerill des pièces de fer. Vingt quatre lettres signées
L. Dauby et datées de Roche-à-Fresne, du mois de mai 1809
au mois de mai 1810, témoignent de relations actives entre le
mécanicien anglais et les forges et hauts fourneaux de Roche-
a-Fresne.
Un relevé de compte semblable ou précédent, et portant sur
toute l’année 1809 et janvier 1810 rend Cockerill débiteur de
8862 florins 15 sous 2 liards.
Les pièces fournies sont des «demi-lunes>, des roues «de grand
charriot» d’autres «de petit charriot», des «pièces à deux bras avec
trou quaré», de grands «dos d’asne», des <plumards», des ecra-
paudines», des «pignons», des eroues engrainees>, des «colliers
de chien». Elles étaient expédiées par Barvaux sur l’Ourthe, et
arrivaient à Liège probablement par eau.
Je n'ai pas retrouvé, jusqu’à présent, de document relatif à
la fourniture des pièces de bois qui devaient être nécessaires
aux machines de Cockerill.
Par contre, nombreuses sont les lettres de fournisseurs de
cardes.
Le premier en date est John Walsh, «fabricant de cardes à
filer laine et coton, n° 10 rue de la Muette près la rue Charonne,
faubourg St. Antoine à Paris». La première lettre est d'avril 1808
et se réfère à une autre de février de la même année. Les
relations existaient donc dès l’arrivée à Liège. Peut être remon-
taient-elles plus haut, Walsh étant évidemment un compatriote
de Cockerill'); leur correspondance est en anglais.
1) D'une lettre de Walsh du 18 juin 1808: «It will give us great pleasure
when you pass through Paris that you would make our house your home.
It will not be the least inconvenient to us and we hope you will not refuse.
—- My best respects to all your family.» Tl semble donc qu'on se connaissait,
et que Cockerill n’avait pas encore de maison à Paris.
640 Ernest Mahaim
Les affaires qu'ils faisaient ensemble n'étaient pas de peu
d'importance: Walsh fournissait pour 2 à 3000 francs de cardes
en une fois. Un compte qui résume les opérations de 1808 «à
de 1809 jusqu'en novembre atteint 10287 livres 10 sous. Les
cardes se livraient en «plaques et en rubans» mesurés en pieds.
La correspondance que j'ai sous les yeux 86 poursuit jusqu'en
1819, et toujours les sommes de chaque facture grossissent. On
commande pour 4000 frs. de cardes à la fois, et cela se repète
parfois tous les mois.
Walsh n’était pas le seul fournisseur de cardes: la maison
A. Pelluard et Ci «fabricans de cardes à Liancourt, près Clermont,
département de l'Oise» en livrait au moins depuis septembre 1809
jusqu’en avril 1810. Les sommes sont ici moins fortes: 600.
700 frs. par facture. Une circulaire imprimée de la maison
contient un tarif de la fabrique à partir du 1° janvier 1810:
Cardes à coton
Plaques et chapeaux, jusques et .
y compris le n° 24 . . . Ol. 18. 3 d. le pouce quarre
Ruban de 18 lignes de large n° 24 21. 158. Od. le pied
Plaques et chapeaux en n° 26 . Ol. 1s. 6 d. le pouce quarri
Ruban de 18 ligues de large n°26 31. 1s. 6d. le pied.
Cardes à laine
Plaques et chapeaux de toutes
dimensions et numéros . . O1. 1s. 6d. le pouce quarre
Ruban 18 lignes de large . . 21. 158. 6 d. le pied.
Il est probable que cette maison ne fournissait que des cardes
spéciales soit plus fines, plus chères que d’autres.
Mais un autre Anglais, dont la correspondance ne manque
pas de gaité, fabriquait également des cardes pour Cockenill,
au moins en 1810 et très probablement dès 1809. Il se nom-
mait H. Mather, et habitait Mons. Son papier à lettres — beau
papier à la main, soupe, épais, filigrané, comme presque tout
le papier des correspondances commerciales de cette époque —
porte un curieux entête gravé. Il est intitulé: «Medailles qu'a
obtenu H. Mather le produit de son industrie.» (L'orthograpbe
et la rédaction sont évidemment de l’Anglais lui même.) De
Les débuts de l'établissement John Cockerill à Seraing. 641
deux cotés de cette inscription sont les deux médailles, entourées
de rubans portant des inscriptions. L'une des médailles a ét
accordée par le département de Jemappe; elle est entourée de:
mots: «Prix d'industrie 1806; Exposition de Mons. Reconnaissance.»
L'autre porte: «Salon d'exposition du 12 juillet 1807. Mairie
de Douai.» Quel intérêt aurait la publication des catalogues de
ces expositions (s’il en a été fait) et des rapports des jurys, des
listes de recompenses!
Mather avait, à Mons, des associés dont il semble ne pas
toujours être satisfait. Sa première lettre fait voir qu'il est en
relations depuis longtemps avec Cockerill, dont il se dit l’ami
à plusieurs reprises. Il vante sa marchandise et son bon marché:
«I hope you say friend Mather is determined to do his best for
us» !). Les commandes sont de 1200 Livres, même de 3000 Livres
à la fois. Elles sont facturées en livres tournois. Un compte
partant du 27 octobre et allant jusqu’au 19 février 1811 se monte
au total à 12668 I. 6 s. 8 d. — Au mois de juin 1811, une lettre
apprend que les ateliers de Mather ont chômé depuis longtemps
et sollicite de nouvelles commandes. Il semble qu'on n’y a pas
donné suite. Mather avait probablement, outre une fabrique de
cardes, une filature, car il commandait des «assortiments» à Cocke-
rill et les lui payait en cardes.
C’est le moment d’indiquer quelle espèce de machines sor-
taient des ateliers de Cockerill.
Faute de détails dans les archives qui sont à notre dispo-
sition, nous sommes obligés de recourir au » Mémoire statistique
du département de l’Ourte« par L. F. Thomassin, ancien chef
de division à la préfecture (Liège. Grandmont 1879. 1 vol.
in fol.) On sait que Thomassin, fonctionnaire modèle et collec-
tionneur minutieux de tableaux de chiffres où s’allongent de
belles colonnes sous les rubriques et les accolades, était ad-
mirablement placé pour connaître l’industrie de son époque.
Son mémoire a été commencé en 1806, et terminé vers 1813.
Il y a lieu d'admettre qu'il se rapporte à peu près à la période
que nous étudions.
1) L. du 3 fév. 1810.
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte. III. 42
642 Ernest Mahaim
Les chiffres de Thomassin ne sont pas le résultat de dénom-
brements, mais d'évaluations faites en chiffres ronds.
Il cite d’abord Cockerill parmi les fabricants de cardes
mécaniques, et il résulte de son tableau que la fabrique de
Cockerill était bien plus importante que les autres: elle devait
compter :
3 apprêteurs
8 coupeurs de dents
200 bouteurs
6 repareurs,
soit 217 ouvriers.
La production annuelle était évaluée:
pour 3240 plaques n° 24,
et 19200 pieds de ruban n° 24,
à 81 720 francs.
La fabrique la plus importante, après celle-ci, est celle de
Dejardin et Hodson à Hodimont, dont la production était évaluée
à 57758 frs. Le total de la production des dix fabriques relevées
se monte à 311306 frs. Cockerill en faisait donc plus du quart,
et l’on a vu qu'il était obligé d’en demander encore à d’autres
fabricants.
C'est que la fabrication des cardes n'était pour lui qu'un
accessoire de sa production «d’assortiments de mécaniques pour
la fabrication des draps, casimirs et autres étoffes de laine».
Voici ce qu'en dit Thomassin'). «L’industrie du département
a, chaque jour, lieu de s’applaudir de l'introduction des meca-
niques. Parmi les artistes et les mécaniciens qui employent leurs
talents à rompre les liens de l’ancienne routine, M. Cockerill est
un de ceux à qui les fabricants auront l'obligation de les en
avoir affranchis. Ses ingénieuses machines sont construites avec
une telle simplicité, diminuent le travail d’une manière si éton-
nante, et offrent une économie si considérable, en réunissant tous
les avantages de la perfection dans les produits manufacturé:,
qu'on ne sauroit leur donner assez de publicité ... Nous présen-
1) p. 449.
Les débuts de l’établissement John Cockerill à Seraing. 643
terons [maintenant] un état sommaire des opérations des
diverses machines pour la fabrication des draps, casimirs et
autres étoffes de laine, comparés à la main d'œuvre de l’ancien
système.
Machine à ouvrir la laine. Cette machine nettoye et ouvre
une quantité égale à la main d'œuvre de soixante personnes par
jour.
Machine à mélanger les couleurs. Le travail de cette machine
est de plus de moitié de la précédente machine à carder. Une
de ces machines carde soixante huit kilogrammes de laine par
jour ce qui est égal à la main d'œuvre de vingt quatre per-
sonnes.
Machine à filer. Celle pour la première filature file jusqu’à
trente quatre kilogrammes de laine par jour; celle pour filer
en fin, fait l'ouvrage de vingt quatre personnes par jour.
Metier à navette volante. Ce métier, plus perfectionné que
ceux qui ont été faits Jusqu'à ce jour, offre aussi plus d'économie:
une seule personne fait plus d'ouvrage et d’une meilleure
qualité que deux avec les métiers ordinaires.
Machine à lainer. Cette machine fait en un jour l’ouvrage
de vingt personnes. Le drap lainé ou garni à cette machine,
est plus soyeux, plus souple, et la corde en est bien conservée;
elle offre, en outre, seulement dans l'emploi des chardons, une
économie de douze pour cent.
Machine à tondre les draps. Il ÿ a deux machines, de prin-
cipes différents, pour ce travail; l’une opère les première et se-
conde coupes, sur une quantité égale à vingt mètres, grande
largeur, en une heure de temps; l’autre sert pour les troisième
et quatrième coupes, ce qui achève la tonte.
Machine à brosser les draps pour la presse. Cette machine
employée pour la dernière opération, couche le poil et donne le
lustre, en six minutes, à une pièce de drap de vingt mètres,
grand largeur, travail qui ne peut-être égalé par un homme en
une heure.
Ce que l’on appelle, dans les fabriques de drap, un assorti-
ment complet se compose:
644 Ernest Mahaim
1° D’une machine à ouvrir la laine. . . 2.600 fe.
> » à mélanger les couleurs ou à drousser 2400 ,
3 „ „ àcarde . . . . . . . . . 240,
4° D'un moulin gros, ou machine à filer en gros . 6500,
5° De quatre machines à filer fin . . . . . . . 1600,
Total 7 500 fes.»
On verra que le prix de 7500 fcs. indiqué par Thomassin est
de beaucoup inférieur aux prix de Cockerill. Il est possible
que les chiffres du fonctionnaire provincial se rapportent à une
époque postérieure; il se peut aussi que les assortiments de
Cockerill comprenaient plus de machines. Souvent, nous voyons
qu'on parle de «diable volant espèce de ventilateur à ailettes
— qui fait défaut dans l’énumération de Thomassin.
Quoi qu'il en soit, dans «l’&tat de situation» que celui-ci donne
«des fabriques d’assortiments de mécaniques et des produits livrés
au commerce en 1812'), la maison Cockerill figure comme de
beaucoup la première.
Il aurait employé:
500 forgerons (à 2 fes. par jour)
1500 menuisiers (à 2 fcs. 20 par jour), dont une grande
partie évidemment à domicile.
Soit 2000 ouvriers au total, sur 2500 qu’auraient occupés
les 21 fabriques d’Eupen, d’Ensival, de Liège, de Spa, et de
Verviers reprises au tableau. Les plus fortes maisons après
Cockerill étaient celles de Spineux, de Liège et d’Hodson à
Verviers, qui n'avaient pas plus de 70 ouvriers.
La production annuelle de la fabrique de Cockerill est indiquée
comme suit:
50 machines à ouvrir la laine . . . . . . (à 600 fe.)
400 » à mélanger les couleurs . . . (à 2400 fcs.)
300 n à carder . . 2 . . . . . (à 2400 fe.)
300 n à filer en gros . . . . . . (à 500 fcs.)
1 500 » à filer en fin . . . . . . . (à 400 fe.)
40 » à lainer . . . . . . . . . (à 1200 fes.)
Les débuts de l’&tablissement John Cockerill à Seraing. 645
La valeur totale de ces machines était évaluée à 2508000 francs,
dans laquelle la main d'œuvre entrait pour 1290000 francs.
Chiffres énormes, étant donné que l’ensemble de la production
des 21 fabriques connues de Thomassin était de 5005 600 francs,
et le prix total de la main d'œuvre 1658700 francs. Il en résulterait
que Cockerill fabriquait à cette époque à lui seul 50 pour cent
{en valeur) de la production du pays et distribuait 77 pour cent
des salaires dans l’industrie lainiere.
Il est à noter encore que, d’après Thomassin, Cockerill ne faisait
pas du tout de «métiers à navette volante», de machines «à tondre
les draps» ni de «machines à brosser les draps par la presse».
Il vaudra la peine de vérifier — pour autant que cela sera
possible — ces chiffres étonnants. Il est clair que, s'ils sont
exacts, nous avons affaire à une entreprise de dimensions colos-
sales pour l’époque.
L'une des parties les plus intéressantes de la vaste corre-
spondance qui est à notre disposition est celle qui se rapporte
aux années 1810 à 1812, et qui émane des membres de la famille
Cockerill en voyage d’affaires.
Le plus grand nombre des lettres est de Charles-James, qu’on
appelle couramment James, le futur associé de John. Mais il y
en a aussi du père Cockerill, de son fils William, et même de
la mère, Me Elizabeth Cockerill.
Au mois de septembre 1810, James est à Elbœuf, occupé
à diriger le montage d’assortiments commandés par les fabricants.
II a avec lui des ouvriers liegeois. En même temps, il cherche
des commandes et passe des contrats.
Cockerill était alors associé à deux Anglais nommés Harmey
et Armfeld, et avait déjà une maison à Paris, 25, rue St. Domi-
nique, plus un atelier rue de la Roquette 39. James ne manque
pas de marquer sa désapprobation de cette association: les
associés étaient des gens sans soin, sans ordre, sans tenue);
sur ses instances, cette association prit fin l’année suivante.
ll est probable que. c’est cette firme complexe qui avait fourni
au moins en partie des machines à Elbœuf.
1) »On my arrival here I found in Rouen W= Armfeld with the lower
<lass of work people!« Lettre du 15 sept. 1810.
648 E. Mahaim: Les débuts de l’&tablissement J. Cockerill à Seraing.
à 9000 frs., mis en activité en place (set up in activity on the
spot), frais de transport payés.
Dans la lettre suivante, il caractérise le pays d’une manière
assez amusante: «Chalabre is a small town, will suffice for the
gentlemen of this country (Mrs. Godey et Vene) to spin for!
Limoux is. situated 5 leagues from here, a manufacturing town
indeed, a second Verviers. Carcassonne, 5 leagues from Limoux,
a second Aix-la-Chapelle. Spins all white wool and dies in the piece.»
C'est la qu’il va accomplir son œuvre de transformation, de
révolution. Après avoir monté les machines de ses clients à Chalabre,
il prend, à Limoux, un intérêt d'un tiers dans une firme qu'il
fonde avec deux autres; il loue une chute d’eau pour 10 ans,
avec un bon bâtiment (loyer 3000 francs l’an)‘). Il commande
8 assortiments pour y être mis en activité. Avec ceux dont il
a recueilli la commande, cela fait 30 assortiments à fournir
en six semaines sous peine de 6000 fcs. en cas de retard. I
contracte toujours pour un prix de 13000 francs l’assortiment mis
en place et en activité, ou 12000 pris a Liège. La moitié du prix
était payable à la mise en activité; l’autre moitié six mois après.
Dans sa lettre suivante, du 15 novembre, il chante victoire.
Bien qu'il se dise fatigué de cette »strolling lifee on sent qu'il
est satisfait. «I have, dieu merci, déjoué les projets de nos crain-
tifs confrères ... We whisper’d in the ear of a jealous old
fabricant that 32 sets would be in activity for the end of February
and 16 for the end of January, that we would spin at half priee
for the small manufacturers so as to make fall all the machines
that went by horses and that were not made by us — besides
the quality of the work. Douglas has four sets returned. Spineus
is ruined. They offer their machines now at credit for a year at
6000 francs, and yet nobody will have them. Collier can’t work.»
N’est-ce pas qu'on voit, dans ce passage, l’homme d’action
et de lutte, le ferment, dont la destinée est de bouleverser, de
soulever et de transformer le milieu social? (A suivre.)
| 1) «I have taken a place in this country, proper for the establishment
of our machines, such a none is to be found in the country . .. a fine water-
fall, good dwelling house.» Lettre du 12 nov. 1810 de Limoux.
Literatur.
Une Bibliographie de , l'Histoire économique et sociale“
moderne et contemporaine de la France.
Répertoire méthodique de l’histoire moderne et contemporaine de la
France, pour l’année 1898, rédigé sous la direction de G. BRIÈRE et de
P. CARON, et p. par la Revue d'Histoire moderne et contemporaine
(Paris, G. BeLLAIS, 1899; 8°, XXIV et 119 p.). Id., pour l’année 1899
(1901, XXXII et 229 p.). Id., pour l’année 1900 (1902, XXX VIII et 273 p.).
Id., rédigé sous la direction de G. BRIÈRE, P. CARON et H. MAÏSTRE
et p. sous les auspices de la Société d'Histoire moderne. Année 1901,
4e année (1903, XL et 334 p.). Id., rédigé sous la direction de — et
p- par la Société d’H.M. Année 1902, 5e année (1904, XXX VI et 255 p.).
L'apparition de la cinquième année du Répertoire fournit une
occasion toute naturelle de rendre compte de cette publication depuis
son début. Le premier tome comprend tous les travaux 8e rapportant
à l’ensemble de l'Histoire de France de 1500 à 1871; les suivants
descendent „jusqu’& nos jours“!). Mais, bien entendu, nous ne nous
occuperons que de la partie de la Bibliographie correspondant au cadre
de la „Vierteljahrschrift“, c’est à dire de l’histoire économique et sociale.
Une des divisions du Répertoire porte en effet ce titre. La partie essen-
tielle de son contenu, dans l’ensemble des cinq années, n’a pas en somme
varié, mais des modifications de details ont été faites. Ainsi plusieurs
subdivisions ont été créées). En outre, de plus nombreuses ont été
détachées pour former des parties nouvelles et indépendantes. Enfin,
il importe d'y joindre quelques rubriques qui n’ont pas cessé d’être
classées dans d'autres chapîtres, mais qui nous semblent, par leur
contenu, se rattacher plus ou moins étroitement à l’histoire économique
et sociale. Quant à la forme du classement, dans les deux premières
années, elle a été chronologique avec deux ou trois subdivisions (Ancien
Régime, Révolution, XIXe siècle) et des sous-rubriques méthodiques;
ensuite, le système inverse, méthodique avec des subdivisions chronolo-
giques, a été adopté.
1) Repert., II. p. V.
2) Depuis les t. III—IV apparaissent des rubriques de „Demographie
statistique“, „Legislation civile, Coutumes“; „Histoire des Sociétés savantes.
Bibliothèques. Archives“; „Opinion Publique et presse“.
650 Referate.
Cette division peut être considérée à deux points de vue: la chrono-
logie, le plan.
D'une part, on sait que la date extrême de l'histoire examinée a
été reculée de 1871 à nos jours, aux événements les plus récents.
L'histoire contemporaine est prise au sens strict du mot, les auteurs
considérant que tout instant passé, si récent soit-il, Jui appartient.
En principe, préparer, au point de vue qui nous occupe, 8a bibliographie,
est entreprendre une tâche considérable, car le mouvement économique
et social a pris de nos jours une importance vraiment énorme, et son
développement entraîne naturellement une quantité comparable de
travaux ou de publications plus ou moins spéciales, livres et surtout
revues. Tout d’abord, cette abondance rend, par le simple côté matériel,
les recherches très malaisées, surtout pour les périodiques, d'autant
mieux que les défectuosités bien connues du dépôt légal à la Bibliothèque
Nationale ne peuvent qu’augmenter encore ces difficultés. En outre,
si l’on considère ces publications en elles-mêmes, elles sont, sans aucun
doute, de valeurs très diverses: pour les revues, par exemple, certaines,
purement techniques, n’en contiennent pas moins des articles de fond
très importants; d’autres, sans renfermer des contributions de ce genre,
ne peuvent cepandent être négligées en raison de l’ensemble de leurs
renseignements; inversement enfin, d’autres, d'apparence scientifique,
n'ont en réalité qu’un but de vulgarisation ou d’annonces. Et
néanmoins ces recherches préparatoires d’histoire contemporaine, si
longues, si pénibles, si délicates soient-elles, ne peuvent être considérées
comme sérieuses que si l’on s’astreint à les accomplir aussi complètement
que possible. Naturellement aussi, un Répertoire n’aura d’utilité que
s’il facilite cette tâche ou, plutôt, s’il l’eEvite. Dans le cas présent, il
est d'autant plus indispensable qu'il le fasse, que, malheureusement,
la France n’a pas de collection comparable à la Bibliographie allemande
de DIETRICH, qui, au moins pour les périodiques, accomplit le travail
auquel nous faisons allusion.
Or, en reculant la limite de leur Répertoire, les auteurs ont, d'une
façon générale, adopté le plan suivant: „Parmi les livres et articles
concernant cette période [de 1871 à nos jours], nous avons fait un
choix assez sévère, qui pourra être critiqué: nous avons écarté, de
parti pris, tous les écrits à caractère de polémique et nous n'avons
retenu, avec les recueils de textes et documents officiels que les travaux
qui nous ont paru de nature, par leur tendance objective, à figurer
dans un répertoire de bibliographie historique“!). En principe, ce
système est, bien entendu, le seul à suivre, mais, en fait, nous ne savons
pas si, au moins pour la partie dont nous nous occupons, son application
n’a pas été plus rigoureuse qu’il n'aurait fallu. Le Répertoire ne paraît
guère comprendre, en effet, pour la période contemporaine, que des
indications d'ouvrages se rapportant à des évènements déjà un peu
anciens*). L'époque réellement actuelle n'est représentée que par
quelques travaux privés fort peu nombreux), par des publications
1) T. IL p. V.
2) Voy. IL $ 3c, Bo, 6b; IV. 3b, 4c; V. 8b, dc.
Referate. 651
officielles non moins rares!), malgré la promesse formelle des auteurs,
et par quelques articles de périodiques dont, trop souvent, le caractère
le plus sensible est d'offrir un simple intérêt de vulgarisation*). Il
se pent que ce soit là le résultat du programme que nous venons de
reproduire. Cependant, pour les travaux d’origine privée, il serait très
aisé d'en citer chaque année une certaine quantité, au moins aussi impor-
tants que ceux qui sont énumérés, et de nature non moins objective “|,
en fait tout aussi faciles à trouver, et dont l'absence du Répertoire
est par conséquent inexplicable{). Le nombre des thèses de Doctorat
en droit, en particulier, eût pu, croyons-nous, être facilement augmenté *).
Mieux eucore, pour les publications officielles, il semble que toutes auraient
dû être indiquées ou qu'aucune ne devrait l'être, car toutes, par leur
date comme par leur contenu, sont également à prendre ou à écarter:
un choix ne peut certainement pas se justifier. Dans cet ordre d'idées,
on n'est même pas obligé de connaître, à priori, l’existence du Journal
Officiel, des travaux des membres du Parlement®), des comptes-rendus
des séances des Conseils Généraux: sur ce dernier point, la Cullection
déjà ancienne de CRISENOY’) aurait dû au moins être mentionnée.
Pour les revues, pourquoi citer des périodiques de second ordre, alors
que des publications générales de valeur, telles que !’Economiste français,
la Revue politique et parlementaire), sont à peine dépouillées: on ne
1) Voy. II. 2552—2560, 2568—2569; III. 2389, 2402, 25679, 2581,
2583, 2616; IV. 2729, 2762—2763, 2823, 2874, 2880, 2913, 2923— 2995 ;
V. 2521, 2650, 2749, 2753—2754, 2820—2823. Puis, cf. une fois pour toutes
le Catalogue Général de la , Librairie des Publications officielles“, G. RouSTAN,
aru à la fin de 1904; et encore ce catalogue, vérifications faites, n’est peut-
tre pas absolument complet.
2) III. 2494— 2496, 2629; IV. 2820, 2918, 2920; V. 2751: ces numéros
renvoient en général à des articles de la Rerwe encyclopédique ou universelle:
nous croyons, cependant, qu'il ne serait pas difficile d’en trouver de plus
réellement scientifiques.
8) Pourquoi, par exemple, nommer l'ouvrage de ROCQUIGNY sur Les
Syndicats agricoles (Répert, III. 2521) et non le travail de SILVESTRE sur
le Syndicat agricole du S. E. (Paris, 1900, 3 vol. in 8°; Bibliogr. de la
France, 1900, n° 8112); l’article de revue de 2 pages de SENCENY sur Le Sucre
de betterave en krance de 1800 à 1500 (III. 2523) et non l’ouvrage de HELor
sur Ü’Histoire du sucre de betterave en France (Paris, 1900; Bibliogr. 1900,
n° 5305), l'ouvrage de GUILLAUMOT sur L’organisation des chemins de fer
(II. 2544) et non celui de KAUFMANN: La politique de la France en matière
de chemin de fer (Paris, 1900, 2 vol. 8°; Bibliogr., 1900, n° 10959 et 10977),
l’Annuaire de Législation française (IV. 2781) et non le Bulletin des Lois,
et ainsi de suite?
4) Voy. plus bas aux diverses rubriques: l’absence de ces travaux est,
en effet, d'autant plus inexplicable qu'il suffit de se reporter à la Bibliographie
de la France.
5) Vérification faite à la Bibliothèque de la Faculté de Droit. Voy. plus
bas, par exemple, pour les chemins de fer.
6) Une seule indication, et encore indirecte, V. 2807.
7) Annales des Assemblées Départementales, depuis 1887: 18° année, 1904.
8) Æconom. fr.: II. 2547; Kerue P. et P., UI. 2400, IV. 2741. Le
Journal des Economistes et la Réforme sociale sont mentionnés plus souvent,
652 ‚Referate.
s’explique pas pourquoi elles ne le sont pas davantage ou ne sont pas
absolument mises de côté; et d’autres, comme la Revue Generale de
Sciences pures et appliquées, le Bulletin de Statistique et de Législation
comparée du Ministère des Finances, ou même Le Genie Civil, nous ne
disons pas, sont inconnues aux auteurs, mais elles n'apparaissent jamais!).
Enfin, certains travaux annuels, cependant de premier ordre, ne sont
indiqués que très rarement?): leur absence complète se comprendrait
pour ainsi dire davantage. Mais rien, semble-t-il, ne démontre mieux
que ce dernier point qu'il n’a sans doute pas été accompli de recherches
systématiques des publications utiles à citer, et ainsi on serait peut-
être en droit de se demander si les contributions n’ont pas été prises
un peu au hasard. Bref, il y a trop de recherches mentionnées où il
en manque infinement trop.
Mais on peut préciser. D'une façon générale, les auteurs ne
donnent aucun ouvrage relatif à la technique agricole ou industrielle.
Nous comprenons qu'ils négligent, à la rigueur, les recherches d'ensemble
telles qu'en matière industrielle, par exemple, les aide ındmoire et
travaux similaires), parce que les contributions de ce genre, tout en
intéressant la science pratique, la considèrent dans des conditions
géographiques qui ne sont pas suffisamment précises et délimitées:
elles étudient, par exemple, la construction des routes, des canaux ou
des chemins de fer, ou leur exploitation, ou d’autres questions semblables,
à un point de vuc trop général, hnmain, dirait-on presque, et non
mais, comme toujours, uniquement (sauf la seconde, IV. 2926), pour des
travaux qui ne se rapportent pas à l’état actuel (Voy. III. 2396, 2398;
IV. 2837; V. 2750). Si cependant on renvoie à des articles tels que ceux
de G. MICHEL, le trafic des chemins de fer français (Econom. fr., 189% I,
p. 25; cité Répert. II. 2547) et qui n’ont absolument rien d'historique, il faut
citer tous ceux de même genre ou n’en citer aucun.
1) Bien entendu, nous ne demandons pas qu’on dépouille et qu’on cite
absolument toutes les revues qu'énumère, par exemple, l’Annuaire de la
Presse — bien qu’encore leur liste soit loin d’être complète —, car nombre
de ces périodiques n’ont aucune valeur, mais, entre tout et ne rien donner,
la différence est sensible, et, nous le répètons, nous ne nous expliquons guère
pourquoi les auteurs ont cru devoir insérer de simples articles de vulgari-
sation (voy. p. 651, n. 2), en laissant de côte les contributions réellement
scientifiques. C’est ainsi que, et nous prenons cet exemple tout à fait au
hasard, dans la Revue Générale des Sciences pures et appliquées en 190,
ont paru des articles intitulés: BERTHELOT, l’osuvre de Lavoisier: BICHON,
le Vignoble du Midi au XIXe siècle; OLIVIER, Notes sur la Tunisie : en 1901,
LEZÉ, la Laiterie française; LEROY, Palcoolisme dans l'Eure au XIXe siècle
(et voy. encore p. 654, n. 1), qui seraient, semble-t-il, parfaitement à leur
place dans une bibliographie sérieuse.
2) De FoviLLe, II. 2563 et IV. 2921; RarraLovicH, III. 2682—2633;
comme statistiques, II. 2568 ou 2569, V. 689 ou 2768.
3) Voy. des publications telles que celles qui paraissent dans la Biblio-
thèque du Conducteur d:s travaux publics, la Bibliothèque technologique,
l'Encyclopédie des Aide-mémoire Leauté, \ Encyclopédie des Travaux publics:
et en somme ces travaux seraient peut-être à citer, car ils sont, avant tout,
rédigés au point de vue français et nous renseignent de préférence sur l'état
de la science française concernant telle question industrielle.
Referate. 653
pas spécialement français. Mais, quand les recherches de cette nature
se rapportent clairement à l’application de tel procédé agricole ou
industriel en France, fonctionnement d'une exploitation rurale, d’une
usine, exécution d’un travail public, et les articles ou ouvrages de
cette sorte ne manquent certainement pas'), il n’existe absolument
que des raisons de les citer, tout aussi bien que le plus récent volume
de statistique agricole ou commerciale. D'ailleurs, pourquoi le Repertoire
contient-il une rubrique intitulée „Histoire des Sciences?“ ?).
Si on examine, d'autre part, chacune des trois grandes divisions de
l’histoire économique, l’agriculture, tout d’abord, se réduit, au fond, À
un valume de statistique publié par le Ministère, et encore il n’est
indiqué que deux fois). Il existe cependant des publications privées
fort impurtantes*). De même, jamais on ne cite de thèses agricoles).
Aucun travail de société, à commencer par les C. R. des travaux de
la Société des Agriculteurs de France et les Mémoires p. par la Société
Nationale d’ Agriculture, n'est mentionné davantage. Aucune revue enfin
n’a été dépouillée et cependant il en existe de sérieuses: on pourrait
au moins citer celle du Ministère 6).
Sur l’industrie, il n’y a en somme rien, car les recherches énumérées
se rapportent toutes à l’organisation du travail et non à la fabrication
proprement dite. Même un ouvrage bibliographique comme la Biblio-
graphie des Industries tincioriales, de GARCON?’), qui a un intérêt
bistorique, n’est pas indiqué. A défaut d’autres travaux 8), on pourrait
au moins citer la publication du Ministère du Commerce concernant
les brevets d'invention, qui donne de précieux renseignements sur le
progrès industriel. Quand aux revues absolument fondamentales, telles
que les Annales du Conservatoire des Arts et Métiers, les Mémoires et
C. R. des travaux de la société des Ingénieurs civils de France, le Bulletin
de la Société d’Encouragement pour l'Industrie nationale, les Annales des
Mines ou des Ponts et Chaussées, ou encore des périodiques locaux
comme le Bulletin de la Société Industrielle de Nord de la France et
1) Voy. plus haut, p. 662 n. 1, et plus Cas, n. 4, 5, 8.
2) IV. 174 ss.; d’ailleurs elle n’a &galement rien d’actuel.
3) II. 2653 et IV. 2823. — Voy. d’ailleurs quelques autres publications
similaires, Catalogue ROUSTAN, p. 29—31.
4) Voy. par exemple dans la Bibliographie de la France: année 1900:
n° 6305, 8093, 8112, 10584; 1901: 1859, 3861, 4827, 7386; 1902: 3007
bis 3008, 4265, 6070, 6072, 6123, 6299, 6847, 7097, 8554, 10103, 11512.
5) Bibliographie de la France: 1901: 5283, 7561; 1902: 7033, 7088,
7135, 7147, 7449, 7675, 7906.
6) Actuellement, Bull. mensuel de loffice de renseignements agricoles.
Joindre les Annal:s agronomiques, les Annales de la science agronomique, le
Moniteur vinicol:, la Kevue de Viticulture, la Revue des Eaux et Forets etc....
Même des périodiques tels que la Revue des vins et liqueurs et des produits
alimentaires pour l'exportation contiennent des renseignements intéressants.
7) Depuis les origines jusqu’à ... 1896 (Paris, les deux premiers vol.
1900, 8°).
8) Voy. par exemple Bibliogr. de la France: 1900: 6100, 9589; 1901:
1365, 1896, 3527, 6729, 7639, 8493, 9602, 10235; 1902: 230, 9982 etc. etc. . . .
654 Referate.
bien d’autres encore, elles sont complètement absentes!). Il suffit,
d’ailleurs, de comparer le Répertoire aux Bibliographies données simple-
ment par des publications telles que les Annales des Mines ou da
Ponts, bien qu’elles ne visent certainement pas à être complètes, pour
sentir toute la différence. (Cependant, la technique industrielle est
infiniment loin d'être sans importance. Les auteurs, d’ailleurs, ne sont
peut-être pas d’un avis entièrement opposé, puisqu'ils mentionnent une
simple fois le Statistique de l'Industrie minérale et des Appareils à
vapeur ?) p. par le Ministère des Travaux Publics. Dans ces conditions,
n’est-on pas de nouveau en droit de s'étonner de l’absence de tous
les autres travaux se rapportant également à l'histoire de la production?
Le commerce, qui est cependant beaucoup moins spécial, se réduit
à deux volumes de statistiques que font paraître l’administration des
Douanes sur le commerce“) ou le Ministère des Travaux Publics sur
la navigation intérieuret). Mais, sans compter les ouvrages d'origine
privée), il existe bien d’autres publications officielles, à commencer
par la collection fort connue des Albums de Statistique graphique‘).
Et que font les auteurs de travaux absolument indispensables à consulter,
comme les comptes-rendus annuels des travaux des Chambres de
commerce françaises‘), les Annales du commerce extérieur, les Rapports
de la Commission permanente des valeurs de douane®), toutes les
publications émanant de l'Office national du Commerce extérieur, dont
1) Par exemple dans les Mémoires de la Société des Ingénieurs civils,
en 1901, se trouvent un article de BONNEFOND, les forces motrices du Haut
Rhône français, et un autre de DELMAS, Amélioration des transports en
commun; dans la Revue générale des Sciences pures, en 1901, ROCQUEs
l’état actuel et les besoins de l’industrie des conserves alimentaires en France:
BOYER, l’état actuel de l’industrie du marbre en France, etc. etc...
2) V. 2753.
3) Tableau général du commerce et de la navigation (II. 2552; III %16;
IV. 2924; V. 2823.
4) Statist. de la navigation intérieure (II. 2656; IV. 2925; V. 2822).
5) Bibliogr. de la France, p. exemple 1901: 4810, 8508, 11913; 1902:
1168, 1434, 5759, 6837, 9084, 10938 etc. ...
6) Tout d’abord, comment les auteurs peuvent-ils se borner à citer (IV.
2913) pour une publication statistique mensuelle de l’administration des
douanes, les deux fascicules des onze premiers mois de 1900 et du 1° mois
de 1901? A priori, il est évident que cette statistique paraît aussi les autres
mois (sauf pour décembre, où elle forme alors pour l’année entière le recueil
cité ci-dessus, n. 8). Voy. encore le recueil de circulaires que constitue chaque
année un vol. intitulé; «Lois et règlements des Douanes. Impr. Nat.» Joindre
dans le Catal. ROUSTAN, les publicat. du Minist. des Travaux Pablics relatives
aux ports, aux routes, aux canaux etc. ...(p. 74—75, 78—80); celles du
Minist. de l'Intérieur concernant le service vicinal, (p.68). Les pêches dépendent
de la Marine (Catal. p. 73); pour la marine marchande, voy. aussi p. 37
(les primes). Et ce catalogue ne mentionne rien sur les phares, et ne cite
pas une publie. intitulée: «M. des Trav. Publics. Le rachat du canal du
Midi par l'Etat». Paris, 1901, 635 p., etc. ...
7) Certaines publient en outre des Bulletins, entre autres celles de Paris
Bi Voy. en particulier le rapport publié à part intitulé «L'industrie textile
en France».
Referate. 655:
en première ligne les rapports des consuls, ou enfin comme les Bulletins
des Chambres de commerce françaises à l’etranger!)? S'il n'existe.
peut-être pas de périodiques commerciaux de premier ordre, il ne
serait sans doute pas inutile de citer, par exemple pour l’industrie
textile, des revues telles que le Jacquard, d’Elbeuf, les Laines et les
cuirs, de Mazamet, le Bulletin des laines, du coton, ... de Roubaix-
Tourcoing, le Moniteur des soies, de Lyon, qui contiennent de précieux
renseignements, en particulier sur les prix. Il paraît évidemment des
publications similaires pour chaque branche commerciale, comme les
Circulaires du Comité central des Houillères de France?) pour les
charbons, l’Ancre de St. Dizier pour la métallurgie. A toutes ces
publications pourraient s’en ajouter d’étrangères, qu'on ne peut pas
davantage se dispenser de mentionner, telles que les Rapports des consuls
établis en France et adressés à leurs gouvernements respectifs“), ou
les Bulletins des Chambres de Commerce étrangères) qui fonctionnent
dans notre pays.
Passons maintenant à l’un des éléments les plus importants du
commerce, les moyens de transport, et plus spécialement à la partie
qui y joue certainement le premier rôle, les chemins de fer. Là encore,
les auteurs se contentent de mentionner quelques très rares publications
privées et un ouvrage de statistique publié par le Ministère des Travaux
publics). D'une façon générale, ils pourraient, au besoin, se contenter
de renvoyer à la Bibliographie mensuelle des Chemins de fer, publiée par
M. WEISSENBRUCK, en appendice au Bulletin de la Commission inter-
nationale du congrès des chemins de fer 6). Elle n’est d’ailleurs pas
complète et a plutôt un but et un intérêt techniques; en tout cas elle
est indispensable à citer et à consulter. Quant aux volumes d’origine
particulière, nous ne savons si le Répertoire contient le nécessaire;
les Rapports annuels des Conseils d'administration des six grandes
compagnies aux Assemblées d'actionnaires, ou le Compte d'administration
des chemins de fer de l'Etat font absolument défaut; sur 30 thèses de
doctorat en droit?) publiées sur cette matière pendant les quatre
années du Répertoire, pas uue n’est indiquée; et comment se fait-il
qu’on ne voit même pas mentionné l'ouvrage absolument fondamental
du savant autrichien R. de Kanfmann®), d'autant plus que le travail
a reçu les honneurs d'une traduction en français par M. HAMON, qui
1) Office national du Comm. extérieur. Exercice —. Extrait des
rapports elc....
2) Publie aussi annuellement les Rapports des ingénieurs des mines aux
conseils généraux sur la situation des mines et usines dans les départements.
8) Leur liste, au moins pour ceux qui arrivent A l'Office National du
Commerce Extérieur, paraît dans le Moniteur officiel du Commerce.
4) Par cxemple des chambres de commerce américaine ou anglaise.
5) II. 2554—2565; IV. 2923; V. 2820—2821.
6) Bruxelles, Weissenbruck, 4°.
7) Pour la France et les Colonies. Nombre vérifié à la Bibliothèque de
la Faculté de Droit et qui est naturellement plutôt un minimum.
8) La politique française en matière de chemins de fer. Paris, 1900, 8°
(Bibliogr. de la France, 1900, n° 10977).
656 Referate.
même y a joint un second volume!)? Quant à l’ouvrage de statistique
officielle cité ci-dessus ?), nous sommes loin de méconnaître son intérêt,
mais, comme tous les travaux de ce genre, ce ne sont que des chiffres,
des résultats qui laissent ignorer les causes, les formes ou les modes
de développement: à bien des égards, il est insuffisant. En outre, il y a
une quantité d’autres publications officielles et qui ne sont jamais
indiquées *). De nouveau, il n’en est pas autrement pour les revues,
bien qu’il y ait des périodiques quasi officiels, comme la Revue générale
des Chemins de fer, ou le Bulletin de la Commission Internationale du
Congrès des Chemins de fer, dont nous parlions plus haut, ce dernier
permettant des comparaisons des plus fructueuses entre les chemins
des différents pays‘) De même, mais surtout au point de vue
commercial et financier, il semblerait au moins utile de mentionner la
Revue des questions de transport, publiée annuellement par M. Colson 5)
et où l’auteur, non seulement examine la situation des compagnies
françaises en elles-mêmes, mais les compare aux entreprises similaires
de l'Allemagne et de l'Angleterre: ce travail a si bien une valeur
classique qu'il est reproduit à l'étranger 5: ?).
Si, aux parties précédentes, nous ajoutons les Finances 8), les auteurs
ont heureusement à leur disposition le Marché financier, de M. RAFFALOVICH,
mais ils ne le citent que deux fois°): c'est d’ailleurs une publication
d'intérêt général économique. Le Rapport annuel de l'administration
des Monnaies et Médailles n'est pas mentionné plus sonvent!°). Les
publications officielles fort nombreuses, relatives au budget et à ses
divers &lements, ne sont jamais indiquées !1), et il ne semble pas que
1) L'avenir de la politique etc. ... 1900 (Bibliogr., n° 10 959).
2) Voy. p. 655 n. 5.
8) Voy. Catal. ROUSTAN, p. 76—78.
4) Et d’autres qu’on trouve dans le répertoire déjà cité de Weissenbruck.
Joindre des revues spéciales de jurisprudence, telles que le Bulletin annoté
des Chemins de fer en explottation.
5) Dans la Revue politique et parlementaire. Pourquoi alors mentionner
des articles infiniment moins importants, tels que celui de G. MICHEL (Repert.,
. 2547).
6) Dans le Bulletin cité p. 655 n. 6.
7) Joindre des publications d’ordre absolument social, telles que le C.R.
depuis 1891, du Congrès National des Chemins de fer le 10° en 1899, le
11° en 1901. Pourquoi citer le Congrès du parti socialiste français (1902.
Repert., V. 594)?
8) Il semble indispensable de mentionner par exemple STEIN, Bibliographie
de l'impôt sur le revenu («Le Bibliogr. Moderne» 1900, p. 264).
9) III. 2632—2633. Nous nous sommes assuré que cette publication
paraissait toujours; 14° année, 1906.
10) IT. 2563 et 1V. 2921.
11) Sauf II. 2568—2569. Voy. Catal. ROUSTAN, p. 49—53. Et encore il
faut distinguer entre les projets de lois présentés et adoptés: joindre les
Mem., et P. V. de la Commission de vérification des comptes des ministres
pour l’année — et l'exercice —; ne pas oublier que chaque ministère publie
en outre annuellement un Compte général du matériel et un Compte définitif
des dépenses etc. ...; pour la situation financière des départements et des
Referate, 657
ı le Bulletin de Statistique . . . du Ministère des Finances le soit davantage.
Rien non plus sur les Caisses d'Epargne et les autres Caisses d::
retraite!), etc.
Les multiples côtés de l'autre partie du chapitre général dont nou:
nous occupons, l'état social, ne sont pas mieux représentés?), en
particulier pour toutes les publications émanant de l'Office du travail?:.
Un exemple suffira. (Cet office publie un Annuaire des Syndicat:
professionnels), contenant, entre autres choses, une liste, assez longur
d’ailleurs, des journaux provenant de ces groupements; elle est naturelle-
ment très précieuse. Le Répertoire ne mentionne rien. Si enfin.
on veut prendre un côté un peu spécial de l'état économique, le:
colonies, et comparer ce que nous donne le présent travail avec cc
qui existe réellement, il suffit de rapprocher la publication en question’
de le partie bibliographique d’un annuaire spécial fort utile, l’Anne::
Coloniale de Mourey et Brunet), et on se rendra compte de toute
la différence).
communes, Catal. p. 67; la public. se rapportant aux secondes est citée deux
fois, II. 2569 ct V. 689.
1) Catal. ROUSTAN, p. 36—37. Joindre p. ex. Rapport et C. R. d:
opérations de la caisse d'épargne ct de prévoyance des Bouches du Rhön.
Marseille, 4° Annuel. Evidemment il existe nombre de publications similaires.
2) Par ex. simplement, GAUGER, Æ%«+ar de bibliographie. Sécurité des
ateliers et accidents du travail. Corbeil [1899], 8°, 184 p.; ou SACHET, Trait
théor. et prat. de la législation sur les accidents du travail, 2° éd., 1900.
Et il ne manque pas, chaque année, de thèses de doctorat en droit sur c::
sujet et d’autres similaires. Voy. aussi dans l’Econom. français, les articles
assez fréquents d’un ingénieur spécialement adonné à ces questions, M. BELLOM.
3) 11 vol. sont nommés en tout pour les 4 années (11. 2557-2559:
UT. 2579, 25681, 2583 ; IV.2762,2874, 2880; V.2749,2754). Il y en a bien d’autres :
voy. Catal. ROUSTAN, p. 42—44. Mais cette liste n’est pas non plus complète,
car elle ne contient pas, par ex. les C. R. annuels des sessions du Consei!
supérieur du travail. Joindre également les publications des directions du
travail et de l’industrie, de la Division de l'assurance et de la prévoyance
sociale au Minist. du Commerce; puis, Rapport du Conseil supérieur des
habitations à bon marché au Président de la République. Pour la mutualité
et «l'hygiène sociale»voy. les public. du Minist. de l'Intérieur (Catal., p. 67—68),
sans négliger des travaux locaux tels que les Rapports sur les travaux du
Conseil d'hygiène ... de la Seine, ou le Rapport sur les travaux du conseil
central de salubrité ... du dép. du Nord pendant l’année —. Voy. encore
des Revues telles que le Bull. de la participation aux bénéfices, le Bull. de
la Sté. frang. des habit. à bon marché, la Kevue de la prévoyance et de
la mutualité, \a Revue d’assistance etc. ...; l’association des Industriels de
France contre les accidents du travail, publie un bulletin et des circulaires,
et il existe des revues locales telles que le Bulletin de l’Assoc. Normande
pour préserver des accidents du travail, la Conférence d’études sociales
de N. D. du Hautmoni (pour le Nord) que nous citons au hasard, et il
n’en manque pas d’autres. C’est ainsi qu’à la B’bl. Nat. on ne paraît pas
recevoir le Bull. des laisses rurales, p. à Lyon par DURAND, et qui se rattache
à un mouvement fort intéressant.
4) Annuel.
5) Cité d'ailleurs Reperi. IV. 3326 et 3327, et encore cette bibliographie
ne «comprenait pas l'indication des articles de jouruaux».
6) Il faudrait y joindre toutes les publications de la v. de Paris. Elles
Vierteljahrschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte, III. 43
658 . Referate.
Il nous paraît superflu de nous étendre plus longuement sur ce
côté du Répertoire, n'ayant pas l'intention de faire, à notre tour, la
Bibliographie contemporaine de l'Histoire économique et sociale). Ne
pense-t-on pas cependant qu'elle est un peu trop absente du travail,
et que cette partie de l'ouvrage, qui, en principe lui est consacrée, en
fait, ne peut vraiment pas suffire pour donner une idée même relative
de la production réelle: dans ces conditions, nous regrettons infiniment
de le dire, mais nous croyons qu'il faut conclure qu’à ce point de vue
les volumes en question sont malheureusement destinés à ne rendre
guère de services.
La seule remarque que l'on puisse faire en faveur des auteurs est
de se demander s’il était bien nécessaire de donner cette extension
chronologique à leur bibliographie. Non seulement, nous l'avons dit,
les recherches sont matériellement des plus difficiles, mais, à priori.
des travaux qui concernent des faits actuels peuvent-ils, au moins dans
la plus grande partie des cas et pour des raisons multiples, être
considérés comme ayant une véritable valeur historique? Il parait
d'autant plus permis d'émettre ce doute, que les auteurs se sont
montrés tout aussi hésitants à propos d’autres parties de leur Répertoire,
celles qui intéressent l’histoire des lettres et des arts. Nous n’avona
pas voulu, disent-ils, insérer aucun travail relatif aux écrivains et aux
artistes vivants: , Entre les nombreux articles de journaux et de revues
qui leur sont consacrés, il est très délicat, étant impossible de tout
prendre, de faire un choix. Dans cette production, souvent hâtive,
soumise aux caprices .de l'actualité, à quels noms s'attacher, quels
écrits louer comme futurs matériaux historiques. L'entreprise eut éte
périlleuse et nous avons préféré ne pas nous y risquer“). On ne
saurait vraiment mieux dire; seulement, pour quels motifs ce système,
qui est reconnu bon dans certains cas, est-il considéré comme mauvais
dans d’autres qui, par rapport aux premiers, présentent assurément
des différences de forme, mais ne paraisseut pas offrir une distinction
de nature bien tranchée? Il ne semble pas que des influences person-
nelles on actuelles aient ınoins d’action dans les recherches économiques
ou sociales que dans les travaux littéraires ou artistiques. En tout
cas, si les autenrs ont eu des raisons d’agir d’une façon opposée suivant
qu'il s'agissait des unes ou des autres, nous croyons qu'il ne serait
pas inutile de le faire connaître, et ensuite, s'ils persistent dans l’ex-
tension chronologique qu'ils ont donnée à leur Bibliographie, il serait
indispensable de rendre cette dernière beaucoup plus complète qu’ils
ne l'ont fait. Mais nous pensons qu'ils n'auraient que d’excellents
motifs pour revenir à la date qu'ils s'étaient primitivement assignée.
En effet, le Répertoire n’en comprendrait pas moins l'histoire contem-
poraiue dans des conditions tout à fait suffisantes, car l’état économique
sont simplement indiquées dans le Répert. une fois (IV. 2948). Voy. Caïal.
ROUSTAN, p. 83—87. Et il n’y a guère de doute que nombre de villes de
France en publient de semblables, bien qu’en moins grande quantité.
1) Est-il besoin de dire que nous n’avons eu aucunement la prétention
d'être complet, même de très loin? Un volume spécial serait nécessaire.
2) IV. p. VIL
Referate, 659
est social actuel, d'une façon générale, ce sont les affaires, c'est aussi
a politique, mais ce n’est certainement pas encore ce qu'on peut
appeler l'histoire.
=. En second lieu, il reste & examiner le cadre adopté par les auteurs.
Mn peut tout d'abord considérer les éléments qui n’ont cessé d'être
ménsérés dans le chapître que nous étudions. La première partie,
»Phistoire économique, semble être constituée par ses trois grandes
reubdivisions naturelles de l’agriculture, de l'industrie et du commerce;
‚mais l'industrie est ainsi complétée: „Organisation du travail“. C'est
sans doute à ce dernier élément que se rapportent les ‘ouvrages qui
seoncernent la condition théorique et l’état réel de l’employear et de
a: employé, la vie collective de l’un et de l’autre, leurs rapports mutuels.
Mais si, sans doute, certains touchent là à ces points un peu particulièrement
‚ı pour l'industrie, car les travaux se rapportant spécialement à ces
g Sujets pour l'agriculture, ont été classés de préférence à cette dernière
. zubrique !), d'autres y traitent aussi ces mêmes questions pour l'ensemble
"de la vie économique sans distinctions secondaires. Tels sont, par
: exemple, des recherches générales sur les corporations nationales,
, régionales ou urbaines avant 17892), vu après, des travaux relatifs
au mouvement syndical patronal ou ouvrier), des statistiques de
dénombrement des industries et professions +), d'associations profession-
nelles ouvrières5), de grèves). On peut se demander pourquoi ce
sous-titre d'organisation du travail n'existe que pour l'industrie, et
pourquoi aussi toutes ces recherches générales ont été rassemblées à
cette même subdivision. En effet, on travaille et il y a des patrons.
des ouvriers et des entreprises économiques également dans l’agriculture
et dans le commerce, et par suite, le travail et le capital s'y organisent
et y ont des rapports comme ailleurs; les auteurs ont pu eux-mêmes
le constater au sujet de la vie rurale. A vrai dire, cette question a
peut-être plus d'importance dans l’industrie, parce que, dans l’agriculture,
le travailleur est de préférence isolé et d'une nature domestique, que, dans
le commerce, il a souvent une apparence bureaucratique, l’industrie,
au contraire, contient proprement des ouvriers de fabrique réunis en
collectivité, et relativement elle a plus d'importance. Mais ce n'est
là qu'une simple différence de forme et de quantité, nullement une
séparation ou une opposition de qualité et de fond. Et ne serait-il
pas facile de citer tel livre sur les métiers en général, qui, placé à
l'industrie, s'occupe tout aussi bien, sinon de préférence, des artisans
de commerce’): en effet, avant 1789, la majorité des centres urbains
1) Pour le commerce, nous n’avons rien relevé de bien particulier.
2) I. 1276, 1281, 1289; II 2276; III. 2534, 2558; V. 2740.
E3) IL. 2660; V. 2744—2745.
4) III. 2581.
5) III. 2579; IV. 2874.
6) III. 2683; IV. 2880; V. 2754, 2756.
7) Le travail de M. BoıssonnaDe (II. 2276; IIT. 2534), a comme livre I.:
Le mouvement général de l'industrie et du commerce en Poitou; comme
livre II.: Organisation de etc. ... et ce livre, parmi ses subdivisions, a les
suivantes: «Travail et commerce des cuirs et des peaux», ou des «Métaux
660 Referate.
avaient plutôt une valeur d'échange que de production. De même,
les professions, les syndicats, les grèves dans leur ensemble et les
ouvrages qui les concernent, n’ont absolument rien de spécial à la vis
industrielle ‘:*?). Les auteurs paraissent donc s'être laissés assez
abuser par le terme de travail, qu'ils ont considéré dans un sem
beaucoup trop restreint. Dans ces conditions, la rubrique précédents
était au moins inutile, et les ouvrages généraux mentionnés plus haut
auraient dû être mis à part.
D'un autre côté, non seulement les travaux d'ensemble relatifs à
l'organisation, mais toutes les recherches spéciales du même genre,
concernant l’une des trois grandes divisions de l’agriculture, de l’industrie
ou du commerce, ont été classés, nous venons de le voir, à la partie
proprement économique du chapitre. Cependant, en ce cas, il semble
vien qu'il ne soit plus question de cette forme de l'histoire, mais de
ses conséquences intéressant les personnes, qu'il s'agisse du point de
vue théorique ou réel. Plus généralement, ces contributions com-
prennent ce que l’on est convenu d’appeler l’histoire sociale, qui, malgré
les liens fort étroits qu’elle peut avoir avec les recherches économiques,
puisqu’en réalité elle en procède, en est suffisamment distincte. Ce
n'est pas, par exemple, à ces dernières que se rapportent des ouvrages
sur le contrat du travail), sur la condition légale du mineur!)
apprenti, ouvrier ou employé de commerce, et ils ne sont pas à y
insérer. Des publications officielles relatives aux associations profes-
sionelles?), aux greves®), entraînent la même appréciation. Ce genre
de recherches paraît être clairement différent de la nature de travaux
concernant le passé de la culture de la vigne dans le Perche}, les
anciennes mines de charbon du Bourbonnais®), la banque à Lyon),
communs»; Industries des transports, des jeux et spectacles et des arts
d'agrément, ou encore „La médecine, la chirurgie, la pharmacie et les indu-
stries annexes“. Le livre de BOURGEOIS sur les métiers de Blois (cité I.
1275), contient des documents relatifs aux arts médicaux, aux métiers d'art
aux marchands, à l'alimentation, aussi bien qu'aux industries textiles, du cuir
at des métaux. Voy. enfin le livre de E. MARTIN S. LEoN (I. 1289). De
même la contribution de SCHMOLLER sur les salaires (V. 2718).
1) Voy. à ce sujet les ouvrages cités p. 657 n. 3: il suffit d’ouvrir
les tables des matières et il est inutile d’insister sur ce point. Cf. encore
l'Annuaire des syndicats professionn:ls, industriels, commerciaux et agricoles
(non cité dans la Répertoire).
2) C’est évidemment une confusion du même genre qui a fait classer les
numéros suivants à l'industrie: II. 2278, 2289 (marchands), 2303 (pecheurs,
2309 (patissiers); III. 2486, 2560 (les apothicaires (2560) sont à l’industrie
mais la pharmacie (2587) est au comınerce); IV. 2852 (artistes); V. 2732,
2734, 2737 (apothicaires), 2738 (tailleurs).
8) V. 2744.
4) IV. 2881.
6) III. 2679; IV. 2874.
6) IV. 2880; V. 2754.
7) III. 2488, 2492.
8) IV. 2854.
9) V. 2773.
Referate. 661
ou la statistique des appareils à vapeur en France!). Une séparation
absolue est sans doute toujours difficile A établir, car la réalité et les
recherches ne la font pas toujours aussi. Elle existe cependant: ainsi
on peut dire, qu'en général, les ouvrages relatifs aux métiers, malgré
leur apparence d'ensemble, ne se rapportent pas au travail lui-même,
mais à son organisation?). En tout cas, on eut pu, à la rigueur classer
ces travaux sous le titre de généralités. Au contraire, les auteurs ont
donné à ce terme de condition du travail, en particulier, un sens qu'il
ne comporte certainement pas, et dans l'ensemble, ils ont ainsi confondu
deux genres de recherches qui, autant que possible, auraient dû être
séparés ‘).
Il en résulte une autre conséquence. Tout le reste du chapître
qui comprend plusieurs subdivisions intitulées: , Institutions de charité
et de prévoyance, Instruction publique, Sociétés savantes, Bibliothèques
et Archives, Imprimerie, Librairie, Presse. Vie sociale et mœurs“,
forme évidemment l'Histoire sociale“. Du moment, en effet, que
l’organisation du travail est considérée comme de l’histoire économique,
on ne voit pas à quelles rubriques, sinon à celles que nous venons
d'énumérer, on pourrait donner le titre général d'histoire sociale. Or,
si la charité et la prévoyance, disons le tout de suite, se trouvent
parfaitement à leur place à cet endroit, il est peut-être permis de se
demander si les autres éléments constituent réellement de l'histoire
sociale, et plus généralement, s'ils sont & classer dans le chapitre dont
nous nous occupons.
La partie la plus importante est formée par la vie sociale et les
mœurs. Les publications dont elle se compose se rapportent à des
sujets assez variés en apparence: inventaires, livres de raison, mœurs,
fêtes, jeux, modes, vie de cour ou de salon, vie galante, mais, de la
facon la plus générale c'est tout ce qui intéresse l'existence privée,
alimente la conversation, et en un mot ce qui constitue la civilisation
et la vie de société. Probablement est-ce ce dernier point, plus précisé-
ment cette dernière expression, car les ouvrages qui concernent
particuliérement ce sujet sont très nombreux, qui a amené les auteurs
& considérer que, dans leur ensemble, ces différentes recherches com-
posent l'histoire sociale, les deux expressions différent littéralement si
peu! et les a engagés à les insérer dans cette partie du Répertoire au
même titre qu'un volume sur le blé, le fer, les canaux, les métiers on
les greves. Sans doute, il importe de distinguer parmi les travaux
1) V. 2753.
2) Voy. les livres cités de BOISSONNADE, BOURGEOIS et DRAPE.
8) Cette confusion entre l’histoire économique et sociale fait classer aux
généralités des ouvrages de pure statistique, par exemple, qui ne peuvent être
autre chose que de l’histoire des faits et, dans celle-ci, de l’histoire économique :
voy. III. 2388, 2389, 2396, 2402; IV. 2727—2729, 2740; V. 2521. — De
même, le travail d’EBERSTADT, Das fransösische Gewerberecht (III. 2404).
n’interesse nullement les doctrines, mais les faits. Sans vouloir insister, on
relèverait ansez facilement d’autres irrégularités semblables. Pourquoi deux
cures sur la grande industrie sont-ils classés, l’un aux généralités, l’autre:
ustrie (II. 2238 et 2281)? etc. .
662 Referate.
précédents. Si tout ce qui est spécialement relatif aux mœurs parait
bien être absolument étranger au chapître en question !}), il est admis-
sible qne les contributions intéressant de préférence la vie sociale s’en
rapprochent davantage. Les Inventaires de marchands seraient même
parfaitement placés à l'histoire proprement économique. On peut auss
consulter avec fruit les livres de raison pour les prix, le mouvement
local ou régional de la vie économique ou sociale, ou encore les travaux
sur les salons ou sur la mode peuvent donner des renseignements utiles
au sujet des étoffes, des meubles, de leur origine, de leur valeur. 1
serait assurément possible d'augmenter le nombre de ces exemples
Nous croyons cependant que ces sources d'informations, sans être
parfois négligeables, n’en sont pas moins toujours d’une importance
essentiellement secondaire. La vie sociale est tout au plus le côté
absolument auxiliaire, l'élément tout à fait indirect de l’histoire vraiment :
sociale, et les deux genres de recherches ne sauraient être assimilés
l'un à l’autre.
C'est ainsi que, si les doctrines des écrivains et des philosophes
du XVIIIe siècle furent en général exposées dans des salons d'une
aristocratie fort élégante et civilisée, l’histoire des premières est uns
chose et celle des seconds en est une autre, et les deux questions,
quoique voisines, sont d'espèces fort différentes. Le mouvement de
la population, le nombre des naissances, des mariages ou des mort,
n’ont vraiment rien à faire, semble-t-il, avec les manifestations mondaines
que ces événements démographiques entraînent. La culture ou ls
commerce des denrées alimentaires ne sont nullement l’histoire des
réceptions, si intimement liées que ces deux choses puissent être par
certains côtés. La fabrication des étoffes d’habillement ou d’ameuble-
ment dans des usines, leur transformation même en vêtements ou en
tentures dans des ateliers, les multiples questions économiques ou
sociales qui sont ainsi soulevées, sont des points nettement distincts
de la mode ou de l'élégance, et de quantité d’autres sujets qui intéressent
exclusivement la vie privée des personnes quelconques pour lesquelles
ces tissus ont été fabriqués par des travailleurs. Si la mode a une
répercussion directe sur l'état de prospérité ou de décadence économique
de la production, par suite sur la situation sociale du producteur, il
ne s'ensuit nullement que son histoire constitue l'histoire sociale, et
que le bibliographe doive prendre le premier sujet pour le second.
Et ainsi de suite. Bref, le rapport accidentel n'est, à aucun degré,
le lien obligatoire, ni encore moins l'identité. Autrement il n’existerait
aucune raison de ne pas tout ramener à un seul point de vue.
1) En apparence, tout au moins, on admettra difficilement que ce qu'on
appelle l’histoire sociale s'occupe de recherches telles que «Les amours de
M. J. de Ghistelle et du chevalier Séguier» (I. 1384); «Un amour platonique
du marquis de Sade» (III. 2990); «Comment un cheval monta aux tours Notre
Dame en 1803» (III. 8014); «L'ordre de la Boisson» (IV. 3217); «Le
marquis de Sade était-il fou?« (IV. 3241); «Les coiffures des femmes au
theatre» (IV. 3242); «Une lionne du second empire» (V. 8178) et bien d'autres
contributions semblables, en particulier sur le personnage cité plus haut &
sa doctrine.
Referate. 663
Nous ferons naturellement des réserves de même nature à propos
des rubriques de moinde importance qui se rattachent aux précédentes
et sont classées avec elle. Tout d'abord, une des subdivisions concerne
l’Instruction publique. Le mode d'éducation peut avoir ce qu'on appelle
assez vaguement une portée sociale considérable, mais, outre que ce
n’est là qu'un simple côté de ce phénomène, une conséquence indirecte,
il n’en résulte nullement que, par essence, son étude rentre parmi les
recherches proprement sociales!). Une seconde rubrique, consacrée
à l’histoire des Sociétés savantes, des Bibliothèques et des Archives,
pourrait être considérée comme un des éléments de la précédente.
Néanmoins, son caractère particulier la rend encore moins propre,
semble-t-il, à être classée dans l'Histoire sociale et même simplement
dans celle des mœurs: elle ne peut être autre chose que de la bibliographie.
Viennent ensuite l’Imprimerie et la Librairie. On les avait d’abord
placées à l'histoire économique et nous croyons qu'il aurait été préférable
de les y laisser. Nous ne prétendons pas, sans doute, que la découverte
de l'imprimerie n’a pas exercé indirectement une très grande et très
profonde influence sur la société et sur la civilisation en général, mais
cette idée, assez vague, n'a absolument rien & faire en l'espèce.
L'histoire de l'impression et du livre peut être considérée comme celle
de tout autre industrie ou commerce et classée, à ce titre, à la partie
économique ou vraiment sociale du chapitre; ou encore, si on étudie
simplement la création locale des ateliers d'imprimerie, les livres rares
imprimés ou vendus, cela devient une partie de l’histoire bibliographique
ou de l’histoire de l’art: ce second mode de classement paraît être le
plus simple. Enfin, une dernière subdivision est consacrée 4 l’histoire
de la presse: il est inutile d’y insister. Si en effet le journal peut être
un instrument social, il ne l'est pas toujours et forcément: c’est, à
priori, une affaire commerciale*). A tous ces points de vue, nous
croyons encore que le rapprochement, le voisinage de l'histoire sociale,
ne sont nullement l’&quivalence avec elle.
Ainsi, on aboutit toujours à la même conclusion. Ces systèmes
de classification sont trop spécieux, surtout trop indéterminés. Ils sont
le résultat d’une confusion d'idées ou plus simplement de mots, et ne
tiennent pas suffisamment compte de la nature et de l’objet propre des
recherches. Ce que les auteurs considèrent comme de l’histoire sociale,
ce qu'ils appellent en particulier la vie sociale, l'histoire de la société,
peut, à certains égards, aider à compléter l’histoire réellement sociale,
peut servir à la comprendre, mais ne la constitue certainement pas.
DI ne manque pas encore d'institutions comme l'Eglise et l’armée, ou de
phénomènes comme l'alcoolisme, qui, par plusieurs côtés, ont une im-
portance réellement sociale, sans que cependant, par leur caractère
fondamental et par leur développement général, ils rentrent essentielle-
1) Il semble que la pédagogie se rattache avant tout et en elle-même à
Ja philosophie.
2) BUCHER dit: «Ce phénomène . . . en tout premier lieu importe à l'historien
économiste. Le journal est essentiellement une institution commerciale»
«Etudes d’hist. et d’écon. politique; trad. HANSAY, p. 188—184; cf. p. 211).
664 Referate.
ınent dans la variété de l'histoire à laquelle nous faisons allusion.
D'ailleurs, les auteurs n'ont, en aucune façon, songé à les insérer dans
lo chapître en question: puisqu'il en est ainsi, ils n'avaient pas à agir
autrement pour toutes les autres rubriques.
En second lieu, à côté de toutes les subdivisions précédentes de
“ette même partie, qui n’ont pas changé de place, il en existe d'autres,
on le sait, qui en ont été successivement détachées. (C’est ainsi que
les trois premières années compreuaient, en töte du chapitre, lex
ouvrages relatifs aux doctrines; on les a ensuite placés sous le titre
d'Histoire des sciences économiques à \’ Histoire des sciences. Il n'existait
suère de raison de séparer ce qui avait été primitivement uni, et le
plan primitif paraissait préférable ).
De plus, en même temps que les auteurs déplaçaient l’histoire des
doctrines, ils créaient, tout à la fin de l'Histoire des Faits, dans la
xrande division de l'Histoire politique intérieure, une subdivision intitulée
„Socialisme“. Elle comprend, en général, des ouvrages se rapportant,
comme époque, à la période qui commence avec la Révolution et,
comme sujet, aux doctrines?) et aux faits du socialisme), On ya
insere aussi des travaux relatifs à l'ensemble de l'Histoire du Socialisme.
C’est évidemment l'importance que celui-ci a pris dans la politique
contemporaine, qui a amené les auteurs à lui consacrer dans ce chapitre
une place spéciale. Nous ne nions pas, en effet, sa très grande influence;
ınais tout d’abord, relativement, il y a peut-être des questions aussi
vonsidérables et aussi politiques au XIXe siècle, telles que les Affaires
Religieuses, que les auteurs n’ont pas cru devoir classer dans cette
division. De plus, au sens absolu, considérer le socialisme au
seul point de vue politique, c’est l’envisager sous un aspect spécial
et peut-être un peu discutable. Qu'en fait, il ait pris très souvent
une telle forme, nous ne le contredirons pas: tout au moins eüt-il
fallu n'insérer sous cette rubrique que les ouvrages qui l’étudient par
ce côté. Néanmoins, il n’y a guère de doute qu'il ne soit, en thèse
senerale, avant tout, un ensemble de doctrines et de faits sociaux.
Pourquoi, en ce cas, l'avoir séparé des unes et des autres et en
particulier des recherches sur les écrivains et les philosophes du
XVIIIe siècle, aux théories desquels il se rattache directement comme
système, puis, d'autre part, des travaux sur le mouvement économique
du XIX°, dont le développement a tant aidé au sien propre) et enfin
des contributions relatives à l’organisation du travail, dont il n’est en
réalité qu'une des formes 5) ?
Aussi, si l’on voulait entrer dans les détails, serait-il facile de voir
1) Son rétablissement dans le t. V. n’est évidemment que momentané
ıvoy. p. VI.).
2) IV. 692, 701; V. 590, 592, 596, 597.
8) IV. 685, 694, 697.
4) «La révolution sociale [est] fille légitime de la révolution industrielle
du XIX* siècle et de la révolution humaine du XVIII» (FOURNIER, la Legis-
lation du travail, Paris, 1904, p. 12). Cf. d’ailleurs, Repertoire IV. 690,
596; V. 589, 598.
5) Voy. V. 595.
Referate. 665
que la distinction précédente est un peu artificielle, et qu'il existe bien
des ouvrages qu'on ne paraît pas avoir plus de raisons de classer dans
une rubrique que dans l'autre. Pour quel motif insérer un travail sur
les systèmes socialistes !) à la Politique, une recherche sur le Socialisme
et la question sociale?) aux Doctrines, des travaux sur BLANQUIS) à
la première subdivision et d’autres sur B. MALON‘) à la seconde, et
même successivement à l'une et à l’autre, des recherches concernant
FOURIER 5), LEROUX 6) ou PROUDHON ‘*#)? Pourquoi encore placer au
Socialisme des comptes-rendus de congrès socialistes °), à l'Economie
une Histoire des Bourses du travail !°), du mouvement syndical ouvrier !!),
une statistique des grèves !?), ou enfin, au premier un travail sur GODIN
et le familistère DE GUISE!#) et à la seconde une recherche sur la
Verrerie ouvrière d'ALBI'4)? Nous ne prétendons pas que les auteurs
n’ont pas eu les raisons les plus sérieuses de faire ces classifications,
mais elles n'apparaissent pas très clairement. En tout cas, si on veut
bien se rappeler que l'histoire sociale, telle qu’on la comprend
habituellement est dispersée dans le Répertoire en trois éléments: le
socialisme, les doctrines et l’organisation du travail, mais que la division
qui porte réellement ce nom ne comprend que l’histoire de la société,
on reconnaîtra que les trois premières parties sont plutôt là ou elles ne
devraient pas se trouver et que, par conséquent, là où l’on serait
naturellement porté à les rechercher, il n’y a en définitive: rien.
La double subdivision consacrée aux Finances et à la Justice a
formé, depuis le t. IV., l'histoire des Institutions, qui constitue une des
deux parties de la grande division générale du début: l'Histoire poli-
tique intérieure. Cet élément se trouve assez loin de l'Histoire éco-
nomique, et évidemment les auteurs ne paraissent plus avoir tenu à
établir aucnn rapprochement matériel entre les deux rubriques. Sans
doute ce détachement est très explicable. L’histoire du droit public
dans son ensemble n’est pas l'histoire économique: on traite tous les
jours fort convenablement l’une en ignorant l'autre et inversement;
mais il n’en existe pas moins entre ces deux parties de l’histoire les
liens les plus étroits et les plus constants. L'administration émane
naturellement du milieu économique et social et ne cesse d’y fonctionner,
et cela est si vrai que certaines études sont, pour ainsi dire, d’une
nature mixte: l'examen de la condition des travailleurs peut être consi-
1) V. 592 (PARETO).
2) V. 2608 (NoËL).
8) IV. 698.
4) IV. 3579.
5) IV. 700; V. 2601, 2616.
6) IV. 684; V. 2611.
7) IV. 689, 693; V. 2586, 2610.
8) A la rigueur comparer V. 590 et 2601.
9) IV. 685.
10) V. 2752.
11) Voy. V. 2751, et joindre au tome IV. 2872, 2876 et V. 2744, 2746, 2766,
12) IV. 2880; V. 2754.
18) IV. 687.
14) IV. 2879.
666 Referate.
déré comme une étude juridique aussi bien que sociale, et inversement,
le droit commercial intéresse tout autant économistes que juristes.
On ne doit donc pas, il est à peine besoin de le dire, être un juriste
trop abstrait ou une économiste trop ignorant des principes du droit.
Au contraire, l’histoire politique et celle des institutions semblent être
deux choses assez distinctes entre lesquelles il n’existe que des rapports
vagues, tels que ceux qui peuvent se rencontrer entre deux parties
de l'histoire, ou autrement il n’y a aucune raison de ne pas tout
ramener à la politique dont l'influence est générale. Et encore, le
changement précédent n'offre que des inconvénients relatifs pour les
institutions administratives et judiciaires; mais il en présente de plus
grands pour l'organisation financière où le point de départ est nette-
ment économique et, en thèse générale, la science des finances est au
_premier chef une science d'état, bien que son application gouvernemen-
tale rentre également dans l’histoire du droit public. En somme, la
séparation du droit et de l’économie est à la fois explicable et même
nécessaire quant au fond: mais elle n’aurait pas dû s'éxecuter sous
sa forme actuelle, car il fallait, au contraire, la réduire au minimum.
Au reste, comme s'ils l'avaient compris, les auteurs ne l'ont par
complètement réalisée. Ils ont en effet laissé, dans le chapitre d'histoire
économique, une subdivision intitulée: , Législation civile et coutumes“.
Dans l’ensemble, c'est pour l'Ancien Régime ce qu’on peut appeler le
Droit privé, et depuis la Révolution, le Droit civil. Nous ne nions
pas, puisque surtout nous venons de l’observer, que les lois et les
usages, quels qu'ils puissent être, ne constituent en grande partie une
conséquence directe du milieu économique et social, et qu’on ne saurait
les comprendre que si on le connaît parfaitement lui même. Mais cette
idée, pour juste qu'elle soit, ne doit pas être exagérée, sinon on
tombe de nouveau dans une confusion analogue à celle qui ramène
l’histoire de la société & l'histoire sociale et celle-ci à l'histoire écono-
mique: plus précisément on confond les causes et les résultats. Quelle
que soit, en effet, l’origine du droit privé, il n'en forme pas moins
une branche de l’histoire parfaitement nette et suffisamment délimitée
par elle-même, loin qu'il faille la faire fusionner avec d’autres et la
perdre parmi elles'). Par exemple, un certain nombre d'ouvrages
classés à la rubrique en question, sont relatifs aux lois et aux cou-
tumes?): c'est dans son ensemble un sujet trop vaste pour qu'il ne
touche peut-être pas, par certains côtés, à l’histoire économique, mais
à priori, par 8a nature générale, il n’y a guère de doute qu'il ne duive
bien plutôt être inséré au droit, spécialement à l’histoire des sources.
En particulier, un „Annuaire de Législation“ 3) qui renferme des lois
sur toutes les institutions, ne peut pas davantage être classé ailleurs.
Un travail relatif à „une dernière édition des Coutumes de l’Anjou‘*),
1) Voy. les deux manuels de l'Histoire du Droit privé de VIOLLET et de
HEUSLER.
2) IV. 2768-2769, 2775; V. 2620, 2628.
3) IV. 2781.
4) IV. 2778.
Referate. 667
est aussi du droit absolument pur. Ce caractere est, s’il est possible,
encore plus sensible dans les recherches sur „les Renonciations au
M. A.“: c’est de la simple procédure!). De même, tous les travaux
intéressant la condition des personnes?) autres que les travailleurs,
dans le droit féodal, ne se rapportent pas non plus à l’Economie: un.
travail sur „les particularités du droit noble en Lorraine“) ou des
contributions à l'histoire du mariage‘) ne s’y trouvent pas à leur
place. Il en est de même pour plusieurs ouvrages relatifs aux
notaires®). Sans doute, ces derniers s'occupent de la vie économique
et sociale de leurs clients, mais des recherches sur le notariat sont
tout autre chose, car ses membres sont avant tout des témoins privi-
légiés, et même on a pu faire rentrer leur étude dans celle de la
Diplomatique. Les magistrats également s'occupent de droit privé,
et cependant il ne viendra à personne l’idée d'insérer les recherches
qui les concernent à l’économie politique. Bref, parmi les travaux
précédents, certains sont des études de droit pur et n'ont absolument
rien à faire ici; d’autres, quoique d’une façon moins tranche,
intéressent avant tout aussi l'histoire juridique, et ce ne sont, au fond,
que des sujets un peu spéciaux de droit ou des études de droit faites
à un point de vue un peu particulier 6).
Ainsi les auteurs paraissent être tombés successivement dans deux
excès contraires: en effet, l'économie et le droit ont des liens qu’on
ne saurait négliger, et néanmoins l’une n'est pas l’autre, sinon il
n’existerait pas de classification possible. D'autant mieux que le plan
utilisé aboutit À ce résultat que des travaux relatifs au droit sont
classés à l’économie, et les recherches sur les finances, science &cono-
mique, se trouvent au droit. Un ouvrage sur les lois successorales ‘:
appartient à l’histoire économique, et des études relatives à l’histoire
de la Bourse®), rentrent dans l'histoire juridique. Plus généralement,
le droit, parfois considéré comme une abstraction, est mis aux faits:
les finances, qui sont un objet concret, se trouvent & l’histoire abstraite.
Nous pensons que le contraire eût été préférable.
En troisième et dernier lieu, viennent, on le sait, des rubriques qui
n’ont jamais été classées à l’économie, mais qu’il importe cependant
d'examiner. Il en existe deux à l’histoire de l’Art: la Numismatique
et les Arts Industriels.
1) IV. 2780.
2) IV. 2770; V. 2619, 2632.
8) IV. 2778.
4) V. 2622, 2633, 2639, 2641, 2642.
5) IV. 2774, 2776, 2777; V. 2618, 2624.
6) M. ARON l’a parfaitement observé en écrivant: «Parmi les lois qui :-
rapportent au droit privé, les lois successorales sont à beaucoup près, celles
dont l'importance est la plus considérable au point de vue économique et
social. Aussi comprend-on à merveille que les économistes s’en préoccupent
autant que les juristes» (Etude sur les lois successorales de la Révolution.
Nouv. Revue Hist. de Droit, 1901, p. 444).
IV. 2782.
8) V. 714.
668 Referate.
La Numismatique n'est pas, à vrai dire, tout entière à cet endroit,
et les travaux relatifs à la monnaie en général se trouvent aux
Finances !). Cette seconde place se comprend fort bien. On peut
se borner à des recherches théoriques sur la monnaie et sur la valeur,
sans s'occuper proprement de numismatique. Mais cette étude se
présente à des points de vue assez divers. Sans parler du côté pro-
prement économique que nous venons de uommer, le droit de monnaie,
qui a une importance particulière, intéresse l'histoire du droit; ou ne
saurait d’ailleurs oublier que la gravure de la monnaie est une question
uniquement artistique, qu'aux monnaies s'ajoutent les médailles et les
jetons, d'où le côté juridique et économique est absent, que, dans leurs
études, les numismates s'occupent assez fréquemment de tous les objets
renfermant des métaux préccieux ou des pierres rares que contiennent
les trésors. Nous reconnaissons donc que l'élément artistique n’est
pas absent de la monnaie, mais il n'y joue qu’un rôle absolument
secondaire, qui ne suffit, & aucun degré, à classer la numismatique à
l'histoire de l’art. Il aurait fallu alors n'y mettre que les travaux
considérant la monnaie uniquement sous cet aspect: c'est ce qui
n’a eu lieu en aucune façon, La classification précédente ne parait
donc pas justifiable. Rien ne le montre plus clairement que ce
fait que, dans le t. V. du Répertoire, où, pour des raisons spé-
ciales?) et que nous espérons bien n'être que momentanées, l'histoire
de l’art est absente, il ne se trouve rien de relatif à la numismatique.
ce qui est une lacune grave et absolument inexplicable, quelles que
soient les raisons que l'on peut faire valoir en faveur de l'absence
des autres éléments de cette division.
Il en est de même pour les arts industriels. Sans doute, le classe-
ment des travaux qui les concernent à l'histoire de l'Art, se justifie.
Cependant, dans bien des cas, on ne peut négliger un élément beau-
coup plus pratique, la fabrication, avec ses diverses conséquences
économiques et sociales. Une recherche sur les ,marchés passés avec
un maître brodeur au XVIIe 3.“3) peut intéresser les économistes et
les juristes, tout autant que l'historien de l'art. Il n’en est pas autre-
ment de tout ce qui se rapporte aux corporations. Dans ces conditions,
des renvois à l’histoire économique tout au moins eussent été néces-
saires, et l'absence, dans le t. V., des travaux concernant les art
industriels, ne se justifie pas plus que pour la numismatique.
Le dernier chapître du Répertoire est consacré à l'histoire locale.
I correspond, à priori, au chapitre de tête concernant l’histoire
générale. En principe, l'un et l’autre, semble-t-il, ne doivent comprendre
que des travaux qui ne rentrent dans aucune subdivision particuliére,
soit parce qu'ils ont réellement une valeur d'ensemble, soit parce
qu'ils ne portent pas sur un point spécial assez précis. Cependant,
assez fréquemment, la division d'histoire locale contient des recherches
1) II. 2563; IV. 2921.
2) Avant-propos, p. VI.
8) IV. 4436. Cf. I. 2849, 2861; IV. 4489. D'autres contributions ont
peut-être également une valeur technique, mais le titre ne permet pas tou-
jours de le préciser.
Referate. 669
locales, économiques ou sociales!), et on le comprend d’autant
moins qu’inversement le chapitre consacré à l'Economie présente des
travaux locaux. Il est à peine besoin de dire qu'il aurait été préfé-
rable de tout classer à cette dernière rubrique.
La partie du Répertoire dont nous venons de nous occuper paraît
donc renfermer quelques éléments qui ne semblent pas y être à leur
place, et elle en contient aussi plusieurs autres qui, classés ailleurs,
y auraient été insérés beaucoup plus justement. Les auteurs ont sans
doute bien vu ce qu'était l’histoire économique, mais, à certains égards
tout au moins, ils l’ont confondue avec l’histoire sociale, et, en consé-
quence, ils ont donné à cette dernière un sens et une extension qu'elle
ne comporte certainement pas: non seulement, ils lui ont attribué tout
ce qui se rapporte en réalité à la civilisation, mais, poussant les
résultats de leur système jusqu'à l'extrême, ils ont fini par classer
sous cette rubrique des travaux qui sont, au fond, des recherches de
pure bibliographie. Ils ont de même séparé ou confondu, sans trop
de raisons, l’économie et le droit. Ils ont enfin considéré à un point
de vue trop particulier, et en l'espèce, trop artistique, certaines études
qui ne se rattachent à l'histoire de l’art que dans des proportions
tout à fait secondaires ou qui n'ont rien d’exclusif. Bref, quelque
confusion générale dans les idées et une certaine imprécision dans
l’ensemble de la classification paraissent faire que ce chapître renferme
trop de choses, sans cependant qu'il en contienne assez. Or, ce résultat
est un peu regrettable, parce que la partie de l’histoire à laquelle sc
rapporte cette division a pris, et est surtout destinée à prendre trop
d'importance pour qu’on n'ait pas soin d'en écarter ce qu’elle ne
comporte pas, mais aussi pour qu'on ne néglige pas d'y insérer ce
qu'elle comprend.
ll semble cependant que, si l’on peut discuter certains côtés de ce
que l’on entend par les sciences d'état ou les sciences sociales, l’histoire :
économique et sociale, sous sa forme la plus simple, peut être définie
l'histoire du travail et des travailleurs, qu'il s'agisse des doctrines ou
des faits. Si on veut bien l’admettre, il serait peut-être possible de
composer de la façon suivante l’ensemble de ce même chapitre, sans
entrer d’ailleurs dans les détails:
Histoire économique et sociale de 1500 à 1871:
1? Généralités.
2° Histoire des doctrines.
3° Histoire des faits: A. Histoire économique a) Démographie,
b) Agriculture,
c) Industrie,
d) Commerce,
a’ Finances
(Numismatique).
B. Histoire sociale a) Organisation du travail,
b) Institutions de charité.
— — ————
1) I. 1783, 1786, 1826, 1831, 1836, 1979; II. 3239, 3272, 8358, 8483,
8485, 3606, 3620; III. 8944, 8963, 8998, 4042, 4085; IV. 4874, 4881, 4920,
670 Referate.
Le chapitre des Institutions ou de l'Histoire du Droit, classé à côté
du précédent, comprendrait le droit public et le droit privé et celui-ci
renfermerait le droit civil. Toutes les subdivisions qui suivent l’Histoire
des Institutions de Charité seraient retirées et pour la plupart insérées
dans un nouveau chapitre qu'on pourrait intituler Histoire de la
Civilisation ou de la Société. Enfin, les travaux locaux prendraient
tous place dans le chapitre de l'Economie.
Nous n'avons, bien entendu, aucunement la pretention de donne
ici des idées personnelles, mais nous désirons simplement reproduire
celles qui nous ont été suggérées par la connaissance de travaux
bibliographiques généraux :}) ou de revues spécialement consacrées
à des recherches économiques ou sociales *).
On peut donc conclure, croyons-nous, que cette division du ARe-
perloire mérite une double observation, quant au fond et quant à la
- forme. D'un côté, tout une partie chronologique est négligeable et aurait
dû être négligée; de l’autre, toute la partie restante aurait dû et pu
être classée autrement. Mais il n’en demeure pas moins, et nous te-
nons essentiellement à l'ajouter, que ce dernier élément, qui est le
résultat de recherches bibliographiques très sérieuses et très étendues,
ne mérite, tel quel, que des éloges, et rend les plus grands services.
Les auteurs ont eu en effet le rare courage d'entreprendre, et depuis
cinq années, de mener à bonne fin ce Répertoire en le développant
sans cesse. Dans ce but, ils ont su grouper autour d’eux un nombre
suffisaut de bonnes volontés disséminées un peu partout, et on doit
leur savoir d'autant plus gré de cet effort persévérant que, non seule-
ment la concentration des périodiques, dont le dépouillement forme le
fond de la besogne à accomplir, se fait très mal, mais que par analogie,
dans un pays où le travail est volontiers individualiste, des organisations
collectives qui réclament des recherches comme celles dont nous parlons,
ne doivent certainement pas se constituer aisément. Enfin, outre ces
qualités absolues, cette Bibliographie a un avantage relatif tout à fait
rare: elle est la seule*). Aussi, en terminant, ne saurions-nous trop es
recommander la pratique des diverses rubriques consacrées à l’histoire
économique et sociale de la France de 1500 à 1871, à tous les érudits
qui désireraient se rendre compte des travaux parus sur cette partie
si essentielle des recherches historiques.
5017, 51 12, 5154, 6155; V. 3351, 3366, 3397, 3503, 3562, 3565, 3591, 3606,
3608, 3614, 3662, 3675. Et il ne manque pas de travaux bien plus nombreux
encore qui se rapportent exclusivement à l'histoire du droit public ou privé.
1) Voy. HarrwiI«, Schema des Realsalalugs der Kgl. Universitätsbibliothek
zu Halle a. S (Leipzig 1888. Berhefte zum Zentralblatt für Bibliotheks
wesen. III.) et SrEın, Manu d: Bihliographie générale (1898).
2) Voy. les revues de CONRAD et de SCHMOLLER ou la Rerue d’ Ecnnomie
politique et, nous n'avons pas besoin de l’ajouter, la présente publication.
8) On ne peut que regretter que la Bibliographie annuelle des Sociétés
savantes, que MM. DE LASTEYRIE et VIDIER ont commencé de faire paraitre
depuis 1904, fasse, en partie, double emploi avec le Répertoire, d'autant mieux
qu’à priori, elle est beaucoup moins complète, puisqu'elle ne comprend que
des revues, et, parmi celles-ci elle ne mentionne que des publications de sociétés.
GEORGES EsrinaAs.
Druck von W. Kohlhammer in Stuttgart.
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